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Zehn Jahre nach der zweiten industriellen Revolution steht die Elektronik in vollster Blüte. Da ist EPICAC, die Wundermaschine, die selbst den Bedarf an Türklinken oder Zahnbürsten für das nächste Jahr genau errechnet. Da gibt es automatische Züge, die niemand aussteigen lassen, der seine Fahrkarte verloren hat. Da sind Verkehrserziehungsgeräte, die Hunden mit dem Entzug des Führerscheins bei Trunkenheit am Steuer drohen. Und da ist das K.I.W., Menschen, die ein Korps für Instandsetzung und Wiederverwendung bilden und deren Mitglieder froh sind, ein Schlagloch auf der Straße ausbessern zu dürfen. Die Vision einer grauenvollen Zukunft. Dieser Roman stellt sich ebenbürtig neben die berühmten Utopien von George Orwell und Aldous Huxley.
KURT VONNEGUT JR.
DAS HÖLLISCHE SYSTEM Utopischer Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
HEYNE-BUCH NR. 3029 im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der amerikanischen Originalausgabe PLAYER PIANO Deutsche Übersetzung von Wulf H. Bergner
Genehmigte Taschenbuchausgabe Copyright © 1952 by Kurt Vonnegut jr. Printed in Germany 1964 Umschlag: Atelier Heinrichs, München Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg
Vorwort Dieses Buch beschreibt keine Dinge, die bereits geschehen sind sondern solche, die geschehen könnten. Die darin auftretenden Personen sind noch nicht einmal geboren – oder zu der Zeit, als das Buch geschrieben wurde, erst unmündige Kinder gewesen. Der Roman handelt beinahe ausschließlich von Ingenieuren und Managern. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, im Jahre des Herrn 1964, verdanken wir unser Leben und unsere Freiheit vor allem dem Wissen, der Tatkraft und dem Mut unserer Manager und Ingenieure. Deshalb hoffe ich von ganzem Herzen, daß Gott ihnen auch weiterhin die Kraft geben wird, unser aller Leben und Freiheit zu bewahren. Aber dieses Buch schildert eine zukünftige Epoche unserer Geschichte, in der es zwar keine Kriege mehr geben wird, aber dafür ...
1 Ilium, eine Stadt im Bundesstaat New York, ist in drei Teile aufgegliedert. Im Nordwesten wohnen die Manager, die Ingenieure, die Beamten und einige Akademiker; im Nordosten stehen die Maschinen; und im Süden, am gegenüberliegenden Ufer des Iroquis, erstreckt sich die weitläufige Siedlung, in der die anderen Leute leben. Während des Krieges hatten die Manager und Ingenieure in unzähligen ähnlichen Städten ohne ihre eingezogenen Arbeiter auszukommen gelernt. Dieses Wunder hatte den Sieg ermöglicht – ein Maximum an Produktion mit einem Minimum an Arbeitskräften. Die Demokratie hatte überlebt, weil das Fachwissen dieser Männer sie gerettet hatte. Zehn Jahre nach dem Krieg – als die Aufstände längst niedergeschlagen waren und Tausende wegen Vergehen gegen die Antisabotage-Gesetze die Gefängnisse füllten – hielt Dr. Paul Proteus in seinem Büro eine Katze auf dem Schoß. Er war der wichtigste und brillanteste Mann von ganz Ilium, der Manager der Ilium-Werke, obwohl er erst fünfunddreißig war. Im Augenblick fühlte er sich allerdings keineswegs wichtig oder gar brillant, sondern hoffte nur, daß die schwarze Katze sich in ihrer neuen Umgebung wohlfühlen würde. Einige der Alten, die ihn nicht als Konkurrenten zu fürchten brauchten, behaupteten, daß Dr. Proteus seinem Vater sehr ähnlich sei – und es schien kein Zweifel daran möglich, daß er es beinahe ebenso weit
bringen würde. Sein Vater Dr. George Proteus, hatte als erster das Amt des Direktors für Industrie, Handel, Fernmeldewesen, Ernährung und Bodenschätze der Vereinigten Staaten bekleidet, das an Bedeutung nur noch mit dem des Präsidenten vergleichbar war. Leider bestanden keinerlei Aussichten dafür, daß Dr. Proteus seine Begabung würde weitervererben können, denn seine Ehe war kinderlos geblieben, woran seine Frau Anita schuld war. Eine Ironie des Schicksals, denn er hatte sie damals geheiratet, weil sie angeblich ein Kind von ihm erwartete. Er lehnte sich in den Sessel zurück und streichelte die Katze, die er vom Golfplatz mitgebracht hatte, um sie hier Mäuse fangen zu lassen. Erst letzte Nacht hatte eine Maus einige Kontrollkabel durchgenagt und damit die Produktion in den Gebäuden 17, 19 und 21 zum Erliegen gebracht. Paul schaltete die Sprechanlage ein. »Katharine, wann ist meine Rede fertig abgeschrieben?« »Ich tippe sie gerade, Sir. Höchstens noch zehn Minuten oder eine Viertelstunde.« Dr. Katharine Finch war Pauls Sekretärin und das einzige weibliche Wesen in den Ilium-Werken. Im Grunde genommen war sie nur ein lebendes Symbol für seine Stellung, denn nur die ganz großen Tiere hatten noch Sekretärinnen. Maschinen verrichteten dergleichen untergeordnete Tätigkeiten schon lange besser, schneller und zuverlässiger. Leider war Katharine keine Maschine, denn sie schwatzte wieder einmal mit Dr. Bud Calhoun, anstatt Pauls Rede abzuschreiben. Calhoun, der Manager des Treibstofflagers, arbeitete nur, wenn ein Tanker angelegt hatte, und ver-
brachte die Zeit, die dazwischen lag, bei Katharine, rauchte unzählige Zigaretten und machte ihr in seinem weichen Südstaatendialekt Komplimente am laufenden Band. Paul nahm die Katze auf den Arm und ging mit ihr an das riesige Fenster. »Dort draußen gibt es eine Menge Mäuse für dich, Kleine«, sagte er dabei. Er zeigte ihr ein ehemaliges Schlachtfeld, das jetzt friedlich dalag. Dort drüben hatten die Mohawks die Algonquins abgeschlachtet, hatten die Holländer die Mohawk-Indianer vernichtend geschlagen, hatten die Engländer die Holländer und schließlich die Amerikaner die Engländer besiegt. Über vermoderten Knochen, rostigen Kanonenkugeln und zersplitterten Pfeilen erhob sich jetzt ein dreieckiger Komplex aus Beton, Stahl, Aluminium und Glas – die Ilium-Werke. »Das Licht brennt wieder, Dr. Proteus«, meldete sich Katharine aus dem Lautsprecher. »Nummer drei in Gebäude 58?« »Jawohl, Sir, seit zwanzig Sekunden.« »Rufen Sie Dr. Shepherd an und fragen Sie ihn, was er dagegen unternommen hat.« »Er ist heute nicht da, weil er krank ist.« »Dann muß ich mich wohl selber darum kümmern«, seufzte Paul. Er zog seinen Mantel an, nahm die Katze auf den Arm und ging in Katharines Büro hinüber. »Bleiben Sie ruhig liegen«, sagte er zu Bud der sich auf der Couch rekelte. Drei Wände des Raumes waren vom Fußboden bis zur Decke mit Meßgeräten verkleidet, bis auf die Türen, die in Pauls Arbeitszimmer und auf den Flur führten. Die vierte Wand bestand aus einem riesigen Fenster. Die Meßgeräte hatten alle die Größe einer
Zigarettenpackung, eines über dem anderen, jedes mit einem Messingschild. Sie waren jeweils mit einer Gruppe von Maschinen innerhalb der Werke verbunden. Neben dem siebten Meßgerät von unten, in der fünften Reihe von links, an der Ostwand, leuchtete eine rote Lampe. Paul klopfte mit dem Finger dagegen. »Aha, schon wieder – Nummer drei in 58 produziert Ausschuß.« Er warf einen Blick auf die anderen Wände. »Sonst alles in Ordnung, was?« »Ja.« »Was wollen Sie denn mit der Katze?« fragte Bud. Paul wandte sich ihm zu. »Gut, daß Sie gefragt haben. Ich habe eine Aufgabe für Sie, Bud. Ich brauche eine Art Signalanlage für die Katze, die ihr anzeigt, wo sie eine Maus finden kann.« »Elektronisch?« »Das möchte ich wohl meinen!« »Also einen Apparat, der eine Maus riechen kann?« »Oder eine Ratte. Ich möchte, daß Sie sich damit beschäftigen, während ich unterwegs bin.« Als Paul zu seinem Wagen ging, überlegte er sich, daß Bud Calhoun tatsächlich einen Mäusealarm – einen, den eine Katze verstehen konnte – entworfen haben würde, bis er wieder zurück war. Paul hatte sich schon manchmal gefragt, ob er sich nicht in einem früheren Zeitalter wohler gefühlt hätte, aber für Bud konnte es in dieser Beziehung keinen Zweifel geben. Calhoun besaß die ruhelose und ewig unzufriedene Mentalität des geborenen Erfinders, eine Eigenschaft, die man den Amerikanern schon immer nachgesagt hatte. Aber sie war das Endergebnis, der Höhepunkt einer langen Entwicklung, die schließlich
dazu geführt hatte, daß Amerikas Industrien zu einem phantastischen Maschinenmonster vereinigt worden waren. Paul blieb vor Buds Auto stehen, das neben seinem geparkt war. Calhoun hatte ihm einige Male vorgeführt, was er alles eingebaut hatte, deshalb wollte er es aus Spaß einmal selber versuchen. »Fahren wir«, sagte er laut zu dem Auto. Ein kurzes Summen, ein Klicken, und die Tür öffnete sich weit. »Steig ein«, kam eine Stimme aus dem Tonbandgerät unter dem Armaturenbrett. Der Anlasser drehte sich, dann lief der Motor im Leerlauf, und das Radio schaltete sich ein. Vorsichtig drückte Paul auf einen Knopf an der Lenksäule. Ein Elektromotor brummte, Zahnräder setzen sich in Bewegung, und die Vordersitze legten sich nach hinten um. Mit einem zweiten Knopf brachte Paul die Lehnen wieder in die vorherige Stellung. »Auf Wiedersehen«, sagte er dann. Der Motor stellte sich ab, das Radio schaltete sich aus, und die Tür schlug mit einem Knall zu. »Laß dich nicht übers Ohr hauen«, rief das Auto, als Paul in seinen Wagen kletterte. »Laß dich nicht übers Ohr hauen laß dich nicht ...« »Ich werde schon aufpassen!« Buds Auto schwieg, offensichtlich war es zufrieden. Paul fuhr die breite Straße entlang, die mitten durch die Werke führte, und sah auf die Nummern der Gebäude. Ein anderes Auto kam ihm entgegen, der Fahrer hupte, und die Insassen winkten ihm fröhlich zu. Paul sah auf die Uhr. Das war die zweite Schicht, die da von der Arbeit kam. Er ärgerte sich
darüber, daß die jungen Leute ihre Studentenmanieren immer noch nicht abgelegt hatten, die wirklich nicht zu der Art von Arbeit paßten, die sie hier verrichteten. Er dachte daran, daß er, Finnerty und Shepherd anders gewesen waren als sie vor dreizehn Jahren nach Ilium gekommen waren – wesentlich erwachsener, nicht so sehr von sich selbst überzeugt. Einige, einschließlich Pauls berühmtem Vater, hatten schon früher behauptet, daß Ingenieure, Manager und Wissenschaftler eine Elite darstellten. Als dann der Krieg unvermeidlich erschien, sah man allmählich ein, daß das Wissen dieser Männer die einzige Waffe gegen den zahlenmäßig weit überlegenen Gegner sein würde. Damals hatte man überlegt, ob es nicht besser sei, für diese Menschen besonders sichere Atombunker anzulegen und sie auf jeden Fall von der Front fernzuhalten. Aber nur wenige hatten sich wirklich für diese Idee einer Elite begeistern können. Als Paul, Finnerty und Shepherd während des Krieges ihr Studium abgeschlossen hatten, waren sie sich feige vorgekommen, weil sie nicht mitkämpften. Aber jetzt impfte man den Studenten dieses Elitebewußtsein förmlich ein, indem man ihnen immer wieder versicherte, daß sie zu der Oberschicht einer Gesellschaft gehörten, an deren Spitze die Manager und Ingenieure standen. Paul fühlte sich wieder besser, als er das Gebäude 58 betrat, das er besonders gern hatte. Eigentlich hätte es schon vor Jahren abgerissen und durch einen modernen Bau ersetzt werden sollen, aber er hatte die Zentrale davon abgebracht. Paul hatte es vor dem Abbruch gerettet – wegen des historischen Wertes, den es für Besucher des Werkes hatte. Das hatte er
der Zentrale gegenüber behauptet, aber er schätzte Besucher durchaus nicht, und hatte das Gebäude eigentlich nur für sich bewahren wollen. Edison hatte darin seine erste Maschinenfabrik im Jahre 1886 eingerichtet, in dem gleichen Jahr, in dem er auch eine zweite in Schenectady gegründet hatte. Paul ging von Zeit zu Zeit dorthin, wenn er deprimiert war. Hier war deutlich zu sehen wie bescheiden die Technik begonnen hatte, und hier konnte man am besten erkennen, wie weit es die Menschheit doch eigentlich inzwischen gebracht hatte. Paul brauchte dieses beruhigende Gefühl gelegentlich dringend. Objektiv gesehen, versuchte er sich selber zu überzeugen, hatte sich die Welt zu ihrem Vorteil verändert. Zum erstenmal seit Menschengedenken wurde sie weder durch Hungersnöte noch Völkermorde, noch Diktatoren in Angst und Schrecken versetzt. Die Wissenschaft hatte endlich eine Chance, sie in einen Ort zu verwandeln, an dem man behaglich leben und in Frieden sterben konnte. Paul wünschte sich manchmal, daß er auch an die Front gegangen wäre, um dort die Schrecken des Krieges zu erleben. Vielleicht hätte er dann besser verstanden, wie sehr sich alles zum Guten verändert hatte, und daß alles, was er während seiner Karriere als Manager getan hatte, tat, und noch tun würde, lebenswichtig und über jeden Tadel erhaben war. Und daß er damit geholfen hatte, ein Goldenes Zeitalter einzuleiten. Seit einiger Zeit hatten ihn seine Arbeit, das ganze System, und die Arbeitsweise der Zentrale entweder verärgert oder gelangweilt, manchmal sogar beunruhigt. In seinem Arbeitszimmer hatte er ein Bild hängen,
das die Fabrik am Tage der Eröffnung zeigte. Sämtliche Arbeiter hatten sich vor den Maschinen aufgestellt. Aus ihren Gesichtern leuchtete der Stolz, obwohl sie mit ihren Vatermördern und Melonen beinahe lächerlich wirkten. Die Gesichter trugen einen seltsamen Ausdruck, als gehörten die Männer alle einem Geheimorden an, dessen Riten ein Laie nur annähernd erraten konnte. Ein Summer ertönte. Paul trat zur Seite, um den Staubsauger an sich vorbeizulassen, der auf schmalen Schienen an ihm vorbeiratterte. Die Katze in seinen Armen verkrallte sich in seinem Anzug und fauchte die Maschine an. Er ging weiter und blieb einen Augenblick neben der letzten Gruppe der Schweißmaschinen stehen. Er wünschte sich, daß Edison sie hätte sehen können. Der alte Herr wäre bestimmt begeistert gewesen. Zwei Stahlbleche wurden von einem Stapel gehoben und rasselten auf einer Rutsche nach unten dort wurden sie von Greifern erfaßt und unter die Schweißmaschine geschoben. Die Kohlen senkten sich, ein Lichtbogen entstand, dann hoben sie sich wieder. Eine ganze Batterie von Meßgeräten überprüfte die Schweißnaht, und dann rutschten die Bleche weiter zu der Gruppe von hydraulischen Pressen die im Keller stand. Jede der zwölf Maschinen brauchte siebzehn Sekunden für diesen Arbeitsgang. Neugierig öffnete er den Kontrollapparat für diese Gruppe und stellte fest, daß die Maschinen noch vierundsechzig Stunden weiterlaufen würden. Danach würden sie sich automatisch abschalten, bis Paul wieder neue Anweisungen von der Zentrale bekommen und sie an Dr. Lawson Shepherd weitergegeben
hatte, der für die Gebäude 55 bis einschließlich 71 verantwortlich war. Shepherd würde dann die Maschinen so einstellen, daß sie wieder Kühlschranktüren herstellten – soviel Türen, wie EPICAC, der Elektronenrechner in den Carlsbad Caverns, als voraussichtlichen Bedarf Amerikas errechnet hatte. Paul streichelte die Katze und fragte sich im stillen, ob Shepherd wirklich krank war. Vermutlich nicht. Wahrscheinlich war er unterwegs, um endlich seine Versetzung voranzutreiben. Shepherd, Finnerty und Paul waren damals gemeinsam nach Ilium gekommen. Finnerty war schon längst nach Washington versetzt worden, Paul hatte den höchsten Posten in Ilium erhalten; und Shepherd fühlte sich benachteiligt, weil er nur Pauls Stellvertreter geworden war. Versetzungen waren eine Sache der Zentrale, und Paul hoffte, daß Shepherd sein Ziel erreichte. Er hatte die Drehbankgruppe drei erreicht, derentwegen er hergekommen war. Leider hatte er bis jetzt noch keine Erlaubnis erhalten, die ganze Gruppe zu verschrotten. Die Drehbänke waren hoffnungslos veraltet, von dem Typ, der während des Krieges auf automatische Kontrolle umgebaut worden war. Allmählich wurden sie immer ungenauer und produzierten – wie das Meßgerät in Katharines Büro anzeigte – teilweise Ausschuß. Paul öffnete den Kontrollapparat, der das Magnetband enthielt, nach dem sie arbeiteten. Auf dem Band waren die Bewegungen eines Drehers aufgezeichnet, der eine Kurbelwelle bearbeitete. Paul dachte an den Tag vor zwölf Jahren zurück, als er bei der Aufzeichnung des Originalbandes dabeigewesen war, dessen Kopie er jetzt vor sich hatte ...
Finnerty, Shepherd und er waren in eine Fabrik geschickt worden, um dort die Aufzeichnung durchzuführen. Der Meister hatte ihnen seinen besten Mann gezeigt, und sie hatten ihr Aufnahmegerät mit seiner Drehbank verbunden. Hertz! So hieß der Dreher – Rudy Hertz, ein älterer Mann, der kurz vor der Pensionierung stand. Nachher hatten sie den Meister soweit gebracht, daß er Hertz freigab, und waren mit ihm zusammen in eine Kneipe gegangen, um ihm ein Bier zu spendieren. Rudy hatte nicht ganz verstanden, wozu die ganzen Apparate gedient hatten, aber er hatte sich ehrlich darüber gefreut, daß man ausgerechnet ihn dafür ausgewählt hatte, obwohl es doch unzählige andere Dreher gab. Jetzt hatte er Rudy auf einem schmalen Band vor sich – Rudy, wie er an jenem Nachmittag seine Drehbank bedient hatte. Hier war das Wesentliche an Rudy auf kleinstem Raum konzentriert. Das Band war der Extrakt aus einem kleinen Mann mit großen Händen und Trauerrändern unter den Fingernägeln; einem Mann, der fest daran glaubte, daß die Welt gerettet werden könnte, wenn jeder abends ein wenig in der Bibel lesen würde; dem Mann, der seinen Collie vergötterte, weil er keine Kinder hatte; dem Mann, der ... Paul dachte wieder daran, daß er Edison gern einmal durch dieses Gebäude geführt hätte, aber dann fiel ihm ein, daß der Alte vermutlich durch nichts zu verblüffen gewesen wäre. Die Schweißmaschinen, die Drehbänke, die Pressen und die Förderbänder – fast alle Maschinen, die das Gebäude 58 enthielt, waren damals schon bekannt gewesen. Auch Photozellen, Fern-
thermometer und Thermostate waren um 1920 längst erfunden. Neu war lediglich die Kombination dieser Geräte, das mußte er heute abend in seiner Rede im Country Club erwähnen. Die Katze machte einen Buckel und verkrallte sich wieder in seinem Anzug. Der Staubsauger kam ihnen erneut entgegen, der Summer ertönte, und Paul trat zur Seite. Die Katze fauchte und sprang zu Boden – vor die Maschine, die sich unbeirrt weiterbewegte. Paul suchte verzweifelt nach dem Schalter, mit dem er sie abstellen konnte, aber dann hatte die Maschine die Katze bereits aufgesaugt. Paul rannte hinter der Maschine her und erreichte sie in dem Augenblick, als sie den Inhalt ihres Blechmagens durch eine Öffnung im Boden in einen darunterstehenden Güterwaggon spuckte. Als Paul die Tür öffnete, sah er, daß die Katze an der Wand des offenen Waggons hochgeklettert war, sich zu Boden fallen ließ und dann am Zaun hochsprang. »Nein, Kleine, nein!« rief Paul. Die Katze berührte die Alarmleitung und löste die Sirenen auf der Wache aus. In der nächsten Sekunde hatte sie den elektrisch geladenen Stacheldraht erreicht. Ein Knall, ein grüner Blitz, und die Katze fiel auf der anderen Seite des Zaunes auf die Erde. Ein Panzerwagen raste heran und bremste vor der toten Katze. Das Turmluk öffnete sich, und einer der Wächter streckte vorsichtig seinen Kopf durch die Öffnung. »Alles in Ordnung, Sir?« »Schalten Sie die Sirenen ab. Nur eine Katze, die an den Draht gekommen ist. Bringen Sie sie in mein Büro.« »Aber sie ist doch tot, Sir!«
»Das sehe ich. Trotzdem.« »Jawohl, Sir!« Als er wieder in sein Arbeitszimmer gehen wollte, gab ihm Katharine seine Rede. »Ich finde sie ausgezeichnet, besonders den Teil über die Zweite Industrielle Revolution«, meinte sie dazu. »Altes Zeug«, gab Paul zur Antwort. »Für mich war es neu – ich meine den Teil, wo Sie ausführen, daß die Erste Industrielle Revolution die Muskelarbeit entwertet hat, während die Zweite routinemäßige Geistesarbeit überflüssig machte.« »Norbert Wiener, ein Mathematiker, hat das schon um 1940 herum erkannt ... Für Sie ist es nur deshalb so neu, weil Sie zu jung sind, um etwas anderes als den gegenwärtigen Zustand zu kennen.« »Eigentlich ist es doch beinahe unvorstellbar, daß es jemals anders gewesen sein sollte, nicht wahr? Es ist einfach kaum zu glauben, daß die Menschen damals nur ihre Reflexe zur Arbeit gebrauchten, ohne dabei denken zu müssen.« »Und teuer«, sagte Paul. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel Ausschuß produziert wurde und was für eine Arbeit man als Personalchef hatte. Alles mögliche beeinflußte die Produktion ungünstig – Sauftouren, Familienstreitigkeiten, Streit mit Arbeitskollegen, Schulden und sogar Feiertage.« »Glauben Sie, daß die Dritte Industrielle Revolution kommt?« »Noch eine? Wie sollte die denn aussehen?« »Nun«, antwortete Katharine nachdenklich, »das wäre nur logisch. Zuerst die Abschaffung der reinen Handarbeit, dann die der routinemäßigen Geistesarbeit und schließlich auch die des richtigen Denkens.«
»Na, hoffentlich bin ich dann schon unter der Erde! Weil wir schon bei Revolutionen sind – wo ist Bud geblieben?« »Er mußte weg, weil ein Tanker gekommen ist. Er hat das hier für Sie dagelassen.« Sie gab ihm ein zerknittertes Blatt Papier. Paul fand darauf den Schaltplan für eine Alarmanlage, die auf Mäuse ansprechen würde. »Ein erstaunliches Talent, nicht wahr, Katharine?« Sie nickte unsicher und übergab ihm noch einen Korb. Paul schloß die Tür hinter sich ab, stellte den Korb mit der toten Katze zu Boden und genehmigte sich einen Zug aus der Flasche, die er in der unterster Schublade aufbewahrte. Dann läutete das Telephon. »Ich bin es, Liebling – Anita.« »Oh guten Tag, Sweetheart. Wie geht es dir?« fragte er geistesabwesend und betrachtete dabei die Katze. »Freust du dich schon auf heute abend?« »Ich habe mir den ganzen Tag wegen meiner Rede Sorgen gemacht.« »Dann wird sie bestimmt besonders brillant werden, Liebling. Ich habe nicht den geringsten Zweifel daran, daß du den Posten in Pittsburgh bekommst, Paul! Warte nur, was Kroner und Baer zu deiner Rede sagen werden!« »So, dann kommen sie also doch?« Diese beiden, der Manager und der Chefingenieur der Abteilung Ost, hatten darüber zu entscheiden, wer der neue Manager der riesigen Pittsburgh-Werke werden soll-
te, nachdem der bisherige vor zwei Wochen gestorben war. »Nun, wenn du dich darüber nicht freust, dann vielleicht über einen anderen unerwarteten Gast, für den du allerdings noch irischen Whisky besorgen mußt, weil es den im Club nicht gibt.« »Finnerty! Ed Finnerty!« »Ja, Finnerty. Er rief vor einer halben Stunde an und läßt dich ausdrücklich bitten, ihm den Whisky zu beschaffen. Er ist auf dem Weg nach Chicago und will hier Station machen.« »Wie lange ist es jetzt schon her, Anita? Fünf, sechs Jahre?« »Noch viel länger!« Sie versuchte Paul darüber hinwegzutäuschen, daß sie nichts für Finnerty übrig hatte. Andererseits war dieser unterdessen ein bedeutender Mann geworden, er war Mitglied des Planungsausschusses für Industrieentwicklung; und diese Tatsache hatte ihre Erinnerung an einige unerquickliche Szenen mit ihm überdeckt. »Das ist allerdings wunderbar! Jetzt kann ich Kroner und Baer schon eher aushalten.« »Versprichst du mir, daß du nicht wütend wirst, wenn ich dir etwas erzähle?« »Nein.« »Nun, dann werde ich es dir eben auch so sagen. Amy Halporns Mann war heute morgen bei Kroner und hörte von ihm, daß er glaubt, daß du gar nicht nach Pittsburgh willst!« »Ich habe mich doch deutlich genug ausgedrückt!« »Kroner ist offenbar der Meinung, daß du es nicht ernst meinst. Du bist zu bescheiden und zurückhaltend gewesen, Liebling.«
»Kroner ist wirklich nicht dumm.« »Wie meinst du das?« »Er kennt mich besser als ich dachte.« »Soll das heißen, daß du nicht nach Pittsburgh ...?« »Ich weiß es nicht, und er hat das erkannt.« »Du bist überarbeitet, mein Schatz.« »Vermutlich.« »Du brauchst einen Cocktail. Komm früh nach Hause.« »In Ordnung.« »Ich liebe dich, Paul.« »Ich liebe dich, Anita.« Anita beherrschte eben die Geheimnisse einer guten Ehe, selbst wenn es sich um durchaus rationale Probleme handelte, war sie intelligent genug um sie mit beinahe echt klingender Wärme vorzubringen. Paul hegte den Verdacht, daß ihre Gefühle für ihn recht oberflächlich seien – und vielleicht bildete dieser Verdacht einen Teil jener Krankheit, an der er in letzter Zeit zu leiden glaubte. Auf dem Weg nach Hause blieb er vor Katharines Schreibtisch stehen und bat sie, die Katze fortschaffen zu lassen. »Machen Sie sich keine Sorgen wegen der Kontrolllampe«, fügte er noch hinzu. »Da ist nichts mehr zu machen. Die ganze Gruppe drei ist unseren Ansprüchen nicht mehr gewachsen. Eines Tages wird der Summer ertönen, und dann ist Schluß mit dem ganzen Schrotthaufen!«
2 Der Schah von Bratpuhr, der geistige Führer von sechs Millionen, die der Kolhouri-Sekte angehörten, sank in die blauen Polster einer schweren Limousine. Auf der anderen Seite des Rücksitzes nahm Dr. Ewing J. Halyard vom Außenministerium Platz. Er war etwa zehn Jahre jünger als der Schah, das heißt ungefähr fünfundvierzig. Er kleidete sich reichlich auffällig, trug aber alles mit solcher Würde und solchem Stolz daß jedermann beeindruckt war. Zwischen ihnen saß Khashdrahr Miasma, der Dolmetscher und Neffe des Schahs, der sein Englisch bei einem Hauslehrer gelernt hatte und noch nie im Ausland gewesen war, was seine Unsicherheit beträchtlich erhöhte. »Khabu?« sagte der Schah und sah aus dem Fenster. Halyard hatte in den drei Tagen, die er bisher in Gesellschaft des Schahs verbracht hatte die Bedeutung von fünf Ausdrücken gelernt. Khabu hieß wo? Siki bedeutete was? Akka sahn hieß warum? Brahous brahouna houna saki war eine Kombination von Dank und Segen, während Sumklish der Name eines Getränkes war, das Khashdrahr immer für den Schah bereitzuhalten hatte. »Khabu?« fragte der Schah wieder. »Der Schah wünscht zu wissen, bitte, wo wir uns jetzt befinden«, sagte Khashdrahr. »Ich weiß«, antwortete Halyard, der die Aufgabe hatte, den Schah auf seiner Rundreise zu begleiten. Er lehnte sich vor. »Ilium, New York, Euer Hoheit. Wir befinden uns auf der Brücke, die die Stadt in zwei
Teile trennt. Drüben auf dem anderen Ufer befinden sich die Ilium-Werke.« Die Limousine mußte am anderen Ende der Brücke anhalten, weil eine Anzahl von Arbeitern mit der Ausfüllung eines Schlagloches beschäftigt war. Sie ließen nur eine Fahrbahn für einen alten Plymouth frei, dessen rechter Scheinwerfer zerbrochen war. Erst nach einiger Zeit traten die Arbeiter zur Seite, um die Staatslimousine passieren zu lassen. Der Schah hatte sich die Arbeiter mit offensichtlichem Interesse angesehen und wollte jetzt wissen, wem alle diese Sklaven gehörten, die er auf dem Weg von New York bis hierher gesehen hatte. »Keine Sklaven«, antwortete Halyard und lächelte gönnerhaft. »Staatsbürger, die von der Regierung angestellt und bezahlt werden. Vor dem Krieg arbeiteten sie in den Ilium-Werken und kontrollierten die Maschinen, aber jetzt tun die Maschinen das selber – und besser.« »Aha!« meinte der Schah, als Khashdrahr übersetzt hatte. »Jeder, der durch eine Maschine ersetzt werden kann, wird Angestellter der Regierung, entweder in der Armee oder im Korps für Instandsetzung und Wiederverwendung.« »Aha! Khabu bonanza-pak?« »Wie bitte?« »Er sagt, ›Wo kommt das Geld her, mit dem sie bezahlt werden?‹«, sagte Khashdrahr. »Von Steuern auf Maschinen und persönliche Einkommen. Außerdem geben die Männer das Geld wieder aus, was sie in einer der Organisationen verdient haben, wodurch es wieder an den Staat zurückfließt.«
»Aha!« meinte der Schah und schüttelte den Kopf. »Kuppo!« Khashdrahr errötete und übersetzte verlegen, daß der Schah »Kommunismus« gesagt habe. »Kein Kuppo!« erwiderte Halyard heftig. »Die Regierung hat selbst keine Maschinen, sondern besteuert nur den Anteil der Gewinne, die früher als Löhne ausgezahlt wurden. Die Industrie hat sich auf privater Basis zusammengeschlossen, wodurch letzten Endes der Lebensstandard des kleinen Mannes beträchtlich gehoben wurde.« Khashdrahr übersetzte, machte dann eine Pause und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Bitte, dieser kleine Mann, dafür gibt es in unserer Sprache kein entsprechendes Wort, fürchte ich.« »Nun«, meinte Halyard, »der Durchschnittsbürger, einfach jeder – die Männer an der Brücke, der Fahrer des alten Wagens. Der Durchschnittsamerikaner, nicht gerade intelligent, aber gutmütig, einfach und herzlich.« Khashdrahr übersetzte. »Aha«, nickte der Schah. »Takaru.« »Was hat er gesagt?« »Takaru«, antwortete Khashdrahr. »Sklave.« »Kein Takaru«, erklärte Halyard dem Schah direkt. »Staats-bür-ger.« »Ahhh«, meinte der Schah. »Staats-bür-ger.« Er grinste fröhlich. »Takaru – Staatsbürger. Staatsbürger – Takaru.« »Kein Takaru!« sagte Halyard wieder. Khashdrahr zuckte mit den Schultern. »In dem Land des Schahs gibt es nur eine Elite und die Takaru.«
Halyards Magengeschwür machte sich wieder einmal bemerkbar, das er sich in den langen Jahren zugelegt hatte, in denen er nun schon Besucher wie den Schah betreute, die nach Amerika gekommen waren, um zu sehen, ob sie dort etwas zum Wohle ihres Volkes lernen konnten. Die Limousine mußte wieder stehenbleiben, weil einige Arbeiter des Korps für Instandsetzung und Wiederverwendung ihre Schubkarren auf der Straße zurückgelassen hatten, während sie selbst mit Steinen nach einem Eichhörnchen warfen. »Tut die verdammten Schubkarren von der Straße weg!« rief Halyard ihnen wütend zu. »Staats-bür-ger!« sagte der Schah laut und schien auf das neue Wort sehr stolz zu sein. »Du kannst mich ...!« schrie einer der Arbeiter zurück. Langsam kam er auf die Straße zu und schob zwei der Schubkarren zur Seite. »Danke! War auch allmählich Zeit!« sagte Halyard, als sie an dem Mann vorbeifuhren. »Bitte, Doktor«, antwortete der Arbeiter und spuckte ihn an. Halyard wischte sich mit dem Taschentuch über das Gesicht. »Der Mann muß verrückt sein«, erklärte er dabei. »Takaru yamu brouha, pu dinka bu«, sagte der Schah voller Mitgefühl. »Der Schah sagt«, übersetzte Khashdrahr ernst, »daß es überall dasselbe mit den Takaru ist, seit dem Krieg.« »Kein Takaru«, sagte Halyard apathisch.
3 Dr. Paul Proteus steuerte seinen alten Plymouth über die Brücke in Richtung auf die Siedlung. Er hatte den Wagen schon zur Zeit der Aufstände besessen, und unter den Dingen, die das Handschuhfach füllten, lag die Pistole, die er damals bekommen hatte. Heutzutage, wo nur noch die Polizei und die Werkswachen bewaffnet waren, war es natürlich ein schweres Vergehen, diese Pistole nicht auf der Stelle zurückzugeben und sie zudem so leichtsinnig aufzubewahren, aber Paul hatte es immer wieder vergessen. Der Motor arbeitete nur unregelmäßig, manchmal schien er zu wenig Benzin zu bekommen, dann lief er wieder normal, bis er wieder beinahe aussetzte. Seine beiden anderen Wagen, zwei teure und schöne Autos, eine Cadillaclimousine und ein Lincolncabriolet standen in der Garage und wurden ausschließlich von Anita benützt. Sie hatte sich nie über seine Vorliebe für den alten Plymouth aufgeregt, aber Paul fragte sich, was sie wohl sagen würde, wenn sie wüßte, daß er im Kofferraum eine alte Lederjacke aufbewahrte. Wenn er in die Siedlung hinüberfuhr, nahm er seine Krawatte ab und zog die Jacke an, weil er sich einbildete, daß ihn dann niemand erkennen würde. Am anderen Ende der Brücke sah er etwa vierzig Männer auf der Straße stehen. Sie alle sahen gespannt einem Mann zu, der auf der Straße kniete und ein Schlagloch mit einer Mischung aus Asphalt und Splitt füllte, die er mit einer Schaufel glattklopfte. Der Arbeiter winkte Paul wichtigtuerisch zu, daß er um die reparierte Stelle herum fahren sollte, nicht
darüber. Die anderen schwiegen einen Augenblick und sahen aufmerksam zu, ob Paul es auch bestimmt tat. »He, Mac, dein rechter Scheinwerfer ist kaputt!« rief ihm einer zu. Die anderen wiederholten im Chor: »Dein rechter Scheinwerfer ist kaputt!« Paul nickte dankend. Seine Haut begann plötzlich zu jucken, als ob sie schmutzig sei. Die Arbeiter gehörten dem Korps für Instandsetzung und Wiederverwendung an, dessen offizielle Abkürzung K.I.W. lautete. Wer nicht intelligent genug war, um mit Maschinen konkurrieren zu können, und nicht so reich, um ohne Arbeit leben zu können, mußte sich für das K.I.W. oder die Armee entscheiden. Aber die Soldaten hatten wenigstens ihre gutsitzenden Uniformen, in denen sie längst nicht so bedrückend wie die Arbeiter des Korps wirkten. Er parkte den Plymouth und betrat die Bar. Vor der Theke saßen wie gewöhnlich einige Pensionäre vor einem Glas Bier. Sie kamen früh und gingen spät, so daß alle anderen Gäste über ihre Köpfe hinweg bedient werden mußten. Niemand wich zur Seite, als Paul an die Bar vorzudringen versuchte, aber ein fetter alter Collie, der unter einem Barhocker lag, knurrte ihn leise an. Schließlich nahm der Barkeeper Pauls Bestellung entgegen. Er gehörte zu den wenigen Männern in der Siedlung die bis jetzt noch nicht von Maschinen ersetzt worden waren, weil ihre Arbeit zu spezialisiert war. Paul bestellte eine Flasche irischen Whisky und versuchte sich der allgemeinen Aufmerksamkeit dadurch zu entziehen, daß er sich zu dem alten Collie
hinunterbeugte und ihn streichelte. Der Hund knurrte leise, dann drehte sich sein Besitzer zu Paul um. »Er würde nie jemand beißen«, sagte der alte Mann entschuldigend. »Er ist nur schon alt und blind, deshalb fühlt er sich unsicher.« Er blinzelte Paul ungewiß an. »He, ich möchte beinahe wetten, daß ich Sie kenne!« Paul sah sich nach dem Barkeeper um. »Oh, meinen Sie wirklich? Ich bin aber sonst nie hier.« »Nein, nicht hier«, meinte der Alte eifrig. »Nein, die Fabrik, in der Fabrik ... Sie sind der junge Dr. Proteus! Erinnern Sie sich nicht mehr an mich?« »Hertz«, sagte Paul. »Sie sind Rudy Hertz!« Rudy lachte triumphierend. »Sie waren ein verflucht guter Dreher, Rudy.« »Das bedeutet viel, wenn ein so großer Mann das von einem sagt.« Rudy schüttelte den Mann neben sich am Arm. »Hast du gehört, was Dr. Proteus über mich gesagt hat?« Er zeigte stolz auf Paul. »Der klügste Mann von Ilium hat das über mich gesagt.« Paul beugte sich wieder zu dem Hund hinunter, wobei er auf den Barkeeper fluchte, der so lange brauchte. »Trinken wir auf die gute alte Zeit!« schlug Rudy vor. Niemand hob das Glas er mußte allein trinken. »Auf unsere Söhne!« rief der Mann neben ihm plötzlich. Diesmal hoben alle ihre Gläser und tranken einander zu. Dann wandte sich der Mann an Paul. »Ich möchte Sie um einen Rat bitten, Sir. Mein Sohn hat vor einigen Tagen die Nachricht bekommen, daß er nicht studieren kann, weil er bei den Einstufungs-
prüfungen nicht gut genug abgeschnitten hat.« Der Mann zuckte bedauernd mit den Schultern. »Ich kann es mir nicht leisten, ihn auf eine Privatuniversität zu schicken, deshalb möchte ich Sie fragen, was er werden soll: Soldat – oder Arbeiter beim Korps?« »Nun, ich glaube, daß beide Berufe ihre guten Seiten haben«, erwiderte Paul unbehaglich. »Ich weiß aber nicht, welcher ...« »Gibt es denn nicht in den Werken eine Arbeit für ihn, Herr Doktor?« fragte der Mann verzweifelt. »Er hat beinahe eine Art sechsten Sinn für alles, was mit Maschinen zusammenhängt! Die Werke sind doch so groß ...« »Er muß ein Hochschulstudium nachweisen können«, gab Paul zurück. »So steht es in den Bestimmungen, ich kann nichts dafür. Vielleicht kann er eine Reparaturwerkstatt aufmachen?« »Reparaturwerkstatt«, seufzte der andere enttäuscht. »Wie viele Werkstätten könnten sich denn in Ilium halten? Ich wollte auch eine eröffnen, als ich damals entlassen wurde. Und Joe ebenfalls und Sam ebenfalls und Alf ebenfalls! Wir sind alle gute Mechaniker, deshalb macht jeder von uns eine Werkstatt auf – bis schließlich auf jeden entzweigegangenen Gegenstand ein Handwerker kommt ...« Rudy Hertz hatte offensichtlich gar nicht zugehört, so sehr freute er sich immer noch über das unvermutete Zusammentreffen mit seinem großen und berühmten Freund Dr. Paul Proteus. »Wir brauchen ein bißchen Musik!« sagte er und warf ein Geldstück in den Einwurfschlitz an dem elektrischen Klavier. Paul trat einen Schritt zur Seite und fuhr erschreckt zusammen als das Klavier plötzlich »Alexanders
Ragtime Band« herunterzuhämmern begann. Glücklicherweise wurde dadurch einige Zeit lang jede Unterhaltung unmöglich gemacht. Dann tauchte auch der Barkeeper wieder aus dem Keller auf und gab Paul eine staubige Flasche. Als er gehen wollte, umschloß eine kräftige Hand seinen Arm und hielt ihn fest. »Ich habe das Stück Ihnen zu Ehren gespielt, Herr Doktor«, rief ihm Rudy über den Lärm hinweg zu. »Warten Sie doch, bis es zu Ende ist!« Er benahm sich, als sei der alte Kasten die neueste Erfindung auf dem Gebiet der Musikinstrumente und zeigte auf die Tasten. »Da, sehen Sie nur, Herr Doktor! Wie sie sich bewegen! Genau wie damals, als der Spieler sie angeschlagen hat!« Die Musik brach plötzlich ab, als seien die fünf Cents Vergnügen bereits geliefert. Rudy sprach immer noch sehr laut. »Das versetzt einem geradezu einen Schreck, nicht wahr, Herr Doktor, wenn man die Tasten sich bewegen sieht? Man kann sich beinahe vorstellen daß ein Geist am Klavier sitzt, der sich die Seele aus dem Leib spielt.« Paul riß sich los und rannte zu seinem Auto hinaus.
4 »Liebling, du siehst aus, als seiest du einem Geist begegnet«, meinte Anita. »Was war denn so aufregend?« »Der Cocktail ist gut«, antwortete er geistesabwesend. »Ist Finnerty oben?« »Ich habe ihn in den Club geschickt, damit er Kroner und Baer Gesellschaft leisten kann, während du dich umziehst.« »Wie sieht er aus?« »Schrecklich! Er hat sich noch immer keinen anständigen Anzug gekauft! Ich wollte ihm deinen zweiten Smoking leihen, aber er lehnte ab und verschwand in Richtung Club.« Paul schüttelte lächelnd den Kopf. Es stimmte, Finnerty verband in einzigartiger Weise den Verstand eines Genies mit dem Aussehen eines Tippelbruders. Von Zeit zu Zeit ging er in einen Laden, kaufte sich eine vollständige Garnitur und trug dann alles, bis es so fadenscheinig geworden war, daß es von selbst zerfiel. Auch sein Auto paßte sich seiner Erscheinung an – ein fahrbarer Schrotthaufen. Finnerty behauptete, daß seine Ausgaben so hoch seien, daß er sich weder anständige Anzüge noch ein neues Auto leisten könne. Paul war allerdings überzeugt, daß sein Benehmen und seine Aufmachung das Resultat langer Überlegungen waren, wie man die anderen Manager und Ingenieure, besonders aber ihre Frauen, ärgern konnte. Warum Ed diese netten Menschen bei jeder Gele-
genheit gegen sich aufzubringen versuchte, hatte Paul nie herausbekommen. Vermutlich ließ sich diese Aggressivität auf ein Kindheitserlebnis zurückführen. Paul beneidete Finnerty um seine großartigen Fähigkeiten, denn Ed konnte anfangen was er wollte – alles gelang ihm meisterhaft. Mit einer geradezu übermenschlich erscheinenden Intuition erfaßte er in kürzester Zeit die Grundprinzipien beinahe jeder Art von Arbeit, gleichgültig, ob es sich dabei um Klavierspielen oder Tiefseetauchen handelte. »Wenn Ed sich doch nur einen anderen Tag für seinen Besuch ausgesucht hätte«, meinte Anita. »Er bringt die ganze Tischordnung durcheinander. Baer sollte links von mir und Kroner rechts von mir sitzen, aber jetzt weiß ich nicht, was ich tun soll. Hat Ed Finnerty etwa eine höhere Stellung als die beiden?« »Du kannst ja im Organisationsverzeichnis nachsehen«, antwortete Paul. »Ich glaube, daß er vor ihnen rangiert, denn der P.A.I.E. steht über den regionalen Abteilungen. Finnerty ist es bestimmt ganz egal, er würde sich auch in der Küche wohlfühlen.« Sie lachte unsicher, anscheinend fiel es ihr schwer, Paul vorzuspielen daß sie sich über Finnerty amüsierte. Sie wechselte rasch das Gesprächsthema. »Wie war es heute, Liebling?« Er berichtete ihr von seiner Fahrt in die Siedlung. »Uni das hat dich so aufgeregt?« Sie lachte. »Du bist aber empfindlich, Liebling!« »Sie hassen mich alle. Der Mann mit den dicken Brillengläsern hat indirekt behauptet, daß das Leben seines Sohnes sinnlos geworden sei – durch mich.« »Ist es dein Fehler, wenn sein Sohn nicht intelligent genug ist, um die Einstufungsprüfung zu bestehen?«
»Nein, das nicht, aber wenn es nicht Männer wie mich gäbe, hätte er vielleicht eine Maschine in den Werken zu bedienen ...« »Muß er deswegen hungern?« »Natürlich nicht. Niemand muß das.« »Und er hat ein Dach über dem Kopf und warme Kleidung. Er hat alles, was er braucht – und was er haben würde, wenn er eine dämliche Maschine bedienen müßte. Mit dem einen Unterschied, daß er es jetzt viel leichter hat – keine Arbeitsunfälle, keine Streiks, keine Überstunden, keine ...« »Du hast recht!« Er hob die Hände. »Du hast natürlich recht. Die Leute können sich eben einfach nicht an die Änderungen gewöhnen. Ich wollte, wir wären schon hundert Jahre weiter, dann wären diese Probleme längst gelöst.« »Du bist überarbeitet. Ich werde Kroner sagen, daß du vier Wochen Urlaub brauchst.« »Wenn ich welchen brauche, werde ich es ihm schon selbst sagen.« »Ich wollte dich keineswegs bevormunden, Liebling. Aber du bist immer zu zurückhaltend und bescheiden.« »Überlaß mir die Fragerei, wenn es dir nichts ausmacht. Hast du meinen Smoking herausgelegt?« »Auf deinem Bett«, antwortete sie beleidigt. »Smoking, Socken, Manschettenknöpfe und eine neue Schleife.« »Eine neue Schleife? Warum?« »Kroner und Baer tragen sie ebenfalls.« »Ich werde eine schwarze Krawatte umbinden.« »Liebling, denkst du an Pittsburgh? Du willst doch dorthin.«
Er rannte die Treppe zum Schlafzimmer hinauf und zog sich dabei die Jacke aus. »Ed!« Finnerty lag auf Anitas Bett. »Ach, du kommst erst jetzt?« fragte Finnerty. Er wies auf den Smoking, der auf Pauls Bett ausgebreitet lag. »Ich dachte, daß du das seist und habe mich schon eine halbe Stunde glänzend damit unterhalten.« »Anita sagte, daß du im Club seiest.« »Anita warf mich zur Vordertür hinaus, deswegen bin ich durch den Hintereingang hereingekommen.« »Na, das freut mich aber. Wie geht es?« »Schlechter als je zuvor, aber nicht aussichtslos.« »Prima«, sagte Paul und lachte unsicher. »Mach die Tür zu.« Paul ließ sie ins Schloß fallen. »Wie ist der Job in Washington?« »Ich habe gekündigt. Als ich die diesjährige Einladung zu den Wettkämpfen auf der Insel erhielt, war es plötzlich aus, Paul. Mir wurde klar, daß ich das nicht noch einmal aushalten können würde. Dann sah ich mich um und stellte fest, daß mir das ganze System nicht mehr paßt. Es hängt mir zum Hals heraus, deshalb habe ich den Kram hingeschmissen und bin hierher gekommen.« Pauls Einladung zu den Wettkämpfen lag unten in der Halle vor dem Spiegel, wo Anita sie hingelegt hatte, damit jeder Besucher sie sehen konnte. Die Insel, auf der sie stattfanden, hieß The Meadows und lag an der Mündung des St. Lawrence in der Chippewa Bay. Dort verbrachten die bedeutendsten der alten und die vielversprechendsten der jungen Manager und Ingenieure jeden Sommer eine Woche, in der eine wah-
re Orgie aus Kameradschaftsgeist, sportlichem Ehrgeiz und allgemeiner Verbrüderung stattfand. Diese Ziele versuchte man durch Mannschaftswettkämpfe, Lagerfeuer mit Gesang, Feuerwerksraketen, lautstarke Vergnügungen, kostenlosen Ausschank von Whisky und Verteilung von Zigarren zu fördern. Finnerty holte eine Packung Zigaretten aus der Tasche und bot Paul eine an. Paul nahm sie dankend an und bog sie erst einmal gerade. Seine Finger zitterten. »Seit wann bist du nervös?« fragte Finnerty. »Ich bin heute abend der Hauptsprecher bei dem Essen.« »Ach so! Dann bist du also sonst nicht so nervös? Worüber sollst du denn sprechen?« »Heute vor dreizehn Jahren wurden die IliumWerke dem Nationalen Produktionsausschuß unterstellt.« »Wie jede andere Fabrik in ganz Amerika.« »Ilium war etwas früher dran.« Diese Maßnahme war damals wegen des Krieges vorgenommen worden. Ähnliche Ausschüsse waren für Transportwesen, Rohmaterialien, Ernährung und Nachrichtenwesen geschaffen worden, und über ihnen allen stand damals Pauls Vater. Dieses System hatte solche Einsparungen ermöglicht, daß man es auch nach dem Krieg beibehalten hatte. »Bist du mit dem zufrieden, was seitdem in Amerika geschehen ist?« fragte Finnerty bedächtig. »Man sollte aber doch dazu Stellung nehmen. Ich werde es kurz und in Form eines Tatsachenberichtes machen.« Ed schien offensichtlich an diesem Thema nicht mehr interessiert zu sein. »Komisch«, meinte er, »ich
dachte, daß du allmählich ziemlich am Ende sein würdest. Deshalb bin ich hier.« Paul verzog das Gesicht, während er die Krawatte band. »Nun, du hast gar nicht so weit danebengetippt. Anita hat schon vorgeschlagen, daß ich zu einem Psychiater gehen sollte ...« »Dann bist du also auch nicht zufrieden. Wunderbar! Gehen wir einfach nicht zu diesem verdammten Essen! Wir müssen miteinander sprechen.« Die Tür öffnete sich, und Anita erschien. »Oh, Ed! Wer ist mit Kroner und Baer zusammen?« »Kroner mit Baer, Baer mit Kroner«, antwortete Finnerty gelangweilt. »Mach bitte die Tür zu, Anita.« »Wir müssen jetzt in den Club gehen.« »Sie müssen jetzt in den Club gehen«, sagte er. »Paul und ich kommen später nach.« »Wir gehen alle zusammen – und das jetzt, Ed! Schließlich sind wir schon zehn Minuten zu spät dran!« »Anita«, drohte Finnerty, »wenn Sie nicht bald mehr Respekt vor dem Privatleben der Männer zeigen, werde ich eine Maschine erfinden, die alles besser kann, was Sie können.« Sie wurde rot. »Ich finde das nicht gerade überwältigend komisch.« »Rostfreier Stahl«, fuhr Ed fort. »Rostfreier Edelstahl mit Schaumgummi überzogen und mit einer elektrischen Heizung, die den ganzen Apparat auf eine gleichbleibende Temperatur von sechsunddreißigkommafünf bringt.« »Hör mal, Ed. Das geht zu ...«, sagte Paul. »Und errötet nackt Belieben«, fügte Finnerty hinzu. »Und ich könnte einen Mann wie Sie aus einem al-
ten Kartoffelsack und dem Inhalt einer Mülltenne machen«, fuhr Anita auf. »Jeder, der sich mit Ihnen abgibt, ist am Ende voller Schmutz!« Sie knallte die Tür zu und klapperte auf ihren hohen Absätzen die Treppe hinunter. »Zum Teufel, warum hast du sie so beleidigt?« fragte Paul verblüfft und wütend. Finnerty lag bewegungslos auf dem Bett und starrte an die Decke. »Ich weiß es auch nicht«, gab er zu, »aber es tut mir keineswegs leid. Geh mit ihr.« »Was hast du vor?« »Geh!« Er sagte es, als habe Paul ihn plötzlich gestört, während er einen wichtigen Gedanken zu Ende denken wollte. »In der Küche steht eine Tüte mit einer Flasche irischem Whisky für dich«, sagte Paul noch, bevor er Ed verließ.
5 Paul holte Anita in der Garage ein, als sie gerade den Cadillac starten wollte. Sie rückte zur Seite, um ihn ans Steuer zu lassen, sah ihn aber dabei nicht an. Dann fuhren sie schweigend in den Club. Vor dem Eingang zapfte Anita noch einmal an Pauls Krawatte herum, warf einen prüfenden Blick in den Spiegel, setzte ein charmantes Lächeln auf und ging voran. Am anderen Ende des Foyers befand sich die Bar, die von den jungen Ingenieuren der Ilium-Werke frequentiert wurde, die dort zwei ältere Herren umringten. Einer der beiden, Kroner, groß, stattlich und bedächtig, widmete sich ihnen mit würdevoller Zurückhaltung. Der andere, Baer, schlank, nervös und voll gespielter Jovialität lachte beständig und klopfte ihnen auf die Schultern. Die Ilium-Werke waren eine Art Trainingszentrum, wohin die Hochschulabsolventen geschickt werden, bevor sie bedeutendere Aufgaben erhielten. Deshalb waren Pauls Untergebene alle sehr jung und wurden immer wieder durch andere ersetzt. Paul und Shepherd, sein Stellvertreter, waren die ältesten der Werksangehörigen. Shepherd stand an der Bar, etwas von den anderen entfernt und schien sich über die Naivität der Jungen zu amüsieren. Die Gattinnen hatten sich in zwei Nischen neben der Bar zusammengefunden und unterhielten sich dort flüsternd. Sie sahen nur auf, wenn jemand eine witzige Bemerkung gemacht hatte, oder wenn Kroners Baßstimme durch das Stimmengemurmel drang.
Die jungen Leute begrüßten Paul und Anita mit großer Höflichkeit, die allerdings zu betont war, um echt zu wirken. Baer winkte und rief ihnen mit seiner hohen Stimme eine Bemerkung zu. Kroner nickte fast unmerklich, stand dann einfach da und wartete, daß sie zu ihm kamen, damit er sie begrüßen konnte. Kroners riesige Pranke umschloß Pauls Hand mit festem Griff, und Paul fühlte sich plötzlich wieder in die einschüchternde und dominierende Gegenwart seines Vaters zurückversetzt. Kroner, der beste Freund seines Vaters, vermittelte ihm dieses Gefühl jedesmal und wollte es anscheinend absichtlich in Paul hervorrufen. »Wie geht es Ihnen, Paul?« fragte er in dem Ton, den er sonst benützte um sich nach dem Befinden von Leuten zu erkundigen, die gerade eine Lungenentzündung oder noch Schlimmeres hinter sich hatten. »Er hat sich nie wohler gefühlt«, warf Anita ein. »Das freut mich wirklich. Das ist gut, Paul.« Kroner hielt immer noch seine Hand fest und starrte ihm weiter ins Gesicht. »So, dann geht es Ihnen also gut, was? Wunderbar«, sagte Baer und klopfte Paul mehrmals auf die Schulter. »Wunderbar!« Dann wandte er sich an Anita. »Sie sehen aber gut aus, Gnädigste! Oh, ganz reizend, nicht wahr?« Baer war ein gesellschaftlicher Kretin, der sich anscheinend einbildete daß sein Benehmen der Höhepunkt weltmännischer Nonchalance sei. Was das Technische betraf, war er der beste Ingenieur der ganzen Abteilung Ost und stellte selbst Finnerty in den Schatten. Zusammen mit Kroner bildete er ein einzigarti-
ges Team: Baer verkörperte das Wissen und die Denkweise der modernen Industriegesellschaft, während Kroner ein Symbol für die Tradition war, die dahinterstand. Paul war manchmal geradezu überrascht gewesen, wie wenig Kroner von technischen Dingen verstand, aber dafür hatte dieser Mann die unschätzbare Eigenschaft, daß er fest an das System glaubte und andere von dessen Richtigkeit zu überzeugen vermochte. Die beiden waren unzertrennlich, obwohl sie keinerlei gemeinsame Interessen hatten. Man hätte sie zusammenlegen müssen, um wenigstens eine ganze Persönlichkeit aus ihnen machen zu können. »Hat Ihnen jemand berichtet, daß Paul krank sei?« fragte Anita lächelnd. »Er soll mit den Nerven zu tun gehabt haben, hörte ich neulich«, antwortete Kroner. »Falschmeldung«, stellte Paul fest. Kroner lächelte ihn an. »Das freut mich wirklich, Paul. Sie sind einer unserer besten Leute.« »Von wem haben Sie denn das Märchen über Pauls Nerven?« wollte Anita wissen. »Ich habe es vergessen«, antwortete Kroner. »Dr. Shepherd war es«, warf Baer hilfreich ein. »Ich war heute morgen in deinem Büro, als er davon erzählte.« »Hör zu«, unterbrach Kroner ihn schnell, »Shepherd hat über etwas anderes gesprochen. Denk nur richtig nach, dann wird es dir wieder einfallen, wie es gewesen ist!« »Oh, bestimmt ... er hat recht ... richtig, so war es, wie konnte ich das nur vergessen«, stotterte Baer mit verdutztem Gesicht. Er schlug Paul auf die Schulter.
»Dann geht es Ihnen also wieder besser, was? Das ist ja wunderbar, einfach prima!« Shepherd hatte unterdessen die Gelegenheit wahrgenommen, um sich mit gesenktem Kopf und feuerrotem Gesicht durch die Tür zur Veranda zu entfernen. »Was ich noch sagen wollte«, fuhr Kroner fort, »wo ist denn Ihr Freund Finnerty? Wie sieht er jetzt aus? Ich nehme an daß das Leben in Washington nicht so – äh – ungezwungen ist wie hier.« »Falls Sie damit meinen, ob er sich einen Anzug gekauft hat lautet die Antwort nein!« sagte Anita. »Das meinte ich allerdings«, gab Kroner zur Antwort. »Andererseits ist niemand von uns vollkommen, und nur sehr wenige sind gut genug, um in den P.A.I.E. berufen zu werden. Wo ist er jetzt?« »Er kommt wahrscheinlich etwas später«, antwortete Paul. »Die Fahrt hierher hat ihn müde gemacht.« »Und wo ist Mom?« fragte Anita, die begreiflicherweise bei der Erwähnung des Namens Finnerty rot sah. Mom war Kroners Gattin, die er zu jeder gesellschaftlichen Veranstaltung mitschleppte. »Diese scheußliche Herzsache hat sie wieder einmal erwischt«, sagte Kroner ernst. Jeder der Anwesenden schüttelte mitleidig den Kopf. »Darf ich die Herrschaften zu Tisch bitten«, sagte der Oberkellner in diesem Augenblick hinter ihnen. Einige Mitglieder des Clubs hatten einmal vorgeschlagen, man möge die Ober durch Maschinen ersetzen, aber diese Extremisten hatten sich glücklicherweise nicht durchsetzen können. Als Paul, Kroner, Baer und Anita den Speisesaal
betreten wollten, versperrten ihnen vier der jüngsten Ingenieure des Werkes den Weg. Fred Berringer schien ihr Sprecher zu sein. Er war ein mittelmäßig begabter junger Mann, der aus einer Millionärsfamilie stammte. Seinen Posten hatte er nur dem Einfluß und dem Ruf seines Vaters als Wissenschaftler zu verdanken. Paul hatte Berringer damals nehmen müssen, weil Kroner ihn ihm empfohlen hatte, aber er hatte ihn immer nur mit Intelligenten zusammenarbeiten lassen, um Unheil zu verhüten. »Was soll das sein, Fred – ein Überfall?« fragte Paul. »Schachmeister«, sagte Fred, »ich fordere Sie hiermit zu einem Spiel um die Meisterschaft heraus, das unmittelbar nach dem Essen stattfinden soll.« Kroner und Baer schienen geradezu entzückt, denn sie gehörten zu den eifrigsten Förderern von Wettkämpfen, Auswahlspielen, Meisterschaften und ähnlichen Ereignissen auf allen nur denkbaren Gebieten. Dergleichen Beschäftigungen verbesserten ihrer Meinung nach den Zusammenhalt innerhalb der Abteilung, während in Wirklichkeit nur zu oft das Gegenteil der Fall war. »Nur Sie, oder alle vier?« fragte Paul. Er war tatsächlich Schachmeister des Clubs, obwohl es nie einen offiziellen Wettbewerb um diesen Titel gegeben hatte. Aber bis jetzt hatte ihn noch niemand schlagen können. »Vor allem ich«, antwortete Berringer, »aber eigentlich doch wir alle.« Die anderen lachten wie Verschwörer. Anscheinend war eine besondere Überraschung vorbereitet worden, denn auch einige der älteren Ingenieure schmunzelten zuversichtlich.
