Rosemary Sutcliff
Das Hexenkind
s&c by ginevra
Ort und Zeit der Handlung: Das Mittelalter in Großbritannien. »Du wirs...
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Rosemary Sutcliff
Das Hexenkind
s&c by ginevra
Ort und Zeit der Handlung: Das Mittelalter in Großbritannien. »Du wirst einer der Heilkundigen der Welt sein«, so weissagt die Kräuterfrau, die manchem im Dorf unheimlich erscheint, ihrem kleinen, verwachsenen Enkel Lovel, bevor sie stirbt. ISBN 3-7725-0704-2 Originalausgabe: The Witch's Brat Aus dem Englischen von Elisabeth Epple 2. Auflage Juni 1984 Deutscher Taschenbuch Verlag Illustrationen von Robert Micklewright Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Umschlagbild: Reinhard Michl
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Buch Ort und Zeit der Handlung: Das Mittelalter in Großbritannien. »Du wirst einer der Heilkundigen der Welt sein«, so weissagt die Kräuterfrau, die manchem im Dorf unheimlich erscheint, ihrem kleinen, verwachsenen Enkel Lovel, bevor sie stirbt. Bis sich diese Weissagung erfüllt, muß Lovel noch viel leiden. Nach dem Tod seiner Großmutter wird das behinderte Kind mit Steinwürfen aus dem Dorf vertrieben. Lovel flieht in den Wald, wird aufgelesen und ins Kloster gebracht. Dort findet er als Helfer in Küche und Hof eine vorläufige Bleibe. Als der Hofnarr des Königs, Rahereeine historische Figurdas Kloster besucht, bemerkt er schnell die seelische Kraft, die der verkrüppelte Junge ausstrahlt. Er holt ihn in das von ihm neugegründete Hospital in London. Dort kann sich die Gabe der Heilkunst voll entfalten.
Von Rosemary Sutcliff sind außerdem bei dtv junior lieferbar: Der Adler der Neunten Legion, Band 7012 Der silberne Zweig, Band 7069 Drachenschiffe drohen am Horizont, Band 7260
Inhalt Buch.........................................................................................................2 Inhalt........................................................................................................4 Vorwort....................................................................................................5 1. Verjagt ihn!..........................................................................................6 2. Mit der Sonne gen Westen .................................................................14 3. New Minster.......................................................................................23 4. Der Hofnarr des Königs ....................................................................35 5. Valiant ...............................................................................................42 6. Der Novize .........................................................................................53 7. Der König und die Bettlerschale........................................................60 8. Die Straße nach London ....................................................................70 9. Der Beginn eines Traums ..................................................................73 10. Sankt-Bartholomäus-Krankenhaus ..................................................81 11. Das Versprechen..............................................................................88 12. Nick Redpoll.....................................................................................98 13. Geschnitzte Engel ..........................................................................106 14. Das Wunder ...................................................................................117
Vorwort Lovel und fast alle anderen Personen dieser Geschichte sind erfunden. Aber Rahere, der Hofnarr des Königs, der ein großes Krankenhaus gründete, hat wirklich gelebt, und man kann heute noch sein Grab in der Kirche des Großen St. Bartholomäus in Smithfield besuchen. Er liegt dort in Stein gehauen, in der Kleidung eines Augustinermönchs, und ihm zu Häupten und zu Füßen knien zwei kleine Gestalten in gleicher Kleidung, die in lateinischen Bibeln lesen: »Denn der Herr tröstet Zion, er tröstet alle ihre Wüsten und macht die Wildnis zu Eden und ihr dürres Land zu dem Garten des Herrn, daß man Wonne und Freude darin findet, Dank und Lobgesang.«
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1. Verjagt ihn! Der Junge kam zwischen den beiden großen Dorfäckern heruntergestolpert. Er war auf dem Rückweg von Gyrth, dem Schäfer, dem er das Essen gebracht hatte. Es war Oktober, und bald würde Gyrth die Schafe von der Sommerweide herabtreiben; zu dieser Jahreszeit aber, wo die Schafböcke den Mutterschafen nachrannten, blieb er tage- und nächtelang mit der Herde im Hügelland. Am frühen Morgen hatte es geregnet, und der abschüssige, ausgetretene Kalkpfad war schlüpfrig, so daß man vorsichtig gehen mußte. Der Junge, Lovel, mußte noch viel vorsichtiger gehen als die anderen, denn er war schief gewachsen, mit einer buckligen Schulter und einem zu kurzen Bein, das ihn hinken ließ, so daß er aussah wie ein Vogel mit gebrochenem Flügel. Sein mageres Gesicht unter dem Wust von staubigem, dunklem Haar wirkte intelligent und hellwach und war stets bereit zu lächeln. Doch niemand hatte sich jemals die Mühe gemacht, dieses Gesicht zu betrachten; außer vielleicht der Großmutter, aber die war vor einer Woche gestorben. Vom obersten Punkt der Viehweide aus konnte man das Dorf nicht sehen. Es war verdeckt durch den Bergrücken des Downs, aber sobald man um die als Windschutz gepflanzte Scharlachdornhecke bog, die um diese Jahreszeit rostrot war und die von den Drosseln so geliebten Beeren trug, lag es plötzlich drunten im Tal vor einem. Die eine lange Straße mit den Häusern zu beiden Seiten, die schmalen Felder, auf denen Osric den Winterweizen säte, und am äußersten Ende, wo das Land ein wenig anstieg, das strohgedeckte Holzhaus von Sir Richard d'Eresby, dem Gutsbesitzer. Das Herrenhaus stand inmitten seiner Ställe und Scheunen, der Apfelbäume, seiner Bienenhäuser und des großen Taubenschlags. Dorf und Herrenhaus waren leicht umflort vom blauen Rauch der Feuer, -6-
an denen das Abendessen gekocht wurde, und der niedrig in der Herbstluft hing. Lovel hielt in seinem Lauf inne und blickte hinab. Er suchte mit den Augen nach der torfgedeckten Hütte, die etwas abseits zwischen den Erlen am Strom stand, wo er mit seiner Großmutter gelebt hatte, seit er vor elf Jahren auf diese Welt gekommen war und seine Mutter sie verlassen hatte. Auch sein Vater hatte dort gelebt; aber sein Vater war im letzten Jahr an der Frühlingskrankheit gestorben, die oft nach harten Wintern auftrat und zuweilen sogar stärker war als die Heilkräuter seiner Großmutter. Nach dem Tod seines Vaters hätte seine Großmutter nach den Gesetzen des Gutes die Hütte verlassen und Raum für einen anderen Dorfbewohner und seine Familie schaffen müssen, aber sie war einst Amme und Kindermädchen beim Sohn des alten Lord gewesen. Bei dem, der ums Leben gekommen war, als die Engländer in Tenchbrai eingefallen waren, und deshalb hatte man ihr erlaubt zu bleiben. Lovel grub das kleine Kohlfeld um, sorgte für Garland, die Kuh, half seiner Großmutter beim Heilkräutersammeln und pflegte die winzige Wiese hinter der Hütte. Die Leute brachten ihr alles mögliche, einen Hut voller Äpfel, einen Laib frisch gebackenes Brot als Dank dafür, daß sie ihnen die Warzen entfernt oder gesagt hatte, wo sie ihr umherstreunendes Vieh wiederfinden könnten, als Entgelt für einen Topf grüner Wundsalbe (in ganz West-Sussex gab es keine bessere) oder eine Handvoll von jenen ganz bestimmten, bei Neumond gesammelten geheimnisvollen Krautern. Wenn ein Mädchen sie im Brustausschnitt ihres Kleides trug, sollte der Junge, von dem sie es sich wünschte, in ihre Richtung sehen. So kam allerhand zusammen, und sie und Lovel mußten niemals Hunger leiden. Jedenfalls keinen allzu großen Hunger. -7-
Lovel wandte den Blick von dem kleinen windschiefen, lohfarbenen Dach unter den Erlen ab, das nun nicht mehr sein Zuhause war. Er lebte jetzt bei Gyrths Frau und deren Kindern. Sir Richards Verwalter hatte das so angeordnet und ihnen die Kuh als Bezahlung gegeben. Gyrths Frau hatte zwar die Kuh willkommen geheißen, nicht aber Lovel. Sie hatte ihm schmerzhaft deutlich klargemacht, daß sie ihm nur Unterkunft gewährte, weil sie mußte. ›Nun ja‹, dachte Lovel, ›wenigstens ist sie gut zu Garland.‹ Und das war schon etwas. Lovel hatte schon damals den Eindruck, daß es in der Welt nicht allzuviel Freundlichkeit gäbe, und so freute er sich, daß wenigstens Garland ein bißchen davon haben sollte. Ein später Schmetterling, der vorüberflatterte, fesselte seine Aufmerksamkeit. Er sah ihm zu, wie er zu Boden tanzte und sich auf dem staubigen Stengel eines Hirtentäschels am Wegrand niederließ. Und für den Schimmer eines Augenblicks war ihm, als nähme er das alles nicht nur mit seinen Augen wahr, sondern mit seinem ganzen Wesen: die zarte Äderung der gelben Flügel, die sich bebend halb schlössen und dann wieder öffneten, den dunklen, samtenen Pelz auf dem schlanken Körper des Tieres, die graugrünen, herzförmigen Samenkapseln des Hirtentäschels, die unter dem Atem des aufkommenden Windes erzitterten und mit dem Schmetterling die letzte Wärme der Herbstsonne teilten. Und die Schatten des Falters und der Pflanze wiegten sich im Gras. Ein Teil seines Wesens sehnte sich danach, den Schmetterling zu fangen, ihn sehr behutsam zwischen seinen Händen gefangenzuhalten, das Leben darin zu fühlen und das Flattern der Flügel gegen seine gewölbten Handflächen, als ob er auf diese Weise den flüchtigen, schimmernden Augenblick am Erlöschen hindern könne. Er hatte das einmal versucht, als er noch ganz klein war. Der Schmetterling war zerbrochen und tot in seinen Händen geblieben, und er hatte den Augenblick getötet, den Glanz und die Schönheit zerstört, anstatt sie zu bewahren; und nichts war -8-
ihm geblieben als ein leeres Gefühl der Verzweiflung, weil er den Schmetterling nicht wieder gesund machen konnte. Seine Großmutter hatte ihn gefunden mit dem winzigen, traurigen, zerbrochenen Ding in der Hand, und er hatte ihr nichts gesagt, überhaupt nichts. Aber sie hatte sein Gesicht zwischen ihre rauhen, verwelkten alten Hände genommen und auf diese eigenartige Weise, die sie ein wenig von den anderen Menschen unterschied, tief in ihn hineingesehen und gesagt: »So hast du es also auch. Wirf das jetzt weg. Es ist nicht gut, sich zu grämen, und nicht einmal ich kann einen zerbrochenen Schmetterling wieder heilen. Aber eines Tages wirst du anderes heilen. Du wirst einer der Heilenden dieser Welt sein; weder einer der Schöpfer noch der Zerstörer, nur einer der Heilenden.« Und dann hatte sie gelacht und gesagt: »Es würde nichts nützen, dir zu befehlen, das nicht zu vergessen. Mit fünf Jahren ist man noch zu klein, um sich solche Dinge zu merken, aber wenn die Zeit kommt, wirst du es wissen.« Und am Abend hatte sie ihm ein Stückchen Honigwabe in seinen Haferbrei gegeben. Kurz nach diesem Vorfall hatte sie begonnen, ihn mitzunehmen, wenn sie fortging, um Kräuter zu sammeln, und ihm die Verwendungsmöglichkeiten der verschiedenen Heilkräuter erklärt. Der gelbe Schmetterling hatte sich wieder in die Luft geschwungen und entschwand tanzend im Zickzackflug über die Wiese. Der Augenblick war vorüber. Lovel wandte sich wieder dem Dorf zu. Es war noch immer dasselbe Dorf, das er sein ganzes Leben lang gekannt hatte, aber es hatte das Gesicht eines Fremden aufgesetzt. Er mußte seinem Mut einen gewaltigen Stoß versetzen, bevor er auf dem Saumpfad weiter hinuntergehen konnte. Als er hinab kam, waren eine Menge Leute auf der Straße. Denn die Zeit des Sonnenuntergangs nahte, zu der die Männer von der Arbeit auf ihren schmalen Feldern oder auf den zum Gut gehörenden Äckern nach Hause zu der Gemüsesuppe und dem -9-
braunen Roggenbrot kamen, das die Frauen für sie bereithielten. Auch ihn erwartete in Gyrths Hütte Gemüsesuppe und Roggenbrot, aber kein Willkommen. Und je näher er der Hütte kam, um so langsamer ging er, immer langsamer, da er wußte, daß er ohnehin Ärger bekommen würde wegen seines langen Ausbleibens. Da machte es nichts, wenn der Ärger noch ein bißchen größer wurde. Wulfgar, der Heuhüter, hatte eine magere Kuh auf dem Stückchen kargen Land neben seinem Häuschen angepflockt. Lovel blieb stehen, um sie anzuschauen, teils auch nur deshalb, um die Ankunft in Gyrths Hütte noch ein bißchen hinauszuzögern. Er fand, die Kuh sehe nicht gut aus, und fragte sich, ob sie vielleicht etwas gefressen habe, was ihr Beschwerden verursache. Seine Großmutter hätte gewußt... Er starrte die Kuh an und überlegte, als die Frau des Heuhüters ihren Kopf zur Türe herausstreckte und ihn anschrie: »Schau, daß du wegkommst! Weg! Oder ich rufe meinen Mann!« Und es war dieser Augenblick, in dem all das Schreckliche seinen Anfang nahm, in dem die Welt nicht mehr nur fremd war, sondern schrecklich, entsetzlich, ein Alptraum. »Ich habe nichts Böses getan«, sagte Lovel. Das Gesicht der Frau war dunkelrot vor Zorn und gleichzeitig angstverzerrt. »Nichts Böses?« schrie sie mit schriller Stimme. »Nichts Böses? Bist du nicht vor drei Tagen hier vorbeigekommen und hast sie angestarrt? Und war sie damals nicht gesund und munter? Schau sie dir jetzt an!« »Ich vermute, sie wird wohl etwas Unrechtes gefressen haben«, sagte Lovel, von der schrillen Stimme der Frau zwar betroffen, aber nicht aus der Fassung gebracht. »Etwas gefressen, sagst du? Was sollte sie gefressen haben, außer gutem, süßem Gras? Ich will dir sagen, was mit ihr los ist - ich werde...«
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Im Türrahmen hinter ihr erschien der Heuhüter, eifrig an einem dick mit Schafskäse bestrichenen Brotkanten kauend, um zu sehen, was der Lärm zu bedeuten habe. Einige Männer, die auf dem Heimweg von der Arbeit waren, blieben stehen und traten näher heran, Frauen und Kinder kamen aus den nächstgelegenen Hütten. »Was ist denn los?« fragte jemand. »Es ist das Hexenbalg, das wieder unsere Kuh anstarrt! Vor drei Tagen noch war sie ganz munter, und da kam er und starrte und starrte, und jetzt seht sie euch an - nur mehr Haut und Knochen!« »Kann schon sein, daß er ihr das Teufelsauge angehext hat«, vermutete jemand. Und andere nickten zustimmend. »Sicher.« Und dann sagte ein anderer: »Jagt ihn fort, den mißgestalteten Teufel!« Lovel sah ihre Gesichter, mit jedem Augenblick wurden es mehr, zornige, dumme, ängstliche. Und dann kam es ihm so vor, als geschähe das alles sehr weit entfernt, seltsam verkleinert und sehr klar; und er hatte das Gefühl, überhaupt nicht er selber zu sein, sondern daneben zu stehen und zuzusehen. Auf unpersönliche, entrückte Weise begriff er genau, was geschah: Weil seine Großmutter eine heilkundige Frau gewesen war, die sich mit Krankheit und Kräutern auskannte, waren sie alle zu ihr gekommen, alle diese Leute, wenn sie Zahnschmerzen hatten oder wenn eine Kuh krank war oder wenn die Butter im Butterfaß nicht »kommen« wollte. Aber weil sie ihr Wissen und ihre Erfahrung nicht verstanden, hatten sie sich auch vor ihr gefürchtet. Lovel hatten sie immer scheel von der Seite angesehen, denn er war ihr Enkel und obendrein verkrüppelt. Für sie standen diese beiden Tatsachen miteinander in Verbindung. Jetzt, da die Alte tot war, rächten sie sich an ihm für all die Furcht, die sie vor ihr empfunden hatten. -11-
Jemand streckte die Hand gegen ihn aus und machte mit den Fingern das Zeichen des Horns, um Unglück abzuwenden. Erst als Lovel sah, daß sie Angst hatten, begann auch er sich wirklich zu fürchten. Die Gesichter drängten näher. Aus weit geöffneten Mündern schrien sie ihn an, er solle machen, daß er wegkäme, und seinen Teufelsblick mitnehmen. Sie bestanden nur noch aus Mündern und haßerfüllten Augen. Und dann hob ein Junge einen Stein von der Straße auf und warf ihn. Er streifte Lovels Kinn, daß das Blut herausschoß. Und plötzlich schwirrte ein Hagel von Steinen um seinen Kopf. Lovel stand nicht länger mehr außerhalb der Geschehnisse, sondern war zutiefst mit einbezogen, er dachte nichts mehr, er wurde von panischer Angst ergriffen. Er drehte sich um und rannte, so schnell er konnte, auf seinem lahmen Bein hinkend. Die Steine pfiffen ihm um die Ohren; er glich einem kleinen, gehetzten Tier mit dem Schrecken der Jagdmeute hinter sich. Ein paar Jungen folgten ihm bis zum Ende des Dorfes und schleuderten ihm einen Schauer aus Steinen und Erdklumpen nach. Ein Stein traf ihn an der Schulter und warf ihn zu Boden. Aber er rappelte sich wieder auf und rannte weiter, keuchend und schluchzend. Wie ein gejagtes Wild strebte er dem Schutz der Bäume zu. Endlich fiel er der Länge nach am Waldrand zu Boden, dort, wo sich der bebaute Grund im Unterholz aus Haselstauden, Holunderbüschen und Brombeergestrüpp des beginnenden Wealden-Forstes verlor. Er lag regungslos mit dem Gesicht nach unten, zitternd von Kopf bis Fuß, nach Atem ringend, und lauschte über das Dröhnen seines Herzens hinweg nach einem Laut der wilden Jagd. Aber es war nichts zu hören außer dem leisen Flüstern des Windes in den Zweigen, von irgendwoher ertönte der Schrei einer Eule, die so früh schon ihrer Beute nachjagte. Mühsam erhob er sich, von Kopf bis Fuß voller Schmerzen und Wunden, und schleppte sich weiter hinein zwischen die Bäume. Er war niemals zuvor zur Nachtzeit im Wald gewesen. -12-
Nur die Tapfersten der Dorfbewohner würden ihren Fuß in den Wald zwischen Owl Hoot und Cock Crow setzen, aus Furcht vor dem Unheimlichen, das dort lauerte. Aber Lovel hatte keine Angst vor diesem Unheimlichen zwischen den Bäumen, jetzt nicht mehr. Er wußte nun, daß der Wald freundlicher war als die Menschen. Menschen waren das einzige, vor dem man sich wirklich fürchten mußte. Eine Höhlung unter den Wurzeln einer uralten, schief gewachsenen Eiche bot ihm Schutz. Er kroch hinein und legte sich nieder, eng an die lebendige Kraft des Baumes geschmiegt, und schlief ein.
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2. Mit der Sonne gen Westen Als die Strahlen des herbstlichen Sonnenaufgangs durch den Morgennebel zwischen den Bäumen drangen, erwachte Lovel. Ein paar Augenblicke lag er und wunderte sich, weshalb er solche Schmerzen hatte und wieso er hierher kam. Dann erinnerte er sich an alles, und Angst kroch in ihm hoch. Er zwängte sich aus seinem Käfig von Baumwurzeln und kam wieder auf die Füße. Er blickte sich um, als ob er erwarte, seine Verfolger durch das Unterholz brechen zu sehen. Er mußte weiter weg gehen - weiter weg von diesem entsetzlichen Dorf, so weit weg, daß niemand ihn jemals wiederfinden würde. Aber was dann? Er wußte es nicht, er dachte, das einfachste wäre vielleicht, sich irgendwo hinzulegen und zu sterben. Aber jetzt noch nicht, nicht, bevor er vor dem Dorf in Sicherheit war. Er hatte nichts, was er mitnehmen mußte, und nichts zu essen, so begann er einfach draufloszugehen. Es war schwer, im Wald zu gehen. Wurzeln ließen ihn stolpern, weiche Pfade, wo alte, umgesunkene Baumstämme zu Zunder zerfallen waren, erwiesen sich als trügerisch. Sie sahen so fest aus, doch wenn man sie betrat, brach man ein. Tiefhängende Zweige schlugen ihm ins Gesicht, Dornen verfingen sich in seinem alten Bauernkittel und versuchten ihn zurückzuhalten. Der Wald erwies sich heute als weniger freundlich als letzte Nacht, aber Lovel dachte überhaupt nicht daran, umzukehren. Er kämpfte sich weiter, bis der Wald sich zu lichten begann und es den Anschein hatte, als ob er zu einer Lichtung kommen würde, vielleicht zu einem anderen Dorf. Doch ein Dorf bedeutete Menschen. Er mußte vorsichtig weitergehen. Mit Menschen wollte er nichts mehr zu tun haben. Aber als die großen Bäume dem an Waldrändern üblichen Dickicht aus Haselsträuchern, Weißdorn und vereinzelten Bäumen Platz machten, sah er vor -14-
sich weder eine Lichtung noch ein Dorf, sondern eine langgezogene, grasbedeckte Erhebung, die immer höher anstieg in runden, mächtigen Wellen und mit Buschwerk bestandenen Vertiefungen, bis sie, hoch über ihm, riesige, einem Walfischrücken gleiche Umrisse gegen den Himmel bildete. Wieder die Downs, aber nicht die Downs, wie er sie von zu Hause her kannte. Jene bestanden aus Inseln, großen Grashügeln und kleineren Hügelchen, durchzogen von Wald. Diese hier waren ein einziger Wellenkamm aus Gras, der sich erstreckte, so weit er sehen konnte, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Geboren und aufgewachsen in den Downs, erschien es ihm ganz natürlich, auch jetzt den Hügeln zu folgen. Aber in welcher Richtung? »Immer mit der Sonne«, hatte ihm seine Großmutter einmal gesagt, als sie einen Kräutertrank über dem Feuer kochte. »Gegen die Sonne, das ist Widersinn, das ist Schwarze Magie. Immer mit der Sonne.« Ihre Rede hatte sich auf das Umrühren des Tranks bezogen, aber Lovel kamen ihre Worte jetzt in den Sinn und schienen eine andere Bedeutung zu bekommen. So ging er also nach Westen, mit der Sonne. Er dachte nicht mehr daran, sich hinzulegen und zu sterben. Irgend etwas hielt ihn aufrecht und trieb ihn vorwärts. Jeden Abend, wenn es dunkel wurde, legte er sich nieder, aber immer, wenn das Licht zurückkam, raffte er sich wieder auf. Er lebte von Haselnüssen und Brombeeren, und einmal, als er nahe am Verhungern war, kam er ganz in der Nähe eines Dorfes vorbei und fand eine Henne, die verlegt hatte. Er trank die noch nestwarmen Eier aus. Aber wie viele Male er sich niedergelegt hatte oder wie viele Male er seinen schmerzenden Körper wieder hochgerafft hatte, das wußte er nicht mehr, ebensowenig wußte er, wohin er ging. Er faßte keinen klaren Gedanken mehr, er wußte nur, daß er mit der Sonne ging.
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Allmählich veränderten die Hügel ihren Charakter. Sie wurden breiter, sanfter, mit weiten, waldbestandenen Tälern dazwischen, unterbrochen von ausgedehnten Grasweiden und Flußwiesen. Und noch immer ging er gen Westen, machte große Umwege, um den Dörfern der Menschen auszuweichen, wo man ihn mit Steinen bewerfen könnte. Er suchte stromauf- und stromabwärts nach Brücken oder nach den Furten im Fluß, wo das Vieh überwechselte. Aber immer hielt er sich nach Westen, dem Lauf der Hügelkette folgend. Wäre das Wetter umgeschlagen, wäre er wohl gestorben, aber Tag um Tag war es heiter und beinahe warm wie Altweibersommer. Dennoch, obwohl er es gar nicht bemerkte, wurde er schwächer und schwächer, legte er von Tag zu Tag eine kürzere Strecke zurück. Am letzten Tag schaffte er nur wenig mehr als eine Meile, und alles um ihn herum schien zu verschwimmen und sich zu verändern wie in einem Traum. An diesem Abend schlug das Wetter um, der Wind erhob sich und trieb von Westen feine, kalte Regenschauer vor sich her und zwang Lovel, den Schutz des Waldes in einem der Täler zu suchen. -16-
Es war nur ein schmaler Waldstreifen, schon bald lichtete er sich wieder, und nur noch vereinzelte Bäume standen am Rande des bebauten Landes. Aber Lovel zog sich nicht in die Tiefe des Waldes zurück, wie er das vor ein paar Tagen getan hätte, sondern kroch näher und näher zum Waldrand, schwach dämmerte in ihm die Erinnerung an die Wärme von Hühnereiern herauf, und die Hoffnung erwachte, noch einmal ein solches Nest zu finden. Dann sah er plötzlich durch die Bäume ganz am Rande eines freien Feldes das rote Flackern eines Feuers und nahm den warmen vertrauten Geruch von Schweinen wahr. Er wußte nicht mehr recht, was er tat, aber getrieben von der Aussicht auf Wärme sammelte er seine letzten Kräfte und taumelte dem roten Flackern zwischen den Baumstämmen entgegen. Ein Hund begann wütend zu bellen, und zwei magere, haarige Körper rasten auf ihn zu. Dann lag er auf dem Rücken, von der Pfote eines Hundes auf seiner Brust niedergehalten - oder war es die Pfote eines Wolfes? -, über ihm ein keuchendes Maul und gefletschte Lippen über langen, weißen Zähnen. Und hinter diesem Ungeheuer ein zweites, bereit, ihm an die Gurgel zu springen. Er hörte den scharfen Ruf eines Mannes, rasche Schritte krachten durch das Unterholz, die Hunde wurden zur Seite gescheucht - Hunde also, keine Wölfe -, und ein Mann beugte sich über ihn, die Hände auf die Knie gestützt. Der Mann sagte etwas, was nach einer Frage klang, aber die Worte ergaben keinen Sinn. Lovels Kopf war nur erfüllt von einem hohen, wilden Brausen. Der Mann versuchte es noch einmal, lauter diesmal, aber noch immer drangen die Worte nicht zu Lovel durch. Er preßte sich gegen den Boden und schüttelte den Kopf. Die Welt hatte begonnen, sich im Kreise zu drehen. Er hörte den Mann fluchen, dann fühlte er sich von sehr starken Armen hochgehoben. Er hatte gerade noch Zeit zu bemerken, daß von dem Mann der gleiche penetrante Geruch wie von den Schweinen ausging, bevor das Wirbeln und Singen -17-
in seinem Kopf sich in eine Art rasend schnell rotierenden Trichter verwandelte und ihn hinabzog, tiefer und tiefer ins Dunkel.
