DAS HÄSSLICHE ENTLEIN Roman von Leni Behrendt
Herzlos hat sich die eitle, oberflächliche Frau von Barnim von ihrer jüng...
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DAS HÄSSLICHE ENTLEIN Roman von Leni Behrendt
Herzlos hat sich die eitle, oberflächliche Frau von Barnim von ihrer jüngeren Tochter abgewendet, hat das »häßliche Entlein« vernachlässigt und alle ihre Mutterliebe der hüb schen, reizvollen Fee geschenkt, die sie zu einem egoisti schen, verwöhnten Geschöpf heranzieht. Eine alte Tante erbarmt sich Gudruns, und bei ihr wächst das Kind nun auf. Freilich, ein häßliches Entlein bleibt es, auch als es ein
junges Mädchen geworden ist. In unmöglichen, altmodi schen Kleidern, mit Riesenbrille und schauderlicher Frisur läuft die Studentin Gudrun herum, zum Gespött ihrer Um gebung. Und dieses Mädchen wird plötzlich Braut und bald darauf die Frau eines Mannes, der weit und breit we gen seiner überragenden Persönlichkeit und seines fabel haften Aussehens beliebt und berühmt ist! Was steckt da hinter? Vergebens zerbricht sich alle Welt die Köpfe, um hinter das Geheimnis zu kommen.
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Diese Ausgabe erscheint alle 4 Wochen im Martin Kelter Verlag (GmbH & Co.),
Mühlenstieg 16-22,2000 Hamburg 70, Postfach 70 10 09,
Telefon: Sa.-Nr. (040) 68 28 95-0, Telefax (040) 68 28 95 50, Fernschreiber:
213.126 Verantwortlich: Verleger Otto Melchert. Im Verkaufspreis ist die gesetzli che Mehrwertsteuer enthalten. Gesamtherstellung: Eisnerdruck, Berlin Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte übernimmt der Verlag keine Ge währ. Abgebildete Personen auf dem Umschlag stehen in keinem Zusammenhang mit dem Roman. Diese Ausgabe darf weder in Leihbüchereien verliehen noch in Lesezirkeln geführt oder zum gewerbsmäßigen Umtausch bzw. Wiederverkauf verwendet werden. Printed in Germany.
»Schalk, alter scheinheiliger Schwerenöter, wirst du wohl!« drohte Graf Hellmarck seinem Dackel, der sich ein Vergnü gen daraus machte, dem Stallburschen, der den Schnee von dem breiten Kiesweg fegte, mit bewundernswerter Aus dauer und unnachahmlichem Geschick an den Hosenbo den zu springen und seine scharfen Zähne daran zu erpro ben. Langsam, die krummen Beine wie im Tanzschritt überei nandersetzend, begab er sich zu Herrchen, der ihm lachend die langen Ohren zauste, und sah ihm treuherzig in die Augen, wie der bravste, harmloseste Hund von der Welt. Er blieb auch sittsam an Herrchens Seite und sah so aufmerk sam zu ihm auf, als verstände er jedes Wort der Unterre dung, die Herrchen mit dem Förster hatte. Doch das nur scheinbar – denn in Wirklichkeit schielte er zu seinem Feind hin, dem er den Fußtritt, den er vor Wo chen von ihm erhalten, immer noch nicht vergessen konn te. Darum ließ er keine Gelegenheit vorübergehen, sich für diese ihm angetane Schmach zu rächen. Und nun war eine wundervolle Gelegenheit dazu. Herr chen war bei ihm, und der schlaue Dackel wußte genau, daß niemand es wagen durfte, ihm etwas zuleide zu tun, wenn er auch noch so frech war. Außerdem konnte der Stallbursche auf seine Angriffe nicht so achten: unter den Augen des Herrn mußte seine Aufmerksamkeit der Arbeit gelten, die nicht eben leicht war. Denn tagelang hatte es ununterbrochen geschneit. Türme, Erker und Simse des feudalen, ehrwürdigen Schlosses Ho henwerth hatten blendend weiße Käppchen auf. Doch auf dem breiten Weg, der vom Schloß zu dem kunstvoll gear beiteten schmiedeeisernen Tor führte, durch das man auf die schnurgerade Allee zu sehen vermochte, konnte der Schnee nicht geduldet werden, und es war Arbeit der Stall burschen, ihm zu Leibe zu gehen. Graf Hellmarck wandte sich wieder dem Förster zu, der genauso wie sein Herr über den gerissenen Schalk, der we gen seiner Streiche bekannt war, herzlich gelacht hatte. Der
Förster setzte seinen Bericht fort, dem der Gebieter interes siert lauschte. Ruhig, lässig, stand der Graf vor dem Förster, der immer erregter wurde, je länger er sprach. »Ja, mein lieber Förster«, entgegnete er mit seiner dunklen, herrischen Stimme, als der Förster seinen Bericht beendet hatte, »da nützt uns alle Empörung nichts. Herr Kose hat es leicht, unverschämt zu sein, er nützt eben meine Zwangsla ge aus. Jedenfalls bleibt keine andere Wahl, – wir müssen das Holz für den Preis abgeben, so leid es mir auch tut.« Es zuckte in dem wetterharten Gesicht des Försters, und sein Herr legte ihm die Hand auf die Schulter. »Lieber Förster, ich weiß, es tut Ihnen weh – genau wie mir – doch die Verhältnisse sind stärker als wir. Wir müssen unsere lieben alten Baumriesen fällen. Vielleicht ist es Ih nen ein Trost, wenn ich es Ihnen überlasse, den Wald an den Stellen zu holzen, die es vertragen können. Die Bäume stehen stellenweise wirklich sehr dicht. Und dann können Sie ja wieder neu anpflanzen.« »Ach ja, das ist noch ein Trost in all dem Jammer! Dieser Kerl, dieser Kose -!« ergrimmte sich der Förster. »Schelten Sie mir diesen patenten Mann nicht!« lachte der Graf. »Wenn der nicht wäre und uns immer wieder Geld gäbe, dann könnten wir schon heute einpacken, dann wüß te ich nicht, wovon ich im Januar die Wechsel bezahlen sollte.« »Wird schon wissen, weshalb er es tut«, knirschte der För ster immer ingrimmiger. »Na ja, aus lauter Menschenfreundlichkeit gewiß nicht, mein Getreuer. Doch er oder ein anderer – das ist schließ lich egal – « Er wandte sich um und sah einem Auto entgegen, das soe ben durch das schmiedeeiserne Tor fuhr und sich einen Weg durch den Schnee bahnte. Vor dem Portal des Schlos ses hielt es, und eine Dame entstieg ihm. Die Hüte der beiden Herren flogen hoch. Sie dankte und zögerte einen Augenblick, ob sie sie begrüßen sollte. Doch
dann bemerkte sie den Blick des Försters, der sie mit un verhohlener Abneigung musterte, stieg die Freitreppe em por und verschwand im Schloß. Die Blicke des Försters waren dem Grafen nicht entgangen, und ein amüsiertes Lächeln huschte über sein Gesicht. Dann sprachen sie wieder über geschäftliche Dinge, die äußerst schwierig zu erörtern waren. Denn das stolze, prächtige Hohenwerth, das schon seit Jahrhunderten im Besitz der Grafen Hellmarck war, entglitt langsam, aber unaufhaltsam den Händen dieses letzten Hellmarck. Und so mußte man zu retten suchen, was noch zu retten war, um wenigstens den Termin, an dem dieser letzte Sproß eines alten, stolzen Rittergeschlechts von dem Erbe seiner Väter weichen mußte, hinauszuschieben. Während der Graf und sein Förster hin und her berieten, wie sie am zweckmäßigsten die Holzung des Waldes vor nehmen sollten, ließ sich die Dame, die soeben das Auto verlassen hatte, in der Halle des Schlosses von dem Diener den Pelz abnehmen und eilte zu den Gemächern ihrer Tochter, der jungen Herrin von Hohenwerth. Diese lag in ihrem Boudoir auf dem Diwan und las in ei nem Buch. Sie war ein allerliebstes, puppenhaftes Geschöpf mit einem niedlichen Kindergesicht, blauen Augen und winzigen Händen und Füßen. Sehr elegant, sehr verwöhnt, eigenwillig, launenhaft, ober flächlich, verschwenderisch – so ein echtes, rechtes Luxus weibchen. Beim Eintritt Frau von Barnims, ihrer Mutter, sah sie von ihrem Buch auf und gähnte laut und ungeniert. Die Erre gung der Mutter entging ihr nicht, und sie musterte sie neugierig. »Was hast du denn, Ma?« fragte sie, in der Hoffnung, eine Neuigkeit zu erfahren, nach der sie geradezu lechzte. Es passierte so wenig, so absolut gar nichts in dem öden, langweiligen Hohenwerth. Die Mutter ließ sich in einen der zierlichen Sessel sinken und schaute so kläglich drein, daß die Tochter unange
nehm berührt wurde. Eine Neuigkeit brachte die Mutter zweifellos – doch war sie unangenehmer Art? »Püppchen – o, mein armes Püppchen – wir sind verlo ren!« sagte die Mutter in tragischem Tonfall, der lächerlich wirkte. »Denk dir, die Testamentseröffnung hat soeben stattgefunden. Ich wurde überhaupt nicht zugelassen, was mir gleich sehr sonderbar erschien. Ich ging also zu Rönner – ich dachte, mich rührte der Schlag bei der Mitteilung, die er mir machte! Hermine ist gar nicht reich gewesen; sie hat eben nur so viel besessen, um von den Zinsen notdürftig leben zu können. Und dann noch die Niedertracht dieser scheinheiligen Person! Denk dir nur, den einen Teil dieses Vermögens hat sie dem Diener und der Dienerin vererbt, ihr Haus mit allem Mobiliar der Stadt für wohltätige Zwek ke geschenkt. Gudrun ist also so gut wie enterbt, hat gerade nur so viel, um ihr Studium zu Ende führen zu können. Und dazu habe ich dieser Person mein Kind überlassen, mein kleines häßliches Entlein! Hermine galt doch immer für reich – und nun dies.« Die junge Gräfin hatte sich aus ihrer bequemen Stellung aufgerichtet und sah die Mutter entsetzt an. »Und was nun, Ma?« fragte sie ratlos. »Ja, Püppchen, das weiß ich auch nicht. Bernulf darf auf keinen Fall etwas von deinen Schulden erfahren, und wir müssen Gudrun dazu bringen, dir die Summe vorzustrek ken, die du benötigst. Wir können ihr das Geld ja allmäh lich wieder zurückgeben. Bernulf muß eben dein Nadelgeld erhöhen, das sowieso schäbig genug ist; sonst hättest du es doch nicht nötig, Schulden zu machen, nur um dich eini germaßen standesgemäß kleiden zu können.« Die Gräfin wollte etwas darauf erwidern, doch die Mutter legte den Finger an die Lippen. Denn im Nebenzimmer wurde eine Tür geschlossen, und gleich darauf betrat der Schloßherr das Zimmer der Gattin »Guten Tag, Mama«, sagte er und machte eine knappe Verbeugung zu der Schwiegermutter hin. Dann suchte sein Blick die Gattin, wurde hart und streng.
»Du bist noch nicht angekleidet, Fee – um zwölf Uhr?« »Aber Bernulf, das Kind – « Der unwillige Blick des Grafen ließ Frau von Barnim ver stummen. Diese elegante, für ihr Alter noch überraschend gut aussehende Frau fürchtete niemand sonst als ihren Schwiegersohn. Und dabei war er doch immer höflich zu ihr, von einer farblosen, korrekten Höflichkeit, die ihr auf die Nerven ging und bei der sie nie wußte, woran sie war. »Warum bist du noch nicht angekleidet, Fee?« wiederholte der Graf seine Frage. »Warum liegst du um die Mittagszeit in diesem ungewaschenen, ungepflegten Zustand in diesem entsetzlich unordentlichen Zimmer herum und schlägst deine Zeit mit der Lektüre zweifelhafter Romane tot?« »Ich fühle mich immer noch nicht wohl«, schmollte die kleine Frau, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Das ist keine Entschuldigung«, herrschte der Gatte sie an. »So schwach kannst du nicht sein, daß du dich nicht ein mal waschen, dir die Haare nicht kämmen kannst. Brauchst es nicht einmal allein zu tun, hast die Zofe zu deiner Be dienung. Und hast einen ganzen Dienertroß, der wohl da zu imstande sein dürfte, deine Gemächer in Ordnung zu halten. Du weißt doch, wie verhaßt mir dies alles ist.« Da bei deutete er mit einer kreisenden Handbewegung auf die beispiellose Unordnung, die in dem Zimmer herrschte. »Mich packt jedesmal ein Grauen, wenn ich deine Räume betreten muß.« »Aber Bernulf, dafür darfst du Püppchen doch nicht ver antwortlich machen«, wagte Frau von Barnim einzuwen den. »Die Dienerschaft ist so minderwertig, daß man wirk lich nichts mit ihr anfangen kann. Und Püppchen kann sich doch nicht mit den Leuten herumärgern, darf sich doch nicht aufregen. Hast du denn ganz vergessen, was sie vor einigen Wochen gelitten hat?« »Na ja, gewiß, ich verlange doch keine Kraftanstrengung von Fee«, sagte der Graf, immer unwilliger werdend. »Au ßerdem ist das Kind vier Wochen alt. In der Zeit haben andere Frauen sich so weit erholt, daß sie nicht zerzaust
den ganzen Tag auf dem Diwan herumliegen müssen.« »Du kannst andere Frauen doch auch nicht mit meinem zarten, süßen Püppchen vergleichen«, entgegnete die Mut ter gereizt, erschrak jedoch sofort über ihre Kühnheit. Sie atmete erleichtert auf, als der Graf die Achseln zuckte und das Zimmer verließ, eilte zu der Tochter hin und strich ihr zärtlich über das Wuschelköpfchen. »An welchen Barbaren das Schicksal dich gekettet hat!« klagte sie. »Du hättest doch lieber den reichen Grolle heira ten sollen. Er ist nicht so schön und vornehm wie dein Mann, doch er hätte dich besser zu würdigen verstanden.« Die kleine Frau, die sich selbst sehr bedauernswert vorkam, weinte einige Minuten herzzerbrechend an der Mutter Brust. Doch dann richtete sie sich plötzlich auf. »Ma – wenn Bernulf von den Schulden erfährt, dann läßt er mich bestimmt nicht nach St. Moritz fahren!« »Fertig bekommt er es schon«, bestätigte die Mutter, »dar um darf er auf keinen Fall etwas erfahren. Wir werden Gud run schon herumkriegen, daß sie uns das Geld gibt. Über haupt – diese Geheimniskrämerei wegen der lumpigen paar tausend Mark! Und Bernulf ist schuld; warum hält er dich so knapp? Er hat sich in letzter Zeit sehr verändert; in der ersten Zeit eurer Ehe war er viel großzügiger. Ich glau be, er steht kurz vor dem Bankrott.« »Meinst du wirklich, Ma?« fragte die kleine Frau, und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Aber was dann? Ein Leben in Armut kann ich nicht ertragen!« »Ich weiß das ja, mein Püppchen«, tröstete die Mutter. »Deswegen mache dir nur keine Kopfschmerzen, wir wer den schon einen Ausweg finden. Meine größte Sorge ist jetzt Gudrun. Wenn sie womöglich auf die Idee kommen sollte, bei mir leben zu wollen – dieses häßliche Entlein! Für die kriege ich nie einen Mann und habe sie dann mein Leben lang auf dem Hals!« »Ach, das wollen wir ihr schon ausreden«, meinte Fee zu versichtlich. »Ob sie immer noch so häßlich ist? Ich habe sie jahrelang nicht gesehen.«
»Püppchen, ich sage dir, unmöglich sieht sie aus. Und an gezogen – eine Vogelscheuche ist gar nichts dagegen – ganz nach Hermines Muster. Der reinste Studentenschreck!« »Weißt du, Ma, du machst mich direkt neugierig auf meine Schwester.« Und nun bekam Fee plötzlich Lust, sich anzukleiden. So erhob sie sich und gab der Mutter zu verstehen, daß sie ihren Besuch nicht länger ausdehnen möchte. Bat sie noch, dafür zu sorgen, daß Gudrun nach Hohenwerth käme. »Wo hält sie sich überhaupt auf?« »Bei dieser unausstehlichen Röstel«, entgegnete Frau von Barnim nervös. »Die Person wird sie kaum allein nach Ho henwerth lassen, wird sicherlich mit ihr kommen, so daß man kein Wort ungestört mit Gudrun sprechen kann. Kannst du denn nicht auf Bernulf einwirken, daß das Thea ter, das er mit dieser scheinheiligen alten Jungfer macht, aufhört?« »Na, versuch du es doch«, riet ihr die Tochter wütend. Der Name Röstel wirkte auf die kleine Frau ungefähr so wie ein rotes Tuch auf einen Stier. Die Mutter hatte ihr wirklich die Laune verdorben. Diese kannte ihr verhätscheltes Töchter lein nur zu gut und hielt es daher für ratsam, sich schleu nigst aus dem Staub zu machen. Frau von Barnim gelang es wirklich, Gudrun am nächsten Tag nach Hohenwerth zu bringen. Sie traf die Tochter auf der Straße des Städtchens, in dem auch sie wohnte, und erzählte ihr, wie große Sehnsucht Fee nach ihr hätte; daß sie jedoch nicht zu ihr kommen könne, da sie sich immer noch nicht von der Geburt des Kindes erholt habe. »Entlein, wie nett, daß du kommst! Willkommen auf Ho henwerth!« rief sie mit ihrer hellen Stimme. Gudrun war wie betäubt. Sie hatte noch nie Gelegenheit gehabt, etwas so Herrliches zu schauen wie in den letzten Minuten. Ihr Blick ging im Zimmer der Schwester umher, und das war eigentlich die erste Enttäuschung, die sie erleb te, seitdem ihr Fuß Hohenwerth betreten. Dieser Raum paßte nicht zu der feudalen Pracht des Schlosses. Er war
wohl auch luxuriös, gewiß – doch er paßte nicht. Graf Hellmarck war für dieses Gemach nicht verantwortlich zu machen, denn Fee hatte die Einrichtung mit in die Ehe gebracht. Die Mutter hatte sich Geld dazu geliehen, um die Tochter ausstatten zu können – das der Graf später zurück zahlen mußte, weil Frau von Barnim dazu nicht in der Lage war. Gudrun konnte die Herzlichkeit der Schwester nicht erwi dern, sie blieb stumm und steif. Etwas Hochmütiges lag in ihrem Gebaren, was Fee unglaublich ärgerte. Was dieses häßliche Entlein dachte! Leider mußte sie ja jetzt Herzlich keit und Liebenswürdigkeit vortäuschen. Doch nachher, wenn sie erst das Geld hatte, wollte sie ihr diesen Hochmut schon austreiben. Eigenhändig holte Fee Erfrischungen herbei, was bei ihrem sonstigen Phlegma anerkennenswert war, und nötigte die Schwester immer wieder, etwas zu genießen. Doch Gudrun konnte es beim besten Willen nicht, die Kehle war ihr wie zugeschnürt, und das scharfe, aufdringliche Parfüm, das sich in dem Raum unangenehm bemerkbar machte, be nahm ihr fast den Atem. Dazu war ein unerklärliches Angstgefühl in ihr. »Iß doch etwas, Entlein«, bat Fee mit ihren süßesten Tönen, »sonst muß ich annehmen, daß es dir bei mir nicht gefällt. Bernulf kann dich leider nicht begrüßen, er ist in die Stadt gefahren.« Das Angstgefühl in Gudrun wurde immer stärker. Sollte man ihretwegen solche Umstände machen? O nein, Gudrun war zu klug, das anzunehmen. Und da kam auch schon die Erklärung für das ungewohnte Entgegenkommen von Mutter und Schwester. Das Mäd chen atmete ordentlich erleichtert auf, daß es jetzt wußte, was man wollte. Also Geld sollte sie geben -! Selbstverständlich, das hätte sie längst wissen müssen. Ob der stolze, vornehme Schloßherr von Hohenwerth wohl darum wußte, daß seine Frau und seine Schwiegermutter
ein alleinstehendes Mädchen, das sich durchs Leben schla gen mußte, um das kleine Vermögen prellen wollten, das ihre Adoptivmutter ihr hinterlassen hatte? »Sieh mal, mein Entlein, ihr seid doch Schwestern«, ließ Frau von Barnim ihre Überredungskunst spielen. »Glaub nur, Püppchen würde dich nicht im Stich lassen, wenn du dich in der gleichen verzweifelten Lage befändest wie sie augenblicklich. Was sind für dich lumpige zwanzigtausend Mark? Eine Bagatelle – « Gudruns eigentümlicher Blick ließ sie schweigen. Und nun sprach das Mädchen – ruhig, sachlich. »Zwanzigtausend Mark kann ich euch leider nicht zur Ver fügung stellen, selbst wenn ich es wollte. Mutter Hermine hat mir wohl ein kleines Vermögen hinterlassen, doch ich darf vorläufig nur die Zinsen davon verbrauchen. Bis zu meinem dreiundzwanzigsten Geburtstag – oder bis zu meiner eventuellen Heirat, falls die früher stattfinden soll te. Dann allerdings kann ich auch über das Vermögen frei verfügen.« »So heirate doch schnell, Entlein!« riet ihr die oberflächli che, gedankenlose Fee. Doch da lachte Gudrun auf; unend lich amüsiert klang ihr Lachen. »Nein, liebe Fee, so groß ist meine Opferfreudigkeit denn doch nicht. Und was würde dir meine Heirat nützen? Dann brauchte ich doch das Geld, um mir eine Aussteuer anzuschaffen, und könnte dir die zwanzigtausend Mark ebensowenig zur Verfügung stellen wie jetzt, denn viel mehr macht nämlich mein ganzes Vermögen nicht aus.« Das mußte die kleine Frau allerdings einsehen. Sie seufzte schwer und sorgenvoll. »Hör mal, Entlein, du wirst dich doch nicht damit zufrie dengeben, daß Hermine ihren Dienern das Geld und der Stadt das Haus vermacht hat?« fragte die Mutter. »Du bist doch die alleinige Erbin und kannst dieses unsinnige Te stament anfechten.« »Warum?« entgegnete Gudrun gelassen. »Mutter Hermine
wird schon gewußt haben, warum sie es tat, und mir steht nicht das Recht zu, ihre letztwilligen Verfügungen anzu fechten. Die beiden Diener haben Jahrzehnte für sie gear beitet, waren ihr treu ergeben- und erhielten einen wahren Hungerlohn. Da ist es nur richtig von Mutter Hermine, daß sie Albert und Emma im Testament bedacht hat. Und das Häuschen hat für mich keinen Wert. Die Stadt hat viel bes sere Verwendung dafür; man hat irgendein Stift daraus ge macht.« »Nenne dieses alte Greuel nicht Mutter, ich kann das nicht hören!« schrie Frau von Barnim erbost. »Und warum nicht?« fragte Gudrun ruhig. »Sie war doch meine Mutter. Was ich bin und habe, – alles hat sie aus mir gemacht.« Diese Ruhe brachte die Mutter zur Raserei. »Aus dir gemacht – hahaha – du häßliches, häßliches Ent lein!« »Halt!« Die Köpfe schnellten herum, und alle drei sahen den Schloßherrn. Er hatte sich gegen den Türpfosten gelehnt, die Arme über der Brust verschränkt. Sie sahen, wie die seine Stirn bedeckende Röte sich langsam verlor und die dicken Adern an seinen Schläfen zurückgingen. Doch das kalte Glitzern in seinen Augen blieb, und nicht minder die drohende Haltung. »Bernulf – du!« stammelte Frau von Barnim mit bebenden Lippen und ließ sich auf den Diwan sinken, auf dem Fee bereits kauerte, Angst und Entsetzen in den Augen. Nicht oft hatte sie den Gatten so gesehen, doch jedesmal hatte sie Entsetzen gepackt. »Was geht hier vor?« Seine Stimme klang ruhig, doch so drohend, so eisig, daß selbst Gudrun erschauerte. »Was geht hier vor?« Noch herrischer, noch drohender waren jetzt seine Worte. Es war gar nicht möglich, zu antworten, sie konnten es ein fach nicht.
»Dann will ich es euch sagen«, klang die schreckliche Stimme wieder auf. »Ich stehe nämlich schon eine ganze Weile hier. Ihr wart so vertieft in euer Gespräch, daß ihr mich nicht bemerktet. Nicht einmal den Mut zur Wahrheit habt ihr – pfui Teufel! Und so etwas ist nun meine Frau, die Mutter meines Kindes!« Das letzte klang wie ein Stöh nen. »Habt ihr wirklich weder Ehr- noch Schamgefühl?« fuhr er fort. »Einem Mädchen, das allein auf der Welt steht, sein Geld abnehmen zu wollen und es zu schmähen, wenn es nichts geben kann!« Stille – bedrückende Stille. Und dann wieder die Stimme, jetzt unendlich müde. »Noch ein letztes Mal will ich eure Schulden bezahlen. Legt die Belege auf meinen Schreibtisch. Doch ich sage euch, es ist das letzte Mal!« Wie zwei verprügelte Hunde duckten Fee und ihre Mutter sich bei diesen Worten. Dann wandte der Graf sich an Gudrun, die unbeweglich dastand, den Kopf tief gesenkt. »Kommen Sie, Gudrun, Traude wartet auf Sie. Das ist auch der Grund, weshalb ich Sie hier suchen kam – und so nette Sachen hören mußte. Ich bin Traude in der Stadt begegnet, und da ich erfahren hatte, Sie seien nach Hohenwerth ge fahren, brachte ich Traude mit.« Gudrun folgte ihm. Es ging durch zahlreiche prunkvoll ausgestattete Zimmer, deren Einrichtung sonst eine Au genweide für Gudrun gewesen wäre. Doch jetzt ging sie achtlos daran vorüber; sah immer noch die kalten, glit zernden Augen vor sich, hatte den Klang der herrischen, eiskalten Stimme im Ohr. In dem Besuchszimmer wäre sie Traude Röstel fast in die Arme getaumelt. »Aber Gudrun, mein Entlein!« rief diese erschrocken. »Was hast du nur?« Ihr Blick flog zu dem Grafen hin, der in einem Sessel lehn te und eine Zigarette in Brand steckte. Sie kannte den Ber nulf doch! Seine Ruhe täuschte sie nicht, diese Ruhe, die
alles zu verdecken schien, was in ihm gärte und tobte. »Ihr habt euch doch nicht etwa gezankt?« fragte sie mit einem Blick auf Gudrun und den Grafen. Und da mußte er lachen. »Liebe Traude, ich sehe meine Schwägerin heute zum ers tenmal.« »Ach ja, richtig. Aber wollt ihr mir nicht sagen –?« »O nein, Traude, zerbrich dir dein gescheites Köpfchen nicht über Sachen, die dich nichts angehen.« »Nun seht doch einer diesen frechen Bengel!« rief Traude entrüstet, doch ihre Augen lachten. »Und so was hat man nun in der Jugend betreut und verhätschelt!« Nun mußte auch Gudrun lachen, und die Situation war gerettet. Der Graf und Traude plauderten miteinander, während Gudrun wie ein Häufchen Unglück in ihrem Ses sel kauerte. Zum Erbarmen elend sah sie aus, blaß und hager das Gesicht, das fein geschnitten war und das eine Intelligenzbrille besonders großen Formats halb verdeckte, die ihm ein beinahe groteskes Aussehen gab. Das straff zurückgekämmte, in einem Netz von vorsintflutlicher Fas son steckende Haar mußte entschieden mit Klettenwurzelöl behandelt sein, um es so fettglänzend, so strähnig zu ma chen. Und dann diese einfach unglaubliche Kleidung! Die schwarze Bluse aus billigem Stoff war hochgeschlossen. Fehlte nur noch die riesengroße Brosche aus Email, mit Blumen bunt bemalt – und eine Dame des vorigen Jahr hunderts war fertig. Der Graf hätte wetten mögen, daß der lange Rock Stoßkante und Plüschborte aufwies, wie sie unsere Großmütter an den Röcken trugen. Und die Strümpfe waren sicherlich aus gefärbter Schafwolle ge strickt, warm und haltbar. Unglaublich, daß man ein junges Mädchen so zur Vogel scheuche machen konnte! Wie lange dauerte es, dann war en die schönsten Jugendjahre dahin, und das arme, be dauernswerte Geschöpf wurde eine alte, verbitterte Jungfer, wie ihre verstorbene Adoptivmutter es gewesen war.
Der Graf kannte die traurige Geschichte dieses Mädchens; er hatte sie durch seinen Schwager Gero von Barnim erfah ren. Frau von Barnim, diese vergnügungssüchtige, ober flächliche Weltdame, hatte selbstverständlich weder Zeit noch Interesse für ein Baby. Eines mußte man ja haben, das sah sie ein. Und so liebte sie ihr erstgeborenes Kind, das niedliche, zartgliedrige Püppchen, denn auch mit wah rer Affenliebe. Damit war alles, was an guten und weichen Gefühlen in ihr war, vollkommen verausgabt, und für ih ren Sohn, der ein Jahr später geboren wurde, blieb nichts mehr an Mutterliebe übrig. Doch sie ließ ihn noch gnädig gelten, es war immerhin ein Junge, auf den man später viel leicht stolz sein konnte. Damit war ihr Interesse für ihn erschöpft. Ihr Entsetzen war grenzenlos, als drei Jahre später noch ein Mädchen geboren wurde – und gar noch ein ganz beson ders schwaches, kümmerliches. »O dieses häßliche, häßliche Entlein!« hatte die Mutter ausgerufen, als man ihr das neugeborene Kind in den Arm legte. »Wie komme ich zu diesem häßlichen Kind? Und es ist auch noch ein Mädchen!« Ihr vergöttertes Püppchen war ein allerliebstes Kind, der Junge war auch hübsch – und nun dieses häßliche Baby? Sie mochte das Baby überhaupt nicht sehen, überließ es fremden Händen, nannte es nie anders als häßliches Ent lein, so daß das Kind diesen Namen behielt und nie anders genannt wurde. Das Kind war eben häßlich, und keiner nahm sich die Mühe, es genauer anzusehen. Es lebte still für sich, erhielt das nötige Essen, trug die abgetragenen Kleider der Schwester, machte sich so unsichtbar wie mög lich und fiel niemand zur Last. Stundenlang konnte die Kleine in einem Winkel sitzen und mit der abgelegten Puppe der Schwester spielen. Nie durfte sie in das Besuchs zimmer kommen, während das verhätschelte Püppchen, um das sich das ganze Haus drehte, aufgeputzt den Gästen vorgezeigt wurde – ein echtes Paradekind, auf das die Mut ter ungeheuer stolz war, während sie sich der jüngsten
Tochter schämte. So vergingen vier Jahre, als eine entfernte Verwandte, Fräu lein Hermine von Barnim, zu Besuch kam. Ein unliebens würdiges, verbittertes Fräulein, das die Gabe besaß, sich geradezu unglaublich lächerlich zu kleiden. Bei ihrer Frage nach den Kindern wurde ihr zuerst das Püppchen vorge führt, das sie aber kaum ansah, weil es ihr wie ein aufge putzter kleiner Affe vorkam. »Habt ihr nicht auch einen Jungen?« hatte sie gefragt, wo rauf Gero präsentiert wurde. Man behandelte diesen Gast mit großem Respekt, denn man dachte an das Geld, das man später vielleicht erben konnte. Gero fand bedeutend mehr Gnade vor den Augen des Fräu leins, das einen scharfen, durchdringenden Blick hatte. Und dann kam die Frage nach dem dritten Kind. Frau von Barnim sträubte sich heftig, der Tante die Kleine zu brin gen, doch es nützte ihr nichts, Fräulein Hermine bestand auf ihrem Willen. So wurde denn das kleine, häßliche Entlein herbeigeholt. Schüchtern kam das Kind ins Zimmer, stand stumm und steif da und musterte die fremde Frau mit großen, ängstli chen Augen. In den abgelegten, ihr viel zu großen Kleidern der Schwester, eine zerzauste Puppe fest an die kleine Brust pressend, so stand sie vor Fräulein Hermine, die sie lange ansah. »Gib mir das Kind, Daisy«, hatte sie gesagt, und Frau von Barnim wäre fast vom Stuhl gefallen vor Schreck. »Aber mit tausend Freuden, liebe Hermine!« hatte sie geru fen und sah schon im Geiste Millionen durch ihre Hände rollen, die ihr häßliches Kind später erben würde. Vorläufig war allerdings nichts zu erhoffen, denn Fräulein Hermine war sehr sparsam – geizig nannte es Frau Daisy. »Selbstverständlich mußt du mir alle Rechte an das Kind abtreten«, hatte Fräulein Hermine gesagt, »ich will es ganz für mich allein haben, mir in ihm eine Stütze für mein Al ter erziehen und einen brauchbaren Menschen aus der Kleinen machen. Das Kind verkümmert bei dir ja doch
nur.« Frau Daisy hatte die scharfen Worte hinuntergeschluckt, was wirklich eine Leistung für sie war. Die Millionen lock ten doch zu sehr, ihnen zuliebe konnte man schon etwas einstecken. So war das kleine Entlein mit der Tante gegangen. Die menschenscheue, verbitterte Hermine von Barnim hü tete ihr Töchterchen wie ein Zerberus und wußte es stets zu verhindern, daß die Kleine mit Eltern und Geschwistern zusammenkam. Ließ sich das einmal nicht vermeiden, dann wich sie nicht von des Kindes Seite. So hatten die Eltern ihr Kind und Fee und Gero ihr Schwe sterchen nur einige Male gesehen. Jedesmal, wenn Frau Daisy die verschüchterte, stocksteife Kleine in ihrer vorsint flutlichen Kleidung erblickte, war sie von Herzen froh, die ses Kind fortgegeben zu haben. An alles das dachte der Graf, während seine Blicke immer wieder zu der regungslosen Gestalt im Sessel hinflogen. Der feine Ästhet, dem alles Unschöne einen fast körperli chen Schmerz bereitete, fühlte grenzenloses Mitleid mit dem bedauernswerten Kind. Ganz unerwartet hob Gudrun den Kopf und sah ihm in die Augen. Was sie darin las, war ihr nichts Neues. Mitleid! – Sie sah es ja nicht zum erstenmal. Was galten ihr die Menschen, die ihren Nächsten nach dem Äußeren beurteilten? Sie wußte es ja, daß sie das häßliche Entlein war, und sogar ihre Kollegen und Kolleginnen auf der Universität nannten sie so, wenn sie von ihr sprachen. Doch merkwürdig, die Blicke des Grafen reizten sie tief. Also auch er war ein Mensch wie alle anderen – beurteilte seinen Mitmenschen nach der äußeren Hülle. Ganz plötzlich übergoß sich das hagere Gesichtchen mit heißer Glut, der Kopf schnellte in den Nacken. Und da schaute der Graf interessiert auf. An wen hatte ihn dieses merkwürdige Mädchen soeben erinnert? Halt, nun hatte er es! Die Barnim hatten von einer Groß mutter her fürstliches Blut in den Adern. Das Bild dieser
fürstlichen Frau, die gleichfalls den Namen Gudrun geführt hatte, war der Stolz der Familie, hatte einen Ehrenplatz bekommen und wurde jedem Besucher mit Stolz gezeigt. Dieser Ahne hatte soeben Gudrun geglichen. Es war aller dings vermessen, das Mädchen mit der Schönheit auf je nem Bild zu vergleichen, doch irgend etwas hatte sie von dieser Ahne, das stand fest. Und dann führte sie auch den Namen Gudrun – wie merkwürdig das war! Gerade dieses von den Eltern verach tete Kind nach der verehrten Ahne zu benennen? Er wollte Gero einmal fragen, wie das eigentlich zusammenhing. Traude Röstel mahnte zum Aufbruch, und der Graf hielt sie nicht zurück. »Wann reisen Sie wieder ab, Gudrun?« erkundigte er sich bei der Schwägerin. »Nach Neujahr.« »Das wird wohl kaum gehen, mein Herz«, warf die resolute Traude ein. »Du wirst bei mir bleiben, und ich werde dich zuerst hochpäppeln. Zum Erbarmen elend sieht die Krabbe aus! Ihre Adoptivmutter hätte auch etwas anderes tun kön nen, als dieses zarte, sensible Kind zu diesem anstrengen den Studium zu zwingen. Ich an Gudruns Stelle würde auf die paar tausend Mark pfeifen und den Krempel aufgeben.« »Wie soll ich das verstehen? Hat Fräulein von Barnim das Studium für Gudrun gewünscht?« erkundigte sich der Graf. »Ich bin vorläufig nämlich nicht im Bilde.« »Gewünscht? Gezwungen hat sie sie dazu!« erboste sich Traude. »Und wenn sie das Studium nicht vollendet, gehen ihr die fünfundzwanzigtausend Mark, von deren Zinsen sie leben muß, flöten. Allerdings – wenn sie krank wird oder heiratet, braucht sie das Studium nicht zu vollenden. Also wünschen wir, daß sich für dieses Kind schleunigst ein Mann findet.« Nun lachte Gudrun auf. Es war ein Lachen, das ganz und gar nicht zu ihrer Person paßte – so weich und süß und köstlich frisch war es, daß der Graf sie ganz erschrocken ansah.
»Wunderst du dich, daß dieses Kind lachen kann, Bernulf?« fragte Traude in ihrer trockenen Art. »Weißt du, ich wunde re mich eigentlich auch darüber. Doch nun wollen wir end lich aufbrechen. Du hast mir einen Strich durch meine Vormittagsarbeit gemacht, du Ausreißer«, wandte sie sich an Gudrun. »Als ich nämlich hörte, daß deine Frau Mama dich nach Hohenwerth entführt habe, hielt ich es für bes ser, als Verstärkung zu erscheinen. Und nun auf Wiederse hen, Bern. Doch halt, nein, wir haben uns das Prinzeßchen ja noch gar nicht angesehen. Ist's erlaubt?« Der Graf führte sie ins Kinderzimmer. Mit einer Behutsam keit, wie man sie diesem Mann gar nicht zugetraut hätte, hob er seine kleine Tochter aus dem Bettchen und hielt sie den Damen hin. Traude Röstel sah verlegen auf das Spitzenbündel nieder. »Bißchen klein«, meinte sie vorsichtig. »Aber Traude, mein Kleinchen ist doch kein Riesenbaby!« entrüstete sich der Graf. Und nun blitzte es in den dunklen Augen Traudes humorvoll auf. »Ja, mein lieber Bern, was soll ich da bewundern? Für die Eltern mag so ein Wurm ja der Urquell aller Freuden sein. Doch ein fremder Mensch, der nicht durch die Brille der Elternliebe sieht, – nimm's mir nicht übel, Bern – « Nun drohte ihr der Graf und legte sein Töchterchen zurück, mit lachender Entrüstung bedauernd, daß er sein Kleinod so unverständigen Augen überhaupt preisgegeben. Er führte die Damen in die Halle und nahm ihnen das Ver sprechen ab, am ersten Weihnachtsfeiertag Hohenwerth ihren Besuch abzustatten. Am ersten Weihnachtsfeiertag, um die Kaffeestunde, trafen Traude und Gudrun in Hohenwerth ein. Sie fanden die Schwiegermutter des Grafen, seinen Schwager Gero von Barnim und dessen Frau vor. Gero von Barnim, der fünfundzwanzig Jahre zählte, war dem Grafen bei der Verwaltung seiner Güter eine große, zuverlässige Stütze. Ein offener, unkomplizierter Charakter, tüchtig als Mitarbeiter, treu und selbstlos als Freund. Er
hatte nicht die faszinierende Erscheinung des Grafen, machte jedoch mit seiner mittelgroßen Gestalt, dem hüb schen, etwas zu weichen Gesicht und den treuherzigen blauen Augen ebenfalls einen durchaus vornehmen Ein druck. Entzückend war seine kleine Frau, mit der er seit einem Vierteljahr ganz unvernünftig glücklich verheiratet war, wie er selbst behauptete. Sie begrüßten Gudrun mit Herzlich keit. Frau von Barnim konnte es Gudrun nicht verzeihen, daß sie sie so schnöde im Stich gelassen hatte und das Geld nicht gab, das sie von ihr erwartete. Ihre Begrüßung fiel daher sehr kühl aus, und die von Fee nicht minder. Es wollte in dem kleinen Kreise keine Gemütlichkeit auf kommen. Die verhätschelte Fee konnte dem Gatten noch immer nicht die Szene von neulich verzeihen. Und wenn sie an den gestrigen Heiligabend dachte – wie kalt war er da gewesen, wie unpersönlich! Er hatte ihr ja alle Wünsche erfüllt, hatte ihr sogar die Reise nach St. Mo ritz bewilligt, ihr die ganze Ausrüstung dafür geschenkt – zum Dank für das Töchterchen. Nun unterhielt er sich mit Traude Röstel und legte einen so liebenswürdigen Ton in die Unterhaltung, wie er ihn ihr gegenüber niemals anschlug. Wie sie diese Person haßte! Es war kaum glaublich, daß der kalte, herzensarme Bernulf an jemand so hängen konnte wie an dieser Kindheitsge spielin. Traudes Vater war Güterdirektor beim alten Grafen Hellmarck gewesen und hatte in einem Beamtenhaus auf Hohenwerth gelebt. So wurde denn der kleine Graf Bernulf und die um drei Jahre ältere Traude unzertrennliche Spiel gefährten. »Nun, Gräfin, was hat der Weihnachtsmann gebracht?« Fee wußte nicht recht, ob sie eine kühlhöfliche Antwort geben oder ob sie ihre Geschenke aufzählen sollte. Sie ent schloß sich für das letzte; mochte diese abscheuliche Per son doch wissen, was alles sie bekommen hatte.
