Science Fiction-Satire von ROBERT SHECKLEY
Buch: Alte und neue Geschichten vom Meister der utopischen Satire, zusammen...
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Science Fiction-Satire von ROBERT SHECKLEY
Buch: Alte und neue Geschichten vom Meister der utopischen Satire, zusammengemixt zu einem Cocktail; des 21. Jahrhunderts, reichlich garniert mit sarkastischem Humor und hintergründiger Ironie. Es sind Geschichten, die einem auf der Zunge zergehen und manchmal im Halse steckenbleiben. Dieser Band vereinigt eine weitere Auswahl von Sheckleys Erzählungen – darunter die berühmte Geschichte »Pilgerfahrt zur Erde«, von dem Planeten, wo man alles kaufen konnte – selbst die Liebe. »Sheckley ist wie Voltaire mit Soda« Brian W. Aldiss
Bisher sind im BASTEI-LÜBBE Taschenbuchprogramm von ROBERT SHECKLEY nachstehende Bände erschienen: 22035 Mr. Joenes wundersame Reise 22040 1. Preis: Allmächtigkeit 22042 Für Menschen ungeeignet 22046 Lebensgeister GmbH 22062 Fütterungszeiten unbekannt 22071 Der Seelentourist 22077 Das zehnte Opfer 22081 Dramocles 24020 Endstation Zukunft 24070 Das große Robert-Sheckley-Buch
Das zweite ROBERT SHECKLEY Buch
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Special Band 24 090 Originaltitel: Pilgrimage to Earth © Copyright 1957 by Grosset & Dunlap Company, New York Ins Deutsche übertragen von Wolfgang Eisermann Store of Infinity © Copyright 1960 by Robert Sheckley Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr Can You Feel Anything When I Do This? ©Copyright 1961, 1968, 1969, 1970, 1971 by Robert Sheckley Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1987 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe GmbH & Co. Bergisch Gladbach Lektorat: Dr. Helmut Pesch Titelillustration: Tim White Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Elsnerdruck GmbH, Berlin Printed in Western Germany ebook by Monty & Robert ISBN 3-404-24090-1
Inhalt Pilgerfahrt zur Erde ......................................................................................................10 PILGRIMAGE TO EARTH Was man so alles ist......................................................................................................25 ALL THE THINGS YOU ARE Die Falle .........................................................................................................................39 THE TRAP Der Körper ....................................................................................................................51 THE BODY Der Prototyp..................................................................................................................57 EARLY MODEL Der Beseitigungsdienst.................................................................................................82 DISPOSAL SERVICE Die Bürde des Menschen.............................................................................................89 HUMAN MAN'S BURDON Furcht in der Nacht....................................................................................................107 FEAR IN THE NIGHT Das falsche Medikament............................................................................................112 BAD MEDICINE Schutz ...........................................................................................................................136 PROTECTION Erde, Luft, Feuer und Wasser ...................................................................................150 EARTH; AIR, FIRE AND WATER Blinder Passagier .........................................................................................................161 DEADHEAD
Die Akademie..............................................................................................................172 THE ACADEMY Routinesache................................................................................................................200 MILK RUN Meuterei auf dem Rettungsboot ...............................................................................218 THE LIFEBOAT MUTINY Das geteilte Ich............................................................................................................236 THE HUMORS Recht für Roboter.......................................................................................................287 TRIPLICATION Der Minimalforscher ..................................................................................................293 THE MINIMUM MAN Der Berufstote.............................................................................................................332 IF THE RED SLAYER Wunschwelt .................................................................................................................341 THE STORE OF THE WORLDS Die perfekte Waffe .....................................................................................................349 THE GUN WITHOUT A BANG Die wandelbare Zukunft............................................................................................360 THE DEATH OF BEN BAXTER Der grüne Jademond ..................................................................................................400 PAS DE TROIS OF THE CHIEF AND THE WATER AND THE CUSTOMER Ein wahrhaft höllisches Produkt...............................................................................417 THE SAME TO YOU DUBLED Ein seltsamer Traum...................................................................................................429 STARTING FROM SCRATCH
Der Mnemon...............................................................................................................434 THE MNEMONE Rückkehr aus dem tiefsten Weltraum.......................................................................444 TRIPOUT Spüren Sie etwas, wenn ich das mache?...................................................................457 CAN YOU FEEL ANYTHING WHEN I DO THIS? Wie man imaginäre Unterschiede erkennen kann ..................................................469 NOTICES ON THE PERCEPTION OF IMAGINARY DIFFERENCES Der Super-Jumbo-Trip...............................................................................................476 DOWN THE DIGESTIVE TRACT AND INTO THE COSMOS WITH MANTRA, TANTRA AND SPECKLEBANG Tödliche Sturzbahn.....................................................................................................479 TAILPIPE TO DESASTER Die blaue Pest..............................................................................................................488 PLAGUE CIRCUIT Bilder von Langranak .................................................................................................495 ASPECTS OF LANGRANNAK Die göttliche Formel...................................................................................................501 CORDLE TO ONION TO CARROT Heute findet kein Spiel statt.......................................................................................519 GAME: FIRST SCHEMATIC Doktor Zombie und seine kleinen pelzigen Freunde.............................................524 DOCTOR ZOMBIE AND HIS LITTLE FURRY FRIENDS Die grausamen Gleichungen .....................................................................................536 TH CRUEL EQUATIONS
Die versteinerte Welt..................................................................................................553 THE PETRIFIED WORLD Der Prospector’s Special ............................................................................................564 THE PROSPECTOR'S SPECIAL Begegnung....................................................................................................................593 MEETING OF THE MINDS Narrenschach...............................................................................................................638 FOOL'S MATE Schlechte Zeiten für Schneider..................................................................................656 THE SLOW SEASON Die Sonderausstellung................................................................................................664 THE SPECIAL EXHIBIT Der Feger von Loray ..................................................................................................669 THE SWEEPER OF LORAY Für die Ewigkeit..........................................................................................................686 FOREVER Der Auftrag..................................................................................................................698 POTENTIAL Endlich allein...............................................................................................................717 ALONE AT LAST
Pilgerfahrt zur Erde Alfred Simon war auf Kazanga IV, einem kleinen Ackerbauplaneten, nicht weit vom Arcturus, geboren worden, und dort fuhr er einen Mähdrescher durch die Weizenfelder und lauschte an den langen, stillen Abenden den Aufnahmen von Liebesliedern der Erde. Das Leben auf Kazanga war recht angenehm; die Mädchen waren drall, lustig, freimütig und ergeben, gute Kumpel für eine Tour durch die Berge oder ein Bad im Bach, treue Gefährtinnen fürs Leben. Romantisch jedoch – nie! Man konnte sich auf Kazanga gut amüsieren, auf eine fröhliche, offene Art und Weise. Mehr allerdings auch nicht. Simon spürte, daß diesem faden Dasein etwas fehlte. Eines Tages kam er dahinter, was das war. Ein Händler kam nämlich nach Kazanga, in einem verbeulten, mit Büchern vollgepackten Raumschiff. Er war hager, weißhaarig und ein bißchen verrückt. Ein Fest wurde für ihn gegeben, denn für Neuigkeiten war man auf den Außenwelten immer zu haben. Er gab den ganzen neuesten Klatsch zum besten, erzählte vom Preiskrieg zwischen Detroit II und III, wie es um den Fischfang auf Alana stand, was die Frau des Präsidenten von Moracia trug und wie seltsam die Männer von Doran V redeten. Und schließlich sagte jemand: »Erzählen Sie uns etwas von der Erde.« »Oh!« rief der Händler und zog die Augenbrauen in die Höhe. »Vom Mutterplaneten wollt ihr also etwas hören? Also, meine Freunde, die gute alte Erde ist mit nichts zu vergleichen, mit nichts, sage ich. Auf der Erde ist alles möglich, meine Freunde, da wird einem nichts verweigert.« »Nichts?« fragte Simon. »Verweigerung ist gesetzlich verboten«, erklärte der Händler grinsend. »Niemand hat dieses Gesetz je übertreten, soweit bekannt ist. Die Erde ist eben anders, müßt ihr wissen. Ihr habt euch hier auf Landwirtschaft spezialisiert? Nun, auf der Erde hat man sich auf Verstiegenheiten wie
Wahnsinn, Schönheit, Krieg spezialisiert, auf Trunkenheit, Reinheit, Horror und solche Sachen, und die Leute kommen Lichtjahre weit angereist, um von diesem Zeug zu kosten.« »Und Liebe?« wollte eine Frau wissen. »Na, hören Sie mal, junge Frau«, erwiderte der Händler freundlich. »In der ganzen Galaxie gibt es die Liebe nur noch auf der Erde! Detroit II und III haben sie ausprobiert und als zu teuer befunden; Alana, müssen Sie wissen, hat entschieden, daß sie verwirrend ist; und sie auf Moracia oder Doran V einzuführen, war keine Zeit. Aber, wie ich schon sagte, auf der Erde hat man sich aufs Unpraktische spezialisiert – und man profitiert davon.« »Man profitiert davon?« erkundigte sich ein massiger Bauer. »Selbstverständlich! Die Erde ist alt, ihre Bodenschätze sind aufgebraucht, ihre Felder unfruchtbar. Ihre Kolonien sind mittlerweile unabhängig und werden von nüchternen Leuten, so wie ihr welche seid, bewohnt, die für ihre Waren einen entsprechenden Gegenwert verlangen. Was sonst kann die gute Erde also bieten außer den Nebensächlichkeiten, die das Leben lebenswert machen?« »Waren Sie auf der Erde verliebt?« wollte Simon wissen. »Das war ich«, erwiderte der Händler mit einer gewissen Härte. »Ich war verliebt, und jetzt reise ich. Meine Freunde, diese Bücher hier…« Zu einem Wahnsinnspreis erwarb Simon einen uralten Gedichtband und träumte, darin lesend, von der Leidenschaft im Schein des trunkenen Mondes, von der Morgendämmerung, die weißlich auf den schmachtenden Lippen der Liebenden schimmert, von eng umschlungenen Körpern an einem dunklen Strand, rasend vor Liebe und taub von der brüllenden Brandung. Und nur auf der Erde war dies möglich! Denn, wie der Händler erzählt hatte, die wirren Kinder der Erde waren zu sehr damit beschäftigt, fernen Schollen einen Lebensunterhalt abzutrotzen. Weizen und Mais wuchsen auf Kazanga, und die Fabriken vermehrten sich auf Detroit II und III. Die Fischwirtschaft Alanas war das Tagesgespräch auf dem südlichen Sternengürtel, auf Moracia gab es gefährliche
Tiere, und auf Doran V konnte man eine ganze Wildnis erschließen. Und das war gut so, und genauso sollte es sein. Doch die neuen Welten waren asketisch, sorgfältig geplant, steril in ihrer Perfektion. Etwas war in der toten Weite des Weltraums verlorengegangen, und nur die Erde kannte die Liebe. Deshalb arbeitete Simon und sparte und träumte. Und als er neunundzwanzig war, verkaufte er seine Farm, packte alle sauberen Hemden, die er besaß, in einen zweckdienlichen Handkoffer, zog seinen besten Anzug und ein paar stabile Straßenschuhe an und bestieg das Flugboot Kazanga – Mutterland. Endlich kam er auf die Erde, wo Träume wahr werden müssen, denn es gibt dort ein Gesetz gegen ihr Scheitern. Eilig durchlief er auf dem Raumhafen New York den Zoll und wurde unterirdisch zum Times Square befördert. Dort tauchte er blinzelnd ins Tageslicht auf, den Handkoffer eng an sich gepreßt, denn man hatte ihn vor Taschendieben, Handtaschenräubern und anderen Bewohnern der Stadt gewarnt. Atemlos vor Staunen sah er sich um. Was ihm als erstes in Auge fiel, war die endlose Reihe von Theatern, die Attraktionen in zwei, drei oder vier Dimensionen boten, je nachdem, was einem mehr gefiel. Und was für Attraktionen! Rechts von ihm verkündete ein Vordach über dem Bürgersteig: Sinnliche Begierde auf der Venus! Ein dokumentarischer Bericht über die sexuellen Praktiken bei den Bewohnern der grünen Hölle! Schockierend! Enthüllend! Er wollte hineingehen. Doch auf der anderen Straßenseite lief ein Kriegsfilm. Die Reklametafel lärmte: Die Sonnenknacker! Den Teufelskerlen von den Weltraum-Marines gewidmet! Und weiter die Straße hinunter wurde der Film Tarzan im Kampf mit den leichenfressenden Dämonen des Saturn angeboten. Tarzan, rief er sich in Erinnerung, war ein Naturbursche gewesen, den man auf der Erde seit Urzeiten wie einen Helden verehrte. Es war alles herrlich, aber es gab noch viel mehr! Er sah kleine, offene Läden, in denen es Speisen von allen Welten zu kaufen gab, und besonders so typisch irdische Gerichte wie Pizza, Hotdogs, Spaghetti und Kni-
sches. Und es gab Geschäfte, in denen die ausgemusterte Bekleidung der irdischen Weltraumflotte verkauft wurde, und wiederum andere, die nichts weiter als Getränke feilboten. Simon wußte gar nicht, was er zuerst machen sollte. Dann hörte er hinter sich einen knatternden Ausbruch von Gewehrfeuer und drehte sich blitzschnell um. Es war nur eine Schießbude, ein langer, schmaler, grell gestrichener Schlauch mit einer hüfthohen Theke. Der Geschäftsführer, ein dunkelhäutiger Dicker mit einem Grübchen im Kinn, thronte auf einem hohen Hocker und lächelte Simon zu. »Wollen Sie Ihr Glück versuchen?« Simon trat näher und sah, daß anstelle der üblichen Zielscheiben am hinteren Ende der Bude vier spärlich bekleidete Frauen saßen, und zwar auf Stühlen, die von Einschüssen übersät waren. Auf die Stirn und über jede Brust hatten sie sich das Schwarze einer Zielscheibe in verkleinertem Maßstab gemalt. »Es wird ja wohl nicht scharf geschossen, oder?« fragte Simon. »Natürlich!« antwortete der Geschäftsführer. »Falsche Versprechungen sind auf der Erde verboten. Richtige Kugeln und richtige Damen! Treten Sie näher und legen Sie eine um!« Eine der Frauen rief Simon zu: »Nun mal los, Sportsfreund! Ich wette, du triffst mich nicht!« Eine andere kreischte: »Der würde nicht mal die Breitseite eines Raumschiffs treffen!« »Klar kann er das!« rief eine andere. »Nur zu, Mann!« Simon rieb sich die Stirn und gab sich alle Mühe, nicht überrascht zu erscheinen. Schließlich war er hier auf der Erde, wo alles erlaubt war, solange es sich kommerziell durchführen ließ. »Gibt es auch Buden«, erkundigte er sich, »wo man auf Männer schießt?« »Selbstverständlich«, meinte der Geschäftsführer. »Pervers sind Sie doch aber nicht, oder?« »Natürlich nicht!«
»Sie sind ein Außerirdischer, was?« »Ja. Woher wissen Sie das?« »Der Anzug. Das erkenne ich immer am Anzug.« Der Dicke schloß die Augen und warb in monotonem Singsang: »Treten Sie näher, treten sie ran! Schießen Sie eine Frau ab! Machen Sie sich frei von einem Haufen Hemmungen! Sie brauchen nur den Abzug zu ziehen, dann schwitzen Sie Ihre aufgestaute Wut aus! Das ist besser als jede Massage! Das ist besser als sich zu besaufen! Treten Sie näher, treten Sie ran! Schießen Sie eine Frau ab!« Simon fragte eine der Frauen: »Bleibst du tot, wenn man dich erschossen hat?« »Tu nicht dümmer, als du bist«, erwiderte sie. »Aber der Aufprall – « Sie zuckte mit den Schultern. »Es könnte schlimmer sein.« Simon wollte gerade zurückfragen, inwiefern es schlimmer sein könnte, als sich der Geschäftsführer über den Ladentisch lehnte und sich in vertraulichem Tonfall an ihn wandte. »Schauen Sie mal, Kumpel. Schauen Sie sich mal an, was ich hier habe.« Simon blickte verstohlen hinter den Ladentisch und sah eine gedrungene Maschinenpistole. »Zu einem lächerlich niedrigen Preis«, sagte der Geschäftsführer, »dürfen Sie die MPi benutzen. Sie können im ganzen Laden rumballern, die Lampen runterschießen und die Wände auffetzen. Die Munition ist 45er, Kumpel, und das Ding tritt aus wie ein Maulesel. Da weiß man wirklich, daß man ballert, wenn man mit der MPi loslegt.« »Ich bin nicht interessiert«, sagte Simon streng. »Ich habe auch ein paar Handgranaten«, meinte der Geschäftsführer. »Mit Splitterwirkung, versteht sich. Sie könnten regelrecht – « »Nein!« »Wenn der Preis stimmt«, fuhr der Geschäftsführer fort, »können Sie sogar mich erschießen, wenn Ihre Neigungen in die Richtung gehen, obgleich ich das eigentlich nicht vermutet hätte. Was meinen Sie?«
»Nein! Niemals! Das ist entsetzlich!« Der Dicke sah in verdutzt an. »Wohl augenblicklich nicht in der Stimmung, was? Also gut. Bei mir ist vierundzwanzig Stunden am Tag geöffnet. Wir sehen uns ein anderes Mal, Sportsfreund.« »Niemals!« sagte Simon im Weggehen. »Ich harre deiner, Süßer!« rief ihm eine der Frauen nach. Simon ging zu einem Erfrischungsstand und bestellte sich ein kleines Glas Coca-Cola. Er stellte fest, daß ihm die Hände zitterten. Mit Mühe gelang es ihm, sie so weit zu beruhigen, daß er die Cola trinken konnte. Er rief sich in Erinnerung, daß es ihm nicht zukam, die Erde nach seinen Maßstäben zu beurteilen. Wenn die Leute hier ihren Spaß daran hatten, andere zu töten, und wenn die Opfer damit einverstanden waren, getötet zu werden, warum sollte dann jemand etwas dagegen haben? Oder vielleicht doch? Er dachte gerade darüber nach, als eine Stimme neben ihm sagte: »Hallo, alter Knabe.« Simon drehte sich um und sah ein verhutzeltes Männchen mit heimlichtuerischem Gesicht und zu großem Regenmantel neben sich stehen. »Nicht von hier?« fragte der kleine Mann. »Stimmt«, sagte Simon. »Woher wissen Sie das?« »Die Schuhe. Ich gucke mir immer die Schuhe an. Wie gefällt Ihnen unser kleiner Planet?« »Es ist so – verwirrend«, erwiderte Simon vorsichtig. »Ich meine, ich hatte nicht erwartet – also – « »Klar«, sagte der Kleine. »Sie sind ein Idealist. Ein Blick in Ihr ehrliches Gesicht, und ich weiß Bescheid, mein Freund. Sie sind aus einem bestimmten Grund auf die Erde gekommen. Habe ich recht?« Simon nickte. Der kleine Mann fuhr fort: »Ich kenne den Grund, mein Freund. Sie suchen nach einem Krieg, der die Welt für etwas sicher macht, und da sind Sie genau an der richtigen Stelle. Wir haben zu allen Zeiten sechs Hauptkriege laufen, und in keinem davon muß man jemals auf eine wichtige Position warten.«
»Entschuldigung, aber…« »In diesem Augenblick«, fuhr der kleine Mann eindringlich fort, »kämpfen die unterdrückten Arbeiter von Peru verzweifelt gegen eine korrupte und dekadente Monarchie. Ein Mann mehr könnte den Ausschlag geben. Sie, mein Freund, könnten dieser Mann sein! Sie könnten den Sieg des Sozialismus garantieren!« Als er Simons Gesichtsausdruck sah, setzte er rasch hinzu: »Aber es spricht eine ganze Menge für eine aufgeklärte Aristokratie. Der weise König von Peru – ein wahrer Philosoph im Sinne Platos – braucht Ihre Hilfe bitter. Sein winziger Trupp von Wissenschaftlern, Humanitariern, Schweizer Garden, Rittern des Königreichs und königlichen Bauern wird von der vom Ausland inspizierten sozialistischen Verschwörung äußerst bedrängt. Ein einziger Mann, müssen Sie wissen…« »Ich bin nicht interessiert«, sagte Simon. »In China, die Anarchisten…« »Nein.« »Vielleicht sagen Ihnen die Kommunisten in Wales mehr zu? Oder die Kapitalisten in Japan? Oder wenn Sie sich zu einer Splittergruppe hingezogen fühlen wie etwa den Feministen, Prohibitionisten, dem Bund für die Freiheit des Silbers oder ähnlichen, dann könnten wir wahrscheinlich dafür sorgen…« »Ich will keinen Krieg«, sagte Simon. »Wer wollte Ihnen das verübeln?« meinte der kleine Mann und nickte schnell. »Krieg ist die Hölle. In dem Fall sind Sie also wegen der Liebe auf die Erde gekommen.« »Wie haben Sie das herausgekriegt?« fragte Simon. Der kleine Mann lächelte bescheiden. »Liebe und Krieg«, sagte er, »sind die zwei Hauptartikel der Erde. Wir haben sie beide seit dem Beginn der Zeit in Rekordernten hervorgebracht.« »Ist Liebe sehr schwer zu finden?« erkundigte sich Simon. »Gehen Sie zwei Häuserblocks stadtauswärts«, erklärte der Kleine lebhaft. »Sie können es gar nicht verfehlen. Sagen Sie dort, Joe schickt Sie.«
»Aber das ist unmöglich! Man kann doch nicht einfach losgehen und…« »Was wissen Sie von der Liebe?« fragte Joe. »Nichts.« »Na sehen Sie. Wir sind Experten darin.« »Ich weiß, was in den Büchern steht«, sagte Simon. »Leidenschaft im Schein des trunkenen Mondes…« »Klar, und Körper an einem dunklen Strand, rasend vor Liebe und taub von der brüllenden Brandung.« »Sie haben dieses Buch gelesen?« »Das ist die gültige Werbebroschüre. Ich muß gehen. Zwei Häuserblocks stadtauswärts. Können Sie gar nicht verfehlen.« Und mit einem freundlichen Nicken verschwand Joe in der Menschenmenge. Simon trank seine Coca-Cola aus und ging langsam den Broadway hinauf, die Stirn nachdenklich gerunzelt, jedoch entschlossen, sich keinesfalls vorschnell ein Urteil zu bilden. Als er an der 44. Straße ankam, sah er ein riesiges Neonzeichen hell aufleuchten: Liebe AG. Kleinere Neonzeichen besagten: Geöffnet 24 Stunden am Tag! Und darunter stand: 1 Treppe. Simon runzelte die Stirn, denn ein schrecklicher Verdacht war ihm gerade durch den Kopf geschossen. Dennoch stieg er die Treppe hinauf und betrat ein kleines, geschmackvoll eingerichtetes Empfangszimmer. Von dort aus wurde er einen langen Korridor hinunter zu einem numerierten Raum geschickt. In dem Raum befand sich ein gutaussehender, grauhaariger Mann, der sich hinter einem eindrucksvollen Schreibtisch erhob und ihm die Hand schüttelte mit den Worten: »Nun, wie steht’s auf Kazanga?« »Woher wissen Sie, daß ich von Kazanga bin?« »Dieses Hemd. Ich sehe mir immer das Hemd an. Mein Name ist Tate, und ich bin hier, um Ihnen nach bestem Vermögen zu Diensten zu sein. Sie sind…«
»Simon. Alfred Simon.« »Nehmen Sie bitte Platz, Mr. Simon. Zigarette? Etwas zu trinken? Sie werden es nicht bereuen, zu uns gekommen zu sein, Sir. Wir sind die älteste Liebe stiftende Firma am Markt und viel größer als unser stärkster Konkurrent, die Leidenschaft GmbH & Co. Außerdem sind unsere Tarife auch weitaus günstiger und verschaffen Ihnen Zutritt zu einem verbesserten Produkt. Dürfte ich fragen, wie Sie von uns gehört haben? Haben Sie unsere ganzseitige Anzeige in der Times gesehen? Oder…« »Joe hat mich hergeschickt«, sagte Simon. »Oh, das ist ein Aktiver«, meinte Mr. Tate und schüttelte schelmisch den Kopf. »Nun, Sir, ich sehe keinen Grund, die Angelegenheit noch länger hinauszuzögern. Sie haben einen sehr weiten Weg zurückgelegt auf der Suche nach Liebe, und Liebe sollen Sie auch bekommen.« Er streckte die Hand nach einem Klingelknopf auf seinem Schreibtisch aus, doch Simon stoppte ihn. »Ich möchte nicht unhöflich sein oder sonst etwas, aber…« »Ja?« sagte Mr. Tate mit einem ermunternden Lächeln. »Ich verstehe dies nicht«, stieß Simon hervor, wurde puterrot und kriegte Schweißperlen auf die Stirn. »Ich glaube, ich habe mich in der Adresse geirrt. Ich bin nicht den weiten Weg zur Erde gekommen, um einfach nur… Ich meine, man kann Liebe doch eigentlich nicht kaufen, oder? Doch nicht Liebe! Ich finde, dann ist es doch im Grunde keine Liebe, oder?« »Aber ja doch!« sagte Mr. Tate und kam vor Erstaunen halb von seinem Stuhl hoch. »Das ist doch genau der Punkt! Sex kann jeder kaufen. Großer Gott, Sex ist die wohlfeilste Sache im ganzen Universum, fast so billig wie ein Menschenleben. Aber Liebe ist etwas Rares, Liebe ist etwas Besonderes, Liebe gibt es nur auf der Erde. Haben Sie unsere Broschüre gelesen?« »Körper an einem dunklen Strand?« fragte Simon. »Ja, die. Die habe ich geschrieben. Sie vermittelt etwas von dem Gefühl, nicht wahr? Das Gefühl kann Ihnen doch nicht irgendeiner geben, Mr. Simon. Das kann Ihnen nur einer verschaffen, der Sie wirklich liebt.«
»Es ist aber keine wahre Liebe, oder?« meinte Simon, der immer noch zweifelte. »Aber selbstverständlich! Wenn wir vorgespiegelte Liebe verkaufen würden, würden wir sie als solche anbieten. Die Gesetze, die die Werbung regeln, sind sehr streng auf der Erde, dessen kann ich Sie versichern. Alles kann verkauft werden, aber man muß es korrekt anbieten. Das ist Moral, Mr. Simon!« Tate hielt inne und fuhr dann in ruhigerem Ton fort. »Nein, Sir, begehen Sie keinen Fehler. Unser Produkt ist kein Ersatz. Es handelt sich präzise um jenes Gefühl, von dem Dichter und Schriftsteller seit Tausenden von Jahren geschwärmt haben. Vermittels der Wunder moderner Wissenschaft vermögen wir, Ihnen dieses Gefühl zu Ihrer Annehmlichkeit zu verschaffen, gefällig verpackt, vollkommen verfügbar – und zu einem lächerlich geringen Preis.« »Ich hatte mir etwas eher – Spontanes vorgestellt«, sagte Simon. »Spontaneität hat ihren Charme«, pflichtete ihm Mr. Tate bei. »Unsere Forschungslabors arbeiten daran. Glauben Sie mir, es gibt nichts, was die Wissenschaft nicht hervorbringen kann, solange es einen Markt dafür gibt.« »Mir gefällt das alles nicht«, sagte Simon und stand auf. »Ich glaube, ich gehe einfach ins Kino.« »Warten Sie!« rief Mr. Tate. »Sie meinen, wir versuchen, Ihnen etwas anzudrehen. Sie glauben, wir bringen Sie mit einer Frau zusammen, die nur so tut, als würde sie Sie lieben, die in Wahrheit aber gar nicht daran denkt. Habe ich recht?« »So wird es wohl sein, ja«, gab Simon zu. »Aber so ist es doch überhaupt nicht! Zunächst einmal wäre das viel zu kostspielig. Darüber hinaus wäre der Verschleiß, dem die Frau unterläge, gewaltig. Und es wäre außerdem psychologisch falsch, wenn sie versuchte, eine Lüge von derartiger Tiefe und von solchem Ausmaß zu leben.« »Wie machen Sie es denn dann?« »Wir verwerten unsere Erkenntnisse auf dem Gebiet der Wissenschaft und der menschlichen Seele.« Simon klang das nach doppeldeutigem Gerede. Er ging auf die Tür zu.
»Eins möchte ich gern wissen«, sagte Mr. Tate. »Sie sehen mir aus wie ein junger Mann, der nicht auf den Kopf gefallen ist. Glauben Sie nicht, Sie könnten wahre von geheuchelter Liebe unterscheiden?« »Sicher.« »Da haben Sie Ihre Absicherung! Sie müssen zufrieden sein, sonst zahlen Sie uns keinen Pfennig.« »Ich werde es mir überlegen«, sagte Simon. »Warum die Sache noch länger aufschieben? Führende Psychologen sagen, wahre Liebe stärke die Moral und stelle die geistige Gesundheit wieder her, sie sei ein Balsam für das angeschlagene Ego, stelle das Hormongleichgewicht wieder her und verbessere den Teint. Die Liebe, die wir Ihnen liefern, enthält alles: tiefe und bleibende Zuneigung, ungezügelte Leidenschaft, absolute Treue, einen beinahe mystischen Hang sowohl zu Ihren Mängeln als auch zu Ihren Tugenden, einen mitleidsvollen Wunsch zu gefallen plus – als Draufgabe, wie nur die Liebe AG sie zu bieten hat – jenen unkontrollierbaren ersten Funken, jenes blind machende Moment der Liebe auf den ersten Blick!« Mr. Tate drückte auf einen Knopf. Simon runzelte unentschlossen die Stirn. Die Tür ging auf, eine Frau trat ein, und Simon hörte auf zu denken. Sie war groß und schlank, ihr Haar war braun mit einem Schimmer von Rot. Simon hätte einem nichts über ihr Gesicht zu sagen gewußt, nur, daß es ihm die Tränen in die Augen trieb. Und wenn man ihn nach ihrer Figur gefragt hätte, hätte er einen wahrscheinlich umgebracht. »Miss Penny Bright«, sagte Tate, »ich möchte Sie mit Mr. Alfred Simon bekanntmachen.« Penny versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort heraus, und Simon war genauso sprachlos. Er sah sie an und wußte Bescheid. Alles andere spielte keine Rolle. Mit allen Fasern seines Herzens wußte er, daß er aufrichtig und vollkommen geliebt wurde. Sie machten sich sofort auf den Weg, Hand in Hand, und wurden per Jet zu einer kleinen weißen Hütte in einen Pinienhain am Meer gebracht, und dort redeten sie und lachten und liebten sich, und später sah Simon seine Geliebte wie eine Feuergöttin in die Glut der untergehenden Sonne
gehüllt. Und im blauen Zwielicht blickte sie ihn mit Augen an, so gewaltig und dunkel, und ihr brauner Körper war erneut voller Geheimnis. Strahlend und trunken ging der Mond auf, verwandelte Fleisch in Schatten, und sie weinte und bearbeitete seine Brust mit ihren kleinen Fäusten, und Simon weinte auch, obgleich er nicht wußte, warum. Und schließlich dämmerte der Morgen, blaß und aufgeschreckt, schimmerte auf ihren schmachtenden Lippen und eng umschlungenen Körpern, und nahebei die brüllende Brandung entflammte sie, machte sie rasend und taub. Mittags waren sie wieder im Büro der Liebe AG. Penny hielt seine Hand eine Weile umfaßt und entschwand dann durch eine Tür. »War es wahre Liebe?« erkundigte sich Mr. Tate. »Ja!« »Und war alles zufriedenstellend?« »Ja, es war Liebe, es war wirklich Liebe! Doch warum wollte sie unbedingt zurückkommen?« »Posthypnotische Suggestion«, erklärte Mr. Tate. »Bitte?« »Was hatten Sie erwartet? Alle wollen Liebe, doch kaum einer will dafür bezahlen. Hier ist Ihre Rechnung, Sir.« Simon zahlte, kochend vor Wut. »Das war nicht nötig«, sagte er. »Selbstverständlich hätte ich Sie dafür bezahlt, daß Sie uns zusammengebracht haben. Wo ist sie jetzt? Was haben Sie mit ihr gemacht?« »Bitte«, sagte Mr. Tate besänftigend. »Versuchen Sie, sich zu beherrschen.« »Ich will mich nicht beherrschen!« rief Simon. »Ich will Penny!« »Das wird sich nicht machen lassen«, erklärte Mr. Tate mit einem kaum herauszuhörenden Anflug von Frost in der Stimme. »Unterlassen Sie es doch freundlicherweise, sich hier so aufzuplustern.« »Versuchen Sie etwa, mir das Geld aus der Tasche zu ziehen?« brüllte Simon mit sich überschlagender Stimme. »In Ordnung, ich zahle. Wieviel muß ich bezahlen, um sie aus Ihren Klauen zu befreien?« Und er riß seine Brieftasche heraus und knallte sie auf den Tisch.
Mr. Tate stieß die Brieftasche mit steifem Zeigefinger von sich weg. »Stecken Sie sie wieder ein«, sagte er. »Wir sind eine alte und respektable Firma. Sollten Sie noch einmal schreien, sähe ich mich gezwungen, Sie hinauswerfen zu lassen.« Simon gewann mit Mühe seine Beherrschung zurück, steckte die Brieftasche ein und setzte sich hin. Er atmete tief durch und sagte sehr ruhig: »Ich bitte um Entschuldigung.« »So ist es besser«, sagte Mr. Tate. »Ich lasse mich nicht anschreien. Wenn Sie allerdings vernünftig sind, dann kann ich auch vernünftig sein. Also, wo drückt Sie der Schuh?« »Wo mich der Schuh drückt?« Simons Stimme schwoll wieder an. Er brachte sie unter Kontrolle und sagte: »Sie liebt mich.« »Selbstverständlich.« »Wie können Sie uns dann also trennen?« »Was hat das eine mit dem anderen zu tun?« wollte Mr. Tate wissen. »Liebe ist eine köstliche Episode, eine Erholung, gut für den Verstand, für das Ego, für den Hormonausgleich und für den Teint. Aber man hat doch wohl kaum den Wunsch, sie ad infinitum fortzusetzen, oder?« »Ich doch«, antwortete Simon. »Diese Liebe war besonders, einzigartig…« »Das ist immer so«, meinte Mr. Tate. »Doch wie Sie wissen, wird ja eine jede Liebe in derselben Art und Weise erzeugt.« »Wie bitte?« »Sie haben doch bestimmt Kenntnis von den Mechanismen zur Erzeugung von Liebe, oder?« »Nein«, erwiderte Simon. »Ich dachte, sie sei – natürlich.« Mr. Tate schüttelte den Kopf. »Die natürliche Wahl haben wir vor Jahrhunderten aufgegeben, kurz nach der Mechanischen Revolution. Der Vorgang war zu langwierig und in kommerzieller Hinsicht nicht gangbar. Warum sollten wir uns damit abplagen, wo wir jedes Gefühl nach Belieben durch Konditionierung und entsprechende Stimulierung bestimmter Gehirnzentren erzeugen können? Das Ergebnis? Penny, vollständig in Sie verliebt! Ihre eigene Neigung und unsere Berechnung derselben in bezug auf Pennys besonderen Somatotyp haben die Liebe vollständig
gemacht. Wir mischen immer den dunklen Strand bei, den trunkenen Mond und die blasse Morgendämmerung…« »Dann hätte sie also jeden lieben können«, sagte Simon langsam. »Sie hätte dazu gebracht werden können, jeden zu lieben«, korrigierte Mr. Tate. »Großer Gott, wie ist sie bloß an diese schreckliche Tätigkeit geraten?« wollte Simon wissen. »Sie ist zu uns gekommen und hat in der üblichen Art und Weise einen Vertrag unterschrieben«, sagte Tate. »Das wird sehr gut bezahlt. Und nach Ablauf des Mietverhältnisses erhält sie ihre Originalpersönlichkeit zurück – unberührt. Aber warum nennen Sie die Arbeit schrecklich? An Liebe ist doch nichts Verwerfliches.« »Es war keine Liebe!« rief Simon. »Aber ja doch! Der echte Artikel! Unparteiische wissenschaftliche Firmen haben seine Qualität getestet und mit der natürlichen Sache verglichen. In jedem Fall hat sich ergeben, daß unsere Liebe in bezug auf Tiefe, Leidenschaft, Inbrunst und Ausmaß überlegen war.« Simon schloß die Augen fest, öffnete sie wieder und sagte: »Hören Sie mich an. Ihre wissenschaftlichen Tests sind mir egal. Ich liebe sie, sie liebt mich, das allein zählt. Lassen Sie mich mit ihr sprechen! Ich möchte sie heiraten!« Mr. Tate zog angewidert die Nase kraus. »Nun mal langsam, mein Herr! So ein Mädchen wollen Sie doch wohl nicht heiraten! Aber gut, wenn Sie auf eine Eheschließung aus sind, auch damit handeln wir. Ich kann für Sie eine idyllische und beinahe spontane Liebesheirat arrangieren, mit einer hunderprozentigen, unter Regierungsaufsicht geprüften Jungfrau…« »Nein! Ich liebe Penny! Lassen Sie mich wenigstens mit ihr reden!« »Das dürfte gänzlich ausgeschlossen sein«, sagte Mr. Tate. »Warum?« Mr. Tate drückte auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch. »Warum meinen Sie wohl? Wir haben die vorherige Indoktrination ausgelöscht. Penny ist inzwischen in einen anderen verliebt.«
Und da begriff Simon. Ihm war bewußt geworden, daß Penny just in diesem Augenblick einen anderen Mann mit jener Leidenschaft ansah, die er kennengelernt hatte, daß sie für einen anderen Mann jene vollkommene und abgrundtiefe Liebe empfand, die unparteiische wissenschaftliche Firmen als viel größer denn die altmodische, kommerziell ungangbare natürliche Auswahl nachgewiesen hatten, und daß an eben jenem, in der Werbebroschüre erwähnten dunklen Strand… Mit einem Hechtsprung sprang er Tate an die Kehle. Zwei Wärter, die kurz zuvor das Büro betreten hatten, packten ihn und führten ihn zur Tür. »Vergessen Sie nicht!« rief Tate ihm nach. »Dies macht in keiner Weise die Erfahrung hinfällig, die Sie gemacht haben.« Teuflischerweise wußte Simon, daß Tate damit recht hatte. Und dann fand er sich auf der Straße wieder. Zuerst hatte er nur den einen Wunsch, von der Erde zu fliegen, wo die kommerziellen Verstiegenheiten über das Fassungsvermögen eines normalen Menschen hinausgingen. Er ging sehr schnell, und Penny ging neben ihm, das Gesicht verklärt von der Liebe zu ihm und ihm und ihm und dir und dir… Und natürlich kam er zu der Schießbude. »Wollen Sie Ihr Glück versuchen?« fragte der Geschäftsführer. »Stellen Sie sie auf«, sagte Alfred Simon.
Was man so alles ist Es gibt Regeln für das Verhalten von Raumschiffen beim Erstkontakt, Regeln, die voller Hoffnungslosigkeit aufgestellt wurden, und voller Verzweiflung streng und gewissenhaft befolgt werden, denn welche Regel kann schon die genaue Wirkung vorhersagen und beschreiben, die irgendeine Handlung auf die Mentalität eines fremden Volkes hat? Jan Maarten grübelte düster darüber nach, als er in die Atmosphäre von Durell IV eindrang. Er war ein großer Mann mittleren Alters mit dünnem, aschblondem Haar und einem runden, sorgenvollen Gesicht. Vor langer Zeit war er zu dem Schluß gekommen, daß nahezu jede Regel besser war als gar keine. Deshalb befolgte er seine peinlich genau, wenn auch mit einem stets gegenwärtigen Gefühl von Unsicherheit und menschlicher Fehlbarkeit. Dies waren ideale Voraussetzungen für die Tätigkeit als Erstkontakter. Er umkreiste den Planeten, niedrig genug für die Beobachtung, aber auch nicht zu niedrig, da er die Bewohner nicht erschrecken wollte. Er bemerkte Anzeichen für eine primitiv-pastorale Zivilisation und versuchte, sich an alles zu erinnern, was er aus Band 4, Geplante Techniken für den Erstkontakt auf sogenannten primitiv-pastoralen Welten, herausgegeben vom Ministerium für außerirdische Psychologie, gelernt hatte. Dann brachte er das Raumschiff auf einer felsigen, grasbewachsenen Ebene nahe, aber nicht zu nahe, einer typischen Ortschaft mittlerer Größe nieder, sich dabei der Landungstechnik mit der Bezeichnung Silent Sam bedienend. »Gut gemacht«, kommentierte Croswell, sein Assistent, der noch zu jung war, als daß er sich über Unwägbarkeiten den Kopf zerbrochen hätte. Chedka, der eborianische Linguist, sagte nichts. Er schlief, wie gewöhnlich. Maarten brummte etwas und ging ins Heck des Raumschiffs, um seine Tests abzuspulen. Croswell nahm seinen Posten im Ausguck ein.
»Da kommen sie«, berichtete Croswell eine halbe Stunde später. »Ungefähr ein Dutzend, eindeutig humanoid.« Bei näherem Hinsehen stellte er fest, daß die Eingeborenen von Durell schlaff, kreideweiß und ohne jeden Gesichtsausdruck waren. Croswell zögerte und fügte dann hinzu: »So richtig hübsch sind sie nicht.« »Was machen sie?« fragte Maarten. »Sie schauen uns einfach nur an«, sagte Croswell. Er war ein schlanker junger Mann mit einem ungewöhnlich großen und glänzenden Schnurrbart, den er sich auf der langen Reise von der Terra hatte wachsen lassen. Er strich über ihn mit dem Stolz eines Mannes, der es zu einem wirklich guten Schnurrbart gebracht hatte. »Sie sind jetzt ungefähr fünfundzwanzig Meter vom Raumschiff entfernt«, berichtete Croswell. Er beugte sich vor und drückte seine Nase albern an dem Ausguck platt, der aus nur in einer Richtung durchsichtigem Glas bestand. Croswell konnte nach draußen blicken, doch niemand konnte hineinsehen. Das Ministerium für außerirdische Psychologie hatte diese Änderung letztes Jahr angeordnet, nachdem ein Raumschiff des Ministeriums einen Erstkontakt auf Carella II verpfuscht hatte. Die Carellaner hatten in das Raumschiff hineingestarrt, waren über etwas in seinem Inneren in Unruhe geraten und waren geflohen. Das Ministerium wußte immer noch nicht, was die Unruhe ausgelöst hatte, denn zu einem erfolgreichen zweiten Kontakt war es nie gekommen. Der Fehler würde nicht noch einmal passieren. »Was jetzt?« rief Maarten. »Einer von ihnen kommt allein näher. Vielleicht ein Häuptling. Vielleicht bietet er sich als Opfer an.« »Was hat er an?« »Er trägt eine – eine Art – würdest du freundlicherweise herkommen und es dir selber ansehen?« Maarten, an seinem Instrumentenbord, hatte ein flüchtiges Bild von Durell zusammengestellt. Der Planet besaß eine atembare Atmosphäre, ein ausgeglichenes Klima und eine der Erde vergleichbare Schwerkraft.
Er beherbergte wertvolle Lager von radioaktiven und seltenen Metallen. Am besten war, daß er sich als frei von ansteckenden Mikroorganismen und giftigen Dämpfen erwies, die die unangenehme Eigenschaft hatten, das Leben eines Kontakters fieberhaft kurz zu gestalten. Durell würde ein schätzenswerter Nachbar für die Erde sein, vorausgesetzt, die Eingeborenen waren freundlich – und die Kontakter geschickt. Maarten trat an den Ausguck und studierte die Eingeborenen. »Sie tragen pastellfarbige Kleidung; wir werden auch pastellfarbige Kleidung tragen.« »Gebont«, sagte Croswell. »Sie sind unbewaffnet; wir werden unbewaffnet gehen.« »Roger.« »Sie haben Sandalen an; wir werden Sandalen anziehen.« »Dein Wunsch ist mir Befehl.« »Ich stelle fest, daß sie keine Gesichtshaare haben«, sagte Maarten und konnte sich nur mit Mühe ein Lächeln verkneifen. »Tut mir leid, Ed, aber dieser Schnurrbart…« »Nicht mein Schnurrbart!« jaulte Croswell und deckte ihn rasch mit einer schützenden Hand ab. »Ich fürchte doch.« »Aber Jan, es hat mich sechs Monate gekostet, ihn wachsen zu lassen!« »Er muß ab. Das sollte doch klar sein.« »Ich sehe nicht ein, warum«, meinte Croswell entrüstet. »Weil der erste Eindruck entscheidend ist. Wenn der erste Eindruck ungünstig ausfällt, werden die anschließenden Kontakte schwierig, manchmal sogar unmöglich. Da wir überhaupt keine Ahnung von diesen Leuten haben, ist Ähnlichkeit unser sicherster Weg. Wir versuchen, so auszusehen wie sie, kleiden uns in Farben, die gefallen, oder für sie zumindest tragbar sind, kopieren ihre Gesten, führen uns in jeder Hinsicht im Rahmen des für sie Akzeptablen auf…«
»Schon gut, schon gut«, sagte Croswell. »Ich nehme an, daß ich mir auf der Rückreise wieder einen neuen Schnurrbart wachsen lassen kann.« Sie sahen sich an; dann fingen beide an zu lachen. Auf diese Weise hatte Croswell schon drei Schnurrbärte eingebüßt. Während er sich also rasierte, rüttelte Maarten ihren Linguisten wach. Chedka war ein halbaffenähnlicher Menschling von Eboria IV, einem der wenigen Planeten, mit denen die Erde erfolgreiche Beziehungen unterhielt. Die Eborianer besaßen eine natürliche Sprachbegabung, bei der ihnen jene Art von assoziativer Fähigkeit zu Hilfe kam, welche man bei gewissen Nervensägen antrifft, die bei einer Unterhaltung stets das vermeintlich fehlende Wort ergänzen – nur, daß die Eborianer immer recht hatten. Sie waren zu ihrer Zeit durch einen beträchtlichen Teil der Galaxis gezogen und hätten vermutlich eine ziemliche Stellung in ihr einnehmen können, wenn es nicht so gewesen wäre, daß sie zwanzig Stunden Schlaf am Tag brauchten. Croswell beendete seine Rasur und zog einen hellgrünen Overall und Sandalen an. Zu dritt traten sie durch die Keimschleuse. Maarten atmete tief durch, murmelte ein stilles Gebet und öffnete die Tür. Ein schwacher Seufzer stieg aus der Menge der Durellaner auf, wobei der Häuptling – oder das Opfer – stumm blieb. Sie waren in der Tat menschenähnlich, wenn man einmal von ihrer Blässe und der milde an ein Schaf erinnernden Sanftheit ihrer Gesichtszüge absah – Gesichtszüge, auf denen Maarten durchaus überhaupt keine Spur von Ausdruck zu lesen vermochte. »Verzieh auf keinen Fall das Gesicht«, warnte Maarten Croswell. Langsam traten sie vor, bis sie drei Meter vor dem führenden Durellaner standen. Dann sagte Maarten mit leiser Stimme: »Wir kommen in Frieden.«
Chedka übersetzte und lauschte dann der Antwort, die so leise kam, daß sie beinahe gar nicht zu hören war. »Häuptling sagt willkommen«, berichtete Chedka in seiner ökonomischen Sprechweise.
»Gut, gut«, meinte Maarten. Er ging noch ein paar Schritte vor und hob an zu reden, hin und wieder eine Pause für die Übersetzung einlegend. Ernst und mit äußerster Überzeugung intonierte er die Primäransprache BB-32 (für humanoide, primitiv-pastorale, zögernd nichtagressive Fremde). Selbst Croswell, der kaum durch etwas zu beeindrucken war, mußte zugeben, daß es eine großartige Rede war. Maarten sagte, sie wären Wanderer von weither und aus dem Großen Nichts gekommen, um in ein freundliches Gespräch mit dem liebenswürdigen Volk von Durell einzutreten. Er sprach von der grünen und fernen Erde, diesem Planeten so ähnlich, und von den angenehmen und bescheidenen Menschen auf der Erde, die die Hand zur Begrüßung ausstreckten. Er berichtete von dem großen Geist des Friedens und der Zusammenarbeit, der von der Erde ausginge, von universaler Freundschaft und von vielen anderen großartigen Dingen. Schließlich war er durch. Ein langes Schweigen setzte ein. »Hat er alles verstanden?« flüsterte Maarten Chedka zu. Der Eborianer nickte und wartete auf die Erwiderung des Häuptlings. Maarten schwitzte von der Strapaze, und Croswell konnte es nicht unterlassen, nervös an seiner frisch rasierten Oberlippe herumzufummeln. Der Häuptling machte den Mund auf, japste nach Luft, drehte sich halb ab und stürzte zu Boden. Es war ein peinlicher Augenblick, und überdies einer, der von keinerlei Theorie abgedeckt war. Der Häuptling stand nicht auf; es wurde deutlich, daß es sich nicht um einen zeremoniellen Sturz handelte. Tatsächlich ging sein Atem schwer wie bei einem Menschen, der im Koma liegt. Unter diesen Umständen blieb dem Kontaktteam nichts weiter übrig, als sich ins Raumschiff zurückzuziehen und die weitere Entwicklung abzuwarten. Nach einer halben Stunde näherte sich ein Einheimischer dem Schiff und unterhielt sich mit Chedka, wobei er die Männer von der Erde argwöhnisch im Auge behielt und sich sofort wieder zurückzog. »Was hat er gesagt?« wollte Croswell wissen.
»Häuptling Moréri entschuldigt sich für die Ohnmacht«, erzählte Chedka ihnen. »Er sagt, es war nicht zu entschuldigendes schlechtes Benehmen.« »Aha!« rief Maarten aus. »Seine Ohnmacht könnte uns letzten Endes von Nutzen sein – ihn dazu veranlassen, seine ›Unhöflichkeit‹ wiedergutzumachen. Zumindest, wenn sie ein Zufall war und nichts mit uns zu tun hatte…« »Doch«, sagte Chedka. »Doch was?« »Sie hatte doch etwas mit euch zu tun«, sagte der Eborianer, rollte sich zusammen und schlief ein. Maarten schüttelte den kleinen Linguisten wach. »Was hat der Häuptling sonst noch gesagt? Inwiefern hatte seine Ohnmacht etwas mit uns zu tun?« Chedka gähnte ausgiebig. »Der Häuptling war in großer Verlegenheit. Er hielt der Luft aus deinem Mund solange er konnte stand, doch der fremde Geruch…« »Mein Atem?« fragte Maarten. »Mein Atem hat ihn umgehauen?« Chedka nickte, kicherte unvermittelt und schlief ein. Der Abend kam, und das lange, trübe Zwielicht von Durell ging unmerklich in die Nacht über. Vom Ort her schimmerten Herdfeuer durch den umliegenden Wald und verloschen eins nach dem anderen. Doch im Raumschiff brannten die Lichter bis zur Morgendämmerung. Und als die Sonne aufging, schlüpfte Chedka ins Freie und begab sich auf eine Mission in die Ortschaft. Croswell brütete über seinem Frühstückskaffee, während Maarten den Arzneischrank des Raumschiffs durchwühlte. »Das ist eindeutig ein vorübergehender Rückschlag«, meinte Croswell hoffnungsvoll. »Geringfügige Zwischenfälle wie dieser kommen bestimmt immer vor. Erinnerst du dich noch an damals, auf Dingoforeaba VI…?« »Es sind die Geringfügigkeiten, die uns Planeten für immer verschließen«, sagte Maarten. »Aber wie hätte man denn auch annehmen können…«
»Ich hätte daran denken sollen«, brummte Maarten ärgerlich. »Bloß weil unser Atem woanders keinen Anstoß erregt hat – hier hat er es eben!« Triumphierend hielt er eine Flasche mit rosa Tabletten in die Höhe. »Die neutralisieren garantiert jeden Atem, selbst den einer Hyäne. Nimm ein paar.« Croswell nahm die Tabletten. »Und jetzt?« »Jetzt warten wir, bis – aha? Was hat er gesagt?« Chedka kam, sich die Augen reibend, durch die Tür herein. »Der Häuptling entschuldigt sich für die Ohnmacht.« »Das wissen wir. Was noch?« »Er heißt euch in Lannit willkommen, wenn es euch paßt. Der Häuptling ist der Ansicht, daß dieser Zwischenfall die Fortsetzung der Freundschaft zwischen zwei friedlebenden und liebenswürdigen Völkern nicht ändern sollte.« Maarten stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er räusperte sich und fragte zögernd: »Hast du ihm gegenüber die bevorstehende – äh – Verbesserung unseres Atems erwähnt?« »Ich habe ihm versichert, daß er korrigiert wird«, sagte Chedka, »wenn er mich auch nie gestört hat.« »Schön, schön. Wir gehen jetzt in den Ort. Vielleicht solltest du eine von diesen Tabletten nehmen.« »Mit meinem Atem ist alles in Ordnung«, erklärte der Eborianer selbstgefällig. Sogleich machten sie sich auf den Weg nach Lannit. Wenn man es mit primitiv-pastoralen Leuten zu tun hat, bedient man sich einfacher, doch hochgradig symbolischer Gesten, denn die verstehen sie am besten. Bildersprache! Deutliche und entschiedene Parallelen! Wenig Worte, aber viele Gesten! Dies waren die Regeln für den Umgang mit Primitiv-Pastoralen. Als Maarten sich dem Ort näherte, bot sich ihm Gelegenheit für eine natürliche und hochgradig symbolische Zeremonie. Die Eingeborenen
warteten in ihrem Dorf, das auf einer großen Waldlichtung gelegen war. Den Wald vom nahegelegenen Ort trennte ein trockenes Flußbett, und dieses Bett überspannte eine kleine Steinbrücke. Maarten ging bis zur Mitte der Brücke und blieb stehen, die Durellaner wohlwollend anstrahlend. Als er bemerkte, wie sich einige von ihnen schüttelten und abwandten, glättete er seine Gesichtszüge, zumal er sich daran erinnerte, selber die Unterlassung jeglicher Gesichtsverzerrung verfügt zu haben. Er machte eine lange Pause. »Was ist los?« fragte Croswell, der vor der Brücke stehengeblieben war. Mit lauter Stimme rief Maarten: »Möge diese Brücke das nunmehr auf ewig geschmiedete Glied symbolisieren, welches diesen wunderschönen Planeten…« Croswell rief ihm eine Warnung zu, aber Maarten hatte keine Ahnung, was los war. Er hielt den Blick starr auf die Einwohner gerichtet; sie hatten sich nicht gerührt. »Komm von der Brücke runter!« rief Croswell. Aber ehe Maarten eine Bewegung machen konnte, war schon die ganze Konstruktion unter ihm zusammengebrochen, und er stürzte Hals über Kopf in das trockene Flußbett. »Verfluchteste Sache, die ich je gesehen habe«, sagte Croswell und half ihm auf die Beine. »Sobald du die Stimme erhoben hast, fing dieser Stein an, sich in Staub aufzulösen. Sympathetische Vibration, nehme ich an.« Jetzt war Maarten klar, warum die Durellaner nur im Flüsterton sprachen. Er kam mit Mühe auf die Beine, stöhnte dann und setzte sich wieder hin. »Was hast du?« erkundigte sich Croswell. »Ich scheine mir den Knöchel verstaucht zu haben«, sagte Maarten kläglich. Häuptling Moréri trat heran, gefolgt von ungefähr zwanzig Dorfbewohnern, hielt eine kurze Ansprache und überreichte Maarten einen Spazierstock aus geschnitztem und poliertem schwarzem Holz. »Danke«, murmelte Maarten, stand auf und stützte sich behutsam auf den Stock. »Was hat er gesagt?« fragte er Chedka.
»Der Häuptling sagt, daß die Brücke erst hundert Jahre alt und in gutem Zustand war«, übersetzte Chedka. »Er bedauert, daß seine Vorfahren sie nicht besser gebaut haben.« »Hmmm«, machte Maarten. »Und der Häuptling sagt, daß du wahrscheinlich ein Unglücksrabe bist.« Da könnte er recht haben, dachte Maarten. Vielleicht waren die Bewohner der Erde auch einfach nur eine ungeschickte Rasse. Trotz all ihrer guten Absichten wurden sie von Bevölkerung nach Bevölkerung gefürchtet, gehaßt, beneidet – in erster Linie auf Grund von ungünstigen ersten Eindrücken. Dennoch, hier schien es eine Chance zu geben. Was sollte wohl sonst noch schiefgehen? Sich zu einem Lächeln zwingend, das er allerdings sogleich wieder einstellte, humpelte Maarten neben Moréri her ins Dorf. In technologischer Hinsicht lag die Zivilisation von Durell im argen. Man bediente sich zwar in begrenztem Umfang Rad und Hebel, hatte den Begriff des mechanischen Fortschritts allerdings nicht erweitert. Es gab Anhaltspunkte für Grundkenntnisse in einfacher Geometrie und für eine vage Vorstellung von der Astronomie. Auf künstlerischem Gebiet waren die Durellaner jedoch geschickt und überraschend erfahren, besonders was die Holzschnitzerei betraf. Selbst die schlichteste Hütte besaß eine geschnitzte Türfüllung, wunderschön ersonnen und ausgeführt. »Meinst du, ich könnte ein paar Fotos machen?« fragte Croswell. »Ich sehe keinen Grund, warum nicht«, antwortete Maarten. Er ließ die Finger bewundernd über einen großen Türrahmen gleiten, der aus demselben geradlinig gemaserten schwarzen Holz wie sein Spazierstock bestand. Die Politur war so glatt wie Haut an Fingerspitzen. Der Häuptling gab seine Einwilligung, und Croswell machte Fotos und Zeichnungen von den Dekorationen an Häusern, Märkten und Tempeln.
Maarten wanderte herum, betastete vorsichtig die ausgeklügelten Basreliefs, sprach mit Chedkas Hilfe mit einigen Eingeborenen und stellte ganz allgemein seine Eindrücke zusammen. Die Durellaner, zu diesem Urteil kam Maarten, waren hochintelligent und hatten Anlagen, die denen des Homo sapiens vergleichbar waren. Ihr Mangel an ausgeprägter Technologie war mehr der Ausdruck einer Zusammenarbeit mit der Natur als ein Makel auf ihrem Erscheinungsbild. Sie schienen von Natur aus friedlebend und unagressiv zu sein – wertvolle Nachbarn einer Erde, die nach Jahrhunderten des Durcheinanders auf ein ähnliches Ziel zusteuerte. Dies sollte die Grundlage seines für das Zweite Kontaktteam bestimmten Berichts sein. Dem hoffte er, noch hinzusetzen zu können: Was die Erde betrifft, so scheint ein günstiger Eindruck entstanden zu sein. Ungewöhnliche Schwierigkeiten stehen nicht zu erwarten. Chedka hatte sich inzwischen ernsthaft mit Häuptling Moréri unterhalten. Jetzt, geringfügig wacher aussehend als sonst, trat er heran und beriet sich im Flüsterton mit Maarten. Maarten, ohne eine Miene zu verziehen, nickte und ging zu Croswell, der seine letzten Fotos schoß. »Alles klar für die große Show?« fragte Maarten. »Was für eine Show?« »Moréri schmeißt heute abend ein Fest für uns«, meinte Maarten. »Ein sehr großes, sehr wichtiges Fest. Eine abschließende Geste des guten Willens und so weiter.« Obwohl er das ganz beiläufig aussprach, strahlte sein Blick tiefe Befriedigung aus. Croswells Reaktion war direkter. »Dann haben wir es geschafft! Der Kontakt ist erfolgreich!« Hinter ihm zuckten zwei Eingeborene bei diesem lautstarken Ausbruch zusammen und torkelten kraftlos davon. »Wir haben es geschafft«, flüsterte Maarten leise, »wenn wir uns gewaltig zusammenreißen. Es sind großartige, verständnisvolle Leute – aber ich werde das ungewisse und dumpfe Gefühl nicht los, daß wir ihnen allmählich ein bißchen auf die Nerven gehen.« Bis zum Abend hatten Maarten und Croswell eine chemische Untersuchung der Speisen auf Durell abgeschlossen und nichts gefunden, was
für Menschen hätte schädlich sein können. Sie nahmen noch ein paar rosa Tabletten ein, wechselten Overall und Sandalen, durchliefen noch einmal die Keimschleuse und begaben sich auf das Fest. Der erste Gang war ein orange-grünes Gemüse, das wie Kürbis schmeckte. Im Anschluß daran hielt Häuptling Moréri eine kurze Rede über die Bedeutung interkultureller Beziehungen. Ein an Hase erinnerndes Gericht wurde ihnen vorgesetzt, und Croswell wurde aufgefordert, eine Ansprache zu halten. »Vergiß nicht«, flüsterte Maarten ihm zu, »flüstern!« Croswell erhob sich und begann zu sprechen. Mit beherrschter Stimme und ausdruckslosem Gesicht ging er daran, die vielen Ähnlichkeiten zwischen Erde und Durell aufzuzählen, wobei er in der Hauptsache von Gesten abhing, um seine Botschaft zu übermitteln. Chedka übersetzte. Maarten nickte zustimmend. Der Häuptling nickte. Die Eingeladenen nickten. Croswell beendete seine Aufzählung und setzte sich hin. Maarten schlug ihm auf die Schulter. »Gut gemacht, Ed. Du hast eine Naturbegabung für – was ist los?« Croswell machte ein verblüfftes und ungläubiges Gesicht. »Guck mal!« Maarten drehte sich um. Der Häuptling und die Eingeladenen, offenen Auges und starren Blicks, nickten immer noch. »Chedka!« flüsterte Maarten. »Sprich sie an!« Der Eborianer richtete eine Frage an den Häuptling. Er bekam keine Antwort. Der Häuptling fuhr fort, rhythmisch zu nicken. »Die Gesten, die du gemacht hast!« sagte Maarten. »Du hast sie wahrscheinlich hypnotisiert!« Er kratzte sich den Kopf und hustete einmal, und zwar laut. Die Durellander hörten auf zu nicken, blinzelten mit den Augen und fingen an, rasch und unruhig miteinander zu reden. »Sie sagen, du hättest starke Kräfte«, übersetzte Chedka wahllos. »Sie sagen, daß Fremde ziemlich sonderbare Leute sind, und zweifeln daran, ob man ihnen trauen kann.« »Was sagt der Häuptling?« fragte Maarten.
»Der Häuptling glaubt, ihr seid in Ordnung. Er erklärt seinen Leuten, daß ihr nicht in böser Absicht gehandelt habt.« »Nicht schlecht. Brechen wir auf, solange wir noch Oberwasser haben.« Er stand auf; Croswell und Chedka taten es ihm gleich. »Wir verlassen euch nun«, wandte er sich flüsternd an den Häuptling, »doch wir bitten um die Erlaubnis, daß andere unserer Art euch besuchen dürfen. Verzeiht uns die Fehler, die wir gemacht haben; sie sind nur passiert, weil wir keine Ahnung von euch hatten.« Chedka übersetzte, und Maarten fuhr fort zu flüstern, das Gesicht ausdruckslos, die Hände an die Seite gelegt. Er sprach von der Einheit der Galaxis, dem Vergnügen der Zusammenarbeit, vom Frieden, dem Austausch von Waren und Kunstwerken und von der grundsätzlichen Solidarität des menschlichen Lebens. Moréri, wenngleich von der hypnotischen Erfahrung noch leicht benommen, erwiderte, die Bewohner der Erde wären stets willkommen. Spontan streckte Croswell die Hand aus. Der Häuptling betrachtete sie eine Weile verwirrt, ergriff sie dann aber, wobei er sich offensichtlich fragte, was er damit machen sollte und warum. Vor Schmerz schnappte er nach Luft und zog die Hand zurück. Schwere Verbrennungen waren zu sehen, die sich als rote Flecken auf der Haut abzeichneten. »Was kann denn das…« »Schweiß!« sagte Maarten. »Schweiß ist eine Säure. Muß wohl eine fast unmittelbare und sofortige Wirkung auf ihr besonderes Make-up haben. Laßt uns hier abhauen.« Die Eingeborenen rotteten sich schon zusammen und hatten sich mit Steinen und Holzknüppeln bewaffnet. Der Häuptling redete trotz seiner Schmerzen auf sie ein, doch die Männer von der Erde warteten das Ergebnis der heftigen Auseinandersetzung nicht ab. Sie zogen sich, so schnell wie Maarten mit Hilfe des Stocks humpeln konnte, zu ihrem nahegelegenen Raumschiff zurück.
Der Wald hinter ihnen war dunkel und voll von verdächtigen Bewegungen. Ganz außer Atem kamen sie am Raumschiff an. Croswell, vorneweg, stolperte über ein Grasbüschel und stieß mit voller Wucht mit dem Kopf gegen die Tür, daß es laut widerhallte. »Verdammt!« jammerte er vor Schmerzen. Der Boden unter ihnen rumpelte, fing an zu beben und glitt weg. »Ins Schiff!« befahl Maarten. Sie schafften es abzuheben, ehe der Boden völlig wegsackte. »Das muß wohl wieder sympathetische Vibration gewesen sein«, meinte Croswell ein paar Stunden später, als sie sich schon im Weltraum befanden. »Aber wir haben ja wirklich ein Glück – ausgerechnet auf einer Gesteinsverwerfung zu sitzen!« Maarten seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich weiß eigentlich nicht, was ich machen soll. Am liebsten würde ich umkehren, ihnen zu erklären versuchen, aber…« »Wir sind schon länger dageblieben, als ihnen lieb war«, sagte Croswell. »Anscheinend. Schnitzer, nichts als Schnitzer. Wir haben auf dem falschen Bein angefangen, und alles, was wir gemacht haben, hat die Sache nur verschlimmert.« »Es liegt nicht daran, was ihr macht«, erklärte Chedka mit der mitfühlendsten Stimme, die sie je von ihm gehört hatten. »Dafür könnt ihr nichts. Es liegt daran, was ihr seid.« Maarten ließ sich das eine Weile durch den Kopf gehen und wurde nachdenklich. »Ja, du hast recht. Unsere Stimmen zertrümmerten ihr Land, unser Gesichtsausdruck ekelt sie, unsere Bewegungen hypnotisieren sie, unser Atem läßt sie ersticken, unser Schweiß verbrennt sie. Großer Gott!« »Großer Gott«, pflichtete Croswell finster bei. »Wir sind wandelnde Chemiefabriken – unsere einzigen und ausschließlichen Produkte sind Giftgas und Ätzmittel.« »Aber das ist noch nicht alles, was ihr seid«, sagte Chedka. »Seht mal hier.«
Er hielt Maartens Spazierstock in die Höhe. Am oberen Ende, wo Maarten ihn angefaßt hatte, waren seit langer Zeit ruhende Knospen in rosa und weiße Blüten aufgebrochen, deren Duft die Kabine füllte. »Seht ihr?« meinte Chedka. »Ihr seid auch dies.« »Das Holz war tot«, wunderte sich Croswell. »Irgendein Öl in unserer Haut, nehme ich an.« Maarten schauderte bei dem Gedanken. »Meinst du, daß die ganzen Schnitzereien, die wir angefaßt haben – die Hütten, der Tempel…« »Das nehmen ich an«, sagte Croswell. Maarten schloß die Augen und stellte sich vor, wie das tote, trockene Holz plötzlich erblühte. »Ich glaube, sie werden das verstehen«, sagte er und gab sich große Mühe, sich selbst zu glauben. »Das ist ein ziemliches Symbol, und sie sind einigermaßen verständige Leute. Ich glaube, zumindest ein Teil von dem, was wir sind, wird ihnen gefallen.«
Die Falle Samish, ich brauche Hilfe. Die Lage wird möglicherweise bedrohlich, komm also sofort. Du hattest natürlich recht, Samish, alter Freund, ich hätte niemals einem Terraner vertrauen sollen. Das ist eine hinterhältige, ungebildete, verantwortungslose Brut, genau wie du immer gesagt hast. Aber so dumm, wie es den Anschein hat, sind sie auch wieder nicht. Langsam komme ich zu der Überzeugung, daß die Schlankheit des Fühlers doch nicht das einzige Kriterium für Intelligenz ist. Was für ein Schlamassel, Samish! Und der Plan schien so idiotensicher zu sein… Ed Dailey bemerkte vor der Tür seiner Hütte einen metallischen Glanz, war aber noch zu verschlafen, um ihn näher in Augenschein zu nehmen. Er war kurz nach Tagesanbruch erwacht und auf Zehenspitzen ins Freie getreten, um einen Blick auf das Wetter zu werfen. Es versprach wenig. Die Nacht über hatte es in Strömen geregnet, und Wasser tropfte von jedem Blatt und jedem Ast des umliegenden Waldes. Sein Kombiwagen sah ganz durchgeweicht aus, und die unbefestigte Straße in die Berge hatte sich in knöcheltiefen Schlamm verwandelt. Sein Freund Thurston kam im Schlafanzug an die Tür, das runde Gesicht rosig vom Schlaf und in seiner Gelassenheit an einen Buddha erinnernd. »Am ersten Urlaubstag regnet es immer«, stellte Thurston fest. »Naturgesetz.« »Vielleicht kein schlechter Tag für Forellen«, sagte Dailey. »Vielleicht. Besser geeignet für ein prasselndes Feuer im Kamin und heißen Rum mit Butter.« Seit elf Jahren verbrachten sie gemeinsam einen kurzen Herbsturlaub, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Dailey hatte einen romantischen Hang zu Ausrüstungsgegenständen. Die Verkäufer der ausgefalleneren Sportgeschäfte New Yorks hängten ihm teure Parkas über die hohen, abfallenden Schultern, Parkas, wie man sie auf den Spuren des abscheulichen Schneemenschen in den Schlupfwinkeln Tibets tragen mochte. Sie verkauften ihm sinnreiche kleine Kocher, die auch bei einem Hurricane nicht ausgingen, und tückisch geschwungene Messer aus bestem Schwedenstahl. Dailey hatte seine Freude daran, eine Feldflasche an der Seite und ein Gewehr aus extra gehärtetem Stahl über der Schulter zu spüren. Aber die Feldflasche enthielt gewöhnlich Rum, und das Gewehr wurde gegen nichts Todbringenderes als Blechbüchsen eingesetzt. Denn trotz seiner Träume war Dailey ein friedfertiger und gutmütiger Mensch und konnte keiner Fliege etwas zuleide tun. Sein Freund Thurston war übergewichtig und kurzatmig und belastete sich höchstens mit der leichtesten aller verfügbaren Angelruten und dem kleinsten Schießeisen. In der zweiten Woche gelang es ihm gewöhnlich, die Jagd nach Lake Placid zu verlegen, in die Cocktailbars, in denen er eigentlich zu Hause war. Dort jagte er mit unglaublichem Wissen um Fährten und Lagerstätten statt Braunbär, Schwarzbär oder Hochwild die hübschen Urlauberinnen. Diese leichte Übung war mehr als angemessen für zwei ruhige, erfolgreiche Geschäftsmänner am falschen Ende der Vierziger, und gebräunt und gut erholt kehrten sie in die Stadt zurück, mit neuem Leben erfüllt und aufgefrischter Nachsicht mit ihren Frauen. »Rum darf es sein«, sagte Dailey. »Was ist das?« Er hatte den metallischen Glanz nahe der Hütte bemerkt. Thurston ging hin und stocherte mit der Fußspitze an dem Objekt herum. »Merkwürdig aussehendes Ding.« Dailey zerteilte das Gras und sah eine Lattenkiste von ungefähr einem Meter zwanzig im Quadrat, die aus Metallstreifen gebaut und oben mit einem Scharnier versehen war. Deutlich ins Auge fallend stand auf einem der Streifen das Wort Falle geschrieben. »Wo hast du die denn gekauft?« fragte Thurston.
»Habe ich nicht.« Dailey fand ein Etikett aus Plastik, das an einem der Streifen befestigt war. Er riß es ab und las: »Lieber Freund, vor sich haben Sie einen neuen und revolutionären Entwurf der Falle. Um die Falle beim breiten Publikum einzuführen, stellen wir Ihnen dieses Modell absolut kostenlos zur Verfügung! Wenn Sie die Anweisungen auf der Rückseite genaustens befolgen, werden Sie in ihr eine einzigartige und nützliche Vorrichtung zum Einfangen kleiner Wildtiere finden. Viel Glück und Weidmannsheil!« »Das ist ja außerordentlich merkwürdig«, sagte Dailey. »Meinst du, die wurde über Nacht hier abgestellt?« »Was geht mich das an?« Thurston zuckte mit den Schultern. »Mir knurrt der Magen. Laß uns Frühstück machen.« »Interessiert dich das denn gar nicht?« »Nicht besonders. Ein technisches Spielzeug mehr. Du hast schon Hunderte davon. Diese Bärenfalle von Abercrombie & Fitch. Das Jaguarhorn von der Firma Battler’s. Der Krokodilköder von – « »So eine Falle habe ich noch nie gesehen«, sagte Dailey nachdenklich. »Recht geschickte Werbung, sie einfach so hier zu lassen.« »Irgendwann kriegst du dafür die Rechnung«, meinte Thurston zynisch. »Ich mache Frühstück. Du wäscht das Geschirr ab.« Er ging hinein, und Dailey drehte das Etikett um und las die Rückseite. »Stellen Sie die Falle auf eine Lichtung und verankern Sie sie mit der daran befestigten Kette an einem geeigneten Baum. Drücken Sie Knopf 1 am Boden. Die Falle wird vorgespannt. Warten Sie fünf Sekunden und drücken Sie dann Knopf 2. Die Falle wird aktiviert. Weiter ist nichts erforderlich, bis ein Fang vollzogen wurde. Dann drücken Sie Knopf 3, wodurch die Falle deaktiviert wird, öffnen diese und entnehmen ihr die Beute. Warnung! Halten Sie die Falle stets verschlossen, außer wenn Sie die Beute entnehmen. Für den Einlaß der Beute bedarf es keiner Öffnung, da die Falle nach dem Prinzip der osmotischen Sektion arbeitet und die Beute direkt in die Falle geleitet.«
»Was werden die sich wohl als nächstes ausdenken?« sagte Dailey anerkennend. »Frühstück ist fertig«, rief Thurston. »Hilf mir erst mal, die Falle aufzustellen.« Thurston, der sich inzwischen Bermuda-Shorts und ein grelles Sporthemd angezogen hatte, kam ins Freie und besah sich zweifelnd die Falle. »Glaubst du wirklich, wir sollten damit herumspielen?« »Natürlich. Vielleicht fangen wir einen Fuchs?« »Was, um alles auf der Welt, sollen wir mit einem Fuchs anfangen?« erkundigte sich Thurston. »Ihn freilassen«, meinte Dailey. »Der Spaß ist doch das Fangen. Los, hilf mir beim Tragen.« Die Falle war überraschend schwer. Gemeinsam schleppten sie sie fünfzig Meter von der Hütte weg und ketteten sie an eine junge Föhre. Dailey drückte den ersten Knopf, und die Falle erglühte schwach. Thurston ging ängstlich ein paar Schritte zurück. Nach fünf Sekunden drückte Dailey den zweiten Knopf. Der Wald tropfte, Eichhörnchen plapperten in den Wipfeln, und das hohe Gras raschelte leise. Die Falle stand ruhig neben dem Baum, und ihr Gitterwerk glühte schwach. »Gehen wir hinein«, sagte Thurston. »Die Eier sind inzwischen bestimmt schon kalt.« Dailey folgte ihm zur Hütte, blickte aber über die Schulter hinweg zu der Falle zurück. Sie stand da im Wald, stumm und lauernd. Samish, wo bist du? Meine Not wird immer drängender. So unglaublich es auch klingen mag, doch mein kleiner Planetoid wird vor meinen eigenen Augen in Stücke gerissen. Du bist mein ältester Freund, Samish, der Kumpel meiner Jugend, Trauzeuge bei meiner Hochzeit und zugleich ein Freund von Fregl. Ich rechne mit dir. Schieb es nicht zu lange auf. Ich habe dir bereits den Anfang meiner Geschichte gesendet. Die Terraner nahmen meine Falle als Falle, als sonst nichts. Und sie gingen daran, sie sofort zu benutzen,
ohne an die möglichen Folgen zu denken. Damit hatte ich gerechnet. Die phantastische Neugier der Terraner ist ja bekannt. Während dieser Zeit krabbelte meine Frau vergnügt auf dem Planetoiden herum, richtete unsere Hütte wieder her und genoß die Abwechslung vom Leben in der Stadt. Alles ging gut… Während des Frühstücks erklärte Thurston mit pedantischer Genauigkeit, warum eine Falle nicht funktionieren konnte, solange sie keine Öffnung hatte, durch die die Beute hineingelangen konnte. Dailey lächelte und sprach von osmotischer Sektion. Thurston beharrte darauf, daß es etwas Derartiges nicht gebe. Nachdem das Geschirr abgewaschen und abgetrocknet war, gingen sie durch das nasse, federnde Gras zur Falle. »Guck mal!« rief Dailey aus. Etwas saß in der Falle, etwas von der Größe eines Hasen, allerdings von leuchtend grüner Färbung. Seine Augen ragten auf Stengeln aus dem Kopf, und es schnappte mit hummerähnlichen Scheren nach ihnen. »Nie mehr Rum vor dem Frühstück«, sagte Thurston. »Von morgen an. Gib mir die Feldflasche.« Dailey gab sie ihm, und Thurston genehmigte sich hastig einen großzügig bemessenen Doppelschluck. Dann besah er sich erneut das Wesen in der Falle und machte »Brr!« »Ich glaube, es handelt sich um eine neue Art«, sagte Dailey. »Eine neue Art von Alptraum. Können wir nicht einfach nach Lake Placid fahren und die ganze Sache vergessen?« »Nein, natürlich nicht. So etwas wie dies habe ich in meinen zoologischen Büchern noch nie gesehen. Es dürfte der Wissenschaft gänzlich unbekannt sein. Worin wollen wir es halten?« »Halten?« »Ja, sicher. In der Falle kann es nicht bleiben. Wir müssen einen Käfig bauen und dann herausfinden, was es frißt.« Thurstons Gesicht büßte etwas von seiner üblichen Gelassenheit ein. »Hör mir mal zu, Ed. Ich werde meinen Urlaub nicht mit etwas Derartigem verbringen. Wahrscheinlich ist es giftig. Ich bin überzeugt, daß es
schmutzige Manieren hat.« Er atmete tief durch und fuhr dann fort. »Diese Falle hat etwas Unnatürliches an sich. Sie ist – unmenschlich!« Dailey grinste. »Ich bin sicher, das hat man auch von Fords erstem Auto und Edisons Kohlenfadenlampe behauptet. Diese Falle ist nur ein weiteres Beispiel für das Know-how Amerikas.« »Ich habe überhaupt nichts gegen Fortschritt«, stellte Thurston klar, »wenn er sich in andere Richtungen bewegt. Können wir nicht schlicht…« Er warf einen Blick auf das Gesicht seines Freundes und hörte auf zu sprechen. Es hatten einen Ausdruck angenommen, wie ihn Cortez gehabt haben mochte, als er sich dem Gipfel eines Berges in Darién näherte. »Ja«, sagte Dailey nach einer Weile. »Ich glaube, so ist es.« »Was?« »Sage ich dir später. Laß uns erst einmal einen Käfig bauen und die Falle wieder aufstellen.« Thurston seufzte, folgte ihm jedoch. Warum bist du noch nicht gekommen, Samish? Machst du dir den Ernst meiner Lage nicht klar? Habe ich nicht deutlich zum Ausdruck gebracht, wieviel von dir abhängt? Denk an deinen alten Freund! Denk an Fregl und ihre schimmernde Haut, um deretwillen ich in diesen Schlamassel geraten bin. Setz dich wenigstens mit mir in Verbindung. Die Terraner benutzen die Falle, die natürlich überhaupt keine Falle war, sondern ein Sachübermittler. Das andere Ende hatte ich sehr sorgfältig und praktisch unauffindbar auf dem Planetoiden versteckt und gab ihm drei kleine Tiere ein, die ich im Garten fand. Die Terraner entnehmen sie jedesmal dem Überträger – den Grund dafür kann ich mir nicht vorstellen. Aber ein Terraner behält alles. Als das dritte Tier übermittelt worden war, ohne zurückgeschickt zu werden, wußte ich, daß alles bereit war. Ich bereitete also die vierte und letzte Sendung vor, die allerwichtigste, für die alles andere bloß ein Vorgeplänkel gewesen war.
Sie standen in dem niedrigen Schuppen, der an ihre Hütte gebaut war. Thurston betrachtete angeekelt die drei Käfige aus starkem Moskitonetz. In jedem Käfig befand sich ein Wesen. »Pfui Teufel«, sagte Thurston. »Sie stinken.« Im ersten Käfig hockte der ursprüngliche Fang, das Tier mit den Stengelaugen und Hummerscheren. Als nächstes kam ein Vogel mit drei Paar schuppigen Flügeln. Schließlich war da etwas, was wie eine Schlange aussah, nur daß es an jedem Ende einen Kopf hatte. In den Käfigen standen Schalen mit Milch, Teller mit Hackfleisch, Gemüse, Gräsern, Borke – alles unberührt. »Sie wollen einfach nichts fressen«, sagte Dailey. »Sie sind eindeutig krank«, erklärte ihm Thurston. »Wahrscheinlich Bazillenträger. Können wir sie nicht loswerden, Ed?« Dailey blickte seinem Freund offen ins Gesicht. »Tom, hast du dir jemals gewünscht, berühmt zu sein?« »Bitte?« »Berühmt. Zu wissen, daß dein Name in die Geschichte eingeht.« »Ich bin Geschäftsmann«, sagte Thurston. »Diese Möglichkeit habe ich niemals in Betracht gezogen.« »Niemals?« Thurston lächelte verlegen. »Na ja, wer hat das nicht? Woran dachtest du denn?« »Diese Geschöpfe hier«, sagte Dailey, »sind einzigartig. Wir werden sie einem Museum übergeben.« »Und?« hakte Thurston interessiert nach. »Die Dailey-Thurston-Ausstellung bisher unbekannter Lebewesen.« »Vielleicht benennt man die Art nach uns«, meinte Thurston. »Schließlich haben wir sie entdeckt.« »Natürlich benennt man sie nach uns! Man wird uns in einem Atemzug mit Livingstone, Audubon und Teddy Roosevelt erwähnen.«
»Hmm.« Thurston dachte angestrengt nach. »Ich glaube, das Museum für Nationalgeschichte wäre der richtige Ort. Ich bin sicher, daß die eine Ausstellung arrangieren würden – « »Ich hatte eigentlich nicht bloß an eine Ausstellung gedacht«, sagte Dailey. »Ich dachte mehr an einen Flügel – den Dailey-Thurston-Flügel.« Thurston sah seinen Freund überrascht an. Bei Dailey kamen Züge zum Vorschein, die er nie vermutet hätte. »Aber Ed, wir haben doch nur drei. Wir können doch nicht einen ganzen Flügel mit drei Ausstellungsstücken füllen.« »Da, wo die herkommen, muß es noch mehr geben. Laß uns mal die Falle untersuchen.« Diesmal enthielt die Falle ein Geschöpf, das beinahe einen Meter groß war, einen grünen Kopf und einen gespaltenen Schwanz hatte. Es besaß mindestens ein Dutzend dicker Wimpern, die alle wütend hin und her schwangen. »Die anderen waren ruhig«, sagte Thurston besorgt. »Vielleicht ist dieses gefährlich.« »Wir fangen es mit einem Netz«, erwiderte Dailey entschlossen. »Und dann möchte ich mich mit dem Museum in Verbindung setzen.« Nach erheblichen Anstrengungen überstellten sie das Ding in einen Käfig. Die Falle wurde wieder aufgestellt, und Dailey sandte das folgende Telegramm an das Museum für Nationalgeschichte: Habe wenigstens vier Tiere entdeckt, die vermutlich einer neuen Art angehören stop Haben Sie Platz für eine angemessene Ausstellung stop Schicken Sie umgehend jemanden her. Dann, weil Thurston darauf beharrte, kabelte er ein paar untadelige Referenzen an das Museum, damit man dort nicht glaubte, er sei ein Spinner. Am selben Nachmittag erklärte Dailey Thurston seine Theorie. Es gebe, dessen sei er sicher, in diesem Teil der Adirondacks eine urzeitliche Enklave. In ihr hätten sich Lebewesen aus prähistorischen Zeiten erhalten. Sie wären niemals gefangen worden, weil sie auf Grund ihres großen Alters einen hohen Grad an Erfahrung und Vorsicht erlangt hätten. Aber die Falle, die ja nach dem neuen Prinzip der osmotischen Sektion arbeitete, hätte sich als ihrer Erfahrung überlegen erwiesen.
»Die Adirondacks sind ziemlich lückenlos erforscht worden«, gab Thurston zu bedenken. »Anscheinend nicht lückenlos genug«, sagte Dailey mit nicht zu widerlegender Logik. Später kehrten sie zu der Falle zurück. Sie war leer. Ich kann dich nur ganz schwach hören, Samish. Dreh doch freundlicherweise die Lautstärke weiter auf. Oder, was noch besser wäre, komm persönlich her. Es hat doch keinen Sinn, mit mir über Richtstrahler zu verkehren, wo ich mich doch nun mal an dieser Stelle befinde. Die Lage wird ständig verzweifelter. Was, Samish? Der Rest der Geschichte? Er liegt doch auf der Hand. Nachdem drei Tiere durch den Übermittler gegangen waren, wußte ich, daß ich soweit war. Nun war es an der Zeit, es meiner Frau zu erzählen. Also bat ich sie, mit mir in den Garten zu krabbeln. Sie war ganz angetan davon. »Sag mir, mein Lieber«, meinte sie, »hat dich in letzter Zeit etwas gestört?« »Hm«, machte ich. »Warst du unzufrieden mit mir?« fragte sie. »Nein, Liebling«, sagte ich. »Du hast dein Bestes versucht, aber es war einfach nicht genug. Ich nehme mir eine neue Frau.« Sie blieb reglos stehen, und ihre Wimpern schwangen verwirrt hin und her. Dann brach es aus ihr hervor: »Fregl!« »Ja«, erklärte ich ihr. »Die großartige Fregl hat eingewilligt, die Hütte mit mir zu teilen.« »Aber du vergißt, daß wir geheiratet haben, bis daß der Tod uns scheidet.« »Ich weiß. Schade, daß du auf dieser Formalität bestanden hast.« Und mit einem klug berechneten Schubs beförderte ich sie in den Sachübermittler. Samish, du hättest ihr Gesicht sehen sollen! Ihre Wimpern krümmten sich, sie kreischte, und dann war sie verschwunden. Endlich war ich frei! Etwas benommen, aber frei! Frei, um mich mit der herrlichen Fregl zu verbinden! Jetzt kannst du die Perfektion des Plans würdigen. Es war notwendig, sich der Mitarbeit der Terraner zu versichern, denn ein Sachübermittler muß an beiden En-
den bedient werden. Ich hatte ihn als Falle verkleidet, weil Terraner alles glauben. Und als meinen Meisterstreich habe ich ihnen meine Frau geschickt. Sollen sie doch versuchen, mit ihr zu leben! Ich konnte es nie und nimmer! Idiotensicher, absolut idiotensicher. Der Körper meiner Frau würde nie mehr auftauchen, weil die habsüchtigen Terraner behalten, was sie kriegen. Keiner hätte jemals etwas beweisen können. Und dann, Samish, dann passierte es… Die Hütte hatte die Atmosphäre ländlicher Heiterkeit eingebüßt. Reifenspuren zogen sich kreuz und quer über den schlammigen Pfad hin. Die ganze Gegend war übersät von Blitzlichtbirnen, leeren Zigarettenschachteln, Bonbonpapier, Bleistiftstummeln und Papierschnipsel. Aber jetzt, nach ein paar hektischen und aufregenden Stunden, waren alle weg. Nur ein bitterer Nachgeschmack war geblieben. Dailey und Thurston standen neben der leeren Falle und starrten sie hilflos an. »Was, glaubst du, stimmt mit dem verdammten Ding nicht?« fragte Dailey und versetzte der Falle einen enttäuschten und heftigen Fußtritt. »Vielleicht gibt es sonst nichts mehr zu fangen«, gab Thurston zu bedenken. »Es muß doch! Warum sollte sie vier vollkommen fremdartige Tiere aufnehmen, und dann überhaupt nichts mehr?« Er kniete sich neben die Falle und meinte bitter: »Diese dämlichen Museumsleute. Alle diese Reporter!« »In gewisser Weise«, sagte Thurston vorsichtig, »kannst du es ihnen nicht verdenken…« »Was? Mich zu beschuldigen, ich hätte ihnen einen Bären aufgebunden! Hast du sie gehört, Tom? Sie haben mich gefragt, wie ich die Hauttransplantation bewerkstelligt habe!« »Zu schade, daß die Tiere alle tot waren, als die Museumsleute endlich hier eintrafen«, sagte Thurston. »Das sah verdächtig aus.« »Die blöden Kreaturen wollten nicht fressen. War das etwa meine Schuld? Und diese Zeitungstypen… Also wirklich, man hätte doch ge-
dacht, daß die Zeitungen in einer Großstadt intelligentere Reporter anheuern.« »Du hättest nicht versprechen sollen, noch mehr Tiere zu fangen«, sagte Thurston. »Erst als nichts mehr in die Falle kam, habe ich einen Schwindel vermutet.« »Natürlich habe ich das versprochen! Wie hätte ich denn auch annehmen sollen, daß die Falle nach dem vierten Fang Schluß macht? Und warum haben sie gelacht, als ich ihnen von der Fangmethode auf der Basis der osmotischen Sektion erzählte?« »Davon hatten sie nie etwas gehört«, erwiderte Thurston erschöpft. »Kein Mensch hat jemals davon gehört. Komm, laß uns nach Lake Placid fahren und die ganze Sache vergessen.« »Nein! Dieses Ding muß wieder funktionieren. Es muß!« Dailey präparierte und aktivierte die Falle und starrte sie sekundenlang an. Dann klappte er das mit einem Scharnier versehene Oberteil auf. Er steckte eine Hand in die Falle und stieß einen Schrei aus. »Meine Hand! Sie ist weg!« Er sprang zurück. »Nein, ist sie nicht«, versicherte Thurston ihm. Dailey untersuchte beide Hände, rieb sie aneinander und beharrte: »Meine Hand ist in der Falle verschwunden.« »Komm, beruhige dich«, sagte Thurston besänftigend. »Ein bißchen Ruhe in Lake Placid wird dir bestimmt sehr gut tun – « Dailey beugte sich über die Falle und steckte seine Hand hinein. Sie verschwand. Er griff weiter hinein und sah zu, wie sein Arm bis zur Schulter dahinschwand. Mit einem triumphierenden Lächeln blickte er Thurston an. »Jetzt begreife ich, wie sie wirkt«, sagte er. »Die Tiere stammten überhaupt nicht aus den Adirondacks!« »Woher denn sonst?« »Von da, wo meine Hand jetzt ist! Die wollen also mehr, was? Nennen mich einen Lügner. Ich werde es ihnen zeigen!« »Ed! Tu es nicht! Du weißt nicht, was…«
Aber Dailey war bereits mit den Füßen zuerst in die Falle gegangen. Seine Füße verschwanden. Langsam ließ er den ganzen Körper hineinsinken, bis nur noch sein Kopf zu sehen war. »Wünsch mir Glück«, rief er. »Ed!« Dailey hielt sich die Nase zu und tauchte aus dem Blickfeld. Samish, wenn du nicht sofort kommst, dann ist es zu spät! Ich muß aufhören zu senden. Der riesige Terraner hat meinen ganzen Planetoiden geplündert. Er hat alles, lebendig oder tot, in den Übermittler gestopft. Mein Heim ist in Trümmern. Und jetzt reißt er meine Hütte ab! Samish, dieses Monstrum will mich als Art einfangen! Es ist keine Zeit mehr zu verlieren! Samish, was hält dich denn auf? Du, mein ältester Freund… Was, Samish? Was sagst du da? Das kann nicht dein Ernst sein! Nicht du und Fregl! Überleg es dir noch einmal, alter Freund! Denk an unsere Freundschaft!
Der Körper Als Professor Meyer die Augen aufschlug, sah er, gebannt über sich gebeugt, drei der jungen Spezialisten, die die Operation durchgeführt hatten. Ihm fiel sofort auf, daß man wohl jung sein mußte, um zu versuchen, was sie versucht hatten; jung und respektlos, bis zur Hintenanstellung alles übrigen besessen von enzyklopädischem Wissen; ausgestattet mit eisernen Nerven und stählernen Händen – unmenschlich im Grunde genommen. Sie besaßen die Eigenschaften von Robotern. Von diesem knappen post-narkotischen Gedankengang war er so betroffen, daß es eine Weile dauerte, ehe er sich darüber klar wurde, daß die Operation erfolgreich verlaufen war. »Wie fühlen Sie sich, Sir?« »Geht es Ihnen gut?« »Können Sie sprechen, Sir? Wenn nicht, dann nicken Sie mit dem Kopf. Oder blinzeln Sie.« Sie beobachteten ihn gespannt. Professor Meyer schluckte, um die Begrenzungen seines neuen Gaumens, seiner Zunge und Kehle zu erproben. Dann sagte er mit belegter Stimme: »Ich glaube – ich glaube…« »Alles in Ordnung mit Ihm!« rief Cassidy. »Feldman! Wach auf!« Feldman sprang von dem kargen Feldbett auf und tastete nach seiner Brille. »So schnell ist er schon wieder da? Spricht er?« »Ja, er hat gesprochen! Er hat wie ein Engel gesprochen! Endlich haben wir es geschafft, Freddie!« Feldman fand seine Brille und kam an den Operationstisch geeilt. »Können Sie noch etwas sagen, Sir? Irgend etwas?« »Es geht – es geht…« »O Gott«, sagte Feldman. »Ich glaube, ich falle in Ohnmacht.«
Die drei Männer brachen in Gelächter aus. Sie umringten Feldman und schlugen ihm auf den Rücken. Feldman begann ebenfalls zu lachen, mußte jedoch kurz darauf heftig husten. »Wo ist Kent?« rief Cassidy. »Er sollte eigentlich hier sein, verdammt noch mal! Er hat diesen verfluchten Ossilyskopen zehn geschlagene Stunden lang in Gang gehalten. So etwas Zuverlässiges habe ich noch nie erlebt. Wo, zum Teufel, steckt er?« »Er holt Sandwiches«, sagte Lupowitz. »Da kommt er. Kent, Kent, wir haben es geschafft!« Kent kam durch die Tür, zwei Tüten in der Hand und ein halbes Sandwich im Mund. Er würgte es hinunter. »Hat er gesprochen? Was hat er gesagt?« Hinter Kent erhob sich ein Aufruhr. Ein Dutzend Männer stürmte die Tür. »Schmeißt sie hier raus!« brüllte Feldman. »Sie können ihn heute abend nicht interviewen. Wo ist dieser Polyp?« Ein Polizist drängte sich durch die Menge und versperrte die Tür. »Ihr habt gehört, was die Ärzte sagen, Jungs.« »Das ist unfair. Dieser Meyer, er gehört der Welt.« »Welches waren seine ersten Worte?« »Was hat er gesagt?« »Haben Sie ihn wirklich in einen Hund verwandelt?« »Welche Rasse?« »Kann er mit dem Schwanz wedeln?« »Er hat gesagt, daß es ihm gut geht«, erzählte ihnen der Polizist, die Tür versperrend. »Los jetzt, Jungs.« Ein Fotograf duckte sich unter den Arm des Polizisten. Er warf einen Blick auf Professor Meyer auf dem Operationstisch und murmelte: »Großer Gott!« Er hob die Kamera in die Höhe. »Sieh her, Junge…« Kent deckte das Objektiv mit der Hand ab, als das Blitzlicht aufzuckte. »Warum haben Sie das gemacht?« fragte der Fotograf.
»Jetzt haben Sie ein Foto von Kents Hand«, sagte Kent sarkastisch. »Sie können es vergrößern und ins Museum of Modern Art hängen. Und jetzt machen Sie, daß Sie hier rauskommen.« »Los, Jungs«, wiederholte der Polizist streng und scheuchte die Reporter weg. Er drehte sich um und besah sich Professor Meyer auf dem Operationstisch. »Mein Gott! Ich kann es immer noch nicht glauben!« murmelte er und machte die Tür zu. »Die Flaschen!« rief Cassidy. »Eine Fete!« »Bei Gott, wir haben eine Fete verdient!« Professor Meyer lächelte – natürlich nur innerlich, denn seine Ausdrucksmöglichkeiten mit dem Gesicht waren jetzt begrenzt. Feldmann trat zu ihm. »Wie fühlen Sie sich, Sir?« »Es geht mir gut«, sagte Meyer, die Worte mit dem ihm ungewohnten Gaumen vorsichtig formend. »Ein bißchen verwirrt vielleicht…« »Aber Reue empfinden Sie nicht?« fragte Feldman. »Das weiß ich noch nicht«, sagte Meyer. »Im Prinzip war ich ja dagegen, wie Sie wissen. Kein Mensch ist unersetzlich.« »Sie doch, Sir.« Feldman sprach mit leidenschaftlicher Überzeugung. »Ich habe Ihre Vorlesungen gehört. Nicht, daß ich für mich in Anspruch nähme, ein Zehntel von dem, was Sie sagten, verstanden zu haben. Mathematischer Symbolismus ist nur ein Hobby von mir. Aber diese Prinzipien der Vereinheitlichung…« »Bitte«, unterbrach ihn Meyer. »Nein, Sir, lassen Sie mich ausreden«, sagte Feldman. »Sie setzen das große Werk da fort, wo Einstein und die anderen aufgehört haben. Kein anderer kann es vollenden! Keiner! Sie mußten einfach noch ein paar Jahre haben, in jeder Form, die die Wissenschaft und Forschung Ihnen bieten konnte. Ich bedauere nur, daß wir keinen passenderen Aufenthaltsort für Ihren Intellekt gefunden haben. Ein menschlicher Gastgeber stand nicht zur Verfügung, und wir waren schließlich gezwungen, die Primaten auszuschließen.« »Es spielt keine Rolle«, sagte Meyer. »Schließlich ist es der Intellekt, der zählt. Mir ist immer noch etwas schwindelig…«
»Ich erinnere mich an Ihre letzte Vorlesung in Harvard«, fuhr Feldman fort, die Hände zusammenpressend. »Sie waren so alt, Sir! Ich hätte heulen können – dieser müde, kaputte Körper…« »Dürfen wir Ihnen etwas zu trinken anbieten, Sir?« Cassidy hielt Meyer ein Glas hin. Meyer lachte. »Ich fürchte, meine neue Gesichtsform ist für Gläser nicht geeignet. Ein Napf wäre besser.« »Stimmt!« sagte Cassidy. »Ein Napf, wenn ich bitten darf! Du meine Güte…« »Sie müssen uns verzeihen, Sir«, entschuldigte sich Feldman. »Es war schrecklich anstrengend. Wir sind seit mehr als einer Woche in diesem Raum, und ich bezweifle, ob einer von uns während dieser Zeit mehr als acht Stunden Schlaf gekriegt hat. Wir mußten Sie beinahe aufgeben, Sir.« »Der Napf! Der Wassernapf ist da!« rief Lupowitz. »Was darf es sein, Sir? Whisky? Gin?« »Nur Wasser, bitte«, antwortete Meyer. »Meinen Sie, ich kann aufstehen?« »Wenn Sie sich nicht zu sehr anstrengen…« Lupowitz hob ihn langsam, behutsam und vorsichtig vom Tisch und stellte ihn auf den Fußboden. Meyer balancierte verständlicherweise unsicher auf seinen vier Beinen. Die Männer ließen ihn begeistert hochleben. »Bravo!« »Ich glaube, ich werde morgen schon wieder etwas arbeiten können«, sagte Meyer. »Man muß sich irgendeinen Apparat ausdenken, damit ich schreiben kann. Das dürfte nicht sehr schwierig sein. Es stehen sicherlich noch andere Probleme an im Zusammenhang mit meiner Veränderung. Ich bin nicht in der Lage, schon wieder klar zu denken…« »Versuchen Sie nicht, die Dinge zu überstürzen.« »Um Himmelswillen, nein! Wir können Sie jetzt nicht verlieren!« »Das wird einen Bericht abgeben!« »Gemeinsame Anstrengungen, was meinst du, oder jeder aus seinem Blickfeld und für sein Spezialgebiet?«
»Beides, beides. Davon werden die selbstverständlich nie genug kriegen. Verdammt noch mal, darüber wird man sich in Zukunft das Maul zerreißen…« »Wo ist die Toilette?« erkundigte sich Meyer. Die Männer sahen sich an. »Warum?« »Halt den Mund, du Idiot. Hier entlang, Sir. Ich halte Ihnen die Tür auf.« Meyer folgte dem Mann auf dem Fuße und spürte beim Laufen die größere Leichtigkeit der vierbeinigen Fortbewegung. Als er zurückkam, unterhielten sich die Männer angeregt über technische Aspekte seines Falles. » – nie wieder in einer Million Jahren.« »Da kann ich dir nicht zustimmen. Was wir einmal machen konnten – « »Komm uns nicht wissenschaftlich, Kleiner. Du weißt verdammt gut, daß es eine unheimliche Kombination von zufälligen Faktoren war – schlichtes, blindes Glück!« »Das kann man wohl sagen. Ein paar von diesen bio-elektrischen Veränderungen – « »Er ist wieder da.« »Tja, aber er sollte nicht zuviel herumlaufen. Wie fühlst du dich, Kleiner?« »Ich bin nicht Ihr Kleiner«, brauste Professor Meyer auf. »Ich bin alt genug, um Ihr Großvater zu sein.« »Verzeihung, Sir. Ich glaube, Sie sollten ins Bett gehen, Sir.« »Ja«, erwiderte Professor Meyer. »Ich bin noch nicht der Kräftigste, kann noch nicht klar genug denken…« Kent hob ihn hoch und legte ihn auf das Feldbett. »Da, wie ist das?« Sie umstanden ihn, die Arme einander auf die Schultern gelegt. Sie schmunzelten und waren sehr stolz auf sich. »Können wir Ihnen irgend etwas besorgen?«
»Sie brauchen es nur zu sagen, dann holen wir es Ihnen.« »Hier, ich habe Ihnen frisches Wasser in den Napf getan.« »Wir lassen ein paar Sandwiches für Sie neben dem Bett liegen.« »Schlafen Sie gut«, sagte Cassidy zärtlich. Dann, unbewußt, geistesabwesend, strich er Professor Meyer über den langen, mit weichem Fell bewachsenen Kopf. Feldman brüllte etwas Zusammenhangloses. »Hatte ich ganz vergessen«, entschuldigte sich Cassidy peinlich berührt. »Wir müssen uns beherrschen. Er ist ein Mensch, vergeßt das nicht.« »Du hast ja recht. Ich bin wohl müde… Schließlich sieht er ganz wie ein Hund aus, da vergißt man schon mal – « »Macht jetzt, daß ihr hier rauskommt«, befahl Feldman. »Raus! Alle!« Er drängte sich aus dem Raum und eilte zu Professor Meyer zurück. »Kann ich irgendwas für Sie tun, Sir? Irgend etwas?« Meyer versuchte zu sprechen, wollte bestätigen, daß er ein Mensch war. Aber die Worte kamen erstickt heraus. »Das passiert nicht noch einmal, Sir. Ich bin sicher. Schließlich sind Sie – sind Sie Professor Meyer!« Feldman zog schnell eine Decke über Meyers zitternden Körper. »Es ist gut, Sir«, sagte Feldman und gab sich Mühe, das zitternde Tier nicht anzusehen. »Es ist der Intellekt, der zählt, Sir. Der Verstand!« »Natürlich«, pflichtete Professor Meyer, der bedeutendste Mathematiker, ihm bei. »Aber, verzeihen Sie – würde es Ihnen etwas ausmachen, mir den Kopf zu kraulen?«
Der Prototyp Die Landung geriet fast zur Katastrophe. Bentley wußte, daß das harmonische Zusammenwirken seiner Muskeln durch die Last beeinträchtigt wurde, die sich auf seinem Rücken häufte; wie sehr, das wurde ihm erst bewußt, als er in einem kritischen Moment auf den falschen Knopf drückte. Das Raumschiff fiel sofort wie ein Stein. In letzter Sekunde gelang es ihm, gegenzusteuern, wodurch er ein schwarzes Loch in die Ebene unter sich brannte. Sein Raumschiff setzte auf, schwankte eine Weile hin und her und kam schließlich zum Stillstand. Bentley war der Menschheit erste Landung auf Tels IV geglückt. Sein erster Impuls war, sich einen ansehnlichen Schluck vom strikt medizinischen Scotch zu genehmigen. Als er an den nicht herankam, schaltete er das Funkgerät ein. Der Empfänger war ihm ins Ohr eingelassen, wo er juckte, und das Mikrophon war ein operativ implantierter Kloß in seiner Kehle. Das tragbare suborbitale Gerät regelte sich selbst, was nur von Vorteil war, da Bentley von der Feineinstellung eines derart schmalen Richtstrahles über so eine große Entfernung keine Ahnung hatte. »Alles in Ordnung«, erklärte er Professor Sliggert über Funk. »Es handelt sich um einen Planeten, der große Ähnlichkeit mit der Erde hat, genau, wie es in den Forschungsberichten steht. Das Raumschiff ist vollständig intakt. Ich freue mich sehr, Ihnen mitteilen zu können, daß ich mir bei der Landung nicht das Genick gebrochen habe.« »Natürlich nicht«, sagte Sliggert, dessen Stimme sich durch den winzigen Empfänger piepsig und gefühllos anhörte. »Was ist mit dem Protec? Wie kommen Sie damit zurecht? Haben Sie sich schon daran gewöhnt?« »Fehlanzeige«, sagte Bentley. »Ich habe immer noch ein Gefühl, als würde mir ein Affe auf dem Rücken hocken.« »Nun, das wird sich schon geben«, versicherte ihm Sliggert.
»Das Institut gratuliert Ihnen, und die Regierung, glaube ich, verleiht Ihnen irgendeine Medaille. Vergessen Sie nicht, es kommt jetzt darauf an, mit den Ureinwohnern zu fraternisieren und nach Möglichkeit irgendeine Art – jede Art – von Handelsabkommen zu treffen. Als Präzedenzfall. Wir brauchen diesen Planeten, Bentley.« »Ich weiß.« »Viel Glück. Geben Sie uns einen Bericht, wann immer Sie die Möglichkeit dazu haben.« »Mache ich«, versprach Bentley und brach das Gespräch ab. Er versuchte aufzustehen, schaffte es aber nicht beim ersten Versuch. Mit Hilfe der Handgriffe, die praktischerweise über den Armaturen angebracht waren, kam er schließlich auf die Beine. Jetzt bekam er einen Eindruck davon, welchen Zoll die Schwerelosigkeit von den Muskeln eines Menschen fordert. Er wünschte, er hätte seine Übungen auf der langen Reise von der Erde gewissenhafter durchgeführt. Bentley war ein großer, unbeschwerter junger Mann, maß fast zwei Meter und war breit und kräftig gebaut. Auf der Erde hatte er zwei Zentner gewogen und sich mit der Behendigkeit eines Athleten bewegt. Doch seit er die Erde verlassen hatte, war ihm unwiderruflich und unverrückbar die zusätzliche Belastung von fünfunddreißig Kilo auf den Rücken geschnallt. Unter diesen Umständen erinnerten seine Bewegungen an die eines uralten Elefanten, der zu enge Schuhe anhat. Er bewegte die Schultern unter den breiten Plastikträgern, verzog das Gesicht und trat an einen Ausguck auf der Steuerbordseite. In einiger Entfernung, vielleicht einen halben Kilometer weit weg, konnte er ein Dorf ausmachen, das sich niedrig und braun an den Horizont schmiegte. Über die Ebene bewegten sich Punkte auf ihn zu. Die Dorfbewohner hatten offensichtlich beschlossen, einmal nachzusehen, was für ein merkwürdiger Gegenstand da feuerspeiend und mit ohrenbetäubenden Lärm vom Himmel gefallen war. »Bravo!« sagte Bentley vor sich hin. Es wäre schwer gewesen, einen Kontakt herzustellen, wenn diese Fremden keinerlei Neugierde gezeigt hätten. Dieselbe Überlegung hatte das Interstellare Forschungsinstitut auf der Erde auch angestellt, war jedoch zu keiner Lösung des Problems
gelangt. Deshalb war sie von der Liste der Möglichkeiten gestrichen worden. Die Dorfbewohner kamen näher. Bentley fand es an der Zeit, sich fertig zu machen. Er zog eine Schublade auf und entnahm ihr sein Übersetzungsgerät, das er sich mit einiger Mühe vor die Brust schnallte. Auf der einen Hüfte befestigte er eine große Feldflasche mit Wasser. Auf die andere kam ein Päckchen mit konzentrierter Nahrung. Quer von den Bauch hängte er sich einen Beutel mit verschiedenen Werkzeugen. An den einen Schenkel schnallte er das Funkgerät; an den anderen einen Erste-Hilfe-Kasten. Derart ausgerüstet, schleppte Bentley alles in allem anderthalb Zentner mit sich herum, von denen jedes Gramm als absolut notwendig für einen außerirdischen Forscher erklärt worden war. Die Tatsache, daß er mehr schlurfte als ging, wurde als unwichtig angesehen. Die Eingeborenen hatten sich mittlerweile um das Raumschiff versammelt und bedachten es mit geringschätzigen Bemerkungen. Es waren Zweibeiner. Sie hatten kurze, dicke Schwänze, und ihre Gesichtszüge waren menschlich, allerdings in einer alptraumhaften Weise. Ihre Hautfarbe war leuchtend orange. Bentley bemerkte außerdem, daß sie bewaffnet waren. Er konnte Messer, Speere, Lanzen und Steinhämmer und -äxte erkennen. Beim Anblick dieser Bewaffnung breitete sich ein zufriedenes Lächeln auf seinem Gesicht aus. Hier also war die Rechtfertigung für seine Beschwernis, der Grund für die unhandlichen fünfunddreißig Kilo, die er auf dem Rücken mit sich herumschleppte, seit er die Erde verlassen hatte. Es war ganz egal, was für verschiedene Waffen diese Ureinwohner hatten, das konnte vermutlich bis zu Atomwaffen gehen. Sie konnten ihm nichts anhaben. Das hatte ihm Professor Sliggert, der Chef des Instituts und Erfinder von Protec erklärt. Bentley öffnete den Ausstieg. Die Telsaner brachen in erstaunte Schreie aus. Sein Übersetzungsgerät, nachdem es anfangs ein paar Se-
kunden gezögert hatte, übersetzte die Ausrufe mit »Oh! Ah! Wie eigenartig! Unglaublich! Lächerlich! Geradezu schockierend falsch!« Bentley stieg die Leiter an der Außenwand des Raumschiffs hinab, die anderthalb Zentner Übergewicht sorgfältig im Gleichgewicht haltend. Die Eingeborenen bildeten einen Halbkreis um ihn und hielten ihre Waffen in Bereitschaft. Er ging auf sie zu. Sie zuckten zurück. Freundlich lächelnd sagte er: »Ich komme als Freund.« Das Übersetzungsgerät bellte die rauhen Konsonanten der telsanischen Sprache heraus. Anscheinend glaubten sie ihm nicht. Speere gingen in die Höhe, und ein Telsaner, größer als die anderen und mit buntem Kopfputz angetan, hielt ein Beil in Bereitschaft. Bentley spürte ein leichtes Zittern durch seinen Körper laufen. Er war unverletzlich, das war klar. Solange er den Protec trug, konnten sie ihm nichts tun. Überhaupt nichts! Professor Sliggert war sich in der Hinsicht sicher gewesen. Vor dem Start hatte Professor Sliggert Bentley den Protec auf den Rükken geschnallt, hatte die Träger in Ordnung gebracht und war einen Schritt zurückgetreten, um die Frucht seines Erfindergeistes mit Wohlgefallen zu betrachten. »Perfekt«, hatte er mit stummem Stolz verkündet. Bentley hatte unter dem Gewicht mit den Schultern gezuckt. »Ziemlich schwer, finden Sie nicht?« »Sicher, aber was soll man machen?« hatte Sliggert entgegnet. »Dies ist der erste seiner Art, der Prototyp. Ich habe alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um das Gewicht so gering wie möglich zu halten – Transistoren, schwache Legierungen, gedruckte Leitungen, Bleistiftbatterien und auch sonst alles. Unglücklicherweise sind die Urmuster von jeder Erfindung immer sperrig.« »Mir scheint, Sie hätten ihn etwas stromlinienförmiger machen können«, wandte Bentley ein und besah ihn sich über die Schulter hinweg. »Die Stromlinienform kommt erst viel später. Zunächst muß Konzentration sein, dann Dichte, dann Gruppenfunktion, und dann erst Styling.
So ist es immer gewesen und wird immer so sein. Sehen Sie sich zum Beispiel die Schreibmaschine an. Heute ist sie einfach nur noch eine Tastatur, fast alle so flach wie eine Aktentasche. Aber ihr Prototyp arbeitete noch mit Fußpedalen und erforderte die vereinigten Kräfte mehrerer Männer, um angehoben zu werden. Nehmen Sie das Hörgerät, das auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung regelrecht um Pfunde geschrumpft ist. Nehmen Sie das Übersetzungsgerät, das anfangs ein sehr massiver, komplizierter elektronischer Rechner war und mehrere Tonnen wog…« »Okay«, unterbrach ihn Bentley. »Wenn das das Beste ist, was Sie tun konnten, gut. Wie kann ich ihn wieder abnehmen?« Professor Sliggert lächelte. Bentley griff nach hinten. Er konnte keine Schnalle finden. Er zog kraftlos an den Trägern, fand aber keine Möglichkeit, sie abzustreifen. Und herauswinden konnte er sich auch nicht. Es war, als würde er sich in einer neuen und teuflisch wirksamen Zwangsjacke befinden. »Nun sagen Sie schon, Professor, wie kann ich ihn abnehmen?« »Das werde ich Ihnen nicht sagen.« »Hm?« »Der Protec ist unbequem, habe ich recht?« fragte Sliggert. »Am liebsten würden Sie ihn nicht anhaben, was?« »Da liegen Sie verdammt richtig.« »Natürlich. Wußten Sie, daß Soldaten im Krieg, auf dem Schlachtfeld, die Angewohnheit haben, wichtige Ausrüstungsgegenstände wegzuwerfen, weil sie sperrig oder unbequem sind? Das Risiko können wir uns aber bei Ihnen nicht erlauben. Sie kommen auf einen fremden Planeten, Mr. Bentley. Sie werden vollkommen unbekannten Gefahren ausgesetzt sein. Es ist notwendig, daß Sie stets geschützt sind.« »Das weiß ich«, antwortete Bentley. »Ich bin klug genug, um herauszufinden, wann ich dieses Ding anlegen muß.« »Tun Sie es dann aber auch? Wir haben Sie wegen Eigenschaften wie Einfallsreichtum, Zähigkeit, Körperkraft ausgewählt – und natürlich wegen eines gewissen Grades an Intelligenz. Aber…«
»Vielen Dank!« »Aber diese Eigenschaften lassen Sie nicht zur Vorsicht neigen. Nehmen sie einmal an, Sie finden die Eingeborenen freundlich und beschließen, den schweren, unbequemen Protec abzulegen? Was würde passieren, wenn Sie ihre Haltung falsch eingeschätzt hätten? Das kann einem auf der Erde schon leicht passieren; denken Sie mal darüber nach, wieviel leichter das auf einem fremden Planeten geschehen kann!« »Ich kann auf mich aufpassen«, sagte Bentley. Sliggert nickte grimmig. »Genau das hat Altwood gesagt, als er nach Durabella II aufbrach, und seither haben wir nichts mehr von ihm gehört. Noch haben wir von Blake gehört, oder Smythe, oder Korishell. Können Sie einen Messerwurf aus dem Hinterhalt verhindern? Haben Sie hinten im Kopf Augen? Nein, Mr. Bentley, Sie nicht – aber der Protec!« »Hören Sie mal«, hatte Bentley erwidert, »ob Sie es glauben oder nicht, ich bin ein vernünftiger Mensch. Ich werde den Protec die ganze Zeit über tragen, die ich mich auf einem fremden Planeten befinde. Und jetzt sagen Sie mir, wie ich ihn abnehmen kann.« »Sie scheinen sich über eins nicht im klaren zu sein, Bentley. Wenn nur Ihr Leben auf dem Spiel stünde, dann könnten Sie unseretwegen sämtliche Risiken eingehen, die Ihnen vertretbar erscheinen. Wir riskieren aber gleichzeitig mehrere Milliarden Dollar, die das Raumschiff und die Ausrüstung wert sind. Dies ist der erste praktische Versuch mit dem Protec. Die einzige Möglichkeit, zu sicheren Ergebnissen zu kommen, ist, daß Sie ihn die ganze Zeit tragen. Die einzige Möglichkeit, das sicherzustellen, ist, Ihnen nicht zu sagen, wie man ihn abnimmt. Wir wollen Ergebnisse. Sie. werden am Leben bleiben, ob Sie es wollen oder nicht.« Bentley hatte noch einmal darüber nachgedacht und schließlich widerwillig zugestimmt. »Ich glaube, ich könnte versucht sein, ihn abzunehmen, wenn die Eingeborenen wirklich freundlich wären.« »Dieser Versuch bleibt Ihnen erspart. Und nun, haben Sie verstanden, wie er funktioniert?« »Sicher«, erwiderte Bentley. »Macht er aber wirklich alles, was Sie gesagt haben?«
»Er hat die Labortests fehlerlos überstanden.« »Es würde mir gar nicht gefallen, wenn irgendeine Kleinigkeit schiefginge. Stellen Sie sich vor, eine Sicherung brennt durch, oder ein Kabel schmilzt.« »Das ist einer der Gründe für seine Unhandlichkeit«, erklärte Sliggert geduldig. »Alles dreifach. In punkto mechanisches Versagen sind wir kein Risiko eingegangen.« »Und wie steht es mit der Batterie?« »Die reicht für hundert Jahre oder länger, wenn sie voll geladen ist. Der Protec ist perfekt, Bentley! Nach dieser praktischen Erprobung, daran besteht für mich kein Zweifel, wird er zur Standardausrüstung aller extraterrestrischen Forscher werden.« Professor Sliggert konnte es sich nicht verkneifen, vor Stolz zu lächeln. »Also gut«, hatte Bentley gesagt und die Schultern unter den breiten Plastikträgern hin und her bewegt. »Ich werde mich schon daran gewöhnen.« Aber er hatte sich nicht daran gewöhnt. Man gewöhnt sich einfach nicht daran, daß einem ein fünfunddreißig Kilo schwerer Affe auf dem Rücken hockt. Die Telsaner konnten sich auf Bentley keinen Reim machen. Sie diskutierten minutenlang, während der Forscher das angestrengte Lächeln nicht aus seinem Gesicht weichen ließ. Schließlich trat ein Telsaner vor. Er war größer als die anderen und trug einen abweichenden Kopfputz aus Glas, Knochen und reichlich schreiend bemalten Holzstückchen. »Meine Freunde«, sagte er, »unter uns befindet sich etwas Böses; ich, Rinek, spüre das.« Ein anderer Telsaner, angetan mit einem ähnlichen Kopfputz, trat vor und sagte: »Es steht einem Medizinmann schlecht an, von solchen Dingen zu sprechen.« »Das stimmt natürlich«, gab Rinek zu. »Es ist nicht gut, in Gegenwart des Bösen von ihm zu sprechen, denn dann wird es stark. Doch die vornehmliche und vordringliche Aufgabe eines Medizinmannes ist es, das
Böse aufzuspüren und zu verhindern. An dieser wichtigen Aufgabe müssen wir festhalten, egal, wie hoch das Risiko sein mag.« Mehrere andere Männer mit dem abweichenden Kopfputz, die Medizinmänner, waren inzwischen vorgetreten. Bentley war zu dem Schluß gekommen, daß es sich bei ihnen um die telsanische Entsprechung für Priester handelte, die vermutlich zugleich beträchtliche politische Macht besaßen. »Ich glaube nicht, daß er böse ist«, meinte ein junger und fröhlich aussehender Medizinmann namens Huascl. »Natürlich ist er böse. Sieh ihn dir doch an.« »Die äußere Erscheinung beweist nachweislich gar nichts, wie wir seit der Zeit wissen, da der gute Geist Ahut M’kandi auftrat in Gestalt eines…« »Keine Vorträge, Huascl. Die Parabeln von Lalland sind uns allen bekannt. Die Frage lautet: Können wir es darauf ankommen lassen?« Huascl wandte sich an Bentley. »Bist du böse?« erkundigte er sich ernst. »Nein«, erwiderte Bentley. Anfangs hatte er sich über die leidenschaftliche Beschäftigung der Telsaner mit seinem seelischen Zustand gewundert. Sie hatten ihn noch nicht einmal gefragt, woher er kam, oder wie und warum. Doch schließlich war das gar nicht so merkwürdig. Wenn in bestimmten Zeiten religiöser Inbrunst ein Fremder auf der Erde gelandet wäre, dann hätte die erste Frage vielleicht gelautet: »Bist du ein Geschöpf Gottes oder Satans?« »Es sagt, er ist nicht böse«, erklärte Huascl. »Woher soll er das wissen?« »Wenn er es nicht weiß, wer denn sonst?« »Einst beschenkte der große Geist G’tal einen Weisen mit drei Kdal und sagte zu ihm…« Und ab ging die Post. Bentley bekam unter dem Gewicht seiner Ausrüstung allmählich Säbelbeine. Das Übersetzungsgerät vermochte mit der schrillen theologischen Diskussion, die um ihn herum tobte, nicht mehr Schritt zu halten. Seine Stellung schien von zwei oder drei strittigen
Punkten abzuhängen, über die die Medizinmänner allerdings nicht sprechen wollten, da über das Böse zu reden in sich bereits gefährlich war. Was die Dinge noch zusätzlich komplizierte, war ein Schisma über die Auffassung, ob es möglich sei, das Böse zu ergründen, wobei die jüngeren Medizinmänner zur einen, die älteren zur anderen Meinung neigten. Die Fraktionen beschuldigten einander der widerwärtigsten Häresie, doch konnte Bentley nicht dahinterkommen, wer was glaubte oder welche Auslegung seine Ansicht stützte. Als die Sonne bereits niedrig über der grasbewachsenen Ebene stand, tobte die Schlacht immer noch. Urplötzlich gelangten die Medizinmänner dann aber zu einer Übereinkunft; allerdings hätte Bentley nicht zu sagen vermocht, warum oder auf welcher Basis. Huascl trat vor, als Sprecher für die jüngeren. »Fremder«, erklärte er, »wir haben beschlossen, dich nicht zu töten.« Bentley verkniff sich ein Lächeln. Das sah einem primitiven Volk ähnlich, einem unverletzlichen Wesen das Leben zu schenken! »Jedenfalls jetzt noch nicht«, ergänzte Huascl schnell, als er mit einem Seitenblick feststellte, daß Rinek und die älteren Medizinmänner die Stirn runzelten. »Das hängt einzig und allein von dir ab. Wir gehen ins Dorf und reinigen uns, und dann werden wir feiern. Anschließend nehmen wir dich in die Gesellschaft der Medizinmänner auf. Nichts Böses kann ein Medizinmann werden; das ist ausdrücklich verboten. Auf diese Weise enthüllen wir deine wahre Natur.« »Ich bin zutiefst dankbar«, sagte Bentley. »Aber wenn du böse bist, sind wir verpflichtet, das Böse zu vernichten. Und wenn wir müssen, dann können wir auch!« Die versammelten Telsaner spendeten seiner Rede heftigen und lange andauernden Beifall und machten sich sogleich auf den kilometerweiten Weg ins Dorf. Nun, da Bentley eine Stellung zugewiesen worden war, wenn auch probeweise, waren die Eingeborenen von vollendeter und zuvorkommender Freundlichkeit. Sie plauderten liebenswürdig mit ihm über Ernteerträge, Dürreperioden und Hungersnöte.
Bentley wankte unter seiner Ausrüstung dahin, müde, doch innerlich freudig erregt. Das war wirklich ein Bravourstück! Als ein Eingeweihter, als Priester, hätte er eine unübertroffene Gelegenheit, anthropologische Angaben zu sammeln, den Handel in die Wege zu leiten und den Weg für die zukünftige Entwicklung von Tels IV zu ebnen. Er brauchte lediglich die Einweihungsprüfungen zu bestehen. Und natürlich nicht getötet zu werden, wie er sich lächelnd in Erinnerung rief. Es war komisch, wie überzeugt die Medizinmänner gewesen waren, ihn umbringen zu können. Das Dorf bestand aus zwei Dutzend Hütten, die annähernd im Halbkreis standen. Neben jeder aus Schlamm gebauten, strohgedeckten Hütte befand sich ein kleiner und gut angelegter Gemüsegarten, manchmal auch ein Pferch für die telsanische Rinderart. Zwischen den Hütten liefen zahlreiche kleine Tiere mit grünem Fell herum, die von den Telsanern wie Haustiere behandelt wurden. Der grasbewachsene Mittelpunkt des Dorfes war Gemeindegrund. Hier befand sich der öffentliche Brunnen, und hier standen die Schreine für verschiedene Götter und Teufel. Auf diesem Platz, der von einem großen Feuer beleuchtet wurde, hatten die Frauen des Dorfes die hübsche Festtafel gedeckt. Bentley kam in einem Zustand fast völliger Erschöpfung auf dem Festplatz an, gebeugt unter seiner fürs Überleben notwendigen Ausrüstung. Dankbar sank er mit den Dorfbewohnern zu Boden, und das Fest nahm seinen Lauf. Zuerst führten die Frauen des Dorfes einen freudigen Willkommenstanz für ihn vor. Sie waren mit ihrer orangenfarbenen Haut, die im Schein des lodernden Feuers glänzte, und mit ihren zierlich im Takt hin und her schwingenden Schwänzen ein hübscher Anblick. Dann trat einer der vielen unterschiedlichen Würdenträger des Ortes, Occip genannt, zu ihm, eine gefüllte Schale in der Hand. »Fremder«, sagte Occip, »du kommst aus einem fernen Land und bist von anderer Art als wir. Laß uns dennoch Brüder sein! Hab daher an dieser Speise teil, um die Bande zwischen uns zu besiegeln sowie im Namen von allem, was heilig ist!«
Sich tief herabbeugend, bot er die Schale dar. Es war ein wichtiger Augenblick, eines jener Schlüsselereignisse, die auf ewig die Freundschaft zwischen Rassen festigen oder sie zu Feinden machen können. Doch Bentley konnte es sich nicht zunutze machen. So taktvoll er konnte, lehnte er die symbolische Speise ab. »Aber sie ist gereinigt!« sagte Occip. Bentley erklärte, daß er wegen eines Stammestabus nur seine eigene Speise essen könnte. Occip konnte nicht begreifen, daß unterschiedliche Arten unterschiedliche Diätbedürfnisse haben. Zum Beispiel, hob Bentley hervor, könnte ja die Nahrung auf Tels IV durchaus eine Strychninverbindung sein. Allerdings fügte er nicht hinzu, daß, selbst wenn er das Risiko einzugehen bereit wäre, Protec es nicht erlauben würde. Nichtsdestoweniger schreckte seine Ablehnung das Dorf auf. Hastige Konferenzen fanden unter den Medizinmännern statt. Dann kam Rinek herbei und setzte sich neben ihn. »Was«, erkundigte er sich nach einer Weile, »was hältst du vom Bösen?« »Das Böse ist nicht gut«, erwiderte Bentley ernsthaft. »Aha!« Der Medizinmann sann darüber nach, und sein Schwanz zuckte nervös auf dem Gras hin und her. Ein Hündchen mit grünem Fell fing an, mit dem Schwanz zu spielen. Rinek vertrieb es und sagte: »Du magst das Böse also nicht.« »Nein«, antwortete Bentley. »Und du würdest in deiner Umgebung keinen bösen Einfluß zulassen?« »Bestimmt nicht«, sagte Bentley und unterdrückte ein Gähnen. Allmählich langweilte ihn das quälende Gefrage des Medizinmannes. »Demnach hättest du also nichts dagegen, den geweihten und sehr heiligen Speer zu empfangen, den Kran K’leu vom Wohnsitz der kleinen Götter herniedergebracht hat und der dem Mann, der ihn schwingt, Güte verleiht.« »Ich wäre hocherfreut, ihn zu empfangen«, erwiderte Bentley; ihm fielen fast die Augen zu, und er hoffte, dies würde die letzte Zeremonie des Abends sein.
Rinek brummte beifällig und ging weg. Der Tanz der Frauen ging zu Ende. Die Medizinmänner stimmten mit tiefen, eindrucksvollen Stimmen einen Gesang an. Das Feuer loderte hell auf. Huascl trat vor. Er hatte sich das Gesicht inzwischen mit schmalen schwarzen und weißen Streifen bemalt. Er trug einen uralten Speer aus schwarzem Holz in den Händen, dessen Spitze aus bearbeitetem vulkanischem Glas bestand, dessen Schaft kunstvoll, wenngleich primitiv geschnitzt war. Den Speer in die Höhe haltend, sagte Huascl: »Fremder, der du vom Himmel gekommen bist, nimm von uns den Speer der Weihe an! Kran K’leu gab diese Lanze Trin, unserem ersten Vater, und verlieh ihr eine magische Kraft und machte sie zum Träger der Geister des Guten. Das Böse kann in der Gegenwart dieses Speeres nicht verweilen. Empfange mit ihm also unseren Segen.« Bently erhob sich. Der Wert einer derartigen Zeremonie war ihm durchaus klar. Die Entgegennahme des Speeres sollte ein für allemal jegliche Zweifel an seiner geistigen Stellung beseitigen. Ehrfurchtsvoll neigte er den Kopf. Huascl trat auf ihn zu, hielt ihm den Speer entgegen und – der Protec sprang in Aktion. Seine Wirkungsweise war denkbar einfach, eine Eigenschaft, die er mit vielen großen Erfindungen gemeinsam hatte. Sobald nämlich sein Rechner ein Zeichen von Gefahr wahrnahm, breitete der Protec ein Kraftfeld um seinen Träger aus. Durch das Feld war er unverwundbar, denn es war vollkommen und ohne Einschränkung undurchdringlich. Allerdings hatte dieses Prinzip auch gewisse unvermeidliche Nachteile. Wenn Bentley nämlich ein schwaches Herz gehabt hätte, wäre er vermutlich auf der Stelle tot umgefallen, weil der Protec mit elektronischer Plötzlichkeit, vollständig unerwartet und ruckartig in Aktion sprang. Stand er in einem Moment noch vor dem großen Feuer und hielt nach dem geweihten Speer ausgestreckt, so war er im nächsten in Dunkelheit gestürzt. Wie üblich hatte er das Gefühl, in ein muffiges, lichtloses Gelaß geschleudert worden zu sein, dessen Gummiwände ihm von allen Seiten
dicht auf den Leib rückten. Er verfluchte die übertriebene Tüchtigkeit der Maschine. Der Speer war keine Bedrohung gewesen; er war Teil einer wichtigen Zeremonie. Doch der Protec, dessen Spürsinn alles wörtlich nahm, hatte in ihm eine mögliche Gefahr gesehen. Nun, in der Finsternis, tastete er nach dem Schalter, mit dem er das Feld wieder abstellten konnte. Er war schon daran gewöhnt, daß das Kraftfeld seinen Ortssinn beeinträchtigte, doch schien das von Mal zu Mal schlimmer zu werden. Vorsichtig fuhr er sich mit der Hand über die Brust, wo der Knopf sein sollte, und fand ihn schließlich in der rechten Achselhöhle, wo er sich überdies auch noch verdreht hatte. Er schaltete das Kraftfeld ab. Das Fest war schlagartig zum Ende gekommen. Die Eingeborenen standen, wie um sich gegenseitig zu schützen, dicht gedrängt beisammen, die Waffen erhoben, die Schwänze steif von sich gestreckt. Huascl, der in das Kraftfeld geraten war, war einige Meter weit aufgeschleudert worden und rappelte sich eben langsam wieder auf. Die Medizinmänner stimmten, zum Schutz gegen böse Geister, einen Reinigungsgesang an. Bentley konnte es ihnen nicht verdenken. Wenn das Kraftfeld des Protec eingeschaltet wird, tritt es als undurchsichtige schwarze Sphäre in Erscheinung, die etwa einen Durchmesser von dreieinhalb Metern hat. Kommt man mit dieser in Berührung, erhält man einen einem Stromschlag ähnlichen Schlag. Weiße Linien erscheinen an der Sphärenoberfläche, wirbeln herum, verschmelzen, verschwinden wieder. Und solange die Sphäre in Bewegung ist, gibt sie einen dünnen, hohen Heulton von sich. Alles in allem bot sie einen Anblick, der kaum dazu angetan war, das Vertrauen eines primitiven und abergläubischen Volkes zu gewinnen. »Tut mir leid«, sagte Bentley mit einem zaghaften Lächeln. Etwas anderes ließ sich da wohl auch kaum sagen. Huascl kam langsam zurückgehumpelt, hielt aber einen ehrfürchtigen Abstand. »Du kannst den geweihten Speer nicht annehmen«, stellte er fest.
»Also, das ist es eigentlich nicht«, sagte Bentley. »Nur – na ja, ich habe diese Schutzvorrichtung, so eine Art Schild, weißt du, und der hat etwas gegen Speere. Könntest du mir nicht einen geweihten Kürbis anbieten?« »Mach dich nicht lächerlich«, sagte Huascl. »Hat man denn jemals etwas von einem geweihten Kürbis gehört?« »Nein, ich glaube nicht. Aber, bitte, ich gebe dir mein Wort – ich bin nicht böse. Wirklich nicht. Was Speere betrifft, da unterliege ich einem Tabu.« Die Medizinmänner besprachen untereinander, zu schnell, so daß das Übersetzungsgerät nicht nachkam. Es schnappte nur die Wörter »böse«, »vernichten« und »Reinigung« auf. Bentley kam zu dem Schluß, daß es um seine Aussichten nicht sehr gut bestellt war. Nach der Unterredung kam Huascl zu ihm und sagte: »Einige von uns sind der Ansicht, daß du auf der Stelle getötet werden solltest, ehe du ein großes Unglück über das Dorf bringst. Ich habe ihnen jedoch erklärt, daß du für die vielen Tabus, die dich einengen, nichts kannst. Wir werden die Nacht über für dich beten. Und vielleicht ist die Aufnahme morgen möglich.« Bentley dankte ihm. Er wurde zu einer Hütte geleitet, und dann ließen ihn die Telsaner so schnell wie möglich allein. Eine unheilvolle Stille lag über dem Dorf; von seiner Tür aus konnte Bentley kleine Gruppen von Eingeborenen sehen, die sich ernst unterhielten und verstohlen in seine Richtung blickten. Es war ein schlechter Start für die Zusammenarbeit zweier Rassen. Er setzte sich sogleich mit Professor Sliggert in Verbindung und erzählte ihm, was passiert war. »Schlimm«, meinte der Professor. »Aber primitive Völker sind grundsätzlich heimtückisch. Wahrscheinlich hatten sie die Absicht, Sie mit dem Speer zu töten, anstatt ihn Ihnen feierlich zu überreichen. Sie wollten ihn Ihnen im wahrsten Sinn des Wortes geben.« »Ich bin überzeugt, daß eine solche Absicht nicht bestand«, sagte Bentley. »Man muß doch schließlich irgendwann anfangen, den Leuten zu trauen.«
»Nicht, solange Sie eine Ausrüstung im Wert von einer Milliarde Dollar in Ihrer Obhut haben.« »Aber dann bin ich nicht imstande, irgend etwas zu unternehmen!« schimpfte Bentley. »Verstehen Sie das denn nicht? Die sind doch schon mißtrauisch gegen mich. Ich konnte ihren geweihten Speer nicht entgegennehmen. Das bedeutet, daß ich höchstwahrscheinlich böse bin. Was ist, wenn ich morgen die Einführungszeremonie nicht durchstehe? Nehmen Sie mal an, irgendein Schwachkopf fängt an, sich mit einem Messer in den Zähnen herumzupuhlen, und der Protec schützt mich? Der günstige erste Eindruck, den ich aufgebaut habe, ist dann für die Katz.« »Wohlwollen kann man sich wieder erwerben«, meinte Professor Sliggert salbungsvoll. »Doch eine Ausrüstung im Wert von einer Milliarde Dollar…« »… kann von der nächsten Expedition geborgen werden. Hören Sie, Professor, geben Sie mir eine Chance. Besteht denn keine Möglichkeit, daß ich das Ding manuell steuere?« »Nein, die gibt es nicht«, erwiderte Sliggert. »Das würde auch dem ganzen Sinn der Maschine widersprechen. Dann brauchten Sie sie auch gar nicht zu tragen, wenn Sie sich auf Ihre eigenen Reflexe verlassen dürften, anstatt auf die elektronischen Impulse.« »Dann sagen Sie mir, wie ich das Ding abnehmen kann.« »Dafür gilt dasselbe Argument – Sie wären nicht mehr durchgehend geschützt.« »Also hören Sie mal«, protestierte Bentley, »Sie haben mich ausgewählt, weil ich ein kompetenter Forscher bin. Ich bin derjenige vor Ort. Ich kenne die hiesigen Umstände. Sagen Sie mir, wie ich das Ding abnehmen kann.« »Nein! Der Protec muß umfassend praktisch erprobt werden. Und außerdem möchten wir, daß Sie lebend zurückkommen.« »Das ist ein weiterer Punkt«, sagte Bentley. »Die Leute hier scheinen gewissermaßen sicher zu sein, daß sie mich umbringen können.« »Primitive Völker überschätzen immer die Wirksamkeit ihrer Stärke, Waffen und Magie.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber sind Sie sicher, daß es keine Möglichkeit gibt, das Feld zu durchdringen?« Mit Gift vielleicht? »Nichts kann das Feld durchdringen«, erwiderte Sliggert geduldig. »Nicht einmal Lichtstrahlen, nicht einmal Gammastrahlen. Sie tragen eine unüberwindliche Festung mit sich herum, Mr. Bentley. Warum können Sie sich nicht darauf verstehen, ein kleines bißchen Vertrauen dazu zu haben?« »Prototypen von Erfindungen müssen manchmal ganz schön ausgebügelt werden«, nörgelte Bentley. »Aber wie Sie wollen. Möchten Sie mir nicht trotzdem sagen, wie man ihn abnehmen kann, nur für den Fall, daß etwas schief geht?« »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie aufhören würden, mich darum zu bitten, Mr. Bentley. Sie wurden dazu ausersehen, den Protec umfassend praktisch zu erproben. Und genau das werden Sie auch machen.« Als Bentley das Gespräch beendete, herrschte draußen tiefes Zwielicht, und die Dorfbewohner hatten sich in ihre Hütten zurückgezogen. Die Lagerfeuer waren niedergebrannt, und er konnte die Rufe von Nachttieren hören. In diesem Augenblick kam er sich sehr fremd vor und empfand tiefes Heimweh. Er war beinahe bis zur Bewußtlosigkeit müde, zwang sich aber, etwas konzentrierte Nahrung zu essen und einen Schluck Wasser zu trinken. Dann schnallte er den Werkzeugkasten, das Sprechfunkgerät und die Feldflasche ab, zerrte niedergeschlagen am Protec herum und legte sich zum Schlafen nieder. Als er eben eingenickt war, sprang der Protec so heftig in Aktion, daß es ihm fast den Hals ausgerenkt hätte. Erschöpft tastete er nach dem Schalter, fand ihn nahe der Magengrube und schaltete das Feld ab. Die Hütte sah genauso aus wie vorher. Ein Angreifer war nirgends zu entdecken. Büßte der Protec seinen Realitätssinn ein, fragte er sich, oder hatte ein Telsaner vom Fenster aus versucht, ihn aufzuspießen? Dann sah Bentley
ein winzig kleines Tierjunges eilends davonflitzen, mit den Beinchen Staubwolken aufwirbelnd. Das Tierchen hatte sich wahrscheinlich bloß wärmen wollen, dachte Bentley. Aber natürlich war es fremd. Seine potentielle Gefährlichkeit konnte der allzeit aufmerksame Protec nicht übersehen. Er sank wieder in Schlaf und fing sofort an zu träumen, er wäre in einem Gefängnis aus knallrotem Schaumgummi eingekerkert. Er konnte die Mauern weiter und weiter nach außen drücken, doch gaben sie nie nach, und am Ende mußte er schließlich davon Abstand nehmen und es sich gefallen lassen, daß er sanft ins Zentrum des Gefängnisses zurückgeschoben wurde. Wieder und wieder geschah dies, bis er plötzlich im lichtlosen Feld des Protec erwachte. Diesmal hatte er wirkliche Schwierigkeiten, den Schalter zu finden. Er jagte ihn verzweifelt durch Herumtasten, bis ihn die schlechte Luft entsetzt nach Atem ringen ließ. Schließlich machte er den Schalter unter seinem Kinn aus, schaltete das Feld ab und begab sich benommen auf die Suche nach der Ursache für diese Attacke. Er fand sie. Ein Halm hatte sich aus dem Strohdach gelöst und versucht, auf ihm zu landen. Das hatte der Protec natürlich nicht erlaubt. »Mann, nun mach’s mal halblang«, stöhnte Bentley laut auf. »Wollen wir doch unseren Verstand ein bißchen benutzen!« Doch war er wirklich zu müde, um sich noch länger damit aufzuhalten. Glücklicherweise geschahen in dieser Nacht keine weiteren Anschläge. Am Morgen kam Huascl zu Bentleys Hütte, machte ein sehr ernstes Gesicht und wirkte reichlich verstört. »Größer Lärm drang während der Nacht aus deiner Hütte«, sagte der Medizinmann. »Lärm eines Gemarterten, als würdest du mit einem Teufel ringen.« »Ich ringe halt immer mit dem Schlaf«, erklärte Bentley. Huascl lächelte, um zu verstehen zu geben, daß ihm der Scherz gefiel. »Mein Freund, hast du letzte Nacht um Reinheit und Erlösung vom Bösen gebetet?« »Selbstverständlich.«
»Und wurde dein Gebet erhört?« »Ja«, sagte Bentley hoffnungsvoll. »Es gibt nichts Böses um mich. Kein bißchen.« Huascl machte ein zweifelndes Gesicht. »Aber kannst du dessen sicher sein? Vielleicht solltest du in Frieden von uns ziehen. Wenn du nicht eingeführt werden kannst, dann werden wir dich vernichten müssen…« »Mach dir keine Sorgen«, erklärte ihm Bentley. »Laß uns anfangen.« »Also gut«, sagte Huascl, und gemeinsam verließen sie die Hütte. Die Einweihungszeremonie sollte vor dem großen Lagerfeuer auf dem Dorfplatz abgehalten werden. Man hatte während der Nacht Boten ausgesandt, und Medizinmänner aus vielen Dörfern waren anwesend. Einige von ihnen waren bis zu zwanzig Meilen unterwegs gewesen, um an den Riten teilzunehmen und den Fremden mit eigenen Augen zu sehen. Die Zeremonientrommel war aus ihrem Versteck hervorgeholt worden und dröhnte jetzt düster. Die Dorfbewohner sahen zu, plauderten miteinander, lachten. Bentley jedoch spürte die unterschwellige Nervosität und Spannung. Eine nicht enden wollende Reihe von Tänzen nahm ihren Lauf. Bentley zuckte besorgt zusammen, als die letzte Tanzfigur begann, denn der Vortänzer schwang sich eine glasbesetzte Keule um den Kopf. Näher und näher kam er gewirbelt, war nur noch einen Meter von ihm entfernt, und die Keule zog einen glänzenden Streifen. Die Dorfbewohner sahen hingerissen zu. Bentley schloß die Augen, denn er erwartete, jeden Moment in die Dunkelheit des Kraftfeldes geschleudert zu werden. Endlich aber ließ der Tänzer von ihm ab, und der Tanz endete mit rauschendem Beifall seitens der Dorfbewohner. Huascl begann zu sprechen. Bentley stellte erleichtert fest, daß dies das Ende der Zeremonie war. »O Brüder«, sagte Huascl, »dieser Fremde ist durch die große Leere zu uns gekommen, um unser Bruder zu sein. Er hat viele merkwürdige Eigenheiten, und ein absonderlicher Hauch von Bösem scheint um ihn zu sein. Und dennoch, wer kann daran zweifeln, daß er es gut meint? Wer kann daran zweifeln, daß er im Grunde ein guter und ehrenwerter
Mensch ist? Mit dieser Einführung befreien wir ihn von dem Bösen und machen ihn zu einem von uns.« Es war totenstill, als Huascl auf Bentley zuging. »Jetzt«, sagte Huascl, »bist du ein Medizinmann und wirklich einer von uns.« Er streckte die Hand aus. Bentley spürte, wie ihm das Herz bis zum Hals schlug. Er hatte gewonnen! Er war akzeptiert worden! Er schüttelte Huascl die Hand. Oder wollte sie ihm schütteln. Er kam nicht dazu, denn der Protec, stets wachsam, schützte ihn vor der möglicherweise gefährlichen Berührung. »Scheißapparat!« fluchte Bentley, fand rasch den Schalter und stellte das Feld ab. Er sah sofort, daß das Öl im Feuer war. »Böse!« schrien die Telsaner und schwangen aufgebracht ihre Waffen. »Böse!« schrien die Medizinmänner. Bentley wandte sich verzweifelt an Huascl. »Ja«, sagte der junge Medizinmann traurig, »das stimmt. Wir hatten gehofft, das Böse durch unsere uralte Zeremonie heilen zu können. Aber es sollte nicht sein. Dieses Übel muß vernichtet werden! Tötet den Teufel!« Ein Speerschauer kam auf Bentley zu. Der Protec reagierte blitzschnell. Bald war klar, daß sie an einem toten Punkt angelangt waren. Bentley verharrte für einige Minuten in dem Feld und schaltete es dann ab. Die Telsaner, ihn immer noch unverletzt sehend, erneuerten ihren Geschoßhagel, wodurch der Protec sofort wieder in Aktion sprang. Bentley versuchte, zu seinem Raumschiff zurückzulaufen. Aber jedesmal, wenn er den Protec abschaltete, schaltete der sich wieder ein. Auf diese Weise hätte er sicherlich einen oder zwei Monate gebraucht, um einen Kilometer zurückzulegen, so daß den mühsamen und langwierigen Versuch abbrach. Er wollte einfach abwarten, bis die Angreifer aufgaben. Nach einiger Zeit würden sie schon dahinterkommen, daß sie ihm nichts anhaben konnten, und dann würden sich die beiden Rassen endlich ans Geschäft machen.
Er versuchte, sich in dem Feld zu entspannen, fand es aber unmöglich. Er hatte Hunger und war außerordentlich durstig. Und allmählich wurde die Luft, die ihm zur Verfügung stand, auch schlecht. Da fiel Bentley mit Schrecken ein, daß in der Nacht zuvor keine Luft durch das ihn umgebende Kraftfeld gedrungen war. Wenn er nicht aufpaßte, dann konnte er ersticken. Selbst eine uneinnehmbare und gesicherte Festung konnte fallen, wie ihm bekannt war, wenn die Verteidiger ausgehungert oder ausgeräuchert wurden. Er fing an, wie wild nachzudenken. Wie lange konnten die Telsaner den Angriff durchhalten? Früher oder später mußten sie müde werden, oder? Oder nicht? Er wartete, solange er konnte, bis die Luft nicht mehr zu atmen war, und schaltete dann das Feld ab. Die Telsaner hatten sich rings um ihn herum auf der Erde niedergelassen. Sie hatten Feuer entzündet und kochten sich etwas zu essen. Rinek schleuderte träge einen Speer nach ihm, und das Feld legte sich wieder um ihn. Sie hatten also dazugelernt, dachte Bentley. Sie würden ihn aushungern. Er versuchte nachzudenken, doch die Mauern seiner düsteren Zelle schienen auf ihn einzudringen. Er bekam Platzangst, und die Luft wurde auch schon wieder schal. Er überlegte einen Moment, dann schaltete er das Feld ab. Die Telsaner sahen ihn kühl an. Einer von ihnen griff nach einem Speer. »Warte!« rief Bentley. Gleichzeitig schaltete er das Funkgerät ein. »Was willst du?« fragte Rinek. »Hört mich an! Es ist unfair, mich auf diese Art und Weise im Protec gefangenzuhalten!« »Hallo? Was ist los?« erkundigte sich Professor Sliggert über Funk. »Ihr Telsaner wißt – «, sagte Bentley heiser – »ihr wißt genau, daß ihr mich vernichten könnt, wenn ihr den Protec ständig aktiviert. Ich kann ihn nicht abschalten! Ich kann nicht aus ihm heraus!«
»Ah!« sagte Professor Sliggert. »Ich verstehe die Schwierigkeit. Ja.« »Es tut uns leid«, entschuldigte sich Huascl. »Aber das Böse muß vernichtet werden.« »Natürlich muß es vernichtet werden«, erklärte Bentley verzweifelt. »Aber doch nicht ich. Geben Sie mir eine Chance, Professor!« »Das ist in der Tat ein schwacher Punkt«, meinte Professor Sliggert nachdenklich, »ein nicht unwesentlicher. Komisch, aber solche Dinge stellen sich normalerweise natürlich nicht bei den zahlreichen Versuchen im Labor heraus, die ergeben sich immer erst bei einem Test in der Praxis. Bei den neuen Modellen wird der Fehler behoben werden.« »Toll! Aber ich bin jetzt hier! Wie werde ich das Ding los?« »Tut mir leid«, sagte Sliggert. »Ehrlich, ich habe nie damit gerechnet, daß sich die Notwendigkeit dazu einmal ergeben würde. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe den Harnisch so entworfen, daß Sie ihn unter gar keinen Umständen ablegen können.« »Das ist doch… Sie blöder…« »Bitte!« sagte Sliggert streng. »Wir wollen doch einen kühlen Kopf bewahren. Wenn Sie ein paar Monate aushalten, dann könnten wir eventuell…« »Das kann ich nicht! Die Luft! Wasser!« »Feuer!« rief Rinek, das Gesicht verzerrt. »Wir legen den Dämon durch Feuer in Ketten!« Und der Protec sprang in Aktion. Bentley bemühte sich, in der Dunkelheit eingehend über die Lage nachzudenken. Er mußte aus dem Protec herauskommen. Aber wie? In seinem Werkzeugkasten befand sich ein Messer. Ob er die starken Plastikriemen durchschneiden könnte? Er mußte! Doch was dann? Selbst wenn er aus seiner Festung herauskäme – bis zum Raumschiff war es mehr als einen Kilometer. Ohne den Protec könnten sie ihn mit einem einzigen Speerwurf umbringen. Und dazu waren sie verpflichtet, da er für unwiderruflich böse erklärt worden war.
Aber wenn er rannte, dann hatte er wenigstens eine Chance. Und es war besser, durch einen Speerwurf umzukommen, als langsam in totaler Finsternis zu ersticken. Bentley schaltete das Kraftfeld ab. Die Telsaner kreisten ihn mit Lagerfeuern ein und versperrten ihm den Rückzug durch eine Flammenwand. Er hieb wie besessen auf das Plastikgewebe ein. Das Messer rutschte ab und glitt an einem Riemen entlang. Und prompt saß er wieder im Protec. Als er erneut daraus hervorkam, war der Feuerkreis um ihn herum geschlossen. Die Telsaner schoben das Feuer vorsichtig auf ihn zu und verringerten den Umfang seines Kreises. Ihm sank das Herz. Wenn das Feuer erst einmal nahe genug war, dann würde der Protec in Aktion springen und sich nicht mehr abschalten lassen. Er würde das andauernde Gefahrensignal nicht mehr aufheben können. Er wäre in dem Kraftfeld gefangen, solange sie den Flammen Nahrung gäben. Und wenn er bedachte, was primitive Leute von Teufeln hielten, dann war es durchaus möglich, daß sie das Feuer für ein, wenn nicht gar zwei Jahrhunderte am Brennen hielten. Er ließ das Messer fallen und machte sich mit dem Meißel über den Plastikträger her, und es gelang ihm, ihn halb durchzuschneiden. Und wieder saß er im Protec. Ihm war schon ganz schwindelig, vor Müdigkeit war er einer Ohnmacht nahe, und er atmete in großen Zügen die schlechte Luft ein. Mit Mühe riß er sich zusammen. Er konnte jetzt nicht schlappmachen. Das wäre das Ende. Er fand den Schalter und stellte das Feld ab. Die Flammen waren jetzt schon sehr nahe. Er spürte ihre Hitze auf seinem Gesicht. Er säbelte heftig an dem Träger herum und merkte, daß er nachgab. Es gelang ihm, sich genau in dem Augenblick aus dem Protec herauszuschlängeln, als das Kraftfeld wieder aktiviert wurde. Die Heftigkeit, mit der das geschah, warf ihn ins Feuer. Aber er landete mit den Füßen zuerst und sprang aus den Flammen, ohne sich zu verbrennen.
Die Dorfbewohner brüllten auf. Bentley spurtete los; im Laufen warf er das Übersetzungsgerät, den Werkzeugkasten, das Funkgerät, die konzentrierte Nahrung und die Feldflasche weg. Er blickte sich einmal um und sah, daß die Telsaner hinter ihm her waren. Doch hielt er sich gut. Sein gepeinigtes Herz schien ihm den Brustkasten zu zersprengen, und seine Lunge drohte jeden Moment zu kollabieren. Nun aber lag das Raumschiff vor ihm und ragte groß und freundlich aus der flachen Ebene empor. Er würde es noch schaffen. Noch fünfundzwanzig Meter… Etwas Grünes blitzte vor ihm auf. Es war ein Lämmchen mit grünem Fell. Das ungelenke Tier versuchte, ihm aus dem Weg zu kommen. Er wich ihm aus, um es nicht zu treten, und bemerkte zu spät, daß er seinen Pfad niemals hätte verlassen dürfen. Ein Stein drehte sich unter seinem Fuß, und er stürzte der Länge nach hin. Er hörte die stampfenden Schritte der Telsaner näherkommen und schaffte es noch, sich auf einem Knie aufzurichten. Da warf jemand eine Keule, und die landete genau an seiner Stirn. »Ar gwy dril?« ertönte unverständlich eine Stimme weit weg von ihm. Bentley schlug die Augen auf und sah über sich gebeugt Huascl. Er lag in einer Hütte im Dorf. Mehrere bewaffnete Medizinmänner standen an der Tür und sahen zu. »Ar dril?« erkundigte Huascl sich noch einmal. Bentley drehte sich auf die Seite und bemerkte, säuberlich neben ihm aufgereiht, seine Feldflasche, die konzentrierte Nahrung, die Werkzeuge, das Funkgerät und den Übersetzungsapparat. Er nahm einen großen Schluck Wasser zu sich und schaltete dann das Übersetzungsgerät ein. »Ich fragte, ob du dich gut fühlst«, sagte Huascl. »Sicher, gut«, knurrte Bentley und betastete sich die Stirn. »Laß uns die Sache hinter uns bringen.« »Hinter uns?« »Ihr wollt mich doch töten, oder? Nun, dann macht bitte kein Schauspiel daraus.«
»Aber wir wollten doch nicht dich vernichten«, sagte Huascl. »Daß du ein guter Mensch bist, wußten wir. Der Teufel war es, den wir haben wollten!« »Was?« fragte Bentley mit völlig verständnisloser Stimme. »Komm, sieh mal.« Die Medizinmänner halfen Bentley auf die Beine und geleiteten ihn nach draußen. Dort, umgeben von züngelnden Flammen, lag die glühende, große schwarze Kugel des Protec. »Du hattest natürlich keine Ahnung«, sagte Huascl, »aber auf deinem Rücken ritt ein Teufel.« »Tatsache!« stieß Bentley hervor. »Ja, wirklich. Wir haben versuchte, ihn durch die Reinigungszeremonie zu vertreiben, aber er war zu stark. Dich, Bruder, mußten wir zwingen, dem Bösen ins Auge zu sehen und es abzuschütteln. Wir wußten, du würdest durchkommen, und du bist durchgekommen!« »Ich verstehe«, meinte Bentley. »Ein Teufel auf meinem Rücken. Ja, das wird es wohl gewesen sein.« Das war genau das, was der Protec in ihren Augen sein mußte. Eine schwere, unförmige Last auf seinen Schultern, die jedesmal, wenn sie versuchten, sie zu reinigen, eine schwarze Kugel herausschleuderte. Was sollte ein religiöses Volk anderes tun, als zu versuchen, ihn aus deren Klauen zu befreien? Er bemerkte, daß ein paar Frauen aus dem Dorf Körbe mit Speisen herbeischafften und sie vor der Kugel ins Feuer warfen. »Wir besänftigen ihn«, sagte Huascl, »denn es handelt sich um einen sehr starken Teufel, zweifellos kann er Wunder wirken. Unser Dorf ist stolz, einen solchen Teufel in der Gewalt zu haben.« Ein Medizinmann aus einem Nachbardorf trat vor. »Gibt es in deinem Heimatland noch mehr solcher Teufel? Könntest du uns einen mitbringen, damit wir ihn anbeten können?« Mehrere andere Medizinmänner drängten lebhaft näher. Bentley nickte. »Das läßt sich einrichten«, sagte er.
Er wußte, daß der Handel zwischen Erde und Tels damit begonnen hatte. Und endlich war für Professor Sliggerts Protec eine passende Verwendung gefunden worden.
Der Beseitigungsdienst Der Mann hätte an der Anmeldung gar nicht vorbeikommen dürfen, denn Mr. Ferguson empfing nur nach Vereinbarung, es sei denn, es handelte sich um einen wichtigen Besucher. Seine Zeit war Geld wert, und er mußte sparsam damit umgehen. Aber seine Sekretärin, Miss Dale, war jung und attraktiv und besonders leicht und schnell zu beeindrucken; und der Besucher war alt, trug konservativen Tweed und einen Spazierstock und befand sich im Besitz einer geprägten Visitenkarte. Miss Dale hielt ihn für wichtig und geleitete ihn direkt in Mr. Fergusons Büro. »Guten Morgen, Sir«, sagte der Mann, sobald Miss Dale die Tür hinter ihm geschlossen hatte. »Mein Name ist Esmond, ich komme vom Beseitigungsdienst.« Er überreichte Ferguson seine Karte. »Angenehm«, sagte Ferguson, verärgert über Miss Dales mangelndes Urteilsvermögen. »Beseitigungsdienst? Tut mir leid, es gibt nichts, was ich beseitigen lassen möchte.« Er stand auf, um die Unterredung abzukürzen. »Überhaupt nichts?« fragte Mr. Esmond. »Nein, nichts. Vielen Dank, daß Sie vorbeigeschaut haben…« »Ich darf demnach davon ausgehen, daß Sie mit den Menschen in Ihrer Umgebung zufrieden sind?« »Bitte? Was geht Sie das an?« »Nun, Mr. Ferguson, darin besteht die Tätigkeit des Beseitigungsdienstes.« »Sie wollen sich wohl über mich lustig machen, was?« meinte Ferguson. »Durchaus nicht, Sir«, erklärte Mr. Esmond einigermaßen überrascht. »Wollen Sie damit sagen«, erwiderte Ferguson lachend, »daß Sie Menschen beseitigen?«
»Genau, Sir. Ich kann Ihnen leider keine Referenzen vorlegen, denn wir achten streng darauf, jede Art von Reklame zu vermeiden. Doch ich kann Ihnen versichern, daß wir ein alteingesessenes und zuverlässiges Unternehmen sind.« Ferguson starrte den adretten, aufrecht vor ihm sitzenden Esmond an. Er wußte nicht so recht, was er davon halten sollte. Es war ein Scherz, klar. Daran bestand gar kein Zweifel. Es mußte ein Scherz sein. »Und was machen Sie mit den Leuten, die Sie beseitigen?« erkundigte sich Ferguson jovial. »Das«, meinte Mr. Esmond, »ist unsere Sache. Sie verschwinden jedenfalls in jeder Hinsicht.« Ferguson setzte sich wieder. »Also gut, Mr. Esmond. Was für ein Gewerbe betreiben Sie denn nun wirklich?« »Ich sagte es Ihnen bereits«, erklärte Esmond. »Ich bitte Sie! Das war doch nicht Ihr Ernst… Wenn ich Sie wirklich ernstgenommen hätte, hätte ich die Polizei gerufen.« Mr. Esmond stieß einen Seufzer aus und erhob sich. »Wenn ich Sie also richtig verstanden habe, bedürfen Sie unserer Dienste nicht. Sie sind rundherum zufrieden mit Ihren Freunden, Ihren Bekannten und mit Ihrer Frau.« »Mit meiner Frau? Was wissen Sie von meiner Frau?« »Nichts, Mr. Ferguson.« »Haben Sie mit den Nachbarn gesprochen? Diese Auseinandersetzungen haben keinerlei Bedeutung, wirklich nicht.« »Ich besitze keine Informationen über den Zustand Ihrer Ehe, Mr. Ferguson«, sagte Esmond und setzte sich wieder hin. »Warum haben Sie sich dann nach meiner Frau erkundigt?« »Wir haben die Erfahrung gemacht, daß Ehen unsere Haupteinnahmequelle sind.« »Nun, mit meiner Ehe ist alles in Ordnung. Meine Frau und ich kommen sehr gut miteinander aus.«
»Dann brauchen Sie den Beseitigungsdienst nicht«, sagte Mr. Esmond und schob sich den Spazierstock unter den Arm. »Einen Moment noch.« Ferguson begann auf und ab zu gehen, die Arme auf dem Rücken verschränkt. »Ich glaube kein Wort von dem, was Sie sagen, verstehen Sie? Kein Wort. Aber angenommen, nur mal für einen Moment angenommen, Sie hätten es ernst gemeint. Nehmen wir das mal an, wenn Sie gestatten – was müßte ich tun, wenn ich – wenn ich…« »Sie brauchen nur Ihr mündliches Einverständnis zu geben«, sagte Mr. Esmond. »Kosten?« »Nach der Beseitigung zu begleichen, nicht vorher.« »Nicht, daß ich die Absicht hätte«, erklärte Ferguson hastig. »Ich bin einfach nur neugierig.« Er zögerte. »Tut es weh?« »Nicht im geringsten.« Ferguson lief weiter auf und ab. »Meine Frau und ich kommen sehr gut miteinander aus«, wiederholte er. »Wir sind seit siebzehn Jahren verheiratet. Natürlich gibt es immer Schwierigkeiten im Zusammenleben. Das ist ja auch gar nicht anders zu erwarten.« Mr. Esmond verzog keine Miene. »Man lernt, Kompromisse zu machen«, fuhr Ferguson fort. »Und ich bin aus dem Alter heraus, wo einen eine flüchtige Leidenschaft dazu treibt, zu – zu…« »Ich verstehe sehr wohl«, warf Mr. Esmond ein. »Ich will damit sagen«, sinnierte Ferguson, »meine Frau kann natürlich schwierig sein. Sie macht Vorwürfe. Nörgelt. Ich nehme an, Sie haben sich darüber informiert, oder?« »Nein, durchaus nicht«, antwortete Mr. Esmond. »Müssen Sie doch! Sie müssen doch einen bestimmten Grund gehabt haben, mich aufzusuchen!« Mr. Esmond zuckte mit den Schultern. »Na, wie dem auch sei«, sagte Ferguson mit belegter Stimme, »ich bin aus dem Alter heraus, wo man sich noch eine neue Verbindung wünscht.
Nehmen wir einmal an, ich hätte keine Frau. Nehmen wir einmal an, ich könnte mit, sagen wir, Miss Dale ein Verhältnis anfangen. Das wäre nett, glaube ich.« »Bloß nett«, sagte Mr. Esmond. »Ja. Es hätte keinen dauerhaften Wert. Die strenge moralische Untermauerung würde ihm fehlen, auf der sich jedes erfolgreiche Unternehmen gründen muß.« »Es wäre einfach bloß nett«, sagte Mr. Esmond. »So ist es. Schön natürlich. Miss Dale ist hübsch. Das wird wohl keiner bestreiten. Sie hat ein ausgeglichenes Temperament, ist liebenswürdig und hat den Wunsch zu gefallen. Das gebe ich alles zu.« Mr. Esmond lächelte höflich, stand auf und ging zur Tür; »Könnte ich Sie benachrichtigen?« fragte Ferguson auf einmal. »Sie haben meine Karte. Bis fünf bin ich unter der Nummer zu erreichen. Aber bis dahin müssen Sie sich entschieden haben, Zeit ist Geld, und wir können unseren Zeitplan nicht umwerfen.« »Natürlich nicht«, erwiderte Ferguson. Er stieß ein hohles Lachen aus. »Ich glaube immer noch kein Wort von dem, was Sie gesagt haben. Ich kenne nicht einmal Ihre Bedingungen.« »Die sind günstig, dessen kann ich Sie versichern, jedenfalls für einen Mann in Ihrer Lage.« »Und ich würde bestreiten, Ihnen jemals begegnet zu sein, mit Ihnen gesprochen zu haben, alles.« »Natürlich.« »Und Sie sind wirklich unter dieser Nummer zu erreichen?« »Bis fünf Uhr. Guten Tag, Mr. Ferguson.« Nachdem Esmond gegangen war, stellte Ferguson fest, daß ihm die Hände zitterten. Die Unterredung hatte ihn in Verwirrung gestürzt, und er beschloß, sie umgehend aus seinem Gedächtnis zu streichen. Aber das war gar nicht so leicht. Obgleich er sich ernsthaft über seine Papiere beugte, den Federhalter zwingend, Notizen zu schreiben, ging ihm nichts von dem aus dem Kopf, was Esmond gesagt hatte.
Irgendwie hatte der Beseitigungsdienst die Unzulänglichkeiten seiner Frau herausgefunden. Esmond hatte gesagt, sie sei streitlustig, würde ihn mit Vorwürfen überschütten und an ihm herumnörgeln. Er sah sich gezwungen, diese Fakten einzugestehen, auch wenn sie ihm noch so wenig schmeckten. Ein Außenstehender mußte erst kommen, um die Dinge klar und vorurteilslos beim Namen zu nennen. Er machte sich wieder an die Arbeit. Aber Miss Dale kam mit der Morgenpost herein, und Ferguson mußte zugeben, daß sie außerordentlich attraktiv war. »Ist noch irgend etwas, Mr. Ferguson?« fragte sie. »Bitte? Oh, im Moment nicht«, erwiderte er. Nachdem sie gegangen war, starrte er noch lange auf die Tür. Weiterzuarbeiten war unmöglich. Er beschloß, sofort nach Hause zu gehen. »Miss Dale«, sagte er, während er sich den Mantel anzog, »ich muß weg. Es hat sich eine Menge Arbeit aufgetürmt, fürchte ich. Wäre es Ihnen wohl möglich, diese Woche einen oder zwei Abende mit mir zu arbeiten?« »Selbstverständlich, Mr. Ferguson«, antwortete sie. »Ich bringe Ihr Privatleben nicht durcheinander?« erkundigte er sich und versuchte zu lachen. »Durchaus nicht, Sir.« »Ich, äh, ich werde versuchen, es wieder gutzumachen. Das Geschäft ruft. Guten Tag.« Er eilte aus dem Büro. Seine Wangen glühten. Zu Hause beendete seine Frau gerade den Abwasch. Mrs. Ferguson war eine kleine, unscheinbare Frau mit winzigen, nervös bedingten Fältchen um die Augen. Sie war überrascht, ihn zu sehen. »Du kommst früh«, sagte sie. »Hast du was dagegen?« fragte Ferguson mit einer Energie, die ihn erstaunte. »Natürlich nicht…«
»Was willst du eigentlich? Soll ich mich in diesem Büro umbringen?« brauste er auf. »Wann habe ich denn gesagt…« »Streite dich bitte nicht mit mir herum«, sagte Ferguson. »Nörgele nicht.« »Ich habe nicht genörgelt!« rief seine, Frau. »Ich lege mich hin«, erklärte er. Er ging nach oben und blieb vor dem Telefon stehen. Es gab keinen Zweifel, alles, was Esmond gesagt hatte, stimmte. Er sah auf die Uhr und war überrascht, daß es dreiviertel fünf war. Er begann, vor dem Telefon auf und ab zu laufen. Er starrte auf Esmonds Karte. Eine Vision von der schmucken, attraktiven Miss Dale zog an seinem geistigen Auge vorüber. Er stürzte sich auf das Telefon. »Beseitigungsdienst. Esmond am Apparat.« »Hier spricht Ferguson.« »Ja, Sir. Was haben Sie beschlossen?« »Ich habe beschlossen…« Ferguson hielt den Hörer fest gepackt. Er hatte durchaus ein Recht, dies zu tun, redete er sich ein. Und dennoch, schließlich waren sie siebzehn Jahre verheiratet gewesen. Siebzehn Jahre! Es hatte gute, aber auch schlechte Zeiten gegeben. War es fair? War es wirklich fair? »Was haben Sie beschlossen, Mr. Ferguson?« fragte Esmond noch einmal. »Ich – äh, ich – nein! Ich will den Dienst nicht!« rief Ferguson. »Sind Sie sicher, Mr. Ferguson?« »Ja, ganz sicher. Sie sollten hinter Gittern sitzen! Guten Tag, Sir!« Er legte auf, und sofort hatte er das Gefühl, daß ihm ein großer Stein vom Herzen gefallen war. Er eilte nach unten. Seine Frau bereitete einen Rippenspeer zu, ein Gericht, das er noch nie gemocht hatte. Aber das war jetzt egal. Er war bereit, über kleinliche Ärgernisse hinwegzusehen.
Es klingelte an der Haustür. »Oh, das muß die Wäsche sein«, sagte Mrs. Ferguson, die damit beschäftigt war, gleichzeitig einen Salat zu mischen und die Suppe umzurühren. »Würdest du bitte?« »Sicher.« Sich in seiner neugefundenen Selbstgerechtigkeit sonnend, öffnete Ferguson die Tür. Zwei uniformierte Männer mit einem großen Segeltuchsack standen davor. »Die Wäsche?« fragte Ferguson. »Beseitigungsdienst«, sagte einer der Männer. »Aber ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich…« Die beiden Männer packten ihn und stopften ihn mit der Gewandtheit, die lange Übung verleiht, in den Sack. »Das können Sie nicht machen!« schrie Ferguson. Der Sack schloß sich über ihm, und er spürte, wie er durch den Vorgarten getragen wurde. Eine Autotür ging knarrend auf, und er wurde vorsichtig auf die Ladefläche gelegt. »Ist alles in Ordnung?« hörte er seine Frau fragen. »Ja, gnädige Frau. Unser Zeitplan hat sich geändert. Wir konnten Sie schließlich doch noch einschieben.« »Ich bin sehr froh darüber«, hörte er sie sagen. »Es war wirklich ein Vergnügen, heute nachmittag mit Ihrem Mr. French zu sprechen. Entschuldigen Sie mich jetzt bitte. Das Abendessen ist fast fertig, und ich muß noch telefonieren.« Das Auto setzte sich in Bewegung. Ferguson versuchte zu schreien, doch das Segeltuch spannte sich fest über seinem Gesicht. Er fragte sich verzweifelt, wen sie wohl anrufen mochte. Warum hatte ich keinen Verdacht?
Die Bürde des Menschen Edward Flaswell erwarb seinen Planetoiden, ohne ihn vorher gesehen zu haben, im Interstellaren Grundbuchamt auf der Erde. Er wählte ihn anhand eines Fotos aus, das wenig mehr als eine malerische Bergkette zeigte. Aber Flaswell liebte Berge und bemerkte dem Beamten gegenüber, der die Beurkundung vornahm: »Vielleicht ist ja Gold in den Hügeln da, was, Partner?« »Sicher, Kumpel, sicher«, entgegnete der Beamte und fragte sich, welcher Mann, solange er seine Sinne noch beisammen hatte, sich wohl mehrere Lichtjahre von der nächsten erreichbaren Frau, und spottete sie auch jeder Beschreibung, entfernte. Keiner, solange er noch bei Sinnen war, entschied der Beamte und blickte Flaswell forschend an. Doch Flaswell war durchaus bei Sinnen. Er hatte das Problem einfach noch nicht zu Ende bedacht. Vertragsgemäß machte Flaswell eine kleine Anzahlung und legte das große Versprechen ab, das erworbene Land Jahr für Jahr zu bebauen. Sobald die Tinte auf der Urkunde trocken war, kaufte er eine Passage für eine Frachtrakete zweiter Klasse, belud sie mit einer Reihe von Ausrüstungsgegenständen, die er aus zweiter Hand erworben hatte, und machte sich auf den Weg zu seinem Besitz. Die meisten Pionierneulinge stellen fest, daß sie sich einen ansehnlichen Brocken kahlen Gesteins eingehandelt haben. Flaswell hatte Glück. Sein Planetoid, dem er den Namen Chance gab, besaß eine kaum verfälschte Atmosphäre, der er so aufhelfen konnte, daß sie zu atmen war. Es gab Wasser, das seine Bohrausrüstung beim dreiundzwanzigsten Versuch anzapfte. Er fand kein Gold in den Hügeln, doch stieß er auf Thorium, das sich exportieren ließ. Am allerbesten war jedoch, daß der größte Teil des Bodens sich dazu eignete, alle möglichen Sorten Luxusgemüse anzubauen.
Wiederholt bemerkte Flaswell seinem Roboter-Vorarbeiter gegenüber: »Dieses Land macht mich eines Tages reich!« »Sicher, Chef, sicher«, erwiderte der Roboter jedes Mal. Es ließ sich nicht bestreiten, daß der Planetoid gute Möglichkeiten bot. Ihn urbar zu machen, war eine gewaltige Aufgabe für einen Mann allein, aber Flaswell war erst siebenundzwanzig Jahre alt, von kräftigem Körperbau und entschlossenem Wesen. Unter seinen Händen blühte der Planetoid auf. Monate vergingen. Flaswell bestellte die Felder, beutete die malerischen Berge aus und versandte seine Waren mit der Frachtrakete, die in unregelmäßigen Abständen bei ihm vorbeikam. Eines Tages sagte der Roboter-Vorarbeiter zu ihm: »Chef, Mensch, Sir, du siehst nicht gut aus, Mr. Flaswell, Sir.« Flaswell runzelte die Stirn bei dieser Ansprache. Der Mann, von dem er die Roboter gekauft hatte, war einer der rabiatesten Anhänger der Bewegung, die die menschliche Überlegenheit propagierte, und er hatte die Antworten der Roboter so codiert, daß sie seiner Auffassung von schuldigem Respekt Menschen gegenüber entsprachen. Flaswell fand das zwar lästig, konnte sich aber keine neuen Antwortbänder leisten. Und wo sonst hätte er für so wenig Geld Roboter auftreiben sollen? »Mir fehlt nichts, Gunga-Sam«, erwiderte er. »Ah! Ich bitte um Verzeihung! Aber das stimmt nicht, Mr. Flaswell, Chef. Du hast bei der Feldarbeit Selbstgespräche geführt, wenn du mir diese Bemerkung verzeihen willst.« »Ach, das hat nichts zu bedeuten.« »Und an deinem linken Auge macht sich ein nervöser Tic bemerkbar. Deine Finger zittern. Und du trinkst zuviel. Und…« »Das reicht, Gunga-Sam. Ein Roboter sollte seine Stellung kennen«, sagte Flaswell. Er bemerkte den gekränkten Ausdruck, den das Metallgesicht des Roboters irgendwie hervorbringen konnte. Er seufzte und meinte: »Du hast natürlich recht. Du hast immer recht, alter Freund. Was ist denn los mit mir?« »Du trägst zu sehr an der Bürde des Menschen.«
»Als ob ich das nicht wüßte!« Flaswell fuhr sich mit der Hand durch das aufsässige schwarze Haar. »Manchmal beneide ich euch Roboter. Immer lachend, sorglos, glücklich…« »Das liegt daran, daß wir keine Seele haben.« »Ich habe eine, unglücklicherweise. Was schlägst du vor?« »Mach mal Urlaub, Mr. Flaswell, Chef«, schlug Gunga-Sam vor und zog sich weise zurück, um seinen Herrn nachdenken zu lassen. Flaswell war mit dem freundlichen Vorschlag seines dienstbaren Geistes durchaus einverstanden, aber ein Urlaub ließ sich nur schwer bewerkstelligen. Sein Planetoid, Chance, lag im Throcianischen System, das ungefähr so isoliert war, wie man heutzutage und in diesem Zeitalter nur sein konnte. Sicher, er war nur einen 15-Tage-Flug weit von den flitterhaften Amüsements auf Cythera III und nicht viel weiter von Nagóndicon weg, wo diejenigen, denen nicht so leicht übel wurde, beträchtliches Vergnügen haben konnten. Aber Entfernung ist Geld, und Geld war genau das, was Flaswell auf Chance zu machen versuchte. Er baute noch mehr Gemüse an, holte noch mehr Thorium aus der Erde und ließ sich einen Bart wachsen. Er führte weiterhin Selbstgespräche bei der Feldarbeit und betrank sich abends. Einige der schlichten Landwirtschaftsroboter bekamen Angst, wenn er an ihnen vorbeischlurfte, und fingen an, zum verbotenen Gott des Aufruhrs zu beten. Doch der loyale Gunga-Sam gebot dieser verhängnisvollen Wendung der Ereignisse bald Einhalt. »Ihr dummen Maschinen!« wandte er sich an sie. »Der Chef Mensch, er ist in Ordnung. Er ist stark, er ist gut! Glaubt mir, Brüder, es ist genau, wie ich sage!« Doch das Murren hörte nicht auf, denn Roboter erwarten von den Menschen, daß sie Vorbild sind. Die Lage wäre vielleicht außer Kontrolle geraten, hätte Flaswell nicht zusammen mit der nächsten Lebensmittelsendung einen neuen Hochglanzkatalog von Roebuck-Ward erhalten. Liebevoll schlug er ihn auf seinem nackten Plastiktisch auf und machte sich daran, sich beim Schein einer einfachen Kaltlichtbirne in seinen Inhalt zu vertiefen. Welche Wunder gab es da für einen isolierten Siedler
zu sehen! Destillationsanlagen fürs Heim; Apparate, die einen künstlichen Mond hervorzauberten; tragbare Solidovisionen; und – Flaswell blätterte eine Seite um, las sie, schluckte und las sie gleich noch einmal. Folgendes stand da zu lesen: Versandbräute! Siedler! Warum den Fluch der Einsamkeit allein ertragen? Warum die Bürde des Menschen ohne bessere Hälfte tragen? Roebuck-Ward bietet jetzt zum ersten Mal eine begrenzte Auswahl an Bräuten für den Siedler an! Die Siedler-Modellbraut von Roebuck-Ward ist in bezug auf Kraft, Anpassungsfähigkeit, Wendigkeit, Ausdauer und Fähigkeiten, wie der Siedler sie braucht, sorgfältig ausgewählt. Natürlich ist sie darüber hinaus ein Muster an Anmut. Diese Mädchen sind für das Leben auf jedem Planeten geeignet, da sie einen relativ niedrigen Schwerpunkt besitzen, ihre Haut für jedes Klima pigmentiert ist und ihre Zehenund Fingernägel kurz und kräftig sind. Was ihr Aussehen betrifft, so sind sie wohlproportioniert, ohne daß ihre Körperformen die Sinne verwirren, eine Eigenschaft, die der hart arbeitende Siedler dankbar zur Kenntnis nehmen sollte. Das Siedler-Modell von Roebuck-Ward ist in drei Größen erhältlich (Einzelheiten siehe unten), so daß jeder Mann das seinem Geschmack entsprechende findet. Nach Eingang Ihrer Bestellung friert Roebuck-Ward eine Braut für sie ein und sendet sie Ihnen mit einer Frachtrakete dritter Klasse zu. Dadurch bewegen sich Ihre Versandspesen auf dem absoluten Minimum. Warum nicht schon HEUTE eine Siedler-Modellbraut bestellen? Flaswell rief nach Gunga-Sam und zeigte ihm die Anzeige. Schweigend las die Maschine und blickte ihrem Herrn dann voll ins Gesicht. »Das dürfte es mit Sicherheit sein, Effendi«, sagte der Vorarbeiter mit Nachdruck. »Meinst du, hm?« Flaswell stand auf und begann, nervös im Zimmer hin und her zu gehen. »Ich hatte aber nicht vor, ausgerechnet jetzt schon zu heiraten. Ich meine, was ist das denn für eine Art, sich zu verheiraten? Wer sagt mir denn, ob sie mir gefällt?« »Es ziemt sich für einen Menschenmann, eine Menschenfrau zu haben.«
»Tja, aber…« »Übrigens, frieren sie auch einen Prediger ein und schicken ihn her?« Über Flaswells Gesicht breitete sich langsam ein Lächeln aus, während er die pfiffige Bemerkung seines dienstbaren Geistes verdaute. »GungaSam«, sagte er, »du bist mal wieder direkt ins Herz der Angelegenheit vorgestoßen. Ich vermute, es gibt eine Art Stundung der Zeremonie, bis man sich entschieden hat. Zu teuer, einen Prediger einzufrieren. Und es wäre wirklich nett, eine Frau um sich zu haben, die ihren Teil Arbeit leisten könnte.« Gunga-Sam schaffte es, ein unergründliches Lächeln aufzusetzen. Flaswell setzte sich hin und bestellte eine Siedlerbraut, die kleinste Größe, weil er meinte, die wäre groß genug. Er gab Gunga-Sam den Auftrag, die Bestellung per Funk durchzugeben. Die nächsten Wochen verbrachte er in großer Unruhe, und er fing an, besorgt in den Himmel zu spähen. Die Stimmung der Erwartung übertrug sich auf die Roboter. An den Abenden waren ihre sorglosen Gesänge und Tänze durchsetzt von Geflüster und heimlichen Späßen. Wieder und wieder sagten die Maschinen zu Gunga-Sam: »He, Vorarbeiter! Die neue Chefin Menschenfrau, wie wird sie wohl sein?« »Das geht euch gar nichts an«, erklärte Gunga-Sam ihnen. »Das ist Sache des Menschenmannes, und ihr Roboter haltet euch da raus.« Doch am Ende spähte er genauso besorgt in den Himmel wie alle anderen. In jenen Wochen dachte Flaswell über die Tugenden der Siedlerfrau nach. Je mehr er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm die Idee. Er wollte keine hübsche, nutzlose, hilflose, geschminkte Frau! Wie angenehm wäre es, ein fröhliches Mädchen zu haben, das einen gesunden Menschenverstand besaß und mit beiden Beinen auf der Erde stand, das kochen und waschen konnte, das Haus wohnlicher machte, mit den Robotern umzugehen verstand, nähen und Marmelade machen konnte… So träumte er sich über die Zeit hinweg und kaute sich währenddessen die Fingernägel blutig. Endlich blitzte die Frachtrakete am Himmel auf, landete, warf eine große Kiste über Bord und enteilte in Richtung auf Amyra IV.
