DAS INSTITUT IN FONTAINEBLEAU Quelle: J. G. Bennett, Gurdjieff - Der Aufbau einer neuen Welt, AURUM Verlag 1976
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DAS INSTITUT IN FONTAINEBLEAU Quelle: J. G. Bennett, Gurdjieff - Der Aufbau einer neuen Welt, AURUM Verlag 1976
Gurdjieffs Entschluß, London zu verlassen, war eine große Enttäuschung für die englische Gruppe, die durch seine außerordentlichen Gespräche elektrisiert worden war, welche uns einen Vorgeschmack dessen gaben, was hätte geschehen können, falls das Institut in Hampstead errichtet worden wäre, wie wir gehofft hatten. Ich habe Notizen von einem Vortrag, den er am 15. März 1922 hielt. Teile davon füge ich hier ein, um einen Eindruck zu vermitteln von der Art, wie die Ideen Gurdjieffs uns anfangs dargeboten wurden. Man muß sich daran erinnern, daß noch nichts veröffentlicht worden war. Ouspensky hatte uns erregende Dinge erzählt, aber hatte sich an das gehalten, was wir selbst beobachten und überprüfen können würden. Gurdjieff hatte zwei Übersetzer bei sich, einen Engländer und einen Russen. Er sprach in Erwiderung auf eine Frage von Orage nach dem Mittel, um einen radikalen Seinswandel zu erreichen, der, wie Ouspensky uns gesagt hatte, sowohl notwendig wie auch möglich sei. Gurdjieff führte mit charakteristischen Ausdrücken die Idee des Wesenskerns und der Persönlichkeit ein, indem er, was Ouspensky nie getan hatte, von der Möglichkeit sprach, die Hypnose zu gebrauchen, um die Persönlichkeit zu verändern. Er erklärte, daß die tieferen Wandlungen, auf die wir hofften, nicht durch die Handlung einer dritten Person herbeigeführt werden könnten, sondern das Ergebnis des eigenen Leidens und eigener Opfer sein müßten. »Die Persönlichkeit«, sagte er, »ist nicht unser eigen, wir werden nicht mit ihr geboren. Sie wird durch unseren Kontakt mit schlafenden Menschen erworben, so daß sie sich auch im Schlaf befinden muß. Sie will nicht aufwachen, sie will hypnotisiert werden. Der Wesenskern schläft, aber er ist nicht hypnotisiert. Er ist alles, womit wir geboren sind und was durch natürliche Entwicklung daraus entsteht. Die Persönlichkeit ist das, was wir im Leben erwerben. Sie ist an der Oberfläche, daher verändert sie sich sehr leicht. Eine Veränderung des Wesenskernes ist schwierig, manchmal vielleicht unmöglich. Sie müssen verstehen, daß es zwei Arten der Veränderung in der Persönlichkeit gibt. Es gibt die unbewußte Veränderung. Diese ist vorübergehend. Eine Reihe von Erfahrungen vertreibt eine andere. Danach kehrt die Situation zurück, und die Persönlichkeit wird, wie sie vorher war. Der bewußte Wandel in der Persönlichkeit kann dauerhaft sein. Wenn wir die Persönlichkeit beobachten, können wir herausfinden, was verändert werden muß, damit sie nicht wieder so wird, wie sie vorher war. Wenn Sie sich beobachten lernen, werden Sie zwischen dem unterscheiden lernen, was zum Wesen gehört, und dem, was zur Persönlichkeit gehört. Dann werden Sie alles in sich einordnen können und das Wesen kennenlernen. Die Persönlichkeit kann das Wesen nicht kontrollieren. Sie kann nur den Weg vorbereiten, damit das Wesen aufwachen kann. Wirkliche Kontrolle kann nur im Wesen stattfinden. Alle Kontrolle in der Persönlichkeit ist Einbildung. Die Menschen sind durch die Persönlichkeit und durch das Wesen miteinander verbunden. Es ist eine chemische Sache. In zwei Menschen sind es vielleicht die Persönlichkeiten, die sich lieben, aber die Wesenskerne verabscheuen sich. Ihre Wesenskerne werden immer streiten, die Persönlichkeiten jedoch werden verzeihen.
Zunächst müssen Sie die Situation verstehen, wie sie jetzt besteht. Was Sie in sich >Wille< nennen, kommt nur von der Persönlichkeit. Es hat keine Verbindung zu dem wirklichen Willen. Irgendetwas berührt die Persönlichkeit, und sie sagt >ich will< oder >ich will nicht<, >ich mag< oder >ich mag nicht< und glaubt, es sei der Wille. Es ist nichts. Es ist passiv. Der Wille kann nur im Wesen sein. So wie Sie jetzt sind, hat Ihr Wesen keinen Willen, nur automatische Impulse. Die Wünsche des Wesens sind Ihre eigenen Wünsche, aber sie sind nicht bewußt, sie sind nicht der Wille. Sie entstehen automatisch in Ihnen, weil Sie so sind. Wesen und Persönlichkeit sind sogar in verschiedenen Teilen des Gehirns. Beinahe alles, was zur Persönlichkeit gehört, ist in dem Formungsapparat. Das Wesen kann all dieses Material nicht benützen, deshalb besitzt es keinen kritischen Verstand. Es ist vertrauensvoll, da es jedoch nicht erkennt, ist es ängstlich. Man kann das Wesen nicht durch logische Beweisführung beeinflussen oder es überzeugen. Solange das Wesen nicht anfängt, selbst Erfahrungen zu machen, bleibt es, wie es immer war. Manchmal entstehen Situationen, in denen die Persönlichkeit nicht reagieren kann und das Wesen reagieren muß. Dann sieht man, wieviel im Wesen vorhanden ist. Vielleicht ist es nur ein Kind und weiß nicht, wie es sich verhalten soll. Es ist zwecklos, ihm zu sagen, es solle sich anders verhalten, weil es unsere Sprache nicht verstehen wird. Die Persönlichkeit kann leicht beeinflußt werden, besonders im modernen Menschen. Die Persönlichkeit gibt sich jeder Einflüsterung hin, wie absurd sie auch sei. Vielleicht weiß der Verstand es manchmal besser, aber dann ist das Wesen schüchtern. Der Verstand mag wissen, daß er alle lieben sollte, das Wesen jedoch kann es nicht, daher bleiben es nur Worte. Bei den meisten Menschen empfängt das Wesen nur bis zum Alter von fünf oder sechs Jahren Eindrücke. Solange es Eindrücke empfängt, wächst es, später jedoch werden alle Eindrücke von der Persönlichkeit aufgenommen, und das Wesen hört auf zu wachsen. Falls die Erziehung nicht zu ungünstig ist, mag das Wesen manchmal weiter wachsen, und es kann sich ein mehr oder weniger normaler Mensch ergeben. Aber normale Menschen sind die Ausnahme. Fast jeder hat nur das Wesen eines Kindes. Es ist nicht natürlich, daß in einem Erwachsenen das Wesen noch ein Kind ist. Aus diesem Grund bleibt er in der Tiefe schüchtern und voll von Befürchtungen. Dies ist so, weil er weiß, daß er nicht das ist, was er zu sein vorgibt, aber er kann nicht verstehen, warum. Man kann nicht sagen, wie das Wesen gewandelt werden und normal am Leben teilnehmen kann, solange man nicht mehr Wissen hat. Hierfür braucht man eine neue >Sprache<. Zur Zeit könnte ich es Ihnen nicht sagen, selbst wenn ich wollte. Durch Selbstbeobachtung werden Sie erfahren, was verändert werden muß und warum; aber selbst wenn Sie wissen, was verändert werden muß, können Sie nicht herausfinden, wie Sie selbst arbeiten müssen. Da das Wesen einzigartig ist, benötigt jeder einzelne ein individuelles Programm. Um aber ein individuelles Programm aufzustellen, ist ein langes Studium nötig, nicht nur durch einen selbst, sondern auch durch andere. Auf diese Weise ist es für die Menschen in dem Institut eingerichtet. Wenn sie kommen, fangen sie an, sich selber zu studieren, und andere studieren sie auch. Erst nach langer Zeit ist es möglich, für jeden einzelnen sein eigenes entsprechendes Arbeitsprogramm festzulegen.«
* * *
Ich zitiere aus diesem und aus anderen Vorträgen, um den Zusammenhang mit der Lehre der Khwajagan zu verdeutlichen. Ein Mensch kann den Weg nicht betreten, solange die Persönlichkeit vorherrscht. Die Kapitulation der Persönlichkeit ist das fana-i-ahkam, das nicht das wahre fana, aber trotzdem unerläßlich ist, wenn der Suchende unter höhere Einflüsse kommen soll. Das erste Sich-Ergeben des Wesenskerns ist fanai ef’ al, und das endgültige Sich-Ergeben des Seins ist fanai sifat - die Wörter ef’ al und sifat bedeuten den äußeren und den inneren Aspekt des Wesens. In allen Vorträgen Gurdjieffs zu jener Zeit war die Herkunft seiner Lehre von den Sufis unverkennbar für jeden, der beide studiert hatte. Gurdjieffs Besuche in London erstreckten sich über einen Zeitraum von ungefähr zwei Monaten, während deren er auch in Frankreich suchte. Meine persönliche Beziehung zu ihm erneuerte ich damals nicht, zum Teil weil ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit für die türkische kaiserliche Familie auf Reisen war, aber vor allem weil ich ihm nicht mit dem helfen konnte, was damals am dringendsten benötigt wurde: Geld zu beschaffen, damit das Institut eröffnet werden konnte. Spätestens im Juli 1922 hatte Gurdjieff die Idee aufgegeben, sich in London niederzulassen. Nach mehreren Monaten der Suche und Verhandlungen gelang es ihm, ein seltsames Geschäft zu vereinbaren mit der Witwe des für seine Verteidigung von Dreyfus berühmten Maitre Labori, der ihr das Château du Prieuré in Avon bei Fontainebleau hinterlassen hatte, welches früher einmal das Haus der Madame de Maintenon gewesen war. Die meisten seiner Schüler waren in Berlin geblieben, bis er sie unterbringen konnte. Im Juli brachte er sie beinahe zu früh nach Paris - ein Schritt, der ihn mehr Geld kostete, als er sich leisten konnte. Erst im Oktober konnte er die Prieuré beziehen. Er beschreibt die mißliche Lage, in der er sich befand, als »eine der verrücktesten Perioden meines Lebens«. »Wenn ich durch das Tor des Château du Prieuré ging, war es, wie wenn ich gleich hinter dem alten Pförtner von der Mme Notlage begrüßt wurde. Meine hunderttausend Franken waren schon bis auf den letzten Sous in alle Winde verstreut, zum Teil dadurch, daß ich die Miete für das Grundstück bezahlte, zum Teil durch die Auslagen für den Lebensunterhalt in Paris während dreier Monate mit so vielen Menschen. Meine Lage wurde dadurch weiter kompliziert, daß ich bei meiner Ankunft in Paris keine westeuropäische Sprache sprach.« Er begann nach Möglichkeiten zu suchen, ein Darlehen zu erhalten. Ouspensky hatte einige wohlhabende Freunde in London, vor allem Ralph Philipson, einen Besitzer von Kohlenbergwerken aus Northumberland, der in dem Ruf stand, ein Multimillionär zu sein, und dessen russische Frau Ouspensky in allem, was er tat, begeistert unterstützte. Dies war das erste Mal, daß er von dem Prinzip abwich, welches er sich 15 Jahre früher auferlegt hatte - selbst die alleinige Verantwortung für die Durchführung seines Werkes zu übernehmen, ohne materielle Hilfe von außen anzunehmen. Er verteilte seine Zeit auf Paris und die Prieuré wo er das berühmte Study House aus einem überschüssigen Flugzeughangar baute, den er von der französischen Luftwaffe kostenlos dafür erhalten hatte, daß er ihn abmontierte. Er verbrachte viel Zeit in Paris, wo er nach Wegen suchte, um Geld zu verdienen. Er übernahm die Heilung von Trinkern und Rauschgiftsüchtigen. Er war imstande, verschiedene gewagte geschäftliche Unternehmungen zu beginnen, einschließlich eines Projekts in