Das nächste, was er wahrnahm, war der warme, rote Flammenschein des Feuers und der Geruch von Schweinen. Er lag regungslos, blinzelte in die Flammen, während nach und nach auch andere Dinge an Schärfe gewannen; der Schweinehirte selbst, der auf den Fersen kauerte und irgend etwas in einem Pfännchen umrührte, das zwischen den -18-
züngelnden Flammen stand; die Hunde, die jetzt nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit Wölfen hatten, lagen links und rechts von ihm und ließen ihre langen, rauhen Zungen aus dem Maul hängen; und hinter ihnen, zwischen den Baumstämmen, die runden, dunklen Schattengestalten der schlafenden Schweine. Er bewegte sich ein wenig, ganz vorsichtig, um die Welt nicht wieder in einen rasenden Taumel zu stürzen. Der Mann blickte sich um: »Besser, hm?« Lovel nickte. Vor diesem Mann empfand er keine Angst. »Hast Hunger, nehme ich an.« Lovel dachte über diese Frage einen Augenblick zweifelnd nach, dann nickte er wieder. Der Schweinehirte sah ihn sich genauer an. »Bist doch nicht etwa stumm, vielleicht nicht ganz richtig, so wie alles andere an dir?« Lovel konnte sich gerade noch zurückhalten, den Kopf zu schütteln. »Nein - ich - ich...« Seine Zunge fühlte sich so schwer an, als ob sie aus Holz wäre. »Nein, nicht stumm.« »Davongelaufen, was?« sagte der Mann scharfsinnig nach einer Weile. »Nein, ich - habe mich verlaufen.« Der Schweinehirte überhörte das. »So, wie du aussiehst, bist du schon ziemlich lange auf der Flucht. Ist nicht gut, weißt du, besser, du gehst zurück zu deinem Herrn und nimmst die Strafe auf dich, egal, wie sie ausfällt.« »Nein!« Lovel raffte sich mühsam zum Sitzen auf, die Welt über ihm geriet wieder ins Schwimmen und Kreisen. »Und du kannst mich nicht dazu bringen; ich sage dir einfach nicht, wo es ist!« »Schon gut, davon reden wir später«, beruhigte ihn der Schweinehirte, nahm das Pfännchen vom Feuer und goß etwas -19-
von dem dicken, klumpigen Brei in eine hölzerne Schüssel und schob sie Lovel hin. »Da, iß das erst mal, und heute nacht kannst du jedenfalls hier am Feuer schlafen.« Lovel schlürfte den warmen Brei, der wie alles in dieser Umgebung nach Schwein roch. Dann legte er sich wieder unter den alten Sack, den der Schweinehirte über ihn gebreitet hatte. Zuerst schlief er tief und fest, aber als die Nacht fortschritt, fing er an, sich herumzuwälzen und zu drehen, er wachte immer öfter auf, manchmal vor Hitze glühend, dann wieder zitternd vor Kälte, manchmal beides zugleich. Und als der Morgen anbrach, und sich Hunde, Schweine und der Hirte gleichzeitig erhoben, hatte er das eigenartige Gefühl, daß alles nur ein Traum sei, stärker denn je von ihm Besitz ergriffen, so daß Lovel nicht sicher war, ob er sich überhaupt hier befand. Der Schweinehirte war äußerst ungehalten. »Das ist ja eine schöne Bescherung!« brummte er. »Ich wollte dich jetzt laufenlassen - ich weiß, ich bin ein Narr - und jedem erzählen, der fragt, daß niemand auf diesem Weg gekommen ist. Aber du bist in so einem Zustand, daß du nicht im Wald rumlaufen kannst, würdest tot umfallen. Das sag' ich.« Lovel sagte nichts. Es war schon schwer genug, in diesem Traum auch nur geradeaus zu denken, geschweige denn zu streiten. »Na, nützt nichts, ich muß dich ins Kloster zu den heiligen Vätern bringen. Sollen sich um dich kümmern«, brummelte der Schweinehirte. »Und je eher, je besser.« Er überzeugte sich davon, daß das Feuer gelöscht war, und sprach zu den Hunden, als ob es menschliche Wesen wären. Er bat sie, auf die Schweine aufzupassen, die sich schon zerstreut hatten und eifrig schnüffelnd und grunzend nach Eicheln suchten. Er schärfte ihnen ein, sie ja nicht davonlaufen zu lassen, bis er zurückkomme, und wenn eines verlorengegangen sei, würde er ihnen die Schwänze ausreißen. Dann wandte er sich an Lovel: -20-
»Komm, auf jetzt kannst du gehen?« Lovel konnte, aber nur zu Anfang, denn der Waldboden mit seiner weichen, dunklen Decke aus vermodertem Laub fühlte sich unter seinen Füßen an, als ob er aus Nebel wäre. »Stütz dich auf, Kobold«, sagte der Schweinehirte nicht einmal unfreundlich und faßte ihn am Arm. Gestützt von dem harten Griff des Mannes, an seinem Arm vorwärts taumelnd, nahm Lovel schemenhaft wahr, daß sie den Schutz der Bäume verlassen hatten und einem Viehweg folgten, ähnlich demjenigen, der zwischen den Feldern außerhalb seines alten Dorfes lag. Doch dieser hier war nicht so steil und bestand aus Schlamm statt aus schlüpfrigem Kalk. Aber dann sackten plötzlich seine Beine unter ihm weg, er stolperte und fiel. Der Schweinehirte grunzte wie eine seiner Säue und hob ihn wieder auf. »Ach, auch gut, geht auf die Dauer schneller, wenn ich dich trage, will ich meinen, du wiegst ja nicht mehr als ein Antoniusferkel.« Lovel schloß die Augen; irgendwie ließ sich alles mit geschlossenen Augen besser ertragen, jetzt, da er nicht mehr auf den Weg achten mußte. Und eine Zeitlang war nichts als schwimmende Dunkelheit und das holpernde Wiegen des Getragenwerdens. Als er die Augen wieder öffnete, schleppte der Schweinehirte ihn gerade durch einen Torbogen mit gewölbter Decke und in einen Hof mit hohen Gebäuden - Lovel hatte noch nie so hohe Gebäude gesehen, besonders ein Turm fiel ihm auf, in der Mitte, der so hoch hinaufragte, als wolle er den Himmel auf seinen starken Schultern tragen. Eine Glocke ertönte von diesem hohen Turm herab, und der Widerhall schoß in seinem Kopf wie ein Schwärm von Schwalben umher. Und dann umgaben ihn Männer in schwarzen Kleidern, und einer von ihnen, einer mit einem freudlosen Gesicht, stellte ihm Fragen. Die Stimme des Mannes hatte einen trockenen und bröckligen Klang, wie trockene Äste. Aber Lovel konnte wegen der Glockentöne, die in seinem Kopf herumwirbelten, nicht -21-
verstehen, was er sagte. Endlich sprach der Mann ungeduldig mit einem anderen und ging weg. Dachbalken zwischen ihm und dem Himmel, er wurde niedergelegt - eine dicke, weiche Decke - etwas wie bittere Fleischbrühe in einer Tasse... Dann lange Zeit nichts mehr als der Traum.
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3. New Minster Eines Morgens erwachte Lovel mit völlig klarem Kopf, doch so schwach, daß er ihn kaum auf dem raschelnden strohgefüllten Kissen bewegen konnte, um sich umzuschauen und zu sehen, wo er war. Er lag in einem langen, schmalen, hallenähnlichen Raum mit weiß getünchten Wänden und hohen Fenstern. An der Längsseite standen hintereinander noch mehr Betten mit Strohsäcken darauf wie seines. Aber die anderen Betten waren alle leer. Etwa in der Hälfte öffnete sich der langgestreckte Raum zu einer kleinen Kapelle, wo im Morgenlicht Kerzen vor einem Altar und dem grün und karmesinrot und mattgolden schimmernden Bild eines Heiligen flackerten. Ein Mann in der schwarzen Kutte der Benediktinermönche kam aus der kleinen, schimmernden Kapelle und ging auf ihn zu. Nicht der hartgesichtige Mann, den er schon einmal gesehen hatte, sondern ein viel jüngerer, der oft in seinen Träumen vorgekommen war, klein und plump, und rosig wie eine Lichtnelke, mit hoffnungsvollem Gesichtsausdruck und einem Kranz von karottenroten Löckchen rund um den Kopf. Er beugte sich über Lovel, befühlte seine Stirn und nickte. »Äh, jetzt! Das ist besser! Viel besser! Das ist viel, viel, viel besser!« sagte er mit rascher, zirpender Stimme. »Überhaupt kein Fieber mehr. Gott grüß dich, mein Kind, jetzt, wo du zu uns zurückgekehrt bist.« Aber Lovel war verwirrt durch die fremde Umgebung und noch immer konfus von den langen, wirren Tagen und Nächten seines Traums, und so klammerte er sich an nur ein Wort, denn das war ein Wort, das ihn in tiefsten Schrecken versetzte. »Zurück? Bitte nicht! Schickt mich nicht zurück! Ich werde nicht zurückgehen, ich kann nicht!« Er versuchte sich -23-
aufzurichten, aber er war zu schwach und fiel auf das Kissen zurück. »Niemand schickt dich zurück«, sagte der kleine, dicke freundliche Mönch. »Nein, nein, nein, natürlich nicht! Nun lieg still, jetzt bekommst du etwas Haferschleim, und dann wirst du schlafen. Und durch Gottes Güte wirst du ganz gekräftigt wieder aufwachen. Ja, ja, stark genug, um Häuser umzuwerfen.« Und die panische Angst, die in Lovel aufgestiegen war, legte sich wieder und kroch dahin zurück, woher sie gekommen war. Er war schon beinahe eingeschlafen, als der kleine Mönch mit dem Haferschleim zurückkam. Er roch so gut, so heiß und milchig und als ob Honig drin wäre, daß ihm plötzlich das Wasser im Mund zusammenlief, und er merkte, daß er Hunger hatte. Gerade überlegte er, wie er es anstellen sollte, die Augen zu öffnen und aufzuwachen, als er spürte, daß noch jemand am Fußende seines Bettes stand und ihn ansah. Lovel hatte begriffen, daß er weder vor dem Schweinehirten noch vor dem kleinen Mönch Angst zu haben brauchte. Aber vor allen anderen Menschen, Männern, Frauen und Kindern, fürchtete er sich noch immer sehr. Sie waren die Steinwerfer, die Jäger auf seinen Fersen. Augenblicklich war er hellwach. Aber er lag ganz still und hielt seine Augen geschlossen, denn er konnte ja nicht davonlaufen. Vorgetäuschter Schlaf erschien ihm als die beste Tarnung. »Hier also, wenn er nicht wieder eingeschlafen ist!« zirpte der kleine Mönch sanft. »Armes Kind, armes Kind! Ich nehme an, Schlaf ist in seinem Zustand sogar noch besser als Haferschleim.« Der andere Mann sprach langsam und tonlos, und plötzlich erkannte Lovel die trockene, spröde Stimme. »Das war günstig, daß er in seinen Fieberträumen so freimütig erzählt hat. Wenn er so verängstigt ist, wie Ihr sagt, hätte er sich sonst womöglich überhaupt geweigert, uns zu sagen, woher er kommt, und ich -24-
kann mir vorstellen, daß wir ziemliche Schwierigkeiten gehabt hätten, das Gut ausfindig zu machen, zu dem er gehört.« Unter der Decke und in der Dunkelheit hinter seinen geschlossenen Lidern hielt Lovel den Atem an. Es war nicht mehr nur Vorsicht, die ihn Schlaf vortäuschen ließ, jetzt lag er tatsächlich wie erstarrt da, eiskalt vor Angst wie ein kleines, hilfloses Tier, wenn der Schatten des Habichts über ihm hängt. Wenn sie wußten, woher er kam, konnten sie ihn zurückschicken. Er war ein Dorfbewohner, an das Gut gebunden, nicht einmal so frei, daß er wegrennen konnte - und jetzt war er gefangen! Dann sagte sein kleiner, fetter Mönch: »Bruder Eustachius, seid Ihr ganz sicher, daß es nicht in Frage kommt, ihn zurückzuschicken?« »Mein lieber Bruder Peter.« Die Stimme des anderen Mannes klang vor Ungeduld noch spröder als zuvor. »Ich weiß es vom Vater Abt selbst. Sir Richard will ihn nicht wiederhaben - er ist so gut wie nutzlos, und die übrigen Dorfbewohner scheinen davon überzeugt, daß er den Teufelsblick hat, er würde also wirklich eine größere Belastung sein, als er wert ist. Sir Richard vertraut den Jungen unseren Händen an.« Dann, mit einem Ausbruch der Erbitterung: »Es ist wirklich wunderbar, wie die Welt jedes Haus Gottes als ein willkommenes Abstellbrett betrachtet, auf dem man die Lahmen und Einfältigen bequem aus dem Weg räumen kann.« »Nicht! Bitte nicht, Bruder Eustachius! Ich kann nicht ich kann es einfach nicht ertragen, wenn Ihr vorgebt, so herzlos zu sein...« Bruder Eustachius seufzte. »Für einen Krankenpfleger, wie auch für einen Arzt, gibt es zwei Wege. Der eine besteht darin, daß man mit jedem Kranken, den man pflegt, ein kleines bißchen des eigenen Lebens hinweggibt - das wird Euer Weg sein, wenn Ihr mein Nachfolger werdet. Der andere ist der, alles -25-
zu tun, was für die Kranken nötig ist, aber dennoch Abstand zu halten, während man es tut. Auf diese Weise bricht einem nicht das Herz. Das ist mein Weg, Bruder Peter, und ich glaube wirklich, die Kranken genesen bei mir genauso schnell und so oft wie bei Euch.« Seine Stimme klang so, als ob er sich entferne. »Es hat keinen Sinn, diesen Haferbrei hier zu lassen, er wird nur kalt werden. Bringt ihm später einen frischen.« »Haferbrei - ja, ja natürlich. Ihr habt vollkommen recht«, stammelte Bruder Peter abwesend. »Aber was das übrige anbelangt - ich glaube nicht, daß Gott mit Euch übereinstimmen würde - ich weiß, ich bin sehr dumm, aber ich weiß wirklich nicht...« Lovel lag regungslos und lauschte auf das Schlurfen ihrer Sandalen und auf Bruder Peters unglückliches Protestgezirpe, das allmählich in der Ferne erstarb. Er hatte keine Angst mehr, er war nur noch erfüllt von kaltem, grauem Elend. Von einer Einsamkeit, die die ganze Welt zu erfüllen schien und für nichts anderes Raum ließ. Und er war noch immer hungrig und hätte so gerne den Haferbrei mit Honig gehabt, den sie mitgenommen hatten. So blieb Lovel im Minster. Es war das Große Minster, das einst in der königlichen Stadt Winchester seinen Sitz gehabt hatte; bis der Abt und die Mönche und etwas, das die »Stiftung« genannt wurde, sich eine Meile außerhalb der Stadt begeben hatten in die schönen, neuen Gebäude, die noch nicht einmal jetzt ganz fertiggestellt waren. Die Leute nannten es New Minster. Wie Bruder Peter sagte, als er Lovel all dies erklärte, war allerdings nichts Neues daran. Das Leben des Klosters nahm ihn auf, bis es ihm manchmal gegen Ende des Winters schon schwerfiel, sich vorzustellen, daß er jemals ein anderes Leben gekannt hatte. Nur gelegentlich träumte er nachts von Gesichtern, die nur aus Augen und aufgerissenen Mündern bestanden und sich um ihn drängten. -26-
Dann hörte er auch das Pfeifen der Steine um seine Ohren. Er schlief in der langen Dachkammer oberhalb der Vorratsräume, wo auch die übrigen Dienstboten des Klosters schliefen. Jeden Morgen ging er mit ihnen und den Landarbeitern in die Messe, die eigens für sie zwischen der Prim und dem Frühstück der Mönche zelebriert wurde. Es wurde nie darüber gesprochen, ob er eigentlich einer der Dienstboten des Abts war, ob er zur Backstube gehöre oder zu den Ställen, dem Garten, der Brauerei oder zur Küche. Nichts, was ihn betraf, wurde jemals genau festgelegt. So hatte er keinen eigenen Platz und keine richtige Aufgabe innerhalb des Klosterlebens. Aber er gewöhnte sich an diesen Zustand und daran, auf Rufe von allen Seiten zu reagieren. »He, du! Komm und dreh den Bratspieß!« -»Miste den Schweinestall aus, Hinkefuß!« - »Geh und such diesen nichtsnutzigen Jehan und sage ihm, daß ich ihn brauche!« Die meiste Zeit war seine Welt der von Werkstätten, Vorratshäusern, Ställen, Küchen und Gästeunterkünften umrahmte große äußere Hof. Das Kloster hatte viele Gäste, denn auf der Straße von London, die am Tor vorüberführte, herrschte immer emsiges Leben. Leute kamen von Winchester oder gingen dorthin, besonders wenn der König hofhielt, oder zu der großen, etwa ein Dutzend Meilen entfernten Hafenstadt Southampton. Händler und Ritter, Seeleute und Bettler, fahrende Sänger, Pilger auf ihrem Weg nach Rom oder zurück. Die Bauarbeiter waren auch ständig am Werk. Sie vergrößerten die Ställe. Und an Festtagen strömten die Menschen aus dem ganzen umliegenden Land in die Kirche. Und oft kamen Leute meistens Sachsen, aber hie und da auch einer, der das normannische Französisch sprach, das bei Hofe gebräuchlich war -, um den wertvollsten Schatz des Minsters zu besuchen: das Grab vor dem Hochaltar, wo unter einer einfachen Platte aus Stein, in die ein Kreuz und die beiden Worte ALFREDUS REX eingraviert waren, König Alfred sich von all seinen Schlachten -27-
ausruhte. So nahm mit diesem und jenem das Hasten und Eilen im äußeren Hof kein Ende, solange das Tageslicht herrschte, bis Lovels Kopf manchmal zu brummen begann. Aber jenseits der hohen Türme, die zum inneren Kloster führten, wohin er selten kam, war es so still, daß das Schlurfen der Mönchssandalen schon fast wie Lärm wirkte. Die Brüder gingen schweigend aneinander vorüber, die Hände in den Ärmeln ihrer Kutten verborgen und mit niedergeschlagenen Augen. Nur vom nördlichen Teil des Klosters tönte das Murmeln der Novizen herüber, die ihre Lektionen wiederholten. Wenn Lovel vom Außenhof her durch diese Tür trat, war es ihm, als träte er von einer Welt in eine andere. Aber hoch über beiden Welten läutete die Glocke zur Morgenandacht, zur Laudatio, Vesper oder Prim. Ihr bronzener Ton fiel herab gleich einem Stein in einen Teich, die Wellenkreise weiteten sich tanzend und zitternd, bis sie sich wieder mit der Stille vereinten. Und der reine Ton widerhallte als Echo im tiefen Gregorianischen Choral zwischen den hohen, leeren Räumen der Klosterkirche, deren Türen nach beiden Welten hin geöffnet waren, denn sie gehörte beiden an. Eines Abends, kurz nach Lichtmeß, als der König in Winchester hofhielt, brach ein heftiger Sturm los, der eine Woge stechender Graupelkörner vor sich hertrieb. In der vom Herdfeuer hell erleuchteten Klosterküche sagte einer der Köche, der gerade Fenchel in den Mörser gab, der dem Fisch für den nächsten Tag die richtige Würze verleihen sollte: »Der Himmel stehe jedem Reisenden bei, der heute abend unterwegs ist!« Er hatte noch kaum zu Ende gesprochen, da ließ das Brausen des Windes für einen Augenblick nach, und sie alle hörten in der plötzlichen Stille den Hufschlag eines Pferdes und den Widerhall im Gewölbe des Torbogens. Dann brach der Sturm wieder mit voller Gewalt los und verschluckte alle Geräusche -28-
von draußen. Die Dienstboten sahen einander im roten Schein des Feuers an. »Einer für uns oder einer fürs Hospital?« fragte jemand. Denn die Pilger und die ärmsten der Reisenden wurden im großen, kahlen Hospital neben dem Tor untergebracht, wo Bruder Dominikus, der Krankenpfleger, sich um sie kümmerte, während die Ritter und Kaufleute in die Gästezimmer gebracht und vom Personal des Abts bedient wurden. Die ganz großen Herren gar wurden vom Abt persönlich eingeladen, bei ihm in seinen eigenen Räumen zu wohnen. Kurze Zeit später kam der Haushofmeister des Abtes aus dessen Gemächern und sah sich unter den Köchen, Spülern und dem Tischpersonal um, die alle unter den wachsamen Augen des Küchenchefs sehr eifrig arbeiteten. »Bringt Lichter und Feuerholz ins Nazareth-Zimmer hinauf; das ist bei diesem Wind noch das am wenigsten zugige Zimmer des Gästebaus. Auch etwas zu essen, wenn ihr damit soweit seid, vom Besten, was wir haben. Der Sturm hat uns einen Gast hergeblasen.« Als er gegangen war, sagte der Küchenchef: »Und keinen, an dem Seine Hoheit und Majestät besonderen Gefallen findet, dem Gesichtsausdruck nach zu schließen. Sauer wie Weinessig!« Er blickte in die Runde, um zu sehen, wer im Moment am wenigsten zu tun hatte, und sein Auge fiel auf Lovel, der gerade mit der großen Kanne voll Bier aus dem Brauhaus zurückgekommen war und jetzt darauf wartete, daß ihm jemand sagte, was er als nächstes tun solle. »He, du, Hinkebein! Geh und hole Holz und bring's in das Nazareth-Zimmer hinauf; und nimm ja trockene Prügel und nicht wieder von dem Stoß, der noch grün ist, wie das letzte Mal!« Lovel duckte sich wieder hinaus in die wilde Nacht, wo der Wind über den weiten Hofplatz fegte, als sei er ein lebendes Wesen. Es war schon dämmrig, und der hohe Turm der -29-
Klosterkirche verlor sich im Graupeltreiben. Ein Reitpferd und ein noch schwer beladenes Lastpony wurden gerade in den Stall geführt, als er sich zu dem Holzschuppen durchkämpfte. Und im Licht der blakenden Stallaterne sah er, daß es ein gutes Pferd war, kastanienrot, mit den Bewegungen eines Renners. Es war ein Pferd, wie es Ritter reiten, wenn sie auf Reisen sind. Soviel hatte er schon gelernt, seit er im Kloster war. Das tiefgezogene, strohgedeckte Dach des Holzschuppens und das Geranke aus Buschwerk, das die Hälfte der offenen Seite verdeckte, hielten den Hauptansturm des Graupelschauers ab, er fand den Holzstoß mit den trockenen Prügeln und breitete das große Tragtuch aus Sackleinwand auf dem Boden aus und schichtete so viele Holzscheite darauf, wie er glaubte, tragen zu können. Dann raffte er die Enden zusammen und ging mit dem Bündel hinaus. Als er seine schwere Last über den Vorhof schleppte, sah er den Fackelschein im Fenster des Nazareth-Zimmers. Das Nazareth-Zimmer und die Räume des Abtes hatten richtiges Glas in den Fenstern, wie die Kirche, nur nicht gefärbt. So mußten die Fensterläden nicht geschlossen werden, um den Wind abzuhalten. Lovel fragte sich, wer wohl da drinnen sein mochte, ein reicher Kaufmann mit bestickter Seide aus Byzanz? Ein Ritter in regenrostiger Rüstung, auf dem Heimweg von einem Krieg in fernen Ländern? Im Eingang zum Gästetrakt begegnete ihm Jehan, der älteste und größte der Tellerwäscher, und nahm ihm das Bündel Holz weg. »Das wird nicht genügen, du Mondkalb! Geh und hol mehr!« Lovel ging über den Hofraum zurück. In dem von der Laterne erleuchteten Stall wurde eben das Pferd trockengerieben, während das Lastpony wartete, bis es an die Reihe kam. Er bog von dem Weg zum Holzschuppen ab und blickte in den Stall. Harding, der alte, ausgediente Soldat, der die Pferde des Klosters betreute, war sein Freund, und ebenso Valiant, der -30-
große Bastardhund. Valiant tapste jetzt herüber, um seine Schnauze zur Begrüßung in Lovels Hand zu schmiegen, und Harding sah von seiner Arbeit auf und grinste: »Das ist eine Schönheit, was?« Lovel nickte. Er sah das Pferdegeschirr, das eben abgenommen worden war und über der Futterkrippe hing. Mit Sicherheit war es nicht das Geschirr eines Pferdes, das einem Ritter gehörte, denn es war mit kleinen Glocken behängt. »Wer ist es?« fragte er. »Unser Gast? Na, Rahere.« »Rahere?« »Oh, freilich, du kennst ihn ja nicht; er war das letzte Mal hier, lange bevor du kamst. Rahere, der Hofnarr des Königs. Man sagt, er ist eigentlich mehr ein Spielmann, das ist ein Rang höher. Und dann sagen noch welche, er ist nur einer, der als Verrückter geboren wurde und den König zum Lachen bringt. Aber wenn du mich fragst, er hat zuviel Pferdeverstand, um ein Narr zu sein.« Dann pfiff er wieder durch die Zähne und fuhr fort, die dampfenden, glänzenden Flanken des kastanienbraunen Pferdes mit einem Bündel Heu abzureiben. Lovel ging weg und holte die Holzscheite. Soviel er nur tragen konnte, schichtete er sich auf die Arme. Jehan hatte das Tragtuch behalten, so mußte es eben ohne gehen. Dann setzte er sich noch einmal in Richtung auf das erleuchtete Fenster des Nazareth-Zimmers in Bewegung. Wieder fing ihn Jehan unter der Türe ab. »Was glaubst du, was du tun sollst? Du warst ja die ganze Nacht weg, Hinkebein!« Und dann, ohne auf eine Antwort zu warten: »Schon gut, gib mir das Holz und geh in die Küche zurück.« Lovel wollte widersprechen. Er hatte das schwere Holz geschleppt, und jetzt sollte er um den Anblick des königlichen Hofnarren betrogen werden. »Der Hofnarr des Königs«, die -31-
Worte sangen in seinem Kopf. Niemals ließ man ihn etwas Interessantes tun oder sehen! Aber Jehan hatte ihm die Holzscheite schon weggenommen und schlug ihm die schwere Tür vor der Nase zu. Wie er so im Finstern und im Graupelwirbel draußen stand, vor sich die glatte, gefühllose Türe, erhob sich in Lovels Brust ein jähes Feuer der Revolte, und ganz plötzlich erschien es ihm wichtiger als alles andere auf der Welt, daß er diesen Rahere, des Königs Hofnarr, sah. Auf ganz sonderbare Weise, die er nicht verstand, und ganz gewiß hatte er nicht die Zeit, darüber nachzudenken, war es, als ob er sich für den Rest seines Lebens damit abfinden würde, daß ihm immer wieder Türen ins Gesicht geschlagen würden, wenn er sich jetzt nicht durchsetzte. Es war ihm genug Verstand geblieben, daß er sich sagte, es habe keinen Sinn, nur einfach die Türe wieder aufzustoßen und hineinzugehen. Er würde nur in Jehan hineinrennen, etwas über den Kopf kriegen und hinausgeworfen werden, bevor er auch nur den leisesten Schimmer von diesem Rahere gesehen hatte. So versuchte er es bei dem erleuchteten Fenster. Aber die tiefe Fensterbrüstung befand sich zu hoch über seinem Kopf, und es gelang ihm nicht, sich hinaufzuziehen. So blieb also doch nur die Türe - aber nicht, bevor Jehan gegangen war. Er schlüpfte in die Ecke hinter einem Strebepfeiler und duckte sich. Es war kein sehr gutes Versteck, aber da es jetzt beinahe ganz dunkel war und jeder, der hier vorbeiging, es eilig haben würde und den Kopf zum Schutz gegen die Graupelschauer tief gesenkt hielt, konnte er unbemerkt bleiben. Es war bitterkalt, und er begann von Kopf bis Fuß zu zittern, aber glücklicherweise brauchte er nicht lange zu warten, bis sich die Tür öffnete und wieder schloß. Jehan kam heraus, klimperte mit Münzen in der Hand und verschwand im Küchengebäude. Jetzt! Wenn er es überhaupt tun wollte, mußte es jetzt geschehen, bevor andere Leute mit dem Wasser hereinkamen, damit der Gast die Hände waschen konnte, oder mit den Tischtüchern. Sie konnten jeden -32-
Moment kommen! Lovel stolperte aus seinem Versteck auf die Tür zu, öffnete sie und schlüpfte hinein. Es gelang ihm sogar, sie wieder zu schließen, ohne daß der Wind sie ihm aus der Hand riß und zuknallte. Nach dem Sturm draußen erschien es ihm hier warm, ruhig und friedlich. Eine brennende Fackel, die in einem Wandhalter steckte, zeigte ihm zu seiner Rechten drei oder vier Stufen, die zu einer Art Gruft führten, und zu seiner Linken eine Reihe weiterer Stufen, die hinaufführten zu einem schmalen Gang. Und genau da, wo sich der Gang in der Dunkelheit verlor, stand eine Tür halb offen, die Tür des Nazareth-Zimmers war nur angelehnt und ließ einen breiten Lichtstreifen heraus, der Schatten an die gegenüberliegende Wand warf. Und sie ließ auch das Schnattern und Flüstern und sanfte Flötentöne eines Stars herausdringen. Rahere mußte einen zahmen Vogel da drin haben. Und wie Lovel so schaute und lauschte, flatterte ein langbeiniger, phantastischer Schatten an der Fackel im Wandhalter vorüber und verschwand. Lovel hatte plötzlich Angst. Das alles kam ihm wie der Beginn eines Traumes vor; und bei Träumen war man niemals ganz sicher. Aber er dachte nicht im mindesten daran, umzukehren. Er schlich die Stufen hinauf, erreichte die Türe, ohne ein Geräusch zu machen, und zwängte seinen Kopf weit genug hindurch, um mit einem Auge in den Raum spähen zu können. Er konnte das Ende eines mit dunkelfarbigem Stoff verhängten Bettes sehen; ein nasser, pelzbesetzter Mantel lag quer darüber und eine Kappe mit einem Buschen von Spielhahnfedern, die von einer juwelenbesetzten Schnalle gehalten wurden. Er wagte sich ein bißchen weiter vor und bemerkte einen geöffneten Packen, aus dem ein Paar Schuhe mit modisch gekräuselten Spitzen und verschiedene andere Kleidungsstücke auf den Fußboden quollen. Neben dem Ofen stand ein Paar von der Nässe durchweichter Reitstiefel. Der Star -33-
zwitscherte noch immer, aber sowohl er als auch der Hofnarr des Königs waren ihm durch die Türe verdeckt. Er stieß sie ein wenig weiter auf und dann noch einmal um die Breite eines Daumennagels. Der Hofnarr des Königs stand in der Fensternische und blickte hinaus in das stürmische Dunkel, wo kaum etwas zu sehen war außer dem silbergrauen Geriesel in der Schwärze jenseits der sich spiegelnden Fackeln. Und er pfiff wie ein Star unter der Dachtraufe.
