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Monatelang hat das Böse, das in dem leerstehenden Irrenhaus wieder zum Leben erwacht ist, mit seinen unheilbringenden Geschenken das ehemals friedliche Blackstone terrorisiert. Jetzt verharren die entsetzten Einwohner in angsterfülltem Schweigen. Wird es wieder passieren? Wen wird es als nächstes treffen? Und das Böse holt zum letzten Schlag aus ... Ein Unbekannter hinterläßt ein geheimnisvolles Päckchen vor Harvey Conallys Tür. Als er darin ein Rasiermesser findet, weiß Harvey, daß er seinem Neffen Oliver Metcalf die Wahrheit nicht länger verschweigen kann. Und so wird Oliver mit seiner grauenvollen Vergangenheit konfrontiert, an der er selbst und ganz Blackstone zu zerbrechen drohen ...JOHN SAUL IM TASCHENBUCH-PROGRAMM: DIE BLACKSTONE CHRONIKEN 13 970 Band l Die Puppe 13 971 Band 2 Das Medaillon 13 981 Band 3 Der Atem des Drachen 13 990 Band 4 Das Taschentuch 14 136 Band 5 Das Stereoskop 14 146 Band 6 Das Irrenhaus
JOHN SAUL Das Irrenhaus Ins Deutsche übertragen von Joachim Honnef BASTEI LÜBBE TASCHENBUCH Band 14146 Erste Auflage: September 1998 © Copyright 1997 by John Saul All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1998 by Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch Gladbach Originaltitel: The Blackstone Chronicles, Part 6 Asylum Lektorat: Vera Thielenhaus Titelbild: Hankins & Tegenborg Ltd., New York Umschlaggestaltung: QuadroGrafik, Bensberg Satz: Fotosatz Steckstor, Rösrath Druck und Verarbeitung: Brodard & Taupin, La Fleche, Frankreich Printed in France ISBN 3^04-14146-6 Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer
Für Linda, jetzt und in der Zukunft
Die Nacht lag über Blackstone wie ein schweres, erstickendes Leichentuch, aber nicht nur die Dunkelheit hatte die Bürger der Stadt aus der Main und Elm Street, aus der Bücherei und der behaglichen Atmosphäre der >Roten Henne< vertrieben. So wie die Finsternis hielt auch die Furcht die Bürger von Blackstone im Griff. Entsetzen hatte sich in dem Ort ausgebreitet wie ein Virus, zuerst eine Person infiziert und dann die nächste, bis schließlich keiner mehr hatte entkommen können. Jeden Abend, wenn sie ihre Türen abschlössen, beteten die Menschen in Blackstone, daß sie in dieser Nacht kein Opfer des Bösen werden würden. Wenn es ein Opfer haben mußte, sollte es sich das woanders holen, das Leben anderer Familien zerstören. Das Fieber der Angst war nicht mehr auf die Stunden der Dunkelheit begrenzt, denn selbst im hellen Sonnenschein eines Frühlingstages gab es keine Seele in Blackstone, die nicht die Blicke ihrer Nachbarn auf sich spürte, die beobachteten und spekulierten. Wer würde das nächste Opfer sein? Und wie würde das Unheil hereinbrechen? Die allgemeine Sitte, Geburtstage und Jubiläen mit Geschenken zu feiern, hatte in Blackstone abrupt aufgehört, denn alle in der Stadt hatten gehört, daß selbst das unschuldigste Geschenk -eine Puppe, ein Taschentuch, ein silbernesMedaillon, alles den Fluch bringen konnte, der das Grauen in die Häuser trug. Der Flohmarkt war aufgegeben worden, denn jeder hatte von dem Feuerzeug in Form eines Drachen gehört, das Rebecca Morrison ihrer Kusine geschenkt hatte. Janice Anderson hatte seit einer Woche keinen Kunden mehr in ihrem Antiquitätenladen gesehen. Im Postamt waren Päckchen aller Art an ihre Absender zurückgeschickt worden, alle mit dem gleichen Vermerk versehen: ANNAHME VERWEIGERT. Mit jedem Tag wuchs die Spannung, und bald beobachteten
sich Familien, die seit Generationen Nachbarn und Freunde gewesen waren, mit unverhohlenem Mißtrauen. Besonders am Abend lagen die Nerven blank, und der Puls beschleunigte sich, wenn sich bei Einbruch der Dunkelheit jeder in sein Haus zurückzog und die Türen verriegelte. Trotz der verrammelten Türen und Barrikaden wußten die Leute natürlich, daß Vorsichtsmaßnahmen nutzlos waren, denn in der Tiefe seiner Seele war jedem klar, daß Schlösser und Riegel nicht helfen konnten, wenn der Wahnsinn sein Haus heimsuchte. Er würde durch die Ritzen und Spalten dringen, und am Morgen... Keiner wollte an morgen denken. Es war schon gut genug, die Nacht zu überstehen. Und diese Nacht - erfüllt von mondloser Schwärze, noch verstärkt durch dichten Nebel -war die schlimmste von allen. In den meisten anderen Nächten hatten die Leute von Blackstone durch ihre Fenster spähen und im Licht der Straßenlampen nach Anzeichen für die Gefahr suchen können. Heute gab es nur Dunkelheit, und der Nebel machte selbst die schärfsten Augen blind. Eine Gestalt schlich durch den Nebel und die Dunkelheit, nachdem sie ungesehen aus dem Portal der Irrenanstalt geschlüpft war. Ihren Mantel hatte sie lose um die Schultern gehängt. Die Gestalt glitt mit geisterhafter Grazie durch die Schwärze, ein Gespenst, das von Haus zu Haus schlich. In jedem Haus erhaschte die Gestalt einen Blick auf das Entsetzen, als sie ungesehen durch einen Fensterladen oder einen etwas geöffneten Vorhang spähte, den man aus Vergeßlichkeit nicht geschlossen hatte. Ihr geschmeidiger, lautloser Gang verriet nichts von ihrer Anwesenheit. Die Gestalt konnte die Furcht fast riechen, und Schauer der Erregung glitten über ihre Haut wie die Hand eines Geliebten. Der lautlose Schatten schlich von Fenster zu Fenster und genoß das Leiden
der Hausbewohner. Er erfreute sich an der Krankheit, die er auf die Stadt losgelassen hatte. Kurz vor der Morgendämmerung war der triumphale Rundgang fast zu Ende, und die dunkle Gestalt gelangte an das Haus, auf dessen Schwelle sie das wichtigste Geschenk hinterlassen würde. Bei diesem Haus verweilte die Gestalt lange und spähte zu den abgedunkelten Fenstern empor, durch die kein Lichtschimmer fiel. Alles war ruhig in diesem Haus, und es fehlte der Geruch der Angst, den sie in allen anderen Häusern, die sie besucht hatte, wahrgenommen hatte. Als die verhüllte Gestalt dieses Haus umkreiste, stieg Zorn in ihr auf, und erst als sie daran dachte, welche Rache das Geschenk dem einzigen Bewohner dieses Hauses bringen würde, ließ die Wut langsam nach und wurde von einem Schauer fast sinnlicher Erregung abgelöst. Bald würde der Zorn auch dieses Haus treffen. Die dunkle Gestalt streichelte ein letztes Mal zärtlich über das Geschenk und legte es vor die Haustür. Dann verschwand sie so lautlos in der Schwärze, wie sie gekommen war. Betäubt. Alles von Rebecca Morrison schien wie betäubt zu sein. Eine Kälte war über sie gekrochen, wie sie sie nie zuvor erlebt hatte. Sie hatte natürlich stets gewußt, was Kälte ist, denn sie war in New Hampshire aufgewachsen, und im Winter sanken dort die Temperaturen immer unter den Gefrierpunkt, und man mußte dann durch Schneewehen stapfen. Als kleines Mädchen hatte sie diese Tage geliebt. Ihre Mutter packte sie in einen dicken, wollenen Schneeanzug ein, zog ihr Fäustlinge und eine Pudelmütze an, und Rebecca stürzte sich mit einer Aufregung in das verschneite Paradies, daß sie manchmal das Gefühl hatte, vor Freude zu zerspringen. Sie ließ sich in den Schnee plumpsen, schwenkte ihre Arme und spreizte die Beine und sprang dann auf, um den Engel zu bewundern, den sie im Weiß des Schnees geschaffen hatte. Manchmal sprang sie sogar in
eine große Schneewehe und grub ihr Gesicht ins kalte Weiß, weil die eisige nasse Reinheit so erfrischend und das anschließende Prickeln so köstlich waren. Das Beste von allem waren >Schneetage<, an denen die Schule ausfiel und die Erwachsenen in ihren warmen Küchen blieben. Dann machte sie sich auf die Suche nach den anderen Kindern, um mit ihnen zu spielen.Zwangsläufig geriet sie dann in eine Schneeballschlacht, und sie mußte ihre Fausthandschuhe ausziehen, weil jeder wußte, daß man mit Fäustlingen keinen richtigen Schneeball formen konnte. Wenn dann die Erwachsenen alle Kinder ins Haus scheuchten, waren Rebeccas Finger eiskalt, und Schnee war in ihren Ärmeln. Die Kälte, die sie dabei empfunden hatte, war aufregend gewesen, eine schöne, sorgenfreie Kälte, die stets bei einer Tasse heißem Kakao verschwunden war, die sie vor dem warmen Kamin im Wohnzimmer ihres Elternhauses in der Maple Street geschlürft hatte. Es hatte jedoch andere Arten von Kälte gegeben, die nicht annähernd soviel Spaß gemacht hatten. Die Kälte, die sie empfunden hatte, wenn nicht genug Decken auf dem Bett gewesen waren und Tante Martha den Thermostat niedrig gestellt hatte, um Geld zu sparen und Rebeccas verschwenderische Seele< zu retten. Die eisige Kälte des ersten Eintauchens in den Baggersee, wenn das Wasser im Frühjahr gerade erst über dem Gefrierpunkt gewesen war. Die feuchte Kälte, wenn sie in ein Gewitter geraten war und weder Regenmantel noch Schirm gehabt hatte, um zu verhindern, bis auf die Haut durchnäßt zu werden. Diese Art Kälte konnte jedoch mit einer zusätzlichen Steppdecke, einem dicken Frotteehandtuch oder trockener Kleidung vertrieben werden. Selbst die Kälte eines Schüttelfrostes, bei der sie mit den Zähnen klapperte und ihr Schweiß ausbrach, war nichts im
Vergleich zu dem, was sie jetzt empfand, denn wenn sie Schüttelfrost gehabt hatte, dann hatte sie gewußt, daß er in ein paar Stunden oder vielleicht nach einem Tag vorübergehen und sie sich dann wieder warm fühlen würde. Die Kälte, die sie jetzt empfand, war so langsam in sie hineingekrochen, daß sie sich gar nicht mehr richtig erinnern konnte, wann sie begonnen hatte; sie hatte das Gefühl, sie schon immer gespürt zu haben. Jeder Körperteil war entweder so betäubt, daß sie überhaupt kein Gefühl darin hatte, oder er war mit einem dumpfen Schmerz erfüllt, der sich in jeden Muskel bohrte und in jedem Knochen ausbreitete. Sie war nicht erfroren, das wußte sie. Sie konnte noch die Arme und Beine bewegen, den Hals drehen und den Rücken krümmen. Aber jede Bewegung war eine Qual, jedes Anspannen eines Muskels, über den sie die Kontrolle behalten hatte, brachte ihr neue Schmerzen. Die Kälte war auch in ihre Seele gekrochen, hatte ihren Verstand betäubt und sie so schlimm durcheinandergebracht, daß sie nicht mehr sicher war, wann sie wach war und wann sie schlief; sie konnte nicht mehr unterscheiden, welche ihrer Gefühle Wirklichkeit waren und welche den Alpträumen entsprangen, von denen sie im Schlaf gepeinigt wurde.Es war die Kälte des Todes. Rebecca wußte es mit einer sonderbaren Überzeugung, die immer stärker von ihr Besitz ergriffen hatte. Bis sie fast jede Hoffnung aufgegeben hatte, das Martyrium zu überleben, das begonnen hatte, als sie aus Germaine Wagners Haus geflüchtet war. Wie lange war das her? Sie hatte keine Ahnung, denn Zeit bedeutete ihr nichts mehr. Sie konnte nicht mehr zwischen Tag und Nacht, zwischen einer Minute und einer Stunde, einem Tag und einer Woche, einem Monat und einem Jahr unterscheiden. Eine Stunde mochte lebenslang und ein Monat nicht mehr als eine Minute für sie
sein. Es war gleichgültig, denn in der Welt, in die Rebecca gestürzt war - wenn es überhaupt eine Welt war -, gab es keine Zeit mehr. Nur Kälte. Grabeskälte. Manchmal dachte sie, sie wäre gestorben, wenn die Dunkelheit rings um sie so tief war, daß sie glaubte, in der Erde vergraben zu sein. Aber dann durchdrang irgendein kurzes Gefühl die betäubende Kälte; vielleicht ein Laut oder ein scharfer Schmerz, der sie für kurze Zeit aus dem merkwürdigen Dämmerzustand weckte, in den sie gefallen war. Eine Weile versuchte sie sich über die Zeit auf dem laufenden zu halten und die Sekunden zu zählen, die zu scheinbaren Ewigkeiten geworden waren, aber selbst das war unmöglich geworden, denn sie konnte sich nicht erinnern, wie viele Sekunden sie gezählt hatte und wie viele Minuten und Stunden vergangen waren. Der Peiniger - so nannte sie jetzt die Person, von der sie gefangengehalten wurde; ein fast abstraktes Wesen war an die Stelle des Menschen getreten, dessen Gesicht durch die Dunkelheit und dessen Persönlichkeit durch die Stille verborgen geblieben waren. Der Peiniger kam und ging, und Rebecca hatte längst aufgehört, irgendwie auf ihn zu reagieren. Keine Überraschung. Kein Entsetzen. Nicht einmal mehr Besorgnis. Zuerst, zu einem Zeitpukt, der fern und verblaßt in ihrer Erinnerung war, hatte sie sein Auftauchen gefürchtet. Ihr Puls hatte gerast, wenn sie seine schleichenden Schritte gehört oder seine Anwesenheit sogar dann gespürt hatte, wenn ihn kein Geräusch verraten hatte. Er brachte ihr Nahrung und Wasser, und dafür war sie dankbar. Aber bei seinen geflüsterten Worten und seiner Berührung
bekam sie eine Gänsehaut. Als die Kälte jedoch tiefer in ihren Körper und Geist kroch, überlegte Rebecca nicht mal mehr, was er von ihr wollte, aus welchem Grund er sie hierher gebracht hatte. Jetzt, als ihr Verstand sich langsam aus der Schwärze ihres Schlafes erhob und die durch dieKälte verursachten Alpträume verblaßten, spürte sie, daß er wieder einmal da war. Nichts in der Finsternis verriet seine Anwesenheit; kein Schritt oder Atemzug, keine geflüsterten Worte, keine Berührung von behandschuhten Fingern auf ihrer Haut. Sie hatte nur das Gefühl, daß sie nicht mehr allein war. Dann nahm die Dunkelheit ein wenig ab, und wie eine Blume sich zur Sonne wendet, drehte Rebecca den Kopf, eine unwillkürliche Suche nach der Quelle der schwachen Helligkeit, die ihre Welt der Finsternis grauer werden ließ. Dann ein neues Gefühl. Arme hoben sie an. Sie wurde vom Boden hochgehoben. Jeder Nerv und Muskel ihres Körpers schien zu protestieren, und ein Schmerzensschrei stieg in ihrer Kehle auf. Sekundenlang versuchte sie den Mund zu öffnen, um den Schrei auszustoßen, doch ein reißender Schmerz in ihren Lippen erinnerte sie daran, daß ihr Mund mit Klebeband versiegelt war. Mit plötzlicher Entschlossenheit schaffte sie es, den Schrei zu unterdrücken, bevor er aus ihrer Kehle emporsteigen konnte und sie sich übergeben mußte. Als die Wogen des Schmerzes über ihr zusammenschlugen und schließlich verebbten, klang ihr gequälter Aufschrei nur wie ein ersticktes Stöhnen. Der Peiniger hielt sie in einem festen Griff. Sie spürte, daß sie aus dem Raum getragen wurde, der ihr Gefängnis gewesen war, und obwohl sie mit verbundenen Augen nichts sehen konnte, spürte sie auf beiden Seiten Wände und wußte instinktiv, daß sie über einen langen Flur getragen wurde.
Die Gangart ihres Peinigers veränderte sich, und Rebecca hatte das vage Gefühl, emporgetragen zu werden. Stufen! Sie wurde eine Treppe hinaufgetragen. Ein weiterer Gang, aber sonderbarerweise spürte sie, daß dieser breiter als der vorherige war, daß der Zwischenraum zwischen den Wänden größer war. Aber wie konnte sie das wissen? Die Dunkelheit um sie herum war nur eine fast kaum wahrnehmbare Spur heller als die Schwärze, in der sie so lange versunken gewesen war. Dennoch war etwas anders. Etwas hatte sich verändert. Etwas würde geschehen. Etwas Schreckliches. Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen. Unter normalen Umständen hätte Oliver Metcalf vor sich hin gesummt, als er seine erste Tasse Kaffee zubereitete, den Manchester Guardian las und sich dann auf den Weg zum Büro machte. Er hätte jeden Atemzug der klaren Frühlingsluft genossen. Es war ein Tag, an dem er die ersten unbeholfenen Flugübungen der jungen Rotkehlchen auf dem Rasen vor Bill McGuires Haus beobachtet hätte, während die Eltern besorgt herumhüpften und aufmunternd zwitscherten. Ein Tag, an dem er bei einer zusätzlichen Tasse Kaffee in der >Roten Henne< geplaudert und getrödelt hätte, bevor er zur Redaktion des Chronicle gegangen wäre; ein sonniger, optimistischer Morgen, der ihn vielleicht verführt hätte, sich zu fragen, ob dies der Tag war, an dem Rebecca Morrison sich von ihm zum Abendessen einladen lassen würde. An einem solchen Tag hätte er vielleicht sogar eine Fahrt runter nach Boston geplant. Aber heute morgen - wie an jedem Morgen seit Rebeccas Verschwinden - nahm Oliver kaum die frische Aprilbrise oder die neuen Knospen an den ehrwürdigen Ulmen vor dem Küchenfenster wahr. Seit dem Moment des Erwachens aus unruhigem Schlaf, der durch Alpträume gestört
worden war, an die er sich nicht ganz erinnern konnte - verschwommene schreckliche Träume, an die er sich sicherlich nicht erinnern wollte -, hatten ihn bereits gräßliche Gedanken über das Schicksal von Rebecca gequält. Er klammerte sich immer noch an die Hoffnung, daß Germaine Wagners schrecklicher Unfall Rebecca so sehr aufgeregt hatte, daß sie einfach die Flucht ergriffen hatte. Aber als die Tage vergangen waren und er bei jedem Klingeln des Telefons voller Erwartung den Hörer abgehoben und enttäuscht festgestellt hatte, daß es nicht Rebecca war, die anrief, fiel es ihm immer schwerer, an Rebeccas Rückkehr nach Blackstone - und zu ihm - zu glauben. Wenn sie wohlauf wäre, dann hätte sie sich bestimmt bei ihm gemeldet. Es sei denn, sie hatte im Haus der Wagners etwas so Schreckliches erlebt, daß sie die Gedanken daran und an alles sonst einfach aus ihrer Erinnerung verbannt hatte. Oliver wußte jedoch, wie selten echter Gedächtnisschwund ist - eine Amnesie gibt es viel öfter in Liebesromanen und billigen Thrillern als im wahren Leben. Weil er nicht den logischen Tatsachen ins Gesicht sehen konnte, hatte er sich eingeredet, daß sie in Gefahr sein mußte, vielleicht in tödlicher Gefahr. Dieser Gedanke ließ ihn in Depressionen versinken, die mit jedem Tag schlimmer wurden. Bei jedem Tagesanbruch seit Rebeccas Verschwinden hatte sich Oliver gesagt, daß dies der Tag war, an dem er endlich etwas von ihr hören würde. Jetzt glaubte er schon lange nicht mehr daran, sosehr er sich es auch einzureden versuchte. Dennoch weigerte er sich energisch, den Leuten Glauben zu schenken, die meinten, Rebecca habe sich letzten Endes gegen Germaine gewandt. Wie jeder in Blackstone wußte Oliver, wie schlecht Germaine Wagner Rebecca behandelt hatte. Aber tief in seinem Herzen war er überzeugt, daß Rebecca nicht zu Gewalt fähig war. Nein, es würde viel mehr zu Rebecca passen, Germaine wegen ihres Unglücks zu bemitleiden als sich wegen ihrer Niederträchtigkeit gegen sie zu wenden.