Zusammenhang mit den Ölfeldern von Aserbeidschan, die noch immer dem Namen nach unter der Kontrolle privater Eigentümer standen. Dieses Projekt, von dem ich viel zu jener Zeit hörte aufgrund meiner eigenen Verbindung mit den Ansprüchen der türkischen kaiserlichen Familie auf die Konzessionen für das Ölfeld von Mossul, verschaffte Gurdjieff sowohl Bargeld als auch nützliche Verbindungen in Amerika. Auch hatte er ein bemerkenswertes Fingerspitzengefühl für das Errichten von Restaurants. Er half zwei Gruppen russischer Flüchtlinge, auf dem Montmartre Restaurants zu eröffnen, die später berühmt wurden, und verkaufte seinen eigenen Anteil mit gutem Gewinn. Sobald die Prieuré bezogen war, begannen Menschen von den Londoner Gruppen dorthin zu gehen, entweder auf Besuch oder um »für immer zu bleiben«. Dr. Maurice Nicoll und Dr. Alsop, zwei sehr erfolgreiche Ärzte und führende Vertreter der Jung ’schen Psychologie, verkauften ihre Praxis und reisten mit Frau und Kindern weg. A. R. Orage verkaufte zur Bestürzung des literarischen London die Zeitschrift New Age. Mehrere unserer weiblichen Mitglieder, einschließlich Dr. Bell, auch eine Psychoanalytikerin, Miss Crowdy, Miss Gordon und Miss Merston, gingen mit derselben Entschlossenheit, es bis zum Ende durchzustehen. Im Frühling 1922 gab man uns allen Exemplare des Prospekts des Instituts, der ins Englische, Deutsche und Französische übersetzt worden war. Da dieses Dokument die neue Phase mit den vorangegangenen Versuchen, das Institut in Turkestan und in Rußland zu gründen, verbindet, werden ich es ausführlich zitieren (The Herald of Coming Good, S. 26). Der Prospekt beginnt mit einer Vorrede, in der erklärt wird, daß die moderne Zivilisation den Menschen der Möglichkeit einer fortschreitenden und ausgeglichenen Entwicklung in Richtung auf einen neuen Typus des Menschen beraubt hat, einer Entwicklung, die eingetreten wäre, sei es auch nur im Laufe der Zeit und in Übereinstimmung mit dem Gesetz der allgemeinen menschlichen Entwicklung. Der Prospekt sagt als nächstes, daß »die allgemeine Psyche des modernen Menschen in drei sozusagen völlig unabhängige >Wesenheiten< gespalten ist, die zueinander keinerlei Beziehung haben und die sowohl in ihren Funktionen als auch in ihren Äußerungen getrennt sind, während geschichtlichen Unterlagen zufolge diese drei Quellen bei der Mehrheit der Menschen, sogar zur Zeit der Babylonischen Zivilisation, ein unteilbares Ganzes bildeten, das ein allgemeiner Speicher all ihrer Wahrnehmungen und zugleich das Strahlungszentrum ihrer Äußerungen zu sein schien.« Der Hinweis auf Babylon bezieht sich nicht auf die späte babylonische Periode, sondern auf die frühere Zeit Sargons und Hammurabis. Dies zeigt sich durch die Aussage Gurdjieffs, daß die Spaltung in der Psyche des Menschen vor 4500 Jahren geschah. Er kritisiert hier wie auch anderswo das moderne Erziehungssystern, das die Einteilungen in der menschlichen Psyche verewigt, und sagt: »Wegen dieser einseitigen Erziehung des Menschen sind nach der Erreichung der Volljährigkeit diese drei völlig unabhängigen Quellen oder Zentren seines Lebens, das heißt erstens die Quelle seines intellektuellen Lebens, zweitens die Quelle seines >Gefühls<-Lebens und drittens sein instinktives oder sein >Bewegungs<-Zentrum, anstatt innerlich auf normale Weise zu verschmelzen, um gemeinsame äußere Erscheinungen hervorzubringen, besonders in jüngster Zeit zu ganz unabhängigen äußerlichen Funktionen geworden, und nicht nur die Methoden der Erziehung dieser Funktionen, sondern auch die Qualität ihrer Äußerungen wurden von besonderen äußeren subjektiven Bedingungen abhängig.
Nach den Schlußfolgerungen, die auf ausführlichen, von Herrn Gurdjieff selbst durchgeführten Experimenten beruhen, sowie auf denjenigen vieler anderer Menschen, die ernsthaft über diese Frage nachgedacht haben, kann jede wirklich bewußte Wahrnehmung oder Äußerung des Menschen nur aus dem gleichzeitigen und koordinierten Arbeiten der drei zuvorgenannten Quellen erwachsen, die seine gewöhnliche Individualität ausmachen und von denen jede ihre Rolle erfüllen, das heißt ihren eigenen Anteil an Assoziationen und Erfahrungen liefern muß. Die vollständige Verwirklichung der erforderlichen und normalen Äußerung ist in jedem einzelnen Fall nur aufgrund der Koordinierung der Tätigkeit aller dieser drei Quellen möglich. Zum Teil infolge der anormalen Erziehung während seines vorbereitenden Alters und zum Teil aufgrund von Einflüssen, die auf gewisse Ursachen der allgemein eingewurzelten anormalen Umstände des modernen Lebens zurückzuführen sind, ist im modernen Menschen das Funktionieren seiner psychischen Zentren während seines verantwortlichen Alters fast völlig zusammenhanglos. Infolgedessen dienen seine Denk-, Gefühls- und instinktiven Bewegungsfunktionen nicht als natürliche Ergänzung und als Ausgleich füreinander, sondern bewegen sich im Gegenteil auf unterschiedlichen Wegen, die sich selten treffen und aus diesem Grunde sehr wenig Muße zulassen, um das zu erlangen, was man in Wirklichkeit unter dem Wort »Bewußtsein« verstehen sollte, welches von den modernen Menschen heutzutage falsch verwendet wird. Als Folge des Mangels an koordinierter Tätigkeit seitens dieser drei getrennt entwickelten und unabhängig erzogenen Teile der allgemeinen Psyche des Menschen konnte es geschehen, daß ein moderner Mensch drei verschiedene Menschen in einem einzigen Individuum darstellt; von denen der erste in völliger Isolierung von den anderen Teilen denkt, der zweite nur fühlt und der dritte nur automatisch handelt, je nach den feststehenden oder zufälligen Reflexen seiner organischen Funktionen. Gemäß der Vorausschau der Großen Natur sollten diese drei Menschen in einem Menschen, im verantwortlichen Alter zusammengenommen einen Menschen, wie er sein sollte, darstellen: den Menschen ohne Anführungsstriche, das heißt den wirklichen Menschen. Diese drei, die von der Großen Natur mit Bedacht geformt wurden, damit sie ein vollständiges Ganzes bilden, bringen - als Folge davon, daß sie nicht zur richtigen Zeit die Gewohnheit des gegenseitigen Verstehens und Helfens annehmen - durch Verschulden der Menschen selber und ihrer falschen Erziehung dieses Ergebnis hervor, daß sie in der Periode der verantwortlichen Äußerungen des modernen Menschen nicht nur niemals einander helfen, sondern im Gegenteil automatisch gezwungen sind, einander die Pläne und Absichten zunichte zu machen; ferner scheint jeder von ihnen dadurch, daß er in Augenblicken intensiver Tätigkeit die anderen beherrscht, der Herr der Lage zu sein, und er übernimmt auf diese Weise fälschlich die Verantwortungen des wirklichen >Ich<. Diese Einsicht der unzusammenhängenden und widersprüchlichen Tätigkeit der Ursprungszentren, welche die Psyche des Menschen darstellen sollten, und zugleich des vollständigen Fehlens einer auch nur theoretischen Vorstellung von der unbedingten Notwendigkeit einer Erziehung, die diesen getrennten, relativ
unabhängigen Teilen entspricht, . . . muß unausweichlich zu dem Schluß führen, daß der Mensch nicht einmal Herr seiner selbst ist. Er kann nicht Herr seiner selbst sein, denn er beherrscht nicht nur nicht diese Zentren, die in völliger Unterordnung unter sein Bewußtsein funktionieren sollten, sondern er weiß nicht einmal, welches seiner Zentren sie alle beherrscht. Das System, das in dem Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen zur Beobachtung der psychischen Tätigkeiten des Menschen angewandt wird, weist eindeutig nach, daß der moderne Mensch nie aus eigenem Antrieb handelt, sondern nur Handlungen offenbart, die durch äußere Reize angeregt wurden. Der moderne Mensch denkt nicht, sondern etwas denkt für ihn; er handelt nicht, sondern etwas handelt durch ihn; er erschafft nicht, sondern etwas wird durch ihn geschaffen; er vollbringt nicht, sondern etwas wird durch ihn vollbracht. Um unerwünschte Ergebnisse und unerwartete Folgen bei der Arbeit an sich selbst zu vermeiden, ist es notwendig, sich der Disziplin besonderer und streng individueller Methoden zu unterwerfen, die auf die Entwicklung neuer und besonderer >Beharrungsvermögen< gerichtet sind, mit deren Hilfe die alten unter der Leitung eines erfahrenen Führers reguliert und verändert werden können, mit anderen Worten, es ist notwendig, neue Fähigkeiten zu entwickeln, die im gewöhnlichen Leben unerreichbar sind und die der Mensch weder ohne Unterstützung noch durch die Hilfe irgendeiner gewöhnlichen Methode entwickeln kann. Das Programm des Instituts für die harmonische Entwicklung des Menschen schließt die praktische Anwendung einer besonderen >Arbeitslinie< ein, aus der für jeden einzelnen sorgfältig eine bestimmte Art von Arbeit ausgewählt wird, je nach seiner anormal konstruierten Psyche, deren automatische Tätigkeit entwickelt oder vermindert werden muß.«
* * * Da ich selber erst 1923 zur Prieuré ging, muß ich Notizen heranziehen, die mir Miss Gladys Alexander freundlicherweise gab, eine von Ouspenskys Schülerinnen, mit der ich zusammengearbeitet hatte. Sie schrieb: »Bei der Eröffnung der Prieuré gingen einige unverzüglich nach Paris, um sich den Schülern anzuschließen, die mit Herrn Gurdjieff aus Rußland und der Türkei angereist waren. In London wucherten inzwischen allerlei alarmierende Gerüchte über das harte Leben in der Prieuré. Angst vielleicht vor schmerzhaften Schocks für die Persönlichkeit und vor anstrengenden Prüfungen der körperlichen Ausdauer führte zu viel Übertreibung und verwirrtem Verständnis. Ob absichtlich oder nicht, blieb ein Neuankömmling in der Prieuré gewöhnlich unbemerkt, und ich wußte tagelang nicht, wie ich mich Herrn Gurdjieff vorstellen sollte. Dann begriff ich, daß ich eine Anstrengung machen mußte, um mich ihm zu nähern. Seine Antwort kam sofort >Keine Angst haben<, sagte er, >nicht sich fürchten<. Das Leben wurde zu einem stark beschleunigten Tempo angetrieben. Es bewegte sich von der schweren Plackerei in einer altmodischen Küche und Abwaschküche,