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4. Der Hofnarr des Königs Raheres Rücken war lang und schlank, die ganze Gestalt rabenschwarz von Kopf bis Fuß. Dunkles Haar wirkte durch die nassen Spitzen noch dunkler; die langärmlige Tunika aus wundervollem schwarzem Tuch, mit Glanzpunkten von dunklem Gold hier und da, geschürzt durch einen Reitgürtel; lange, knochige Beine in enganliegenden Hosen. Dort, wo die weiten Ärmel zurückfielen, zeigten die engen Ärmel seiner Untertunika ein wunderschönes, tief leuchtendes Grün. Für Lovel war es die schönste Farbe, die er jemals gesehen hatte. Die vollkommene Farbe für des Königs Hofnarr. Der Mann im Fenstererker hörte auf zu pfeifen und sagte, ohne sich zu bewegen: »Komm doch herein, Bruder.« Für einen Augenblick erstarrte Lovel. Aber die Stimme hatte nicht ärgerlich geklungen, nur leicht belustigt. Und so tat er denn einen tiefen Atemzug und trat ein. »Und schließe bloß die Tür hinter dir! Hier zieht's, daß es einen Mann so fein säuberlich in der Mitte auseinanderreißen kann wie einen gepökelten Hering.« Lovel schloß die Türe sorgfältig und stand mit dem Rücken dagegen, als Rahere sich vom Fenster abwandte. Er hatte ein langes, blauschattiges Kinn, glatt rasiert wie das eines Mönchs. Und seine Augen in der Dunkelheit seines Gesichtes waren die grauesten und zugleich strahlendsten, die Lovel je gesehen hatte. Rahere fuhr in demselben, leicht spöttischen Ton fort: »Wenn du das nächste Mal irgend jemanden beobachten willst, denke daran, daß ein Fenster mit Glasscheiben nach Einbruch der Dunkelheit, wenn die Fackeln brennen, einen großartigen Spiegel abgibt.« »Ich habe Euch nicht beobachtet«, sagte Lovel. »Jehan nahm -35-
mir die Holzscheite weg, die ich für das Feuer brachte, und befahl mir, in die Küche zurückzugehen, und ich wollte doch... Sie sagten, Ihr wärt des Königs Hofnarr...« »Und da du noch niemals einen Hofnarren gesehen hast, ebensowenig wie ein Einhorn oder einen Äthiopier mit Phönixfedern im Haar, wolltest du mich sehen. Und sie irren sich alle. Oh, sie irren sich ganz jämmerlich. Ich bin des Königs Nichts. Ich verbringe viel meiner Zeit bei Hofe; ich tue mein Bestes, aber nicht einmal ich kann unseren Henry die ganze Zeit ertragen.« Lovel starrte mit offenem Mund und ehrfürchtigem Entzücken auf diesen verrückten und wundervollen Mann mit dem Gesicht eines Mönchs und der kühlen spöttischen Stimme, mit den langen Beinen, die denen einer Krähe glichen, der zwar Englisch sprach, aber so außergewöhnliche und unbegreifliche Wörter benützte, daß vieles davon ihm so unverständlich war wie das normannische Französisch, das die meisten der Ritter sprachen und die wohlhabenden Reisenden, die hier vorbeikamen, und einige der Brüder, wenn sie unter sich waren. Und der den König von England »unseren Henry« nannte und ihn nicht die ganze Zeit ertragen konnte, ganz als ob er ein gewöhnlicher Mensch wäre. Plötzlich lächelte Rahere: »Ach was, Hofnarr oder nicht, da siehst du mich also vor dir stehen. Aber Gerechtigkeit muß sein. Komm weiter ins Licht, daß ich dich auch sehen kann, Bruder.« Lovel zögerte einen Augenblick. Aber Gerechtigkeit muß sein. Er atmete tief, wie er es immer vor jeder Schwierigkeit tat, und hinkte vorwärts, hielt sich jedoch so aufrecht er nur konnte. Und den ganzen Weg beobachteten ihn die strahlenden Augen Raheres. »So, das ist schon ganz was anderes«, sagte Rahere. »Ich liebe es, die Gesichter der Menschen zu sehen, mit denen ich spreche. Und auch ihre Namen zu wissen. Wie nennt man dich?« -36-
»Meistens Hinkebein«, sagte Lovel. Rahere setzte sich in den geschnitzten Stuhl neben dem Ofen und schlug eines seiner langen schwarzen Beine über die Armlehne. In der Fußspitze seiner Strumpfhose war ein Loch. »Nicht sehr einfallsreich«, sagte er. »Und macht es dir etwas aus?« Lovel nickte. »Denke daran, daß mehr als die Hälfte aller Menschen Narren sind«, tröstete ihn Rahere. »Aber denke auch daran, daß sie nichts dafür können. Und hüte dich davor, deshalb stolz zu werden; es besteht immer die Möglichkeit, daß wir selbst die größten Narren von allen sind. Ich zum Beispiel, weil ich meine Zeit damit verbringe, mir witzige Redensarten auszudenken und Lieder zu erfinden, um einen Narren unter einer Krone und seine dummen Barone zu amüsieren...« Er fixierte Lovel mit einem gequälten Blick. »Weißt du, wenn ich so tue, als ob ich über meine eigenen Füße falle, oder wenn ich einem das Kissen wegziehe, der sich gerade hinsetzen will, lachen alle übrigen schon. Du zum Beispiel, weil du dich kränkst, Hinkebein genannt zu werden. - Wie ist dein richtiger Name?« »Lovel.« »Und du bist einer von den Dienern des Abts, Lovel?« Lovel schwieg einen Augenblick, denn er wußte nicht recht, was er antworten sollte. Dann sagte er: »Eigentlich nicht. Ich bin eigentlich überhaupt nichts, ich laufe nur und bringe Sachen, trage sie weg und mache alle die langweiligen Arbeiten, die sonst niemand tun will.« Er beklagte sich nicht, er versuchte nur, die Wahrheit zu sagen. »Ich bin sonst für nichts nütze, wißt Ihr«, fügte er als Erklärung hinzu. »Hat dir das jemand gesagt?« fragte Rahere. Lovel stand da und rieb einen Fuß mit dem anderen und erzählte von dem Morgen, als er aus seinem Traum erwacht war und Bruder Peter und Bruder Eustachius miteinander reden -37-
gehört hatte. »Sie dachten, ich schliefe noch«, sagte er. »Aber sie täuschten sich.« Der Hofnarr saß da und sah ihn nachdenklich an, den Kopf leicht zur Seite geneigt. Dann sagte er: »Ich habe so ein komisches Gefühl, daß sie sich auch in dem anderen Punkt getäuscht haben.« Über die kleine Treppe kamen Schritte, die Tür wurde geöffnet, und der Haushofmeister erschien auf der Schwelle, gefolgt von Dienern, die Leinen und Silber trugen, warmes Wasser und Handtücher. Er sah Lovel und gab ein Krächzen von sich wie eine verstörte Henne. »Du! Und was hast du hier zu suchen? Weg mit dir in die Küche, wo du hingehörst! Meister Rahere, ich erbitte Eure Vergebung, daß dieser unselige Junge Euch gestört hat.« Lovel, der das Gefühl hatte, als falle alles Strahlende um ihn herum ab wie welkes Laub, wandte sich zur Türe. Aber Raheres Stimme hielt ihn sofort zurück. »Warte, Lovel«, und als der Junge zögerte, nahm er das lange, schwarzbehoste Bein von der Armlehne des Stuhles herunter, bewegte seinen großen Zeh durch das Loch hindurch vor dem Haushofmeister hin und her, wie jemand anderer einen Mahnfinger erheben würde, und setzte sich auf. »Ich sah den Bengel vom Fenster aus und rief ihn herein, weil ich gerade Lust hatte, mich mit jemandem zu unterhalten.« »Wenn Ihr den Wunsch nach Unterhaltung habt, so bin ich sicher, einer der Patres...«, begann der Haushofmeister. »Oh nein, ich wollte keine Konversation«, seufzte Rahere. »Ich wollte nur jemanden, mit dem ich reden kann. Ihr wißt ja, was für ein launenhafter Mensch ich bin. Zum Beispiel hat sich eben jetzt eine neue Laune in mir auf getan wie die Hülse einer Stechginsterblüte - Peng! -, daß nämlich das Balg hierbleibt und mich bei Tisch bedient, während Ihr, nachdem Ihr mir etwas zu essen und Wein gebracht habt, damit ich von diesem feinen weißen Linnen speisen und aus diesem feinen silbernen Becher -38-
trinken kann, Euch still an Euren Platz zurückzieht und Eure Zeit mit frommer Meditation verbringt.« »Aber - aber, Meister Rahere, der Junge versteht von diesen Dingen nichts...« »Dann werde ich es ihm beibringen«, sagte Rahere. So blieb Lovel also und bediente Rahere sehr ehrfürchtig und sorgfältig, tat seltsame und schwierige Dinge mit Schüsseln und Salzfäßchen und sauberen Leinen-Servietten, genau wie der Hofnarr des Königs ihm gebot. Und die ganze Zeit über, während er sich darauf konzentrierte, nichts zu verschütten, grübelte er im stillen über die erstaunliche Tatsache nach, daß Rahere ihn »das Balg« genannt hatte, ohne daß das Pfeifen von Steinen in seinen Ohren zu hören war. Es hatte ihm überhaupt nichts ausgemacht. Vielleicht kam es nicht darauf an, was die Leute einem für Namen gaben, sondern wie sie es meinten. Als das Mahl beendet war, lehnte sich Rahere in dem geschnitzten Sessel zurück, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und lächelte ihn aus der Tiefe seines geheimnisvollen Gesichtes an. »Wenn ich der König wäre, hätte ich vielleicht ein reichhaltigeres Mahl gehabt, aber ich könnte mir keinen besseren Pagen wünschen, um mich bei Tisch zu bedienen.« Lovel sagte eifrig: »Ich wünschte, Ihr wäret der König!« Und dann übergoß ihn dunkle Röte, denn die Worte waren gesprochen, bevor er es wußte, und er konnte nur noch verhindern, daß er weitersprach: »Und ich wünschte, ich wäre Euer Page.« »Oh, das wünschte ich nicht«, sagte Rahere und lachte. Und aller Eifer erlosch in Lovel wie eine erstickte Kerzenflamme. Und er dachte: ›Nein, und du würdest auch keinen Pagen wie mich wollen, wenn du der König wärst. Es war nur eine Art Ulk von dir.‹ Aber diesmal sagte er es nicht laut. -39-
Doch Rahere streckte seine Hände aus, die groß und knochig waren wie alles an ihm, und berührte Lovels Schultern mit seinen langen Fingern, die bucklige Schulter und die gesunde, so daß es in diesem Augenblick schien, als bestehe kein Unterschied zwischen beiden. »Weißt du, Bengel, beinahe wäre ich weitergeritten, um den König heute abend in Winchester zu treffen, trotz des Sturms. Doch Bayard schüttelt immer seine Ohren, wenn sie naß sind – flip-flap-flip-flap -, eine höchst lästige Gewohnheit. Und als ich das Tor des Klosters sah, wußte ich, daß ich das nicht eine Minute länger ertragen könnte. So kehrte ich ein, um Schutz zu suchen, und fand dich, wie du mich durch den Türspalt ansahst. Das Schicksal ist eine feine Sache, kleiner Bruder Lovel! Wenn ich einmal hierher zurückkomme und dich hier herauspfeife, würdest du kommen?« Lovel versuchte zu sprechen, aber er konnte nicht. Er hatte wider seinen Willen Dinge gesagt, und jetzt, da er verzweifelt wünschte, sprechen zu können, brachte er kein Wort heraus. Er nickte und nickte, tief und heftig, und hoffte, Rahere würde ihn verstehen. Und dann begann hoch oben in der sturmerfüllten Dunkelheit die Glocke im Klosterturm zur Compline zu läuten. Rahere stand auf und griff nach den noch immer feuchten Schuhen. Die strahlende Stunde war vorüber. Am nächsten Morgen, als er mit den anderen Dienstboten des Klosters während der Messe in der großen Kirche kniete, hörte Lovel in der Stille, die dem Sturm gefolgt war, und über Bruder Barnabas' dröhnende Stimme hinweg Hufgeklapper unter dem Torbogen, das sich entfernte und die Straße hinauf immer schwächer wurde. Wider alle Vernunft hatte er gehofft, Rahere noch einmal zu sehen, wenigstens aus der Ferne. Aber Rahere war fort, und zurückgeblieben war nur eine große Leere. Lovel versuchte sich immer wieder damit zu trösten, daß Rahere früher schon -40-
dagewesen sei und bestimmt eines schönen Tages wiederkommen würde. Aber alles, was er in diesem Augenblick mit Sicherheit wußte, war, daß Rahere gegangen war und vielleicht jetzt schon vergessen hatte, daß er ihm letzte Nacht gesagt hatte, er würde eines Tages nach ihm pfeifen. Sein Gesicht schmerzte an der Stelle, wo Jehan ihn gekniffen hatte, um ihn zu lehren, keine hochfliegenden Gedanken zu haben, und sein Knie begann zu schmerzen wie immer, wenn er zu lange darauf kniete. Er erhob sich und versuchte, eine bequemere Stellung zu finden. Dabei konnte er zwischen den beiden vor ihm knienden Männern einen Blick auf den Hochaltar werfen, der aus dem Schatten heraus golden schimmerte. Er konnte die große Steinplatte nicht sehen, die in den Boden vor dem Altar eingelassen war, aber immer, wenn er den Altar sah, dachte er an diese Platte, in die ein Kreuz und die Worte eingemeißelt waren, die Bruder Anselm, der Vorsänger, ihm einmal vorgelesen hatte: Alfredus Rex. Bruder Godwyne, der älteste aller Mönche des Klosters, der es liebte, die Aussprüche König Alfreds jedem zu zitieren, der ihm zuhörte, hatte ihm einmal eines der Worte des Königs gesagt, das er zwei Minuten später bereits wieder vergessen hatte, aber jetzt fiel es ihm wieder ein: »Wenn du einen Kummer hast, vertraue ihn deinem Sattelbogen an und reite singend weiter.« ›König Alfred mußte gewußt haben, wie es ist, sich innerlich kalt und verlassen zu fühlen‹, dachte Lovel, ›sonst hätte er so etwas nicht sagen können.‹ Und plötzlich fühlte er sich dem Sachsenkönig, der da unter seinem Stein schlief, sehr verbunden. Lovel besaß keinen Sattelbogen, und er konnte auch kein Lied anstimmen. Aber er streckte seine Zunge vor und fing eine salzig schmeckende Träne auf, die ihm von der Nasenspitze tropfte. Und als die Messe vorüber war, ging er, um Brennholz für die Backstube zu hacken. -41-
5. Valiant Die nächste bedeutende Station in Lovels Leben war, daß er lesen lernte. Bruder Anselm, der Vorsänger, der sowohl für die Bibliothek des Klosters verantwortlich war wie auch für die Kirchenmusik, überraschte ihn eines Tages, als er sich ein Buch über Pflanzen ansah, das in einem der Bibliotheksräume offen liegengeblieben war, wo Lovel eigentlich den Boden fegen sollte. Bruder Anselm fragte ihn, ob er die Pflanze kenne, die auf dieser Seite abgebildet war. »Schmerwurz«, sagte Lovel. »Das ist gut bei frischen Wunden und zur Heilung von Brüchen.« »Und wer hat dir das gesagt?« »Meine Großmutter. Sie verstand sehr viel von Heilkräutern. Es ist wunderbar, man kann erkennen, daß das Schmerwurz ist, wenn man nur das Bild anschaut. Aber steht da unten, wo diese Worte geschrieben sind, auch, daß es eine Heilpflanze ist?« Bruder Anselm sah ihn einen Moment aus alten, müden blauen Augen an, die einst die Farbe von Meereswellen gehabt haben mochten, bevor sie verblaßten. »Möchtest du alles wissen, was da geschrieben steht?« Lovel nickte, denn er war plötzlich zu schüchtern, um zu sagen, wie sehr er sich das wünschte. Und der Vorsänger las ihm vor. Dann blätterte er in dem Buch, zeigte ihm andere Seiten und andere Bilder, alle wunderhübsch und liebevoll mit braunschwarzer Tinte auf cremefarbenes Pergament gemalt von einem Mönch, der gestorben war, lange bevor das Kloster vor die Mauern von Winchester verlegt wurde. Einige davon kannte Lovel aus dem Kräutergarten seiner Großmutter. Er hatte ihr bei der Pflege geholfen; manche davon waren die wildwachsenden -42-
Pflanzen, die sie in ihrem Weidenkorb von den Wäldern und den Hügeln heimgebracht hatte. Einige waren ihm fremd. Aber als er Bruder Anselm bat, ihm vorzulesen, was die Worte darunter bedeuteten, sagte der alte Mann, wenn er wissen wolle, was die Worte bedeuten, müsse er lernen, selbst zu lesen. Er werde ihn unterrichten.
Sie waren ganz vertieft, als Bruder Eustachius, der Krankenpfleger, hereinkam, um das Buch, das er offengelassen hatte, als er zu einem kranken Mönch gerufen wurde, an eine geschützte Stelle zurückzulegen. Bruder Anselm sagte: »Bruder Eustachius, glaubt Ihr, Bruder John könnte eine Hilfe im Kräutergarten brauchen?« »Weshalb?« fragte Bruder Eustachius ohne großes Interesse. -43-
Und dann wurde seine Stimme plötzlich noch schärfer und kälter als gewöhnlich: »Ihr habt den Jungen doch nicht etwa das Buch berühren lassen? Seine Hände sind schmutzig.« Bruder Anselm sagte sehr sanft: »Lieber Bruder Eustachius, die Kranken dieses Klosters sind Euer Bereich, die Bücher sind der meine. Wie viele Jahre bist du schon bei uns, Lovel?« »Mehr als zwei Jahre, Pater.« »So lange? Seit zwei Jahren waren wir blind und dumm, Bruder Eustachius, wir haben keinen Gebrauch gemacht von den besonderen Gaben dieses Jungen. Wir haben uns nicht einmal die Mühe gemacht, herauszufinden, daß er welche hat.« »Und hat er denn welche?« Bruder Eustachius hob die Augenbrauen. »Er weiß beinahe ebensoviel über Heilpflanzen wie Bruder John selbst, und er kennt Eure eigene Kur gegen die Kolik, und« - ein leichter Spott flackerte in der Stimme des Vorsängers auf »einiges, wovon ich sehr zweifle, ob Ihr das jemals versucht habt.« »Das glaube ich gerne«, sagte der Krankenpfleger. Aber der Bruder Vorsänger war nicht von seiner Idee abzubringen, nicht einmal von Bruder John selbst, der klein und pfiffig war und keineswegs sicher, daß er einen neuen Gehilfen wollte, der seine geliebten Kräuter für Unkraut halten und ausreißen würde. Doch innerhalb weniger Tage war es damit vorbei, daß Lovel für jedermann zur Verfügung stand, er wurde nicht mehr herumgeschickt und abkommandiert, er war Bruder Johns Hilfe im Pflanzengarten geworden und hatte endlich einen eigenen Platz innerhalb des Klosterlebens. Vor achthundert Jahren zählten die meisten Pflanzen zu den Heilkräutern und waren alle auf die eine oder andere Weise zu irgend etwas nütze, und deshalb war der Heilkräutergarten auch ein Garten der Blumen, ein wunderschöner Garten obendrein, obwohl die Blumen nicht ihrer Schönheit wegen gepflanzt -44-
wurden. Schlanker, langstieliger Fingerhut blühte im Schatten eines Holunderbaums, Immergrün und Robertkraut, das zum Reinigen der Wunden verwendet wurde, teilten ein Beet mit dem weißen Mohn, der von den ersten Kreuzfahrern nach England gebracht worden war. Es gab Rosmarin gegen Kopfschmerzen, Skabiosen und blauen Storchschnabel, weißgesternten Knoblauch, Scharbockskraut für schmerzende Augen und Kamille, die für ruhigen Schlaf sorgte, weiße oder purpurrote Schmerwurz, die ein wirksames Mittel bei Knochenbrüchen war. Lovel fühlte sich glücklich, dort arbeiten zu können, weit weg von der Hast und der Unruhe der Küchen und des äußeren Hofes. Er hatte Zeit, lesen zu lernen, und das Leben war jetzt viel friedlicher, außer gelegentlichen Fällen wie dem, wo er eine Schafgarbe mit der Wurzel brachte und einpflanzte, von der seine Großmutter immer gesagt hatte, sie sei sogar ein noch besseres Wundkraut als Diptam. Bruder John sagte, Schafgarbe sei ein Teufelszeug und es sei nicht schwer zu erkennen, was Lovels Großmutter für eine gewesen sei. Er riß die Wurzel aus und warf sie Lovel an den Kopf. In dieser Nacht träumte Lovel, was er schon lange Zeit nicht mehr getan hatte, von den Gesichtern, die nur Augen und Münder waren, und von den Steinen, die ihm um die Ohren pfiffen. Aber nach einer Weile verstanden er und Bruder John sich recht gut. Und so arbeitete er weiterhin die meiste Zeit im Garten und lernte alles über die Pflanzen, die er pflegte, aus dem großen Buch in der Bibliothek. Und bald begann der kleine dicke Bruder Peter und zuweilen sogar Bruder Eustachius, der Pater Krankenpfleger selbst, ihn in den Destillationsraum des Krankenhauses zu rufen, um dort Dinge zu tun, die zwar zeitraubend waren, aber keine besondere Geschicklichkeit erforderten und trotzdem nicht jedermann übertragen werden konnten, der nicht wußte, worauf es ankam. Er zerhackte Wurzeln, zerstieß Blätter in einem Mörser und -45-
beobachtete das Brodeln seltsamer Mixturen, die er im richtigen Augenblick vom Feuer nehmen mußte. Es gab immer eine Menge solcher Dinge zu tun, denn Bruder Eustachius verarztete nicht nur die Brüder und die Dienerschaft des Klosters, sondern auch Leute aus der ganzen Umgebung. Und obwohl er sich dessen gar nicht bewußt war, erwachten zu dieser Zeit in Lovel die alte Weisheit und die alten Erfahrungen, die er von seiner Großmutter ererbt hatte, mehr und mehr: der grüne Daumen, der eine Pflanze dazu bringen konnte, zu blühen und ihr Bestes zu geben, die eigenartige Macht der Hände auf kranken oder verletzten Körpern. Ungefähr ein Jahr nachdem er die Arbeit im Pflanzengarten begonnen hatte, bekam Lovel seinen ersten Patienten. Er jätete alleine Unkraut, denn Bruder John war mit den übrigen Mönchen bei der Vesper. Ganz schwach konnte er durch die dicken Mauern der Kirche hindurch ihren Gesang hören. Vom äußeren Hof her drang das Geklapper von Pferdehufen und das Rattern von Wagenrädern zu ihm herein. Das war wohl die erste Fuhre Heu für die großen Tennen über den Ställen; die Maimahd, die am süßesten duftete und das beste Futter gab. Der Friede des Frühsommerabends, in dem sich bereits lange Schatten mit dem Sonnenlicht mischten, wurde jäh von einem wütenden Bellen zerrissen, und Lovel mußte still für sich lächeln, als er sorgfältig um die Wurzeln eines Rosmarinbusches herum hackte. Valiant war wieder einmal hinter der Stallkatze her! Aber beinahe im gleichen Augenblick ging das Bellen in ein hilfloses Wimmern über, das von Rufen und vielfachem Stimmengewirr übertönt wurde. Lovel ließ die Hacke fallen und rannte hinkend zu der durch einen Strebepfeiler der Kirche beinahe verborgenen kleinen Türe in der hohen Mauer, riß sie auf und stolperte hinaus auf den großen Vorhof. Der Heuwagen stand inmitten des offenen Hofes, das Pferd stieg und scheute furchterregend im Geschirr. Eine kleine Gruppe von Männern hatte sich neben dem Wagen versammelt, -46-
in ihrer Mitte versuchte Valiant kläffend und wimmernd vor Schmerz und Verwirrung sich auf drei Beinen hochzurappeln. Harding kam vom Stall herübergerannt, und die Männer begannen alle auf einmal zu sprechen: »Rannte direkt unter die Räder!« - »Hab' schon immer gesagt, er wird diese Katze einmal zu oft jagen.« Und die lauteste Stimme war die von Jehan: »Das Bein ist gebrochen. Am besten ein Schlag auf den Kopf und aus mit ihm.« Lovel sah den Ausdruck in ihren Gesichtern, vor allem aber den Ausdruck in Hardings Gesicht, und rief: »Nein, wartet!« Und im nächsten Augenblick war er in der Mitte der Gruppe, stieß die anderen zur Seite und kämpfte sich bis zu der Stelle vor, wo der jetzt ruhig gewordene Valiant auf drei Beinen und mit hängendem Kopf wegzukriechen versuchte. Sein rechtes Vorderbein, das in einem unnatürlichen Winkel abstand, hielt er halb angezogen. »Halt ihn mir, Harding«, sagte Lovel. Dann ließ er sich vorsichtig auf sein gesundes Knie nieder und streckte beruhigend die Hand aus. »Ruhig, Junge, ganz ruhig, Valiant. Laß mich sehen.« Der alte Soldat hockte sich wortlos nieder und zog den Hund an seine Knie. Lovel streichelte den großen, traurig hängenden Kopf, dann strich er langsam über Nacken und Schultern bis zu der verletzten Vorderpfote. Die Umstehenden schauten einander an, grinsten oder zuckten mit den Schultern oder sahen mit erstauntem Interesse zu, wie Hinkebein die Lage meisterte, geradeso, als ob er einer der Brüder wäre mit dem Recht, sie herumzukommandieren. »Paß auf, er wird dich beißen«, sagte jemand. »Er wird mich nicht beißen. Dazu hat er zuviel Verstand, und er weiß, daß ich versuche, ihm zu helfen.« -47-
Lovel hatte jetzt die Stelle gefunden; er konnte den Bruch fühlen. Valiant zitterte von Kopf bis Schwanz, aber er gab keinen Ton von sich, und Anstalten zu beißen machte er schon gar nicht. Lovel fuhr fort, die gebrochene Pfote sehr vorsichtig und sanft zu betasten, und redete die ganze Zeit über beruhigend auf das Tier ein. Er schien mit seinen Händen ebenso gut zu sehen wie zu fühlen, das war alles sehr eigenartig. Nach wenigen Augenblicken sah er zu Harding auf. »Es ist ein glatter Bruch. Wenn wir es fertigbringen, die Enden aneinanderzufügen, und das Bein lange genug stilllegen, wird es heilen.« Das wettergegerbte Gesicht des alten Kämpen sah elend aus und voller Zweifel. »Können wir das? Ich möchte nicht, daß der alte Bursche leidet, wenn es am Ende dann doch nichts nützt.« Lovel schwieg einen Augenblick. Während die wunderschönen, bernsteinfarbenen Augen des Hundes auf seinem Gesicht ruhten und die warme, nasse Zunge plötzlich vorschoß, um ihm die Hand zu lecken, mußte er entscheiden, ob er es wirklich fertigbringen würde, die gebrochene Pfote zu heilen, oder ob es barmherziger wäre, wenn man Harding jetzt sein Messer gebrauchen ließe, um Valiants Schmerzen ein rasches Ende zu bereiten. »Ich glaube schon«, sagte er endlich. »Ich bin sicher, es ist der Mühe wert, es zu versuchen, wenn es ihm auch eine Menge Schmerzen bereiten wird. Bitte, Harding, laß es mich versuchen.« Obwohl er sich dessen nicht bewußt war, strahlte er eine seltsame Sicherheit aus, die über ihn gekommen war in dem Augenblick, als er den verletzten Hund berührt hatte. Es war die Sicherheit eines Menschen, der seiner Berufung nachkommt und genau weiß, was er tut. Harding sah hinab auf seinen Hund und dann wieder den Jungen an, dann nickte er. »Sag mir, was ich tun soll.« »Halte ihn nur weiterhin so wie jetzt, daß er sich nicht -48-
bewegen kann«, antwortete Lovel. Dann wandte er sich an das Knäuel der Umstehenden: »Ich brauche gerade Äste und Lappen - eine Menge Lappen, in Streifen geschnitten.« Und auch in seiner Stimme klang die überraschende neue Autorität. Jemand lachte und sagte: »Hört auf den Pater Krankenpfleger!« Aber die Äste und eine Handvoll Lappen bekam er trotzdem. Er wählte die drei besten Hölzer für seinen Zweck aus, dünne, aber starke Äste, und schnitt sie mit einem Messer, das ihm gereicht wurde, auf die gewünschte Länge zu. Während Harding die gebrochene Vorderpfote stützte, begann er, sie mit den Lappenstreifen daran festzubinden, so daß sie den Bruch sicher schienten. Er mußte sehr vorsichtig sein, denn er wußte wohl, wenn er den Verband zu eng anlegte, würde die Pfote des Hundes absterben, da das Leben nicht mehr durchströmen konnte; und wenn er ihn zu lose machte, würde der Bruch nicht fest genug gehalten werden, und der Knochen würde nicht zusammenwachsen. Er konzentrierte sich so stark, er runzelte die Stirn und biß sich auf die Zunge, daß er sich der Anwesenheit der kleinen Gruppe, die ihn umstand, überhaupt nicht mehr bewußt war. Er bemerkte nicht einmal, daß nach Beendigung der Vesper zwei oder drei der Brüder aus dem großen Westtor der Kirche traten, um nachzusehen, woher die Störung gekommen war, und daß einer von ihnen für eine Weile hinter ihm stehenblieb und ihn beobachtete, nachdem die anderen ins Kloster zurückgekehrt waren. Als der letzte Knoten geknüpft war, setzte sich Lovel auf die Fersen zurück, blies sich das Haar aus den Augen und nahm seine Umgebung wieder wahr. Er sagte: »Ich denke, das wird halten, solange wir ihn daran hindern können, an dem Verband zu nagen. Wenn ich mich beeile, kann ich vielleicht ein Wort mit dem Pater -49-
Krankenpfleger reden, bevor er ins Refektorium geht, und ihn um etwas Schmerwurz bitten. Die werden wir Valiant dann in warmer Milch geben.« Valiant liebte Milch über alles, und er bekam niemals welche, außer er stibitzte sich einen Schluck aus dem Eimer, wenn er hoffte, niemand sehe hin. Lovel nahm an, daß man ihm beinahe alles einflößen könnte, wenn es mit Milch vermischt war. Harding nickte. »Ich werde ihn in den Stall zurücktragen, es wird ihm in seiner Ecke am wohlsten sein.« Lovel fand Bruder Peter im Vorratsraum des Krankenhauses, wo er für Bruder Godwyne Hustensirup abmaß, und platzte mit seinem Anliegen heraus. »Gebrochene Vorderpfote, aha«, sagte Bruder Peter und setzte den Maßbecher ab. »Es tut mir leid, das zu hören, sehr leid. Ein gutes, freundliches Vieh, ja, ja, und wenn er in die Kirche kam, benahm er sich immer so ehrfurchtsvoll wie ein Christ. Schmerwurz, ja, ich denke schon, wir können ein bißchen...« Bruder Eustachius' spröde Stimme kam aus dem inneren Gang: »Bruder Peter, darf ich Euch daran erinnern, daß nichts aus der Vorratskammer entnommen werden darf ohne meine Erlaubnis?« »Ja, ja, natürlich hätte ich Euch vorher gefragt«, begann Bruder Peter zerknirscht, und seine Stimme erstarb in demselben Maß, wie die spröde Stimme näher kam. »Die Heilmittel in diesen Regalen sind für Männer, Frauen und Kinder bestimmt, nicht für grausame Biester, ganz gleich, wie christlich sie sich in der Kirche benehmen, nachdem sie die Stallkatze halbwegs das Heiligengitter hinauf gejagt haben!« »Aber wir haben so viel von der Medizin, Bruder Eustachius, glaubt Ihr nicht...« »Das hat nichts damit zu tun«, sagte Bruder Eustachius, und seine Stimme nahm den vertrauten Tonfall äußerster Erregung -50-
an. »Das Tier war noch dazu nicht einmal ein Arbeitshund, es ist einfach eine nutzlose Kreatur.« Lovel hörte plötzlich eine Stimme, die nicht seine eigene zu sein schien, sagen: »Pater Krankenpfleger, Ihr habt das auch einmal von mir behauptet, aber ich nehme an, Ihr fandet mich während dieser vergangenen Monate für Euch doch recht nützlich.« Eine kurze, gespannte Stille trat ein. Bruder Peter sah voller Unbehagen zu, wie Lovel und der Krankenhausleiter einander musterten. Lovel fühlte sich ziemlich elend, und sein Herz raste. Zwischen Bruder Eustachius' Augen stand eine steile Falte. »Sagte ich das?« sagte er endlich. »Wenn ja, dann solltest du es jedenfalls nicht hören, und es tut mir leid. Bleibt also noch die Frage wegen Hardings Hund. Es ist nicht leicht, ein gebrochenes Bein so zusammenzufügen, daß es in der richtigen Stellung liegt. Glaubst du nicht, es wäre gnädiger gewesen, wenn Harding dem Leiden des Tieres sofort ein Ende gemacht hätte?« »Nein«, sagte Lovel, und wieder gehörte die Stimme nicht mehr ganz ihm, »das dachte ich nicht.« »Und bist du sicher, daß du nicht nur das getan hast, was du gerne tun wolltest?« »Nein«, sagte Lovel wieder. »Ich konnte fühlen, wie das Bein gebrochen war und wie es wieder zusammenwachsen könnte.« »Du hast natürlich eine riesige Erfahrung in derartigen Dingen.« Lovel schüttelte den Kopf und versuchte zu erklären. »Ich fühlte es.« Wieder herrschte Stille, dann sagte Bruder Eustachius: »Nun gut, du hast den Bruch tatsächlich auf außergewöhnlich geschickte Weise geschient.« Lovels Augen weiteten sich: »Ihr habt es gesehen?« »Ich habe dich einige Zeit beobachtet. Aber du warst zu sehr -51-
beansprucht, um irgend etwas außer deiner Arbeit zu bemerken.« Plötzlich schien der Krankenhausleiter einen Entschluß zu fassen. Er wandte sich zu den oberen Regalfächern um und nahm ein Glas mit einem Holzstöpsel herunter. »In diesem Glas wird wohl genug von der Medizin drin sein, daß du tun kannst, was du vorhast. Ich würde dir den Rat geben, die Schienen einen Monat dran zu lassen, aber zweifellos weißt du das schon. Wenn du beschließt, sie abzunehmen, wirst du es mich wissen lassen? Ich möchte gerne dabeisein.« In dieser Nacht lag Lovel, nachdem die anderen Dienstboten eingeschlafen waren, noch lange hellwach in seinem Strohbett am äußersten Ende des Schlafsaales. Er fühlte sich viel älter, als er an diesem Morgen erwacht war; und als ob etwas Eigenartiges und Ungeheuerliches und ziemlich Erschreckendes mit ihm geschehen wäre, das ihn in einen anderen Menschen verwandelt hatte. Er wußte, daß er niemals wieder genau derselbe Lovel sein konnte, der er vorher gewesen war.