So zählte sie denn vielerlei luxuriöse, nichtige Dinge auf, an denen ihr Herz nun einmal hing und die sie sich bren nend gewünscht hatte. »Doch die Hauptsache ist eine vierwöchige Reise nach St. Moritz«, schloß sie triumphierend. Sie sah sich im Kreis um, um sich an der Wirkung dieser Eröffnung zu weiden. Doch Bewunderung las sie eigentlich nur in den Augen ihrer Schwägerin, der entzückenden IlseDore. »Da kannst du dich aber freuen, Fee!« sagte diese neidlos. »Aber fällt es dir nicht schwer, von deinem Baby fortzuge hen? Es ist doch in dem Alter, in dem man so kleine Kinder nicht gern fremden Händen überläßt. Und dann ist Baby auch ganz besonders zart – « Ilse-Dores Worte riefen bei Fee und ihrer Mutter tiefste Empörung hervor. Und wären beide Damen nicht zur Rücksichtnahme gezwungen gewesen – o weh, arme IlseDore! Denn Frau von Barnim fürchtete neuerdings nicht nur den Grafen, sondern auch ihren Sohn, der wie ein gereizter Tiger werden konnte, sofern man seiner geliebten Frau auch nur mit einem Wort zu nahe kam. So zwang denn die Mutter ihre Empörung nieder und ant wortete an Stelle der Tochter – allerdings sehr von oben herab; das konnte sie sich immerhin leisten. »Liebes Kind, das kannst du doch unmöglich beurteilen«, sagte sie voll Würde. »Ich glaube nicht, daß du imstande sein wirst, dein Baby , einmal so zu betreuen, wie eine erste Pflegerin aus einem erstklassigen Institut es kann.« Ilse-Dore hätte viel darauf antworten können, doch sie hielt es für besser zu schweigen. Die Stimmung war ohne hin schon ungemütlich genug. Das fand auch Traude Röstel und beschloß daher, einen anderen Ton in diese eisige Atmosphäre zu bringen. Sie ahnte jedoch nicht, daß sie mit der Frage, die sie nun an den Grafen stellte, einen Mißgriff machte. »Was hat dir denn der Weihnachtsmann gebracht, Bern?«
»Nichts«, war die knappe Antwort. »Nichts?« rief Traude verblüfft, und ihr Ton sprach Bände. Dadurch fühlte sich Fee selbstverständlich getroffen. »Sie brauchen gar nicht so erstaunt zu fragen, Fräulein Rö stel«, sagte sie gereizt. »Wovon soll ich etwas schenken? Bernulf hält mich in letzter Zeit so knapp, daß es eine Schande ist! Er hätte mir nur das Geld zu geben brauchen, das er für die Leutebescherung vergeudet hat, dann hätte er die schönsten Geschenke haben können. Und ich – habe ich ihm denn nicht genug geschenkt – ist denn das Baby nichts?« »Ach so, Bern, da hast du also deine Geschenke schon auf Jahre voraus«, meinte Traude trocken. Selbst auf die Gefahr hin, die puppenhafte Gräfin immer mehr zu reizen – diese Bosheit konnte sie sich nicht verkneifen. »Aber Fräulein Röstel – doch nicht unser Püppchen är gern«, sagte Frau von Barnim vorwurfsvoll. Schon liefen die hellen Tränen aus den blauen Augen. An der Mutter hatte man, gottlob, einen starken Schutz, da konnte man sich schon einmal gehen lassen. »Ja, was soll ich denn?« rief sie mit ihrer hellen Stimme erbittert. »Ich sage doch, daß ich kein Geld habe! Warum mußte diese kostspielige Leutebescherung sein? Hätte ich das Geld zur Verfügung gehabt, dann hätte ich Bernulf selbst seinen größten Wunsch erfüllen und ihm eine Reit gerte schenken können – als Ersatz für seine verlorene, tief betrauerte – « Sie hielt inne, denn gar zu drohend war der Blick des Gat ten. »Liebes Kind«, sagte er gelassen, »deine Erregung ist ebenso unnötig, wie sie unschön ist. Du mußt es mir schon über lassen, ob ich etwas, das ich tue, für richtig halte oder nicht. Meine verlorene Reitgerte kannst du mir nie ersetzen, und zwar aus dem einfachen Grund nicht, weil sich so lie be Andenken nun einmal nicht ersetzen lassen. So – und damit wollen wir das unerquickliche Thema beenden.« Doch da fragte Gudrun ganz unerwartet:
»Wie sah die Gerte aus, Graf Hellmarck?« »Du hörst es doch, Gudrun, Bernulf spricht nicht gern dar über!« rief Fee immer gereizter. Der Graf sah sie erstaunt an, und er umgab sich mit einem Hauch eisiger Ablehnung. Man merkte, wie widerwillig ihm die Worte, die die Höflichkeit ihm abrang, von den Lippen kamen: »Die Gerte selbst unterschied sich durch nichts von ande ren Gerten. Jedoch der Knauf war eigenartig. Ein Pferde kopf aus altem Gold, als Augen wundervolle, leuchtende Saphire. Vielleicht war die Gerte nicht einmal sehr wertvoll; ich weiß es nicht – doch mir war sie ein liebes, unersetzli ches Andenken.« »Warum willst du das denn wissen, Gudrun? Willst du Ber nulf etwa eine Gerte schenken?« fragte Fee höhnisch. »Vielleicht«, war die gelassene Erwiderung. Es wollte keine Gemütlichkeit aufkommen, immer wieder gab es Reibereien. Die Falte auf des Schloßherrn Stirn ver tiefte sich. »So, Traude, wirst du uns nun erzählen, was dir der Weih nachtsmann gebracht hat?« wandte er sich an die Kind heitsgespielin. »Oh, mir?« sagte diese lachend, »darauf kommst du im Leben nicht, Bern!« »So – das sollte mich wundern. Ist es etwas so Ausgefalle nes?« »Na, es geht. – Nicht, Entlein?« Diese nickte lächelnd. »Nun, Bern, ich will gnädig sein und dich nicht lange raten lassen. Also – einen Bräutigam!« Sie lachte Tränen über sein verblüfftes Gesicht. »Glaubst du mir nicht, Bern?« rief sie übermütig. »Ja – aber warum denn?« »Warum ich einen Bräutigam habe?« lachte Traude, sich schüttelnd. »O Bern, Bern! Selbstverständlich zum Heira ten!« »Ja, gewiß – aber wer ist es?« fragte er, immer noch ver
blüfft. »Rönner.« »Der Justizrat Rönner?« »Ja. – Gefällt er dir nicht?« »Das schon. Doch Traude, das hättest du eigentlich schon viel früher haben können – du kennst ihn doch schon mindestens zehn Jahre?« »Das konnte ich eben nicht früher haben, mein Jungchen. Willst du mir nicht gratulieren?« »Welche Frage, Traude! Meinen herzlichsten Glück wunsch!« Er zog ihre Hände an die Lippen – immer wieder. »Das kommt mir zu überraschend, Mädel, man hat ja gar nicht mehr zu hoffen gewagt! Warum brachtest du deinen Verlobten nicht mit?« »Er kommt später einmal. Heute hatte er eine dringende Familiensitzung, bei der ich überflüssig war.« Nun gratulierten auch die anderen. Fee tat es zwar sehr widerwillig, es blieb ihr jedoch nichts anderes übrig. Wie Bernulf Traude angestrahlt, ihr die Hände geküßt hat te, – so war er zu ihr nie – nicht mehr! Traude merkte es sehr wohl, wie widerwillig die Gräfin ihr die Hand entgegenstreckte, und sie konnte ein amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken. Recht kräftig schüttelte sie das Händchen^ das wie eine Kleinkinderhand in ihrer kräftigen lag. Noch größer, noch massiver wirkte ihre Gestalt neben der puppenhaften Frau. Das Puppengesicht, die blauen Augen, der Wuschelkopf – alles an sich ganz allerliebst. Doch über den Geschmack läßt sich streiten, und Traude Röstels Geschmack war Fee nun einmal ganz und gar nicht – in keiner Beziehung. Der Diener öffnete die Flügeltüren und meldete, daß der Kaffee serviert sei. So gingen alle Anwesenden ins Früh stückszimmer. Der Graf hatte angeordnet, der Kaffee solle dort getrunken werden. Und es stellte sich bald heraus, daß er damit das Richtige getroffen hatte. Schon allein das ge mütliche Zimmer mußte besänftigend auf die Gemüter
wirken, die heute gar so kriegerisch gestimmt waren.
Dazu war der Kaffee vorzüglich. Kein Wunder, daß die all gemeine Stimmung friedlich war, wenigstens solange man
mit Essen und Trinken beschäftigt war.
Danach ging man wieder in den kleinen Salon zurück und
merkte dort erst, daß Gudrun nicht mitgekommen war.
Traude Röstel vermochte es sich nicht zu erklären, wo das
Mädchen geblieben sein könnte, und wurde unruhig.
Nach ungefähr einer Stunde trat die Vermißte ein.
»Gudrun, Liebling, wo steckst du nur?« rief Traude erregt,
und das Mädchen lachte sie aus.
»Traude, du Gute, deine Aufregung verstehe ich nicht.
Wenn ich in der großen Stadt, in der ich nun schon jahre lang lebe, noch nicht verlorengegangen bin, werde ich es
hier ganz gewiß nicht.«
»Da hast du wieder einmal recht«, gab Traude verlegen zu.
Gudrun näherte sich dem Schloßherrn, stand vor ihm, oh ne Spur von Verlegenheit.
»Ich wollte Ihnen nur Ihr Eigentum wiedergeben, Graf
Hellmarck.« Dieser wagte nicht, sich zu rühren, sondern
starrte nur auf die Reitgerte, die Gudrun ihm entgegenhielt.
Die anderen waren hinzugetreten und nicht weniger ver wundert als der Graf. Es herrschte tiefe Stille, die endlich
Gudruns weiche Stimme unterbrach:
»Wollen Sie die Reitgerte nicht nehmen, Graf Hellmarck?«
Nun kam Leben in die Gestalt des Schloßherrn. Er ergriff
die Gerte und drehte sie nach allen Seiten.
»Wo haben Sie sie her? – Ich kann es gar nicht fassen«,
murmelte er.
»Sie staunen, Graf Hellmarck! Was für Zufälle es doch im
Leben gibt! Gerade ich mußte diese Gerte im Wald finden,
als ich vor ungefähr einer Woche mit den Skiern unterwegs
war. Ich hätte sie gar nicht gesehen, wäre ahnungslos daran
vorübergeglitten, wenn ich nicht gestürzt wäre. Und gerade
an der Stelle, wo ich lag, ragte die Gerte aus dem Schnee
hervor, muß also schon längere Zeit dagelegen haben. –
Die Kostbarkeit und Eigenart dieses wundervollen Stückes
rief mein Interesse an dem Besitzer hervor. Doch irgendein Gefühl hielt mich davon ab, sie einem Fundbüro zu über geben, obgleich ich damit ein Vergehen beging. Das Wap pen wies aus, daß die Gerte einem Edelmann gehören mußte. Doch das ist nicht Ihr Wappen, Graf Hellmarck!« »Da haben Sie recht, Gudrun. Die Gerte drückte mir mein sterbender Freund, der bei einem Ritt verunglückte, in die Hand. Daher ist sie mir auch so lieb und wert«, sagte er leise. »Oh, dann freue ich mich um so mehr, daß ich Ihnen das wertvolle Stück wiederbringen konnte«, entgegnete Gud run. »Jedenfalls danke ich Ihnen von ganzem Herzen.« Er zog ihre Hände an die Lippen. – Da meldete sich Gero: »Gudrun, Bernulf – Kinder – ihr nennt euch Sie? Das ist mir einfach unverständlich. Wenn ihr euch auch fremd seid – leider – so ist dennoch nichts daran zu ändern, daß ihr Schwager und Schwägerin seid, euch also duzen müßt. Oder liegt das etwa an dir, Schwesterchen?« Nun mußte Gudrun lachen, zögerte noch einen Augenblick und streckte dem Grafen dann die Hand hin. »Mir ist es recht«, sagte sie unsicher. »Und mir schon lange, kleine Schwägerin! Ich danke – dir.« »Und hier ist noch jemand, der ein Du von dir beans prucht, Entlein«, ließ sich Gero wieder vernehmen und schob seine Frau der Schwester zu. Ilse-Dores schöne Au gen hingen an Gudrun mit bittendem Blick. »Aber gern«, sagte das Mädchen, indem es die Hände der Schwägerin ergriff, »ich glaube, dich kann ich liebhaben, Ilse-Dore.« In den nächsten Tagen herrschte auf Schloß Hohenwerth ein wüstes Durcheinander. Die junge Gräfin stellte alles auf den Kopf und hetzte die Dienerschaft mit den unsinnigsten Befehlen hin und her. So atmeten alle erleichtert auf, als sie gleich nach Neujahr sich anschickte, die Reise nach St. Mo ritz anzutreten. Der Gatte brachte sie zur Bahn, suchte ihr ein Abteil aus,
kaufte ihr Bücher und Näschereien. Sie sah ihm stumm zu, und als er sich umwandte, umarmte sie ihn. »Bernulf, du bist so gut zu mir – und doch zürnst du mir immer noch«, schluchzte sie. Er kannte das zur Genüge, hatte zu oft erfahren müssen, daß die Tränen bei seiner Frau sehr locker saßen und nicht tragisch zu nehmen war en. »Ich zürne dir nicht mehr, Fee«, sagte er freundlich, doch mit einer Spur von Ungeduld. »Fahre nur freien Herzens, und amüsiere dich gut.« »Du weißt, Bernulf, daß ich nicht froh sein kann, wenn du nicht bei mir bist! – Ich sehne mich dann so schrecklich nach dir.« Seine Mundwinkel zogen sich nach unten – geringschätzig, voll beißender Ironie. »So? Nun, dann gebe ich dir den einen guten Rat, mein Kind: Bleib hier, – dann brauchst du dich nicht nach mir zu sehnen.« Erschrocken sah sie ihn an. »Aber nein, Bernulf – ich sagte ja nur – ich meinte – ach ja, das meinte ich,- vielleicht kannst du mich begleiten?« stot terte sie in höchster Angst, daß sie auf die Reise verzichten mußte. »Fee, ich habe andere Sorgen, als in St. Moritz dem lieben Gott den Tag zu stehlen und mich zu amüsieren.« »Wie du manchmal bist!« schmollte sie. In den ersten Wo chen ihrer Ehe hatte der Gatte das sehr niedlich gefunden und hatte ihr jeden Wunsch erfüllt. Doch sie hatte es zu oft versucht – jedenfalls reagierte er schon lange nicht mehr darauf; nun konnte sie schmollen, so viel und so oft sie wollte. »Nicht ein bißchen lieb und nett bist du zu mir!« beklagte sie sich. »So, bin ich das nicht?« entgegnete er zerstreut, indem er ihre Arme von seinem Nacken löste. »Das mußt du nicht so tragisch nehmen, Fee, ich habe viel im Kopf. Übrigens, was ich noch fragen wollte: Ist Baby bei der Pflegerin auch wirk
lich gut aufgehoben?« »Aber Bernulf, welche Frage! Glaubst du, ich würde reisen, wenn ich mein Kind nicht in besten Händen wüßte?« »Na ja, gewiß. Doch man hört überall von anderen Müt tern, daß sie sich von einem so kleinen Kind ohne Grund nicht trennen würden.« »Ach so, nun fängst du so an!« rief sie, während ihr die Tränen in die Augen schossen. »Du willst mir noch in letz ter Minute die Reise vergraulen, willst wohl gar – « »Aber nein, nein – um Himmels willen nicht!« unterbrach er sie ungeduldig. »Fahre in Gottes Namen und amüsiere dich!« Sie beruhigte sich auch auffallend schnell. »Nun muß ich das Abteil verlassen, Fee; es ist nur noch eine Minute bis zur Abfahrt des Zuges. Also, Fee – auf Wie dersehen – melde dich bald.« Er verbeugte sich und eilte davon. Auf dem Marktplatz des Städtchens stieß er auf Traude Rö stel und Gudrun. »Ah, sieh da, unser Freund Bern«, sagte Traude vergnügt. »Woher des Wegs?« »Ich habe meine Frau zur Bahn gebracht und habe noch allerlei zu erledigen.« »Also Strohwitwer. Da würde ich dir den guten Rat geben, deine geschäftlichen Angelegenheiten rasch zu erledigen und den Rest des Tages in unserer Gesellschaft zu verbrin gen. Wenn dich jedoch die Öde deines Heims lockt – « »Traude, du Spottvogel!« sagte er lachend. »Mit dem größ ten Vergnügen finde ich mich bei dir ein, sobald ich fertig bin.« – Er kam gerade zum Abendessen zurecht und wurde von Traude herzlich empfangen. Dr. Rönner, Traudes Verlobter, war ebenfalls zugegen und nahm die Glückwünsche des Grafen frohgelaunt entgegen. Hellmarck kannte und schätzte diesen tüchtigen, angesehenen Anwalt schön seit den zehn Jahren, die er im Städtchen weilte. Er wunderte sich immer wieder, daß die Herzen der beiden famosen
Menschen sich nicht schon früher gefunden hatten. Es wurde ein sehr gemütliches Mahl. Traude besaß aber auch eine ganz besondere Gabe, Wärme und Traulichkeit um sich zu verbreiten, das hatte Graf Hellmarck schon als wilder Knabe empfunden und sich gern von ihr verhät scheln lassen. Wenn er dagegen an die Ungemütlichkeit seines eigenen Heims dachte.- Nein, er wollte sich heute die Laune nicht verderben. Die Stunden verrannen wie im Flug, und es war spät, als die beiden Herren sich verabschiedeten. Graf Hellmarck mußte versprechen, während seiner Strohwitwerschaft recht oft zu kommen, was er auch sehr gern tat. Traude gab den Herren noch bis zum Portal der Villa das Geleit, dann eilte sie in das Wohnzimmer zurück. Gudrun kauerte in einem Sessel, und Traude ging zu ihr, umfaßte ihre Schulter und sah ihr mit zärtlichem Blick in die Augen. »Du siehst wieder miserabel aus, Entlein. Ich habe dich den ganzen Abend über nicht ein einziges Mal sprechen hören.« »Man muß schweigen, wenn kluge Leute reden.« »Du hast es nötig, meine Kleine! Ich glaube, das Baby ist heute kaum noch imstande, sich allein zu entkleiden.« Sie brachte Gudrun nach oben. Gudrun hatte ihr eigenes Zimmer in der Villa der Freundin und konnte es zu jeder Zeit beziehen. »Was ich schon lange wissen wollte, Traude: Wie steht Ber nulf wirtschaftlich – hast du eine Ahnung?« »Ja, Kindchen, das ist eine böse Sache. Vor Jahren war er ein reicher Mann. Doch die heutigen Verhältnisse sind für einen Landwirt alles andere als rosig. Dann hat er viel ge baut, verschönert, alles nach dem neuesten Stil eingerich tet, die modernsten Maschinen angeschafft. Das hält selbst der größte Geldbeutel auf die Dauer nicht aus, wenn die Einnahmen im Vergleich zu den Ausgaben gleich Null sind. Und im letzten Jahr – doch sag, Entlein, stehen dir Eltern und Schwester nahe?« »Das kannst du nicht von mir verlangen, Traude.«
»Tu' ich auch nicht, mein Herz. Also, siehst du – deine Schwester Fee ist das echte, rechte Luxusweibchen, und dein Schwager Bernulf ist der vornehmste, ritterlichste Mann, der sich nicht lumpen läßt. Jedenfalls sieht es traurig aus in Hohenwerth. Noch einige unvorhergesehene Ereig nisse, vielleicht eine Mißernte – und Bernulf ist erledigt.« »Dann verstehe ich Fees kostspielige Reise nicht, Traude.« »Das glaube ich dir, mein Herz, die wird kein vernünftig denkender Mensch gutheißen können. Doch siehst du, Fee hat ihm das Mädchen geschenkt, die Reise war schon lange ihr Wunsch – na also! Ich will mich gar nicht wundern, wenn die Frau Mama bald nachreist, selbstverständlich nicht von ihrem Geld.« »Unglaublich – dann ist Bernulf ein Schwächling!« »O nein, mein Herz, das ist er ganz und gar nicht. Er ist nur ein Mann, dem Jammern und Klagen ein Greuel sind.« »Noch eine Frage, Traude: Nutzt auch Gero Bernulf aus?« »Nein, Gudrun, ganz gewiß nicht. Der patente Junge hat nichts, auch gar nichts von seinen Eltern – genausowenig wie du. Er wird von Bernulf besoldet, anständig sogar, wie es sich für seine verantwortungsvolle Stellung gehört.« »Du scheinst Bernulf sehr zu schätzen?« »Ja, Gudrun, das muß jeder, der ihn kennt. Er ist der vor nehmste, hochherzigste Mann, den ich kenne. Und daher ist es ein Jammer, daß er eine solche Puppe als Gattin er wählt hat. Er wird diese Ehe durchs Leben schleppen müs sen, weil das Kind da ist. Und soweit ich Bernulf kenne, wird er um des Kindes willen die Ehe ertragen. Doch nun schlaf endlich, Entlein, sonst siehst du morgen noch elen der aus als sonst.« Sie küßte die Freundin herzlich und seufzte dabei schwer. Gudrun lachte, denn sie wußte genau, daß dieser Seufzer ihrer körperlichen Verfassung galt, die dieser treuen Freun din viel Kummer bereitete. »Laß gut sein, Traudelein«, sagte sie, schon halb im Schlaf. »Eines Tages werde ich so auf der Höhe sein, daß du mich händeringend zum nächsten besten Entfettungskurinstitut
schleifen wirst.« »Wollen es hoffen«, lachte Traude und ging in ihr Schlaf zimmer. Schon eine ganze Weile beobachtete Graf Hellmarck von seinem Gaul aus die Skiläuferin, die sich auf der Waldwiese tummelte. Wer mochte sie sein? Soviel Schneid und Grazie sah man selten. Nun kam sie endlich näher, und sein Erstaunen kannte keine Grenzen, als er in ihr seine Schwägerin Gudrun er kannte. Eine solche Verblüffung spiegelte sich auf seinem Gesicht, daß sie hellauf lachte. »Guten Tag, Bernulf! Du schaust mich ja an wie ein Wesen, das dir nicht ganz geheuer erscheint«, sagte sie spöttisch. »Tatsächlich, Gudrun, mir erscheint es auch wie ein Wun der, daß du eine so hervorragende Skiläuferin bist.« »So – bin ich das?« fragte sie achselzuckend und ein klein wenig von oben herab. »Das weiß ich nämlich selbst noch nicht. Ich finde Freude an diesem Sport, und es ist mir die Hauptsache, daß ich nicht ewig auf der Nase liege. Wie ich ihn sonst ausübe – hervorragend oder nicht –, das fällt für mich nicht ins Gewicht.« »So wenig eitel bist du, Schwägerin?« »Ich – eitel?« Eine grenzenlose Verachtung lag in den Wor ten. Er sah sie scharf an und mußte feststellen, daß sie wieder einmal so unvorteilhaft wie nur irgend möglich aussah. Der wollene Anzug, der von ungeübter Hand aus mißfarbi ger Wolle gestrickt war, sah verboten aus. Und dann die unschöne Schneebrille, die das hagere Gesicht noch mehr verdeckte, als die »Intelligenzbrille« es für gewöhnlich tat! Wieder trat ein mitleidiger Ausdruck in seine Augen – und wieder flog Gudruns Kopf in den Nacken. »Ich muß eilen, damit ich zum Mittagessen zurück bin. Auf Wiedersehen, Bernulf.« »Schade! Willst du nicht mit mir nach Hohenwerth kom men und mir einsamem Mann einige Stunden schenken – oder schickt sich das nicht?«
»Nicht schicken?« Sie lachte spöttisch und amüsiert auf. »Nein, so zurückgeblieben bin ich nicht, Bernulf.« »So komm, Gudrun, ich bitte dich herzlich darum.« »Nun gut, ich komme mit dir«, entgegnete sie kurz ent schlossen. »Doch ich muß von Hohenwerth aus Traude benachrichtigen, sonst ängstigt sie sich um mich.« »Das ist selbstverständlich, Gudrun. Du ißt bei mir zu Mit tag, trinkst mit mir den Nachmittagskaffee, und dann fahre ich dich zur Stadt zurück. Einverstanden, Schwägerin?« »Ja – das heißt – « »Nichts heißt – sei keine Spielverderberin, Gudrun!« »Bin ich ja auch gar nicht. Ich wollte dir nur den Vorschlag machen, daß wir Traude bitten könnten, nach Hohenwerth zu kommen.« »Ach ja, das ist eine famose Idee. Daß ich nicht selbst dar auf kam!« Unter lebhaften Gesprächen erreichten sie das Schloß. Der Diener wies Gudrun ein Zimmer an, in dem sie sich zu rechtmachen konnte, so gut es bei der Sportkleidung eben ging. Als der Graf kurz vor dem Mittagessen noch ins Kin derzimmer eilte, um nach seinem Töchterchen zu sehen, fand er Gudrun schon dort vor. Sie stand über das Baby bettchen gebeugt und war in den Anblick des Kindes ver sunken. Eben ergriff sie das Händchen der schlafenden Kleinen und drückte behutsam einen Kuß darauf. »Armes Kleines«, murmelte sie. »Warum >armes Kleines« fragte der Graf. Gudrun schwieg. Und nachdem der Schreck, den sein unerwartetes Erscheinen ihr verursacht hatte, überwunden war, trat wieder der abweisende Zug in ihr Gesicht, den man so gut an ihr kannte. »Wollen wir nicht ins Speisezimmer gehen? Ich habe schon den Gong gehört«, sagte sie in ihrer hochmütigen Art, die ihn unerklärlicherweise immer wieder reizte. Er nickte stumm, trat noch einen Augenblick an das Bett seines Töchterchens und folgte Gudrun ins Speisezimmer. Ihre Gesellschaft bot ihm nicht die Zerstreuung, die er er
wartet hatte. Sie war schweigsam wie immer, ließ ihn allein sprechen und wirkte mit ihrer hochmütigen, gelangweilten Ruhe einschläfernd. Es wurde auch nicht besser, als sie nach dem Essen in dem kleinen Salon den Kaffee tranken, und so atmete der Graf förmlich auf, als Traude kam. Sofort war Leben in dem kleinen Gemach, die Unterhal tung wurde lebhaft und rege. Traude erkundigte sich nach dem Ergehen des Kindes, und man begab sich auf ihre Bitte ins Kinderzimmer. Das Baby lag in seinem Bettchen und schrie – nein, wim merte kläglich, die Pflegerin war nirgends zu entdecken. Traude hob das Kind empor und wischte die Schweißtrop fen von dem flaumigen Köpfchen. Als sie mit ihrem Finger dem Mündchen des Babys nahekam, schnappte es danach und sog sich gierig daran fest. »Hunger hat das arme Wurm«, stellte Traude fest. »Wahr haftig, bei den paar hundert Kühen in Hohenwerth werden sie das Kind bei lebendigem Leib verhungern lassen.« Der Graf hatte einen Diener beauftragt, die Pflegerin her beizurufen, und diese trat nun ein, voller Angst und tief erschrocken, allerlei Entschuldigungen stammelnd, die der Gebieter kurz abschnitt. »Wo waren Sie?« herrschte er sie an. »Ich – ich – wollte – ich sollte – « »Nichts anderes sollen Sie, als bei dem Kind bleiben!« »Herr Graf – ich wollte doch wirklich nur – « »Hören Sie auf!« fuhr er sie so hart an, daß sie zusammen zuckte. »Sorgen Sie dafür, daß Baby eine Flasche be kommt.« »Aber – Baby hat doch eben – getrunken«, stotterte sie. »Dann sehen Sie mal gefälligst, wie das Geschöpfchen sich am Finger des gnädigen Fräuleins festsaugt.« »Das – das tun kleine Kinder immer. Baby ist noch so klein, es muß die Mahlzeiten ganz nach Vorschrift be kommen, weil der Magen des Kindes noch nicht so auf nahmefähig ist, daß – « »Hören Sie, bitte, auf«, unterbrach Traude sie unwillig. »Ih
re ganzen neuzeitlichen Einrichtungen sind für die Katz! Ich kenne die verrückten Methoden der Säuglingspflege. Stehen Sie nicht da, als ob Sie vom Himmel gefallen wären, besorgen Sie dem Kind eine Mahlzeit!« Das ließ die Pflegerin sich nicht zweimal sagen. Sie hastete eiligst davon, um nur aus dem Zimmer zu kommen. In erstaunlich kurzer Zeit kam sie mit der Milchflasche zu rück, die Traude ihr aus der Hand nahm und an das Auge hielt. »Zu heiß«, stellte sie fest, »halten Sie die Flasche in kaltes Wasser.« »Aber das Thermometer zeigte den richtigen Grad.« »Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe«, verlangte Traude un willig. »Ihr mit eurer Weisheit und euren sämtlichen Ther mometern könnt euch vergolden lassen. Ich habe ein sol ches Baby heute zum erstenmal in Händen, doch mein angeborener Mutterinstinkt sagt mir mehr, was zu tun ist, als eure jahrelange Fachweisheit. So, nun geben Sie dem Kind mal trockene Windeln. Oder muß es etwa auch so lange naß daliegen, wie das Lehrbuch der Säuglingspflege es vorschreibt?« Die Pflegerin hielt es für ratsam, ihre Weisheit für sich zu behalten, und beeilte sich, den Wünschen der resoluten Dame nachzukommen. Bald lag das Kind trocken und satt in seinem Bettchen, ei nen zufriedenen Ausdruck auf dem elenden Gesichtchen. Traude wandte sich noch einmal an die Pflegerin, die schon zusammenzuckte, wenn sie sie nur ansah. »Soviel ich beurteilen kann, müßte Baby wohler sein. Wie gen Sie es jeden Tag?« »Ja, gnädiges Fräulein.« »So – und wiegt die Kleine soviel, wie die Tabelle Ihres hervorragenden Buches es verlangt?« »Nein, leider nicht – sie gedeiht nicht so – doch das liegt an ihrer ganzen Konstitution.« »Aha, da haben wir die Bescherung! Ein sicheres Zeichen, daß das Kind nicht satt wird. Leuchtet es ihnen nicht ein,
daß man einen Säugling individuell und nicht nach dem Buchstaben behandeln muß?« »Aber ich bin doch in einem wirklich erstklassigen Institut gewesen und habe dort gelernt.« »Na ja – eben.« Traude sah ein, es lohnte sich wirklich nicht, mit dieser verbohrten Pflegerin noch ein vernünftiges Wort sprechen. Sie trat noch einmal an das Bettchen des Kindes, deckte es mit sanften Händen zu und verließ das Zimmer, von Gud run und dem Grafen gefolgt. In dem kleinen Salon herrschte minutenlang bedrückende Stille, dann sagte Traude: »Bern – du mußt einsehen, daß es mit dem Kind nicht so weitergehen kann. Die Person bringt das arme Wurm ja noch auf den Friedhof!« Mit hastiger Gebärde warf der Graf das Streichholz, mit dem er eine Zigarette entzündet hatte, in den Aschenbe cher. »Selbstverständlich sehe ich das ein«, entgegnete er. »Bern, du hättest es einfach nicht gestatten dürfen, daß deine Frau verreist; sie hätte diese Vergnügungsreise bis zum nächsten Winter verschieben können. Dann ist das Kind größer.« »Glaubst du etwa, daß Fees Anwesenheit dem Kind nützen würde? Die Male sind zu zählen, die sie im Kinderzimmer war. Selbst als sie abfuhr – ach, laß nur, Traude.« Er warf die Zigarette fort, sprang auf und durcheilte das Zimmer mit langen, unruhigen Schritten. »Dann allerdings«, sagte Traude, und es würgte sie etwas in der Kehle. »Und hast du niemand, Bern, dem du Baby an vertrauen kannst?« »Nein. In den ersten Wochen kümmerte sich Ilse-Dore viel um das Kind. Sie sagte mir auch, daß die Pflegerin nicht zuverlässig sei. Doch nun ist ihre Mutter erkrankt, und sie ist schon seit einer Woche fort, um diese zu pflegen. Ich sehe nach dem Kind, so oft es mir möglich ist. Doch ich verstehe nichts von der Säuglingspflege, kann daher der
Pflegerin keine Vorschriften machen.« »Wann kommt deine Frau zurück?« »Nächste Woche sind die vier Wochen Urlaub um. Doch ich glaube nicht, daß sie kommt. Sie amüsiert sich in St. Moritz köstlich.« »Und ihre Mutter?« »Ist seit zwei Wochen auch dort. In voriger Woche war Fee ein Jahr verheiratet; den Tag konnte sie doch unmöglich ohne Mutter begehen.« »Aber Bern!« »Laß nur, Traude«, winkte er ab, »mir sind Weibertränen und Weiberklagen ein Greuel – ich will meine Ruhe ha ben!« Traude wechselte mit Gudrun einen schnellen Blick, und diese erinnerte sich sofort an das, was die Freundin neulich gesagt hatte – genauso hatte sich alles zugetragen! Minu tenlang herrschte Stille. Traude schien angestrengt über etwas nachzudenken, und der Graf war an das Fenster ge treten und starrte hinaus. »So kann es wirklich nicht weitergehen, Bern«, klang nach einer Weile Traudes bedrückte Stimme auf. »Ich werde Ba by zu mir nehmen, und du kannst es sehen, so oft du willst.« Nun fuhr der Graf herum. Ein frohes Leuchten trat in seine Augen, das jäh wieder erlosch. »So schön das wäre, Traude – aber das kann ich nicht an nehmen! Du willst doch bald heiraten und hast keine Zeit, dich mit einem fremden Kind zu beschäftigen?« »Erstens ist mir das Kind nicht fremd, – weil es dein Kind ist, Bern. Und dann bleibt mir noch recht viel Zeit, um mich um Baby zu kümmern. Wenn ich es dir anbiete, dann verantworte ich es schon. Wenn Gudrun und ich auch kei ne geprüften, in einem erstklassigen Institut ausgebildeten Säuglingspflegerinnen sind, so werden wir das Kind den noch mit Verständnis und Liebe hegen und pflegen, und das ist, meiner Ansicht nach, mehr wert als Fachweisheit und alle Bücher der Welt. Gudrun, du tust doch Bern und
mir den Gefallen und schiebst deine Abreise hinaus und hilfst mir, dein Nichtchen zu betreuen?« »Aber von Herzen gern, Traude!« »Na, siehst du, Bern, das wird wunderschön gehen. Die Perle von einer Kinderpflegerin kann übrigens mitkom men; sie mag ja brauchbar sein, wenn man ihr gehörig auf die Finger guckt und sie immer gewärtig sein muß, daß Gudrun oder ich zu jeder Tages- und Nachtzeit im Kinder zimmer erscheinen können. Bist du einverstanden, Bern?« Er sagte nichts, beugte sich nur über ihre Hände und drück te sie an die Lippen. Sie streichelte über seinen gesenkten Kopf mit unendlich zarter Gebärde. Und als er sich wieder aufrichtete, sah er Tränen in ihren Augen, die das Mitleid mit ihm ihr erpreßt hatte. »Armer Junge«, murmelte sie, »du hast bei Gott ein besseres Los verdient!« Doch dann erhob sie sich schnell und verabschiedete sich, obgleich der Graf sie noch zu halten versuchte. Es gab alle Hände voll für sie zu tun, denn ihr Haushalt war auf einen solchen kleinen Gast nicht eingerichtet. Und sie wollte Baby so schnell wie möglich zu sich holen, morgen nach mittag noch. »Du sollst einmal sehen, Bern, wie unser Kleinchen gedei hen wird!« sagte sie eifrig. »Ich freue mich sehr auf unser Pflegetöchterchen; du auch, Entlein?« Diese nickte stumm; sie vermochte ihre Freude nicht so zu zeigen, wie Traude es tat. Am nächsten Vormittag mußte Graf Hellmarck zu einer dringenden Besprechung in die Stadt. Bevor er fortfuhr, ging er noch einmal in das Kinderzimmer, um nach Baby zu sehen. Es schlief, und die Pflegerin saß handarbeitend am Fenster. So war er beruhigt und schärfte dem Mädchen noch einmal ein, das Kind nicht allein zu lassen. Die Sitzung dauerte länger, als er angenommen hatte, und ohne sich noch aufhalten zu lassen, fuhr der Graf nach Hohenwerth zurück, wo er sich sofort ins Kinderzimmer begab.
Es war wieder einmal leer und die pflichtvergessene Pflege rin über alle Berge. Heute schien die Kleine wenigstens satt zu sein, sie schrie nicht so jämmerlich wie sonst immer um diese Stunde. Leise näherte er sich dem Bettchen, um das Kind nicht zu wecken. Doch was war das? Er riß das Kind empor. Die Milchflasche fiel auf den Tep pich – Köpfchen und Arme hingen herunter – das Ge sichtchen war blau angelaufen – die Augen aus den Höhlen getreten. Tot – erstickt an der Flasche, die man ihm gereicht hatte! Er schüttelte das Kind, faßte es bei den Füßen, so daß der Kopf nach unten hing. Doch es rührte sich nicht, nur ein Milchstrahl schoß aus dem geöffneten Mund. Minutenlang arbeitete er in wilder Verzweiflung. Doch umsonst – sein kleiner Liebling, dem die ganze Zärt lichkeit seines Herzens gehörte, war und blieb tot. Mit einer unendlich müden Bewegung, die nur zu sehr sei nen verzweifelten Schmerz verriet, legte er das Kind in das Bettchen zurück. Ließ sich dann in den nächsten Sessel fallen, und ein lauter Aufschrei entrang sich seiner Brust. Und dann rüttelte und schüttelte ihn ein Schluchzen, von dem sein ganzer kraftvoller Körper hin und her geworfen wurde. Dann saß er lange, den Kopf in den Händen vergraben, nur ab und zu aufstöhnend wie ein zu Tode getroffenes Tier. Ein leiser, weher Schrei ließ ihn aufschrecken. Er fuhr he rum und starrte auf Gudrun, die starr vor dem Babybett chen stand und auf das tote Kind schaute. »Bern! Mein Gott – Bern!« rang es sich endlich von ihren Lippen. Es war ein Aufschrei, so erschüttert und weh, daß selbst der in seinen Schmerz versunkene Mann unwillkür lich zusammenfuhr. Er wollte dem jungen Mädchen zulä cheln, brachte es jedoch nur zu einer verzerrten Grimasse. Sobald Gudrun ihr erstes Entsetzen überwunden hatte, sah
sie ein, daß sie diesem verzweifelten Mann nicht mit Fra gen kommen durfte. Zu helfen war dem Kind nicht mehr. Gudrun biß auf ihr Taschentuch, um ihr Schluchzen zu unterdrücken, und schlich lautlos aus dem Zimmer. In der Tür sah sie noch einmal zu dem Grafen, der schmerz ver sunken dasaß und nichts sah und hörte. Unten in der Halle des Schlosses stieß sie auf die gesamte Dienerschaft, die stumm aneinandergedrängt dastand und vor Entsetzen zitterte. Gudrun eilte an das Telefon und rief Traude herbei. In unglaublich kurzer Zeit war Traude in Hohenwerth, und als sie die verstörten Leute und die angstzitternde Gudrun sah, schossen ihr die Tränen in die Augen. Sie wandte sich an den Hausmeister, der sich bemühte, klare Antworten zu geben. Was er wußte, war nicht viel. Die Pflegerin war laut schreiend aus dem Kinderzimmer gestürzt und hatte sich an den Hals ihres Liebsten, der gerade beim Mittagessen im Dienerzimmer saß, geworfen. Halb wahnsinnig vor Angst, hatte sie hinausgestammelt, was geschehen war, und da hatte sie der viel jüngere Gärtnerbursche, der das heiratstol le Mädchen nur immer zum Narren gehalten, schaudernd von sich gestoßen. Und in ihrer Angst und Not hatte sich die Pflegerin in den tiefen Weiher des Parkes gestürzt. Die Pflegerin hatte ihre erbärmliche Pflichtverletzung mit dem Tod gesühnt. Das war für den Mann, der seinen klei nen Liebling in tiefstem Herzen betrauerte, freilich nur eine geringfügige Genugtuung. »Fee muß benachrichtigt werden, Bernulf«, wagte Gudrun, ihn an das Nächstliegende zu erinnern. »Ach ja – gewiß.« Wie aus Erz gegossen war sein Antlitz, hart und kalt, als er am Telefon stand und das Telegramm für die Gattin durch sprach. Spät abends kam die Rückantwort:
fee außer sich vor schmerz – kann reise nicht gleich antreten, da zusammengebrochen – mama. Der Graf biß die Zähne zusammen, daß es knirschte, und seine Hand schloß sich so fest um den Hörer des Telefons, durch den der Text der Depesche mitgeteilt wurde, als wol le er ihn zermalmen. Traude und Gudrun, die sich erboten hatten, bis nach dem Begräbnis des Kindes bei ihm zu bleiben und mit ihm im Arbeitszimmer saßen, konnten sich ungefähr denken, wel chen Inhalt das Telegramm hatte. Und wirklich mußte das Kind ohne Beisein der Mutter be graben werden. Dieser Vorfall empörte die Menschen tief, und ihr Mitleid und ihre Sympathie galten allein dem Gra fen, der unbeweglich und hochaufgerichtet an der kleinen Gruft stand. Noch an demselben Abend schrieb der Graf einen kurzen Brief an seine Frau, der vielleicht nicht sehr zart und höf lich ausgefallen war. Nach einigen Tagen schon kam die Antwort. Nicht Fee schrieb, sondern die Mutter: Lieber Bernulf! Du hast eine nette Art, Briefe zu schreiben – kurz, hart, befeh lend – als wenn ein erbarmungsloser Richter sie schreibt. Ich weiß genau, was meinem armen, bedauernswerten Püppchen blüht, wenn es nach Hohen wenn zurückkehrt. Deshalb werde ich nicht gestatten, daß sie es tut. Mein zartes, sensibles Kind würde an Deiner Seite zugrunde gerichtet werden. Gott sei Dank gibt es noch Männer, die ihre süße Schönheit und ihr anschmiegsames, sonniges Wesen mehr zu schätzen wissen als Du. Du hast sie nie zu würdigen verstanden, Du bist ein Mann ohne Ritterlichkeit und Lebensart bist ein roher, ungeschliffener Barbar! Ich will auch nicht, daß mein an Luxus gewöhntes Kind Dein Bettelleben weiter mit Dir teilen soll. Mein Püppchen ist für Luxus geboren, kann nur in der Sonne leben. Hier ist nun ein Mann, der ihr ein Leben voll Liebe, Reichtum
und Freude bieten kann – und dieser Mann vergöttert mein
Liebchen.