von der Arbeit im Haus und in der Wäscherei, im Blumen- und Gemüsegarten bis zur Pflege von Pferden, Eselskarren, Schafen und Ziegen, Kühen und Kälbern, Hühnern, Schweinen und Hunden. Man lebte es in einer siedenen Atmosphäre von Geschwindigkeit und Spannung, Begeisterung und hoher Hoffnungen, die durchsetzt war von Perioden der Trägheit und Kritik, von lebhafter Reibung und wortreichen Auseinandersetzungen. Es war tatsächlich ein Schmelztiegel, dazu bestimmt, die Bestandteile, die darin kochten und brodelten, zu ihrem eigentlichen Wert zu führen. Nach dem Abendessen führten wir im Salon die Bewegungen und auch die Derwischtänze aus. Obwohl ich die Technik von Dalcroze, des Balletts und von Isadora Duncan oberflächlich erprobt hatte, hatte ich in ihnen kein Mittel für den plastischen Ausdruck einer dreifachen Form gefunden; in den von Herrn Gurdjieff gelehrten Bewegungen jedoch erkannte ich sofort jenes unbestimmte Etwas, wonach ich gesucht hatte. Später kamen die Teile des Zeppelinhangars an, die zu einem Study House montiert werden sollten. Von einer niedrigen Bühne aus hartem Lehm reichte ein weiter, offener Raum, der mit Brücken und Teppichen bedeckt war, bis zum hinteren Ende, auf dessen einer Seite eine kleine Einfassung, mit Wandbekleidungen behangen und mit Brücken und Kissen ausgestattet, für den Gebrauch von Herrn Gurdjieff diente. Ein kleines hölzernes Geländer urngab den Raum und trennte ihn von einem äußeren Gang. Hinter dem Gang erstreckten sich erhöhte Sitze oder Diwane, auf denen auch Brücken und Kissen zum Sitzen und Zurücklehnen ausgebreitet waren. Innerhalb des Raumes bedeckten Ziegenhäute die Geländer, die als Rückenlehne für eine Strecke des harten Lehmfußbodens dienten, der auch mit ähnlichen Häuten bedeckt war, um den Schülern eine Sitzgelegenheit zu bieten. Den Männern war die eine Seite zugewiesen und den Frauen die andere, so daß sie nur auf einem mittleren Gang zusammentrafen, der durch den Umriß der Brücken markiert wurde, und auf der Bühne. Die rückwärtige Wand der Bühne war mit östlichen Musikinstrumenten behangen, ein Flügel stand in der Nähe. Die Figur des Enneagramms hing über der Bühne, und später wurden die Maximen von Herrn Gurdjieff in Schriftform auf weißes Material gemalt an der Decke befestigt. Die Sitze außerhalb der Geländer waren für Zuschauer, Besucher und diejenigen reserviert, die an den Studien nicht teilnahmen. Lange niedrige Fenster, die in den Farben und symbolischen Mustern persischer Brücken bemalt waren, bildeten die Rückwand der erhöhten Diwane. Zwei Springbrunnen, die anfangs mit Gold- und Silberfischen gefüllt waren, befanden sich auf beiden Seiten in der Nähe des Eingangs und ein einzelner Brunnen unterhalb der Bühnenmitte am oberen Ende des mittleren Gangs. Der mittlere Brunnen war aufgestellt, um eine Abfolge sich wandelnder Farben spielen zu lassen. Nach der Tagesarbeit wurden hier die Bewegungen fortgesetzt, oft bis in die frühen Morgenstunden, wenn uns die Winterkälte, da die Wärme der Öfen allmählich verlosch, zurücktrieb zu der nur wenig geringeren Kälte der Prieuré.« All diese Arbeit verlangte von Gurdjieff nicht nur Zeit und Anstrengung, sondern die Ausgabe psychischer Energie in der Form, die er als Ganbledsoin beschreibt (siehe Kapitel 3). Er lehrte, daß man, um diese Substanz in großen Mengen über die normalen Erfordernisse des physischen Körpers hinaus zu erzeugen, entweder besondere Übungen ausführen oder sich selbst absichtliches Leiden einer besonderen Art auferlegen müsse. Der Eid, den er 1911 geschworen hatte, mit
Bedacht die Schwierigkeiten seines Lebens zu vergrößern, war das Geheimnis seiner erstaunlichen Erzeugung nicht nur von äußerlicher Arbeit, sondern auch von Ideen und von Wirkungen auf Menschen, welche diejenigen, die ihm begegneten, sich zu fragen veranlaßten, ob er ein gewöhnlicher Mensch oder ein übernatürliches Wesen sei. Das »unnatürliche Leben«, zu dem er sich verdammt hatte, war die einzige Existenzweise, mittels derer er seine Aufgabe vollbringen konnte. Gurdjieffs unheimliche Kraft kam wieder einmal zum Ausdruck bei seinem Verhältnis zu Ouspensky. Ouspensky war ein brillianter und ergebener Vertreter der Gurdjieffschen Ideen, und er war auch ein Mensch, der durch seine offensichtliche Geradheit und Aufrichtigkeit Vertrauen einflößte. In Gurdjieffs Umgebung hätte niemand sonst das Vertrauen so vieler wohlhabender und einflußreicher Engländer gewinnen können. Die französisch sprechenden Schüler Gurdjieffs erwiesen sich als unfähig, in Frankreich oder in Deutschland für Unterstützung zu sorgen. Fast das gesamte Geld, welches das Institut in Gang hielt, kam aus England. Gurdjieff gewann Ouspenskys Vertrauen und Zuneigung in solchem Maße wieder, daß Ouspensky das ganze Jahr 1923 über von der Prieuré sprach als von einer einzigartigen Gelegenheit für jene, die dort hingehen konnten. Ich ging zum erstenmal im Januar 1923 zur Prieuré, kurz vor dem Tode von Katherine Mansfield. Zu jener Zeit stand die Arbeit weitgehend mit dem praktischen Im-Betrieb-Halten der Stätte in Zusammenhang, jedoch sprach Gurdjieff mit den Schülern persönlich, die ihm vielversprechend erschienen, und von Zeit zu Zeit hielt er Vorträge. Der folgende Vortrag, von dem man mir eine Kopie gab, wurde am 8. Februar 1923 gehalten. Er ist wichtig, weil er Gurdjieffs Haltung gegenüber dem Christentum aufzeigt und bestätigt, daß es das Ziel seiner Arbeit war, die Menschen zu befähigen, Christen im wahren Sinne zu sein. Von den christlichen Kirchen sprach er nie gut. Eines der Lieblingssprichworte seines Vaters war: »Wenn du deinen Glauben verlieren willst, stell dich gut mit deinem Pfarrer.« Das folgende ist ein Resümee, das aus verschiedenen Sammlungen von Aufzeichnungen zusammengestellt wurde: »Solange der Mensch sich nicht von sich selbst trennt, kann er nichts erreichen und kann niemand ihm helfen. Sich selbst zu lenken, ist etwas sehr Schwieriges - es ist ein Problem der Zukunft; es benötigt viel Kraft und verlangt viel Arbeit. Aber diese erste Sache, sich von sich selbst zu trennen, verlangt nicht viel Stärke, es bedarf nur des ernsthaften Wunsches, des Wunsches eines verantwortlichen Menschen. Wenn ein Mensch es nicht tun kann, zeigt dies, daß er diesen Wunsch nicht hat. Folglich ist es ein Beweis, daß es hier nichts für ihn gibt. Was wir hier tun können, kann nur für ernste Menschen geeignet sein. Unsere Gefühle und unser Denken haben nichts mit >uns< gemein, das heißt mit unserem wirklichen Selbst. Gewöhnlich ist unser Denken das Ergebnis unserer Gefühle. Unser Verstand sollte allein leben, und unsere Gefühle sollten allein leben. Wenn wir sagen >sich von sich selbst trennen<, bedeutet das vor allem, daß unser Kopf von unseren Gefühlen getrennt sein sollte. Unsere schwachen Gefühle können sich in jedem Augenblick ändern, denn sie hängen von so vielen Einflüssen ab: vom Essen, von unserer Umgebung und von
zufälligen Umständen, die auf unseren Wunsch, etwas Bedeutendes zu sein, einwirken. Das Denken jedoch hängt von sehr wenigen Einflüssen ab, und daher kann es mit einer kleinen Anstrengung in der gewünschten Richtung gehalten werden. Selbst ein schwacher Mensch kann seinem Denken die gewünschte Richtung geben. Aber er hat wenig Gewalt über seine Gefühle; es ist große Kraft notwendig, um den Gefühlen eine Richtung zu verleihen und sie in der Gewalt zu haben. Die Gefühle des Menschen hängen nicht von ihm ab: Er kann gut gelaunt oder schlecht gelaunt sein, gereizt, fröhlich oder traurig, nervös oder gelassen. All diese Reaktionen geschehen unabhängig von ihm. Ein Mensch kann schlecht gelaunt sein, weil jemand ihn anstieß oder ihn ausschimpfte. Oder er kann schlecht gelaunt sein, weil er etwas gegessen hat, das diese Wirkung hervorrief. Wenn er nichts Besonderes erreicht hat, kann nichts von ihm verlangt werden. Daher kann man von ihm nicht mehr erwarten, als er hat. Von einem rein praktischen Standpunkt aus ist ein Mensch in dieser Hinsicht sicher nicht verantwortlich; es ist nicht sein Fehler, daß er ist, wie er ist. Deshalb ziehe ich dies nicht in Betracht, denn ich weiß, daß man von einem schwachen Menschen nicht etwas verlangen kann, das Stärke erfordert. Ansprüche kann man an einen Menschen nur stellen in Übereinstimmung mit der Stärke, die er hat, um sie zu erfüllen. Natürlich sind die meisten der Anwesenden hier im Institut, weil sie diese Stärke nicht haben und hierher gekommen sind, um diese zu erwerben. Dies beweist, daß sie stark sein wollen, und deshalb wird Stärke nicht von ihnen verlangt. Aber ich spreche jetzt von dem anderen Teil von uns - dem Kopf. Indem ich von dem Kopf spreche, weiß ich, daß jeder von Ihnen genug Stärke hat, daß jeder von Ihnen die Kraft und die Fähigkeit haben kann, nicht zu handeln, wie er es jetzt tut. Der Kopf ist imstande, unabhängig zu funktionieren; leider hat er jedoch auch die Fähigkeit, sich mit den Stimmungen und Gefühlen zu identifizieren, zur reinen Widerspiegelung der Gefühle zu werden. Bei der Mehrzahl der Anwesenden versucht der Kopf nicht einmal, unabhängig zu sein, sondern ist immer nur ein Sklave ihrer Stimmungen. Jeder Mensch kann dies unabhängige Denken erreichen; jeder, der einen ernsthaften Wunsch hat, kann es. Aber niemand macht den Versuch, und daher stehen sie, obwohl sie schon so lange hier sind, sogar trotz des Wunsches, den sie schon so lange hatten, bevor sie hierher kamen, noch immer auf einer Stufe unterhalb der des gewöhnlichen Menschen; das heißt auf der Stufe eines Menschen, der niemals irgend etwas zu tun beabsichtigte. Ich wiederhole nochmals - zur Zeit sind wir nicht fähig, unsere Zustände zu lenken, und daher kann es von uns nicht verlangt werden. Aber wenn wir diese Fähigkeit erwerben, werden entsprechende Ansprüche gestellt werden. Und deshalb sage ich, daß bei einem ernsthaften Menschen, einem einfachen, gewöhnlichen Menschen, einem Menschen ohne irgendwelche außerordentlichen Kräfte, was immer er beschließt, welches Ziel auch immer er sich gesetzt hat, jenes Ziel stets in seinem Gedächtnis bleiben wird. Selbst wenn er es praktisch nicht erreichen kann, wird er es theoretisch immer im Gedächtnis behalten. Selbst wenn er