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6. Der Novize Wie er so auf dem strohbedeckten Boden des Stalles kniete, vor sich den alten Soldaten, der Valiant zwischen den Knien hielt, und Bruder Eustachius, der vom Gang aus zusah, fühlte Lovel sich krank, und seine Finger schienen aus Holz zu sein. Der große Hund war beinahe von Anfang an unbeschwert auf drei Beinen humpelnd umhergetrottet, und in der vergangenen Woche hatte er sogar begonnen, die gebrochene Vorderpfote zu Boden zu setzen. Aber jetzt war der Monat vorüber; wie würde es sein, wenn die Schienen entfernt waren? Lovel nahm Hardings Messer, das schon bereitlag, und begann die Lappen aufzuschneiden. Es wäre hoffnungslos gewesen, zu versuchen, sie auf andere Weise zu lösen, sie waren seit langem mit Dreck zu einer festen Masse verschmolzen. Der letzte Knoten löste sich, Lovel nahm die Holzstöckchen weg und begann die Pfote des Hundes zu befühlen, während Valiant ihm winselnd und schwanzwedelnd ins Gesicht sah. Er konnte die Stelle fühlen, wo der Bruch gewesen war, der Knochen verdickte sich etwas. Aber die Verbindung war gerade und sauber. Er fühlte, wie Valiant seinen Daumen leckte, und öffnete die Augen. Er hatte nicht einmal bemerkt, daß er sie geschlossen hatte, um sich durch nichts von dem Gefühl in seinen Händen ablenken zu lassen, das eine andere Art des Sehens war. »Auf, Junge!« Valiant gehorchte halbwegs, dann hielt er an, da er die gewohnte Stütze der Schienen vermißte, und sah ihn forschend an. »Auf!« rief Lovel wieder. »Auf, Bursche, auf, Valiant!« Er rappelte sich selbst auf und ging ein paar Schritte rückwärts und pfiff, so gut er konnte, denn sein Mund war vollkommen trocken. »Komm!« Und mit einem widerwilligen Klagelaut stand Valiant auf. Lovel bewegte sich rückwärts und -53-
pfiff wieder. Und Valiant setzte seine rechte Vorderpfote unsicher zu Boden. Ein, zwei ganz feste Schritte, dann zog er die Pfote wieder an und beendete seinen Spaziergang auf drei Beinen, um seine Schnauze in Lovels Hand zu schmiegen. Lovel erfüllte ein beinahe übelerregendes Gefühl von Scham und Versagen; Verwirrung überkam ihn. Alles schien doch so gut zu gehen, die ersten wenigen Schritte hatten nach Erfolg ausgesehen. Da ließ sich Bruder Eustachius neben ihm nieder und befühlte die Pfote des Hundes mit kundigen Händen. »Sie ist wieder vollkommen gesund. Das Hinken ist nur mehr eine Angewohnheit.« Der alte Soldat nickte: »Schätze, er wird bis ans Ende seiner Tage auf drei Beinen laufen, wenn er verwöhnt werden will oder wenn er hofft, ohne Strafe davonzukommen. « Er grinste über sein ganzes rotes, zerfurchtes Gesicht vor Erleichterung. Er vergaß sogar den schuldigen Respekt gegenüber einem der Mönche: »Ihr hättet das auch nicht viel besser hingekriegt, was, Pater Krankenpfleger?«
Bruder Eustachius unterbrach seine Untersuchung und sah auf. Sein Gesicht war so ausdruckslos und seine Stimme ebenso -54-
kühl und spröde wie immer, als er sagte: »Nein, ich glaube, ich hätte es nicht besser machen können.« Lovel wandte sich von den beiden ab und von Valiant, der sich niedergesetzt hatte, um seine Pfote zu lecken, und ging quer über den Hof in die Kirche. In späteren Jahren war sich Lovel niemals ganz sicher, wieso oder wann die Idee aufgekommen war, er solle in den Orden eintreten. Ob es nach der Valiant-Geschichte war oder erst als im folgenden Frühjahr unter den Brüdern eine Krankheit ausbrach und er Tag und Nacht mit dem Pater Krankenpfleger und Bruder Peter im Krankenhaus arbeitete. Möglicherweise hätte man schon früher mit ihm darüber gesprochen, aber Ende des Jahres 1121 wurde ganz England von einer großen Sorge heimgesucht. Denn vier Jahre zuvor beinahe genau von jener Nacht an, da Rahere im NazarethZimmer gewohnt hatte - war der König ins Ausland gereist und die ganze Zeit über dort geblieben. Er wurde begleitet von seinem Erben, Prinz William. Denn der Junge hatte vom König Ludwig von Frankreich die Normandie erhalten unter der Bedingung, daß er ihm huldige. Es waren eine Menge Dinge zu ordnen und zu regeln gewesen, aber endlich hatte alles seine Richtigkeit, und kurz vor Weihnachten segelte Henry nach England zurück. Er lichtete bei Einbruch der Dämmerung in Barfleur die Anker, während Prinz William in einem anderen Schiff ein paar Stunden später folgte. Der segelte in Begleitung vieler junger Leute des Hofes, die seine Freunde und Zechkumpanen waren. Aber dieses zweite Schiff, das in der Nacht in See stach, lief auf einen Felsen auf und sank. Nur ein einziger Mann erreichte vom Wrack aus das Ufer, und das war nicht der Prinz. Überall in England herrschte Trauer und Unwillen, denn die Menschen hatten sich von dem Sohn des Königs große Dinge erhofft, wenn einmal die Zeit des Regierens an ihn käme. Außerdem gab es kaum ein Adelshaus im Königreich, das nicht -55-
wenigstens einen Sohn oder Bruder, einen Freund oder Verwandten verloren hatte. Und in New Minster wie in jeder Kirche und Kathedrale überall im Land wurde, nachdem die Wochen zu Monaten geworden waren und die Trauerzeit vorbei war, eine feierliche Messe nach der anderen gelesen für die Seelen des jungen Prinzen und seiner Freunde, deren Körper niemals gefunden worden waren. Alle anderen Ereignisse traten in den Hintergrund. So war es bereits Spätsommer, und Lovel zählte fast achtzehn Jahre, als der Abt ihn rufen ließ und ihm vorschlug, er solle die Gelübde ablegen und Mönch werden. Lovel geriet ins Stammeln, als er im Arbeitszimmer des Abtes vor dem schlanken, hakennasigen Mann stand, dem besser eine Ritterrüstung als die schwarze Kutte der Benediktiner zu Gesicht gestanden hätte. _ »Vater Abt, ich - ich habe nicht daran gedacht, in den Orden einzutreten.« »Nicht ein einziges Mal?« fragte der Abt. »Es kam mir wohl ein-, zweimal in den Sinn, dann war der Gedanke wieder weg. Ich habe niemals ernsthaft daran gedacht. Ich bin ein Klostergehilfe und damit sehr zufrieden.« »Wir haben mehr getan als nur darüber nachgedacht, mein Sohn. Wir haben deine Sache im Kapitel durchgesprochen. Bruder Eustachius, Bruder Peter und Bruder Anselm finden alle, daß du gut dafür geeignet seist.« »Bruder Eustachius?« sagte Lovel überrascht. »Es war Bruder Eustachius, der das Thema aufwarf. Ich glaube«, der Abt lächelte, »daß er sich freuen würde, wenn er noch mehr auf deine Hilfe im Krankenhaus zählen könnte. Doch das ist vielleicht nicht der beste aller Gründe, in einen religiösen Orden einzutreten.« Nun sprach der Abt über die Freuden eines Gott geweihten Lebens. Dann bat er ihn, zu gehen und darüber nachzudenken. Und Lovel ging weg und dachte nach. Aber nicht ganz in dem -56-
Sinn, wie der Abt es sich vorstellen mochte. Er wußte, die Gabe der Heilkraft besaß er von seiner Großmutter. Er spürte das jedesmal, wenn er etwas Krankes oder Schmerzendes berührte. Er wußte, er würde ein guter Arzt werden. Es war das einzige, was er immer wirklich können würde, das einzige, was ihn ausfüllen würde. Zwar gab es auch außerhalb der Kirche Ärzte, aber es kostete Geld, einen zu finden, der einen als Lehrling aufnahm und in allen Künsten unterwies. Und noch mehr Geld, sich nachher selbständig zu machen. Für einen armen Mann, der die Kranken heilen wollte, war, soweit er wußte, die Kirche der einzige Weg. Außerdem aber das gestand er sich nicht einmal selbst ein - erfüllte ihn der Gedanke daran, das Kloster zu verlassen und wieder in die Welt hinauszugehen, mit Furcht. Die Welt war in der Zeit, da er sich darin aufgehalten hatte, nicht gerade sehr freundlich zu ihm gewesen. Seitdem hatte er mehr als sechs Jahre innerhalb der schützenden Mauern von New Minster verbracht. Und sie hatten ihm Sicherheit bedeutet, besonders diese letzten Jahre im Kräutergarten und im Krankenhaus. Sogar wenn sie manchmal ein klein wenig Ähnlichkeit mit Gefängnismauern hatten. Er wußte, wenn Rahere mit dem halb verbitterten, halb lachenden Mönchsgesicht zurückgekommen wäre und nach ihm gepfiffen hätte, er wäre aus dem Klostertor gerannt und ihm bis ans Ende der Welt oder noch weiter gefolgt. Aber Rahere war niemals zurückgekehrt. So kam es, daß Lovel an einem milden Herbstmorgen, an dem sich im Holunderbaum eine Drossel das Herz aus dem Leib sang, zum erstenmal die Kutte eines Benediktinernovizen anzog und zwischen Bruder Peter und Bruder Anselm, der sehr alt und tatterig wurde, über den Klosterhof zur großen Kathedrale ging. Doch sosehr er sich auch anstrengte, seine Gedanken ernsteren Dingen zuzuwenden, hörte er während der ganzen langen Zeremonie nur die Drossel im Klostergarten singen. -57-
Seine Tage waren auch vorher schon ausgefüllt gewesen. Jetzt jedoch schien es, als seien nicht genug Stunden zwischen einem Sonnenaufgang und dem nächsten. Er studierte jetzt jeden Tag mit den anderen Novizen im Nordgang des Klosters, und anstelle der einen täglichen Messe, zu der alle arbeitenden Bewohner des Klosters kamen, rief ihn die Glocke siebenmal am Tag zum Gottesdienst. Und in der Zeit, da die übrigen Novizen frei hatten, kamen immer entweder Bruder Eustachius oder Bruder John und wollten, daß er ihnen im Garten oder im Krankenhaus helfe. Und dann fand man an einem traurigen Novembertag Bruder Anselm bewußtlos über seinem Lesepult liegen. Sie trugen ihn in die Wärmestube der Mönche, und sofort erholte er sich wieder, tat, als sei nichts gewesen, und lachte sanft über ihre Besorgnis. Aber bevor der November zu Ende war, geschah es wieder, und diesmal brauchte er länger, um sich zu erholen. Er schien wie betäubt und nicht ganz bei sich, deshalb brachten sie ihn ins Krankenhaus und legten ihn in das Strohbett, in dem Lovel selbst gelegen hatte, als er damals nach New Minster gekommen war. »Laßt Lovel eine kleine Weile bei mir bleiben«, bat er dann. »Ich werde morgen wieder zu Euch allen zurückkehren. « Aber als er am nächsten Morgen die Glocke zur Prim läuten hörte und versuchte, aufzustehen, wollten ihn seine müden, alten Beine nicht tragen. Lovel, der schnell einen Augenblick entwischt war, um vor der Messe zu ihm hereinzuschauen, half Bruder Peter, ihn wieder ins Bett zurückzubringen, und kam deshalb zu spät für die Prim. Er wurde vom Novizenmeister gescholten, als ob er ein sechsjähriger Schüler wäre, und erhielt den Befehl, beim Mittagsmahl zu fasten und Buße zu tun. Der alte Vorsänger lag in dem Strohbett, tagaus, tagein; starrte in die Kapelle, wo die Kerzen vor dem Altar schimmerten, oder aus dem Fenster hinaus auf die kahlen Bäume im Garten und die alten Krähennester. Jeden Augenblick, den er entwischen -58-
konnte, verbrachte Lovel bei ihm. Sein erster Gang führte in der Dunkelheit der Wintermorgen zu ihm, sein letzter in der Dunkelheit der Winternächte, ein Dutzend Male während des Tages. Man hatte längst damit aufgehört, ihm Bußen aufzuerlegen, wenn er zu irgend etwas zu spät kam. Im Gegenteil, es kam die Zeit, da man ihm erlaubte, zum Gebet in die winzige Krankenhauskapelle zu gehen, statt all den Messen in der großen Klosterkirche beizuwohnen. Als der alte Mann schwächer wurde, schien er nur zufrieden zu sein, wenn Lovel bei ihm war. Und Lovel tat alles für ihn, er wusch und fütterte ihn, betete mit ihm und beruhigte ihn, wenn er so durcheinander war, daß er nicht mehr recht wußte, wo er sich befand. Es gab nichts mehr, was ihn wieder gesund machen konnte. »Er ist nicht krank«, sagte Bruder Peter, »nein, nein, nur alt und vom Leben verbraucht.« Die Krähen nisteten in den Bäumen, die man von den Fenstern der Krankenstube aus sehen konnte, und im Kräutergarten standen die Schneeglöckchen in voller Blüte. Und es war allen klar, daß Bruder Anselm nur noch ein paar Tage zu leben hatte. Eines Nachts saß Lovel neben ihm und fragte sich, was er tun solle, denn der alte Mann war eingeschlafen und hielt seine Hand wie ein kleines Kind. In der Kapelle brannten die Kerzen nieder, und hinter den Fenstern bildeten die Nester der Krähen dunkle Klumpen. Er hörte, wie jemand in Sandalen durch das innere Kloster schlurfte, dann stand einer seiner Mitnovizen unter der Tür. »Ein Reisender hat nach dir gefragt, und der Vater Abt erlaubt dir, zu ihm zu gehen. Rahere, könnte das der Name des Mannes sein?«
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7. Der König und die Bettlerschale In der Stille waren die flachen, kurzen Atemzüge des Vorsängers klar zu hören, und Lovel fühlte die Hand des alten Mannes leicht und trocken wie ein verwelktes Blatt in seiner Hand. »Ich kann Bruder Anselm nicht verlassen«, sagte er. »Ich soll bei Bruder Anselm bleiben, bis du zurückkommst. Vater Abt sagte, du könntest eine Stunde bleiben«, sagte der junge Novize. »Außerdem schläft er jetzt.« Lovel zögerte noch einen Augenblick, dann löste er seine Hand sehr behutsam aus der des alten Mannes und stand auf. »Wenn er erwacht, gib ihm aus der Tasse zu trinken, und sage ihm, daß ich bald wieder zurück bin.« Er sah noch, wie sein Mitnovize seinen Platz einnahm, dann ging er hinaus. So schnell er konnte, eilte er den langen, dunklen Gang hinab zum Hauptkloster und an dem Mönch vorbei, der in der kleinen Torstube Wache hielt, in den äußeren Hof. Er wandte sich nach links in Richtung der Gästezimmer, aber der Mann rief ihm nach: »Ihr geht den falschen Weg. Ihr müßt zum Hospiz.« Lovel drehte sich um. »Zum Hospiz? Seid Ihr sicher?« »Natürlich bin ich sicher«, sagte der andere mürrisch und fuhr fort, in seinem Brevier zu lesen. Lovel zögerte einen Moment zweifelnd, dann ging er quer über den Hof auf das lange, scheunenähnliche Gebäude neben dem Tor zu, in dem die ärmeren Reisenden untergebracht wurden. Manchmal war das Hospiz bis zum Bersten überfüllt, aber an diesem Abend befand sich nur ein einziger Reisender dort, der mit dem Rücken zum Zimmer stand und ein kleines, verblaßtes Bild der Madonna der Landstraßen betrachtete, das ein reisender -60-
Künstler vor drei Jahren als Dank für sein Nachtquartier gemalt hatte. Als er ihn sah, sank Lovels Herz und war krank vor Enttäuschung. Das war nicht Rahere, dieser unbekannte Mann im schwarzen Gewand eines Augustiner-Chorherrn, dessen Saum in Fetzen herabhing und der bis an die Knie mit Februardreck bespritzt war. Das mußte ein dummer Irrtum sein... Doch da drehte sich der Mann um - und es war keineswegs ein Irrtum. Sie standen einander ein paar Minuten schweigend gegenüber und sahen sich nur an, dann verzog sich Raheres Gesicht zu dem alten, verschmitzten Lächeln. »Du findest wohl, ich habe mich verändert?« »Ich bin nicht sicher«, antwortete Lovel langsam. »Nicht sicher?« »In jener Nacht, als ich für Euch im Nazareth-Zimmer den Pagen spielte, dachte ich, Ihr seid ein fahrender Sänger, der schon ein halber Mönch ist. Jetzt glaube ich, Ihr seid ein Mann der Kirche, der noch immer ein halber Hofnarr ist.« Lovel brach verwirrt ab, überrascht und ziemlich beschämt über das, was er soeben gesagt hatte. »Bravo! Aber du, du hast dich ganz bestimmt verändert. Du bist beträchtlich erwachsener geworden.« »In fünf Jahren kann man auch beträchtlich älter werden«, antwortete Lovel. Rahere sah ihn mit jenen seltsamen, strahlenden Augen an, die so ungemütlich tief ins Innere drangen. »Es sind nicht nur die fünf Jahre«, sagte er endlich. »Als ich nach dir fragte, sagte man mir, du seist bei deiner Arbeit in der Krankenstube. Ich entnehme daraus, daß du nicht mehr all die dummen Dinge verrichten mußt, die kein anderer tun will.« -61-
»Nein, nur diejenigen, die der Pater Krankenpfleger nicht tun will«, sagte Lovel mit der Andeutung eines Lächelns. »Aber ich hatte im Augenblick keine besonderen Pflichten. Ich habe nur bei Bruder Anselm gesessen. Er ist sehr krank.« Dann erinnerte er sich an die Worte von Bruder Peter. »Nun, nicht eigentlich krank, sondern sehr alt und verbraucht. Er ist jetzt eingeschlafen, und einer der anderen Novizen wacht bei ihm, so daß ich zu Euch kommen konnte. Aber ich muß bald zurück.« »Dann setz dich hin und leiste mir Gesellschaft, während ich mein Abendessen zu mir nehme«, sagte Rahere, als der Vater Hospitalleiter mit einem Novizen eintrat, der eine Schüssel mit Fischsuppe und einen Laib dunkles Roggenbrot trug. Als sie wieder allein waren, zog Lovel sich einen Stuhl an den langen, grob gezimmerten Tisch und setzte sich. Er machte keinerlei Anstalten, Rahere zu bedienen, wie er es früher getan hatte. Das hatte zu dem Nazareth-Zimmer gehört, zu dem Silber und dem feinen Leinen. Das hier war etwas anderes. Wie er Rahere beim Essen beobachtete, dachte er, daß er krank aussähe oder doch so, als sei er unlängst krank gewesen. Sein Gesicht bestand aus scharfen Linien, die gelbliche Haut saß locker auf den Knochen, keinerlei Fleisch dazwischen. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Aber das alte Leuchten war noch da, das alte spöttische Lachen über der alten Traurigkeit. Nur, Lovel erkannte es plötzlich, die Traurigkeit hatte sich vertieft und die Bitterkeit verloren, die früher damit verbunden gewesen war. Und auch in seinem Lachen war nichts mehr von dieser Bitterkeit. Er hatte sich geirrt, als er dachte, Rahere habe sich nicht verändert, und er fragte sich, was ihn so verändert haben mochte. Raheres Mund kräuselte sich plötzlich vor Vergnügen, und er sagte in dem vertrauten, sanften Ton, als ob Lovel seine Gedanken laut ausgesprochen hätte: »Würde es dir genügen, wenn ich sagte, daß das Leben bei Hof ganz unerträglich langweilig und traurig geworden ist, nachdem das weiße Schiff -62-
untergegangen war, und daß ich fühlte, es sei an der Zeit, sich zu verändern?« »Nein«, sagte Lovel, »das genügt nicht.« »Dann muß ich es noch einmal versuchen.« Aber Rahere schwieg eine lange Zeit, machte Brotkrümel und ließ sie in die leere Suppenschüssel fallen. Endlich sah er auf. »Schon vor fünf Jahren schien es mir, es müsse noch etwas anderes im Leben geben, als den König nach dem Essen zum Lachen zu bringen. Entweder das - oder Leben ist etwas so Geringes und Unbedeutendes, daß einem sensiblen Mann nichts anderes übrigbleibt, als es so leicht zu tragen wie eine Feder am Hut, mit ihm zu spielen wie mit Narrenglocken. Ich war in jenen vier Jahren mit dem König in der Normandie. Du hast dich sicher gefragt, weshalb ich nicht eher zurückkam, nicht wahr? Als wir in Barfleur waren und eben im Begriff, nach England zu segeln, bat mich der Prinz, zu warten und mit ihm und seinen Freunden zu reisen. Die Reise sei, so meinte er, nicht so lustig ohne Rahere, der Stimmung mache. Sie waren alle bester Laune. Ich lehnte ab, eigentlich aus keinem anderen Grund, als daß ich eben nicht so ausgelassen war, und segelte mit dem König.« Er erhob sich, durchmaß das Zimmer und kam wieder zurück. »Der Prinz war genau in deinem Alter, Balg, wenige von den anderen waren älter. Ich habe sie aufwachsen sehen.« Rahere setzte sich und begann wieder Brotkrümel zu machen. Und wieder wartete Lovel geduldig darauf, daß er fortfahre. »Damals dachte ich mir, wenn das Leben tatsächlich eine so geringfügige Angelegenheit ist, könne es keinen Gott geben, der sich um so eine Nichtigkeit Gedanken macht. Und ich entdeckte, irgendwie zu meiner eigenen Überraschung, daß ich nicht glauben konnte, es gebe keinen Gott. Daraus folgte, daß das Leben doch eine größere Aufgabe darstellen mußte als nur die, den König nach dem Essen zum Lachen zu bringen, was eigentlich schon ziemlich viel war, denn dem König ist in diesen Tagen nicht nach Lachen zumute. Mache ich mich verständlich? -63-
Ich bin nicht einmal sicher, ob ich es selbst ganz verstehe.« »Ich glaube schon«, sagte Lovel. »Und so zogt Ihr also aus, sie zu finden, diese größere Aufgabe.« »Das tat ich. Aber als ich das hier angezogen hatte«, Rahere berührte seinen staubigen, schwarzen Rock, »fühlte ich, daß es etwas noch Größeres geben müßte, um das Ende des einen Lebens und den Beginn eines neuen zu markieren. Meine Künstlerseele sehnte sich danach.« Jetzt machte er sich über sich selbst lustig. »Hei! Ich habe allen Instinkt des Narren für die richtige dramatische Geste, die nicht allein fürs Publikum berechnet ist, sondern eine Sache für sich. Kannst du mir noch immer folgen?« Lovel nickte. »Es hat Könige gegeben, die ihre Kronen weggelegt und die Bettlerschale genommen haben. Und für einen König ist das Geste genug. Aber kaum für den Hofnarren des Königs. Um also die etwas mitgenommenen Enden meines alten Lebens etwas aufzumöbeln und mich für das neue Leben vorzubereiten, ging ich auf Pilgerfahrt nach Rom. Das war tatsächlich so etwas wie der Beginn eines neuen Lebens, denn an der Fontana Trevi erwischte ich ein scheußliches Fieber, das mir dort auflauerte. Ich war, so erzählten mir die Barmherzigen Brüder, die mich pflegten, nahe daran zu sterben - was an sich keine Neuigkeit für mich darstellte. Aber ich hatte keineswegs den Wunsch, in Rom zu sterben. Man sagt, es sei eine Gnade, auf der Pilgerschaft zu sterben, aber ich - mein Großvater war Bretone und im Gefolge Richard de Belmeis' in der Armee Wilhelms des Eroberers -, aber ich bin in London geboren und aufgewachsen, genau wie de Belmeis' Sohn, der jetzt Bischof von London ist, und ich wollte gerne mein Land und meine Heimatstadt wiedersehen. Als es mir besserging, tat ich daher ein Gelübde. Wenn ich wieder in mein Land zurückkehren könnte, wollte ich ein Hospital gründen, ein Krankenhaus für die kranken Armen, damit in London für arme Menschen ebenso gesorgt werden -64-
kann wie für mich in Rom.« Wieder nickte Lovel, ohne den Blick von Raheres Gesicht zu wenden. »Nur ein Krankenhaus, verstehst du. Aber auf meinem Heimweg hatte ich eine Vision.« Rahere sagte dies, wie jemand anderer davon sprach, daß er einen Pfennig gefunden oder daß sein Pferd ein Hufeisen verloren habe. »Es war eine sehr heiße Nacht, was komisch ist, wenn man's genau bedenkt, denn meine Krankheit hatte mich lange in Rom festgehalten, und es war kurz vor Weihnachten. Ich konnte nicht schlafen. Ich lag, wälzte mich herum, versuchte Kühlung zu finden und überlegte, wo ich in oder um London herum das Land finden könnte, um mein Hospital zu erbauen. Da schien es mir plötzlich, als verschwinde der Raum und alles um mich her, und ich sah ein großes Tier auf mich zukommen mit acht Beinen und Adlerschwingen. Es nahm mich in seine Fänge und trug mich hinauf zu den Sternen - wenn dich jemals jemand danach fragt, kannst du ihm mit meinen besten Empfehlungen berichten, daß die Sterne nicht nur funkeln, sondern sich in engen Regionen wirbelnd drehen, sie geben einen hohen, singenden Ton von sich und verbreiten einen scharfen Geruch nach Fieberkraut. Unter mir war nichts als schwarze Dunkelheit, und ich wußte, daß das Tier im nächsten Augenblick seinen Griff lockern und ich herunterplumpsen würde ins Nichts und fallen bis in alle Ewigkeit. Ich schrie auf. Und St. Bartholomäus kam durch die Türe herein. Oh, ein sehr respektabler und würdevoller alter Mann mit einem Bart, so lang und weiß wie die Milchstraße, und er sagte mir, ich solle das Hospital in Smithfield bauen, direkt vor den Mauern Londons. Einmal in der Woche ist dort Pferdemarkt, ich bin oft dort gewesen. Erbat mich auch, neben dem Hospital ein Priorat zu gründen. Danach fiel ich in tiefen Schlaf. Und als ich am nächsten Morgen erwachte, war mir eher kalt als heiß, allerdings nur ein kleines Wunder, denn auf dem Boden lag Schnee.« -65-