So blieb nur noch die Möglichkeit, daß Rebecca etwas Schreckliches widerfahren war. Dieser Gedanke - und das ohnmächtige Gefühl, ihr nicht helfen zu können - lastete jetzt so schwer auf Oliver, daß ihm das Aufstehen am Morgen immer schwerer fiel. Die Mischung aus schlaflosen Stunden, in denen er sich hin und her wälzte, und den Alpträumen, die ihn im Schlaf peinigten, forderte ihren Tribut. An diesem Morgen hätte er sich fast entschieden, seine Assistentin Lois anzurufen und ihr zu sagen, daß er nicht in die Redaktion kommen würde. Doch die Aussicht, den ganzen Tag allein in seinem Haus zu verbringen, war noch weniger reizvoll, und so ging er schließlich, gebeugt von der Last seiner Sorgen, die Amherst Street hinunter zur Stadt. Durch den Spaziergang besserte sich seine Stimmung kein bißchen. Er überquerte die Oak und gelangte zu dem Teil der Amherst Street, in dem die McGuires und die Beckers wohnten, und er sah Megan McGuire auf der Schaukel sitzen, die vom niedrigsten Zweig der gewaltigen Eiche vor dem Haus hing. Er blieb einen Moment stehen, um mit ihr zu reden, und rief ein »Guten Morgen«. Zuerst hörte sie ihn anscheinend nicht. Als er ihren Namen rief, blickte sie kurz zu ihm auf. Dann stieg sie von der Schaukel und kam mit einer Puppe auf den Armen auf ihn zu. Die Puppe war ein anonymes Geschenk gewesen, entweder für sie oder das Baby, mit dem ihre Mutter schwanger gewesen war; Elizabeth McGuire hatte dann eine Fehlgeburt gehabt. »Der Anblick der Puppe tut mir jedesmal weh«, hatte Bill McGuire sich vor ein paar Wochen bei Oliver beklagt. »Aber ich kann es nicht übers Herz bringen, Megan das verdammte Ding wegzunehmen. Seit Elizabeth tot ist, schleppt sie die Puppe überall mit sich herum. Sie nimmt sie sogar mit zur Schule. Ich habe mit Phil Margolis darüber gesprochen, aber sein ärztlicher Rat lautete, ich solle mich damit abfinden, wenigstens für eine Weile.« Der Schmerz hatte Bills Augen
feucht werden lassen, und seine Stimme war gebrochen. »Das sagt er natürlich auch über Elizabeth«, fuhr er fort. »Ich soll mich damit abfinden. Aber ich kann das nicht. Ich hätte bei ihr bleiben sollen, jede Minute.« Oliver versuchte, ihn zu beruhigen. »Sie dürfen sich keine Schuld geben, Bill. Wir alle sind fürunser eigenes Leben verantwortlich, aber nicht für das anderer Leute. Und Elizabeth war ...« Er beendete den Satz nicht, aber das war auch nicht nötig. »Empfindlich?« hatte Bill voller Bitterkeit gefragt. »Das behaupt Edna Burnham doch stets. Daß Elizabeth >empfindlich< war.« Er hatte den Kopf geschüttelt. »Sie kam als Kind über den Zusammenbruch ihrer Schwester hinweg, und sie hat ein paar Jahre später den Verlust ihrer Eltern verwunden. Wenn man >empfindlich< ist, dann überlebt man solche Tragödien nicht. Aber es war zuviel für sie, daß sie das Baby verloren hat, und ich hätte das wissen sollen. Ich hätte sie an diesem Morgen nicht allein lassen sollen.« Im Gegensatz zu ihrem Vater, dessen Trauer nicht nachgelassen hatte, war Megan nach Olivers Meinung anscheinend schnell über ihren Kummer hinweggekommen, indem sie sich ganz auf die Puppe konzentriert hatte. Sogar jetzt hielt sie sie beschützend umklammert, als sie über den Rasen zu ihm ging. Oliver nahm an, daß Phil Margolis recht hatte und Megan im Laufe der Zeit aus dem Schneckenhaus auftauchen würde, in das sie sich mit der Puppe zurückgezogen hatte. Als Megan langsam auf dem Bürgersteig zu Oliver kam, sah er, wie sich ihre Lippen bewegten und sie mit der Puppe flüsterte. »Wie geht es dir heute, Megan?« fragte Oliver, als das kleine Mädchen vor ihm stehenblieb. »Mir geht's gut«, erwiderte Megan. »Sam und ich spielen mit der Schaukel.« >»Sam<«, wiederholte Oliver. »Warum hast du ihn Sam genannt?«
Megans Miene verfinsterte sich. »Sam ist ein Mädchen«, sagte sie. »Wir mögen keine Jungen.« »Ah, ich verstehe«, sagte Oliver ernst. »Darf ich Sam halten?« Megan schüttelte den Kopf. »Niemand außer mir darf Sam halten«, sagte sie. »Sie ist meine Freundin, und ich bin ihre Freundin, und sie haßt jeden sonst.« Sie blickte der Puppe liebevoll ins Gesicht. »Nicht wahr, Sam?« Einen Augenblick später nickte Megan der Puppe zu, als ob sie mit ihr gesprochen hätte, und schaute zu Oliver auf. »Sam will, daß Sie jetzt gehen«, verkündete sie. »Sie will, daß Sie uns in Ruhe lassen.« Oliver zögerte, aber plötzlich war ein Ausdruck in Megans Augen, den er nie zuvor bei einem Kind gesehen hatte. Böse. Das Wort, das Oliver in den Sinn kam, überraschte ihn wie ein rechter Aufwärtshaken ans Kinn. Erstaunt erholte er sich und sah, daß der dämonenhafte Ausdruck aus Megans Augen verschwunden war. Aber Megan starrte ihn an, und unter dem harten Blick des Kindes war schließlich er es, der den Blick senkte. »Es tut mir leid«, hörte er sich sagen, fast als spreche jemand anders die Worte. »Ich wollte nicht ...«Er verstummte, als ihm klar wurde, daßer sich fast entschuldigen wollte, weil er Megan belästigt hatte. Wie lächerlich, daß er, ein Erwachsener, das Gefühl hatte, sich bei diesem kleinen Mädchen entschuldigen zu müssen, bloß weil er ein paar freundliche Worte gesagt hatte! Schlimmer noch, warum regte ihn die Art, wie die Kleine ihn anstarrte, so sehr auf? Oliver sagte nichts mehr zu Megan, wandte sich ab und ging weiter die Amherst Street hinunter. Einen Augenblick später ging er am Haus der Beckers vorüber. Es stand jetzt leer. Bonnie und Amy waren nach Boston gezogen, wo Ed noch auf der Intensivstation lag. In der Nacht der Explosion in seinem Keller hatte er sich bei einem Sturz drei Rückenwirbel gebrochen, und obwohl Ed noch lebte, war
er an ein Atemgerät angeschlossen und hatte seit dem Unfall noch kein Wort sprechen können. Die Ärzte versicherten Bonnie, daß er im Laufe der Zeit wieder sprechen können würde, aber als Oliver vorgestern nach Boston gefahren war und Ed besucht hatte, waren ihm Zweifel gekommen, ob die Ärzte Bonnie die Wahrheit gesagt hatten. Obwohl Ed wach gewesen war - Oliver hatte ihn in der halben Stunde, in der er bei ihm gesessen hatte, mehrmals blinzeln sehen -, war er sich nicht sicher gewesen, ob Ed überhaupt wußte, daß er da war, geschweige denn ihn wiedererkannte. Ed hatte zwar nicht direkt ins Leere geschaut, hatte seinen Blick jedoch auch nicht auf ihn gerichtet. Ed Becker schien in irgendeiner anderen Welt zu wandern, in einem Universum, das so tief in seiner Seele vergraben war, daß er den Weg zurück zum Planeten des normalen Lebens nicht mehr fand, auf dem er vor seinem Unfall gelebt hatte. Als Oliver die Intensivstation verließ, erzählte ihm Bonnie von den Träumen, die Ed gehabt hatte - Träume, die sich laut Ed bewahrheitet hatten -, und über das Stereoskop, das sie in der Kommode gefunden hatten, die Ed aus der Irrenanstalt mitgebracht hatte. »Ich muß immer an diese Geschenke denken, von denen jeder redet«, sagte Bonnie, und ihr Blick war fast so gehetzt wie der ihres Mannes. »Aber das Stereoskop war überhaupt kein Geschenk - es lag nur zufällig in einer der Schubladen der alten Kommode.« Bonnie hatte ihm auch von den Bildern erzählt, und als Oliver nach Blackstone zurückgekehrt war, war er mit den Schlüsseln, die Bonnie ihm anvertraut hatte, aus Neugier in das Haus gegangen, um sich das Stereoskop anzusehen und die Bilder zu betrachten. Er hatte weder das Stereoskop noch die Bilder gefunden, die Bonnie - und auch Amy - ihm beschrieben hatten. Sie waren so spurlos verschwunden, als hätten sie nie existiert, obwohl
Bonnie behauptet hatte, sie hätten in der Nacht von Eds Sturz auf dem Couchtisch im Wohnzimmer gelegen. Oliver hatte überall gesucht, sie jedoch nicht gefunden. Das Haus selbst wirkteseltsam verlassen, als wisse es von Bonnies Entscheidung, es nie wieder zu betreten. »Es geht nicht nur um das, was mit Ed geschehen ist«, hatte Bonnie beteuert. »Ich könnte mich nach der Explosion dort einfach nicht mehr sicher fühlen. In diesem Haus könnte ich kein Auge mehr zutun. Und ich könnte nie mehr Amy darin schlafen lassen.« Aber das war nicht alles, wie Oliver annahm. Bonnie war wie so viele Leute in der Stadt davon überzeugt, daß irgendwie - sie konnte es nicht erklären - eine böse Kraft Blackstone heimgesucht hatte. Da war das Wort wieder. Böse. Dasselbe Wort, das ihm vor kurzem in den Sinn gekommen war, als er Megan McGuire begegnet war. Diesmal war das Wort Oliver jedoch nicht einfach so eingefallen. Es war das Wort, das Bonnie Becker benutzt hatte, um die Ereignisse zu beschreiben, die zur Lähmung ihres Mannes und fast zu ihrem und Amys Tod geführt hatten. Es war nicht nur das Haus, in das Bonnie Becker nicht zurückkehren wollte. Es war auch die Stadt. »Meine Familie wohnt in Boston, und alle Freunde sind hier«, hatte sie erklärt. »Ich habe keinen Grund, nach Blackstone zurückzukehren.« Sie hatte gezögert, doch den Gedanken dann zu Ende ausgesprochen. »Und ehrlich gesagt, begreife ich nicht, warum jemand dort bleiben würde nach allem, was passiert ist.« Dann hatte sie das Wort nochmals geflüstert. »Böse. Dort geht etwas Böses vor.« Jetzt, in der Wärme des Aprilmorgens, erschauerte Oliver Metcalf leicht, als ob ein eisiger Hauch ihn berührt hätte. Es war natürlich unmöglich, aber andererseits... Er zählte im Geiste die Tragödien auf, die seinen Freunden
widerfahren waren: Der Selbstmord von Jules Hartwick, den er mit eigenen Augen gesehen hatte. Das Abbrennen von Martha Wards Haus, bei dem Martha umgekommen war und Rebecca fast ebenfalls ein Opfer der Flammen geworden wäre. Und das Grauenvolle, das sich in Germaine Wagners Haus abgespielt hatte - Germaines Leiche zerschmettert unter dem Aufzug, ihre alte Mutter mit dem Rollstuhl im Aufzug gefangen und vom Schlag getroffen -, in der Nacht, in der Rebecca verschwunden war. Oliver wußte, daß nicht nur Bonnie Becker von einem Fluch flüsterte, der Blackstone heimgesucht hatte. Die Gerüchte grassierten in der Stadt wie eine Seuche, und wohin er auch ging, spürte er, daß jeder jeden beobachtete, als suche er nach einem Hinweis darauf, wer das nächste Opfer sein könnte. Es mußte vernünftige Erklärungen für alles geben, was in Blackstone passiert war. Es mußte einfach welche geben. Und er würde sie finden. Aber eines war sicher. Es gab nichts Böses, keinen Fluch. Solche Dinge existierten einfach nicht. Doch als er weiter den Hügel hinunter in den Ort und zum Büro des Chronicle ging, blickte er unwillkürlich über die Schulter zur ehemaligen Irrenanstalt zurück, die drohend oberhalb der Stadt aufragte wie seit fast einem Jahrhundert. Und er ertappte sich wieder einmal bei den Gedanken an die Greueltaten, die in ihren Mauern stattgefunden hatten und von denen er jetzt wußte. Das war böse gewesen - unter dem Deckmantel ärztlicher Wissenschaft. Wenn so etwas Böses obsiegen konnte, etwas Böses, das den hippokratischen Eid zu Taten von unsäglichem Horror nutzen konnte, dann existierte vielleicht das Böse tatsächlich und konnte in anderer Gestalt leben und andere unbekannte schwarze Formen annehmen.
Oliver wandte sich vom brütenden Starren der Irrenanstalt ab, wie er sich vor ein paar Minuten von Megan McGuires Starren abgewandt hatte. Er versuchte, sich den beunruhigenden Gedanken aus dem Kopf zu schlagen. Es gelang ihm nicht. Die Saat war gesät. Sie begann bereits zu wachsen. Als Harvey Connally in sein neuntes Jahrzehnt eingetreten war, hatte er zwei Wahrheiten entdeckt. Die erste war: Das, was die meisten Leute für die Weisheit hielten, die mit dem Alter kommt, war in Wirklichkeit wenig mehr als die Erkenntnis, daß die meisten Dinge sich von selbst erledigen, wenn man sie sich selbst überläßt. Diese erste Wahrheit hatte direkt zur zweiten geführt: daß sehr wenig sofort erledigt werden mußte und es deshalb immer das beste war, die Dinge sorgfältig zu überlegen, bevor man zu irgendwelchen Taten schreitet. Folglich ignorierte er - jedenfalls für den Moment - das schlicht verpackte Päckchen, das an diesem Morgen auf seiner Veranda neben seinem Exemplar des Manchester Guardian lag - eine seiner Meinung nach nicht annähernd so gute Zeitung wie der Blackstone Chronicle seines Neffen, die jedoch täglich herauskam. Harvey Connally nahm die Zeitung und ließ das Päckchen auf der Veranda liegen. Er ging in die Küche, bereitete die zwei Tassen Kaffee zu, die er jeden Morgen trank -mehr Koffein erlaubte ihm Dr. Margolis nicht -, und las den Guardian. Er mied den Leitartikel, weil er sich über Leitartikel so sehr aufregen konnte, daß er mit einem Schlaganfall rechnen mußte. Nach der zweiten Tasse Kaffee faltete er die Zeitung zusammen und widmete seine Auf-merksamkeit nun dem Päckchen, das immer noch auf der Veranda lag. Es war ihm aufgefallen, daß es keinen Poststempel und keine Adresse trug, also irgendwann im Laufe der Nacht dort hingelegt worden sein mußte. Harvey Connally hielt nichts von Leuten, die in der Dunkelheit herumschlichen und anonyme Päckchen auf anderer Leute
Veranden hinterließen. Doch als er das Päckchen gesehen hatte, war ihm sofort Rebecca Morrisons Behauptung eingefallen, sie hätte in der Nacht, bevor Jules Hartwick sich umgebracht hatte, jemanden auf seinem Zufahrtsweg gesehen. Und er erinnerte sich an das Päckchen, das den McGuires ein paar Tage vor Elizabeth McGuires Tod zugestellt worden war. >Geschenke<, die von Edna Burnham als Vorboten des Unheils bezeichnet wurden. Harvey Connally hielt ebensowenig von Vorboten des Unheils wie von Leuten, die in der Nacht herumschlichen. Was auch immer all diesen Leuten widerfahren war, hatte mehr mit ihren persönlichen Fehlern zu tun, als daß sie von einem geheimnisvollen Bösen heimgesucht worden wären. Und doch... Und doch führte Harvey Connally zu einer ungewohnten dritten Tasse Kaffee. Während er jeden verbotenen Tropfen davon genoß, grübelte er über die Idee Göttlicher Vergeltung nach. Es war ein Konzept, an das Harvey - wenigstens bis vor kurzem nicht im geringsten geglaubt hatte. Im Laufe der vergangenen paar Wochen, als er erlebt hatte, wie eine der ältesten Familien Black-stones nach der anderen von einer Tragödie heimgesucht worden war, hatte er jedoch begonnen, sich Gedanken zu machen. Jede Familie, an die eines der geheimnisvollen >Geschenke< ausgeliefert worden war, hatte irgendeine Verbindung zu der Irrenanstalt gehabt, und jede der Tragödien hatte Elemente enthalten, die unheimliche Parallelen zu Ereignissen aus Blackstones Vergangenheit zeigten. Harvey hatte zuerst solch eine unheimliche Parallele bemerkt, als sich Jules Hartwick vor dem Portal der Irrenanstalt den Bauch aufgeschlitzt hatte. Obwohl jeder der Meinung war, daß Jules' Nervenzusammenbruch und Selbstmord durch die Buchprüfung der Zentralbank ausgelöst worden war, hatte sich Harvey statt dessen auf die verrückte Eifersucht konzentriert, die Jules an
diesem Tag gegenüber seiner Frau gezeigt hatte. Die gleiche rasende Eifersucht, erinnerte sich Harvey, die Jules' Vater vor einem halben Jahrhundert gezeigt hatte, als er überzeugt gewesen war, daß seine Frau ein Liebesverhältnis mit Mal-colm Metcalf hatte. Aber der ältere Hartwick hatte keinen Selbstmord begangen. Statt dessen hatte er nur seiner Frau gedroht, sich von ihr scheiden zu lassen und den Grund dafür publik zu machen, wenn sie die Affäre fortsetzte. Er hatte das Porträt von Louisa, das sie mit der Schürze einer Helferin in der Irrenanstalt zeigte -Harvey argwöhnte jetzt, daß sie es als ein Geschenk für ihren Geliebten vorgesehen hatte -, sofort auf den Speicher verbannt. Und das war alles gewesen. Louisa war nie wieder auch nur in die Nähe der Irrenanstalt gegangen. Als Malcolm Metcalf gestorben war, hatten die Hartwicks bei seiner Beerdigung durch Abwesenheit geglänzt. Nachdem Harvey diese Verbindung hergestellt hatte, listete er sorgfältig alles auf, was über die jüngsten Todesfälle in Blackstone bekannt geworden war. Nach und nach setzte er die Informationen wie die Teile eines Puzzles zusammen. Er erinnerte sich an das Kind, das Bill McGuires Großtante Laurette geboren hatte, ein Kind, das eines Tages in der Irrenanstalt verschwunden und nie wieder gesehen worden war. Bald darauf war Laurette, verzweifelt über den Verlust ihres Kindes, während eines Urlaubs in Cape Cod ertrunken. Ihr Tod galt natürlich als Unfall, aber Harvey war schon vor langer Zeit zu dem Schluß gelangt, daß Laurette nichts getan hatte, um sich zu retten, selbst wenn sie nicht geplant hatte, sich umzubringen. Elizabeth McGuires Verlust ihres Babys und der folgende tödliche Sturz wiesen für Harvey eine zu unheimliche Ähnlichkeit auf, um Zufall zu sein. Als die Monate vergingen, weckte jede neue Tragödie eine Erinnerung in Harvey Connally. Schließlich war er überzeugt, daß die Tragödien von Blackstone tatsächlich in Zusammenhang mit der Irrenanstalt stehen mußten. Es war, als
ob die Sünden der Väter an den Söhnen vergolten wurden; als ob Gott die Nachfahren derjenigen strafte, deren Missetaten in den kalten Räumen der Irrenanstalt verborgen geblieben waren. Göttliche Vergeltung. Harvey Connallys Verstand, geübt in der Exaktheit vernunftbestimmter Gedanken, wollte jedoch die Vorstellung von einer Göttlichen Vergeltung nicht akzeptieren. Während in Blackstone Spekulationen blühten, behielt Harvey Connally seine Meinung für sich, hörte stets aufmerksam zu, leistete jedoch keinen Beitrag zu der Flut von Gerüchten, die die Stadt überschwemmte. Statt dessen verarbeitete er jede Nachricht und jedes Gerücht mit seinem Verstand, analysierte alle Theorien, die er hörte, verwarf die verrücktesten Ideen und sammelte die Punkte, über die er nicht hinwegsehen konnte, als wären es Teile eines komplizierten Puzzles, dessen Bild klar werden würde, wenn er alle Stückchen gesammelt und ineinandergefügt hatte. Aber das Bild war nicht klar geworden. Ganz gleich, wie sehr er sich bemühte, die Stücke zusammenzufügen, das einzige Bild, das entstand, war eine verschwommene Vision von Malcolm Metcalf, einem Mann, der seit fast der Hälfte von Harvey Connallys Leben tot war. Aber an Geister glaubte Harvey ebensowenig wie an Göttliche Vergeltung. Als er seine dritte Tasse Kaffee getrunken hatte, ging er langsam zur Veranda, bückte sich steif und hob das Päckchen auf. Er trug es in sein Arbeitszimmer, legte es auf den Schreibtisch und betrachtete es von allen Seiten. Er fand weder einen Hinweis auf den Absender noch irgend etwas, das als besonderes Merkmal gelten konnte, und er spielte kurz mit dem Gedanken, den jungen Steve Driver zu rufen, besann sich jedoch sofort anders. Möglicherweise würde der Deputy Sheriff unter dem Vorwand, ihn zu schützen, den Inhalt des Päckchens
beschlagnahmen. Harvey öffnete es vorsichtig und achtete darauf, das Papier so wenig wie möglich zu beschädigen. Als er das Päckchen ausgewickelt hatte, schaute der alte Mann auf einen Gegenstand, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er erkannte ihn sofort. Es war das altmodische Etui eines Rasiermessers, und es ähnelte sehr demjenigen, das seinem Vater gehört hatte, als er, Harvey, ein Junge gewesen war. Und wie der kleine Junge von damals streichelte er unwillkürlich über das Etui, so wie sein Vater ihm erlaubt hatte, das Etui zu berühren, ihm jedoch verboten hatte, es jemals zu öffnen. Als der alte Mann über das Muster von Elfenbein und Ebenholz strich, das in den Mahagonideckel des Etuis eingearbeitet war, stieg eine Fülle von Erinnerungen in ihm auf. Er sah sich wieder im Badezimmer des Hauses in der Amherst Street, wo er aufgewachsen war. Seine Mutter hatte sich geweigert, in dem riesigen Herrenhaus auf dem North Hill zu wohnen, das sein Vater für seine erste Frau hatte erbauen lassen. Selbst fünfundsiebzig Jahre später glaubte er noch den Duft der Rasierseife seines Vaters zu riechen und den Dampf des heißen Wassers im Waschbecken zu spüren, wenn sein Vater das morgendliche Ritual des Rasierens durchgeführt hatte. Konnte das tatsächlich das Rasiermesser seines Vaters sein? Aber nein. Das Etui des Rasiermessers seines Vaters war mit einem goldenen Medaillon verziert gewesen, das in die Mitte des Deckels eingearbeitet war und in das die beiden kunstvoll verschlungenen C's graviert waren, das Monogramm für allen Besitz von Charles Connally. Auf diesem Etui befand sich nur ein einfaches Medaillon aus Elfenbein. Dennoch war er überzeugt, es schon gesehen zu haben. Er hob den Deckel ab und sah blauen Samt, auf dem ein Rasiermesser mit einem Schildpattgriff lag. Er nahm das Messer und klappte es auf. Einen Augenblick lang verstand er nicht, was die braunen