durch andere Anordnungen beeinflußt wird, wird sein Denken das Ziel nicht vergessen. Er hat eine Pflicht zu erfüllen, und wenn er ehrlich ist, wird er danach streben, diese Pflicht zu erfüllen, weil er ein Mensch ist. Niemand kann hierbei helfen, bei diesem Sich-Erinnern, diesem Sichvon-sich-selbst-Trennen. Ein Mensch muß es allein tun. Erst von dem Augenblick an, wo ein Mensch die Fähigkeit hat, diese Trennung zu vollbringen, kann ein anderer Mensch ihm helfen. Es ist wahrlich nicht leicht, ständig den Wunsch zu haben, seine Gedanken von seinen Gefühlen zu trennen, aber der Kopf muß sich immer an diesen Wunsch erinnern. Er muß sich daran erinnern, daß Sie hierher kamen mit der Einsicht in die Notwendigkeit, nur mit sich selbst zu kämpfen, und er muß jedem dankbar sein, der Ihnen die Möglichkeit bietet, in diesen Kampf einzutreten. Das Programm des Instituts, die Kraft des Instituts und das Ziel des Instituts können in einem Satz ausgedrückt werden: Das Institut kann einem Menschen helfen, fähig zu sein, ein Christ zu sein. - Ganz einfach! Das ist alles! Aber dies kann es nur, wenn ein Mensch diesen Wunsch hat, und ein Mensch wird diesen Wunsch nur haben, wenn er eine Stelle hat, wo ein ständiger Wunsch anwesend sein kann. Bevor man jedoch fähig ist, muß man wünschen, fähig zu sein. Somit gibt es drei Phasen: wünschen, fähig sein und schließlich sein. Das Institut ist das Mittel. Außerhalb des Instituts muß man, bevor man hierher kommt, es wünschen. Aber hier kann man lernen, fähig zu sein und zu sein. Die Mehrheit der hier Anwesenden nennen sich Christen, aber praktisch alle sind >Christen in Anführungszeichen<. Untersuchen wir diese Frage: Dr. Y., sind Sie ein Christ? Was denken Sie, sollte man seinen Nächsten lieben oder ihn hassen? (Antwort: Man sollte lieben.) Wer kann wie ein Christ lieben? Daraus folgt, daß es fast unmöglich ist, ein Christ zu sein. Das Christentum umfaßt viele Dinge; wir haben nur eins von ihnen genommen, damit es als Beispiel diene. Können Sie jemanden auf Befehl lieben oder hassen? Dennoch sagt das Christentum genau dies - alle Menschen zu lieben, jene zu segnen, die einen hassen. Aber dies ist unmöglich. Zugleich ist es wahr, daß man lieben muß. Leider haben die modernen Christen mit der Zeit nur die zweite Hälfte der Lehre angenommen und die erste verloren die ihr hätte vorausgehen sollen. Zunächst muß man fähig sein zu lieben, nur dann kann man lieben. Aber wie kann man fähig sein? Das Wissen um dieses letztere ist verlorengegangen. Es wäre ungerecht von Gott, vom Menschen das zu verlangen, was er nicht geben kann. Daher gab Er dieses Wissen, nicht einmal, sondern viele Male. Nur ist der Mensch ein Narr und wirft dieses wertvolle Wissen fort. Die halbe Welt ist christlich, die andere Hälfte hat andere Religionen. Für mich, einen verständigen Menschen, macht dies keinen Unterschied. Ursprünglich hatten sie alle die gleichen Ideale wie das Christentum. Deshalb ist es möglich zu sagen, daß die ganze Welt christlich sei - der Unterschied liegt nur im Namen. Und sie ist nicht ein Jahr christlich gewesen, sondern Tausende von Jahren. Es gab sogar Christen vor
der Ankunft Christi. Somit sagt mir der gesunde Menschenverstand: >So viele Jahre lang sind die Menschen Christen gewesen und Gott selbst lebte in der Person Jesu Christi unter ihnen - wie kann Er so unvernünftig sein, das Unmögliche zu verlangen?< Es ist jedoch nicht so. Die Dinge sind nicht immer so gewesen, wie sie es jetzt sind. Die Menschen haben erst vor kurzer Zeit die erste Hälfte ihrer Religion vergessen und hier durch das Vermögen verloren, fähig zu sein, den Lehren Christi zu folgen. Und dadurch wurde es in der Tat unmöglich. Es möge sich jeder einfach und offen fragen, ob er alle Menschen lieben kann? Falls er eine Tasse Kaffee getrunken hat, liebt er; falls nicht, liebt er nicht. Wie kann so etwas Christentum genannt werden? In der Vergangenheit wurden nicht alle Menschen Christen genannt. Einige Menschen ein und derselben Familie wurden Christen genannt, andere nur Halbchristen, noch andere Nichtchristen. So konnte es in ein und derselben Familie die ersteren, die zweiten und die dritten geben. Aber jetzt werden alle Christen genannt. Es ist verachtenswert, unklug, naiv und unehrlich, einen Namen ohne Rechtfertigung zu tragen. Die Bibel sagt: >Ein Christ ist ein Mensch, der fähig ist, den Geboten zu folgen.< Ein Mensch, der fähig ist, all das zu tun, was von einem Christen verlangt wird, sowohl mit seinem Denken als auch in seinen Gefühlen, wird ein Christ ohne Anführungsstriche genannt. Ein Mensch, der in seinem Denken alles tun will, was von einem Christen verlangt wird, der es jedoch nur mit seinem Denken und nicht mit seinen Gefühlen tun kann, wird ein Halbchrist genannt. Und ein Mensch, der nichts tun kann, selbst nicht mit seinem Denken, wird ein Nichtchrist genannt. Versuchen Sie, die Bedeutung dessen zu verstehen, was ich durch diesen Vortrag vermitteln wollte. «
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Gurdjieffs Vorträge wurden in unregelmäßigen Abständen gehalten und gewöhnlich ohne Vorwarnung. Häufig war er von der Prieuré abwesend, und wenn er da war, trieb er sich mitleidlos an, ob bei körperlicher Arbeit, beim Leiten der Bewegungen oder beim Empfang wichtiger Menschen. Diejenigen, die bei den Zusammenkünften mit Ouspensky in London gewesen waren, hatten das Glück, einen theoretischen Hintergrund zu besitzen. Dies erklärt vielleicht, warum es 1923 praktisch keine Amerikaner oder Europäer in der Prieuré gab.
Im Frühjahr 1923 begann Gurdjieff, die Grundlage seiner Arbeit zu erweitern. Ich zitiere wieder aus den Aufzeichnungen von Fräulein Alexander: »Eines Abends verkündete Herr Gurdjieff, daß die Arbeit im allgemeinen bisher wie die von Ochsen gewesen sei und als solche unzulänglich. Er erweiterte darauf den Umfang ihrer Richtungen durch Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsübungen, die wir mit unseren Alltagsarbeiten verbinden sollten. Und es wurden viele andere
derartige Übungen versucht und durchgeführt. Für mich waren sie sehr schwer, oftmals verwirrend (vielleicht mit Absicht so) und sogar entnervend. Als ich, durch das Scheitern wiederholter Anstrengungen entmutigt, ihm erzählte, daß ich ganz unfähig sei, sie durchzuführen, sagte er nur: >Ich weiß, Sie können es nicht.< Damals hatte ich nicht begriffen, daß die Maschine ist, was sie ist, und nicht irgend etwas anderes sein kann, noch auch, wie die Neigung der menschlichen Natur, Ergebnisse und Mißerfolge mit denjenigen anderer zu vergleichen, nur die Schwierigkeiten vergrößert, indem sie die Aufmerksamkeit ablenkt. Abgesehen von diesen Studien, war das planmäßige Programm der Themen, die an dem Institut gelehrt werden sollten, eingeschlafen, und auch jene, die auf der Suche nach Gesundung waren, hatten nicht die Heilverfahren gefunden, auf die sie hofften oder an die sie vielleicht glaubten. Die treibende Kraft des ersten Schocks hatte nachgelassen, vieles von Gurdjieffs Schulungsmethoden war schwer zu verstehen. Nur die Brennesseln konnte man greifen, und wieviele hatten die Zähigkeit, das zu tun? Eines Tages jedoch bot uns Herr Gurdjieff an, eine Ausbildung aus einer ganzen Reihe von Gewerben und Handwerken auszuwählen. Als Zustimmung zu jeder Ankündigung sollten wir die Hände heben. Wir antworteten mit kräftigem Armeheben, manchmal ohne eine abweichende Meinung. Soweit ich mich erinnere, konnten wir lernen, Schuhe zu flicken, zu schneidern, Korsetts zu machen, Hüte zu kreieren, Brücken und Teppiche zu weben, zu massieren, zu malen, zu meißeln und sogar Elektriker zu werden. Aber trotz unserer raschen Reaktion, nahm wenig, wenn überhaupt etwas von der Unterweisung feste Gestalt an, obwohl es bemerkenswert war, wie die bloße Aussicht darauf unsere nachlassenden Energien neu belebte. Wir lebten von der Erwartung. Später jedoch empfingen wir einen Ansporn anderer Art, den am wenigsten erwarteten, nämlich das Fasten. Herr Gurdjieff erklärte, daß es nur freiwillig und ohne Furcht unternommen werden dürfe. Es sollte eine Veränderung des Stoffwechsels bewirken, und um überhaupt zu nützen, war die erste vorbereitende Handlung eine Darmspülung. Für die meisten war es nur gestattet, Wasser zu trinken. In einem Fall begann das Fasten mit Prostokwascha, der russischen Sauermilch, in einem anderen mit Apfelsinen in Hülle und Fülle. Seine Dauer war auch verschieden. Für einige dauerte es einen Tag oder zwei oder drei Tage, für andere eine Woche, sogar vierzehn Tage. Die Ärzte notierten täglich Gewicht, Temperatur und Puls. Die gewöhnliche Arbeit wurde fortgesetzt. Beim Abbruch des Fastens wurde am ersten Tag starke Bouillon gegeben und am zweiten Beefsteak. Das Fasten wurde pflichtgetreu durchgeführt. Es war ein herrlicher Sommer. Herr Gurdjieff beschloß, einen Teil des Waldes für Bauarbeiten roden zu lassen. Es hieß, es sei eine dauerhafte zentrale Halle des Instituts geplant. Als die großen Bäume fielen, strahlte die Sonne nieder auf die nackte Erde, und die massiven Wurzeln und Stümpfe der Bäume mußten zerhackt und ausgegraben werden, begleitet von Gedächtnisund Aufmerksamkeitsübungen. Es war eine zermürbende Aufgabe. Aber es gab das kalte Wasser des Brunnenbeckens, in dem man baden konnte, die größere Schüssel Sauermilch und das seltene Erscheinen von Rotwein, um das Herz zu erfreuen, und die wöchentliche Glückseligkeit unseres grundlegenden Reinigungsmittels, des