Später wirst du noch mehr von mir hören.
Daisy von Barnim.
»Noch mehr?« sagte eine zürnende Stimme, und eine Hand legte sich auf die des Grafen, der den Brief mittendurch reißen wollte, und hielt sie fest. Er fuhr herum und sah in Traudes empörtes Gesicht. »Das darfst du nicht tun, Bern«, sagte sie sehr ernst. »Du wirst es vermutlich sehr verwerflich finden, was ich dir jetzt eröffne – ich habe dir nämlich über die Schulter gesehen und die allerliebste Epistel mitgelesen. Ich stehe auf dem Standpunkt, daß ich auf Grund unserer Jugendfreundschaft berechtigt bin, meine Nase in deine Angelegenheiten zu stecken. Und da mir deine Verschlossenheit und Unzu gänglichkeit zur Genüge bekannt sind, so weiß ich, daß ich diesen Brief nie zu lesen bekommen hätte. So war ich ge zwungen, zu diesem wenig schönen Mittel zu greifen.« Traude sah ein leichtes Lächeln auf dem düsteren Antlitz des Mannes – das erste nach dem Tod seines Kindes. »Nun sage einmal, Bern, warum wolltest du den Brief, die ses Geständnis einer schönen Seele, vernichten? Damit du, wenn es zur Scheidung kommt, nichts gegen diese beiden raffinierten Weiber in Händen hast – damit sie es so dre hen können, daß dir die Schuld zugeschoben wird?« »Liebe Traude«, entgegnete der Graf bitter, »wer die Schuld trägt, ist hier vollständig Nebensache. Ja – wenn das Kind noch lebte und ich um dessen Besitz kämpfen müßte!« »Nun, das hättest du auf keinen Fall zu tun brauchen«, gab Traude spöttisch zurück. »Denn nach allem, was wir bisher erlebt haben, hätte dir diese Mutter das Kind mit tausend Freuden überlassen.« Sekundenlang herrschte tiefes, bedrückendes Schweigen, dann sagte der Graf – und es klang seltsam müde und ton los:
»O ja, ich muß schließlich noch froh sein, daß das Kind tot ist. Denn Kinder sind immer am meisten zu bedauern, wenn die Eltern sich scheiden lassen.« »Und soweit ich dich kenne, mein lieber Bern, hättest du um des Kindes willen deine trostlose Ehe weiter ertragen. So herzlos es auch klingen mag, lieber Junge – das Kind ist gut aufgehoben.« Er zuckte zusammen, und sie strich ihm begütigend über den tiefgesenkten Kopf. »Ich kenne Männer deiner Art, Bern«, sagte sie leise. »Derg leichen Bitternisse des Lebens werfen sie noch lange nicht um, schmieden ihnen Herz und Nerven zu Stahl und Eisen. Es schneidet ja nicht ins Mark, Bern. Du hast deine Frau in Wahrheit nie geliebt – eine vorübergehende Verliebtheit war es, die dich sie erwählen ließ. Du warst ihrer doch schon nach den ersten Wochen der Ehe überdrüssig, das wirst du nicht abstreiten können. Sei froh, daß du sie los wirst. Den Tod des Kindes wirst du auch verwinden, lieber Freund, dafür lasse nur die Zeit sorgen, die schon tiefere, schmerzhaftere Wunden vernarbt hat. Jedenfalls ist es ein Glück für dich, daß du diese unmögliche Frau auf so leich te Art losgeworden bist.« Traude Röstel war Frau Rönner geworden. Vor einigen Stunden hatte die Trauung stattgefunden, und die Gäste saßen in dem Heim des jungen Paares gemütlich beisam men. Graf Hellmarck und Gero von Barnim hatten als Trauzeugen fungiert; außer ihnen waren noch Ilse-Dore und Gudrun anwesend. »Gudrun, du kommst doch auch zu meiner Geburtstags feier?« fragte die Schwägerin. »Bedaure sehr, Ilse-Dore, aber übermorgen bin ich nicht mehr hier.« »Willst du verreisen?« fragte Ilse-Dore verwundert. »Ja, ich nehme mein Studium wieder auf«, entgegnete Gud run in ihrem gewöhnlichen Ton, der immer etwas Gleich gültiges und Gelangweiltes an sich hatte. »Aber Gudrun, du willst ganz allein in die Welt hinaus?«
wagte Ilse-Dore schüchtern einzuwenden. Gudrun sah sie an, und es lag unverhohlener Spott in ihrem Blick. »Hamburg ist nicht weit weg, Ilse-Dore. Und unter den Menschen, die da wohnen, bin ich nicht allein. Doch wir wollen dieses Gespräch lieber fallen lassen, wollen die jun ge Frau an ihrem Ehrentag nicht ärgern. – Auf dein Wohl, Traude«, sagte sie mit ihrem weichen Lachen, das man sel ten von ihr hörte, und hielt der Freundin das Glas entge gen. »Du bist ein unzugängliches Kind, Entlein!« entgegnete Traude mit tiefem Seufzer. »Sie hat es sich nun einmal in ihr eigenwilliges Köpfchen gesetzt, daß sie uns stört, daß ich in meiner jungen Ehe keine Gesellschafterin gebrau chen kann.« »Und habe ich da nicht recht?« rief Gudrun, immer noch lachend. Allerdings, man mußte ihr recht geben, wenn man es auch nicht aussprach. Sie hatten alle Mitleid mit dem einsamen Kind, doch keiner wagte es, ihr das zu bekunden. Sie hatte nämlich eine so hochmütige, abweisende Art, einen fühlen zu lassen, daß sie kein Mitleid brauchte. Die Gäste brachen bald auf; sie wollten das junge Paar nicht länger stören. »Dann sehen wir dich also nicht mehr wieder, Entlein?« fragte der Bruder, als er sich von Gudrun verabschiedete. »Nein, Gero, ich fahre morgen.« »Und wo wohnst du in Hamburg?« »Irgendwo; ich weiß es selbst noch nicht, hoffe jedoch, mein altes Quartier wiederzubekommen. Wir werden uns schon bald wiedersehen, denn zu den Ferien finde ich mich immer wieder in diesem Friedenshafen ein – voraus gesetzt, daß Traude mich noch haben will.« »Weiß der Kuckuck, man kann aus dem Mädel nicht klug werden«, sagte Gero, als er auf der Heimfahrt dem Schwa ger und Ilse-Dore im Schlitten gegenübersaß. »Mir ist im Leben noch kein Mädchen begegnet, das so rätselhaft ist wie unser Entlein.«
»Ja, was ist denn hier los?« unterbrach er sich erstaunt, als der Schlitten vor der Freitreppe des Schlosses hielt. »Die ganze Zimmerflucht ist ja erhellt?« »Was wird es schon sein?« meinte der Graf mit unerschüt terlicher Ruhe und einer Ironie, die Gero und Ilse-Dore aufhorchen ließ. »Es sind die Zimmer der Herrin des Hau ses, die erhellt sind – wahrscheinlich ist Fee von ihrer Ver gnügungsreise zurückgekehrt.« »Bernulf!« »Schrei nicht so, Gero. Hast du etwas anderes erwartet? Ich nicht.« »Frau Gräfin zu Hause?« fragte er in der Halle den Diener so ruhig, als wüßte er von der Ankunft der Gattin. »Sehr wohl, Herr Graf.« Er stieg die teppichbelegte Marmortreppe zum ersten Stockwerk hinauf, und Gero und Ilse-Dore folgten ihm wie betäubt. Und richtig, als sie das Arbeitszimmer des Grafen betraten, fanden sie Fee und ihre Mutter darin vor. »Soll ich nicht lieber hier warten?« fragte Ilse-Dore schüch tern den Gatten. Doch er ergriff ihre Hand mit festem Druck. »Komm nur, Mäuschen. Je mehr Zeugen Bernulf hat, desto besser ist es für ihn.« Da nickte sie nur und ging mit. »Guten Abend«, sagte der Graf, als er das Zimmer betrat. »Nun?« Er stellte sich vor Gattin und Schwiegermutter hin, erbar mungslosen Spott in den kalten, blitzenden Augen. Und diese Augen brachten Frau von Barnim um ihre künstlich aufrechterhaltene Ruhe. Die Worte, die sie bebend hinaus stieß, überschlugen sich infolge ihres schlechten Gewissens. »Du brauchst uns gar nicht so anzusehen! Püppchen ver trägt einen solchen Blick nicht – sie hat absolut nichts Bö ses getan – wahrhaftig nicht – Püppchen läßt sich auch nicht scheiden – nein, nein!« kreischte sie so heftig, daß ihre Stimme sich überschlug. Kreideweiß war ihr Gesicht,
das seltsam alt und verfallen aussah. »Braucht Fee einen Vormund?« klang die Stimme des Gra fen auf, klang doppelt eisig nach dem Schwall der sich überhastenden Worte seiner Schwiegermutter. »Püppchen hat Angst vor dir – große Angst!« weinte sie laut und zeigte auf die Tochter, die zitternd in einem Sessel kauerte und ihn aus angstgeweiteten Augen ansah. »Und will trotz dieser Furcht weiter meine Gattin bleiben?« »O Bernulf, das Kind liebt dich doch so sehr – sie kann ohne dich nicht leben; nicht wahr, Püppchen?« schluchzte die Mutter herzzerbrechend. »Die reinste Komödie!« knirschte Gero, der sich mit Auf bietung aller Kraft beherrschte. Mit einem Satz war er an des Grafen Seite, doch der schob ihn sanft zurück. »Ruhig bleiben, Gero!« sagte er scharf. Dann wandte er sich wieder Fee und deren Mutter zu. Das Blitzen seiner Augen ließ erkennen, daß er nicht so ruhig war, wie er sich gab. »Tut mir wirklich leid, daß der Mann, der Fees Vorzüge so sehr zu schätzen weiß, andern Sinnes geworden ist«, sagte er mit tiefster Ironie. »Du mußt nicht glauben«, fuhr Frau von Barnim auf, »daß dieser wirklich reizende Mensch Püppchen nicht mehr lieb te. Er mußte nur abreisen.« »Weil er erstens verheiratet ist – und weil er zweitens mich und meine Geschicklichkeit im Schießen fürchtet. Es ist nämlich kein angenehmes Gefühl, so ein metallenes Ding zwischen die Rippen zu kriegen.« »Waaas – waaas?« Frau von Barnim schnappte nach Luft wie der Fisch auf dem Trockenen. »Er ist – er ist – ver… hei… ratet?« »Leider, und noch dazu glücklicher Vater von vier hoff nungsvollen Sprößlingen. Seine Frau ist nett und reizend, viel zu schade für diesen dunklen Ehrenmann.« »Ja – aber woher weißt du –?« Mit einem Gemisch von Mitleid und Verachtung sah der Graf auf die vernichtete Frau nieder, die diese Eröffnung wie ein Keulenschlag getroffen hatte. Wieviele stolze Pläne
gingen in diesem Augenblick in Trümmer! Der Blick, mit dem sie zu dem Grafen aufsah, war wie der eines geprügel ten Hundes. Doch das störte seine Ruhe durchaus nicht; auf Derartiges war er gefaßt gewesen. »Wozu gibt es Detektive?« meinte er sachlich. »Aber ich brauchte nicht einmal einen zu bemühen, denn zufälliger weise weilte ein guter Bekannter von mir ebenfalls in St. Moritz und ist sogar noch dort. Und dieser liebenswürdige Herr war der Ansicht, daß Vorsicht immer besser sei als Nachsicht und daß es gut wäre, ich hätte ein wachsames Auge auf meine Frau. So war ich also schon unterrichtet, bevor der liebenswürdige Brief kam, der meinen Charakter so glänzend kennzeichnet. Durch diesen Herrn weiß ich auch, daß Fee an dem Tag, der ihr die Nachricht vom Tod ihres Kindes brachte, gesund und guter Dinge war, sich mit ihrem Verehrer ein Stelldichein gab und daher unabkömm lich war und nicht an das Totenbett ihres Kindes eilen konnte!« Bei den letzten Worten war seine Stimme hart und schnei dend geworden, die Gelassenheit war von ihm abgefallen. Wie ein erbarmungsloser Richter stand er vor den beiden Frauen, die das Entsetzen fast erstarren ließ. Die Augen flammten in seinem blassen Gesicht, in dem jeder Muskel gestrafft war. Hart und scharf fiel Wort auf Wort: »Der Tod des Kindes, durch die Pflichtvergessenheit der Mutter verursacht.« »Du willst Püppchen doch nicht etwa für den Tod des Kin des verantwortlich machen?« schrie die Mutter, außer sich vor Angst und Entsetzen. »So viele Mütter verreisen und überlassen ihre Kinder zuverlässigen Pflegerinnen!« Eine Handbewegung des Grafen, drohend und gebieterisch zu gleicher Zeit, ließ die empörte Frau schweigen. »Es hat keinen Zweck, mit euch über irgend etwas zu strei ten – mein Kind ist tot.« Hier schwieg er für den Bruchteil einer Sekunde, um etwas hinunterzuschlucken, das ihm in der Kehle saß. Doch dann
sprach er weiter, kalt, hart, sachlich. »Fee wird nach kurzer Zeit frei sein. Sie kann sich also ei nen andern Mann wählen, der sie besser zu würdigen ver steht als ich. Das ist alles, was ich in dieser Angelegenheit zu sagen habe.« »Und – und wovon soll Püppchen leben?« Frau von Barnims Stimme winselte, und der Graf wandte sich mit einem unbezwingbaren Ekelgefühl ab. Er sah Gero an, der in seinem Sessel saß und nur mit größter Anstren gung seinen Zorn meisterte. Oh, hätte Bernulf ihm nur freie Hand gelassen! »Du wolltest mir doch das Geld geben, Gero?« »Nein, das Geld gebe ich dir nicht!« weigerte er sich. »Tu, was ich dir gesagt habe, Gero«, sagte der Graf mit scharfer Stimme. Da gehorchte Gero und zählte das Geld auf den Tisch, das zur Einlösung eines Wechsels bestimmt gewesen war. Seine Zähne knirschten, so fest biß er sie zu sammen. »Das ist alles, was ich habe«, sagte der Graf und reichte das Geld Frau von Barnim, die hastig danach griff. »Wenn es mir möglich ist, werde ich Fee eine kleine Rente zahlen, doch es ist anzunehmen, daß ich es nicht kann. So – ich glaube, wir haben uns nichts mehr zu sagen.« »Gero, ich verreise auf kurze Zeit«, sagte Graf Hellmarck einige Tage später zu seinem Schwager. »Und zwar nicht geschäftlich, sondern zu meinem Vergnügen. Die Sache hier ist so vollkommen verfahren, daß mich einige hundert Mark mehr oder weniger nicht retten können. Ich fange an, nervös zu werden, und das ist kein gutes Zeichen. Ich will wenigstens mal für einige Tage aus der Misere heraus.« »Ja, reise nur, Bern, ich an deiner Stelle täte es auch. Wenn du wiederkommst, bist du vielleicht hoffnungsfroher.« »Hoffentlich.« Und so fuhr Graf Hellmarck fort. Er hatte sich vorgenom men, wenigstens einige Tage wieder so zu leben, wie er es von früher gewohnt war. Der Hoteldirektor, der den vornehmen Gast kannte, kam
ihm entgegen und geleitete ihn persönlich zu den Zim mern, die er für passend hielt. Der Graf nahm ein Bad, kleidete sich sorgfältig um und ging hinunter, um zuerst in aller Ruhe zu speisen. Den Mokka trank er im Cafe des Hotels und hörte dabei einer guten Kapelle zu. Doch lange hier zu sitzen, dazu fehlte ihm die Ruhe. So suchte er die Straßen auf, in denen um diese Tageszeit reger Verkehr herrschte. Das Hasten und Treiben der großen Stadt machte ihm Vergnügen. Er schlenderte langsam dahin, ließ sich stoßen und schieben und gab manchen Blick schöner Augen zurück, die dem vornehmen Mann, dessen Erscheinung selbst in diesem Getriebe auffiel, mit Bewunderung folgten. Er landete im Alhambracafe. Als er die Treppe emporstieg, sah er schon durch die Spiegel des Treppenhauses, daß das Cafe stark besucht war. Es war ein Elitenachmittag, und die Paare tanzten nach der vorzüglichen Musik. Der Graf woll te sich ein ungestörtes Plätzchen suchen, doch das war hier unmöglich. So nahm er denn den Platz, den der Ober ihm dienstbeflis sen anbot. Und kaum, daß er saß, wurden auch schon die Damen um ihn herum aufmerksam. Es begann ein Kreuz feuer von Blicken, das den Grafen eine Weile amüsierte. Dann ließ er seine Augen weiterschweifen, und seine Auf merksamkeit galt bald einem Tisch, an dem Studenten und Studentinnen in bunter Reihe saßen. Es war eine lustige Gesellschaft. Harmlos vergnügt, dem Ober nicht gerade sehr willkommen, da die Ebbe ihres Geldbeutels ihnen nicht gestattete, viel zu verzehren. Graf Hellmarck beobachtete sie mit Vergnügen. Doch plötzlich stutzte er und beugte sich vor, um besser sehen zu können, denn die eine Gestalt kam ihm seltsam bekannt vor. Und dann blitzte es in seinen Augen überrascht auf. Richtig, – das war Gudrun, das häßliche Entlein! Mit der ihr eigenen Lässigkeit saß sie unter ihren Kollegen und Kolleginnen und hatte den üblichen gelangweilten
Ausdruck im Gesicht. Wie eine Gouvernante sah sie aus, die das Benehmen ihrer Zöglinge zwar »shocking« findet, es aber resigniert längst aufgegeben hat, ihnen Schliff beizub ringen. Es waren hübsche, frische Mädel unter den Studentinnen, fast alle kennzeichnete ein Gemisch von Verwegenheit und Intelligenz. Gudrun schien man mit einer Art von Scheu zu betrachten; niemand wagte, sie zu necken, sondern man kam ihr all gemein sehr höflich entgegen. Sie schien nicht sehr beliebt zu sein, und der Graf hatte das Empfinden, als ob sie in diesem Kreis störend wirkte. Eben wandte sich ein junger Mann an sie, der äußerlich gut zu ihr paßte. Und als die Musik einen Augenblick schwieg, fing der Graf einige Brok ken der Unterhaltung der beiden auf – Fachausdrücke, la teinische Namen. Zwei der frischen Mädel standen auf, schlenderten Arm in Arm durch das Lokal und tuschelten mit unterdrücktem Gekicher. »Hat heute wieder ihre gelehrte Ader, unser häßliches Ent lein«, hörte Bernulf sie sagen, als sie an seinem Tisch vor beigingen. Dann hatten sie den Grafen entdeckt und lä chelten ihn süß und kokett an. Doch dieser hatte augenblicklich kein Interesse für sie. Ihn hatte plötzlich das Verlangen erfaßt, in die lustige Gesell schaft dort hineinzuplatzen. Er war neugierig, was Gudrun dazu sagen würde. Und er zögerte auch nicht lange. Als die Musik einen Tango spielte, ging er kurz entschlossen auf den Tisch zu. Die lustige Unterhaltung stockte sofort. Alle sahen zu dem vornehmen Fremden auf. Die Augen der Mädchen weiteten sich vor Entzücken; sie nahmen an, daß er ein Kavalier sei, der eine von ihnen zum Tanz führen wollte. Gudrun stockte mitten in einer lebhaften Debatte, die sie mit ihrem Nachbarn ausfocht. »Gudrun – « Da fuhr sie auf, und langsam wich ihr beim Anblick des
Grafen das Blut aus dem Antlitz. »Gudrun, Entlein, habe ich dich erschreckt?« fragte er be dauernd, indem er ihre Hände an die Lippen zog. Und nun hatte sie sich auch schon wieder in der Gewalt. »Guten Tag, Bernulf. Du kannst wohl meine Überraschung nicht begreifen?« »Doch, das kann ich, Gudrun. Ich wollte dich zwar überra schen, aber erschrecken wollte ich dich nicht. Willst du mich nicht bekannt machen?« Und nun folgten Namen, die dem Grafen begreiflicherwei se höchst gleichgültig waren. Als die andern hörten, daß er ein Graf war und Gudrun ihn duzte, gab es zu allerlei Ver mutungen Anlaß. Man wußte ja, daß das häßliche Entlein aus vornehmem Hause stammte, und wenn dieser stolze Mann gar ein Verwandter von ihr war – dann… Jedenfalls stieg sie in den Augen ihrer Kolleginnen gewaltig. »Gudrun, willst du diesen Tango mit mir tanzen?« fragte der Graf. »Ich kann gar nicht tanzen, Bernulf.« »Wenn ich dich führe, kannst du es schon – ich bitte dich darum, Gudrun.« »Meinetwegen, doch du wirst keine reine Freude haben.« Das konnte er nicht finden; ganz wundervoll paßte sie sich seiner Führung an. »Wenn man da nicht an den Zufall glauben soll«, plauderte der Graf bei den ruhigen Schritten, »dann weiß ich nicht, wie ich unsere Begegnung nennen soll. Ausgerechnet hier muß ich dich treffen, Gudrun!« »Das ist doch weiter nicht wunderbar, Bernulf«, lachte sie. »Dies ist eine vielbesuchte Stätte, an der man sich treffen muß, wenn man sie oft besucht. Doch* willst du etwa mit allen Mädels tanzen, die mit mir am Tisch sitzen?« »Ich denke gar nicht daran, Entlein. Wieviele sind es über haupt? -Sechs Stück – da hätte ich ja allerlei Arbeit, bis ich mit ihnen getanzt hätte. Nein, heute tanze ich nur mit dir.« »Du bist ja so vergnügt, Bernulf; geht es dir jetzt so gut?« erkundigte sich Gudrun.
»Im Gegenteil, Entlein, miserabler denn je. Doch ich bin nach Hamburg gekommen, um mal >Ferien vom Ich< zu feiern, und, wie du siehst, habe ich bereits damit begon nen. In Hohenwerth verlernt man tatsächlich Lachen und Fröhlichsein. Ich mag gar nicht daran denken, Entlein.« Das ungleiche Paar erregte bald Aufsehen. Dieser elegante Weltmann, dem die vornehme Abstammung geradezu auf der Stirn geschrieben stand, und dieses Mädchen in der lächerlichen Kleidung. Aus vornehmem Haus mußte auch sie stammen, denn ein gewisses Etwas, das in ihrer Erschei nung lag, ließ ihre vorsintflutliche Garderobe vergessen und die große Dame in ihr sehen. Dann wollte Gudrun nach Hause und verabschiedete sich von ihren Kollegen und Kolleginnen, die sie mit scheelen Blicken ansahen. »Da bin ich deinetwegen gehörig in Ungnade gefallen«, sagte sie vergnügt, als sie an Bernulfs Seite den Steindamm hinaufging, »weil ich dich nicht dazu gebracht habe, mit ihnen zu tanzen.« »Na, wenn schon, Entlein«, meinte der Graf und nahm ihren Arm. »Wohnst du weit?« »Nein, in einem der nächsten Häuser. Doch ich will zuerst noch Einkäufe für mein Abendessen machen.« »Das laß bitte bleiben, Gudrun. Wir essen beide irgendwo zu Abend, einverstanden?« »Nein, Bernulf, du kannst deine Zeit viel besser ausnutzen, als den Abend mit mir zu verbringen. Du bist doch ge kommen, um dich zu amüsieren.« »Kann ich das in deiner Gesellschaft etwa nicht? Sei nicht so unzugänglich, Gudrun, und setz nicht wieder dein hochmütiges Gesicht auf! Eben warst du noch so nett.« »Dann muß ich mich erst noch etwas zurechtmachen«, meinte sie zögernd. »Hier wohne ich übrigens. Willst du auf mich warten? Ich werde mich beeilen.« »Im Gegenteil, Gudrun, ich will mir dein Heim ansehen. Bei einem andern Mädchen müßte ich ja wohl noch fragen: oder schickt sich das nicht? Doch bei euch modernen,
selbständigen Mädchen hat sich dergleichen wohl über lebt.« »Wenn ich mich umziehe, mußt du sowieso hier warten – ich habe nämlich nur ein Zimmer«, sagte sie, während Purpurröte ihr zartes Antlitz übergoß. »Na schön, dann gehe ich hinunter. Doch zuerst sollst du mir dein Heim zeigen.« »So komm, du Quälgeist.« Sie betrat vor ihm das Haus, stieg drei Treppen hinauf und öffnete ein Zimmer, das einen separaten Eingang hatte. Das Licht flammte auf, und der Graf befand sich in einem schmalen Gemach, das nur notdürftig möbliert war. Ein Bett, zwei Stühle, ein altmodischer Kleiderschrank und ein Tisch, der mit Büchern bedeckt war. In einer Ecke war ein Vorhang aus billigem Kattun angebracht, der wohl Sachen verbergen mußte, die unsichtbar bleiben sollten. Über dem Bett hing ein Bild – das einzige Bild in dem Zimmer – und des Grafen Blick haftete darauf. Das Bildnis einer Frau. Eckige, unschöne Züge, ein Mund, der fest zusammengepreßt war und wie ein schmaler Strich wirkte. Er gab dem Gesicht etwas Verbissenes. Dazu ein Paar kalte Augen, die einen durch und durch zu sehen schienen. »Meine Adoptivmutter«, sagte Gudrun erklärend. »Doch willst du nicht Platz nehmen? Ich glaube, so viel Zeit ha ben wir noch, um eine Tasse Tee zu trinken. Sonst würde ein Aufenthalt hier ungemütlich sein, zumal, da das Zim mer ungeheizt ist.« »Wird es denn nicht jeden Tag geheizt?« »Nein, jeden zweiten Tag.« »Sag mal, du armes Mädel, hier also verbringst du deine schönsten Jugendjahre – zwischen diesen Wänden. Und büffelst noch dazu?« »Was willst du? Mutter Hermine war es, die mir dieses Zimmer selbst aussuchte – und aus Pietät behalte ich es. Es bleibt mir ja auch keine andere Wahl. Denn mit den Mit teln, die mir zur Verfügung stehen, kann ich mir kein ande
res Quartier leisten.« »Und findet sich denn kein Mensch, der zu diesen kargen Mitteln zuschießt? Weiß Traude, wie du hier haust?« »Selbstverständlich! Doch nimmst du etwa an, daß ich – « Sie errötete unter seinem mitleidigen Blick und warf den Kopf in den Nacken. »Ich mag nicht von Almosen leben«, sagte sie schroff und hochmütig. »Außerdem teile ich die Ansicht Mutter Her mines, daß es einem Menschen durchaus nichts schaden kann, wenn er auch die Schattenseiten des Lebens kennen lernt. Dann wird er ein behagliches Leben, wenn es ihm später vielleicht beschieden ist, um so mehr zu schätzen wissen.« Sie wandte sich ab und hantierte mit einem Spirituskocher, den sie hinter dem Vorhang hervorholte, und es dauerte nicht lange, so stand vor ihm ein Glas mit dampfendem Tee. Dann holte sie noch ein Körbchen mit Gebäck hinter dem Vorhang hervor. »Bitte, bediene dich, Bernulf – ich gebe, wie ich es habe.« »Aber selbstverständlich, Gudrun, besten Dank. Und nun noch eine Frage – aber nimm sie nicht wieder ungnädig auf – wie lange dauert dein Studium noch?«
Ihr Blick verfinsterte sich auffallend, und nur widerwillig
gab sie Antwort.
»Unter Umständen noch recht lange – denn ich bin nicht
begabt.«
»Und wer zwingt dich denn dazu?«
»Mutter Hermine selbstverständlich. Das heißt – wenn ich
es körperlich nicht schaffe, kann ich es aufgeben. Doch was
soll ich beginnen? Mir ist alles andere ebenso schrecklich
wie dieses Studium.«
»Wie alt bist du, Gudrun?«
»Zweiundzwanzig. Es wäre also langsam Zeit, mit meinem
Studium fertig zu werden. Vorläufig jedoch ist kein Gedan ke daran.«
»Fällt dir denn das Lernen schwer?«
»Nein, bis zum Abitur schaffte ich es spielend. Doch nun –
aber wozu noch viel darüber reden, es nützt ja doch nichts.« »Bringst du dem, was ins Fach der Hausfrau schlägt, nicht mehr Interesse entgegen?« »Ja, das wäre vielleicht noch das einzige, wofür ich mich eignen würde.« »So rate ich dir, eine Hausfrauenschule zu besuchen, dich im Hauswesen heranzubilden.« »Und dann alten, alleinstehenden Herren die Wirtschaft zu führen«, warf sie ironisch ein. »Vielleicht heiratest du.« Nun lachte sie amüsiert auf. »Weißt du was, Bernulf, – strenge deinen Verstand nicht unnötig an. Mein Weg ist klar vorgezeichnet. Trink deinen Tee, und laß dir durch diese Umgebung deine gute Laune nicht verderben.« Nun plauderten sie von allem möglichen und tranken ih ren Tee. Der Graf war erstaunt, wie vorzüglich er schmeck te. Gudrun sah es und lächelte. »Das ist der einzige Luxus, den ich mir leiste – guten Tee oder guten Kaffee. Wenn ich hier so allein sitze und büffe le, brauche ich Anregung.« »Du hättest doch lieber bei Traude bleiben sollen, Gud run.« »Was soll ich bei ihr? Ich bin da so überflüssig wie irgend möglich. Solange sie allein war, konnte sie meine Gesell schaft gebrauchen, doch nun hat sie einen Mann, den sie über alles liebt. Sie schreibt zwar in jedem Brief, daß sie mich sehr vermißt, aber das glaube ich ihr einfach nicht. Doch nun muß ich dich leider hinauswerfen. Denn wenn wir zum Abendessen noch irgendwo hingehen wollen, wird es Zeit; ich habe nachher noch zu arbeiten.« »Da hört doch alles auf, Gudrun; wenigstens am späten Abend solltest du dir Ruhe gönnen!« »Und wenn du noch so entrüstet bist, mein Lieber, es nützt alles nichts. Sei also so gut und warte unten auf mich, ich werde mich beeilen.«
Es dauerte auch wirklich nicht lange, da erschien sie. Er führte sie in ein vornehmes Restaurant, von dem er wußte, daß man dort gut speiste. Gudrun stach in ihrer Kleidung sehr von den anderen Da men ab, die in dem Lokal weilten. Daß sie sich umgeklei det hatte, war wirklich nicht zu merken. Sie trug ein schwarzes Kleid wie immer. Mancher verwunderte Blick ging zu dem ungleichen Paare hin. Gudrun aß wenig, alkoholische Getränke wies sie zurück. Es begann dem Grafen in ihrer Gesellschaft allmählich langweilig zu werden, und sie merkte es wohl. Sie erhob sich auch bald. »Willst du schon gehen, Gudrun?« »Ja, du Armer hast dich jetzt lange genug geopfert«, erwi derte sie gelassen. »Es wird für dich, der du hergekommen bist, um dich zu amüsieren, ein besseres Vergnügen geben, als dich in meiner Gesellschaft zu langweilen.« In der Tat – nun war sie ganz Dame, als sie den Ober he ranwinkte und ihren Mantel verlangte – diesen Mantel, der ebenso unmöglich war wie ihre sonstige Kleidung. Und der Ober, der bisher mit einem Gemisch von Mitleid und Spott auf diese Dame gesehen, wurde plötzlich sehr devot. Dem Grafen entging das durchaus nicht, und er amüsierte sich köstlich darüber. »Die fürstliche Ahne herauskehren« nannte er es bei sich, wenn Gudrun so war wie jetzt. Und gleichzeitig mußte er feststellen, daß ihm in seinem beweg ten Leben noch nie ein so rätselhaftes weibliches Wesen begegnet war wie Gudrun. Es war spät, als Graf Hellmarck am nächsten Morgen er wachte. Er stand auf, reckte und streckte behaglich die schlanken, kräftigen Glieder. Er nahm ein Bad und ließ das wohltem perierte Wasser über die Glieder rieseln. Erfrischt und er quickt kleidete er sich an und ging zum Frühstück. Dabei überlegte er, was er unternehmen könnte, um den Tag angenehm zu verbringen. Und da fiel ihm der Masken ball ein. Er bat den Direktor zu sich und verhandelte mit
ihm wegen einer Einlaßkarte. Eine Stunde später war er im Besitz der Karte. Ob er nicht zu Gudrun ging und sie überredete, das Fest mit ihm zu besuchen? Er verwarf den Gedanken. Doch sehen wollte er nach ihr, und so fuhr er zu ihrer Wohnung, in der er sie aber nicht antraf. Die Frau, die ihr das Zimmer vermietet hatte, kam auf sein Klopfen herbei und musterte den vornehmen Fremden mit unverhohlener Neugierde. »Fräulein von Barnim ist nicht zu Hause, sie ist um diese Zeit immer im Kolleg. Soll ich etwas bestellen?« »Ja, bestellen Sie einen Gruß von – dem Hohenwerther Schwager. Wann kommt sie zurück?« »Das ist ganz verschieden, mein Herr, drei Uhr wird es je doch immer.« »Ich danke Ihnen.« Der Graf zog den Hut und stieg die Treppe hinunter. Also das war das Leben, das Gudrun führte. Bis in den Nachmittag Wissenschaft, dann eine kurze Pause, die sie wahrscheinlich dazu verwandte, um sich ihr kärgliches Mittagessen zu bereiten – dann wieder studieren bis in die Nacht. Armes, bedauernswertes Geschöpf! Den Rest des Tages verbrachte Graf Hellmarck in ange nehmster Weise, und abends besuchte er den Maskenball. Lockende, einschmeichelnde Musik überall, jubelndes La chen, Hirten, Gekose empfing ihn, als er den geschmückten Saal betrat. Er fühlte sich von weichen Armen umfangen, mitgerissen in tolle Wirbel. Allzu gut gefiel der Mann im seidenen Domino, unter dem ein eleganter Frack sichtbar wurde, den weiblichen Masken. Graue, blaue, schwarze und braune Augen strahlten ihm entgegen. Und gar manche dieser Masken war gewillt, den stolzen Unbekannten für ein paar tolle Stunden an sich zu fesseln und mit ihm zu flirten. Plötzlich gab es ein jubelndes Hallo, und eine ganz entzük kende Pierrette kam quer durch den Saal gelaufen, direkt in
seine Arme hinein. Sie hatte es nämlich gewagt, einer männlichen Maske, die, ihres heftigen Protestes nicht acht end, sie hatte küssen wollen, eine Ohrfeige zu versetzen. Das hatte einen tollen Jubel ausgelöst, und man war ihr nachgestürmt, um die schlagfertige Kleine einzufangen. Nun schmiegte sie sich zitternd an die Brust des Grafen, der sie fest in seine Arme schloß. Er hatte Mühe, sich die la chenden, jubelnden Masken vom Leib zu halten. »Nun erst mai Ruhe, meine Herren«, sagte er mit seiner gebietenden Stimme, die alle unwillkürlich einen Schritt zurücktreten ließ. »Was hat die Maske hier sich zuschulden kommen lassen?« »Sie hat den >Don Juan< geohrfeigt«, rief es jubelnd durch einander, »und der verlangt süße Rache von ihren Lippen.« »Und warum hat sie das getan?« »Er wollte sie küssen!« »Hat sie ihm Veranlassung dazu gegeben, daß er das wagen durfte?« »Kein Gedanke, gewehrt hat sie sich!« »Nun, dann ist die Pierrette in ihrem Recht. Denn hier darf man nur diejenigen küssen, die sich – küssen lassen«, sagte der Graf lachend. Das reizte den geohrfeigten Don Juan. »Mag die prüde Pute dann doch zu Hause bleiben und nicht auf einen Maskenball gehen«, sagte er ärgerlich. »Hier herrscht Maskenfreiheit.« »Aber nur, so weit es sich mit guter Erziehung vereinbaren läßt, meine Herren, nicht wahr?« »Kinder, wir wollen die reizende Kleine dem Domino über lassen«, riet ein Jockei, »sie steht ihm wirklich gut zu Ge sicht.« Alle gaben ihm lachend recht, und damit war der Streit geschlichtet. »Komm, ich bin netter«, verhieß eine Spanierin dem ge kränkten Don Juan, »ich passe auch viel besser zu dir als dieses Narrenkind.« So ließ er sich denn gnädig trösten und tanzte mit ihr da
von, und die anderen schlossen sich ihm an.
Jetzt erst kam der Graf dazu, sich die Kleine, die so ver trauensvoll bei ihm Schutz gesucht, näher zu betrachten.
Ein Pierrettenröckchen aus tiefroter, glänzender Seide,
gleichfarbige Schuhe und Strümpfe an den wundervoll
geformten Beinen, eine volle, schneeige Halskrause und
von gleicher Farbe die hohe Mütze.
Alles sehr einfach – und doch sehr eigenartig wirkend,
dank der entzückenden, graziösen Gestalt der Trägerin.
Schultern und Arme waren wie Blütenblätter so zart und
fein. Und wie Goldgespinst war das Lockenhaar, das unter
der Mütze hervorquoll.
Dem schönheitsdurstigen Grafen ging das Herz auf bei so
viel Süße. Gar zu gern hätte er auch das Gesicht seines
Schützlings gesehen, aber da mußte er bis zur Demaskie rung warten. Er zweifelte jedoch keinen Augenblick daran,
daß es ebenso reizend war wie das ganze Persönchen.
»Komm, mein leichtsinniges Kind, nun sollst du zuerst mal
ruhig werden.«
Er führte sie an ein stilles Plätzchen und gab dem Ober den
Auftrag, eine Flasche Sekt zu bringen. Er holte der Pierrette
einen Korbsessel herbei, in den sie sich erschöpft fallen
ließ.
»Bist du allein hier, mein Kind?«
Sie nickte stumm.
»Dann darfst du nicht so keck sein und verliebte Herren
ohrfeigen, mein rebellisches Mädchen.«
Der Ober eilte mit dem Sekt herbei, entkorkte die Flasche,
füllte die Kelche und zog sich zurück. Der Graf reichte der
Pierrette einen Kelch, den sie in einem Zug leerte.
»Noch einen?« fragte der Graf.
Sie nickte und leerte das zweite Glas ebenso schnell.
»Das ist ja aber eine Leistung, Kindchen«, wunderte er sich.
»Noch ein Gläschen gefällig?«
Sie schüttelte den Kopf, sich tiefer in den Sessel schmie gend. Doch damit war der Graf nicht einverstanden, er for derte sie zum Tanz auf.