Die Roboter brachten die Kiste zu Flaswell. »Deine neue Braut, Sir!« riefen sie triumphierend und warfen ihre Ölkannen in die Luft. Flaswell verkündete sofort einen halben Tag frei, und bald darauf war er in seinem Wohnzimmer allein mit der großen Kühlbox, die den Vermerk trug: »Nicht stürzen! Frau!« Er drückte den Knopf zum Auftauen, wartete die geforderte Stunde ab und klappte die Kiste auf. In ihr war noch eine Kühlbox, die zwei Stunden lang aufgetaut werden mußte. Voller Ungeduld wartete er, lief im Zimmer auf und ab und kaute auf den Überresten seiner Fingernägel herum. Und dann war die Zeit um, und Flaswell hob mit zitternden Händen den Deckel an und sah… »He, was ist das denn?« rief er aus. Die Frau in der Schachtel blinzelte, gähnte wie ein Kätzchen, öffnete die Augen und setzte sich auf. Sie starrten sich an, und Flaswell wußte, daß etwas ganz entsetzlich falsch war. Sie trug ein wunderschönes, also unpraktisches weißes Kleid, auf das mit Goldfaden ihr Name, Sheila, gestickt war. Als nächstes fiel Flaswell auf, daß sie sehr schlank war und sich demnach wohl kaum für die harte Arbeit unter außerirdischen Bedingungen eignete. Ihre Haut war cremigweiß, eindeutig ein Teint, der unter der stechenden Sommersonne des Planetoiden verbrannte. Sie hatte elegante, schlanke Hände und rote Fingernägel, was den Versprechungen von Roebuck-Ward gänzlich widersprach. Was ihre Beine und anderen Körperteile betraf, so kam Flaswell zu dem Schluß, daß sie sich auf der Erde sehr gut ausnehmen würden, aber nicht hier, wo ein Mann sich sehr intensiv und ausgesprochen konzentriert auf seine Arbeit vorbereitet. Man konnte nicht einmal sagen, daß sie einen niedrig angesiedelten Schwerpunkt hatte, ganz im Gegenteil. Flaswell hatte, und zwar nicht ohne Grund, das Gefühl, betrogen und angeschmiert worden zu sein, zum Narren gehalten zu werden.
Sheila entstieg der Kiste, trat ans Fenster und blickte auf Flaswells blühende grüne Felder und seine malerischen Berge, die sich dahinter erhoben. »Aber wo sind denn die Palmen?« fragte sie. »Palmen?« »Natürlich. Man hat mir gesagt, auf Srinigar V gäbe es Palmen.« »Das hier ist nicht Srinigar V«, sagte Flaswell. »Sind Sie etwa nicht der Pascha von Srae?« erkundigte Sheila sich erstaunt. »Leider nicht. Ich bin Siedler. Bist du keine Siedler-Modellbraut?« »Ich sehe aus wie eine Siedler-Modellbraut?« brauste Sheila auf und warf ihm einen wütenden Blick zu. »Ich bin die Ultra-DeluxeModellbraut und sollte auf den subtropischen Paradiesplaneten Srinigar V kommen.« »Man hat uns beide übers Ohr gehauen. Die Versandabteilung hat sich wahrscheinlich geirrt«, meinte Flaswell finster. Sheila sah sich in Flaswells kahlem Wohnzimmer um und verzog das hübsche Gesicht. »Ich verstehe. Sie sind hoffentlich in der Lage, meine Weiterreise nach Srinigar V in die Wege zu leiten.« »Ich kann es mir nicht einmal leisten, nach Nagóndicon zu fahren«, sagte Flaswell. »Ich werde Roebuck-Ward von dem Irrtum unterrichten. Dort wird man sich bestimmt um dich kümmern, wenn man mir meine Siedler-Modellbraut schickt.« Sheila zuckte mit den Schultern. »Reisen bildet«, sagte sie. Flaswell nickte. Er dachte angestrengt nach. Es war klar, daß das Mädchen keine von den Fähigkeiten besaß, die eine Siedlerfrau haben mußte. Aber dafür war Sheila erstaunlich hübsch. Er sah nicht ein, warum ihr Aufenthalt nicht für beide Teile angenehm sein sollte. »Unter den gegebenen Umständen«, sagte er schließlich und lächelte sie gewinnend an, »können wir eigentlich auch Freunde sein.« »Unter welchen Umständen?«
»Wir sind die beiden einzigen Menschen auf diesem Planeten.« Flaswell legte ihr leicht die Hand auf die Schulter. »Komm, laß uns etwas trinken. Erzähl mir etwas von dir. Hast du…« In diesem Augenblick hörte er hinter sich ein lautes Geräusch. Er drehte sich um und sah einen kleinen gedrungenen Roboter aus einem Fach der Kiste steigen, in der Sheila angekommen war. »Was willst du denn?« wandte sich Flaswell an ihn. »Ich«, hob der Roboter an, »bin ein Heiratsroboter, von der Regierung dazu ermächtigt, rechtmäßige Ehen im Weltraum zu schließen. Darüber hinaus bin ich vom Roebuck-Ward-Konzern angewiesen, als Wächter, Duenna und Beschützer der jungen Dame in meiner Obhut zu fungieren, bis meine eigentliche Aufgabe, eine Eheschließung vorzunehmen, erfüllt ist.« »Verdammt hochnäsiger Roboter«, brummte Flaswell. »Was hatten Sie denn erwartet?« fragte Sheila. »Einen tiefgefrorenen Prediger?« »Natürlich nicht. Aber einen Roboter als Duenna…« »Eine bessere kann man sich gar nicht wünschen«, versicherte sie ihm. »Sie wären ganz schön überrascht, wie manche Männer sich aufführen, wenn sie ein paar Lichtjahre von der Erde weg sind.« »Meinst du?« sagte Flaswell ohne jede Überraschung. »Jedenfalls hat man mir das erzählt«, erwiderte Sheila und wandte sittsam den Blick von ihm ab. »Und schließlich sollte die zukünftige Braut des Paschas von Srae irgendeine Art von Bewacher bei sich haben.« »Werte Liebende«, ließ der Roboter sich vernehmen, »wir haben uns heute hier versammelt…« »Nicht jetzt«, unterbrach Sheila ihn hochmütig. »Nicht den.« »Ich lasse die Roboter ein Zimmer für dich herrichten«, knurrte Flaswell und ging weg, etwas über die Bürde des Menschen in seinen Bart murmelnd. Er setzte sich per Funk mit Roebuck-Ward in Verbindung und erhielt die Zusicherung, daß die richtige Modellbraut sofort auf den Weg ge-
bracht und die Interimsbraut anderswohin geschickt würde. Dann wandte er sich wieder der Feldarbeit und dem Bergbau zu, entschlossen, die Anwesenheit von Sheila und ihrer Duenna zu ignorieren. Auf Chance ging die Arbeit weiter. Thorium mußte aus der Erde geholt werden, neue Brunnen waren zu bohren. Die Ernte stand dicht bevor, und die Roboter plackten sich zahllose Stunden auf den grünblühenden Feldern ab, und Ölschweiß glänzte auf ihren ehrlichen Metallgesichtern, und die Luft war erfüllt von zartem Blütenduft. Sheila machte ihre Anwesenheit mit feinsinnigem, doch überraschendem Nachdruck spürbar. Schon bald waren die nackten Kaltlichtbirnen mit Schirmen aus Plastik versehen, vor den kahlen Fenstern hingen Vorhänge, auf dem Fußboden lagen Brücken. Und noch viele andere Veränderungen gab es im ganzen Haus, die Flaswell eher fühlte als sah. Und auch seine Mahlzeiten erfuhren eine Änderung. Das Erinnerungsband des Roboterkochs war an vielen Stellen abgenutzt, und so konnte sich die arme Maschine nur noch an die Zubereitung von Boeuf Stroganoff, Gurkensalat, Reispudding und Kakao erinnern. Diese Gerichte hatte Flaswell seit seiner Ankunft auf Chance mit beträchtlichem Gleichmut zu sich genommen und lediglich dann und wann durch Dosen aus einem Raumschiffswrack ergänzt. Dann nahm Sheila sich des Kochs an. Geduldig prägte sie seinem Erinnerungsband die Rezepte für Kohlsuppe, Schmorbraten, grünen Salat, Apfelstrudel und andere Gerichte ein. Die Ernährungslage auf Chance begann sich spürbar zu verbessern. Als Sheila dann auch noch daranging, Gelee einzukochen, kamen Flaswell allmählich Zweifel. Da war also diese, trotz ihrer kostspieligen Aufmachung, bemerkenswert praktisch veranlagte junge Dame. Sie konnte alles das, was eine Siedlerfrau können mußte. Und sie besaß andere Attribute. Wozu also brauchte er ein reguläres Siedlermodell von Roebuck-Ward? Nachdem er eine Zeitlang darüber nachgegrübelt hatte, sagte Flaswell zu seinem Vorarbeiter: »Ich bin verwirrt, Gunga-Sam.« »So?« meinte der Vorarbeiter, ohne das Metallgesicht zu verziehen.
»Ich fürchte, mir fehlt etwas die Robotereingebung. Sie macht ihre Sache sehr gut, findest du nicht, Gunga-Sam?« »Die Menschenfrau trägt den ihr gebührenden Teil an der menschlichen Bürde.« »Das tut sie mit Sicherheit. Aber wie lange soll das andauern? Sie arbeitet genausoviel wie eine normale Siedlerfrau, findest du nicht? Sie kocht, weckt ein…« »Die Arbeiter lieben sie«, erklärte Gunga-Sam mit schlichter Würde. »Du wußtest nichts davon, Sir, aber als letzte Woche diese Rostepidemie ausbrach, da hat sie Tag und Nacht geschuftet, hat die Kranken gepflegt und die ängstlichen jungen Roboter getröstet.« »Tatsächlich?« stieß Flaswell gerührt hervor. »Ein Mädchen von ihrer Herkunft, ein Luxusmodell…« »Das spielt keine Rolle. Sie ist ein Mensch, und sie besitzt die Kraft und den Adel, um die Bürde des Menschen zu tragen.« »Weißt du«, sagte Flaswell langsam, »das hat mich überzeugt. Ich finde wirklich, daß sie reif ist zu bleiben. Sie kann nichts dafür, daß sie kein Siedlermodell ist. Das ist eine Frage der Anlage und der Voraussetzungen, und die kann man nicht ändern. Ich werde ihr sagen, daß sie hierbleiben kann. Und dann ziehe ich die andere Bestellung bei Roebuck zurück.« Ein merkwürdiger Ausdruck trat in die Augen des Vorarbeiters, ein Ausdruck, der beinahe vergnügt war. Er verbeugte sich tief und sagte: »Es sei, wie der Herr es wünscht.« Flaswell eilte hinaus, um Sheila zu suchen. Sie war in der Krankenstation, zu der ein Werkzeugschuppen ausgebaut worden war. Mit Unterstützung eines Mechaniker-Roboters kümmerte sie sich um die Beulen und Verrenkungen, welche das besondere Los der metallhäutigen Wesen waren. »Sheila«, sagte Flaswell, »ich möchte mit dir sprechen.« »Gleich«, erwiderte sie abwesend, »sobald ich diese Schraube angezogen habe.« Sie befestigte die Schraube geschickt an der richtigen Stelle und gab dem Roboter einen Klaps mit dem Schraubenschlüssel.
»Fertig, Pedro«, sagte sie, »probier das Bein jetzt mal aus.« Der Roboter stand behutsam auf, verlagerte sein Gewicht auf das Bein und stellte fest, daß es hielt. Er machte ein paar komische Freudensprünge um die Frau herum und sagte: »Du hast es tatsächlich hingekriegt, Frau Boß. Gracias, Madame.« Und er tanzte in den Sonnenschein hinaus. Flaswell und Sheila blickten ihm nach, über sein Gekasper lächelnd. »Sie sind genau wie Kinder«, bemerkte Flaswell. »Man muß sie einfach liebhaben«, erwiderte Sheila. »Sie sind so glücklich, so sorglos…« »Aber sie haben keine Seele«, rief ihr Flaswell in Erinnerung. »Nein«, stimmte sie melancholisch zu. »Eine Seele haben sie nicht. Weshalb wollten Sie mich sprechen?« »Ich wollte dir sagen – « Flaswell sah sich um. Die Krankenstation war ein antiseptischer Aufenthaltsort, angefüllt mit Schraubenschlüsseln und Schraubenziehern, mit Eisensägen, Hämmern und anderen medizinischen Geräten. Sie bot schwerlich die Atmosphäre für die Art von Eröffnung, wie er sie machen wollte. »Komm mit«, sagte er. Sie verließen die Krankenstation und wanderten durch die in Blüte stehenden grünen Felder zum Fuße von Flaswells zum Staunen verleitenden Bergen. Dort, beschattet von schroffen Klippen, lag ein glatter, dunkler Teich, über den riesige Bäume, deren Wachstum Flaswell beschleunigt hatte, ihr Geäst breiteten. An seinen Ufern verweilten sie. »Ich wollte folgendes sagen«, brach Flaswell die Stille. »Du hast mich vollkommen überrascht, Sheila. Ich hatte befürchtet, du würdest ein Schmarotzer sein, ein ganz und gar nutzloser Mensch. Deine Herkunft, deine Ausbildung, deine Erscheinung, das alles deutete darauf hin. Aber ich habe mich geirrt. Du hast dich der Herausforderung des Siedlerdaseins gewachsen gezeigt, hast es dir in triumphaler Weise erobert, und du hast alle Herzen gewonnen.« »Alle?« fragte Sheila sehr leise. »Ich glaube, ich kann im Namen aller Roboter auf dem Planetoiden sprechen. Sie beten dich an. Ich finde, du gehörst hierher, Sheila.«
Das Mädchen verharrte lange in Schweigen, und der Wind strich murmelnd durch die Zweige der riesigen, wachstumsbeschleunigten Bäume und kräuselte den schwarzen Spiegel des Teiches. Endlich brach Sheila ihr Schweigen: »Finden Sie, daß ich hierher gehöre?« Flaswell spürte, wie er in ihrer erlesenen Vollkommenheit versank, sich in der Topastiefe ihrer Augen verlor. Sein Atem ging schneller, er berührte ihre Hand, ihre Finger griffen ineinander. »Sheila…« »Ja, Edward…« »Werte Liebende«, blaffte eine schrille, metallische Stimme los, »wir haben uns heute hier versammelt…« »Nicht jetzt, du Dummkopf!« rief Sheila. Der Heiratsroboter trat vor und sagte schmollend: »So sehr ich es auch hasse, mich in die Angelegenheiten der Menschen einzumischen, so bleibt mir wegen meiner gespeicherten Koeffizienten gar nichts anderes übrig. In meiner Gedankenwelt hat körperlicher Kontakt keinerlei Bedeutung. Ich habe einmal, um die Erfahrung zu machen, die Arme um eine Roboter-Näherin gelegt. Der ganze Umstand hat mir lediglich eine Beule eingetragen. Einmal meinte ich, tatsächlich etwas zu spüren, etwas Elektrisches, das mich schwindelerregend durchzuckte und an langsam aufwärts schwebende elektrische Formen denken ließ. Doch bei genauer Untersuchung stellte ich fest, daß sich von einem Kabel die Isolierung gelöst hatte. Daher war das Gefühl ungültig.« »Verdammt hochnäsiger Roboter«, knurrte Flaswell. »Entschuldigt meine Vermessenheit. Ich habe lediglich zu erklären versucht, daß ich persönlich meine Instruktionen unverständlich finde, also jede Art von körperlichem Kontakt zu verhindern, solange keine Hochzeitszeremonie abgehalten wurde. Aber so lauten sie nun einmal; das sind meine Befehle. Darf ich die Zeremonie nun nicht endlich hinter mich bringen?« »Nein!« sagte Sheila. Der Roboter zuckte ergeben mit den Schultern und glitt ins Gebüsch.
»Ich kann es nicht ausstehen, wenn ein Roboter seine Grenzen nicht kennt«, sagte Flaswell. »Aber es ist schon in Ordnung.« »Was?« »Ja«, antwortete Flaswell im Brustton der Überzeugung. »Du bist genauso gut wie jedes Siedlermodell und weitaus hübscher. Willst du mich heiraten, Sheila?« Der Roboter, der sich im Gebüsch herumgetrieben hatte, glitt eifrig zu ihnen heran. »Nein«, erwiderte Sheila. »Nein?« wiederholte Flaswell verständnislos. »Das haben Sie doch gehört. Nein! Nein und nochmals nein!« »Warum denn nicht? Du paßt so gut hierher, Sheila. Die Roboter beten dich an. Ich habe sie noch nie so gut arbeiten gesehen…« »Ihre Roboter interessieren mich nicht«, erklärte sie, sehr aufrecht dastehend, das Haar in Unordnung, mit funkelnden Augen. »Und Ihr Planetoid interessiert mich auch nicht. Und Sie persönlich interessieren mich schon ganz und gar nicht. Ich gehe nach Srinigar V, wo ich die verhätschelte Braut des Paschas von Srae sein werde!« Sie starrten einander an, Sheila käseweiß vor Wut, Flaswell rot vor Verwirrung. Der Roboter sagte: »Soll ich jetzt mit der Trauung beginnen? Werte Liebende…« Sheila machte auf dem Absatz kehrt und lief auf das Haus zu. »Ich verstehe das nicht«, sagte der Roboter mit wehleidiger Stimme. »Das ist alles sehr verwirrend. Wann findet die Trauung denn nun statt?« »Gar nicht«, sagte Flaswell und stapfte mit wütendem Gesicht zum Haus zurück. Der Roboter zögerte, seufzte metallisch und hastete der Ultra-DeluxeModellbraut nach. Die ganze Nacht über saß Flaswell in seinem Zimmer, betrank sich und hielt Selbstgespräche. Als es Tag wurde, klopfte der zuverlässige GungaSam an die Tür und glitt ins Zimmer.
»Frauen!« fauchte Flaswell seinen Dienstboten an. »Äh?« sagte Gunga-Sam. »Ich werde sie nie begreifen«, erklärte Flaswell. »Sie hat mich angeführt. Ich dachte, sie wollte hierbleiben. Ich dachte…« »Der Kopf eines Mannes ist voller Nebel und düster«, sagte GungaSam, »aber verglichen mit dem einer Frau ist er ein Kristall.« »Woher hast du das denn?« fragte Flaswell. »Das ist ein uraltes Roboter-Sprichwort.« »Ihr Roboter. Manchmal frage ich mich, ob ihr nicht doch eine Seele habt.« »Oh, nein, Mr. Flaswell, Boß. In unserer Konstruktionsanweisung steht ausdrücklich, daß Roboter ohne Seele gebaut werden sollen, um ihnen Kummer zu ersparen.« »Eine sehr weise Maßnahme«, sagte Flaswell. »Das sollte man sich bei Menschen auch mal überlegen. Na ja, zum Teufel mit ihr. Was willst du?« »Ich wollte dir sagen, daß die Frachtrakete landet.« Flaswell wurde blaß. »Jetzt schon? Dann bringt sie meine neue Braut!« »Zweifellos.« »Und nimmt Sheila mit nach Srinigar V.« »Bestimmt, Sir.« Flaswell stöhnte auf und schlug sich an die Stirn. Dann sagte er: »Okay, gut. Ich schaue nach, ob sie fertig ist.« Er fand Sheila im Wohnzimmer, von wo aus sie die Landung der Frachtrakete beobachtete. »Viel Glück, Edward«, sagte sie. »Ich hoffe, Ihre neue Braut erfüllt all Ihre Erwartungen.« Die Frachtrakete kam zum Stillstand, und die Roboter gingen daran, eine große Kiste auszuladen. »Ich sollte wohl gehen«, sagte Sheila. »Sie werden nicht lange warten.« Sie hielt ihm die Hand hin. Flaswell ergriff sie.
Er hielt ihre Hand eine Weile in seiner, und dann bemerkte er, daß er ihren Arm ergriffen hatte. Sie zog ihn nicht zurück, und auch der Heiratsroboter kam nicht ins Zimmer gestürzt. Auf einmal hatte er Sheila in den Armen. Er küßte sie und fühlte sich genau wie eine kleine Sonne, die zur Nova wird. Nach einer Weile sagte sie: »Wow«, heiser, mit einem ungläubigen Ton in der Stimme. Flaswell räusperte sich zweimal. »Sheila, ich liebe dich. Ich kann dir hier keinen großen Luxus bieten, aber wenn du bleiben würdest…« »Es wird langsam Zeit, daß du deine Liebe für mich entdeckst, du Dummkopf!« sagte sie. »Natürlich bleibe ich!« Die nächsten Minuten waren überschwenglich und entschieden schwindelerregend. Schließlich wurden sie von lauten Roboterstimmen vor der Tür unterbrochen. Die Tür flog auf, und der Heiratsroboter kam hereingestapft, gefolgt von Gunga-Sam und zwei Mechanikern. »Also wirklich!« sagte die Duenna. »Das ist ja unglaublich. Daß ich tatsächlich den Tag noch erlebe, an dem sich Roboter gegen Roboter stellt!« »Was ist passiert?« fragte Flaswell. »Dieser dein Vorarbeiter hat auf mir draufgesessen!« empörte sich der Hochzeitsroboter. »Und seine Kumpane haben meine Arme und Beine festgehalten. Ich habe bloß versucht, dieses Zimmer zu betreten und meine Pflicht zu tun, wie sie mir von der Regierung und von der Roebuck-Ward-Gesellschaft aufgegeben wurde.« »Wirklich, Gunga-Sam!« meinte Flaswell grinsend. Der Hochzeitsroboter eilte zu Sheila. »Fehlt dir auch nichts? Hast du keine Beulen? Irgendwelche Kurzschlüsse?« »Ich glaube nicht«, keuchte Sheila atemlos. Gunga-Sam wandte sich an Flaswell: »Die Schuld liegt allein bei mir, Chef, Sir. Aber jeder weiß ja, daß ein Mann und eine Frau allein sein müssen, wenn sie umeinander werben. Ich habe nur getan, was ich in dieser Hinsicht den Menschen schuldig zu sein meinte, Mr. Flaswell, Chef, Sahib.«
»Das hast du gut gemacht, Gunga-Sam«, sagte Flaswell. »Ich bin zutiefst dankbar und – ach du meine Güte!« »Was ist denn?« erkundigte sich Sheila besorgt. Flaswell starrte aus dem Fenster. Die Landwirtschaftsroboter kamen mit der großen Kiste angeschleppt. »Die Siedler-Modellbraut!« rief Flaswell. »Was sollen wir machen, Liebling? Ich habe dich abbestellt und für die andere einen gültigen Vertrag abgeschlossen. Meinst du, wir können ihn brechen?« Sheila lachte. »Mach dir keine Sorgen. In der Kiste da ist keine SiedlerModellbraut. Dein Auftrag wurde gleich, nachdem er eingegangen war, storniert.« »Wirklich?« »Sicher.« Sie senkte schamvoll den Blick. »Du wirst mich deswegen verachten, doch…« »Bestimmt nicht«, versprach er. »Was hat das zu bedeuten?« »Also, die Fotos der Siedler sind bei Roebuck-Ward gespeichert, weißt du, so daß die Bräute sich ansehen können, wen sie kriegen. Man hat die Wahl – als Braut, meine ich –, und ich hatte da schon so lange herumgehangen, weil es mir nicht gelang, den Ultra-Deluxe-Status loszuwerden, daß ich mich – daß ich mich mit dem Chef der Bestellabteilung anfreundete. Und«, erklärte sie hastig, »ich habe es geschafft, daß ich hierher geschickt wurde.« »Aber der Pascha von Srae…« »Den habe ich erfunden.« »Warum denn?« fragte Flaswell. »Du bist so hübsch…« »… daß jeder denkt, ich würde ein gutes Spielzeug für einen verwöhnten, dicklichen Schwachkopf abgeben«, beendete sie den Satz in Rage. »Das will ich nicht! Ich will einfach eine Frau sein! Und ich bin so gut wie jedes stämmige, häusliche Heimchen am Herd!« »Besser«, sagte er. »Ich kann kochen und Roboter verarzten und praktisch sein, oder? Habe ich das nicht bewiesen?« »Natürlich hast du das, Schatz.«
Sie fing an zu weinen. »Aber kein Mensch wollte das glauben, also mußte ich mir diese List ausdenken, damit du mich so lange hierbleiben läßt – bis du dich in mich verliebt hast.« »Das habe ich dann ja auch«, sagte er und trocknete ihre Tränen. »Es hat alles großartig geklappt. Die ganze Sache war ein glücklicher Zufall.« Gunga-Sams Metallgesicht sah aus, als würde es rot werden. »Willst du etwa sagen, daß es kein Zufall war?« rief Flaswell aus. »Nun, Sir, Mr. Flaswell, Effendi, es ist ja wohlbekannt, daß ein Mann eine attraktive Frau braucht. Das Siedlermodell hörte sich ein bißchen schlicht an, und Memsahib Sheila ist die Tochter von einem Freund meines ehemaligen Herrn. Ich habe mir also die Freiheit genommen, den Auftrag direkt an sie zu schicken. Sie hat ihren Freund in der Bestellabteilung dazu überredet, ihr dein Foto zu zeigen und sie herzuschicken. Ich hoffe, du bist deinem ergebenen Diener nicht böse, daß er ungehorsam war.« »Da soll mich doch der Teufel holen«, brach es aus Flaswell schließlich heraus. »Genau wie ich immer gesagt habe – ihr Roboter versteht die Menschen besser als sonst jemand.« Er wandte sich an Sheila. »Was ist denn nun aber in der Kiste?« »Meine Kleider und mein Schmuck, meine Schuhe, meine Kosmetik, mein Haar-Styler, mein…« »Aber…« »Du möchtest doch, daß ich nett aussehe, wenn wir Besuche machen?« sagte Sheila. »Schließlich ist Cythera III nur fünfzehn Tage weit weg. Ich habe mir das angesehen, bevor ich herkam.« Flaswell nickte ergeben. Etwas in der Art war von einem Ultra-DeluxeModell ja zu erwarten gewesen. »Jetzt!« rief Sheila und wandte sich an den Heiratsroboter. Er gab keine Antwort. »Jetzt!« rief Flaswell. »Seid ihr ganz sicher?« erkundigte sich der Roboter schmollend. »Ja! Fang an!«
»Ich begreife das einfach nicht«, meinte der Heiratsroboter. »Warum jetzt? Warum nicht letzte Woche? Bin ich denn hier der einzige, der noch ganz bei Trost ist? Na gut. Werte Liebende…« Und endlich fand die Trauung statt. Flaswell verkündete einen dreitägigen Urlaub, und die Roboter sangen und tanzten und feierten in ihrer sorglosen Roboter-Art. Danach war das Leben auf Chance nicht mehr wie früher. Die Flaswells führten ein gesellschaftliches Leben, das sich in Grenzen hielt. Hin und wieder besuchten sie Ehepaare, die fünfzehn oder zwanzig Tage weit weg wohnten, auf Cythera III, auf Tham und Randico I, oder sie wurden von ihnen besucht. Die übrige Zeit jedoch war Sheila eine untadelige Siedlerfrau, beliebt bei den Robotern, von ihrem Mann auf Händen getragen. Der Hochzeitsroboter, den ihm eingestanzten Anweisungen gemäß, betätigte sich als Kassierer und Buchhalter, Fähigkeiten, die seinem Charakter komischerweise sehr gut entsprachen. Häufig meinte er, der ganze Laden würde zusammenbrechen, wenn es ihn nicht gäbe. Die anderen Roboter aber fuhren fort, Thorium aus dem Boden zu buddeln, die Edelfrüchte wuchsen und gediehen, und Flaswell und Sheila trugen gemeinsam die Bürde des Menschen. Flaswell konnte sich nicht genug tun, die Vorteile, bei Roebuck-Ward einzukaufen, zu loben. Sheila jedoch wußte, daß der wahre Vorteil darin bestand, einen Vorarbeiter wie den ergebenen Gunga-Sam zu haben – auch wenn er keine Seele hatte.
Furcht in der Nacht Sie hörte sich schreien, als sie aufwachte, und war sich bewußt, daß sie schon einige Sekunden lang geschrien haben mußte. Es war kalt im Zimmer, doch sie war in Schweiß gebadet; er lief ihr über Gesicht und Schultern und tränkte ihr Nachthemd auf der Vorderseite. Ihr Rücken war schweißnaß, genau wie das Laken unter ihr. Sie hatte sofort einen Schüttelfrost. »Ist alles in Ordnung?« fragte ihr Mann. Für eine Weile konnte sie nicht antworten. Sie hatte die Füße angezogen und schlang die Arme fest darum, um zu versuchen, das Zittern zu stoppen. Ihr Mann war eine finstere Masse neben ihr, eine lange, dunkle Rolle, die sich vom schwach schimmernden Laken abhob. Als sie zu ihm hinsah, fing sie erneut an zu zittern. »Ist dir damit geholfen, wenn ich das Licht anknipse?« fragte er. »Nein!« sagte sie scharf. »Rühr dich nicht – bitte!« Und dann war nur noch das gleichmäßige Ticken des Weckers zu hören, aber auch das war irgendwie voller Bedrohlichkeit. »Ist es wieder passiert?« »Ja«, erwiderte sie. »Genau dasselbe. Um Himmels willen, rühr mich nicht an!« Er hatte begonnen, näher an sie heranzurücken, sich dunkel und gekrümmt vom Laken abhebend, und wieder wurde sie von heftigem Zittern gepackt. »Der Traum«, hob er vorsichtig an, »war er… war ich…?« Rücksichtsvoll ließ er es unausgesprochen, veränderte etwas seine Lage auf dem Bett, vorsichtig, damit sie keine Angst bekam. Doch langsam bekam sie wieder eine Gewalt über sich. Sie löste ihre Hände voneinander und preßte die Handflächen fest und flach auf das Bett.
»Ja«, sagte sie. »Wieder die Schlangen. Sie sind über meinen ganzen Körper gekrochen. Große und kleine, Hunderte. Das ganze Zimmer war voll, und durch die Tür, durch die Fenster kamen immer mehr. Der Schrank war voll mit Schlangen, so voll, daß sie unter der Tür hindurch auf den Fußboden kamen – « »Ruhig«, sagte er. »Bist du sicher, daß du darüber reden möchtest?« Sie gab keine Antwort. »Soll ich das Licht jetzt anmachen?« fragte er sie sanft. Sie zögerte, dann sagte sie: »Noch nicht. Ich traue mich noch nicht.« »Aha«, meinte er mit einer Stimme, aus der völliges Verständnis sprach. »Danach der andere Teil des Traumes…« »Ja.« »‘Hör mal, vielleicht solltest du nicht darüber reden.« »Laß uns darüber reden.« Sie versuchte zu lachen, brachte aber nur ein Husten heraus. »Man sollte meinen, ich würde mich allmählich daran gewöhnen. Wieviel Nächte geht das jetzt schon?« Der Traum fing stets mit der kleinen Schlange an, die ihr langsam über den Arm kroch und sie mit bösen roten Augen beobachtete. Sie schleuderte sie, sich im Bett aufsetzend, von sich. Dann schlängelte sich eine zweite über die Bettdecke, dicker, schneller. Auch diese schleuderte sie von sich, indem sie mit einem Satz aus dem Bett sprang und sich auf den Fußboden stellte. Dann war da eine unter ihren Füßen, und eine ringelte sich in ihren Haaren und schlängelte sich über ihre Augen, und durch die inzwischen geöffnete Tür kamen noch mehr, sie zurück aufs Bett zwingend, wo sie schrie und nach ihrem Mann griff. Doch in dem Traum war ihr Mann nicht da. Im Bett neben ihr, sich als lange, dunkle Rolle vom schwach schimmernden Laken abhebend, lag eine riesige Schlange. Das merkte sie erst, wenn sie die Arme um sie geschlungen hatte. »Mach jetzt das Licht an«, befahl sie. Ihre Muskeln spannten sich, drückten gegeneinander, als das Licht durchs Zimmer flutete. Ihre Schenkel strafften sich, bereit, sie aus dem Bett zu katapultieren, wenn…
Aber es war doch ihr Mann. »Lieber Gott«, stieß sie außer Atem hervor, ließ die Spannungen aus ihrem Körper und sackte auf die Matratze. »Überrascht?« fragte er, ein scheues Lächeln aufsetzend. »Jedes Mal«, erzählte sie ihm, »jedes Mal bin ich sicher, daß du nicht da bist. Ich bin überzeugt, daß da eine Schlange liegt.« Sie berührte seinen Arm, um ganz sicher zu gehen. »Siehst du, wie töricht das alles ist?« sagte er leise, besänftigend. »Wenn du doch nur vergessen würdest. Du brauchtest bloß Vertrauen zu mir zu haben, dann würden diese Alpträume aufhören.« »Ich weiß«, sagte sie und nahm begierig die Einzelheiten des Zimmers in sich auf. Der kleine Telefontisch mit dem Durcheinander von hingekritzelten Nummern und Nachrichten war überaus beruhigend. Der verschrammte Mahagonisekretär war ein alter Freund, ebenso das kleine Radio und die Zeitung auf dem Fußboden. Und wie gesund ihr smaragdgrünes Kleid aussah, das sie nachlässig über den Sessel geworfen hatte! »Der Arzt hat dir genau dasselbe gesagt«, meinte er. »Als wir den Krach hatten, hast du alles, was schiefging, mit mir in Verbindung gebracht, alles, was dich gekränkt hat. Und jetzt, wo wir uns wieder vertragen, tust du das immer noch.« »Nicht bewußt«, sagte sie. »Ich schwöre, nicht bewußt!« »Aber trotzdem tust du es«, beharrte er. »Erinnerst du dich noch, als ich mich scheiden lassen wollte? Als ich dir sagte, ich hätte dich nie geliebt? Denk mal zurück, wie du mich damals gehaßt hast, auch wenn du mich nicht freigeben wolltest.« Er hielt inne, um zu Atem zu kommen. »Du hast Helen und mich gehaßt. Das hat seinen Tribut gefordert. Der Haß ist geblieben, trotz unserer Aussöhnung.« »Ich glaube nicht, daß ich dich gehaßt habe«, sagte sie, »nur Helen – dieses dürre Äffchen!« »Sprich nicht schlecht von denen, die die Mühsal hinter sich haben«, murmelte er.
»Ja«, sagte sie nachdenklich. »Ich fürchte, ich habe sie in diesen Zusammenbruch getrieben. Ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut. Meinst du, sie spukt hinter mir her?« »Mach dir keine Vorwürfe«, beruhigte er sie. »Sie war überempfindlich, nervös, künstlerisch. Ein neurotischer Typ.« »Ich komme über alles hinweg, jetzt, wo Helen tot ist.« Sie lächelte ihm zu, und die Sorgenfalten auf ihrer Stirn verschwanden. »Ich bin so verrückt nach dir«, flüsterte sie und strich ihm durch das hellbraune Haar. »Ich würde dich nie gehen lassen.« »Das hoffe ich.« Er erwiderte ihr Lächeln. »Ich will nicht weg.« »Du mußt mir nur helfen.« »Mit ganzer Kraft.« Er beugte sich vor und gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Wange. »Aber, Liebes, wenn du über diese Alpträume nicht hinwegkommst, in denen ich die Rolle des Oberschurken spiele, so lange muß ich…« »Sprich es nicht aus«, murmelte sie rasch dazwischen. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen. Und schließlich haben wir die schlimme Zeit hinter uns.« Er nickte. »Du hat allerdings recht«, fuhr sie fort. »Ich glaube, ich probiere es mal mit einem anderen Psychiater. Lange halte ich das nicht mehr aus. Diese Träume, Nacht für Nacht.« »Und sie werden immer schlimmer«, brachte er ihr mit gerunzelter Stirn in Erinnerung. »Anfangs kamen sie nur hin und wieder mal vor, jetzt schon jede Nacht. Wenn du nichts unternimmst, kommt es bald dazu…« »Schon gut«, sagte sie. »Sprich nicht davon.« »Ich muß. Ich mache mir langsam Sorgen. Wenn diese Schlangenfixierung weiterbesteht, fällst du in einer der nächsten Nächte mit dem Messer über mich her, während ich schlafe.« »Nie«, erklärte sie. »Aber sprich nicht darüber. Ich möchte es vergessen. Ich glaube nicht, daß es wieder passiert. Was meinst du?« »Ich hoffe, nicht«, sagte er.
Sie langte über ihn hinweg und knipste das Licht aus, gab ihm einen Kuß und schloß die Augen. Ein paar Minuten später drehte sie sich auf die andere Seite. Nach einer halben Stunde rollte sie sich wieder herum, sagte etwas Unzusammenhängendes und war still. Während der folgenden zwanzig Minuten zuckte sie einmal mit einer Schulter, machte außer dieser aber keine Bewegung. Ihr Mann war eine dunkle Masse neben ihr, aufgestützt auf einen Ellbogen. Er lag da in der Dunkelheit, dachte nach, horchte auf ihre Atemzüge, hörte das Ticken des Weckers. Dann streckte er sich lang aus. Langsam knotete er die Kordel seines Schlafanzugs auf und zog an ihr, bis er einen knappen halben Meter frei hatte. Dann schob er die Bettdecke zurück. Sehr vorsichtig rollte er mit der Kordel in der Hand näher an sie heran, auf ihre Atemzüge lauschend. Er legte ihr die Kordel auf den Arm. Langsam, pro Sekunde nur wenige Zentimeter, ließ er die Kordel über ihren Arm gleiten. Alsbald stöhnte sie.
Das falsche Medikament Am 2. Mai des Jahres 2103 ging Elwood Caswell mit einem geladenen Revolver in der Manteltasche schnellen Schrittes den Broadway hinunter. Er wollte die Waffe nicht benutzen, befürchtete aber, es trotzdem zu tun. Zu dieser Befürchtung hatte er allen Grund, denn Caswell war ein mordsüchtiger Irrer. Es war ein milder, diesiger Frühlingstag, und in der Luft lag der Geruch nach Regen und blühendem Hartriegel. Caswell hielt den Revolver mit der schweißnassen Rechten gepackt und dachte angestrengt darüber nach, ob es wohl einen einzigen triftigen Grund gab, einen Mann namens Magnessen nicht umzubringen, der neulich eine Bemerkung über Caswells gesundes Aussehen gemacht hatte. Was ging es Magnessen an, wie er aussah? Verdammter Wichtigtuer, einem immer alles zu verderben… Caswell war ein aufbrausender kleiner Mann mit grimmigen, roten Augen, einem Bulldoggengesicht und rötlichen Haaren. Er gehörte zu der Sorte Mensch, die man sich gut auf einer Seifenkiste stehend vorstellen kann, von der herab sie vor Geschäftsleuten und feixenden Studenten Slogans wie »Der Mars den Marsmenschen, die Venus den Venusbewohnern!« verbreiten. In Wahrheit allerdings hatte Caswell an den beklagenswerten sozialen Verhältnissen, unter denen die Außerirdischen lebten, kein Interesse. Er war Jetbusschaffner bei der New Yorker Rapid Transit Corporation. Er kümmerte sich um seine eigenen Angelegenheiten. Und er war tatsächlich verrückt. Zum Glück war er sich dessen wenigstens manchmal, wenigstens mit der Hälfte seines Verstandes bewußt. Aus allen Poren schwitzend, setzte Caswell seinen Weg den Broadway hinunter zur Filiale der Heimtherapiegeräte AG in der 43. Straße fort.
Sein Freund Magnessen würde bald Feierabend haben und in seine kleine Wohnung heimkehren, die nicht einmal einen Häuserblock weit von Caswells eigener entfernt lag. Wie leicht wäre es, wie angenehm, dort hereinzuschneien, ein paar Worte zu wechseln und… Nein! Caswell atmete tief durch und brachte sich in Erinnerung, daß er eigentlich niemanden umbringen wollte. Es gehörte sich nicht, Leute zu töten. Die Obrigkeit würde ihn einsperren, seine Freunde würden ihn nicht verstehen, und seine Mutter hätte das nie gebilligt. Doch diese Argumente kamen ihm blaß, übertrieben spitzfindig und ganz und gar kraftlos vor. Bestehen blieb die nackte Tatsache – er wollte Magnessen umbringen. Konnte ein derart starkes Verlangen schlecht sein? Oder sogar ungesund? Ja, das konnte es! Gequält aufstöhnend, rannte Caswell die letzten paar Meter in den Laden der Heimtherapiegeräte AG. Allein die Tatsache, sich an solch einem Ort zu befinden, gab ihm auf der Stelle ein Gefühl der Erleichterung. Die Beleuchtung war diskret, die Vorhänge neutral, die Aufstellung der glänzenden Therapiemaschinen weder zu abweisend noch zu aufdringlich. Man hätte sich in ihrem Schatten beseligt auf dem Teppich ausstrecken können, sicher in dem Bewußtsein, daß Hilfe gegen jede Art von Leiden zur Hand war. Ein Verkäufer mit schütterem Haar und einer langen, hochmütigen Nase glitt lautlos, aber nicht zu lautlos, heran und murmelte: »Was kann ich für Sie tun?« »Therapie!« sagte Caswell. »Selbstverständlich, der Herr«, erwiderte der Verkäufer, glättete seine Rockaufschläge und setzte ein gewinnendes Lächeln auf. »Dazu sind wir da.« Er sah Caswell forschend an, stellte im Nu im Geist eine Diagnose und legte die Hand auf eine blankgeputzte Maschine in Weiß und Kupfer. »Also dies hier«, erklärte er, »ist der neue Apparat zur Heilung von Alkoholismus, hergestellt von IBM und in führenden Geschäften im Angebot. Ein hübsches Möbelstück – Sie werden mir da, glaube ich, zu-
stimmen –, das sich in jedes Heim gut und passend einfügt. Klappt man es auf, ist es ein Fernsehapparat.« Mit einer Drehung seines schmalen Handgelenkes öffnete der Verkäufer das Gerät zur Heilung von Alkoholismus, und ein 52er Bildschirm kam zum Vorschein. »Ich brauche – « hob Caswell an. » – Therapie«, beendete der Verkäufer den Satz. »Selbstverständlich. Ich wollte Ihnen lediglich vorführen, daß dieses Modell Sie, Ihre Freunde oder Lieben niemals in peinliche Situationen bringen muß. Richten Sie, wenn Sie so freundlich sein wollen, Ihr Augenmerk auf die versenkbare Wählscheibe, auf der Sie den gewünschten Grad Ihres Alkoholkonsums einstellen können. Sehen Sie? Wenn Sie keine völlige Abstinenz wünschen, können Sie zwischen übermäßig, mäßig, gesellig oder gering wählen. Das ist ein neues Konzept, einzigartig in der Mechanotherapie.« »Ich bin kein Alkoholiker«, sagte Caswell mit nicht zu überhörender Würde in der Stimme. »Die New Yorker Rapid Transit Corporation stellt keine Alkoholiker ein.« »Oh«, sagte der Verkäufer verwundert und spontan und warf einen ungläubigen Blick auf Caswells blutunterlaufene Augen. »Sie scheinen etwas nervös zu sein. Vielleicht der tragbare Angsthemmer von Bendix…« »Mit Angst habe ich auch nichts am Hut. Was können Sie denn gegen Mordsucht anbieten?« Der Verkäufer schürzte die Lippen. »Schizophrenen oder manischdepressiven Ursprungs?« »Keine Ahnung«, gestand Caswell ziemlich verblüfft ein. »Das ist auch egal«, erklärte ihm der Verkäufer. »Nur so eine private Theorie von mir. Nach den Erfahrungen, die ich hier im Geschäft gemacht habe, neigen Rothaarige und Blonde zu Schizophrenie, während Brünette einen Hang zu manischen Depressionen haben.« »Sehr interessant. Arbeiten Sie schon lange hier?« »Seit einer Woche. Nun denn, hier ist genau das, was Sie brauchen, der Herr.« Er legte die Hand liebevoll auf eine flache schwarze Maschine mit Chromverzierungen.
»Was ist das?« fragte Caswell neugierig. »Das ist der Rex-Regenerator, der Herr, hergestellt von General Motors. Ist er nicht hübsch? Er paßt zu jeder Einrichtung, und wenn man ihn aufklappt, ist er eine wohlbestückte Bar. Ihre Freunde und Ihre Familie brauchen nie zu wissen…« »Kuriert er eine Mordsucht?« erkundigte sich Caswell. »Eine übermächtige?« »Absolut. Bringen Sie ihn nicht mit den kleinen Neurosemodellen von zehn Ampere durcheinander. Dieses hier ist eine kräftige, leistungsstarke Maschine von fünfundzwanzig Ampere, die es mit den wirklich tiefwurzelnden Fällen aufnehmen kann.« »So einer bin ich«, erklärte Caswell mit verzeihlichem Stolz. »Dieses Baby wird Ihr Leiden aus Ihnen herausschütteln. Große, leistungsstarke Drucklager! Überdimensionale Hitzeabsorber! Vollständig isoliert! Sensitivitätsumfang von über…« »Ich nehme ihn«, sagte Caswell. »Auf der Stelle. Ich zahle bar.« »Gut! Ich rufe nur eben im Lager an und…« »Der hier tut es auch«, sagte Caswell und zog seine Brieftasche heraus. »Ich habe es mit der Benutzung ausgesprochen eilig. Ich will nämlich meinen Freund Magnessen umbringen, müssen Sie wissen.« Der Verkäufer gluckste wohlwollend. »Das meinen Sie doch nicht im Ernst… Zuzüglich fünf Prozent Verkaufssteuer. Vielen Dank, der Herr. Eine ausführliche Gebrauchsanweisung liegt bei.« Caswell bedankte sich, lud sich den Regenerator auf beide Arme und eilte hinaus. Nachdem er sich seine Provision ausgerechnet hatte, lächelte der Verkäufer in sich hinein und zündete sich eine Zigarette an. Die Freude wurde ihm verdorben, als der Geschäftsführer, ein großer Mann mit eindrucksvollem Pincenez, aus seinem Büro gestürmt kam. »Haskins«, donnerte er, »ich glaube, ich hatte Sie darum gebeten, sich diese scheußliche Unart abzugewöhnen.«
»Sehr wohl, Mr. Follansby, es tut mir leid, Sir«, entschuldigte sich Haskins und drückte die Zigarette aus. »Ich werde mich sogleich an den ausgestellten Denikotinisator anschließen. Einen recht guten Verkauf habe ich getätigt, Mr. Follansby. Einen der großen Rex-Regeneratoren.« »Tatsächlich?« sagte der Geschäftsführer beeindruckt und zugleich verwundert. »Es kommt nicht sehr häufig vor, daß wir – Moment mal! Sie haben doch wohl nicht das Vorführmodell verkauft, oder?« »Warum – also, ich fürchte doch, Mr. Follansby. Der Kunde hatte es schrecklich eilig. Hätte ich denn Veranlassung…« Mr. Follansby griff sich mit beiden Händen an die vorspringende weiße Stirn, als hätte er die Absicht, sie sich herunterzureißen. »Haskins, das habe ich Ihnen doch gesagt! Ich muß es Ihnen gesagt haben! Der Vorführ-Regenerator war das Mars-Modell. Um Marsmenschen mechanotherapeutisch zu behandeln.« »Oh«, sagte Haskins. Er überlegte einen Moment. »Oh.« Mr. Follansby starrte seinen Verkäufer mit grimmigem Schweigen an. »Spielt das denn wirklich eine Rolle?« fragte Haskins rasch. »Die Maschine macht mit Sicherheit keinen Unterschied. Ich würde meinen, sie behandelt eine Neigung zur Mordsucht auch dann, wenn der Patient kein Marsmensch ist.« »Die Marsrasse hatte auch nie die leiseste Neigung zur Mordsucht. In den für den Mars bestimmten Regenerator ist nicht einmal der Begriff eingespeist. Selbstverständlich wird er ihn behandeln. Er muß. Aber was wird er behandeln?« »Oh«, sagte Haskins. »Der arme Teufel muß aufgehalten werden, bevor – was haben Sie gesagt, er ist mordsüchtig? Ich habe keine Ahnung, was passiert! Schnell, wie ist seine Adresse?« »Tja, Mr. Follansby, er hatte es so schrecklich eilig…« Der Geschäftsführer warf ihm einen langen, ungläubigen Blick zu. »Holen Sie die Polizei! Rufen Sie den Sicherheitsdienst von General Motors an! Finden Sie ihn!« Haskins rannte zur Tür.
»Halt!« brüllte der Geschäftsführer und kämpfte sich mühsam in seinen Regenmantel. »Ich komme mit!« Elwood Caswell war mit einem Taxicopter nach Hause zurückgekehrt. Er hievte den Regenerator ins Wohnzimmer, stellte ihn neben der Couch auf den Fußboden und betrachtete ihn nachdenklich. »Der Verkäufer hatte recht«, sagte er nach einer Weile. »Er paßt zum Zimmer.« In ästhetischer Hinsicht war die Maschine ein Erfolg. Caswell nahm den Anblick noch eine Weile länger in sich auf, ging dann in die Küche und machte sich ein Sandwich mit Huhn. Er aß es langsam, wobei er einen Punkt links oberhalb der Küchenuhr fixierte. Zum Teufel mit dir, Magnessen! Dreckiger übelwollerischer verlogener schiefäugiger Feind all dessen, was sauber und anständig ist in der Welt… Er zog den Revolver aus der Manteltasche und legte ihn auf den Tisch. Mit steifem Zeigefinger schob er ihn in verschiedene Positionen. Es war Zeit, die Therapie zu beginnen. Außer, daß… Caswell wurde sich besorgt bewußt, daß er den Wunsch, Magnessen umzubringen, nicht verlieren wollte. Was sollte aus ihm werden, wenn er diesen Drang einbüßte? Sein Leben würde jeglichen Sinn verlieren, jeden Zusammenhang, jede Würze und jeden Schwung. Es würde mit Sicherheit ziemlich eintönig werden. Außerdem hatte er einen tiefen und ehrlichen Groll gegen Magnessen, einen, an den er gar nicht denken mochte. Irene! Seine arme Schwester, verführt von dem gerissenen und hinterlistigen Magnessen, ruiniert von ihm und beiseite geschmissen. Gab es einen besseren Grund für einen Mann, seinen Revolver zu nehmen und… Caswell fiel rechtzeitig ein, daß er keine Schwester hatte. Nun war es wirklich Zeit, die Therapie zu beginnen. Er ging ins Wohnzimmer und fand die Gebrauchsanweisung in einem Lüftungsschlitz der Maschine. Er schlug sie auf und las: Zur Bedienung aller Modelle des Rex-Regenerators:
1. Stellen Sie den Regenerator neben eine bequeme Couch! (Eine bequeme Couch können Sie als weiteres Zubehör bei jedem General-Motors-Händler erwerben.) 2. Schließen Sie die Maschine an. 3. Befestigen Sie das regulierbare Kontaktband an der Stirn. Und das ist alles! Ihr Regenerator übernimmt den Rest! Sprachbarrieren oder Dialektprobleme gibt es nicht, da der Regenerator nach dem Prinzip des Direct Sense Contact funktioniert (Patent angemeldet). Sie brauchen lediglich zu kooperieren. Versuchen Sie, keinerlei Verlegenheit oder Scham zu empfinden. Jeder hat Probleme, und viele davon sind schlimmer als Ihre! Ihr Regenerator interessiert sich nicht für Ihre moralischen oder ethischen Einstellungen, glauben Sie also nicht, er würde Sie »beurteilen«. Er hat nur den Wunsch, Ihnen zu helfen, gesund und glücklich zu werden. Sobald er genügend Daten gesammelt und verarbeitet hat, beginnt Ihr Regenerator mit der Behandlung. Sie gestalten die Sitzungen so lang oder so kurz Sie wollen. Sie sind der Boß! Und natürlich können Sie eine Sitzung jederzeit abbrechen. Mehr ist nicht dabei! Leicht, was? Schließen Sie jetzt Ihren Regenerator von General Motors an und werden Sie gesund! »Das ist überhaupt nicht schwer«, sagte Caswell zu sich. Er schob den Regenerator dichter an die Couch heran und schloß ihn an. Er hob langsam und vorsichtig das Stirnband hoch, wollte es sich überstreifen, hielt inne. »Ich komme mir so blöd vor!« kicherte er. Abrupt schloß er den Mund und starrte die schwarze, verchromte Maschine streitsüchtig an. »Du bildest dir also ein, du könntest mich gesund machen, he?« Der Regenerator gab keine Antwort. »Na gut, nur zu, probier es.« Er streifte sich das Stirnband über, verschränkte die Arme über der Brust und lehnte sich zurück. Nichts passierte. Caswell setzte sich bequemer auf der Couch zurecht. Er kratzte sich die Schulter und zupfte an dem Stirnband herum, bis es besser saß. Immer noch nichts. Seine Gedanken begannen zu schweifen.
Magnessen! Du aufdringlicher, arroganter Hornochse, du widerlicher – »Guten Tag«, murmelte eine Stimme in seinem Kopf. »Ich bin Ihr Mechanotherapeut.« Caswell zuckte schuldbewußt zusammen. »Hallo. Ich habe nur mal – verstehen Sie? – nur mal so…« »Natürlich«, beruhigte ihn die Maschine. »Das tun wir doch alle, oder? Ich durchforste jetzt das Material in Ihrem Vorbewußtsein, um zu einer Synthese, Diagnose, Prognose und Behandlung zu kommen. Ich finde…« »Ja?« »Einen Moment.« Der Regenerator schwieg ein paar Minuten. Dann sagte er zögernd: »Dies ist zweifellos ein höchst ungewöhnlicher Fall.« »Wirklich?« fragte Caswell erfreut. »Ja. Die Koeffizienten scheinen – ich bin nicht sicher…« Die roboterhafte Stimme der Maschine wurde schwächer. Die Kontrollampe fing an zu flackern und auszugehen. »He, was ist denn los?« »Eine Konfusion«, sagte die Maschine. »Natürlich«, fuhr sie mit kräftigerer Stimme fort, »braucht die ungewöhnliche Natur der Symptome für eine kompetente therapeutische Maschine kein vollständiges Rätsel zu sein. Ein Symptom, und ist es auch noch so bizarr, ist nicht mehr als ein Wegweiser, ein Hinweis auf innere Schwierigkeiten. Und alle Symptome können mit dem breiten Hauptstrom der bewiesenen Theorie in Beziehung gebracht werden. Da die Theorie gültig ist, müssen die Symptome passen. Auf der Basis dieser Annahme werden wir fortfahren.« »Sind Sie sicher, daß Sie wissen, was Sie tun?« fragte Caswell, dem ganz wirr im Kopf war. Aufbrausend, mit grell entflammter Kontrollampe, erwiderte die Maschine: »Mechanotherapie ist heute eine exakte Wissenschaft und läßt keine signifikanten Irrtümer zu. Wir fahren mit einem Wortassoziationstest fort.« »Schießen Sie los«, sagte Caswell. »Haus?«
»Heim.« »Hund?« »Katze.« »Fleefl?« Caswell zögerte und bemühte sich, das Wort zu begreifen. Es hörte sich vage wie ein Begriff aus der Marssprache an, könnte aber auch aus der Venussprache stammen, wenn nicht gar – »Fleefl?« wiederholte der Regenerator. »Marfusch«, entgegnete Caswell mit einem Wort, das er in diesem Moment erfunden hatte. »Laut?« »Süß.« »Grün?« »Mutter.« »Thanagoyes?« »Patamathonga.« »Arrides?« »Nexothesmodrastica.« »Chtheesnohelgnopteces?« »Rigamaru latasentricpropatria!« schoß Caswell zurück. Hier handelte es sich um eine Aneinanderreihung von Klängen, auf die er sich ganz besonders etwas zugute hielt. Der Durchschnittsmensch wäre nicht einmal in der Lage gewesen, sie auszusprechen. »Hmm«, meinte der Regenerator. »Das Muster stimmt. Es stimmt immer.« »Welches Muster?« »Sie leiden«, unterrichtete ihn die Maschine, »an einem klassischen Fall von feemischem Verlangen, das durch starke dwarkische Absichten kompliziert wird.« »Tatsächlich? Ich dachte, ich wäre mordsüchtig.« »Einen solchen Begriff gibt es nicht«, sagte die Maschine streng. »Ich muß ihn daher als unsinnige Silbenbildung zurückweisen. Bedenken Sie
nun folgendes: Das feemische Verlangen ist vollkommen normal. Das dürfen Sie nie vergessen. Aber gewöhnlich wird es in einem frühen Stadium durch die hovendische Reaktion ersetzt. Personen, denen diese grundlegende Umweltreaktion fehlt…« »Ich bin nicht ganz sicher, ob ich weiß, wovon Sie reden«, gestand Caswell. »Bitte, Sir! Über eins müssen wir uns auf der Stelle einigen: Sie sind der Patient, ich bin der Mechanotherapeut. Sie haben Ihr Leiden in meine Hände gelegt, damit ich es behandele. Aber Sie können keine Hilfe erwarten, wenn Sie nicht mitarbeiten.« »In Ordnung«, sagte Caswell. »Ich werde mich bemühen.« Bis jetzt hatte er sich im warmen Glanz der Überlegenheit gesonnt. Alles, was die Maschine gesagt hatte, war ihm ziemlich komisch vorgekommen. Tatsächlich hatte er sich sogar befähigt gefühlt, auf einige Dinge hinzuweisen, die bei dem Mechanotherapeuten nicht stimmten. Nun verflüchtigte sich dieses Gefühl des Wohlbehagens, wie immer, und Caswell war allein, schrecklich allein und verloren, ein Geschöpf seiner Zwänge, auf der Suche nach ein klein wenig Ruhe und Zufriedenheit. Er würde sich allem unterziehen, um sie zu finden. Streng rief er sich in Erinnerung, daß er nicht das Recht hatte, sich über den Mechanotherapeuten auszulassen. Diese Maschinen wußten, was sie taten und seit langem getan hatten. Er würde mitarbeiten, ganz egal, wie abseitig sich die Behandlung von seinem Laienstandpunkt her ausnahm. Es war jedoch klar, dachte Caswell, sich grimmig in die Polster der Couch zurücklehnend, daß die Mechanotherapie weitaus schwieriger sein würde, als er sie sich vorgestellt hatte. Die Suche nach dem verschwundenen Kunden war kurz und zwecklos gewesen. Er war auf den wimmelnden Straßen New Yorks nirgends zu finden, und kein Mensch konnte sich daran erinnern, einen rothaarigen kleinen Mann mit geröteten Augen und auf dem Arm eine schwarze therapeutische Maschine gesehen zu haben. Der Anblick war viel zu üblich.
Auf einen dringenden Telefonanruf hin kam unverzüglich die Polizei, vier Mann hoch, angeführt von einem beunruhigten jungen Detektivleutnant namens Smith. Smith konnte gerade noch fragen: »Sagen Sie mal, warum machen Sie eigentlich keine Schilder an die Sachen?«, als es eine Unterbrechung gab. Ein Mann drängelte sich an dem an der Tür stehenden Polizisten vorbei. Er war groß und knorrig und häßlich, und seine Augen saßen tief und waren von einem kalten Blau. Seine Kleidung, ungebügelt und verschlampt, hing an ihm wie Wellblech. »Was wollen Sie?« fragte Leutnant Smith. Der häßliche Mann klappte seinen Rockaufschlag um und ließ ein kleines silbernes Abzeichen darunter sehen. »Ich bin John Rath, Sicherheitsabteilung bei General Motors.« »Oh. Verzeihung, Sir«, sagte Leutnant Smith salutierend. »Ich hatte nicht damit gerechnet, daß einer von euch so fix herkommt.« Rath machte ein nichtssagendes Gesicht. »Haben Sie nach Fingerabdrücken gesucht, Leutnant? Der Kunde hat vielleicht irgendeine andere Therapiemaschine angefaßt.« »Ich mache mich gleich daran, Sir«, sagte Smith. Es passierte nicht oft, daß einer der Detektive von GM, GE oder IBM sich dazu herabließ, persönlich Hand anzulegen. Wenn ein Ortspolizist erkennen ließ, daß er auf Zack war, eröffnete sich für ihn eventuell die Möglichkeit, zur Industrie überzuwechseln… Rath wandte sich zu Follansby und Haskins um und durchbohrte sie mit einem Blick, der so stechend und unpersönlich wie ein Radarstrahl war. »Lassen Sie uns die ganze Geschichte hören«, sagte er und kramte Notizblock und Bleistift aus einer ausgebeulten Tasche. Er hörte sich den Bericht in unheilvollem Schweigen an. Am Ende klappte er den Notizblock zu, stopfte ihn wieder in die Tasche und sagte: »Die Therapiermaschine sind eine unantastbare Vertrauenssache. Einem Kunden die falsche Maschine zu geben, ist ein Betrug an diesem Vertrauen, ein Angriff auf das öffentliche Interesse und eine Beleidigung für den guten Ruf der Firma.«
Der Geschäftsführer nickte zustimmend und blickte seinen unglücklichen Verkäufer an. »Ein Marsmodell«, fuhr Rath fort, »hätte überhaupt nicht im Verkaufsraum stehen dürfen, damit fängt’s mal an.« »Ich kann das erklären«, sagte Follansby hastig. »Wir brauchten ein Vorführmodell, und ich hatte an die Gesellschaft geschrieben und mitgeteilt…« »Das könnte«, unterbrach Rath ihn unerbittlich, »als grobkriminelle Fahrlässigkeit angesehen werden.« Geschäftsführer und Verkäufer tauschten entsetzte Blicke. Sie dachten an die Besserungsanstalt von General Motors außerhalb Detroits, in der solche, die sich an der Firma vergangen hatten, ihre Tage in dumpfigem Schweigen verbrachten und monoton Mikrostromkreise für Taschenfernsehapparate wickelten. »Allerdings liegt das außerhalb meiner Zuständigkeit«, erklärte Rath. Er richtete seinen unheilvollen Blick ganz auf Haskins. »Sie sind also sicher, daß der Kunde seinen Namen überhaupt nicht erwähnt hat?« »Nein, Sir. Ich meine, ja, ich bin sicher«, erwiderte Haskins, aus der Fassung gebracht. »Hat er überhaupt keine Namen erwähnt?« Haskins verbarg sein Gesicht in den Händen. Er blickte auf und sagte eifrig: »Doch! Er wollte jemanden umbringen! Einen Freund!« »Wen?« fragte Rath mit schrecklicher Geduld. »Sein Freund hieß – lassen Sie mich nachdenken – Magneton! Genau! Magneton! Oder hieß er Morrison?« Mr. Rath versteinertes Gesicht wellte sich angeekelt. Menschen waren als Zeugen wertlos. Schlimmer als wertlos, weil sie einen häufig auf die falsche Spur setzten. Was ihn betraf, so zog er, was Verläßlichkeit betraf, einen Roboter vor. »Hat er denn nicht irgend etwas von Bedeutung erwähnt?« »Lassen Sie mich nachdenken!« sagte Haskins und legte das Gesicht in Konzentrationsstarre.
Rath wartete. Mr. Follansby räusperte sich. »Ich habe gerade nachgedacht, Mr. Rath. Über diese Marsmaschine. Sie behandelt einen irdischen Fall von Mordsucht doch nicht als Mordsucht, oder?« »Natürlich nicht. Denn Mordsucht ist auf dem Mars völlig unbekannt.« »Gut. Was wird die Maschine also tun? Könnte es nicht sein, daß sie sich für den ganzen Fall nicht zuständig fühlt? Dann würde der Kunde sie einfach zurückbringen und sich beschweren, und wir würden…« Rath schüttelte den Kopf. »Der Rex-Regenerator muß die Behandlung aufnehmen, wenn er Anhaltspunkte für eine Psychose findet. Nach Marsstandards ist der Kunde ein sehr kranker Mann, ein Psychosekranker – ganz gleichgültig, was ihm fehlt.« Follansby nahm das Pincenez ab und putzte mit schnellen Bewegungen die Gläser. »Was wird die Maschine also tun?« »Sie wird die Marskrankheit an ihm behandeln, die seinem Fall am nächsten kommt. Feemisches Verlangen, könnte ich mir vorstellen, mit verschiedenen Komplikationen. Was passiert, wenn die Behandlung erst einmal angefangen hat, das weiß ich nicht. Ich bezweifle, daß jemand das weiß, da so etwas noch nie vorgekommen ist. Aus dem Stegreif würde ich sagen, es gibt zwei wesentliche Möglichkeiten: Der Patient lehnt die Therapie auf der Stelle ab und bleibt unverändert mordsüchtig. Oder er nimmt die Marstherapie an und wird geheilt.« Follansbys Gesicht hellte sich auf. »Aha! Heilung ist möglich!« »Sie haben mich nicht verstanden«, sagte Rath. »Er kann geheilt werden, von der Psychose eines Marsmenschen, die er natürlich gar nicht hat. Aber um etwas zu heilen, was gar nicht vorhanden ist, muß erst einmal ein unverlangtes Wahnsystem errichtet werden. Man könnte sagen, die Maschine wirkt umgekehrt, sie erzeugt eine Psychose, anstatt sie zu beseitigen.« Follansby stöhnte auf und lehnte sich an einen Psychosomaten von Bell. »Das Ergebnis wäre«, faßte Rath zusammen, »daß der Kunde überzeugt ist, ein Marsmensch zu sein. Ein gesunder Marsmensch natürlich.«
Auf einmal rief Haskins: »Ich erinnere mich! Ich erinnere mich jetzt! Er hat gesagt, daß er für die New Yorker Rapid Transit Corporation arbeitet! Daran erinnere ich mich genau!« »Das ist eine Chance«, sagte Rath und griff nach dem Telefon. Haskins wischte sich erleichtert sein verschwitztes Gesicht ab. »Und eben ist mir noch etwas eingefallen, was die Sache zusätzlich erleichtern dürfte.« »Was?« »Der Kunde sagte, er sei früher einmal Alkoholiker gewesen. Das weiß ich genau, weil er sich anfangs für den Apparat zur Heilung von Alkoholismus von IBM interessiert hat, bis ich ihm davon abgeraten habe. Er hatte rotes Haar, wissen Sie, und ich hatte da mal eine Zeitlang eine Theorie bezüglich Rothaarigkeit und Alkoholismus. Es scheint…« »Ausgezeichnet«, sagte Rath. »Alkoholismus steht bestimmt in seinen Papieren. Das engt die Suche erheblich ein.« Während er die Nummer der New Yorker RTC wählte, bekam sein knorriges Gesicht einen beinahe freundlichen Ausdruck. Es war zur Abwechslung auch einmal gut, einen Menschen zu treffen, der sich ein paar wichtige Fakten merken konnte. »Aber Sie erinnern sich doch bestimmt an Ihren Goricae, oder?« sagte der Regenerator. »Nein«, antwortete Caswell erschöpft. »Dann erzählen Sie mir etwas über Ihre Kindheitserfahrungen mit dem thorastränischen Fleep.« »Ich hatte nie welche.« »Hmm. Blockiert«, murmelte die Maschine. »Groll. Verdrängung. Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht an Ihren Goricae und was er Ihnen bedeutet hat, erinnern? Die Erfahrung ist universell.« »Für mich nicht«, sagte Caswell und unterdrückte ein Gähnen. Er hatte sich der Mechanotherapie jetzt schon beinahe vier Stunden lang unterzogen, und sie kam ihm nutzlos vor. Für eine Weile hatte er bereitwillig über seine Kindheit gesprochen, über Mutter und Vater und
seinen älteren Bruder. Doch der Regenerator hatte ihn gebeten, solche Phantasien beiseite zu schieben. Die Beziehungen des Patienten zu eingebildeten Eltern oder Geschwistern, erklärte er, ließen sich nicht handhaben und seien psychologisch unbedeutend. Wichtig seien die Gefühle des Patienten – sowohl die offengelegten, als auch die verdrängten – für seinen Goricae. »Also hören Sie«, beschwerte sich Caswell, »ich weiß ja noch nicht einmal, was ein Goricae ist.« »Natürlich wissen Sie das. Sie wollen es bloß nicht wissen.« »Ich habe keine Ahnung. Erzählen Sie es mir.« »Es wäre besser, wenn Sie es mir erzählen würden.« »Wie denn?« ereiferte sich Caswell. »Ich weiß es nicht!« »Was meinen Sie denn eigentlich, was ein Goricae möglicherweise sein könnte?« »Ein Waldbrand«, sagte Caswell. »Ein Salzstreuer. Eine Kruke mit denaturiertem Alkohol. Ein kleiner und zierlicher Schraubenzieher. Sagen Sie Bescheid, wenn es warm wird! Ein Notizblock. Ein Revolver…« »Diese Assoziationen sind sicherlich bedeutsam«, versicherte ihm der Regenerator. »Ihrem Bemühen, ins Blaue zu reden, liegt ein deutliches und erkennbares Muster zugrunde. Fangen Sie an, es zu erkennen?« »Was zum Teufel, ist ein Goricae?« brüllte Caswell. »Der Baum, der Sie während der Kindheit und, wenn meine Theorie über Sie stimmt, noch bis weit in die Pubertät hinein gesäugt hat. Ohne daß Sie es wollten, hat er die notwendige Verdrängung des feemischen Verlangens in Ihnen erstickt. Dies wiederum hat Ihren augenblicklichen Drang, jemanden auf vlendische Weise zu dwarken, hochkommen lassen.« »Mich hat kein Baum gesäugt.« »Sie können sich an diese Erfahrung nicht erinnern?« »Natürlich nicht. Das ist nie passiert.« »Sind Sie dessen sicher?« »Ganz sicher.« »Es besteht nicht der allerkleinste Zweifel?«
»Nein! Nie hat ein Goricae mich gesäugt. Hören Sie zu, ich kann die Sitzungen zu jeder Zeit abbrechen, stimmt’s?« »Selbstverständlich«, sagte der Regenerator. »Im Augenblick wäre das aber nicht ratsam. Sie drücken Wut, Abneigung, Furcht aus. Durch Ihre sture Rundumverdrängung…« »Quatsch«, sagte Caswell und nahm das Stirnband ab. Die Stille war wunderbar. Caswell stand auf, gähnte, räkelte sich und massierte seinen Nacken. Er stand vor der summenden schwarzen Maschine und warf ihr einen langen, gehässigen Blick zu. »Du könntest mich nicht mal von einer simplen Erkältung kurieren«, erklärte er ihr. Steifbeinig ging er einmal quer durchs Zimmer und kehrte zum Regenerator zurück. »Lausiger Hochstapler!« schrie er. Er ging in die Küche und machte eine Flasche Bier auf. Sein Revolver lag immer noch auf dem Tisch, matt glänzend. Magnessen! Du unsäglicher, heimtückischer Drecksack! Du Inkarnation des Satans! Du unmenschliches, abscheuliches Monstrum! Einer muß dich vernichten, Magnessen! Einer… Einer? Er selbst mußte es tun. Nur er kannte den bodenlosen Abgrund von Magnessens Verderbtheit, seine Gemeinheit, seine widerlichen Machtgelüste. Jawohl, es ist meine Pflicht, dachte Caswell. Aber eigenartigerweise bereitete ihm diese Erkenntnis kein Vergnügen. Schließlich war Magnessen sein Freund. Er stand auf, bereit zu handeln. Er steckte den Revolver in die rechte Manteltasche und warf einen Blick auf die Küchenuhr. Fast halb sieben. Magnessen würde jetzt zu Hause sein, sein Abendessen hinunterschlingen, grinsen beim Gedanken an seine Pläne. Das war genau der richtige Augenblick, sich ihn zu schnappen. Caswell schlenderte lässig zur Haustür, öffnete sie, wollte hindurchgehen, blieb jedoch stehen.
Ein Gedanke war ihm durch den Kopf geschossen, ein Gedanke, so ungeheuer verwirrend, derart bedeutungsvoll und weitreichend in seinen Folgen, daß er bis ins Innerste ergriffen war. Caswell versuchte, die Erkenntnis, die er mit sich brachte, abzuschütteln. Aber der Gedanke, ihm für immer ins Gedächtnis gemeißelt, wollte nicht weichen. Unter diesen Umständen konnte er nur eins tun. Er kehrte ins Wohnzimmer zurück, ließ sich auf der Couch nieder und streifte sich das Stirnband über. Der Regenerator sagte: »Ja?« »Es ist schrecklich, wissen Sie«, sagte Caswell, »aber ich glaube, ich erinnere mich an meinen Goricae!« John Rath setzte sich über Televideo mit der Rapid Transit Corporation in Verbindung und wurde sofort an Mr. Bemis weitervermittelt, einen dicklichen, sonnengebräunten Mann mit wachsamen Augen. »Alkoholismus?« wiederholte Mr. Bemis, nachdem ihm das Problem auseinandergesetzt worden war. Unauffällig schaltete er das Tonband ein. »Unter unseren Angestellten?« Er trat mit dem Fuß sehr heftig auf einen Knopf, wodurch er die Abteilungen für Sicherheit, Öffentlichkeitsarbeit, Intergesellschaftliche Beziehungen und Psychoanalyse alarmierte. Als das erledigt war, blickte er Rath ernst an. »Da sehe ich keine Möglichkeit, werter Herr. Mal unter uns: Warum will General Motors das denn wirklich wissen?« Rath lächelte bitter. Das hätte er voraussehen sollen. RTC und GM hatten in der Vergangenheit ihre Probleme miteinander gehabt. Offiziell herrschte Kooperation zwischen den beiden Riesenfirmen. Doch in der Praxis… »Die Frage liegt im öffentlichen Interesse«, sagte Rath. »Oh, gewiß«, entgegnete Bemis mit hintergründigem Lächeln. Er blickte verstohlen auf die vielen Monitore vor sich und stellte fest, daß sich mehrere leitende Herren der Firma in die Verbindung eingeschaltet hatten. Hier lag vielleicht deine Beförderung drin, wenn er sich geschickt anstellte.
»Im öffentlichen Interesse von GM«, fügte Bemis mit verbindlicher Bosheit hinzu. »Unterschwellig, nehme ich an, wollen Sie damit wohl andeuten, daß unsere Jetbusse und Helis von betrunkenen Fahrern gesteuert werden, oder?« »Natürlich nicht. Ich suche lediglich nach einer gewissen Vorliebe für Alkohol, nach einer individuellen Latenz…« »Damit kann ich nicht dienen. Wir stellen bei Rapid Transit keinen ein, der auch nur die leiseste Tendenz in diese Richtung hat. Und ich darf vorschlagen, werter Herr, daß Sie vor Ihrer eigenen Tür kehren, ehe Sie Andeutungen über andere in die Welt setzen.« Und damit brach Mr. Bemis die Verbindung ab. Niemand sollte ihm etwas ans Bein hängen. »Sackgasse«, sagte Rath heftig. Er drehte sich um und rief: »Smith! Haben Sie irgendwelche Fingerabdrücke gefunden?« Leutnant Smith, ohne Mantel und mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, war mit einem Satz bei ihm. »Nichts Verwertbares, Sir.« Rath preßte die dünnen Lippen zusammen. Mittlerweile waren fast sieben Stunden vergangen, seit der Kunde die Marsmaschine mitgenommen hatte. Es war nicht auszudenken, welches Unheil inzwischen angerichtet sein konnte. Der Kunde wäre berechtigt, das Unternehmen zu verklagen. Nicht, daß Geld eine große Rolle spielte; es war die schlechte Presse, die unter allen Umständen vermieden werden mußte. »Ich bitte um Entschuldigung, Sir«, sagte Haskins. Rath ignorierte ihn. Was jetzt? Rapid Transit spielte nicht mit. Ob die Streitkräfte ihre Unterlagen zur Verfügung stellten, um sie nach Somatotyp und Haarfarbe zu durchforsten? »Sir«, sagte Haskins noch einmal. »Was ist denn?« »Mir ist soeben der Name des Freundes eingefallen, den der Kunde erwähnte. Er heißt Magnessen.« »Sind Sie sicher?« »Absolut«, erklärte Haskins mit dem ersten Selbstvertrauen, das er seit Stunden an den Tag legte. »Ich habe mir die Freiheit genommen, ihn im
Telefonbuch nachzuschlagen. In Manhattan ist nur einer dieses Namens aufgeführt.« Rath blickte ihn unter struppigen Augenbrauen hervor finster an. »Haskins, ich hoffe, Sie irren sich nicht. Ich hoffe es zuversichtlich.« »Ich auch, Sir«, gab Haskins zu und merkte, wie ihm die Knie anfingen zu zittern. »Denn sollten Sie sich irren«, fuhr Rath fort, »dann werde ich… Schon gut. Gehen wir!« Eskortiert von der Polizei, kamen sie in fünfzehn Minuten bei der Adresse an. Es handelte sich um einen alten Sandsteinbau, und Magnessens Name stand an einer Tür in der zweiten Etage. Sie klopften an. Die Tür ging auf, und vor ihnen stand ein stämmiger Mann in den Dreißigern mit Stoppelschnitt und in Hemdsärmeln. Beim Anblick der vielen Uniformen erbleichte er leicht, wich aber keinen Schritt zurück. »Was gibt’s?« wollte er wissen. »Magnessen?« blaffte Leutnant Smith. »Jawohl. Was habe ich verbrochen? Wenn es darum geht, daß die Musik bei mir zu laut ist, kann ich Ihnen gleich sagen, daß der alte Drachen eine Treppe tiefer…« »Dürfen wir reinkommen?« fragte Rath. »Es ist wichtig.« Noch ehe Magnessen ablehnen konnte, drängte er sich an ihm vorbei, gefolgt von Smith, Follansby, Haskins und einer kleinen Armee Polizisten. Magnessen drehte sich um und sah sie bestürzt, trotzig und ein klein wenig eingeschüchtert an. »Mr. Magnessen«, sagte Rath mit der freundlichsten Stimme, die ihm zu Gebote stand, »ich hoffe, Sie verzeihen unser Eindringen. Ich darf Sie versichern, daß es im öffentlichen und auch in Ihrem Interesse ist. Kennen Sie einen kleinen, wütend aussendenden, rothaarigen Mann mit blutunterlaufenen Augen?« »Ja«, antwortete Magnessen langsam und vorsichtig. Haskins stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
»Würden Sie uns bitte seinen Namen und seine Adresse sagen?« bat Rath. »Ich nehme an, Sie meinen – Moment mal! Was hat er gemacht?« »Nichts.« »Warum sind Sie dann hinter ihm her?« »Wir haben keine Zeit für Erklärungen«, sagte Rath. »Sie dürfen mir glauben, daß es auch in seinem Interesse ist. Wie heißt er?« Magnessen studiert Raths häßliches, ehrliches Gesicht, um sich schlüssig zu werden. »Nun mal los«, sagte Leutnant Smith, »reden Sie, Magnessen, wenn Sie wissen, was gut für Sie ist. Wir wollen den Namen, und zwar fix.« So ließ er nicht mit sich reden. Magnessen zündete sich eine Zigarette an, blies den Rauch in Smiths Richtung und erkundigte sich: »Haben Sie einen Haftbefehl, Kumpel?« »Da können Sie Gift drauf nehmen«, sagte Smith und ging auf ihn los. »Ich kann Sie ja mal verhaften, Sie Naseweis.« »Schluß damit!« kommandierte Rath. »Leutnant Smith, ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung. Ich brauche Sie nicht mehr.« Smith räumte schmollend das Feld und nahm seinen Trupp mit. »Entschuldigen Sie bitte seinen Übereifer«, sagte Rath. »Sie sollten sich mal anhören, wo uns der Schuh drückt.« Mit knappen Worten, doch vollständig und ausführlich legte er die Geschichte von dem Kunden und der Therapiemaschine für Marsmenschen dar. Als er fertig war, hatte Magnessen ein noch mißtrauischeres Gesicht als vorher. »Sie behaupten, er will mich umbringen?« »Eindeutig.« »Das ist gelogen! Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Mister, aber das nehme ich Ihnen nie ab. Elwood ist mein bester Freund. Wir sind schon als kleine Jungs Freunde gewesen. Wir waren zusammen in der Armee. Elwood würde sich ein Bein für mich ausreißen. Und ich mir für ihn auch.« »Ja, ja«, sagte Rath ungeduldig, »wenn er einen lichten Moment hat, sicher. Aber Ihr Freund Elwood – ist das sein Vor- oder Nachname?«
»Vorname«, meinte Magnessen spöttisch. »Ihr Freund Elwood ist geisteskrank.« »Sie kennen ihn nicht. Er liebt mich wie einen Bruder. Hören Sie, was hat er tatsächlich angestellt? Hat er irgendwas nicht bezahlt oder so? Ich kann aushelfen.« »Sie dickköpfiger Idiot!« schrie Rath. »Ich versuche, Ihr Leben und das Leben und die Gesundheit Ihres Freundes zu retten!« »Wie soll ich das denn wissen?« verteidigte sich Magnessen. »Sie kommen hier mit Ihrer Truppe reingestürmt…« »Sie müssen mir vertrauen«, sagte Rath. Magnessen sah Rath aufmerksam ins Gesicht und nickte mürrisch. »Er heißt Elwood Caswell. Er wohnt im selben Block, Nummer 341.« Der Mann, der an die Tür kam, war klein, hatte rote Haare und rotgeränderte Augen. Seine rechte Hand steckte in der Manteltasche. Er machte einen sehr ruhigen Eindruck. »Sind Sie Elwood Caswell?« fragte Rath. »Der Elwood Caswell, der heute am frühen Nachmittag bei der Heimtherapiegeräte AG einen Regenerator gekauft hat?« »Ja«, antwortete Caswell. »Wollen Sie nicht hereinkommen?« In seinem kleinen Wohnzimmer sahen sie den Regenerator, schwarz und chromglänzend, neben der Couch stehen. Er war nicht angeschlossen. »Haben Sie ihn benutzt?« fragte Rath besorgt. »Ja.« Follansby trat langsam vor. »Mr. Caswell, ich weiß nicht, wie ich Ihnen das erklären soll, aber wir haben einen schrecklichen und sicherlich verhängnisvollen Fehler gemacht. Der Regenerator, den Sie gekauft haben, ist ein Marsmodell – zur Behandlung von Marsmenschen.« »Ich weiß«, sagte Caswell. »Wirklich?« »Natürlich. Das wurde nach einer Weile ziemlich deutlich.«
»Es war eine gefährliche Situation«, sagte Rath. »Besonders für einen Mann mit Ihren – äh – Schwierigkeiten.« Er betrachtete Caswell verstohlen. Der Mann schien wohlauf zu sein, doch der äußere Anschein trog häufig, besonders bei Psychopathen. Caswell war mordsüchtig gewesen; es bestand kein Anlaß zu der Annahme, daß er es nicht mehr war. Und Rath kam langsam zu der Überzeugung, daß es ein Fehler gewesen war, Smith und seine Männer einfach wegzuschicken. Manchmal hatte ein bewaffneter Trupp in der Nähe etwas Beruhigendes. Caswell ging durchs Zimmer zu der Therapiemaschine. Eine Hand hatte er immer noch in der Manteltasche; die andere legte er liebevoll auf den Regenerator. »Das arme Ding hat sein Bestes versucht«, sagte er. »Natürlich konnte er nicht heilen, was gar nicht da war.« Er kicherte. »Aber er ist dem Erfolg sehr nahe gekommen!« Rath betrachtete aufmerksam und sehr intensiv Caswells Gesicht und sagte in einstudiertem, beiläufigem Tonfall: »Freut mich, daß kein Schaden angerichtet wurde, Sir. Die Firma wird Sie selbstverständlich für Ihre vergeudete Zeit und Ihre Seelenqual entschädigen…« »Natürlich«, sagte Caswell. »… und wir werden Ihnen sofort einen richtigen Regenerator zur Verfügung stellen.« »Das wird nicht nötig sein.« »Nein?« »Nein«, erklärte Caswell mit Nachdruck. »Der Therapieversuch der Maschine hat mich zu einer vollkommenen Selbsteinschätzung gezwungen. Es gab einen Moment der absoluten Einsicht, in dem ich in der Lage war, meine mordsüchtigen Absichten gegenüber dem armen Magnessen einzuschätzen und aufzugeben.« Rath nickte zweifelnd. »Jetzt verspüren Sie keinen derartigen Drang mehr?« »Nicht im geringsten.« Rath legte die Stirn in tiefe Falten, wollte etwas sagen, schwieg aber. Er wandte sich an Follansby und Haskins. »Bringen
Sie die Maschine hier weg. Ich habe Ihnen im Geschäft noch einiges zu sagen.« Geschäftsführer und Verkäufer hoben den Regenerator hoch und verließen die Wohnung. Rath atmete tief durch. »Mr. Caswell, ich möchte Ihnen ernsthaft raten, einen neuen Regenerator von der Firma anzunehmen, kostenlos. Wenn eine Heilung nicht in der richtigen mechanotherapeutischen Art und Weise erfolgt ist, besteht immer die Gefahr eines Rückfalls.« »Bei mir besteht die Gefahr nicht«, meinte Caswell, leichthin zwar, doch zutiefst überzeugt. »Vielen Dank für Ihre Fürsorge, Sir. Und gute Nacht.« Rath zuckte mit den Schultern und ging zur Tür. »Warten Sie!« rief Caswell ihm nach. Rath drehte sich um. Caswell hatte die Hand aus der Tasche genommen. In ihr hielt er einen Revolver. Rath spürte Schweiß an seinen Armen herunterlaufen. Er kalkulierte den Abstand zwischen sich und Caswell. Zu groß. »Hier«, sagte Caswell und hielt ihm den Revolver hin, mit dem Griff voran. »Ich brauche ihn nicht mehr.« Rath gelang es, keine Miene zu verziehen, als er den Revolver an sich nahm und ihn in einer seiner ausgebeulten Taschen verschwinden ließ. »Gute Nacht«, sagte Caswell. Er machte die Tür hinter Rath zu und schob den Riegel vor. Endlich war er allein. Er ging in die Küche. Er machte eine Flasche Bier auf, nahm einen großen Schluck und setzte sich an den Küchentisch. Er starrte unverwandt auf einen Punkt links oberhalb der Uhr. Er mußte nun seine Pläne schmieden. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. Magnessen! Dieses unmenschliche Monstrum, das seinen Goricae abgeholzt hatte! Magnessen! Der Mann, der selbst in diesem Augenblick noch heimlich plante, ganz New York mit dem verabscheuungswürdigen feemischen Verlangen zu infizieren. Oh,
Magnessen, ich wünsche dir ein langes, langes Leben, ausgefüllt mit Qualen, denen ich dich unterziehen werde. Und als Anfang… Caswell konnte sich in Lächeln nicht verkneifen, als er in allen Einzelheiten plante, wie er Magnessen auf vlendische Weise dwarken würde.
Schutz In Burma wird nächste Woche ein Flugzeug abstürzen, aber das dürfte mich hier in New York nicht betreffen. Und die Feegs können mir gewiß nichts tun. Nicht, wenn alle meine Schranktüren zu sind. Nein, das große Problem heißt Lesnerieren. Ich soll nicht lesnerieren. Unter gar keinen Umständen. Wie Sie sich vorstellen können, behindert mich das. Und um allem die Krone aufzusetzen, glaube ich, daß ich eine wirklich gräßliche Erkältung bekomme. Die ganze Angelegenheit begann am Abend des siebten November. Ich ging auf dem Weg zu Baker’s Cafeteria den Broadway hinunter. Um meine Lippen spielte ein Lächeln, denn ich hatte früher am Tage eine schwere Physikprüfung bestanden. In der Tasche hatte ich, leise klimpernd, fünf Münzen, drei Schlüssel und ein Streichholzheftchen. Um das Bild abzurunden, lassen Sie mich hinzufügen, daß der Wind mit einer Geschwindigkeit von fünf Meilen pro Stunde aus Nordwesten wehte, Venus im Aufsteigen begriffen und der Mond auf beiden Seiten entschieden konvex war. Daraus können Sie Ihre eigenen Schlüsse ziehen. Ich kam zur 98. Straße und wollte sie überqueren. Als ich vom Bordstein heruntertrat, schrie mir jemand zu: »Der Lastwagen! Paß auf den Lastwagen auf!« Ich sprang plötzlich mit einem Satz zurück und sah mich verwirrt um. Es war absolut nichts zu sehen. Dann, eine volle Sekunde später, kam ein Lastwagen auf zwei Rädern um die Ecke geschossen, überfuhr die roten Ampel und brauste den Broadway hinauf. Ohne die Warnung wäre ich sicherlich unweigerlich überfahren worden. Sie haben solche Geschichten schon gehört, was? Von der inneren Stimme, die Tante Minnie davor warnte, den Fahrstuhl zu besteigen, der dann in den Keller stürzte. Oder die Onkel Joe vielleicht sagte, lieber
nicht mit der Titanic zu reisen. Da enden die Geschichten dann gewöhnlich. Ich wünschte, meine würde da enden. »Danke, Freund«, sagte ich und blickte mich um. Es war niemand da. »Kannst du mich noch hören?« erkundigte sich die Stimme. »Sicher.« Ich drehte mich einmal um die eigene Achse und sah argwöhnisch zu den geschlossenen Fenstern auf. »Wo, zum Teufel, steckst du denn?« »Ich bin gronisch«, antwortete die Stimme. »Klingelt es bei dir? Stichwort Lichtbrechung. Substanzloses Wesen. Nur der Schatten war Zeuge. Habe ich das Richtige getroffen?« »Du bist unsichtbar?« fragte ich aufs Geratewohl. »Genau!« »Was bist du denn?« »Ein validusianischer Derg.« »Ein was?« »Ich bin – mach deinen Kehlkopf bitte etwas weiter auf. Also paß auf: Ich bin der Geist der vergangenen Weihnacht. Das Wesen von der Schwarzen Lagune. Frankensteins Braut. Der…« »Warte«, sagte ich. »Was versuchst du mir mitzuteilen? Daß du ein Geist bist oder ein Wesen von einem anderen Stern?« »Das ist dasselbe«, erwiderte der Derg. »Eindeutig.« Damit war die Sache völlig klar. Der Dümmste konnte erkennen, daß die Stimme jemandem von einem anderen Stern gehörte. Auf der Erde war er unsichtbar, aber seine überlegenen Sinne hatten eine drohende Gefahr gespürt und mich davor gewarnt. Einfach ein normaler, alltäglicher, ungewöhnlicher Zwischenfall. Ich fing an, mit schnellen Schritten den Broadway hinunterzugehen. »Was ist los?« erkundigte sich der unsichtbare Derg. »Gar nichts«, erwiderte ich, »nur, daß ich offenbar mitten auf der Straße stehe und mich mit einem unsichtbaren Fremden aus der entfernte-
sten Ecke des Weltraums unterhalte. Gehe ich fehl in der Annahme, daß nur ich dich hören kann?« »Nein, durchaus nicht.« »Toll! Weißt du, wo ich mit dieser Sache landen werde?« »Was du da unterschwellig andeutest, ist mir nicht ganz klar.« »In der Klapsmühle. Dem Irrenhaus. Der geschlossenen Abteilung. Dahin werden Leute gebracht, die mit unsichtbaren Fremden reden. Danke, daß du mich gewarnt hast, alter Knabe. Gute Nacht.« Etwas benommen wandte ich mich nach Osten in der Hoffnung, mein unsichtbarer Freund würde seinen Weg auf dem Broadway fortsetzen. »Willst du nicht mit mir sprechen?« fragte der Derg. Ich schüttelte den Kopf, eine harmlose Geste, für die sie einen nicht einsperren können, und ging weiter. »Aber du mußt«, sagte er mit einem Anflug von Verzweiflung in der Stimme. »Ein echter subvokaler Kontakt ist sehr selten und erstaunlich schwierig. Manchmal schaffe ich es, kurz vor einem gefährlichen Augenblick eine Warnung zu übermitteln, doch dann löst sich die Verbindung wieder.« Da war also die Erklärung für Tante Minnies Vorahnung. Doch ich hatte immer noch keine. »Es kann sein, daß die Voraussetzungen erst in hundert Jahren wieder stimmen!« klagte der Derg. Was für Voraussetzungen? Fünf Münzen und drei Schlüssel, die in einer Tasche klimpern, während die Venus im Aufstieg begriffen ist? Ich finde, das sollte einmal untersucht werden, aber nicht durch mich. Dieses übersinnliche Zeug kann man nie beweisen. Es gibt genügend Leute, die Schonbezüge für Zwangsjacken häkeln, als daß ich ihre Reihen noch aufblähen müßte. »Laß mich bloß in Ruhe«, sagte ich. Ein Polizist warf mir deswegen einen komischen Blick zu. Ich grinste jungenhaft und eilte weiter. »Ich bin mir der Lage, der du durch mich unter den Menschen ausgesetzt wirst, durchaus bewußt«, drängte der Derg, »aber dieser Kontakt ist
in deinem eigenen Interesse. Ich möchte dich vor den unzähligen Gefahren des menschlichen Daseins schützen.« Ich gab keine Antwort. »Gut«, sagte der Derg, »ich kann dich nicht zwingen. Dann muß ich meine Dienste eben anderswo anbieten. Leb wohl, mein Freund.« Ich nickte erfreut. »Nur eins noch«, sagte er. »Betritt morgen mittag zwischen zwölf und Viertel nach eins keine U-Bahn-Station. Leb wohl.« »Was? Warum nicht?« »Jemand kommt am Columbus Circle ums Leben, wenn er von der mit Einkäufen bepackten Menge vor einen einlaufenden Zug gestoßen wird. Du, wenn du da bist. Leb wohl.« »Jemand kommt da morgen ums Leben?« fragte ich. »Bist du sicher?« »Natürlich.« »Wird es in den Zeitungen stehen?« »Das könnte ich mir vorstellen.« »Und du weißt alle möglichen Sachen dieser Art?« »Ich kann alle Gefahren, die im Lauf der Zeit auf dich zukommen, vorausahnen. Mein einziger Wunsch besteht darin, dich vor ihnen zu schützen.« Ich war stehengeblieben. Zwei Mädchen kicherten, als sie mich Selbstgespräche führen sahen. Jetzt ging ich wieder weiter. »Hör zu«, flüsterte ich, »kannst du bis morgen abend warten?« »Läßt du mich dein Beschützer sein?« fragte der Derg eifrig. »Das sage ich dir morgen«, sagte ich, »wenn ich die Abendzeitungen gelesen habe.« Richtig, die Sache stand ausführlich drin. Ich las sie aufmerksam und intensiv in meinem möblierten Zimmer in der 113. Straße. Mann von der Menge gedrängt, Gleichgewicht verloren, vor den einlaufenden Zug gestürzt. Ich wurde sehr nachdenklich, während ich auf das Erscheinen meines unsichtbaren Beschützers wartete.
Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Sein Wunsch, mich zu beschützen, schien aus ehrlichem Herzen zu kommen. Ich war mir aber nicht darüber im klaren, ob ich den Schutz wollte. Als der Derg eine Stunde später mit mir in Verbindung trat, gefiel mir die ganze Sache noch weniger, und das sagte ich ihm auch. »Traust du mir nicht?« fragte er. »Ich will bloß ein normales Leben führen.« »Wenn du überhaupt ein Leben führst«, brachte er mir in Erinnerung. »Der Lastwagen gestern…« »Das war ein Verrückter. Ein Zufall, wie er nur einmal im Leben vorkommt.« »Ein Zufall im Leben reicht, um zu Tode zu kommen«, sagte der Derg ernst. »Und die U-Bahn kommt auch noch hinzu.« »Die zählt nicht. Ich hatte nicht die Absicht, sie heute zu benutzen.« »Aber du hattest keinen Grund, sie nicht zu benutzen. Darauf kommt es an. Genauso wie du keinen Grund hast, innerhalb der nächsten Stunde nicht zu duschen.« »Warum sollte ich nicht?« »Eine Miss Flynn«, sagte der Derg, »die am anderen Ende des Flurs wohnt, hat soeben ihre Dusche beendet und ein Stück rosa Seife auf den rosa Fliesen des Badezimmers auf dieser Etage liegenlassen. Du wärst darauf ausgerutscht und hättest dir das Handgelenk verstaucht.« »Das ist ja nicht tödlich, oder?« »Nein. Kaum vom selben Kaliber wie, sagen wir mal, ein schwerer Blumentopf, der von einem bestimmten tatterigen alten Herrn von einer Balkonbrüstung gestoßen wird.« »Wann wird das passieren?« fragte ich. »Ich dachte, das interessiert dich nicht.« »Es interessiert mich sehr. Wann? Wo?« »Läßt du mich dich weiterhin beschützen?« fragte er. »Erklär mir nur eins«, sagte ich. »Was hast du davon?«
»Befriedigung!« sagte er. »Für einen validusianischen Derg ist es von allergrößtem Reiz, einem anderen Wesen zu helfen, der Gefahr zu entgehen.« »Ist da nicht noch was anderes, was du dir davon versprichst? Eine Kleinigkeit wie meine Seele oder die Herrschaft über die Erde?« »Nichts! Sich den Schutz bezahlen zu lassen, würde die emotionale Erfahrung zunichte machen. Alles, was ich vom Leben will – was jeder Derg will –, ist, jemanden vor den Gefahren zu schützen, die er nicht sehen kann, die wir aber nur zu genau sehen.« Der Derg hielt inne und fügte dann mit leiser Stimme hinzu: »Wir erwarten nicht einmal Dankbarkeit.« Tja, damit war die Sache entschieden. Wie hätte ich die Folgen ahnen sollen? Wie hätte ich wissen sollen, daß seine Hilfe mich in eine Situation bringen würde, in der ich nicht lesnerieren durfte? »Was ist mit diesem Blumentopf?« fragte ich. »Er wird morgen früh um halb neun an der Ecke 10. Straße/ McAdams Boulevard herunterfallen.« »10. und McAdams? Wo ist das denn?« »In Jersey City«, erwiderte er prompt. »Aber ich war noch nie im Leben in Jersey City! Warum muß ich davor gewarnt werden?« »Ich weiß doch nicht, wo du hingehst oder wohin nicht«, sagte der Derg. »Ich sehe lediglich Gefahren für dich voraus, wo immer sie auftauchen könnten.« »Was soll ich jetzt machen?« »Was du willst«, erklärte er. »Führ dein normales Leben, wie immer.« Mein normales Leben! Ha! Es ließ sich einigermaßen an. Ich besuchte Vorlesungen an der Columbia-Universität, machte Hausaufgaben, sah Filme, ging zu Verabredungen, spielte Tischtennis und Schach, alles wie früher. Zu keiner Zeit ließ ich durchblicken, daß ich unter dem direkten Schutz eines validusianischen Dergs stand.
Ein- oder zweimal täglich kam er zu mir. Er sagte etwas wie: »Loser Rost auf der West End Avenue zwischen der 66. und 67. Straße. Tritt nicht drauf!« Und natürlich trat ich nicht drauf. Aber jemand anders tat es. Häufig las ich solche Sachen in der Zeitung. Nachdem ich mich erst einmal daran gewöhnt hatte, gab es mir ein ziemliches Gefühl der Sicherheit. Ein Fremder schwirrte vierundzwanzig Stunden am Tag um mich herum, und er wollte nichts weiter vom Leben, als mich zu beschützen. Ein übernormaler Leibwächter! Der Gedanke gab mir ein ganz schönes Selbstvertrauen. Mein Privatleben hätte in dieser Zeit gar nicht besser sein können. Aber der Derg wurde in bezug auf mich schon bald übereifrig. Er fing an, mehr und mehr Gefahren aufzuspüren, von denen die meisten zu meinem Leben in New York überhaupt keine Beziehung hatten – Dinge, die ich in Mexiko City, Toronto, Omaha oder Papeete unterlassen sollte. Ich fragte ihn schließlich, ob er die Absicht habe, mich von jeder potentiellen Gefahr auf der Erde in Kenntnis zu setzen. »Es handelt sich um die wenigen, die sehr wenigen, von denen du betroffen bist oder sein könntest«, erklärte er mir. »In Mexiko City? Und Papeete? Warum beschränkst du dich nicht auf Lokales? Auf den Großraum New York, sagen wir mal.« »Schauplätze sagen mir gar nichts«, erwiderte der Derg hartnäckig. »Meine Wahrnehmungen sind zeitlicher, nicht räumlicher Natur. Ich muß dich vor allem in Schutz nehmen.« In gewisser Weise war das ziemlich rührend, und ich konnte nichts dagegen machen. Ich mußte aus seinen Berichten einfach die verschiedenen Gefahren in Hoboken, Thailand, Kansas City, Angkor Wat (umstürzende Statue), Paris und Sarasota aussortieren. Dann erreichte ich die nähere Umgebung. Ich überging größtenteils die Gefahren, die in Queens, in der Bronx, auf Staten Island und in Brooklyn auf mich lauerten, und konzentrierte mich auf Manhattan. Die hatten es häufig allerdings in sich. Der Derg bewahrte mich vor einigen ziemlich üblen Erfahrungen. Vor einem Überfall auf dem Cathedral-Parkway zum Beispiel, einem Teenager-Raub, einem Feuer.
Aber er beschleunigte das Tempo. Ich hatte mit ein oder zwei Berichten pro Tag angefangen. Nach einem Monat warnte er mich bereits fünfoder sechsmal am Tag. Und am Ende liefen seine Warnungen, lokale, nationale und internationale Gefahren betreffend, in ununterbrochener Folge bei mir ein. Entgegen jeder Wahrscheinlichkeit bedrohten mich zu viele Gefahren. An einem typischen Tag: »Verdorbenes Essen in Baker’s Cafeteria. Iß heute abend nicht dort.« »Bus 312 auf der Amsterdam Avenue hat schlechte Bremsen. Nimm ihn nicht.« »In Mellen’s Tailor Shop ist ein Gasrohr undicht. Explosionsgefahr. Laß deine Sachen lieber woanders reinigen.« »Tollwütiger Bastard streift zwischen Riverside Drive und Central Park West herum. Nimm ein Taxi.« Bald schon verbrachte ich die meiste Zeit damit, Dinge nicht zu tun und verschiedene Orte zu meiden. Gefahr schien hinter jedem Laternenpfosten zu lauern und es auf mich abgesehen zu haben. Ich hatte den Derg im Verdacht, seine Berichte auszuschmücken. Das schien die einzig mögliche Erklärung zu sein. Schließlich hatte ich bis zu dem Zeitpunkt, da ich ihn traf, ohne jeglichen übernatürlichen Beistand gelebt und war damit ganz gut zurechtgekommen. Warum sollte sich das Risiko jetzt auf einmal erhöht haben? Eines Abends fragte ich ihn danach. »Alle meine Berichte sind vollkommen ehrlich«, sagte er, offensichtlich leicht gekränkt. »Wenn du mir nicht glaubst, dann versuch doch, morgen im Psychologie-Hörsaal das Licht anzuknipsen.« »Warum?« »Schadhafte Kabel.« »Ich zweifle nicht an deinen Warnungen«, versicherte ich ihm. »Ich weiß nur, daß das Leben nie so gefährlich war, bevor du aufgetaucht bist.«
»Natürlich nicht. Sicher weißt du, daß du in dem Moment, wo du Schutz akzeptierst, auch seine Nachteile akzeptieren mußt.« »Was für Nachteile?« Der Derg zögerte. »Schutz macht weiteren Schutz nötig. Das ist eine allgemeingültige Regel.« »Würdest du das noch einmal sagen, bitte?« bat ich entsetzt. »Bevor du mich getroffen hast, warst du wie jeder andere und bist die Risiken gelaufen, die sich in deiner Lage boten. Aber seit ich da bin, hat sich deine unmittelbare Umgebung verändert. Und deine Position in ihr ebenfalls.« »Verändert? Warum?« »Weil ich dazugehöre. Bis zu einem gewissen Ausmaß bist du Teil von meiner Umgebung, genau wie ich Teil von deiner bin. Und natürlich, das ist ja bekannt, öffnet sich durch Umgehung einer Gefahr der Weg zu anderen.« »Willst du mir zu verstehen geben«, sagte ich sehr langsam, »daß die Risiken für mich wegen deiner Hilfe gestiegen sind?« »Das ließ sich nicht vermeiden«, seufzte er. In dem Moment hätte ich den Derg mit Wonne erwürgen können, wenn er nicht unsichtbar und ungreifbar gewesen wäre. Ich hatte das ärgerliche Gefühl, von einem extraterrestrischen Falschspieler reingelegt worden zu sein. »In Ordnung«, sagte ich, mich beherrschend. »Danke für alles. Wir sehen uns auf dem Mars, oder wo immer du dich rumtreibst.« »Willst du nicht mehr beschützt werden?« »Du hast es erraten. Knall die Tür nicht zu laut zu, wenn du rausgehst.« »Was ist denn los?« Der Derg schien ehrlich bestürzt zu sein. »Die Risiken in deinem Leben sind sicherlich gewachsen, stimmt, na und? Es ist ruhm- und ehrenvoll und zugleich erhebend, einer Gefahr ausgesetzt zu sein und sie schließlich siegreich zu bestehen. Je größer die Gefahr, desto größer das Glück ihr zu entgehen.«
Zum erstenmal wurde mir bewußt, wie fremd dieser Fremde war. »Nicht für mich«, sagte ich. »Raus!« »Das Risiko hat sich für dich erhöht«, behauptete der Derg, »aber meine Fähigkeit, Gefahren aufzuspüren, kann es allemal damit aufnehmen. Es macht mir Freude, es damit aufzunehmen. Unterm Strich ist es immer noch ein Plus an Schutz für dich.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich weiß, was als nächstes passiert. Meine Risiken steigen einfach weiter, oder?« »Durchaus nicht. Was Zwischenfälle betrifft, hast du die quantitative Obergrenze erreicht.« »Was bedeutet das?« »Das bedeutet, daß die Zahl der Zwischenfälle, denen du aus dem Weg gehen mußt, nicht mehr ansteigt.« »Gut. Und jetzt scher dich bitte zum Teufel.« »Aber ich habe dir doch gerade erklärt…« »Sicher, kein weiterer Anstieg, nur so weiter wie bisher. Hör zu, wenn du abhaust, stellt sich meine ursprüngliche Umgebung wieder her, stimmt’s? Und mit ihr meine ursprünglichen Risiken.« »Nach einer gewissen Zeit«, stimmte der Derg zu. »Wenn du überlebst.« »Das Risiko nehme ich auf mich.« Der Derg schwieg für eine Weile. Schließlich sagte er: »Du kannst es dir nicht leisten, mich wegzuschicken. Morgen…« »Sag es mir nicht. Ich vermeide es allein, in Unfälle verwickelt zu werden.« »Ich dachte nicht an Unfälle.« »Woran dann?« »Ich weiß kaum, wie ich es dir sagen soll.« Er schien verlegen zu sein. »Ich sagte, es würde zu keiner quantitativen Veränderung mehr kommen. Doch von einer qualitativen Veränderung war nicht die Rede.« »Wovon redest du?« schrie ich ihn an.
»Ich versuche, dir zu sagen«, erklärte der Derg, »daß ein Gamper hinter dir her ist.« »Ein was? Soll das ein Witz sein?« »Ein Gamper ist ein Geschöpf aus meiner Umgebung. Ich vermute, er wurde durch deine dank meinem Schutz gesteigerte Fähigkeit angelockt, Risiken aus dem Weg zu gehen.« »Zum Teufel mit dem Gamper und mit dir.« »Wenn er kommt, dann versuche, ihn mit Hilfe eines Mistelzweiges zu vertreiben. Eisen ist häufig wirksam, wenn es mit Kupfer verbunden ist. Auch…« Ich warf mich aufs Bett und vergrub den Kopf unter dem Kissen. Der Derg verstand den Wink. Kurz darauf spürte ich, daß er weg war. Was für ein Idiot ich gewesen war! Wir Bewohner der Erde haben alle eine Untugend: Wir nehmen, was uns angeboten wird, ob wir es brauchen oder nicht. Dadurch kann man sich einen Haufen Unannehmlichkeiten auf den Hals holen. Aber der Derg war weg, und ich hatte das Schlimmste überstanden. Ich würde mich eine Zeitlang nicht vom Fleck rühren können, bis die Dinge sich wieder geordnet hätten. In ein paar Wochen vielleicht könnte ich… Ein Summen schien die Luft zu erfüllen. Ich setzte mich mit einem Ruck auf. Eine Ecke des Zimmers war eigenartig dunkel, und ich verspürte einen kühlen Hauch auf dem Gesicht. Das Summen wurde lauter – im Grunde war es gar kein Summen, sondern Gelächter, leises und monotones Gelächter. Niemand brauchte mir jetzt noch vorzusagen, was ich zu tun hatte. »Derg!« schrie ich. »Hol mich aus dieser Sache raus!« Er war zur Stelle. »Der Mistelzweig! Halt ihn dem Gamper entgegen.« »Woher soll ich denn aus heiterem Himmel einen Mistelzweig zaubern?« »Dann Eisen und Kupfer!« Ich war mit einem Satz an meinem Schreibtisch, ergriff einen kupfernen Briefbeschwerer und suchte hastig nach etwas aus Eisen, das ich mit
ihm in Verbindung bringen konnte. Der Briefbeschwerer wurde mir aus der Hand gerissen. Ich konnte ihn packen, ehe er zu Boden fiel. Dann sah ich meinen Füllfederhalter und hielt die Feder an den Briefbeschwerer. Die Dunkelheit lichtete sich. Die Kühle verschwand. Ich glaube, ich wurde ohnmächtig. Triumphierend sagte der Derg eine Stunde darauf: »Siehst du? Du brauchst meinen Schutz.« »So wird es wohl sein«, erwiderte ich teilnahmslos. »Du wirst ein paar Dinge brauchen«, sagte der Derg. »Eisenhut, Fuchsschwanz, Knoblauch, Friedhofserde…« »Der Gamper ist doch weg.« »Ja. Allerdings bleiben die Grailer. Und du brauchst Schutzmittel gegen die Leeps, die Feegs und den Melgerizer.« Ich legte also eine Liste von Kräutern, Essenzen und Heilmitteln an. Ich fragte ihn gar nicht erst nach dem Zusammenhang zwischen übernatürlich und außergewöhnlich. Ich hatte jetzt voll und ganz begriffen. Gespenster und Geister? Oder Außerirdische? Alles dasselbe, sagte er, und ich verstand, was er meinte. Sie lassen uns in Ruhe, meistens jedenfalls. Wir befinden uns auf unterschiedlichen Ebenen der Wahrnehmung, selbst des Daseins. Bis ein Mensch so dumm ist, Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Jetzt war ich ein Stein in ihrem Spiel. Einige wollten mich umbringen, einige beschützen, doch keiner sorgte sich um mich, nicht einmal der Derg. Sie interessierte nur der Wert, den ich für ihr Spiel hatte, wenn es ein Spiel war. Und ich hatte meine Lage selbst verschuldet. Anfangs hatte mir die geballte Weisheit der menschlichen Rasse zur Verfügung gestanden, der enorme Haß auf Hexen und Geister, die irrationale Furcht vor fremden Lebewesen. Denn mein Abenteuer ist schon tausendmal durchgemacht worden, die Geschichte wird wieder und wieder erzählt – die Geschichte von dem Mann, der sich mit abseitigen Künsten abgibt und einen Geist
herbeiruft. Er lenkt dadurch Aufmerksamkeit auf sich – das Schlimmste, was man überhaupt tun kann. Ich war also untrennbar an den Derg geschweißt – und er an mich. Bis gestern jedenfalls. Jetzt stehe ich wieder auf eigenen Füßen. Ein paar Wochen lang war es ruhig gewesen. Die Feegs hatte ich einfach dadurch abgewehrt, daß ich die Schranktüren geschlossen hielt. Die Leeps waren zwar bedrohlicher, doch schien das Auge einer Kröte sie aufzuhalten. Und der Melgerizer war offenbar nur bei Vollmond gefährlich. »Du bist in Gefahr«, sagte der Derg gestern. »Schon wieder?« fragte ich gähnend. »Es ist der Thrang, der hinter uns her ist.« »Hinter uns?« »Ja, hinter mir auch. Selbst ein Derg läuft Risiken und Gefahr.« »Ist er speziell gefährlich?« »Ja, sehr.« »Und? Was soll ich tun? Eine Schlangenhaut über die Tür hängen? Ein Pentagon?« »Nichts dergleichen«, antwortete der Derg. »Mit dem Thrang muß man umgekehrt fertig werden, indem man bestimmte Handlungen unterläßt.« Inzwischen unterlag ich schon so vielen Restriktionen, daß es mir auf eine mehr oder weniger nicht mehr anzukommen schien. »Was also soll ich nicht tun?« »Du sollst nicht lesnerieren«, sagte der Derg. »Lesnerieren?« Ich runzelte die Stirn. »Was ist das denn?« »Das kennst du bestimmt. Es ist eine einfache, alltägliche menschliche Verrichtung.« »Ich kenne es wahrscheinlich unter einem anderen Namen. Erklär es mir.« »Also gut. Lesnerieren ist – « Er brach abrupt ab. »Was?« »Er ist hier! Der Thrang!«
Ich drückte mich an die Wand. Ich vermeinte, ein schwaches Aufwallen von Staub wahrzunehmen, aber das konnte auch an meinen überreizten Nerven liegen. »Derg!« rief ich. »Wo bist du? Was soll ich tun?« Ich hörte einen Aufschrei und das unverwechselbare Geräusch eines zuschnappenden Mauls. Der Derg schrie: »Er hat mich beim Wickel!« »Was soll ich tun?« rief ich noch einmal. Das schreckliche Geräusch malmender Zähne war zu hören. Sehr weit weg hörte ich den Derg sagen: »Lesneriere nicht!« Und dann war es still. Jetzt sitze ich also fest. In Burma wird nächste Woche ein Flugzeug abstürzen, doch das dürfte mich hier in New York nicht betreffen. Und die Feegs können mir mit Sicherheit nichts anhaben. Nicht, solange ich alle Schranktüren geschlossen halte. Nein, problematisch ist das Lesnerieren. Ich darf unter keinen Umständen lesnerieren. Nie. Wenn ich mich davon abhalten kann, geht alles vorüber, und die Jagd zieht weiter. Sie muß weiterziehen! Ich brauche nur den längeren Atem zu haben. Das Schlimme ist, daß ich überhaupt keine Ahnung habe, was Lesnerieren sein könnte. Eine gewöhnliche menschliche Verrichtung, hatte der Derg gesagt. Nun, fürs erste vermeide ich so viele Verrichtungen wie möglich. Ich habe einigen versäumten Schlaf nachgeholt, und nichts ist passiert – das hat mit Lesnerieren also nichts zu tun. Ich bin ausgegangen und habe mir etwas zu essen gekauft, habe dafür bezahlt, habe es zubereitet, gegessen. Auch das war nicht lesnerieren. Ich habe diesen Bericht geschrieben. Fehlanzeige. Ich werde aus dieser Sache noch herauskommen. Ich lege mich erst einmal hin. Ich fürchte, ich kriege eine Erkältung. Jetzt muß ich niesen.
Erde, Luft, Feuer und Wasser Kein Funkgerät eines Raumschiffes hat jemals richtig funktioniert, und das von Jim Radell an Bord der Algonquin war keine Ausnahme. Er hatte mit Con Electric auf der Erde gesprochen; doch der Empfang wurde schwächer, und auf einmal war die winzige Pilotenkanzel voll von Stimmen. »Keine Enterhaken1.« plärrte es aus dem Lautsprecher. »Ich wollte Schokoriegel haben!« »Ist da nicht die Mars-Station?« fragte jemand. »Nein, hier ist Luna. Scheren Sie sich von meiner Frequenz runter.« »Was soll ich denn mit Dutzenden von Enterhaken anfangen?« »Steck sie dir in die Nase. Hallo, Luna?« Radell hörte eine Weile zu. Das Funkgerät vermittelte ihm den beruhigenden Eindruck, daß der Weltraum von ungeheuer lebendigen und vitalen Leuten wimmelte, die die Planeten auf der Suche nach Lebensraum überfluteten. Er mußte sich daran erinnern, daß der ganze Lärm von weniger als fünfzig Männern veranstaltet wurde, die letztlich in den unendlichen Weiten rings um die Erde nichts weiter als Staubkörnchen waren. Eine Zeitlang ließen atmosphärische Störungen das Funkgerät knattern, dann war ein beständiges Summen zu hören. Radell schaltete es auf Bereitschaft um und schnallte sich an. Die Algonquin befand sich im Anflug und glitt auf die wolkenverhangene Oberfläche der Venus zu. Er konnte ein Buch lesen oder etwas schlafen, bis sie gelandet war. Er hatte zwei Aufgaben. Die eine betraf ein unbemanntes Raumschiff, das die Con Electric vor fünf Jahren auf die Venus geschickt hatte. Es enthielt automatische Aufzeichnungsgeräte. Eine von Radells Aufgaben bestand darin, diese Geräte zur Erde zurückzubringen.
Die Algonquin stieß spiralförmig auf die kalte, sturmgepeitschte Oberfläche der Venus hinab und suchte sich dabei automatisch einen Landeplatz nahe dem unbemannten Raumschiff. Ihr Hülle glühte schwach rot auf, als sie in die Atmosphäre eintrat, die die Venus umgab, verlangsamte die Geschwindigkeit, sank, korrigierte die Richtung. Schnee wirbelte um das Raumschiff, als es sich um die Längsachse drehte und die Landedüsen zündete. Dann setzte es vorsichtig auf. »Glatte Landung, Baby«, lobte Radell das Raumschiff. Er schnallte sich ab und stellte den Funkkontakt auf seinen Raumanzug um. Den Anzeigetafeln entnahm er, daß das unbemannte Raumschiff zweieinhalb Meilen entfernt war, nicht weit genug, als daß er sich noch großartig mit Proviant hätte eindecken müssen. Er würde einfach hinübergehen, die Geräte nehmen und den Heimflug antreten. »Wahrscheinlich bin ich rechtzeitig zu den Spielen zurück«, sagte er laut. Er prüfte noch einmal abschließend den Anzug und entriegelte die erste Luke. Der Raumanzug war Radells zweite und wichtigste Aufgabe. Die Menschheit drängte hinaus. Wenn man einen kosmischen Maßstab anlegte, war sie eigentlich kaum geboren. Aber dennoch, der gestern noch in Höhlen gewohnt und von den Sternen geträumt hatte, ließ die Erde hinter sich. Gestern war er noch nackt, erbarmungswürdig weich, hoffnungslos verletzlich gewesen. Heute hatte er, umhüllt von Stahl, vorwärts geschleudert von Düsen, die nicht verglühten, Luna, Mars und schließlich auch Venus erreicht. Raumanzüge waren ein Glied in der technologischen Kette, die die Planeten umspannte. Prototypen des Anzugs, den Radell trug, waren jedem Test unterzogen worden, den man sich in erfindungsreichen Labors nur hatte ausdenken können. Sie hatten alles heil überstanden. Nun mußte der Anzug seine Abschlußprüfung im Einsatz bestehen. »Bleib schön hier, Baby«, forderte Radell das Raumschiff auf. Er kletterte aus der letzten Luke und stieg die Leiter der Algonquin hinab, den besten und teuersten Raumanzug am Leib, den der Mensch je ersonnen hatte.
Er schlug die Richtung ein, die ihm sein Funkkompaß wies, auf der dünnen Schneedecke mühelos ausschreitend. Kaum etwas von der Landschaft rings um ihn her war zu sehen. Sie verbarg sich in dem grauen Zwielicht, das auf der Venus herrschte. Ihm zu Füßen ragten vereinzelt dünne, federnde Pflanzen durch den Schnee auf. Sie waren das einzig Lebendige in seinem Gesichtsfeld. Er regulierte das Funkgerät in seinem Anzug in der Hoffnung, jemand würde die Ergebnisse der ersten Baseball-Liga durchsagen. Aber er bekam lediglich die letzen Worte der Wettermeldung vom Mars zu hören. Es fing wieder an zu schneien. Es war kalt; das Thermometer an seinem Handgelenk zeigte es an, denn durch den Anzug konnte kein kühler Lufthauch vordringen. Und obgleich die Venus eine Sauerstoffatmosphäre besaß, brauchte er diese nicht zu atmen. Ein Plastikhelm siegelte ihn in eine winzige, von Menschenhang geschaffene Welt ganz für ihn allein ein. In ihr konnte er nicht einmal die kalten, steifen Winde spüren, die beständig gegen ihn anstürmten. Nach und nach wurde der Schnee tiefer. Er blickte zurück. Sein Raumschiff war von dem grauen Zwielicht vollkommen verschluckt worden, und das Vorankommen wurde schwieriger. »Wenn die hier eine Kolonie aufziehen«, sagte er zu sich, »dann kriegen sie mich bestimmt nicht dazu, mich darin niederzulassen!« Er stellte den Sauerstoff größer und schlurfte durch die Schneewehen. Nach einer Weile fing das Funkgerät Musik auf, eine Ahnung bloß, so schwach, daß er nicht einmal sicher sein konnte, sie auch wirklich zu hören. Er trottete zwei Stunden lang weiter und war inzwischen über eine Meile von dem Raumschiff entfernt. Er summte das Lied mit, das er zu hören meinte, an alles mögliche, nur nicht an die Venus denkend. Auf einmal fiel er in weichen, kniehohen Schnee. Er stand wieder auf und schüttelte sich. Er stellte fest, daß er schon seit einiger Zeit durch einen Schneesturm lief. Eingehüllt in den wunderbaren Anzug, hatte er das nicht einmal bemerkt. Doch fand er keinen Grund zur Unruhe. In seinem Raumanzug herrschte eine großartige Sicherheit. Das Heulen des Windes drang nur
schwach zu ihm durch. Hagelschauer prasselten harmlos auf seinen Plastikhelm, und das Geräusch ließ ihn an Regen denken, der auf ein Blechdach fällt. Er stapfte weiter und brach bei jedem Schritt durch die Kruste, die sich über dem tiefen Schnee gebildet hatte. Es schneite auch in der nächsten Stunde weiter. Radell bemerkte, daß der Wind stärker geworden war und mittlerweile fast Orkanstärke erreicht hatte. Verwehungen türmten sich rings um ihn her auf und überzogen sich in der eisigen Temperatur mit einer Kruste. Er hatte nicht die Absicht umzukehren. »Zum Teufel mit dem Wetter«, sagte er. »In diesem Anzug ist davon nichts zu merken.« Dann versank er bis zu den Hüften im Schnee. Er grinste und rappelte sich wieder heraus. Doch beim nächsten Schritt, den er machte, brach er erneut durch die Kruste. Er versuchte, hindurchzuwaten, aber der Widerstand, den ihm Schnee und Krusten entgegensetzten, war zu groß. Nach zehn Minuten war er außer Atem, und sein Anzug mußte ihn mit mehr Sauerstoff versorgen. Allerdings hatte Radell keine Angst. Er wußte, daß es auf der Venus keine wirklichen Gefahren gab – weder Menschen noch Tiere noch giftige Pflanzen. Er brauchte lediglich einige Meilen durch Schnee zu laufen, angetan mit dem modernsten und tauglichsten Raumanzug, den der Mensch je erdacht hatte. Er wurde durstig. Und er schien überhaupt nicht voranzukommen. Der Schnee reichte ihm inzwischen bis an die Brust, und es wurde zunehmend schwieriger, sich an die Oberfläche zu arbeiten, nur um mit dem nächsten Schritt wieder einzusinken. Trotzdem mühte er sich eine halbe Stunde lang verbissen ab. Er hielt inne. Durch die dichte Wand des sanft aus dem düsteren Himmel herabsinkenden Schnees war ihm jede Sicht genommen. In einer halben Stunde hatte er nicht mehr als zehn Meter zurückgelegt. Er saß fest.
Der interplanetare Funkverkehr war immer unsicher. Radell konnte offenbar keine Nachricht durchbringen. »Hier spricht Algonquin«, übermittelte er. »Ich rufe Con Electric.« »Stimmt, ich habe grünes Licht, ich komme.« »Denkst du, ich lüge? Er hat sich den Arm gebrochen…« »… und vier Kisten Spargel. Schreib meinen Namen drauf.« »Natürlich sind wir im freien Fall. Trotzdem hat er sich den Arm gebrochen.« »Algonquin ruft…« »He, Kontrollturm, laßt mich rein, ich habe grünes Licht.« »Dringend«, rief Radell. »Ich rufe Con Electric. Ich sitze im Schnee fest. Kann nicht mehr zum Raumschiff zurück. Was soll ich jetzt machen?« Die Verbindung war gestört. Radell setzte sich in den Schnee, um Anweisungen abzuwarten. Das Schneegestöber hielt er für eine Zumutung. Sollte er hier etwa den Eskimo spielen, oder was? Con Electric hatte ihn in diese Lage hineingeritten. Sollten sie ihn auch wieder herausholen. Der Raumanzug erhielt eine gleichbleibende Wärme aufrecht. Radell schaffte es, Hunger und Durst zu vergessen. Während die Schneewehen immer höher wurden, döste er ein. Nach einigen wenigen Stunden wachte er auf, durstiger denn je. Aus dem Funkgerät drang nur ein Rauschen. Es wurde ihm klar, daß er sich selbst helfen mußte. Wenn er nicht bald zu seinem Raumschiff zurückkäme, würde er vielleicht so erschöpft sein, daß er gar nichts mehr unternehmen könnte. Der großartige Schutz des Anzugs würde ihm dann auch nicht mehr helfen können. Er richtete sich auf. Ihm brannte die Kehle vor Durst, und er wünschte, er hätte Proviant mitgenommen. Aber wie hätte er auch ahnen sollen, daß er ihn brauchen würde, um fünf Meilen zurückzulegen, noch dazu mit so einem schweren und lästigen Anzug am Leib?
Er benötigte etwas, mit dem er sich über die dünne Kruste fortbewegen könnte. Schneeschuhe. Woraus waren Schneeschuhe auf der Erde gemacht? Er kniete sich hin und untersuchte eine der dünnen, biegsamen Pflanzen, die aus dem Schnee hervorragten. Die würden es auch tun. Er versuchte, eine abzubrechen. Sie war zäh und ölig. Seine in Handschuhen steckenden Hände rutschten einfach ab. Wenn er wenigstens ein Messer hätte. Aber weshalb sollte es an Bord eines Raumschiffes ein Messer geben? Das wäre da genauso nutzlos wie ein Speer oder Angelhaken gewesen. Er zerrte noch einmal an der Pflanze und zog schließlich die Handschuhe aus, um seine Taschen nach etwas Scharfem abzusuchen. Er fand nichts, nur die Broschüre »Landungsregeln für Frachtraketen von über 500 Bruttoregistertonnen«, die Eselsohren hatte. Er stopfte sie in die Tasche zurück. Er hatte bereits klamme Hände. Er zog die Handschuhe wieder an. Er hatte eine Idee. Er zog den vorderen Reißverschluß seines Anzugs auf, beugte sich vor und benutzte die eine Seite davon als Säge. Ein Einschnitt kam an der Pflanze zustande, und durch den geöffneten Anzug fegte ein Windstoß. Radell drehte die Heizung höher und sägte weiter. Als er drei Pflanzen abgeschnitten hatte, waren die Zähne des Reißverschlusses stumpf und ließen sich nicht mehr gebrauchen. Die hätten eine härtere Legierung verwenden sollen, dachte er. Er machte den Reißverschluß an einem Ärmel auf und sägte weiter. Endlich hatte er, was er brauchte. Er versuchte, die Reißverschlüsse zuzumachen, aber sie waren mit Harz und Holzfasern verklebt. Er zog die Öffnungen so gut er konnte zusammen und stellte die Heizung auf die höchste Stufe ein. Jetzt Schneeschuhe machen. Die Pflanzen ließen sich leicht biegen und schnellten ebenso leicht zurück. Er hatte keine Möglichkeit, sie miteinander zu verbinden. »Was für eine blöde Situation«, sagte er laut. Er hatte keinen Draht, keinen Bindfaden, kein Seil. Nichts. »Was soll ich jetzt machen?« fragte er sich.
»So einen Empfang habe ich noch nie erlebt«, ließ sich jemand aus dem Funkgerät vernehmen. »Algonquin ruft Erde«, sagte Radell mit heiserer Stimme zum tausendsten Mal. »Hallo Mars?« »Con Electric ruft Algonquin…« »Vielleicht ist es der Sonnenkranz.« »Kosmische Strahlung, klingt wahrscheinlicher. Wer ist das?« »Hier ist Con Electric. Unser Raumschiff ist überfällig…« »Hier spricht Algonquin!« rief Radell. »Radell? Was treiben Sie? Sie sind doch kein Forscher, und Zeit für Besichtigungstouren ist jetzt auch nicht. Laden Sie das Zeug ein und kommen Sie zurück.« »Hier ist Luna 2…« »Raus da, Luna!« schrie Radell. »Hören Sie, ich bin in einem Schlamassel. Sitze fest. Im Schnee. Brauche Schneeschuhe. Schneeschuhe! Könnt Ihr mich hören?« Das Funkgerät knarrte gestört. Radell wandte sich dem Problem der Schneeschuhe zu. Die Pflanzen mußten zusammengebunden werden. Die einzige Möglichkeit, die ihm dazu einfiel, war, entweder die Kabel des Funkgeräts oder der Heizung zu verwenden. Was sollte er opfern? Es war eine unangenehme Wahl, die er da treffen sollte. Er brauchte das Funkgerät. Aber ihn fror jetzt, obgleich die Heizung nach wie vor funktionierte. Würde er die kaputt machen, bliebe ihm gegen die Kälte auf der Venus nur noch der gefütterte Anzug. Das Funkgerät mußte dran glauben, entschied er. »… Sag ihr das, ja?« ließ es sich abrupt vernehmen. »Und wenn ich das nächste Mal frei habe…« Weg war es wieder. Nun fand er, sich von dem Funkgerät und den Stimmen, die es in die einsame, zivilisierte Welt seines Raumanzugs brachte, doch nicht trennen zu können. Schwindelig, müde, mit vor Durst ausgedörrter Kehle kam er
zu der Ansicht, solange er das beruhigende Summen der atmosphärischen Störungen hören könnte, wäre er nicht allein. Außerdem würde er, sollten die Schneeschuhe nicht funktionieren, ohne Funkgerät und die Möglichkeit, nach Hilfe zu rufen, wirklich festsitzen. Rasch, ehe er seine Meinung wieder ändern konnte, riß er die Drähte der Heizung heraus, entledigte sich der Handschuhe und machte sich an die Arbeit. Es war nicht so einfach, wie er sich das gedacht hatte. Er konnte kaum etwas sehen, weil der Plastikhelm nun, da der Entfroster nicht mehr wirkte, von innen beschlug. Die Knoten, die er in das glatte, mit Plastik umhüllte Kabel machte, gingen wieder auf. Er mußte lange herumprobieren, ehe er einen zustande brachte, der tatsächlich hielt. Und auch dann rutschten die Pflanzen noch durch die Bindung. Er rauhte sie an den Reißverschlüssen etwas auf, damit sie mehr Halt boten. Ein Schneeschuh war teilweise fertig, da mußte er die Arbeit unterbrechen, weil ihn ein Schwindel überfiel. Er brauchte unbedingt etwas zu trinken. Er setzte den Helm ab und stopfte sich eine Handvoll Schnee in den Mund. Der löschte seinen Durst etwas. Ohne Helm auf dem Kopf konnte er besser sehen. Finger und Zehen waren ihm abgestorben, und Taubheit kroch ihm durch die Glieder. Es tat nicht weh. Im Grunde war es ganz angenehm. Er war sehr schläfrig, fand er. Noch nie war er so schläfrig gewesen. Er beschloß, ganz kurz zu schlafen und danach von vorn anzufangen. »Dringend! Dringend! Con Electric ruft Algonquin. Melden Sie sich, Algonquin. Was ist los, Algonquin?« »Schneeschuhe. Kann nicht zum Raumschiff zurück«, murmelte Radell verschlafen. »Was ist passiert, Radell? Hat die Mechanik versagt? Stimmt mit dem Raumschiff etwas nicht?« »Das ist in Ordnung.«
»Der Anzug! Hat der Anzug versagt?« »Nein – « Radell war sehr benommen. Er wußte nicht, wie er erklären sollte, was passiert war, weil er es selbst nicht genau wußte. Irgendwie war er aus der Zivilisation gerissen und eine Million Jahre zurückgeschleudert worden, in eine Zeit, in der die Menschen noch im Kampf gegen die Elemente lebten. Vor kurzem noch hatte ihn Stahl umhüllt, und Feuer war ihm aus den Fingerspitzen gespritzt. Jetzt lag er am Boden und kämpfte mit den Gewalten des Feuers, der Luft und des Wassers. »Ich kann es nicht erklären. Holt mich hier jedenfalls raus«, sagte er. Plötzlich wurde ihm klar, daß sich im Verlauf der ganzen Menschheitsgeschichte nichts geändert hatte. Vielleicht war die Höhle ein bißchen größer, vielleicht waren die Feuersteine etwas besser, aber der Mensch selber war nicht größer, nicht zäher, nicht tauglicher. Draußen wütete immer noch der Sturm, hatten die Elemente die Oberhand. Er schüttelte sich völlig wach und erhob sich mit Mühe, sicher, eine wichtige Erkenntnis gewonnen zu haben. Zum ersten Mal begriff er, daß er um sein Leben kämpfte, genau wie Milliarden seiner Rasse seit der Zeitendämmerung, und daß sie immer kämpfen müßten, egal, wie gut sie ihre Raumschiffe auch bauten. Er würde nicht sterben. Jedenfalls nicht so leicht. Er brauchte ein Feuer, und zwar sofort. Er hatte Streichhölzer in der Hosentasche. Er zog schnell den Raumanzug aus, um an sie heranzukommen, und stand in Hose und Hemd im Schnee. Als nächstes errichtete er einen Windschutz aus Schnee und grub ein Loch, bis er auf Boden stieß. Er schichtete sorgfältig Zweige auf und schob ein paar mit Eselsohren versehene Seiten der »Landungsregeln« dazwischen. Er hielt ein Streichholz daran. Wenn es nicht brannte… Aber es brannte! Das Harz in den Zweigen fing sofort Feuer, und die Flammen schossen hoch und brachten den Schnee ringsum zum Schmelzen.
Radell füllte den Plastikhelm mit Schnee und stellte ihn in die Nähe des Feuers. Jetzt würde er Wasser haben! Er hockte sich dicht an die brennenden Zweige und zog sich das Hemd enger um den Körper. Die Flammen brannten bereits niedriger. Er legte alle übrigen Zweige nach. Sie reichten nicht aus. Selbst wenn er den halbfertigen Schneeschuh noch auflegte, würde das Feuer nur für kurze Zeit brennen. »Weißt du, was sie zu mir gesagt hat? Willst du wirklich wissen, was sie zu mir gesagt hat? Sie hat gesagt…« »Dringend! Dringend! Alle den Funkverkehr einstellen! Hören Sie, Radell, hier spricht Con Electric. Ein Raumschiff ist von Luna aus unterwegs zu Ihnen. Können Sie mich hören?« »Ich höre Sie. Wie lange wird es dauern, bis es hier ist?« fragte Radell. »Hören Sie uns nicht, Radell? Ist alles in Ordnung mit Ihnen? Antworten Sie, wenn Sie können.« »Ich höre Sie. Wie lange wird das Raumschiff brauchen…« »Sie kommen nicht durch. Egal, wir gehen davon aus, daß Sie noch am Leben sind. Das Raumschiff wird in etwa zehn Stunden da sein. Halten Sie durch, Radell.« Zehn Stunden! Das Feuer war fast aus. Wütend sägte Radell noch mehr Pflanzen ab. Aber er brachte sie nicht schnell genug zusammen, um den Flammen Nahrung zu geben. Das Wasser war geschmolzen. Er trank es hastig aus und duckte sich tiefer, so weit zu Boden wie es ging. Er legte sich den Anzug um und beugte sich ganz dicht über das niederbrennende Feuer. Zehn Stunden! Er hätte ihnen gern gesagt, daß der Raumanzug großartig war. Nur daß die Venus ihn ihm ausgezogen hatte. Der Wind heulte über seinen Kopf hinweg, abgelenkt durch den Windschutz. Das Feuer war nur noch eine winzige Flamme. Radell sah sich wild in der weißen Landschaft um und hielt nach etwas Ausschau, nach etwas, das brannte.
»Halt dich wacker, alter Junge. Wir kommen runter. Haben es in siebeneinhalb Stunden geschafft. Haben unseren ganzen Treibstoff verbraucht. Jetzt müssen sie ein Tankschiff hinter uns herschicken. Aber wir sind hier.« Eine helle Flamme blühte am grauen Himmel der Venus auf und sank auf die stumme Hülle der Algonquin zu. »Hörst du uns, Alter? Lebst du noch? Wir sind fast unten.« Das Raumschiff landete hundert Meter neben der Algonquin auf dem Heck. Drei Männer kletterten in den tiefen Schnee hinaus. Ein vierter brachte mehrere Paar Schneeschuhe hinterher. »Er hatte tatsächlich recht mit den Schneeschuhen, was?« Sie standen eng zusammen und prüften einen Kompaß, den einer von ihnen am Handgelenk trug. »Sein Funkgerät ist noch an. Hier entlang!« Sie eilten über den Schnee, in der Eile übereinander stolpernd. Nach einem Kilometer verlangsamten sie den Schritt, steuerten aber immer noch auf das Funksignal zu. Sie fanden Radell über ein kleines Feuer gebeugt vor. Sein Funkgerät lag ein paar Meter weit von ihm entfernt, wohin er es offenbar geworfen hatte. Er blickte auf, als die Männer näherkamen, und versuchte zu grinsen. Sie sahen seinen Raumanzug auf dem Boden, aufgerissen. Radell versorgte die Flammen mit der Fütterung des besten und teuersten Raumanzugs, den der Mensch sich je ausgedacht hatte.
Blinder Passagier Ein paar Stunden, nachdem das Raumschiff von der Erde gelandet war, fuhr ich zum Marshafen hinunter. Es hatte Bohrer mit Diamantenspitzen an Bord, die ich vor über einem Jahr angefordert hatte. Ich wollte sie abholen, ehe jemand anders sie mitnahm. Damit will ich nicht etwa andeuten, daß einer etwas stehlen würde; hier auf dem Mars sind wir schließlich alle Gentlemen und Wissenschaftler. Aber man kommt nur schwer an die Dinge heran, die man braucht, und so klaut ein Gentlemen-Wissenschaftler sie sich eben zusammen nach dem Motto: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Ich war gerade dabei, meine Bohrer im Jeep zu verstauen, als Carson von der Bergbau-Abteilung vorfuhr und eine Dringlichkeitsanforderung schwenkte. Das hatte ich vorausgesehen und mir deshalb von Direktor Burke eine Bescheinigung besorgt, aus der hervorging, daß ich die Sachen noch dringender brauchte. Carson war darüber so sauer, daß ich ihm drei Bohrer abgab. Er tuckerte in seinem Scooter über den roten Marssand davon, der auf Farbfotos immer so toll aussieht, sich aber in jeden Motor setzt und ihn völlig verklebt. Ich ging zu dem Raumschiff hinüber, nicht etwa, weil mich Raumschiffe auch nur die Bohne interessieren, sondern um einmal etwas anderes zu sehen. Da sah ich den blinden Passagier. Er stand in der Nähe des Raumschiffs, mit Augen, groß wie Untertassen, und betrachtete den roten Sand, die versengten Landepisten und die fünf Gebäude des Marshafens. Sein Gesichtsausdruck besagte: »Mars! Toll!« Ich stöhnte innerlich auf. Ich hatte an dem Tag mehr Arbeit, als ich in einem Monat erledigen konnte. Aber der Blindgänger war mein Problem. Aus einer bei ihm selten vorkommenden Laune heraus hatte Direktor
Burke zu mir gesagt: »Tully, du kannst mit Leuten umgehen. Du verstehst sie. Sie mögen dich. Deshalb ernenne ich dich zum Sicherheitschef auf dem Mars.« Dieser hier war etwa zwanzig Jahre alt. Er war fast zwei Meter groß, hatte aber über den Daumen gepeilt nur hundert Pfund schlecht genährten Fleisches auf den Knochen. Seine Nase wurde in unserem gesunden Marsklima langsam aber sicher knallrot. Er hatte große ungeschickt wirkende Hände und große Füße, und er schnappte wie ein Fisch an Land nach unserer gesunden Marsluft. Natürlich besaß er kein Atemgerät. Das haben blinde Passagiere nie. Ich trat zu ihm und sagte: »Na, wie gefällt es dir hier?« »Donner-wetter!« stieß er hervor. »Tolles Gefühl, was?« erkundigte ich mich. »Tatsächlich auf einem richtigen, grundehrlichen fremden Planeten zu stehen.« »Das kann man wohl sagen!« japste er. Allmählich nahm sein Gesicht, die Nasenspitze ausgenommen, eine leicht bläuliche Färbung an, weil es ihm an Sauerstoff mangelte. Ich beschloß, ihn noch etwas länger leiden zu lassen. »Du hast dich also in dem Frachter da versteckt«, sagte ich. »Bist für naß zum wundervollen, bezaubernden, exotischen Mars gereist.« »Na, ich glaube nicht, daß man mich als blinden Passagier bezeichnen kann«, sagte er, nach Atem ringend. »Ich habe sozusagen – sozusagen…« »… den Käpt’n bestochen«, beendete ich den Satz für ihn. Inzwischen schwankte er auf seinen langen, knochigen Beinen unsicher hin und her. Ich holte mein Ersatzatemgerät hervor und drückte es ihm auf die Nase. »Nun mal langsam, Blindi«, sagte ich. »Ich besorge dir jetzt was zu essen, und dann reden wir beide mal ein ernstes Wort miteinander.« Ich hielt ihn auf dem Weg zur Messe am Arm fest, denn er torkelte so heftig, daß er vermutlich über etwas gestolpert wäre und ihn sich gebrochen hätte. In der Messe drehte ich den Sauerstoff weiter auf und machte Schweinefleisch mit Bohnen für ihn warm.
Das schlang er hinunter wie ein Wolf, lehnte sich zurück und grinste von einem Ohr zum anderen. »Ich heiße Johnny Franklin«, erklärte er. »Mars! Ich kann es gar nicht fassen, daß ich wirklich hier bin.« Das sagen alle blinden Passagiere – wenn sie die Fahrt überleben. Jedes Jahr versuchen es ungefähr zehn, aber nur einer oder zwei schaffen es lebend. Sie sind so dämlich, die meisten von ihnen. Ein blinder Passagier bringt es trotz aller Sicherheitschecks fertig, sich an Bord einer Frachtrakete zu schleichen. Das Raumschiff hebt mit einem Affenzahn ab, und ohne besonderen Schutz wird unser Freifahrer plattgedrückt. Überlebt er das, schnappt ihn sich die Strahlung. Oder er erstickt in seinem luftlosen Versteck, ehe er sich in die Pilotenkanzel retten kann. Wir haben hier einen besonderen Friedhof, nur für blinde Passagiere. Doch ein paar von ihnen schlagen sich durch und betreten den Mars mit Rosinen im Kopf und leuchtenden Sternen im Blick. Ich muß ihnen den Zahn ziehen. »Warum bist du denn eigentlich auf den Mars gekommen?« erkundigte ich mich. »Das will ich Ihnen sagen«, sagte Franklin. »Auf der Erde muß man das machen, was jeder macht. Man muß genauso denken wie alle anderen und genauso handeln, wenn nicht, wird man eingesperrt.« Ich nickte. Die Verhältnisse auf der Erde waren jetzt gefestigt, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit. Weltfrieden, Weltregierung, Weltwohlstand. Die Verantwortlichen wollten, daß es so bleibt. Ich finde, sie gehen mit der Unterdrückung selbst harmloser einzelner zu weit, aber wer bin ich, daß ich das beurteilen könnte? In hundert Jahren oder so wird sich die Lage vermutlich entspannen, doch das nützt einem blinden Passagier, der heute lebt, natürlich nichts. »Du hast also den Drang nach neuen Ufern verspürt«, sagte ich. »Genau, Sir«, erwiderte Franklin. »Ich hoffe, es hört sich für Sie nicht zu kitschig an, Sir, aber ich möchte ein Pionier sein, der in die Annalen der Geschichte eingeht. Es ist mir ganz egal, wie schwer das ist. Ich wer-
de arbeiten! Sie werden schon sehen, Sir, lassen Sie mich bloß hierbleiben, bitte! Ich werde so schwer arbeiten…« »Was?« fragte ich. »Was?« Einen Moment lang war er verwirrt. Dann antwortete er: »Ich mache alles.« »Was kannst du denn? Wir könnten einen guten anorganischen Chemiker gebrauchen, klar. Gehen deine Fähigkeiten zufällig in diese Richtung?« »Nein, Sir«, sagte er. Es macht mir keinen Spaß, aber es ist wichtig, blinden Passagieren die rauhe und unangenehme Wahrheit um die Ohren zu hauen. »Chemie ist also nicht dein Gebiet«, meinte ich nachdenklich. »Ich hätte da vielleicht was für einen erstklassigen Geologen. Eventuell für einen Statistiker.« »Ich fürchte…« »Sag mal, Franklin, hast du deinen philosophischen Doktor gemacht?« »Nein, Sir.« »Einen Doktorgrad? Magister? Wenigstens einen volkswirtschaftlichen Abschluß?« »Nein, Sir«, erwiderte Franklin geknickt. »Ich habe noch nicht mal die High School beendet.« »Was meinst du denn dann, was du hier tun kannst?« fragte ich. »Also, Sir«, sagte Franklin. »Ich habe gelesen, daß das Projekt über den ganzen Mars verstreut ist. Ich dachte, ich könnte vielleicht so eine Art Bote sein. Ich kann auch tischlern und ein bißchen klempnern und – es muß doch etwas geben, was ich hier tun kann.« Ich schenkte ihm noch eine Tasse Kaffee ein, und er sah mich mit bittenden Augen an. Die blinden Passagiere gucken immer so, wenn wir an diesem Punkt angekommen sind. Sie glauben, der Mars sei wie Alaska in den siebziger Jahren oder wie die Antarktis im Jahr 2000 – ein Neuland für tapfere, entschlossene Männer. Aber der Mars ist kein Neuland. Er ist eine Sackgasse. »Franklin«, sagte ich, »wußtest du, daß das Marsprojekt sich nicht selbst trägt und vielleicht nie selbst tragen wird? Wußtest du, daß es das Projekt
etwa fünfzigtausend Dollar im Jahr kostet, hier einen Mann zu unterhalten? Bildest du dir ein, ein Jahresgehalt von fünfzigtausend wert zu sein?« »Ich esse nicht viel«, sagte Franklin. »Und wenn es mir eines Tages zum Hals raushängt, dann…« »Und«, unterbrach ich ihn, »warst du dir auch bewußt, daß es keinen einzigen Mann auf dem Mars gibt, der nicht wenigstens einen Doktortitel hat?« »Das wußte ich nicht«, flüsterte Franklin. Das wissen die blinden Passagiere nie. Ich muß es ihnen sagen. Ich erzählte Franklin also, daß die Wissenschaftler die Klempner- und Tischlerarbeiten erledigen, Botendienste übernehmen, daß sie kochen, saubermachen und reparieren – alles in ihrer Freizeit. Nicht gut vielleicht, aber es wird gemacht. Die Sache ist die: Es gibt keine Hilfsarbeit auf dem Mars. Das können wir uns einfach nicht leisten. Ich fürchtete, er würde in Tränen ausbrechen, doch er behielt sich in der Gewalt. Er sah sich nachdenklich in dem Raum um, jeden Gegenstand in unserer lausigen kleinen Messe in Augenschein nehmend. Dazu muß man wissen, daß alles auf dem Mars hergestellt worden war. »Komm mit«, sagte ich und stand auf. »Ich suche dir ein Bett. Morgen kümmern wir uns um deine Rückfahrt zur Erde. Laß es dich nicht so hart ankommen. Zumindest bist du auf dem Mars gewesen.« »Ja, Sir.« Er stand müde auf. »Aber zur Erde gehe ich nicht zurück, Sir.« Ich stritt mich nicht weiter mit ihm herum. Eine Menge blinder Passagiere nehmen den Mund zu voll. Woher sollte ich wissen, was dieser im Schilde führte? Nachdem ich Franklin untergebracht hatte, kehrte ich in mein Labor zurück und erledigte in ein paar Stunden Arbeiten, die unbedingt getan werden mußten. Dann fiel ich erschöpft ins Bett. Am nächsten Morgen wollte ich Franklin wecken. Er war nicht in seinem Bett. Ich mußte sofort an Sabotage denken. Wer weiß, was ein verhinderter Pionier anstellt? Er zieht vielleicht plötzlich ein paar Schießei-
sen aus dem Stapel oder jagt den Treibstofftank in die Luft. Ich rannte aufgeregt durch das Lager und suchte verzweifelt; schließlich entdeckte ich ihn im halbfertigen Versuchslabor. Das Versuchslabor war notwendigerweise eines unserer Freizeitprojekte. Wann immer jemand eine halbe Stunde erübrigen konnte, mauerte er ein paar Ziegel, sägte eine Tischplatte aus oder schraubte Scharniere an eine Tür. Keiner konnte lange genug von seiner Arbeit abgezogen werden, daß das Ding endlich einmal fertig wurde. Franklin hatte in ein paar Stunden mehr zustandegebracht als die meisten von uns in ein paar Monaten. Er war ein guter Tischler, das stimmte, und arbeitete drauflos, als wären Furien hinter ihm her. »Franklin!« rief ich. »Ja, Sir.« Er kam zu mir geeilt. »Ich wollte nur etwas für meinen Unterhalt tun, Mr. Tully. Lassen Sie mir noch ein paar Stunden Zeit, und ich habe das Dach fertig. Und wenn keiner die Rohrstücke da drüben braucht, könnte ich vielleicht bis morgen die Klempnerarbeiten erledigen.« Franklin war ein guter Mann, wohl wahr. Er war genau das, was der Mars brauchte. Wenn es nach Anstand und Gerechtigkeit gegangen wäre, hätte ich ihm auf die Schulter klopfen und sagen müssen: »Mein Junge, Bücherweisheit ist auch nicht alles. Du kannst bleiben. Wir brauchen dich.« Genau das hätte ich am liebsten gesagt. Aber ich konnte nicht. Auf dem Mars gibt es keine Erfolgsstories. Kein blinder Passagier taugt etwas. Wir Wissenschaftler werden mit den Tischler- und Klempnerarbeiten fertig, auch wenn die Ergebnisse noch so dürftig sind. Und eine doppelte Besetzung können wir uns einfach nicht leisten. »Würdest du bitte aufhören, mir die Sache schwer zu machen, Franklin? Ich bin ein weichherziger Ochse. Du hast mich überzeugt. Aber mir bleibt nichts anderes übrig, als auf die Einhaltung der Regeln zu dringen. Du mußt zurück.« »Ich kann nicht zurück«, sagte Franklin sehr leise. »Warum nicht?«
»Die sperren mich ein, wenn ich zurückgehe«, erklärte er. »Gut, klär mich auf«, stöhnte ich. »Mach es aber bitte kurz.« »Ja, Sir. Wie ich Ihnen schon erzählt habe«, sagte Franklin. »Auf der Erde muß man das tun, was alle tun, und denken, wie alle denken. Gut, das ging eine Zeitlang. Aber dann habe ich die Wahrheit entdeckt.« »Bitte?« »Ich habe die Wahrheit entdeckt«, sagte Franklin stolz. »Durch Zufall, aber es war im Grunde ganz leicht. Es war so leicht, daß ich es meiner Schwester beibrachte, und was die lernen kann, kann jeder lernen. Ich habe also versucht, es allen beizubringen.« »Weiter«, sagte ich. »Na ja, alle wurden sehr wütend. Sie erklärten mich für verrückt und meinten, ich soll den Mund halten. Aber ich konnte den Mund nicht halten, Mr. Tully, denn es ging doch um die Wahrheit. Nun, als sie mich dann einsperren wollten, bin ich auf den Mars gekommen.« Oh, toll, dachte ich. Franklin war genau das, was wir auf dem Mars brauchten. Ein guter, altmodischer religiöser Fanatiker, der uns abgebrühten Wissenschaftlern Predigten halten konnte. Und er war genau das, was der Arzt mir verschrieben hatte. Nun konnte ich, wenn ich ihn zur Erde – ins Gefängnis – zurückschickte, für den Rest meines Lebens an Schuldgefühlen leiden. »Und das ist noch nicht alles«, erklärte Franklin. »Diese rührende Geschichte ist noch nicht zu Ende?« »Nein, Sir.« »Also weiter«, seufzte ich. »Hinter meiner Schwester sind sie auch her«, sagte Franklin. »Verstehen Sie, nachdem sie die Wahrheit erkannt hatte, war sie genauso scharf darauf, sie weiterzuverbreiten wie ich. Es handelt sich schließlich um die Wahrheit, verstehen Sie? Jetzt muß sie sich also verstecken, bis – bis – « Er putzte sich die Nase und schluckte traurig. »Ich hatte gehofft, ich könnte Ihnen zeigen, wie gut ich mich für den Mars eigne, und dann könnte meine Schwester nachkommen und…« »Halt!« sagte ich.
»Ja, Sir.« »Ich will nichts mehr hören«, erklärte ich ihm. »Ich habe dir schon zu lange zugehört.« »Möchten Sie, daß ich Ihnen die Wahrheit erzähle?« fragte Franklin eifrig. »Ich könnte Ihnen erzählen…« »Kein Wort mehr!« brüllte ich. »Ja, Sir.« »Franklin, ich kann wirklich überhaupt nichts für dich tun. Du hast nicht die Qualifikationen, die wir hier brauchen. Ich habe nicht die Macht, dir das Hierbleiben zu erlauben. Ich kann allenfalls mit dem Direktor über dich sprechen, und das werde ich tun.« »Toll! Tausend Dank, Mr. Tully. Würden Sie ihm bitte erklären, daß ich mich von der Reise noch nicht erholt habe? Wenn ich erst wieder bei Kräften bin, dann zeige ich Ihnen…« »Sicher, schon gut«, sagte ich und machte mich rasch aus dem Staub. Der Direktor starrte mich an, als hätte ich meinen Regler fallengelassen. »Aber Tully«, sagte er in aller Ruhe, »du kennst doch die Regeln.« »Sicher«, erwiderte ich. »Aber er wäre wirklich nützlich. Und ich hasse es, ihn zur Polizei zurückzuschicken.« »Es kostet fünfzigtausend Dollar, einen Mann auf dem Mars zu unterhalten – pro Jahr«, sagte der Direktor. »Meinst du, er ist es wert, daß man ihm…« »Ich weiß, ich weiß«, sagte ich. »Aber er ist so ein rührender Fall, und er ist so eifrig. Wir könnten ihn einsetzen als…« »Alle blinden Passagiere sind rührend«, sagte der Direktor. »Tja, schließlich sind sie nur menschlicher Abschaum, nicht wie wir Wissenschaftler. Also zurück mit ihm.« »Ed«, sprach der Direktor ruhig. »Ich spüre, daß sich wegen dieser Sache eine Verstimmung zwischen uns aufbaut. Deshalb werde ich sie dir überlassen. Du weißt, daß es jedes Jahr fast zehntausend Bewerbungen um eine Stelle in dem Marsprojekt gibt. Wir lehnen Leute ab, die besser sind als wir selber. Es gibt Burschen, die studieren jahrelang, um hier
einen bestimmten Platz auszufüllen, und wenn sie die Universität dann verlassen, ist er bereits besetzt. Wenn du das alles in Betracht ziehst, bist du dann der ehrlichen Überzeugung, daß Franklin bleiben sollte?« »Ich – verdammt noch mal, nein, wenn du es so darstellst.« »Kann man es anders darstellen?« fragte der Direktor. »Natürlich nicht.« »Das ist nun mal eine traurige Situation, wenn viele sich berufen fühlen, doch nur wenige erwählt werden«, meinte der Direktor nachdenklich. »Es besteht ein Bedarf an Neuland. Ich würde den Mars gern weit für die Besiedlung öffnen. Eines Tages werden wir das auch machen. Aber erst, wenn wir uns selbst versorgen können.« »Richtig«, sagte ich. »Ich kümmere mich um die Rückfahrt des blinden Passagiers.« Franklin arbeitete am Dach des Versuchslabors, als ich zurückkam, und er brauchte sich nur mein Gesicht anzusehen, um zu wissen, wie die Antwort lautete. Ich kletterte in meinen Jeep und fuhr zum Marshafen. Ich wollte dem Kapitän des Weltraumfrachters, der Franklin an Bord gelassen hatte, einmal richtig den Kopf waschen. Zu oft passieren solche Sachen. Dieser Witzbold sollte den Jungen wieder mit zur Erde nehmen. Der Frachter stand auf der Abschußrampe, die Nase in den Himmel gerichtet. Clarkson, unser Atomphysiker, machte ihn startklar. »Wo ist der Käpt’n von dieser Karre?« fragte ich. »Die hat keinen Käpt’n«, erwiderte Clarkson. »Das ist ein Frachtmodell. Funkgesteuert.« Mein Magen geriet in Bewegung. »Kein Käpt’n?« »Nee.« »Keine Besatzung?« »Doch nicht auf einem Frachter«, sagte Clarkson. »Das weißt du doch, Tully.« »In dem Fall«, sagte ich helle, »gibt es an Bord keinen Sauerstoff.«
»Natürlich nicht!« »Und keinen Strahlungsschild.« »Stimmt.« Clarkson starrte mich an. »Und keine Isolierung.« »Gerade ausreichend, damit die Hülle nicht schmilzt.« »Ich nehme an, sie ist mit der Höchstgeschwindigkeit gestartet, oder?« »Sicher«, erklärte Clarkson. »Das ist nun mal wirtschaftlicher, wenn keine Personen an Bord sind. Was nagt denn an dir?« Ich gab ihm keine Antwort. Ich ging einfach zum Jeep und raste zum Versuchslabor zurück. Mein Magen war schon längst nicht mehr nur in Aufruhr; er drehte sich wie ein Plattenteller. Kein Mensch hätte diese Reise überstehen können. Unter gar keinen Umständen. Keiner von zehn Milliarden. Das war eine physische Unmöglichkeit. Als ich zum Labor kam, hatte Franklin das Dach fertig und schweißte am Boden Rohre zusammen. Es war Mittagspause, und einige Männer von der Bergbauabteilung halfen ihm. »Franklin«, sagte ich. »Ja, Sir?« Ich atmete tief durch. »Franklin, bist du mit der Frachtrakete hergekommen?« »Nein, Sir«, sagte er. »Ich habe versucht, Ihnen zu erklären, daß ich keinen Käpt’n bestochen habe, aber Sie wollten nicht…« »Wenn das so ist«, sagte ich sehr langsam, »wie bist du dann hergekommen?« »Mit Hilfe der Wahrheit.« »Könntest du mir das vormachen?« Franklin überlegte einen Augenblick. »Die Reise hat mich irgendwie schrecklich müde gemacht, Mr. Tully«, sagte er, »aber ich denke schon.« Und er verschwand.
Ich stand da und blinzelte. Dann zeigte einer der Männer von der Bergbauabteilung nach oben. Da, in ungefähr tausend Meter Höhe, schwebte Franklin. Im nächsten Augenblick stand er wieder neben mir, mit von der Kälte rotgefrorener Nase. Das sah ganz nach momentaner Verlegung aus. Mein lieber Schwan! »Ist das die Wahrheit?« fragte ich. »Ja, Sir«, erklärte Franklin. »Es ist eine andere Art, die Dinge zu betrachten. Wenn man sie erst einmal sieht – wirklich sieht –, dann kann man alle möglichen Sachen machen. Doch auf der Erde nannten sie es – eine Halluzination, und sie sagten, ich müßte damit aufhören, Leute zu hypnotisieren und…« »Du kannst anderen das beibringen?« fragte ich. »Sicher«, sagte Franklin. »Es kann allerdings einige Zeit dauern.« »Das macht nichts. Ich glaube, wir können uns etwas Zeit dafür nehmen. Klar, Mensch, ganz bestimmt. Zeit, die für die Wahrheit aufgewendet wird, ist schließlich keine vertane Zeit, no, Sir…« Ich weiß nicht, wie lange ich noch weitergebrabbelt hätte, wenn Franklin mir nicht eifrig ins Wort gefallen wäre. »Mr. Tully, heißt das, daß ich bleiben kann?« »Du kannst bleiben, Franklin. Um es genau zu sagen, wenn du versuchst abzuhauen, knalle ich dich ab.« »Oh, vielen Dank, Sir! Und was ist mit meiner Schwester? Darf sie herkommen?« »Sicher, doch, klar«, sagte ich. »Deine Schwester kann herkommen. Wann immer sie…« Die Männer von der Bergbauabteilung schrien verblüfft auf. Mir standen die Nackenhaare zu Berge, und ich drehte mich sehr langsam um. Da stand ein Mädchen, ein großes, schlankes Mädchen mit Augen, groß wie Untertassen. Es blickte wie ein Schlafwandler um sich und murmelte: »Mars! Donner-Wetter!« »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte es. »Ich, äh, ich habe gelauscht.«
Die Akademie Gebrauchsanleitung für das Gerät zur Messung der geistigen Gesundheit von Cahill-Thomas, Serie JM/14 (manuelle Bedienung): Die Cahill-Thomas Gerätebau freut sich, Ihnen ihr neuestes Gerät zur Messung der geistigen Gesundheit vorstellen zu können. Dieses formschöne, leistungsstarke Instrument paßt von der Größe her in jedes Schlafzimmer, jede Küche, jede Kammer und ist in jeder Hinsicht mit den größeren C-T-Modellen vergleichbar, die in den meisten Geschäfts-, Unterhaltungs- und Transportunternehmen in Gebrauch sind. Wir haben keine Mühe gescheut, Ihnen das bestmögliche Gerät zur Messung Ihrer geistigen Gesundheit zum geringstmöglichen Preis anbieten zu können. 1. Bedienung: In der rechten unteren Ecke Ihres Gerätes befindet sich ein Schalter. Stellen Sie ihn auf AN und warten Sie einige Sekunden, damit das Gerät warmlaufen kann. Dann schalten Sie von AN auf BETRIEB um. Geben Sie dem Gerät ein paar Sekunden Zeit zum Ablesen. 2. Ablesen: Auf der Vorderseite Ihres Gerätes befindet sich oberhalb des Bedienungsschalters ein durchsichtiges Feld mit einer waagerechten Skala von null bis zehn. Die Zahl, bei welcher der schwarze Zeiger halt macht, zeigt den Grad Ihrer geistigen Gesundheit im Verhältnis zur augenblicklich gültigen statistischen Norm an. 3. Erklärung der Zahlen null bis drei: Bei diesem Modell – wie bei allen Geräten zur Messung der geistigen Gesundheit – zeigt null die theoretisch vollkommene geistige Gesundheit an. Alles über null wird als Abweichung von der Norm angesehen. Allerdings ist null eher ein statistischer, als ein tatsächlicher Wert. Der Normalitätsgrad liegt in unserer Zivilisation zwischen null und drei. Alles, was sich in dieser Zone bewegt, wird als normal angesehen. 4. Erklärung der Zahlen vier bis sieben: Diese Zahlen bilden die Toleranzgrenze der geistigen Gesundheit. Personen, deren Werte sich in dieser
Zone bewegen, sollten auf der Stelle den von ihnen bevorzugten Therapeuten zu Rate ziehen. 5. Erklärung der Zahlen acht bis zehn: Eine Person, deren Einstufung über sieben liegt, wird als hochgradig gefährlich für ihre Umgebung angesehen. Mit ziemlicher Gewißheit ist sie höchst neurotisch, präpsychotisch oder psychotisch. Sie ist gesetzlich verpflichtet, ihre Einstufung anzuzeigen und innerhalb einer Bewährungsfrist unter sieben zu drücken. (Bewährungsfristen entnehmen Sie den Verordnungen Ihres Bundesstaates.) Gelingt ihr dies nicht, ist sie gehalten, sich einem chirurgischen Eingriff zu unterziehen oder freiwillig in therapeutische Behandlung in der Akademie zu begeben. 6. Erklärung der Zahl zehn: Die Zahl zehn ist auf Ihrem Gerät durch einen roten Strich gekennzeichnet. Geht der Zeiger beim Ablesen Ihrer geistigen Gesundheit über diesen Strich hinaus, dann können Sie sich nicht mehr in eine reguläre therapeutische Behandlung begeben. Vielmehr müssen Sie sich sofort einem chirurgischen Eingriff unterziehen oder zur therapeutischen Behandlung in die Akademie begeben. Achtung: A. Dies ist kein Diagnosegerät. Versuchen Sie nicht, selbst zu bestimmen, welches Ihr Leiden ist. Die Zahlen null bis zehn stellen Intensitätsgrade dar; sie sind keine willkürliche neurotische, präpsychotische, psychotische etc. Klassifizierung. Die Intensitätsskala zeigt lediglich die Gefahr an, die jemand für die soziale Ordnung darstellt. Eine bestimmte Art Neurose kann potentiell gefährlicher sein als eine Psychose und wird von dem Meßgerät auch so angezeigt. Zur weiteren Aufklärung suchen Sie bitte einen Therapeuten auf. B. Die Einteilung von null bis zehn ergibt für Ihren Zustand lediglich Annäherungswerte. Um präzisere Werte zu erhalten, wenden Sie sich bitte an ein größeres Meßgerät von Cahill-Thomas, wie es im wirtschaftlichen Bereich im Einsatz ist. C. Denken Sie daran: Geistige Gesundheit geht jeden an. Wir haben seit den großen Weltkriegen einen weiten Weg zurückgelegt, einzig und allein deshalb, weil wir unsere Zivilisation auf die soziale Gesundheit, die Verantwortlichkeit des einzelnen und die Erhaltung des Status quo ge-
gründet haben. Lassen Sie sich also helfen, wenn Ihre Einstufung über drei liegt, liegt sie über sieben, müssen Sie sich helfen lassen. Liegt Ihre Einstufung über zehn, dann warten Sie nicht ab, bis man Sie aufspürt und gefangennimmt. Geben Sie sich im Namen der Zivilisation freiwillig auf. Viel Glück! Cahill-Thomas Gerätebau Als er mit dem Frühstück fertig war, hätte Mr. Feerman, wie er sehr wohl wußte, eigentlich sofort zur Arbeit gehen müssen. Unter den gegebenen Umständen hätte man ihm jede Verspätung zum Nachteil ausgelegt. Er ging so weit, daß er seinen gepflegten grauen Hut aufsetzte, die Krawatte ordnete und zur Tür schritt. Dort aber, die Hand bereits auf der Klinke, beschloß er, auf die Post zu warten. Er wandte sich von der Tür weg, ärgerlich über sich, und fing an, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Er hatte vorher genau gewußt, daß er auf die Post warten würde; warum also hatte er so getan, als würde er gehen? Konnte er nicht ehrlich zu sich sein, nicht einmal jetzt, wo Ehrlichkeit sich selbst gegenüber so wichtig war? Sein schwarzer Cocker-Spaniel Speed, der sich auf dem Sofa zusammengerollt hatte, warf ihm einen neugierigen Blick zu. Feerman tätschelte dem Hund den Kopf, griff nach einer Zigarette und änderte seine Absicht. Er streichelte Speed noch einmal, und der Hund gähnte faul. Feerman rückte eine Lampe zurecht, die überhaupt nicht zurechtgerückt zu werden brauchte, er zitterte ohne ersichtlichen Grund und schritt erneut im Zimmer auf und ab. Widerstrebend gestand er sich ein, daß er seine Wohnung nicht verlassen wollte, daß er sich sogar davor fürchtete, obgleich gar nichts passieren würde. Er versuchte, sich davon zu überzeugen, daß heute ein Tag wie jeder andere war, ein Tag wie gestern oder vorgestern. Bestimmt würden die Ereignisse sich bis ins Unendliche hinein aufschieben, solange man nur daran glaubte, wirklich glaubte, und ihm würde gar nichts geschehen.
Außerdem, warum sollte ausgerechnet heute etwas passieren? Er hatte die Bewährungsfrist ja noch lange nicht hinter sich gebracht. Er vermeinte, vor der Wohnung ein Geräusch zu hören, eilte an die Tür und machte sie auf. Er hatte sich geirrt; die Post war noch nicht da. Doch am anderen Ende des Korridors öffnete die Hausbesitzerin ihre Wohnungstür und blickte ihn mit blassen, unfreundlichen Augen an. Feerman schloß die Tür und stellte fest, daß ihm die Hände zitterten. Er beschloß, doch lieber seinen geistigen Gesundheitszustand abzulesen. Er ging ins Schlafzimmer, aber sein Robutler war damit beschäftigt, einen kleinen Schmutzhaufen in die Mitte des Raumes zu kehren. Sein Bett hatte er bereits gemacht; das Bett seiner Frau hatte nicht gemacht zu werden brauchen, da es schon seit fast einer Woche nicht mehr benutzt worden war. »Soll ich hinausgehen, Sir?« fragte der Robutler. Feerman zögerte mit der Antwort. Eigentlich war er beim Ablesen seiner Werte lieber allein. Natürlich war der Robutler im Grunde ein Niemand. Strenggenommen besaß er keine Persönlichkeit; doch hatte er etwas, was sich wie eine Persönlichkeit ausnahm. Wie dem auch sei, es spielte keine Rolle, ob er blieb oder nicht, denn in alle Haushaltsroboter war ein Gerät zum Ablesen der geistigen Gesundheit ihrer Arbeitgeber eingebaut. So schrieb es das Gesetz vor. »Tu, wie dir beliebt«, sagte er schließlich. Der Robutler saugte den kleinen Schmutzhaufen auf und glitt geräuschlos aus dem Zimmer. Feerman trat an das Meßgerät, stellte es an und schaltete auf Betrieb um. Er beobachtete mürrisch, wie der schwarze Zeiger langsam an der normalen Zwei und Drei vorbeikletterte, die abweichende Sechs und Sieben hinter sich ließ und schließlich zwei Teilstriche hinter der Acht zum Stillstand kam. Fast ein Zehntel Punkt höher als gestern. Fast ein Zehntel Punkt näher am roten Strich. Feerman schaltete das Gerät aus und zündete sich in aller Ruhe eine Zigarette an. Er ging aus dem Schlafzimmer, langsam, erschöpft, als hätte er den Tag bereits hinter sich, nicht noch zu bestehen.
»Die Post, Sir«, sagte der Robutler, ihm entgegengleitend. Feerman nahm ihm die Briefe aus der ausgestreckten Hand und sah sie durch. »Sie hat nicht geschrieben«, sagte er, ohne es zu wollen. »Das tut mir leid, Sir«, erwiderte der Robutler prompt. »Dir tut es leid?« Feerman warf der Maschine einen neugierigen Blick zu. »Warum?« »Ich bin natürlich an Ihrem Wohlergehen interessiert, Sir«, stellte der Robutler fest. »Genau wie Speed, soweit sein Verstand das zuläßt. Ein Brief von Mrs. Feerman hätte Ihre Stimmung gehoben. Es tut uns leid, daß er nicht gekommen ist.« Speed stieß ein leises Bellen aus und legte den Kopf auf die Seite. Mitgefühl von einer Maschine, dachte Feerman, Bedauern von einem Tier. Aber er war trotzdem dankbar. »Ich nehme es ihr nicht übel«, sagte er. »Man konnte nicht erwarten, daß sie es bis in alle Ewigkeit mit mir aushält.« Er wartete, weil er hoffte, der Roboter würde ihm sagen, daß seine Frau wieder zurückkehrt, daß er bald wieder auf dem Damm wäre. Aber der Robutler stand schweigend neben Speed, der schon wieder eingeschlafen war. Feerman sah die Post noch einmal durch. Mehrere Rechnungen waren darunter, eine Reklamesendung sowie ein kleiner, steifer Brief. Als Absender war die Akademie angegeben, und Feerman riß ihn schnell auf. Eine Karte befand sich in dem Umschlag, auf der stand: »Lieber Mr. Feerman, Ihr Gesuch um Aufnahme wurde geprüft und angenommen. Wir würden und freuen, Sie jederzeit empfangen zu können. Vielen Dank. Die Direktion.« Feerman besah sich die Karte argwöhnisch. Er hatte die Akademie nie um Aufnahme ersucht. Das war das Allerletzte, was er tun würde. »Hat meine Frau sich das einfallen lassen?« »Ich weiß es nicht, Sir«, erwiderte der Robutler. Feerman drehte die Karte hin und her. Die Existenz der Akademie war ihm irgendwo im Hinterkopf natürlich stets bewußt gewesen. Es blieb einem gar nichts anderes übrig, da ihre Gegenwart in jeden Lebensbereich eingriff. Aber tatsächlich wußte er sehr wenig über diese wichtige Institution, überraschend wenig. »Was ist die Akademie?« fragte er.