russischen Bads. Doch wiederum wurde nie ein Stein des neuen Gebäudes gelegt. Statt dessen sprossen aus seinem unfruchtbaren Boden Mais und Bohnen auf. An den Wochenenden empfing die Prieuré viele Besucher aus Paris und anderen Orten, und an Samstagabenden wurden einige der Einwohner von Fontainebleau und Avon eingeladen, die Vorführungen der Bewegungen und Übungen zu beobachten. Diese Gelegenheiten wurden sozusagen in voller Aufmachung veranstaltet. Nachdem das russische Bad und das Abendbrot vorbei, die Tagesmühen beiseite gelegt waren, zogen wir unsere weißen Kostüme an und stimmten uns ein auf die Anspannung einer öffentlichen Vorführung. Jene Sommerabende, welche in die mit dem Aroma des Waldes gewürzten Nächte übergingen, sind unvergeßlich. Noch immer kann ich das Klingen der Eingangsglocke hören, während die Menschen hereinströmten und an den langen Blumenbeeten entlang zum Study House gingen, während die Gartenfontaine einen farbigen Rhythmus von sich verändernden Lichtern zu dem unberechenbaren Tanzen der Glühwürmchen spielte.« Um eine Vorstellung von der Art zu geben, in der die Arbeit ablief, will ich nur eine der vielen Geschichten wiederholen von der wilden Arbeit, um das Study House rechtzeitig für die Weihnachtsfeierlichkeiten fertig zu bekommen. Tschechowitsch, der beständig mit der Arbeit beschäftigt war, befestigte Tragbalken ungefähr sieben bis acht Meter über dem Erdboden. Er war so erschöpft, daß er in unsicherem Gleichgewicht auf einem schmalen Balken einschlief. Keiner der anderen bemerkte es; aber Gurdjieff trat ein, erfaßte die Lage mit einem Blick, gab allen ein Zeichen, völlig still zu bleiben, und kletterte wie eine Katze auf den Balken und an ihm entlang, bis er Tschechowitsch festhalten konnte. Dann ging er auf ihn los wie eine Fischfrau und entließ ihn, um 48 Stunden zu schlafen, wonach alles wie zuvor weiterging. Immer wieder standen die unerfahrenen Bauarbeiter vor Aufzugs- und Befestigungsproblemen, die sie nicht lösen konnten, und stets erschien Gurdjieff im kritischen Augenblick, um ihnen nur zu zeigen, wie die Sache getan werden mußte. Ich machte im Juli und August 1923 einen längeren Besuch. Frau Beaumont, mit der ich in Ouspenskys Gruppe eingetreten war und die auch der Arbeit voll verbunden war, konnte nicht mitkommen, weil sie mit ihrer Mutter nach Dax gehen mußte, um eine Brunnenkur zu machen. Ich besitze die Briefe, die ich ihr damals schrieb. Wenn ich sie lese, erinnern sie mich, wie naiv meine Haltung gegenüber Gurdjieff und seinem Werk war, und auch an den Mangel an Verständnis meiner selbst. Als Frau Beaumont später zur Prieuré kam, hatte sie einen sehr starken, jedoch gemischten Eindruck von Gurdjieff. Sie ging zurück zu Ouspensky und sagte ihm: »Ich kann einsehen, daß Herr Gurdjieff ein außerordentlicher Mensch ist, aber ich kann nicht sagen, ob er gut oder schlecht ist. Er scheint beides gleichzeitig zu sein.« Ouspensky versicherte kategorisch, daß Gurdjieff ein guter Mensch sei und daß sie zuversichtlich sein solle, daß ich aus dem Zusammensein mit ihm Nutzen ziehen werde, vorausgesetzt, ich erinnere mich daran, daß Gurdjieff gesagt hatte, daß wir nichts glauben dürften, was wir nicht selbst überprüft hätten. Als ich in der Prieuré war, wurde mir das »Laboratorium« gezeigt, da aber noch keiner der umfangreichen Apparate aufgestellt worden war, konnte ich nicht sagen, ob es ernstgenommen werden sollte. Damals konnte Gurdjieff weder Englisch noch Französisch sprechen, und ich hatte das Glück, mit ihm frei auf türkisch sprechen zu
können, das er vollkommen beherrschte, wenn auch mit einem Akzent, der mehr derjenige Zentralasiens war als der des ottomanischen Türkisch, das ich kannte. Dies mag der Grund sein, warum ich so viel Glück hatte, mit ihm mehrere private Gespräche zu führen, die den Neid der anderen Engländer erregten, die meist älter und wichtiger waren als ich. Eines Tages machte er mit mir in seinem großen Auto eine Fahrt in den Wald von Fontainebleau, die in einer Lichtung endete, von wo aus wir hinunter auf die Prieuré blicken konnten. Er saß auf einem umgefallenen Baum und erzählte mir, wie er das Institut zu entwickeln beabsichtigte, wie es ein Zentrum der Ausbildung und der Erforschung werden würde, nicht nur der Kräfte des Menschen selbst, sondern der Geheimnisse des Sonnensystems. Er sagte, er habe ein besonderes Mittel erfunden, um die Sichtbarkeit der Planeten und der Sonne zu erhöhen und auch um Energien freizusetzen, die die gesamte Weltlage beeinflussen würden. Wenn ich zurückblicke, kann ich sehen, wie ich in meiner Naivität und Unerfahrenheit all diese Behauptungen akzeptierte und bereit war, mich der Unterstützung Gurdjieffs bei ihrer Verwirklichung zu widmen. Bald hiernach zeigte mir Gurdjieff in der Tat, wie man Energien freisetzt, die ich nie zuvor erlebt hatte, und wie man Dinge erkennt, die ich unmöglich hätte anders erkennen können. Ich glaube, daß Gurdjieff bei all seinen Übertreibungen und Absurditäten ernsthaft eine große Unternehmung plante und dies zudem aus eigener Initiative und auf eigene Verantwortung zu tun beabsichtigte. Einer der Vorträge Gurdjieffs machte auf mich einen großen Eindruck: Ich habe ihn häufig wiedergelesen, und er hat stets mein Verständnis vertieft. Gurdjieff sprach über Freiheit und Stolz. Ich behielt nur eine Zusammenfassung, die ich in vollem Umfang wiedergebe: »Freiheit führt zu Freiheit. Das sind die ersten Worte der Wahrheit. Sie wissen nicht, was die Wahrheit ist, weil Sie nicht wissen, was Freiheit ist. Alle Wahrheit, die Sie heute kennen, ist nur >Wahrheit< in Anführungszeichen. Es gibt eine andere Wahrheit, sie ist jedoch nicht theoretisch: Sie kann nicht mit Worten ausgedrückt werden. Nur diejenigen, die sie in sich selbst erkannt haben, können jene Wahrheit verstehen. Nun will ich Ihnen eine ausführliche Erklärung der Worte geben, die ich geäußert habe. Sie beruht auf der folgenden Grundlage. Die Freiheit, von der ich spreche, ist die Freiheit, die das Ziel aller Schulen, aller Religionen, aller Zeiten ist. Und wahrhaftig, ich sage Ihnen, diese Freiheit kann sehr groß sein. Jeder verlangt nach jener Freiheit und strebt ständig nach ihr: Sie kann jedoch niemals erlangt werden ohne die erste Art von Freiheit, die ich die Kleinere Freiheit nennen will. Die Größere Freiheit ist die Befreiung unserer selbst von allen Einflüssen, die außerhalb von uns wirken. Die Kleinere Freiheit ist die Befreiung unserer selbst von allen Einflüssen, die in uns wirken. Als ein Anfang - für Sie, die Sie Anfänger sind - ist die Kleinere Freiheit in der Tat sehr groß, da sie Ihrer Abhängigkeit von äußeren Einflüssen nicht ausgesetzt ist. Sie müssen verstehen, daß Sie, solange Sie der Sklave innerer Einflüsse sind, nicht unter die Wirkung äußerer Einflüsse kommen können. Vielleicht ist dies sogar eine gute Sache, solange Sie keine innere Freiheit haben. Sie müssen verstehen, daß der Mensch, der von inneren Einflüssen befreit ist, anfängt, unter das Spiel äußerer Einflüsse zu fallen.
Innere Einflüsse, die in einem innere Sklaverei hervorrufen, stammen von vielen unabhängigen Quellen. Das heißt, es gibt sehr viele unabhängige Faktoren, die bewirken, daß ein Mensch innerlich ein Sklave ist. Diese Einflüsse sind für verschiedene Menschen unterschiedlich. In einem Fall ist der eine Einfluß am stärksten und in einem anderen Fall ein anderer. Aber in einem jeden Menschen gibt es ohne Ausnahme so viele Faktoren der Sklaverei, daß, müßte man mit jedem getrennt kämpfen und sich von ihnen einzeln befreien, man eine so lange Zeit benötigen würde, daß das halbe Leben nicht genug wäre. Deshalb müssen wir ein Mittel finden oder eine Arbeitsmethode, die uns erlauben wird, gleichzeitig so viele Feinde in uns als möglich zu vernichten, von denen diese die Sklaverei hervorrufenden Einflüsse herrühren. Wie ich gesagt habe, gibt es sehr viele unabhängige Feinde: aber zwei der wichtigsten sind Eitelkeit und Selbstliebe. In einer Lehre werden diese sogar die wichtigsten Botschafter des Teufels genannt. Man kann nebenbei hinzufügen, daß sie aus irgendeinem Grund Madame Eitelkeit und Monsieur Selbstliebe genannt werden. Ich habe nur zwei dieser inneren Feinde als kennzeichnend zitiert, weil es zu weit führen würde, sie alle jetzt zu erwähnen. Wir haben auch viele Sklaven in uns - jeder von diesen Sklaven will frei sein, es ist jedoch für jeden Sklaven schwierig, direkt und offen zu arbeiten. Für unsere Sklaven ist es besonders schwierig, mit diesen Feinden zu kämpfen, weil keiner unserer Sklaven Zeit genug hat. In einem Augenblick ist ein Sklave anwesend: in einem anderen Augenblick ist es ein anderer Sklave, und mit diesen Feinden zu kämpfen, verlangt sehr viel Zeit. Letzten Endes muß es indirekt getan werden, damit wir mehrere der Feinde gleichzeitig loswerden können. Hierzu müssen wir verstehen, wie diese Feinde arbeiten und von wo sie ihre Macht erhalten. Sie müssen wissen, daß diese Vertreter des Teufels die ganze Zeit über auf unserer Schwelle stehen und allen äußeren Einflüssen den Eintritt verweigern sowohl guten wie schlechten. Dementsprechend haben sie sowohl gute wie schlechte Seiten. Falls jemand das Eintreten äußerer Einflüsse einschränken will, ist es für ihn gut, daß diese Wachposten existieren. Falls jemand jedoch aus dem einen oder anderen Grund wünscht, daß jede Art von Einfluß in ihn eintrete, dann muß er sich von diesen Wachposten befreien. Nur muß man ein für allemal verstehen, daß es unmöglich ist, die Einflüsse auszuwählen, die man wünscht. Zum Beispiel ist es unmöglich, nur gute Einflüsse auszuwählen. Die Wachposten sind nur für jene unerwünscht, deren wirkliches Ziel die Freiheit ist. Diejenigen, die dieses Ziel haben, müssen danach streben, durch jedes in ihrer Macht befindliche Mittel sich vor allem von diesen zwei Feinden - Eitelkeit und Selbstliebe - zu befreien. Hierfür gibt es zahlreiche Methoden und viele verschiedene Mittel. Aber ich, Gurdjieff, würde Ihnen, ohne spitzfindig zu werden, persönlich empfehlen, sie sich dadurch vom Halse zu schaffen, daß Sie nur einfach und aktiv mit sich selbst argumentieren. Dies ist durch aktives Denken möglich: Und ich muß Sie darauf hinweisen, daß man, falls Sie scheitern oder es durch dieses Mittel unmöglich finden, dann irgendein anderes Mittel finden muß, denn es besteht keine Hoffnung, weiter voranzukommen, solange einige dieser Feinde nicht ausgerottet wurden.