Ein nie geahntes Gefühl überkam ihn, als er die grazile Gestalt im Arm hielt. Der genossene Sekt jagte ihm das Blut schneller als sonst durch die Adern, und er drückte die fei ne Gestalt an sich – ganz fest. Noch nie hatte er einen solchen Genuß beim Tanzen emp funden. Die phantastische Umgebung, das gedämpfte Licht, die zärtliche, einschmeichelnde Musik, dazu dieses wunderfeine Mädchen im Arm – alles das hatte für ihn etwas Unwirkliches, Märchenhaftes. Wenn ihm seine Tänzerin von anderen Männern entrissen werden sollte, hielt er sie mit stählernem Arm fest. So gab man es auf und ließ dieses Paar ungeschoren. Lange – lange tanzten sie, bis die Pierrette zeigte, daß sie müde sei. Da führte er sie in ein Zimmer, das zu einem blühenden Garten umgestaltet war. Eine eigenartige Be leuchtung täuschte Sonnenlicht vor, so daß die künstli chen, schneeigen Blütenbäume echt zu sein schienen. Am schönsten waren die lauschigen Lauben, die sich längs der Wände hinzogen, ein rechtes Versteck für verliebte Leute. Es flüsterte und wisperte auch an allen Ecken und Enden, und überall, wo der Graf hineinlugte, erblickte er zärtliche Pärchen. Endlich fand er eine freie Laube und schlüpfte mit seiner Pierrette hinein. Ließ sich mit ihr auf die Bank nieder, zog sie auf seinen Schoß. Und schon fanden sich ihre Lippen. Er küßte sie heiß, toll, durstig – wie er wohl noch nie in seinem Leben eine Frau geküßt hatte. Wie in einem Taumel war er. Ein Glücksgefühl erfüllte ihn, das ihm fast die Brust zersprengte. »Wer bist du, wunderholdes Kind?« raunte er ihr ins Ohr. »Willst du nicht deine Maske abnehmen?« Sie schüttelte den Kopf in heftiger Abwehr und hob die Hände zu ihr auf mit so flehender Gebärde, daß er nicht weiter in sie drang. E drückte sein Gesicht in ihr seidenwei ches, duftiges Gelock, von dem die Mütze schon längst gefallen war.
»Noch eine Stunde, dann sehe ich sowieso dein Gesicht«, flüsterte er ihr ins Ohr, »du süßes Mädel!« Er fühlte ihren Herzschlag – fühlte, wie er mit dem seinen Takt hielt. Das schimmernde Köpfchen lag an seiner Schul ter, so vertrauensvoll so selbstverständlich, als gehöre es für Zeit und Ewigkeit dahin. Ein feiner, berauschender Duft stieg aus dem Haar, der ihm die Sinne verwirrte. Er befand sich in einer so wundersamen Stimmung wie noch nie in seinem Leben. Immer wieder küßte er das Mädchen, preßte es an das wie rasend schlagende Herz, daß sie leise aufstöhnte. Die Stunde der Demaskierung kam heran. Der Graf riß seine Maske ab. »Nun auch du, mein zaubersüßes Kind!« verlangte er stür misch. »Zuerst einen Schluck Wein«, flehte sie, »ich verschmachte fast.« Wirklich – sie sah sehr erschöpft aus, und da stürmte er davon, kam in ganz kurzer Zeit wieder, eine Flasche und zwei Gläser in der Hand. Doch seine Maske war verschwunden! Er stellte Flasche und Gläser auf den Tisch und ließ sich auf die Bank fallen – unendlich müde war die Bewegung. Mit beiden Fäusten trommelte er gegen seine Stirn. »O, ich Esel!« knirschte er ingrimmig. Dann sprang er auf, rannte in den Saal, spähte überall um her, doch seine Pierrette war nirgends zu sehen. Noch einige Tage hastete Graf Hellmarck von Vergnügen zu Vergnügen, immer noch nicht die Hoffnung aufgebend, seine schöne Unbekannte in einem der Vergnügungslokale zu treffen. Jedesmal gab es dann eine Enttäuschung, über die ihm andere Frauen hinweghelfen mußten. Und dann war er endlich des Treibens müde. Da besann er sich auch wieder auf Gudrun, die er in dem tollen Wirbel der Vergnügungen ganz vergessen hatte. Er suchte sie an einem Nachmittag auf und traf sie in ihrem schmucklosen Heim bei der Arbeit. Der Tisch in der Mitte
des Zimmers war mit Fachschriften und Büchern bedeckt.
Vor dem Fenster stand ein kleinerer Tisch mit einem Zei chenbrett, und an ihm saß Gudrun und skizzierte.
Sie war gar nicht überrascht, als der Graf eintrat.
»Nun, Bernulf, hast du wirklich nichts anderes vor, als
mich in meiner Klause aufzusuchen?«
»Ich komme, dich zu einem kleinen Bummel abzuholen.
Bist du aufgelegt dazu?«
»Eigentlich nicht, ich wollte diese Arbeit heute noch been den.«
»Wenn ich abgereist bin, kannst du büffeln, soviel du
willst.«
»Nun, dann muß ich ja wohl! Du scheinst eigens gekom men zu sein, um das häßliche Entlein auszuführen«, sagte
sie mit einer Ironie, die ihn reizte.
»Immer, wie jemand es auffaßt«, meinte er achselzuckend.
Dann zeigte er auf einen Brief mit Trauerrand, der auf dem
Tisch lag.
»Was hast du denn da – ist jemand gestorben?«
Verwundert sah er, wie tief sie erblaßte und hastig an den
Tisch eilte. Nun blieb sein Blick an der Aufschrift des Brie fes haften.
»Das ist doch meine Adresse, mein Name?«
Doch da hatte Gudrun schon den Brief ergriffen und suchte
ihn hinter dem Rücken zu verbergen.
»Gudrun, was soll das? – Gib mir sofort den Brief, der mei ne Adresse trägt!« herrschte er sie an. »Wie bist du über haupt in seinen Besitz gelangt?«
Sie stand vor ihm, hochaufgerichtet, keinen Blutstropfen in
dem zarten Antlitz.
»Bernulf, ich bitte dich – laß mir den Brief«, flehte sie.
»Nein, ich verlange ihn von dir«, sagte er befehlend. »Die
Sache scheint mir höchst sonderbar. Gib mir den Brief,
Gudrun!«
Er ging auf sie zu. Doch da war sie auf den Tisch gesprun gen, so daß die Bücher zur Erde polterten. Und, die Arme
hochwerfend, riß sie den Brief in Fetzen, daß sie nur so im
Zimmer umherflogen.
»So«, sagte sie, tief aufatmend, und stieg vom Tisch hinun ter.
Furchtlos sah sie den Mann an, der in unheimlicher Ruhe
vor ihr stand. Kein Muskel zuckte in dem harten Gesicht.
Unwillkürlich senkte sie den Blick vor dem Funkeln seiner
Augen.
»Gudrun – ich will endlich wissen, was das zu bedeuten
hat!«
Sie strich sich mit zitternder Hand das Haar aus der Stirn.
»Fee ist tot.«
Sie sah, wie er zusammenzuckte, und wie ihm langsam,
ganz langsam das Blut aus dem Antlitz wich. Er ließ sich
mit einer unendlich müden Bewegung auf einen Stuhl fal len und starrte vor sich hin.
»Bern, lieber Bern, ich erhielt diesen Brief gestern früh.
Mutter schrieb mir von Fees Tod.«
»Dann will ich den Brief lesen, der diesen Tod anzeigt.«
»Bernulf«, flehte sie, und die Zähne schlugen ihr vor Erre gung aufeinander, »Bernulf, warte, bis du zu Hause bist,
dort wirst du alles erfahren!«
»Nein, ich will den Brief lesen. Will auch wissen, wie du zu
dem an mich adressierten Brief kamst!«
»Ich habe den Brief nicht mehr!«
»So – und was ist das?«
Unter den Papieren auf dem Tisch ließ sich die Ecke eines
Briefes erkennen, der gleich dem soeben vernichteten
schwarz umrandet war. Schon zog Gudrun ihn unter den
Papieren hervor. Doch der Graf erkannte ihre Absicht. Sei ne Hand umspannte ihr Handgelenk mit eisernem Griff,
und er sah mit spöttischem Lächeln, wie sie sich unter sei nen Händen wand.
Doch sogleich gab sie den Brief nicht her, es folgte erst ein
erbitterter Kampf – dann aber hielt der Graf das Schreiben
in den Händen.
»Man muß in diesem Augenblick vergessen, daß du aus
edlem Geschlecht stammst«, sagte sie wegwerfend und
strich über die schmerzenden Handgelenke.
Der Graf zog das Schreiben aus dem Umschlag und las:
Liebe Gudrun, mein geliebtes Kind! Nun bist Du mein einziges Töchterchen. Oh, mein Kind, mein Herz blutet aus tausend Wunden – denn Püppchen, mein Püpp chen ist tot! Gudrun – kannst Du das fassen? Ich ging mit dem lieben Kind wieder nach St. Moritz – sie war ja so unglücklich! Zu ihrer Zerstreuung unternahm sie eine Bobfahrt mit drei Herren – und von dieser kehrte sie nicht mehr lebend zurück. Während die anderen mit Verletzungen davon kamen, mußte mein Püppchen das Leben verlieren. Mein armes, lebensfrohes Kind! Und wer ist schuld – wer trieb sie wieder nach St. Moritz? Oh, wie ich diesen Mann hasse! Aber er soll einen Brief von mir erhalten – bei Gott – in dem will ich ihm meine Verachtung ins Gesicht schleudern! Für die Überführung muß er selbstverständlich aufkommen; die Ehe ist ja noch nicht rechtskräftig geschieden. Doch für die Schulden, die Fee gemacht hat, braucht der Lump nicht aufzu kommen. Da hat er sich gesichert. Und mein Püppchen brauchte doch Toiletten in diesem mondänen Ort, sie konnte doch nicht in Sack und Asche gehen. Ich weiß, mein geliebtes Kind, Du wirst Deine verzweifelte Mut ter, die mit Fees Tod alles verloren hat, nicht umsonst bitten lassen. Du brauchst vorläufig doch nicht alles Geld, das Dir Hermine hinterlassen hat. Und bald wirst Du eine anerkannte Ärztin sein und Geld in Hülle und Fülle haben. Sei barmherzig, mein geliebtes Kind, und gib Deiner gramgebeugten Mutter die Summe, die ja nur eine Bagatelle für Dich ist. Ich weiß, ich bitte Dich nicht umsonst. Bei Fees Begräbnis sehen wir uns ja wieder. O mein armes, ar mes Püppchen! Viele Grüße und Küsse Deine Mutter. Nachdem der Graf den Brief gelesen hatte, saß er unbeweg
lich da. »Bernulf!«
Er sah zu ihr auf, verständnislos war sein Blick, so daß
Gudrun laut aufweinte. Das brachte ihn wieder zu sich,
und er erhob sich.
»Nun, kleines Mädchen, du zitterst ja am ganzen Körper«,
sagte er beschwichtigend. Sein Blick haftete an den roten
Flecken, die sich an den Handgelenken scharf von der zar ten Haut abzeichneten.
»Tut es sehr weh?« fragte er mit tiefer, weicher Stimme. Er
erfaßte, trotz ihres Sträubens, ihre Hände und küßte die
roten Flecke an den Handgelenken.
»Laß doch den Unsinn«, sagte sie schroff und suchte sich
von ihm loszureißen.
Es gelang ihr auch.
Als sie, hochaufatmend, von ihm fortstrebte, musterte er sie
mit einem spöttischen, unter halbgeschlossenen Lidern
hervorkommenden Blick.
»Vielleicht erklärst du mir nun endlich – «
»Nichts erkläre ich dir!« erwiderte sie mit einer Heftigkeit,
wie er sie dem sonst so gelassenen Mädchen niemals zuget raut hätte.
»So, na – aus unserm Bummel kann ja nun leider nichts
werden, ich fahre heute nach Hause. Kommst du auch zum
Begräbnis?«
»Nein. Doch noch eines, Bernulf: um die Überführung, das
Begräbnis, die Schulden, – darum brauchst du dich selbst verständlich nicht zu kümmern! Fee war ja eigentlich gar
nicht mehr deine Frau.«
Er sah sie mit einem Blick an, vor dem sie den ihren nie derschlug.
»Nein, mein Kind, dieses Letzte zahle ich!«
»Aber Bernulf!«
»Kein Aber, kleines Mädchen. Und nun leb wohl. Irgendwo
und irgendwann werden wir uns wiedersehen.«
Er zog ihre Hände an die Lippen und ging.
Öde und Ungemütlichkeit empfing ihn in Hohenwerth.
Der Graf ging in sein Arbeitszimmer und rief Gero telefo
nisch zu sich. Er kam sofort und war traurig und bedrückt.
»Bernulf, wie schrecklich ist das alles! Wenn ich dir erzäh len werde – «
»Nicht nötig. Ich weiß schon alles.«
»Woher denn?«
»Von Gudrun. Ich sprach sie heute nachmittag und ent deckte auf dem Tisch ihres Zimmers einen an mich adres sierten Brief.«
Gero zuckte zusammen, und der Graf sah ihn scharf an.
»Weißt du von diesem Brief, Gero?«
»Ja!«
»So – na, dann wirst du wohl die Güte haben, mir zu sa gen, was das zu bedeuten hat. Gudrun weigerte sich hart näckig, mir Aufklärung zu geben.«
»Hast du den Brief gelesen?«
»Nein, Gudrun zerriß ihn vor meinen Augen.«
»Ah – das ist gut!« atmete Gero auf.
»Ich habe aber den an Gudrun adressierten Brief gelesen,
der gleichfalls von deiner Mutter stammte.«
»Auch Gudrun hat einen Brief bekommen?« fragte Gero
verwundert. »Was stand darin?«
»So allerlei nette Sachen, wie man sie eben von deiner Mut ter gewohnt ist. Jedenfalls sollte Gudrun Geld geben, um
die Schulden der toten Schwester zu bezahlen.«
Sekundenlang war es still. – Dann Geros Stimme:
»Pfui Teufel!«
»Na ja, nachdem du deinem Herzen Luft gemacht hast,
wirst du mir wohl auch erklären können, wie ein an mich
adressierter Brief in Gudruns Hände kam.«
»Also, das war so: Meine Mutter schrieb mir einen Brief, in
dem sie mir Fees Tod mitteilte. Ich glaube, er wird den glei chen Inhalt haben wie der an Gudrun gerichtete. Nachdem
du ein Exemplar davon gelesen hast, wirst du ja Bescheid
wissen – hm, ja – daß meine Mutter in bezug auf dich ihre
Worte nicht gerade gewählt hat. Und als ich dann unter
deinen Postsachen, die ich deinem Wunsch gemäß erledi gen mußte, einen schwarzumrandeten Brief von meiner
Mutter Hand fand, hielt ich es für besser, wenn du den nicht lesen würdest. Derselben Meinung war auch IlseDore. Nun hat meine Mutter mir geschrieben, daß sie in Hamburg Aufenthalt hat, und sie will Gudrun besuchen. So schickte ich Gudrun den Brief, damit sie ihn meiner Mutter wiedergeben und ihr ins Gewissen reden sollte. Ihr Einfluß wird ja entschieden größer sein als meiner, da sie das verlangte Geld wohl geben wird und nicht ich – da ich es nicht habe. Daß du nun ausgerechnet zu Gudrun gehen und den Brief finden mußtest, das ist Pech.« »Nun ist mir alles klar«, sagte der Graf gelassen. »Du bist ein guter Junge, Gero, doch die Mühe hättest du dir erspa ren können. Ich bin wirklich nicht so zartbesaitet, wie du annimmst – Worte, die eine hysterische Frau schreibt, hät ten mich nicht umgeworfen. Ich fühle mich an Fees Tod nicht im geringsten schuldig. Hast du eine Ahnung, was in dem Brief stand?« »Nein, ich habe ihn nicht geöffnet. Hat Gudrun ihn gele sen?« »Keinesfalls, der Brief war geschlossen, das sah ich deut lich.« »Na, darum«, atmete Gero auf, »das hätte ich auch dem Entlein nicht zugetraut, daß sie fremde Briefe liest.« »Sag mal, warum ließest du mir eigentlich keine Nachricht zukommen?« »Dich geht die Geschichte doch gar nichts an, Bernulf; jeder Mensch weiß, daß du mit Fee in Scheidung lagst. Mutter will sie ja auch gar nicht hier begraben lassen, sondern auf dem Friedhof in der Stadt. So viel Schamgefühl scheint sie denn doch noch zu haben, um sich zu sagen, daß sie sich in Hohenwerth nicht mehr blicken lassen kann. Und wahr scheinlich wird sie an den ersten Tagen an dem Grab ihr Bett aufstellen.« »Aber Gero!« schalt der Graf, mußte jedoch wider Willen lachen. »Na, weißt du, Bernulf, du verlangst doch nicht etwa, daß die ganze Sache mir noch leid tun soll?«
»Fee war deine Schwester.« »Ach was, Mutters Marionette war sie. Die zog am Stripp chen, und Fee tanzte. Du weißt nicht alles, was ich weiß, Bernulf – und das ist gut.« Wieder war es Winter geworden. Graf Hellmarck lebte still und sehr zurückgezogen in Ho henwerth, arbeitete und schuftete mit schier übermenschli cher Anstrengung, um sich noch einige Zeit über Wasser halten zu können. Gero stand dem Schwager treu und unermüdlich zur Seite, kämpfte mit ihm zusammen zäh und verbissen um Ho henwerth. In diesen Tagen der Sorge schlossen sich die beiden Männer immer fester aneinander an. Eines Tages hieß es, der Graf sei im Wald verunglückt. Während er einer Abholzung beiwohnte, sei er von einem fallenden Baum getroffen worden und liege nun in der Klinik. Diese Neuigkeit stand auch in dem Brief, den Gudrun eines Tages von Traude erhielt. »Schwer krank war unser Bern«, schrieb sie, »doch nun ist die Gefahr so gut wie vorüber. Morgen verläßt er die Klinik, aber er ist noch durchaus Rekonvaleszent. Und wenn er nicht die nötige Pflege hat, wird er schwerlich wieder zu Kräften kommen. Die Dienerschaft ist in Hohenwerth schlechter als anderswo, und da sie weiß, daß der Herr ihr nicht auf die Finger sehen kann, geht alles drunter und drüber. Ilse-Dore und ich tun ja unser möglichstes, doch das Rechte ist das nicht. Und so bin ich in großer Sorge um Bern.« Noch lange, nachdem Gudrun den Brief gelesen hatte, saß sie regungslos da. Als sie sich endlich aufraffte, lag ein ent schlossener Ausdruck in ihren Augen. Zwei Tage später traf sie mit Diener und Dienerin, die ihrer Adoptivmutter lange Jahre hindurch treue Dienste geleistet, in Hohenwerth ein, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt. Ohne auf den Protest der verblüfften Dienerschaft zu acht
en, nahm sie die Zügel in die Hand und erklärte mit der ihr eigenen Ruhe, daß jeder sich auf der Stelle als entlassen betrachten könne, der sich ihren Befehlen nicht fügen wür de. Das gab den Leuten zu denken, und als sie gar sahen, daß die energische Herrin Ernst machte, daß zwei Mädchen das Schloß verlassen mußten, fügten sie sich ohne Murren. Am erstauntesten war der Graf, als Gudrun plötzlich zu ihm ins Zimmer trat. »Gudrun – du?« »Ja, ich«, entgegnete sie gelassen und drückte ihn, der an gekleidet auf dem Diwan lag und sich zu ihrer Begrüßung erheben wollte, mit erstaunlicher Kraft auf seine Lagerstatt zurück. »Ich möchte nur feststellen, ob man dir etwas zu essen ge bracht hat. -Nein? Das sieht den Leuten ähnlich!« Bald darauf brachte sie ihm eine ebenso kräftige wie schmackhafte Brühe. Er konnte sich immer noch nicht von seinem Staunen erholen. »Woher weißt du, daß ich krank bin?« »Von Traude. Leider schrieb sie mir reichlich spät über die se Angelegenheit, sonst wäre ich schon früher gekommen. Du mußt doch jemand haben, der dich pflegt, damit du wieder zu Kräften kommen kannst.« »Und da erschien es dir selbstverständlich, daß du diejeni ge seist?« »Warum nicht? Ein wenig verstehe ich schon von dem Kram, sonst wäre das viele Geld ja umsonst ausgegeben worden.« »Und wie soll ich dir das jemals danken, Gudrun?« »Gar nicht. Du sollst dir in erster Linie nicht den Kopf zer brechen, sondern alles hinnehmen, was dir geboten wird. Wenn du wieder ganz gesund bist, können wir weiter über diesen Punkt sprechen.« »Wo ist das gnädige Fräulein, Albert?« »Das gnädige Fräulein ist im kleinen Terrassenzimmer, Herr Graf.« Eilig durchschritt der Graf die weiten Räume,
bis er in das kleine Terrassenzimmer gelangte. Gudrun weilte mit Vorliebe darin, hatte es zu ihrem Lieblingsauf enthalt gemacht. Sie saß in einem tiefen Sessel und hatte sich so sehr in ein Buch vertieft, daß sie den Grafen gar nicht eintreten hörte. Als er ihr das Buch aus der Hand nahm, schrak sie auf. »Wieder eine Fachschrift, Gudrun?« sagte er unwillig. »Laß doch endlich den ganzen Gelehrtenkram!« »Warum?« meinte sie gelassen. »Ich bin wirklich schon zu alt, um mir über meine Lektüre Vorschriften machen zu lassen.« »Mein Gott – ja.« Er warf sich in einen Sessel, und sie merkte, daß er sehr gereizt war. »Gudrun, man hatte es beinahe schon vergessen, daß du eine Mutter hast.« »Na – und?« »Nun bringt sie sich wieder einmal nett in Erinnerung. – Sie hausiert mit der Neuigkeit, daß ihre Tochter und Graf Hellmarck -. Jedenfalls pfeifen es die Spatzen von den Dä chern, und du bist kompromittiert.« »Seit wann gibst du so viel auf das Gerede der Leute?« frag te sie spöttisch. Sie hatte ihre Gelassenheit keineswegs ver loren. »Auf das Gerede der Leute gebe ich nichts, solange es mich betrifft. Doch hier geht es um dich, Gudrun!« »Dann ist es am einfachsten, wir stopfen die Klatschmäuler, indem ich Hohenwerth verlasse.« »Du meinst doch nicht etwa, daß ich das zuließe?« rief er erregt. »Nein, bis jetzt weiß ich immer noch, was ich zu tun habe. Durch mich bist du in dieses Gerede gekommen, und daher halte ich es für meine Pflicht, dich zu meiner Frau zu machen.« Nun fielen Gelassenheit und lächelnde Ruhe von Gudrun ab. Sie sprang auf und umfaßte die Tischkante so fest, daß die Knöchel an ihren Händen weiß wurden. Langsam wich jeder Blutstropfen aus dem zarten Antlitz.
»Bernulf – bist du von Sinnen!« sagte sie mit zuckenden Lippen. »Das ist übertriebenes Pflichtgefühl, mein Freund. Man korrigiert nicht das Geschwätz geifernder Klatschmäu ler mit seiner Person. Für dich kommt nur eine reiche Frau in Frage, damit du auf dem Erbe deiner Väter bleiben kannst.« »Was ich brauche, ist eine Frau, die Seite an Seite mit mir den Kampf mit dem Leben aufnimmt. Sieh, ich hätte nie den Mut gehabt, eine Frau an mich zu ketten und sie in das traurige Leben hineinzuziehen, das das Schicksal mir nun einmal bestimmt hat. Ich habe ihr nichts zu bieten! Doch du siehst, die Verhältnisse sind stärker als man selbst und zwingen den Menschen zu Entschlüssen. Darum sträube dich nicht, Gudrun, und nimm meine Wer bung an. Soviel in meiner Macht steht, will ich für dich sorgen. Will, wenn die Herrlichkeit hier zu Ende ist, dich sicherzustellen versuchen. Ich habe dich kennengelernt, – du bist die Frau, die zu mir paßt.« Sie stand noch immer vor ihm, und noch immer war ihr Antlitz marmorweiß. Sie schien seine Gegenwart vergessen zu haben; sie rührte sich nicht. Als er sie nach Minuten anrief, hob sie endlich den Kopf. Und den Blick, der durch die Brillengläser auf ihn gerichtet war, wußte er nicht zu deuten. Rätselhaft war er wie das ganze Mädchen. »Nein, Bernulf, ich nehme deine Werbung nicht an«, sagte sie mit einer Stimme, die nicht ganz klar klang, »das wäre ein Frevel. Ich werde noch heute zu Traude ziehen und werde dem Klatsch die Stirn zu bieten wissen.« »Und ich, Gudrun, ich soll wieder hier allein hausen wie früher – soll wieder neben meinem Ärger draußen auch noch den Ärger im Haus haben? Denn solche Perlen wie Albert und Frau Emma – « »Die bleiben hier, wenn ich sie darum bitte«, warf Gudrun hastig ein. »Sei doch vernünftig, Bern, ich meine es doch gut mit dir!« »So? Davon merke ich herzlich wenig. Doch ich sehe schon, Gudrun, auch du bist eine Egoistin wie alle Frauen.
Du scheust dich vor einem Leben an meiner Seite, weil es ein Leben voll Entbehrungen sein wird.« »Nimm es an«, erwiderte sie achselzuckend, »es ändert nichts an meinem Entschluß, daß ich heute noch zu Traude gehe. Ich bin überhaupt an allem schuld. Ich kam unge rufen zu dir und setzte mich so dem Gegeifer der Klat schmäuler aus.« »Gudrun, du bist erbarmungslos gegen dich selbst!« »Das muß man auch sein, Bern. So, und nun werde ich Albert und Emma Bescheid geben. Und dann bitte ich dich noch einmal: sei vernünftig, Bernulf! Denk an Hohen werth, das schon Jahrhunderte im Besitz der Hellmarck ist.« Sie streckte ihm die Hand hin, doch er rührte sich nicht. »Bern – du bist mir böse?« »Ja, Gudrun.« »Gut, so sei es. – Eines Tages wirst du mir diese Stunde danken. Ich kann und will deine Ritterlichkeit, die dich dazu treibt, um mich zu werben, nicht ausnutzen. Denk daran, wieviel dir durch Mitglieder meiner Familie angetan worden ist!« »Himmel, was bin ich doch für ein eingebildeter Kerl!« verhöhnte er sich selbst. »Wenn mir einer das gesagt hätte, daß ich noch mal in meinem Leben einen regelrechten Korb bekommen würde!« Ein leichtes Lächeln huschte über ihr blasses Gesicht. »Und gar noch von einem häßlichen Entlein, Bern!« Sie winkte ihm freundlich zu und verließ das Zimmer. Traude nahm sie freudig auf. Doch als sie die Veranlassung zu ihrem Kommen hörte, wurde sie recht unwillig. »Gudrun, das hättest du nicht tun sollen. Bern weiß ganz genau, was er an dir hat. Ritterlichkeit allein kann es also nicht gewesen sein, was ihn den Entschluß fassen ließ, um dich zu werben. Es herrschen doch ganz andere Zustände in Hohenwerth, seitdem du dort das Zepter schwingst. Wenn du auch keine – « Sie hielt erschrocken inne und errötete bis zum Haar.
»Sprich nur weiter, Traude – wenn ich auch keine Schön heit bin – « Doch da war Traude schon bei ihr und verschloß ihr den Mund mit der Hand. »Entlein – du weißt doch, wie ich es meine!« bat sie herz lich. »Aber Traude, ich weiß ganz genau, wie ich aussehe, ich habe doch zwei Augen im Kopf. Ich bin keine Frau für Ber nulf – viel weniger noch, als Fee es war. Wenn ich wenig stens reich wäre!« »Dann hätte Bern dir keinen Antrag gemacht, das weißt du so gut wie ich, Gudrun.« »Na, dann ist ihm nicht zu helfen.« Einige Tage später war Gudruns dreiundzwanzigster Ge burtstag, und Traude hatte Bernulf, Ilse-Dore und Gero dazu gebeten. Als Gudrun morgens zum Frühstück kam, fand sie einen Geburtstagstisch vor, daß ihr vor Rührung die Tränen in die Augen traten. »Traude – der ist doch viel zu schön für mich!« »Ansichtssache«, meinte diese trocken. »Jedenfalls gratulie re ich dir von ganzem Herzen, mein Entlein.« »Ich gleichfalls«, schloß Dr. Rönner sich schmunzelnd an. »Und wenn du dich gestärkt und die Sachen, die Traude mit so vieler Liebe für dich ausgesucht, bewundert hast, dann möchte ich dich zu einer Unterredung in mein Zim mer bitten, meine Kleine. Traude, mein Herz, du sorgst wohl dafür, daß niemand uns stört?« »Puh – wie feierlich!« lachte die junge Frau. »Nimm dich in acht, Entlein, es gibt eine Standpauke erster Güte!« Und so ähnlich mußte es auch gewesen sein. Denn als Gudrun eine Stunde später aus dem Zimmer des Hausherrn kam, sah man, daß sie geweint hatte. Und auch der Justiz rat war bewegt. Gudrun war noch stiller, noch blasser als sonst und blieb es auch, als die Gäste kamen. »Du bist gar kein Geburtstagskind«, stellte Gero fest. »Mä del, sei doch nicht so schwerblütig, lach doch und freu dich
deines Lebens. Dreiundzwanzig Jahre ist doch kein Alter
zum Trübsalblasen!«
Gudrun lächelte. Es war ein seltsam wehes Lächeln, das alle
betroffen machte.
Graf Hellmarck war ihr gegenüber sehr reserviert. Er hatte
ihr einen wundervollen Strauß gebracht, mattrosa und
weiße Nelken – keine Rosen.
Als Gudrun ihn einen Augenblick allein sprechen konnte,
bat sie ihn um eine Unterredung. Er war so erstaunt, daß
sie unter seinem Blick den Kopf zur Seite wandte.
»Aber selbstverständlich, Gudrun, bestimme über mich.«
»Dann komm bitte nach dem Abendessen in Onkel Erichs
Arbeitszimmer«, sagte sie hastig. Sie war während des Mah les von einer Unruhe, die selbst der harmlosen Ilse-Dore
auffiel. Und kaum hatte Traudel die Tafel aufgehoben,
nickte Gudrun dem Grafen unauffällig zu und ging ihm
voran in das Arbeitszimmer des Hausherrn.
Sie hatte es kaum betreten, da klopfte es, und der Graf trat
ein.
»Bitte, Gudrun, ich stehe zu deiner Verfügung.«
»Ich danke dir, Bernulf.«
Mit einer leichten Geste wies sie ihm einen Sessel an und
setzte sich ihm gegenüber. Sie war so blaß, daß er erschrak.
»Gudrun, fühlst du dich nicht wohl?«
»Doch, danke«, es klang kühl, beinahe abweisend. »Ich will
dich auch nicht lange aufhalten.«
Sie brach ab, starrte sekundenlang vor sich hin, und der
Graf sah deutlich, daß sie mit sich kämpfte. Doch dann
warf sie den Kopf in den Nacken.
»Bernulf, ich habe mir die Sache überlegt. Ich möchte dei nen Antrag annehmen – sofern du noch Wert darauf legst.«
Nun war es heraus, und ein Seufzer entfloh ihren zucken den Lippen.
Der Graf sprang auf, beugte sich über ihre Hände.
»Also doch, Gudrun – das freut mich wirklich!«
Sie schien nicht zu glauben, was er sagte; der Blick, mit
dem sie zu ihm aufsah, verriet es nur zu deutlich.