»Na schön«, meinte Paul gut gelaunt, »selbst wenn ihr alle auf einmal gegen mich spielen würdet, hättet ihr doch nicht die geringsten Aussichten.« Die vier Ingenieure gaben den Weg frei und ließen Paul, Anita und die beiden Ehrengäste zu Tisch gehen. »Oh«, sagte Anita, als sie die Tischkarten sah, »da muß jemand einen Fehler gemacht haben.« Sie nahm die Karte zu ihrer Linken auf, drehte sie zusammen und gab sie Paul. Dann stellte sie eine andere vor den freigewordenen Platz und setzte sich, wobei Kroner und Baer die Stühle rechts und links von ihr einnahmen. Als einer der Ober das überzählige Gedeck abtrug, sah Paul sich die Karte an – es war Eds. Während des Essens zählte Paul unauffällig die Gäste und stellte fest, daß insgesamt siebenundzwanzig Personen anwesend waren – die Manager und Ingenieure der Ilium-Werke mit ihren Frauen, allerdings fehlte die zweite Schicht. Nur zwei Plätze waren leergeblieben: Finnertys, von dem das Gedeck abgetragen worden war, und Shepherds, der immer noch nicht wieder von der Veranda hereingekommen war. Finnerty lag vermutlich immer noch im Schlafzimmer auf dem Bett und sprach mit sich selbst, wenn er nicht schon zu einer Sauftour in die Siedlung hinübergefahren war. Paul hoffte nur daß er nicht wieder auftauchen würde. Dieser geniale Freigeist, den er in seiner Jugend bewundert hatte, war zu einem kranken, abstoßend wirkenden Menschen geworden. Er hatte grundlos gekündigt, hatte Anita beleidigt, schien auf seine Neurosen stolz zu sein – alles das erschreckte und enttäuschte Paul unendlich. Er hatte gehofft, daß Finnerty ihn von seinen Zwei-
feln befreien könnte, die ihn in letzter Zeit immer mehr bedrückt hatten, was Shepherd offensichtlich als Zeichen dafür angesehen hatte, daß Paul mit den Nerven herunter sei. Was Shepherd betraf, war Paul durchaus bereit, sich wieder mit ihm zu vertragen und fand es sogar peinlich, daß er in aller Öffentlichkeit als Zuträger bloßgestellt worden war. Er stand auf. »Wohin willst du, Liebling?« fragte Anita. »Shepherd holen.« »Er hat nicht gesagt, daß Sie einen Nervenzusammenbruch gehabt hatten«, sagte Baer. Kroner warf Baer einen bösen Blick zu. »Nein wirklich, er war es nicht, Paul. Soll ich ihn holen? Ich bin an der ganzen Sache schuld, weil ich davon gesprochen habe. Shepherd war es nicht, und jetzt ist der arme Junge völlig ...« »Ich gehe selbst«, sagte Paul. »Ich komme mit«, erklärte Anita. »Nein, lieber nicht.« Paul ging schnell durch die Bar nach draußen. Anita stand ebenfalls auf und folgte ihm. »Das möchte ich auf keinen Fall versäumen!« »Da gibt es nichts zu versäumen«, antwortete Paul. »Ich werde ihm einfach sagen, daß alles wieder in Ordnung ist, weil ich ihn verstehen kann.« »Er ist hinter dem Posten in Pittsburgh her, Paul! Deshalb hat er Kroner etwas über deinen Nervenzusammenbruch vorgelogen. Jetzt hat er eine Heidenangst, daß er seinen Posten verliert. Das geschieht ihm recht!« »Ich will keinesfalls dafür sorgen, daß er entlassen wird.«
»Aber du könntest ihn doch ein bißchen zappeln lassen!« »Bitte, Anita – das hier betrifft nur Shepherd und mich.« Sie standen auf der Terrasse und sahen zu Shepherd hinüber der halb verborgen auf einer Bank zwischen einigen Büschen saß. Neben ihm standen drei leere Cocktailgläser. »Shep«, rief Paul leise. »Hallo, Paul.« Es klang müde und resigniert. »Hau ab«, flüsterte Paul Anita zu und ging zu ihm. Sie blieb unbeweglich stehen und ballte die Fäuste. »Die Suppe wird kalt«, sagte Paul so freundlich wie möglich. Er setzte sich auf die Bank, die drei Gläser standen zwischen ihnen. »Ich mache mir nichts daraus, ob du ihnen erzählt hast, daß ich am Ende bin oder nicht, das kannst du mir glauben!« »Mir wäre es lieber, wenn du einen richtigen Krach schlagen würdest«, antwortete Shepherd. »Schön, ich habe es ihnen erzählt. Los, schmeiß mich schon 'raus!« »Sei doch vernünftig, Shep, niemand will dich 'rauswerfen!« Paul hätte früher nie geglaubt, daß es Menschen wie Shepherd geben könne. Dieser merkwürdige Kerl sah das Leben als eine Art Spiel mit festen Spielregeln an, die sich entweder zu seinem Vorteil auswirken konnten oder ihm Nachteile bringen konnten. Shepherd gab keinen Pardon – und wollte selbst auch keinen gewahrt erhalten. Er war ein ausgezeichneter Ingenieur, aber ein langweiliger Gesellschafter und ein kümmerlicher Streber. Paul versuchte, sich in seine Lage zu versetzen.
Shepherd hatte eine Runde verloren und wollte jetzt dafür bestraft werden, um dann die nächste Runde ganz sicher zu gewinnen. Er lebte in einer erbarmungslosen Welt. »Wolltest mir die Stellung in Pittsburgh wegschnappen, was?« fragte Paul. »Ich glaube, daß ich der geeignetere Mann dafür wäre«, antwortete Shepherd. »Aber was für eine Rolle spielt denn das jetzt noch. Ich bekomme sie doch nicht mehr.« »Du hast eben verloren.« »Ich habe es versucht und habe dabei verloren«, gab Shepherd zurück, für den dieser feine Unterschied sehr wichtig zu sein schien. »Los, schmeiß mich 'raus.« Die einfachste Methode, um Shepherd zu ärgern, war, nicht mit ihm konkurrieren zu wollen. »Ich weiß nicht recht«, sagte Paul deshalb, »vielleicht wärst du doch ganz gut für Pittsburgh geeignet. Soll ich dir einen Empfehlungsbrief schreiben?« Shepherd schwieg. »Ich möchte, daß du weiter für mich arbeitest«, fuhr Paul fort. »Du bist einfach unersetzlich.« »Du möchtest mich wohl weiter unter dem Daumen behalten. Wenn ich nicht entlassen werde, möchte ich versetzt werden.« »Du weißt daß das nicht von mir abhängt. Aber gehen wir doch hinein, die anderen warten.« Paul streckte Shepherd die Hand entgegen, aber Shepherd zog es vor, sie zu übersehen und ging auf die Tür zu. Anita stellte sich ihm in den Weg. »Wenn Sie sich noch einmal Sorgen über die Gesundheit meines Gatten machen, dann mochte ich Ihnen raten, sich bei
ihm oder seinem Arzt damit zu melden«, zischte sie. »Ihr Gatte und sein Arzt wissen schon seit Monaten, was ich heute Kroner und Baer berichtet habe. Ich würde ihm nicht einmal die Bedienung einer Nähmaschine anvertrauen mögen – von Pittsburgh ganz abgesehen!« Paul nahm sie beide am Arm und schob sie vor sich her zur Bar wo die Gesellschaft sie deutlich sehen konnte. Alle drehten sich neugierig nach ihnen um. Paul, Anita und Shepherd lächelten, als sie Arm in Arm an den Tisch zurückkehrten. »Einen kleinen Kater, was?« fragte Kroner Shepherd freundlich und lächelte ihn an. »Jawohl, Sir. Ich glaube, daß die Martinis zum Mittagessen daran schuld sind. Anscheinend habe ich einen zuviel getrunken.« Kroner nickte verständnisvoll und wandte sich an den Ober. »Bringen Sie dem jungen Mann eine Flasche Mineralwasser und zwei Aspirin, bitte.« Nachdem Kaffee, Kognak und Liköre serviert worden waren, erhob sich Paul und gab einen kurzen Abriß, der Entwicklung, die zu der Unterstellung der Ilium-Werke unter den Nationalen Planungsausschuß geführt hatte. Dann sprach er über die Zweite Industrielle Revolution, wie er sie bezeichnete. Im Grunde genommen sagte er nichts Neues, seine Rede war nur ein nüchterner Erfolgsbericht, eine Rechtfertigung ihrer vergangenen und zukünftigen Taten. Die Maschinen Amerikas arbeiteten weitaus besser, als es die Amerikaner jemals getan hatten. Mehr Leute konnten mehr Waren zu billigeren Preisen erwerben – und wer hätte bestreiten können, daß das eine wunderbare Sache sei?
An einer Stelle hob Kroner die Hand und fragte, ob er eine Zwischenbemerkung machen dürfe. »Ich möchte nur unterstreichen, was Sie gerade gesagt haben, Paul, denn dafür gibt es ein besonders bezeichnendes Beispiel. Eine Pferdestärke entspricht etwa der Kraft von einundzwanzig Männern. Wenn man die Pferdestärken eines der Motoren an den Walzstraßen der größeren Stahlwerke nach diesem Verhältnis umrechnet, kommt man zu dem überraschenden Ergebnis, daß der Motor mehr Arbeit leistet, als sämtliche Sklaven Amerikas zur Zeit des Bürgerkrieges hätten leisten können. Und das vierundzwanzig Stunden ununterbrochen hintereinander!« Er lächelte wohlwollend. »Diese Zahl ist wirklich äußerst interessant«, stimmte Paul zu während er nach der Stelle in seinem Manuskript suchte, an der er unterbrochen worden war. »... und das gilt selbstverständlich nur für die Erste Industrielle Revolution, während der die Maschinen rein manuelle Tätigkeiten zu übernehmen begannen wodurch handwerkliche Fähigkeiten weniger wertvoll wurden. Die Zweite Revolution, an deren Verwirklichung wir teilnehmen, läßt sich nicht so einfach durch die Zahl der eingesparten Arbeiter oder der verringerten Arbeitszeiten ausdrücken. Dazu müßte man eine neue Maßeinheit erfinden, mit der man die Langeweile und die Verärgerung der Menschen messen könnte, die sie bei stumpfsinnigen Fließbandarbeiten empfunden haben. Leider gibt es keine derartige Einheit.« »Aber man kann die Mengen von Ausschuß messen, die produziert wurden!« rief Baer dazwischen. »Die Verschwendung, die Verzögerungen, die Fehler!
Das kann man alles in guten Dollars ausdrücken, das sind Verluste, die durch schlechte Arbeiter hervorgerufen wurden.« »Richtig«, sagte Paul, »aber ich habe versucht, die Sache vom Standpunkt eines Arbeiters zu sehen. Die beiden Revolutionen haben dem Menschen einen Teil seiner Plackerei abgenommen, und ich habe nach einer Methode gesucht, die es gestatten würde, abzuschätzen, wovon ihn die Zweite Revolution befreit hat.« »Ich arbeite immer noch«, gab Baer zurück. Alle lachten. »Die anderen – in der Siedlung«, antwortete Paul. »Sie haben nie gearbeitet«, warf Kroner ein, und wieder lachten alle. »Und sie vermehren sich wie die Karnickel«, meinte Anita. »Werden hier schmutzige Witze über die Fortpflanzung der Kaninchen erzählt?« fragte Finnerty von der Tür her. Er schwankte leicht, anscheinend hatte er den Whisky gefunden. Kroner stand auf. »Na, Finnerty, da sind Sie ja endlich – wie geht es Ihnen, mein Junge?« Er winkte einen Ober heran. »Sie möchten doch bestimmt noch eine Tasse schwarzen Kaffee. Ober, bringen Sie eine Portion besonders starken!« Er legte den Arm um Finnertys Schultern und führte ihn zu dem Platz, an dem Anita hatte abdecken lassen. Finnerty nahm die Tischkarte des Ingenieurs auf, der neben ihm saß, sah den Mann genau an und zog die Augenbrauen hoch. »Wo ist meine verdammte Tischkarte?« »Gib ihm seine Karte«, sagte Anita. Paul nahm sie aus der Tasche, strich sie glatt und stellte sie vor Finnerty auf.
»Wir sprachen gerade über die Zweite Industrielle Revolution«, erklärte Kroner, als ob alles irr bester Ordnung sei. »Paul erwähnte, daß es keine Maßeinheit für die Mühe und Plage gibt, die sie den Menschen abgenommen hat. Ich glaube, daß man das am ehesten in einer graphischen Darstellung ausdrücken könnte. Bitte, fahren Sie fort, Paul.« »... wenn man das Verhältnis der geleisteten Arbeitsstunden zu der Zahl der Vakuumröhren untersucht, kommt man zu dem Ergebnis, daß die Zahl der Arbeitsstunden sinkt, wenn die der Röhren steigt. Ferner kann ...« »Wie Karnickel«, murmelte Finnerty. Kroner lächelte. »Richtig, wie Karnickel. Übrigens, Paul, da fällt mir noch etwas ein. Es ist doch eigentlich merkwürdig, daß die Menschheit dieser Zweiten Revolution, wie Sie sie nennen, erst verhältnismäßig spät die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt hat. Die friedliche Anwendung der Kernenergie scheint damals als wichtiger empfunden worden zu sein. Baer, erinnerst du dich noch an die Zeit, als alle dachten, das Atomzeitalter sei gekommen? Und währenddessen vermehrten sich die Röhren still und heimlich wie die Karnickel.« »Und Rauschgiftsucht, Scheidungen und Selbstmorde stiegen proportional dazu an«, sagte Finnerty. »Ed!« rief Anita empört aus. »Daran war der Krieg schuld«, erklärte Kroner nüchtern. »Organisiertes Verbrechen, Trunksucht, Jugendkriminalität – alles vermehrte sich im Verhältnis zu der Zahl der Röhren, die benutzt wurden.« »Das ist doch Unsinn, Ed«, mischte sich Paul ein.
»Kannst du etwa einen logischen Zusammenhang zwischen diesen Faktoren beweisen?« »Selbst wenn nur die geringste Verbindung besteht, sollte man einmal darüber nachdenken ...« Anita spielte nervös mit ihrer Serviette. »Sollen wir uns jetzt in der Bücherei die Partie um die Schachmeisterschaft ansehen?« Überall dankbares Kopfnicken. Paul legte den Rest seiner Rede ohne Bedauern beiseite und folgte den anderen. Fred Berringer ging neben ihm, während die drei anderen Herausforderer in die Garderobe geeilt waren. Sie nahmen vor dem Schachbrett Platz. »Spielen Sie viel Schach?« fragte Paul seinen Gegner. »Ein wenig.« »Platz für Charly Schach! Platz für Charly Schach!« riefen in diesem Augenblick Berringers Sekundanten und rollten einen mannshohen Kasten herein, der mit einem Bettlaken verdeckt war. »Ist da ein Mann drin?« fragte Kroner. »Ein Gehirn«, sagte Berringer triumphierend, »Charly Schach der beste Schachspieler der Erde, auf der Suche nach neuen Opfern!« Er riß das Tuch herunter und enthüllte Charly, einen grauen Stahlkasten, dessen Vorderseite mit einem Schachbrett versehen war, in dessen Felder rote und grüne Lampen eingelassen waren. »Guten Abend, Charly. Sehr erfreut«, murmelte Paul. Er ärgerte sich. Seine erste Regung war gewesen, ohne ein Wort den Raum zu verlassen. »Haben Sie das gebaut?« fragte Kroner ungläubig. »Nein, Sir. Mein Vater, Sir. Es ist sein Hobby.« »Berringer, Berringer?« sagte Baer nachdenklich und runzelte die Stirn.
»Du weißt doch – Dave Berringer; das ist sein Sohn.« »Oh!« Baer betrachtete Charly voller Bewunderung. »Dann verstehe ich alles.« Freds Vater war einer der bekanntesten Männer auf dem Gebiet der elektronischen Datenverarbeitung. Paul lehnte sich resigniert in seinen Sessel zurück und wartete darauf, daß die Komödie beginnen würde. Er sah in Berringers zufriedenes Gesicht und war davon überzeugt, daß der junge Mann die Maschine nur von der Außenseite kannte und nichts über ihre Arbeitsweise wußte. Finnerty kam aus dem Speisesaal und steckte seinen Kopf in die Maschine. »Wer wettet dagegen?« fragte er. »Soviel Sie wollen!« Berringer legte seine dicke Brieftasche auf den Tisch. Unterdessen war Charly mit einem Kabel an eine Steckdose in der Fußbodenleiste angeschlossen worden. Er begann zu summen, und die Lichter auf seiner Vorderseite leuchteten auf, wenn einer der Schalter umgelegt wurde. Paul stand auf. »Ich gebe auf«, sagte er und sah die Maschine an. »Herzlichen Glückwunsch, Charly, der Bessere hat gesiegt. Meine Damen und Herren – der neue Clubmeister!« Er wollte zur Bar gehen. »Liebling«, bat Anita, »bleib hier. Das sieht dir gar nicht ähnlich!« »Ich habe keine Chance gegen das verdammte Ding. Es kann einfach keine Fehler machen ...« »Aber du kannst wenigstens dagegen spielen.« »Und was habe ich davon?« »Los, Paul«, sagte Finnerty. »Ich habe mir Charly
von innen angesehen, und es scheint durchaus nicht so unwahrscheinlich zu sein, wie es aussehen mag. Ich habe schon fünfzig Dollar auf dich gesetzt, und ich bin bereit, mit jedem zu wetten, daß Charly keine Chance gegen dich hat.« Shepherd legte sofort drei Zwanziger auf den Tisch. Finnerty grinste und legte ebenfalls denselben Betrag daneben. »Du hast den ersten Zug«, sagte Finnerty zu Paul. Paul setzte sich wieder in den Sessel und zog einen Stein. Berringer legte einen Schalter um, eine Lampe begann zu blinken, die Pauls Zug anzeigte, dann leuchtete eine andere auf, die Berringers Gegenzug zeigte. Berringer lächelte und machte den entsprechenden Zug. Er zündete sich eine Zigarette an und legte die Hand auf den Stapel Geldscheine neben sich. Paul machte den nächsten Zug. Wieder wurde ein Schalter umgelegt, und die Lämpchen blinkten dementsprechend. Zu Pauls Überraschung konnte er Berringer schon nach dem sechsten Zug einen Springer abnehmen, ohne sich seiner Meinung nach dabei eine Blöße geben zu müssen. Dann einen Bauern. Einen Zug später einen Läufer. Er schüttelte verwirrt den Kopf. Die Maschine spielte offensichtlich mit einer völlig neuen Strategie, die sich erst auf lange Sicht hinweg auswirken würde. Charly Schach gab jetzt ein merkwürdig zischendes Geräusch von sich, das allmählich an Lautstärke und Tonhöhe zunahm. »Von jetzt an wette ich drei zu eins gegen Charly«, verkündete Finnerty. Shepherd und Berringer legten jeweils noch einen Zwanziger auf den Tisch.
Paul tauschte einen seiner Bauern gegen Berringers zweiten Springer. »He, einen Augenblick«, sagte Berringer aufgeregt. »Da stimmt etwas nicht.« »Sie und Charly verlieren gerade die Partie. So ist es immer – einer gewinnt, der andere verliert«, meinte Finnerty. »Sicher, aber wenn Charly richtig funktionieren; würde, könnte er gar nicht verlieren!« Berringer stand unsicher auf und faßte die Maschine an. »Mein Gott, Charly ist heiß wie eine Bratpfanne!« »Spiel weiter, Kleiner. Ich möchte sehen, wer Meister ist«, kommandierte Finnerty. »Schwarz zieht«, sagte Paul. Berringer sah sich hilflos um, dann schob er einen Stein nach vorn. Paul nahm ihm in rascher Folge den zweiten Läufer und einer; Turm ab. »Das scheint ja ein toller Reinfall für mich zu werden«, lachte er dabei. »Warte nur noch ein, zwei Sekunden, dann sieht Charly seine große Chance, und du bist die Schachmeisterschaft endgültig los«, gab Finnerty zu bedenken. Dann quoll plötzlich dichter Rauch aus Charly hervor. Einer von Berringers Sekundanten riß die Tür auf der Rückseite auf und wich entsetzt zurück. »Feuer!« rief Baer aufgeregt. Ein Ober kam mit einem Feuerlöscher angerannt und richtete ihn auf Charlys Inneres. Nach wenigen Sekunden war alles vorüber Charly Schachs Gehirn bestand nur noch aus einem verkohlten Gewirr von Drähten, Röhren, Kondensatoren, Widerständen und Relais.
»O je, o je«, murmelte Baer. Die Ingenieure versammelten sich um die Maschine und betrachteten die Zerstörung. Trauer stand auf jedem Gesicht. Etwas Schönes war gestorben. »So eine schöne Maschine«, sagte Kroner traurig. Er legte Berringer die Hand auf die Schulter. »Vielleicht wäre es besser, wenn ich es Ihrem Vater beizubringen versuchte?« »Sie war sein Lebensinhalt«, antwortete Berringer besorgt. »Jahrelang hat er daran herumkonstruiert. Warum ist das nur passiert? Wie ist das möglich?« »Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen«, sagte Finnerty mit salbungsvoller Stimme. Berringer nickte zustimmend, bis ihm plötzlich einfiel, wer eben gesprochen hatte. Sein Gesicht zeigte einen wütenden Ausdruck. »Ah, der Witzbold«, sagte er drohend. »Fast hätte ich Sie vergessen ...« »Na, lieber nicht. Schließlich habe ich eine Menge Geld gegen Charly gesetzt!« »Hören Sie, Finnerty«, meinte Kroner beschwichtigend, »sagen wir doch, die Partie sei remis ausgegangen. Der Junge hat ein gewisses Recht dazu, sich aufzuregen, und ...« »Zum Teufel mit dem Remis«, sagte Finnerty. »Paul hat Charly fair geschlagen.« »Ich glaube, daß ich allmählich dahinterkomme«, zischte Berringer wütend. Er faßte Finnerty drohend am Arm. »Was haben Sie mit Charly angestellt?« »Fragen Sie Baer. Er hat ihn zur gleichen Zeit wie ich von innen besichtigt. Baer, habe ich etwas mit der Maschine gemacht?« »Was? Etwas gemacht? Etwas beschädigt, meinen Sie? Nein, nein, bestimmt nicht!« antwortete Baer.
»Setz dich hin, Dicker, und spiel weiter!« befahl Ed Finnerty. »Oder gib auf. Mir ist es gleich, aber ich möchte mein Geld.« »Woher wußten Sie denn so genau, daß Charly verlieren würde, wenn Sie nicht an ihm herumgedreht haben?« »Weil ich immer auf der Seite eines Mannes stehe, der gegen eine Maschine antreten soll; besonders dann, wenn eine Maschine einen Trottel wie Sie gegen einen Mann wie Paul unterstützt. Außerdem hatte Charly eine schadhafte Lötstelle.« »Das hätten Sie mir sagen müssen!« schrie Berringer mit zornrotem Gesicht und zeigte auf die Überreste der Maschine. »Sehen Sie sich das an! Daran sind Sie schuld! Ich sollte Ihnen eigentlich ein paar Ohrfeigen dafür geben!« »Langsam, langsam ...«, sagte Kroner schnell und trat zwischen die beiden. »Sie hätten das mit der Lötstelle erwähnen müssen, Ed. Das war nicht fair.« »Wenn Charly Schach darauf aus war, aus einem Menschen Hackfleisch zu machen, dann hätte er zuerst auf sich selbst aufpassen müssen. Paul hat sich selbst kontrolliert; warum hat Charly es nicht auch getan? Die durch Elektronen leben, werden durch Elektronen umkommen!« Er steckte das Geld ein, das neben dem Schachbrett lag und lachte dabei höhnisch. »Guten Abend, meine Herrschaften.« Auf dem Weg zur Tür blieb Finnerty vor Paul und Anita stehen. »Gut gespielt, Meister!« »Bitte, geben Sie ihnen das Geld zurück«, bat Anita. »Die Maschine war nicht in Ordnung.« Zur Überraschung aller lachte Paul laut auf. »So ist es richtig, Meister«, sagte Finnerty. »Ich ge-
he jetzt nach Hause, bevor diese feinen Sportsleute hier einen Strick für mich gefunden haben.« »Nach Hause? Nach Washington?« fragte Anita. »Ihr Haus, Gnädigste. Ich habe keine Wohnung in Washington mehr.«
6 »Was für ein Gesicht hat er gemacht, während er das zu dir sagte?« fragte Anita zum drittenmal. Paul hatte sich die Bettdecke bis an die Augen gezogen und versuchte einzuschlafen. »Er sah traurig aus«, murmelte er undeutlich. Seit einer Stunde sprachen sie jetzt schon über die Ereignisse des vergangenen Abends – und immer wieder kam Anita auf die Abschiedsworte Kroners Paul gegenüber zurück. »Und er hat dich tatsächlich den ganzen Abend nicht auf die Seite genommen, um ein paar vertrauliche Worte mit dir zu wechseln?« »Ehrenwort, Anita, kein einziges Wort hat er gesagt! Bis auf das, was ich dir schon vorher erzählt habe.« Sie wiederholte wörtlich Kroners Einladung: »Paul, besuchen Sie doch Mom und mich einen Abend in der nächsten Woche ...« »Das war alles.« »Nichts über Pittsburgh?« »Nein«, sagte er geduldig, »nein, gar nichts.« Er rollte sich auf die andere Seite. »Wie oft willst du es denn noch hören?« »Habe ich deiner Meinung nach kein Recht, daran interessiert zu sein?« fragte sie beleidigt. »Freut mich, daß es dir nicht gleichgültig ist«, sagte er verschlafen. »Eine Frau sieht manches, was ein Mann nie bemerken würde«, antwortete sie. »Wir wissen, wie wichtig unbedeutende Dinge manchmal sein können!
Kroner wartete offensichtlich darauf, daß du davon anfangen würdest, aber du warst wieder ...« »Wir werden schon noch herausbekommen, was er eigentlich will, wenn ich ihn morgen anrufe. Jetzt möchte ich schlafen.« Paul gähnte. »Finnerty!« sagte sie. »Er hat alles durcheinandergebracht! Wie lange will er denn noch bei uns bleiben?« »Vielleicht ein paar Tage, bis er uns satt hat.« »Die Arbeit im P.A.I.E. wird ihm hoffentlich nicht allzuviel Zeit lassen.« »Er ist arbeitslos.« Sie richtete sich auf. »Sie haben ihn hinausgeworfen! Na, dazu können sie sich aber gratulieren!« »Er hat gekündigt. Sie wollten ihm sogar eine Gehaltserhöhung geben, damit er bleiben sollte.« »Paul ...« »Hmmm?« »Dein Vater hat immer gehofft, daß du eines Tages den Posten des Managers der Pittsburgh-Werke einnehmen würdest. Er wäre bestimmt glücklich gewesen, wenn er das noch hätte erleben können.« »Hm, kann sein.« Er konnte sich noch gut daran erinnern, daß Anita ihm nach ihrer Hochzeit eine silbergerahmte Photographie seines Vaters geschenkt hatte. Das Bild stand jetzt auf seinem Nachttisch – sie hatte es dorthin gestellt – wo er es immer wieder vor Augen hatte. Anita hatte seinen Vater nie gekannt, aber sie hatte sich trotzdem eine Art Mythos über ihn zusammengedichtet. Auch Kroner schien der Meinung zu sein, daß Paul eines Tages in die Fußstapfen seines Vaters treten
würde. Diese Auffassung hatte Paul bereits den Posten des Managers der Ilium-Werke eingebracht – und jetzt würde sie ihm vielleicht zu der Stellung in Pittsburgh verhelfen. Paul kam sich manchmal wie ein Scharlatan vor, wenn er über seinen mühelosen Aufstieg innerhalb der Hierarchie der Abteilung Ost nachdachte. Sicher, er war den Anforderungen seiner Stellung voll und ganz gewachsen, aber ihm fehlte die Eigenschaft, die sein Vater besessen hatte, die Kroner besaß, die sogar Shepherd hatte: die Fähigkeit, sich für seine Arbeit zu begeistern. Kurz gesagt, Paul fehlte einfach jene bedenkenlose Hingabe an das System, die seinen Vater groß gemacht hatte. »Was willst du gegen Shepherd unternehmen?« fragte Anita. »Nichts.« »Wenn ihm nicht bald jemand die Flügel beschneidet, wird er eines Tages jedermann unter sich lassen.« »Ich habe nichts dagegen.« »Das ist doch nicht dein Ernst?« »Mein Ernst ist, daß ich schlafen möchte.« Sie schwieg einen Augenblick lang nachdenklich. »Weißt du, eigentlich ist das merkwürdig ...«, fing sie dann wieder an. »Hmmm?« »Wenn man Shepherds Gesicht aus einer ganz bestimmten Perspektive betrachtet, hat er eine geradezu täuschende Ähnlichkeit mit deinem Vater.«
7 Obergefreiter Elmo C. Hacketts näherte sich dem Schah von Bratpuhr, Dr. Ewing J. Halyard, dem Staatssekretär im Außenministerium der USA, Khashdrahr Miasma, dem Dolmetscher und Neffen des Schahs, General Milford S. Bromley, dem Oberbefehlshaber der Vereinigten Streitkräfte, Generalleutnant William K. Corbett dem Lagerkommandanten, Brigadegeneral Earl A. Puitt, dem Divisionskommandeur. Obergefreiter Hacketts marschierte in der Mitte der Ersten Gruppe des Zweiten Zuges der Zweiten Kompanie des Ersten Bataillons des 427. Regiments der 104. Infanteriedivision des Neunten Korps der Zwölften Armee, und dort blieb er auch und setzte jedesmal den linken Fuß auf, wenn der Trommler auf die Baßtrommel schlug. »Dii-vii-si-oon!« brüllte der Divisionskommandeur durch einen Lautsprecher. »Reg-iii-ment!« brüllten vier Regimentskommandeure. »'tal-ii-oon!« brüllten sechsunddreißig Kompaniechefs. »Batt-riie!« brüllten einhundertundzweiundneunzig Zugführer. »Hacketts«, sagte Obergefreiter Hacketts zu sich selbst. »Halt!« Und Hacketts tat genau das – eins, zwei. »Reeechts!« sagte der Lautsprecher. »Rechts, rechts, rechts, rechts, rechts ...« wieder-
holten zweihundertundsechsundfünfzig Stimmen. »Rechts«, sagte Obergefreiter Hacketts zu sich selbst. »Um!« Und Hacketts machte rechts um – eins, zwei. Dann starrte er in die kleinen hellen Augen des Schahs von Bratpuhr, dem geistigen Führer von sechs Millionen Menschen, die irgendwo am Ende der Welt lebten. Der Schah verbeugte sich leicht. Hacketts erwiderte die Verbeugung nicht, weil er gar nicht durfte, und weil er nicht die Absicht hatte, etwas zu tun, was er nicht mußte, und überhaupt hatte er nur noch dreiundzwanzig Jahre von der fünfundzwanzigjährigen Dienstzeit durchzustehen, und dann war er aus dem Saftladen heraus, und der Teufel konnte die Armee holen. Der Schah starrte immer noch den Obergefreiten Hacketts an, der allerdings wirklich ein sehenswerter Kerl war. »Niki Takaru!« rief er dabei begeistert aus, wobei er deutlich nach Sumklish roch. »Keine Takaru!« verbesserte Dr. Halyard. »Soldaten.« »Keine Takaru?« fragte der Schah verblüfft. »Was sagt er?« wollte General Milford S. Bromley, Oberbefehlshaber der Vereinigten Streitkräfte, von Halyard wissen. »Er meint, das seien feine Sklaven«, antwortete Halyard. Er wandte sich wieder an den Schah und hob den Zeigefinger. »Keine Takaru, nein, nein!« Khashdrahr schien ebenfalls verwirrt zu sein. »Sim koula Takaru, akka sahn salet?« fragte ihn der Schah neugierig. Khashdrahr zuckte mit den Schultern und sah Ha-
lyard fragend an. »Der Schah sagt wenn sie keine Sklaven sind, wie bringen Sie sie dann dazu, das zu tun, was sie tun sollen?« »Patriotismus«, sagte General Bromley streng. »Alles Patriotismus.« »Vaterlandsliebe«, fügte Halyard hinzu. Khashdrahr übersetzte, und der Schah nickte, aber trotzdem schien er nicht überzeugt zu sein. »Sidi ba ...« sagte er zweifelnd. »Was?« fragte Corbett. »Und trotzdem ...« übersetzte Khashdrahr. »Liiinks!« sagte der Lautsprecher. »Links«, sagte Obergefreiter Hacketts zu sich selbst. Und Hacketts dachte daran, daß er dieses Wochenende in der Kaserne bleiben mußte, während alle anderen aus seiner Stube einen Urlaubsschein bekommen hatten, und daß daran nur der Stubendurchgang schuld war. Daß er den Fußboden gewischt, die Fenster geputzt und sein Bett erstklassig gemacht hatte, seine Zahnbürste links von seinem Rasierpinsel lag, die Verschlüsse sämtlicher Tuben zum Spiegel hinzeigten, die Schuhe in seinem Spind mit den Spitzen nach außen zeigten, daß sein Kochgeschirr, seine Feldflasche und sein Eßbesteck makellos sauber waren, verstand sich von selbst, genauso wie die ordnungsgemäße Reihenfolge der Bekleidungsstücke in seinem Spind. Aber dann ging der Kompaniechef durch und sagte: »He, Soldat, Sie haben einen Fleck auf der Hose, und so bekommen Sie natürlich keinen Wochenendurlaub ...« »Um!« »Eins, zwei«, sagte Hacketts zu sich selbst.
»Im Gleichschritt!« sagte der Lautsprecher. »Im Gleichschritt«, sagte Hacketts zu sich selbst. Und Hacketts fragte sich, wohin er wohl in den nächsten dreiundzwanzig Jahren noch marschieren würde, und daß es schön wäre, wenn er endlich einmal aus den Vereinigten Staaten herauskäme. Wenigstens bekam man als Besatzungssoldat ein richtiges Gewehr in die Hand gedrückt, und eine Knarre aus Eisen war doch besser als diese albernen Holzdinger, mit denen sie hier immer herumlaufen mußten. Und vielleicht konnte er sogar einen höheren Dienstgrad ergattern, aber er kannte seinen I.Q. genau und die Maschinen ebenfalls, es sei denn, daß eines der Elektronengehirne einen Wackelkontakt hatte und einen auf die Offiziersakademie schickte, was von Zeit zu Zeit vorkam. Aber man durfte es natürlich nicht so machen wie Mulcahy, der sich seine Karte besorgte und noch ein paar Löcher hineinstanzte, damit die Maschinen denken sollten, er sei hervorragend zum General geeignet, aber dann hatte er anscheinend die falschen Löcher erwischt, denn er wurde prompt eingesperrt und mußte sechs Wochen im Bau sitzen. Aber trotzdem war es in der Armee immer noch besser als im Korps ... »Marsch!« »Bumm!« erklang die Baßtrommel, und schon setzte Hacketts seinen linken Fuß zu Boden, und dann bewegte er sich inmitten der Menschenlawine weiter. »Takaru«, sagte der Schah über den Lärm hinweg. Khashdrahr nickte ihm lächelnd zu. »Takaru.« »Was soll ich denn bloß mit dem Kerl anfangen?« fragte Dr. Halyard General Bromley. »Der Alte ver-
gleicht alles, was er hier zu sehen bekommt, mit den Zuständen in seinem eigenen Land – und da muß es ganz schön zugehen!« »Amerika vagga bouna, ni houri manko Salim da vagga dinko«, sagte der Schah. »Was hat er jetzt schon wieder?« fragte Halyard ungeduldig. »Der Schah sagt, daß die Amerikaner fast alles auf der Welt geändert haben«, übersetzte Khashdrahr, »aber man kann eher den Himalaja versetzen, als die Armee ändern.« Der Schah winkte den vorbeidefilierenden Soldaten fröhlich nach. »Dibo, Takaru, dibo!«
8 Am nächsten Morgen sprang Pauls Plymouth nicht mehr an, weil nur noch sehr wenig Benzin im Tank war. Finnerty mußte weit mit ihm herumgefahren sein, bevor er im Club aufgetaucht war. Paul suchte im Handschuhfach nach dem Stück Gummischlauch, das er dort aufbewahrte. Dann bemerkte er, daß im Fach etwas fehlte: Die alte Pistole! Vielleicht hatte sie jemand aus dem Wagen gestohlen, während er drüben in der Siedlung Whisky einkaufte? Paul steckte den Schlauch in den Benzintank des Cadillacs, zapfte einige Liter für den Plymouth ab und fuhr los. In der Nähe des Golfplatzes setzte der Motor endgültig aus. Sechs Arbeiter des K.I.W. kamen heran und steckten ihre Köpfe unter die geöffnete Motorhaube. »Es muß an den Zündkerzen liegen«, meinte einer. »Blödsinn«, sagte der große, rotgesichtige Mann, der eine Art Vorarbeiter zu sein schien. »Ich werde euch gleich zeigen, wo der Wurm drin sitzt.« Er arbeitete an der Benzinpumpe herum und hatte innerhalb einer Minute den Deckel abgeschraubt. Dann zeigte er auf die darunterliegende Dichtung. »Da«, erklärte er in belehrendem Ton, »das ist die Ursache. Die Pumpe saugt Luft an. Das habe ich gleich gehört.« »Dann werde ich wohl einen Abschleppwagen kommen lassen müssen«, meinte Paul. »Vermutlich dauert es eine Woche, bis der neue Dichtungsring kommt, wenn ich ihn heute bestelle.«
»Keine fünf Minuten«, antwortete der Mann selbstsicher. Er nahm seinen Hut ab und riß das Schweißband heraus. Aus dem Leder schnitt er eine neue Dichtung zurecht, legte sie an den richtigen Platz und schraubte die Pumpe wieder zu. Die anderen sahen ihm gespannt zu, reichten ihm Werkzeug zu und versuchten sich möglichst alle an der Reparatur zu beteiligen. Einer kratzte die grünlich-weißen Kristalle von den Polen der Batterie, ein anderer ging um das Auto herum und schraubte sämtliche Ventilkappen fest zu. »So, jetzt starten Sie mal den Motor!« sagte der Mann, der die Pumpe repariert hatte. Paul ließ den Plymouth an. Der Motor lief tadellos. Paul sah auf und bemerkte eine tiefe Zufriedenheit auf den Gesichtern der Arbeiter – das Hochgefühl, etwas geschafft zu haben. Er zog seine Brieftasche und gab dem großen, rotgesichtigen Mann zwei Fünfer. »Einer reicht«, antwortete der Arbeiter. Er steckte ihn in die Brusttasche seines Arbeitsanzuges und lächelte dabei bitter. »Das erste Geld, das ich in den letzten fünf Jahren verdient habe. Eigentlich sollte ich es mir einrahmen, was?« Er sah sich Paul genau an. »Ich muß Sie schon einmal irgendwo gesehen haben. Was sind Sie von Beruf wenn man fragen darf?« »Ich habe einen kleinen Gemüseladen«, log Paul, ohne recht zu wissen, warum er das tat. »Können Sie nicht einen Mann gebrauchen, der ein Paar geschickte Hände hat?« »Im Augenblick nicht. Das Geschäft geht nicht besonders gut.« Der Mann kritzelte etwas auf ein Stück Papier.
»Hier – da haben Sie meinen Namen. Wenn Sie Maschinen haben, bin ich derjenige, der dafür sorgen kann, daß sie einwandfrei laufen. Vor dem Krieg habe ich acht Jahre in den Werken gearbeitet, und wenn ich eine Maschine nicht kenne, kann ich sie trotzdem schon nach kurzer Zeit reparieren.« Paul steckte den Zettel in die durchsichtige Hülle, in der er seinen Führerschein aufbewahrte. Er schüttelte dem großen Mann die Hand und nickte den anderen dankend zu. Zehn Minuten später hatte er das Haupttor der Ilium-Werke erreicht. Einer der Wachtposten winkte aus seinem Betonbunker heraus, ein Summen ertönte, und das hohe eiserne Tor bewegte sich lautlos in seinen Angeln. Er fuhr etwa zwanzig Meter weiter bis an das zweite Tor, hupte und sah zu der schmalen Schießscharte hinüber, hinter der wieder ein Posten saß. Das Tor versank in den Boden, und Paul konnte zum Hauptgebäude fahren. Katharine sah kaum auf, als er ins Büro trat. Sie schien sehr bedrückt zu sein, und ihr gegenüber saß Bud Calhoun auf der Couch. »Kann ich etwas für euch zwei tun?« fragte Paul. Katharine seufzte. »Bud will einen anderen Job.« »Bud will einen Job? Aber er hat doch schon den viertbesten von ganz Ilium ...« »Ich brauche einen anderen Job«, unterbrach ihn Bud. »Irgendeinen.« »Wollen Sie damit eine Gehaltserhöhung herausschinden? Ich will es gern versuchen, Bud, aber allzu große Hoffnungen dürfen Sie sich nicht machen, dazu verdienen Sie bereits viel zuviel.« »Ich bin meinen Job los«, sagte Bud.
Paul war völlig überrascht. »Aber warum denn? Was ist aus dem Apparat geworden, den Sie ...« »Deswegen«, antwortete Bud mit einer seltsamen Mischung aus Stolz und Bedauern. »Das Ding funktioniert ausgezeichnet. Es arbeitet wesentlich besser, als ich es jemals getan habe.« »Es überwacht den gesamten Betrieb?« »Ja. Ganz nett, was?« »Und deswegen haben Sie Ihren Job verloren.« »Zweiundsiebzig von uns haben ihren Job verloren«, gab Bud resigniert zurück. »Die Klassifikation für unseren Job ist gestrichen worden.« Paul konnte sich genau vorstellen, wie die Personalmaschinen Amerikas im Augenblick darauf eingestellt wurden, diese Art von Arbeit in Zukunft als für Menschen ungeeignet anzusehen. Die Kombination von Löchern und Zahlen, die Buds Karte enthalten hatte, existierte von diesem Zeitpunkt an nicht mehr. Wenn man seine Karte jetzt in eine Personalmaschine gesteckt hätte, wäre sie automatisch entwertet worden. »P-128er werden keine mehr gebraucht«, sagte Bud bedrückt, »und weder darüber noch darunter gibt es eine freie Stelle. Ich wäre sogar mit einer Gehaltskürzung einverstanden, von mir aus würde ich als P-129 oder sogar P-130 arbeiten, aber auch da läßt sich nichts machen.« »Haben Sie nicht noch andere Nummern, Bud?« fragte Paul. »Die einzigen P-Nummern, die wir nehmen dürfen, sind ...« Katharine hatte das Verzeichnis bereits offen vor sich liegen. »P-225 und P-226, Ingenieure zur Überwachung
des Schmierdienstes«, las sie daraus vor. »Aber Dr. Rosenau und Dr. Cahoon nehmen diese beiden Posten bereits bei uns ein ...« »Das stimmt leider«, sagte Paul bedrückt. Bud befand sich in einer äußerst schwierigen Lage, aber Paul sah keine Möglichkeit ihm zu helfen. Die Maschinen wußten, daß die Ilium-Werke ihre zwei Ingenieure hatten, die ihnen zustanden, und würden keinen dritten zulassen, sondern die Annahme einer weiteren Karte verweigern. Unermüdliche Wachsamkeit sei die Voraussetzung für Wirtschaftlichkeit, betonte Kroner immer wieder. Und die Maschinen handelten danach. Die Karten wurden unaufhörlich kontrolliert, um jede Möglichkeit auszuschalten, daß Posten falsch oder doppelt besetzt wurden. »Sie wissen, daß ich keinen Einfluß auf Einstellungen habe, Bud«, sagte Paul. »Sonst würde ich Ihnen gern helfen.« »Das wissen wir auch«, antwortete Katharine. »Aber er muß doch irgendwo anfangen, und wir dachten, daß Sie uns vielleicht einen Rat geben könnten.« »Das Ganze ist einfach unsinnig«, meinte Paul wütend. »Warum hat man Ihnen überhaupt diesen Posten als Manager des Treibstofflagers gegeben? Sie sollten als Konstrukteur arbeiten!« »Dazu habe ich keine Begabung«, gab Bud zurück. »Das zeigen die Ergebnisse der Tests ganz klar.« Das stand natürlich auch auf seiner Karte – neben den Ergebnissen sämtlicher anderer Tests, die er jemals hatte schreiben müssen. »Aber Sie konstruieren doch laufend! Das Fernmeßgerät für die Pipeline, Ihr
Wagen, und jetzt das Monstrum für das Treibstofflager ...« »Aber die Tests sprechen dagegen«, sagte Bud. »Warum gehen Sie nicht zu Kroner?« fragte Paul. »Ich habe es versucht, bin aber nicht vorgelassen worden.« »Vielleicht kann Ihnen Ihre Universität behilflich sein?« schlug Paul vor. »Es ist doch schon oft vorgekommen, daß die Benotungsmaschinen überholungsbedürftig waren und deshalb die Ergebnisse falsch bewerteten.« Er sprach ohne besondere Überzeugungskraft, weil er wußte, daß Bud nicht mehr zu helfen war. »Ich habe drei Briefe dorthin geschrieben und jedesmal die gleiche Antwort erhalten – die Resultate sind hundertprozentig korrekt ...« »Na, es wird schon nicht so schlimm werden«, tröstete ihn Paul. Er blieb in der Tür zu seinem Arbeitszimmer stehen. »Wie stehen Sie finanziell?« »Ich bleibe noch ein paar Wochen in meiner bisherigen Stellung, bis die neue Maschine fertig installiert ist. Und außerdem habe ich eine Prämie für meinen Vorschlag bekommen.« »Na, dann haben Sie wenigstens einen Vorteil davon. Ist das auf Ihrer Karte ebenfalls vermerkt?« Bud hielt sie gegen das Licht und kniff die Augen zusammen. »Das kleine Ding am unteren Rand muß es wohl sein.« »Das zeigt, daß du gegen Windpocken geimpft bist«, sagte Katharine. »Auf meiner Karte ist an der gleichen Stelle auch so ein kleines Rechteck ausgestanzt.« »Nein das Dreieck daneben!«
Das Telephon auf Katharines Schreibtisch klingelte. »Ja?« Sie wandte sich an Paul. »Ein gewisser Dr. Ed Finnerty ist am Tor und will zu Ihnen.« »Ich habe erst heute nachmittag Zeit.« »Dann will er sich ein bißchen in der Fabrik umsehen.« »Sagen Sie ihnen, daß sie ihn hereinlassen sollen.« »Die Wache ist unterbesetzt«, erklärte Katharine. »Wer soll ihn denn begleiten?« Die wenigen Besucher, die die Ilium-Werke besichtigen durften, wurden von bewaffneten Posten beaufsichtigt, denn man konnte nie wissen, was ein Fremder im Schilde führte – wie der Besucher des Werks in Syracuse, der eine Zeitbombe in seiner Aktentasche hatte, oder die alte Dame in Buffalo, die ihren Schirm in ein Getriebe rammte. Die strengen Antisabotage-Gesetze schienen diese Leute keineswegs abzuschrecken. »Ach was, sie sollen Finnerty hereinlassen, ohne ihm einen Posten als Begleitung mitzugeben«, entschied Paul. »Er ist ein Sonderfall – schließlich war er früher hier beschäftigt.« »In der Direktive steht, daß Ausnahmen unzulässig sind«, widersprach Katharine. »Sie sollen ihn ohne Begleitung einlassen.« »Jawohl, Sir.« Bud Calhoun hatte ihrem Gespräch zugehört, als ob er Zeuge eines spannenden Dramas sei. »Sechs Minuten«, sagte er dann. »Sechs Minuten wofür?« fragte Katharine. »Sechs Minuten für nichts und wieder nichts«, antwortete Bud. »So lange hat es gedauert, bis der Mann die Genehmigung zum Betreten des Werkes erhielt.«
»Und?« »Drei von euch waren sechs Minuten damit beschäftigt – ihr zwei und der Posten. Das sind zusammen achtzehn Minuten. Kaum zu glauben, aber es hat über zwei Dollar gekostet, um das Tor für Finnerty zu öffnen. Wie viele Besucher kommen eigentlich pro Jahr?« »Etwa zehn jeden Tag, schätze ich«, meinte Paul. »Zweitausendsiebenhundertundachtundfünfzig waren es letztes Jahr«, gab Katharine bereitwillig Auskunft. »Wenn es für jeden nur einen Dollar kostet, sind das immer noch über zweitausendsiebenhundert Dollar, die da verschwendet werden. Eine Maschine könnte das genauso gut, wenn nicht sogar noch besser entscheiden.« »Jeder Fall ist aber anders«, verteidigte sich Katharine. »Es gibt immer wieder Ausnahmen, die ich entscheiden muß und denen eine deiner komischen Maschinen bestimmt nicht gewachsen wäre.« Bud hörte ihr gar nicht zu. »Ich habe schon eine Idee dafür. Jeder Besucher ist doch entweder ein Unbekannter, ein Freund, ein Angestellter, ein Höhergestellter oder ein ganz großes Tier. Der Wachtposten braucht dann nur den entsprechenden Knopf an meiner Maschine zu drücken. Der Besucher besichtigt, inspiziert, macht einen Besuch bei jemand innerhalb der Werke oder ist geschäftlich hier. Wieder braucht der Posten nur auf einen anderen Knopf zu drücken. Die Maschine hat zwei Leuchtzeichen, ein grünes für ›ja‹ und ein rotes für ›nein‹. Je nach den im Augenblick geltenden Bestimmungen leuchtet eines von ihnen auf – und schon weiß er, was er zu tun hat.«
»Jetzt reicht es mir aber!« rief Katharine. »Du hast kein Recht, zu behaupten, daß eine Maschine das genauso gut wie ich machen kann.« »Liebling – das war doch nicht persönlich gemeint.« Sie begann zu weinen, und Paul ging schnell in sein Arbeitszimmer, wo das Telephon zu läuten begonnen hatte. »Paul? Hier ist Anita.« »Guten Margen, Liebling.« »Hat Kroner dich schon angerufen?« »Nein, aber ich werde dich gleich verständigen, wenn er es getan hat.« »Ist Finnerty bei dir?« »Irgendwo in der Fabrik.« »Du hättest das Bad sehen sollen, nachdem er sich endlich rasiert hatte! Unmöglich, sage ich dir!« »Na, ganz so schlimm wird es schon nicht ge...« »Er muß verschwinden!« »Ich werde es ihm sagen.« »Was wirst du zu Kroner sagen?« »Ich weiß noch nicht. Hängt ganz davon ab, was er sagt.« »Stell dir vor, ich sei Kroner und habe soeben beiläufig bemerkt: ›Nun, Paul, die Stellung in Pittsburgh ist immer noch nicht besetzt.‹ Was würdest du antworten?« Dieses Spiel konnte sie stundenlang spielen Die Dialoge, die sie dabei erfand, kamen der Wirklichkeit nicht einmal entfernt nahe, aber sie war davon überzeugt, Paul dadurch einen wirklichen Dienst zu erweisen. »Liebling, ich habe zu tun.« »Schön, du überlegst es dir in der Zwischenzeit, und ich rufe später noch einmal an.«
»Ich rufe dann später bei dir an.« »Gut. Wiedersehn. Ich liebe dich.« »Ich liebe dich, Anita. Auf Wiedersehen!« Das Telephon klingelte sofort wieder. Shepherd war am Apparat. »Was gibt es, Shep?« fragte Paul. »In Gebäude 57 treibt sich ein Mann ohne Genehmigung herum! Ruf die Wache an!« »Ist es Finnerty?« »Ja – aber das spielt keine Rolle. Du weißt, daß Kroner dergleichen Scherze streng verboten hat!« »Ich habe die Genehmigung erteilt. Ich weiß auch, daß er ohne Begleitung herumgeht.« »Und was soll ich tun? Ich bin für das Gebäude verantwortlich, und wenn Kroner erfährt, daß ...« »Ich werde es ihm schon erklären. Außerdem trage ich schließlich die Verantwortung dafür.« »Mit anderen Worten gibst du mir also den Befehl, diesen Finnerty ohne Aufsicht durch die Werksanlagen laufen zu lassen?« »Ja, ganz richtig. Ich befehle es dir ausdrücklich!« »Okay, Berringer und ich wollten es nur genau wissen, deshalb haben wir dich sicherheitshalber angerufen.« »Berringer?« sagte Paul. »Ja, Sir?« antwortete Berringer. »Sie halten ebenfalls den Mund, verstanden?« »Jawohl, Sir.« »Ist jetzt alles klar, Shepherd?« »Du bist hier der Boß«, gab Shepherd zurück. »Er ist der Boß«, bestätigte Berringer. »Das bin ich auch!« rief Paul in den Apparat und knallte den Hörer auf die Gabel.