Rahere rieb sein langes, blauschattiges Kinn. »Das seltsame ist, daß ich schon vorher an Smithfield gedacht hatte, aber das Land gehört dem König, und unser Henry ist keiner, der sich besonders um die kranken Armen kümmert. Aber ein Priorat ist eine andere Sache, und mit St. Bartholomäus als Fürsprecher...« »Ihr glaubt, er wird Euch wirklich das Land geben?« Rahere lächelte mild. »Unser Henry ist schwach, aber fromm. St. Bartholomäus wird sein Kloster bekommen; aber zuerst kommt das Hospital.« Stille nistete sich wieder zwischen ihnen ein, sie sahen einander über die Tischdecke hinweg und über Raheres Suppenschüssel, mit dem Brei von Brotkügelchen am Grund, an. Lovel hatte das unbestimmte Gefühl, diese Krankheit zu kennen. Es ist ein Fieber, das während heißer Tage aus sumpfigen, moskitoverseuchten Gegenden aufsteigt. Und oftmals kommt es, nachdem die Hauptattacke vorüber ist, von Zeit zu Zeit wieder mit Kälte und großer Hitze und seltsamen Wachträumen, wenn derjenige, der darunter gelitten hat, überhaupt noch lebt. Er glaubte, daß auch Rahere eine Ahnung davon hatte und vielleicht nur halbwegs an seine Vision glaubte. Wenn er ganz daran geglaubt hätte, würde er die Geschichte ganz anders erzählt haben - oder vielleicht überhaupt nicht. Jedenfalls hätte ein anderer das getan, aber ein anderer war eben nicht Rahere. Nur eines schien sicher, war es nun eine Vision oder ein Fiebertraum: Rahere hatte erkannt, auf welche Weise er das Land, das er brauchte, vom König bekommen könne. Ganz gleich, wodurch sie ihm gekommen war, er glaubte an die Botschaft und war dankbar dafür. Zwar konnte sich Lovel nicht vorstellen, wie Rahere ein Hospital bauen sollte, von dem Priorat ganz zu schweigen, aber als er die strahlenden Augen und den leicht spöttischen, energischen Zug um den Mund sah, zweifelte er nicht daran, daß Rahere es irgendwie schaffen würde. -66-
Und plötzlich wünschte er sehnlichst, mit ihm zu gehen und ihm bei der Verwirklichung des Unmöglichen zu helfen. Er erhob sich. »Ich erhielt die Erlaubnis, eine Stunde wegzubleiben, ich glaube, ich bin bereits länger hier. Ich muß zurück zu Bruder Anselm.« Am folgenden Morgen traf er nach dem Hochamt wieder mit Rahere zusammen und ging mit ihm im inneren Klosterhof nahe der Krankenstube auf und ab. Schon schwollen die Knospen des Feigenbaumes an der Mauer, und er konnte hören, wie die Drossel die ersten Flötentöne übte. »Komm mit mir«, sagte Rahere. »Ich werde deine Geschicklichkeit brauchen.« Während der ganzen Nacht, da er neben Bruder Anselms Bett dösend und wachend gesessen hatte, hatte Lovel sich vorgestellt, daß Rahere das sagen würde. Aber nun überraschte es ihn so, als ob er niemals auch nur einen Gedanken daran verschwendet hätte. Und zwei Gefühlswogen schlugen über ihm zusammen, eine so dicht bei der anderen, daß sie beinahe eins zu sein schienen. Die erste ließ sein Herz höher schlagen, war ein fast überwältigendes Verlangen, mit Rahere zu gehen, der nun nach all den Jahren doch zurückgekommen war und ihn rief. Die zweite war Angst, Angst vor der Welt außerhalb der Klostermauern, wo Menschen ihn mit Steinen gejagt hatten, wo man ihn für ein Hexenkind hielt, weil er krumm gewachsen war anstatt gerade wie die anderen. Aber das Verlangen war stärker als die Angst. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich kann nicht.« »Du bist noch immer Novize, du bist vollkommen frei.« »Ich kann Bruder Anselm nicht verlassen«, sagte Lovel. »Nicht jetzt. Er ist unglücklich, wenn jemand anderer als ich um ihn ist, und er wird nicht mehr länger als ein paar Tage zu leben -67-
haben.« »Ich kann nicht warten«, sagte Rahere. »Ich muß mich eilends an die Aufgabe machen, die mir anvertraut wurde.« Lovel nickte. Sie hatten in ihrer Wanderung eingehalten und standen im überdachten Torweg, der zum Wandelgang führte. »Du würdest gerne mitkommen, nehme ich an?« fragte Rahere. »Von ganzem Herzen.« »Und du sagst, daß er nur noch ein paar Tage zu leben hat. Bedenke, Lovel, bist du wirklich bereit, dein ganzes Leben einzutauschen gegen eines alten Mannes letzte Tage?« Sie standen und sahen einander in die Augen, Stille breitete sich beinahe fühlbar zwischen ihnen aus. Oberflächlich betrachtet war es ganz einfach. Lovel brauchte nur zu sagen: »Laßt mich diese wenigen Tage noch hier warten, dann folge ich Euch.« Aber er wußte, dies hatte nichts mit oberflächlicher Betrachtung zu tun. Dies bedeutete: »Verlasse alles, andere Bindungen, andere Pflichten, und komm jetzt, in diesem Augenblick oder überhaupt nicht.« Er stand vor einer Wahl fürs Leben. »Ich kann Bruder Anselm nicht verlassen«, sagte er endlich. Bei diesen Worten schien etwas tief im Innern seiner Brust zu zerreißen. »Du wirst eines Tages ein großer Heilender werden«, sagte Rahere. »Gott schütze dich, Bruder Balg.« Dann wandte er sich ab und ging mit seinen langen, leichten Schritten den Wandelgang entlang auf das Hauptgebäude und den äußeren Hof zu.
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Lovel sah ihm noch einen Augenblick lang nach, dann drehte auch er sich um und hinkte zurück in die Krankenstube.
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8. Die Straße nach London Genau eine Woche später starb Bruder Anselm. Der alte Körper wurde im Mönchsfriedhof beigesetzt, das Bett am Ende der Krankenstube war zuerst ordentlich und kalt und leer, dann quoll es über von Bruder Dominik, der an der schwarzen Kolik litt. Lovel befand sich in einem Zustand heftiger Verwirrung; er fragte sich, ob er nicht doch ein kompletter Narr gewesen sei. Zumal Bruder Anselm während der letzten Woche ohnehin die meiste Zeit geschlafen hatte. Aber als er in die Bibliothek ging, um irgend etwas in dem großen Kräuterbuch nachzuschlagen, öffnete es sich auf der Seite mit der Zeichnung der Schmerwurz. Und da waren seine Zweifel verschwunden. Der Frühling ging in den Sommer über, auf dem zum Kloster gehörenden Bauernhof brachte man das Heu ein, dann das Korn. Lovels Novizenjahr neigte sich dem Ende zu, und die Zeit rückte heran, da er die ewigen Gelübde ablegen mußte. Da schickte eines Tages der Abt wieder nach ihm. Lovel säuberte sich in aller Eile und strich seinen Habit glatt, denn zu dieser Zeit lag niemand in der Krankenstube, und er war zu seiner alten Arbeit, zu Bruder John im Kräutergarten zurückgekehrt. Dann folgte er der Aufforderung und durchforschte während des Gehens sein Gedächtnis nach irgendeiner Missetat oder einer Unterlassung. Doch als er vor dem Abt stand, erkannte er erleichtert, daß dies keineswegs eine Vorladung war, um ihn zu tadeln. Der Abt lehnte sich in seinem großen Lehnstuhl zurück und sah ihn aufmerksam über seine große Höckernase hinweg an. »Mein Sohn, als unser guter Bruder Rahere neulich hier vorbeikam, bat er mich um die Erlaubnis, dich mit ihm gehen zu lassen, wenn du das wünschst. Ich nehme an, er hat dich gefragt, und du hast es abgelehnt.« -70-
»Bruder Anselm war noch am Leben. Ich konnte ihn nicht verlassen, Vater.« Der Abt nickte. »Wenn die Frage noch einmal an dich gestellt würde, würdest du gehen?« »Ja, Vater.« »Das dachte ich mir.« Der Abt setzte sich auf. »Heute morgen erhielt ich einen Brief von Rahere, in dem er mich bat, falls du jetzt frei seist und es selbst wünschst, solle ich dir erlauben, zu ihm zu gehen.« »Wohin, Vater?« sagte Lovel. Es war die einzige Frage, deren es bedurfte. »An einen Ort direkt vor den Mauern Londons. Smithfield nennt man ihn.« Der Abt lächelte. »Er bittet mich, dir auszurichten, falls du nach Smithfield fragst, wo allwöchentlich der Pferdemarkt abgehalten wird, könne jedermann dir den Weg zeigen.« »So darf ich denn gehen, Vater?« fragte Lovel in dem Wunsch, wenigstens diesen Punkt klar in dem freudigen Durcheinander zu fixieren, das in seinem Kopf herrschte. »Mein Sohn, du bist noch immer Novize, es steht dir frei zu gehen, wohin oder wann du willst, ohne meine Erlaubnis. Geh statt dessen mit meinem Segen.« Drei Tage später stand Lovel jenseits der Klostermauern. Es war das erstemal in beinahe acht Jahren, daß er, abgesehen von einigen Besuchen auf dem Bauernhof, das Tor passierte. Er besaß nur sein Habit, ein wenig Geld, das der Almosenpfleger ihm für die Reise in sein Bündel gesteckt hatte, einen Laib Brot und einen Zweig der Gartenraute aus dem Kräutergarten, einen starken Stab aus Eschenholz, um sein lahmes Bein zu stützen - und vor sich die lange Straße nach London. »Folge der Straße, die in diese Richtung führt, und weiche -71-
nicht von ihr ab, dann kannst du sicher sein, am Ende zur Brücke nach London zu kommen«, hatte Harding zu ihm gesagt. »Aber wenn in deinem Kopf auch nur eine
Spur von Verstand ist, solltest du überhaupt nicht gehen. Valiant wird dich arg vermissen.« Eine überraschend große Zahl von Brüdern und Dienstpersonal schien über seinen Weggang traurig zu sein, darunter auch der Pater Krankenpfleger. Ihre Segenswünsche klangen noch immer in seinen Ohren, und seine Hand fühlte noch das liebevolle Schnüffeln von Valiants Schnauze. Hinter ihm, im Schatten des Torbogens, standen die Flügel der Klosterpforte weit offen, wie immer während des Tages. Und für den Bruchteil eines Augenblicks fühlte er die Versuchung in sich aufsteigen, wieder durch diese Türflügel zurückzugehen, weg aus der fremden Welt, wo es Menschen geben könnte, die mit Steinwürfen den vertrauten Frieden zerstörten. Aber er wußte, wenn er das täte, würde er Rahere verlieren und darüber hinaus, tief in seinem Inneren, Schaden nehmen an seiner Seele. Er wandte sein Gesicht London zu und begann zu gehen. -72-
9. Der Beginn eines Traums Die Straße nach London war weiß vom Staub des August. Er lag dick auf den Hecken, verwandelte Gras und Büsche und das zerzauste Gestrüpp von Jakobskraut, Disteln und Schafgarbe entlang der Straße in fahle Schemen und erhob sich zu wirbelnden Wolken unter den Füßen der Vorübergehenden. Viele Reisende bevölkerten die Straße. Sie kamen und gingen, hinauf nach London oder hinab nach Winchester und zu der großen Hafenstadt, die hinter Winchester lag. Ein Strom von Menschen, so war es Lovel oftmals in der Vergangenheit erschienen, der am Tor der Abtei vorüberflutete, manchmal wie durch einen Wirbel hineingezogen wurde und gurgelnd wieder hervorbrach. Aber damals war er sicher gewesen, wie jemand, der am Ufer steht und der raschen Strömung zusieht. Nun hatte er seinen sicheren Standplatz verlassen und sich in die Mitte des Stroms abgestoßen; er fühlte sich fremd und ängstlich und ein wenig wie ein verlorener Hund. So viele Menschen, und sie alle hatten die Gesichter von Fremden... Sogar in den Klöstern, wo er übernachtete und wo das Leben so war, wie er es kannte, hatten alle Brüder die Gesichter von Fremden: nur Augen und Münder, wie die Menschen in jenen lange zurückliegenden Alpträumen, die immer mit dem Pfeifen der Steine um seine Ohren geendet hatten. Ein Teil seines Wesens sehnte sich nach der Stille des vertrauten Klosters, nach den Kräutern im Hausgarten, die sicherlich bei niemand sonst so gediehen wie bei ihm. Und ein-, zweimal war er sehr nahe daran, umzukehren. Aber vor ihm lag London und Rahere, der nach ihm gerufen hatte, damit er ihm helfe, einen unmöglichen Traum möglich zu machen. Der Gedanke daran bewog ihn, Tag für Tag in der eingeschlagenen Richtung weiterzugehen, einen -73-
traurigen Tag nach dem anderen. Sein Bein machte ihn zu einem langsamen Reisenden, und ein- oder zweimal mußte er sich sogar niederlegen und sich längere Ruhepausen gönnen, bevor er wieder die Straße unter die Füße nahm. Am Abend des St.-Bartholomäus-Festes, der August neigte sich langsam dem September entgegen, erreichte er endlich die London-Brücke. Seine Augen waren rot und entzündet, Straßenstaub bedeckte ihn wie eine dicke Puderschicht, sein verkrümmter Fuß war wundgescheuert und blutig von den Riemen der Sandale. Die Straße von Winchester her, die ihm immer wie ein Fluß vorgekommen war, hatte sich plötzlich in einen Strom bei tosender Überschwemmung verwandelt. Von einer Reitergruppe wurde er gegen die Mauer gedrängt. Eine Weile blieb er dort stehen, sah dem Kommen und Gehen der Menge zu und versuchte wieder, Mut zu sammeln, um sich erneut von dem Strom mitreißen zu lassen. Händler zogen mit ihren Packpferden an ihm vorüber, allerlei Landvolk, das seine Waren zum Markt brachte, ein Treiber mit einer Herde brüllender Bullen, denen Schleimfäden von ihren weichen Mäulern herabhingen. Lovel fand, sie sähen beinahe ebenso müde und verwirrt aus wie er selbst. Ein Ritter in einem Lederwams, auf dem sich die Rostflecke seines Panzers abgezeichnet hatten, ein Pilger, der sich Jakobsmuscheln auf den Hut gesteckt hatte, damit jedermann sehen konnte, daß er den weiten Weg vom Schrein des heiligen Jakobus von Compostela hinter sich hatte, eine kleine, verrunzelte alte Frau in einer von Pferden getragenen Sänfte, der berittene Diener den Weg frei machten; Bettler und Handwerker und Soldaten. Sie alle drängten über die einzige, schmale Holzbrücke nach London hinein oder aus der Stadt heraus. Es führte zu nichts, wenn er den ganzen Tag hier stehenbliebe. Die Sonne neigte sich dem Westen zu, und er mußte noch nach Smithfield finden. Lovel holte tief Atem, faßte -74-
seinen Wanderstab fester und ließ sich wieder einmal von dem drängenden und stoßenden Sog erfassen. Bald befand er sich auf der Brücke, seine Schritte und die Schritte all der anderen dröhnten hohl auf dem hölzernen Steg, die ganze Brücke vibrierte unter seinen Füßen wie eine Harfensaite, die Strömung des großen Flusses brandete gegen die Stützpfeiler. Er kam an der kleinen Brückenkapelle vorbei und ließ den Brückenpfennig in die Hand des runzligen Benediktinermönchs fallen, der Wache hielt. Endlich erreichte er die andere Seite, wo sich die Menschenmenge wieder lichtete und in die verschiedenen Gassen verteilte. Lovel stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und sah sich nach jemandem um, den er nach dem Weg nach Smithfield fragen konnte. Überall waren Massen von Menschen, aber sie schienen alle in viel zu großer Eile zu sein, als daß sie Zeit gefunden hätten, jemandem den Weg irgendwohin zu zeigen. Endlich entdeckte er einen Bürger, der es weder eilig zu haben schien noch einer bestimmten Beschäftigung nachging: einen sehr dicken Mann mit einem Geißblattzweig im Gürtel, der vor dem Laden eines Getreidehändlers auf und ab ging und die Möwen und Fischerboote am Ufer beobachtete, als ob er den ganzen Tag Zeit dazu hätte und auch noch den nächsten, falls ihn die Lust ankäme. »Nach Smithfield?« sagte der Mann. »Also, wenn Ihr der Fish Street folgt - das ist die steile da drüben - den Hügel hinauf, dann nach links die Candlewick Street entlang zum Paulsfriedhof, den Folk Moot passiert und die Schlachtbank entlanggeht, kommt Ihr zum Neuen Tor. Haltet Ausschau nach der Kirche zum Heiligen Grab direkt vor den Stadtmauern und wendet Euch dort nach rechts, dann ein bißchen geradeaus, die Straße hinunter, und wenn die Straßenräuber dann Eure Kehle noch nicht durchgeschnitten haben, Bruder, dann seid Ihr da.« »Ich glaube nicht, daß ich für Straßenräuber großen Wert habe«, meinte Lovel und wußte nicht recht, ob er diese Worte -75-
ernst nehmen sollte. Außerdem hatte er Mühe, in all dem Lärm und Gedränge einen klaren Gedanken zu fassen. »Da kennt Ihr unsere Straßenräuber nicht! Nehme an, Ihr kommt von weit her«, sagte der dicke Mann düster. »Keinen Respekt vor der Kirche, würden ihre eigene Großmutter erwürgen, und wenn's bloß um ein Sonntagstaschentuch ginge.« Dann, als er Lovels müdes und verwirrtes Gesicht sah, ließ er das Spaßen und sagte sehr freundlich: »Also, wenn Ihr am Neuen Tor angekommen seid, schließt Euch einfach der großen Menschenmenge an, die sich in einer bestimmten Richtung bewegt, und folgt ihr. So könnt Ihr gar nicht fehlgehen.« »Und diese Menschenmenge - weshalb gehen diese Leute alle nach Smithfield?« Lovel fiel es immer schwerer, klar zu denken. »Ich habe gehört, der Pferdemarkt ist immer am Samstag, und jetzt ist doch wohl erst Donnerstag?« »Ja, heute ist Donnerstag«, sagte der Mann beruhigend und war sich ziemlich sicher, daß der junge Mann nicht nur körperlich, sondern auch im Kopf nicht ganz in Ordnung sei. »Sie gehen zum St.-Bartholomäus-Markt. Das ist ein großer, neuer Warenmarkt, der mit Erlaubnis des Königs dort abgehalten wird. Ein Markt, der drei Tage dauert und dessen ganzer Erlös dazu beitragen soll, den Bau eines Krankenhauses und einer schönen neuen Abtei zum Wohl der Seele des Königs zu finanzieren! Lauft einfach den Menschen nach, dann kommt Ihr bestimmt hin.« Lovel fiel ein, daß Rahere gesagt hatte, der König sei schwach, aber fromm, und er dachte mit einem kleinen warmen Aufflackern von Lachen, das aus der Tiefe seiner Müdigkeit aufstieg, daß Rahere seine Vision gut angebracht zu haben schien. Er bedankte sich bei dem Dicken und wandte sich eben zum Gehen, als dem anderen eine Idee kam. »Sie haben eben erst mit dem Bau begonnen, wie ich höre, wenn Ihr ein Wunder erwartet, geht am besten dahin zurück, -76-
woher Ihr kommt, und wartet noch ein wenig.« »Es gibt verschiedene Wunder«, sagte Lovel und wußte selbst nicht recht, was er damit meinte. »Ich glaube, ich gehe weiter, trotzdem.«
Und er machte sich auf den Weg, die steile Fish Street hinauf. Er fand die Abzweigung der Candlewick Street und kam bald danach auf einen offenen Platz mit einer großen Kirche. Ein Mann, der einen Käfig mit Falken trug, erklärte ihm, das sei die St.-Pauls-Kathedrale. Und dann war es nicht mehr sehr schwer, die Schlachtbank zu finden. Der Geruch von Blut lag in der Luft, und überall hingen vor den Ständen der Metzger die -77-
geschlachteten Tiere herum. Als Lovel so weit gekommen war, begann sich die Menschenmenge wieder zu verdichten, und beinahe alles strömte in eine Richtung. So folgte er dem Rat des Dicken und ließ sich einfach mittreiben. Er war so müde und hungrig, daß ihm allmählich alles wie ein Traum vorkam. Die Giebel der hohen Häuser, die zu beiden Seiten der Straße standen, hatten sich in phantastische Gesichter verwandelt, die ihn aus ihren Fensteraugen anstarrten. Dann öffnete sich ein Torweg, gleich einem dunklen, gähnenden Schlund, danach kamen nur noch vereinzelte Häuser, und dann wieder eine Kirche, von der Lovel annahm, daß es die Kirche vom Heiligen Grab sei. Endlich schimmerte irgendwo offenes, freies Land hindurch, auf das sich im Licht der sinkenden Sonne die langen, kühlen Abendschatten legten. Aber vor ihm herrschte bereits wieder neues Gewühl und Lärm und Betriebsamkeit. Und plötzlich hatte Lovel den Eindruck, sich abermals am Rande einer Stadt zu befinden, obwohl er unter seinen Füßen hartes, scharfes Gras fühlte. Die Stadt bestand aus bunt bemalten, hölzernen Buden und vielfarbigen Zelten, zwischen denen Straßen hindurchführten. Diese Straßen waren sogar noch mehr mit Menschen vollgestopft als die Straßen von London. Gleich darauf verlor er die Orientierung. Die Straße der Kleiderhändler ging über in die Straße der Schuhmacher und Lederwarenverkäufer, die wiederum nach einer Biegung einmündete in eine Straße, an der nur Gold- und Silberschmiede ihre Verkaufsstände hatten. Und überall, wo nur der geringste Platz war, auf jedem freien Fleckchen, hatten sich Apfelverkäufer niedergelassen, boten Händler vergoldete Pfeffernüsse an, priesen Wahrsager ihre Dienste, vollführten Akrobaten in enganliegenden Flitterkleidern ihre Kunststücke. Lovel sah sogar einen mächtigen Bären, der traurig zu den Tönen tanzte, die sein Herr einer kleinen Flöte entlockte. Er fühlte sich diesem Bären brüderlich verbunden. Er sah so traurig -78-
und verloren aus, ein unförmiger, mühsam auf seinen Hinterbeinen umhertapsender Schatten. Mit einemmal, ohne daß er eigentlich recht wußte, wie er dahin gekommen war, gelangte Lovel ans andere Ende dieser seltsamen Märchenstadt. Vor ihm dehnte sich im Abendlicht das freie Land. Das saure, spärliche Gras verwandelte sich unter seinen Tritten schmatzend in Schlamm; Steinblöcke und Pfähle lagen herum, dazwischen eine Gruppe hölzerner Schuppen mit Dächern aus Weidengeflecht und Schilf, zottig und struppig anzusehen wie das Fell eines alten Widders. Und mittendrin erhoben sich die bereits schulterhoch errichteten Mauern eines langgestreckten Gebäudes. Das Licht der untergehenden Sonne hob die Unebenheiten der unfertigen Wände hervor. Und überall, wohin er sah, Arbeiter, die ihren Beschäftigungen nachgingen oder sich auf ihre Werkzeuge lehnten und ihren Kameraden bei der Arbeit zusahen. Der Beginn von Raheres Traum! Lovel stand und schaute. Er wußte nicht recht, was er nun tun sollte, und fühlte sich ein wenig wie jemand, der von einer langen Reise heimkommt, aber nicht weiß, wie er in das Haus hineinkommen soll. Irgendwo zwischen diesen Baubaracken würde er vermutlich Rahere finden. Doch nun schwanden seine Kräfte ganz plötzlich. Weiterzugehen und den letzten, winzigen Schritt seiner langen Suche zu tun, war mehr, als er vermochte. Wie er so dastand, auf seinen Wanderstab gestützt, hörte er dicht hinter sich das Flöten eines Stars, und einen Moment lang glaubte er sich zurückversetzt in das Nazareth-Zimmer in New Minster. Schwerfällig drehte er sich um, und da, mit hochgeschürztem schwarzen Habit, wie er einst seine Reitertunika zu tragen pflegte, stand Rahere! Ein Strom der Erleichterung durchfloß Lovel, und plötzlich war es, als ob die Sonne an einem regnerischen Tag durch einen -79-
Spalt in den Wolken bricht. »Du bist also gekommen«, sagte Rahere. »Bruder Anselm starb in der Woche, nachdem Ihr im Kloster wart.« »Dann scheinst du es also für richtig gefunden zu haben, mir doch noch zu folgen, da ich dich rief.« »Es scheint so - sehr richtig«, sagte Lovel, dann fügte er hinzu: »Ihr wißt, wie sehr ich es damals schon wünschte, aber ich konnte Bruder Anselm nicht verlassen, solange er mich noch immer brauchte.« Rund um sie wogte ein tosender, vielfarbiger Traum, aber im Zentrum dieses Traumes war es sehr still, und Lovel und Rahere standen nur da und sahen einander an, und außer ihnen beiden gab es nichts. Dann streckte Rahere seine Arme aus, die schwarzen Ärmel seines Gewandes fielen zurück und gaben seine großen, knochigen Hände frei. Er berührte mit den Spitzen seiner ungewöhnlich langen Zeigefinger Lovels Schultern, genau wie damals an jenem längst vergangenen stürmischen Abend im Nazareth-Zimmer. »Du durftest Bruder Anselm nicht verlassen«, stimmte er zu. »Welch komisches und widersprüchliches Ding ist doch die Seele des Menschen. Wenn du Bruder Anselm verlassen hättest - oh, ich hätte dich gerne mitgenommen deiner Geschicklichkeit wegen, mit der du mit Pillen und Umschlägen und dergleichen umzugehen weißt. Aber du hast keine Ahnung davon, Bruder Balg, wie enttäuscht ich dennoch gewesen wäre!« Und Lovel begriff plötzlich, daß die Wahl, die er an jenem Frühlingsmorgen im inneren Klosterhof getroffen hatte, tatsächlich eine Wahl fürs Leben gewesen war. Aber nicht die Wahl, für die er sie damals gehalten hatte.