»Um eines muß ich dich bitten, Bernulf: daß du in der Ehe ebenso aufrichtig bleibst wie in den Wochen unseres bishe rigen Zusammenseins – daß sich überhaupt nichts zwi schen uns ändert.« »Wir wollen jetzt keine Bedingungen stellen, mein Mäd chen. Wenn wir erst verheiratet sind, sieht alles ganz anders aus. Ich bin von Herzen froh darüber, daß du wieder nach Hohenwerth kommst; es ist dort einfach kein Leben ohne dich. Nur eines quält mich: daß ich dir so gar nichts bieten kann.« Sie winkte ab, mit einer unendlich müden Gebärde, und erhob sich. »Mache dir keine Sorgen, Bernulf, ich bin weder verwöhnt noch anspruchsvoll.« Sie errötete ganz ohne Grund und wandte den Kopf zur Seite. Da trat er zu ihr und umfaßte ihre Schultern. Doch sie zuckte so heftig zusammen, daß er den Arm sofort sin ken ließ und zurücktrat. Sekundenlang war es so still, daß einer des andern Herz schlag zu hören glaubte. Dann bot er ihr den Arm. »Komm, Gudrun, wir wollen uns als neugebackenes Braut paar den staunenden Gästen vorstellen.« Die Gastgeber überraschte die Verlobung nicht sonderlich, um so mehr war das bei Ilse-Dore und Gero der Fall. Mit einem Jubellaut flog sie der Schwägerin um den Hals. »Gudrun, ist das schön!« lachte und weinte sie durchei nander. Gero jedoch schien nicht so entzückt zu sein; sein Glück wunsch war kaum herzlich zu nennen. Es hatte sich seiner eine Verlegenheit bemächtigt, die schwer zu deuten war. Gudrun war wohl die einzige, die den Grund dieser Verle genheit ahnte, und noch an demselben Abend fand sie ihre Ahnung bestätigt. Der Hausherr ließ es sich nicht nehmen, höchst eigenhän dig die Verlobungsbowle anzusetzen. Sie wußten alle aus Erfahrung, wie köstlich seine Bowle mundete. So schauten sie mit Interesse zu, um ihm das Geheimnis ihrer Berei
tung, das er so sorgsam hütete, abzugucken. Doch er mach te alles so flink und geschickt, daß sie unmöglich die Zuta ten feststellen konnten. So waren sie alle gut aufgehoben, und Gudrun stahl sich aus dem Eßzimmer, durchquerte den Salon und flüchtete in das danebenliegende Eckzimmerchen. Sie trat an das Fenster, preßte die Stirn gegen die Scheiben und starrte hinaus. Die Gedanken kreisten in ihrem Kopf wie verfloge ne Vögel. Plötzlich schrak sie auf; im Nebenzimmer wurden Stim men laut, die sie als die des Grafen und ihres Bruders er kannte. Obgleich sie leise sprachen, verstand Gudrun jedes Wort. »Du scheinst über meine Verlobung nicht übermäßig er freut zu sein«, hörte sie den Grafen sagen. »Nein, Bernulf, ich sage es dir ehrlich. Weiß ich doch, daß du dich opferst. Daß du Gudrun nur deine Hand geboten hast, um allem Gerede die Spitze abzubrechen und Gudrun zu rehabilitieren. Doch das hättest du nicht tun dürfen, Bernulf! Gudrun ist keine Frau für dich, und du wirst mit ihr ebenso wenig glücklich werden, wie du es mit Fee war st.« »Was hast du an Gudrun auszusetzen?« »Gar nichts, Bernulf. Sie ist ein selten lieber, prächtiger Kerl, nur keine Frau für dich. Du Schönheitsfanatiker und unser – häßliches Entlein! Sag selbst, Bernulf, ist das nicht zum Lachen?!« »Gar nicht, denn ich brauche eine Frau wie Gudrun. Ich schätze und achte sie hoch – und das ist für mich genug. Unsere Ehe wird sich harmonisch gestalten, daß ich mich in ihr sehr wohl fühlen werde.« Jetzt wurden die Stimmen der andern laut, die den Salon betraten. Gudrun lehnte noch immer am Fenster – regungs los. Doch nun raffte sie sich auf. Ihre Abwesenheit mußte auffallen, und ihr lag daran, die Aufmerksamkeit heute so wenig wie möglich auf sich zu lenken. Es war ganz die gelassene Gudrun, die kurz darauf mit den
andern anstieß. Und als sie erst einige Gläser der köstlichen Bowle getrunken hatte, wurde sie sogar vergnügt und ge sprächig, wie niemand sie je zuvor gesehen. Die Blicke des Verlobten, die mit rätselhaftem Ausdruck auf ihr ruhten, störten sie nun nicht mehr. Ilse-Dore, die sich einen allerliebsten Schwips angeprostet hatte, war ausgelassen und fidel. Immer wieder beteuerte sie Gudrun, wie sehr sie sich freue, daß sie Bernulfs Braut sei. »Guten Tag, Herr Graf! Sie müssen vorläufig mit unserer Gesellschaft vorlieb nehmen, denn Gudrun macht einige Besorgungen«, sagte Dr. Rönner schmunzelnd und wies dem Gast einen bequemen Sitz am Teetisch an. »So überraschend?« »Sie erhielt heute einen Brief von Tante Rita, einer entfern ten Verwandten ihrer Adoptivmutter. Diese charmante Frau, ganz das Gegenteil von Hermine Barnim, ist wohl die einzige Verwandte, mit der das verbitterte Fräulein eine Art Freundschaft hielt. Frau Brandt hat Gudrun nach Berlin eingeladen, um sie noch einmal bei sich zu haben, bevor sie ihr durch die Ehe ganz entgleitet.« »Und wenn ich damit nicht einverstanden bin?« »Lieber Freund, hast du eine Ahnung von dem Eigenwillen deiner Braut!« lachte Traude. »Versuch du dein Heil, sie von dieser Reise abzubringen – ich strecke die Waffen. Bit te, zeig, was du kannst, da kommt sie.« Sie deutete auf Gudrun, die soeben das Zimmer betrat und ob der Worte ihrer Freundin erstaunt war. »Habe ich nicht gesagt, Entlein, daß dieser Tyrann mit dei ner Reise nicht einverstanden sein würde? Sieh ihn dir an, dann wirst du wissen, daß er darüber mehr als unwillig ist.« Gudrun begrüßte den Grafen mit gewohnter Gelassenheit. Sie hatte sich in der einen Woche, die seit ihrem Verlo bungstag verstrichen, nicht verändert. »Du wirst nicht nach Berlin fahren«, ließ sich die scharfe Stimme des Verlobten vernehmen. »Warum nicht?«
»Weil ich es nicht wünsche!« Sie sah zu ihm auf. Es zuckte um ihre Lippen, spöttisch, belustigt. »Ich fahre zu Tante Rita, der Freundin und Verwandten meiner Adoptivmutter. Abgesehen davon, daß ich sehr gern zu dieser Frau gehe, fühle ich mich auch dazu verpflichtet. Sie hat mir ein Verlobungsgeschenk von nicht weniger als hunderttausend Mark gemacht, und da gehört es sich, daß ich mich bei ihr persönlich bedanke.« Diese Eröffnung schien den Grafen alles andere als zu er freuen. »Wie kommt die Dame zu diesem Geschenk? Sie hat sich doch nicht um dich gekümmert, als du einsam warst?« Unter dem forschenden, durchdringenden Blick des Ver lobten wandte Gudrun den ihren zur Seite, und ihre Stim me zitterte leicht, als sie antwortete: »Wie konnte sie das, da Mutter Hermine mich eifersüchtig vor jedem Menschen hütete? Sie hat mich zu sich eingela den, so oft sie uns besuchte, doch Mutter Hermine erlaubte nicht, daß ich auch nur auf Tage von ihr ging. Am Begräb nistag der Mutter bot mir Tante Rita an, als ihre Gesell schafterin mit ihr nach Berlin zu gehen. Ich lehnte ihr Anerbieten ab – genauso, wie ich es bei Traude tat. Ich wollte mir Mühe geben, den Wünschen meiner Adoptiv mutter nachzukommen, Soweit es in meinen Kräften stand.« »Schön. Doch ich weiß immer noch nicht, was für eine Persönlichkeit diese Frau Brandt ist. Ich glaube, da verlasse ich mich am besten auf Ihr Urteil, Herr Justizrat.« »Frau Brandt ist eine kluge, charmante Dame, zu der Gud run ruhig reisen und von der sie auch das großzügige Ge schenk getrost annehmen kann. Denn in Frau Brandts ers ter Ehe, als es ihr sehr schlecht ging, hat Hermine von Bar nim ihr eben diese hunderttausend Mark geliehen. Das ist mir bekannt, da ich Hermines Anwalt war und auch ihr Vermögen verwaltete. Durch ihre zweite Heirat ist Frau Brandt eine reiche Frau geworden, und ich halte es nur für
anständig, wenn sie das Geld, das sie an Hermine ja nicht mehr zurückzahlen kann, Gudrun übereignet.« Graf Hellmarcks Blick ging zu der Braut hin, die schwei gend dasaß, den Kopf gesenkt. »Liegt dir denn soviel an der Reise, Gudrun?« »Ja, Bernulf – ich habe mich wirklich darauf gefreut.« »Gut, dann will ich mich fügen, obgleich ich diese Reise nicht gern sehe. Du sollst deine Gesundheit kräftigen, und das kannst du in dem unruhigen Berlin bestimmt nicht. Wann gedenkst du zu fahren?« »Morgen nachmittag«, atmete sie auf. So fuhr Gudrun am nächsten Tag. Der Graf brachte sie zur Bahn und umsorgte sie. Rönners hatten sich schon zu Hau se von ihr verabschiedet, und so war sie mit dem Verlobten allein. Graf Bernulf blieb bis zur letzten Minute bei ihr im Abteil. Der Stationsvorsteher gab schon das Zeichen zur Abfahrt, da verabschiedete er sich erst. Er zog Gudruns Hände an die Lippen mit weicher, huldigender Gebärde. »Glückliche Reise, Entlein – und schreib sofort.« Es gefiel Gudrun gut, das bewiesen die Briefe, die sie nach vierwöchigem Aufenthalt in Berlin an Traude schrieb. »Das Mädel wird doch keine Dummheiten machen und zum festgesetzten Hochzeitstermin nicht zurück sein?« äu ßerte Traude ihre Besorgnis dem Gatten gegenüber. »Dann gibt es eine Tragödie. Bernulf ist nicht der Mann, der in ernsten Dingen mit sich spaßen läßt. Ich werde ihn heute besuchen; vielleicht hat Gudrun ihm geschrieben, wann sie zurückkommt. Begleitest du mich, Liebster?« »Nein, Schatz, leider ist es mir nicht möglich, ich stecke bis über beide Ohren in Arbeit. Fahr du nur allein, und bring gute Nachricht mit.« So suchte Traude den Grafen in Hohenwerth auf. Sie wuß te, er freute sich über ihren Besuch, obgleich sie herzlich wenig davon zu spüren bekam. Er war finster und schweig sam, war noch unzugänglicher und verschlossener denn je. »Hast du gute Nachricht von Gudrun?« wagte Traude sich
zu erkundigen. Noch finsterer wurde sein Gesicht, noch ablehnender seine Haltung. »Nachricht – nein. Gestern erschien ein Möbelhändler aus Berlin, der wohl Auftrag bekommen hat, die bei ihm ge kauften Sachen persönlich an Ort und Stelle zu bringen. Er hat seine Sache wirklich gut gemacht, hat ein kleines Reich geschaffen, das selbst die verwöhntesten Ansprüche zufrie denstellen müßte. – Nun, Fritz, was bringen Sie?« wandte er sich an den Diener, der soeben eingetreten war und dem Grafen auf silbernem Tablett drei Visitenkarten überreichte. »Josef Kose – Amelie Kose – Elvira Kose – hm, führen Sie die Herrschaften in den Empfangssalon, Fritz.« »Sehr wohl, Herr Graf.« Der Diener verschwand, und der Graf sah zu Traude hin, deren Augen mit entsetztem Ausdruck an ihm hingen. »Herr Kose?« rang es sich endlich von ihren Lippen. »Ja! Du hast dich nicht verhört. Der Herr kommt ab und zu her, um sich zu überzeugen, wie lange es noch dauern kann, bis er hier als Gebieter einziehen wird. Heute bringt er sogar Frau und Tochter mit.« »O mein Gott, Bern – du kannst dabei so ruhig sein?« »Was würde mir alle Unruhe nützen, Traude?« Er wandte sich hastig ab, und doch sah Traude den Aus druck düsterer Qual über sein hartes Antlitz huschen. »Kommst du mit hinüber, Traude?« »Ja, Bern, diese Familie interessiert mich.« Im Empfangssalon kam ihnen der Herr entgegen, der über kurz oder lang Eigentümer dieser Herrschaft sein würde, die sich schon seit Jahrhunderten in dem Besitz der Grafen Hellmarck befand. Ein Durchschnittsmensch von unter setzter Figur und wohlwollendem Wesen. Traudes Blick ging von der nichtssagenden Gestalt des Besuchers zu der hohen, ritterlichen des Grafen hin. Ihr tat das Herz so weh, daß sie Mühe hatte, ihre Tränen zurückzudrängen; doch sie spürte den Blick der Damen, der sie traf. Sie bot all ihre Energie auf, sich zu beherrschen. Frau Amelie Kose, der auch die kostbarste, exklusivste Toi
lette kein vornehmes Aussehen zu geben vermochte, reichte ihr die Hand mit einer wohlwollenden Geste, die bei dieser Frau geradezu lächerlich wirkte. Dann fühlte Traude den Händedruck Fräulein Koses, die ihr beinahe die Hand aus dem Gelenk riß. Eine trainierte, begeisterte Sportdame, elegant, überraschend hübsch sogar. Ihre hellbraunen Augen hingen an dem Grafen, und Traude konnte sich ungefähr denken, wie gut er ihr gefiel. O ja, das sicherlich temperamentvolle Mädchen war nur zu gut zu verstehen. »Sie sind uns doch nicht böse, lieber Graf, daß wir Sie unangemeldet überfallen?« fragte Elvira, indem sie dem Schloßherrn die Hand entgegenstreckte, über die er sich mit kalter Höflichkeit neigte. »Gnädiges Fräulein – wie sollte ich wohl!« O ja, diese dunkle, sonore Stimme enttäuschte nicht – und Fräulein Koses Schicksal war mit diesem Augenblick besie gelt, das bewies der flimmernde Blick, mit dem sie zu ihm aufsah. Fräulein Elvira hatte in ihrem Benehmen nichts Auffallen des an sich, was wohl die sorgfältige Erziehung in verschie denen Pensionaten des In- und Auslandes bewirkt haben mochte. Auch die Eltern machten nicht gerade den Ein druck von Protzen, nahmen sich in der Umgebung von Hohenwerth aber dennoch als nicht ganz hierhergehörend aus, weil Vornehmheit sich eben nicht erlernen ließ. »Wollen Sie uns das Schloß zeigen, Graf Hellmarck?« fragte Elvira und lächelte zu ihm hin. »Bitte sehr.« Herr Kose hielt vor Staunen über alle die Pracht, die er zu sehen bekam, die Hände über dem Bauch gefaltet. Was er hier sah, überstieg seine Erwartung. Daß Hohenwerth eine selten prächtige Herrschaft war, hatte er gewußt, darum war er auch so scharf auf diesen Besitz. Doch diese Pracht hatte er sich nicht träumen lassen. Und dabei war alles tadellos erhalten, nicht so wie bei vielen anderen Gütern, deren Besitzer vor dem Bankrott standen. Da mußte er aufpassen,
daß ihm diese einzigartige Herrschaft nicht doch noch durch die Lappen ging! Obgleich das eigentlich kaum noch zu befürchten war. Diese stolzen Aristokraten von der Art des Grafen Hellmarck waren alles andere als Geschäfts männer – und er hielt ihn ja so fest in der Hand. Die Person des Grafen letzten Endes auch – denn Elvira pflegte durchzusetzen, was sie wollte! Als sie dem Grafen die Hand zum Abschied reichte, strahl ten ihre Augen in die seinen mit selbstvergessenem Blick. »Pa, diesen Mann muß ich haben!« sagte sie erregt, als sie an des Vaters Seite im Auto saß. »Den kriegst du auch, mein Schnuckelchen«, entgegnete der Vater mit seinem behaglichsten Lachen. »Der sitzt viel zu tief in der Tinte, als daß er jemals wieder herauskrab beln könnte. Wenn er sein schönes Hohenwerth behalten kann und als Beigabe noch eine Frau bekommt wie dich, – na, den Mann möchte ich sehen, der da nicht mit beiden Händen zugreift!« Am Vorabend ihrer Hochzeit kehrte Gudrun endlich aus Berlin zurück. Ganz überraschend traf sie ein, und der Die ner meldete Rönners, die schon in tiefer Sorge waren, ihre Ankunft. Traude war über das sonderbare Verhalten der Freundin empört. Doch ihre Empörung ging in grenzenlose Verblüf fung über, als Gudrun vor ihr stand. Das sollte Gudrun sein – das häßliche Entlein? Diese schö ne, vornehme, elegante Dame? »Dein Gesicht spricht Bände, Traudelein!« lachte Gudrun, indem sie die Hände der Freundin ergriff und sie schüttelte. »Und du, Onkel Erich?« Sie wandte sich dem Hausherrn zu und lachte noch mehr. »Schade, daß Tante Rita das nicht sehen kann«, bedauerte sie, »die hätte ihre helle Freude daran gehabt. Ihre Entrü stung hättet ihr sehen sollen, als sie mich auf dem Bahnhof empfing. Kaum, daß sie mich etwas ruhen ließ, da schleifte sich mich auch schon von einem Schönheitssalon zum andern. Nun ja, wie ihr seht, Kleider machen Leute – und
ein wenig Aufmachung – alles! Davon lassen die Menschen sich nun bestechen«, meinte sie plötzlich sehr ernst, und etwas wie Verachtung klang in ihrer Stimme. Doch bald lachte sie wieder; sie schien mit ihrer eleganten Hülle auch einen ganz andern Menschen angezogen zu haben. ' Traude schüttelte nur immer wie den den Kopf und konnte es nicht begreifen, daß dieses entzückende Mädchen Gudrun, das häßliche Entlein, sein sollte. Weich und seidig umbauschte eine helle, duftige Lockenfülle das süße, blütenzarte Gesicht. Die sorgfältig gewählte Kleidung brachte die gertenschlanke, graziöse Gestalt prachtvoll zur Geltung. Da konnte überall nachgeholfen sein, gewiß. Doch die Au gen, diese wunderbaren Augen mit ihrem weichen, tief dunklen Blau? Man konnte doch Augen nicht ändern! Rätselhaft war das alles – so rätselhaft wie das ganze Mäd chen. »Traude, wirst du so freundlich sein und meiner Zofe für diese Nacht Unterkunft gewähren?« bat Gudrun. »Tante Rita hat sie für mich ausgesucht, und ich mußte sie mit mir nehmen. Wahrscheinlich soll sie Tante Ritas Werk an mir fortsetzen.« »Gewiß, Entlein – doch halt, das dürfte man ja jetzt nicht mehr sagen, denn aus dem häßlichen Entlein ist nun tat sächlich ein Schwan geworden. Alle Achtung, Gudrun, die se Tante Rita und fünf Wochen Berlin haben Wunder ge wirkt! Weiß Bern, daß du hier bist?« »Nein«, meinte sie mit einer Gleichgültigkeit, als ginge sie die Frage nichts an. »Ich bin ja morgen hier, das ist die Hauptsache.« »Du hast dich unglaublich benommen, Entlein«, zürnte Traude. »Andere Bräute schreiben sich die Finger wund, wenn sie von ihrem Verlobten getrennt sind. Du hast es kaum zu einem Brief gebracht. Und wo er dich doch schon so ungern reisen ließ! Kannst du seine Unruhe denn gar nicht verstehen?«
»Nein«, war die seelenruhige Erwiderung. »Aber sei nicht so ungemütlich, Traude, ich sitze ja unversehrt vor dir.« Traude eilte ans Telefon und meldete Graf Hellmarck, daß die verlorengegangene Braut eingetroffen sei. Von deren Veränderung schwieg sie jedoch. Ob er nicht herüberkom men wolle, forderte sie ihn auf. Allein er wollte nicht, und sie drang auch nicht weiter in ihn; sie wußte, wie verärgert er über Gudruns Schweigen war. Diese hielt es auch für selbstverständlich, daß er nicht kam, nachdem sie erfahren hatte, wie er ihr Schweigen aufge nommen hatte. Und der sogenannte Polterabend, der manchmal mehr gefeiert wird als die Hochzeit, ging still vorbei. Am nächsten Tag war Gudrun zur Zeit angekleidet und wartete auf den Verlobten. Sie war bestimmt nicht wieder zuerkennen, wie sie so am Fenster lehnte. Ein dunkelblaues Taftkleid von raffinierter Einfachheit umschloß die graziöse Gestalt und gab ihr etwas ungemein Vornehmes. Ein breit randiger Hut, unter dem die schimmernden Ringellocken hervorquollen, beschattete das süße Antlitz, machte es noch zarter und feiner. Die Ähnlichkeit mit der fürstlichen Ahne war jetzt unverkennbar. Das fand auch der Verlobte, der sie zur standesamtlichen Trauung abholen kam. Sekundenlang stand er wie gebannt an der Tür, und erst Gudruns Stimme brachte ihn wieder zur Besinnung. »Guten Tag, Bernulf – « Da trat er zu ihr, zog ihre Hände an die Lippen. »Gudrun, wie ist das möglich?« Zornig war die Bewegung, mit der sie ihre Hände aus den seinen riß, und zornig war der Blick, mit dem sie ihn an sah. »Selbstverständlich, ich hatte es vergessen – du bist ja auch einer von denen, die den Menschen nach seiner äußeren Hülle beurteilen, aber auf Herz und Seele keinen Wert le gen!« »Etwas anderes kannst du von einem Mann nicht verlan
gen, mein eigenwilliges Kind«, entgegnete er gelassen. Er hatte sich von seiner Überraschung schon wieder erholt. »Ein Mann läßt sich nun mal gern wegen einer schönen Frau beneiden.« Verschlossen und undurchdringlich war Bernulfs Gesicht. Gudrun konnte nicht feststellen, ob seine Worte ernst oder ironisch gemeint waren. Sie legte die Fingerspitzen auf seinen Arm, den er ihr bot. Wie zwei Feinde gingen sie nebeneinander her, nicht wie zwei Menschen, die in wenigen Minuten ein starkes, unlös liches Band verbinden sollte. Dann hatte Gudrun noch der Verblüffung Geros standzu halten, der mit dem Justizrat als Trauzeuge mit ihnen zum Standesamt fuhr. Er war über die seltsame Veränderung der Schwester nicht weniger überrascht als alle anderen. Gudrun erbitterte das geradezu. In ihrem ersten Zorn wäre sie am liebsten in ihre alte Hülle geschlüpft und wieder das häßliche Entlein geworden. Doch da fiel ihr Tante Rita ein und was alles sie dieser versprochen hatte. Nach der standesamtlichen Trauung nahm man bei Rön ners ein exquisites Frühstück ein, und dann fuhren die jun gen Gatten nach Hohenwerth, wo die Zofe ihre Herrin schon mit Ungeduld erwartete. Und diese Zofe, die Tante Rita mit Erfahrung und Kennerblick für Gudrun ausgesucht hatte, war eine Meisterin in ihrem Fach. Sie ließ ihre junge Herrin nicht eher aus den Fingern, als bis sie mit ihrem Werk zufrieden war. Mit stolzem Lächeln betrachtete sie die Braut, die in dem märchenhaften Hochzeitsstaat traumhaft schön war. Scha de, daß Frau Brandt diese Braut nicht sehen konnte, – ihre Erwartung wäre weit übertroffen worden, dachte be dauernd das Mädchen, das diese lebenskluge, charmante Frau sehr verehrte. Und wer Gudrun früher gekannt hatte, den mußte ihr Anb lick in der Tat überwältigen. In den Augen des Gatten leuchtete es auf, als er zur Trau ung kam. Er nahm die zitternden Finger, die sich knapp auf
seinen Frackärmel gelegt hatten, zog die Hand durch seinen Arm und hielt sie mit sanftem Druck fest, als sie sie ihm entziehen wollte. Nun traten die beiden vor den Altar der kleinen Schloßka pelle von Hohenwerth. Es war ein wunderschönes Bild, wie das junge Paar so dahinschritt. Die hohe, ritterliche Gestalt des Grafen, der das Schwarz des Frackes etwas Ernstes, Dü steres gab – und an ihn geschmiegt die Braut im schneeigen Hochzeitskleid, dessen lange Schleppe wie eine duftige Wolke hinter ihr herwogte. Ilse-Dore konnte es noch immer nicht fassen, daß das wirk lich Gudrun, das häßliche Entlein, sein sollte, die da mit dem Grafen vor den Altar trat. Auf die Trauung folgte das Hochzeitsmahl. Die Tafel war festlich geschmückt, das Essen auserlesen und tadellos. Sonst war in dem weiten Schloß nichts davon zu merken, daß Hochzeit gefeiert wurde. Kein verschwenderischer Schmuck, keine glänzende Hochzeitsgesellschaft, Ilse-Dore und Gero, mehr Gäste waren nicht geladen. Auch die Stimmung war alles andere als festlich, war unfrei und gedrückt. Graf Hellmarck war wohl der schweigsamste von allen. Er saß in seinen Sessel zurückgelehnt, seine Gedanken schie nen weit fort zu sein. Ab und zu ging sein Blick zu seinem jungen Weib hin, und dann huschte jedesmal ein Lächeln über seine ernsten Züge. »Nun erzähl uns erst einmal ausführlich, warum Tante Rita nicht zu deiner Hochzeit gekommen ist, Entlein«, sagte Traude. »Tut es dir nicht leid, daß sie nicht hier ist?« »Das schon«, gab die junge Gräfin zu. »Und doch liegt das Bedauern wohl noch mehr auf ihrer Seite, denn sie hatte sich auf die Hochzeit wirklich gefreut. Leider ist sie er krankt. Nicht schwer, aber doch genug, um die Reise nicht wagen zu können. Sobald sie gesund ist, will sie mich be suchen, und darauf freue ich mich sehr. Hoffentlich bringt sie Bubi mit.« »Hat Frau Brandt einen kleinen Sohn«, wunderte sich der
Justizrat. »Das wußte ich nicht.« »Na, klein ist er nun gerade nicht«, lachte Gudrun, »er ver fügt sogar über eine recht respektable Größe – einhundert fünfundachtzig Zentimeter oder so ähnlich. Und ihr rechter Sohn ist es auch nicht, sondern der ihres zweiten, verstor benen Gatten. Doch sie liebt ihn wie ihren Sohn und er sie wie seine Mutter. Ein prächtiger Junge, lustig und über schäumend. Man muß ihm gut sein, ob man will oder nicht. Es gab mal so etwas wie eine Liebelei zwischen ihm und Elvira Kose. Das ist aber eine längst abgetane Ge schichte. Heute lacht er sie aus, wo und wie er kann, und nennt sie eine angeschossene Krähe<.« »Woher kennst du denn Fräulein Kose?« ließ sich die Stimme des Grafen vernehmen. »Ich lernte sie in Berlin kennen«, erwiderte Gudrun. »Ich erzählte schon Traude und Onkel Erich von dem seltsamen Zusammentreffen. Jedenfalls warten die Leutchen ihrer Bekanntschaft auf die Verlobung der vielumschwärmten Elvira Kose mit dem – Grafen Hellmarck.« »Ah, das ist allerdings interessant«, erwiderte der Graf amü siert. »Und du hieltest es nicht für nötig, sie über diesen Irrtum aufzuklären?« »Gott bewahre!« lachte Gudrun vergnügt. »Sie konnte so nett schwärmen – wie ein Mädchen des vorigen Jahrhun derts und nicht wie ein Kind unserer Zeit, als das sie sich gar zu gern aufspielt. Bubi gab ihr das auch einmal mit aller ihm eigenen Unverfrorenheit zu verstehen, und nur mit Mühe entging er der Rache dieser sportgestählten Fäu ste. Ach, es war manchmal zu nett«, schloß sie mit einem leisen Seufzer. »Deshalb bliebst du auch, bis es wirklich nicht mehr länger ging«, meinte Gero verständnisinnig. »Wir dachten schon, du würdest die Hochzeit schwänzen.« Nun lachten alle, und die Stimmung begann sich zu bele ben. Gero wurde ganz übermütig und stieß mit Gudrun auf das häßliche Entlein an, das doch noch ein Schwan gewor den sei.
So trennte man sich in gehobener Stimmung und später,
als beabsichtigt war.
Auch Gudrun verabschiedete sich von dem Gatten und zog
sich in ihre Gemächer zurück.
Die Zofe, die sich immer noch nicht beruhigen konnte, daß
das vornehme Paar keine Hochzeitsreise machte, kleidete
die Herrin mit flinken Händen aus und warf ihr ein traum haft schönes Morgenkleid über, das die Gräfin noch nie
gesehen hatte.
»Was ist das für ein Kleid, Ella?« fragte sie verwundert.
»Das hat mir die gnädige Frau noch kurz vor der Abreise für
Frau Gräfin mitgegeben«, antwortete das hübsche, frische
Mädchen mit spitzbübischem Lächeln. »Und gnädige Frau
bestimmte auch, daß Frau Gräfin das Kleid heute tragen
sollten.«
»Na schön«, lachte die junge Herrin. »Und nun gehen Sie
hinunter, Ella, und nehmen an der Hochzeitsfeier teil, die
Frau Emma für die Dienerschaft gerichtet hat.«
Das Mädchen verschwand knicksend, und Gudrun sah sich
zunächst einmal im Ankleidezimmer um.
Dann betrat sie das Schlafzimmer.
Sie erblaßte tief, als sie den Gatten in der Tür stehen sah.
Und diese Blässe wich langsam einer flammenden Röte, die
ihr bis in die Stirn kroch.
Der Graf wandte sich ab, um das amüsierte Lächeln vor ihr
zu verbergen, das über sein Gesicht huschte. Sie sah es aber
doch und wurde ganz eisige Ablehnung.
»Wünschest du etwas von mir, Bernulf?«
»Ich möchte mit dir den angebrochenen Abend verbringen.
Oder ist das zuviel verlangt?«
»Bitte.«
Sie wies mit einer leichten Handbewegung ins Teezimmer,
rückte ihm einen Sessel zurecht und nahm ihm gegenüber
Platz. Seine Blicke hingen unausgesetzt an ihr, so daß sie
unwillig zu werden begann.
»Nun erkläre mir nur eines, Gudrun: Wie ist es möglich,
daß du so vollständig verändert aus Berlin zurückgekehrt
bist?« »Verändert bin ich gar nicht«, erwiderte sie abweisend, »ihr seht mich nur mit veränderten Augen an. Soll ich mir wie der meine alte Kleidung anziehen und – « »Um Gottes willen!« unterbrach er sie so entsetzt, daß sie wider Willen lachen mußte. »Da sieht man immer mehr, wie sehr Mutter Hermine sich an dir versündigt hat, indem sie dich zur kleinen Vogelscheuche werden ließ.« »Mutter Hermine hat es ganz gewiß nicht schlecht gemeint. Sie teilte meinen Standpunkt, daß man einen Menschen wegen seiner inneren Werte, nicht aber wegen seines Äuße ren schätzen sollte. Was nützt eine schöne Hülle, wenn der Kern nichts taugt? Wenn man mit einem solchen Men schen leben muß, wird man über seinen Niedrigkeiten und Bosheiten das schöne Äußere bald vergessen.« »Da hast du recht, Gudrun – und doch – « Sein Blick hing grübelnd und sinnend an ihr, als müsse er sich angestrengt auf etwas besinnen. Doch dann fuhr er aus seiner Versunkenheit auf und lächelte ihr zu. »Weißt du, du erinnerst mich in deiner neuen Hülle sehr an eine Frau, mit der ich einige Stunden, die bisher die schönsten meines Lebens waren, verlebt habe«, sagte er lebhaft. »Ich habe diese Frau nur in einer Maske gesehen, doch sie fesselte mich so sehr wie keine andere je zuvor.« »Und das erzählt der Gatte seiner Frau, die ihm eben anget raut ist!« protestierte Gudrun mit schelmischem Lächeln, das ganz neu an ihr war, sie aber geradezu unwiderstehlich machte. Der Graf sah sie zuerst verblüfft an. Doch dann lachte er auf, so jungenhaft froh und herzlich, wie sie es noch nie von ihm gehört hatte. »Tatsächlich, Gudrun, ich bin verwildert. Du wirst Mühe haben, einen Menschen aus mir zu machen, dessen Um gangsformen einigermaßen erträglich sind. Ein beneidens wertes Los wirst du sowieso nicht an meiner Seite haben«, meinte er auf einmal ernst. »Ich kann dir leider nicht den Rahmen geben, den deine bisher so ungeahnte taufrische Schönheit verlangt. Hätte ich gewußt, daß du dich noch
einmal so entfalten könntest, hätte ich nie den Mut gehabt,
dich an mich armseligen Bettler zu fesseln.«
»Bern, ich habe doch ein Vermögen, das mich unabhängig
von dir macht«, sagte sie leise.
»Ja, eben!« Es gab einen knirschenden Laut, so fest biß er
die Zähne zusammen. »Ich muß meine Frau von fremden
Leuten beschenken lassen. Und was sind hunderttausend
Mark, Gudrun? Ich weiß doch, was Fee gebraucht hat.«
»Bern, ich bitte dich, mach dir doch nicht meinetwegen
Sorge«, bat sie. »Auch dir wird es eines Tages wieder besser
gehen, und dann kannst du mich verwöhnen, soviel du
magst. Doch wir wollen uns in dieses unerquickliche The ma nicht verrennen; wir wollen lieber sehen, ob die Mam sell uns nicht einen schönen Mokka brauen kann, der un sern erlahmten Kräften wieder auf die Beine hilft. Ja?«
Er nickte nur und sah sie mit einem Blick an, vor dem sie
den ihren niederschlug, verwirrt und tief errötend. Sie rief
die Zofe herbei, erteilte ihr den Auftrag für Frau Emma,
und bald dampfte der köstliche braune Trank in den
hauchdünnen Schälchen.
Sie bediente ihn mit freien, graziösen Bewegungen, die ihr
eigen waren, seitdem sie in die neue Hülle geschlüpft war.
Dann nahm sie wieder ihm gegenüber Platz.
»Sag, Bernulf, weißt du etwas über meine – hm – Mutter?«
fragte sie plötzlich.
»Ja. Sie ist vor ungefähr drei Wochen mit einem Amerika ner als seine Hausdame über den großen Teich gefahren.
Hoffentlich bleibt sie dort.«
»O ja, das wäre zu wünschen«, atmete sie erleichtert auf.
»Ist es nicht furchtbar, Bern, wenn man eine Mutter hat,
derer man sich schämen muß?«
»Du bist ja nun losgelöst von dieser Frau. Doch ehe ich es
vergesse – ich habe eine kleine Aufmerksamkeit für dich.«
Er zog aus der Tasche der Hausjoppe, mit der er vorhin den
Frack vertauscht hatte, ein flaches Kästchen hervor und
hielt Gudrun ein Armband hin, nach dem sie entzückt griff.
»Oh, Bern – das ist ja wunderschön!«
»Es stammt aus der Schmuckschatulle meiner Mutter«, sag te er leise. »Die Sachen, an denen sie nicht hing, habe ich verkauft. Doch von einigen Sachen, die ihr selbst teuer waren, konnte ich mich nicht trennen.« »Und nun schenkst du mir eines jener wertvollen Stücke, Bern?« »Gewiß, wo wäre es denn angebrachter? Komm, wollen wir einmal versuchen, wie es an deinem Arm aussieht.« Sie reichte ihm den Arm, um den er das Armband schloß. Es war eine kunstvolle Arbeit, eine aus Goldfäden vielfach gegliederte Kette, mit einem eigenartigen Schloß aus klei nen Brillanten und Smaragden. Das Schloß konnte nur von einem Eingeweihten geöffnet werden, und so war das kost bare Stück am Arm seiner Besitzerin sicher. »So, nun bist du durch diese Kette an mich geschmiedet«, scherzte der Gatte. Doch es lag ein Ausdruck in seinen Au gen, der zu dem Scherz nicht passen wollte. »Dieses Armband schenkte mein Vater meiner Mutter zu ihrem Hochzeitstag – und ihre Ehe war wohl eine der glücklichsten und idealsten, die es jemals gegeben hat.« Seine Stimme zitterte, und Gudrun, nicht wagend, den Blick zu heben, murmelte kaum vernehmlich ihren Dank. Doch dann wandte sie sich hastig ab und eilte hinaus. Und als sie nach kurzer Zeit zurückkehrte, hatte sie ihre Gelas senheit wiedergefunden. »Wie gut, daß auch ich dir nicht mit leeren Händen gege nüberstehe, Bernulf«, sagte sie verlegen und nestelte an einer Seidenschnur, die ein flaches Kästchen umschloß. Sie entnahm dem Kästchen eine goldene Armbanduhr. »Ich habe gesehen, daß deine Uhr schon recht abgenutzt ist«, lächelte sie zu ihm auf, indem sie sich mühte, einen frischen Ton in ihre bebende Stimme zu legen. »Ich sah diese Uhr in Berlin, und sie gefiel mir so gut«, setzte sie entschuldigend hinzu, als sein Blick noch immer mit selt samem Ausdruck auf ihr ruhte. Sie trat nahe an ihn heran, ergriff seinen Arm, den er leicht auf die Sessellehne gestützt hatte, und befestigte die Uhr am Handgelenk.
Dann fühlte sie ihre Hände ergriffen und hörte seine Stimme, so weh, so aus tiefster Brust kommend: »Gudrun, mein Entlein – ich kann dir nicht so danken, wie ich es möchte, ich finde ganz einfach nicht die Worte dafür. Nur laß dir sagen – seit meiner Mutter Tod ist dies das erste Geschenk, das man mit Verständnis und – «,hier senkte sich seine Stimme zum Flüsterton, »vielleicht gar mit ein wenig – Liebe für mich ausgesucht hat.« Sie fühlte seinen heißen Atem über ihrer Stirn und strebte von ihm in weg. Da wandte er sich ab. »Du wirst müde sein, Gudrun«, sagte er mit einer Stimme, die nicht ganz klar war. »Es ist am besten, du begibst dich zur Ruhe. So ein Hochzeitstag ist immer anstrengend.« Er zog ihre Hände an die Lippen. »Schlaf sanft und süß, Gudrun!« Dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. Gräfin Hellmarck war wirklich nicht so beneidenswert, wie viele Frauen und Mädchen es annahmen. Sie neideten ihr den ritterlichen, interessanten Gatten – doch an seine zer rütteten Vermögensverhältnisse dachten sie nicht. Die junge Gräfin bekam ihren Gatten kaum zu sehen. Er steckte so tief in der Arbeit, daß er unter der Bürde fast zu sammenbrach. Das zähe erbitterte Ringen um Hohenwerth hatte jetzt erst recht begonnen. Die Arbeiten der Frühjahrs bestellung mußten bestritten werden, Wechsel wurden fäl lig, unvorhergesehene Ausgaben kamen. Von dem Verfall der Wirtschaftsgebäude, der allerdings vorläufig erst den kritischen Augen des Gebieters bemerkbar wurde, gar nicht zu reden. Doch an eine Reparatur konnte nicht gedacht werden, denn das Geld dafür fehlte. In diese trübe, sorgenvolle Zeit fiel der Besuch Frau Brandts und ihres Stiefsohnes Peter. Und nun kam Leben in das Schloß. Die lebenslustige Frau und der nicht minder lebenslustige Sohn sorgten schon dafür. Auch Gudrun vergaß mitunter ihr trostloses Leben und konnte über manchen drolligen Einfall Peters herzlich
lachen. »Weißt du, Entlein, vor deinem finsteren Ehegemahl habe ich heillosen Respekt«, bekannte er der Gräfin, die er wie eine Schwester liebte. »Und das hat mich bewogen, ihn zu bitten, mich als Eleve auf Hohenwerth anzunehmen.« Noch an demselben Tag trug er dem Grafen seine Bitte vor, über dessen düsteres Antlitz ein schattenhaftes Lächeln huschte, als er den frischen, langen Jungen vor sich sah, dem Lebenslust und Jugendübermut aus den Augen strahl te. »Also, Sie wollen Landwirt werden, Herr Brandt?« »Mit tausend Freuden, Herr Graf; das ist der einzige Beruf, der mich interessiert.« »Wie alt sind Sie, Herr Brandt?« »Zweiundzwanzig Jahre, Herr Graf – für einen Lehrling ein reichlich altes Semester. Ich will später vielleicht Landwirt schaft studieren, halte es jedoch für richtig, erst praktisch tätig zu sein.« »Ohne Zweifel. Haben Sie Ihr Abitur gemacht, Herr Brandt?« »Ja!« »Hm.- Doch noch eine Frage, die wichtigste wohl: Haben Sie hinreichendes Vermögen, um sich später ein Gut kau fen zu können – und noch etwas übrigzubehalten?« »Ich nicht«, entgegnete Peter offen, und es lag ein treuher ziger Ausdruck in seinen Augen, der dem Gesicht etwas Knabenhaftes gab. »Aber meine Mutter hat es. Sie ist eine kluge Frau, Herr Graf, und sie duldet, daß ich Landwirt werden will, unterstützt es geradezu.« »Nun, wenn das nötige Kapital vorhanden ist und Sie au ßerdem noch Lust und Liebe zu dem Beruf haben, dann will ich Ihnen weiter nicht abreden.« Er wandte sich kurz ab. Und doch hatte Peter das qualvolle Zucken in seinem Gesicht gesehen. Leise verließ er das Zimmer und eilte zur Mutter, die bei seinem stürmischen Eintritt heftig zusammenfuhr. »Bengel, deine Manieren!«
»Sind hanebüchen – ich weiß schon, verehrte alte Dame. Doch schilt jetzt nicht, mir ist nämlich so zumute, als hätte man mir die Eingeweide geklaut.« »Aber Peter!« lachte die Mutter hellauf. Doch sie wurde gleich wieder ernst, als sie das klägliche Gesicht ihres lan gen Jungen sah. »Wo fehlt es, mein Schlingel – hm?« »Mutter«, antwortete er gedämpft, »Mutter, hast du so viel Geld, um mir ein Gut kaufen zu können?« Die Mutter war auf alles mögliche gefaßt, aber diese Frage überraschte sie doch. »Wie kommst du plötzlich darauf?« »Ich habe in den drei Wochen unseres Hierseins gelernt, daß der Mensch kein Luxusgeschöpf ist. Ich will arbeiten. Und so bat ich den Grafen, mich als Volontär in Hohen werth einzustellen. Er fragte nun allerlei, und auch danach, ob ich mir später ein Gut kaufen könnte; sonst würde er mir entschieden abraten, Landwirt zu werden.« »Peter, du weißt doch, daß du dein eigenes Vermögen be sitzt. Dein Vater hat es allerdings so festgelegt, daß es erst nach Vollendung deines fünfundzwanzigsten Jahres zu deiner Verfügung steht.« »Ach, was weiß ich viel, ich habe doch bis jetzt in den Tag hineingelebt. Warum hat Vater das Kapital so festgelegt?« »Er kannte uns unpraktische Leutchen«, lachte die Mutter, »und wollte wahrscheinlich verhüten, daß wir eine Dummheit begingen und ein Gut kauften, bevor du in der Lage wärest, es bewirtschaften zu können. Mit fünfund zwanzig Jahren ist man nicht mehr so unvernünftig wie mit achtzehn, denn so alt warst du, als das Testament aufge setzt wurde.« »Da hätte Vater dir doch mehr vermachen sollen, Mutti.« »Ich habe, was ich brauche, Peter, und noch etwas darüber. Und dein Vermögen reicht zu einem Gut, wenn du dir spä ter eines kaufen willst. Ich verstehe nur immer noch nicht, wie du dich plötzlich über deine Zukunft so erregen kannst, wo du bisher doch noch niemals ernstlich an sie
gedacht hast.« »Das ist es nicht allein. Ich erzählte dir doch eben, daß ich mit dem Grafen sprach. O, Mutter – der Mann leidet so sehr und verschließt das Leid in sich. Er ist zu stolz, um…« »Ja, ich kann es auch kaum noch mitansehen«, sagte sie mit einer Stimme, in der die Tränen saßen. »Doch was soll man da machen?« »Mutter – kannst du ihm nicht eine größere Summe vor strecken?« »Wenn das nur ginge, Bubi! Du rechnest nicht mit dem Stolz dieses Aristokraten.« »Du schenkst ihm doch nichts, Mutter.« »Doch, Peter, jede Summe, die man in dieses Faß ohne Boden wirft, ist verloren. Wenn ich mein Geld zusammen scharrte, vielleicht eine Hypothek aufnähme, könnte ich Hohenwerth sogar erwerben. Doch was würde das dem Grafen nützen? Du glaubst doch nicht etwa, daß ein Mann wie er auf dem Erbe seiner Väter den Verwalter spielen würde!« Er schüttelte stumm den Kopf. »Na, siehst du. Versuchen werde ich es, mein Junge, denn auch mir tut der Mann bitter leid. Vielleicht haben ihn die Sorgen so mürbe gemacht, daß sein Stolz gebrochen ist. Dann allerdings wäre ihm zu helfen.« Doch der Stolz war noch nicht gebrochen, das mußte die hochherzige Frau bald erkennen, als sie den Grafen einige Tage später aufsuchte und ihm in taktvollster Weise ihre Hilfe anbot. »Gnädigste Frau, es ist mir eine große Ehre, doch ich muß Ihr wirklich großmütiges Anerbieten leider ablehnen«, sag te er mit bitterem Lächeln. »Mir ist nicht mehr zu helfen. Es ist alles nur noch ein Hinhalten.« »Und Gudrun?« Er wandte sich ab und schluckte so heftig, als müsse er et was hinunterwürgen. Als er sich wieder seinem Gast zu wandte, war sein Gesicht undurchdringlich wie immer. »Gudrun wird sich dann entscheiden müssen. Sie hat ja ihr
kleines Vermögen – hat Traude, hat Sie, gnädige Frau, das ist mir eine Beruhigung. Jeden Tag bereue ich es mehr, sie an mich gefesselt zu haben. Doch als ich sie um ihre Hand bat, war sie ein Menschenkind, das es als meine Frau im mer noch besser hatte als in ihren damaligen Verhältnissen. Allein jetzt, mit ihrer taufrischen Schönheit, könnte sie ein anderes Los vom Schicksal verlangen.« »Und doch wünscht unser Entlein sich kein anderes Los, Herr Graf. Nur die Angst und Sorge um Sie läßt sie nicht froh werden, und – « Sie hielt erschrocken inne, denn ein unendlich bitteres La chen brach aus des Grafen Brust. »Angst und Sorge!« »Ja, Angst und Sorge, Graf Hellmarck«, entgegnete sie leise. »Wie vermöchte ein so warmherziges Menschenkind wie unser Entlein, das keinen Menschen traurig sehen kann, es ruhig mit anzusehen, wie der eigene Gatte leidet.« »Also so wenig kann ich mich beherrschen!« »Wollen Sie wirklich mein Anerbieten nicht annehmen, Graf?« fragte sie. »Tausend Dank, gnädige Frau. Ich könnte es nicht verant worten, wollte ich Ihre Hochherzigkeit in solcher Weise ausnutzen und Sie um das Geld bringen, das Sie ja doch nur in ein Danaidenfaß werfen würden«, erwiderte er so fest, daß sie einsah, jedes weitere Wort in dieser Angele genheit würde vergeblich sein. »Weißt du, Gero, ich mag nicht mehr nach Hohenwerth gehen«, klagte Ilse-Dore eines Abends dem Gatten. »Bisher war Gudrun wenigstens noch zugänglich, doch seit einigen Wochen scheint auch sie die Sprache verloren zu haben. Wie der fidele Peter es da aushält, kann ich nicht begreifen. Und dabei sieht es in Hohenwerth doch jetzt viel besser aus als früher, die gute Ernte ist unter Dach und Fach. – Auch du bist kaum noch zu genießen, Gero.« »Ilse-Dore, denkst du, ich hätte keine Sorgen?« fragte er leise. »Wenn Bernulf von Hohenwerth fort muß, können wir auch nicht länger hier bleiben. Oder soll ich etwa die
sem vortrefflichen Herrn Kose das Gut verwalten?« Sie schmiegte sich fest an ihn. »Das lasse ich mir gefallen!« rief eine lachende Stimme von der Tür her, und als sie herumfuhren, winkte Peter ihnen vergnügt zu. »Ich habe geklopft, dreimal, viermal – doch verliebte Leute hören und sehen ja nichts. Schämt euch – ein so altes Ehe paar und noch so zärtlich!« »Neid, weiter nichts als blasser Neid, mein Lieber«, lachte Gero und schüttelte ihm die Hand. »Was führt Sie zu so später Stunde zu uns?« »Die Sehnsucht sicherlich nicht«, war die vergnügte Erwide rung. »Stecken Sie nur mal die Nase zum Fenster hinaus, dann werden Sie es wissen. In fünf Minuten haben wir nämlich ein Gewitter, das sich sehen lassen kann. Und da ich nicht pudelnaß werden will – « »Gewitter? Das ist gut«, nickte Gero befriedigt. »Die Hitze in den letzten Tagen war kaum noch zu ertragen. Jetzt wird es wenigstens Abkühlung geben. Wie gut, daß wir den größten Teil der Ernte geborgen haben. Wir haben aber auch geschafft in diesem Sommer!« »Ihr seid beide ganz schmal geworden bei der Rackerei«, bedauerte Ilse-Dore. »Es war manchmal wirklich ganz un menschlich. Wenn Bernulf euch beide nicht gehabt hätte!« »Na also – schlagen Sie sich an die Brust, verehrter Freund«, lachte Peter. »Wir zwei Helden!« »Ach, ich bin lieber für greifbares Lob. Ich möchte lieber etwas, womit man die Kehle anfeuchten – eventuell sogar sich die Nase begießen kann«, blinzelte Gero zur Gattin hin, die ihm neckend in den blonden Schopf fuhr. »Ausnahmsweise will ich eine Flasche bewilligen, weil ihr so fleißig wart.« Bald funkelte der Wein in den geschliffenen Gläsern. Und die drei Menschen, die hier gemütlich beieinandersaßen, kümmerten sich nicht um das Gewitter, das losgebrochen war. »Das prasselt ganz anständig«, meinte Gero und schmiegte
sich tiefer in den Sessel. »Wenn das Unwetter nicht bald nachläßt, müssen Sie bei uns übernachten, Peter.« »Aber mit dem größten Vergnügen! Sie haben es hier ei gentlich sehr mollig, hausen hier wie ein kleiner Fürst.« »Ja, ich lebte bisher gut und sorgenfrei. Habe sogar noch Ersparnisse gemacht. Bernulf hat anständig besoldet, und auch jetzt noch zahlt er mir mein volles Gehalt. Jammer und Schande, daß das Schicksal mit diesem wirklich vor nehmen Kerl so arg verfährt!« »Daß er aber auch so stolz ist und sich nicht helfen lassen will«, sagte Peter, tief bekümmert. »Wenn Hilfe einen Zweck hätte, dann würde er sie viel leicht nicht verschmähen«, meinte Gero. »Doch es ist ja alles zwecklos; auf keinen Fall kann er sich noch lange hal ten. Die gute Ernte, die ihm einen anständigen Batzen ein bringen wird, hilft ihm auch nicht über den Berg. Er kann sich vielleicht noch den Winter über halten. Wenn dann aber die Frühjahrsbestellung kommt und immer nur in die Wirtschaft hineingesteckt werden muß und nichts heraus geholt werden kann, dann wird die Herrlichkeit zu Ende sein. Soviel verstehen Sie doch auch schon von der Land wirtschaft, nicht wahr?« »Gewiß. Ich habe schon über alles das mit meiner Mutter gesprochen, der das Schicksal dieses vornehmen Mannes genauso am Herzen liegt wie uns. Sie könnte sogar Ho henwerth erwerben. Doch damit wäre dem Grafen nicht geholfen; ich glaube kaum, daß er dann noch länger dort bleiben würde.« »Das wäre auch das letzte, was man ihm zumuten könnte«, erwiderte Gero gepreßt. »Na – und es wäre für meine Mutter und mich auch keine große Freude, würden wir uns in das leergewordene Nest setzen. Soll man sich da auf dem feudalen Besitz breitma chen und mitansehen, wie der Graf, der ein heiliges Recht auf diese Scholle hat, wie ein Bettler von dannen ziehen? Doch ich kann mir nicht helfen, – ich warte immer noch auf ein Wunder, das dem Grafen dazu verhilft, Hohen
werth behalten zu dürfen.«
Sie fuhren auf, denn ein Splittern und Krachen erscholl, als
ob ihnen das Dach über dem Kopf zerbräche.