Flecken auf der funkelnden Klinge zu bedeuten hatten. Aber dann, als er die beiden M in das Schildpatt des Griffs eingeprägt sah, fiel ihm schlagartig ein, wo er dieses Etui schon gesehen hatte. Es hatte seinem Schwager Malcolm Metcalf gehört. Es war ein Hochzeitsgeschenk von Harveys Schwester Olivia gewesen. Harvey selbst hatte Olivia geholfen, es für ihren Verlobten auszuwählen. Als Harvey die braunen Flecken auf der Klinge des Rasiermessers näher betrachtete, verstand er auch, woher diese stammten. Blut. Das Blut seiner Nichte Mallory Metcalf? War es möglich, daß er nach all diesen Jahren das lange vermißte Instrument, mit dem Olivers Schwester getötet worden war, in den Händen hielt? Warum hatte man es ihm geschickt? Was wollte man ihm damit sagen? Und wer wollte ihm etwas damit sagen? Harvey Connally saß lange an seinem Schreibtisch und hielt das Rasiermesser in den Händen, die plötzlich wie gelähmt waren. Immer wieder ließ er sich die Teile des Puzzles durch den Kopf gehen, die er in den vergangenen Wochen gesammelt hatte. Immer wieder tauchte nur das Gesicht von Malcolm Metcalf aus den Nebeln der Vergangenheit auf. Aber er wußte, daß das nicht ganz stimmte, denn an dem Tag, an dem Mallory gestorben war - an dem Tag, an dem mit diesem Rasiermesser, das Harvey jetzt hielt, ihre Kehle durchgeschnitten worden war -, war eine weitere Person anwesend gewesen. Eine Person, für die dieses Instrument - dieses Geschenk aus der Vergangenheit - vielleicht weitaus mehr Bedeutung haben konnte als sogar für ihn. Er legte das Rasiermesser behutsam ins Etui zurück und schloß
den Deckel. Dann traf Harvey Connally eine Entscheidung. Er griff zum Telefon. Es war ein Tag Mitte März - nicht das schlimmste Wetter, aber auch nicht das beste. Obwohl es in den vergangenen Tagen den Anschein gehabt hatte, als wären die rauhen Stürme des Winters endlich vorbei, kehrten sie an diesem Morgen zurück und peitschten den Nordosten mit einer Kälte, in der die Knospen der noch kahlen Bäume zu erfrieren drohten, bevor sie sich öffnen konnten. Die paar winzigen Krokusse, die es gewagt hatten, so früh im Jahr ihren Kopf aus dem Boden zu stecken, duckten sich in der Kälte, als ob sie sich in die Sicherheit der kaum aufgetauten Erde zurückziehen wollten. Harvey Connally bereitete sich auf die Fahrt nach Manchester zu einer Sitzung des Verwaltungsrats vor - es hatte den Anschein, daß er jeden Monat an mehr Sitzungen teilnehmen mußte -, doch er war äußerst versucht, eine Erkrankung vorzutäuschen, Feuer im Kamin der Bibliothek anzuzünden und es sich mit seiner zerlesenen Ausgabe von Billy Budd gemütlich zu machen - nach Harveys Ansicht ein viel besseres Werk als das berühmtere, jedoch fast unlesbare Moby Dick. Doch Harvey Connally war mit einem Pflichtgefühl aufgewachsen, das so solide wie der Granit unter dem Erdreich von New Hamp-shire war, und wenn ihn auch die Versuchung lockte, wußte er, daß er ihr widerstehen würde. Billy Budd mußte einfach warten, vielleicht sogar bis zum nächsten Winter. Er war gerade im Begriff, das Haus zu verlassen, als der Nebenanschluß des Telefons, den er in der Küche hatte installieren lassen - ein Luxus, an den er sich schnell gewohnt hatte -, schrill klingelte, ein Ton, der etwas Alarmierendes an sich hatte. Harveys scharfer Verstand und seine Vernunft sagten ihm, daß die Klingel eines Telefons bei einem Notfall nicht anders klang als unter normalen Umständen. Dennoch hatte er eine böse Vorahnung, als er den Hörer abnahm und
ans Ohr hielt. »Harvey? Bist du das?« Harvey Connally erkannte sofort die Stimme am anderen Ende der Leitung, obwohl sie lauter als üblich war und bebte. Die Stimme zitterte so sehr wie in der Nacht vor vier Jahren, als sie ihn über den Tod seiner Schwester informiert hatte. »Ja, ich bin es, Malcolm«, erwiderte er, und seine Stimme verriet nichts von der bösen Ahnung, die in ihm aufgestiegen war. »Ich brauche dich, Harvey. Du mußt sofort in mein Büro kommen.« Harvey Connally fragte nicht, warum Malcolm Metcalf ihn sofort in seinem Büro brauchte, denn es gab Dinge - viele Dinge -, die man einfach nicht am Telefon besprach. Das angespannte Drängen seines Schwagers verriet ihm, daß dies eines jener Dinge war. »Ich werde in fünf Minuten dort sein«, sagte er. Ohne ein weiteres Wort drückte er die Gabel des Telefons hinab und schaute auf seine Armbanduhr. Er wählte die Vermittlung, bat den Telefonisten, mit der Nummer in Manchester verbunden zu werden, die er nannte, erklärte dann, daß er unvermeidbar in Blackstone aufgehalten wurde, und versprach, es bis zur Sitzung zu schaffen, wenn es überhaupt möglich war. Der Mann, mit dem er sprach - vor über zwanzig Jahren sein Zimmergenosse in Dartmouth -, stellte keine Fragen, weil er wußte, daß nur ein Notfall Harvey Connally davon abhalten konnte, seine Pflicht zu erfüllen. Nachdem das Terminliche geregelt war, verließ Harvey sein Haus, stieg in den DeSoto, den er vor drei Wochen gekauft hatte, setzt aus seinem Zufahrtsweg zurück, fuhr über die E/m zur Amherst Street, bog nach links ab und fuhr den Hügel hinauf zur Irrenanstalt. Harvey Connally haßte die Irrenanstalt. Er haßte jeden Teil davon, und das war schon immer so gewesen.
Er haßte das Gebäude, obwohl sein eigener Vater es hatte erbauen lassen. Und er haßte, was dort vorging, denn er war überzeugt, daß es besssere Methoden geben mußte, um Geisteskranke zu behandeln, als die Anwendung dieser Therapien in den geschwärzten Mauern des Gebäudes, das die Domäne seines Schwagers geworden war. Am meisten haßte Harvey Connally seinen Schwager, obwohl nichts an seinem Verhalten, an seinen Taten oder Worten jemals die wahre Tiefe seiner Gefühle verraten hatte. Die einzigen Worte, die jemals seine Gefühle hätten preisgeben können, hatte er zu seiner Schwester gesagt, bevor sie Malcolm Metcalf geheiratet hatte. »Ich will nur sicher sein, daß du dir dies gut überlegt hast und überzeugt bist, daß er der richtige Mann für dich ist«, hatte Harvey Olivia am Morgen nach der Ankündigung ihrer Verlobung mit Malcolm gesagt. Als Olivia ihm versichert hatte, daß sie ihre Entscheidung sehr sorgfältig überlegt hatte und sie Malcolm Metcalf liebte, hatte Harvey das Thema als erledigt betrachtet. Er hatte sein Amt als Vermögensverwalter der Irrenanstalt nicht niedergelegt - aber um einen Interessenkonflikt zwischen seiner Rolle als Vermögensverwalter und als Schwager des Direktors zu vermeiden, hatte er sich von jeder Diskussion eines Themas ferngehalten, das den Direktor der Anstalt persönlich anbetraf. Selbst nach Olivias Tod hatte Harvey seine Gefühle für sich behalten, und Malcolm Metcalf hatte trotz seines Ansehens als Psychiater und als scharfsichtiger, feinfühliger und intuitiver Mensch keinen Hinweis daraufgefunden, daß Harvey Connally ihn haßte. Genau wie es Harvey Connally gewollt hatte. Als er den DeSoto vor der Irrenanstalt parkte, blickte Harvey zu der häßlichen Fassade empor und versuchte wieder einmal die Gründe seines Vaters für den Bau des gewaltigen
Gebäudes zu verstehen. Es war das weitaus größte aller Häuser, die jemals in Blackstone gebaut worden waren, und die Konstruktion zeugte von einer Protzerei, die zuvor in der kleinen Stadt unbekannt gewesen war und überhaupt nicht zu Charles Connallys Charakter paßte. Daß er das Gebäude nur ein paar Jahre nach seiner Errichtung in eine Anstalt für Geisteskranke umgewandelt hatte, paßte ebensowenig zu ihm, und obwohl HarveyConnally lange nach Hinweisen auf die Motive für diese merkwürdigen Aktionen gesucht hatte, hatte er nie Antworten auf seine Fragen gefunden. Harvey atmete unwillkürlich tief durch, als er das schwere Portal aufzog. Er betrat die düstere Halle und fragte sich nicht zum ersten Mal -, wie jemand sich in diesen kalten, scheußlichen kleinen Räumen von einer Krankheit erholen konnte, ob nun von einer geistigen oder einer körperlichen. Er ging durch das Wartezimmer und vermied es, die Gruppe direkt anzuschauen, die dort hockte - drei verschämte, offensichtlich verlegene Leute, die bei seinem Eintreten wegblickten. Das sagte Harvey mehr, als er wissen wollte: Entweder wollten sie einen ihrer Verwandten in die Obhut seines Schwagers geben, oder sie hatten es bereits getan. Er ging zu Malcolm Metcalfs Büro. Die neue Sekretärin des Direktors - sie blieben nie länger als ein paar Monate, und Harvey hatte längst den Versuch aufgegeben, sich ihre Namen zu merken - winkte ihn gleich vom Vorzimmer aus zum Büro durch. Sein Schwager ging im Büro auf und ab, und sein Gesicht war aschfahl. »Was ist los, Malcolm?« fragte Harvey Connally. »Was ist passiert?« Malcolm Metcalfs Mund zuckte einen Moment lang, und schließlich fing er an zu stammeln. »Mal-Ion/ ... Oliver...« Harvey blickte sich im Büro um, aber er konnte weder seine Nichte noch seinen Neffen entdecken. Dann sah er, daß
Malcolm Metcalfs Blick zum Badezimmer zuckte, das an das Büro grenzte. Harvey runzelte die Stirn, ging zur Tür und zog sie auf. Rot. Alles war rot. Es war auf den weißgestrichenen Wänden und auf dem gefliesten Boden verschmiert. Ein Handtuch, ebenfalls mit leuchtend roten Flecken, lag in einem feuchten Haufen neben dem Waschbecken. Eine Bewegung, so schwach, daß sie ihm fast entgangen wäre, weckte Harveys Aufmerksamkeit, und als er sich umdrehte, sah er seinen vierjährigen Neffen geduckt in einer Ecke hocken. Sein Gesicht war so weiß wie das seines Vaters und tränenüberströmt, und er hatte die Arme um die Knie geschlungen. Sein magerer Körper war nackt, und seine blasse Haut wies rote Striemen auf. Und dann blickte Harvey zum ersten Mal auf die Badewanne. Sie war riesig und stand auf vier pfotenartigen Füßen. Sie war fast bis zum Rand gefüllt, und das Wasser war rosafarben. Eingetaucht in das blutige Wasser, ebenfalls nackt und mit dem Gesicht nach unten, lag ein Körper. Olivers Zwillingsschwester Mallory. Ohne zu denken, folgte Harvey Connally seinem Instinkt, der ihn mit zwei großen Schritten von der Tür zur Badewanne trieb. Dort neigte er sich hinab, tauchte die Arme in das grausige Wasser und hob seine Nichte heraus. Er legte sie auf den Boden und drehte sie um, weil er sie künstlich beatmen wollte. Dann erstarrte er vor Entsetzen. Der Schnitt erstreckte sich fast von einem Ohr zum anderen. Die Kehle des Kindes war so durchschnitten worden, daß ihr fast der Kopf vom Rumpf abgetrennt worden war. Harvey Connally kämpfte gegen Übelkeit an, als er auf seine tote Nichte starrte, und er sah ein grauenvolles Bild vor seinem
geistigen Auge. Es war eine Vision von Mallory mit ihrem herzförmigen Gesicht und weichen blonden Locken, die ihre zarten Züge einrahmten. Aber anstatt zu lachen, wie sie es so oft getan hatte, war ihr Mund in einem schrecklichen, stummen Schrei geöffnet, und ihre weit aufgerissenen Augen spiegelten Entsetzen wider. Und aus der dunklen, klaffenden Wunde in ihrem Hals spritzte Blut in großen roten Stößen. Auf die Wände. Auf den Boden. In das Wasser, in dem sie gebadet hatte. Die Vision verschwand glücklicherweise so schnell, wie sie gekommen war, und Harvey Connally, der erkannte, daß für seine Nichte nichts mehr getan werden konnte, zog seinen Neffen aus der Ecke. Als Oliver in seinen Armen schluchzte und zitterte, kehrte Harvey mit ihm in das Büro zurück, wo sein Schwager immer noch an der Wand lehnte. »Was ist passiert?« fragte Harvey mit leiser Stimme. »Sag mir, was passiert ist.« »Unfall«, keuchte Malcolm, der kaum sprechen konnte. »Es war...« »Ein Unfall?« wiederholte Harvey Connally. »Um Himmels willen, Malcolm, wie konntest du ...« Malcolm Metcalfs Mund zuckte krampfhaft eine Weile, bevor er Worte herausbrachte. Dann flüsterte er: »Oliver. Ich war es nicht, Harvey. Es war Oliver.« Harvey Connally kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Wie?« fragte er. »Sag mir, wie!« Harvey hielt immer noch seinen zitternden, schluchzenden Neffen in den Armen, als Malcolm Metcalf ihm mit gebrochener Stimme beschrieb, was er gesehen hatte. »Sie waren in der Wanne. Sie badeten gern zusammen. Und ich war hier. Und dann horte ich etwas. Ein Geräusch - o Gott,
Harvey, du kannst es dir nicht vorstellen. Es war wie - ich weiß nicht -, wie ein Gurgeln, als ob Wasser in einen Abfluß läuft. Ich rief sie, aber ...« Er schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr. »Ich ging zur Tür, um zu sehen, was los war. Und ich sah sie. O Gott, Harvey, ich sah sie sterben. Sie war im Wasser, und ihre Kehle war durchgeschnitten, und sie verblutete.« Malcolm Metcalf schluchzte jetzt, erstickte fast an den Worten, die er hervor stammelte. »Sie - sie hing über dem Rand der Wanne. Ich versuchte ihr zu helfen, die Blutung mit einem Handtuch zu stoppen. Aber es war zu spät. Sie war bereits tot und...« Er konnte nicht mehr weitersprechen. »Und was war mit Oliver?« fragte Harvey Connally. »Wo war er?« Malcolm Metcalf zögerte, als wünschte er, die Worte nicht aussprechen zu müssen. Aber schließlich sagte er widerstrebend: »Als ich erkannte, daß ich nichts für Mallory tun konnte, schaute ich nach O/iver. Er - er war über die Dienstbotentreppe hinuntergelaufen, und ich fand ihn.« »Wo war er?« fragte Harvey. Fast schützend nahm er seinen Neffen fester in die Arme. Es folgte eine lange Stille, und schließlich sprach Malcolm Metcalf wieder. »Er versteckte sich«, sagte er so leise, daß Harvey ihn kaum verstehen konnte. »Er war unten in einem der Behandlungszimmer.« Er legte wieder eine Pause ein. Dann fuhr er mit dumpfer Stimme fort: »Mein Rasiermesser ist verschwunden. Ich nehme an, Oliver hat damit gespielt, und er und Mallory müssen eine Balgerei angefangen haben.« Er schüttelte den Kopf, und seine Augen füllten sich mit Tränen. »Es war ein Unfall«, sagte er. »Ich kann nicht glauben, daß es etwas anderes gewesen ist! Aber Oliver war so verängstigt, daß er fortrannte und das Rasiermesser versteckte. Du kannst ihm keine Schuld geben. Er - er ist nur ein kleiner Junge, Harvey. Es war ein Unfall.«
Harvey Connally blickte seinem Schwager lange in die Augen. Dann ließ er langsm seinen Neffen von den Armen herunter und ging in die Hocke, damit sein Geicht in einer Hohe mit dem des kleinen Jungen war. »Stimmt das, Oliver?« fragte er. »Ist das wahr, was dein Vater gesagt hat?« Oliver Metcalf, der totenbleich war und vor Entsetzen am ganzen Körper zitterte, starrte seinen Onkel mit großen Augen an. Oliver öffnete die Pforte vor dem Haus seines Onkels und streifte an der ungeschnittenen Buchsbaumhecke vorbei. Wenn die Hecke nicht noch in diesem Jahr geschnitten wurde, würden ihre Zweige den Eingang blockieren. Oliver war jedoch davon überzeugt, daß es seinem Onkel gleichgültig sein würde. Harvey Connally hatte sich vom Leben in der Stadt immer mehr zurückgezogen und gab sich anscheinend damit zufrieden, nur die Gesellschaft seiner Erinnerungen zu haben. Oliver hatte den Eindruck, daß sein Onkel sich im Laufe der vergangenen Monate fast völlig aus der Gemeinschaft zurückgezogen hatte, in der er sein ganzes Leben verbracht hatte. Oliver war sich nicht sicher, ob Harvey Connallys selbst auferlegte Einsamkeit ein natürliches Resultat seines hohen Alters war oder eine Reaktion auf die Serie von Tragödien, von denen die Stadt heimgesucht worden war. Die Wahrheit lag wohl irgendwo in der Mitte, sagte er sich, als er die Treppe zur Veranda seines Onkels hochstieg. Oliver klingelte nicht, sondern probierte den Türgriff und stellte fest, daß die Haustür wie immer unverschlossen war. »Schlösser wurden erfunden, um ehrbare Leute draußen zu halten«, hatte Harvey ihm vor Jahren gesagt. »Sie verhindern kein verdammtes bißchen, daß unehrliches Gesindel hereinkommt.« Das war eine Maxime,der nur noch wenige Leute folgten, und in Blackstone war es angesichts der Ereignisse in den vergangenen Monaten äußerst selten, daß eine Tür mehr als ein paar Sekunden lang nicht abgeschlossen wurde, trotz des
völligen Mangels an Beweisen, daß die Heimsuchungen der Stadt mehr als nur Zufälle waren. Was einst die schrullige Meinung eines alten Mannes gewesen war, der die alte Lebensweise hatte erhalten wollen, klang jetzt nach vorhersehender Weisheit: Keines von Blackstones Schlössern hatte irgend jemanden vor Unheil bewahrt. »Onkel Harvey?« rief Oliver in der Halle, während er die Haustür hinter sich schloß. Stille. Er rief noch einmal, aber er hatte den Namen seines Onkels noch nicht ausgesprochen, als ein eisiges Gefühl der Angst und eine böse Vorahnung in ihm aufstiegen. Etwas im Haus war nicht in Ordnung. Er wollte zur Küche gehen, in der sein Onkel seine zwei Tassen Kaffee zu trinken und die Zeitung zu lesen pflegte, als die alte Wanduhr in der Halle zehn Uhr schlug. Zu dieser Zeit hatte Harvey Connally seinen Kaffee bereits getrunken. Er saß vermutlich an seinem Schreibtisch und erledigte die Arbeiten eines älteren Mannes: das Studium der Kurse seiner Aktien und seine Korrespondenz. Anstatt in die Küche zu gehen, schritt Oliver am Fuß der Treppe vorbei zum Arbeitszimmer seines Onkels. Die Tür stand offen. Harvey Connally saß reglos in seinem Ledersessel hinter dem Schreibtisch, das Gesicht totenbleich und die Lippen vor Schmerzen zusammengepreßt. Oliver stockte der Atem. »Onkel Harvey? Was ist los? Was ist passiert?« Er eilte auf seinen Onkel zu und streckte die Hand instinktiv zum Telefon aus, um Hilfe zu rufen. Bevor er den Hörer abheben konnte, legte sein Onkel die Hand darauf und hielt ihn fest. »Noch nicht«, sagte er. Seine Stimme klang gepreßt, und Oliver sah, daß die Hände des alten Mannes zitterten, als er den Telefonhörer auf der Gabel hielt. Er litt offenbar unter starken Schmerzen, doch da war etwas am Klang seiner Stimme, bei dem Oliver den Gedanken aufgab,
seinem Onkel den Telefonhörer gewaltsam wegzunehmen. Als Oliver die Hand vom Hörer nahm, heftete der alte Mann den Blick auf ihn, und seine Augen waren trotz des Alters und der Schmerzen so klar und scharf wie immer. »Ich habe heute morgen etwas erhalten«, sagte er. Seine Lippen verzogen sich zu einer Grimasse, die ein Lächeln sein sollte. »Ich bin mir nicht sicher, was es bedeutet, aber ich habe das Gefühl, daß es überhaupt nicht für mich bestimmt ist. Ich nehme an, es ist für dich.« Er nahm die Hand vom Telefon und legte sie auf das Etui aus Mahagoni, das immer noch auf dem Schreibtisch vor ihm lag. Als Oliver automatisch danach greifen wollte, schüttelte Harvey Connally leicht den Kopf und legte die Hand auf dasEtui, verhinderte, daß Oliver es nahm, wie er seinen Neffen kurz zuvor daran gehindert hatte, den Telefonhörer abzuheben. »Noch nicht«, sagte er leise. Dann nickte er zu dem Sessel vor dem Schreibtisch. »Setz dich einen Moment, Oliver.« Oliver ging nicht zu dem Sessel. »Onkel Harvey, du mußt mich Dr. Margolis anrufen lassen. Du siehst aus, als ...«Er verstummte abrupt, doch sein Onkel brachte ein weiteres Lächeln zustande und blickte ihn durchdringend an. »Als würde ich sterben?« fragte er. »Ich nehme an, genau das wird geschehen, und wenn du etwas unternimmst - irgend etwas -, um mich davon abzuhalten, werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um dir das Leben so miserabel wie möglich zu machen, und zwar über meinen Tod hinaus. Ich bin alt und müde; mir macht es nichts aus zu sterben. Aber bevor es soweit ist, muß ich dir etwas erzählen.« Langsam und widerstrebend ließ sich Oliver in den Sessel vor dem Schreibtisch seines Onkels sinken. Der Blick des alten Mannes blieb auf ihn gerichtet, und Oliver hatte das unheimliche Gefühl, daß sein Onkel bis in die Tiefen seiner Seele schaute. Schließlich, offenbar zufrieden mit dem, was er gesehen hatte, sprach Harvey wieder. »Ich habe stets versucht, mein Bestes bei dir zu tun, Oliver«,
sagte er. »Ich befürchte, ich war nicht immer erfolgreich, aber du sollst wissen, daß ich mein Bestes getan und nie geglaubt habe, was mir dein Vater gesagt hat. Nie.« Er schwieg einen Moment lang und neigte den Kopf, als lausche er Worten aus einem fernen Land und einem Ort in der Vergangenheit. Dann schüttelte er den Kopf und sprach weiter. »Du warst nie ein schlechter Junge, Oliver. Du warst stets so gut, wie du es zu sein wußtest.« Er blickte zu dem Etui. »Wenn ich tot bin, mußt du mit dem fertig werden, was in diesem Etui ist. Ich werde nicht versuchen, dir zu sagen, wie du damit fertig werden sollst. Du wirst dich vielleicht einfach entscheiden, es irgendwohin wegzulegen. In diesem Fall rate ich dir, es zu verstecken, so daß es nie wiedergefunden werden kann. Wenn du dich entscheidest, ihm gegenüberzutreten, wenn du das Etui öffnest, dann will ich, daß du dabei eine Sache bedenkst.« Wieder heftete Harvey Connally den Blick auf Oliver, doch diesmal schienen seine Augen stärker zu leuchten, als Oliver es jemals gesehen hatte. »Ich habe dich großgezogen, ein Connally zu sein, Oliver«, sagte der alte Mann. »Nach dem Tod deines Vaters, als du alles warst, was mir geblieben war, habe ich mein Bestes getan, um dich wie meinen eigenen Sohn auf zuziehen.« Er legte abermals eine Pause ein, und Oliver sah ihm an, daß er nach den richtigen Worten suchte. Dann zuckte er unter den Schmerzen in seiner Brust zusammen und sagte: »Nicht dein Name zählt, Oliver. Das, was du innerlich bist, zählt.Und tief in meinem Herzen weiß ich, daß du kein Metcalf bist, Oliver. Du bist ein Connally. Du magst von deinem Vater gezeugt worden sein, aber du bist nicht sein Sohn!« Plötzlich ruckte sein Kopf zurück, und er riß die Augen überrascht auf. Er griff sich an die Brust und sank in seinem Sessel zusammen. Oliver sprang auf und nahm seinen Onkel in die Arme. »Nein, Onkel Harvey«, flehte er. »Stirb nicht! Bitte!