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10. Sankt-Bartholomäus-Krankenhaus Smithfield, das war der Streifen offenes Land zwischen den Stadtmauern von London und dem Fleet River. Außer den samstäglichen Pferdemärkten wurden dort Spiele aller Art und Pferderennen abgehalten. Ein Teil des Landes war Markt, zu dem die Leute ihr Vieh, ihre Schafe und Schweine brachten. An einer anderen Stelle wurden Verbrecher gehängt. Das weiche Erdreich wurde ständig von vielen Füßen niedergetrampelt, von Hufen und Rädern aufgewühlt, so daß es allmählich zu einem sumpfigen Morast wurde. Allem Anschein nach nicht eigentlich der rechte Ort, um ein Krankenhaus und ein Priorat zu erbauen. Aber unter dem Schlamm und dem zertrampelten, harten Gras verbarg sich guter, solider Boden, und das Wasser in den Brunnen in der Nähe des Flusses war rein und klar. »Sankt Bartholomäus«, sagte Rahere zu Lovel am Tag nach dessen Ankunft, »muß ein bemerkenswert gutes Auge für Land haben.« Lovel fragte sich allerdings, ob es wirklich St. Bartholomäus war, der so ein gutes Auge für Land hatte, oder nicht vielleicht ein Augustinermönch, der einst des Königs Hofnarr gewesen war. Aber bei einem raschen Seitenblick auf die schlanke, schwarze Gestalt neben sich entdeckte er in Raheres hellen, strahlenden Augen nichts als den Widerschein des Sonnenlichts, als er seinen Kopf zur Seite neigte und kameradschaftlich einem gesprenkelten Spatzen zupfiff, der Krumen aufpickte, wo die Arbeiter ihre Mittagsmahlzeit verzehrt hatten. Mittlerweile hatten sich eine Menge Arbeiter beim Hospital eingefunden, größtenteils Handwerker und Vorarbeiter und ein paar Steinmetzen - erfahrene Männer, die es verstanden, fachgerecht Stein auf Stein zu setzen, haltbare Mauern zu -81-
errichten und Verzierungen in Bogengesimse zu meißeln. Folglich kamen sie sich auch bedeutender und wichtiger vor als die anderen. Aber außer diesen gab es noch eine Reihe von Männern, die einfach nur deshalb gekommen waren, um zu helfen, weil Rahere sie darum gebeten hatte. Rahere, der Prediger, verstand es, mit seinen Zuhörern zu spielen, wie es Rahere, der Hofnarr des Königs, verstanden hatte, auf der Laute zu spielen. Und jedesmal, wenn er in irgendeiner der Kirchen Londons gepredigt hatte, kamen nachher Männer zu ihm und boten ihm ihre Hilfe an, und wenn es sich auch nur um einen einzigen Tag handelte, den ihnen ihre eigenen Geschäfte ließen. Diese Geschäfte waren mannigfacher Art und umfaßten alles, was man sich in der Stadt und auf dem Lande nur vorstellen kann. Einmal war sogar ein Taschendieb darunter, der einen ganzen Tag lang ehrlich blieb. Ziemlich oft kamen junge Landjunker, deren Beruf allein darin bestand, zu lernen, wie man Ritter wurde. Sie streiften ihre schönen, bestickten Gewänder ab und machten sich nur mit Hemd und Hose bekleidet voller Eifer und mit dem besten Willen der Welt an die Arbeit. Sie waren es übrigens, die Beornfried, den ersten Maurermeister, an den Rand der Verzweiflung trieben. »Habt ein wenig Geduld, Erhabenster aller Baumeister«, hörte Lovel eines Tages Rahere sagen. »Bedenkt, wie gut das sowohl für ihre wie auch für Eure Seele ist.« »Aber sie haben keine Ahnung von dem, was sie tun!« Beornfried heulte beinahe, sein wettergegerbtes Gesicht zog sich in Falten wie das eines Babys, das gleich anfängt zu weinen. »Diese Mauer da, Euer ganzes schönes Hospital, wird einstürzen, wenn auch nur eine Katze dagegen pustet!« Und Rahere drehte sich um und legte seinen langen Finger prüfend an einen dicken, kurzen steinernen Stützpfeiler und sagte mit honigsüßer Stimme: »Der scheint aber recht stabil zu sein.« -82-
Die Monate vergingen, das neue Leben umschloß Lovel, wie es einst das alte getan hatte. Es war ein Leben, das sich nicht so sehr um den gerodeten und geebneten Platz drehte, der durch Pflöcke markiert wurde und die Stelle bezeichnete, an der einmal die Klosterkirche stehen sollte, sondern um das Krankenhaus, das bereits anfing, Gestalt anzunehmen: die beiden langgestreckten Krankensäle mit einem zentral gelegenen Ofen an ihrem Schnittpunkt und die kleine Kapelle, in der der Meister schon die tägliche Messe las, obwohl bis jetzt kaum jemand kam außer Lovel und gelegentlich einer Handvoll Arbeiter. Darüber noch kein Dach, außer ein paar Grassoden über dem Altar. Das Hospital war ein Gebäude aus Stein, wie es einmal auch die Kirche sein würde. Aber rundherum standen niedrige Häuser, deren Wände aus Flechtwerk nur mit Lehm beworfen wurden (sie unterschieden sich kaum von den Unterkünften der Maurer, außer daß sie kleiner waren). Eines Tages sollten das die Küchen, die Verwaltungsgebäude und die Räume des Abtes und der Brüder sein. An der einen freien Seite des Hospitals, mit dem Blick auf die Stadtmauer von London, hatte Lovel, kaum drei Tage in Smithfield, damit begonnen, seinen Kräutergarten anzulegen. Drei alte Holunderbäume wuchsen an dieser Seite des Hospitals, und er achtete sorgfältig darauf, daß sie innerhalb der rohen Umfriedung aus Flechtwerk zu stehen kamen, die er zum Schutz gegen umherstreunende Tiere anbringen mußte. Im Laufe der Monate rodete er das Buschwerk und grub den Boden um, damit die groben, feuchten Schollen vom Winterfrost krümelig gemacht würden. Er nahm an Hilfskräften, was immer er bekommen konnte, größtenteils freilich mußte er die Arbeit alleine tun. In Gedanken sah er seinen Garten schon in säuberlichen, von schmalen Pfaden durchzogenen Beeten vor sich, üppig und wunderschön anzuschauen mit all den Krautern und Pflanzen, die er einst mit Bruder John im Arzneigarten von -83-
New Minster gehegt und gepflegt hatte: Fingerhut und Schellenkraut, Schmerwurz und Gartenraute... In einigen sorgsam vorbereiteten Beeten zog er bereits Pflanzen und Ableger - Geschenke aus anderen Klostergärten und alle möglichen Wildkräuter, aus Feld und Wald und Hecke, die er in der Umgebung gesammelt hatte. Unter einer Decke aus Stroh sollten sie den Winter überdauern. Eine der ersten Pflanzen, die er setzte und dabei Abbitte heischend an Bruder John dachte, war eine weißlichrosa Schafgarbe, die er neben dem Weg nach Clerkenwell fand.
Etwas, was so gut war gegen offene Wunden, konnte unmöglich Teufelszeug sein, da war er ganz sicher, was immer auch Bruder John gesagt hatte. Aber um ja keinen Fehler zu machen, sprach er, als er vorsichtig den Boden um die Wurzel herum lockerte, einen der Sprüche über ihn, die seine Großmutter beim Kräutersammeln gemurmelt hatte:
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»Geheiligt seist du, Schafgarbe auf dem Boden, da du wachsest. Denn auf dem Kalvarienberg, da wurdest du gefunden. Du heiltest unseren Retter Jesu Christ und brachtest die blutende Wunde zum Versiegen.« Vorsichtig hob er die Wurzel mit einem schönen Erdballen daran aus dem Boden. »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes nehme ich dich aus dem Boden.« Sollte die Pflanze dennoch des Teufels sein, dann würde sie jetzt welken und sich in seiner Hand in ein schwarzes und stinkendes Etwas verwandeln. Er betrachtete sie doch recht ängstlich, aber die graugrünen Blätter und die flachen Rispen der kleinen weißlichen Blüten blieben so frisch wie vorher. Er grub noch mehrere davon aus und trug sie zu dem kleinen Stückchen Land, das er schon dafür vorbereitet hatte. Dort pflanzte er sie mit solcher Sorgfalt ein, als ob sie Mekkabalsam wären. Dieser Augenblick, das fühlte er, war die Geburtsstunde seines Kräutergartens. Aber noch bevor der Herbst in den Winter überging, lange ehe das Hospital vollendet war, hatte Lovel ebensosehr damit zu tun, Menschen zu pflegen wie Pflanzen. Es begann mit einem uralten Mann, den seine Familie einfach auf der Kirchenschwelle zurückgelassen hatte wie ein unerwünschtes Kind. Dann kam ein fremder Seemann, der bei einer Wirtshausrauferei schwer verletzt worden war. Der nächste Patient war eine Frau mit einem Baby im Arm, das sehr krank sei, wie sie sagte. Sie bat Lovel, es wieder gesund zu machen. Doch es war die Frau, die krank war. Das Baby lebte nicht mehr. Sie beerdigten das Kind, und Lovel pflanzte eine weiße -85-
Wildrose, um den Ort zu kennzeichnen. Sie kümmerten sich um die Frau, bis sie wieder gesund war. Der Seemann erholte sich auch und ging davon, einen Racheschwur gegen den Mann auf den Lippen, der ihn gestochen hatte. Der alte Mann starb und wurde neben dem Baby begraben. Aber zu dieser Zeit begannen bereits andere Menschen herbeizuströmen, traurige und hoffnungsvolle, die darum baten, daß man sie wieder gesund mache oder ihnen wenigstens erlaube, im Schutz des Klosters und bei freundlichen Menschen zu sterben. Rahere schickte keinen weg. So war St. Bartholomäus ein von Leben erfülltes Hospital geworden. Zwei weitere Brüder kümmerten sich um die Kranken, in den Küchen wurde Essen gekocht, die Herdfeuer erloschen niemals, und auf dem Altar der Kapelle brannten die Kerzen, während das Dach noch immer ein Notbehelf war aus Flechtwerk und Stroh, durch das es zog und der Winterregen tröpfelte. An einem Tag gegen Ende des Frühjahrs, als im Kräutergarten das erste Schellenkraut seine gelben Blütenaugen öffnete, legte Lovel vor Richard de Belmeis, dem Bischof von London, seine ewigen Gelübde als Augustiner-Chorherr ab. Er wollte dies schon viel früher vor Rahere tun, aber als er den Wunsch äußerte, war über Raheres Gesicht ein flüchtiges Lächeln gehuscht. »Einst ein König und sein Page, jetzt ein Ritter und sein Knappe? Es bedarf eines Bischofs, um einen Chorherrn zu machen, Bruder Balg, und ich bin nicht einmal Prior, obwohl ich die ernstzunehmende Ahnung habe, daß mir das in nicht allzu ferner Zukunft blühen wird.« Er warf einen schnellen Blick auf die niedere Steinumfassung, wo sich eines Tages die Kirche des Priorats erheben sollte. »Aber jetzt - bin ich der Chef vom St.-Bartholomäus-Hospital, nichts weiter. Es liegt nicht in meiner Hand, meinen Knappen zum Ritter zu schlagen. Deshalb werde ich neben dir stehen, während du deine Gelübde vor dem Bischof von London ablegst, wenn er im nächsten Monat hierherkommt, um den Fortgang der Arbeit zu -86-
besichtigen.« So legte Lovel also seine Gelübde in der kleinen, kahlen Kapelle des Hospitals vor Richard de Belmeis ab. Zur Seite standen ihm Rahere und Meister Alfwine, der direkt vom Bau der Sankt-Giles-Kirche in Cripplegate zu ihnen gekommen war. Genau einen Tag vorher war der Dachstuhl fertig geworden, und die Arbeiter hatten am First den kleinen, geschmückten Baum angebracht, der diese Tatsache fröhlich aller Welt kundtat.
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11. Das Versprechen Nahezu drei Jahre waren vergangen, seit Lovel New Minster verlassen und sich auf den Weg nach London gemacht hatte, um Rahere bei der Verwirklichung eines unmöglichen Traumes zu helfen. Und es hatte den Anschein, als ob das Hospital mit seinen offenen Türen für alle, die seiner bedurften, schon so lange dastehen würde, als Erlen am Fleet River wuchsen. Acht Brüder und vier Schwestern nahmen sich jetzt der Kranken an, die in den zwei langgestreckten Krankenzimmern lagen. Aber niemand von ihnen besaß Lovels Kenntnis der verschiedenen Kräuter oder die seltsame Heilkraft seiner Hände, die er von seiner Großmutter ererbt hatte. Der Kräutergarten war noch immer seine Domäne, ebenso wie die Apotheke mit den aneinandergereihten Töpfen, Tiegeln und Krügen und den Bündeln getrockneter Kräuter, die sich am Ende der Eingangshalle befand. Er schlief nicht mit den übrigen Brüdern in dem langen, weiß getünchten Schlafraum, sondern auf einem zusammenklappbaren Bett in einer Ecke der Apotheke, damit er immer schnell zur Hand sei, falls er in der Nacht gebraucht würde. Die meisten der Menschen, die ins Hospital kamen oder von ihren Freunden dorthin gebracht wurden, waren entweder uralt oder so krank, daß nicht viel mehr für sie getan werden konnte, als sie liebevoll zu behandeln. Lovel tat das. Mit den übrigen Brüdern wechselte er sich darin ab, mit einem Handkarren über Land zu ziehen, um Nahrungsmittel zu erbetteln, damit keiner hungere. Er betreute sie, er gewöhnte sich an den säuerlichen, kränkelnden Geruch von Alter und Schmutz. Er hörte ihnen zu, wenn sie das Bedürfnis hatten zu sprechen; er beruhigte sie, wenn sie ängstlich und elend waren, er betete mit ihnen und tat -88-
alles, was in seiner Macht stand, um ihre Schmerzen und Qualen zu lindern. Er wußte wohl, daß er hiermit das einzige tat, was er wirklich konnte, und wußte trotzdem, daß irgend etwas fehlte. Er merkte es anfangs gar nicht. Aber manchmal, nachts, wenn er zu müde zum Schlafen war, erinnerte er sich seiner Kindheit und der trockenen, ungeduldigen Stimme von Bruder Eustachius: »Für einen Krankenpfleger gibt es zwei Wege. Der eine besteht darin, mit jedem Kranken, den man pflegt, ein kleines bißchen des eigenen Lebens hinwegzugeben. Der andere ist der, alles zu tun, was für die Kranken getan werden kann, aber trotzdem Abstand zu halten. Dies letztere ist die einzige Möglichkeit, daß dir nicht das Herz bricht.« Lovel wurde allmählich klar, daß er genau das machte: Er tat alles, was er konnte, aber er tat es mit Abstand. Und er wollte nicht, daß es so sei. Von ganzem Herzen und aus ganzer Seele wünschte er, es wäre nicht so. Aber konnte man sich ändern? Er betete darum, aber das Beten war niemals seine besondere Stärke gewesen. Eine seltsame Art der Verlassenheit begann von ihm Besitz zu ergreifen. Er zweifelte an sich selbst, er zweifelte, ob Gott ihn überhaupt dazu ausersehen hatte, Kranke zu heilen. Er lebte eine geraume Zeit mit diesen Zweifeln, bis eines Tages etwas geschah, was ihn antrieb, Rahere in seinen Räumen aufzusuchen, wo er den Meister dabei antraf, wie er sich gerade mit den Hospital-Rechnungen herumschlug. Rahere legte die Rechnungen beiseite, ohne auch nur zu seufzen, und hörte sich Lovels Zweifel darüber an, ob Gott überhaupt wolle, daß er die Kranken behandele. Und dann sagte er: »Bruder Balg, wenn du nur Hände und Kopf benutzt, dann würde ich sagen: gegenwärtig genügen Hände und Kopf auch. Ich könnte mir keinen besseren Krankenpfleger wünschen. Und wenn Gott will, so glaube ich, wird er dir geben, was du brauchst, wenn die rechte Zeit dazu gekommen ist.« -89-
»Das schon - falls er will, daß ich ein Heilender bin«, antwortete Lovel. Erholte tief Atem. »Meister, seit gestern bezweifle ich das noch mehr. So verwachsen wie ich bin, kann ich für die Menschen, denen ich versuche zu helfen, keine große Ermutigung bedeuten.« »Das fragt sich«, meinte Rahere, dann fügte er hinzu: »Was ist gestern geschehen?« »Ich wurde zu diesem Arbeiter gerufen - zu dem, der sich die Schulter ausgerenkt hat, als beim Aufschichten von Bauholz die Ladung verrutschte. Er wollte nicht, daß ich ihn berühre. Er sagte, weshalb ich nicht etwas wegen meiner eigenen Schulter unternähme, bevor ich die seine kaputtmache. « »Du hast sie ihm trotzdem wieder eingerenkt, nicht wahr?« sagte Rahere einfach, das Kinn zwischen seinen langen, knochigen Händen, und wandte seine strahlenden Augen keinen Moment von Lovels Gesicht. »Und ich kann mir vorstellen, daß er heute in bezug auf deine und seine Schulter ganz anderer Meinung ist. - Du lieber Himmel! Ich bin dir keine große Hilfe, nicht wahr? Aber welche Hilfe kannst du auch erhoffen von einem zum Mönch gewordenen Hofnarren? Du mußt den Weg selbst finden, mit Gottes Hilfe, nicht mit der meinen, Bruder Balg.« Das war im Sommer. Dann kam ein Tag im Frühherbst, der zuerst wie jeder andere Tag erschien, außer daß er ein bißchen weniger geschäftig war als die übrigen. Niemand war ernsthaft krank, der Garten war gut in Schuß, und Lovel, der den Pfropfen in die letzte Flasche seines neuen Absuds aus Andorn und Dill stieß, rechnete sich aus, daß er ein wenig freie Zeit hätte, wenn er auf sein Mittagessen verzichtete. Hier war das Leben nicht so streng geregelt wie in den großen Klöstern. Wo so viele der Brüder bei der Arbeit, draußen beim Betteln oder mit der Pflege der Kranken beschäftigt waren, konnte man immer eine Mahlzeit -90-
überspringen, wenn man wollte. Was sein Gutes hatte, wie Lovel fand, denn Schwester Gertruda war keine gute Köchin, und wenn sie Küchendienst hatte, wie heute, würden Klumpen überall da sein, wo nur die geringste Möglichkeit zur Klumpenbildung bestand, und alles übrige würde angebrannt sein. Noch jemand schien das Mittagessen auszulassen, denn als Lovel seine Runde durch den großen Saal machte, um sich davon zu überzeugen, daß alles in Ordnung sei, sah er Bruder Luke in der kleinen Kapelle beschäftigt. Bruder Luke war ein hünenhafter, stiller Mann; einer jener Menschen, die dahintreiben wie Wolken und scheinbar nichts Besonderes tun. Am Ende des Tages jedoch haben sie mehr geleistet als Bruder Anders und Bruder Dominic zusammen. Und soviel er auch tat, er schien immer noch Zeit für weitere Arbeiten zu haben. Bruder Luke war stets bereit, sich zu jemandem zu setzen, der besonders krank war, er hatte immer Zeit, Lovel beim Umgraben im Garten zu helfen oder im Laboratorium aufzupassen, daß etwas, was erhitzt wurde, nicht überkochte. Es war Bruder Luke, in jungen Jahren Schildermaler, der jetzt seine alte Kunstfertigkeit wieder hervorholte und ein Bild des heiligen Bartholomäus an die Wand hinter dem Altar in der Kapelle des Hospitals malte. Manche der Patienten, die ihre Betten verlassen konnten, standen herum, um ihm zuzusehen - es ist immer interessant, anderen bei der Arbeit zuzusehen -, und auch Lovel hielt einen Augenblick inne, um zu schauen. Das Bild selbst war vollendet. Sehr farbenfroh, wie die Ladenschilder, die Bruder Luke so oft gemalt hatte, die über der Straße hingen und die Aufmerksamkeit des Vorübergehenden erregen sollten. Es zeigte den Heiligen mit langem, weißem Bart, mit blauer Tunika unter einem strahlend rosarot und rot gestreiften Mantel. In der einen Hand hielt er das Modell des Priorats, die andere hatte er segnend erhoben. Er stand inmitten eines Gartens und sah aus, -91-
wie Rahere ihn in seiner Vision beschrieben hatte: ein recht respektabler und würdiger alter Knabe. Und weil Bruder Luke seine Arbeit liebte und es nicht ertragen konnte, auch nur eine kleine Ecke der freien Fläche zu verschwenden, war jedes Fleckchen des Hintergrundes ausgefüllt mit kleinen Blumensträußen, über denen Vögel und Schmetterlinge gaukelten, und mit Käfern, die an den Stengeln emporkrabbelten, mit kleinen dicken Wolken und kreisenden Sternen und den spitzen Dächern und Turmkronen entfernter Städte. Das Bild selbst war also vollendet, nicht einmal der goldene Heiligenschein fehlte, der eine fatale Ähnlichkeit mit einem Strohhut hatte. Und Bruder Luke malte jetzt hingebungsvoll an den Buchstaben auf einer Schriftrolle, die von zwei Engeln mit karminroten Flügeln gehalten wurde. »Denn der Herr tröstet Zion«, las Lovel. »Er tröstet alle ihre Wüsten und macht die Wildnis zu Eden und ihr dürres Land zu dem Garten des Herrn, daß man Wonne und Freude darin findet, Dank und Lobgesang.« - Lovel hatte diese Worte schon seit zwei Tagen gesehen, vorgezeichnet und fertig zum Ausmalen. Aber jetzt wirkten sie ganz anders, da Bruder Lukes große Hände sie zum Leben erweckten. Sie ließen ihn daran denken, wie dieser Ort sich in den drei Jahren verändert hatte, seit Raheres Traum aus dem Ödland von Smithfield emporgewachsen war. Sie ließen ihn an seinen Kräutergarten denken und an die drei wie Schildwachen dastehenden Holunderbäume. Ein Versprechen, dachte er, ein Versprechen so vieler Dinge an so viele Menschen, ihn selbst mit eingeschlossen. Bruder Luke drehte sich um, sah ihn und sagte: »Ich habe es besonders voll gemalt, damit unsere Kranken immer eine Menge zu schauen haben. Besser als immer nur die Krankenhauswände.« »Ob du nicht vielleicht doch noch Platz für einen Grashalm finden könntest?« -92-
Bruder Luke machte es überhaupt nichts aus, wenn man sich über ihn lustig machte. Der große Mann setzte sich nieder auf seine Fersen und besah sich sein Bild ernsthaft, dann nickte er, nahm einen Pinsel, der in einem Topf mit gelber Farbe steckte, und malte vorsichtig und liebevoll einen schwefelgelben Schmetterling an das äußerste Ende der Schriftrolle. Für einen Augenblick huschte eine vage Erinnerung durch Lovels Hirn, irgend etwas, das mit einem gelben Schmetterling und einem Versprechen zusammenhing... Dann ertönte Raheres Stimme hinter ihm: »Ausgezeichnet! Ich bin überzeugt, daß sich unser Herr bis zu diesem Augenblick darüber gegrämt hat, daß auf dem Bild ein Schmetterling fehlte.« Und die schemenhafte Erinnerung schlüpfte dorthin zurück, woher sie gekommen war. Wenig später trennte sich Lovel von dem Meister auf der Schwelle des Eingangs zum Hospital und ging seiner Wege. Vor sich konnte er den Chor der Prioratskirche sehen, ihre Kraft und Schönheit erhob sich, um mit ihrem stolzen Schatten den Himmel zu zerteilen. Bis jetzt stand nur der Chor, der Rest sollte später folgen, so daß die Brüder nicht zu warten brauchten, bis die ganze Kirche erbaut war, und mit dem Gottesdienst beginnen konnten. Aus einiger Entfernung erschien das Gebäude entrückt und nicht ganz wirklich, aber als Lovel näher kam, erwies es sich als durchaus wirklich, solid und widerstandsfähig und dauerhaft. Die Männer machten sich gerade nach beendeter Mittagspause wieder an die Arbeit. Der ganze Bauplatz begann von geschäftigem Leben zu summen wie ein Bienenkorb. Lovel ging an dem langen Schuppen vorüber, in dem der Maurerpolier seine Baupläne auf getünchten Borden aufgezeichnet hatte, wich einem mit zugeschnittenen Steinen beladenen Wagen aus und setzte seinen Weg fort über den unebenen, zerfurchten Boden, -93-
wo die Zirnmerleute damit beschäftigt waren, die großen Dachbalken abzuhobeln. An einer anderen Stelle sah er die Schmiede an der Arbeit. Sie fertigten Stäbe, Schrauben und Dübel für die Gewölbe. Und vom Chor selbst, wo der große Ladekran in Bewegung war, kamen die Rufe der Männer, die sich damit plagten, das gewaltige Rad zu drehen, das die zugeschnittenen Steine gen Himmel beförderte, und die Antworten der Männer hoch über ihren Köpfen auf den Gerüsten, die darauf warteten, die hin und her schwankenden Quader in Empfang zu nehmen und sie an die richtige Stelle zu dirigieren. Neben einer im Freien stehenden Kochstelle vor einer der Arbeiterunterkünfte, wo die Männer gerade ihr Mittagessen beendet hatten, saß ein magerer, rothaariger Junge von ungefähr sechzehn Jahren auf einem Balken und kratzte aus einem großen Topf, den er auf den Knien hielt, die Reste der Mahlzeit zusammen. Er fuhr mit seinem langen Zeigefinger an den Innenseiten des Topfes entlang und leckte die Klumpen des Haferbreis ab. Aber er achtete nicht auf das, was er tat, sondern starrte angestrengt auf die hohe Silhouette des Chors, durch dessen Fenster der blaue Himmel schien. Lovel konnte später nicht mehr recht sagen, was ihn dazu bewogen hatte, innezuhalten. Er hatte den Jungen noch niemals zuvor gesehen, aber es war, als ob irgend etwas in seinem Inneren eine Art Verwandtschaft spürte. Sein Schatten fiel auf den Breitopf, und der Junge sah erschrocken auf, dann bemerkte er die schwarze Ordenstracht und machte mühsam Anstalten sich zu erheben, so als ob ihn der schwere Topf auf seinen Knien hindere. Lovel schüttelte den Kopf und setzte sich neben den Jungen auf den Balken, streckte sein verkrümmtes Bein aus, das ihn schmerzte, wie so oft, wenn er es zu sehr belastet hatte. Der Junge blieb, wo er war, und betrachtete ihn erstaunt. Nach einigem Zögern lächelte er und zeigte dabei eine Zahnlücke, -94-
dann wurde er wieder ernst. Er hatte ein ernstes Gesicht, wenn das Lächeln daraus verschwand. »Du bist neu auf der Baustelle, nicht wahr?« fragte Lovel. »Ja. Ich bin der neue Küchenjunge, wenn Ihr so wollt. Der Laufbursche und der Breijunge.« Lovel nickte. Jeder Bauplatz hatte solche Anhängsel, Jungen oder alte Männer, die Suppen zusammenbrauten und für alles und von jedem umhergeschickt wurden. Manchmal waren es Verwandte von einem der Arbeiter, manchmal Jungen, die ihr Handwerk auf diese harte Weise erlernten, oder nur Streuner von irgendwoher, die auch wieder irgendwohin verschwanden.