Zum Beispiel verschlingt die Selbstliebe oder der falsche Stolz die Hälfte unserer Zeit und die Hälfte unseres Lebens. Falls irgend jemand oder irgend etwas außerhalb von uns unseren Stolz verletzten sollte, sind wir nicht nur in dem Augenblick gekränkt, sondern auch lange Zeit danach. Und da zudem jenes verletzte Gefühl aus Trägheit handelt, verschließt es das Tor und sperrt somit alles Leben aus. Ich lebe! Das Leben ist außerhalb. Ich bin das Leben, solange ich mit dem Außen verbunden bin. Wenn das Leben nur in meinem Innern existiert, ist dies überhaupt kein Leben. Wenn ich >mich sehe<, entdecke ich, daß ich mit der Außenwelt verbunden bin. Alles lebt auf diese Weise und kann ohne diese Verbindung nicht existieren. Eine Erfahrung vergeht und hat kaum Zeit dazu, wenn schon eine andere ihre Stelle einnimmt. Unsere Maschine ist so gebaut, daß sie nicht verschiedene Stellen in sich hat, in denen unterschiedliche Erfahrungen zu ein und derselben Zeit bestehen können. In uns gibt es eine einzige Stelle, wo Erfahrungen sein können, und wenn jene Stelle von Erfahrungen einer Art, die unerwünscht sind, besetzt ist, ist es völlig ausgeschlossen, daß sie von Erfahrungen einer anderen Art besetzt wird, die wünschenswert sein mögen. Sie müssen es als eine Tatsache begreifen und verstehen, daß Ihre Erfahrungen nicht zu irgendeiner Art Vollendung oder Befreiung führen können, wenn Sie sie nicht durchlebt haben. Sie müssen Erfahrungen haben - vielleicht sogar mehr, als Sie sich möglicherweise vorstellen können, sowohl angenehme als auch unangenehme -, aber Sie dürfen nicht zulassen, daß Sie von ihnen versklavt werden. Im Gegenteil, Sie müssen sie benützen, um einen Ort vorzubereiten, worin Sie frei sein können. Wir haben uns selbst nicht zu eigen und besitzen keinen wirklichen Selbststolz. Selbststolz ist etwas Großes. Genauso sehr wie wir den Stolz tadeln müssen, wie man ihn gewöhnlich versteht, so sehr bedürfen wir jenes wirklichen Stolzes, der unglücklicherweise nicht in uns existiert. Der Selbststolz ist das Zeichen dafür, daß man im Besitz seiner selbst ist. Wenn ein Mensch Selbststolz hat, beweist dies, daß er ist. Wie ich jedoch am Anfang sagte, ist der Selbststolz auch der Vertreter des Teufels. Der Selbststolz ist der Hauptfeind, das Haupthindernis für alle unsere Ziele und Werke. Der Stolz ist das Hauptwerkzeug des Vertreters der Hölle. Der Stolz ist auch ein Merkmal der Seele. Durch den Stolz ist es möglich, den Geist klar zu erkennen. Der Selbststolz ist der Anzeiger und der Beweis, daß so jemand ein Teil des Himmels ist. Der Selbststolz ist das >Ich<. Das >Ich< ist Gott. Folglich ist es notwendig, Stolz zu besitzen. Der Stolz ist die Hölle. Der Stolz ist der Himmel. Diese zwei, die beide den gleichen Namen tragen und beide äußerlich von der gleichen Substanz sind, sind völlig verschieden und entgegengesetzt. Niemandem wird es durch eine bloß oberflächliche Untersuchung jemals gelingen - selbst wenn er ein ganzes Leben lang fortfährt - den einen von dem anderen zu unterscheiden. Es gibt einen Ausspruch: >Diejenigen, die Stolz besitzen, sind bereits halbfrei.< Und wenn wir diejenigen nehmen, die hier im Kreise sitzen, hat jeder einzelne soviel Stolz, daß er mehr als genug davon hat. Das ist das Paradox. Wir sind bis zum Rande voll mit Stolz, und dennoch haben wir nicht die geringste Freiheit für uns selbst. Es muß das Ziel sein, Stolz zu besitzen. Wenn wir es erreichen, Stolz zu
haben, werden wir dadurch von vielen der Feinde befreit werden, die sich in unserem Innern niedergelassen haben. Wir können uns vielleicht sogar von unseren Hauptfeinden befreien - von Madame Eitelkeit und Monsieur Selbstliebe. Wenn Sie sich nach der Freiheit sehnen - wenn auch nur der Kleineren Freiheit müssen Sie bereit sein, einen hohen Preis zu zahlen. Manchmal beklagen sich Menschen bei mir, daß sie die Aufgaben, die ich ihnen gebe, nicht machen können. Was erwarten sie? Es genügt, wenn man die Möglichkeit, sie auszuführen, sieht - das übrige hängt von der Stärke des eigenen Wunsches ab, frei zu sein. Im gegenwärtigen Augenblick können Sie nichts tun, weil Sie nicht frei sind. Sie müssen verstehen, daß Sie nicht mit der Freiheit anfangen können: die Freiheit ist das Ziel, die Absicht. Die Menschen sagen, Gott habe den Menschen frei geschaffen. Das ist ein großes Mißverständnis. Die Freiheit kann keinem gegeben werden - selbst nicht von unserem alliebenden Schöpfer selbst. Gott hat dem Menschen das größte gegeben, was er geben kann - das heißt die Möglichkeit, frei zu werden. Die Sehnsucht nach Freiheit existiert in jedem Menschen, der dieses Namens würdig ist - aber die Menschen sind dumm, und sie glauben, sie könnten äußere Freiheit ohne innere Freiheit haben. All unser Unglück kommt von dieser Dummheit. Wenn wir nicht zunächst von unseren eigenen inneren Feinden frei sein wollen, kommen wir nur vom Regen in die Traufe. Deshalb muß sich jeder prüfen und in sich einen aufrichtigen Wunsch zu finden versuchen, von den Kräften der Eitelkeit und der Selbstliebe, die in ihm wirken, frei zu sein. Jene innere Sklaverei ist die schlimmste Erniedrigung des Menschen, sie ist die Hölle, in welcher der Mensch sich zu existieren erlaubt. Der aufrichtige Wunsch, von jener Erniedrigung frei zu sein, ist der Beginn wirklichen Stolzes.«
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Gurdjieffs Vorträge, die immer in unerwarteten Augenblicken gehalten wurden, waren für die meisten von uns das Wichtigste des Lebens in der Prieuré. Einer davon, in dem Gurdjieff das Wirken »höherer Gefühlsenergie« erklärte, hatte auf mich eine große Wirkung, weil er auf einen Tag des intensivsten Erlebens folgte, wo ich zum erstenmal entdeckte, daß es möglich ist, mit einer Energiequelle in Verbindung zu kommen, die jenseits des Bewußtseins ist. Dies fiel in eine Zeit, in der ich ernstlich krank war; in der Tat waren alle meine Erfahrungen von meinem Gesundheitszustand beeinflußt. Ich hatte einen Neuanfall von Ruhr, die ich mir 1919 in Izmir zugezogen hatte, und ich überanstrengte mich rücksichtslos. Die Arbeit in den Gärten erinnerte mich an Derwisch-Gemeinschaften in der Türkei. Der heiße Sommer von 1923, das ständige Bedürfnis nach Wasser, das türkische Bad und die Feste am Samstagabend erinnerten alle an den Osten. Aber am meisten erinnerte mich das Study House an die Sema Hanes der Derwisch-Gemeinschaften außerhalb der Mauern Konstantinopels. In einer solchen Atmosphäre war es seltsam, Engländer und Engländerinnen wie zu Hause zu sehen, obwohl man zugeben muß, keiner von ihnen machte den gleichen Eindruck wie die Derwische, die ich nur drei oder vier Jahre früher gesehen hatte.
Statt der Inschriften aus dem Qur'an und der Aussprüche des Propheten, die man in einem Sema Hane sehen würde, hatte Gurdjieff überall an der Decke eine Reihe seiner eigenen Aussprüche befestigt. Diese waren in einer seltsamen Schrift geschrieben, die ein wenig dem Arabischen ähnelte, aber senkrecht gelesen wurde. Man erwartete von uns, daß wir diese Schrift lernten, und ich bewahrte alle Aphorismen auf - von denen einer auf Abb. 12 wiedergegeben ist. Es gab ungefähr ein Dutzend, als ich da war, aber es kamen ständig weitere hinzu, und die endgültige Serie war so interessant, daß ich sie in ihrer Gesamtheit wiedergebe: 1. Wenn du nicht von Natur aus einen kritischen Verstand hast, ist dein Aufenthalt hier sinnlos. 2. Nur derjenige, der sich um die Habe eines anderen kümmern kann, kann seine eigene besitzen. 3. Je schwieriger die Lebensumstände, desto größer die Möglichkeit zur Arbeit, vorausgesetzt, du arbeitest bewußt. 4. Nur der kann gerecht sein, der sich in die Lage anderer versetzen kann. 5. Wir können uns nur bemühen, fähig zu sein, Christen zu sein. 6. Ich liebe den, der Arbeit liebt. 7. Beurteile andere wie dich selbst, und du wirst dich seiten irren. 8. Hier kann man nur Bedingungen schaffen und sie lenken, aber nicht helfen. 9. Wisse, daß dieses Haus nur für jene nützlich sein kann, die bereits ihre Nichtigkeit erkannt haben und es für möglich halten, sich zu wandeln. 10. Das beste Mittel um im Leben glücklich zu sein, ist die Fähigkeit sich stets äußerlich zu richten, nie innerlich. 11. Der Mensch wird mit der Fähigkeit für eine bestimmte Zahl von Erfahrungen geboren. Wenn er sparsam mit ihnen umgeht, verlängert er sein Leben. 12. Richte dich nur nach dem, was andere von dir denken - nicht danach, was sie sagen. 13. Liebe die Kunst nicht mit deinen Gefühlen. 14. Nimm das Verständnis des Ostens und das Wissen des Westens, und dann suche. 15. Wer die Krankheit »Morgen« losgeworden ist, hat eine Chance, das zu erreichen, wofür er hier ist. 16. Die höchste Leistung des Menschen ist die Fähigkeit, ZU TUN.