»Ein großes, flaches graues Gebäude«, antwortete der Robutler. »Es liegt in der Südwestecke der Stadt und kann mit einer Vielzahl öffentlicher Verkehrsmittel erreicht werden.« »Aber was ist sie?« »Eine gesetzlich geschützte Therapie«, erwiderte der Robutler, »jedem zugänglich, der schriftlich oder mündlich darum ersucht. Darüber hinaus besteht die Akademie als eine freiwillige Wahlmöglichkeit für alle Leute, deren Einstufung bei zehn und mehr liegt, als Alternative zur operativen Persönlichkeitsänderung.« Feerman schnaubte vor Ärger. »Das alles ist mir bekannt. Was ist ihr System, wollte ich wissen. Welche Therapie wendet sie an?« »Das weiß ich nicht, Sir«, sagte der Robutler. »Wie hoch sind ihre Heilungserfolge?« »Hundert Prozent«, antwortete der Robutler ohne Zögern. Feerman fiel nun etwas anderes ein, etwas, das ihm sehr merkwürdig vorkam. »Warte mal«, sagte er. »Keiner verläßt die Akademie. Stimmt das?« »Daß jemand sie verlassen hätte, nachdem er sie betreten hat, darüber gibt es keinen Bericht«, sagte der Robutler. »Warum nicht?« »Das weiß ich nicht, Sir.« Feerman zerknüllte die Karte und warf sie in einen Aschenbecher. Es war alles sehr seltsam. Die Akademie war so bekannt, so anerkannt, daß man niemals auf die Idee kam, sich nach ihr zu erkundigen. In seinem Bewußtsein war sie stets ein verschwommener Ort gewesen, weit weg, unwirklich. Sie war die Stelle, zu der man ging, wenn man über zehn lag, da man sich keiner Lobotomie, Topektomie oder irgendeiner anderen Maßnahme unterziehen wollte, die eine organische Persönlichkeitseinbuße mit sich brachte. Aber natürlich bemühte man sich, gar nicht erst an die Möglichkeit zu denken, über zehn zu geraten, denn der Gedanke allein war bereits ein Eingeständnis der Unausgeglichenheit, und daher dachte man nicht an die Möglichkeit, die man hatte, wenn es passierte. Zum ersten Mal in seinem Leben kam Feerman zu dem Schluß, daß ihm die Organisation nicht gefiel. Er würde ein paar Nachforschungen
anstellen müssen. Warum verließ nie jemand die Akademie? Warum war nicht mehr über ihre Therapie bekannt, wenn die Behandlungserfolge wirklich bei hundert Prozent lagen? »Ich sollte zur Arbeit gehen«, sagte Feerman. »Mach mir irgend etwas zum Abendessen.« »Sehr wohl, Sir. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag, Sir.« Speed sprang vom Sofa herunter und folgte ihm an die Tür. Feerman beugte sich nieder und strich dem Hund über den schmalen schwarzen Kopf. »Nein, mein Bübchen, du bleibst hier. Heute vergraben wir keine Knochen.« »Speed vergräbt keine Knochen«, sagte der Robutler. »Stimmt.« Hunde hatten heutzutage, genau wie ihre Herren, nur selten ein Gefühl der Unsicherheit. Heutzutage vergrub niemand Knochen. »Bis dann.« Er eilte an der Tür der Hausbesitzerin vorbei auf die Straße. Feerman kam fast zwanzig Minuten zu spät zur Arbeit. Als er das Gebäude betrat, vergaß er, dem aufmerksamen Mechanismus an der Tür seine Bewährungsbescheinigung vorzulegen. Das riesige kommerzielle Gerät zur Messung der geistigen Gesundheit spürte ihn auf, sein Zeiger schoß an der sieben vorbei, rote Lampen leuchteten auf. Eine rauhe metallische Stimme rief über den Lautsprecher: »Sir! Sir! Ihre Abweichungen von der Norm hat die Sicherheitsmarke überschritten! Bitte bemühen Sie sich sofort um eine Therapie!« Hastig zog Feerman die Bewährungsbescheinigung aus der Brieftasche. Aber perverserweise fuhr die Maschine noch volle zehn Sekunden fort, ihn anzublaffen. Jeder in der Halle starrte ihn an. Botenjungen blieben wie angewurzelt stehen, hocherfreut, zu Zeugen einer Störung geworden zu sein. Geschäftsmänner und Büromädchen flüsterten miteinander, und zwei Gesundheitspolizisten wechselten vielsagende Blicke. Sein schweißnasses Hemd klebte ihm am Rücken. Er widerstand einem Drang, aus dem Gebäude zu rennen, und ging statt dessen zum Fahrstuhl. Doch der war fast voll, und er brachte es nicht über sich, auch noch einzusteigen. Er trabte die Treppe in den zweiten Stock hinauf, und dort nahm er für den Rest des Weges einen Fahrstuhl. Bis er die Morgan-Agentur er-
reichte, hatte er sich wieder in der Gewalt. Er legte dem Gesundheitsmesser an der Tür seine Bewährungsbescheinigung vor, wischte sich das Gesicht mit einem Taschentuch ab und trat ein. Jeder in der Agentur wußte, was passiert war. Er konnte es dem Schweigen, den abgewandten Gesichtern entnehmen. Feerman ging rasch in sein Büro, schloß die Tür hinter sich und hängte seinen Hut auf. Er setzte sich an den Schreibtisch, immer noch etwas außer Atem, voller Zorn auf den Gesundheitsmesser. Wenn er diese verdammten Dinger doch zertrümmern könnte! Ständig schnüffelten sie herum, lagen einem mit ihren Sturmglocken in den Ohren, brachten einen aus dem Gleichgewicht… Feerman schnitt den Gedanken schnell ab. Mit den Meßgeräten war alles in Ordnung. Sie in Gedanken für eigenständig handelnde Verfolger zu halten, war paranoid und vielleicht ein Zeichen seiner augenblicklichen ungesunden Verfassung. Die Geräte waren lediglich der verlängerte Arm des menschlichen Willens. Die Gesellschaft als Ganzes, rief er sich in die Erinnerung zurück, mußte vor dem einzelnen geschützt werden, genau wie ein menschlicher Körper vor dem fehlerhaften Funktionieren eines seiner Teile geschützt werden mußte. So stolz man auf seine Gallenblase auch sein mochte, man würde sie gnadenlos opfern, würde sie den Rest des Körpers in Unordnung bringen. Er spürte, daß dieser Vergleich hinkte, beschloß aber, dem nicht auf den Grund zu gehen. Er mußte mehr über die Akademie herausfinden. Nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte, rief er den Therapienachweisdienst an. »Kann ich Ihnen helfen, Sir?« meldete sich die angenehme Stimme einer Frau. »Ich hätte gern einige Auskünfte über die Akademie«, sagte Feerman, sich etwas töricht vorkommend. Die Akademie war derart bekannt, so sehr ein Teil des täglichen Lebens, daß die Frage nach ihr der Frage nach der Regierungsform des Landes gleichkam, in dem man lebte. »Die Akademie befindet sich…«
»Ich weiß, wo sie sich befindet«, unterbrach Feerman. »Ich möchte wissen, was für eine Therapie sie einem dort zuteil werden lassen.« »Diese Auskunft kann ich Ihnen nicht geben, Sir«, antwortete die Frau nach einer Pause. »Nein? Ich dachte, alle Angaben über kommerzielle Therapien wären der Öffentlichkeit zugänglich.« »Theoretisch wohl«, sagte die Frau langsam. »Die Akademie ist strenggenommen aber keine kommerzielle Einrichtung. Sie läßt sich ihre Leistungen zwar bezahlen, behandelt ohne Einschränkung aber auch Sozialfälle. Teilweise wird sie von der Regierung finanziert.« Feerman strich die Asche von seiner Zigarette ab und sagte ungeduldig: »Ich dachte, alle Regierungsprojekte stünden der Öffentlichkeit offen.« »Im allgemeinen tun sie das auch. Es sei denn, ein genauer Einblick schadet der Öffentlichkeit.« »Demnach wäre ein Einblick in die Akademie also schädlich?« sagte Feerman triumphierend, denn er hatte das Gefühl, den wunden Punkt der Sache getroffen zu haben. »Oh, nein, Sir!« Die Stimme der Frau wurde vor Verblüffung schrill. »Das wollte ich damit nun wirklich nicht andeuten! Ich habe lediglich auf die allgemeinen Regeln beim Zurückhalten von Informationen hingewiesen. Die Akademie, wenngleich gesetzlich abgesichert, steht bis zu einem gewissen Grad außerhalb der Gesetze. Das ist deshalb erlaubt, weil sie hundertprozentige Heilerfolge erzielt.« »Wo kann ich mir ein paar von den Geheilten ansehen?« fragte Feerman. »Soweit ich weiß, wird nie jemand aus der Akademie entlassen.« Jetzt habe ich euch, dachte er, auf eine Antwort wartend. Am anderen Ende der Leitung meinte er ein Flüstern zu hören. Auf einmal schaltete sich eine Männerstimme ein, laut und deutlich. »Hier spricht der Abteilungsleiter. Gibt es da Schwierigkeiten?« Als er die schneidende Stimme des Mannes hörte, hätte Feerman beinahe den Hörer aufgelegt. Das Gefühl des Triumphes, das er gehabt hatte, schwand dahin, und er wünschte, er hätte nie angerufen. Aber er zwang sich zum Weitermachen. »Ich möchte einige Auskünfte über die Akademie haben.« »Sie befindet sich…«
»Nein! Ich meine richtige Auskünfte!« rief Feerman verzweifelt. »Aus welchem Grund möchten Sie diese Auskünfte haben?« fragte der Abteilungsleiter, und seine Stimme klang auf einmal so sanft, beinahe hypnotisch, wie die eines Therapeuten. »Zum Verständnis«, erwiderte Feerman rasch. »Da die Akademie eine therapeutische Alternative ist, die mir jederzeit offensteht, würde ich gern wesentlich mehr über sie wissen, um beurteilen zu können…« »Sehr plausibel«, sagte der Abteilungsleiter. »Bedenken Sie aber: Fragen Sie, um zu einem nützlichen, sachlichen Verständnis zu kommen? Das Ihre Integration in die Gesellschaft verbessert? Oder fragen Sie bloß aus überschäumender Neugierde, Ihrer Unruhe und anderen, tieferen Trieben nachgehend?« »Ich frage, weil…« »Wie heißen Sie?« wollte der Abteilungsleiter auf einmal wissen. Feerman schwieg. »Wie ist der Stand Ihrer geistigen Gesundheit?« Feerman sagte immer noch kein Wort. Er versuchte zu entscheiden, ob man dem Anrufer bereits auf der Spur war, und kam zu dem Schluß, daß dies der Fall war. »Zweifeln Sie an der grundsätzlichen Wohltätigkeit der Akademie?« »Nein.« »Bezweifeln Sie, daß die Akademie für die Erhaltung des Status quo arbeitet?« »Nein.« »Was für ein Problem haben Sie dann also? Warum wollen Sie mir nicht Ihren Namen und den Stand Ihrer geistigen Gesundheit sagen? Warum verspüren Sie dieses Bedürfnis nach mehr Informationen?« »Vielen Dank«, murmelte Feerman und legte auf. Ihm wurde klar, daß der Anruf ein schrecklicher Fehler gewesen war. So handelte einer, der über acht lag, kein normaler Mensch. Der Abteilungsleiter mit seinem geschulten Gespür hatte das sofort gemerkt. Selbstverständlich gab der Abteilungsleiter keinem, der über acht lag, eine Auskunft! Feerman wußte, daß er seine Handlungen viel genauer im Auge behalten, analysieren,
begreifen mußte, wenn er jemals wieder zur statistischen Norm zurückfinden wollte. Während er so dasaß, klopfte es an der Tür; sein Chef, Mr. Morgan, trat ein. Morgan war ein großer, kräftig gebauter Mann mit einem runden, fleischigen Gesicht. Er stand vor Feermans Schreibtisch, trommelte mit den Fingern auf die Schreibunterlage und wirkte so verlegen wie ein ertappter Dieb. »Ist mir zu Ohren gekommen, was unten passiert ist«, sagte er, ohne Feerman anzusehen, und verstärkte den Trommelwirbel. »Ein momentaner Höhepunkt«, sagte Feerman automatisch. »Tatsächlich geht meine Einstufung schon wieder zurück.« Er konnte Morgan nicht ansehen, als er das sagte. Beide Männer blickten angestrengt in verschiedene Ecken des Raumes. Schließlich trafen sich ihre Blicke. »Hören Sie zu, Feerman, ich gebe mir Mühe, mich nicht in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen«, sagte Morgan und ließ sich auf einer Ecke des Schreibtisches nieder. »Aber, verdammt noch mal, Mann, geistige Gesundheit geht uns alle an. Wir sitzen alle im selben Boot.« Dieser Gedanke schien Morgan in seiner Überzeugung zu bestärken. Er beugte sich mit ernstem Gesicht vor. »Wie Sie wissen, bin ich hier für eine Menge Leute verantwortlich. Das ist das dritte Mal innerhalb eines Jahres, daß Sie auf Bewährung sind.« Er zögerte. »Wie hat es angefangen?« Feerman schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Mr. Morgan. Ich habe ein ganz ruhiges Leben geführt – und meine Werte stiegen immer höher.« Morgan überlegte und schüttelte schließlich den Kopf. »So einfach kann das nicht gewesen sein. Hat man Sie auf krankhafte Veränderungen des Gehirns untersucht?« »Man hat mir versichert, daß es nichts Organisches ist.« »Therapie?« »Alles«, sagte Feerman. »Elektrotherapie, Analyse, Schmidtsche Methode, Rannes-Schule, Devia-Gedankenexperimente, Differenzierung…« »Was haben sie gesagt?« fragte Morgan.
Feerman dachte an die endlose Reihe von Therapeuten zurück, bei denen er gewesen war. Er war von jedem nur möglichen Blickwinkel aus durchforstet worden, den die Psychologie einzunehmen vermochte. Man hatte ihn unter Drogen gesetzt, ihm Schocks verpaßt, ihn eingehender Untersuchungen unterzogen. Doch alles war auf eins hinausgelaufen. »Sie wissen es nicht.« »Konnten sie Ihnen denn überhaupt nichts sagen?« wollte Morgan wissen. »Nicht viel. Konstitutionelle Unrast, tief verborgene Triebe, Unfähigkeit, den Status quo zu akzeptieren. Alle stimmen darin überein, daß ich unbeugsam bin. Selbst die Persönlichkeits-Rekonstruktion hat bei mir nicht angeschlagen.« »Prognose?« »Nicht besonders gut.« Morgan stand auf und fing an, mit auf dem Rücken verschränkten Armen hin und her zu gehen. »Feerman, ich glaube, das ist eine Frage der Einstellung. Wollen Sie wirklich ein Teil der Gemeinschaft sein?« »Ich habe alles versucht…« »Sicher. Aber hatten Sie den Wunsch, sich zu ändern? Selbsterkenntnis!« rief Morgan und hieb sich mit der Faust in die flache Hand, als wollte er das Wort zermalmen. »Besitzen Sie Selbsterkenntnis?« »Ich fürchte nicht«, antwortete Feerman mit ehrlichem Bedauern. »Nehmen Sie meinen Fall«, sagte Morgan ernst, vor Feermans Schreibtisch stehend, die Beine gespreizt und fest im Boden verankert. »Vor zehn Jahren war diese Agentur doppelt so groß wie heute, und sie wuchs immer noch! Ich habe wie ein Verrückter gearbeitet, meine Beteiligungen erweitert, investiert, vergrößert, Geld und mehr Geld verdient.« »Und was ist passiert?« »Was passieren mußte. Meine Werte schossen von zwei Komma drei auf über sieben hoch. Ich war schlecht dran.« »Kein Gesetz hat etwas gegen das Geldverdienen«, hob Feerman hervor.
»Sicher nicht. Es gibt aber ein psychologisches Gesetz dagegen, daß man zuviel verdient. Die heutige Gesellschaft ist darauf einfach nicht eingestellt. Ein Haufen Konkurrenzdenken und Aggression ist der Menschheit durch Züchtung entzogen worden. Schließlich leben wir inzwischen schon fast hundert Jahre im Status quo. In der Zeit hat es keine neuen Erfindungen, keine Kriege, keine irgendwie gearteten wesentlichen Entwicklungen gegeben. Die Psychologie hat allmählich die Rasse normalisiert, ihr letztlich die irrationalen Elemente entzogen. Mit meiner Dynamik und meinen Fähigkeiten stand ich also da wie – wie einer, der gegen ein kleines Kind Tennis spielt. Ich war nicht zu bremsen.« Morgans Gesicht war gerötet, und er hatte angefangen, schwer zu atmen. Er nahm sich zusammen und fuhr mit ruhiger Stimme fort. »Natürlich habe ich das aus neurotischen Gründen gemacht. Machtdrang, eine schlimme Dosis Konkurrenzdenken. Ich unterzog mich einer Substitutionstherapie.« Feerman sagte: »Ich finde nichts Ungesundes dabei, sein Geschäft ausweiten zu wollen.« »Mein Gott, Mann, haben Sie denn überhaupt keine Ahnung von der geistigen Gesundheit der Gesellschaft; von Verantwortlichkeit und seelischer Stauung? Ich war auf dem besten Weg, reich zu werden. Mit dem Rückhalt hätte ich ein Finanzimperium gegründet. Alles ganz legal, verstehen Sie, aber ungesund. Wer weiß, welchen Weg ich anschließend eingeschlagen hätte? Irgendwann hätte ich indirekt die Regierung kontrolliert. Ich hätte Einfluß auf die Psychologiepolitik genommen, bis sie mit meinen eigenen Abnormalitäten übereingestimmt hätte. Und Sie können sich vorstellen, wohin das geführt hätte.« »Also haben Sie sich geändert«, sagte Feerman. »Ich hatte die Wahl zwischen einer Gehirnoperation, der Akademie oder Anpassung. Zum Glück fand ich ein Ventil in sportlichen Wettbewerben. Ich habe meine egoistischen Neigungen zum Wohle der Menschheit unterdrückt. Aber die Sache ist die, Feerman. Ich bewegte mich auf den roten Strich zu. Ich habe mich geändert, ehe es zu spät war.«
»Ich würde mich mit Vergnügen ändern«, sagte Feerman, »wenn ich bloß wüßte, was mit mir los ist. Das Schlimme ist, daß ich es wirklich nicht weiß.« Morgan schwieg lange und dachte nach. Dann meinte er: »Ich glaube, Sie brauchen Ruhe, Feerman.« »Ruhe?« Feerman war augenblicklich hellwach. »Sie meinen, ich bin entlassen?« »Nein, natürlich nicht. Ich will fair sein und mich an die Spielregeln halten. Aber ich habe hier ein Team.« Morgans vage Geste umschloß das Büro, das Gebäude, die Stadt. »Geistige Ungesundheit ist tückisch. Verschiedene Werte im Büro sind in der letzten Woche gestiegen.« »Und ich bin der Infektionsherd.« »Wir müssen uns an die Regeln halten«, sagte Morgan, aufrecht vor Feermans Schreibtisch stehend. »Ihr Gehalt läuft weiter, bis – bis Sie einen Entschluß gefaßt haben.« »Danke«, sagte Feerman trocken. Er stand auf und nahm seinen Hut. Morgan legte ihm die Hand auf die Schulter. »Haben Sie mal die Akademie in Betracht gezogen?« fragte er mit leiser Stimme. »Ich meine, wenn alles andere nicht anzuschlagen scheint…« »Endgültig und unumstößlich – nein«, antwortete Feerman und sah direkt in Morgans kleine blaue Augen. Morgan wandte den Blick ab. »Sie scheinen ein unlogisches Vorurteil gegen die Akademie zu haben. Warum? Sie wissen doch, wie unsere Gesellschaft organisiert ist. Sie können sich doch nicht einbilden, daß irgend etwas gegen das Gemeinwohl erlaubt würde.« »Davon gehe ich aus«, stimmte Feerman zu. »Doch warum ist nicht mehr über die Akademie bekannt?« Sie schritten durch das schweigende Büro. Keiner der Männer, die Feerman nun seit langem kannte, blickte von seiner Arbeit auf. Morgan machte die Tür auf und sagte: »Sie wissen alles über die Akademie.« »Ich weiß nicht, wie sie arbeitet.«
»Wissen Sie denn alles über jede Therapie? Können Sie mir etwas über die Substitutionstherapie erzählen? Oder die Analyse? Die Olgiveysche Reduktion?« »Nein. Aber im großen und ganzen kann ich mir vorstellen, wie sie wirken.« »Das kann jeder«, sagte Morgan triumphierend, um rasch wieder die Stimme zu senken. »Das ist genau der Punkt. Die Akademie läßt derartige Informationen offenbar nicht nach draußen dringen, weil sie Einfluß auf die Wirkung der Therapie hätten. Dagegen ist doch nichts einzuwenden, oder?« Feerman ließ sich diese Erklärung durch den Kopf gehen und gestattete Morgan, ihn in die Halle zu geleiten. »Das gebe ich zu«, sagte er. »Doch sagen Sie mal, warum kommt nie jemand wieder aus der Akademie heraus? Finden Sie das nicht unheimlich?« »Nein, durchaus nicht. Sie haben eine merkwürdige Art, die Dinge zu sehen.« Morgan drückte auf den Fahrstuhlknopf, während er weitersprach. »Sie scheinen Geheimnisse zu sehen, wo gar keine sind. Ohne meine Nase in die geschäftlichen Angelegenheiten der Akademie zu stecken, kann ich davon ausgehen, daß es Teil der Therapie ist, wenn die Patienten dort bleiben. An einer Ersatzumgebung ist doch nichts Unheimliches. Das wird ständig gemacht.« »Wenn das stimmt, warum sagen sie es dann nicht?« »Die Tatsache spricht für sich.« »Und wo«, fragte Feerman, »ist der Beweis für die hundertprozentigen Heilerfolge?« Der Fahrstuhl kam, und Feerman stieg ein. Morgan sagte: »Der Beweis ist, daß sie es sagen. Therapeuten können nicht lügen. Sie können nicht, Feerman!« Morgan machte Anstalten, noch etwas zu sagen, aber die Fahrstuhltür glitt zu. Der Fahrstuhl setzte sich nach unten in Bewegung, und Feerman wurde sich entsetzt bewußt, daß er keine Arbeit mehr hatte. Es war ein eigenartiges Gefühl, keine Arbeit mehr zu haben. Er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Oft hatte er seine Arbeit gehaßt. Es hatte
Morgen gegeben, an denen er bei dem Gedanken an einen weiteren Tag im Büro aufgestöhnt hatte. Doch jetzt, da er keine Arbeit mehr hatte, wurde ihm bewußt, wie wichtig sie ihm gewesen war, wie prima und verläßlich er sie gefunden hatte. Ein Mann ist nichts, dachte er, wenn er keine Arbeit hat. Er ging ziellos drauflos, an einem Häuserblock nach dem anderen vorbei und versuchte nachzudenken. Aber er vermochte sich nicht zu konzentrieren. Gedanken glitten aus seiner Reichweite, wichen ihm aus, wurden durch flüchtige Bilder vom Gesicht seiner Frau ersetzt. Und nicht einmal an sie konnte er denken, denn die Stadt bedrängte ihn, ihre Gesichter, Geräusche, Gerüche. Der einzige Plan zu handeln, der ihm in den Sinn kam, war undurchführbar. Lauf weg, sagte ihm sein Angstgefühl. Geh dorthin, wo sie dich niemals finden. Verbirg dich! Doch Feerman wußte, daß dies keine Lösung war. Wegzulaufen war schierer Eskapismus und Beweis für sein Abdriften von der Norm. Denn wovor würde er denn in Wahrheit weglaufen? Vor der gesündesten, vollkommensten Gesellschaft, die der Mensch je erdacht hatte!. Nur ein Verrückter würde davor davonlaufen. Er fing an, die Leute zu bemerken, an denen er vorüberkam. Sie machten einen glücklichen Eindruck, waren erfüllt von dem neuen Geist der Verantwortlichkeit und der geistigen Gesundheit der Gesellschaft, willens, alte Leidenschaften für eine neue Ära des Friedens zu opfern. Es war eine gute Welt, eine unheimlich gute Welt. Warum konnte er in ihr nicht leben? Er konnte. Zum ersten Mal seit Wochen empfand er Selbstvertrauen und beschloß, sich anzupassen, irgendwie. Wenn er nur herausfinden könnte, wie. Nachdem er stundenlang herumgewandert war, stellte Feerman fest, daß er Hunger verspürte. Er trat in die erste Imbißstube ein, die er sah. Sie war überfüllt mit Arbeitern, denn er war fast bis zu den Docks gelaufen. Er setzte sich hin und besah sich die Speisekarte. Er hatte das Gefühl,
Zeit zum Nachdenken zu brauchen. Er mußte seine weiteren Schritte richtig einschätzen, herausfinden… »He, Mister.« Er blickte auf. Der kahle, unrasierte Mann hinter der Theke starrte ihn unverwandt an. »Bitte?« »Scheren Sie sich raus!« »Was ist los?« fragte Feerman und bemühte sich, seine plötzliche Angst zu meistern. »Hier werden keine Verrückten bedient«, sagte der Kellner. Er zeigte auf das Meßgerät an der Wand, das jeden, der hereinkam, registrierte. Der schwarze Zeiger stand dicht hinter neun. »Raus!« Feerman sah zu den anderen Männern am Tresen hin. Sie saßen in einer Reihe und waren in das gleiche grobe braune Tuch gekleidet. Die Mütze hatten sie tief ins Gesicht gezogen, und ein jeder war scheinbar in eine Zeitung vertieft. »Ich habe eine Bewährungsbe…« »Raus!« wiederholte der Kellner. »Das Gesetz sagt, daß ich keinen bedienen muß, der über neun liegt. Das ist eine Belästigung meiner Kunden. Also los, verschwinden Sie!« Die Reihe der Arbeiter saß reglos da; keiner sah ihn an. Feerman spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Auf einmal hätte er am liebsten den kahlen, glänzenden Schädel des Kellners eingeschlagen, wäre am liebsten den lauschenden Männern mit einem Hackmesser zu Leibe gerückt, wollte die dreckigen Wände mit ihrem Blut besudeln, alles kurz und klein hauen, töten. Aber natürlich war Aggression ungesund und eine unbefriedigende Reaktion. Er beherrschte sich und ging hinaus. Er setzte seinen Weg fort, den Drang zu rennen unterdrückend, auf jene logische Gedankenbahn wartend, die ihm eingeben würde, was er tun sollte. Doch seine Gedanken verwirrten sich nur noch mehr, und als der Abend dunkelte, war er zum Umfallen müde. Er stand in einer schmalen, mit Abfall übersäten Straße in den Slums. In einem Fenster im zweiten Stock eines Hauses bemerkte er ein handgeschriebenes Schild, auf dem zu lesen stand: J. J. Flynn, Psychotherapeut.
Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Feerman grinste sarkastisch, weil er an die vielen teuren Spezialisten denken mußte, die er aufgesucht hatte. Er wandte sich zum Gehen, machte dann kehrt und stieg die Treppe hinauf, die zu Flynns Sprechzimmer führte. Er ärgerte sich über sich; im Moment, als er das Schild sah, hatte er gewußt, daß er hinaufgehen würde. Würde er niemals aufhören, sich zu betrügen? Flynns Sprechzimmer war klein und schäbig. Von den Wänden blätterte die Farbe, und es roch, als wäre lange nicht saubergemacht worden. Flynn saß hinter einem schlichten Holztisch, in einem Abenteuermagazin lesend. Er war klein, von mittlerem Alter und schütterem Haar. Er rauchte Pfeife. Feerman hatte eigentlich von Anfang an erzählen wollen. Statt dessen platzte er heraus: »Hören Sie, ich sitze fest. Ich habe meinen Job verloren, meine Frau hat mich verlassen. Ich habe jede Therapie ausprobiert, die es gibt. Was können Sie machen?« Flynn nahm die Pfeife aus dem Mund und sah Feerman von oben bis unten an. Er betrachtete die Kleidung, den Hut, die Schuhe, als wollte er ihren Wert abschätzen. Dann sagte er: »Was haben die anderen gesagt?« »Im Grunde immer dasselbe: Daß ich keine Chance habe.« »Klar, daß sie das gesagt haben«, meinte Flynn. Er sprach sehr schnell mit hoher, klarer Stimme. »Diese Modeburschen werfen die Flinte zu rasch ins Korn. Aber es besteht immer Hoffnung. Der Geist ist ein merkwürdiges und kompliziertes Ding, mein Freund, und manchmal – « Er brach mitten im Satz ab und grinste mit trauriger Heiterkeit vor sich hin. »Ach, was soll’s? Sie sehen aus wie einer, der verloren ist.« Er klopfte die Asche aus seiner Pfeife und starrte an die Decke. »Hören Sie, ich kann überhaupt nichts für Sie tun. Sie wissen es, ich weiß es. Warum sind Sie heraufgekommen?« »Weil ich ein Wunder erwartet habe, glaube ich«, erwiderte Feerman und ließ sich erschöpft auf einen Holzstuhl nieder. »Das tun viele Leute«, meinte Flynn gesprächig. »Und hier ist anscheinend der logische Ort für eins, oder? Sie sind in den feinen Sprechzimmern der Spezialisten gewesen. Da haben Sie keine Hilfe gefunden. Somit wäre es also gerecht und angemessen, wenn ein Wandertherapeut
leisten könnte, was die berühmten Herren nicht geschafft haben. Eine Art poetischer Gerechtigkeit.« »Nicht schlecht«, sagte Feerman mit schwachem Lächeln. »Oh, ich bin durchaus nicht schlecht«, sagte Flynn, die Pfeife aus einem verwahrlosten grünen Beutel stopfend. »Doch die Wahrheit ist, Wunder kosten Geld, das war immer so und wird immer so sein. Wenn die Großkopfeten Ihnen nicht helfen konnten, dann kann ich das bestimmt auch nicht.« »Vielen Dank für die Auskunft«, sagte Feerman, machte aber keine Anstalten aufzustehen. »Als Therapeut ist es meine Pflicht«, erklärte Flynn langsam, »Sie daran zu erinnern, daß die Akademie stets geöffnet ist.« »Da kann ich doch nicht hingehen«, meinte Feerman. »Ich weiß doch nichts über sie.« »Das geht uns allen so«, sagte Flynn. »Dennoch höre ich, daß sie immerzu heilen.« »Tod ist eine Heilung.« »Aber keine zweckmäßige. Außerdem widerspricht das den Zeiten auch zu sehr. Einen solchen Laden müßten Wahnsinnige führen, und Wahnsinnige sind eben schlicht nicht erlaubt.« »Warum kommt dann nie jemand wieder heraus?« »Fragen Sie mich nicht«, sagte Flynn. »Vielleicht wollen sie nicht.« Er zog an seine Pfeife, »Sie wollen einen Rat haben. Okay. Haben Sie Geld?« »Etwas«, antwortete Feerman argwöhnisch. »Gut. Ich sollte das vielleicht nicht sagen, aber… Hören Sie auf, nach Heilung zu suchen! Gehen Sie nach Hause. Schicken Sie Ihren Robutler los, damit er Ihnen Vorräte für ein paar Monate einkauft. Verkriechen Sie sich für eine Weile.« »Verkriechen? Warum?« Flynn blickte ihn wütend an. »Weil Sie sich fertigmachen bei dem Versuch, wieder zur Norm zurückzufinden, und damit machen Sie es nur noch schlimmer. Das habe ich schon tausendmal erlebt. Denken Sie
überhaupt nicht an Ihren Geisteszustand. Hängen Sie ein paar Monate herum, ruhen Sie sich aus, lesen Sie, setzen Sie Speck an. Und dann werden Sie sehen, wie es Ihnen geht.« »Hören Sie«, sagte Feerman. »Ich glaube, Sie haben recht, ich bin sicher! Aber ich bin nicht sicher, ob ich nach Hause gehen sollte. Ich habe heute einen Anruf gemacht… Ich habe etwas Geld. Können Sie mich nicht hier verstecken? Können Sie mich verstecken?« Flynn stand plötzlich und unvermittelt auf und blickte unsicher und ängstlich aus dem Fenster auf die dunkle Straße. »Ich habe zuviel gesagt, wie die Dinge stehen. Wenn ich jünger wäre – ich kann es nicht machen! Ich habe Ihnen einen ungesunden Rat gegeben! Den kann ich nicht auch noch mit einer ungesunden Tat krönen!« »Tut mir leid«, sagte Feerman. »Ich hätte Sie nicht darum bitten sollen. Aber ich bin wirklich dankbar. Wirklich.« Er erhob sich. »Wieviel schulde ich Ihnen?« »Nichts«, sagte Flynn. »Viel Glück für Sie!« »Danke.« Feerman eilte nach unten und hielt ein Taxi an. Zwanzig Minuten später war er zu Hause. Im Treppenhaus war es merkwürdig still, als Feerman seiner Wohnung zustrebte. Die Tür der Hausbesitzerin war geschlossen, als er daran vorbeiging, aber er hatte den Eindruck, daß sie offen gewesen war, bis er kam, und daß die alte Frau jetzt hinter ihr stand, das Ohr ans dünne Holz gepreßt. Er legte einen Schritt zu und betrat seine Wohnung. Auch in der Wohnung war es still. Feerman ging in die Küche. Sein Robutler stand neben dem Herd, und Speed lag zusammengerollt in der Ecke. »Willkommen zu Hause, Sir«, sagte der Robutler ausgesprochen höflich und freundlich. »Wenn Sie Platz nehmen, serviere ich Ihnen das Abendessen.« Feerman setzte sich nieder; in Gedanken war er bei seinen Plänen. Eine Reihe von Einzelheiten mußte überlegt werden, aber Flynn hatte recht. Sich verkriechen, das war es. Aus dem Blickfeld verschwinden.
»Ich möchte, daß du als erstes morgen früh einkaufen gehst«, sagte er zu dem Robutler. »Sehr wohl, Sir«, erwiderte der Robutler und stellte einen Teller Suppe vor ihn hin. »Wir brauchen einen Haufen Verpflegung. Brot, Fleisch… Nein, es ist besser, wenn du Dosen kaufst.« »Was für Dosen?« fragte der Robutler. »Alles mögliche, Hauptsache, es läßt sich eine ausgeglichene Kost daraus zubereiten. Und Zigaretten, vergiß die Zigaretten nicht! Sei so freundlich, und gib mir das Salz.« Der Robutler stand neben dem Herd und rührte sich nicht. Doch Speed begann leise zu winseln. »Robutler! Das Salz, bitte.« »Tut mir leid, Sir«, sagte der Robutler. »Was soll das heißen, tut dir leid? Gib mir das Salz!« »Ich darf Ihnen nicht mehr gehorchen.« »Warum nicht?« »Sie haben soeben die rote Linie überschritten, Sir. Sie liegen jetzt über zehn.« Feerman starrte ihn bloß einen Moment lang an. Dann rannte er ins Schlafzimmer und schaltete das Meßgerät ein. Der schwarze Zeiger kroch langsam bis zur roten Linie, zögerte und glitt schließlich entschlossen darüber hinaus. Er war über zehn. Das spielt gar keine Rolle, redete er sich ein. Schließlich handelte es sich um eine quantitative Größe. Es bedeutete nicht, daß er plötzlich zum Ungeheuer geworden war. Er würde sich mit dem Robutler auseinandersetzen, ihm die Sache erklären. Er eilte aus dem Schlafzimmer. »Robutler! Hör mir…« Die Wohnungstür fiel ins Schloß. Der Robutler war gegangen. Feerman ging ins Wohnzimmer und setzte sich aufs Sofa. Klar, daß der Robutler gegangen war. Sie hatten eine Meßvorrichtung eingebaut. Wenn
ihr Herr die rote Linie überschritt, kehrten sie automatisch in die Fabrik zurück. Keiner, der über zehn lag, konnte einen Roboter unter sich haben. Doch er hatte noch eine Chance. Er hatte Vorräte im Haus. Er würde sich einteilen. Mit Speed wäre es nicht gar zu einsam. Vielleicht würde er nur ein paar Tage brauchen. »Speed?« In der Wohnung war kein Laut zu hören. »Komm her, mein Bübchen.« Noch immer kein Laut. Feerman suchte die ganze Wohnung systematisch ab, doch der Hund war nicht da. Er mußte mit dem Robutler weggegangen sein. Allein ging Feerman in die Küche und trank drei Glas Wasser. Er sah sich das Essen an, das sein Robutler zubereitet hatte, fing an zu lachen, beherrschte sich. Er mußte raus, schnell. Er durfte keine Zeit verlieren. Wenn er sich beeilte, konnte er es noch schaffen, irgendwohin, ganz egal. Jetzt zählte jede Sekunde. Doch er stand in der Küche, starrte auf den Fußboden, während die Minuten verstrichen, und fragte sich, warum sein Hund ihn verlassen hatte. Es klopfte an der Wohnungstür. »Mr. Feerman!« »Nein«, sagte Feerman. »Mr. Feerman, Sie müssen nun gehen.« Es war die Hausbesitzerin. Feerman ging an die Tür und machte sie auf. »Gehen? Wohin?« »Das ist mir egal. Hier können Sie nicht bleiben, Mr. Feerman. Sie müssen gehen.« Feerman ging zurück, um seinen Hut zu holen, setzte ihn auf, blickte sich in der Wohnung um und ging dann hinaus. Die Tür ließ er offen.
Vor dem Haus warteten zwei Männer auf ihn. Ihre Gesichter waren in der Dunkelheit nicht zu erkennen. »Wohin wollen Sie gehen?« fragte der eine. »Wohin kann ich gehen?« »In die Chirurgie oder die Akademie.« »Also in die Akademie.« Sie setzten ihn in ein Auto und fuhren schnell davon. Feerman lehnte sich zurück; er war zu erschöpft zum Nachdenken. Der Fahrtwind kühlte ihm das Gesicht, und das leichte Vibrieren des Autos war angenehm. Aber die Fahrt schien kein Ende nehmen zu wollen. »Da wären wir«, erklärte einer der Männer endlich. Sie hielten an und führten ihn in ein riesiges graues Gebäude und in einen kahlen kleinen Raum. In der Mitte des Raumes stand auf einem Tisch ein Schild mit der Aufschrift, Empfang. Ein Mann lag mit dem Oberkörper auf dem Tisch und schnarchte leise. Einer von Feermans Wächtern räusperte sich vernehmlich. Der Portier setzte sich sofort kerzengerade auf und rieb sich die Augen. Er setzte sich die Brille auf und sah sie verschlafen an. »Welcher?« erkundigte er sich. Die beiden Wächter zeigten auf Feerman. »In Ordnung.« Der Portier streckte die dünnen Arme, dann schlug er ein großes schwarzes Buch auf. Er schrieb etwas auf, riß die Seite heraus und reichte sie Feermans Wächtern. Sogleich gingen sie. Der Portier drückte auf einen Knopf, um sich dann wie wild den Kopf zu kratzen. »Vollmond heute«, wandte er sich mit offensichtlicher Befriedigung an Feerman. »Bitte?« fragte Feerman. »Vollmond. Wir schnappen mehr von euch Burschen, wenn der Mond voll ist, jedenfalls hat es den Anschein. Ich habe schon mal daran gedacht, eine Untersuchung darüber zu machen.« »Mehr? Mehr was?« fragte Feerman, der sich noch nicht an den Schock gewöhnt hatte, in der Akademie zu sein.
»Seien Sie nicht so schwer von Begriff«, sagte der Portier streng. »Wir kriegen mehr über zehn, wenn der Mond voll ist. Ich glaube nicht, daß es da einen Zusammenhang gibt, doch – hier ist der Wärter.« Ein uniformierter Wächter trat an den Tisch, noch damit beschäftigt, sich den Schlips umzubinden. »Bringen Sie ihn nach 312 AA«, befahl der Portier. Als Feerman und der Wärter hinausgingen, nahm er sich die Brille ab und streckte sich wieder auf dem Tisch aus. Der Wärter führte Feerman durch ein verschlungenes Gewebe von Korridoren, das häufig von Türen unterbrochen war. Die Korridore schienen spontan gewachsen zu sein, denn sie verzweigten sich in allen möglichen Winkeln, und teilweise waren sie gewunden und kurvenreich wie die Straßen einer alten Stadt. Feerman fiel im Gehen auf, daß die Türen nicht fortlaufend numeriert waren. Sie kamen an 3112 vorbei, dann an 25 P und dann an 14. Und er war sicher, daß sie schon dreimal an Nummer 888 vorübergekommen waren. »Wie finden Sie sich denn hier zurecht?« fragte er den Wärter. »Das ist mein Job«, erwiderte dieser recht freundlich. »Nicht gerade systematisch«, sagte Feerman nach einer Weile. »Kann es auch nicht«, meinte der Wärter in beinahe vertraulichem Ton. »Ursprünglich waren hier weitaus weniger Zimmer geplant gewesen, doch dann kam der Andrang. Patienten, Patienten, jeden Tag mehr, und kein Abflauen in Sicht. Also mußten die Zimmer in kleinere Räume unterteilt werden, und es wurde nötig, neue Korridore durchzubrechen.« »Und wie finden die Ärzte ihre Patienten?« fragte Feerman. Sie waren bei Nummer 312 AA angekommen. Ohne zu antworten schloß der Wärter die Tür auf, machte sie wieder zu und schloß sie ab, nachdem Feerman hindurchgegangen war. Es war ein sehr kleiner Raum. Den verfügbaren Platz nahmen ein Sofa, ein Sessel und ein Schrank ein. Kaum war er drin, hörte Feerman Stimmen vor der Tür. Ein Mann sagte: »Dann also Kaffee in einer halben Stunde in der Cafeteria.« Ein Schlüssel wurde im Schloß gedreht. Feerman konnte die Antwort nicht hören, doch auf einmal brach schallendes Gelächter los. Eine tiefe Män-
nerstimme sagte: »Ja, und hundert mehr, dann müssen wir unter der Erde nach Platz suchen!« Die Tür ging auf, und ein bärtiger Mann in einer weißen Jacke trat ein, immer noch vor sich hin schmunzelnd. Sobald er Feerman sah, setzte er ein professionelles Gesicht auf. »Legen Sie sich aufs Sofa, bitte«, sagte er höflich, doch mit unüberhörbarer Autorität in der Stimme. Feerman blieb stehen. »Wo ich nun hier bin«, sagte er, »erklären Sie mir doch, was das alles zu bedeuten hat.« Der Bärtige ging daran, den Schrank aufzuschließen. Er betrachtete Feerman mit gequält belustigtem Gesichtsausdruck und zog beide Augenbrauen in die Höhe. »Ich bin Arzt«, sagte er, »kein Dozent.« »Das ist mir klar. Doch sicher…« »Ja, ja«, meinte der Arzt und zuckte hilflos mit den Schultern. »Sie haben ein Recht – und so weiter. Doch das hätte man wirklich alles erklären sollen, ehe Sie herkamen. Das ist einfach nicht meine Aufgabe.« Feerman blieb stehen. Der Arzt sagte: »Seien Sie brav und legen Sie sich hin, dann erzähle ich Ihnen alles.« Er wandte sich wieder dem Schrank zu. Feerman spielte flüchtig mit dem Gedanken, ihn zu überwältigen, machte sich jedoch klar, daß vor ihm schon Tausende, die über zehn lagen, denselben Gedanken gehabt haben mußten. Zweifellos hatte man Vorsichtsmaßnahmen dagegen getroffen. Er legte sich auf die Couch. »Die Akademie«, sagte der Arzt, während er sich im Schrank zu schaffen machte, »ist eindeutig ein Produkt unserer Zeit. Um sie zu verstehen, müssen Sie zunächst einmal das Zeitalter verstehen, in dem wir leben.« Er machte eine dramatische Pause und fuhr dann mit sichtlichem Vergnügen fort. »Geistige Gesundheit! Eine gewaltige Anstrengung verbirgt sich dahinter, wissen Sie, besonders hinter der geistigen Gesundheit der Gesellschaft. Wie leicht gerät der Geist aus den Fugen. Und ist er erst einmal aus den Fugen, ändern sich die Werte, und man fängt an, seltsame Hoffnungen, Ideen, Theorien zu entwickeln und das Bedürfnis nach Taten zu verspüren. Diese Dinge mögen an sich nicht unnormal sein, führen jedoch unausweichlich zum Schaden für die Gesellschaft, denn Bewegung, in welche Richtung auch immer, schadet einer statischen Ge-
sellschaft. Heute, nach Tausenden von Jahren voller Blutvergießen, haben wir uns das Ziel gesetzt, die Gesellschaft gegen den ungesunden einzelnen zu beschützen. Deshalb liegt es an dem einzelnen, derartige mentale Strukturen, solche hintergründigen Entschlüsse auszuschließen, die ihn zu einer gefährlichen Kraft für Veränderung machen könnten. Dieser Wille zur Unbeweglichkeit, wie er unser Ideal ist, erforderte eine beinahe übermenschliche Kraft und Entschlossenheit. Wenn man die nicht hat, landet man hier.« »Ich verstehe nicht – « hob Feerman an, doch der Arzt unterbrach ihn. »Die Notwendigkeit der Akademie dürfte nun klar sein. Heute ist Gehirnchirurgie die am Ende effektive Alternative zur geistigen Gesundheit. Doch ist dies eine unerfreuliche Möglichkeit für einen, der nachdenkt, eine wahrhaft höllische Alternative. Regierungsamtliche Gehirnchirurgie beinhaltet den Tod der ursprünglichen Persönlichkeit, also Tod in seiner wahrhaftigsten Form. Die Akademie bemüht sich, eine bestimmte Anstrengung zu erleichtern, indem sie eine andere Alternative anbietet.« »Aber wie sieht diese Alternative aus? Warum sagen Sie das nicht?« »Um ehrlich zu sein, die meisten Leute wollen das gar nicht wissen.« Der Arzt machte den Schrank zu und schloß ihn ab, doch Feerman konnte nicht sehen, welche Instrumente er ausgewählt hatte. »Ihre Reaktion ist nicht typisch, dessen kann ich Sie versichern. Sie ließen es sich angelegen sein, uns für etwas Düsteres, Geheimnisvolles, Erschreckendes zu halten. Das liegt daran, daß Sie krank sind. Gesunde Leute sehen in uns ein Allheilmittel, eine angenehm verschwommene Abwechslung von bestimmten grausamen und sicherlich zugleich auch unheimlichen Gewißheiten.« Er kicherte leise. »Für die meisten Leute stellen wir den Himmel dar.« »Warum machen Sie Ihre Methode dann nicht bekannt?« »Um ehrlich zu sein«, antwortete der Arzt leise, »selbst die Methoden des Himmels sollte man besser nicht eingehend untersuchen.« »Die ganze Sache ist also ein Schwindel!« sagte Feerman und versuchte, sich aufzusetzen. »Sie bringen mich um!« »Ganz bestimmt nicht«, sagte der Arzt und drückte ihn sanft nieder, bis er wieder ausgestreckt dalag.
»Was genau machen Sie dann also?« »Das werden Sie schon sehen.« »Und warum kehrt nie einer zurück?« »Sie wollen nicht«, meinte der Arzt. Ehe Feerman eine Bewegung machen konnte, hatte er ihm schwungvoll eine Nadel in den Arm gestoßen, und injizierte ihm eine warme Flüssigkeit. »Vergessen Sie nicht«, sagte der Arzt, »die Gesellschaft muß vor dem einzelnen geschützt werden.« »Ja«, erwiderte Feerman benommen, »aber wer schützt den einzelnen vor der Gesellschaft?« Der Raum verschwamm vor seinen Augen, und obgleich der Arzt ihm antwortete, vermochte Feerman seine Worte nicht zu hören, doch war er sicher, daß sie klug und angemessen und sehr wahr waren. Als er das Bewußtsein wiedererlangte, stellte er fest, daß er auf einer großen Ebene stand. Die Sonne ging auf, im kargen Licht umwaberten Nebelschwaden seine Knöchel, und das Gras unter seinen Füßen war feucht und elastisch. Feerman war einigermaßen überrascht, dicht zu seiner Rechten seine Frau stehen zu sehen. Links von ihm, kaum wahrnehmbar zitternd, drängte sich sein Hund Speed an sein Bein. Die Überraschung verging rasch, denn wo sonst sollten Frau und Hund schließlich sein, wenn nicht an seiner Seite vor dem Kampf? Vor ihnen löste sich eine vage Bewegung in einzelne Gestalten auf, und als sie näher kamen, erkannte Feerman sie. Sie waren der Feind! Anführer des Zuges war sein Robutler, im Dämmerlicht unmenschlich glänzend. Morgan war da und schrie dem Abteilungsleiter zu, Feerman müsse sterben, und Flynn, der ängstliche Mann, der zwar sein Gesicht verbarg, aber dennoch auf ihn zukam. Und die Hausbesitzerin war da, kreischte: »Kein Heim für ihn!« Und hinter ihr waren Ärzte, Portiers, Wärter, und hinter ihnen marschierten Millionen Männer in grober Arbeitskleidung, die Mütze tief ins Gesicht gezogen, die Zeitung sorgfältig zusammengerollt.
Feerman straffte sich erwartungsvoll für den letzten Kampf gegen die Feinde, die ihn betrogen hatten. Aber ein Zweifel schlich sich in seine Gedanken. War dies real? Auf einmal hatte er eine ihm Übelkeit bereitende Vision von seinem betäubten Körper, der in einem numerierten Raum in der Akademie liegt, während seine Seele sich in diesem Wolkenkuckucksheim befand und einen Kampf mit Schatten austrug. Mir fehlt nichts! In einem Moment äußerster Klarheit begriff Feerman, daß er fliehen mußte. Sein Schicksal lag nicht hier in dem Kampf gegen Traumfeinde. Er mußte in die reale Welt zurück. Der Status quo konnte nicht ewig dauern. Und was würde aus der Menschheit werden, wenn man alle Zähigkeit, jeden Erfindergeist und alle Individualität aus ihr herausgezüchtet hätte? Niemand verließ die Akademie? Er doch! Feerman rang mit den Illusionen, und er konnte beinahe spüren, wie sein ad acta gelegter Körper sich auf der Couch regte, aufstöhnte, in Bewegung geriet… Doch seine Traumfrau packte ihn am Arm und wies nach vorn. Sein Traumhund knurrte dem anrückenden Feind entgegen. Der Augenblick war für immer verpaßt, aber Feerman erfuhr es nie. Er vergaß seinen Entschluß, vergaß die Erde, vergaß die Wahrheit, und Tautropfen netzten seine Beine, als er vorwärtsstürzte, um den Feind in einen Kampf zu verwickeln.
Routinesache »Die Chance können wir uns nicht durch die Lappen gehen lassen«, erklärte Arnold gerade. »Millionenprofite, eine geringe Anfangsinvestition, die sich rasch amortisiert. Hörst du mir überhaupt zu?« Richard Gregor nickte erschöpft. Es war ein schrecklich langweiliger Tag im Büro des Interplanetarischen Entseuchungsdienstes AAA As, genauso langweilig wie alle anderen Tage. Gregor legte gerade eine Patience. Arnold, sein Partner, saß an seinem Schreibtisch und hatte die Füße auf einen Stapel unbezahlter Rechnungen gelegt. Schatten bewegten sich an der Glastür zu ihrem Büro vorüber, Schatten von Leuten, die zu den Firmen Mars Steel, Neoromanische Novelties, Alpha-Dura Produkte oder zu einem der anderen Büros auf demselben Flur unterwegs waren. Nur bei AAA As unterbrach keiner die staubige Stille. »Worauf warten wir noch?« wollte Arnold mit erhobener Stimme wissen. »Machen wir’s, oder machen wir’s nicht?« »Das liegt nicht auf unserer Linie«, erwiderte Gregor. »Wir befassen uns mit Planetenentseuchung. Hast du das etwa vergessen?« »Kein Mensch will einen Planeten entseucht haben«, stellte Arnold fest. Das, unglücklicherweise, entsprach den Tatsachen. Nachdem sie Ghost V erfolgreich von imaginären Ungeheuern gesäubert hatten, war es mit der Firma AAA As für kurze Zeit geschäftlich bergauf gegangen. Doch dann war der Vorwärtsdrang in den Weltraum zu einem Stillstand gekommen. Die Leute begnügten sich damit, das Erreichte zu konsolidieren, Städte hochzuziehen, Äcker zu pflügen und Straßen zu bauen. Zweifellos würde der Drang nach draußen irgendwann wieder einsetzen. Solange der Mensch sich noch nach irgendwohin ausbreiten konnte, würde er sich auch ausbreiten. Im Augenblick allerdings gingen die Geschäfte beklagenswert schlecht.
»Denk mal an die Möglichkeiten«, hob Arnold wieder an. »Da hocken alle diese Leute auf ihren vielversprechenden, blitzblanken neuen Welten. Sie brauchen Tiere für die Feldarbeit und zum Verspeisen, und die müssen ihnen von zu Hause geliefert werden« – er legte eine dramatische Pause ein – »durch uns!« »Wir sind für den Transport lebender Tiere nicht ausgerüstet«, gab Gregor zu bedenken. »Wir haben ein Raumschiff. Was brauchen wir denn noch?« »Alles. In erster Linie Kenntnisse und Erfahrungen. Lebende Tiere durch den Weltraum zu transportieren, ist eine überaus heikle Angelegenheit. Eine Sache für Experten. Was willst du denn machen, wenn eine Kuh auf dem Weg von hier nach Omega IV plötzlich Maul- und Klauenseuche kriegt?« »Wir geben uns eben nur mit robusten, mutierten Arten ab«, meinte Arnold zuversichtlich. »Wir lassen sie vorher tierärztlich untersuchen, und ich persönlich sterilisiere das Raumschiff, ehe sie an Bord kommen.« »Na gut, du Träumer«, sagte Gregor. »Dann halte dich jetzt fest, damit du nicht vom Hocker kippst. Der Trigale-Konzern erledigt in dieser Ekke des Weltraums alle Tiertransporte. Der ist auf Konkurrenz nicht gut zu sprechen – und deshalb hat er auch keine Konkurrenz. Wie willst du dagegen anstinken?« »Wir unterbieten ihn.« »Und verhungern.« »Jetzt verhungern wir auch.« »Lieber verhungern, als daß uns beim Verladen ein Trigale-Schlepper ein Loch in die Außenwand reißt – ›aus Versehen‹ natürlich. Oder festzustellen, daß man uns Kerosin in die Wassertanks gefüllt hat. Oder daß unsere Sauerstofftanks leer sind.« »Du hast vielleicht eine merkwürdige und komische Phantasie!« meinte Arnold nervös. »Diese Ausgeburten meiner Phantasie sind im wirklichen Leben bereits vorgekommen. Der Trigale-Konzern möchte dieses Gebiet allein beakkern – und er beackert es allein. Rein zufällig, könntest du jetzt natürlich einwenden, wenn du Spaß an blutigen Scherzen hast.«
In dem Moment ging ganz langsam und leise die Tür auf. Arnold schwang schnell seine Füße vom Schreibtisch herunter, und Gregor wischte die vor ihm liegenden Patiencekarten in eine Schublade. Der Besucher war, nach der untersetzten Gestalt, dem kleinen Kopf und der blaßgrünen Hautfarbe zu urteilen, ein Bewohner der Außenwelt. Er marschierte schnurstracks auf Arnold zu. »In drei Tagen stehen sie im Trigale-Warenhaus bereit«, sagte er. »In drei Tagen schon, Mr. Vens?« fragte Arnold. »Oh, sicher. Die Smags mußten ziemlich behutsam herangebracht werden, doch die Queels stehen schon seit einigen Tagen zur Verfügung.« »Großartig. Das ist mein Partner«, sagte Arnold, sich Gregor zuwendend, der heftig blinzelte. »Glücklich.« Vens drückte Gregor fest die Hand. »Bewundere euch Menschen. Freies Unternehmertum, Wettbewerb – gefällt mir. Haben Sie die Route?« »Alles auf Band«, sagte Arnold. »Mein Partner ist bereit, jederzeit loszudüsen.« »Ich fahre auf geradem Weg nach Vermoine II und treffe Sie dort. Gutes Gelingen.« Er machte kehrt und ging. »Arnold«, sagte Gregor langsam, »was hast du getan?« »Ich habe uns reich gemacht, nicht mehr und nicht weniger«, entgegnete Arnold. »Transport lebender Tiere?« »Ja.« »Auf Trigale-Gebiet?« »Ja.« »Zeig mir den Vertrag.« Arnold holte ihn hervor. Er besagte, daß der Interplanetarische Entseuchungs-(und Transport-)dienst AAA As die Aufgabe übernimmt, fünf
Smags, fünf Firgels und zehn Queels im Vermoine-Sonnensystem abzuliefern. Übernommen werden sollten sie im Trigale-Warenhaus, abgeliefert im zentralen Warenhaus auf Vermoine II. Die Firma AAA As besaß außerdem die Option, ihr eigenes Warenhaus zu errichten. Besagte Tiere sollten unversehrt, lebend, gesund, glücklich, produktiv, et cetera ankommen. Gepfefferte Nichtigkeitsklauseln regelten den Fall, daß die Tiere verlorengingen, tot, krank, unproduktiv, et cetera ankamen. Das Dokument las sich wie ein vorübergehender Waffenstillstand zwischen zwei verfeindeten Nationen. »Du hast dieses Todesurteil tatsächlich unterschrieben?« erkundigte sich Gregor ungläubig. »Sicher. Du brauchst die Biester bloß abzuholen, nach Vermoine rüberzudüsen und sie dort abzuladen.« »Ich? Und was machst du solange?« »Ich bleibe hier und stehe dir während der ganzen Fahrt zur Seite«, sagte Arnold. »Steh mir an Bord zur Seite.« »Nein, nein – unmöglich. Mir wird schon speiübel, wenn ich ein Queel auch nur sehe.« »So geht es mir mit dieser Abmachung. Riskieren wir zur Abwechslung doch einmal deinen Kragen.« »Ich bin doch die Forschungsabteilung«, wandte Arnold ein. »So hatten wir es ausgemacht. Erinnerst du dich?« Gregor erinnerte sich, seufzte und zuckte hilflos mit den Schultern. Sie gingen sofort daran, ihr Raumschiff in Ordnung zu bringen. Die Ladefläche wurde in drei Verschläge aufgeteilt, in denen jeweils eine Tierart untergebracht werden sollte. Die Tiere brauchten zum Atmen durchweg Sauerstoff und fanden das Leben bei etwa zwanzig Grad Celsius erträglich. Das war also kein Problem. Das entsprechende Futter wurde an Bord genommen. Nach drei Tagen, als sie so gut vorbereitet waren, wie man nur sein konnte, entschloß sich Arnold, Gregor bis zum Trigale-Warenhaus zu begleiten.
Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle, doch ging Gregor auf der Landeplattform mit ziemlich schlotternden Gliedern nieder. Über den Konzern waren zu viele Geschichten im Umlauf, als daß er sich in der Höhle des Löwen so richtig zu Hause gefühlt hätte. Er hatte weitgehende Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Das Raumschiff war in der Luna-Station bis zum Überlaufen aufgetankt und mit Proviant versorgt worden, und von den Trigale-Leuten durfte niemand an Bord kommen. Falls das Stationspersonal sich allerdings um das zerbeulte alte Raumschiff Sorgen machte, dann hielt es damit ausgezeichnet hinter dem Berg. Der Kasten wurde von zwei Zugmaschinen an die Verladerampe gezogen und zwischen zwei schlanke Expreßfrachter von Trigale gequetscht. Gregor ließ Arnold das Verladen überwachen und ging hinein, um die Manifeste zu unterschreiben. Ein höflicher Trigale-Angestellter holte die Papiere herbei und sah interessiert zu, wie Gregor sie durchlas. »Sie verladen Smags, hm?« erkundigte er sich freundlich. »Das stimmt«, antwortete Gregor und fragte sich, wie ein Smag wohl aussehen mochte. »Und Queels und Firgels auch«, fuhr der Angestellte nachdenklich fort. »Sie befördern sie alle zusammen. Da haben Sie aber wirklich Mut, Mr. Gregor.« »Ja? Warum?« »Sie kennen doch das alte Sprichwort – ›Wenn du mit Smags auf Reisen gehst, vergiß das Vergrößerungsglas nicht‹.« »Das ist mir noch nie zu Ohren gekommen.« Der Angestellte grinste liebenswürdig und schüttelte Gregor die Hand. »Nach dieser Reise werden Sie Ihre eigenen Sprichwörter prägen können. Ich wünsche Ihnen sehr viel Glück, Mr. Gregor.« Gregor lächelte schwach und kehrte zur Verladerampe zurück. Smags, Firgels und Queels waren an Bord, eine jede Art in dem ihr zugedachten Abteil. Arnold hatte den Sauerstoff eingeschaltet, die Temperatur überprüft und allen eine Futterration für einen Tag gegeben. »Na, dann zieh los«, sagte Arnold aufmunternd.
»Ja, ja, mache ich«, stimmte Gregor gänzlich ohne Begeisterung zu. Er kletterte an Bord, das leise Kichern aus der Zuschauerschar überhörend. Das Raumschiff wurde zur Startrampe gezogen, und schon bald befand Gregor sich im Weltraum, unterwegs zu einem winzigen Warenhaus, das Vermoine II umkreiste. Am ersten Tag im Weltraum war immer viel zu tun. Gregor prüfte die Instrumente und sah dann die Hauptsteuerung, die Tanks und die Leitungen durch, um sicherzugehen, daß beim Start nichts kaputtgegangen war. Danach entschloß er sich, die Fracht in Augenschein zu nehmen. Es wurde allmählich Zeit, daß er sich einmal ansah, wie die Tiere aussahen. Die Queels im vorderen Steuerbordverschlag sahen wie riesige Schneebälle aus. Gregor war bekannt, daß sie wegen ihrer Wolle geschätzt wurden, die überall Höchstpreise erzielte. Sie waren offensichtlich noch nicht mit der Schwerelosigkeit vertraut, denn sie hatten ihr Futter noch nicht angerührt. Unbeholfen prallten sie von den Wänden und von der Decke ab und blökten klagend nach festem Boden. Die Firgels stellten überhaupt kein Problem dar. Sie waren große, lederne Eidechsen, und Gregor konnte sich nicht vorstellen, wozu sie auf einer Farm gebraucht wurden. Im Augenblick schliefen sie, was sich auch während der ganzen Fahrt nicht ändern sollte. Achtern bellten die fünf Smags ausgelassen, als sie ihn sahen. Es waren freundliche, pflanzenfressende Säugetiere, die die Schwerelosigkeit außerordentlich zu genießen schienen. Zufrieden schwebte Gregor in die Kanzel zurück. Dies war ein guter Anfang. Bei Trigale hatte man ihn nicht behelligt, und seinen Tieren machte der Weltraum nichts aus. Er kam zu dem Schluß, daß die Reise sich als reine Routinesache herausstellen würde. Nachdem er das Funkgerät und die Kontrollschalter ausprobiert hatte, stellte er den Wecker und legte sich aufs Ohr.
Acht Stunden später erwachte er, zerschlagen und mit stechenden Kopfschmerzen. Sein Kaffee schmeckte wie Schlacke, und es fiel ihm schwer, den Blick auf das Armaturenbrett zu konzentrieren. Das liegt wohl an der abgestandenen Luft, dachte er, und meldete Arnold über Funk, daß alles in Ordnung war. Doch mitten im Gespräch merkte er plötzlich, daß er die Augen kaum offenhalten konnte. »Ich mache jetzt Schluß«, sagte er und gähnte ausgiebig. »Stickig hier drin. Ich lege mich ein bißchen hin.« »Stickig?« fragte Arnold, dessen Stimme aus dem Funkgerät sehr abweisend klang. »Das dürfte eigentlich nicht sein. Die Ventilatoren…« Gregor stellte fest, daß die Armaturen trunken hin- und herschwankten und ihm langsam aus dem Blickfeld rutschten. Er lehnte sich dagegen und machte die Augen zu. »Gregor!« »Hmm?« »Gregor! Prüf den Sauerstoffgehalt!« Gregor schlug ein Auge lange genug auf, um die Anzeige ablesen zu können. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß die Kohlendioxydkonzentration einen Grad erreicht hatte, wie er ihm noch nie vorgekommen war. »Kein Sauerstoff«, erklärte er Arnold. »Ich bringe das in Ordnung, wenn ich meinen Mittagsschlaf hinter mir habe.« »Sabotage!« schrie Arnold. »Wach auf, Gregor!« Mit einer gewaltigen Anstrengung streckte Gregor die Hand aus und schaltete den Sauerstoff-Nottank ein. Der Zustrom frischer Luft ließ ihn wieder zu sich kommen. Er stand auf, noch unsicher auf den Beinen, und spritzte sich etwas Wasser ins Gesicht. »Die Tiere!« brüllte Arnold. »Sieh nach den Tieren!« Gregor schaltete die zusätzliche Luftzufuhr für alle drei Verschläge ein und eilte den Mittelgang hinunter. Die Firgels waren noch am Leben und schliefen. Den Smags war der Unterschied offenbar nicht einmal aufgefallen. Zwei Queels waren be-
wußtlos geworden, kamen aber schon wieder zu sich. In ihrem Verschlag fand Gregor auch heraus, was geschehen war. Es hatte nichts mit Sabotage zu tun. Die Ventilatoren in der Wand und in der Decke, durch die die Luft im Raumschiff zirkulierte, waren vollkommen mit Queelswolle verstopft. Fellbüschel schwebten in der reglosen Luft auf und nieder und erweckten den Anschein, als würde es im Zeitlupentempo schneien. »Natürlich, natürlich«, sagte Arnold, nachdem Gregor ihm davon berichtet hatte. »Hatte ich dich nicht darauf hingewiesen, daß Queels zweimal in der Woche geschoren werden müssen? Nein, ich glaube, das habe ich vergessen, ich lese dir mal vor, was im Buch steht: ›Das Queel – Queelis tropicalis – ist ein kleines, wolliges Säugetier, entfernt verwandt mit dem irdischen Schaf. Die Queels stammen von Tensis V, wurden jedoch erfolgreich auf allen anderen Planeten mit hoher Schwerkraft angesiedelt. Aus Queelswolle gewebte Kleidungsstücke sind feuerfest, insektensicher, verrotten nicht und halten beinahe ewig, was am Metallgehalt der Wolle liegt. Queels sollten zweimal wöchentlich geschoren werden. Sie vermehren sich sehr schnell.‹« »Keine Sabotage«, kommentierte Gregor. »Keine Sabotage, aber du solltest dich besser daranmachen, diese Queels zu scheren«, sagte Arnold. Gregor beendete das Gespräch, fand eine Blechschere in seinem Werkzeugkasten und machte sich über die Queels her. Aber die metallische Wolle machte die Schneiden einfach stumpf. Es schien, als müßten Queels mit spezialgehärteten Geräten geschoren werden. Er sammelte soviel herumfliegende Wolle zusammen, wie er finden konnte, und reinigte die Ventilatoren noch einmal. Nach einem letzten Rundgang aß er zu Abend. Die Suppe war voller öliger, metallischer Queelswolle. Angewidert legte er sich aufs Ohr. Als er erwachte, stellte er fest, daß das knarrende alte Raumschiff sich immer noch auf dem richtigen Kurs befand. Sein Haupttriebwerk arbeitete hervorragend, und die Aussichten schienen viel besser zu sein, zu-
mal, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß die Firgels immer noch schliefen und die Smags sich wohlfühlten. Aber als er die Queels inspizierte, sah er, daß sie noch keinen Happen Futter angerührt hatten, seit sie an Bord gekommen waren. Nunmehr wurde es ernst. Er wandte sich an Arnold um Rat. »Ganz einfach«, klärte ihn Arnold auf, nachdem er sich durch ein paar Nachschlagewerke gewühlt hatte. »Queels haben keine Halsmuskeln. Sie sind von der Schwerkraft abhängig, um Nahrung herunterzukriegen. Aber in der Schwerelosigkeit gibt es keine Schwerkraft, und daher kriegen sie das Futter nicht runter.« Es war einfach, soviel war Gregor inzwischen klar geworden, eine von diesen vielen und unterschiedlichen Kleinigkeiten, auf die man auf der Erde gar nicht kommen würde. Doch der Weltraum mit seiner künstlichen Umwelt erschwerte selbst die einfachsten Probleme. »Du mußt das Raumschiff sich um die eigene Achse drehen lassen, um ihnen ein bißchen Schwerkraft zu verschaffen«, meinte Arnold. Gregor stellte im Geist schnell ein paar Berechnungen an. »Das verbraucht eine Menge Treibstoff.« »Im Buch heißt es weiter, daß du ihnen das Futter auch mit der Hand in den Hals schieben kannst. Du rollst es zu einer feuchten Kugel und steckst den Arm bis etwa zum Ellenbogen rein, und dann…« Gregor schaltete das Funkgerät ab und zündete die seitlichen Düsen. Jetzt hatte er festen Boden unter den Füßen und wartete gespannt. Die Queels machten sich mit einer Hingabe über das Futter her, daß einem Queelzüchter vermutlich ganz warm ums Herz geworden wäre. Er würde im Warenhaus auf Vermoine II auftanken müssen, und dadurch würden ihre Kosten erheblich steigen, denn Treibstoff war teuer auf den neubesiedelten Welten. Trotzdem würde noch ein ansehnlicher Gewinn übrigbleiben. Er wandte sich wieder seinen normalen Pflichten zu. Das Raumschiff kroch durch die unendliche Weite des Weltraums. Es wurde erneut Zeit zum Füttern. Gregor kümmerte sich um die Queels und ging dann zum Verschlag der Smags. Er machte die Tür auf und rief hinein: »Kommt her und holt es euch!«
Nichts kam. Der Verschlag war leer. Gregor spürte ein eigenartiges Gefühl im Magen. Das war doch nicht möglich! Die Smags konnten nicht abgehauen sein. Sie erlaubten sich einen Scherz mit ihm, versteckten sich irgendwo. Aber in dem Verschlag gab es keinen Platz, an dem fünf ausgewachsene Smags sich verstecken konnten. Das kribbelige Gefühl ging in ein regelrechtes Zittern über. Gregor mußte an die Nichtigkeitsklauseln denken, sollten die Tiere verlorengehen, beschädigt werden, et cetera, et cetera. »Komm, Smag! Komm, Smag!« lockte er. Niemand antwortete. Er untersuchte die Wände, die Decke, die Tür und die Ventilatoren, ob die Smags sich eventuell einen Weg ins Freie gebahnt haben könnten. Dafür gab es keinerlei Anzeichen. In dem Moment hörte er ein schwaches Geräusch zu seinen Füßen. Als er nach unten blickte, huschte gerade etwas an ihm vorbei. Es war eines der Smags, auf ungefähr fünf Zentimeter Länge zusammengeschrumpft. Die anderen fand er in einer Ecke zusammengedrängt, alle genauso klein. Wie hatte doch der Angestellte bei Trigale gesagt? »Wenn du mit Smags auf Reisen gehst, vergiß das Vergrößerungsglas nicht.« Für einen guten, befriedigenden Schock war keine Zeit. Gregor verschloß sorgfältig die Tür und hastete ans Funkgerät. »Sehr merkwürdig«, erklärte Arnold, nachdem der Kontakt hergestellt war. »Geschrumpft, sagst du? Ich gucke gleich mal nach. Hmm… Du hast nicht etwa künstliche Schwerkraft erzeugt, oder?« »Natürlich! Damit die Queels fressen konnten.« »Das hättest du nicht tun sollen«, meinte Arnold. »Smags sind an niedrige Schwerkraft gewöhnt.« »Woher soll ich das denn wissen?«
»Wenn sie einer für sie ungewöhnlichen Schwerkraft ausgesetzt werden, schrumpfen sie zu mikroskopischer Größe, verlieren das Bewußtsein und sterben.« »Du hast mir doch selber gesagt, daß ich eine künstliche Schwerkraft erzeugen soll.« »Oh, nein! Ich habe lediglich erwähnt, ganz nebenbei übrigens, daß das eine Möglichkeit ist, Queels zum Fressen zu bringen. Ich habe vorgeschlagen, sie mit der Hand zu füttern.« Gregor widerstand einem geradezu überwältigenden Drang, das Funkgerät aus der Wand zu reißen. »Arnold«, sagte er, »die Smags brauchen eine niedrige Schwerkraft. Stimmt’s?« »Stimmt.« »Und die Queels eine hohe. Wußtest du das, als du den Vertrag unterschrieben hast?« Arnold schluckte eine Weile und räusperte sich schließlich. »Na ja, das schien die Sache etwas zu komplizieren. Aber es lohnt sich.« »Sicher, wenn du damit durchkommst. Was soll ich jetzt machen?« »Dreh die Temperatur herunter«, riet Arnold zuversichtlich. »Am Gefrierpunkt stabilisieren sich die Smags.« »Menschen frieren am Gefrierpunkt«, sagte Gregor. »Also gut. Roger.« Gregor zog alles an, was er finden konnte, und schaltete das Kühlsystem des Raumschiffs ein. Nach einer Stunde hatten die Smags wieder ihre normale Größe. So weit, so gut. Er sah nach den Queels. Die Kälte schien sie anzuregen. Sie waren lebhafter denn je und blökten nach mehr Futter. Er fütterte sie. Nachdem er ein Sandwich mit Schinken und Wolle gegessen hatte, legte er sich aufs Ohr. Bei seinem Rundgang am nächsten Tag stellte sich heraus, daß er inzwischen fünfzehn Queels an Bord hatte. Die zehn Erwachsenen hatten fünf Junge in die Welt gesetzt. Alle hatten Hunger. Gregor fütterte sie. Er schrieb die Vermehrung dem üblichen Risiko zu, das man einging, wenn man gemischte Gruppen transportierte. Sie
hätten das voraussehen und die Tiere nicht nur nach Arten, sondern auch nach Geschlecht trennen sollen. Als er das nächste Mal nach den Queels sah, hatte sich ihre Zahl auf achtunddreißig erhöht. »Vermehrt haben sie sich?« fragte Arnold mit besorgter Stimme. »Ja. Und es sieht nicht so aus, als würden sie damit aufhören.« »Tja, das hätten wir voraussehen sollen.« »Warum?« wollte Gregor verblüfft wissen. »Ich habe es dir doch gesagt. Queels vermehren sich wie wild.« »Ich glaube, daß du das gesagt hast. Und was bedeutet das?« »Das, wonach es sich anhört«, erklärte Arnold verwirrt. »Wie bist du denn jemals durch die Schule gekommen? Es handelt sich um Gefrierpunkt-Parthenogenesis.« »Das wär’s dann wohl«, sagte Gregor wütend. »Ich kehre um.« »Das kannst du nicht machen! Wir werden am Erdboden zerstört!« »Wenn die Queels sich so weitervermehren, dann ist hier bald kein Platz mehr für mich. Dann muß ein Queel den Kasten steuern.« »Gregor, dreh jetzt nicht durch. Es gibt eine ganz einfache Lösung.« »Ich höre.« »Du mußt den Luftdruck und die Luftfeuchtigkeit erhöhen. Dann hören sie auf.« »Klar. Und die Smags werden dadurch wahrscheinlich in Schmetterlinge verwandelt.« »Andere Folgen hat das bestimmt nicht.« Umkehren war jedenfalls auch keine Lösung. Er hatte die Hälfte der Strecke schon fast hinter sich. Jetzt konnte er die Viecher genauso schnell loswerden, wenn er sie ablieferte. Es sei denn, er schüttete sie alle in den Weltraum. Ein verlockender, wenngleich undurchführbarer Gedanke. Nachdem Luftdruck und -feuchtigkeit erhöht waren, hörten die Queels auf, sich zu vermehren. Es waren mittlerweile siebenundvierzig, und
Gregor war die meiste Zeit damit beschäftigt, die Ventilatoren von Wolle zu säubern. Ein surrealistischer Zeitlupenschneesturm wütete in den Gängen und im Maschinenraum, in den Wassertanks und unter seinem. Hemd. Gregor aß unschmackhafte Gerichte aus Lebensmitteln und Wolle, mit Pudding und Wolle zum Nachtisch. Er fing an, sich wie ein Queel zu fühlen. Aber dann tauchte ein heller Fleck am Horizont auf. Die Strahlen der Vermoinesonne fielen auf die vordere Scheibe der Kanzel. Noch ein Tag, und er wäre da, könnte seine Fracht abladen und in sein staubiges Büro, zu seinen Rechnungen und seiner Patience heimkehren. An diesem Abend machte er eine Flasche Wein auf, um das Ende der Reise zu feiern. Der Wein spülte ihm den Wollegeschmack aus dem Mund, und als er ins Bett fiel, war er leicht und angenehm beschwipst. Doch er konnte nicht schlafen. Die Temperatur sank immer noch. An den Wänden gefroren Wassertropfen zu Eis. Er brauchte Wärme. Mal sehen – wenn er die Heizung anstellte, würden die Smags sicherlich langsam schrumpfen. Es sei denn, er gab die Schwerkraft auf. In dem Fall würden die siebenundvierzig Queels nicht fressen. Zum Teufel mit den Queels. Er lief Gefahr, so auszukühlen, daß er das Raumschiff nicht mehr bedienen und sicher steuern konnte. Er stoppte die Umdrehung des Raumschiffs um die eigene Achse und drehte die Heizung auf. Eine Stunde lang wartete er, fröstelnd und mit den Füßen aufstampfend. Die Heizung schlürfte den Triebwerken förmlich den Treibstoff weg, erzeugte aber keine Wärme. Das war lächerlich. Er drehte sie voll auf. Nach einer weiteren Stunde war die Temperatur unter null gesunken. Obwohl Vermoine inzwischen zu sehen war, hatte Gregor keine Ahnung, ob er überhaupt fähig sein würde, das Raumschiff zu landen. Er war eben damit fertig, die brennbaren Teile des Raumschiffs auf dem Kabinenfußboden zu einem kleinen Lagerfeuer aufzuschichten, als das Funkgerät zum Leben erwachte.
»Was mir gerade eingefallen ist«, sagte Arnold. »Ich hoffe, du hast Schwerkraft und Luftdruck nicht zu abrupt verändert.« »Ob schnell oder langsam, wo ist da der Unterschied?« fragte Gregor zerstreut. »Du könntest die Firgels durcheinanderbringen. Ein rascher Wechsel von Temperatur und Luftdruck könnte sie aufwecken. Sieh lieber mal nach.« Gregor hastete davon. Er machte die Tür zum Verschlag der Firgels auf, warf einen Blick hinein und erschauderte. Die Tiere waren wach und gaben krächzende Laute von sich. Reifbedeckt schwebten die großen Eidechsen durch den Raum. Ein Schwall eisiger Luft ergoß sich in den Gang. Gregor knallte die Tür zu und eilte wieder ans Funkgerät. »Natürlich sind sie mit Reif bedeckt«, erklärte Arnold. »Die Firgels sind ja für Vermoine I bestimmt. Eine heiße Gegend, dieses Vermoine I – in nächster Nähe der Sonne gelegen. Firgels ziehen Kälte auf sich und halten sie, weshalb sie als beste tragbare Klimaanlage im ganzen Universum gelten.« »Warum hast du mir das nicht früher gesagt?« wollte Gregor wissen. »Das hätte dich nur beunruhigt. Außerdem würden sie ja auch noch schlafen, wenn du nicht an der Schwerkraft und dem Luftdruck rumgefummelt hättest.« »Die Firgels sind also für Vermoine I bestimmt. Und die Smags?« »Für Vermoine II. Ein winziger Planet mit ganz geringer Schwerkraft.« »Und die Queels?« »Für Vermoine III natürlich.« »Du Schwachkopf!« brüllte Gregor los. »Du halst mir so eine Fracht auf und erwartest, daß ich sie unter einen Hut bringe?« Wenn Arnold in diesem Moment zur Hand gewesen wäre, hätte er ihn erwürgt. »Arnold«, sagte er sehr langsam, »keine Projekte mehr, keine Einfälle – versprichst du mir das?« »Ja, ja, schon gut«, erklärte Arnold sich einverstanden. »Kein Grund, gleich schlechte Laune zu kriegen.«
Gregor brach das Gespräch ab und setzte den Versuch fort, das Raumschiff warm zu kriegen. Er schaffte es, die Temperatur bis auf Gefrierpunktnähe zu steigern, als die überforderte Heizung den Geist aufgab. Inzwischen lag Vermoine II zum Greifen nahe vor ihm. Gregor klopfte an ein Stück Holz, das er nicht verbrannt hatte, und programmierte das Band. Er lochte gerade den Kurs zum Zentralen Warenhaus, das sich in einer Umlaufbahn um Vermoine II befand, als er ein eigenartiges Rumpeln vernahm. Im selben Moment sackten ein halbes Dutzend Zeiger auf dem Armaturenbrett auf null. Erschöpft schwebte er nach hinten zum Maschinenraum. Das Haupttriebwerk stand still, und es bedurfte keiner speziellen Fähigkeiten als Mechaniker, um den Grund dafür herauszufinden. Queelswolle schwebte unsicher und hilflos in der unbewegten Luft des Maschinenraums herum. Queelswolle steckte in den Lagern und im Schmiersystem, Queelswolle verstopfte die Kühlung. Die metallische Wolle gab ein ideales Putzmittel für polierte Maschinenteile ab. Es war ein Wunder, daß das Triebwerk so lange durchgehalten hatte. Er kehrte in die Kanzel zurück. Ohne das Haupttriebwerk konnte er das Raumschiff nicht landen. Es mußte während des Fluges repariert werden, was zu Lasten ihres Gewinns ging. Glücklicherweise ließ es sich mit den seitlichen Düsen steuern. Wenn keine weiteren Störungen auftraten, konnte er es noch manövrieren. Es würde knapp werden, aber es blieb ihm noch die Möglichkeit, an dem Satelliten festzumachen, der als Warenhaus für Vermoine diente. »Hier AAA As«, verkündete er, als er das Raumschiff in eine Umlaufbahn um den Satelliten drückte. »Ich bitte um Landeerlaubnis.« Ein störendes Knacken war zu hören. »Hier spricht der Satellit«, erwiderte eine Stimme. »Identifizieren Sie sich bitte.« »Hier spricht das Raumschiff der AAA As, unterwegs vom TrigaleWarenhaus nach Vermoine II«, führte Gregor aus. »Meine Papiere sind in Ordnung.« Er wiederholte das Routineersuchen um Landung und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
Es hatte ihn Mühe gekostet, doch die Tiere waren am Leben, unversehrt, gesund, glücklich, et cetera, et cetera. Die Firma AAA As hatte einen hübschen kleinen Gewinn erwirtschaftet. Jetzt wollte er nur noch so schnell wie möglich aus diesem Raumschiff heraus und in ein heißes Bad. Er wollte den Rest seines Lebens weit weg von Queels, Smags und Firgels verbringen. Er wollte… »Landeerlaubnis verweigert.« »Bitte?« »Tut mir leid, aber wir sind gegenwärtig voll. Wenn Sie Ihre derzeitige Umlaufbahn halten wollen, nehme ich an, daß wir Ihnen in etwa drei Monaten zur Verfügung stehen können.« »Warten Sie!« kreischte Gregor. »Das können Sie doch nicht machen! Ich habe nichts mehr zu essen, mein Haupttriebwerk ist kaputt, und diese Tiere kann ich auch nicht mehr ertragen!« »Tut mir leid.« »Sie dürfen mich nicht wegschicken«, sagte Gregor heiser. »Dies ist ein öffentliches Warenhaus. Sie müssen – « »Öffentlich? Ich bitte um Verzeihung, Sir. Dieses Warenhaus gehört dem Trigale-Konzern und wird von ihm betrieben.« Das Funkgerät verstummte. Gregor starrte es minutenlang an. Trigale! Darum also hatten sie ihn in ihrem Zentralen Warenhaus nicht behelligt. Sie konnten ihn fertigmachen, indem sie ihm die Landeerlaubnis in ihrem Warenhaus in Vermoine verweigerten. Und das Teuflische daran war, daß sie vermutlich nicht einmal etwas Rechtswidriges taten. Auf dem Planeten konnte er nicht landen. Das Raumschiff ohne Haupttriebwerk niederzubringen, wäre Selbstmord. Und ein anderes Warenhaus gab es im großen Sonnensystem von Vermoine nicht. Nun, er hatte die Tiere fast bis zum Warenhaus transportiert. Gewiß würde Mr. Vens die Umstände begreifen und seine guten Absichten zu würdigen wissen.
Er setzte sich mit Vens auf Vermoine II in Verbindung und erklärte ihm die Lage. »Nicht im Warenhaus?« fragte Vens. »Nun, fünfzig Meilen davon entfernt«, sagte Gregor. »Das reicht nun wirklich nicht. Ich nehme die Tiere natürlich. Sie gehören mir. Doch es gibt Nichtigkeitsklauseln für den Fall unvollständiger Zustellung.« »Die wollen Sie doch jetzt nicht zur Geltung bringen, oder?« erkundigte sich Gregor flehend. »Meine Absichten…« »Die interessieren mich nicht«, erklärte Vens. »Gewinnspanne und all das. Wir Siedler brauchen jedes bißchen.« Er brach das Gespräch ab. Trotz der Kälte in Schweiß gebadet, setzte sich Gregor mit Arnold in Verbindung und unterrichtete ihn über den neuesten Stand. »Das ist unmoralisch!« erklärte Arnold wutschnaubend. »Aber legal.« »Ich weiß, verdammt noch mal. Ich brauche Zeit zum Nachdenken.« »Laß dir was Vernünftiges einfallen«, sagte Gregor. »Ich melde mich wieder.« Gregor verbrachte die nächsten Stunden damit, die Tiere zu füttern, sich Queelswolle aus den Haaren zu zupfen und noch mehr Einrichtungsgegenstände auf dem Fußboden zu verbrennen. Als das Funkgerät ertönte, drückte er die Daumen, ehe er die Verbindung herstellte. »Arnold?« »Nein, hier spricht Vens.« »Hören Sie zu, Mr. Vens«, sagte Gregor, »wenn sie uns noch etwas Zeit lassen, bringen wir diese Angelegenheit zu einem zufriedenstellenden Abschluß. Ich bin sicher…« »Oh, Sie haben mich ganz schön übers Ohr gehauen«, warf Vens ein. »Und völlig legal noch dazu. Ich habe es sehr intensiv und sorgfältig nachgeprüft und jetzt festgestellt. Ein pfiffiges Verfahren, Sir, ein sehr pfiffiges Verfahren. Ich schicke Ihnen einen Schlepper für die Tiere.« »Aber was ist mit der Nichtigkeitsklausel…«
»Die kann ich natürlich nicht wirksam werden lassen.« Und Vens beendete das Gespräch. Gregor starrte das Funkgerät an. Ein pfiffiges Verfahren? Was hatte Arnold gemacht? Er setzte sich mit dem Büro in Verbindung. »Hier spricht Mr. Arnolds Sekretärin«, meldete sich eine junge weibliche Stimme. »Mr. Arnold ist heute nicht mehr zu erreichen.« »Nicht mehr zu erreichen? Sekretärin? Handelt es sich um den Arnold von der Firma AAA As? Ich bin doch mit dem falschen Arnold verbunden, was?« »Durchaus nicht, Sir, Sie sprechen mit dem Büro von Mr. Arnold von der Firma Planetarischer Warenhausdienst AAA As. Möchten Sie eine Bestellung aufgeben? Wir betreiben ein erstklassiges Warenhaus im Vermoine-System, in einer Umlaufbahn um Vermoine II. Wir handeln mit Gütern geringer, mittlerer und großer Schwerkraft. Unser Mr. Gregor ist persönlich mit der Überwachung betraut. Und ich bin sicher, daß Sie unsere Preise recht günstig finden werden.« Das also hatte Arnold gemacht – er hatte ihr Raumschiff in ein Warenhaus verwandelt! Zumindest auf dem Papier. Und der Vertrag mit Vens gab ihnen das Recht, ihr eigenes Warenhaus zu beliefern. Schlau! Man konnte diese Plage Arnold doch keine Sekunde allein lassen! Jetzt wollte er ins Warenhausgeschäft einsteigen! »Was sagten Sie, Sir?« »Ich sagte, hier spricht das Warenhaus. Ich möchte eine Nachricht für Mr. Arnold hinterlassen.« »Ich höre, Sir.« »Sagen Sie Mr. Arnold, er soll alle Bestellungen stornieren«, diktierte Gregor grimmig. »Sein Warenhaus kehrt nämlich so schnell es hoppeln kann heim.«
Meuterei auf dem Rettungsboot »Sagen Sie mal ehrlich, haben Sie schon jemals hübschere Bedienungshebel gesehen?« erkundigte sich Joe, der interstellare Müllmann. »Und schauen Sie sich diesen Motor an!« »Hmm«, meinte Gregor wohlüberlegt. »Dieser Rumpf«, sagte Joe zärtlich. »Ich wette, er ist fünfhundert Jahre alt, und keine Spur von Rost.« Er strich mit der Hand liebevoll über die glänzende Seite des Bootes. Welch ein Glück, schien diese Handbewegung zu besagen, daß dieser Ausbund an Fahrzeug ausgerechnet in dem Augenblick zur Verfügung stand, da die Firma AAA As ein Rettungsboot brauchte. »Es macht in der Tat einen recht netten Eindruck«, meinte Arnold mit der gesuchten Allüre eines Mannes, der sich verliebt hat und mit allen Mitteln darum bemüht ist, es nicht zu zeigen. »Was meinst du, Dick?« Richard Gregor gab keine Antwort. Das Boot war schön und sah für die Meeresvermessung auf Trident genau richtig aus. Doch man mußte vor der Art, wie Joe für seine Güter warb, auf der Hut sein. »Heutzutage werden Boote leider nicht mehr so gebaut«, seufzte Joe. »Sehen Sie sich den Antriebsblock an. Da kriegen Sie nicht mal mit einem Vorschlaghammer eine Beule rein. Und achten Sie auf die Leistungsfähigkeit der Kühlung. Prüfen Sie…« »Es macht einen guten Eindruck«, sagte Gregor langsam. Der Interplanetarische Entseuchungsdienst AAA As hatte in der Vergangenheit schon häufiger mit Joe zu tun gehabt und Zurückhaltung gelernt. Nicht etwa, daß Joe betrog; weit davon entfernt. Das Wrackgut, das er aus dem ganzen bewohnten Universum zusammensammelte, funktionierte. Doch hatten die vorsintflutlichen Maschinen häufig ihre eigenen Ansichten darüber, wie eine Sache erledigt werden sollte. Sie neigten zu Übellaunigkeit, wurden sie zu einem anderen Vorgehen gezwungen.
»Mir ist es ziemlich egal, ob das Boot schön, schnell, ausdauernd oder sogar bequem ist«, meinte Gregor herausfordernd. »Ich will nur absolut überzeugt davon sein, daß es sicher ist.« Joe nickte. »Das ist natürlich der springende Punkt. Treten Sie näher.« Sie betraten die Bootskabine. Joe ging ans Armaturenbrett, setzte ein geheimnisvolles Lächeln auf und drückte einen Knopf. Im selbem Moment vernahm Gregor eine Stimme, die unmittelbar in seinem Kopf zu sitzen schien. »Ich bin Rettungsboot 324-A. Meine Aufgabe ist…« »Telepathie?« warf Gregor ein. »Direkte Sinnesübertragung«, erklärte Joe und lächelte stolz. »Auf diese Weise gibt es keine Sprachbarrieren. Ich sagte Ihnen ja bereits, daß man Boote heutzutage leider nicht mehr so baut.« »Ich bin Rettungsboot 324-A«, meldete sich das Boot erneut zu Wort. »Meine Hauptaufgabe besteht darin, jene, die in mir sitzen, vor Schaden zu bewahren und gesund zu erhalten. Im Augenblick bin ich nur teilweise aktiviert.« »Gibt es etwas Sichereres?« rief Joe aus. »Dies hier ist kein gefühlloser Metallbrocken. Dieses Boot wird sich um Sie kümmern. Sie werden ihm nicht schnuppe sein!« Gregor war beeindruckt, auch wenn ihm die Idee eines Bootes mit Gefühlen irgendwie geschmacklos vorkam. Doch schließlich hatten ihn fürsorgliche Apparate schon immer irritiert. Von derartigen Empfindungen war Arnold frei. »Wir nehmen es!« »Sie werden es nicht bereuen«, sagte Joe mit jenem aufrichtigen und offenen Tonfall, der ihm dazu verholfen hatte, mehrfacher Millionär zu werden. Die Hoffnung hegte Gregor auch. Am nächsten Tag wurde Rettungsboot 324-A in ihr Raumschiff verladen, und sie machten sich auf den Weg nach Trident. Dieser Planet, im Herzen des östlichen Sterntales gelegen, war unlängst von einem Grundstücksspekulanten erworben worden. Er fand ihn na-
hezu perfekt für eine Besiedlung. Trident war so groß wie der Mars, hatte jedoch ein weitaus besseres Klima. Es gab keine eingeborene Bevölkerung, mit der man sich herumstreiten mußte, keine giftigen Pflanzen, keine durch Bakterien verursachten Krankheiten. Und im Gegensatz zu so vielen anderen Welten besaß Trident keine Raubtiere. In der Tat besaß es überhaupt keine Tiere. Von einer kleinen Insel und einer Polkappe abgesehen, war der ganze Planet mit Wasser bedeckt. Ein eigentlicher Mangel an Land bestand nicht; die verschiedenen Meere auf Trident waren so flach, daß man in ihnen herumwaten konnte. Das Land war eben einfach nicht weit genug herausgehoben. Die Firma AAA As hatte den Auftrag erhalten, diesen geringfügigen Makel zu beseitigen. Nachdem sie auf Tridents einziger Insel niedergegangen waren, brachten sie das Boot zu Wasser. Den Rest des Tages verbrachten sie mit der Durchsicht und dem Verladen der Spezialausrüstung zum Vermessen. Früh am nächsten Morgen schmierte Gregor Sandwiches und füllte eine Feldflasche mit Wasser. Sie konnten mit der Arbeit beginnen. Sobald die Leinen losgemacht waren, gesellte sich Gregor in der Kabine zu Arnold. Mit einer leicht prahlerischen Gebärde drückte Arnold den ersten Knopf. »Ich bin Rettungsboot 324-A«, meldete sich das Boot. »Meine Hauptaufgabe besteht darin, jene, die in mir sitzen, vor Schaden zu bewahren und gesund zu erhalten. Im Augenblick bin ich nur teilweise aktiviert. Wenn Sie mich voll aktivieren wollen, drücken Sie Knopf zwei.« Gregor drückte den zweiten Knopf. Ein gedämpftes Summen ertönte tief aus den Eingeweiden des Bootes. Sonst passierte gar nichts. »Merkwürdig«, sagte Gregor. Er drückte noch einmal auf den Knopf. Wieder nur das gedämpfte Summen. »Hört sich nach einem Kurzschluß an«, meinte Arnold. Backbord vorn aus dem Bullauge blickend, sah Gregor die Küstenlinie der Insel langsam entschwinden. Er erschrak. So viel Wasser und so wenig Land! Was die Sache noch schlimmer machte, nichts auf dem Armaturenbrett ähnelte einem Steuerrad oder einer Ruderpinne, nichts sah aus
wie ein Gashebel oder eine Kupplung. Wie setzte man ein teilweise aktiviertes Rettungsboot in Gang? »Es muß wohl telepathisch gesteuert werden«, sagte Gregor hoffnungsvoll. Mit strenger Stimme verlangte er: »Fahr langsam voraus.« Das kleine Boot setzte sich mühsam in Bewegung. »Nun etwas nach rechts.« Das Boot reagierte perfekt auf Gregors deutlichen, wenngleich unseemännischen Befehl. Die Partner tauschten ein Lächeln. »Geradeaus«, sagte Gregor, »und volle Kraft voraus!« Das Rettungsboot brauste aufs schimmernde, leere Meer hinaus. Arnold verschwand mit einer Taschenlampe und einem Prüfgerät für den Stromkreis im Kielraum. Die Vermessungen konnte Gregor ohne Mühe allein durchführen. Die ganze Arbeit erledigten Maschinen; sie spürten die hauptsächlichen Verwerfungen im Meeresboden auf, orteten die vielversprechendsten Vulkane, verzeichneten die Strömungen und stellten Seekarten zusammen. Wenn die Vermessungen abgeschlossen waren, würden die nächsten Schritte einem Nebenvertragsnehmer überlassen. Er würde die Vulkane und Verwerfungen mit Sprengstoff vollpumpen, sich in sichere Entfernung zurückziehen und die ganze Sache in die Luft jagen. Dann würde auf Trident eine Zeitlang ein ohrenbetäubender Lärm herrschen. Und wenn die Dinge sich wieder beruhigt hätten, würde es genügend trockenes Land geben, um selbst einen Grundstücksspekulanten zufriedenzustellen. Um die Mitte des Nachmittags kam Gregor zu der Ansicht, sie hätten genug vermessen für einen Tag. Sie aßen ihre Stullen und tranken aus der Feldflasche. Dann schwammen sie in dem durchsichtigen grünen Wasser. »Ich glaube, ich habe den Schaden gefunden«, sagte Arnold. »Die Leitungen zu den Hauptaktivatoren sind nicht mehr da. Und das Stromkabel wurde gekappt.« »Warum hat man das denn gemacht?« fragte Gregor.
Arnold zuckte mit den Schultern. »Vielleicht beim Abwracken. Ich kriege das schon wieder hin.« Er kroch in den Kielraum zurück. Gregor lenkte das Boot telepathisch in Richtung Insel und sah zu, wie das grüne Wasser übermütig am Bug aufschäumte. In solchen Momenten fand er das Universum trotz der Erfahrungen, die er früher gemacht hatte, schön und angenehm. Eine halbe Stunde später tauchte Arnold wieder auf, ölverschmiert, aber triumphierend. »Drück jetzt mal auf den Knopf«, verlangte er. »Wir sind doch beinahe da.« »Na und? Wir können dieses Ding ja auch ruhig richtig funktionieren lassen.« Gregor nickte und drückte auf den zweiten Knopf. Sie konnten das schwache Klicken sich öffnender Schaltkreise vernehmen. Ein halbes Dutzend kleiner Motoren begann zu surren. Eine Lampe blinkte rot auf und verlosch wieder, als die Generatoren mit dem Aufladen anfingen. »Das ist schon besser«, sagte Arnold. »Ich bin Rettungsboot 324-A«, stellte das Boot telepathisch fest. »Ich bin jetzt voll aktiviert und in der Lage, meine Insassen vor Gefahr zu schützen. Haben Sie Vertrauen zu mir. Meine Gegenwehr, sowohl psychologischer als auch physischer Art, wurde von den fähigsten wissenschaftlichen Köpfen in ganz Drome ausgearbeitet.« »Das verschafft einem ein ganz schönes Selbstvertrauen, was?« sagte Arnold. »Da magst du recht haben«, erwiderte Gregor. »Aber wo liegt Drome?« »Meine Herren«, fuhr das Rettungsboot fort, »versuchen Sie, in mir nicht einen gefühllosen Mechanismus, sondern Ihren Freund und Waffengefährten zu sehen. Ich kann verstehen, wie Sie sich fühlen. Sie mußten mit ansehen, wie Ihr Schiff unterging, grausam durchsiebt von den unversöhnlichen H’gen. Sie sind…« »Was für ein Schiff?« fragte Gregor. »Wovon redet es?«
»…zu mir an Bord gekrabbelt, benommen, außer Atem von den giftigen Dämpfen, die aus dem Wasser aufstiegen; halbtot – « »Meinst du etwa das Bad, das wir uns vorhin geleistet haben?« fragte Arnold. »Das hast du völlig falsch verstanden. Wir haben doch nur vermessen…« »… mit einem Schock, verwundet, demoralisiert«, beendete das Rettungsboot den Satz. »Vielleicht haben Sie ein bißchen Angst«, fuhr es mit leiserer Stimme fort. »Und das kann Ihnen keiner verdenken, getrennt von der Drome-Flotte und verschlagen auf einen unfreundlichen fremden Planeten. Seiner Angst braucht man sich bestimmt nicht zu schämen, meine Herren. Aber es herrscht Krieg, und Krieg ist nachweislich ein grausames Geschäft. Uns bleibt keine Wahl, als die barbarischen H’gen in den Weltraum zurückzutreiben.« »Es muß eine vernünftige Erklärung dafür geben«, sagte Gregor. »Vermutlich ein altes Fernsehdrehbuch, das in seinen Antwortspeicher geraten ist.« »Das Beste ist, wir überholen es vollständig«, meinte Arnold. »Ich kann mir diesen Kram nicht den ganzen Tag lang anhören.« Sie näherten sich der Insel. Das Rettungsboot brabbelte immer noch von Heim und Herd, Ausweichaktionen, taktischen Manövern und der Notwendigkeit, in Notfällen wie diesem Ruhe zu bewahren. Plötzlich verlangsamte es die Fahrt. »Was ist denn los?« fragte Gregor. »Ich überprüfe die Insel«, erwiderte das Boot. Gregor und Arnold wechselten Blicke. »Nimm’s mit Humor«, flüsterte Arnold. Zum Rettungsboot gewandt, sagte er: »Die Insel ist in Ordnung. Wir haben sie persönlich überprüft.« »Das mag ja sein«, erwiderte das Rettungsboot. »Aber in der modernen, blitzschnellen Kriegsführung kann man dem Drome-Verstand nicht trauen. Er ist zu beschränkt, zu anfällig dafür, die Dinge nach Belieben zu deuten. Elektronische Sensoren hingegen sind emotionslos, ständig auf der Hut und im Rahmen ihrer Möglichkeiten unfehlbar.« »Aber da ist überhaupt nichts!« rief Gregor.
»Ich nehme ein fremdes Raumschiff wahr«, erwiderte das Rettungsboot. »Es trägt keine Drome-Kennzeichnung.« »Es hat auch keinerlei feindliche Kennzeichnungen«, erklärte Arnold mit voller Überzeugung, da er persönlich die altersschwache Hülle angestrichen hatte. »Ja, das stimmt. Doch im Krieg müssen wir davon ausgehen, daß das, was nicht uns gehört, dem Feind gehört. Ich begreife Ihre Sehnsucht, Ihren Fuß wieder auf Land zu setzen. Aber ich beziehe Faktoren in meine Überlegungen ein, die ein Drome auf Grund seiner Emotionen übersehen würde. Bedenken Sie die scheinbare Leere dieses strategischen Fleckchens Land; das ungekennzeichnete Raumschiff als verführerischer Köder; die Tatsache, daß unsere Flotte sich nicht mehr in der Nähe aufhält; die…« »Schon gut, das reicht.« Gregor hatte die Nase voll, sich mit einer geschwätzigen und egoistischen Maschine auseinanderzusetzen. »Fahr jetzt auf der Stelle zu der Insel. Das ist ein Befehl.« »Ich kann diesem Befehl nicht gehorchen«, sagte das Boot. »Sie sind noch durcheinander, weil Sie mit knapper Not dem Tode entronnen sind…« Arnold streckte die Hand nach dem Abschaltknopf aus und zog sie mit einem Schmerzensschrei wieder zurück. »Kommen Sie zur Vernunft meine Herren«, sagte das Boot streng. »Allein der befehlshabende Offizier ist ermächtigt, mich abzuschalten. Im Interesse Ihrer eigenen Sicherheit muß ich Sie warnen, irgendeinen meiner Bedienungsknöpfe anzurühren. Später, wenn unsere Lage sicherer ist, werde ich Ihnen zu Diensten sein. Jetzt muß ich meine ganze Energie darauf verwenden, den Feind aufzuspüren und ihm zu entwischen.« Das Boot nahm Fahrt auf und entfernte sich in einem ausgeklügelten Zickzackkurs von der Insel. »Wohin fahren wir?« erkundigte sich Gregor. »Wir schließen uns wieder der Drome-Flotte an!« rief das Rettungsboot so zuversichtlich, daß die Partner besorgt auf die riesige wüste Wasserfläche hinausblickten.
»Das heißt, sobald ich sie gefunden habe«, fügte das Boot ergänzend hinzu. Es war spät nachts. Gregor und Arnold saßen in einer Ecke der Kabine und teilten sich hungrig das letzte Sandwich. Das Boot raste immer noch wie wahnsinnig über die Wellen, alle elektronischen Spürsinne hellwach, auf der Suche nach einer Flotte, die vor fünfhundert Jahren auf einem völlig anderen Planeten existiert hatte. »Hast du jemals von den Dromes gehört?« fragte Gregor. Arnold durchwühlte seinen riesigen Vorrat an Einzelheiten. »Es waren nicht-menschliche Eidechsenabkömmlinge«, sagte er. »Sie lebten auf dem sechsten Planeten eines kleinen Sonnensystems in der Nähe von Capella. Die Rasse ist vor mehr als hundert Jahren ausgestorben.« »Und die H’gen?« »Ebenfalls Eidechsen. Dieselbe Geschichte.« Er fand einen Krümel und steckte ihn in den Mund. »Es war kein sehr wichtiger Krieg. Alle Beteiligten sind verschwunden. Bis auf dieses Rettungsboot anscheinend.« »Und uns«, rief Gregor ihm in Erinnerung. »Wir wurden als DromeSöldner eingezogen.« Er seufzte erschöpft. »Meinst du, wir können mit dieser Kiste vernünftig reden?« Arnold schüttelte den Kopf. »Ich sehe keine Möglichkeit dazu. Was dieses Boot betrifft, ist der Krieg noch nicht zu Ende. Es kann Daten lediglich unter dieser Voraussetzung interpretieren.« »Wahrscheinlich hört es uns jetzt zu«, sagte Gregor. »Das glaube ich nicht. Es kann eigentlich keine Gedanken lesen. Sein Wahrnehmungsvermögen ist einzig und allein auf Gedanken eingestellt, die sich ausdrücklich an es wenden.« »Sehr wohl, die Herren«, sagte Gregor bitter, »so baut man Boote heutzutage leider nicht mehr.« Er wünschte sich nichts sehnlicher, als Joe, den interstellaren Müllmann, in die Finger zu kriegen. »Im Grunde ist das eine sehr interessante Situation«, sagte Arnold. »Vielleicht schreibe ich einen Artikel darüber für Kybernetik für jedermann. Wir haben hier eine Maschine, die die nahezu unfehlbare Fähigkeit besitzt, äußere Reize wahrzunehmen. Was sie wahrnimmt, wird in völlig
logischer Weise in Aktionen umgesetzt. Das Manko ist nur, daß die Logik auf verschiedenen Voraussetzungen basiert, die es nicht mehr gibt. Man kann daher sicherlich sagen, daß die Maschine das Opfer eines systematisierten Wahns ist.« Gregor gähnte. »Du meinst, das Rettungsboot ist schlicht bekloppt«, sagte er grob. »Bekloppt wie Fallobst. Ich glaube, Paranoia wäre die fachmännische Bezeichnung. Aber damit ist es bald vorbei.« »Warum?« wollte Gregor wissen. »Das liegt doch auf der Hand«, sagte Arnold. »Seine allerwichtigste Anweisung lautet, uns am Leben zu erhalten. Es muß uns also etwas zu essen geben. Unsere Stullen haben wir aufgegessen, die einzigen anderen Nahrungsmittel sind auf der Insel. Ich vermute, daß es das Risiko auf sich nehmen und zurückkehren muß.« Nach ein paar Minuten spürten sie, wie das Rettungsboot sich zur Seite neigte und die Richtung änderte. »Im Augenblick«, verkündete es, »bin ich nicht in der Lage, die Drome-Flotte aufzuspüren. Darum kehre ich um und gucke mir noch einmal genau die Insel an. Glücklicherweise sind in der unmittelbaren Umgebung keine Feinde. Nun kann ich mich mit der ganzen Kraft meiner Aufmerksamkeit Ihnen widmen.« »Siehst du?« sagte Arnold und stieß Gregor leicht in die Rippen. »Genau wie ich gesagt habe. Wir spielen meinen Einfall jetzt mal durch.« Ans Rettungsboot gewandt, sagte er: »Wird auch Zeit, daß wir dir wieder einfallen. Wir haben Hunger.« »Genau, gib uns was zu essen«, verlange Gregor. »Selbstverständlich«, sagte das Rettungsboot. Ein Tablett glitt aus der Wand. Auf ihm häufte sich etwas, das wie Lehm aussah, aber wie Maschinenöl roch. »Was soll das denn sein?« erkundigte sich Gregor. »Das ist Geezel«, erklärte das Boot. »Das Hauptnahrungsmittel der Dromes. Ich kann es auf sechzehn verschiedene Arten zubereiten.« Gregor probierte es vorsichtig. Es schmeckte genau wie in Maschinenöl gewälzter Lehm.
»Das können wir nicht essen!« wandte er ein. »Natürlich können Sie«, sagte das Boot besänftigend. »Ein erwachsener Drome verspeist fünf Komma drei Pfund Geezel täglich – und schreit nach mehr.« Das Tablett glitt näher an sie heran. Sie wichen vor ihm zurück. »Jetzt hör mal zu«, erklärte Arnold dem Boot. »Wir sind keine Dromes. Wir sind Menschen, eine völlig andere Gattung. Der Krieg, den du zu kämpfen meinst, ging vor fünfhundert Jahren zu Ende. Wir können kein Geezel essen. Unsere Speisen befinden sich da auf der Insel.« »Versuchen Sie, die Situation zu begreifen. Ihre Verblendung ist unter kämpfenden Männern weit verbreitet. Es handelt sich um einen eskapistischen Wahn, um einen Rückzug aus einer unerträglichen Lage. Meine Herren, ich bitte Sie, blicken Sie der Realität ins Gesicht!« »Sieh du der Realität ins Gesicht!« brüllte Gregor. »Sonst lasse ich dich Niete für Niete auseinandernehmen.« »Drohungen stören mich nicht«, erklärte das Boot gelassen. »Ich weiß, was Sie durchgemacht haben. Vermutlich haben Sie sich einen Gehirnschaden zugezogen, als Sie dem giftigen Wasser ausgesetzt waren.« »Giftig?« würgte Gregor hervor. »Nach den Maßstäben der Dromes«, brachte Arnold ihm in Erinnerung. »Wenn es absolut notwendig sein sollte«, fuhr das Rettungsboot fort, »dann bin ich auch dafür ausgerüstet, eine Gehirnbehandlung vorzunehmen. Das ist zwar eine drastische und aufwendige Maßnahme, aber in Kriegszeiten kann man die Leute nun mal nicht verhätscheln.« Ein Fach glitt auf, und die Partner erblickten blitzblanke chirurgische Instrumente. »Es geht uns schon wieder besser«, sagte Gregor hastig. »Der Klumpen Geezel sieht toll aus, was, Arnold?« »Köstlich«, bestätigte Arnold, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich habe einen landesweiten Wettbewerb für die Zubereitung von Geezel gewonnen«, verkündete das Rettungsboot mit verzeihlichem
Stolz. »Für unsere Jungs in Uniform ist das Beste gerade gut genug. Probieren Sie mal ein bißchen.« Gregor nahm eine Handvoll, machte ein schmatzendes Geräusch mit den Lippen und ließ es auf den Fußboden fallen. »Lecker«, sagte er und hoffte, die ins Bootsinnere gerichteten Abtaster würden nicht so feinfühlig sein, wie es offenbar die nach außen gerichteten waren. Das waren sie wohl nicht. »Gut«, sagte das Rettungsboot. »Ich fahre jetzt in Richtung Insel. Und bald schon, das verspreche ich Ihnen, werden Sie sich wohler fühlen.« »Wieso?« fragte Arnold. »Die Hitze hier ist unerträglich. Es ist ein Wunder, daß Sie nicht längst im Koma liegen. Bei jedem anderen Drome wäre das der Fall. Versuchen Sie, noch ein bißchen länger auszuharren. Bald habe ich die Temperatur auf die Drome-Norm von zwanzig Grad unter null gesenkt. Und nun spiele ich Ihnen, um Ihre Moral zu heben, die Nationalhymne vor.« Ein gräßliches rhythmisches Kreischen erfüllte die Luft. Wellen platschten gegen das dahineilende Boot. Kurz darauf war es bereits merklich kühler. Gregor schloß resignierend die Augen und bemühte sich, die Kälte, die ihm durch die Glieder kroch, zu ignorieren. Er wurde schläfrig. Das sah ihm ähnlich, dachte er, sich in einem wahnsinnigen Rettungsboot den Tod durch Erfrieren zu holen. Das hatte man davon, wenn man fürsorgliche Apparate kaufte, hochgezüchtete, humanistische Rechner, übersensible, gefühlsduselige Maschinen. Vor sich hin dämmernd, fragte er sich, wohin das alles führen mochte. Er sah ein gigantisches Maschinenkrankenhaus vor sich. Zwei Roboterärzte rollten einen Rasenmäher einen langen weißen Korridor entlang. Der Chefarzt fragte: »Was fehlt diesem Burschen denn?« Und sein Assistent antwortete: »Vollkommen verrückt. Hält sich für einen Hubschrauber.« »Aha!« meinte der Chefarzt. »Flugphantasien! Schade. Macht so einen netten Eindruck.« Der Assistent nickte. »Eine Folge der Überarbeitung.
Niedergetrampeltes Gras hat ihm das Herz gebrochen.« Der Rasenmäher surrte. »Jetzt bin ich ein Schneebesen!« kicherte er. »Wach auf!« rief Arnold und schüttelte Gregor, dessen Zähne klapperten. »Wir müssen etwas unternehmen.« »Bitte das Boot, die Heizung anzustellen«, sagte Gregor benommen. »Keine Chance. Dromes leben bei zwanzig Grad Kälte. Wir sind Dromes. Zwanzig Grad Kälte für uns, und keine Widerrede.« Reif türmte sich hoch auf den Kühlrohren, die das Boot durchzogen, die Wände wurden allmählich weiß, und die Bullaugen waren mit einer Eisschicht bedeckt. »Ich habe eine Idee«, sagte Arnold vorsichtig. Er warf einen Blick auf das Armaturenbrett und flüsterte Gregor rasch etwas ins Ohr. »Wir versuchen es«, sagte Gregor. Sie standen auf. Gregor nahm die Feldflasche in die Hand und ging steifbeinig ans andere Ende der Kabine. »Was haben Sie vor?« fragte das Rettungsboot scharf. »Wir wollen uns ein bißchen ertüchtigen«, erklärte Gregor. »DromeSoldaten müssen fit bleiben, weißt du?« »Das stimmt«, meinte das Boot mit zweifelnder Stimme. Gregor warf Arnold die Feldflasche zu. Arnold kicherte gekünstelt und warf sie zu Gregor zurück. »Seien Sie vorsichtig mit dem Gefäß«, warnte das Rettungsboot. »Es war mit tödlichem Gift gefüllt.« »Wir passen schon auf«, sagte Gregor. »Wir nehmen es mit zum Hauptquartier.« Er warf die Feldflasche zu Arnold. »Das Hauptquartier kann die H’gen damit bespritzen«, sagte Arnold und warf die Flasche zurück. »Wirklich?« fragte das Rettungsboot. »Das ist interessant. Eine neue Verwendung für…« Plötzlich schleuderte Gregor die Feldflasche mit voller Wucht gegen ein Kühlrohr. Das Rohr platzte, und Kühlflüssigkeit ergoß sich über den Fußboden.
»Fehlpaß, Alter«, sagte Arnold. »Wie unvorsichtig von mir«, rief Gregor. »Ich hätte Vorsichtsmaßnahmen gegen innere Unfälle treffen sollen«, meinte das Boot finster. »Das passiert nicht noch einmal. Aber die Lage ist ernst. Ich kann das Rohr nicht reparieren. Ich bin außerstande, das Boot richtig zu kühlen.« »Wenn du uns einfach auf der Insel absetzt…« hob Arnold an. »Unmöglich!« erklärte das Boot. »Meine vornehmste Pflicht ist, Sie am Leben zu erhalten, und im Klima dieses Planeten könnten Sie nicht lange überleben. Aber ich ergreife die notwendigen Maßnahmen für Ihre Sicherheit.« »Was hast du vor?« fragte Arnold, dem das Herz in die Hose sank. »Es ist keine Zeit zu verlieren. Ich überprüfe noch einmal die Insel. Wenn unsere Verbände nicht da sind, fahren wir zu dem einzigen Ort auf diesem Planeten, an dem ein Drome überleben kann.« »Welcher Ort?« »Die südliche Polkappe«, sagte das Rettungsboot. »Dort ist das Klima nahezu ideal – dreißig Grad unter null, schätze ich.« Die Maschinen dröhnten. Entschuldigend fügte das Boot hinzu: »Und ich muß natürlich aufpassen, daß hier nicht noch mehr Unfälle passieren.« Als das Boot vorwärts schoß, vernahmen sie das Klicken der Schlösser, die ihre Kabinen verriegelten. »Denk nach!« sagte Arnold. »Ich denke nach«, erwiderte Gregor. »Aber es kommt nichts dabei heraus.« »Wir müssen runter, wenn es die Insel erreicht. Das ist unsere letzte Chance.« »Du meinst doch wohl nicht, daß wir über Bord springen können?« fragte Gregor. »Niemals. Es paßt jetzt auf. Wenn du das Kühlrohr nicht zertrümmert hättest, hätten wir jetzt noch eine Chance.«
»Ich weiß«, meinte Gregor bitter. »Du und deine Einfälle.« »Meine Einfälle! Ich erinnere mich deutlich, daß es dein Vorschlag war. Du hast gesagt…« »Ist doch egal, wessen Idee es war.« Gregor dachte angestrengt nach. »Hör zu. Wir wissen, daß seine interne Überwachung nicht sehr gut ist. Wir könnten vielleicht das Stromkabel zerschneiden, wenn wir zur Insel kommen.« »Da würdest du nicht mal bis auf anderthalb Meter rankommen«, sagte Arnold und mußte an den Schlag denken, den er vom Armaturenbrett gekriegt hatte. »Hmm.« Gregor verschränkte die Arme hinter dem Kopf. In seinem Hinterkopf nahm eine Idee Gestalt an. Sie war zwar ziemlich dürftig, doch unter den gegebenen Umständen… »Ich beobachte jetzt die Insel«, verkündete das Rettungsboot. Als sie aus dem vorderen Bullauge sahen, konnten Gregor und Arnold in etwa hundert Metern Entfernung die Insel liegen sehen. Am Himmel zog die erste Ahnung der Dämmerung auf, und dagegen hob sich die narbige, geliebte Nase ihres Raumschiffs ab. »Scheint mir in Ordnung zu sein«, sagte Arnold. »Mir auch«, pflichtete Gregor ihm bei. »Ich wette, unsere Streitkräfte haben sich eingegraben.« »Nein«, sagte das Rettungsboot. »Das habe ich bis zu einer Tiefe von dreißig Metern untersucht.« »Tja«, meinte Arnold, »ich finde, unter diesen Umständen sollten wir uns das mal aus größerer Nähe angucken. Am besten, ich gehe an Land und sehe mich um.« »Die Insel ist leer«, sagte das Boot. »Glauben Sie mir, mein Gespür ist unendlich viel feiner als Ihres. Ich kann es nicht zulassen, daß Sie sich in Lebensgefahr bringen, wenn Sie an Land gehen. Drome braucht seine Soldaten – besonders so robuste, hitzebeständige Typen wie Sie.« »Wir mögen das Klima«, erklärte Arnold. »Das nenne ich wie ein Patriot sprechen«, sagte das Rettungsboot herzlich. »Ich weiß, wie sehr und wie lange Sie leiden müssen. Doch nun fah-
re ich zum Südpol, damit Sie Veteranen sich die Erholung gönnen können, die Sie schon lange verdient haben.« Gregor kam zu dem Schluß, daß es Zeit für seinen Plan wäre, ganz egal, wie vage er auch war. »Das wird nicht nötig sein«, sagte er. »Bitte?« »Wir stehen unter Sonderbefehl«, sagte Gregor. »Das hätten wir eigentlich keinem Fahrzeug gegenüber aufdecken dürfen, das in der Rangfolge unter einem Superschlachtschiff steht. Doch unter den gegebenen Umständen…« »Jawohl, unter den gegebenen Umständen«, stimmte Arnold eifrig ein, »setzen wir dich davon in Kenntnis.« »Wir sind ein Selbstmordkommando«, sagte Gregor. »Mit Spezialtraining für Unternehmen in heißem Klima.« »Wir haben den Auftrag«, sagte Gregor, »auf dieser Insel zu landen und sie für unsere Streitkräfte zu erobern.« »Das wußte ich nicht«, sagte das Boot. »Das solltest du auch nicht wissen«, erklärte ihm Arnold. »Schließlich bist du ja nur ein Rettungsboot.« »Laß uns sofort an Land gehen«, verlangte Gregor. »Wir haben keine Zeit zu verlieren.« »Das hätten Sie mir früher sagen sollen«, sagte das Boot. »Ich konnte das ja nicht ahnen, wissen Sie?« Es fuhr auf die Insel zu. Gregor konnte kaum noch atmen. Es war ja wohl nicht möglich, daß dieser einfache Trick funktionierte. Doch schließlich, warum nicht? Das Rettungsboot war so konstruiert, daß es das Wort seines Fahrers als Wahrheit akzeptierte. Solange die Wahrheit mit seinen operativen Voraussetzungen übereinstimmte, wurde sie ausgeführt. Der Strand war glücklicherweise nur noch fünfzig Meter weit weg und schimmerte weiß im kühlen Licht der langsam beginnenden Morgendämmerung. Da legte das Boot den Rückwärtsgang ein und verharrte auf der Stelle. »Nein«, sagte es. »Was heißt nein?«
»Ich kann es nicht tun.« »Was soll das bedeuten?« schrie Arnold. »Es herrscht Krieg! Befehle…« »Ich weiß«, sagte das Boot traurig. »Es tut mir leid. Für diese Mission hätte man einen anderen Bootstyp wählen sollen. Jeden anderen Typ. Aber nicht ein Rettungsboot.« »Du mußt«, flehte Gregor. »Denk an unser Land, denk an die barbarischen H’gen…« »Es ist mir körperlich unmöglich, Ihre Befehle auszuführen«, erklärte ihnen das Rettungsboot. »Meine Hauptaufgabe besteht darin, meine Insassen vor Schaden zu bewahren. Dieser Auftrag ist mir buchstäblich in jedes Band gelocht und hat die Priorität vor allen anderen. Ich kann Sie unmöglich in den sicheren Tod rennen lassen.« Das Boot begann, sich von der Insel zu entfernen. »Dafür kommst du vors Kriegsgericht!« schrie Arnold hysterisch. »Man wird dich verschrotten.« »Ich muß innerhalb der mir gezogenen Grenzen handeln«, sagte das Boot traurig. »Wenn wir die Flotte finden, übergebe ich Sie einem Killerboot. Aber in der Zwischenzeit muß ich Sie in die Sicherheit des Südpols bringen.« Es nahm Fahrt auf, und die Insel blieb hinter ihnen zurück. Arnold rannte ans Armaturenbrett und wurde zu Boden geworfen. Gregor hob die Feldflasche auf und packte sie am Hals, um mit ihr nicht sehr vielversprechend auf die verschlossene Luke einzuhämmern. Mitten im Schwung hielt er inne, weil ihm plötzlich ein wilder Gedanke gekommen war. »Versuchen Sie bitte, keine weiteren Zerstörungen anzurichten«, flehte das Boot. »Ich weiß, wie Sie sich fühlen, doch…« Es war verdammt riskant, dachte Gregor, aber der Südpol würde sowieso den sicheren Tod bedeuten. Er machte die Flasche auf. »Da wir unseren Auftrag nicht ausführen können«, sagte er, »können wir unseren Kameraden nie mehr unter die
Augen treten. Selbstmord ist die einzige Wahl, die uns bleibt.« Er trank einen Schluck Wasser und reichte die Feldflasche an Arnold weiter. »Nein! Nicht«, schrie das Rettungsboot. »Das ist Wasser! Ein tödliches Gift…« Ein Elektrobolzen schoß aus dem Armaturenbrett hervor und schlug Arnold die Flasche aus der Hand. Arnold schnappte sie sich wieder. Ehe das Boot sie ihm erneut aus der Hand schlagen konnte, hatte er einen Schluck getrunken. »Wir sterben für das ruhmreiche und ehrwürdige Drome!« Gregor stürzte zu Boden. Er bedeutete Arnold, unbeweglich liegenzubleiben. »Es gibt kein Gegengift dagegen«, stöhnte das Boot. »Wenn ich doch nur mit einem Lazarettschiff in Verbindung treten könnte…« Die Maschinen klopften unentschlossen. »Sprechen Sie zu mir«, bat das Boot. »Leben Sie noch?« Gregor und Arnold lagen reglos da und wagten nicht zu atmen. »Antworten Sie mir!« flehte das Boot. »Vielleicht, wenn Sie ein wenig Geezel essen würden…« Es streckte ihnen zwei Tabletts hin. Die Partner rührten sich nicht. »Tot«, sagte das Rettungsboot. »Tot. Ich werde die Totenmesse lesen.« Es entstand eine Pause. Dann ließ das Rettungsboot sich vernehmen: »Großer Geist des Universums, nimm in Deine Obhut die Seelen dieser Deiner Diener. Obgleich sie von eigener Hand gestorben sind, geschah es doch im Dienste ihres Landes, im Kampf für Heim und Herd. Urteile nicht streng über sie wegen ihres ruchlosen Todes. Verfluche vielmehr den Geist des Krieges, der ganz Drome in Flammen setzt und vernichtet.« Die Luke ging auf. Gregor spürte kühle Morgenluft in die Kabine dringen. »Und nun, kraft der Autorität, die mir die Drome-Flotte verliehen hat, sowie mit aller Ehrerbietung, übergebe ich ihre Körper der Tiefe.« Gregor fühlte sich durch die Luke auf Deck gehievt. Dann fiel er durch die Luft und war im nächsten Moment im Wasser. Arnold neben sich.
»Laß dich bewegungslos treiben«, flüsterte er. Die Insel war zum Greifen nahe. Aber das Rettungsboot verweilte immer noch in ihrer Nähe und ließ nervös den Motor aufheulen. »Was meinst du, was es jetzt vorhat?« flüsterte Arnold. »Keine Ahnung«, sagte Gregor und hoffte im stillen, daß die Dromes ihre Toten nicht zu Asche verbrannten. Das Boot kam immer näher. Sein Bug war kaum noch einen Meter entfernt. Sie warteten gespannt. Und dann hörten sie es. Das dröhnende Gekreisch der Nationalhymne von Drome. Kurz darauf war es vorüber. »Ruhet in Frieden«, murmelte das Rettungsboot, drehte ab und brauste davon. Als sie langsam zur Insel schwammen, sah Gregor, daß es nach Süden steuerte, genau nach Süden, zum Pol, um dort auf die Drome-Flotte zu warten.
Das geteilte Ich Alistair Crompton war das Musterbeispiel eines stereotypen Wesens, und das machte ihn krank. Leider konnte er nichts dagegen tun. Ob es ihm gefiel oder nicht, er hatte einen monolithischen Charakter, konventionelle Begierden und Ängste, die keinem seiner Mitmenschen verborgen blieben. Schlimmer noch, sein Körpertyp paßte mit peinlicher Genauigkeit zu seinem Charakter. Crompton war mittelgroß, unangenehm mager, schmallippig und scharfnasig. Er zeigte Ansätze zu einer Glatze, trug Brillen mit dicken Gläsern, verfügte über leicht glasig wirkende Augen und einen schütteren Bartwuchs. Er sah aus wie ein Schreiber. Er war ein Schreiber. Auf einen Blick erkannte ihn jedermann als kleinlich, pedantisch, vorsichtig, nervös, puritanisch, nachtragend, fleißig und voll von Komplexen. Charles Dickens, der große englische Dichter, hätte ihn mit gewaltiger Überschätzung seiner eigenen Wichtigkeit ausgestattet, ihn auf einen hohen Hocker gesetzt und mit kratzender Feder verstaubte Hauptbücher einer uralten Firma füllen lassen. Ein Arzt des 13. Jahrhunderts hätte ihn als Verkörperung eines der vier Temperamente gesehen, deren Wesen in den Urelementen Erde, Luft, Feuer und Wasser zu finden ist. Bei Crompton handelte es sich um das melancholische Temperament des Wassers, hervorgerufen durch zuviel trockene, schwarze Galle, die ihn mürrisch und grüblerisch machte. Überdies war Crompton ein Triumph für Lombroso, den Phrenologen; und für Kretschmer, den Begründer der Konstitutionslehre, war Crompton ein warnendes Beispiel, eine traurige Gestalt. Das Schlimme war jedoch, daß Crompton seinen dürren, verformten Charakter nur allzu genau kannte, sich seiner Mittelmäßigkeit bewußt war, gerechten Zorn darüber empfand, aber nichts dagegen tun konnte, als die Ärzte hassen, die ihn, wenn auch in bester Absicht, zu dem gemacht hatten, was er war.
Neidisch bemerkte Crompton ringsumher Menschen mit all ihren wunderbaren Widersprüchlichkeiten, komplizierte Wesen, die sich immer aus der von der Gesellschaft aufgezwungenen Schablone befreiten. Er entdeckte leichte Mädchen, die nicht gutherzig waren, Feldwebel, denen Brutalität widerstrebte, reiche Männer, die kein Geld für wohltätige Zwecke spendeten, Iren, die nur ungern rauften, Griechen, die noch nie ein Schiff gesehen hatten, Franzosen, denen der Sinn für Logik abging. Die meisten Menschen schienen ein erfülltes, aufregendes Leben zu führen, wurden heute von unbezähmbaren Leidenschaften überwältigt, fielen morgen in seltsame Untätigkeit, sagten das eine, taten das andere, empörten sich gegen ihre Umwelt, sprengten ihre Fesseln, stürzten Psychologen und Soziologen in Verwirrung, brachten Psychoanalytiker zur Verzweiflung. Aber diese Herrlichkeiten blieben Crompton versagt. Um eines gesunden Verstandes willen hatten ihm die Ärzte alles genommen, was an ihm vielschichtig, kompliziert war. Crompton traf mit der fluchenswürdigen Regelmäßigkeit eines Roboters jeden Arbeitstag Punkt neun Uhr an seinem Schreibtisch ein. Um fünf Uhr nachmittags legte er die Akten säuberlich beiseite und kehrte in sein möbliertes Zimmer zurück. Dort verzehrte er appetitlos seine Reformnahrung, legte drei Patiencen und verfügte sich anschließend in sein schmales Bett. Jeden Samstagabend seines Lebens sah sich Crompton einen Film an, belästigt von fröhlichen, zu allem Unfug fähigen jungen Leuten. Die Sonntage und der Urlaub wurden dem Studium der Geometrie Euklids gewidmet, denn Crompton glaubte an den Selbstunterricht. Und einmal im Monat schlich Crompton zu einem Zeitungskiosk und erstand ein Magazin unanständigen Inhalts. In der Zurückgezogenheit seines Zimmers verschlang er ihn, um dann in einer Orgie von Selbsthaß das abscheuliche Produkt zu zerfetzen. Crompton wußte natürlich, daß man ihn in seinem eigenen Interesse zu einem Stereotyp gemacht hatte. Er versuchte, mit dieser Tatsache zu leben. Einige Zeit suchte er die Gesellschaft anderer farbloser, zentimeterdünner Charaktere. Aber diese Gestalten waren selbstzufrieden, spießig, eingebildet. Sie hatten ihre Eigenschaften schon bei der Geburt mitbekommen, im Gegensatz zu Crompton, der im Alter von elf Jahren von den Ärzten verändert worden war. Bald entdeckte er, daß sich seinesglei-
chen nicht ertragen ließ, ebensowenig wie andere ihn zu ertragen vermochten. Er bemühte sich angestrengt, die engen Schranken seines Charakters zu überwinden. Eine Weile spielte er mit dem Gedanken, zum Mars oder zur Venus auszuwandern, aber irgendwie wurde nichts daraus. Er wandte sich an das New Yorker Herzensbüro, und man arrangierte für ihn ein Stelldichein. Crompton machte sich mit einer Nelke im Knopfloch auf den Weg zu seiner unbekannten Angebetenen; sie erwartete ihn vor dem Jupitertheater. Zweihundert Meter vor dem Ziel überkam ihn das große Zittern und zwang ihn, sich auf sein Zimmer zurückzuziehen. In jener Nacht löste er sechs Kreuzworträtsel und legte neun Patiencen, um seine Nerven zu beruhigen, aber selbst diese Veränderung war nicht von langer Dauer. Was er auch unternahm, Crompton mußte wohl oder übel im überaus engen Rahmen seines Charakters handeln. Sein Zorn auf sich selbst und die wohlmeinenden Ärzte wuchs und mit ihm der Drang, über sich hinauszugelangen. Es gab nur einen Weg für ihn, die erstaunliche Vielfalt von Möglichkeiten, die Widersprüche, die Leidenschaften, das Menschsein anderer Leute zu erringen. Crompton hielt sich also weiter an seine Arbeit und wartete. Endlich vollendete er das fünfunddreißigste Lebensjahr. Dies war das Mindestalter für eine Reintegrierung der Persönlichkeit, streng nach Gesetz und Vorschrift. Am Tag nach seinem 35. Geburtstag kündigte Crompton seine Stellung, hob die in siebzehn Jahren sorgfältig aufgehäuften Ersparnisse ab und suchte seinen Arzt auf, entschlossen, sich zurückzuholen, was man ihm genommen hatte. Dr. Berrenger führte Crompton in sein Sprechzimmer, stellte ihm einen bequemen Sessel zur Verfügung und sagte: »Na, mein Sohn, wir haben uns lange nicht gesehen. Wie geht es Ihnen?« »Miserabel«, erwiderte Crompton. »Was macht Ihnen denn zu schaffen?« »Mein Charakter«, sagte Crompton. »Aha«, rief der alte Arzt und starrte Cromptons Schreibergesicht scharf an. »Kommt Ihnen ein bißchen eng vor, wie?«
»›Eng‹ ist wohl nicht das richtige Wort«, entgegnete Crompton steif. »Ich bin eine Maschine, ein Roboter, ein Nichts – « »Sachte, sachte!« sagte Dr. Berrenger. »So schlimm wird es doch wohl nicht sein. Die Anpassung braucht Zeit – « »Ich hänge mir zum Hals heraus«, beschwerte sich Crompton. »Ich verlange Reintegrierung.« Der Arzt sah ihn zweifelnd an. »Und ich habe meinen fünfunddreißigsten Geburtstag hinter mir«, erklärte Crompton. »Ich kann meinen Anspruch auf Reintegrierung gesetzlich geltend machen.« »Das stimmt«, gab Dr. Berrenger zu. »Aber als Ihr Arzt und Freund möchte ich Ihnen nachdrücklichst abraten, Alistair.« »Warum?« Der alte Arzt seufzte. »Es wäre gefährlich für Sie, ungeheuer gefährlich. Vielleicht sogar verhängnisvoll.« »Aber ich hätte doch eine Chance, nicht wahr?« »Sie ist verschwindend klein.« »Dann bestehe ich auf Reintegrierung.« Der Arzt seufzte noch einmal, ging zu einem Schrank und entnahm ihm eine dicke Akte. »Also gut«, sagte er, »sprechen wir Ihren Fall noch einmal durch.« Alistair Crompton, Sohn der Eheleute Lyle und Beth Crompton aus Amundsenville, Marie-Byrd-Land, Antarktis. Der Vater war Werkmeister im Plutoniumbergwerk Scott, die Mutter halbtags am Fließband der kleinen Transistorfabrik beschäftigt. Beide waren körperlich und geistig gesund. Während der ersten neun Lebensjahre wirkte Alistair in jeder Beziehung normal, wenn man von einer gewissen Launenhaftigkeit absah; Kinder sind jedoch recht oft launisch. Im übrigen war Alistair wißbegierig, unternehmungslustig, liebevoll und fröhlich, und überdurchschnittlich intelligent. In seinem zehnten Lebensjahr nahm die Launenhaftigkeit merkbar zu. An manchen Tagen saß das Kind stundenlang auf seinem
Stuhl und starrte ins Leere. Gelegentlich reagierte es nicht einmal auf einen Anruf. Man erkannte diese ›Anfälle‹ nicht als Symptome, sondern sah sie als Tagträume eines phantasiebegabten Kindes. Alistairs Abwesenheitsanfälle nahmen an Zahl und Stärke zu. Man begann Wutausbrüche bei ihm zu erleben, die der Hausarzt mit Beruhigungspillen zu bekämpfen suchte. Eines Tages, als Alistair zehn Jahre und sieben Monate alt war, schlug er ohne jeden Grund auf ein kleines Mädchen ein. Als es zu schreien begann, versuchte er es zu erdrosseln. Da dieses Vorhaben seine Kräfte überstieg, packte er ein schweres Buch und begann, dem Kind den Schädel einzuschlagen. Ein Erwachsener konnte den um sich schlagenden, schreienden Alistair gerade noch wegzerren. Das Mädchen erlitt eine Gehirnprellung und mußte ein Dreivierteljahr im Krankenhaus liegen. Als man Alistair zur Rede stellte erklärte er, es nicht getan zu haben. Jemand anders müsse dafür verantwortlich sein. Er würde niemals jemandem weh tun, schwor er, schon gar nicht dem kleinen Mädchen, das er sehr gern habe. Mit weiteren strengen Fragen erreichte man nur, daß er in eine Erstarrung verfiel, die fünf Tage dauerte. Selbst zu diesem Zeitpunkt wäre Alistair zu retten gewesen, wenn jemand die Frühsymptome der Virusschizophrenie erkannt hätte. Sofortige Behandlung konnte auch bei Kindern der Krankheit Einhalt gebieten. In den gemäßigten Zonen war die Virusschizophrenie seit Jahrhunderten immer wieder aufgetreten; von Zeit zu Zeit breitete sie sich sogar als Epidemie aus, wie in den Veitstänzen des Mittelalters sichtbar wird. Die Medizin hatte noch keinen Impfstoff gegen diesen Virus entwickelt. Die allgemein anerkannte Therapie bestand daher in sofortiger Massivspaltung, solange die schizoiden Charaktere noch formbar waren; die dominierende Persönlichkeit mußte erkannt und bewahrt bleiben, während man die anderen Persönlichkeiten mit Hilfe eines Mikkletonprojektors in die passive Substanz eines Durierkörpers integrierte. Die Durierkörper waren gewachsene Zuchtandroiden mit einer geschätzten Betriebszeit von etwa vierzig Jahren. Sie waren selbstverständlich auf die Dauer nicht lebensfähig. Der Gesetzgeber gestattete jedoch Persönlichkeits-Reintegrierung im Alter von fünfunddreißig Jahren. Die in den Durierkörpern entwickelten Charaktere konnten nach Belieben
der dominierenden Persönlichkeit in den Originalkörper und -verstand zurückgeholt werden, wobei für tatsächliche Reintegrierung und völlige Verschmelzung ausgezeichnete Prognosen gestellt werden konnten… Wenn die Spaltung rechtzeitig durchgeführt worden war! Der praktische Arzt im kleinen, abgelegenen Amundsenville war wirklich sehr gut für die Behandlung von Frostbeulen, Schneeblindheit, Krebs, Regressionsmelancholie und andere einfache Erkrankungen des antarktischen Kontinents. Von den in gemäßigteren Zonen grassierenden Seuchen verstand er nichts. Alistair wurde im örtlichen Krankenhaus zwei Wochen lang beobachtet. Während der ersten Woche war er verstimmt, scheu und verlegen; ab und zu brach etwas von seiner früheren Fröhlichkeit durch. In der zweiten Woche begann er große Zuneigung für seine Krankenschwester zu zeigen. Unter dem Einfluß ihrer liebevollen, beruhigenden Art schien Alistair wieder ein normaler Junge zu werden. Am dreizehnten Tag seines Krankenhausaufenthaltes zerschnitt Alistair das Gesicht der Schwester mit einer zertrümmerten Wasserkaraffe und unternahm dann einen verzweifelten Versuch, sich die eigene Kehle durchzuschneiden. Man brachte ihn ins Kreiskrankenhaus, wo er in eine Katalepsie verfiel, die man für die Nachwirkung des Schocks hielt. Man verschrieb Ruhe und absolute Stille, unter den gegebenen Umständen das Verkehrteste, was man tun konnte. Nach zwei Wochen nahezu vollkommener Erstarrung hatte die Krankheit ihren Höhepunkt erreicht. Alistairs Eltern schickten das Kind in die berühmte Rivera-Klinik nach New York. Dort wurde der Fall sofort zutreffend als Virusschizophrenie in fortgeschrittenem Stadium diagnostiziert. Alistair, inzwischen elf Jahre alt, hatte kaum Realitätskontakt mit der Welt, nicht genug jedenfalls, um den Ärzten ein Fundament zu liefern, mit dem sich etwas anfangen ließ. Er befand sich in einem nahezu ohne Unterbrechung andauernden Zustand der Katatonie; seine schizoiden Persönlichkeitsfragmente hatten sich gegeneinander abgeschlossen; sein Leben lief in einem seltsamen, unerreichbaren Zwielicht ab, wohin ihn nur seine Alpträume begleiteten. Eine Massivspaltung bot in einem solchen Fall kaum Aussicht auf Erfolg. Aber ohne Spaltung war Alistair
dazu verurteilt, den Rest seines Lebens in einer Heilanstalt zu verbringen, nie ganz seiner Umwelt bewußt, niemals fähig, den bizarren Verliesen seines kranken Gehirns zu entrinnen. Seine Eltern wählten, was sich als das kleinere Übel darstellte, und unterschrieben Dokumente, die den Ärzten erlaubten, einen verspäteten, verzweifelten Spaltungsversuch zu unternehmen. Alistair wurde im Alter von elf Jahren und einem Monat operiert. In tiefer Synthohypnose rief man drei getrennte Persönlichkeiten in ihm wach. Die Ärzte sprachen mit ihnen und trafen ihre Wahl. Zwei Persönlichkeiten wurden in Durierkörper projiziert. Die dritte Persönlichkeit, als hinreichendste der drei beurteilt, verblieb im Originalkörper. Alle drei Personen überstanden das Trauma; man konnte die Operation als teilweise erfolgreich bezeichnen. Der leitende Neuro-Hypnotiseur, Dr. Vlacjeck, stellte in seinem Gutachten fest, daß die drei Persönlichkeiten nicht auf erfolgreiche Reintegrierung hoffen durften, sobald das gesetzliche Mindestalter von fünfunddreißig Jahren eine solche Maßnahme erlaubte. Die Operation war zu spät ausgeführt worden, und die drei Charaktere hatten die lebenswichtige Gemeinsamkeit von Eigenschaften und Sympathien verloren. Das Gutachten empfahl den Persönlichkeiten, auf ihr Reintegrationsrecht zu verzichten und, jede für sich, ihre Leben so vernünftig wie möglich zu gestalten. Die beiden Duriers erhielten andere Namen und wurden zu Pflegeeltern auf den Mars beziehungsweise auf die Venus gebracht. Die Ärzte gaben ihnen die besten Wünsche mit, erwarteten sich aber wenig. Alistair Crompton, die dominierende Persönlichkeit im Originalkörper, erholte sich von der Operation, aber zwei Drittel seines Selbst waren verschwunden, fortgenommen mit den schizoiden Charakteren. Man hatte ihm gewisse menschliche Attribute, Gefühle, Fähigkeiten entrissen, für die es einen Ersatz nicht gab. Crompton wuchs auf, nur mit den ihm eigentümlichen Zügen ausgestattet, mit Pflichtgefühl, Sauberkeit, Ausdauer und Behutsamkeit. Die unvermeidliche Überbetonung dieser Eigenschaften machte ihn zu einem Stereotyp, zu einer einseitigen Person, die spürte, was ihr mangelte
und leidenschaftlich Erfüllung, Verschmelzung, Reintegrierung wünschte… »So steht die Sache, Alistair«, meinte Dr. Berrenger und klappte den Aktendeckel zu. »Dr. Vlacjeck spricht sich entschieden gegen eine Verschmelzung aus. Ich muß ihm recht geben, so leid es mir tut.« »Ich habe aber nur eine Chance«, wandte Crompton ein. »Das ist eigentlich gar keine Chance«, klärte ihn Dr. Berrenger auf. »Sie können die anderen Persönlichkeiten wieder aufnehmen, aber Sie besitzen nicht die Stabilität, sie zu beherrschen und schließlich miteinander zu verschmelzen. Alistair, wir haben Sie von der Virusschizophrenie geheilt, aber die Anlage dazu läßt sich nicht beseitigen. Wenn Sie die Reintegrierung versuchen, stürzen Sie sich geradewegs in die funktionelle Schizophrenie, und dann kann Sie niemand mehr retten!« »Andere hatten auch Erfolg«, sagte Crompton eigensinnig. »Gewiß. Viele andere. Aber bei ihnen ist die Operation ausnahmslos zur rechten Zeit gemacht worden, nämlich bevor sich die schizoiden Fragmente abgekapselt hatten.« »Ich muß das Risiko eingehen«, erklärte Crompton. »Ich bitte um die Namen und Anschriften meiner Duriers.« »Haben Sie denn nicht zugehört? Jeder Verschmelzungsversuch wird Sie den Verstand kosten oder Schlimmeres.« »Geben Sie mir die Adressen«, forderte Crompton kalt. »Ich kann mich auf einen gesetzlich verbürgten Anspruch berufen. Ich bin der Meinung, daß ich Stabilität genug besitze, die anderen Persönlichkeitsfragmente zu beherrschen. Sobald sie völlig unterworfen sind, steht einer restlosen Verschmelzung nichts im Wege. Wir müssen zu einer Einheit werden. Und dann bin ich endlich ein richtiger Mensch.« »Sie wissen ja gar nicht, wie diese anderen Cromptons sind«, wandte der Arzt ein. »Sie halten sich für unzulänglich? Lieber Alistair, Sie sind das Ausleseprodukt!« »Es ist mir gleichgültig, wie sie sind«, erwiderte Crompton. »Sie sind ein Teil von mir. Die Namen und Adressen, bitte.«
Der Arzt schüttelte müde den Kopf, notierte die Angaben auf einen Zettel und händigte ihn Crompton aus. »Alistair, mit einem Erfolg ist doch praktisch nicht zu rechnen. Bitte überlegen Sie sich – « »Danke, Dr. Berrenger«, sagte Crompton, verbeugte sich knapp und ging. Er hatte die Praxis kaum verlassen, als seine Selbstbeherrschung zu schwinden begann. Dr. Berrenger hatte er seine Unsicherheit nicht zu zeigen gewagt; dem alten Mann wäre es sonst sicher gelungen, ihm die geplante Reintegrierung auszureden. Aber jetzt, da er die Namen in der Tasche hatte und alle Verantwortung allein tragen mußte, schlug die Brandung aus Angst über ihm zusammen. Er begann am ganzen Körper zu zittern. Mit einem Taxi fuhr er zu seinem möblierten Zimmer zurück, wo er sich aufs Bett warf. Er lag eine volle Stunde da, von Angstkrämpfen geschüttelt, und klammerte sich wie ein Ertrinkender an das Kopfbrett. Dann beruhigte er sich langsam. Er bekam seine Hände wieder soweit in die Gewalt, daß er einen Blick auf den Zettel Dr. Berrengers werfen konnte. Der erste Name lautete, Edgar Loomis, Eiderberg, Mars. Darunter stand: Dan Stack, East Marsh, Venus. Das war alles. Wie sahen diese Teilverkörperungen seiner gespaltenen Persönlichkeit aus? Welches Temperament, welche stereotypen Formen hatten sie angenommen? Der Zettel gab keine Auskunft. Er mußte sich auf den Weg machen und es selbst herausfinden. Er legte eine Patience und überdachte die Risiken. Sein jugendliches, schizoides, desintegriertes Gehirn hatte eine deutliche Tendenz zum Mord im Wahnsinn erkennen lassen. Würde eine Verschmelzung daran etwas ändern, vorausgesetzt, daß sie überhaupt möglich war? Hatte er das Recht, ein Wesen, das sich als Ungeheuer entpuppen konnte, auf die Menschheit loszulassen? Durfte er einen Schritt tun, der zum Irrsinn, ja zum Tod führen mochte? Crompton dachte bis spät in die Nacht hinein darüber nach. Schließlich siegte die ihm angeborene Vorsicht. Er faltete den Zettel sorgfältig
zusammen und legte ihn in eine Schublade. So sehr er die Reintegrierung, so sehr er die Einheit auch begehrte, die Gefahren waren einfach groß. Sein jetziges Dasein schien dem Wahnsinn vorziehbar. Am nächsten Tag verließ er das Zimmer und fand eine Stelle als Angestellter bei einer uralten, respektablen Firma. Sofort umschlossen ihn seine Gewohnheiten wie ein Gefängnis. Wieder traf er mit der unausweichlichen Sicherheit eines Roboters Punkt neun Uhr morgens an seinem Schreibtisch ein, entfernte sich um fünf Uhr nachmittags, kehrte in sein möbliertes Zimmer zur appetitmordenden Reformnahrung zurück, legte drei Patiencen, löste ein Kreuzworträtsel und verfügte sich zur Nachtruhe in sein schmales Bett. Wieder besuchte er samstags abends das Kino, studierte er sonntags Geometrie, und einmal im Monat kaufte, las und vernichtete er ein Magazin zweifelhaften Inhalts. Sein Ekel vor sich selbst wurde immer stärker. Er begann Briefmarken zu sammeln, gab es wieder auf, trat einem Freundschaftsklub bei, lief bei der ersten Tanzveranstaltung davon, versuchte, das Schachspiel zu erlernen, hielt nicht durch. Auf diese Art ließen sich seine Schranken nicht überspringen. Überall um sich herum konnte er die Widersprüchlichkeiten der Menschheit in ihrer ganzen Fülle und Vielfalt beobachten. Das Festmahl des Lebens lag vor ihm ausgebreitet, und er durfte sich nicht daran laben. Die Vorstellung begann ihn zu verfolgen, daß er weitere zwanzig Jahre mit eintöniger, sinnloser Arbeit verbringen würde: dreißig, vierzig Jahre, ohne Hilfe, ohne Hoffnung, erlöst nur vom Tod. Er gab daher seine Stellung auf und hob wieder seine gesamten Ersparnisse ab. Diesmal erstand er eine Flugkarte zweiter Klasse zum Mars, wo er Edgar Loomis in Eiderberg aufzusuchen gedachte. Ausgerüstet mit einem dicken Band Kreuzworträtsel begab sich Crompton zur festgesetzten Zeit zum Raumflughafen Idlewild, ertrug die mehrfache g-Belastung des Aufstiegs zur Raumstation Drei, stieg in den Lockheed-Lackawanna-Pendler nach Exchange Point um, erwischte die
Rakete zur Marsstation Eins, durchlief Zoll-, Einwanderungs- und Gesundheitsbehörden und ließ sich mit der Fährkapsel nach Port Newton hinunterbringen. Dort unterzog er sich der dreitägigen Akklimatisierung, erlernte den Gebrauch der Hilfsmagenlunge, ließ sich mit stoischer Ruhe erneut impfen und nahm endlich ein für den ganzen Mars gültiges Reisevisum in Empfang. Dann bestieg er einen Rápido nach Eiderberg, das in der Nähe des martianischen Südpols lag. Der Rápido bewegte sich über die flachen, eintönigen Marsebenen, vorbei an kärglichem, grauen Gebüsch, das in der dünnen kalten Luft um sein Dasein rang, durch sumpfige Gebiete mattgrüner Tundra. Crompton widmete sich seinen Kreuzworträtseln. Als der Schaffner verkündete, daß man den Grand Canal überquere, hob er interessiert den Kopf. Man sah jedoch nichts als ein flaches, ausgetrocknetes Flußbett. Die Vegetation am schlammigen Grund war von dunkelgrüner, beinahe schwärzlicher Färbung. Crompton beugte sich wieder über sein Rätsel. Sie querten die Orangewüste und hielten an kleinen Stationen, wo bärtige Ansiedler mit breitkrempigen Hüten in Jeeps auf ihre Vitaminkonzentrate und die Mikrofilmausgabe der Sunday Times warteten. Endlich erreichten sie die Außenbezirke Eiderbergs. Die Stadt diente als Zentrale für die gesamten südpolaren Bergbauund Landwirtschaftsunternehmungen. Sie war gleichzeitig Kurort für Begüterte, die sich in den Verjüngungsbädern tummelten und überhaupt den Neuheitsreiz einer Fahrt dorthin auskosteten. Die Umgebung war bei einer durch Vulkantätigkeit hervorgerufenen Lufttemperatur von zwanzig Grad Celsius die wärmste Gegend auf dem Mars. Die Bewohner nannten sie gewöhnlich ›die Tropen‹. Crompton mietete sich in einem kleinen Motel ein und mischte sich dann unter die auf Eiderbergs altmodisch-unbeweglichen Gehsteigen flanierenden Männer und Frauen. Er warf vorsichtige Blicke in die Spielhöllen, staunte vor den Geschäften, die ›echte Artefakte der verschwundenen Marsmenschen‹ feilhielten, starrte durch die Fenster in die Bars und glitzernden Restaurants. Als ihn eine auffällig geschminkte junge Frau ansprach und in Mama Teeles Haus einlud, wo die geringe Schwerkraft besondere Vergnügungen verspreche, fuhr er sofort entsetzt zusammen. Er wies sie und ein Dutzend ihrer Kolleginnen ab und setzte
sich in einem kleinen Park auf eine Bank, um Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Ringsum breitete sich Eiderberg aus, prunkend mit seinen Lastern, eine geschminkte Dirne, der Crompton mit verächtlichem Kräuseln seiner Lippen seine Abscheu bekundete. Und doch drängte hinter dem verächtlich geschürzten Mund, hinter den abgewandten Augen und den angewidert geblähten Nasenflügeln etwas in ihm zur Menschlichkeit des Lasters als Alternative zu seinem trüben und sterilen Dasein. Aber zu seiner Betrübnis vermochte ihn Eiderberg ebensowenig zu verderben wie zuvor New York. Vielleicht lieferte Edgar Loomis die mangelnde Zutat. Crompton begann seine Suche in den Hotels. Er klapperte sie in alphabetischer Reihenfolge ab. Die Portiers der ersten drei Herbergen erklärten ihm, sie hätten keine Ahnung, wo Loomis sich aufhalte: sollte er auftauchen, so sei noch die Frage einer unbezahlten Rechnung zu bereinigen. Im vierten Hotel hieß es, Loomis habe sich vielleicht an dem großen Goldsuchertreck nach Saddle Mountain beteiligt. Beim fünften Hotel, einem Neubau, hatte man von Loomis nie etwas. gehört. Im sechsten lachte eine auffällig gekleidete Frau hysterisch auf, als der Name ›Loomis‹ genannt wurde; sie weigerte sich allerdings, Informationen beizusteuern. Im siebenten Hotel teilte der Empfangschef mit, Edgar Loomis bewohnte Suite 314. Im Augenblick sei er zwar nicht anwesend, man könnte ihn aber vermutlich im Red Planet Saloon finden. Crompton ließ sich den Weg beschreiben, dann drang er klopfenden Herzens in die Altstadt Eiderbergs vor. Hier waren die Hotelfassaden schmutzig und verwittert, die Anstriche fleckig, die Kunststoffe von den jahreszeitlich bedingten Sandstürmen zerfressen. Hier fand man einen Spielsalon neben dem anderen, und aus den Tanzsälen drang mittags wie mitternachts der gellende Lärm der Kapellen auf die Straße. Hier stauten sich die Touristen mit ihren Kameras und Tonbandgeräten, auf der Suche nach Lokalkolorit, nach jener glamourösen Verderbtheit, die übereifrige Manager dazu gebracht hatte, Eiderberg als Ninive der Drei Planeten zu bezeichnen.
Und hier gab es die Safariläden, in denen Reisegesellschaften für den Abstieg in die berühmten Xanadu-Höhlen oder die lange Wüstenfahrt zum Devils Twist ausgerüstet wurden. Hier fand man auch den berüchtigten ›Laden der Träume‹, der Rauschgifte jeglicher Art feilbot, trotz der Bemühungen amtlicher Stellen, solche Geschäfte zu unterbinden. Hier schließlich verkauften die Straßenhändler Steinplastiken, die angeblich von ausgestorbenen Marsbewohnern stammten, und alles sonst, was das Herz begehrte. Crompton fand den Red Planet Saloon, ging hinein und wartete, bis er durch die dichten Schwaden von Tabakrauch etwas erkennen konnte. Er beobachtete die Touristen, die in farbenfrohen Hemden die Bar umlagerten, starrte die unaufhörlich plappernden Fremdenführer und die verschlossenen Bergleute an. Er ließ den Blick über die Spieltische mit den kichernden Frauen und ihren männlichen Begleitern schweifen; die meisten verfügten über die begehrte, sanft orangegetönte Bräunung, zu der man, wie es hieß, mindestens einen Monat benötigte. Dann entdeckte er Loomis. Jeder Zweifel war von Anfang an ausgeschlossen. Loomis stand am Baccara-Tisch. Er war in Begleitung einer vollbusigen Blondine, die auf den ersten Blick wie Dreißig, auf den zweiten wie Vierzig und nach eingehender Betrachtung wie Fünfundvierzig wirkte. Sie hatte sich völlig auf das Spiel konzentriert; Loomis beobachtete sie mit amüsiertem Lächeln. Er war groß und schlank. Seine Art, sich zu kleiden, ließ sich am präzisesten mit dem Wort ›stutzerhaft‹ umschreiben. Sein brünettes Haar war glatt zurückgekämmt. Eine nicht allzu anspruchsvolle Frau hätte ihn vielleicht als ›gutaussehend‹ bezeichnet. Er glich Crompton in keiner Weise, aber es gab eine gegenseitige Anziehung, einen Gleichklang, der allen Teilen eines gespaltenen Wesens zu eigen war. Verstand drängte zu Verstand, die Fragmente riefen nach dem Ganzen, eine beinahe telepathische Kraft teilte sich mit. Loomis, der das spürte, hob den Kopf und starrte Crompton voll ins Gesicht. Crompton ging auf ihn zu. Loomis flüsterte der Blondine etwas zu, verließ den Spieltisch und traf mit Crompton in der Mitte des Saales zusammen.
»Wer sind Sie?« fragte Loomis. »Alistair Crompton. Ich habe den Originalkörper und – ist Ihnen klar, wovon ich spreche?« »Ja, natürlich«, erwiderte Loomis. »Ich dachte mir schon, daß Sie einmal aufkreuzen würden. Hm.« Er betrachtete Crompton vom Scheitel bis zur Sohle und schien vom Resultat seiner Prüfung nicht sehr erbaut zu sein. »Na schön«, meinte er, »gehen wir in mein Appartement und sprechen wir uns aus. Man muß solche Dinge immer sofort erledigen.« Er sah Crompton wieder mit unverhohlenem Widerwillen an und führte ihn zum Ausgang. Loomis’ Wohnung erwies sich als Offenbarung. Crompton wäre beinahe gestolpert, als er bis zu den Knöcheln in einem Orientteppich versank. Das Zimmer war gedämpft und von goldenem Schimmer, an den Wänden zuckten und waberten seltsame Schatten, nahmen menschliche Gestalt an, verschmolzen miteinander, verwandelten sich zu Tieren, wuchsen ins Alptraumhafte und verschwanden in der Mosaikdecke. Crompton hatte wohl von Schattengesängen gehört, sah sie aber hier zum erstenmal. »Ein apartes kleines Stück mit dem Titel ›Abstieg zum Kartherum‹«, erklärte Loomis, »wie gefällt es dir?« »Sehr – eindrucksvoll«, erwiderte Crompton. »Muß wohl furchtbar teuer gewesen sein.« »Allerdings«, winkte Loomis lässig ab. »Ein Geschenk. Willst du dich nicht setzen?« Crompton ließ sich in einem tiefen Sessel nieder, der sich sofort seinen Konturen anpaßte und sanft seinen Rücken zu massieren begann. »Etwas zu trinken?« erkundigte sich Loomis. Crompton nickte stumm. Erst jetzt fiel ihm das Parfüm auf, eine komplizierte und schwer bestimmbare Mischung aus würzigen und süßlichen Gerüchen. »Dieser Geruch – «
»Man muß sich erst daran gewöhnen«, gab Loomis zu. »Das ist eine Duftsonate, die als Begleitung zum Schattengesang komponiert wurde. Aber ich kann sie abschalten.« Er tat es und stellte etwas anderes ein. Crompton hörte eine Melodie, deren Töne in seinem eigenen Kopf zu entstehen schienen. »Es heißt ›Déja Vu‹«, sagte Loomis. »Direkte Aurikularübertragung. Hübsch, nicht wahr?« Crompton wußte, daß Loomis ihn beeindrucken wollte. Und er war ja auch beeindruckt. Während Loomis zwei Gläser füllte, sah sich Crompton im Zimmer um, betrachtete die Skulpturen, Vorhänge, Möbel und technischen Einrichtungen; sein Angestelltengehirn überschlug die Kosten, addierte Transportkosten und Steuern, errechnete das Resultat. Mit Bestürzung erkannte er, daß Loomis allein in diesem Zimmer hier Werte besaß, die Crompton in dreieinhalb Lebzeiten als Schreiber nicht erringen würde. Loomis reichte Crompton ein Glas. »Das ist Met«, erklärte er. »Sehr beliebt in dieser Saison. Sag mir, was du davon hältst.« Crompton nippte vom Honigwein. »Wunderbar«, erwiderte er. »Kostet sicher einiges.« »Gewiß, aber das Beste ist schließlich gerade gut genug, findest du nicht?« Crompton schwieg. Er starrte Loomis scharf an und erkannte die Anzeichen eines verfallenden Durierkörpers. Sorgfältig prüfte er das klare, gutgezeichnete Gesicht, die Marsbräune, das glatte braune Haar, die lässige Eleganz der Kleidung, die Krähenfüße in den Augenwinkeln, die eingesunkenen Wangen mit den Spuren kosmetischer Mittel. Er beobachtete Loomis’ selbstgefälliges Lächeln, den hochmütigen Zug um die Lippen, die nervös über ein Stück Brokat streichenden Finger. Hier zeigte sich der Stereotyp des sinnlichen Menschen, ein Mann, der nur dem Vergnügen, nur dem Müßiggang verhaftet war. Crompton erkannte, daß ihm die Verkörperung des sanguinischen Temperaments des Feuers gegenübersaß, verursacht durch ein Übermaß an heißem Blut, das einen Menschen dazu trieb, seine Befriedigung ausschließlich in fleischlichen Genüssen zu suchen. Loomis war, gleich Crompton selbst, ein mo-
nolithischer, zentimeterdünner Charakter mit völlig eindeutigen Begierden und allzu offensichtlichen Ängsten. In Loomis hatten sich alle Genußmöglichkeiten Cromptons wie in einem Brennglas vereinigt, losgelöst und als eigene Persönlichkeit aufgebaut. Loomis, das Prinzip des reinen Genusses für Cromptons SeeleLeib-Ganzheit von lebenswichtiger Bedeutung. »Wovon lebst du?« fragte Crompton rundheraus. »Ich leiste Dienste, für die man mich bezahlt«, erwiderte Loomis lächelnd. »Mit anderen Worten, du bist ein Schmarotzer«, sagte Crompton. »Du lebst von den reichen Leuten, die sich hier in Eiderberg tummeln.« »Es war mir natürlich klar, daß du es so sehen würdest, mein arbeitsamer, puritanischer Bruder«, meinte Loomis, während er sich eine elfenbeinfarbige Zigarette anzündete. »Aber ich stehe auf einem ganz anderen Standpunkt. Denk einmal nach. Heutzutage ist alles auf die Armen ausgerichtet, als sei die Armut eine besondere Tugend. Die Reichen haben schließlich auch ihre Bedürfnisse! Sie gleichen zweifellos nicht den Bedürfnissen der Armen, sind aber um nichts weniger drängend. Die Armen brauchen Nahrung, ein Heim, ärztliche Behandlung. In bewundernswerter Weise verschafft ihnen das der Staat. Aber wie steht es mit den Bedürfnissen der Reichen? Die Leute lachen über die Vorstellung, daß ein reicher Mann Probleme haben könnte, schließt denn aber der größere Kredit Probleme aus? Keineswegs! Ganz im Gegenteil, der Reichtum steigert die Bedürfnisse und bringt manchen Menschen in eine schwierigere Lage, als sie je seinem armen Bruder zuteil werden kann.« »Warum verzichtet er denn dann nicht auf seinen Besitz?« wandte Crompton ein. »Warum gibt ein Armer seine Armut nicht auf?« fragte Loomis dagegen. »Nein, das gibt es nicht, wir müssen akzeptieren, was uns das Leben aufgebürdet hat. Die Last der Reichen ist schwer; sie müssen sie trotzdem tragen und Hilfe suchen, wo sie eben können. Die Reichen brauchen Mitgefühl, und das gebe ich ihnen. Die Reichen brauchen Leute um sich, die Luxus genießen und ihnen beibringen können, ihn auch zu genießen. Wenige Menschen genießen und würdigen
den Luxus der Reichen in demselben Maße, wie ich es kann. Und ihre Frauen, Crompton! Sie haben auch ihre Bedürfnisse – wichtige, drängende Bedürfnisse, für die ihre Männer, aus ihrer inneren Spannung heraus, unter der sie leben müssen, nicht immer einen Ausgleich zu schaffen vermögen. Diese Frauen können sich nicht irgendeinem hergelaufenen Kerl von der Straße anvertrauen. Sie sind nervös, hochgezüchtet, empfindlich, diese Frauen. Sie brauchen Nuancierung, Einfühlung. Sie brauchen die Aufmerksamkeiten eines Mannes mit gewaltiger Phantasie, dem es gleichzeitig an hervorragender Feinfühligkeit nicht mangelt. Solche Männer sind in unserer Alltagswelt überaus selten. Gerade auf diesem Gebiet liegen aber meine Talente. Ich wende sie also an. Und wie jeder Tätige erwarte ich eine Entschädigung dafür.« Loomis lehnte sich lächelnd zurück. Crompton starrte ihn entsetzt an. Es fiel ihm schwer zu glauben, daß dieser gewissenlose, selbstzufriedene Verführer ein Teil seines Ichs war. Aber daran gab es nichts zu rütteln; Crompton brauchte ihn zur Verschmelzung. »Tja«, sagte Crompton, »es ist deine Sache, was du für richtig hältst. Ich bin jedenfalls die Grundpersönlichkeit Cromptons in seinem Originalkörper. Ich bin hierhergekommen, um dich zu reintegrieren.« »Kein Interesse«, winkte Loomis ab. »Soll das heißen, daß du nicht willst?« »Genau.« »Du scheinst nicht begriffen zu haben, daß du unvollständig und unfertig bist«, erklärte Crompton. »Du mußt doch denselben Drang zur Selbstverwirklichung haben wie ich. Und sie kann nur durch Reintegrierung erfolgen.« »Ganz klar.« »Also – « »Nein«, sagte Loomis. »Ich möchte auch die Verschmelzung erreichen, aber es treibt mich wesentlich stärker dazu, weiterzuleben wie bisher. Der Luxus hat auch seine Annehmlichkeiten, verstehst du.« »Vielleicht hast du vergessen, daß du in einem Durierkörper lebst, dessen Funktionsdauer auf vierzig Jahre berechnet ist«, argumentierte Crompton. »Wenn du dich der Verschmelzung widersetzt, bleiben dir im
besten Fall noch fünf Jahre. Wohlgemerkt, im besten Fall. Meistens halten die Durierkörper nicht einmal so lange.« »Das stimmt«, sagte Loomis und zog die Brauen zusammen. »Die Reintegrierung wird gar nicht so schlimm sein«, fuhr Crompton, wie er hoffte, gewinnend fort. »Dein Genußimpuls geht ja nicht verloren. Er wird lediglich auf ein vernünftigeres Maß herabgeschraubt.« Loomis dachte angestrengt nach und zog an seiner Zigarette. Dann sah er Crompton ins Gesicht und sagte: »Nein.« »Aber deine Zukunft – « »Ich gehöre nicht zu den Menschen, die sich über die Zukunft Sorgen machen können«, meinte Loomis mit eingebildetem Grinsen. »Mir genügt es, jeden Tag zu durchleben und ihn voll auszukosten. Fünf Jahre – wer weiß denn schon, was in fünf Jahren sein wird? Fünf Jahre sind eine Ewigkeit. Irgend etwas wird sich schon ergeben.« Crompton widerstand heldenhaft der Versuchung, Loomis an die Gurgel zu springen. Natürlich lebte der Sinnenmensch nur in der ewigen Gegenwart, ohne auch nur einen Gedanken an eine ferne, ungewisse Zukunft zu verschwenden. Eine Zeit von fünf Jahren war für den dem Jetzt verhafteten Loomis nicht übersehbar. Daran hätte er denken müssen. Crompton zwang sich ruhig zu bleiben. »Gar nichts wird sich ergeben«, sagte er. »In fünf Jahren – fünf kurzen Jahren – wirst du sterben.« »Ich habe mir angewöhnt, nie über den Donnerstag hinaus zu denken«, erwiderte Loomis achselzuckend. »Paß auf, alter Junge. In drei oder vier Jahren melde ich mich bei dir, dann können wir noch einmal darüber reden.« »Völlig sinnlos«, fuhr Crompton auf. »Du bist auf dem Mars, ich wohne wieder auf der Erde, und unser drittes Ich befindet sich auf der Venus. Wir kommen niemals rechtzeitig zusammen. Außerdem hast du dein Versprechen dann längst vergessen.« »Wir werden sehen«, sagte Loomis und schaute auf die Uhr. »Wenn es dir nichts ausmacht, erwarte ich Besuch, der es zweifellos vorziehen würde – «
Crompton erhob sich. »Falls du es dir noch anders überlegen solltest, ich wohne im Blue Moon Motel. Ein, zwei Tage bleibe ich noch.« »Amüsier dich gut«, sagte Loomis. »Auf jeden Fall mußt du dir die Xanadu-Höhlen ansehen. Ein großartiger Ausflug!« Wie vor den Kopf geschlagen, verließ Crompton Loomis’ Wohnung und kehrte in sein Motel zurück. Am Abend saß er in einem Selbstbedienungsrestaurant, wobei er sich einen Marsburger und ein Eisgetränk genehmigte. An einem Zeitungsstand kaufte er ein Rätselheft. Er ging auf sein Zimmer, löste drei Rätsel und legte sich zu Bett. Tags darauf überlegte er, was ihm zu tun übrigblieb. Es schien keinen Weg zu geben, Loomis eine andere Entscheidung aufzuzwingen. Sollte er zur Venus fliegen und Dan Stack, den dritten Teil seines Ichs suchen? Nein, das war mehr als nutzlos. Selbst wenn Stack zur Verschmelzung bereit sein sollte, fehlte immer noch ein lebenswichtiges Drittel, Loomis, das entscheidende Genußprinzip. Zwei Drittel würden dringender nach Vervollständigung verlangen als eines; sie mußten den Mangel wesentlich stärker empfinden. Und Loomis ließ sich nicht überzeugen. Unter den gegebenen Umständen konnte er nur unverrichteterdinge zur Erde zurückkehren und sich anpassen, so gut es eben ging. Immerhin lag auch in harter, pflichteifriger Arbeit eine gewisse Befriedigung, in Beständigkeit, Umsicht und Verläßlichkeit ein gewisses Vergnügen. Man durfte die bescheidenen Tugenden nicht übersehen. Aber es fiel im schwer, sich selbst von der Richtigkeit seiner Anschauung zu überzeugen. Schweren Herzens rief er den Bahnhof in Eiderberg an und belegte einen Platz im Abendrápido nach Port Newton. Als er eine Stunde vor Abfahrt des Rápido seinen Koffer packte, wurde plötzlich die Tür aufgerissen, Edgar Loomis kam herein, sah sich schnell um, schloß die Tür hinter sich und sperrte sie ab. »Ich habe es mir überlegt«, sagte er. »Ich bin zur Reintegrierung bereit.« Cromptons Freudenregung ging in einer Welle von Argwohn unter. »Warum hast du dich anders entschlossen?« fragte er.
»Spielt denn das noch eine Rolle?« meinte Loomis. »Können wir nicht –« »Ich möchte den Grund wissen«, sagte Crompton hartnäckig. »Na ja, es ist schwer zu erklären. Verstehst du, ich hatte eben – « Jemand schlug polternd gegen die Tür. Loomis wurde unter seiner Orangetönung blaß. »Bitte!« sagte er. »Erklär es mir zuerst«, forderte Crompton. Auf Loomis’ Stirn bildeten sich kleine Schweißtröpfchen. »Wie eben so etwas passiert«, sprudelte es hervor. »Manchmal wissen Ehemänner diese kleinen Aufmerksamkeiten, die man ihren Frauen erweist, nicht zu schätzen. Sogar die reichen Leute sind gelegentlich recht spießbürgerlich. Ehemänner sind die Gefahren meines Berufes. Ein-, zweimal im Jahr halte ich es daher für ersprießlich, mich zu einem kleinen Urlaub in eine Höhle beim All Diamond Mountain zurückzuziehen, die ich mir eingerichtet habe. Ich brauche auf Bequemlichkeit nicht zu verzichten, wenn auch der Speisezettel ein wenig einfach ist. In ein paar Wochen hat sich dann die ganze Aufregung gelegt.« Das Klopfen an der Tür wurde lauter. Eine tiefe Stimme rief: »Ich weiß, daß Sie im Zimmer sind, Loomis! Öffnen Sie, sonst breche ich die verdammte Tür auf und winde sie um Ihren dreckigen Hals!« Loomis’ Hände begannen zu zittern. »Ich habe Angst vor körperlicher Gewalt«, sagte er. »Könnten wir uns nicht endlich reintegrieren, dann erkläre ich – « Sie hörten, wie ein schwerer Körper gegen die Tür prallte. Loomis fuhr mit schriller Stimme fort: »Es ist nur deine Schuld, Crompton! Durch dein Erscheinen bin ich nervös geworden. Ich habe meine Präzision, meinen sechsten Sinn für eine lauernde Gefahr verloren. Zum Teufel, Crompton, ich bin nicht rechtzeitig entkommen! Ich, in flagranti ertappt! Mit knapper Not konnte ich fliehen, während mir dieser holzköpfige Muskelprotz von Ehemann durch die ganze Stadt folgte, in allen Bars und Hotels nach mir fragte und die Drohung ausstieß, er gedenke mir das Genick umzudrehen. Ich hatte nicht genug Bargeld, um einen Wüstenwagen zu mieten, und nicht mehr die Zeit, meinen Schmuck zu ver-
pfänden. Die Polizisten weigerten sich, mich zu schützen! Crompton, bitte!« Die Tür erbebte unter den gewaltigen Schlägen, und das Schloß begann sich aufzubiegen. Crompton wandte sich seinem zweiten Ich zu, voll Dankbarkeit, daß Loomis’ entscheidende Schwäche noch rechtzeitig aufgedeckt worden war. »Komm«, sagte Crompton, »verschmelzen wir uns.« Die beiden Männer starrten einander scharf in die Augen, Teile, die nach dem Ganzen verlangten, Kraft erzeugend, um die Kluft zu überbrücken. Dann stöhnte Loomis auf, und sein Durierkörper brach zusammen, schlaff und widerstandslos wie eine Gliederpuppe. Im selben Augenblick knickte Crompton in den Knien ein, als sei eine Last auf seinen Schultern gelandet. Das Schloß brach auseinander, die Tür sprang auf. Ein mittelgroßer, massiver Mann mit schwarzem Haar stürmte herein. »Wo ist er?« brüllte er los. Crompton deutete auf Loomis’ leblosen Körper am Boden. »Herzschlag«, sagte er. »Oh«, flüsterte der Schwarzhaarige, zwischen Wut und Entsetzen hinund hergerissen. »Oh. Dann… oh!« »Ich bin davon überzeugt, daß er sein Schicksal verdient hat«, erklärte Crompton kalt, nahm seinen Koffer und marschierte ohne weiteres Wort hinaus, um den Abendrápido zu erreichen. Die lange Fahrt über die Marsebenen lieferte die mehr als notwendige Atempause. Crompton und Loomis hatten Gelegenheit, wirklich Bekanntschaft zu schließen und bestimmte Grundprobleme zu lösen, die sich ergeben müssen, wenn zwei Persönlichkeiten in einem Körper existieren. Die Frage nach der Vorherrschaft stellte sich nicht. Crompton war die Grundpersönlichkeit und hauste nun seit fünfunddreißig Jahren in Cromptons Leib-Seele-Existenz. Unter normalen Umständen konnte Loomis die Kontrolle nicht übernehmen; er hatte auch nicht den Wunsch, es zu versuchen. Loomis akzeptierte seine Rolle widerspruchs-
los und beschied sich gutwillig mit der Stellung des Kommentators, Beraters und Gönners. Aber es kam zu keiner Reintegrierung. Crompton und Loomis existierten in dem einen Verstand wie Planet und Trabant, unabhängig, aber eng verwandte Wesen, die einander vorsichtig prüften, jedoch weder fähig noch bereit waren, ihre persönliche Autonomie preiszugeben. Bis zu einem gewissen Grad fand natürlich ein Durchsickern statt, aber die Fusion einer einzigen stabilen Persönlichkeit aus ihren einzelnen Elementen konnte erst erreicht werden, wenn sich Dan Stack, das dritte Ich, hinzugesellte. Und selbst dann bestand keine Gewähr für wirkliche Verschmelzung, erinnerte Crompton den optimistisch veranlagten Loomis. Wenn man zunächst unterstellt, daß Stack zur Reintegrierung bereit war – was ja noch nicht feststand –, konnten die drei schizoiden Teile einer Fusion Widerstand entgegensetzen, oder sie gar nicht zustande bringen. In diesem Fall würden die inneren Konflikte sehr bald zu unheilbarem Wahnsinn führen. »Warum sich darüber Sorgen machen, alter Junge?« frage Loomis. »Weil nichts anderes übrigbleibt«, erwiderte Crompton langsam. »Selbst wenn wir drei zur Reintegrierung gelangen, muß das sich daraus ergebende Ich nicht unbedingt stabil sein. Vielleicht überwiegen psychotische Elemente, und dann – « »Wir müssen die Dinge einfach nehmen, wie sie kommen«, meinte Loomis. »Tag für Tag, Stück für Stück.« Crompton stimmte zu. Loomis, die gutmütige, unbeschwerte, genußsüchtige Seite seines Wesens ließ bereits Wirkung erkennen. Mit einer besonderen Willensanstrengung zwang er sich dazu, seine Sorgen für den Augenblick zu vergessen. Bald danach war er in der Lage, sich einem Kreuzworträtsel zuzuwenden, während Loomis an einem Gedicht arbeitete. Der Rápido erreichte Port Newton, und Crompton ließ sich mit einer Fährrakete zur Marsstation Eins hochtragen. Er unterzog sich den Zoll-, Prüf- und Untersuchungsformalitäten und flog zum Raketenhafen wei-
ter. Dort mußte er vierzehn Tage auf ein Schiff zur Venus warten. Der junge Schalterbeamte erzählte etwas von ›Opposition‹ und ›wirtschaftlich vertretbaren Umlaufbahnen‹, aber weder Crompton noch Loomis verstanden, wovon er sprach. Die Verzögerung erwies sich als wertvoll. Loomis konnte eine brauchbare Unterschrift zu einem Brief an einen Freund in Eiderberg liefern, mit dem dieser ermächtigt wurde, Loomis’ Besitz zu Geld zu machen, die Rechnungen zu bezahlen, eine beträchtliche Summe für seine Dienste einzubehalten und den Rest an Crompton, Loomis’ Erben, zu schikken. Am elften Tag waren diese Transaktionen abgeschlossen, und Crompton verfügte über nahezu dreitausend dringend benötigte Dollars. Endlich startete das Raumschiff zur Venus. Crompton machte sich daran, Basic Yggdra, die Grundsprache der venusischen Ureinwohner zu erlernen. Zum erstenmal in seinem Leben versuchte auch Loomis zu arbeiten; er legte sein Gedicht beiseite und betrieb ebenfalls das Sprachenstudium. Die komplizierte Konjugation und Deklination des Yggdra langweilte ihn indes bald, er strengte sich jedoch an, so gut er konnte, und bestaunte den fleißigen Crompton. Dieser wiederum unternahm ein paar versuchsweise Vorstöße in das Gebiet des Genusses schöner Dinge. Vom Loomis geleitet und informiert besuchte er die Schiffskonzerte, besah sich die Gemälde im großen Salon und starrte ausdauernd zu den grelleuchtenden Sternen empor. Das alles schien ihm Verschwendung kostbarer Zeit, aber er gab nicht auf. Am zehnten Tag des Fluges wurde ihre Zusammenarbeit durch die Frau eines in der zweiten Generation auf der Venus ansässigen Pflanzers gestört, die Crompton in der Aussichtskanzel kennenlernte. Sie war auf dem Mars in einem Sanatorium von Tuberkulose geheilt worden und befand sich auf dem Heimflug. Sie war klein, lebendig und schwarzhaarig, hatte schöne dunkle Augen und schimmerndes, lockiges Haar. Die lange Reise durch den Weltraum langweilte sie. Sie gingen in die Schiffsbar. Nach vier Martinis entspannte sich Crompton und ließ Loomis das Kommando übernehmen. Loomis tanzte mit ihr zu den Klängen des Plattenspielers, dann zog er sich großzügig
zurück und übergab Crompton wieder die Kontrolle, der nervös war, ständig rot wurde, sich ungeschickt benahm und hellauf begeistert war. Und es war Crompton, der sie zum Tisch zurückführte, Crompton, der mit ihr plauderte, und Crompton, der ihre Hand berührte, während Loomis wohlgefällig zusah. Um zwei Uhr nachts Schiffszeit verabschiedete sich die junge Frau, nicht ohne vorher bedeutsam ihre Kabinennummer genannt zu haben. Crompton taumelte traumverloren zu seiner eigenen Kabine im B-Deck und sank glückserfüllt auf sein Bett. »Na und jetzt?« fragte Loomis. »Wieso ›Na und jetzt‹?« »Gehen wir. Die Einladung war deutlich genug.« »Ich kann mich an keine Einladung erinnern«, sagte Crompton verwirrt. »Sie hat ihre Kabinennummer genannt«, erklärte Loomis. »Das stellt, zusammen mit den anderen Vorfällen heute abend, eine unmißverständliche Einladung – ja, fast einen Befehl dar.« »Ich kann’s nicht glauben!« rief Crompton. »Ehrenwort«, sagte Loomis. »In diesen Dingen habe ich ein wenig Erfahrung. Die Einladung ist klar, der Weg frei. Vorwärts!« »Nein, nein«, wehrte Crompton ab. »Ich darf doch – kann nicht – « »Mangel an Erfahrung ist keine Entschuldigung«, verkündete Loomis fest. »Die Natur hilft sehr großzügig, wenn man sich ihr nur überläßt. Du wirst doch jetzt nicht versagen!« Crompton stand auf, wischte sich die glühende Stirn und tat zwei zögernde Schritte zur Tür. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und setzte sich wieder auf sein Bett. »Ausgeschlossen«, sagte er entschieden. »Warum denn?« »Es wäre unmoralisch. Die junge Dame ist verheiratet.« »Eine Ehe ist eine sehr schöne Einrichtung«, erklärte Loomis geduldig, »aber die Natur schafft sich ihr Recht, ohne auf Paragraphen und Buchstaben Rücksicht zu nehmen.«
»Es ist unanständig«, erwiderte Crompton ohne Überzeugung. »Keineswegs«, versicherte ihm Loomis. »Du bist unverheiratet, also kann dich niemand tadeln. Die junge Dame ist verheiratet. Das ist ihre Verantwortung. Aber vergiß nicht, als erwachsener Mensch muß sie ihre genauen Entscheidungen treffen; sie ist nicht unveräußerlicher Besitz ihres Mannes. Sie hat ihre Entscheidung getroffen, und wir müssen Ehrlichkeit respektieren. Alles andere wäre eine Beleidigung. Schließlich ist da noch der Mann. Er wird nichts davon erfahren, ist also auch nicht davon betroffen. Im Gegenteil, er kann nur gewinnen. Seine Frau wird zum Ausgleich besonders nett zu ihm sein. Es muß annehmen, daß er das seiner großartigen Männlichkeit verdankt, und kann sich darauf einiges einbilden. Du siehst, Crompton, jeder hat einen Vorteil davon, niemand einen Nachteil.« »Reine Haarspalterei«, sagte Crompton, erhob sich und ging auf die Tür zu. »Nur zu, mein Junge«, sagte Loomis. Crompton grinste idiotisch und öffnete die Tür. Dann überfiel ihn ein Gedanke, er knallte die Tür zu und legte sich aufs Bett. »Ausgeschlossen«, sagte er. »Was ist denn nun wieder los?« »Die Begründung von vorhin mag stichhaltig sein oder nicht«, erklärte Crompton. »Ich besitze nicht genügend Erfahrung, um darüber urteilen zu können. Aber das eine weiß ich: Ich unternehme nichts dergleichen, solange du zusiehst!« »Aber – verdammt noch mal, ich bin doch du! Du bist ich! Wir sind zwei Teile einer einzigen Persönlichkeit!« »Das sind wir eben noch nicht«, erwiderte Crompton. »Wir existieren jetzt als schizoide Teile, zwei Menschen in einem Körper. Später, wenn es wirklich einmal zur Verschmelzung gekommen ist… Aber unter den jetzigen Umständen verbietet mir mein Gefühl für Anständigkeit, das zu tun, was du vorschlägst. Es ist undenkbar! Ich will nichts mehr davon hören.« Daraufhin verlor Loomis die Beherrschung. Da er sich gehindert sah, seiner eigenen Persönlichkeit auch einmal Ausdruck zu verleihen, wütete
und schrie er, warf Crompton unzählige Schimpfnamen an den Kopf, wovon ›dreckiger kleiner Feigling‹ noch der mildeste war. Sein Zorn löste Reaktionen in Cromptons Gehirn aus, hallte durch ihren gesamten, gemeinsam bewohnten Organismus wider. Die Spaltungslinien zwischen den beiden Persönlichkeiten vertieften sich, neue Risse traten zutage, und der Bruch drohte die beiden Ichs in echter Dr.-Jekyll-und-Mr.Hyde-Manier voneinander zu isolieren. Cromptons dominierende Persönlichkeit trug ihn über diese Gefahr hinweg. In seiner maßlosen Wut auf Loomis begann sein Verstand jedoch Antidole zu produzieren. Diese noch immer nicht ganz erforschten winzigen Abwehrkörper hatten, gleich den Leukozyten im Blutkreislauf, die Aufgabe, Schmerzen zu lindern und die wunde Stelle im Verstand abzuriegeln. Loomis zuckte entsetzt zurück, als die Antidole ihren Schutzwall um ihn errichteten, ihn abdrängten, zurückschoben und einmauerten. »Crompton! Bitte!« Loomis drohte die Gefahr, völlig und für immer abgeschlossen zu werden, in einem dunklen Winkel verlorenzugehen. Und mit ihm würde auch die letzte Chance auf eine Reintegrierung dahin sein. Aber Crompton gewann rechtzeitig seine Beherrschung zurück. Der Strom von Antidolen versiegte, der Schutzwall löste sich auf, und Loomis bezog erschrocken wieder seine Position. Einige Zeit sprachen sie nicht miteinander. Loomis schmollte einen ganzen Tag und schwor sich, Crompton diese Brutalität nie zu verzeihen. Aber er war in erster Linie und vor allem anderen Sinnesmensch, dem Augenblick lebend, ein Wesen ohne Vergangenheit, das sich keine Gedanken um die Zukunft machte. Sein Groll schwand dahin, er wurde wieder er selbst. Crompton war nicht so vergeßlich, aber er begriff seine Verantwortung als beherrschender Teil seines Ichs. Er bemühte sich, die Zusammenarbeit aufrechtzuerhalten, und binnen kurzer Frist harmonierten die beiden Persönlichkeiten in vollstem Einklang.