Lovel spürte plötzlich ein Interesse, mehr über den Jungen zu erfahren; aber etwas in dem sommersprossigen Gesicht gab ihm trotz des Grinsens das Gefühl, daß Fragen taktlos wären. Etwa so, als ob man die Tür zu einer fremden Wohnung aufstieße und -95-
einträte, ohne um Erlaubnis zu bitten. Statt dessen sagte er: »Ich habe noch nicht zu Mittag gegessen. Willst du mir etwas aus dem Topf da abgeben?« Der Junge hielt ihm das Gefäß hin. »Ihr seid herzlich eingeladen, Pater.« Und Lovel fuhr mit seiner Hand hinein und brachte einen Finger voll Brei zutage. Er war beinahe kalt, dick und klebrig, aber weder angebrannt noch voller Klumpen. »Das ist gut. Ich wollte, du würdest mit mir kommen und für uns in der Küche des Hospitals kochen«, sagte er halb im Spaß. »Ich gehöre hierher.« Der Junge wies mit dem Kinn auf die Mauern des Chors, die sich ins Sonnenlicht erhoben und um deren Firste die Schwalben segelten, die sich bereits für ihren Herbstflug nach dem Süden sammelten. »Dorthin, wo die Mauern stehen.« Das schien eine ziemlich seltsame Antwort für jemanden, der gerade erst nach Smithfield gekommen war. Aber Lovel hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, denn in diesem Augenblick rief jemand, der durch eine in der Nähe stehende Hütte verborgen blieb: »He! Nick! Nick Redpoll! Wenn du nichts Besseres zu tun hast, dann komm und schieb eine Runde am Blasebalg! Glaubst du vielleicht, ich kann zur Ehre Gottes Schrauben schmieden und gleichzeitig das verdammte Feuer in Gang halten?« Der Junge stellte den Breitopf, den Lovel ihm zurückgegeben hatte, zu Boden und beugte sich zur Seite, um irgend etwas, das im hohen Gras verborgen war, hervorzuziehen. Lovel sah, daß es eine roh zusammengezimmerte Krücke war und daß Nick Redpolls linkes Knie steif und abgebogen war, so daß sein Fuß den Boden nicht berühren konnte, als er aufstand. Da verstand er das seltsame Gefühl der Verbundenheit, das er für den rothaarigen Jungen empfunden hatte. Als er ihm so nachsah, wie er davonhumpelte und einem -96-
neuerlichen Ruf aus der Hütte des Schmieds folgte, erinnerte sich Lovel deutlich an seine ersten Tage in New Minster, als auch er für jedermanns Wünsche zur Verfügung zu sein hatte, ohne einen Platz im Leben, der nur ihm allein gehörte. Inzwischen war es zu spät geworden, um in die Kirche zu gehen. Er ging also den Weg zurück, den er gekommen war, zu all den Dingen, die mittlerweile auf ihn warten würden und erledigt sein wollten. Aber er nahm sich noch die Zeit, um zuzusehen, wie einer der Steinmetzen, den er flüchtig kannte, mit dem Polsterkapitell vorwärtskam, das er für die Chorpfeiler zurechtmeißelte. Er stellte sich neben den kleinen, gebeugten Handwerker, beobachtete die langsame, sichere Arbeit des Meißels, der tiefe Verzierungen herausgrub, und sagte: »Euer neuer Küchenjunge - ich hörte, wie ihn jemand Nick Redpoll nannte -, ist er verwandt mit einem der Arbeiter?« Serie, der Steinmetz, betrachtete den cremefarbenen Stein, der unter den Schlägen des Hammers absplitterte. »Nicht, daß ich wüßte«, sagte er. »Er kam einfach und trieb sich auf dem Bauplatz herum wie ein streunender Hund. Die Kameraden gaben ihm dann allmählich untergeordnete Arbeiten. Er ist ein recht guter Küchenjunge. Auch geschickt mit den Händen und scheint Interesse am Bau zu haben. Ein Jammer, das mit seinem Bein, er könnte sonst eines Tages Steinmetz werden.«
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12. Nick Redpoll Es vergingen einige Wochen, bevor Lovel wieder einmal Zeit fand, zum Bauplatz hinüberzugehen. Nächstes Jahr würden die großen Dachbalken aufgezogen sein, doch jetzt war der Chor nur gedeckt vom grauen, verhangenen Himmel, an dem Wolkenfetzen dahineilten. Der sanfte, nasse Westwind stob durch die Fenster des Mittelschiffs und zerrte an den Kleidern der Männer, die oben auf dem Gerüst arbeiteten. Das nördliche Seitenschiff war bereits überdacht, es hatte zwar noch kein Gewölbe, aber immerhin ein Dach aus rohen Balken und Dachsparren. Schon konnte man bei einem Blick durch die Pfeiler des Chors hindurch tiefe, warme Schatten darin nisten sehen. In einem dieser Schatten bewegte sich etwas, und Lovel sah, daß es der Junge Nick war. Da stand er, eine Rolle Taue über der freien Schulter, auf seine Krücken gestützt und beobachtete mit weit zurückgeneigtem Kopf die Männer, die gegenüber auf dem Dach des Südschiffs arbeiteten. Auf seinem Gesicht lag ein leidenschaftlicher Ausdruck des Verlangens, der Lovel plötzlich tief in seinem Inneren schmerzte. Das dauerte jedoch nur einen Augenblick. Dann blickte Nick Redpoll sich um, sah Lovel und grinste. Lovel hinkte zu ihm hinüber, und zusammen sahen sie den Männern auf dem hohen Dachfirst zu. »Windig dort oben«, sagte Nick nach einer Weile. »Windig«, pflichtete Lovel ihm bei. »Bald Zeit, sie für den Winter einzumotten.« Lovel sah sich rasch um. Das klang ganz nach Maurerjargon. Nun, der Junge hatte ja in der Zwischenzeit sicherlich eine ganze Menge davon aufgeschnappt. -98-
»Schätze, Meister Beornfried hat jedesmal ein gutes Gefühl, wenn er da hinaufschaut«, sagte Nick. Und nach einer weiteren Weile gemeinsamen Schweigens: »Sie wird eine richtige Schönheit.« Noch immer gebannt zu den Männern auf dem Gerüst hinaufstarrend, streckte er seine Hand aus und legte sie an den Sockel der Säule, neben der er stand. Und Lovel dachte, daß dies die Art sei, wie jemand seine Hand an einen Baum legen mochte, um die Kraft des lebenden Holzes zu fühlen. Aber beinahe im gleichen Augenblick sah er Nicks Gesicht vor Entsetzen erstarren, mit weit geöffneten Augen und zum Schreien aufgerissenem Mund, aus dem jedoch kein Ton herauskam. Aus der Höhe über ihnen ertönte ein Krachen, ein Splittern und dann ein Schrei. Lovels Blick hetzte zurück zu dem luftigen Steg, gerade in dem Augenblick, da eine Planke krachend auf den Boden des Chors niederstürzte. Aufgeregte Rufe schwirrten umher. Eine Gestalt klammerte sich am Rand des Gerüstes fest, mit krampfhaft in der Leere zuckenden Beinen, wurde von zweien der Kameraden hochgezogen und in Sicherheit gebracht. Der Leiter der Gruppe, der unten stand und um ein Haar von der niederstürzenden Planke getroffen worden wäre, schrie: »Bei den Hörnern vom heiligen Lukas! Weiß denn keiner von euch, wie man bei Wind eine Planke zu tragen hat!« Ein zitternder Seufzer neben sich veranlaßte Lovel, sich umzusehen. Nick Redpoll war am Fuß der Säule zusammengesunken und verbarg sein Gesicht in den Armen. Lovel beugte sich rasch über ihn, der Tumult auf dem Gerüst ging ihn nichts mehr an. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Alles in Ordnung. Es war nur ein Balken, der herunterkam.«
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Langsam hob Nick Redpoll seinen Arm und sah empor, an Lovel vorbei zu den Menschen auf dem Gerüst hinauf, die jetzt wütend gestikulierten und Schimpfnamen durch die Gegend schrien. Er versuchte zu lächeln, aber sein Gesicht war von einer seltsam grauen Blässe, in der die Sommersprossen wie schwarze Flecken standen. Er sah aus wie jemand, der soeben aus einem Alptraum erwacht ist und sich noch nicht ganz davon befreien kann.
»Es war nur der Balken«, wiederholte Lovel noch einmal. »Ja, klar. Einen Augenblick hat es so ausgesehen, als ob's Barty wäre.« Nick versuchte, einen Scherz zu machen: »Ich muß -100-
nicht ganz richtig im Oberstübchen gewesen sein, so zusammenzufahren. Man sagt, der Teufel verläßt die Seinen nicht. Und Barty könnte nicht von einem Gerüst fallen, selbst wenn er es wollte.« »Nein, er nicht. Aber du bist hinuntergefallen, nicht wahr?« Lovel hörte seine Stimme, noch bevor er sich dessen bewußt war, gesprochen zu haben. »Ich - was?« fragte Nick gedehnt, um Zeit zu gewinnen. »Vom Gerüst gefallen. Und jetzt gerade wieder, als du dachtest, Barty käme herunter. Damals hast du dein Knie verletzt.« Lange Zeit herrschte Schweigen. Auf dem Gerüst nahm alles wieder seinen gewohnten Lauf. Dann wandte Nick schwerfällig den Kopf. »Ja. Mehr als zwei Jahre ist's her.« Er griff nach seiner Krücke. »Ich muß weiter, sonst schreien die dort drüben beim Turm wegen ihrem Seil.« »Nick«, sagte Lovel rasch, »wenn die Arbeit heute abend beendet ist, komm zum Hospital hinauf. Wenn ich nicht da bin, frage nach mir.« Sie sahen einander an. Dann fragte Nick: »Und warum, Pater?« »Ich möchte mir dein Knie gerne einmal ansehen.« »Es blieb steif«, sagte Nick beinahe mürrisch. »Ja, das weiß ich. Ich möchte es mir trotzdem ansehen.« Nick sah auf seine rechte Hand hinab, die sich zur Faust geballt hatte. »Könnt Ihr was dagegen tun? Natürlich nicht.« Lovel sagte: »Ich weiß nicht. Meine Großmutter hatte den sechsten Sinn, ich nicht. Bitte, Nick, nach der Vesper?« »Ich muß für die Burschen kochen.« »Dann komm also, wenn du mit dem Kochen fertig bist.« Nick starrte weiterhin seine Faust an. Dann nickte er und -101-
drehte sich um. »Ich komme«, sagte er über die Schulter hinweg und nahm die Taue hoch. Aber Lovel war nicht sicher, ob er wirklich kommen würde, nicht ganz sicher, bis spät an diesem Abend Nick tatsächlich in der kleinen, vollgestopften Apotheke vor ihm stand und so trotzig dreinsah, als ob er hierhergeschleppt worden wäre, um Schläge zu bekommen. Lovel hieß ihn, sich auf sein Bett in der Ecke zu setzen und seine zerschlissene Hose abzustreifen. Dann zündete er noch eine Kerze an und kniete sich neben ihn nieder. »Nun, laß mich sehen.« Aber wie gewöhnlich war es weniger ein Sehen als ein Fühlen, gewissermaßen ein Sehen mit den Händen. Er konnte den weißen, zusammengenähten Schnitt sehen, wo ein Abszeß gewesen sein mußte, und in der Kniekehle die gespannte Sehne fühlen, fest und scharf wie eine Bogensehne, die sich immer mehr zusammengezogen hatte, Nicks Knie immer weiter zurückziehend, bis er es überhaupt nicht mehr strecken konnte. Als er endlich aufblickte, sah er geradewegs in die Augen des Jungen, die weit und blau und sehr ernst auf ihn gerichtet waren. Nick fuhr sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe, aber er sagte nichts. »Tut das weh?« fragte Lovel. »Jetzt nicht.« »Es wird weh tun, wenn ich versuche, es wieder zu strecken.« »Ihr glaubt - Ihr glaubt, das könnt Ihr?« fragte Nick atemlos. »Ich möchte so gerne wieder in meinen alten Beruf zurück.« Lovel erhob sich und sah nach, was der Hustensirup machte, den er auf dem Ziegelofen in der Ecke kochte. Plötzlich erinnerte er sich an die Zeit vor beinahe zehn Jahren, als er genau die gleiche Entscheidung bei Valiant treffen mußte. Zwar -102-
würde niemand Nick Redpoll mit einem Stein auf den Kopf schlagen, wenn er dieses Bein nicht behandelte; er würde einfach so weitermachen wie bisher. Aber wäre das nicht vielleicht besser, als ihm weh zu tun, wie er ihm würde weh tun müssen, wie er ihm immer weiter weh tun müßte und ihm Hoffnung machen, Monate und Monate hindurch? Um endlich ihm und sich selbst vielleicht doch die Niederlage einzugestehen? Aber es bestand eine Chance. Er hatte sie mit seinen Händen erfühlt. Es bestand eine Chance. Er drehte sich um und sah den Küchenjungen über die Kerzenflamme hinweg an. »Ich glaube, es gibt eine Chance«, sagte er. »Geh und bete zum heiligen Bartholomäus, ein gutes Gebet wird uns helfen. Ich komme morgen zu dir.« Später an diesem Abend stand Lovel in der kleinen Hütte aus Flechtwerk, die dem Meister als Behausung diente. Vor dem Tisch, an dem Rahere saß und sich wie immer mit den ewigen Rechnungen abplagte. »Wir müssen wieder betteln gehen«, sagte Rahere. -»Aber was wir wirklich brauchen, ist noch ein Wunder. Und was willst du, Bruder Balg?« »Ich glaube, auch ein Wunder«, antwortete Lovel. Rahere lächelte und stieß die Rechnungen beiseite. »Der Wunder wegen solltest du lieber hinübergehen zu unserer hübschen, himmelüberdachten Prioratskirche. Heute nacht werden die Sterne statt der Altarkerzen leuchten. Ich habe im Augenblick gerade keine Wunder zur Hand.« Lovel sagte: »Da ist dieser Junge - Nick Redpoll, einer der Küchenjungen vom Priorat drüben...« »Der Junge mit der Krücke?« »Kann ich ihn ins Hospital bringen?« »Ist er krank?« fragte Rahere. »Nein. Aber ich glaube, es besteht die Möglichkeit, sein Knie -103-
wieder beweglich zu machen, wenn - wenn ich ihn hier haben könnte.« »Für wie lange?« »Ich weiß nicht - vielleicht für ein halbes Jahr.« Rahere seufzte und legte die Feder weg, mit der er gespielt hatte. Die Falten in seinem Gesicht wirkten beim Schein der Kerzen tief und scharf, als ob sie mit einem Schwert gezogen wären. Sowohl die Lachfalten wie die Kummerfalten. »Der Bauplatz ist nicht weit weg. Könntest du nicht alles Nötige auch dann tun, wenn der Junge jeden Tag hierher zu dir käme?« »Er würde nicht kommen. Die Männer würden den ganzen Tag Arbeit für ihn finden und - und, was wichtiger ist, er würde nicht in der Verfassung sein, sie zu tun. Ein alter Soldat hat mir einmal gesagt, daß eine Verletzung am Knie oder Ellenbogen am schwersten zu ertragen sei. Er wird eine ganze Menge Schmerzen aushalten müssen, und ich kann meine Arbeit nicht ordentlich tun, wenn er nicht die nötige Ruhe und Behandlung hat.« »Nick Redpoll ist doch schon seit mehr als einem Monat auf dem Bauplatz. Woher dieses plötzliche Interesse?« sagte Rahere. »Vielleicht, weil er mir so vorkommt wie mein anderes Ich. Erst heute habe ich herausgefunden, daß es nur ein Unfall war er stürzte beim Bau einer anderen Kirche vom Gerüst. Ich habe mir sein Knie angesehen, und ich bin sicher, daß etwas getan werden kann.« Er sah Rahere beschwörend an. »Es ist nicht nur sein Bein, es ist sein ganzes Leben. Er war Baumeisterlehrling. Und wenn Ihr gesehen hättet, mit welch sehnsüchtigem Blick er die Männer auf dem Gerüst beobachtet hat... Er hat auch die richtigen Hände, das merkt man, wenn er den Stein berührt. « Rahere lehnte sich zurück, seine geschwungenen Augenbrauen zogen sich amüsiert zusammen. »Bruder Lovel, das war die längste Rede, die ich jemals von dir gehört habe. -104-
Wenn ich dir also erlaube, Nick Redpoll zur Behandlung hierzubehalten, wirst du also einen neuen Maurer für meine Priorei aus ihm machen.« »Meister, lacht nicht über mich«, bat Lovel. »Nicht diesmal.« »Nein, diesmal nicht« , sagte Rahere, und wirklich lag auf seinem Gesicht nicht die Spur eines Lächelns. »Du glaubst also, es besteht einige Hoffnung, das Knie des Jungen zu heilen. Aber wieviel Hoffnung? Bedenke, wir brauchen jedes Bett. Wenn wir ihn den ganzen Winter über hierbehalten, wird vielleicht irgend jemand ohne Pflege in der Gosse sterben.« »Er kann mein Bett in der Apotheke haben.« »Es geht nicht nur um das Bett, das weißt du. Du weißt, daß unser Hospital dauernd Gefahr läuft, aus den Nähten zu platzen. Und was dann, wenn sich diese Hoffnung am Ende als trügerisch erweist?« - Wieder dachte Lovel an Valiant und daran, wie er vor Bruder Eustachius in dem Krankenzimmer in New Minster gestanden hatte. »Ich wünsche es wirklich«, begann er langsam. »Es bedeutet so viel für mich...« »Ich weiß das«, sagte Rahere, »und ich weiß auch, weshalb.« »Und ich glaube auch, daß er eine Chance hat. Ich habe es gefühlt - hier mit meinen Händen.« Rahere schwieg lange Zeit. Dann sagte er: »So sei es also, Bruder Balg, und Gottes Gnade und Stärke sei mit dir.«
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13. Geschnitzte Engel Nicks Gefährten waren nicht gerade erbaut davon, ihn hergeben zu müssen, denn obwohl sie, wie der Junge ganz richtig gesagt hatte, die Kirche bald für die Zeit des Winters einmotten würden, so mußten sie doch weiterarbeiten, Steine zuschneiden und Bauholz für das nächste Jahr sägen. Sie brauchten also auch weiterhin einen Küchenjungen, und Nick war ein guter Koch. Aber letzten Endes konnte doch alles ausgehandelt werden. Um Michaeli herum gelang es irgendwie, noch ein weiteres Bett in den langen Krankensaal zu quetschen, ganz nahe bei der Türe zur Apotheke - und der lange Kampf begann. Denn es war ein Kampf, den Lovel und der rothaarige Junge in den folgenden Wochen und Monaten gemeinsam ausfochten. In jenem Herbst und Winter arbeitete Lovel an Nicks steifem Knie mit aller Geschicklichkeit und Sorgfalt und aller Härte, deren er fähig war. Er besaß keinerlei Übung in dem, was er tat, denn Bruder Eustachius und Bruder Peter hatten die Leute mehr oder weniger sich selbst überlassen. Entweder wurden sie gesund - oder noch kränker. Und so sagte ihm sein Kopf nicht, wie er das steife Gelenk wieder beweglich machen könnte. Er verließ sich allein auf das seltsame Wissen seiner Hände und tat, was sie ihm zu tun befahlen. Zu Anfang rieb er das Knie nur jeden Tag mit warmem Leinsamenöl und einem Absud von Skabiosen ein, die gut sind, um verkürzte Sehnen zu lockern. Dieser Teil der Behandlung war für beide recht leicht. Später, als er spürte, daß sich die straff gezogene Sehne ein wenig zu lockern begann, fing erst die schlimme Zeit an. Da arbeitete er erst wirklich, mit Fingern, die plötzlich aus Stahl zu sein schienen, die preßten und drückten und zogen und Nick zu dem Versuch veranlaßten, sein Knie -106-
selbst zu strecken, wieder und wieder, härter und immer härter, bis sein Gesicht weiß und erschöpft war und der Schweiß aus seinem roten Haar tropfte. Lovel ging auch zu Hai, dem Schmied, und ließ sich von ihm eine Art Eisenschiene anfertigen, die zwar in der Mitte gebogen, aber doch ein winziges bißchen gerader war als Nicks Bein. Diese Schiene polsterte er mit Schafwolle. Und jeden Tag, wenn er fertig war mit Massieren, Ziehen und Üben, bandagierte er Nicks Bein ganz fest an diese Schiene, so daß es dauernd gestreckt wurde. Er wußte, wie sehr diese Schiene schmerzte. Nicht nur durch den kleinen Seufzer, den Nick manchmal ausstieß, wenn er ihn bandagierte, sondern auf seltsame Weise durch seine Hände, die den Schmerz auf seinen eigenen Körper übertrugen. Einmal sagte er: »Nick, tut es dir leid, daß wir damit begonnen haben?« - Nick schüttelte den Kopf, die Unterlippe fest zwischen den Zähnen. Denn sprechen konnte er gerade nicht. Aber der Tag kam, an dem die Schiene Nick kaum mehr Schmerzen bereitete, denn das Bein hatte sich gerade so weit gestreckt, um das Ende der Schiene zu erreichen. Das war der Augenblick, da Lovel wußte, er würde Nicks Bein wieder gesund bekommen. Aber er würde noch lange Zeit keine Gewißheit darüber haben, ob es das Gewicht des Körpers tragen könnte. Deshalb sagte er nur: »Drei Tage Ruhe, dann werde ich das Ding da zu Hai bringen, damit er es wieder ein bißchen streckt.« Und so ging es weiter. Drüben, jenseits des Streifens von ausgedörrtem Gras, hatten sie die Kirche »eingemottet«. Aber den ganzen Tag über drang das Sägen und Hämmern und das Klingen der Meißel vom Bauplatz herüber, wo die Handwerker die Winterarbeit verrichteten. Und Meister Beornfried kam mit seinen Plänen und -107-
Zeichnungen und führte lange Unterredungen mit Rahere und Meister Alfwine. In den zwei langgestreckten Räumen des Hospitals kamen und gingen die Kranken, wurden wieder gesund oder starben. Am Weihnachtsabend, als von Nordwest ein heftiger Sturm aufkam und Graupelregen gegen die geschlossenen Fensterläden prasselte, gebar eine Bettlerin im Frauensaal ein Kind. St. Bartholomäus war das einzige Hospital in London, in dem eine Mutter Schutz und Hilfe erflehen konnte, wenn ihr Kind zur Welt kam. Viele Babys waren schon hier geboren worden, doch bis jetzt noch keines am Weihnachtsabend. Schwester Ursula und Schwester Maudlin, die bei der Geburt geholfen hatten, waren so glücklich darüber, als ob sie im Stall zu Bethlehem wären. Lovel, der seine allnächtliche Runde machte, war nicht ganz so glücklich. Die Mutter war halb verhungert und das Baby zu klein. Wenn die Zeit kam, wo sie das Hospital verlassen mußte, würde der Frau nichts anderes übrigbleiben, als wieder zu betteln, jetzt nicht nur für sich selbst, sondern auch für das Kind. Das Feuer auf dem Herd zwischen den beiden Krankenräumen war zu roter Glut herabgesunken, die noch immer einen Hauch von Wärme abgab, als Lovel einen Augenblick davor stehenblieb. Der König überließ ihnen jeden Winter einen Baumstamm, damit es im Hospital nicht kalt würde. In der Kapelle brannten die Kerzen hell, die Flammen flackerten ein wenig im Luftzug, ihr Lichtschein huschte über das Bild des Heiligen und die Schriftrolle mit dem einsamen Schmetterling, der sich ans äußerste Ende klammerte: »Denn der Herr tröstet Zion...« Lovels graue Niedergeschlagenheit lichtete sich ein wenig, denn was ihnen auch immer nachher geschehen mochte, für eine kleine Weile war ihnen Wärme, Schutz und Liebe zuteil geworden: der Mutter und dem Kind, das in dieser Nacht geboren worden war. Nun war ihm nicht mehr danach zumute, Schwester Ursula und Schwester Maudlin aus ihrem Entzücken -108-
wachzurütteln. Die Kerzen brannten die ganze Nacht, nicht nur der Kapelle wegen, sondern auch damit in den Sälen immer ein wenig Licht war. Aber das Licht reichte nicht bis ans andere Ende des Raumes, wo Nicks Bett stand. Auch die Wärme kam nicht dorthin. Doch Lovel, der dort stehenblieb, bevor er durch die Türe in die Apotheke und zu seinem eigenen Bett ging, erkannte am Atmen, daß der Junge in Schmerzen wach lag. Erst vor zwei Tagen war die Schiene wieder gestreckt worden - zum vierten Mal. »Du schläfst nicht?« flüsterte Lovel in das Schnarchen des alten Mannes aus dem nächsten Bett hinein. »Ich kann nie schlafen, wenn der Wind aus dieser Richtung bläst«, antwortete Nick. Er gab niemals zu, daß ihm sein Bein weh tat. »Was Kleines da draußen? Das schläft auch nicht, wie?« - Denn über das Atmen und Prusten und Schnarchen der anderen Schläfer, das Toben des Windes und das scharfe Geprassel des Graupelregens erhob sich das dünne, jämmerliche Weinen des Neugeborenen. »Das wird auch bald einschlafen«, sagte Lovel. »Es findet die Welt wohl ziemlich fremdartig.« »Guter Gott, ich beklage mich ja nicht. Jedes Hospital sollte am Weihnachtsabend Zuwachs bekommen«, sagte Nick. Als Lovel am nächsten Morgen mit dem Krug voll Massieröl neben Nicks Bett trat, fand er den Jungen, der für gewöhnlich die meiste Zeit des Tages damit verbrachte, mit verschränkten Armen auf dem Rücken zu liegen und gegen die Decke zu starren, aufrecht im Bett sitzend. Mit einem Messer, das dafür ganz bestimmt nicht scharf genug war, schnitzte er an einem Stück Holz herum. Die Bettdecke war voller Schnipsel und langer, gelockter Späne. »Ich mache ein Geschenk für das Baby«, erklärte er und -109-
wurde ziemlich rot dabei. »Vielleicht schreit es nicht so viel, wenn es etwas zum Spielen hat. Bruder Luke brachte mir dieses Stück Holz.« »Das Messer aber nicht«, meinte Lovel. »Nein, das stammt von Schwester Gertruda. Es ist nicht sehr scharf.« »Vielleicht hat sie gedacht, du wirst dir mit einem stumpfen nicht so leicht den Daumen abschneiden. Den Fehler machen Frauen immer«, sagte Lovel. »Darf ich sehen?« Nick legte das kleine Ding in Lovels ausgestreckte Hand. »Es ist ein Lamm«, sagte er für den Fall, daß Zweifel daran bestehen sollten. Aber Lovel brauchte diese Erklärung gar nicht. Die kleine, halbfertige Figur war roh und plump, aber die Umrisse waren unverkennbar, mit den verdrehten, ungelenken Beinen. Nick war es schon jetzt gelungen, die Ausgelassenheit eines sehr jungen Lamms auszudrücken. »Es ist noch nicht einmal halb fertig«, sagte Nick ängstlich. »Das sehe ich schon. Hast du schon öfter geschnitzt?« »Oh, von Zeit zu Zeit ein bißchen herumgeschnitzelt. Nur so zum Zeitvertreib. Glaubt Ihr denn, dem Baby wird das gefallen?« »Da bin ich ganz sicher - wenn es erst ein wenig älter ist.« Lovel gab das Lamm zurück und begann die Ärmel seines Habits aufzurollen. »Wenn du ein bißchen wartest, werde ich dir ein besseres Messer besorgen, und das da kann wieder in die Küche zurück, wohin es gehört.« Nick verbrachte den größten Teil des Tages damit, das Lamm fertig zu schnitzen. Und am Abend brachte es Lovel in den anderen Saal, an dessen äußerstem Ende die Frau lag mit ihrem winzigen, wimmernden Baby im Arm. »Ein Junge im anderen Krankenzimmer hat ein Geschenk für -110-