17. Hier gibt es weder Engländer noch Russen, Juden oder Christen, sondern nur diejenigen, die einem Ziel folgen - fähig zu sein, zu tun. 18. Hilf nur dem, der sich bemüht, kein Müßiggänger zu sein. 19. Urteile nicht aufgrund von Gerede. 20. Es ist ein Zeichen eines guten Menschen, daß er seinen Vater und seine Mutter liebt. 21. Achte alle Religionen. 22. Wenn du weißt, was schlecht ist, und es weiter tust, begehst du eine Sünde, die schwer zu vergeben ist. 23. Nur bewußtes Leiden ist sinnvoll. 24. Lieber vorübergehend selbstsüchtig sein als nie gerecht sein. 25. Liebe das, was es nicht liebt. 26. Erinnere dich daran, daß die Arbeit hier nicht um der Arbeit willen geschieht, sondern ein Mittel ist. 27. Die Energie, die durch einen Akt innerer Arbeit verbraucht wird, wird unmittelbar zu neuem Gebrauch umgewandelt; diejenige die durch passive Arbeit verbraucht wird, ist für immer verloren. 28. Übe bewußte Liebe zuerst an Tieren; sie sind empfänglicher und feinfühliger. 29. Eines der stärksten Motive für den Wunsch, an dir selbst zu arbeiten, ist die Einsicht, daß du in jedem Augenblick sterben kannst. 30. Erinnere dich immer daran, daß du hier bist, weil du die Notwendigkeit begriffen hast, mit dir selbst zu kämpfen; danke daher jedem, der eine Gelegenheit dazu bietet.
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Ich nehme an, daß niemand die Belastungen abschätzen konnte, denen Gurdjieff unterworfen gewesen war. Er hatte keine Erfahrung mit dem europäischen Leben. Er verstand das britische Volk nicht und hatte es nie gemocht, und er war in außerordentlichen finanziellen Schwierigkeiten. Er zwang sich, sich auf unnatürliche Weise zu verhalten, um die Energie zu erzeugen, die er benötigte, und dennoch mußte er das Vertrauen der Menschen gewinnen und erhalten, von deren materieller Hilfe er abhing. Dies war ein Dilemma, dem, wie er sich geschworen hatte, er sich niemals aussetzen würde, und dennoch gab es keine Möglichkeit, ihm aus dem Weg zu gehen.
Trotz der Hindernisse hatte Gurdjieff während der Zeit von November 1922 bis Dezember 1923 etwas vollbracht, das man niemals zuvor in Europa gesehen hatte. Er schuf Arbeitsbedingungen, die sehr viele Menschen befähigte, selbst das Potential für die Umwandlung zu entdecken und zu überprüfen, das in jedem Menschen verborgen ist. Die grundlegende Methode war einfach: Sie bestand darin, den Schülern die Gelegenheit und die Mittel anzubieten, damit sie die Fähigkeit ihres physischen Körpers zur Arbeit, zur Aufmerksamkeit, zum Erwerb von Geschicklichkeiten und zur Erzeugung von psychischer Energie bis zum Äußersten ausweiteten. Die tägliche Routine war im höchsten Maße anstrengend. Wir wachten um fünf oder sechs Uhr morgens auf und arbeiteten zwei Stunden lang vor dem Frühstück. Danach gab es mehr Arbeit: bauen, Bäume fällen, Holz sägen, Haustiere fast jeder Art versorgen, kochen, saubermachen und jede Art von Hausarbeit. Nach einem kurzen leichten Mittagessen und einer Ruhepause wurden ein oder zwei Stunden den »Übungen« und »Rhythmen« gewidmet in Begleitung von Musik, die gewöhnlich von Thomas de Hartmann auf dem Klavier gespielt wurde. Manchmal gab es Fastenzeiten, die ein, zwei, drei oder sogar bis zu sieben Tagen dauerten, während deren die gesamte Arbeit wie gewöhnlich fortgesetzt wurde. Am Abend gab es Klassen für Rhythmus und rituelle Tänze, die drei, vier oder fünf Stunden lang stattfinden konnten, bis jeder völlig erschöpft war. Ein Vortrag enthielt einen sehr bedeutsamen Hinweis auf »die Sufis«: »In einigen der alten Lehren wird gesagt, >Als Gott den Menschen schuf, schuf er am gleichen Tag auch zwei Geister für jeden Menschen, den Geist Gottes und den Geist des Bösen oder Engel und Teufel, Seite an Seite. Den Engel setzte er auf die rechte Schulter und den Teufel auf die linke Schulter des Menschen.< Es gibt andere alte Lehren, in denen gesagt wird: >Als Gott die Geister auf die Planeten sandte, um zu arbeiten, fragten die Geister Gott: "Was sollen wir dort machen?" Gott teilte die Geister in ihre einzelnen Naturen auf und sagte: "Du auf der rechten Seite wirst versuchen, die Lebenden in das Paradies zu führen, und du auf der linken Seite, du sollst versuchen, die Lebenden in die Hölle zu führen." Und hier fragte einer der Führenden: "Welche Mittel erlaubst du uns bei den verschiedenen Menschen zu ergreifen?" Hierauf antwortete Gott: "Ihr könnt auf jede Methode zurückgreifen, die euch gefällt, aber laßt folgenden grundlegenden Unterschied zwischen jenen Methoden und Mitteln bestehen: Der Plan des Geistes auf der rechten Seite soll sein, durch die Tätigkeiten des Menschen zu wirken, und der Geist auf der linken Seite soll durch das wirken, was im Menschen sozusagen 'sich tut'; für den Geist der rechten Seite durch die aktive Natur und das Bewußtsein des Menschen, und für den Geist der linken Seite durch die passive Natur und die Unbewußtheit des Menschen."< Diese zwei Lehren, auf die ich mich beziehe, sind alte Lehren. Zur gleichen Zeit existiert pari passu mit diesen alten Lehren eine andere Lehre bis in unsere Tage, und zwar eine, die von anderen Religionen nicht anerkannt wird. Die Mehrheit der Religionen atmen, handeln und leben entsprechend heiligen Schriften, Geboten und Anweisungen.
Daneben existierte eine Lehre weiser Männer, die leidenschaftslos jede Religion und alle Legenden und alle Lehren selbst zu verwirklichen suchten. Sie unterwarfen sich nicht blindlings. Bevor sie irgend etwas akzeptierten, verwirklichten sie es vorher selbst. Was immer sie selbst verwirklichen konnten, akzeptierten sie. Was nicht, lehnten sie ab. Auf diese Weise entstand eine neue Religion, obwohl das Material, aus dem sie gebildet wurde, von anderen Religionen übernommen wurde. Die Lehre, von der ich spreche, ist die Lehre der Sufis; diese gleiche Lehre hat hinsichtlich des Engels und des Teufels den folgenden Inhalt: Jede Handlung des Menschen, jeder Gedanke, jede seiner Bewegungen geht entweder aus dem Engel hervor oder aus dem Teufel. Was von jeder einzelnen intensiven Tätigkeit herrührt, nimmt die Form eines zweiten, aber viel feineren Organismus an in Gestalt einer gewissen Schale oder Hülle aus wirklicher Materie, die man empfinden oder erkennen kann als etwas, das von der einen Art oder von der anderen ist. Jede Schale hat die Fähigkeit, sich gewissen Gesetzen und gewissen Wirkungen zu fügen.«
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Gurdjieff sprach im weiteren über Atemübungen, wollte aber nicht, daß diese in der Öffentlichkeit erwähnt würden. Keine Beschreibung des äußeren Lebens in der Prieuré kann eine angemessene Vorstellung dessen geben, was im Inneren der Menschen geschah. Sie konnten selbst sehen, daß Wunder möglich waren und vor ihren Augen sich ereigneten. Sie konnten die Menschen sehen, wie sie wirklich waren, hinter den gewöhnlichen Masken und äußeren Verhaltensmustern. Sie konnten in sich die Bewußtseinszustände erfahren, die Ouspensky beschrieben hatte, die jedoch zu erreichen die Arbeit in London sie nie in den Stand gesetzt hatte. Aber trotz all dieser Ergebnisse war etwas nicht in Ordnung. Es war zu toll, wir waren alle zu ungeduldig, »das Paradies um jeden Preis bis spätestens nächste Woche zu betreten«, wie Gurdjieff es formulierte. Ouspensky kam zu dem Schluß, daß viele seiner Leute viel zu überstürzt gehandelt hatten, als sie ihr Leben und ihren Beruf in England aufgaben, um sich ganz der Arbeit mit Gurdjieff zu widmen. Unter diesen waren hervorragende Männer wie Orage und Nicol und Frauen von großer Charakterstärke wie Ethel Merston und Dr. Bell. Wenige waren zu jener Zeit bereit zu akzeptieren, daß der Umwandlungsprozeß Zeit brauche und daß jede Phase vollendet sein müsse, wenn die nächste richtig vorangehen solle. Wir wollten alle laufen, bevor wir gehen konnten. Zurückblickend scheint es, daß Gurdjieff noch immer experimentierte. Er wollte sehen, wessen die Europäer fähig waren. Er entdeckte, daß sie bereit waren, Anstrengungen zu machen, die wenige Asiaten akzeptieren werden - aus dem einfachen Grund, weil im ganzen gesehen die asiatischen Menschen es nicht eilig haben. Dieser Unterschied ist irreführend, und es mag sein, daß Gurdjieff die Fähigkeit zur Anstrengung falsch beurteilte und sie für die Fähigkeit nahm, die Notwendigkeit inneren Wandels zu akzeptieren. Wie ich es jetzt sehe, begriffen wir nicht wirklich den tiefen Wandel der Einstellung gegenüber sich selbst, der notwendig
ist, bevor der Prozeß der »Arbeit« frei in uns wirken kann. Vielleicht wurden wir durch Gurdjieffs Bestehen auf Anstrengung und noch mehr Anstrengung irregeführt. Dieser Nachdruck war wahrscheinlich bei Asiaten nötig, und selbst bei Russen, die, wie Gurdjieff es formulierte, Truthähne sind, auf halbem Wege zwischen Krähen und Pfauen. Die Briten hatten 1922 noch immer jenen puritanischen Hang, der uns glauben läßt, daß, was gut für uns ist, notwendigerweise hart und sogar unangenehm sein muß. Deshalb konnte man Männer und Frauen sehen, die bereitwillig die absurdesten Forderungen und das zügelloseste Verhalten von seiten Gurdiieffs akzeptierten, während die Franzosen nur einen Blick auf das warfen, was vor sich ging, und sich schnell abwandten. Dies führt mich zurück zum Leben in der Prieuré im Jahr 1923. Während die ganze Woche intensiver Arbeit gewidmet war, war der Sonnabend ein Feiertag. Beinahe jeden Samstagabend gab es ein besonderes Mahl mit Wein und Spirituosen. Sowohl Gurdjieff als auch seine privilegierten Schüler luden Gäste ein. Die Hauptschlafräume des Châteaus waren für besondere Gäste reserviert. Sie wurden »das Ritz« genannt und waren gut möbliert und sorgfältig in Ordnung gehalten, während wir übrigen in den Unterkünften der Dienstboten schliefen und glücklich waren, wenn wir den Raum mit geistesverwandten Gefährten teilten. Die Prieuré wurde durch Presseartikel in England und Frankreich recht gut bekannt. Gurdjieff und seine Anhänger wurden »die Waldphilosophen« genannt, und für Besucher aus Paris war es üblich, spät samstagabends hinauszukommen, um die Vorführungen der Rhythmen und heiligen Tänze zu beobachten wie auch pseudomagische Erscheinungen, die von Gurdjieff, de Hartmann und Alexander von Salzmann brilliant inszeniert wurden. Ich sah mehrere dieser Vorführungen und konnte nicht erraten, wie sie gemacht wurden, bis man sie mir erklärte.