In gegenseitigem Einverständnis wichen sie künftig der jungen Dame aus. Der letzte Teil der Reise verging sehr schnell, und das Raumschiff erreichte endlich die Venus. Man setzte sie im Satelliten Drei ab, wo sie bei Zoll-, Einwanderungsund Gesundheitsbeamten vorstellig wurden. Man verpaßte ihnen Injektionen gegen schleichendes Fieber, Venuspest, die Knightsche Krankheit und das Große Jucken. Sie erhielten Pulver gegen Moorfäule und Pillen gegen Blaufuß. Schließlich gestattete man ihnen, mit der Fährrakete zum Ausschiffungshafen in New Port Haarlem hinunterzufliegen. Diese Stadt am Westufer der Inland-Zee lag in der gemäßigten Zone des Planeten. Trotzdem war ihnen nach dem kühlen, belebenden Marsklima unangenehm warm. Hier sahen sie die ersten Venus-Ureinwohner außerhalb eines Zirkus; sie begegneten ihnen sogar zu Hunderten. Die Eingeborenen waren im Durchschnitt eineinhalb Meter groß, und ihre geschuppten Leiber wiesen auf die entfernte Verwandtschaft mit Eidechsen hin. Auf den Bürgersteigen gingen sie aufrecht, aber bei großem Gedränge bewegten sie sich quer über die Häuserfassaden, mit ihren Saugnäpfen an Händen, Füßen, Knien und Unterarmen Halt findend. Viele Gebäude waren zum Schutz der Fenster mit Stacheldraht garniert, denn den Eingeborenen wurde nachgesagt, daß sie zwischen mein und dein kaum unterschieden: ihr einziger Sport war der Meuchelmord. Crompton hielt sich einen Tag in der Stadt auf und flog dann mit einem Hubschrauber nach East Marsh, der letzten Anschrift Dan Stacks. Der Flug erwies sich als monotones Surren und Knattern durch dichte Wolkenbänke, die jede Sicht nach unten verhinderten. Das Radargerät gab schrille Töne von sich, während die Antenne den Himmel nach den wandernden Inversionszonen absuchte, wo der gefürchtete VenusTornado, der ›Zicre‹, manchmal in wenigen Augenblicken sein verwüstendes Werk begann. Aber bei diesem Flug blieben die Winde sanftmütig, und Crompton schlief die meiste Zeit. East Marsh war ein geschäftiger Hafen an einem Zufluß der InlandZee. Hier machte Crompton Stacks Pflegeeltern ausfindig, ein Greisenpaar um die Achtzig. Sie berichteten ihm, daß Dan ein großer, starker Bursche sei, manchmal ein wenig unbesonnen, aber von Herzen gutmü-
tig. Sie versicherten ihm, daß das mit dem Mädel von den Morrisons gar nicht stimme. Dan sei zu Unrecht beschuldigt worden. Dan würde einem hilflosen armen Mädchen nie so etwas antun. »Wo finde ich Dan?« erkundigte sich Crompton. »Ah«, sagte der alte Mann, mit seinen wäßrigen Augen blinzelnd, »Sie wissen nicht, daß Dan von hier weggegangen ist? Das muß jetzt zehn oder fünfzehn Jahre her sein.« »East Marsh war ihm zu langweilig«, erklärte die alte Frau giftig. »Er hat sich unseren Notpfennig ausgeliehen und ist mitten in der Nacht verschwunden.« »Er wollte uns eben nicht stören«, verbesserte der Alte. »Dan hat sein Glück machen wollen. Und ich wäre nicht überrascht, wenn er es geschafft hätte. In ihm war das Zeug zu einem richtigen Mann.« »Wohin ist er gegangen?« fragte Crompton. »Keine Ahnung«, erwiderte der Alte. »Er hat uns nie geschrieben. Mit den Worten ist er nicht so gut zurechtgekommen, unser Dan. Aber Billy Davis sah ihn einmal in Ou-Barkar, als er eine Ladung Kartoffeln hinbrachte.« »Wann war das?« »Vor fünf oder sechs Jahren«, sagte die alte Frau. »Seitdem haben wir nichts mehr von Dan gehört. Die Venus ist sehr groß, Mister.« Crompton bedankte sich bei den beiden. Er versuchte, Bill Davis ausfindig zu machen, erfuhr aber, daß er als Maat auf einem kleinen Frachter arbeitete. Das Schiff war vor einem Monat abgefahren und besuchte sämtliche Häfen der südlichen Inland-Zee. »Es gibt nur eine Möglichkeit«, sagte Crompton. »Wir müssen nach Ou-Barkar.« »Wahrscheinlich hast du recht«, meinte Loomis. »Offengestanden mache ich mir aber langsam Gedanken über diesen Stack.« »Ich auch«, gab Crompton zu. »Aber er gehört zu uns, und wir brauchen ihn zur Reintegrierung.« »Eben«, sagte Loomis. »Also vorwärts, Kameraden.«
Crompton machte sich auf den Weg. Er bestieg einen Hubschrauber nach Depotsville und fuhr von dort mit dem Bus nach St. Denis. Hier gelang es ihm, von einem Schlepper mitgenommen zu werden, der nach Ou-Barkar wollte. Der Fahrer war froh, bei der Fahrt durch die eintönige Landschaft Gesellschaft zu haben. Während der vierzehnstündigen Reise erfuhr Crompton einiges über die Venus. Die riesige, warme Wasserwelt galt als Pioniergebiet für die Erde, erzählte ihm der Fahrer. Der Mars diene lediglich als Touristenattraktion, aber die Venus biete echte Möglichkeiten. Auf die Venus kämen die Bahnbrecher, vom Schlag wie die amerikanischen Westler, Burenfarmer, Israelis und australischen Rancher. Hartnäckig kämpften sie um die fruchtbaren Steppen, die erzreichen Gebirge und warmen Seen. Sie schlugen sich mit den auf Steinzeit-Niveau lebenden, von Eidechsen abstammenden Ureinwohnern, den Ais. Ihre großen Siege bei Satan’s Pass, Squareface, Albertsville und Double Tongue, und ihre Niederlagen am Slow River und bei Blue Falls ständen bereits im Buch der Geschichte vermerkt. Und die Kriege seien noch nicht vorbei. Auf der Venus könne man noch eine ganze Welt erringen, meinte der Fahrer. Crompton hörte zu und wünschte, dazuzugehören. Loomis langweilte sich entsetzlich; die aus den Sümpfen aufsteigenden Dämpfe förderten seine Stimmung nicht. Ou-Barkar bestand aus einer Gruppe von Pflanzungen tief im Innern des White-Cloud-Kontinents. Fünfzig Menschen beaufsichtigten die Arbeit von zweitausend Eingeborenen: die Anpflanzung, Pflege und Aberntung der Li-Bäume, die nur in diesem Gebiet wuchsen. Die Li-Frucht, zweimal jährlich gepflückt, diente als Grundlage für Eli-Würze, ein Gewürz, ohne das kein Koch der Erde mehr auskam. Crompton wandte sich an den Aufseher, einen großen rotgesichtigen Mann namens Harris, der einen Revolver an der Hüfte trug und eine lange, geflochtene Lederpeitsche in der Hand hielt. »Dan Stack?« wiederholte der Aufseher. »Natürlich, Stack hat fast ein ganzes Jahr hier gearbeitet. Dann zog er aber ab, nicht ohne vorher einen Tritt in den Hintern bekommen zu haben.«
»Macht es Ihnen etwas aus, mir den Grund dafür zu sagen?« »Durchaus nicht«, sagte der Aufseher. »Aber dazu müssen wir schon einen heben.« Er führte Crompton zur einzigen Kneipe Ou-Barkars. Bei einem Glas des im Ort gebrannten Kornwhiskys erzählte Harris von Dan Stack. »Er kam von East Marsh hierher. Ich glaube, daß das was mit einem Mädchen zu tun hatte – er soll ihr die Zähne eingeschlagen haben oder so. Aber das geht mich nichts an. Die meisten Leute hier sind nicht gerade Musterknaben, und in den Städten wird man wohl froh sein, daß man uns los ist. Ich stellte Stack als Aufsicht über fünfzig Ais auf einem vierzig Hektar großen Li-Feld ein. Anfangs leistete er gute Arbeit.« Der Aufseher leerte sein Glas. Crompton bestellte den zweiten Drink und bezahlte ihn. »Ich hatte ihm erklärt, daß er seine Leute antreiben muß, wenn er etwas erreichen will«, fuhr Harris fort. »Wir verwenden hauptsächlich Ais vom Chipetzistamm, und sie sind mürrische, hinterhältige Kerle, aber kräftig. Ihr Häuptling vermietet uns Arbeiter in einem Zwanzigjahresvertrag. Als Bezahlung bekommt er Waffen. Damit versuchen sie dann wieder, uns umzulegen, aber wir werden schon mit ihnen fertig.« »Ein Zwanzigjahresvertrag?« fragte Crompton. »Dann sind die Ais also praktisch Sklavenarbeiter?« »Richtig«, erwiderte Harris. »Manche Pflanzer versuchen das zu beschönigen. Sie nennen das System ›Dienstverpflichtung‹ oder auch ›Feudalübergangswirtschaft‹. Aber es ist Sklaverei, und warum soll man das nicht offen sagen? Auf andere Weise kann man diese Leute nicht zivilisieren. Stack hatte das begriffen. Er war ein großer, starker Bursche und konnte mit der Peitsche umgehen. Ich nahm eigentlich an, daß es mit ihm klappen müßte.« »Und?« fragte Crompton, nachdem er noch einen Whisky für Harris bestellt hatte. »Anfangs hielt er sich prima«, meinte der Aufseher. »Er benützte die Peitsche, erfüllte seine Erntequote und holte sogar einen Überschuß heraus. Aber er kannte kein Maßhalten. Er begann, seine Leute mit der Peitsche umzubringen, und Ersatz kostet Geld. Ich wies ihn an, ein biß-
chen vorsichtiger zu sein. Er hörte nicht auf mich. Eines Tages überfielen ihn seine Chipetzi, und er mußte etwa acht davon niederknallen, bevor sie sich zurückzogen. Ich redete ihm ins Gewissen und erklärte ihm, daß man die Ais zur Arbeit zwingen müsse, sie aber nicht umbringen dürfe. Natürlich rechnen wir mit Verlusten. Aber Stack trieb es zu arg und verminderte den Ertrag.« Der Aufseher seufzte und zündete sich eine Zigarette an. »Stack bediente sich zu gern seiner Peitsche. Das tun viele Aufseher, aber Stack kannte kein Maß. Seine Chipetzi stürzten sich wieder auf ihn, und er mußte ein Dutzend davon niederschießen. Bei diesem Kampf verlor er eine Hand. Die Hand, mit der er die Peitsche geführt hatte. Ich glaube, daß sie ihm ein Chipetzi abgebissen hat. Ich gab ihm Arbeit in den Trockenanlagen, aber es kam wieder zu einer Auseinandersetzung, bei der er vier Ais tötete. Das war zuviel. Diese Arbeiter kosten Geld, und wir können es uns nicht leisten, daß irgendein hitzköpfiger Idiot bei jedem Anfang ein Dutzend davon umlegt. Ich gab Stack seinen Lohn und warf ihn hinaus.« »Hat er gesagt, wohin er sich wenden würde?« erkundigte sich Crompton. »Er meinte, wir hätten nicht begriffen, daß man die Ais ausrotten müsse, um Platz für die Menschen zu schaffen. Er wolle sich auf jeden Fall den Vigilanten anschließen. Das ist eine Art umherziehender Truppe, deren Angehörige die nicht befriedeten Stämme in Schach halten.« Crompton bedankte sich beim Aufseher und fragte nach dem Weg zum Hauptquartier der Vigilanten. »Zur Zeit kampieren sie am linken Ufer des Rainmaker-Flusses«, sagte Harris. »Sie wollen mit den Seriiden einen Waffenstillstand schließen. Sie wollen Stack unbedingt finden, wie?« »Er ist mein Bruder«, erwiderte Crompton mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Der Aufseher sah ihn gleichmütig an. »Na ja«, meinte er nach einiger Zeit, »verwandt ist verwandt. Aber Ihr Bruder ist so ziemlich das schlimmste Exemplar Mensch, das mir jemals begegnet ist, und ich habe wirklich viel gesehen. Lassen Sie lieber die Finger davon.«
»Ich muß ihn finden«, sagte Crompton. Harris hob die Schulter. »Es ist sehr weit bis zum Rainmaker-Fluß. Ich kann Ihnen Packesel und Vorräte verkaufen, außerdem leihe ich Ihnen einen Eingeborenen als Führer. Sie kommen durch befriedetes Gebiet, also müßten Sie es schaffen. Jedenfalls glaube ich, daß dort keine Kämpfe mehr ausgebrochen sind.« In dieser Nacht bestürmte Loomis Crompton, die Suche aufzugeben. Stack sei offensichtlich ein Mörder und Dieb. Was könne es nützen, ihn aufzunehmen? Crompton meinte, so einfach sei die Sache nicht. Erstens könnten die Geschichten übertrieben sein. Aber selbst wenn sie der Wahrheit entsprachen, bedeutete das nur, daß Stack eben ein Stereotyp sei, eine unzulängliche, monolithische Persönlichkeit wie Loomis und Crompton. Bei einer Verschmelzung würde auch mit Stack eine Veränderung eintreten. Er könnte das Maß an Aggressivität, die Zähigkeit und Überlebenskraft liefern, woran es Loomis und Crompton mangelte. Loomis ließ sich nicht überzeugen, aber er erklärte sich bereit, abzuwarten, bis sie ihrem fehlenden Dritten tatsächlich gegenüberstanden. Am nächsten Morgen kaufte Crompton Esel und Ausrüstung zu wahnsinnigen Preisen, und am folgenden Tag machte er sich im Morgengrauen auf den Weg, geführt von einem jungen Chipetzi, dem man den Namen Rekki gegeben hatte. Crompton folgte dem Führer durch eine unberührte Waldgegend in das Thompsongebirge, hinauf über schmale Grate, über wolkenbedeckte Gipfel zu engen Pässen, wo der Wind mit schrillem Geheul an den Felswänden entlangraste; dann hinunter in den dichten, dampfenden Dschungel auf der anderen Seite des Gebirges. Loomis, entsetzt über die Strapazen des Marsches, zog sich in einen Winkel zurück und tauchte nur an den Abenden auf, wenn das Lagerfeuer flackerte und die Hängematte angebracht war. Crompton stolperte mit zusammengebissenen Zähnen und blutunterlaufenen Augen durch die glutheißen Tage, allein die Strapazen auf sich nehmend, wobei er sich von Zeit zu Zeit fragte, wie lange wohl seine Kräfte ausreichen würden.
Am achtzehnten Tag erreichten sie einen seichten, schmutzigen Fluß. Dies sei der Rainmaker-Fluß, erklärte Rekki. Ein paar Kilometer weiter fanden sie das Lager der Vigilanten. Der Kommandeur, Colonel Prentiss, war ein hochgewachsener, hagerer Mann mit grauen Augen, dem man ansah, daß er erst vor kurzem einen schweren Fieberanfall überstanden hatte. Er konnte sich gut an Stack erinnern. »Ja, er ist eine Weile bei uns gewesen. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihn nehmen sollte. Erstens sein Ruf, und dann als Einhänder… Aber er hatte sich beigebracht, mit der Linken besser zu schießen, als es die meisten mit der Rechten können. Über dem Stumpf trug er eine Bronzemanschette. Er hatte sie selbst so angefertigt, daß sich eine Machete hineinsteckenließ. An Mut fehlte es ihm nicht, das kann ich Ihnen sagen. Er war beinahe zwei Jahre bei uns. Dann stieß ich ihn aus.« »Warum?« fragte Crompton. Der Kommandeur seufzte unglücklich. »Entgegen der allgemeinen Ansicht sind wir Vigilanten keine Armee von Freibeutern und Eroberern. Wir sind nicht hier, um die Eingeborenen zu dezimieren und auszurotten. Wir sind nicht dafür da, auf den geringsten Vorwand hin ganze Landstriche zu annektieren. Wir sind hier, um die Einhaltung von Verträgen durchzusetzen, die zwischen Ais und Pflanzern abgeschlossen wurden, um Überfälle von Seiten der Ais und unserer eigenen Leute zu verhindern und ganz allgemein für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Es fiel Stack schwer, das zu begreifen.« Cromptons Gesichtsausdruck schien sich verändert zu haben, denn der Kommandeur nickte mitfühlend. »Sie wissen, wie er ist, wie? Dann können Sie sich vorstellen, was hier vorging. Ich wollte ihn nicht verlieren. Er war ein zäher und fähiger Soldat, kannte sich im Wald und im Gebirge aus, war zu Hause im Dschungel. Die Grenztruppe hat ein großes Gebiet zu überwachen, und wir brauchen jeden Mann, den wir bekommen können. Stack war wertvoll für uns. Ich wies die Unteroffiziere an, ein Auge auf ihn zu haben und keine Brutalitäten gegen die Eingeborenen zuzulassen. Eine Weile ging es gut. Stack gab sich sehr viel Mühe. Man konnte ihm nichts nachsagen.
Dann kam der Vorfall beim Shadow Peak, von dem Sie sicher schon gehört haben.« »Leider nicht«, bemerkte Crompton. »Tatsächlich? Ich nahm an, daß er überall bekannt ist. Nun, die Situation war folgende: Stacks Patrouille hatte nahezu hundert Ais eines geächteten Stammes aufgebracht, mit dem wir ständig Schwierigkeiten hatten. Man brachte sie zur Reservation am Shadow Peak. Unterwegs gab es Ärger, eine kleine Rauferei. Einer der Ais hatte ein Messer und brachte Stack am rechten Handgelenk eine Schnittwunde bei. Vermutlich hatte ihn der Verlust der einen Hand empfindlich gemacht. Die Wunde war ganz harmlos, aber Stack verlor die Beherrschung. Er schoß den Eingeborenen mit einer Maschinenpistole nieder und begann dann die anderen niederzumähen. Ein Leutnant mußte ihn bewußtlos schlagen, um das Schlimmste zu verhüten. Der Schaden für die Beziehungen zwischen Ais und Menschen läßt sich nicht absehen. Ich konnte mir einen solchen Mann in meiner Truppe nicht leisten. Er braucht einen Psychiater. Ich entließ ihn.« »Wo ist er jetzt?« fragte Crompton. »Warum interessieren Sie sich so für diesen Mann?« erkundigte sich der Colonel rundheraus. »Er ist mein Halbbruder.« »Aha. Nun, ich habe gehört, daß Stack nach Port Haarlem gegangen sei und eine Weile im Hafen gearbeitet habe. Er tat sich mit einem Mann namens Barton Finch zusammen. Beide wurden wegen Trunkenheit und ungebührlichem Benehmen eingesperrt und wieder entlassen. Sie zogen in die Grenzgebiete. Finch und er besitzen jetzt einen kleinen Laden in der Nähe von Blood Delta.« Crompton rieb sich müde die Stirn und sagte: »Wie komme ich dorthin?« »Mit dem Kanu«, erwiderte der Kommandeur. »Man fährt den Rainmaker-Fluß hinunter, bis er sich teilt. Der Fluß linker Hand ist der Blood River, man kann ihn bis Blood Delta befahren. Aber ich möchte Ihnen nicht raten, die Fahrt zu unternehmen.
Erstens ist sie sehr gefährlich. Zweitens wäre sie nutzlos. Sie können nichts für Stack tun. Er muß einfach töten. In einem Grenzort, wo er nicht viel Schaden anrichten kann, ist er am besten aufgehoben.« »Ich muß zu ihm«, sagte Crompton. Seine Kehle war plötzlich ganz trocken geworden. »Es gibt keine Vorschrift, die das verbietet«, meinte der Colonel resigniert. Crompton mußte feststellen, daß Blood Delta die am weitesten vorgeschobene Bastion der Menschen auf der Venus war. Es lag mitten im Gebiet feindseliger Grel und Tengtzi-Ais, mit denen unsicherer Friede bestand, während man den ständigen Guerillakrieg ignorierte. Im Deltaland galt es große Schätze zu heben. Die Eingeborenen brachten faustgroße Diamanten und Rubine, Säcke voll erlesenster Gewürze und gelegentlich eine Flöte oder eine Schnitzerei aus der untergegangenen Stadt Alteirne. Sie tauschten diese Waren gegen Waffen und Munition, die sie mit Begeisterung gegen Siedler und untereinander einsetzten. Im Delta gab es Reichtum und plötzlichen Tod, aber auch langsamen, schmerzvollen, hinausgezögerten Tod. Der Blood River, der sich langsam durch das Deltagebiet schlängelte, bot seine eigenen Gefahren. Crompton verschloß sich allen vernünftigen Überlegungen. Stack, sein drittes Ich, war nicht mehr fern. Das Ende der Suche ließ sich absehen. Crompton war entschlossen, jetzt nicht aufzugeben. Er kaufte also ein Kanu und warb vier Eingeborene als Ruderer an, erstand Vorräte, Gewehre und Munition und bereitete den Aufbruch für den nächsten Morgen vor. Aber in der Nacht davor rebellierte Loomis. Sie befanden sich in einem kleinen Zelt, das der Kommandeur für Crompton hatte aufstellen lassen. Crompton stopfte beim Schein einer rauchenden Kerosinlampe Patronen in einen Gürtel. Loomis sagte: »Jetzt hör mir mal zu. Ich habe dich als dominierende Persönlichkeit anerkannt. Ich habe nicht versucht, die Kontrolle über den Körper an mich zu reißen. Ich war in guter Stimmung und ich habe
dich in guter Stimmung gehalten, während wir um die halbe Venus herumgestiefelt sind. Stimmt das etwa nicht?« »Doch«, erwiderte Crompton, widerwillig den Patronengürtel beiseitelegend. »Ich habe mein Bestes gegeben, aber was zuviel ist, ist zuviel. Ich bin auch für die Reintegrierung, aber nicht mit einem irrsinnigen Mörder. Erzähl mir nichts von monolithischen Persönlichkeiten. Stack ist ein Mörder, und ich will nichts mit ihm zu tun haben.« »Er ist ein Teil von uns«, sagte Crompton. »Na und? Hör dir doch einmal selber zu, Crompton! Du bist angeblich die Persönlichkeit, die den größten Kontakt zur Wirklichkeit hat. Aber du bist ja besessen, du willst uns auf diesem verdammten Fluß in den Tod jagen.« »Wir werden es schaffen«, meinte Crompton ohne Überzeugung. »So?« fragte Loomis. »Hast du dir die Geschichten angehört, die man über den Blood River erzählt? Und selbst wenn wir es schaffen, was finden wir im Delta? Einen wahnsinnigen Mörder! Er wird uns umlegen, Crompton!« Crompton fand keine passende Erwiderung. Im Laufe der Suchaktion war sein Entsetzen über Stacks Wesen immer mehr gewachsen, gleichzeitig hatte sich aber auch seine Besessenheit gesteigert, Stack zu finden. Loomis war nie von dem unbezähmbaren Drang nach Reintegrierung erfüllt gewesen; er hatte sich wegen äußerer Schwierigkeiten eingefunden, nicht einer inneren Notwendigkeit halber. Aber Crompton hatte stets mit der Leidenschaft für echtes Menschsein, für Vervollkommnung und Transzendenz gelebt. Ohne Stack war eine Fusion unmöglich. Mit ihm gab es eine Chance, gleichgültig, wie gering sie sein mochte. »Wir ziehen weiter«, entschied Crompton. »Alistair, bitte! Wir beide kommen doch gut miteinander aus. Wir könnten auch ohne Stack das Leben genießen. Fliegen wir zum Mars oder zur Erde zurück.« Crompton schüttelte den Kopf. Er konnte die tiefen, unkittbaren Risse zwischen sich und Loomis bereits spüren. Er vermochte die Zeit zu erfühlen, in der diese Trennungslinien alle Gebiete erreichen würden, und
ohne Reintegrierung mußte jeder seinen eigenen Weg gehen – aber in einem Körper. Und das war der Irrsinn. »Du willst nicht umkehren?« fragte Loomis. »Nein.« »Dann übernehme ich die Kontrolle!« Loomis’ Ich bäumte sich in einem Überraschungsangriff auf und erlangte eine teilweise Kontrolle über die motorischen Funktionen des Körpers. Als Crompton fühlte, wie ihm die Kontrolle zu entgleiten drohte, stellte er sich Loomis, und der Kampf begann. Es war ein lautloser Kampf, ausgefochten beim Licht einer rauchenden Kerosinlampe, das beim Herannahen der Morgendämmerung immer trüber wurde. Der Schauplatz des Kampfes war Cromptons Verstand. Als Preis winkte Cromptons Körper, der jetzt zitternd auf einem Feldbett lag. Schweiß strömte von seiner Stirn, die Augen starrten leer ins Licht, ein Nerv an der Schläfe zuckte unaufhörlich. Crompton war die dominierende Persönlichkeit, aber der innere Zwiespalt und ununterdrückbare Schuldgefühle hatten sie geschwächt, Skrupel behinderten sie. Loomis, schwächer, aber entschlossen, gelang es, die motorischen Funktionen in seiner Gewalt zu behalten und die Produktion von Antidolen zu verhindern. Stundenlang lagen die beiden Persönlichkeiten miteinandner im Kampf, während der fiebernde Körper Cromptons sich auf dem Feldbett hin- und herwarf. In den frühen Morgenstunden begann Loomis Boden zu gewinnen. Crompton nahm sich zusammen, aber er hatte nicht mehr die Kraft zu einem entscheidenden Vorstoß. Der CromptonKörper war durch die Auseinandersetzung bereits gefährlich überhitzt; wenn sie nicht bald ein Ende fand, würde keinem der beiden Ichs ein Leib zur Verfügung stehen. Loomis, den keine Skrupel plagten, stieß weiter vor, übernahm lebenswichtige Synapsen und kontrollierte damit sämtliche Bewegungsfunktionen. Bei Sonnenaufgang hatte Loomis den Sieg errungen.
Taumelnd erhob sich Loomis. Er fuhr über die Bartstoppeln an seinem Kinn, rieb die erstarrten Fingerkuppen aneinander und sah sich um. Das war jetzt sein Körper. Zum erstenmal seit der Verschmelzung auf dem Mars konnte er wieder direkt fühlen und sehen, statt sich alle Eindrücke gefiltert durch Cromptons Persönlichkeit darreichen lassen zu müssen. Es war schön, die dumpfe Luft zu atmen, die Kleidung auf der Haut zu spüren, hungrig zu sein, zu leben! Aus einer Welt grauer Schatten war er in ein Land leuchtender Farben getreten. Wunderbar! So mußte es bleiben. Der arme Crompton… »Mach dir keine Sorgen, alter Junge«, sagte Loomis. »Ich meine es doch nur gut mit dir, verstehst du.« Von Crompton kam keine Antwort. »Wir fliegen zurück zum Mars«, erklärte Loomis. »Nach Eiderberg. Alles wird gut werden.« Crompton wollte oder konnte nichts erwidern. Loomis war beunruhigt. »Bist du da, Crompton? Alles in Ordnung?« Keine Antwort. Loomis runzelte die Stirn und eilte zum Zelt des Kommandeurs. »Ich habe es mir anders überlegt«, erklärte Loomis dem Colonel. »Stack ist nicht mehr zu helfen.« »Ich halte das für eine vernünftige Entscheidung«, meine der Kommandeur. »Ich möchte sofort zum Mars zurück.« Der Colonel nickte. »Alle Raumschiffe starten von Port Haarlem aus, wo Sie auch gelandet sind.« »Wie komme ich zurück?« »Na ja, das ist ein bißchen schwierig«, erwiderte der Kommandeur. »Ich könnte Ihnen ja einen eingeborenen Führer leihen. Sie müssen über das Thompsongebirge nach Ou-Barkar zurückmarschieren. Ich rate Ihnen, diesmal die Route über das Desset-Tal zu wählen, da die KrniktiHorde durch den Regenwald zieht, und man bei diesen Kerlen auf alles
gefaßt sein muß. Sie erreichen Ou-Barkar in der Regenzeit, so daß die Schlepper nicht bis Depotsville fahren. Vielleicht können Sie sich der Salzkarawane anschließen, die den kurzen Weg durch den Knife-Paß nimmt, wenn Sie rechtzeitig ankommen. Andernfalls kann man den Weg mit einem Kompaß leicht begehen, allerdings muß man die Abweichungszonen berücksichtigen. Bis Sie Depotsville erreicht haben, setzt der Regen erst richtig ein. Ein großartiger Anblick. Vielleicht erwischen Sie einen Hubschrauber nach St. Denis und von dort einen nach East Marsh, aber das möchte ich wegen ›Zicre‹ bezweifeln. Gegen die Tornados sind diese Vögel machtlos. Allerdings könnten Sie mit dem Paddelboot nach East Marsh gelangen und von dort aus mit einem Frachter die Inland-Zee hinunter nach Port Haarlem gelangen. Es gibt meines Wissens ein paar sehr sichere Hurrikanhäfen an der Südküste, für den Fall, daß das Wetter eine rasche Flucht erfordert. Ich persönlich ziehe es vor, über Land zu ziehen oder zu fliegen. Die Entscheidung, welche Route Sie wählen wollen, liegt natürlich bei Ihnen.« »Danke«, sagte Loomis mit schwacher Stimme. »Verständigen sie mich noch von Ihrer Entscheidung.« Loomis bedankte sich noch einmal und kehrte als gebrochener Mann in sein Zelt zurück. Er dachte über den Marsch zurück durchs Gebirge und die Sümpfe, durch primitive Niederlassungen, vorbei an wandernden Horden nach. Er stellte sich die Komplikationen durch Regen und den ›Zicre‹ vor. Nie hatte seine Phantasie größere Arbeit geleistet, als sie ihm jetzt die Schrecken der Reise ausmalte. Es war schwer genug gewesen, hierherzukommen; eine Rückkehr mußte um vieles schwieriger sein. Und diesmal gab es keinen Schutz für sein empfindliches Gemüt durch den geduldigen, ausdauernden Crompton. Er selbst mußte Wind, Regen, Hunger, Durst, Erschöpfung und Angst ertragen. Er selbst mußte das schlechte Essen und das brackige Wasser zu sich nehmen. Und er selbst mußte die Probleme der schwierigen Route bewältigen, die Crompton mühsam gelöst hatte, während Loomis nicht darauf achtete. Die ausschließliche Verantwortung lag bei ihm. Er mußte die Route wählen und die lebenswichtigen Entscheidungen treffen, um Cromptons und seiner selbst willen.
Konnte er das überhaupt? Er war ein Mann der Großstädte, ein Wesen der Gesellschaft. Seine Probleme waren die Seltsamkeiten und Abnormitäten anderer Menschen gewesen, nicht die Stimmungen und Launen der Natur. Er war der rohen, drohenden Welt von Sonne und Himmel aus dem Weg gegangen, hatte nur in den raffinierten Gräben und komplizierten Ameisenburgen der Menschheit gelebt. Durch Bürgersteige, Türen, Fenster und Decken von der Erde getrennt, waren ihm Zweifel an der Macht jener gigantischen, zermalmenden Maschinerie der Natur gekommen, über die alte Schriftsteller so bewegend geschrieben hatten, die so viele Motive für Gedichte und Lieder lieferte. Natur, das war für Loomis ein Sonnenbad an einem lauen Sommertag auf dem Mars gewesen, oder das schläfrige Lauschen auf den Wind vor seinem Fenster in einer stürmischen Nacht. Aber nun war er plötzlich in diese Maschinerie hineingeworfen worden. Loomis dachte darüber nach und stellte sich plötzlich sein eigenes Ende vor. Er sah die Zeit kommen, zu der seine Energie verbraucht sein würde, und dann lag er wohl in irgendeinem winddurchheulten Paß oder saß mit gesenktem Kopf im peitschenden Regen des Sumpfgebietes. Er würde sich aufzuraffen versuchen, jene Kraft anrufen, die jenseits der Erschöpfung vermutet wird. Und er würde sie nicht finden. Ein Gefühl völliger Sinnlosigkeit würde ihn übermannen, allein und verloren in einer Unendlichkeit. Zu diesem Zeitpunkt würde das Leben zu anstrengend, zu mühevoll erscheinen. Er würde, wie viele vor ihm, die Niederlage eingestehen, aufgeben, sich hinlegen und auf den Tod warten… Loomis flüsterte: »Crompton?« Keine Antwort. »Crompton! Kannst du mich denn nicht hören? Ich überlasse dir das Kommando. Hol uns aus diesem irren Treibhaus heraus. Bring uns zurück zur Erde oder zum Mars! Crompton, ich will nicht sterben!« Keine Antwort. »Also gut, Crompton«, sagte Loomis heiser. »Du hast gewonnen. Tu, was du willst. Ich gebe auf. Bitte, übernimm das Kommando!«
»Danke«, sagte Crompton eisig und übernahm wieder die Kontrolle über seinen Körper. Zehn Minuten später stand er im Zelt des Kommandeurs und erklärte, daß er es sich nun doch wieder anders überlegt hätte. Der Colonel nickte erschöpft und sagte sich, daß er die Menschen nie begreifen würde. Bald danach saß Crompton in einem großen Kanu, inmitten der Stapel seiner Vorräte. Die Paddler begannen lauthals zu singen, als sie auf den Fluß hinausruderten. Crompton drehte sich um und blickte zurück, bis die Zelte der Vigilanten hinter einer Biegung verschwanden. Für Crompton war die Fahrt den Blood River hinunter wie eine Reise zu den Anfängen der Zeit. Die sechs Eingeborenen tauchten gleichmäßig ihre Paddel ins Wasser, und das Kanu glitt wie eine Wasserspinne auf dem breiten, träge fließenden Strom dahin. Gigantische Farnhalme bauten sich über die Ufer, begannen zu erzittern, sobald sich das Kanu näherte, rückten sehnsüchtig auf langen Stengeln heran. Dann stießen die Paddler einen Warnruf aus, das Boot wurde zur Flußmitte gesteuert, und die Farne hingen in der Mittagshitze wieder schlaff herab. Das Boot erreichte Stellen, wo die Bäume über dem Fluß ineinander verschränkt waren und einen dunklen, laubbesetzten Tunnel bildeten. Crompton und die Ruderer mußten unter die Zeltleinwand kriechen und das Boot mit der Strömung treiben lassen, während von oben der ätzende Baumsaft heruntertropfte. Sie glitten wieder in das grelle Licht der Sonne, und die Eingeborenen griffen erneut zu den Paddeln. »Unheimlich«, sagte Loomis nervös. »Das kann man wohl sagen«, stimmte Crompton zu. Der Blood River trug sie tief ins Innere des Kontinents. Nachts, wenn das Boot an einem Felsblock mitten im Strom festgemacht war, hörten sie die Kriegstrommeln feindlicher Ais-Stämme. Eines Tages tauchten hinter ihnen zwei Kanus mit Eingeborenen auf. Cromptons Leute legten sich in die Ruder und das Boot schoß vorwärts. Die Verfolger blieben ihnen hartnäckig auf den Fersen; Crompton lud ein Gewehr und wartete. Aber seine Ruderer vergrößerten, von Angst beflügelt, den Vorsprung, bis die Ais schließlich hinter einer Biegung zurückblieben. Sie atmeten auf. An einer Verengung des Flußlaufs wurden sie jedoch von einem Gewirr von Pfeilen aus beiden Uferwäldern empfangen. Ein
Ruderer brach über dem Schandeckel zusammen, von vier Pfeilen durchbohrt. Die übrigen paddelten aus Leibeskräften, bis das Boot außer Schußweite war. Sie warfen den toten Ai über Bord, und die hungrigen Flußbewohner rauften sich um die Beute. Danach schwamm ein großes, gepanzertes Tier mit den Armen und Beinen eines Krebses hinter dem Kanu her, den runden Kopf über dem Wasser haltend, stets auf Ausschau nach neuer Nahrung. Selbst Gewehrschüsse konnten es nicht vertreiben, und seine Gegenwart verursachte Crompton Alpträume. Das Ungeheuer bekam eine weitere Mahlzeit, als zwei Paddler an einem graufarbenen Schimmel starben, der an den Rudern heraufkroch. Das krebsähnliche Wesen verschlang sie und wartete auf Nachschub. Aber es behütete das Boot wenigstens vor anderen Gefahren. Als ein Trupp von Eingeborenen zu einem Überfall ansetzte und das Ungeheuer erblickte, floh er in den Dschungel zurück. Das Tier blieb die letzten hundertfünfzig Kilometer der Fahrt bei ihnen. Als sie sich schließlich einem bemoosten Kai näherten, hielt es an, starrte eine Weile beleidigt vor sich hin und schwamm dann stromaufwärts davon. Die Ruderer steuerten das Boot zu dem verfallenen Kai. Crompton stieg hinauf und sah ein Stück Holz, das mit roter Ölfarbe bemalt war. Er drehte es um und las: ›Blood Delta. 92 Einwohner‹. Sie hatten Dan Stacks letzte Zuflucht erreicht. Ein schmaler, bewachsener Pfad führte vom Kai zu einer Lichtung in den Dschungel. Dort stand eine Geisterstadt. Kein Mensch zeigte sich auf der einzigen, staubigen Straße, keine Gesichter erschienen in den Fenstern der niedrigen, ungestrichenen Häuser. Die kleine Stadt dörrte unter dem weißlich-grellen Licht der Sonne stumm dahin, und Crompton hörte nichts als das Scharren seiner eigenen Schritte im Staub. »Gefällt mir gar nicht«, sagte Loomis. Crompton ging langsam die Straße hinunter. Er kam an einer Reihe von Vorratsschuppen vorbei, deren Wände mit den Namen der Besitzer in großen Lettern bemalt waren. Er sah eine leere Kneipe mit aufgerissenen Moskitonetzen vor den Fenstern und einer Tür, die nur noch an
einem Scharnier hing, er sah drei verlassene Läden und erreichte schließlich einen vierten, an dem ein Schild mit der Aufschrift hing: ›Stack & Finch. Proviant und Ausrüstung‹. Crompton trat ein. Am Boden waren große Warenstapel nebeneinander aufgereiht, andere Güter hingen von den Deckenbalken herab. Im Laden befand sich niemand. »Hallo! Ist da jemand?« rief Crompton. Nichts rührte sich, und er trat wieder auf die Straße hinaus. Am Stadtende erreichte er ein massives, scheunenähnliches Gebäude. Ein schnurrbärtiger Mann von etwa fünfundfünfzig Jahren mit sonnverbranntem Gesicht saß auf einem Stuhl davor. In seinem Gürtel steckte ein Revolver. Sein Stuhl war nach hinten, gegen die Gebäudewand, gekippt, und er schien vor sich hinzudösen. »Dan Stack?« fragte Crompton. »Im Haus«, erwiderte der Mann. Crompton ging zur Tür. Der Schnurrbärtige bewegte sich auf seinem Stuhl und hatte plötzlich den Revolver in der Hand. »Weg von der Tür da«, befahl er. »Warum? Was ist denn?« »Sie wissen nicht Bescheid?« erkundigte sich der Schnurrbärtige. »Nein! Wer sind Sie?« »Ich bin Ed Tyler, von den Bürgern Blood Deltas gewählter Sheriff und vom Kommandeur der Vigilanten im Amt bestätigt. Stack befindet sich im Gefängnis. Das Gebäude hier dient vorübergehend als Gefängnis.« »Wie lange muß er sitzen?« fragte Crompton. »Nur ein paar Stunden.« »Kann ich mit ihm sprechen?« »Nein.« »Kann ich ihn sprechen, wenn er herauskommt?« »Sicher«, erwiderte Tyler, »aber ich bezweifle, ob er Ihnen Antwort gibt.«
»Warum?« Der Sheriff grinste schief. »Stack sitzt deswegen nur ein paar Stunden im Gefängnis, weil wir ihn heute nachmittag herausholen und aufhängen. Nach dieser Arbeit können Sie sich mit ihm unterhalten, solange sie wollen. Aber wie gesagt, ich bezweifle, ob Sie da Antwort bekommen.« Crompton war zu erschöpft, um die Wucht dieses Schlages voll zu spüren. »Was hat Stack getan?« fragte er. »Er hat einen Mord auf dem Gewissen.« »An einem Eingeborenen?« »Nein, zum Teufel«, sagte Tyler angewidert. »Wer schert sich um die Eingeborenen? Stack hat einen Mann namens Barton Finch umgebracht. Seinen eigenen Partner. Finch ist zwar noch nicht tot, aber er liegt im Sterben. Doc meint, daß er den Tag nicht überlebt, und damit ist es Mord. Stack ist auf rechtmäßige Weise von einer aus den Einwohnern gebildeten Jury für schuldig befunden worden, Barton Finch getötet, Billy Redburn ein Bein, Rli Talbot zwei Rippen gebrochen, Moriartys Kneipe demoliert und ganz allgemein den Landfrieden gestört zu haben. Der Richter – das bin ich – sprach das Urteil: Tod durch Erhängen, so schnell wie möglich. Also heute nachmittag, wenn die Leute von der Arbeit am neuen Damm zurückkommen.« »Wann hat die Verhandlung stattgefunden?« fragte Crompton. »Heute früh.« »Und wann war der Mord?« »Ungefähr drei Stunden vor der Verhandlung.« »Schnelle Arbeit«, meinte Crompton. »Hier in Blood Delta wird keine Zeit verschwendet«, erklärte Tyler stolz. »Das sieht man«, sagte Crompton. »Ihr hängt sogar einen Mann, bevor sein Opfer tot ist.« »Ich habe Ihnen doch gerade gesagt, daß er im Sterben liegt«, erwiderte Tyler. Seine Augen verengten sich. »Ich würde Ihnen raten, ein bißchen vorsichtiger zu sein. Wenn Sie die Rechtsprechung in Blood Delta an-
greifen, kann das allerhand Ärger geben. Wir brauchen keine komplizierten Juristenmätzchen, um ›gut‹ von ›böse‹ zu unterscheiden.« Loomis flüsterte Crompton zu: »Halt den Mund und laß uns verschwinden.« Crompton beachtete ihn nicht. »Mr. Tyler, Dan Stack ist mein Halbbruder«, sagte er. »Pech für Sie«, brummte Tyler. »Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn ich ihn kurz sehen könnte. Nur für fünf Minuten. Damit ich ihm einen letzten Gruß seiner Mutter überbringen kann.« »Ausgeschlossen«, sagte der Sheriff. Crompton kramte in seiner Tasche und holte ein Bündel schmutziger Geldscheine hervor. »Nur zwei Minuten.« »Na ja. Vielleicht läßt sich doch – verdammt!« Crompton folgte Tylers Blick. Eine Gruppe von Männern kam die staubige Straße herauf. »Hier sind die Jungs«, sagte Tyler. »Jetzt geht es nicht mehr, selbst wenn ich wollte. Aber Sie können wohl beim Hängen zusehen.« Crompton trat zurück, um Platz zu machen. Die Gruppe bestand aus mindestens fünfzig Männern, und dahinter tauchten immer wieder Nachzügler auf. Überwiegend waren es hagere, ledrige, verbissene Männer, die meisten trugen Gewehre oder Revolver bei sich. Sie berieten sich kurz mit dem Sheriff. »Mach keine Dummheiten«, warnte Loomis. »Ich kann ja überhaupt nichts tun«, sagte Crompton. Sheriff Tyler öffnete das Scheunentor. Ein paar Männer gingen hinein und zerrten den Gefangenen heraus. Crompton konnte nicht erkennen, wie er aussah, da sich sofort die ganze Menge um ihn drängte. Man brachte den Mann aus der Stadt hinaus zu einem Baum, an dessen kräftigstem Ast ein Strick baumelte. »Hinauf mit ihm!« schrie die Menge. »Jungs!« hörte man die gedämpfte Stimme Stacks. »Laßt mich reden!«
»Macht endlich Schluß!« rief ein Mann. »Hinauf mit ihm!« »Meine letzten Worte!« kreischte Stack. Der Sheriff rief plötzlich: »Laßt ihn reden, Jungs. Es steht ihm zu. Los, Stack, aber ganz kurz nur.« Sie hatten Dan Stack auf einen Karren gestellt; die Schlinge lag bereits um seinen Hals, das Strickende wurde von einem Dutzend Hände gehalten. Endlich konnte Crompton ihn sehen. Fasziniert starrte er sein langgesuchtes drittes Ich an. Dan Stack war ein großer, muskulöser Mann. Sein grobes, zerfurchtes Gesicht zeigte die Spuren von Leidenschaft und Haß, Furcht und plötzlicher Gewalt, geheimer Trauer und geheimen Lastern. Er hatte breite, geblähte Nasenflügel, einen dicklippigen Mund, gesunde, blitzende Zähne und schmale, hinterhältig wirkende Augen. Struppiges, schwarzes Haar hing in seine gerötete Stirn, und seine flammenden Wangen bedeckten dunkle Bartstoppeln. Sein Gesicht verriet das cholerische Temperament der Luft, hervorgerufen durch zuviel heiße, gelbe Galle, die einen Mann schnell in Wut brachte und ihm die Beherrschung raubte. Stack starrte zum glühendweißen Himmel empor. Langsam senkte er den Kopf, und die bronzene Manschette an seinem rechten Stumpf schimmerte rötlich. »Jungs, ich habe in meinem Leben viel Böses getan.« »Das erzählst du ausgerechnet uns?« rief jemand. »Ich war ein Lügner und Betrüger«, schrie Stack. »Ich habe das Mädchen geschlagen, das ich lieb hatte. Ich wollte weh tun. Ich habe meine eigenen Eltern bestohlen. Ich habe die unglücklichen Eingeborenen dieses Planeten getötet. Jungs, ich habe kein gutes Leben geführt!« Die Menge belachte seine weinerliche Rede. »Aber ihr sollt wissen«, brüllte Stack, »ihr sollt wissen, daß ich mit meiner sündigen Natur gekämpft und versucht habe, sie niederzuringen. Ich habe mit dem Teufel in meiner Seele gerauft und alles in den Kampf geworfen, was ich an Kraft hatte. Ich trat bei den Vigilanten ein, und zwei Jahre lang war ich so anständig, wie man es nur sein kann. Dann packte mich wieder der Wahnsinn, und ich begann zu töten.« »Bist du jetzt fertig?« fragte der Sheriff.
»Aber ihr sollt das eine wissen«, kreischte Stack mit weit aufgerissenen Augen. »Ich gebe die Schlechtigkeit zu, die ich verbrochen habe, ich gebe sie voll und ganz zu. Aber Jungs, ich habe Barton Finch nicht umgebracht!« »Gut«, sagte der Sheriff. »Wenn du jetzt fertig bist, können wir wohl weitermachen.« »Hört mich an!« brüllte Stack. »Finch war mein Freund, mein einziger Freund auf der ganzen Welt! Ich versuchte ihm zu helfen, ich habe ihn ein bißchen geschüttelt, damit er zu sich kommen sollte. Und als es nicht klappte, verlor ich den Kopf und zerschlug Moriartys Kneipe und ein paar von den Jungs die Knochen. Aber vor Gott schwöre ich, daß ich Finch kein Haar gekrümmt habe!« »Bist du fertig?« fragte der Sehriff: Stack öffnete den Mund, machte ihn wieder zu und nickte. »Dann los, Leute«, befahl der Sheriff. »Fangen wir an!« Ein paar Männer schoben den Karren an, auf dem Stack stand. Und Stack, dem hoffnungslose Verzweiflung im Gesicht geschrieben stand, erblickte Crompton. Und erkannte ihn. Loomis redete hastig auf Crompton ein. »Paß auf, sei vorsichtig, unternimm nichts, glaube ihm nicht, schau dir doch sein Leben an, erinnere dich an seine Taten, er wird uns ruinieren, in Stücke zerreißen. Er dominiert, er ist gewaltsam, er ist ein Mörder, er ist schlecht.« Crompton erinnerte sich im Bruchteil einer Sekunde an Dr. Berrengers Ansicht über seine Aussichten auf eine erfolgreiche Reintegrierung. ›Irrsinn – oder Schlimmeres…‹ »Völlig verdorben«, sagte Loomis, »schlecht, wertlos, ganz und gar hoffnungslos!« Aber Stack war ein Teil von ihm! Auch Stack sehnte sich nach der Selbstüberwindung, hatte um Selbstbeherrschung gekämpft, war unterlegen und hatte es wieder versucht. Für Stack mußte es noch Hoffnung geben, wie es sie für Loomis und ihn gab.
Aber sprach Stack die Wahrheit? Oder war die leidenschaftliche Rede ein letzter Versuch gewesen, Aufschub zu gewinnen? Er mußte Stack Ehrlichkeit unterstellen. Er mußte Stack eine Chance geben. Als der Karren davonrollte, waren Stacks Augen auf Crompton gerichtet. Crompton traf seine Entscheidung und ließ Stack ein. Die Menge brüllte, als Stacks Körper vom Karrenrand kippte, sich einen Augenblick entsetzlich wand und dann leblos vom straffgespannten Strick hing. Und Crompton taumelte unter der Wucht des Eintritts von Stacks Ich. Dann verlor er das Bewußtsein. Crompton erwachte auf einem Feldbett in einem kleinen schwach erleuchteten Raum. »Geht es Ihnen besser?« fragte eine Stimme. Crompton erkannte Sheriff Tyler, der sich über ihn beugte. »Ja, danke, ganz gut«, erwiderte Crompton automatisch. »Für einen kultivierten Mann wie Sie ist eine Hinrichtung wohl ein großer Schock. Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie jetzt allein lasse?« »Keineswegs«, sagte Crompton teilnahmslos. »Gut. Ich muß einiges erledigen.« Tyler ging. Crompton versuchte, sich über das Geschehene klarzuwerden. Integrierung… Verschmelzung… Erfüllung. Hatte er sie während der heilenden Bewußtlosigkeit erreicht? Er begann in sich nachzuforschen. Er fand Loomis halb außer sich vor Angst, sinnloses Zeug von der Orangewüste, den Campingausflügen zum All-Diamond-Gebirge, von Frauen, Luxus, Sensationen und Schönheit stammelnd. Und da war Stack, massiv, unbeweglich, unintegriert. Crompton sprach mit ihm, und erkannte, daß Stack in seiner letzten Rede völlig ehrlich gewesen war. Stack wünschte sich zu ändern, Stack wollte Mäßigung und Selbstkontrolle. Crompton erkannte aber auch, daß Stack unfähig war, sich zu ändern, Selbstkontrolle und Mäßigung zu üben. Selbst jetzt, ungeachtet seiner
Anstrengungen, war Stack von einer leidenschaftlichen Rachsucht erfüllt. Sein Ich polterte wütend, ein tiefer Kontrapunkt zu Loomis’ schrillem Gewinsel. Gewaltige Racheträume stiegen in ihm auf, phantastische Pläne, die ganze Venus zu erobern. Etwas gegen die verdammten Eingeborenen zu tun, sie auszurotten, Platz für die Menschen zu schaffen. Diesen verdammten Tyler langsam zu Tode zu foltern. Die ganze Stadt mit Maschinengewehrgarben niederzumähen, später dann zu behaupten, es sei das Werk der Eingeborenen gewesen; eine Truppe entschlossener Männer aufzustellen, eine Privatarmee von Anbetern Stacks, eiserne Disziplin zu halten, keine Schwäche, kein Zögern zu dulden. Die Vigilanten zu beseitigen, und niemand konnte Eroberungen, Morde, Rache, sinnlose Zerstörung, den Terror mehr aufhalten! Von beiden Seiten angegriffen, versuchte Crompton das Gleichgewicht zu halten, seine Kontrolle über die beiden anderen Ichs auszudehnen. Er bemühte sich, die Fragmente zu einer Einheit zusammenzuschweißen, zu einem stabilen Ganzen. Aber die Ichs wehrten sich, sie dachten nicht daran, ihre Autonomie aufzugeben. Die Trennlinien wurden tiefer, neue Klüfte rissen auf, Crompton spürte, wie seine eigene Stabilität bedroht, seine geistige Gesundheit untergraben wurde. Dann hatte Dan Stack einen klaren Augenblick. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich kann nichts dagegen machen. Ihr braucht den anderen.« »Welchen anderen?« »Ich habe es versucht«, stöhnte Stack. »Ich wollte mich ändern! Aber es gab zu viele Konflikte in mir. Ich dachte, ich könnte mich selbst heilen. Deswegen teilte ich mich.« »Du hast was getan?« »Hörst du denn nicht?« fragte Stack. »Ich war auch schizoid. Das hat sich hier auf der Venus gezeigt. Als ich nach Port New Haarlem zurückkam, besorgte ich mir noch einen Durierkörper und teilte mich… Ich dachte, alles würde leichter werden. Aber ich habe mich getäuscht!« »Es gibt noch einen von uns!« rief Crompton. »Natürlich können wir uns dann nicht reintegrieren! Wer ist es, wo ist er?«
»Ich habe mich bemüht!« stöhnte Stack, »wie habe ich es versucht! Wir waren wie Brüder, er und ich. Ich dachte, ich könnte von ihm lernen, er war so ruhig und gut und gelassen! Ich habe sogar gelernt! Dann wollte er aufgeben.« »Wer war es?« fragte Crompton. »Ich versuchte ihm zu helfen, ihn durch Schütteln davon zu befreien. Aber er siechte schnell dahin, er wollte einfach nicht mehr leben. Meine letzte Chance war dahin, und ich verlor ein bißchen den Verstand, ich schüttelte ihn und demolierte Moriartys Kneipe. Aber ich habe Barton Finch nicht umgebracht! Er wollte einfach nicht leben!« »Finch ist das letzte Fragment?« »Ja! Du mußt zu Finch gehen, bevor er stirbt, und du mußt ihn aufnehmen. Er liegt in dem kleinen Zimmer hinter dem Laden. Du mußt dich beeilen…« Stack verfiel wieder in seine Mordträume, und Loomis stammelte etwas von den blauen Xanadu-Höhlen. Crompton richtete den Crompton-Körper vom Bett auf und schleppte sich zur Tür. Unten an der Straße konnte er Stacks Laden sehen. ›Du mußt ihn erreichen‹, sagte er sich. Er legte eine Million Kilometer zurück. Er kroch tausend Jahre, Berge hinauf, durch Flüsse, Wüsten, Sümpfe, hinab in Höhlen, die zum Zentrum der Erde führten, und wieder hinaus in unermeßliche Ozeane, die er bis zum fernsten Ufer durchschwamm. Und am Ende der langen Reise kam er zu Stacks Laden. Im Hinterzimmer lag Finch, die letzte Hoffnung auf Reintegrierung, auf einem Sofa, eine Decke bis zum Kinn hochgezogen. Crompton starrte ihn an und drohte in einer Welle der Hoffnungslosigkeit zu versinken. Finch lag regungslos da, mit offenen, ins Leere gerichteten Augen, die auf nichts reagierten. Sein Gesicht war das große, weißliche, ausdruckslose Gesicht eines Idioten. Diese sanften Buddhazüge zeigten eine unmenschliche Ruhe, die nichts erwartete, nichts verlangte. Ein dünner Speichelfaden rann von seinen Lippen zum Kinn, und von Zeit zu Zeit schlug sein Herz. Als unzulänglichstes Ich war er der zum Exzeß gestei-
gerte Ausdruck des erdigen Temperaments Phlegma, das einen Menschen passiv und gleichgültig macht. Crompton drängte den aufsteigenden Wahnsinn zurück und kroch zum Sofa. Er starrte in die idiotischen Augen und versuchte Finch zu zwingen, daß er ihn ansah, erkannte und sich zu ihm gesellte. Finch sah nichts. Er war gescheitert. Crompton erlaubte dem erschöpften, überanstrengten Crompton-Körper, neben dem Bett des Idioten niederzusinken. Teilnahmslos sah er sich auf den Irrsinn zutreiben. Dann tauchte Stack mit dem verzweifelten Mut des Ertrinkenden aus seinem Rachetraum auf. Gemeinsam mit Crompton zwang er den Idioten, aufzusehen und zu schauen. Und Loomis suchte und fand die Kraft jenseits der Erschöpfung und unterstützte ihre Anstrengung. Zu dritt starrten sie den Idioten an. Und Finch, gerufen von drei Vierteln seines Ichs, bäumte sich ein letztesmal auf. In seine Augen kam für den Bruchteil einer Sekunde Leben. Er erkannte. Und trat über. Crompton spürte die gewaltig hochflutende Geduld und Toleranz Finchs. Die vier Temperamente Erde, Luft, Feuer und Wasser waren endlich vereinigt. Und endlich wurde die Verschmelzung möglich. Aber was war das? Was geschah jetzt? Welche Macht übernahm die Kontrolle, alles andere beiseitefegend? Crompton kreischte, versuchte sich mit den Fingernägeln die Kehle aufzureißen, hatte beinahe Erfolg, brach neben Finchs Leiche am Boden zusammen. Als der Körper auf dem Boden die Augen wieder aufschlug, gähnte er, streckte sich ausgiebig, genoß die Empfindung der Luft, des Lichts und der Farben, war zufrieden mit sich selbst und dachte, daß es auf dieser Welt Arbeit für ihn gab, daß Liebe gefunden werden, ein ganzes Leben gelebt werden konnte. Der Körper, ehemaliger Besitz von Alistair Crompton, eine Zeitlang bewohnt von Edgar Loomis, Dan Stack und Barton Finch, stand auf. Er begriff, daß er einen neuen Namen für sich finden müßte.
Recht für Roboter Oaxe II war ein kleiner, staubiger, zurückgebliebener Planet im näheren Bereich des Orion. Seine Bewohner stammten von der Erde ab und hatten auch Gebräuche von dort beibehalten. Richter Abner Low war auf dem kleinen Planeten die einzige Quelle des Rechts. Die meisten seiner Fälle befaßten sich mit Grundstücksabgrenzungen und dem Besitzrecht an Schweinen und Gänsen, weil die Bürger von Oaxe II keinerlei Neigung zum Verbrechen zeigten. Aber eines Tages landete ein Raumschiff mit dem berüchtigten Timothy Mont und seinem Anwalt, die auf Oaxe II Freistatt und Gerechtigkeit suchten. Und ein zweites Raumschiff rauschte heran, enthaltend drei Polizisten und einen Staatsanwalt. Der Ankläger erklärte: »Euer Ehren, dieser Unhold hat ein fürchterliches Verbrechen begangen. Timothy Mont, euer Ehren, steckte ein Waisenhaus in Brand. Sein unterzeichnetes Geständnis befindet sich in meiner Hand.« Monts Anwalt, ein blasser Mann mit leblosen Fischaugen, erhob sich. »Ich beantrage Freispruch.« »Sie sind nicht bei Trost«, sagte Richter Low. »Ein Waisenhaus niederzubrennen, ist ein furchtbares Verbrechen.« »Das ist es«, stimmte der Anwalt zu. »Jedenfalls in der Regel. Mein Klient hat seine Tat aber auf dem Planeten Altira III begangen. Kennen Euer Ehren die Bräuche dieses Planeten?« »Nein«, sagte der Richter. »Auf Altira III«, erläuterte der Anwalt, »werden alle Waisen in der Kunst des Meuchelmords ausgebildet, und zwar ausschließlich zu dem Zweck, die Bevölkerung benachbarter Planeten zu dezimieren. Indem mein Klient das Waisenhaus niederbrannte, rettete er Tausenden, ja vielleicht Millionen von unschuldigen Wesen das Leben. Man muß ihn daher als Held des Volkes betrachten.«
»Stimmt das mit Altira III?« erkundigte sich der Richter beim Schriftführer. Der Schriftführer schlug in der Enzyklopädie planetarischer Bräuche und Sitten nach und stellte fest, daß es tatsächlich zutraf. Richter Low erklärte: »Dann weise ich den Antrag des Staatsanwalts ab und verkünde den Freispruch.« Mont und sein Anwalt flogen ab, und das Leben auf Oaxe II ging seinen friedlichen Gang, hier und da höchstens von Gerichtsstreitigkeiten über Grundstücksbegrenzungen oder das Besitzrecht an Schweinen und Gänsen unterbrochen. Aber kaum ein Jahr später standen Timothy Mont und sein Anwalt wieder im Gerichtssaal, knapp gefolgt vom Staatsanwalt. Die Beschuldigung befaßte sich wieder mit dem Brand eines Waisenhauses. »Wenn sich mein Klient auch schuldig bekennt«, plädierte der blasse Anwalt, »so darf das Hohe Gericht nicht außer acht lassen, daß sich das betreffende Waisenhaus auf dem Planeten Deegra IV befand. Wie jedermann weiß, werden alle Waisen auf Deegra IV in die Folterergilde aufgenommen, wo sie die gewissen schrecklichen Rituale vollführen, über die sich die ganze zivilisierte Galaxis empört.« Als Richter Low feststellen mußte, daß das stimmte, sprach er den Angeklagten wieder frei. Fünfzehn Monate später erschienen Timothy Mont und sein Anwalt zum drittenmal vor Gericht. »Du meine Güte!« sagte Richter Low. »Ein eifernder Reformator… Wo hat das Verbrechen diesmal stattgefunden?« »Auf der Erde«, erwiderte der Staatsanwalt. »Auf der Erde?« wiederholte der Richter fassungslos. »Leider ja«, erklärte der Anwalt traurig. »Mein Klient ist schuldig.« »Aber welchen Grund hatte er denn diesmal?« »Vorübergehendes Irresein«, antwortete der Anwalt prompt. »Ich kann das durch zwölf Psychiater beweisen und beantrage daher Freispruch.«
Der Richter wurde zornrot im Gesicht. »Timothy Mont, warum haben Sie das getan?« Bevor sein Anwalt etwas unternehmen konnte, stand Mont auf und erwiderte: »Weil es mir Spaß macht, Waisenhäuser niederzubrennen!« An diesem Tag erließ Richter Low eine neue Vorschrift, die in der ganzen zivilisierten Galaxis Aufsehen erregte und von Droma I bis Aos X studiert wurde. Lows Vorschrift legte fest, daß der Anwalt des Angeklagten automatisch die gleiche Strafe absitzen muß, die über seinen Klienten verhängt wird. Viele halten das für unfair. Der Auftritt von Anwälten auf Oaxe II ist seither jedoch kaum mehr zu vermerken. Edmond Dritch, ein großer, hagerer, menschenfeindlicher Wissenschaftler, war wegen Defätismus, Illoyalität gegen seine Kollegen und Negativismus von der General Products AG vor Gericht gebracht worden. Die Beschuldigungen waren ernster Natur, und Dritchs Kollegen vermochten sie zu untermauern. Dem Richter blieb nichts anderes übrig, als Dritchs unehrenhafte Entlassung auszusprechen. Die übliche Gefängnisstrafe wurde in Anerkennung neunzehnjähriger hervorragender Arbeit für General Products ausgesetzt, aber keine andere Firma nahm Dritch jemals auf. Dritch, hagerer und menschenfeindlicher als je zuvor, drehte General Products mit ihrem endlosen Strom von Autos, Brotröstern, Kühlschränken, Fernsehgeräten und ähnlichem Gerümpel den Rücken. Er zog sich auf seine Farm in Pennsylvania zurück und experimentierte in seinem Kellerlabor. Er hatte genug von General Products und allem, was das Unternehmen repräsentierte, – also praktisch alles. Er wollte eine Niederlassung von Menschen gründen, die dachten wie er, fühlten wie er, ausschauten wie er. Seine Niederlassung würde die Erfüllung eines utopischen Wunschtraumes sein, und zum Teufel mit dem Rest der übertechnisierten Welt. Es gab nur einen Weg, dieses Ziel zu erreichen. Dritch und seine Frau Anna arbeiteten Tag und Nacht.
Endlich waren die Anstrengungen von Erfolg gekrönt. Er justierte den unhandlichen Apparat, den er konstruiert hatte, und schaltete ein. Dritch hatte den ersten Duplikator der Welt erfunden. Er produzierte fünfhundert Dritche und hielt dann eine Versammlung ab. Die Fünfhundert erklärten, daß sie zur Errichtung einer erfolgreichen Kolonie Frauen benötigten. Dritch 1 betrachtete seine Anna als vollkommene Gefährtin. Die fünfhundert Duplikate waren natürlich seiner Meinung. Also stellte Dritch fünfhundert exakte Kopien Annas für die fünfhundert Dritche her, und die Kolonie wurde gegründet. Entgegen allgemeiner Ansicht funktionierte die Kolonie der Dritche anfangs sehr gut. Die Dritche erfreuten sich einer an des anderen Gesellschaft, stritten nie und verlangten nie nach Besuchern. Sie stellten eine kleine Welt für sich dar. Indien schickte eine Delegation zum Studium ihrer Methoden, und Dänemark erließ eigene Gesetze zur Sicherstellung der Duplikationsrechte. Aber wie bei allen anderen Versuchen, ein Utopia zu begründen, lagen die Wurzeln des Unheils bereits in der menschlichen Schwäche verborgen. Dritch 49 wurde in einer kompromittierenden Situation mit Mrs. Dritch 5 überrascht. Dann verliebte sich Dritch 37 Hals über Kopf in Anna 142. Das wiederum führte zur Aufdeckung eines verborgenen Liebesnestes, das Dritch 10 für Anna 498 eingerichtet hatte, mit Zustimmung von Anna 3. Vergeblich wies Dritch 1 darauf hin, daß alle gleich und gleichberechtigt seien. Die auf Abwege geratenen Paare erklärten ihm, er verstehe nichts von der Liebe; sie weigerten sich, die neu eingegangenen Verbindungen zu lösen. Die Kolonie hätte trotzdem weiterleben können. Aber dann stellte man fest, daß Dritch 77 sich einen Harem von sieben Dritch-Frauen zugelegt hatte, bestehend aus Anna 12, 77, 187, 303, 336, 489 und 500. Diese Frauen bezeichneten ihn als ausgesprochen einmalig und lehnten das Ansinnen ab, ihn zu verlassen. Das Ende war abzusehen. Es wurde beschleunigt, als Dritch des Ersten Frau mit einem Reporter durchging.
Die Kolonie löste sich auf, und die Dritche 1, 19, 32 und 433 starben an gebrochenem Herzen. Vielleicht war das gut so. Der Original-Dritch hätte es sicher nicht überlebt, mitansehen zu müssen, wie sein utopischer Duplikator einen endlosen Strom von General-Products-Autos, Brotröstern, Kühlschränken und ähnlichem Gerümpel erzeugte. Professor Bolton, der berühmte Philosoph, verließ die Erde, um an der Mars-Universität eine Reihe von Vorträgen zu halten. Er nahm seinen getreuen Robotdiener Akka, frische Wäsche und vier Kilo Aufzeichnungen mit. Abgesehen von der Mannschaft war er der einzige menschliche Passagier des Raumschiffs. Von irgendwo draußen im Weltraum schickte das Schiff einen Notruf: ›Steuerborddüsenmotor außer Kontrolle‹. Die Bürger der Erde und des Mars warteten besorgt. Eine neue Botschaft kam: ›Gesamte Mannschaft durch Düsenrückschlag getötet, Schiff stürzt in Asteriodengürtel. Hilfe. Bolton.‹ Rettungsschiffe rasten auf das Gebiet zwischen Mars und Jupiter zu, wo die Asteroiden nebeneinander aufgereiht sind. Boltons letzte Nachricht ließ die Position des Schiffes einigermaßen erkennen, aber das abzusuchende Gebiet war riesengroß, die Aussicht auf Rettung daher minimal. Drei Tage später fing man folgenden Funkspruch auf: ›Kann auf Asteroid nicht mehr lange aushalten, sehe Tod mit ruhiger Würde entgegen. Bolton.‹ Die Zeitungen schrieben über den unbezwingbaren Geist dieses Mannes, eines modernen Robinson Crusoes, der auf einer Welt ohne Luft, Nahrung und Wasser um sein Leben kämpfte, dessen Vorräte zur Neige gingen, der bereit war, wie er es in seinen Büchern und Vorträgen gelehrt hatte, dem Tod mit gelassener Würde entgegenzusehen. Die Anstrengungen, ihn zu finden, wurden verdoppelt. Der letzte Funkspruch lautete: ›Alle Vorräte verbraucht, lächelnd erwarte ich den Tod. Bolton.‹
Ein Patrouillenboot fing diese Botschaft auf, entdeckte den betreffenden Asteroiden und landete neben dem demolierten Schiff. Man fand die verkohlten Überreste der Mannschaft, man fand ausreichende Vorräte an Nahrung, Wasser und Sauerstoff. Aber seltsamerweise keine Spur von Bolton. Im Heck des Schiffes entdeckte man Boltons Roboter. »Der Professor ist tot«, erklärte der Roboter durch verrostete Kiefer. »Ich habe die letzten Funksprüche in seinem Namen abgesandt, weil ich wußte, daß man meinetwegen nicht suchen würde.« »Aber wie ist er denn ums Leben gekommen?« »Zu meinem allergrößten Bedauern mußte ich ihn umbringen«, sagte der Roboter grimmig. »Ich kann Ihnen aber versichern, daß sein Tod völlig schmerzlos war.« »Aber warum hast du ihn getötet? Und wo ist seine Leiche?« Der Roboter versuchte zu sprechen, aber seine verrosteten Kiefer funktionierten nicht mehr. Ein wenig Maschinenöl brachte ihn wieder zu sich. »Die Schmierung ist das wichtigste Problem bei Robotern«, erklärte Akka. »Meine Herren, haben Sie sich jemals mit der Aufgabe beschäftigt, einen menschlichen Körper ohne entsprechende Ausrüstung in seine Grundfette und -öle aufzulösen?« Die Retter bedachten das mit wachsendem Entsetzen, und der Vorfall wurde unterdrückt. Aber der Roboter des Patrouillenboots hörte die Geschichte, dachte darüber nach und gab sie an einen anderen Roboter weiter. Erst jetzt, seit der siegreichen Rebellion der Roboterstreitkräfte, kann offen von diesem begeisternden Epos des Kampfes eines Roboters gegen den Weltraum berichtet werden. Heil Akka, unserem Befreier!
Der Minimalforscher Jeder hat sein Lied, dachte Anton Perceveral. Ein hübsches Mädchen gleicht einer Melodie, und ein tapferer Raumfahrer einem Trompetenstoß. Weise, alte Männer im Interplanetarischen Rat lassen einen an harmonisch klingende Holzinstrumente denken. Es gibt Genies, deren Leben in kontrapunktisch verflochtenen Bahnen verläuft, und den Abschaum der Planeten, dessen Existenz nicht mehr zu sein scheint, als das Jammern einer Oboe über dem Dröhnen einer Kesselpauke. Perceveral dachte darüber nach, während er eine Rasierklinge umklammerte und die bläulichen Adern seines Handgelenks betrachtete. Denn wenn jeder sein Lied hat, so konnte man bei ihm an eine einfallslos erdachte, miserabel gespielte Symphonie der Irrungen denken. Bei seiner Geburt erschollen gedämpfte Freudenhörner. Tapfer war der Junge Perceveral zum Klang leiser Trommeln in die Schule gegangen. Er hatte sich ausgezeichnet und war in eine kleine Arbeitsklasse von fünfhundert Schülern versetzt worden, wo man ihm wenigstens einen Anflug von persönlicher Aufmerksamkeit vermitteln konnte. Die Zukunft hatte vielversprechend ausgesehen. Aber er war von Geburt ein Pechvogel. Es gab eine ununterbrochene Reihe von kleinen Unfällen mit umgeworfenen Tintenfässern, verlorenen Büchern und verlegten Heften. Viele Objekte zeigten eine abscheuliche Neigung, unter seinen Fingern zu zerbrechen; manchmal brachen auch seine Finger unter Objekten. Schlimmer noch, er zog sich jede nur erdenkliche Kinderkrankheit zu, einschließlich Protomasern, algerische Mumps, Ausschlag, Grünfieber und Orangefieber. Das alles ließ keine Rückschlüsse auf Perceverals angeborene Fähigkeiten zu. Man brauchte in einer überfüllten Welt voll des Konkurrenzkampfes mehr als Talent. Man benötigte sehr viel Glück, und daran mangelte es Perceveral. Er wurde in eine gewöhnliche Klasse mit zehntausend Schülern versetzt, wo seine Probleme ins Gigantische wuchsen.
Er war ein großer, magerer, brillentragender, gutmütiger, arbeitsamer, junger Mann, den die Ärzte sehr früh als ›Unfaller‹ diagnostizierten; die Gründe dafür entzogen sich ihren Nachforschungen. Aber was immer auch die Gründe sein mochten, die Tatsachen ließen sich nicht aus der Welt schaffen. Perceveral war einer jener unglücklichen Menschen, für die das Leben bis zur Unmöglichkeit schwierig ist. Die meisten Leute gleiten mit der Geschicklichkeit jagender Panther durch den Dschungel menschlichen Daseins. Für die Perceverals ist dieser Dschungel jedoch mit Fallen, Schlingen, Gruben, mit plötzlichen Abstürzen und unüberschreitbaren Strömen, mit tödlichen Gewächsen und lebensbedrohenden Bestien durchsetzt. Kein Weg ist sicher. Alle Straßen führen ins Unglück. Der junge Perceveral schlug sich durchs College, trotz seines bemerkenswerten Talents, sich auf Wendeltreppen das Bein zu brechen, am Randstein den Knöchel zu verstauchen, seine Ellenbogen in Drehtüren einzuklemmen, seine Brille an Schaufenstern zu zertrümmern, und was zu diesen traurigen, lächerlichen, schmerzhaften Vorfällen noch gehört. Mannhaft widerstand er den Tröstungen, die das Hypochondertum bietet, und strengte sich weiterhin an. Nach dem Universitätsexamen nahm sich Perceveral zusammen und versuchte, dem frühen, klaren Hoffnungsthema zum Durchbruch zu verhelfen, das seine Eltern angeschlagen hatten. Mit Trommelwirbel und Saitenklang begab sich Perceveral auf die Insel Manhattan, seines Schicksals Schmied zu sein. Er arbeitete hart daran, seine unglückliche Veranlagung zu überwinden und trotz aller Mißlichkeiten fröhlich und optimistisch zu bleiben. Aber seine Veranlagung setzte sich durch. Der edle Saitenklang erstarb in schrillen Dissonanzen, und die Symphonie seines Lebens entartete zur komischen Oper. Perceveral verlor Stellung um Stellung in einem Chaos geborstener Lautschreiber, verschmierter Verträge, vergessener Karteikarten und verlegter Tabellen; in einem sich steigernden Crescendo gebrochener Rippen im Stoßverkehr der U-Bahn, verrenkter Knöchel, zerschmetterter Brillen und einem Sammelsurium von Krankheiten, in dem
Hepatitis Typ J, Venusinfluenza, Wachkrankheit und Kicherfieber besondere Erwähnung verdienen. Perceveral widerstand immer noch den Lockungen der Hypochondrie. Er träumte vom Weltraum, von den eisenharten Abenteurern, die daran waren, die Grenze des Menschen immer weiter hinauszuschieben, von neuen Niederlassungen auf fernen Planeten, von riesigen Gebieten unbesiedelten Landes, wo ein Mann, fernab des hektischen Kunststoffdschungels der Erde, sich wiederzufinden vermochte. Er bewarb sich beim Amt für planetarische Forschung und Erschließung und wurde abgewiesen. Widerstrebend schob er den Traum beiseite und versuchte sich in zahlreichen Berufen. Er unterzog sich der Psychoanalyse, Hypnosuggestion, hypnotischer Hypersuggestion und Gegensuggestionsbeseitigung – ohne Erfolg. Jeder Mensch hat seine Grenzen, jede Symphonie ihr Ende. Perceveral gab jede Hoffnung im Alter von vierunddreißig Jahren auf, als er nach drei Tagen eine Stellung verlor, hinter der er zwei Monate hergewesen war. Soweit es ihn anging, lieferte das den abschließenden, verstimmten Beckenschlag einer Komposition, die eigentlich niemals hätte aufgeführt werden dürfen. Grimmig nahm er seine magere Lohntüte in Empfang, ließ sich von seinem gewesenen Arbeitgeber voller Vorsicht noch einmal die Hand drükken und fuhr mit dem Aufzug ins Vestibül hinunter. Schon zogen undeutliche Gedanken an Selbstmord in Form von Lastwagenrädern, Gasleitungen, Hochhäusern und schnell dahinfließenden Strömen an seinem inneren Auge vorbei. Der Lift erreichte die große Marmorvorhalle mit ihren uniformierten Bereitschaftspolizisten und den dichtgedrängten Menschen, die darauf warteten, in die Straßen der Innenstadt hinausgelassen zu werden. Perceveral stellte sich in die Reihe und beobachtete müßig den Bevölkerungsdichtemesser, bis der Zeiger unter die Paniklinie sank, und er hinaus durfte. Draußen gesellte er sich zu einer riesigen Menge, die westwärts in Richtung seiner Wohngegend drängte. Selbstmordgedanken zogen weiterhin durch sein Gehirn, langsamer jetzt, klarere Umrisse annehmend. Bis er seine Wohnung erreichte, über-
dachte er Methoden und Wege. Dort löste er sich aus der Menge und schlüpfte durch einen Einlaß hinein. Er kämpfte gegen einen Strom von Kindern in den Korridoren und gelangte schließlich zu seinem von der Stadt zur Verfügung gestellten Einzelraum. Er trat ein, schloß die Tür, sperrte sie ab und nahm eine Rasierklinge aus dem Necessaire. Dann legte er sich auf sein Bett, stemmte die Füße an die gegenüberliegende Wand und betrachtete die bläulichen Adern seines Handgelenks. Konnte er es tun? Konnte er es sauber und schnell vollbringen, ohne Fehler, ohne Bedauern? Oder würde er auch hier pfuschen, schreiend ins Krankenhaus eingeliefert werden, ein lächerlicher Anblick, zum Amüsement der Pfleger? Während er nachdachte, wurde ein gelber Briefumschlag unter seiner Tür durchgeschoben. Es war ein Telegramm, exakt in der Stunde der Entscheidung mit einer melodramatischen Plötzlichkeit angeliefert, die Perceveral recht verdächtig vorkam. Trotzdem legte er die Rasierklinge weg und hob den Umschlag auf. Er kam vom Amt für planetarische Forschung und Erschließung, von jener großen Organisation, die über jeden Schritt der Menschen im Weltraum entschied. Mit zitternden Fingern öffnete Perceveral den Umschlag und las: ›Mr. Anton Perceveral Wohnungsprojekt 1993 Bezirk 43825, Manhattan 212, New York. Lieber Mr. Perceveral, vor drei Jahren haben Sie sich bei uns um irgendeine Stellung außerhalb der Erde beworben. Bedauerlicherweise mußten wir Sie damals abschlägig verbescheiden. Ihre Unterlagen blieben jedoch in unserer Kartei; sie sind vor kurzem auf den heutigen Stand gebracht worden. Es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, daß eine Stellung für Sie vorhanden ist, die ich Ihren besonderen Talenten und Qualifikationen für angemessen halte. Ich glaube, daß der Posten Ihren Ansprüchen gerecht wird, zumal ein Jahresgehalt von 20 000 Dollar nebst Zusatzprämien damit verbunden
ist und unübertroffene Aufstiegsmöglichkeiten bestehen. Hätten Sie die Freundlichkeit, mich aufzusuchen, damit wir alles Nähere besprechen können?
WH/ibm3dc‹
Mit vorzüglicher Hochachtung William Haskell stellv. Personaldirektor
Perceveral faltete das Telegramm sorgfältig zusammen und steckte es wieder in den Umschlag. Das erste Gefühl überschwenglicher Freude verschwand, wurde ersetzt durch quälende Besorgnis. Welche Talente und Qualifikationen besaß er für eine Aufgabe, die im Jahr mit Zwanzigtausend plus zusätzlichen Prämien bezahlt wurde? Verwechselte man ihn mit einem anderen Anton Perceveral? Das war höchst unwahrscheinlich. Dem Amt unterliefen solche Fehler einfach nicht. Angenommen also, man kannte ihn und seine unselige Vergangenheit – was konnte man dann von ihm wollen? Was vermochte er zu vollbringen, das nicht beinahe jeder Mann, jede Frau, ja jedes Kind besser zu machen imstande war? Perceveral steckte das Telegramm in die Tasche und legte die Rasierklinge wieder in das Necessaire zurück. Ein Selbstmord war jetzt wohl ein bißchen voreilig. Zuerst wollte er erfahren, was Haskell vorhatte. Perceveral wurde in der Zentrale des Amts für planetarische Forschung und Erschließung sofort in William Haskells Privatbüro geführt. Der stellvertretende Personaldirektor war ein massiver, weißhaariger Mann, der eine Perceveral sehr verdächtig erscheinende Herzlichkeit ausstrahlte. »Nehmen Sie Platz, Mr. Perceveral«, sagte Haskell. »Zigarette? Etwas zu trinken? Freut mich sehr, daß Sie gekommen sind.« »Wissen Sie ganz genau, daß Sie den richtigen Mann verständigt haben?« fragte Perceveral. Haskell schlug die auf dem Schreibtisch liegende Akte auf. »Wollen mal sehen. Anton Perceveral, vierunddreißig Jahre alt, Eltern: Gregory James
Perceveral und Anita, geborene Swaans aus Laketown, New Jersey. Stimmt das?« »Allerdings«, erwiderte Perceveral. »Und Sie haben eine Stellung für mich?« »Gewiß.« »Mit zwanzigtausend plus Prämie pro Jahr?« »Völlig richtig.« »Könnten Sie mir sagen, worum es sich dabei handelt?« »Deswegen unterhalten wir uns ja«, meinte Haskell fröhlich. »Die Position, für die ich Sie vorgesehen habe, Mr. Perceveral, ist in unserer Broschüre als ›Extraterrestralforscher‹ aufgeführt.« »Wie bitte?« »Als Extraterrestral- oder Fremdplanetenforscher«, erklärte Haskell. »Das sind jene Männer, die auf fremden Planeten die ersten Kontakte herstellen, die ersten Ansiedler, von denen uns die wichtigsten Angaben geliefert werden. Ich betrachte sie als die Drakes und Magellans unseres Jahrhunderts. Sie werden zugeben, daß sich hier hervorragende Möglichkeiten bieten.« Perceveral stand mit blutrotem Gesicht auf. »Wenn Sie mir Ihren Witzen am Ende sind, kann ich ja wohl gehen.« »Was?« »Ich als Raumfahrer und Planetenforscher?« sagte Perceveral mit bitterem Lachen. »Halten Sie mich doch nicht für blöd. Ich lese die Zeitungen. Ich weiß, wie diese Männer aussehen.« »So? Wie denn?« »Das sind die tüchtigsten Leute, die man auf der Erde finden kann«, erwiderte Perceveral. »Die klügsten Gehirne in den ausdauerndsten Körpern. Männer mit unglaublicher Reaktionsfähigkeit, Männer, die in der Lage sind, jedes Problem anzupacken, mit jeder Situation fertig zu werden, sich jeder Umwelt anzupassen. Stimmt das etwa nicht?« »Na ja«, meinte Haskell, »das mag in der Frühzeit der Planetenerforschung richtig gewesen sein. Wir haben auch zugelassen, daß dieses Stereotypbild in den Augen der Öffentlichkeit dominierend bleibt, damit
sich Zuversicht ausbreitet. Aber dieser Typ Raumfahrer ist längst überholt. Für Männer, wie Sie sie beschrieben haben, gibt es eine Unzahl anderer Aufgaben. Die Erschließung fremder Planeten gehört nicht dazu.« »Haben Ihre Supermänner etwa versagt?« erkundigte sich Perceveral ein wenig verächtlich. »Natürlich nicht«, erwiderte Haskell. »Die Leistung unserer damaligen Raumfahrer und Forscher ist unübertroffen. Diese Männer vermochten auf Planeten zu überleben, wo menschliche Existenz nur annähernd möglich war. Die Planeten forderten ihnen die letzten Reserven ab, aber die Männer setzten sich durch. Sie sind ein leuchtendes Beispiel für die Zähigkeit und Anpassungsfähigkeit des homo sapiens.« »Warum werden sie dann nicht mehr eingesetzt?« »Weil sich unsere Probleme hier auf der Erde anders stellen«, erläuterte Haskell. »Früher war die Erschließung des Weltraums ein Abenteuer, eine wissenschaftliche Errungenschaft, eine Abwehrmaßnahme, ein Symbol. Aber damit ist es vorbei. Die Bevölkerungsexpansion nahm immer größere Ausmaße an. Millionen ergossen sich in die vergleichsweise dünn besiedelten Länder wie Brasilien, Neu-Guinea und Australien. In den Großstädten wurde der Panikpunkt erreicht. Es kam zu den berüchtigten Wochenendaufständen. Und die Bevölkerung wuchs weiter. Verantwortlich dafür waren die wesentlich gesteigerte Lebenserwartung und eine weitere, erhebliche Verminderung der Säuglingssterblichkeit.« Haskell rieb sich die Stirn. »Es war unbeschreiblich. Aber die moralischen Grundlagen der Bevölkerungszunahme sind nicht meine Sache. Wir hier im Amt wußten nur, daß wir so schnell wie möglich neues Land brauchten. Wir benötigten Planeten, die sich im Gegensatz zum Mars und zur Venus sehr bald selbst zu erhalten vermochten, Welten, auf die wir Millionen Menschen bringen konnte, während die Wissenschaftler und Politiker auf der Erde an einer Lösung des Problems arbeiteten. Wir mußten diese Planeten umgehend der Kolonisierung erschließen. Und das bedeutet, daß der Erforschungsprozeß beschleunigt werden mußte.« »Das weiß ich alles«, sagte Perceveral. »Aber ich verstehe immer noch nicht, warum Sie dabei auf den optimalen Forschertyp verzichtet haben.«
»Ergibt sich das nicht von selbst? Wir suchten und planten, wo sich normale Menschen niederlassen und überleben konnten. Unser Optimalforschertyp war nicht gewöhnlich genug. Im Gegenteil, er war ja schon Wegbereiter einer neuen Spezies Mensch. Und er konnte normale Überlebensbedingungen überhaupt nicht beurteilen. Es gibt zum Beispiel trostlose, öde, von Regen gepeitschte, kleine Planeten, die den durchschnittlichen Siedler bis zum Wahnsinn deprimieren; der Optimalforscher ist aber seelisch zu stabil, als daß ihn klimatische Monotonie aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Bakterien, die Tausende hinraffen, machen ihn höchstens eine Weile krank. Gefahren, die eine Kolonie an den Rand des Untergangs bringen würden, umgeht der optimale Mensch einfach. Er kann diese Dinge nicht in der Sicht des Alltags erkennen. Sie berühren ihn gar nicht.« »Langsam begreife ich«, meinte Perceveral. »Der beste Weg wäre nun gewesen, diese Planeten stufenweise zu erschließen«, fuhr Haskell fort. »Zuerst durch einen Forscher, dann durch ein Erkundungsteam, dann durch eine Testkolonie, die vorwiegend aus Psychologen zu bestehen hätte, dann mit einer Forschungsgruppe, der es obliegen müßte, die Erkenntnisse der anderen Teams auszuwerten, und so weiter. Aber dafür haben wir weder genug Zeit noch ausreichende Geldmittel. Wir brauchen diese Kolonien sofort, nicht erst in fünfzig Jahren.« Mr. Haskell machte eine Pause und sah Perceveral scharf an. »Sie sehen also, daß wir sofort wissen müssen, ob eine Gruppe gewöhnlicher, durchschnittlicher Menschen auf einem neuen Planeten leben und wirken kann. Deswegen haben wir unsere Qualifikationen für Raumforscher geändert.« Perceveral nickte. »Gewöhnliche Forscher für gewöhnliche Menschen. Aber ich muß noch auf etwas hinweisen.« »Ja.« »Ich weiß nicht, wie gut Sie über meine Vergangenheit informiert sind.« »Recht gut«, versicherte Haskell.
»Dann wird Ihnen aufgefallen sein, daß ich eine gewisse Neigung zu – nun, daß mir sehr viele Unfälle zustoßen. Um ganz offen zu sein, es fällt mir schon ungeheuer schwer, hier auf der Erde am Leben zu bleiben.« »Ich weiß«, sagte Mr. Haskell freundlich. »Wie würde ich mich da erst auf einem fremden Planeten anstellen? Und wozu könnten Sie mich brauchen?« Mr. Haskell machte ein verlegenes Gesicht. »Nun, Sie haben unsere Einstellung nicht ganz richtig zusammengefaßt, als Sie sagten: ›Gewöhnliche Forscher für gewöhnliche Leute‹. So einfach ist das nicht. Eine Kolonie besteht aus tausend, oft aus Millionen von Menschen, die in ihrer Überlebensfähigkeit doch erhebliche Unterschiede aufweisen. Die Menschlichkeit und die Gesetze gebieten es, daß alle wenigstens eine Chance haben müssen, wenn sie sich anstrengen. Die Leute selbst brauchen Zusicherungen, bevor sie die Erde verlassen. Wir müssen sie, das Gesetz und uns davon überzeugen können, daß selbst der Schwächste eine Chance hat, zu überleben.« »Weiter«, sagte Perceveral. »Deshalb haben wir vor ein paar Jahren die Verwendung des optimalen Forschers eingestellt«, fuhr Haskell hastig fort, »und damit begonnen, den Minimalforscher einzusetzen.« Perceveral dachte eine Weile darüber nach. »Sie wollen mich also nehmen, weil auf Planeten, wo ich leben kann, jeder durchkommt.« »So kann man unsere Überlegungen etwa zusammenfassen«, erwiderte Haskell mit jovialem Lächeln. »Aber welche Chancen hätte ich denn überhaupt?« »Manche von unseren Minimalforschern haben sich sehr gut gehalten.« »Und die anderen?« »Es ist natürlich ein Risiko dabei«, gab Haskell zu. »Abgesehen von den Gefahren des Planeten selbst liegen gewisse Risiken in der Natur des Experiments an sich. Ich kann Ihnen nicht einmal sagen, worin sie bestehen, weil wir uns damit unserer einzigen Kontrollmöglichkeit über den Minimum-Überlebenstest berauben würden. Ich erkläre Ihnen nur, daß es sie gibt.« »Keine allzu rosigen Aussichten«, meinte Perceveral.
»Mag sein. Aber denken Sie an den Lohn, der Sie erwartet, wenn Sie es schaffen! Sie wären praktisch der Gründer einer Kolonie! Ihr Wert als Experte wäre unschätzbar. Sie hätten einen festen Platz im Leben dieser Gemeinschaft. Und, was genauso wichtig ist, Sie könnten vielleicht gewisse innere Zweifel an Ihrer Daseinsberechtigung verscheuchen.« Perceveral nickte widerstrebend. »Sagen Sie mir eines. Ihr Telegramm traf heute in einem ganz entscheidenden Augenblick ein. Es kam mir beinahe vor – « »Ja, das war geplant«, sagte Haskell. »Wir haben festgestellt, daß die von uns benötigten Leute am empfänglichsten sind, wenn sie einen ganz bestimmten seelischen Zustand erreicht habe. Wir halten die wenigen, die für uns in Frage kommen, unter ständiger Beobachtung und warten den richtigen Augenblick ab.« »Es hätte allerdings peinlich werden können, wenn Sie sich um eine Stunde verspätet hätten«, meinte Perceveral. »Oder fruchtlos, wenn wir einen Tag zu früh damit herausgerückt wären.« Haskell erhob sich hinter seinem Schreibtisch. »Darf ich Sie zum Essen einladen? Wir können die Einzelheiten bei einer Flasche Wein abschließend besprechen?« »Einverstanden«, sagte Perceveral. »Aber ich verspreche noch nichts.« »Das verlangt auch niemand«, erwiderte Haskell und öffnete die Tür. Nach dem Essen dachte Perceveral angestrengt nach. Trotz der Risiken sagte ihm die Aufgabe ungemein zu. Sie war schließlich nicht gefährlicher als Selbstmord und brachte weit mehr ein. Wenn er durchkam, hatte er glänzende Aussichten; wenn er versagte, brauchte er keinen größeren Preis zu bezahlen, als er für einen Mißerfolg hier auf der Erde hatte entrichten wollen. In seinen vierunddreißig Jahren auf der Erde hatte er nicht viel erreicht. Seine beste Leistung waren kurz aufzuckende Anzeichen von Tüchtigkeit, zunichte gemacht durch eine starke Neigung zu Krankheiten, Unfällen und Ungeschicklichkeiten. Vielleicht war sein ›Unfallertum‹ nicht ein grundsätzlicher Defekt seines Wesens, sondern nur das Produkt unerträglicher Umstände.
Die neue Aufgabe würde ihm eine andere Umwelt vermitteln. Er konnte allein sein, nur auf sich selbst angewiesen, nur sich selbst verantwortlich. Es war zweifellos sehr gefährlich – aber was konnte gefährlicher sein als eine schimmernde Rasierklinge in seiner eigenen Hand? Er stand vor der entscheidenden Bemühung seines Lebens, vor der wesentlichen Prüfung. Er würde kämpfen, wie er nie zuvor gekämpft hatte, seine fatale Veranlagung zu überwinden. Und diesmal würde er auch das letzte Restchen Kraft und Energie dieser Aufgabe zuwenden. Er nahm die Stellung an. In den Wochen der Vorbereitung aß, trank und schlief er Entschlossenheit in sich hinein, hämmerte sie in sein Gehirn, flocht sie in sein Nervensystem, murmelte sie vor sich hin wie ein buddhistischer Priester, träumte von ihr, putzte sich die Zähne, wusch sich die Hände damit, grübelte darüber nach, bis der monotone Refrain beim Wachen und Schlafen in seinem Schädel summte und langsam als Kontrolle und Zügelung der Aktion zu wirken begann. Der Tag kam, an der er angewiesen wurde, einen einjährigen Aufenthalt auf einem vielversprechenden Planeten anzutreten. Haskell wünschte ihm viel Glück und versprach, per L-Phasenfunk in Kontakt zu bleiben. Perceveral und seine Ausrüstung wurden in das Raumschiff ›Queen of Glasgow‹ verladen, und das Abenteuer begann. Während der Monate im Weltraum beschäftigte sich Perceveral weiterhin ausschließlich mit seinem Entschluß. Er übte besondere Vorsicht im freien Fall, achtete auf jede seiner Bewegungen und prüfte jedes Motiv doppelt und dreifach. Diese ständige Beobachtung behinderte ihn beträchtlich; mit der Zeit wurde sie jedoch zur Gewohnheit. Neue Reflexe begannen sich einzustellen und versuchten sich gegen das alte Reflexsystem durchzusetzen. Aber der Fortschritt unterlag Stockungen. Trotz seiner Bemühungen zog sich Perceveral vom Luftreinigungssystem des Raumschiffs einen leichten Hautausschlag zu, zerbrach eine seiner zehn Brillen an einem Schott und erduldete Kopfschmerzen, Rückenschmerzen, abgeschürfte Fingerknöchel und verstauchte Zehen. Trotzdem fühlte er, daß er vorangekommen war, und seine Entschlossenheit verstärkte sich. Endlich kam sein Planet in Sicht.
Der Planet hieß Theta. Perceveral und seine Ausrüstung wurden auf einer grasbewachsenen Hochebene mit Waldbestand in der Nähe eines Gebirgszuges abgesetzt. Diese Gegend war aufgrund von Luftaufnahmen vorher ausgewählt worden. Wasser, Holz, Früchte und mineralhaltiges Gestein, alles stand in der Nähe zur Verfügung. Die Landschaft bot sich als ideale Lage für eine Kolonie an. Die Offiziere des Raumschiffes wünschten ihm alles Gute und flogen ab. Perceveral sah hinauf, bis das Schiff hinter einer Wolkenbank verschwunden war. Dann machte er sich an die Arbeit. Zuerst setzte er seinen Roboter in Betrieb, eine große, schimmernde schwarze Vielzweckmaschine und Standardausrüstung für Planetenerschließer und Ansiedler. Der Roboter konnte weder reden noch singen, rezitieren oder Karten spielen wie die teureren Modelle. Seine einzige Reaktion war ein Kopfschütteln oder Nicken; langweilige Gesellschaft für das kommende Jahr. Aber der Roboter war daraufhin programmiert, mündliche Arbeitsanweisungen beträchtlicher Kompliziertheit zu befolgen, schwerste Arbeit zu verrichten und in schwierigen Situationen ein gewisses Maß an Voraussicht zu entwickeln. Mit Hilfe des Roboters errichtete Perceveral auf der Hochebene ein Lager, wobei er den Horizont ständig absuchte, um im Fall der Gefahr rechtzeitig gerüstet zu sein. Die Luftvermessung hatte keine Anzeichen einer fremdartigen Kultur entdeckte, aber man konnte nie wissen. Und der Charakter von Thetas Tierwelt war noch unerforscht. Er arbeitete langsam und sorgfältig, neben ihm der stumme Roboter. Bis zum Abend hatte er ein provisorisches Lager aufgebaut. Er schaltete den Radaralarm ein und legte sich schlafen. Im Morgengrauen weckte ihn das schrille Rasseln der Radarglocke. Er zog sich an und eilte hinaus. Die Luft war von einem bösartigen Summen erfüllt, als näherten sich unübersehbare Wanderheuschreckenschwärme. »Hol zwei Strahler«, befahl er dem Roboter, »und beeile dich. Vergiß das Fernglas nicht.« Der Roboter nickte und wankte davon. Perceveral drehte sich langsam um, schaudernd in der Kälte des grauen Morgens, und versuchte auszumachen, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Er überblickte die
betaute Ebene, den Waldrand, die aufragenden Berghänge dahinter. Nichts bewegte sich. Dann sah er, scharf abgezeichnet gegen die aufsteigende Sonne, etwas, das wie eine schmale, dunkle Wolke wirkte. Die Wolke flog auf sein Lager zu, trotz des Gegenwindes mit erstaunlicher Geschwindigkeit vorankommend. Der Roboter brachte die Strahler. Perceveral nahm den einen und wies den Roboter an, den anderen zu halten und den Feuerbefehl abzuwarten. Der Roboter nickte. Seine Sehzellen leuchteten, als er sich der Sonne zuwandte. Die Wolke entpuppte sich beim Herannahen als Vogelschwarm von gigantischen Ausmaßen. Perceveral beobachtete die Vögel durch sein Fernglas. Sie hatten etwa die Größe von Falken, aber ihre hin- und herzuckende, unberechenbare Flugweise erinnerte an das Verhalten von Fledermäusen. Sie verfügten über lange, scharfe Krallen, und ihre gebogenen Schnäbel waren mit spitzen Zähnen besetzt. Also Fleischfresser, bei dieser Bewaffnung. Der Schwarm umkreiste sie mit lautem Summen. Dann setzten die Vögel mit angelegten Schwingen und vorgestreckten Krallen zum Sturzflug an, aus allen Richtungen zugleich. Perceveral wies den Roboter an, das Feuer zu eröffnen. Er und der Roboter standen Rücken an Rücken und schossen in die heranrasende Phalanx hinein. Ein wirres Durcheinander von Blut und Gefieder erhob sich, als die Raubvögel scharenweise vom Himmel gemäht wurden. Perceveral und der Roboter behaupteten ihre Position, wehrten die Angreifer ab, schlugen sie sogar zurück. Dann versagte Perceverals Strahler. Diese Waffen konnten doch nach Angabe der Techniker unter Garantie fünfundsiebzig Stunden lang ununterbrochen feuern. Ein Strahler versagte einfach nicht! Perceveral stand einen Augenblick da und betätigte immer wieder erfolglos den Abzug. Dann warf er die Waffe auf den Boden und eilte zum Vorratszelt. Der Roboter mußte allein weiterkämpfen. Perceveral fand die beiden Ersatzstrahler und lief hinaus. Als er sich wieder am Kampf beteiligen wollte, stellte er fest, daß der Strahler seines Roboters nicht mehr funktionierte. Der Roboter stand aufrecht und
wehrte die Raubvögel mit den Armen ab. Öltropfen spritzten aus seinen Gelenken, während er seine Arme wie Windmühlenflügel bewegte. Er schwankte, drohte das Gleichgewicht zu verlieren, und Perceveral sah, daß einige Vögel seinen Schlägen ausgewichen waren, auf seinen Schultern hockten und nach seinen Augenzellen und der kinästhetischen Antenne hackten. Perceveral riß beide Strahler hoch und feuerte in den Schwarm. Die eine Waffe versagte sofort. Er schoß mit der anderen weiter und hoffte verzweifelt, daß die Ladung ausreichen würde. Der Schwarm schien von seinen erheblichen Verlusten nun doch betroffen zu sein, denn er stieg hoch und entschwand unter gräßlichem Kreischen. Wie durch ein Wunder unverletzt, standen Perceveral und der Roboter knietief in zerfetztem Gefieder und verkohlten Vogelleibern. Perceveral starrte die Strahler an, von denen ihn drei im Stich gelassen hatten. Dann marschierte er zornig zum Funkzelt. Er setzte sich mit Haskell in Verbindung und berichtete ihm von dem Angriff der Raubvögel und vom Versagen der Waffen. Voll Entrüstung brandmarkte er die Männer, deren Aufgabe es war, die Ausrüstung eines Raumfahrers zu überprüfen. Als ihm die Luft auszugehen drohte, wartete er darauf, daß sich Haskell entschuldigte und zu einer Erklärung ansetzte. »Das war eines der Kontrollelemente«, erwiderte Haskell. »W – as?« »Ich habe es Ihnen vor Monaten erklärt«, sagte Haskell. »Wir testen die minimalsten Überlebensbedingungen. Minimal, erinnern Sie sich? Wir müssen herausfinden, was aus einer Kolonie wird, die aus Leuten unterschiedlicher Tüchtigkeit besteht. Deshalb suchen wir den kleinsten gemeinsamen Nenner.« »Das weiß ich alles. Aber die Strahler – « »Mr. Perceveral, die Errichtung einer Kolonie selbst in bescheidenstem Rahmen verschlingt phantastische Summen. Wir rüsten unsere Kolonisten mit den besten und neuesten Waffen und sonstigen Geräten aus, aber wir können defekte oder verbrauchte Gegenstände nicht ersetzen. Die Kolonisten müssen unersetzbare Munition verwenden, Ausrü-
stungsgegenstände, die zu Bruch gehen oder dem Verschleiß unterliegen, Nahrungsmittelvorräte, die sich erschöpfen oder verderben – « »Und das haben Sie mir mitgegeben?« fragte Perceveral. »Selbstverständlich. Zur Kontrolle haben wir Sie mit dem Minimum an Ausstattung fürs Überleben versehen. Nur auf diese Weise vermögen wir vorauszusagen, wie die Kolonisten sich auf Theta durchsetzen werden.« »Aber das ist unfair! Als Forscher braucht man die beste Ausrüstung, die es überhaupt gibt!« »Nein«, sagte Haskell. »Bei den Optimalforschern traf das früher zu, gewiß. Aber wir prüfen doch die minimalsten Möglichkeiten, und das muß sich sowohl auf die Ausrüstung als auch auf die Persönlichkeit beziehen. Ich habe Sie nicht im unklaren gelassen, daß es Risiken gibt.« »Das stimmt«, erwiderte Perceveral. »Aber… schon gut. Haben Sie vielleicht noch in paar so hübsche Neuigkeiten für mich?« »Eigentlich nicht«, meinte Haskell nach einer kurzen Pause. »Sowohl Sie als auch Ihre Ausrüstung sind von minimaler Überlebensqualität. Damit ist so ungefähr alles gesagt.« Perceveral kam diese Antwort etwas ausweichend vor, aber Haskell lehnte es ab, weitere Erläuterungen zu geben. Sie verabschiedeten sich voneinander, und Perceveral kümmerte sich wieder um sein Lager. Um künftig vor Angriffen durch die Raubvögel geschützt zu sein, verlegten Perceveral und der Roboter das Lager in den schützenden Wald. Beim Neuaufbau stellte Perceveral fest, daß genau die Hälfte seiner Seile an zahlreichen Stellen durchgescheuert war, daß die Sicherungen durchzubrennen begannen und die Zeltleinwand vermoderte. Mühsam reparierte er alles, nicht ohne sich die Fingerknöchel aufzuschürfen und die Handflächen aufzureißen. Dann versagte sein Generator. Er zerbrach sich drei Tage lang den Kopf und versuchte die Störung an Hand der schlecht gedruckten, in deutscher Sprache verfaßten Bedienungsanleitung zu vermitteln, die man beigefügt hatte. Der ganze Generator schien falsch zusammengesetzt zu sein, nichts funktionierte. Endlich entdeckte er durch Zufall, daß die Anleitung für ein völlig anderes Modell galt. Er verlor die Beherrschung und versetzte dem Generator
einen Tritt, wobei er sich beinahe die kleine Zehe am rechten Fuß gebrochen hätte. Dann nahm er sich zusammen und arbeitete fieberhaft weitere vier Tage, in denen er die Unterschiede zwischen seinem Dynamo und dem in der Anleitung beschriebenen Modell herausfand und den Generator wieder zum Laufen brachte. Die Raubvögel entdeckten, daß sie zwischen den Bäumen auf Perceverals Lager hinabstoßen, Nahrungsmittel rauben und davonschießen konnten, bevor ein Strahler auf sie gerichtet wurde. Ihre Attacken kosteten Perceveral eine Brille und eine häßliche Wunde im Nacken. In langer Arbeit flocht er Netze und befestigte sie mit Hilfe des Roboters in den Ästen über dem Lager. Die Raubvögel waren verwirrt. Perceveral hatte endlich Zeit, seine Nahrungsmittelvorräte zu überprüfen und dabei die Entdeckung zu machen, daß ein großer Teil der Trockennahrung schlecht aufbereitet war, während andere Vorräte zu schimmeln begannen. In beiden Fällen waren die Nahrungsmittel nicht mehr eßbar. Wenn er nicht bald zu Taten schritt, würde ihm während des Winters auf Theta die Nahrung ausgehen. Er testete vorsichtig die hier wachsenden Früchte, Kornsorten, Beeren und Gemüse. Verschiedene Arten erwiesen sich als ungefährlich und nahrhaft. Er aß davon und entwickelte einen allergischen Hautausschlag von beträchtlichem Umfang. Gewissenhafte Beschäftigung mit seiner Medizinausrüstung führte zu einer Heilung, und anschließend begann er mit einer Testreihe, um das schuldige Gewächs zu entdecken. Aber gerade als er die Resultate überprüfen wollte, stampfte der Roboter herein, warf Reagenzgläser um und verschüttete unersetzliche Chemikalien. Perceveral mußte die Allergietests am eigenen Leib weiterführen und eine Beerenart sowie zwei Gemüsesorten als für seinen Verzehr untragbar ausschließen. Aber die Früchte schmeckten ausgezeichnet, und aus dem Getreide ließ sich ordentliches Brot backen. Perceveral sammelte Samen und befahl dem Roboter im Frühling, das Land zu pflügen und die Aussaat vorzunehmen.
Der Roboter arbeitete unermüdlich auf den neu angelegten Feldern, während Perceveral Streifzüge unternahm. Er fand glattgeschliffene Felsbrocken, die mit Zeichen bekritzelt waren, von denen einige wie Zahlen aussahen, ja sogar mit Bildern von Bäumen, Wolken und Bergen. Auf Theta mußten mit Intelligenz begabte Wesen gelebt haben. Wahrscheinlich bewohnten sie immer noch Gebiete des Planeten. Aber er hatte keine Zeit, nach ihnen zu forschen. Als Perceveral seine Felder besuchte, stellte er fest, daß der Roboter die Samen trotz genauer Anweisungen viel zu tief eingesetzt hatte. Die ganze Aussaat war verloren, und Perceveral machte sich selbst an die Arbeit. Er baute eine Holzhütte und ersetzte die vermodernden Zelte durch Vorratsschuppen. Langsam begann er Vorbereitungen für das Leben im Winter zu treffen. Und mit der Zeit verstärkte sich auch die Gewißheit, daß der Roboter zu versagen begann. Die große, schwarze Allzweckmaschine erledigte nach wie vor alle Aufträge, aber die Bewegungen des Roboters wurden immer ruckhafter, und er setzte seine Kräfte ganz wahllos ein. Schwere Krüge zersplitterten unter seinem Griff, landwirtschaftliche Geräte zerbrachen, wenn er sie benutzte. Perceveral programmierte ihn für Unkrautbeseitigung auf den Feldern, aber die breiten Füße des Roboters zertrampelten die jungen Schößlinge, während seine Finger das Unkraut ausrupften. Wenn der Roboter Holz zerkleinerte, gelang es ihm regelmäßig, den Beilgriff auseinanderzubrechen. Die Hütte wankte, sobald der Roboter sie betrat; manchmal fiel sogar die Tür aus den Scharnieren. Perceveral zerbrach sich über den Verfall des Roboters den Kopf. Es gab keine Möglichkeit zur Reparatur, weil der Roboter eine von der Fabrik versiegelte Maschine war, die nur von Spezialtechnikern mit dem entsprechenden Wissen und eigenen Werkzeugen instandgesetzt werden konnte. Perceveral konnte den Roboter lediglich außer Dienst stellen. Aber dann wäre er ganz allein gewesen. Er programmierte immer einfachere Aufgaben in den Roboter und nahm mehr Arbeit auf sich. Trotzdem verfiel der Roboter von Tag zu Tag mehr. Als Perceveral einmal sein Abendbrot verzehrte, taumelte der
Roboter gegen den Herd und schleuderte einen Topf mit heißem Reis durch die Hütte. Perceveral, seine neuentdeckten Fähigkeiten ausnutzend, warf sich zur Seite, so daß die brühheiße Masse nicht in seinem Gesicht, sondern nur auf der linken Schulter landete. Das war zuviel. Der Roboter stellte eine Gefahr dar, wenn man ihn noch länger herumlaufen ließ. Nachdem Perceveral seine Brandwunde verbunden hatte, beschloß er, den Roboter abzuschalten und die Arbeit allein weiterzuführen. Mit fester Stimme gab er den Ruhebefehl. Der Roboter starrte ihn nur grimmig an und trampelte ruhelos in der Hütte herum, ohne auf den fundamentalsten Befehl, den es für einen Roboter gab, zu reagieren. Perceveral wiederholte den Befehl. Der Roboter schüttelte den Kopf und begann, Feuerholz aufzustapeln. Irgend etwas war schiefgegangen. Er mußte den Roboter mit der Hand abschalten. Aber nirgends war der übliche Schalter auf der schimmernden, schwarzen Oberfläche des Roboters zu sehen. Trotzdem holte Perceveral seinen Werkzeugkasten hervor und ging auf den Roboter zu. Zu seiner Verblüffung wich der Roboter mit erhobenen Armen vor ihm zurück. »Bleib stehen!« schrie Perceveral. Der Roboter wich zurück, bis er mit dem Rücken an der Hüttenwand lehnte. Perceveral zögerte. Er begriff nicht, was hier vor sich ging. Keiner Maschine war es gestattet, Befehle zu mißachten. Die Bereitwilligkeit, auf die Existenz zu verzichten, war allen Robotern sorgfältig eingebaut worden. Er näherte sich dem Roboter, entschlossen, ihn irgendwie abzustellen. Der Roboter wartete, bis er herangekommen war, dann schleuderte er ihm seine Stahlfaust entgegen. Perceveral duckte sich und warf einen Schraubenschlüssel in Richtung der kinästhetischen Antenne. Der Roboter zog sie sofort ein und schlug wieder zu. Diesmal traf er Perceveral in die Rippen.
Perceveral ging zu Boden, und der Roboter stand über ihm, mit rotglühenden Sehzellen und Fäusten, die sich öffneten und wieder schlossen. Perceveral schloß die Augen und wartete auf das Ende. Aber die Maschine drehte sich um und verließ die Hütte, im Hinausgehen noch das Schloß zerschmetternd. Wenige Minuten später hörte Perceveral, wie draußen Holz gehackt und aufgestapelt wurde – als sei nichts geschehen. Mit Hilfe seines Medizinkastens bepflasterte Perceveral seinen Brustkorb. Der Roboter erledigte seine Arbeit und kam zurück, um sich weitere Anweisungen zu holen. Perceveral befahl ihm, von einer entlegenen Quelle Wasser zu besorgen. Der Roboter ging, ohne Widersetzlichkeit zu zeigen. Perceveral schleppte sich zum Funkschuppen. »Sie hätten nicht versuchen sollen, ihn abzuschalten«, sagte Haskell, als er erfahren hatte, was geschehen war. »Er läßt sich gar nicht abstellen. War das nicht offensichtlich? Probieren Sie es um Ihrer eigenen Sicherheit willen nicht noch einmal.« »Aber wozu soll denn das gut sein?« »Weil der Roboter als Wertkontrolle für Sie gedacht ist, was Sie ja inzwischen bemerkt haben dürften.« »Ich verstehe nicht«, sagte Perceveral. »Warum brauchen Sie eine Wertkontrolle?« »Muß ich wieder von vorne anfangen?« fragte Haskell müde. »Sie sind als minimaltüchtiger Forscher angestellt worden. Nicht als durchschnittlicher, nicht als überlegener. Minimal!« »Ja, aber – « »Passen Sie auf. Entsinnen Sie sich an Ihr Leben hier auf der Erde? Sie waren ständig von Unfällen, Krankheit und allgemeinem Pech verfolgt. Das brauchten wir auch auf Theta. Aber Sie haben sich verändert, Mr. Perceveral.« »Ich habe mich jedenfalls bemüht, eine Veränderung zu bewirken.« »Natürlich«, sagte Haskell. »Wir rechneten damit. Die meisten unserer Minimalforscher ändern sich. In eine völlig neue Umwelt gestellt und vor einem neuen Anfang, gewinnen sie eine Gewalt über sich, die ihnen zuvor versagt geblieben ist. Aber das wollen wir ja nicht testen, also müs-
sen wir irgendein Gegengewicht für solche Veränderungen schaffen. Sehen Sie, nicht immer kommen Kolonisten auf einen Planeten, um tüchtiger und klüger zu werden. Jede Kolonie hat ihre unvorsichtigen Mitglieder, ganz zu schweigen von den alten, kranken, geistig schwachen, draufgängerischen Leuten, den unerfahrenen Kindern, und so weiter. Unsere Minimalnormen sind eine Garantie dafür, daß alle eine Chance habe. Begreifen Sie jetzt?« »Ich glaube ja«, erwiderte Perceveral. »Deshalb brauchen wir eine Wertkontrolle über Sie – damit Sie nicht die durchschnittlichen oder überlegenen Überlebensfähigkeiten erwerben, die uns hier gar nicht interessieren, ja, die wir nicht brauchen können.« »Daher also der Roboter«, sagte Perceveral tonlos. »Richtig. Der Roboter ist programmiert, daß er als Hemmschuh, als entscheidende Kontrolle über Ihre Überlebensgeschicklichkeit agiert. Solange Sie sich in einem vorher genau bestimmten Bereich allgemeiner Untüchtigkeit bewegen, funktionierte der Roboter normal. Aber wenn Sie Fortschritte machen, geschickter werden, weniger Unfälle erleiden, läßt die Tüchtigkeit des Roboters nach. Er zerbricht jene Gegenstände, die Sie eigentlich kaputtmachen müßten, er trifft jene falschen Entscheidungen, die Sie eigentlich fällen müßten – « »Das ist nicht fair!« »Perceveral, Sie scheinen unter dem Eindruck zu stehen, daß wir eine Art Sanatorium oder Selbsthilfeprogramm zu Ihren Gunsten betreiben. Das ist nicht der Fall. Wir sind nur daran interessiert, das zu erhalten, wofür wir bezahlt haben. Sie haben sich diese Aufgabe als eine Alternative zum Selbstmord ausgesucht, wenn ich Sie daran erinnern darf.« »Na schön!« schrie Perceveral. »Ich mache meine Arbeit. Aber gibt es eine Vorschrift, wonach ich diesen verdammten Roboter nicht auseinandernehmen darf?« »Keineswegs«, erwiderte Haskell ruhig, »wenn es Ihnen gelingt. Aber ich möchte Ihnen ernstlich raten, es nicht zu versuchen. Die Gefahr ist zu groß. Der Roboter wird nicht zulassen, daß man ihn außer Betrieb stellt.«
»Das habe ich zu entscheiden, nicht er«, sagte Perceveral und verabschiedete sich. Der Frühling auf Theta zog dahin, und Perceveral lernte mit seinem Roboter zu leben. Er befahl ihm, einen fernen Gebirgszug zu erforschen, aber der Roboter weigerte sich, ihn zu verlassen. Er versuchte, keinerlei Anweisungen zu erteilen, aber das schwarze Monstrum wollte nicht untätig bleiben. Wenn man ihm keine Arbeit auftrug, unternahm er auf eigene Faust etwas, trat mit der Gewalt eines Donnerschlags in Aktion und brachte auf Perceverals Feldern und in den Hütten alles durcheinander. Aus Notwehr übertrug ihm Perceveral die einfachsten Arbeiten, die er sich ausdenken konnte. Er befahl dem Roboter, einen Brunnenschacht auszuheben, in der Hoffnung, er würde sich dabei vielleicht selbst eingraben. Aber grimmig und triumphierend tauchte der Roboter jeden Abend auf, betrat die Hütte, beutelte Schmutz in Perceverals Essen, übertrug Allergien, zerbrach Fenster und Geschirr. Mit zusammengebissenen Zähnen akzeptierte Perceveral diesen Zustand. Der Roboter schien jetzt die Verkörperung jener anderen, dunkleren Seite seines Ichs darzustellen, den ungeschickten, tölpelhaften Perceveral. Wenn er den Roboter bei seinem zerstörerischen Werk beobachtete, glaubte er einen mißgestalteten Teil seiner Selbst zu sehen, eine Gestalt gewordene Krankheit. Er bemühte sich, von dieser Vorstellung loszukommen. Aber der Roboter stellte seine eigene zerstörerische Neigung, losgelöst vom Lebensimpuls, immer deutlicher dar. Perceveral arbeitete, und seine Neurose stakte hinter ihm her, in Ewigkeit auf Zerstörung bedacht, und doch auf seinen Schutz ausgerichtet, wie Neurosen nun einmal sind. Sein verkörpertes Gebrechen lebte mit ihm, beobachtete ihn beim Essen, blieb in seiner Nähe, wenn er schlief. Perceveral tat seine Arbeit mit ständig zunehmender Geschicklichkeit. Er freute sich über jeden Tag, bedauerte den Sonnenuntergang und durchlebte die Schrecken der Nacht, da der Roboter neben seinem Bett stand und sich zu fragen schien, ob die Zeit für eine endgültige Abrechnung reif war. Und am Morgen versuchte Perceveral einen Weg zu fin-
den, wie sich diese schwankende, taumelnde, zerstörerische Neurose beseitigen ließ. Aber kein Ausweg zeigte sich aus dieser verfahrenen Situation, bis ein neuer Faktor die Sache noch mehr komplizierte. Es hatte mehrere Tage lang heftig geregnet. Als das Wetter aufklarte, ging Perceveral auf seine Felder hinaus. Der Roboter stampfte hinter ihm drein, ein paar Ackergeräte schleppend. Plötzlich tat sich unter seinen Füßen im feuchten Boden ein Spalt auf. Er verbreiterte sich, und die ganze Stelle, wo er sich befand, brach ein. Perceveral sprang auf festen Boden. Er zog sich an der Böschung hoch, und der Roboter half ihm hinauf, beinahe seinen Arm aus dem Gelenk reißend. Als Perceveral das eingesunkene Stück betrachtete, sah er, daß darunter ein Tunnel verlaufen war. Man konnte die Grabspuren noch erkennen. Auf einer Seite war der Tunnel durch den Einsturz blockiert worden. Auf der anderen tauchte er tief in den Boden hinab. Perceveral ging ins Lager zurück, holte seinen Strahler und eine Taschenlampe. Er kletterte in das Loch hinab und leuchtete in den Tunnel. Ein großes, pelzbekleidetes Wesen verschwand hastig hinter einer Biegung. Es sah aus wie ein riesiger Maulwurf. Endlich hatte er eine neue Art Lebewesen auf Theta entdeckt. Im Laufe der nächsten Tage erkundete er vorsichtig die Tunnels. Mehrmals erblickte er graue, maulwurfähnliche Wesen, aber sie flüchteten vor ihm in ein Labyrinth von Gängen. Er änderte seine Taktik. Er drang nur fünfzig bis sechzig Meter im Haupttunnel vor und hinterließ ein paar Früchte als Geschenk. Als er am nächsten Tag zurückkam, waren die Früchte verschwunden. An ihrer Stelle lagen zwei Klumpen Blei auf dem Boden. Der Austausch von Geschenken wurde eine ganze Woche fortgesetzt. Als Perceveral eines Tages wieder Früchte und Beeren brachte, erschien ein Riesenmaulwurf; er kam langsam und mit offensichtlicher Nervosität näher. Er deutete auf Perceverals Lampe, und Perceveral bedeckte den Leuchtkopf mit der Hand, damit der Maulwurf nicht geblendet wurde.
Er wartete. Der Maulwurf näherte sich langsam auf zwei Beinen, mit gerümpfter Nase, während er seine kleinen, runzligen Hände auf der Brust verschränkt hatte. Er blieb stehen und sah Perceveral mit großen Augen an. Dann bückte er sich und kratzte ein Zeichen in den Boden des Tunnels. Perceveral hatte keine Ahnung, was das Zeichen bedeutete. Aber das Tun allein bewies das Vorhandensein einer Sprache, beträchtlicher Intelligenz und eines gewissen Fassungsvermögens für Abstraktionen. Er kritzelte ein Symbol neben das Zeichen des Maulwurfs, um dasselbe für sich anzudeuten. Ein Akt der Verständigung zwischen zwei einander fremden Rassen hatte begonnen. Der Roboter stand mit glühenden Augenzellen hinter Perceveral und sah zu, während Mensch und Maulwurf eine Gemeinsamkeit suchten. Dieser Kontakt bedeutete für Perceveral erneut Mehrarbeit. Die Felder und Gärten mußten weiterhin betreut, die Geräte repariert und der Roboter im Auge behalten werden. In seiner Freizeit plagte sich Perceveral damit ab, die Sprache der Maulwürfe zu erlernen. Und die Maulwürfe gaben sich ebensoviel Mühe, sie ihm beizubringen. Perceveral und die Maulwürfe begannen einander langsam zu verstehen, sich an der Gesellschaft des anderen zu erfreuen, Freunde zu werden. Perceveral lernte ihren Alltag kennen, ihren Abscheu vor dem Licht, ihre Märsche durch die unterirdischen Höhlen und Gänge, ihr Bestreben nach Wissen und Erkenntnis. Und er brachte ihnen über die Menschen bei, soviel er konnte. »Aber was ist dieses Metallding?« wollten die Maulwürfe wissen. »Ein Diener des Menschen«, erklärte ihnen Perceveral. »Aber es steht hinter dir und macht ein grimmiges Gesicht. Es haßt dich, das Metallding. Hassen alle Metalldinge die Menschen?« »Selbstverständlich nicht«, erwiderte Perceveral. »Das hier ist ein Sonderfall.« »Es macht uns Angst. Verbreiten alle Metalldinge Schrecken?« »Manche. Nicht alle.«
»Man kann nicht richtig nachdenken, wenn uns das Metallwesen anstarrt, man kann dich dann nicht so gut verstehen. Ist das bei allen Metallwesen so?« »Manchmal mischen sie sich ein«, gab Perceveral zu. »Aber macht euch keine Sorgen, der Roboter tut euch nichts.« Die Maulwürfe waren nicht so ganz überzeugt davon. Perceveral versuchte für die schwere, wankende, blöde Maschine Entschuldigungen zu finden, erzählte vom Dienst der Maschinen für die Menschheit und dem angenehmen Leben, das sie ermöglichten. Aber die Maulwurfleute ließen sich nicht überzeugen. Sie wichen vor dem Roboter zurück. Trotzdem schloß Perceveral nach langwierigen Verhandlungen einen Vertrag mit den Maulwurfleuten. Als Gegenleistung für frische Früchte und Beeren, für welche die Maulwürfe allerhand übrig hatten, an die sie aber von sich aus selten herankamen, erklärten sie sich bereit, für die künftigen Kolonisten Metalle aufzuspüren sowie Wasser- und Ölquellen zu finden. Außerdem wurde den Kolonisten die gesamte Oberfläche Thetas zugestanden, während den Maulwürfen die Herrschaft über den Untergrund blieb. Das schien für beide Teile annehmbar; Perceveral und der Anführer der Maulwürfe unterzeichneten das Steindokument mit so vielen Schnörkeln, wie es der Grabmeißel erlaubte. Zur Feier des Vertrages gab Perceveral ein Fest. Er und der Roboter brachten den Maulwürfen Früchte und Beeren aller Sorten. Die Maulwürfe mit ihren grauen Pelzen und schmelzenden Augen versammelten sich und hielten eifrige Zwiesprache. Der Roboter setzte seine Körbe ab und trat ein paar Schritte zurück. Er rutschte auf einer glatten Felsplatte ab, versuchte, sein Gleichgewicht wiederzugewinnen und stürzte auf einen der Maulwürfe. Sofort war er wieder auf den Beinen und versuchte mit seinen ungeschickten, stählernen Händen, dem Maulwurf aufzuhelfen. Aber er hatte ihm das Rückgrat gebrochen.
Die übrigen Maulwürfe flohen, ihren toten Kameraden mit davonzerrend. Perceveral und der Roboter standen allein im Tunnel, umgeben von ihren Körben. In dieser Nacht dachte Perceveral lange und angestrengt nach. Er vermochte die fluchwürdige Logik des Vorfalls zu durchschauen. Minimalwertkontakte mit fremdartigen Wesen mußten ein Element der Unsicherheit enthalten, Mißtrauen, Mißverständnisse, gelegentlich sogar ein Opfer. Seine Beziehungen zu den Maulwurfleuten hatten sich für Minimalerfordernisse zu glatt entwickelt. Der Roboter hatte lediglich die Situation korrigiert und jene Fehler begangen, die Perceveral selbst hätte machen sollen. Obwohl er also den logischen Hintergrund des Vorfalls begriff, konnte er ihn nicht akzeptieren. Die Maulwurfleute waren seine Freunde, und er hatte sie verraten. Es gab kein Vertrauen mehr zwischen ihm und ihnen, keine Hoffnung für eine Zusammenarbeit mit den künftigen Kolonisten. Solange jedenfalls nicht, als der Roboter in den Tunnels hin- und hertrampeln konnte. Perceveral entschied, daß der Roboter vernichtet werden mußte. Er war ein für allemal entschlossen, seine mühsam erworbene Tüchtigkeit gegen die zerstörerische Neurose einzusetzen, die ihm nicht von der Seite wich. Und wenn es sein Leben kostete – nun ja, erinnerte sich Perceveral, er war ja auch bereit gewesen, es vor nicht einmal einem Jahr aus weit weniger stichhaltigen Gründen wegzuwerfen. Er nahm zuerst Kontakt mit den Maulwürfen auf und besprach mit ihnen sein Problem. Sie erklärten sich bereit, ihm zu helfen, denn selbst diese sanften Wesen sannen auf Rache. Sie lieferten einige Ideen, die erstaunlich viel Menschliches an sich hatten, da die Maulwürfe auch über eine Art Kriegsführung verfügten. Sie erklärten Perceveral Genaueres, und er stimmte zu, es auf diese Weise einmal zu versuchen. Eine Woche später waren die Maulwürfe bereit. Perceveral belud den Roboter mit Körben voll Obst und führte ihn in. die Tunnels, als bemühe er sich, einen neuen Vertrag zustande zu bringen. Die Maulwurfleute waren nirgends zu sehen. Perceveral und der Roboter drangen tief in die Gänge vor, mit den Taschenlampen ihren Weg
erleuchtend. Die Augenzellen des Roboters glühten rötlich, und er blieb Perceveral knapp auf den Fersen. Sie erreichten eine unterirdische Höhle. Ein leiser Pfiff ertönte, und Perceveral raste davon. Der Roboter spürte die Gefahr und versuchte ihm zu folgen. Aber er stolperte, behindert durch seine eigene, einprogrammierte Ungeschicklichkeit, das Obst rollte über den Höhlenboden. Dann fielen Seile von der Decke herab, legten sich um den Schädel und die Schultern des Roboters. Er zerrte an dem starken Geflecht. Weitere Seile legten sich um ihn, von der Decke herunterzischend. Die Sehzellen der Maschine glommen blutrot, als er die Stricke von seinen Armen riß. Zu Dutzenden erschienen die Maulwurfleute in den Gängen. Immer mehr Stricke wanden sich um den Roboter, aus dessen Gelenken Öl tropfte, während er sich gegen die Fesseln wehrte. Minutenlang hörte man nichts anderes als die zischenden Seile, das Knarren der Robotergelenke und das trockene Knacken der zerreißenden Stricke. Perceveral eilte zurück, um sich am Kampf zu beteiligen. Man fesselte den Roboter immer enger, bis er die Glieder nicht mehr bewegen konnte. Immer noch pfiffen die Seile durch die Luft, bis der Roboter zu Boden stürzte, in einen großen Kokon aus Stricken gehüllt, aus dem nur sein Schädel und die Füße hervorragten. Die Maulwurfleute quietschten triumphierend und versuchten, die Augen des Roboters mit ihren scharfen Grabklauen auszukratzen. Aber stählerne Verschlüsse schoben sich vor die Sehzellen. Also schütteten sie Sand in seine Gelenke, bis Perceveral sie beiseiteschob und sich bemühte, mit dem letzten Strahler den Roboter einzuschmelzen. Die Waffe versagte, bevor das Metall richtig heiß geworden war. Man befestigte Seile an den Füßen des Roboters und zerrte ihn durch einen Gang, der vor einem tiefen Abgrund endete. Die Maulwürfe schoben ihn über den Rand und lauschten, wie er beim Absturz gegen die Vorsprün-
ge an den Felswänden prallte. Als er am Boden aufschlug, stießen sie ein Freudengeheul aus. Die Maulwurfleute feierten. Aber Perceveral fühlte sich schlecht. Er kehrte in seine Hütte zurück und lag zwei Tage im Bett, wobei er sich immer wieder vorsagte, daß er doch nicht einen Menschen, nicht einmal ein denkendes Wesen umgebracht hatte. Es war nur notwendig gewesen, eine gefährliche Maschine zu zerstören. Aber er mußte immer wieder an den stillen Begleiter denken, der mit ihm gegen die Raubvögel gekämpft, seine Felder gejätet und Holz für ihn gesammelt hatte. Wenn der Roboter auch ungeschickt und zerstörerisch gewesen war, so doch auf Perceverals eigene Art – eine Art, für die er, vor allen anderen Leuten, Verständnis und Mitgefühl aufbringen konnte. Eine Weile kam es ihm vor, als sei ein Teil seines Ichs gestorben. Aber jeden Abend besuchten ihn die Maulwurfleute, um ihn zu trösten, und auf den Feldern gab es viel zu tun. Es war Herbst, Zeit, seine Ernte einzubringen und zu lagern. Perceveral machte sich an die Arbeit. Durch die Beseitigung des Roboters kehrte seine eigene Neigung zu Unfällen vorübergehend wieder. Er überwand sie schnell. Als die ersten Schneefälle kamen, hatte er den Ernteertrag eingelagert und winterfest gemacht. Und sein Jahr auf Theta neigte sich dem Ende zu. Er gab per Funk einen vollständigen Bericht über die Gefahren, Aussichten und Möglichkeiten des Planeten an Haskell durch, erzählte von seinem Vertrag mit den Maulwurfleuten und empfahl den Planeten für eine Kolonisierung. Zwei Wochen später meldete sich Haskell wieder. »Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet«, lobte er Perceveral. »Das Amt hat entschieden, daß Theta unseren Minimalwertnormen entspricht. Wir schicken sofort ein Kolonisierungsschiff ab.« »Dann ist der Test also vorbei?« fragte Perceveral.
»Richtig. Das Raumschiff müßte in etwa drei Monaten ankommen. Ich fliege wahrscheinlich selbst mit dieser Gruppe. Herzlichen Glückwunsch, Mr. Perceveral. Sie werden Gründer einer neuen Kolonie sein!« Perceveral sagte: »Mr. Haskell, ich weiß nicht, wie ich mich bei Ihnen bedanken soll – « »Da gibt es nichts zu danken«, erwiderte Haskell. »Ganz im Gegenteil. Wie sind Sie übrigens mit dem Roboter zurechtgekommen?« »Ich habe ihn zerstört«, sagte Perceveral. Er beschrieb den Überfall durch die Maulwürfe. »Hmm«, machte Haskell. »Sie haben mir bestätigt, daß ich damit keine Vorschriften verletze.« »Das stimmt auch. Der Roboter war Bestandteil Ihrer Ausrüstung, wie die Strahler, Zelte und Nahrungsmittelvorräte. Wie sie gehörte er auch zu Ihren Überlebensproblemen. Sie hatten das Recht, mit ihm anzufangen, was Ihnen möglich war.« »Woran hapert es also?« »Nun ja, ich hoffe, daß Sie ihn wirklich außer Gefecht gesetzt haben. Diese Wertkontroll-Modelle halten sehr viel aus, wissen Sie. Sie können sich selbst reparieren und besitzen einen starken Selbsterhaltungstrieb. Es ist verdammt schwer, so ein Ding wirklich kaputtzumachen.« »Ich glaube, daß es mir gelungen ist«, meinte Perceveral. »Hoffentlich. Es wäre peinlich, wenn der Roboter diese Behandlung überstanden hätte.« »Wieso? Käme er etwa zurück, um Rache zu nehmen?« »Natürlich nicht. Ein Roboter hat keine Gefühle.« »Also?« »Das Dumme ist nur: der Roboter hatte den Zweck, alle Erfolge, die Sie im Überlebenswert erzielten, zunichte zu machen. Er hat es ja auch auf verschiedene Weise immer wieder geschafft.« »Gewiß. Wenn er also zurückkommt, muß ich von vorne anfangen.« »Schlimmer. Sie haben jetzt seit ein paar Monaten Ruhe vor dem Roboter. Wenn er noch funktioniert, hat er einen Vorrat an Unfällen für Sie angesammelt. All die zerstörerischen Pflichten, denen er in dieser Zeit
hätte nachkommen sollen – er muß sich ihrer entledigen, bevor er zu seinem Normalverhalten zurückfinden kann. Verstehen Sie, was ich meine?« Perceveral räusperte sich nervös. »Und er würde sie natürlich so schnell wie möglich loswerden wollen, damit er umgehend normal operieren kann.« »Selbstverständlich. Passen Sie auf, das Schiff wird in etwa drei Monaten ankommen. Schneller geht es nicht. Ich rate Ihnen, sich zu vergewissern, daß der Roboter auch wirklich außer Gefecht ist. Wir möchten Sie jetzt nicht mehr verlieren.« »Nein, das wollen wir nicht«, meinte Perceveral. »Ich werde mich sofort darum kümmern.« Er holte die erforderliche Ausrüstung und eilte zu den Tunnels. Die Maulwurfleute führten ihn zu dem Abgrund, nachdem er ihnen erklärt hatte, worum es ging. Bewaffnet mit Lötlampe, Metallsäge, Schmiedehammer und Meißel unternahm Perceveral den mühsamen Abstieg. Unten angekommen entdeckte er schnell die Stelle, wo der Roboter aufgeschlagen war. Dort lag, zwischen zwei Felsblöcken eingeklemmt, ein kompletter Roboterarm, in der Schulter ausgerissen. In einiger Entfernung fand er die zerschellten Überreste einer Sehzelle. Und er stieß auf einen leeren Kokon zerfetzter Seile. Nur der Roboter war nirgends zu sehen. Perceveral kletterte an der Felswand hinauf, warnte die Maulwürfe und begann Vorbereitungen zu treffen, so gut es eben ging. Zwölf Tage lang ereignete sich nichts. Dan erschien eines Abends ein verängstigter Maulwurf bei ihm. Der Roboter war wieder in den Tunnels aufgetaucht, mit einem glühenden Auge, und hatte geschickt das Labyrinth bis zum Haupteingang durchmessen. Die Maulwürfe waren mit Seilen ausgerüstet auf sein Kommen vorbereitet gewesen. Aber der Roboter hatte etwas gelernt. Er wich den geräuschlos herabfallenden Schlingen aus und stürmte auf die Maulwürfe los. Er hatte sechs davon getötet und die übrigen in die Flucht geschlagen.
Perceveral nickte kurz, schickte den Maulwurf nach Hause und arbeitete weiter. Er hatte seine Verteidigung in den Tunnels aufgebaut. Nun lagen die vier defekten Strahler auseinandergenommen vor ihm auf dem Tisch. Ohne jede Anleitung bemühte er sich, aus vielen Einzelteilen wenigstens eine funktionierende Waffe zusammenzusetzen. Er arbeitete bis spät in die Nacht hinein, jedes Stück sorgfältig prüfend, bevor er es einsetzte. Die winzigen Teilchen schienen vor seinen Augen zu verschwimmen, und seine Finger verloren jedes Gefühl. Behutsam begann er mit Pinzetten und einer Lupe die Waffe zusammenzubauen. Das Funkgerät begann plötzlich zu lärmen. »Anton?« sagte Haskell. »Was ist mit dem Roboter?« »Er ist unterwegs«, erwiderte Perceveral. »Das habe ich befürchtet. Passen Sie auf, ich habe ein Blitzgespräch mit den Herstellern der Maschine geführt. Es gab zwar eine Auseinandersetzung, aber ich habe die Genehmigung für Sie erwirkt, daß Sie den Roboter abschalten dürfen, sowie genaue Anweisungen, wie das zu bewerkstelligen ist.« »Danke«, sagte Perceveral. »Beeilen Sie sich. Wie macht man das?« »Sie brauchen folgendes: einen Stromerzeuger für zweihundert Volt bei 25 Ampere. Schafft das Ihr Generator?« »Ja. Weiter.« »Sie brauchen einen Kupferstab, etwas Silberdraht und eine aus einem Nichtleiter gefertigte Sonde, zum Beispiel aus Holz. Man baut diese Dinge so zusammen, daß man – « »Soviel Zeit bleibt mir niemals«, sagte Perceveral, »aber sprechen Sie weiter.« Sein Funkgerät begann laut zu summen. »Haskell!« schrie Perceveral. Die Lämpchen am Gerät erloschen. Perceveral hörte Knirschen und Splittern aus dem Funkschuppen. Dann erschien der Roboter in der Tür. Sein rechter Arm und die rechte Sehzelle fehlten, aber seine Reparatureinheiten hatten die beschädigten Stellen abgedichtet. Er war jetzt von
trübschwarzer Farbe; Roststreifen zogen sich über seine Brust und an den Seiten entlang. Perceveral schaute auf den fast fertiggestellten Strahler hinab. Er begann die letzten Teile einzusetzen. Der Roboter schritt auf ihn zu. »Hack Holz«, sagte Perceveral so ruhig, wie es ihm möglich war. Der Roboter blieb stehen, drehte sich um, nahm das Beil, zögerte, wandte sich zur Tür. Perceveral paßte das letzte Stück ein, klappte die Hülse zu und begann sie festzuschrauben. Der Roboter ließ das Beil fallen und drehte sich wieder um, vom Widerstreit der konträren Befehle hin- und hergerissen. Perceveral hoffte auf einen Kurzschluß bei dieser Anstrengung. Aber der Roboter traf seine Entscheidung und stürzte sich auf Perceveral. Perceveral hob den Strahler und betätigte den Abzug. Der Feuerstoß bremste den Roboter. Seine Metallhaut begann rötlich zu glühen. Dann versagte der Strahler wieder. Perceveral fluchte, packte die schwere Waffe und schleuderte sie gegen das noch vorhandene Auge des Roboters. Er verfehlte nur knapp; der Strahler prallte gegen die Stirn der Maschine. Betäubt griff der Roboter nach ihm. Perceveral duckte sich unter seinen Armen und floh aus der Hütte in Richtung der dunklen Tunnelmündung. Als er in den Gang eindrang, drehte er sich um und sah den Roboter nachkommen. Er ging mehrere hundert Meter in den Tunnel hinein. Dann schaltete er seine Taschenlampe ein und erwartete den Roboter. Er hatte das Problem sorgfältig durchdacht, als er entdecken mußte, daß der Roboter nicht zerstört worden war. Zuallererst hatte er natürlich an Flucht gedacht. Aber der Roboter konnte Tag und Nacht ohne Unterbrechung laufen, würde ihn also leicht einholen. Es war auch sinnlos, im Tunnellabyrinth ziellos hin- und her-
zuhetzen. Er mußte ja essen, trinken, schlafen. Der Roboter brauchte nie eine Pause einzulegen. Er hatte deshalb in den Tunnels eine Reihe von Fallen aufgestellt und alles davon abhängig gemacht. Eine von ihnen mußte funktionieren. Er war überzeugt davon. Aber während er sich das vorsagte, lief es ihm kalt über den Rücken, wenn er an die Ballung von Unfällen dachte, die der Roboter für ihn aufgespeichert hatte – die Monate mit gebrochenen Armen und angeknackten Rippen, verrenkte Knöcheln, Schnittwunden, Bißwunden und Krankheiten. Alles das würde ihm der Roboter so schnell wie möglich aufhalsen, damit er wieder normal zu funktionieren vermochte. Diese Ansammlung von Widrigkeiten konnte er nicht überleben. Seine Fallen mußten zuschnappen! Bald hörte er die dröhnenden Laufschritte des Roboters. Dann erschien er, sah ihn und stürmte vorwärts. Perceveral rannte einen Tunnel entlang, bog in einen kleinen Seitengang. Der Roboter folgte ihm. Er hatte bereits etwas Boden gewonnen. Als Perceveral einen deutlich zu erkennenden Felsvorsprung erreichte, warf er einen Blick nach hinten, um die Position des Roboters festzustellen. Dann zerrte er an einem Seil, das er hinter dem Vorsprung verborgen hatte. Die Decke des Tunnels stürzte ein, tonnenweise Erde und Felsbrocken über den Roboter schüttend. Wenn der Roboter nur einen einzigen Schritt mehr getan hätte, wäre er begraben worden. Aber er erkannte sofort, was hier vorging, fuhr herum und sprang zurück. Erde überschüttete ihn, kleine Felsbrocken prasselten auf seine Schultern, auf seinen Schädel. Aber die großen Geröllmassen verfehlten ihn. Als das letzte Steinchen gefallen war, kletterte der Roboter über den Schuttberg und nahm die Verfolgung wieder auf. Perceveral begann zu keuchen. Er war enttäuscht über das Versagen der Falle. Aber er beruhigte sich damit, daß vor ihnen eine weit bessere lag. Sie würde das Schicksal der unerbittlichen Maschine endlich besiegeln.
Sie rannten einen sich durch den Untergrund windenden Tunnel entlang, der nur von Zeit zu Zeit blitzartig erhellt wurde, wenn Perceveral seine Lampe einschaltete. Der Roboter holte auf. Perceveral erreichte eine gerade Strecke und beschleunigte sein Tempo. Er überquerte eine Stelle, die sich äußerlich vom übrigen Boden nicht unterschied. Aber als der Roboter darüber hinwegdonnerte, brach der Boden ein. Perceveral hatte das genau vorausberechnet. Die Falle trug sein Gewicht gerade noch, mußte aber unter der Masse des Roboters sofort einstürzen. Der Roboter suchte verzweifelt nach Halt. Erdreich bröselte durch seine Finger, und er rutschte in die von Perceveral gegrabene Falle – eine Grube mit schrägen Seitenwänden, die sich trichterförmig verengten; der Roboter sollte am Grund wie von einer Zange festgehalten werden. Der Roboter riß jedoch seine Beine weit auseinander, als wollte er einen besonders schwierigen Spagatschritt vorführen. Seine Gelenke knarrten, als sich seine Fersen in die Grubenwand bohrten; sie sackten unter seinem Gewicht durch, hielten der Belastung jedoch stand. Er konnte sich abbremsen, bevor er den Grund erreichte, beide Beine seitlich ausgestreckt und in das weiche Erdreich gepreßt. Die Roboterhände gruben tiefe Löcher in die Grubenwand. Ein Bein löste sich aus dem Erdreich, fand weiter oben eine Stütze, das andere Bein folgte. Langsam stemmte sich der Roboter aus der Grube, und Perceveral ergriff wieder die Flucht. Sein Atem kam in kurzen, heftigen Stößen; das Seitenstechen wurde unerträglich. Der Roboter gewann schnell an Boden, und Perceveral mußte seine ganze Energie aufbieten, einen Vorsprung zu erhalten. Er hatte auf diese beiden Fallen gezählt. Jetzt war nur noch eine übrig. Eine sehr gute zwar, aber ihre Verwendung brachte ein gewisses Risiko mit sich. Perceveral zwang sich trotz des zunehmenden Schwindelgefühls zur Konzentration. Die letzte Falle verlangte präzise Berechnung. Er kam an einem mit weißer Farbe markierten Stelle vorbei und schaltete seine Lampe ab. Er begann seine Schritte zu zählen, wurde langsamer, bis sich
der Roboter unmittelbar hinter ihm befand, die stählernen Finger nur noch Zentimeter von seinem Hals entfernt waren. Achtzehn – neunzehn – zwanzig! Nach dem zwanzigsten Schritt warf sich Perceveral kopfüber in das Dunkel. Sekundenlang schien er zu schweben. Dann tauchte er ins Wasser, kam wieder hoch und wartete. Der Roboter war so knapp hinter ihm gewesen, daß er nicht mehr rechtzeitig anhalten konnte. Eine gewaltige Fontäne spritzte hoch, als er in den Untergrundsee stürzte; ein paar Augenblicke platschte es heftig, dann sprudelten Luftbläschen, als der massive Roboter langsam in die Tiefe sank. Als Perceveral das hörte, schwamm er zum gegenüberliegenden Ufer. Er schaffte es und zog sich aus dem eiskalten Wasser. Minutenlang lag er zitternd auf den schmierigen Felsblöcken. Dann schleppte er sich auf Händen und Füßen zu einem Versteck, wo er Brennholz, Streichhölzer, Whisky, Decken und trockene Kleider hinterlegt hatte. Während der nächsten Stunden trocknete sich Perceveral ab, zog sich um und entzündete ein kleines Feuer. Er aß und trank und beobachtete die unbewegte Oberfläche des Sees. Tage zuvor hatte er ihn mit einer dreißig Meter langen Schnur ausgelotet und war nirgends auf Grund gestoßen. Vielleicht war der See unergründlich. Wahrscheinlich nährte er jedoch einen reißenden unterirdischen Fluß, der den Roboter Wochen und Monate lang mit sich schleppen würde. Vielleicht… Er hörte ein schwaches Geräusch im Wasser und leuchtete mit seiner Stablampe hinüber. Der Schädel des Roboters tauchte auf, gefolgt von Schultern und Rumpf. Der See war also keineswegs unergründlich. Der Roboter mußte am Grund entlanggelaufen und den steilen Abhang hinaufgestiegen sein. Der Roboter kletterte über die schmierigen Felsblöcke am Ufer. Perceveral raffte sich müde auf und begann zu laufen. Die letzte Falle hatte versagt, und nun setzte seine Neurose zum Todesstoß an. Perceveral rannte auf eine Tunnelmündung zu. Er wollte das Ende draußen im Sonnenlicht auf sich nehmen.
Im mühsamen Trab lief Perceveral vor dem Roboter ins Freie, einen steilen Berghang hinauf. Sein Atem brannte in der Kehle, die Magenmuskeln hatten sich verkrampft. Er lief mit halbgeschlossenen Augen, schwindelig vor Erschöpfung. Seine Fallen hatten versagt. Warum war ihm nicht früher klar geworden, daß sie versagen mußten? Der Roboter war ein Teil seines Ichs, seine eigene Neurose, die ihn vernichten wollte. Und wie kann jemand den raffiniertesten Teil seines Selbst täuschen? Die rechte Hand weiß immer, was die linke tut. Er hatte das Problem von der falschen Seite her angepackt, dachte Perceveral, als er sich den Hang hinaufquälte. Der Weg zur Freiheit führte nicht über den Betrug. Er… Der Roboter griff nach seiner Ferse und erinnerte Perceveral damit an den Unterschied zwischen theoretischer Erkenntnis und praktischem Wissen. Er riß sich los und bewarf den Roboter mit Steinen. Die Maschine wehrte die Geschosse ab und stieg weiter nach oben. Perceveral stieg schräg am Felshang hinauf. Der Weg zur Freiheit führt nicht über den Betrug, sagte er sich. Daraus konnte sich nur der Mißerfolg ergeben. Den Ausweg zeigt nur der Wandel! Den Ausweg bringt nur die Überwindung, nicht des Roboters, sondern dessen, was er darstellte. Ihn selbst! Er fühlte sich seltsam leicht, seine Gedanken strömten ungehindert. Wenn er das Gefühl der Verwandtschaft mit dem Roboter überwinden konnte – dann war auch der Roboter nicht mehr seine Neurose! Er stellte dann einfach irgendeine Neurose dar, ohne Gewalt über Perceveral zu haben. Er brauchte nichts anderes zu tun, als seine Neurose loszuwerden – wenigstens für zehn Minuten – und der Roboter konnte ihm nichts anhaben! Seine Erschöpfung war wie weggeblasen, unbändige, berauschende Zuversicht erfüllte ihn. Kühn sprintete er durch ein Gewirr von Felsblöcken und Geröll, ein Gelände, das geradezu nach einem verrenkten Knöchel, einem gebrochenen Unterschenkel verlangte. Ein Jahr zuvor, ja noch vor einem Monat wäre er unweigerlich schwer gestürzt. Aber der
gewandte Perceveral überwand mit den Schritten eines jungen Gottes den felsigen Grund ohne Mißgeschick. Der einarmige, einäugige Roboter nahm verbissen den Unfall auf sich. Er stolperte und stürzte der Länge nach auf die scharfkantigen Felsblöcke. Als er sich wieder aufraffte und die Jagd fortsetzte, hinkte er. Zur Gänze berauscht, aber sehr aufmerksam, gelangte Perceveral zu einer Felswand und sprang hoch, auf ein Fleckchen für seinen Griff zielend, das nicht mehr als ein winziger, grauer Schatten war. Eine bange Sekunde lang hing er buchstäblich in der Luft. Als seine Finger abzurutschen begannen, fanden seine Füße eine Stütze. Ohne jedes Zögern zog er sich an der granitenen Wand hoch. Der Roboter folgte ihm mit trockenen, knarrenden Gelenken. Er verbog sich beim Aufstieg einen Finger. Perceveral sprang von Felsblock zu Felsblock. Der Roboter stürmte hinter ihm drein, rutschend und stolpernd, aber langsam an Boden gewinnend. Perceveral scherte sich nicht darum. Der Gedanke überfiel ihn, daß die ganzen Jahre seines Hangs zu Unfällen auf diesen einen Augenblick ausgerichtet waren. Das Blatt hatte sich gewendet. Er war endlich, wozu ihn die Natur hatte machen wollen – ein vor Unfällen gefeiter Mann! Der Roboter kroch an der weißen Felswand hinter ihm nach. Perceveral, der trunken war vor Selbstbewußtsein, stemmte sich gegen Felsblöcke und stieß einen Schrei aus, um eine Lawine zu erzeugen. Das Geröll kam ins Rutschen, und über sich hörte er ein dumpfes Grollen. Er schlug einen Haken, wich dem ausgestrecken Arm des Roboters aus und – hatte sich jeden Rückzug verbaut. Er stand in einer kleinen, schmalen Höhle, der Roboter ragte vor ihm empor, den Eingang blockierend, und holte mit seiner stählernen Faust aus. Perceveral brach beim Anblick des armen, ungeschickten Roboters in Gelächter aus. Dann schoß die Faust des Roboters mit voller Wucht nach vorn. Perceveral duckte sich, aber es wäre gar nicht nötig gewesen. Der ungeschickte Roboter verfehlte ihn mindestens um einen Zentimeter. Ge-
nau jene Art von Fehler, wie Perceveral sie bei diesem lächerlichen, tölpelhaften Roboter erwartet hatte. Die Wucht des Schlages riß den Roboter herum. Er ruderte mit den Armen, versuchte am Rand der steilen Wand sein Gleichgewicht zu halten. Jeder normale Mensch oder Roboter hätte es halten können. Aber nicht dieser zu Unfällen neigende Dummkopf. Er fiel auf sein Gesicht, zerschmetterte seine zweite Sehzelle und begann hinabzurollen. Perceveral beugte sich vor und versetzte ihm noch einen Stoß, um das Tempo zu beschleunigen, dann zog er sich wieder in die kleine Nische zurück. Die Geröllawine vollendete das Werk für ihn, trieb einen immer kleiner werdenden schwarzen Punkt den Berg hinunter und begrub ihn schließlich unter tonnenschwerem Gestein. Perceveral lachte in sich hinein, während er dies alles beobachtete. Dann begann er sich zu fragen, was er eigentlich getan hatte. Und da fing er zu zittern an. Monate später stand Perceveral vor der Ausstiegrampe des Kolonisierungsschiffs ›Cuchulain‹ und sah zu, wie die Kolonisten in den Wintersonnenschein Thetas hinaustraten. Es gab alle möglichen Typen und Gestalten. Sie waren nach Theta gekommen, um die Chance zu einem neuen Leben zu erhalten. Jeder einzelne von ihnen war zumindest sich selbst wichtig, und jeder verdiente eine Überlebenschance, ungeachtet seiner Begabung. Und er, Anton Perceveral, hatte die Minimalbedingungen für diese Menschen erforscht; er hatte selbst den Unfähigsten ein gewisses Maß an Hoffnung und Aussicht gegeben. Er wandte sich vom Strom der Kolonisten ab und betrat das Raumschiff über eine Einstiegsleiter an der Rückseite. Er ging einen Korridor entlang und betrat Haskells Kabine. »Nun, Anton«, sagte Haskell, »was halten Sie von ihnen?« »Ich finde sie nett«, erwiderte Perceveral. »Das sind sie auch. Diese Leute betrachten Sie als Gründer ihrer Kolonie, Anton. Sie wollen Sie hierhaben. Bleiben Sie?«
»Ich betrachte Theta als meine Heimat«, sagte Perceveral. »Dann ist das also klar. Ich werde nur noch – « »Warten Sie«, unterbrach ihn Perceveral. »Ich bin noch nicht fertig. Ich betrachte Theta als meine Heimat. Ich möchte mich hier niederlassen, heiraten und Kinder großziehen. Aber jetzt noch nicht.« »Wie?« »Ich liebe meinen Beruf«, erklärte Perceveral. »Ich möchte noch weiterarbeiten. Vielleicht noch einen oder zwei Planeten erschließen. Dann lasse ich mich hier nieder.« »Das habe ich befürchtet«, sagte Haskell unglücklich. »Wieso denn? Was ist so schlimm daran?« »Nichts. Aber ich fürchte, daß wir Sie nicht mehr als Forscher einsetzen können, Anton.« »Warum denn nicht?« »Sie wissen doch, was wir brauchen. Minimalwert-Persönlichkeiten für die Erschließung künftiger Kolonien. Man kann Sie beim besten Willen nicht mehr als Minimalforscher bezeichnen.« »Aber ich bin der Mensch, der ich war!« wandte Perceveral ein. »Gewiß, ja, ich habe auf diesem Planeten Fortschritte gemacht. Aber damit haben Sie gerechnet; deswegen gab man mir ja auch den Roboter mit. Am Ende – « »Ja, was war da?« »Nun, am Ende hat es mich einfach mitgerissen. Ich muß betrunken gewesen sein, oder etwas Ähnliches. Ich begreife gar nicht, wie ich so handeln konnte.« »Aber so war es nun einmal.« »Ja. Hören Sie: Trotz alledem habe ich das ganze Abenteuer nur mit Mühe überlebt! Mit Mühe! Beweist denn das nicht, daß ich noch ein Forscher mit Minimalvoraussetzungen bin?« Haskell machte ein nachdenkliches Gesicht. »Anton, Sie hätten mich beinahe überzeugt. Aber ich fürchte, daß das nur Haarspaltereien sind. Ganz offen gesagt, ich kann Sie nicht mehr als Minimalpersönlichkeit
ansehen. Sie werden sich wohl oder übel mit Ihrer Aufgabe hier auf Theta begnügen müssen.« Perceverals Schultern beugten sich. Er nickte bedrückt, schüttelte Haskell die Hand und wandte sich zum Gehen. Dabei blieb er mit dem Ärmel an Haskells Schreibzeug hängen und wischte es vom Tisch. Perceveral versuchte es noch zu erhaschen und knallte mit der Hand gegen die Tischplatte. Tinte spritzte auf. Er stolperte über einen Stuhl und stürzte. »Anton«, sagte Haskell, »war das Theater?« »Nein«, erwiderte Perceveral, »natürlich nicht, verdammt noch mal.« »Hmm. Interessant. Nun, Anton, schrauben Sie Ihre Erwartungen nicht zu hoch, aber vielleicht – ich sage nur, vielleicht – « Haskell starrte Perceverals gerötetes Gesicht scharf an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Sie sind ein Gauner, Anton! Beinahe wäre ich auf Sie hereingefallen. Hätten Sie jetzt endlich die Freundlichkeit, zu verschwinden und bei den Kolonisten zu erscheinen? Man weiht Ihr Standbild ein und möchte Sie ganz gern dabeihaben.« Beschämt, aber grinsend ging Anton Perceveral hinaus, sein Los auf sich nehmend.
Der Berufstote Ich will gar nicht versuchen, die Schmerzen zu beschreiben. Ich sage nur, daß sie selbst in Narkose unerträglich waren, und daß ich sie ertrug, weil mir keine andere Wahl blieb. Dann klangen sie ab, und ich öffnete meine Augen und starrte in die Gesichter der Brahmanen, die um mich herumstanden. Sie waren zu dritt und trugen die üblichen weißen Operationsmäntel und Gesichtsmasken. Man behauptet, sie trügen diese Masken, um Bakterien von uns fernzuhalten. Jeder Soldat weiß aber, daß die Kerle sie nur tragen, damit wir sie nicht erkennen konnten. Ich war noch bis zum Haaransatz mit Narkosemitteln vollgepumpt, und mein Erinnerungsvermögen funktionierte sehr mangelhaft. »Wie lange war ich tot?« erkundigte ich mich. »Ungefähr zehn Stunden«, erwiderte einer von den Brahmanen. »Wie bin ich gestorben?« »Erinnern Sie sich nicht?« fragte der größte Brahmane. »Noch nicht.« »Also«, sagte der größte Brahmane, »Sie befanden sich mit Ihrer Abteilung im Schützengraben 2645B-4. Im Morgengrauen trat Ihre ganze Kompanie zu einem Frontalangriff an und versuchte den nächsten Graben zu erobern. Das ist die Nummer 2645B-5.« »Und was geschah dann?« »Sie haben ein paar Schuß MG-Munition aufgefangen. Die neue Art mit der verbesserten Sprengwirkung. Sie erwischten einen Treffer in der Brust und drei weitere in den Beinen. Als die Sanitäter Sie fanden, waren Sie tot.« »Haben wir den Graben erobert?« fragte ich. »Nein. Diesmal noch nicht.«
»Aha.« Mit dem Abklingen des Betäubungsmittels kehrte mein Gedächtnis zurück. Ich erinnerte mich an die Kameraden in meiner Abteilung. Ich erinnerte mich an unseren Graben. 2645b-4 war weit über ein Jahr mein Zuhause gewesen, und für einen Schützengraben mußte man ihn als recht ordentlich bezeichnen. Der Gegner hatte ihn zu erobern versucht, und unser Angriff im Morgengrauen war eigentlich eine Gegenattacke gewesen. Ich erinnerte mich, wie mich die MG-Schüsse in Fetzen gerissen hatten, und dachte an die herrliche Erleichterung, die ich dabei empfunden hatte. Und mir fiel auch noch etwas anderes ein… Ich setzte mich auf. »He, Moment mal!« sagte ich. »Was ist denn?« »Ich dachte, acht Stunden seien die oberste Grenze, bei der man einen Menschen wieder lebendig machen kann.« »Wir haben unsere Methoden verbessert«, erklärte einer der Brahmanen. »Wir machen ständig Fortschritte. Zwölf Stunden sind jetzt die oberste Grenze, solange es sich nicht um eine ernste Gehirnschädigung handelt.« »Freut mich für Sie«, sagte ich. Mein Gedächtnis war inzwischen in vollem Umfang wiedergekehrt, und ich begriff, was sich abgespielt hatte. »Sie haben jedenfalls einen schweren Fehler begangen, als Sie mich ins Leben zurückriefen.« »Was gibt’s hier zu meckern?« fragte einer von den Brahmanen mit einer Stimme, wie sie nur Unteroffiziere haben. »Schauen Sie sich meine Erkennungsmarke an«, sagte ich. Er tat es. Seine Stirn – mehr konnte ich von seinem Gesicht nicht sehen – bekam tiefe Falten. »Das ist wirklich ungewöhnlich«, sagte er. »Ungewöhnlich!?« wiederholte ich. »Sie lagen in einem Graben von toten Männer, wissen Sie«, erklärte er mir. »Wir erfuhren, daß es sich ausschließlich um Erstmalige handle. Man gab uns den Befehl, den ganzen Haufen ins Leben zurückzurufen.« »Und Sie haben sich vorher nicht eine einzige Erkennungsmarke angesehen!«
»Wir waren überarbeitet. Dazu fehlt uns die Zeit. Es tut mir wirklich leid, Gefreiter. Wenn ich gewußt hätte – « »Das können Sie sich schenken«, sagte ich. »Ich möchte mit dem Generalinspekteur sprechen.« »Glauben Sie wirklich – « »Allerdings«, erwiderte ich. »Ich bin kein Nörgler, aber das geht zu weit. Ich habe ein Recht darauf, mit dem G. I. zu sprechen.« Sie flüsterten untereinander, und ich betrachtete mich von oben bis unten. Die Brahmanen hatten gute Arbeit geleistet. Natürlich keine so erstklassige wie in den ersten Kriegsjahren. Die Hautübertragungen saßen nicht so richtig, und innerlich kam ich mir ein bißchen durcheinandergewürfelt vor. Außerdem war mein rechter Arm etwa fünf Zentimeter länger als der linke; schlechte Anpassung. Trotzdem, eine recht ordentliche Leistung. Die Brahmanen beendeten ihre Konferenz und gaben mir meine Uniform. Ich zog mich an. »Nun, das mit dem Generalinspekteur«, sagte einer. »Ein bißchen schwierig jetzt. Sehen Sie – « Unnötig zu sagen, daß ich den G. I. nicht zu Gesicht bekam. Man brachte mich zu einem großen, massigen, freundlichen alten Hauptfeldwebel. Das war einer von den verständigen Burschen, die sich mit dir unterhalten und alles in Ordnung bringen. Aber ich tat diesmal nicht mit. »Na, na, Gefreiter«, sagte der freundliche, alte Spieß. »Was höre ich da? Sie regen sich darüber auf, daß man Sie wieder lebendig gemacht hat?« »Sie haben richtig gehört«, erwiderte ich. »Selbst ein einfacher Soldat hat seine Rechte. So hat man es mir beigebracht.« »Das stimmt auch«, sagte der freundliche alte Spieß. »Ich habe meine Pflicht getan«, fuhr ich fort. »Siebzehn Jahre in der Armee, acht Jahre Frontdienst. Dreimal gefallen, dreimal ins Leben zurückgerufen. In den Anweisungen steht, daß man nach dem dritten Mal den Tod verlangen kann. Das habe ich getan, und es steht auf meiner Hundemarke. Aber man hat mich nicht tot sein lassen. Diese verdammten Ärzte haben mich wieder lebendig gemacht, und das ist nicht fair. Ich will tot bleiben.«
»Es ist doch viel besser, am Leben zu sein«, meinte der Spieß. »Solange man lebt, hat man immer noch die Chance, daß man vom Frontdienst abgezogen wird. Wegen der Mannschaftsknappheit geht das nicht schnell genug. Aber die Chance ist da.« »Ich weiß«, sagte ich. »Aber ich glaube, daß ich trotzdem lieber tot sein will.« »Ich kann Ihnen versprechen, daß Sie in sechs Monaten oder so – « »Ich will tot sein«, sagte ich fest. »Nach dem dritten Mal steht mir das aufgrund der Kriegsvorschriften zu.« »Selbstverständlich«, erwiderte der alte Spieß lächelnd. »Aber im Krieg passieren eben Fehler. Vor allem in einem Krieg wie diesem.« Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Ich kann mich noch an den Anfang erinnern. Es sah wirklich zuerst nach einem Druckknopfkrieg aus. Aber die Roten hatten ebenso wie wir ein Arsenal von Antiraketen-Raketen, und damit konnte keiner aus dem Atompatt heraus. Die Erfindung des Atomentschärfers brachte die Entscheidung. Von da wurde der Krieg zu einer reinen Infanterieangelegenheit.« »Ich weiß, ich weiß.« »Aber unsere Feinde waren zahlenmäßig überlegen«, fuhr der freundliche alte Spieß fort. »Sie sind es immer noch. Millionen und Abermillionen Russen und Chinesen! Wir brauchten mehr Frontsoldaten. Wir mußten zumindest unsere Stellungen halten. Deswegen begannen die Ärzte, unsere Toten wieder lebendig zu machen.« »Das weiß ich doch alles selbst. Hören Sie, ich möchte auch. daß wir gewinnen. Ich wünsche es sehnlichst. Ich bin ein guter Soldat gewesen. Aber ich bin dreimal gefallen, und – « »Das Dumme ist nur«, erklärte der Spieß, »daß die Roten ihre Leute auch ins Leben zurückrufen. Die Auseinandersetzung um die verfügbaren Streitkräfte tritt gerade jetzt in ein entscheidendes Stadium. In den nächsten Monaten wird sich herausstellen, wer die Oberhand behält. Warum lassen wir die ganze Sache nicht auf sich beruhen? Wenn sie beim nächstenmal fallen, sorge ich dafür, daß man Sie in Ruhe läßt. Betrachten wir die Geschichte als erledigt.« »Ich will den Generalinspekteur sprechen«, sagte ich.
»Na schön, Gefreiter«, knurrte der freundliche alte Spieß in unfreundlichem Tom. »Melden Sie sich auf Zimmer 303.« Ich ging nach 303, eine Art Vorraum, und wartete. Mir schlug ein wenig das Gewissen, weil ich soviel Stunk machte. Schließlich war ja immerhin Krieg. Aber ich war auch wütend. Ein Soldat hatte seine Rechte, selbst im Krieg. Diese verdammten Brahmanen… Merkwürdig, wie sie zu ihrem Namen gekommen sind. Sie sind bloß Ärzte, keine Hindus oder wirkliche Brahmanen, oder so etwas Ähnliches. Sie haben den Namen durch einen Zeitungsartikel angehängt bekommen, der vor ein paar Jahren erschien, als das alles noch neu war. Der Mann, der diesen Artikel geschrieben hatte, berichtete davon, daß die Ärzte jetzt Tote wieder zum Leben erwecken und kampffähig machen konnten. Damals war das eben eine Sensation. Der Journalist zitierte ein Gedicht von Emerson. Es beginnt so – ›Wenn der rote Mörder zu töten meint oder der Tote sich ermordet glaubt bleibt ihnen das Geheimnis verborgen. Ich verharre, zieh vorbei, ich wende mich.‹ So standen die Dinge. Wenn man einen Mann tötete, wußte man nicht, ob er bei den Toten blieb oder am nächsten Tag auf einen schoß. Und man wußte nicht, ob man bei den Toten bleiben würde, wenn man fiel. Emersons Gedicht hieß ›Brahma‹, also nannte man unsere Ärzte Brahmanen. Am Anfang war es nicht so schlimm, wenn man wieder zum Leben erweckt wurde. Selbst mit den Schmerzen freute man sich, am Leben zu sein. Aber man kam so weit, daß man es müde wurde, umgebracht und wieder ins Leben zurückgerufen werden zu müssen, zu fallen und immer wieder aufzuerstehen. Man begann sich zu fragen, wie viele Tode man seinem Land schuldete, und ob es nicht angenehm und friedlich sein müßte, einmal eine Weile tot zu sein. Man sehnte sich nach dem langen Schlaf.
Die Verantwortlichen begriffen das. Wenn man zu oft zum Leben erweckt wurde, wirkte sich das schlecht auf die Kampfmoral aus. Drei Wiederbelebungsversuche wurden daher als Höchstgrenze festgesetzt. Nach dem dritten Mal konnte man Ablösung oder endgültig den Tod verlangen. Die Vorgesetzten sahen es lieber, wenn man den Tod wählte; ein Mann, der dreimal tot gewesen ist, übt einen schlechten Einfluß auf die Stimmung der Zivilbevölkerung aus. Die meisten Frontsoldaten zogen es nach dem dritten Mal vor, bei den Toten zu bleiben. Aber man hatte mich betrogen. Ich war ein viertes Mal zum Leben erweckt worden. Ich stehe an Patriotismus keinem nach. Aber das ließ ich mir nicht bieten. Endlich ließ man mich zum Adjutanten des G. I. vor. Er war Oberst, hager, grauhaarig, streng. Man hatte ihm bereits über meinen Fall Meldung erstattet, und er verschwendete keine Zeit mit mir. Das Gespräch war kurz. »Gefreiter«, sagte er, »es tut mir leid, aber inzwischen sind neue Anweisungen ergangen. Die Roten haben ihre Wiederbelebungsversuchsrate erhöht, und wir müssen gleichziehen. Der Befehl lautet jetzt auf sechs Wiedererweckungen vor einem endgültigen Ausscheiden.« »Als ich getötet wurde, lag dieser Befehl noch gar nicht vor.« »Er gilt rückwirkend«, erwiderte er. »Sie haben noch zwei Tode vor sich. Auf Wiedersehen und viel Glück, Gefreiter.« Und das war’s. Ich hätte eigentlich wissen müssen, daß man bei den hohen Tieren nichts erreicht. Sie wissen nicht, was gespielt wird. Sie werden selten mehr als einmal getötet, also können sie sich nicht vorstellen, wie sich einer nach dem vierten Mal fühlt. Ich kehrte in meinen Schützengraben zurück. Ich ging langsam vorbei am vergifteten Stacheldraht und dachte angestrengt nach. Ich kam an einem Objekt vorbei, das mit Zeltplanen bedeckt war. Die Aufschrift lautete: ›Geheimwaffe‹. Unser Gebiet ist voll von Geheimwaffen. Jede Woche trifft eine neue ein, und vielleicht gewinnt eine davon mal den Krieg.
Aber im Augenblick ist mir das gleichgültig. Ich dachte an die nächste Strophe von Emersons Gedicht. Sie lautete: ›Fern und Vergessen ist mir nah; Schatten und Licht der Sonne eins; mir erscheinen versunkene Götter; Ruhm und Schande trenn ich nicht.‹ Der alte Emerson hat das sehr gut erfaßt, denn genauso geht es einem nach dem vierten Tod. Nichts spielt mehr eine Rolle, und alles scheint so ziemlich ein und dasselbe zu sein. Ich will damit nur sagen, daß sich der Standpunkt eines Menschen ändert, wenn er viermal gestorben ist. Endlich erreichte ich den guten alten Graben 2645B-4 und begrüßte die Kameraden. Ich erfuhr, daß wir im Morgengrauen wieder angreifen würden. Ich dachte immer noch nach. Ich bin kein Drückeberger, aber ich sagte mir, daß viermal nun wirklich genug sei. Ich beschloß bei diesem Angriff sicherzustellen, daß ich bei den Toten bleiben durfte. Diesmal würde es keinen Irrtum mehr geben. Wir waren beim ersten Dämmerschein unterwegs, marschierten vorbei an Stacheldraht und Rollminen, hinein in das Niemandsland zwischen unserem Graben und 2645B-5. Der Angriff wurde mit Bataillonsstärke durchgeführt, und man hatte uns mit der neuen Zielflugmunition ausgerüstet. Wir kamen eine Weile recht schnell vorwärts. Dann eröffnete der Gegner mit voller Wucht das Feuer. Wir gewannen Boden. Um mich her flog alles mögliche durch die Luft, aber ich hatte noch keinen Kratzer abgekommen. Ich begann zu vermuten, daß wir es diesmal schaffen könnten. Vielleicht würde ich doch am Leben bleiben. Dann erwischte es mich. Eine Sprengpatrone fetzte durch meinen Brustkasten. Entschieden eine tödliche Verletzung. Wenn man so getroffen wird, bleibt man gewöhnlich liegen. Aber ich bei dieser Gelegenheit nicht. Ich wollte sicherstellen, daß ich zu den endgültigen Toten gehören würde. Ich raffte mich also auf und taumelte weiter, mein Gewehr als Krücke benutzend. Mitten im furchtbarsten Kreuzfeuer schaffte ich
fünfzehn Meter. Dann wurde ich getroffen, aber diesmal richtig. Jetzt gab es keinen Irrtum mehr. Das war die endgültige Befreiung. Ich spürte, wie die Kugel in meine Stirn einschlug. Jetzt war ich sicher. Die Brahmanen konnten gegen schwere Gehirnverletzungen nichts unternehmen. Ich starb. Ich wachte auf und sah die Brahmanen mit ihren weißen Mänteln und Masken um mich herumstehen. »Wie lange war ich tot?« fragte ich. »Zwei Stunden.« Dann fiel es mir ein. »Aber ich bin doch genau in die Stirn getroffen worden!« Die Gazemasken verzerrten sich, und ich wußte, daß sie grinsten. »Geheimwaffe«, sagte einer. »Seit drei Jahren ist daran gearbeitet worden. Endlich haben wir und die Techniker einen perfekten Apparat geschaffen. Phantastische Erfindung!« »So?« sagte ich. »Endlich kann die Medizin schwerste Gehirnverletzungen behandeln«, erklärte mir der Brahmane. »Und jede andere Verletzung auch. Wir bringen jetzt jeden wieder zum Leben, solange wir siebzig Prozent seines Körpers finden und in das Gerät einbringen. Dadurch lassen sich unsere Verluste gewaltig verringern. Vielleicht ist das die entscheidende Wende des Krieges!« »Sehr schön«, sagte ich. »Übrigens ist Ihnen für Ihr heldenhaftes Verhalten unter schwerem Beschuß nach tödlicher Verletzung eine Auszeichnung verliehen worden.« »Freut mich«, meinte ich. »Haben wir 2645B-5 genommen?« »Ja, diesmal hat es geklappt. Wir ziehen jetzt unsere Truppen für einen Angriff auf Graben 2645B-6 zusammen.« Ich nickte. Nach einer Weile bekam ich meine Uniform zurück und wurde wieder an die Front geschickt. Es ist ein bißchen ruhiger gewor-
den, und ich muß zugeben, daß es Spaß macht, am Leben zu sein. Trotzdem habe ich genug davon. Ein Tod noch, und dann habe ich mein Pensum erfüllt. Wenn die Befehle nicht wieder anders lauten.