dein Kind gemacht«, sagte er. »An deiner Stelle würde ich es in Ehren halten.« Die Frau nahm das kleine, liebevoll geschnitzte Lamm und betrachtete es, dann hielt sie es gegen ihre Wange und fing an zu weinen. Lovel dachte, er sollte Nick noch etwas zu tun geben, bevor er wieder anfing, den ganzen Tag die Dachbalken anzustarren. Aber es stellte sich heraus, daß Nick selbst den gleichen Wunsch hatte. Da er nun einmal damit angefangen hatte, wollte er nicht wieder aufhören. Am nächsten Tag saß der Junge auf der Bettkante - er durfte jetzt jeden Tag ein bißchen aufstehen - und sagte zu Lovel: »Glaubt Ihr, Ihr könnt von den Zimmerleuten ein Stück gutes Schnitzholz besorgen - Buche vielleicht? Hat ja keinen Sinn, nur so hier herumzuliegen. Kann sein, daß ich was für die Kapelle mache, als ›Dankeschön‹. « Lovel hielt mit dem Bandagieren des Beines ein und sah ihn an. »Als ›Dankeschön‹ ? Wir werden dein Bein zwar gerade bekommen, Nick, aber wenn uns das gelungen ist, muß sich erst noch herausstellen, ob es dein Gewicht auch tragen kann.« Nick sah ihn fest an. »Klar, weiß ich. Ich mache Euch trotzdem einen Kerzenhalter für den Altar.« So holte Lovel ein Stück Holz vom Zimmermann, und Nick machte sich an die Arbeit. Schwester Aldis, die den größten Teil des Krankenzimmers zu fegen hatte, beklagte sich zuerst mächtig über die Holzspäne am Boden. Aber nachdem Nick ihr zeigte, was er machte, gab sie widerwillig zu, daß das ein bißchen extra Fegen wert war. Denn Nicks Kerzenhalter wurde kein gewöhnlicher Kerzenhalter, sondern ein schlanker Engel mit langen Flügeln und einer Krone auf dem Kopf. Der Sockel für die Kerze erhob sich aus den im Rücken gefalteten Flügeln. Es war bei weitem das Schwierigste, was er jemals zu schnitzen versucht hatte, und er wußte nicht recht, wie er es anstellen sollte. So tastete er sich langsam vorwärts und tat, was -111-
das Holz von ihm zu verlangen schien, ähnlich wie es Lovel mit seinem steifen Knie ging. Er machte Fehler. Die Hände gelangen ihm nicht nach Wunsch, und die eine Seite des Engelsgesichtes glich der anderen nicht. Er war überhaupt nicht mit sich zufrieden. Doch als die Tage verstrichen und der geschnitzte Engel seiner Vollendung entgegenging, erkannte Lovel, wie wunderschön er war. »Ich werde nach dem noch einen machen«, sagte Nick. »Es soll ein Paar werden. Und so weiß ich wenigstens, was ich in der nächsten Zeit tun soll.« Lovel saß da, sah auf die Figur in seinen Händen und drehte sie hin und her. »Weißt du«, sagte er, »daß du deinen Lebensunterhalt als Bilderschnitzer verdienen könntest?« »Ihr meint - wenn ich nicht Steinmetz werden kann.« Lovel blickte rasch auf. Er hatte Nick noch niemals etwas vorgemacht. »Ja«, sagte er. Nick betrachtete den geschnitzten Engel, als ob er ihn zum erstenmal sähe, und war überrascht von dem, was er sah. »Das ist ein Gedanke«, meinte er langsam. »Hm, gar nicht so schlecht...« »Das klingt nicht gerade, als ob du von dem Gedanken sehr begeistert wärst.« »Es wäre ja auch nicht dasselbe, versteht Ihr.« Nick runzelte die Stirn und versuchte zu erklären, was er meinte. »Es ist so was Kleines und - oh, ja, ganz nett zwischendurch, aber halt nicht so wie das andere, wie die Mauern, die immer höher werden, und die exakt geschnittenen Steine, in deren Fugen man kaum mit dem Fingernagel fahren kann. Und man weiß, das ist stark und gesund und wird niemals einstürzen, weil das ganze Gewicht richtig verteilt ist und die Pfeiler den Druck aushalten. Das ist offen und ehrlich und kein Kinkerlitzchenzeug. Es ist, als ob man bis zum Himmel reichen könnte, statt auf der Erde -112-
erdrückt zu werden.« Er brach ab und wurde flammend rot. »Gebt ihn mir zurück, die Krone ist noch nicht fertig.« Er saß auf der Bettkante, das geschiente Bein unnatürlich von sich gestreckt, denn es war jetzt beinahe gerade. Lovel sagte: »Wenn du morgen mit dem zweiten Engel anfängst, könnten wir ungefähr zu der Zeit, da er fertig ist, ausprobieren, ob dich das Bein trägt.« Das neue Jahr war gekommen, die Abende wurden bereits wieder länger, als endlich der bewußte Tag heranrückte. Nick hatte sich die letzten Handgriffe an seinem zweiten Engel für diesen Morgen aufgespart, gleichsam als ob die -Vollendung des Engels und die Belastungsprobe seines Knies zwei Dinge seien, die zusammengehörten. Aber der Engel war fertig und stand zusammen mit dem anderen vor dem Bild des Heiligen, seine Bürde aus Licht auf dem Rücken tragend, als Lovel mit dem Massageöl und mit hochgerollten Ärmeln hereinkam. Es war kurz nach dem Mittagessen, und Nicks Teller, der mit irgendeinem zusammengebrauten kalten Zeug angefüllt war, stand noch unberührt neben seinem Bett. »Keinen Hunger«, antwortete er, als Lovel ihn fragte, und rümpfte die Nase. Gewiß, der Bohnenbrei sah diesmal sogar noch unappetitlicher aus als sonst, aber Lovel hatte das Gefühl, daß es trotzdem nur eine Ausrede war. Wie gewöhnlich machte er sich mit dem Massageöl an die Arbeit, doch als er damit fertig war, schiente er nicht wie sonst, sondern gab Nick seine Krücke und half ihm aufzustehen. »Du mußt erst einmal Gefühl dafür bekommen, die Schiene wird dir fehlen.« Nick stand da und sah ihn einen Moment an, die Sommersprossen über der Nasenwurzel hoben sich wie schwarze Tupfen von der Blässe des Gesichtes ab. Lovel sah das Flehen in Nicks Gesicht und verstand. Nicht hier, wo Schwester Ursula nach dem Mittagessen gerade aufräumte, nicht unter den -113-
Augen von Bruder Philip und all der anderen, die ihn aus ihren Betten heraus anstarrten. Es war einer jener Tage, wie sie öfter gegen Ende des Winters vorkommen, sanft und mild mit dem Versprechen des nahenden Frühlings, obwohl noch immer Stürme drohten. Im Kräutergarten an der Südseite des Hospitals würde es so warm wie im Frühling sein. Nick würde keinen Schaden leiden dort draußen. »Komm mit hinaus«, sagte Lovel. Von der Apotheke aus führte eine Seitentüre in den Garten. Lovel ging voraus, hinter sich hörte er das Tappen von Nicks Krücken. An der Schwelle sprossen bereits dichte Büschel blaugrüner Schneeglöckchenblätter aus der Erde, eine Amsel sang im Holunder neben der Mauer. Von der Tür weg führte ein gerader Rasenpfad quer durch den Garten, zwischen den noch leeren Beeten hindurch, wo bald Knoblauch und Scharbockskraut, Fingerhut, Fieberkraut und Nieswurz wieder ihr erstes Grün zeigen würden. Am Beginn dieses Pfades blieben sie stehen und sahen einander an. »Bist du bereit?« fragte Lovel. Nick antwortete nicht, er nickte nur. Lovel nahm ihm die Krücke weg und ging einen Schritt rückwärts. »Nun - geh auf mich zu. Nein, schau mich an, nicht deine Füße!« Einen langen Augenblick bewegte sich Nick überhaupt nicht. Seine Augen waren starr auf Lovels Gesicht gerichtet. Lovel trat noch einen Schritt zurück. Mit einemmal fiel ihm wieder Valiant ein und der Stall in New Minster. Seine Kehle war trocken und schmerzte vor Angst. »Komm«, sagte er. Mit unendlicher Vorsicht und Konzentration tat Nick einen Schritt, noch einen und noch einen - fünf Schritte. Dann stolperte er, Lovel fing ihn auf und gab ihm die Krücke zurück. -114-
Der Junge strahlte von einem Ohr zum anderen, er bebte. »Ich hab's geschafft! Ich hab's geschafft!« »Immer langsam«, besänftigte ihn Lovel. »Und das nächstemal vergiß nicht, dein Knie zu biegen. Gott gab dir dieses Knie, damit du es biegst, und du hältst es steif wie einen Besenstiel! Und nun komm wieder hinein.«
In der Apotheke trödelte Nick herum. »Wann kann ich zum Bau zurück?« »Um wieder Küchenjunge zu sein?« »Eine Menge guter Steinmetzen haben so angefangen.« Lovel nickte. »Das wird aber trotzdem noch eine Weile dauern. Fünf Schritte bedeuten noch nicht, daß du wieder fest auf den Beinen bist. Ich muß erst ganz sicher sein, daß es sich nicht wieder zusammenzieht, bevor ich dich gehen lasse.« Er lächelte. »Du solltest lieber wieder anfangen, etwas zu schnitzen.« Nick schwieg einen Moment, dann zogen sich seine Mundwinkel langsam nach oben. -115-
»Ich glaube nicht! Ich weiß etwas, was man hier viel nötiger braucht als einen Bilderschnitzer.« »Und das wäre?« »Einen Koch!« sagte Nick fröhlich.
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14. Das Wunder Ein paar Tage später ging Lovel hinüber zum Priorat, um Serie zu suchen. Die Maurer hatten ihren Winterarbeitsplatz im Schutz des überdachten Nordschiffs aufgeschlagen, und dort fand er auch den Mann, nach dem er Ausschau hielt, zwischen zugeschnittenen Steinen und Säulenkapitellen. Es war ein milder Winter gewesen, man hatte eine Menge Vorarbeiten leisten können für die Wiederaufnahme des Baus, die so um die Osterzeit stattfinden sollte. Nach der Begrüßung steuerte Lovel ohne Umschweife den Grund seines Kommens an. »Ihr erinnert Euch an Nick Redpoll?« Serie sah von seiner Arbeit auf. »Ja, ich erinnere mich an Nick Redpoll. Was treibt der Bursche?« »Er kann jetzt schon ein bißchen ohne Krücke gehen«, sagte Lovel. »Bis ihr mit dem Bau weitermacht, wird er wieder arbeiten können.« »Immer Platz für einen guten Küchenjungen. Wir haben seine Kochkunst vermißt.« Lovel seufzte. »Wir werden sie auch vermissen. Er arbeitet in der Küche des Hospitals, bis sein Bein ganz in Ordnung ist. Aber ich bin nicht gekommen, um über seine Kochkünste mit Euch zu reden. Letzten Herbst habt Ihr gesagt, er hätte ein guter Steinmetz werden können.« »Jaja, aber das Bein.« Serie führte mit seinem Beil einen vorsichtigen Schlag aus. »Und wenn das Bein gesund wäre?« »Gesund genug für die Arbeit an der hohen Fassade?« »Er wird möglicherweise immer ein bißchen hinken; aber -117-
gesund genug für die Arbeit an der Fassade, ja.« »Dann, also dann könnte er schon Maurer werden.« »Das ist's. Er hat das Handwerk gelernt, bevor er diesen Unfall hatte. Aber ich glaube, wenn man ihm die Chance gibt, könnte er nicht nur Maurer werden, sondern sogar Steinmetz.« Serie hörte jetzt ganz auf zu arbeiten, erhob sich und rieb sich das Kinn, was ein raschelndes Geräusch verursachte. »Das glaubt Ihr vielleicht, ehrwürdiger Bruder. Und was veranlaßt Euch, das zu glauben?« Er grinste. »Jeder versteht sein eigenes Handwerk, wie man so sagt, und, bitte verzeiht mir - ich habe noch niemals etwas davon gehört, daß das Eure die Bearbeitung des Steins wäre.« Lovel begann sorgfältig, etwas auszuwickeln, was er in einem Stück Sackleinen verpackt mitgebracht hatte. »Schaut Euch das an«, sagte er und stellte den zweiten der von Nick Redpoll geschnitzten Engel auf die flache Oberseite des Steinblocks, den Serie soeben bearbeitet hatte. Serie nahm ihn und betrachtete ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen und gespitzten Lippen, als ob er pfeifen wolle. »Nick hat das gemacht? - Ich erinnere mich, er hat immer ein bißchen geschnitzt.« »Ja«, sagte Lovel. »Er ist hübsch. Ja, gute Arbeit für einen Burschen. Aber so ein kleiner Holzengel macht noch lange keinen Steinmetz. Stein ist anders als Holz. Und all das...«Er wies mit dem Daumen über seine Schulter in einer Geste, die den noch immer unüberdachten Chor, die in den Seitenschiffen aufgestapelten Quadersteine und die ganze gewaltige Kirche einschloß, die eines Tages hier stehen würde, jetzt aber erst aus ein paar Fundamenten und einem Packen Zeichnungen in der Schublade des Maurerpoliers bestand. »All das ist schon was anderes als eine kleine Figur, die man mit einer Hand hochheben kann. Wißt Ihr was, der Bursche könnte es als Bilderschnitzer zu -118-
etwas bringen.« Lovel lächelte. »Das habe ich ihm auch schon gesagt. Er meinte dann, das sei nicht dasselbe. Nicht dasselbe wie hochaufragende Mauern, wie exakt zugeschnittene Steine, in deren Fugen man nicht einmal einen Daumennagel stecken könne. Es sei nicht dasselbe wie das Bewußtsein, daß das hier niemals einstürzen wird, weil alles Gewicht und alle Belastung richtig verteilt ist und nicht ein Kinkerlitzchen sei - was immer das auch bedeuten mag -, und daß alles bis an den Himmel zu reichen scheint statt zur Erde zu stürzen.« Danach entstand eine Stille, die nur von den Geräuschen der anderen Maurer erfüllt war. »Das hat er wirklich gesagt?« fragte Serie endlich. »So ungefähr habe ich es in Erinnerung. Deshalb brachte ich Euch den Engel, damit Ihr seht, daß er handwerkliche Geschicklichkeit besitzt,« »Handwerkliche Geschicklichkeit im kleinen ist nicht das gleiche wie handwerkliche Geschicklichkeit im großen.« »Gewiß nicht. Aber ich dachte, die Fähigkeit, Einzelheiten herauszumeißeln, ist eine der Kunstfertigkeiten, die ein Steinmetz braucht.« Lovel sah auf die feine Zickzackverzierung, an der Serie gerade gearbeitet hatte. »Eine davon, ja, das schon. Aber trotzdem, wie ich gesagt habe, Holz ist nicht Stein. Von Holz jedenfalls versteht der Bursche etwas, das garantiere ich Euch.« »Und wenn er etwas von Holz versteht und wenn er das alles so empfindet, wie ich es Euch geschildert habe« - Lovel warf einen Blick in die Runde auf all das, was Serie vorher mit seiner Geste bezeichnet hatte -, »wäre es nicht wenigstens den Versuch wert, herauszubekommen, ob er nicht doch auch etwas von Stein versteht?« »Hm«, brummte Serie. »Aber Ihr solltet Euer Sprüchlein lieber vor dem Meister der Bauhütte aufsagen. Nicht ich stelle -119-
die Leute hier ein.« »Ich habe mit Meister Beornfried schon gesprochen. Er wird es mit Nick als Gehilfen versuchen und ihm die Möglichkeit geben, sich emporzuarbeiten, wenn er kann.« »Na also, und was wollt Ihr dann von mir?« Serie war überrascht und ein wenig ärgerlich. »Daß Ihr ein wenig auf ihn schaut. Laßt ihn den Versuch mit dieser Arbeit machen, und wenn Ihr glaubt, er sei es wert, dann laßt ihn von Eurer Kunst lernen.« Serie schwieg einen Augenblick und sah auf den geschnitzten Engel in seiner Hand. Dann nickte er unvermittelt und gab ihn zurück. »Das will ich tun. Aber mehr nicht, denkt daran. Nichts als seine eigenen Fähigkeiten kann einen Steinmetz aus ihm machen.« Gegen Ostern erwachte die Prioratskirche aus dem Winterschlaf, und Nick Redpoll, von dessen alter Verletzung nichts mehr übriggeblieben war als ein leichtes Hinken, das nur auftrat, wenn er müde war, kehrte zurück zum Bauplatz. Aber nicht mehr als Küchenjunge. Lovel sah ihn nicht einmal weggehen, denn es war wieder einmal der Tag des wöchentlichen Pferdemarkts, und gerade als Nick seine wenigen Habseligkeiten zusammenpackte, wurde ein Mann eingeliefert, der von einem scheuenden Fohlen verletzt worden war. Bis der Schädel des Mannes wieder zusammengeflickt worden war, erinnerte nichts mehr an Nick Redpoll außer dem leeren Bett in der Ecke und den beiden geflügelten Engeln, die jetzt in der kleinen Kapelle die Altarkerzen trugen. Vom Meister bis hinab zum jüngst eingelieferten Patienten seufzte das St.-Bartholomäus-Hospital und ergab sich wieder Schwester Gertrudas Kochkünsten. Der Frühling neigte sich dem Sommer entgegen, das Leben im Hospital lief seinen gewohnten Gang. Menschen kamen und gingen, genasen oder starben. Die Kräuter im Garten standen in -120-
voller Blüte. Rahere las jeden Tag in der Kapelle die Messe, plagte sich weiterhin mit den Rechnungen und Beschwerden herum und mit all den Problemen, um die sich der Leiter eines von Leben erfüllten Hospitals kümmern mußte. Jenseits des Streifens aufgewühlter Erde, der das Hospital vom Priorat trennte, wurden die großen Deckenbalken des Chors hochgezogen, und der Turm begann in die Höhe zu wachsen. Es wurde Hochsommer, der drei Tage andauernde große Warenmarkt war vorüber. Der Chor der Prioratskirche war nun überdacht, und der Bogengang, der einst das Mittelschiff tragen sollte, stand im Rohbau. Chor und Säulengang bildeten bereits ein zusammenhängendes Gebäude, in dem schon Messen gefeiert werden konnten. Und zu Beginn des Herbstes kam dann der Tag, an dem der Bischof von London - derselbe Richard de Belmeis, der vor vier Jahren Lovels Gelübde entgegengenommen hatte - erwartet wurde, um die Kirche von St. Bartholomäus einzuweihen. Es war ein grauer, stürmischer Tag, niedere Wolken zogen am Himmel dahin, und der Wind brachte den Geruch von Regen. Aber noch fiel kein Tropfen, als sich die Prozession durch den kleinen Eingang wand, der im Gerüst der westlichen Chorseite freigelassen worden war. Rahere und seine schwarzgekleideten Mönche und die Handwerksmeister in ihrem besten Sonntagsstaat folgten dem Bischof. Drinnen lag die Dunkelheit wie in einer mit leeren Schatten erfüllten, großen Muschel. An den hohen, noch unverglasten Fenstern trieben die grauen, regenschweren Wolken vorüber. In dem trüben Licht glühten der Purpur, das Scharlachrot und das Karmin der Gewänder des Bischofs und seines Klerus wie Juwelen im Schimmer der Kerzen auf dem behelfsmäßigen Altar. Der Duft von Weihrauch zog durch die Luft, die Gesänge der Mönche stiegen auf und hingen unter dem schattendunklen Dach. Lovel dachte, wie gewaltig hoch sich über ihnen doch das Mittelschiff, der Turm und das Querschiff erhoben, das gesamte -121-
gewaltige Bauwerk des Priorats. Das alles schien ihm so unendlich weit entfernt zu sein von dem langgestreckten, niederen Hospital, in dem seine Kranken darauf warteten, daß er zu ihnen zurückkehre. Zwei verschiedene Welten! Er sah auf die schlanke, schwarze Gestalt Raheres in seinem Gewand, das ihn immer an Krähenflügel erinnerte, auf Rahere, der einst Hofnarr gewesen war, dann Leiter des Hospitals und der über kurz oder lang hier Prior sein würde. Und er fragte sich, ob auch ihm das alles fremd und unwirklich erschien. Aber Raheres Gesicht wirkte im Licht der Altarkerzen so ausdruckslos und verschlossen wie das eines Ritters der Kreuzzüge auf einer Grabplatte. Lovel riß seine Gedanken zurück und versuchte, der Zeremonie mit Andacht zu folgen. Der Bischof erhob seine Hand zum Segen, seine kräftige, ziemlich rauhe Stimme erfüllte den hohen Bau: »Der allmächtige Gott ziehe ein in dieses heilige Haus, er segne und verherrliche es. Tag und Nacht weile sein Geist und sein Angesicht darin, auf daß der Fragende Antwort erhalte, der Suchende finden möge und dem, der anklopfet, aufgetan werde...« Die Sonne, die den ganzen Tag über hinter Wolken verborgen gewesen war, brach hervor und erfüllte die hohen Fenster des Mittelschiffs mit Licht. Breite Bahnen aus Licht strömten in das Herz des Chors, erfüllten den ganzen Raum mit einer plötzlichen Helle, die die Kerzen auf dem Altar ertränkte. Lovel dachte: ›Der Fragende erhalte Antwort, der Suchende finde und dem, der anklopft, soll aufgetan werden daß man Wonne und Freude darin findet, Dank und Lobgesänge. Nicht zwei verschiedene Welten, sondern eine einzige.‹ Er sah Raheres seltsam angespanntes Gesicht mit einemmal freudig aufleuchten. Die Arbeit draußen hatte für eine Stunde geruht, damit die -122-
Feier nicht durch Hämmern und Sägen gestört würde. Als die Prozession in den milden Sonnenschein hinaustrat, setzte das geschäftige Treiben gerade wieder ein. Das erste Stockwerk des Gerüsts zog sich um den Turm, der jetzt schon hoch emporragte. Die Werkleute waren bereits wieder auf dem Gerüst. Der Haarschopf eines dieser Arbeiter leuchtete in der Sonne wie eine rote Flamme... Sobald sich die Prozession aufgelöst hatte, kehrte Lovel zurück. Er hatte nur ein paar Augenblicke Zeit, viel Arbeit wartete auf ihn. Aber er mußte einfach zurückkommen und traf gerade ein, als Nick Redpoll die Leiter hinunterkletterte. Es war, als ob sie beide dieses Treffen vereinbart hätten. Und trotzdem schien es zuerst, als hätten sie einander gar nichts Besonderes zu sagen. »Was macht das Knie?« fragte Lovel schließlich. »Gegen Ende des Tages tut es ein bißchen weh, aber es wird immer besser.« Sie standen und sahen zum Chor hinauf und zum halbfertigen Turm, der sich schon jetzt stolz dem stürmischen Himmel entgegenreckte und den die Bauleute wie Ameisen umschwärmten. »Es gab Zeiten, weißt du«, sagte Lovel langsam und wandte seinen Blick nicht von den Männern auf dem Gerüst, »wo ich mich fragte, ob du sehr viel mehr ertragen könntest. Wenn du einmal Baumeister sein wirst wie Meister Beornfried, dann wirst du erkennen können, daß du dir diesen Beruf schwerer verdienen mußtest als die meisten anderen.« Eine Weile sagte keiner etwas, dann drehte sich Nick Redpoll um und sah auf Lovel hinab. Während seines Aufenthaltes im Hospital war er sehr gewachsen, so daß er ziemlich tief hinabsehen mußte. Er schluckte, dann wurde er plötzlich bis zu den Haarwurzeln flammend rot. »Nun, es ist so - wenn es Bruder Dominic gewesen wäre oder auch Bruder Luke, da, -123-
glaube ich, hätte ich es nicht durchgestanden. Aber weil Ihr es wart - versteht Ihr?« »Ja?« sagte Lovel. Nick schluckte noch einmal. »Also seht, es war halt nicht so einsam. Als ob man auf engem Raum einen guten Kameraden bei sich hat. Wenn die Schmerzen sehr schlimm waren und so, dann habe ich zu mir selbst gesagt: ›Es ist Bruder Lovel, der dir das antut. Und er hat selbst ein kaputtes Bein und eine bucklige Schulter und alles, und er weiß, wie das ist.‹ Und so habe ich eben durchgehalten.« »Ich verstehe«, sagte Lovel nach einer Weile. »Ja, ich verstehe das. Ich - ich danke dir, Nick.« Und dann, genau wie damals, als sie einander zum erstenmal trafen, rief jemand auf dem Gerüst nach Nick Redpoll, und er mußte gehen. Lovel blieb, wo er war, und starrte noch immer die Mauern des Turmes an. Er fühlte sich plötzlich sehr müde. Er war eigentlich immer müde, aber nur manchmal wurde er sich dessen bewußt. Er mußte, um mit Bruder Eustachius zu reden, mit Nick Redpoll doch ein ziemliches Stück seines eigenen Lebens weggegeben haben. Mit der plötzlichen Müdigkeit überkam ihn eine wunderbare Ruhe und das Gefühl tiefen Friedens. Frieden von all den Dingen, die ihn verwirrt hatten, seit er einst als Kind der Hexe mit Steinwürfen aus seinem Dorf verjagt worden war. Und trotzdem wußte er, daß er niemals wieder frei sein würde, denn von nun an würde er jeder kranken Seele, die seiner Obhut anvertraut wurde, ganz gehören. Ein Schwärm Schmetterlinge, von der plötzlichen Wärme erweckt, tanzte vor der unfertigen Fassade des Turms. Und wieder huschte eine Erinnerung durch Lovels Gedächtnis, zögerte an der Schwelle des Vergessens und blieb dann haften: »Du wirst einer der Heilkundigen dieser Welt sein; kein Erfinder und kein Bahnbrecher; einfach nur einer der Heilenden. Wenn -124-
die Zeit kommt, wirst du es wissen.« Nick hatte das Ende der Leiter erreicht. »Das war ein gutes Wunder«, ertönte Raheres Stimme hinter Lovels Rücken. »Ein gutes Wunder«, stimmte Lovel ihm bei. Sowohl Lovel wie Nick Redpoll wären überrascht gewesen, wenn sie gewußt hätten, daß in späteren Jahren unter den zahlreichen Wundern, die dem Priorat St. Bartholomäus zugeschrieben wurden, eines war, das von einem Jungen namens Nicholas berichtete, dessen steifes Bein ganz plötzlich geheilt wurde und der aus Dankbarkeit für dieses Wunder dageblieben war und als Küchenjunge gearbeitet hatte.
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