9 Finnerty tauchte erst am späten Nachmittag in Pauls Büro auf, wobei er Katharine einen Schreck einjagte, weil er zwei verschlossene Türen mit Schlüsseln geöffnet hatte, die er abzugeben »vergessen« hatte, bevor er nach Washington gegangen war. Pauls Tür stand offen, deshalb hörte er ihre Unterhaltung. »Lassen Sie Ihre Kanone ruhig liegen, Lady. Ich heiße Finnerty.« Katharine hatte tatsächlich einen Revolver in ihrem Schreibtisch – Kroner hatte angeordnet, daß diese Einrichtung aus Kriegszeiten beizubehalten sei. »Sie dürften diese Schlüssel gar nicht in Ihrem Besitz haben«, gab Katharine zurück. »Haben Sie geheult?« fragte Finnerty freundlich. »Ich werde fragen, ob Dr. Proteus für Sie zu sprechen ist.« »Warum haben Sie geweint? Keines der roten Lämpchen leuchtet, keiner der Summer ist in Betrieb – das heißt doch, daß die Welt in bester Ordnung ist!« »Schicken Sie ihn herein, Katharine«, rief Paul. Finnerty kam herein und setzte sich auf die Kante von Pauls Schreibtisch. »Was ist denn mit deiner Miss Rühr-mich-nicht-an los?« »Gelöste Verlobung. Was hast du vor?« »Ich dachte, wir könnten zusammen einen heben – wenn du Lust hast, mir zuzuhören.« »Einverstanden. Ich muß nur noch Anita anrufen und ihr sagen, daß wir erst später zum Abendessen kommen.«
Er rief sie an. »Hast du dir inzwischen überlegt, was du zu Kroner sagen würdest, wenn er dir erzählen würde, daß die Stellung in Pittsburgh immer noch nicht besetzt ist?« »Nein – ich hatte heute sehr viel zu arbeiten.« »Nun, ich habe darüber nachgedacht, und ...« »Anita, ich muß jetzt gehen.« »Schön, ich liebe dich.« »Ich liebe dich, Anita. Auf Wiedersehen.« Paul sah zu Finnerty auf. »Okay, gehen wir.« Finnerty war in Pauls Lincoln gekommen, aber sie ließen den Wagen auf dem Parkplatz und nahmen Pauls alten Plymouth. »Über die Brücke«, sagte Finnerty. »Ich wollte eigentlich in den Club.« »Heute ist Donnerstag. Veranstalten die Stadtmanager nicht immer noch ihr wöchentliches Essen am Donnerstag im Club?« Die Stadtmanager lebten ebenfalls im Nordwesten Iliums, zwischen den Managern und Ingenieuren der Werke, aber beide Gruppen hatten nur sehr oberflächlichen Kontakt miteinander und mißtrauten einander. Dieses Schisma war während des Krieges entstanden, als sich die Frage erhoben hatte wer die Kriegsanstrengungen Amerikas koordinieren sollte: die Bürokraten, die Industriellen, oder die Militärs? Industrie und Bürokratie hatten sich zusammengeschlossen, um die Militärs auszuschalten und hatten seitdem zusammengearbeitet, aber im Laufe der Zeit glichen sie siamesischen Zwillingen, die miteinander verfeindet waren. »In Ilium hat sich nicht viel geändert«, sagte Paul. »Stimmt, die Stadtmanager werden dort sein. Aber
wenn wir so früh kommen, können wir noch eine der Nischen in der Bar für uns haben.« »Lieber ein Bett mit einem Leprakranken teilen!« »Gut, dann fahren wir eben über die Brücke, aber vorher möchte ich es mir ein bißchen bequemer machen.« Paul hielt kurz vor der Brücke und zog die alte Lederjacke an, die er im Kofferraum hatte. »Was würde wohl ein Psychiater dazu sagen?« »Er würde vermutlich behaupten, das sei ein Affront gegen meinen Alten Herrn, der sich nie anders als im Homburg und Zweireiher in der Öffentlichkeit gezeigt hätte.« »Glaubst du, daß er ein fieser Kerl war?« »Wie soll ich das wissen? Die Herausgeber des Who is Who wissen genausoviel über ihn wie ich. Der Kerl war ja nie zu Hause.« Sie fuhren durch die Siedlung, als Paul plötzlich in eine Seitenstraße einbog. »Ich muß noch auf die Polizei«, erklärte er. »Warum?« »Jemand hat mir meine Pistole aus dem Handschuhfach geklaut.« »Fahr weiter.« »Es dauert wirklich nicht lange, hoffe ich.« »Ich habe sie genommen.« »Du? Warum denn?« »Ich dachte, daß ich mich vielleicht erschießen sollte.« Finnerty sprach völlig ruhig und gelassen. »Ich hatte den Lauf sogar schon im Mund.« »Wo ist sie jetzt?« »Irgendwo im Iroquis.« Er verzog das Gesicht. »Schmeckte den ganzen Abend nach Öl und Metall. Bieg nach links ab.«
Paul hatte sich schon an Finnertys Gerede von Selbstmord und ähnlichen Dingen gewöhnt, das nie ernst gemeint zu sein schien, denn sonst hätte Finnerty schon längst tot sein müssen. »Glaubst du daß ich verrückt bin?« fragte Finnerty neugierig. Offensichtlich war er mit Pauls Reaktion nicht ganz zufrieden. »Du bist noch ansprechbar. Das beweist, daß du keineswegs übergeschnappt bist.« »Gerade noch!« »Vielleicht könnte dir ein Psychiater helfen? In Albany soll ein sehr guter sein.« Finnerty schüttelte den Kopf. »Er würde mich wieder in das Zentrum zurückziehen, und ich möchte so nahe wie möglich am Rand bleiben, ohne dabei darüberzukippen. Draußen am Rand sieht man eine Menge Dinge, die man vom Zentrum aus nicht erkennen kann.« Er nickte nachdenklich. »Große, unerhörte und unvorstellbare Dinge ... Stell das Auto dort drüben ab!« Sie waren durch die ganze Siedlung gefahren und befanden sich jetzt wieder einige hundert Meter von der Brücke entfernt vor der kleinen Bar, in der Paul den Whisky für Ed gekauft hatte. Paul stellte erleichtert fest, daß die Straße und die Bar selbst diesmal beinahe menschenleer waren, so daß es gut möglich war, daß ihn heute niemand erkennen würde. »He, Ihr Scheinwerfer ist kaputt«, sagte ein Mann, der in dem Eingang der Bar stand. Paul ging schnell an ihm vorbei, ohne ihn genau anzusehen. »Danke.« Erst drinnen fiel ihm ein, daß das der gleiche Mann gewesen war, der ihn wegen
seines Sohnes um Rat gebeten hatte. Vielleicht hatte ihn der Mann nicht erkannt? Paul setzte sich neben Finnerty in eine Nische in der dunkelsten Ecke des ohnehin nur düster beleuchteten Raumes. Der andere drehte sich nach ihm um und lächelte, wobei seine Augen hinter den dicken Brillengläsern zu verschwimmen schienen. »Bitte schön, Herr Doktor«, rief er Paul nach. »Unsereiner hat ja nur selten Gelegenheit, einem Mann in Ihrer Stellung einen Gefallen zu tun!« »In den Nischen wird erst ab acht Uhr serviert«, sagte der Barkeeper laut. »Ich hole uns etwas«, bot Finnerty an. »Was darf es sein?« »Bourbon mit Soda. Aber nicht zu stark. Anita erwartet uns in einer Stunde zum Essen.« Finnerty kam mit zwei Highballs zurück. »Ist da überhaupt Wasser drin?« fragte Paul. »Das Zeug ist wässerig genug«, antwortete Finnerty. Dann begann er plötzlich von Washington zu sprechen. »Du kannst dir gar nicht vorstellen wie schlimm es dort ist, Paul. Ungefähr wie Ilium hoch zehn. Dumme, arrogante, selbstzufriedene, sture, humorlose Männer. Und ihre Frauen Paul – langweilige Puten, die nur von dem Abglanz der Macht und der Größe ihrer Ehemänner leben.« »Hör mal zu, Ed«, sagte Paul lächelnd, »das sind doch alles gutmütige Durchschnittsmenschen.« »Wer ist das nicht? Ich ärgere mich vor allem über ihr Überlegenheitsgefühl, das sie haben, weil sie in einer Hierarchie an der Spitze stehen, in der Menschen mit Maschinen im Wettstreit miteinander sind.«
»Jetzt kommen wieder welche!« rief der Mann mit der Brille von der Tür her. In diesem Augenblick begann draußen eine Blaskapelle zu spielen, während Schritte auf dem Pflaster dröhnten. Paul und Finnerty eilten zur Tür. »Wer ist denn das?« fragte Finnerty den Mann. »Das darf niemand wissen. Es ist ein Geheimnis!« Der Mann lächelte verlegen. An der Spitze der Kolonne marschierte ein alter Mann in arabischer Kleidung, der einen reich mit Schnitzereien verzierten Elefantenstoßzahn trug. Hinter ihm ging ein anderer, der ein riesiges Banner trug, das mit seltsamen Schriftzügen geschmückt war. Auch er war als Araber verkleidet, genauso wie die Kapelle hinter ihm, insgesamt etwa fünfzig Männer. An sämtlichen Musikinstrumenten hingen Wimpel, auf denen eine Eule abgebildet war, die mit halbgeschlossenen Augen auf einem Zweig hockte. »Hurra«, sagte der Mann mit der Brille. »Für wen denn?« fragte Finnerty. »Luke Lubbock, den Mann mit dem Stoßzahn.« »Was stellt er denn eigentlich dar?« fragte Finnerty. »Darf er nicht sagen, sonst verliert er den Posten.« Die Marschkolonne verschwand um die nächste Ecke, und die Kapelle schwieg. Aus der Richtung des Parks ertönte ein schriller Pfiff, dann erschien eine Dudelsackkapelle auf der Straße. »Im Park findet heute ein Paradewettbewerb statt«, erklärte der Mann mit der Brille. »Es dauert bestimmt noch ein paar Stunden. Wie wäre es inzwischen mit einem Drink?« »Wir sollen wohl zahlen?« fragte Finnerty. »Wer denn sonst?«
In diesem Augenblick kam ein Auto die Straße herunter, und Paul erkannte es zu spät, um noch rechtzeitig zu verschwinden. Shepherd winkte ihm zu und fuhr weiter. Aus dem Rückfenster des Wagens starrten die kleinen Augen Fred Berringers. Paul beschloß, dem Zwischenfall keine Bedeutung beizumessen. Er setzte sich mit dem Mann in die Nische, während Finnerty neue Drinks holte. »Wie geht es Ihrem Sohn?« fragte Paul. »Oh – mein Sohn. Dem geht es ausgezeichnet, der hat keine Sorgen mehr.« »Wirklich? Das freut mich aber!« »Er hat sich heute morgen in der Küche erhängt.« »Mein Gott!« »Ja, ich habe ihm erzählt, was Sie gestern gesagt haben, und er war so enttäuscht, daß er aufgab. He! Sie verschütten Ihren guten Drink!« »Was ist denn hier los?« fragte Finnerty. »Ich habe dem Herrn Doktor gerade erzählt, daß mein Sohn keinen Grund mehr sah, am Leben zu bleiben, und daß er es deshalb aufgegeben hat – mit einer Bügeleisenschnur.« Paul hielt sich die Hand vor die Augen. »Mein Gott!« Der Mann sah mit einer Mischung aus Verwirrung und Besorgnis zu Finnerty auf. »Warum habe ich ihm das nur erzählt? Hier, Doktor, trinken Sie einen Schluck, reißen Sie sich zusammen. Ich habe ja gar keinen Sohn!« Er schüttelte Paul am Arm. »Hören Sie? Es war alles nur Blödsinn!« »Ich sollte Ihnen dafür den Schädel einschlagen!« rief Paul wütend. »Tut mir leid«, meinte der Mann, »ich wollte nur
sehen, wie eines dieser Supergehirne funktioniert. Was für einen I.Q. haben Sie, Doktor?« »Warum schlagen Sie das nicht selber nach?« Es war tatsächlich möglich, den Intelligenzquotienten jedes Bewohners von Ilium auf dem Polizeirevier nachzuschlagen. »Los«, fuhr Paul sarkastisch fort, »experimentieren Sie ruhig weiter, wenn es Ihnen Spaß macht. Ich habe nichts dagegen.« »Da haben Sie sich den Falschen ausgesucht, wenn Sie herausbekommen wollen, wie die Leute auf der anderen Seite des Iroquis sind«, warf Finnerty ein. »Sie sind auch Ingenieur.« »Bis ich gekündigt habe.« Der Mann sah ihn überrascht an. »Das ist ja interessant! Es gibt also auch dort Unzufriedene, was?« »Wir kennen zwei«, antwortete Finnerty. »Eigentlich schade, daß ich Sie getroffen habe. Es ist viel bequemer, wenn man sich vorstellen kann, daß die andere Seite aus einer netten homogenen Masse besteht, die völlig im Unrecht ist. Aber jetzt muß ich plötzlich auch noch in Betracht ziehen, daß es Ausnahmen geben könnte.« »Als was bezeichnen Sie sich eigentlich?« wollte Paul wissen. »Als Sokrates den Zweiten?« »Ich heiße Lasher, Pfarrer James J. Lasher, R-127 und SW-55. Seelsorger im Korps für Instandsetzung und Wiederverwendung.« »Die erste Nummer bezeichnet einen evangelischen Pfarrer. Wofür ist die zweite, die mit den Buchstaben SW davor?« fragte Finnerty neugierig. »Sozialwissenschaftler«, antwortete Lasher. »Die Zahl 55 bekommen Anthropologen, die promoviert haben.«
»Und was macht man heutzutage als Anthropologe?« fragte Paul. »Das gleiche, was ein überzähliger Pfarrer tut – man fällt dem Staat zur Last, langweilt andere, wird zum Säufer oder endet als Bürokrat.« Er sah von Paul zu Finnerty hinüber. »Sie kenne ich bereits, Dr. Proteus. Und Sie?« »Finnerty Edward Francis Finnerty, Doktor der Naturwissenschaften, ehemals EC-002.« »Donnerwetter – eine Nummer mit zwei Nullen!« sagte Lasher. »Ich habe noch nie mit einem Mann gesprochen, der zwei hatte.« »Was haben Sie gegen die Leute auf der anderen Seite des Flusses?« fragte Paul. »Sie sind wohl der Meinung, daß sie sich mit dem Teufel verbündet haben, was?« »Das ist ein ziemlich starker Ausdruck dafür. Als ich vor dem Krieg noch eine Gemeinde hatte, habe ich ihnen immer gesagt, daß ihr geistiges Leben wichtiger sei als die Rolle, die sie im Wirtschaftsleben spielten. Jetzt haben sie diesen Platz in der Wirtschaft verloren und merken, daß ihnen nichts geblieben ist.« Lasher seufzte. »Was kann man denn anderes von ihnen erwarten? Erst hat man ihnen immer wieder eingetrichtert, wie wichtig es sei, diesen Dingen den Vorrang zu geben, und dann zieht man ihnen plötzlich den Boden unter den Füßen weg! Diese Leute können auf einmal nicht mehr am Fortschritt teilnehmen, sie fühlen sich ausgeschlossen, weil sie nicht mehr gebraucht werden. Ihre ganze Welt bricht für sie zusammen.« Lasher trank nachdenklich. »Diese entwurzelten Menschen brauchen etwas, und die Kirche kann es
ihnen nicht geben – oder sie können nicht nehmen, was ihnen die Kirche zu bieten hat. Die Leute behaupten, es sei nicht genug, und ich habe das Gefühl, als hätten sie damit gar nicht so unrecht.« »Wenn sie früher so zufrieden waren, warum haben sie dann ständig über ihre Arbeit gemeckert?« fragte Paul. »Oh, diese Unzufriedenheit hat nichts damit zu tun«, erklärte Lasher. »Die Leute beklagen sich gar nicht darüber, daß man ihnen ihren Arbeitsplatz genommen hat, sondern darüber, daß sie nicht mehr als wichtig angesehen werden, weil sie durch Maschinen ersetzt worden sind. Die ganze Sache hat allerdings schon in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg angefangen – schon damals hatten mindestens fünfzig Prozent aller Arbeiter keine Ahnung, wie die Maschinen genau funktionierten, die sie zu bedienen hatten, oder was sie da eigentlich herstellten. Sie nahmen wohl am Wirtschaftsleben teil, aber keinesfalls in einer Art, die sehr befriedigend war.« »Hm«, meinte Paul. »Eine merkwürdige Sache«, fuhr Lasher fort, »diese Anstrengungen der Manager und Ingenieure jedermann einzuhämmern, daß Konstruieren, Produzieren und Verkaufen die wichtigsten Dinge auf der Welt seien. Heutzutage glauben die Ingenieure und Manager tatsächlich fest an die Wahrheit dieser Behauptungen, die damals von Werbeagenturen verbreitet wurden.« »Immerhin haben sie den letzten Krieg für uns gewonnen«, wandte Paul ein. »Natürlich haben sie das!« sagte Lasher. »Sie haben sich wirklich alle Mühe gegeben, aber die anderen
etwa nicht?« Er zuckte mit den Schultern. »Jeder hat sich abgerackert.« »Sie ziehen immer nur über die Manager und Ingenieure her«, sagte Paul. »Wie steht es denn mit den Wissenschaftlern? Ich finde, daß sie ebenfalls ...« »Diese Leute spielen hier keine Rolle«, unterbrach ihn Lasher ungeduldig, »denn sie tragen nur dazu bei, das menschliche Wissen zu vergrößern. Nicht das Wissen schafft diese Probleme, sondern die Art, wie es angewandt wird!« Finnerty schüttelte bewundernd den Kopf. »Und wie lautet die Antwort auf das alles?« »Das ist eine Frage, die mich geradezu erschreckt«, antwortete Lasher, »und zudem der Grund, warum ich trinke. Ich trinke, weil ich Angst habe. Meine Herren, die Welt wartet auf einen falschen Messias, und wenn er kommt, wird es bestimmt eine blutige Angelegenheit.« »Messias?« »Früher oder später wird ein Mann auftauchen, der den Menschen verspricht, ihnen etwas von ihrer Würde, von dem Gefühl, gebraucht zu werden zurückzugeben. Die Polizei ist ständig auf der Suche nach solchen Leuten und sperrt sie ein, wenn sie sie erwischen kann – wegen Verstoßes gegen die Antisabotage-Gesetze. Aber eines Tages wird es doch einer fertigbringen, sich lange genug versteckt zu halten, bis er genügend Anhänger gesammelt hat.« »Und dann?« fragte Paul. Lasher zuckte mit den Schultern. »Prophetie ist ein zu undankbares Metier, als daß ich es damit versuchen wollte. Außerdem zeigt uns die Geschichte immer wieder, daß selbst ausweglos erscheinende Si-
tuationen gelegentlich völlig vernünftig und logisch gelöst werden konnten.« »Versuchen Sie es wenigstens«, drängte Finnerty. »Nun – meiner Meinung nach ist es ein schwerer Fehler, die I.Q.-Verzeichnisse öffentlich aufzulegen. Ich glaube, daß die Revolutionäre als erstes jeden mit einem höheren I.Q. als, sagen wir einmal, einhundertzehn umlegen würden. Wenn ich auf Ihrem Ufer des Iroquis wäre, hätte ich schon längst die Verzeichnisse verbrennen und die Brücke verminen lassen!« »Sie glauben also, daß die Hunderter Jagd auf die Hundertzehner machen würden; die Neunziger auf die Hunderter – und so immer weiter?« fragte Finnerty. »Vielleicht. Jedenfalls bietet unser gegenwärtiges System dazu einen geradezu erstklassigen Anreiz, nachdem die Grenzen schon so klar gezogen sind. Früher war ein Mann besser, wenn er reich war – heutzutage entscheidet die Intelligenz. Beides ist für die vielen Habenichtse schwer zu ertragen. Das jetzt gebräuchliche System ist etwas besser, aber ...« – er zeigte mit Daumen und Zeigefinger eine Entfernung von etwa einem halben Zentimeter an – »... höchstens so viel!« »Eigentlich ist es doch nur fair«, meinte Finnerty nachdenklich. »Wie soll denn einer seinen I.Q. fälschen?« »Das stimmt, aber davon hängt nicht alles ab«, gab Lasher zurück, »denn schließlich muß man nicht nur intelligent sein, sondern auf offiziell anerkannten Gebieten etwas zu leisten vermögen – man muß Talent zum Manager oder Ingenieur besitzen, wenn man es zu etwas bringen will.«
»Oder jemand heiraten, der intelligent ist«, sagte Paul. »Richtig!« stimmte Lasher zu und stand auf. Er schlug auf den Tisch. »Aber eines Tages, meine Herren, wird jemand kommen, der diesen Leuten etwas gibt, worin sie sich verbeißen können – wahrscheinlich Sie, vielleicht auch ich ...« »Wir werden ihnen etwas geben, worin sie sich verbeißen können?« fragte Paul ungläubig. »Sie werden es sein, in den sich die Leute verbeißen werden.« Lasher legte Paul die Hand auf die Schulter. »Noch etwas: ich möchte, daß Sie sich ganz klar darüber sind, daß sich die Väter wirklich Sorgen über ihre Söhne machen; und einige Söhne hängen sich wirklich auf!« »Wollen Sie diesen neuen Messias darstellen?« fragte Finnerty gespannt. »Manchmal hätte ich beinahe Lust dazu – aber können Sie sich vielleicht einen Messias mit Glatze und Brille vorstellen, der zudem klein und dicklich ist? Außerdem habe ich keine Begabung für Massensuggestion, größere Ansammlungen von Menschen erschrecken mich geradezu.« Er wollte gehen, aber Finnerty hielt ihn zurück. »Trinken Sie noch einen mit«, sagte er. »Nein, danke. Gute Nacht.« »Auch recht. Ich möchte vielleicht wieder einmal mit Ihnen sprechen. Wo sind Sie zu erreichen?« »Meistens hier.« Er kritzelte eine Adresse auf ein Stück Papier. »Oder versuchen Sie es da.« Er sah Finnerty prüfend an. »Wissen Sie, wenn Sie sich das Gesicht waschen würden, könnten Sie einen recht guten Messias abgeben.«
Lasher nahm sich ein hartgekochtes Ei aus einer Schüssel, die auf der Bar stand, rollte es über die Tastatur des elektrischen Klaviers um die Schale zu zerbrechen und ging in den Abend hinaus. »Wunderbar, nicht wahr?« sagte Finnerty hingerissen. Er wandte seinen Blick wieder zu Paul zurück, und Paul sah, daß Finnerty einen neuen Freund gefunden hatte. Die Bar füllte sich immer mehr, bis schließlich alle Nischen besetzt waren. Der Barkeeper schaltete den Fernsehapparat ein, ohne dabei den Lautstärkeregler zu betätigen so daß das Bild auf dem Schirm stumm blieb. Ein junger Mann der neben Paul stand, schien die Sendung mit beinahe berufsmäßigem Interesse zu verfolgen, bis er sich schließlich beiläufig an Paul wandte. »Was glauben Sie, was der Saxophonist gerade spielt?« »Wie bitte?« »Der Bursche auf dem Bildschirm – was für einen Song spielt er gerade?« »Ich kann keinen Ton hören.« »Ich weiß«, sagte der andere ungeduldig, »das ist ja gerade der Witz bei der Sache. Sie sollen es erraten – einfach vom Sehen.« Paul starrte einen Augenblick angestrengt auf das Bild, versuchte den Takt mitzuklopfen und einen Text zu finden, der dazu gepaßt hätte. »›Rosebud‹ spielt er gerade«, sagte Paul zuversichtlich. Der junge Mann lächelte. »›Rosebud‹, was? Würden Sie darauf setzen wollen? Ich behaupte, daß er ›Paradise Moon‹ spielt.« »Wieviel?«
Der junge Mann sah auf Pauls abgetragene Jacke, dann mit leichter Überraschung auf seine teuren Schuhe und Hosen. »Wie wäre es mit zehn?« »Abgemacht!« »Was sagt er, Alfy?« rief der Barkeeper. »Er sagt ›Rosebud‹, ich behaupte, daß es ›Paradise Moon‹ ist. Schalt den Ton ein!« Die letzten Takte von ›Paradise Moon‹ tönten aus dem Lautsprecher, der Mann hinter der Bar zwinkerte Alfy bewundernd zu und drehte den Knopf wieder ganz nach links. Paul gab Alfy eine Zehndollarnote. »Meinen Glückwunsch!« Alfy nahm in der Nische Platz, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Er sah auf den Bildschirm, blies den Rauch seiner Zigarette durch die Nase und schloß nachdenklich die Augen. »Was spielen sie wohl jetzt gerade?« Paul beschloß, diesmal besonders gut aufzupassen und damit sein Geld zurückzugewinnen. Diesmal war das ganze Orchester zu sehen, deshalb sah er von einem Musiker zum anderen, um sich zu vergewissern. »Einen ganz alten Schlager«, sagte er schließlich. »›Stardust‹.« »Wollen Sie zehn für ›Stardust‹ riskieren?« »Gut, zehn.« »Was ist es, Alfy?« rief der Barkeeper. Alfy wies mit dem Daumen auf Paul. »Der Bursche ist ziemlich gut. Er sagt ›Stardust‹, und ich weiß auch, warum. Es ist wirklich ein Evergreen, aber ein anderer, der ›Mood Indigo‹ heißt.« Er sah Paul mitleidig an. »Sie haben Pech, Mister, aber das war wirklich nicht leicht zu erraten.«
Der Barkeeper drehte den Ton lauter, und ›Mood Indigo‹ erfüllte den Raum. »Wunderbar!« sagte Paul zu Finnerty, aber sein Freund schien völlig in Gedanken verloren zu sein, denn seine Lippen bewegten sich leicht, als führe er Selbstgespräche. »Begabung«, erklärte Alfy. »Ich könnte Ihnen nicht einmal sagen, wie ich das genau mache – ich fühle es sozusagen.« Der Barkeeper, die Bedienung und einige Gäste hörten respektvoll zu, während er weitersprach. »Es gibt natürlich auch ein paar Tricks dabei«, fuhr Alfy fort. »Ich sehe immer zuerst auf die Baßtrommel, um den Rhythmus des Ganzen herauszubekommen – solche Sachen kann man natürlich lernen. Außerdem muß man selbstverständlich die Instrumente genau kennen. Aber das genügt alles noch nicht ...« »Er kann es auch mit klassischer Musik«, erklärte der Mann hinter der Bar eifrig. »Sie sollten ihn einmal an Sonntagen erleben, wenn die Boston Pops spielen!« Alfy drückte ungeduldig seine Zigarette aus. »Ja, natürlich – das Zeug auch«, sagte er und rieb sich die Augen, als erinnere er sich an die endlosen Stunden vor dem Fernsehgerät. »Das Zeug muß man immer und immer wieder hören, vor allem aber sehen!« »Schwierig, was?« fragte Paul. Alfy zog die Augenbrauen hoch. »Ja, das ist es allerdings. Es ist schwer, wenn man zu den Besten gehören will.« »Ein paar andere Burschen haben es auch schon versucht, aber sie können Alfy nicht das Wasser reichen«, sagte der Bartender verächtlich.
»Auf ihren Gebieten sind sie vielleicht ganz gut«, gab Alfy widerstrebend zu. »Die meisten spezialisieren sich auf Neuheiten und versuchen damit Geld zu machen. Aber keiner von denen kann davon leben, das sage ich Ihnen.« »Bestreiten Sie etwa damit Ihren Lebensunterhalt?« fragte Paul verblüfft. »Warum nicht?« gab Alfy zurück. »Ein Dollar hier, zehn Cents dort.« »Zwanzig Dollar hier«, warf Paul ein. Sie lachten zusammen, als habe er einen guten Witz gemacht. Der Barkeeper mischte sich wieder ins Gespräch. »Alfy hat als Spieler angefangen, nicht wahr?« »Stimmt. Aber da ist nichts mehr zu machen, es sind einfach zu viele, die es damit versuchen. Die Armee und das Korps waren damals hinter mir her, deshalb mußte ich mich nach etwas umsehen. K.I.W.«, sagte er verächtlich. »Armee!« Er spuckte auf den Boden. Einige Soldaten und eine größere Anzahl von Arbeitern des K.I.W. hörten, wie er ihre Organisationen verächtlich machte, aber sie nickten nur zustimmend, anstatt ihm zu widersprechen. »Was darf es sein, Boys?« fragte die Bedienung. »Wie?« fragte Paul. »Oh – Bourbon mit Soda, bitte.« »Irischen ohne Soda«, bestellte Finnerty. Er wandte sich an Paul. »Hungrig?« »Ja – bringen Sie uns ein paar hartgekochte Eier«, sagte Paul. Dann erinnerte er sich plötzlich. »Menschenskinder! Anita! Sie wartet doch auf uns!« Paul richtete sich unsicher auf und ging auf die Telephonzelle zu. Er erreichte sie schwankend und hatte einige Mühe, die Münzen in den Schlitz zu werfen.
»Hör mal, Anita – ich komme erst später. Finnerty und ich haben uns so gut unterhalten, daß ...« »Es ist schon in Ordnung, Liebling. Shepherd hat mir gesagt, daß ich nicht zu warten brauche. Er hat dich in der Siedlung gesehen.« »Wann hast du ihn getroffen?« »Er ist gerade hier. Er kam, um sich für gestern zu entschuldigen. Alle Differenzen sind beseitigt, und wir verstehen uns ausgezeichnet.« »Oh? Hast du seine Entschuldigung angenommen?« »Wir haben uns geeinigt. Er macht sich Sorgen darüber, daß du eine schlechte Beurteilung über ihn schreiben wirst, deshalb habe ich mir Mühe gegeben, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.« »Hör mal, ich habe nie die Absicht gehabt ...« »Ich weiß, aber er glaubte es eben nicht. Dafür habe ich ihm das Versprechen abgenommen, daß er keine Gerüchte mehr über dich in die Welt setzen wird. Bist du nicht stolz auf mich?« »Ja sicher.« »Jetzt mußt du ihn nur weiter im Ungewissen über deine Absichten lassen, damit er sich weiter Sorgen macht.« »Mmmhm ...« »Amüsier dich gut, Liebling. Es tut dir ganz gut, wenn du einmal ausspannst.« »Jawohl, Gnädigste.« »Mach ruhig weiter und trink dir einen an. Es wird dir guttun. Aber vergiß nicht, etwas zu essen! Ich liebe dich.« »Ich liebe dich, Anita.« Als Paul in die Nische zurückkam, saßen zwei Mädchen neben Finnerty.
»Paul – ich möchte dich mit meiner Cousine Agnes aus Detroit bekannt machen«, empfing ihn Finnerty. Er legte seine Hand auf das Knie der rundlichen Rothaarigen neben sich. »Und das«, fuhr er fort, wobei er auf das andere Mädchen, eine Brünette, deutete, »ist deine Cousine Agnes aus Milwaukee.« »Sehr erfreut, Agnes und Agnes.« »Spinnen Sie auch so?« fragte die Brünette mißtrauisch. »Wenn ja, dann gehe ich nach Hause.« »Paul ist ein guter Junge mit einem goldigen Herzen, einem goldigen Humor«, erklärte Finnerty. »Erzählen Sie mir etwas über sich«, bat Paul. »Ich heiße nicht Agnes, sondern Barbara«, sagte die Brünette. »Und sie heißt Martha.« »Was darf es sein?« fragte die Bedienung. »Ein doppelter Scotch mit Soda«, sagte Martha. »Dasselbe für mich«, bestellte Barbara. »Macht vier Dollar für die beiden Drinks«, sagte die Bedienung zu Paul. »Hol mich der Teufel!« rief Barbara erstaunt aus. Sie starrte auf den Ausweis, den Paul in seiner Brieftasche hatte. »Der Kerl ist ein Ingenieur!« »Sind Sie auch von der anderen Seite des Iroquis?« fragte Martha Finnerty ungläubig. »Deserteure.« Beide Mädchen starrten Paul und Finnerty erstaunt an. »Da soll mich doch der Teufel ...« meinte Martha schließlich. »Worüber wollen Sie sich denn mit uns unterhalten? Ich habe in der Oberschule nie in Mathematik aufgepaßt.« »Wir sind ganz einfache Leute«, erklärte Paul. »Was darf es sein?« fragte die Bedienung wieder. »Ein doppelter Scotch mit Soda«, sagte Martha.
»Dasselbe für mich«, bestellte Barbara. »Komm her, verdammt noch mal«, sagte Finnerty und zog Martha wieder an seine Seite. Barbara sah Paul abweisend an. »Was wollen Sie denn hier – sich über uns Trottel lustig machen?« »Mir gefällt es hier«, antwortete Paul. »Sie machen sich über mich lustig.« »Nein, wirklich nicht. Habe ich etwas in der Richtung gesagt?« »Nein, aber Sie denken es.« »Macht vier Dollar für die beiden Drinks«, sagte die Bedienung zu Paul. Paul zahlte wieder. Er wußte nicht, was er als nächstes zu Barbara sagen sollte. Er wollte sie unbedingt davon überzeugen, daß er ganz und gar nicht der eingebildete Fatzke war, für den sie ihn zu halten schien. »Schließlich wird man nicht kastriert, wenn man sein Ingenieursdiplom bekommt«, sagte Finnerty gerade zu Martha. »Das würde keinen Unterschied machen«, meinte sie verächtlich. »Bei einigen der jungen Kerle, die manchmal von der anderen Seite herüberkommen, könnte man es beinahe annehmen ...« Paul nahm Barbaras Drink und schüttete ihn hinunter. Dabei stellte er überrascht fest, daß der teure Scotch, den er bezahlt hatte, nichts anderes als Tee in Whiskygläsern war. »Ausgezeichnet«, sagte er. »Soll ich jetzt deswegen einen Nervenzusammenbruch bekommen?« fragte Barbara. »Lassen Sie mich gehen.« »Nein, bitte, es ist doch alles in bester Ordnung. Reden Sie ein bißchen mit mir. Ich bin Ihnen nicht böse.«
»Was darf es sein?« fragte die Bedienung. »Ein doppelter Scotch mit Soda«, bestellte Paul. »Wenn es Ihnen Spaß macht Sie kleiner Krösus, dann tun Sie sich nur keinen Zwang an«, sagte Barbara ironisch. Pauls Augenlider sanken immer weiter herab, während er sich krampfhaft einen Satz überlegte, der das Eis brechen würde. Er legte die Arme auf die Tischplatte und wollte sich eine Sekunde darauf ausruhen. Als er wieder die Augen öffnete, schüttelte Finnerty ihn heftig an der Schulter. Die Mädchen waren verschwunden. Finnerty brachte ihn ins Freie. Draußen herrschte ein lärmendes Gewirr, das von Fackeln beleuchtet wurde, und Paul erkannte undeutlich, daß gerade eine nächtliche Parade stattfand. Er brachte ein lautes Hurra aus, als er Luke Lubbock erkannte, der in einer Sänfte vorbeigetragen wurde. Nachdem Finnerty ihn wieder in die Nische zurückbugsiert hatte, formte sich in Pauls umnebeltem Gehirn eine Ansprache, die alles ausdrückte, was er im Augenblick fühlte. Er brauchte sie Flur noch zu halten, um sich in den neuen Messias zu verwandeln und Ilium in einen neuen Garten Eden! Die Worte drängten sich ihm geradezu auf die Lippen. Paul kletterte unsicher auf einen der Tische und hielt sich schwankend aufrecht, während ihm die anderen Gäste verwundert zusahen. »Freunde, meine Freunde!« rief er aus. »Wir müssen uns in der Mitte der Brücke treffen!« Der Tisch schwankte plötzlich unter seinem Gewicht. Er hörte Holz zersplittern – dann umgab ihn wieder die Dunkelheit.
Als nächstes hörte er die Stimme des Barkeepers. »Stehen Sie auf – Sperrstunde. Ich muß jetzt zumachen«, sagte der Mann. Paul richtete sich auf und stöhnte. Sein Mund war ausgedörrt und sein Kopf schmerzte heftig. Die Bar schien leer zu sein, aber ein schmerzhaftes Getöse erfüllte die stickige Luft. Ed Finnerty saß an dem elektrischen Klavier und spielte auf dem völlig verstimmten Instrument. Paul wankte zu ihm hinüber und legte seine Hand auf Eds Schulter. »Gehen wir jetzt?« Finnerty bearbeitete weiter die Tasten. »Ich bleibe hier!« rief er über den Lärm hinweg. »Geh nach Hause!« »Wo willst du bleiben?« Dann sah Paul Lasher, der in einer Ecke auf einem Stuhl saß. Lasher deutete auf sich. »Bei mir«, sagte er. »Okay«, sagte Paul müde. »Ich gehe jetzt.« Er stolperte auf die Straße und schloß seinen Plymouth auf.
10 Nach diesem anstrengenden Abend schlief Dr. Paul Proteus bis in den frühen Nachmittag hinein. Als er aufwachte, war Anita nicht zu Hause, und er schleppte sich mit einem Kater von geradezu gigantischen Ausmaßen in sein Büro. »Dr. Kroner hat angerufen«, sagte Katharine. »Oh? Soll ich ihn wieder anrufen?« »Dr. Shepherd hat den Anruf entgegengenommen.« »So, hat er das? Sonst noch etwas?« »Die Polizei.« »Die Polizei? Was wollte die denn von mir?« »Dr. Shepherd hat den Anruf entgegengenommen.« »Na, schön!« Er setzte sich einen Augenblick auf die Kante ihres Schreibtisches. »Rufen Sie ihn doch an und sagen Sie ihm daß ich ihn sofort zu mir bitte.« »Das ist nicht nötig. Er ist in Ihrem Arbeitszimmer.« Es stimmte, Shepherd saß an Pauls Schreibtisch und war eifrig damit beschäftigt, einen Stapel Berichte zu unterzeichnen. Er sah nicht einmal auf, als Paul herein kam, sondern schaltete gerade die Sprechanlage ein. »Miss Finch ...« »Ja, Sir?« »Ich lese im Augenblick den monatlichen Sicherheitsbericht; hat Dr. Proteus Ihnen gesagt, in welcher Form er Finnertys gestrigen Besuch darin erwähnen will?« »In der Form, daß ich die Klappe darüber halte«, unterbrach ihn Paul. Shepherd sah überrascht auf. »Ich sage ja immer, wenn man von dem Teufel spricht ...« Er blieb weiter
in Pauls Sessel sitzen. »Hör mal«, meinte er dann plump vertraulich, »du mußt wirklich einen ganz schönen Kater haben, mein Junge. Du hättest überhaupt nicht zu kommen brauchen, ich kenne mich hier gut genug aus, um dich einen Tag lang vertreten zu können.« »Danke.« »Nichts zu danken. Es ist wirklich keine große Arbeit.« »Ich hatte erwartet, daß Katharine die laufenden Angelegenheiten für mich erledigen würde ...« »Du weißt, was Kroner davon halten würde. So ist es bestimmt besser, Paul.« »Was wollte Kroner von mir?« »Oh, ja – er möchte, daß du schon heute abend zu ihm kommst, weil er ab morgen für den Rest der Woche nach Washington muß.« »Ausgezeichnet. Und was hatte die Polizei für Sorgen?« Shepherd lachte leise. »Ein Mißverständnis. Sie waren ziemlich aufgeregt wegen einer Pistole, die sie irgendwo am Fluß gefunden hatten. Sie behaupteten steif und fest, daß es deine sei. Ich habe ihnen gesagt, daß sie das noch einmal überprüfen müßten – schließlich ist kein Mann, der intelligent genug ist, um Manager der Ilium-Werke zu sein, so dumm, daß er seine Pistole herumliegen läßt.« »Das war ein nettes Kompliment, Shep. Darf ich einen Augenblick mein Telephon benutzen?« Shepherd schob ihm den Apparat über den Tisch und unterzeichnete weiter: »Dr. Lawson Shepherd, in Vertretung von Dr. P. Proteus.« »Hast du Kroner erzählt, daß ich einen Kater habe?«
»Nein, natürlich nicht, Paul! Ich habe dich bei ihm entschuldigt.« »Womit?« »Nerven.« »Großartig!« sagte Paul sarkastisch. Er wählte Kroners Nummer. »Hier spricht Paul Proteus, Dr. Kroner. Ich sollte Sie zurückrufen wurde mir ausgerichtet.« Eine kleine Glocke läutete in regelmäßigen Abständen – ein Zeichen dafür, daß ihr Gespräch auf Band aufgenommen wurde. »Shepherd sagte mir, daß Sie wieder mit Ihren Nerven zu tun hätten, mein Junge.« »Das stimmt nicht ganz. Nur eine Art Virusinfektion.« »Na hoffentlich geht es Ihnen wieder besser. Fühlen Sie sich schon wieder wohl genug, um heute abend zu uns zu kommen?« »Gern. Wollten Sie sich über ein bestimmtes Thema mit mir unterhalten?« »Zum Beispiel Pittsburgh?« flüsterte Shepherd laut. »Nein, Paul. Ich finde nur, daß wir uns schon seit langer Zeit nicht mehr von Mann zu Mann unterhalten haben. Mom und ich möchten nur einmal wieder mit Ihnen reden.« Paul dachte an das letztemal zurück, als er bei Kroner eingeladen war. Damals hatte er eine Gehaltserhöhung bekommen. »Ich freue mich schon darauf. Um welche Zeit?« »Acht, acht Uhr dreißig.« »Ist Anita ebenfalls eingeladen?« »Aber natürlich! Sie gehen doch nie ohne sie aus, nicht wahr, Paul?« »Oh, nein, Sir.«
»Das will ich auch hoffen.« Kroner lachte herzhaft. »Wir erwarten Sie dann um diese Zeit.« »Was hat er gesagt?« fragte Shepherd. »Er hat gesagt, daß du deine Nase nicht in Dinge stecken sollst, die dich nichts angehen – zum Beispiel die Berichte da. Außerdem hat er ausdrücklich angeordnet, daß Katharine sämtliche Unterschriften ausradieren soll, die du heute geleistet hast.« »He, langsam ...«, sagte Shepherd und stand auf. Paul bemerkte erst jetzt, daß sämtliche Schubladen seines Schreibtisches weit aufgezogen waren. In der untersten war deutlich der Hals der Whiskyflasche zu sehen, die er dort aufbewahrte. Er stieß eine nach der andern heftig zu. Als er zu der untersten kam, nahm er die Flasche heraus und hielt sie Shepherd unter die Nase. »Da – willst du sie haben? Vielleicht kannst du sie noch gebrauchen. Meine Fingerabdrücke müssen deutlich darauf zu sehen sein.« »Willst du mich jetzt doch noch hinauswerfen lassen – ist das der Sinn der Sache?« fragte Shepherd. »Willst du es darauf ankommen lassen und deswegen zu Kroner gehen? Gehen wir doch gleich! Ich habe nichts dagegen, aber ich bezweifle, daß du damit etwas erreichen wirst.« »Verschwinde! Los, geh schon! Laß dich hier nicht wieder blicken, bevor ich dich nicht wieder zu mir bestelle! Katharine ...« »Ja, Sir?« »Wenn Dr. Shepherd noch einmal ohne meine ausdrückliche Erlaubnis mein Büro betritt, erschießen Sie ihn auf der Stelle.« Shepherd knallte die Tür hinter sich zu, sah Katharine böse an und verließ das Büro.
»Dr. Proteus, die Polizei ist am Apparat«, sagte Katharine. Paul verließ wortlos sein Arbeitszimmer und fuhr nach Hause. Anita war in der Küche und sah sich die Werbesendung im Fernsehen an. »Hallo«, sagte Paul. »Oh, guten Tag, Liebling. Ich habe deinen blauen Anzug oben auf das Bett gelegt.« Sie lächelte ihm zu. »Oh? Wozu?« »Was soll das heißen? Damit du ihn anziehen kannst, bevor wir zu Kroner fahren!« »Woher weißt du ...« »Lawson Shepherd rief mich an, um es mir zu sagen.« »Wie nett von ihm!« »Nett, daß mir wenigstens einer erzählt, was vor sich geht, wenn du es schon nicht tust.« »Was hat er sonst noch gesagt?« »Er meinte, daß du und Finnerty einen herrlichen Abend verbracht hättet.« »Darüber weiß er genauso viel wie ich.« Anita zündete sich nervös eine Zigarette an. »Waren daran auch Mädchen beteiligt, Paul?« »Zwei. Aber frage mich nicht, wer welche hatte.« »Hatte?« »Neben ihr saß.« Sie zog hastig an ihrer Zigarette. »Du brauchst es mir nicht zu erzählen, wenn du nicht willst.« »Das werde ich auch nicht, weil ich mich nicht mehr daran erinnern kann.« Er lachte. »Eine hieß Barbara, die andere Martha, und an alles andere kann ich mich nicht mehr erinnern.«
»Dann weißt du also nicht mehr, was geschehen ist? Ich meine, alles hätte passieren können, nicht wahr?« Paul hörte auf zu lachen. »Nein, wenn ich sage, daß ich mich an nichts mehr erinnern kann, meine ich damit, daß nichts hätte passieren können. Mir wurde schwarz vor den Augen, und dann fand ich mich auf dem Boden neben einem umgestürzten Tisch wieder.« »Und du kannst dich an nichts mehr erinnern?« »Ich kann mich an einen Mann namens Alfy erinnern, der davon lebt, daß er Songs errät, einen anderen namens Luke Lubbock, der als Araber verkleidet war, einen Pfarrer, der sich darüber zu freuen scheint, daß die Welt zum Teufel geht, und ...« »Und Barbara und Martha.« »Und Barbara und Martha. Und Paraden – mein Gott, lauter Paraden.« »Fühlst du dich jetzt besser?« »Nein. Aber du solltest es eigentlich, denn Finnerty hat eine andere Unterkunft und einen neuen Freund gefunden.« »Gott sei Dank! Ich möchte, daß du Kroner heute abend ausdrücklich erklärst, daß er sich uns aufgedrängt hat, und daß wir uns genauso wie alle anderen über ihn geärgert haben.« »Das stimmt nicht ganz.« »Dann sag es eben nicht.« Anita zog eine Schublade auf und nahm drei engbeschriebene Blätter heraus. »Hier, ich weiß, daß du mich für überspannt hältst, aber ich glaube nun einmal, daß man solche Dinge ernst nehmen sollte, Paul.«
Auf den Blättern stand eine Art Gliederung, deren Hauptabschnitte mit römischen Ziffern bezeichnet waren, und die zahlreiche Unterabteilungen hatte. Er las die nächstbeste, wobei seine Kopfschmerzen deutlich heftiger wurden. Es war Abschnitt III, A, 1, a: »Zünde dir keine Zigarette an. Kroner versucht das Rauchen aufzugeben.« »Vielleicht wäre es besser, wenn du sie laut lesen würdest«, schlug Anita vor. »Vielleicht sollte ich es erst später laut lesen, wenn ich durch nichts mehr abgelenkt werde.« »Ich habe fast den ganzen Nachmittag daran gearbeitet.« »Das glaube ich. So gründlich warst du noch nie. Danke, Liebling, ich erkenne es völlig an.« »Ich liebe dich, Paul.« »Ich Liebe dich, Anita.« »Liebling – diese Sache mit Barbara und Martha ...« »Ich gebe dir mein Wort, daß ich sie nicht angerührt habe!« »Das meine ich auch nicht, ich wollte nur fragen, ob dich jemand in ihrer Gesellschaft gesehen haben kann.« »Bestimmt niemand aus den Werken.« »Kroner darf es auf keinen Fall erfahren! Über die Trinkerei würde er vermutlich lachend hinweggehen, aber diese Mädchen ...« »›Summer Loves‹«, sagte Paul, während er die Band auf dem Bildschirm beobachtete. »Was sagst du?« »Die Band – sie spielt ›Summer Loves‹.« Er pfiff einige Takte vor sich hin. »Woher weißt du das, der Ton ist doch abgeschaltet?«
»Los, dreh ihn an.« Sie stellte den Ton ein und ›Summer Loves‹ erfüllte den Raum. Paul summte zufrieden vor sich hin, während er in das Schlafzimmer hinaufging und dabei den nächsten Abschnitt aus Anitas Gliederung las. »IV, A, 1: Wenn Kroner dich fragt, warum du nach Pittsburgh willst, sagst du ihm, daß du dort vermutlich mehr leisten kannst ... außerdem kannst du einfließen lassen, daß das größere Haus, die Gehaltserhöhung und das vergrößerte Prestige ebenfalls deinen Wunsch beeinflußt haben.« Paul begann allmählich einzusehen, daß er sich in den Augen aller auf beiden Ufern des Flusses zum Narren gemacht hatte. Er erinnerte sich wieder an seinen Ausruf: »Wir müssen uns in der Mitte der Brücke treffen!« und stellte fest, daß er vermutlich der einzige war der daran Interesse hatte; der einzige, der sich nicht bewußt war, auf welchem Ufer er lebte.
11 Der Schah von Bratpuhr der an einem Ende der riesigen Höhle ein wenig verloren aussah, gab Khashdrahr Miasma die Flasche Sumklish zurück, aus der er getrunken hatte. Dann nieste er so herzhaft, daß die Fledermäuse erschreckt von ihren Plätzen an der Decke der Carlsbad Caverns aufflogen. Dr. Ewing J. Halyard stattete heute diesem unterirdischen Dschungel aus Stahl, Kabeln und Glas seinen siebenunddreißigsten Besuch ab. Dieses Wunder, das sich über einunddreißig Höhlen erstreckte, die miteinander verbunden waren, gehörte zu den Höhepunkten der Besichtigungsreisen für ausländische Potentaten. Ein Elektromobil hielt neben dem Fahrstuhl, vor dem der Schah mit seiner Begleitung stand, und ein Major, der bis an die Zähne bewaffnet war, stieg aus, um ihre Papiere zu kontrollieren, wobei er sich viel Zeit ließ. »Geht das nicht auch ein bißchen schneller, Major?« fragte Halyard ungeduldig. »Wir möchten auf keinen Fall den Festakt versäumen.« »Vielleicht«, antwortete der Major, »aber als Offizier vom Dienst bin ich für neun Milliarden Dollar Regierungseigentum verantwortlich, und wenn etwas passiert, muß ich den Kopf hinhalten. Außerdem ist der Festakt sowieso verschoben worden, weil der Präsident noch nicht erschienen ist.« Schließlich war der Major zufriedengestellt, und die kleine Gesellschaft bestieg das Elektromobil. »Siki?« fragte der Schall.
»Das hier ist EPICAC XIV«, erklärte Halyard, »ein elektronisches Datenverarbeitungsgerät – eine Art Gehirn, wenn Sie es so nennen wollen. Allein in dieser Höhle, der kleinsten von allen, befindet sich so viel Kupferdraht, daß man damit eine vieradrige Leitung zum Mond legen könnte. Die Maschine enthält mehr Vakuumröhren, als in dem Bundesstaat New York vor dem Zweiten Weltkrieg vorhanden waren.« Khashdrahr übersetzte für den Schah. Der Schah dachte einen Augenblick darüber nach, kicherte leise vor sich hin und machte eine Bemerkung. Dann grinste Khashdrahr ebenfalls. »Der Schah sagt«, übersetzte Khashdrahr, »Männer in seinem Land heiraten kluge Mädchen und machen gute Gehirne billig.« Halyard lachte pflichtschuldig über den Witz und erklärte, daß billige Gehirne eben nicht genug seien, und daß EPICAC XIV alle Seiten eines Problems zu gleicher Zeit sehe, daß EPICAC XIV sich nicht von Gefühlen beeinflussen lasse, daß EPICAC XIV niemals etwas vergessen könne – daß, um es kurz zu machen, EPICAC XIV immer hundertprozentig recht habe, weil er sich nicht irren könne. Während des Krieges und in den Nachkriegsjahren war das Nervensystem dieses Giganten immer mehr erweitert worden, bis schließlich die ursprüngliche Zelle, EPICAC I, nur noch einen kleinen Teil des Ganzen darstellte. Das Trio hatte jetzt die Plattform erreicht, von der aus Jonathan Lynn, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, vor geladenen Gästen und einigen Fernsehkameras EPICAC XIV einweihen sollte.
Vor ihnen erhob sich der neueste Teil des Elektronengehirns, in dem es unaufhörlich summte und klickte – Geräusche, die von unzähligen Schaltern, Relais und Röhren stammten, mit denen EPICAC XIV ausgestattet war. EPICAC XIV war zwar noch nicht offiziell seiner Bestimmung übergeben worden, aber trotzdem arbeitete es schon unermüdlich um festzustellen, wie hoch der zukünftige Bedarf Amerikas und seiner Kunden an Transformatoren, Haarnadeln, Radkappen, Suppentellern, Türklinken, Gummiabsätzen, Fernsehgeräten, Spielkarten, Windeln, Ozeandampfern und so weiter in den nächsten Jahren vermutlich sein würde. Außerdem berechnete es die Zahl der voraussichtlich benötigten Beamten, Manager, Ingenieure und Ärzte; stellte fest, nach welchen Richtlinien ihre Bewertungen erfolgen sollte; gab die zu erwartende Stärke der Armee und des K.I.W. an; entschied, wer ... »Meine Damen und Herren«, sagte der Fernsehansager, »der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika.« Ein Elektromobil rollte an die Plattform heran, und Präsident Jonathan Lynn schritt die Stufen herauf, wobei er gewinnend lächelte. Die Fernsehkameras fuhren auf ihn zu und schienen ihn von allen Seiten zu beschnüffeln. Dann nahm der Präsident den Platz hinter dem Rednerpult ein und las eine Ansprache vor, die ein anderer für ihn geschrieben hatte. Er betonte darin ausdrücklich daß er nur ein einfacher Mann sei, der Repräsentant der kleinen Leute Amerikas, und daß er angesichts dieses Weltwunders voller Dankbarkeit
und Bewunderung für die Männer erfüllt sei, die diese wunderbare Maschine erfunden und gebaut hätten, und daß er nicht umhin könne ... Halyard gähnte und ärgerte sich darüber, daß dieser Mann, der dort eine Rede herunterleierte, dreimal soviel Geld wie er verdiente. Lynn war sogar zu dumm gewesen, um zu studieren. Und trotzdem hatte der Kerl es fertiggebracht, sich auf einen Posten wählen zu lassen, der ihm pro Jahr hundertfünfzigtausend Dollar einbrachte, obwohl er dafür nichts zu tun brauchte, denn die wichtigen Entscheidungen wurden ihm von verschiedenen Gremien abgenommen! Der Präsident erklärte gerade, wie wunderbar es doch sei, daß EPICAC XIV jetzt für die Millionen Amerikas zu arbeiten begonnen habe, daß EPICAC XIV das größte Genie der Weltgeschichte und daß der weiseste Mann nur ein Wurm gegen EPICAC XIV sei, wenn man ihre Geisteskräfte gegeneinander messen wolle. Zum erstenmal schien der Schah beeindruckt zu sein. Der Vergleich mit dem Wurm schien ihm einzuleuchten. Als die Ansprache vorüber und der Beifall verklungen war, machte Halyard den Schah mit dem Präsidenten bekannt, und die Fernsehkameras drängten sich um die beiden. »Der Präsident schüttelt jetzt dem Schah von Bratpuhr die Hand«, sagte der Fernsehsprecher. »Vielleicht wird uns jetzt der Schah seine Eindrücke schildern, die er auf seiner Reise durch die USA gewonnen hat.« »Allasan Khabou pillan?« fragte der Schah unsicher.
»Der Schah fragt, ob er eine Frage stellen darf«, übersetzte Khashdrahr. »Bitte schön«, antwortete der Präsident bereitwillig. Der Schah nickte, ging an den Rand der Plattform und kniete dort nieder. »Was ist denn jetzt los?« fragte Lynn verblüfft. »Sch!« machte Khashdrahr wütend. »Wir scheinen Zeugen eines religiösen Rituals zu sein«, sagte der Ansager. »Können Sie nicht wenigstens fünf Sekunden lang Ihre große Klappe halten?« zischte Halyard wütend. »Ruhe!« sagte Khashdrahr leise. Der Schah hatte zu sprechen begonnen: »Allakahi Baku billa, Moumi a Fella nam fer; Sersni assu tilla, Tonri serin a san fer.« »Der verrückte Kerl quatscht tatsächlich mit der Maschine«, flüsterte Lynn heiser. »Sch!« sagte Halyard durchdringend. »Siki?« rief der Schah fragend. »Siki?« Das Wort echote durch die Höhle und erstarb. »Mmmmmm«, summte EPICAC XIV leise vor sich hin. »Dit-dit. Mmmmmm. Dit.« Der Schah seufzte und erhob sich. Dann schüttelte er den Kopf und lächelte traurig. »Nibo«, murmelte er. »Nibo!« »Was sagt er?« fragte der Präsident. »Nibo – nichts«, erklärte Halyard. »Er hat die Maschine etwas gefragt, aber sie hat nicht geantwortet.«
»So etwas Verrücktes habe ich in meinem Leben noch nicht gehört«, meinte der Präsident. »Die Fragen müssen doch auf dieses Dingsbums gestanzt werden, und dann kommen die Antworten aus dem Wieheißt-es-noch-gleich heraus.« Er runzelte die Stirn. »Man kann sich nicht einfach mit der Maschine unterhalten oder etwa doch?« »Nein, Sir«, antwortete der Chefingenieur von EPICAC XIV, »Sie haben völlig recht, ohne ›Dingsbums‹ und ›Wie-heißt-es-noch-gleich‹ geht es nicht.« »Was hat der Alte eigentlich gesagt?« fragte Lynn den Dolmetscher und hielt ihn am Ärmel fest. »Nur ein altes Rätsel«, erklärte ihm Khashdrahr ausweichend. »Mein Volk glaubt, daß eines Tages jemand kommen wird, der es lösen kann – ein großer und allwissender Gott.« Er lächelte scheu. »Wenn er kommt, wird es kein Leid und keine Not mehr auf der Welt geben ...« »Ein allwissender Gott, was?« fragte Lynn. »Wie lautet das Rätsel denn?« »Ich brauche es Ihnen nicht zu sagen, weil Sie es bestimmt nicht verstehen würden.« Khashdrahr lächelte ironisch. Halyard half dem Schah, der plötzlich um Jahre gealtert zu sein schien, in das wartende Elektromobil. Als sie den Fahrstuhl erreicht hatten, sah sich der Schah verächtlich um und warf einen kurzen Blick auf die Maschinen, die ihn umgaben. »Baku!« rief er dann mit verächtlicher Stimme. »Dieses Wort kenne ich noch nicht«, sagte Halyard zu Khashdrahr, der ihm sympathisch geworden war, nachdem er Lynn so wunderbar kurz abgefertigt hatte. »Was heißt ›Baku‹?«
»Das sind kleine Figuren aus Lehm und Stroh, die von einem abtrünnigen Stamm, den Surrasi, im Lande des Schahs angefertigt werden.« »Findet er wirklich, daß das hier wie Lehm und Stroh aussieht?« »Das Wort hat noch eine zweite Bedeutung, die er gemeint haben muß – es heißt auch ›falscher Gott‹.«
12 Das Haus der Kroners, eine Villa im viktorianischen Stil, stand einige Meilen außerhalb von Albany in einem gepflegten Park. »Ich liebe Ihr Haus jedesmal mehr«, sagte Anita zu Kroner, der selbst an die Tür gekommen war, um sie zu begrüßen. »Das müssen Sie Janice erzählen, sie freut sich bestimmt darüber.« Janice war Mrs. Kroner, die im Wohnzimmer auf Paul und Anita wartete. Janice, so erinnerte sich Paul, hatte Finnerty nie leiden können weil er sie weder Mom nannte noch sich bei ihr aussprechen wollte. Eines Tages, als sie ihn aufgefordert hatte, ihr von seinen Sorgen zu erzählen, hatte er ihr ziemlich grob geantwortet, daß er dem Kindesalter bereits einige Jahre entwachsen sei. Paul mochte sie dagegen ausgesprochen gern, denn er hatte ihr früher ab und zu seine kleinen Sorgen erzählt. »Guten Abend, Mom«, sagte Paul. »Guten Abend, Mom«, sagte Anita. »Setzt euch, Kinder«, gab Mom zurück, »und erzählt mir alles über euch.« »Nun, wir haben die Küche neu eingerichtet«, begann Anita. Mom wollte Einzelheiten wissen. Kroner hielt den Kopf gesenkt, als höre er aufmerksam zu, aber Paul hatte den Verdacht, daß er die Sekunden zählte, bis es nicht mehr unhöflich war, wenn die Männer das Wohnzimmer verließen. Als Anita eine kurze Pause machte, stand Kroner
auf, sah Mom lächelnd an und schlug vor, daß Paul mit ihm gehen solle, damit er ihm seine Gewehrsammlung zeigen könne. Er gebrauchte jedesmal den gleichen Vorwand. Auch Moms Antwort war immer gleich: »Oh, deine Gewehre – ich hasse sie geradezu. Wie kann man nur unschuldige Tierchen erschießen wollen?« Tatsache war allerdings, daß Kroner seine Gewehre nie gebrauchte. Sein ganzes Vergnügen schien darin zu bestehen, sie zu besitzen. Außerdem benützte er sie zur Dekoration, um seinen Von-Mann-zu-MannGesprächen einen ungezwungenen Charakter zu verleihen. Während er einen Gewehrlauf reinigte, kündigte er Gehaltserhöhungen und Beförderungen an, sprach Degradierungen oder Entlassungen aus, lobte oder warnte seinen Gesprächspartner. Paul folgte ihm in das dunkelgetäfelte Herrenzimmer und blieb dann wartend stehen, bis Kroner eine der Waffen aus dem Ständer genommen hatte. Er wählte diesmal eine Schrotflinte und zeigte sie Paul. »Darin möchte ich keine moderne Munition verschießen«, bemerkte er dazu. »Das Zeug würde den Lauf glatt zerreißen. Aber sehen Sie sich doch mal diese Arbeit an, Paul!« »Wunderschön. Unschätzbar.« »Ein Büchsenmacher hat vielleicht Wochen daran gearbeitet. Damals war die Zeit allerdings nichts wert, weil man zu allem so lange brauchte, Paul.« »Ja, Sir.« Kroner reihte ein Ölkännchen, eine Dose Fett und einen Behälter mit Reinigungsgerät auf seinem Schreibtisch nebeneinander auf. Dann zog er eine ölgetränkte Bürste durch den Lauf. Paul wollte sich ei-
ne Zigarette anzünden, aber dann erinnerte er sich gerade noch rechtzeitig an Anitas Warnung. »Wo ist übrigens Ed Finnerty?« fragte Kroner beiläufig. »Ich weiß es nicht, Sir.« »Die Polizei ist hinter ihm her.« »Wirklich?« Kroner sah nicht von seiner Arbeit auf. »Mmhm. Er hätte sich polizeilich melden müssen, nachdem er seine Stellung aufgegeben hat, aber er hat es noch nicht getan.« »Ich habe ihn gestern abend in der Siedlung zum letztenmal gesehen.« »Das weiß ich bereits. Ich dachte nur, daß Sie vielleicht wüßten, wo er im Augenblick steckt.« »Nein, Sir.« »Hmm. Sehen Sie die kleine Rostnarbe da vorn?« Er hielt Paul den Lauf der Flinte vor das Gesicht und deutete auf eine winzige Stelle. »Das kommt davon, wenn man eine Waffe einen Monat stehenläßt, ohne sie zu pflegen – plötzlich setzen sie überall Rost an.« »Ja, Sir.« »Finnerty ist nicht mehr vertrauenswürdig, nicht mehr zuverlässig genug, Paul. Deshalb sollte man sich nicht mehr mit ihm abgeben.« »Ja, Sir.« Kroner goß etwas Öl auf einen Lappen. »Ich dachte mir schon daß Sie der gleichen Meinung sein würden – deshalb kann ich es auch nicht recht verstehen, warum Sie ihn ohne Begleitung durch die Fabrikanlagen gehen ließen.« Paul wurde rot. »Oder warum Sie ihm Ihre Pistole gegeben haben.
Sie wissen doch, daß er keine Waffen mehr besitzen darf, aber trotzdem hat man Ihre Pistole gefunden – und sie war über und über mit seinen Fingerabdrükken bedeckt.« Bevor Paul sich zu einer Entgegnung aufraffen konnte, lachte Kroner wohlwollend und schlug ihm auf das Knie. »Ich bin so sehr davon überzeugt, daß Sie eine stichhaltige Erklärung für diese Dinge haben, Paul, daß ich sie nicht einmal hören will. Ich setze eine Menge Vertrauen in Sie, mein Junge. Ich habe mich seit dem Tode Ihres Vaters immer ein wenig für Sie verantwortlich gefühlt.« »Das ist nett von Ihnen, Sir.« Kroner kehrte Paul den Rücken zu und zielte auf einen imaginären Vogel. »Bumm! Wir leben in gefährlichen Zeiten, Paul – viel gefährlicher, als sie an der Oberfläche zu sein scheinen. Bumm! Aber trotzdem ist es das Goldene Zeitalter, nicht wahr, Paul?« Paul nickte. Kroner drehte sich nach ihm um. »Oder sind Sie etwa anderer Meinung?« »Nein, Sir. Ich habe genickt.« »Bumm!« sagte Kroner wieder. »Bumm! Es hat zu allen Zeiten Zweifler gegeben, Unglückspropheten, Fortschrittsgegner.« »Ja, Sir. Wegen der Pistole ...« »Längst vergessen«, unterbrach ihn Kroner ungeduldig. »Was ich noch sagen wollte sehen Sie doch, wo wir jetzt sind, weil es Männer gegeben hat, die allen Anfechtungen zum Trotz genau das getan haben, was sie für richtig hielten.« »Ja Sir.« »Bumm! Es werden immer wieder andere behaup-
ten, daß diese Männer – auch Ihr Vater gehörte zu ihnen, Paul – nichts vollbracht hätten, was den Namen Fortschritt gerechtfertigt habe. Aber das stimmt nicht, Paul, diese Männer haben mehr getan, als nur neue Maschinen zu erfinden. Sie besaßen Stärke und Vertrauen und Tatkraft. Unsere Aufgabe ist es, unserer Zivilisation und Kultur neue Ufer zu erschließen, ihr die Tore der Zukunft weit aufzustoßen, an der Spitze des Fortschrittes zu marschieren. Das ist es, wofür Manager und Ingenieure da sind!« Paul nickte stumm. Kroner polierte jetzt den Lauf mit einem Lappen. »Paul – die Stellung in Pittsburgh ist immer noch zu haben ...« Für Paul war es etwas verwirrend, daß Kroner genau die Worte dafür gebraucht hatte die Anita immer wieder als wahrscheinlich bezeichnet hatte. »Es wäre bestimmt eine wunderbare Gelegenheit für mich, um zu zeigen, was ich leisten kann«, antwortete er, weil er annahm, daß Anita sich ähnlich ausgedrückt haben würde. Kroner schien mit seiner Antwort sehr zufrieden zu sein, denn er lächelte Paul väterlich zu. »Baer und ich stehen vor einer schweren Entscheidung, Paul, zwischen Ihnen und Fred Garth.« Garth war viel älter, fast so alt wie Kroner, und Manager der BuffaloWerke. »Ganz offen gesagt, Garth ist kein so ausgezeichneter Ingenieur wie Sie, Paul. Als Manager ist er ausgezeichnet, aber wenn ich ihn nicht ständig angetrieben hätte, wären die Werke in Buffalo immer noch auf dem gleichen Stand wie vor fünf Jahren, als er dort angefangen hat. Aber er ist beständig und verläßlich, Paul, und es hat nie Zweifel daran gegeben,
daß er zu uns gehört, daß er seine eigenen Interessen immer zugunsten derer des Systems zurückgestellt hat.« »Garth ist ein feiner Bursche«, gab Paul zu. »Ich gönne ihm den Posten von ganzem Herzen.« »Aber ich möchte, daß Sie ihn bekommen, Paul!« Kroners Gesichtsausdruck zeigte deutlich, daß er Garth nur als Vorwand gebraucht hatte, um über Paul sprechen zu können. »Sie besitzen Vorstellungskraft und Erfindungsgeist und Tatkraft und ...« »Danke, Sir.« »Lassen Sie mich ausreden. Vorstellungskraft, Erfindungsgeist, Tatkraft – und vielleicht, das heißt, ich weiß es sogar ganz sicher, steht Ihre Loyalität außer Zweifel.« »Meine Loyalität?« Kroner legte die Flinte auf den Schreibtisch und schob seinen Stuhl dicht vor Paul hin, bis er direkt vor ihm saß. Dann legte er Paul seine großen Hände auf die Knie und zog die Augenbrauen zusammen. Die Situation glich einer Séance, wobei Kroner das Medium darstellte, während Paul spürte, daß sein eigener Wille immer schwächer wurde. »Paul, mein Junge, ich möchte, daß Sie mir erzählen, was Sie in letzter Zeit bedrückt.« Paul begann zu sprechen. Als er zu Ende war, stand Kroner schweigend auf und kehrte ihm den Rücken zu, um aus dem Fenster zu starren. Paul sah ihm erwartungsvoll nach, als hoffe er, daß Kroner ihn mit ein paar Worten von seinen nagenden Zweifeln befreien könne. Dann wandte sich Kroner plötzlich zu ihm um. »Sie sind also gegen uns?«
»Das habe ich damit bestimmt nicht sagen wollen, aber einige dieser Fragen lassen mir keine Ruhe.« »Bleiben Sie auf Ihrer Seite des Flusses, Paul! Ihr Beruf ist es Manager und Ingenieur zu sein, nicht aber, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen! Ich könnte Lashers Fragen auch nicht beantworten, aber ich weiß, daß es viel leichter ist, sie zu stellen, als sie zu beantworten. Ich weiß, daß es immer unbeantwortet gebliebene Fragen gegeben hat – und Männer wie diesen Lasher, die aus dieser Tatsache Kapital schlagen wollen.« »Sie wissen, daß ich mit Lasher zusammen war?« fragte Paul überrascht, denn er hatte diesen Namen vorher nicht erwähnt. »Ja, schon seit einiger Zeit. Und seit heute mittag weiß ich auch, was Sie, Lasher und Finnerty gestern abend veranstaltet haben.« Er warf einen traurigen Blick aus dem Fenster. »Wissen Sie, Paul, wenn man Sicherheitsbeauftragter einer Abteilung ist, dann bleibt einem nichts lange verborgen.« »Und Pittsburgh?« »Ich bin immer noch der Meinung, daß Sie der richtige Mann dafür sind, deshalb werde ich einfach so tun, als hätten Sie das alles nicht getan und gesagt. Ich glaube nicht, daß das Ihre Überzeugung gewesen ist, Paul!« Paul war völlig überrascht. Durch irgendeinen merkwürdigen Umstand hatte er nun doch die Stellung zugesichert bekommen. »Das ist der Anfang, Paul. Jetzt hängt alles von Ihnen ab.« »Nun, ich könnte mir vermutlich das Trinken abgewöhnen.«
»Ich fürchte, daß das nicht ganz genügen dürfte, denn schließlich haben Sie sich in verhältnismäßig kurzer Zeit überraschend viel zuschulden kommen lassen: die Pistole, Finnertys Aufenthalt in den Werken, die Sache gestern abend – das alles muß ich der Zentrale zufriedenstellend erklären können, mein Junge. Dafür könnten Sie nämlich schon einige Zeit ins Kittchen wandern, wissen Sie das?« Paul lachte nervös. »Ich möchte der Zentrale gegenüber behaupten können, daß Sie das alles im Rahmen eines Überwachungsauftrages getan haben, den Sie von mir erhalten hatten. Aber das muß ich natürlich auch beweisen können, Paul.« »Aha«, sagte Paul, der kein Wort verstanden hatte. »Sie werden zugeben müssen, daß Lasher und Finnerty gefährlich sind, potentielle Saboteure, die dorthin gehören, wo sie keinen Schaden mehr anrichten können.« Er nahm die Schrotflinte wieder auf und sah sie prüfend an. »Deshalb«, fuhr er dann langsam fort, »möchte ich, daß Sie aussagen, daß die beiden Sie für Sabotageakte gegen die Ilium-Werke zu gewinnen versucht haben ...« In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Baer kam grinsend herein. »Herzlichen Glückwunsch, alter Junge.« »Glückwunsch?« fragte Paul. »Pittsburgh, alter Knabe, Pittsburgh!« »Wir sind uns noch nicht ganz einig«, warf Kroner ein. »Aber du hast doch gestern gesagt ...« »Unterdessen ist noch eine kleine Schwierigkeit aufgetaucht.« Kroner zwinkerte Paul zu. »Allerdings
nichts Ernsthaftes, was, Paul? Nur eine kleine Hürde.« »Oh, ja, nur eine kleine Hürde, nichts weiter.« Paul war immer noch so erschreckt und verwirrt, daß er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ob Baer auf ein vereinbartes Zeichen hin hereingekommen war? »Paul hatte nur ein paar Fragen«, sagte Kroner. »Fragen?« »Er wollte von mir wissen, ob wir nicht im Namen des Fortschrittes Unheil anrichten.« Baer setzte sich auf die Schreibtischkante und dachte nach, wobei sein Gesichtsausdruck klar zeigte, daß er sich zum erstenmal mit diesem Problem beschäftigte. »Ist Fortschritt schlecht? Hm – eine gute Frage. Ich weiß es auch nicht. Vielleicht ist er es wirklich?« Kroner sah ihn überrascht an. »Hör mal, du weißt so gut wie ich, daß die Geschichte diese Frage schon tausendmal bejahend beantwortet hat!« »So, hat sie das? Tausendmal bejaht, was? Das ist gut, ausgezeichnet. Ich weiß nur, daß man so handeln muß, als hätte sie es, denn sonst könnte man gleich aufgeben.« Diesmal war Kroner erschreckt und verwirrt. »Wie wäre es jetzt mit einem kleinen Drink?« fragte er schnell. »Gern«, antwortete Paul erleichtert. Kroner schmunzelte. »Na, na, so schlimm war es doch nicht; oder etwa doch, mein Junge?« »Nein.« Die drei gingen wieder in das Wohnzimmer hinüber, wo Mom und Anita immer noch über die neu
eingerichtete Küche sprachen, wobei Mom sich selbst für kleinste Details brennend interessierte. »Na, habt ihr euch gut mit diesen schrecklichen Gewehren amüsiert?« fragte Mom. »Prima, Mom«, antwortete Paul. Anita sah Paul an und hob fragend die Augenbrauen. Paul nickte. Sie lächelte zufrieden und ein wenig erschöpft. Mom reichte kleine Gläser mit Portwein herum, während Kroner sich an dem Plattenspieler zu schaffen machte. »Wo ist denn das Ding schon wieder?« fragte er. »Natürlich auf dem Plattenteller«, antwortete Mom. Kroner hielt den Tonarm über die Platte. »Paul, das wird Ihnen sicher gefallen; ich spiele das Lied immer wieder, weil es mich aufmuntert.« »Ich habe ihm die Platte vor ein paar Wochen geschenkt«, erklärte Mom. Kroner senkte die Nadel und setzte sich dann schnell in seinen Sessel. Der Plattenspieler war auf volle Lautstärke gestellt, und plötzlich röhrte der Lautsprecher los: »Ooooooh, laßt uns den Tag beginnen in einem neuen Geist, der unser Tun und Sinnen zu neuen Zielen weist ...« Paul sah sich um. Kroner hatte die Augen halb geschlossen und klopfte mit dem Fuß den Takt des Liedes mit, wobei er mit dem Kopf nickte. Mom nickte auch mit dem Kopf, Baer und Anita ebenfalls.