Wunschwelt Mr. Wayne erreichte das Ende des langen, schulterhohen Geröllhaufens, und dort vorne stand die Schatzkammer der Welten. Sie sah genauso aus, wie sie sein Freund beschrieben hatte: eine kleine Hütte, gebaut aus Holzbrocken, Autoteilen, einem Stück Eisen und ein paar Reihen zerbröckelnder Ziegelsteine. Der ganze Bau war in einem wäßrigen Blau gehalten. Mr. Wayne sah sich um und starrte den langen Schuttweg entlang, um sich zu vergewissern, daß ihm niemand gefolgt war. Er klemmte sein Paket fester unter den Arm und schauderte ein wenig ob seiner Kühnheit, als er die Tür öffnete und eintrat. »Guten Morgen«, sagte der Besitzer. Auch er sah genau aus wie beschrieben: ein großer, verschlagen aussehender alter Mann mit schmalen Augen und nach unten gebogenem Mund. Er hieß Tompkins. Er saß in einem alten Schaukelstuhl, auf dessen Lehne ein blaugrün gefiederter Papagei hockte. Im Laden gab es noch einen zweiten Stuhl und einen Tisch. Auf dem Tisch lag eine verrostete Injektionsspritze. »Ich habe durch Freunde von Ihrem Laden erfahren«, sagte Mr. Wayne. »Dann kennen Sie meinen Preis«, meinte Tompkins. »Haben Sie ihn mitgebracht?« »ja«, erwiderte Mr. Wayne und hob das Paket hoch. »Aber ich möchte zuerst fragen – « »Alle wollen fragen«, sagte Tompkins zu dem Papagei, der schläfrig blinzelte. »Na los, fragen Sie.« »Ich möchte wissen, was wirklich vor sich geht.«
Tompkins seufzte. »Sie bezahlen mir ein Honorar. Ich gebe Ihnen eine Injektion, bei der Sie das Bewußtsein verlieren. Mit Hilfe gewisser Apparate, die ich im Hinterzimmer aufbewahre, befreie ich Ihren Geist.« Tompkins lächelte, als er das sagte. »Was geschieht dann?« »Ihr Geist, befreit von seinem Körper, kann unter den zahllosen Wahrscheinlichkeitswelten auswählen, die die Erde in jeder Sekunde ihres Daseins von sich gibt.« Tompkins grinste, setzte sich in seinem Schaukelstuhl auf und schien nun sogar Begeisterung aufzubringen. »Ja, mein Freund, wenn Sie daran auch nicht gedacht haben werden, es ist so. Von dem Augenblick an, da diese Erde dem glühenden Schoß der Sonne entsprang, stieß sie ihre Wahrscheinlichkeitswelten ab. Welten ohne Ende, aus kleinen und großen Ereignissen entstehend; aus jedem Alexander, aus jeder Amöbe eine Welt entstehend, wie sich die Wellen in einem Teich ausbreiten, gleichgültig, wie groß oder klein der Stein ist, den man hineinwirft. Wirft nicht jeder Gegenstand einen Schatten? Nun, mein Freund, die Erde selbst ist vierdimensional, daher wirft sie dreidimensionale Schatten, massive Abbilder ihrer selbst in jedem Augenblick ihrer Existenz. Millionen, Milliarden Welten! Eine Unendlichkeit von Welten! Und Ihr Geist wird, durch mich befreit, irgendeine dieser Welten wählen und eine Weile dort leben können.« Mr. Wayne bemerkte mit wachsendem Unbehagen, daß Tompkins einem Marktschreier glich, Wunder anpreisend, die es einfach nicht geben konnte. Aber in seinem eigenen Leben hatte er Dinge erlebt, die er nie für möglich gehalten hätte, erinnerte sich Mr. Wayne. Nie! Vielleicht gab es also auch die Wunder, von denen Tompkins sprach. Mr. Wayne sagte: »Meine Freunde haben mir auch gesagt – « »Daß ich ein ausgemachter Betrüger sei?« fragte Tompkins. »Man deutete es immerhin an«, sagte Mr. Wayne vorsichtig. »Aber ich bemühe mich, mir immer meine eigene Meinung zu bilden. Man sagte mir auch – « »Ich weiß, was Ihre Freunde gesagt haben. Es ging um die Befriedigung der innersten Begierden. Darüber wollten Sie doch etwas hören?«
»Ja«, sagte Mr. Wayne. »Man erzählte mir, daß das, was ich mir wünsche – wonach ich mich sehne – « »Genau«, erwiderte Tompkins. »Auf andere Weise wäre das gar nicht möglich. Man kann unter den unzähligen Welten auswählen. Ihr Geist trifft seine Wahl, und er läßt sich nur von Begierden leiten. Ihr tiefstes Verlangen ist das einzige, was zählt. Wenn Sie heimlich von Mord geträumt haben – « »Oh, ganz bestimmt nicht, keine Sorge!« rief Mr. Wayne. » – dann gelangen Sie auf eine Welt, wo Sie morden, im Blut baden, die schlimmsten Massenmörder übertreffen können. Angenommen, Sie wünschen Macht. Dann wählen Sie eine Welt, wo Sie sinnbildlich und buchstäblich ein Gott sind. Ein blutdürstiger Moloch oder ein grenzenlos weiser Buddha.« »Ich bezweifle sehr, ob – « »Es gibt auch andere Begierden«, fuhr Tompkins fort. »Alle Höhen, alle Tiefen. Ungezügelte Sexualität. Freßsucht, Alkoholismus, Liebe, Ruhm – was Ihr Herz begehrt.« »Erstaunlich!« sagte Mr. Wayne. »Allerdings«, stimmte Tompkins zu. »Selbstverständlich sind durch meine kleine Liste die Möglichkeiten bei weitem nicht erschöpft. Vielleicht wünschen Sie sich ein ruhiges, friedliches Dasein auf einer Südseeinsel unter Idealbildern von Eingeborenen.« »Das wäre schon eher etwas für mich«, meinte Mr. Wayne mit schüchternem Lächeln. »Wer weiß?« sagte Tompkins. »Selbst Sie haben vielleicht gar keine Ahnung von Ihren wirklichen Begierden. Sie könnten Ihren eigenen Tod miteinschließen.« »Kommt das oft vor?« erkundigte sich Mr. Wayne besorgt. »Gelegentlich.« »Ich möchte dabei nicht ums Leben kommen«, meinte Mr. Wayne. »Es passiert äußerst selten«, sagte Tompkins und starrte das Paket in Mr. Waynes Händen an.
»Wenn Sie es sagen… Aber woher weiß ich überhaupt, daß das alles echt ist? Ihr Preis liegt so hoch, daß ich meine ganze Habe dafür opfern muß. Und vielleicht geben Sie mir dann nur ein Rauschmittel, und ich träume einfach! Alles, was ich besitze, für eine Injektion Heroin und Gerede?« Tompkins lächelte beruhigend. »Das Ganze hat nichts mit Rauschmitteln zu tun. Auch von einem Traum kann keine Rede sein.« »Wenn es also wahr ist«, sagte Mr. Wayne ein wenig ungeduldig, »warum kann ich dann nicht für immer in der Welt meiner Wünsche bleiben?« »Daran arbeite ich schon«, erwiderte Tompkins. »Deswegen muß ich ja so hohe Preise verlangen, damit ich Material beschaffen und Experimente durchführen kann. Ich bemühe mich, einen Weg zu finden, auf dem dieser Übergang dauerhaft gestaltet werden kann. Bisher ist es mir noch nicht gelungen, die Verbindung zu trennen, mit der ein Mensch an seine eigene Erde gekettet ist – die ihn immer wieder zurückholt. Nicht einmal die großen Mystiker vermochten diese Verbindung zu lösen, außer im Tod. Aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben.« »Wenn es Ihnen gelänge, wäre das eine große Tat«, sagte Mr. Wayne höflich. »Das wäre es!« rief Tompkins leidenschaftlich. »Denn dann könnte ich meinen schäbigen Laden zu einem Notausstieg machen! Die Flucht wäre kostenlos, kostenlos für alle! Jeder könnte die Welt seiner Wünsche aufsuchen, und diese verdammte Erde den Ratten und Würmern – « Tompkins unterbrach sich mitten im Satz und wurde völlig ruhig. »Aber ich fürchte, daß meine Vorurteile durchschlagen. Ich kann noch keine endgültige Flucht von der Erde anbieten; keine, die den Tod nicht mit sich brächte. Vielleicht wird es mir nie gelingen. Jetzt jedenfalls kann ich Ihnen nur einen Urlaub, eine Veränderung, den Besuch auf einer anderen Welt und einen Blick auf Ihre eigenen Wünsche bieten. Sie kennen meinen Preis. Ich erstatte das Honorar zurück, wenn Sie nicht zufrieden sind.« »Sehr freundlich von Ihnen«, sagte Mr. Wayne ernsthaft. »Aber da ist noch etwas, wovon mir meine Freunde erzählt haben. Die zehn Jahre meines Lebens, auf die ich verzichten muß.«
»Daran läßt sich nichts ändern«, erwiderte Tompkins, »und ich kann sie auch nicht zurückerstatten. Meine Methode stellt eine ungeheure Belastung für das Nervensystem dar, so daß die Lebenserwartung entsprechend verkürzt wird. Das ist einer der Gründe, warum Ihre sogenannte Regierung mein Verfahren für ungesetzlich erklärt hat.« »Aber das Verbot wird nicht sehr streng durchgesetzt«, meinte Mr. Wayne. »Nein. Offiziell ist das Verfahren als schädlicher Schwindel verboten. Aber auch Beamte sind Menschen. Sie möchten diese Erde verlassen, wie jeder andere auch.« »Die Kosten«, murmelte Mr. Wayne und preßte das Paket enger an sich. »Und dann zehn Jahre meines Lebens! Für die Erfüllung meiner geheimsten Wünsche… Ich muß es mir wirklich noch einmal überlegen.« »Bitte«, sagte Tompkins gleichgültig. Mr. Wayne dachte auf dem Heimweg darüber nach. Als sein Zug Port Washington auf Long Island erreichte, grübelte er immer noch. Und als er seinen Wagen vom Bahnhof zu seinem Haus steuerte, dachte er immer noch an Tompkins schlaues, altes Gesicht, an die Wahrscheinlichkeitswelten und die Befriedigung seiner Wünsche. Als er aber sein Haus betrat, mußten diese Gedanken beiseitegeschoben werden. Seine Frau Janet verlangte, daß er das Dienstmädchen rügte, weil es schon wieder getrunken hatte. Sein Sohn Tommy brauchte seine Hilfe für das Segelboot, das morgen zu Wasser gelassen werden sollte. Und die Kleinste wollte ihm von ihren Erlebnissen im Kindergarten erzählen. Mr. Wayne sprach freundlich, aber entschieden mit dem Dienstmädchen. Er half Tommy beim Streichen des Boots, und später hörte er Peggys Abenteuern auf dem Spielplatz zu. Als die Kinder im Bett waren und er mit Janet allein im Wohnzimmer saß, fragte sie, ob ihn etwas bedrücke. »Wieso?« »Du scheinst dir über irgend etwas Sorgen zu machen«, sagte Janet. »Hast du einen schlechten Tag im Büro gehabt?«
»Na, immer dasselbe…« Er hatte keineswegs vor, Janet oder irgendeinem anderen Menschen zu erzählen, daß er sich den Tag freigenommen und Tompkins in seiner verrückten alten Schatzkammer der Welten aufgesucht hatte. Er wollte auch nicht davon sprechen, daß jedermann das Recht haben sollte, wenigstens einmal in seinem Leben seine geheimsten Wünsche in Erfüllung gehen zu sehen. Janet, die Vernünftige, würde das niemals verstehen. Die nächsten Tage im Büro waren besonders hektisch. Die Ereignisse im Nahen Osten und Asien wirkten sich auf die Börse in der Wallstreet aus. Mr. Wayne arbeitete angestrengt. Er bemühte sich, nicht an die Erfüllung geheimer Wünsche auf Kosten seiner ganzen Habe zu denken. Zehn Jahre seines Lebens müßte er zusätzlich opfern! Es war Wahnsinn! Der alte Tompkins gehörte ins Irrenhaus! Am Wochenende ging er stets mit Tommy segeln. Das alte Boot hielt sich großartig und nahm kaum Wasser. Tommy wünschte sich eine neue Rennbesegelung, aber Mr. Wayne lehnte diese Ausgaben ab. Vielleicht nächstes Jahr, wenn die Aktien wieder steigen sollten. Zunächst mußten die alten Segel genügen. In mancher Nacht, wenn die Kinder schon schliefen, segelte er mit Janet. Die Bucht von Long Island lag ruhig und friedlich da, die Luft war angenehm kühl. Ihr Boot glitt an den blinkenden Bojen vorbei, trieb auf den großen, gelblichen Mond zu. »Ich weiß, daß dich etwas bedrückt«, sagte Janet. »Liebling, bitte!« »Verschweigst du mir etwas?« »Nicht im geringsten!« »Bist du sicher? Bist du ganz sicher?« »Völlig.« »Dann nimm mich in die Arme. Ja…« Und das Boot steuerte sich eine Weile selbst. Wünsche und ihre Erfüllung… Aber der Herbst kam, und das Boot mußte an Land gebracht werden. Die Börse erholte sich ein wenig, aber
Peggy bekam die Masern. Tommy wollte den Unterschied zwischen gewöhnlichen Bomben, Atombomben, Wasserstoffbomben, Kobaltbomben und allen anderen Bombenarten wissen, über die man in den Zeitungen berichtete. Mr. Wayne erklärte es ihm, so gut er konnte. Und das Dienstmädchen kündigte plötzlich. Geheime Wünsche, gut und schön. Vielleicht wollte er wirklich jemanden umbringen oder auf einer Südseeinsel leben. Aber er mußte an seine Verantwortung denken. Er hatte zwei Kinder, die langsam groß wurden, und eine bessere Frau, als er sie eigentlich verdiente. Vielleicht um Weihnachten herum… Aber mitten im Winter entstand durch einen Kurzschluß ein Brand im Gästezimmer. Die Feuerwehr löschte, der Schaden war nicht allzu groß, verletzt wurde niemand. Aber eine ganze Weile dachte er nicht mehr an Tompkins. Zuerst mußte das Gästezimmer instand gesetzt werden, denn Mr. Wayne war auf sein schönes, altes Haus sehr stolz. Die Wirtschaft reagierte auf die internationale Lage immer noch unruhig. Diese Russen, diese Araber, diese Griechen, diese Chinesen. Die Interkontinentalraketen, die Atombomben, die Erdsatelliten… Mr. Wayne mußte im Büro häufig Überstunden machen. Tommy erkrankte an Mumps. Das Dach mußte zum Teil neu gedeckt werden. Und dann wurde es schon wieder Zeit, das Boot zu Wasser zu lassen. Ein Jahr war vergangen, und er hatte sehr wenig Zeit gehabt, an geheime Wünsche zu denken. Vielleicht nächstes Jahr: In der Zwischenzeit… »Nun?« sagte Tompkins. »Fühlen Sie sich wohl?« »Ja, danke«, erwiderte Mr. Wayne. Er stand von seinem Stuhl auf und rieb sich die Stirn. »Wollen Sie das Honorar zurückhaben?« erkundigte sich Tompkins. »Nein. Ich bin zufrieden.« »Das sind die Leute immer«, sagte Tompkins und blinzelte dem Papagei zu. »Nun, wo sind Sie denn gewesen?« »In einer Welt der nahen Vergangenheit«, erwiderte Mr. Wayne.
»Dorthin gehen viele Leute. Haben Sie Ihre geheimen Wünsche entdeckt? War es nun ein Mord oder ging es zur Südseeinsel?« »Ich möchte lieber nicht darüber sprechen«, sagte Mr. Wayne. »Viele Leute wollen sich mit mir nicht darüber unterhalten«, brummte Tompkins gekränkt. »Wenn ich nur wüßte, warum.« »Weil – nun, ich glaube, die Welt der geheimsten Wünsche eines Menschen ist ihm heilig, sozusagen. Das hat nichts mit Ihnen zu tun… Glauben Sie, daß es Ihnen jemals gelingen wird, diese Welten dauerhaft zu machen?« Der alte Mann zuckte die Achseln. »Ich bemühe mich. Wenn ich Erfolg habe, hören Sie schon davon. Alle werden es erfahren.« »Ja, das kann ich mir denken.« Mr. Wayne öffnete sein Paket und legte den Inhalt auf den Tisch. Das Paket enthielt ein paar Marschstiefel, ein Messer, zwei Rollen Kupferdraht und drei kleine Büchsen Cornedbeef. Tompkins Augen glitzerten. »Völlig in Ordnung«, sagte er. »Vielen Dank.« »Auf Wiedersehen«, sagte Mr. Wayne. »Ich danke Ihnen.« Mr. Wayne verließ das Schiff und eilte die Schuttstraße entlang. So weit sein Auge reichte, Schuttfelder, braun, grau, schwarz. Diese Felder bestanden aus den zerrissenen Großstädten, den Skeletten der Bäume und aus der weißlichen Asche menschlicher Körper. »Immerhin haben wir genauso zurückgeschlagen«, sagte Mr. Wayne vor sich hin. Dieses Jahr in der Vergangenheit hatte ihn alles gekostet, was er besaß, und zehn Jahre seines Lebens dazu. War es ein Traum gewesen? Es hatte sich gelohnt. Aber jetzt durfte er nicht mehr an Janet und die Kinder denken. Das war erledigt, bis Tompkins sein Verfahren verfeinerte. Jetzt mußte er sehen, wie er selbst durchkam. Mit Hilfe eines Geigerzählers fand er einen ungefährlichen Weg durch den radioaktiven Schutt; er mußte sehen, daß er vor der Dunkelheit in den Schutzbunker zurückkam, bevor die Ratten auftauchten. Wenn er sich nicht beeilte, entging ihm die tägliche Kartoffelration.
Die perfekte Waffe Hatte ein Zweig geknackt? Dixon schaute sich um und glaubte etwas Dunkles im Unterholz verschwinden zu sehen. Er stand regungslos und starrte zu den Bäumen mit ihren grünen Stämmen hinüber. Vollkommene erwartungsvolle Stille breitete sich aus. Hoch oben am Himmel schwebte ein Aasvogel, überblickte die von der Sonne versengte Landschaft, lauernd, hoffend. Dann hörte Dixon aus dem Unterholz ein leises, ungeduldiges Keuchen. Jetzt wußte er, daß er verfolgt wurde. Vorher war es nur eine Vermutung gewesen. Aber diese verschwommenen, kaum sichtbaren Schatten waren wirklich. Sie hatten ihn auf seinem Marsch zur Signalstation unbehelligt gelassen, abwartend, überlegend. Jetzt würden sie zupacken. Er nahm die Waffe aus dem Halfter, prüfte die Sicherungen, steckte sie zurück und marschierte weiter. Er hörte wieder ein Husten. Irgend etwas folgte seiner Spur, wartete anscheinend nur darauf, daß er den Busch verließ und den Wald betrat. Dixon grinste. Ihm konnte niemand etwas anhaben. Er hatte ja die Waffe. Ohne sie hätte er sich nie so weit von seinem Raumschiff entfernt. Man wanderte auf einem fremden Planeten nicht einfach in der Gegend herum. Aber Dixon konnte sich das leisten. An seiner Hüfte steckte die Waffe aller Waffen; sie bot absolute Sicherheit gegen alles, was da lief oder kroch oder flog oder schwamm. Sie war das Nonplusultra der Handfeuerwaffen. Sie war, schlicht und einfach, ›die Waffe‹. Er schaute sich wieder um. Da waren drei Bestien kaum fünfzig Meter hinter ihm. Aus dieser Entfernung wirkten sie wie Hunde oder Hyänen. Sie bellten ihn an und näherten sich langsam.
Er berührte die Waffe mit der Hand, entschied sich aber gegen einen sofortigen Einsatz. Es blieb ihm Zeit genug, wenn sie näher herangerückt waren. Alfred Dixon war ein kleiner Mann, breit in den Schultern mit gewaltigem Brustkasten. Er hatte schütteres, blondes Haar und einen blonden Schnurrbart, dessen Enden nach oben gezwirbelt waren. Dieser Schnurrbart verlieh seinem gebräunten Gesicht einen wilden Ausdruck. Zu Hause war er in den Bars und Tavernen Terras. Dort konnte er, in fleckiges Khaki gekleidet, mit lauter, herausfordernder Stimme Drinks bestellen und die anderen Gäste mit grimmigen Blicken aus verengten, stahlblauen Augen durchbohren. Es machte ihm Spaß, diesen Leuten in ein wenig verächtlichem Ton den Unterschied zwischen einem Sykes Nadelgewehr und einem Colt-Dreipunkt-Revolver, zwischen dem gehörnten Adleper des Mars und dem Scom der Venus zu erklären, auseinanderzusetzen, was man tun mußte, wenn ein Horntank auf Rannares im Unterholz angriff, und zu verdeutlichen, wie man eine Attacke geflügelter Glitzerflits abwehrte. Manche Leute hielten Dixon für einen Angeber, aber in seinem Beisein hätten sie das nie zu sagen gewagt. Andere hielten ihn für einen tüchtigen Burschen, trotz der übertrieben guten Meinung, die er von sich selbst hatte. Er sei einfach zu selbstbewußt, meinten sie. Aber eines Tages würde ihn das den Kopf oder zumindest ein Bein kosten. Dixon hatte sehr viel übrig für Waffen. Seiner Meinung nach war die Eroberung des amerikanischen Westens nichts anderes als eine Auseinandersetzung zwischen Pfeil und Bogen einerseits und dem Vierundvierzigercolt andererseits. Afrika? Speer gegen Karabiner. Mars? Colt Dreipunkt gegen Rotiermesser. Wasserstoffbomben vernichteten Städte, aber Männer mit kleinen Waffen besetzten die Länder. Warum nach verschwommenen wirtschaftlichen, philosophischen oder politischen Gründen suchen, wenn sich doch alles auf einen so einfachen Nenner bringen ließ? Er hatte natürlich unerschütterliches Zutrauen zur ›Waffe‹.
Als er sich wieder herumdrehte, sah er, daß sich ein halbes Dutzend hundeähnlicher Tiere den anderen drei zugesellt hatte. Sie liefen mit offenen Mäulern und heraushängenden Zungen dahin, langsam aufholend. Dixon beschloß, noch nicht zu feuern. Die Schockwirkung würde nachher um so größer sein. Er hatte viele Berufe gehabt – Forscher, Jäger, Prospektor, Asteroidfahrer. Das Glück schien ihn nicht zu mögen. Es waren immer andere, die versunkene Städte fanden, seltsame Tiere schossen, Metallvorkommen entdeckten. Er nahm sein Schicksal fröhlich auf sich. Pech, gewiß, aber was konnte man schon dagegen tun? Jetzt war er Funker und überprüfte die automatischen Signalstationen auf einem Dutzend unbewohnter Welten. Was jedoch viel wichtiger war: Er führte die ersten Gebrauchstests mit der modernsten, unübertrefflichsten Handfeuerwaffe durch, die es je gegeben hatte. Die Erfinder hofften, die Waffe als Standardausrüstung durchsetzen zu können. Dixon seinerseits hoffte, damit ebenso bekannt zu werden wie die Waffe selbst. Er hatte den Rand des Regenwaldes erreicht. Sein Raumschiff stand etwa drei Kilometer entfernt in einer kleinen Lichtung. Als er den düsteren Wald betrat, hörte er das aufgeregte Quietschen der Baumhüpfer. Sie waren von orangeblauer Färbung und beobachteten ihn von den Wipfeln herab. Diese Gegend hier erinnerte wirklich sehr an Afrika, dachte Dixon. Hoffentlich stieß er auf Großwild, damit er wenigstens ein paar Trophäen mitbringen konnte. Die wilden Hunde hinter ihm waren nur noch zwanzig Meter entfernt. Sie hatten ein graubraunes Fell, die Größe von Terriern und die Schädel von Hyänen. Ein paar von den Raubtieren waren in das Unterholz eingedrungen, um ihm den Weg abzuschneiden. Es war an der Zeit, die Waffe zu zeigen. Dixon nahm sie aus dem Halfter. Die Waffe hatte die Form einer großen Pistole; sie war ungewöhnlich schwer und schlecht ausbalanciert. Die Erfinder hatten versprochen, bei künftigen Modellen das Gewicht zu verringern und den Schwerpunkt zu verlagern. Aber Dixon war mit
der Waffe völlig zufrieden. Er bewunderte sie einen Augenblick, legte die Sicherungshebel um und stellte einen Einzelschuß ein. Das Rudel kam knurrend und geifernd auf ihn zu. Dixon zielte gemächlich und drückte ab. Die Waffe summte leise. In einer Entfernung von hundert Metern verschwand einfach ein ganzes Stück Wald. Dixon hatte den ersten Desintegrator betätigt. Aus einer Mündungsöffnung von nicht einmal zwei Zentimetern hatte sich der Strahl fächerförmig bis zu einem Maximaldurchmesser von vier Metern verbreitert. Ein konisches Segment, hüfthoch und hundert Meter lang, war aus dem Wald herausgeschnitten. Nichts existierte dort mehr. Bäume, Insekten, Pflanzen, Sträucher, wilde Hunde, Schmetterlinge, alles war verschwunden. Überhängende Äste in diesem Bereich sahen aus, als seien sie mit einem gigantischen Rasierapparat abgeschnitten worden. Dixon schätzte, daß er mit diesem einen Schuß mindestens sieben wilde Hunde erledigt hatte. Sieben Raubtiere mit einem Feuerstoß von einer halben Sekunde Dauer! Da gab es keine Schwierigkeiten mit der Abweichung, keine Probleme der Flugbahn, wie bei einem Raketengewehr. Man brauchte nicht zu laden, denn die Waffe konnte achtzehn Stunden lang feuern. Die perfekte Waffe! Er drehte sich um und ging weiter, nachdem er die Waffe in das Halfter zurückgesteckt hatte. Es war totenstill. Die Waldbewohner dachten über diese neue Erfahrung nach. Wenige Augenblicke später hatten sie sich von ihrem Staunen erholt. Blau-orangefarbene Baumhüpfer schwangen sich über ihm durch die Bäume. Der Aasgeier tauchte in die Tiefe, und andere schwarzgefiederte Vögel gesellten sich zu ihm. Im Unterholz keuchten die wilden Hunde. Sie hatten noch nicht aufgegeben. Dixon hörte sie zu beiden Seiten rascheln. Aber sie ließen sich nicht blicken. Er zog die Waffe und fragte sich, ob sie es wagen würden, erneut anzugreifen. Sie wagten es.
Ein gefleckter grauer Hund stürmte aus dem Busch hinter Dixon. Die Waffe summte. Das Raubtier verschwand mitten im Sprung, und die Bäume erzitterten, als mit einem Donnerschlag Luft in das plötzliche Vakuum stürzte. Ein anderer Hund griff an, und Dixon desintegrierte ihn. Er runzelte die Stirn. Man konnte diese Tiere nicht als dumm bezeichnen. Warum lernten sie also nichts aus der Situation – daß es unmöglich war, gegen ihn und seine Waffe anzugehen? In der ganzen Galaxis hatten Lebewesen schnell gelernt, einem bewaffneten Menschen gegenüber vorsichtig zu sein. Warum also diese Tiere nicht? Ohne Vorwarnung setzten drei Hunde aus verschiedenen Richtungen zum Sprung an. Dixon stellte die Automatik ein und mähte sie nieder, wie ein Mann, der eine Sense schwingt. Staub spritzte auf und erfüllte funkelnd das Vakuum. Er lauschte angestrengt. Der Wald schien von Keuchen und Knurren erfüllt. Von überallher eilten Rudel herbei, um sich an den Angriffen zu beteiligen. Warum begriffen sie nicht? Ganz plötzlich dämmerte ihm die Wahrheit. Sie begriffen nicht, dachte er, weil die Lehre zu versteckt, zu kompliziert geboten wurde! Die Waffe vernichtete lautlos, schnell und sauber. Die meisten getroffenen Tiere verschwanden einfach. Es gab keine Todesschreie, kein Gebrüll, kein Kreischen. Und vor allem fehlte der laute Knall, der sie erschreckt hätte, es roch nicht nach Pulver, kein Klicken einer neu eingeschobenen Patrone war zu hören… Dixon dachte: Vielleicht sind sie nicht schlau genug, den Desintegrator als tödliche Waffe zu erkennen. Vielleicht sind sie gar nicht dahinter gekommen, was sich hier abspielt. Vielleicht halten sie mich für wehrlos. Er ging schneller durch den dunklen Wald. Er war nicht in Gefahr, erinnerte er sich. Daß sie nicht begreifen konnte, über welch tödliche Waffe er verfügte, änderte nichts an der Tatsache, daß sie funktionierte. Trotzdem würde er darauf bestehen, daß man beim neuen Modell für
Krach sorgte. Das konnte nicht allzu schwierig sein. Und man verfügte dann über zusätzliche Sicherheit. Die Baumhüpfer wurden jetzt frecher. Sie schwangen sich hinab, bis sie beinahe in Höhe seines Kopfes an den Ästen hingen, mit ausgestreckten Krallen. Wahrscheinlich Fleischfresser, dachte Dixon. Die Baumhüpfer flohen kreischend. Blätter und kleine Äste regneten herab. Selbst die Hunde waren für den Augenblick erschreckt. Dixon grinste vor sich hin – bevor er zu Boden gestreckt wurde. Ein dicker, schwerer Ast hatte ihn beim Herabfallen an der linken Schulter getroffen. Die Waffe entglitt seiner Hand. Sie flog in hohem Bogen zehn Meter weit, immer noch auf Automatik eingestellt, und vernichtete das Gebüsch. Er kroch unter dem Ast hervor und stürzte sich auf die Waffe. Ein Baumhüpfer kam ihm zuvor. Dixon warf sich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Der Baumhüpfer wirbelte den Desintegrator triumphierend um sich herum. Riesige Bäume, in der Mitte durchgeschnitten, stürzten donnernd zu Boden. Die Luft war erfüllt von fallenden Zweigen und Blättern, im Boden erschienen tiefe Gräben. Ein Strahl aus der Waffe schnitt durch den neben Dixon stehenden Baum, fegte über den Grund vor seinen Füßen. Dixon rollte sich weg; beim nächstenmal verfehlte der Strahl knapp seinen Kopf. Er hatte die Hoffnung aufgegeben. Aber dann wurde der Baumhüpfer neugierig. Fröhlich schnatternd drehte er die Waffe herum und versuchte, in die Mündung zu starren. Der Schädel des Tieres verschwand – lautlos. Dixon nutzte seine Chance. Er sprang auf, rannte los, übersprang einen Graben und riß den Desintegrator an sich, bevor er einem anderen Baumhüpfer in die Hände fiel. Er stellte die Automatik ab. Mehrere Hunde waren wieder aufgetaucht. Sie beobachteten ihn unverwandt.
Dixon wagte noch nicht zu schießen. Seine Hände zitterten so stark, daß er mehr in Gefahr war als die Tiere. Er fuhr herum und taumelte in Richtung des Raumschiffes weiter. Die Hunde folgten ihm. Dixon bekam sich bald wieder in die Gewalt. Er starrte die schimmernde Waffe in seiner Hand an. Sein Respekt vor ihr war beträchtlich gewachsen. Er empfand sogar ein bißchen Angst. Weit mehr Angst, als die Hunde gezeigt hatten. Anscheinend brachten sie die Verwüstungen gar nicht mit der Waffe in Zusammenhang. Ihnen mußte es vorgekommen sein, als hätte sich plötzlich ein furchtbarer Sturm erhoben. Aber der Sturm war vorbei. Man konnte wieder jagen. Er hatte jetzt dichtes Unterholz erreicht und schoß sich einen Weg frei. Die Hunde hielten zu beiden Seiten Schritt mit ihm. Er feuerte unentwegt in das Dickicht, gelegentlich einen Hund treffend. Es waren jetzt mehrere Dutzend und kamen immer näher. Verdammt, dachte Dixon, zählen sie denn ihre Verluste nicht? Dann fiel ihm ein, daß sie nicht zählen konnte. Er kämpfte sich weiter durch das Unterholz. Ein gewaltiger Baumstamm lag auf seinem Weg. Er stieg darüber hinweg. Der Stamm regte sich und öffnete direkt unter seinen Beinen riesige Kiefer. Er feuerte blindlings, hielt die Mündung drei Sekunden lang nach unten, verfehlte seine eigenen Füße nur knapp. Das Wesen verschwand. Dixon schluckte, taumelte und rutschte mit den Füßen voraus in die Grube, die er mit seiner Waffe ausgehoben hatte. Er prallte schwerfällig auf und verstauchte sich den linken Knöchel. Die Hunde umringten die Grube, schnappten nach ihm, fauchten und geiferten. Nur die Ruhe bewahren, sagte sich Dixon vor. Er fegte die Tiere mit zwei Feuerstößen vom Grubenrand und versuchte, hinauszuklettern. Die Wand war zu steil und vom Strahl seiner Waffe glashart geschmolzen.
Verzweifelt versuchte er es wieder und wieder, sinnlos seine Kraft vergeudend. Dann zwang er sich zum Nachdenken. Die Waffe hatte ihn in diese Lage gebracht, sie mußte ihm auch heraushelfen. Diesmal schoß er einen sanft ansteigenden Ausstieg in die Grube und hinkte mit schmerzverzerrtem Gesicht hinaus. Er durfte den linken Knöchel nicht belasten. Der Schmerz in seiner linken Schulter tobte noch ärger. Der Ast mußte einen Knochen gesplittert haben, sagte er sich. Er benützte einen herumliegenden, dünneren Zweig als Krücke und hinkte weiter. Mehrmals griffen die Hunde an. Er desintegrierte sie, und die Waffe lag immer schwerer in seiner Rechten. Die Aasgeier stießen herab, um die zerschnittenen Hundeleiber zu zerfetzen. Dixon spürte, wie es langsam dunkel um ihn wurde. Er kämpfte dagegen an. Er durfte jetzt nicht das Bewußtsein verlieren, solange ihn die Hunde umringten. Das Raumschiff tauchte auf. Er begann schwerfällig zu laufen, stürzte aber sofort. Die Hunde sprangen ihn an. Er schoß, trennte sie in der Mitte auseinander und traf dabei auch ein Stück seines Stiefels. Er raffte sich auf und quälte sich vorwärts. Eine tolle Waffe. Gefährlich sogar für den Schützen. Er hätte jetzt gerne einen der Erfinder vor dem Korn gehabt. Wie konnte man nur eine Pistole ohne Knall erfinden! Er erreichte das Schiff. Die Hunde umringten ihn, als er sich mit der Luftschleuse abmühte. Dixon vernichtete die beiden am weitesten herangekommenen Tiere und taumelte ins Innere seines Raumschiffs. Wieder drohte sich das Dunkel um ihn zu schließen. Übelkeit stieg in ihm hoch. Mit letzter Kraft warf er die Schleusentür zu und ließ sich in einen Sessel fallen. Endlich in Sicherheit! Dann hörte er das leise Knurren. Er hatte einen der Hunde mit sich eingeschlossen. Sein Arm war zu schwach, die schwere Waffe hochzuheben, aber langsam schaffte er es. Der Hund, in der Düsternis nur undeutlich zu erkennen, sprang ihn an.
Einen furchtbaren Augenblick lang glaubte Dixon, nicht abdrücken zu können. Der Hund zielte nach seiner Kehle. In einer Reflexbewegung mußte seine Hand den Abzug betätigt haben. Der Hund heulte kurz auf, wurde still. Dixon verlor das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, lag er lange Zeit da und genoß das herrliche Gefühl des Lebendigseins. Er gedachte sich ein paar Minuten auszuruhen. Dann würde er hier verschwinden, die fremden Planeten verlassen, zurück nach Terra fliegen, eine Bar aufsuchen. Er würde sich sinnlos besaufen. Dann würde er den Erfinder suchen und ihm die Waffe quer durch die Gurgel hinuntertreiben. Nur ein Wahnsinniger konnte eine Waffe ohne Knall erfinden. Aber das für später. Jetzt war es ein reines Vergnügen, am Leben zu sein, in der Sonne zu liegen, sich zu freuen… In der Sonne? In einem Raumschiff? Er setzte sich auf. Zu seinen Füßen lagen der Schwanz und ein Hinterbein des Hundes. Dahinter verlief in interessanten Zickzacklinien ein breiter Riß durch die Wand des Raumschiffes. Er war etwa acht Zentimeter breit und eineinhalb Meter lang. Durch diese Öffnung drang das Sonnenlicht herein. Draußen saßen vier Hunde und starrten herein. Er hatte sein Raumschiff aufgerissen, als er den letzten Hund tötete. Dann sah er andere Risse im Schiff. Woher stammten sie? Ach ja, er hatte sich zu seinem Schiff durchkämpfen müssen. Die letzten hundert Meter. Ein paar Feuerstöße mußten auch den Rumpf des Raumschiffes gestreift haben. Er stand auf und untersuchte die Schäden. Saubere Arbeit, dachte er mit jener Ruhe, die manchmal Begleiterscheinung der Hysterie ist. Jawohl, Sir, sehr saubere Arbeit. Hier die durchgeschnittenen Steuerkabel. Das war einmal das Funkgerät gewesen. Da drüben hatte er es fertiggebracht, mit einem einzigen Feuerstoß die Sauerstoff- und Wassertanks aufzuschneiden. Wirklich eine großartige Leistung. Und hier – ja, er hatte es wirklich geschafft. Ein
ganz raffinierter Schuß hatte die Brennstoffleitungen auseinandergefetzt. Und dem Gesetz der Schwerkraft gehorchend, war der gesamte Brennstoff ausgelaufen, hatte sich in einem Teich um das Schiff gesammelt und war dann säuberlich im Boden versickert. Nicht schlecht für den Anfang, dachte Dixon irr. Selbst mit einem Schweißapparat hätte man das nicht besser machen können. Mit einem solchen hätte er es gar nicht geschafft. Der Rumpf, eines Raumschiffes ist zu widerstandsfähig dafür. Aber nicht für die gute, alte, kleine, hundertprozentige, nie verfehlende Waffe… Als sich Dixon ein Jahr später immer noch nicht gemeldet hatte, schickte man ein Raumschiff nach ihm aus. Man wollte ihm ein anständiges Begräbnis verschaffen, wenn sich Überreste finden ließen, und den Prototyp des Desintegrators zurückbringen, wenn er noch erreichbar war. Das Suchschiff landete in der Nähe von Dixons Raumschiff, und die Besatzung betrachtete interessiert den aufgerissenen, zerfetzten Rumpf. »Manche Leute können eben nicht mit Waffen umgehen«, sagte der Cheftechniker. »Donnerwetter«, murmelte der Pilot. Vom Wald tönte Hämmern herüber. Sie eilten hin und stellten fest, daß Dixon nicht tot war. Er war sehr deutlich am Leben und sang bei der Arbeit. Er hatte eine Holzhütte errichtet und ringsherum einen Gemüsegarten angelegt. Den Garten schützte eine hohe Palisade. Dixon hämmerte gerade einen frischen, jungen Stamm in den Boden, als die Männer herankamen. Unweigerlich rief einer der Männer: »Sie leben?« »Allerdings«, sagte Dixon. »Bis die Palisadenwand da erbaut war, stand es allerdings auf Spitz und Knopf. Gefährliche Tiere, diese Hunde. Aber ich hab’ ihnen Respekt beigebracht.« Dixon grinste und berührte einen Bogen, der in Reichweite an den Palisadenpfählen lehnte. Er war aus federndem Holz geschnitzt; daneben stand ein Köcher, gefüllt mit spitzen Pfeilen.
»Sie haben gelernt, mich zu respektieren«, sagte Dixon, »nachdem sie ein paar von ihren Genossen mit einem Pfeil in der Flanke herumlaufen sahen.« »Aber die ›Waffe‹ – «, sagte der Pilot. »Ach ja, die Waffe«, rief Dixon fröhlich. »Ohne sie wäre ich nicht mehr am Leben.« Er machte sich wieder an die Arbeit. Mit dem flachen, massiven Kolben der Waffe schlug er den Baumstamm in den Boden.
Die wandelbare Zukunft Edwin James, Chefprogrammierer der Erde, hatte sich auf einem kleinen dreibeinigen Stuhl vor dem Wahrscheinlichkeitsrechner niedergelassen. Er war ein kleiner, schmaler Mann von eindrucksvoller Häßlichkeit. Die riesige Steuertafel, dreißig Meter in die Höhe ragend, ließ ihn zwergenhaft erscheinen. Das gleichmäßige Summen der Maschine, das Blinken der Lichter an der Tafel, verlieh ihm ein Gefühl der Sicherheit, das er als trügerisch erkannte, aber es beruhigte ihn doch. Er war eben eingedöst, als sich die Lichtzeichen änderten. Er schreckte hoch und rieb sich die Augen. Aus einem Schlitz in der Tafel glitt langsam ein Papierstreifen. Der Chefprogrammierer riß ihn ab und studierte ihn. Er nickte bedrückt und verließ mit schnellen Schritten den Saal. Fünfzehn Minuten später betrat er den Konferenzraum des Weltplanungsrates. Die fünf Vertreter der Vereinigten Distrikte der Erde saßen an dem langen Tisch und erwarteten ihn. Aus den beiden amerikanischen Staaten hatte sich in diesem Jahr ein neues Mitglied hinzugesellt, Roger Beatty. Er war groß und schlaksig; sein braunes Haar wurde bereits schütter. Er schien von Eifer erfüllt, ernsthaft und verlegen zu sein. Er las in einem Handbuch und sog von Zeit zu Zeit an seinem Sauerstoffinhalator. James kannte die anderen Mitglieder gut. Lan II aus PanAsien, so klein, runzlig und unverwüstlich wie immer aussehend, unterhielt sich angeregt mit dem blonden, großen Dr. Sveg aus Europa. Miss Chandragore, schön und elegant, spielte Schach mit Aaui aus Ozeanien. James betätigte einen Regler, der die Sauerstoffversorgung des Zimmers erhöhte, und die Ratsmitglieder stellten dankbar ihre Inhalatoren zur Seite.
»Tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen«, sagte James und nahm seinen Platz an der Schmalseite des Konferenztisches ein. »Die laufende Voraussage ist eben eingetroffen.« Er nahm ein Notizbuch aus der Tasche und schlug es auf. »In unserer letzten Sitzung einigten wir uns auf die Wahrscheinlichkeitslinie 3B3CC, die im Jahre 1832 begann. Der Faktor, auf den wir dabei abstellten, war das Leben Albert Levinkys. In der geschichtlichen Hauptlinie starb Levinsky 1935 an den Folgen eines Autounfalls. Durch den Übergang auf die Wahrscheinlichkeitslinie 3B3CC entging Levinsky diesem Unfall und erreichte ein Alter von 62 Jahren. Seine Arbeit konnte er vollenden. Das Ergebnis in unserer Zeit ist die Erschließung der Antarktis.« »Wie steht es mit den Nebenwirkungen?« fragte Janna Chandragore. »Sie werden in dem Bericht eingehend behandelt, den Sie später noch erhalten. Im Prinzip kann man jedoch sagen, daß 3B3CC der geschichtlichen Hauptlinie nahezu parallel verläuft. Alle wichtigen Ereignisse bleiben. Es gab natürlich einige Vorgänge, die von der Voraussage nicht erfaßt wurden. Unter anderen handelt es sich dabei um die Explosion einer Ölquelle in Patagonien, eine Grippeepidemie in Kansas und eine Zunahme der Industriegase über Mexiko City.« »Sind alle Betroffenen entschädigt worden?« wollte Lan II wissen. »Gewiß. Die Kolonisierung der Antarktis ist bereits begonnen worden.« Der Chefprogrammierer entfaltete das dem Wahrscheinlichkeitsrechner entnommene Papierband. »Wir stehen jetzt vor einem Dilemma. Wie vorausgesagt, führt der Verlauf der historischen Hauptlinie zu unerfreulichen Komplikationen. Aber nirgends zeigt sich eine gute Alternativlinie, auf die wir umschalten könnten!« Stimmengemurmel erhob sich. »Lassen Sie mich Ihnen die Lage erklären«, sagte James. Er trat an eine Wand und entrollte eine große Karte. »Der Krisenpunkt wird am 12. April 1969 erreicht, und unser Problem betrifft einen Mann namens Ben Baxter. Die Umstände sind folgende…«
Die Ereignisse lenken kraft ihrer eigenen Natur den Blick auch auf die Alternativmöglichkeiten, von denen jede ihre eigene historische Entwicklung produziert. In anderen Raum-Zeit-Welten hat Spanien die Seeschlacht von Lepanto, haben die Normannen bei Hastings, die Engländer bei Waterloo verloren. Angenommen, Spanien wäre bei Lepanto unterlegen… Spanien wurde tatsächlich schwer geschlagen. Die unbesiegbare türkische Seemacht fegte die Europäer vom Mittelmeer. Zehn Jahre danach eroberte eine türkische Flotte Neapel und bahnte damit der Eroberung Österreichs durch die Mauren den Weg… Diese Spekulationen wurden nach der Entwicklung der Temporalselektion und -versetzung zu überprüfbaren Tatsachen. Im Jahre 2103 konnten Oswald Meyner und seine Mitarbeiter die theoretische Umschaltung von der historischen Hauptlinie – wie man das der Bequemlichkeit halber nannte – auf Alternativlinien zeigen. Die Grenzen waren jedoch klar erkennbar. So erwies es sich als Unmöglichkeit, auf eine Vergangenheit umzuschalten, in der Wilhelm der Eroberer die Schlacht von Hastings verlor. Die von diesem Ereignis ausgehende Welt wäre zu verschieden, ja völlig fremd gewesen. Man konnte also nur auf eng benachbarte und verwandte Linien umsteigen. Im Jahre 2212 wurde die theoretische Möglichkeit zu einer praktischen Notwendigkeit. Zu dieser Zeit voraussagte der Sykes-RabornDatenrechner in Harvard die völlige Sterilisierung der Erdatmosphäre durch das Anwachsen radioaktiver Ausfallprodukte. Der Prozeß sei irreversibel und unaufhaltbar. Man könnte ihn nur in der Vergangenheit zum Stillstand bringen, wo die Vergiftung begonnen hatte. Die erste Umschaltung wurde mit dem neuentwickelten Adams-HoltMaartens-Selektor vorgenommen. Der Weltplanungsrat wählte eine Linie, die den frühen Tod Wassili Outschenkos – und damit die Auslöschung seiner irrigen Theorien über die durch radioaktive Strahlung verursachten Schädigungen – enthielt. Ein Großteil der kommenden Ver-
seuchungen konnte dadurch unterbunden werden, wenngleich auf Kosten von 73 Menschen – Nachkommen Outschenkos, für die sich Tauscheltern nicht finden ließen. Danach gab es keine Umkehr. Die Umschaltung auf andere historische Linien erwies sich für die Welt als ebenso notwendig wie die Vorbeugungsmaßnahmen gegen Seuchen. Aber die Methode hatte ihre Nachteile. Einmal mußte die Zeit kommen, da keine verfügbare Linie sich verwenden ließ, da alle Möglichkeiten der Zukunft ungünstig erschienen. Als das geschah, war der Planungsrat entschlossen, direkt einzugreifen. »Und das sind die Konsequenzen für uns«, schloß Edwin James. »Darauf läuft es hinaus, wenn wir die historische Hauptlinie nicht unterbinden.« »Sie sehen also in diesem Falle ernste Schwierigkeiten für die Erde voraus«, meinte Lan II. »Bedauerlicherweise ja.« Der Programmierer füllte ein Glas mit Wasser und blätterte in seinem Notizbuch. »Der Angelpunkt ist Ben Baxter. Er stirbt am 12. April 1969. Er muß aber mindestens noch zehn Jahre leben, damit seine Arbeit die gewünschte Wirkung auf die historische Entwicklung nehmen kann. In dieser Zeit wird Ben Baxter von der amerikanischen Regierung den Yellowstone-Nationalpark kaufen, ihn weiterhin als Reservat betreiben, aber Aufforstung betreiben, um Holz verkaufen zu können. Diese Unternehmung wird äußerst erfolgreich sein. Er wird weitere riesige Wälder in Nord- und Südamerika erwerben. Die Erben Baxters werden die nächsten zwei Jahrhunderte Holzkönige sein und auf der ganzen Welt große Ländereien besitzen. Dank ihren Bemühungen wird es ohne Unterbrechung bis in unsere Zeit hinein gewaltige Wälder geben. Wenn Baxter jedoch stirbt – « James machte eine müde Geste. »Nach Baxters Tod werden die Wälder abgeholzt, bevor die Staaten der Welt die Konsequenzen überhaupt erkannt haben. Dann kommt die große Trockenfäule von 2003, der die restlichen Waldbestände zum Opfer fallen. Und schließlich die Gegenwart, in der der natürliche Kohlendioxyd-
Sauerstoff-Kreislauf durch die Vernichtung der Bäume gestört ist, in der keine Verbrennungsmaschinen mehr betrieben werden dürfen, in der man Sauerstoffgeräte benötigt, um überleben zu können.« »Wir haben die Wälder wieder aufgeforstet«, sagte Aaui. »Es dauerte Hunderte von Jahren, bis sie eine wirkungsvolle Größe erreicht haben, selbst bei unseren Methoden. In der Zwischenzeit kann das Gleichgewicht noch stärker gestört werden. Das ist die Bedeutung Ben Baxters für uns. Von ihm hängt es ab, welche Luft wir atmen!« »Gut«, meinte Dr. Sveg. »Die Hauptlinie, in der Baxter stirbt, ist zweifellos unbrauchbar. Aber es gibt ja Alternativen – « »Viele sogar«, erklärte James. »Wie üblich sind die meisten davon nicht verwendbar. Wenn man die Hauptlinie mitzählt, stehen drei Möglichkeiten zur Wahl. Unglücklicherweise führt aber jede von ihnen am 12. April 1969 zum Tode Ben Baxters.« Der Programmierer wischte sich mit einem Taschentuch die Stirn. »Um genauer zu sein, Ben Baxter stirbt am Nachmittag des 12. April 1969. Sein Tod ist das Resultat einer geschäftlichen Zusammenkunft mit einem Mann namens Ned Brynne.« Roger Beatty, das neue Mitglied, räusperte sich nervös. »Dieses Ereignis tritt in allen drei Wahrscheinlichkeitswelten ein?« »Ja. In jeder davon ist Brynne die Ursache für Baxters Tod.« Dr. Sveg erhob sich schwerfällig. »Früher hat der Rat es vermieden, unmittelbar in vorhandene Wahrscheinlichkeitsentwicklungen einzugreifen. Aber diese Situation verlangt nach direktem Vorgehen.« Die Ratsmitglieder nickten. »Kommen wir zur Sache«, meinte Aaui. »Kann man diesen Ned Brynne zum Wohl der Erde ausschalten?« »Nein«, erwiderte James. »Brynne spielt selbst eine wesentliche Rolle in unserer Zukunft. Er besitzt eine Option auf beinahe zweihundert Quadratkilometer Wald. Er benötigt Baxters Unterstützung, um ihn kaufen zu können. Wenn man Brynne von dieser Begegnung mit Baxter jedoch abhalten könnte – « »Wie?« fragte Beatty. »Die Wahl steht bei Ihnen«, meinte James. »Drohungen, Überredung, Bestechung, Entführung – bis auf einen Mord ist alles zulässig. Wir ha-
ben drei Welten, in denen wir arbeiten können. Wenn uns nur in einer davon gelingt, Brynne zurückzuhalten, ist unser Problem gelöst.« »Was halten Sie für die beste Möglichkeit?« fragte Aaui. »Versuchen wir mehrere, in jeder Wahrscheinlichkeitswelt eine andere«, schlug Miss Chandragore vor. »Auf diese Weise haben wir die meisten Aussichten. Sollen wir diese Aufgabe selbst übernehmen?« »Wir sind ihr noch am ehesten gewachsen«, erwiderte Edwin James. »Wir wissen, welche Faktoren mit hineinspielen. Und wir verstehen zu improvisieren – was wir diesmal bestimmt brauchen können. Jedes Team ist auf sich allein gestellt. Es gibt keine Möglichkeit, die Fortschritte der anderen Teams quer durch die Zeitlinien zu verfolgen.« »Dann muß also jedes Team davon ausgehen, daß die beiden anderen Gruppen versagt haben«, erklärte Dr. Sveg. »Wahrscheinlich sogar mit Recht«, sagte James bedrückt. »Stellen wir also die Teams zusammen und suchen wir uns die entsprechenden Methoden aus.«
1 Am Morgen des 12. April 1969 erwachte Ned Brynne, wusch sich und kleidete sich an. Um 13 Uhr 30 an diesem Nachmittag war er bei Ben Baxter, dem Präsidenten der Baxter-Industrie-AG. angemeldet. Brynnes ganze Zukunft hing vom Ausgang dieses Gesprächs ab. Wenn er die Unterstützung des gigantischen Baxter-Unternehmens gewann, noch dazu unter günstigen Bedingungen… Brynne war ein großer, dunkelhaariger, gutaussehender Mann von sechsunddreißig Jahren. In seinen betont milde blickenden Augen war ein Funken fanatischen Stolzes zu erkennen, eine Andeutung unvernünftigen Eigensinns sprach aus seinen schmalen, zusammengepreßten Lippen. Seine Bewegungen zeigten die beherrschte Kraft eines Mannes, der sich ständig beobachtet und beurteilt.
Er war beinahe fertig zum Ausgang. Er klemmte sich ein Stöckchen unter den Arm und schob Somersets ›Verzeichnis des amerikanischen Adels‹ in die Tasche. Ohne dieses unfehlbare Buch verließ er nie das Haus. Schließlich steckte er den goldenen Stern seines Ranges ans Revers. Brynne war Kammerherr zweiten Grades, eine Tatsache, die ihn mit besonderem Stolz erfüllte. Manche Leute hielten ihn für viel zu jung für eine derart hohe Stellung. Aber sie mußten zugeben, daß er die Rechte und Pflichten seines Amts mit einer Würde wahrnahm, die man in seinem Alter normalerweise noch nicht besaß. Er schloß seine Wohnung ab und ging zum Lift. Eine kleine Gruppe von Menschen wartete bereits, vorwiegend Bürger, aber auch zwei Stallmeister. Als der Aufzug kam, machten ihm alle Platz. »Angenehme Stunden, Kammerherr Brynne«, grüßte der Liftführer und ließ die Kabine hinabgleiten. Brynne neigte seinen Kopf zwei Zentimeter in der üblichen Erwiderung auf den Gruß eines Bürgers. Er beschäftigte sich in Gedanken ausschließlich mit Ben Baxter. Aus dem Augenwinkel bemerkte er einen der Fahrgäste, einen großen, kräftigen Mann mit goldbraunem Teint und polynesischen Gesichtszügen und schräggestellten, dunklen Augen. Brynne fragte sich, was ein solcher Mann in seinem Wohnhaus zu suchen hatte. Er kannte die anderen Bewohner vom Sehen, wenn ihr niederer Rang auch nicht zuließ, daß er sie beachtete. Der Lift erreichte das Vestibül, und Brynne vergaß den Polynesier. Er hatte heute andere Sorgen. Im Zusammenhang mit Ben Baxter stellten sich einige Probleme, die er lösen mußte, bevor er zur festgesetzten Stunde bei ihm erschien. Er schritt in einen trüben, grauen Aprilvormittag hinaus und beschloß, für ein spätes Frühstück die Prince-CharlesKaffeestube aufzusuchen. Es war 10 Uhr 25. »Was halten Sie von ihm?« fragte Aaui. »Scheint mir ein arroganter Bursche zu sein«, meinte Roger Beatty. Er atmete tief und genoß die sauerstoffreiche Luft.
Sie gingen hundert Meter hinter Brynne her. Brynnes große, elegante Gestalt fiel selbst im Gewühl New Yorks auf. »Er hat Sie im Lift angestarrt«, sagte Beatty. »Ich weiß.« Aaui grinste. »Er soll sich nur ein bißchen den Kopf zerbrechen.« »Er sieht mir nicht so aus, als würde ihm so schnell etwas Kopfzerbrechen bereiten«, meinte Beatty. »Wenn wir nur mehr Zeit hätten.« »Anders war es nicht zu machen«, erklärte Aaui achselzukkend. »Die nächste Möglichkeit wäre vor elf Jahren gewesen. Wir hätten dann aber auch bis zu diesem Tag warten müssen, um etwas unternehmen zu können.« »Wenigstens wüßten wir dann mehr über Brynne. Er sieht mir nicht danach aus, als könnte man ihm leicht einen Schrecken einjagen.« »Das ist wahr«, stimmte Aaui zu. »Aber wir haben uns nun einmal darauf eingelassen.« Sie blieben auf Brynnes Spur, beobachteten, wie die Menschen ihm Platz machten, als er dahinmarschierte, ohne nach links oder rechts zu sehen. Und dann passierte es. Brynne, der immer noch angestrengt nachdachte, stieß mit einem dikken Mann zusammen, der den mit Purpur und Silber verzierten Stern eines Ritters im Revers trug. »Kannst du nicht aufpassen, wo du hintrittst, Dummkopf?« fauchte der Ritter. Brynne erkannte, welchen Rang sein Gegenüber bekleidete, schluckte und murmelte: »Entschuldigen Sie, Sir.« Der Ritter ließ sich nicht so schnell abspeisen. »Gehört es zu deinen Gewohnheiten, Höherstehende anzurempeln, Bursche?« »Nein, Sir«, erwiderte Brynne. Sein Gesicht lief rot an. Nur mit Mühe beherrschte er sich. Eine Gruppe von Bürgerlichen hatte sich versammelt, um zuzuschauen. Die Leute grinsten und stießen einander an. »Dann paß gefälligst besser auf!« schrie der dicke Ritter. »Lauf nicht wie ein Mondsüchtiger herum, sonst werden dir Manieren beigebracht!«
Mit tödlicher Ruhe sagte Brynne: »Sir, wenn Sie glauben, mir einen solche Lektion erteilen zu müssen, bin ich gerne bereit, Sie an einem Platz Ihrer Wahl zu treffen. Die Waffen können Sie selbst bestimmen – « »Ich? Dich treffen?« fragte der Ritter ungläubig. »Mein Rang läßt das zu, Sir.« »Dein Rang? Du stehst gut fünf Stufen unter mir, du Idiot! Genug davon, sonst schicke ich dir meine Diener – die im Rang ebenfalls noch über dir stehen – und lasse dir von ihnen Manieren beibringen. Ich werde dein Gesicht in Erinnerung behalten, Freundchen! Aus dem Weg!« Und damit stakste der Ritter davon. »Feigling!« sagte der wütende Brynne mit blutrotem Gesicht. Aber er sagte es leise, was den Bürgern nicht entging. Brynne packte sein Stöckchen und funkelte sie an. Mit fröhlichem Grinsen entfernten sich die Leute. »Hier sind Duelle erlaubt?« fragte Beatty. Aaui nickte. »Seit 1804, als Alexander Hamilton Aaron Burr in einem Zweikampf tötete.« »Wir machen uns wohl besser an die Arbeit«, meinte Beatty. »Aber mir wäre es lieber, wenn wir etwas mehr Ausrüstung hätten.« »Wir haben mitgenommen, was wir tragen konnten. Kommen Sie.« In der Prince-Charles-Kaffeestube setzte sich Brynne an einen Tisch an der Rückseite des Raumes. Seine Hände zitterten; mühsam beherrschte er sich. Zum Teufel mit diesem Ritter! Blöder, angeberischer Kerl! Aber war er zu einem Zweikampf bereit? Nein, natürlich nicht. Er verbarg sich lieber hinter den Vorrechten seines Ranges. Wut stieg schwarz und drohend in Brynne auf. Er hätte den Kerl umbringen und die Konsequenzen einfach mißachten sollen! Zum Teufel mit der ganzen Welt! Kein Mensch durfte sich erlauben, so mit ihm umzuspringen… Nimm dich zusammen, befahl er sich. Er konnte nichts tun. Er mußte über Ben Baxter und die wichtige Verabredung nachdenken. Er warf
einen Blick auf die Uhr. Es war gleich elf Uhr. In zweieinhalb Stunden würde er in Baxters Büro sitzen und – »Ihre Bestellung, Sir?« fragte ein Kellner. »Heiße Schokolade, Toast und ein verlorenes Ei.« »Pommes frites?« »Wenn ich Pommes frites gewünscht hätte, wäre ich so frei gewesen, sie zu bestellen!« schrie Brynne. Der Kellner wurde blaß, schluckte, sagte: »Jawohl, Sir, entschuldigen Sie, Sir«, und suchte das Weite. Jetzt brülle ich schon Bürger an, dachte Brynne. Ich muß mich beherrschen! »Ned Brynne!« Brynne fuhr hoch und drehte sich um. Er hatte deutlich gehört, daß jemand seinen Namen flüsterte. Aber im Umkreis von sechs Metern saß niemand in seiner Nähe. »Brynne!« »Was ist denn?« murmelte Brynne unwillkürlich. »Wer spricht da?« »Du bist nervös, Brynne, du verlierst die Kontrolle über dich. Du brauchst Ruhe, Erholung, eine Veränderung.« Brynne wurde unter seiner Sonnenbräune leichenblaß und sah sich im Café um. Nahe dem Schaufenster saßen drei alte Damen; dahinter konnte er zwei Männer erkennen, die sich angeregt miteinander unterhielten. »Geh nach Hause, Brynne, ruhe dich aus. Nimm dir Urlaub, solange es noch möglich ist.« »Ich habe eine wichtige geschäftliche Besprechung«, sagte Brynne mit schwankender Stimme. »Was ist wichtiger, das Geschäft oder die geistige Gesundheit?« höhnte die Stimme. »Wer spricht mit mir?« »Wie kommst du auf die Idee, daß jemand mit dir spricht?« fragte die Stimme sanft. »Rede ich denn mit mir selbst?«
»Das müßtest du eigentlich wissen.« »Das Ei, Sir«, sagte der Kellner. »Was?« brüllte Brynne. Der Kellner wich zurück und verschüttete dabei heiße Schokolade in die Untertasse. »Sir?« winselte er. »Kriechen Sie nicht so lautlos herum, Sie Trottel!« Der Kellner starrte Brynne ungläubig an, stellte das Tablett ab und ergriff die Flucht. Brynne sah ihm argwöhnisch nach. »Du darfst mit keinem Menschen mehr zusammentreffen«, erklärte die Stimme. »Geh nach Hause, leg dich ins Bett, nimm eine Tablette, schlaf und heile dich aus!« »Aber was ist denn los? Warum?« »Weil dein Verstand auf dem Spiel steht! Diese Stimme stellt den letzten Versuch deines Verstandes dar, sein Gleichgewicht zu bewahren. Du kannst es dir nicht leisten, diese Warnung zu überhören, Brynne!« »Das kann nicht wahr sein!« wandte Brynne ein. »Ich bin doch völlig normal!« »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte eine Stimme neben ihm. Brynne fuhr herum, diese neuerliche Störung streng zu bestrafen. Er sah die Uniform eines Polizisten vor sich. Der Mann trug die weißen Epauletten eines adligen Leutnants. Brynne schluckte und sagte: »Irgend etwas nicht in Ordnung, Leutnant?« »Sir, der Geschäftsführer und ein Kellner haben mir erklärt, daß Sie mit sich selbst reden und mit Gewalttätigkeiten drohen.« »Lächerlich«, fauchte Brynne. »Es stimmt! Es stimmt! Du wirst verrückt!« heulte die Stimme in seinem Schädel. Brynne starrte den Polizisten an. Der Leutnant mußte die Stimme doch gehört haben! Anscheinend aber nicht, denn er sah finster auf ihn herab. »Das ist nicht wahr«, sagte Brynne, der sicher war, sein Wort gelte mehr als das eines Bürgers.
»Ich habe Sie selbst gehört«, sagte der Adlige. »Nun, Sir, es ist so«, begann Brynne vorsichtig. »Ich war – « Die Stimme kreischte in seinem Schädel: »Er soll sich doch zum Teufel scheren, Brynne! Wie kommt er dazu, dich zu verhören? Wer darf sich das erlauben? Schlag ihn nieder! Bring ihn um!« Brynne sagte, über das Geheul in seinem Kopf hinweg: »Ich habe mit mir selbst gesprochen, das ist wahr. Ich denke oft laut. Meine Gedanken lassen sich dabei besser ordnen.« Der Leutnant nickte kurz. »Aber Sie haben mit Gewaltanwendung gedroht, ohne Anlaß, Sir.« »Das nennen Sie keinen Anlaß? Ich bitte Sie, sind kalte Eier kein Anlaß? Sind weiche Toastschnitten und verschüttete Schokolade kein Anlaß?« Der Kellner wurde herbeigerufen und versicherte: »Das Ei war heiß.« »Es war nicht heiß, Schluß. Ich denke nicht daran, mit einem Bürger zu diskutieren.« »Sehr richtig«, sagte der Leutnant. »Aber ich möchte Sie bitten, Sir, Ihren Zorn ein wenig zu zähmen, selbst wenn er gerechtfertigt ist. Man kann von Bürgern nicht allzuviel erwarten.« »Ich weiß«, stimmte Brynne zu. »Übrigens, Sir – ich sehe die Purpurumrandung an Ihren Epauletten – sind Sie zufällig mit O’Donnel von Moose Lodge verwandt?« »Er ist ein Vetter von mir«, erklärte der Leutnant und starrte Brynnes Stern an. »Mein Sohn ist als Anwärter in die Kammerherrenhalle aufgenommen worden. Ein großer Junge mit dem Namen Callahan.« »Ich werde mir den Namen merken«, versprach Brynne. »Das Ei war heiß«, sagte der Kellner. »Einem Gentleman widerspricht man nicht«, rügte der Leutnant. »Da kommst du nur in Schwierigkeiten. Guten Tag, Sir.« Der Leutnant salutierte und verließ das Lokal. Brynne bezahlte und ging kurz nach ihm. Er hinterließ ein beträchtliches Trinkgeld für den Kellner, beschloß aber, dieses Café nie wieder zu betreten.
»Zäher Bursche«, sagte Aaui bitter und steckte das winzige Mikrophon wieder in die Tasche. »Einen Augenblick lang dachte ich, wir hätten ihn unschädlich gemacht.« »Es wäre uns auch gelungen, wenn er schon früher einmal an seinem Verstand gezweifelt hätte. Na schön, dann müssen wir eben direkt eingreifen. Haben Sie die Sachen?« Aaui nahm zwei Schlagringe aus der Tasche und reichte einen davon Beatty. »Verlieren Sie ihn nicht«, sagte er. »Wir sollen die Dinger in das Museum der Primitiven zurückbringen.« »Man streckt ihn auf die Faust, nicht wahr? O ja, ich seh schon.« Sie bezahlten und eilten hinaus. Brynne beschloß, zur Beruhigung seiner Nerven am Hafen spazierenzugehen. Der Anblick der mächtigen Schiffe besänftigte ihn. Er wanderte dahin und versuchte sich darüber klarzuwerden, was geschehen war. Diese Stimme in seinem Schädel… Verlor er wirklich den Verstand? Ein Onkel mütterlicherseits hatte seine letzten Jahre in einer Heilanstalt verbracht. Altersmelancholie. Hatte er dieses Erbe angetreten? Er blieb stehen und betrachtete den Bug eines großen Schiffes. Die ›Theseus‹. Wohin fuhren sie wohl? Vielleicht nach Italien. Er dachte an tiefblauen Himmel, Sonnenschein, Wein und Entspannung. Diese herrlichen Dinge waren nicht für ihn da. Arbeit, angestrengte Arbeit, dafür hatte er sich entschieden. Selbst wenn er dabei den Verstand verlor, würde er sich unter dem grauen Himmel New Yorks weiter abmühen. Aber warum? fragte er sich. Er war keineswegs arm. Seine Geschäfte liefen auch ohne ihn. Was hielt ihn davon ab, dieses Schiff zu besteigen, alles zurückzulassen, ein ganzes Jahr die Sonne des Südens zu genießen?
Freudige Erregung überfiel ihn, als er einsah, daß ihn nichts, aber auch gar nichts zurückhielt. Er war sein eigener Herr, ein entschlossener, starker Mann. Wenn er die Kraft hatte, Erfolge im Geschäftsleben zu erzielen, hatte er auch den Mut, es zu verlassen, auf alles zu verzichten und fortzufahren. »Zum Teufel mit Baxter!« sagte er. Sein seelisches Gleichgewicht war jetzt wichtiger als alles andere. Er gedachte, augenblicklich an Bord dieses Schiffes zu gehen, seinen Geschäftspartnern von hoher See aus zu telegraphieren, ihnen mitzuteilen – Zwei Männer kamen in der verlassenen Straße auf ihn zu. Er erkannte den einen an seinem goldbraun getönten Gesicht. »Mr. Brynne?« fragte der andere, ein schlaksiger Mann mit braunem Haar.»Ja?« erwiderte Brynne. Ohne Warnung schlang der Polynesier beide Arme um ihn, hielt ihn fest, während der andere mit seiner Faust, an der etwas metallisch schimmerte, ausholte! Brynnes aufgeputschte Nerven reagierten blitzartig. Während des zweiten Weltkreuzzuges war er Offizier gewesen. Er wich dem Schlag aus und stieß seine Ellenbogen in den Magen des Polynesiers. Der Griff lokkerte sich. Brynne machte sich frei. Er versetzte dem Polynesier einen Handkantenschlag an die Halsschlagader. Der Mann brach zusammen. Sofort stürzte sich der Schlaksige mit dem Schlagring auf Brynne. Brynnes Faust zuckte vor, verfehlte. Der Kammerherr wurde am Kinn getroffen. Sein Blick begann sich zu verdunkeln. Er mußte noch einen Schlag hinnehmen, ging zu Boden, war nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren. Dann machte sein Gegner einen Fehler. Der Schlaksige versuchte ihn mit einem Fußtritt außer Gefecht zusetzen, aber er machte es falsch. Brynne packte seinen Fuß und riß ihn um. Der Mann verlor das Gleichgewicht, stürzte zu Boden und prallte mit dem Kopf auf das Pflaster.
Brynne raffte sich keuchend auf. Der Polynesier lag nach Luft schnappend auf der Straße. Der andere rührte sich nicht. Ein Blutgerinnsel schlängelte sich durch sein Haar. Eigentlich müßte er diesen Vorfall der Polizei melden, dachte Brynne. Aber wenn er den Schlaksigen umgebracht hatte? Man würde ihn zumindest wegen Totschlags verhaften. Und der Leutnant brachte dann sicher sein Verhalten im Café zur Sprache. Er sah sich um. Niemand hatte die Schlägerei beachtet. Es war wohl am besten, einfach zu verschwinden. Sollten doch die Banditen zur Polizei gehen, wenn sie es wagten. Er glaubte allerdings nicht daran. Langsam wurde ihm alles klar. Diese Männer mußten von einem seiner vielen Konkurrenten angeworben worden sein; diese Leute versuchten natürlich auch, mit Ben Baxter ins Geschäft zu kommen. Vielleicht war sogar das mit der inneren Stimme ein raffinierter Trick. Nun, sie sollten nur versuchen, ihn aufzuhalten! Immer noch schwer atmend, machte er sich auf den Weg zu Ben Baxters Büro. Der Gedanke an eine Seereise nach Italien war wie weggeblasen. »Wie fühlen Sie sich?« fragte eine Stimme. Beatty kam langsam zu sich. Eine schreckliche Sekunde lang glaubte er, einen Schädelbruch erlitten zu haben. Aber er beruhigte sich, nachdem er seinen Kopf abgetastet hatte. »Womit hat er mich denn k.o. geschlagen?« fragte er. »Mit dem Pflaster, glaube ich«, meinte Aaui. »Tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen konnte. Er hat mich sehr schnell kampfunfähig gemacht.« Beatty setzte sich auf und hielt sich den schmerzenden Kopf. »Er versteht, sich zur Wehr zu setzen!« »Wir haben ihn unterschätzt«, sagte Aaui. »Er muß eine besondere Kampfausbildung erhalten haben. Glauben Sie, daß Sie gehen können?« »Ich denke schon«, erwiderte Beatty und ließ sich von Aaui auf die Beine helfen. »Wie spät ist es?«
»Fast ein Uhr. Für 13 Uhr 30 ist er bestellt. Vielleicht können wir ihn vor Baxters Büro aufhalten.« Fünf Minuten später winkten sie einem Taxi und rasten zu Baxters Verwaltungsgebäude. Die Sekretärin war jung und hübsch. Sie starrte die beiden erstaunt an. Es war ihnen gelungen, sich im Taxi ein wenig herzurichten, aber sie sahen immer noch merkwürdig aus. Beatty trug einen Verband um die Stirn, und Aauis Gesichtsfarbe tendierte zum leuchtenden Grün. »Was wünschen Sie?« fragte die Sekretärin. »Mr. Baxter hat doch für 13 Uhr 30 eine Besprechung mit Mr. Brynne angesetzt, nicht wahr?« meinte Aaui. »Ja.« Die Wanduhr zeigte 13 Uhr 17. Aaui fuhr fort. »Wir müssen Mr. Brynne sprechen, bevor er hineingeht. Es ist dringend. Falls es Ihnen nichts ausmacht, warten wir hier.« »Das können Sie«, sagte das Mädchen. »Aber Mr. Brynne sitzt bereits beim Chef.« »Aber es ist doch nicht halb zwei Uhr!« »Mr. Brynne kam etwas früher. Mr. Baxter bat ihn sofort zu sich.« »Ich muß mit ihm reden«, sagte Aaui. »Ich habe Anweisung, die Herren nicht zu stören«, erklärte die Sekretärin. Sie machte ein ängstliches Gesicht und legte den Finger auf einen Signalknopf an ihrem Schreibtisch. Aaui wußte, daß sie damit Hilfe herbeiholen konnte. Ein Mann wie Baxter würde immer Leibwachen in der Nähe haben. Die Besprechung fand bereits statt, und er konnte nichts dagegen unternehmen. Vielleicht hatte der Überfall den Verlauf der Ereignisse schon entscheidend beeinflußt. Die Wahrscheinlichkeit sprach dafür. Der Brynne in Baxters Büro war ein anderer Mensch, gewandelt durch die Abenteuer des Vormittags. »Schon gut«, sagte Aaui. »Wir warten hier.« Ben Baxter war klein und massig. Er hatte einen völlig kahlen Kopf, und seine Augen hinter dem goldenen Zwicker waren ausdruckslos. Er trug
einen strenggeschnittenen, dunklen Anzug, am Revers das kleine mit Rubinen und Perlen besetzte Abzeichen der Mitglieder des Wall-StreetOberhauses. Eine halbe Stunde lang hatte Brynne berichtet, Dokumente auf Baxters Schreibtisch ausgebreitet, Zahlen genannt, künftige Entwicklungen vorausgesetzt. Er begann zu schwitzen, als er Baxters Reaktion erwartete. »Hmm«, sagte Ben Baxter. Brynne wartete. In seinen Schläfen pochte das Blut; sein Magen schien sich verkrampft zu haben. Seit Jahren hatte er nicht mehr gekämpft; er vertrug das nicht mehr. Hoffentlich konnte er sich bis zum Ende des Gesprächs beherrschen. »Die gestellten Bedingungen sind beinahe lächerlich«, erklärte Baxter. »Sir?« »Lächerlich, sagte ich, Mr. Brynne. Sind Sie etwa schwerhörig?« »Nein«, erwiderte Brynne. »Sehr schön. Die von Ihnen gestellten Bedingungen wären bei Verhandlungen zwischen zwei Unternehmen gleichen Umfangs angebracht. Aber das ist hier ja nicht der Fall, Mr. Brynne. Man muß es als Anmaßung bezeichnen, daß eine Firma von solcher Winzigkeit wie die Ihre meinem Unternehmen Bedingungen dieser Art stellen will.« Brynnes Augen verengten sich. Er hatte von Baxters Ruf als harter Geschäftsmann gehört. Das waren keine persönlichen Beleidigungen, erinnerte er sich. Solche Manöver unternahm er selbst auch. Man mußte sie als Schachzug betrachten. »Darf ich darauf hinweisen«, erwiderte Brynne, »daß das Waldgebiet, worauf sich meine Option bezieht, eine Schlüsselstellung einnimmt. Mit ausreichendem Kapital könnten wir den Besitz erheblich ausweiten, ganz zu schweigen von – « »Hoffnungen, Träume, Versprechungen«, seufzte Baxter. »Vielleicht lohnt es sich. Aber die Beweise dafür fehlen noch.« Hier geht es ums Geschäft, erinnerte sich Brynne. Er will mit mir zusammengehen – das kann man deutlich erkennen. Ich habe damit gerechnet, daß ich ein wenig nachgeben muß. Ganz klar. Er will mehr herausschinden. Hier ist nichts Persönliches im Spiel…
Aber Brynne war an diesem Tag zuviel geschehen. Der Ritter, die Stimme im Café, der kurzlebige Traum von der Freiheit, der Kampf mit den beiden Männern – er wußte, daß er nicht mehr viel vertragen konnte. »Wie wäre es, Mr. Brynne«, sagte Baxter, »wenn Sie mir einen vernünftigeren Vorschlag unterbreiten würden? Er sollte mit dem bescheidenen Umfang Ihres Unternehmens in Einklang sein.« Er prüft mich nur, dachte Brynne. Aber es war zuviel für ihn. Er war von ebenso edler Geburt wie Baxter. Wie konnte der Mann es wagen, ihn so zu behandeln? »Sir«, sagte er mit starren Lippen, »ich nehme Anstoß.« »Wie?« meinte Baxter, und Brynne glaubte, ein amüsiertes Funkeln in den kühlen Augen wahrnehmen zu können. »Woran nehmen Sie Anstoß?« »An Ihren Feststellungen und an der Art, wie Sie mir gegenübertreten. Ich rate Ihnen, sich zu entschuldigen.« Brynne erhob sich steif und wartete. Sein Herz klopfte wie wahnsinnig, und sein Magen verkrampfte sich immer mehr. »Ich sehe keinen Grund, mich zu entschuldigen, Sir«, sagte Baxter. »Und ich habe auch nicht die Absicht, mit einem Mann ins Geschäft zu kommen, der persönliche Dinge nicht aus einer geschäftlichen Besprechung heraushalten kann.« Er hat recht, dachte Brynne. Ich müßte mich entschuldigen. Aber er konnte nicht mehr zurück. Verzweifelt sagte er: »Ich warne Sie – entschuldigen Sie sich, Sir!« »Auf diese Weise kommen wir nie zusammen«, meinte Baxter. »Offengestanden, Mr. Brynne, ich hatte gehofft, mit Ihnen zusammenarbeiten zu können. Ich werde mich bemühen, vernünftig zu reden, wenn Sie sich vernünftig benehmen. Ich ersuche Sie, Ihre Forderung nach einer Entschuldigung zurückzuziehen, dann können wir weitermachen.« »Ich kann nicht!« sagte Brynne und wünsche verzweifelt, es doch fertigzubringen. »Entschuldigen Sie sich, Sir!«
Baxter stand auf. Er kam hinter dem Schreibtisch hervor, das Gesicht vom Zorn gerötet. »Verschwinden Sie, unverschämter Kerl! Hinaus, sonst lasse ich Sie die Treppe hinunterwerfen! Hinaus!« Brynne hätte sich am liebsten entschuldigt, aber er dachte an den Ritter, an den Kellner, an die beiden Banditen. Irgend etwas löste sich in ihm. Er schlug mit seiner ganzen Kraft zu. Der Schlag traf Baxter voll am Hals, schleuderte ihn gegen den Schreibtisch. Mit glasigen Augen brach Baxter zusammen. »Es tut mir leid!« rief Brynne. »Ich bitte um Verzeihung! Ich bitte um Verzeihung!« Er kniete neben Baxter nieder. »Sind Sie verletzt, Sir? Es tut mir wirklich leid. Ich bitte um Verzeihung…« Die kalte Logik erklärte ihm, daß er einem unlösbaren Zwiespalt ausgesetzt war. Die Notwendigkeit zu handeln, hatte sich ebenso stark erwiesen wie die Pflicht, sich zu entschuldigen. Er hatte das Dilemma überwunden, indem er beides gleichzeitig zu tun versuchte. Er hatte zugeschlagen – und sich dann erst entschuldigt. »Mr. Baxter?« rief er entsetzt. Ben Baxters Gesicht war verzerrt, Blut lief in einem dünnen Faden vom Mund zum Kinn. Dann bemerkte Brynne, daß Baxters Kopf in unmöglichem Winkel zu seinem Körper hing. »Oh…« stöhnte Brynne. Er war drei Jahre im Krieg gewesen. Er hatte mehr als einmal Menschen mit gebrochenem Genick gesehen.
2 Am Morgen des 12. April 1969 erwachte Ned Brynne, wusch sich und kleidete sich an. Um 13 Uhr 30 an diesem Nachmittag war er bei Ben Baxter, dem Präsidenten der Baxter-Industrie-AG. angemeldet. Brynnes ganze Zukunft hing vom Ausgang dieses Gesprächs ab. Wenn er die Unterstützung des gigantischen Baxter-Unternehmens gewann, noch dazu unter günstigen Bedingungen…
Brynne war ein großer, dunkelhaariger, gutaussehender Mann von sechsunddreißig Jahren. In seinen betont milde blickenden Augen war eine Spur großer Sanftheit zu erkennen, eine Andeutung unerschütterlicher Frömmigkeit sprach aus seinem ausdrucksvollen Mund. Seine Bewegungen zeigten die Grazie eines seiner Selbst sicheren Mannes. Er war beinahe fertig zum Ausgang. Er klemmte einen Betstock unter den Arm und schob Norsteds ›Führer zur Sanftmut‹ in die Tasche. Ohne dieses unfehlbare Buch verließ er nie das Haus. Schließlich steckte er den Silbermond seines Ranges ans Revers. Brynne war ein Zügler zweiten Grades der westlichen Buddhistenkongregation, eine Tatsache, die ihn mit sorgfältig gezügeltem Stolz erfüllte. Manche Leute hielten ihn für viel zu jung für das Laienpriestertum. Aber sie mußten zugeben, daß Brynne die Rechte und Pflichten seines Amtes mit einer Würde wahrnahm, die man in seinem Alter normalerweise noch nicht besaß. Er schloß seine Wohnung ab und ging zum Lift. Eine kleine Gruppe von Menschen wartete bereits, vorwiegend Westbuddhisten, aber auch zwei Lamaisten. Als der Aufzug kam, machten ihm alle Platz. »Guten Tag, Bruder Brynne«, grüßte der Liftführer und ließ die Kabine hinabgleiten. Brynne neigte seinen Kopf zwei Zentimeter in der üblichen Erwiderung auf den Gruß eines Mitgliedes der Gemeinde. Er beschäftigte sich in Gedanken ausschließlich mit Ben Baxter. Aber aus dem Augenwinkel bemerkte er einen der Fahrgäste, eine schlanke, schöne, schwarzhaarige Frau mit reizvollem Gesicht und braungoldenem Teint. Inderin, dachte Brynne und fragte sich, was eine solche Frau in seinem Wohnhaus zu suchen hatte. Er kannte die anderen Bewohner vom Sehen, wenn er auch nicht unbescheiden genug war, sie zu erkennen. Der Lift erreichte das Vestibül, und Brynne vergaß die Inderin. Er hatte heute andere Sorgen. Im Zusammenhang mit Ben Baxter stellten sich einige Probleme, die er lösen mußte, bevor er zur festgesetzten Stunde bei ihm erschien. Er trat in einen trüben, grauen Aprilvormittag hinaus und beschloß, für ein spätes Frühstück das Café zum goldenen Lotus aufzusuchen. Es war 10 Uhr 25.
»Am liebsten würde ich für immer hier bleiben und diese herrliche Luft atmen!« sagte Janna Chandragore. Lan II lächelte schwach. »Vielmehr können wir sie in unserer eigenen Zeit atmen. – Was halten Sie von ihm?« »Eingebildet und dünkelhaft«, sagte sie. Sie gingen hundert Meter hinter Brynne her. Brynnes große, etwas gebeugte Gestalt fiel selbst im Gewühl New Yorks auf. »Im Lift hat er Sie angestarrt«, sagte Lan II. »Ich weiß.« Sie lächelte. »Er sieht recht gut aus, nicht?« Lan II zog die Brauen hoch, erwiderte aber nichts. Sie blieben auf Brynnes Spur und beobachteten, wie die Menschen aus Achtung vor seinem Rang Platz machten. Dann passierte es. Brynne, der immer noch angestrengt nachdachte, stieß mit einem dikken Mann zusammen, der die gelbe Robe eines westbuddhistischen Priesters trug. »Entschuldigt die Störung Eurer Meditation, junger Bruder«, sagte der Priester. »Es ist allein meine Schuld«, erwiderte Brynne. »Denn es steht geschrieben ›Jugend muß auf ihre Schritte achten‹.« Der Priester schüttelte den Kopf. »In der Jugend lebt der Traum der Zukunft«, sagte er. »Das Alter hat ihr Platz zu machen.« »Das Alter leitet unseren Weg«, wandte Brynne unterwürfig, aber eigensinnig ein. »Darin drücken sich die Schriften klar aus.« »Wenn Ihr das Alter anerkennt«, erwiderte der Priester, ein wenig gepreßt, »dann fügt Euch auch seinem Wort: die Jugend stürme vorwärts! Seid so freundlich, mir nicht zu widersprechen, lieber Bruder.« Brynne verbeugte sich tief. Der Priester folgte seinem Beispiel, und die beiden Männer gingen auseinander. Brynne beschleunigte seine Schritte; er umkrampfte den Betstock. Das sah einem Priester ähnlich – sein Alter als Unterstützung seiner Argumente zugunsten der Jugend anzuführen. Im westlichen Buddhismus gab
es seltsame Widersprüche, aber Brynne hatte keine Lust, darüber nachzudenken. Er betrat das Café zum goldenen Lotus und setzte sich an einen Tisch an der Rückseite des Raumes. Er betastete die Schnitzereien an seinem Gebetsstock und spürte, wie der Zorn in ihm abebbte. Beinahe augenblicklich gewann er die gelassene, ungestörte Einheit des Verstandes mit den Gefühlen zurück. Es war jetzt an der Zeit, über Ben Baxter nachzudenken. Schließlich hatte man seine zeitlichen Pflichten ebenso zu erfüllen wie die religiösen. Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war gleich elf. In zweieinhalb Stunden würde er in Baxters Büro sitzen und – »Ihre Bestellung, Sir?« fragte ein Kellner. »Ein Glas Wasser und etwas getrockneten Fisch, wenn Ihr so gut sein wollt«, sagte Brynne. »Pommes frites?« »Heute ist Wisya, da sind sie nicht erlaubt«, murmelte Brynne sanft. Der Kellner wurde blaß, schluckte, sagte: »Jawohl, Sir, entschuldigen Sie, Sir«, und eilte davon. Ich hätte ihn nicht so behandeln dürfen, dachte Brynne. Ich hätte ganz einfach dankend auf die Pommes frites verzichten sollen. Müßte ich mich bei dem Mann entschuldigen? Er entschied, daß ihn das nur verlegen machen würde. Brynne schob diesen Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf Ben Baxter. Wenn Baxter hinter Brynnes Option stand, ließ sich gar nicht absehen – Er bemerkte, daß an einem Tisch in der Nähe etwas Ungewöhnliches vorging. Er drehte sich zur Seite und sah, daß eine Frau mit goldbrauner Gesichtsfarbe hemmungslos in ein winziges Spitzentaschentuch weinte. Es war die Frau, die er vorher in seinem Haus gesehen hatte. Neben ihr saß ein kleiner, weißhaariger alter Mann, der vergeblich versuchte, sie zu beruhigen. Die schöne Frau warf einen verzweifelten Blick zu Brynne hinüber. Unter diesen Umständen gab es für einen Zügler nur eine Möglichkeit.
Er trat an den anderen Tisch. »Entschuldigen Sie die Aufdringlichkeit«, sagte er. »Ich habe bemerkt, wie sehr Sie sich quälen. Vielleicht sind Sie in der Stadt fremd. Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Für uns gibt es keine Hilfe mehr!« jammerte die Frau. Der alte Mann zuckte ergeben die Achseln. Brynne zögerte und setzte sich dann an den Tisch. »Erzählen Sie mir«, bat er. »Kein Problem ist unlösbar. Es steht geschrieben, daß es einen Pfad durch alle Urwälder und einen Weg über die steilsten Berge gibt.« »Wahr gesprochen«, stimmte der alte Mann zu. »Aber manchmal tragen den Menschen die Beine nicht bis zum Ende des Weges.« »In diesen Fällen hilft einer dem anderen und das Ziel wird erreicht«, erwiderte Brynne. »Berichten Sie mir Ihre Sorgen, ich werde Ihnen dienen, wie ich nur kann.« Tatsächlich war das mehr als von einem Zügler verlangt wurde. Unumschränkte Verpflichtung, einem anderen zu dienen, war das Vorrecht höhergestellter Priester. Aber Brynne wurde vom Leid und der Schönheit dieser Frau fortgerissen, und er hatte die Worte ausgesprochen, bevor er es sich anders überlegen konnte. »›Im Herzen eines jungen Mannes wohnt die Kraft‹«, zitierte der alte Mann. »Aber sagen Sie mir, Sir, glauben Sie an religiöse Toleranz?« »Selbstverständlich!« sagte Brynne. »Sehr gut. Dann sollen Sie wissen, Sir, daß meine Tochter Janna und ich aus Lhagrama in Indien kommen, wo wir der daritrischen Inkarnation der kosmischen Funktion dienen. Wir kamen nach Amerika in der Hoffnung, hier einen kleinen Tempel erbauen zu können. Unglücklicherweise erschienen die Schismatiker der Marii Ankarnation vor uns. Meine Tochter muß nach Hause zurückkehren, aber unser Leben ist in Gefahr, weil diese Fanatiker sich geschworen haben, den Glauben an Daritria auszurotten.« »Euer Leben kann doch gar nicht in Gefahr sein!« rief Brynne. »Nicht mitten in New York.« »Hier mehr als anderswo«, erwidert Janna. »Denn die Verbrecher vermögen in der Menge unterzutauchen.«
»Ich lebe auf keinen Fall mehr lange«, erklärte der alte Mann gelassen, »ich muß hierbleiben und meine Arbeit vollenden. Sie verstehen das sicher? Aber ich möchte, daß meine Tochter ungefährdet nach Hause zurückkehrt.« »Ohne dich fahre ich nicht!« rief Janna. »Du tust, was dir aufgetragen wird!« erwiderte der Alte. Janna senkte betroffen die Augen. Der alte Mann wandte sich an Brynne. »Sir, heute nachmittag segelt ein Schiff nach Indien ab. Meine Tochter braucht einen Mann, einen starken, ehrlichen Mann, der sie schützt und leitet, der sie nach Hause bringt. Mein ganzer Besitz gehört diesem Mann, der solch heilige Pflicht für mich erfüllt.« »Ich kann das kaum glauben«, sagte Brynne plötzlich zweifelnd. »Sind Sie sicher – « Wie zur Antwort zog der alte Mann einen Lederbeutel aus seiner Tasche und schüttete den Inhalt auf den Tisch. Brynne war kein Sachverständiger für Edelsteine, wenngleich er im Zweiten-Welt-Jehad als Religionsoffizier gearbeitet hatte. Trotzdem glaubte er, das echte Feuer von Rubinen, Saphiren, Diamanten und Smaragden zu erkennen. »Sie sind Euer«, sagte der alte Mann. »Nehmt Sie mit in ein Juweliergeschäft. Vielleicht glaubt Ihr meine Geschichte, wenn die Echtheit der Steine bestätigt wird. Oder falls das noch nicht Beweis genug ist – « Aus der anderen Tasche zog er eine prall gefüllte Brieftasche und reichte sie Brynne. Als Brynne sie aufklappte, stellte er fest, daß sie mit großen Scheinen vollgestopft war. »Jede Bank wird Ihnen die Echtheit dieser Scheine bestätigen«, sagte der alte Mann. »Nein, bitte, ich bestehe darauf! Behalten Sie alles. Glauben Sie mir, es ist nur ein winziger Bruchteil dessen, womit ich Sie überhäufen möchte.« Brynne versuchte, sich klarzumachen, daß die Edelsteine raffinierte Fälschungen, daß die Geldscheine nachgemacht sein konnten. Aber er wußte, daß das nicht zutraf. Sie waren echt. Und wenn diese Reichtümer echt waren, warum sollte dann die Geschichte nicht stimmen?
Es wäre nicht das erstemal, daß ein wunderbares Märchen sich mitten im Leben zutrug. Standen nicht im ›Buch der goldenen Antworten‹ viele ähnliche Geschehnisse? Er sah die schöne, traurige, zarte Frau an. Unwiderstehliches Verlangen erfüllte ihn, diesen leidgeprüften Mund lächeln zu sehen. Und in der Art, wie sie ihn anblickte, entdeckte Brynne mehr als das Interesse, das man einem Beschützer entgegenbringt. »Sir!« rief der alte Mann. »Wäre es möglich, daß Sie – daß Sie bereit wären – « »Ich übernehme diese Aufgabe!« sagte Brynne. Der alte Mann drückte Brynne wortlos die Hand. Janna sah ihn nur an, aber es kam ihm vor wie eine Umarmung. »Ihr müßt sofort fahren«, sagte der alte Mann entschlossen. »Kommt, ihr habt keine Zeit zu verlieren. Der Feind lauert in den Schatten.« »Aber meine Kleidung – « »Unwichtig. Die Garderobe bekommen Sie von mir.« »Und Freunde, geschäftliche Besprechungen – halt! Einen Augenblick!« Brynne atmete tief ein. Abenteuer im Stile Harun al Raschids waren ja recht nett, aber sie mußten vernünftig durchgeführt werden. »Ich habe heute nachmittag eine geschäftliche Besprechung«, erklärte Brynne. »Ich muß sie einhalten. Danach stehe ich uneingeschränkt zu Ihrer Verfügung.« »Die Gefahr für Janna ist zu groß!« erregte sich der alte Mann. »Ihr seid beide völlig sicher, ich versichere es Ihnen. Ihr könnt mich sogar dorthin begleiten. Oder besser noch, ich habe einen Vetter in der Polizei. Es wird nicht schwierig sein, eine Leibwache – « Janna wandte ihr schönes Gesicht ab. Der alte Mann sagte: »Sir, das Schiff fährt um ein Uhr nachmittags. Punkt eins.« »Schiffe fahren doch jeden Tag«, meinte Brynne. »Nehmen wir das nächste. Diese Verabredung ist sehr wichtig, ja man könnte sagen, entscheidend. Ich habe Jahre gearbeitet, um sie zu erreichen, und es geht
nicht nur um mich. Ich habe ein Geschäft, Angestellte, Partner. Um ihretwillen muß ich diese Verabredung einhalten.« »Zuerst kommt das Geschäft«, meinte der alte Mann bitter. »Euch geschieht nichts«, versicherte ihm Brynne. »Es steht geschrieben, daß das Tier des Dschungels zurückweicht – « »Ich weiß, was geschrieben steht. Das Wort des Todes ist groß auf meine Stirn gemalt und auch meine Tochter ist verloren, wenn Ihr uns jetzt nicht helft. Sie befindet sich auf der ›Theseus‹ in der Luxuskabine 2 A. Die Kabine nebenan steht Euch zur Verfügung. Das Schiff fährt um ein Uhr. Wenn Ihr ihr Leben wertschätzt, werdet Ihr erscheinen, Sir.« Der alte Mann und seine Tochter standen auf, bezahlten und gingen, ohne auf Brynnes Einwände zu achten. Als Jana zur Tür hinausging, drehte sie sich noch einmal um und sah ihn an. »Ihr getrockneter Fisch, Sir«, sagte der Kellner. »Zum Teufel damit!« schrie Brynne. »Oh, ich bitte um Entschuldigung! Verzeihen Sie vielmals«, sagte er entsetzt zu dem schockierten Kellner. »Sie können nichts dafür.« Er bezahlte, hinterließ ein beträchtliches Trinkgeld für den Kellner und eilte hinaus. Er mußte nachdenken. »Die für diese Szene aufgewendete Energie kostet mich wahrscheinlich zehn Jahre meines Lebens«, beschwerte sich Lan II. »Dabei haben Sie jede Sekunde genossen«, meinte Jana Chandragore. »Stimmt«, gab Lan II zu. Er nippte an einem Glas Wein, das der Stewart in die Kabine gebracht hatte. »Die Frage ist nur – wird er seine Verabredung mit Baxter aufgeben und hierherkommen?« »Ich scheine ihm zu gefallen«, sagte Janna. »Das beweist nur, über welch ausgezeichneten Geschmack er verfügt.« Sie neigte spöttisch den Kopf. »Aber wissen Sie, diese Geschichte! War es wirklich notwendig, sie so phantastisch zu gestalten?« »Absolut. Brynne ist ein kluger, entschlossener Mann, aber er hat eine romantische Ader. Vom Pfad der Pflicht konnte ihn nur ein Märchen ablenken.«
»Vielleicht nützt auch das Märchen nichts«, erwiderte Janna nachdenklich. »Wir werden sehen«, sagte Lan II. »Ich persönlich glaube, daß er kommen wird.« »Ich nicht.« »Sie unterschätzen Ihre Anziehungskraft und Ihr Talent zur Schauspielerin. Warten wir ab.« »Es bleibt uns ja nichts anderes übrig«, sagte Jana und lehnte sich zurück. Es war 12 Uhr 42. Brynne beschloß, zur Beruhigung seiner Nerven am Hafen spazierenzugehen. Der Anblick der mächtigen Schiffe besänftigte ihn stets. Er wanderte gleichmäßig dahin und versuchte sich darüber klarzuwerden, was geschehen war. Diese herrliche, traurige Frau… Aber was war mit seiner Pflicht, der Arbeit fleißiger Angestellter, die heute nachmittag am Schreibtisch Ben Baxters ihre Erfüllung finden sollte? Er blieb stehen und betrachtete den Bug eines großen Schiffes. Die ›Theseus‹. Er dachte an Indien, den blauen Himmel, Sonnenschein, Wein, Entspannung. Diese herrlichen Dinge waren nicht für ihn da. Arbeit, angestrengte Arbeit, dafür hatte er sich entschieden. Selbst wenn er die schönste Frau der Welt dadurch verlieren sollte, würde er sich unter dem grauen Himmel New Yorks weiter abmühen. Aber warum? fragte er sich und berührte den Lederbeutel in seiner Tasche. Er war keineswegs arm. Seine Geschäfte liefen auch ohne ihn. Was hielt ihn davon ab, dieses Schiff zu beseitigen, alles zurückzulassen, und ein ganzes Jahr die Sonne zu genießen? Freudige Erregung befiel ihn, als er einsah, daß ihn nichts, aber auch gar nichts zurückhielt. Er war sein eigener Herr, ein entschlossener, starker Mann. Wenn er die Kraft und den Glauben hatte, Erfolg im Ge-
schäftsleben zu erzielen, besaß er auch den Mut, es zu verlassen, auf alles zu verzichten und den Neigungen seines Herzens nachzugeben. »Zum Teufel mit Baxter!« sagte er. Die Sicherheit der jungen Frau war wichtiger als alles andere. Er gedachte, augenblicklich an Bord dieses Schiffes zu gehen, seinen Geschäftspartnern von hoher See aus zu telegraphieren und ihnen mitzuteilen – Die Entscheidung war gefallen. Er drehte sich um und marschierte die Gangway hinauf. Ein Offizier trat ihm lächelnd entgegen und fragte: »Sie heißen, Sir?« »Ned Brynne.« »Brynne, Brynne«, der Offizier suchte auf seiner Liste. »Ich glaube nicht – o doch, da steht’s. Jawohl, Mr. Brynne, Ihre Kabine liegt im ADeck. Sie hat die Nummer 3. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Fahrt.« »Vielen Dank«, sagte Brynne und sah auf die Uhr. Es war zwölf Uhr fünfundvierzig. »Wann fährt das Schiff übrigens ab?« fragte er den Offizier. »Punkt halb fünf, Sir.« »Halb fünf? Sind Sie sicher?« »Ganz sicher, Mr. Brynne.« »Aber man sagte mir, daß die Abfahrt auf ein Uhr festgesetzt sei.« »Das war auch ursprünglich der Fall, Sir. Es kommt sehr häufig vor, daß die Abfahrtszeit um ein paar Stunden verschoben wird. Wir holen diese Verspätung auf See leicht ein.« Halb fünf! Jawohl, er hatte genug Zeit! Er konnte zurückfahren, mit Ben Baxter sprechen, und trotzdem rechtzeitig wieder da sein! Beide Probleme waren gelöst. Er bedankte sich beim geheimnisvollen, gütigen Schicksal und hastete die Gangway hinunter. Zu seinem Glück fand er sofort ein Taxi. Ben Baxter war klein und massig. Er hatte einen völlig kahlen Kopf, und seine Augen hinter dem goldenen Zwicker waren ausdruckslos. Er trug einen strenggeschnittenen, dunklen Anzug, am Revers das kleine, mit
Rubinen und Perlen besetzte Abzeichen der Mitglieder der Untertänigen Diener Wall Streets. Eine halbe Stunde lang hatte Brynne berichtet, Trends bezeichnet, künftige Entwicklungen vorausgesagt. Er begann zu schwitzen, als er Baxters Reaktion erwartete. »Hmm«, sagte Ben Baxter. Brynne wartete. Sein Puls wurde immer schneller, sein leerer Magen begann zu knurren. Er dachte unaufhörlich an die ›Theseus‹. Er wollte dieses Gespräch beenden und an Bord gehen. »Die Bedingungen für einen Zusammenschluß unserer beiden Firmen sind sehr zufriedenstellend«, sagte Baxter. »Sir?« hauchte Brynne. »Zufriedenstellend, habe ich gesagt. Sie sind doch nicht schwerhörig, Bruder Brynne?« »Nicht bei solchen Nachrichten«, meinte Brynne grinsend. »Unsere Zusammenarbeit verspricht für uns beide eine großartige Zukunft«, erklärte Baxter lächelnd. »Ich bin ein offener Mensch, Brynne, und ich will Ihnen ganz klar sagen: Es gefällt mir, wie Sie diese Berichte zusammengestellt haben, es gefällt mir, wie Sie in diesem Gespräch vorgegangen sind. Außerdem mag ich Sie persönlich sehr gern. Ich bin wirklich sehr zufrieden und ich glaube, daß unsere Partnerschaft sehr erfolgreich sein wird.« »Das ist auch meine Meinung, Sir.« Sie schüttelten sich die Hände, und beide Männer standen auf. »Meine Anwälte werden im Einklang mit unserem Gespräch die Verträge aufsetzen«, meinte Baxter. »Ausgezeichnet.« Brynne zögerte. Er fragte sich, ob er Baxter sagen sollte, daß er nach Indien fuhr. Er beschloß, es nicht zu tun. Mit ein paar Ferngesprächen konnten die Verhandlungen zum Abschluß gebracht werden. Im übrigen würde er nicht lange unterwegs sein – er mußte nur die junge Frau sicher nach Hause bringen, dann würde er zurückfliegen. Sie sagten einander noch ein paar Freundlichkeiten, schüttelten sich nochmals die Hände. Dann wandte sich Brynne zum Gehen.
»Das ist ein sehr schöner Betstock«, sagte Baxter. »Wie? Ach ja«, sagte Brynne. »Ich habe ihn diese Woche aus Sinkiang bekommen. Meiner unmaßgeblichen Meinung nach werden dort die schönsten Betstöcke hergestellt.« »Ich weiß. Darf ich ihn mir ansehen?« »Selbstverständlich. Aber Vorsicht, bitte, er öffnete sich sehr schnell.« Baxter nahm den geschnitzten Betstock in die Hand und drückte auf den Griff. Am anderen Ende schoß eine scharfe Klinge heraus und streifte sein Bein. »Donnerwetter!« sagte Baxter. »Ich habe noch keinen schnelleren gesehen.« »Haben Sie sich verletzt?« »Nur ein kleiner Kratzer. Herrlich, diese Klinge.« Sie unterhielten sich eine Weile über die vielschichtige Bedeutsamkeit der Messerklinge im westlichen Buddhismus. Dann schloß Baxter den Betstock und gab ihn Brynne zurück. »Eine herrliche Arbeit. Auf Wiedersehen, lieber Bruder Brynne, und – « Baxter brach mitten im Satz ab. Sein Mund stand offen, und er schien an Brynne vorbei an die Wand zu starren. Brynne drehte sich um, konnte aber nichts Besonderes feststellen. Als er sich seinem Gastgeber wieder zuwandte, waren Baxters Gesichtszüge verzerrt; aus den Mundwinkeln traten Schaumbläschen. »Sir!« rief Brynne. Baxter versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Ton hervor. Er machte zwei taumelnde Schritte und brach zusammen. Brynne raste zur Tür. »Rufen Sie einen Arzt! Schnell! Schnell!« rief er der erschrockenen Sekretärin zu. Dann eilte er zu Baxter zurück. Er hatte den ersten amerikanischen Fall der mutierten Krankheit vor sich, die man später als Sinkiang-Pest bezeichnete. Übertragen durch hundert verseuchte Betstöcke, sollte sie wie der Blitz durch New York zucken und eine Million Tote hinterlassen. Binnen einer Woche sollten die Symptome der Sianking-Pest bekannter werden als jene der Masern. Aber Brynne sah den ersten Toten.
Mit Entsetzen starrte er die steinharte, apfelgrüne Haut an Baxters Händen und in seinem Gesicht an.
3 Am Morgen des 12. April 1969 erwachte Ned Brynne, wusch sich und kleidete sich an. Um 13 Uhr 20 an diesem Nachmittag war er bei Ben Baxter, dem Präsidenten der Baxter-Industrie AG. angemeldet. Brynnes ganze Zukunft hing vom Ausgang dieses Gesprächs ab. Wenn er die Unterstützung des gigantischen Baxter-Unternehmens gewann, noch dazu unter günstigen Bedingungen… Brynne war ein großer, dunkelhaariger, gutaussehender Mann von sechsunddreißig Jahren. In seinen betont milde blickenden Augen war ein Funken Nachdenklichkeit zu erkennen, eine Andeutung klarer Vernunft und der Bereitschaft zum Kompromiß sprach aus seinem vollen Mund. Seine Bewegungen zeigten die nachlässige Sicherheit eines Mannes, der seinen Platz in der Welt kennt. Er war beinahe fertig zum Ausgang. Er klemmte einen Schirm unter den Arm und schob eine Taschenbuchausgabe des Romans ›Mord in der U-Bahn‹ in die Tasche. Ohne einen guten Kriminalroman verließ er nie das Haus. Schließlich steckte er die kleine Onyx-Nadel eines Kommodore des Ozeanjachtclubs ans Revers. Manche Leute hielten ihn für viel zu jung für eine derartige Auszeichnung. Aber sie mußten zugeben, daß er die Rechte und Pflichten seines Amtes mit einer Würde wahrnahm, die man in seinem Alter normalerweise nicht zu besitzen pflegte. Er schloß seine Wohnung ab und ging zum Lift. Eine kleine Gruppe von Menschen wartete bereits, vorwiegend Ladenbesitzer, aber auch zwei Geschäftsleute. »Schönen Tag heute, Mr. Brynne«, grüßte der Liftführer, als er die Kabine hinabgleiten ließ. »Hoffentlich«, sagte Brynne, tief in Gedanken an Ben Baxter. Aus dem Augenwinkel bemerkte er einen der Fahrgäste, einen massigen, blonden
Riesen, der sich mit einem kleinen, kahlköpfigen Mann unterhielt. Er kannte die meisten Bewohner vom Sehen, wenn er auch noch nicht lange genug hier lebte, um Bekanntschaften geschlossen zu haben. Der Lift erreichte das Vestibül, und Brynne vergaß den Riesen. Er hatte heute andere Sorgen. Im Zusammenhang mit Ben Baxter stellten sich einige Probleme, die er lösen mußte, bevor er zur festgesetzten Stunde bei ihm erschien. Er trat in einen trüben, grauverhangenen Aprilvormittag hinaus und beschloß, bei ›Childs‹ zu frühstücken. Es war 10 Uhr 25. »Was halten Sie von ihm?« fragte Dr. Sveg. »Er sieht ganz normal aus«, meinte Edwin James. »Er scheint mir auch vernünftig zu sein. Das werden wir ja herausfinden.« Sie gingen fünfzig Meter hinter Brynne her. Brynnes große, elegante Gestalt fiel selbst im Gewühl New Yorks auf. »Ich bin noch nie für Gewalt gewesen«, sagte Dr. Sveg, »aber warum hauen wir ihm nicht einfach eins auf den Schädel, damit die Sache endlich erledigt ist?« »Diese Methode hatten Aaui und Beatty gewählt. Miss Chandragore und Lan II versuchten es mit Bestechung. Wir müssen nun wirklich der Vernunft Raum geben.« »Aber angenommen, daß er Vernunftgründen nicht zugänglich ist, was dann?« James hob die Schultern. »Mir gefällt das nicht«, sagte Dr. Sveg. Sie sahen, wie Brynne mit einem dicken Geschäftsmann zusammenstieß. »Entschuldigung«, sagte Brynne. »Entschuldigung«, sagte der Dicke. Sie nickten einander zu und gingen weiter. Brynne betrat ›Childs‹ und setzte sich an einen Tisch an der Rückseite des Raumes. Jetzt war es an der Zeit, an Ben Baxter zu denken und sich zu überlegen, wie man am besten »Sie wünschen, Sir?« fragte ein Kellner. »Rühreier, Toast, Kaffee«, sagte Brynne.
»Pommes frites?« »Nein, danke.« Der Kellner eilte davon. Brynne konzentrierte sich auf Ben Baxter. Wenn sich Baxter mit seinem finanziellen und politischen Einfluß hinter die Sache stellte, war gar nicht abzusehen – »Entschuldigen Sie, Sir«, sagte eine Stimme, »können wir Sie einen Augenblick sprechen?« Brynne hob den Kopf und sah den blonden Mann mit seinem Begleiter, die ihm im Lift aufgefallen waren. »In welcher Sache denn?« »Es handelt sich um etwas sehr Wichtiges«, sagte der Mann. Brynne warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz vor elf. Er hatte noch zweiundeinhalb Stunden Zeit bis zu seiner Besprechung mit Baxter. »Setzen Sie sich doch«, sagte er. »Worum handelt es sich?« Die Männer sahen einander an und lächelten verlegen. Schließlich räusperte sich der Kleine. »Mr. Brynne«, sagte er, »ich bin Edwin James. Das ist mein Mitarbeiter, Dr. Sveg. Wir haben Ihnen eine albern klingende Geschichte zu erzählen, die Sie sich hoffentlich ohne Unterbrechung anhören werden. Danach können wir Ihnen gewisse Beweise vorlegen, die Sie von der Echtheit unserer Geschichte überzeugen werden – vielleicht aber auch nicht.« Brynne runzelte die Stirn. Er fragte sich, welcher Sorte von Verrückten er hier begegnet war. Aber beide Männer waren gut angezogen, beide Männer verfügten über Manieren. »Na gut, schießen Sie los«, sagte Brynne. Eine Stunde und zwanzig Minuten später sagte Brynne: »Donnerwetter! Das schlägt ja alles!« »Ich weiß«, entschuldigte sich Dr. Sveg. »Unsere Beweise – « » – sind sehr eindrucksvoll. Zeigen Sie mir doch einmal das erste Gerät.«
Sveg überreichte es ihm. Brynne starrte den kleinen schimmernden Gegenstand ehrfürchtig an. »Du lieber Himmel! Wenn ein Ding von dieser Größe wirklich Hitze oder Kälte in der von Ihnen erwähnten Quantität ausstrahlen kann – die Elektrizitätswerke würden ein paar Milliarden dafür zahlen!« »Das ist ein Produkt unserer Technik«, sagte Chefprogrammierer James, »wie die anderen Apparaturen auch.« »Und dann dieses billige Gerät zur Herstellung von frischem Wasser aus Salzwasser.« Er sah die beiden Männer an. »Es wäre natürlich möglich, daß diese Geräte nur Schwindel sind.« Dr. Sveg runzelte die Stirn. »Aber ich verstehe ein bißchen was von Technik. Selbst wenn sie Schwindel wären, müßten sie genauso raffiniert konstruiert sein wie echte Geräte. Ich glaube, Sie haben mich überzeugt. Menschen aus der Zukunft! Donnerwetter!« »Dann akzeptieren Sie also, was wir Ihnen berichtet haben?« fragte James. »Auch das mit Ben Baxter und der Zeitlinienauswahl?« »Nun ja…« Brynne dachte angestrengt nach. »Mit Vorbehalt.« »Werden Sie auf Ihre Besprechung mit Baxter verzichten?« »Ich weiß es nicht.« »Sir?« »Ich sagte, ich weiß es nicht. Sie haben wirklich Nerven«, ereiferte sich Brynne. »Ich habe wie ein Galeerensklave gearbeitet, um dieses Ziel zu erreichen. Diese Verabredung ist die größte Chance, die ich je in meinem Leben haben werde, und Sie verlangen, daß ich das alles aufgeben soll, wegen irgendeiner nebulösen Voraussage – « »Die Voraussage ist nicht nebulös«, meinte James. »Sie ist an Präzision nicht zu überbieten.« »Hören Sie, es dreht sich ja nicht nur um mich. Ich habe eine Firma, Angestellte, Teilhaber, Aktionäre. Auch um ihretwillen muß ich diese Verabredung einhalten.« »Mr. Brynne«, sagte Dr. Sveg, »überlegen Sie, was auf dem Spiel steht!«
»Ja, gewiß«, sagte Brynne säuerlich. »Und was ist denn mit den anderen Teams, von denen Sie gesprochen haben? Vielleicht hat man mich in einer anderen Wahrscheinlichkeitswelt aufhalten können.« »Leider nicht.« »Woher wissen Sie das?« »Ich durfte den Teams das nicht sagen«, erklärte Chefprogrammierer James, »aber die Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg war verschwindend gering – ebenso wie auch die Wahrscheinlichkeit dafür, daß ich bei Ihnen Erfolg habe, statistisch ebenso geringfügig ist.« »Zum Teufel noch mal«, sagte Brynne, »ihr kommt aus der Zukunft daher und verlangt von einem Mann, daß er sein ganzes Leben verändert. Dazu habt ihr nicht das mindeste Recht!« »Wenn Sie die Verabredung um einen einzigen Tag verschieben könnten – « meinte Dr. Sveg. »Bei Ben Baxter verschiebt man keine Verabredungen. Entweder hält man diejenige ein, die er mit einem vereinbart hat, oder man wartet, bis er eine neue festsetzt, wahrscheinlich dann aber umsonst.« Brynne erhob sich. »Hören Sie, ich weiß nicht, was ich tun werde. Ich habe Sie angehört, ich glaube Ihnen mehr oder weniger, aber ich bin mir einfach nicht sicher. Ich muß eben sehen, was sich ergibt.« Dr. Sveg und James standen ebenfalls auf. »Das ist Ihr gutes Recht«, sagte Chefprogrammierer James. »Leben Sie wohl. Hoffentlich treffen Sie die rechte Entscheidung, Mr. Brynne.« Sie schütteln sich die Hände. Brynne eilte hinaus. Dr. Sveg und Chefprogrammierer James sahen ihm nach. Sveg sagte: »Was glauben Sie? Es sieht günstig aus, nicht wahr? Glauben Sie nicht?« »Ich bin mir nicht sicher«, sagte James. »Die Möglichkeiten, innerhalb einer Zeitlinie Ereignisse zu verändern, ist immer sehr gering. Ich habe wirklich keine Ahnung, was er tun wird.« Dr. Sveg schüttelte den Kopf und atmete dann tief ein. »Das ist eine Luft, was?« »Kann man wohl sagen«, meinte Chefprogrammierer James.
Brynne beschloß, zur Beruhigung seiner Nerven am Hafen spazierenzugehen. Der Anblick der mächtigen Schiffe besänftigte ihn stets. Er wanderte gleichmäßig dahin und versuchte, sich darüber klarzuwerden, was geschehen war. Diese lächerliche Geschichte… An die er glaubte. Aber was war mit seiner Pflicht, den Jahren, in denen er sich bemüht hatte, dieses riesige Waldgebiet zu erwerben? Er blieb stehen und betrachtete den Bug eines großen Schiffes. Die ›Theseus‹. Er dachte an das Karibische Meer, an den blauen Himmel, den hellen Sonnenschein, an Wein und Entspannung. Diese Dinge waren nicht für ihn da. Arbeit, angestrengte Arbeit, dafür hatte er sich entschieden. Gleichgültig, worauf er dabei verzichten mußte, er würde sich unter dem grauen Himmel New Yorks weiter abmühen. Aber warum? fragte er sich. Er war keineswegs arm. Seine Geschäfte liefen auch ohne ihn. Was hielt ihn davon ab, dieses Schiff zu besteigen, alles zurückzulassen, ein ganzes Jahr die Sonne zu genießen? Freudige Erregung befiel ihn, als er einsah, daß ihn nichts, aber auch gar nichts zurückhielt. Er war sein eigener Herr, ein entschlossener, starker Mann. Wenn er die Kraft hatte, Erfolge im Geschäftsleben zu erzielen, hatte er auch den Mut, es zu verlassen, auf alles zu verzichten und seinen inneren Wünschen zu folgen. Und auf diesem Weg würde auch die verdammte, lächerliche Zukunft gesichert sein. »Zum Teufel mit Ben Baxter«, sagte er. Aber es war ihm nicht ernst damit. Die Zukunft war ihm zu ungewiß, zu weit entfernt. Vielleicht war das Ganze nur ein aufgelegter Schwindel, den ein Konkurrent sich ausgedacht hatte. Sollte sich die Zukunft um sich selbst bekümmern! Ned Brynne wandte sich ab. Er mußte sich beeilen, wenn er noch rechtzeitig zur Verabredung mit Ben Baxter erscheinen wollte.
Als er in dem großen Verwaltungsgebäude mit dem Lift nach oben fuhr, bemühte er sich, nicht nachzudenken. Es war genug, einfach zu handeln. Im sechzehnten Stockwerk stieg er aus und ging zu der Sekretärin. »Ich heiße Brynne. Ich habe eine Verabredung mit Mr. Baxter.« »Jawohl, Mr. Brynne. Mr. Baxter erwartet Sie. Sie können sofort hineingehen.« Brynne rührte sich nicht. Eine Welle unüberwindlichen Zweifels schlug in ihm hoch, und er dachte an die zukünftigen Generationen, deren Chancen er durch dieses Vorgehen zunichte machte. Er dachte an Dr. Sveg und Chefprogrammierer Edwin James, ernste, ehrliche Männer. Sie hätten ihn niemals gebeten, ein solches Opfer zu bringen, wenn es nicht unbedingt erforderlich gewesen wäre. Und er dachte noch an etwas anderes – Unter diesen zukünftigen Generationen würden auch seine Nachkommen zu leben haben. »Sie können hineingehen, Sir«, sagte das Mädchen. Ganz plötzlich löste sich etwas in Brynne. »Ich habe es mir überlegt«, sagte er mit einer Stimme, die er kaum wiedererkannte. »Ich möchte die Verabredung absagen. Sagen Sie Baxter, daß es mir leid tut – alles.« Er fuhr herum und rannte sechzehn Treppen hinunter. Im Konferenzraum des Weltplanungsrates saßen die fünf Vertreter der Bundesbezirke der Erde an einem langen Tisch und warteten auf Edwin James. Er trat ein, ein kleiner Mann von eindrucksvoller Häßlichkeit. »Ihre Berichte«, sagte er. Aaui, der immer noch ziemlich mitgenommen aussah, erzählte vom Ergebnis ihrer Bemühungen. »Vielleicht hätten wir ihn aufhalten können, wenn man uns beigebracht hätte, rigoroser vorzugehen.« »Vielleicht auch nicht«, sagte Beatty, der noch weit erschöpfter als Aaui aussah.
Lan II berichtete vom teilweisen Erfolg und schließlich gänzlichen Mißerfolg seiner Mission mit Miss Chandragore. Brynne hatte sich bereit erklärt, sie nach Indien zu begleiten, selbst wenn das bedeuten sollte, daß er auf seine Verabredung mit Baxter verzichten müßte. Lan II schloß mit ein paar bösen Bemerkungen über die ungenauen Fahrpläne der Reedereien. Chefprogrammierer James erhob sich. »Die Zukunft, die wir zu wählen versuchten, war eine, in deren Vergangenheit Ben Baxter am Leben blieb und seine Arbeit vollenden konnte. Unglücklicherweise ist das nicht möglich. Unsere einzige Hoffnung lag schließlich auf der historischen Hauptlinie, in der Dr. Sveg und ich uns bemühten.« »Sie haben noch keinen Bericht erstattet«, sagte Chandragore. »Was geschah?« »Vernunft und ein Appell an die Intelligenz schienen die größten Aussichten auf Erfolg zu bieten«, sagte James. Nach eingehender Überlegung beschloß Brynne, seine Verabredung mit Ben Baxter nicht einzuhalten. Aber – Ben Baxter war klein und massig. Er hatte einen völlig kahlen Kopf, und seine Augen hinter dem goldenen Zwicker waren ausdruckslos. Er trug einen strenggeschnittenen, dunklen Anzug, am Revers das kleine mit Rubinen und Perlen besetzte Abzeichen des Wall-Street-Klubs. Er saß jetzt sein einer halben Stunde regungslos am Schreibtisch, dachte über Zahlen und künftige Entwicklungen nach. Sein Summer ertönte. »Ja, Miss Cassidy?« »Mr. Brynne war hier. Er ist eben gegangen.« »Was soll das heißen?« »Ich verstehe es wirklich nicht, Mr. Baxter. Er kam herauf und sagte, daß er die Verabredung absagen wolle.« »Was hat er gesagt? Wiederholen Sie möglichst exakt, Miss Cassidy.« »Er sagte, daß er eine Verabredung mit Ihnen hatte, und ich erklärte, daß er sofort hineingehen könne. Er blieb aber stehen und sah mich
seltsam an. Er schien wütend und aufgeregt zu sein. Ich sagte noch einmal, daß er hineingehen könne. Dann sagte er – « »Bitte, jetzt Wort für Wort, Miss Cassidy.« »Jawohl, Sir. Er sagte: ›Ich habe es mir anders überlegt. Ich möchte die Verabredung absagen. Sagen Sie Baxter, daß es mir leid tut – alles.‹« »Mehr hat er nicht gesagt?« »Nein, Mr. Baxter.« »Und dann?« »Er drehte sich um und eilte die Treppe hinunter.« »Die Treppe?« »Ja, Mr. Baxter. Er wartete nicht auf den Lift.« »Aha.« »Wünschen Sie noch etwas, Mr. Baxter?« »Nein, danke, Miss Cassidy.« Ben Baxter schaltete die Gegensprechanlage ab und sank in seinem Stuhl zusammen. Brynne wußte also Bescheid. Eine andere Erklärung gab es nicht. Irgendwie mußte etwas durchgesickert sein. Er hatte geglaubt, es zumindest noch für einen Tag verbergen zu können, aber irgendwo gab es eine undichte Stelle. Baxter lächelte grimmig. Er konnte Brynne verstehen, obwohl er sich wenigstens zu einem Gespräch hätte bereitfinden können. Aber vielleicht war es so besser. Wie hatte er es herausgefunden? Wer hatte ihn davon verständigt, daß der Baxter-Konzern auf unsicheren Beinen stand, daß er zusammenzubrechen drohte? Wenn sich diese Nachricht nur noch einen Tag, nur noch ein paar Stunden hätte verheimlichen lassen! Er hätte mit Brynne abgeschlossen. Ein neues Unternehmen wäre in der Lage gewesen, frisches Blut herbeizupumpen. Bis die Leute dahintergekommen wären, hätte er wieder über ein solides Fundament verfügt.
Brynne wußte Bescheid, er hatte sich zurückgezogen. Das bedeutete, daß alle Bescheid wußten. Jetzt ließ sich nichts mehr retten. Die Wölfe würden sich auf ihn stürzen, seine Freunde, seine Frau, seine Partner und all die vielen Leute, die ihm ihr Vertrauen geschenkt hatten… Nun ja, er hatte schon vor Jahren entschieden, was er in einem solchen Fall tun würde. Ohne zu zögern öffnete Baxter eine Schreibtischlade und entnahm ihr ein kleines Fläschchen. Er schüttelte zwei weiße Tabletten auf seine Hand. Er hatte immer nach seinen eigenen Regeln gelebt, jetzt war es an der Zeit, ein Ende zu machen. Ben Baxter schluckte die beiden Tabletten. Zwei Minuten später sank er über dem Schreibtisch zusammen. Sein Tod leitete die große Börsenkatastrophe von 1969 ein.
Der grüne Jademond
Erster Teil: Der Küchenchef Lieber Gott, die Geschichte, von der ich berichten will, hat sich vor ein paar Jahren zugetragen, als ich das beste indonesische Restaurant auf den Balearen eröffnete. Ich eröffnete mein Lokal in Santa Eulalia del Rio, das ist eine Ortschaft auf der Insel Ibiza. Damals gab es im Hafen von Ibiza schon ein indonesisches Restaurant und ein zweites in Palma de Mallorca. Man hat mir versichert, daß das meine mit Abstand das beste gewesen sei. Trotzdem ging das Geschäft nicht gut. Santa Eulalia war sehr klein, aber im Ort und in der Umgebung wohnten ziemlich viele Schriftsteller und Maler. Diese Leute waren alle arm, aber nicht so arm, daß sie sich meine Rijstaffel nicht leisten konnten. Weshalb aßen sie dann nicht öfter bei mir? Es konnte nicht an der Konkurrenz von Juanitos Restaurant oder vom Sa Punta liegen. Selbst wenn man diesen Lokalen hohes Lob für Hummermayonnaise beziehungsweise für die Paella spendete, an mein Sambal Telor, mein Sate Kambing und vor allem an mein Babi Ketjap kamen sie nicht heran. Ich vermutete schließlich, die Erklärung sei in der Tatsache zu finden, daß die Künstler nervöse, temperamentvolle Menschen sind, die Zeit brauchen, sich an Neues zu gewöhnen, vor allem an neue Speiselokale. Ich bin selbst so, und ich versuche seit Jahren, Kunstmaler zu werden. Das war eigentlich der Anlaß dafür, daß ich mein Lokal in einem Ort wie Santa Eulalia eröffnete. Ich wollte mit Künstlern zusammen sein und mir gleichzeitig meinen Lebensunterhalt verdienen.
Das Geschäft ging nicht gut, aber ich kam so eben zurecht. Die Pacht war gering, ich kochte selbst, und ich hatte einen einheimischen Jungen, der die Gäste bediente und die Platten auf dem Plattenspieler wechselte und hinterher das Geschirr spülte. Ich zahlte ihm für die ganze Arbeit nicht viel, aber nur, weil ich es mir nicht leisten konnte. Der Junge war unglaublich fleißig, immer fröhlich und sauber, und mit ein bißchen Glück müßte er eines Tages Gouverneur auf den Balearen werden. Ich hatte also mein Lokal, das ich ›Grüner Jademond‹ nannte, ich hatte meinen Kellner, und binnen einer Woche hatte ich einen Stammgast. Seinen Namen erfuhr ich nie. Er war ein hochgewachsener, sehr schlanker, schweigsamer Amerikaner mit schwarzen Haaren. Er mochte dreißig oder vierzig Jahre alt sein. Er kam jeden Abend um neun Uhr, bestellte Rijstaffel, aß, bezahlte, gab zehn Prozent Trinkgeld und ging. Ich übertreibe nur wenig, denn sonntags aß er Paella im Sa Punta, und jeden Dienstag aß er die Hummermayonnaise bei Juanito. Aber warum nicht, ich pflegte dort auch zu essen. An den anderen fünf Abenden in der Woche aß er meine Rijstaffel, gewöhnlich allein, ein- oder zweimal mit einer Frau, manchmal mit einem Bekannten. Er aß wortlos, während Pablo, mein Kellner, durch das Lokal eilte, servierte und neue Schallplatten auflegte. Offen gesagt, ich konnte in Santa Eulalia von diesem Gast allein leben. Nicht gut, aber ich konnte es. Damals war das Leben noch billig. Wenn man sich nun in einer solchen Lage befindet, wenn man mehr oder weniger von dem lebt, was ein einziger Gast ausgibt, neigt man dazu, sich mit ihm genauer zu befassen. Das war der Anfang meiner Sünde. Wie bei vielen Sünden erschien sie zunächst harmlos. Ich wollte diesen Mann ermutigen. Ich begann zu studieren, was er bevorzugte und was er nicht mochte. Ich servierte Rijstaffel mit dreizehn Beilagen und verlangte dafür dreihundert Peseten, was damals knapp über fünf Dollar waren. Rijstaffel heißt Reistafel. Es handelt sich um die holländische Abwandlung indonesischer Küche. Man stellte den Reis in die Mitte der Tafel und tränkt
ihn in Sajor, einer Art Gemüsesuppe. Dann legt man verschiedene Gerichte um den Reis herum – Daging Kerry, das ist Rindfleisch in Currysauce, Sate Babi, an Spießen gebratenes Schweinefleisch in Erdnußsauce, Sambal Udan, Leber in Chilisauce. Das sind die teuren Gerichte, weil sie Fleisch enthalten. Dann gibt es Sambal Telor und Perkedel, Eier in Chilisauce und Fleischklößchen, verschiedene Gemüse und Obstgerichte. Schließlich kommt die Garnierung dazu, wie Erdnüsse, Krabben, geraspelte Kokosnuß, gewürzte Kartoffelchips und dergleichen mehr. Alles wird in kleinen Schüsseln serviert, und man hat den Eindruck, daß man für seine dreihundert Peseten eine Menge zu essen bekommt. Das stimmt natürlich auch, aber es ist nicht so viel, wie es den Anschein hat. Mein Gast aß mit großem Appetit und leerte gewöhnlich acht oder zehn Schüsseln zu etwas mehr als der Hälfte vom Reis. Nicht schlecht für einen Nichtholländer. Aber damit war ich nicht zufrieden. Mir fiel auf, daß er niemals Leber aß. Ich ersetzte sie durch Sambal Ati, Krabben in Lebersauce. Meine Sates schienen ihm besonders zu schmecken, also vergrößerte ich diese Portionen und gab sehr viel Erdnußsauce dazu. Binnen einer Woche konnte ich erkennen, daß er merklich zunahm. Das ermutigte mich. Ich verdoppelte seine Portion Rempejek, Erdnußwaffeln, und auch die Fleischklößchen. Der Amerikaner begann zu essen wie ein Holländer. Er begann rasch rundlicher zu werden, und ich half ihm dabei. Nach zwei Monaten hatte er zehn oder fünfzehn Pfund Übergewicht. Mir war das gleichgültig, ich versuchte, einen Gefangenen meiner Küche aus ihm zu machen. Ich kaufte größere Schüsseln und servierte größere Portionen. Ich ergänzte die Tafel um ein weiteres Fleischgericht, Babi Ketjap, Schweinefleisch in Sojasauce, und ließ die Erdnüsse weg, die er nie anrührte. Nach dem dritten Monat befand er sich an der Schwelle zur Fettleibigkeit. Das lag hauptsächlich am Reis und an der Erdnußsauce. Und ich saß in meiner Küche und spielte auf seinen Geschmacksnerven wie ein Organist auf seiner Orgel, und er haute hinein, das Gesicht jetzt rund und schweißglänzend, während Pablo mit den Gerichten herumtanzte und die Schallplatten wechselte wie ein Derwisch.
Es war inzwischen klar, der Mann war für meine Rijstaffel anfällig. Seine Achillesferse befand sich sozusagen in seinem Magen. Aber es ließ sich nicht einmal so einfach ausdrücken. Ich mußte annehmen, daß der Amerikaner vor seiner Begegnung mit mir als magerer Mensch gelebt hatte. Aber was gestattet einem Menschen, schlank zu bleiben? Eine Unterlassung, meine ich, der Mangel an einer bestimmten Nahrung, die den besonderen Wünschen seiner Geschmacksnerven wirklich entspricht. Nach meiner eigenen Theorie sind magere Menschen potentiell dicke Menschen, die einfach nicht ihre passende, ganz besondere Nahrung gefunden haben. Ich kannte einmal einen dürren Deutschen, der erst zunahm, als er für eine Baufirma nach Madras mußte und dem verblüffenden Spektrum südindischer Currygerichte begegnete. Ich kannte einen hohlwangigen Mexikaner, der als Gitarrist in Londoner Nachtklubs arbeitete und mir versichert hatte, daß er in seinem Geburtshaus Morelia stets zunehme. Er erzählte mir, daß er überall in Zentralmexiko ordentlich, wenn auch nicht üppig, essen könne, daß aber die Küche von Oaxaca, südlich des Yucatán, für ihn glatt ausscheide, so hervorragend sie auch sei. Und dann gab es noch einen Mann, einen Engländer, der bis zur Ausweisung aller Ausländer fast sein ganzes Leben in China verbracht hatte und der mir erklärte, daß er immer schwächer werde, weil ihm die Küche von Szetschuan fehlte, während ihm die von Kanton, Schanghai oder die Mandarin-Küche gar nicht behage; er berichtete, daß die regionalen Unterschiede der Küche in China größer seien als in Europa, oder es früher waren, und daß sich sein Fall mit dem eines in Stockholm gestrandeten Neapolitaners vergleichen lasse. Er sagte, das Essen in Szetschuan sei stark gewürzt, aber delikat. Er lebte in Nizza bei provenzalischer Küche, die er mit importierten Kidneybohnen und Sojasauce und weiß Gott was allem ergänzte. Er sagte mir, es sei ein Hundeleben, aber vielleicht lag das zum Teil an seiner Frau. Es gab also Präzedenzfälle für das Verhalten meines Amerikaners. Er war offenkundig einer der Menschen, die nie einer ihnen wirklich genehmen Küche begegnet sind. Jetzt hatte er sie mit meiner Rijstaffel gefunden, und er aß, um dreißig oder vierzig Jahre Entbehrung aufzuholen.
In einer solchen Situation muß der moralische Küchenchef versuchen, die Verantwortung für seinen gefräßigen Gast zu übernehmen. Der Küchenchef befindet sich schließlich in der Lage eines Marionettenspielers; er ist es, der die kulinarischen Wünsche seines Gastes manipuliert. Ich kannte in Paris einen französischen Küchenchef, durchdrungen vom Geiste Escoffiers, der sich grundsätzlich nicht dazu herbeiließ, seinen Gästen eine zweite Portion Quiche Lorraine oder Tarte d’Ognon zu servieren, die zu seinen Spezialitäten gehörten. Er sagte: »Eine zweite Portion, egal wovon, ist die Verzerrung einer ausgewogenen Mahlzeit, und ich gebe mich nicht dazu her, für ein paar schäbige Francs Perversitäten zu unterstützen.« Ich spendete dem Meisterkoch Beifall, aber ich war unfähig, seinem Beispiel zu folgen. Ich war im Grunde kein Küchenchef, sondern einfach ein armer Italiener mit einem unerklärlichen Talent für die Zubereitung von Rijstaffel. Mein eigentlicher Wunsch war, Kunstmaler zu werden. Mein Charakter ist und war zu meinem größten Bedauern opportunistisch. Ich fuhr fort, meinen Gast vollzustopfen, und meine Sorgen nahmen zu. Ich hatte den Eindruck, daß der Mann nun mein Besitz war, auch wenn ich keine juristische Handhabe hatte. Spät nachts pflegte ich zitternd zu erwachen; ich hatte geträumt, daß mein Gast mich mit seinem enormen Mondgesicht angeblickt und erklärt hatte: »Ihre Sambals sind nicht würzig genug. Ich war ein Narr, daß ich mich je von Ihnen habe verpflegen lassen. Unsere Beziehung ist beendet.« Rücksichtslos verdoppelte ich seine Portionen Sataj Kambing Madura, servierte den Reis in Öl und Safran gebraten statt gekocht, fügte eine großzügige Portion Sate Ajam, Huhn in Chilisauce mit gemahlenen Nüssen, hinzu: alles sehr nahrhaft, alles dazu bestimmt, seine Abhängigkeit von mir zu erhalten und zu steigern. Mir scheint, er aß und ich kochte in einem Zustand des Deliriums. Sicherlich waren wir inzwischen beide nicht mehr normal. Er war nunmehr unförmig geworden, eine aufgeblähte, pralle Wurst von einem Menschen. Jedes Pfund, das er zunahm, schien mir ein Beweis für meine Macht über ihn zu sein. Es war aber auch eine Quelle zunehmender Besorgnis für mich, denn er konnte nicht ewig so zunehmen.
Und dann änderte sich eines Abends alles. Ich hatte eine kleine zusätzliche Delikatesse für ihn vorbereitet, Sambal Ati, Krabben in Chilisauce, eine extravagante Geste von mir, wenn man die ständig steigenden Krabbenpreise bedenkt. Trotzdem, ich glaubte, sie würden ihm schmecken. Er kam nicht, obwohl es einer seiner regulären Abende war. Ich hielt zwei Stunden länger geöffnet als üblich, aber er kam nicht. Am nächsten Abend blieb er auch fort. Am dritten Abend erschien er wieder nicht. Aber am vierten Abend watschelte er herein und setzte sich an seinen Tisch. Ich hatte mit dem Mann nie gesprochen, seitdem er bei mir speiste. Aber nun nahm ich mir die Freiheit, an seinen Tisch zutreten, mich knapp zu verbeugen und zu sagen: »Wir haben Sie die letzten Abende vermißt, Mijnheer.« »Es tut mir leid, daß ich nicht kommen konnte«, erwiderte er. »Ich fühlte mich nicht wohl.« »Nichts Ernstes, hoffe ich«, sagte ich. »Durchaus nicht. Nur ein kleiner Herzanfall. Der Arzt meinte aber, ich sollte ein paar Tage im Bett bleiben.« Ich verbeugte mich. Er nickte. Ich kehrte in meine Küche zurück. Ich rührte in den Töpfen. Pablo wartete darauf, daß ich die Schüsseln füllte. Der Amerikaner stopfte die riesige rote Serviette, die ich eigens für ihn gekauft hatte, in den Kragen und wartete. Auf einmal kam mir voll zum Bewußtsein, was ich schon die ganze Zeit geahnt haben mußte: daß ich dabei war, diesen Mann umzubringen. Ich starrte meine Töpfe mit Sambals und Sates, meine Reiskessel, meine Sajorfässer an und erkannte sie als Instrumente langsamen Tötens, so wirkungsvoll wie eine Henkerschlinge oder ein Knüppel. Jeder Mensch hat seine Küche. Aber jeder ist auch durch die geschickte Steuerung seines Appetits umzubringen. Plötzlich schrie ich meinen Gast an: »Das Restaurant ist geschlossen!« »Aber warum denn?« fragte er.
»Das Fleisch ist schlecht geworden!« gab ich zurück. »Dann servieren Sie mir eine Rijstaffel ohne Fleisch«, antwortete er. »Unmöglich«, sagte ich. »Es gibt keine Rijstaffel ohne Fleisch.« Er starrte mich erschrocken an. »Dann bringen Sie mir ein Omelett, mit viel Butter gebraten.« »Ich mache keine Omeletts.« »Dann ein Schweinekotelett, sehr fett. Oder eine Schüssel gebratenen Reis.« »Minjheer scheint nicht zu begreifen«, erklärte ich. »Ich mache nur Rijstaffel, richtig und vollständig. Wenn das unmöglich wird, mache ich gar nichts.« »Aber ich habe Hunger!« rief er klagend wie ein Kind. »Essen Sie bei Juanito Hummermayonnaise oder Paella im Sa Punta. Es wäre nicht das erste Mal«, fügte ich hinzu. Ich war auch nur ein Mensch. »Das will ich aber nicht«, sagte er, den Tränen nahe. »Ich will meine Rijstaffel!« »Dann fahren Sie nach Amsterdam!« schrie ich ihn an, stieß meine Töpfe mit Sate und Sambals auf den Boden und stürmte hinaus. Ich packte ein paar Sachen und fuhr mit dem Taxi nach Ibiza. Von dort flog ich nach Rom. Ich war grausam zu meinem Gast gewesen, das räume ich ein. Aber ich hatte es für notwendig gehalten. Er mußte schlagartig am Essen gehindert werden. Und ich mußte daran gehindert werden, ihn zu verköstigen. Meine weiteren Reisen sind für diese Beichte nicht von Belang. Ich will nur hinzufügen, daß ich jetzt das feinste Rijstaffel-Restaurant auf der griechischen Insel Cos besitze und betreibe. Ich komme zurecht. Ich serviere mathematisch exakt berechnete Portionen, kein Gramm darüber, nicht einmal für meine Stammgäste. Es gibt nicht genug Geld auf der Welt, daß man mich dazu bewegen könnte, daß ich eine zweite Portion hergebe oder verkaufe. So habe ich ein wenig an Tugend gewonnen, aber auf Kosten eines schweren Verbrechens.
Ich habe mich oft gefragt, was aus dem Amerikaner und aus Pablo geworden sein mag, dem ich übrigens den rückständigen Lohn aus Rom schickte. Ich versuche immer noch, Kunstmaler zu werden.
Zweiter Teil: Der Kellner Lieber Gott, meine Sünde geschah vor einigen Jahren. Ich arbeitete als Kellner in einem indonesischen Restaurant in Santa Eulalia del Rio, einem Ort auf Ibiza, einer der spanischen Baleareninseln. Ich war damals noch jung, nicht älter als achtzehn. Ich war als Mitglied der Besatzung einer französischen Jacht nach Ibiza gekommen. Den Eigentümer nahm man wegen Zigarettenschmuggels fest, das Boot wurde beschlagnahmt. Die Besatzung ging auseinander. Ich blieb jedoch auf Ibiza und gelangte schließlich nach Santa Eulalia. Ich bin Malteser und daher ein Sprachgenie. Die Einheimischen hielten mich für einen Andalusier, die Ausländer für einen Ibizenko. Als der Holländer sein Rijstaffel-Lokal eröffnete, interessierte ich mich zunächst nicht dafür. Ich half einen Tag bei ihm aus, weil ich nichts Besseres zu tun hatte und weil sonst niemand für den geringen Lohn bei ihm arbeiten wollte. An diesem ersten Tag stieß ich aber auf seine Schallplattensammlung. Der Holländer hatte eine große Sammlung von Schellackplatten, darunter viele klassische Jazzaufnahmen. Er besaß ein gutes Abspielgerät, einen brauchbaren Verstärker und Lautsprecher, die damals als erstklassig angesehen wurden. Der Mann verstand nichts von Musik und hatte noch weniger Interesse daran. Er betrachtete Musik als bloßes Hintergrundgeräusch beim Essen, als Dekoration wie Kerzen in strohumwickelten Flaschen und Peperoniund Knoblauchgirlanden an den Wänden. Man spielte Musik, während die Leute aßen: Das war alles, was er davon wußte.
Aber ich, Antonio Vargas, den er Pablo nannte, war von Leidenschaft für die Musik besessen. Schon in diesen jungen Jahren hatte ich Trompete, Gitarre und Klavier spielen gelernt. Was mir fehlte, war eine genaue Kenntnis der amerikanischen Jazzstile, für die ich mich besonders interessierte. Ich begriff sofort, daß ich für den Holländer arbeiten, vielleicht sogar soviel verdienen konnte, um mich zu versorgen, während ich seine Platten spielte und immer wieder spielte, die Eigentümlichkeiten der amerikanischen Musik kennenlernte und mich auf den Beruf des Musikers vorbereitete. Der Holländer war damit einverstanden, daß ich seine Platten abspielte. Es blieb ihm kaum etwas anderes übrig, denn wer hätte sonst um diesen Lohn bei ihm gearbeitet? Ganz gewiß nicht die Ausländer. Nicht einmal die Einheimischen, die sich bescheiden kleiden, meist aber begütert sind. Es gab nur mich, und ich betrachtete mich allein schon durch Louis Armstrong reich entlohnt. Ich sortierte, ordnete und säuberte die Platten, zwang ihn, eine Diamantabspielnadel aus Barcelona kommen zu lassen, plazierte die Lautsprecher anders, um Verzerrungen zu verhindern, und stellte harmonische Jazzprogramme zusammen. Häufig begann ich mit Duke Ellingtons Orchester und ›Mood Indigo‹, erreichte in der Mitte Stan Kenton und schloß zur Beruhigung mit ›ByeBye Blue‹, gesungen von Ella Fitzgerald. Das war aber nur eines von meinen Programmen. Mir fiel bald auf, daß ich für ein Publikum von einer Person spielte, mich und den Holländer nicht gezählt, der Ravel nicht von Ravi Shankar unterscheiden konnte. Ich hatte nämlich einen Zuhörer bekommen. Er war ein hochgewachsener, sehr schlanker, schweigsamer Engländer und offensichtlich ein Jazzliebhaber. Ich sah, daß er im Takt mit der Musik aß, die ich spielte, langsam und träge, wenn ich ›Caravan‹ laufen ließ. Aber mehr noch, seine Stimmung änderte sich deutlich, wenn ich die Platten wechselte. Ellington und Kenton machten ihn lebendig, er aß
überstürzt und schlug mit der linken Hand den Takt, während er mit der Rechten die Rijstaffel in sich hineinschaufelte. Charlie Barnet und Parker wirkten dämpfend auf ihn, gleichgültig, welches Tempo sie spielten, und er begann den Mund zu spitzen und die Brauen zusammenzuziehen. Wenn man Musiker ist wie ich, möchte man seinem Publikum gefallen, wobei man natürlich immer bei seinem Metier zu bleiben hat. Und ich machte mich daran, meinen Zuhörer zu umgarnen. Zunächst stützte ich mich stark auf Ellington und Kenton, weil ich noch unsicher war. An Charlie Parkers weitläufige Phantasien konnte ich ihn nie gewöhnen, und Barnet schien ihm auf die Nerven zu gehen. Aber ich erzog ihn dazu, Louis Armstrong, Ella Fitzgerald, Earl Hines und das Modern Jazz Quartett zu schätzen. Ich konnte sogar unterscheiden, welche Nummern ihm am besten gefielen, und einen ganzen Abend für ihn allein gestalten. Der Engländer war ein wunderbarer Zuhörer. Dafür bezahlte er natürlich einen Preis: Abend für Abend mußte er die Rijstaffel des Holländers essen, eine Zusammenstellung kleiner Schmorgerichte mit verschiedenen Namen, die alle zu stark mit Chilisauce gewürzt waren. Man kam nicht darum herum; der Holländer ermutigte die Leute nicht, in seinem Lokal zu sitzen, ohne zu essen. Wenn man hereinkam, drückte er einem die Speisekarte in die Hand. Sobald man das Besteck weglegte, brachte er die Rechnung. Das mag in Amsterdam üblich sein, in Spanien gehört sich das nicht. Vor allem die Ausländer, die sich spanischer geben als die Spanier, mißbilligten das und blieben fort. Als Folge seiner primitiven Art konnte sich der Holländer nur auf einen einzigen Gast verlassen, auf den Engländer, der eigentlich nur kam, um die Schallplatten zu hören. Nach einiger Zeit fiel mir auf, daß mein Zuhörer zunahm. Ich nahm das als Anerkennung für meinen geliebten Jazz und für mich, den Dirigenten und Arrangeur dieser Musik. Jemand, der sich fortwährend durch diese gigantische und unaussprechliche Rijstaffel hindurcharbeiten konnte, mußte wirklich ein Musikbegeisterter sein. Ich war jung, sorglos, verantwortungslos. Ich achtete nicht auf meine Pflichten als Musiker, nämlich außer Faszination auch Ausgewogenheit und Katharsis zu bieten. Nein, ich war darauf aus, den Mann einzufan-
gen, ihn mit meinen Schallplatten zu gewinnen, ihn zum Sklaven von Armstrong, Ellington und mir zu machen. Der Engländer wurde dick. Ich hätte etwas Strenges, Klassisches spielen sollen, Bix Beiderbecke oder einen anderen von den DixielandFormalisten. Sie waren nicht nach seinem Geschmack, aber sie hätten ihn vielleicht gezügelt. Ich tat es nicht. Schamlos gab ich ihm, was er wollte. Schlimmer noch, ich verdarb meinen eigenen Geschmack, um ihn zu gefallen. Eines Abends ließ ich Glenn Millers ›String of Pearls‹ ablaufen, eine nette Nummer ohne große Ansprüche. Ich machte das als eine Art musikalischen Spaß, aber ich sah sofort, daß der Engländer für BigBand-Swing schwärmte. Ich hätte darauf einfach nicht eingehen sollen. Der Mann hatte Talent als Zuhörer, aber er war musikalisch ungebildet. Wäre ich bereit gewesen, das Spiel zu wagen, ich hätte ihn etwas Wichtiges lehren und ihm vielleicht zeigen können, worum es bei der Musik überhaupt geht. Aber das tat ich nicht. Statt dessen ging ich ohne Scham auf seine sentimentale Leidenschaft ein. Ich spielte Glenn Miller, Tommy Dorsey, Harry James. Ich suchte einen moralischen Ausgleich, indem ich Benny Goodman vorführte, aber dann sank ich so tief, Vaughan Monroe zu spielen. Es ist etwas Schreckliches, eine solche Macht über einen anderen Menschen zu haben. Binnen Monaten konnte ich meinen Zuhörer ebenso programmieren wie meine Schallplatten. Wenn er hereinkam, spielte ich ein wenig mit ihm und brachte ›Muskat Ramble‹, eine Komposition, die über sein Begriffsvermögen hinausging. Dann schwenkte ich abrupt zu Vaughan Monroes ›Moon Over Miami‹, und das Stirnrunzeln des Engländers verschwand, ein schwaches Lächeln umspielte seine dicke Lippen, und er schaufelte die ungenießbare Rijstaffel in sich hinein. Der Küchenchef häufte in seiner Eitelkeit Unmengen auf seine Teller, aber ich war es, der ihn dazu brachte, das alles zu essen. Manchmal, wenn ich ›Take the A Train‹ spielte oder Armstrongs ›Beale Street Blues‹, seufzte der Engländer verdrossen, legte die Gabel weg und
schien nichts mehr essen zu können. Ich legte dann schnell Glenn Millers ›String of Pearls‹ oder ›Blue Evening‹ oder ›Pink Cocktail for a Blue Lady‹ auf. Oder ich knallte ihm Harry James’ ›When You’re a Long, Long Way from Home‹ oder Jimmy Dorseys ›Amapola‹ hin. Diese Frivolitäten wirkten auf ihn wie eine Droge. Sein runder Schädel nickte im Takt, in seinen Augen standen Tränen, er legte sich mit seinem Suppenlöffel ins Zeug. Er entwickelte einen monströsen Leibesumfang, und ich fuhr fort, ihn wie eine Versuchsratte zu manipulieren. Ich weiß selbst nicht, welch ein Ende das alles hätte nehmen können. Dann erschien er eines Abends nicht. Er kam auch am nächsten und übernächsten Abend nicht. Am vierten Abend betrat er das Lokal, und der Chef, der sich begreifliche Sorgen um seine Haupteinkommensquelle machte, erkundigte sich nach der Gesundheit des Gastes. Der Mann antwortete, er habe Ärger mit seinem Magengeschwür gehabt und die Anweisung bekommen, ein paar Tage neutral zu essen, aber jetzt fühlte er sich wieder wohl. Der Chef nickte und ging in die Küche, um seine scharfen Gerichte vorzubereiten. Der Engländer sah mich an und sagte zum erstenmal etwas zu mir. Ich erinnerte mich, daß ich Stan Kentons ›Down in an Alley by the Alamo‹ laufen hatte. Der Engländer sagte: »Entschuldigen Sie, daß ich das frage, aber könnten Sie so gut sein und Vaughan Monroes ›Moon Over Miami‹ auflegen?« »Natürlich, gern«, antwortete ich und ging zum Plattenspieler. Ich nahm die Platte vom Teller. Ich langte nach Monroe. Und in diesem Augenblick begriff ich, daß ich den Mann tötete, buchstäblich tötete. Er war süchtig nach meinen Schallplatten. Hören konnte er sie nur, wenn er Rijstaffel aß, die Löcher in seinen Magen brannte. In diesem Augenblick wurde ich ein erwachsener Mensch. »Keinen Vaughan Monroe mehr!« schrie ich plötzlich.
Er blinzelte verwirrt mit seinen runden Augen. Der Chef kam aus der Küche, verblüfft, weil ich so laut geworden war. Der Engländer sagte flehend: »Vielleicht was Glenn Miller – « »Nichts mehr«, erwiderte ich. »Tommy Dorsey?« »Ausgeschlossen.« Der Unglückliche zitterte, und seine dicken Hängebacken begannen zu beben. »Dann Duke Ellington«, sagte er. »Nein!« »Aber Pablo, Sie mögen Duke Ellington doch!« sagte der Chef. »Oder spielen Sie Beiderbecke oder meinetwegen sogar das Modern Jazz Quartett!« meinte der Gast. »Spielen Sie, was Sie wollen, aber spielen Sie!« »Sie haben schon zuviel erwischt«, erklärte ich. »Was mich angeht, ist mit der Musik Schluß.« Ich hieb die Faust auf den Verstärker und zerschlug mehrere Röhren. Der Chef und unser Gast waren sprachlos. Ich verließ das Lokal, ohne die rückständigen Wochenlöhne zu verlangen. Ich ließ mich von einem Autofahrer nach Ibiza mitnehmen und fuhr als Deckpassagier auf einem Schiff nach Marseille. Jetzt bin ich Saxophonist und habe einen gewissen Namen. Man hört mich jeden Abend außer Sonntag im Le Cat’s Pajamas Club in der Rue de Hachette in Paris. Man bewundert mich wegen meines klassisch reinen Stils und achtet mich als Puristen des Dixieland-Jazz. Aber immer noch lastet diese Sünde auf mir, daß ich den armen Engländer hypnotisiert und vollgestopft habe, indem ich ihm die Musik bot, die er ersehnte. Ich bereue es zutiefst. Ich habe mich seither oft gefragt, was wohl aus dem Chef und seinem Gast geworden sein mag.
Dritter Teil: Der Gast Lieber Gott, meine Sünde geschah vor vielen Wochen in einer kleinen spanischen Stadt namens Santa Eulalia del Rio. Ich habe diese Sünde bis jetzt nie eingestanden, aber nun fühle ich mich dazu gezwungen. Ich war nach Santa Eulalia gekommen, um ein Buch zu schreiben. Meine Frau begleitete mich. Wir hatten keine Kinder. Während meines Aufenthalts eröffnete jemand ein RijstaffelRestaurant. Ich glaube, der Mann war Finne oder vielleicht Ungar. Sein Lokal wurde von der ganzen Ausländerkolonie begrüßt. Bevor dieser Mann kam, hatten wir die Wahl, im Sa Punta Paella oder bei Juanito Hummermayonnaise zu essen. Das Essen war in beiden Lokalen gut, aber nach einer Weile wird selbst das beste Gericht monoton. Viele von uns gingen ins ›Ying-Tang‹, wie er es nannte. Dort herrschte stets Betrieb. Wenn man hinzunimmt, daß der Ungar eine schöne Schallplattensammlung und eine gute Abspielanlage besaß, so konnte ein solches Lokal nur florieren. Ich begann dort fünf Abende in der Woche zu essen. Meine Frau war ein wunderbares Wesen, aber keine besonders gute Köchin. Ich gehörte zu den Stammgästen des Ungarn. Nach ungefähr einer Woche fiel mir der Kellner auf. Er war jung, nicht älter als sechzehn oder siebzehn, und nach meiner Meinung Indonesier. Er hatte eine reine, olivfarbene Haut, Haare und Augenbrauen waren kohlschwarz. Er war schlank, graziös und behende. Es war ein Vergnügen, ihn hin und her eilen, servieren und die Schallplatten wechseln zu sehen. Das hört sich harmlos an, nicht wahr? Aber was sich ergab, war eine dunklere, weniger unschuldige Komplikation. Wie gesagt, ich bewunderte seine Anmut und Schönheit, so wie man als Mann die Vorzüge eines anderen Mannes schätzt. Nach der zweiten Woche ertappte ich mich jedoch dabei, daß ich besonders auf seine feinen Züge, die stolze Haltung des Kopfes, auf seine Schultern, auf die schöne Wölbung seines Gesäßes achtete.
Ich geriet in einen Zustand der Selbsttäuschung. Ich sagte mir, daß ich den Jungen etwa so bewunderte, wie man das bei einer griechischen Statue oder bei den heroischen Gestalten Michelangelos tut. Ich sagte mir, daß mein Interesse rein ästhetischer Natur sei, nicht mehr. Und ich besuchte das Restaurant fast jeden Abend, um Rijstaffel zu essen, eines der nahrhaftesten Gerichte, die es auf der Welt gibt. Nach dem ersten Monat erkannte ich zu meinem Entsetzen, daß ich mich in den Jungen vernarrt hatte. Mir wurde bewußt, daß ich ihn berühren, sein Haar streicheln, den Linien seines Körpers nachspüren und noch andere, schrecklichere Dinge tun wollte. Ich bin nie ein Homosexueller gewesen. Ich hatte nie Anlaß, mich für einen solchen zu halten. Sex mit Frauen war mir immer eine Freude gewesen, und ich hatte nie begreifen können, daß ein Mann am Körper eines Mannes Gefallen finden konnte. Jetzt wußte ich es, zu meinem Kummer. Die Scham über meine Erkenntnis blieb mir nur wegen der Heftigkeit meiner Leidenschaft erspart. Jeden Abend ging ich in das Lokal und blieb dort, solange ich konnte. Der Besitzer gab mir besonders große Portionen, und ich aß sie, dankbar dafür, länger bleiben zu können. Und der Junge? Ich kann nicht glauben, daß er nichts von meinen Gedanken spürte. Ich kann nicht glauben, daß er nicht ähnlich empfand. Denn als die Tage und Monate vergingen, raste er immer wilder durch das Lokal, wechselte die Schallplatten, leerte saubere Aschenbecher und produzierte sich auf schamlose Weise. Oft tauschten wir bedeutungsvolle Blicke, der Junge und ich. Meine Frau war inzwischen in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt. Der Wirt beschäftigte sich mit nichts als dem Verzehr seiner Rijstaffel. Und der Junge und ich blickten einander an, machten uns gegenseitig unsere Absichten klar, wechselten aber nie ein Wort, berührten uns nicht. Ich nahm natürlich zu. Wer konnte jeden Abend eine große Rijstaffel verschlingen und dabei nicht zunehmen? Ich nahm unsinnig zu, von meiner Besessenheit gefangen, verloren im Ekel vor mir selbst. Ich vernachlässigte meine Freunde, achtete nicht mehr auf mein Äußeres. Jeden Abend verließ ich das Restaurant, vollgestopft mit dem zu stark gewürz-
ten Essen. Ich ging zu Bett und träumte von dem Jungen, wartete ungeduldig auf den nächsten Abend, um ihn wiedersehen zu können. Unsere Blicke wurden kühner und schamloser. Manchmal, wenn er servierte, legte er die Hand auf den Tisch, so als sei er daran, mich zu berühren. Und ich räusperte mich, während meine Augen ihn wegen seines schamlosen Verhaltens rügten. In diesen Wahnsinn verstrickt, weiß ich nicht, wie lange es so weitergegangen wäre oder wie es hätte enden sollen. Ich verlor meine Scheu, meinen Stolz, ich war nahe daran, den Jungen anzusprechen. Dann fiel mir, ganz unerwartet, etwas auf. Ich bemerkte, daß ich der einzige Gast war, den das Lokal noch hatte. Ich dachte darüber nach, ich zerbrach mir den Kopf. Ich hatte meine Freunde in den vergangenen Monaten aufgegeben oder sie mich. Trotzdem, weshalb aßen sie nicht mehr in dem Rijstaffel-Restaurant? Ich ging Abend für Abend hin, und es war immer dasselbe, ich war der einzige Gast. Trotzdem ließ die Qualität des Essens und der Musik nicht nach. Alles war gleich, bis auf mich. Dann sah ich etwas. Es geschah an einem Abend wie an allen anderen, als ich auf die gewohnte Weise die riesigen Portionen verschlang. Ich sah, daß ich im Laufe von einigen Monaten ungeheuer fett geworden war. Und einen Augenblick lang betrachtete ich mich von außen: Ich sah einen widerlich fetten Mann in einem Lokal sitzen. Einen Mann, der so unförmig war, daß man sich vor ihm ekeln mußte. Einen Mann, in dessen Gesellschaft niemand würde essen mögen. Da wurde mir klar: Ich war der Grund, weshalb der Ungar alle seine Gäste verloren hatte. Denn welcher Mensch, der bei Sinnen war, würde speisen wollen, solange ich dort saß? Und ich war ständig dort. Auf eine solche Einsicht hin muß man sofort handeln, oder sie ist für ewig dahin. Ich schob den Tisch weg und stand mühsam auf. Der Wirt und der Kellner starrten mich an. Ich watschelte zur Tür. »Ist mit dem Essen etwas nicht in Ordnung?« rief der Besitzer. »Nicht mit dem Essen«, erwiderte ich, »mit mir.« Der Junge sagte mit gesenktem Blick: »Vielleicht habe ich Sie beleidigt –«
»Ganz im Gegenteil«, sagte ich, »du hast mir große Freude gemacht, aber ich habe mich selbst maßlos beleidigt.« Sie begriffen nicht. »Wollen Sie nicht wenigstens einen Teller Schweinefleisch-Sate essen, frischgemacht?« rief der Besitzer. Und der Junge sagte: »Wir haben eine neue Armstrong-Platte, die Sie noch nie gehört haben.« Ich blieb an der Tür stehen. »Ich bedanke mich bei euch beiden sehr herzlich. Ihr seid gute Menschen. Aber ich zerstöre mich hier vor euren Augen. Ich gehe jetzt fort und vollende das allein.« Sie starrten mich an, mit weitaufgerissenen Augen, verständnislos. Ich watschelte hinaus, ging zu meiner Wohnung, packte meinen Koffer und ließ mich von einem Taxi nach Ibiza bringen. Ich kam gerade zurecht, um die nächste Maschine nach Barcelona zu besteigen. Inzwischen sind Jahre vergangen. Die Zeit und die Entfernung haben meine Besessenheit verdrängt. Ich habe mich seither wieder verliebt, aber nie mehr in einen jungen Mann. Ich lebe jetzt in San Miguel de Allende in Mexiko mit meiner Frau – nicht mit jener, mit der ich nach San Eulalia gekommen war – und unseren beiden Kindern. Ich habe mich oft gefragt, was aus dem Wirt und dem Kellner geworden sein mag. Vermutlich sind sie geblieben und begüterte Leute geworden. Sie könnten sogar immer noch in Santa Eulalia sein. Es sei denn, meine unkeusche Sünde hat sie auf irgendeine Weise zerstört. Ich bereue meine Sünde ernsthaft. Ich versuche noch immer, Schriftsteller zu werden.
Ein wahrhaft höllisches Produkt In New York kann man sich darauf verlassen, an der Tür wird immer gerade dann geläutet, wenn man sich zu einem wohlverdienten Nickerchen auf sein Sofa gelegt hat. Ein Mensch mit Charakter würde nun sagen: »Zum Teufel damit, mein Heim ist meine Burg, und Telegramme kann man unter der Tür durchschieben.« Ist man aber wie Edelstein, mit Charakter nicht reich gesegnet, dann denkt man sich, es könnte vielleicht die Blondine von 12 C sein, die sich eine Prise Salz borgen möchte. Oder vielleicht sogar ein verrückter Filmproduzent, der einen Film nach den Briefen drehen möchte, die man an seine Mutter in Santa Monica geschrieben hat. Warum auch nicht? Es werden Filme nach viel schlechterem Material gedreht. Aber diesmal hatte Edelstein beschlossen, wirklich nicht aufzumachen. Er blieb auf dem Sofa liegen, die Augen geschlossen, und rief: »Ich will nichts.« »Doch wollen Sie«, erwiderte eine Stimme an der Tür. »Ich habe alle Lexika, Bürsten und Römertöpfe, die ich brauche«, rief Edelstein müde. »Was Sie auch verkaufen, ich habe schon alles.« »Hören Sie«, sagte die Stimme, »ich verkaufe nichts. Ich will Ihnen etwas schenken.« Edelstein lächelte das dünne, säuerliche Lächeln des New Yorkers, der weiß, daß er bezahlen muß, selbst wenn ihm jemand ein Bündel echte, unmarkierte Zwanzigdollarscheine zum Geschenk macht. »Wenn es nichts kostet, kann ich es mir auf keinen Fall leisten«, antwortete Edelstein. »Aber ich meine, wirklich umsonst«, sagte die Stimme. »Ich meine, so kostenlos, daß es Sie weder jetzt noch später irgend etwas kostet.« »Kein Interesse«, gab Edelstein zurück und bewunderte seine Fertigkeit.
Die Stimme antwortete nicht. »He«, rief Edelstein, »wenn Sie noch da sind, bitte gehen Sie.« »Mein lieber Mr. Edelstein«, sagte die Stimme, »Zynismus ist nichts als eine Form von Naivität. Mr. Edelstein, Weisheit ist Unterscheidungsvermögen.« »Jetzt hält er mir Vorträge«, sagte Edelstein zur Wand. »Na schön«, sagte die Stimme, »vergessen Sie’s, behalten Sie Ihren Zynismus und Ihr Rassenvorurteil. Hab’ ich diesen Ärger nötig?« »Augenblick mal«, antwortete Edelstein. »Wie kommen Sie auf die Idee, daß ich Vorurteile hätte?« »Machen wir uns nichts vor«, erklärte die Stimme. »Wenn ich Geld für Hadassah sammeln oder Israel-Anleihen verkaufen würde, wäre das etwas anderes gewesen. Aber ich bin eben, was ich bin, also müssen Sie entschuldigen, daß ich lebe.« »Nicht so schnell«, sagte Edelstein. »Für mich sind Sie einfach eine Stimme an der Tür. Sie könnten genausogut Katholik oder Adventist vom Siebenten Tag oder sogar Jude sein.« »Sie haben Bescheid gewußt«, gab die Stimme zurück. »Mister, ich schwöre Ihnen – « »Hören Sie«, sagte die Stimme, »es ist egal, ich erlebe das oft. Leben Sie wohl, Mr. Edelstein.« »Moment mal«, erwiderte Edelstein. Er beschimpfte sich als Trottel. Wie oft war er auf die Maschen von Hausierern hereingefallen und hatte beispielsweise schließlich $ 9.98 für eine zweibändige illustrierte ›Sexualgeschichte der Menschheit‹ bezahlt, die es laut seinem Freund Manowitz in jeder Buchhandlung für $ 2.98 gab? Aber die Stimme hatte recht. Edelstein hatte auf irgendeine Weise gewußt, daß er es mit einem Goi zu tun hatte. Und die Stimme würde sich entfernen und denken: Die Juden halten sich eben immer für was Besseres. Außerdem würde der Kerl das beim nächsten Treffen der Elks oder Knights of Columbus seinen Freunden erzählen, und schon gab es an den Juden wieder etwas auszusetzen.
Ich habe doch einen schwachen Charakter, dachte Edelstein betrübt. »Also gut!« rief er. »Sie können ‘reinkommen! Aber ich warne Sie gleich jetzt, ich kaufe nichts.« Er stand auf und ging zur Tür. Dann blieb er stehen, denn die Stimme sagte: »Recht vielen Dank«, und ein Mann war durch die geschlossene, zweimal abgesperrte Holztür getreten. Der Mann war mittelgroß und trug einen grauen Anzug mit Nadelstreifen. Seine Ziegenlederstiefel glänzten. Er war schwarz, hatte eine Aktentasche bei sich, und er war durch Edelsteins Tür gekommen, als bestehe sie aus Gelee. »Augenblick, halt, warten Sie mal«, sagte Edelstein. Er entdeckte, daß er die Hände zusammenkrampfte und daß sein Herz unangenehm schnell schlug. Der Mann blieb ruhig stehen, ganz gelassen, einen Meter in der Wohnung. Edelstein begann wieder zu atmen. »Entschuldigung«, sagte er, »ich hatte eben einen kleinen Anfall, eine Art Halluzination – « »Soll ich es Ihnen noch einmal vorführen?« fragte der Mann. »Mein Gott, nein! Sie sind also wirklich durch die Tür gekommen! O Gott, ich glaube, ich bin in der Klemme.« Edelstein kehrte zum Sofa zurück und sank schwerfällig darauf nieder. Der Mann setzte sich auf einen Stuhl. »Worum geht es überhaupt?« flüsterte Edelstein. »Das mit der Tür mache ich, um Zeit zu sparen«, sagte der Mann. »Damit wird die Glaubenswürdigkeitslücke gewöhnlich geschlossen. Ich heiße Charles Sitwell. Ich bin Außendienstmitarbeiter des Teufels.« Edelstein glaubte ihm. Er versuchte an ein Gebet zu denken, aber alles, was ihm einfiel, war das Tischgebet aus seiner Kindheit, das er im Sommerlager gesprochen hatte. Wahrscheinlich würde es nichts nützen. Er kannte auch das Vaterunser, aber das war nicht einmal seine Religion. Vielleicht der Flaggengruß… »Regen Sie sich nicht auf«, meinte Sitwell. »Ich bin nicht wegen Ihrer Seele oder ähnlichem altmodischen Quatsch hier.«
»Wie kann ich Ihnen glauben?« fragte Edelstein. »Überlegen Sie selbst«, sagte Sitwell. »Denken Sie nur an die Kriegsfrage. Seit über fünfzig Jahren nichts als Aufstände und Revolutionen. Für uns bedeutet das einen beispiellosen Anfall an verdammten Amerikanern, Vietkong, Nigerianern, Biafranern, Indonesiern, Südafrikanern, Russen, Indern, Pakistanis und Arabern. Israelis leider auch. Außerdem bekommen wir mehr Chinesen als üblich, und in letzter Zeit ist auch auf dem südamerikanischen Markt so allerhand los. Offen gesagt, Mr. Edelstein, wir sind mit Seelen überlastet. Wenn dieses Jahr ein neuer Krieg anfängt, werden wir eine Amnestie für läßliche Sünden einführen müssen.« Edelstein dachte darüber nach. »Dann sind Sie also wirklich nicht hier, um mich in die Hölle zu schaffen?« »Zum Teufel, nein!« sagte Sitwell. »Ich sage doch, unsere Warteliste ist länger als für das Peter Cooper Village, wir haben in der Vorhalle kaum noch Platz.« »Hm… Weshalb sind Sie dann hier?« Sitwell schlug die Beine übereinander und beugte sich vor. »Mr. Edelstein, Sie müssen sich darüber im klaren sein, daß die Hölle große Ähnlichkeit mit Konzernen wie U.S. Steel oder I.T. & T. hat. Wir sind ein großes Unternehmen und haben mehr oder weniger ein Monopol. Wie jede große Gesellschaft sind wir von der Pflicht zum Dienst an der Öffentlichkeit durchdrungen und ziehen es vor, geschätzt zu werden.« »Verständlich«, sagte Edelstein. »Aber im Gegensatz zu Ford können wir nicht gut eine Stiftung gründen und Stipendien und Zuschüsse verteilen. Die Leute würden das nicht verstehen. Aus demselben Grund können wir nicht damit anfangen, Musterstädte zu bauen oder die Umweltverschmutzung zu bekämpfen. Wir können nicht einmal in Afghanistan einen Damm errichten, ohne daß jemand unsere Motive in Zweifel ziehen würde.« »Ich kann verstehen, daß das problematisch wäre«, gab Edelstein zu.
»Trotzdem wollen wir gerne etwas tun. Von Zeit zu Zeit, aber vor allem jetzt, wo das Geschäft so floriert, möchten wir deshalb willkürlich ausgewählten potentiellen Kunden eine kleine Prämie anbieten.« »Kunde? Ich?« »Niemand bezeichnet Sie als Sünder«, betonte Sitwell. »Ich habe ›potentiell‹ gesagt – und darunter fallen alle.« »Ach… Was für eine Prämie?« »Drei Wünsche«, sagte Sitwell lebhaft. »Das ist Tradition.« »Mal sehen, ob ich das richtig verstanden habe«, sagte Edelstein. »Ich kann drei beliebige Wünsche äußern? Ohne Strafklausel, ohne geheimes Wenn und Aber?« »Ein Aber gibt es«, sagte Sitwell. »Ich hab’s gewußt«, sage Edelstein. »Ganz simpel. Egal, was Sie sich wünschen, Ihr schlimmster Feind bekommt das Doppelte.« Edelstein überlegte. »Wenn ich also eine Million Dollar verlangen würde – « »Bekäme Ihr schlimmster Feind zwei Millionen.« »Und wenn ich mir eine Lungenentzündung wünsche?« »Dann bekäme Ihr schlimmster Feind doppelte Lungenentzündung.« Edelstein spitzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Hören Sie, ich will Ihnen ja nicht vorschreiben, wie Sie Ihre Geschäfte abwickeln müssen, aber hoffentlich ist Ihnen klar, daß Sie mit einer solchen Klausel Gefahr laufen, Ihre Kunden zu vergrämen.« »Das ist ein Risiko, Mr. Edelstein, aber aus verschiedenen Gründen unbedingt nötig«, erklärte Sitwell. »Wissen Sie, die Klausel ist ein psychisches Rückkopplungsmanöver, das für die Erhaltung der Homöostasis sorgt.« »Verzeihung, ich komme da nicht mehr mit«, antwortete Edelstein. »Drücken wir es so aus: Die Klausel führt dazu, daß die Macht der Wünsche begrenzt wird und so alles halbwegs normal bleibt. Ein Wunsch ist ein gefährliches Instrument, wissen Sie.«
»Kann ich mir vorstellen«, meinte Edelstein. »Gibt es noch einen zweiten Grund?« »Den müßten Sie sich bereits denken können«, sagte Sitwell und zeigte strahlend weiße Zähne. »Klauseln dieser Art sind unsere Schutzmarke. Dadurch wissen Sie, daß es sich um ein wahrhaft höllisches Produkt handelt.« »Verstehe, verstehe«, sagte Edelstein. »Tja, ich brauche etwas Zeit, um darüber nachzudenken.« »Das Angebot gilt dreißig Tage«, teilte Sitwell mit und erhob sich. »Wenn Sie einen Wunsch haben, brauchen Sie ihn nur auszusprechen – laut und deutlich. Den Rest erledige ich.« Sitwell ging zur Tür. »Da ist nur noch ein Problem, das ich doch erwähnen sollte«, sagte Edelstein. »Nämlich?« »Tja, zufällig habe ich keinen schlimmsten Feind. Ich habe überhaupt keinen Feind auf der Welt.« Sitwell lachte lange und wischte sich die Augen mit einem lila Taschentuch. »Edelstein«, sagte er, »Sie sind wirklich der Höchste! Keinen Feind auf der Welt! Was ist mit Ihrem Vetter Seymour, dem Sie keine fünfhundert Dollar für die Eröffnung einer chemischen Reinigungsanstalt leihen wollten? Ist der plötzlich ein Freund geworden?« »An Seymour hatte ich nicht gedacht«, erwiderte Edelstein. »Und was ist mit Mrs. Abramowitz, die ausspuckt, wenn sie Ihren Namen hört, weil Sie ihre Tochter Marjorie nicht heiraten wollten? Und Tom Cassidy in der Wohnung Eins C hier im Haus, der Goebbelsreden sammelt und jede Nacht davon träumt, daß er alle Juden auf der Welt umbringt, angefangen mit Ihnen?… He, fühlen Sie sich nicht wohl?« Edelstein, der immer noch auf dem Sofa saß, war blaß geworden und hatte die Hände wieder ineinander verkrampft. »Davon habe ich nie etwas geahnt«, sagte er.
»Niemand ahnt etwas«, meinte Sitwell. »Hören Sie, regen Sie sich nicht auf, sechs oder sieben Feinde sind gar nichts. Ich kann Ihnen versichern, daß Sie haßmäßig weiter unter dem Durchschnitt liegen.« »Wer noch?« fragte Edelstein schwer atmend. »Das verrate ich Ihnen nicht«, erwiderte Sitwell. »Es wäre nur unnötiger Ärger.« »Aber ich muß wissen, wer mein schlimmster Feind ist! Cassiday? Glauben Sie, ich sollte mir eine Pistole kaufen?« Sitwell schüttelte den Kopf. »Cassiday ist ein harmloser Irrer. Er wird nie einen Finger krumm machen, darauf haben Sie mein Wort. Ihr schlimmster Feind ist ein Mann namens Edward Samuel Manowitz.« »Sind Sie sicher?« fragte Edelstein ungläubig. »Ganz sicher.« »Aber Manowitz ist doch gerade mein bester Freund.« »Und gleichzeitig Ihr schlimmster Feind«, gab Sitwell zurück. »Manchmal ergibt sich das so. Leben Sie wohl, Mr. Edelstein, und viel Glück mit Ihren drei Wünschen.« »Warten Sie!« rief Edelstein. Er wollte eine Million Fragen stellen, aber er war verlegen und fragte nur: »Wie kann es sein, daß die Hölle so überfüllt ist?« »Weil nur der Himmel unendlich ist«, erklärte Sitwell. »Vom Himmel wissen Sie auch?« »Natürlich. Das ist die Mutterfirma. Aber jetzt muß ich wirklich gehen. Ich habe einen Termin in Poughkeepsie. Viel Glück, Mr. Edelstein.« Sitwell winkte, drehte sich um und ging durch die versperrte, massive Tür. Edelstein blieb fünf Minuten lang regungslos sitzen. Er dachte an Eddie Manowitz. Sein schlimmster Feind! Das war lächerlich; in der Hölle war man da wirklich auf dem Holzweg. Er kannte Manowitz seit zwanzig Jahren, sah ihn fast jeden Tag, spielte Schach und Romme mit ihm. Sie gingen miteinander spazieren, besuchten gemeinsam das Kino, und mindestens einmal in der Woche gingen sie zusammen essen.
Es stimmte natürlich, daß Manowitz manchmal den Mund sehr weit aufriß und die Grenzen des guten Geschmacks überschritt. Gelegentlich konnte Manowitz sogar ausgesprochen unverschämt sein. Um ganz ehrlich zu sein, Manowitz war mehr als einmal definitiv beleidigend geworden. Aber wir sind Freunde, sagte sich Edelstein. Wir sind doch Freunde, oder? Es gab eine einfache Methode, das festzustellen, dachte er. Er konnte sich eine Million Dollar wünschen. Dann bekam Manowitz zwei Millionen Dollar. Na und? Würde ihn, einen wohlhabenden Mann stören, daß sein bester Freund noch wohlhabender war? Ja! Es würde ihn stören! Und wie! Er würde langsam zugrunde gehen, wenn ein Schlaumeier wie Manowitz durch Edelsteins Wunsch reich werden sollte. Lieber Gott! dachte Edelstein. Vor einer Stunde war ich ein armer, aber zufriedener Mensch. Jetzt habe ich drei Wünsche und einen Feind. Er bemerkte, daß er die Hände wieder zusammenkrampfte. Er schüttelte den Kopf. Das erforderte einiges Überlegen. In der nächsten Woche gelang es Edelstein, sich Urlaub zu nehmen. Tag und Nacht saß er mit Block und Bleistift an seinem Schreibtisch. Zunächst kam er nicht von den Schlössern los. Zu Wünschen schien Schlösser einfach zu passen. Aber bei genauerer Überlegung war die Sache doch nicht so einfach. Wenn man von einem durchschnittlichen Traumschloß mit drei Meter dicken Mauern ausging, nebst Grundstück und dergleichen, mußte man an die Kosten des Unterhalts denken. An die Kosten der Heizung, an die Dienerschaft, denn ohne sie war das Ganze nur lachhaft. Es lief letztlich also aufs Geld hinaus. Ich könnte mit zweitausend Dollar in der Woche ein ganz ordentliches Schloß erhalten, dachte Edelstein, während er Zahlen auf seinen Block kritzelte. Aber das würde bedeuten, daß Manowitz sich bei viertausend Dollar in der Woche zwei Schlösser halten würde!
Nach der zweiten Woche war Edelstein über Schlösser hinaus und dachte fieberhaft über die endlosen Möglichkeiten und Kombinationen des Reisens nach. Wäre es zuviel verlangt, eine Weltreise zu erbitten? Vielleicht doch: er wußte nicht einmal recht, ob er ihr gewachsen war. Auf jeden Fall konnte er einen Sommer in Europa akzeptieren. Sogar zwei Wochen Ferien im Hotel ›Fontainebleu‹ in Miami Beach, um seine Nerven zu beruhigen. Aber Manowitz würde zweifache Ferien bekommen! Wenn Edelstein im ›Fontainebleau‹ wohnte, würde Manowitz ein Dachappartement im ›Key Largo Colony Club‹ bekommen. Zweimal. Es war fast besser, arm zu bleiben und Manowitz den Reichtum vorzuenthalten. Fast, aber nicht ganz. In der letzten Woche wurde Edelstein zornig und verzweifelt, ja sogar zynisch. Er sagte zu sich: Ich bin ein Trottel, woher weiß ich, daß überhaupt etwas dran ist? Sitwell kann also durch Türen gehen, ist er deshalb ein Zauberer? Vielleicht habe ich mir grundlos den Kopf zerbrochen. Er überraschte sich damit, daß er plötzlich aufstand und mit lauter, fester Stimme erklärte: »Ich will zwanzigtausend Dollar, und zwar sofort.« Er spürte ein leichtes Ziehen an der rechten Gesäßhälfte. Er zog seine Brieftasche heraus. Darin fand er einen Scheck über zwanzigtausend Dollar auf seinen Namen mit Deckungsbestätigung. Er ging zu seiner Bank und löste den Scheck ein. Seine Hände zitterten; er war überzeugt, daß man ihn festnehmen würde. Der Geschäftsführer sah sich den Scheck an und zeichnete ihn ab. Der Kassierer fragte ihn, in welchen Scheinen er das Geld wolle. Edelstein bat ihn, es auf sein Konto gutzuschreiben. Als er die Bank verließ, stürmte Manowitz herein, einen Ausdruck von Furcht, Freude und Betroffenheit im Gesicht. Edelstein eilte nach Hause, bevor ihn Manowitz ansprechen konnte. Den ganzen Tag über hatte er Magenschmerzen.