»Das hat hier in der Nähe eingeschlagen«, rang es sich von
Geros Lippen. Schon war er aufgesprungen und zur Tür
hinaus, Ilse-Dore und Peter hinterdrein.
Draußen herrschte tiefe Dunkelheit, die nur ab und an
zuckende Blitze erhellten. Der Donner klang schon ferner,
das Gewitter begann sich zu verziehen.
Sie wollten sich gerade wieder dem Haus zuwenden, als
Gero Peters Arm umschloß. Seine Rechte zeigte nach
Osten.
Hell leuchtete es am Horizont, den Himmel blutrot über strahlend, – Feuer!
»Mein Pferd!« brüllte Gero über den Hof, so daß die
Knechte, die neugierig in den Stalltüren standen, erschrok ken zusammenfuhren.
»Für mich auch eins!« schrie Peter.
Einige Minuten später rasten beide davon.
Und noch ein Reiter jagte vom entgegengesetzten Ende auf
Hohenwerth zu: Graf Hellmarck.
Ihm schwanden die Sinne fast, als er auf den Hof sprengte.
Die Scheune, die das meiste Getreide barg, brannte lichter loh. Schon begann auch der Stall, der im Rechteck daran stieß, Feuer zu fangen.
»Das Vieh von den Ketten!« hallte die herrische Stimme des
Gebieters über den Hof. Er wollte zur Brandstätte eilen,
besann sich jedoch und stürmte zum Schloß.
»Wo ist Frau Gräfin?« fragte er.
Niemand wußte es.
»Ja, habt ihr denn nicht auf eure Herrin geachtet?« Mit
rücksichtsloser Bewegung stieß er die ihm Zunächststehen den zur Seite und stürmte mit Riesenschritten die Freitrep pe hinauf. Nahm dann die Stufen mit mächtigen Sätzen
und stand gleich darauf in dem Schlafzimmer der Gattin.
Gott sei Dank, da lag sie auf dem Diwan, totenblaß zwar –
doch sie lebte!
Albert und Emma bemühten sich um sie. Als der Gatte sich über sie beugte, schlug sie die Augen auf und lächelte ihn an; unendlich weh war das Lächeln. Einen Augenblick schien es, als wollte er sie an sich reißen – doch dann be sann er sich und streichelte ihr nur die Wange. »Ruhig, Gudrun – ruhig!« Dann wandte er sich kurz ab. »Bleiben Sie bei der Gräfin«, bat er die beiden Alten und stürmte hinaus. Nun stand auch schon der Stall in hellen Flammen. Der Graf steckte sich das Taschentuch in den Mund, drang in den brennenden Stall und zerrte mit übermenschlicher Kraft das Vieh heraus. Er erhielt jetzt auch Hilfe durch Gero und Peter. Die Not der Stunde verlieh den drei Männern Riesenkräfte. Als das Dach des brennenden Stalles zusammenbrach, war wenigstens nicht das Leben eines Tieres zu beklagen. Der Graf wischte sich mit zitternder Hand das Blut von der Stirn, das aus einer Wunde sickerte. Er hatte den Kampf mit dem störrischsten der Stiere zu bestehen gehabt und dabei die Verletzung da vorgetragen. Kleine Verletzungen gab es auch bei Gero und Peter. Doch keiner hatte Zeit, darauf zu achten. Alle Augen hingen an der Scheune, die immer noch brannte. Außer der Gutsspritze arbeiteten noch einige Dorfspritzen, und nun waren die Leute dabei, die übrigen Gebäude zu schützen, damit diese nicht auch noch von den Flammen ergriffen wurden. »Ich will dabei sein, wenn das Vieh in den Ställen verteilt wird«, wagte Peter vorzuschlagen. Doch der Graf winkte ab. »Das machen die Schweizer, Peter. Sie sind dabei wirklich überflüssig. Für Sie war das heute Leistung genug; nun sol len Sie sich erst einmal stärken.« Die umsichtige Frau Emma hatte ein vorzügliches Mahl bereitet und auch etwas Trinkbares nicht vergessen. »Laßt es euch gut schmecken«, forderte der Schloßherr Ge ro und Peter auf. »Ich will nur schnell nach Gudrun sehen,
dann komme ich auch.« »Ach, richtig, Gudrun – wo ist sie?« fragte Gero. »Ich konnte erst nur flüchtig nach ihr sehen, sie lag halb ohnmächtig in ihrem Zimmer.« Er eilte in das Schlafgemach der Gattin. Sie lag noch immer auf dem Diwan, und Frau Emma saß bei ihr und hielt ihre Hand. Mit behutsamen Schritten kam der Graf näher. »Schläft sie?« flüsterte er. »Ja. Sie hat sich bei dem Schlag zu Tode erschrocken«, flü sterte Frau Emma zurück. »Sie fürchtet sich so sehr vor Ge wittern, hat es schon als Kind getan. Darum lief ich auch schleunigst zu ihr, da ich doch wußte, daß Herr Graf nicht zu Hause waren.« Des Schloßherrn Blick hing an Gudrun, die wie eine Blume dalag, die ein rauher Sturm gestreift. Wie Marmor war das zarte Antlitz, und unter den tiefgesenkten Wimpern lagen blaue Schatten. Sie schlief den Schlaf tiefster Erschöpfung. Graf Hellmarck hatte sein junges Weib noch nie so schön gesehen wie in diesem Augenblick. Es zuckte in seinem Gesicht; er wandte sich schweigend ab, trat an das Fenster und starrte in die Dunkelheit hinaus. Als er wieder an den Diwan herantrat, lag etwas unendlich Müdes, Hoffnungslo ses in seinen Bewegungen. »Macht es Ihnen viel aus, hier zu übernachten, Frau Em ma?« »Bewahre, Herr Graf, ich wollte sowieso hierbleiben.« »Das würde mich sehr beruhigen, Frau Emma. Sie können sich ja von der Zofe ablösen lassen, wenn Frau Gräfin sehr unruhig sein sollte.« »Zofe?« fragte Frau Emma verwundert. »Die ist doch schon seit Monaten fort, Herr Graf.« Er biß sich auf die Lippen. »Gewiß, gewiß«, entgegnete er mit rauher Stimme, »man wird vergeßlich, Frau Emma.« Er nickte ihr zu, verließ das Zimmer und begab sich zurück zu Gero und Peter. »Wie geht es Gudrun?« fragten sie wie aus einem Mund.
»Sie schläft.«
»Das beste, was sie tun kann«, meinte Peter trocken. »Herr
Graf – vielleicht hilft die Versicherung?«
»Nein, mein Junge, Stall und Scheune waren nur niedrig
versichert. Ich war einfach nicht in der Lage, der Versiche rung eine hohe Prämie zu zahlen.«
»Bernulf, das wußte ich ja gar nicht!« fuhr Gero auf. »Auch
ich nahm an, daß die Versicherung dir etwas auf die Beine
helfen würde. Das ist ja dann – «
»Das Ende – ja.«
»Oh, dann wird Herr Kose nicht lange auf sich warten las sen«, stieß Peter grimmig hervor.
»Das meine ich auch. Na – Prost, Jungens, nun heißt es
eben, die Zähne zusammenbeißen.«
Und wirklich war schon am nächsten Tag Herr Kose da.
Allein, ohne Fräulein Tochter. Er fand die Herren in des
Grafen Zimmer und begrüßte sie mit seinem wohlwollend sten Lächeln.
»Muß doch wieder einmal kommen und sehen, wie es
geht, lieber Graf.«
»Sagen Sie, Herr Kose, woher haben Sie eigentlich die
Nachricht von dem Brand?« fragte der Graf gelassen.
»Brand? Brand?« meinte Herr Kose mit gutgespielter Ver wunderung. »Wo hat es denn gebrannt?«
»Scheune und Stall.«
»Getreide und Vieh verbrannt?«
»Getreide ja, Vieh nicht – Gott sei Dank.«
»So -. Hm – na ja, mein lieber Graf, da müssen wir uns nun
wohl langsam auseinandersetzen. Sie wissen, daß mir die
Herrschaft Hohenwerth eigentlich schon gehört?«
»Leider!«
»So müssen wir das Gut abschätzen lassen. Ich glaube, Ih nen wird nicht viel übrigbleiben, mein lieber Graf.«
»Das glaube ich auch.«
»Ja – hm, ich habe nämlich alle Wechsel aufgekauft.«
»Ist mir bekannt.«
»Na, dann vollzieht sich ja die Übergabe ganz einfach.«
Ein verstohlener Blick ging zu dem Grafen hin, der so lässig wie nur je in einem Sessel lehnte. Und der andere, dieser Herr von Barnim, sah vollends aus, als ob er Menschen fressen könnte! Angesichts so viel eisiger Ablehnung sollte er sprechen? Er war von seiner Tochter mit einer Mission betraut, die sehr delikat war. Der reiche Herr Kose fühlte sich nicht sehr behaglich. Er hatte das Gefühl, als wäre ihm der Kragen zu eng. Doch er dachte an seine vergötterte Tochter daheim, fürchtete ihren Zorn, ihre Enttäuschung, ihre Verzweiflung und nahm dar um allen Mut zusammen. Es war wohl am besten, wenn er gleich auf sein Ziel lossteuerte und nicht lange erst herum redete. »Ja, mein lieber Graf – hm – das ist so 'ne Sache – hm – Sie könnten nämlich Hohenwerth behalten – hm – wenn, ja, wenn ich eine Bedingung stellen dürfte.«»Und die wäre?« »Meine Tochter – wie Mädels nun einmal sind – sie hat sich unsterblich in Sie verliebt.« »Ist mir eine außerordentliche Ehre.« So viel Ironie gegenüber mußten dem armen Kose unwei gerlich die Worte im Hals steckenbleiben. Es dauerte Se kunden, ehe er weitersprechen konnte. »Na, kurz und gut – meine Tochter begehrt Sie zum Gat ten«, platzte er heraus. »Herr Kose, selbst mit einem Geldbeutel, wie er Ihnen ge hört, kann man nicht alles erreichen, man kann sich nicht einen Mann einfach – kaufen. Das bestellen Sie wohl Ih rem Fräulein Tochter.« »Aber, meine Güte, Graf, warum gleich so eklig werden?« erwiderte Herr Kose verletzt. »Das ist doch ein annehmba rer Vorschlag, den ich Ihnen mache. Was wollen Sie anfan gen, wenn Sie von Hohenwerth fortgehen müssen?« »Das soll Ihre Sorge nicht sein, Herr Kose.« »Selbstverständlich nicht. Aber wenn es Ihnen so gut gebo ten wird, daß Sie das gewohnte Herrenleben weiterfuhren können, würde ich an Ihrer Stelle doch zugreifen«, sagte er
fast bittend. »Von Ihrer Frau können Sie sich doch mit Leichtigkeit scheiden lassen.« Er hielt verblüfft inne, denn der Graf eilte zur Tür, drückte auf den Klingelknopf – und wie aus der Erde gewachsen stand der Diener im Zimmer. »Begleiten Sie Herrn Kose zu seinem Wagen, Albert.« Und dann mit einer knappen Verbeugung zu dem unange nehmen Besucher hin: »Guten Tag, Herr Kose – gute Heimfahrt.« Herr Kose meinte es doch gut mit diesem Grafen, der wie die personifizierte Arroganz vor ihm stand. Er hatte sich wirklich schon mancherlei von ihm bieten lassen – doch was zuviel ist, ist zuviel – er hatte schließlich auch eine Galle! »Hören Sie, mein Herr, Sie haben wohl den Verstand verlo ren?« schrie er, krebsrot vor Zorn. »Was bilden Sie sich ei gentlich ein – wer sind Sie – was sind Sie – « Weiter hörte man nichts von ihm. Denn Albert hatte den fauchenden, gestikulierenden Herrn beim Arm gefaßt und zog ihn seelenruhig hinter sich her. »Melden Sie mich dem Herrn Grafen.« »Sehr wohl, Herr Justizrat.« Albert verschwand im Zimmer seines Herrn, kam sofort zurück und öffnete die Tür für den Gast. »Guten Tag, Herr Justizrat«, rief der Graf ihm entgegen, »was bringen Sie Schönes?« »Ob es etwas Schönes ist, weiß ich nicht, Herr Graf; es wird ganz darauf ankommen, wie Sie es auffassen.« »Bitte, nehmen Sie Platz.« Rönner ließ sich in einen Sessel nieder, und der Graf setzte sich in den gegenüberstehenden, den Besucher erwartungs voll ansehend. »Nun ist es also soweit«, leitete der Anwalt die Unterredung ein. »Ja, Herr Justizrat. Und ich bedaure es nicht einmal allzu sehr – es war zuletzt nichts als eine Quälerei ohne Ende. Sie wissen doch: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein
Schrecken ohne Ende.« »Und was gedenken Sie nun zu beginnen, Herr Graf?« »Ich werde nach Afrika gehen. Mein Schwager und seine Frau begleiten mich.« »Und Gudrun?« »Bleibt hier. Wenn ich mir dort eine Existenz geschaffen habe, kann sie nachkommen – das heißt, wenn sie will. Andernfalls kann sie sich als frei betrachten. Sie hat ihr kleines Vermögen. Ich selbst gedenke immerhin noch et was aus Hohenwerth zu retten, das sie dann auch haben soll. Davon kann sie eine Zeitlang gut leben. Und schließ lich – eine so schöne Frau bleibt nicht lange unverheiratet.« »Und das wäre Ihnen recht, Herr Graf?« »Recht? Herr Justizrat, ich bin ein Bettler und darf keine Ansprüche stellen. Ich muß mit allem zufrieden sein.« »Herr Graf, wollen Sie mich bitte anhören?« »Bitte.« »Herr Graf, Ihnen kann geholfen werden. Das heißt – wenn Sie wollen.« »Wollen Sie mir Märchen erzählen, Herr Justizrat?« Der Anwalt ließ sich durch diese Ironie nicht einschüch tern. »Es ist wie ein Märchen, gewiß. Doch glauben Sie mir, es geschehen im Leben mehr Wunder, als wir beide ahnen. Also: In Amerika lebt ein guter Bekannter von mir, der vor Jahren hinüberging, um eine Erbschaft anzutreten. Er fühlt sich jedoch nicht wohl dort, will langsam seine Verpflich tungen lösen und dann nach Deutschland zurückkehren. Er schwärmt für das Landleben und möchte seine eigene Scholle besitzen. Da hat er nun gehört, daß bei uns die schönen, großen Güter eines nach dem anderen zur Ver steigerung kommen. Hat mich also gebeten, eines für ihn zu erwerben. So bin ich auf den Gedanken gekommen, eventuell Hohenwerth…« Er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: »Hätten Sie etwas dagegen einzuwenden, Herr Graf?« »Ich? Nein.«
Es war ohnehin nicht leicht, mit diesem stolzen, unbeug samen Mann zu verhandeln. Doch dieser schroffe, abwei sende Ton erschwerte alles erheblich. Sekundenlang sah Rönner sinnend vor sich hin. Dann blickte er auf, dem Grafen geradewegs in die kalten, grauen Augen. »Herr Graf, nun werden Sie beweisen müssen, was stärker in Ihnen ist: der Stolz oder die Heimatliebe. Wenn ich Ho henwerth für Herrn Hörther erwürbe – es kann Jahre dauern, bis er mit seinen Verbindlichkeiteiten da drüben fertig ist. Es wäre also ein Aufschub für Sie – Sie könnten noch Jahre in Hohenwerth bleiben und – « »Und der Verwalter dieses Herrn Hörther werden, nicht wahr?« unterbrach der Graf ihn, bitter auflachend. »Soll also die Scholle, auf der meine Vorfahren seit Jahrhunder ten voll Stolz gesessen, für einen anderen verwalten. Ge wiß, es wäre durchaus nichts Außergewöhnliches. Wieviele in meiner Lage würden mit Freuden nach einem solchen Posten greifen! Ich bewundere diese Leute, doch ich kann es ihnen nicht gleichtun. Besorgen Sie mir eine Verwalter stelle auf dem Mond, Herr Justizrat, ich würde danach grei fen – doch nicht in Hohenwerth.« So hart und fest, so unbeugsam war das gesprochen, daß Rönner einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken konnte. Der Graf hörte ihn und lächelte, seine Hand mit bittender Gebärde auf die des Anwalts legend. »Sie meinen es gut mit mir, Herr Justizrat, ich erkenne es an. Ich bin froh, daß ich noch so treue Freunde in meiner Not habe. Doch wenn Sie meine Lage von allen Seiten be leuchten, müssen Sie selbst sagen, daß mir nicht zu helfen ist. Ich würde niemals den Gedanken loswerden, daß ich über kurz und lang ja doch von Hohenwerth scheiden müßte. Und das würde Nerven kosten, die ich für den Exi stenzkampf, der meiner wartet, nötig brauche. Ich muß mich eben mit dem Gedanken trösten, daß es vielen eben so geht wie mir. – Und nun bitte ich Sie herzlich, Herr Ju stizrat, sparen Sie sich Ihre wirklich gutgemeinten Worte?
Sie verschwenden sie doch nur an einen Unwürdigen, der Ihr freundliches Bemühen schlecht zu schätzen weiß.« Der Anwalt erhob sich; er war sehr niedergedrückt und bekümmert. »Herr Graf, ich will Ihre Antwort auf meinen Vorschlag noch nicht als endgültig betrachten; ich werde in einigen Tagen noch einmal vorsprechen. Vielleicht haben Sie sich dann alles anders überlegt.« »Vielen Dank, Herr Justizrat. Ich glaube nicht, daß ich in einigen Tagen anderen Sinnes geworden bin. Es müßte denn etwas geschehen, das mich zu dieser Sinnesänderung zwingt.« Er verabschiedete den Justizrat und vertiefte sich wieder in seine Arbeit. Es gab viel zu regeln in den beiden Wochen, die Herr Kose ihm Frist gelassen hatte. Als die Gatten sich nach dem Abendessen in dem kleinen Salon gegenübersaßen, fragte Gudrun: »Onkel Erich war doch heute bei dir. Ich weiß um den Vor schlag, den er dir unterbreiten wollte. Hast du ihn ange nommen?« »Nein. Ich habe seinen Vorschlag nicht angenommen, da ich hier nicht noch einmal von vorn beginnen will«, ent gegnete er so hart, daß sie zusammenzuckte. Sie erwiderte nichts darauf. Sie senkte nur den Kopf und erhob sich bald, um dem Gatten gute Nacht zu wünschen. Die Hand, die sie ihm reichte, war eiskalt. Er sah sie forschend an. »Gudrun, glaub mir, auch für dich ist es besser, wenn ich von hier gehe.« Sie fuhr herum, als wolle sie etwas sagen, wandte sich dann jedoch wieder ab, und verließ das Zimmer. Der Graf ging in sein Arbeitszimmer, doch es wollte heute mit der Arbeit durchaus nichts werden. Er verfiel in ein quälendes, zermürbendes Grübeln, und so suchte er bald sein Schlafgemach auf. Kaum hatte er das Zimmer betreten, da horchte er auf. Das Schlafzimmer der Gattin grenzte daran, und durch die ge
schlossene Tür hörte er ein Schluchzen, so verzweifelt und weh, wie er es noch nie von einem Menschen gehört hatte. Einen Augenblick zögerte er, dann ging er zu Gudrun hi nein. Sie hörte ihn nicht, schluchzte herzzerbrechend in die Kissen, schien aufgelöst zu sein in Schmerz und Pein. Der Graf beugte sich zu ihr nieder, umfaßte ihre Schulter. Sie fuhr auf, starrte ihn an – doch gleich preßte sie wieder das Gesicht in die Kissen und weinte noch fassungsloser als vorher. »Aber Gudrun, was hast du denn? Ich kann dieses entsetzli che Weinen nicht hören!« Als ihre Tränen noch immer nicht versiegten, ließ er sich auf den Bettrand nieder, zog sie in seine Arme und drückte ihr Köpfchen fest an seine Brust. »Bernulf – geh nicht fort! Bitte – nein!« flehte sie. »Oder nimm mich mit – laß mich nicht allein!« Sie richtete sich auf und streckte ihm die Hände entgegen. »Bern – lieber, lieber Bern!« stammelte sie. Da riß er sie an sich und preßte mit lautem Aufstöhnen sein Gesicht auf ihr Haar. Er brauchte Minuten, um sich zu fassen. Dann umspannte er ihr Gesicht mit beiden Hän den, so fest, daß sie leise aufschrie. »Gudrun – weißt du auch, daß du Hoffnungen in mir er weckst, die dir verhängnisvoll werden können?« »Nichts kann mir verhängnisvoll werden, wenn du bei mir bist«, rang es sich von ihren Lippen. »Es ist selbstverständ lich, daß die Frau mit ihrem Mann geht, Ilse-Dore tut es doch auch.« »Ilse-Dore liebt ihren Mann.« »Nicht mehr als – « Sie errötete über und über und versuchte den Kopf abzu wenden. Doch wie mit Eisenklammern hielt er ihn fest, ganz nah war ihr sein Gesicht. »Gudrun, sprich weiter«, verlangte er rauh. Aber sie sprach nicht, sie sah ihn nur an mit einem Blick, der ihn um seine Beherrschung brachte. Wieder riß er sie in seine Arme, küßte sie innig.
»Du läßt mich nicht allein?« bettelte sie, als er sie wieder aus den Armen ließ. »Nein, Entlein, nein – wenn du mich liebhaben willst – « »O Bern!« Aufjauchzend warf sie die Arme um seinen Hals. »Wenn ich imstande bin, dich mit meiner Liebe zu halten, dann wirst du schwerlich von mir gehen können. Doch ich fürchte, so viel Liebe, wie ich sie für dich im Herzen trage, könnte dir lästig werden.« »Deine Liebe? Liebling, was für ein Unsinn! Doch was be wegt dich jetzt, mir deine Liebe, die du bisher so geschickt verbargst, zu gestehen?« »Die Angst, dich zu verlieren, mein Liebster!« »Dann sei diese Angst gesegnet, Gudrun. Die Liebe zu dir, die mich wie ein Fieber überfallen, mich gerüttelt und ge schüttelt hat, vertausendfachte meine Verzweiflung wäh rend der letzten Wochen. Aber nun sieht alles viel lichter und klarer aus, da ich einen Menschen habe, für den zu schaffen und zu leben es sich lohnt.« »Bern, du hättest doch nicht -?« fuhr sie entsetzt auf. »Nicht heute und morgen, mein Lieb, auch nicht durch eigene Hand. Doch in Afrika ist einem dazu schon Gele genheit geboten.« »Meine Ahnung«, flüsterte sie, in tiefster Seele erschüttert. Dann warf sie wieder die Arme um seinen Hals und umfaß te, ihn so fest, als müsse sie ihn halten und schützen für alle Zeit. Justizrat Rönner war auf das höchste überrascht, als Graf Hellmarck am nächsten Tage bei ihm erschien, ihm seine Sinnesänderung mitteilte und ihn bat, Hohenwerth für Herrn Hörther zu erwerben, damit er als Verwalter weiter darauf leben könne. Was mochte diese plötzliche Sinnesänderung bei einem Mann von solcher Charakterfestigkeit bewirkt haben, bei einem Menschen, der alles andere war als schwankend in seinen Entschlüssen? Verstohlen glitt des Juristen Blick zu dem Gast, der an
scheinend vollkommen ruhig ihm gegenübersaß, durch nichts seine innere Erregung oder Bewegung verratend. Und doch war in dem Antlitz des Grafen ein Zug, der dem Anwalt, der diesen ungewöhnlichen Mann schon mehr als zehn Jahre kannte, fremd erschien. Auch in den immer so kalten, grauen Augen leuchtete es heute ab und zu hell auf – und immer gerade dann, wenn Gudruns Name fiel. Da wußte der kluge Mann Bescheid und schmunzelte ver stohlen in sich hinein, als er daran dachte, daß es der sü ßen, feinen Gudrun nun doch gelungen war, diesen gewiß nicht leicht zu erobernden Mann ganz für sich zu gewin nen. Wie tief und groß mußte seine Liebe sein, daß er ihr zuliebe als Verwalter auf Hohenwerth bleiben wollte! Ach ja, nun war der Justizrat hoffnungsfroh, nun mußte alles gut werden – alles! »Werden Sie dann alles in die Wege leiten, Herr Justizrat?« fragte der Graf. »Viel Zeit haben wir nicht zum Überlegen, wenn Herr Kose uns nicht doch noch zuvorkommen soll. Denn ich glaube bestimmt, daß er nicht lange fackeln wird. Aber noch eine Frage, Herr Justizrat: Darf auch mein Schwager seinen Posten behalten?« »Selbstverständlich, Herr Graf. Herr von Barnim ist in Ho henwerth nötig, und Hörther wird ihn noch bitten, zu bleiben. Dem Mann liegt doch daran, sein Gut in gutem Zustand vorzufinden, wenn er sich dermaleinst darauf nie derlassen wird. Und dazu gehört eine erstklassige Verwal tung, wie Hohenwerth sie bisher gehabt hat. Vielleicht darf ich mit Ihnen kommen, Herr Graf, damit ich Herrn von Barnim kontraktlich festlegen kann? Ich möchte heute noch die Belege absenden.« Sie trafen Gero in trübseliger Stimmung an. Und Ilse-Dore war noch viel trübseliger. Sie hatte es sich so leicht gedacht, auszuwandern. Aber da es nun soweit war, schien ihr aller Mut und alle Zuversicht abhanden gekommen zu sein; sehr kleinlaut war sie und gedrückt. Trotz des Bemühens, tapfer zu bleiben, weinte sie. Da griff Graf Hellmarck ein.
»Ilse-Dore, komm her, setz dich neben den Herrn Justizrat. Und du, Gero, auf die andere Seite. Der Herr Justizrat will euch nämlich ein Märchen erzählen.« »Dafür habe ich jetzt das größte Interesse«, brummte Gero, ließ sich jedoch gehorsam an des Anwalts Seite nieder. Und was er zu hören bekam, das ließ ihn aufhorchen. Zu letzt wagte er kaum noch zu atmen, um sich nur nicht ei nes der schönen Worte entgehen zu lassen, die von den Lippen des Justizrats kamen. Er durfte hierbleiben, konnte mit dem verehrten Schwager weiter zusammenarbeiten? Alles sollte bleiben wie bisher, nur daß Hohenwerth den Besitzer wechselte, der in Ameri ka weilte – und Jahre würde es dauern, bis er sich hier nie derließ? . Das war wirklich wie ein Märchen! Das sagte er auch dem Justizrat, und der lachte. »Es klingt so, Herr von Barnim. Doch dieses Märchen ist ausnahmsweise einmal wahr.« Sekunden brauchte Gero, um sich zu fassen. Doch dann brach ein heller Jubelschrei aus seinem Mund. Ihm war, als fielen Fesseln von ihm ab, die ihn lange schmerzlich ge drückt hatten. Graf Bernulf war es, als falle es ihm auf einmal weniger schwer, das Opfer zu bringen, künftighin als Verwalter auf Hohenwerth zu bleiben. Und noch einer war beinahe außer sich vor Freude, als er vernahm, wie die Würfel gefallen waren: Peter! »Daß Sie sich dazu entschlossen haben, Herr Graf!« sagte er mit einer Stimme, in der die Tränen saßen. »Das macht Ihnen sobald keiner nach.« Ein Opfer hatte Graf Bernulf dem eigenen Stolz gebracht. – Aber war es wirklich ein Opfer, oder galt es ihm noch da für? Manchmal zweifelte er daran, wenn Gudrun sich in seine Arme schmiegte und ihre Augen ihn anstrahlten. Dann war alles ganz still in ihm, und gewaltsam zwang er den Gedanken nieder, was werden sollte, wenn Herr Hör ther eines Tages in Hohenwerth erscheinen würde, um…
Nein, nein! Nicht darüber nachsinnen, vielmehr alles hin nehmen, wie es kam, nur das berauschende Glück ausko sten, das ihm die Liebe seiner jungen Frau bescherte. Nun begann auf Hohenwerth ein friedliches, freudenvolles Leben. Hauptsächlich für die Gatten, die sich von Tag zu Tag inniger aneinanderschlossen. Die Liebe füllte den Gra fen so sehr aus, daß der Gedanke, doch noch einmal von der Heimat zu müssen, nichts Bedrückendes mehr für ihn hatte. Wußte er nun doch, daß Gudrun mit ihm ging, wo hin er sie auch führen würde. Herr Hörther dachte anscheinend nicht daran, jetzt schon nach Hohenwerth zu kommen. Die Abwicklung seiner Ge schäfte würde mindestens noch zwei Jahre in Anspruch nehmen, hatte er dem Justizrat mitgeteilt. Er hatte dem Grafen ein so hohes Gehalt ausgesetzt, daß dieser es an fänglich gar nicht annehmen wollte. Doch Rönner machte ihm klar, daß diese Summe für den reichen Hörther eine Lappalie sei und daß er als gewiegter Geschäftsmann jede Leistung richtig einzuschätzen wisse. So fügte der Graf sich und war bemüht, durch tüchtige, gewissenhafte Arbeitsleistung sein Gehalt zu verdienen. Auch Geros Gehalt war aufgebessert worden, was diesen in einen wahren Freudentaumel versetzt hatte. Graf Hellmarck lebte ausschließlich seiner Arbeit und sei ner Frau. Einfach unwiderstehlich war sie, und ihre holde Schönheit hätte überall glänzende Triumphe gefeiert, wenn der Gatte sie ausgeführt hätte. Doch er dachte gar nicht daran; warum sollte er sich unnötige Eifersuchtsqualen schaffen? Zudem verlangte es Gudrun gar nicht nach rau schenden Festen, sie lebte lieber still und zurückgezogen. In letzter Zeit hatten die Gatten nur Peter zu ihrer Gesell schaft. Denn der Storch hatte gute Arbeit geleistet, war zu erst bei Rönners eingekehrt und dann bei Barnims. Es war en kräftige Buben, die in den Wiegen strampelten, und sie nahmen die beglückten Eltern so vollständig in Anspruch, daß sie jede freie Minute bei den winzigen Tyrannen ver brachten.
Nun wurde Graf Hellmarck und Gudrun auch die Verzweif lung klar, in der sich Ilse-Dore und Gero befunden hatten, als sie gerade zu der Zeit von der Heimat fort sollten, wo das kleine Wesen sich bemerkbar zu machen begann. Im Februar fuhr der Graf geschäftlich nach Hamburg, und Gudrun begleitete ihn. Die Wintersaison war gerade in vol lem Gang. Und an einem Morgen, als die Gatten im Hotel beim Frühstück saßen, reichte Gudrun Bernulf die Zeitung. »Schau mal, Liebster, der Maskenball findet wieder statt, an dem du vor zwei Jahren teilnahmst. Hast du nicht Lust, ihn zu besuchen? Vielleicht siehst du die Frau wieder, von der du an unserem Hochzeitstag zu schwärmen anfingst?« setz te sie mit einem schelmischen Lächeln hinzu, das sie gera dezu unwiderstehlich machte. Der Gatte betrachtete sie entzückt. »Entlein, nimm dich in acht; wenn du noch länger so lä chelst, dann küsse ich dich hier vor allen Leuten«, flüsterte er ihr verliebt zu. »Oh – das wäre allerdings kompromittierend für beide Tei le. Laß uns ein weniger gefährliches Thema anschlagen. Weißt du noch, wie du mich damals besuchtest?« »O ja, so etwas vergißt sich nicht so leicht, mein Herz. Da mals hatte ich allerdings noch keine Ahnung, daß sich das häßliche Entlein zu einem stolzen Schwan entwickeln würde. Doch auch in deiner wenig schönen Hülle hast du mich betört, du gefährliches Kind; meine Gedanken be schäftigten sich mehr mit dir, als mir lieb war.« »Trotz deiner Maskenliebe?« »Gudrun, ich warne dich!« »Ach so – sonst küßt du mich?« meinte sie scheinheilig, hielt es dann jedoch für ratsam, erlöst und gesittet zu wer den. Denn das gefährliche Flimmern in den Augen des Gat ten war ihr nicht unbekannt. »Wirst du den Maskenball besuchen, Liebster?« »Wenn du Wert darauf legst, Entlein.« »Wer sagt denn, daß ich dich begleiten will?« »Na, das wird ja immer besser!« empörte er sich. »Du hast
es dir wohl sehr nett gedacht, mich loszuwerden, damit du dich auf eigene Faust amüsieren kannst?« »Oh, bist du ein kluger Mann! Doch mach um Himmels willen ein anderes Gesicht, Bern! Ich will ja auch ganz brav sein und mit dir kommen.« »Bleibt dir auch keine andere Wahl, mein Herzblatt. Ich werde mich wieder an den Direktor wenden, damit er uns Karten besorgt.« Drei Tage später fand der Maskenball statt, und der Graf hatte alle List spielen lassen, um von Gudrun zu erfahren, welches Kostüm sie tragen würde. Doch sie lächelte nur und schwieg. So verfiel er denn auf etwas, was nicht gerade recht, in die sem Fall jedoch erlaubt war. Er unterhielt sich mit der Zofe Ella, die schon längst wieder bei der Gräfin Dienst tat und die ihre Herrin auch begleitet hatte. Er trieb sie mit Kreuz- und Querfragen dermaßen in die Enge, daß sie ihm schließlich das Kostüm der Gräfin verriet. Schäferin – rosa Seide – weiße Perücke – recht eigenartig wirkend und daher nicht zu verkennen. Er erkannte sie im Ballsaal auch sofort, obgleich sie nicht die einzige anwesende Schäferin war. Er selbst erschien wieder als Domino, so unauffällig wie nur möglich – und erregte trotzdem Aufsehen, wo er sich nur blicken ließ. Von allen Masken interessierte ihn begreiflicherweise am mei sten die rose Schäferin, die sich fern von ihm hielt und ihm immer wieder entschlüpfte, so oft er sie zu fangen versuch te. Endlich gelang es ihm doch, und er hielt sie im Arm, sie fest an sich drückend. Durch die Maske brannten seine Blicke auf sie nieder. »Nun, mein Entlein – erkannt!« sagte er mit leisem Lachen. Sie strebte von ihm fort, doch er hielt sie fest. Dann weiteten sich seine Augen – er schaute, schaute – als sähe er nicht recht. Drüben in dem dicksten Gewimmel tauchte eine ihm be
kannte Maske auf. Die rotseidene Pierrette! Genauso hatte die ausgesehen, die er vor zwei Jahren im Arm gehalten hatte. Sie mußte es sein. Vergessen war die schöne Schäferin – seine Augen hingen wie gebannt an der seltsamen, so ungemein geheimnisvoll wirkenden Pierrette. Sein ganzes Ich stand auf einmal in Flammen. Er war so erregt, daß es ihm fast den Atem raub te. Erst als sich die Schäferin bewegte, schrak er auf. Ja, war er denn wahnsinnig? Er hielt seine heißgeliebte Frau im Arme und konnte das auch nur eine Sekunde vergessen! Er wollte sie an sich pressen, doch sie entschlüpfte ihm. Sie hatte wohl das seltsame Gebaren des Gatten bemerkt, viel leicht auch die heißen, brennenden Blicke gesehen, die eine andere suchten, und war nun gekränkt. Und hatte ja auch allen Grund dazu! Er bahnte sich rücksichtslos einen Weg durch die tanzen den Paare und eilte der Schäferin nach. Doch auf halbem Weg kam ihm die Pierrette entgegen. Ein kurzes Zögern, Besinnen – auch sie hatte ihn erkannt. Sie kam zu ihm, schmiegte sich in seine Arme. Doch mit brutalem Griff befreite er sich von ihr. Seine Blicke irrten suchend umher – die Schäferin war nirgends mehr zu sehen. Er hatte plötzlich einen bitteren Geschmack auf der Zunge, und die Kehle war ihm wie ausgebrannt. Ohne die Pierrette eines einzigen Blickes zu würdigen, durcheilte er den Saal, durchsuchte die Nebenräume, immer nach der Schäferin Ausschau haltend, die die Erde verschluckt zu haben schien. Als er sie auch in den Nebenräumen nicht fand, gab er verstimmt das Suchen auf. Er hatte das Bedürfnis, einen Augenblick allein zu sein und sich zu sammeln, und suchte darum nach einem ruhigen Plätzchen. Endlich fand er ein Zimmer, das im Augenblick leer war. Tief aufseufzend ließ er sich auf das Sofa fallen. Ihm war miserabel zumute.
War er nicht ein erbärmlicher, elender Kerl? Sich von einer Frau, die er nicht einmal kannte, so aus der Ruhe bringen zu lassen – so unbeherrscht zu sein! Doch soviel er sich auch schalt, sich verachtete – sein gan zes Sein schrie förmlich nach dieser rätselhaften Pierrette. Das Bild der Schäferin war vollständig verblaßt, war für ihn nur noch wie ein Schemen. Er stürzte den Sekt, den ihm der Diener brachte, hinunter, Glas um Glas. Ein so böses Gewissen hatte er noch nie in seinem Leben gehabt; so elend wie im Augenblick hatte er sich kaum je mals gefühlt. Wie Gudrun sich wohl zu der Sache stellen würde? Denn sein Betroffensein bei dem Anblick der Pier rette konnte ihr unmöglich entgangen sein. Und daß sie sich verletzt und gedemütigt fühlen würde, war nur zu be greifen. Da hatte er nun geglaubt, er liebe seine Frau mit jeder Faser seines Herzens – und dennoch… Nein, diese Erkenntnis war einfach nicht zu ertragen! Er sprang auf, stürzte noch ein Glas Sekt hinunter und ging zur Tür. Er mußte die Schäferin suchen, bis er sie fand. Vielleicht war alles nur halb so schlimm, wie es ihm er schien. Gudrun war eine vernünftige Frau. Und er wollte alles aufbieten, um sie zu versöhnen. Doch als er durch die Tür gehen wollte, prallte er zurück. Da lehnte die Pierrette am Türpfosten, ruhig, lässig, die Arme über der Brust verschränkt. Hatte ihn also die ganze Zeit beobachtet. Er wollte an ihr vorbei, doch da kam Le ben in ihre Gestalt. Ehe er sich zur Wehr setzen konnte, hatte sie ihn in das Zimmer zurückgedrängt, die Tür abge schlossen und den Schlüssel in den Ausschnitt ihres Kleides gesteckt. »So, Sie ungalanter Ritter«, kicherte sie hoch und piepsend, »nun sind Sie gefangen. Und nun wollen wir wieder so süße, unvergeßliche Stunden verleben wie vor zwei Jah ren.« »Nein, mein holdes Kind«, entgegnete er mit tiefster Ironie.