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In Zentralasien sind rituelle Feste Teil der Lebensweise der Derwische. Der Chamodar oder Meister des Festes ist eine sehr alte Institution, und Gurdjieff sagte selber, er habe Bräuche übernommen, die ihn bei seinem langen Aufenthalt in Turkestan positiv beeindruckt hätten. Einer dieser Bräuche war das Ritual, das Gurdjieff die »Wissenschaft des Idiotismus« nannte. Er erklärte, daß in einer SufiGemeinschaft, die er zu besuchen pflegte, eine Lehrmethode aus dem Altertum überliefert worden war, die darin bestand, den Weg der menschlichen Entwicklung von einem Naturzustand bis zum Innewerden seines geistigen Potentials zu verfolgen. Ich habe den Inhalt vieler Gespräche in der folgenden Darstellung zusammengefaßt: »Es gibt einundzwanzig Abstufungen der Vernunft von der des gewöhnlichen Menschen zu der Unseres Unendlichen, das heißt Gottes. Niemand kann die Absolute Vernunft Gottes erreichen, und nur die Söhne Gottes wie Jesus Christus können die zwei Abstufungen der Vernunft haben, die die neunzehnte und die zwanzigste sind. Daher muß es das Ziel jedes Wesens sein, das nach Vollendung strebt, die achtzehnte Abstufung zu erreichen. Sie müssen verstehen, daß die Menschen, die Sie kennen, überhaupt keine Vernunft haben. Sie leben in ihren Träumen und haben keine Verbindung mit der Wirklichkeit. Wer auch immer irgendeine Verbindung mit der Wirklichkeit hat, wird ein Idiot genannt. Das Wort Idiot hat zwei Bedeutungen: Die wahre Bedeutung, die ihm von den Weisen aus alter Zeit gegeben wurde, war, man selbst zu sein. Ein Mensch, der er selbst ist, sieht
wie ein Wahnsinniger aus und benimmt sich wie ein solcher für jene, die in der Welt der Illusionen leben: Wenn sie daher einen Menschen einen Idioten nennen, meinen sie damit, daß er nicht ihre Illusionen teilt. Jeder, der an sich selbst zu arbeiten beschließt, ist ein Idiot in beiden Bedeutungen. Die Weisen wissen, daß er nach der Wirklichkeit sucht. Die Törichten denken, er habe den Verstand verloren. Von uns wird hier erwartet, daß wir nach der Wirklichkeit suchen, deshalb sollten wir alle Idioten sein: Keiner jedoch kann Sie zu einem Idioten machen. Sie müssen sich selbst dazu entscheiden. Das ist der Grund, warum jeder, der uns hier besucht und mit uns in Verbindung bleiben will, die Erlaubnis hat, sich seinen eigenen Idiotismus auszusuchen. Dann werden wir übrigen von Herzen wünschen, daß er tatsächlich zu jenem Idioten wird. Hierfür wurde von den Weisen aus alter Zeit Alkohol verwendet; nicht um sich zu betrinken, sondem um die Kraft des Wünschens zu stärken.« Gurdjieff hatte ein festes Ritual, wenn er den Toast auf die Idioten ausbrachte. Der Direktor begann mit den gewöhnlichen Idioten, ging über zu den Superidioten, dann den Erzidioten. Der vierte, der hoffnungslose Idiot, wurde von Gurdjieff immer wieder zur Erklärung dessen ausgewählt, was er mit »einen ehrenhaften Tod sterben« meinte. Der falsche hoffnungslose Idiot ist mit sich zufrieden und sieht nicht, daß er ein »Kandidat dafür ist, wie ein Hund zu krepieren!« Der echte hoffnungslose Idiot sieht seine eigene völlige Nichtigkeit und begreift nicht, daß dieser Tod des Selbst die Garantie seiner Auferstehung ist. Von dieser Stufe aus wird er ein mitfühlender Idiot, dessen Vernunft sich geöffnet hat, um an den Leiden anderer Anteil zu nehmen. Der sechste ist der sich windende Idiot, der noch nicht für die Hilfe bereit ist. Des weiteren gibt es dann drei »geometrische« Idioten quadratisch, rund und zickzackartig - welche Phasen in der Bildung der wahren Vernunft darstellen, anfangs nur für Augenblicke, danach kommt die Entdeckung der eigenen Identität und drittens der verzweifelte Kampf auszubrechen. Gurdjieff sagte von ihm, daß er »fünf Freitage in der Woche hat« - ein Beispiel für eine sinnlose Aussage, die mehr vermittelt als mancher richtige Sinn. Bei den Abendmahlzeiten am Sonnabend gingen die Toasts selten über den Zickzack-Idioten hinaus, es sei denn, er wollte irgendeinen der Anwesenden mit den Merkmalen einer der nächsten Serien in Verbindung bringen. Das sind die erleuchteten, die zweifelnden und die prahlenden Idioten. Über diesen wiederum stehen die Idioten, deren Merkmale tief in ihrer Wesensnatur liegen. Auf jeder Stufe gibt es einen Tod und eine Auferstehung, bevor man eine neue Abstufung der Vernunft erreicht. Gurdjieff gab der Wissenschaft des Idiotismus eine höchst bedeutsame Wendung, als er erklärte, daß niemand über den erleuchteten Idioten hinausgehen könne, wenn er nicht zunächst »bewußt« zur ersten Stufe des gewöhnlichen Idioten »hinabgestiegen« sei. Seine Erklärungen machten klar, daß er sich auf das gleiche Geheimnis bezog wie Jesus, als dieser sagte: »Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.« Da ich vielemal Gurdjieffs Erklärungen der Toasts an die Idioten gehört habe, kann ich mich nur wundern über die Einsichten in die menschliche Natur, die er in so einfachen Worten ausdrücken konnte. Seine Äußerungen über die tragische Lage des erleuchteten Idioten, dem »selbst Gott nicht helfen könne«, sandten mir immer wieder einen Schreckensschauder den Rücken hinunter. Nichts hat so viel dazu beigetragen, mich
zu überzeugen, daß wir völlig jeden Anspruch, »besondere Menschen« zu sein, von uns weisen müssen, falls wir darauf hoffen, wahre Freiheit zu erlangen. Als ich in der Prieuré war, war es bereits bekannt, daß Gurdjieff die Absicht hatte, mit einer Gruppe nach Amerika zu reisen, um dort die heiligen Tänze und Übungen vorzuführen. Als ich mit ihm über meine Pläne sprach, machte er sogar die Anregung, daß ich mitgehen und ihm bei der Übersetzung seiner Gespräche helfen könnte. Eines Tages fragte mich Gurdjieff, wie lange ich in der Prieuré bleiben könne, weil er mein Arbeitsprogramm vorbereiten wolle. Ich erklärte, ich habe wenig Geld, hoffe aber innerhalb von sechs Monaten die Angelegenheiten, auf die ich mich eingelassen hätte, zu erledigen, und könne ihm dann helfen. Er sagte, er brauche nicht mein Geld, sondern meine Arbeit, und bot mir an, mich mit Geld zu versehen. Ich konnte mir nicht im Traum die fürchterlichen Schwierigkeiten vorstellen, in denen er damals war; aber selbst in dem Glauben, er habe grenzenlose Geldmittel, konnte ich mich nicht dazu bringen, seine Hilfe anzunehmen. Später begriff ich, wie sehr mein Stolz und meine Selbstliebe darin verwickelt waren, aber damals dachte ich, ich werde bald zurückkehren können. Wie sich die Dinge entwickelten, verließ ich die Prieuré im August 1923 und erblickte Gurdjieff 25 Jahre lang nicht wieder. Die Arbeit in der Prieuré war am Ende des ersten Jahres auf die Vorführung des zentralasiatischen Tanzes und Rituals konzentriert, die im Dezember 1923 im Théâtre des Champs-ÉIisées gegeben wurde. Sie hatte eine bemerkenswerte Wirkung. Fräulein Alexander beschrieb ihre Abreise nach Amerika: »Ein paar Wochen später waren sie in New York, wo zuvor Gruppen provisorisch organisiert worden waren. Bei diesen Treffen sprach Herr Gurdjieff mit einem Minimum an englischen Wörtern von den Prinzipien und Methoden seiner Lehre. Sie hatten wenig direkte Verbindung zu den Amerikanern und wenig Gelegenheit, ihre Stadt zu erforschen. Sie wohnten in möblierten Zimmern und führten wie in der Prieuré die Bewegungen und Übungen aus. Den Aufführungen in dem kleinen Knickerbocker-Theater folgten Besuche von Boston und Philadelphia. In Boston zogen sie ein Publikum aus Professoren und Studenten der Harvard Universität an.« Der Besuch war finanziell ein Erfolg und ermöglichte es, die Schulden der Prieuré abzubezahlen. Das öffentliche Interesse war groß, aber das Verständnis für das, was Gurdjieff mitteilen wollte, gering. Er kehrte im April nach Frankreich zurück und gab sich selbst sechs Monate, um Vorbereitungen für einen erneuten Besuch zu treffen. Alle Pläne wurden am 6. Juli 1924 jählings verändert und viele Hoffnungen zerstört, als Gurdjieff, wie er es selbst formulierte, »mit einem Auto bei einer Geschwindigkeit von 90 Stundenkilometern im Wald von Fontainebleau auf einen großen Baum am Straßenrand aufprallte«. Fast jeder andere Mensch wäre an den Verletzungen, die er sich zuzog, gestorben. Er wurde zunächst in das Krankenhaus von Avon gebracht und bald danach, während er noch immer bewußtlos war, in die Prieuré. Von den Ereignissen der darauffolgenden Tage werden viele Geschichten erzählt. Es gibt wenig Übereinstimmung in den Berichten, was nicht überrascht, da alle vor
Erschütterung und Kummer in einem Zustand nahe der Hysterie waren. Die Engländer versuchten weiterzumachen, so gut sie konnten. Für sie war Gurdjieff noch nicht zu einer Legende geworden. Mit den Russen war es anders. Als hilflose Flüchtlinge in einem fremden Land von dem wenige die Sprache beherrschten und die meisten Gurdjieff für ein übermenschliches Wesen hielten, waren sie in der Tat zutiefst betroffen. Die Engländer waren tief bekümmert, wenn sie sie schweigsam und niedergeschmettert auf dem Fußboden außerhalb seines Schlafzimmers zusammengedrängt sitzen sahen. So endete die zweite Phase der Lebensgeschichte Gurdjieffs. Der großePlan, eine Weltorganisation zu errichten, um seine Ideen zu verbreiten, mußte aufgegeben werden; aber seine wahre Lebensarbeit hatte noch kaum begonnen, und sein Hauptvermächtnis an die Nachwelt sollte in der nächsten Phase kommen. Niemand hätte erraten können, welche Form es annehmen würde.