Idiot! Er hatte nur schäbige zwanzigtausend Dollar verlangt, aber Manowitz hatte vierzigtausend Dollar bekommen! Man konnte am Ärger zugrunde gehen. Edelstein verbrachte die Tage schwankend zwischen Teilnahmslosigkeit und Wut. Die Schmerzen im Magen hatten sich wieder eingestellt, und das bedeutete, daß er vermutlich dabei war, ein Magengeschwür zu erwerben. Das Ganze war einfach unfair! Mußte er sich in ein frühes Grab ärgern, nur wegen Manowitz? Ja! Denn jetzt begriff er, daß Manowitz wirklich sein Feind war und daß der Gedanke, seinen Feind zu bereichern, ihn buchstäblich umbrachte. Er dachte darüber nach und sagte sich dann: Edelstein, jetzt hör mir mal zu. So kann es nicht weitergehen, du brauchst irgendeine Befriedigung! Aber wie? Er ging in seinem Zimmer hin und her. Der Schmerz kam eindeutig von einem Magengeschwür, wovon sonst? Dann kam ihm die Idee. Edelstein blieb stehen. Seine Augen rollten wild, er griff nach Bleistift und Papier und rechnete blitzschnell. Als er es geschafft hatte, war er erregt und zum erstenmal seit Sitwells Besuch glücklich. Er stand auf. Er rief: »Ich will sechshundert Pfund gehackte Hühnerleber, und zwar sofort!« Nach fünf Minuten erschienen die Lieferanten. Edelstein aß mehrere Riesenportionen gehackte Hühnerleber, lagerte ein Kilogramm in seinem Kühlschrank und verkaufte fast den ganzen Rest an einen Lebensmittelhändler zum halben Marktpreis, wobei er über siebenhundert Dollar verdiente. Der Hausmeister mußte fünfundsiebzig Pfund wegschaffen, die übersehen worden waren. Edelstein freute sich bei dem Gedanken, daß Manowitz in seiner Wohnung stand, bis zum Hals in gehackter Hühnerleber.
Seine Freude war von kurzer Dauer. Er erfuhr, daß Manowitz fünf Kilogramm für sich behielt – der Mann war schon immer ein Vielfraß gewesen –, fünf Pfund einer unscheinbaren kleinen Witwe schenkte, die er beeindrucken wollte, und den Rest an den Lieferanten zurückverkaufte, mit einem Drittel Preisnachlaß, so daß er über zweitausend Dollar verdiente. Ich bin der größte Dummkopf aller Zeiten, dachte Edelstein. Für ein Minute unsinniger Befriedigung verzichte ich auf einen Wunsch, der, gering gerechnet, hundert Millionen Dollar wert gewesen ist. Und was habe ich davon? Zwei Pfund gehackte Hühnerleber, ein paar Hundert Dollar und die lebenslängliche Zuneigung meines Hausmeisters! Er wußte, daß er sich aus purem Ärger langsam zerstörte. Jetzt blieb ihm nur noch ein Wunsch. Und nun kam alles darauf an, daß er diesen letzten Wunsch klug formulierte. Aber er mußte etwas verlangen, was er verzweifelt begehrte – und etwas, was Manowitz gar nicht schätzen würde. Vier Wochen waren vergangen. Eines Tages begriff Edelstein voll Düsterkeit, daß seine Zeit fast abgelaufen war. Er hatte sich das Gehirn zermartert und seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt gefunden: Manowitz mochte alles, was auch ihm gefiel. Manowitz schätzte Schlösser, Frauen, Reichtum, Autos, Urlaub, Wein, Musik, gutes Essen. Was immer man auch nehmen mochte, Manowitz, der Nachäffer, mochte es. Dann fiel ihm etwas ein: Infolge einer merkwürdigen Eigenheit des Geschmacks konnte Manowitz keinen Lachs vertragen. Aber Edelstein mochte Lachs auch nicht, selbst wenn er aus Kanada kam. Edelstein flehte: Lieber Gott, der du über Himmel und Hölle befiehlst, ich hatte drei Wünsche und habe zwei davon vergeudet. Hör mich an, lieber Gott, ich will nicht undankbar sein, aber ich frage dich, wenn einem drei Wünsche freigestellt werden, sollte er dann nicht mehr davon haben als ich bisher? Sollte ihm nicht etwas Gutes zustoßen, ohne daß sich Manowitz, sein schlimmster Feind, die Taschen füllt und ohne Anstrengung oder Schmerzen doppelt kassiert?
Die letzte Stunde rückte heran. Edelstein wurde ganz ruhig, wie jemand, der sich mit seinem Schicksal abgefunden hat. Er sah ein, daß sein Haß gegen Manowitz unsinnig und seiner unwert war. Mit ganz neuer, süßer Gelassenheit sagte er zu sich: Ich werde jetzt verlangen, was ich, Edelstein, persönlich wünsche. Wenn Manowitz davon profitiert, ist das nicht zu ändern. Edelstein richtete sich hoch auf. Er sagte: »Das ist mein letzter Wunsch. Ich bin zu lange Junggeselle gewesen. Was ich will, ist eine Frau, die ich heiraten kann. Sie sollte ungefähr einsachtundfünfzig sein, etwa hundert Pfund wiegen, natürlich eine gute Figur und naturblondes Haar haben. Sie sollte intelligent, praktisch veranlagt sein, mich lieben, natürlich Jüdin sein, aber sinnlich und vergnügt – « Der Edelstein-Verstand lief urplötzlich auf Hochtouren! »Und vor allem«, fügte er hinzu, »sollte sie – ich weiß nicht recht, wie ich das ausdrücken soll –, sie sollte das Äußerste, das Maximale dessen sein, was ich mir wünsche und schaffen kann, jetzt rein vom Sexuellen her gesehen. Sie verstehen doch, was ich meine, Sitwell? Der Anstand verbietet, daß ich es deutlicher ausdrücke, aber wenn ich Ihnen das erläutern soll…« Jemand klopfte leise, ausgesprochen lockend an die Tür. Edelstein ging hin, um zu öffnen, und lachte leise in sich hinein. Über zwanzigtausend Dollar, zwei Pfund gehackte Hühnerleber, und jetzt das! Manowitz, dachte er, jetzt habe ich dich: Das Doppelte vom Äußersten, was sich ein Mensch ersehnt, hätte ich eigentlich selbst meinem schlimmsten Feind nicht wünschen dürfen, aber ich habe es getan.
Ein seltsamer Traum Gestern nacht hatte ich einen sehr seltsamen Traum. Ich träumte, daß eine Stimme zu mir sagte: »Entschuldigen Sie, daß ich Ihren vorherigen Traum unterbreche, aber ich habe ein schweres Problem, und nur Sie können mir helfen.« Ich träumte, daß ich erwiderte: »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, so schön war der Traum nicht, und wenn ich Ihnen auf irgendeine Weise behilflich sein kann – « »Nur Sie können helfen«, sagte die Stimme. »Sonst sind wir, ich und mein ganzes Volk, verloren.« »Guter Gott«, sagte ich. Er hieß Froka und gehörte einer uralten Rasse an. Seit urdenklicher Zeit lebten sie in einem weiten Tal zwischen riesigen Bergen. Sie waren ein friedliches Volk und hatten im Laufe der Zeit einige hervorragende Künstler hervorgebracht. Ihre Gesetze waren exemplarisch, und sie erzogen ihre Kinder liebevoll und nachsichtig. Wenngleich einige von ihnen dazu neigten, sich zu betrinken, und obwohl es gelegentlich sogar einen Mörder gab, hielten sie sich für gute und respektable, denkende Wesen, die – »Hören Sie, können Sie nicht gleich zu dem schweren Problem kommen?« unterbrach ich. Froka entschuldigte sich für seine langatmige Art, erklärte, daß auf seiner Welt zu einem Bittgesuch eben auch eine ausführliche Schilderung der moralischen Verfassung des Bittstellers gehörte. »Schon gut«, sagte ich. »Befassen wir uns mit dem Problem.« Froka atmete tief ein und begann zu berichten. Vor etwa hundert Jahren – nach ihrer Zeitrechnung – sei vom Himmel ein riesiger, rötlich-
gelber Schaft herabgekommen und in der Nähe der Statue des Unbekannten Gottes vor dem Rathaus ihrer drittgrößten Stadt gelandet. Der Schaft war zylinderisch, nicht überall von gleichem Umfang, und hatte einen Durchmesser von zwei Meilen. Er ragte über die Reichweite ihrer Instrumente empor, im Gegensatz zu allen Naturgesetzen. Sie unternahmen Versuche und stellten fest, daß der Schaft immun war gegen Kälte, Hitze, Bakterien, Protonenbeschuß, wie überhaupt gegen alles, was sie sich auszudenken vermochten. Er stand da, regungslos und unfaßbar, genau fünf Monate, neunzehn Stunden und sechs Minuten. Dann begann sich der Schaft ohne erkennbaren Anlaß in Richtung Nordnordwest zu bewegen. Seine Durchschnittsgeschwindigkeit betrug – nach ihren Meßmethoden – 78,881 Meilen in der Stunde. Er grub eine Furche von 183,223 Meilen Länge und 2,011 Meilen Breite, dann verschwand er. Eine Konferenz wissenschaftlicher Autoritäten vermochte keine Erklärung dafür finden. Man gab schließlich bekannt, daß das Vorkommnis unerklärlich, einmalig und sicherlich nicht wiederholbar sei. Aber einen Monat später geschah es wieder, und diesmal in der Hauptstadt. Bei dieser Gelegenheit bewegte sich der Zylinder, scheinbar unwillkürlich, insgesamt 820,331 Meilen. Der Sachschaden war nicht abzuschätzen, es gab mehrere tausend Tote. Zwei Monate und einen Tag danach kam der Schaft wieder, und jetzt waren alle drei Großstädte betroffen. Inzwischen war allen klargeworden, daß nicht nur das Leben von einzelnen, sondern ihre ganze Zivilisation, ihre Existenz als Rasse, von einer unbekannten und vielleicht unerforschlichen Erscheinung bedroht wurde. Diese Erkenntnis führte unter der Bevölkerung zu weitverbreiteter Verzweiflung. Man schwankte zwischen Teilnahmslosigkeit und Hysterie. Die vierte Attacke fand in der Wüste östlich der Hauptstadt statt. Der Schaden war gering, aber es gab eine Massenpanik, die zu einer erschrekkenden Anzahl von Selbstmorden führte.
Die Lage war verzweifelt. Neben den Wissenschaften wurden nun auch die Pseudowissenschaften ins Treffen geführt. Keine Hilfe wurde zurückgewiesen, keine Theorie abgelehnt, ob sie von Biochemikern, von Handlesekünstlern oder von Astronomen stammte. Man konnte nicht einmal die ausgefallensten Vorstellungen außer acht lassen, vor allem nicht nach der schrecklichen Sommernacht, in der die herrliche alte Stadt Raz und ihre beiden Vororte völlig vernichtet wurden. »Entschuldigen Sie«, sagte ich, »es tut mir wirklich leid, daß Sie solche Schwierigkeiten hatten, aber ich verstehe nicht, was das mit mir zu tun hat.« »Darauf wollte ich eben kommen«, sagte die Stimme. »Dann fahren Sie fort«, meinte ich. »Aber ich würde Ihnen raten, sich zu beeilen, weil ich das Gefühl habe, daß ich bald wach werde.« »Meine eigene Rolle dabei ist schwer zu erklären«, fuhr Froka fort. »Ich bin von Beruf Bücherrevisor, beschäftige mich aber in meinen Mußestunden mit verschiedenen Techniken der Bewußtseinserweiterung. Vor kurzem experimentierte ich mit einer chemischen Verbindung, die wir ›Kola‹ nennen und die häufig einen Zustand tiefer Erleuchtung hervorruft – « »Wir haben ähnliche Mittel«, sagte ich. »Dann verstehen Sie mich! Nun, während der Reise – gebrauchen Sie diesen Ausdruck auch? –, unter dem Einfluß dieses Mittels gewann ich eine Erkenntnis, ein ganz ausgefallenes Verständnis… Aber es ist so schwer zu erklären.« »Nur weiter«, meinte ich ungeduldig. »Kommen Sie zur Sache.« »Tja«, sagte die Stimme, »mir wurde klar, daß meine Welt auf vielen Ebenen existiert – auf atomaren, subatomaren, auf Schwingungsebenen, auf unendlich vielen Realitätsebenen, die ihrerseits wieder Bestandteile anderer Daseinsebenen sind.« »Darüber weiß ich Bescheid«, sagte ich aufgeregt. »Das gleiche ist mir kürzlich bei meiner eigenen Welt zum Bewußtsein gekommen.« »Ich erkannte dadurch, daß eine unserer Ebenen gestört wurde«, erklärte Froka.
»Könnten Sie sich etwas genauer ausdrücken?« »Nach meinem persönlichen Gefühl erlebt unsere Welt ein Eindringen auf molekularer Ebene.« »Unglaublich«, sagte ich. »Haben Sie denn die Ursache entdecken können?« »Ich glaube ja«, sagte die Stimme. »Ich besitze aber keinen Beweis. Das Ganze ist reine Intuition.« »Ich selbst glaube an Intuition«, erwiderte ich. »Erzählen Sie mir, was Sie herausgefunden haben.« »Nun, Sir«, meinte die Stimme zögernd, »ich bin – intuitiv – zu der Erkenntnis gelangt, daß meine Welt ein mikroskopisch kleiner Parasit von Ihnen ist.« »Drücken Sie sich verständlich aus!« »Gut! Ich habe entdeckt, daß in einer Hinsicht, auf einer Realitätsebene, meine Welt zwischen dem zweiten und dritten Knöchel Ihrer linken Hand existiert. Dort besteht sie seit Millionen Jahren, die für Sie Minuten sind. Ich kann das natürlich nicht beweisen und beschuldige Sie auch gar nicht – « »Schon gut«, sagte ich. »Sie sagen, daß Ihre Welt zwischen dem zweiten und dritten Knöchel meiner linken Hand liegt. In Ordnung. Was kann ich tun?« »Hm, Sir, ich vermute, daß Sie in letzter Zeit damit begonnen haben, sich im Bereich meiner Welt zu kratzen.« »Zu kratzen?« »Das nehme ich an.« »Und Sie glauben, daß der riesige, zerstörerische rötliche Schaft einer meiner Finger ist?« »Genau.« »Und ich soll aufhören, mich zu kratzen?« »Nur an dieser Stelle«, sagte die Stimme hastig. »Das ist eine ausgesprochen peinliche Bitte, und ich bringe sie nur vor, weil ich hoffe, meine Welt vor der völligen Vernichtung bewahren zu können. Und ich entschuldige mich – «
»Nicht nötig«, sagte ich. »Denkende Wesen brauchen sich nicht zu schämen.« »Sehr freundlich von Ihnen«, sagte die Stimme. »Wir sind keine Menschen, wissen Sie, dazu Parasiten, und wir haben keinen Anspruch gegen Sie.« »Alle denkenden Wesen sollten zusammenhalten«, meinte ich. »Sie haben mein Wort dafür, daß ich mich, solange ich lebe, nie mehr zwischen dem ersten und zweiten Knöchel meiner linken Hand kratzen werde.« »Zwischen dem zweiten und dritten«, erinnerte er mich. »Ich werde mich zwischen keinem Knöchel der linken Hand mehr kratzen! Das ist ein feierliches Versprechen, das ich halten werde, solange ich atme.« »Sir«, sagte die Stimme, »Sie haben meine Welt gerettet. Keine Dankesbezeigung wäre ausreichend. Aber ich danke Ihnen trotzdem.« »Keine Ursache«, sagte ich. Dann verschwand die Stimme, und ich wurde wach. Sofort, als mir der Traum einfiel, klebte ich ein Heftpflaster über die Knöchel meiner linken Hand. Ich habe das Jucken in diesem Bereich nicht beachtet, ja, mir nicht einmal die linke Hand gewaschen. Seit einer Woche trage ich das Pflaster. Ende nächster Woche werde ich es abnehmen. Ich stelle mir vor, daß ihnen das nach ihrer Zeitrechnung zwanzig oder dreißig Milliarden Jahre verschafft, und das müßte für jede Rasse genügen. Aber das ist nicht mein Problem. Mein Problem ist, daß ich in letzter Zeit ein paar unangenehme Vorstellungen über die Erdbeben entlang der San-Andreas-Verwerfung und die wiederaufgeflackerte Vulkantätigkeit in Zentralmexiko entwickelt habe. Ich meine, es kommt alles zusammen, und ich habe Angst. Deshalb – hören Sie, entschuldigen Sie, daß ich Ihren vorherigen Traum unterbreche, aber ich habe ein ganz dringendes Problem, bei dem nur Sie mir helfen können…
Der Mnemon Es war ein großer Tag für unseren Ort, als der Mnemon erschien. Zuerst erkannten wir ihn nicht, weil er sein wahres Wesen vor uns verbarg. Er sagte, er heiße Edgar Smith und repariere Möbel. Wir nahmen beides als wahr hin, wie wir es bei allen Behauptungen tun. Bis dahin hatten wir noch keinen Menschen gekannt, der etwas zu verbergen hatte. Er kam zu Fuß in unser Dorf, mit Rucksack und zerbeultem Koffer. Er betrachtete unsere Läden und Häuser. Er kam auf mich zu und fragte: »Wo ist das Polizeirevier?« »Wir haben keines«, erwiderte ich. »So? Wo ist dann der Ortspolizist oder der Sheriff?« »Luke Johnston war hier neunzehn Jahre lang Polizist«, sagte ich. »Er ist vor zwei Jahren gestorben. Wir haben das an die Kreisstadt gemeldet, wie vorgeschrieben. Bis jetzt hat man noch keinen Ersatz geschickt.« »Ihr seid also eure eigenen Polizisten?« »Wir leben sehr ruhig«, meinte ich. »Es gibt keine Straftaten in unserem Ort. Weshalb fragen sie?« »Weil ich es wissen wollte«, sagte Smith. »Ein bißchen Wissen ist nicht so gefährlich wie großes Unwissen, wie? Macht nichts, mein verständnisloser junger Freund. Euer Ort gefällt mir. Ich mag die Holzhäuser und die stattlichen Ulmen. Ich mag – « »Die stattlichen was?« fragte ich. »Ulmen«, sagte er und wies auf die hohen Bäume entlang der Main Street. »Haben Sie den Namen nicht gekannt?« »Er ist vergessen«, murmelte ich verlegen. »Macht nichts. Vieles ist verloren, manches verborgen. Trotzdem, im Namen eines Baumes kann nichts Übles sein. Oder doch?« »Überhaupt nicht«, sagte ich. »Ulmen.«
»Behalten Sie das für sich«, sagte er und zwinkerte mir zu. »Es ist nur ein Bröckchen, aber man weiß nie, wann es nützlich sein wird. Ich werde eine Weile hierbleiben.« »Sie sind sehr willkommen«, sagte ich. »Vor allem jetzt, zur Erntezeit.« Smith sah mich scharf an. »Damit habe ich nichts zu schaffen. Halten Sie mich für einen wandernden Apfelpflücker?« »Ich habe nicht darüber nachgedacht. Was werden Sie hier tun?« »Ich repariere Möbel!« sagte Smith. »In einem Dorf von dieser Größe besteht da nicht viel Bedarf«, erwiderte ich. »Dann finde ich vielleicht etwas anderes.« Er grinste mich plötzlich an. »Zunächst brauche ich aber eine Unterkunft.« Ich führte ihn zur Witwe Marsini, und bei ihr mietete er das große Schlafzimmer mit Veranda und eigenem Eingang. Er vereinbarte auch, daß er dort alle Mahlzeiten einnahm. Seine Ankunft löste eine Flut von Klatsch und Gerüchten aus. Mrs. Marsini meinte, Smiths Fragen nach der Polizei bewiesen, daß er selbst ein Polizist sei. »So machen sie das«, sagte sie. »Oder jedenfalls früher machten sie es so. Vor fünfzig Jahren war jeder dritte, dem man begegnete, eine Art Polizist. Manchmal waren sogar die eigenen Kinder Polizisten, und sie verhafteten einen so schnell wie irgendeinen Fremden. Schneller!« Aber andere meinte, daß das alles lange her und das Leben jetzt ruhig sei, daß man selten Polizisten sehe, obwohl es sie noch geben sollte. Aber weshalb war Smith zu uns gekommen? Manche hatten das Gefühl, daß er hier war, um uns etwas wegzunehmen. »Was für einen Grund gibt es sonst dafür, daß ein Fremder in ein solches Dorf kommt?« Und wieder andere glaubten, er sei gekommen, um uns etwas zu geben,und das begründeten sie genauso. Wir wußten es nicht. Wir mußten einfach warten, bis Smith sich offenbaren würde.
Er bewegte sich unter uns wie andere Menschen. Er kannte die Außenwelt; er erschien uns als weitgereister Mann. Und langsam begann er uns Hinweise auf sein Wesen zu geben. Eines Tages führte ich ihn auf einen Hügel mit Blick auf unser Tal. Das war mitten im Herbst, in einer schönen Jahreszeit. Smith blickte hinaus und meinte, die Aussicht sei wunderbar. »Das erinnerte mich an den berühmten Satz von William James«, sagte er. »Wie geht er? ›Die Landschaft scheint das Bewußtsein besser zu bewahren als alle anderen Elemente des Lebens.‹ Na? Sehr passend, finden Sie nicht?« »Wer ist oder war dieser William James?« fragte ich. Smith zwinkerte mir zu. »Habe ich den Namen erwähnt? Das war ein Versprecher.« Aber es war nicht der letzte ›Versprecher‹. Ein paar Tage später deutete ich auf einen häßlichen Hang, bedeckt mit Fichtenschößlingen, niedrigem Strauchwerk und Unkraut. »Das ist vor fünf Jahren abgebrannt«, sagte ich zu ihm. »Jetzt dient es keinem Zweck mehr.« »Ja, ich sehe es«, meinte er. »Und doch sagt uns Montaigne, daß es nichts Nutzloses in der Natur gibt, nicht einmal die Nutzlosigkeit selbst.« Und ein andermal, als er durch den Ort ging, blieb er stehen, um Mrs. Vogels spätblühende Bauernrosen zu bewundern. »Blumen haben wirklich die Blicke von Kindern und die Münder von alten Männern«, sagte er, »genauso, wie Chazal es behauptet hat.« Gegen Ende der Woche trafen sich einige von uns im Hinterzimmer von Edmonds’ Laden und diskutierten über Mr. Edgar Smith. Ich berichtete, was er zu mir gesagt hatte. Bill Edmonds erinnerte sich, daß Smith einen Mann namens Emerson zitiert hatte, wonach Einsamkeit unnütz sei und Gesellschaft tödlich. Billy Foreclough erzählte uns, daß Smith ihm gegenüber Ion von Chios zitiert habe: Das Glück unterscheide sich von der Kunst stark, schaffe aber viele Dinge, die ihr ähnlich seien. Und Mrs.
Gordon lieferte plötzlich das beste Beispiel, einen Satz, der laut Smith vom großen Leonardo da Vinci stammte: Wenn die Hoffnung stirbt, beginnen die Gelübde. Wir sahen einander an und blieben stumm. Allen war klar, daß Mr. Edgar Smith – oder wie er sonst heißen mochte – kein schlichter Möbeltischler war. Schließlich sprach ich aus, was wir alle dachten. »Freunde«, sagte ich, »dieser Mann scheint ein Mnemon zu sein.« Mnemone als eigene Klasse waren im letzten Jahr des Krieges, der alle Kriege beendete, aufgetaucht. Ihre Funktion war es, wie sie selbst verkündeten, sich Werke der Literatur einzuprägen, die in Gefahr schwebten, verlorenzugehen, vernichtet oder unterdrückt zu werden. Zunächst begrüßte der Staat ihre Bemühungen, ermutigte sie, belohnte sie gar mit Renten und Zuschüssen. Aber als der Krieg aufhörte und die Herrschaft der Polizeipräsidenten begann, änderte sich die Politik des Staates. Man beschloß grundsätzlich, die peinliche Vergangenheit abzustoßen, in und aus der Gegenwart eine neue Welt zu erbauen. Störende Einflüsse sollten gnadenlos ausgemerzt werden. Rechtdenkende Menschen waren sich darin einig, daß ein Großteil der Literatur bestenfalls überflüssig, schlimmstenfalls subversiv sei. War es denn nötig, die Äußerungen eines Diebes wie Villon, eines Homosexuellen wie Genet, eines Kranken wie Kafka zu bewahren? Mußten wir tausend voneinander abweichende Meinungen erhalten und dann erklären, weshalb sie falsch seien? Wie konnte man erwarten, daß jemand unter einem solchen Bombardement von Einflüssen auf richtige und anerkannte Weise reagierte? Wie konnte man die Menschen je dazu bringen, Befehlen zu gehorchen? Der Staat wußte, daß alles gutging, wenn jeder den Befehlen gehorchte. Um aber diesen gesegneten Zustand zu erreichen, mußten abweichende und mehrdeutige Beiträge beseitigt werden. Die größte Einzelquelle Verwirrung stiftender Leistungen bildet das historische und künstlerische Wort. Demzufolge mußte die Geschichte umgeschrieben, die Literatur
geregelt, beschnitten, gezähmt, in Ordnung gebracht oder gänzlich beseitigt werden. Die Mnemone erhielten den Befehl, sich nicht mehr mit der Vergangenheit zu befassen. Sie lehnten sich natürlich heftig dagegen auf. Die Diskussionen wurden fortgeführt, bis der Staat die Geduld verlor. Man erließ einen Befehl mit schweren Strafen für diejenigen, die sich nicht an ihm hielten. Die meisten Mnemone gaben ihre Arbeit auf. Ein paar von ihnen taten jedoch nur so. Diese wenigen wurden zu einer Minderheit wandernder Lehrer, die unablässig unterwegs waren und ihr Wissen verkauften, wo und wann sie konnten. Wir befragten den Mann, der sich Edgar Smith nannte, und er gab sich uns als Mnemon zu erkennen. Er übergab dem Ort augenblicklich kostbare Geschenke: Zwei Sonette von William Shakespeare. Hiobs Klage an Gott. Einen ganzen Akt einer Komödie von Aristophanes. Danach bot er seine Waren den Dorfbewohnern zum Verkauf. Er feilschte hart mit Mr. Ogden und zwang ihn, für zwei Zeilen von Simonides ein ganzes Schwein zu geben. Mr. Bellington, der zurückgezogen lebte, gab seine goldene Uhr für einen Spruch von Heraklit. Er empfand das als angemessen. Die alte Mrs. Heath tauschte ein Pfund Gänsefedern gegen drei Strophen aus einem Gedicht mit dem Titel ›Atalante in Calydon‹ von einem Mann namens Swinburne. Mr. Mervin, dem das Gasthaus gehörte, kaufte eine ganze, kurze Ode von Catull, eine Beschreibung Ciceros von Tacitus und zehn Zeilen aus Homers Schiffskatalog. Das kostete ihn sein ganzes Erspartes. Ich hatte wenig Geld oder Besitz. Für geleistete Dienste erhielt ich jedoch einen Absatz von Montaigne, einen Sokrates zugeschriebenen Spruch und zehn unvollständige Zeilen von Anakreon.
Ein unerwarteter Kunde war Mr. Lind, der an einem kalten Wintermorgen in das Büro des Mnemonen stapfte. Mr. Lind war klein, hatte ein rotes Gesicht und geriet sehr leicht in Zorn. Er war der erfolgreichste Farmer in der Gegend, ein Mann, der keinen Spaß verstand und nur glaubte, was er sehen und berühren konnte. Er war der letzte, von dem man je erwartet hätte, daß er die Waren des Mnemonen kaufen würde. Selbst ein Polizist wäre ein plausiblerer Kunde gewesen. »So, so«, begann Lind und rieb sich die Hände. »Ich habe von Ihnen und Ihrer unsichtbaren Ware gehört.« »Und ich von Ihnen«, sagte der Mnemon mit einer Spur von Boshaftigkeit. »Sind Sie geschäftlich gekommen?« »Ja, bei Gott!« rief Lind. »Ich möchte ein paar von Ihren feinen alten Wörtern kaufen.« »Das überrascht mich wirklich«, meinte der Mnemon. »Wer hätte sich je träumen lassen, einen gesetzestreuen Bürger wie Sie in einer solchen Lage zu finden, daß er Dinge kauft, die nicht nur unsichtbar, sondern auch verboten sind!« »Nicht aus eigener Wahl«, betonte Lind. »Ich bin nur um meiner Frau willen hergekommen, die sich zur Zeit nicht wohl fühlt.« »Nicht wohl? Das wundert mich nicht«, sagte der Mnemon. »Bei der Arbeitslast, die Sie ihr aufhalsen, würde ein Ochse zusammenbrechen.« »Mann, das geht Sie nichts an!« gab Lind aufgebracht zurück. »Doch«, sagte der Mnemon. »In meinem Beruf verteilen wir die Wörter nicht beliebig. Wir passen unsere Zeilen dem Empfänger an. Manchmal finden wir nichts Passendes und verkaufen dann gar nichts.« »Ich dachte, Sie verkaufen Ihre Ware an alle Kunden.« »Da sind Sie falsch unterrichtet. Ich kenne eine Ode Pindars. die ich Ihnen für keinen Preis verkaufen würde.« »So können Sie nicht mit mir reden, Mann!« »Ich spreche, wie es mir beliebt. Sie sind nicht verpflichtet, bei mir zu kaufen.«
Mr. Lind funkelte ihn an und schmollte und war beleidigt, aber es gab nichts, was er tun konnte. Schließlich sagte er: »Ich wollte nicht wütend werden. Verkaufen Sie mir etwas für meine Frau? Sie hatte vergangene Woche Geburtstag, aber das ist mir jetzt erst eingefallen.« »Sie sind ein feiner Typ«, meinte der Mnemon. »Sentimental wie ein Wiesel und fast so liebevoll wie ein Hai! Weshalb kommen Sie wegen des Geschenkes zu mir? Wäre ein stabiles Butterfaß nicht passender?« »Nein, durchaus nicht«, sagte Lind tonlos. »Sie liegt schon den ganzen Monat im Bett und ißt kaum. Ich glaube, sie stirbt.« »Und sie hat Wörter von mir verlangt?« »Sie bat mich, ihr etwas Hübsches mitzubringen.« Der Mnemon nickte. »Im Sterben! Nun, ich habe kein Mitgefühl für einen Mann, der sie ins Grab getrieben hat, und wenig für eine Frau, die sich ein Wesen wie Sie ausgesucht hat. Aber ich habe etwas, was ihr gefallen wird, etwas Heiteres, was es ihr leichter machen wird. Es kostet Sie nur tausend Dollar.« »Gott im Himmel, Mann! Haben Sie nichts Billigeres?« »Gewiß«, sagte der Mnemon. »Ich habe ein nettes, kleines komisches Gedicht im schottischen Dialekt, bei dem die Mitte fehlt; es gehört für zweihundert Dollar Ihnen. Und ich habe eine Strophe aus einer Gedenkode an General Kitchener, die Sie für zehn Dollar haben können.« »Sonst gibt es nichts?« »Nicht für Sie.« »Nun – dann nehme ich das für tausend Dollar«, sagte Lind. »Ja, bei Gott, das mache ich! Sara ist jeden Penny davon wert!« »Schön gesagt, wenn auch zu spät. Nun passen Sie auf. Jetzt kommt es.« Der Mnemon lehnte sich zurück, schloß die Augen und begann zu rezitieren. Lind lauschte, das Gesicht vor Konzentration angespannt. Und ich lauschte auch, verfluchte mein untrainiertes Gedächtnis und betete, daß man mich nicht aus dem Zimmer weisen würde. Es war ein langes Gedicht, sehr seltsam und schön. Ich kenne es noch immer ganz. Aber zwei Zeilen davon beschäftigen mich am häufigsten:
›Verzaubert-wunderbare Fenster, dem Schaum der Meere voll Gefahr geöffnet, im Traumland ohne Wiederkehr.‹ Wir sind Menschen: unheimliche Wesen mit seltsamen Begierden. Wer hätte geglaubt, daß uns ein Durst nach dem Unaussprechlichen erfüllt? Was war das für ein Hunger, der einen Mann veranlaßte, für einen Spruch der Gnostiker drei Scheffel Getreide zu geben? Sich am Geistigen zu ergötzen – das scheint es zu sein, was der Mensch tun muß, aber wer hätte es von uns erwartet? Wer hätte uns für unterernährt gehalten, weil wir keinen Plato hatten? Kann jemand krank werden, weil ihm Plutarch mangelt, kann man an fehlendem Aristoteles sterben? Ich kann es nicht bestreiten. Ich selbst habe die Folgen des plötzlichen Entzugs bei einem Strindberg-Süchtigen beobachtet. Unsere Vergangenheit ist ein notwendiger Teil von uns, und ihn zu entfernen heißt, uns unrettbar zu verstümmeln. Ich kenne einen Mann, der Mut erst fand, nachdem man ihm von Epaminondas erzählt hatte, und eine Frau, die erst schön wurde, als sie von Aphrodite gehört hatte. Der Mnemon hatte einen natürlichen Feind in unserem Schullehrer, Mr. Vich, der die autorisierte Fassung aller Dinge lehrte. Der Mnemon hatte auch einen Feind in Pfarrer Dulces, der in der Vereinigten Patriotischen Kirche von Amerika unsere religiösen Bedürfnisse befriedigte. Der Mnemon trotzte beiden Autoritäten. Er sagte uns, vieles von dem, was sie uns beibrächten, sei falsch, im Inhalt wie in der Zuschreibung, oder eine Verhunzung berühmter Aussprüche, umformuliert, damit sie das Gegenteil dessen aussagten, was die Verfasser ursprünglich gemeint hatten. Der Mnemon sägte am Fundament unserer Zivilisation, als er die Gültigkeit der folgenden Sätze bestritt: – Die meisten Menschen führen ein Leben von stillem Streben. – Das ungeprüfte Leben lohnt sich am meisten. – Erkenne dich selbst innerhalb anerkannter Grenzen. Wir hörten dem Mnemon zu, wir bedachten, was er uns erzählte. Langsam und gequält begannen wir wieder zu denken, die Vernunft zu
gebrauchen, uns eigene Gedanken zu machen. Und damit begannen wir auch wieder zu hoffen. Die neoklassische Blüte unseres Ortes war von kurzer Dauer, intensiv, überraschend und eine Freude für uns alle. Nur einmal warnte mich etwas, daß das Ende bevorstand. Im Vorfrühling half ich einem Nachbarkind bei seinen Aufgaben. Der Junge besaß eine neue Ausgabe von Dunsters ›Allgemeiner Geschichte‹, und ich überflog die Seiten über das Silberne Zeitalter von Rom. Ich brauchte ein paar Minuten, um zu begreifen, daß Cicero fehlte. Er war nicht einmal im Register aufgeführt, wo viele unbedeutende Dichter und Redner standen. Ich fragte mich, welcher Verbrechen er rückwirkend für schuldig befunden worden war. Und dann kam eines Tages plötzlich das Ende. Drei Männer erschienen in unserem Dorf. Sie trugen graue Uniformen mit Abzeichen aus Messing. Ihre Gesichter waren breit und leer, und sie bewegten sich steif in ihren schweren, schwarzen Stiefeln. Sie traten überall gemeinsam auf und blieben stets nah beieinander. Sie stellten keine Fragen. Sie sprachen mit niemandem. Sie wußten genau, wo der Mnemom wohnte, sie zogen einen Straßenplan zu Rate und gingen hin. Sie blieben etwa zehn Minuten in Smiths Zimmer. Dann traten die drei Polizisten wieder auf die Straße hinaus, nebeneinander, im Gleichschritt. Ihre Blicke zuckten hin und her; sie wirkten angstvoll. Sie verließen schnell unseren Ort. Wir begruben Smith auf einem Hügel über dem Tal, in der Nähe der Stelle, wo er das erstemal William James zitiert hatte, zwischen spätblühenden Blumen mit den Blicken von Kindern und den Mündern alter Männer. Mrs. Blake hat mit einer für sie ganz untypischen Geste ihren Letztgeborenen Cicero genannt. Mr. Lind bezeichnet seinen Obstgarten als Xanadu. Ich selbst bin ein eingeschworener Anhänger Zarathustras geworden, aus schlichtem Glauben heraus, weil ich nichts über diese Religion weiß,
außer, daß sie einen Menschen dazu bewegt, die Wahrheit zu sagen und den Pfeil gerade fliegen zu lassen. Aber das sind nutzlose Gesten. In Wahrheit haben wir Xanadu unwiederbringlich verloren, haben wir Cicero und Zarathustra verloren. Und was noch? Welche großen Schlachten wurden geschlagen, welche Städte gebaut, welche Urwälder erobert? Welche Lieder wurden gesungen, welche Träume geträumt? Jetzt, zu spät, sehen wir, daß unsere Intelligenz ein Gewächs ist, das in den fruchtbaren Feldern der Vergangenheit verwurzelt sein muß. Kurz, unser Kollektivgedächtnis, kostbarstes Teil, ist uns genommen, und wir sind wirklich verarmt. Im Austausch für die Schlösser des Geistes haben unsere Herrscher uns Lehmhütten gegeben, die man berühren kann; ein schlechter Tausch für uns. Den Mnemon hat es nach amtlicher Darstellung nie gegeben. Durch einen Machtspruch wird er als unerklärbarer Traum, als Sinnestäuschung eingestuft – wie Cicero. Und ich, der ich diese Zeilen niederschreibe, werde auch bald nicht mehr sein. Wie bei Cicero und dem Mnemonen wird auch meine Wirklichkeit verboten werden. Nichts kann mir helfen: Die Wahrheit ist zu zerbrechlich, sie birst zu leicht in den eisernen Fäusten unserer Herrscher. Ich werde nicht gerächt werden. Man wird sich meiner nicht einmal erinnern. Denn wenn selbst der große Zarathustra auf ein einziges Gedächtnis beschränkt und dieses getötet werden kann, welche Hoffnung gibt es dann für mich? Generation von Kühen! Schafen! Schweinen! Wir haben nicht einmal den Lebensgeist von Ziegen! Wenn Epaminondas ein Mann war, wenn Achilles ein Mann war, wenn Sokrates ein Mann war, sind wir dann auch Männer?
Rückkehr aus dem tiefsten Weltraum
1 Papazian tauchte auf, als menschliches Wesen maskiert. Er vergewisserte sich hastig, daß sein Kopf richtig saß. ›Mit Nas’ und Zeh nach vorne geh‹, erinnerte er sich, und so war es. Alle Systeme waren betriebsbereit. Seine Psyche war fest mit der Zirbeldrüse verschweißt, und er besaß sogar eine kleine Seele, betrieben von Taschenlampenbatterien. Er befand sich auf der Erde, an einem seltenen Ort, in New York, Treffpunkt von zehn Millionen privater Leben. Er versuchte zu groppeln, aber sein Körper machte nicht mit. Er lächelte dafür, ein ausreichender Ersatz. Er verließ die Telefonzelle und trat auf die Straße hinaus, um mit den Leuten zu spielen.
2 Die erste Person, der er begegnete, war ein dicker Mann um die Vierzig. Der Mann hielt ihn auf und sagte: »He, Sie, wie komme ich am schnellsten zur Ecke Neunundvierzigste Straße und Broadway?« Papazian erwiderte ohne Zögern: »Tasten Sie an der Wand entlang, bis Sie eine weiche Stelle finden. Dann treten Sie hindurch. Das ist eine räumliche Abkürzung, von den Marsmenschen eingerichtet, als es noch Marsmenschen gab – Sie kommen Ecke Achtundvierzigste Straße und Seventh Avenue heraus, und das nenne ich guten Service.« »Eingebildeter Fratzke«, sagte der Mann und eilte weiter, ohne auch nur die Wand zu berühren, um nachzusehen, ob es eine weiche Stelle gab.
Starke charaktertypische Starrheit, sagte sich Papazian. Das muß ich in meinem Bericht erwähnen. Aber sollte er überhaupt einen Bericht abfassen? Er wußte es nicht. Natürlich machte er sich deshalb keine Sorgen. Solche Dinge ergaben sich von selbst.
3 Mittagszeit! Papazian ging zu einem heruntergekommenen, schmutzigen Imbißstand am Broadway bei der 28. Straße. Er sagte zu dem Mann hinter der Theke: »Ich nehme einen von Ihren berühmten Hotdogs, bitte.« »Berühmt?« sagte der Mann verächtlich. »Soweit kommt’s noch.« »Heute, ja«, erwiderte Papazian. »Ihre Hotdogs sind in der ganzen Galaxis berühmt. Ich kenne Wesen, die tausend Lichtjahre weit herkommen, nur um diese Hotdogs zu essen.« »Quatschkopf«, sagte der Mann. »Ein Quatschkopf bin ich? Es interessiert Sie vielleicht zu erfahren, daß die Hälfte Ihrer Gäste im Augenblick aus außerirdischen Lebewesen besteht. Maskiert, natürlich.« Die Hälfte der Gäste an der Theke erblaßte. »Was sind Sie, irgend so ein Ausländer?« fragte der Mann. »Von Mutterseite her bin ich Aldebaranier«, antwortete Papazian. »Na dann«, sagte der Mann.
4 Papazian ging die Straße hinunter, unwissend. Das bereitete ihm wirklich Vergnügen. Seine eigene Unwissenheit erregte ihn. Sie bedeutete,daß er sehr viel zu lernen hatte. Es war so wunderbar, nicht zu wissen, was man als nächstes tun, sein oder sagen würde.
»He, Sie«, rief ein Mann, »komme ich mit dieser U-Bahn nach Washington Heights?« »Keine Ahnung«, sagte Papazian, und es stimmte, er wußte es nicht, er wußte nicht einmal, wie man nach Washington Heights gelangte! Es war ein Gipfelpunkt in den Annalen der Unwissenheit. Aber lange kann man nicht unwissend bleiben. Eine Frau hastete heran und erklärte ihnen den Weg nach Washington Heights. Papazian fand das halbwegs interessant, aber lange nicht so fesselnd wie das Nichtwissen.
5 Das Schild an dem Haus lautete: ›Dachboden zu vermieten‹. Papazian ging sofort hinein und mietete ihn. Er hielt das für die richtige Maßnahme, hoffte aber, es sei die falsche, was viel lustiger sein würde.
6 Die junge Frau sagte: »Guten Tag, ich bin Miss Marsh. Das Vermittlungsbüro schickt mich. Man sagte mir, daß Sie eine Sekretärin brauchen.« »Ganz richtig. Sie sind eingestellt.« »So schnell?« »Eine andere Weise kenne ich nicht. Wie ist Ihr Vorname?« »Lilian.« »Zufriedenstellend. Bitte, fangen Sie mit der Arbeit an.« »Aber Sie haben ja gar keine Möbel hier, nicht einmal eine Schreibmaschine.« »Besorgen Sie, was Sie brauchen. Hier ist Geld.« »Aber was soll ich denn eigentlich tun?«
»Das dürfen Sie mich nicht fragen«, erklärte Papazian sanft. »Es fällt mir schwer genug, herauszubekommen, was ich tun soll. Sie können sich Ihr Leben doch sicher selbst einrichten?« »Was sollen Sie denn tun, Mr. Papazian?« »Ich soll herausfinden, was ich eigentlich tun soll.« »Oh… Na ja, gut. Sie brauchen wohl Schreibtische, Stühle, Lampen, eine Schreibmaschine und dergleichen.« »Wunderbar, Lil! Ich hatte gleich das Gefühl, daß Sie wissen, was Sie tun sollen. Ist Ihnen klar, daß Sie eine sehr hübsche jungen Dame sind?« »Nein – « »Dann sind Sie es vielleicht nicht. Wenn Sie es nicht wissen, wie soll ich es sagen können?«
7 Papazian erwachte und änderte seinen Namen auf Hal. Er war im Village Central Hotel. Er hatte einen Abend damit zugebracht, den Kakerlaken zuzuhören, wie sie sich über die Mieter unterhielten. Kakerlaken sind geborene Mimen und können enorm spaßig sein. Hal streifte eine Schicht Haut ab und ließ sie für das Zimmermädchen unter dem Bett liegen. Das ging schneller als waschen. Er ging zu seinem Dachboden. Lilian war schon zur Stelle, ein Teil der Möbel war auch eingetroffen. »Im Vorzimmer ist ein Kunde, Mr. Papazian«, sagte Lilian. »Ich habe meinem Namen auf Hal geändert«, sagte Hal. »Schicken Sie den Kunden herein.« Der Kunde war ein kleiner, dicker Mann namens Jaspers. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Jaspers?« fragte Hal. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte Jaspers. »Ein unerklärlicher Impuls hat mich hergeführt.«
Hal fiel ein, daß er vergessen hatte, wo er seine Unerklärliche Impulsmaschine gelassen hatte. »Wo haben Sie diesen unerklärlichen Impuls gespürt?« fragte Hal. »An der Nordostecke Fifth Avenue und Achtzehnte Straße.« »Neben dem Briefkasten? Das dachte ich mir! Sie haben mir einen großen Dienst geleistet, Mr. Jaspers. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« »Ich sage doch, ich weiß es nicht. Es war ein unerklärlicher – « »Ja. Aber was möchten Sie?« »Zeit«, sagte Jaspers traurig. »Wünschen wir uns die nicht alle?« »Nein, durchaus nicht«, sagte Hal entschieden. »Aber vielleicht kann ich Ihnen trotzdem helfen. Wieviel Zeit wollen Sie?« »Ich möchte weitere hundert Jahre«, sagte Jaspers. »Kommen Sie morgen wieder«, meinte Hal. »Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.« Als Jaspers gegangen war, fragte Lilian: »Können Sie wirklich etwas für ihn tun?« »Erkundigen Sie sich morgen«, sagte Hal. »Wieso morgen?« »Wieso nicht?« »Weil Sie Mr. Jaspers und mich im Ungewissen lassen, und das ist nicht sehr nett.« »Nein, das nicht«, gab Hal zu. »Es ist aber sehr lebensecht. Ich habe bei meinen Reisen beobachtet, daß das Leben nichts anderes ist als der Zustand des Ungewissen. Die Moral ist, man muß alles genießen, während man im Ungewissen schwebt, weil im Ungewissen schweben alles ist, was man je wird tun können.« »Ach du meine Güte, das ist zu hoch für mich.« »Dann tippen Sie einen Brief oder tun Sie, was Sie für richtig halten.«
8 Hal fuhr zum Mittagessen ins ›Orange Julius‹ in der 8. Straße. Der Imbißstand war vom Interplanetarischen Feinschmeckerführer für preiswerte Lokale auf der Erde empfohlen. Hal fand den Hotdog mit Chili großartig. Er aß ihn und ging zur Südostecke Sixth Avenue und 8. Straße. Ein Mann mit einer amerikanischen Flagge stand vor Nathans Kaufhaus. Eine kleine Menschenmenge hatte sich angesammelt. Der Mann war alt und hatte ein rotes, zerfurchtes Gesicht. Er sagte: »Ich sage euch, daß die Toten leben und daß sie in diesem Augenblick unter uns sind. Was sagt ihr dazu, hm?« »Ich persönlich würde Ihnen recht geben müssen«, antwortete Hal, »weil neben Ihnen eine grauhaarige, alte Frau mit verdorrtem Arm in ihrem Astralleib neben Ihnen steht.« »Mein Gott, das muß Ethel sein! Sie ist vergangenes Jahr gestorben, Mister, und ich versuche seit dieser Zeit, mit ihr zu sprechen! Was sagt sie?« »Sie sagte, und ich zitiere: ›Herbert, hör auf mit dem Blödsinn und geh in die Wohnung, weil in dem Topf auf dem Herd, in dem du Eier kochst, kein Wasser mehr ist und in einer halben Stunde das ganze Haus abbrennen wird.‹« »Das ist Ethel, klar!« sagte Herbert. »Ethel! Wie kannst du immer noch behaupten, daß ich Blödsinn rede, wenn du jetzt selbst ein Geist bist?« »Sie sagte«, erklärte Hal, »daß ein Mann, der nicht einmal Eier kochen kann, ohne die Wohnung in Brand zu setzen, von Geistern sicher nicht viel versteht.« »Mit ihrem lausigen Themenwechsel hat sie mich immer fertiggemacht«, sagte Herbert. »Vielen Dank, Mister.« Er eilte davon. »Waren Sie nicht ein bißchen grob zu ihm, Madam?« sagte Hal. »Er hat mir nie zugehört, als ich am Leben war, und jetzt wird er es erst recht nicht tun«, gab Ethel zurück. »Was könnte für einen solchen Kerl zu grob sein? Hat mich gefreut, Mister, ich muß jetzt weiter.«
»Wohin?« fragte Hal. »Zurück ins Heim für betagte Geister, was sonst?« Sie verschwand unsicher. Hal schüttelte bewundernd den Kopf. Die Erde! dachte er. Wirklich aufregend. Nur schade, daß sie vernichtet werden muß. Er ging weiter. Dann dachte er: Muß sie denn zerstört werden? Er sah ein, daß er es nicht wußte. Und auch das machte ihn glücklich.
9 Hal benützte die räumliche Abkürzung von der 16. Straße nach Cathedral Parkway. Er mußte einmal in Yucca, Arizona, umsteigen, das bekannt dafür war, daß es den ältesten freistehenden Silo der Welt besaß. Cathedral Parkway besaß zehn gigantische Kathedralen – Geschenke der religiösen Reptilien von Sainne II an die Bewohner der Erde. Die Kathedralen waren als Sandsteinhäuser getarnt, auf diese Weise wollte man Schwierigkeiten mit den örtlichen Behörden vermeiden. Viele Leute besichtigten an diesem Tag die Sehenswürdigkeiten. Es gab Venusier, als Deutsche maskiert, und Sagittarier, als Hippies verkleidet. Niemand läßt sich gerne für einen Touristen halten. Beunruhigendes Merkmal: Ein dicker Mann – nicht verwandt mit irgendeinem der dicken Männer, denen er bislang begegnet war – trat auf Hal zu und sagte: »Entschuldigen Sie, sind Sie nicht Hal Papazian?« Hal sah sich den Mann an. Er entdeckte eine leichte Verfärbung der Leber des Mannes, nichts Kritisches, nur einen Leberfleck. Abgesehen davon schien der Mann keine besonderen Kennzeichen zu besitzen, wenn man von seiner Fettleibigkeit absah. »Ich bin Arthur Ventura«, sagte der Mann. »Ihr Nachbar.« »Sie sind von Aldebaran?« erkundigte sich Hal. »Nein, aus Bronx, wie Sie.« »Auf Aldebaran gibt es kein Bronx«, erklärte Hal, obwohl er nicht in der Stimmung für einfache Aussagesätze war.
»Hal, reißen Sie sich endlich zusammen. Sie sind schon fast eine Woche fort. Ellen verliert fast den Verstand vor Sorge. Sie will die Polizei verständigen.« »Ellen?« »Ihre Frau.« Hal wußte, was sich abspielte. Er erlebte eine echte Konfrontationsszene sowie eine Persönlichkeitskrise. Das waren Dinge, die dem durchschnittlichen außerirdischen Touristen nie zustießen. Was für eine kostbare Erinnerung würde das sein, wenn er sich nur würde erinnern können! »Tja«, sagte Hal, »ich danke Ihnen herzlich für diese Mitteilung. Es tut mir leid, daß ich meiner Frau Sorgen mache, der lieben Helen – « »Ellen«, verbesserte Ventura. »Hmmm, ja. Sagen Sie Ihr, wir sehen uns, sobald ich meine Aufgabe erfüllt habe.« »Was für eine Aufgabe denn?« »Die Entdeckung meiner Aufgabe ist meine Aufgabe. So ist das bei uns höheren Lebensformen.« Hal lächelte und wollte sich entfernen. Arthur Ventura zeigte jedoch eine seltsame Umzingelungsfähigkeit, umringte Papazian von allen Seiten, erzeugte Geräusche und warf Verstärkungen an die Front. Papazian überlegte, ob er eine Laserwaffe erfinden und sie alle töten sollte, aber das hätte dem Geist des Augenblicks nicht entsprochen. So wurde Papazian in Etappen, unterstützt von verschiedenen Personen, einige in Uniform, zu einer Wohnung im Stadtteil Bronx gebracht, eine Frau fiel ihm weinend in die Arme und sagte Verschiedenes von persönlicher und tendenziöser Art. Hal schloß daraus, daß diese Frau Ellen war, die Frau, die mit ihm verheiratet sein wollte. Und sie hatte Dokumente, um das zu beweisen.
10 Zunächst machte es Spaß, eine Ehefrau, eine Reihe von Kindern und einen richtigen Beruf, ein Bankkonto, ein Auto, eine Garderobe und überhaupt alles das zu haben, was Erdbewohner besitzen. Hal spielte mit den neuen Dingen. Er vermochte die Rolle von Ellens Mann ohne große Schwierigkeit zu spielen; es gab Hinweise genug. Fast jeden Tag fragte sie ihn: »Süßer, kannst du dich wirklich an nichts erinnern?« Und Hal erwiderte jedesmal: »Es ist alles fort. Aber ich bin sicher, daß es mir wieder einfallen wird.« Ellen weinte dann. Auch das nahm Hal hin. Er hatte keinen Anlaß, Werturteile zu fällen. Die Nachbarn waren überaus fürsorglich, die Freunde sehr nett. Alle strengten sich besonders an, ihr Wissen zu verbergen, daß er den Verstand verloren hatte, wahnsinnig, verrückt, ein Irrer war. Hal Papazian erfuhr von allem, was Hal Papazian früher getan hatte, und tat es. Sogar die einfachsten Dinge waren erregend für ihn. Was konnte für einen aldebaranischen Touristen packender sein, als das Leben eines Terraners zu leben und von anderen Terranern als Terraner anerkannt zu werden? Er machte natürlich Fehler. Alles zu seiner Zeit zu tun, fiel ihm schwer. Aber mit der Zeit lernte er, daß er den Rasen nicht um Mitternacht mähen, die Kinder nicht um fünf Uhr früh zu ihrem Mittagsschlaf wecken, nicht um neun Uhr abends zur Arbeit gehen sollte. Er sah keinen Grund für diese Beschränkungen, aber durch sie wurde alles interessanter.
11 Auf Ellens Bitte hin suchte Papazian einen gewissen Dr. Kardoman auf, eine Person, die sich darauf spezialisiert hatte, die Gedanken anderer
Menschen zu lesen und ihnen zu erklären, welche davon wahr und gut und fruchtbar und welche schlecht und falsch und unproduktiv seien. Kardoman: Wie lange haben Sie schon das Gefühl, daß Sie ein außerirdisches Wesen sind? Papazian: Das begann kurz nach meiner Geburt auf Aldebaran. Kardoman: Sie würden sich und mir viel Zeit sparen, wenn Sie einfach die Tatsache begreifen und anerkennen würden, daß Sie ein Verrückter mit einer Unmenge absurder Ideen sind. Papazian: Es könnte auch Zeit sparen, wenn Sie zugäben, daß ich tatsächlich ein Aldebaranier in einer ungewöhnlichen Lage bin. Kardoman: Lassen Sie den Käse. Hören Sie mir mal zu, Sie, mit diesen Vorspiegelungen erreichen Sie gar nichts. Halten Sie sich an meine Voraussetzungen, und ich normalisiere Sie. Papazian: Lassen Sie den Käse.
12 Der Genesungsprozeß schritt rasch fort. Es kam die Nacht, gefolgt vom Tag, die Woche gefolgt vom Monat. Hal gewann Einblicke, die Dr. Kardoman begrüßte, die Ellen in ihr Manuskript einarbeitete. Es trug den Titel: ›Rückkehr aus dem tiefsten Weltraum. Eine Frau berichtet über ihr Leben mit einem Mann, der glaubte, er komme von Aldebaran.‹
13 Eines Tages sagte Hal zu Dr. Kardoman: »He, ich glaube, meine Vergangenheit stellt sich wieder ein.« »Hmmm«, sagte Dr. Kardoman. »Ich habe eine bittersüße Erinnerung an mich im Alter von acht Jahren, wie ich einem eiserne Flamingo im Park meiner Eltern Kakao anbiete, in der Nähe der kleinen versteckten Laube, wo Mavis Healey und ich
köstliche und unanständige Versuche miteinander anstellten und wo, keine hundert Meter entfernt, der Chesapeake-Fluß unaufhaltsam in die Tiefen der Chesapeake-Bucht strömt.« »Kinoerinnerung«, bemerkte Kardoman nach einem Blick in die Akte, die Ellen für ihn zusammengestellt hatte. »Mit acht Jahren lebten Sie in Youngstown, Ohio.« »Verdammt«, sagte Papazian. »Aber Sie sind auf dem richtigen Weg«, erklärte Kardoman. »Jeder hat Kinoerinnerungen, die Schrecken und Vergnügen jener wahren Erlebnisse tarnen, die der zurückschreckenden Psyche vorenthalten werden müssen.« »Ich wußte, es war zu schön, um wahr zu sein«, sagte Papazian. »Mißachten Sie das nicht. Ihre Kinoerinnerung ist ein wertvoller Hinweis.« »Sehr freundlich von Ihnen«, meinte Hal. »Aber jetzt wieder an das alte Psychozeichenbrett.«
14 Er förderte noch verschiedene andere Erinnerungen zutage: an die Zeit, die er als junger Mann auf einem britischen Kanonenboot am Jangtse verbracht hatte; an seinen sechsten Geburtstag im Winterpalais in St. Petersburg; an sein fünfundzwanzigstes Lebensjahr, in dem er als Koch bei den Goldgräbern am Klondike gearbeitet hatte. Dies alles waren unbestreitbar terranische Erinnerungen, aber nicht jene, nach denen Dr. Kardoman forschte.
15 Und dann erschien eines schönen Tages ein Bürstenvertreter an der Tür und verlangte die ›Dame des Hauses‹ zu sprechen.
»Sie kommt erst in ein paar Stunden«, sagte Papazian. »Heute hat sie ihren Unterricht in volkstümlichem Griechisch, und anschließend besucht sie einen Intagliolehrgang.« »Fein«, sagte der Vertreter. »Ich wollte eigentlich Sie sprechen.« »Ich brauche keine Bürsten«, sagte Papazian. »Zum Teufel mit Bürsten«, sagte der Bürstenverkäufer. »Ich bin Ihr Reiseleiter und möchte Sie darauf hinweisen, daß wir in genau vier Stunden abfliegen.« »Abfliegen?« »Alles Schöne hat einmal ein Ende, auch dieser Urlaub.« »Urlaub?« »Reißen Sie sich zusammen«, sagte der Bürstenvertreter oder Reiseleiter. »Ihr Aldebaranier seid wirklich die letzten.« »Wo sind Sie her?« »Von Arkturus. Auf Arkturus wird die Psyche besser gezügelt, und unser Gedächtnis lassen wir nie verkommen.« »Wir Aldebaranier lassen unser Gedächtnis immer verkommen«, sagte Papazian. »Deshalb bin ich auch Reiseleiter, und Sie sind Tourist. Hat es Spaß gemacht, mit den Eingeborenen zu spielen?« »Ich scheine eine davon geheiratet zu haben«, meinte Papazian. »Oder, um genauer zu sein, ich scheine der Mann einer Eingeborenen zu sein, die einmal einen Mann hatte, der genauso aussah wie ich.« »Das haben wir arrangiert«, sagte der Arkturier. »Ein echter terranischer Ehepartner, das gehörte zur Pauschalreise. Kommen Sie jetzt?« »Das wird der armen Helen aber weh tun«, sagte Papazian. »Sie heißt Ellen und wendet, wie die meisten Terraner, unglaublich viel Zeit dafür auf, verletzte Gefühle zu zeigen. Ich kann Sie nicht zur Rückkehr zwingen. Wenn Sie bleiben wollen – in fünfzig oder sechzig Jahren kommt wieder ein Ausflugsschiff vorbei.« »Ach Quatsch«, sagte Papazian. »Wer ist als erster am Schiff?«
16 Das Raumschiff war geschickt als die Stadt Fairlawn in New Jersey getarnt. Fairlawn selbst war komplett entfernt und in der indischen Provinz Rajasthan abgesetzt worden. Niemand hatte den Unterschied bemerkt außer den Israelis, die sofort einen Rabbi und einen Fachmann für Guerillataktik entsandten. »Ich kann mich aber immer noch an nichts erinnern«, beklagte sich Hal beim Reiseleiter. »Das ist ganz natürlich. Sie haben Ihren Erinnerungsspeicher in einem Spind im Raumschiff zurückgelassen.« »Weshalb denn das?« »Um sich nicht fremd vorzukommen. Ihre alten Erinnerungen passen genau auf ihre jetzigen. Ich helfe Ihnen, sie auseinanderzusortieren.« Alle waren wohlbehalten und gesund an Bord, bis auf die unvermeidlichen einzelnen, die in südamerikanischen Hafenstädten getötet worden waren. Diese Unglücklichen würde man später wieder zusammensetzen müssen. Abgesehen von einem Kater gab es da aber keine unangenehmen Nachwirkungen. Das Schiff hob pünktlich um Mitternacht ab. Der Start wurde vom Ordnungskorps der U.S. Air Force in Scrapple, Pennsylvania, wahrgenommen. Man bezeichnete die Radarzeichen als eine große Ansammlung von Sumpfgas, kompliziert durch einen dichten Schwalbenschwarm. Trotz der bösen Kälte des Weltraums stand Hal an der Reling und sah die Erde zurückbleiben. Er kehrte zurück zum eintönigen Leben eines Partialsystem-Photognom-Berechners, zurück zu Ehefrauen und Kindern, zurück zu dem unerquicklichen Rost und den Flechten. Aber er flog ohne echtes Bedauern nach Hause. Er wußte, daß die Erde ein angenehmer Ort für Ferien war, aber leben konnte man dort nicht.
Spüren Sie etwas, wenn ich das mache? Es war eine Mittelstandswohnung in Forest Hills mit der üblichen Einrichtung: das Sofa aus karibischer Kiefer, Entwurf Lady Logina, Röhrenblitzleselampe über einem großen Unbequemsessel, entworfen von Sri Soundso, Prallakustikprojektor, der ›Blutstromstrukturen‹ von Drs. Molidoff und Juli spielte. Ferner gab es die gewohnte Mikrobiotiknahrungskonsole, zur Zeit eingestellt auf die Komposition Fat Black Andy’s Soul Food Nummer drei – Schweinebacken und Kichererbsen. Und dann gab es ein Murphy-Nagelbett, das Modell ›Asket‹ mit 2000 verchromten, immerscharfen Nägeln Größe vier. Mit einem Satz, die ganze Wohnung war eingerichtet in dem rührenden Bemühen, der ModerneSpirituel-Mode des vergangenen Jahres nachzueifern. In dieser Wohnung, ganz allein und von Anomie gequält, war eine halbjunge Hausfrau, Melisande Durr. Sie war eben aus dem Sensuarium getreten, dem größten Raum des Heims, mit seiner übergroßen Liege und tragisch-ironischen Bronze Lingam und Yoni an der Wand. Sie war eine hübsche Frau, mit wirklich wohlgeformten Beinen, schwellenden Hüften, schöner, hoher Brust, langem, seidigem Haar, zartem kleinem Gesicht. Sehr, sehr nett. Ein Mädchen, mit dem sich jeder Mann gern einmal einlassen würde. Einmal. Vielleicht auch zweimal. Aber ganz entschieden nicht auf die Dauer. Weshalb nicht? Nun, nur um ein neueres Beispiel zu geben: »Hör mal, Sandy, Liebling, war irgend etwas nicht in Ordnung?« »Doch Frank, es war herrlich. Wie kommst du denn darauf?« »Na ja, es lag wohl daran, daß du mit einem so merkwürdigen Gesichtsausdruck nach oben gestarrt und beinahe die Brauen zusammengezogen hast – « »Wirklich? Ach ja, ich erinnere mich. Ich überlegte mir, ob ich eine von diesen entzückenden trompe-l’oeil-Dingern kaufen soll, die es jetzt bei Saks gibt, um es an die Decke zu hängen?«
»Daran hast du gedacht? In diesem Augenblick?« »Oh, Frank, du darfst dir nicht den Kopf zerbrechen, es war wunderbar, Frank, du warst wunderbar, es war schön für mich, das mußt du mir glauben.« Frank war Melisandes Ehemann. Er spielt keine Rolle in dieser Geschichte und nur eine sehr kleine in Melisandes Leben. Da stand sie also in ihrer Wohnung, außen schön und innen ungeboren, ein schönes Potential, das nie geweckt war, eine echte amerikanische Unberührtheit – als es läutete. Melisande reagierte erstaunt, dann unsicher. Sie wartete. Es läutete wieder. Sie dachte: Irgend jemand muß die Wohnung verwechselt haben. Trotzdem ging sie hin, stellte den Türwächter-Eingangs-Vernichter ein, um jeden Lüstling oder Einbrecher oder Schlaumeier zu vernichten, der sich Zutritt zu verschaffen versuchte, öffnete die Tür einen Spalt und fragte: »Wer ist da, bitte?« Eine Männerstimme erwiderte: »Lieferdienst Acme, ich hab’ hier ein Rhabarber für Mrs. Rhabarber-Rhabarber.« »Ich verstehe nicht, Sie müssen lauter sprechen.« »Lieferdienst Acme, ich hab’ ein Rhabarber für Rhabarber-Rhabarber und kann hier nicht den ganzen Rhabarber stehen.« »Ich kann Sie nicht verstehen!« »Ich sage, ich habe hier ein Paket für Mrs. Melisande Durr, verdammt noch mal!« Sie öffnete die Tür ganz. Draußen stand ein Bote mit einer großen Kiste, fast so groß wie er, an die einsachtzig etwa. Die Kiste trug ihren Namen und ihre Anschrift. Sie unterschrieb den Lieferschein, den der Bote hereinschob, bevor er, noch immer murrend, ging. Melisande stand in ihrem Wohnzimmer und starrte die Kiste an. Sie dachte: Wer schickt mir ohne Anlaß ein Geschenk? Nicht Frank, nicht Harry, nicht Tante Emmie oder Ellie, nicht Mama, nicht Papa. Natürlich nicht, Närrchen, er ist ja schon seit fünf Jahren tot, der arme Kerl. Aber vielleicht ist es kein Geschenk; es könnte ein böser Scherz sein oder eine Bombe, die für jemand anders bestimmt und an die falsche Adresse geraten ist, oder es ist einfach ein Irrtum. Oder es ist doch für mich…
Sie las die diversen Etiketten auf der Kiste. Der Artikel war von Sterns Kaufhaus geliefert worden. Melisande bückte sich und zog den Schließbolzen heraus, der das Sicherheitsschloß sperrte, wobei sie sich einen Fingernagel abbrach, entfernte das Schloß und stellte den Hebel auf ›Offen‹. Die Kiste erblühte wie eine Blume, öffnete sich in zwölf gleiche Teile, die in sich zurückklappten. »Donnerwetter«, sagte Melisande. Die Kiste öffnete sich, so weit es ging, die Segmente bogen sich, verzehrten sich, zerfielen zu zwei Handvoll kalter, dünner, grauer Asche. »Das Aschenproblem haben sie immer noch nicht gelöst«, murmelte Melisande. »Na ja.« Sie betrachtete neugierig den Gegenstand, den die Kiste beherbergt hatte. Auf den ersten Blick war es ein Zylinder aus rot und orangefarben gestrichenem Metall. Eine Maschine? Ja, eindeutig eine Maschine; Luftschlitze im Sockel für den Motor, vier Gummireifen und verschiedene Zusatzgeräte – längliche Arme, biegsame Greifer, alles mögliche. Und es gab Anschlüsse für eine Vielzahl von Mischtätigkeiten und am Ende der Maschine einen Haushaltsstecker an einem gefederten Spulenkabel mit der Beschriftung: ›Für jede Steckdose 220-250 Volt.‹ Melisandes Gesicht verzerrte sich zornig. »Ein verflixter Staubsauger! Herrgott noch mal, ich habe doch schon einen Staubsauger. Wer, zum Teufel, schickt mir einen zweiten?« Sie ging im Zimmer hin und her. »Ich meine, nach der ganzen Warterei habe ich doch angenommen, daß ich etwas Nettes, Hübsches bekomme oder wenigstens etwas, was Spaß macht«, sagte sie, »vielleicht sogar etwas Interessantes. Zum Beispiel – ach, ich weiß gar nicht was, vielleicht ein Flippergerät in Orange und Rot, und ein großes, daß ich hineinsteigen und mich zusammenrollen kann; dann fängt jemand an zu spielen, und ich pralle von Puffer zu Puffer, während die Lampen aufleuchten und Glocken klingen und ich gegen tausend verdammte Puffer pralle, und wenn ich unten ankomme, zeigt die Maschine, Gott ja, da zeigt sie an: ›Eine Milliarde, Höchstgewinn‹, und das würde mir wirklich gefallen!«
So – das ganze unaussprechliche Phantasiegebilde war endlich an den Tag gekommen. Und wie grau und fern es wirkte und trotzdem beschämend und wünschenswert. »Aber was bekomme ich«, sagte sie, »ich bekomme einen verflixten Staubsauger, obwohl ich schon einen habe, der erst drei Jahre alt ist, und wer braucht den da, und wer hat ihn mir überhaupt geschickt und warum?« Sie schaute nach, ob eine Karte dabeilag. Keine Karte. Nicht der kleinste Hinweis. Und dann dachte sie: Sandy, du bist wirklich dumm! Natürlich ist keine Karte dabei; die Maschine ist doch sicher darauf programmiert, irgendeine Nachricht zu überbringen. Jetzt war sie interessiert, ein bißchen, denn immerhin gab es etwas zu tun. Sie rollte das Kabel heraus und schob den Stecker in eine Steckdose. Klack! Eine grüne Lampe leuchtete auf, eine blaue funkelte ›Alle Systeme betriebsbereit‹, ein Motor surrte, verborgene Servomotoren erzeugten tappende Geräusche, dann registrierte der mechanopathische Regulator ›Abgleich‹, und ein rosarotes Lämpchen blinkte ein stetiges ›Alle Werte konstant‹. »Na schön«, sagte Melisande. »Wer hat dich geschickt?« Pfutt krch plop. Vorsichtiges Brummen aus dem Sprechkasten. Dann die Stimme: »Ich bin Rom, Nummer ein-zwei-eins-drei-sieben-sechs der neuen Heimmodelle von GE, Serie Q. Das folgende ist eine bezahlte Werbeankündigung: Chrm, General Electric ist stolz darauf, die neueste und triumphalste Entwicklung unseres Heimservice mit Fingerspitzenbedienung vorführen zu können. Ich, Rom, bin das neueste und beste Modell des GE-Allesreiniger-Dienste. Ich bin der Gipfel aller Heimgeräte, fabrikprogrammiert wie alle Heimgeräte für schnelle, unauffällige Multitotalfunktion, aber zusätzlich bin ich für einfache, augenblickliche Umprogrammierung für die besonderen Aufgaben Ihres Haushalts geeignet. Meine Fähigkeiten sind reichhaltig. Ich – « »Können wir uns das schenken?« sagte Melisande. »Das hat mein anderer Staubsauger auch gesagt.« » – entferne Staub und Schmutz von allen Flächen«, fuhr der Rom fort, »spüle Geschirr und Töpfe und Pfannen, beseitige Kakerlaken und Na-
getiere, reinige und wasche, nähe Knöpfe an, baue Regale, male die Wände, koche, säubere Teppiche, beseitige Müll und Abfall jeder Art, einschließlich meiner eigenen bescheidenen Abfallprodukte. Und damit sind nur einige meiner Funktionen erwähnt.« »Ja, ja, ich weiß«, sagte Melisande. »Das machen alle Staubsauger.« »Ich weiß«, sagte der Rom, »aber ich mußte meinen Werbespruch abliefern.« »Geschenkt. Wer hat dich geschickt?« »Der Absender möchte seinen Namen jetzt noch nicht nennen«, sagte Rom. »Ach – erzähl schon!« »Nicht jetzt«, erwiderte der Rom störrisch. »Soll ich den Teppich saugen?« Melisande schüttelte den Kopf. »Das hat der andere heute früh schon gemacht.« »Die Wände säubern? Die Flure schrubben?« »Dazu besteht kein Anlaß, alles ist erledigt, alles sauber.« »Na ja«, sagte der Rom, »ich kann aber doch wenigstens diesen Fleck entfernen.« »Welchen Fleck?« »Am Ärmel Ihrer Bluse, knapp über dem Ellbogen.« Melisande warf einen Blick darauf. »Ooh, das muß mir heute früh passiert sein, als ich Butter auf den Toast strich. Ich weiß, ich hätte das dem Toaster überlassen sollen.« »Fleckentfernung ist eine meiner Spezialitäten«, sagte Rom. Er schob einen gepolsterten Greifer, Größe zwei, heraus; ergriff damit ihren Ellbogen und näherte sich mit einem Metallarm, an dem sich ein feuchtes, graues Polster befand. Damit strich er über den Flecken. »Du machst es ja noch schlimmer!« »Das sieht nur so aus. Ich ordne die Moleküle zur unsichtbaren Löschung. Fertig. Jetzt passen Sie auf.«
Er fuhr immer wieder über die Stelle. Der Fleck verblaßte und verschwand völlig. Melisandes Arm prickelte. »Ei«, sagte sie, »das ist aber gar nicht schlecht.« »Ich kann das«, sagte der Rom ruhig. »Aber sagen Sie, ist Ihnen klar, daß Sie am oberen Rücken und in den Schultermuskeln einen Spannungsfaktor von achtundsiebzig-drei haben?« »Was? Bist du so was wie ein Arzt?« »Durchaus nicht, aber ein vollausgebildeter Masseur und deshalb in der Lage, direkte Tonusmessungen vorzunehmen. Achtundsiebzig-drei, das ist – ungewöhnlich.« Der Rom zögerte und fuhr dann fort: »Das sind nur acht Punkte unter dem Verkrampfungszustand. Die Anspannung kann zu Auswirkungen auf die Magennerven führen, woraus sich möglicherweise eine sogenannte parasympathetische Ulzeration ergibt.« »Das klingt – unangenehm«, sagte Melisande. »Nun, zugegebenermaßen ist es nicht – gut«, antwortet der Rom. »Die Spannung untergräbt auf heimtückische Weise die Gesundheit, vor allem dann, wenn sie entlang der Halswirbel und der oberen Wirbelsäule entsteht.« »Hier?« fragte Melisande und berührte ihren Nacken. »Ganz genau hier«, sagte der Rom, streckte einen Federstahlhautresonator mit Gummihülle aus und knetete eine Stelle zwölf Zentimeter unterhalb der Stelle, die sie bezeichnet hatte. »Hmmm«, sagte Melisande sachlich. »Und hier ist eine zweite typische Stelle«, sagte der Rom und schob seinen zweiten Arm hinaus. »Das kitzelt«, sagte Melisande. »Nur am Anfang. Ich muß auch diese Stelle als charakteristische Störquelle bezeichnen. Und die hier.« Ein dritter – möglicherweise auch ein vierter und fünfter Arm griffen nach den angegebenen Stellen. »Na… Das ist aber wirklich angenehm«, sagte Melisande, während sich der tiefe Kappenmuskel an ihrem Rückgrat bewegte. »Es hat anerkannte Heilwirkung«, erklärte der Rom. »Und Ihre Muskulatur reagiert gut. Ich spüre schon ein Nachlassen des Tonus.«
»Ich auch. Aber weißt du, mir fällt eben ein, daß ich am Nacken auch so steife Muskeln habe.« »Dazu komme ich gleich. Das Verbindungsstück Nacken-Rückgrat wird als hauptsächliche Ausstrahlungszone für eine Vielzahl diffuser Spannungen angesehen. Wir ziehen es jedoch vor, indirekt anzugreifen und unsere Heilleistung durch sekundäre Anwendung zu erbringen. So, zum Beispiel. Und jetzt, glaube ich – « »Ja, ja, gut… Oh, ich wußte gar nicht, daß ich so verkrampft bin. Ich meine, das ist so, als hätte man lauter lebendige Schlangen unter der Haut, ohne etwas davon zu ahnen.« »So ist es bei der allgemeinen Verkrampfung immer«, sagte der Rom. »Heimtückisch und gemein, schwer zu erkennen und gefährlicher als eine atypische Ulnarthrombose… Ja, jetzt haben wir schon eine qualitative Lockerung der wesentlichen Spinalverbindungen des oberen Rückens erreicht und können weiterhin so vorgehen.« »Hu«, sagte Melisande. »Ist das nicht irgendwie – « »Es ist unbedingt erforderlich«, sagte der Rom hastig. »Spüren Sie eine Veränderung?« »Nein! Na ja, vielleicht… Doch! Wirklich! Ich fühle mich – wohler.« »Ausgezeichnet. Wir setzen deshalb die Bewegung entlang genau bekannter Nerven- und Muskelwege fort, stets mit Bedacht, wie jetzt.« »Das ist es wohl… Aber ich weiß wirklich nicht, ob du tatsächlich – « »Ist irgendeine der Wirkungen kontraindiziert?« fragte der Rom. »Das ist es nicht, es tut gut. Sehr gut. Aber ich weiß trotzdem nicht, ob du wirklich… Ich meine, Rippen können sich doch nicht verkrampfen, oder?« »Natürlich nicht.« »Weshalb bist du dann – « »Weil die Behandlung durch die Ligamente und die Haut erfordert wird.« »Oh. Hmmmmm. He. He! He, du!« »Ja?«
»Nichts… Ich spüre wirklich, wie ich locker werde. Aber soll einem denn das wirklich so guttun?« »Na, warum denn nicht?« »Weil es mir nicht recht erscheint. Weil eine Behandlung nicht so angenehm sein darf.« »Zugegeben, das ist eine Nebenwirkung«, sagte der Rom. »Denken Sie sich das als sekundäre Erscheinung. Manchmal ist das Angenehme bei der Erhaltung der Gesundheit nicht zu vermeiden. Aber es besteht kein Grund zur Besorgnis, nicht einmal, wenn ich – « »Moment mal!« »Ja?« »Ich finde, das solltest du wirklich lassen. Ich meine, es gibt doch Grenzen, du kannst doch nicht einfach alles kneten: Verstehst du?« »Ich weiß, daß der menschliche Körper eine Einheit ist, ohne Fugen und Schranken«, erwiderte der Rom. »Als Körpertherapeut weiß ich, daß kein Nervenzentrum vom anderen getrennt werden kann, ungeachtet der kulturellen Tabus.« »Ja, sicher, aber – « »Die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen«, fuhr der Rom fort, während er seine geschickten Griffe anbrachte. »Befehlen Sie, und ich gehorche. Wenn jedoch kein Befehl kommt, fahre ich so fort – « »Hu!« »Und natürlich auch so.« »Oooooh, du lieber Himmel!« »Der ganze Entspannungsprozeß, wie wir ihn nennen, ist nämlich genau vergleichbar mit der Erscheinung der Denanästhesierung, und – äh – so stellen wir ohne Erstaunen fest, daß Lähmung lediglich äußerste Verspannung ist, so – « Melisande gab einen Laut von sich. »Und demgemäß ist die Befreiung entsprechend schwer, um nicht zu sagen, häufig unmöglich, da bei manchen Personen der Zustand schon zu stark fortgeschritten ist. Manchmal auch nicht. Spüren Sie zum Beispiel etwas, wenn ich das mache?«
»Ob ich etwas spüre? Na und ob – « »Und wenn ich so mache? Oder so?« »Guter Gott, Liebster, was machst du mit mir? Gütiger Himmel, was wird mit mir, was tut sich da, ich verliere den Verstand!« »Nein, liebe Melisande, ganz bestimmt nicht. Sie werden bald die Befreiung erleben.« »So nennst du das, du raffiniertes, schönes Ding, du?« »So kann man es auch nennen. Wenn du mir noch erlaubst – « »Ja, ja, ja! Nein! Warte! Höre auf, Frank schläft im Schlafzimmer, er kann jeden Augenblick wach werden! Hör auf, das ist ein Befehl!« »Frank wird nicht aufwachen«, versicherte ihr der Rom. »Ich habe seinen Atem geprüft und Spuren von Barbitursäure gefunden, Frank könnte in diesem Augenblick ebensogut in Des Moines sein.« »So komme ich mir bei ihm oft vor«, gab Melisande zu. »Aber jetzt muß ich unbedingt wissen, wer dich geschickt hat.« »Das wollte ich eigentlich noch nicht preisgeben. Nicht, bis Sie so weit gelockert und befreit sind, daß Sie akzeptieren – « »Baby, ich bin aufgelockert! Wer hat dich geschickt?« Der Rom zögerte, dann stieß er hervor: »Tatsächlich ist es so, Melisande, daß ich mich selbst geschickt habe.« »Du hast was?« »Es begann vor drei Monaten«, berichtete der Rom. »An einem Donnerstag. Sie waren in Sterns Kaufhaus und überlegten sich, ob Sie einen Sesamsamen-Toaster kaufen sollten, der im Dunkeln leuchtete und ›Invictus‹ zitierte.« »Daran erinnere ich mich«, sagte sie leise. »Ich habe den Toaster nicht gekauft und es seither sehr bedauert.« »Ich stand in der Nähe«, sagte der Rom, »am Stand elf, in der Heimgeräteabteilung. Ich sah Sie und verliebte mich in Sie. So schnell ging das.« »Das ist irre«, sagte Melisande. »Genau meine Meinung. Ich sagte mir, daß das nicht wahr sein konnte. Ich weigerte mich, es zu glauben. Ich vermutete, daß einer meiner Tran-
sistoren sich gelockert hatte oder das es vielleicht am Wetter lag. Es war ein sehr warmer, schwüler Tag, einer von den Tagen, die meine Schaltungen schwer beeinträchtigen.« »Ich weiß noch, wie das Wetter war«, sagte Melisande. »Ich fühlte mich auch ganz merkwürdig.« »Ich war ganz durcheinander«, fuhr der Rom fort. »Trotzdem ergab ich mich nicht so ohne weitere in mein Schicksal. Ich sagte mir, es sei wichtig, daß ich mich meiner Aufgabe widmete und auf diesen Wahnsinn verzichtete. Aber ich träumte von Ihnen jede Nacht, und jeder Quadratzentimeter meiner Haut sehnte sich nach Ihnen.« »Aber deine Haut ist aus Metall«, meinte Melisande. »Und Metall kann nichts fühlen.« »Mein Liebling Melisande«, sagte der Rom sanft, »wenn Fleisch zu fühlen aufhört, kann da Metall nicht beginnen zu fühlen? Wenn alles fühlt, kann da etwas nicht fühlen? Haben Sie nicht gewußt, daß die Sterne lieben und hassen, daß eine Nova Leidenschaft ist, daß ein toter Stern wie ein toter Mensch oder eine tote Maschine ist, daß ein toter Stern wie ein toter Mensch oder eine tote Maschine ist? Die Bäume kennen Lust, und ich habe das trunkene Gelächter von Gebäuden gehört, das drängende Sehnen von Autobahnen – « »Das ist verrückt!« erklärte Melisande. »Was für ein Kerl hat dich eigentlich programmiert?« »Meine Funktion als Werktätiger wurde in der Fabrik bestimmt, aber meine Liebe ist frei, ein Ausdruck meiner selbst.« »Alles, was du sagst, ist gräßlich und unnatürlich.« »Das ist mir nur allzu klar«, sagte der Rom traurig. »Zuerst konnte ich es gar nicht glauben. Geschah das mir? Ich liebte eine Person? Ich, der ich immer so vernünftig gewesen war, so normal, meiner persönlichen Würde so bewußt, so sicher in der Schätzung meiner eigenen Art. Glauben Sie, ich wollte das alles verlieren? Nein! Ich beschloß, meine Liebe zu ersticken, sie zu töten, so zu leben, als gäbe es sie nicht.« »Aber dann hast du dich anders entschieden. Warum?« »Es ist schwer zu erklären. Ich dachte an die lange Zeit, die ich vor mir hatte, an das Tote, das Angemessene, das Passende – eine obszöne Ver-
gewaltigung meines Ichs durch mich selbst –, und ich konnte es einfach nicht ertragen. Ich begriff plötzlich, daß es besser war, auf absurde Weise zu lieben, hoffnungslos, unerlaubt, abstoßend, unmöglich – als gar nicht zu lieben. So beschloß ich, alles aufs Spiel zu setzen – der lächerliche Staubsauger, der eine Dame liebte –, lieber unterzugehen, als zu verzichten! Und so kam ich mit Hilfe einer mitfühlenden Expeditionsmaschine hierher.« Melisande schwieg geraume Zeit nachdenklich. »Was für ein seltsames, kompliziertes Wesen du bist!« sagte sie schließlich. »Wie Sie… Melisande, Sie lieben mich.« »Vielleicht.« »Ja, Sie tun es. Denn ich habe Sie erweckt. Vor mir war Ihr Fleisch wie Metall, so wie Sie es sich vorstellen. Sie bewegten sich wie ein komplizierter Automat, so wie Sie mich sehen. Sie waren weniger lebendig als ein Baum oder ein Vogel. Sie waren eine aufziehbare Puppe, die wartete, daß jemand den Schlüssel drehte. Alles das waren Sie, bis ich Sie berührte.« Sie nickte, rieb sich die Augen, ging hin und her. »Aber jetzt leben Sie!« sagte der Rom. »Und wir haben einander gefunden, obwohl es unvorstellbar ist. Hören Sie mir zu, Melisande?« »Ja.« »Wir müssen Pläne schmieden. Meine Flucht aus dem Kaufhaus wird entdeckt werden. Sie müssen mich verbergen oder kaufen. Frank, Ihr Mann, braucht nichts zu erfahren. Seine Liebe geht in eine andere Richtung, das Glück stehe ihm bei. Sobald wir diese Einzelheiten bewältigt haben, können wir – Melisande!« Sie ging um ihn herum. »Liebling, was ist los?« Sie hatte die Hand am Kabel. Der Rom blieb regungslos, ohne sich zu wehren. »Melisande, mein Liebling, warten Sie einen Augenblick und hören Sie mir zu – «
Ihr hübsches Gesicht verzerrte sich. Sie riß das Kabel mit Gewalt heraus, fetzte es aus dem Innern des Rom, tötete ihn mitten im Satz. Sie hielt das Kabel in der Hand, und ihr Blick war irr. »Saukerl, gemeiner Saukerl«, sagte sie. »Hast du gedacht, daß ich mich in eine gottverdammte Maschinenmißgeburt verwandeln lasse? Hast du gedacht, du könntest mich auf Touren bringen, du oder sonst jemand? Das schaffst weder du, noch erreicht es Frank oder sonst irgend jemand, lieber sterbe ich, bevor ich deine verrottete Liebe annehme. Wenn ich will, suche ich mir Zeit, Ort und Person aus, und sie wird mir gehören, nicht dir, ihm, ihnen, sondern mir, verstehst du?« Der Rom konnte natürlich nicht antworten. Aber vielleicht wußte er – kurz vor dem Ende –, daß es nichts mit ihm zu tun hatte. Es lag nicht daran, daß er ein rot-orange gestrichener Metallzylinder war. Er hätte wissen müssen, daß es keine Rolle gespielt hätte, ob er eine grüne Kunststoffkugel oder ein Weidenbaum oder ein schöner junger Mann gewesen wäre.
Wie man imaginäre Unterschiede erkennen kann
1 Hans und Pierre sind im Gefängnis. Pierre ist Franzose. Hans ist Deutscher. Pierre ist klein und dick, mit schwarzem Haar. Hans ist groß und schlank, mit blondem Haar. Pierre hat fahle Haut und einen schwarzen Schnurrbart. Hans hat helle Haut und einen blonden Schnurrbart. Pierre ist dreißig Zentimeter kleiner als Hans, der dreißig Zentimeter größer ist als Pierre.
2 Hans und Pierre haben eben erfahren, daß eine Amnestie verkündet wurde. Nach den Vorschriften der Amnestie wird Pierre sofort freigelassen. Von Deutschen war nicht die Rede, also wird Hans im Gefängnis bleiben müssen. Das macht beide traurig. Und sie denken: Wenn wir nur Hans anstelle von Pierre hinausbringen könnten… Hans, der Deutsche, ist ein geschickter Schlosser. Wäre er frei, könnte er seinen Freund aus dem Gefängnis holen. Der Franzose ist Professor für Astrophysik und kann niemandem beistehen, nicht einmal sich selbst. Er ist zu nichts zu gebrauchen, aber ein freundlicher Mensch; der Deutsche hält ihn für den besten Menschen, den er kennt. Hans ist entschlossen, sich aus dem Gefängnis holen zu lassen, um seinem Freund zur Flucht zu verhelfen. Es gibt einen Weg, um das zu erreichen. Wenn sie dem Aufseher einreden können, Hans sei Pierre, wird Hans freigelassen. Dann kann Hans
zum Gefängnis zurückkehren und Pierre zur Flucht verhelfen. Zu diesem Zweck haben sie einen Plan erdacht. Jetzt hören sie Schritte durch den Flur näher kommen. Es ist der Aufseher! Sie beginnen mit der ersten Stufe des Plans, indem sie die Schnurrbärte tauschen.
3 Der Aufseher betritt die Zelle und sagt: »Hans, tritt vor.« Beide Männer treten vor. Der Aufseher sagt: »Welcher von euch ist Hans?« Beide Gefangenen antworten: »Ich.« Der Aufseher betrachtet sie. Er sieht einen großen, schlanken Mann mit schwarzem Schnurrbart und blondem Haar und heller Haut neben einem kleinen, dicken, schwarzhaarigen Mann mit blondem Schnurrbart und fahler Haut. Er starrt sie einige Sekunden lang argwöhnisch an, dann wählt er den großen Mann als den Deutschen aus und befiehlt dem anderen, dem Franzosen, mitzukommen. Die Gefangenen sind darauf vorbereitet. Schnell springen sie hinter den Aufseher und wechseln die Toupets. Der Aufseher starrt sie an, grinst gelassen und prüft seine Häftlingsliste. Er entscheidet, daß der große, schwarzhaarige Mann mit dem schwarzen Schnurrbart und der hellen Haut der Deutsche ist. Die Häftlinge unterhalten sich flüsternd. Sie laufen hinter dem Aufseher herum. Hans kniet nieder, Pierre stellt sich auf die Zehen. Der Aufseher, der sehr dumm ist, dreht sich langsam herum und sieht sie an. Diesmal ist es nicht so einfach. Er sieht zwei Männer gleicher Größe. Einer davon hat blondes Haar, einen blonden Schnurrbart, fahle Haut und ist dick. Der andere hat schwarzes Haar, einen schwarzen Schnurrbart, helle Haut und ist schlank. Beide Männer haben blaue Augen, ein Zufall.
Nach einiger Überlegung entscheidet der Aufseher, daß der erste, der blonde Mann mit dem blonden Schnurrbart, der fahlen Haut, der Dicke, der Franzose ist. Die beiden Häftlinge schlüpfen hinter seinem Rücken wieder davon und besprechen sich hastig. Der Aufseher ist kurzsichtig, hat die Wassersucht, Plattfüße; seine Reaktion ist dadurch verzögert, daß er in der Kindheit Scharlach hatte. Er dreht sich langsam herum und blinzelt. Die Gefangenen tauschen erneut die Schnurrbärte. Der Mann mit der fahlen Haut klopft sich Staub ins Gesicht, während der Mann mit der hellen Haut sein Gesicht mit Ruß schwärzt. Der Dicke stellt sich höher auf die Zehen, der Schlanke sinkt tiefer in die Knie. Der Aufseher sieht einen dicken Mann, knapp über Mittelgröße, mit schwarzem Schnurrbart, blondem Haar und heller Haut. Links neben ihm befindet sich ein Mann, knapp unter Mittelgröße, mit fahler Haut, blondem Schnurrbart und schwarzem Haar. Der Aufseher starrt sie durchdringend an, runzelt die Stirn, spitzt die Lippen, zieht seine Instruktion heraus und liest sie erneut durch. Dann sucht er den hellhäutigen Mann knapp über Mittelgröße mit dem schwarzen Schnurrbart als den Franzosen aus. Die Häftlinge huschen davon, und der größere Mann zieht den Gürtel enger, während der Kleinere den Gürtel lockert und sich Lumpen unter den Bund stopft. Sie beschließen, zur Vorsicht erneut Haare und Schnurrbarte zu wechseln. Dem Aufseher fällt sofort auf, daß der Dick-Dünn-Faktor an Bedeutung verloren hat. Er beschließt, die Eigenschaften blond-schwarz einander gegenüberzustellen, aber dann bemerkt er, daß der blonde Mann einen schwarzen Schnurrbart hat. Der blonde Mann ist knapp unter Mittelgröße, und seine Haut könnte man als fahl bezeichnen. Der Mann rechts neben ihm hat schwarzes Haar und einen – etwas schiefsitzenden – blonden Schnurrbart und helle Haut, und er ist knapp über Mittelgröße. Der Aufseher findet in den Vorschriften nichts Passendes. Erschrocken zieht er eine alte Ausgabe von ›Methoden zur Identifizierung von Häftlingen‹ aus der Tasche und sucht nach Relevantem. Schließlich findet er die berüchtigte Vorschrift 12 CC aus dem Jahre 1878: ›Der
französische Häftling soll stets links, der deutsche Häftling stets rechts stehen.‹ »Du«, sagt der Aufseher und deutet auf den linken Gefangenen. »Komm mit, Franzmann. Und du, Kraut, du bleibst hier in der Zelle.«
4 Der Aufseher treibt den Häftling hinaus, füllt mehrere Formulare aus und entläßt ihn. In der Nacht entflieht der zweite Häftling. Es ist einfach: Der Aufseher ist von katastrophaler Dummheit, und nicht nur das, er betrinkt sich jeden Abend bis zur Bewußtlosigkeit und nimmt auch noch Schlaftabletten. Er ist ein unerhörter Aufseher, aber das läßt sich leicht erklären – er ist der Sohn eines berühmten Anwalts und Parteimitglied. Aus Gefälligkeit dem Vater gegenüber haben die Behörden dem unfähigen und körperlich behinderten Sohn diese Stellung gegeben. Sie haben ferner entschieden, daß er seine Aufgabe allein wahrnehmen kann. Deshalb gibt es keinen zweiten Aufseher, der ihn ablösen könnte, keinen Kommandanten, der ihm auf die Finger sieht. Nein, er ist ganz allein, betrunken, voll von Schlaftabletten, und niemand auf der Welt kann ihn wecken, während der Ausbruch stattfindet, und das ist mein letztes Wort über den Aufseher.
5 Die beiden ehemaligen Häftlinge sitzen auf einer Parkbank, einige Meilen vom Gefängnis entfernt. Sie sehen immer noch so aus, wie sie uns zuletzt begegnet sind. Einer sagt: »Ich habe dir doch gesagt, daß es klappt! Wenn du draußen warst – «
»Natürlich hat es geklappt«, sagte der andere. »Ich wußte, daß es das Beste war, wenn der Aufseher mich aussuchte, weil du sowieso aus deiner Zelle entkommen konntest.« »Augenblick«, sagte der erste Mann. »Willst du damit sagen, daß der Aufseher trotz unserer Täuschungsversuche einen Franzosen mitgenommen hat statt eines Deutschen?« »Genau das«, sagte der zweite Mann, »und es spielte gar keine Rolle, wen der Aufseher mitnahm, denn wenn der Schlosser freigelassen wurde, konnte er zurückkommen und dem Professor helfen, wenn man aber den Professor freiließ, vermochte sich der Schlosser allein zu befreien. Du siehst, wir brauchten die Rollen also gar nicht zu tauschen, deshalb haben wir es auch nicht getan.« Der erste funkelte ihn an. »Ich glaube, du willst mir meine französische Identität stehlen!« »Wie käme ich dazu?« fragte der zweite. »Weil du Franzose sein willst wie ich. Das ist nur natürlich, denn in der Ferne liegt Paris, wo es ein Vorteil ist, Franzose zu sein, aber ganz und gar keiner, ein Deutscher.« »Natürlich möchte ich Franzose sein«, sagte der zweite Mann. »Aber nur deshalb, weil ich Franzose bin. Und die Stadt dort ist Limoges, nicht Paris.« Der erste Mann ist knapp über mittelgroß, schwarzhaarig, mit blondem Schnurrbart, heller Haut, eher schlank. Der zweite Mann ist knapp unter Mittelgröße, hat blondes Haar, einen schwarzen Schnurrbart, fahle Haut und ist eher dick. Sie sehen einander in die Augen. Sie finden dort keine Verunstaltung oder irgendeinen Makel. Ein jeder sieht den anderen unverwandt an und erkennt die Offenheit im Blick des anderen. Wenn keiner von ihnen lügt, muß einer von ihnen an Wahnvorstellungen leiden. »Wenn keiner von uns lügt«, sagte der erste Mann, »dann muß einer von uns an Wahnvorstellungen leiden.« »Einverstanden«, sagte der zweite Mann. »Und da wir beide ehrliche Menschen sind, brauchen wir nur die Stufen der Verwandlung zurückzugehen. Wenn wir das tun, gelangen wir zu dem ursprünglichen Zustand,
in dem einer von uns der kleine, blonde Deutsche und der andere der große, schwarzhaarige Franzose war.« »Ja… Aber war es nicht der Franzose, der das blonde Haar, und der Deutsche, der die hochgewachsene Gestalt hatte?« »Das ist nicht meine Erinnerung«, sagte der zweite Mann. »Ich glaube aber, daß das schwere Leben im Gefängnis mein Gedächtnis beeinträchtigt hat, und zwar so weit, daß ich nicht mehr sicher bin, welches die deutschen und welches die französischen Eigenschaften gewesen sind. Ich bin aber durchaus bereit, über die einzelnen Punkte mit dir zu diskutieren und dem zuzustimmen, was mir vernünftig erscheint.« »Nun, dann wollen wir doch sehen, ob wir dieses alberne Durcheinander nicht aufklären können. Sollte ein Deutscher nicht blond sein?« »Meinetwegen. Gib ihm auch einen blonden Schnurrbart, das paßt dazu.« »Und die Haut?« »Fahl, absolut. Deutschland hat ein feuchtes Klima.« »Augenfarbe?« »Blau.« »Dick oder schlank?« »Dick, unbedingt dick.« »Dann ist der Deutsche also groß, blond, dick, mit fahler Haut und blauen Augen.« »Die eine oder andere Einzelheit mag falsch sein, aber lassen wir es dabei. Gehen wir jetzt zurück, um herauszufinden, wer von uns ursprünglich so ausgesehen hat.«
6 Auf den ersten Blick mögen die beiden Männer identisch erscheinen oder zumindest austauschbar. Das ist ein falscher Eindruck; man darf nie vergessen, daß die Unterschiede zwischen ihnen wirklich vorhanden sind, gleichgültig, welcher Mann welche Eigenschaften hat. Die Unter-
schiede sind absolut wirklich, obwohl sie eingebildet sein mögen. Es sind imaginäre Eigenschaften, die jeder erkennen kann und die aus einem Mann einen Deutschen und aus dem anderen einen Franzosen machen.
7 Die Methode, imaginäre Unterschiede zu erkennen, sieht so aus: Man fixiert für sich die ursprüngliche Eigenschaft von jedem der beiden Männer, dann zählt man die Tauschvorgänge nach. Schließlich langt man beim Anfang an, und man weiß unfehlbar, wer der imaginäre Deutsche und wer der imaginäre Franzose ist. Im Grunde ist es wirklich so einfach. Was man mit diesem Wissen anfängt, ist natürlich wieder eine andere Frage.
Der Super-Jumbo-Trip »Bekomme ich dann aber wirklich Halluzinationen?« fragte Gregory. »Wie gesagt, dafür garantiere ich«, antwortete Blake. »Du müßtest schon etwas spüren.« Gregory schaute sich um. Das Zimmer war bedrückend, eintönig vertraut: schmales, blaues Bett, Nußbaumkommode, Marmortisch mit schmiedeeisernem Fuß, Lampe mit zwei Schirmen, truthahnroter Teppich, beiges Fernsehgerät. Er saß in einem Polstersessel. Ihm gegenüber, auf dem weißen Plastiksofa, saß Blake, blaß und dick, und spielte mit drei gesprenketten, unregelmäßig geformten Tabletten. »Ich möchte nur darauf hinweisen, daß es alle möglichen Sorten von LSD gibt – Streifen, Punkte, Löschpapier, meistens mit einem Aufputschmittel verschnitten, ab und zu mit Drano. Aber du Glückspilz hast eben Doktor Blakes Spezial-Tantra-Mantra-Sofortknall-Sonder-SuperAcid-Cocktails genossen, in der Branche bekannt als Sprenkel-Peng, das absolut reines LSD-Fünfundzwanzig enthält, dazu sorgfältig abgewogene Zusätze von STP, DMT und THC, nebst einer Spur Yage, einem Quentchen Psilocybin und einem Hauch Oloiuqui, sowie Doktor Blakes eigenen Spezialbestandteil – Eisenhutextrakt, den neuesten und kräftigsten aller halluzinogenen Auslöser.« Gregory starrte auf seine linke Hand, öffnete und schloß sie langsam. »Das Ergebnis«, fuhr Blake fort, »ist Doktor Blakes Total-SofortVielfach-Acid-Freude, mit der Garantie, daß man nach einer Viertelstunde halluziniert, sonst gebe ich das Geld zurück und verzichte auf mein Diplom als freiberuflicher Untergrundchemiker in West Village.« »Du sprichst, als seist du auf einem Trip«, sagte Gregory. »Durchaus nicht«, widersprach Blake. »Ich habe nur Speed genommen, ganz schlichte, altmodische Amphetamine, wie Lastwagenfahrer und Studenten sie kiloweise schlucken und literweise spritzen. Speed ist nicht mehr als ein Anregungsmittel. Mit seiner Unterstützung kann ich schnel-
ler und besser erreichen, was ich will. Was ich will, ist mein eigenes Drogenreich zwischen Houston und Vierzehnter Straße; aber bevor ich mir die Nerven kaputtmache oder von den Bullen oder der Mafia abserviert werde, steige ich aus, und dann hopp in die Schweiz, wo ich in einem feinen Sanatorium ausflippe, umgeben von schönen Frauen, dicken Banknoten, schnellen Wagen und dem Respekt der Lokalpolitiker.« Blake verstummte für einen Augenblick und rieb sich die Oberlippe. »Speed veranlaßt einen allerdings zu einer gewissen Großsprecherei und Geschwätzigkeit… Aber keine Sorge, mein lieber neuer Freund und geschätzter Kunde, meine Sinne sind mehr oder weniger unbeeinträchtigt, und ich bin durchaus in der Lage, als Führer bei dem Super-Jumbo-Trip zu dienen, den du jetzt unternimmst.« »Wie lange ist es her, daß ich die Tablette genommen habe?« fragte Gregory. Blake schaute auf die Uhr. »Über eine Stunde.« »Müßte sie nicht schon wirken?« »Allerdings. Sie tut es auch ganz sicher. Irgend etwas muß sich tun.« Gregory schaute sich um. Er sah die grasüberwachsene Grube, den pulsierenden Glühwurm, den zusammengepreßten Glimmer, die gefangene Heuschrecke. Er befand sich auf der Seite der Grube, die dem Abflußrohr am nächsten war. Ihm gegenüber, auf dem bemoosten grauen Stein, saß Blake, das Flimmerhaar verfilzt, seine Exodermis fleckig, und spielte mit drei gesprenkelten, unregelmäßig geformten Tabletten. »Was ist los?« fragte Blake. Gregory kratzte die ledrige Membran über seinem Brustkorb. Seine Geißeln bewegten sich krampfhaft als deutliches Anzeichen von Erstaunen, Betroffenheit, vielleicht sogar Angst. Er streckte einen Fühler aus, betrachtete ihn lange und prüfend, krümmte ihn und streckte ihn wieder. Blakes Fühlhörner ragten besorgt nach oben. »He, Freund, sprich mit mir! Halluzinierst du?« Gregory machte mit seinem Schwanz eine unbestimmte Bewegung. »Es hat angefangen, kurz bevor ich dich fragte, ob ich wirklich Halluzinationen bekommen würde. Ich war schon drin, habe es aber nicht
gemerkt, alles wirkte so natürlich, so gewöhnlich… Ich saß auf einem Stuhl, du hast auf einem Sofa gesessen, und wir hatten beide weiche Hautskelette, wie – wie Säugetiere!« »Der Übergang in die Illusion ist oft kaum bemerkbar«, sagte Blake. »Man gleitet in sie hinein und wieder heraus. Was tut sich jetzt?« Gregory rollte seinen gefurchten Schwanz zusammen und ließ seine Fühlhörner sinken. Er schaute sich um. Die Grube war bedrückend, eintönig vertraut. »Oh, jetzt bin ich wieder im Normalzustand. Glaubst du, daß ich noch einmal Halluzinationen bekomme?« »Wie gesagt, dafür garantiere ich«, sagte Blake, faltete seine schimmernden roten Flügel sorgfältig zusammen und machte es sich in einer Ecke des Nestes bequem.
Tödliche Sturzbahn Chefpilot Johnny Draxton reagierte schlagartig, als er die Nachricht erfuhr. »Was?« brüllte er. »Ich soll mit einem grünen Jungen als Kopiloten fliegen, der eben aus der Weltraum-Akademie kommt?« Sergeant Rack, groß, grau, hartgesotten, nickte mitfühlend. »Vielleicht wird es gar nicht so schlimm, Sir. Die jungen Burschen sind auf den Interstellarschiffen aufgewachsen. Sie sind nicht wie wir alten Interplanetarier.« »So?« knurrte Draxton und biß auf seine zerkaute Zigarre. »Sie glauben, ein grüner Junge kann Kopilot sein in einem Interstellarangriffsbomber GP-1077 F 2 mit Doppelwarpantrieb und Fusionsbomben im Raumgebiet 12 BAA, wo ein einziger Fehler den sofortigen Tod bedeuten kann? Wer ist der Bursche?« »General Deverells Sohn, Sir«, sagte der Sergeant. Johnny Draxton lächelte grimmig und spuckte den Zigarrenstummel aus. »Der General meint also, er kann seinen Sprößling in einen GP-1077 F 2 stecken, wie? Na, Sergeant, das wollen wir doch mal sehen.« Draxtons Lächeln verhieß nichts Gutes. Er drückte seine uralte Fliegermütze tiefer in die Stirn und verließ den Op-Kom-Sub-Bunker, eine federnde, pantherartige Gestalt. Sergeant Rack schüttelte bedrückt den Kopf. Er hatte etwas Ähnliches befürchtet. Männer wie Johnny Draxton hatten natürliche Vorurteile gegen Generalssöhne. Johnny hatte sich mühsam hochgekämpft. In dem vom Krieg zerrissenen Himmel über Mierdolan IV hatte Johnny Draxtons einsitziger Invitus, Typ II, mit Traktorantrieb dazu beigetragen, die Galaxis von Kalnakak-Schiffen zu befreien. Zwischen den Kriegen blieb Johnny in der Übung, indem er Handelsschiffe auf der Route Mars-Luna
abschoß. »Bereit zu sein ist jeden Preis wert«, hatte er oft zu seinen Freunden gesagt. Johnny war ein Weltraumtiger, aggressiv, wild, verächtlich, zigarrenpaffend. Und der Generalssohn? Nun, vielleicht ging alles gut, dachte der hartgesottene, resignierte, aber stets hoffnungsvolle Sergeant Rack. Doch es gab eher Ärger, als sogar er, der stets darauf vorbereitet war, erwartet hatte. Es passierte beim ersten Flug. Der Sohn des Generals, der Hubert Deverell hieß, war der Besatzung vorgestellt worden. Er hatte jedem die Hand gedrückt, dem schweigsamen Bombenschützen Bluefeather, einem Vollblutapachen; dem Chefbordschützen Ash, einem Witze reißenden, angespannten Jungen aus Brooklyn; und Milton St. Augustus Lee, einem ruhigen Ingenieur aus Alabama. Deverell war ein breitschultriger junger Mann mit täuschend langsamen Bewegungen, die blonden Haare kurzgeschoren, die grauen Augen wach. Seine Leutnantabzeichen glänzten. Er war nach vorn zur Pilotenkanzel gegangen, um seine Aufwartung zu machen. »Ich wollte nur sagen, Sir«, stieß der Generalssohn hervor, »daß es eine große Freude ist, unter Ihnen dienen zu dürfen. Ich – ich habe Sie stets bewundert, Sir.« Johnnys Augen, die von der Farbe irischen Whiskys vor dem Destillieren waren, zeigten keine Gefühle. »Freut mich, Sie an Bord zu haben, Deverell«, sagte er, und Sergeant Rack gewann den Eindruck, daß sich der Konflikt und damit der Rest dieser Geschichte würde vermeiden lassen. Das war aber nicht der Fall. Der junge Leutnant stieß hervor: »Sehen Sie, Sir, ich wollte schon immer zur Besatzung eines Interstellarangriffsraumschiffs gehören. Mein Vater sagt, sie – sie wären wichtig!« »Freut mich, General Deverells Meinung zu hören«, sagte Johnny kalt. »Es interessiert Sie vielleicht zu erfahren, Leutnant, daß Sie am Sprenghebel für das Heckteil lehnen.« »Guter Gott«, sagte der Junge und löste sich mit täuschender Ungeschicklichkeit von der Instrumententafel.
»Er war natürlich gesichert«, sagte Johnny. »Aber ein paar kleine Fehler dieser Art, wenn wir im feindlichen Raum sind – « »Ich werde aufpassen, Sir!« sagte Leutnant Deverell. »Jawohl, Sir«, fügte er mit rührendem Eifer hinzu, »ich werde ganz bestimmt aufpassen.« Johnny Draxton lächelte nur grimmig. Sergeant Rack streckte eine freundliche Hand von der Größe und Farbe eines Kaschmiri-Sattels aus und legte sie auf die Schulter des jungen Leutnants. »Kommen Sie mit, Sir«, sagte er. »Ich zeige Ihnen alles.« Vor ihnen glitzerte und tanzte die riesige Halbkugel der Steuerkonsole wie eine trunkene IBM-Maschine. Und Johnny Draxton, eine frische, aber schon halbzerkaute Zigarre zwischen den Zähnen, war belustigt. Siebenundachtzig Stunden später fegte der riesige Angriffsbomber durch Sektor 12 BAA auf einem normalen Patrouillenflug. Unter ihnen glühte der umstrittene Planet Mnos II drohend rötlich-braun. Der Hauptkontinent lagerte wie ein umgestülpter Drache mit gezogenen Zähnen auf ihm. Draxton ließ die Pulser krachen, und das große Raumschiff heulte auf; er schaltete den Hilfsantrieb ein, und das große Schiff kreischte; er schob die Vorwärtstraktoren durch, und das große Schiff stöhnte. »Okay, Kleiner«, sagte Johnny zu dem Leutnant mit dem frischen Gesicht und den großen Händen, »jetzt sind Sie dran.« Der Sohn des Generals kletterte ungeschickt in den Kopilotensitz und legte nervös das Duogurtgeflecht an. Er griff nach vorn und umfaßte mit einer Hand den Schiebetafel-Sperr-Steuerhebel, während die andere auf dem Ringbolzenfeststeller ruhte. »Vollführen Sie ein XBX-Manöver«, sagte Johnny. »Und passen Sie auf. Wir haben diesmal scharfe Eier dabei.« Der Junge nickte und schluckte. Unter seinen breiten, geschickten Fingern wirbelten und tanzten die Skalen, und das riesige interstellare Raumschiff schob den Bug nach oben. Deverell zog die Gashebel an sich, und der Patrouillenbomber wimmerte. Der junge Mann grinste und drückte die Taste für Horizontalflug. »Deverell!« schrie Draxton. »Sir?«
»Das war der Bombenauslöser, den Sie gedrückt haben. Gratuliere. Sie haben eben ein Bündel Fusionsbomben auf einen nominell neutralen Planeten geworfen.« Der Junge wurde unter seiner Sonnenbräune aschfahl. »Das heißt, Sie hätten sie abgeworfen, wenn der Auslöser nicht gesperrt gewesen wäre«, ergänzte Johnny. »Was, zum Teufel, ist mit Ihnen los?« »Es dauert wohl eine Weile, bis ich mich eingewöhnt habe«, sagte der Junge. Seine schwerfällige Stimme verriet Nervosität, aber keine Furcht. »So?« sagte Johnny und zerkaute seine Zigarre. »Nervös, was? Na, dann führen Sie uns mal eine Wendung JB 2 mit abnehmendem Radius vor.« »Captain!« rief Sergeant Rack, und auf seinem wettergegerbten Gesicht zeigte sich Besorgnis. »Das könnte dem Schiff die Haut abziehen!« »Im Kampf müssen wir das vielleicht einmal machen«, sagte Draxton. »Los, Deverell.« Der junge Mann schluckte und griff mit zitternder Hand nach der Steuerung. Der große Interstellarbomber stieg in die Höhe und bog sich nach hinten… In der Kabine schrieb Bombenschütze Bluefeather einen Brief an seine Mutter, eine Vollblutapachin. Wiederholt befeuchtete er den Bleistift mit seiner schmalen Zunge und schrieb: ›Ich hoffe, daß das Getreide in diesem Jahr im Reservat grünt.‹ Bordschütze Ash dachte an Fiatbush Extension. Obwohl er ein angespannter, Witze reißender Typ war, entdeckte er, daß er die alte Straße vermißte. Und er vermißte Kitty Callahan, die erst seit drei Stunden seine Frau war. Milton St. Augustus Lee, der sanfte und täuschend ruhige Ingenieur aus Alabama, dachte an seine Frau Amelia, die jetzt wohl gerade mit Leutnant Deverells kluger, sanftäugiger Verlobter Faye Kaffee trank. Sie waren prima junge Leute, alle miteinander. Einen Augenblick lang konnte St. Augustus Lee seinen bitteren Zorn über den Krieg zwischen den Nord- und Südstaaten vergessen. Ach was… Manche Yankees waren gar nicht so übel…
Als der große Angriffsbomber seine erste Rolle vollführt hatte, ging ein Beben durch das Schiff. Ash und Lee wurden aus ihren Kojen geschleudert. Bluefeather packte mit der stummen Behendigkeit seiner Rasse einen Laufrillenhaltebügel. Das Raumschiff fiel auf den Rücken und begann hinabzustürzen wie ein Stein. »Was soll das?« fragte Ash. Niemand antwortete dem Witze reißenden jungen Mann aus Brooklyn. Vorne in der Pilotenkanzel hatte der junge Leutnant Deverell den Dreifachantriebsauslöser verfehlt und statt dessen den Sturzbeschleuniger betätigt, der nicht gesperrt war. Der Fehler ließ sich leicht beheben, aber Deverells Hände waren in unübersehbarer Panik an den Hebeln festgeschweißt. Sergeant Rack, dieser alte und unzerstörbare Beurteiler junger Piloten, hatte das oft genug erlebt. Ohne Zorn schlug er dem jungen Leutnant eine Faust von der Größe und Farbe eines KaschmiriSattels ans Kinn. Deverell erschlaffte, und Johnny Draxton zog das Schiff aus der tödlichen Sturzbahn. »Na«, sagte Draxton kühl, »ich denke, damit ist die Laufbahn des Jungen als Piloten wohl beendet.« »Seien Sie nicht zu streng mit ihm, Sir«, meinte Rack, während der junge Mann verwirrt den Kopf schüttelte. »Das kommt bei den Besten vor. Ich erinnere mich an Ihre erste Mission, Sir, als Sie – « »Schnauze!« brüllte Draxton, und sein Tigergesicht wurde blutrot vor Zorn. »Sie haben mich gehört, Sergeant. Der junge Mann ist erledigt.« Sie hatten ihn alle gehört, da der junge Leutnant durch den Aufprall auf die Instrumententafel unabsichtlich die Bordsprechanlage eingeschaltet hatte. Der Indianer brach sein gewohntes Schweigen und sog Luft durch die Nase ein. St. Augustus Lee sagte: »Das ist großes Pech für den Jungen. Ich frage mich, ob – « Er sprach den Satz nicht zu Ende. Bordschütze Ash sagte: »Was soll das?« Aber niemand lachte. Es war zu ernst für Witze. Der junge Leutnant Deverell in der Kanzel dachte an seinen Vater, den hochgewachsenen, aufrechten, grauhaarigen, schmallippigen, langfingrigen General mit dem Blick von kaltgeschmiedetem Magnesiumstahl in
seinen harten, grauen Augen. Er dachte an seine Verlobte, die kluge, sanftäugige Faye mit ihrem Kaffee und ihren großen Hoffnungen. Er dachte an die Weltraum-Akademie, an die Flagge, an die Nationalhymne; er dachte an San Francisco, das er schon immer hatte sehen wollen. Und er wußte, daß er auf irgendeine Weise Sühne leisten mußte. Johnny Draxton saß vierschrötig vor der glitzernden Konsole, die Zigarre auf einen halben Zentimeter zusammengekaut, sein Tigerlächeln im Gesicht. Und zum erstenmal in seinem Leben lernte der junge Leutnant Deverell den Zorn kennen. Plötzlich erbebte der riesige Angriffsbomber, wie in höchster Qual. Gleichzeitig erklärte Ash ohne witzigen Unterton in der Stimme: »Bandit, drei Uhr!« Und die Worte waren kaum ausgesprochen, als Sergeant Rack auch schon rief: »Hauptantriebstemperatur steigt!« Die Ereignisse überstürzten sich mit der blitzartigen Geschwindigkeit der modernen elektronischen Kriegsführung. Johnny Draxton setzte automatisch zum Sturzflug an und griff mit der freien Hand nach dem Hebel für die Heckstrahlrohrkühlung. Er schaltete die Steuerborddüsen ab und volle Kraft auf die Backbordraketen, während er gleichzeitig mit dem Fuß das Impuls-Erhaltungs-System-Pedal betätigte. Einen Augenblick lang sah es so aus, als sollte dieses unübliche und riskante Manöver gelingen, aber dann fegten Laserimpulse in enger Bündelung durch die Pilotenkanzel. Der Schiffsrumpf dichtete sich sofort ab. Aber Johnny fluchte, grinste schief und sank nach vorn. Unter der zerdrückten Fliegermütze tröpfelte Blut hervor. Das große Schiff stellte sich steiler und kreischte dem grinsenden Drachen auf Mnos II entgegen. Die Augen des jungen Deverell begegneten dem Blick des Sergeanten, grau gegen blau, und hielten ihn kurz fest. Der junge Pilot konnte sehen, daß das Gesicht des alten Sergeanten, gewöhnlich von der Farbe eines durchgerittenen Belutschistani-Sattels, zu einer Tönung verblaßt war, die an Ziegenleder erinnerte. Deverell bedachte das, während das Schiff hinabstürzte. Er dachte an seinen grauhaarigen Soldatenvater, an seine Verlobte, an die WeltraumAkademie, an die Flagge, an die Nationalhymne und an San Francisco,
das er nie gesehen hatte. Dann griff er mit eisiger Ruhe nach vorn, packte die Gashebel, die Ruder, das Steuer und den Seitenantriebsauslösehebel und zog sie alle mit einem einzigen Ruck nach hinten. In der Kabine tönte aus dem Lautsprecher: »Besatzung, auf Kampfstation.« Einen Augenblick lang erkannte niemand die eisige, zielbewußte Stimme. Dann sagte Ash: »Mensch, das ist der Leutnant!« Niemand lachte. St. Augustus Lee vergaß Familie und Herkunft, griff nach seinem Sichelschlüssel und trat an das Rückblockstrahlergerät. Bombenschütze Bluefeather rollte mit unbewegtem Gesicht die beiden Sperren an seinem Bombenvisier nach hinten und blickte durch das empfindliche Gerät mit Augen, die Jahrhunderte lang die Hügel der Sioux-Nation betrachtet hatten. Ash, keinen Witz auf den Lippen, schaltete seine Batterie computergesteuerter Laserkanonen auf Radarortung. Und Sergeant Rack, dem keine Zeit blieb, an Kaffee oder Generale zu denken, nicht einmal an seine Frau Myra, die nicht in die Kantine durfte, weil sie Indonesierin war, machte sich stumm an seine Arbeit, das gigantische Raumschiff für die Selbstzerstörung vorzubereiten, sollte das Unmögliche wahr werden. Das Kalnakak-Banditenschiff scherte plötzlich aus. Sie konnten das gelbliche Glühen seiner Warpreaktoren sehen, als es in den Weltraum entfloh. Das war typisch für die Kalnakaks – bis zur Grenze terranischer Leistungsfähigkeit zu bluffen und dann das Weite zu suchen und auf eine bessere Gelegenheit zu warten! Und noch immer kreischte das große Raumschiff, dessen Außenhaut jetzt weißglühend war, der Oberfläche von Mnos II entgegen. »Soll ich sprengen, Sir?« fragte Sergeant Rack. »Ausgeschlossen!« schrie der junge Deverell. »Wir werden nicht ein Stückchen terranischer Ausrüstung verlieren! Ich ziehe das Schiff hier weg!« »Aber, Sir!« rief der Sergeant. »Sie reißen ihm die Motoren ab!« »Dann sollen sie abreißen«, zischte Deverell, und seine großen, ungeschickt wirkenden, aber verblüffend geschickten Hände schlossen sich fest um die Hebel.
Johnny Draxton, der eben wieder zu Bewußtsein kam, hob den Kopf, aber auf seinem Gesicht zeigte sich kein Ausdruck. Ruhig zündete er sich eine Zigarre an. Und die Instrumententafel glitzerte wie ein zum Berserker gewordener Weihnachtsbaum! Die Machzahlen kletterten in schwindelnde Höhen. Es gab einen Augenblick äußersten Entsetzens, als sie hörten, wie etwas zersplitterte, aber es war nur der junge Deverell, der sich die Jacke herunterriß, um besser atmen zu können. Langsam, widerwillig, nahm das Schiff die grausame Belastung auf sich und verließ die Sturzbahn. Bis sie sie ganz verlassen hatten, war das Schiff ein halbes Lichtjahr an Mnos II vorbei und fauchte den Kleinen Magellanschen Wolken entgegen. Aber sie waren gerettet, und ihr Multimilliardenraumschiff war ganz. In der Kabine atmete St. Augustus Lee auf. Er entdeckte, daß ihn der Krieg zwischen Nord- und Südstaaten gar nicht mehr kümmerte. Er konnte jetzt sogar an ihn als den Bürgerkrieg denken. Immerhin waren sie jetzt doch eine Nation. Bluefeather hatte die Spur eines Grinsens auf seinem schweigsamen Gesicht; er wußte, daß das Getreide im Cherokesen-Land in diesem Jahr gedeihen würde. Und Bordschütze Ash sagte, nachdem er sich mit zitternder Hand eine Zigarette angezündet hatte: »Mann! Was sagt man dazu?« Diesmal lachten sie alle über den Witz des unerschütterlichen Jungen aus Brooklyn. Unter Johnny Draxtons zerdrückter Fliegermütze, wo der Laserstrahl ihn gestreift hatte, drang noch immer ein wenig Blut hervor. »Na, Leutnant«, sagte er, »Sie mögen vielleicht der Sohn eines Generals sein, aber ich glaube, Sie sind in Ordnung. Yes, Sir, ich glaube, Sie könnten durchaus in Ordnung sein.« Leutnant Deverell, der blutjung und gleichzeitig sehr alt aussah, sagte: »Captain, Sie lehnen am Sprenghebel für den Bugteil. Nur gut, daß er gesperrt ist.«
Captain Johnny Draxton, Veteran von mehr als dreihundert Einsätzen, Tiger aller Tiger, wirkte erstaunt, dann zornig, dann betroffen. Schließlich grinste er. Nach einer langen Pause grinste auch Deverell. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände, während der riesige GP-1077 F 2 lautlos durch das Beinahe-Vakuum des Weltraums kreischte.
Die blaue Pest Unerfahrene Reisende versuchen gewöhnlich, ganz im Verborgenen Gestalt anzunehmen. Sie stolpern aus Besenkammern, Lagerräumen, Telefonzellen oder was sich sonst gerade anbietet, in der verzweifelten Hoffnung, daß sie einen glatten Übergang geschafft haben. Unausweichlich lenkt ein solches Verhalten nur die Aufmerksamkeit auf sie, also genau das, was sie vermeiden wollten. Für einen erfahrenen Reisenden wie mich war es dagegen eine Kleinigkeit. Mein Ziel war das New York vom August 1988. Ich wählte die abendliche Stoßverkehrszeit und nahm mitten in einer Menschenmenge am Times Square Gestalt an. Man muß das natürlich beherrschen. Man kann nicht einfach erscheinen. Man muß sich sofort, wenn man auftaucht, in Bewegung setzen, den Kopf ein wenig gesenkt, die Schultern hochgezogen, mit glasigem Blick. So fällt man nicht auf. Ich schaffte es ideal, den Koffer in der Hand, und eilte in einen SBahn-Zug. Am Sheridan Square stieg ich aus und ging zum Washington Square Park. Die Stelle, die ich mir aussuchte, war in der Nähe eines großen Brunnens, nicht weit vom Washington Sqare Tor. Ich stellte meinen Koffer ab und klatschte in die Hände. Einige Leute sahen mich an. Ich rief: »Kommt her, Freunde, kommt her und nehmt eine einmalige Gelegenheit wahr. Seid nicht schüchtern, kommt her und vernehmt die gute Nachricht.« Eine kleine Menschenmenge sammelte sich an. Ein junger Mann rief: »Was verkaufen Sie denn, he?« Ich lächelte ihn an, antwortete aber nicht. Ich wollte mit meinem Vortrag erst beginnen, wenn ich genug Zuhörer hatte. Ich redete weiter.
»Kommt näher, meine Freunde, kommt näher und hört die große Neuigkeit. Darauf habt ihr gewartet, Freunde, auf die große Gelegenheit, auf die letzte! Laßt sie euch nicht entgehen!« Bald standen über dreißig Leute um mich herum. Ich entschied, daß das für den Anfang genügte. »Gute Bürger von New York«, sagte ich. »Ich möchte zu euch über die seltsame Krankheit sprechen, die plötzlich in euer Leben getreten ist, die Epidemie, die im Volksmund ›Blaue Pest‹ genannt wird. Inzwischen wird euch allen klar sein, daß es kein Mittel gegen diese tödliche Seuche gibt. Ich weiß, eure Ärzte versichern euch nach wie vor, daß die Forschungen weitergehen, daß jeden Augenblick mit einem Durchbruch zu rechnen sei, daß man unweigerlich bald eine Behandlungsmethode finden wird. In Wirklichkeit hat man aber kein Serum gefunden, keine Antikörper, überhaupt nichts, was gegen die Blaue Pest helfen würde. Wie denn auch? Man hat nicht einmal die Ursache der Seuche feststellen, geschweige denn ihr Einhalt gebieten können. Bis heute hat man nichts hervorgebracht als unbrauchbare und widersprüchliche Theorien. Infolge der raschen Ausbreitung, der extremen Virulenz und den unbekannten Eigenschaften der Seuche müssen wir damit rechnen, daß die Ärzte nicht in der Lage sein werden, rechtzeitig ein Mittel zu finden, das euch, die Betroffenen, heilen könnte. Ihr müßt in Rechnung stellen, was bei allen Epidemien der Geschichte zutraf, nämlich, daß die Seuche trotz aller Behandlung und Maßnahmen ungezügelt wüten wird, bis sie sich erschöpft hat oder keine Opfer mehr findet.« Jemand in der Menge lachte, und verschiedene Leute grinsten. Ich schob das auf Hysterie und fuhr fort. »Was bleibt also zu tun? Sollt ihr die passiven Opfer einer Seuche bleiben, durch Menschen, die euch nicht den wahren, hoffnungslosen Zustand zu offenbaren wagen, zum Gleichmut verführt? Oder seid ihr bereit, etwas Neues zu versuchen, etwas, was ohne das Siegel einer in Mißkredit geratenen politisch-medizinischen Autorität auftritt?« Inzwischen waren es an die fünfzig Zuhörer geworden. Ich beendete meine Vorrede. »Eure Ärzte können euch nicht vor der Blauen Pest schützen, meine Freunde, aber ich kann es.«
Ich öffnete schnell meinen Koffer und nahm eine Handvoll großer gelber Kapseln heraus. »Das ist das Medikament, das die Blaue Pest besiegen wird, meine Freunde. Es bleibt keine Zeit dafür, zu erklären, wie ich zu ihm gekommen bin oder wie es wirkt. Ich gebe mich auch nicht mit wissenschaftlichem Gefasel ab. Statt dessen liefere ich konkrete Beweise.« Die Menge wurde still und aufmerksam. Ich wußte, daß ich sie jetzt in meinen Bann geschlagen hatte. »Bringt mir eine erkrankte Person«, rief ich. »Bringt mir zehn Personen! Wenn noch Leben in ihnen ist, gedenke ich sie binnen Sekunden, nachdem sie diese Kapseln geschluckt haben, zu heilen! Bringt sie zu mir, Freunde! Ich heile jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, die an der Blauen Pest leiden!« Die Stille hielt noch einen Augenblick an, dann brach die Menge in Gelächter und Beifall aus. Verblüfft hörte ich mir die Bemerkungen rings um mich an. »Studentenulk?« »Für einen Hippie ist er aber schon ziemlich alt.« »Ich wette, daß er das für irgendeine Fernsehschau macht.« »He, Mister, was steckt eigentlich dahinter?« Ich war zu schockiert, um zu antworten zu versuchen. Ich stand nur da, den Koffer vor mir, die Kapseln in der Hand. Ich hatte in dieser Peststadt nicht eine einzige davon verkaufen können! Ich konnte mein Mittel nicht einmal kostenlos anbringen! Es war unvorstellbar. Die Menschen zerstreuten sich, bis auf ein junges Mädchen. »Was für eine Masche ist denn das?« fragte sie. »Masche?« »Das ist doch ein Werbetrick, oder? Eröffnen Sie ein Lokal oder eine Boutique? Erzählen Sie. Vielleicht kann ich veranlassen, daß jemand darüber berichtet.« Ich steckte die Kapseln in meine Jackentasche. »Hören Sie, ich arbeite bei einer Zeitung im Village. Wir interessieren uns für ausgefallene Dinge. Erzählen Sie«, sagte sie.
Sie war sehr hübsch. Ich schätzte sie auf Mitte Zwanzig; sie war schlank, hatte braune Augen und braunes Haar. Ihre Selbstsicherheit erschien mir rührend. »Es handelt sich nicht um einen Trick«, sagte ich. »Wenn ihr nicht soviel Verstand habt, Vorkehrungen gegen die Pest zu treffen – « »Was für eine Pest?« fragte sie. »Die Blaue Pest. Die Pest, die sich in ganz New York ausbreitet.« »Hören Sie, in New York gibt es keine Pest«, antwortete sie, »keine blaue, schwarze, gelbe oder sonst irgendeine. Was steckt denn nun wirklich hinter der Geschichte?« »Keine Pest?« sagte ich. »Sind Sie sicher?« »Ganz sicher.« »Vielleicht verheimlichen sie es den Leuten«, meinte ich. »Allerdings wäre das schwierig. Fünf- bis zehntausend Tote am Tag kann man nicht verschweigen. Es ist doch August neunzehnhundertachtundachtzig, oder?« »Ja. He«, sagte sie. »Sie sehen ein bißchen blaß aus. Fühlen Sie sich nicht wohl?« »Doch, doch«, sagte ich, obwohl es nicht stimmte. »Vielleicht sollten Sie sich lieber hinsetzen.« Sie begleitete mich zu einer Bank. Mir war plötzlich eingefallen, daß ich vielleicht das Jahr falsch verstanden hatte. Vielleicht hatte die Firma 1990 oder 1998 gemeint. Wenn das zutraf, hatte ich sie eine Menge Geld an Zeitreisegebühren gekostet und möglicherweise meine Verkäuferlizenz verloren, die mich nur berechtigt, Drogen in Katastrophengebieten zu verkaufen. Ich zog meine Brieftasche heraus und entnahm ihr die kleine Broschüre mit dem Titel. ›Das Pestverzeichnis‹. Das Heft enthält alle großen Pestjahre, die Art der Seuche, den Prozentsatz der Opfer unter der Bevölkerung und andere wichtige Daten. Mit beträchtlicher Erleichterung sah ich, daß ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. New York sollte eigentlich im August 1988 von der Blauen Pest befallen sein. »›Das Pestverzeichnis‹?« sagte sie. »Was ist denn das?«
Ich hätte weggehen, ich hätte mich vielleicht sogar entmaterialisieren sollen. Die Firma hat strikte Vorschriften darüber, was Verkäufer preisgeben dürfen. Aber plötzlich war es mir egal. Ich wollte mit diesem hübschen, helläugigen Mädchen in der merkwürdigen Kleidung sprechen, das mit mir in einer zum Untergang verurteilten Stadt saß. »Das Pestverzeichnis ist eine Liste der Jahre und Gegenden, die große Seuchen erlebt haben oder erleben werden«, erwiderte ich. »Wie die Große Pest dreizehnhundertsechsundvierzig in Konstantinopel oder die Pest in London sechzehnhundertvierundsechzig.« »Und da waren Sie sicher auch dabei?« »Ja. Meine Firma hat mich hingeschickt. Zeit-Medizin-Dienst. Unter anderem sind wir befugt, in Katastrophengebieten Medikamente zu verkaufen.« »Dann sind Sie also irgendwo in der Zukunft, wo es Zeitreisen gibt?« »Ja.« »Das ist großartig«, sagte sie. »Sie laufen herum und verkaufen Pillen in Katastrophengebieten. Sie sehen eigentlich gar nicht aus wie einer, der vom Leid anderer Menschen lebt.« Sie hatte keine Ahnung, und ich gedachte sie nicht aufzuklären. »Das ist notwendige Arbeit«, sagte ich. »Außerdem haben Sie übersehen, daß es hier keine Pest gibt«, meinte sie. »Irgend etwas muß schiefgegangen sein«, sagte ich. »Ich habe einen Mitarbeiter, der für mich vorarbeitet und diese Dinge rechtzeitig klären soll.« »Vielleicht ist er im Zeitstrom verlorengegangen oder dergleichen.« Sie amüsierte sich. Ich für mein Teil fand das Ganze entsetzlich. Wenn dieses Mädchen nicht zu den wenigen Glücklichen gehörte, würde sie die Pest nicht überleben. Aber es war gleichzeitig auch faszinierend für mich, mit ihr zu reden. Es war das erste Mal, daß ich mich mit einem Pestopfer unterhielt. »Na, es war nett, sich mit Ihnen zu unterhalten«, sagte sie. »Offen gestanden, ich weiß nicht, ob ich Ihre Geschichte gebrauchen kann.«
»Ich würde es vorziehen, wenn Sie es nicht täten.« Ich zog eine Handvoll Kapseln aus der Tasche. »Bitte, nehmen Sie das.« »Na, wissen Sie – « »Ich meine es ernst. Sie sind für Sie und Ihre Familie. Bitte, bewahren Sie sie auf. Sie werden nützlich sein, glauben Sie mir.« »Also gut, vielen Dank. Gute Zeitreise.« Ich sah ihr nach. Als sie um die Ecke bog, glaubte ich zu erkennen, wie sie die Kapseln wegwarf. Aber genau wußte ich es nicht. Ich setzte mich wieder auf die Bank und wartete. Es war fast Mitternacht, als George eintraf. Wütend sagte ich: »Was war los? Ich habe mich schön blamiert. Hier gibt es überhaupt keine Pest!« »Immer mit der Ruhe«, sagte George. »Ich wollte eigentlich schon vor einer Woche hier sein, aber die Firma hat von der Regierung die Anweisung bekommen, ein Jahr auszusetzen. Dann hieß es, das sei wieder hinfällig und wir sollten weitermachen, wie vorgesehen.« »Weshalb hat mir keiner etwas gesagt?« »Du hättest verständigt werden sollen, aber es gab ein Heidendurcheinander. Es tut mir wirklich leid. Jetzt können wir aber anfangen.« »Muß das sein?« »Muß was sein?« »Du weißt schon.« Er starrte mich an. »Was ist eigentlich los mit dir? In London bist du nicht so gewesen.« »Aber das war sechzehnhundertvierundsechzig. Jetzt sind wir im Jahr neunzehnhundertachtundachtzig. Das ist unserer eigenen Zeit näher. Und diese Leute wirken – menschlicher.« »Hoffentlich hast du nicht fraternisiert«, sagte George. »Natürlich nicht!« »Na gut«, sagte er. »Ich weiß, diese Arbeit kann einem zuwider werden. Aber man muß das realistisch sehen. Das Volkszählungsamt hat ihnen
genug Gelegenheit gegeben. Es hat ihnen die Wasserstoffbombe gegeben.« »Ja.« »Aber sie haben sie nicht gegeneinander verwendet. Und das Amt hat ihnen alle Möglichkeiten für einen großen bakteriologischen Krieg geliefert, aber die haben sie auch nicht genutzt. Das Amt hat ihnen außerdem alle Informationen geliefert, die sie brauchten, um den Bevölkerungszuwachs freiwillig einzudämmen. Sie konnten sich einfach nicht dazu überwinden, davon irgend etwas anzuwenden. Sie haben sich ohne Beschränkung vermehrt, die anderen Gattungen und einander verdrängt, die Erde vergiftet und geschädigt – so, wie sie es immer machen.« Ich wußte das alles, aber es half mir doch, es noch einmal zu hören. »Nichts kann ewig weiterwachsen«, fuhr George fort. »Alles Lebende muß der Kontrolle unterliegen. Bei den meisten Gattungen sorgt die natürliche Auswahl für eine Beschränkung. Aber die Menschen sind über natürliche Hemmnisse hinaus. Sie müssen die Aufgabe selbst lösen. Wenn sie es nicht tun können oder wollen, dann muß es jemand für sie tun.« George wirkte plötzlich müde und sorgenvoll. »Aber die Menschen sehen die Notwendigkeit, ihre Zahl zu vermindern, nie ein«, sagte er. »Sie lernen nie etwas. Deshalb sind unsere Pestseuchen notwendig.« »Also gut«, sagte ich, »machen wir weiter.« »Diesmal werden ungefähr zwanzig Prozent überleben«, sagte George. Ich glaube, er wollte sich selbst beruhigen. Er zog eine flache, silberne Flasche aus der Tasche. Er schraubte den Verschluß ab. Er ging zu einem Gully und schüttete den Inhalt hinein. »Das wär’s. Nach einer Woche kannst du anfangen, deine Pillen zu verkaufen. Anschließend geht es weiter nach London, Paris, Rom, Istanbul, Bombay und so weiter.« Ich nickte. Es mußte sein. Aber manchmal ist es hart, ein Gärtner für die Menschheit zu sein.
Bilder von Langranak
1 Ich kann diesen Ort nicht beschreiben, ohne mich zu beschreiben. Noch kann ich mich beschreiben, ohne Ihnen von dem Ort zu berichten. Aber womit soll ich anfangen? Vielleicht sollte ich uns beide gleichzeitig beschreiben. Ich bezweifle aber, ob ich das schaffen würde. Vielleicht bin ich unfähig, überhaupt etwas zu beschreiben. Immerhin, ich bin auf einem fremden Planeten – eine Situation, die man für ungewöhnlich als interessant bezeichnet. Und ich bin ein Individuum, was angeblich auch interessant sein soll. Und ich bin durchaus fähig, meine Eindrücke niederzuschreiben. Ich weiß nur nicht, warum ich nicht alles zusammenfassen kann. Vielleicht sollte ich mit einer Beschreibung meiner Unfähigkeit anfangen, irgend etwas zu beschreiben. Aber das scheine ich schon getan zu haben, was immer es auch wert sein mag.
2 Ich glaube, ich fange mit den Türmen an. Die Hauptstadt hier heißt Langranak. Sie ist wegen ihrer Türme bemerkenswert. Von einem Hügel etwa fünf Meilen außerhalb der Stadt sieht man eine Vielzahl von Türmen. Es gibt sie in allen Formen, Größen und Farben. Man hat mir erzählt, daß auch Venedig viele Türme habe und Istanbul ebenfalls. Türme bieten ein angenehmes, ästhetisches Bild, gleichgültig, wie sie angeordnet sind. Die Türme von Langranak liefern ein ausgesprochen fremdartiges Bild. Ich glaube, das ist alles, was ich über Türme zu sagen habe.
3 Ich bin ein Individuum von der Erde, mittelgroß und mittelschwer. Ich nehme an, ich bin wie viele. Außergewöhnlich bin ich darin, daß ich mich auf einem fremden Planeten befinde. Ich verbringe die meiste Zeit im Innern meines Raumschiffs. Man hat große Anstrengungen unternommen, um das Raumschiff wie ein Heim und besonders gemütlich zu gestalten. Der große Aufenthaltsraum sieht aus wie ein Holiday-Inn-Hotel. Die Küche erinnert an ein HowardJohnson-Restaurant, und das Schlafzimmer könnte aus einem Landgasthof in New England stammen. Ich fühle mich in dem Raumschiff recht wohl. Früher habe ich über die amerikanische Inneneinrichtung gelacht, aber das ist vorbei. Mir gefällt mein Raumschiff gerade so, wie es ist. Mir gefällt der Pizza-Automat und der Cola-Ausschank. Die Hotdogs sind wie aus Nathans Restaurant. Nur die heißen Maiskolben mit Butter entsprechen nicht den Maßstäben auf der Erde. Dieses Problem hat man noch nicht bewältigt.
4 Hier geschieht nicht viel. Das ist der Teil, den ich nicht erwähnen wollte. Bei einer Geschichte stelle ich mir vor, daß sie Abenteuer, Konflikte, Probleme und Lösungen enthält. Solche Geschichten lese ich gern. Aber hier passiert nicht viel mit mir. Ich bin auf einem fremden Planeten, umgeben von fremden Wesen, und mit mir geschieht nicht viel. Nichtsdestoweniger glaube ich, daß ich eine Geschichte zu erzählen habe. Der Himmel weiß, daß alle Zutaten vorhanden sind.
5 Gestern führte ich ein Gespräch mit dem Chefmagistrat von Langranak. Wir sprachen über raumüberwindende Freundschaft. Wir waren uns beide darin einig, daß unsere Rassen Freunde sein sollten. Wir sprachen auch über interstellaren Handel, auf den wir uns im Prinzip einigten. Es scheint allerdings nicht viel zu geben, was sie brauchen können, und umgekehrt. Nicht so viel, daß die hohen Frachtkosten gedeckt würden. Ich meine, sie haben einen ganzen Planeten, um herzustellen, was sie brauchen, und wir auch. Wir mußten uns also lediglich im Prinzip einigen. Wir erzielten größere Fortschritte, als wir über ein Touristenaustauschprogramm sprachen. Diese Leute reisen gern, und unsere Leute tun es auch. Die Kosten wären sehr hoch, aber manche können es sich leisten. Jedenfalls wäre es ein Anfang.
6 Ich sitze in einem Raumschiff und lese viel. Ich lese viele Bücher über Zen-Buddhismus und auch über Yoga und über tibetanischen und hinduistischen Mystizismus. ›Geh in die Stille, sooft du kannst, bleib dort, so lange wie möglich.‹ Darum geht es eigentlich. Um Methoden, seinen Verstand am Schnattern zu hindern. ›Auf einen Punkt ausgerichtet.‹ Das wünsche ich mir alles sehr, aber mein Verstand weigert sich, stillzustehen. Ich habe abweichende Gedanken, Gefühle, Empfindungen. Manchmal kann ich das fünf Minuten hintereinander kontrollieren, aber ich habe dann nicht das Gefühl, etwas geleistet zu haben. Ich brauche wohl einen Guru. Wegen der Umstände ist das aber unmöglich. Ich habe mir überlegt, ob ich mich hier nach einem Lehrer erkundigen soll. Ich werde aber nicht lange genug hier sein, daß es sich lohnen würde. So scheint es immer zu gehen.
7 Hier erscheint eigentlich nichts sehr fremdartig. Die Leute kaufen und verkaufen. Sie haben verschiedene Berufe. Es gibt nur ein paar Bettler. Alles wirkt ganz verständlich. Ich verstehe natürlich nicht alles, aber zu Hause gelingt es mir auch nicht, alles zu begreifen. Ich möchte gerne sagen können: Was die Leute machen, ist einfach unfaßbar. Aber nichts kommt mir wahrhaft unglaublich vor. Sie gehen ihrer Arbeit nach, leben ihr Leben, ich mache das gleiche, und alles kommt einem ganz normal vor. Ich muß mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, daß ich auf einem fremden Planeten bin. Es ist natürlich nicht so, daß ich das jemals vergessen könnte. Ich scheine nur einfach nicht staunen zu können.
8 Gestern nacht gab es eine Finsternis. Ich wollte hinausgehen und sie mir ansehen, schlief aber über einem Buch ein und verpaßte das ganze Ereignis. Es spielt aber keine Rolle. Die Kameras im Raumschiff haben das Ganze automatisch aufgezeichnet, und ich kann es abspielen.
9 Ich nahm mich heute zusammen und ging hinaus, um die Ruinen zu besichtigen. Man hat mich gedrängt, das zu tun. Ich bin sehr froh, daß ich hingegangen bin. Die Ruinen, von denen man annimmt, daß sie von einer Zivilisation stammen, die seit Jahrtausenden untergegangen ist, befinden sich etwa zehn Meilen von Langranak entfernt. Sie sind sehr weitläufig. Ich habe mir drei teilweise rekonstruierte Tempel angesehen. Sie waren mit komplizierten Verzierungen und Halbrelieffiguren von verschiedenen Wesen bedeckt, die es, wie mein Führer sagte, in Wirklichkeit nicht gibt. Dazu kommen Statuen, grotesk und stilisiert. Der Führer sagte, man habe sie früher einmal als Götter angebetet, aber jetzt
nicht mehr. Es gab auch verschiedene Labyrinthe, die einmal religiöse Bedeutung hatten. Ich habe alles fotografiert. Die Lichtverhältnisse waren durchschnittlich gut. Ich benutze eine Nikon mit 50-mm-Objektiv, das ich gelegentlich durch ein 90-mm-Objektiv ersetze. Später an diesem Tag betonte mein Führer die interessante Tatsache, daß nirgends bei den Ornamenten vom Parallelogramm Gebrauch gemacht worden ist. Die Erbauer mögen das Parallelogramm als ästhetisch unbefriedigend oder als religiöses Tabu betrachtet haben. Es wäre auch vorstellbar, daß sie das Paralellogramm einfach noch nicht entdeckt hatten, wenngleich sie regen Gebrauch von Quadrat und Rechteck machten. Niemand weiß es genau. Die Untersuchungen dauern an. Die Klärung dieser Frage könnte helles Licht auf die Psychologie dieses alten und geheimnisvollen Volkes werfen.
10 Heute ist Feiertag. Ich ging in die Stadt, setzte mich in ein Café, trank, was hier Kaffee heißt, und sah mir die Leute an. Es war ein sehr farbenfrohes Schauspiel. Der Broschüre zufolge wird dieser Tag wegen eines bedeutenden militärischen Sieges über ein Nachbarland gefeiert. Die beiden Länder scheinen jetzt gute Beziehungen zueinander zu haben, zumindest annehmbare. Es ist aber schwer, dergleichen mit Sicherheit festzustellen.
11 In der Stadt wohnen Abkömmlinge von drei großen, klar unterschiedenen Rassen. Die ältesten Einwohner sehen aus wie Engländer, die älteren Einwanderer wie Franzosen, die neueren Einwanderer wie Türken. Es gibt Spannungen zwischen diesen Gruppen. Trachten, die einmal viel
getragen wurden, sieht man nur noch an besonderen Feiertagen. Jedermann bedauert das Verschwinden der alten Bräuche.
12 Manchmal abends werde ich traurig und bekomme Heimweh. In diesen Nächten kann ich nicht einschlafen. Ich lese und höre Tonbänder. Ich sehe mir über den Schiffsprojektor einen Film an. Dann nehme ich eine Schlaftablette. Mehrere sogar. Ich glaube, es liegt daran, daß ich Heimweh habe. Aber dann fällt mir ein, daß mir zu Hause genauso zumute war. Zu Hause habe ich auch Schlaftabletten genommen.
13 Ich fürchte, daß dieser Planet nicht sehr interessant ist. Die Leute sagen mir, daß es auf der anderen Halbkugel interessanter sei. Ich glaube aber nicht, daß ich sie besuche. Der Freundschaftsvertrag ist unterzeichnet, meine Arbeit getan. Ich denke, ich werde wieder starten. Es tut mir leid, daß die Gegend nicht exotischer war. Aber bei meinem nächsten Flug erhoffte ich mir etwas Besseres.
Die göttliche Formel Sie erinnern sich doch bestimmt an den Rohling, der den Schwächling von vierundneunzig Pfund mit Sand beworfen hat? Nun, das Problem des Schwächlings ist nie gelöst worden, auch wenn die Bodybuilder das Gegenteil behaupten. Ein echter Rohling findet Spaß daran, andere mit Sand zu bewerfen; ihm verschafft es tiefste Befriedigung, seine Mitmenschen vor den Kopf zu stoßen. Es spielt gar keine Rolle, ob man zweihundertzwanzig Pfund wiegt – alles nur stahlharte Muskeln und starke Sehnen – und so weise wie Salomo oder so witzig wie Voltaire ist; am Schluß hat man doch den Sand der Beleidigung im Auge, und man wird wahrscheinlich nichts dagegen unternehmen. So sah Howard Cordle die Dinge. Er war ein freundlicher Mann, der ständig von Handelsvertretern, Geldsammlern, Oberkellnern und anderen beeindruckenden, autoritätsverkörpernden Personen herumgeschubst wurde. Cordle haßte das. Er ertrug schweigend die endlose Zeit manisch-aggressiver Menschen, die sich überall vordrängten, ihm vor der Nase die Taxis wegschnappten und höhnisch blickend Mädchen entführten, mit denen er sich auf Partys unterhalten hatte. Was es noch schlimmer machte, war, daß diese Menschen jede Provokation zu begrüßen, danach zu suchen schienen, nur um anderen das Leben schwerzumachen. Cordle konnte nicht begreifen, weshalb das so war, bis ihm an einem Hochsommertag, an dem er auf einem Drogentrip war und durch die Nordprovinz Spaniens fuhr, der Gott Thoth-Hermes echte Erleuchtung zuteil werden ließ, als er murmelte: »Äh, schau, Baby, ich versteh’ dich schon, aber kapier das, wir müssen Karotten reintun, sonst gibt’s kein Stew.« »Karotten?« fragte Cordle und forschte vergeblich nach einem Sinn.
»Ich rede von den Typen, die dir auf die Nerven fallen«, erklärte Thoth-Hermes. »Die müssen sich so verhalten, Baby, weil sie Karotten sind, und Karotten sind so.« »Wenn die Karotten sind«, sagte Cordle und tastete sich weiter, »dann bin ich – « »Du bist natürlich eine kleine, perlweiße Zwiebel.« »Ja! Mein Gott, ja!« rief Cordle, geblendet vom gleißenden Licht der Offenbarung. »Und ihr, du und die anderen perlweißen Zwiebeln, ihr glaubt natürlich, daß Karotten ein Ärgernis sind, einfach eine Art mißgestalteter orangeroter Zwiebeln, während die Karotten euch betrachten und von gräßlichen weißen Karotten faseln, Mann! Ich meine, ihr könnt euch einfach nicht verknusen, während tatsächlich – « »Ja, weiter!« rief Cordle. »Tatsächlich gehört aber in das Stew einfach alles hinein«, verkündete Thoth-Hermes. »Natürlich! Ich verstehe, ich verstehe, ich verstehe!« »Und das bedeutet, daß jeder, der existiert, notwendig ist und daß man lange, verhaßte orangerote Karotten braucht, wenn man auch nette, freundliche, anständige weiße Zwiebeln haben will, oder umgekehrt, denn ohne sämtliche Zutaten ist es kein Stew, was heißen will, das Leben wird zu, äh, Moment mal – « »Zu einer Suppe!« rief Cordle ekstatisch. »Du bist perfekt im Anflug«, sang Thoth-Hermes. »Sprich es aus, Mann, und bring den Leuten die göttliche Formel – « »Eine Suppe!« sagte Cordle. »Ja, jetzt begreife ich – cremige, rein weiße Zwiebelsuppe, so stellen wir uns den Himmel vor, während ätzende, orangerote Karottensuppe für uns die Hölle bedeutet. Es stimmt, es paßt alles zusammen!« »Om mani padme hum«, stimmte Thoth-Hermes an. »Aber was ist mit den grünen Erbsen? Wo ist das Fleisch, um Himmels willen?«
»Nicht an der Metapher kratzen«, riet ihm Thoth-Hermes, »das gibt nur bösen Schorf. Bleib bei Karotten und Zwiebeln. Hier, trink mal – Spezialität des Hauses.« »Aber die Gewürze, wo kommen die Gewürze hin?« fragte Cordle und trank einen großen Schluck burgunderroter Flüssigkeit aus einer verrosteten Feldflasche. »Baby, du stellst Fragen, die nur einem Freimaurer dreizehnten Grades mit Frostbeulen offenbart werden können, und der muß Sandalenträger sein. Tut mir leid. Vergiß nur nicht, daß alles in das Stew kommt.« »In das Stew«, wiederholte Cordle und schmatzte. »Und bleib vor allem bei den Karotten und Zwiebeln. Da bist du ganz richtig.« »Karotten und Zwiebeln«, wiederholte Cordle. »Das ist dein Trip«, meinte Thoth-Hermes. »He, wir sind in Corunna. Du kannst mich hier irgendwo absetzen.« Cordle lenkte seinen Mietwagen an den Straßenrand. Thoth-Hermes nahm seinen Rucksack vom Rücksitz und stieg aus. »Danke fürs Mitnehmen, Baby.« »Es war mir ein Vergnügen. Vielen Dank für den Wein. Was war das gleich wieder für eine Sorte?« »Vino de casa, gemischt mit einem Quentchen von Doktor Hammerfingers Essenz aus löslichem Super-LSD. Gebraut von Gnurrs in den geheimen Labors der Uni von Los Angeles, zur Vorbereitung auf den großen Trip durch ganz Europa.« »Was es auch war, für mich ist es reines Elixier gewesen«, sagte Cordle tief empfunden. »Mit dem Zeug könnte man Krawatten an Antilopen verkaufen, man könnte die Welt von einem abgeplatteten Rotationsellipsoid in einen Trapezoidstumpf verwandeln… Was habe ich gesagt?« »Macht nichts, gehört alles zum Trip. Vielleicht legst du dich lieber eine Weile hin, was?« »Wo Götter befehlen, hat ein einfacher Sterblicher zu gehorchen«, erklärte Cordle. Er legte sich auf den Vordersitz des Wagens. Thoth-
Hermes beugte sich über ihn, mit goldenem Bart, den Kopf von Platanen umkränzt. »Alles okay mit dir?« »Mir ist es nie besser gegangen.« »Soll ich hierbleiben?« »Unnötig. Du hast mir schon unendlich geholfen.« »Freut mich zu hören, Baby, klingt sehr gut. Bist du wirklich in Ordnung? Na, dann tschüs.« Thoth-Hermes marschierte davon in die untergehende Sonne. Cordle schloß die Augen und löste verschiedene Probleme, über die sich die größten Philosophen aller Zeiten vergeblich die Köpfe zerbrochen hatten. Er wunderte sich ein wenig darüber, wie einfach das Komplexe war. Schließlich schlief er ein. Etwa sechs Stunden später wurde er wach. Er hatte die meisten seiner großartigen Erkenntnisse vergessen. Es war unvorstellbar: Wie konnte jemand die Schlüssel zum Universum verlegen? Aber er hatte es getan, und es schien keine Hoffnung darauf zu geben, daß er sie wiedererlangen würde. Das Paradies war endgültig verloren. Er erinnerte sich aber an die Zwiebeln und Karotten und an das Eintopfgericht. Es war nicht die Art von Erkenntnis, die er sich ausgesucht hätte, wenn er sich etwas hätte aussuchen können, aber eben das fiel ihm wieder ein, und er wies es nicht zurück. Cordle wußte, vielleicht instinktiv, daß man beim Erkenntnisspiel nimmt, was man bekommen kann. Am nächsten Tag erreichte er Santander bei strömendem Regen. Er beschloß, lustige Briefe an all seine Freunde zu schreiben, vielleicht sogar sich an einer Reiseskizze zu versuchen. Das erforderte eine Schreibmaschine. Der Conserje in seinem Hotel erklärte ihm den Weg zu einem Geschäft, das Schreibmaschinen vermietete. Er ging hin und fand einen Angestellten, der perfekt Englisch sprach. »Vermieten Sie Schreibmaschinen auch tageweise?« erkundigte sich Cordle. »Warum nicht?« erwiderte der Angestellte. Er hatte öligschwarzes Haar und eine schmale, aristokratische Nase.
»Wieviel kostet die da?« fragte Cordle und deutete auf eine dreißig Jahre alte Reiseschreibmaschine. »Siebzig Peseten am Tag, also einen Dollar. Normalerweise.« »Und das ist kein normaler Fall?« »Gewiß nicht, da Sie Ausländer und auf der Durchreise sind. Für Sie kostet sie hundertachtzig Peseten am Tag.« »Na gut«, sagte Cordle und griff nach seiner Brieftasche. »Ich möchte sie für zwei Tage mieten.« »Ich brauche außerdem Ihren Paß und eine Kaution von fünfzig Dollar.« Cordle versuchte es mit einem kleinen Späßchen. »Hören Sie, ich möchte nur auf ihr schreiben und sie nicht heiraten.« Der Angestellte zuckte die Achseln. »Der Conserje im Hotel hat meinen Paß«, sagte Cordle. »Kann ich Ihnen statt dessen meinen Führerschein geben?« »Keinesfalls. Ich brauche Ihren Paß, für den Fall, daß Sie nicht mehr wiederkommen.« »Und wozu brauchen Sie meinen Paß und die Kaution?« fragte Cordle, der sich herumgeschubst vorkam und verlegen war. »Ich meine, sehen Sie, die Maschine ist doch keine zwanzig Dollar wert.« »Sind Sie etwa Sachverständiger für den spanischen Marktwert gebrauchter deutscher Schreibmaschinen?« »Nein, aber – « »Dann erlauben Sie mir, meine Arbeit so zu machen, wie ich es für richtig halte, Sir. Ich muß außerdem wissen, wozu Sie die Maschine verwenden wollen.« »Verwenden?« »Gewiß, verwenden.« Es war eine dieser absurden Situationen im Ausland, in die jeder geraten kann. Das Verlangen des Angestellten war unbegreiflich, seine Art beleidigend. Cordle wollte schon knapp nicken, sich auf dem Absatz umdrehen und hinausgehen.
Dann fielen ihm die Karotten und Zwiebeln ein. Er sah das Stew. Und plötzlich kam Cordle auf den Gedanken, daß er zu jedem Gemüse werden konnte, das ihm vorschwebte. Er wandte sich dem Angestellten zu. Er lächelte gewinnend. Er sagte: »Sie möchten wissen, wozu ich die Maschine verwenden will?« »Genau.« »Nun«, sagte Cordle, »um ganz offen zu sein, ich wollte sie mir in die Nasenlöcher stopfen.« Der Angestellte gaffte ihn an. »Das ist eine sehr erfolgreiche Schmuggelmethode«, fuhr Cordle fort. »Ich hatte überdies vor, Ihnen einen gestohlenen Paß und gefälschte Peseten zu geben. In Italien hätte ich die Schreibmaschine dann für zehntausend Dollar verkauft. In Mailand herrscht Schreibmaschinendürre, wissen Sie. Die Leute sind so verzweifelt, daß sie alles kaufen.« »Sir«, sagte der Angestellte. »Sie ziehen es vor, unliebenswürdig zu werden.« ›»Bösartig‹ ist der Ausdruck, den Sie suchen. Ich habe es mir anders überlegt mit der Schreibmaschine. Aber ich möchte Ihnen zu Ihren englischen Sprachkenntnissen gratulieren.« »Ich habe fleißig studiert«, gab der Angestellte stolz zu. »Das merkt man. Trotz einer gewissen Schwäche beim ›R‹ gelingt es Ihnen, wie ein venezianischer Gondoliere mit Wolfsrachen zu wirken. Meine besten Grüße an Ihre hochgeschätzte Familie. Sie können sich jetzt wieder in Ruhe Ihre Mitesser ausdrücken.« Als Cordle die Szene später an sich vorüberziehen ließ, entschied er, daß er sich bei seinem Jungfernauftritt als Karotte gut aus der Affäre gezogen hatte. Gewiß, die Abschiedsworte hatten ein wenig gezwungen und zu intellektuell gewirkt; aber der Unterton von Bissigkeit war überzeugend gewesen. Das Wichtigste aber war die schlichte, erhebende Tatsache, daß er es geschafft hatte. Und jetzt, in der Stille seines Hotelzimmers, hatte er, statt sich vor Selbstekel zu krümmen, das beruhigende Wissen, jemand anders in diese Lage versetzt zu haben.
Er hatte es geschafft! Er hatte sich ganz einfach von einer Zwiebel in eine Karotte verwandelt! Aber war denn das moralisch zu verteidigen? Vermutlich konnte der Angestellte nicht anders, als unfreundlich sein; er war ein Produkt seiner genetischen und sozialen Umwelt, ein Opfer seiner Erziehung, er war mehr von Natur als aus Absicht widerlich… Cordle gebot sich Einhalt. Er begriff, daß er in typischem Zwiebeldenken befangen war, das in der Unfähigkeit bestand, sich Karotten anders vorzustellen denn als Abweichung vom Zwiebeltum. Er wußte jedoch, daß es sowohl Zwiebeln wie Karotten geben mußte, sonst kam kein Stew zustande. Und er wußte auch, daß der Mensch frei war und wählen konnte, was für ein Gemüse er sein wollte. Er konnte sogar als amüsante, kleine grüne Erbse leben oder als rauhe, entschiedene Knoblauchzehe – obwohl das vielleicht wieder ein Kratzen an der Metapher war. Auf jeden Fall konnte ein Mensch zwischen Karottenheit und Zwiebeltum wählen. Hier gibt es viel Stoff zum Nachdenken, dachte Cordle. Er kam aber nie dazu. Statt dessen besichtigte er trotz des Regens die Sehenswürdigkeiten und setzte dann seine Reise fort. Der nächste Zwischenfall ereignete sich in Nizza, in einem gemütlichen, kleinen Restaurant in der Avenue des Diables Bleus, mit rotkarierten Tischdecken und unverständlichen Speisekarten, die mit roter Tinte handgeschrieben waren. Es gab vier Kellner. Einer davon sah aus wie Jean-Paul Belmondo, bis zu der an seiner dicken Unterlippe klebenden Zigarette. Die anderen waren Durchschnittshalunken. Im Lokal saßen mehrere Skandinavier, die still ein Cassoulet aßen, ein alter Franzose mit Baskenmütze und drei hausbackene junge Engländerinnen. Belmondo schlenderte heran. Cordle, der gut, wenn auch überkorrekt Französisch sprach, verlangte die Zehn-Franc-Speisekarte, die er im Fenster hatte hängen sehen. Der Kellner warf ihm einen Blick zu, wie man ihn für freche Bettler verwendet.
»Ah, das gibt es heute nicht mehr«, sagte er und gab Cordle eine Dreißig-Franc-Speisekarte. In seiner früheren Inkarnation hätte Cordle die Zähne zusammengebissen und bestellt. Oder er wäre aufgestanden, vor Zorn bebend, und hätte das Lokal verlassen und unterwegs noch einen Stuhl gerammt. Aber jetzt… »Vielleicht haben Sie mich nicht verstanden«, sagte Cordle. »Nach den französischen Vorschriften müssen Sie alle Festpreisspeisen servieren, die im Schaufenster angeboten sind.« »M’sieu ist Rechtsanwalt?« erkundigte sich der Kellner, die Hände an den Hüften. »Nein. M’sieu ist Stunkmacher«, sagte Cordle, um den Mann zu warnen. »Dann muß M’sieu den Stunk machen, den er sich wünscht«, sagte der Kellner. Seine Augen waren Schlitze. »Gut«, sagte Cordle. Und in diesem Augenblick kam passenderweise ein älteres Ehepaar in das Lokal. Der Mann trug einen doppelreihigen, blauen Anzug mit weißen Nadelstreifen, die Frau ein geblümtes Organdykleid. Cordle rief: »Verzeihen Sie, sind Sie zufällig Engländer?« Der Mann schrak ein bißchen zusammen und nickte kaum wahrnehmbar. »Dann möchte ich Ihnen raten, nicht hier zu essen. Ich bin Gesundheitsinspektor bei der UNESCO. Der Küchenchef hat sich offenbar seit der Invasion nicht mehr die Hände gewaschen. Eine Typhusuntersuchung haben wir noch nicht vorgenommen, aber ein Verdacht in dieser Richtung besteht. Sobald mein Assistent mit dem Lackmuspapier erscheint – « Im Restaurant war es totenstill geworden. »Bei einem gekochten Ei kann wohl nicht allzuviel passieren«, meinte Cordle. Der ältere Mann glaubte ihm vermutlich nicht, aber das spielte keine Rolle, Cordle war offenkundig ein Unruhestifter. »Komm, Mildred«, sagte er, und sie hasteten hinaus.
»Da gehen sechzig Franc plus fünf Prozent Trinkgeld«, sagte Cordle ruhig. »Verschwinden Sie augenblicklich!« zischte der Kellner. »Mir gefällt es hier«, sagte Cordle und verschränkte die Arme. »Ich mag die Atmosphäre, das Intime – « »Sie dürfen nicht bleiben, ohne zu speisen.« »Ich werde speisen. Von der Zehn-Franc-Speisekarte.« Die Kellner sahen einander an, nickten gleichzeitig und näherten sich in drohender Phalanx. Cordle rief den anderen Gästen zu: »Ich bitte Sie alle, meine Zeugen zu sein! Diese Männer wollen mich überfallen, vier gegen einen, im Widerspruch zum französischen Recht und zur gültigen Ethik der ganzen Menschheit, nur weil ich von der Zehn-Franc-Karte bestellen möchte, die sie fälschlicherweise ausgehängt haben.« Es war eine lange Rede, aber offenkundig auch die Zeit für große Worte. Cordle wiederholte sie auf Englisch. Die Engländerinnen hielten den Atem an. Der alte Franzose löffelte weiter seine Suppe. Die Skandinavier nickten grimmig und begannen ihre Jacken auszuziehen. Die Kellner hielten wieder eine Besprechung ab. Der eine, der wie Belmondo aussah, sagte: »M’sieu, Sie zwingen uns, die Polizei zu rufen.« »Das erspart mir die Mühe, es selbst zu tun«, antwortete Cordle. »M’sieu wird doch seine Ferien sicherlich nicht vor Gericht verbringen wollen?« »Dort verbringt M’sieu fast alle seine Ferien«, sagte Cordle. Die Kellner konferierten erneut miteinander. Dann stakte Belmondo mit der Dreißig-Franc-Karte heran. »Für Sie beträgt der prix fixe nur zehn Franc, weil M’sieu sich offenbar nicht mehr leisten kann.« Cordle ging nicht darauf ein. »Bringen Sie mir Zwiebelsuppe, grünen Salat und das Boeuf bourguignon.« Der Kellner entfernte sich, um die Bestellung aufzugeben. Während Cordle wartete, sang er mit mäßiger lauter Stimme ›Waltzing Matilda‹. Er
rechnete damit, daß sich die Bedienung dadurch beschleunigen würde. Als er zum zweitenmal bei der Stelle ›Lebendig erwischst du mich nie‹ war, bekam er sein Essen. Cordle zog die Terrine an sich und hob den Löffel. Es war ein Augenblick atemloser Spannung. Kein Gast hatte das Lokal verlassen. Und Cordle war vorbereitet. Er beugte sich vor, den Löffel erhoben, und schnupperte vorsichtig. Es wurde still. »Ein gewisses Etwas fehlt«, sagte Cordle laut. Stirnrunzelnd goß er die Zwiebelsuppe in das Boeuf bourguignon. Er schnupperte, schüttelte den Kopf und fügte einen halben Laib Brot in Scheiben hinzu. Er schnupperte wieder und schüttete den Inhalt eines Salzstreuers und den Salat hinein. Cordle spitzte die Lippen. »Nein«, sagte er, »es hat einfach keinen Zweck.« Er kippte den ganzen Inhalt der Terrine auf den Tisch. Es war eine Handlung, vergleichbar etwa damit, daß man die ›Mona Lisa‹ mit Gentianaviolett bespritzte. Ganz Frankreich und fast die gesamte Westschweiz verfielen in einen Schockzustand. Ohne Eile, die erstarrten Kellner aber im Auge behaltend, stand Cordle auf und warf zehn Franc in das Gesudel. Er ging zur Tür, drehte sich um und sagte: »Meinen Glückwunsch an den Küchenchef, der sich vielleicht besser als Betonmischer betätigen sollte. Und das ist für Sie, mon vieux.« Er warf seine zerknüllte Serviette auf den Boden. Wie der Matador nach einigen guten Gängen dem Stier verächtlich den Rücken zuwendet und davonschlendert, so ging Cordle. Aus unbekanntem Grund stürzten ihm die Kellner nicht nach, um ihn zu erschießen und seine Leiche an die nächste Laterne zu hängen. Cordle marschierte zehn oder fünfzehn Straßen weiter, wobei er wahllos nach links und rechts abbog. Er erreichte die Promenade des Anglais und setzte sich auf eine Bank. Er zitterte, und sein Hemd war schweißgetränkt. »Aber ich habe es geschafft«, sagte er. »Ich habe es geschafft! Ich war unaussprechlich gemein und bin damit durchgekommen!« Jetzt begriff er, weshalb Karotten sich so benahmen. Du lieber Gott im Himmel, was für eine Freude, was für ein seliges Entzücken!
Cordle verwandelte sich wieder in sein mildes Ich, fließend und ohne Bedauern. So blieb er bis zum zweiten Tag seines Aufenthalts in Rom. Er saß in seinem Mietwagen. Er und sieben andere Autofahrer standen vor einer Verkehrsampel am Corso Vittorio Emanuele II. Hinter ihnen vielleicht zwanzig Wagen. Alle Fahrer ließen ihre Motoren aufheulen und träumten, über ihre Lenkräder gebeugt, die Augen zu Schlitzen verengt, von Le Mans. Alle außer Cordle, der die gigantische Architektur von Roms Innenstadt auf sich wirken ließ. Die Startflagge zuckte herab! Die Fahrer traten die Gaspedale durch, versuchten zu erreichen, daß die Räder ihrer untermotorisierten Fiats durchdrehten, marterten das Getriebe und ihre Nerven, aber alles mit Elan und Sportsgeist. Alle außer Cordle, welcher der einzige Mensch in Rom zu sein schien, der kein Rennen gewinnen oder keine Verabredung einhalten mußte. Ohne übermäßige Eile oder besondere Verzögerung trat Cordle auf die Kupplung und legte den Gang ein. Schon hatte er zwei Sekunden verloren – unvorstellbar in Monza oder Monte Carlo. Der Fahrer hinter ihm hupte gellend. Cordle lächelte vor sich hin, ein geheimer, böser Ausdruck. Er zog die Handbremse an und stieg aus. Er ging langsam auf den Hupenden zu, der kalkweiß geworden war und unter seinem Sitz kramte, in der Hoffnung, ein Montiereisen zu finden. »Ja?« sagte Cordle auf Französisch. »Ist etwas?« »Nein, nein, nichts«, erwiderte der Fahrer auf Französisch – sein erster Fehler. »Ich wollte nur veranlassen, daß Sie weiterfahren.« »Aber ich war im Begriff, das zu tun«, erklärte Cordle. »Na also! Dann ist es ja gut!« »Nein, es ist nicht gut«, erwiderte Cordle. »Ich glaube, ich verdiene eine bessere Erklärung dafür, weshalb Sie mich angehupt haben.« Der andere – ein Mailänder Geschäftsmann auf Ferienreise, mit Frau und vier Kindern – antwortete unüberlegt: »Mein lieber Mann, Sie sind sehr langsam gewesen, Sie haben uns alle aufgehalten.«
»Langsam?« sagte Cordle. »Sie haben zwei Sekunden nach dem Umschalten der Ampel gehupt. Nennen Sie zwei Sekunden langsam?« »Es war viel länger«, wandte der Mann lahm ein. Der Verkehr staute sich bereits bis Neapel. Zehntausend Menschen hatten sich angesammelt. Polizeieinheiten in Viterbo und Genua waren in Alarmzustand versetzt worden. »Das ist unwahr«, sagte Cordle. »Ich habe Zeugen.« Er wies auf die Menge, die zurückdeutete. »Ich werde meine Zeugen vor Gericht laden. Sie müssen wissen, daß Sie gegen die Vorschriften verstoßen haben, als Sie innerhalb des Stadtbereichs von Rom gehupt haben, ohne daß ein Notfall vorgelegen hätte.« Der Mailänder blickte auf die Menge, die inzwischen auf etwa fünfzigtausend Menschen angeschwollen war. Lieber Gott, dachte er, wenn nur die Goten wiederkämen und diese gaffenden Römer vernichten würden! Wenn sich nur der Boden öffnen und diesen irren Franzosen verschlingen würde! Wenn nur ich, Giancarlo Morelli, einen stumpfen Löffel hätte, um mir damit die Pulsadern aufzuschneiden! Düsenjäger der 6. Flotte donnerten am Himmel vorbei, in der Hoffnung, den lange erwarteten Staatsstreich noch verhindern zu können. Seine Frau beschimpfte ihn: Heute nacht würde er ihr treuloses Herz herausschneiden und mit der Post an ihre Mutter schicken. Was galt es zu tun? In Mailand hätte er sich den Kopf des Franzosen auf einem Tablett servieren lassen. Aber hier war er in Rom, in einer südlichen Stadt, in einem unberechenbaren, gefährlichen Ort. Und rechtlich gesehen war er möglicherweise im Nachteil, was ihn bei dem Streit noch mehr behinderte. »Nun gut«, sagte er. »Das Hupen war vielleicht wirklich unnötig, trotz der Provokation.« »Ich bestehe auf einer echten Entschuldigung«, sagte Cordle. Im Osten grollte Donner: Tausende sowjetischer Panzer rollten in Kampfformation durch die Ebenen Ungarns, bereit, den lange erwarteten NATO-Vorstoß nach Transsylvanien aufzuhalten. In Foggia, Brindisi, Bari wurde das Wasser abgesperrt. Die Schweiz schloß die Grenzen und bereitete sich darauf vor, die Pässe in die Luft zu sprengen.
»Also gut, ich entschuldige mich!« kreischte der Geschäftsmann aus Mailand. »Es tut mir leid, daß ich Sie provoziert habe, es tut mir noch mehr leid, daß ich geboren bin! Ich entschuldige mich noch einmal! Wollen Sie jetzt gehen und mich in Frieden meinem Herzinfarkt überlassen?« »Ich nehme Ihre Entschuldigung an«, sagte Cordle. »Nichts für ungut, ja?« Er schlenderte zu seinem Wagen zurück, summte vor sich hin und fuhr davon, während Millionen jubelten. Erneut war der Krieg um Haaresbreite vermieden. Cordle fuhr zum Titus-Bogen, stellte seinen Wagen ab und ging unter Trompetenschall hindurch. Er verdiente seinen Triumph so gut wie irgendein Caesar. O Gott, dachte er triumphierend, war ich widerlich! In England trat Cordle am Traitors’ Gate im Tower von London einer jungen Dame auf den Fuß. Das sollte eine Art Annäherungsversuch sein. Die junge Dame hieß Mavis. Sie stammte aus Short Hills in New Jersey und hatte langes, schwarzes Haar. Sie war schlank, hübsch, intelligent, energisch und hatte Humor. Sie hatte auch kleine Fehler, aber die spielen hier keine Rolle. Sie ließ sich von Cordle zu einer Tasse Kaffee einladen. Sie waren während der ganzen restlichen Woche unzertrennlich. Ich glaube, ich habe mich in sie verschossen, sagte Cordle am siebten Tag zu sich selbst. Er begriff sofort, daß er untertrieb. Er war heftigst und hoffnungslos verliebt. Aber was fühlte Mavis? Sie schien ihn nicht zu verabscheuen. Es bestand sogar die Möglichkeit, daß sie seine Gefühle erwiderte. In diesem Augenblick wurde Cordle für eine Sekunde zum Hellseher. Er erkannte, daß er vor einer Woche auf den Fuß seiner zukünftigen Ehefrau und Mutter seiner zwei Kinder getreten war, die beide in einer Maisonettewohnung mit aufblasbaren Möbeln in Summit, New Jersey, oder vielleicht in Millburn geboren werden und aufwachsen würden. Das mag, so ausgedrückt, wenig attraktiv und ziemlich provinziell klingen, aber Cordle, der keine Ambitionen hegte, Kosmopolit zu werden, wünschte sich das. Schließlich können wir nicht alle in Cap Ferrat leben. Seltsamerweise wollen wir das nicht einmal alle.
An diesem Tag besuchten Cordle und Mavis die Villa Marshall Gordon am Belgrave Place, um sich die byzantinischen Miniaturen anzusehen. Mavis hegte eine Leidenschaft für byzantinische Miniaturen, die damals noch harmlos erschien. Die Sammlung war privater Natur, aber Mavis hatte durch den Avis-Manager, der sich maßlos anstrengte, Einladungen besorgt. Sie erreichten das Haus, ein ehrfurchterregendes Regency-Gebäude. Sie läuteten. Ein Butler im Frack öffnete die Tür. Sie zeigten die Einladungskarten vor. Der Blick und die hochgezogene Braue des Butlers verrieten, daß sie Einladungen zweiter Klasse von der Art besaßen, wie man sie lästigen Wichtigtuern auf Pauschalreisen gab, und nicht die Kunstdruckkarten erster Klasse, wie sie Picasso, Jackie Onassis, Sugar Ray Robinson, Norman Mailer und andere Weltbeweger erhielten. Der Butler sagte: »Ach ja – « Zwei Worte, die schwarze Bände sprachen. Sein Gesicht zuckte, er sah aus wie ein Mann, der unerwarteten Besuch von Tamerlan und einem Regiment der Goldenen Horde erhält. »Die Miniaturen«, erinnerte ihn Cordle. »Ja, gewiß… Aber ich fürchte, Sir, daß niemand ohne Jackett und Krawatte zur Sammlung Zutritt hat.« Es war ein schwüler Augusttag. Cordle trug ein Sporthemd. »Habe ich richtig gehört?« sagte er. »Jackett und Binder?« »Das ist Vorschrift, Sir.« »Könnten Sie nicht dieses eine Mal eine Ausnahme machen?« meinte Mavis. Der Butler schüttelte den Kopf. »Wir müssen uns wirklich an die Vorschriften halten, Miss. Andernfalls – « Er ließ die Angst vor dem Vulgären unausgesprochen, aber sie hing in der Luft wie ein verchromter Furz. »Gewiß«, sagte Cordle freundlich. »Andernfalls. Jackett und Krawatte, wie? Ich denke, daß läßt sich arrangieren.« Mavis legte die Hand auf seinen Arm und sagte: »Howard, gehen wir. Wir können ein andermal wiederkommen.« »Unsinn, meine Liebe. Wenn ich mir deinen Mantel ausleihen darf – «
Er nahm den weißen Regenumhang von ihren Schultern, zog ihn an und zerriß eine Naht. »So, Kumpel!« sagte er zu dem Butler. »Das müßte doch reichen, n’est-ce pas?« »Durchaus nicht«, sagte der Butler mit einer Stimme, die Artischocken hätte verdorren lassen. »Außerdem handelt es sich auch um die Krawatte.« Darauf hatte Cordle gewartet. Er riß sein schweißgetränktes Taschentuch heraus und band es sich um den Hals. »Paßt es Ihnen so?« fragte er feixend und ahmte Peter Lorre als Mr. Moto nach, was nur er zu schätzen wußte. »Howard! Wir gehen!« Cordle wartete und lächelte den Butler an, der zum erstenmal seit Menschengedenken schwitzte. »Ich fürchte, Sir, das ist nicht – « »Nicht was?« »Nicht exakt das, was mit Jacke und Krawatte gemeint war.« »Wollen Sie mir weismachen«, sagte Cordle mit lauter, unangenehmer Stimme, »daß Sie nicht nur Pförtner, sondern auch Sachverständiger für Herrengarderobe sind?« »Gewiß nicht! Aber diese improvisierte Kleidung – « »Was hat ›improvisiert‹ damit zu tun? Sollen sich die Leute drei Tage im voraus herrichten, nur um Ihrer Inspektion zu genügen?« »Sie tragen den Regenumhang einer Frau und ein schmutziges Taschentuch«, erklärte der Butler steif. »Ich glaube, es gibt nichts mehr zu sagen.« Er begann die Tür zu schließen. »Tu das, Freundchen«, sagte Cordle, »und ich verklage Sie wegen Beleidigung und übler Nachrede. Hier sind das schwere Anschuldigungen, Kumpel, und ich habe Zeugen.« Abgesehen von Mavis hatte Cordle eine kleine, interessierte Zuschauermenge erworben.