Du wirst wieder gesund werden. Ich werde...« Harvey Connallys rechte Hand schloß sich um den Arm seines Neffen. »Denk daran, Oliver. Ein Connally! Vergiß nie, daß ich dich als einen Connally aufgezogen habe!« Seine Hand spannte sich um Olivers Arm, seine Finger krallten sich in die Haut seines Neffen, und dann starb er. Sein Kopf sank herab, und sein Kinn ruhte auf der Brust. Als das Leben aus Harvey Connally wich, entspannte sich langsam seine Hand um Olivers Arm und sank herab. Oliver stand lange reglos da und starrte auf seinen Onkel. Selbst im Tod behielt Harvey Connallys Gesicht seine Charakterstärke. Oliver musterte dieses runzlige, einst gutaussehende Gesicht - das Gesicht des Mannes, der nicht nur sein einziger Verwandter gewesen war, sondern ihm auch als einziger seit seinem siebten Lebensjahr eine vorbehaltlose Liebe entgegengebracht hatte. Vergiß nie, daß ich dich als einen Connally aufgezogen habe! Oliver schloß behutsam die blauen Augen seines Onkels, in denen das Licht schließlich verblaßt war. Als er sich aufrichtete, fiel sein Blick auf das Etui auf dem Schreibtisch. Im ersten Impuls wollte er es öffnen, um zu sehen, was darin war, aber dann erinnerte er sich an die Worte seines Onkels: Du wirst dich vielleicht entscheiden, es irgendwohin wegzulegen. In diesem Fall rate ich dir, es zu verstecken, so daß es nie wiedergefunden werden kann ... Olivers Hand verweilte über dem Etui, doch dann entschied er sich und nahm den Hörer des Telefons ab. Er wählte Philip Margolis' Privatnummer. Nach dem dritten Klingeln meldete sich der Arzt. »Ich bin's, Oliver, Phil«, sagte er. »Mein Onkel ist gestorben. Es wäre mir lieb, wenn Sie rüberkommen könnten. Ich bin in seinem Haus.«Stille kehrte in Harvey Connallys Haus in der Elm Street ein. In den vergangenen zwei Stunden hatte ein ständiges Kommen und Gehen geherrscht, als zuerst Philip Margolis und dann Steve Driver eingetroffen waren und dann
die mit dem Sterbefall verbundenen Prozeduren stattgefunden hatten. Nach Dr. Margolis' Untersuchung der Leiche waren Harvey Connallys sterbliche Überreste aus dem Haus getragen worden, nicht um zu Broders Bestattungsinstitut, sondern um ins Blackstone Memorial transportiert zu werden, wo eine Autopsie stattfinden würde. »Es ist eigentlich gesetzlich nicht vorgeschrieben«, hatte der Arzt Oliver erklärt, »aber angesichts der jüngsten Ereignisse halte ich es für angebracht. Wenn ich sagen kann, ich habe eine sorgfältige Autopsie veranlaßt, und die Todesursache Ihres Onkels war der Herzanfall, den er offensichtlich erlitten hatte, dann sollte das jedes Gerede im Keim ersticken.« Mit einem Lächeln und einem Schulterzucken hatte er hinzugefügt: »Oder es wenigstens auf ein gedämpftes Tuscheln beschränken, denn es wird nicht möglich sein, Edna Burnham ohne ein Redeverbot zum Schweigen zu bringen.« Oliver schaffte ein schwaches Lächeln, das seine Resignation über die zwangsläufige Verbreitung der Gerüchte anzeigte, die von der alten Lady in die Welt gesetzt werden würden. »Irgendwie bezweifle ich, daß sogar ein Gerichtsbeschluß Edna daran hindern würde ...« Er ließ den Rest unausgesprochen, aber er brauchte auch nicht mehr zu sagen. Auch ohne Edna Burnhams Anfachen des Feuers würde es Spekulationen darüber geben, daß mehr an Harvey Connallys plötzlichem Tod dran war, als es den Anschein hatte. Erste Gerüchte waren bereits durch die Menge geschwirrt, die sich binnen Minuten nach Steve Drivers Ankunft versammelt hatte. Obwohl keiner im Haus die Nachbarn und Passanten jenseits der Hecke sehen konnte, berichtete Jeff Broder bei seinem Eintreffen, um mit Oliver die Vorkehrungen für die Beerdigung zu besprechen, daß mindestens ein Dutzend Leute auf dem Bürgersteig außerhalb der Pforte versammelt war. Während der Leichenbestatter, dessen Familie die Toten von Blackstone seit drei Generationen
unter die Erde brachte, ruhig über die Vereinbarungen sprach, die Harvey Connally selbst vor ein paar Jahren getroffen hatte, ging Steve Driver in dem Versuch nach draußen, die Schaulustigen fortzuschicken. Er hatte keinen Erfolg. Jetzt, nachdem die Leiche seines Onkels fort war, hatte Oliver das Gefühl, daß der Magnet entfernt worden war, der die Leute angezogen hatte. Als der letzte derjenigen, die legitim im Haus zu tun hatten, fort war, zerstreute sich dieMenge ebenfalls. Ihre Neugier war befriedigt worden: Sie hatte in düsterem Schweigen beobachtet, wie Harvey Connally sein Haus zum letzten Mal verlassen hatte. Oliver brachte Jeff Broder zur Haustür und schloß sie hinter ihm. Als er allein in der Stille des Hauses war, fühlte er sich einsamer als jemals zuvor in seinem Leben. Er begann langsam durch die verlassenen Zimmer zu wandern, und die Abwesenheit seines Onkels machte ihm zu schaffen. Nach dem Tod seines Vaters war dieses Haus sein Heim gewesen, jedenfalls während der Zeiten, zu denen er nicht weggewesen war, zuerst im Internat, dann im Sommer im Ferienlager und schließlich auf dem College. Jedes Zimmer enthielt Erinnerungen. Die Küche, wo er auf einem Hocker gesessen und der Haushälterin, der alten Mrs. Perry, zugeschaut hatte, wenn sie in Töpfen gerührt hatte, und ihm köstlicher Duft in die Nase gestiegen war. Das Eßzimmer, wo er und sein Onkel die Mahlzeiten gegessen hatten, die von Mrs. Perry zubereitet worden waren, und wo sie über alles gesprochen hatten, was Oliver gerade beschäftigt hatte. Im Wohnzimmer schienen die Melodien, die Harvey Connally auf dem Klavier gespielt hatte, noch in der Luft zu hängen, und in dem Zimmer, in dem Oliver gewohnt hatte, glaubte er immer noch den Duft der Blüten wahrzunehmen, die eine Sommerbrise durch das offene Fenster hereingeweht hatte, während er als Kind im Bett gelegen hatte. Jetzt roch das Zimmer muffig, denn nach dem Tod von Mrs. Perry hatte sein Onkel
entschieden, sich selbst zu versorgen. Er hatte behauptet, viel zu alt zu sein, um sich an eine fremde Person in seinem Haus gewöhnen zu können. Als Oliver unruhig durch jedes andere Zimmer des Hauses gewandert war, kehrte er ins Arbeitszimmer zurück, in dem das Etui immer noch auf dem Bücherbrett lag, auf das er es gelegt hatte, nachdem er Phil Margolis angerufen hatte. Er hatte das Etui weder dem Arzt noch Steve Driver gegenüber erwähnt. Das Vorhandensein eines weiteren mysteriösen Päckchens würde nur der Gerüchteküche, die bereits in Blackstone auf Hochtouren arbeitete, neue Nahrung geben. Er hatte das Etui auch nicht geöffnet. Als er jetzt die glatte Oberfläche berührte, erhielt er einen sonderbaren Schock, als sei die Hülle mit Elektrizität geladen. War das etwa vorher geschehen, als er das Etui vom Schreibtisch genommen und auf das Bücherbrett gelegt hatte? Er konnte sich nicht erinnern. Die geheimnisvollen Worte seines Onkels, denen sein plötzlicher Tod gefolgt war, hatten Oliver durcheinandergebracht, und er hatte den Rest des Morgens alles nur wie in Trance wahrgenommen. Ich habe nie geglaubt, was dein Vater mir gesagt hat. Nie. Die Worte hallten noch in Olivers Kopf nach.Einen Augenblick später verschwand das sonderbare Gefühl. Er nahm das Etui, ging zum Schreibtisch seines Onkels und legte es darauf. Als er es anschaute, wurde ihm klar, daß es ihm vage vertraut vorkam. Er betrachtete es genauer und sah das kunstvolle Medaillon, das in den Deckel eingearbeitet war, und plötzlich wußte er, warum es vertraut wirkte. Es war das seines Vaters gewesen. Aber was konnte darin sein? Er griff danach, um es zu öffnen, aber als er den Deckel berührte, hielt ihn etwas zurück. Nicht hier! Die Stimme war so deutlich, daß Oliver zusammenzuckte und sich umsah, um festzustellen, wer die Worte gesprochen hatte. Aber im Zimmer und im ganzen Haus war niemand außer ihm.
Heim. Bring das Etui heim. Abermals waren die Worte klar und deutlich, und Oliver konnte nicht glauben, daß sie in seiner Phantasie entstanden waren. Trotzdem befolgte er sie. Er nahm das Etui und verließ das Haus seines Onkels. Aber anstatt es durch die Haustür zu verlassen, ging er hinten durch die Küchentür hinaus, folgte dem Zufahrtsweg und bog dann auf die Harvard Street ein. Das Etui, das er aus irgendeinem Grund, den er nicht ganz verstand, unter sein Jackett in den Hosenbund gesteckt hatte, fühlte sich fast warm an. Die Wärme drang durch das dünne Hemd auf seine Haut, aber er wußte, daß dies nur eine Illusion sein konnte. Er beschleunigte seine Schritte, als er den Hügel hinaufging, doch als er zur ausgebrannten Ruine von Martha Wards Haus gelangte, blieb er stehen. Da war wieder das sonderbare Gefühl - eine Art elektrisches Pulsieren, das ihn durchlief. Oliver stand stockstill und starrte auf die verkohlte Ruine des Hauses, aus dem Rebecca Morrison erst vor ein paar Wochen geflüchtet war. Vor seinem geistigen Auge, jedoch so deutlich, als hätte er das Feuer selbst betrachtet, sah er von neuem, wie das Haus von den Flammen verschlungen wurde. Plötzlich riß ihn Gelächter aus seiner Träumerei. Er fuhr herum, um zu sehen, wer da lachte. Die Straße und der Bürgersteig waren verlassen. Olivers Herz schlug schneller. Er setzte seinen Weg den Hügel hinauf fort und passierte das Haus der Hartwicks, hielt jedoch nicht an und blickte nicht einmal hin. Am Pfad, der ihn durch den Wald zum Grundstück der Irrenanstalt führen würde, verließ er den Bürgersteig. Sein Puls normalisierte sich, als er außer Sicht des Hauses von Jules und Madeline Hartwick war. Dann verschwand das sonderbar vibrierende Gefühl so plötzlich und völlig, daß er sich fragte, ob er es tatsächlich empfunden hatte oder ob es nur auf den Schock über den Tod seines Onkels zurückzuführen war.Als er aus dem Waldstück auftauchte und
das von Unkraut überwucherte Grundstück betrat, von dem die Irrenanstalt umgeben war, begann es wieder. Wärme, die von dem Etui ausstrahlte. Heiß jetzt, pulsierend. Wirf es weg, sagte er sich. Trenn dich einfach davon, wirf es weg und spaziere davon. Oder besser noch, zertrete es und verstreue die Stücke - und was auch immer darin sein mag -auf dem Feld, so daß es unter die Erde gepflügt wird, wenn das Projekt Blackstone Center endlich in die Tat umgesetzt wird. Laß es zubetonieren. Verstecke es, wo es unmöglich wiedergefunden werden kann. Anstatt das Etui wegzuwerfen, umklammerte Oliver es und drückte es gegen seinen Körper, als könnte jede Sekunde jemand versuchen, es ihm zu entreißen. Er ging weiter, bahnte sich einen Weg über das Grundstück. Doch sein Ziel war ncht sein Haus. Statt dessen näherte er sich der Irrenanstalt. Bei jedem Schritt wurde sein Puls schneller, bis ihm das Herz bis zum Hals schlug. An der Treppe vor dem Portal zögerte er, rechnete mit dem Beginn der vertrauten Kopfschmerzen, die gewöhnlich stärker wurden, bis er sich in sein Haus flüchtete oder er das Gefühl hatte, von einem Schlag auf den Hinterkopf gefällt worden zu sein und von Schwärze eingehüllt zu werden. Heute blieb der Schmerz jedoch aus. Etwas trieb ihn weiter, trug ihn auf einer Welle von böser Ahnung und Furcht in das Gebäude der ehemaligen Irrenanstalt. Er stieg die Treppe hinauf und legte die Hand auf den bronzenen Griff des Portals. Mit der Hand auf dem Griff verharrte er und schaute in die Runde, als wolle er einen letzten Blick auf eine Landschaft werfen, die er vielleicht niemals wiedersehen würde. Er schaute den Hügel hinab zu dem Haus, in dem er in den ersten sieben Jahren seines Lebens und in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren gewohnt hatte.
Einen Augenblick lang - nur einen Moment -glaubte Oliver ein Gesicht hinter einem der Fenster zu sehen, und sein Herz schlug schneller vor Hoffung, bis ihm klar wurde, daß es nur eine Täuschung durch das Licht war. Dann nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Er wirbelte herum und glaubte eine kleine Gestalt im Wald verschwinden zu sehen. Ein Mädchen. Ein kleines Mädchen, das aussah wie... Mallory? Unmöglich. Eine Sinnestäuschung. Es mußte ein Trugbild sein, so wie das Gesicht am Fenster seines Hauses eine flüchtige und grausame Illusion und keineswegs Rebecca gewesen war. Doch von irgendwoher - aus der Ferne -glaubte er schwach eine Kinderstimme zu hören, die Stimme seiner Schwester, die ihn rief. Rief sie ihm zu, er solle zu ihr kommen? Oder rief sie ihm eine Warnung zu, fortzubleiben? Eine Täuschung durch das Licht und jetzt eine durch den Wind? Ein Flüstern, und jetzt nichts als Stille. Oliver drehte den Griff des Portals der Irrenanstalt und zog den schweren Flügel aus Eichenholz auf. Staubkörnchen tanzten in der Luft, und die eisige Kälte aus dem Inneren des Gebäudes schien nach ihm zu greifen und ihn hineinzuziehen. Oliver wappnete sich gegen den stechenden Kopfschmerz, mit dem er immer noch rechnete, und bewegte sich durch das Halbdunkel des Gebäudes wie in einem Traum. Er wußte nicht, wohin er ging oder warum, aber es war ihm klar, daß er sein Ziel erkennen würde, wenn er dort sein würde. Seine Schritte hallten durch das leere Gebäude, doch er nahm sie kaum wahr, denn er hörte andere Geräusche. Gespenstische Geräusche aus der Vergangenheit. Flüsternde Stimmen murmelten Unzusammenhängendes.