13 Vom nächsten Morgen an war Dr. Paul Proteus ein Mann mit einem Geheimnis, das daraus bestand, daß er seine Stellung aufzugeben, seine Frau zu einem einfacheren Leben überreden und sich in ein kleines Haus auf dem Lande zurückziehen wollte, um dort mit den zwei Millionen Dollar auszukommen, die er insgesamt besaß. Das alles hatte er sich nach dem Abend bei Kroners genau überlegt und war dabei zu dem Entschluß gekommen, vorläufig noch darüber zu schweigen. Er tat nach wie vor seine Arbeit, allerdings nicht, ohne sich dabei heimlich über die anderen zu amüsieren, die alles todernst zu nehmen schienen. Paul hatte nie viel gelesen, aber jetzt entdeckte er plötzlich eine Leidenschaft für Bücher, in denen der Held ein harter Bursche war, der fast nur im Freien lebte und arbeitete – Holzfäller, Seefahrer, Cowboys ... Er las diese Geschichten allerdings mit einem leisen Lächeln, weil er sich nur zu gut vorstellen konnte, daß das Leben bestimmt nicht so befriedigend sein konnte, wie es in diesen Romanen geschildert wurde. Aber trotzdem enthielten die Erzählungen einen wahren Kern – ein primitives Ideal, das er ebenfalls anstreben konnte: mit der Erde leben, so wie Gott sie den Menschen gegeben hatte. »Ist das ein gutes Buch, Herr Doktor?« fragte Dr. Katharine Finch, die mit einer großen Pappschachtel in sein Arbeitszimmer gekommen war. »Oh – hallo, Katharine.« Paul legte den Roman lä-
chelnd nieder. »Keineswegs erstklassige Literatur, das ist sicher. Aber nette Entspannung – eine Erzählung über die berühmten Wettfahrten der Teeklipper.« Er wies auf den Karton. »Na, was haben Sie denn da?« »Ihre Trikots. Ein Bote hat sie abgegeben.« »Trikots?« »Für die Meadows.« Katharine hatte den allgemein üblichen Ausdruck für die Wettkämpfe auf der Insel im St. Lawrence gebraucht. »Machen Sie die Schachtel auf. Was für eine Farbe haben sie denn?« »Blau. Sie gehören dieses Jahr zum blauen Team.« Sie legte die Trikots auf den Schreibtisch. »Oh! Nein, das darf nicht sein!« Paul sprang auf und starrte die Trikots an. Auf der Vorderseite jedes Trikots prangte in goldenen Buchstaben das Wort ›Captain‹. »Katharine, das können sie mir doch nicht antun wollen!« »Aber es ist doch eine Ehre, nicht wahr?« »Ehre!« Er schüttelte den Kopf. »Katharine, Sie wissen gar nicht, was das heißt! Als Captain des blauen Teams muß ich meine Männer vierzehn Tage lang bei allem anführen: gemeinsames Singen, Marschieren, Seilspringen, Volleyball, Golf, Handball, Badminton Kugelstoßen, Freistilringen, Lagerfeuer, Weitsprung und so fort. Warum muß das gerade mir passieren?« »Dr. Shepherd hat sich sehr gefreut, daß er auch Captain geworden ist.« »Oh? Für welches Team?« »Grün. Seine Trikots liegen drüben bei mir auf dem Schreibtisch.«
»Grün, was?« Wenn man sich ein wenig in der inoffiziellen Reihenfolge der verschiedenen Teams auskannte, wußte man, daß grün hinter rot und blau rangierte, während blau die erste Stelle einnahm. Aber was für einen Unterschied machte das jetzt noch? »Sie haben eine Menge Trikots bekommen«, meinte Katharine bewundernd, während sie sie zählte. »Neun, zehn, elf, zwölf – ein ganzes Dutzend!« »Reicht noch lange nicht. Zwei Wochen lang trinkt und schwitzt man, trinkt und schwitzt man wieder, bis man sich am Ende wie eine Abwasserpumpe vorkommt. Das Dutzend hier reicht bestenfalls für zwei Tage.« »Aber trotzdem werden die Blauen dieses Jahr gewinnen, das weiß ich ganz sicher«, sagte Katharine voller Begeisterung. »Sind Sie während dieser Zeit in Camp Mainland?« Das Camp bestand aus einer riesigen Bungalowsiedlung, in der die Frauen und Kinder der Wettkampfteilnehmer während dieser zwei Wochen zusammen mit den weiblichen Angestellten der Abteilung Ost lebten. »Näher werde ich wohl nicht herankommen«, antwortete sie bedauernd. »Glauben Sie mir, das ist schon viel zu nahe. Sagen Sie, kommt Bud Calhoun auch?« Sie wurde rot, und Paul schämte sich, daß er ihr eine so taktlose Frage gestellt hatte. »Ich weiß, daß er eine Einladung dazu hatte«, sagte sie zögernd, »aber das war noch bevor er ...« Sie zuckte unglücklich mit den Schultern. »Und Sie wissen, was für strenge Bestimmungen es dafür gibt.«
»Die Maschinen mögen ihn nicht mehr«, erwiderte Paul ernst. »Wissen Sie, was er jetzt vor hat?« »Ich habe ihn schon seit einigen Tagen nicht mehr gesehen, aber ich habe im Personalbüro angerufen und mich erkundigt, was sie dort mit ihm zu tun gedenken. Es hieß, daß er einen leitenden Posten beim Korps erhalten solle.« Sie konnte sich nicht mehr beherrschen und verließ schluchzend Pauls Arbeitszimmer. »Bud wird sich schon zurechtfinden!« rief er ihr nach. »Ich wette, daß wir Ilium nicht mehr wiedererkennen werden, wenn er sich erst einmal ein paar Projekte für das K.I.W. ausgedacht haben wird.« Das Telephon auf Pauls Schreibtisch klingelte, und die Wache teilte mit, daß ein gewisser Dr. Edward Finnerty ihn zu sprechen wünsche. »Binden Sie ihm Hände und Füße zusammen, stekken Sie seinen Kopf in einen Sack, und lassen Sie ihn von vier Posten heraufbringen! Mit aufgepflanzten Seitengewehren natürlich. Und vergessen Sie auf keinen Fall, für Dr. Shepherd ein Photo davon zu machen!« ordnete Paul an. Zehn Minuten später wurde Finnerty von einem bewaffneten Posten in Pauls Büro begleitet. »Seht euch das an!« rief Paul erstaunt aus. Finnerty hatte sich die Haare schneiden lassen, war tadellos rasiert und gewaschen, und sein Anzug schien frisch aus der Reinigung gekommen zu sein. Finnerty sah ihn verständnislos an, als könne er sich gar nicht vorstellen, worüber Paul erstaunt war. »Kann ich mal deinen Wagen haben, Paul?« »Versprichst du mir, daß du deine Fingerabdrücke wieder abwischst, wenn du ihn nicht mehr brauchst?« »Oh – du bist sauer wegen der Sache mit der Pi-
stole, nehme ich an. Tut mir leid, ich dachte, ich hätte sie in den Fluß geworfen.« »Du hast also schon davon gehört?« »Klar – und auch davon, daß Shepherd einen Bericht über dich geschrieben hat, weil du mich ohne Begleitung in den Fabrikanlagen hast herumlaufen lassen. Pech gehabt, alter Junge.« In den wenigen Tagen, die er jetzt in der Siedlung lebte, hatte sich Finnerty eine rauhe Herzlichkeit zugelegt. Paul war verblüfft, wie er schon bei Kroner verblüfft gewesen war, daß andere so viel über ihn wußten. »Woher weißt du denn das alles?« »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wer was weiß und wie die Leute das erfahren. Du wärst völlig von den Socken, wenn du wüßtest, was in der Welt vor sich geht.« Finnerty lehnte sich zu ihm hinüber. »Und, Paul – ich erkenne mich endlich selbst.« »Wie siehst du denn aus, Ed?« »Diese dummen Kerle in der Siedlung – das sind die Leute, zu denen ich gehöre. Sie sind wirklich, Paul, wirklich!« Da Paul das bisher nie bezweifelt hatte, äußerte er sich nicht dazu. »Das freut mich ehrlich, Ed, daß du endlich dein wahres Ich entdeckt hast.« Finnerty »erkannte« sich schon seit mindestens fünfzehn Jahren ständig, und Paul hatte einige Male miterlebt, daß er sich wütend von einem Ego abgewandt hatte, das erst einige Wochen oder Monate alt gewesen war. »Na, und wie steht es mit den Schlüsseln für das Auto?« »Darf ich fragen, wozu?« »Ich möchte nur meinen Koffer bei euch abholen und das Zeug zu Lasher bringen.«
»Wohnst du bei Lasher?« Finnerty nickte. »Wir verstehen uns prima, gleich von Anfang an war es schon so.« Sein Ton verriet die Verachtung für das Leben, das Paul führte. »Schlüssel?« Paul warf sie ihm zu. »Und wie willst du weitermachen?« »Bei den Leuten bleiben. Dort gehöre ich hin.« »Weißt du, daß dir die Polizei auf den Fersen ist, weil du dich nicht angemeldet hast?« »Macht die Sache spannend.« »Dafür können sie dich ins Gefängnis stecken, weißt du das eigentlich?« »Du hast Angst vor dem Leben, Paul, das ist es. Was weißt du über die Philosophen Thoreau und Emerson?« »Genauso viel wie du, bevor Lasher dir von ihnen erzählt hat, möchte ich wetten.« »Na, jedenfalls saß Thoreau im Gefängnis, weil er sich weigerte, Steuern zu zahlen, mit denen der Krieg gegen Mexiko finanziert werden sollte. Und Emerson besuchte ihn im Gefängnis. ›Henry‹ sagte er, ›warum sitzt du hier?‹ Und Thoreau antwortete: ›Ralph, warum sitzt du nicht hier?‹« »Heißt das, daß ich mich bemühen sollte, eingesperrt zu werden?« fragte Paul. »Du solltest das tun, was du für richtig hältst, selbst wenn es dich ins Gefängnis bringen sollte.« »Nun, da besteht keine Gefahr.« »Schön, dann eben nicht.« Finnerty schien die Unterhaltung mit seinem ehemaligen Freund vom Nordufer allmählich zu langweilen. »Danke für den Wagen.«
»Bitte, gern geschehen.« Paul fühlte sich erleichtert, als sich die Tür hinter Finnerty schloß. Dann läutete das Telephon. »Hallo, Paul«, sagte Kroner, »wie geht es Ihnen, mein Junge?« »Danke Sir.« »Paul, wegen dieser Sache mit Finnerty und Lasher ...« Seine Stimme klang geheimnisvoll. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich deswegen in Washington angerufen habe, und daß die Zentrale mich angewiesen hat, mit der ganzen Angelegenheit noch zu warten.« Er flüsterte. »Paul, es sieht so aus, als handle es sich hier um ein Problem von nationaler Bedeutung!« »Aber wie kann Finnerty in den paar Tagen schon die Sicherheit der ganzen Nation gefährdet haben?« fragte Paul. »Müßiggang ist aller Laster Anfang, Paul. Er ist vermutlich in schlechte Gesellschaft geraten, und diese Leute wollen wir herausbekommen. Jedenfalls hat die Zentrale eine Besprechung angeordnet, die auf der Insel stattfinden soll. Heute in sechzehn Tagen.« »Ausgezeichnet«, sagte Paul vorsichtig. Er hatte nie die Absicht gehabt, sich als Denunziant mißbrauchen zu lassen, sondern wollte nur unauffällig bis zu dem Tag leben, an dem er und Anita sagen konnten: »Zum Teufel mit allem!« »Wir alle halten eine Menge von Ihnen, Paul.« »Danke schön Sir.« Kroner schwieg einen Augenblick, dann brüllte er plötzlich so laut in den Apparat, daß Pauls Trommelfell beinahe geplatzt wäre. »Wie bitte, Sir?« Paul hatte kein Wort verstanden. Kroner kicherte und sagte etwas leiser: »Ich habe gefragt, wer gewinnen wird, Paul?«
»Gewinnen?« »Die Wettkämpfe! Wer wird sie gewinnen?« »Oh – die Wettkämpfe.« Paul hatte keine Ahnung, worauf Kroner hinauswollte. »Welches Team?« fragte Kroner. Paul füllte seine Lungen mit Luft. »Blau!« brüllte er zurück. »Darauf können Sie Gift nehmen!« brüllte Kroner wieder. »Die Blauen stehen wie ein Mann hinter Ihnen, Captain!« Das hieß, daß Kroner also in Pauls Team war. Dann ertönte ein Schrei aus dem Hintergrund: »Weiß wird gewinnen!« Paul erkannte Baers Stimme. »Kroner, du glaubst doch selbst nicht, daß die Blauen gewinnen, was? Die Weißen werden es euch schon zeigen! Und wie!« Paul hörte noch einen Augenblick Lachen und Lärm in Kroners Büro, aber dann wurde dort der Apparat umgestoßen, und nur noch das Amtszeichen klang aus dem Hörer. Paul legte ihn müde auf die Gabel. Es hatte keinen Sinn, noch vor den Wettkämpfen aufgeben zu wollen, sagte er sich nüchtern – in den wenigen Tagen, die ihm noch blieben, war zu wenig Zeit, um Anita umerziehen zu können. Er mußte die Meadows durchstehen. Sein Blick fiel auf den muskulösen, halbnackten Mann, der den Umschlag des Buches zierte, das er gerade gelesen hatte, und seine Gedanken beschäftigten sich dankbar mit dem schönen, neuen Leben, das vor ihm lag. Irgendwo außerhalb des Systems mußte es doch einen Platz geben, an dem ein Mann und seine Frau von der Arbeit ihrer Hände leben konnten!
Landwirtschaft – das war das Zauberwort, dachte Paul. Wie so viele Worte aus der Vergangenheit, an denen noch ein gewisser Zauber zu haften schien, erinnerte ihn »Landwirtschaft« an längst vergangene Zeiten, als die Menschen ihr Brot noch durch harte Arbeit verdienen mußten, als das Leben noch unkompliziert verlief. Heutzutage hatte dieses Wort keine Bedeutung mehr, denn es gab schon lange nur noch Agrikultur-Ingenieure – die Farmer waren ausgestorben. Früher hatten Hunderte von ihnen das fruchtbare Tal des Iroquis bebaut, aber jetzt wurde es von Dr. Ormand van Curler mit hundert Arbeitern und Maschinen bewirtschaftet. Landwirtschaft. Pauls Herz schlug schneller, und er stellte sich vor, wie es wäre, wenn er ein Jahrhundert früher auf die Welt gekommen wäre – in einem der kleinen Farmhäuser, die immer noch halbzerfallen über das ganze Tal verstreut lagen. Er dachte dabei besonders an eine Farm ganz in der Nähe der Stadt, die er schon oft bewundert hatte. Dann fiel ihm plötzlich ein, daß dieses kleine bißchen Vergangenheit nicht zu van Curlers Farmsystem zu gehören schien. »Katharine«, rief er aufgeregt, »verbinden Sie mich mit dem Grundstücksmenschen in Ilium!« »Manager für Grundstücke und Liegenschaften«, meldete sich Dr. Pond mit lispelnder Stimme. »Dr. Pond, hier spricht Dr. Paul Proteus, Manager der Ilium-Werke.« »Oh, was kann ich für Sie tun, Dr. Proteus?« »Sie kennen doch das kleine Farmhaus an der King Street, ein paar hundert Meter jenseits der Stadtgrenze?«
»Mmmm. Einen Augenblick bitte.« Paul hörte, daß eine Maschine die Karten sortierte, dann ertönte ein Glockenzeichen um anzuzeigen, daß sie die entsprechende gefunden hatte. »Aha, die Gottwald-Farm. Ich habe die Karte vor mir liegen.« »Was soll mit ihr geschehen?« »Eine ausgezeichnete Frage! Ich wollte, ich wüßte eine Antwort darauf! Wissen Sie, der alte Gottwald hat die Farm als eine Art Hobby betrachtet und nichts an ihr verändern lassen. Seine Erben wollten sie an van Curlers Organisation verkaufen, aber er wollte sie nicht haben, denn sie ist nur einhundertachtzig Hektar groß, und er hätte erst die ganzen Hecken beseitigen lassen müssen, um sie rationell bewirtschaften zu können, denn das Testament des alten Gottwald enthält eine Klausel, daß sie nur an jemand verkauft werden darf, der keine Änderungen an ihr vornimmt.« Er lachte ironisch. »Der Alte hat ihnen anscheinend nicht so recht über den Weg getraut, deshalb hat er das Veräußerungsverbot ausdrücklich festgelegt.« »Wieviel?« »Meinen Sie das ernst? Das Ding ist ein Museumsstück, Doktor, damit will ich sagen, daß in dem ganzen Haus buchstäblich kein einziger Automat eingebaut ist! Sie müßten eine Menge Geld ausgeben, um es einigermaßen komfortabel zu machen – und erst einmal diese verflixte Klausel umgehen.« »Wieviel?« »Auf der Karte steht achtzehntausend, aber ich kann sie Ihnen bestimmt für fünfzehn besorgen.« Bevor Paul zustimmen konnte sprach Pond weiter. »Wahrscheinlich sogar für acht, wie wäre es damit?«
»Können Sie mir zusichern, daß Sie das Haus an niemand verkaufen werden, wenn ich fünfhundert anzahle? Ich möchte es mir einmal ansehen.« »Verkaufen? Doktor, die Farm ist schon seit vierzehn Jahren unverkäuflich! Sehen Sie sich das Haus ruhig an, wenn Sie unbedingt wollen – und dann können Sie jederzeit wieder zu mir kommen, um sich ein paar passende Häuser zeigen zu lassen.« Wieder liefen die Karten durch die Maschine. »Hier ist zum Beispiel ein hübsches Häuschen am Griffin Boulevard. Elektronischer Türöffner, Klimaanlage, Radarherd, elektrostatische Staubfänger, eingebaute Utlraschallwaschmaschine, Großbildfernsehgeräte im Schlafzimmer, Gästezimmer, Wohnzimmer, Küche und Hobbyraum, normal große Geräte im Kinderzimmer, Mädchenzimmer und ...«
14 Eine Stunde später war Paul bereits auf dem Weg zu dem alten Farmhaus. Der Verwalter, den Pond angeblich von seinem Kommen verständigt hatte, war nirgends zu sehen, aber die Haustür stand offen. Paul ging als erstes in den Wohnraum. Durch die verstaubten Fensterscheiben drang nur wenig Licht, das von den dunklen Möbeln förmlich aufgesogen wurde. Der Fußboden bewegte sich unter Pauls Füßen auf und ab wie ein Sprungbrett ... »Das Haus ist baufällig«, sagte eine lispelnde Stimme aus den Schatten heraus. Paul fuhr erschreckt herum und sah einen Mann hinter sich stehen. »Sie sind Dr. Proteus?« »Ja.« »Mein Name ist Pond. Soll ich Licht machen?« »Ja, bitte.« »Das geht hier nicht. Überall nur Petroleumlampen. Möchten Sie sich die Hände waschen?« »Eigentlich nicht gerade.« »Dann müßten Sie sich nämlich erst Wasser an der Pumpe im Hof holen. Die Toilette befindet sich ebenfalls dort – neben dem Hühnerstall. Wollen Sie sich noch die Termiten, den Komposthaufen, den Schweinestall und den Miststreuer ansehen, oder wollen wir lieber gleich zu dem Haus am Griffin Boulevard fahren?« Dr. Pond ging zum Fenster hinüber, und Paul sah, daß er ein fetter, junger Mann war, der sich in dieser ungewohnten Umgebung äußerst unwohl zu fühlen schien.
»Sie geben sich alle Mühe, um mir das Haus anzupreisen«, lachte Paul, dem die Farm immer unwiderstehlicher erschien, je mehr Pond über die altmodische Einrichtung jammerte. Das Haus war einfach ideal für jemand, der einen ruhigen Platz abseits des Getriebes von Gesellschaft und System suchte. »Ich trage eine bestimmte Verantwortung«, fuhr Pond fort. »Ein Manager der nicht in gewisser Beziehung mehr und weiter denkt, als die Vorschriften es vorsehen, gleicht einem steuerlosen Schiff auf stürmischer See ...« »Ach, wirklich?« sagte Paul geistesabwesend. Er sah durch eines der Fenster in den Hinterhof hinaus, wo er eine Kuh entdeckt hatte. »Ja«, antwortete Pond, »wie ein Schiff ohne Steuer. Die Vorschriften schreiben zwar nicht vor, daß jeder ein Haus besitzen muß das seiner gesellschaftlichen Stellung entspricht, aber ich gebe mir immer Mühe, diesen Idealzustand zu erreichen. Schließlich wird ein Mann auch danach beurteilt, wie er wohnt, und wenn sein Prestige deshalb sinken sollte, sinkt das Prestige des ganzen Systems.« »Glauben Sie wirklich, daß ich die Farm für acht bekommen kann?« »Bitte, Sie bringen mich in eine unangenehme Situation. Als Sie mich vorher anriefen, war ich ganz begeistert, daß das Haus endlich einen Käufer gefunden haben sollte, aber seitdem habe ich Gewissensbisse. Ich kann es Ihnen einfach nicht verkaufen!« »Ich nehme die Farm. Gehört das Vieh auch dazu?« »Alles. Gottwald hat in seinem Testament verfügt daß die Farm bewirtschaftet werden muß. Sehen Sie jetzt, wie unmöglich das alles ist? Wollen Sie sich nun
das Haus am Griffin Boulevard ansehen das wirklich für den Manager der Ilium-Werke geeignet wäre?« »Ich will das hier.« »Wenn Sie mich dazu zwingen wollen, es gegen meinen Willen zu verkaufen, werde ich kündigen! Meine Klassifikationsnummer mag doppelt so hoch wie die Ihre sein, aber ich besitze eine gewisse Integrität.« Paul wollte zuerst lächeln, weil ihm dieser Ausdruck in Ponds Mund komisch vorkam, aber dann stellte er überrascht fest, daß Pond recht hatte – bei Gott, er hatte recht. Dieser lächerliche kleine Mann hatte lächerliche kleine Prinzipien, derentwegen er seine lächerliche kleine Stellung aufs Spiel setzen wollte. Paul hatte den Eindruck, einen unendlich langen, lecken Deich vor sich zu sehen hinter dem unzählige Männer wie Dr. Pond standen, und jeder von ihnen hielt unbeirrt seinen Daumen auf ein Leck. »Ich würde die Farm selbstverständlich nur als ein Hobby betrachten«, log Paul. »Sozusagen als Spielzeug. Meine Frau und ich haben keineswegs die Absicht, unser Haus aufzugeben.« Dr. Pond seufzte erleichtert und ließ sich in einen Sessel fallen. »Gott sei Dank! Sie können sich gar nicht vorstellen, was für ein Stein mir eben vom Herzen gefallen ist! Und Sie werden Mr. Haycox behalten?« »Wer ist Mr. Haycox?« »Der Mann vom K.I.W., der die Farm verwaltet. Entlohnt wird er allerdings von dem jeweiligen Besitzer.« »Ich möchte ihn gern einmal sehen.« »Er paßt zu dem Haus.« Pond zuckte mit den
Schultern. »Was für eine Bruchbude! Sie haben einen merkwürdigen Geschmack, Dr. Proteus – aber wer zahlt, schafft an.« »Solange er damit nicht das System in Verruf bringt.« »Genau!« Pond nickte heftig und öffnete dann das Fenster. »Mr. Haycox! He, Mr. Haycox!« Paul hatte unterdessen die große alte Standuhr geöffnet, die in der Ecke vor sich hin tickte. »Das ist ja toll«, murmelte er dabei vor sich hin. »Ein Uhrwerk aus Holz.« Er sah auf die moderne Armbanduhr, die Anita ihm letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte und stellte fest, daß die Standuhr etwa zwölf Minuten nachging. Dann folgte er einer unwillkürlichen Eingebung und stellte seine Uhr ebenfalls zwölf Minuten nach, als wolle er damit andeuten, welche Zeit in Zukunft für ihn zu gelten habe. »Ah«, sagte Dr. Pond, »da ist ja endlich Mr. Haycox.« Paul sah Mr. Haycox entgegen, der langsam und schwerfällig über den Hof kam. Der Verwalter war ein alter Mann mit weißem Haar, sonnengebräunter Haut und bemerkenswert großen Händen. Er trug altmodische Overalls, einen breitkrempigen Strohhut und feste, schmutzüberkrustete Stiefel. »Was wollen Sie denn hier?« fragte Haycox kurz. »Was ist denn los?« Er benahm sich, als gehöre die Farm ihm, als wolle er das Gespräch möglichst kurz machen. »Dr. Proteus, darf ich Ihnen Mr. Haycox vorstellen.« »Sehr erfreut, Mr. Haycox«, sagte Paul höflich. »Was für ein Doktor sind Sie?«
»Doktor der Naturwissenschaften«, erklärte ihm Paul. Mr. Haycox schien verärgert zu sein. »Das nenne ich keinen Doktor. Für mich gibt es nur drei Arten: Zahnärzte, Tierärzte, praktische Ärzte. Sind Sie einer von denen?« »Nein, tut mir leid.« »Dann sind Sie kein Doktor.« »Er ist aber trotzdem einer!« warf Pond ernsthaft ein. »Er weiß, wie man Maschinen gesund macht.« »Mechaniker«, sagte Mr. Haycox wegwerfend. »Auf der Universität kann man aber schließlich noch eine Menge anderer Dinge lernen – nicht nur, wie man Pferde und Menschen kuriert«, sagte Pond unbeirrt. »Unsere Zivilisation könnte sich nicht weiterentwickeln, wenn es nicht genügend Männer mit entsprechender Ausbildung gäbe, die dafür sorgen, daß alles ohne Unterbrechung weiterläuft!« »Hmm«, meinte Haycox, »und was lassen Sie weiterlaufen?« Dr. Pond lächelte. »Ich habe zwölf Semester an verschiedenen Universitäten studiert, um meinen Doktor auf dem Gebiet der Geodäsie zu erwerben, den ich für meine jetzige Stellung benötige.« »Sie nennen sich wohl auch Doktor, wie?« »Ich glaube, daß ich das tun kann«, gab Pond eisig zurück, »denn schließlich habe ich mir den Titel ehrlich verdient. Meine Doktorarbeit war damals die drittlängste von ganz Amerika – achthundertundsechsundneunzig Seiten, mit einfachen Zeilenabständen und schmalen Rändern.« »Immobilienmakler«, stellte Mr. Haycox schlicht fest. Er sah die beiden Männer an, als erwarte er, daß
endlich jemand etwas sage, was seine Anwesenheit gerechtfertigt erscheinen lasse. Als nach weiteren zwanzig Sekunden niemand den Mund aufgemacht hatte, drehte Haycox sich kurzerhand um und ging wieder. »Ich bin Doktor für Kuhmist«, sagte er noch, »wenn die beiden Herren Doktoren sich darüber geeinigt haben, was sie von mir wollen, dann können sie zu mir in den Stall kommen.« »Mr. Haycox!« sagte Pond wütend. »Sie werden gefälligst hierbleiben, bis wir mit Ihnen fertig sind.« »Dachte, daß Sie nichts mehr zu sagen hätten ...« »Dr. Proteus will die Farm kaufen.« »Meine Farm?« fragte Mr. Haycox verblüfft. »Sie gehört Gottwalds Erben«, warf Pond ein. »Die Farm gehört mir mehr als jedem anderen!« brauste Haycox auf. »Ich bin der einzige, der sich je um sie gekümmert hat.« Er wies auf die Gebäude und den Hof, dann wandte er sich an Paul. »Wissen Sie, daß alles so bleiben muß?« »Ich werde alles so lassen, wie es jetzt ist.« »Und mich müssen Sie auch behalten.« »Nun, das weiß ich im Augenblick noch nicht«, antwortete Paul. »Davon ist im Testament nichts erwähnt«, sagte Pond, der sich zu freuen schien, daß er dem Grobian endlich eins auswischen konnte. »Trotzdem, Sie müssen mich behalten«, sagte Mr. Haycox unbeirrt zu Paul. »Gottwald hat die Farm von Mr. Haycox' Vater gekauft«, erklärte Pond, »und damals wurde anscheinend eine Art Abmachung getroffen, daß Mr. Haycox auf Lebenszeit Verwalter der Farm bleiben sollte.« »Was heißt hier Abmachung«, polterte Haycox.
»Gottwald hat es meinem Alten in die Hand versprochen! Er hat immer gesagt, daß ich die Farm als mein Eigentum ansehen dürfe, bis einmal für mich die Zeit gekommen sei.« »Nun, jetzt ist sie eben gekommen«, sagte Pond. »Gottwald meinte, bis zu dem Tag, an dem ich sterbe.« Haycox baute sich vor Pond auf. »Und da wollen Sie mir einreden, daß es jetzt schon soweit sei. Hören Sie, Mister, ich habe in meinem Leben so viel Mist geschaufelt, daß ich mir vorstellen kann, wie leicht es sein müßte, einen Hampelmann wie Sie über die Scheune zu werfen!« Dr. Ponds Augen weiteten sich ängstlich, und er ging ein paar Schritte zurück. »Oh – äh – Mr. Haycox, ich will doch nicht hoffen ...« »Hören Sie«, sagte Paul schnell, »ich werde Sie bestimmt nicht entlassen, Mr. Haycox. Sie können für mich arbeiten, wenn ich die Farm gekauft habe.« »Und nichts wird verändert?« »Meine Frau und ich werden von Zeit zu Zeit herauskommen.« Paul hatte keine Lust, ihm zu erzählen, daß Anita und er dort ständig wohnen würden. Haycox schien darauf keinen großen Wert zu legen. »Wann?« »Wir werden Sie rechtzeitig verständigen.« Mr. Haycox lächelte plötzlich unerwartet. »Ob ich wohl den Doktor der Geodäsie beleidigt habe, weil er abgehauen ist?« Pond hatte sich in das Haus geflüchtet. »Na, ich muß weiterarbeiten. Und Sie könnten eigentlich gleich die Pumpe reparieren, wenn Sie schon einmal da sind. Das Ding braucht eine neue Dichtung.« »Das kann ich nicht, fürchte ich«, sagte Paul verlegen.
»Vielleicht«, meinte Mr. Haycox, »vielleicht hätten Sie noch zehn oder zwanzig Jahre studieren sollen, Herr Doktor.«
15 Edgar R. B. Hagstrohm, 37, K.I.W.-131313, Anstreicher, 22. Oberflächenbehandlungsbataillon, 58. Instandhaltungsregiment, 110. Gebäudeverwaltungsdivision, Korps für Instandsetzung und Wiederverwendung, hatte zwei seiner Vornamen dem Lieblingsautor seines Vaters zu verdanken, der sämtliche Tarzangeschichten geradezu verschlungen hatte – Tarzan, der mit Affen und Löwen Freundschaft geschlossen hatte, der sich an Lianen von Baum zu Baum schwingen konnte der ein Modellathlet war, der in Baumhäusern lebte, immer die schönsten Frauen hatte und ansonsten ein freies Leben führte, wobei ihm die moderne Zivilisation den Buckel herunterrutschen konnte ... E. R. B. Hagstrohm war genauso wie sein Vater von Tarzan begeistert und haßte es, in Chicago leben zu müssen. Edgar las gerade eine Erzählung über Tarzans Abenteuer, als seine dickliche Frau Wanda ihm von der Haustür ihres Fertighauses aus zurief: »Edgar, er kommt schon!« »Na und ...?« fragte Edgar. »Soll ich etwa hurra brüllen? Oder vor ihm niederknien und seine Füße küssen?« Er wälzte sich langsam von dem Bett herunter, ließ das Buch auf dem Nachttisch zurück, damit jeder sehen konnte, daß er ein belesener Mann war und ging in das Wohnzimmer hinüber. »Wie sieht er denn aus, Wan?« fragte er mürrisch. »Edgar, sieh nur – lauter Gold und Juwelen!« Der Schah von Bratpuhr hatte seinen Führer, Dr. Ewing J. Halyard gebeten, ihm das Heim eines typi-
schen Takaru zu zeigen, während er Chicago besuchte. Halyard hatte das Personalbüro angerufen und sich die Adresse eines Durchschnittsbürgers geben lassen. Die Personalmaschinen hatten Hagstrohms Karte ausgeworfen der in fast allen Punkten der statistischen Vorstellung von einem »Standardamerikaner« entsprach: Alter (37), Körpergröße (1,71), Gewicht (72), Jahre verheiratet (11), Kinder (2; 1 männl., 9; 1 weibl., 6), Haus (Typ c-21-AY), Auto (Ford 2-tür., Lim.), Ausbildung (Obersch.; Football, 2. Mannsch., Baseball, Reserve-Schulorchester; kein Studium), Hobbies (TV, Angeln Badminton, Tischtennis), Militärdienst (5 Jahre, davon 3 Jahre Übersee; 157. Inf. Div; 4 Verwundungen; Auszeichn.: Purple Heart, 3. Kl.; Silver Star; Bronze Star, 2. Kl.; Verdienstmedaille, Silber). Was die Maschinen allerdings nicht auf der Karte vermerkt hatten, war die Tatsache, daß Edgar ein Verhältnis mit einer Witwe namens Marion Frascati hatte, der Frau des verstorbenen Lou Frascati, der Edgars bester Freund gewesen war. Marion und Edgar hatten sich kaum einen Monat nach dem Hinscheiden gefunden. In den folgenden Wochen und Monaten hatten sie immer wieder versucht, die Beziehungen zueinander abzubrechen, aber es war ihnen nicht gelungen. Im Grunde genommen empfanden sie ihre Affäre als eine willkommene Unterbrechung des täglichen Einerleis und redeten sich gegenseitig ein, daß ja niemand dadurch zu Schaden komme – weder die Kinder noch Wanda, diese treue Seele. Außerdem waren sie fest davon überzeugt, daß der gute alte Lou nichts dagegen haben konnte, daß
Marion sich ein paar schöne Stunden mit Edgar machte. Trotzdem hatten sie sich nicht recht wohl dabei gefühlt. Die Kinder hatten bald herausbekommen, daß mit der Ehe ihrer Eltern etwas nicht mehr stimmte, und Wanda hatte einige Male geweint. Edgar beabsichtigte keineswegs, sein Verhältnis mit Marion aufzugeben, aber er wollte Wanda alles erzählen, sie um Verständnis bitten und – da klopfte doch der verfluchte Schah von Bratpuhr an die Haustür, als wolle er sie einschlagen. »Kommen Sie herein, treten Sie ein«, sagte Edgar und fügte leise hinzu, »Eure Majestät, Eure Hoheit, du naseweiser, neugieriger Idiot.« Als Halyard ihn wegen des zu erwartenden Besuches Seiner Hoheit des Schahs von Bratpuhr angerufen hatte, war Edgar besonders darum besorgt gewesen, nicht etwa den Eindruck aufkommen zu lassen, als sei er von dem Titel des Schahs beeindruckt. Er hatte sich fest vorgenommen, sich genauso zu benehmen, als ob die Besucher ebenfalls Arbeiter beim Korps seien. Wanda war völlig aufgelöst vor Aufregung, hatte sofort sämtliche Räume des Hauses putzen wollen, während der kleine Edgar noch schnell ein paar Flaschen Coca Cola und einige Sandwiches holen sollte, aber der große Edgar hatte nichts davon hören wollen. Die Kinder wurden zu Freunden geschickt. Die Tür öffnete sich dann kam der Schah mit seinem Gefolge herein, das aus Khashdrahr, Halyard und Dr. Ned Dodge, dem Manager der Siedlung, in der die Hagstrohms lebten, bestand. »Aha!« meinte der Schah, wobei er vorsichtig die
Stahlwände des Wohnzimmers betastete. »Mmmmm.« Edgar streckte die Hand aus, aber niemand schien sie zu sehen, denn alle liefen achtlos an ihm vorbei. »Na, dann könnt ihr mich eben ...« murmelte er. »Wie?« fragte Dr. Dodge. »Sie haben mich ganz gut verstanden.« »Hagstrohm, Sie sind doch hier nicht in einer Kneipe«, flüsterte Dr. Dodge erbost. »Benehmen Sie sich gefälligst; hier stehen unsere Beziehungen zu einem anderen Land auf dem Spiel!« »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich in eine Kneipe gehe?« »Was haben Sie denn eigentlich?« »Der Kerl betritt mein Haus und will mir nicht einmal die Hand geben.« »In seinem Land ist das eben nicht üblich.« »Aber in Ihrem, oder?« Dodge wandte ihm den Rücken zu und grinste den Schah wohlwollend an. »Zwei Schlafzimmer, Wohnraum mit Eßnische, Bad und Küche«, erklärte er. »Das hier ist ein Haus des Typs c-21-AY. Zentralheizung unter den Fußböden. Die Möbel sind als Ergebnis eines Preisausschreibens entstanden, das die Vorlieben und Abneigungen der Amerikaner in dieser Richtung feststellen sollte. Das Haus, die Möbel und das Grundstück werden nur zusammen verkauft, was Planung und Produktion dieser Einheiten natürlich erheblich vereinfacht hat.« »Hier gefahle, Takaru?« fragte der Schah, der Edgar erst jetzt zu bemerken schien. »Was will er?« »Seine Hoheit möchten wissen, ob es Ihnen hier gefällt«, erklärte Halyard.
»Na, geht schon. Ich meine – es ist in Ordnung. Ja.« »Es ist nett hier«, sagte Wanda. »Wenn Sie mir jetzt, bitte, in die Küche folgen wollen«, fuhr Dodge fort, »kann ich Ihnen den Radarherd zeigen, der alles in Sekundenschnelle gar kocht, wobei die wertvollen Bestandteile des Kochgutes erhalten bleiben. Damit kann man sogar Brot ohne Rinde backen, wenn man will.« »Was ist denn gegen Brot mit Rinde einzuwenden?« fragte Khashdrahr höflich. »Und das hier ist die automatische Ultraschallwaschmaschine die auch zum Geschirrspülen benutzt werden kann«, erklärte Dodge weiter. »Die hochfrequenten Schallwellen verrichten diese Arbeit in wenigen Sekunden. Eintauchen, herausnehmen, fertig!« »Und was tut die Hausfrau dann?« fragte Khashdrahr. »Dann steckt sie die Wäsche oder das Geschirr in diesen automatischen Trockner, der alles in kürzester Zeit trocknet, und – das ist ein cleverer Trick, finde ich – die Wäsche gleichzeitig zart parfümiert.« »Und dann?« fragte Khashdrahr. »Dann läßt sie die Wäsche durch diese automatische Bügelmaschine laufen, die in drei Minuten den gesamten Inhalt der Waschtrommel bügeln kann.« »Und was tut sie dann?« fragte Khashdrahr. »Und dann ist sie fertig.« »Und dann?« Dr. Dodge wurde rot. »Soll das ein Witz sein?« »Nein«, antwortete Khashdrahr, »der Schah möchte wissen, warum die weibliche Takaru ...« »Was ist eine Takaru?« fragte Wanda mißtrauisch. »Staatsbürgerin«, sagte Halyard.
»Ja«, fuhr Khashdrahr fort, wobei er seltsam lächelte, »Staatsbürgerin. Der Schah möchte wissen, warum sie alles so schnell tun muß – dies in Sekunden, jenes in Sekunden. Warum hat sie es so eilig? Was hat sie noch zu tun, daß sie diese Dinge möglichst schnell erledigen muß?« »Leben!« sagte Dr. Dodge großzügig. »Leben! Der Mensch muß doch auch ein bißchen Spaß haben!« Er schlug Khashdrahr lachend auf die Schulter. Der Schah und sein Dolmetscher schienen jedoch nur wenig beeindruckt. »Ach so«, meinte Khashdrahr kühl. Er sprach Wanda an. »Und wie leben Sie und haben ein bißchen Spaß?« Wanda wurde rot und sah zu Boden. »Oh, Fernsehen«, murmelte sie. »Wir sehen es uns oft an, nicht wahr, Ed? Und ich beschäftige mich viel mit den Kindern. Da gibt es immer eine Menge zu tun.« »Wo sind Ihre Kinder jetzt?« fragte Khashdrahr. »Bei Nachbarn von uns, bei denen sie vermutlich vor dem Fernsehapparat sitzen.« »Möchten Sie sehen, wie die Ultraschallwaschmaschine arbeitet?« fragte Dr. Dodge. »Entfernt Ei, Lippenstift, Blutflecke ...« »Der Transducer ist schon wieder hin«, unterbrach ihn Ed, »deshalb ist die ganze Maschine nicht zu gebrauchen. Wir warten schon vier Wochen auf das Ersatzteil, und in der Zwischenzeit hat Wanda die Wäsche mit der Hand gewaschen.« »Oh, das macht mir nichts aus«, sagte Wanda schnell. »Wirklich, ich mag es sogar gern so. Man hat immer etwas zu tun, außerdem ist es eine nette Abwechslung.« Halyard beendete das betretene Schweigen, das auf
ihre Worte folgte, indem er den Vorschlag machte, daß sie jetzt diese guten Leute allein lassen sollten, um einen Rundgang durch die Siedlung zu machen. Der Schah klopfte auf den Radarherd, die Waschmaschine und warf noch einen kurzen Blick auf den Fernsehschirm, auf dem fünf Männer zu sehen waren, die ernst um einen Konferenztisch versammelt waren. »Brahouna!« kicherte er dann. Khashdrahr nickte. »Brahouna! Lebt!« Als die Gesellschaft das Haus verließ, erklärte Halyard dem Schah, daß das Haus, die gesamte Einrichtung und der Wagen auf Raten gekauft wären, die jeden Monat automatisch von Edgars Lohn abgezogen wurden – zusammen mit den Beiträgen für Krankenversicherung, Lebensversicherung und Pensionskasse. »Er hat eine komplette Sammelversicherung«, sagte Halyard, »die noch dadurch ergänzt wird, daß die Maschinen automatisch Möbel, Kleider, Anzüge, Spielsachen und Auto abbezahlen und nach Ablauf der festgesetzten Lebensdauer von selbst neu bestellen. Früher kauften diese Leute je nach Lust und Laune ein, wodurch die Industrie niemals genaue Unterlagen über den voraussichtlichen Bedarf hatte.« Halyard lachte. »Ich kann mich noch gut an einen Verrückten erinnern, der sein gesamtes Geld in eine elektrische Orgel investierte, obwohl er noch nicht einmal einen Kühlschrank besaß!« Edgar schloß die Haustür. Wanda sank auf die Couch. »Gott sei Dank, daß wenigstens alles nett aufgeräumt war«, seufzte sie. »Stimmt«, antwortete Edgar. Und er kam sich gemein vor, wenn er Wanda ansah, deren Liebe für ihn so ergeben und uneingeschränkt war. Er fühlte die
dreißig Dollar in seiner Hosentasche – Zigarettengeld, Geld für kleine Extravaganzen, das ihm die Maschinen jeden Monat ließen – und wußte, daß er es ausgeben würde. Aber nicht für Wanda, sondern für Marion. »Wanda«, sagte Edgar langsam, »ich bin ein Taugenichts.« Sie wußte sofort, was er damit sagen wollte und war keineswegs überrascht. »Nein, das bist du nicht, Edgar«, antwortete sie müde. »Du bist ein guter Kerl. Ich verstehe alles.« »Das mit Marion?« »Ja, auch das. Sie ist hübsch und bezaubernd, während ich schon alt werde.« Sie begann zu weinen, drehte sich aber schnell um, damit er es nicht merken sollte und ging in die Küche, um das Abendessen zu kochen. »Rufst du bitte die Kinder, Edgar? Wir können in achtundzwanzig Sekunden essen.« Einen Augenblick später kam Edgar wieder herein. »Sie kommen schon.« Er sah sie unsicher an. »Wanda«, versuchte er ihr dann zu erklären, »sieh mal, ich habe doch nicht schuld daran – und du erst recht nicht! Es ist einfach die Welt, Wanda. Ich bin nur ein kleiner Arbeiter beim Korps, den niemand braucht, und jeder Mensch muß etwas Abwechslung haben, sonst lohnt sich das Leben nicht mehr – und die einzigen Abwechslungen, die ein dummer Kerl wie ich haben kann, sind die schlechten. Ich bin ein Taugenichts, Wanda, ein Schuft!« »Mich braucht niemand, Edgar«, antwortete Wanda resigniert. »Niemand ist auf mich angewiesen. Sogar unsere kleine Delores könnte den Haushalt führen. Und jetzt bin ich schon so dick, daß mich nur noch
die Kleinen gern haben. Meine Mutter ist dick geworden, meine Großmutter ebenfalls, es muß wohl in der Familie liegen; aber sie waren immer noch nützlich sie wurden gebraucht. Du brauchst mich nicht, Edgar, und du kannst nichts dafür, wenn du mich nicht mehr liebst. So sind die Männer eben einmal, und du kannst es auch nicht ändern, wenn es der liebe Gott so gewollt hat.« Sie sah ihn mitleidig an. »Armer Kerl.« Delores und der kleine Edgar kamen hereingestürzt, und ihre Eltern mußten ihnen während des Abendessens alles über den Besuch des Schahs erzählen. Aber selbst dieses interessante Thema war nach einiger Zeit erschöpft, und dann waren die Kinder die einzigen, die noch sprachen und aßen. »Was habt ihr denn?« fragte der kleine Edgar schließlich, dem aufgefallen war, daß seine Eltern bedrückt schwiegen. »Ist jemand krank?« »Deine Mutter hat ein bißchen Kopfschmerzen«, antwortete Edgar schnell. »Wirklich? Das tut mir aber leid Mutti!« »Danke, es geht schon wieder«, sagte Wanda. »Wie steht es mit dir, Vati?« fragte Edgar weiter. »Gehst du heute abend mit mir zum Baseballspiel?« Edgar sah auf seinen Teller. »Ich möchte schon«, murmelte er, »aber ich habe Joe versprochen, daß ich mit ihm zum Kegeln gehen wurde.« »Joe Prince?« »Richtig, Joe Prince.« »Aber, Vati«, warf Delores wichtigtuerisch ein, »wir haben Mr. Prince erst vor einer halben Stunde auf der Straße getroffen, und er hat gesagt, daß er sich ebenfalls das Spiel ansehen will!«
»Das stimmt nicht!« rief der kleine Edgar aus. »Halt den Mund, Delores! Mr. Prince hat das nie gesagt!« »Doch!« widersprach Delores. »Er hat gesagt, daß ...« »Delores, Liebling«, mischte sich Wanda ein, »du mußt Mr. Prince falsch verstanden haben.« »Ja«, sagte ihr Bruder, »sie hat gar nicht richtig zugehört. Er hat ganz bestimmt gesagt, daß er heute abend mit Vati zum Kegeln gehen will.« Edgar warf seinem Vater einen haßerfüllten Blick zu. »Ihr wolltet doch die neue Bahn im Hobby-Club versuchen, nicht wahr, Vati?« »Stimmt, mein Junge.« »Eigentlich habe ich keine rechte Lust auf das Spiel«, meinte Edgar plötzlich. »Ich werde hierbleiben und mich ein bißchen mit Mutti unterhalten.« »Laßt euch nur nicht von mir den Abend verderben«, sagte Wanda. »Ich komme ganz gut allein zurecht.« In diesem Augenblick klopfte jemand heftig an das große Wohnzimmerfenster, und als die Hagstrohms aufsahen, stand draußen der Schah von Bratpuhr. Er hatte gerade seinen Rundgang beendet und war zu der Limousine zurückgekommen, die vor dem Haus parkte. »Brahouna!« rief der Schah fröhlich. Er winkte ihnen zu. »Brahouna, Takaru!« »Lebt!« übersetzte Khashdrahr.
16 Am nächsten Dienstag fuhr Paul schon frühmorgens zu seiner Farm hinaus, um Mr. Haycox einige Anweisungen zu geben, bevor er Anita das Haus zum erstenmal zeigte. Der Verwalter benahm sich jedoch überaus widerspenstig und betonte immer wieder, daß er nicht als Putzfrau eingestellt worden sei, bis Paul ihm schließlich unmißverständlich zu verstehen gab, daß er seine Sachen packen könne, wenn die Anweisungen nicht sofort befolgt wurden. »Sie glauben wohl, daß Sie mit Ihrem Geld alles erreichen können, was?« sagte Mr. Haycox daraufhin. »Sie können Ihr Doktordiplom nehmen und sich damit ...« »Ich setze Sie nicht gern auf die Straße.« »Dann tun Sie es nicht!« »Zum letztenmal Sie tun mir damit einen Gefallen ...« »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, daß ich Ihnen damit einen Gefallen tun kann.« »Schön, dann tun Sie es bitte deswegen.« »Ausnahmsweise«, sagte Mr. Haycox. »Ich bin keine Putzfrau, aber ich versuche, ein guter Freund zu sein.« »Danke.« »Nichts zu danken.« Im Laufe des Vormittages rief Anita bei Paul an, um sich bei ihm zu erkundigen, was sie anziehen sollte. »Alte Sachen.« »Eine Art Kostümfest?«
»Nein, nicht ganz. Aber zieh dich ruhig so an, als wäre es eines.« »Paul, wo es jetzt doch nur noch wenige Tage bis zu den Meadows sind, glaubst du wirklich, daß wir da noch ausgehen sollten?« »Ich möchte, daß wir heute abend einmal nicht an die Meadows denken, Liebling. Heute sind wir nur Paul und Anita, und alle anderen soll der Teufel holen!« »Das ist leicht gesagt, Paul. Ich finde die Idee aber ...« »Aber was?« fragte er enttäuscht. »Ich weiß es auch nicht so recht; ich will nicht nörgeln, aber es kommt mir immer so vor, als seist du zu gleichgültig in bezug auf die Meadows.« »Was sollte ich denn deiner Meinung nach tun?« »Solltest du nicht ein bißchen dafür trainieren? Ich meine, solltest du nicht früh ins Bett gehen und ein bißchen mehr essen und vielleicht noch ein paar Freiübungen machen? Und vielleicht auch weniger rauchen? Du mußt doch in Form sein, wenn die Blauen gewinnen sollen!« Paul lachte. »Hör zu, Paul, da gibt es gar nichts zu lachen. Shepherd sagt, daß die ganze Karriere eines Mannes davon abhängen kann, wie er sich als Captain bewährt. Shepherd hat das Rauchen ganz aufgegeben ...« »Du kannst ihm ausrichten, daß ich seit einiger Zeit ein wesentlich besseres Mittel entdeckt habe, um meine Kondition zu steigern – ich schnupfe Haschisch. Wir gehen heute abend aus, das ist mein letztes Wort.« »Na, schön«, antwortete sie bedrückt.
»Ich liebe dich, Anita.« »Ich liebe dich, Paul.« Als er nach Hause kam, war sie bereits fertig angezogen, diesmal allerdings nicht als große Dame, sondern in Blue Jeans, einer roten Bluse und Schuhen mit flachen Absätzen. »Ist es so richtig?« »Perfekt.« »Paul – ich weiß gar nicht, was du vorhast. Ich habe im Country Club angerufen, aber dort wußte niemand etwas von einer Art Kostümfest. Die Clubs in Albany, Troy und Schenectady haben mir die gleiche Auskunft gegeben.« »Es ist auch ein Privatfest«, erklärte ihr Paul. »Nur für uns – du wirst alles noch rechtzeitig erfahren.« »Ich möchte es jetzt wissen.« »Wo sind die Martinis?« Der kleine Tisch, auf dem sonst jeden Abend ein Glaskrug und einige Gläser standen, war diesmal leer. »Du darfst erst nach den Meadows wieder Alkohol trinken.« »Mach dich doch nicht lächerlich! Dort säuft doch jeder – und das zwei volle Wochen lang!« »Nicht die Captains. Shepherd sagt, daß die es sich nicht leisten können.« »Das beweist wieder einmal, wie wenig der Kerl weiß. Die Drinks sind schließlich umsonst ...« Paul mixte Martinis, trank mehr als gewöhnlich und zog sich dann den Overall an, den er nachmittags in der Siedlung gekauft hatte. Er bedauerte es, daß Anita sich keineswegs über seine Überraschung zu freuen schien. »Fertig?« fragte er.
»Ja – ich glaube schon.« Sie gingen schweigend zu der Garage hinüber. Paul riß schwungvoll die Wagentür auf. »Oh, Paul, den alten Plymouth!« »Ich habe meine Gründe dafür.« »Es gibt keinen Grund, der gut genug wäre, um mich in dieses alte Ding hineinzubringen.« »Bitte, Anita – du wirst schon noch sehen, warum wir damit fahren müssen.« Sie stieg ein und setzte sich auf die äußerste Kante des Sitzes, als wolle sie so wenig wie möglich mit dem Wagen in Berührung kommen. »Paul! Wie kannst du nur auf so eine verrückte Idee kommen?« Während der Fahrt saßen sie wie Fremde nebeneinander, aber auf der langen Geraden am Golfplatz entlang wurde Anita wieder etwas freundlicher. Im Scheinwerferlicht tauchte ein Mann vor ihnen aus der Dunkelheit auf, der ganz in Grün gekleidet war – grüne Shorts, grüne Socken, und ein grünes Trikot, auf dem groß und deutlich »Captain« stand. Der Mann trabte auf dem Bankett entlang, blieb ab und zu stehen, machte einige Kniebeugen und Liegestütze, lief dann wieder weiter. Paul hupte Shepherd aus nächster Entfernung an und freute sich, als der Captain der Grünen in den Graben sprang, um sie vorbeizulassen. Anita kurbelte das Fenster herunter und rief laut »Bravo«. Paul trat das Gaspedal durch, und der Plymouth schoß davon, während Shepherd in eine Wolke von Auspuffgasen eingehüllt wurde. »Der Mann hat einen enormen Siegeswillen«, bemerkte Anita.
»Und mich erfüllt er mit einem enormen Widerwillen«, antwortete Paul. Sie fuhren jetzt an den Befestigungsanlagen der Werke vorbei, und einer der Posten, der Pauls Wagen erkannt zu haben schien, bewegte das Rohr seiner Maschinenkanone grüßend von rechts nach links. Anita wurde immer unruhiger. Schließlich versuchte sie sogar, Paul ins Steuer zu greifen. »Paul! Wo fährst du hin? Bist du verrückt geworden?« Er wehrte sie ab und fuhr weiter über die Brücke in Richtung auf die Siedlung. Die Brücke wurde wieder einmal von Arbeitern des K.I.W. blockiert, die mit gelber Farbe die Fahrbahnmarkierungen nachzogen. Paul sah auf die Uhr. Sie hatten noch zehn Minuten zu arbeiten, bis sie – wie der allgemein übliche Ausdruck bei ihnen hieß – »den Krempel für heute hinschmeißen« konnten. Paul fragte sich, ob Bud Calhoun für dieses Projekt verantwortlich sei, aber das war eigentlich nicht gut möglich, denn es war noch unsinniger als die anderen Arbeiten, mit denen sich das Korps sonst beschäftigte. Vor dem Krieg war die vierspurige Brücke für den Werksverkehr viel zu klein gewesen, besonders zu den Schichtwechseln, und jeder Fahrer hatte in seiner Spur bleiben müssen, wenn er nicht riskieren wollte, daß ein anderer ihm eine Seite seines Wagens abrasierte. Aber jetzt konnte man zu jeder Zeit des Tages auf der Brücke im Zickzack fahren, wobei die Chancen etwa eins zu zehntausend dagegen standen, daß man damit ein anderes Fahrzeug auch nur behinderte. Paul hielt. Drei Männer zogen Linien, zwölf regelten den Verkehr und zwölf standen herum. Langsam gaben sie ihm den Weg frei.
»He, Mac, dein Scheinwerfer ist kaputt.« »Danke«, sagte Paul. Anita rückte plötzlich zu ihm hinüber und klammerte sich an ihn; er sah, daß sie vor Schreck förmlich erstarrt war. »Paul – hier ist es fürchterlich. Ich will nach Hause.« Paul lächelte geduldig und fuhr weiter. »Paul – findest du das etwa witzig? Bitte, fahr mich sofort nach Hause.« »Niemand wird dir etwas tun. Diese Leute sind schließlich keine Kannibalen, sondern Amerikaner wie du und ich.« »Du willst doch nicht etwa behaupten, daß ich mich bei diesen Leuten herumtreiben soll, nur weil ich zufällig im gleichen Land wie sie geboren wurde?« Paul hatte diese Reaktion erwartet und blieb ruhig und gelassen. Von allen Menschen, die er am Nordufer des Iroquis kannte, war Anita die einzige, deren Verachtung für die Bewohner der Siedlung mit Haß gemischt war. Sie war außerdem die einzige unter den Ehefrauen, die nicht studiert hatte. Paul überlegte sich, daß er Anita eigentlich sagen könnte, daß sie auch hier leben müßte wenn er sie nicht geheiratet hätte, aber dann tat er es nicht weil er wußte daß er sie damit tödlich beleidigt hätte. Er parkte den Plymouth und wandte sich an sie. »Wir werden gar nicht aussteigen«, sagte er beruhigend, »sondern nur ein paar Minuten hierbleiben und alles beobachten. Dann fahren wir weiter.« »Was beobachten?« »Was es zu sehen gibt. Die Arbeiter an der Brücke, den alten Mann, der dort drüben an der Mauer lehnt,
die Kinder, die auf der Straße spielen, die Hausfrauen, die vom Einkaufen kommen. Sieh dich einfach ein bißchen um. Es gibt eine Menge zu sehen.« Sie warf keinen einzigen Blick nach draußen, sondern ließ sich auf den Sitz zurücksinken und betrachtete angestrengt ihre gepflegten Hände. Paul konnte sich vorstellen, was sie im Augenblick dachte – daß er sie hierher gebracht hatte, um sie zu erniedrigen und ihr ihre Herkunft deutlich vor Augen zu führen. Wenn er das vorgehabt hätte, wäre die Fahrt bereits jetzt erfolgreich gewesen. »Weißt du, warum ich dich hierher gebracht habe?« Sie konnte nur noch flüstern. »Nein. Paul, ich möchte nach Hause. Bitte?« »Anita – wir sind hier, weil ich glaube, daß es höchste Zeit ist, daß wir unsere Anschauungen ändern, nicht nur in bezug auf unser Verhältnis zueinander, sondern auch in bezug auf unser Verhältnis zu der Gesellschaft, in der wir leben.« Schon während er sprach, merkte er, daß er sich zu geschraubt und umständlich ausdrückte. Die Wirkung seiner Worte war gleich Null. Er versuchte es nochmals: »Was wir haben, Anita, gehört uns nur deswegen, weil wir diese Menschen um das gebracht haben, was für sie einmal das Wichtigste auf der Welt gewesen ist – das Gefühl, zu etwas nütze zu sein – die Grundlage jeder Selbstachtung.« Das war auch nicht viel besser, denn Anita schien immer noch nicht begriffen zu haben, was er damit sagen wollte, sondern war anscheinend immer noch der Auffassung, daß er sie für irgend etwas bestrafen wolle.