»Sie werden mir vielmehr den Schlüssel geben, werden ein schönes Knickschen machen und mich gehen lassen – und selbst hübsch brav zum Herrn Gemahl zurückkehren.« »O nein, das werde ich nicht!« lachte sie hoch und schrill. Und ehe dei* Graf sich dessen versah, hing sie auch schon an seinem Hals, drängte ihn auf das Sofa und kletterte auf seinen Schoß. Er versuchte, sich zu erheben, doch der reichliche Genuß des Champagners hatte seine Kräfte ge schwächt. Außerdem schien das schöne Kind erstaunlich kräftig zu sein. Immer enger schmiegte sie sich an ihn, hob die Spitzen ihrer Maske, die den Mund verdeckten, und preßte ihre Lippen auf die seinen in heißem, leidenschaftlichem Kuß. Ein ihm bekannter, sinnverwirrender Duft umschmeichelte ihn und trug viel dazu bei, daß sein Widerstand schwächer wurde. Doch nicht lange, dann siegte sein Ehrgefühl. Er sprang auf, befreite sich kurzerhand aus der Umschlingung der Pierrette und stellte sie wie eine Puppe auf die Erde. Vollständig ernüchtert war er und fühlte deutlicher denn je, daß er allen Verlockungen gegenüber standhaft bleiben müsse, wollte er ein reines Gewissen behalten. »Schließen Sie die Tür auf!« herrschte er die Pierette an. Doch sie wollte nicht, sondern kicherte nur. »Erst den Schlüssel haben!« »Wenn Sie ihn mir nicht freiwillig geben, so zwingen Sie mich, etwas zu tun, was gegen Erziehung und Ritterlichkeit verstößt«, sagte er hart und zeigte auf den Ausschnitt ihres Kleides. Da holte sie hastig den Schlüssel hervor, versteckte ihn jedoch hinter ihrem Rücken. Er trat zu ihr und versuch te, den Schlüssel ihrer Hand zu entwinden. Sie gab ihn jedoch nicht her – und so entstand ein heftiger Kampf. Die Art, wie sie sich gegen ihn wehrte, kam ihm seltsam bekannt vor. Und ganz plötzlich sah er ein Zimmer vor sich, in dem er schon einmal mit einer Frau einen Kampf bestanden. Da mals war das Ringen um einen Brief gegangen! Da gab er ihre Hände frei, trat einen Schritt zurück, und
sein scharfer, durchdringender Blick ging zu ihr, sog sich förmlich an ihr fest. Diese unvergleichliche Nackenlinie, die blütenzarten Schul tern und Arme, die ganze grazile Gestalt mit der lässigen Haltung Mit einem Satz war er bei ihr – ein Griff, und er hielt die Maske in der Hand. »Gudrun!« Sie stürzten sich in die Arme, küßten sich heiß. Er hob sie auf die Arme, trug sie auf das Sofa, setzte sich und nahm sie auf den Schoß. »Nun hör einmal – du arger Schelm!« Da lachte sie – frisch und überschäumend klang das La chen. »Oh, du armer Liebster, du hast mir zuletzt schon leid ge tan. Nun habe ich gesehen, wie es ist, wenn du dich in der Klemme befindest. Ehrgefühl und Liebe – was für ein hei ßer Streit das war! Doch das Ehrgefühl siegte. Man wollte durchaus zur schönen Schäferin zurück, obgleich sie einen nicht im geringsten interessierte. Du dummer, süßer, lieber Liebster! Hast du nun erfahren müssen, daß Liebe unbe stechlich ist, daß dieses Gefühl nicht trügen kann! Die Pflicht trieb zur Schäferin – das Herz zur Pierrette!« Sie war nun ganz ernst geworden, und den eben noch so strahlenden Blick verdunkelten Tränen. »Liebstes, Süßes, Angebetetes – du weinst doch nicht gar?« rief er bestürzt. »Ja, Liebster – aber vor Glück«, entgegnete sie leise. »Nun weiß ich, daß deine Liebe wirklich echt ist – deine große, heiße, unbestechliche Liebe!« Sie schmiegte sich an ihn und lag sekundenlang ganz still an seinem Herzen, das wie rasend klopfte. Und als sie end lich den Kopf hob, strahlten ihre Augen heller denn je, und das Schelmenlächeln ihres Mundes war auch wieder da. Da küßte er sie, daß ihr beinahe der Atem verging. »Und nun gebeichtet, du gefährliches Hexchen!« forderte er. »Ella verriet mir doch das Kostüm, das du tragen woll
test.« »Die Schäferin«, lachte sie hellauf. »Das war ein Trick, Lieb ster. Ich ahnte nämlich, daß du dich bei Ella nach meinem Kostüm erkundigen würdest, und so planten wir beide eine kleine Intrige.« Bern klatschte sich mit der flachen Hand vor die Stirn und schlug den Blick zum Himmel auf. »Ach, ich Esel – ich Esel!« Er küßte sie wieder. Doch ganz plötzlich ließ er sie los und schob sie mit den Armen fort, so weit er konnte. »Dann warst du gar an dem Abend vor zwei Jahren – « »Die rote Pierrette, jawohl!« lachte sie übermütig. »Du hast doch aber damals in deinem miserablen Zimmer gesessen, Totenköpfe und anderes gruseliges Zeug gezeich net?« »Das nahmst du an, Bern – und das war gut. Ich liebte dich schon damals«, gestand sie, und heiße Glut übergoß ihr süßes Antlitz. »Und da keine Aussicht vorhanden war, daß ich dich jemals für mich erringen könnte, ich aber wußte, daß du die – große Liebe meines Lebens warst – so war ich fest entschlossen, mir einige süße, köstliche, unvergeßliche Stunden zu stehlen, wovon ich dann später zehren wollte. Und wie gut mir das gelungen ist, weißt du.« »Aber Kind, herzliebstes – wie war es dir nur möglich, dich an dem Abend so sehr zu verwandeln – und dann am nächsten Tag wieder das häßliche Entlein zu werden?« »Das war eine Kleinigkeit. Ich überließ mich an dem Abend einfach den Künsten eines Schönheitsinstituts.« »Und hattest den Mut, wieder in deine alte, häßliche Hülle zurückzuschlüpfen?« »Leicht ist es mir nicht gefallen, Bern. Aber Mutter Hermine wünschte, ich sollte mein Studium beenden. Es war freilich ein wenig grausam. Sie meinte es aber gut mit mir. Sie hat mich auf ihre Art geliebt, und daher waren mir ihre Wün sche heilig. Welches Aufsehen würde es zudem erregt ha ben, wäre ich so verändert ins Kolleg gekommen?«
»Alle Studenten hätten sich in dich verliebt.« »Das war aber gar nicht nötig«, entgegnete sie ernst. »Spä ter, als ich mit dir verlobt war und mehr als einmal mit anhören mußte, wie sehr man dich deiner Braut wegen bedauerte, entschloß ich mich, meine Hülle endgültig ab zuwerfen. Ich lud mich zu Tante Rita ein, und die schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als sie meiner an sichtig wurde. Sie fand mich sehr willig, als sie dann ener gisch begann, mich umzumodeln.« »Das dürfte ihr nicht allzu schwer gefallen sein«, sagte er zärtlich. »Das sagte Tante Rita auch«, gab Gudrun lachend zu. »Doch hör den schönen Tango! Wollen wir tanzen?« »Mit dem größten Vergnügen, Herzlieb.« Graf Hellmarck saß Justizrat Rönner in dessen Arbeitszim mer gegenüber. Sie sprachen über geschäftliche Dinge, und zum Schluß meinte der Graf: »Es ist für mich ein recht schweres Arbeiten, Herr Justizrat, da ich Herrn Hörther nicht kenne und daher auch nicht weiß, wie er über manches denkt. Es sind oftmals schwer wiegende Entscheidungen zu treffen, und ich muß mir doch allemal, sozusagen, den Rücken decken. Ich habe ihm schon mehrere Briefe geschrieben, doch er antwortet mir mit keiner Silbe. Sie haben doch die Briefe, die ich Ihnen an Herrn Hörther übergab, weiterbefördert?« »Selbstverständlich«, erfolgte die Antwort mit merkwürdi ger Hast. Rönners rechte Hand spielte mit dem Brieföffner, die linke trommelte auf die Schreibtischplatte. Er schien sehr unruhig und nervös zu sein, so daß der Graf ihn ganz erstaunt ansah. Da warf er den Brieföffner zur Seite, reckte seine Gestalt im Schreibtischsessel hoch und sagte: »Ich glaube, Sie nehmen Ihre Pflichten als Verwalter viel zu schwer, Herr Graf. Herr Hörther hat keine Ahnung vom Gutsbetrieb, da kann er Ihnen auch keine Vorschriften ma chen. Sein Wunsch ist, daß Sie nach eigenem Ermessen handeln, Sie haben unbeschränkte Vollmacht.« »Die kann mir nichts nützen, da ich nicht weiß, wie weit
gehend sie ist. Es sind zum Beispiel kostspielige Reparatu ren an den Wirtschaftsgebäuden nötig, und ein Jungvieh stall muß auch gebaut werden. Das sind alles Sachen, die ich ohne Herrn Hörthers Zustimmung kaum unternehmen kann. Es handelt sich in diesem Fall um Objekte, die Tau sende erfordern.« »Aber Herr Graf, bei einem vielfachen Millionär wie Hör ther spielen ein paar Tausende wirklich keine Rolle. Er will Hohenwerth in tadellosem Zustand haben, und da wird er sich denken können, daß das nicht ohne Ausgaben abge hen kann«, sagte der Justizrat fast bittend. »Machen Sie sich doch nicht immer solche Gedanken! Besser als Sie kann kein Mensch Hohenwerth verwalten.« »Naja, gewiß«, entgegnete Hellmarck und erhob sich. »Ich verstehe nur nicht, Herr Justizrat, daß Sie die schwierige Lage, in der ich mich befinde, nicht erkennen wollen. Ich will Sie aber nicht länger aufhalten. Vielleicht mache ich mir wirklich mehr Sorgen, als nötig sind.« »Ganz meine Meinung, und Herr Hörther würde nicht an ders denken; es ist wirklich alles in schönster Ordnung«, tröstete der Justizrat. »Wollen's hoffen.« Die Herren schüttelten sich die Hände, und der Graf kehrte mißmutiger nach Hohenwerth zurück, als er von dort fort gefahren war. Er fand Gudrun in ihrem Wohnzimmer; der Bruder war bei ihr. Bei des Schwagers Eintritt sprang dieser auf und eilte ihm entgegen. »Ich bin hier, um dich und Gudrun um die Patenschaft bei unserem Jungen zu bitten. Du bist doch einverstanden?« »Aber gewiß, gern – das heißt, wann soll die Taufe sein?« »Das wollte ich auch schon fragen«, lachte Gudrun. »Wenn sie nur nicht mit der des kleinen Rönner auf einen Tag fällt – denn bei Justizrats haben wir das gleiche Ehrenamt zu versehen.« »O Himmel!« rief Gero lachend. »Das hätte ja eine schöne Bescherung geben können! Lassen wir also dem kleinen Rönner den Vorzug, und taufen wir unseren Bengel später.«
Graf Hellmarck ließ sich in einen Sessel fallen und erkun digte sich nach Ilse-Dores Ergehen, die sich von der Geburt des Kindes noch immer nicht erholen konnte. »O danke, es geht ihr schon viel besser«, entgegnete Gero froh. »Ihr müßt entschuldigen, wenn sie sich hier nicht blicken läßt, sie hat jetzt nur noch Augen und Ohren für ihren Sohn. Ich kann ein Liedchen davon singen.« »Nun, das kann dir wirklich nichts schaden«, neckte Gud run. »Du warst wirklich schon reichlich arrogant und bilde test dir ein, deine Frau sei ausschließlich für dich da.« »Ist sie auch«, behauptete er. »Frag nur Bernulf, ob er nicht derselben Meinung ist.« Sie sahen zum Grafen hin, doch der hatte kein Verständnis für ihre Neckerei. »Bern, was hast du nur? Schon seit Tagen bist du mißge stimmt.« »Das hartnäckige Schweigen des Herrn Hörther macht mich einfach rasend. Vier Briefe habe ich ihm geschrieben – aber er antwortet einfach nicht.« »Das finde ich auch recht sonderbar«, gab Gero zu. »Es lie ße sich viel leichter wirtschaften, wenn wir nicht immer im Dunkeln zu tappen brauchten. Wirst du eigentlich mit dem Bau des Stalles beginnen, Bernulf?« »Nicht eher, als bis ich Herrn Hörthers Zustimmung habe. Ich komme soeben vom Justizrat und habe mit ihm über die Angelegenheit gesprochen. Er nimmt alles sehr leicht und weist mich immer wieder auf die Vollmacht hin, die ich von Herrn Hörther habe. Ich werde noch einmal an ihn schreiben; bekomme ich dann wieder keine Antwort, so weiß ich überhaupt nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll.« »Ach ja, das tu nur«, rief Gudrun. »Ich muß sowieso zu Rönners fahren, da kann ich den Brief gleich mitnehmen.« Sie nickte den Herren zu und verließ sie; auch Gero verab schiedete sich. Graf Hellmarck ging in sein Arbeitszimmer und schrieb den Brief. Er gab dem saumseligen Herrn zu verstehen, daß
er sein Amt als Verwalter niederlegen müsse, falls er keine Nachricht auf diesen Brief erhielte. Er wäre nicht mehr im stande, die Verantwortung für den großen Betrieb allein zu tragen. Diesen Brief nahm Gudrun an sich, um ihn dem Justizrat auszuhändigen. Rönner hatte dem Grafen klargemacht, daß es von Vorteil sei, wenn die gesamte Korrespondenz über ihn an Herrn Hörther gelange. Seine – Rönners – Sendungen öffne der Millionär persönlich, alles andere aber hätten seine Beam ten und Sekretäre zu erledigen. Mit der Zeit war Hellmarck der Gedanke gekommen, ob der Weg, auf diese Weise mit Herrn Hörther zu verkehren, wirklich der richtige sei. Verloren seine Briefe als Beilagen zu denen des Justizrats für den Empfänger nicht an Ge wicht und Bedeutung? Das kam dem Grafen auch jetzt wieder in den Sinn, und es fiel ihm ein, ob es nicht ratsam sei, dem ersten Schreiben ein zweites, direkt an den Amerikaner gerichtetes folgen zu lassen. Gedacht, getan! So ging denn noch ein zweiter Brief in die Welt hinaus, und zwar eingeschrieben. Mit Ungeduld wartete Graf Bernulf auf eine Antwort. Diese traf auch nach zwei Wochen ein. Doch der Inhalt dieses Schreibens war ein ganz anderer, als der Graf erwar tete hatte. Er raste zur Stadt. Ohne Rücksicht darauf, daß die Sprech stunde des Justizrates, die er sonst stets eingehalten hatte, zu Ende war, ließ der Graf sich bei diesem melden. Sofort wurde er in das Zimmer des Justizrates geführt. Die Augen der beiden Männer tauchten ineinander. Die des Grafen verrieten Hochmut und Kälte, die Rönners Sorge und Bestürzung. Der Graf folgte der Aufforderung des Hausherrn, Platz zu nehmen, nicht, sondern blieb hochaufgerichtet vor ihm stehen, ihm den Brief hinreichend, den er von Herrn Hör ther erhalten hatte.
Rönner las die kurzen, sachlichen Zeilen des Millionärs, der über das Schreiben des Grafen sehr erstaunt war. Ja wohl, er hatte Justizrat Rönner beauftragt, ein Gut für ihn zu erwerben, doch von einer Herrschaft Hohenwerth – und gar noch von einem Grafen Hellmarck als Verwalter – habe er nie etwas gehört. Es müsse ein Irrtum sein, der sich si cherlich aufklären lassen würde. Mit verlegenem Lächeln reichte Rönner dem Grafen den Brief zurück. Eine Weile herrschte beklemmendes Schweigen. »Sie werden vielleicht die Güte haben, mir endlich rück haltlose Aufklärung zu geben, Herr Justizrat«, klang des Grafen Stimme drohend auf. »Wollen Sie nicht doch lieber Platz nehmen?« bat der An walt. »Es spricht sich dann besser.« Hellmarck zögerte einen Moment, doch dann nahm er den Stuhl, den Rönner ihm anbot. »Graf, wohl noch nie in meinem Leben befand ich mich in einer so schwierigen Lage wie jetzt«, begann der Justizrat. »Ich – vielmehr wir – haben Sie täuschen wollen – haben jedoch nicht mit Ihrer Klugheit, Ihrer Gewissenhaftigkeit gerechnet. Das Erstaunen in Herrn Hörthers Brief ist echt: er ist wirklich nicht der Besitzer von Hohenwerth.« Der Graf wollte aufspringen, zwang sich jedoch mit aller Kraft zur Ruhe. »Wohl beauftragte Hörther mich, ein Gut für ihn zu erwer ben, doch das ist vorläufig noch nicht geschehen.« »Und meine Briefe, wohin sind die gegangen?« Rönner entnahm seinem Schreibtisch fünf Briefe, die er vor den Grafen hinlegte. Sie waren sämtlich ungeöffnet. »Interessant – in der Tat«, sagte der Graf ironisch. »Darum also wurde mir zugeredet, die Briefe doch durch Sie beför dern zu lassen, Herr Justizrat. Doch wenn Herr Hörther nicht mein Wohltäter ist – wer hat mir dann die ungeheure Summe zur Verfügung gestellt?« »Ihre Gattin.« Der Graf sprang auf und starrte dem Anwalt ins Gesicht, als
spräche dieser irre.
»Gudrun?« rang es sich von seinen Lippen.
»Ja.«
Die Adern auf des Grafen Stirn schwollen an, die Fäuste
ballten sich, daß ihm die Fingernägel in die Handflächen
drangen; sein Atem ging mühsam und schwer.
»Und wer gab Ihnen das Recht, mich in solcher Weise zu
täuschen – mich so zu betrügen, Herr Justizrat?« stieß er
zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Betrügen? Das ist wohl nicht der richtige Ausdruck, Graf.
Und was mich – oder sagen wir besser – was Ihre Gattin zu
dieser Täuschung zwang? Die Liebe zu Ihnen, Graf!«
»Die Liebe?«
Rönner wandte sich ab. Er trat an das Fenster und starrte
hinaus. Er wollte dem Grafen Zeit lassen, sich zu fassen.
Wie lange sie beide so verweilten, hatten sie selbst kaum zu
sagen gewußt.
»Ich glaube, wir haben uns wohl nichts mehr zu sagen,
Herr Justizrat.«
Dieser fuhr herum. Hellmarck stand in der Mitte des Zim mers, wie aus Stein gemeißelt das Antlitz, mit einer unna türlichen, unheimlichen Ruhe. Eine korrekte Verbeugung,
und er wollte das Zimmer verlassen. Da war der Justizrat
schon an seiner Seite und umfaßte seine Arme mit eiser nem Griff.
»Nein, Graf, so lasse ich Sie nicht von mir – ich habe Ihnen
noch mancherlei zu sagen. Nehmen Sie wieder Platz, ich
bitte Sie darum. Sie vergeben sich wirklich nichts, wenn Sie
es tun. Jeder Mensch darf sich rechtfertigen!«
Hellmarck wollte sich zuerst schroff abwenden, doch als er
Rönners bittende, gütige Augen sah, ließ er sich in einen
Sessel fallen und stützte den Kopf in die Hand.
Der Anwalt erschrak über das Aussehen des Grafen – er
schien um Jahre gealtert zu sein.
»Herr Justizrat, wollen Sie mir, bitte, erklären? Gudrun ist
doch nicht vermögend.«
Rönner war froh, daß der Graf überhaupt wieder sprach,
und war gern bereit, jede Auskunft zu erteilen. »Das nahmen alle an, Herr Graf – selbst Gudrun. Hermine von Barnim hat nämlich zwei Testamente hinterlassen. Das eine wurde bald nach ihrem Tod geöffnet, das zweite an Gudruns dreiundzwanzigstem Geburtstag. Hermine über gab es mir mit der Weisung, daß es an diesem Termin oder an Gudruns Hochzeitstag, falls der früher fallen sollte, ge öffnet würde. Fräulein Hermine war nämlich welterfahren und klug; sie kannte die Verwandten ihrer Adoptivtochter, kannte Frau von Barnims Habgier und ihrer Tochter Fee. Sie kannte aber auch Gudruns mitleidiges Herz und wußte, wie sie sich prellen und ausnutzen lassen würde. Und das war keineswegs nach Hermines Sinn. So entstand das erste Testament, in dem Gudrun fünfundzwanzigtausend Mark erbte und, dem Wunsch der Adoptivmutter gemäß, ihr Studium beenden sollte. Sie wollte das Mädchen auf diese Weise zwingen, etwas zu lernen, auf eigenen Füßen zu ste hen, die Schattenseiten des Lebens kennenzulernen – und erst dann eine reiche Erbin zu sein. Dann würde sie auch das Geld zu schätzen wissen und es nicht leichtfertig ver schleudern. So bestimmte sie Gudruns dreiundzwanzigsten Geburtstag für die Eröffnung des zweiten Testaments, in der Annahme, daß die dann bereits ihr Studium beendet haben würde. Gudrun selbst wußte nichts von diesem zweiten Testament, und ich war selbstverständlich zum Schweigen verpflichtet.« »Ah so – nun bin ich im Bilde, warum Gudrun sich gerade an ihrem Geburtstag entschloß, meine Braut zu werden, nachdem sie einige Tage zuvor meine Werbung glatt abge wiesen hatte«, sagte der Graf tonlos. »Selbstverständlich! Sie hielt sich bis dahin für mittellos. Die paar tausend Mark, die sie besaß, spielten, wie die Ver hältnisse lagen, wirklich keine Rolle. Sie bildete sich ein, Ihnen eine Fessel zu sein, wenn sie die Werbung, zu der Ihre Ritterlichkeit Sie zwang, annehmen würde. Denn ihrer Ansicht nach kam nur eine reiche Frau für Sie in Frage. Als sie jedoch erfuhr, wie reich sie war, nahm sie Ihre Werbung
an. Sie war nun in der Lage, Ihnen zu helfen – und auch gleichzeitig mancherlei gutzumachen. Denn es waren im merhin Gudruns Blutsverwandte, von denen Sie zugrunde gerichtet worden sind, Graf.« Er hielt erschrocken inne, denn der Graf war plötzlich auf gesprungen. »Danke – es genügt mir«, sagte er hart und schroff. »Alles weitere wird Gudrun mir sagen können.« Gudrun saß am Flügel, als der Graf bei ihr eintrat. Eine süße, zärtliche Weise klang unter ihren Händen auf. Sie legte den Kopf zurück, schloß die Augen und lächelte vor sich hin. »Hör auf!« herrschte er sie an. Da fuhr sie erschrocken hoch – sah auf, hinein in die zür nenden, flammenden Augen des Gatten. Sie wich vor sei nem Blick zurück. »Nun ja – so sieht das böse Gewissen aus!« lachte er auf. So rauh, so höhnisch klang sein Lachen, daß Gudrun zusam menfuhr. Sein Blick ruhte auf ihr – Zorn, Schmerz und tiefe Bitterkeit lagen darin. Ihr zog sich das Herz zusammen vor Schreck und Angst. Er reichte ihr Hörthers Brief. Ein Blick in seinen Inhalt, und sie wußte alles. Bernulf war bei Rönner gewesen, und der hatte sich genö tigt gesehen, mit der vollen Wahrheit nicht länger zurück zuhalten. Sie hatte mit dem Justizrat ausgemacht, den Schleier zu lüften, falls das Geheimnis sich nicht länger bewahren lie ße. Und nun? Das Zimmer drehte sich vor ihren Augen. »Bern – lieber Bern!« rang es sich von ihren Lippen, qual voll und weh. Doch er hörte den Ton heißer Herzensangst nicht, wollte ihn nicht hören. »Laß das Getue!« herrschte er sie an. »Rechtfertige dich,
wenn du kannst. Ein unerhörter Betrug ist begangen wor den!« »Bern – mein Gott, Bern!« schrie sie auf. »Alles geschah doch nur aus Liebe zu dir!« Er biß die Zähne so fest zusammen, daß die Wangenmus keln hervortraten. »Liebe! Nimm dieses Wort nicht in den Mund – entweihe es nicht! Man spinnt nicht Lug und Trug um den Mann, den man liebt! Man setzt ihn nicht in den Augen der Men schen herab! Demütigt ihn nicht!« »Aber Bern, so werde doch ruhig! Du weißt ja nicht, was du sprichst!« flehte sie in ihrer Angst und Not. »Es weiß nie mand darum als Onkel Erich allein – Mutter Hermines Testament verpflichtete ihn doch zum Schweigen. Nicht einmal Traude weiß davon.« »Schweig! – Ich kann dir kein Wort mehr glauben!« fuhr er sie an. »Ein Mensch, der solcher Verstellung fähig ist – « Er sprach nicht weiter, denn Gudrun hatte sich hoch aufge richtet und sah ihn mit einem so stolzen Blick an, daß er einen Schritt zurückwich. »Halt, Bern – laß es genug sein«, sagte sie mit müder, ton loser Stimme. »Du liebst mich wohl doch nicht so, wie ich angenommen habe, sonst könnte der Gedanke, Geld von deiner Frau genommen zu haben, deinen Stolz nicht in solcher Weise verwunden.« Sie schleppte sich zu einem Sessel und ließ sich hineinfal len. »Warum hast du mir an unserem Verlobungstag nicht ge sagt, daß du reich bist, Gudrun?« »Weil dann unsere Verlobung nie zustande gekommen wäre, Bern. Ich kannte deinen Stolz, deine Meinung über die reiche Frau – « »Und darum hieltest du es für richtiger, dich mit dem Ju stizrat zusammenzutun und mich, im Verein mit ihm, zu betrügen?« »Wenn du es so nennen willst – ja! Gut, ich betrog dich. Doch wenn du Onkel Erich in dieser Angelegenheit er
wähnst, so möchte ich dich bitten, nicht von Betrug zu sprechen. Sein gutes Herz allein war es, was ihn zu dieser Täuschung greifen ließ. Er hatte meine Herzensnot erkannt und war der einzige, der mir zu helfen vermochte. Wir nahmen an, daß es dich, wenn du mich erst richtig kann test – und liebtest – nicht bedrücken würde, von deiner Frau Geld anzunehmen. Und was bedeutet zwischen uns Geld und Geldeswert? – Ich liebe dich.« »Laß das!« schnitt er ihr das Wort ab. »Deine Gefühle sind hier unwichtig. Rede nicht so viel darum herum, sag lieber, daß dein Stolz, dein übertriebenes Ehrgefühl – was weiß ich – darunter litt, daß du mir etwas schuldig zu sein glaub test. Es waren immerhin Blutsverwandte von dir, die mich langsam an den Bettelstab brachten; und da hieltest du es für erforderlich, gutzumachen. Es klappte ja auch alles wunderschön – bis der Brand im Sommer und mit ihm das Ende kam. Als du sahst, daß ich meine Auswanderungspläne wahr machen wollte, wurde diese schändliche Intrige mit dem Justizrat in Szene gesetzt. Doch du sollst dich getäuscht haben, mein Kind – ich bin nicht durch Lug und Trug zu gewinnen. So, das ist alles, was ich dir zu sagen habe.« Eine förmliche Verbeugung, und er verließ das Zimmer. Jetzt erst sah Gudrun, wie gewagt das gefährliche Spiel ge wesen war. Ach, sie hatte ihn nicht genügend gekannt, die sen unbeugsamen, unerbittlichen Mann! Wenn er wenigstens einsehen wollte, daß ihre Liebe sie zu dieser Täuschung getrieben hatte! Doch das war es ja gera de, was er am meisten anzweifelte. Wenn sie noch einmal zu ihm ging und ihn bat – so recht von Herzen bat? Er mußte verzeihen, er liebte sie doch! Oder mußte sie auch an seiner Liebe zweifeln, wie er an der ihren? Nein und tausendmal nein! So konnte sich kein Mann ver stellen, konnte unmöglich so heiße, leidenschaftliche Liebe heucheln – und gar noch ein Mann seines Schlages! Sie erhob sich so hastig, als dürfte sie keine Sekunde mehr
versäumen, und ging in sein Arbeitszimmer.
Er saß am Schreibtisch und war so vertieft, daß er ihr Ein treten überhörte. Sie trat näher heran und sah, was ihn
fesselte: Eine Landkarte!
Da stieg Angst in Gudrun auf – heiße, wilde Angst.
»Bern!«
Er fuhr auf und starrte sie an, die vor ihm stand und ihm
die Arme entgegenstreckte.
»Bern, was hast du vor? Du willst doch nicht – die Heimat
verlassen?«
»Ja. Oder hast du etwa angenommen, daß ich nach allem
Vorgefallenen in Hohenwerth bleiben würde?«
»Und warum nicht, Bern?«
»Weil es mir nicht gehört. Daß ich der Verwalter des ver meintlichen Herrn Hörther wurde, war schon nicht erhe bend für mich. Doch der Verwalter meiner Frau zu sein,
finde ich im höchsten Grade – geschmacklos.«
»Bern, es ließe sich eine Einigung finden. Sei doch nicht so
entsetzlich unzugänglich, du wütest ja gegen dich selbst!
Du weißt ebensogut wie ich, daß du es nicht ertragen
kannst, von der Heimat zu scheiden, an der du mit jeder
Faser deines Herzens hängst.«
»Das vertrage ich eher als das Bewußtsein, dein Verwalter
zu sein, verlasse dich darauf.«
»Bern, warum gebrauchst du immer dieses häßliche Wort?
Es verfehlt vollständig seinen Zweck. Mich willst du damit
quälen- und quälst dich selbst am allermeisten. Sei doch
nicht so unversöhnlich! Bist du wirklich fest entschlossen,
von hier fortzugehen?«
»Ja!«
Das klang so hart, so unbeugsam und fest, daß Gudrun
einsah, jedes weitere Wort würde umsonst gesprochen sein.
Sie näherte sich langsam der Tür. Dort wendete sie sich
noch einmal zu ihm zurück, in der Hoffnung, er werde sie
zurückhalten.
Er stand da, hochgestrafft, und sah ihr nach mit düsterem
Blick.
Da neigte sie den Kopf und verließ das Gemach. Als Gudrun am anderen Morgen das Frühstückszimmer betrat, fand sie nur Peter vor. »Nun, solo?« begrüßte sie ihn freundlich. »Da der Schloßherr auf und davon ist – « Gudrun zuckte zusammen, und da wußte Peter, daß sie von der Reise des Gatten nichts wußte. Also war die Ver stimmung, die zwischen den Gatten herrschte, ernsthafter Art. Der Graf hatte heute morgen ausgesehen, als habe er eine schwere Krankheit hinter sich. Und auch Gudrun war jämmerlich elend und teilnahmslos. Peter verging der Appetit, und er war bald ebenso schweig sam wie die ihm gegenübersitzende Gräfin, hinter deren weißer Stirn es fieberhaft arbeitete. Langsam reifte ein Plan in ihr. Gudrun saß beim Ehepaar Rönner, und alle drei waren in gedrücktester Stimmung. »Daß der Graf ein Mann von Charakter ist, habe ich ge wußt«, sagte der Justizrat gepreßt. »Doch daß er so unbeug sam ist und sich von dir nicht halten lassen will, Entlein, das überrascht mich. Er liebt dich doch mit seinem ganzen, ungestümen Herzen.« »Ach, Onkel Erich, ich zweifle an seiner Liebe«, entgegnete Gudrun leise. »Wenn er von mir gehen kann – « Sie schwieg, unfähig, weiterzusprechen. »Und was wirst du nun beginnen, Entlein? Wirst du warten, bis er zurückkommt, und dann noch einmal versuchen, ihn umzustimmen?« »Nein«, sagte Gudrun fest. »Ich habe getan, was ich tun konnte, habe mich gedemütigt – habe mich und mein Geld angeboten. Das einzige, was zu tun mir übrigbleibt, ist, von Hohenwerth zu gehen, damit er bleiben kann.« »Aber Gudrun – dieses ungeheure Opfer!« sagte Traude tränenerstickt. »Ja«, Gudrun zog die Schultern mit einer Bewegung hoch, die ihre ganze Mutlosigkeit ausdrückte. »Liebe muß Opfer bringen können – und meine ist so groß, daß sie selbst
dieses Opfers fähig ist, damit ihm geholfen wird.« Traude weinte leise, und der Justizrat räusperte sich. »Es tut mir unbeschreiblich weh, Onkel Erich, daß du in ein so falsches Licht gekommen bist«, nahm Gudrun wie der das Wort. »Du wolltest doch nur helfen! Und nun ern test du solchen Dank.« »Entlein, darüber beunruhige dich nicht«, lächelte der Ju stizrat. »Mir ist die Hauptsache, daß ich ein reines Gewis sen habe. Dein Gatte nennt es Betrug – doch der geschah ja nur, um ihm zu helfen, ihn glücklich zu machen. Das wird er auch einmal einsehen. Du darfst die Hoffnung nicht verlieren.« »Derselben Meinung bin auch ich«, sagte Traude. »Nur ei nes quält mich, Entlein, – du in dieser traurigen Verfassung unter fremden Menschen!« »Ich gehe zu Tante Rita.« »Eines steht fest, Entlein: von uns bekommt dein Gatte deine Adresse nicht«, sagte der Justizrat entschieden. »Mag er sich nur um dich bangen, das kann ihm nicht schaden. Und was meine Hilfe für dich anbetrifft, so beunruhige dich nicht. Wenn derselbe Fall noch einmal an mich he ranträte, ich würde wieder genauso handeln!« Es gab einen sehr herzlichen Abschied, und Gudrun ver sprach, oft zu schreiben. Nicht ganz so niedergeschlagen, wie sie in die Stadt gefahren war, kehrte sie nach Hohen werth zurück, bereitete in aller Stille ihre Reise vor und fuhr am nächsten Tag nach Berlin. Frau Brandt war über den Besuch entzückt, bemerkte aber sofort, daß irgend etwas Gudrun niederdrückte. Sie ließ sich jedoch nichts merken, sondern plauderte frisch darauf los. Erst zu Hause, als Gudrun erfrischt das Zimmer der Hausfrau betrat, zog diese sie zu sich auf das Sofa, ergriff ihre Hände und sah ihr prüfend in die Augen. »Nun mal gebeichtet, Entlein, wo fehlt's?« Tante Rita war bestürzt über das, was sie vernahm. »Willst du mich für unabsehbare Zeit Hei dir behalten, Tante Rita?« fragte Gudrun beklommen.
»Aber selbstverständlich, Entlein, das ist doch keine Frage! Du bist bei mir geborgen und kannst in Ruhe abwarten, wie Bern sich weiter verhalten wird.« Die junge Gräfin war von Herzen froh, daß sie zu dieser klugen, warmherzigen Frau gegangen war. Hier fand sie Verständnis für ihr Leid. Frau Brandt sorgte dafür, daß ihr Gast nicht allzuviel zum Grübeln kam. Sie hatte immer irgend etwas vor und war bei allem so sehr bei der Sache, daß Gudrun von ihrem Eifer angesteckt wurde. Eines Tages, als Gudrun mit Frau Brandt in einem Cafe saß, sah sie ihre Mutter. Sie saß an einem Tisch allein – fesch, vornehm, elegant und durchaus ihrer annähernd fünfzig Jahre spottend. Sie hatte sich gut gehalten und sah minde stens zehn Jahre jünger aus, als sie war. Nicht nur Gudrun hatte die Mutter erkannt, sondern auch Frau Brandt. Die alte Dame fühlte sich ernstlich beunruhigt durch Frau von Barnims Anwesenheit in Berlin. Wo kam sie überhaupt her? Sie war doch nach Amerika gegangen. Von dieser Frau konnte unmöglich Gutes kommen! Die beiden Damen wollten eben aufstehen, als unerwartet eine Bekannte der Frau Brandt eintrat und auf diese zueilte. Sie begrüßte Frau Rita lebhaft und nannte auch die junge Gräfin bei ihrem Namen. Unwillkürlich horchte Frau von Barnim auf, und sofort begann eine noch eingehendere Musterung; eine wahre Tortur für Gudrun. Kaum hatte die andere Dame den Tisch verlassen, so kam Frau von Barnim bereits herüber. »Guten Tag, meine Damen. Ich wollte nur fragen, – sind Sie – ich meine Sie, junge Frau, vielleicht meine Tochter Gudrun?« Nun erfaßte Gudrun doch das Komische der Situation, und sie mußte trotz ihres Unbehagens auflachen. »Ja, das bin ich.« Es folgte eine wortreiche und rührende Begrüßungsszene von Seiten der Mutter, deren Tränen auf einmal reichlich
flossen. »Das sind Freudentränen, Frau…« »Brandt«, stellte Gudrun kurz vor. »Danke -. Ja, – Freudentränen. Sind Sie schon einmal in Amerika gewesen und haben Ihre Kinder zurücklassen müssen, Frau Brandt?« Das konnte diese mit gutem Gewissen verneinen. »Dann wissen Sie auch nicht, wie das ist«, seufzte sie und nahm unaufgefordert am Tisch Platz. Dann betrachtete sie Gudrun sehr eingehend. »Kindchen, ich kann es kaum fassen, daß du meine Tochter sein sollst. Wie ist bloß eine solche Verwandlung möglich!« sagte sie aufgeregt. »Du bist ja direkt eine Schönheit – bist ja schöner, als Püppchen es war! Was Dick wohl sagen wird bei deinem Anblick? Er wird Feuer und Flamme sein!« »Dick – wer ist denn das?« erkundigte Gudrun sich. »Mein ältester Stiefsohn.« »Stiefsohn?« »Nun, warum nicht?« entgegnete die Mutter in einem Ton, als müsse sie sich verteidigen. »Ich ging doch vor einem Jahr mit einem Amerikaner in dessen Heimat – als seine Hausdame, weißt du – und da hat Mr. King, der Witwer war, mich geheiratet. Ist das etwa schlimm?« »Aber gar nicht«, gab Gudrun zu. »Allem Anschein nach geht es dir gut.« »Herrlich geht es mir!« rief sie begeistert, so daß ein Herr am Nebentisch von seiner Zeitung hochfuhr und sie ers taunt musterte. »Mein guter Edward ist der beste, rücksichtsvollste Gatte, den man sich denken kann. Ganz anders, als dein Vater war, mein Kind, ganz Gentleman. Und meine beiden Stief söhne verehren mich, sind geradezu stolz auf ihre Stiefmut ter. Es sind wirklich liebe Jungen, du wirst dich blendend mit ihnen vertragen.« »Wie sollte ich dazu kommen, die Herren kennenzulernen – oder sind sie etwa auch hier?« »Nein, sie sind zu Hause, doch du kommst selbstverständ
lich mit mir nach Amerika«, eröffnete sie der Tochter mit einer Bestimmtheit, als wäre es das Natürlichste der Welt, daß sie mit ihr ginge. »Und Graf Hellmarck, was würde der wohl dazu sagen?« warf Frau Brandt, die sich köstlich amüsierte, ein. »Ach, der-«, eine wegwerfende Handbewegung, »dem kön nen nur Vorteile daraus erwachsen. Ich bin nämlich hier, um meine Kinder mit mir nach Amerika zu nehmen. Von einem Freund meines Mannes erfuhren wir, wie schlecht es Graf Hellmarck geht. Hörther will nämlich ein Gut in Deutschland erwerben und hat Justizrat Rönner beauftragt, ihm bei einer Versteigerung eins zu kaufen. Jedenfalls er hielt er von Hellmarck einen Brief, in dem er sich als Ver walter anbot. Hörther hat selbstverständlich keine Ahnung, daß der Graf mein Schwiegersohn ist, und gab diese Sache, die ihn sehr amüsierte, bei einer Gesellschaft zum besten. Ich war außer mir, konnte mich gar nicht beruhigen, und da wußte mein guter Edward wieder Rat. Er versprach mir, Hohenwerth zu kaufen. Hellmarck kann dann als Verwalter darauf bleiben. Doch nur unter der Bedingung, daß er dich freigibt, Entlein.« Gudrun war mit steigendem Entsetzen den Eröffnungen der Mutter gefolgt. Bei den letzten Worten erblaßte sie bis in die Lippen. Frau Rita sah beunruhigt zu ihr hin, und es stand bei ihr fest, daß sie dieser Unterhaltung ein Ende machen müsse. »Es ist schon spät, Entlein, wir müssen eilen. Entschuldigen Sie uns, bitte«, wandte sie sich an Frau King, »über die An gelegenheit können wir morgen bei mir in aller Ruhe wei tersprechen. Ich hoffe, daß Sie mein Gast sein werden?« »Von Herzen gern, liebe Frau Brandt. Zuerst werde ich mal die Sache mit Hellmarck regeln und für meinen Mann vor bereiten.« »Und wann gedenken Sie nach Hohenwerth zu fahren?« »In den nächsten Tagen.« »Dann darf ich Sie also morgen bei mir erwarten?« »Mit dem größten Vergnügen.« -
»Tante Rita, sag – ist das alles nicht entsetzlich?« stöhnte Gudrun, als sie an Frau Brandts Seite im Auto saß. »Was für Zufälle gibt es doch im Leben! Ausgerechnet zu den Be kannten meiner Mutter muß dieser Hörther gehören. Mir ist elend zum Sterben – wie gräßlich ist doch das ganze Leben!« »Und das sagte eine so schöne, reiche, gesunde Frau!« schalt die Tante. »Das Leben ist nicht immer rosig. Wir dür fen selbstverständlich nicht müßig dasitzen, müssen ver hindern suchen, daß deine Mutter nach Hohenwerth fährt und dem ohnehin schon verzweifelten Mann allerlei Rau pen in den Kopf setzt.« »Aber wie soll man das verhindern?« rief Gudrun verzwei felt. »Das werde ich dir morgen sagen, Entlein. Zuerst muß ich wissen, was deine Mutter eigentlich vorhat. Wir werden ihr morgen sagen, daß du reich bist und Hohenwerth schul denfrei ist. Dann wird sie den Gedanken fallen lassen, dei nen Gatten aufzusuchen.« Doch zu dieser Aufklärung kam es nicht, denn sie warteten am nächsten Tage vergeblich auf Frau King. Als Graf Hellmarck von seiner zweiwöchigen Reise zurück kehrte, war er sehr erstaunt, Peter Brandt auf dem Bahnhof zu treffen. »Guten Tag, Peter, das ist aber nett, daß Sie mich hier emp fangen! Doch Sie machen eigentlich gar kein Empfangsge sicht, sondern eher eines, als hätten Sie in den berühmten sauren Apfel gebissen. Und wo ist mein braver Albert?« »Ich bin allein mit dem Dogcart hier«, entgegnete Peter verwirrt. »Ja, warum das?« fragte der Graf verwundert. Allein da traf ihn ein bittender Blick aus Peters ehrlichen, blauen Augen, daß er nichts weiter sagte, sondern diesem zum Wagen folgte. Sie waren schon eine ganze Strecke gefahren, als Peter zu sprechen begann: »Herr Graf, es war nicht unüberlegt gehandelt, daß ich al lein zum Bahnhof kam. Ich wollte damit verhüten, daß
dem Herrn Grafen die Nachricht – « Er wurde verlegen und
räusperte sich.