Entsetzensschreie klangen wie aus weiter Ferne von oben herab. Stöhnen und Ächzen der Hoffnungslosigkeit drangen aus dem Boden und hüllten ihn ein. Oliver ging von einem Zimmer zum anderen, bis er schließlich zu dem Raum gelangte, der das Büro seines Vaters gewesen war. Dort nahm er das Etui unter seinem Jackett hervor und legte es behutsam auf den Boden. Mit zitternden Händen öffnete er es und hob den Deckel. Oliver Metcalf starrte auf das Rasiermesser, und ein Bild stieg ungebeten aus den Tiefen seines Bewußtseins. Es war das Bild des Rasiermessers, das so silbern blitzte, daß es ihn fast blendete, als es durch die Luft zischte - und seiner Schwester die Kehle durchschnitt. Mit zitternder Hand nahm Oliver das Rasiermesser und klappte es auf. Und er hörte den Todesschrei seiner Schwester... Rebecca glaubte, in einer Wolke aus wallendem Nebel zu liegen, die sie einhüllte, ihr aber sonderbarerweise keine Angst machte, denn aus dem Nebel tauchte ein Bild auf, das Bestandteil ihrer Träume und Phantasien war, solange sie sich erinnern konnte. Ein Ritter in glänzender Rüstung auf einem prächtigen Hengst mit pechschwarzem Fell, der seinen Reiter mit wehender Mähne und im Wind peitschendem Schweif aufsie zutrug, während das Banner - eine blutrote Fahne aus feinster Seide - sich mit der Weichheit einer Wolke in der Brise bauschte. Jetzt glaubte sie, weit entfernt und gedämpft durch den Nebel, den Hufschlag des Pferdes zu hören, und aufgeregt wartete sie darauf, den Ritter zu sehen. Sein kühnes Gesicht. Seine freundlich blickenden Augen. Oliver. Es würde Oliver sein, der herbeieilte, um sie zu retten. Er würde durch das milchige Zwielicht zu ihr galoppieren, sie zu sich auf den Rücken des Hengstes heben, sie in die Arme nehmen und
sie an sich drücken, während sie davonpreschen würden. Aber dann, als der Hufschlag nahte, erahnte sie die erste Gefahr. Plötzlich wurde der Nebel dichter. Sie spürte, wie die Gefahr überall rings um sie lauerte, verborgen jenseits ihrer Sicht, und darauf wartete, daß der Nebel dichter und das Zwielicht schwärzer wurde, näher kroch und sie einhüllte. Geisterhafte Gesichter tauchten auf. Augen funkelten wild und böse. Schnauzen, die zu grausamen Spitzen zuliefen. Fänge, von denen gelber Speichel tropfte. Weitere Augen, gelb und tief in den Höhlen unter buschigen Brauen, die sie haßerfüllt anstarrten. Dämonen auf der Suche nach Seelen, die sie verschlingen konnten. Sie wollte schreien, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ohrenbetäubendes Gelächter peinigte sie, als ein Rudel Hyänen sich ihrem Opfer näherte, angriff und es zerfetzte. Rebecca warf sich herum, um vor den Höllenhunden zu fliehen, die mit jeder Sekunde näher kamen. Sie drehte sich hin und her. Es gab kein Entrinnen. Sie konnte nirgendwohin rennen. Das Entsetzen, das sich in ihr angestaut hatte, wurde zur Panik. Sie warf sich hart zur Seite. Ein scharfer Schmerz stach durch ihre Schulter, und ein gedämpftes Stöhnen stieg aus ihrer Kehle auf. Sie würgte. Sie bekam keine Luft mehr, und ihr ganzer Körper verkrampfte sich. Sie rang keuchend um Atem - und erwachte aus dem Griff des Alptraums. Aber sie erwachte mit der betäubenden Furcht, die sie seit einer scheinbaren Ewigkeit erfüllte. Sie bemerkte, daß ihre Augen und ihr Mund immer noch mit Klebeband verbunden waren. Sie konnte nichts sehen und nicht husten, und sie verkrampfte sich, bis sie glaubte, ihr Oberkörper würde explodieren. Als sie erwachte, spürte sie von neuem die eisige Kälte, die
langsam in ihren Körper gekrochen war, und einen Moment lang wünschte sie fast, sie könnte sich in den Nebel ihres Traums zurückziehen. Als jedoch die furchterregenden, boshaften Gesichter, die sie in den Nebeln gesehen hatte, wieder vor ihr auftauchten, wurde ihr klar, daß Schlaf - und das Grauen, das er bringen würde - sie nicht länger vor dem Horror schützen konnte, dessen Opfer sie geworden war. Sie verbannte die schrecklichen Bilder aus ihrem Bewußtein und gewann langsam wieder die Kontrolle über ihren geschwächten Körper. Ihre Übelkeit und der unwiderstehliche Hustenreiz ließen nach. Sie konnte wieder normal atmen. Ihre Schulter, mit der sie sich in dem Versuch gegen den harten, kalten Boden geworfen hatte, sich aus den Klauen des Alptraums zu befreien, schmerzte stark, doch sie wußte, daß auch dieser Schmerz im Laufe der Zeit abklingen würde. Es sei denn, sie starb. Es würde geschehen; davon war sie jetzt überzeugt. Früher oder später würde sie unter etwas zusammenbrechen, das sie nicht mehr ertragen konnte. Während sie still in der Dunkelheit lag, betete sie lautlos, daß ihr Körper als erster versagen würde, denn sie hatte bereits einen Blick auf die Schrecken erhascht, denen sie ausgeliefert sein würde, wenn sie schließlich den Verstand verlor. Die Hölle konnte kein schlimmeres Grauen sein, als für immer in den Träumen gefangen zu sein, von denen sie gepeinigt wurde, oder in diesem kalten, dunklen Gefängnis dahinzuvegetieren. Dann, so langsam, daß sie es kaum wahrnahm, normalisierte sich ihr Puls, und nach und nach klang ihr Entsetzen ab. Sie war noch nicht tot, und sie hatte auch nicht den Verstand verloren. Sie sagte sich, daß irgendwo jenseits der Schwärze und ihrer Fesseln Oliver immer noch nach ihr suchte, und er würde sie aus der ewigen Nacht erretten, in der sie gefangen war. Aber noch während sie sich an diese Hoffnung klammerte, glaubte
sie von neuem den trommelnden Hufschlag aus ihrem Alptraum zu hören, und einen Augenblick lang dachte sie, daß ihr Verstand sich doch nicht getäuscht habe. Es war kein Hufschlag, der durch die Dunkelheit hallte. Es waren Schritte. Der Peiniger näherte sich. Um ihr Nahrung zu bringen? Um ihren Durst zu stillen? Oder um ihr neue Qual zuzufügen, deren Natur sie erst erkennen würde, wenn er sie tatsächlich damit peinigen würde. Klick. Sie hörte, wie der Riegel der Tür zurückgschoben wurde. Dann knarrte eine Tür in den Angeln. Das Geräusch von Ledersohlen auf hartem Boden. Sie spürte ihn jetzt vor sich. Konnte er sie sehen? Wußte er, wer sie war? Interessierte es ihn überhaupt? Oder war sie nur durch Zufall in seine Gewalt geraten? Als sie in jener Nacht, die fast vergessen in den Tiefen ihrer Erinnerung war, aus dem Haus der Wagners geflüchtet und durch die Dunkelheit gerannt war, um Hilfe zu holen, hatte ihr Peiniger sie da zufällig gefunden? Rebecca verhielt sich völlig reglos und stumm. Er sollte nichts von ihrer Furcht und ihrem Schmerz wissen. Er würde sie gewiß töten, wenn er ihre Schwäche spürte. Die dunkle Gestalt starrte auf ihr Opfer hinab. Alles war fast richtig und bereit. Aber noch nicht ganz. Die Dinge waren nicht genau, wie sie gewesen waren und wie die dunkle Gestalt sie vor ihrem geistigen Auge sah. Sie neigte sich zu einem Wasserhahn und drehte ihn auf. Die Wanne, in der ihr Opfer lag, begann sich langsam zu füllen. Dann wandte sich die Gestalt ab. Sie brauchte nicht
zuzuschauen - bis der Höhepunkt kommen würde. Der Moment, auf den sie gewartet hatte, den sie vor so vielen Jahren vorbereitet hatte und der jetzt endlich wahr werden würde. Aber noch nicht. Noch nicht ganz. Erst, wenn die Wanne gefüllt war. Und jede Erinnerung genossen worden war. Als Rebecca das Rauschen des Wassers hörte, stieg einen Augenblick lang Hoffnung in ihr auf - er war gekommen, um ihr Wasser zu geben. Aber dann, als das Klebeband nicht von ihrem Mund gerissen und ihr kein Glas an die Lippen gehalten wurde, erkannte sie, daß ihr Peiniger etwas anderes vorhatte. Und als sie das eisige Wasser an ihren Beinen spürte und die Kälte ihren Körper betäubte, wurde ihr klar, was ihr Schicksal sein würde. Sie erkannte, zu was die kalte Glätte der Oberfläche gehören mußte, die sie mit dem Gesicht berührt hatte, und verstand, warum ringsum alles so hart war. Sie lag in einer Wanne, und der Peiniger füllte sie mit Wasser. Er wollte sie ertränken. Es sei denn, sie erfror in dem eiskalten Wasser, bevor sie ertrank. Sie spürte, wie der Mut und die Entschlossenheit, die sie erst vor Sekunden gefaßt hatte, verschwanden, und sie machte sich nichts mehr vor: Das Ende war nahe. Oliver starrte auf das Rasiermesser in seiner Hand. Alles ringsum war in Dunkelheit getaucht. Er sah nur das Funkeln der Messerklinge und das Blut darauf. Das Blut schimmerte in der Finsternis, naß und frisch, rot und dick. Als er darauf starrte, schien es zum Leben zu erwachen und über den Stahl zu seiner Hand zu fließen, die den Messergriff umklammerte. Seine Hand.
Aber sonderbarerweise doch nicht seine. Dann hörte er eine Stimme: »Daddy? Daddy, ich will das nicht. Ich möchte draußen spielen!« Die Stimme hallte in Olivers Kopf. Eine ängstliche, dünne Stimme. Die eines Fremden, jedoch nicht unbekannt. »Bitte!« bettelte die Stimme. »Bitte, darf ich rausgehen?« Die Stimme klang jetzt vertrauter, und Oliver erschauerte, aber er konnte die Stimme immer noch nicht ganz einordnen. Dann sprach eine andere Stimme mit hartem, unnachgiebigem Tonfall, und er erkannte sie sofort, obwohl er sie fast vierzig Jahre lang nicht gehört hatte. »Du bist ein böser Junge«, sagte die Stimme. »Ein sehr böser Junge, und du tust, was ich sage!« Olivers Furcht wurde zu Entsetzen, das aus seinem Unterbewußtsein hochkroch wie ein Dämon aus der Hölle und ihn mit scharfen Krallen packte. Die Stimme seines Vaters. »Sag mir, was du getan hast, Oliver!« Oliver versuchte, in der Finsternis zurückzuweichen - fort von der Stimme, sich vor dem Dämon in ihm zu ducken, der schnell Besitz von ihm ergriff, ihm seine Kraft und die Vernunft nahm und seinen Verstand zu zerstören drohte. Aber es gab kein Versteck, kein Entkommen, weder vor der Stimme seines Vaters noch vor dem Entsetzen in ihm. »Sag es mir, Oliver!« befahl die Stimme seines Vaters von neuem. »Sag mir, was du bist. Sag mir, was du getan hast.« »Ich bin ein böser Junge«, sagte die Stimme des kleinen Jungen, und jetzt erkannte Oliver sie deutlich. Seine Stimme. Er hörte seine eigene Stimme. »Ich bin ein sehr böser Junge.« »So ist es richtig«, erwiderte die Stimme seines Vaters. »Du bist ein sehr, sehr böser Junge.« Die Dunkelheit rings um die funkelnde Klinge des Rasiermessers begann zu verblassen und zum silbrigen Grau der
Morgendämmerung zu werden, und die glitzernden Blutflecken wurden unscharf und verschwanden. Aber das Licht wurde noch heller, bis es Oliver schließlich blendete und er die Augen schließen mußte. Dann hörte er die Stimme seines Vaters noch einmal, und er wußte, daß er machtlos war und gehorchen mußte. »Öffne die Augen, Oliver«, befahl Malcolm Metcalfs Stimme. »Öffne sie!« Oliver betritt die Irrenanstalt und bleibt hinter der Schwelle stehen. Sein Vater drückt seine Hand so fest, daß es schmerzt, aber Oliver weiß, daß er sich nicht losreißen und in den Sonnenschein hinausrennen kann. Er zuckt zusammen, als sich das riesige Eichenportal hinter ihm mit einem dumpfen Knall schließt, der für immer durch das Gebäude zu hallen scheint. Doch niemand sonst hört ihn. Sein Vater setzt sich in Bewegung, macht so lange Schritte, daß Oliver kaum mithalten kann, obwohl er mit seinen kleinen Beinen läuft, so schnell er kann. Leute sind rings um ihn. Einige von ihnen erkennt er. Frauen in weißer Kleidung. Schwestern. Männer mit weißen Kitteln. Ärzte. Auch andere sind da, deren Kleidung auf Oliver wie die der Ärzte wirkt, aber er weiß, daß sie keine sind. Bis vor kurzem hate er nicht gewußt, was die anderen - die keine Ärzte sind - taten. Aber jetzt weiß er es, und als einer davon ihn grüßt, erwidert Oliver den Gruß nicht. Es sind auch noch andere Leute anwesend, Leute mit Pyjamas und Morgenmänteln, obwohl es noch lange keine Schlafenszeit ist, nicht einmal für Oliver. Schließlich gelangen sie auf den oberen Absatz einer langen Treppe. Steile Stufen führen in die Dunkelheit hinab. Olivers Herz beginnt zu hämmern, und er bekommt
kaum Luft. Hinab. Sie gehen die Treppe hinab in die Schwärze, bis sie ganz unten sind und sein Vater ihn über einen langen Gang führt. Auf beiden Seiten des Flurs befinden sich geschlossene Türen, und Oliver versucht, nicht hinzusehen, weil er Angst vor dem hat, was dahinter sein könnte. Schließlich öffnet sein Vater eine der Türen. »Nein, Daddy«, wimmert Oliver. »Eitle, Daddy, bring mich nicht da rein ...« Aber es ist zu spät. Sein Vater zerrt ihn durch die Tür und schließt sie. Es klickt scharf, als das Schloß einrastet. Der Vater läßt seine Hand los, und Oliver, so von Angst erfüllt, daß seine Beine keine Kraft mehr haben, fällt auf den Boden und weicht dann zurück gegen die Wand. Wimmernd vor Furcht beobachtet er, wie sein Vater zu einem Schrank geht, ihn öffnet und ein langes Metallrohr herausnimmt, aus dessen Ende zwei glänzende Metallknöpfe herausragen. »Nein, Daddy«, wispert Oliver. »Nein ...« Als sich Oliver gegen die Wand duckt, preßt sein Vater das Ende des Metallrohrs gegen die nackte Haut von Olivers Bein. »Keine Widerworte, Oliver«, sagt Malcolm Metcalf schroff. »Gib mir niemals mehr Widerworte!« Ein Stromschlag schießt durch Olivers Bein. Er schreit auf, während seine Beinmuskeln krampfhaft zucken und sein Fuß das Schienbein seines Vaters trifft.»Laß das Treten«, befiehlt Malcolm Metcalf. »Wage es nicht, mich zu treten!« Wieder berührt das Metallrohr Oliver, diesmal am anderen Bein, und sofort durchfährt ihn ein weiterer Elektroschock. Sein Fuß schlägt schmerzhaft gegen die gekachelte Wand, und Oliver schreit erneut auf. Sein Vater ragt über ihm auf. »Sei still! Nimm es hin wie ein Mann!« Als sich das schreckliche Metallrohr über ihn senkt, versucht Oliver wegzukriechen. Er weint jetzt, teils aus Furcht, teils
wegen der brennenden Schmerzen, die sein Vater ihm mit dem Metallrohr zufügt. Schock um Schock vesetzt er ihm; seine Muskeln ziehen sich bei jedem Stromschlag krampfhaft zusammen, bis er vor Schmerz heult, ein langgezogener klagender Laut, durchbrochen von seinen Schreien, wenn ein neuer Schock ihn durchjagt. »Sei still, Oliver!« verlangt sein Vater. »Du mußt lernen, zu tun, was ich dir sage!« Oliver versucht noch einmal, dem Zorn seines Vaters zu entkommen, aber es gibt kein Entrinnen vor der hoch aufragenden Gestalt. Zack. Ein weiterer Schock. Ein neuer Krampf. Auf allen vieren versucht Oliver zwischen den Beinen seines Vaters hindurchzukriechen. Zack! Seine Arme und Beine geben nach, und er fällt auf den Bauch. Zack! Er wälzt sich herum und rollt sich zusammen. Zack! Er spürt heiße Feuchtigkeit, die sich zwischen seinen Beinen ausbreitet, und er beginnt zu schluchzen. Zack! »Hör auf zu heulen, Oliver!« Zack! »Ich habe dir gesagt, du sollst mit dem Plärren aufhören!« Zack! Zack! Zack! Olivers Darm entleert sich plötzlich, und schrecklicher Gestank steigt in seine Nase, als ein weiterer Elektroschock ihn um die letzte Selbstkontrolle bringt. Schluchzend liegt er in seinem eigenen Schmutz, schlingt die Arme um seine Beine und schließt die Augen. Er zittert am ganzen Körper, während er auf den nächsten Schock wartet. Er
bleibt aus. Statt dessen hört er die Stimme seines Vaters. »Was bist du?« fragt Malcolm Metcalf. »Ein böser Junge«, flüstert Oliver. »Ich bin ein sehr böser Junge.« Ohne ein weiteres Wort schließt sein Vater die Tür auf und verläßt den Raum. Als die Tür zufällt, hat Oliver für einen Moment Hoffnung, doch dann hört er das Klicken des Schlosses, als sein Vater von außen abschließt. Der kleine Junge bleibt leise weinend ein paar Minuten lang auf dem Boden liegen und wartet darauf, daß seine Schmerzen nachlassen. Er weiß, was er tun muß, bevor die Tür wieder aufgeschlossen wird, und er beginnt, den Boden zu säubern. Er benutzt sein Hemd als Handtuch und spült es immer wieder in dem kleinen Waschbecken aus, das an einer der Wände des Raums befestigt ist. Er weiß, daß er ein wirklich böser Junge ist. So böse, daß weder sein Vater noch sonst jemand ihn jemals wieder lieben werden. Die Dunkelheit schloß sich um ihn, und abermals konnte Oliver in der Finsternis nur die schimmernde Klinge des Rasiermessers sehen. Das Rasiermesser und das Blut seiner Schwester. Alles hatte sich verändert. Oliver hatte das Gefühl, in irgendeiner Unterwelt zu schweben, die keine Beziehung zu Blackstone oder zu dem Leben hatte, das er dort geführt hatte. Es war nicht dunkel - nicht ganz -, doch er konnte nichts sehen. Er glaubte, taub zu sein, denn er hörte keinen Laut, nahm keine Vibration oder ferne, gedämpfte Stimmen wahr. Sein Tastsinn war ebenfalls verschwunden, und er wußte nicht, ob er sich bewegte oder reglos verharrte. Er konnte sitzen oder liegen oder sich zusammenrollen und die Arme um die Knie schlingen, so wie er geschlafen hatte, als er ein kleiner Junge war.
Ein kleiner Junge. Der Gedanke hing mit ihm in der Leere. Das war er: ein Junge. Ein kleiner Junge. Er war nicht mehr Oliver Metcalf, fünfundvierzig und ein verantwortungsbewußter Erwachsener, Herausgeber der Zeitung der Stadt. Er war irgendwie in eine andere Welt versetzt worden, in die Welt seiner Kindheit, über die sich ohne sein Wissen vor Jahren ein schwarzer Vorhang gesenkt hatte. Aber jetzt ging der Vorhang auf. Während er wartete, hellte sich das graue Licht auf.Als erstes wußte er, daß er Angst hatte. Angst, weil er etwas Falsches getan hatte. Böse! Er war ein böser Junge. Ein sehr böser Junge! Er war ein böser Junge, und sein Vater würde ihn bestrafen. Und er verdiente die Strafe. Oliver wartete ruhig im Zwielicht. Irgendwie wußte er, daß dies das Richtige war. Manchmal kam sein Vater lange Zeit nicht zu ihm und manchmal sofort. Aber Oliver wußte, daß er sich ruhig verhalten und warten mußte. Denn wenn er böse war, würden weitere böse Dinge geschehen. Bruchstücke von Bildern schwebten um ihn herum, und plötzlich wurde das Licht vorübergehend wieder heller, und er konnte Dinge erkennen. Ein kleines Mädchen. Sie hatte ein hübsches Gesicht, das von langem, blondem Haar eingerahmt war, und sie hielt etwas in den Armen. Eine Puppe. Eine Puppe mit hübschem Porzellangesicht und goldfarbenem Haar. Plötzlich hörte Oliver aus der Stille und dem Zwielicht die Stimme seines Vaters. Aber jetzt sprach sein Vater nicht zu ihm. Er redete mit dem kleinen Mädchen. »Du kannst sie nicht behalten«, sagte sein Vater. »Kleine Jungen spielen nicht mit Puppen. Sie spielen mit Bällen und Schlägern!« Jetzt konnte Oliver das kleine Mädchen hören,
dessen Schluchzen ihn einhüllte wie zuvor die Stimme seines Vaters. Er sah das Gesicht der Kleinen, sah, wie es sich veränderte und die blonden Locken abfielen, hörte ihr Weinen, das sich zum Crescendo steigerte und dann verklang, die sonderbare Stille senkte sich wieder über Oliver, und das Gesicht des Kindes nahm das gleiche Grau an wie alles ringsum. Das Grau des Todes. Der kleine Junge war tot. Tot wie Olivers Schwester. Und in dem Grau flüsterte sein Vater. »Verstehst du?« fragte er. »Verstehst du, warum er gestorben ist?« Oliver nickte, obwohl er überhaupt nicht verstand. »Wir werden die Puppe fortlegen«, flüsterte die Stimme seines Vaters. »Wir werden sie an einen geheimen Platz legen. Aber du wirst dich daran erinnern, Oliver. Du wirst dich an alles erinnern.« Das Gesicht seines Vaters verblaßte wieder, und Oliver war wie zuvor in Grau eingehüllt und hatte das Gefühl, in einer Leere zu schweben, in einer Welt ohne Gefühle. In einer Welt, in der es keinen Unterschied zwischen Nacht und Tag gab, zwischen Lärm und Stille. Keinen Unterschied zwischen Leben und Tod. Dann tauchte ein Lichtpunkt auf. »Beobachte das Licht, Oliver«, verlangte die Stimme seines Vaters und durchdrang die Stille einer Ferne, die nirgendwo und überall war. Wie das Zwielicht war die Stimme seines Vaters einfach da. »Schau dir das Licht an«, ertönte wieder die Stimme seines Vaters. »Schau es dir an und sieh, was es macht.« Der Lichtpunkt tauchte wieder auf, wurde zur Flamme und flackerte vor Olivers Augen. Dann bewegte sich die Flamme, und jetzt konnte Oliver etwas anderes sehen.