Er versuchte es noch einmal: »Liebling, wenn ich sehe, was wir besitzen, und dann sehe, was diese Leute haben, komme ich mir wie ein Schuft vor.« Anita lächelte. »Dann bist du also nicht böse auf mich Paul?« »Nein, um Gottes willen! Warum sollte ich denn auf dich böse sein?« »Das wußte ich eben auch nicht. Ich dachte, weil ich ein bißchen zu viel an dir herumgenörgelt hätte – oder weil du der Meinung seist, zwischen mir und Shepherd sei ...« Der Gedanke, daß er sich jemals über Shepherd Sorgen machen könne, brachte Paul einen Augenblick lang völlig aus dem Konzept. Die Idee, daß er jemals auf den Captain der Grünen eifersüchtig sein könne, brachte ihn zum Lachen. »Ich werde in dem Augenblick auf Shepherd eifersüchtig sein, in dem du auf Katharine Finch eifersüchtig zu werden beginnst – aber keine Sekunde früher!« Anita hatte immer noch nicht begriffen, was er mit seinem Vergleich hatte ausdrücken wollen, sondern wurde jetzt angriffslustig. »Du mußt aber zugeben, daß Shepherd als Mann wesentlich besser aussieht als Katharine als Frau!« »Das habe ich nie bestritten«, sagte Paul verzweifelt, »ich will es auch gar nicht bestreiten. Zwischen mir und Katharine gibt es nichts, und du hast nichts mit Shepherd. Ich wollte nur zum Ausdruck bringen, wie absurd es wäre, wenn wir uns gegenseitig verdächtigen würden.« »Du glaubst also, daß ich nicht mehr attraktiv genug bin?« »Nein, ich finde dich geradezu bezaubernd!« Paul
seufzte. »Aber wir sind doch nicht hier, um uns gegenseitig Ehebruch vorzuwerfen ...« »Was sollen wir eigentlich hier?« »Ich wollte dir nur einmal zeigen, was wir diesen Menschen angetan haben – wie sie jetzt leben müssen, damit wir so leben können, wie wir es tun.« »Wenn sie ein bißchen gescheiter wären, wären sie auch nicht hier«, gab Anita schnippisch zurück. »Du hast Glück gehabt, daß du nicht hier herumlaufen mußt meine Liebe, das mußt du dir immer vor Augen halten!« rief Paul wütend aus. »Paul!« Sie brach in Tränen aus. »Du bist gemein«, schluchzte sie. »Wenn du mich jetzt nicht sofort nach Hause bringst, steige ich aus!« Paul ließ den Wagen an und fuhr schweigend über die Brücke auf die Werke zu. Er ärgerte sich über den Streit, den er mutwillig vom Zaun gebrochen hatte. Wie hatte er das nur sagen können! Jetzt waren alle seine Pläne für das friedliche Leben auf der Farm zunichte geworden – nur weil er seine Klappe nicht hatte halten können. Sie fuhren wieder am Golfplatz vorbei, jetzt konnte es sich nur noch um Minuten handeln, bis sie zu Hause waren. »Anita ...« Anstatt zu antworten, drehte sie das Autoradio an und starrte auf den Lautsprecher, als warte sie darauf, daß er Paul übertöne. Das Radio funktionierte schon seit Monaten nicht mehr. »Anita – bitte, hör mir zu. Ich liebe dich mehr als alles andere auf der Welt. Gott weiß, daß es mir schrecklich leid tut, daß wir uns solche Sachen an den Kopf geworfen haben.«
»Ich habe nichts gesagt, was mir leid tun müßte.« »Ich könnte mir die Zunge dafür abschneiden, daß ich das alles zu dir gesagt habe. Es war einfach schäbig.« »Das bin ich deiner Meinung nach anscheinend ebenfalls. Du bist an unserem Haus vorbeigefahren.« »Mit Absicht. Ich habe eine Überraschung für dich, an der du sehen kannst, wie sehr ich dich wirklich liebe – und wie unbedeutend der Krach von vorhin war.« »Ich habe heute abend schon genügend Überraschungen erlebt; danke schön, mein Bedarf ist gedeckt. Bitte, fahre zurück, ich bin müde.« »Aber die Überraschung hat mich achttausend Dollar gekostet, Anita! Willst du immer noch zurückfahren?« »Du denkst wohl, daß du mich kaufen kannst?« fragte sie, und ihr Gesichtsausdruck veränderte sich zu einem Lächeln. »Was kann denn das nur sein? Achttausend?« Paul entspannte sich und lehnte sich in die Polster zurück, um die Fahrt zu genießen. »Du gehörst einfach nicht in die Siedlung, Sweetheart.« »Vielleicht doch.« »Nein. Du besitzt ein Talent, das die Maschinen niemals werden messen können: du bist künstlerisch. Das ist eine der Schattenseiten unseres Systems, daß es nie eine Maschine geben wird, die das erkennt und entsprechend bewertet.« »Du hast recht«, meinte Anita traurig, »das stimmt.« »Ich liebe dich, Anita.« »Ich liebe dich, Paul.«
»Da! Ein Reh!« Paul blendete auf, um das Tier anzuleuchten und erkannte erst dann den Captain der Grünen, der jetzt schon deutliche Anzeichen von Erschöpfung zeigte. Dieses Mal schien er sie nicht erkannt zu haben, denn er torkelte vorbei, ohne vom Boden aufzusehen. »Mit jedem Schritt treibt er einen weiteren Nagel in meinen Sarg«, sagte Paul ironisch und zündete sich eine neue Zigarette an. Zehn Minuten später hielt er an, ging auf die rechte Seite des Wagens hinüber und bot Anita galant seinen Arm. »Die Tür zu einem glücklicheren Leben steht hier für uns offen, Liebling.« »Was soll das heißen?« »Du wirst es schon sehen.« Er führte sie durch ein Spalier von Fliederbüschen zu der Tür eines niedrigen Hauses und ließ sie selbst die Tür öffnen. »Oh! Paul!« »Unser Eigentum. Es gehört Paul und Anita.« Sie machte einige Schritte. »Ich möchte am liebsten weinen, Paul es ist so schrecklich süß.« Paul erkannte, daß Haycox ganze Arbeit geleistet hatte. Der Fußboden glänzte, in den Möbeln konnte man sich beinahe spiegeln das Messing war blank geputzt, und im Kamin wartete ein Holzstoß darauf, angezündet zu werden. Und auf dem Tisch in der Mitte des Raumes standen zwei Gläser, ein Glaskrug, eine Flasche Gin eine Flasche Wermut und ein Eiskübel. Daneben lagen gekochte Eier, zwei gebratene Hühnchen, zartgrüne Erbsen und junge Bohnen auf einer Platte, die neben zwei großen Gläsern Milch stand – alles Erzeugnisse der Farm. Während Paul die Drinks mixte, ging Anita durch
den Raum seufzte immer wieder begeistert und berührte jedes Möbelstück als könne sie es immer noch nicht glauben, daß ihnen das alles gehören sollte. »Gehört das wirklich uns Paul?« »Seit gestern. Der Vertrag ist bereits unterschrieben. Fühlst du dich hier wirklich zu Hause?« Sie ließ sich in einen Sessel vor dem Kamin fallen und nahm das Glas entgegen, das er ihr gab. »Siehst du denn das nicht?« Sie lachte leise. »Es ist wunderbar, und du hast es für achttausend bekommen! Du bist wirklich smart!« »Ich liebe dich, Anita.« »Ich liebe dich, Paul.« Anita lächelte ihn strahlend an. »Weißt du eigentlich, daß die Standuhr allein tausend Dollar wert ist, Liebling?« Paul kam sich schrecklich clever vor. Es war einfach phantastisch wie gut alles klappte. Anitas Begeisterung war wirklich echt, und in diesen wenigen Minuten schien bereits geglückt, wovor er sich gefürchtet hatte: Sie an das Haus und den damit verbundenen Lebensstil zu gewöhnen. »Das ist die Umgebung, in der du dich wirklich wohlfühlst, nicht wahr?« »Das siehst du doch!« »Weißt du, daß die Uhr auch innen ganz aus Holz besteht? Das ganze Uhrwerk aus Holz geschnitzt!« »Mach dir deswegen keine Sorgen, Liebling. Wir können ein elektrisches einbauen lassen.« »Aber der ganze Zauber ...« Sie war jetzt schon so eifrig beim Plänemachen, daß sie seinen Einwand völlig überhörte. »Weißt du, wenn das Pendel weg ist könnte man gerade noch ei-
nen elektrostatischen Staubfänger in den Unterteil des Gehäuses einbauen lassen.« »Oh.« »Und kannst du dir vorstellen, wo sie in Zukunft stehen wird?« Er sah sich in dem Raum um, konnte aber keinen besseren Platz dafür entdecken. »Die Nische da scheint ideal zu sein.« »In der Diele! Kannst du sie nicht schon dort sehen?« »Aber hier ist doch gar keine Diele«, meinte er verblüfft. »Unsere Diele, Dummerchen.« »Aber, Anita ...« »Und das kleine Schränkchen dort drüben – würde das nicht entzückend im Gästezimmer aussehen, wenn man vielleicht noch eine Schale mit Philodendron daraufstellt?« »Prima.« »Und diese wunderbaren Balken an der Decke, Paul! Die passen bestimmt genau in das Wohnzimmer – ich kann mir schon vorstellen, wie alle unsere Bekannten vor Neid erblassen werden! Und ich bin bereit, deine Klassifikationskarte zu essen, wenn dieser hübsche Tisch nicht groß genug für unseren Fernsehapparat ist!« »Anita ...« »Ja? Oh! Was für ein herrlicher alter Leuchter! Ein wahres Prachtstück!« »Hör mir bitte eine Minute lang zu.« »Gern, Liebling.« »Ich habe dieses Haus gekauft, um darin zu leben – mit dir.« »Schon wieder einer deiner seltsamen Späße. Bitte,
versuche nicht, mich aufzuziehen, Liebling. Ich freue mich doch so über alles.« »Es ist kein Witz! Ich möchte wirklich so leben – hier!« »Es ist so dunkel, daß ich nicht erkennen kann, ob du das etwa ernst meinst. Bitte, dreh das Licht an.« »Gibt es hier nicht.« »Wie arbeitet dann die Heizung?« »Öfen in jedem Zimmer.« »Und der Herd?« »Holz und Kohlen. Und der Kühlschrank besteht aus einer kalten Quelle.« »Schrecklich! Abscheulich! Fürchterlich!« »Ich meine es ernst, Anita. Ich möchte hier mit dir leben.« »Heute hast du wirklich deinen witzigen Tag, nicht wahr? Komm her und küß mich, du süßer Clown.« »Wir werden über Nacht hier bleiben, und morgen werde ich auf der Farm arbeiten. Willst du es nicht wenigstens einmal damit versuchen? Vielleicht könntest du dieses Leben doch liebgewinnen.« »Nein, das könnte ich nicht – und du weißt es.« Paul fühlte den Zorn in sich aufsteigen, als er sah, daß sie seinen gutgemeinten Vorschlag rundweg ablehnte und suchte nach etwas, womit er sie erschrekken konnte – wie vor einer Stunde in der Siedlung. »Es spielt gar keine Rolle, was du davon hältst«, sagte er grob. »Ich habe mich entschlossen, meine Stellung aufzugeben und von nun an hier zu leben. Hast du mich verstanden? Ich werde kündigen!« Sie kreuzte die Arme und sah ihn abschätzend an. »So etwas Ähnliches habe ich mir schon gedacht«, sagte sie nach einer kurzen Pause langsam. »Ich habe
es schon lange kommen sehen, Paul. Ich habe gehofft und gebetet, daß es nicht so sein würde, aber ...« Sie zündete sich eine Zigarette an und zog hastig daran. »Shepherd hat gesagt, daß du es tun würdest.« »Er hat gesagt, daß ich kündigen würde?« »Nein, er meinte, daß du zur Resignation neigst.« Sie sah Paul seufzend an. »Er kennt dich offenbar besser, als deine eigene Frau es tut ...« »Es ist aber leichter, dabeizubleiben und innerhalb des Systems immer höher zu steigen! Dazu braucht man keinen Mut – den braucht man, wenn man kündigen will!« »Aber warum willst du kündigen, wenn es doch so viel einfacher ist dabeizubleiben?« »Hast du mir denn drüben in der Siedlung gar nicht zugehört? Deswegen habe ich dich doch dorthin mitgenommen, damit du ein Gefühl für diese Dinge bekommst!« »Diese dumme Sache wegen Katharine Finch und Shepherd?« »Nein, nein – um Gottes willen! Daß wir den anderen ihre Selbstachtung genommen haben.« »Du hast gesagt, daß du dir manchmal wie ein Schuft vorkämst, daran kann ich mich noch gut erinnern.« »Hast du nicht auch manchmal das gleiche Gefühl?« »Wie käme ich denn dazu?« »Dein Gewissen – drückt es dich nicht auch gelegentlich?« »Warum sollte es denn? Ich habe nie etwas Unehrliches getan ...« »Ich will dich anders fragen: Gibst du zu, daß überall ein schreckliches Durcheinander herrscht?«
»Zwischen uns beiden?« »Überall! Zum Beispiel in der Siedlung.« »Was könnten wir denn diesen Leuten noch geben? Sie haben doch schon alles, was sie brauchen!« »Da! Du bist anscheinend auch der Auffassung, daß wir alles auf der Welt nach Gutdünken austeilen oder für uns behalten können?« »Irgend jemand muß schließlich die Verantwortung übernehmen, und so ist es eben, wenn man sie hat.« »Das war aber nicht immer so! Erst durch Menschen unseres Schlages hat sich alles so verändert! Früher hatte jedermann irgendeine Fertigkeit oder genügend Arbeitswillen oder etwas anderes, wofür er Geld bekam, mit dem er sich etwas kaufen konnte, was ihm Spaß machte. Jetzt herrschen überall Maschinen, und man muß schon ganz außergewöhnlich begabt sein, wenn man noch etwas anzubieten haben will. Die meisten Leute können heutzutage nur noch darauf hoffen, daß man ihnen etwas geben wird – sie arbeiten nicht mehr für ihr Geld, sondern sind zu Almosenempfängern degradiert worden.« »Wenn jemand gescheit genug ist«, antwortete Anita fest, »dann kann er auch heute noch sehr weit kommen. Das war in Amerika schon immer so, Paul, und daran hat sich auch nichts geändert.« Sie sah ihn abschätzend an. »Intelligenz, Willen und Nerven, Paul.« »Und Scheuklappen«, antwortete er müde. Anita faßte ihn an den Schultern und zog ihn zu sich herab, um ihm einen Kuß zu geben. Paul gab nur zögernd nach. »Ohhhhh«, schalt sie dann, »du benimmst dich
manchmal wie ein ungezogener kleiner Junge!« Sie küßte ihn wieder, diesmal wesentlich länger. »Und jetzt machst du dir keine Sorgen mehr, hörst du?« flüsterte sie ihm ins Ohr. »Nach nur die Sintflut«, dachte er und schloß erschöpft die Augen. »Ich liebe dich, Paul«, murmelte sie. »Ich will nicht, daß mein kleiner Junge sich Sorgen macht. Du wirst nicht kündigen, Sweetheart. Du bist nur völlig übermüdet.«
17 Nachdem Dr. Paul Proteus vergeblich auf einen Schicksalsschlag gewartet hatte, der ihn von dem Kurs abgebracht hätte, den ihm seine Herkunft und seine Erziehung vorschrieben, war schließlich der Tag da an dem er zusammen mit Anita auf dem Flugplatz am Rande von Camp Mainland ankam von wo aus er mit einer der drei Fähren auf die Insel weiterfahren würde. »Ich glaube, wir müssen uns jetzt verabschieden«, meinte Paul, während das Flugzeug ausrollte. »Du siehst fabelhaft aus«, sagte Anita. Sie strich über sein blaues Trikot. »Und welches Team wird gewinnen?« »Blau«, antwortete Paul. »Allons, enfants de la patrie ...« »Ich werde mich also mit Mom beschäftigen während ...« »Die Damen bitte in das Flughafengebäude!« schallte es aus den Lautsprechern. »Die Wettkampfteilnehmer versammeln sich am Anlegeplatz. Das Gepäck bleibt stehen. Es ist dafür gesorgt, daß es in die Kabinen geschafft wird.« »Auf Wiedersehen, Liebling«, sagte Anita. »Auf Wiedersehen, Anita.« »Ich liebe dich, Paul.« »Ich liebe dich, Anita.« »Los, gehen wir schon«, drängte Shepherd, der mit dem gleichen Flugzeug angekommen war. »Ich bin gespannt, wie gut die Blauen wirklich sind!« »Blau, was?« fragte Baer. »Sie machen sich wohl
Sorgen wegen der Blauen, wie? Weiß ist die gefährlichste Farbe, mein Junge.« Er wies stolz auf sein weißes Trikot. »Da, seht ihr das? Das ist die Farbe der Sieger! Da ...« »Wo ist denn Dr. Kroner?« fragte Shepherd. »Schon gestern angekommen«, gab Paul Auskunft. »Er gehört zu dem offiziellen Begrüßungskomitee, deshalb ist er bereits auf der Insel.« Er winkte Anita noch einmal zu, die auf dem Weg zum Empfangsgebäude war – zusammen mit einem Dutzend anderer Frauen, unter denen sich auch Katharine Finch und Mom befanden. Anita ging zu Mom hinüber und hakte sich bei ihr ein. Dann kam wieder die Stimme aus den Lautsprechern: »Alle mit Klassifikationsnummern zwischen null und hundert gehen an Bord der Queen of the Meadows; diejenigen mit Nummern von einhundert bis zweihundertfünfzig schiffen sich auf der Lark of the Meadows ein; die anderen, deren Nummern höher als zweihundertfünfzig sind, fahren auf der Spirit of the Meadows.« Paul, Shepherd, Baer und der Rest des Kontingents aus dem Gebiet zwischen Albany, Troy, Schenectady und Ilium gingen gemeinsam an das Dock, wo die Schiffe lagen. Jeder hatte unterdessen die dunkle Sonnenbrille aufgesetzt, die zu der Ausrüstung aller gehörte und vor dem grellen Sonnenlicht schützen sollte, das von dem Wasser, den weißen Gebäuden, den weißen Kiespfaden, dem weißen Strand und den weißen Spielfeldern der Insel reflektiert wurde. »Grün gewinnt!« rief Shepherd. »Richtig, Captain!«
»Nein, die Roten!« Alle sangen und schrien durcheinander, die Schiffsmotoren brummten auf, dann schossen die drei Jachten Bug an Bug durch das aufschäumende Wasser auf die Insel zu. Paul stand auf dem Oberdeck und genoß die Fahrt. Jetzt waren sie schon so nahe an der Insel, daß er die neuen »Zelte« deutlich erkennen konnte – weiße Betonklötze mit Klimaanlage, die ihren Namen den wesentlich primitiveren Einrichtungen vergangener Jahre verdankten. Sonst hatte sich nichts verändert – The Meadows sah wie jedes Jahr aus: heiß, von der Sonne gebleicht, hygienisch. Das Amphitheater am Nordende der Insel glich aus dieser Entfernung einer riesigen Schüssel und die Sportplätze einem Schachbrett mit unzähligen Feldern. Die Wege und Blumenbeete wurden durch Felsbrocken abgegrenzt. Ein kurzer Knall zerriß die Stille, die über der Insel gelegen hatte. Dann ein zweiter. Und ein dritter. »Bum!« Feuerwerksraketen explodierten über den Schiffen. Einige Minuten später legten sie an, während eine Kapelle die Nationalhymne intonierte. Dann folgte ein fröhliches Potpourri aus »Pack up Your Trouble«, »I Want a Girl«, »Take Me out to the Ball Game« und »Working on the Railroad«. Die Neuankömmlinge rannten auf die Backbordseiten der drei Jachten, um die Hände zu ergreifen, die ihnen von einer Reihe älterer Männer entgegengestreckt wurden, die fast alle fett, grauhaarig oder glatzköpfig waren. Auf dem Kai standen die Großen Alten Männer – Distriktmanager, Regionalmanager, Vizepräsidenten, stellvertretende Vizepräsidenten der Abteilung Ost.
»Willkommen an Bord!« lautete die offizielle Begrüßung, die bereits zur Tradition geworden war. »Willkommen an Bord!« Paul sah, daß Krone auf ihn zu warten schien und drängte sich mühsam durch die Menge, bis er Kroners Hand erreichen konnte, nahm sie und betrat den Kai. »Schön, Sie an Bord zu haben, Paul!« »Danke, Sir. Schön an Bord zu sein, Sir.« Einige der Älteren unterbrachen die Begrüßung der anderen einen Augenblick, um dem hoffnungsvollen Sohn ihres verstorbenen Führers einen freundlichen Blick zuzuwerfen. »Melden Sie sich im Verwaltungsgebäude an«, sagten die Lautsprecher, »dann sehen Sie in Ihren Zelten nach, ob Ihr Gepäck da ist. Lernen Sie Ihren Zeltgenossen kennen, dann Mittagessen.« Die Neuankömmlinge folgten der Kapelle auf dem Kiespfad, der zum Verwaltungsgebäude führte. Über dem Eingang hing ein großes Spruchband mit der Aufschrift: »Das Blaue Team heißt Sie willkommen!« In das allgemeine Gelächter mischten sich empörte Ausrufe, und innerhalb weniger Sekunden hatten einige den aufreizenden Text heruntergerissen. Ein junger Blauer schlug Paul auf die Schulter. »Was für eine Idee, Captain!« rief er begeistert. »Menschenskind, das war eine Wucht, wie sich die anderen geärgert haben! Wir werden es ihnen schon noch zeigen, wer dieses Jahr gewinnt!« »Genau«, sagte Paul, »das werden wir auch!« Der junge Mann war anscheinend dieses Jahr zum erstenmal zu den Wettkämpfen eingeladen worden,
denn sonst hätte er bereits gewußt, daß das Spruchband von einem Komitee aufgehängt worden war, dessen einzige Aufgabe es war, die Rivalität zwischen den einzelnen Teams anzustacheln. Paul wußte, daß überall ähnliche Parolen hängen würden. In der Vorhalle leuchtete ein großes Schild: »Laßt alle Hoffnung fahren, ihr, die ihr nicht zu den Grünen gehört!« Shepherd lachte begeistert, schwenkte es hoch über dem Kopf und wurde bereits in der nächsten Sekunde von dem Ansturm der Blauen, Weißen und Roten zu Boden gerissen. »Keine Saalschlacht!« sagte der Lautsprecher scharf. »Ihr kennt die Bestimmungen! Keine Saalschlacht! Hebt euch die überschüssige Kraft lieber für die Wettkämpfe auf – da könnt ihr euch austoben. Meldet euch jetzt an sucht euer Zelt lernt euren Kameraden kennen und seid in einer Viertelstunde pünktlich wieder zum Mittagessen da.« Paul erreichte sein Zelt eher als sein vorläufig noch unbekannter Kamerad. Die Bestimmungen sahen vor, daß die beiden eine Art Blutsbrüderschaft miteinander eingehen würden – das Ergebnis der Tatsache, daß sie zwei Wochen lang Freud und Leid miteinander geteilt haben würden, wenn die Wettkämpfe vorüber waren. Als erstes fiel Paul das blanke Messingschild auf, das über seinem Kopfkissen an der Wand befestigt war: »Dr. Paul Proteus Wks. Mgr., Ilium, N.Y.« Darunter stand noch: »Nenn mich Paul – oder zahl mir fünf Dollar!« Dieser zweite Satz stand auf allen Schildern dieser Art, wobei es nur eine einzige Ausnahme gab. Dr. Francis Eldgrin Gelhorne, der Nachfolger
von Pauls Vater, war zu jeder Zeit und an jedem Ort mit Doktor Gelhorne und keinesfalls mit seinem Vornamen anzusprechen. Dann sah Paul das Schild über dem Kopfkissen seines Zeltkameraden: »Dr. Frederick Garth, Wks. Mgr., Buffalo, N.Y. – Nenn mich Fred – oder zahl mir fünf Dollar!« Paul ließ sich auf sein Bett fallen und kämpfte gegen das ungute Gefühl, das ihm der Anblick des Namens auf dem Schild eingeflößt hatte. Er kannte einige Männer, zum Beispiel auch Shepherd, die in allem ein Omen sahen – in dem Händedruck eines Vorgesetzten, in der Sitzordnung bei einem Bankett in der Erwähnung eines Namens in einem Bericht, in dem Ton einer Frage. Pauls Karriere war bis vor wenigen Wochen noch so sorgenfrei und mühelos gewesen, daß er sich nie mit dergleichen Dingen abgegeben hatte, weil er eine Beschäftigung mit ihnen für zwecklos und langweilig hielt. Aber jetzt begann er allmählich daran zu glauben, daß sich in der letzten Zeit die bösen Geister gegen ihn verschworen haben mußten, denn anders war diese Anhäufung von schlechten Vorbedeutungen nicht mehr zu erklären. War es wirklich nur ein Zufall, daß er ausgerechnet Garth, den anderen Kandidaten für Pittsburgh, als Zeltgenossen zugeteilt bekommen hatte? Und warum war Shepherd zum Captain gewählt worden, obwohl diese Ehre denen vorbehalten sein sollte, die es innerhalb des Systems weit bringen würden? Und warum hatte ... Sein Kamerad kam herein, grau an den Schläfen, müde, blaß: und freundlich. Fred Garth gab sich große Mühe, sich bei jedermann beliebt zu machen. Sei-
nen Aufstieg hatte er ausschließlich der Tatsache zu verdanken, daß er zu wiederholten Malen als Kompromißkandidat vorgeschlagen und gewählt worden war, wenn zwei andere sich mit Hilfe einflußreicher Freunde und Gönner um eine Stellung beworben hatten, für die sie beide gleich gut geeignet gewesen wären. Es hieß allgemein, daß er den Anforderungen seiner augenblicklichen Position nur sehr ungenügend gewachsen sei, die ihm ebenfalls als Ergebnis eines Kompromisses zugefallen war. Er wirkte wie ein alter Mann, obwohl er erst fünfzig Jahre alt war – willig, gutherzig, aber unentschlossen, verbraucht. »Dr. Proteus – ich wollte sagen: Paul!« Garth schüttelte lachend den Kopf und gab Paul einen Fünfer. »Lassen Sie das, Dr. Garth«, antwortete Paul, und gab ihm das Geld zurück. »Ich wollte sagen: Fred. Wie geht es Ihnen?« »Gut, gut. Kann mich nicht beklagen. Wie geht es der Frau Gemahlin und den Kindern?« »Ausgezeichnet, danke.« Garth wurde rot. »Es tut mir so leid, Paul ...« »Was denn?« »Ich meine, es war taktlos von mir, Sie nach Ihren Kindern zu fragen, wenn Sie doch gar keine haben.« »Mein Fehler, wenn ich keine habe, Fred.« »Vielleicht, vielleicht. Aber manchmal ist es doch eine Belastung, wenn man die Kinder aufwachsen sieht – man fragt sich immer wieder, ob sie alles schaffen werden, dann sieht man sie für die Zulassungsprüfungen büffeln, wartet endlos auf die Ergebnisse ...« Der Satz endete mit einem Seufzer. »Ich habe das alles gerade mit meinem Ältesten, Brud, durchgemacht, und jetzt steht es mir mit Alice und
dem kleinen Ewing noch zweimal bevor! Diese verflixten Prüfungen sind der reinste Alptraum!« »Wie hat Brud abgeschnitten?« »Hmmmm? Oh – wie er abgeschnitten hat? Er will vorankommen und hat mehr als jeder andere Junge bei uns gebüffelt. Er tut sein Bestes.« »Ich verstehe, Fred.« »Man will ihm noch eine Chance geben, weil er beim erstenmal gesundheitlich nicht ganz auf der Höhe war – irgendeine Virussache. Er ist nur knapp durchgefallen, deshalb hat der Prüfungsausschuß seinen Antrag auf Wiederholung sofort genehmigt. Morgen kann er es noch einmal versuchen, und ich hoffe, daß ich bis zum Abend die Noten erfahren werde.« »Diesmal kommt er bestimmt durch.« Garth schüttelte traurig den Kopf. »Man sollte doch auch die Lernerei berücksichtigen, die dazu gehört«, meinte er. »Paul, Sie können sich gar nicht vorstellen, wie oft der Junge nächtelang über seinen Büchern gesessen hat!« »Schönes Wetter heute«, sagte Paul, um das Thema zu wechseln. Garth sah zerstreut aus dem Fenster. »Ja, das stimmt, nicht wahr? Gott lächelt auf The Meadows herab.« »Das hat er vermutlich auch schon früher getan.« »Es stammt nicht von mir.« »Was stammt nicht von Ihnen?« »Daß Gott lächelt. Es stammt natürlich von Dr. Gelhorne. Erinnern Sie sich noch, Paul? Letztes Jahr am Schlußtag in seiner Ansprache.« »Richtig.« Dr. Gelhorne sagte so viele bewunde-
rungswürdige Dinge, daß es schwer war, sich alle zu merken, um sie später wieder zitieren zu können. »Mittagessen!« sagten die Lautsprecher. »Mittagessen! Denkt an die Bestimmungen: Lernt bei jeder Mahlzeit einen anderen kennen. Links euer Kamerad, rechts ein Unbekannter. Mittagessen! Mittagessen!« Als die Menge Paul und seinen Kameraden durch die Tür des Speisesaals geschoben hatte, hielt Kroner Paul am Arm fest und zog ihn auf die Seite. Garth, der beweisen wollte, was für ein guter und zuverlässiger Kamerad er sei, ging nicht mit den anderen weiter, sondern wartete geduldig auf Paul. »Morgen abend ist es soweit«, flüsterte Kroner bedeutungsvoll. »Das große Treffen findet morgen abend statt – nach der Vereidigung.« »Ausgezeichnet!« »Der Alte kommt höchstpersönlich, so wichtig nimmt er die ganze Sache! Das heißt, Sie sind wichtig, mein Junge. Paul, ich weiß zwar auch nicht was die Zentrale vorhat, aber trotzdem habe ich das Gefühl, als ob Sie vor dem entscheidenden Abschnitt Ihrer ganzen Karriere stünden.« »Ohhh!« »Lassen Sie sich deswegen keine grauen Haare wachsen, mein Junge – Sie werden es schon schaffen.« »Danke.« Paul ging zu Garth. »Komm, Kamerad, wir müssen uns ein paar Unbekannte suchen.« »Wird nicht leicht sein, Paul. Wir sind eben schon zu lange dabei ...« »Dort drüben ist einer!« Verblüfft erkannte Paul, daß der junge Mann mit dem grünen Trikot Berringer
war. Berringer, den die Maschinen nicht auf die Liste der Eingeladenen gesetzt hatten, weil er es nicht verdient hatte! Und trotzdem war er jetzt da. Berringer schien erraten zu haben, was in Pauls Kopf vor sich ging, denn er lachte ihm triumphierend zu. Baer trat zwischen die beiden. »Ich habe es vergessen, völlig vergessen – sollte es Ihnen sagen, Paul. Wegen Berringer.« »Wie, zum Teufel kommt der Kerl hierher?« »Kroner hat ihn mitgebracht. In letzter Sekunde, verstehen Sie? Hmmmm? Kroner dachte, daß der Vater sich zu Tode grämen würde, wenn sein Junge nicht ... nachdem die Sache mit Charly passiert war ...« Paul warf noch einen Blick auf Berringer, der neben Shepherd saß und suchte dann zusammen mit Garth weiter, bis sie zwei junge Männer gefunden hatten, zwischen denen noch zwei Sitze frei waren und nahmen Platz. Der rothaarige junge Mann neben Paul warf einen Blick auf Pauls Namensschild. »Oh, Dr. Proteus. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Wie geht es Ihnen, Sir?« »Paul, nicht Doktor. Danke, wie geht es Ihnen ...« – er beugte sich vor, um den Namen des anderen lesen zu können – »Dr. Edmund L. Harrison von den Ithaca-Werken?« »Lernt den Mann neben euch kennen«, sagte der Lautsprecher. »Unterhaltet euch nicht mit Leuten, die ihr bereits kennt!« »Verheiratet?« fragte Paul. »Deswegen seid ihr hier, um neue Menschen ken-
nenzulernen, um euren Horizont zu erweitern«, sagte der Lautsprecher. »Nein, Sir, ich bin ver...« »Je mehr Kontakte hier geschlossen werden, desto besser wird nächstes Jahr die Zusammenarbeit innerhalb der Gesamtindustrie funktionieren«, sagte der Lautsprecher. »Ich bin verlobt«, antwortete Dr. Harrison. »Mit einem Mädchen aus Ithaca?« »Hier drüben sind noch zwei Plätze frei – in der Ecke bei dem Ausgang. Etwas schneller, bitte, damit jeder jeden kennenlernen kann«, sagte der Lautsprecher. »Nein, Sir«, gab Dr. Harrison zurück. »Atlanta.« Er warf wieder einen Blick auf Pauls Namensschild. »Sind Sie nicht der Sohn von ...« »Wie wäre es jetzt mit einem gemeinsamen Lied, nachdem wir uns bereits ein bißchen kennen?« sagte der Lautsprecher. »Ja, das war mein Vater«, antwortete Paul. »Schlagt alle Seite achtundzwanzig im Liederbuch auf«, sagte der Lautsprecher. »Achtundzwanzig!« »Ein großer Mann«, meinte Harrison. »Ja«, stimmte Paul zu. »Wait till the Sun Shines, Nellie!« sagte der Lautsprecher. »Habt ihr es? Achtundzwanzig! Los, fangt an!« Die Kapelle am anderen Ende des Saales setzte mit ohrenbetäubendem Getöse ein. Paul war froh als wieder Ruhe herrschte. »Paul, Paul, Paul!« rief Baer einige Minuten später zu ihm hinüber. »Paul!« »Was?«
»Sie rufen nach Ihnen – nach Ihnen rufen sie, Paul!« »Ich will doch hoffen, daß der Captain der Blauen nicht etwa in letzter Sekunde ausgerückt ist«, sagte der Lautsprecher. »Na, los! Wo ist der Captain?« Paul stand auf und hob die Hand. »Hier«, sagte er. Hurras und Buhrufe begrüßten ihn im Verhältnis eins zu drei. Er wurde mit zusammengeknüllten Papierservietten und Maraschinokirschen aus dem Fruchtsalat bombardiert. »Na«, sagte der Lautsprecher, »sollte der Captain der Blauen nicht seinen Leuten eine kleine Freude machen, indem er das ›Lied der Blauen‹ vorträgt?« Dutzende von Händen griffen nach Paul, er wurde auf die Schultern seiner Leute gehoben und auf dem Podium der Kapelle abgesetzt, während sein Team einen Kordon um ihn bildete. Er hatte plötzlich ein Liederbuch in der Hand und stand vor dem Mikrophon, als sich die Reihen seiner Bewacher öffneten und Berringer auftauchte. Paul versuchte auszuweichen, aber da hatte Berringer ihm schon den Kopf in den Magen gerannt, daß Paul über das niedrige Geländer geschleudert wurde und halbwegs in der Küche landete. »Bitte! Bitte!« sagte der Lautsprecher. »Auf The Meadows gibt es nur wenige Bestimmungen, aber diese wenigen müssen unbedingt eingehalten werden! Der Grüne geht sofort auf seinen Platz zurück! Wir wollen hier keine Saalschlacht, verstanden?« Freundliche Hände halfen Paul wieder auf die Beine, und zu seiner Überraschung hatte er das faltige Gesicht von Luke Lubbock vor sich, der eine Pagenuniform trug. Einer der Köche, der die Szene von der Küchentür aus beobachtet hatte, drehte sich
schnell um, als Paul zu ihm hinüber sah und verschwand in der Kühlkammer. Als die Blauen Paul wieder zu seinem Platz zurücktrugen fiel ihm plötzlich ein, wer der Koch gewesen war – Alfy, der Meister des Fernsehschirms. »Benehmt euch anständig«, sagte der Lautsprecher, »sonst müssen wir auf den Rest des Spaßes verzichten. Wo steckt denn der Captain der Weißen?« Als der Spaß endlich vorüber war, verließen Paul und der junge Dr. Harrison gemeinsam den Saal. »Zehn Minuten Freizeit, bis der Gedächtnisgottesdienst beginnt«, sagte der Lautsprecher. »Zehn Minuten Zeit, um wieder neue Bekanntschaften zu schließen.« »Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben, Sir«, sagte Harrison schüchtern. »Ich.« Der Lautsprecher heulte auf. »Achtung, Achtung! Das Programmkomitee hat festgestellt, daß wir sieben Minuten hinter dem vorgesehenen Stundenplan zurück sind, deshalb findet der Gottesdienst sofort statt! Sämtliche Wettkampfteilnehmer versammeln sich sofort bei der Eiche!« Die riesige Eiche inmitten der weitläufigen Anlagen war das offizielle Symbol der gesamten Industrien und das der Wettkämpfe. Ihr Abbild schmückte jeden Briefkopf und flatterte auch jetzt auf einer Flagge vor dem Verwaltungsgebäude. Die Männer versammelten sich schweigend unter dem prachtvollen, alten Baum, wobei die Jungen die Haltung der Älteren nachahmten: Augen auf die untersten Äste gerichtet, Arme über der Brust verschränkt. »Weiß gewinnt!« rief ein junger Mann mit Brille.
In den Blicken, die ihm die älteren Männer zuwarfen, mischten sich Traurigkeit und Tadel wegen dieser ungeheuerlichen Taktlosigkeit. Diese beiden Worte würden seinen weiteren Aufenthalt auf der Insel vergiften und vielleicht sogar seine Karriere zerstören. Von diesem Augenblick an war er für alle »der Junge, der während des Gottesdienstes etwas gerufen hat«. Paul sah ihn mitleidig an. Er erinnerte sich an ähnliche Mißgeschicke, die er in der Vergangenheit beobachtet hatte. Diese Männer waren von dann ab sehr allein, begannen fast alle zu trinken und wurden nie wieder eingeladen. Ein Photograph rannte an die Eiche, machte ein Bild von der Versammlung und verschwand dann wieder. Kroner löste sich aus der Menge und ging langsam auf die Eiche zu. Er sah nachdenklich auf seine Hände hinunter, während die anderen erwartungsvoll schwiegen. Schließlich begann er zu sprechen, aber seine ersten Worte waren so leise – offenbar vor Trauer und Rührung –, daß er sie wiederholen mußte. »Es ist ein schöner Brauch bei uns«, begann Kroner zum zweitenmal, »ein schöner Brauch hier auf der Insel – unser Brauch, unsere Insel –, daß wir uns hier unter unserem Baum versammeln, unserem Symbol aus starken Wurzeln, Stamm und Ästen, unserem Symbol für Mut, Integrität, Ausdauer, Schönheit. Es ist unser Brauch, daß wir uns hier versammeln, um unserer verschiedenen Freunde und Mitarbeiter zu gedenken.« Er schien seine Zuhörer völlig vergessen zu haben, denn nun wandte er sich an die Kumuluswolken, die
sich am Himmel auftürmten. »Seit den letzten Wettkämpfen hat unser Freund Ernest S. Basset unsere Welt verlassen, um seine Belohnung in einer besseren zu empfangen. Wie ihr alle wißt war Ernie ...« Der Photograph rannte nach vorn, blitzte Kroner ins Gesicht und verschwand wieder in der Menge. »Ernie war sieben Jahre lang Manager der Werke in Philadelphia, fünf Jahre leitete er die PittsburghWerke. Er war mein Freund er war unser Freund: ein großer Amerikaner, ein großer Ingenieur ein großer Manager, ein großer Pionier an der Spitze des Fortschrittes, der neue Türen öffnete, damit mehr Menschen mehr Waren zu billigeren Preisen erwerben konnten.« Dann schilderte Kroner ergriffen den Aufstieg Ernies vom jungen Ingenieur zum Manager der Pittsburgh-Werke und beschrieb ausführlich die Stationen dieses Weges. Ein Mann trat vor und übergab Kroner eine längliche, weiße Schachtel. Kroner öffnete sie und sah lange hinein. Dann griff er endlich hinein und entfaltete die goldumrahmte Flagge, die den PhiladelphiaWerken während des Krieges als Auszeichnung für ihre hervorragenden Kriegsanstrengungen unter der Leitung von Ernest S. Basset verliehen worden war. Eine Trompete im Hintergrund blies leise den Zapfenstreich. Kroner kniete am Fuße der Eiche nieder, um Bassets Flagge in die Erde zu stecken. Der Photograph rannte vor, machte eine Aufnahme, tauchte wieder unter. »Vuuuuuzzzzzip!« explodierte eine Rakete. »Eine Schweigeminute in stillem Gedenken für un-
sere dahingegangenen Freunde«, sagte der Lautsprecher. Während dieser Schweigeminute hörte Paul ganz deutlich, daß jemand hinter ihm schluchzte. Irgend jemand, der Basset besonders gern gehabt haben mußte, konnte sich offenbar nicht mehr beherrschen. Zwar standen in vielen Augen Tränen, und Männer bissen sich auf die Lippen, aber Paul konnte den Schluchzer nirgends entdecken. Plötzlich sah er ihn doch, allerdings nicht in der Versammlung, sondern in der Tür zum Speisesaal. Luke Lubbock, der einen Stapel schmutziges Geschirr trug, war vor Ergriffenheit überwältigt. Tränen für den verstorbenen Manager der Pittsburgh-Werke flossen ihm über die Wangen, bis ihn der Oberkellner in die Küche zurückjagte. »Vuuuuuzzzzzip! Wrum! Bummm! Blllummm!« Die Kapelle stimmte »The Stars and Stripes forever« an; und Kroner wurde von einigen anderen weggeführt, die Basset ebenfalls gut gekannt hatten. Die Versammlung löste sich auf. Paul sah sehnsüchtig auf die Türen zu der Bar, die sich in einem der weißen Gebäude befand. Er rüttelte sogar kurz an jeder, um sich davon zu überzeugen, daß sie auch wirklich verschlossen waren, wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, denn die Bar wurde immer erst zur Cocktailstunde nach den Wettkämpfen geöffnet. »Achtung, Achtung!« sagte der Lautsprecher. »Es folgt das Programm für den Rest des Tages: In zehn Minuten versammeln sich die Teams vor dem Zelt ihres Captains, der die Einteilung zu den einzelnen Wettbewerben vornimmt. Danach Freizeit für jeden, spannt aus, lernt euren Kameraden besser
kennen, sprecht nicht immer nur mit den Leuten, die ihr schon vor Jahren gelangweilt habt! Cocktails werden um fünf Uhr dreißig serviert, das Abendessen um sechs Uhr dreißig. Noch eine wichtige Durchsage: die Vereidigung findet nicht, wie vorgesehen, heute abend statt. Sie ist auf morgen verschoben worden. Statt dessen wurde für heute abend allgemeines Singen im Amphitheater angesetzt – als Erholung vor den morgen beginnenden Wettbewerben. Zapfenstreich pünktlich um Mitternacht. Die Captains werden in ihre Zelte gebeten, Captains in ihre Zelte!«
18 Der goldene Turban des Schahs von Bratpuhr hing schlaff von einem Kleiderhaken in Miami Beach herunter. »Puku pala koko, puku ebo koko, nilho aki koko«, sagte der Schah befehlend. »Was wünscht der ausländische Herr?« fragte Homer Bigley, der Inhaber des Frisiersalons. »Er möchte, daß Sie an den Seiten und hinten ein bißchen abschneiden, aber oben sollen Sie nichts ändern«, murmelte Khashdrahr Miasma, der in dem Stuhl neben dem Schah unter einem dampfenden Handtuch saß. Dr. Ewing Halyard kaute nervös an den Nägeln, während seine Schützlinge ihren ersten amerikanischen Haarschnitt verpaßt bekamen. Er lächelte und nickte wie immer, wenn sie etwas sagten, aber trotzdem dachte er nur an den Brief in seiner Brusttasche. Der Brief vom Personalchef des Auswärtigen Amtes hatte ihn lange verfolgt: von New York nach Utica, nach Niagara Falls, nach Camp Drum, nach Indianapolis, nach St. Louis, nach Fort Riley, nach Houston, nach Hollywood, nach Grand Canyon, nach Carlsbad Caverns, nach Hanford, nach Chicago und schließlich nach Miami Beach, wo er lange genug geblieben war, daß der Brief ihn hatte erreichen können. Halyard war krebsrot von einem Tag am Strand, aber unterhalb dieses vorgetäuschten Wohlbefindens war er kalt und wachsbleich vor Angst. »Mein lieber Mr. Halyard ...« hatte der Brief begonnen. Während Halyard über diesen unvermuteten
Schicksalsschlag nachgrübelte, wählte Homer Bigley mit geübter Hand eine der Scheren aus seinem reichhaltigen Sortiment, klapperte mit ihr um das heilige Haupt seines Kunden herum und plapperte drauflos, als ob die Muskeln seiner rechten Hand so mit seinen Stimmbändern verbunden seien, daß sie nur gemeinsam in Betrieb gesetzt werden konnten. »Sie haben sich wirklich eine schöne Zeit ausgesucht, um nach Miami zu kommen. Angeblich ist zwar jetzt schon Nachsaison, aber ich finde immer, daß es jetzt hier am schönsten ist. Und am billigsten. Hier ist es jetzt mindestens sieben oder acht Grad kühler als in New York, aber ich möchte wetten, daß das dort oben kaum jemand weiß. Bloß weil dafür nie Reklame gemacht worden ist. Alles ist Reklame. Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht? Alles was Sie denken, denken Sie nur, weil ein anderer dafür Reklame gemacht hat. Erziehung – nichts als Reklame für Ideen. Gute Reklame und schlechte Reklame. Friseure, zum Beispiel, kriegen einen Haufen schlechte. Man kann keine Illustrierte mehr aufschlagen oder das Fernsehgerät einschalten, ohne einen Witz zu sehen, wo ein Friseur einen Kunden schneidet. Ich finde es einfach unfair, wenn man sich auf Kosten anderer lustig macht. Und manchmal frage ich mich, ob die Witzzeichner und Komiker schon mal überlegt haben, wie viele Friseure es gibt, die tagaus, tagein arbeiten, ohne dabei jemand zu schneiden. Und trotzdem machen diese Leute so viele Witze darüber, daß man sich direkt wundern muß, wie die Abwasserkanäle das ganze Blut aufnehmen können. Aber anscheinend macht sich heutzutage niemand mehr etwas aus Din-
gen, die anderen vielleicht sogar heilig sind ... Das Komische dabei ist eigentlich, daß die Friseure früher, als sie noch Bader genannt wurden, den Leuten wirklich Blut abgezapft haben – und dazu noch für Geld! Einer der ältesten Berufe der Welt, wenn man darüber nachdenkt, aber wer tut das schon? Hochinteressante Geschichte. Mein Vater, Gott hab' ihn selig hat immer gesagt, daß die Friseure die Ärzte überleben wurden. Vielleicht hatte er sogar recht. Heutzutage ist es wahrhaftig einfacher, Arzt zu sein, als sein Geld mit Haarschneiden zu verdienen. Wenn Sie Scharlach oder Lungenentzündung oder Masern hätten, könnte ich Sie unter Garantie schneller kurieren, als ich Schaum für eine Rasur schlagen kann. Man nimmt eine schöne kleine Spritze, macht einmal pieks! und schon ist der Patient gesund. Jeder Friseur könnte das tun, was ein Arzt heutzutage tut. Aber ich bin bereit, Ihnen fünfzig Dollar zu geben, wenn Sie mir einen Arzt nennen können, der Haarschneiden kann. Ein Arzt benützt weder seinen Verstand noch seine Ausbildung, um herauszufinden was Ihnen fehlt. Maschinen erledigen das alles für ihn – er muß nur noch das richtige Heilmittel verordnen, und das kann er auch nur, weil es ihm die Maschine vorsagt. Und die Rechtsanwälte! Gott sei Dank, daß wir jetzt Lügendetektoren und die ganzen anderen Maschinen haben, damit wir nicht mehr darauf angewiesen sind, wer den besseren Rechtsverdreher bezahlen kann. Die Maschinen sind wenigstens unparteiisch und wissen schon, welcher Paragraph in diesem oder jenem Fall zutrifft. Wenn ich einen Lügendetektor und noch ein paar andere Maschinen hier in meinem Sa-
lon hätte, könnte ich genausogut Rechtsanwalt spielen wie diese Herren. Früher bildeten die Angehörigen dieser beiden Berufe eine Art Kaste für sich die auf die anderen heruntersah, aber allmählich werden sie immer mehr zu Mechanikern degradiert. Nur die Zahnärzte haben alles ganz gut überstanden. Und das Friseurhandwerk floriert nach wie vor. Man könnte beinahe sagen, daß die Maschinen die Starken von den Schwachen geschieden haben. Das erinnert mich an meine Zeit in der Armee, wo sie immer ähnliche Ausdrücke gebrauchten. ›Los, Jungs‹, hat Sergeant Wheeler oft gebrüllt. ›Hier scheiden sich die Männer von den Jüngelchen!‹ Und dann stürmten wir die nächste Höhe, und die Sanitäter kamen hinterher und schieden die Verwundeten von den Toten. Und dann sagte Wheeler wieder: ›Los, Jungs – hier scheiden sich die Männer von den Jüngelchen!‹ Und das ging so weiter, bis wir schließlich von unserem Bataillon abgeschnitten waren und Wheeler der Kopf abgeschossen wurde. Aber wissen Sie, obwohl alles so schrecklich war – nicht nur das mit Wheeler, sondern der ganze Krieg –, hat es doch die Größe des amerikanischen Volkes gezeigt. Irgendwie hat erst der Krieg gezeigt, was in den Leuten steckte. Vielleicht kommt es daher, weil man im Krieg so schnell groß werden kann – ein Kerl schnappt einmal für ein paar Sekunden über, tut etwas völlig Verrücktes, und schon ist er ein Held. Elmar Wheeler mußte man einfach anerkennen, als er fuchsteufelswild wurde, nachdem er den Brief seiner Frau bekommen hatte, in dem stand daß sie ein Baby bekommen hatte, und er war doch zwei Jahre
lang nicht mehr zu Hause gewesen! Als er ihn gelesen hatte, brüllte er wie ein Stier, dann raste er zu dem nächsten feindlichen Maschinengewehrnest hinüber, schoß, warf Handgranaten und brachte sie alle um, dann benützte er den Gewehrkolben, weil er keine Munition mehr hatte und machte Mus aus einer ganzen Bunkerbesatzung, und schließlich schmiß er mit Felsbrocken nach einem feindlichen Granatwerfer, bis sie ihn mit einem Splitter erwischten. Na, und dann bekam Wheeler die Kongreßmedaille für seine Heldentat, und sie wurde ihm in den Sarg gelegt. Man konnte sie ihm schließlich nicht mehr um den Hals hängen, weil er keinen mehr hatte. Aber er war ein großer Held, niemand konnte das ernsthaft bezweifeln. Glauben Sie vielleicht, daß er heutzutage auch groß hätte werden können? Elmar Wheeler? Wissen Sie, was der arme Teufel heute wäre? Arbeiter beim Korps, das wäre er! Der Krieg hat etwas aus ihm gemacht, aber dieses Leben hätte ihn umgebracht. Und der Krieg hat noch einen Vorteil – daß man sich nie Gedanken darüber machen muß, ob man das Richtige tut. Alles war so einfach. Man saß in einem Loch, wurde von den anderen beschossen schoß zurück – man konnte gar nichts falsch dabei machen. Heute ist die Armee nur noch ein Mittel, mit dem die Jugend von den Straßen ferngehalten wird. Und die einzige Chance, daß sie jemals jemand werden, besteht für diese armen Kerle aus einem neuen Krieg. Nur dann hätten sie Gelegenheit, zu beweisen, daß sie wirklich zu großen Taten befähigt sind. Früher konnte auch der Dümmste eine Menge tun, um dadurch groß und berühmt zu werden, aber jetzt
haben die Maschinen dem ein Ende bereitet. Sie wissen doch, die Burschen auf den Teeklippern oder Walfängern – oder man konnte auch nach Gold in Alaska schürfen, oder als Siedler die Indianer vertreiben. Oder man konnte Cowboy werden, und dann gab es noch einen Haufen anderer Berufe, die ebenso gefährlich waren. Jetzt machen die Maschinen die gefährlichen Arbeiten, und die dummen Kerle werden in riesigen Fertighaussiedlungen oder Kasernen zusammengepfercht, und dort können sie nur noch auf ein großes Feuer hoffen, damit sie vielleicht ein Baby aus einem brennenden Haus retten können, um wenigstens dadurch berühmt zu werden. Oder sie hoffen auf einen neuen Krieg. Aber es wird natürlich keinen mehr geben. Ich gebe natürlich auch zu, daß die Maschinen unser Leben wesentlich leichter machen. Nur die Dummen behaupten das Gegenteil und ich weiß genau, warum sie das tun. Manchmal scheint es wirklich so, als hätten die Maschinen alle gute Arbeit für sich in Beschlag genommen, mit der die meisten Menschen zufrieden waren und nur die sinnlosen Beschäftigungen übriggelassen. Ich kann wirklich froh sein, daß mein Beruf so lange überlebt hat – jedenfalls lange genug, um mich zufriedenzustellen. Und ich bin froh, daß ich keine Kinder habe. Auf diese Art und Weise brauche ich mir wenigstens keine Sorgen darüber zu machen daß sie vielleicht in der Armee oder beim Korps gelandet wären, wenn sie mein bißchen Grips mitbekommen hätten. Hoffentlich kommen die ersten Frisiermaschinen
frühestens in zwei Jahren nach Miami Beach, denn dann will ich das Geschäft sowieso aufgeben – dann kann die Dinger von mir aus der Teufel holen. Neulich wurde der Mann, der die Maschine erfunden hat, im Fernsehen gezeigt, und da stellte sich heraus, daß der Kerl selber Friseur war! So, jetzt sind Sie fertig, Sir, ist es recht so?« »Sumklish«, sagte der Schah, und er nahm einen langen Zug aus der Flasche, die Khashdrahr ihm reichte. »Nibo bakula ni provo«, brachte er schließlich heraus. »Ist er zufrieden?« fragte Bigley. »Der Schah sagt, es gibt nichts, was man nicht unter einem Turban verbergen könnte«, übersetzte Khashdrahr, der sich unterdessen hatte rasieren lassen. »Jetzt sind Sie an der Reihe, Doktor«, wandte er sich dann an Halyard. »Hmm?« meinte Halyard geistesabwesend. »Oh – nein, danke, ich brauche keinen Haarschnitt. Wäre es nicht besser, wenn wir jetzt in unser Hotel zurückfahren würden, damit wir uns ein bißchen ausruhen können?« Er warf nochmals einen Blick auf den Brief, den er in der Hand hielt: »Mein lieber Mr. Halyard! Anläßlich einer routinemäßig vorgenommenen Überprüfung der Personalkarten unserer Abteilung ergab sich leider, daß Sie während Ihres Studiums an der Cornell-Universität versäumt haben, die vorgeschriebenen Prüfungen auf dem Fachgebiet ›Leibesübungen‹ abzulegen, die eine Zulassungsbedingung zu sämtlichen Prüfungen der Universität sind. Ich bin deshalb beauftragt worden, Ihnen mitzuteilen,
daß Ihnen die Berechtigung zum Tragen Ihres akademischen Titels mit sofortiger Wirkung entzogen wurde, weil Sie ihn nur durch ein Versehen des Prüfungsausschusses erworben haben. Fernerhin habe ich Ihnen mitzuteilen, daß Sie für die Dauer von acht Wochen auf Probe angestellt bleiben, mit der Auflage, innerhalb dieses Zeitraumes die o.a. Prüfung nachzuholen, falls Sie es nicht vorziehen sollten, Ihr Amt zur Verfügung zu stellen. Ich nehme an, daß sich diese kleine Unterbrechung nur unwesentlich auf Ihren Zeitplan auswirken wird und hoffe, daß Sie die Gelegenheit wahrnehmen werden, um Seiner Hoheit, dem Schah von Bratpuhr, eine der repräsentativsten Bildungsstätten unseres Landes vorzuführen. Der Rektor der Universität hat mir versichert, daß Sie die Prüfungen zu jedem beliebigen Termin nachholen können. Zu Ihrer Information folgen noch einmal die dabei gestellten Anforderungen: zweihundert Meter Lagenschwimmen, fünfundzwanzig Liegestütze, zwanzig Kniebeugen, zehn ...«
19 Am Abend des zweiten Wettkampftages wurde im Amphitheater ein Schauspiel aufgeführt, dem die Vereidigung folgte. Jedes Jahr wurde ein neues Stück gegeben, aber der Inhalt war immer gleich: Die bedauernswerte Undankbarkeit des kleinen Mannes auf der Straße seinen Wohltätern, den Managern und Ingenieuren gegenüber. Paul saß neben Kroner, als sich die riesige Stahlkugel auf der Bühne langsam zu öffnen begann, während die Musik aus den Lautsprechern abbrach. Scheinwerfer flammten auf und beleuchteten folgende Szene: Ein alter Mann mit langem weißem Bart und einer Art Toga, die über und über mit goldenen Sternen besetzt ist, sitzt auf der obersten Stufe einer hohen Stehleiter. Neben der Leiter steht ein Mast von dem aus ein Draht zu einem zweiten führt, der auf der anderen Seite der Bühne steht. An dem Draht hängen Metallsterne, die mit Leuchtfarbe angestrichen sind, damit sie im Licht eines Infrarotscheinwerfers aufblitzen. Der alte Mann starrt schweigend auf die Sterne hakt einen von ihnen los, poliert ihn mit einem Staubtuch, schüttelt traurig den Kopf und läßt ihn zu Boden fallen. Er wirft dann einen Blick auf die Zuschauer und beginnt zu sprechen. DER ALTE MANN Ich bin der Himmelsmanager. Ich habe dafür zu sorgen, daß alle Sterne hell scheinen, ich bin es, der sie vom Firmament abnimmt, wenn ihr Glanz erloschen ist. Alle hundert Jahre steige ich auf meine Leiter, um meine traurige Pflicht zu
tun. (Macht einen anderen Stern los, betrachtet ihn.) Auch dieser hier gehört nicht mehr an einen modernen Himmel, obwohl er vor hundert Jahren zu den strahlendsten gehörte. (Hält den Stern hoch, zeigt auf die Aufschrift ›Gewerkschaften‹, versucht, ihn zu reinigen, gibt es auf, läßt ihn mit einem Schulterzukken fallen.) In guter Gesellschaft. (Sieht auf die am Boden liegenden Sterne hinunter.) Die anderen heißen Individualismus, Sozialismus, Freies Unternehmertum, Kommunismus ... (Seufzt.) Es ist eine traurige Pflicht, aber es ist nun einmal beschlossen, daß es so geschehen soll ... (Zieht den größten Stern zu sich heran, der das Abbild einer Eiche, der Eiche, trägt, das im Licht der Infrarotscheinwerfer hell aufleuchtet.) Schade, aber er hat zu viele mächtige Feinde, die ihm den Platz am Himmel mißgönnen. (Wischt daran herum, zuckt mit den Schultern, will ihn zu den anderen werfen.) Auftritt ein junger, gutgekleideter Ingenieur aus dem Publikum. JUNGER ING. (Rüttelt an der Leiter.) Nein! Nein, Himmelsmanager nein! DER ALTE MANN (Blickt erstaunt zu ihm hinunter.) Was sehe ich da? Wer wagt es, den Verwalter des Firmaments bei seiner Arbeit zu stören? Auftritt ein junger Radikaler durch eine Falltür. Wirres Haar, ungepflegt, schäbig. RADIKALER (Lacht höhnisch.) Nimm ihn herab! JUNGER ING. Nie hat es einen schöneren und helleren Stern am Himmel gegeben! RADIKALER Nie einen schwärzeren und blutigeren! DER ALTE MANN (Sieht nachdenklich von einem zum anderen, dann wieder auf den Stern in seiner Hand.) Hmmm. Seid ihr bereit vor Gericht zu erscheinen,
um dort für oder gegen den Stern, aufzutreten? JUNGER ING. Ich bin es! RADIKALER Ich auch! KUGEL SCHLIESSEN KUGEL ÖFFNEN Die Bühne ist in einen Gerichtssaal verwandelt worden. Der alte Mann trägt Perücke und Talar, während der Radikale und der junge Ingenieur ebenfalls diese Kleidung angelegt haben. STIMME Hört, hört! Die Sitzung des Himmlischen Gerichtshofes hat begonnen! DER ALTE MANN (Klopft mit einem Hammer auf den Tisch.) Das Verfahren ist eröffnet. Der Vertreter der Anklage hat das Wort! RADIKALER Euer Ehren, die Anklage beabsichtigt zu beweisen, daß der fragliche Stern zu den schwärzesten gehört, die je am Himmel gehangen haben. Ich möchte nur einen Zeugen aufrufen, dessen Aussage stellvertretend für Millionen anderer steht ... John Kleinermann. STIMME John Kleinermann, John Kleinermann! Bitte, betreten Sie den Zeugenstand. Auftritt John Kleinermann durch Falltür. (Er ist ein Mann mittleren Alters, untersetzt, ängstlich, mit schlechter Kleidung.) RADIKALER John, ich möchte, daß Sie mir ein paar Fragen beantworten. JOHN Jawohl, Sir. RADIKALER John, erzählen Sie dem Herrn Richter, was Sie vor dem Krieg getan haben, bevor dieser neue Stern aufgestiegen war, der jetzt den Himmel verunziert.
JOHN Ich war Maschinist in den Kleinestadt-Werken der Kleinestadt-Gesellschaft. RADIKALER Und jetzt? JOHN Ich bin Arbeiter im K.I.W., Sir. RADIKALER Das Gericht möchte bestimmt gern wissen, was Sie verdient haben, bevor der Stern aufgestiegen war, und was Sie jetzt bekommen. JOHN (Starrt auf seine Hände, rechnet mit Hilfe der Finger vor sich hin.) Sir, vor dem Krieg kam ich mit Überstunden auf etwa hundertzehn Dollar pro Woche – manchmal auch mehr. Jetzt verdiene ich dreißig. RADIKALER In anderen Worten, Ihr Einkommen ist um etwa achtzig Prozent gefallen, während der Stern aufstieg. JUNGER ING. (Springt auf.) Euer Ehren, ich ... DER ALTE MANN Warten Sie bis zum Kreuzverhör. JUNGER ING. Jawohl, Sir. Es tut mir leid, Sir. RADIKALER Damit wäre also bewiesen, daß der amerikanische Lebensstandard um achtzig Prozent niedriger geworden ist. John was wollten Sie noch über die weiteren Auswirkungen berichten? Sie erinnern sich doch – über die Manager und Ingenieure ... JOHN Jawohl, Sir. (Sieht unsicher zu dem Ingenieur hinüber.) Ich meine Sie nicht persönlich, Sir ... RADIKALER Die Wahrheit wird immer auf einige verletzend wirken, John. Sprechen Sie ruhig weiter! JOHN Nun, Sir, es ist nicht schön, wenn man nichts mehr wert ist; ich meine, wenn die Ingenieure und Manager uns nicht mehr bemerken, weil man zu klein und unwichtig geworden ist, und ... JUNGER ING. (Springt wieder auf.) Euer Ehren!
DER ALTE MANN Ich werde in Zukunft keine Unterbrechungen dieser Art mehr zulassen! (Wendet sich an den Radikalen.) Fahren Sie bitte fort. RADIKALER Weiter, John. JOHN Es scheint eben, als ob heutzutage nur noch die Manager und Ingenieure wichtig seien, während der kleine Mann auf der Straße nichts mehr bedeutet. RADIKALER (Scheint von Johns Aussage geradezu erschüttert zu sein, spricht mit mühsam unterdrückter Erregung.) Euer Ehren der Stern muß fallen! Er muß fallen! (Zeigt auf John.) Wir haben eben die Stimme des Volkes gehört – ja, die des Volkes – und sie ruft: ›Er muß fallen!‹ Wer sagt: ›Er muß bleiben!‹ – wer? Nicht John, nicht das Volk. Wer? (Zieht eine Broschüre aus der Tasche.) Euer Ehren (Liest daraus vor.), zu Beginn des Krieges erhielten die Manager und Ingenieure ein durchschnittliches Jahresgehalt von achttausendvierhundertneunundvierzig Dollar und siebenundzwanzig Cent. In der Zwischenzeit ist dieser Stern in die Höhe gestiegen, und John hat achtzig Prozent seines Einkommens verloren. Und was verdienen die Manager und Ingenieure jetzt? (Liest wieder aus der Broschüre vor, betont jede Silbe.) Siebenundfünfzigtausendachthundertundsechsundneunzig Dollar und einundvierzig Cent! (Blickt sich triumphierend um, weist auf den ungläubig dreinblikkenden Zeugen.) Danke, ich habe keine Fragen mehr zu stellen. JUNGER ING. (Spricht sehr freundlich.) John. JOHN (Sieht ihn feindselig an.) Jawohl, Sir? JUNGER ING. John, sagen Sie mir, hatten Sie früher
auch schon ein Fernsehgerät mit einer Großbildröhre? JOHN (Scheint verwirrt.) Nein, Sir. JUNGER ING. Oder eine Waschmaschine oder einen Radarherd oder einen elektronischen Staubfänger? JOHN Nein, Sir, diese Dinge konnten sich nur reiche Leute leisten. JUNGER ING. Oder mußten Sie sich damals keine Sorgen um Arztrechnungen, Miete, Essen und Altersversorgung machen, wofür jetzt automatisch gesorgt wird? JOHN Doch, Sir. Das alles gab es damals noch nicht. JUNGER ING. John, Sie haben doch schon von Julius Cäsar gehört? Gut, Sie haben es. John, glauben Sie, daß Cäsar, der damals die Welt beherrschte, das gehabt hat, was Sie heute haben? JOHN (Völlig überrascht.) Nein, eigentlich nicht. Komisch, wenn man es sich überlegt. RADIKALER (Ruft wütend dazwischen.) Euer Ehren, ich erhebe Einspruch! Was hat Cäsar mit dem vorliegenden Fall zu tun? JUNGER ING. Euer Ehren, die Verteidigung versucht nur, zu zeigen, daß John dem Aufstieg des Sterns einen Reichtum verdankt, um den ihn jeder Herrscher der Weltgeschichte beneiden würde! Dreißig Dollar pro Woche, John – ja, das ist alles, was Sie verdienen. Aber selbst Karl der Große oder Heinrich der Achte oder Napoleon hätte nicht eine Vakuumröhre oder eine einzige Glühlampe kaufen können – selbst wenn sie alle ihre Schätze dafür geboten hätten! JOHN Ja, aber ... JUNGER ING. (Unterbricht ihn, kommt ihm zuvor.)