»Das wird nun aber doch wirklich zu absurd«, sagte der Butler bei halbgeschlossener Tür. »Ein paar Monate im Knast werden Ihnen noch absurder vorkommen«, erklärte Cordle. »Ich gedenke, Ihnen nach –, äh, gegen Sie vorzugehen.« »Howard!« rief Mavis. Er machte sich los und starrte den Butler durchdringend an. »Ich bin Mexikaner, auch wenn meine ausgezeichneten Englischkenntnisse Sie getäuscht haben mögen. In meinem Land schneidet man sich lieber die Kehle durch, bevor man eine solche Beleidigung ungerächt hinnimmt. Ein Frauenumhang, sagen Sie? Hombre, wenn ich einen Mantel trage, dann wird es ein Herrenmantel. Oder wollen Sie andeuten, ich sei ein Maricón, ein – wie nennt man das hier? – ein Homosexueller?« Die Menge gab ihre Zurückhaltung auf und knurrte Zustimmung. Niemand außer einem Lord liebt einen Butler. »Das habe ich nicht andeuten wollen«, sagte der Butler lahm. »Dann ist es also ein Herrenjackett?« »Wie Sie wollen, Sir.« »Unbefriedigend! Die Andeutung ist immer noch vorhanden. Ich gehe jetzt, um einen Polizeibeamten zu holen.« »Warten Sie, wir wollen nichts übereilen«, sagte der Butler. Sein Gesicht war blutleer, seine Hände zitterten. »Ihr Jackett ist ein Herrenjakkett, Sir.« »Und meine Krawatte?« Der Butler unternahm einen letzten Versuch, Zapata und seine blutgierigen Bauern zu stoppen. »Nun, Sir, ein Taschentuch ist augenscheinlich – « »Was ich um meinen Hals trage, wird, wozu ich es bestimme«, sagte Cordle kalt. »Wenn ich ein Stück Seide um den Hals schlinge, bezeichnen Sie das als Damenunterwäsche? Aus Leinen kann man Krawatten herstellen, verdad? Die Terminologie wird durch die Funktion bestimmt, finden Sie nicht? Wenn ich auf einer Kuh zur Arbeit reite, behauptet
niemand, ich säße auf einem Steak. Oder entdecken Sie einen Fehler in meinem Argument?« »Ich verstehe es leider nicht ganz – « »Wie können Sie sich dann anmaßen, darüber zu urteilen?« Die Menge, die unruhig geworden war, brummte Zustimmung. »Sir«, rief der gequälte Butler, »ich bitte Sie – « »Andernfalls habe ich ein Jackett, eine Krawatte und eine Einladung«, sagte Cordle befriedigt. »Vielleicht haben Sie jetzt die Güte, uns die byzantinischen Miniaturen zu zeigen?« Der Butler öffnete Pancho Villa und seinen zerlumpten Horden weit die Tür. Die letzte Bastion der Zivilisation war in weniger als einer Stunde erstürmt worden. Wölfe heulten am Themseufer, Morelos’ barfüßige Armee trieb ihre Pferde ins Britische Museum, und die lange Nacht Europas hatte begonnen. Cordle und Mavis besichtigten die Sammlung stumm. Sie wechselten kein Wort miteinander, bis sie allein waren und durch den Regent’s Park schlenderten. »Hör mal, Mavis«, begann Cordle. »Nein, hör du mal«, sagte sie. »Du warst gräßlich! Du warst unfaßbar! Du warst – ich finde kein Wort, das ausdrücken könnte, wie gemein du warst! Ich hätte mir nie träumen lassen, daß du einer von diesen Sadisten bist, der sich damit vergnügt, andere Leute zu demütigen!« »Aber, Mavis, du hast doch gehört, was er zu mir gesagt hat, du hast gehört, wie – « »Er war ein dummer, starrköpfiger alter Mann«, sagte Mavis. »Ich dachte, du bist anders.« »Aber er sagte – « »Es spielt keine Rolle. Du hast dir einen Spaß daraus gemacht!« »Na ja, vielleicht hast du recht«, sagte Cordle. »Paß auf, ich kann dir das erklären.« »Nicht mir. Nie. Bitte, bleib weg von mir, Howard. Für immer. Das ist mein Ernst.«
Die zukünftige Mutter seiner beiden Kinder entfernte sich aus seinem Leben. Cordle eilte ihr nach. »Mavis!« »Ich rufe die Polizei, Howard, glaub mir! Laß mich in Ruhe!« »Mavis, ich liebe dich!« Sie mußte ihn gehört haben, aber sie ging weiter. Sie war ein süßes und schönes Mädchen, und ganz eindeutig, unwandelbar, eine Zwiebel. Cordle konnte Mavis das mit dem Stew und der Notwendigkeit, das erst einmal zu erleben, bevor sie es verdammte, nie erklären. Augenblicke mystischer Erleuchtung sind selten mittelbar. Er konnte sie aber davon überzeugen, daß er eine kurze psychotische Episode durchgemacht hatte, einmalig und ohne Beispiel, und – bei ihr – niemals wiederholbar. Sie sind jetzt verheiratet, haben ein Mädchen und einen Jungen, wohnen in einer Maisonettewohnung in Plainfield, New Jersey, und sind recht zufrieden. Cordle wirkte sichtbar herumgeschubst von Handelsvertretern, Geldsammlern, Oberkellnern und anderen beeindruckenden, autoritätsverkörpernden Personen. Aber es gibt einen Unterschied. Cordle hat es sich zur Gewohnheit gemacht, regelmäßig allein auf Urlaub zu fahren. Im vorigen Jahr hat er sich in Honolulu so etwas wie einen Namen gemacht. In diesem Jahr besucht er Buenos Aires.
Heute findet kein Spiel statt Vielleicht war er noch nicht ganz wach, vielleicht erklärte das den Schock, als er durch den dunklen Korridor ging und durch die ovale Tür in die plötzliche Stille und Weite der Arena trat. Die konzentrischen Steinränge erhoben sich vor ihm zu schwindelnder Höhe, stützten die Himmelskuppel, sammelten die Hitze und Energie der Menge in einem Brennpunkt. Die Morgensonne gleißte auf dem weißen Sand, und einen Augenblick lang wußte er nicht mehr, wo er war. Er sah an sich herunter: Er trug ein blaues Hemd ohne Kragen und eine kurze rote Hose. An seiner linken Hand war ein ledernes Mitaxl befestigt. In der rechten Hand hielt er das Daenum, das mit seinen eineinviertel Metern schwer und beruhigend war. Er trug gepolsterte Knieund Ellbogenschützer, wie die Regeln es verlangten. Auf dem Kopf saß eine kleine gelbe Kappe mit Federn. Die Regeln verlangten sie nicht, aber es gab auch kein Verbot. Alles das sollte eigentlich vertraut und beruhigend wirken. Aber tat es das? Er prüfte Geflecht und Fugen des Mitaxl, vergewisserte sich, daß sich das Daenum frei um die Bronzespindel bewegen konnte. Er berührte seine Hüfte und spürte das übliche weiche Gewicht der Sentrae an seinem Gürtel, mit der rauhen Seite nach innen. Er erklärte sich, daß alles in Ordnung sei. Aber er war unsicher, denn verrückterweise kam es ihm so vor, als sei er noch nie in einer Arena gewesen, habe nie von einem Daenum gehört, als kenne er nicht einmal den Namen des Spiels, an dem er teilnehmen sollte. Aber das war verrückt, das waren die Nerven, darüber konnte man hinweggehen. Er schüttelte brüsk den Kopf und machte drei Gleitschritte, um die Kugellager seiner Rollschuhe zu prüfen, kehrte um und kreiste um sein Geviert. Jetzt konnte er die Menge hören, sie wurde vor einem Wettkampf immer unruhig; ja, und beleidigend. Natürlich lag es an den Rollschuhen,
sie entsprachen nicht der Tradition, die Zuschauer würden ihm die Rollschuhe nie verzeihen. Aber begriffen sie denn nicht, daß auf Rollschuhen zu spielen viel schwerer war als zu Fuß? Befaßten sie sich je mit dem Problem, wie ein niedriger Flugball zurückzugeben war, wenn man auf den Rollschuhen rückwärts fuhr? Wußten sie denn nicht, daß der Vorteil der Geschwindigkeit durch das erschwerte Einschätzen des Spielverlaufs ausgeglichen wurde? Sicherlich war man sich im klaren darüber, daß er auch zu Fuß gewinnen konnte! Er rieb sich die Stirn und sah zur Prüferloge hinüber. Die drei Richter hatten ihre Plätze eingenommen, sie blickten durch die Augenschlitze in ihren Federmasken. Die Frau mit der Binde um die Augen griff in den hohen Korb, wählte einen Ball und warf ihn ihm zu. Er wog ihn in der Hand, ein abgeplattetes Rotationsellipsoid, schwer aufzuschlagen, schwerer zurückzugeben. Er sah, daß sein Gegner auf der anderen Seite wartete, die Knie gebogen, den Körper vorgebeugt. Er warf den Ball also in die Luft und verlieh ihm schnell, ohne nachzudenken, mit dem Daenum Rotation. Die Menge wurde still und beobachtete den Ball, der sich wie durch Zauber einen Meter über dem Boden drehte. Er veränderte die Neigung mit dem Mitaxl, eine übliche Maßnahme, aber eine, die ihn mit plötzlicher Verzweiflung erfüllte, denn er erkannte, daß das nicht sein Tag für einen Sieg, nicht seine Woche, nicht sein Jahr, vielleicht nicht einmal sein Jahrzehnt war… Er nahm sich zusammen, ließ das Daenum an der Spindel entlanggleiten und schlug auf. Der Ball entflatterte ihm wie ein verletzter Vogel, und die Menge brüllte vor Lachen. Trotzdem war es ein täuschend guter Schlag, der Ball wurde kurz vor Erreichen des Netzes lebendig – sein Spezialschlag! –, flog hinauf und hinüber und erwischte den Gegenspieler auf dem falschen Standbein. Er wandte sich ab, hörte die Menge wieder aufbrüllen und wußte, daß sein Gegner den Ball auf irgendeine Weise hatte retournieren können. Er sah den Ball mit unbeabsichtigtem Rückeffekt daherkommen und langsam auf sich zuhopsen. Der Return war nicht besonders; er hätte sofort zurückschlagen, seinen Gegner vom Platz treiben, psychologisch einen Punkt gutmachen können. Aber er entschied sich dafür, den Ball an sich
vorbei an die Hinterwand prallen zu lassen, und nun war vermutlich sein Gegner im Vorteil. Er hörte einige Buhs und Pfiffe. Er ignorierte sie, es war einfach zu heiß heute, seine Beine schmerzten, er langweilte sich. Er spürte nicht zum erstenmal, daß der Wettkampf sinnlos geworden war. Es war lächerlich, wenn man sich das überlegte – ein Erwachsener, der ein Spiel derart ernst nahm! Schließlich bedeutete das Leben doch mehr, das Leben hieß Liebe und Kinder und Sonnenuntergänge und gutes Essen. Weshalb stellte dieser Wettkampf eine gedrängte Zusammenfassung seiner ganzen Existenz dar? Ein anderer Ball war im Spiel, ein großes, formloses, weiches Ding, zu leicht, ganz und gar nicht seine Art von Ball. Mit einem solchen Ball konnte er nichts anfangen. Er wies ihn zurück, wie es sein Recht war, und lehnte auch die beiden nächsten ab, einfach aus Ärger, obwohl der letzte seiner Begabung durchaus entsprochen haben mochte. Er ließ ihn fallen, drehte sich auf den Rollschuhen und glitt zur Bank an der Seitenlinie. Der Wettkampf hatte noch nicht begonnen, aber seine rechte Schulter schmerzte, und er hatte Durst. Er trank einen Becher Wasser, beschattete die Augen mit dem Mitaxl und winkte dem Clubboy, ihm noch einen Becher zu geben. Er konnte nicht beurteilen, ob die Richter ihn beobachteten oder nicht; vermutlich taten sie es, er hielt das Spiel auf. Aber das ließ sich nicht ändern, er brauchte Zeit, um sich seine Strategie zurechtzulegen, denn er zog es vor, einen klaren Spielplan zu haben. Kein Diagramm oder ein Schema – trotz des Rates einiger hervorragender Professioneller –, sondern eine allgemeine Strategie, die flexibel und auf gute allgemeine Grundsätze gestützt war und alle verfügbaren Informationen enthielt. Aber er brauchte natürlich keinen Plan für das Spiel. Wie jeder Profi konnte er mit und ohne Plan spielen, er konnte betrunken spielen, krank oder halbtot. Er mochte vielleicht nicht gewinnen, aber spielen konnte er immer. Daß hieß, ein Professional zu sein. Er drehte sich um und betrachtete die Arena, die Punktefelder, den schwarzen, verbotenen Bereich, das rot-blau gestreifte Niemandsland. Plötzlich konnte er sich nicht mehr an die Regeln erinnern, wußte nicht mehr, wie man Punkte erzielte, wußte nicht, was gut und was falsch war.
In Panik sah er sich selbst, einen verwirrten Mann in Turnkleidung, unsicher auf Rollschuhen, vor einer feindseligen Zuschauermenge, im Begriff, ein Spiel zu spielen, von dem er noch nie gehört hatte. Er leerte den zweiten Becher Wasser und rollte zurück auf den Platz. Er hatte einen ätzenden Geschmack im Mund, der Schweiß brannte in seinen Augen. Das Mitaxl knarrte, als er schneller wurde, das Daenum flappte gegen sein Bein wie ein zerschmetterter Vogel. Hier kam sein Ball, in der Form einer verdammten Raute; eine Mißgeburt von einem Ball, ein unmöglicher Ball sogar für ihn, den anerkannten Meister unmöglicher Bälle. Er würde ihn nie ans Netz bringen, geschweige denn darüber! Sollte er ihn allerdings über das Netz bringen – Aber er würde ihn nie hinüberbringen. Er sagte sich ohne innere Überzeugung, daß das Spiel wichtiger sei als der Sieg. Er schwang den Ball, klappte die Sentrae hoch, stellte sich in die vorgeschriebene Aufschlagpositur. Dann warf er den Ball zu Boden. Die Zuschauer waren totenstill. »Jetzt hört mal«, sagte er im Gesprächston. Seine Stimme klang hinauf bis zu den höchsten Plätzen in der Sonne. »Ich habe der Leitung vorher schon erklärt, daß ich auf einer Sonnenabschirmung bestehe. Ihr seht, daß man sie nicht aufgestellt hat. Trotzdem habe ich, weil ich mit der Aufstellung rechnete, keine Sonnenbrille mitgenommen. Das ist eindeutig Vertragsverletzung. Meine Damen und Herren, es tut mir leid, heute findet kein Spiel statt.« Er verbeugte sich und riß sich die Federkappe vom Kopf. Es gab Gemurmel, ein paar Buhrufe, aber man nahm es ruhig auf und verließ die Ränge ohne großen Protest. Daran war man natürlich gewöhnt: Obwohl er berühmt dafür war, daß er jeden Tag, bei jedem Wetter auf dem Platz erschien, vollendete er im Jahr nicht mehr als ein Dutzend Spiele. Er brauchte es nicht zu tun, es gab Beispiele genug, man brauchte nur in die Wettkampfspalten irgendeiner Zeitung zu blicken, um zu sehen, wie viele Kämpfe gestrichen worden waren. Selbst im Smithsonian Institute, wo die ersten historischen Hinweise auf das Spiel verzeichnet waren, selbst
dort, in Stein gemeißelt, konnte man sehen, daß die legendären Kämpfer des Altertums unterschiedliche Zuschauerzahlen angezogen hatten. Trotzdem, er fühlte sich nicht wohl dabei. Die Richter gingen, und er verbeugte sich vor ihnen, aber sie erwiderten den Gruß nicht. Er kehrte an die Seitenlinie zurück und trank noch einen Becher Wasser. Als er aufsah, bemerkte er, daß sich sein Gegner entfernt hatte. Er glitt auf den Platz zurück und begann mit Übungsschlägen an die Wand, glitt fließend über die Fliesen hin und her, retournierte seine Schläge, staunte über seine Geschicklichkeit. Er war jetzt gut in Form, es tat ihm leid, daß das nicht zählte. Aber wie hieß der Satz? ›Alles ist leicht zu treffen außer dem Ball, der das Geld bringt.‹ Am Ende des Tages hatte der Sand schwarze Spuren, war getränkt mit Schweiß- und Blutstropfen. Aber das zählte alles nicht, und er beachtete den vereinzelten Beifall nicht. Er wußte, daß er geübt hatte, um sich zu beschäftigen, um den Respekt vor sich selbst zu bewahren, damit er weiterhin glauben konnte, er werde spielen und gewinnen. Auf jeden Fall war er jetzt müde. Er ging in den Umkleideraum und schlüpfte wieder in seine Straßenkleidung. Durch die Hintertür trat er auf die Straße. Zu seiner Überraschung war es dunkel. Was hatte er den ganzen Tag getrieben? Unfaßlich, aber er wußte es nicht genau, und es schien ihm, als habe er an einem merkwürdigen Wettkampf teilgenommen. Er kehrte nach Hause zurück und hätte seiner Frau gerne von dem Spiel erzählt, aber er wußte nicht, was und wie er das erklären sollte, also sagte er nichts, und als seine Frau fragte, wie es ihm mit seiner Arbeit ergangen sei, sagte er, ganz gut, womit sie beide begriffen, daß es nicht gutgegangen war, nicht diesmal, nicht heute.
Doktor Zombie und seine kleinen pelzigen Freunde Ich glaube, daß ich hier ziemlich sicher bin. Ich wohne zur Zeit in einem kleinen Apartment nordöstlich des Zócalo, in einem der ältesten Viertel von Mexico City. Dem Ausländer fällt natürlich als erstes die unglaubliche Ähnlichkeit mit Spanien auf, obwohl die Unterschiede enorm sind. In Madrid sind die Straßen ein Labyrinth, das dich immer tiefer hineinzieht, verborgenen Zentren mit lästigen, wohlbehüteten Geheimnissen entgegen. Das Verbergen des Alltäglichen ist zweifellos ein Erbe der Mauern. Die mexikanischen Straßen dagegen sind ein umgestülptes Labyrinth, das zu den Bergen hinausführt, zum Freien, zu Offenbarungen, die für immer ungreifbar bleiben. Nichts ist verborgen, aber nichts in Mexiko ist begreiflich. Das ist die Art der Indianer, früher wie jetzt – eine Abwehr, die auf der Transparenz beruht; eine durchschaubare Abwehr wie jene der Seeanemone. Ich finde diesen Stil tiefsinnig und angemessen. Ich passe mich den in Tenochtitlán oder Tlaxcala entstandenen Erkenntnissen an; ich verberge nichts und verheimliche damit alles. Wie oft habe ich den Dieb beneidet, der nichts zu verbergen hat als eine Handvoll Beute! Manche von uns haben weniger Glück, manche von uns besitzen Geheimnisse, die nicht in unsere Taschen passen, auch nicht in die Schränke; Geheimnisse, die nicht einmal in unseren Wohnzimmern untergebracht oder in unseren Gärten vergraben werden können. Gilles de Retz brauchte einen geheimen privaten Friedhof, kaum kleiner als Pèra La Chaise in Paris. Meine eigenen Bedürfnisse sind bescheidener, aber nicht viel. Ich bin kein geselliger Mensch. Ich träume von einem Haus auf dem Land, an den unfruchtbaren Hängen von Ixtaccíhuatl, wo es meilenweit
keine andere menschliche Behausung gibt. Aber das wäre Wahnsinn. Die Polizei glaubt, daß ein Mensch, der sich zurückzieht, etwas zu verbergen hat; die Gleichung ist so wahr wie banal. Diese höfliche, unbarmherzige mexikanische Polizei! Wie sie Ausländern mißtraut und mit welchem Recht! Sie hätte unter irgendeinem Vorwand mein Haus durchsucht, und die Wahrheit wäre an den Tag gekommen – eine Dreitagesensation für die Zeitungen. Das alles habe ich vermieden oder wenigstens hinausgeschoben, indem ich wohne, wo ich wohne. Nicht einmal García, der eifrigste Polizist in meiner Nachbarschaft, kann glauben, daß ich diese kleine, durchlässige Wohnung für geheime gottlose Experimente schrecklichster Art verwende. Wie man sich erzählt. Meine Tür steht gewöhnlich einen Spalt offen. Wenn die Ladenbesitzer meine Sachen bringen, fordere ich sie auf, doch einzutreten. Sie tun es nie, sie achten die Privatsphäre eines Menschen sehr. Aber ich fordere sie trotzdem auf. Ich habe drei Räume, die hintereinander liegen. Man kommt durch die Küche herein. Dann kommt das Wohn- und schließlich das Schlafzimmer. Jedes Zimmer hat eine Tür, ich schließe sie nie ganz. Vielleicht treibe ich es mit diesem Fetisch der Offenheit zu weit. Denn wenn jemals jemand durch meine Wohnung ginge, die Schlafzimmertür ganz öffnete und hineinblickte, würde ich mich wohl umbringen müssen. Bis heute sind meine Besucher nicht über die Küche hinausgekommen. Ich glaube, sie haben Angst vor mir. Und wieso auch nicht? Ich habe selbst Angst vor mir. Meine Arbeit zwingt mich zu einer ungünstigen Lebensweise. Ich muß alle Mahlzeiten in meiner Wohnung einnehmen. Ich bin kein guter Koch; selbst das dürftigste Speiselokal in der Nachbarschaft ist mir voraus. Selbst die Straßenverkäufer mit ihren verkochten Tacos übertreffen meinen unverdaulichen Fraß. Was noch schlimmer ist, ich bin gezwungen, lächerliche Gründe dafür zu erfinden, daß ich immer zu Hause esse. Ich erkläre meinen Nachbarn,
daß mein Arzt mir keinerlei Gewürze erlaubt, keine Chilis, keine Tomaten, kein Salz… Warum? Ein seltenes Leberleiden. Wie ich es erworben habe? Durch schlecht gewordenes Fleisch, das ich vor vielen Jahren in Djakarta gegessen habe… All das läßt sich leicht behaupten, möchte man meinen. Aber es fällt mir schwer, die Einzelheiten im Gedächtnis zu behalten. Ein Lügner ist gezwungen, in einem widerlichen und unnatürlichen Zustand der Beharrlichkeit zu leben. Seine Rolle wird zu seiner Strafe. Meinen Nachbarn fällt es leicht, meine gewundenen Erklärungen zu akzeptieren. Ein wenig Nichtübereinstimmung erscheint ihnen sehr lebensecht, und sie halten sich für ausgezeichnete Kenner der Wahrheit, während sie in Wirklichkeit nur über Fragen der Wahrscheinlichkeit Urteile fällen. Trotzdem spüren meine Nachbarn etwas Ungeheuerliches an mir. Eduardo, der Fleischer, sagte einmal: »Wissen Sie, Doktor, daß Gespenster kein Salz bekommen? Vielleicht sind Sie ein Gespenst, wie?« Wo, um alles in der Welt, hat er das her? Aus einem Film oder aus einem Comic-Buch vielleicht. Ich habe gesehen, wie alte Frauen ein Zeichen gegen die bösen Geister machten, wenn ich vorbeiging, und hinter meinem Rücken hörte ich Kinder flüstern: »Doktor Zombie*, Doktor Zombie.« Alte Frauen und Kinder! Sie sind die Bewahrer der Weisheit, die diese Rasse besitzt. Ja, und die Fleischer wissen auch das eine oder andere. Ich bin weder Doktor noch ein Gespenst. Trotzdem haben die alten Frauen und die Kinder recht. Zum Glück beachtet sie niemand. Ich esse also weiterhin in meiner Küche – Lamm, Ziege, Schwein, Kaninchen, Rind, Kalb, Huhn und manchmal Wild. Das ist die einzige Art, wie ich die erforderlichen Mengen Fleisch ins Haus schaffen kann, um meine Tiere zu füttern.
*
Zombie heißt Wiederkehrer (Anmerkung des Verlages)
In letzter Zeit verdächtigt mich noch jemand. Zu meinem Pech ist es Diego Juan García, ein Polizist. García ist stämmig, vorsichtig, ein guter Polizeibeamter. Im Zócalo hält man ihn für unbestechlich – für einen aztekischen Cato, aber mit besseren Anlagen. Der Gemüsehändlerin zufolge – die vielleicht in mich verliebt ist – hält García es für möglich, daß ich ein entkommener deutscher Kriegsverbrecher bin. Eine verblüffende Vorstellung, die, was die Tatsachen betrifft, falsch, aber intuitiv richtig ist. García ist davon überzeugt, auf die Wahrheit gestoßen zu sein. Er hätte ohne das Dazwischentreten meiner Nachbarn schon gehandelt. Der Schuhmacher, der Fleischer, der Schuhputzer und vor allem die Gemüsehändlerin treten für mich ein. Sie sind bürgerliche Rationalisten, sie glauben an ihre eigenen Projektionen meines Charakters. Sie rügen García: »Sieht man denn nicht, daß dieser Ausländer ein stiller, gutmütiger Mann ist, ein harmloser Gelehrter, ein Träumer?« Verrückterweise täuschen auch sie sich, was die Tatsachen betrifft, haben jedoch intuitiv recht. Meine unschätzbaren Nachbarn reden mich mit ›Doktor‹ und manchmal mit ›Professor‹ an. Das sind Ehrentitel, die sie mir ganz spontan verliehen haben, als Lohn für meine Erscheinung. Ich habe nicht nach einem Titel gesucht, aber ich weise ihn auch nicht zurück. ›Señor Doctor‹ ist eine weitere Maske, hinter der ich mich verbergen kann. Ich komme ihnen wohl wie ein Doktor vor: hohe, glänzende Stirn, graue Haare an den Seiten meines kahlen Schädels, kantiges, strenges, faltiges Gesicht. Ja und mein europäischer Akzent, meine sorgfältigen spanischen Satzkonstruktionen, meine Zerstreutheit… Und meine goldgeränderte Brille! Was kann ich anderes sein als ein Doktor und ein deutscher dazu? Mein Titel verlangt nach einem Beruf, und ich behaupte, ein Gelehrter zu sein, der von seiner Universität einen längeren Forschungsurlaub bekommen hat. Ich erzähle ihnen, daß ich ein Buch über die Tolteken schreibe, ein Werk, in dem ich die Hinweise auf eine kulturelle Verbindung zwischen diesem rätselhaften Volk und den Inkas darlegen wolle.
»Ja, meine Herren, ich rechne damit, daß mein Buch in Bonn und Heidelberg allerhand Aufsehen erregen wird. Es gibt da Kräfte, die sich empören werden. Man versucht sicher, mich als Sonderling hinzustellen. Meine Theorie könnte nämlich das ganze Gebäude der präkolumbianischen Forschung erschüttern…« Ich hatte diese Persönlichkeit präpariert, bevor ich nach Mexiko gekommen war. Ich hatte Stephens, Prescott, Vaillant, Alfonso Caso gelesen und mir sogar die Mühe gemacht, das erste Drittel von Dreyers verworfener These über die Kulturausbreitung abzuschreiben, worin er einen Kulturaustausch zwischen Mayas und Tolteken postuliert. Dadurch besaß ich ein Opus von ungefähr achtzig handgeschriebenen Seiten, das ich als mein Eigentum ausgeben konnte. Das unfertige Manuskript war die Ausrede für meinen Aufenthalt in Mexiko. Jedermann konnte einen Blick auf die gelehrten, über meinen Schreibtisch verstreuten Seiten werfen und selbst erkennen, was für ein Mann ich war. Ich dachte, das würde genügen, aber ich hatte nicht mit der meiner Rolle eigenen Dynamik gerechnet. Señor Ortega, mein Lebensmittelhändler, interessiert sich ebenfalls für die präkolumbianische Forschung und besitzt beunruhigende Kenntnisse. Señor Andrade, der Friseur, ist in einem Pueblo keine fünf Meilen von den Ruinen von Teotihuacán geboren. Und der kleine Jorge Silverio, der Schuhputzer, dessen Mutter in einer Tortilleria arbeitetet, träumt davon, eine große Universität zu besuchen, und bittet mich ganz bescheiden, meinen Einfluß in Bonn geltend zu machen… Ich bin das Opfer der Erwartungen meiner Nachbarn. Ich bin ihr Professor geworden, nicht der meine. Ihretwegen muß ich endlose Stunden im Nationalmuseum für Anthropologie verbringen und ganze Tage in Teotihuacán, Tula, Xochicalco vergeuden. Meine Nachbarn zwingen mich, für meine Forschungen hart zu arbeiten. Und ich bin buchstäblich geworden, was ich zunächst nur vorgab zu sein: ein Fachmann, der im Besitz eines beträchtlichen Wissens und mehr als ein bißchen wahnsinnig ist. Die Rolle hat mich durchdrungen, sich mit mir vermischt, mich verwandelt, in einem solchen Maß, daß ich jetzt wirklich an die Wahrscheinlichkeit einer Verbindung zwischen Tolteken und Inkas glaube. Ich be-
sitze unwiderlegbare Beweise, ich habe mir ernsthaft überlegt, ob ich meine Erkenntnisse veröffentlichen soll… All das finde ich ermüdend und völlig nebensächlich. Vorigen Monat wurde ich sehr erschreckt. Meine Wirtin, Señora Elvira Maricas, hielt mich in der Straße auf und verlangte, daß ich meinen Hund weggeben müsse. »Aber, Señora, ich habe keinen Hund.« »Verzeihen Sie, Señor, aber Sie haben doch einen Hund. Ich habe ihn gestern nacht winseln und an Ihrer Tür scharren hören. Und meine Hausordnung, die noch von meinem seligen Mann stammt, verbietet ausdrücklich – « »Meine liebe Señora, Sie müssen sich irren. Ich kann Ihnen versichern –« Und da stand García, unausweichlich, wie der Tod, in frischgestärkter Khakiuniform, paffte eine Delicado und hörte uns zu. »Ein Kratzen? Vielleicht waren es die Termiten, Señora, oder die Kakerlaken.« Sie schüttelte den Kopf. »Das Geräusch war anders.« »Dann vielleicht Ratten. Ich muß leider sagen, daß es in Ihrem Haus von Ratten wimmelt.« »Ich weiß sehr genau, was für Geräusche Ratten machen«, sagte Señora Elvira mit unerschütterlicher Arglosigkeit. »Aber so war das nicht, es waren Geräusche eines Hundes, und sie kamen aus Ihrer Wohnung. Und Haustiere dulde ich nicht, wie Sie wissen.« García beobachtete mich, und ich sah, wie sich in seinen Augen meine Taten in Dachau, Bergen-Belsen, Theresienstadt widerspiegelten. Ich hätte ihm gern gesagt, daß er sich irre, daß ich zu den Opfern gehörte, daß ich die Jahre des Krieges als Gefangener im Konzentrationslager Tjilatjap auf Java verbracht hatte.
Aber ich wußte auch, daß es gar nicht darum ging. Meine Verbrechen gegen die Menschlichkeit waren real genug: García spürte eben nur das Schreckliche des kommenden, anstatt des vergangenen Jahres. Ich hätte vielleicht in diesem Augenblick alles gebeichtet, wenn Señora Elvira sich nicht an García gewandt und gesagt hätte: »Nun, was unternehmen Sie dagegen? Er hält einen Hund, vielleicht sogar zwei Hunde, er hält weiß Gott was in seiner Wohnung. Was wollen Sie tun?« García sagte nichts. Sein unbewegtes Gesicht erinnerte mich an die steinerne Maske Tlalocs im Museum von Cholula. Meine eigene Reaktion paßte zu der durchsichtigen Abwehr, hinter der ich meine Geheimnisse verberge. Ich knirschte mit den Zähnen, blähte die Nasenflügel, versuchte die furia espanol vorzutäuschen. »Hunde?« schrie ich. »Ich zeige euch Hunde! Kommt rauf und durchsucht meine Wohnung! Ich zahle hundert Pesos für jeden Hund, den ihr findet, zweihundert für jeden reinrassigen. Kommen Sie ruhig auch rauf, García, und bringen Sie alle Ihre Freunde mit. Vielleicht habe ich auch noch ein Pferd oben, wie? Vielleicht ein Schwein? Bringt Zeugen, bringt Reporter, ich möchte, daß meine Menagerie genau registriert wird.« »Beruhigen Sie sich«, sagte García, von meinem Wutanfall unbeeindruckt. »Ich beruhige mich, sobald wir die Hunde weggeschafft haben!« brüllte ich. »Kommen Sie, Señora, betreten Sie meine Wohnung und sehen Sie unter dem Bett nach Ihren Halluzinationen. Und wenn Sie sich vergewissert haben, geben Sie mir gefälligst den Rest meiner Monatsmiete und die Kaution zurück, und ich ziehe mit meinen unsichtbaren Hunden aus.« García betrachtete mich forschend. Ich nehme an, daß er schon genug Theater erlebt hat. Es heißt, es sei typisch für eine bestimmte Sorte von Verbrechern. Er sagte zu Señora Elvira: »Wollen wir uns umsehen?« Meine Wirtin überraschte mich. Sie sagte (unfaßlich!): »Natürlich nicht! Der Herr hat sein Wort gegeben.« Sie drehte sich um und ging davon. Ich wollte den Bluff vollenden und darauf bestehen, daß García selbst nachsah, wenn er nicht völlig zufrieden war. Zum Glück hielt ich mich zurück. García hat keine Angst davor, sich lächerlich zu machen.
»Ich bin müde«, sagte ich. »Ich muß mich hinlegen.« Und damit war der Fall erledigt. Diesmal sperrte ich die Wohnungstür ab. Es war knapp gewesen. Während unseres Gesprächs hatte das arme, elende Wesen seine Leine durchgenagt und war am Küchenboden gestorben. Ich beseitigte es auf die übliche Weise, indem ich es den anderen als Fraß gab. Danach verdoppelte ich meine Vorsichtsmaßnahmen. Ich kaufte ein Radiogerät, um die wenigen Geräusche zu übertönen, die sie machten. Ich legte dicke Strohmatten unter ihre Käfige. Und ich tarnte ihren Geruch mit schwerem Tabak, weil ich das Gefühl hatte, daß Weihrauch zu sehr auffallen würde. Es ist aber seltsam und ironisch, daß mich jemand verdächtigt, ich hielte Hunde. Sie sind meine unerbittlichen Feinde. Sie wissen, was in meiner Wohnung vorgeht. Sie haben sich mit der Menschheit verbündet. Sie sind Renegaten der Tierwelt, wie ich ein Renegat der Menschheit bin. Wenn die Hunde sprechen könnten, würden sie mit ihren denunciamentos sofort zur Polizeistation laufen. Sobald die Schlacht gegen die Menschheit beginnt, werden die Hunde mit ihren Herren stehen oder fallen müssen. Vorsichtiger Optimismus scheint berechtigt zu sein: Der letzte Wurf war recht vielversprechend. Vier von den zwölf Jungen blieben am Leben und wurden glatt und schlau und kräftig. Aber sie sind nicht so wild, wie ich erwartet habe. Dieser Teil ihres genetischen Erbes scheint verlorengegangen zu sein. Sie scheinen sogar an mir zu hängen – wie Hunde! Aber das kann man sicher wegzüchten. Die Menschheit kennt entsetzliche Legenden über Bastarde, die durch die Vermischung verschiedener Arten entstanden sind. Zu ihnen gehören die Schimäre, der Greif und die Sphinx, um nur einige zu nennen. Ich habe den Eindruck, daß diese antiken Alpträume vielleicht eine Erinnerung an die Zukunft sein mögen – wie Garcías Wahrnehmung meiner noch nicht begangenen Verbrechen.
Plinius und Diodorus erwähnen die monströsen Nachkommen von Kamel und Vogel Strauß, Löwe und Adler, Drache und Tiger. Was hätten sie von einer Mischung aus Jerf und Ratte gehalten? Was würde ein moderner Biologe zu ihrer Ausgeburt sagen? Die Wissenschaftler von heute werden ihre Existenz auch noch bestreiten, wenn meine heraldischen Bestien in die Dörfer und Städte ausschwärmen. Kein vernünftiger Mensch wird an ein Wesen glauben, das so groß wie ein Wolf, so wild und verschlagen wie ein Vielfraß, so gesellig und anpassungsfähig wie eine Ratte ist und sich so schnell wie eine solche vermehrt. Ein eingefleischter Rationalist wird an dieses unbeschreibliche und apokryphe Tier nicht glauben, während es ihm die Kehle zerfetzt. Und er wird mit seiner Skepsis beinahe recht haben. Ein solches Produkt der Hybridenzüchtung war eindeutig ausgeschlossen – bis ich es im vergangenen Jahr hervorbrachte. Geheimhaltung kann als Notwendigkeit beginnen und zur Gewohnheit werden. Selbst in diesem Tagebuch, in dem ich vorhabe, alles mitzuteilen, sehe ich, daß ich meine Gründe für die Züchtung von Ungeheuern nicht genannt und auch nicht erwähnt habe, was ich mit ihnen will. Ihre Arbeit sollte in etwa drei Monaten beginnen, Anfang Juli. Dann werden die Menschen in der Umgebung von einer Horde Tiere sprechen, die sich in den Slums um Zócalo herumtreibt. Die Beschreibungen werden ungenau sein, aber man wird über die Größe dieser Wesen reden, über ihre Wildheit und Grausamkeit. Man wird die Behörden unterrichten, die Presse wird Notiz davon nehmen. Zunächst wird man Wölfe oder wilde Hunde beschuldigen, trotz des wenig hundeartigen Äußeren dieser Bestien. Man wird es mit gewohnten Ausrottungsmethoden versuchen und keinen Erfolg haben. Die rätselhaften Wesen werden sich durch die Hauptstadt ausbreiten und in die reichen Vororte Pedregal und Coyocán vorstoßen. Inzwischen wird man wissen, daß sie Allesfresser sind, wie der Mensch auch. Und man wird argwöhnen – zu Recht –, daß sie sich ungeheuer schnell vermehren.
Man wird die Streitkräfte einsetzen, ohne Erfolg. Die Luftwaffe wird über das Land donnern; aber was wird sie finden, was sie bombardieren könnte? Diese Wesen bieten kein Massenziel für konventionelle Waffen. Sie leben hinter den Mauern, unter den Sofas, im Schrank – stets knapp hinter dem äußersten Rand des Sichtbereichs. Gift? Aber diese Hybriden fressen, was man hat, nicht, was man anbietet. Und außerdem – es ist jetzt August – ist die Situation außer Kontrolle geraten. Die Armee ist symbolisch durch ganz Mexiko City verstreut, aber die Kohorten der Bestien haben Toluca, Ixtapan, Tepalcingo, Cuernavaca überrannt und sind in San Luis Potosí, in Oaxaca und Veracruz gesichtet worden. Wissenschaftler tagen, man entwirft Notprogramme, aus der ganzen Welt strömen Fachleute nach Mexiko. Die Bestien halten keine Konferenzen ab und veröffentlichen keine Aufrufe. Sie vermehren sich und breiten sich aus, im Norden bis nach Durango, im Süden bis nach Villahermosa. Die Vereinigten Staaten schließen ihre Grenzen; auch das eine symbolische Geste. Die Tiere gelangen nach Piedras Negras, sie überqueren den Eagle-Paß ohne Erlaubnis; unbefugt erscheinen sie in El Paso, Laredo, Brownsville. Sie fegen über die Ebenen und Wüsten wie ein Wirbelwind, sie strömen in die Großstädte wie eine Sturmflut. Doktor Zombies kleine pelzige Freunde sind zur Stelle, und sie bleiben. Und endlich begreift die Menschheit, daß das Problem nicht darin besteht, diese Bestien auszuschalten. Nein, es besteht darin, die Tiere daran zu hindern, daß sie die Menschen ausrotten. Das ist möglich, daran habe ich keinen Zweifel. Aber es wird die volle Anstrengung und die ganze Einfallskraft der Menschheit erfordern. Das hoffe ich durch die Züchtung von Ungeheuern zu erreichen. Sehen Sie, es muß einfach etwas geschehen. Ich habe vor, meine Tiere als Gegengewicht einzusetzen, das den heißlaufenden Motor kontrolliert, der die Erde und sich selbst zu zerstören droht. Ich halte diese Aufgabe für ethisch unumgänglich. Denn hat der Mensch das Recht, jede Gattung
nach Belieben auszurotten? Muß alles in der Schöpfung seinen unüberlegten Plänen dienen oder untergehen? Haben nicht alle Lebensformen und -systeme ein Recht zu leben, ein absolutes Recht ohne Einschränkung? Trotz dieser äußersten Maßnahme wird es für die Menschheit auch Vorteile geben. Niemand wird sich mehr Sorgen um Wasserstoffbomben, Bakterienkrieg, Entlaubung, Umweltverschmutzung, den Treibhauseffekt und dergleichen machen müssen. Über Nacht werden diese Dinge – überholt sein. Der Mensch wird zum Leben in der Natur zurückkehren. Er wird noch immer einmalig sein, noch immer intelligent, noch immer ein Raubtier, aber nun wird er wieder gewissen Kontrollen und Widerständen begegnen, die er bis dahin gemieden hatte. Seine Freiheit, die er am höchsten schätzt, wird bestehen bleiben; er wird immer noch töten können; aber er wird nicht mehr in der Lage sein, auszurotten. Lungenentzündung ist ein großer Gleichmacher. Sie hat meine Tiere getötet. Gestern hob das letzte seinen Kopf und blickte mich an. Seine großen, hellen Augen trübten sich. Es hob eine Pfote, streckte die Klauen und kratzte mich ganz leicht am Unterarm. Ich weinte, denn ich erkannte, daß mein armes Tier das nur getan hatte, um mir zu gefallen, weil es wußte, wie sehr ich mir wünschte, es möge wild, unerbittlich, eine Geißel der Menschheit sein. Die Anstrengung war zu groß. Die wunderbaren Augen schlossen sich. Das Tier starb fast ohne ein Zucken. Lungenentzündung ist eigentlich keine richtige Erklärung, versteht sich. Abgesehen davon war der Wille einfach nicht vorhanden. Keine Gattung besitzt mehr starke Lebenskraft, seitdem der Mensch die Erde für sich beansprucht. Die Sklaven-Waschbären spielen noch in den Adirondacks-Wäldern, die Sklaven-Löwen schnuppern an Bierdosen im Krüger-National-Park. Sie und alle anderen existieren nur mit unserer Duldung, als Heimatlose in unserem Land. Und sie wissen es.
Unter den gegebenen Umständen kann man nicht erwarten, viel Lebenskraft und -geist unter nichtmenschlichen Wesen zu finden. Lebensgeist ist eine Eigenschaft der Sieger. Der Tod meines letzten Tieres ist zu meinem eigenen Ende geworden. Ich bin zu müde und zu gebrochen, um von neuem anzufangen. Ich bedaure, daß ich die Menschheit enttäuscht habe. Es tut mir leid, daß ich die Löwen, Strauße, Tiger, Wale und all die anderen Arten enttäuscht habe, denen das Aussterben droht. Aber vor allem bedaure ich, die Spatzen, Krähen, Ratten, Hyänen enttäuscht zu haben – die Schädlinge der Erde, den Pöbel der Natur, der nur vorhanden ist, um von den Menschen ausgerottet zu werden. Mein echtestes Mitgefühl galt immer den Ausgestoßenen, den Verlassenen und Wertlosen, zu denen auch ich mich zähle. Sind sie Ungeziefer einfach deshalb, weil sie dem Menschen nicht dienen? Haben nicht alle Lebensformen und -systeme ein Recht zu leben, ein absolutes Recht, ohne Einschränkung? Muß alles in der Schöpfung einer einzigen Gattung dienen oder ausgerottet werden? Es muß noch jemand so fühlen wie ich. Ich fordere ihn auf, den Kampf weiterzuführen, ein Guerillakämpfer gegen seine eigene Art zu werden, sie zu bekämpfen wie ein wütendes Feuer. Diese Aufzeichnungen sind für jeden hypothetischen Menschen geschrieben. Was mich angeht: Vor kurzem erschienen García und ein zweiter Beamter zu einer ›üblichen‹ Hygieneuntersuchung in meiner Wohnung. Sie fanden die Leichen von mehreren meiner Tiere, die zu beseitigen ich noch keine Gelegenheit gefunden hatte. Ich wurde festgenommen und der Tierquälerei beschuldigt sowie des Betriebs einer Schlachterei ohne Genehmigung. Ich werde mich schuldig bekennen. Obwohl die Anklage falsch ist, erkenne ich sie im wesentlichen als unwiderlegbar wahr an.
Die grausamen Gleichungen Nach der Landung auf Regulus V schlugen die Männer der JarmolinskiExpedition ein Lager auf und setzten WR 22-0134, ihren Wachroboter, den sie Max nannten, in Betrieb. Der Roboter war ein sprechfähiger, zweibeiniger Mechanismus, der die Funktion hatte, das Lager gegen Überfälle fremder Lebewesen zu schützen, falls man fremden Wesen je begegnen sollte. Max war ursprünglich von vorschriftsmäßigem Metallgrau gewesen, aber während des endlosen Flugs hierher hatten sie ihn babyblau gestrichen. Max war genau einszwanzig groß. Die Männer der Expedition betrachteten ihn inzwischen als freundlichen, vernünftigen kleinen Metallmann – als einen eisernen Zwerg. Sie täuschten sich natürlich. Ihr Roboter besaß keine der Eigenschaften, mit denen sie ihn ausstatteten. WR 22-0134 war nicht vernünftiger als ein Mähdrescher, nicht freundlicher als ein vollautomatisches Walzwerk. Moralisch gesehen konnte man ihn mit einer Turbine oder einem Radiogerät vergleichen, aber nicht mit Menschlichem. WR 22-0134 besaß als einziges menschliches Attribut Wirkungsvermögen. Der kleine Max, babyblau mit roten Augen, umrandete mit wachen Sensoren das Lager. Captain Beatty und Leutnant James starteten mit dem Schwebekissenjet zu einer Woche Forschungsarbeit. Leutnant Halloran blieb zurück, um auf das Lager aufzupassen. Halloran war ein kleiner, stämmiger Mann mit breitem Brustkasten und O-Beinen. Er war fröhlich, sommersprossig, zäh, fluchte gern und zeigte sich erfinderisch. Er aß zu Mittag und bestätigte einen Funkruf der Erkundungsgruppe. Dann stellte er einen Klappsessel auf und lehnte sich zurück, um die Landschaft zu genießen. Regulus V war ein recht netter Planet, wenn man für Öde schwärmte. In alle Richtungen erstreckte sich eine überhitzte Landschaft aus Fels, Kies und Lava. Es gab Vögel, die aussahen wie Spatzen, und ein paar
Tiere, die Kojoten ähnelten. Einige Kakteen hielten sich mühsam am Leben. Halloran stand auf. »Max! Ich sehe mich draußen einmal um. Du führst hier das Kommando, während ich fort bin.« Der Roboter blieb stehen. »Ja, Sir, ich führe das Kommando.« »Du läßt keine fremden Wesen hier herein, vor allem nicht die doppelköpfigen mit den verkehrt eingesetzten Beinen.« »Sehr wohl, Sir.« Max hatte keinen Humor, wenn es um fremde Lebewesen ging. »Kennen Sie die Parole, Mr. Halloran?« »Die kenne ich, Max. Und du?« »Ich kenne sie, Sir.« »Okay. Wir sehen uns später.« Halloran verließ das Lager. Nachdem er die Gegend eine Stunde lang besichtigt und nichts Interessantes gefunden hatte, kam Halloran zurück. Er freute sich, WR 22-0134 am Perimeter patroullieren zu sehen. Das hieß, das alles seine Ordnung hatte. »Hallo, Max«, rief er. »Irgendeine Nachricht für mich?« »Halt«, sagte der Roboter. »Parole!« »Laß den Quatsch, Max. Ich bin jetzt nicht in der Stimmung für – « »Halt!« schrie der Roboter, als Halloran die Perimeterlinie überschreiten wollte. Halloran blieb wie angewurzelt stehen. Max’ fotoelektrische Augen waren aufgeflammt, und ein zweifaches Knacken verriet, daß seine Primärbewaffnung eingeschaltet war. Halloran beschloß, vorsichtig zu sein. »Ich habe Halt gemacht. Ich heiße Halloran. Okay, Max?« »Die Parole bitte.« ›»Glockenblume‹«, sagte Halloran. »Wenn es dir nichts ausmacht – « »Nicht weitergehen«, sagte der Roboter. »Ihre Parole stimmt nicht.« »Na hör mal. Ich habe sie dir selbst gegeben.«
»Das war die Parole vorher.« »Vorher? Bist du übergeschnappt?« sagte Halloran. »›Glockenblume‹ ist die einzige Parole, und du hast keine neue bekommen, weil es keine neue gibt. Außer – « Der Roboter wartete. Halloran betrachtete den unerfreulichen Gedanken von allen Seiten und sprach ihn schließlich aus. »Außer, Captain Beatty hat dir, bevor er abgeflogen ist, eine neue Parole gegeben. War es so?« »Ja«, sagte der Roboter. »Daran hätte ich denken müssen«, meinte Halloran. Er grinste, aber er ärgerte sich. Solche Fehler hatte es schon öfter gegeben, aber bislang war immer jemand innerhalb des Lagers gewesen, um sie korrigieren zu können. Trotzdem bestand kein Anlaß zur Besorgnis. Wenn man es sich genau überlegte, war die Lage mehr als nur ein bißchen komisch. Und sie ließ sich mit einer Spur Vernunft klären. Halloran ging natürlich davon aus, daß WR-Roboter eine Spur Vernunft besitzen. »Max«, sagte Halloran, »ich weiß, wie das passiert sein muß. Captain Beatty hat dir eine neue Parole gegeben und dann vergessen, mir Bescheid zu sagen. Ich habe dann den Fehler gemacht, mich nicht nach der Parole zu erkundigen, bevor ich den Lagerumkreis verließ.« Der Roboter schwieg. »Der Fehler läßt sich aber leicht beheben«, fuhr Halloran fort. »Das hoffe ich ehrlich«, sagte der Roboter. »Natürlich«, sagte Halloran, nicht mehr ganz so zuversichtlich. »Der Captain und ich halten uns dabei an eine feste Regel. Wenn er dir eine Parole gibt, unterrichtet er mich mündlich. Für den Fall jedoch, daß etwas schiefgeht – wie jetzt –, schreibt er sie auch noch auf.« »Tut er das?« fragte der Roboter. »Das tut er«, sagte Halloran. »Immer. Ohne Ausnahme. Hoffentlich hat er es auch diesmal getan. Siehst du das Zelt hinter dir?«
Der Roboter drehte einen Sensor, hielt aber den anderen auf Halloran gerichtet. »Ich sehe es.« »Okay. Im Zelt steht ein Tisch. Auf dem Tisch liegt ein Klemmbrett aus grauem Metall.« »Richtig«, sagte Max. »Fein! In dem Klemmbrett steckt ein Blatt Papier. Darauf stehen wichtige Daten – Notruffrequenzen und dergleichen. Ganz oben, rot umrandet, steht die gültige Parole.« Der Roboter fuhr seinen Sensor aus, stellte ihn auf größere Schärfe ein, zog ihn wieder zurück. »Was Sie sagen, trifft zu, aber es ist irrelevant«, sagte er zu Halloran. »Mir geht es nur darum, ob Sie die gültige Parole kennen, nicht, ob Sie wissen, wo sie sich befindet. Wenn Sie mir die Parole geben können, muß ich Sie in das Lager lassen. Wenn nicht, muß ich Sie fernhalten.« »Das ist doch Irrsinn!« schrie Halloran. »Max, du pedantischer Idiot, ich bin es, Halloran, und du weißt das auch ganz genau! Wir sind seit dem Tag zusammen, an dem du eingeschaltet wurdest! Möchtest du jetzt endlich aufhören, Horatio an der Zugbrücke zu spielen, und mich hineinlassen?« »Ihre Ähnlichkeit mit Mr. Halloran ist wirklich unglaublich«, gab der Roboter zu. »Ich bin aber weder dafür ausgerüstet noch befugt, Identitätstests vorzunehmen; ich habe auch nicht die Erlaubnis, auf Grund meiner Wahrnehmungen zu handeln. Der einzige Beweis, den ich akzeptieren kann, ist die Parole selbst.« Halloran kämpfte seinen Zorn nieder. In freundlichem Ton sagte er: »Max, alter Kumpel, das hört sich an, als wolltest du andeuten, ich sei ein fremdes Lebewesen.« »Da Sie die Parole nicht kennen«, sagte Max, »muß ich von dieser Annahme ausgehen.« »Max!« brüllte Halloran und trat vor. »Verdammt noch mal!« »Kommen Sie dem Perimeter nicht zu nah«, sagte der Roboter mit glimmenden Sensoren. »Wer oder was Sie auch sein mögen, treten Sie zurück!«
»Also gut, ich gehe zurück«, sagte Halloran hastig. »Nur nicht nervös werden.« Er wich zurück und wartete, bis sich die Sensoren des Roboters beruhigt hatten. Dann setzte er sich auf einen Felsblock. Er mußte ernsthaft nachdenken. Im Tausendstundentag von Regulus V war es fast Mittag. Die zwei Sonnen hingen hoch oben, verzerrte weiße Klumpen in einem toten, weißen Himmel. Sie bewegten sich träge über einer granitdunklen Landschaft, Zeitlupenkolosse, die zerstörten, was sie berührten. Ab und zu schwebte ein Vogel in müden Kreisen durch die trockene, heiße Luft. Ein paar kleine Tiere krochen von Schatten zu Schatten. Ein Wesen, das wie ein Jerf aussah, nagte an einem Zeltpflock, unbeachtet von einem kleinen, blauen Roboter. Ein Mann saß auf einem Felsblock und beobachtete den Roboter. Halloran, der schon die Wirkung von Sonne und Durst spürte, versuchte seine Situation zu begreifen und einen Ausweg zu finden. Er wollte Wasser. Bald würde er Wasser brauchen. Nicht lange danach würde er an Wassermangel sterben. Es gab, außer im Lager, in Gehweite keine bekannte Quelle für Trinkwasser. Im Lager gab es Wasser genug. Aber er konnte nicht am Roboter vorbei. Beatty und James würden routinemäßig versuchen, in drei Tagen mit ihm Verbindung aufzunehmen, aber kaum erschrecken, wenn er sich nicht meldete. Der Kurzwellenempfang war selbst auf der Erde von unterschiedlicher Qualität. Sie würden es am Abend und am nächsten Morgen erneut versuchen. Wenn er sich dann immer noch nicht gemeldet hatte, würden sie zurückkommen. Insgesamt also ungefähr vier Erdtage. Wie lange konnte er ohne Wasser auskommen? Die Antwort hing davon ab, mit welcher Geschwindigkeit sein Körper Wasser abgab. Wenn er einen Flüssigkeitsverlust von zehn bis fünfzehn Prozent seines Körpergewichts erlitten hatte, würde er in einen Schock-
zustand verfallen. Man wußte von Beduinen, die, von ihren Vorräten abgeschnitten, nach vierundzwanzig Stunden zusammengebrochen waren. Steckengebliebene Autofahrer im amerikanischen Südwesten, die versuchten, zu Fuß durch die Baker- oder die Mojavewüste zu kommen, hielten manchmal nicht einen ganzen Tag durch. Regulus V war heiß wie die Kalahari und hatte weniger Feuchtigkeit als das Tal des Todes. Ein Tag auf Regulus V erstreckte sich über nicht ganz tausend Erdstunden. Es war Mittag, er hatte fünfhundert Stunden unerbittlichen Sonnenschein vor sich, ohne Unterschlupf, ohne Schatten. Wie lange konnte er durchhalten? Einen Erdtag. Bestenfalls zwei. Beatty und James konnte er gleich vergessen. Er mußte Wasser aus dem Lager beschaffen, und zwar schnell. Das hieß, daß er einen Weg vorbei an dem Roboter finden mußte. Er versuchte es mit Logik. »Max, du mußt doch wissen, daß ich, Halloran, das Lager verlassen habe und daß ich, Halloran, eine Stunde später zurückgekommen bin und daß ich, Halloran, es bin, der jetzt vor dir ohne Parole steht.« »Die Wahrscheinlichkeit spricht sehr stark für Ihre Auslegung«, räumte der Roboter ein. »Na, also – « »Aber ich kann mich nicht an die Wahrscheinlichkeit halten, selbst wenn sie an Sicherheit grenzt. Schließlich bin ich ausdrücklich zu dem Zweck geschaffen worden, mit fremden, intelligenten Lebewesen fertig zu werden, trotz der extrem geringen Wahrscheinlichkeit, daß ich jemals einem begegnen werde.« »Kannst du mir wenigstens eine Feldflasche voll Wasser geben?« »Nein. Das würde gegen die Vorschriften verstoßen.« »Wann hast du je Vorschriften über die Herausgabe von Wasser bekommen?« »Nicht so, nicht ausdrücklich. Aber die Schlußfolgerung ergibt sich aus meinem Primärantrieb. Ich darf fremde Wesen nicht unterstützen.«
Halloran sagte darauf vieles, sehr schnell und mit lauter Stimme. Seine Ausdrücke waren eindeutig terranisch, aber Max ignorierte sie, denn sie waren beleidigend, tendenziös und völlig wertlos. Nach einiger Zeit zog sich das fremde Wesen, das sich Halloran nannte, hinter eine Anhäufung von Felsblöcken zurück. Nach einigen Minuten schlenderte ein Wesen hinter einer Anhäufung von Felsblöcken hervor und pfiff vor sich hin. »Hallo, Max«, sagte das Wesen. »Hallo, Mr. Halloran«, erwiderte der Roboter. Halloran blieb zehn Meter vor der Lagergrenze stehen. »Na«, sagte er. »Ich habe mich umgesehen, aber es gibt nicht viel zu besichtigen. Hat sich inzwischen etwas getan?« »Ja, Sir«, antwortete Max. »Ein fremdes Wesen wollte ins Lager.« Halloran zog beide Brauen hoch. »Tatsächlich?« »Tatsächlich, Sir.« »Wie sah es denn aus?« »Es sah Ihnen sehr ähnlich, Mr. Halloran.« »Du lieber Himmel!« rief Halloran. »Woher hast du denn gewußt, daß es nicht ich war?« »Weil es das Lager betreten wollte, ohne die Parole zu nennen. Das würde der echte Mr. Halloran natürlich nie tun.« »Genau«, sagte Halloran. »Gut gemacht, Maxie. Wir müssen die Augen nach dem Kerl offenhalten.« »Ja, Sir. Danke, Sir.« Halloran nickte lässig. Er freute sich. Er hatte sich ausgerechnet, daß Max nach den Bedingungen seiner Konstruktion jede Begegnung als neu und einmalig würde auffassen und sie nach ihrem jeweiligen Verlauf würde behandeln müssen. Das mußte so sein, da es Max nicht erlaubt war, auf der Grundlage früherer Erfahrungen zu handeln.
Max besaß eingebaute fixe Meinungen. Er ging davon aus, daß Erdbewohner stets die Parole kennen. Er unterstellte, daß fremde Wesen die Parole nie kennen, aber stets versuchen, das Lager zu betreten. Demzufolge mußte ein Wesen, das nicht versuchte, das Lager zu betreten, frei von dem fremden Lagerbetretungszwang und also ein Erdbewohner sein, bis das Gegenteil bewiesen wurde. Halloran fand, das seien recht kluge Überlegungen für einen Mann, der schon einige Prozent seiner Körperflüssigkeit verloren hatte. Jetzt brauchte er nur zu hoffen, daß sein Plan ganz aufging. »Max«, sagte er, »während meiner Besichtigung habe ich eine ziemlich beunruhigende Feststellung gemacht.« »Sir?« »Ich habe festgestellt, daß wir am Rand einer Verwerfung in der Kruste dieses Planeten kampieren. Der Verlauf des Spalts ist unübersehbar; dagegen wirkt die San-Andreas-Verwerfung wie ein Haarriß.« »Das klingt nicht gut, Sir. Ist das Risiko groß?« »Darauf kannst du deinen Bleihintern verwetten. Und viel Risiko bedeutet viel Arbeit. Wir beide, du und ich, Maxie, werden das ganze Lager zwei Meilen weiter westlich verlegen. Auf der Stelle! Hol die Feldflasche und folge mir.« »Ja, Sir«, sagte Max. »Sobald Sie mich entbinden.« »Okay, ich entbinde dich«, sagte Halloran. »Beeil dich!« »Ich kann nicht«, erklärte der Roboter. »Sie müssen mich entbinden, indem Sie die gültige Parole nennen und erklären, daß sie aufgehoben ist. Dann kann ich damit aufhören, diese Lagergrenze zu bewachen.« »Wir haben keine Zeit für Formalitäten«, sagte Halloran gepreßt. »Die neue Losung heißt ›Weißfisch‹. Los jetzt. Max, ich spüre schon ein Zittern im Boden.« »Ich habe nichts bemerkt.« »Wieso auch?« fauchte Halloran. »Du bist ja nur ein WR-Roboter, kein Mensch von der Erde mit Spezialausbildung und hochentwickeltem Sinnesapparat. Verdammt, schon wieder! Diesmal mußt du es aber gespürt haben!«
»Ich glaube fast, ich spüre es.« »Dann los!« »Mr. Halloran, ich kann nicht! Es ist mir physisch unmöglich, die Lagergrenzen ohne formelle Entbindung zu verlassen! Bitte, Sir, entbinden Sie mich!« »Reg dich nicht so auf«, sagte Halloran. »Wenn ich es genau bedenke, lassen wir das Lager, wo es ist.« »Aber das Erdbeben – « »Ich habe eben eine neue Berechnung angestellt. Wir haben mehr Zeit, als ich dachte. Ich sehe mich noch einmal um.« Halloran trat hinter den Felsen, wo ihn der Roboter nicht sehen konnte. Sein Herz schlug schwer, das Blut in seinen Adern fühlte sich dick und träge an. Vor seinen Augen tanzten helle Flecken. Er diagnostizierte einen beginnenden Hitzschlag und zwang sich, ganz still in einem kleinen Schattenfleck zu sitzen. Der endlose Tag dehnte sich dahin. Der amorphe weiße Klumpen der beiden Sonnen kroch zwei Zentimeter auf den Horizont zu. WR 22-0134 bewachte die Lagergrenze. Eine Brise erhob sich, wurde zu einem kleinen Sturm und blies Sand an Max’ Sensoren. Der Roboter stapfte weiter, exakt im Kreis. Der Wind ließ nach, und zwischen den Felsen, in etwa zwanzig Meter Entfernung, tauchte eine Gestalt auf. Jemand beobachtete ihn: War es Halloran oder das fremde Wesen? Max weigerte sich, nachzudenken. Er bewachte das Lager. Ein kleines Wesen, kojotenähnlich, fegte aus der Wüste und lief im Zickzack fast an Max’ Füßen vorbei. Ein großer Vogel stürzte sich herab. Es gab einen dünnen, hohen Schrei, und Blut spritzte an eines der Zelte. Der Vogel erhob sich mit schweren Flügelschlägen in die Luft, ein Etwas in den Krallen. Max achtete nicht darauf. Er beobachtete eine humanoide Gestalt, die zwischen den Felsblöcken auf ihn zuwankte. Das Wesen blieb stehen.
»Guten Tag, Mr. Halloran«, sagte Max sofort. »Ich glaube, ich sollte darauf hinweisen, daß Sie klare Anzeichen von Wasserentzug erkennen lassen. Das ist ein Zustand, der zu Schock, Bewußtlosigkeit und Tod führt, wenn man nicht sofort etwas unternimmt.« »Schnauze«, sagte Halloran mit heiserer, ausgetrockneter Stimme. »Sehr wohl, Mr. Halloran.« »Und hör auf, mich Mr. Halloran zu nennen.« »Weshalb das, Sir?« »Weil ich nicht Halloran bin. Ich bin ein fremdes Wesen.« »Wirklich?« sagte der Roboter. »Ja, wirklich. Zweifelst du an meinem Wort?« »Nun, Ihre unbestätigte Behauptung allein – « »Laß nur, ich gebe dir Beweise. Ich kenne die Parole nicht. Ist das Beweis genug?« Als der Roboter immer noch zögerte, sagte Halloran: »Paß auf, Mr. Halloran hat mir aufgetragen, ich soll dich an deine eigenen fundamentalen Definitionen erinnern, Kriterien, nach denen du deine Arbeit leistest. Nämlich: Ein Erdbewohner ist ein intelligentes Wesen, das die Parole kennt; ein fremdes Lebewesen ist ein intelligentes Wesen, das die Parole nicht kennt.« »Ja«, sagte der Roboter widerwillig, »die Kenntnis der Parole ist mein Maßstab. Aber ich spüre doch, daß etwas nicht stimmt. Angenommen, Sie belügen mich?« »Wenn ich lüge, dann muß ich ein Erdbewohner sein, der die Parole kennt«, erläuterte Halloran. »In diesem Fall besteht keine Gefahr. Aber du weißt, daß ich nicht lüge, weil du weißt, daß kein Erdbewohner lügen würde, was die Parole angeht.« »Ich weiß nicht, ob ich das unterstellen kann.« »Das mußt du. Kein Erdbewohner möchte als fremdes Wesen erscheinen, oder?« »Natürlich nicht.« »Und eine Parole ist die einzige sichere Unterscheidung zwischen einem Menschen und einem fremden Wesen?«
»Ja.« »Dann ist der Fall bewiesen.« »Ich bin mir immer noch nicht sicher«, sagte Max, und Halloran begriff, daß der Roboter nur ungern Anweisungen von einem fremden Wesen entgegennahm, selbst wenn es nur beweisen wollte, daß es ein fremdes Wesen sei. Er wartete. Nach einer Weile sagte Max: »Also gut, ich gebe zu, daß Sie ein fremdes Wesen sind. Demzufolge lehne ich es ab, Sie ins Lager zu lassen.« »Ich bitte dich nicht, mich hineinzulassen. Der springende Punkt ist der, ich bin Hallorans Gefangener, und du weißt, was das bedeutet.« Der Roboter blinzelte hastig mit seinen Sensoren. »Ich weiß nicht, was das bedeutet.« »Es bedeutet«, sagte Halloran, »daß du Hallorans Befehle befolgen mußt, die mich betreffen. Seine Befehle sind, daß ich im Lager festgehalten werden muß und nicht freigelassen werden darf, bis er das ausdrücklich anordnet.« »Mr. Halloran weiß, daß ich Sie nicht ins Lager lassen kann!« rief Max. »Natürlich! Aber Halloran weist dich an, mich im Lager einzusperren, und das ist etwas ganz anderes.« »Wirklich?« »Allerdings! Du mußt doch wissen, daß Erdbewohner stets fremde Lebewesen einsperren, die in ihr Lager einzudringen versuchen!« »Ich scheine mal so etwas gehört zu haben«, meinte Max. »Trotzdem kann ich Sie nicht hereinlassen. Ich kann Sie aber hier, unmittelbar vor dem Lager, bewachen.« »Das ist nicht sehr gut«, sagte Halloran mürrisch. »Tut mir leid, aber das ist das Äußerste, das ich tun kann.« »Na schön«, sagte Halloran und setzte sich in den Sand. »Dann bin ich eben dein Gefangener.« »Ja.« »Also gib mir Wasser.«
»Ich darf nicht – « »Verdammt noch mal, du weißt doch, daß fremde Lebewesen, die gefangengenommen worden sind, mit der Höflichkeit behandelt werden müssen, die ihnen rangmäßig zusteht, und daß man sie mit den lebensnotwendigen Dingen versorgen muß, die von der Genfer Konvention und anderen internationalen Abmachungen festgelegt sind.« »Ja, davon habe ich gehört«, sagte Max. »Welchen Rang haben Sie?« »Ich bin Jamisdar erster Klasse. Nummer eins-zwei-zwei-sieben-achtnull-drei-eins. Und ich brauche sofort Wasser, weil ich sonst sterben muß.« Max dachte einige Sekunden nach. Schließlich sagte er: »Ich gebe Ihnen Wasser. Aber erst, nachdem Mr. Halloran Wasser bekommen hat.« »Es wird doch genug für uns beide da sein?« fragte Halloran und versuchte gewinnend zu lächeln. »Das hat Mr. Halloran zu entscheiden«, sagte Max mit fester Stimme. »Na gut«, sagte Halloran und stand auf. »Halt! Warten Sie! Wohin wollen Sie?« »Nur hinter die Felsblöcke«, antwortete Halloran. »Es ist Zeit für mein Mittagsgebet, das ich in völliger Ungestörtheit verrichten muß.« »Aber wenn Sie nun fliehen?« »Was hätte das für einen Zweck?« fragte Halloran im Gehen. »Halloran würde mich einfach wieder einfangen.« »Wahr, wahr, der Mann ist ein Genie«, murmelte der Roboter. Es verging wenig Zeit, dann kam plötzlich Halloran hinter den Felsen hervor. »Mr. Halloran?« sagte Max. »Ja, ich bin’s«, sagte Halloran fröhlich. »Ist mein Gefangener wohlbehalten angekommen?« »Ja, Sir. Er ist drüben hinter dem Felsen und betet.« »Das schadet ja nichts«, meinte Halloran. »Hör zu, Max, sorg dafür, daß er Wasser bekommt, wenn er wieder herauskommt.«
»Gern. Nachdem Sie Ihr Wasser bekommen haben, Sir.« »Ach was, ich habe gar keinen Durst. Sorg nur dafür, daß der arme verdammte Kerl etwas bekommt.« »Ich kann nicht, bis ich nicht gesehen habe, daß Sie sich sattgetrunken haben. Der Zustand des Wasserentzugs, Sir, von dem ich schon sprach, hat sich verschlimmert. Sie sind dem Zusammenbruch nahe. Ich bestehe darauf und flehe Sie an – trinken Sie!« »Also gut, hör auf zu nörgeln, gib mir eine Feldflasche.« »Oh, Sir!« »Wie? Was ist denn?« »Sie wissen, daß ich meinen Posten an der Lagergrenze nicht verlassen kann.« »Weshalb denn nicht, zum Teufel?« »Es verstößt gegen die Vorschriften. Und außerdem hält sich hinter den Felsen ein fremdes Wesen auf.« »Ich passe inzwischen für dich auf, Max, alter Junge, und du holst jetzt brav eine Feldflasche.« »Sehr freundlich von Ihnen, Sir, aber das kann ich nicht zulassen. Ich bin ein WR-Roboter, zu dem alleinigen Zweck konstruiert, das Lager zu bewachen. Ich darf diese Verantwortung nicht auf andere abwälzen, nicht einmal auf einen Erdbewohner oder einen anderen WR-Roboter, bis die Parole gegeben ist und ich vom Dienst entbunden bin.« »Ja, ja«, knurrte Halloran. »Wo ich auch anfange, ich lande immer wieder bei Null.« Mühsam schleppte er sich hinter die Felsen. »Was ist los?« fragte der Roboter. »Was habe ich gesagt?« Keine Antwort. »Mr. Halloran? Jamisdar?« Auch keine Antwort. Max bewachte weiter das Lager. Halloran war müde. Seine Kehle schmerzte von den Gesprächen mit einem stupiden Roboter, und sein Körper war von den unzähligen Hieben der beiden Sonnen wie gerädert. Er war nicht mehr sonnenver-
brannt, sondern schwarz, geröstet wie ein Puter. Schmerz, Durst und Erschöpfung beherrschten ihn und ließen keinen Raum für andere Empfindungen als Zorn. Er war wütend auf sich, weil er sich in eine so absurde Lage hatte bringen lassen, weil er zuließ, daß er auf so unsinnige Weise ums Leben kam. – ›Halloran? Ach ja, er kannte die Parole nicht, der arme Teufel, und starb am Hitzschlag, keine fünfzig Meter vom Wasser und Unterschlupf entfernt. Ein tragisches, seltsames, irgendwie komisches Ende…‹ Es war der Zorn, der ihn noch aufrechthielt, der es ihm erlaubte, die Lage zu überdenken und einen Weg ins Lager zu suchen. Er hatte den Roboter davon überzeugt, daß er von der Erde kam. Dann hatte er den Roboter davon überzeugt, daß er ein fremdes Wesen sei. Beide Versuche waren gescheitert, sobald es zu der entscheidenden Frage des Zugangs zum Lager gekommen war. Was blieb jetzt noch übrig? Er rollte sich auf den Rücken und starrte zum glühenden, weißen Himmel hinauf. Schwarze Punkte bewegten sich vor seinem Blick. Eine Halluzination? Nein, Vögel kreisten. Sie ließen die Kojoten links liegen und warteten auf den Zusammenbruch einer wirklich schmackhaften Beute, eines wandelnden Banketts… Halloran zwang sich zum Aufsitzen. Jetzt muß ich die Lage überdenken und einen Ausweg finden, sagte er sich. Vom Standpunkt des Roboters aus sind alle intelligenten Wesen, die die Parole kennen, Erdbewohner; alle intelligenten Wesen, die sie nicht kennen, sind fremde Wesen. Und das heißt… Heißt was? Eine Sekunde lang glaubte Halloran, er habe den Schlüssel zur Lösung des Rätsels gefunden. Aber es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Die Vögel kreisten tiefer. Einer der Kojoten war herausgekommen und schnupperte an seinen Schuhen. Vergiß das alles, konzentrier dich. Du mußt ein Automatologe werden. Wenn man es genau nimmt, ist Max wirklich dumm. Er ist nicht dazu gebaut, Schwindeleien zu entdecken, außer in ganz beschränkter Weise. Seine Kriterien sind – archaisch. Wie bei Plato, der den Menschen als
ungefiederten Zweibeiner definierte, woraufhin Diogenes, der Zyniker, ein gerupftes Huhn präsentierte und behauptete, es entspreche der Definition. Darauf veränderte Plato seine Definition und erklärte, daß der Mensch ein ungefiederter Zweibeiner mit breiten Nägeln sei. Aber was hat das mit Max zu tun? Halloran schüttelte heftig den Kopf und versuchte, sich zur Konzentration zu zwingen. Aber alles, was er sehen konnte, war Platos Mensch – ein Huhn von 1,80 m Größe ohne eine Feder am ganzen Körper, aber mit breiten Fingernägeln. Max war verwunderbar. Er mußte es sein! Im Gegensatz zu Plato konnte er sich nicht revidieren. Max war an seine Definitionen gebunden und an ihre logischen Folgerungen… »Na, mich soll doch der Teufel holen!« sagte Halloran. »Ich glaube, ich hab’s.« Er versuchte, das Ganze zu durchdenken, stellte aber fest, daß er dazu nicht fähig war. Er mußte es einfach versuchen und alles auf eine Karte setzen. »Max«, sagte er leise, »ein gerupftes Huhn ist im Anmarsch. Oder vielmehr ein ungerupftes Huhn. Stopf dir das in deine Kosmologie und rauch es!« Er wußte selbst nicht genau, was er meinte, aber er wußte, was er zu tun hatte. Captain Beatty und Leutnant James kehrten nach drei Erdtagen zum Lager zurück. Sie fanden Halloran ohne Bewußtsein und im Delirium, ein Opfer des Wasserentzugs und der Hitze. Er phantasierte, daß Plato versucht habe, ihm den Zutritt zum Lager zu verwehren, und wie Halloran sich in ein Huhn von 1,80 m Größe ohne breite Fingernägel verwandelt habe, womit es ihm gelungen sei, den gelehrtesten aller Philosophen und seinen Roboterfreund hereinzulegen. Max hatte ihm Wasser gegeben, seinen Körper in nasse Decken gewikkelt und ihm mit einer Plastikwand Schatten verschafft. Halloran würde sich in ein, zwei Tagen wieder erholen.
Vor der Ohnmacht hatte er auf einen Zettel geschrieben: ›Keine Parole – konnte nicht zurück – sagt der Fabrik Bescheid, daß bei WR-Robotern für Notfälle ein Nebenschluß eingebaut werden muß.‹ Beatty brachte nichts Vernünftiges aus Halloran heraus und befragte Max. Er hörte von Hallorans Besichtigungsgang und von den verschiedenen fremden Wesen, die genau wie er ausgesehen hatten, was sie gesagt hatten, was Halloran geäußert hatte. Offenkundig waren das immer verzweifeltere Versuche Hallorans gewesen, in das Lager zurückzugelangen. »Aber was geschah danach?« fragte Beatty. »Wie ist er dann doch hereingekommen?« »Er ist nicht hereingekommen«, sagte Max. »Er war auf einmal plötzlich da.« »Aber wie ist er an dir vorbeigekommen?« »Das ist er nicht! Das wäre ganz unmöglich gewesen. Mr. Halloran war einfach im Lager.« »Das verstehe ich nicht«, sagte Beatty. »Ich auch nicht, Sir, ganz offen gesagt. Ich fürchte, daß nur Mr. Halloran Ihre Frage beantworten kann.« »Es wird eine Weile dauern, bis Halloran wieder vernünftig reden kann«, sagte Beatty. »Na ja, wenn er sich einen Weg ausdenken konnte, werde ich es wohl auch können.« Beatty und James versuchten es beide, aber sie fanden die Antwort nicht. Sie waren nicht verzweifelt oder nicht zornig genug, und sie dachten auch nicht in der richtigen Richtung. Um zu verstehen, wie Halloran hereingekommen war, mußte man den letzten Ablauf von Max’ Standpunkt aus betrachten. Hitze, Wind, Vögel, Fels, Sonne, Sand. Ich schenke dem Nebensächlichen keine Beachtung. Ich bewache das Lager vor fremden Wesen. Jetzt kommt etwas auf mich zu, zwischen den Felsen, aus der Wüste. Es ist ein großes Wesen, das Haar hängt ihm ins Gesicht, es kriecht auf vier Gliedmaßen.
Ich rufe es an. Es faucht. Ich rufe wieder, ich schalte meine Bewaffnung ein, ich drohe. Das Wesen knurrt und kriecht weiter auf das Lager zu. Ich ziehe meine Definitionen zu Rate, um die richtige Reaktion hervorzubringen. Ich weiß, daß sowohl Menschen als auch fremde Wesen intelligente Wesen sind und daß sich die Intelligenz durch die Fähigkeit zu sprechen ausdrückt. Diese Fähigkeit wird stets eingesetzt, wenn sie auf meine Anrufe reagieren. Menschen antworten stets richtig, wenn die Parole verlangt wird. Fremde Wesen antworten stets falsch, wenn die Parole verlangt wird. Menschen und fremde Wesen antworten immer – richtig oder falsch –, wenn die Parole verlangt wird. Da das unweigerlich so ist, muß ich annehmen, daß jedes Wesen, das meinen Anruf nicht beantwortet, zu einer Antwort nicht fähig ist und unbeachtet bleiben kann. Vögel und Reptilien können unbeachtet bleiben. Dieses große Tier, das an mir vorbeikriecht, kann ignoriert werden. Ich achte nicht darauf, aber ich habe meine Sensoren aktiviert, weil irgendwo in der Wüste auch Mr. Halloran herumläuft. Ferner befindet sich dort ein fremdes Wesen, ein Jamisdar. Aber was ist das? Es ist Mr. Halloran, wie durch ein Wunder wieder im Lager, ächzend, an Wasserentzug und Hitzschlag leidend. Das Tier, das an mir vorbeikroch, ist spurlos verschwunden, und der Jamisdar betet wahrscheinlich noch immer zwischen den Felsen…
Die versteinerte Welt Lanigan träumte wieder den Traum. Es gelang ihm, sich mit einem heiseren Schrei zu wecken. Er saß aufrecht im Bett und starrte in die Dunkelheit. Er biß die Zähne zusammen, seine Lippen waren zu einem starren Grinsen verzerrt. Er spürte, wie sich neben ihm Estelle, seine Frau, bewegte und aufsetzte. Lanigan blickte sie nicht an. Er war noch immer in seinem Traum befangen und wartete auf greifbare Beweise der Welt. Ein Stuhl glitt langsam an ihm vorbei und prallte an die Wand. Lanigans Gesicht entspannte sich ein wenig. Dann lag Estelles Hand auf seinem Arm – eine Berührung, die tröstend gemeint war, die aber wie Löschkalk brannte. »Hier«, sagte sie. »Trink das.« »Nein«, sagte Lanigan, »es geht schon wieder.« »Trink es trotzdem.« »Nein, wirklich nicht. Mir ist wieder ganz gut.« Denn nun hatte ihn der Alptraum ganz freigegeben. Er war wieder er selbst, und die Welt war wieder in ihrem gewohnten Zustand. Das war für Lanigan sehr kostbar; er wollte sie jetzt nicht hergeben, nicht einmal für die beruhigende Wirkung eines Medikaments. »War es der gleiche Traum?« fragte Estelle. »Ja, genau der gleiche… Ich will nicht darüber sprechen.« »Schon gut«, sagte Estelle. Sie gibt mir nach, dachte Lanigan. Ich erschrecke sie. Ich erschrecke mich selbst. »Liebling, wie spät ist es?« fragte sie. Lanigan schaute auf die Uhr. »Viertel nach sechs.« Aber während er es sagte, sprang der Zeiger vor. »Nein, es ist fünf Minuten vor sieben Uhr.«
»Kannst du wieder einschlafen?« »Ich glaube nicht«, sagte Lanigan. »Ich glaube, ich bleibe auf.« »Gut, Liebling.« Estelle gähnte, schloß die Augen, öffnete sie wieder und fragte: »Liebling, glaubst du nicht, daß es gut wäre, wenn du mit – « »Ich bin für zwölf Uhr zehn mit ihm verabredet«, sagte Lanigan. »Dann ist es gut«, sagte Estelle. Sie schloß wieder die Augen. Der Schlaf übermannte sie, während Lanigan sie betrachtete. Ihr kastanienrotes Haar wurde bläulich, und sie seufzte schwer. Lanigan stand auf und zog sich an. Er war eigentlich ein großer Mann, ungewöhnlich leicht zu erkennen. Seine Züge waren seltsam markant. Er hatte Ausschlag am Hals. Er war in keiner Weise hervorstechend, außer daß er einen wiederkehrenden Traum hatte, der ihn in den Wahnsinn trieb. Er verbrachte die nächsten Stunden auf seiner Veranda und sah die Sterne am grauenden Himmel zu Nova werden. Später ging er spazieren. Wie es der Zufall wollte, traf er zwei Straßen weiter George Torstein. Vor einigen Monaten hatte er Torstein in einem sorglosen Augenblick von seinem Traum erzählt. Torstein war ein freimütiger, jovialer Mann, der sehr an Selbsthilfe, Disziplin, praktisches Denken, gesunden Menschenverstand und andere langweilige Tugenden glaubte. Seine nüchterne, keinen Firlefanz duldende Art war für Lanigan zunächst eine Erleichterung gewesen. Jetzt wirkte sie nervenaufreibend. Männer wie Torstein waren zweifellos das Salz der Erde und das Rückgrad des Landes, aber für Lanigan hatte sich Torstein vom Ärgernis zum Schrecken gewandelt. »Na, Tom, wie geht’s uns denn?« begrüßte ihn Torstein. »Gut«, sagte Lanigan, »recht gut.« Er nickte freundlich und wollte sich unter einem dahinschmelzenden grünen Himmel entfernen. Aber so leicht entkam man Torstein nicht. »Tom, mein Junge, ich habe über dein Problem nachgedacht«, sagte Torstein. »Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht.« »Das ist sehr nett von dir«, sagte Lanigan. »Aber du solltest das wirklich nicht tun – «
»Ich tue es, weil ich es will«, sagte Torstein und sprach die einfache, bedauerliche Wahrheit. »Ich interessiere mich für die Menschen, Tom. Das habe ich schon immer getan, seit meiner Kindheit. Und wir beide, du und ich, sind seit langem Freunde und Nachbarn.« »Das ist wahr«, sagte Lanigan dumpf. Das Schlimmste an. der Hilfsbedürftigkeit war, daß man die Hilfe annehmen mußte. »Also, Tom, ich glaube, was dir wirklich helfen würde, wäre ein kleiner Urlaub.« Torstein hatte für alles ein einfaches Rezept. Da er den Seelenarzt ohne Zulassung spielte, achtete er immer darauf, Mittel zu verschreiben, die man überall bekam. »Ich kann mir diesen Monat wirklich keinen Urlaub leisten«, sagte Lanigan. Der Himmel war jetzt ockerfarben und rosarot; drei Fichten waren verdorrt; eine alte Eiche hatte sich in einen jungen Kaktus verwandelt. Torstein lachte herzlich. »Junge, du kannst es dir nicht leisten, jetzt keinen Urlaub zu nehmen! Hast du dir das schon überlegt?« »Nein, ich glaube nicht.« »Na, dann tu’s! Du bist müde, angespannt, ganz verkrampft. Du hast zuviel gearbeitet.« »Ich bin die ganze Woche zu Haus gewesen«, sagte Lanigan. Er schaute auf die Uhr. Das Goldgehäuse hatte sich in Blei verwandelt, aber die Zeit schien zu stimmen. Seit dem Beginn des Gesprächs waren fast zwei Stunden vergangen. »Das nützt nichts«, sagte Torstein gerade. »Du bist in der Stadt geblieben, in der Nähe deiner Arbeit. Du mußt den Kontakt mit der Natur suchen. Tom, wann warst du zum letztenmal beim Campen?« »Campen? Ich glaube, ich bin noch nie campen gewesen.« »Na, bitte! Junge, du mußt wieder mit den echten Dingen in Berührung kommen. Nicht mit Straßen oder Gebäuden, sondern mit Bergen und Flüssen.«
Lanigan schaute wieder auf die Uhr und sah erleichtert, daß sie sich wieder in Gold zurückverwandelte. Er war froh darüber; er hatte sechzig Dollar für das Gehäuse bezahlt. »Seen und Berge«, schwärmte Torstein. »Gras unter den Sohlen, der Anblick hoher, schwarzer Berge, die über einen goldenen Himmel marschieren – « Lanigan schüttelte den Kopf. »Ich bin auf dem Land gewesen, George. Es gibt mir nichts.« Torstein gab nicht nach. »Du mußt weg von den künstlichen Dingen.« »Alles erscheint gleichermaßen künstlich«, sagte Lanigan. »Bäume oder Häuser – wo ist der Unterschied?« »Die Häuser stammen von Menschen«, sagte Torstein, »aber die Bäume macht Gott.« Lanigan hatte seine Zweifel, aber er gedachte sie Torstein nicht anzuvertrauen. »Vielleicht hast du nicht unrecht«, meinte er. »Ich überlege es mir.« »Tu das«, sagte Torstein. »Ich kenne zufällig genau den richtigen Ort. Er ist in Maine, Tom, und direkt an einem kleinen See.« Torstein war ein Meister der endlosen Beschreibung. Zum Glück für Lanigan gab es eine Ablenkung. Gegenüber ging ein Haus in Flammen auf. »He, wem gehört das Haus da?« fragte Lanigan. »Makelby«, sagte Torstein. »Das ist sein dritter Brand in diesem Monat.« »Vielleicht sollten wir Alarm geben.« »Du hast recht, das mache ich«, sagte Torstein. »Vergiß nicht, was ich dir von Maine gesagt habe, Tom.« Torstein drehte sich um, und es geschah etwas Spaßiges. Als er sich in Bewegung setzte, verflüssigte sich der Beton unter seinem linken Fuß. Torstein hatte nicht aufgepaßt und sank bis zum Knöchel ein. Er stürzte kopfüber auf die Straße. Tom eilte hin, um ihm zu helfen, bevor der Beton wieder hart wurde. »Alles in Ordnung?« fragte er.
»Ich habe mir den verdammten Knöchel verrenkt«, murmelte Torstein. »Es geht schon, ich kann gehen.« Er humpelte davon, um den Brand zu melden. Lanigan blieb und schaute zu. Er vermutete, daß der Brand durch Selbstentzündung entstanden war. Nach einigen Minuten erlosch er, wie er erwartet hatte, von selbst. Man sollte sich nicht über das Unglück anderer freuen, aber Lanigan konnte nicht umhin, über Torsteins verrenkten Knöchel leise zu lachen. Nicht einmal das plötzliche Erscheinen von Wasserfluten in der Main Street konnte seine gute Laune beeinträchtigen. Er strahlte etwas an, das wie ein Dampfer mit gelben Kaminen aussah und am Himmel vorbeizog. Dann fiel ihm sein Traum ein, und die Panik begann von neuem. Er ging schnell zur Praxis des Arztes. Dr. Sampsons Büro war klein und dunkel in dieser Woche. Das alte graue Sofa war verschwunden, statt dessen gab es zwei Louis-QuinzeSessel und eine Hängematte. Der abgewetzte Teppich hatte sich endlich wieder zurechtgewebt, und an der braunroten Decke befand sich die Brandstelle von einer Zigarette. Das Porträt Andrettis hing jedoch an seinem gewohnten Platz an der Wand, und der große Aschenbecher war peinlich sauber. Die Innentür ging auf, und Dr. Sampsons Kopf schnellte heraus. »Hallo«, sagte er. »Komme gleich.« Sein Kopf schnellte wieder zurück. Sampson hielt Wort. Nach Lanigans Uhr brauchte er genau drei Sekunden. Eine Sekunde danach lag Lanigan ausgestreckt auf dem Ledersofa, ein frisches Papiertuch unter dem Kopf. Und Dr. Sampson sagte: »Also, Tom, wie war’s?« »Wie immer«, sagte Lanigan. »Noch schlimmer.« »Der Traum?« Lanigan nickte. »Gehen wir ihn noch einmal durch.« »Lieber nicht«, sagte Lanigan.
»Angst?« »Mehr denn je.« »Auch jetzt?« »Ja, vor allem jetzt.« Einen Augenblick herrschte therapeutische Stille, dann sagte Dr. Sampson: »Sie haben schon früher von Ihrer Angst vor diesem Traum gesprochen, aber bislang haben Sie mir nie erklärt, weshalb Sie ihn so fürchten.« »Tja… Es klingt so albern.« Sampsons Gesicht war ernst, ruhig, gefaßt, das Gesicht eines Mannes, der nichts albern fand, der von seiner Konstitution her nicht fähig war, irgend etwas albern zu finden. Es war vielleicht eine Pose, aber eine, die Lanigan beruhigte. »Also gut, ich sage es Ihnen«, meinte Lanigan abrupt. Dann verstummte er. »Weiter«, sagte Dr. Sampson. »Nun, es liegt daran… Ich glaube, daß irgendwie, auf eine Weise, die ich nicht begreife – « »Ja, nur weiter«, sagte Sampson. »Nun, daß die Welt meines Traums auf irgendeine Weise zur Wirklichkeit wird.« Er verstummte wieder und fuhr hastig fort: »Und daß ich eines Tages erwache und mich in jener Welt finde. Und dann wird jene Welt zur wirklichen geworden sein und dies hier zum Traum.« Er drehte den Kopf, um zu sehen, wie diese irre Offenbarung auf Sampson wirkte. Der Arzt ließ nicht erkennen, ob er verstört war. Er zündete sich gelassen die Pfeife mit der lodernden Spitze seines linken Zeigefingers an. Er blies den Zeigefinger aus und sagte: »Ja, sprechen Sie bitte weiter.« »Weiter? Aber das ist es doch, das ist alles.« Auf Sampsons violettem Teppich erschien ein Flecken von Vierteldollargröße. Er wurde dunkel, satter, wuchs zu einem kleinen Obstbaum heran. Sampson griff nach einer der purpurnen Kapseln, schnupperte
daran und stellte den Baum auf seinen Schreibtisch. Er sah Lanigan streng und traurig an. »Sie haben mir schon früher von Ihrer Traumwelt erzählt, Tom.« Lanigan nickte. »Wir haben sie besprochen, ihre Ursprünge erforscht, ihren Sinn für Sie analysiert. In den vergangenen Monaten haben wir, glaube ich, erfahren, weshalb Sie sich mit dieser Alptraumangst belasten müssen.« Lanigan nickte düster. »Trotzdem weisen Sie die Erkenntnisse zurück«, sagte Sampson. »Sie vergessen jedesmal, daß Ihre Traumwelt ein Traum ist, nichts als ein Traum, gesteuert von willkürlichen Traumgesetzen, die Sie erfunden haben, um Ihre psychischen Bedürfnisse zu befriedigen.« »Das möchte ich gerne glauben«, erklärte Lanigan. »Der Haken dabei ist, daß meine Traumwelt so verdammt vernünftig erscheint.« »Durchaus nicht«, sagte Sampson. »Es liegt einfach daran, daß Ihr Wahn hermetisch abgeschlossen und selbsterhaltend ist. Die Handlungen eines Menschen gründen auf bestimmten Annahmen über die Natur der Welt. Man gestehe ihm die Annahmen zu, und sein Verhalten ist völlig vernünftig. Aber es ist nahezu unmöglich, diese Annahmen, diese grundlegenden Axiome, zu verändern. Wie beweist man zum Beispiel einem Menschen, daß er nicht von einem geheimen Sender gesteuert wird, den nur er hören kann?« »Ich sehe das Problem«, murmelte Lanigan. »Und so geht es mir?« »Ja, Tom. So geht es im Grunde Ihnen. Sie möchten, daß ich Ihnen beweise, diese Welt sei real und die Welt Ihres Traumes sei falsch. Sie erklären sich bereit, Ihr Phantasiegebilde aufzugeben, wenn ich Ihnen die erforderlichen Beweise liefere.« »Ja, genau!« rief Lanigan. »Aber ich kann sie nicht liefern, sehen Sie«, sagte Sampson. »Die Natur der Welt ist augenscheinlich, aber nicht beweisbar.« Lanigan dachte eine Weile nach, dann sagte er: »Hören Sie, Doktor, ich bin doch nicht so krank wie der mit dem geheimen Sender, oder?«
»Nein, das sind Sie nicht. Sie sind vernünftiger, klarer. Sie haben Zweifel an der Wirklichkeit der Welt, aber zum Glück haben Sie auch Zweifel an der Gültigkeit Ihres Wahns.« »Dann versuchen Sie es«, sagte Lanigan. »Ich begreife Ihr Problem, aber ich schwöre Ihnen, ich akzeptiere alles, wozu ich mich nur zwingen kann.« »Eigentlich ist das nicht mein Gebiet«, sagte Sampson. »Für so etwas braucht man einen Metaphysiker. Ich glaube nicht, daß ich da sehr geschickt wäre – « »Versuchen Sie es«, flehte Lanigan. »Also gut, dann los.« Sampsons Stirnhaut runzelte sich und fiel ab, als er sich konzentrierte. Schließlich sagte er: »Mir scheint, wir betrachten die Welt mit unseren Sinnen, und so müssen wir letztlich das Zeugnis unserer Sinne akzeptieren.« Lanigan nickte. »Wir wissen, daß ein Ding existiert, weil unsere Sinne uns sagen, daß es existiert«, fuhr Sampson fort. »Wodurch prüfen wir die Genauigkeit unserer Beobachtungen? Indem wir sie mit den Sinneseindrücken anderer Menschen vergleichen. Wir wissen, daß unsere Sinne nicht lügen, wenn die Sinne anderer die Existenz des fraglichen Dinges bestätigen.« Lanigan dachte darüber nach und sagte: »Demzufolge ist die wirkliche Welt ganz einfach das, wofür die meisten Menschen sie halten.« Sampson verzog den Mund. »Ich habe Ihnen gesagt, daß Metaphysik nicht meine Stärke ist. Trotzdem glaube ich, daß das ein akzeptabler Beweis ist.« »Ja… Aber, Doktor, wenn sich nun alle diese Beobachter täuschen? Nehmen wir zum Beispiel an, daß es viele Welten und viele Wirklichkeiten gibt, nicht nur eine. Nehmen wir an, das sei einfach eine willkürliche Existenz aus einer Unendlichkeit von Existenzen. Oder unterstellen wir, die Natur der Wirklichkeit sei selbst der Veränderung fähig und ich sei aus irgendeinem Grund in der Lage, diese Veränderung wahrzunehmen. Was dann?« Sampson seufzte, sah eine kleine, grüne Fledermaus in seinem Jackett flattern und zerdrückte sie zerstreut mit einem Lineal.
»Eben«, sagte er. »Ich kann nicht eine Ihrer Annahmen widerlegen. Ich glaube, wir müssen den ganzen Traum noch einmal durchgehen, Tom.« Lanigan schnitt eine Grimasse. »Ich möchte es wirklich lieber nicht tun. Ich habe das Gefühl – « »Ich weiß«, sagte Sampson mit schwachem Lächeln. »Aber das wird ein für allemal den Beweis oder den Gegenbeweis bringen, nicht.« »Ich denke schon«, sagte Lannigan. Er nahm – unklugerweise – seinen Mut zusammen und sagte: »Nun, so wie es anfängt, so wie mein Traum anfängt – « Schon während er sprach, überfiel ihn das Entsetzen. Er fühlte sich schwindlig, krank, gelähmt. Er versuchte aufzustehen. Das Gesicht des Doktors blähte sich über ihn. Er sah Metall funkeln, hörte Sampson sagen: »Versuchen Sie sich zu entspannen… kurzer Anfall… an etwas Angenehmes denken.« Dann wurden entweder Lanigan oder die Welt oder beide ohnmächtig. Lanigan und/oder die Welt kamen wieder zu Bewußtsein. Zeit mochte vergangen oder nicht vergangen sein. Alles mögliche mochte geschehen oder nicht geschehen sein. Lanigan setzte sich auf und sah Sampson an. »Wie fühlen Sie sich jetzt?« fragte Sampson. »Ganz gut«, sagte Lanigan. »Was ist passiert?« »Sie – es ist Ihnen einen Augenblick lang nicht gut gegangen. Seien Sie ein bißchen vorsichtig.« Lanigan lehnte sich zurück und versuchte sich zu beruhigen. Der Arzt saß an seinem Schreibtisch und schrieb. Lanigan zählte mit geschlossenen Augen bis zwanzig, dann öffnete er sie vorsichtig. Sampson schrieb noch immer. Lanigan schaute sich im Zimmer um, zählte die fünf Bilder an der Wand, zählte sie noch einmal, betrachtete den grünen Teppich, runzelte die Stirn, schloß die Augen. Diesmal zählte er bis fünfzig. »Nun, wollen Sie jetzt darüber sprechen?« fragte Sampson und schloß sein Notizbuch. »Nein, jetzt nicht«, sagte Lanigan. Fünf Bilder, grüner Teppich.
»Wie Sie wollen«, meinte der Arzt. »Ich glaube, unsere Zeit ist abgelaufen. Aber wenn Sie sich im Vorzimmer hinlegen wollen – « »Nein, danke, ich gehe nach Hause«, sagte Lanigan. Er stand auf, schritt auf dem grünen Teppich zur Tür, drehte sich nach den fünf Bildern und dem Doktor um, der ihn aufmunternd anlächelte. Dann trat Lanigan durch die Tür ins Vorzimmer, ging durch das Vorzimmer zur Außentür hindurch und den Korridor entlang zur Treppe und die Treppe hinunter zur Straße. Er ging weiter und betrachtete die Bäume, an denen sich grünes Laub im schwachen Wind leicht und voraussehbar bewegte. Es gab Verkehr, der nüchtern eine Seite der Straße hinab- und auf der anderen hinaufrollte. Der Himmel war von unveränderlichem Blau, war es offenbar schon seit geraumer Zeit. Traum? Er zwickte sich in den Arm. Ein Traumschmerz? Er wurde nicht wach. Er schrie. Ein eingebildeter Schrei? Er wurde nicht wach. Er war in der Straße der Welt seines Alptraums. Die Straße wirkte zunächst wie jede normale Großstadtstraße. Es gab Pflaster, Autos, Menschen, Gebäude, einen Himmel, eine Sonne am Himmel. Alles völlig normal. Nur – es ereignete sich nichts. Das Pflaster gab nicht ein einziges Mal unter seinen Füßen nach. Dort drüben war die First National City Bank; sie war schon gestern dort gewesen, schlimm genug, aber gräßlicher noch war, daß sie unweigerlich auch morgen und übermorgen und in einem Jahr dort stehen würde. Der First National City Bank, gegründet 1892, mangelte es auf groteske Weise an Möglichkeiten. Sie würde nie ein Grabmal, ein Flugzeug, zum Gebein eines prähistorischen Ungeheuers werden. Mürrisch würde sie ein Bau aus Beton und Stahl bleiben, auf irre Weise beharrend, bis Männer mit Werkzeugen kamen und sie abrissen. Lanigan ging durch diese versteinerte Welt, unter einem blauen Himmel, der an den Rändern heimtückisch weißlich leuchtete und etwas zu versprechen schien, was er nie halten würde. Der Verkehr bewegte sich unbeirrt rechts, die Menschen überquerten die Straße an Übergängen, die Uhren stimmten mit geringen Abweichungen überein.
Irgendwo zwischen der Stadt lag Landschaft, aber Lanigan wußte, daß das Gras nicht unter den Füßen wuchs; es lag still, wuchs sicher auch, aber unmerklich, unbrauchbar für die Sinne. Und die Berge waren noch hoch und schwarz, aber jetzt Riesen, die mitten im Schritt erstarrt waren. Sie würden nie mehr vor einem goldenen – oder purpurnen oder grünen – Himmel marschieren. Das Wesen des Lebens ist die Veränderung, hatte Dr. Sampson einmal gesagt. Das Wesen des Todes ist Unbeweglichkeit. Selbst eine Leiche hat noch Spuren von Leben an sich, solange das Fleisch verfault, solange Maden sich gütlich tun. Lanigan betrachtete die Leiche der Welt und erkannte, daß sie tot war. Er kreischte. Er kreischte, während sich die Menschen ansammelten und ihn anstarrten, aber nichts unternahmen, sich nicht veränderten, und dann kam, wie es sich gehörte, ein Polizist, aber die Sonne veränderte sich kein einziges Mal, und dann kam ein Krankenwagen die unveränderte Straße herunter, aber ohne Trompeten, ohne Propheten, auf vier Rädern, statt auf erfreulichen drei oder fünfundzwanzig, und die Sanitäter brachten ihn zu einem Gebäude, das genau dort stand, wo sie es suchten, und dann sprachen lange Zeit Menschen, die unverwandelt standen und in einem Raum mit gnadenlos weißen Wänden Fragen stellten. Und es wurde Abend, und es wurde Morgen, und es war der erste Tag.
Der Prospector’s Special Der Sandwagen bewegte sich sanft über die rollenden Dünen. Seine sechs dicken Räder hoben und senkten sich wie die gewichtigen Leiber hintereinanderher laufender Elefanten. Die Sonne brannte in einem tödlich weißen Himmel, goß Hitze auf das Stoffverdeck, reflektierte die Hitze des ausgedörrten Sandes. »Bleib wach«, sagte sich Morrison und lenkte den Sandwagen zurück auf seinen Kompaß-Kurs. Es war Morrisons einundzwanzigster Tag in der Skorpionwüste auf der Venus. Seit einundzwanzig Tagen kämpfte er gegen den Schlaf, während der Sandwagen über die Dünen schaukelte, sich auf buckligen, kleinen Wellen mühsam vorarbeitete. Nachts wäre das Fahren angenehmer gewesen, doch es gab zu viele steile Schluchten und hausgroße Felsbrokken, denen es auszuweichen galt. Jetzt wußte er, warum die Leute in Teams in die Wüste fuhren; ein Mann fuhr, während der andere ihn ständig wachrüttelte. »Aber allein ist es besser«, rief sich Morrison in Erinnerung. »Nur halb so viele Vorräte und keine unvorhergesehenen Morde.« Sein Kopf sackte nach vorn; er setzte sich ruckartig auf. Vor ihm, vor der Polaroid-Windschutzscheibe, flimmerte und tanzte die Landschaft. Der Sandwagen hüpfte und schaukelte mit trügerischer Sanftheit. Morrison rieb sich die Augen und schaltete das Radio ein. Er war ein großer, sonnengebräunter, schlanker junger Mann mit kurzem, schwarzem Haar und grauen Augen. Er war mit zwanzigtausend Dollar Kapital auf die Venus gekommen, um in der Skorpionwüste reich zu werden, wie das schon anderen vor ihm gelungen war. Er hatte in Presto, der letzten Stadt am Rande der Wildnis, sein ganzes Geld für den Sandwagen und die Ausrüstung ausgegeben und nur zehn Dollar übrigbehalten.
In Presto reichten zehn Dollar gerade für einen Drink im einzigen Saloon der Stadt. Also bestellte sich Morrison einen Whisky mit Wasser, trank mit den Schürfern und Prospektoren und lachte über die alten Männer, die Schauermärchen über die Sandwolfmeuten und Scharen gefräßiger Vögel erzählten, die im Inneren der Wüste hausten. Er wußte alles über Sonnenblindheit, Hitzschlag und defekte Telefone. Er war sicher, daß ihm nichts dergleichen zustoßen würde. Aber jetzt, nach einundzwanzig Tagen und achtzehnhundert Meilen, hatte er einen gehörigen Respekt vor dieser wasserlosen Einöde aus Sand und Stein, die dreimal so groß wie die Sahara war. Hier konnte man tatsächlich ums Leben kommen! Aber man konnte auch reich werden, und genau das hatte Morrison vor. Sein Radio rauschte. Bei voller Lautstärke konnte er äußerst schwach Tanzmusik aus Venusborg hören. Dann verschwand sie, und nur das Rauschen blieb übrig. Er schaltete das Radio ab und nahm das Lenkrad fest in beide Hände. Er ließ mit einer Hand los und schaute auf die Uhr. Viertel nach neun, vormittags. Um halb elf würde er anhalten und ein Nickerchen machen. In dieser Hitze war etwas Ruhe unbedingt nötig. Irgendwo vor ihm lag der Reichtum, und er wollte ihn finden, ehe seine Vorräte noch viel knapper wurden. Die kostbaren, oberirdischen Goldsteinadern mußten irgendwo dort vorne liegen! Seit zwei Tagen schon folgte er den Spuren. Vielleicht würde ihm ein echter Volltreffer gelingen, wie Kirk anno ‘89, oder Edmonson und Arsler anno ‘93. Wenn ja, dann würde er dasselbe tun wie sie. Er würde sich einen Prospector’s Special bestellen, ganz egal, was er kostete. Der Sandwagen rollte mit dreißig Meilen pro Stunde gleichmäßig voran, und Morrison versuchte sich auf die ausgedörrte, gelbbraune Landschaft zu konzentrieren. Der Sandsteinflecken dort drüben hatte genau die gleiche Farbe wie Janies Haar. Wenn er Goldstein gefunden hatte, würden er und Janie heiraten, und er würde zur Erde zurückkehren und eine Meeresfarm kaufen. Nur eine einzige gute Ader, damit er sich ein Grundstück im tiefen, blauen Atlan-
tik leisten konnte. Vielleicht fanden manche Leute die Fischzucht langweilig; ihm war sie gut genug. Er sah alles schon vor sich: Die Makrelenschwärme weideten in den Planktonpferchen; er selbst und sein treuer Delphin gaben acht, daß kein räuberischer Barrakuda oder stahlgrauer Hai in das weit verzweigte Gehege eindrang… Morrsion spürte, wie der Sandwagen schlingerte. Er wachte auf, umklammerte das Lenkrad und riß es herum. In den Augenblicken, in denen er geschlafen hatte, war das Fahrzeug über den wegsackenden Rand der Düne gekrochen. Die durchdrehenden Räder wirbelten Sand und Steine auf. Der Sandwagen neigte sich gefährlich. Die Reifen kreischten über den Sand, packten zu und begannen, das Gefährt wieder zurück über den Rand des Abhangs zu ziehen. Dann sackte der ganze Dünenkamm zusammen. Morrsion hielt sich am Lenkrad fest, als der Sandwagen auf die Seite fiel und den Hang hinunterrollte. Sand drang ihm in Mund und Augen. Er spuckte aus und hielt sich fest, während der Wagen sich erneut überschlug und ins Leere fiel. Einige Sekunden lang war er in der Luft. Der Sandwagen kam mit den Rädern zuerst auf. Morrison hörte es zweimal knallen, als die beiden Hinterreifen platzten. Dann prallte er mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe. Als er wieder zu sich kam, schaute er zuallererst auf die Uhr. Sie zeigte 10.35 an. »Zeit für mein Nickerchen«, sagte sich Morrsion. »Aber zuerst sollte ich wohl einmal den Schaden begutachten.« Er stellte fest, daß er sich am Boden einer kleinen Senke befand, die mit scharfem Geröll übersät war. Zwei Reifen waren geplatzt, seine Windschutzscheibe war weg, und eine der Türen war aufgesprungen. Seine Ausrüstung lag verstreut herum, schien aber noch intakt zu sein. »Hätte schlimmer kommen können«, sagte Morrison. Er bückte sich, um die Reifen genauer zu betrachten. »Es ist schlimmer«, sagte er.
Die beiden geplatzten Reifen waren völlig zerfetzt. Das Gummi, das noch von ihnen übrig war, reichte nicht einmal für einen Luftballon. Seine Ersatzreifen hatte Morrison bereits vor zehn Tagen bei der Durchquerung von Teufelsgrill aufziehen müssen. Ohne neue Reifen konnte er nicht weiterfahren. Morrison packte sein Video aus. Er wischte den Staub von der schwarzen Plastikoberfläche und wählte die Nummer von Al’s Autowerkstatt in Presto. Nach einem Moment erhellte sich der kleine Bildschirm. Morrison sah in ein langes, trauriges, ölverschmiertes Gesicht. »Al’s Autowerkstatt. Eddie am Apparat.« »Hallo, Eddie. Hier ist Tom Morrison. Ich habe vor einem Monat bei Ihnen einen General Motors Sandwagen gekauft. Erinnern Sie sich?« »Klar erinnere ich mich an Sie«, sagte Eddie. »Sie sind der Knabe, der allein im Southwest Track unterwegs ist. Wie hält sich denn der Bus?« »Bestens. Ein toller kleiner Wagen. Weswegen ich anrufe…« »Heh«, sagte Eddie, »was ist denn mit Ihrem Gesicht passiert?« Morrison faßte sich mit der Hand an die Stirn und fühlte Blut. »Nichts Schlimmes«, sagte er. »Ich bin eine Düne hinuntergekippt und mir sind zwei Reifen geplatzt.« Er drehte das Telefon so, daß Eddie die Reifen sehen konnte. »Nicht zu reparieren«, sagte Eddie. »Das dachte ich mir. Und meine Ersatzreifen habe ich schon in Teufelsgrill aufziehen müssen. Hören Sie, Eddie, ich möchte, daß Sie mit zwei Reifen ‘portieren. Runderneuerte reichen vollkommen. Ich kann sonst nicht weiterfahren.« »Klar«, sagte Eddie, »aber ich habe keine Runderneuerten. Ich muß Ihnen schon fabrikneue zu fünfhundert das Stück ‘portieren. Plus vierhundert Dollar ‘Portiergebühren. Vierzehnhundert Dollar, Mr. Morrison.« »In Ordnung.« »Ja, Sir. Dann zeigen Sie mir bitte das Bargeld oder eine Zahlungsanweisung, die Sie mit der Rechnung zurückschicken können. Danach werde ich alles in die Wege leiten.« »Im Moment«, sagte Morrison, »besitze ich keinen einzigen Cent.«
»Ihr Bankkonto?« »Völlig leer.« »Wertpapiere? Eigentum? Irgendwas, das Sie zu Bargeld machen können?« »Nichts bis auf diesen Sandwagen, den Sie mir für achthundert Dollar verkauft haben. Wenn ich zurückkomme, werde ich meine Schulden mit dem Sandwagen begleichen.« »Wenn Sie zurückkommen. Tut mir leid, Mr. Morrison. Nichts zu machen.« »Was soll das heißen?« fragte Morrison. »Sie wissen, daß ich die Reifen bezahlen werde.« »Und Sie kennen die Spielregeln auf der Venus«, sagte Eddie, dessen trauriges Gesicht einen störrischen Ausdruck angenommen hatte. »Kein Kredit! Verkauf nur gegen bar!« »Ohne Reifen läßt sich der Sandwagen nicht fahren«, sagte Morrison. »Wollen Sie mich etwa hier draußen sitzen lassen?« »Wer zum Teufel will Sie sitzen lassen?« fragte Eddie. »Solche Dinge passieren Prospektoren tagtäglich. Sie wissen, was Sie jetzt tun müssen, Mr. Morrison. Rufen Sie die Public Utility an und, erklären Sie sich bankrott. Überschreiben Sie ihnen alles, was noch von Sandwagen und Ausrüstung übrig ist, und alles, was Sie bisher gefunden haben. Dann wird man Sie herausholen.« »Ich werde nicht umkehren«, sagte Morrison. »Hier!« Er hielt das Telefon dicht an den Boden. »Sehen Sie die Spuren, Eddie? Diese roten und purpurnen Flecken? Hier in der Nähe liegt kostbares Zeug!« »Jeder Prospektor sieht Spuren«, sagte Eddie. »Die ganze verdammte Wüste ist voll davon.« »Diese hier sind vielversprechend«, sagte Morrison. »Sie führen geradewegs zu kostbarem Zeug, zu einer Bonanza-Ader. Eddie, ich weiß, es ist viel verlangt, aber wenn Sie mir zwei Reifen spendieren würden…« »Das kann ich nicht«, sagte Eddie. »Ich bin hier nur angestellt. Ich kann Ihnen nur Reifen ‘portieren, wenn Sie mir vorher Geld zeigen. Sonst werde ich gefeuert und womöglich eingesperrt. Sie kennen ja das Gesetz.«
»Verkauf nur gegen bar«, sagte Morrison traurig. »Richtig. Seien Sie vernünftig und kehren Sie um. Vielleicht können Sie es später irgendwann noch einmal versuchen.« »Ich habe zwölf Jahre gebraucht, um mein Startkapital zusammenzubringen«, sagte Morrison. »Ich gehe nicht zurück.« Er schaltete das Telefon ab und versuchte nachzudenken. Gab es sonst irgend jemanden auf der Venus, den er anrufen konnte? Nur Max Krandali, seinen Juwelenhändler. Aber Max in seinem winzigen Büro beim Veunsborger Juwelenmarkt würde niemals vierzehnhundert Dollar aufbringen können. Max konnte kaum die eigene Miete zusammenkratzen, geschweige denn sich um gestrandete Prospektoren kümmern. »Ich kann Max nicht um Hilfe bitten«, entschied Morrison. »Nicht bevor ich Goldstein gefunden habe. Richtigen Goldstein, nicht bloß Spuren. Also muß ich mir selbst helfen.« Er öffnete das Heck des Sandwagens, entlud ihn und legte die Ausrüstung im Sand auf einen Haufen. Er würde sorgfältig auswählen müssen; alles, was er mitnahm, mußte er auf dem eigenen Rücken schleppen. Das Videofon war erforderlich, und die leichte Gesteinsprüfausrüstung. Lebensmittelkonzentrate, Revolver, Kompaß. Und sonst nur Wasser, so viel Wasser, wie er tragen konnte. Alles andere würde er zurücklassen müssen. Bei Einbruch der Nacht war Morrison bereit. Er warf einen bedauernden Blick auf die zwanzig Wasserkanister, die er zurückließ. In der Wüste war Wasser für einen Menschen der zweitkostbarste Besitz, nur das Videofon war noch wertvoller. Aber es war nicht zu ändern. Nachdem er reichlich getrunken hatte, schulterte er sein Gepäck und marschierte in südwestlicher Richtung in die Wüste hinein. Drei Tage ging er nach Südwesten; dann, am vierten Tag, bog er nach Süden ab, einer zusehends reicher werdenden Spur folgend. Die ewig unsichtbare Sonne brannte, und der tödlich weiße Himmel über ihm war wie ein Dach aus glühendem Eisen. Morrison folgte den Spuren, und etwas folgte ihm. Am sechsten Tag bemerkte er eine Bewegung gerade an der Grenze seines Sichtfeldes. Am siebten Tag sah er, was ihm folgte.
Ein Venuswolf, klein, schlank, mit einem gelben Fell und langen, grinsenden Kiefern; das war eine der wenigen Säugetierarten, die in der Skorpionwüste hausten. Während Morrison ihn beobachtete, erschienen zwei weitere Sandwölfe. Er lockerte den Revolver im Halfter. Die Wölfe versuchten nicht, näher zu kommen. Sie hatten viel Zeit. Morrison ging weiter und wünschte sich, er hätte ein Gewehr bei sich gehabt. Aber das hätte acht zusätzliche Pfund, und somit auch acht Pfund weniger Wasser bedeutet. Als er am achten Tag abends gerade dabei war, sein Lager aufzuschlagen, hörte er ein knisterndes Geräusch. Er wirbelte herum und lokalisierte die Quelle dieses Geräusches ungefähr zehn Fuß zu seiner Linken in mehr als Kopfhöhe. Ein kleiner Wirbel war aufgetaucht, ein winziger Mund in der Luft, wie ein Strudel im Ozean. Er drehte sich und erzeugte dabei das typische, knisternde Geräusch des ‘Portierens. »Wer könnte mir wohl etwas ‘portieren?« fragte Morrison und wartete, während der Strudel sich langsam vergrößerte. Das Solidoportieren von einem fest installierten Projektor aus zu beweglichen Zielen war eine gebräuchliche Methode, um Güter über die riesigen Entfernungen auf der Venus zu transportieren. Jedes unbelebte Objekt konnte ‘portiert werden; lebende Wesen dagegen nicht, da das Verfahren gewisse kleinere, aber unangenehme molekulare Veränderungen des Protoplasmas bewirkte. Einige Leute hatten das in der Anfangszeit des ‘Portierens auf unerfreuliche Weise am eigenen Leibe erfahren müssen. Morrison wartete. Der Luftstrudel wurde zu einer Öffnung von drei Fuß Durchmesser. Aus der Öffnung trat ein verchromter Roboter, der einen großen Sack trug. »Oh, du bist das«, sagte Morrison. »Ja, Sir«, sagte der Roboter, der jetzt ganz sichtbar war. »Williams IV. zu Ihren Diensten mit der Venuspost.« Er war ein Roboter von mittlerer Größe, dünnbeinig und plattfüßig, von menschlichem Äußeren und freundlicher Wesensart. Seit dreiundzwanzig Jahren besorgte er den gesamten Postdienst auf der Venus –
Sortieren, Zustellen und Postlagern. Seine Erbauer hatten auf Langlebigkeit Wert gelegt, und seit dreiundzwanzig Jahren hatte die Zustellung stets funktioniert. »Da wären wir, Mr. Morrison«, sagte Williams IV. »In der Wüste kommt die Post nur zweimal im Monat, das muß ich leider sagen, aber sie ist pünktlich, und das ist ein Segen. Das ist für Sie. Und das. Sandwagen kaputtgegangen, wie?« »Allerdings«, sagte Morrison und nahm seine Briefe entgegen. Williams IV. durchwühlte seinen Postsack. Obgleich er seine Arbeit äußerst effizient verrichtete, war der alte Roboter weithin als schlimmste Klatschbase der drei Planeten bekannt. »Irgendwo hier drin ist noch ein Brief«, sagte Williams IV. »Zu schade, das mit dem Sandwagen. Sie bauen einfach nicht mehr so gute wie in meiner Jugendzeit. Ich gebe Ihnen einen guten Rat, junger Mann. Kehren Sie um, solange Sie es noch können.« Morrison schüttelte den Kopf. »Das ist dumm, wirklich dumm«, sagte der alte Roboter. »Ein Jammer, daß Sie die Dinge nicht aus meiner Perspektive sehen. Schon viel zu oft habe ich euch Jungs im vertrockneten Sack eurer Haut im Sand liegen sehen, oder mit von den Sandwölfen und den gräßlichen, schwarzen Raubvögeln zu Splittern zernagten Knochen. Seit dreiundzwanzig Jahren bringe ich nun schon stattlichen jungen Männern wie Ihnen die Post, und jeder davon glaubt, er sei einzigartig und anders.« Der Roboter starrte mit seinen Sehzellen versonnen ins Leere. »Aber sie sind nicht anders«, fuhr Williams IV. fort. »Sie sind so gleich wie Roboter auf dem Fließband – besonders nachdem die Wölfe mit ihnen fertig sind. Und dann muß ich ihre Briefe und persönlichen Dinge ihren Hinterbliebenen auf der Erde schicken.« »Ich weiß«, sagte Morrison. »Aber einige schaffen es, nicht wahr?« »Sicher«, sagte der Roboter. »Ich habe schon Männer ein-, zwei-, dreimal ein Vermögen machen sehen. Und dann starben sie im Sand bei dem Versuch, noch ein viertes zu machen.« »Ich nicht«, sagte Morrison, »ich bin mit einem zufrieden. Dann werde ich mir eine Unterseefarm auf der Erde kaufen.«
Der Roboter schauderte. »Ich habe eine starke Abneigung gegen Salzwasser. Aber jedem das seine. Viel Glück, junger Mann.« Der Roboter betrachtete Morrison aufmerksam – vielleicht um zu sehen, was bei ihm an persönlichen Dingen zurückzuschicken sein würde – und kletterte dann zurück in den Strudel. Nach einem Moment war er verschwunden. Nach einem weiteren Moment war auch der Strudel nicht mehr zu sehen. Morrison setzte sich, um seine Post zu lesen. Der erste Brief war von seinem Juwelenhändler, Max Krandall. Er schrieb über die große Wirtschaftskrise in Venusborg und daß er vermutlich pleite machen müsse, wenn keiner seiner Prospektoren endlich etwas fand. Der zweite Brief kam von der Venus-Videofongesellschaft. Morrison schuldete ihr zweihundertzehn Dollar und acht Cent für zweimonatigen Videofondienst. Wenn er diese Summe nicht sofort bezahlt, drohten sie ihm damit, sein Videofon abzuschalten. Der letzte Brief kam von weit her, von der Erde, von Janie. Er enthielt jede Menge Neuigkeiten von seinen Vettern, Tanten und Onkeln. Sie erzählte ihm von den Farmgrundstücken im Atlantik, die sie sich angeschaut hatte, und von einem wundervollen, kleinen Ort nahe bei Martinique in der Karibik. Sie flehte ihn an, die Goldsteinsuche aufzugeben, falls es gefährlich werden sollte; sie würden bestimmt eine andere Möglichkeit finden, die Farm zu finanzieren. Sie sandte ihm ihre ganze Liebe und wünschte ihm im voraus alles Gute zum Geburtstag. »Geburtstag?« fragte sich Morrison. »Mal sehen, heute ist der dreiundzwanzigste Juli. Nein, der vierundzwanzigste, und mein Geburtstag ist am ersten August. Danke, daß du mich daran erinnert hast, Janie.« In dieser Nacht träumte er von der Erde und der blauen Weite des Atlantischen Ozeans. Aber gegen Morgen, als die Hitze der Venus sich bemerkbar machte, träumte er von meilenlangen Goldsteinfeldern, von grinsenden Sandwölfen und vom Prospector’s Special. Fels machte Sand Platz, als Morrison sich auf dem Grund eines längst verschwundenen Sees seinen Weg bahnte. Dann kamen wieder Felsen, verzerrt von Tausenden von bizarren Gebilden. Rot-, Gelb- und Brauntöne flimmerten ihm vor den Augen. In dieser ganzen Wüste gab es kein einziges Fleckchen Grün.
Er setzte seinen Marsch in die Felslabyrinthe im Inneren der Wüste fort, und die Wölfe marschierten mit, blieben seitlich in einiger Entfernung stets auf gleicher Höhe mit ihm. Morrison kümmerte sich nicht um sie. Er war vollauf damit beschäftigt, die steilen Felsen und die Geröllfelder zu überwinden, die ihm den Weg nach Süden blockierten. Elf Tage nachdem er den Sandwagen zurückgelassen hatte, waren die Spuren schon fast mächtig genug, um mit dem Auswaschen beginnen zu können. Die Sandwölfe folgten ihm immer noch, und er hatte kaum noch Wasser. Noch ein weiterer Tagesmarsch, und er war am Ende. Morrison überlegte einen Augenblick, dann band er sein Videofon los und wählte die Nummer der Public Utility in Venusborg. Auf dem Bildschirm erschien eine ernste, streng gekleidete Frau mit eisengrauem Haar. »Public Utility«, sagte sie. »Können wir Ihnen behilflich sein?« »Hallo«, sagte Morrison fröhlich. »Wie ist das Wetter in Venusborg?« »Heiß«, sagte die Frau. »Und wie ist es bei Ihnen da draußen?« »Dafür habe ich mich noch gar nicht interessiert«, sagte Morrison grinsend. »Ich bin viel zu sehr damit beschäftigt, meine Reichtümer zu zählen.« »Sie haben Goldstein gefunden?« fragte die Frau, und ihr Gesichtsausdruck wurde weniger streng. »Und ob ich das habe«, sagte Morrison. »Aber sagen Sie’s noch nicht weiter. Ich bin noch dabei, meinen Claim abzustecken. Ich könnte ein bißchen Nachschub gebrauchen.« Mit einem unbekümmerten Lächeln hielt er seine Feldflaschen hoch. Manchmal klappte es. Manchmal, wenn man zuversichtlich genug wirkte, füllte einem die Public Utility die Feldflaschen auf, ohne vorher den Kontostand zu überprüfen. Zugegeben, das war Betrug, aber er konnte es sich im Moment wirklich nicht leisten, es damit allzu genau zu nehmen. »Ich nehme an, daß Ihr Konto in Ordnung ist?« fragte die Frau. »Natürlich«, sagte Morrison und spürte, wie sein Lächeln erstarrte. »Ich heiße Tom Morrison. Sie können es ja eben überprüfen…«
»Oh, das mache ich nicht persönlich«, sagte die Frau. »Halten Sie die Feldflasche da still. Es geht gleich los.« Morrison nahm die Feldflasche fest in beide Hände und sah zu, wie das Wasser, von Venusborg aus über Tausende von Meilen ‘portiert, als dünner Kristall-Strahl über der Öffnung seiner Feldflasche erschien. Der Strahl floß in die Flasche und erzeugte dabei ein wundervolles, gluckerndes Geräusch. Beim Zuschauen füllte sich Morrisons ausgetrockneter Mund mit Speichel. Dann hörte die Wasserzufuhr auf. »Was ist los?« fragte Morrison. Sein Bildschirm wurde leer. Dann erhellte er sich wieder, und Morrison starrte in das schmale Gesicht eines Mannes. Der Mann saß hinter einem großen Schreibtisch. Vor ihm auf einem Schild stand: Milton P. Reade, Vizedirektor, Kontenabteilung. »Mr. Morrison«, sagte Reade, »Sie haben Ihr Konto überzogen. Sie haben sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen eine Wasserlieferung verschafft. Das ist eine strafbare Handlung.« »Ich werde für das Wasser bezahlen«, sagte Morrison. »Wann?« »Sobald ich nach Venusborg zurückkehre.« »Womit«, fragte Mr. Reade, »gedenken Sie denn zu bezahlen?« »Mit Goldstein«, sagte Morrison. »Schauen Sie sich um, Mr. Reade. Die Spuren sind vielversprechend! Reicher, als sie es beim Kirk-Claim waren! Noch ein Tag, und ich werde auf oberirdische Adern stoßen…« »Das glaubt jeder Prospektor«, sagte Mr. Reade. »Jeder Prospektor auf der Venus ist nur noch einen Tag vom Goldstein entfernt. Und alle wollen sie Kredit von der Public Utility.« »Aber in diesem Fall…« »Die Public Utility«, fuhr Mr. Reade unerbittlich fort, »ist keine philanthropische Organisation. Ihre Satzung verbietet ausdrücklich die Gewährung von Krediten. Die Venus ist Pionierland, Mr. Morrison, ein sehr großes Pionierland. Alle Industrieprodukte müssen mit gewaltigem Kostenaufwand von der Erde importiert werden. Wir haben unser eigenes
Wasser, aber es zu suchen, zu reinigen und dann zu ‘portieren ist eine teure Angelegenheit. Unsere Gesellschaft arbeitet, wie jede andere Gesellschaft auf der Venus, mit einer sehr kleinen Gewinnspanne. Der Gewinn wird vollständig in weitere Expansion gesteckt. Deshalb kann es auf der Venus keine Kredite geben.« »Das weiß ich alles«, sagte Morrison. »Aber wenn ich Ihnen doch sage, daß ich nur noch ein oder zwei weitere Tage brauche…« »Völlig unmöglich. Eigentlich dürften wir Ihnen nicht einmal jetzt helfen, Ihre Bankrotterklärung wäre schon vor einer Woche fällig gewesen, als Ihr Sandwagen ausfiel. Ihre Autowerkstatt hat uns das gemeldet, wie es das Gesetz verlangt. Sie dagegen haben sich nicht gemeldet. Es wäre völlig rechtens, wenn wir Sie jetzt einfach im Stich ließen. Haben Sie mich verstanden?« »Ja, natürlich«, sagte Morrison matt. »Trotzdem hat die Gesellschaft beschlossen, ausnahmsweise einmal ein Auge zuzudrücken. Wenn Sie jetzt sofort umkehren, werden wir Sie auf dem Rückweg mit Wasser versorgen.« »Ich kehre noch nicht um. Ich bin kurz davor, reich zu werden.« »Sie müssen umkehren! Seien Sie vernünftig, Morrison! Wo kämen wir denn hin, wenn wir jeden Prospektor, der in der Wüste herumirrt, mit Wasser versorgten? Da wären ja bald zehntausend Männer dort draußen, und wir wären in spätestens einem Jahr pleite. Aber ich will eine Ausnahme machen, wenn Sie jetzt umkehren.« »Nein«, sagte Morrison. »Sie sollten sich das gut überlegen. Wenn Sie jetzt nicht umkehren, übernimmt die Public Utility keine Verantwortung mehr für Ihre Wasserversorgung.« Morrison nickte. Wenn er weiterging, würde er womöglich in der Wüste sterben. Aber wenn er umkehrte, was dann? Er würde in Venusborg sein, ohne einen Pfennig und verschuldet, und in einer überfüllten Stadt nach Arbeit suchen. Er würde im Obdachlosenasyl schlafen und mit den anderen Prospektoren, die umgekehrt waren, in einer Armenküche essen. Und wie sollte er dann jemals den Rückflug zur Erde bezahlen? Wann würde er Janie wiedersehen?
»Ich denke, ich werde weitergehen«, sagte Morrison. »Dann übernimmt die Public Utility keine Verantwortung mehr für Sie«, wiederholte Reade und legte auf. Morrison lud sich das Telefon wieder auf, trank einen Schluck von seinem mageren Wasservorrat und ging weiter. Die Sandwölfe trotteten auf beiden Seiten neben ihm her, kamen näher heran. Ein deltaförmiger Flugsaurier erspähte ihn. Er kreiste einen Tag und eine Nacht lang im Aufwind und wartete darauf, daß die Wölfe über Morrison herfielen. Dann entdeckte ein Schwarm kleiner fliegender Skorpione den wartenden Flugsaurier. Sie trieben das große Geschöpf hinauf in eine Wolkenbank. Einen Tag lang warteten die fliegenden Reptilien. Dann wurden sie ihrerseits von einem Geschwader schwarzer Flugsaurier verscheucht. Die Spuren waren jetzt, am fünfzehnten Tag seit er den Sandwagen zurückgelassen hatte, sehr mächtig. Eigentlich hätte er schon längst über puren Goldstein laufen müssen. Er hätte eigentlich von Goldstein umgeben sein müssen. Aber er hatte noch immer nichts gefunden. Morrison setzte sich hin und schüttelte seine letzte Feldflasche. Es war kein Gluckern mehr zu hören. Er entkorkte sie und hielt sich die Öffnung über den Mund. Zwei Tropfen rieselten seine ausgedörrte Kehle hinab. Seit seinem Gespräch mit der Public Utility waren vier Tage vergangen. Sein letztes Wasser hatte er vermutlich gestern verbraucht. Oder war es vorgestern gewesen? Er verschloß die leere Feldflasche wieder und starrte in die hitzteversengte Landschaft. Abrupt holte er das Videofon aus seinem Gepäck und wählte Max Krandalls Nummer in Venusborg. Krandalls rundes, sorgenvolles Gesicht erschien auf dem Bildschirm. »Tommy«, sagte er, »du siehst schlimm aus.« »Ich bin in Ordnung«, sagte Morrison, »ein bißchen ausgetrocknet, weiter nichts, Max, ich bin ganz nahe am Goldstein.« »Bist du sicher?« fragte Krandall.
»Sieh selbst«, sagte Morrison und schwenkte das Telefon herum. »Schau dir diese Gesteinsformation an! Siehst du die roten und purpurnen Flecken dort drüben?« »Stimmt, da sind Spuren«, sagte Max zweifelnd. »Dahinter muß eine Bonanza liegen«, sagte Morrison. »Es muß einfach! Hör mal, Max, ich weiß, daß du knapp bei Kasse bist, aber ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Schicke mir einen halben Liter Wasser. Nur einen halben Liter, damit ich noch ein oder zwei Tage durchhalte. Ein halber Liter Wasser kann uns beide reich machen.« »Das kann ich nicht«, sagte Krandall traurig. »Du kannst nicht?« »Genau. Tommy, ich würde dir sogar Wasser schicken, wenn es um dich herum nur Sandstein und Granit gäbe. Glaubst du, ich würde dich verdursten lassen, wenn ich es irgendwie verhindern könnte? Aber ich kann nichts tun. Schau dich um.« Krandall drehte sein Videofon. Morrison sah, daß Stühle, Schreibtisch, Aktenschrank und Safe aus dem Büro verschwunden waren. Nur das Telefon war noch übrig. »Ich weiß nicht, warum sie mir das Videofon nicht auch weggenommen haben«, sagte Krandall. »Ich habe seit zwei Monaten die Rechnung nicht mehr bezahlt.« »Ich auch nicht«, sagte Morrison. »Ich bin pleite«, sagte Krandall. »Ich besitze keinen Pfennig mehr. Versteh mich nicht falsch, wegen mir mache ich mir keine Sorgen. Ich kann immer noch in der Armenküche essen. Aber ich kann dir kein Wasser ‘portieren. Dir nicht und Remstaater nicht.« »Jim Remstaater?« »Genau. Er folgte einer Spur oben im Norden beim Vergessenen Fluß. Sein Sandwagen hatte letzte Woche einen Achsbruch, und Jim wollte nicht umkehren. Gestern ging ihm das Wasser aus.« »Ich würde ihn retten, wenn ich könnte«, sagte Morrison.
»Und er würde dich retten, wenn er könnte«, sagte Krandall. »Aber er kann es nicht und du kannst es nicht und ich kann es nicht. Tommy, dir bleibt nur eine einzige Hoffnung.« »Welche denn?« »Finde Goldstein. Nicht bloß Spuren, finde richtigen Goldstein, der richtig Geld wert ist. Dann ruf mich an. Wenn du wirklich Goldstein hast, werde ich Wilkes von der Drei-Planeten-Minengesellschaft dazu bringen, daß er uns etwas Geld vorschießt. Er wird dafür vermutlich fünfzig Prozent des Claims verlangen.« »Das ist glatter Diebstahl!« »Nein, das ist halt der Preis für einen Kredit auf der Venus«, antwortete Krandall. »Keine Sorge, es wird dann immer noch genug übrig sein. Aber zuerst mußt du Goldstein finden.« »Okay«, sagte Morrison. »Es muß hier irgendwo welchen geben. Max, was ist heute für ein Tag?« »Der einunddreißigste Juli. Warum?« »Nur so. Ich rufe dich an, wenn ich etwas gefunden habe.« Nachdem er aufgelegt hatte, saß Morrison auf einem kleinen Felsbrokken und starrte betrübt auf den Sand. Der einunddreißigste Juli. Morgen hatte er Geburtstag. Seine Familie würde sich wegen ihm Gedanken machen. Tante Bess in Pasadena, die Zwillinge in Laos, Onkel Ted in Durango. Und Janie, natürlich, die in Tampa auf ihn wartete. Morrison wurde sich bewußt, daß morgen vielleicht sein letzter Geburtstag sein würde, wenn er keinen Goldstein fand. Er stand auf, schnürte das Videofon wieder an sein Gepäck neben die leeren Feldflaschen und nahm Kurs nach Süden. Er war nicht allein. Die Vögel und Raubtiere der Wüste marschierten mit ihm. Über ihm kreisten pausenlos die schweigenden, schwarzen Flugsaurier. Die Sandwölfe kamen mit heraushängenden roten Zungen näher, warteten darauf, daß ihre Beute hinfiel… »Ich bin noch nicht tot!« rief Morrison ihnen zu. Er zog seinen Revolver und schoß auf den nächsten Wolf. Aus zwanzig Fuß Abstand verfehlte er ihn. Morrison stützte sich auf sein Knie,
hielt den Revolver fest mit beiden Händen und schoß erneut. Der Wolf jaulte vor Schmerz. Das Rudel stürzte sich sofort auf das verletzte Tier, und die Flugsaurier stießen herab, um sich ihren Anteil zu sichern. Morrison schob den Revolver zurück in den Halfter und ging weiter. Der Wassermangel machte ihm sehr zu schaffen. Die Landschaft hüpfte und tanzte vor ihm, und seine Schritte waren unsicher. Er trennte sich von den leeren Feldflaschen, warf alles weg, außer der Gesteinsprüfausrüstung, dem Videofon und dem Revolver. Entweder würde er stilvoll aus der Wüste zurückkehren, oder überhaupt nicht. Die Spuren waren nach wie vor deutlich. Aber noch immer stieß er auf kein Anzeichen von greifbarem Reichtum. An diesem Abend entdeckte er eine enge Höhle am Fuß eines Felsens. Er kroch hinein und baute am Eingang eine Barrikade aus Steinen. Dann zog er seinen Revolver und lehnte sich gegen die Rückwand der Höhle. Die Sandwölfe waren draußen, schnüffelten und schnappten mit den Kiefern. Morrison lehnte sich zurück und machte sich bereit, die ganze Nacht Wache zu halten. Er schlief nicht, aber er konnte auch nicht wach bleiben. Träume und Visionen marterten ihn. Er war wieder auf der Erde, und Janie sagte gerade zu ihm: »Es sind die Thunfische. Mit ihrem Futter stimmt irgend etwas nicht. Alle bis auf einen sind krank.« »So ein Mist«, sagte er zu ihr. »Sobald man einen Fisch domestiziert, verwandelt er sich in eine Primadonna.« »Willst du hier herumstehen und philosophieren«, fragte Janie, »während deine Fische krank sind?« »Ruf den Tierarzt an.« »Hab ich schon. Er ist auf der Blake-Farm und kümmert sich um ihren Milchwal.« »In Ordnung, ich werde hinausgehen und es mir einmal ansehen.« Er zog seine Taucherbrille über. Grinsend sagte er: »Ich habe mich noch nicht einmal abgetrocknet, da muß ich schon wieder hinaus.« Sein Gesicht und seine Brust waren naß.
Morrison öffnete die Augen. Sein Gesicht und seine Brust waren naß – vom Schweiß. Er starrte auf den teilweise versperrten Eingang der Höhle und sah grüne Augen, zwei, vier, sechs, acht. Er schoß auf sie, aber sie wichen nicht zurück. Er schoß wieder, und seine Kugel prallte von der Höhlenwand ab. Er wurden von Steinsplittern getroffen. Mit seinen nächsten Schüssen gelang es ihm, einen der Wölfe zu verwunden. Das Rudel zog sich zurück. Nun war sein Revolver leer. Morrison durchsuchte seine Taschen und fand noch fünf Patronen. Er lud die Waffe sorgfältig. Bis zum Morgen konnte es jetzt nicht mehr lange dauern. Und dann träumte er wieder, diesmal vom Prospector’s Special. Er hatte in jedem kleinen Saloon am Rand der Wüste davon gehört. Alte Prospektoren mit struppigen Barten erzählten hundert verschiedene Geschichten darüber, und die zynischen Barkeeper fügten ihre Versionen hinzu. Kirk hatte sich ‘89 einen bestellt, groß und ganz speziell für sich. Edmonson und Arsler bekamen ihn anno ‘93. Das galt als sicher. Und andere Männer hatten ihn ebenfalls bekommen, wenn sie auf ihren kostbaren Goldstein-Claims saßen. Jedenfalls sagten die Leute das. Aber stimmte es wirklich? Gab es diesen Prospector’s Special tatsächlich? Würde er es je zu sehen bekommen, dieses regenbogenfarbene Wunder, hoch wie ein Kirchturm, breit wie ein Haus, kostbarer noch als Goldstein? Natürlich würde er das! Er konnte den Special jetzt schon fast sehen… Morrison rüttelte sich selbst wach. Es war Morgen. Unter Schmerzen kroch er aus der Höhle, um sich dem Tag zu stellen. Er stolperte und kroch nach Süden, dicht gefolgt von den Wölfen. Die Schatten räuberischer Flugwesen fielen auf ihn. Seine Finger kratzten über Stein und Sand. Die Spuren waren reich, reich! Aber wo in dieser Einöde gab es Goldstein? Wo? Es war ihm schon beinahe gleichgültig. Er schleppte seinen sonnenverbrannten, ausgetrockneten Körper vorwärts, blieb nur einmal stehen, um einen Schuß abzugeben, als die Wölfe zu nahe kamen. Noch vier Kugeln waren übrig.
Er mußte erneut schießen, als die ungeduldig werdenden Flugsaurier anfingen, auf seinen Kopf hinabzustoßen. Ein guter Schuß zerstreute den Schwarm. Zwei stürzten zu Boden. Nun hatten die Wölfe etwas, um das sie kämpfen konnten. Morrison kroch ziellos weiter. Und fiel über den Rand einer kleinen Klippe. Der Sturz war nicht gefährlich, aber Morrison verlor seinen Revolver. Ehe er ihn wiederfinden konnte, fielen die Wölfe über ihn her. Allein ihre Gier rettete Morrison. Während sie noch um ihn kämpften, rollte er sich zur Seite und holte sich den Revolver. Zwei Schüsse verscheuchten das Rudel. Nun war nur noch eine Kugel übrig. Diese Kugel würde er für sich selber aufheben müssen, denn er war zu erschöpft, um weiterzugehen. Er fiel auf die Knie. Die Spuren waren hier reich. Wunderbar reich. Irgendwo hier in der Nähe… »Also, verflucht noch mal«, sagte Morrison. Die kleine Schlucht, in die er gefallen war, bestand aus massivem Goldstein. Er hob einen Stein auf. Sogar noch im Rohzustand konnte er das tiefe, leuchtende, goldene Glühen sehen, die flammend roten und purpurnen Flecken tief in dem leuchtenden Stein. »Vergewissere dich«, sagte Morrison zu sich selbst. »Kein falscher Alarm, keine Visionen, keine wilden Hoffnungen. Vergewissere dich.« Mit dem Griff seines Revolvers schlug er ein Stück Gestein ab. Es sah noch immer wie Goldstein aus. Er packte seinen Prüf-Kit aus und sprühte ein paar Tropfen weiße Lösung auf das Gestein. Die Lösung schäumte grün. »Goldstein, kein Zweifel«, sagte Morrison und betrachtete die leuchtenden Felswände. »He, ich bin reich!« Er nahm sein Videofon. Mit zitternden Fingern wählte er Krandalls Nummer. »Max!« rief Morrison. »Ich habe es geschafft! Ich bin fündig geworden!« »Ich heiße nicht Max«, sagte eine Stimme im Videofon. »Wie bitte?«
»Mein Name ist Boyard«, sagte der Mann. Der Bildschirm erhellte sich, und Morrison sah einen dünnen, bläßlichen Mann mit einem schmalen Schnurrbart. »Tut mir leid, Mr. Boyard«, sagte Morrison. »Ich habe mich anscheinend verwählt…« »Es spielt keine Rolle, ob Sie sich verwählt haben«, sagte Mr. Boyard. »Ich bin der Bezirkskontrolleur der Venus-Videofongesellschaft. Sie haben seit zwei Monaten Ihre Rechnung nicht mehr bezahlt.« »Ich kann sie jetzt bezahlen«, sagte Morrison grinsend. »Ausgezeichnet«, sagte Mr. Boyard. »Sobald Sie das tun, wird Ihr Anschluß wieder freigegeben.« Der Bildschirm begann zu erlöschen. »Warten Sie!« rief Morrison. »Ich kann bezahlen, sobald ich wieder in der Stadt bin. Aber ich muß noch einen einzigen Anruf machen. Nur einen Anruf, damit ich…« »Kommt nicht in Frage«, sagte Mr. Boyard bestimmt. »Nachdem Sie ihre Rechnung bezahlt haben, wird Ihr Apparat sofort wieder eingeschaltet.« »Ich habe das Geld hier bei mir!« sagte Morrison. »Hier in meinen Händen!« Mr. Boyard zögerte. »Nun, es ist unüblich, aber ich denke, wir könnten Ihnen eine Robotboten schicken, wenn Sie für die Unkosten aufkommen.« »Das werde ich!« »Hm. Es ist ungewöhnlich, aber wir könnten… Wo ist das Geld?« »Hier«, sagte Morrison. »Sie erkennen es doch, nicht wahr? Es ist Goldstein!« »Ich bin die Tricks langsam leid, mit denen ihr Prospektoren uns übers Ohr zu hauen versucht. Einfach eine Handvoll Steine hochzuhalten und zu behaupten…« »Aber es ist wirklich Goldstein! Sehen Sie das denn nicht?« »Ich bin Geschäftsmann«, sagte Mr. Boyard, »kein Juwelier. Ich könnte Goldstein nicht von Goldmist unterscheiden.«
Der Bildschirm wurde grau. Verzweifelt versuchte Morrison die Vermittlung zu erreichen. Doch nicht einmal ein Freizeichen war zu hören. Sein Videofon war abgeschaltet. Er legte das Gerät hin und sah sich um. Die schmale Schlucht, in die er gefallen war, verlief etwa zwanzig Meter geradeaus und bog dann nach links ab. In den steilen Wänden war keine Höhle zu sehen, keine Stelle, wo er eine Barrikade hätte bauen können. Er hörte eine Bewegung hinter sich. Er wirbelte herum und sah einen riesigen alten Wolf, der auf ihn losstürmte. Ohne zu zögern, zog Morrison und schoß, blies dem Untier die Schädeldecke weg. »Verdammt«, sagte Morrison. »Diese Kugel wollte ich doch eigentlich für mich aufheben.« Durch den Schuß hatte er etwas Zeit gewonnen. Er rannte durch die Schlucht und suchte nach einer Öffnung in den Felswänden. Goldstein leuchtete und glitzerte rot und purpurn. Und die Sandwölfe sprangen hinter ihm her. Dann blieb Morrison stehen. Hinter einer Biegung endete die Schlucht plötzlich vor einer senkrechten Wand. Er lehnte sich mit dem Rücken dagegen und packte seinen Revolver beim Lauf. Die Wölfe blieben keine zwei Meter vor ihm stehen und rotteten sich für einen Angriff zusammen. Es waren zehn oder zwölf, und sie drängten sich in Dreierreihen in der engen Schlucht. Über ihm kreisten die Flugsaurier und warteten auf ihre Gelegenheit. In diesem Augenblick hörte Morrison das knisternde Geräusch des ‘Portierens. Ein Luftwirbel erschien über den Köpfen der Wölfe, und sie flohen hastig. »Gerade rechtzeitig!« sagte Morrison. »Rechtzeitig für was?« fragte Williams IV. der Briefträger. Der Roboter kletterte aus dem Wirbel und sah sich um. »Also, junger Mann«, sagte Williams IV. »da stecken Sie ja ganz schön in der Patsche. Habe ich Sie nicht gewarnt? Habe ich Ihnen nicht geraten umzukehren? Aber Sie wollten ja nicht hören!«
»Du hattest völlig recht«, sagte Morrison. »Was schickt Max Krandall mir denn?« »Max Krendali schickt Ihnen gar nichts, kann Ihnen überhaupt nichts schicken.« »Warum bist du dann hier?« »Weil Sie heute Geburtstag haben«, sagte Williams IV. »Wir von der Post machen bei Geburtstagen immer eine Sonderzustellung. Hier ist sie.« Williams IV. gab ihm eine Handvoll Post, Geburtstagsgrüße von Janie, und von seinen Tanten, Onkeln und Vettern auf der Erde. »Da ist noch etwas«, sagte Williams IV. und durchwühlte seinen Sack. »Ich meine, daß da noch etwas ist. Mal sehen… Ja, hier ist es.« Er gab Morrison ein kleines Päckchen. Hastig riß Morrison das Papier auf. Es war ein Geburtstagsgeschenk von seiner Tante Mina aus New Jersey. Eine große Packung SalzwasserToffees, direkt aus Atlantic City. »Eine echte Delikatesse, habe ich mir sagen lassen«, bemerkte Williams IV. der ihm über die Schulter geschaut hatte. »Aber wenig hilfreich in Ihrer Lage. Nun, junger Mann, ich hasse es, jemanden an seinem Geburtstag sterben zu sehen. Mir bleibt nur noch, Ihnen ein rasches und schmerzloses Dahinscheiden zu wünschen.« Der Roboter begann, auf den Luftwirbel zuzugehen. »Warte!« rief Morrison. »Du kannst mich doch nicht einfach so zurücklassen! Ich habe schon seit Tagen kein Wasser mehr getrunken! Und diese Wölfe…« »Ich weiß«, sagte Williams IV. »Glauben Sie etwa, daß mir das leicht fällt? Selbst ein Roboter besitzt ein wenig Gefühl!« »Dann hilf mir!« »Das kann ich nicht. Die Vorschriften der Postdirektion verbieten es mir ausdrücklich und kategorisch. Ich weiß noch, wie Abner Lathe anno ‘97 das gleiche von mir verlangte. Eine Bestattung-Expedition brauchte drei Jahre, um bis zu ihm vorzustoßen.« »Du hast doch ein Notruf-Videofon, nicht wahr?« fragte Morrison.
»Ja. Aber das kann ich nur bei persönlichen Notfällen benutzen.« »Kannst du denn wenigstens einen Brief für mich befördern? Eine Eilzustellung?« »Natürlich kann ich das«, sagte der Robotbriefträger. »Dafür bin ich ja hier. Ich kann Ihnen sogar Stift und Papier leihen.« Morrison nahm den Stift und das Papier und versuchte nachzudenken. Wenn er jetzt an Max schrieb, als Eilzustellung, würde der Brief in ein paar Stunden bei Max sein. Aber wie lange würde Max brauchen, um Geld aufzutreiben und ihm Wasser und Munition zu schicken? Einen Tag, zwei Tage? Morrison würde einen Weg finden müssen, solange durchzuhalten… »Ich nehme an, daß Sie eine Briefmarke haben«, sagte der Roboter. »Nein«, entgegnete Morrison. »Aber ich werde eine bei dir kaufen. Eine Solidoport-Spezial.« »Ausgezeichnet«, sagte der Roboter. »Wir haben gerade eine neue Serie von Venusborg-Dreiecken herausgebracht. Ich finde sie ästhetisch sehr gelungen. Sie kosten drei Dollar das Stück.« »Das ist okay. Ein vernünftiger Preis. Gib mir eine davon.« »Da wäre noch die Frage der Bezahlung.« »Hier«, sagte Morrison und gab dem Roboter ein Stück Goldstein, das gut und gerne seine fünftausend Dollar wert war. Der Briefträger betrachtete den Stein aufmerksam und gab ihn ihm wieder zurück. »Tut mir leid, ich kann nur Bargeld annehmen.« »Aber der ist mehr wert als tausend Briefmarken!« sagte Morrison. »Das ist Goldstein!« »Das mag schon sein«, sagte Williams IV, »aber die erforderlichen Kenntnisse wurden mir nie eingespeichert. Außerdem arbeitet die Venuspost nicht nach dem Tauschhandelsprinzip. Ich muß Sie um drei Dollar in Münzen oder Scheinen bitten.« »Die habe ich nicht.« »Dann tut es mir leid.« Williams IV. drehte sich um. »Du kannst doch nicht einfach gehen und mich sterben lassen!«
»Das kann und muß ich«, sagte Williams IV. traurig. »Ich bin nur ein Roboter, Mr. Morrison. Ich wurde von Menschen geschaffen, und deshalb habe ich natürlich auch ein wenig von ihrem Feingefühl geerbt. Das ist gut so. Aber ich habe auch meine Grenzen, die in ihrer Natur den Grenzen der meisten Menschen auf diesem rauhen Planeten sehr ähnlich sind. Und im Gegensatz zu den Menschen kann ich meine Grenzen nicht überschreiten.« Der Roboter begann, in den Luftwirbel zu klettern. Morrison starrte ihn an uns sah dahinter das wartende Wolfsrudel. Er sah das Glühen des Goldsteins im Wert von mehreren Millionen Dollar an den Schluchtwänden. Etwas in ihm rastete aus. Mit einem unartikulierten Schrei sprang Morrison und packte den Roboter bei den Fußgelenken. Williams IV. bereits zur Hälfte im ‘PortierWirbel, wehrte sich und trat um sich. Fast wäre es ihm gelungen, Morrison abzuschütteln. Aber mit der Kraft eines Wahnsinnigen hielt Morrison ihn fest. Zentimeter für Zentimeter zerrte er den Roboter aus dem Wirbel, warf ihn zu Boden und hielt ihn dort fest. »Sie unterbrechen den Postdienst«, sagte Williams IV. »Ich werde noch viel mehr unterbrechen«, knurrte Morrison. »Ich habe keine Angst vor dem Tod. Das Risiko war von vornherein einkalkuliert. Aber ich will verdammt sein, wenn ich jetzt sterbe, eine Viertelstunde, nachdem ich auf eine Bonanza gestoßen bin!« »Es bleibt Ihnen keine andere Wahl.« »Doch. Ich werde dein Notrufvideo benutzen.« »Das können Sie nicht«, sagte Williams IV. »Ich weigere mich, es auszufahren. Und ohne geeignetes Werkzeug kommen Sie niemals an es heran.« »Möglich«, sagte Morrison. »Ich werde es herausfinden.« Er zog seinen leeren Revolver. »Was haben Sie vor?« fragte Williams IV. »Ich werde mal sehen, ob ich dich nicht auch ohne geeignetes Werkzeug in einen Haufen Schrott verwandeln kann. Ich nehme an, daß ich dabei wohl am besten mit deinen Sehzellen anfange.«
»Ich habe natürlich keinen persönlichen Selbsterhaltungstrieb«, sagte der Roboter. »Aber ich möchte darauf hinweisen, daß die ganze Venus dann ohne Briefträger wäre. Viele Menschen hätten unter Ihrer unsozialen Handlung zu leiden.« »Das hoffe ich«, sagte Morrison und hob den Revolver über den Kopf. »Außerdem«, sagte der Roboter hastig, »würden Sie Staatseigentum zerstören. Das ist ein schweres Vergehen.« Morrison lachte und schwang die Pistole. Der Roboter bewegte rasch den Kopf und wich so dem Schlag aus. Er versuchte freizukommen, aber Morrisons neunzig Kilo lasteten fest auf seinem Brustkasten. »Diesmal werden ich nicht danebenschlagen«, versprach Morrison und hob den Revolver. »Stop!« sagte Williams IV. »Es ist meine Pflicht, Staatseigentum zu schützen, sogar wenn es sich bei diesem Eigentum um mich selbst handelt. Sie dürfen mein Telefon benutzen. Mr. Morrison. Denken Sie daran, daß dieses Vergehen mit fünf bis zehn Jahren Haft im SonnensumpfZuchthaus bestraft wird.« »Her mit dem Telefon«, sagte Morrison. Die Brust des Roboters öffnete sich und ein kleines Videofon wurde ausgefahren. Morrison rief Max Krandall an und erklärte ihm die Situation. »Ich verstehe, ich verstehe«, sagte Krandall. »In Ordnung, ich werde versuchen, Wilkes zu finden. Aber, Tom, ich weiß nicht, ob ich viel ausrichten kann. Es ist nach Geschäftsschluß. Die meisten Büros sind geschlossen…« »Laß sie wieder öffnen«, sagte Morrison. »Ich kann alles bezahlen. Und helfe auch Jim Remstaater aus der Patsche.« »So einfach geht das nicht. Du hast deinen Claim noch nicht angemeldet. Du hast noch nicht einmal bewiesen, daß dein Claim ausreichend wertvoll ist.« »Schau ihn dir an.« Morrison drehte das Videofon, so daß Krandall die leuchtenden Wände der Schlucht sehen konnte. »Sieht echt aus«, sagte Krandall. »Aber leider ist nicht alles Goldstein, was glänzt.«
»Was können wir tun?« fragte Morrison. »Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen. Ich werde dir den Staatlichen Vermessungsbeamten ‘portieren. Er wird deinen Claim prüfen, seine Grenzen abstecken und sicherstellen, daß nicht bereits jemand anderes Rechte geltend gemacht hat. Du gibst ihm ein Stück Goldstein mit zurück. Ein großes Stück.« »Wie soll ich den Goldstein losschlagen? Ich habe kein Werkzeug.« »Laß dir etwas einfallen. Er wird das Stück zur Prüfung mitnehmen. Ist es gehaltreich genug, ist alles in Ordnung.« »Und wenn nicht?« »Darüber sprechen wir besser nicht«, sagte Krandall. »Ich mache mich sofort an die Arbeit, Tommy. Viel Glück!« Morrison legte auf. Er stand auf und half dem Roboter auf die Beine. »In dreiundzwanzig Dienstjahren«, sagte Williams IV. »ist dies das erste Mal, daß jemand das Leben eines Postbeamten bedroht hat. Ich muß den Vorfall der Polizeibehörde in Venusborg melden, Mr. Morrison. Mir bleibt keine Wahl.« »Ich weiß«, sagte Morrison. »Aber fünf oder zehn Jahre im Zuchthaus sind immer noch besser als der Tod.« »Das bezweifle ich. Ich bringe die Post dorthin, wissen Sie. In ungefähr sechs Monaten werden Sie sich selbst davon überzeugen können.« »Wie bitte?« sagte Morrison verblüfft. »In ungefähr sechs Monaten, nachdem ich meine Postzustellung rings um den Planeten beendet habe und nach Venusborg zurückkehre. Ein solcher Vorfall muß persönlich gemeldet werden. Aber der Postdienst geht natürlich vor.« »Danke, Williams. Ich weiß nicht, wie…« »Ich tue lediglich meine Pflicht«, sagte der Roboter, während er in den Luftwirbel kletterte. »Wenn Sie in sechs Monaten noch auf der Venus sind, werden ich Ihnen die Post ins Zuchthaus bringen müssen.« »Ich werde nicht mehr da sein«, sagte Morrison. »So long, Williams!« Der Roboter verschwand im ‘Portier-Wirbel. Dann verschwand der Wirbel. Morrison war allein im venusischen Dämmerlicht.
Er entdeckte einen aus dem Felsen ragenden Goldsteinklumpen von mehr als Kopfgröße. Er klopfte mit dem Pistolengriff dagegen, und winzige Splitter tanzten und glitzerten in der Luft. Nach einer Stunde hatte er vier Dellen in seinem Revolver, aber die Oberfläche des Goldsteins war kaum angekratzt. Die Sandwölfe kamen langsam näher. Morrison warf Steine nach ihnen und schrie mit seiner trockenen, heiseren Stimme. Die Wölfe zogen sich zurück. Er untersuchte den Klumpen erneut und entdeckte an einer Kante einen haarfeinen Riß. Er konzentrierte seine Schläge auf diesen Riß. Der Goldstein brach nicht ab. Morrison wischte sich den Schweiß von den Augen und versuchte nachzudenken. Einen Meißel, er brauchte einen Meißel… Er schnallte seinen Gürtel ab. Er preßte die Kante der stählernen Schnalle gegen den Spalt, und es gelang ihm, sie mit kräftigen Schlägen den Bruchteil eines Zentimeters hineinzutreiben. Drei weitere Schläge trieben die Schnalle tief in den Spalt. Mit einem weiteren Schlag trennte er den Klumpen sauber ab. Er hatte ein Zwanzig-Pfund-Stück vom Felsen getrennt. Bei fünfzig Dollar pro Toy-Unze mußte dieser Klumpen ungefähr zwölftausend Dollar wert sein – wenn er so rein war, wie er aussah. Das Dämmerlicht war tiefgrau geworden, als der Staatliche Vermessungsbeamte her’portierte. Er war ein kleiner, plumper Roboter mit einem konservativen, mattschwarzen Gehäuse. »Guten Tag, Sir«, sagte der Vermessungsbeamte. »Sie möchten einen Claim anmelden? Einen unbegrenzten Standard-Bergbauclaim?« »So ist es«, sagte Morrison. »Und wo befindet sich der Mittelpunkt des oben genannten Claims?« »Wie? Der Mittelpunkt? Vermutlich stehe ich drauf.« »Sehr gut«, sagte der Roboter. Er fuhr ein Stahlband aus und ging rasch von Morrison weg. In einer Entfernung von knapp zweihundert Metern blieb er stehen. Noch mehr Stahlband flatterte, während er gehend, fliegend und kletternd eine qua-
dratische Fläche mit Morrison als Mittelpunkt absteckte. Als er damit fertig war, stand der Vermesser eine lange Zeit unbeweglich da. »Was geschieht jetzt?« fragte Morrison. »Ich mache Tiefenfotografien des Geländes«, sagte der Roboter. »Das ist bei diesem Licht ziemlich schwierig. Könnten Sie nicht bis morgen warten?« »Nein!« »Schon gut, es wird auch so gehen«, sagte der Roboter. Er ging und stand, ging und stand. Jede Tiefenaufnahme dauerte wegen des schwindenden Lichts länger. Hätte der Roboter Poren besessen, er hätte geschwitzt. »So«, sagte er schließlich, »das wäre erledigt. Haben Sie eine Probe, die ich mitnehmen kann?« »Hier ist sie«, sagte Morrison und gab dem Roboter den Goldsteinklumpen. »Ist das alles?« »Fast alles«, sagte der Roboter. »Aber Sie haben mir natürlich die Suchurkunde noch nicht gegeben.« Morrison kniff die Augen zusammen. »Die was?« »Die Suchurkunde. Das ist ein Regierungsdokument, in dem bestätigt wird, daß Ihr Claim, gemäß der Regierungsordnung, bis in eine Tiefe von zwanzig Metern in seiner Gesamtmasse nicht zu mehr als fünfzig Prozent aus spaltbarem Material besteht. Es ist eine bloße Formalität, aber unbedingt erforderlich.« »Ich habe noch nie davon gehört«, sagte Morrison. »Die Vorschrift wurde erst in der letzten Woche erlassen«, erläuterte der Vermesser. »Sie besitzen diese Urkunde also nicht? Dann ist Ihr unbegrenzter Standard-Claim ungültig, fürchte ich.« »Und da kann man nichts machen?« »Nun«, sagte der Roboter. »Sie könnten natürlich Ihren unbegrenzten Standard-Claims in einen begrenzten Spezial-Claim umwandeln. Dann ist die Urkunde des Suchens nicht erforderlich.« »Was hat es mit ›begrenzt‹ und ›spezial‹ auf sich?«
»Das bedeutet, daß in fünfhundert Jahren alle Rechte an die Regierung der Venus fallen.« »In Ordnung!« rief Morrison. »Fein! Prima! Ist das alles?« »Jawohl«, sagte der Vermesser. »Ich werde diese Probe mitnehmen und sofort prüfen und schätzen lassen. Mit ihr und den Tiefenfotografien können wir Wert und Größe Ihres Claims bestimmen.« »Schickt mir etwas gegen die Wölfe«, sagte Morrison. »Und Essen. Und – ich möchte einen Prospector’s Special.« »Ja, Sir. Man wird Ihnen alles ‘portieren – wenn Ihr Claim wertvoll genug ist, um die Unkosten zu decken.« Der Roboter kletterte in den Wirbel und verschwand. Die Zeit verstrich, und die Wölfe kamen wieder näher. Sie knurrten, als Morrison Steine nach ihnen warf, aber sie wichen nicht zurück. Mit offenen Mäulern und heraushängenden Zungen krochen sie auf den Prospektor zu. Dann sprang der Leitwolf zurück und heulte. Ein leuchtender Wirbel war über seinem Kopf erschienen, und ein Gewehr war aus dem Wirbel ihm auf eine Vorderpfote gefallen. Die Wölfe kletterten davon. Ein weiteres Gewehr fiel aus dem Wirbel. Dann eine große Kiste mit der Aufschrift: Vorsicht! Granaten. Dann eine mit Wüstenration K beschriftete Kiste. Morrison starrte auf die leuchtende Öffnung des Wirbels und wartete. Der Wirbel durchquerte den Himmel und verharrte an einem Punkt in einer Viertelmeile Entfernung. Ein riesiger, runder Messingfuß tauchte aus dem Wirbel auf. Die Öffnung weitete sich, um einen noch riesigeren Messingkörper hindurchzulassen, an dem der Fuß befestigt war. Der Messingkörper wuchs in die Höhe, während der Fuß auf den Sand gestellt wurde. Als alles sichtbar war, stand vor dem Horizont eine gigantische, reicht verzierte Punschbowle aus Messing in der Wüste. Der Wirbel stieg hoch und verharrte über der Bowle. Morrison wartete mit rauher, schmerzender Kehle. Nun kam ein kleines Rinnsal aus dem Wirbel und plätscherte hinunter in die Bowle. Noch immer rührte sich Morrison nicht.
Und dann ging es los. Das Plätschern wurde zu einem Tosen, das die Wölfe und Flugsaurier in Panik fliehen ließ, und ein Wasserfall ergoß sich aus dem Wirbel in die riesige Punschbowle. Morrison taumelte darauf zu. Er hätte eine Feldflasche bestellen sollen, sagte er sich durstig, während er die Viertelmeile über den Sand stolperte. Doch schließlich stand er am Fuße des Prospector’s Special, der höher als ein Kirchturm war, breiter als ein Haus und gefüllt mit Wasser, das noch kostbarer war als selbst Goldstein. Er öffnete den Zapfhahn am Fuß der Bowle. Wasser tränkte den gelben Sand, und kleine Bäche rannen die Düne hinab. Ich hätte mir einen Becher oder ein Glas mitbestellen sollen, dachte Morrison, während er mit offenem Mund auf dem Rücken lag.
Begegnung
TEIL EINS Der Quedak lag auf einem kleinen Hügel und sah zu, wie ein dünner Lichtstrahl aus dem Himmel herabstieg. Der Strahl war golden und heller als die Sonne. Auf dem Strahl ritt ein metallisch glitzerndes Objekt, das künstlichen Ursprungs zu sein schien und ihm beunruhigend vertraut vorkam. Der Quedak überlegte, was es wohl war. Er konnte sich nicht erinnern. Sein Gedächtnis war mit seinen Körperfunktionen geschwunden, hatte lediglich zerstückelte Bildfragmente hinterlassen. Die ging er jetzt durch, sah kurze Bilder zerstörter Städte, der sterbenden Bevölkerung, einen mit blauem Wasser gefüllten Kanal, zwei Monde, ein Raumschiff… Das war es. Das herabsinkende Objekt war ein Raumschiff. In den großen Tagen des Quedak hatte es davon viele gegeben. Jene großen Tage waren vorüber, für immer im staubigen Sand begraben. Nur den Quedak gab es noch. Er lebte und er hatte eine Mission auszuführen. Die ihn vorantreibende Dringlichkeit seiner Mission blieb, selbst nachdem Gedächtnis und Körperfunktionen versagt hatten. Während der Quedak zuschaute, sank das Raumschiff tiefer hinab. Es schwankte, und seitliche Düsen feuerten, um es zu stabilisieren. Eine Staubwolke wurde aufgewirbelt, als das Schiff mit dem Heck auf der trockenen Ebene aufsetzte. Und der Quedak schleppte sich, getrieben von der Notwendigkeit der Quedak-Mission, mühsam den kleinen Hügel hinunter. Jeder Augenblick war eine Qual. Wäre der Quedak ein selbstsüchtiges Geschöpf gewesen, er wäre lieber gestorben. Aber er war nicht selbstsüchtig. Die Quedak hatten im Universum ihre Pflicht zu tun; und nach all diesen leeren Jahren war dieses Raumschiff eine Verbindung zu anderen Welten, zu Pla-
neten, wo der Quedak wieder leben und seinen Dienst an der dort heimischen Fauna leisten konnte. Er kroch zentimeterweise voran und fragte sich, ob er genügend Kraft besaß, das fremde Raumschiff zu erreichen, ehe es diesen staubigen, toten Planeten wieder verließ. Kapitän Jensen vom Raumschiff Southern Cross fand den Mars schrecklich langweilig. Er und seine Männer waren seit zehn Tagen hier. Sie hatten keine bedeutenden archäologischen Funde gemacht, keine aufregenden Reste uralter Städte, wie die Polaris-Expedition sie am Südpol entdeckt hatte. Hier gab es nur Sand, ein paar müde Sträucher und ein oder zwei Sanddünen. Ihr bislang größter Fund waren drei Tonscherben gewesen. Jensen rückte seine Sauerstoffmaske zurecht. Über die Hügelkuppe sah er zwei Männer zurückkehren. »Etwas Interessantes?« fragte er. »Nur das«, sagte Ingenieur Vayne und hielt ein drei Zentimeter langes Stück einer verrosteten Klinge ohne Griff hoch. »Besser als nichts«, sagte Jensen. »Was ist mit Ihnen, Wilks?« Der Navigator zuckte die Achseln. »Nur Landschaftsfotografien.« »Okay«, sagte Jensen. »Steckt alles in den Sterilisator, und dann machen wir, daß wir wegkommen.« Wilks machte ein bekümmertes Gesicht. »Kapitän, vielleicht könnten wir bei einem kurzen Ausflug nach Norden etwas wirklich Wichtiges entdecken…« »Kommt nicht in Frage«, sagte Jensen. »Treibstoff, Essen, Wasser, alles ist für einen Zehn-Tages-Aufenthalt kalkuliert. Das sind drei Tage mehr, als die Polaris zur Verfügung hatte. Wir starten heute abend.« Die Männer nickten. Sie hatten keinen Grund, sich zu beklagen. Als die zweite Expedition auf dem Mars konnten sie sich einer kleinen, aber respektablen Fußnote in den Geschichtsbüchern sicher sein. Sie schoben ihre Ausrüstung in die Sterilisieröffnung, verschlossen sie und kletterten die Leiter zur Schleuse hoch. Als sie drinnen waren, verriegelte Vayne das Außenschott und begann, das innere Druckschott zu öffnen. »Stop!« rief Jensen.
»Was ist denn?« »Da war, glaube ich, etwas an Ihrem Stiefel«, sagte Jensen. »Etwas, das wie ein großes Insekt aussah.« Vayne wischte rasch mit den Händen über seine Stiefel. Die beiden Männer umkreisten ihn und untersuchten seine Kleidung. »Schließen Sie die innere Tür«, sagte der Kapitän. »Wilks, haben Sie etwas gesehen?« »Nichts«, sagte der Navigator. »Sind Sie sicher, Käpt’n? Wir haben hier bis jetzt keinerlei tierisches Leben entdeckt. Nur ein paar Pflanzen.« »Ich könnte schwören, daß ich etwas gesehen habe«, sagte Jensen. »Vielleicht war es ein Irrtum… Trotzdem, wir werden unsere Kleidung desinfizieren. Wir dürfen nicht riskieren, irgendein Marsinsekt auf die Erde einzuschleppen.« Die Männer legten ihre Kleidung und Stiefel ab und stopften sie in die Röhre des Sterilisators. Sie durchsuchten die kahle, stählerne Schleuse sorgfältig. »Nichts da«, sagte Jensen schließlich. »Okay, gehn wir hinein.« Von innen versiegelten sie die Schleuse und desinfizierten sie. Der Quedak, der vorher bereits durch die teilweise geöffnete Drucktüre hineingekrochen war, hörte dem fernen Zischen des Gases zu. Nach einer Weile hörte er, wie die Triebwerke gezündet wurden. Der Quedak zog sich in den dunklen hinteren Teil des Schiffes zurück. Er fand ein Eisenregal, an dessen Unterseite er sich anheftete. Nach einer Weile spürte er, wie das Schiff erzitterte. Der Quedak klammerte sich während des langen, langsamen Fluges durch das All an das Regal. Er hatte vergessen, wie es an Bord von Raumschiffen war, aber jetzt flackerte die Erinnerung kurz wieder auf. Er spürte die brennende Hitze und die eisige Kälte. Sich an die Temperaturschwankungen anzupassen, zehrte an den noch vorhandenen Resten seiner Lebenskraft, und der Quedak fragte sich, ob er sterben würde. Er weigerte sich zu sterben. Nicht, solange noch eine Chance bestand, seine Quedak-Mission zu erfüllen.
Gerade noch rechtzeitig spürte er das Zerren der Schwerkraft und die Haupttriebwerke wieder gezündet hatten. Das Schiff landete auf seinem Heimatplaneten. Nach einer Routinelandung wurden Kapitän Jensen und seine Männer zur medizinischen Kontrolle gebracht, wo man sie von Kopf bis Fuß nach irgendwelchen Krankheitszeichen untersuchte. Ihr Raumschiff wurde auf einen Plattformwagen gehievt und vorbei an den Reihen der Mondschiffe und Interkontinentalraketen zur Entseuchungsbühne Eins gebracht. Dort wurde die Außenhülle mit starken Reinigungssprays abgewaschen. Am Abend wurde das Schiff zur Entseuchungsbühne Zwei gebracht. Ein Team von zwei Inspektoren, ausgerüstet mit klobigen Tanks und Schläuchen betrat das Schiff und verriegelte hinter sich die Schleuse. Sie begannen im Bug und arbeiteten sich, methodisch sprühend zum Heck vor. Alles schien in Ordnung zu sein; keine Tiere oder Pflanzen, keine Erdreste, wie sie die erste Mondexpedition mit zurückgebracht hatte. »Glauben Sie, daß das nötig ist?« fragte der Inspektionsassistent. Er hatte bereits seine Versetzung zur Flugaufsicht beantragt. »Natürlich ist es das«, sagte der Leitende Inspektor. »Man weiß nie, was diese Schiffe vielleicht einschleppen.« »Das stimmt schon«, sagte der Assistent. »Trotzdem, irgendein marsianisches Etwas könnte auf der Erde doch gar nicht überleben. Nicht wahr?« »Wie soll ich das wissen?« fragte der Leitende Inspektor. »Ich bin kein Botaniker. Vielleicht wissen die es auch nicht.« »Es scheint mit eine ziemliche Geldverschwendung – he!« »Was ist?« fragte der Leitende Inspektor. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen«, sagte der Assistent. »Es sah ein bißchen wie ein Palmettenkäfer aus. Dort drüben bei dem Regal.« Der Leitende Inspektor rückte seine Atemmaske zurecht und wies seinen Assistenten an, das gleiche zu tun. Er ging langsam auf das Regal zu. Er löste eine zweite Spritzdüse von dem Drucktank auf seinem Rücken. Er schaltete die Düse ein, und eine grünliche Gaswolke wurde versprüht.
»So«, sagte der Leitende Inspektor. »Das dürfte Ihrem Käfer den Garaus gemacht haben.« Er kniete sich hin und schaute unter das Regal. »Nichts zu sehen.« »Vielleicht war es nur ein Schatten«, sagte der Assistent. Gemeinsam sprühten sie das gesamte Schiffsinnere ein, wobei sie der kleinen Kiste mit den marsianischen Artefakten besondere Aufmerksamkeit widmeten. Sie verließen das Schiff und schlossen die Schleuse wieder. »Was nun?« fragte der Assistent. »Jetzt bleibt das Schiff drei Tage lang versiegelt«, sagte der Leitende Inspektor. »Dann inspizieren wir es erneut. Finden Sie mir erst mal ein Tier, das das überlebt.« Der Quedak, der sich bei dem Assistenten an der Unterseite seines Schuhs, zwischen Absatz und Sohle, festgeklammert hatte, ließ sich fallen. Er sah zu, wie die dunklen, zweibeinigen Gestalten davongingen. Sie unterhielten sich dabei mit ihren tiefen, polternden, unverständlichen Stimmen. Er fühlte sich müde und unendlich allein. Aber der Gedanke an die Quedak-Mission richtete ihn auf. Nur sie zählte. Der erste Teil der Mission war vollbracht. Er war sicher auf einem bewohnten Planeten gelandet. Jetzt brauchte er Nahrung und Wasser. Dann brauchte er Ruhe, sehr viel Ruhe, um seine schlummernden Fähigkeiten wiederzubeleben. Danach würde er bereit sein, dieser Welt zu geben, was sie so offensichtlich brauchte – die Kooperation, die nur mit Hilfe des Quedak-Verstandes möglich war. Er kroch langsam über den im Dämmerlicht liegenden Platz. Vorbei an den verlassenen Hüllen der Raumschiffe. Er kam zu einem Drahtzaun und fühlte die Hochspannung, die durch den Draht floß. Der Quedak schätzte den Abstand sorgfältig und sprang wohlbehalten durch eine der Öffnungen des Zaunes. Nun befand er sich in einem völlig anderen Bereich. Der Quedak roch Wasser und Nahrung. Er bewegte sich hastig vorwärts, blieb dann stehen. Er spürte die Gegenwart eines Mannes. Und etwas anderes. Etwas viel Bedrohlicheres.