Einen Arm. Einen Arm mit weicher, glatter und blasser Haut. Die Haut einer Frau. Die Flamme bewegte sich immer näher auf die Haut zu. Oliver wollte aufschreien, die Flamme von der Haut der Frau fortschlagen, aber das Zwielicht hielt ihn so fest, als wäre es aus Stricken und Riemen. Die Flamme züngelte über die Haut des Arms, und dann ertönte ein Geräusch aus der Stille. Das donnernde Brüllen eines Drachen. Das Brüllen ertönte von neuem, und dann sah Oliver den Drachen aus dem Zwielicht auftauchen. Seine Augen glühten wie Rubine, und die goldenen Schuppen glitzerten sogar in diesem sonderbaren Grau. Der Drache riß das Maul auf und ließ von neuem ein Donnern hören, ein grollendes Gebrüll, das in der Luft hing, als ein Feuerstoß aus seiner Kehle schoß. Der Drache verschwand so plötzlich, wie er aufgetaucht war, und nur das Bild des Frauenarms blieb, dessen Haut verkohlt war. Große Stücke davon schälten sich ab und gaben den Blick auf rohes Fleisch frei. Dann hörte Oliver den Drachen irgendwo in der grauen Ewigkeit um ihn herum noch einmal aufbrüllen, und das Fleisch vor seinen Augen ging in Flammen auf. Jetzt hörte er die Stimme seines Vaters. »Verstehst du, Oliver?« »Ich verstehe«, flüsterte Oliver. »Du wirst dich daran erinnern?« sagte sein Vater, und obwohl die Worte als Frage formuliert waren, verstand Oliver, was geschehen würde, wenn er sie vergaß. »Ich werde mich daran erinnern«, versprach er. »Wir werden den Drachen mit der Puppe fortbringen«, wisperte die Stimme seines Vaters. »Und wenn du sie wiedersiehst, wirst du wissen, wem sie gehören sollten.« Abermals vermischten sich Zeit und Raum. Oliver schwebte in der grauen Stille.
Weitere Bilder flackerten vor ihm auf. Ein Taschentuch, kunstvoll bestickt, mit einer Initiale in einer der Ecken. Ein Gesicht tauchte auf. Und Schlangen wanden sich um ihn. Abermals hörte er die Stimme seines Vaters. »Merk dir, was ich dir zeige, Oliver. Merk dir, was ich sage. Du weißt, was geschehen wird, wenn du es vergißt.« Oliver wußte, daß er es nicht vergessen würde. Und als sein Vater gesprochen und das Taschentuch mit der Puppe und dem Drachen versteckt hatte, verschwanden auch diese Bilder in dem Grau, als hätte es sie nie gegeben. »Aber du wirst dich daran erinnern«, flüsterte die Stimme seines Vaters. »Wenn es soweit ist, wirst du dich erinnern.« »Ich verspreche es, Daddy.« Die Worte waren mehr ein leises Wimmern, aber sie hallten so laut in Oliver nach wie das Brüllen des jetzt vergessenen Drachen. »Ich verspreche es ...« Weitere Bilder tauchten aus dem Grau auf, wurden für einen Moment scharf und deutlich und verschwanden dann, als hätten sie nie existiert. Und als jedes einzelne durch sein Bewußtsein flackerte, um nur einen Augenblick später zu verschwinden, flüsterte die Stimme von Olivers Vater weiter. »Du wirst wissen, was du zu tun hast, Junge. Wenn es soweit ist, wirst du es so sicher wissen, als wärst du meine Wiedergeburt. Du bist alles, was von mir übriggeblieben ist, und du wirst es tun. Nachdem sie mich vernichtet haben nachdem sie mich weggeschickt und mein Werk zerstört haben -, wirst du noch hier sein. Du wirst das Schwert meiner Rache sein. Du wirst genau tun, was ich sage, und es wird sein, als wäre ich selbst zurückgekehrt, um die Zerstörer zu zerstören. Und weißt du, warum du es tun wirst, Oliver?« »Weil ich böse gewesen bin«, flüsterte Oliver. »Weil ich ein sehr böser Junge gewesen bin und tun muß, was du willst.«
»Das stimmt, Oliver. Du warst ein böser Junge.« Die Worte seines Vaters trafen ihn wie Peitschenhiebe. »Du hast sie getötet! Deine Mutter getötet! Deine Schwester getötet! Böses, abscheuliches Kind!« Oliver versuchte, vor den Anschuldigungen zurückzuweichen, eine Möglichkeit zu finden, wieder in die tröstliche Stille des grauen Abgrunds zurückzufallen, doch es gab kein Entrinnen. Wohin er sich auch wandte, die Worte seines Vaters waren dort, drangen in sein Bewußtsein und quälten ihn, bis schließlich sein letzter Widerstand zusammenbrach. »Ich verstehe, Daddy«, sagte er. »Ich verstehe.« Dann schloß sich die Dunkelheit wieder einmal um ihn herum, und er sank dankbar zurück ins Vergessen, das. nicht nur frei von den sonderbaren Bildern, sondern auch von der Stimme seines Vaters war. Es war jedoch kein Vergessen, in dem Oliver für immer verweilen konnte. Früher oder später würde das Bewußtsein unweigerlich zurückkehren. Das Bewußtsein und die bösen Freuden, die sein Vater verlangte. Oliver wachte in der Dunkelheit auf. Es war nicht die vertraute Dunkelheit in seinem Zimmer, wenn er des Nachts aufwachte und dachte, es gebe überhaupt kein Licht mehr, nur um dann festzustellen, daß die Schatten auf den Wänden und der Decke, hervorgerufen von der Straßenlampe draußen, alte Freunde waren. In dieser Art Dunkelheit konnte er sich tiefer in sein Bett kuscheln, die Bettdecken bis zum Kinn hochziehen und seiner Phantasie freien Lauf lassen, indem er allerlei wundervolle Dinge in den Schatten sah, die über die Wände geisterten. Er liebte diese Art Dunkelheit. In einigen Nächten stellte er sich vor, im Dschungel in einem Zelt zu sein, und die Schatten, die er sah, wurden von Löwen, Tigern und Elefanten verursacht. Aber die Dunkelheit, in der er diesmal erwachte, war anders. Eine leere, unheimliche Dunkelheit.
Die Art Dunkelheit, bei der er dachte, die Dinge, die er nicht sehen konnte, beobachteten ihn. Die Art Dunkelheit, bei der er erschauerte, auch wenn es warm war. »Daddy?« rief er so leise, daß die wilden Tiere, die durch die Finsternis schlichen, ihn nicht hören konnten. Keine Antwort. Als Oliver ganz erwachte, wurde ihm klar, daß er überhaupt nicht in seinem Bett lag. Er war nicht einmal in seinem Zimmer. Und sein ganzer Körper schmerzte. Die Schwärze nahm eine seltsam graue Färbung an; dann, als sie heller wurde, wurde sie zu grellem, blendendem Weiß, als eine starke Glühbirne anging. Weiße Fliesen auf dem Boden. Weiße Kacheln an der Wand. Weiße Farbe an der Decke. Und dann tauchte das Gesicht seines Vaters über ihm auf. Er war flankiert von zwei großen Männern mit weißen Kitteln. »Du bist kein sehr guter Junge, Oliver«, sagte sein Vater. »Du bist ein böser Junge. Ein sehr böser Junge, der seine Schwester getötet hat.« »Ich habe es nicht getan!« weinte Oliver. »Ich ...« Bevor er aussprechen konnte, drückte sein Vater auf einen Knopf in einer Holzkiste, und Oliver zuckte uter dem Stromschlag zusammen. Als die Krämpfe nachließen und sich sein Körper entspannte, schrie er: »Nein!« Sein Vater drückte wieder auf den Knopf. Als ihn diesmal der Schock durchlief, mußte Oliver sich erbrechen. »Macht ihn sauber«, sagte Olivers Vater, und die beiden Männer mit weißen Kitteln traten an den Tisch heran und wischten das Erbrochene mit einem Handtuch weg. Sein Vater drückte wieder auf den Knopf. Oliver schluchzte jetzt, wimmerte. Übelkeit würgte ihn, und der bittere Geschmack von Galle stieg in seiner Kehle auf, als sein Körper
auf die Tortur reagierte. Dann, mit dünner Stimme, die von irgendwo außerhalb von ihm zu kommen schien, hörte sich Oliver sagen: »Ich war ein böser Junge. Ein sehr böser Junge.« »Das ist richtig«, sagte sein Vater. »Ein sehr böser Junge. Und jetzt sage ich dir, warum du ein böser Junge bist und was du getan hast.« Oliver atmete keuchend und flach, als ihm sein Vater erklärte, wie er das Rasiermesser genommen hatte und was er damit getan hatte. Die Stimme seines Vaters dröhnte weiter und weiter, und während er sprach, füllten sich Olivers Augen mit Tränen. Tränen des Kummers und der Scham. Und als es schließlich vorüber war, verstand er alles, was sein Vater ihm gesagt hatte, und er schlüpfte aus dem weißgekachelten Raum und zog die Tür hinter sich zu. Draußen auf dem Flur waren die Echos des Weinens und der Schreie zu hören, die so lange durch das Gebäude gehallt waren, aber Oliver Metcalf hörte sie nicht. Als er langsam die Treppe zum Erdgeschoß hinaufstieg, hörte er nur die Stimme seines Vaters, die ihm immer wieder sagte, was er, ein sehr böser Junge, getan hatte. Und ihm sagte, was er noch tun mußte. Rebecca Morrison sah dem Tod ins Auge. Sie konnte sich nicht erinnern, wann die Erscheinung aufgetaucht war; ebensowenig wußte sie, wie lange sie darauf gestarrt hatte. Sie war einfach da und hing vor ihr in der Dunkelheit. Es war ein bleiches, blutleeres Gesicht, umhüllt von den Falten einer Kapuze, deren schwarzer Stoff so perfekt mit der Schwärze ringsum verschmolz, daß das Gesicht fast ein Teil der Finsternis war. Obwohl es anscheinend keine Lichtquelle gab, war das Gesicht von Scharten bedeckt, die sich bewegten und mit einem eigenen Leben zu schimmern schienen.
Doch das Gesicht war tot. Hautlappen hingen um den Hals, und der lippenlose Mund klaffte weit auf und zeigte verfaulte Zähne. Die Zunge, von offenen Wunden bedeckt, hatte einen gelblichen Belag, der wie die Fäden von Spinnweben zwischen den schadhaften Zähnen gesponnen war; eine spinnenartige Kreatur, fett und schwarzbraun gesprenkelt, lauerte tief in der Kehle des Gespenstes und kroch nur lange genug hervor, um Rebecca einen Blick auf sie zu gewähren, bevor sie sich wieder in ihren fleischigen Zufluchtsort zurückzog. Beim Anblick dieser Kreatur mit ihren zahlreichen behaarten Beinen und den schaurigen Fetzen, dievon den gewölbten tropfenden Kinnbacken herabhingen, bekam Rebecca eine Gänsehaut. Über dem Rachen ragte eine große Hakennase hervor, deren graue Haut von Geschwüren übersät war. Schleim rann aus den Nasenlöchern. Zu beiden Seiten der Hakennase lagen finster blickende Augen tief eingesunken in ihren Höhlen. Die Augen waren wie der Rest des Gesichts grau und tot, aber irgendwo tief darin züngelte ein kaltes, grelles Licht - eine teuflische Flamme - wie die Zunge einer Schlange. Das Feuerzeug, dachte Rebecca. Das Geschenk, das ich und Oliver für Andrea gefunden haben. Es war, als wäre die Zunge des Drachen in den Augen des Todes gefangen. Sie versuchte, sich abzuwenden und dieses schreckliche Gesicht nicht anzuschauen, aber irgendwie hielt es sie in seinem Bann. Es lag ein entsetzlicher Hunger in dem Gesicht, Verlangen strahlte in den kalten Augen, eine verkommene Gier. Er ist gekommen, um mich zu holen, dachte Rebecca. Der Tod will mich und ist zu mir gekommen. All ihre Sinne spielten jetzt verrückt. Sie hatte keine Ahnung, wie lange es her war, seit der Peinger sie die Treppe hinaufgetragen hatte, und sie wußte nicht, was er von ihr wollte. Er hatte sie schließlich auf etwas Hartes und Kaltes gelegt. Ihre Hände waren nach wie vor hinter dem
Rücken gefesselt, doch sie hatte die glatte, gerundete Fläche ertastet, auf der sie lag, und ihr war wieder klargeworden, wo sie sich befand. In einer Badewanne. Er hatte sie in eine Badewanne gelegt. Und dann, fast im gleichen Augenblick, in dem sie erkannt hatte, wo sie war, hatte er den Wasserhahn aufgedreht. Nicht weit. Gerade genug, damit das Wasser langsam die Wanne füllte. Rebecca versuchte sich seelisch darauf vorzubereiten, was mit ihr geschehen würde, wenn er ihr die Kleidung vom Leib reißen würde. Sie konzentrierte sich auf die Suche nach etwas, das ihr helfen würde, das immer näher kommende Martyrium zu überstehen. Oliver! Sie würde an Oliver denken, und was auch immer der Peiniger ihr antun würde, es würde sie nicht berühren. Sie würde es nicht spüren. Nicht darauf reagieren. Und wenn es vorüber war, würde es nie geschehen sein. Als sich die Wanne füllte, stellte sie sich vor, wie Oliver sie anlächelte, sie freundlich betrachtete und zärtlich liebkoste. Sie glaubte, seine Stimme zu hören, die sie tröstete, sie ermunterte, ihr Kraft gab. Langsam stieg das Wasser in der Wanne, bedeckte erst ihre Füße, dann ihre Beine. Es hatte noch die eisige Kälte des Winters und betäubte jeden Körperteil, den es erreichte. Rebecca, gewöhnt an Kälte, ignorierte die eisige Nässe, wie sie den Peiniger ignoriert hatte, verschloß ihre Sinne dagegen, versetzte sich an eine Stätte, an der sie nur spürte und hörte, was in ihren Gedanken entstand. In der Welt, die sie sich ausdachte, war sie nicht allein. Oliver war bei ihr. Oliver kümmerte sich um sie.
Bis Oliver plötzlich nicht mehr da war und an seiner Stelle wieder das Gesicht des Todes vor ihr schwebte. Ihre Sinne funktionierten ebenfalls wieder. Sie konnte den stinkenden Atem des Gespenstes riechen und das eisige Wasser spüren. Hatte Tante Martha beim Sterben dies gesehen und empfunden? Als Marthas Blick gebannt auf das Gesicht ihres Erlösers gerichtet gewesen war, hatte sie da den Tod gesehen, der gierig auf sie herabgeblickt hatte? War sie selbst bereits tot? Aber nein - sie konnte noch die Härte der Wanne und die Nässe des Wassers spüren. Das Wasser lief immer noch langsam in die Wanne. Es bedeckte ihre Hüften wie eine eiskalte Decke; es streckte gierige Finger nach ihren Brüsten aus. In der Dunkelheit, von der sie umgeben war, sah Rebecca, daß sich der lippenlose Mund des Todes zur gräßlichn Parodie eines Lächelns verzog. Dann hörte sie außer dem Fließen des Wassers noch etwas anderes. Eine Tür wurde geöffnet. Schritte näherten sich. Der Peiniger war zurückgekehrt. Oliver stand im Büro seines Vaters, und der große Schreibtisch aus Walnußholz mit dem großen Ledersessel dahinter ragte vor ihm auf. Sein Vater hätte weder nach rechts noch nach links blicken müssen, um ihn zu sehen; Oliver stand genau vor ihm. Das war wichtig. Wenn man bestraft wurde, war es wichtig, demjenigen in die Augen zu sehen, der einen bestrafte. Sein Vater hatte ihm das immer wieder gesagt, aber es fiel ihm trotzdem noch schwer. So schwer, daß Oliver es nicht ganz schaffte, zu seinem Vater aufzublicken. Aber jetzt hörte er dessen Stimme: »Oliver.« Oliver biß sich auf die Unterlippe, um nicht aufzuschreien, und
hob schließlich den Blick. Der Sessel seines Vaters war leer. Oliver blickte sich fast verstohlen in dem Büro um. Er war überzeugt, daß sein Vater irgendwo sein mußte, aber die Couch an der linken Wand war leer; ebenso der Ohrensessel gegenüber demSchreibtisch seines Vaters. Dann fiel sein Blick auf das Porträt seiner Mutter, das an der Wand hing. Der Rahmen war mit einem Trauerflor behängt. Er starrte noch auf das Porträt, als er wieder die Stimme seines Vaters hörte: »Komm ins Badezimmer, Oliver. Komm und sieh dir an, was du getan hast.« Die Furcht zwang ihn zu gehorchen. Oliver ging zur Tür in der rechten Wand, drehte den Griff und schob sie auf. Er sah nichts. »Sieh hin«, befahl sein Vater. »Schau in den Spiegel und sieh, was du getan hast.« Oliver schritt zum Waschbecken und schaute in den Spiegel an der Wand dahinter. Aber anstatt sein Gesicht zu sehen, sah er das seines Vaters. Eine Wange war rasiert, auf der anderen war noch Schaum. Dann hörte Oliver hinter sich Gelächter. Das Gelächter von Kindern. Er fuhr herum und starrte wieder sein vierjähriges Ich an. Er war in der Badewanne, und seine Schwester war bei ihm. Sie saßen sich in der großen Wanne gegenüber, lachten glücklich, bespritzten sich mit Wasser und beschmierten sich gegenseitig das Gesicht mit Seifenblasen. »Laßt das sein!« hörte er seinen Vater sagen. Oliver und Mallory bespritzten sich weiterhin mit Wasser in der Badewanne und lachten. »Ich sagte, hört auf!« Die Stimme seines Vaters klang jetzt ärgerlich. Oliver und Mallory setzten ihr Spiel in der Badewanne fort und ignorierten den Befehl ihres Vaters.