Aber die Ingenieure und Manager haben Mr. Kleinermann vergessen? JOHN Jawohl, Sir, das wollte ich gerade sagen. JUNGER ING. John, haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, daß alle Ingenieure und Manager arbeitslos wären, wenn es Sie nicht gäbe? Wie könnten wir Sie je vergessen, wenn doch unser Leben nur daraus besteht, Ihnen das zu geben, was Sie wollen! Kennen Sie meinen Boss, John? JOHN Ich habe ihn noch nie gesehen, Sir. JUNGER ING. (Lächelt wohlwollend.) Oh, doch – Sie sind es selbst, John! Wenn ich Sie nicht mehr zufriedenstellen kann, bin ich erledigt. Wir sind alle erledigt – und der Stern fällt. JOHN (Wird rot, grinst verlegen.) So habe ich das noch nie gesehen, Sir. Aber es stimmt eigentlich, nicht wahr? Aber ... JUNGER ING. Aber ich verdiene Ihrer Meinung nach viel zuviel? Siebenundfünfzigtausend Dollar ist Ihnen zu viel für uns? JOHN Jawohl, Sir, das ist ein Haufen Geld. JUNGER ING. John, bevor der Stern vor dem Krieg aufzusteigen begonnen hatte, kostete das, was ich heute für meinen Boss, Mr Kleinermann, erzeuge, mehr als siebenundfünfzigtausend Dollar pro Woche an Löhnen! Nicht pro Jahr, sondern pro Woche! JOHN (Pfeift überrascht.) Das ändert natürlich alles! (Zeigt auf den Radikalen.) Aber er hat doch vorher gesagt ... JUNGER ING. Wir haben alle seine Fragen beantwortet, John. Er will Sie nur ausnützen, um mit Ihrer Unterstützung den Stern vom Himmel herunterzuholen. Wenn Sie ihm seine Halbwahrheiten
abnehmen, John, wird er an die Macht kommen und die ganze Welt um die Errungenschaften des Fortschritts bringen! JOHN (Starrt den Radikalen wütend an.) Oh, das hat er also vor! Das könnte ihm so passen, mich für ... (Der Radikale verschwindet plötzlich durch die Falltür, John verfolgt ihn. Blauer Scheinwerfer auf den jungen Ingenieur, Bühnenbeleuchtung wird schwächer. Kapelle im Hintergrund stimmt ›Battle Hymn of the Republic‹ an, spielt sehr leise.) JUNGER ING. (Spricht nachdenklich, nüchtern, im Gesprächston.) Ja, es gibt immer noch welche, die behaupten, daß der Stern seinen Glanz verloren habe, daß er fallen müsse. Das ist auch unsere Schuld – ja, auch unsere! Wir müssen immer wieder betonen, wie schön er ist, und warum er schön ist. Wir sind zu geduldig. (Zeigt auf den Stern, Infrarotscheinwerfer läßt ihn hell aufblitzen.) Darunter sind wir reicher geworden, als unsere Vorväter es sich jemals hätten träumen lassen! Unsere Zivilisation hat ihren absoluten Höhepunkt erreicht! (Musik wird lauter.) Sechsundneunzig Prozent aller Fernsehgeräte der Welt! (Musik wird noch lauter.) Dreiundneunzig Prozent aller elektrostatischen Staubfänger! Siebenundsiebzig Prozent aller Automobile! Achtundneunzig Prozent aller Hubschrauber! Einundachtzig Prozent aller Kühlschränke! (Musik wird noch etwas lauter.) Einundsiebzig Prozent aller Waschmaschinen! Fünfundachtzig Prozent aller erzeugten Energie!
Sechsundneunzig Prozent aller Vakuumröhren! Achtundneunzig Prozent aller ... (Musik übertönt ihn jetzt.) (Blauer Scheinwerfer aus. Raketen abfeuern.) KUGEL SCHLIESSEN KUGEL ÖFFNEN Der junge Ingenieur ist verschwunden, auf der Bühne ist wieder der alte Mann auf der Leiter zu sehen. Er hält den Stern mit der darauf abgebildeten Eiche in die Höhe, lächelt, hängt ihn wieder an seinen Platz. Infrarotscheinwerfer wird noch stärker, Stern blitzt sehr hell. DER ALTE MANN Dort hängt er wieder und strahlt heller als alle anderen zusammen: Und wenn ich nach einem Jahrhundert wiederkomme, um die Sterne zu überprüfen, wird er dann immer noch leuchten? Oder? (Sieht sich bedeutsam um.) Nun, wer ist dafür verantwortlich, ob der Stern weiterleuchtet? (Blickt die Zuschauer an.) Die Verantwortung dafür tragen ... (Richtet die Lampe plötzlich auf die Zuschauer, so daß ein Gesicht nach dem anderen beleuchtet wird.) Sie! Und Sie! Und Sie! (Weitere Raketen. Kapelle spielt jetzt sehr laut ›Stars und Stripes forever‹.) KUGEL SCHLIESSEN (Scheinwerfer aus, Außenbeleuchtung an.) »Es wird Sie bestimmt interessieren«, unterbrach der Lautsprecher den Applaus, »daß dieses Jahr zum erstenmal einer von uns für das Stück verantwortlich zeichnet, während es sonst immer von Schriftstellern nach unseren Ideen geschrieben worden ist. Bill Hol-
dermann, stehen Sie auf! Stehen Sie auf, Bill!« Der Beifall glich einem Orkan. Holdermann, ein kleiner, unbedeutender Mann aus den Indianapolis-Werken, weinte vor Freude darüber, daß er es nach einem Leben voller Enttäuschungen doch noch geschafft hatte. »Die Vereidigung findet in fünf Minuten statt«, sagte der Lautsprecher. »Fünf Minuten, um neue Bekanntschaften zu machen, dann Vereidigung am Lagerfeuer.« Paul ließ Kroner mit Shepherd allein, der Kroners Begeisterung über das Stück zu teilen schien und näherte sich dem Ufer, wo Alfy, Luke Lubbock und andere eifrig damit beschäftigt waren, einen hohen Holzstoß mit Petroleum zu überschütten. Ein leises Brummen, das aus Osten zu kommen schien, erregte seine Aufmerksamkeit. Vermutlich das Amphibienflugzeug, das Dr. Francis Eldgrin Gelhorne brachte. Einige Minuten später begann die feierliche Zeremonie, als sich alle um das lodernde Feuer versammelt hatten. Ein Schauspieler, der als Indianer verkleidet war, hob feierlich die Hand, wobei er stolz den Kopf zurückwarf. Die Zuschauer verstummten. »Hugh!« Er sah von Gesicht zu Gesicht. »Hugh! Vor vielen, vielen Monden hat mein tapferes Volk diese Insel bewohnt.« Das Flugzeug war näher gekommen. »Das ist bestimmt der Alte«, flüsterte Kroner in Pauls Ohr, »aber wir müssen hierbleiben, bis die Feier vorbei ist. Jetzt können wir nicht mehr wegrennen.« »Mein Volk war ein tapferes Volk«, fuhr der Indianer fort, »ein stolzes und ehrliches Volk. Jeder arbeitete und kämpfte bis es auch für ihn Zeit war, in die ewigen Jagdgründe einzugehen.«
Paul erinnerte sich daran, daß er diesen Schauspieler schon vor einigen Jahren in der gleichen Rolle gesellen hatte. Eigentlich hatte man ihn wegen seiner tiefen Stimme und seiner prachtvollen Muskeln verpflichtet, aber jetzt war davon nur noch wenig übrig. Aber trotzdem kam er jedes Jahr wieder, weil er im Laufe der Zeit zu einem Symbol geworden war – zusammen mit Dr. Gelhorne und der Eiche. »Jetzt sind unsere Krieger heimgekehrt – haben diese Insel verlassen, die vor vielen Monden meinem Volke gehörte«, sagte der Indianer. »An ihrer Stelle sehe ich hier viele andere junge Männer. Aber der Geist meines Volkes ist noch überall lebendig, der Geist der Meadows. Er ist überall: in dem Wind, der durch die Bäume streicht, in den Wellen, die ans Ufer schlagen, in dem Kreischen eines Raubvogels, in dem Grollen des Sommergewitters. Niemand kann hier glücklich sein, niemand kann diese Insel sein eigen nennen, der diesem Geist nicht gehorcht, der nicht den Eid auf ihn ablegt.« »Die jungen Krieger, die zum erstenmal auf The Meadows sind mögen jetzt vortreten«, sagte eine Stimme aus dem Lautsprecher. »Hebt eure rechte Hand«, befahl der Indianer, »und sprecht mir nach. Ich schwöre bei dem Wind, der durch die Bäume ...« »... der durch die Bäume streicht ...« wiederholten die Neuen. »Bei den Wellen, die ans Ufer schlagen ...« Das Flugzeug war gelandet, der Motorenlärm übertönte einen Teil der Zeremonie, während der Pilot auf den Kai zusteuerte. »Bei dem Grollen des Sommergewitters.«
»Bei dem Grollen des Sommergewitters.« »Ich werde dem Geist der Meadows gehorchen«, fuhr der Indianer fort, »und den Befehlen der weisen Häuptlinge Folge leisten. Ich werde mit ganzer Kraft zum Wohle meines Volkes arbeiten und seine Feinde rücksichtslos verfolgen.« »Verfolgen!« sagte jemand hinter Paul voller Begeisterung. Er drehte sich um, denn die Stimme war ihm bekannt vorgekommen. Richtig, es war Luke Lubbock, der völlig hingerissen auf den Indianer starrte, während er gleichzeitig alles beschwor, was ihm vorgesagt wurde. In Lukes linker Hand sah Paul einen Feuerlöscher – eine Erklärung dafür, daß Luke der Zeremonie überhaupt beiwohnen durfte. Der Indianer schien tief befriedigt über die Eidesleistung der Novizen. »Der Geist der Meadows ist euch wohlgesinnt«, sagte er. »The Meadows gehört diesen tapferen jungen Kriegern, und auf der Insel wird wieder Freude und Glück herrschen, wie es vor vielen Monden gewesen ist.« Eine Rauchwolke verbarg ihn einen Augenblick vor den Zuschauern, dann war er verschwunden. »Die Bar ist geöffnet«, sagte der Lautsprecher. »Die Bar ist bis Mitternacht geöffnet.« Paul ging neben dem jungen Mann her, den er beim Mittagessen kennengelernt hatte, Dr. Edmund Harrison von den Ithaca-Werken. Shepherd und Berringer waren einige Schritte hinter ihm und versuchten, sich bei Kroner einzuschmeicheln. »Na, wie hat es Ihnen gefallen, Ed?« fragte Paul. Harrison sah ihn fragend an, wollte lächeln, gab es dann aber doch wieder auf, weil er es nicht für richtig
hielt. »Ausgezeichnete Leistung«, antwortete er vorsichtig. »Hervorragend gespielt.« »Menschenskind«, sagte Berringer, »das war wirklich eine großartige Sache! Erstklassig! Prima Unterhaltung – und gleichzeitig lernt man noch etwas dabei. Das nenne ich Kunst!« Ed Harrison blieb plötzlich stehen, dann bückte er sich und hob einen seltsam geformten Stein auf, der auf dem Weg gelegen hatte. »Sehen Sie sich das an«, rief er überrascht aus. »Eine Pfeilspitze!« »Ein hübsches Stück«, sagte Paul bewundernd. »Dann hat es hier also wirklich Indianer gegeben«, meinte Harrison erstaunt.
20 Die Besprechung zwischen Dr. Paul Proteus, Dr. Anthony Kroner, Dr. Lou MacClearty dem Manager für Fragen der industriellen Sicherheit, und Dr. Francis E. Gelhorne, Direktor für Industrie Handel, Fernmeldewesen, Ernährung und Bodenschätze, sollte in dem sogenannten Herrensitz stattfinden. Dieses Gebäude hatte dem Besitzer der Insel, einem Eisenbahnkönig, als Wochenendhaus gedient, bevor er The Meadows hatte verkaufen müssen. Später war es umgebaut worden und diente seitdem ausschließlich zu Konferenzen und Besprechungen. Dr. Gelhorne war noch nicht erschienen, deshalb saßen die drei anderen um den Tisch herum und starrten nachdenklich auf den freien Stuhl, auf dem Gelhorne bald sitzen würde. Ab und zu trug der Wind Gesprächsfetzen und fröhlichen Gesang zu ihnen herüber, aber Paul stellte fest, daß sich in der ganzen Bar nicht ein Mann befinden konnte, der wirklich einen sitzen hatte. Es war unvorstellbar, daß einer der Männer in der Bar kein Glas in der Hand hielt, aber gleichzeitig konnte Paul sich nicht vorstellen, daß jemand es sich öfter als zweimal nachfüllen ließ. Früher war das anders gewesen, aber jetzt schien jeder Angst davor zu haben, sich eine Blöße zu geben. Die einzigen, die sich nach Herzenslust betrinken konnten – und es vermutlich auch taten –, waren einige, die genau wußten, daß sie nie wieder eingeladen werden würden. Auf der Terrasse vor dem Herrensitz sprach je-
mand. Dr. Gelhorne war draußen und schien sich mit jemand zu unterhalten. »Sehen Sie sich diese jungen Menschen dort drüben an«, hörte Paul ihn sagen, »wie kann man da noch zweifeln, daß sie eine großartige Zukunft vor sich haben?« Dann öffnete sich die Tür. Die drei Männer erhoben sich. Dr. Francis Eldgrin Gelhorne, Direktor für Industrie Handel, Fernmeldewesen, Ernährung und Bodenschätze der Vereinigten Staaten von Amerika, schritt majestätisch auf seinen Platz zu. Seine üppige Fülle verbarg sich unter einem nachtblauen Zweireiher. Seine einzige Konzession an die freie und ungezwungene Atmosphäre auf The Meadows bestand darin, daß er den Kragenknopf geöffnet und die Krawatte um einen Zentimeter gelockert hatte. Seine immer noch pechschwarze Mähne verlieh ihm in Verbindung mit seinem strengen Gesichtsausdruck ein würdevolles, patriarchalisches Aussehen. Er schien der letzte einer aussterbenden Rasse zu sein, dachte Paul, wie so viele der anderen Manager auch. Es war kaum anzunehmen, daß Gelhorne einmal einen Nachfolger finden würde, der so gerissen und furchtlos war wie er. Gelhorne räusperte sich. »Wir sind hier zusammengekommen, weil es Leute gibt, die uns umbringen und die Fabriken zerstören möchten, damit sie die Macht an sich reißen können. Ist das klar?« Alle nickten. »Die Geisterhemden«, sagte Dr. Lou MacClearty, Manager für Fragen der Industriellen Sicherheit. »Die Geisterhemden«, wiederholte Gelhorne gereizt. »Sie bilden sich doch nicht etwa ein, daß Sie
damit das Problem bereits gelöst haben – nur weil Sie einen hübschen Namen dafür haben?« »Jawohl, Sir«, antwortete MacClearty. »Wir nehmen an, daß sich das Hauptquartier der Bande in Ilium befindet.« »Wir nehmen an«, sagte Gelhorne bissig. »Das soll wohl heißen, daß Sie das auch nicht wissen?« »Jawohl, Sir«, gab MacClearty zurück. Gelhorne schwieg einen Augenblick und sah die anderen an. Seine Augen fielen auf Paul. »Wie geht es Ihnen, Dr. Proteus?« »Ausgezeichnet, danke, Sir.« »Schön. Das ist gut.« Er wandte sich wieder an Lou MacClearty. »Zeigen Sie mir den Bericht, in dem alles steht, was wir nicht über die Geisterhemden wissen.« MacClearty gab ihm einen dicken Ordner. Gelhorne blätterte ihn durch. Niemand sprach, während Gelhorne las. Paul dachte noch einmal darüber nach, ob Dr. Gelhorne wirklich der letzte einer zum Aussterben verurteilten Rasse sei und kam zu dem Schluß, daß er damit recht gehabt hatte. Gelhorne hatte ein bewegtes Leben als Geschäftsmann hinter sich, mit dem die Maschinen nie einverstanden gewesen wären, wenn sie zur Zeit seines phänomenalen Aufstieges bereits etwas zu sagen gehabt hätten. Heutzutage wäre seine Klassifikationskarte auf der Stelle aussortiert worden, während man ihn in das K.I.W. gesteckt hätte, denn er besaß keinen akademischen Grad, sondern nur die zahlreichen Doktorhüte, die man ihm erst später ehrenhalber verliehen hatte – insgesamt zweiundsechzig. Während des Krieges war er allmählich die rechte Hand des senilen Präsidenten der »General Steel«
geworden, von dessen Seite ihn Pauls Vater nach Washington geholt hatte. Dort war er Generalbevollmächtigter für den gesamten Geschäftsbereich von Dr. George Proteus gewesen nachdem die Industrie Amerikas zusammengeschlossen worden war. Als Pauls Vater gestorben war, hatte man Gelhorne zu seinem Nachfolger ernannt. So etwas konnte nie wieder geschehen. Die Maschinen würden es nie zulassen. Paul konnte sich noch deutlich an ein längst vergangenes Wochenende erinnern, als er siebzehn war und Gelhorne seinem Vater einen Besuch abstattete. Als Paul an seinem Sessel vorbeiging, hatte Gelhorne ihn plötzlich am Arm festgehalten, wobei er ihn ernst ansah. »Paul, mein Junge ...« »Ja, Sir?« »Paul, dein Vater hat mir erzählt, daß du einen klugen Kopf besitzt.« Paul hatte verlegen genickt, weil er nicht wußte, was er darauf antworten sollte. »Das ist gut, Paul, aber es genügt nicht.« »Nein, Sir.« »Laß dich nie verblüffen.« »Nein, Sir, bestimmt nicht.« »Jeder hat heutzutage Angst, deshalb darfst du dich nicht verblüffen lassen.« »Nein, Sir.« »Niemand weiß so viel, daß du nicht neunzig Prozent davon innerhalb von sechs Wochen lernen könntest. Die anderen zehn Prozent sind sowieso nur Dekoration – wertloser Kram.« »Ja Sir.« »Diese sogenannten Spezialisten haben alle nur
Angst, deswegen haben sie sich ein schönes Loch gebuddelt, in dem sie sich verstecken können.« »Ja, Sir.« »Wer ist denn heute noch den Anforderungen seines Berufes gewachsen? Fast niemand! Paul, wenn du lernst, wie man alle möglichen Dinge halbwegs beherrscht, dann bist du in diesem Königreich der Blinden bereits ein Einäugiger!« »Ja, Sir.« »Möchtest du reich werden, Paul?« »Ja, Sir – ich glaube schon.« »Schön. Ich bin reich. Und ich habe dir neunzig Prozent von dem erzählt, was ich darüber weiß. Die restlichen zehn Prozent sind Dekoration.« »Ja, Sir.« Nach diesen vielen Jahren waren sich Dr. Gelhorne und Paul wieder begegnet und saßen sich an dem großen Konferenztisch im Herrensitz auf The Meadows gegenüber. Aber diesmal handelte es sich um eine ernstere Sache als das Geheimnis von Gelhornes Erfolg, diesmal stand mehr auf dem Spiel ... »Der Bericht enthält kein Wort über die Geisterhemden«, sagte Gelhorne verdrießlich. »Nur in dem Teil über Finnerty«, antwortete Lou MacClearty. »Wir haben noch nicht viel in Erfahrung bringen können.« »Wem sagen Sie das?« fragte Gelhorne ungeduldig. »Schön Dr. Proteus und Dr. Kroner, wir sind uns noch nicht darüber einig wie wichtig dieser Unsinn mit den Geisterhemden eines Tages unter Umständen für uns alle werden könnte. Und MacClearty hat leider noch nicht herausbekommen, was die Kerle eigentlich wollen oder wer ihre Anführer sind.«
»Die Brüder sind nicht dumm«, verteidigte sich Lou, »sie passen wie der Teufel auf, daß sich keiner bei ihnen einschleicht, der sie verraten könnte.« »Aber trotzdem sollte es möglich sein, einen Mann dort einzuschleusen«, sagte Gelhorne. »Unserer Auffassung nach wäre dazu ein unzufriedener entlassener Manager am besten geeignet. Einen Ingenieur haben sie ja vermutlich schon.« »Finnerty«, warf Kroner ein. »Er hat sich übrigens in der Zwischenzeit polizeilich angemeldet.« »Oh?« meinte MacClearty. »Was hat er denn als Beschäftigung angegeben?« »Herausgabe von pornographischer Literatur in Blindenschrift.« »Das findet er wohl auch noch witzig?« sagte Gelhorne mit gerunzelter Stirn. »Na, den Spaß werden wir ihm schon noch verderben! Aber das steht hier nicht zur Debatte. Paul, wir sind der Meinung, daß die Geisterhemden Sie aufnehmen werden, wenn Sie die richtigen Bedingungen erfüllen.« »Bedingungen, Sir?« »Die Voraussetzung dafür ist, daß wir Sie hinauswerfen. Von jetzt ab sind Sie für alle Außenstehenden entlassen. Sie haben das Gerücht doch bereits in Umlauf gebracht, nicht wahr, Lou?« »Jawohl, Sir. Ich habe es Shepherd gegenüber erwähnt.« »Gut so«, sagte Gelhorne. »Er übernimmt übrigens die Ilium-Werke.« »Sir, wegen Pittsburgh ...«, warf Kroner besorgt ein. »Ich habe Paul versprochen, daß er den Posten bekommt, wenn das hier vorbei ist ...« »Das soll er auch. Unterdessen wird Garth ihn ver-
treten.« Gelhorne stand auf. »Alles verstanden, Paul? Alles klar? Sie werden noch heute abend die Insel verlassen und nach Ilium zurückfahren.« Er lächelte. »Sie haben Glück gehabt, Paul. Mit dieser Sache können Sie wenigstens einige Scharten auswetzen.« »Scharten Sir?« Alles geschah jetzt so schnell, daß Paul nur noch ab und zu ein Wort aufschnappen und als Frage wiederholen konnte, um nicht völlig den Faden zu verlieren. »Finnertys Besuch in den Werkanlagen, die Pistolengeschichte ...« »Die Pistolengeschichte«, sagte Paul. »Darf ich meiner Frau etwas erzählen?« »Nein, leider nicht«, antwortete MacClearty. »Niemand außer uns darf davon erfahren.« »Ich weiß, es wird nicht leicht sein«, meinte Gelhorne mitfühlend, »aber ich kann mich noch gut an einen kleinen Jungen erinnern, der mir einmal gesagt hat, daß er am liebsten Soldat werden wollte – nicht Manager. Wissen Sie, wer das war, Paul?« »Ich?« fragte Paul erstaunt. »Sie. Nun, jetzt sind Sie an der Front – und wir sind alle stolz auf Sie!« »Ihr Vater wäre stolz auf Sie, Paul«, sagte Kroner. »Vermutlich. Er wäre bestimmt stolz, nicht wahr?« Paul fühlte, daß er immer wütender wurde, während er weitersprach. »Dr. Gelhorne, Sir darf ich noch etwas sagen, bevor Sie gehen?« »Selbstverständlich, Paul, nur los!« »Ich kündige hiermit.« Die drei anderen lachten. »Wunderbar«, meinte der Alte erfreut. »Machen Sie so weiter, Paul, dann werden Sie bestimmt begeistert
willkommen geheißen werden!« »Das ist mein Ernst! Ich habe den ganzen kindischen, blöden, verbohrten Sauhaufen satt!« »Gut, Paul«, ermunterte ihn Kroner. »Lassen Sie uns noch zwei Minuten, damit wir nicht zusammen gesehen werden«, sagte MacClearty. »Und machen Sie sich keine Sorgen wegen des Pakkens – Ihr Gepäck wird pünktlich an die letzte Fähre gebracht.« Dann schloß sich die Tür hinter ihnen. Paul sank auf seinen Stuhl zurück. »Ich kündige, ich kündige, ich kündige«, wiederholte er immer wieder leise. »Versteht ihr denn nicht? Ich kündige hiermit!«
21 Allein die Tatsache, daß Dr. Paul Proteus der Versuchung nicht widerstehen konnte, in die Bar zu gehen, um sich dort bei einem Drink zu erholen, bewies zur Genüge, wie verwirrt er durch die Ereignisse des Abends war. Die Männer in der Bar schwiegen einen Augenblick betreten, als Paul hereinkam, um dann im nächsten Augenblick wieder in lärmende Fröhlichkeit auszubrechen. Nicht ein einziger von ihnen sah Paul an. »Bourbon und Soda«, sagte er zu dem Barkeeper. »Tut mir leid, Sir. Ich darf Ihnen nichts geben.« »Warum nicht?« »Man hat mir gesagt, daß Sie nicht mehr als Gast auf The Meadows zu betrachten seien, Sir.« In seiner Verbitterung beschimpfte Paul den Barkeeper. Das war ein Fehler, den er begangen hatte, weil er noch nicht wußte, daß er von dem Augenblick an, in dem er die Vorrechte seiner Stellung verloren hatte, gleichzeitig auf die unterste Stufe gesellschaftlicher Umgangsformen herabgesunken war. Deshalb war er nicht darauf gefaßt, als der Barkeeper über die Theke setzte und ihn aufhielt. »Das lasse ich mir von dir nicht bieten, Mac«, sagte der Mann. »Für wen halten Sie sich eigentlich?« gab Paul zurück. »Ich bin wenigstens kein verdammter Saboteur«, antwortete der Barkeeper hitzig. Er sprach so laut, daß jeder es gehört haben mußte. Saboteur war das
übelste Schimpfwort, das man sich denken konnte, die schlimmste Beleidigung, die man einem Mann zufügen konnte. Saboteur hatte im Lauf der Zeit eine andere Bedeutung angenommen, bis das Wort schließlich vor allem einen Mann bezeichnete der zum Abschaum der Menschheit gehörte. Ein Saboteur war schon längst nicht mehr jemand, der Maschinen zerstörte, sondern ein Verbrecher, der die Grundlage der modernen Zivilisation gefährdete. »Soll ich das wiederholen?« fragte der Barkeeper wütend. »Saboteur. Dreckiger Saboteur!« Paul hatte in seinem Leben noch nie eine Schlägerei begonnen, aber jetzt ballte er unwillkürlich die Fäuste. »Selber Saboteur«, gab er zurück und holte im gleichen Augenblick zu einem Schlag gegen die Nase seines Gegners aus. Der Barkeeper ging zu Boden. Paul drehte sich auf dem Absatz um und verließ wortlos die Bar. Er kam sich großartig vor – wie ein Boxweltmeister, wie ... Plötzlich riß ihn jemand herum. Vor ihm tauchte einen Augenblick lang das weiße Gesicht des Barkeepers auf, dann sah er eine Faust – und als nächstes wurde ihm schwarz vor den Augen. »Dr. Proteus – Paul!« Paul öffnete die Augen, aber er konnte nicht erkennen, wer mit ihm sprach. Jemand hatte ihn an den Kai gebracht und dort auf die Laderampe gelegt, damit er mit dem letzten Schiff ans Ufer befördert werden konnte. »Dr. Proteus ...« Paul setzte sich auf. Seine Unterlippe war stark geschwollen, und im Mund hatte er einen scheußlichen Blutgeschmack.
»Paul ...« Die Stimme schien aus der hohen Hecke zu kommen, die den Kai gegen den Strand abschloß. »Wer ist da?« Der junge Dr. Edmund Harrison kam vorsichtig zwischen den Zweigen hervor. In der Hand trug er ein großes Glas Whisky. »Ich dachte, daß Sie das vielleicht brauchen könnten.« »Das ist ein wirklicher Samariterdienst, den Sie da an mir verrichten, Dr. Harrison. Ich habe tatsächlich einen nötig!« »Ich bin gar nicht selbst auf die Idee gekommen – Kroner hat daran gedacht.« »Oh? Sollen Sie etwas ausrichten?« »Er läßt Ihnen sagen, daß es immer am dunkelsten ist, bevor die Morgenröte des neuen Tages heraufsteigt.« »Hm.« »Aber Sie sollten den Barkeeper sehen!« versuchte Harrison ihn aufzumuntern. »Er hat Nasenbluten, das nicht aufhört, weil er nicht zu niesen aufhören kann.« »Ausgezeichnet.« Paul fühlte sich wieder besser. »Hören Sie, Harrison, ich glaube, es ist besser, wenn Sie verschwinden, bevor man Sie hier mit mir sieht.« »Was haben Sie eigentlich angestellt?« »Das ist eine lange, traurige Geschichte.« »Kann ich mir vorstellen. Was wollen Sie jetzt anfangen?« Paul fand den jungen Mann, der sich um ihn gekümmert hatte, immer sympathischer. Harrison war gekommen, obwohl er dabei unter Umständen seine Karriere aufs Spiel setzte. »Was ich jetzt anfangen werde? Vielleicht Farmer werden.«
»Farmer, was?« Harrison nicktenachdenklich.»Klingt ausgezeichnet. Ich habe auch schon davon geträumt. Wenn ich das Geld dazu hätte, denke ich manchmal, dann hätte ich längst ...« »Wollen Sie den Rat eines müden alten Mannes annehmen?« »Hängt davon ab, wer dieser alte Mann ist. Sie?« »Ich. Machen Sie nie den Fehler, Ihren Beruf zu behalten und gleichzeitig von etwas anderem zu träumen, Ed. Kündigen Sie – oder behalten Sie Ihr bisheriges Leben bei.« »Bei Ihnen war es wohl ähnlich?« »So ziemlich.« Paul gab Harrison das leere Glas zurück. »Danke schön, Sie verschwinden jetzt besser.« Die Spirit of the Meadows legte ab. Paul lehnte an der Reling und sah zu der Eiche hinüber, die sich deutlich gegen den tiefstehenden Mond abzeichnete. Eine Gruppe von Männern, die in der Bar gewesen war, näherte sich ihr auf dem Weg in ihre Zelte. Einen Augenblick lang blieben sie andächtig vor dem Baum stehen, dann unterbrach ein entsetzter Ausruf die Stille. »Menschenskinder!« Es war Fred Berringers Stimme. »Seht doch – die Eiche. Unten am Stamm!« »Meine Güte!« »Jemand hat die ganze Rinde abgeschält«, meinte Berringer entsetzt. »Wer denn?« »Was glaubt ihr?« fragte Berringer zurück. »Dieser dreckige Saboteur! Wo ist der Kerl?« Die Spirit of the Meadows nahm jetzt mit voller Kraft Kurs auf Camp Mainland. »He«, klang eine ängstliche Stimme durch die Nacht. »He – jemand hat die Eiche umgebracht!«
»Hat die Eiche umgebracht«, klang das Echo zurück. Dann ertönte ein Klirren aus den Kailautsprechern und ein durchdringender Kriegsschrei erfüllte die Luft. »Hütet euch vor den Geisterhemden!« brüllte eine Stimme. »Geisterhemden«, sagte das Echo, dann herrschte wieder tiefes Schweigen. Camp Mainland war bereits in tiefen Schlaf versunken, als Paul endlich das Verwaltungsgebäude erreicht hatte, wo Tag und Nacht ein Angestellter in der Portierloge war. Er weckte den jungen Mann auf und bat ihn, in dem Blockhaus anzurufen, in dem Anita wohnte. »Was ist denn da wieder los?« fragte der junge Mann wütend, als sich nach drei Minuten immer noch niemand am Telephon gemeldet hatte. Er warf einen Blick auf die Uhr. »Wissen Sie, wie spät es bereits ist? Das letzte Schiff zur Insel hinüber fährt bereits in drei Minuten!« »Lassen Sie es weiterklingeln. Ich fahre nicht zurück.« »Wenn Sie die Nacht hier verbringen wollen, erzählen Sie es mir lieber nicht. Dagegen gibt es nämlich etwa siebenundzwanzig Bestimmungen!« Paul legte einen Zehner auf den Tisch. »Versuchen Sie es bitte weiter.« »Dafür können Sie eine ganze Woche lang unsichtbar bleiben! Was haben Sie denn am liebsten? Blondinen, Brünette, Schwarzhaarige? Aha! Endlich meldet sich jemand. Können Sie eine Mrs. Proteus ans Telephon rufen?« Er nickte. »Ach so, ja, okay. Legen Sie ihr bitte einen Zettel auf das Bett.« Er wandte sich an Paul. »Sie ist nicht da, Doktor.« »Nicht da?«
»Vermutlich macht sie einen Mondscheinspaziergang. Die Dame am Telephon sagte, daß Mrs. Proteus oft spazierengehe.« Daß Anita Spaziergänge unternahm, war völlig neu für Paul. Paul setzte sich auf die Bank vor dem Verwaltungsgebäude, um dort zu warten, bis Anita beim Pförtner anrufen würde. Die Lichter auf dem Kai begannen in kurzen Abständen zu blinken – ein Signal, das anzeigte, daß das letzte Schiff in einer Minute ablegen würde. Der feine Kies auf dem Weg knirschte leise, als ein engumschlungenes Paar durch die Anlagen schritt, bis sie den Kai erreicht hatten, dann kam die Frau langsam und nachdenklich auf dem Weg zurück, der an Pauls Bank vorbeiführte. »Anita!« Sie wich entsetzt zurück und kreuzte die Arme, als wolle sie damit verhindern, daß er das grüne Trikot sah, das sie anstelle eines Pullovers trug. Dann ließ sie langsam die Arme sinken, so daß das Wort »Captain« deutlich zu lesen war. »Oh, hallo, Paul.« Sie kam näher, setzte sich neben ihn, sah ihn nachdenklich an. »Los, fang an«, meinte sie schließlich. »Ich soll anfangen?« fragte Paul ungläubig. »Findest du nicht, daß eine Erklärung durchaus angebracht wäre?« »Ganz entschieden.« »Du bist entlassen worden, stimmt's?« »Ja, aber nicht deswegen, weil ich eines der zehn Gebote übertreten habe.« »Bezeichnest du es etwa schon als Ehebruch, wenn eine Frau das Hemd eines anderen Mannes trägt?« Sie schien sichtlich verwirrt.
»Findest du nicht auch daß mein Verdacht gerechtfertigt erscheinen muß, wenn du dich so aufführst wie vorhin?« fragte Paul wütend. »Wenn du damit sagen willst, daß ich ihn wahrscheinlich liebe, lautet die Antwort ja.« Paul lachte. »Ich freue mich, daß du es so leicht nimmst«, fuhr sie gekränkt fort, »denn das beweist, daß ich recht habe.« »Womit?« Sie brach unvermutet in Tränen aus. »Ich habe nie etwas für dich bedeutet! Finnerty hat es auch gemerkt«, schluchzte sie, »du brauchst nur eine Maschine aus rostfreiem Stahl.« Jetzt war Paul verwirrt. »Anita – Liebling, hör doch zu.« »Ich lasse mich aber nicht mehr wie eine Maschine behandeln, die man in die Ecke stellen kann, wenn man sie gerade nicht braucht! Du sprichst immer davon, was die Manager und Ingenieure den anderen Leuten angetan haben, anstatt dir darüber klarzuwerden, was ein Manager und Ingenieur mir angetan hat ...« »Um Himmels willen, ich ...« »Saboteur!« Paul schüttelte benommen den Kopf. »Bitte, hör mir zu«, bat er verzweifelt. »Es tut mir so leid, Anita – ich habe nie gewußt, daß es so schlimm für dich gewesen ist. Aber jetzt sehe ich ein, daß ich unrecht habe.« »Nächstes Mal werde ich aus Liebe heiraten.« »Shepherd?« »Er braucht mich, er respektiert mich, er glaubt an die Dinge, an die ich auch glaube.«
»Ich hoffe, daß ihr sehr glücklich miteinander werdet«, sagte Paul, während er aufstand. Ihre Lippen zitterten, dann brach sie wieder in Tränen aus. »Paul, Paul, Paul ...« »Hmmmm?« »Ich habe dich gern. Vergiß das nie!« »Und ich habe dich gern, Anita.« »Dr. Proteus!« rief der junge Mann durch das Fenster. »Ja?« »Dr. Kroner hat angerufen und angeordnet, daß Sie zu dem nächsten Zug gebracht werden sollen, der um null Uhr zwölf abfährt. Der Jeep steht schon auf der Rückseite des Gebäudes, der Fahrer wartet auf Sie.« »Ich komme gleich.« »Küß mich«, sagte Anita. »Komm mit mir Anita«, sagte Paul eine Minute später atemlos. »Ich bin nicht so dumm wie du denkst.« Sie stieß ihn von sich fort. »Auf Wiedersehen.«
22 Dr. Paul Proteus, ein unklassifiziertes menschliches Lebewesen, wurde an den Zug gebracht und in einen Wagen geschoben, in dem etwa sechzig Soldaten saßen, die aus dem Urlaub nach Camp Drum zurückkehrten. »Great Bend, Great Bend«, sagte ein Tonbandgerät durch den Lautsprecher über Pauls Kopf. Der Lokomotivführer brauchte nur an jeder Station auf einen Knopf zu drücken – und schon ertönte die Stimme, öffneten sich die Türen, wurde das Trittbrett heruntergelassen. »Nächste Station Carthage. Klick.« »Alles einsteigen!« schallte es aus einem anderen Lautsprecher, der draußen über der Tür angebracht war. Ein alter Mann, der sich auf dem Bahnsteig von seiner Frau verabschiedete, hörte zu der Stimme hinauf, als wolle er sie bitten, noch ein paar Sekunden zu warten. »Einsteigen!« Räderwerk summte, dann hob sich das Trittbrett, faltete sich zusammen und verschwand schließlich in einer Vertiefung. »Ich komme schon!« rief der alte Mann aus, während er so schnell wie möglich auf den Zug zulief, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte. Er bekam die Haltestange zu fassen, zog sich daran hoch und stand schweratmend vor der Tür zum Wageninnern. Dann suchte er umständlich nach seiner Fahrkarte und steckte sie in den Schlitz neben der Tür. Die Automatik prüfte die Gültigkeit, fand alles in Ordnung, gab die Karte zurück und öffnete die Tür. Der Alte wankte herein und setzte sich neben Paul. »Der verfluchte Kerl kann nicht einmal eine Sekunde
lang auf einen alten Mann warten«, sagte er bitter. »Es ist ein Automat«, erklärte ihm Paul. »Trotzdem ein verfluchter Kerl.« Paul nickte zustimmend. »Bin früher Schaffner auf dieser Strecke gewesen.« »Oh?« »Ja, einundvierzig Jahre«, antwortete der Alte. »Was Sie nicht sagen!« »Einundvierzig. Und ich möchte sehen, wie eine von den Maschinen bei einer Entbindung während der Fahrt hilft.« »Das haben Sie wohl schon?« »Ja. Es war ein Junge.« Der Alte grinste zufrieden. »Tadellose Arbeit, sagte der Doktor später – die Mutter hat mir aus dem Krankenhaus geschrieben.« »Ausgezeichnet.« »Und ich habe noch keine Maschine gesehen, die während der ganzen Fahrt von St. Louis nach Poughkeepsie auf ein dreijähriges Mädchen aufgepaßt hätte.« »Nein, vermutlich nicht«, meinte Paul. »Einundvierzig Jahre! Maschinen taugen nur etwas, wenn man auf Quantität Wert legt, nicht aber, wenn es um Qualität geht. Verstehen Sie, was ich damit meine?« »Ja, gewiß«, sagte Paul. »Carthage, Carthage«, sagte das Tonband über den Lautsprecher. »Nächste Station Deer River.« Paul lehnte sich gegen die Polster, als wolle er schlafen. »Einundvierzig Jahre! Maschinen würden nie einer alten Dame beim Aussteigen die Stufen hinunterhelfen.«
Nach einiger Zeit fielen dem ehemaligen Schaffner keine Beispiele mehr ein, mit denen er seine Theorie, daß Menschen besser als Maschinen seien, hätte untermauern können, deshalb begann er das Tonband zu imitieren, als ob er es dadurch lächerlich machen könne. »Deer River, Deer River. Nächste Station Castorland.« »Deer River, Deer River. Nächste Station Castorland«, sagte die Stimme aus dem Lautsprecher. »Ha! Was habe ich Ihnen gesagt?« Paul schlief schließlich wirklich ein, bis er wieder aufwachte, weil der alte Mann in Constableville ausstieg, nachdem er seine Fahrkarte wieder in einen Schlitz gesteckt hatte, um hinausgelassen zu werden. Paul kontrollierte seine eigene, um sicher zu sein, daß sie weder umgeknickt noch eingerissen war, denn er konnte sich nur zu gut an die Berichte erinnern, die immer wieder in den Zeitungen standen. Alte Damen hatten ihre Fahrkarten verloren oder die richtige Station verpaßt, so daß sie den Zug nicht mehr verlassen konnten, bis er an der Endstation gereinigt wurde, was unter Umständen einige Zeit dauern konnte ... »Constableville, Constableville. Nächste Station Remsen.« Hinter Paul hatten sich einige der Soldaten um einen alten Sergeanten versammelt, der ihnen Geschichten aus dem letzten Krieg erzählte – dem letzten Krieg. »Menschenskinder«, sagte er langsam. »Hier saßen wir – und dort hockten sie. Eine verflucht peinliche Lage! Achtzehn von uns gegen mindestens fünfhundert von den anderen – und dazu auch noch kein Strom mehr! Kein Saft für drei Mikrowellen-
Warnanlagen, die Minen, den elektrisch geladenen Stacheldraht, das Feuer-Kontrollsystem und die ferngesteuerten Waffen ...« »Blöde Sache«, meinte einer der jungen Soldaten. »Stimmt. Dann fing plötzlich der Spaß an. Zuerst kamen etwa hundert Mann, die herausbekommen sollten, wie stark wir waren. Und wir hatten gar nichts! Sogar die Funkgeräte waren ausgefallen. Ich hatte zwar den Gefreiten Mergenthaler nach hinten geschickt, um das Bataillon zu benachrichtigen, aber der Kerl war noch nicht wieder zurück. Da kamen also die anderen auf uns zugestürmt, wobei sie wie die leibhaftigen Teufel brüllten, und wir hatten nur unsere Gewehre mit den Bajonetten. Sie hatten uns schon fast erreicht, als Mergenthaler mit einem Sattelschlepper und einem Generator auftauchte, den er irgendwo ›organisiert‹ hatte. In Affeneile hatte er das Ding angeschlossen und angeworfen. Mein Gott, das hättet ihr sehen müssen, wie die Kerle rannten, bevor sie dann doch alle liegen blieben! Und so habe ich den Silver Star bekommen.« »Middleville, Middleville. Nächste Station Herkimer.« »Sergeant, wo haben Sie die Verwundetenstreifen bekommen?« »Hmmm? Ach so – der hier ist für eine Dosis Gammastrahlen in Kiukiang. Der nächste – einen Augenblick – radioaktive Verseuchung bei Afyon Karahisar. Und der kleine hier – äh – Grippe vor Kransystav.« »Herkimer, Herkimer. Nächste Station Little Falls.« »He, Sarge, dieser Bummelzug hält ja an jedem Gartenzaun!« »Stimmt, wie ein kleiner Hund, der abends ausge-
führt wird«, antwortete der Sergeant unter allgemeinem Gelächter. »Stimmt es eigentlich, daß der Obergefreite Elmo Hacketts versetzt wird?« fragte ein anderer. »Richtig, mein Sohn. Hat allerdings ziemlich lange gedauert, sein Versetzungsgesuch nach Übersee ist schon über ein Jahr alt.« »Little Falls, Little Falls. Nächste Station Johnsonville.« »Wissen Sie, wohin er kommt?« »Ja, ich habe seinen Marschbefehl durchgelesen. Morgen früh wird er nach Tamanrasset in Marsch gesetzt.« »Tamanrasset?« »In der Wüste Sahara. Schade um Hacketts; wenn er noch ein paar Jährchen bei uns geblieben wäre, hätte er ein verflucht guter Fahnenträger werden können.« Paul empfand ein gewisses Mitleid für den armen Hacketts, der in einer geistigen Wüste geboren und in eine wirkliche Wüste geschickt wurde. »Johnsonville ... Fort Plain ... Fonda ... Fort Johnson ... Amsterdam ... Schenectady ... Cohoes ... Watervliet ... Albany ... Rensselaer ... Ilium, Ilium.« Paul stieg müde aus. Am Bahnhof stand kein einziges Taxi mehr, so daß er telephonisch eines bestellen mußte, das heißt, er wollte eines bestellen, aber niemand meldete sich. Nach mehreren vergeblichen Versuchen beschloß er, zu Fuß nach Hause zu gehen, obwohl es über zehn Kilometer vom Bahnhof bis dorthin waren. Seine Schritte hallten dumpf von den grauen Häusern der Siedlung wider. »Einsam?«
»Wie bitte?« fragte er überrascht. Eine junge Frau lehnte sich aus einem Fenster im ersten Stock einer Mietskaserne. »Bist du einsam?« wiederholte sie. »Ja«, antwortete Paul einfach. »Komm doch herauf.« »Ja«, sagte Paul. »Ja, ich komme.«
23 Dr. Paul Proteus hatte nun schon eine Woche allein auf seiner Farm verbracht, mit Ausnahme eines Nachmittags als er zu den Werken gefahren war. Die Wachtposten hatten sich ihm gegenüber äußerst reserviert und kühl verhalten. Einer von ihnen hatte Dr. Kroner angerufen, um von ihm die nötigen Instruktionen einzuholen. Dann hatten sie ihn in sein ehemaliges Arbeitszimmer begleitet, damit er dort alles abholen konnte, was ihm persönlich gehörte. Einen Tag später klingelte es an der Haustür. Als Paul sie öffnete, stand ein Polizist davor, der ihn kalt musterte. »Sind Sie Dr. Proteus?« »Ja?« »Ich komme vom Polizeirevier.« »Das sehe ich.« »Sie haben sich nicht angemeldet.« »Oh.« Paul lächelte. »Oh – ich habe es schon die ganze Zeit über tun wollen.« Das stimmte wirklich. »Warum haben Sie es noch nicht getan?« »Ich habe noch nicht die Zeit dazu gefunden.« »Suchen Sie nur nicht zu lange danach, Doktor.« Paul ärgerte sich über das unverschämte Benehmen des jungen Mannes, aber dann überlegte er sich, daß es keinen Sinn hatte, wenn er den Polizisten zurechtzuweisen versuchte. »Gut, ich werde mich morgen früh anmelden.« »Sie haben sich innerhalb einer Stunde auf dem Revier einzufinden, Doktor.« »Ja – gut, wenn Sie es sagen.«
»Und Ihre Industrie-Kennkarte – die haben Sie auch noch nicht abgegeben.« »Tut mir leid. Ich werde sie mitbringen.« »Und Ihren Waffenschein, Ihre Mitgliedskarte für den Club Ihren Dauerflugschein und Ihre Versicherungspolice. Sie bekommen eine normale ausgestellt.« Paul nickte. Eine Stunde später kam er mit einem Schuhkarton voll widerrufener Privilegien auf das Polizeirevier. Während er darauf wartete, daß der Diensthabende seine Anwesenheit zur Kenntnis nehmen würde, betrachtete er mit Interesse den Bildfernschreiber, aus dem Stück für Stück der Steckbrief eines Mannes hervorkam. Zuerst erschien eine Photographie des Gesuchten, dann folgte die Personenbeschreibung: »edgar r. b. hagstrohm, 37, k.i.w.-131313, 1,71 m, 72 kg, haare braun, augen schwarz, besondere kennzeichen keine.« Als letztes wurde sein Verbrechen geschildert: »hagstrohm zerstörte sein c-21-ay Haus in einer vorstadtsiedlung von chicago mit einem schneidbrenner – stop – rannte zu mrs. marion frascati, der witwe eines freundes, versuchte sie zu überreden, mit ihm in der wildnis zu leben – stop – mrs. frascati alarmierte polizei, weil hagstrohm splitternackt – stop – hagstrohm verschwand in naturschutzgebiet in der nähe der siedlung – stop – fahndung ...« »Sie!« sagte der Polizist hinter dem Schreibtisch. »Proteus!« Zu den Formalitäten der polizeilichen Anmeldung gehörte ein Fragebogen von vierzehn Seiten, der genauestens ausgefüllt werden mußte. Paul mühte sich
lange damit ab, bis er schließlich soweit war, daß er ihn in Gegenwart von zwei Zeugen unterschreiben konnte. Einer der Polizisten nahm die Blätter entgegen und übertrug ihren Inhalt mit Hilfe einer Spezialschreibmaschine auf eine Karte. »So, das ist alles«, sagte der Wachtmeister. Er steckte die frischgestanzte Karte in einen Schlitz an der Seite einer großen Maschine. Lampen glühten auf, ein kurzes Summen ertönte, dann fiel Pauls Karte auf einen hohen Stapel ähnlicher Karten im Innern der Maschine, der durch eine Glasscheibe hindurch sichtbar war. »Was bedeutet das?« fragte Paul. Der Polizist warf einen gelangweilten Blick auf den Stapel. »Potentielle Saboteure.« »Einen Augenblick – was soll das heißen? Wer hat das behauptet?« »Dafür können Sie nichts«, erklärte ihm der Polizist geduldig. »Niemand hat behauptet, daß Sie wirklich einer seien. Es ist alles automatisch. Die Maschine hat so entschieden.« »Mit welchem Recht?« »Wenn einer mehr als vier Semester studiert hat und dazu noch arbeitslos ist, dann wird er automatisch in diese Kategorie eingestuft.« Er sah Paul abschätzend an. »Sie wären überrascht, Doktor, wenn Sie wüßten, wie oft die Maschine damit schon recht gehabt hat.« Ein Beamter in Zivil kam herein. »Was Neues in der Sache mit Freeman, Sir?« fragte der Wachtmeister. »Sämtliche Verdächtigen sind unschuldig, wir haben die Aussagen mit dem Lügendetektor überprüft.«
»Habt ihr die Röhren nachgesehen?« »Klar. Wir haben neue eingesetzt und sämtliche Kontakte kontrolliert. Trotzdem das gleiche Ergebnis, obwohl jeder von den Kerlen zugegeben hatte, daß er Freeman mit Vergnügen umgelegt hätte, wenn er Gelegenheit dazu gehabt hätte.« Er zuckte mit den Schultern. »Jetzt bleibt nur noch eine Möglichkeit – der Mann, der eine halbe Stunde vor dem Mord hinter Freemans Haus herumgelungert haben soll.« »Hast du seine Personenbeschreibung?« »Teilweise.« Er wandte sich an den Polizisten hinter der Schreibmaschine. »Fertig, Mac?« »Schieß los.« »Mittelgroß. Schwarze Schuhe, blauer Anzug. Keine Krawatte. Ehering. Schwarzes, zurückgekämmtes Haar. Glattrasiert. Warze im Nacken. Hinkt leicht.« »Dinga-dinga-dinga-ding!« machte die Maschine, dann spuckte sie eine Karte aus. »Herbert J. van Antwerpen«, las Mac vor. »Collester Boulevard vierhundertsieben.« »Ausgezeichnet«, meinte der Wachtmeister. Er schaltete ein Mikrophon ein. »Streifenwagen vier, Streifenwagen vier, fahren Sie sofort zu ...« Als Paul das Revier verließ, bog eine Grüne Minna lautlos um die Ecke und hielt hinter dem Gebäude. Ein Polizist stieg aus der Hintertür heraus, wobei er Paul mit dem Gummiknüppel drohte. »Weitergehen!« rief er Paul zu. Paul blieb noch einen Augenblick länger an der gleichen Stelle, weil er unbedingt herausbekommen wollte, wer sich da noch größerer Verstöße gegen die Gesellschaftsordnung schuldig gemacht hatte als man ihm selbst vorwarf.
Einen Augenblick später wurde Dr. Fred Garth, Pauls Zeltkamerad auf The Meadows, von zwei schwerbewaffneten Polizisten in das Innere des Gebäudes eskortiert, während Paul staunend und ungläubig zusah. Paul rannte wieder in das Büro, in dem er vor wenigen Minuten den Fragebogen ausgefüllt hatte. Der Wachtmeister sah erstaunt zu ihm auf. »Ja?« »Dr. Garth – was tut er hier?« fragte Paul aufgeregt. »Garth? Wir haben keinen Garth hier.« »Ich habe aber selbst zugesehen, wie er durch den Hintereingang hereingebracht wurde.« »Nööh.« Der Wachtmeister las weiter in seiner Zeitung. »Hören Sie – Garth ist einer meiner besten Freunde!« »Suchen Sie sich einen neuen«, sagte der Polizist, ohne aufzusehen. »Hauen Sie ab.« Als Paul das Polizeirevier zum zweitenmal verließ, um in die kleine Bar an der Brücke zu gehen, schlug die Uhr auf dem Rathaus viermal. Sie hätte auch siebenmal oder einmal schlagen können – für Paul hatte das keine Bedeutung mehr. Niemand hatte irgendwo irgend etwas für ihn zu tun. In der Bar sah Paul zu seiner Überraschung Alfy, den jungen Mann, der sein Geld vor dem Fernsehschirm verdiente. »Hallo, ich dachte, Sie seien immer noch auf The Meadows!« »Ich dachte, Sie wären noch dort. Wie geht es der Lippe?« »Heilt allmählich.« »Falls Sie das aufheitert, Doktor, der Barkeeper hat noch Nasenbluten.«
»Wunderbar. Hat man Sie hinausgeworfen?« »Wissen Sie das nicht? Nach der Sache mit der Eiche sind sämtliche Angestellten fristlos entlassen worden.« Alfy lachte. »Jetzt müssen sie alles selbst machen.« »Jeder?« »Jeder vom Werksmanager abwärts.« »Auch die Toiletten?« »Dafür sind die Dussel da, Doktor, die mit einem I.Q. von weniger als hundertvierzig.« »Tolle Sache. Und die Wettkämpfe gehen weiter?« »Richtig. Die Blauen führten zuletzt mit einem unwahrscheinlichen Vorsprung.« »Das kann nicht wahr sein!« »Doch, sie waren so wütend über Sie, daß sie sich beinahe umgebracht haben, so sehr haben sie sich Mühe gegeben.« »Und die Grünen?« »Weit abgeschlagen.« »Trotz Shepherd?« »Der Kerl war überall vorn, versuchte jeden Punkt selbst zu machen, und deswegen haben die Grünen keinen einzigen gemacht.« »Wie wäre es mit einem Bier?« »Ausgezeichneter Vorschlag.« In einer der Nischen saß ein junger Mann, der Paul hoffnungsvoll ansah. Vor sich hatte er Zündhölzer in drei Reihen liegen: drei in der ersten Reihe, fünf in der zweiten, sieben in der dritten. »Hallo«, sagte der junge Mann zögernd. »Ein sehr interessantes Spiel. Jeder darf so viele oder so wenige Zündhölzer wie er will aus jeder beliebigen Reihe wegnehmen. Der Witz dabei ist nur, daß der verliert, der das letzte Hölzchen nehmen muß.«
»Nun ...«, meinte Paul. »Na, los«, ermunterte ihn Alfy. »Spielen wir um zwei Dollar?« fragte der junge Mann nervös. »Gut, um zwei.« Paul nahm ein Zündholz aus der längsten Reihe. Eine Minute später hatte Paul bereits gewonnen, während der andere auf das letzte Hölzchen starrte. »Verdammt, Alfy«, sagte er dabei mißmutig. »Ich habe glatt verloren.« »Na, und?« fragte Alfy scharf. »Schließlich ist heute erst dein zweiter Tag, du hast doch erst angefangen.« Er klopfte ihm auf die Schulter. »Doktor, das hier ist mein jüngerer Bruder Joe. Die Armee und das K.I.W. sind hinter ihm her, aber ich versuche, ihn auf seine eigenen Füße zu stellen, bevor sie ihn erwischen. Wir wollen sehen ob die Geschichte mit den Zündhölzern funktioniert, sonst müssen wir uns eben etwas anderes ausdenken.« »Ich habe es früher auf der Universität gespielt«, sagte Paul, »deshalb habe ich eine Menge Erfahrung darin.« »Auf der Universität!« meinte Joe bewundernd. »Das erklärt natürlich alles.« Er seufzte. »Alfy, ich glaube, ich gebe es auf. Ich habe einfach nicht den nötigen Grips dazu.« Er legte die Hölzchen wieder vor sich hin, nahm einige auf, spielte mit sich selbst. »Ich arbeite die ganze Zeit daran, aber trotzdem werde ich nicht besser!« »Klar arbeitest du!« sagte Alfy. »Jeder arbeitet an etwas – Aufstehen ist Arbeit, Essen ist Arbeit! Aber es gibt zwei Arten von Arbeit, Kleiner – Arbeit und harte Arbeit. Wenn du im Leben etwas erreichen willst, mußt du hart arbeiten.«
»Okay, okay«, antwortete Joe bedrückt, »aber ich habe eben nicht genug Energie und Verstand dazu, Alfy. Vielleicht sollte ich es doch einmal in der Armee versuchen ...« »Dann brauchst du mich nie wieder mit ›Bruder‹ anzureden«, sagte Alfy wütend. »Jeder Tucci steht auf seinen eigenen Füßen. Das war schon immer so – und so wird es auch bleiben.« »Okay«, gab Joe hastig zurück, »dann versuche ich es eben noch ein paar Tage.« »Das will ich meinen!« Paul und Alfy kehrten an die Bar zurück. »Hören Sie, kennen Sie zufällig einen gewissen Fred Garth?« fragte Paul. »Garth?« Alfy lachte amüsiert. »Früher hätte ich mit diesem Namen nichts anfangen können, aber jetzt kenne ich ihn genau. Er hat die Eiche auf The Meadows entrindet.« »Nein!« »Doch! Und komischerweise hat man ihn nie in Verdacht gehabt. Er gehörte sogar zu der Untersuchungskommission, die den Täter ermitteln sollte!« »Wie haben sie ihn denn dann erwischt?« »Hat sich selbst verraten. Als der Baumchirurg auf die Insel kam, um die Eiche wieder zurechtzuflicken, warf Garth seine Werkzeugtasche ins Wasser.« Paul schüttelte den Kopf, dann wandte er sich an den Barkeeper. »Kommt Finnerty noch gelegentlich?« »Und wenn?« »Ich möchte ihn gern wiedersehen, wir sind Freunde.« »Heutzutage möchten viele Leute Finnerty sehen.« »Wo steckt er eigentlich?«
Der Barkeeper sah Paul abschätzend an. »Kein Mensch weiß, wo er sich aufhält.« »Wohnt er denn nicht mehr bei Lasher?« »Sie stellen aber eine Menge Fragen! Niemand weiß, wo Lasher geblieben ist.« »Aha«, sagte Paul. »Haben sie Ilium verlassen?« »Wer weiß? Los, ich habe nicht ewig Zeit. Was soll es sein?« »Bourbon und Soda.« Der Barkeeper stellte das Glas vor Paul auf die Theke. Paul trank, hustete, versuchte zu überlegen, was nicht ganz richtig geschmeckt hatte – und fiel bewußtlos von seinem Hocker.
24 Der Schah von Bratpuhr befand sich mit seinen beiden Begleitern auf dem Wege zu einem Arzt, den er wegen einer heftigen Erkältung konsultieren sollte, bevor er die Universität Cornell besichtigen wollte. Leider hatte er bereits einen vergeblichen Versuch unternommen, sich selbst durch beträchtliche Mengen Sumklish zu kurieren, wodurch er die beiden anderen in Verlegenheit brachte, weil er es nicht lassen konnte, hübschen Mädchen auf offener Straße eindeutige Vorschläge zu machen. »Pitty, sibi Takaru? Aka sahn rzibo simi, Takaru?« rief er einer gutgewachsenen Blondine zu, als der Wagen an einer Ampel halten mußte. Khashdrahr, der keinen Schluck Sumklish getrunken hatte, obwohl ihn sein Onkel immer wieder dazu ermunterte, wurde vor Verlegenheit abwechselnd rot und blaß. »Der Schah sagt, daß das Wetter heute sehr schön ist«, übersetzte er unsicher. »Ich freue mich, daß er mit dem Wetter zufrieden ist«, antwortete Halyard bedrückt. »Pu sibi bonanza?« rief der Schah aus dem Fenster. »Hören Sie«, sagte Halyard mißbilligend zu Khashdrahr, »Sie müssen ihm erklären daß er nicht einfach ein Mädchen auf der Straße ansprechen kann. Ich werde es zu arrangieren versuchen, aber es wird nicht leicht sein.« Khashdrahr übersetzte dem Schah, was Halyard gesagt hatte, aber der Schah hörte gar nicht zu. Bevor Halyard ihn aufhalten konnte, war der Schah bereits ausgestiegen und hielt eine zierliche Brünette auf.
»Prakh ko sibi, Takaru?« »Bitte«, sagte Halyard zu ihr, »bitte, verzeihen Sie meinem Freund. Er ist ein bißchen angeheitert.« Sie nahm den Arm des Schahs, den er ihr galant angeboten hatte, dann stiegen sie zusammen ein. »Ich fürchte, daß hier ein schreckliches Mißverständnis vorliegt, meine Dame«, meinte Halyard. »Ich weiß gar nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Ich ... äh ... das heißt ... ich wollte sagen daß er Sie nicht gebeten hat, mit ihm ins Theater zu gehen.« »Aber er will doch etwas, nicht wahr?« »Ja.« »Ich habe ihn völlig verstanden.« »So, da wären wir«, sagte der Fahrer. »Dr. Pekowitz hat seine Praxis hier im zweiten Stock.« Der Schah grinste, während er laut ausatmete und wieder einatmete. »Die Erkältung ist verschwunden«, bemerkte Khashdrahr verwundert. »Fahren Sie weiter ins Hotel«, befahl Halyard dem Fahrer. Die junge Frau machte einen unruhigen Eindruck. Halyard fiel auf, daß sie ohne Unterbrechung lächelte, als wolle sie damit verbergen, wie ihr zumute war. Er konnte es immer noch nicht glauben, daß sie wirklich wußte, was der Schah von ihr wollte. »Wohin fahren wir jetzt?« fragte sie leise. »In das Hotel dieses Herrn?« »Ja«, antwortete Halyard unsicher. »Gut.« Sie brach plötzlich in Tränen aus. »Oh, Sie brauchen doch nicht ...«, sagte Halyard. Der Schah versuchte sie zu trösten. »Oh, nibo souri, sibi Takaru. Akka sahn souri? Ohhh. Tipi Takaru!«
»Ich habe so etwas noch nie getan«, schluchzte sie. »Bitte, entschuldigen Sie mich, ich werde nicht mehr weinen.« »Ja, gewiß, wir verstehen Sie«, sagte Halyard beruhigend. »Das Ganze ist ein schreckliches Mißverständnis. Wo sollen wir Sie absetzen?« »O nein – ich möchte nicht aussteigen«, erwiderte sie traurig. »Bitte ...«, sagte Halyard. »Vielleicht wäre es für alle Beteiligten besser, wenn ...« »Wenn ich meinen Mann verlieren würde? Wenn er sich umbringen würde? Oder wenn wir verhungern würden?« »Selbstverständlich nicht! Aber warum würde das alles geschehen, wenn Sie nicht ...« »Das ist eine lange Geschichte.« Sie trocknete ihre Tränen. »Mein Mann ist Schriftsteller.« »Was für eine Klassifikationsnummer hat er?« »Das ist es eben. Er hat keine.« »Wieso können Sie ihn dann als Schriftsteller bezeichnen?« fragte Halyard erstaunt. »Weil er schreibt«, erwiderte sie einfach. »Meine liebe junge Dame«, sagte Halyard väterlich, »wenn es nur danach ginge, dann wären wir alle Schriftsteller.« »Vor zwei Tagen hatte er noch eine Nummer – W441.« »Romane, Anfänger«, erklärte Halyard Khashdrahr. »Ja«, stimmte sie zu, »und die sollte er behalten, bis sein erstes Buch fertig sein würde. Danach sollte er entweder die Nummer W-440 ...« »Romane Fortgeschrittener«, warf Halyard ein.