»Und -?«
»Gudrun ist fort«, platzte Peter heraus. »Hier habe ich auch
gleich den Brief mitgebracht, den Frau Emma in Gudruns
Zimmer fand.«
Er reichte dem Grafen ein Schreiben, das Gudruns Schrift züge trug.
»Danke, Peter, Sie sind ein guter, aufmerksamer Junge«,
lobte der Graf und steckte den Brief ein.
Auf Hohenwerth angekommen, ging er in sein Zimmer,
warf sich in einen Sessel und öffnete Gudruns Brief.
Lieber Bern! Da ich einsehe, daß ein Zusammenleben zwischen uns vorläufig unmöglich ist, verlasse ich Hohenwerth, damit Du nicht ge zwungen bist, die Heimat zu verlassen, an die Du ein heiliges Recht hast. Ich hoffe, daß dadurch alle Schwierigkeiten gelöst sind und Du weiter Hohenwerth der Herr sein wirst, den es notwenig braucht. Gudrun. Nichts weiter – kühl und sachlich. Sie stellte ihn einfach vor die vollendete Tatsache und wollte ihn auf diese Weise zwingen, seinen Auswanderungsplan zum zweiten Mal über den Haufen zu werfen. Durch ihre Flucht glaubte sie ihn halten zu können. In Sinnen verloren starrte er lange Zeit vor sich hin. Hohenwerth – die Heimat, was galt ihm das alles noch? Bei der Abendtafel bemühte sich Peter, ein ruhiges Gesicht zu zeigen. Aller Übermut war aus seinen blauen Augen gewichen. Der sonst so lebenssprühende Junge war traurig und bedrückt, schob die Speisen auf dem Teller hin und her und genoß kaum etwas davon. Er, der sonst über einen so gesegneten Appetit verfügte, daß er deswegen schon manche Neckerei hatte einstecken müssen. »Peter, lassen Sie sich nicht den Appetit verderben«, ermun terte der Graf ihn lächelnd. »Sie stehen doch auf dem
Standpunkt: Essen und Trinken hält Leib und Seele zu sammen.« Peter antwortete nichts darauf. Alle Schlagfertigkeit schien ihm abhanden gekommen zu sein. Gleich nach dem Essen erschien Gero. »Sag mir, Bernulf, was schreibt Gudrun – wohin ist sie ge reist?« fragte er. »Sie schreibt nicht viel. Nur, daß sie Hohenwerth verläßt, um mich nicht zu – vertreiben. Wohin sie sich begeben hat, Weiß ich nicht.« »Und nun wirst du doch bleiben, Bernulf?« »Nein. Gudruns Flucht ändert nichts an meinen Entschlüs sen. Ich war bei einem früheren Kameraden, der mir schon lange versprochen hat, mich mit der Verwaltung seiner Farm zu betrauen, sofern ich von Hohenwerth fort müßte. Das Schiff geht in etwa zehn Tagen. Du brauchst deshalb nicht so zu erschrecken, Gero«, beruhigte er den Schwager lächelnd, als er sah, daß diesem das Blut langsam aus dem Antlitz wich. »Du wirst ja nicht davon betroffen. Für dich ist ja nun alles bedeutend besser; du stehst in den Diensten deiner Schwe ster.« Gero fuhr auf, doch der Graf winkte ungeduldig ab. »Kein Wort, Gero! Du wirst nicht so unvernünftig sein und mit mir gehen wollen, nur weil du es mir einmal verspro chen hast. Du gabst mir dieses Versprechen unter ganz an deren Voraussetzungen. Denke an Frau und Kind! Du dar fst sie nicht in unsichere Verhältnisse bringen und in Ge fahren, deren Größe man nicht einmal ahnt.« »Und du? – Gibt es für dich keine Gefahren?« Der Graf lächelte; es war ein seltsam wehes, bitteres Lä cheln. »Ich bin ja niemand Rechenschaft schuldig.« »So?« fuhr Gero auf. »Hast du nicht auch eine Frau? Küm mert es dich gar nicht, daß sie sich um dich zu Tode ängsti gen wird?« »Warum so überschwenglich?« spottete der Graf.
»Ja, gewiß, spotte du nur immer weiter!« rief Gero, aufs tiefste erregt. »Zieh dir die Binde immer fester vor die Au gen, damit du ja nichts siehst! Eines Tages wirst du es bitter bereuen, so starrköpfig gewesen zu sein – und so unver söhnlich. Mag Gudruns Schuld noch so groß sein, mag sie auch noch so schwer gefehlt haben – sie hat alles nur aus grenzenloser Liebe zu dir getan.« »Ich erkenne, du verstehst mich nicht«, entgegnete der Graf gelassen. »Nein, ich verstehe dich wirklich nicht!«. »Deshalb Schluß. Ich werde dir schreiben.« »Du glaubst doch nicht etwa, daß ich dich allein reisen lasse?« erwiderte Gero, der sich Mühe gab, ruhig zu wer den. »Auch unter den veränderten Verhältnissen werde ich mein Versprechen, mit dir zu ziehen, nicht brechen.« Der Graf merkte, wie ernst es der Schwager meinte, und seine Gelassenheit wich einer tiefen Erregung. »Mach keine Geschichten, Gero!« herrschte er ihn an. »Du sprichst von meiner Starrköpfigkeit – deine ist bedeutend schlimmer. Es ist unnötig, daß ich darüber noch Worte verliere.« So viel Mühe er sich auch gab, eine harmlose Plauderei in Gang zu bringen, die Stimmung blieb traurig und bedrückt. Gero verabschiedete sich bald, und auch Peter zog sich zurück. Es war eine Woche später. Eines Morgens, als der Graf vom Feld kam und die Halle des Schlosses betrat, überreichte der Diener Fritz ihm eine Visitenkarte, die er kopfschüt telnd betrachtete. »Mrs. Daisy King, New York – wer ist denn das?« wunderte er sich. Fritz wußte es auch nicht und berichtete nur, daß Herr von Barnim zufällig dagewesen wäre und die Dame in den Sa lon begleitet hätte. Der Graf kleidete sich schnell um und begab sich in den Empfangssalon. Er war nicht wenig überrascht- und alles andere als angenehm – als er seine Schwiegermutter vor
fand. Die Unverfrorenheit dieser Frau war bewunderungs würdig! Sie wagte es, nach allem, was zwischen ihnen vor gefallen war, noch einmal, Hohenwerth zu betreten? Strahlend, mit ausgestreckten Händen, eilte sie dem Schloßherrn entgegen. Er begrüßte sie mit äußerster Reser ve, bat sie, Platz zu nehmen. »Du bist über meinen Besuch wohl sehr überrascht?« fragte sie, und er konnte das beim besten Willen nicht abstreiten. »Ich bin nämlich in geschäftlicher Angelegenheit hier«, leitete sie die Unterredung ein. »Ich war eben dabei, Gero alles auseinanderzusetzen.« Graf Hellmarcks Blick suchte den Schwager, der starr und steif in seinem Sessel saß. »Lieber Bernulf, ich bringe dir nämlich Rettung«, lächelte Frau King liebenswürdig. »So -.« Es klang nicht ganz überzeugt. »Da bin ich aber neugierig.« »Du weißt sicherlich noch nicht, daß ich wieder geheiratet habe?« »Nein, woher sollte ich das wissen? Also daher der unbe kannte Name.« »Bernulf, glaubst du an einen Zufall oder an Bestimmun gen?« fragte sie so unvermittelt, daß der Graf sie überrascht ansah. »Mit der Frage habe ich mich wirklich noch nicht beschäf tigt«, gab er zur Antwort. »Aber bist du etwa hergekommen, um dich mit mir über okkulte Dinge zu unterhalten?« »Es ist wirklich eine delikate Angelegenheit«, meinte sie zögernd. »Na, kurz und gut – ich kenne Herrn Hörther.« Sie sah, wie er zusammenzuckte, und faßte Mut. Denn nun erkannte sie, daß sie ihn an einer empfindlichen Stelle ge troffen hatte. Somit würde es leichter sein, mit ihm zu ver handeln, als wenn er in seiner hochmütigen Überheblich keit verharrte. »Er ist ein guter Freund unseres Hauses, und wir erfuhren von ihm, daß du eine Verwalterstelle suchst«, sagte sie, und ihr Blick ging lauernd zum Grafen hin, um die Wirkung
ihrer Worte festzustellen. Doch wer konnte aus diesem Menschen klug werden? »Diese Eröffnung brachte meinen Mann und mich auf eine gute Idee«, sprach sie hastig weiter. »Wir haben uns ent schlossen, Hohenwerth zu kaufen. Eine Bedingung stellen wir allerdings: du mußt Gudrun freigeben, kannst aber dafür als Verwalter auf Hohenwerth – « Sie hielt erschrocken inne, denn Gero sprang auf und stand vor ihr, sie mit einem so wilden Blick ansehend, daß sie unwillkürlich zurückwich. »Mama, schämst du dich nicht?« schrie er. »Aber Gero, Junge, warum soll ich mich denn schämen?« entgegnete sie konsterniert. »Bernulf kann dabei doch nur gewinnen. Und für Gudrun habe ich eine fabelhafte Partie, den Sohn meines Mannes. Der wird hingerissen sein, wenn er sie sieht. Sie hat sich wirklich herausgemacht, sie ist nicht mehr wiederzuerkennen. Ich traf sie zufällig in Berlin einen Cafe.« »Sag mal, Mama, mit wem war Gudrun zusammen?« er kundigte sich der Graf anscheinend beiläufig, doch Gero entging es nicht, wie gespannt er auf die Antwort wartete. Und es war ja auch kein Wunder, denn er würde nun erfah ren, wo die Gattin überhaupt weilte. »Sie war mit einer Frau Brandt zusammen«, antwortete Frau King. »Fesche Frau, ganz große Dame. Sie lud mich zu sich ein, und ich sagte auch zu. Doch die Reise nach hier war mir wichtiger; ich möchte alles so schnell wie möglich ge regelt haben.« »Sag mal, Mama«, nahm Gero das Wort, »du sprichst da von, Hohenwerth zu kaufen. Wenn es aber nun überhaupt nicht verkäuflich ist?« »Das laß nur Sorge meines Mannes sein«, entgegnete sie siegessicher. »Das wäre das erste Geschäft, das er nicht machte. Soviel ich weiß, hat ein Herr Kose in Berlin Ho henwerth in der Hand.« »Hatte, Mama«, betonte Gero. »Bis – ja, bis Bernulf ihm das Geld auf Heller und Pfennig zurückzahlte. Folglich gehört
es nun ihm, und ich glaube nicht, daß er ohne Not das Erbe seiner Väter an einen Amerikaner verkaufen wird. Nicht wahr, Bernulf?« Dieser nickte lächelnd; er bekam allmählich Sinn für das Komische der Situation. Frau King jedoch lächelte durch aus nicht, sah vielmehr ihren Sohn an, als zweifelte sie ernstlich an seinem Verstand. »Willst du mir nicht erklären –?« fragte sie unsicher. »Da ist weiter nichts zu erklären, Mama, als daß Hohen werth nicht verkäuflich ist. Es ist Bernulfs schuldenfreies Eigentum.« »Hat er in der Lotterie gewonnen?« »Das müßte ja ein Riesengewinn gewesen sein«, lachte Ge ro auf, »um Hohenwerth bezahlen zu können. Etwas hat sich allerdings ereignet, gewiß – Bernulf hat eine Erbschaft gemacht.« Nun war die Mutter erschlagen, und ihr zu dem Sohn hin gehender Blick war hilf- und ratlos. Jetzt nahm der Graf das Wort, der die Verblüffung dieser so selbstbewußten Frau mit Ergötzen beobachtet hatte. »Gero bleibt nicht ganz bei der Wahrheit«, widersprach er lächelnd. »Nicht ich habe geerbt, sondern Gudrun.« »Als wenn das nicht dasselbe wäre!« warf Gero hastig ein. Doch der Graf winkte unwillig ab. Er mußte aber gleich wieder lächeln, als er sah, wie das Gesicht der Mutter im mer länger wurde. »Da steht mir der Verstand still«, behauptete sie resigniert. »Gudrun geerbt? Wen, um Gottes willen, soll sie denn be erbt haben?« »Ihre Adoptivmutter.« Nun sagte sie gar nichts mehr, sondern winkte nur mit der Hand. »Hör mal zu, Mama«, sagte Gero. »Frau Hermine hat näm lich zwei Testamente hinterlassen. Das erste wurde gleich nach ihrem Tod geöffnet, davon weißt du ja, das zweite aber erst an Gudruns dreiundzwanzigstem Geburtstag. Und daraus erfuhr sie, daß sie eine reiche Erbin ist.«
»Diese falsche Katze!« empörte sich die Mutter. »Nun ist mir alles klar! Das erste Testament war nur deshalb so ab gefaßt, damit für uns nichts abfallen sollte. Vielleicht lebte mein Püppchen noch – « Sie schwieg und schluckte ganz erbärmlich an den aufstei genden Tränen. Die Situation schien tragisch werden zu wollen; das mußte verhindert werden. »Aber Mama, was hat Fees Tod mit dem Geld zu tun?« be schwichtigte Gero sie. »Sie wäre genauso verunglückt, wenn sie eine reiche Erbin gewesen wäre.« Das mußte die Mutter einsehen. Und zudem – ihr Schmerz um den toten Liebling war ja schon halb überwunden. Die glänzenden Verhältnisse, in denen sie jetzt lebte, hatten sie über vieles getröstet. »Du siehst also, Mama, daß aus unserer Amerikareise vor aussichtlich nichts werden wird«, meinte Gero. Doch das sah die Mutter ganz und gar nicht ein. »Du wärest sehr dumm, Gero, wenn du dir diese Chance entgehen ließest. Du hast doch von Gudruns Reichtum nichts. Willst du dein ganzes Leben als Verwalter zubrin gen?« »Ich fühle mich so glücklich dabei, daß ich mir kein ande res Leben wünsche. Und zum Glücklichsein gehören für mich in erster Linie meine Frau und mein kleiner Junge.« »Junge, du hast -?« »Einen reizenden kleinen Bengel, Mama.« »Das ist allerdings fatal«, meinte die liebevolle Großmutter. »Um Gottes willen, verrate das ja nicht meinem Mann und den Söhnen, dann verliere ich allzuviel in ihren Augen! Großmütter gehören nun mal zum alten Eisen.« »Na also«, sagte Gero schadenfroh, »das ist für mich schon ein Grund, deinen neuen Angehörigen nicht unter die Au gen zu treten. Denn meinen Jungen kann ich beim besten Willen nicht verleugnen. Ich bitte dich, Mama, einen sol chen Prachtbengel! Ich bin unbeschreiblich stolz auf ihn!« »Gero, hör auf!« unterbrach die Mutter ihn nervös. »Ich sehe schon, du kannst nicht mit mir nach Amerika. Doch
Gudrun muß es auf alle Fälle. Oder – oder hat sie gar auch ein Baby?« »Noch nicht«, antwortete Gero, »doch was nicht ist, kann noch werden. Wir wollen uns jedenfalls Mühe geben, daß du bald eine mit Enkeln gesegnete Großmutter wirst. Und deine beiden Stiefsöhne werden hoffentlich auch ihr mög lichstes dazu beitragen.« Gero sah mit Entzücken, wie eilig die Mutter es plötzlich hatte, wie sie aufstand und sich verabschiedete. Ilse-Dore eilte dem Gatten entgegen, der soeben vom Feld kam, schmiegte sich in seinen Arm und drückte das Gesicht an seine Brust. »Ilse-Dore, Liebling, du hast geweint?« fragte er bestürzt. »Ach, Gero, das ist alles so schrecklich! Eben war Traude Rönner hier. Denk dir nur, deine Mutter ist nicht abgereist, wie wir annahmen, sie hat zuerst alle ihre Bekannten in der Stadt aufgesucht, um über Bernulfs und Gudruns Ehe Nä heres zu erfahren. Nun kannst du dir ja ungefähr denken, was man ihr alles erzählt haben mag. Jedenfalls ist sie auch bei Traude gewesen, hat sich über Bernulf tief empört und ist fest entschlossen, Gudrun mit sich nach Amerika zu nehmen.« »Und darum weinst du, kleiner Hasenfuß?« lachte der Gat te sie aus. »Gudrun ist gerade die Frau, die sich ohne weite res nach Amerika schleppen läßt!« »Das ist gar nicht unwahrscheinlich, Gero. Bedenke nur, wie unglücklich sie ist. In solcher Verzweiflung tut man leicht etwas, was einem sonst niemals einfallen würde.« »Ach, du kleines Dummchen!« lachte Gero und drückte sie an sich. »Paß mal auf: Gudrun ist in Berlin, und Bernulf weiß es jetzt.« »Ach so – du meinst, daß sich alles einrenken wird?« »Ich hoffe es stark, mein Herz.« Nach dem Mittagessen fuhr Gero wieder nach Hohen werth, um die Instruktionen des Grafen entgegenzuneh men. Er begleitete ihn zur Bahn. Und als er ihm zum Ab schied die Hand reichte, hätte er ihm fast einen Gruß an
Gudrun aufgetragen. Doch er besann sich noch und war von Herzen froh, die Dummheit nicht begangen zu haben. Diesen Mann mußte man wie einen Schwerkranken be handeln. Und hätte er geahnt, daß man mit seinem Besuch bei Gudrun rechnete, würde er ihn bestimmt unterlassen. Es kostete den Grafen in der Tat große Überwindung, sich zu diesem Besuch zu entschließen. Doch die Sehnsucht, Gudrun wiederzusehen, war stärker als alles andere. Zuerst erledigte er alle geschäftlichen Dinge und schickte dann einen Hotelboy zu Frau Brandt mit der Anfrage, wann ihr sein Besuch genehm sei. Der Junge brachte den Bescheid, daß der Graf sich zu einer heute abend stattfin denden kleinen Gesellschaft einfinden möge. Frau Rita erwartete ihn schon und teilte ihm mit, Gudrun sei ahnungslos, und sie selber freue sich auf die Überra schung. »Möchten Sie sie ungesehen beobachten, Graf?« fragte sie. Als er nickte, führte sie ihn in die Festzimmer. »Da ist sie«, zeigte die Hausfrau auf Gudrun, die soeben im Arm eines Kavaliers vorüberglitt. »Lassen Sie sich noch nicht sehen, wir wollen sie erst eine Weile beobachten! Das wird ein Hauptspaß!« Sie zog den Grafen in eine Nische, in der bequeme Sessel standen. »Hierher flüchte ich mich immer, wenn ich einen Augen blick allein sein will, um mich davon zu überzeugen, ob meine Gäste sich behaglich fühlen«, flüsterte sie dem Gra fen zu. Er hörte kaum auf sie. Sein Blick hing wie gebannt an Gud run, die ihm noch nie so schön erschienen war wie heute. »Ist sie nicht bezaubernd, entzückend?« flüsterte Frau Rita ihm zu, nicht ahnend, wie es im Innern ihres Gastes aus sah. Die Musik verstummte. Es war Tanzpause. – In unmittelba rer Nähe der beiden Lauscher stand Gudrun, sich angeregt mit einem Herrn unterhaltend. Es flimmerte Bernulf vor den Augen, als er ihre süße, wei
che Stimme hörte; er stöhnte auf vor seelischer Qual. Er hatte ganz vergessen, daß die Gastgeberin sich an seiner Seite befand. »Graf – was haben Sie?« Er hörte nicht Frau Ritas beschwörende Stimme, sah nicht ihren angstvollen, besorgten Blick. Er war wie betrunken. Fort von hier – nur fort! Er hatte ja kein Recht mehr auf dieses sinnbetörende Geschöpf. Sollte er so charakterlos sein und sie bitten, mit ihm nach Hohenwerth zurückkeh ren? Sollte er dort leben als der Mann seiner Frau? Er sprang so plötzlich auf, daß Frau Rita einen leisen Schreckensschrei ausstieß. »Haben Sie Dank, gnädige Frau«, stammelte er, »doch ich muß mich empfehlen, ich habe etwas Dringendes zu erle digen, das keinen Aufschub duldet.« »Sie wollen fort?« rief Frau Brandt bestürzt. »Was wird Gud run dazu sagen?« »Sie soll nicht erfahren, daß ich hier gewesen bin. Das ver sprechen Sie mir bitte, gnädige Frau!« »Wie kann ich das versprechen!« »Ich bitte dringend darum. Ich kann Gudrun nicht spre chen, jetzt nicht – ich werde ihr schreiben.« »Gut, ich verspreche Ihnen, Gudrun nichts zu sagen«, erwi derte sie leise und fest. »Doch auch Sie müssen mir etwas versprechen, Graf: keine Dummheit zu machen.« Sie begleitete ihn zum Portal und kehrte schweren Herzens zu ihren Gästen zurück. So beunruhigt wie heute hatte Frau Rita sich selten in ih rem Leben gefühlt. Und so sehr sie sich auch beherrschte, Gudrun merkte dennoch, daß sie anders war als sonst. Sie huschte darum vor dem Schlafengehen noch einmal in ihr Schlafgemach. »Tante Rita, quält dich etwas?« fragte sie. »Ich bin müde, Kindchen, – ein sicheres Zeichen, daß ich alt werde«, lachte die Tante, doch das Lachen klang nicht ganz frei. Am nächsten Morgen, als die Damen beim Frühstück sa
ßen, wurde die junge Gräfin vom Diener ans Telefon gebe ten.
»Wer will mich denn sprechen?« fragte sie erstaunt.
»Herr von Barnim, Frau Gräfin.«
Sofort sprang Gudrun auf, eilte an den Apparat. Frau Rita
folgte ihr.
»Hier Gudrun Hellmarck.«
»Gottlob, daß ich dich erreichen konnte«, kam es vom an deren Ende. »Du mußt sofort nach Hohenwerth zurück kommen, Gudrun – du mußt! Laß um Himmels willen
allen Stolz beiseite – Bernulf packt seine Sachen. Ich erkläre
dir alles später – du kommst doch?«
»Ja, Gero, ich komme.«
Dann hängte sie auf und umklammerte die Schreibtisch platte mit beiden Händen und stand minutenlang regungs los da. Als sie sich der Tante zuwandte, war sie so blaß, daß
Frau Brandt erschrak.
»Tante Rita, ich muß auf schnellstem Wege nach Hohen werth – Bern will fort.«
Der Abschied von der Tante war kurz und herzlich; sie
mußte Gudrun versprechen, recht bald nach Hohenwerth
zu kommen.
Endlich war sie am Ziel. Kaum hielt der Zug auf der Stati on, sprang sie aus dem Abteil und gab dem ihr entgegenei lenden Albert Bescheid, sich mit Ella um das Gepäck zu
kümmern.
Dann streckte sie Gero die Hände entgegen.
»Wo ist Bern?«
»Er will mit dem Abendzug fort.«
»Dann haben wir noch – «
»Noch zwei Stunden Zeit, ja.«
Es flimmerte ihr vor den Augen, und sie biß die Zähne fest
zusammen.
»Rasch, Gero, du erzählst mir alles während der Fahrt.«
Zuerst schwiegen sie, denn Gero mußte auf den Verkehr
achten. Doch auf der Chaussee hatten sie freie Bahn, und
Gero erzählte:
»Ganz zufällig kam ich heute nach Hohenwerth, denn ich hatte keine Ahnung, daß Bernulf schon von seiner Reise zurück ist. Ich fand ihn beim Packen, und auf meine ers taunte Frage gab er mir zur Antwort, er müsse eilen, wenn er das Flugzeug erreichen wollte. Es ging früher, als er an genommen hatte. Auf meine Bitten hatte er nur beleidi gendes Schweigen oder schroffe, eisige Ablehnung. Da wußte ich mir keinen Rat und rief dich an.« »Und das danke ich dir, Gero; wie sehr, kann ich dir gar nicht sagen!« »Ich kann es immer noch nicht begreifen, Gudrun, daß du ihn überhaupt von dir ließest. Er hat dich doch in Berlin besucht – geht denn dein Stolz über deine Liebe?« »Ich habe nichts von seinem Besuch gewußt, erst heute habe ich davon erfahren. Er wollte mich überraschen – doch er hat mich nur aus der Ferne gesehen und ist dann wieder gegangen, ohne mich gesprochen zu haben.« »Ah so«, sagte Gero, und dann schwiegen sie. »Weiß Bernulf von meinem Kommen?« fragte Gudrun, als sie in die breite Allee einbogen, die zum Schloß führte. »Nein. Peter hat mir versprochen, sich möglichst unauffäl lig an ihn heranzuschlängeln und ihn auf keinen Fall abrei sen zu lassen – und wenn er Himmel und Hölle in Bewe gung setzen sollte. So erbot er sich, Bernulf zur Bahn zu fahren, was diesen zu erfreuen schien. Peter wollte jedoch eine kleine Panne in Szene setzen – wollte ohne Benzin fahren – na ja – dann hätten sie eben den Zug versäumt. >Zeit gewonnen, alles gewonnen<, hieß es für uns, und daß du ihn noch sprichst – davon erwarten wir alles.« Nun hielt das Auto vor dem Schloß. Gudrun drückte dem Bruder schnell die Hand und eilte die Freitreppe empor. In der Halle erwartete sie Frau Emma, der bei der Herrin Anblick die Tränen aus den Augen stürzten. »Gute Emma«, sagte die Gräfin gerührt und streichelte die rundliche Wange der treuen Frau. »Wo ist der Herr Graf?« »In seinem Zimmer, Frau Gräfin.« Gudrun nickte ihr zu und eilte weiter.
Leise betrat Gudrun das Arbeitszimmer des Gatten, schloß lautlos die Tür und legte die Hand auf den Mund, um ihre raschen, gepreßten Atemzüge zu unterdrücken. Da saß nun der Mann, den sie mehr liebte als sich selbst, für den sie jede Demütigung auf sich nehmen wollte, wenn er sich nur halten ließ, nur bei ihr blieb! Er saß am Schreibtisch und schrieb. Leise schlich sie sich zu ihm und sah ihm über die Schulter. Eben adressierte er einen Brief. Es war ein Brief an sie – ein Abschiedsbrief. Ihr war, als gehe ein Schwert durch sie hindurch. »Bern – du darfst nicht von mir gehen!« schrie sie auf und umschlang ihn mit beiden Armen. »Und wenn du durch aus gehen willst – und mußt – dann nimm mich mit!« Es zuckte in seinem Gesicht, und er konnte vor Erregung nicht sprechen, doch sie deutete sein Schweigen falsch. »Bern!« schrie sie wieder – noch leidenschaftlicher, noch angstvoller. Unter diesem Aufschrei sollte er Ohr und Herz verschlie ßen? Vergessen war augenblicklich alles, was sie von ihm trenn te. Er sah nur sie, – sah ihre süße, betörende Schönheit. Da riß er sie in seine Arme. »Ach, laß das doch jetzt!« stammelte er unter heißen Küs sen. »Ich weiß nicht, ob ich gehen will – ich weiß nur, daß ich dich wiederhabe – daß du bei mir bist – Süßeste, Ge liebte.« Glückzitternd schmiegte sie sich an seine Brust. Ach, nun war ja alles wieder gut! Alles? – Mit einem Mal war wieder alle Glückseligkeit da hin, und nur zitternde, fiebernde Angst erfüllte sie, daß er doch noch von ihr gehen könnte. Es hatte sich ja nichts geändert, er war doch nicht reicher geworden, mußte neh men von dem, was ihr gehörte. Sie machte sich von ihm los, richtete sich empor und sah ihm tief in die Augen. »Bern – hast du mich lieb?« »Das kannst du fragen – jetzt – in dieser Stunde?«
»Muß ich nicht, Liebster? Weiß ich doch nicht, ob du bei mir bleiben willst – ob du so viel Liebe aufbringen kannst –« Erschüttert wandte er das Antlitz zur Seite. »Bern«, sagte sie vorwurfsvoll, »soll ich mich immer mehr vor dir demütigen?« Er fuhr herum. »Sprich doch dieses unerhörte Wort nicht aus, Herzliebste!« »Doch, ich muß es«, beharrte sie. »Was ist es denn anders als Demütigung, wenn ich mich dir immer wieder – anbie te?« »Süße – ich bitte dich!« stöhnte er. »Nichts mehr davon! Du bist jetzt bei mir, ich habe und halte dich – ich will an nichts denken als nur an dich. Will dir sagen, daß ich dich bis zum Wahnsinn liebe – dich anbete!« »Und willst doch von mir gehen – willst mich allein lassen in Jammer und Not – Bern! Ich verstehe dich besser, als du denkst, ich weiß, wie schwer es einem Mann deiner Art fallen muß, von anderen abhängig zu sein. Doch sind wir nicht fest miteinander verbunden, Liebster, so fest, daß es zwischen uns kein Mein und Dein gibt? Dein Stolz treibt dich von hier, von mir fort! Aber sag, hättest du im fernen Land wirklich vor deinem Gewissen Ruhe, wenn du dir sagen müßtest, du hättest deinem Stolz zuliebe einen Men schen hineingejagt in Qual und Herzensnot? Wenn du das kannst – dann – dann hat es keinen Zweck, daß ich noch weitere Worte verschwende. Aber sprich mir dann nicht mehr von Liebe – ich kann es dir nicht glauben.« Sie ließ die Arme von seinem Nacken sinken – unendlich mutlos war die Bewegung. Ihr Herz war bis zum Rand ge füllt mit Bitterkeit und Schmerz. Ihr dunkler, weher Blick hing an dem Mann, der regungslos an ihrer Seite saß, das Haupt in die Hände gestützt. An dem Beben, das ab und zu seine kraftvolle Gestalt erzittern ließ, merkte sie, wie erregt er war, wie aufgewühlt sein Inneres sein mußte. Sie wußte, hier rangen Stolz und Liebe miteinander in erbittertem Kampf – und die nächsten Minuten würden die Entschei
dung bringen. Lange, lange saß er schweigend da. Als er ihr endlich das Antlitz zuwandte, war das Gequälte daraus verschwunden, und es lag klare Entschlossenheit darin. Er neigte sich zu Gudrun hin, nahm ihr tränenfeuchtes Antlitz zwischen seine Hände. Weich, zart, fast andachtsvoll war die Gebär de. Tief sah er ihr in die angsterfüllten Augen. »Sei nur ruhig, du mein Abgott«, sagte er mit tiefer Bewe gung. »Ich gehe nicht von dir. Ich habe in diesen Minuten erkennen müssen, daß ich ja gar nicht von dir gehen kann. Du bist ein Stück meiner selbst, und ich müßte verbluten, wollte ich mich von dir reißen. Das ist mir soeben klarge worden.« Fast andächtig küßte er ihre Augen, die zunächst noch za gend zu ihm aufsahen, dann jedoch mit jedem Herzschlag strahlender wurden. »Liebster, jetzt kann ich erst von Herzen glücklich sein, ganz unvernünftig glücklich!« jauchzte sie auf. »Zuerst war es doch kein reines Glück, weil ich immer vor der Stunde bangen mußte, die die Aufklärung bringen würde. Täglich und stündlich zitterte ich davor, wie du die Täuschung auf nehmen würdest. Doch nun habe ich kein Geheimnis mehr vor dir.« »Gottlob, mein Lieb! Ich bitte dich herzlich, niemals mehr eines vor mir zu haben. Denn alles, was dich betrifft, geht auch mich an, und daher werde ich für alles Verständnis haben.« »Und wirst du nie bereuen, daß du dich entschlossen hast, bei mir zu bleiben?« »Nein, du Süße. Die Entscheidung ist mir nicht leicht ge worden. Sie hat mir mehr zu schaffen gemacht als irgend etwas anderes in meinem Leben. Doch nun sie gefallen ist, ist alles klar und ausgeglichen in mir, wo zuerst ein wüstes Chaos war. Ich bin schwerfällig in meinen Entschlüssen, doch sind sie einmal gefaßt, gibt es keine Rückfälle mehr für mich. Mir blieb auch wirklich keine andere Wahl, denn wenn ich weiterleben will, dann brauche ich dich; du bist
mir notwendig zum Leben wie Sonne und Licht. Doch nun mußt du mir noch erzählen, woher du so unerwartet kamst.« Sie schilderte ihm alles, und ihm wurden die Augen feucht. »Abgott du – Kleinod mein«, sagte er bebend. »Diese Liebe habe ich ja gar nicht verdient!« Er küßte sie zuerst sanft und leise und dann immer heißer. Sie vergaßen alles um sich her in ihrer jauchzenden Glück seligkeit. Währenddessen wartete Peter mit Gero in seinem Zimmer. Peter lief mit langen Schritten von einer Ecke zur anderen. Wieder einmal zog er die Uhr, wie schon so oft in der letz ten Stunde. »Fünfzig Minuten – hm – man müßte annehmen, daß sie sich versöhnt haben, sonst hätte Gudrun längst ihre Gemä cher aufgesucht. Meinen Sie nicht auch, Herr von Barnim?« »Ich habe es gar nicht anders angenommen«, lachte der behaglich, »und ich verstehe Ihre Unruhe nicht, lieber Freund. Meine Hauptsorge war es, Gudrun hierherzube kommen. Daß dann alles gut werden müßte, habe ich nicht einen Augenblick bezweifelt. Diese beiden Menschen sind ja viel zu sehr miteinander verwachsen, als daß sie sich voneinander losreißen könnten. Ich mache den Vor schlag, wir gehen an unsere Arbeit. Vor dem Abendessen bekommen wir die beiden doch nicht zu Gesicht.« Und er hatte recht, sie erschienen erst bei der Abendtafel. Gudrun begrüßte Peter, der angesichts ihrer strahlenden Miene sofort seinen alten Übermut wiederfand. »Tag, Entlein«, meinte er gönnerhaft. »Scheint dir in Berlin ja ausgezeichnet gefallen zu haben, daß du uns be dauernswerte Männer so lange allein lassen konntest.« Als sie an der Tafel saßen, musterte er sie immer wieder mit kritischen Blicken. »Schöner bist du auch noch geworden. Na, was das einmal werden soll!« Er machte ein bekümmertes Gesicht, als sei er für all die Schönheit verantwortlich, und als würde man ihn deswe
gen einmal zur Rechenschaft ziehen. Er verzog auch keine Miene, als die anderen lachten. »Deine Mutter läßt dich grüßen, Bubi.« »Danke. Sonst weiter nichts?« »Sie wird uns in allernächster Zeit in Hohenwerth besu chen.« »Famose alte Dame«, meinte er anerkennend. »Doch weißt du, Entlein, du brauchst nur die Nase in Hohenwerth hi neinzustecken, gleich kocht die vortreffliche Frau Emma besser. So gut wie heute war das Essen in deiner Abwesen heit niemals.« »Oh, Bubi«, lachte Gudrun, »du wirst einmal einer von den Ehemännern werden, bei denen die Liebe durch den Ma gen geht.« »Ich meine, man muß die Feste feiern, wie sie fallen«, schlug Peter vor, als man nach dem Abendessen in dem traulichen Teezimmer der Gräfin saß. »Und so halte ich es für erforderlich, daß wir einer silberhalsigen Flasche eben diesen Silberhals brechen.« Das gräfliche Paar fand den Vorschlag ganz ausgezeichnet, Gero jedoch winkte ab. »Es ist für mich höchste Zeit, daß ich nach Hause komme, ich habe mich sowieso über Gebühr vertrödelt.« »Vertrödeln nennt es dieser ungeschliffene Mensch, wenn es ihm vergönnt ist, den Abend in unserer Gesellschaft zu verbringen und noch nicht einmal auf dem Trockenen zu sitzen!« räsonierte Peter kopfschüttelnd. »Doch ich weiß, das Pantöffelchen der Eheliebsten winkt«, meinte er dann verständnisinnig. »Frecher Kerl!« entrüstete Gero sich lachend. »Wie der spricht – als hätte er Erfahrung.« »Na, und wie ich Erfahrung habe!« verteidigte Peter sich. »So ein nettes Pantöffelchen ist mir schon mal an den Kopf geflogen, und zwar von der liebreizenden Elvira. Als ich sie eines Vormittags zum Tennisspiel abholte, da sauste mir so ein nettes Dings aus rosa Samt und mit weißem Pelz ver brämt an den Kopf. Warum? Weil ich am Abend vorher
nicht genug mit ihr getanzt hatte und sie sich auf irgendei ne Art rächen mußte.« »Deiner Elvira bin ich übrigens oft begegnet«, erzählte Gudrun lachend. »Sie spielt eine große Rolle in der Gesell schaft.« »Nur, daß diese Rolle sich immer sehr schnell >abrollt<«, meinte Peter ungerührt. »Ich war stets der Ansicht, daß man nach Goldfischen angelt, daß dieser Goldfisch selbst die Angel auswirft. Doch wenn man das holde Kind erst ein wenig näher kennt, – da wendet sich der Gast mit Grausen. Ich spreche aus Erfahrung, da auch ich einmal an dieser Angel gezappelt habe«, gab er freimütig zu. »So ungefähr zwei Wochen dauerte die Herrlichkeit – kurz, aber stür misch! Und wer steht augenblicklich in ihrer Gunst?« »Ein Herr Schwer.« »Ach so, dieses Männchen, das seinen Namen sehr zu Un recht trägt, da es nicht einmal einen Zentner wiegt«, meinte Peter verständnisvoll. »Das Männeken ist eine abgelegte Sache Elviras, wird aber immer wieder vorgeholt, wenn sie in Verlegenheit ist, und wird dann in die Ecke gestellt, wenn sie einen neuen Schwarm hat.« »Warum heiratet dieses reiche und hübsche Mädchen ei gentlich nicht?« wollte Gudrun wissen. »Umschwärmt wird sie doch genug, und an der Auswahl fehlt es ihr wahrhaftig nicht.« »Das alte Lied«, sagte Peter elegisch. »Was sie kriegt, das will sie nicht, und was sie will, das kriegt sie nicht«, sang er in so falschen Tönen, daß alle um Gnade flehten. »Wie soll ich denn anders singen?« beklagte er sich. »Bei der trockenen Kehle! Ein perlender Tropfen wirkt bei mei nen Stimmbändern Wunder.« »So lassen Sie uns dieses Wunder nur hören«, lachte der Graf. »Bestellen Sie bei Albert einen >perlenden Tropfen< wie Sie sich so nett ausdrücken.« Das ließ Peter sich nicht zweimal sagen, und bald stießen sie auf das Glück von Hohenwerth an. Einen Augenblick war es, als wolle eine ernste Stimmung aufkommen, doch
Peter sorgte schon dafür, daß es anders wurde. Er war voll so drolliger Einfälle, daß man aus dem Lachen nicht he rauskam und Gero das Nachhausefahren vergaß. »Da setzt es heute abend noch was«, behauptete Peter, als man sich endlich trennte. »Wenn Sie einen Beistand brau chen, Herr von Barnim, ich stehe zur Verfügung.« »Komm morgen wieder, Gero, und bringe Ilse-Dore mit«, bat Gudrun. »Wir werden auch Rönners Bescheid sagen.« »Ob der Justizrat deiner Einladung Folge leisten wird?« zweifelte der Graf, als er Gudrun allein gegenübersaß. »Auf alle Fälle«, entgegnete Gudrun zuversichtlich. »Onkel Erich trägt dir nichts nach, Bern, er ist ein durch und durch guter und edler Mensch. Und er weiß so gut wie ich, daß du uns mit Recht zürntest. Doch er bereut diese Täuschung nicht und behauptet, daß er wieder genauso handeln wür de, wenn er noch einmal in die gleiche Lage käme. Er kann te meine grenzenlose Verzweiflung, Bern.« Und da war er auch schon bei ihr und riß sie in seine Ar me. »Sprich nicht mehr davon, mein Abgott! Laß uns die trau rige Zeit vergessen und nur noch wissen, wie glücklich uns unsere Liebe macht!« -ENDE