Dann stand Mallory mit silberhellem, glücklichem Lachen in der Wanne auf, schöpfte mit beiden kleinen Händen Seifenwasser und bespritzte damit ihren Vater. Der kleine Oliver in der Wanne erstarrte, entsetzt über das, was seine Schwester getan hatte. Er blickte mit weit aufgerissenen Augen furchtsam seinen Vater an. Und Oliver Metcalf, der vor dem Waschbecken stand, hob den rechten Arm. In seiner Hand blitzte die Klinge des Rasiermessers, das er vor weniger als zwei Stunden in die Irrenanstalt mitgenommen hatte. Zorn erfüllte Oliver, als er die Stimme seines Vaters noch einmal hörte. Die Stimme zitterte vor Wut, während er finster auf seine kleine Tochter hinabstarrte. »Wage es nicht, zu lachen«, donnerte er. »Nach dem, was du getan hast, wage es nur ja nicht, zu lachen!« Aber Mallory, vertieft in ihr Spiel, spritzte nur noch mehr Wasser auf ihn, und ihr Lachen wurde immer lauter. Plötzlich schoß Olivers Hand vor und ... Schmerzen schössen durch seinen Kopf, löschten die Szene aus, die er soeben gesehen hatte, und er stürzte in den vertrauten dunklen Abgrund. Aber selbst als er in die Bewußtlosigkeit sank, hörte er die Stimme seines Vaters. »Nein, Oliver! Mach die Augen auf! Mach die Augen auf und sieh, was du getan hast!« Langsam verblaßte die Schwärze, und der Schmerz in Olivers Kopf ließ nach. Er öffnete die Augen. Und starrte auf seine nackte Schwester, die mit dem Gesicht nach unten in der Badewanne lag. Er stand jetzt neben der Badewanne, und sein Vater drückte ihm das Rasiermesser in die Hand. »Sieh, was du getan hast, Oliver«, sagte sein Vater. »Ich war es nicht, Oliver. Du warst es. Alles ist deine Schuld! Es ist deine Schuld, daß deine Mutter gestorben ist, Oliver! Sie starb nicht bei der Geburt von Mallory, Oliver! Sie starb bei deiner Geburt! Und jetzt hast du auch noch Mallory umgebracht. Sie ermordet,
Oliver. Deine Schwester ermordet!« Die Stimme seines Vaters wurde immer lauter. Die Worte hämmerten in Olivers Kopf, und jedes traf ihn wie ein Fausthieb. »Du hast sie getötet, Oliver! Sie getötet!« »Nein«, wimmerte Oliver. »Nein, Daddy, ich habe nicht...« »Killer!« brüllte Malcolm Metcalf. »Killer. Killer. KILLER!« Seine Stimme schwoll immer mehr an, und das Wort wurde zu einem Singsang und teilte sich in zwei Wörter: »Killer ... Killer ... kill her. Kill her! KILL HER!« Oliver packte seine Schwester, hob sie aus dem Wasser und drehte sie herum, um ihr ins Gesicht zu sehen. Immer noch donnerte die Stimme seines Vaters in seinem Kopf. »Kill her! Kill her!« Er hob das Rasiermesser hoch, und seine Hand zitterte, als er sich darauf vorbereitete, den Befehl seines Vaters zu befolgen: »KILL HER!« Rebecca versteifte sich, als sie die Hand auf ihrem Körper spürte. Aber diesmal war es eine andere Berührung. Die kalte Glätte des Latex-Handschuhs war verschwunden. Sie wurde aus der Wanne gehoben, und einen Augenblick später wurde das Klebeband von ihren Augen und vom Mund gerissen. Selbst das schwache Licht im Badezimmer blendete sie sekundenlang, doch dann wurde ihr Blick klarer, und sie erkannte das Gesicht über sich. »Oliver!« schrie sie. »Oliver!« Dann sah sie das Rasiermesser in seiner Hand, die blitzende Klinge, die auf sie herabsauste, und sie schrie noch einmal: »Oliver!« Rebeccas Schrei drang durch das Chaos in Olivers Verstand. Sofort verstummte die Stimme seines Vaters. Das Gesicht seiner Schwester verschwand und wurde zu Rebecca Morrisons lieben Gesichtszügen. Aber das Rasiermesser stieß bereits auf sie herab, weil er den Befehl seines Vaters ausführen und ihr die Kehle durchschneiden wollte. Im letzten Augenblick, als die
Klinge nur noch Millimeter von ihrem Hals entfernt war, ruckte sein Arm, änderte die Richtung, und anstatt in Rebeccas Fleisch zu schneiden, befreite die Klinge sie von ihren Fesseln. Das Rasiermesser fiel zu Boden. Während Oliver vor Schock wie erstarrt dastand, als ihm klar wurde, was er beinahe getan hätte, schlang Rebecca die Arme um seinen Nacken und schmiegte das Gesicht an seine Schulter. Oliver nahm Rebecca auf die Arme und trug sie aus dem Badezimmer, durch den leeren Raum, der einst das Büro seines Vaters gewesen war, und hinaus auf den Flur. Einen Augenblick später öffnete er das Portal der ehemaligen Irrenanstalt mit einem Fußtritt und ging hinaus in den warmen Sonnenschein des Frühlingstages. Oliver setzte Rebecca ab und öffnete die Tür seines Hauses. Dann nahm er sie wieder auf die Arme, trug sie ins Haus und stieg mit ihr die Treppe hinauf ins Gästezimmer. Er legte sie behutsam aufs Bett und zog eine Decke über sie. »Ich hole dir einige Handtücher und einen Morgenrock«, sagte er, als er zur Tür ging. Bei seiner Rückkehr lag die Kleidung, die Rebecca getragen hatte, seit sie aus Clara und Germaine Wagners Haus gerannt war, in einem Haufen neben dem Bett, und Rebecca lag unter der Bettdecke und zitterte so sehr, daß ihre Zähne klappterten. Ihre Haut war bleich und hatte eine bläuliche Färbung angenommen, und ihr verfilztes, nasses Haar hing strähnig um ihr eingefallenes Gesicht. Ich habe dies getan, dachte Oliver unglücklich. Ich habe dies Rebecca angetan. Er fiel auf die Knie und nahm ihre Hand in beide Hände. »Es tut mir leid«, flüsterte er. »O Gott, Rebecca, es tut mir so leid. Ich werde nie ...« Rebecca runzelte die Stirn. »Was tut dir leid?« fragte sie. »Du hast mich gerettet, Oliver. Du hast mich vor diesem schrecklichen Mann gerettet, der ...« Sie konnte nicht mehr weitersprechen. Sie erschauerte und zitterte am ganzen Körper
bei der Erinnerung an das, was sie durchgemacht hatte. Dann, als Oliver wieder zum Sprechen ansetzte, hielt sie ihm die Hand auf die Lippen. »Nicht jetzt«, bat sie. »Bitte! Mir ist so kalt, und ich bin so müde und hungrig.« Oliver schluchzte auf. Rebecca drückte seine Hand. »Könntest du mir irgendeine Suppe kochen?« fragte sie. »Wenn du mir etwas Suppe kochst, kann ich vielleicht derweil duschen und mich aufwärmen, und dann kannst du mir erzählen, wie du mich gefunden hast.« Oliver spürte einen schrecklichen Schmerz in seiner Brust einen Schmerz, der ihm das Herz zu zerreißen drohte - und fragte sich, ob es möglich war, daß ihm tatsächlich körperlich das Herz brach. Sie versteht es nicht! Sie versteht es überhaupt nicht! »Bitte«, sagte Rebecca, »erzähl jetzt noch nichts, Oliver.« Oliver zögerte mit widerstreitenden Gefühlen. Einerseits mußte er ihr klarmachen, was er Schreckliches getan hatte, andererseits wünschte er, es gäbe eine Möglichkeit, es ihr zu verschweigen. Aber noch während ihm der Wunsch in den Sinn kam, wußte er, daß er unmöglich zu erfüllen sein würde. Aber er konnte ihr die Wahrheit noch ein paar Minuten ersparen. »Selbstverständlich«, sagte er leise. »Ich koche dir etwas. Das Badezimmer ist gleich dort hinten.« Er wies zu der Tür und wandte sich zum Gehen. Doch dann schaute er zurück zu Rebecca. »Kommst du allein zurecht?« fragte er besorgt. »Natürlich«, versicherte ihm Rebecca. »Außerdem wirst du unten sein. Was kann mir da passieren?« Sie lächelte ihn an, und Oliver versuchte, sich dieses Lächeln tief einzuprägen, damit er es nie vergessen konnte. Wenn sie erfuhr, was er getan hatte, würde er nie wieder ihr Lächeln sehen. Er verließ das Zimmer und ließ Rebecca allein. Er fand eine Dose Hühnersuppe im Küchenschrank, öffnete sie und schüttete den Inhalt in einen Topf, den er in die Mikrowelle stellte. Während die Suppe erhitzt wurde, nahm er den Telefonhörer ab und tippte die Nummer von Phil Margolis ein.
»Ich bin's, Oliver«, sagte er, als sich der Arzt meldete. »Ich habe Rebecca gefunden.« Bevor Margolis eine Frage stellen konnte, sprach Oliver weiter. »Sie war in der Irrenanstalt. Ich glaube, ihr geht es gut, aber wenn Sie rüber zu meinem Haus kommen könnten ...« »Ich werde in zehn Minuten dort sein«, fiel ihm Philip Margolis ins Wort. Oliver legte den Hörer auf. Dann hob er ihn von neuem ab und rief Steve Driver an. »Steve?« sagte er, nachdem er erklärt hatte, daß Rebecca bei ihm war. »Edna Burnham hatte recht. Es hing alles miteinander zusammen.« Eine Pause. Dann: »Und ich weiß, wie es zusammenhing.« Es folgte Stille. Dann: »Ist das alles, was Sie mir sagen wollen?« fragte Driver. »Oder erzählen Sie mir, wie es zusammenhing?« »Ich«, sagte Oliver leise. »Ich war die Verbindung, Steve.«Jetzt dehnte sich die Stille so lange, daß sich Oliver fragte, ob der Deputy noch am anderen Ende der Leitung war. »Ich nehme an, ich sollte besser rüberkommen.« »Ja, das sollten Sie besser«, erwiderte Oliver so mutlos, wie er sich plötzlich fühlte. Er legte den Hörer auf und deckte den Küchentisch für Rebecca. Er schob gerade eine Scheibe Toast in den Toaster, als fast gleichzeitig zwei Wagen vor seinem Haus hielten. Phil Margolis und Steve Driver trafen ein. Er zeigte dem Arzt das Gästezimmer, in dem er Rebecca einquartiert hatte, und führte dann Steve Driver in die Küche. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee oder sonst etwas?« Seine Stimme klang so dumpf wie ein paar Minuten zuvor am Telefon. »Ich möchte hören, was los war«, erwiderte der Deputy. »Oder wenigstens, was Ihrer Meinung nach los war.« Oliver überlegte und versuchte sich zu entscheiden, womit er beginnen sollte. Vieles von dem, was sich heute in der Irrenanstalt ereignet hatte, war in seiner Erinnerung noch
durcheinander. Vor seinem geistigen Auge wimmelte es von Bildern, und er erschauerte, als er an die leidvollen Szenen seiner Kindheit dachte, an die er sich erinnert hatte. »Ich glaube, es begann an dem Tag, an dem meine Schwester starb«, sagte er schließlich. Steve Driver runzelte die Stirn und setzte sich auf einen der Küchenstühle. »Das war vor vierzig Jahren«, sagte er. Oliver nickte. »Onkel Harvey gab mir heute morgen vor seinem Tod etwas.« Das Stirnrunzeln des Deputys vertiefte sich, aber er sagte nichts, und Oliver sprach weiter. »Es war ein Rasiermesser in einem Etui aus Mahagoni. Er fand es auf seiner Veranda, als er seine Zeitung holte.« Oliver schaute Steve Driver in die Augen. »Es war das Rasiermesser meines Vaters. Mein Vater tötete damit meine Schwester. Dann redete er mir ein, daß ich es getan hatte.« Oliver zwang sich, ruhig und ohne Emotionen zu sprechen, und langsam berichtete er, was ihm an diesem Tag in der Irrenanstalt widerfahren war, als er sich an alles erinnert hatte. Irgendwann während Olivers Bericht gesellte sich Philip Margolis zu ihm und Steve Driver. Die beiden Männer hörten schweigend zu. Steve Driver machte sich einige Notitzen, unterbrach Oliver jedoch kein einziges Mal. »Das war der Grund für die Kopfschmerzen und Ohnmächten«, erklärte Oliver dem Arzt. »Es war überhaupt nichts Organisches. Es waren einfach zu viele schmerzliche Erinnerungen, mit denen ich nicht fertig werden konnte. Und jedesmal, wenn ich in die Nähe der Irrenanstalt ging -jedesmal, wenn die Erinnerungen an die Oberfläche kamen -, widersetzte ich mich unbewußt und tat alles, um mich nicht erinnern zu müssen. Und das war es, was mein Vater wollte.« Er schüttelte den Kopf, als er sich die Szenen in Erinnerung rief, die er schließlich noch einmal erlebt hatte, nachdem er den schwarzen Schleier jetzt für immer zerrissen hatte. »Was es mit all diesen
Gegenständen auf sich hatte, die in den letzten Monaten auftauchten? Diese Puppe gehörte Bill McGuires Tante. Und das Feuerzeug mit dem Drachenkopf gehörte Martha Wards Schwester. Mein Vater zeigte mir all diese Dinge, als ich ein Kind war. Und er pflanzte alles in meinen Kopf ein.« Seine Lippen verzogen sich zu einem bitteren Lächeln. »Es war seine Rache. Ich war seine Rache. Seine Wiedergeburt, sagte er mir. Alles, was von ihm übrig war, um seinen Willen durchzusetzen. Er benutzte mich, um etwas zu jeder Familie zurückzuschicken, die jemals etwas mit dieser Anstalt zu tun hatte.« Er schwieg eine Weile und fügte dann hinzu: »Ich habe Rebecca gekidnappt«, sagte er ruhig. »Ich habe sie entführt und dort oben gefesselt und ...« »Nein!« Der Aufschrei war so laut, daß alle drei Männer am Tisch zusammenzuckten. Dann ruckten ihre Köpfe herum, und sie sahen Rebecca Morrison auf der Türschwelle. Sie war in Olivers dicken Morgenmantel aus Frottee gehüllt, der viel zu groß für ihre kleine Gestalt war, und der Gürtel war fest um ihre Taille geschnürt. Ihr Haar, jetzt sauber und trocken, bildete einen weichen Rahmen um ihr herzförmiges Gesicht. Ihr Blick war auf Oliver gerichtet. »Du hast mir nichts angetan, Oliver«, sagte sie ruhig. »Du hast mir das Leben gerettet.« Oliver stand auf und trat auf sie zu. Er schüttelte den Kopf. »Rebecca, du verstehst nicht. Ich...« Rebecca durchquerte schnell die Küche und hielt Oliver den Zeigefinger auf die Lippen. »Ich weiß, was du getan hast, Oliver«, sagte sie. »Ich war dort, erinnerst du dich? Ich war dort, als ich entführt wurde, und ich war die ganze Zeit dort, als mich dieser Mann in der Irrenanstalt gefangenhielt. Und ich war dort, als du mich gerettet hast.« »Aber du verstehst nicht ...«, begann Oliver von neuem. Rebecca ergriff seine Hände. »Ich verstehe«, sagte sie. »Ich
verstehe, daß du mich liebst und daß ich dich liebe. Und das ist alles.« Als Oliver wieder zum Sprechen ansetzte, schüttelte sie den Kopf und wiederholte: »Das ist alles.« Oliver schaute Rebecca lange an und blickte dann schließlich zu Steve Driver und Phil Margolis. Ganz gleich, was Rebecca gesagt hatte, sie würden die Wahrheit verstanden haben. Aber Steve Driver riß die Blätter mit den Notizen aus seinem Notizbuch, und als er es in die Innentasche seines Jacketts zurücksteckte, sprach Philip Margolis für sie beide. »Rebeccas Wort gegen Ihres, Oliver«, sagte der Arzt. »Und wir alle wissen, daß Rebecca nicht lügt. Sie kann das einfach nicht.« Schließlich legte Oliver die Arme um Rebecca und zog sie an sich. Er küßte ihr Haar, als sie sich an ihn schmiegte. Aber dann fiel sein Blick auf die ehemalige Irrenanstalt, die jenseits des Fensters drohend auf dem Hügel aufragte. Er entließ Rebecca aus seiner Umarmung, und seine Miene nahm einen härteren Zug an. »Ich werde in ein paar Minuten zurück sein«, sagte er. »Ich muß etwas erledigen ...« Oliver verließ das Haus, schritt zum Hügel hinauf und ging zu der Stelle, an der die Abrißbirne stand und darauf wartete, ihr Werk fortzusetzen. Er kletterte auf den Sitz vor den Bedienungselementen, fand den Knopf der Zündung und startete den Motor. Er betrachtete die Kontrollen und Anzeigen und betätigte verschiedene Hebel. Eine Augenblick später schwang die gewaltige Stahlkugel an dem Kabel zurück, verharrte einen Moment am Ende ihres Bogens, bewegte sich wieder und gewann Schwung, während Oliver sie auf das große Gebäude ausrichtete. Die Abrißbirne donnerte gegen die Mauer, Glas klirrte, und Steinbrocken flogen in alle Richtungen. Immer wieder ließ Oliver die Abrißbirne gegen die Mauer der ehmaligen Irrenanstalt krachen. Mit jedem Schlag verschwand etwas mehr von dem Schmerz, der ihm von seinem Vater zugefügt worden war, als er ein Junge gewesen war.
Das Werk der Zerstörung ging weiter, bis die gefängnisartige Mauer der ehemaligen Irrenanstalt von Blackstone nicht mehr standhalten konnte und zusammenbrach.
Oliver Metcalf war endlich frei.
Epilog Die weiß verschalte Gemeindekirche mit ihrem hohen Glockenturm hatte seit mehr als zwei Jahrhunderten über Blackstone Wache gehalten. Als jetzt die Glocke vier Uhr schlug, verließen fast alle Bürger von Blackstone ihre Häuser und gingen langsam zum Friedhof, durch den stetigen, klagenden Glockenton angezogen wie Eisenspäne von einem Magnet. Sie kamen aus allen Richtungen, aus den College-Straßen Harvard, Princeton und Amtierst nördlich des Parks und aus den weniger großen Seitenstraßen süd-lich davon, die wie ein Gitter dazwischen lagen. Wie es die alte Sitte vorschrieb, versammelten sie sich kurz im Park, Nachbarn begrüßten sich, und lebenslange Freunde plauderten ein paar Minuten lang miteinander, bevor sie sich zu größeren Gruppen zusammenschlössen und nach Westen durch den weißen Zaun zogen, von dem der Friedhof umgeben war. Seit Harvey Connallys Tod waren drei Tage vergangen; drei Tage, seit Oliver Metcalf Rebecca Morrison aus der Irrenanstalt getragen hatte. Drei Tage, seit Oliver mit der Abrißbirne die Mauer der Irrenanstalt zerschmettert hatte. Drei Tage, in denen weitere Gerüchte durch die Straßen von Blackstone geschwirrt waren, von Haus zu Haus und von Mund zu Mund weitergegeben worden waren, so schnell, daß die Worte kaum zu verstehen gewesen waren. Wo die Geschichte begonnen hatte - wer zuerst die Worte geäußert hatte -, konnte keiner sagen, denn es ist nie möglich, ein Gerücht zu dem zurückzuverfolgen, der es in die Welt gesetzt hat. Aber um vier Uhr an diesem wolkenverhangenen Nachmittag, als es an der Zeit war, Harvey Connallys Leichnam zur letzten Ruhe zu betten, gab es kaum eine Seele in Blackstone, die nichts von der Gechichte gehört hatte. Eine Legende entstand. Eine Legende über einen Mann, der sein ganzes Leben lang von der Stadt geehrt und geachtet worden war.