»Oder W-225 erhalten.« »Public Relations«, sagte Halyard. »Bitte, Sir, was heißt Public Relations?« fragte Khashdrahr. »Der Beruf«, zitierte Halyard, »der es als seine Hauptaufgabe ansieht, durch angewandte Psychologie die öffentliche Meinung in bezug auf Streitfragen und notwendige Maßnahmen günstig zu beeinflussen, ohne dabei bestehende Einrichtungen in ihrer Arbeitsweise zu beeinträchtigen oder sie zu kritisieren, wobei die Stabilität des gegenwärtigen Systems in ökonomischer und gesellschaftlicher Hinsicht gewährleistet bleiben muß.« »Nun, so wichtig war es nicht«, meinte Khashdrahr. »Bitte, erzählen Sie weiter, sibi Takaru.« »Vor zwei Monaten hat er sein erstes Buch an den Ausschuß für Belletristik geschickt, der es beurteilen sollte, damit einer der Buchclubs es in sein Programm aufnehmen konnte.« »Insgesamt gibt es zwölf davon«, unterbrach sie Halyard. »Jeder ist auf eine bestimmte Art von Lesern spezialisiert.« »Es gibt also zwölf Arten von Lesern?« fragte Khashdrahr. »Man spricht bereits davon, auch einen dreizehnten ins Leben zu rufen, aber das hängt natürlich davon ab, wie groß die Rentabilität eines derartigen Unternehmens wäre. Jeder der Clubs muß mindestens eine Million Mitglieder haben, sonst ist er ein Zuschußbetrieb – die Maschinen kosten zuviel. Selbst der kleinste von ihnen bedeckt eine Fläche von hunderttausend Quadratmetern.« »Hunderttausend Quadratmeter«, wiederholte
Khashdrahr ungläubig. »Bekommen die Mitglieder dieser Clubs eigentlich irgendein Buch?« »Nein, natürlich nicht! Die Clubs geben eine Menge Geld dafür aus, um genau herauszubekommen, was die Leute lesen wollen. Sogar die Buchumschläge werden zuerst getestet, bevor sie gedruckt werden. Gutenberg würde staunen!« »Gutenberg?« wiederholte Khashdrahr. »Ja – der Mann, der die Buchdruckerkunst erfunden hat. Er hat als erster Bibeln in Massenproduktion hergestellt.« »Alla sutta takis?« fragte der Schah. »Wie?« sagte Halyard. »Der Schah möchte wissen, ob er auch zuerst einen Test gemacht hat.« »Jedenfalls«, fuhr die junge Frau fort, »wurde das Buch von dem Ausschuß abgelehnt.« »Schlecht geschrieben«, meinte Halyard. »Die Richtlinien für die Bewertung sind ziemlich streng.« »Ausgezeichnet geschrieben«, sagte sie geduldig. »Aber e s war siebenundzwanzig Seiten länger als zulässig; der Lesbarkeitsquotient war 26,3, außerdem ...« »Keiner der Clubs würde ein Buch annehmen, dessen L.Q. über fünfzehn liegt«, erklärte Halyard den anderen. »Und«, fuhr sie fort, »außerdem richtete es sich gegen die Maschinen.« Halyard zog die Augenbrauen hoch. »Was denkt Ihr Mann sich eigentlich dabei? Sie können froh sein, daß man ihn nicht wegen Anstiftung zur Sabotage auf der Stelle verhaftet hat! Hat er etwa wirklich geglaubt, daß jemand das drucken würde?« »Ihm war es egal. Er mußte es schreiben, deshalb hat er es geschrieben.«
»Warum schreibt er denn nicht lieber ein Buch über die Teeklipper oder etwas Ähnliches? Das Zeug geht weg wie warme Semmeln.« Sie zuckte hilflos mit den Schultern. »Vermutlich hat er sich noch nie genug über die Teeklipper geärgert, um darüber ein Buch zu schreiben.« »Er scheint ein bißchen komisch zu sein«, sagte Halyard enttäuscht. »Wenn Sie mich fragen, meine Liebe, dann braucht er die Hilfe eines fähigen Psychiaters. Diese Leute können die reinsten Wunder vollbringen. Hält er denn nichts von der Psychiatrie?« »Doch. Er hat beobachtet wie sein Bruder seinen Seelenfrieden dadurch wiederfand. Deshalb will er nichts damit zu tun haben.« »Das verstehe ich nicht. Ist sein Bruder denn nicht glücklich und zufrieden?« »Völlig und immer. Und mein Mann ist der Meinung, daß es ein paar Unzufriedene geben muß, die unbequeme Fragen nach den Zielen unserer Zivilisation stellen. Sein Buch enthielt einige, deshalb wurde es nicht angenommen. Er sollte dann bei einer PublicRelations-Stelle arbeiten.« »Dann hat die Geschichte also doch noch ein gutes Ende genommen«, sagte Halyard zufrieden. »Er hat sich geweigert, und man teilte ihm mit, daß ihm ab heute sämtliche Vergünstigungen entzogen worden seien, die er bisher als Schriftsteller genossen habe – das heißt daß er jetzt ohne einen Cent in der Tasche auf der Straße sitzt. Deshalb bin ich heute auf der Suche nach etwas gewesen, womit ich etwas Geld verdienen könnte. Für eine Frau gibt es nicht sehr viele Möglichkeiten ...« »Was, Ihr Mann würde Sie lieber auf die Straße ...
Er ließe Sie eher ...«, Halyard räusperte sich, »als für Public Relations zu arbeiten?« »Ich bin stolz darauf«, antwortete sie, »daß mein Mann einer der wenigen auf dieser Erde ist, die sich noch ein bißchen Selbstachtung bewahrt haben.« Khashdrahr übersetzte auch diesen letzten Satz, und der Schah schüttelte traurig den Kopf. Dann zog er sich einen der Ringe, einen riesigen Rubin, vom Finger und drückte ihn der jungen Frau in die Hand. »Ti sibi Takaru. Dibo. Brahous Brahouna houna saki. Ippi gora Brahouna ta tippo a mismit.« Er öffnete ihr die Wagentür, nachdem der Fahrer gehalten hatte. »Was hat der Herr gesagt?« fragte sie. »Der Schah sagt, daß Sie den Ring nehmen sollen, hübsche kleine Frau«, übersetzte Khashdrahr. »Er sagt auf Wiedersehen und viel Glück.« »Danke schön, Sir«, sagte sie, während sie ausstieg und wieder zu weinen begann. »Gott segne Sie und Ihr gutes Herz!« Der Schah warf einen letzten Blick zurück, während der Wagen sich in Richtung auf die Universität in Bewegung setzte, dann hatte er plötzlich einen heftigen Niesanfall. »Dibo, sibi Takaru«, sagte er bedauernd. »Sumklish!« Wenige Minuten später trafen sie vor dem Hauptgebäude der Universität ein, wo sie bereits von einer Gruppe von Professoren unter Führung des Rektors dieser ehrwürdigen Anstalt erwartet wurden. Halyard ergriff die günstige Gelegenheit, seine zwei Schützlinge für einige Minuten mit den anderen Herren allein zu lassen, um Dr. Roseberry, den Leiter der Abteilung Leibesübungen, aufzusuchen, bei dem er sich für die Prüfung anmelden wollte, die er nachzuholen hatte.
Nach längerer Suche fand er Dr. Roseberry in einem der Erfrischungsräume, wo er mit dem besten Footballspieler der Universität bei einem Glas Bier saß. »Dr. Roseberry?« Roseberry stand auf. Vor ihm stand ein Herr mit einem sandfarbenen Schnurrbart, violettem Hemd, entsprechender Schleife und lebhaft gemusterter Weste unter einem dunklen Anzug. »Ja?« »Ich bin Ewing J. Halyard vom Außenministerium.« »Ist mir ein Vergnügen«, antwortete Roseberry. Halyard lachte nervös. »Ich nehme an, daß wir die kleine Sache gleich morgen früh hinter uns bringen können, wie?« »Oh«, sagte Roseberry, »Sie sind also der, der die Abschlußprüfung nachholen muß.« »Ja, das stimmt. Ich habe schon seit zwei Wochen keine Zigarette mehr angerührt. Wird es lange dauern?« »Nein, das glaube ich nicht. Eine Viertelstunde sollte reichlich genügen.« »Oh? Nur so kurz, was? Ausgezeichnet.« »Entschuldigen Sie bitte«, sagte Dr. Roseberry, wobei er auf den Studenten neben sich wies, »das hier ist Buck Young, Physikstudent im fünften Semester.« »Na, wie gefällt es Ihnen hier?« fragte Halyard jovial. »Sehr gut, Sir.« »Es hat sich viel geändert, seit ich hier studiert habe«, meinte Halyard, »früher wurden die Vorlesungen ausschließlich in großen Sälen abgehalten, und die armen Studenten mußten sich anhören, was ir-
gendein komischer alter Knacker ihnen vortrug, selbst wenn der Mann keinerlei rednerische Fähigkeiten besaß.« »Ja, die Berufsschauspieler und das Fernsehnetz innerhalb der Universität sind ein großer Fortschritt, Sir«, stimmte der Student höflich zu. »Und die Examen!« fuhr Halyard fort. »Heute weiß man schon nach ein paar Minuten, ob man bestanden hat oder durchgefallen ist, aber früher mußten wir uns erst die Finger wundschreiben und dann auch noch wochenlang auf die Ergebnisse warten. Selbst dann konnte es noch passieren, daß etwas falsch benotet worden war weil der betreffende Professor sich geirrt hatte.« »Jawohl, Sir«, sagte Young. »Na, dann werde ich mich morgen bei einem Ihrer Assistenten melden, was?« sagte Halyard zu Roseberry. »Ich werde Sie selbst prüfen«, antwortete Roseberry. »Das ist aber wirklich eine große Ehre, nachdem nächste Woche bereits die neue Footballsaison beginnt!« »Nicht so schlimm«, meinte Roseberry. Er griff in seine Brusttasche und nahm einen Brief heraus, den er Halyard gab. »Das hier sollten Sie gut durchlesen, bevor Sie zu der Prüfung kommen.« »Danke.« Halyard nahm das Blatt lächelnd entgegen, weil er glaubte, daß es sich dabei um eine Liste der Dinge handle, die er zu tun haben würde. Er freute sich, daß Dr. Roseberry anscheinend nicht die Absicht hatte, ihm das Bestehen der Prüfung übermäßig schwer zu machen.
Halyard warf einen Blick auf den Brief konnte sich aber nicht vorstellen, warum er ihn lesen sollte. Er war an Prof. Dr. Dr. Albert Herpers, den ehemaligen Rektor der Universität, adressiert. Außerdem zeigte das Datum, daß der Brief vor über fünf Jahren geschrieben worden war. »Mein lieber Dr. Herpers! Am letzten Wochenende hatte ich Gelegenheit, die gesamte Footballmannschaft unserer Universität nach dem Spiel gegen die Universität von Pennsylvania zu beobachten. Ich dinierte mit einigen Freunden im Cybernetics Club, als die Mannschaft unter Führung dieses neuen Mannes, Dr. Roseberry, hereinplatzte ... Die nächsten acht Absätze befaßten sich mit dem geradezu unmöglichen Benehmen der Studenten, unter besonderer Berücksichtigung und Betonung der Verstöße gegen Sitte und Anstand, die sich Dr. Roseberry hatte zuschulden kommen lassen. ... wobei die jungen Leute es nicht einmal für nötig erachtet hatten, sich ihrer Blazer mit dem Wappen unserer Universität zu entledigen, bevor sie zu einer derartigen Sauftour aufgebrochen waren. Deshalb fühle ich mich verpflichtet, mein lieber Dr. Herpers, Sie darauf hinzuweisen, daß dieser Dr. Roseberry bereits in den wenigen Wochen seit seiner Berufung an unsere Universität ganz klar gezeigt hat, daß er nicht geeignet ist, eine Mannschaft unserer Alma mater für die Ziele zu begeistern, die seit jeher die Ideale unserer Trainer gewesen sind: Fairneß, Sportsgeist, Sieges-
wille – und nicht zuletzt tadelloses Auftreten in der Öffentlichkeit ... Ich hoffe von ganzem Herzen, daß dieser Roseberry entweder von seinem Posten entfernt oder an eine drittrangige Hochschule im Mittleren Westen versetzt wird, wo derartige Manieren durchaus am Platze sein mögen. In dem Bewußtsein, unserer Universität damit einen wertvollen Dienst erwiesen zu haben, habe ich Abschriften dieses Briefes an das Kultusministerium und das Ministerium für Leibesübungen geschickt. Mit vorzüglicher Hochachtung Dr. Ewing J. Halyard« »Oh ... dann haben Sie ihn also damals auch zu Gesicht bekommen?« fragte Halyard, der plötzlich totenbleich geworden war. »Dr. Herpers dachte, daß Ihr Brief mich vielleicht ebenfalls interessieren würde.« Halyard grinste zaghaft. »Schon lange her, nicht wahr, Dr. Roseberry? Als ob seitdem hundert Jahre vergangen wären.« »Mir kommt es so vor, als ob es erst gestern gewesen wäre.« »Haha. Seitdem ist eine Menge Wasser unter dem Damm durchgeflossen, was?« »Über den Damm«, warf Buck Young ein. »Ja, Sie haben ganz recht«, murmelte Halyard düster. »Dann kann ich ja wieder gehen. Bis morgen, Dr. Roseberry.« »Das Vergnügen werde ich mir auf keinen Fall entgehen lassen!«
25 Dr. Paul Proteus antwortete unter Einfluß der Droge, die in seinem Drink enthalten gewesen war, wahrheitsgemäß auf alle Fragen, die ihm gestellt wurden. »Bist du wirklich hinausgeworfen worden, oder war alles nur ein Trick, mit dem sie uns hereinlegen wollten?« »Ein Trick. Ich sollte mich an die Geisterhemden heranmachen um herauszubekommen, wer ihre Anführer sind. Und was sie eigentlich vorhaben. Aber ich habe selbst gekündigt – nur haben sie es nicht geglaubt. Weil ich auf meiner Farm leben wollte.« Paul kicherte. »Unterdessen habe ich mich allerdings davon überzeugen können, daß ich dafür ungeeignet bin – frag Mr. Haycox ...« »Warum hast du gekündigt?« »Ich hatte meinen Beruf satt.« »Weil es schlecht war, was du getan hast?« fragte die Stimme weiter. »Weil es so sinnlos war.« »Dann bist du jetzt also gegen das System?« »Ich bin nicht mehr dafür.« Plötzlich schien die Dunkelheit, die Paul bisher umgeben hatte, ein wenig heller geworden zu sein, denn er erkannte, daß Ed Finnerty vor ihm stand. »Paul!« »Ja Ed?« »Du bist jetzt auf unserer Seite!« sagte Finnerty. »Wenn du nicht gegen uns bist, dann bist du für uns!« Paul faßte sich unsicher an den Kopf. Er hatte das
Gefühl, als laste ein Felsen auf ihm, seine Lippen waren trocken. »Für wen? Auf wessen Seite bin ich?« »Auf der Seite der Geisterhemden, Paul.« »Ach, die. Was wollen sie eigentlich, Ed?« fragte Paul benommen. Er stellte fest, daß er in einem winzigen Raum auf einer Matratze lag. Die Luft war stikkig. »Was wollen sie, Ed?« »Daß die Welt den Menschen wiedergegeben wird.« »Unbedingt«, stimmte Paul zu. Er versuchte zu nicken, gab es aber auf, weil seine Muskeln ihm nicht zu gehorchen schienen. »Du sollst dabei helfen.« »Gern«, murmelte Paul, der immer noch zu sehr unter dem Einfluß des Betäubungsmittels stand, um sich die Folgen dieses Versprechens klarzumachen. »Was ist ein Geisterhemd?« »Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts«, sagte Lasher erklärend, »schlossen sich die meisten Indianer zu einer neuen Bewegung zusammen, die religiöse Grundlagen hatte. Die Weißen hatten ihre Versprechen immer wieder gebrochen, die sie den Indianern gegeben hatten. Die Büffelherden wurden ausgerottet, man nahm den Indianern das Land weg, jeder Widerstand wurde mit Gewalt gebrochen.« »Arme Indianer«, murmelte Paul. »Das ist kein Scherz«, sagte Finnerty tadelnd. »Hör zu, was Lasher dir erzählt.« »Allmählich verloren die Indianer alles, worauf sie früher stolz gewesen waren – ihre Jagdgründe, ihr Land, ihre Wehrhaftigkeit. Sie hatten keine Existenzberechtigung mehr. Große Jäger fanden nichts mehr
zu jagen. Große Krieger konnten nichts gegen die Feuerwaffen der Weißen ausrichten. Große Führer hatten nur noch die Wahl, ob sie ihre Männer in den sicheren Tod oder weiter in die Wüste führen wollten.« »Nein, wirklich?« murmelte Paul. »Für die Indianer hatte sich die Welt grundlegend geändert«, fuhr Lasher mit seiner Erklärung fort. »Sie war zum Eigentum der Weißen geworden, während die Indianer nur noch die Wahl hatten, entweder selbst als zweitklassige Weiße zu leben oder zu Sklaven herabzusinken.« »Oder sie konnten sich zu einem letzten Kampf gegen die Zerstörer ihrer Kultur aufraffen«, warf Finnerty ein. »Und der Geistertanz«, sagte Lasher, »war der Ausdruck dieses Willens, um die Erhaltung jener Werte zu kämpfen, die ihren Vorvätern so viel bedeutet hatten. Überall tauchten Männer auf, die durch irgendeinen Zauber dieses Ziel zu erreichen versuchten. Und einige der kriegerischeren Stämme versuchten es mit einem anderen Mittel – den Geisterhemden.« »Aha«, meinte Paul. »Sie wollten den Weißen noch einmal eine Schlacht liefern«, erklärte ihm Lasher, »aber dabei sollte jeder der Krieger ein weißes Hemd tragen, das die Kugeln der Feinde nicht durchdringen konnten.« »Luke! He, Luke!« rief Finnerty. »Hör einen Augenblick mit dem Vervielfältigen auf und komm zu uns herein.« Paul hörte jemand über den Betonfußboden schlurfen, dann sah er Luke Lubbock vor sich. Luke trug ein
weißes Hemd über der Hose, das unten wie eines aus Hirschleder ausgefranst war, während es auf der Brust mit dem Bild eines Büffels verziert war. »Hugh!« sagte Paul. »Paul, das soll kein Witz sein«, sagte Finnerty tadelnd. »Alles kommt ihm wahrscheinlich lustig vor, solange die Wirkung des Mittels andauert«, beruhigte Lasher ihn. »Glaubt Luke auch, daß er jetzt gegen Kugeln gefeit sei?« fragte Paul. »Uns interessiert doch nur der Symbolgehalt des Ganzen!« rief Finnerty verzweifelt aus. »Hast du es denn noch immer nicht begriffen, Paul?« »Doch«, meinte Paul freundlich. »Sicher. Vermutlich schon.« »Was ist denn das Symbolische an der Sache?« fragte Finnerty. »Luke Lubbock will seine Büffel wiederhaben.« »Sehen Sie denn das nicht ein, Doktor?« sagte Lasher. »Die Maschinen sind heutzutage für den größten Teil der Menschheit das, was die Weißen für die Indianer waren. Die Welt gehört den Maschinen, die Menschen werden immer mehr verdrängt, bis sie entweder zu zweitklassigen Maschinen oder zu Sklaven der Maschinen geworden sind.« »Möge Gott uns davor bewahren«, murmelte Paul. »Aber diese Sache mit den Geisterhemden – kommt sie euch nicht auch ein bißchen kindisch vor? Sich so zu verkleiden, um ...« »Wir bestreiten gar nicht, daß das kindisch wirken mag, aber es ist auch nicht kindischer als jede andere Uniform«, sagte Lasher, »und außerdem müssen wir
etwas haben, das die Massen anzieht, die wir für unser Unternehmen brauchen.« »Warten Sie, bis er erst einmal eine Versammlung miterlebt hat«, warf Finnerty ein. »Sie gleichen alle einem modernen Märchen, Paul.« »Ja, leider«, fügte Lasher hinzu. »Ich wollte, daß unsere Tätigkeit etwas würdiger vor sich ginge, weil wir schließlich für diese Dinge kämpfen.« »Kämpfen?« fragte Paul. »Kämpfen«, bestätigte Lasher. »Und wir haben alle Chancen, daß es ein guter Kampf wird, den wir liefern werden. Das Studium der Menschheitsgeschichte zeigt uns an zahlreichen Beispielen, was geschehen kann, wenn sich Menschen nicht mit etwas abfinden wollen, was ihnen aufgezwungen wurde.« »Paul, hörst du noch zu?« fragte Finnerty. »Klar. Äußerst spannend.« »Gut«, flüsterte Lasher jetzt. »In vergangenen Zeiten war es so, daß ein Mann, der den Leuten neue Hoffnung einzuflößen imstande war, ohne weiteres eine Revolution auslösen konnte, selbst wenn er einer Übermacht von Feinden gegenüberstand. Wir glauben deshalb daß ein Messias der jetzt mit einem wirkungsvollen Programm an die Öffentlichkeit tritt, ebenfalls eine gute Chance hat, eine Revolution in Gang zu bringen – vielleicht sogar eine, die so groß ist, daß die Welt den Maschinen weggenommen und den Menschen wiedergegeben wird. Voraussetzung dafür ist nur, daß er sich lange genug vor der Polizei versteckt halten kann.« »Und du bist der Mann dafür, Ed«, sagte Paul. »Das habe ich zuerst auch gedacht«, meinte Lasher, »aber dann habe ich mir überlegt, daß es besser wäre,
wenn wir dafür einen Mann hätten, der einen überall bekannten Namen trägt.« »Sitting Bull? Winnetou?« fragte Paul. »Proteus«, antwortete Lasher. »Deine einzige Aufgabe besteht jetzt daraus daß du dich versteckt hältst«, sagte Finnerty. »Alles andere werden wir für dich erledigen.«
26 Erst nach vier Tagen wurde Paul von Finnerty aus seinem Gefängnis in dem ehemaligen Luftschutzbunker befreit. Als Paul in den Versammlungsraum geführt wurde, der in einem anderen Teil des riesigen Bunkersystems lag, erhoben sich die Anwesenden: Lasher, oben am Tisch, Bud Calhoun, Katharine Finch, Luke Lubbock, Pauls Verwalter Haycox, der Barkeeper und noch etwa vierzig andere. Die meisten Verschwörer sahen nicht übermäßig intelligent aus, aber alle schienen davon überzeugt zu sein, daß sie für eine gerechte Sache kämpften. Etwa achtzig Prozent der Teilnehmer kamen aus Ilium, die restlichen zwanzig aus anderen Städten. Aus dieser Mittelmäßigkeit erhob sich hier und dort ein Mann, den eine Aura von Wissen und Reichtum umgab und der wie Paul zu der Einsicht gekommen war, daß das System schlecht sei, obwohl es ihn gut behandelt hatte. Während Paul diese auffallenden Ausnahmen genauer betrachtete, fiel ihm ein Gesicht auf, das er von früher her kannte – das von Professor Ludwig von Neumann der an der Gewerkschaftsuniversität Schenectady einen Lehrstuhl für Politische Wissenschaften innegehabt hatte, bis man das Gebäude dieser Fakultät niedergerissen hatte, um dort ein neues Physiklaboratorium zu errichten. »Da ist er«, kündigte Finnerty stolz an. Paul erhielt höflichen Beifall, der ihm allerdings deutlich zu verstehen gab, daß man ihn noch nicht als vollwertigen Partner ansah.
Die beiden einzigen Ausnahmen waren Katharine Finch und Bud Calhoun, die sich ihm gegenüber ebenso ungezwungen und herzlich benahmen, als säßen sie mit ihm in seinem Arbeitszimmer in den Werken zusammen. Paul, der eine Versammlung erwartet hatte, in der sich jeder als Indianer verkleidete, war überrascht, wie nüchtern und geschäftsmäßig die Sitzung verlief. Luke Lubbock hatte als einziger ein Geisterhemd an. »Ich erkläre die Versammlung der Geisterhemden für eröffnet«, sagte Lasher, als Finnerty und Paul neben ihm Platz genommen hatten. Die Geisterhemden war also schlicht und einfach nur ein etwas romantisch klingender Titel für eine durchaus nicht weltfremde Gruppe von Menschen, die ein gemeinsames Ziel hatten. »Fangen wir mit Ihnen an, Z-11.« Lasher sah Katharine an. »Oh«, sagte Miss Finch aufgeregt. Sie blätterte die Listen durch, die vor ihr auf dem Tisch lagen. »Wir haben jetzt siebenhundertachtundfünfzig Geisterhemden auf Lager. Eigentlich sollten es bereits tausend sein«, fügte sie bedauernd hinzu, »aber Mrs. Fishbein ...« »Keine Namen!« riefen einige. »Entschuldigung.« Sie wurde rot, dann sah sie wieder auf die Blätter vor sich. »Äh ... X-229 mußte sich einer Staroperation unterziehen, deshalb konnte sie nicht weiterarbeiten. Es wird noch ungefähr sechs Wochen dauern, bis sie wieder voll einsatzfähig ist.« »G-17, was haben Sie zu berichten?« fragte Lasher weiter. Bud Calhoun lächelte zufrieden. »Alles geht genau
nach Plan. Wir haben bereits zwei Modelle fertig, die wir in einer der nächsten Nächte auf dem Grundstück von L-56 ausprobieren können.« »Können Sie dafür garantieren, daß wir damit durch den Werkszaun dringen?« fragte Lasher. »Kinderspiel«, antwortete Bud, »die Dinger sind sogar so konstruiert, daß nicht einmal der Alarm dabei ausgelöst wird.« »Was macht denn das für einen Unterschied?« meinte Finnerty. »Schließlich geht es im gleichen Augenblick überall in ganz Amerika los!« »Das ist nur ein kleiner Trick, der mir eingefallen ist«, gab Bud zurück. »Außerdem habe ich noch eine Idee für einen Apparat, mit dem wir die Telephonleitungen unter Starkstrom setzen können so daß die Wachen einen ordentlichen Schlag bekommen, wenn sie etwa telephonisch Alarm geben wollen.« »Wir wollten doch die Drähte einfach durchschneiden.« »Könnte man auch machen ...«, meinte Bud zögernd. »Wir brauchen vor allem Pläne für ein gepanzertes Fahrzeug, das unsere Leute aus einem alten Lastwagen und ein paar Blechen zusammenbauen können.« Lasher sprach tadelnd. »Das haben wir doch schon lange«, wandte Bud ein, »aber ich stelle mir ein ...« »Kommen Sie nach der Sitzung noch einmal damit zu mir«, unterbrach ihn Lasher energisch. Bud starrte einen Augenblick lang unglücklich vor sich hin, dann begann er auf einem Notizblock zu zeichnen. Paul sah, daß er einen gepanzerten Wagen entwarf, den er mit allen nur denkbaren Finessen
ausrüstete. Er sah plötzlich auf. »Sehr interessante Aufgabe«, flüsterte er. »Schön«, sagte Lasher. »Freiwilligenwerbung. D-71 – wie steht es damit?« »Er ist in Pittsburgh«, warf Finnerty ein. »Ja, richtig.« Lasher fuhr sich über die Stirn. »Das hatte ich völlig vergessen.« Luke Lubbock raschelte nervös mit seinen Papieren, dann räusperte er sich mehrmals. »Sir, ich soll Ihnen seinen Bericht vortragen Sir.« »Schießen Sie los.« »Wir haben je einen Mann in jeder Loge der Royal Parmesans auf unsere Seite bringen können. Insgesamt sind es siebenundfünfzig Logen in achtunddreißig Städten.« »Gute Leute? Zuverlässig?« wollte jemand wissen. »Sie können sich auf D-71 verlassen«, beruhigte ihn Lasher. »Alle Neuen werden der gleichen Behandlung unterzogen – zuerst das Betäubungsmittel, dann das Verhör unter dem Einfluß von Pentathol.« »Okay«, sagte der Fragesteller, »ich wollte mich nur vergewissern daß wir nicht in letzter Sekunde leichtsinnig geworden sind.« »Nur keine Angst, wir passen auf«, versicherte ihm Finnerty. »Ist der auch so behandelt worden?« fragte der Mann, wobei er auf Paul deutete. »Der ganz besonders«, sagte Lasher grinsend. »Wir wissen Sachen über ihn, über die er überrascht wäre, wenn er sie selbst wüßte! Nein, wegen Proteus brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.« »Keine Namen«, warf Paul ein. Alle lachten.
»Was war denn so witzig?« fragte Paul erstaunt. »Proteus ist der Name«, antwortete Lasher. »He, einen Augenblick, ich ...« »Wovor hast du Angst? Du hast doch gar nichts zu tun«, sagte Finnerty. »Keine Verantwortung, kein Risiko, keine Gefahr!« »Du hast ganz recht, es ist beinahe gemütlich«, antwortete Paul, »aber ich mache nicht mit. Tut mir leid, aber ...« »Dann müßten wir dich umbringen, Paul«, sagte Finnerty kalt. Paul sank auf seinen Stuhl zurück. Überraschenderweise erschreckte ihn diese Alternative zwischen Leben und Tod nicht so sehr, wie es scheinen mochte. Die Tatsache, daß man ihn vor die Wahl ›Gehorsam oder Tod‹ gestellt hatte, ließ ihn augenblicklich alle Befürchtungen vergessen, die er noch vor wenigen Minuten hatte vorbringen wollen. Nun war alles ganz einfach – niemand konnte es ihm verübeln, wenn er das tat, wozu er gezwungen wurde. Deshalb lehnte er sich in den Stuhl zurück und begann den weiteren Verlauf der Sitzung mit wirklichem Interesse zu verfolgen. Luke Lubbock las weiter aus dem Bericht von D-71 vor der sich mit den Erfolgen der Werbung in den verschiedenen Freimaurerlogen beschäftigte. Das Ziel, in jeder Vereinigung gesellschaftlicher Art jeder amerikanischen Industriestadt zwei einflußreiche Mitglieder für die Sache der Geisterhemden zu gewinnen, war zu beinahe sechzig Prozent erreicht. »S-1 – was haben Sie zu berichten?« fragte Lasher. »Wir haben uns vor allem damit beschäftigt, den Namen unseres Führers unter die Leute zu bringen«,
erwiderte Finnerty. »Es wird allerdings noch ein paar Tage dauern, bis wir feststellen können, wie sie darauf reagieren.« »Wie steht es eigentlich mit dem Burschen, der vom Fernsehen lebt?« fragte der Mann von der Werkswache. »Wollten Sie den nicht persönlich für uns gewinnen?« »Alfy Tucci?« erkundigte sich Finnerty. »Keine Namen!« »Den Namen könnt ihr ruhig nennen«, erklärte Lasher unwirsch. »Tucci gehört nicht zu uns.« »Stimmt leider«, sagte Finnerty, »aber er gehört auch zu niemand anderem. Er ist nie irgendwo beigetreten, sein Vater ebenfalls nicht, sein Großvater auch nicht.« Lasher lächelte traurig. »Der große amerikanische Individualist«, sagte er, »der von sich selbst glaubt, daß er die ideale Verkörperung des liberalen Gedankenguts sei, das seit Jahrhunderten in den Köpfen unserer Landsleute herumspukt. Er steht auf seinen eigenen Füßen.« »Ist das Datum für den Tag X schon festgesetzt worden?« wollte Mr. Haycox wissen. »Nein, außerdem wird es sowieso erst zwei Tage vor Beginn unserer Aktion bekanntgegeben werden«, antwortete Lasher. »Ich habe eine Frage«, sagte Paul. »Was soll eigentlich an diesem Tag X vor sich gehen?« »Für diesen Tag werden überall in Amerika in sämtlichen Vereinigungen und Vereinen – außer denen, die aus Managern und Ingenieuren bestehen – besondere Versammlungen einberufen. Unsere Leute, die alle eine bedeutende Stellung innerhalb dieser
Organisationen innehaben werden den anderen mitteilen, daß in diesem Augenblick in ganz Amerika Männer durch die Straßen ziehen, die auf dem Weg sind, die Maschinen zu zerstören, um das Land den Menschen zurückzugeben. Dann werden sie ihre Geisterhemden anlegen und denen vorangehen, die zu folgen bereit sind. Wir stellen eine Art Hauptquartier dar, aber die Bewegung ist größtenteils dezentralisiert, das heißt, daß die Mitglieder in den anderen Städten für ihr Gebiet selbst verantwortlich sind. Wir helfen ihnen beim Aufbau, der Freiwilligenwerbung, unterstützen sie mit Geldmitteln und Ratschlägen, aber am Tag X sind sie doch wieder auf sich selbst gestellt. Eine straffer organisierte Bewegung hätte natürlich große Vorteile, aber auch einen entscheidenden Nachteil aufzuweisen: die Polizei könnte uns dann leichter auf die Schliche kommen. Vorläufig wissen sie nicht einmal, wer wir sind und was wir wollen. Selbstverständlich liegt unsere ›Ist-Stärke‹ nicht besonders hoch, aber wir haben unsere Leute an der richtigen Stelle eingesetzt, und das wird unsere Stärke im richtigen Augenblick ungeheuer anwachsen lassen, wenn erst einmal die anderen dazukommen.« »Mit wie vielen neuen Anhängern rechnen Sie denn am Tag X?« fragte Paul. »Das kann ich nicht genau sagen – aber jedenfalls mit allen, die gegen das gegenwärtige System sind, weil sie sich entweder langweilen oder sich überflüssig vorkommen.« »Das sind mindestens neunzig Prozent aller Amerikaner!« rief Finnerty überzeugt aus. »Und was soll dann geschehen?«
»Dann werden wir wieder zu den alten Methoden, den alten Werten zurückkehren!« sagte Finnerty. »Die Männer werden wieder Männerarbeit tun, die Frauen wieder Frauenarbeit. Und die Menschen werden wieder für sich selbst denken, anstatt sich diese Arbeit von Maschinen abnehmen zu lassen.« »Das erinnert mich übrigens noch an etwas«, warf Lasher ein. »Wer erledigt die Sache mit EPICAC?« »D-71 sagte mir zuletzt, daß sich die Moose und die Elks in Roswell darum stritten, wer den Auftrag durchführen sollte«, sagte Luke Lubbock. »Keine der beiden Logen wollte der anderen den Vortritt lassen.« »Dann sollen sie es eben gemeinsam machen«, entschied Lasher. »G-17, wie steht es mit einem guten Vorschlag für die Durchführung des Attentats auf EPICAC?« »Meiner Meinung nach sollte man Bomben in den Coca-Cola-Automaten unterzubringen versuchen«, meldete sich Bud Calhoun. »Schließlich steht in jeder Höhle einer, wodurch gewährleistet wäre daß wir EPICAC ganz erledigen können, und nicht nur einen Teil davon.« Er fuhr mit den Händen in der Luft herum, als wolle er den anderen dadurch seine Idee begreiflich machen. »Könnt ihr euch das vorstellen? Man nimmt einfach eine Colaflasche, nur mit dem einen Unterschied, daß man sie vorher mit TNT füllt. Dann braucht man nur noch einen Draht von dem Münzeinwurf ...« »Schön, schön, zeichnen Sie es auf und geben Sie die Skizze D-71 damit er sie an die Leute weiterleiten kann, die dafür in Frage kommen.« »Und dann Bummmmm!« rief Calhoun, während er mit der Faust krachend auf den Tisch schlug.
»Erstklassig«, sagte Lasher. »Hat sonst noch jemand eine Frage?« »Wie steht es mit der Armee?« wollte Paul wissen. »Was sollen wir tun, wenn jemand auf den Gedanken kommt, sie gegen uns einzusetzen?« »Falls irgend jemand wirklich auf diese verrückte Idee kommen sollte, denen Waffen und Munition in die Hand zu drücken, dann können beide Seiten gleich den Kampf für oder gegen die Maschinen abbrechen«, antwortete Lasher. »Wie stark sind wir jetzt?« fragte der nervöse Mann. »Noch nicht übermäßig stark, aber auch keineswegs schwach«, gab Lasher zur Antwort. »Wir können uns unserer Haut bereits ganz gut wehren, selbst wenn uns die anderen schon jetzt dazu zwingen würden. Besser wäre es natürlich, wenn wir noch zwei Monate Zeit hätten. Noch jemand eine Frage? Nein? Gut, dann können wir weitermachen. Wie steht es mit Beförderungsmitteln?« Immer mehr Berichte wurden vorgelesen: Beförderungsmittel, Nachrichtenverbindungen, Sicherheitsmaßnahmen, Ausgaben und Einnahmen ... Paul hatte das Gefühl, als habe man vor seinen Augen einen tadellos erscheinenden Balken durchsägt, wobei die Gänge und Höhlen sichtbar geworden waren, die unzählige Termiten unter der Oberfläche angelegt hatten. »Öffentlichkeitsarbeit?« fragte Lasher, nachdem die anderen Berichte diskutiert worden waren. »Wir haben an alle Ingenieure, Manager und Bürokraten mit Klassifikationsnummern unter einhundert Warnbriefe mit gleichem Inhalt verschickt«, berichtete Professor von Neumann zufrieden. »Die größe-
ren Tageszeitungen und sämtliche Rundfunkstationen haben Abschriften davon erhalten, die wichtigsten Fernsehstationen ebenfalls.« »Ein guter Brief«, meinte Finnerty. »Ja, aber leider ist er ein bißchen lang. Soll ich ihn trotzdem vorlesen?« fragte von Neumann. Die anderen nickten zustimmend. Amerikaner! In diesen Tagen sehen wir uns dem größten Problem gegenüber, das unser Volk jemals zu bewältigen hatte. Wir alle sind an seiner Entstehung mitschuldig, aber Sie haben sich mehr als die anderen für den Fortschritt eingesetzt, Sie gehören stets zu den Verfechtern der Theorie, daß jede Änderung gut und segensreich sei. Sie die Manager und Ingenieure, sind die einzigen aus der oberen Intelligenzschicht Amerikas, die immer noch daran festhalten, daß es den Menschen um so besser gehe, je mehr Maschinen für ihn arbeiten. Sie haben diese irrige Ansicht durch die drei letzten Kriege hindurch vertreten – und damit gezeigt, wie unbelehrbar Sie an Ihrem falschen Glauben hängen. Die Tatsache, daß Sie dieser Auffassung treu geblieben sind, obwohl wir augenblicklich in dem erschrekkendsten Frieden der Menschheitsgeschichte leben, beunruhigt selbst die Ungebildeten und ängstigt die Nachdenklichen. Die Menschheit hat Armageddon überlebt, um in das ersehnte Paradies des immerwährenden Friedens zu gelangen, aber dann mußte sie feststellen, daß alles, was sie dort zu finden gehofft hatte, Stolz, Würde, Selbstachtung, menschenwürdige Arbeit, unterdessen als für sie ungeeignet befunden worden war.
Lassen Sie mich noch einmal ausdrücklich betonen, daß wir alle daran mitschuldig sind, aber wir haben unsere Auffassung über die Vorrechte von Maschinen, Organisation und Wirtschaftlichkeit geändert. Aus guten Gründen, wie wir glauben, genauso wie die Menschen früherer Jahrhunderte plötzlich anders über die Vorrechte von Königen oder Sklavenhaltern zu denken begonnen haben. Während der letzten drei Kriege war es das unbestrittene Recht ja sogar die Pflicht der Industrie, sich eine Vorrangstellung zu verschaffen, weil sie damit entscheidend zum Sieg unseres Landes beitragen konnte. Amerika verdankt seine Existenz überlegenen Maschinen, Methoden und Organisationsformen, die von Managern und Ingenieuren entwickelt wurden. Die Geisterhemden und ich sind Gott dafür dankbar, daß unser Land durch diese Männer vor dem Abgrund gerettet werden konnte. Aber es ist falsch, annehmen zu wollen, daß die Methoden, mit denen wir Kriege gewonnen haben, sich ohne weiteres auf Friedenszeiten übertragen lassen. Der Frieden erfordert gänzlich andere Mittel und Wege, wenn unser Volk einträchtig und zufrieden leben soll. Ich bestreite, daß es ein natürliches oder göttliches Gesetz gibt, wonach die Industrie und alle damit verbundenen Faktoren ständig an Umfang, Macht und Einfluß zunehmen müßten. Die Menschen, die durch Maschinen ersetzt werden können, werden von Maschinen verdrängt. Diese Tatsache allein ist nicht zu beanstanden, sie ist nicht notwendigerweise von Anfang an schlecht, aber jede Änderung bestehender Verhältnisse ohne das Einverständnis der Betroffenen muß als Ungesetzlichkeit gebrandmarkt werden, die im höchsten Maße amoralisch ist. Diese Maßnahmen haben tiefgreifende Veränderungen in dem
Leben unserer Mitbürger hervorgerufen, ohne daß sie dagegen protestieren konnten. Die Mitglieder der Geisterhemden und ich sind deshalb fest entschlossen, dieser Ungesetzlichkeit ein Ende zu bereiten und die Welt den Menschen zurückzugeben. Wir sind bereit, Gewalt anzuwenden um dieses Ziel zu erreichen, wenn alle anderen Mittel vergeblich sein sollten. Ich schlage vor, daß Männer und Frauen wieder als Kontrolleure von Maschinen eingesetzt werden, und daß die Kontrolle der Maschinen über Menschen verringert wird. Weiterhin schlage ich vor, daß alle Maßnahmen, die geeignet sind, Veränderungen im Leben der Menschen hervorzurufen, in Zukunft sorgfältig untersucht und je nach Art dieser Veränderungen zurückgestellt oder gefördert werden. Diese Vorschläge mögen radikal klingen, aber das Bedürfnis danach ist größer als die Schwierigkeiten, die damit verknüpft sind, und unendlich größer als die Notwendigkeit, unsere Normen in bezug auf Wirtschaftlichkeit und Qualität aufrechtzuerhalten. Es liegt in der Natur des Menschen begründet, daß er nur dann glücklich ist, wenn er eine Tätigkeit ausüben kann, die ihm das Gefühl vermittelt, schöpferisch und nützlich zu wirken. Deshalb muß es ihm gestattet werden, wieder an einen Platz zu gelangen, der ihm die Möglichkeit dazu verschafft. Die Geisterhemden und ich behaupten deshalb: Die Unvollkommenheit des Menschen ist gut, denn Gott hat ihn unvollkommen geschaffen. Die Schwäche des Menschen ist gut, denn Gott hat ihn schwach geschaffen. Die unterschiedliche Intelligenz des Menschen ist gut, denn Gott hat ihn so geschaffen.
Sie halten die Auffassung, daß Gott den Menschen geschaffen habe, vielleicht für überholt und sogar in gewisser Hinsicht für kindisch, aber ich finde, daß es sehr viel leichter ist, daran zu glauben, als seine gesamte Hoffnung auf den Fortschritt der Technik zu setzen. Ich kann nicht einsehen, wieso es besser sein sollte, der Überzeugung zu sein, daß es die einzige Aufgabe des Menschen auf dieser Erde sei, haltbarere und wirtschaftlichere Abbilder seiner selbst zu erzeugen, um dadurch allmählich seine eigene Existenzberechtigung immer mehr in Frage zu stellen, bis er sie eines Tages völlig verloren haben wird. gez. Dr. Paul Proteus Professor von Neumann nahm seine Brille ab und rieb sich die Augen, während er auf die Bemerkungen der anderen Mitglieder wartete. »Okay«, meinte der Beauftragte für Transportmittel zögernd, »aber ich finde, daß der Brief ein bißchen langatmig war, sozusagen ... äh ... an den Haaren herbeigezogen – jedenfalls an manchen Stellen.« »Nein, das Ding klingt ganz gut«, sagte der Sicherheitsbeauftragte, »aber ich bin der Meinung, daß er noch etwas enthalten sollte über ... Ich kann es nicht so richtig erklären, was ich meine.« »Los, versuchen Sie es wenigstens«, ermunterte ihn Finnerty. »Nun, es kommt mir immer so vor, als ob niemand mehr für niemand etwas wert sei, und es ist eine verflucht unangenehme Sache, wenn die Leute das tun müssen, was Maschinen sagen, die sie doch selbst erst gebaut haben ...« »Genau das steht bereits in dem Brief, haargenau
sogar«, beruhigte ihn Lasher. Paul räusperte sich bedeutungsvoll. »Äh, ich wollte fragen, ob ich jetzt unterschreiben soll, Professor?« Von Neumann sah ihn überrascht an. »Nein, das ist nicht mehr nötig! Die Briefe sind bereits vor zwei Tagen mit Ihrer Unterschrift versehen zur Post gebracht worden, als Sie noch in Ihrer Zelle saßen.« »Sie erwarten aber doch nicht, daß die Gegenseite unseren Vorschlägen zustimmen wird?« fragte der nervöse Mann. »Nicht einen Augenblick!« antwortete Lasher zuversichtlich. »Aber für uns ist das eine kostenlose Reklame, denn auf diese Weise weiß jeder am Tag X, daß wir für Ziele kämpfen, die im Interesse aller liegen.« »Polizei! Polizei!« rief jemand von draußen laut. Feuerstöße aus Maschinenpistolen hallten von den Wänden der Gänge wider. »Durch den Westausgang!« befahl Lasher. Papiere wurden hastig vom Tisch aufgenommen, verschwanden in Ordnern, Laternen wurden ausgeblasen. Paul fühlte, daß die Menge ihn mitriß, ohne daß er gewußt hätte, wohin die Flucht führte. Türen öffneten sich, schlossen sich wieder hinter den Fliehenden, die Leute stolperten und stießen miteinander zusammen aber niemand gab den geringsten Laut von sich. Plötzlich bemerkte Paul, daß er schon seit einiger Zeit nur noch dem Echo seiner eigenen Schritte folgte. Zusammen mit den Zurufen seiner Verfolger bildeten sie einen Alptraum, in dem Paul durch endlose Gänge, über steile Treppen und durch riesige Räume irrte um schließlich immer wieder vor verschlossenen Tü-
ren zu stehen. Als er sich endlich vor Anstrengung keuchend umdrehte, weil er am Ende seiner Kräfte war, wurde er von dem Lichtstrahl geblendet der aus einer starken Taschenlampe drang. »Da ist einer von ihnen, Joe!« rief jemand aufgeregt. »Los! Halt ihn fest!« Paul machte einen Satz auf die Lampe zu, ohne dabei an den zweiten Polizisten zu denken. Plötzlich krachte etwas auf seinen Kopf herunter. »Na, wenigstens einen von den Kerlen haben wir erwischt«, hörte Paul eine Stimme über sich sagen. »Du mußt ihm ganz schön eine verpaßt haben, sonst läge er nicht so da«, meinte der andere bewundernd. »Versteht sich. Hat keinen Sinn, wenn man diese verfluchten Saboteure mit Samthandschuhen anfaßt.« »Wohl einer von den kleinen Fischen, was?« »Klar, was glaubst du denn sonst? Meinst du etwa, daß der Proteus hier wie ein Verrückter im Kreis herumläuft, als ob er nicht wüßte, wo oben und unten ist? Nein, mein Junge, der ist schon längst ein paar Meilen entfernt und läßt sich die Blasen an den Füßen behandeln, die er sich beim Weglaufen geholt hat.«
27 Paul teilte seine Zelle im Keller des Polizeipräsidiums mit einem schlanken Neger namens Harold, der wegen eines Vergehens gegen die Anti-Sabotagegesetze verurteilt worden war. Er hatte ein Verkehrserziehungsgerät – ein Tonbandgerät in Verbindung mit mehreren Lautsprechern – mit einem Stein zerschmettert. Der Apparat war in unmittelbarer Nähe seines Schlafzimmerfensters angebracht gewesen. »›Paß auf!‹ hat es immer gesagt. ›Die Straße immer nur an den dafür vorgesehenen Übergängen überschreiten!‹« sagte Harold, als er Paul erklärte, warum er das Gerät zerstört hatte. »Zwei Jahre lang habe ich es mit dem Schreihals vor meinem Fenster ausgehalten. Und jedesmal, wenn jemand an der Photozelle vorbeiging, riß er seine vorlaute Klappe auf. ›Vorsichtig, wenn du zwischen parkenden Wagen hervortrittst!‹ hat es immer gesagt. Ganz egal, um wen es sich dabei handelte, oder wie spät es auch sein mochte. ›Vorsicht! Tu dies nicht! Tu das nicht!‹ so ging es Tag und Nacht. An einem Morgen kam gegen drei Uhr ein alter Straßenköter mitten auf der Fahrbahn dahergetrottet, und der alte Schreihals mußte einfach wieder einmal seinen Senf dazugeben. ›Wer getrunken hat, darf nicht fahren!‹ rief er dem Hund zu. ›Auf Trunkenheit am Steuer steht Gefängnis!‹ Dann habe ich nicht mehr gewartet, was der Quatschkasten ihm noch zurufen würde, sondern ihm ordentlich eine auf den Deckel gegeben.« Paul grinste. »Wie lange müssen Sie denn dafür brummen?« erkundigte er sich.
»Fünf Tage. Der Richter wollte mich auf Bewährung freilassen, wenn ich sage, daß es mir leid tue. Aber darauf kann er lange warten«, versicherte Harold. »Ich kann mir gut vorstellen, wie es einem Mann zumute sein muß, der sich dieses Zeug zwei Jahre hat anhören müssen«, sagte Paul bedauernd. »O nein, das können Sie eben nicht! Dauernd diese dämlichen Ermahnungen, die meistens doch sinnlos waren: Lastwagen wurden belehrt, daß Hunde grundsätzlich an der Leine zu führen seien, Großmüttern erzählte der alte Schwätzer, sie dürften nie vergessen, vor dem Abbiegen in den Rückspiegel zu sehen, während kleine Kinder sich anhören mußten, daß die Geschwindigkeitsbeschränkung unbedingt einzuhalten sei. Einmal wollte ich schon umziehen, aber das andere Zimmer war noch ungünstiger – gleich zwei von diesen Dingern in unmittelbarer Nähe!« Paul stellte erleichtert fest, daß Harold zu sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt war, um Zeit und Lust zu haben, sich danach zu erkundigen, weswegen man Paul ins Gefängnis eingeliefert hatte. Paul befand sich im Augenblick in einer Art Zwickmühle. Die Manager und Ingenieure waren immer noch der festen Überzeugung, daß er nach wie vor zu ihnen gehöre, während die Geisterhemden mit der gleichen Berechtigung das Gegenteil annehmen konnten. Und beide hatten ihm klar zu verstehen gegeben, daß er sich entweder für oder gegen sie stellen müsse – mit sämtlichen Konsequenzen, die sich daraus für alle Beteiligten ergeben mochten. Als die Polizisten Paul zum erstenmal verhört hatten, waren sie wegen seines I.Q. und seiner Stellung
in der Hierarchie der Verbrecher beinahe sprachlos gewesen: der Erzverbrecher, der Staatsfeind Nummer eins, der ungekrönte König aller Saboteure saß leibhaftig vor ihnen. Innerhalb der gesamten Stadtpolizei von Ilium gab es keinen Beamten, der auch nur einen annähernd gleichhohen I.Q. gehabt hätte, deshalb hatte man ihn schon bald wieder in seine Zelle zurückgeschickt, ohne ihn weiter mit Fragen zu belästigen. Paul saß jetzt schon zwei Tage lang dort und wartete, bis die hohen Polizeioffiziere eingetroffen waren, die ihn ausführlich verhören würden. In der Zwischenzeit vertrieb er sich die Zeit damit, Harold in die Geheimnisse des Spiels mit den fünfzehn Zündhölzern einzuweihen. Das hatte allerdings einen Nachteil, denn der Neger war schon nach kurzer Zeit wesentlich besser als Paul, der ihm bereits über zwanzig Dollar schuldete. »Es tut mir überhaupt nicht leid«, wiederholte Harold gerade zum hundertsten Mal. »Pst, wer klopft denn da an die Wand?« Sie schwiegen beide. Das Geräusch kam aus der Zelle nebenan in der Schwerverbrecher untergebracht waren. Paul klopfte versuchsweise ebenfalls an die Wand seiner Zelle. »Dreiundzwanzig ... fünf ... achtzehn«, lautete die Antwort. Paul erkannte, daß der andere sich des einfachen Systems bediente, das unter Schülern üblich war: einmaliges Klopfen für A, zweimal für B ... ›Dreiundzwanzig ... fünf ... achtzehn‹ bedeutete ›Wer?‹ Paul klopfte seinen Namen an die Wand, dann fügte er seinerseits eine Frage hinzu.
»Sieben ... eins ... achtzehn ... zwanzig ... acht.« »Garth!« rief Paul erstaunt aus, bevor er weiterklopfte. »Lassen Sie sich nicht unterkriegen, Fred!« Paul fühlte ein seltsames Gefühl in sich aufsteigen, das er noch nie zuvor in seinem Leben verspürt hatte. Zum erstenmal teilte er ein wirkliches Mißgeschick mit einem anderen menschlichen Wesen. Dieses gemeinsame Schicksal erfüllte ihn mit einer Wärme und Zuneigung für Garth, den nervösen, ängstlichen Mann, wie er sie Anita oder Finnerty oder seinen Eltern gegenüber nie empfunden hatte. Vor allem wollte er sich Gewißheit darüber verschaffen, weswegen man Garth ins Gefängnis gesteckt hatte. »Sie haben die Eiche ruiniert?« »Stimmt«, antwortete Garth. »Warum?« »Junge ist wieder durchgefallen«, gab Garth zurück. »Tut mir leid.« »Nutzloser Ballast. Wertlos.« »Nein, das nicht«, klopfte Paul zurück. »Aber nur Gott kann Baum machen«, fuhr Garth nach einer kurzen Pause fort. »Fetischisten haben Glück. Haben Erde für sich«, stimmte Paul zu. »Wir sind auch überflüssig. Feinde des Fortschritts. Saboteure.« »Warum alles? Was jetzt?« klopfte Paul, der auf Garths Bericht neugierig war. Garth schilderte, wie es ihm ergangen war, nachdem er als der Verbrecher entlarvt worden war, der die Eiche beschädigt hatte. Man hatte ihn in einem Geräteschuppen eingesperrt, wo er von etlichen jun-
gen Ingenieuren und Managern bewacht worden war. Sie hatten ihm immer wieder versichert, daß man es ihm jetzt wirklich besorgen werde – eine hohe Zuchthausstrafe und Beschlagnahme seines gesamten Vermögens sei ihm sicher, wenn er nicht sogar noch härter bestraft werde ... Als die Polizei auf The Meadows eingetroffen war, hatten sich die Beamten von der allgemeinen Hysterie der anderen anstecken lassen und Garth behandelt, als sei er in der Tat der gefährlichste Verbrecher der Vereinigten Staaten. »Erst als sie mich hier eingesperrt hatten, wachten sie endlich auf«, klopfte er. Paul, der selbst über dieses unglaubliche Verbrechen entsetzt gewesen war, wunderte sich, wie es zu dieser plötzlichen Wendung gekommen sein mochte. »Was soll das heißen?« klopfte er zurück. »Ha!« antwortete Garth. »Was habe ich verbrochen?« Paul lachte erstaunt. »Mord an einem Baum?« »Kaum, höchstens Mordversuch«, gab Garth zurück. »Die Eiche lebt noch, wird aber keine Eicheln mehr tragen.« »Proteus!« schallte es aus dem Lautsprecher an der Decke der Zelle. »Besuch für Sie! Bleiben Sie in der Zelle, Harold. Verstanden? Kommen Sie, Proteus.« Der elektrische Türöffner summte, dann schwang die Tür lautlos auf. Paul ging den langen Gang hinunter, bis er vor der grünen Tür zu dem Zimmer für Besucher stand. Auch sie öffnete sich vor ihm und Paul stand seinen Besuchern gegenüber: Kroner und Anita. Sie waren beide in schwarzer Kleidung erschienen, als ob sie dadurch andeuten wollten, wie nahe ihnen
Pauls trauriges Schicksal gehe, das er schließlich auch ihretwegen zu erleiden gehabt hatte. Ernst und ohne dabei ein Wort zu sagen, überreichte Anita ihm eine Schachtel, in der sich ein Behälter mit Milch und ein paar Illustrierte befanden. Dann hob sie einen Augenblick ihren dichten Schleier und hauchte einen Kuß auf seine Wange. »Paul, mein Junge«, polterte Kroner. »Sie haben eine harte, schreckliche Zeit hinter sich, nicht wahr? Sie können sich gar nicht vorstellen, wie ich Sie bedauert habe! Wie geht es Ihnen, mein Sohn?« Paul behielt die rechte Hand in der Hosentasche, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, Kroners ausgestreckte Rechte schütteln zu müssen. »Danke, Sir. Mir geht es ausgezeichnet.« »Herzlichen Glückwunsch, Paul, mein Liebling«, mischte sich Anita unsicher ein. »Wofür?« »Sie weiß alles, mein Junge«, erklärte Kroner ihm. »Sie weiß, daß Sie ein Geheimagent sind, der von uns einen Spezialauftrag auszuführen hatte.« »Und ich bin schrecklich stolz auf dich.« »Wann werde ich entlassen?« »Auf der Stelle. Das heißt, nachdem wir alles aufgezeichnet haben, was Sie über die Geisterhemden in Erfahrung gebracht haben – wer sie sind, was sie vorhaben, wie sie arbeiten, wer sie anführt.« Kroner lächelte wohlwollend. »Es wird nicht lange dauern, dann sind Sie wieder ein freier Mann, Paul. Frei und völlig rehabilitiert!« »Unser Heim wartet auf dich, Paul«, sagte Anita. »Ich habe dem Mädchen freigegeben, damit wir den Abend für uns allein haben.«
Paul konnte sich gut vorstellen, wie sie alles dafür vorbereitet hatte – ein paar Tropfen ihres Parfüms auf den Filter des Staubfängers, zwei Steaks aus der Tiefkühltruhe in den Radarherd, die Martinis auf dem Tischchen neben dem Kamin, der automatisch angezündet werden würde, wenn sie das Wohnzimmer betraten, das Familiensilber und die alten Leuchter auf dem Eßzimmertisch, die Burgunderflasche bereits entkorkt neben seinem Platz, zehn Kammermusikplatten auf dem Plattenspieler, sein Sessel ... Doch, es klang sehr verlockend, aber trotzdem überlegte er sich sorgfältig, ob er ihr Angebot annehmen sollte. Anita erriet anscheinend, daß er darüber nachdachte, und ihr Lächeln, das sie bisher zur Schau getragen hatte, erstarb plötzlich. Kroner wandte sich an Paul. »Na, mein Junge, Sie haben den Kerlen ja einen wunderbaren Brief geliefert. Klang einfach erstklassig, bis man ihn zu verstehen versuchte.« »Haben Sie nicht begriffen, was die Geisterhemden damit sagen wollten?« Kroner schüttelte erstaunt den Kopf. »Nein natürlich nicht. Worte, leere Worte.« »Aber du hast damit etwas erreicht, was du dir nie hättest träumen lassen«, warf Anita ein. »Darf ich es ihm schon sagen – mit der neuen Stellung?« »Ja, Paul«, fuhr Kroner fort, »die Abteilung Ost braucht einen neuen Chefingenieur.« »Und du bist der neue Mann, Liebling!« fügte Anita erklärend hinzu. »Chefingenieur?« fragte Paul überrascht. »Was ist denn mit Baer passiert? Er ist doch nicht etwa gestorben?«
»Nein«, antwortete Kroner bekümmert, »nein, er lebt noch – wenigstens physisch gesehen.« Er baute ein Tonbandgerät und ein Mikrophon auf dem Tisch auf, dann schob er noch einen Stuhl davor, damit Paul es möglichst bequem haben sollte. »Der arme Baer war immer leicht beeinflußbar, das wissen Sie ja selbst auch.« Er schloß das Mikrophon an. »So, jetzt können wir anfangen, mein Junge.« »Was ist mit Baer?« wiederholte Paul. »Oh«, seufzte Kroner, »er hat den verrückten Brief gelesen und ist dabei anscheinend auf komische Gedanken gekommen. Jedenfalls hat er seinen Schreibtisch aufgeräumt und ist davongegangen.« Er lächelte gekünstelt. »Nehmen Sie doch auf dem Stuhl Platz, mein Junge.« Dann war der Brief also doch so gut gewesen dachte Paul erstaunt, daß er wenigstens im Leben eines wichtigen Mannes eine entscheidende Rolle gespielt hatte. »Worin besteht die offizielle Reaktion auf den Brief?« fragte er Kroner. »Er wurde sofort zur Geheimsache erklärt«, antwortete Kroner, »dadurch wird verhindert, daß ihn noch mehr Leute zu Gesicht bekommen. Jeder Versuch, ihn weiterzugeben wird in Zukunft als Geheimnisverrat bestraft werden. Machen Sie sich deswegen nur keine Sorgen, mein Junge.« »Aber der Brief wird doch beantwortet werden, nicht wahr?« fragte Paul weiter. »Das wäre eine unverzeihliche Dummheit, Paul – damit würden wir öffentlich zugeben, daß es eine Geheimorganisation gibt, die so bedeutend ist, daß sich das System ihretwegen Sorgen macht. Genau das wollen die Kerle doch erreichen! Los, kommen Sie, mein
Junge, damit Sie es bald hinter sich haben, schließlich können Sie ein bißchen Ruhe und Entspannung gut brauchen.« Paul setzte sich gehorsam auf den Stuhl, den Kroner für ihn herangeschoben hatte, und Kroner schaltete das Tonbandgerät ein. Die offizielle Reaktion auf die Geisterhemden glich den Antworten, die das System schon auf viele andere unangenehme Fragen gegeben hatte: das Problem wurde ignoriert und totgeschwiegen, selbst wenn man es als dringend und entscheidend erkannt hatte. »Na, Paul«, meinte Kroner, »dann wollen wir anfangen. Wer ist der Führer dieser komischen Geisterhemden?« Hier stand e r wieder an dem ältesten aller Scheidewege, den er bereits vor einigen Monaten in Kroners Arbeitszimmer vor Augen gehabt hatte. Die Entscheidung, welchen Weg er in diesem Augenblick nehmen sollte, war unbeeinflußt von Dingen, wie Maschinen, Hierarchien, Wirtschaftlichkeit, Liebe, Lebensalter. Jedes Kind, das älter als sechs Jahre war, kannte die beiden Möglichkeiten, die sich Paul jetzt boten, und wußte, was die Guten hier taten – und was die Schlechten hier zu tun pflegten. Es gab unzählige Geschichten darüber die sich in allen möglichen Sprachen mit diesem Problem befaßten, aber immer trennten sich an dieser Stelle die Guten von den Schlechten. Die Schlechten wurden zu Verrätern. Die Guten niemals. Kroner räusperte sich ungeduldig. »Ich habe Sie gefragt, wer der Führer der Geisterhemden sei, Paul.« »Ich bin ihr Führer«, antwortete Paul tonlos. »Und ich wünschte zu Gott, daß ich ein besserer wäre.«
28 »Schwören Sie, die Wahrheit zu sagen, die ganze Wahrheit, und nichts als die Wahrheit, so wahr Ihnen Gott helfe?« fragte der Richter. »Ja, ich schwöre es«, antwortete Paul, der in der grauen Gefängniskleidung blaß und abgehärmt aussah. Die Fernsehkameras von sieben verschiedenen Gesellschaften rollten zurück, um auf fünfzig Millionen Fernsehgeräten eine Gesamtansicht des Gerichtssaales erscheinen zu lassen. Links von Paul saß auf einem erhöhten Podest der Richter. Der Angeklagte, der im Zeugenstand saß, glich weniger einem Menschen als einem altmodischen Schaltpult, denn an seinen Handgelenken, seinen Schläfen seinem Hals und seiner Brust hingen Drähte herab, die zu Instrumenten gehörten, die jede Veränderung seines Blutdruckes, seiner Herztätigkeit und seines Atmens registrieren sollten. Die Drähte liefen in einem grauen Apparat unterhalb des Zeugenstandes zusammen, wo die Meßergebnisse elektronisch ausgewertet und auf die große Anzeigetafel über Pauls Kopf übertragen wurden. Der Zeiger auf der Tafel war so konstruiert, daß er aus seiner senkrechten Ruhestellung entweder auf das rechts angebrachte schwarze W oder auf das linksstehende U weisen konnte, wenn er nicht sogar auf einem der Punkte zwischen den beiden Buchstaben stehenblieb. Paul hatte sich schuldig bekannt, Sabotage befürwortet und unterstützt zu haben, aber jetzt wurde er
wegen Hoch- und Landesverrat angeklagt, nachdem er drei Monate auf die Eröffnung des Prozesses hatte warten müssen. »Dr. Proteus«, begann der Staatsanwalt mit einem bösen Lächeln. Die Fernsehkameras rollten daraufhin wieder auf Paul zu, um den Zuschauern an den Fernsehgeräten Pauls schweißbedeckte Stirn zu zeigen. »Sie haben sich schuldig bekannt, Sabotage unterstützt und befürwortet zu haben, oder irre ich mich da?« »Das ist richtig.« Der Zeiger über Pauls Kopf schwang nach rechts zu dem schwarzen W, dann fiel er wieder in seine Nullstellung zurück. Das hieß also, daß Paul nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit gesagt hatte. »Diese Verschwörung, deren Führer Sie sind, arbeitet nach folgender Methode – ich zitiere hier eine Stelle aus Ihrem berühmt-berüchtigten Brief, Dr. Proteus – ›Wir sind bereit, Gewalt anzuwenden, um dieses Ziel zu erreichen, wenn alle anderen Mittel vergeblich sein sollten.‹ Das sind doch Ihre Worte, nicht wahr?« »Sie wurden von einem anderen geschrieben, aber ich bin mit ihrem Inhalt völlig einverstanden«, sagte Paul fest, während er den Staatsanwalt ansah. »Und das Wort ›Ziel‹ bezieht sich in diesem Zusammenhang auf die Abschaffung der gegenwärtigen automatisierten Wirtschaft?« »Und die der zukünftigen.« »Ihr Ziel war es also, wenn ich Sie recht verstanden habe, die Maschinen zu zerstören, damit die Menschen wieder eine größere Rolle bei der Erzeugung von Gütern aller Art spielen könnten?«
»Einige der Maschinen.« »Welche Maschinen meinen Sie damit, Dr. Proteus?« fragte der Staatsanwalt sofort. »Das wäre noch zu überlegen gewesen.« »Oho! Dann haben Sie sich das wohl noch nicht überlegt? Eigentlich merkwürdig, wie?« »Zunächst wollten wir die Amerikaner davon überzeugen, daß der Anwendungsbereich von Maschinen auf ganz bestimmte Gebiete beschränkt werden müsse.« »Notfalls wollten Sie Ihre Mitbürger mit Gewalt zu dieser Überzeugung bekehren, nicht wahr? Sie wollten also unserem Volk diesen Schritt zurück zu den Anfängen unserer Zivilisation und Kultur aufzwingen?« »Der Mensch unterscheidet sich von den Tieren vor allen Dingen durch seine Begabung, mechanische Arbeiten zu verrichten«, entgegnete Paul. »Gott sei Dank, möchte ich hinzufügen. Und wenn man sich auf dem falschen Weg befindet, ist jeder Schritt zurück ein Schritt in die richtige Richtung.« Die Fernsehkameras sahen tief in die Augen des Staatsanwalts, die vor gerechtem Zorn zu sprühen schienen. Paul blickte ebenfalls zu ihm hinüber und sah, daß der Vertreter der Anklage mehr wußte, als er bisher erwähnt hatte. Aber Paul bezweifelte sehr, daß der Staatsanwalt eine Ahnung davon hatte, daß seine Sekretärin zu den Geisterhemden gehörte, oder daß Pauls Antworten, die der graue Kasten unter ihm als wahr bezeichnet hatte, in Wirklichkeit eine Synthese der Gedanken Lashers, Finnertys und von Neumanns waren.
Paul fühlte sich entspannt und glücklich, weil er nun endlich ein öffentliches Märtyrertum für seine gerechte Sache auf sich nehmen konnte. Er zweifelte genauso wenig wie der Staatsanwalt an der Tatsache, daß es für die Ziele und Absichten der Geisterhemden nur ein passendes Wort gab: Verrat. Die Maschinen und die Arbeit der Regierung waren so sehr voneinander abhängig, daß ein Versuch, die Maschinen zu beseitigen, ohne dabei die Regierung zu gefährden, das gleiche war, als wolle man ein krankes Gehirn entfernen, um den Patienten zu retten. Die einzigen alten Bekannten unter den Zuhörern waren Kroner, der dem Weinen nahe zu sein schien, und der hämisch grinsende Fred Berringer, der anscheinend gekommen war, um zu sehen, wie die Zerstörung von Charly Schach gerächt wurde. Weder Anita noch Shepherd waren zu der Verhandlung erschienen. Wahrscheinlich waren sie beide zu sehr damit beschäftigt, Pläne für Shepherds Karriere zu machen, als daß sie Zeit für mehr als ein kurzes Gedenken für den armen Verirrten gehabt hätten, der sich in dem Stacheldraht auf dem Schlachtfeld des Lebens verfangen hatte. »Diese Anwendung von Gewalt – sehen Sie das nicht als revolutionäre Umtriebe gegen unsere rechtmäßig gewählte Regierung, als Landesverrat an, Dr. Proteus?« fragte der Staatsanwalt scharf. »In den Vereinigten Staaten liegt die Regierungsgewalt beim Volk, das ist in unserer Verfassung ausdrücklich festgelegt«, führte Paul aus, »und das Volk kann jederzeit verlangen, daß sie ihm von den Maschinen wiedergegeben wird, die sie sich widerrechtlich angeeignet haben. Die Maschinen haben die Kom-
petenzen weit überschritten, die ihnen das Volk ursprünglich zugunsten einer besseren Regierung eingeräumt hatte. Maschinen und Organisation und Wirtschaftlichkeit – diese drei Abgötter unserer modernen Gesellschaft – haben das amerikanische Volk um seine Freiheit und seine innere Zufriedenheit gebracht.« Paul verdrehte seinen Hals, um zu sehen, was der Zeiger andeuten würde. Er wies auf W. »Der Angeklagte sieht sich in Zukunft nicht mehr nach dem Zeiger um«, sagte der Richter ernst, »denn seine einzige Aufgabe in diesem Verfahren besteht darin, die Wahrheit zu sagen nicht aber zu kontrollieren, was der Lügendetektor von seinen Behauptungen hält.« Der Staatsanwalt kehrte Paul einen Augenblick den Rücken zu als habe er keine Frage mehr zu stellen, aber dann wandte er sich plötzlich wieder um, während er anklagend auf Paul wies. »Sie sind ein Patriot, nicht wahr, Dr. Proteus?« »Ich versuche einer zu sein.« »Sie bemühen sich aufrichtig, dem amerikanischen Volk zu dienen?« »Ja.« Paul war über diese neuen Fragen verblüfft, auf die er nicht vorbereitet gewesen war. »Dann haben Sie also die Rolle des Führers der Geisterhemden hauptsächlich aus einem Grund übernommen – um Gutes tun zu können?« »Ja, das stimmt«, antwortete Paul. Die plötzliche Erregung unter den Zuhörern ließ Paul vermuten daß der Zeiger des Lügendetektors nach links gewiesen haben mußte. Der Richter klopfte streng auf den Tisch. »Ich darf die Zuhörer bitten, Ruhe zu bewahren, sonst muß ich
den Saal räumen lassen. Herr Gerichtsingenieur, wollen Sie bitte das Gerät überprüfen.« Der Ingenieur rollte ein Röhrenmeßgerät zu Paul hinüber, dann untersuchte er die Verbindungen zwischen Paul und dem Lügendetektor. Mit einem Meßgerät, das er an verschiedenen Stellen der Leitungen anklemmte, kontrollierte er Widerstand und Stromstärke sämtlicher Drähte. Als nächstes prüfte er die Röhren, stellte fest daß sie einwandfrei funktionierten, und richtete sich wieder auf. »Alles in bester Ordnung, Euer Ehren«, sagte er dann. »Ich darf den Angeklagten bitten einen Satz zu sagen, den er als Lüge betrachten würde«, fuhr der Richter fort. »Jeder wissenschaftliche Fortschritt ist ein Segen für die Menschheit«, sagte Paul. »Euer Ehren, ich muß schärfstens dagegen protestieren, daß es dem Angeklagten gestattet werden soll, derartige Behauptungen aufzustellen, die geeignet sind ...«, warf der Staatsanwalt erregt ein. »Der Herr Staatsanwalt täte gut daran, sich zu erinnern, daß dergleichen Äußerungen, die notwendig sind, um das Gerät zu testen, nicht protokolliert werden«, unterbrach ihn der Richter ungeduldig. »Der Zeiger hat ganz richtig nach links ausgeschlagen«, bestätigte der Ingenieur. »Jetzt eine Wahrheit«, sagte der Richter. »Die Hauptaufgabe des Menschen besteht darin, ein menschliches Wesen zu sein, nicht aber, als Sklave von Maschinen, Einrichtungen und Systemen zu vegetieren.« »Wieder richtig, der Zeiger war bei W«, meinte der Ingenieur zufrieden.
»Und jetzt noch eine Halbwahrheit«, verlangte der Richter. »Ich bin zufrieden«, sagte Paul. Die Zuhörer kicherten anerkennend. »Genau in der Mitte«, erklärte der Ingenieur. »Fahren Sie mit dem Verhör des Angeklagten fort«, ordnete der Richter an. »Ich werde dem Herrn Doktor, der doch ein so guter Patriot ist, noch einmal die gleiche Frage stellen«, sagte der Staatsanwalt. »Dr. Proteus, Sie haben sich also nur an dieser Verschwörung gegen die – äh – Maschinen beteiligt, weil Sie den Wunsch hatten, Ihrem Volk damit einen Dienst zu erweisen? War das wirklich der einzige Grund dafür?« »Ich glaube, daß es der einzige war.« Wieder die Erregung unter den Zuhörern. »So, Sie glauben es, was?« fuhr der Staatsanwalt fort, wobei er böse lächelte. »Wissen Sie, worauf der Zeiger eben gewiesen hat, Sie großer Patriot?« »Nein«, erwiderte Paul unbehaglich. »Genau zwischen W und U, Dr. Proteus! Offenbar wissen Sie die Antwort auf meine Frage nicht genau. Vielleicht können wir gemeinsam diese Halbwahrheit sezieren.« »Hmm.« »Wäre es nicht möglich, Dr. Proteus, daß dieser Haß gegen die angebliche Ungerechtigkeit den Menschen gegenüber in Wirklichkeit ein Haß ist, der sich gegen etwas wesentlich weniger Abstraktes richtet?« »Ja, das ist möglich, aber ich verstehe nicht ganz, wie Sie das meinen.« »Ich spreche von Ihrem Haß gegen jemand, Dr. Proteus!«
»Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen.« »Der Zeiger sagt, daß Sie es sehr genau wissen, Dr. Proteus – daß Sie wissen, daß Ihr Patriotismus in Wirklichkeit ein Ausdruck des Hasses und der Verbitterung ist – Haß und Verbitterung, die Sie bei dem Gedanken an einen der größten Patrioten in der Geschichte unseres Vaterlandes empfinden – Ihren Vater!« »Unsinn!« »Der Zeiger beweist, daß Sie lügen!« Der Staatsanwalt sah mit gut gespieltem Abscheu zu Paul hinüber, bevor er sich an die Geschworenenbank wandte. »Meine Damen und Herren, ich behaupte, daß dieser Mann hier vor Ihnen im Grunde genommen nichts anderes als ein boshafter kleiner Junge ist, für den unser großartiges Land, unsere großartige Wirtschaft, unsere großartige Zivilisation zu einem Symbol für seinen Vater geworden ist! Für einen Vater, den er in seinem Unterbewußtsein am liebsten vernichtet hätte! Ein Vater, meine Damen und Herren, dem wir alle in gewisser Hinsicht unser Leben und unsere Freiheit verdanken, denn er war es vor allem, der unsere Industrie zu den Leistungen anspornte durch die unsere großartige Zivilisation über ihre Gegner triumphieren konnte! Aber dieser Junge zog es vor, seinen Vater zu hassen, der ihm immer ein Freund gewesen war. Er haßte diesen Mann, der zu den brillantesten Wissenschaftlern gehörte, die wir je besessen haben. Und jetzt, als Erwachsener, überträgt er diesen Haß auf etwas was sehr wohl als Symbol für seinen Vater gelten könnte – Ihr großartiges Land, meine Damen und Herren, und meines.
Sie können es Ödipuskomplex nennen, wenn Sie wollen. Er ist jetzt erwachsen, deshalb nenne ich es Verrat! Bestreiten Sie es, Dr. Proteus, leugnen Sie es ab?« Die Fernsehkameras machten kehrt, um sich wieder um Paul zu versammeln, als seien sie eine Meute Jagdhunde, die einen verwundeten Bären stellten. »Offenbar kann ich es nicht abstreiten«, sagte Paul. Er sah auf die Drähte hinab, die ihn mit dem Lügendetektor verbanden als frage er sich, warum sie jeden Reflex übertrugen, den ihm Gott gegeben, damit er sich damit verteidige. Vor einigen Minuten war er noch das Sprachrohr einer mächtigen, gerechten Verschwörung gewesen, aber jetzt war er plötzlich allein, stand einem Problem gegenüber, das nur ihn betraf. »Wenn mein Vater Hundezüchter gewesen wäre«, fuhr er schließlich fort, »wäre ich vermutlich unbewußt zu einem Hundevergifter geworden.« Die Fernsehkameras rollten ungeduldig vor und zurück, beobachteten einzelne Zuschauer, richteten sich kurz auf die Geschworenen, nahmen den Richter und den Staatsanwalt aufs Korn, kehrten wieder zu Paul zurück. »Aber selbst wenn ich nicht diese unguten Erinnerungen an meinen Vater hätte, selbst wenn ich ihn lieben und verehren würde, glaube ich, daß ich die Argumente gegen die Maschinen für richtig halten würde. Ich weiß, daß es Menschen gibt, die unseren Kampf unterstützen, ohne ihre Väter zu hassen. Ich glaube, daß dieser Haß in mir nur den Wunsch verstärkt hat, etwas gegen das bestehende System zu tun, anstatt nur der Auffassung zu sein, daß etwas geschehen müsse. Weist der Zeiger auf W?«
Einige Zuhörer nickten. »Gut. Ich vermute, daß beinahe jeder von uns sich gelegentlich von reichlich unklaren und sogar verdammenswerten Gründen leiten läßt, selbst wenn er damit nur Gutes erreichen will. Wir sind schließlich alle nur Menschen, die nichts für ihre Fehler und Schwächen können. Der Herr Staatsanwalt hat das zu beweisen versucht, was heutzutage jeder vermutet und was die Geisterhemden zu widerlegen versuchen: daß ich nichts wert bin, daß Sie alle nichts wert sind, daß wir nichts taugen, weil wir Menschen sind.« Paul warf einen Blick in die Linsen der Fernsehkameras und versuchte, sich die Millionen vorzustellen, die ihm jetzt zusahen und zuhörten, dann fragte er sich, ob sie ihn wohl verstanden hatten. Er suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, mit denen er allen klarmachen konnte, was er meinte. Schließlich fand er einen Vergleich. »Die schönsten Sonnenblumen, die ich je gesehen habe«, begann er, »wuchsen auf einem Misthaufen. Ich ...« Dudelsäcke und Trommeln klangen von der Straße vor dem Gerichtsgebäude herein. »Was geht dort vor sich?« fragte der Richter aufgebracht. »Eine Parade, Sir«, antwortete ein Polizist, der sich aus dem Fenster gelehnt hatte. »Was für ein Verein ist das?« wollte der Richter wissen. »Ich werde die ganze Bande wegen Mißachtung des Gerichts verhaften lassen!« »Die meisten tragen Kilts, Sir«, sagte der Polizist, »und in der ersten Reihe marschieren ein paar Kerle, die Indianerkostüme tragen.«
»So?« meinte der Richter wütend. »Wir werden das Verhör unterbrechen, bis sie vorbei sind.« Ein Ziegelstein zertrümmerte eines der Fenster, so daß die amerikanische Flagge zur Rechten des Richters von Glassplittern überschüttet wurde.
29 Die schwere Limousine des Außenministeriums fuhr auf dem Rückweg nach New York nochmals über die Brücke bei Ilium, die den Iroquis überspannte. Auf dem Rücksitz befanden sich Mr. Ewing J. Halyard, der Schah von Bratpuhr und Khashdrahr Miasma. Die beiden Besucher befanden sich auf der Rückreise i n ihre Heimat, nachdem ihr Heimweh nach dem Klang der silbernen Tempelglocken, dem Plätschern der Brunnen in den Palasthöfen und dem Vogelgezwitscher in den weitläufigen Parks fast unerträglich geworden war. Als sie den Fluß auf der ersten Etappe ihrer Besichtigungsreise überquert hatten, waren Halyard und der Schah einander noch völlig ebenbürtig gewesen, was den Glanz ihrer Stellung anbetraf, denn beide nahmen damals noch hervorragende Positionen in der Hierarchie ihrer jeweiligen Kulturen ein, während Khashdrahr bescheiden hinter ihnen zurückstehen mußte. Unterdessen hatte sich diese Reihenfolge der drei Reisenden grundlegend geändert. Khashdrahr hatte eine neue Aufgabe übernommen, die daraus bestand nicht nur als Sprachmittler zwischen dem Schah und Halyard tätig zu sein, sondern auch die Kluft zu überbrücken, die sich plötzlich zwischen den beiden in gesellschaftlicher Hinsicht gebildet hatte. Halyard hatte zu seinem Bedauern feststellen müssen, daß er nunmehr als Mr. Halyard keinen Rang mehr besaß. Obwohl er seinen Schützlingen gegenüber nichts von der Prüfung erwähnt hatte, von deren Bestehen seine weitere Karriere abhing, hatten sie die Veränderung in seiner Stellung in dem Augen-
blick bemerkt, als man Halyard aus der Turnhalle der Universität herausgetragen und mit kaltem Wasser wieder zu Bewußtsein gebracht hatte. Als Halyard dann später seine zerfetzten Tennisschuhe und seinen zerrissenen Trainingsanzug mit Straßenschuhen und einem Zweireiher vertauscht hatte, war es ihm nach einem Blick in den Spiegel wie Schuppen von den Augen gefallen, daß er nicht wie ein eleganter Kosmopolit, sondern wie ein aufgeputzter Narr aussah. Er hatte sich die Schleife vom Hals gerissen, die Brokatweste ausgezogen, das farbige Hemd abgelegt. So war es weitergegangen, bis schließlich nichts mehr an den Weltmann erinnerte, den er einst darzustellen geglaubt hatte. Vor einigen Tagen hatte ihn ein weiterer Schicksalsschlag erreicht. Die Personalmaschinen des Außenministeriums hatten automatisch eine Klage wegen Betruges gegen Halyard eingereicht da er nie zum Führen eines akademischen Titels berechtigt gewesen war wodurch sich ergab, daß er seine Klassifikationsnummer und – das schien der Hauptpunkt zu sein – seinen Gehaltsscheck unter falschen Voraussetzungen erhalten hatte. »Ich werde die Sache für Sie durchzufechten versuchen«, hatte in einem Brief gestanden, dem ihm einer seiner Vorgesetzten geschrieben hatte, aber Halyard wußte nur zu gut, daß dieser altmodische Ausdruck nichts mehr als ein mißlungener Versuch war, ihn darüber hinwegzutrösten, daß ihm in dieser Wildnis aus Metall Glas und Plastik niemand behilflich sein konnte. »Khabu?« fragte der Schah, ohne dabei Halyard anzusehen.
»Wo befinden wir uns im Augenblick?« übersetzte Khashdrahr. »Ilium. Erinnern Sie sich noch? Wir haben die Brücke auf dem Hinweg bereits einmal benützt.« »Nakka Takaru toiee«, nickte der Schah. »Wie?« »Hier hat Sie der Takaru angespuckt«, sagte Khashdrahr. »Oh – das meinen Sie.« Halyard lächelte. »Ich hoffe sehr, daß das nicht Ihr Haupteindruck von Ihrer Reise durch die Vereinigten Staaten gewesen ist. Sie dürfen auf keinen Fall daraus auf die Stimmung des amerikanischen Volkes gegenüber seiner Regierung schließen. Dieser eine Neurotiker wollte sich wahrscheinlich nur vor Leuten aufspielen, die er als Ausländer erkannt hatte. Glauben Sie mir, Sie könnten noch hundert Jahre in Amerika umherreisen, bevor Sie einen zweiten derartigen Zwischenfall erleben würden.« Halyard gab sich große Mühe, seine Resignation und Verbitterung nicht zu zeigen, da er seinen Auftrag bis zur letzten Minute seiner Karriere tadellos erfüllen wollte. »Denken Sie nicht mehr an diesen Kerl«, fuhr er fort, »sondern erinnern Sie sich lieber an all die großartigen Dinge, die Sie auf Ihrer Reise gesehen haben und die vielleicht auch Ihnen helfen könnten, Ihr Land und Ihr Volk auf der Straße des Fortschritts weiterzuführen.« Der Schah lächelte nachdenklich. »Ohne einen einzigen Cent Unkosten für Sie, das versteht sich von selbst«, sagte Halyard. »Die Vereinigten Staaten sind bereit, Ihnen Ingenieure und Manager zu schicken, die auf sämtlichen Gebieten au-
ßergewöhnlich große Erfahrungen gesammelt haben. Diese Leute wären in der Lage, die Bodenschätze Ihres Landes zu registrieren, die Pläne für eine grundlegende Modernisierung zu entwerfen, sie in Gang zu bringen, die Bewohner Ihres Landes zu testen und zu klassifizieren, die Möglichkeiten zur Kreditgewährung durch uns zu untersuchen, die Maschinen zu installieren.« Der Schah schüttelte verwundert den Kopf. »Prakka-fut an takki sihn«, meinte er schließlich, »souli, sakki EPICAC, no sikki Kanu pu?« »Der Schah sagt«, übersetzte Khashdrahr lächelnd, »bevor wir diesen ersten Schritt tun, würden Sie bitte EPICAC fragen, wozu die Menschen da sind?« Die Limousine wurde kurz vor dem Ende der Brücke von einem Haufen Männer angehalten, die aus der Siedlung kamen. Diesmal handelte es sich allerdings nicht um Arbeiter des K.I.W., die ihnen den Weg versperrten, sondern um eine Phalanx, die aus Männern in arabischen Kostümen bestand. Seltsamerweise wurden sie von zwei Indianern in voller Kriegsbemalung angeführt. »Dinko?« fragte der Schah. »Armee?« übersetzte Khashdrahr. Halyard lachte zum erstenmal seit einigen Wochen wieder einmal aus vollem Herzen. Wie konnte man nur diese Ansammlung von Bannern, Kostümen und Spielzeugdolchen für einen Teil der schlagkräftigsten Armee der Welt halten! »Nein, das sind nur ein paar harmlose Leutchen, die sich aus Spaß ein bißchen verkleidet haben«, erklärte er. »Einige haben Gewehre«, meinte Khashdrahr. »Holz, Pappe und Farbe«, sagte Halyard, »alles nur
eine Illusion.« Er nahm das Mikrophon in die Hand, um mit dem Chauffeur zu sprechen.: »Versuchen Sie, ob Sie an ihnen vorbeifahren können. Am besten biegen Sie dann gleich rechts ab. In der Nähe des Gerichtsgebäudes wird es vermutlich etwas ruhiger zugehen.« »Jawohl, Sir«, gab der Fahrer unruhig zurück, »ich weiß nicht recht, Sir. Die Leute sehen uns alle so komisch an, das gefällt mir nicht. Vielleicht sollten wir doch lieber umkehren und.« »Unsinn! Verschließen Sie die Türen und die Fenster, damit keiner hereinkann – und dann los! Es wäre ja noch schöner, wenn diese Idioten da draußen uns mit ihrem albernen Umzug aufhalten könnten!« Die kugelsicheren Fenster schlossen sich, die Türen wurden elektrisch verriegelt, dann setzte sich die Limousine langsam wieder in Bewegung und drängte sich in die ersten Reihen der Kostümierten. Dolche wurden geschwungen, blitzende Krummschwerter erhoben sich drohend, während die Araber empörte Schreie ausstießen. Dann krachten plötzlich zwei Schüsse, die nur wenige Zentimeter von Halyards Kopf entfernt an der Panzerglasscheibe abprallten. Halyard, der Schah und Khashdrahr warfen sich auf den Boden der Limousine. Der Motor heulte auf, dann schoß der Wagen um die nächste Straßenecke. »Fahren Sie zum Gerichtsgebäude!« rief Halyard dem Chauffeur zu. »Vielleicht können Sie von dort aus den Westinghouse Boulevard erreichen!« »Der Teufel soll Sie holen!« gab der Fahrer zurück. »Ich haue gleich hier ab. Die ganze Stadt ist anscheinend verrückt geworden!«
»Bleiben Sie am Steuer, sonst bringe ich Sie um!« drohte Khashdrahr, der den heiligen Leib des Schahs mit seinem eigenen zu schützen versuchte. Er setzte dem Fahrer die Spitze seines goldenen Dolches in den Nacken. Khashdrahrs nächste Worte gingen in dem Lärm einer Explosion unter, der lautes Hurrageschrei und ein Regen von Trümmern auf das Dach der Limousine folgten. »Dort drüben ist das Gerichtsgebäude!« sagte der Fahrer aufgeregt. »Gut. Biegen Sie nach links ab!« befahl Halyard. »Mein Gott!« rief der Fahrer aus. »Sehen Sie doch!« »Was ist denn los?« fragte Halyard, der immer noch zusammen mit dem Schah und Khashdrahr auf dem Boden der Limousine hockte. Er sah nur den Himmel, die Dächer der umliegenden Gebäude und dunkle Rauchfetzen, die vom Wind nach oben getrieben und verteilt wurden. »Die Schotten«, antwortete der Fahrer düster. »Mein Gott, jetzt kommen die Schotten.« Der Wagen hielt mit kreischenden Bremsen an. »Fahren Sie ein Stück rückwärts und ...« »Haben Sie vielleicht Radar dort unten auf dem Boden? Warum werfen Sie nicht einmal selbst einen Blick aus dem Rückfenster, bevor Sie mir sagen, daß ich rückwärts fahren soll?« Halyard hob vorsichtig den Kopf, bis er aus dem Fenster sehen konnte. Vor dem Wagen drängten sich die Schotten, und hinter ihnen erschien ein Zug der Royal Parmesans, die aus einem Automatenladen strömten, der dem Gerichtsgebäude gegenüberlag. Eine zweite Explosion schleuderte Bruchstücke von
Maschinen und Konservendosen durch die Schaufenster auf die Straße. Eine der automatischen Registrierkassen rollte auf den Bürgersteig hinaus. »Haben Sie schon unser Sonderangebot in Express-Kaffee gesehen?« fragte sie, dann stürzte sie über den Randstein und zerbarst neben der Limousine, wobei ein Strom von Kleingeld aus ihrem Innern floß. »Sie sind gar nicht hinter uns her!« rief der Chauffeur. »Sehen Sie nur Sir!« Die Royal Parmesans, die Schotten und einige Indianer hatten sich vor dem Gerichtsgebäude versammelt, gegen dessen Tor sie mit einem umgestürzten Telegraphenmast vorgingen, den sie als Ramme benützten. Das Tor zersplitterte, und die Männer wurden von ihrem eigenen Schwung mitgerissen. Einige Augenblicke später kamen sie mit einem Mann auf ihren Schultern wieder auf die Straße heraus. Inmitten ihres frenetischen Jubels wirkte er wie eine Marionette. Dieser Eindruck wurde noch durch die Drähte verstärkt, die an ihm herunterhingen. Die Menge, die ihren Helden stolz voraustrug, folgte den Indianern zu der Brücke über den Iroquis. Die Limousine blieb dort stellen, wo sie von den Schotten, den Royal Parmesans und den Indianern aufgehalten worden war, bis eine Stunde später die Sonne verschwunden war. Die ganze Zeit über hatten immer wieder neue Explosionen die Luft erschüttert, als habe eine Horde betrunkener Giganten beschlossen, die Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Halyard hatte von Zeit zu Zeit vorsichtig den Kopf gehoben, wenn es einen Augenblick ruhiger geworden zu sein schien, um festzustellen, ob jetzt eine Flucht
möglich sei, aber jedesmal tauchten wieder andere Vandalenhaufen in der Nähe auf. »Vielleicht können wir es jetzt versuchen«, meinte er schließlich. »Fahren Sie zum Polizeirevier. Dort können wir in Ruhe abwarten, bis die ganze Sache vorüber ist.« Der Fahrer lehnte sich auf das Steuerrad und grinste unverschämt. »Glauben Sie denn etwa, daß das hier zum Spaß war? Sie wollen mir doch nicht erzählen, daß alles so wie früher weitergehen wird?« »Ich weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat. Sie auch nicht. Fallren Sie jetzt zum Revier, haben Sie verstanden?« rief Halyard wütend. »Sie denken wohl, daß Sie mich herumkommandieren können nur weil Sie studiert haben?« »Fahren Sie, Mann«, zischte Khashdrahr und setzte ihm den Dolch in den Nacken. Die Limousine rollte langsam durch die verlassenen Straßen, die mit Trümmern übersät waren. Der Asphalt vor dem Polizeirevier war mit einer schneeweißen Schicht Papier bedeckt: den Überresten des Spiels aus fünfzigtausend Karten, mit dem sich die Personalmaschinen unermüdlich beschäftigt hatten – mischen, austeilen, zinken, markieren, lesen und jede Karte genau kontrollieren. Die Tore des Gebäudes hingen schief in ihren Angeln, und die Böden waren knietief mit zerrissenem Papier und zerplatzten Aktenordnern bedeckt. Halyard öffnete sein Fenster einige Zentimeter weit. »Hallo«, rief er, als erwarte er, daß ein Polizist erscheine. »Hallo!« Dann öffnete er vorsichtig die Tür. Bevor er sie wieder schließen konnte, hatten zwei mit Pistolen bewaffnete Indianer sie aufgerissen.
Khashdrahr warf sich mit seinem Dolch auf sie und wurde von einem der Indianer mit einem gutgezielten Haken außer Gefecht gesetzt. Er stolperte und fiel auf den Schah. »He«, sagte Halyard, dann wurde er ebenfalls k.o. geschlagen. »Zu den Werken!« befahlen die Indianer. Als Halyard wieder zu Bewußtsein kam, brummte sein Kopf wie ein Bienenstock. Er öffnete langsam die Augen und stellte fest daß er auf dem Rücksitz der Limousine lag, während seine Beine aus der Tür hinausragten. Der Wagen stand vor einer kleinen Bar in der Nähe der Brücke. Der Eingang war mit Sandsäcken verbarrikadiert worden hinter denen ein Araber Wache hielt. In der Bar selbst saßen Männer an Funkgeräten, bewegten farbige Nadeln auf einer riesigen Karte, die an der Wand hing, ölten ihre Waffen, sahen nervös auf die Uhr. Mitten auf der Brücke war eine Straßensperre aus umgestürzten Autos und Sandsäcken errichtet worden, hinter der einige Männer die Befestigungsanlagen der Ilium-Werke beobachteten. Andere, die alle möglichen Arten von Uniformen und Verkleidungen trugen, kamen und gingen. Die beiden Indianer und der Chauffeur waren verschwunden, während Khashdrahr und der Schah, die beide verwirrt und ängstlich dreinschauten, von einem großen Mann angebrüllt wurden, der zwar ein Indianerhemd, aber keine Kriegsbemalung trug. »Verflucht noch mal!« rief der Lange. »Die Ritter von Kandahar sollen doch die Straßensperre am Griffin Boulevard besetzt halten! Zum Teufel, was sucht
ihr Kerle dann hier? Ich werde euch auf die Beine helfen!« »Wir ...«, begann Khashdrahr. »Ich habe keine Zeit, um mir eure Entschuldigungen anzuhören. Verschwindet schleunigst zu eurem Verein und laßt euch hier nicht wieder blicken! Verstanden?« »Aber ...«, protestierte Khashdrahr. »Lubbock!« rief der große Mann. »Jawohl, Sir?« »Lubbock, Sie sind mir dafür verantwortlich, daß die beiden Kerle hier auf dem schnellsten Weg wieder zu der Straßensperre am Griffin Boulevard zurückgebracht werden. Wenn sie sich weigern sind sie wegen Befehlsverweigerung zu verhaften!« »Jawohl, Sir. Der nächste Munitionstransport dorthin geht in einer Minute ab, Sir.« Lubbock schob Khashdrahr und den Schah auf die Ladefläche eines Lastwagens, der mit selbstgefertigten Handgranaten beladen war, und knallte die Klappe hinter ihnen zu. »Brouha barouli, nibo. Nibo!« rief der Schah beschwörend aus. »Nibo!« wiederholte er verzweifelt. Der Fahrer des Lastwagens legte krachend den ersten Gang ein, dann verschwand der Transport in einer Staubwolke. »Na«, murmelte Halyard undeutlich vor sich hin. »Finnerty!« rief ein untersetzter Mann mit einer dicken Brille durch die Tür der Bar. »Die Staatspolizei versucht, die Sperre auf dem Griffin Boulevard zu nehmen! Sie stürmen bereits seit einer Viertelstunde! Wen können wir als Verstärkung hinschicken?« Finnerty fuhr sich verzweifelt mit beiden Händen durchs Haar. »Ich habe zwei Deserteure zurückge-
schickt, aber das ist alles, was wir haben. Die VFW und die Ritter von Pythias haben sich schon wieder verdrückt während die Masons überhaupt nicht erschienen sind. Sag ihnen, daß wir keine Reserven mehr haben – sie müssen die Stellung unbedingt allein halten!« Aus einem der Gebäude der Ilium-Werke stieg plötzlich eine Feuersäule in die Höhe, während die Fensterscheiben der Bar von einer Druckwelle zum Klirren gebracht wurden. Halyard sah, daß die amerikanische Flagge über dem Fabriktor eingeholt und durch eine weiße Fahne ersetzt wurde, die in der leichten Brise flatterte. »Um Gottes willen!« rief Finnerty aus. »Du mußt den Moose und den Elks sofort klarmachen, daß sie damit aufhören sollen! Gib ihnen durch, daß sie die Werke besetzen und nicht in einen Trümmerhaufen verwandeln sollen!« »Baker Dog drei«, sagte Lasher in ein Mikrophon. »Baker Dog drei. Die Fabrikanlagen sind unbeschädigt zu lassen, ich wiederhole, unbeschädigt zu lassen, bis endgültig darüber entschieden worden ist, was mit den Maschinen geschehen soll. Das ist ein ausdrücklicher Befehl! Hören Sie mich, Baker Dog drei?« Die anderen Männer in der Bar Schweigen, um die Antwort der Elks und der Moose über dem Rauschen des Lautsprechers verstehen zu können. »Baker Dog drei – haben Sie verstanden?« rief Lasher in das Mikrophon hinein. »Los, jagt das Ding in die Luft!« klang eine weit entfernte Stimme aus dem Lautsprecher, dann brach ein zweiter Vulkan in den Werken aus, der ebenfalls Trümmer und Rauch in die Luft sandte.
»Lubbock«, sagte Finnerty wütend, »Sie übernehmen meine Aufgabe bis zu meiner Rückkehr! Ich werde hinüberfahren, um den Idioten dort drüben ein bißchen Disziplin in ihre Holzköpfe einzuhämmern. Die Kerle bilden sich wohl ein, daß sie bestimmen können, was in diesem Laden hier gemacht werden soll!« Er kletterte in einen Wagen und raste über die Brücke auf die Ilium-Werke zu. »Salt Lake City ist unser!« rief einer der Funker voller Begeisterung und riß sich die Kopfhörer ab. »Bis jetzt also Oakland, Salt Lake City und Ilium«, stellte Lasher nüchtern fest. »Wie steht es mit Pittsburgh, haben Sie immer noch keine Verbindung aufnehmen können?« »Tut mir leid, Sir. Noch immer keine Antwort«, gab der Funker zurück. »Hmmm. Rufen Sie auf jeden Fall weiter.« Lasher war nachdenklich geworden. Dann warf er einen Blick nach draußen und sah sich entsetzt um. »Wer hat das Museum in Brand gesteckt?« Er griff wieder nach dem Mikrophon und schrie hinein. »An alle! An alle! Schützt alle Werte! Auf überflüssige Zerstörung und Plündern steht die Todesstrafe! An alle – hören Sie mich?« Schweigen. Der Lautsprecher rauschte gleichmäßig weiter. »Moose? Elks? Ritter von Pythias? VFW? Adler? Ritter von Kandahar? Hallo! An alle – hören Sie mich? Hallo!« Schweigen. »Proteus!« rief ein Araber, der in der Tür zur Bar aufgetaucht war. Er hielt sich mühsam aufrecht und schwenkte eine halbleere Whiskyflasche in der Rech-
ten. »Wo ist denn der Kerl? Proteus, wir wollen eine Rede hören.« Paul, der in den letzten Stunden um Jahre gealtert zu sein schien, kam zusammen mit Lasher aus der Tür. »Möge Gott uns helfen, meine Herren«, sagte er langsam. »Wenn wir wirklich gewonnen haben dann fängt der eigentliche Kampf erst jetzt an ...« »Menschenskinder – der Kerl redet ja, als ob wir verloren hatten«, meinte der Araber. »Jetzt tut es mir direkt leid, daß ich ihn herausgeholt habe!« »Lou!« »Hier bin ich«, sagte der betrunkene Araber. »Lou, mein Junge – wir haben die Bäckerei vergessen. Das Brot rollt immer noch vom Fließband!« »Darf nicht sein«, meinte Lou. »Komm, sprengen wir das verfluchte Ding!« »Halt, einen Augenblick!« warf Paul ein. »Die Bäkkerei brauchen wir noch!« »Dort sind doch auch Maschinen, oder?« fragte Lou. »Ja, das stimmt, aber es hat keinen Sinn, wenn ...« »Dann müssen wir sie auch kaputtmachen. He, wer ist denn das? Al, wo bist du die ganze Zeit gewesen?« »Ich habe die Kläranlage in die Luft gesprengt. Saubere Arbeit, das kann ich euch sagen!« erklärte Al mit einem stolzen Lächeln.
30 »Ich verstehe einfach nicht, was in Pittsburgh los ist«, meinte Finnerty. »Seattle und Minneapolis sind mir immer ein bißchen unsicher vorgekommen, aber Pittsburgh!« Paul schüttelte den Kopf. »Und St. Louis und Chicago und Cleveland«, sagte er nachdenklich. »Und Birmingham und Boston und New York«, fügte Lasher hinzu. »Pfft!« sagte Finnerty. »Jedenfalls hat die Sache in Ilium, Salt Lake City und Oakland auf die Minute genau geklappt«, warf Professor von Neumann ein, »deshalb können wir wohl mit Recht annehmen, daß unser Angriffsplan richtig war. Die Ausführung, die wir nicht mehr überwachen konnten, war natürlich etwas anderes.« »So ist es immer«, meinte Lasher. »Warum sind Sie so fröhlich?« fragte Paul. »Wäre es Ihnen lieber, wenn ich mir jetzt die Augen ausweinen würde, Doktor?« fragte Lasher zurück. »Warum haben wir bloß nicht einen von unseren Leuten losgeschickt, um EPICAC zu erledigen?« klagte von Neumann. »TNT ist eine gefährliche Sache – besonders, wenn verrückte Kerle es in Coca-Cola-Flaschen abzufüllen versuchen«, sagte Finnerty. Die vier Führer der Geisterhemden saßen im Morgengrauen um einen Tisch herum, der in Pauls ehemaligem Arbeitszimmer in den Werken stand. Die Revolution war noch nicht einmal einen Tag alt aber
trotzdem waren die angerichteten Verwüstungen fast nicht mehr zu zählen. »Mir wäre es lieber, wenn sie bald angreifen würden, damit wir es hinter uns haben«, sagte Paul. »Sie werden sich erst noch ein bißchen Mut machen müssen nachdem die Ritter von Kandahar die Staatspolizei am Griffin Boulevard zurückgeschlagen haben«, meinte Finnerty. Er seufzte. »Mein Gott, wenn wir noch ein paar solche Einheiten gehabt hätten, dann wäre Pittsburgh ...« »Und St. Louis«, warf Paul ein, »und Seattle und Boston und Minneapolis und ...« »Sprechen wir über etwas anderes«, unterbrach ihn Finnerty. »Wie geht es deinem Arm, Paul?« »Gar nicht schlecht«, antwortete Paul und sah auf den Behelfsverband hinunter. Er hatte einen gebrochenen Arm davongetragen, während er versucht hatte, etwa dreihundert Männern zu erklären warum das Kraftwerk nicht zerstört werden dürfe. »Wie geht es Ihrem Kopf, Professor?« »Brummt noch ganz anständig«, erwiderte von Neumann und faßte sich an den Verband um seine Stirn. Er war niedergeschlagen worden, während er zu verhindern versucht hatte, daß die Elks den Antennenmast der Rundfunkstation in die Luft jagten. »Und wie geht es Ihren Prellungen und Abschürfungen, Ed?« fragte Lasher. Finnerty verdrehte den Hals und hob vorsichtig die Arme. »Erstklassig. Wenn es schlimmer wird, werde ich vermutlich Selbstmord begehen.« Er war von der wütenden Menge niedergetrampelt worden, als er sie davon abzuhalten versucht hatte, jede Maschine in den Werken zu zerstören, die noch intakt geblieben war.
In der Siedlung stieg eine neue Rauchsäule auf. »Halten Sie die Karte auf dem letzten Stand, Professor?« fragte Lubbock. Professor von Neumann sah mit einem Fernglas zu dem Brandherd hinüber, dann machte er ein schwarzes X auf die Karte, die vor ihm auf dem Tisch lag. »Vermutlich das Postamt.« Die Karte der Stadt war noch am Vortage sauber und neu gewesen, bis auf die wenigen roten Kreise, die wichtige Punkte bezeichneten, die Polizeistation, das Gerichtsgebäude, das Rundfunkhaus, das Telegraphenamt, die Straßensperren. Nachdem diese Punkte in der Hand der Revolutionäre waren, sollte mit der Besetzung der weniger wichtigen begonnen werden, die ebenfalls von Maschinen kontrolliert wurden. Zur Kennzeichnung dieser Objekte dienten grüne Kreise. Aber jetzt war die Karte verschmiert und zerknittert. Die wenigen roten und grünen Kreise wurden von schwarzen X überdeckt, die zeigten, daß ein wichtiges Objekt nicht nur genommen, sondern auch zerstört worden war. Lasher warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Auf meiner ist es vier Uhr. Kann das stimmen?« »Wer weiß?« sagte Finnerty müde. »Kann man von hier aus nicht die Uhr auf dem Rathausturm erkennen?« »Die haben sie schon vor Stunden abmontiert.« »Und als nächstes werden sie vermutlich hinter Ihrer Uhr her sein«, warf Paul ein. »Stecken Sie sie lieber in die Tasche!« »Was mich so verblüfft sind die Spezialisten«, sagte Finnerty.
»Einige der Kerle scheinen es auf bestimmte Maschinen abgesehen zu haben, während ihnen alle anderen piepegal sind. Zum Beispiel habe ich einen kleinen Neger mit einer Pistole gesehen, der nur auf diese Verkehrserziehungsapparate schoß.« »Mein Gott«, seufzte Paul, »ich hätte nie gedacht, daß das einmal so enden würde.« »Was denn? Daß wir verlieren?« fragte Lasher. »Verlieren, gewinnen – was immer dieses Durcheinander zu bedeuten hat.« »Das Ganze weist verblüffende Parallelen mit einem Lynchmord auf«, meinte Professor von Neumann nachdenklich, »aber andererseits könnte man es eher mit Völkermord vergleichen. Die Guten sterben mit den Schlechten – die WC's mit den vollautomatischen Drehbänken.« »Ich frage mich nur, ob nicht alles anders gekommen wäre, wenn wir ihnen nicht diesen verfluchten Schnaps gegeben hätten?« »Du kannst von den Männern nicht verlangen, daß sie in nüchternem Zustand schwerbewaffnete Bunker stürmen«, erwiderte Finnerty. »Und du kannst nicht von ihnen verlangen, daß sie sich anständig benehmen, wenn sie betrunken sind«, meinte Paul. Eine donnernde Explosion ließ die Wände erzittern. »Was war das, Luke?« rief Lasher. »Das Treibstofflager, Sir!« »Hurra«, murmelte Paul verzweifelt vor sich hin. »Bürger von Ilium!« rief eine Stimme, die vom Himmel zu kommen schien. »Bürger von Ilium!« Ein großer Helikopter erschien brummend über dem Fluß.
»Bürger von Ilium, legt eure Waffen nieder!« sagte ein Lautsprecher. »Oakland und Salt Lake City haben sich bereits ergeben. Eure Revolution ist fehlgeschlagen. Sagt euch von euren verbrecherischen Anführern los! Bürger von Ilium, ihr seid umzingelt. Eure Stadt ist von allen Seiten eingeschlossen und wird nicht eher wieder frei sein, bis Proteus, Lasher, Finnerty und von Neumann den Behörden übergeben worden sind! Legt die Waffen innerhalb von sechs Stunden nieder und sagt euch von euren verbrecherischen Anführern los, sonst wird die Blockade der Stadt bis zur bedingungslosen Kapitulation ihrer Bewohner aufrechterhalten. Klick. Bürger von Ilium, legt eure Waffen nieder! Oakland und Salt Lake City haben sich bereits ergeben. Eure Re...« Luke Lubbock legte sein Gewehr an. Dann krachte ein Schuß. »Beeby dee boble dee beezle!« klang es schrill aus dem Lautsprecher, während der Hubschrauber unbeirrt weiterflog. »Noozle ah reeble boo ...« »Wo willst du hin, Paul?« fragte Finnerty, als Paul aufstand. »Einen Rundgang durch die Werke machen.« »Soll ich mitkommen?« »Von mir aus gern, aber nimm lieber noch eine Flasche mit.« Als sie nach einer Stunde zurückkamen, schliefen von Neumann und Lasher auf dem Fußboden von Pauls ehemaligem Arbeitszimmer, während Lubbock vom Fenster aus die Siedlung beobachtete, in der noch immer Brände wüteten. Finnerty rüttelte an Lashers Schulter.
»Hmm?« Lasher rieb sich verschlafen die Augen, dann setzte er sich auf. »Was gibt es?« »Dr. Proteus hat mir eine sehr interessante Frage vorgelegt die ich leider nicht zufriedenstellend beantworten konnte«, sagte Finnerty. »Sie sind betrunken. Lassen Sie mich schlafen, ich bin müde!« »Die Frage ist ganz kurz«, wandte Finnerty ein. »Los, Paul!« »Was ist aus den Indianern geworden?« »Welchen Indianern?« fragte Lasher erstaunt. »Den Geisterhemden«, erklärte Finnerty. »Oh! Nun, sie mußten feststellen, daß ihre Hemden keinen Schutz gegen die Kugeln der Weißen boten. Und daß die Soldaten der U.S. Cavalry sich nicht im geringsten von ihren Zaubersprüchen und Beschwörungen beeindrucken ließen.« »Und dann ...?« »Und dann wurden sie entweder umgebracht oder begannen ein neues Leben als zweitklassige Weiße.« »Und damit wurde was bewiesen?« fragte Paul. »Daß es genauso wichtig war, ein guter Indianer zu sein, wie ein guter Weißer – wichtig genug, um darum zu kämpfen und deswegen zu sterben, selbst wenn keine Aussicht auf den Sieg bestand. Sie hatten die gleiche Chance wie wir: tausend zu eins!« Paul und Ed Finnerty starrten ihn ungläubig an. »Dann haben Sie also schon immer geglaubt, daß wir unterliegen würden?« fragte Paul heiser. »Ja, gewiß«, antwortete Lasher. »Aber Sie haben doch immer den Eindruck erweckt, als seien Sie von unserem Sieg überzeugt«, wandte Paul ein.
»Natürlich, Doktor«, erklärte Lasher wohlwollend. »Wenn wir nicht alle diesen Eindruck zu erwecken versucht hätten, dann hätten wir nicht einmal diese Chance gehabt. Aber ich habe nie das Gefühl für die Wirklichkeit verloren.« Lasher hatte recht, dachte Paul, er hatte tatsächlich als einziger dieses Gefühl für die Wirklichkeit bewahrt. Er war der einzige der vier Anführer, den die Ereignisse des vergangenen Tages weder erschüttert noch erschreckt hatten – im Gegenteil, sie schienen ihn beruhigt zu haben. Paul war davon am meisten mitgenommen, vermutlich deshalb, weil er so darauf vorbereitet gewesen war, für eine Idee zu kämpfen, deren Sieg auch ihn von seinen quälenden Zweifeln befreien würde. Finnerty verbarg sein anfängliches Erstaunen über Lashers Feststellung ausgezeichnet. Er war so sehr davon überzeugt, daß Lasher, sein Herr und Meister, immer und überall recht hatte, daß er Paul einen überraschten Blick zuwarf, als wundere er sich darüber, wie Paul so begriffsstutzig sein könne. »Wenn wir keinerlei Aussichten hatten, warum haben wir dann zugelassen, daß das alles ...?« Paul beendete den Satz nicht, sondern wies auf die Trümmer jenseits des Flusses. Lasher war in der Zwischenzeit völlig aufgewacht und ging jetzt nervös auf und ab; offenbar irritierte es ihn, daß er Paul eine so klare Angelegenheit auseinandersetzen mußte. »Es spielt doch gar keine Rolle, ob wir g ewinnen oder verlieren, Doktor! Wichtig ist nur, daß wir es versucht haben. Wir haben es für die Annalen der Geschichte getan!« Er stellte sich hinter Pauls Schreibtisch und sah die beiden Männer vor sich ernst an.
»Welcher Geschichte?« fragte Paul. Plötzlich ging in Lasher eine Verwandlung vor. Er zeigte sich von einer Seite, die er Paul und Finnerty gegenüber zwar erwähnt hatte, über die sich die beiden anderen aber nie Gedanken gemacht hatten. Und durch diese Verwandlung wurde der Schreibtisch zu einer Kanzel. »Ich beschäftige mich nicht hauptberuflich mit Revolutionen«, sagte Lasher streng. »Vor allem bin ich Pfarrer – zuerst und zuletzt ein Feind des Bösen, ein Mann Gottes!«
31 Als die Sonne wieder über Ilium am Himmel stand und die schwelenden Trümmer der Stadt beleuchtete, kroch ein großes Auto durch die Straßen. Auf dem rechten Kotflügel flatterte der Dienststander des Außenministeriums der Vereinigten Staaten, während von der Antenne ein Geisterhemd herunterhing. Überall lagen Menschen auf der Straße – keine Toten, sondern Revolutionäre, die ihren Rausch ausschliefen. Die Stadt glich einer unendlich großen Schatztruhe, die aufgeplatzt war, wobei sich ihr Inhalt auf die Straßen ergossen hatte: zertrümmerte Klimaanlagen, Verstärker, Bogenschweißgeräte, Förderbänder, Batterien, Registrierkassen, Buchhaltungsmaschinen Flaschenauffüllautomaten, Konserven, Schalter, Kondensatoren, Uhren, Münzwechsler, Kalorimeter, Rechenmaschinen, Leuchtstoffröhren, Staubfänger, Geschirrspülmaschinen, Müllschlucker, Amperemeter, Colorimeter, Ölfeuerungen, Generatoren, Sicherungen, Meßgeräte, Getriebe, Dynamos, Ventilatoren, Elektroden, Pumpen, Vakuumröhren, Tonbandgeräte, Filter, Wärmeaustauscher, Isolatoren, Glühbirnen, Lautsprecher, Magnete, Lichtmaschinen Kugellager Kaffeemühlen, Oszillographen, Radarherde, Schaltpulte, Personalmaschinen, Photozellen, Voltmeter Lötkolben Radios, Drehmomentschlüssel, Geigerzähler, Vibratoren, Fernsehgeräte, Thermostate, Barometer, Relais, Fernbedienungen, Sortiermaschinen, Spektroskope, Bandfedern, Anlasser, Waagen, Tachometer, Fernsehkameras, Toaströster, Verkehrsam-
peln, Widerstände, Transformatoren Entsafter, Scheibenwischer, Staubsauger, Turbinen, Feuerlöscher Vergaser, Bügelautomaten, Filmkameras, Absperrventile, Wasserboiler, Ölabscheider, Türöffner, Röntgengeräte, Waschmaschinen, Scheinwerfer, Telephone, Lochkartenmaschinen Elektrobohrer Küchenmaschinen, Viskosimeter, Schreibmaschinen ... Am Steuer der Limousine saß Dr. Edmund Francis Finnerty, auf dem Sitz rechts neben ihm Dr. Paul Proteus während Dr. James J. Lasher und Professor Ludwig von Neumann auf dem Rücksitz Platz genommen hatten. Mr. Ewing J. Halyard vom Außenministerium lag schlafend auf dem Boden des Wagens vor ihren Füßen, aber inmitten dieses Wirrwarrs von Trümmern, Rauch und betrunkenen Männern hatte sich niemand mehr die Mühe gemacht, ihn aufzuwecken, um ihn zu fragen, was er eigentlich hier zu tun habe. Die Anführer der Geisterhemden befanden sich auf einer Besichtigungsfahrt zu den Stellungen an den Grenzen ihres kleinen Utopia. Überall bot sich ihnen der gleiche Anblick: weggeworfene Waffen, verlassene Sperren, vergeudete Munition und zertrümmerte Maschinen. Unterdessen hatten sie einen aufregenden Entschluß gefaßt: Während der angedrohten Blockade wollten sie ganz Ilium in ein Laboratorium verwandeln, in dem die Menschen beweisen würden, wie gut man auch ohne Maschinen auskommen konnte. Jetzt sahen sie ein, daß die anderen recht gehabt hatten, als sie sämtliche Maschinen zerstört hatten. So war es richtig, und die Maschinen konnte der Teufel holen! »Schön, dann werden wir eben über Holzfeuern
kochen und uns mit primitiven Öfen behelfen«, sagte Lasher. »Und überallhin zu Fuß gehen«, fügte Finnerty hinzu. »Und Bücher lesen, anstatt ständig vor dem Fernsehgerät zu hocken«, ergänzte von Neumann. »Die Renaissance kommt nach Ilium! Wir werden die beiden größten Wunder der Welt wiederentdecken – den menschlichen Geist und die menschliche Hand.« »Wir verlangen keinen Pardon, geben aber auch keinen«, sagte Paul, als sie an einem Fertighaus des Typs f-04-GW vorbeifuhren, dessen gesamtes Mobiliar in kleine Stücke zerhackt auf der Straße lag. »Die ganze Sache erinnert mich an das Massaker, das die Indianer mit General Custer und seinen Männern veranstaltet haben«, bemerkte Lasher nachdenklich. »Ein zweites Little Bighorn. Ein vereinzelter Sieg der gegen eine unüberwindbare Flut erzielt wurde. Nach Custer kamen noch unzählige Weiße ins Land; nach diesen Maschinen werden noch unzählige andere über uns herfallen. Aber vielleicht gewinnen wir doch noch, vorausgesetzt, daß ...« »He; seht euch das an!« unterbrach ihn Paul. »Da drüben am Bahnhof steht ein Haufen Leute! Warum sind die so aufgeregt?« Finnerty hielt an, dann stieg er mit Paul aus dem Wagen und ging zum Bahnhof hinüber. Der riesige Wartesaal und die Bahnhofshalle waren völlig verwüstet, obwohl das Gebäude wie durch ein Wunder von den Flammen verschont geblieben war. Der Mosaikfußboden der Halle, auf dem ein Überfall der Oneida-Indianer auf das ehemalige Fort Ilium abgebildet war, verschwand unter einer Schicht von
Maschinenteilen. Der Fahrkartenautomat, der Strumpfautomat, der Kaffeeautomat, der Zeitungsautomat, der Zahnbürstenautomat, der Schuhputzautomat, der Photomat, die Schließfächer, der Versicherungsautomat, der Zigarettenautomat – sie alle lagen zertrümmert und demoliert am Boden. Aber um eine der Maschinen hatte sich eine Gruppe von Männern und Frauen versammelt. Die Menschen drängten sich neugierig zusammen, als gebe es dort ein Wunder zu bestaunen. Paul und Finnerty sahen schließlich, daß eine Oranga-Maschine im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses stand. Paul konnte sich noch gut daran erinnern, wie schlecht ihm einmal geworden war als er ein halbes Glas dieses Getränks zu sich genommen hatte – und allen anderen schien es nicht besser ergangen zu sein, denn die Hersteller von Oranga hatten sich immer am Rande einer Pleite befunden, soweit er zurückdenken konnte. Aber jetzt war der Spender dieser abscheulichen Mischung aus Wasser, Farbstoff, Sacharin und künstlichem Orangengeschmack so beliebt wie eine Striptease-Tänzerin in einem Fronttheater. »Okay, versuchen wir es noch einmal, vielleicht klappt es jetzt besser«, klang eine bekannte Stimme hinter der Maschine hervor – Bud Calhouns Stimme. »Klick-klack!« fiel die Münze durch den Schlitz des Automaten dann ertönte ein leises Gurgeln. Die Menschen lachten vor Vergnügen. »Der Becher ist diesmal beinahe voll«, rief der Mann, der das Geldstück eingeworfen hatte, »und jetzt ist das Zeug auch wieder schön kalt!« »Aber die Lampe hinter dem Oranga-Zeichen hat
dabei nicht aufgeleuchtet«, kritisierte eine Frau. »Sonst hat sie das immer getan.« »Das werden wir gleich haben, was, Bud?« sagte ein anderer Mann, der ebenfalls hinter der Maschine am Boden kauerte. »Wir brauchen nur einen Meter von dem Draht, der dort drüben aus dem Schuhputzautomaten heraushängt, und ein Taschenmesser.« Der andere stand auf. In diesem Augenblick erkannte ihn Paul: Es war der kräftige, rotgesichtige Mann, der ihm vor langer Zeit mit dem Schweißband seines Hutes den Wagen repariert hatte. Damals war der Mann verzweifelt unglücklich gewesen, aber jetzt strahlte er über das ganze Gesicht, weil seine Hände das taten, wozu sie am besten geeignet waren, nahm Paul an – Maschinen zu reparieren, die seinesgleichen ersetzt hatten. Er schloß die Leuchtstoffröhre hinter dem Oranga-Zeichen mit dem Draht ans Netz an. »So, schon erledigt«, meinte er stolz. Bud Calhoun schraubte die Rückseite des Automaten fest. »Versuchen Sie es noch einmal.« Die Menschen klatschten Beifall, dann bildeten sie eine Schlange vor der Maschine. Der erste von ihnen trank den Pappbecher sofort aus und stellte sich wieder hinten an. »Na, dann werden wir uns als nächstes den automatischen Fahrkartenverkäufer ansehen«, meinte Bud. »Oh, oh. Den hat es ja ganz schwer erwischt.« Er schüttelte bedauernd den Kopf. »Vielleicht können wir das Mikrophon durch eines aus dem Zeitungsautomaten ersetzen«, schlug der andere vor. »Ich werde es gleich ausbauen, vielleicht funktioniert es.«
Als Paul und Finnerty zu der Limousine zurückkehrten, sahen sie, daß Lasher und von Neumann sich mit einem jungen Mann unterhielten. »Haben Sie zufällig irgendwo einen kleinen Elektromotor herumliegen sehen?« fragte er gerade. »Möglichst einen, der nicht zu sehr beschädigt ist?« Lasher schüttelte wortlos den Kopf. »Na, dann muß ich eben weitersuchen«, meinte der junge Mann, als er einen Pappkarton aufhob, der voller Zahnräder, Rohren und Schalter war. »Die Stadt ist die reinste Goldmine, aber es ist schwer, das zu finden, was man braucht.« »Kann ich mir vorstellen«, antwortete Lasher. »Hoffentlich finde ich noch einen geeigneten Motor«, sagte der junge Mann aufgeregt, »ich habe mir nämlich eine Maschine ausgedacht, die Schlagzeug spielen kann. Man braucht nur ...« »Proteus! Finnerty!« rief Lasher scharf. »Warum seid ihr nicht gleich zurückgekommen?« »Seit wann haben Sie es denn so eilig?« fragte Finnerty und grinste mürrisch. »Seit ein paar Minuten. Los, fahren wir!« »Wohin?« Finnerty ließ den Motor an. »Griffin Boulevard. Zu der Straßensperre.« »Was ist denn dort los?« fragte Paul verständnislos. »Die Behörden warten darauf, daß die Bürger von Ilium sich von ihren verbrecherischen Anführern lossagen und sie der Polizei übergeben«, sagte Lasher. »Will jemand aussteigen? Ich kann auch selbst fahren, wenn Ihnen das lieber ist.« Finnerty trat auf die Bremse. »Nun?« fragte Lasher. »Ich glaube auch, daß es jetzt soweit ist«, meinte
von Neumann bedächtig. Paul schwieg, machte aber auch keine Anstalten, den Wagen zu verlassen. Finnerty wartete noch einen Augenblick, dann: trat er das Gaspedal durch. Keiner von ihnen sprach, bis sie das Gewirr aus Stacheldraht, umgestürzten Autos, Telegraphenmasten und Sandsäcken erreicht hatten, das die Straßensperre auf dem Griffin Boulevard bildete. Zwei elegant gekleidete dunkelhäutige Männer – der Schah von Bratpuhr und sein Neffe Khashdrahr Miasma – schliefen aneinandergedrängt in einem Splittergraben neben der Sperre. Auf der anderen Seite der Befestigung lagen zwei Panzerspähwagen auf der Seite, aus denen noch immer Flammen züngelten. Professor von Neumann suchte die Gegend mit einem Feldstecher ab. »Aha. Die Behörden ...«, sagte er schließlich und gab das Glas an Paul weiter. »Dort drüben – weiter links. Sehen Sie es jetzt?« Paul starrte zu den Polizisten hinüber, die sich sonnten, rauchten und Karten spielten. Lasher klopfte Paul auf die Schulter, als Paul ihm das Fernglas gab. »Machen Sie nicht so ein trauriges Gesicht, Dr. Proteus – jetzt sind Sie doch auch jemand, genauso wie Ihr alter Herr jemand gewesen ist. Hat einer von euch eine Flasche dabei?« Finnerty holte eine aus dem Auto. Lasher nahm sie entgegen und prostete den anderen lächelnd zu. »Auf alle guten Indianer«, sagte er laut. »Und auf die Annalen der Geschichte!« Die Flasche ging von einem zum anderen. »Auf die Geschichte!« rief Finnerty, der vollkommen glücklich und zufrieden zu sein schien. Er hat sein Ziel erreicht, dachte Paul – er hat die Grundfe-
sten der Zivilisation erschüttert, in der er nie glücklich gewesen ist. »Auf die Geschichte!« wiederholte von Neumann. Auch er schien befriedigt zu sein, stellte Paul fest. Der Professor hatte die Revolution anscheinend als ein interessantes Experiment betrachtet, bei dem es nicht auf das Endergebnis, sondern ausschließlich auf den Verlauf ankam. Paul nahm die Flasche und sah Lasher einen Augenblick nachdenklich an. Lasher, der Anstifter der Revolution, lächelte fröhlich zurück. Nachdem er sein Leben lang in Symbolen gedacht und gesprochen hatte, war er selbst zum Symbol für eine vergebliche Anstrengung geworden und begrüßte nun die Gelegenheit, als eines sterben zu können. Nun hatte Paul das Wort. »Auf eine bessere Welt«, wollte er zuerst sagen, aber dann dachte er an die Bürger von Ilium, die bereits wieder eifrig damit beschäftigt waren, die alte wiederherzustellen, und schwieg. Schließlich zuckte er mit den Schultern. »Auf die Geschichte«, murmelte er und ließ die Flasche an einem Stein zerschellen. Von Neumann betrachtete zuerst die Scherben, dann Paul. »Dies ist noch nicht das Ende, daran müssen Sie immer denken«, sagte er bedächtig. »Es gibt kein Ende, weder jetzt noch in der Zukunft.« »Nehmt die Hände hoch!« befahl Lasher unbekümmert. »Vorwärts, marsch!«