Ein Mann, der im Tod eine neue Rolle annahm, die er zweifellos in den folgenden Jahrzehnten -vielleicht sogar Jahrhunderten - weiterspielen würde. Harvey Connally, behaupteten die Gerüchte, war der Mann gewesen, der die Geschenke verteilt hatte und damit einen Fluch über ein halbes Dutzend der ältesten Familien von Blackstone gebracht hatte, einschließlich seiner eigenen. »Das ist verrückt«, sagte Bill McGuire, als jemand - er konnte sich nicht mehr genau erinnern, wer - ihm das im Flüsterton erzählt hatte. »Harvey hätte so etwas niemals getan.« Aber am Ende des Tages, als er in die Bibliothek gegangen war und das Porträt seiner Tante angeschaut hatte - ihr Gesicht ähnelte so sehr dem der Puppe, die von seiner Tochter immer noch jede Nacht im Schlaf in den Armen gehalten wurde -, waren ihm Zweifel gekommen. Bill McGuire wußte wenig über diese Tante. Er hatte nur gehört, daß sie bei einem Bootsunfall vor vielen Jahren - lange vor seiner Geburt - ums Leben gekommen war, nachdem ihrem Kind irgendeine Tragödie widerfahren war. Die Einzelheiten der Tragödie hatte man ihm nie erklärt. Harvey Connally jedoch mußte die Tante gekannt und gewußt haben, was mit ihr geschehen war. Vermutlich hatte er sogar davon gewußt, wenn die Puppe einst ihr oder ihrem Kind gehört hatte. Bill McGuire konnte es nicht mit Sicherheit sagen, und obwohl er immer noch behauptete, daß die Puppe nichts mit dem Tod seiner Frau Elizabeth zu tun gehabt hatte, waren Zweifel gesät und begannen zu wachsen. Bill wollte zwar nicht an die geflüsterten Gerüchte über Harvey Connally glauben, aber er konnte sie auch nicht völlig in Abrede stellen. Als er heute zur Beerdigung auf den Friedhof ging, hoffte er, daß in diesem letzten Moment vor Harvey Connallys Beisetzung die Wahrheit irgendwie ans Licht kommen würde. Vielleicht, dachte Bill, spürte er irgend etwas. Etwas, das ihm sagte, daß der Fluch, der auf Blackstone gelastet hatte, mit
Harvey Connallys Beisetzung endlich ein Ende gefunden hatte. Obwohl Madeline Hartwick noch nicht mit Bill McGuire gesprochen hatte, nahm sie mit Celeste aus dem gleichen Grund wie der Bauunternehmer an der Beerdigung teil. Sie hatte die geflüsterten Gerüchte über Harvey Connally erst gestern gehört, als sie aus Boston zurückgekehrt war. Dort wohnte sie nun mit Celeste in dem kleinen Apartment, das sie gefunden hatten. Während einer schlaflosen Nacht war Madeline zum ersten Mal, seit ihr Mann Jules sie in der letzten Nacht seines Lebens in Angst und Schrecken versetzt hatte, wieder in den kalten Zimmern des Herrenhauses in der Harvard Street unruhig auf und ab gegangen und hatte immer wieder bei dem Porträt von Jules' Mutter verweilt, das sie am schicksalhaften Abend der Verlobungsfeier ihrer Tochter an die Wand in der Bibliothek gehängt hatte. Als sie das Porträt von Louisa Hartwick betrachtete, hielt sie das Medaillon in der Hand, das Celeste ein paar Wochen nach Jules' Tod im schmelzenden Schnee gefunden hatte. Das Medaillon, das Madeline schließlich geöffnet und darin eine Gravierung entdeckt hatte - in so kleinen Buchstaben, daß sie eine Lupe gebraucht hatte, um sie erkennen zu können: LH und MM. Madeline hatte nicht lange gebraucht, um zu erraten, welche Namen sich hinter den Monogrammen verbargen: Louisa Hartwick und Malcolm Metcalf. Und so war ihr klargeworden,weshalb das Porträt ihrer Schwiegermutter, auf dem sie die Schürze einer freiwilligen Helferin der Irrenanstalt trug, auf dem Speicher versteckt worden war: Sie mußte eine Affäre mit Oliver Metcalfs Vater gehabt haben. Und Harvey Connally, der Bruder von Malcolm Metcalfs Frau, mußte es herausgefunden haben. Hatte er nach all diesen Jahren das Medaillon gefunden und es in jener Nacht der Party in ihrem Wagen zurückgelassen, weil er gewußt hatte, daß es ihren Mann in den Verfolgungswahn
treiben würde? Aber wie konnte er das gewußt haben? Bis zu dieser Nacht hatte Jules überhaupt keine Anzeichen von Paranoia gezeigt. Aber hatte Harvey Connally vielleicht etwas über die Familie ihres Mannes gewußt, das ihr unbekannt war? War es nicht sogar möglich, daß sich irgendein Groll, längst vergessen von jedem außer ihm selbst, seit Jahren in Harvey Connally aufgestaut hatte und daß er jetzt, als er das Ende seines Lebens nahen fühlte, hatte abrechnen wollen? Madeline Hartwick konnte wie Bill McGuire nicht ganz über das hinweggehen, was sie über Harvey Connally gehört hatte, und obwohl sie nicht ganz glaubte, was die Leute erzählten, sagte sie sich, daß etwas Wahres daran sein mußte. So nahm sie ebenfalls an der Beerdigung nicht nur teil, weil sie Harvey Connally so viele Jahre lang gekannt hatte, sondern auch, weil sie auf eine Art Zeichen wartete. Auf ein Zeichen, das ihr die Wahrheit enthüllen würde. Als die Fragen und Gerüchte die Runde machten, erinnerte man sich an immer mehr kleine Einzelheiten über Harvey Connally. Jemand entsann sich, daß Harvey Connally fast alle Geheimnisse in Blackstone gekannt hatte: Es gab nur wenige alteingesessene Familien, mit denen er nicht verwandt gewesen war, wenn auch nur weitläufig. Er war Treuhänder der Irrenanstalt gewesen und hätte in dieser Eigenschaft wissen müssen, was dort vorging. Sein Vater hatte die Irrenanstalt erbauen lassen, und so kannte er sich vermutlich in jedem Raum, jedem versteckten Durchgang, jeder dunklen Nische aus. Und was war mit Ed Becker? Zum Zeitpukt von Harvey Connallys Beisetzung hatte sich jeder in der Stadt daran erinnert, daß Eds Großonkel in der Irrenanstalt verschwunden war. Entweder das, oder er hatte den Rest seines Lebens im Gefängnis verbracht. Da war doch etwas mit einem
verschwundenen Mädchen gewesen, nicht wahr? Die Geschichten waren von Haus zu Haus weitererzählt worden, man hatte darüber in der>Roten Henne< diskutiert und in der Bücherei geflüstert. Keiner wußte mehr, wer sich als erster an das Gerücht erinnert hatte, daß vor Jahren Martha Wards Schwester in der Irrenanstalt gestorben war. Sie hatte sich mit einem Feuerzeug verbrannt, und man hatte sie nicht retten können. Ein Feuerzeug wie das mit dem Drachenkopf, das Rebecca von Janice Anderson gekauft hatte? Bald waren wenigstens drei Leute bereit, zu beschwören, daß sie sich erinnerten, Harvey Connally an Janice Andersens Verkaufsstand gesehen zu haben, bevor Oliver und Rebecca das Feuerzeug gekauft hatten, das Rebecca ihrer Kusine Andrea geschenkt hatte. Obwohl das schon vor Wochen passiert war, wurden ihre Erinnerungen an Harveys unheimliche Anwesenheit auf dem Flohmarkt bei jedem Erzählen immer deutlicher, bis niemand in Blackstone bezweifelte, daß der alte Mann an jenem Tag dort herumgeschlichen war. Selbst das Taschentuch, das Oliver Rebecca geschenkt hatte, wurde Harvey zugeschrieben. Wie oft war er in Olivers Haus gewesen? Konnte nicht Harvey das bestickte Tüchlein auf den Speicher gebracht haben, damit Oliver es fand? Er würde gewußt haben, daß Oliver es Rebecca schenken würde. Schließlich enthielt es ihre gestickten Initialen, die in das komplizierte Muster eingearbeitet worden waren. Am dritten Tag, als Harvey Connallys sterbliche Überreste schließlich in dem Mausoleum beigesetzt wurden, das sein Vater hatte erbauen lassen, waren die Ranken der Legende durch Blackstone gekrochen wie wuchernder Wein und hatten jeden Bürger so fest im Griff, daß nur wenige noch Zweifel hatten. Am lautesten ließ sich Edna Burnhams Stimme vernehmen. Sie betrat an diesem Nachmittag als letzte den Friedhof hinter
der Gemeindekirche, und als sie durch das Tor schritt und sich langsam einen Weg zu der Stelle des Friedhofs bahnte, an der Generationen von Connallys beerdigt worden waren, verstummten die Trauergäste. Edna ging mit hocherhobenem Kopf, und die Menge teilte sich vor ihr, als unterwerfe sie sich ihrem unausgesprochenen Willen. Die kleine Megan McGuire, die mit dem linken Arm ihre Puppe fest umklammerte, drückte sich enger an ihren Vater, als die alte Frau stehenblieb und sie mit durchbohrendem Blick anschaute. Als die alte Frau die Hand ausstreckte, um das Haar der Puppe zu streicheln, wich Megan vor ihr zurück und blickte sie finster an. »Rühren Sie sie nicht an«, sagte sie. »Sam mag das nicht.« Edna Burnhams Hand zuckte zurück, als hätte sie ein heißes Eisen berührt, und dann ging sie wortlos weiter, vorbei an Bill McGuire und Mrs. Goodrich. Ein paar Schritte weiter gelangte sie zu Madeline Hartwick, die von ihrer Tochter Celeste undAndrew Sterling flankiert wurde. Die meisten Angestellten der Bank scharten sich um Andrew und die beiden überlebenden Hartwicks. Von neuem verharrte Edna Burnham, musterte ihre Gesichter, als suche sie etwas, gab jedoch kein Anzeichen dafür, ob sie es gefunden hatte. Als Madeline Hartwick Edna die behandschuhte Hand hinhielt, ergriff die alte Frau sie, aber immer noch wurde kein Wort gewechselt. Als Edna Burnham weiterging, musterte sie die stumme Menge mit einem Blick, der hochmütig und anklagend zugleich war. Jeder Beobachter hatte das unbehagliche Gefühl, sie forsche nach Leuten, die nicht anwesend waren, denn von Martha Wards Familie war niemand übriggeblieben außer Rebecca und Clara Wagner, die in ihrem Zimmer im Pflegeheim dem Tod entgegendämmerte und nie wieder nach Blackstone zurückkehren würde. Als Edna Bonnie und Amy Becker passierte, würdigte sie die
beiden kaum eines Blickes. Schließlich gelangte sie zu dem Marmorbau, in dem Charles und Eleanor Connally zusammen mit ihrer Tochter und Enkelin vor langer Zeit beigesetzt worden waren. Harvey Connallys Bronzesarg stand ohne Blumen vor der offenen Tür der Gruft; bald würde er darin versinken, und Harvey würde ewig neben seiner Schwester Olivia ruhen. Am Kopf des Sarges stand Lucas Iverson mit einer aufgeschlagenen Bibel in der Hand, obwohl er die Gebete auswendig wußte, die Harvey Connallys Seele zu seinem Schöpfer begleiten würden. Am Fuß des Sarges stand Oliver Metcalf. Und neben ihm, ihre Hand in der seinen, stand Rebecca Morrison. Die Menge wartete stumm, als sich Edna Burnham näherte und schließlich dicht vor Oliver stehenblieb. Sie schaute Oliver lange an, und die Trauergäste hielten den Atem an, als sie angespannt darauf warteten, zu hören, was Edna zu dem Mann sagen würde, über den sie seit Monaten getuschelt hatte - der Mann, dessen Ruf sie nach besten Kräften ruiniert hatte. Oliver hielt mit ausdrucksloser Miene ihrem harten Blick stand. Er wußte, daß alles, was sie in den nächsten paar Minuten sagen würde, von einem zum anderen weitererzählt werden würde, bis jeder in Blackstone davon erfahren hatte. Aber Edna wartete nur den rechten Augenblick ab und wandte sich schließlich Rebecca Morrison zu. Rebecca, von der sie einst in der Öffentlichkeit gedemütigt worden war und die jetzt neben Oliver Metcalf stand, Hand in Hand mit ihm. Rebeccas Gesicht verriet nichts, und ihre Augen waren klar. In der freien Hand hielt sie das Taschentuch, das Oliver ihr am Tag vor ihrem Verschwinden geschenkt hatte.Als Edna Burnham zuerst Rebecca und dann Oliver Metcalf anschaute, dämmerte ihr, daß ihr die Wahrheit über die
Ereignisse vor drei Tagen in der Irrenanstalt niemals offenbart werden würde, jedenfalls nicht von Oliver oder Rebecca. Die einzige andere Person, die vielleicht hätte erzählen können, was wirklich geschehen war, lag tot in dem Sarg vor dem Mausoleum. Als Lucas Iverson, dessen Hand mit der Bibel zitterte, die Zeremonie beginnen wollte, brachte Edna Burnham ihn mit einem Blick zum Verstummen. Sie schaute wieder zu Oliver, musterte ihn mit hartem, abschätzendem Blick und sah zu Rebecca. Die Stille dehnte sich aus wie ein kalter Schatten, der über die Menge kroch, während die Bürger von Blackstone warteten. Dann, als sei Edna Burnham zu einer Entscheidung gelangt, nickte sie. »Es ist vorüber«, sagte sie und legte eine Hand auf Harvey Connallys Sarg. Sie blickte zur Irrenanstalt, die immer noch auf dem North Hill aufragte. Edna hob die Stimme nur leicht, als sie von neuem sprach, doch sie war gut in jedem Winkel des Friedhofs zu hören. »Es ist an der Zeit, die Vergangenheit ruhen zu lassen.« Sie trat zurück und senkte den Kopf, als Lucas Iverson schließlich die letzten Worte sprach, die über Harvey Connally gesagt werden würden. »Asche zu Asche, Staub zu Staub ...« Als das Gebet weiterging, schweiften die Blicke der Menschen einer nach dem anderen von Harvey Connallys Sarg zu der dunklen Silhouette des Gebäudes auf dem North Hill. Eine der Mauern war von Oliver Metcalf vor drei Tagen mit der Abrißbirne zerschmettert worden, und die Ruine wirkte schwach und verloren und hatte endlich die Herrschaft und Macht über Blackstone verloren, die das Gebäude so lange innegehabt hatte. Jeder, der Lucas Iversons Gebet hörte, wußte, daß Edna Burnham diesmal, wenigstens einmal, die Wahrheit gesagt hatte. Die Vergangenheit und Harvey Connally wurden endlich
begraben. Aber nur Oliver Metcalf bemerkte das Datum, das auf der Tür zur Gruft seines Onkels eingemeißelt war. 24. April 1997. Bis zu diesem Moment hatte er nicht daran gedacht, an welchem Tag sein Onkel gestorben war. Am Datum des Todestags seiner Mutter. Am Datum seiner eigenen Geburt. An seinem Geburtstag. Seinem fünfundvierzigsten Geburtstag. Und an dem Tag, an dem er endlich von den Qualen seiner Vergangenheit befreit worden war. Das war das letzte Geschenk seines Onkels an ihn gewesen. Als er auf das Datum starrte, spürte er, wie Edna Burnham neben ihm zusammenzuckte. Erst dann wurde ihm klar, daß nicht nur sein Blick magisch von dem Datum an der Tür zu Harvey Connallys Gruft angezogen wurde. Auch Rebecca und Edna Burnham starrten darauf.
NACHWORT
Liebe Leser, Während des vergangenen Jahres habe ich in Blackstone, New Hampshire, gewohnt. Nie zuvor waren eine Stadt und ihre Bewohner so real für mich. Die Leute von Blackstone, weitaus mehr als Romanfiguren, sind zu meinen persönlichen Freunden geworden, und während ich dies schreibe, fühle ich mich leer. Ich will mich nicht von Rebecca und Oliver verabschieden. Ich will nicht in meinen Rückspiegel schauen und den North Hill und den Park in der Ferne verschwinden sehen. Ich werde meine Ausflüge in die Bücherei, ins Büro des Chronicle und, ja, sogar in die Irrenanstalt vermissen. Mir wird es fehlen, die >Rote Henne< auf ein Stück Kuchen (Pecannuß, natürlich) und eine gute Portion Klatsch zu besuchen. Kurz gesagt, ich bin mir nicht sicher, ob ich Blackstone verlassen will. Aber die Geschichte ist vorüber. Oder jedenfalls dieser Teil der Geschichte. Das Schreiben der Blackstone Chroniken war eine wunderbare und herausfordernde Erfahrung. Ich liebte es, eine Geschichte mit Anfang, Mitte und Ende auf hundert Seiten schreiben zu können. Es war eine ständige Herausforderung, die Spannung über einen Zeitraum von sechs Monaten zu erhalten, und es war herrlich, meine Figuren so gut kennenzulernen. Es stellte sich heraus, daß viele Charakterzüge haben, von denen ich zu Beginn noch nichts wußte. Und ich habe es gründlich genossen, Charaktere und Hinweise aus anderen Büchern wieder einzubringen. Es war wie ein Kontakt zu alten Freunden - selbst wenn sie so problematisch waren wie Elizabeth Conger (die endlich nach all diesen Jahren bekam, was ihr zustand!) und Melissa Holloway, deren Zukunft mir seit den verhängnisvollen Ereignissen Sorgen bereitet hat, die sich in Second Child in Secret Cove abgespielt haben. Aber da war auch stets die unterschwellige Sorge um mich selbst. Was war, wenn ich krank werden würde und die
Fortsetzungen nicht zu Ende schreiben könnte? Was war, wenn ich bei der Entwicklung der Idee ein Problem in einem bereits veröffentlichten Band geschaffen hatte, das in einer späteren Folge nicht gelöst werden konnte? Es gab Zeiten, zu denen ich ein Buch bearbeitete, an einem anderen schrieb und ein drittes Korrektur las. Die Post und mein Modem hatten wirklich viel zu tun. Illustrationen mußten gesichtet und für die Titelbildgestaltung ausgewählt werden, Karten mußten gezeichnet und Zeit- und Ahnentafeln mußten ständig auf den neuesten Stand gebracht werden. Ich bin überzeugt, manche von Ihnen fragen sich immer noch, warum es Charles Connally anstatt Jonas Connally war, der das Herrenhaus auf dem Hügel hatte erbauen lassen. Nun, ich habe anscheinend im ersten Band Mist gebaut und gesagt, Harveys Vater hätte es erbauen lassen, obwohl ich hätte schreiben sollen, daß es sein Großvater war. Aber als ich darüber nachdachte, gelangte ich zu dem Schluß, daß dies überhaupt kein Fehler war und daß das Herrenhaus als Teil der Spaltung zwischen Jonas Connally und seinen Kindern erbaut worden war. Ich bin überzeugt, daraus könnte eine Geschichte entstehen, aber ich bin mir noch nicht sicher, welche. Ich danke meinen Glückssternen, daß ich eine großartige Gruppe von Leuten hatte, die eng mit mir zusammengearbeitet haben. Meine Herausgeberin, Linda Grey - der ich diese Serie gewidmet habe -, hat mir stets zur Seite gestanden. Meine Agentin, Jane Rotrosen Berkey, überprüfte jedes Buch, um sicherzustellen, daß die Geschichten richtig ineinandergriffen. Mein Freund, Mike Sack, der von Anfang an an meiner Karriere beteiligt war, war stets zur Stelle, um mir den richtigen Weg zu weisen. Außerdem sorgte er mit seiner Erfahrung in Psychologie dafür, daß die Patienten der Irrenanstalt herrlich verrückt waren. Meine Mitarbeiter Robb Miller und Lori Dickon verbrachten Stunden damit, detaillierte Dateien zu führen, in denen die Einzelheiten der Personen, Orte und
Vorgänge in Blackstone verfolgt wurden. Die Produktion eines Fortsetzungsromans ist für einen Verleger eine große Aufgabe. Ich nehme an, weitaus bedeutender, als jeder von uns vor einem Jahr wußte. Viele Mittel des Unternehmens müssen für einen sehr langen Zeitraum in das Projekt investiert werden. Ballantine/Fawcett und Random House standen auf dem ganzen Weg hinter dem Projekt. Alberto Vitale, Vorsitzender von Random House, unterstützte das Projekt von Anfang an, als nur er und Linda Grey wußten, was wir versuchen wollten. Binnen Monaten wuchs die Gruppe der an Blackstone Beteiligten rapide. Mein Lektor, Peter Weis-sman, tat mehr als seine Pflicht, als er die Entwicklung in Blackstone von Band zu Band verfolgte, bereit - wie auch Redakteur Mark Rifkin -, Einzelheiten in jedem Band im Nu zu ändern. Die Werbe- und PR-Abteilungen arbeiteten hart daran, zu verkünden, daß Blackstone kommen würde, und der Vertrieb kontaktierte jeden Buchgroßhändler im Land, um sicherzustellen, daß jeder Band zum Erscheinungstermin in den Läden war, damit keine verschiedenen Bände zu unterschiedlichen Zeiten an mehreren Orten auftauchen und ein Chaos in der >Roten Henne< verursachen würden. Die Buchhänder selbst richteten einen Lieferservice ein, um zu garantieren, daß jeder Band dann zu erhalten war, wenn er erschien, was keine leichte Aufgabe ist, wenn Tausende Bücher jeden Monat in den Buchläden und Kaufhäusern eintreffen. Mein ganz besonderer Dank gilt Ellen Key Harris und Phebe Kirkham, die die Blackstone Website entwickelten und dadurch vielen von uns, mich Inbegriffen, eine einzigartige Erfahrung ermöglichten. Blackstone im Internet (www.randomhouse.com/blackstone) wurde im vergangenen halben Jahr ein ständiger Treffpunkt und hat eine völlig neue Dimension eröffnet. Einige von Ihnen werden bemerkt haben, daß unsere Lieblingskellnerin im Imbiß >Rote Henne<, Velma Perkins, in den ersten paar Bänden nicht
auftaucht. Das liegt daran, daß Velma von Ellen Harris erfunden wurde und ich sie erst zu einem späteren Zeitpunkt kennenlernte, wie Sie alle. Als ich ein paarmal bei der >Roten Henne< hereingeschaut hatte, war Velma völlig real für mich geworden, und bald tauchte sie dann in den Büchern auf. (Ich nehme an, ich habe sie dir geklaut, Ellen. Verzeihung!) Es gibt noch einige andere Personen, die ich in der >Roten Henne< kennenlernte, neue Leute, die in die Stadt gezogen sind und jetzt in der Bank arbeiten oder Oliver in seinem Büro helfen, die nicht in den Büchern erwähnt werden, aber Sie wissen, wer sie sind und wie gern ich sie kennengelernt habe. Ich hoffe, all diese Personen halten die Ohren offen, denn ich habe das Gefühl, daß eine Menge mehr in Blackstone vorgeht, als jeder von uns bisher weiß. Wie Sie sehen, hat der Treffpunkt im Internet Sie, meine Leserschaft, mir nahegebracht, und es hat mich gefreut, zu Ihnen reden zu können, nicht nur in der >Roten Henne<, sondern auch durch E-Mail. Das Cyber-Blackstone fügt nicht nur der Erfahrung, einen Roman zu lesen, eine ganz neue Dimension hinzu, sondern auch der Erfahrung, einen zu schreiben. Ich danke allen, die daran beteiligt waren. Stephen King hat es mir nicht nur erst ermöglicht, einen Fortsetzungsroman zu schreiben, sondern er hat mich auch während des Schreibens unglaublich unterstützt. Wenn die vielen kleinen Schwierigkeiten mich zu überfordern drohten, versicherte er mir, ich würde das meistern und alles würde gut werden. Ich kann nicht ausdrücken, wieviel mir diese Unterstützung bedeutet hat. Nochmals danke, Steve. Ich weiß, es gibt einige kleinere Fehler, die ich beim Schreiben des Romans gemacht habe; Fehler, die ich nicht mehr korrigieren konnte, weil die Bände, in denen sie auftauchten, bereits veröffentlicht waren. Einmal riefen wir die Druckerei an, um ein Wort zu ändern, als eines der Bücher mitten im Druck war. Manchmal war es jedoch zu spät, und ein paar Flops blieben stehen. Dies ist offenbar unvermeidlich, wenn ein Buch
veröffentlicht wird, bevor das letzte Wort geschrieben ist. Oder vielleicht liegt es nur daran, daß die Wiederbelebung dieser Form der Veröffentlichung so jung ist und wir den Dreh noch nicht ganz heraushaben. Viele von Ihnen haben gefragt, ob ich eine weitere Fortsetzungsserie schreiben werde. Die Antwort lautet ja - wenn die Geschichte zu dieser Form paßt. Viele von Ihnen wollten ebenfalls wissen, ob es weitere Folgen von Blackstone geben wird. Ich kann zu diesem Zeitpunkt nur sagen, daß ich beim Schreiben der Blackstone Chronicles großen Spaß hatte, und obwohl ich im Augenblick noch nichts Genaues weiß, würde es mich überhaupt nicht überraschen, wenn Sie irgendwann in der Zukunft beim Buchhändler in einem Regal den Schatten eines Gebäudes auf dem North Hill erblicken. Ich danke Ihnen allen für Ihre Gesellschaft auf einem langen Ausflug durch die Stadt Blackstone und hoffe, er hat Ihnen soviel Spaß gemacht wie mir. John Saul