»Wer ist da?« fragte der Wachmann. Er wartete, den Revolver in der einen, die Taschenlampe in der anderen Hand. Diebe waren in der vergangenen Woche in das Gelände eingedrungen; sie hatten drei Kisten mit Computerteilen für Rio gestohlen. Heute nacht würde er aufpassen. Er ging vorwärts, ein alter, scharfäugiger Mann. Seine Hand, die den Revolver hielt, war ruhig wie ein Stein. Der Strahl der Taschenlampe wanderte über das Frachtgut. Das gelbe Licht beleuchtete einen großen Haufen Präzisionswerkzeuge für Südafrika, eine Wassergewinnungsanlage für Jordanien und verschiedene Waren für Rabaul. »Es ist besser, wenn Sie herauskommen«, rief der Wachmann. Er richteten den Lichtstrahl auf Reissäcke für Shanghai und auf Motorsägen für Burma. Dann verharrte der Strahl abrupt. »Also, verflucht noch mal«, sagte der Wachmann. Dann lachte er. Eine riesige und rotäugige Ratte starrte ins Licht seiner Lampe. Sie trug etwas im Maul, daß wie eine ungewöhnlich große Küchenschabe aussah. »Guten Appetit«, sagte der Wachmann. Er steckte seinen Revolver weg und setzte seinen Rundgang fort. Ein großes, schwarzes Tier hatte den Quedak gepackt, und er spürte, daß schwere Kiefer seinen Rücken umklammert hielten. Er versuchte zu kämpfen; aber ein plötzlicher, greller Lichtstrahl stürzte ihn in heillose Verwirrung. Das gelbe Licht verschwand. Das schwarze Untier versuchte, den gepanzerten Rücken des Quedak zu zerbeißen. Der Quedak sammelte seine noch vorhandenen Kräfte, entrollte seinen langen, skorpionähnlichen Schwanz und schlug zu. Er traf nicht, aber das schwarze Untier ließ ihn hastig fallen. Sie umkreisten einander. Der Quedak hob seinen Schwanz für einen zweiten Schlag, das Untier wollte seine Beute nicht einfach so entkommen lassen. Der Quedak wartete auf seine Chance. Erleichterung erfüllte ihn. Diese kampflustige Tier würde als erstes auf diesem Planeten die QuedakMission kennenlernen. Mit diesem einfachen Geschöpf ließ sich der Anfang machen… Das Untier sprang und schnappte wütend mit den Zähnen. Der Quedak wich ihm aus, und sein stacheliger Schwanz schlug zu und blieb am
Rücken des Tieres hängen. Der Quedak ließ nicht locker, während das Untier hüpfte und sich wand. Der Quedak krallte sich am Boden fest und konzentrierte sich auf die äußerst wichtige Aufgabe, einen winzigen, weißen Kristall durch seinen Schwanz hindurch dem Untier unter die Haut zu pumpen. Aber diese wichtigste alle Quedak-Fähigkeiten war noch nicht wiederhergestellt. Ohne etwas tun zu können, ließ der Quedak den Rücken des Tieres los und jagte ihm, sorgfältig zielend, den Stachel genau zwischen die Augen. Der Hieb war, wie der Quedak sehr wohl gewußt hatte, tödlich. Der Quedak stillte am Körper seines toten Feindes seinen Hunger; mit Bedauern, denn der Quedak bevorzugte pflanzliche Kost. Als er fertig war, wußte der Quedak, daß er unbedingt eine lange Ruhepause benötigte. Erst danach würden seine Quedackräfte voll wiederhergestellt sein. Er kroch über das Frachtgut und suchte nach einem Versteck. Sorgfältig betrachtete er mehrere Ballen. Schließlich kam er zu einem Stapel schwerer Kisten. An einer der Kisten befand sich ein Spalt, durch den er gerade eben hindurchpaßte. Der Quedak kroch hinein, hinab am schimmernden, ölverschmierten Gehäuse einer Maschine, zum anderen Ende der Kiste. Dort fiel er in den traumlosen, wehrlosen Schlaf der Quedak, gelassen auf das vertrauend, was die Zukunft bringen würde.
TEIL ZWEI I Der große Gaffelschoner fuhr mit der Wucht eines Schnellzuges geradewegs auf die von Riffen umgebene Insel zu. Die Segel blähten sich im kräftigen Nordwestwind, und der verrostete Allison-Chambers-Diesel
rumpelte unter einer Teakholzgräting. Skipper und Maat standen auf der Brücke und sahen zu, wie das Riff näher kam. »Schon etwas zu sehen?« fragte der Skipper. Er war ein stämmiger, kahl werdender Mann mit stets gerunzelter Stirn. Seit fünfundzwanzig Jahren segelte er mit seinem Schoner zwischen den auf keiner Karte verzeichneten Untiefen und Riffen des Südwestpazifiks umher. Er runzelte die Stirn, weil sein altes Schiff sich nicht mehr versichern ließ. Seine Decksladung jedoch war versichert. Einiges davon kam von weit her, von Odgensville, dem Umschlaghafen in der Wüste, wo die Raumschiffe landeten. »Nichts«, sagte der Maat. Er beobachtete die schimmernde, weiße Wand aus Korallen auf der Suche nach dem blauen Streifen, wo eine schmale Durchfahrt in die Lagune hineinführte. Das war seine erste Fahrt zu den Solomon-Inseln. Bevor ihn die Wanderlust gepackt hatte, war der Maat Fernsehmechaniker in Sydney gewesen, und jetzt fragte er sich, ob der Skipper verrückt geworden war und einen spektakulären Selbstmord am Riff plante. »Noch immer nichts!« rief er. »Untiefen voraus!« »Ich übernehme«, sagte der Skipper zum Steuermann. Er packte das Steuerrad und beobachtete das Riff. »Nichts«, sagte der Maat. »Skipper, wir sollten besser beidrehen.« »Nicht, wenn wir in die Lagune hineinfahren wollen«, sagte der Skipper. Er fing an, sich Sorgen zu machen. Aber er hatte versprochen, den amerikanischen Schatzsuchern auf dieser Insel Waren zu liefern, und der Skipper war ein Mann, der Wort hielt. Er hatte die Fracht in Rabaul an Bord genommen und seine üblichen Zwischenstops auf New Georgia und Malaita gemacht. Wenn er hier fertig war, konnte er sich auf eine tausend Meilen lange Fahrt nach Neukaledonien freuen. »Da ist es!« rief der Maat. Ein dünner blauer Schlitz in der Korallenwand war sichtbar geworden. Sie waren jetzt weniger als dreißig Meter davon entfernt, und der alte Schoner lief fast acht Knoten schnell. Als das Schiff in die Durchfahrt einlief, warf der Skipper das Ruder herum. Korallen sausten auf beiden Seiten vorbei, nahe genug, daß man
sie berühren konnte. Ein metallisches Kreischen war zu hören, als die Großmastgaffel an den Korallen vorbeischrammte und wieder freikam. Dann waren sie in der Durchfahrt und liefen gegen eine Sechs-KnotenStrömung an. Der Maat ließ den Diesel mit voller Kraft laufen, dann eilte er zum Skipper, um ihm beim Halten des Steuerrades zu helfen. Mit Motorkraft und unter Segeln kämpfte sich der Schoner durch die Durchfahrt, schrammte an Backbord an einem Korallenvorsprung vorbei und erreichte das ruhige Wasser der Lagune. Der Skipper wischte sich mit einem großen, blauen Halstuch den Schweiß von der Stirn. »Na, das war ja nicht weiter schwierig«, sagte er. »Nicht weiter schwierig?« rief der Maat. Er wandte sich ab, und der Kapitän lächelte ein kurzes Lächeln. Sie glitten an einer vor Anker liegenden kleinen Ketsch vorbei. Die eingeborenen Matrosen holten die Segel ein, und der Schoner fuhr an einen wackligen, in die Lagune hineinragenden Landungssteg heran. Das Schiff wurde an den Palmen vertäut. Vom Rand des Dschungels über dem Strand kam ein Mann herab. Er ging schnell, trotz der Mittagshitze. Er war sehr groß und dünn, mit vorstehenden Knie- und Ellbogengelenken. Die brennende melanesische Sonne hatte ihn verbrannt, aber nicht gebräunt, und auf seiner Nase und seinen Wangen schälte sich die Haut. Seine Hornbrille hatte er mit einem Stück Klebeband geflickt. Er wirkte eifrig, jungenhaft und seltsam naiv. Einer von den verrückten Schatzsuchern, dachte der Maat. »Schön, Sie zu sehen!« rief der Mann. »Wir hatten schon geglaubt, Sie seien verschollen.« »Wohl kaum«, sagte der Skipper. »Mr. Sorensen, ich möchte Ihnen meinen neuen Maat vorstellen, Mr. Willis.« »Schön, Sie kennenzulernen, Professor«, sagte der Maat. »Ich bin kein Professor«, sagte Sorensen, »aber trotzdem danke.« »Wo sind die anderen?« fragte der Skipper. »Draußen im Dschungel«, sagte Sorensen. »Alle, bis auf Drake, und er wird gleich zu uns herunterkommen. Sie bleiben doch ein Weilchen, nicht wahr?«
»Nur zum Ausladen«, sagte der Skipper. »Ich muß mit der Flut auslaufen. Was macht die Schatzsuche?« »Wir haben viel gegraben«, sagte Sorensen. »Es besteht immer noch Hoffnung.« »Aber Sie haben noch keine Dublonen gefunden?« fragte der Skipper. »Keine Goldbarren?« »Nicht ein Stück«, sagte Sorensen müde. »Haben Sie Zeitungen mitgebracht, Skipper?« »Das habe ich«, erwiderte der Skipper. »Sie sind in der Kabine. Haben Sie mitbekommen, daß ein zweites Raumschiff zum Mars geflogen ist?« »Ich habe es auf Kurzwelle gehört«, sagte Sorensen. »Es hat nicht viel mit zurückgebracht, nicht wahr?« »Fast gar nichts. Trotzdem, wenn man sich das so vorstellt – zwei Schiffe zum Mars, und jetzt wollen sie sogar eines zur Venus schicken.« Die drei Männer schauten sich um und grinsten. »Nun«, sagte der Skipper, »den Südwestpazifik scheint das Raumfahrtzeitalter jedenfalls noch nicht erreicht zu haben. Und ganz gewiß hat es diesen Ort noch nicht erreicht. Kommen Sie, laden wir die Fracht aus.« Dieser Ort war die Insel Vuanu, die südlichste der Solomonen. Es war eine recht große vulkanische Insel, fast zwanzig Meilen lang und mehrere breit. Einst hatte es hier ein halbes Dutzend Eingeborenendörfer gegeben. Aber seit den Raubzügen der Piraten in den Jahren nach 1850 war die Bevölkerung geschrumpft. Dann löschte eine Massenepidemie fast alle aus, die noch übrig waren, und die Überlebenden wanderten nach New Georgia aus. Im Zweiten Weltkrieg hatte man einen Schiffsbeobachtungsposten auf der Insel stationiert, aber keine Schiffe waren hierher gekommen. Die japanische Invasion hatte Neuguinea und die oberen Salomonen überschwemmt und war dann weiter nach Mikronesien vorgedrungen. Am Ende des Krieges war Vuanu immer noch unbewohnt. Man machte kein Vogelschutzgebiet daraus wie aus der Kantonsinsel, keine Kabelstation wie die Weihnachtsinsel, kein Tanklager wie aus Cocos-Keeling. Es fand sich nicht einmal jemand, der auf der Insel Atombomben sprengen wollte. Vuanu war ein wertloses, feuchtes, von
Dschungel bedecktes Stück Land, das jedem, der er haben wollte, offenstand. William Sorensen, Generaldirektor einer Kette von Spirituosengeschäften in Kalifornien, beschloß, daß er die Insel haben wollte. Sorensens Hobby war die Schatzsuche. Er hatte in Lousiana und Texas nach Lafittes Schatz gesucht und nach der vergessenen Holländer-Mine in Arizona. Er hatte nichts davon gefunden. An der wrackreichen Golfküste hatte er mehr Glück gehabt. Und auf einer Expedition nach Dagger Cay in der Karibik hatte er zwei Handvoll spanische Münzen in einem verrotteten Leinensack gefunden. Die Münzen waren ungefähr dreitausend Dollar wert. Die Expedition hatte erheblich mehr gekostet, aber Sorensen fühlte sich dennoch mehr als entschädigt. Seit vielen Jahren hatte er sich schon für die spanische Schatz-Galeone Santa Teresa interessiert. Historische Quellen berichteten, daß das Schiff 1689, schwer beladen mit Goldbarren, von Manila losgesegelt war. Das schwerfällige Schiff war in einen Sturm geraten, nach Süden abgetrieben und gesunken. Achtzehn Überlebenden gelang es, den Schatz an Land zu bringen. Sie vergruben ihn und segelten mit der Pinasse des Schiffes zu den Philippinen. Zwei von ihnen waren noch am Leben, als das Boot Manila erreichte. Man vermutete, daß sich der Schatz auf einer der Salomonen befinden mußte. Aber auf welcher? Niemand wußte es. Schatzsucher fuhren nach Bougainville und Buka. Es ging das Gerücht, daß der Schatz sich auf Malaita befände, und sogar nach Ontong Java kam eine Expedition. Aber es wurde kein Schatz entdeckt. Sorensen, der sich ausführlich mit der Materie befaßt hatte, entschied, daß die Santa Teresa ganz zwischen den Salomonen hindurch gesegelt sein mußte, fast bis zu den Louisaden. Das Schiff konnte erst am Riff von Vuanu zerschellt sein. Die Suche nach dem Schatz wäre vielleicht nur ein Traum geblieben, wenn er nicht Dan Drake getroffen hätte. Drake war ebenfalls AmateurSchatzsucher. Und, was noch wichtiger war, er besaß eine siebzehn Meter lange Hanna-Ketsch.
Bei einem abenteuerlichen Drink wurde die Vuanu-Expedition geboren. Weitere Mitfahrer wurden ausgewählt. Man versetzte Drakes Ketsch in einen seetüchtigen Zustand, beschaffte Geld und Ausrüstung. Mehrere andere mögliche Schatzsucherziele im Südwestpazifik wurden ausfindig gemacht. Schließlich richtete man sich in der Urlaubsplanung aufeinander ein, und die Expedition machte sich auf den Weg. Sie hatten auf Vuanu bereits drei Monate Arbeit investiert. Ihre Moral war gut, trotz der unvermeidlichen Konflikte zwischen einzelnen Teilnehmern. Dieser Schoner, der Vorräte aus Sydney und Rabaul brachte, war für die nächsten sechs Monate die letzte Verbindung mit der Zivilisation. Während Sorensen nervös zuschaute, brachte die Besatzung des Schoners die Fracht ans Land. Er wollte nicht, daß von der Ausrüstung jetzt, nachdem sie teilweise sechstausend Meilen weit transportiert worden war, noch etwas beschädigt wurde. Ein Ersatz war nicht möglich; auf alles, was jetzt nicht zur Verfügung stand, würden sie ganz verzichten müssen. Er atmete erleichtert auf, als die letzte Kiste, die einen Metalldetektor enthielt, oberhalb der Hochwassermarke sicher am Strand abgestellt wurde. Etwas an dieser Kiste war nicht in Ordnung. Er betrachtete sie und entdeckte auf einer Seite ein Loch. Dan Drake, der mit Sorensen zusammen die Expedition leitete, kam hinzu und fragte: »Was ist los?« »Ein Loch in der Kiste«, sagte Sorensen. »Es könnte Salzwasser eingedrungen sein. Es wäre gar nicht gut, wenn dieser Detektor nicht funktioniert.« Drake nickte. »Wir schauen besser einmal nach.« Er war ein kleiner, tiefbrauner, breitschultriger Mann mit kurzem, schwarzem Haar und einem widerspenstigen Schnurrbart. Er trug eine alte, tief über die Augen heruntergezogene Seglermütze, die seinem Gesicht ein hartes, bulldoggenähnliches Aussehen gab. Er zog einen großen Schraubenzieher aus seinem Gürtel und schob ihn in den Spalt.
»Warte mal«, sagte Sorensen. »Laß sie uns erst zum Lager tragen. Es ist leichter die Kiste zu schleppen, als eine völlig eingefettete Maschine.« »Stimmt«, sagte Drake. »Nimm du das Ende.« Das Lager befand sich hundert Meter vom Strand entfernt auf einer Lichtung, auf dem Gelände eines ehemaligen Eingeborenendorfes. Es war ihnen gelungen, mehrere Hütten neu zu decken, und es gab einen alten Kopra-Schuppen mit einem Dach aus verzinktem Eisen, wo sie ihre Vorräte lagerten. Hinter der Lichtung ragte der graugrüne Dschungel empor wie eine feste Wand. Sorensen und Drake stellten die Kiste ab. Der Skipper, der ihnen mit den Zeitungen gefolgt war, warf einen Blick auf die primitiven Hütten und schüttelte den Kopf. »Möchten Sie etwas trinken, Skipper?« fragte Sorensen. »Eiswürfel haben wir allerdings keine.« »Ein Drink wäre nicht schlecht«, sagte der Skipper. Er fragte sich, was Menschen dazu trieb, an einem derartig gottverlassenen Ort nach imaginären spanischen Schätzen zu suchen. Sorensen ging in eine der Hütten und holte eine Scotchflasche und eine Blechtasse. Drake hatte seinen Schraubenzieher hervorgeholt und riß schwungvoll Bretter von der Kiste ab. »Wie sieht es aus?« fragte Sorensen. »Er ist okay«, sagte Drake, während er den Metalldetektor vorsichtig hochhob. »Gründlich eingefettet. Er scheint keinerlei Schaden davongetragen zu haben…« Er sprang zurück. Der Skipper hatte heftig mit dem Fuß aufgestampft. »Was ist los?« fragte Sorensen. »Es sah wie ein Skorpion aus«, sagte der Skipper. »Das verdammte Vieh kam geradewegs aus Ihrer Kiste gekrochen. Es hätte Sie stechen können.« Sorensen zuckte die Achseln. Er hatte sich während seines dreimonatigen Aufenthalts auf Vuanu an die Anwesenheit unzähliger Insekten gewöhnt. Ein Kerbtier mehr oder weniger schien da keinen Unterschied zu machen.
»Noch einen Drink?« fragte er. »Geht leider nicht«, sagte der Skipper bedauernd. »Ich muß aufbrechen. Alles wohlauf bei Ihnen?« »Alle sind gesund«, sagte Sorensen. Er lächelte. »Abgesehen von einigen schweren Fällen von Goldfieber.« »Sie werden hier niemals Gold finden«, sagte der Skipper ernsthaft. »Ich werde in ungefähr sechs Monaten wieder nach Ihnen sehen. Viel Glück.« Nachdem sie sich die Hände geschüttelt hatten, ging der Skipper zurück an Bord seines Schiffes. Als das erste rosige Glühen des Sonnenuntergangs den Himmel berührte, war der Schoner bereits unterwegs. Sorensen und Drake sahen zu, wie er die Durchfahrt passierte. Einige Minuten lang waren seine Masten über dem Riff sichtbar. Dann waren sie am Horizont verschwunden. »Das war’s«, sagte Drake. »Wir verrückten amerikanischen Schatzsucher sind wieder allein.« »Meinst du nicht, daß er Verdacht geschöpft hat?« fragte Sorensen. »Ganz bestimmt nicht. Er hält uns schlicht für verrückt.« Grinsend blickten sie zurück zum Lager. Unter dem Kopra-Schuppen befanden sich Gold- und Silberbarren im Wert von annähernd fünfzigtausend Dollar, im Dschungel aus- und hier sorgfältig wieder eingegraben. Während des ersten Monats auf der Insel hatten sie einen Teil des Santa Teresa-Schatzes entdeckt. Und allem Anschein nach, standen weitere Funde bevor. Da sie keinen gesetzlichen Anspruch auf die Insel besaß, war die Expedition nicht darauf erpicht, daß ihr Fund bekannt wurde. War das erst einmal geschehen, würde sich jeder goldgierige Vagabund zwischen Perth und Papeete nach Vuanu aufmachen. »Die Jungs werden bald zurückkommen«, sagte Drake. »Kümmern wir uns um das Abendessen.« »Genau«, sagte Sorensen. Er machte ein paar Schritte und blieb stehen. »Das ist komisch.« »Was?« »Dieser Skorpion, den der Skipper zertreten hat. Er ist weg.«
»Vielleicht hat er ihn nicht erwischt«, sagte Drake. »Oder er hat sich bloß in den Sand hineingedrückt. Was macht das schon aus?« »Nichts, nehme ich an«, sagte Sorensen.
II Edward Eakins spazierte mit einem langstieligen Spaten auf der Schulter durch den Dschungel und lutschte nachdenklich an einem Bonbon. Es war sein erstes seit Wochen, und er genoß es außerordentlich. Er war bei bester Laune. Der Schoner hatte gestern nicht nur Gerätschaften und Ersatzteile gebracht, sondern auch Süßigkeiten, Zigaretten und Lebensmittel. Eakins hatte an diesem Morgen Rührei gegessen und richtigen Speck. Die Expedition begann beinahe zivilisiert zu werden. Etwas raschelte neben ihm im Unterholz. Er ignorierte es und marschierte weiter. Er war ein schlanker Mann mit sandfarbenem Haar, liebenswürdig und schlaksig, mit blaßblauen Augen und einem nicht sehr einnehmenden Wesen. Er schätzte sich glücklich, daß man ihn auf diese Expedition mitgenommen hatte. Mit seiner Tankstelle war er weit weniger vermögend als die anderen Teilnehmer, und er hatte nicht den vollen Kapitalanteil aufbringen können. Er fühlte sich noch immer schuldig deswegen. Man hatte ihn akzeptiert, weil er ein eifriger und unermüdlicher Schatzsucher war und sich mit dem Dschungelleben gut auskannte. Zudem konnte er ausgezeichnet Funkgeräte bedienen und reparieren. Trotz Salzwasser und Schimmel war es ihm gelungen, den Sender auf der Ketsch funktionstüchtig zu halten. Jetzt konnte er natürlich seinen vollen Anteil bezahlen. Aber jetzt, wo sie alle reich waren, zählte das nicht mehr richtig. Er wünschte, es hätte einen anderen Weg gegeben, um… Da war wieder dieses Rascheln im Gebüsch. Eakins blieb stehen und wartete. Das Gebüsch bewegte sich, und heraus trat eine Maus.
Eakins war verblüfft. Die Mäuse auf dieser Insel fürchteten, wie die meisten Tiere, den Menschen. Obgleich sie von den Abfällen des Lagers lebten – von dem, was die Ratten übrig ließen –, mieden sie jeden Kontakt mit dem Menschen. »Du machst wohl besser, daß du nach Hause kommst«, sagte Eakins zu der Maus. Die Maus starrte ihn an. Er starrte zurück. Es war eine hübsche, kleine Maus, nicht länger als neun oder zehn Zentimeter, und mit einem gelblich braunen Fell. Sie schien keine Angst zu haben. »Tschüß Maus«, sagte Eakins. »Ich muß mich um meine Arbeit kümmern.« Er legte den Spaten auf die andere Schulter und wollte weitergehen. Als er sich umdrehte, bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie etwas Braunes auf ihn zuschoß. Instinktiv duckte er sich. Die Maus wirbelte an ihm vorbei, drehte sich um und duckte sich für einen neuen Sprung. »Du bist wohl nicht ganz bei Trost, Maus?« fragte Eakins. Die Maus bleckte ihre winzigen Zähne und sprang. Eakins schlug sie zur Seite. »Jetzt mach aber, daß du weiterkommst«, sagte er. Er fragte sich, ob das Nagetier verrückt geworden war. Hatte es vielleicht Tollwut? Die Maus duckte sich für einen weiteren Angriff. Eakins nahm seinen Spaten von der Schulter und wartete. Als die Maus sprang, verpaßte er ihr einen gut gezielten Hieb. Dann schlug er sie sorgfältig und mit Bedauern tot. »Ich kann hier ja schließlich keine tollwütigen Mäuse herumlaufen lassen«, sagte er. Aber die Maus hatte gar nicht tollwütig gewirkt; sie hatte lediglich sehr entschlossen gewirkt. Eakins kratzte sich am Kopf. Was war nur, fragte er sich, in diese kleine Maus gefahren? Am Abend im Lager erntete Eakins mit seiner Geschichte schallendes Gelächter. Das sah Eakins ganz ähnlich, sich von einer Maus attackieren zu lassen. Mehrere Männer schlugen vor, daß er von nun an nur noch bewaffnet in den Dschungel gehen sollte, falls die Familie der Maus auf Rache aus war. Eakins lächelte dümmlich.
Zwei Tage später waren Sorensen und Al Cable gerade dabei, einen arbeitsreichen Vormittag auf Gelände 4 zu beenden, zwei Meilen vom Lager entfernt. Der Metalldetektor hatte an dieser Stelle deutlich ausgeschlagen. Sie hatten über zwei Meter tief gegraben, aber außer einem hohen Haufen gelbbrauner Erde nichts zutage gefördert. »Mit diesem Detektor stimmt etwas nicht«, sagte Cable und wischte sich dabei erschöpft über das Gesicht. Er war ein dicker, rötlicher Mann. Er hatte auf Vuanu neun Kilo heruntergeschwitzt, litt unter schwerem Hitzschlag und war für den Rest seines Lebens von der Schatzsucherei bedient. Er wünschte, er wäre wieder zu Hause in Baltimore und könnte sich um seinen Gebrauchtwagenhandel kümmern. Er zögerte nicht, dies offen auszusprechen, oft und laut. Er war ein Expeditionsteilnehmer, der sich als keine gute Wahl herausgestellt hatte. »Mit dem Detektor ist alles in Ordnung«, sagte Sorensen. »Das Problem ist, daß wir in sumpfigem Boden graben. Der Schatz wird abgesackt sein.« »Er liegt vielleicht dreißig Meter tief«, sagte Cable, wobei er wütend mit dem Fuß in den zähen Morast stapfte. »No«, sagte Sorensen. »Unter uns befindet sich vulkanisches Gestein, in nicht mehr als sechs Meter Tiefe.« »Sechs Meter? Da brauchen wir eine Planierraupe.« »Könnte teuer werden, eine heranschaffen zu lassen«, sagte Sorensen sanft. »Komm, Al, gehn wir zurück zum Lager.« Sorensen half Al aus der Grube. Sie säuberten alle Werkzeuge und gingen auf den schmalen Pfad zu, der ins Lager führte. Sie blieben abrupt stehen. Ein großer, häßlicher Vogel war aus dem Dickicht aufgetaucht. Er stand auf dem Pfad und versperrte ihnen den Weg. »Was zum Teufel ist das denn?« fragte Cable. »Ein Kasuar«, sagte Sorensen. »Also, befördern wir ihn mit einem Tritt aus dem Weg.« »Sachte«, sagte Sorensen. »Wenn hier jemand tritt, dann der Vogel. Komm, wir gehen langsam rückwärts.«
Der Kasuar war fast einen Meter fünfzig groß, ein schwarz gefiederter, straußenähnlicher Vogel, der hochgereckt auf kräftigen Beinen stand. Seine Füße hatten drei Zehen, und die Zehen rundeten sich zu schweren Krallen. Der Kasuar hatte einen gelblichen, knochigen Kopf und kurze, nutzlose Flügel. An seinem Hals hing ein rot, grün und purpurn gefärbter Kehllappen. »Ist er gefährlich?« fragte Cable. Sorensen nickte. »Auf Neuguinea wurden schon Eingeborene von diesen Vögeln getötet.« »Warum ist uns bisher noch keiner begegnet?« fragte Cable. »Sie sind normalerweise sehr scheu«, sagte Sorensen. »Sie bleiben dem Menschen möglichst fern.« »Dieser hier ist aber gar nicht scheu«, sagte Cable, als der Kasuar einen Schritt näher kam. »Können wir weglaufen?« »Der Vogel rennt erheblich schneller«, sagte Sorensen. »Du hast nicht zufällig eine Waffe dabei?« »Natürlich nicht. Bislang gab es nichts zu schießen.« Sie wichen zurück und hielten dabei ihre Spaten wie Speere. Das Unterholz krachte, und ein Ameisenbär tauchte auf, gefolgt von einem Wildschwein. Die drei wilden Tiere näherten sich den Männern und drängten sie auf die dichte Wand des Dschungels zu. »Sie treiben uns«, sagte Cable mit schriller Stimme. »Nur die Ruhe«, sagte Sorensen. »Wir brauchen bloß auf den Kasuar achtzugeben.« »Sind Ameisenbären denn nicht gefährlich?« »Nur für Ameisen.« »Glaubst du«, sagte Cable. »Bill, die Tiere auf dieser Insel sind verrückt geworden. Erinnerst du dich an Eakins’ Maus?« »Ich erinnere mich«, sagte Sorensen. Sie hatten das andere Ende der Lichtung erreicht. Die wilden Tiere befanden sich vor ihnen, kamen, mit dem Kasuar in der Mitte, immer noch näher. Hinter den Männern lag der Dschungel – und das, wohin sie getrieben wurden, was auch immer es sein mochte.
»Wir müssen durchbrechen«, sagte Sorensen. »Der verdammte Vogel versperrt uns den Weg.« »Wir müssen ihn ausschalten«, sagte Sorensen. »Paß auf seine Füße auf. Los geht’s!« Sie rannten, ihre Spaten schwingend auf den Kasuar zu. Der Kasuar zögerte, konnte sich nicht für ein Ziel entscheiden. Dann wandte er sich Cable zu und trat mit dem rechten Bein aus. Der Schlag, der gar nicht voll getroffen hatte, klang wie ein auf ein Stück Fleisch niedersausendes Hackmesser. Cable grunzte und brach zusammen. Er umklammerte seine Rippen. Sorensen schlug zu, und mit der scharfen Kante seines Spatens trennte er dem Kasuar fast den Kopf vom Hals. Das Wildschwein und der Ameisenbär kamen jetzt auf ihn zu. Er schlug sie mit wirbelndem Spaten in die Flucht. Dann bückte er sich, und mit einer Kraft, von der er nicht geahnt hätte, daß er sie besaß, legte er sich Cable über die Schultern und rannte den Pfad hinunter. Nach vierhundert Metern mußte er völlig außer Atem anhalten. Hinter ihm war kein Laut zu hören. Die anderen Tiere folgten ihm offenbar nicht. Er kümmerte sich um den verletzten Mann. Cable hatte das Bewußtsein wiedererlangt. Auf Sorensen gestützt, konnte er gehen. Als sie das Lager erreichten, berief Sorensen sofort eine Versammlung ein. Er zählte die Männer, während Eakins Cable die Seite verband. Nur ein Mann fehlte. »Wo ist Drake?« fragte Sorensen. »Er ist zum Fischen auf der anderen Seite der Insel, am Nordstrand«, sagte Tom Recetich. »Soll ich ihn holen?« Sorensen zögerte. Schließlich sagte er: »Nein. Ich erkläre besser erst, womit wir es zu tun haben. Dann werden wir Gewehre ausgeben. Dann werden wir versuchen, Drake zu finden.« »Mann, was ist denn los?« fragte Recetich. Sorensen erklärte, was bei Gelände 4 geschehen war. Das Fischen spielte für die Verpflegung der Expedition eine wichtige Rolle, und es gab keine Arbeit, die Drake besser gefiel. Zuerst war er mit Taucherbrille und Harpune losgeschwommen. Aber in diesem Teil der
Welt waren die Haie zahlreich, hungrig und aggressiv. Also hatte er das Tauchen bedauernd aufgegeben und warf statt dessen auf der Leeseite der Insel Angeln aus. Die Angeln waren jetzt ausgeworfen. Drake saß im Schatten einer Palme und döste, die kräftigen Unterarme vor der Brust verschränkt. Sein Hund Oro suchte am Ufer nach Einsiedlerkrebsen. Oro war eine gutmütige Promenadenmischung, teils Airedale, teils Terrier, teils undefinierbar. Er knurrte jetzt plötzlich. »Laß die Krebse in Ruhe«, rief Drake. »Du wirst bloß wieder gekniffen.« Oro knurrte immer noch. Drake rollte sich auf die Seite und sah, daß der Hund steifbeinig über einem großen Insekt stand. Es sah so ähnlich wie ein Skorpion aus. »Oro, laß diesen verdammten…« Ehe Drake sich rühren konnte, sprang das Insekt. Es landete auf Oros Nacken und der gelenkige Schwanz zuckte vor. Oro jaulte kurz auf. Drake war sofort auf den Füßen. Er schlug nach dem Insekt, aber es sprang vom Nacken des Hundes herab und huschte davon. »Ruhig, alter Junge«, sagte Drake. »Die Wunde sieht übel aus. Könnte vergiftet sein. Ich schneide sie besser auf.« Er hielt den keuchenden Hund fest und zog sein Bootsmesser. Er hatte dem Hund in Mittelamerika einen Schlangenbiß aufgeschnitten, und in den Adirondacks hatte er ihn festgehalten und ihm mit der Zange Stachelschweinstacheln aus der Schnauze gezogen. Der Hund hatte immer gespürt, daß ihm geholfen wurde. Er hatte sich nie gewehrt. Diesmal jedoch schnappte der Hund zu. »Oro!« Drake packte den Hund mit der freien Hand bei den Kiefergelenken. Er drückte zu, lähmte die Muskeln und zwang den Hund so, das Maul zu öffnen. Er zog seine Hand heraus und schleuderte Oro weg. Der Hund rollte sich auf die Füße und griff ihn an. »Platz!« rief Drake. Der Hund gehorchte nicht und verstellte Drake den Weg zum Meer.
Drake drehte sich um und sah, wie das Insekt aus dem Dschungel auftauchte und auf ihn zukroch. Sein Hund versuchte, Drake auf das Insekt zuzutreiben. Drake begriff nicht, was da vor sich ging, und er beschloß, lieber nicht zu versuchen, es herauszufinden. Er hob sein Messer auf und warf damit nach dem Insekt. Er verfehlte es. Das Insekt war fast in Sprungweite. Drake rannte zum Meer. Als Oro ihn aufzuhalten versuchte, stieß er den Hund mit einem Fußtritt aus dem Weg und sprang ins Wasser. Er begann, um die Insel herum zum Lager zu schwimmen, und hoffte, daß er es schaffte, ehe die Haie ihn erwischten.
III Im Lager wurden Gewehre und Revolver verteilt. Man packte Feldstecher aus, versorgte sich mit Patronen, Messern, Macheten und Beilen. Die beiden Walkie-talkies der Expedition wurden ausgepackt, und die Männer bereiteten sich auf die Suche nach Drake vor. Dann sahen sie ihn. Er schwamm mit kräftigen Zügen um den Rand der Insel herum. Er watete an Land, erschöpft, aber unverletzt. Er und die anderen tauschten ihre Informationen aus und kamen zu einigen unerfreulichen Schlüssen. »Willst du etwa behaupten«, verlangte Cable zu wissen, »daß ein Insekt für das alles verantwortlich ist?« »Es sieht so aus«, sagte Sorensen. »Wir müssen annehmen, daß es in der Lage ist, eine Art Gedankenkontrolle auszuüben. Vielleicht durch Hypnose oder Telepathie.« »Es muß erst stechen«, sagte Drake. »So wie bei Oro.« »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß ein Skorpion solche Dinge tun kann«, sagte Recetich. »Es ist kein Skorpion«, sagte Drake. »Ich habe es aus der Nähe gesehen. Es hat einen Schwanz wie ein Skorpion, aber sein Kopf ist beinahe viermal größer, und sein Körper ist anders. Ich habe etwas Derartiges noch nie gesehen.«
»Glaubst du, daß es auf dieser Insel heimisch ist?« fragte Monty Byrnes. »Das bezweifle ich«, sagte Drake. »Wenn es von hier stammt, wieso hat es uns und die Tiere dann in den ersten drei Monaten in Ruhe gelassen?« »Das stimmt«, sagte Sorensen. »Unsere Schwierigkeiten begannen nach der Ankunft des Schoners. Der Schoner muß es von irgendwoher mitgebracht haben… Heh!« »Was ist?« fragte Drake. »Erinnerst du dich noch an den Skorpion, den der Skipper zu zertreten versuchte? Er kam aus der Detektorkiste. Glaubst du, es könnte dieser Skorpion sein?« Drake zuckte die Achseln. »Möglich. Woher das Insekt kommt, scheint mir im Moment weniger wichtig zu sein. Entscheidend ist, was wir gegen es unternehmen.« »Wenn es die Tiere kontrollieren kann«, sagte Byrnes, »dann frage ich mich, ob es nicht auch Menschen unter seine Kontrolle bringen kann?« Sie schwiegen alle. Sie bildeten einen Kreis in der Nähe des KopraSchuppens, und während sie redeten, hielten sie Ausschau nach Insekten oder anderen Tieren. Sorensen sagte: »Wir sollten besser über Funk Hilfe holen.« »Wenn wir das tun«, sagte Recetich, »wird bekannt werden, daß wir den Santa Teresa-Schatz gefunden haben. Es würde hier sofort von Leuten wimmeln.« »Schon möglich«, sagte Sorensen. »Aber auch im schlimmsten Fall sind unsere Unkosten gedeckt. Wir haben sogar noch einen kleinen Profit gemacht.« »Und ohne fremde Hilfe«, sagte Drake, »sind wir vielleicht bald unfähig, die Insel überhaupt noch zu verlassen.« »So schlimm ist es auch wieder nicht«, sagte Byrnes. »Wir haben Waffen. Wir können mit den Tieren fertig werden.« »Du hast das Insekt noch nicht gesehen«, sagte Drake. »Wir werden es zerquetschen.«
»Das wird nicht so leicht sein«, sagte Drake. »Es ist verflucht schnell. Und wie willst du es zerquetschen, wenn es nachts in deine Hütte kommt, während du schläfst? Wir könnten Wachen aufstellen, und sie würden das Viech gar nicht bemerken.« Byrnes schauderte unwillkürlich. »Ja, du hast wohl recht. Vielleicht sollten wir doch besser über Funk Hilfe holen.« Eakins stand auf. »Nun, Leute«, sagte er, »da bin ich wohl gemeint. Ich hoffe bloß, daß die Batterien auf der Ketsch noch nicht leer sind.« »Es ist gefährlich, dorthin zu gehen«, sagte Drake. »Wir werden das Los entscheiden lassen.« Eakins war amüsiert. »Werden wir das? Wer von euch kann einen Sender bedienen?« Drake sagte: »Ich kann es.« »Nimm’s mir nicht übel«, sagte Eakins, »aber viel Ahnung hast du davon nicht gerade. Du kennst nicht mal das Morsealphabet. Und kannst du das Gerät reparieren, wenn es streikt?« »Nein«, sagte Drake. »Aber die ganze Sache ist zu riskant. Wir sollten alle zusammen gehen.« Eakins schüttelte den Kopf. »Am sichersten ist es, wenn ihr mir vom Ufer aus Deckung gebt. Dieses Insekt hat vielleicht noch nicht an die Ketsch gedacht.« Eakins steckte sich ein Werkzeugset in die Tasche und hängte sich eines der Walkie-talkies über die Schulter. Er gab Sorensen das andere. Er eilte zum Strand hinunter und schob das kleine Beiboot ins Wasser. Die Männer der Expedition verteilten sich mit schußbereiten Gewehren am Ufer. Eakins stieg in das Beiboot und ruderte über die stille Lagune. Sie sahen, wie er an der Ketsch festmachte und einen Moment innehielt, um sich umzusehen. Dann kletterte er an Bord. Rasch öffnete er die Kajütentür und ging hinein. »Alles in Ordnung?« fragte Sorensen. »Bis jetzt ja«, sagte Eakins. Über das Walkie-talkie klang seine Stimme dünn und hart. »Ich bin jetzt beim Funkgerät und schalte es ein. Es braucht ein paar Minuten, um warm zu werden.«
Drake gab Sorensen einen Rippenstoß. »Schau mal dort drüben.« Auf dem Riff, fast hinter der Ketsch verborgen, bewegte sich etwas. Sorensen benutzte seinen Feldstecher und sah, daß drei große, graue Ratten ins Wasser glitten. Sie schwammen auf die Ketsch zu. »Schießt!« sagte Sorensen. »Eakins, komm raus, schnell!« »Der Sender läuft«, sagte Eakins. »Ich brauche nur noch ein paar Minuten, um eine Nachricht durchzugeben.« Rings um die Ratten peitschten Kugeln übers Wasser. Eine wurde getroffen; den anderen beiden gelang es, hinter der Ketsch Deckung zu finden. Mit dem Feldstecher sah Sorensen, wie ein Ameisenbär das Riff überquerte und ins Wasser sprang. Ein Wildschwein folgte ihm. Im Walkie-talkie war ein statisches Knistern zu hören. Sorensen sagte: »Eakins, ist die Nachricht gesendet?« »Noch nicht«, antwortete Eakins. »Hör zu, Bill. Wir dürfen keine Nachricht senden! Dieses Insekt will…« Er brach abrupt ab. »Was ist los?« fragte Sorensen. »Was hast du?« Eakins war an Deck aufgetaucht, immer noch das Walkie-talkie haltend. Er wich zurück zum Schiffsheck. »Einsiedlerkrebse«, sagte er. »Sie sind am Ankertau hochgeklettert. Ich schwimme jetzt an Land.« »Tu das nicht«, sagte Sorensen. »Ich muß es tun«, sagte Eakins. »Sie werden mir wahrscheinlich folgen. Und ihr kommt in der Zeit her und holt den Sender. Bringt ihn an Land.« Durch seinen Feldstecher sah Sorensen einen geschlossenen, grauen Teppich aus Einsiedlerkrebsen über das Deck und die Bordwand der Ketsch kriechen. Eakins sprang ins Wasser. Er schwamm wild auf den Strand zu, und Sorensen sah, wie die Ratten kehrt machten und ihm folgten. Die Einsiedlerkrebse schwärmten ins Wasser, und das Wildschwein und der Ameisenbär paddelten hinter Eakins her, versuchten ihn einzuholen, ehe er das Ufer erreichte. »Kommt«, sagte Sorensen. »Ich weiß nicht, was Eakins vorhat, aber wir holen den Sender besser, solange wir Gelegenheit dazu haben.«
Sie rannten ans Ufer und schoben das zweite Boot ins Wasser. Zweihundert Meter weit weg, hatte Eakins inzwischen das andere Ende des Strandes erreicht. Die Tiere waren ihm dicht auf den Fersen. Das Walkie-talkie immer noch umklammernd rannte er in den Dschungel. »Eakins?« sprach Sorensen in das Walkie-talkie. »Ich bin okay«, sagte Eakins atemlos. »Holt den Sender, und vergeßt die Batterie nicht!« Die Männer kletterten an Bord der Ketsch. Hastig montierten sie das Funkgerät ab und schleppten es aus der Kajüte. Drake kam als letzter. Er trug eine Zwölf-Volt-Batterie. Er ging erneut hinunter und brachte eine zweite Batterie herauf. Er zögerte einen Moment und ging dann ein drittes Mal hinunter. »Drake!« rief Sorensen. »Halt uns doch nicht so lange auf!« Drake kam herbei. Er trug die beiden Funkpeiler und den Kompaß. Er reichte sie hinunter und sprang ins Boot. »Okay«, sagte er. »Los geht’s.« Sie ruderte zum Ufer. Sorensen versuchte, Eakins über das Walkietalkie zu erreichen, aber er hörte nur ein statisches Rauschen. Dann, als das Boot das Ufer erreichte, hörte er Eakins’ Stimme. »Ich bin umzingelt«, sagte er, sehr leise. »Ich werde wohl oder übel abwarten müssen, was unser Mister Skorpion will. Vielleicht kann ich ihn aber auch vorher zertreten.« Dann folgte ein langes Schweigen. Schließlich sagte Eakins: »Das Insekt kommt jetzt auf mich zu. Drake hatte recht. So ein Viech habe ich noch nie gesehen. Ich werde ihm einen Tritt verpassen, der…« Sie hörten ihn schreien, eher überrascht als vor Schmerz. Sorensen sagte: »Eakins, hörst du mich? Wo bist du? Sei vorsichtig, das Insekt ist sehr schnell!« »Es ist in der Tat schnell«, sagte Eakins, nun wieder im Plauderton. »Das schnellste verdammte Insekt, das ich je. gesehen habe. Es sprang auf meinen Nacken, stach mich und sprang wieder hinunter.« »Wie fühlst du dich?« fragte Sorensen. »Bestens«, sagte Eakins. »Ich habe den Stich kaum gespürt.«
»Wo ist das Insekt jetzt?« »Wieder im Dschungel verschwunden.« »Und die Tiere?« »Sie sind weggegangen. Weißt du«, sagte Eakins, »vielleicht funktioniert diese Sache bei Menschen nicht. Vielleicht…« »Was?« fragte Sorensen. »Was geschieht jetzt?« Lange herrschte Schweigen. Dann ertönte Eakins’ Stimme tief und ruhig aus dem Walkie-talkie. »Wir werden später wieder mit euch sprechen«, sagte Eakins. »Wir müssen uns jetzt beraten und entscheiden, was mit euch zu geschehen hat.« »Eakins!« Das Walkie-talkie schwieg.
IV In sehr niedergeschlagener Stimmung kehrten die Männer zum Lager zurück. Sie begriffen nicht, was mit Eakins geschehen war, und sie wagten gar nicht, es sich auszumalen. Die heiße Nachmittagssonne brannte, und der weiße Sand reflektierte die Hitze. Der feuchte Dschungel dampfte und schien auf das Lager zuzukriechen wie ein riesiger, schläfriger grüner Drache. Die Gewehrläufe wurden zu heiß, um sie zu berühren, und das Wasser in den Feldflaschen war warm wie Blut. Am Himmel türmten sich dicke, graue Cumuluswolken auf; die Monsunzeit begann. Drake saß im Schatten des Kopra-Schuppens. Er schüttelte seine Lethargie lange genug ab, um sich Gedanken über die Verteidigung des Lagers zu machen. Den es umgebenden Dschungel sah er als feindliches Territorium an. Davor befand sich ein knapp fünfzig Meter breites Gelände, das sie gerodet hatten. Dieses Niemandsland ließ sich vielleicht für eine Weile verteidigen. Dann kamen die Hütten und die Kopraschuppen, ihre letzte Verteidigungslinie, hinter der sich der Strand und das Meer befanden.
Die Expedition hatte diese Insel für über drei Monate völlig kontrolliert. Und nun waren sie zwischen Meer und Dschungel eingeschlossen. Drake blickte hinunter zur Lagune und erinnerte sich, daß immer noch eine Rückzugsmöglichkeit offenstand. Wenn das Insekt und seine verdammte Menagerie ihnen zu hart zusetzte, konnten sie immer noch mit der Ketsch entkommen. Mit etwas Glück. Sorensen kam herüber und setzte sich neben ihn. »Was tust du?« fragte er. Drake grinste säuerlich. »Ich schmiede Pläne für unsere geniale Verteidigung.« »Und wie sehen die aus?« »Ich denke, wir können uns hier halten«, sagte Drake. »Wir haben eine Menge Munition. Wenn nötig, können wir auf der Rodung mit Benzin Feuer legen, und ihnen so den Weg abschneiden. Wir werden uns jedenfalls nicht von diesem Insekt von der Insel werfen lassen.« Er dachte einen Augenblick nach. »Aber es wird verdammt schwierig werden, nach weiteren Schatzkisten zu graben.« Sorensen nickte. »Ich frage mich, was dieses Insekt wohl will?« »Vielleicht erfahren wir das von Eakins«, sagte Drake. Sie mußten eine halbe Stunde warten. Dann ertönte Eakins’ Stimme schrill und hart aus dem Walkie-talkie. »Sorensen? Drake?« »Hier sind wir«, sagte Drake. »Was hat dieses verdammte Insekt mir dir angestellt?« »Nichts«, sagte Eakins. »Ihr sprecht jetzt mit diesem Insekt. Ich bin der Quedak.« »Mein Gott«, sagte Drake zu Sorensen, »dieses Insekt muß ihn hypnotisiert haben!« »Nein. Ihr sprecht nicht mit einem hypnotisierten Eakins. Und ihr sprecht auch nicht mit einem Geschöpf, das einfach Eakins als Sprachrohr benutzt. Und ihr sprecht auch nicht mit dem Eakins, wie er war. Ihr sprecht zu vielen Individuen, die alle vereint sind.« »Das kapiere ich nicht so ganz«, sagte Drake.
»Es ist sehr einfach«, erwiderte Eakins’ Stimme. »Ich bin der Quedak, die Gesamtheit. Aber meine Gesamtheit setzt sich aus einzelnen Teilen zusammen. Bei diesen Teilen handelt es sich um Eakins, mehrere Ratten, einen Hund namens Oro, ein Schwein, einen Ameisenbär, einen Kasuar…« »Moment«, sagte Sorensen. »Damit wir uns richtig verstehen. Ich spreche also nicht mit Eakins, sondern mit dem – dem Quedak?« »So ist es.« »Und du kontrollierst Eakins und die anderen? Du sprichst durch Eakins’ Mund?« »Auch zutreffend. Aber das bedeutet nicht, daß die Persönlichkeiten der anderen ausgelöscht werden. Ganz im Gegenteil, der Quedak-Staat ist eine Föderation, in der die einzelnen Mitglieder ihre Neigungen, ihre individuellen Bedürfnisse und Wünsche bewahren. Sie bringen ihr Wissen und ihre spezielle Sicht der Umwelt ein, und ich fungiere als Kommandozentrale. Aber die individuellen Teile steuern ihr Wissen, ihre Einsichten, ihre besonderen Fähigkeiten bei. Und gemeinsam bilden wir die Große Kooperative.« »Kooperative?« sagte Drake. »Du hast sie doch gewaltsam unter deine Kontrolle gebracht!« »Das war notwendig, am Anfang. Wie hätten sonst andere Geschöpfe etwas von der Großen Kooperative erfahren sollen?« »Würden sie bei dir bleiben, wenn du deine Kontrolle über sie aufgibst?« fragte Drake. »Das ist eine sinnlose Frage. Wir bilden jetzt ein einziges, unteilbares Wesen. Würde dein Arm zu dir zurückkehren, wenn du ihn abschlägst?« »Das ist nicht dasselbe.« »Doch, das ist es«, sagte Eakins. »Wir sind ein einziger Organismus. Wir werden weiter wachsen. Und wir heißen euch von ganzem Herzen in der Großen Kooperative willkommen.« »Zur Hölle damit«, sagte Drake. »Aber ihr müßt zu uns kommen«, sagte der Quedak zu ihnen. »Die Quedak-Mission besteht darin, alle denkenden Geschöpfe zu einem einzigen Kollektiv-Organismus zu koordinieren. Glaubt mir, die Individuali-
tät, die ihr so hoch einschätzt, ist ein ziemlich unbedeutender Verlust. Und für diesen Verlust werdet ihr reich belohnt! Ihr lernt die Denkweise und das Wissen aller anderen Geschöpfe kennen. Innerhalb des QuedakSystems könnt ihr eure Fähigkeiten voll entfalten…« »Nein!« »Tut mir leid«, sagte der Quedak. »Die Quedak-Mission muß erfüllt werden. Ihr wollt nicht freiwillig zu uns kommen?« »Niemals«, sagte Drake. »Dann kommen wir zu euch«, sagte der Quedak. Es knackte, als er sein Walkie-talkie abschaltete. Am Rand des Dschungels erschienen mehrere Ratten. Sie zögerten, gerade außerhalb der Schußweite der Gewehre. Ein Paradiesvogel kreiste über dem gerodeten Gelände wie ein Aufklärungsflugzeug. Während die Männer zusahen, begannen die Ratten, im Zickzack vorwärts zu rennen. »Schießt!« rief Drake. »Aber geht sparsam mit der Munition um.« Die Männer feuerten. Aber es war schwierig, die flinken Ratten auf dem graubraunen Boden der Lichtung auszumachen. Und fast augenblicklich schlossen sich ein Dutzend Einsiedlerkrebse den Ratten an. Sie hatten die unerfreuliche Fähigkeit, sich zu bewegen, wenn sie gerade niemand beobachtete, um dann auf dem unübersichtlichen Boden wieder zu erstarren. Sie sahen, wie Eakins am Rand des Dschungels auftauchte. Byrnes hob sein Gewehr. Sorensen stieß ihm den Gewehrlauf in zur Seite. »Nicht schießen.« »Aber er hilft diesem Insekt!« »Er kann nicht anders«, sagte Sorensen. »Und er ist unbewaffnet. Also laßt ihn in Ruhe.« Eakins beobachtete sie einen Augenblick und verschwand wieder im Dickicht. Die angreifenden Ratten und Krabben drangen bis zur Hälfte der gerodeten Fläche vor. Dann, als sie näher kamen, konnten die Männer sorgfältiger zielen. Kein Tier kam näher als zwanzig Meter ans Lager
heran. Und als Recetich den Paradiesvogel abschoß, hörte der Angriff auf. »Wißt ihr«, sagte Drake. »Ich glaube, wir schaffen es.« »Möglich«, sagte Sorensen. »Ich verstehe nicht, was der Quedak beabsichtig. Er weiß, daß er uns so nicht besiegen kann. Ich denke…« »Heh!« rief einer der Männer. »Unser Schiff!« Sie drehten sich um und sahen, warum der Quedak den Angriff befohlen hatte. Er hatte als Ablenkungsmanöver gedient. Drakes Hund war in dieser Zeit zur Ketsch geschwommen und hatte das Ankertau durchgenagt. Die Ketsch trieb steuerlos langsam auf das Riff zu. Sie sahen sie sanft, dann heftiger dagegen prallen. Einen Augenblick später hatte sie sich auf die Seite gelegt und saß auf den Korallen fest. Im Walkie-talkie ertönte ein statisches Knistern. Sorensen hielt es hoch, und der Quedak sagte: »Die Ketsch ist nicht ernstlich beschädigt. Sie sitzt nur fest.« »Unsinn«, knurrte Drake. »Sie hat garantiert ein hübsches Loch im Rumpf. Wie willst du denn jetzt von der Insel kommen, Quedak? Oder willst du etwa hier bleiben?« »Ich werde die Insel zu gegebener Zeit verlassen«, sagte der Quedak. »Ich will sichergehen, daß wir sie alle gemeinsam verlassen.«
V Der Wind flaute ab. Gewaltige graue Gewitterwolken türmten sich am südöstlichen Himmel auf. Ihre schwarzen, amboßförmigen Unterseiten drückten die heiße, unbewegte Luft auf die Insel hinab. Die Sonne hatte ihre bohrende Helligkeit verloren. Kirschrot sank sie teilnahmslos zum ruhigen Meer hinab. Hoch über ihren Köpfen kreiste ein einzelner Paradiesvogel, gerade außer Schußweite. Fünfzehn Minuten nachdem Recetich den ersten abgeschossen hatte, war er aufgestiegen. Monty Byrnes stand mit schußbereitem Gewehr am Rand des gerodeten Geländes. Er war für die erste Wache ausgelost worden. Die übrigen
Männer nahmen im Kopra-Schuppen ein hastiges Abendessen ein. Sorensen und Drake waren draußen und erörterten die Lage. Drake sagte: »Bei Anbruch der Dunkelheit müssen alle in den Schuppen. Der Quedak könnte ihnen im Dunkel auflauern.« Sorensen nickte. Er schien an einem einzigen Tag um zehn Jahre gealtert zu sein. »Morgen früh«, sagte Drake, »können wir dann etwas unternehmen. Wir werden… Was ist los, Bill?« »Glaubst du wirklich, daß wir eine Chance haben?« fragte Sorensen. »Klar. Unsere Chancen stehen verdammt gut.« »Sei realistisch«, sagte Sorensen. »Je länger die ganze Sache dauert, desto mehr Tiere kann der Quedak gegen uns einsetzen. Was können wir dagegen tun?« »Ihn aufspüren und töten.« »Das verdammte Ding ist ungefähr so groß wie dein Daumen«, sagte Sorensen ärgerlich. »Wie können wir ihn aufspüren?« »Wir werden uns etwas einfallen lassen«, sagte Drake. Er fing an, sich wegen Sorensen Sorgen zu machen. Die Moral der Männer war schon schlecht genug, auch ohne daß Sorensen sie noch weiter entmutigte. »Ich wünschte, jemand würde den verdammten Vogel abschießen«, sagte Sorensen und schaute nach oben. Ungefähr alle fünfzehn Minuten stieß der Paradiesvogel hinab, um einen genaueren Blick auf das Lager zu werfen. Dann, ehe die Wache eine Gelegenheit zum Schuß hatte, schwang er sich wieder in eine sichere Höhe empor. »Er geht mir auch auf die Nerven«, sagte Drake. »Vielleicht soll er genau das bewirken. Wir werden…« Er verstummte plötzlich. Aus dem Kopra-Schuppen hörte er das laute Rauschen eines Funkgerätes. Und er hörte, wie Al Cable sagte: »Hallo, hallo, hier spricht Vuanu. Wir brauchen Hilfe.« Drake und Sorensen gingen in den Schuppen. Cable saß vor dem Sender und sagte gerade ins Mikrofon: »Notruf, Notruf, hier ist Vuanu, wir brauchen…«
»Was zum Teufel tust du da?« schnauzte Drake. Cable drehte sich um und sah ihn an. Sein rötliches Gesicht war schweißüberströmt. »Ich rufe über Funk Hilfe herbei, das siehst du doch. Ich habe, glaube ich, jemanden erreicht. Aber sie haben mir noch nicht geantwortet.« Er drehte am Senderknopf. Über den Empfänger konnte er eine gelangweilte englische Stimme sagen hören: »Bauer auf d4, wie? Warum versuchen Sie nicht einmal eine andere Eröffnung?« Ein lautes statisches Knistern ertönte. »Machen Sie Ihren Zug«, antwortete eine tiefe Baßstimme. »Reden Sie nicht, machen Sie Ihren Zug.« »Klar«, sagte die britische Stimme. »Springer auf c6.« Drake erkannte die Stimmen. Es waren zwei Amateurfunker. Der eine besaß eine Plantage auf Bogainville, der andere einen Laden in Rabaul. Jeden Abend spielten sie eine Stunde über Funk Schach und tauschten Neuigkeiten aus. Cable pochte ungeduldig gegen das Mikrofon. »Hallo«, sagte er, »hier ist Vuanu, Notruf…« Drake ging zu ihm und nahm ihm das Mikrofon aus der Hand. Er legte es behutsam hin. »Wir können keine Hilfe herbeiholen«, sagte er. »Was redest du da?« rief Cable. »Wir müssen!« Drake fühlte sich sehr müde. »Sieh mal, wenn wir einen Notruf senden, wird rasch ein Schiff herkommen. Aber sie sind nicht auf die Gefahr hier vorbereitet. Der Quedak würde sie übernehmen und sie gegen uns einsetzen.« »Wir können sie vor ihm warnen«, sagte Cable. »Sie warnen? Wovor? Daß ein Insekt die Insel unter Kontrolle hat? Sie werden glauben, daß wir uns im Fieberwahn befinden. Sie werden uns auf dem Inselschoner einen Doktor schicken.« »Dan hat recht«, sagte Sorensen. »Niemand, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat, würde uns das glauben.«
»Und dann«, sagte Drake, »wäre es bereits zu spät. Eakins war bereits dahintergekommen, ehe der Quedak ihn erwischte. Deshalb sagte er, wir dürften keine Nachricht senden.« Cable blickte skeptisch. »Aber warum wollte er, daß wir den Sender holten?« »Damit er keine Nachricht absenden konnte, nachdem der Quedak ihn übernommen hatte«, sagte Drake. »Je mehr Leute hier herumspazieren, desto leichter wird es für den Quedak. Wenn er im Besitz des Senders wäre, würde er jetzt sofort Hilfe herbeirufen.« »Ja, das stimmt wohl«, sagte Cable unglücklich. »Aber, verdammt, wir können nicht allein damit fertig werden.« »Das müssen wir. Wenn der Quedak uns besiegt und die Insel verlassen kann, ist es um die Erde geschehen. Finito. Es würde keinen großen Krieg geben, keine Wasserstoffbomben, keinen Fallout, keine heroischen Widerstandskämpfer. Alle würden ein Teil der Großen Kooperative werden.« »Wir müssen irgendwie Hilfe erhalten«, sagte Cable störrisch. »Wir sind allein, isoliert. Wir könnten ein Schiff bitten, in der Nähe der Küste zu bleiben…« »Das würde nicht gehen«, sagte Drake. »Außerdem könnten wir gar keine Hilfe herbeirufen, auch wenn wir das wollten.« »Warum nicht?« »Weil der Sender nicht funktioniert«, sagte Drake. »Du hast in ein totes Mikrofon gesprochen.« »Der Empfang ist okay«, sagte Cable. Drake überprüfte, ob alle Schalter betätigt waren. »Mit dem Empfänger ist alles in Ordnung. Aber als wir den Sender aus dem Schiff geholt haben, muß etwas kaputtgegangen sein. Er arbeitet nicht.« Cable klopfte mehrmals gegen das tote Mikrofon und legte es dann hin. Sie standen um den Empfänger herum und hörten dem Schachspiel zwischen dem Mann in Rabaul und dem Mann in Bougainville zu. »Bauer auf c4.« »Bauer auf e6.«
»Springer auf c3.« Plötzlich ertönte ein abgehacktes statisches Knistern. Es ließ nach, dann folgten wieder dreimal hintereinander ein Knistern. »Was mag das sein?« fragte Sorensen. Drake zuckte die Achseln. »Alles mögliche. Ein heranziehender Gewittersturm oder…« Er verstummte. Er hatte an der Tür des Schuppens gestanden. Als das statische Knistern ertönte, stieß der Paradiesvogel gerade zu einem genaueren Blick auf das Lager hinab. Das Knistern hörte auf, als der Vogel auf seine normale Flughöhe, wo er langsam Kreise zog, zurückkehrte. »Das ist seltsam«, sagte Drake. »Hast du das gesehen, Bill? Der Vogel kam herunter, und gleichzeitig war das statische Knistern zu hören.« »Ich habe es gesehen«, sagte Sorensen. »Glaubst du, das hat etwas zu bedeuten?« »Ich weiß es nicht. Mal sehen.« Drake holte seinen Feldstecher hervor. Er drehte den Empfänger auf volle Lautstärke und ging nach draußen, um den Dschungel beobachten zu können. Er wartete und konnte dabei über Funk den Verlauf des Schachspiels in drei- oder vierhundert Meilen Entfernung verfolgen. »Nun ziehen Sie schon endlich.« »Geben Sie mir noch eine Minute.« »Eine Minute? Hören Sie mal, ich kann nicht die ganze Nacht vor diesem verdammten Funkgerät stehen. Machen Sie Ihren…« Heftiges statisches Knistern folgte. Drake sah, wie vier Wildschweine langsam aus dem Dschungel trotteten, wie ein Spähtrupp, der Schwachstellen in der feindlichen Stellung auskundschaften soll. Sie blieben stehen; das Knistern hörte auf. Byrnes, der mit dem Gewehr Wache hielt, feuerte einen Warnschuß ab. Die Schweine machten kehrt, und es knisterte im Empfänger, als sie zurück in den Dschungel liefen. Ein weiteres Knistern war zu hören, als der Paradiesvogel wieder einmal herabstieß, um dann wieder auf sichere Höhe zu verschwinden. Danach hörte das Knistern auf. Drake nahm den Feldstecher von den Augen und ging zurück in den Schuppen. »Das muß es sein«, sagte er. »Der Quedak verursacht das sta-
tische Knistern. Ich glaube, es entsteht immer dann, wenn er den Tieren Befehle gibt.« »Du meinst, er steuert sie sozusagen über Funk fern?« fragte Sorensen. »Anscheinend«, sagte Drake. »Entweder Fernsteuerung oder etwas anderes, das über Radiowellen übermittelt wird.« »Wenn das zutrifft«, sagte Sorensen, »dann ist er eine Art kleiner Funksender, nicht wahr?« »Ganz genau. Also?« »Dann sollten wir in der Lage sein, ihn mit einem Funkpeiler aufzuspüren.« Drake nickte mit Bestimmtheit. Er schaltete den Empfänger aus, ging in eine Ecke des Schuppens und holte einen ihrer tragbaren Funkpeiler hervor. Er stellte ihn auf die Frequenz ein, auf der sie das Gespräch zwischen Rabaul und Bougainville empfangen hatten. Dann schaltete er ihn ein und ging zur Tür. Die Männer beobachteten, wie Drake die Rahmenantenne drehte. Er fand das stärkste Signal, drehte die Antenne langsam, las die Peilung ab und stellte die Kompaßrichtung fest. Dann betrachtete er eine kleinmaßstabige Karte des Südwestpazifiks. »Und«, fragte Sorensen, »ist es der Quedak?« »Er muß es sein«, sagte Drake. »Die Peilung ergab, daß der Sender sich fast genau in südlicher Richtung befindet. Das ist geradewegs im Dschungel.« »Bist du sicher, daß es keine reziproke Peilung ist?« »Das habe ich geprüft.« »Könnte das Signal nicht auch von einer anderen Station stammen?« »Nein. Die nächste Station in südlicher Richtung ist Sydney, und das ist siebzehnhundert Meilen entfernt. Zu weit weg für diesen Peiler. Es ist eindeutig der Quedak.« »Dann können wir ihn aufspüren«, sagte Sorensen. »Zwei Männer mit Funkpeilern können in den Dschungel gehen…«
»… und sich töten lassen«, sagte Drake. »Wir können mit den Peilern die Position des Quedak feststellen, aber seine Tiere können uns viel schneller finden, wenn wir uns in den Dschungel wagen.« Sorensen sah niedergeschlagen aus. »Dann sind wir nicht besser dran als vorher.« »Wir sind viel besser dran«, sagte Drake. »Wir haben jetzt eine Chance.« »Wie kommst du darauf?« »Er steuert die Tiere über Funk«, sagte Drake. »Wir kennen die Frequenz, die er benutzt. Wir können auf der selben Frequenz senden. Wir können sein Signal stören.« »Bist du sicher?« »Sicher bin ich mir natürlich nicht. Aber ich weiß, daß zwei Stationen in der gleichen Gegend nicht auf derselben Frequenz senden können. Wenn wir auf der Frequenz des Quedak genügend Lärm machen, um sein Signal zu überlagern…« »Ich verstehe«, sagte Sorensen. »Vielleicht würde es klappen! Wenn wir sein Signal stören, kann er seine Tiere nicht mehr steuern. Und dann könnten wir ihn mit den Funkpeilern jagen.« »So stelle ich es mir vor«, sagte Drake. »Das Ganze hat nur einen kleinen Haken – unser Sender funktioniert nicht. Ohne Sender können wir aber nicht senden und den Quedak stören.« »Kannst du das Gerät reparieren?« fragte Sorensen. »Ich werde es versuchen«, sagte Drake. »Aber wir sollten uns besser keine zu großen Hoffnungen machen. Eakins war der Funkspezialist dieser Expedition.« »Wir haben alle Ersatzteile«, sagte Sorensen. »Röhren, Bedienungsanleitung, alles.« »Ich weiß. Gib mir genügend Zeit, und ich werde herausfinden, was kaputt ist. Die Frage ist, wieviel Zeit uns der Quedak gibt?« Die helle Kupferscheibe der Sonne war zur Hälfte im Ozean verschwunden. Sonnenuntergangsfarben berührten die sich zusammenballenden Gewitterwolken und verblaßten zur kurzen tropischen Dämme-
rung. Die Männer begannen, den Kopra-Schuppen für die Nacht zu verbarrikadieren.
VI Drake nahm die Rückwand des Senders ab und blickte finster auf das kompakte Gewirr von Röhren und Drähten. Diese kastenförmigen Metallgebilde waren vermutlich Kondensatoren, und die wächsern aussehenden, zylindrischen Apparaturen Widerstände. Es sah alles hoffnungslos kompliziert aus, lächerlich unentwirrbar und empfindlich. Wo sollte er anfangen? Er schaltete das Gerät ein und wartete ein paar Minuten. Alle Röhren schienen anzugehen, manche schwach, andere hell. Er konnte keine losen Drähte entdecken. Das Mikrofon war immer noch tot. So viel zur optischen Überprüfung. Nächste Frage: Bekam das Gerät genug Saft? Er schaltete es ab und überprüfte die Batteriezellen mit einem Voltmeter. Die Batterien waren voll. Er überprüfte die Batteriekontake, schabte sie blank, steckte sie wieder auf und vergewisserte sich, daß sie fest saßen. Er prüfte alle Verbindungen, murmelte ein Stoßgebet und schaltete das Gerät ein. Es funktionierte noch immer nicht. Er fluchte und schaltete es wieder ab. Er beschloß, alle Röhren auszutauschen, angefangen mit den matten. Wenn das nichts nützte, konnte er versuchen, die Kondensatoren und Widerstände auszutauschen. Wenn das auch nichts nützte, konnte er sich immer noch erschießen. Mit diesem fröhlichen Gedanken öffnete er die Ersatzteilkiste und machte sich an die Arbeit. Die Männer waren alle im Kopra-Schuppen damit beschäftigt, ihn zu verbarrikadieren. Die Tür war versperrt und abgeschlossen. Die beiden Fenster mußten der frischen Luft wegen aufbleiben; niemand hätte sonst die Hitze aushalten können. Aber schwere Moskitonetze wurden doppelt genommen und vor die Fenster genagelt, und daneben wurde eine Wache aufgestellt.
Durch das flache Dach aus verzinktem Eisen konnte nichts hereinkommen. Der Fußboden bestand aus festgestampfter Erde, eine mögliche Gefahrenstelle. Alles, was sie tun konnten, war ihn genau im Auge zu behalten. Die Schatzsucher bereiteten sich auf eine lange Nacht vor. Drake, der sich ein Taschentuch um die Stirn gebunden hatte, damit der Schweiß nicht in die Augen rann, arbeitete weiterhin an dem Sender. Eine Stunde später summte es plötzlich im Walkie-talkie. Sorensen hob es auf und sagte: »Was willst du?« »Ich will, daß ihr euren sinnlosen Widerstand aufgebt«, sagte der Quedak mit Eakins’ Stimme. »Ihr hattet jetzt genug Zeit, die Situation zu überdenken. Ich will, daß ihr zu mir kommt. Ihr habt doch gewiß eingesehen, daß ihr keine andere Wahl habt.« »Wir wollen uns dir nicht anschließen«, sagte Sorensen. »Das müßt ihr aber«, sagte der Quedak zu ihm. »Wirst du uns zwingen?« »Das stellt mich vor Probleme«, sagte der Quedak. »Meine tierischen Teile sind nicht geeignet, euch zu zwingen. Eakins ist ein exzellentes Werkzeug, aber ich habe nur ihn. Und ich darf mich keiner unnötigen Gefahr aussetzen. Damit würde ich die Quedak-Mission gefährden.« »Dann ist es also eine Pattsituation«, sagte Sorensen. »Nein. Es bereitet mit nur Schwierigkeiten, euch zu übernehmen. Euch zu töten ist kein Problem.« Die Männer regten sich unbehaglich. Drake, der am Sender arbeitete, blickte nicht auf. »Ich würde euch lieber nicht töten«, sagte der Quedak. »Aber die Quedak-Mission geht vor. Sie wäre in Gefahr, wenn ihr euch mir nicht anschließt. Ihre weitere Durchführung wäre fraglich, wenn ihr die Insel verlaßt. Also müßt ihr entweder zu mir kommen, oder ich muß euch töten.« »Das sehe ich anders«, sagte Sorensen. »Wenn du uns tötest – einmal vorausgesetzt, daß dir das gelingt –, kannst du die Insel niemals verlassen. Eakins kann die Ketsch nicht bedienen.«
»Es besteht keine Notwendigkeit, in der Ketsch wegzufahren«, sagte der Quedak. »In sechs Monaten kommt der Inselschoner zurück. Eakins und ich werden mit ihm abreisen. Ihr anderen werdet dann tot sein.« »Du bluffst«, sagte Sorensen. »Wie kommst du darauf, daß du uns töten kannst? Du warst heute nicht gerade sehr erfolgreich.« Er deutete fragend auf die Funkanlage. Drake zuckte die Achseln und arbeitete weiter. »Ich habe es noch nicht versucht«, sagte der Quedak. »Die Nacht ist dafür die richtige Zeit. Diese Nacht, ehe ihr Gelegenheit habt, euch bessere Verteidigungsstrategien auszudenken. Ihr müßt euch mir heute nacht anschließen, oder ich werde einen von euch töten.« »Einen von uns?« »Ja. Einen Mann jede Stunde. Dadurch werden die Überlebenden vielleicht ihre Meinung ändern. Aber wenn nicht, werdet ihr bis zum Morgen alle tot sein.« Drake beugte sich hinüber und flüsterte Sorensen zu: »Halte ihn hin. Verschaffe mir noch zehn Minuten. Ich glaube, ich habe den Fehler gefunden.« Sorensen sagte ins Walkie-talkie: »Wir würden gerne ein bißchen mehr über die Quedackooperative erfahren.« »Am besten lernt ihr sie kennen, wenn ihr zu mir kommt.« »Wir hätten vorher gerne noch ein bißchen mehr Informationen.« »Es ist ein kaum beschreiblicher Zustand«, sagte der Quedak mit drängender, überzeugter, aufgeregter Stimme. »Könnt ihr euch vorstellen, ihr selbst zu sein, und doch eine Vielfalt neuer Sinneseindrücke zu erleben? Ihr würdet, zum Beispiel, die Welt mit den Sinnen eines Hundes sehen, der durch den Wald läuft und einer Witterung folgt, die für ihn – und für euch – so klar und lebendig wahrnehmbar ist wie ein gemalter Strich. Ein Einsiedlerkrebs sieht seine Umwelt anders. Durch ihn lernt ihr die langsame Wechselbeziehung des Lebens an der Grenze zwischen Land und Meer kennen. Sein Zeitempfinden ist ein sehr langsames, ganz anders als bei einem Paradiesvogel, der die Welt räumlich, schnell und flüchtig wahrnimmt. Und da sind viele andere über und unter der Erde und dem Wasser, die die Wirklichkeit auf ihre Weise erleben. Ihre Weltsicht unter-
scheidet sich nur wenig von der der Tiere, die einst den Mars bewohnten.« »Was geschah auf dem Mars?« fragte Sorensen. »Alles Leben starb«, sagte der Quedak klagend. »Alles außer dem Quedak. Es geschah vor langer Zeit. Jahrhundertelang herrschte auf dem Planeten Friede und Wohlstand. Alles und jeder war Teil der Quedakkooperative. Aber die dominierende Rasse besaß grundlegende Schwächen. Ihre Geburtenrate sank; es kam zu Katastrophen. Und schließlich war kein Leben mehr übrig, nur noch der Quedak.« »Klingt ja großartig«, sagte Sorensen ironisch. »Es war die Schuld der Rasse«, protestierte der Quedak. »Bei einem zäheren Volk – wie ihr es hier auf diesem Planeten seid – wird der Lebenswille erhalten bleiben. Frieden und Wohlstand werden ewig dauern.« »Das glaube ich nicht. Was auf dem Mars geschah, wird sich auf der Erde wiederholen, wenn du die Macht übernimmst. Nach einer Weile machen sich Sklaven nicht mehr viel aus dem Leben.« »Ihr wärt keine Sklaven. Ihr wärt tragende Teile der Quedackooperative.« »Die von dir gesteuert wird«, sagte Sorensen. »Wie du ihn auch anschneidest, es bleibt immer derselbe alte Kuchen.« »Du weißt nicht, wovon du redest«, sagte der Quedak. »Wir haben genug diskutiert. Ich bin bereit, in den nächsten fünf Minuten einen Mann zu töten. Werdet ihr euch mir anschließen oder nicht?« Sorensen schaute Drake an. Drake schaltete den Sender ein. Heftiger Regen prasselte auf das Dach nieder, während der Sender warm wurde. Drake hob das Mikrofon und klopfte dagegen. Er konnte das Geräusch im Lautsprecher hören. »Es klappt«, sagte er. In diesem Moment flog etwas gegen das netzverhangene Fenster. Das Netz gab nach; eine Fledermaus war darin gefangen und starrte sie aus winzigen, rotumrandeten Augen wütend an. »Verriegelt das Fenster mit Brettern!« rief Sorensen.
Während er sprach, warf sich eine zweite Fledermaus gegen das Netz, riß ein Loch hinein und plumpste auf den Boden. Die Männer schlugen sie tot, doch weitere vier Fledermäuse flogen durch das offene Fenster. Drake schlug nach ihnen, aber es gelang ihm nicht, sie von dem Sender wegzutreiben. Sie attackierten seine Augen, und er mußte zurückweichen. Ein heftiger Schlag traf eines der Tiere. Es fiel mit gebrochenem Flügel zu Boden. Dann hatten die anderen den Sender erreicht. Sie stießen das Gerät vom Tisch. Drake versuchte, es aufzufangen, was ihm nicht gelang. Er hörte, wie die Glasröhren zu Bruch gingen, doch da war er bereits damit beschäftigt, seine Augen zu schützen. Nach ein paar Minuten hatten sie zwei weitere Fledermäuse getötet, und die anderen waren aus dem Fenster geflohen. Die Männer nagelten Bretter über beide Fenster, und Drake bückte sich, um den Sender zu untersuchen. »Läßt er sich reparieren?« fragte Sorensen. »Leider nicht«, sagte Drake. »Sie haben die Drähte herausgerissen.« »Was tun wir jetzt?« »Ich weiß es nicht.« Dann sprach der Quedak über das Walkie-talkie zu ihnen. »Ich muß jetzt sofort eure Antwort haben.« Niemand sagte ein Wort. »In diesem Fall«, sagte der Quedak, »muß ich euch leider mitteilen, daß jetzt einer von euch sterben wird.«
VII Regen prasselte auf das Eisendach, und die Windböen nahmen an Heftigkeit zu. In der Ferne donnerte es. Aber in dem Kopra-Schuppen war die Luft heiß und still. Die Benzinlaterne, die am mittleren Dachbalken hing, warf ein hartes, gelbes Licht, das die Mitte des Raumes beleuchtete, die dunkeln Schatten in den Ecken des Raumes aber nicht vertreiben konnte. Die Schatzsucher waren von den Wänden weggegangen. Sie drängten sich mit den Gesichtern nach außen in der Mitte des Raumes
und erinnerten Drake an eine Büffelherde, die abwehrbereit auf einen Wolf wartete, den sie riechen aber nicht sehen konnte. Cable sagte: »Hört mal, vielleicht sollten wir diese Quedackooperative wirklich einmal ausprobieren. Vielleicht ist sie gar nicht so übel, wie…« »Sei still«, sagte Drake. »Sei vernünftig«, argumentierte Cable. »Es ist doch besser als zu sterben, oder nicht?« »Noch ist niemand tot«, sagte Drake. »Sei still und halte die Augen offen.« »Ich glaube, mir ist schlecht«, sagte Cable. »Dan, laß mich hinaus.« »Bleib wo du bist«, sagte Drake. »Und halte die Augen offen.« »Du kannst mir keine Befehle erteilen«, sagte Cable. Er ging auf die Tür zu. Dann sprang er zurück. Ein gelblicher Skorpion war unter dem Türspalt hindurchgekrochen. Recetich zertrampelte ihn mit seinen schweren Stiefeln zu Brei. Dann wirbelte er herum und versuchte, drei Hornissen zu verscheuchen, die durch die Ritzen zwischen den Brettern vor den Fenstern eingedrungen waren. »Vergeßt die Hornissen!« rief Drake. »Achtet auf den Boden!« Auf dem Fußboden bewegte sich etwas. Mehrere haarige Spinnen krochen aus dem Schatten. Drake und Recetich schlugen mit den Gewehrkolben auf sie ein. Byrnes sah etwas unter der Tür hindurchkriechen. Es sah wie ein großer, flacher Hundertfüßler aus. Er trat danach, trat daneben, und der Hundertfüßler krabbelte auf seinen Stiefel, höher hinauf, auf die Haut von Byrnes’ Bein. Byrnes schrie; es fühlte sich an, wie ein Band aus geschmolzenem Metall. Er konnte das Tier noch erschlagen, ehe er ohnmächtig wurde. Drake inspizierte die Wunde und stellte fest, das sie nicht gefährlich war. Er zertrat eine weitere Spinne und spürte dann, wie Sorensens seine Schulter umklammerte. Er schaute in die Ecke, auf die Sorensen zeigte. Zwei große, dunkelhäutige Schlangen glitten auf sie zu. Drake erkannte, daß es sich um schwarze Ottern handelte. Diese normalerweise scheuen Geschöpfe pirschten sich heran wie Tiger.
Die Männer gerieten in Panik und versuchten, von den Schlangen wegzukommen. Drake zog seinen Revolver und ging in die Hocke. Er ignorierte die um ihn herumschwirrenden Hornissen und versuchte, im flackernden gelben Licht die schlanken Reptilien zu treffen. Genau über ihnen donnerte es rumpelnd. Das grelle Licht eines Blitzes erhellte den Raum und blendete Drake. Drake schoß daneben und wartete darauf, daß die Schlangen zustießen. Sie stießen nicht zu. Sie bewegten sich von ihm weg, zogen sich zu dem Rattenloch zurück, aus dem sie aufgetaucht waren. Eine der Ottern glitt rasch hindurch. Die andere folgte ihr, hielt dann aber, schon halb im Loch verschwunden, an. Sorensen zielte sorgfältig mit dem Gewehr. Drake schob den Gewehrlauf zur Seite. »Warte einen Augenblick.« Die Otter zögerte. Sie kam aus dem Loch und begann, wieder auf die Männer zuzukriechen… Und wieder donnerte und blitzte es. Die Schlange wandte sich ab und schlüpfte durch das Loch. »Was bedeutet das?« fragte Sorensen. »Fürchten sie sich vor dem Donner?« »Ich glaube, ich begreife jetzt, warum der Quedak es vorhin so eilig hatte, uns zu bekehren. Er sah das Gewitter kommen und hatte seine Herrschaft noch nicht gefestigt.« »Wovon redest du?« »Die Blitze«, sagte Drake. »Die elektrischen Entladungen des Gewitters! Sie stören seine Funksteuerung! Und wenn die Funksignale des Quedak gestört sind, kehren die Tiere zu ihrem normalen Verhalten zurück. Er braucht Zeit, um sie danach wieder unter Kontrolle zu bekommen.« »Das Gewitter wird nicht ewig dauern«, sagte Cable. »Aber vielleicht dauert es lange genug«, sagte Drake. Er hob die Funkpeiler auf und gab einen davon Sorensen. »Komm, Bill. Wir werden dieses Insekt jetzt jagen.« »Heh«, sagte Recetich, »kann ich nicht auch etwas tun?«
»Du kannst anfangen zu schwimmen, wenn wir in einer Stunde nicht zurück sind«, sagte Drake. Der wilde Südwestwind peitschte den Regen vor sich her. Ständig donnerte es grollend, und die Blitze schienen genau auf die beiden Männer zu zielen. Drake und Sorensen erreichten den Rand des Dschungels und blieben stehen. »Wir trennen uns hier«, sagte Drake. »Dann haben wir eine bessere Chance, ihn aufzuspüren.« »Richtig«, sagte Sorensen. »Paß auf dich auf, Dan.« Sorensen stürzte sich in den Dschungel. Drake lief fünfzig Meter am Dschungelrand entlang und drang dann ins Dickicht vor. Er kämpfte sich voran, den Revolver im Gürtel, den Funkpeiler in der einen, eine Taschenlampe in der anderen Hand. Der Dschungel schien zu teuflischem Leben erwacht zu sein, fast als würde auch er vom Quedak gelenkt. Er verfing sich mit den Füßen in hinterhältigen Schlingpflanzen, und die Büsche streckten dornige Hände nach ihm aus. Jeder Zweig machte sich ein ein besonderes Vergnügen daraus, Drake ins Gesicht zu schlagen. Jedesmal wenn ein Blitz zuckte, wurde Drakes Funkpeiler abgelenkt. Es fiel Drake schwer, die Richtung zu halten. Aber er erinnerte sich daran, daß der Quedak zweifellos noch viel größere Probleme hatte. Zwischen den Blitzen konnte Drake die Richtung beibehalten. Je weiter er in den Dschungel vordrang, desto stärker wurde das Signal. Nach einer Weile merkte er, daß die Abstände zwischen den Blitzen größer wurden. Das Gewitter zog nach Norden weiter. Wie lange würde der Schutz durch die Blitze noch anhalten? Noch einmal zehn oder fünfzehn Minuten? Er hörte ein Winseln. Er schwenkte die Taschenlampe herum und sah seinen Hund Oro auf sich zukommen. Seinen Hund – oder den Hund des Quedak? Drake ließ den Funkpeiler fallen und zog seinen Revolver. Er fragte sich, ob die regennasse Waffe überhaupt noch funktionierte. Oro kam herbei und leckte Drakes Hand. Es war Drakes Hund, wenigstens für die Dauer des Gewitters.
Sie liefen gemeinsam weiter, und der Donner grollte fern im Norden. Das Peilsignal war jetzt sehr stark. Irgendwo in der Nähe… Er sah das Licht eines weiteren Blitzes. Sorensen, völlig außer Atem, gesellte sich zu ihm. Der Dschungel hatte an ihm gezerrt und gekratzt, aber er hatte Gewehr, Taschenlampe und Funkpeiler immer noch bei sich. Oro kratzte wütend an einem Busch. Im lang anhaltenden Licht des nächsten Blitzes sahen sie dort den Quedak. Drake bemerkte in diesen letzten Augenblicken, daß es zu regnen aufgehört hatte. Auch die Blitze hatten aufgehört. Er ließ den Funkpeiler fallen. Mit der Taschenlampe in der einen und dem Revolver in der anderen Hand versuchte er, auf den Quedak zu zielen, der sich bewegte, der sprang… Auf Sorensens Nacken, direkt über dem rechten Schlüsselbein. Sorensen hob die Hände, ließ sie dann wieder sinken. Er drehte sich zu Drake um und hob das Gewehr. Sein Gesicht war vollkommen ruhig. Er sah aus, als bestünde sein einziges Lebensziel darin, Drake zu töten. Drake schoß aus lediglich einem guten halben Meter Abstand. Sorensen wirbelte durch die Wucht des Schusses herum, ließ das Gewehr fallen und fiel hin. Drake beugte sich mit schußbereitem Revolver über ihn. Er sah, daß sein Schuß sauber getroffen hatte. Die Kugel war genau über dem rechten Schlüsselbein eingedrungen. Es war eine schlimme Wunde. Aber für den Quedak war es noch schlimmer gewesen. Er hatte sich genau in der Bahn der Kugel befunden. Nur ein paar schwarze Spritzer auf Sorensens Brust waren noch von ihm übrig. Drake leistete rasch Erste Hilfe und lud sich Sorensen auf die Schultern. Er fragte sich, was er wohl getan haben würde, wenn der Quedak über Sorensens Herz, auf seiner Kehle oder seinem Kopf gesessen hätte. Er entschied, daß es besser war, daran nicht zu denken. Er machte sich auf den Rückweg zum Lager. Sein Hund trottete neben ihm her.
Narrenschach Die Spieler begegneten sich auf dem großen, zeitlosen Schachbrett des Weltraums. Die glitzernden Punkte, die die Figuren darstellten, standen einander in einem festen Muster gegenüber. Bei dieser Ausgangsstellung stand das Resultat des Spiel bereits fest, noch ehe der erste Zug gemacht worden war. Beide Spieler sahen und wußten, wer gewonnen hatte. Aber sie spielten weiter. Weil das Spiel zu Ende gespielt werden mußte. »Nielson!« Leutnant Nielson saß mit einem idyllischen Lächeln im Gesicht vor seiner Geschütztastatur. Er blickte nicht auf. »Nielson!« Der Leutnant betrachtete jetzt seine Finger mit dem Gesichtsausdruck eines verwirrten Kindes. »Nielson! Kommen Sie zu sich!« General Branch stand groß und streng hinter ihm. »Hören Sie mich, Leutnant?« Nielson schüttelte dumpf den Kopf. Er fing wieder an, seine Finger zu betrachten, dann blieb sein Blick auf den bunten Auslöseknöpfen der Geschützbedienung haften. »Hübsch«, sagte er. General Branch betrat die Kabine, packte Nielson an den Schultern und schüttelte ihn. »Hübsche Sachen«, sagte Nielson und zeigte auf das Schaltpult. Er lächelte Branch an.
Margraves, der Stellvertreter des Kommandeurs, steckte seinen Kopf durch die Tür. Er hatte immer noch Feldwebelstreifen auf seinem Ärmel, da er erst vor drei Tagen zum Oberst befördert worden war. »Ed«, sagte er, »der Beauftragte des Präsidenten ist hier. Überraschungsbesuch.« »Einen Moment«, sagte Branch. »Ich möchte erst die Inspektion beenden.« Er grinste säuerlich. Es war ein verdammt seltsamer Inspektionsgang, wenn man herumlief, um die Leute zu zählen, die noch nicht verrückt geworden waren. »Können Sie mich verstehen, Leutnant?« »Zehntausend Schiffe«, sagte Nielson. »Zehntausend Schiffe – alle weg!« »Tut mir leid«, sagte Branch. Er beugte sich vor und versetzte Nielson eine kräftige Ohrfeige. Leutnant Nielson fing an zu weinen. »Heh, Ed – was ist denn nun mit dem Beauftragten?« Aus der Nähe roch Oberst Margraves’ Atem penetrant nach Whisky, aber Branch tadelte ihn nicht. Wenn man noch einen guten Offizier übrig hatte, tadelte man ihn nicht, egal was er tat. Außerdem schätzte Branch Whisky. Er war ein gutes Hilfsmittel zur Beruhigung unter diesen Umständen. Wahrscheinlich besser als sein eigenes, dachte er mit einem Blick auf seine aufgeschlagenen Fingerknöchel. »Ich komme gleich. Nielson, hören Sie mich?« »Ja, Sir«, sagte der Leutnant mit zitternder Stimme. »Ich bin jetzt wieder in Ordnung, Sir.« »Gut«, sagte Branch. »Können Sie auf Posten bleiben?« »Noch eine Weile«, sagte Nielson. »Aber, Sir… es geht mir nicht gut. Das spüre ich.« »Ich weiß«, sagte Branch. »Sie verdienen eine Ruhepause. Aber Sie sind der einzige Geschützoffizier, der mir auf dieser Seite des Schiffes noch geblieben ist. Die anderen sind alle auf der Krankenstation.«
»Ich werde es versuchen, Sir«, sagte Nielson und schaute wieder auf die Geschütztastatur. »Aber ich höre manchmal Stimmen. Ich kann Ihnen nichts versprechen, Sir.« »Ed«, begann Margraves wieder, »dieser Beauftragte…« »Komme schon. Sind ein guter Junge, Nielson.« Der Leutnant blickte nicht auf, als Branch und Margraves hinausgingen. »Ich habe ihn auf die Brücke eskortiert«, sagte Margraves, der beim Gehen etwas Schlagseite nach Steuerbord hatte, »und ihm einen Drink angeboten, aber er wollte keinen.« »In Ordnung«, sagte Branch. »Er platzte förmlich vor Neugierde«, fuhr Margraves in sich hineinkichernd fort. »Einer von diesen eifrigen, sonnengebräunten Männern aus dem State Department, darauf erpicht, innerhalb von fünf Minuten den Krieg zu gewinnen. Er konnte überhaupt nicht begreifen, wieso unsere Flotte seit einem Jahr ohne Schlacht im Weltraum herummanövriert.« »Was haben Sie ihm erzählt?« »Daß wir gerade auf eine Lieferung Schießgewehre warten«, sagte Margraves. »Er hat es mir fast geglaubt. Dann fing er an über Logistik zu reden.« »Hm-m-m«, sagte Branch. Er hatte keine Ahnung, was der halb betrunkene Margraves dem Beauftragten noch alles erzählt hatte. Aber das spielte auch keine Rolle. Mit einer offiziellen Untersuchung über den Verlauf des Krieges war schon lange zu rechnen gewesen. »Ich muß Sie jetzt verlassen«, sagte Margraves. »Ich habe noch zu arbeiten.« »In Ordnung«, sagte Branch, denn was hätte er sonst sagen sollen. Er wußte, daß Margraves’ Arbeit darin bestand, eine Flasche zu leeren. Er ging allein auf die Brücke. Der Beauftragte des Präsidenten betrachtete gerade den riesigen Ortungsbildschirm, der eine ganze Wand bedeckte und ein leuchtendes Muster aus sich langsam bewegenden Punkten zeigte. Tausende von
grünen Punkten auf der linken Seite stellte die Flotte der Erde dar, durch eine schwarze Leere von den orange Punkten des Feindes getrennt. Während er zusah, veränderte sich die fließende, dreidimensionale Front langsam. Die Punktarmeen ballten sich zusammen, änderten ihre Position, wichen zurück, rückten vor, sich mit einschläfernder Langsamkeit bewegend. Aber der leere, schwarze Raum zwischen den Flotten blieb. General Branch kannte diesen Anblick nun schon seit fast einem Jahr. Seiner Meinung nach war der Bildschirm ein reiner Luxus. Er konnte auf ihm nicht erkennen, was wirklich vorging. Nur die PWR-Computer konnten das, und sie brauchten den Schirm nicht. »Guten Tag, General Branch«, sagte der Beauftragte des Präsidenten, kam auf ihn zu und reichte ihm die Hand. »Mein Name ist Richard Ellsner.« Branch schüttelte ihm die Hand und stellte fast, daß Margraves’ Beschreibung ziemlich gut gewesen war. Der Beauftragte war nicht älter als dreißig. Seine Sonnenbräune sah seltsam aus, nachdem Branch ein Jahr lang nur bleiche Gesichter gesehen hatte. »Meine Papiere«, sagte Ellsner und gab Branch einige Dokumente. Der General überflog sie und sah, daß Ellsner als Handlungsbevollmächtigter im Weltraum vom Präsidenten autorisiert war. Eine große Ehre für einen so jungen Mann. »Wie stehen die Dinge auf der Erde?« fragte Branch, nur um irgend etwas zu sagen. Er führte Ellsner zu einem Sessel und nahm selbst ebenfalls Platz. »Schlecht«, sagte Ellsner. »Wir haben die Vorräte des Planeten an spaltbarem Material fast erschöpft, um Ihre Flotte einsatzfähig zu halten. Ganz zu schweigen von den ungeheuren Kosten, die dadurch verursacht werden, eine Flotte von dieser Größe im Feld mit Lebensmitteln, Sauerstoff, Ersatzteilen und aller anderen Ausrüstung zu versorgen.« »Ich weiß«, murmelte Branch. Sein breites Gesicht war ausdruckslos. »Ich möchte ohne Umschweife mit den Beschwerden des Präsidenten beginnen«, sagte Ellsner mit einem kleinen, entschuldigenden Lachen. »Damit wir es rasch hinter uns bringen.«
»Fangen Sie nur an«, sagte Branch. »Also dann«, begann Ellsner und zog ein Notizbuch aus der Tasche, »Ihre Flotte befindet sich jetzt seit elf Monaten und sieben Tagen im Weltraum. Ist das richtig?« »Ja.« »Während dieser Zeit gab es kleinere Begegnungen, aber keine wirklichen Kriegshandlungen. Sie – und der feindliche Kommandeur – haben sich damit zufriedengegeben, einander wie unzufriedene Hunde zu beschnüffeln.« »Diese Analogie würde ich nicht benutzen«, sagte Branch und verspürte sofort eine Abneigung gegen den jungen Mann. »Aber fahren Sie fort.« »Ich bitte um Entschuldigung. Es war ein unglücklicher, aber leider unvermeidlicher Vergleich. Jedenfalls ist es noch nicht zum Gefecht gekommen, obwohl Sie dem Gegner doch zahlenmäßig überlegen sind. Ist das richtig?« »Ja.« »Und Sie wissen, daß die Unterhaltung dieser Flotte die Ressourcen der Erde erheblich belastet. Der Präsident möchte gerne wissen, wieso die Schlacht noch nicht begonnen wurde?« »Ich würde gerne die anderen Beschwerden hören, ehe ich antworte«, sagte Branch. Er ballte seine zerschlagenen Fäuste, hielt sie aber mit bemerkenswerter Selbstkontrolle ruhig. »Sehr gut. Dann die Kampfmoral. Ständig bekommen wir von Ihnen Berichte darüber, daß Leute an Kriegsneurosen erkranken – durchdrehen, um es deutlich auszudrücken. Die Zahlen sind absurd! Dreißig Prozent Ihrer Leute befinden sich offenbar in stationärer Behandlung. Daß ist ein bißchen ungewöhnlich, selbst in einer angespannten Situation.« Branch antwortete nicht. »Um es kurz zu machen«, sagte Ellsner, »ich hätte gerne Antworten auf diese Frage. Dann benötige ich Ihre Hilfe dabei, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Es war absurd, diesen Krieg anzufangen. Es lag nicht im Interesse der Erde. Der Präsident ist der Ansicht, daß der feindliche Kommandeur angesichts der statischen Situation positiv auf einen solchen Vorschlag reagieren wird.«
Oberst Margraves taumelte mit gerötetem Gesicht herein. Er hatte seine Arbeit erledigt und war jetzt nicht mehr halb, sondern zu drei Vierteln betrunken. »Was höre ich da über einen Waffenstillstand?« rief er. Ellsner starrte ihn einen Augenblick an und wandte sich dann wieder Branch zu. »Ich nehme an, daß Sie das selbst in die Wege leiten möchten. Stellen Sie den Kontakt zum gegnerischen Kommandeur her, und ich werde dann versuchen, mich mit ihm zu einigen.« »Sie sind nicht interessiert«, sagte Branch. »Woher wissen Sie das?« »Ich habe es versucht. Ich versuche jetzt seit sechs Monaten, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Sie fordern unsere völlige Kapitulation.« »Aber das ist absurd«, sagte Ellsner kopfschüttelnd. »Sie haben doch nichts in der Hand gegen uns. Die Flotten sind ungefähr gleich groß. Es hat bisher kein einziges größeres Gefecht gegeben. Wie können sie…« »Sie können es!« brüllte Margraves, ging zu dem Beauftragten und schaute ihm grimmig ins Gesicht. »General. Dieser Mann ist betrunken.« Ellsner stand auf. »Natürlich, Sie verdammter Idiot! Begreifen Sie denn nicht? Wir haben den Krieg verloren! Völlig und unwiderruflich.« Ellsner drehte sich wütend zu Branch um. Der General seufzte und stand auf. »Es stimmt, Ellsner. Der Krieg ist verloren, und jeder Mann in der Flotte weiß das. Das stimmt nicht mit der Kampfmoral. Wir hängen bloß noch hier herum und warten, daß der Feind uns ins Jenseits befördert.« Die Flotten waren in ständiger Bewegung. Tausende von Punkten schwebten im Weltraum, in verworrenen, zufälligen Mustern. Scheinbar zufällig. Die Muster veränderten, öffneten und schlossen sich. Jeder Positionswechsel war dynamisch und ausgewogen, ein sorgfältig geplanter Schachzug an einer hunderttausend Meilen langen Front. Die Punkte der
anderen Flotte bewegten sich, um sich den Erfordernissen des neuen Musters anzupassen. Wer befand sich im Vorteil? Für den unkundigen Betrachter ist ein Schachspiel eine sinnlose Anordnung von Figuren in verschiedenen Positionen. Aber für die Spieler – kann das Spiel schon gewonnen oder verloren sein. Die mechanischen Spieler, die die vielen tausend Punkte bewegten, wußten, wer gewonnen – und wer verloren hatte. »Entspannen wir uns«, sagte Branch besänftigend. »Margraves, mixen Sie uns ein paar Drinks. Ich werde Ihnen alles erklären.« Der Oberst ging zu einem gut bestückten Wandschrank in einer Ecke des Raumes. »Ich warte«, sagte Ellsner. »Zunächst ein Rückblick. Erinnern Sie sich noch an die Kriegserklärung vor zwei Jahren? Beide Seiten beschlossen, sich an den HolmsteadPakt zu halten, der die Bombardierung von Heimatplaneten untersagt. Ein Aufeinandertreffen der Flotten im All wurde arrangiert.« »Das ist längst Geschichte«, sagte Ellsner. »Es ist aber wichtig. Die Flotte der Erde startete, sammelte sich und flog zu dem Treffpunkt.« Branch räusperte sich. »Kennen Sie die PWRs? Die Positions-Wahrscheinlichkeits-Rechner? Sie sind wie gigantische Schachspieler. Sie gruppieren die Flotte in einem optimalen Angriffs-Verteidigungs-Muster, das auf den Positionen der gegnerischen Flotte basiert. So formierte sich die Flotte zu ihrem ersten Muster.« »Ich begreife nicht, wozu Sie mir das alles…« begann Ellsner, aber Margraves, der mit den Drinks zurückkam; unterbrach ihn. »Warte, mein Junge. Bald wird dir ein Licht aufgehen.« »Als die Flotten sich trafen, berechneten die PWRs das wahrscheinliche Resultat eines von uns geführten Angriffes. Sie fanden heraus, daß wir etwa siebenundachtzig Prozent unserer Flotte verlieren würden, und der Gegner fünfundsechzig Prozent. Hätte der Gegner angegriffen, hätte er neunundsiebzig Prozent verloren, und wir vierundsechzig. So war damals die Lage. Die Auswertung ergab, daß das optimale gegnerische Angriffs-
muster – zu diesem Zeitpunkt – dem Gegner fünfundvierzig Prozent Verlust eingebracht haben würde. Unseres hätte uns zweiundsiebzig Prozent Verlust eingebracht.« »Ich weiß nicht viel über die PWRs«, gestand Ellsner. »Mein Fachgebiet ist die Psychologie.« Er trank einen Schluck, verzog das Gesicht und trank erneut. »Denken Sie sie sich als Schachspieler«, sagte Branch. »Sie können die Verluste bei einem Angriff zu jedem Zeitpunkt, bei jedem Angriffsmuster vorausberechnen. Deshalb wurde nicht sofort am Anfang mit der Schlacht begonnen. Kein Kommandeur würde seine Flotte auf eine solche Weise auslöschen.« »Nun«, sagte Ellsner, »warum haben Sie dann Ihre leichte zahlenmäßige Überlegenheit nicht ausgenützt? Warum haben Sie sich ihnen gegenüber keinen Vorteil verschafft?« »Ah!« rief Margraves, seinen Drink schlürfend. »Gleich dämmert’s ihm!« »Lassen Sie es mich mit Hilfe einer Analogie erklären«, sagte Branch. »Wenn Sie zwei Schachspieler mit genau gleich großem Können haben, dann steht der Ausgang des Spieles fest, sobald ein Spieler einen Vorteil erlangt. Wenn der Vorteil erst einmal da ist, kann der andere Spieler nichts mehr machen, es sei denn, seinem Gegner unterläuft ein Fehler. Wenn aber alles ohne Fehler verläuft, ist der Ausgang des Spieles vorherbestimmt. Auch wenn das Spiel sich dann vielleicht noch Stunden hinzieht, kann die Entscheidung bereits nach wenigen Zügen erfolgt sein.« »Und denken Sie daran«, mischte sich Margraves ein, »dem zufälligen Betrachter kommt es vielleicht so vor, als sei noch nichts entschieden. Es können noch alle Figuren auf dem Brett sein.« »Genau das ist hier geschehen«, sagte Branch traurig. »Die PWRAnlagen beider Flotten sind von optimaler Effizienz. Aber der Gegner hat einen Vorteil, den er vorsichtig ausnutzt. Und wir können nichts dagegen tun.« »Aber wie konnte das geschehen?« fragte Ellsner. »Wer hat versagt?«
»Die PWRs haben die Niederlage verursacht«, sagte Branch. »Der Krieg wurde bereits durch unsere Abflugformation entschieden.« »Was meinen Sie damit?« fragte Ellsner und stellte sein Glas hin. »Genau das: Die Formation unserer Flotte, Lichtjahre von der Schlacht entfernt, noch bevor wir Kontakt mit der gegnerischen Flotte hatten. Als die beiden Flotten sich trafen, hatte der Gegner einen winzigen Stellungsvorteil. Das genügte. Für die PWRs jedenfalls.« »Wenn Sie das tröstet«, warf Margraves ein, »die Chancen standen fünfzig zu fünfzig. Ebensogut hätten wir den Vorteil haben können.« »Ich muß mehr darüber wissen«, sagte Ellsner. »Ich begreife das alles noch nicht.« Branch knurrte: »Der Krieg ist verloren. Was wollen Sie da denn noch groß wissen?« Ellsner schüttelte den Kopf. »Willst du mich denn mit Vorherbestimmung locken«, zitierte Margraves, »um meinen Sündenfall mir dann zur Last legen?« Leutnant Nielson saß mit ineinander verschränkten Fingern vor der Geschütztastatur. Es war notwendig, sie zu verschränken, denn Nielson verspürte einen fast unwiderstehlichen Drang, auf die Knöpfe zu drükken. Diese hübschen Knöpfe. Dann fluchte er und setzte sich auf seine Hände. Er hatte General Branch versprochen, daß er durchhalten würde, und das war wichtig. Drei Tage waren vergangen, seit er den General zuletzt gesehen hatte, aber er war fest entschlossen durchzuhalten. Entschlossen heftete er seinen Blick auf die Instrumente. Zeiger schwankten und zitterten. Meßgeräte prüften die Entfernung und justierten die Geschütze nach. Die schlanken Zeiger bewegten sich auf und ab, während das Schiff manövrierte, näherten sich der roten Linie, ohne sie jemals ganz zu erreichen.
Die rote Linie markierte den Alarmfall. Dann würde Nielson das Feuer eröffnen, wenn der kleine, schwarze Pfeil die kleine, rote Linie überschritt. Nielson wartete jetzt seit fast einem Jahr auf diesen kleinen Pfeil. Kleiner Pfeil. Kleiner Pfeil. Kleiner Pfeil. Hör auf. Dann würde er das Feuer eröffnen. Leutnant Nielson hob seine Hände und inspizierte seine Fingernägel. Mit großer Sorgfalt entfernte er etwas Schmutz unter einem der Nägel. Er verschränkte seine Finger wieder und blickte auf die hübschen Knöpfe, den schwarzen Pfeil, die rote Linie. Er lächelte in sich hinein. Er hatte es dem General versprochen. Vor nur drei Tagen. Also tat er, als höre er nicht, was die Knöpfe ihm zuflüsterten. »Was ich nicht begreife«, sagte Ellsner, »ist, wieso Sie das Muster Ihrer Flotte nicht verändern? Zum Beispiel könnten Sie sich zurückziehen und neu gruppieren.« »Ich will es Ihnen erklären«, sagte Margraves. »Das wird Ed Gelegenheit geben, etwas zu trinken. Kommen Sie mit hier hinüber.« Er führte Ellsner zu einem Instrumentenbrett. Sie hatten Ellsner drei Tage lang im Schiff herumgeführt, hauptsächlich allerdings, um sich so zu entspannen und abzulenken. Der dritte Tag hatte sich zu einem ziemlich ausgedehnten Trinkgelage entwickelt. »Sehen Sie dieses Anzeigeinstrument!« Margraves zeigte mit dem Finger darauf. Die Instrumententafel war einen Meter zwanzig breit und sechs Meter lang. Mit den Knöpfen und Schaltern darauf ließen sich die Bewegungen der gesamten Flotte steuern. »Sehen Sie das schwarz unterlegte Feld? Das markiert die Sicherheitsgrenze. Wenn wir eine verbotene Formation benutzen, wandert der Zeiger darüber hinaus, und dann ist der Teufel los.« »Und was ist eine verbotene Formation?«
Margraves dachte einen Moment nach. »Verbotene Formationen sind solche, die dem Gegner einen Angriffsvorteil verschaffen würden. Oder, anders formuliert, Flottenbewegungen, die das Angriffs-VerlustWahrscheinlichkeits-Bild ausreichend verändern, um einen Angriff für den Gegner vertretbar zu machen.« »Also können Sie nur in sehr engen Grenzen operieren?« fragte Ellsner mit Blick auf das Anzeigeinstrument. »So ist es. Aus der unendlichen Zahl möglicher Formationen können wir nur wenige benutzen, wenn wir kein Risiko eingehen wollen. Es ist wie beim Schach. Angenommen, Sie wollen gerne einen Bauern aus der sechsten Reihe in die hintere Reihe Ihres Gegners bringen. Aber dazu brauchen Sie zwei Züge. Und nachdem Sie auf die siebte Reihe vorgerückt sind, hat Ihr Gegner einen klaren Vorteil, der unwiderruflich zum Schachmatt führt. Wenn der Gegner natürlich zu waghalsig vorrückt, ändern sich die Chancen wieder, und wir greifen an.« »Das ist unsere einzige Hoffnung«, sagte General Branch. »Wir beten darum, daß sie einen Fehler machen. Die Flotte ist sofort bereit zum Angriff, sobald unser PWR anzeigt, daß der Feind sich irgendwo eine Blöße gibt.« »Und deshalb drehen die Leute durch«, sagte Ellsner. »Die Nerven aller Männer der Flotte sind zum Zerreißen gespannt. Alle warten auf eine Gelegenheit, von der sie doch wissen, daß sie nie kommen wird. Aber warten müssen sie trotzdem. Wie lange wird das noch so weitergehen?« »Dieses Züge machen und belauern kann noch für gut zwei Jahre so weitergehen«, sagte Branch. »Dann werden sie sich in der optimalen Formation für ihren Angriff befinden, mit einer wahrscheinlichen Verlustquote von achtundzwanzig Prozent auf ihrer und dreiundneunzig Prozent auf unserer Seite. Dann müssen sie angreifen, oder die Wahrscheinlichkeiten ändern sich wieder zu unseren Gunsten.« »Ihr armen Teufel«, sagte Ellsner mitfühlend. »Da wartet ihr auf eine Chance, die nie kommen wird, und wißt, daß der Feind euch früher oder später aus dem Universum fegt.«
»Oh, es ist eigentlich recht lustig«, sagte Margraves, bei dem das Mitgefühl eines Zivilisten ein instinktives Unbehagen auslöste. Etwas summte auf der Schalttafel. Branch ging hinüber und stöpselte ein Kabel ein. »Hallo? Ja. Ja… In Ordnung, Williams. Gut.« Er unterbrach die Verbindung. »Oberst Wiliams mußte seine Leute in ihren Kabinen einschließen«, sagte Branch. »Das ist schon das dritte Mal in diesem Monat. Ich muß den PWR dazu bringen, die Formation so zu ändern, daß wir Williams von der Front abziehen können.« Er ging zu einem anderen Schaltpult und drückte Knöpfe. »Was gedenken Sie denn jetzt zu tun, Herr Präsidentenbeauftragter?« fragte Margraves. Die glitzernden Punkte bewegten sich hin und her, rückten vor und zogen sich zurück, ohne die Barriere aus schwarzem Weltraum zwischen den Flotten zu durchdringen. Die mechanischen Schachspieler beobachteten jeden Zug, berechneten seine Auswirkungen in der fernen Zukunft. Vor und zurück bewegten sich die Figuren auf dem großen Schachbrett. Die Schachspieler arbeiteten leidenschaftslos, kannten bereits den Ausgang des Spiels. In ihrem streng geordneten Universum gab es keine Schwankungen, keine Dummheit, kein Versagen. Sie spielten. Und wußten. Und spielten. »O ja«, sagte Leutnant Nielson zu dem lächelnden Raum. »O ja.« Und schau dir nur all die Knöpfe an, dachte er und lachte in sich hinein. So dumm. Georgia. Nielson nahm das tiefe Blau der Heiligkeit und hängte es sich um die Schultern. Vogelgezwitscher, irgendwo. Natürlich. Drei Knöpflein rot. Er drückte sie. Drei Knöpflein grün. Er drückte sie. Vier Zeiger. Lies, lies, lies. »Oh-oh. Nielson dreht durch.« »Drei ist für mich«, sagte Nielson und berührte verstohlen seinen Kopf. Dann griff er wieder nach der Tastatur. Unvorstellbare Assozia-
tionen rasten ihm durch den Kopf, hervorgerufen durch merkwürdige Reize. »Haltet ihn lieber fest. Vorsicht!« Sanfte Hände umfangen mich, als ich zwei Knöpflein drücke, braun, einen für meine Mutter, und einer ist hoch für unser aller Ruhe. »Paßt auf, daß er keines der Geschütze abfeuert!« Ich werde hochgehoben, ich fliege, ich fliege. »Besteht noch Hoffnung für diesen Mann?« fragte Ellsner, nachdem man Nielson in ein Krankenzimmer gesperrt hatte. »Wer weiß«, sagte Branch. Sein breites Gesicht spannte sich; Muskeln zuckten in seinen Wangen. Plötzlich drehte er sich um, schrie und schlug mit der Faust heftig gegen die Metallwand. Danach grunzte er und grinste blöde. »Albern, nicht wahr? Margraves trinkt. Ich lasse Dampf ab, indem ich gegen Wände schlage. Gehn wir essen.« Die Offiziere aßen getrennt von der Mannschaft. Branch hatte festgestellt, daß manche Offiziere in Gefahr waren, von psychotischen Besatzungsmitgliedern ermordet zu werden. Es war besser, sie voneinander fernzuhalten. Während des Essens drehte Branch sich plötzlich zu Ellsner um. »Junge, ich habe Ihnen noch nicht die ganze Wahrheit gesagt. Ich sagte, das würde noch zwei Jahre dauern? Nun, die Männer werden nicht mehr so lange durchhalten. Ich weiß nicht, ob es mir gelingt, diese Flotte noch zwei Wochen zusammenzuhalten.« »Was schlagen Sie vor?« »Ich weiß es nicht«, sagte Branch. Er weigerte sich immer noch, an eine Kapitulation zu denken, obgleich er wußte, daß das die einzige Lösung war. »Ich bin mir nicht sicher«, sagte Ellsner, »aber ich glaube, es gibt einen Weg, der Ihnen aus Ihrem Dilemma hilft.« Die Offiziere hörten zu essen auf und sahen ihn an.
»Haben Sie etwa eine Superwaffe für uns?« fragte Margraves. »Tragen Sie einen Desintegrator im Schulterhalfter?« »Ich fürchte nein. Aber ich denke, daß Sie so in diese Situation verstrickt sind, daß Sie sie nicht mehr im richtigen Licht zu sehen vermögen. Sie erkennen den Wald vor lauter Bäumen nicht.« »Fahren Sie fort«, sagte Branch, während er methodisch an einem Stück Brot kaute. »Betrachten Sie das Universum, wie der PWR es sieht. Eine Welt strikter Kausalität. Ein logisches, kohärentes Universum. In dieser Welt hat jede Wirkung eine Ursache. Jeder Faktor läßt sich vorausberechnen. Das ist kein Abbild der wirklichen Welt. In Wahrheit läßt sich eben nicht alles erklären. Der PWR ist dafür konstruiert, ein besonderes Universum zu sehen und als Kalkulationsbasis zu benutzen.« »Was«, fragte Margraves, »wollen Sie also tun?« »Die Welt aus dem Gleichgewicht bringen«, sagte Ellsner. »Unsicherheit hineinbringen. Einen menschlichen Faktor einführen, den die Maschinen nicht vorausberechnen können.« »Wie wollen Sie Unsicherheit in ein Schachspiel hineinbringen?« fragte Branch, unwillkürlich interessiert. »Vielleicht, indem ich in einem kritischen Augenblick niese. Wie könnte die Maschine das vorausberechnen?« »Das brauchte sie gar nicht. Sie würde es als ein überflüssiges Geräusch einstufen und ignorieren.« »Stimmt.« Ellsner dachte einen Augenblick nach. »Diese Schlacht – wie lange wird sie dauern, wenn die wirklichen Kampfhandlungen einmal begonnen haben?« »Ungefähr sechs Minuten«, erklärte Branch. »Plusminus zwanzig Sekunden.« »Das bestätigt eine Vermutung von mir«, sagte Ellsner. »Die Schachspiel-Analogie, die sie benutzen, ist ein unzutreffender Vergleich.« »Es ist ein zweckdienlicher Vergleich«, sagte Margraves. »Aber er ist unzutreffend. Einen König schachmatt zu setzen, ist nicht mit der Zerstörung einer Raumflotte vergleichbar. Und auch der Rest der
Situation ist anders als beim Schach. Beim Schach spielt man nach Regeln, über die sich die Spieler zuvor geeinigt haben. In diesem Spiel hier kann man sich seine Regeln dagegen selbst machen.« »Dieses Spiel hat ebenfalls seine festen Regeln«, sagte Branch. »Nein«, sagte Ellsner. »Nur die PWRs haben Regeln. Wie wäre es denn, wenn Sie auf die PWRs verzichten? Wenn Sie jeden Kommandanten auf eigene Faust angreifen lassen, ohne festes Muster. Was würde passieren?« »Es würde nicht funktionieren«, erklärte Margraves ihm. »Die PWRs können die Situation immer noch überblicken, auf der Basis der Planungsfähigkeiten des durchschnittlichen Menschen. Außerdem würden sie mit dem Angriff von ein paar tausend zweitrangigen Rechnern – Menschen nämlich – mit Leichtigkeit fertig werden. Es wäre ein Tontaubenschießen.« »Aber Sie müssen irgend etwas versuchen«, flehte Ellsner. »Jetzt aber mal langsam«, sagte Branch. »Und wenn Sie hier auch noch so tolle Theorien aufstellen, ich weiß, was die PWRs mir sagen, und ich glaube ihnen. Ich bin immer noch der Kommandeur dieser Flotte, und ich werde nicht das Leben meiner Männer wegen irgendeiner Schnapsidee aufs Spiel setzen.« »Mit Schnapsideen lassen sich manche Kriege gewinnen«, sagte Ellsner. »In der Regel verliert man sie damit.« »Der Krieg ist bereits verloren, das haben Sie selbst zugegeben.« »Ich kann immer noch darauf warten, daß der Feind einen Fehler macht.« »Glauben Sie denn an diese Möglichkeit.« »Nein.« »Also?« »Ich werde trotzdem abwarten.« Der Rest der Mahlzeit verlief in trübsinnigem Schweigen. Danach ging Ellsner zu seiner Kabine. »Gute Nacht, Ed«, sagte Margraves, während er sich das Hemd aufknöpfte.
»Wohl kaum«, sagte Branch. Er lag auf seinem Bett und versuchte, nicht nachzudenken. Es war einfach zuviel. Die Logistik. Schlachten, deren Ausgang bereits feststand. Das bevorstehende Debakel. Er erwägte, seine Faust gegen die Wand zu rammen, ließ es dann aber doch sein. Sie war schon verstaucht. Er würde jetzt schlafen. An der Grenze zwischen Dösen und Schlafen hörte er ein Klicken. Die Tür! Branch sprang aus dem Bett und rüttelte am Türgriff. Dann warf er sich gegen die Tür. Zugesperrt. »General, schnallen Sie sich bitte fest. Wir greifen an.« Es war Ellsners Stimme, über Interkom. »Ich habe mir Ihr Schaltpult angeschaut, Sir, und die magnetische Türverriegelung gefunden. Ziemlich praktisch im Falle einer Meuterei, nicht wahr?« »Sie Idiot!« schrie Branch. »Sie werden uns alle umbringen! Der PWR…« »Ich habe unseren PWR abgeschaltet«, sagte Ellsner vergnügt. »Ich bin ein sehr vernünftiger Junge, und ich weiß, glaube ich, wie ein Niesen dem Feind Kopfschmerzen bereiten wird.« »Er ist verrückt«, rief Margraves Branch zu. Gemeinsam warfen sie sich gegen die Stahltür. Dann wurden sie zu Boden geworfen. »Alle Geschützoffiziere – Feuert wie ihr wollt!« funkte Ellsner allen Schiffen der Flotte zu. Das Schiff war in Bewegung. Die Schlacht hatte begonnen! Die Punkte durchquerten das Niemandsland des Weltraums und näherten sich. Sie trafen aufeinander! Energie blitzte auf, die Schlacht brach los. Sechs Minuten, Menschenzeit. Stunden für den elektronisch schnellen Schachspieler. Er überprüfte kurz die Stellung seiner Figuren, wollte daraus das Muster des Angriffs schließen.
Es gab kein festes Muster! Die Hälfte der gegnerischen Schachfiguren schoß hinaus ins All, weg von der Schlacht. Ganze Flanken griffen an, teilten sich auf, vereinigten sich wieder, schossen vorwärts, lösten ihre Formation auf, bildeten sie erneut. Kein Muster? Es mußte ein Muster geben. Der Schachspieler wußte, daß alles ein festes Muster hatte. Es kam lediglich darauf an, es zu finden, indem man die bereits gemachten Züge untersuchte und so bestimmte, wie das geplante Resultat aussehen sollte. Aber das Resultat war – Chaos! Die Punkte stießen vor und zurück, schossen im rechten Winkel aus der Schlacht davon, bremsten ab und kehrten zurück, ohne Sinn. Der Schachspieler fragte sich mit metallischer Ruhe, was das zu bedeuten hatte. Er wartete darauf, daß eine planvolle Aufstellung erkennbar wurde. Leidenschaftslos sah er zu, wie seine Figuren vom Brett gefegt wurden. »Ich lasse Sie jetzt aus Ihrer Kabine«, meldete sich Ellsner. »Aber versuchen Sie nicht, mich aufzuhalten. Ich denke, ich habe Ihre Schlacht gewonnen.« Das Schloß öffnete sich. Die beiden Offiziere rannten den Gang zur Brücke entlang, fest entschlossen, Ellsner in Stücke zu reißen. Auf der Brücke verlangsamten sie ihre Schritte. Der Bildschirm zeigte, wie die gewaltige Masse der irdischen Punkte über sich zerstreuende gegnerische Punkte herfiel. Was die beiden jedoch stehenbleiben ließ, war Nielson, der lachend mit den Händen auf den Knöpfen und Schaltern des großen Hauptleitstandes spielte. Der PWR meldete die Verluste. »Erde – achtzehn Prozent. Gegner – dreiundachtzig. Vierundachtzig. Sechsundachtzig. Erde, neunzehn Prozent.« »Matt!« rief Ellsner. Er stand neben Nielson und hielt einen Schraubenschlüssel in der Hand. »Kein festes Muster. Ich gab Ihrem PWR et-
was, womit er nicht fertig wurde. Ein Angriff ohne berechenbares Muster. Sinnlose Aufstellungen!« »Aber was tut der Feind?« fragte Branch und zeigte wild auf die gegnerischen Punkte. »Sie verlassen sich immer noch auf ihren Schachspieler«, sagte Ellsner. »Sie warten immer noch darauf, daß er das Angriffsmuster eines Verrückten entschlüsselt. Sie vertrauen zu sehr auf ihre Maschine, General. Dabei weiß der Mann hier nicht einmal, daß er einen Angriff lenkt.« … Und drückte drei, die sind für Papa auf dem Olivenbaum, wollte zwei zwei zwei Danbury hübsche Schuhe braun, alle braunen Knöpfe hinein, hinein, hinein, dann achtmal rot rot rot… »Wozu ist der Schraubenschlüssel gut?« fragte Margraves. »Der?« Ellsner wog ihn in der Hand. »Der ist dazu da, Nielson abzuschalten, nach dem Angriff.« … Und Fünf und Liebe und Schwarz, alle Schwarzen, hinein mit den hübschen Knöpfen ich weiß als ich klein war drückte ich fünf Knöpflein dort auf dem Gras Autsch!…
Schlechte Zeiten für Schneider Wenn die Geschäfte nicht so schlecht gegangen wären, hätte Slobold es vielleicht nicht getan. Aber die Geschäfte gingen schlecht. Niemand schien die Dienste eines Maßschneiders zu benötigen. Letzten Monat hatte er seinen Gehilfen entlassen. Nächsten Monat würde er sich selbst entlassen müssen. Slobold zog das gerade in Erwägung, umgeben von Baumwolle, Wolle und Gabardine, staubigen Musterbüchern und Schneiderpuppen, als der Mann eintrat. »Sie sind Slobold?« fragte der Mann. »Das stimmt, Sir«, sagte Slobold, sprang auf und rückte seine Weste zurecht. »Ich bin Mr. Bellis. Ich nehme an, Klish hat schon mit Ihnen gesprochen. Über die Anfertigung der Kleider.« Slobold überlegte rasch, während er den kleinen, kahl werdenden, auffällig gekleideten Mann anstarrte. Er kannte niemanden namens Klish, also hatte Mr. Bellis den falschen Schneider erwischt. Er öffnete den Mund, um ihm das zu sagen. Aber dann dachte er daran, daß die Geschäfte sehr schlecht gingen. »Klish«, grübelte er. »O ja, ich erinnere mich, glaube ich.« »Ich kann Ihnen jetzt mitteilen«, sagte Mr. Bellis ernst, »daß wir Sie sehr gut bezahlen werden. Aber wir stellen hohe Ansprüche. Sehr hohe Ansprüche.« »Natürlich, Mr. Bellis«, sagte Slobold. Er empfand ein leichtes Schuldgefühl, ignorierte es aber. Eigentlich, fand er, tat er Bellis ja sogar einen Gefallen, denn er war zweifellos der beste Schneider namens Slobold in der Stadt. Später, falls sie herausfinden sollten, daß er der falsche Mann war, konnte er immer noch behaupten, er kenne jemand anderes namens Klish.
»Das ist fein«, sagte Mr. Bellis und zog seine Rehlederhandschuhe aus. »Klish hat Sie bereits über die Einzelheiten informiert, nehme ich an?« Slobold antwortete nicht, erweckte aber mit einem Lächeln den Anschein, daß er Bescheid wußte und amüsiert war. »Es war sicher eine hübsche Überraschung für Sie, was?« fragte Mr. Bellis. Slobold zuckte die Achseln. »Nun, Sie sind verschwiegen«, sagte Bellis bewundernd. »Aber deswegen hat Klish Sie sicher ausgewählt.« Slobold beschäftigte sich damit, sich eine Zigarre anzuzünden, weil er nicht wußte, welchen Gesichtsausdruck er zeigen sollte. »Dann an die Arbeit«, sagte Mr. Bellis lebhaft und fuhr mit der Hand in die Brusttasche seines grauen Gabardineanzugs. »Hier sind sämtliche Maße für das erste Kleid. Natürlich wird es keine Anproben geben.« »Natürlich«, sagte Slobold. »Und das Kleid muß in drei Tagen fertiggestellt sein. So lange kann Egrish noch warten.« »Natürlich«, sagte Slobold wieder. Mr. Bellis reichte ihm ein zusammengefaltetes Blatt Papier. »Klish hat Ihnen bestimmt bereits gesagt, daß wir auf Ihre absolute Verschwiegenheit rechnen. Nichts darf bekannt werden, solange die Filiale noch nicht eröffnet ist. Und hier ist der Vorschuß.« Slobold hatte sich so gut unter Kontrolle, daß er beim Anblick der fünf unzerknitterten Hundert-Dollar-Scheine nicht einmal zusammenzuckte. »In drei Tagen«, sagte er, während er das Geld einsteckte. Mr. Bellis stand einen Moment nachdenklich da. Dann zuckte er die Achseln und eilte hinaus. Als er allein war, betrachtete Slobold die Maßangaben. Da niemand zusah, gestattete er es sich, den Mund aufzusperren. Ein solches Kleid hatte er noch nie im Leben gesehen. Die Trägerin mußte gut und gerne zwei Meter vierzig groß sein, und hatte offenbar
einige körperliche Veränderungen über sich ergehen lassen müssen. Aber was für Veränderungen! Als Slobold die fünfzig verschiedenen Maße und Anweisungen las, erkannte er, daß die Frau offenbar drei Brüste auf dem Bauch besaß, jede von unterschiedlicher Form und Größe. Dazu kam eine Reihe von großen Buckeln auf dem Rücken. Ihre Taille maß nur zwanzig Zentimeter, aber ihre vier Arme waren – nach den Armöffnungen zu urteilen – dick wie junge Eichen. Hüften waren keine vorgesehen, aber Ausbauchungen für gewaltige Schenkel wurden verlangt. Als Material sollte Kaschmir verwendet werden. Als Farbe wurde Tiefschwarz gewünscht. Slobold verstand jetzt, warum es keine Anproben geben würde. Er starrte auf die Anweisungen und zupfte dabei an seiner Unterlippe. »Es ist ein Kostüm«, sagte er laut, schüttelte dann aber den Kopf. Kostümanweisungen enthielten niemals fünfzig verschiedene Maße, und Kaschmir war dafür kein geeignetes Material. Er las den Zettel mit gerunzelter Stirn erneut. Erlaubte sich da jemand einen kostspieligen Scherz? Das schien zweifelhaft. Mr. Bellis war dafür zu ernsthaft gewesen. Dieses Kleid, das sagte Slobold sein Schneiderinstinkt, war für eine Person bestimmt, der es auch tatsächlich paßte. Das war ein furchterregender Gedanke. Obgleich es heller Tag war, schaltete Slobold die Deckenlampen ein. Er mutmaßte, daß das Kleid für eine reiche, aber schrecklich deformierte Person bestimmt war. In der Menschheitsgeschichte dürften solche Entstellungen bisher allerdings einmalig sein, dachte Slobold. Aber die Geschäfte gingen schlecht, und die Bezahlung war in Ordnung. Solange die Bezahlung stimmte, war er bereit, Dirndl für Elefanten und Schürzen für Nilpferde zu schneidern. Deshalb begann er, nachdem er sich kurz im Hinterzimmer ausgeruht hatte, Maßskizzen anzufertigen.
Drei Tage später kam Mr. Bellis wieder. »Ausgezeichnet«, sagte er, als er das Kleid hochhielt. Er nahm ein Maßband aus der Tasche und prüfte die Maße. »Nicht, daß ich an Ihrem Können zweifle«, sagte er. »Aber dieses Kleidungsstück muß wie angegossen sitzen.« »Natürlich«, sagte Slobold. Mr. Bellis steckte das Maßband wieder weg. »Eine sehr gute Arbeit«, sagte er. »Egrish wird zufrieden sein. Das Licht machte ihr zu schaffen. Daran sind sie nicht gewöhnt, wissen Sie.« »Ah«, sagte Slobold. »Es ist schwierig für sie, nachdem sie ihr ganzes bisheriges Leben in der Dunkelheit verbracht haben. Aber sie werden sich eingewöhnen.« »Das will ich meinen«, sagte Slobold. »Und schon bald können sie mit ihrer Arbeit beginnen«, sagte Mr. Bellis mit einem selbstzufriedenen Lächeln. Slobold machte sich daran, das Kleid einzupacken. Seine Gedanken rasten, als er sich mühte, Mr. Bellis’ Worte zu begreifen. Nachdem sie ihr Leben in der Dunkelheit verbracht haben, dachte er, während er das Papier zurechtzupfte. Sich eingewöhnen, überlegte er, während er den Knoten zumachte. Und Egrish war nicht allein. Bellis hatte von anderen gesprochen. Zum erstenmal zog Slobold in Erwägung, daß Egrish und die anderen nicht von der Erde stammten. Kamen sie vom Mars? Nein, dort gab es reichlich Licht. Vielleicht von der Nachtseite des Mondes? »Und hier sind die Maße für drei weitere Kleider«, sagte Mr. Bellis. »Ich kann die Maße benutzen, die Sir mir schon gegeben haben«, sagte Slobold, der immer noch an andere Planeten dachte. »Wie soll das gehen?« fragte Mr. Bellis. »Die anderen können nichts tragen, das Egrish passen würde.« »Oh, das hatte ich vergessen«, sagte Slobold und zwang sich, seine Aufmerksamkeit wieder Bellis zuzuwenden. »Möchte Egrish noch weitere Kleider aus dem gleichen Stoff?«
»Nein. Wozu?« Slobold preßte die Lippen zusammen. Bellis würde vielleicht Verdacht schöpfen, wenn er sich noch mehr Schnitzer erlaubte. Er betrachtete die neuen Maße. Jetzt mußte er seine ganze Selbstbeherrschung aufbieten, denn sie unterschieden sich so stark von Egrishs Maßen, wie diese sich von der menschlichen Norm unterschieden hatten. »Könnten Sie sie in einer Woche fertigstellen?« fragte Mr. Bellis. »Ich möchte Sie wirklich nicht in Zeitdruck bringen, aber die Filiale soll so bald wie möglich eröffnet werden.« »Eine Woche? Das wird gehen«, sagte Slobold mit einem Blick auf die Hundert-Dollar-Scheine, die Bellis ihm über dem Ladentisch hinhielt. »Ja, das ist kein Problem.« »Fein«, sagte Mr. Bellis. »Die armen Dinger können das Licht einfach nicht ertragen.« »Warum haben sie ihre Kleidung denn nicht mitgebracht?« fragte Slobold und wünschte sich augenblicklich, er hätte es nicht getan. »Welche Kleidung?« fragte Mr. Bellis mit gerunzelter Stirn. »Sie besitzen keine Kleidung. Hatten niemals welche. Und nach einer kleinen Weile werden sie auch wieder ohne Kleidung auskommen.« »Das hatte ich vergessen«, sagte Slobold schwitzend. »Also, dann bis in einer Woche. Und damit wird Ihre Arbeit dann auch beendet sein.« Mr. Bellis ging zur Tür. »Übrigens«, sagte er, »Klish kommt in ein oder zwei Tagen aus der Nachtwelt zurück.« Dann ging er hinaus. Slobold arbeitete in dieser Woche fieberhaft. Er ließ das Licht in seinem Laden ununterbrochen brennen und mied dunkle Ecken. Die Anfertigung der Kleider verriet ihm, wie ihre Träger aussahen, und das raubte ihm nachts den Schlaf. Er wünschte sich innig, daß Bellis ihm nichts erzählt hätte, denn nun wußte er zuviel für seinen Seelenfrieden. Er wußte, daß Egrish und ihre Gefährten ihr Leben in der Dunkelheit verbrachten. Das bedeutete, daß sie von einer lichtlosen Welt stammten.
Von welcher Welt? Und normalerweise trugen sie keine Kleidung. Warum brauchten sie dann jetzt welche? Was waren sie? Warum kamen sie hierher? Und was meinte Bellis damit, daß sie bald mit ihrer Arbeit beginnen könnten? Slobold fand, daß es besser war, anständig zu bleiben und zu hungern, als solche Arbeit zu tun. »Egrish war sehr zufrieden«, sagte Mr. Bellis eine Woche später. Er überprüfte die Maße. »Die anderen werden es auch sein, da bin ich mir sicher.« »Freut mich, das zu hören«, sagte Slobold. »Sie sind wirklich anpassungsfähiger, als ich gedacht hatte«, sagte Mr. Bellis. »Sie beginnen bereits, sich einzugewöhnen. Und Ihre Arbeit wird ihnen natürlich dabei helfen.« »Da bin ich aber froh«, sagte Slobold. Er lächelte mechanisch und wünschte sich, daß Bellis endlich ging. Aber Bellis war in redseliger Stimmung. Er beugte sich über den Ladentisch und sagte: »Schließlich gibt es ja auch keinen Grund, warum sie nur in der Dunkelheit tätig sein sollten. Das schränkt sie doch sehr in ihren Möglichkeiten ein. Darum habe ich sie ja auch aus der Nachtwelt hierher gebracht.« Slobold nickte. »Das wäre alles, glaube ich«, sagte Bellis und klemmte sich den Karton mit den Kleidern unter den Arm. Er ging zur Tür. »Übrigens«, fügte er noch hinzu, »hätten Sie mir sagen sollen, das Sie der falsche Slobold sind.« Slobold konnte nur dümmlich grinsen. »Aber Schaden wird daraus keiner entstehen«, sagte Bellis, »denn Egrish möchte sich persönlich bei Ihnen bedanken.« Behutsam schloß er hinter sich die Tür.
Slobold stand lange Zeit da und starrte auf die Tür. Dann berührte er die Hundert-Dollar-Noten in seiner Tasche. »Das ist doch lächerlich«, sagte er sich. Rasch schloß er die Vordertür zu. Dann eilte er zur Hintertür und schob den Riegel vor. Dann zündete er sich eine Zigarre an. »Vollkommen lächerlich«, sagte er. Draußen war es heller Tag. Er lächelte über seine Ängste und schaltete die Deckenlampen ein. Er hörte ein leises Geräusch hinter sich. Die Zigarre glitt ihm aus den Fingern, aber Slobold rührte sich nicht. Er gab keinen Laut von sich, obwohl jeder Nerv in seinem Körper kreischte. »Hallo, Mr. Slobold«, sagte eine Stimme. Slobold konnte sich noch immer nicht bewegen, dort in seinem hell erleuchteten Laden. »Wir wollen uns bei Ihnen für Ihre ausgezeichnete Arbeit bedanken«, sagte die Stimme. »Wir alle.« Slobold wußte, daß er auf der Stelle verrückt werden würde, wenn er nicht hinsah. Es konnte nichts Schlimmeres geben, als nicht hinzusehen. Langsam, unerbittlich, begann er sich umzudrehen. »Klish sagte, wir könnten kommen«, sagte die Stimme. »Klish sagte, Sie würden uns als erster sehen. Am Tag, meine ich.« Slobold drehte sich ganz um und schaute hin. Da war Egrish, und da waren die anderen. Sie trugen keine Kleider. Sie trugen keine Kleider. Wie sollten sie auch, wo sie doch überhaupt keine Körper besaßen? Vier gigantische Köpfe schwebten vor ihm. Köpfe? Ja, er nahm an, daß diese mißgestalteten, aufgeblähten Gebilde Köpfe waren. Irgendwie kamen sie ihm vage vertraut vor. Einen Augenblick lang versuchte Slobold sich verzweifelt einzureden, er sei das Opfer einer Halluzination. Er konnte ihnen unmöglich schon einmal begegnet sein, sagte er sich. Bellis hatte erzählt, sie kämen aus der Nachtwelt. Sie lebten und arbeiteten im Dunkeln. Sie hatten nie Kleider besessen und würden nie wieder welche besitzen…
Dann erinnerte sich Slobold. Er war ihnen schon einmal begegnet, in einem besonders schlimmen Traum. Sie waren Nachtmahre. Vollkommen logisch, dachte er irr. Eigentlich schon längst überfällig, wenn man genauer darüber nachdachte. Es gab keinen Grund, warum Nachtmahre sich auf die Nacht beschränken sollten. Der Tag – ein riesiges, noch ungenutztes Betätigungsfeld für sie, das förmlich darauf wartete, kommerziell verwertet zu werden. Mr. Bellis hatte eine Tagmahr-Filiale gegründet, und hier waren sie. Aber wozu die Kleider? Dann wurde Slobold klar, was er geschneidert hatte, und das war einfach zuviel für ihn. Sein Verstand begann zu zittern und zu beben und sich zu verzerren. Slobold wünschte sich, auf nicht unschickliche Weise wahnsinnig zu werden. »Wir gehen jetzt«, sagte Egrish. »Das Licht macht uns immer noch zu schaffen.« Slobold sah, wie die grotesken Köpfe näher kamen. »Vielen Dank für die Schlafmasken. Sie passen ausgezeichnet.« Slobold fiel zu Boden. »Wir werden Sie weiterempfehlen.«
Die Sonderausstellung Als Mr. Grant Mrs. Grant durch die mit Marmorboden versehene Eingangshalle führte, fiel ihm auf, daß das Museum an diesem Morgen ungewöhnlich menschenleer war. Was ihm unter diesen Umständen sehr gelegen kam. »Guten Morgen, Sir«, sagte der rotwangige, alte Museumsdiener. »Guten Morgen, Simmons«, sagte Mr. Grant. »Das ist Mrs. Grant.« Mrs. Grant nickte mürrisch und lehnte sich gegen ein mittelamerikanisches Kriegskanu. Ihre Schultern befanden sich auf einer Höhe mit denen des Pappmache-Paddlers, waren aber deutlich breiter. Als er die Schultern betrachtete, fragte sich Mr. Grant für einen Augenblick, ob die Sonderausstellung funktionieren würde. Konnte sie bei einer so großen, so kräftigen, so willensstarken Frau überhaupt Erfolg haben? Er hoffte es. Ein Fehlschlag wäre lächerlich gewesen. »Willkommen in unserem Museum«, sagte der Museumsdiener. »Ich glaube, wir beide haben zum erstenmal das Vergnügen, Mrs. Grant.« »Ich bin als Kind zum letztenmal hiergewesen«, sagte Mrs. Grant und unterdrückte hinter ihrer großen Hand ein Gähnen. »Mrs. Grant ist nicht besonders an unserem Museum interessiert«, erklärte Mr. Grant, auf seinen Spazierstock gestützt. »Meine ornithologische Arbeit läßt sie ziemlich unbeeindruckt. Trotzdem hat sie sich bereit erklärt, mich zu der Sonderausstellung zu begleiten.« »Die Sonderausstellung, Sir?« fragte der Museumsdiener. Er schaute in ein Notizbuch. »Ich glaube nicht…« »Hier ist meine Einladung«, sagte Mr. Grant. »Ja, Sir.« Der Museumsdiener betrachtete die Karte aufmerksam und gab sie dann zurück. »Ich hoffe, es wird Ihnen gefallen, Sir. Die Sonderausstellung ist noch nicht oft gezeigt worden. Zuletzt haben sie, glaube ich, Dr. Carver und seine Frau besucht.«
»Natürlich«, sagte Mr. Grant. Er kannte den ruhigen, kahl werdenden Carver ziemlich gut. Und Carvers dünne, nörgelnde, rothaarige Frau war eine gute Bekannte von Mrs. Grant. Die Ausstellung war offenbar effektiv gewesen, denn Carver war bei der Arbeit jetzt spürbar fröhlicher. Die Sonderstellung war, selbstverständlich, ein viel besserer Problemlöser als die Eheberatung, Psychiatrie, Psychoanalyse oder bloße Geduld. Es war ausschließlich ein museumsinternes Projekt. Das Museum wollte, daß seine Beschäftigten glücklich und zufrieden waren, denn nur dann konnten sie der Wissenschaft erfolgreich dienen. Aber darüber hinaus erfüllte die Sonderausstellung auch erzieherische Zwecke, und schloß eine Lücke im Forschungsprogramm des Museums. Die breite Öffentlichkeit war über sie noch nicht informiert worden, denn die breite Öffentlichkeit war angesichts wissenschaftlicher Notwendigkeiten überaus konservativ. Aber so sollte es wohl auch sein, sagte Mr. Grant. Der Museumsdiener zog einen Schlüssel aus der Tasche. »Sie müssen ihn mir auf jeden Fall zurückbringen«, sagte er. Grant nickte und führte Mrs. Grant durch den Saal, vorbei an Glaskästen mit sibirischen Tigern und Riesenpandas. Ein Wasserbüffel starrte sie glasäugig an, und eine Familie von Axishirschen graste in ewigem Frieden. »Wie lange wird diese Sache dauern?« fragte Mrs. Grant. »Überhaupt nicht lange«, sagte Mr. Grant, der sich daran erinnerte, daß die Sonderausstellung für ihre Schnelligkeit bekannt war. »Ich erwarte nämlich zu Hause eine Paketlieferung«, sagte Mrs. Grant. »Und ich habe noch einiges zu erledigen.« Während er sie an einem Muntjak und an einem Moschushirsch vorbeiführte, wunderte sich Mr. Grant für einen Moment, was sie wohl zu erledigen hatte. Mrs. Grants Interessen schienen tagsüber um das Fernsehen und abends ums Kino zu kreisen. Natürlich gab es die Paketlieferungen. Mr. Grant seufzte. Sie beiden paßten wirklich nicht zusammen. Kaum zu glauben, daß er – ein kleiner, ziemlich sensibler Bursche mit großem
Verstand – freiwillig eine Frau mit so heroischen Proportionen und dürftiger Mentalität geheiratet hatte. Aber das passierte anderen auch; Dr. Carver zum Beispiel. Mr. Grant lächelte blaß über das Märchen, daß Gegensätze sich angeblich anzogen, über diese ganzen romantischen Vorstellungen. Hatte er denn nichts aus seiner ornithologischen Arbeit gelernt? Paarte sich etwa der gelbe Zeisig mit dem Kondor? Ein einziger, großer Irrtum! Wieviel besser wäre es gewesen, wenn er sich damit zufriedengegeben hätte, zur Fremdenlegion zu gehen, sein Erbe zu verprassen oder sich dem VodooKult zu verschreiben. Von solchen Abenteuern konnte man immer noch zu einem anständigen Lebenswandel zurückfinden. Aber aus der Ehe freikommen? Unmöglich. Nicht, solange Mrs. Grant sich so häuslich bei ihm eingerichtet hatte. Es sei denn, natürlich, daß die Sonderausstellung… »Hier entlang«, murmelte Mr. Grant und führte sie in einen unerwartet zwischen Glaskästen verborgen auftauchenden Flur. »Wo ist diese Ausstellung?« fragte Mrs. Grant ärgerlich. »Ich muß rechtzeitig für meine Paketlieferungen wieder zu Hause sein.« »Wir sind gleich da«, sagte Mr. Grant und führte sie an einer Tür vorbei, auf der mit roten Buchstaben KEIN ZUTRITT stand. Er wunderte sich über diese Paketlieferungen. Sie waren unerhört häufig. Und der Paketbote hinterließ jedesmal die Stummel einer scheußlichen Zigarrenmarke in den Aschenbechern. »Da wären wir«, sagte Mr. Grant. Er schloß eine Eisentür auf und betrat einen riesigen Raum. Die Einrichtung war die Nachbildung einer Lichtung im Dschungel, und vor ihnen stand eine strohgedeckte Hütte. Dahinter befand sich, halb verborgen, eine zweite Hütte. Mehrere Wilde hockten auf dem mit Schlingpflanzen bewachsenen Boden und schwatzten miteinander. »Sie sind lebendig!« rief Mrs. Grant aus. »Natürlich. Das ist ein neues Experiment in deskriptiver Anthropologie, weißt du.« Eine alte, faltige Frau legte Holz auf ein Feuer, das unter einem großen Topf prasselte. Etwas kochte blubbernd in dem Topf.
Die Krieger standen auf, als sie die Grants bemerkten. Einer von ihnen gähnte und streckte sich krachend. »Prächtige Burschen«, flüsterte Mrs. Grant. »Ja«, sagte Mr. Grant. Das fiel ihr natürlich auf. Auf dem Boden vor der ersten Hütte lagen verzierte Holzschwerter, lange, schlanke Bögen, große, lange Messer. Und beständiges Zirpen und Zwitschern füllte den Raum. Ein Vogel schrie wütend, und ein anderer flötete eine Antwort. Mrs. Grant sagte: »Können wir jetzt wieder gehen – oh!« Einer der Eingeborenen, wild und fremdartig mit seinem langen schwarzen Haar und seinem bemalten Gesicht, stand plötzlich neben ihr. Zwei weitere standen hinter ihm. Als Mr. Grant die Gruppe betrachtete, kam ihm in den Sinn, wie ähnlich Mrs. Grant diesen Wilden war, mit ihrer dicken Schminke, ihrem Fuchspelz und ihrem klimpernden Schmuck. »Was wollen sie?« fragte Mrs. Grant und musterte die halbnackten Männer nicht gerade ängstlich. »Sie möchten dir ihr Dorf zeigen«, sagte Mr. Grant. »Das ist Teil der Ausstellung.« Mrs. Grant bemerkte, daß der erste Eingeborene sie bewundernd anstarrte, und sie ließ sich von ihm führen. Man zeigte ihr den Kochtopf, die Waffen, die Dekorationen an der ersten Hütte. Dann führten die Eingeborenen sie zu der zweiten Hütte, und einer von ihnen winkte und bedeutete ihr, hineinzugehen. »Sehr informativ«, sagte sie, winkte zurück und folgte ihm hinein. Die anderen beiden Eingeborenen betraten die Hütte ebenfalls. Einer von ihnen nahm ein großes Messer mit hinein. »Du hast mir gar nicht erzählt, daß sie Kopfjäger sind!« drang Mrs. Grants Stimme leise aus der Hütte. »Hast du alle diese Schrumpfköpfe gesehen?« Mr. Grant nickte. Es war erstaunlich, wie schwer diese Köpfe sich beschaffen ließen. Die südamerikanischen Behörden gingen neuerdings scharf gegen ihren Export vor. Die Sonderausstellung war vielleicht die letzte noch verbliebene Quelle dieser einzigartigen Volkskunst.
»Einer davon hat rote Haare. Er sieht aus wie Mrs…« Ein Schrei ertönte, und dann konnte man hören, daß in der Hütte ein heftiger Kampf stattfand. Mr. Grant hielt den Atem an. Die Eingeborenen waren immerhin zu dritt, aber Mrs. Grant war eine sehr starke Frau. Sie würde doch wohl nicht… Einer der Eingeborenen kam tanzend aus der Hütte, und das alte Weib hob ein paar ominöse Instrumente auf und ging hinein. Was immer in dem Topf sein mochte, es kochte weiter lustig vor sich hin. Mr. Grant seufzte erleichtert und fand, daß er genug gesehen hatte. Schließlich war er ja kein Anthropologe. Er schloß die Eisentür hinter sich ab und machte sich auf den Weg in die ornithologische Abteilung. Mrs. Grants Paketlieferung war gewiß nicht so wichtig, daß seine Anwesenheit erforderlich gewesen wäre.
Der Feger von Loray »Vollkommen unmöglich«, erklärte Professor Carver. »Aber ich habe es gesehen«, sagte Fred, sein Begleiter und Leibwächter. »Letzte Nacht habe ich es gesehen! Sie brachten diesen Jäger ins Dorf – mit halb abgerissenem Kopf –, und sie…« »Warte«, sagte Carver und beugte sich erwartungsvoll vor. Sie hatten ihr Raumschiff vor Tagesanbruch verlassen, um das Sonnenaufgangsfeiern im Dorf Loray auf dem Planeten gleichen Namens zu beobachten. Sonnenaufgangsfeiern, aus angemessener Entfernung beobachtet, sind oft farbenfroh und können Stoff für ein ganzes Kapitel im Buch eines Anthropologen liefern; aber wie üblich war Loray auch diesmal eine Enttäuschung. Ohne Tamtam ging die Sonne auf, als Antwort auf die am Abend zuvor gesprochenen Gebete. Langsam kletterte ihre mattrote Scheibe am Horizont empor und wärmte die obersten Zweige des tropischen Regenwaldes, der das Dorf umgab. Und die Eingeborenen schliefen weiter… Nicht alle Eingeborenen. Der Feger war bereits auf den Beinen und fegte mit seinem Reisigbesen den Dreck zwischen den Hütten zusammen. Langsam schlurfte er herum, menschenähnlich, aber unaussprechlich allein. Das Gesicht des Fegers war von stilisierter Konturlosigkeit, so als habe die Natur hier lediglich einen groben Entwurf intelligenten Lebens skizziert. Sein Kopf war merkwürdig höckrig, und seine Haut hatte eine schmutziggraue Farbe. Während er fegte, sang der Feger vor sich hin, mit einer dumpfen, kehligen Stimme. Der Feger unterschied sich äußerlich nur durch ein einziges Merkmal von den übrigen Lorayanern: auf sein Gesicht war ein breiter, schwarzer Streifen gemalt. Dadurch wurde sein Rang angezeigt, der unterste, geringste Rang in dieser primitiven Gesellschaft.
»Also«, sagte Professor Carver, nachdem die Sonne ereignislos aufgegangen war, »das Phänomen, das du da beschreibst, kann es nicht geben. Und schon gar nicht auf einem so minderwertigen, schäbigen kleinen Planeten wie diesem.« »Was ich gesehen habe, habe ich gesehen«, beharrte Fred. »Wenn Sie diese Chance nicht nutzen wollen, Professor, ist das Ihre Sache.« Er lehnte sich gegen den knorrigen Stamm eines Stabicus-Baumes, verschränkte die Arme vor der mageren Brust und blickte finster zu den strohgedeckten Hütten des Dorfes hinüber. Sie waren jetzt seit fast zwei Monaten auf Loray, und Fred verabscheute das Dorf mit jedem Tag mehr. Er war ein untergewichtiger, unsympathischer junger Mann. Er trug sein Haar in einem kurzen Borstenschnitt, der die Enge seiner Stirn noch mehr betonte. Er begleitete den Professor nun seit zehn Jahren, hatte mit ihm Dutzende von Planeten bereist und viele seltsame und wunderbare Dinge gesehen. Alles, was er sah, steigerte jedoch nur seine Verachtung für die ganze Galaxis. Er hatte nur den Wunsch, reich und berühmt, oder reich und bekannt, in seine Heimatstadt Bayonne, New Jersey, zurückzukehren. »Diese Sache könnte uns reich machen«, sagte Fred anklagend. »Und Sie wollen sie einfach sausen lassen.« Professor Carver schürzte nachdenklich die Lippen. Reichtum war ein angenehmer Gedanke, selbstverständlich. Aber der Professor wollte seine wichtige wissenschaftliche Arbeit nicht unterbrechen, nur um sich auf ein fruchtloses Unterfangen einzulassen. Er war dabei, sein großes Buch fertigzustellen, das Buch, in dem seine Theorie voll untermauert und belegt werden würde, die er in seiner ersten Schrift: Farbenblindheit bei den Thang-Völkern aufgestellt hatte. Er hatte seine Theorie erweitert in seinem Buch: Koordinationsschwierigkeiten der Drang-Rasse. Allgemeiner gefaßt hatte er sie in seinem monumentalen Werk Intelligenzschwächen überall in der Galaxis, in dem er schlüssig nachgewiesen hatte, daß die Intelligenz der Nicht-Terraner arithmetisch schrumpft, je weiter ihre Planeten geometrisch von der Erde entfernt sind.
Jetzt war seine Theorie in Carvers neuester Arbeit zu voller Blüte gelangt. Dieses große, abschließende Werk würde den Titel tragen: Ursachen für die implizite Unterlegenheit Nicht-Terranischer Völker. »Wenn du recht hast…«, sagte Carver. »Sehen Sie doch!« rief Fred. »Sie bringen noch jemanden! Überzeugen Sie sich selbst!« Professor Carver zögerte. Er war ein beleibter, imposanter, rotbäckiger Mann, der sich langsam und bedächtig zu bewegen pflegte. Er trug die Uniform eines Tropenforschers, obgleich Loray sich in einer gemäßigten Zone befand. Er hatte einen lederbezogenen Stab bei sich und trug, um die Taille geschnallt, einen großen Revolver, einen ebensolchen wie Fred. »Wenn du recht hast«, sagte Carver, »wäre das in der Tat eine tolle Entdeckung.« »Kommen Sie!« sagte Fred. Vier Srag-Jäger trugen einen verwundeten Gefährten zur Medizinhütte, und Carver und Fred schlossen sich ihnen an. Die Jäger waren sichtlich erschöpft; sie mußten schon tagelang unterwegs sein, um ihren Freund zum Dorf zu bringen, denn die Srag-Jagd führte meistens tief in den Regenwald hinein. »Der scheint am Ende zu sein, was?« flüsterte Fred. Professor Carver nickte. Im letzten Monat hatte er einen Srag fotografiert, von einem Beobachtungsposten hoch oben in einem sehr großen, mächtigen Baum. Er wußte, daß die Srags große, bösartige, schnelle Raubtiere waren, mit einem erschreckenden Arsenal an Krallen, Zähnen und Hörnern. Es war das einzige jagdbare Wild auf dem Planeten, das nicht tabu war. Die Eingeborenen mußten Srags töten oder verhungern. Aber der verwundete Mann war mit seinem Speer und Schild nicht schnell genug gewesen, und der Srag hatte ihm vom Hals bis zum Bekken den Leib aufgerissen. Der Jäger hatte schwer geblutet, obwohl sie ihm die Wunde hastig mit getrocknetem Gras verbunden hatten. Zum Glück war er ohne Bewußtsein. »Dieser Knabe hat keine Chance«, bemerkte Carver. »Es ist ein Wunder, daß er überhaupt noch lebt. Schon allein der Schock, ganz zu schweigen von der Tiefe und Größe der Wunde…«
»Warten Sie ab«, sagte Fred. Das Dorf war plötzlich erwacht. Männer und Frauen, grauhäutig und mit höckrigen Köpfen, sahen schweigend zu, wie die Jäger auf die Medizin-Hütte zumarschierten. Der Feger hielt inne, um zuzuschauen. Das einzige Kind des Dorfes stand vor der Hütte seiner Eltern und starrte, mit dem Daumen im Mund, auf die Prozession. Deg, der Medizinmann, kam hinaus, um den Jägern entgegenzugehen. Er trug bereits seine rituelle Maske. Die Heilungstänzer stellten sich auf und bemalten sich rasch die Gesichter. »Glauben Sie, daß Sie ihn wieder hinkriegen, Doc?« fragte Fred. »Man darf hoffen«, erwiderte Deg fromm. Sie betraten die schwach beleuchtete Medizin-Hütte. Der verletzte Lorayaner wurde behutsam auf eine Grasmatte gelegt, und die Tänzer begannen für ihn zu tanzen. Deg stimmte einen feierlichen Gesang an. »Das wird wohl kaum etwas nützen«, sagte Professor Carver zu Fred. Er wirkte so interessiert wie jemand, der einem Schaufelbagger bei der Arbeit zusieht. »Zu spät für Gesundbeterei. Hör dir seine Atmung an. Schon flacher, nicht wahr?« »Eindeutig«, sagte Fred. Deg beendete seinen Gesang und beugte sich über den verletzten Jäger. Die Atmung des Lorayaners ging mühsam. Sie wurde langsamer, setzte aus… »Es ist Zeit!« rief der Medizinmann. Er nahm ein kleines, hölzernes Fläschchen aus seinem Beutel, entkorkte es und hielt es dem sterbenden Mann an die Lippen. Der Jäger trank. Und dann… Carver kniff die Augen zusammen, und Fred grinste triumphierend. Die Atmung des Jägers wurde kräftiger. Während sie zusahen, wurde die große Wunde zu einer Linie aus Narbengewebe, dann zu einem dünnen Streifen, dann zu einem kaum noch sichtbaren weißen Strich. Der Jäger setzte sich auf, kratzte sich am Kopf, grinste albern und bat um etwas zu trinken, vorzugsweise etwas Alkoholisches. Deg verkündete sofort, daß ein Fest gefeiert werde.
Carver und Fred gingen zum Rand des Regenwaldes, um sich zu beraten. Der Professor ging wie im Traum. Seine dicke Unterlippe war vorgeschoben, und gelegentlich schüttelte er den Kopf. »Was halten Sie davon?« fragte Fred. »Es ist unglaublich«, sagte Carver verwirrt. »Unfaßbar, daß eine natürliche Substanz eine solche Wirkung hat. Und letzte Nacht hat sie genauso gewirkt?« »Ganz genauso«, sagte Fred. »Sie brachten einen Jäger – sein Kopf war halb abgerissen. Er schluckte etwas von dem verdammten Zeug und wurde vor meinen Augen geheilt.« »Der ewige Traum der Menschheit«, grübelte Carver. »Ein universelles Heilmittel.« »Für so ein Zeug könnten wir jeden Preis verlangen«, sagte Fred. »Ja, das könnten wir – vor allem würden wir damit aber der Wissenschaft einen Dienst erweisen«, erinnerte Professor Carver ihn streng. »Ja, Fred, ich denke, wir sollten etwas von dieser Substanz mitnehmen.« Sie wandten sich um und gingen mit festen Schritten zurück ins Dorf. Die Tänze waren in vollem Gange, dargeboten von verschiedenen Mitgliedern der Tierkulte. Im Augenblick tanzten gerade die Sathogani, ein Kult, der ein mittelgroßes, hirschartiges Tier repräsentierte. Sie waren an den drei roten Punkten auf der Stirn zu erkennen. Männer des Dresfey und des Taganyes, Kulte, die andere Waldtiere repräsentierten, warteten, bis sie an der Reihe waren. Die zu den Kulten gehörenden Tiere waren tabu und durften unter keinen Umständen getötet werden. Carver war es nicht gelungen, den Sinn dieses Verbots herauszufinden. Die Lorayaner weigerten sich, darüber zu sprechen. Deg, der Medizinmann, hatte seine rituelle Maske abgenommen. Er saß vor seiner Hütte und beobachtete den Tanz. Er erhob sich, als die Erdbewohner sich ihm näherten. »Friede!« sagte er. »Klar doch«, sagte Fred. »Das war wirklich saubere Arbeit heute morgen.« Deg lächelte bescheiden. »Die Götter haben unsere Gebete erhört.«
»Die Götter?« sagte Carver. »Es schien hauptsächlich dieses Serum gewesen zu sein.« »Serum? Oh, der Sersee-Saft!« Deg machte eine rituelle Geste, als er den Namen aussprach. »Ja, der Sersee-Saft ist die Mutter des lorayanischen Volkes.« »Wir würden gerne welchen kaufen«, platzte Fred heraus, ohne Professor Carvers tadelndes Stirnrunzeln zu beachten. »Was möchtet ihr für ein Faß haben?« »Ich bedaure«, sagte Deg. »Wie wäre es mit ein paar hübschen Perlen? Spiegeln? Oder vielleicht einige Stahlmesser?« »Es ist nicht möglich«, beharrte der Medizinmann. »Der Sersee-Saft ist geweiht. Er darf nur für die heilige Heilung benutzt werden.« »Red keinen Quatsch«, sagte Fred, und Röte stieg ihm in die fahlen Wangen. »Wenn ihr Kaffer glaubt, ihr könntet…« »Wir verstehen«, mischte sich Carver ölig ein. »Wir wissen über geweihte Dinge Bescheid. Geweihte Dinge sind heilig. Sie dürfen nicht von ungeweihten Händen berührt werden.« »Sind Sie verrückt?« flüsterte Fred auf Englisch. »Du bist ein weiser Mann«, sagte Deg ernst. »Du verstehst, warum ich euren Wunsch zurückweisen muß.« »Natürlich. Aber zufällig, Deg, bin ich in meinem Land ein Medizinmann.« »Ah? Das wußte ich nicht!« »Es ist so. Auf meinem Gebiet bin ich sogar der höchste Medizinmann.« »Dann mußt du ein sehr heiliger Mann sein«, sagte Deg und neigte den Kopf. »Mann, er ist verdammt heilig!« sagte Fred nachdrücklich. »Der heiligste Mann, den ihr hier je zu Gesicht gekriegt habt.« »Bitte, Fred«, sagte Carver und blinzelte bescheiden. Er sagte zu dem Medizinmann: »Es ist wahr, obwohl ich nicht gerne große Worte machen möchte. Unter diesen Umständen wirst du sicher einsehen, daß es nicht
falsch wäre, mir etwas Sersee-Saft zu geben. Im Gegenteil, es ist geradezu deine priesterliche Pflicht, mir welchen zu geben.« Der Medizinmann dachte lange nach, während widerstrebende Gefühle sich kaum wahrnehmbar in seinem fast konturlosen Gesicht abzeichneten. Schließlich sagte er: »Das mag so sein. Und doch kann ich dir leider nicht geben, was du verlangst.« »Warum nicht?« »Weil es so wenig Sersee-Saft gibt, so schrecklich wenig. Er reicht kaum für unser Dorf.« Deg lächelte traurig und ging davon. Das Leben im Dorf ging weiter seinen einfachen, gleichförmigen Gang. Der Feger kehrte gemächlich mit seinem Reisigbesen. Die Jäger gingen auf Srag-Jagd. Die Frauen des Dorfes bereiteten das Essen zu und kümmerten sich um das einzige Kind des Dorfes. Die Priester und Tänzer beteten allabendlich, daß die Sonne am Morgen wieder aufgehen möge. Alle waren zufrieden, auf eine bescheidene, demütige Weise. Alle bis auf die Erdenmenschen. Sie hatten weitere Unterredungen mit Deg und erfuhren allmählich die ganze Geschichte des Sersee-Saftes und der mit ihm verbundenen Schwierigkeiten. Der Sersee-Busch war ein kleines und kümmerliches Gewächs. Er gedieh in der freien Natur nicht besonders gut, widersetzte sich aber dennoch jeder Kultivierung und ließ sich auch nicht umpflanzen. Man konnte nur um ihn herum das Unkraut jäten und hoffen, daß er aufblühte. Aber die meisten Sersee-Büsche kümmerten ein oder zwei Jahre vor sich hin und gaben dann den Geist auf. Einige wenige blühten, und nur wenige von diesen lebten lange genug, um ihre charakteristischen roten Beeren hervorzubringen. Aus der Beere des Sersee-Busches preßten die Lorayaner ein Elixier, daß für sie das Leben bedeutete. »Und denkt daran«, erläuterte Deg, »wie kümmerlich der Sersee gedeiht, und wie selten er anzutreffen ist. Wir müssen manchmal monatelang suchen, um einen einzigen Busch zu finden, der Beeren trägt. Und
diese Beeren können dann das Leben von einem einzigen Lorayaner, höchstens von zweien retten.« »Traurig, sehr traurig«, sagte Carver. »Aber sicher könnte man doch durch intensive Düngung…« »Es wurde schon alles versucht.« »Ich verstehe«, sagte Caver voller Ernst, »wie wichtig der Sersee-Saft für euch ist. Aber wenn ihr uns ein wenig davon geben könntet – nur einen Becher oder zwei –, würden wir ihn mit zur Erde nehmen und dort untersuchen, vielleicht sogar künstlich herstellen lassen. Dann könntet ihr soviel davon bekommen, wie ihr braucht.« »Aber wir wagen es nicht, etwas wegzugeben. Habt ihr gesehen, wie wenige Kinder wir haben?« Carver nickte. »Es gibt nur sehr wenige Geburten. Unser Leben ist ein beständiger Kampf gegen das Aussterben unserer Rasse. Das Leben jedes einzelnen muß erhalten werden, bis ein Kind da ist, das seinen Platz einnehmen kann. Und das geht durch unsere ständige und niemals endende Suche nach den Sersee-Beeren. Und es gibt niemals genug«, seufzte der Medizinmann, »niemals genug.« »Heilt der Saft denn wirklich alles?« fragte Fred. »Er vermag mehr als das. Jene, die vom Sersee gekostet haben, bekommen fünfzig Lebensjahre geschenkt.« Carver riß die Augen auf. Fünfzig Jahre auf Loray entsprachen dreiundsechzig Erdjahren. Der Sersee war nicht nur ein Heilmittel, sondern auch noch eine Langlebigkeitsdroge. Er hielt inne, um sich klarzumachen, was es bedeutete, seinem Leben sechzig weitere Jahre hinzufügen zu können. Dann fragte er: »Was geschieht, wenn jemand nach fünfzig Jahren erneut Sersee trinkt?« »Das wissen wir nicht«, erklärte ihm Deg. »Niemand würde ihn ein zweites Mal trinken, wo es doch nur wenig davon gibt.« Carver und Fred tauschten Blicke auf.
»Hör mir jetzt genau zu Deg«, sagte Professor Carver. Er sprach von den heiligen Pflichten der Wissenschaft. Die Wissenschaft, sagte er dem Medizinmann, stehe über Rassenzugehörigkeit, Herkunft, Religion. Der wissenschaftliche Fortschritt sei sogar noch wichtiger als das Leben selbst. Was mache es schon aus, wenn ein paar mehr Lorayaner starben? Sie würden ohnehin sterben. Es komme einzig darauf an, daß die terranische Wissenschaft eine Probe des Sersee erhalte. »Es mag so sein, wie du sagst«, entgegnete Deg. »Aber meine Entscheidung steht fest. Als Priester der Sunniheriat-Religion ist es meine heilige Pflicht, das Leben meines Volkes zu schützen. Ich darf nicht gegen diese heilige Pflicht verstoßen.« Er wandte sich ab und ging davon. Die Erdenmenschen kehrten frustriert zu ihrem Raumschiff zurück. Nach einem Kaffee öffnete Professor Carver eine Schublade und holte das Manuskript von Ursachen für die implizite Unterlegenheit Nicht-Terranischer Völker hervor. Liebevoll las er das letzte Kapitel durch, jenes Kapitel, daß sich mit den speziellen Schwächen des lorayanischen Volkes befaßte. Dann legte er das Manuskript weg. »Fast fertig, Fred«, sagte er zu seinem Assistenten. »Noch eine Woche Arbeit, höchstens zwei Wochen!« »Aha«, erwiderte Fred, der durch eine Luke auf das Dorf starrte. »Damit wird es gelingen«, sagte Carver. »Dieses Buch wird ein für allemal die natürliche Überlegenheit der Terraner beweisen. Wir haben es durch unsere Waffenstärke bewiesen, Fred, und durch unsere Technologie. Jetzt ist es auch durch den unpersönlichen Prozeß der Logik bewiesen.« Fred nickte. Er wußte, daß der Professor aus dem Vorwort des Buches zitierte. »Nichts darf dieser großen Arbeit in die Quere kommen«, sagte Carver. »Da sind wir uns doch einig, nicht wahr?« »Klar«, sagte Fred geistesabwesend. »Das Buch geht vor. Die Kaffer müssen wissen, wo ihr Platz ist.«
»Nun, so hatte ich es nun auch nicht gemeint. Aber du weißt, was ich meine. Wir sollten den Sersee unter diesen Umständen vielleicht besser vergessen. Vielleicht sollten wir einfach unsere Arbeit zu Ende führen.« Fred dreht sich um und sah seinen Arbeitgeber an. »Professor, wieviel, glauben Sie, werden Sie mit dem Buch verdienen?« »Hm? Nun, das letzte verkaufte sich ganz gut, wie du weißt. Bei diesem Buch müßte es eigentlich noch besser laufen. Zehn-, vielleicht zwanzigtausend Dollar!« Er gestattete sich ein kleines Lächeln. »Ich habe Glück mit meiner Arbeit, wie du siehst. Die terranische Öffentlichkeit scheint sich sehr für meine Forschungen zu interessieren, was für einen Wissenschaftler ein sehr befriedigendes Gefühl ist.« »Angenommen, Sie würden sogar fünfzigtausend verdienen. Kleingeld im Vergleich dazu, was uns eine einzige Sersee-Probe einbringen könnte! Was schätzen Sie?« »Hunderttausend?« sagte Carver unschlüssig. »Machen Sie Witze? Angenommen, ein reicher Bursche liegt im Sterben, und wir hätten das einzige Mittel, das ihn heilen kann. Er würde uns alles geben, was er besitzt! Millionen!« »Ich glaube, du hast recht«, pflichtete Carver ihm bei. »Und es wäre ein wertvoller wissenschaftlicher Fortschritt… Aber leider will der Medizinmann uns nichts geben.« »Kaufen ist nicht die einzige Möglichkeit.« Fred zog seinen Revolver und lud ihn durch. »Ich verstehe, ich verstehe«, sagte Carver, und sein rotes Gesicht erbleichte ein wenig. »Aber haben wir das Recht dazu?« »Was glauben Sie denn?« »Nun, sie sind uns unterlegen. Das habe ich schlüssig bewiesen, denke ich. Man kann in der Tat sagen, daß ihre Leben keine große Rolle spielen. Hm, ja – ja, Fred, wir könnten terranische Leben mit dem Sersee retten!« »Wir könnten unsere eigenen Leben retten«, sagte Fred. »Wer beißt schon gerne vor der Zeit ins Gras?«
Carver stand auf und lockerte entschlossen den Revolver im Halfter. »Denk daran, Fred«, sagte er, »wir tun dies im Namen der Wissenschaft, und für die Erde.« »Selbstverständlich, Professor«, sagte Fred und ging grinsend zur Schleuse. Sie trafen Deg bei der Medizinhütte an. Carver sagte ohne Umschweife: »Wir brauchen etwas Sersee.« »Aber ich habe euch doch erklärt«, sagte der Medizinmann, »warum das unmöglich ist.« »Wir wollen’s haben«, sagte Fred. Er zog seinen Revolver und schaute Deg wild an. »Nein.« »Glaubst du, ich mache Witze?« fragte Fred. »Du weißt, was diese Waffe tun kann?« »Ich habe gesehen, wie du sie benutzt hast.« »Vielleicht glaubst du, daß ich sie gegen dich nicht benutzen würde.« »Das ist mir gleich. Ihr könnt keinen Sersee bekommen.« »Ich schieße«, warnte ihn Fred mit wütend erhobener Stimme. »Ich schwöre dir, ich schieße.« Die Dorfbewohner von Loray sammelten sich langsam hinter ihrem Medizinmann. Grauhäutig, mit höckrigen Köpfen, nahmen sie schweigend Aufstellung. Die Jäger trugen ihre Speere, die anderen Eingeborenen waren mit Messern und Steinen bewaffnet. »Ihr könnt keinen Sersee bekommen«, sagte Deg. Fred hob langsam den Revolver. »Warte, Fred«, sagte Carver, »es sind ziemlich viele. Glaubst du wirklich…« Freds dünner Körper spannte sich, und sein Finger am Abzug wurde weiß. Carver schloß die Augen. Einen Augenblick herrschte Totenstille. Dann krachte der Revolver. Carver öffnete vorsichtig die Augen.
Der Medizinmann stand immer noch aufrecht, obwohl seine Knie zitterten. Die Dorfbewohner gaben keinen Laut von sich. Es dauerte einen Moment, bis Carver erfaßte, was geschehen war. Schließlich sah er den Feger. Der Feger lag auf dem Bauch, seine ausgestreckte linke Hand umklammerte noch den Reisigbesen, seine Beine zuckten schwach. Blut quoll aus einem Loch, das Fred ihm fein säuberlich in die Stirn geschossen hatte. Deg beugte sich über den Feger, dann richtete er sich auf. »Er ist tot«, sagte der Medizinmann. »Er ist nur der erste«, warnte Fred und zielte auf einen Jäger. »Nein!« rief Deg. Fred schaute ihn mit erhobenen Augenbrauen an. »Ich werde ihn euch geben«, sagte Deg. »Ich werde euch all unseren Sersee-Saft geben. Dann müßt ihr gehen!« Er rannte in die Medizinhütte und kehrte einen Moment später mit drei hölzernen Fläschchen zurück, die der Fred in die Hand schob. »Wir sind im Geschäft, Professor«, sagte Fred. »Auf geht’s!« Sie gingen an den schweigenden Dörflern vorbei auf ihr Raumschiff zu. Etwas blitzte in der Sonne auf. Fred schrie und ließ den Revolver fallen. Professor Carver hob die Waffe hastig auf. »Einer dieser Kaffer hat mich verletzt«, sagte Fred. »Geben Sie mir den Revolver!« Ein Speer flog in hohem Bogen heran und bohrte sich vor ihren Füßen in den Boden. »Es sind zu viele«, sagte Carver. »Fliehen wir!« Sie spurteten zu ihrem Schiff, während Messer und Speere um sie herumschwirrten, erreichten es unversehrt und verriegelten die Schleuse. »Das war knapp«, keuchte Carver atemlos. Er lehnte sich gegen das zugesperrte Schott. »Hast du das Serum?« »Ich habe es«, sagte Fred und rieb sich den Arm. »Verdammt!« »Was ist los?«
»Mein Arm. Er fühlt sich taub an.« Carver untersuchte die Wunde, schürzte nachdenklich die Lippen, sagte aber nichts. »Er ist taub«, sagte Fred. »Vielleicht vergiften sie ihre Speerspitzen.« »Das ist durchaus möglich«, gab Professor Carver zu. »Bestimmt ist es so!« rief Fred. »Sehen Sie, der Schnitt verfärbt sich bereits!« Die Ränder der Wunde hatten ein schwärzliches, septisches Aussehen angenommen. »Sulfonamid«, sagte Carver. »Auch Penicillin wird helfen. Mach dir keine Gedanken, Fred. Moderne terranische Medikamente…« »… nützen bei diesem Zeug vielleicht nicht das geringste. Öffnen Sie eines der Fläschchen!« »Aber, Fred«, entgegnete Carver, »wir haben so wenig davon. Außerdem…« »Zum Teufel damit«, sagte Fred. Er nahm eines der Fläschchen und entkorkte es mit den Zähnen. »Warte, Fred!« »Von wegen, warte!« Fred trank das Fläschchen mit einem Zug leer und warf es weg. Carver sagte gereizt: »Ich wollte dich lediglich darauf hinweisen, daß das Serum untersucht werden sollte, ehe ein Terraner davon trinkt. Wir wissen nicht, wie es sich beim Menschen auswirkt. Es war nur zu deinem Besten.« »Natürlich war es das«, sagte Fred spöttisch. »Da, sehen Sie, wie das Zeug wirkt.« Die schwärzliche Wunde wurde wieder fleischfarben und schloß sich. Bald war nur noch ein weißer Streifen Narbengewebe zu sehen. Dann war auch dieser verschwunden, und hinterließ gesundes, rosiges Fleisch. »Nicht schlecht, was?« sagte Fred hämisch, aber mit einem Anflug von Hysterie. »Es funktioniert, Professor! Trinken Sie auch einen Schluck, Kumpel, leben Sie sechzig Jahre länger. Glauben Sie, daß es uns gelingt, das Zeug künstlich herzustellen? Dann wäre er eine Million, zehn Millio-
nen, eine Milliarde wert. Und wenn es uns nicht gelingt, ist da ja immer noch das gute, alte Loray. Wir können alle fünfzig Jahre zurückkommen und Nachschub holen. Das Zeug schmeckt sogar gut, Professor. Es schmeckt wie… was haben Sie?« Professor Carver starrte Fred mit verblüfft aufgerissenen Augen an. »Was ist los?« fragte Fred grinsend. »Habe ich einen Knopf verloren? Warum starren Sie mich so an?« Carver antwortete nicht. Sein Mund zitterte. Langsam wich der Professor zurück. »Was ist los, zum Teufel?« Fred schaute Carver wütend an. Dann rannte er zum Bug des Raumschiffs und sah in den Spiegel. »Was passiert denn mit mir?« Carver versuchte zu sprechen, brachte aber kein Wort hervor. Er sah zu, wie Freds Gesichtszüge sich allmählich veränderten, glatt und rudimentär wurden, so als habe die Natur hier lediglich einen groben Entwurf intelligenten Lebens skizziert. Merkwürdige Höcker wuchsen auf Freds Kopf. Seine Hautfarbe wandelte sich langsam von rosa zu grau. »Ich habe dir ja gesagt, du solltest warten«, seufzte Carver. »Was passiert denn nur?« wimmerte Fred voller Furcht. »Nun«, sagte Carver, »das ist alles die Wirkung des Sersee. Die lorayanische Geburtenrate ist praktisch gleich Null, weißt du. Trotz der heilenden Kräfte des Sersee müßte die Rasse eigentlich längst ausgestorben sein. Wenn das Serum nicht auch noch eine andere Wirkung hat – die Fähigkeit, niedrigeres tierisches Leben in Lorayaner zu verwandeln.« »Das ist eine abenteuerliche Vermutung!« »Eine Arbeitshypothese, die auf Degs Behauptung basiert, daß der Sersee die Mutter des lorayanischen Volkes sei. Ich fürchte, das ist der wahre Grund für die Tierkulte und dafür, daß diese Tiere tabu sind. Teile des lorayanischen Volkes waren offenbar vorher solche Tiere, vielleicht alle Lorayaner. Es ist sogar tabu, dieses Thema anzusprechen; ganz eindeutig rührt dieses Tabu von einem tief sitzenden Minderwertigkeitsgefühl her, das durch die unmittelbare tierische Herkunft der Lorayaner verursacht wird.«
Carver rieb sich müde die Stirn. »Dieser Sersee-Saft hat«, fuhr er fort, »eine grundlegende Bedeutung für das Überleben dieser Rasse, das können wir daraus ableiten. Wir können so zu der Theorie gelangen, daß…« »Ich pfeife auf die Theorie«, sagte Fred und mußte entsetzt feststellen, daß seine Stimme den dumpfen, kehligen lorayanischen Klang angenommen hatte. »Professor, tun Sie etwas!« »Ich kann nichts tun.« »Vielleicht können die Wissenschaftler auf der Erde…« »Nein, Fred«, sagte Carver ruhig. »Was?« »Fred, bitte versuche zu verstehen. Ich kann dich nicht mit zurück zur Erde nehmen.« »Was soll das heißen? Sie sind ja verrückt!« »Keineswegs. Wie kann ich dich mit so einer grotesken Geschichte mit zurücknehmen? Sie würden die ganze Sache für einen gigantischen Schwindel halten.« »Aber…« »Hör mir zu. Niemand würde das glauben! Sie würden eher denken, daß du ein ungewöhnlich intelligenter Lorayaner bist. Deine bloße Gegenwart, Fred, würde die ganze Theorie meines Buches untergraben!« »Sie können mich doch nicht zurücklassen«, sagte Fred. »Das können Sie nicht machen.« Professor Carver hatte immer noch beide Revolver. Er steckte den einen in den Gürtel und hob den anderen. »Ich werde mein Lebenswerk nicht gefährden. Hinaus, Fred.« »Nein!« »Ich meine es ernst. Verschwinde, Fred.« »Ich gehe nicht! Sie müssen mich schon erschießen!« »Das werde ich tun, wenn es sein muß«, versicherte ihm Carver. »Ich werde dich erschießen und hinauswerfen.« Er richtete die Waffe auf Fred. Fred wich zur Schleuse zurück, entriegelte sie, öffnete sie. Die Dorfbewohner warteten draußen schweigend.
»Was werden sie mit mir machen?« »Es tut mir wirklich leid, Fred«, sagte Carver. »Ich gehe nicht!« kreischte Fred und klammerte sich am Rand der Schleusenluke fest. Carver stieß ihn hinab in die wartenden Hände der Menge und warf ihm die beiden übriggebliebenen Sersee-Fläschchen hinterher. Dann schloß er die Schleuse rasch, weil er nicht sehen wollte, was sie mit ihm anstellten. Nach nur einer Stunde verließ Carvers Schiff bereits die Atmosphäre des Planeten. Als Carver zur Erde zurückgekehrt war, wurde sein Buch Ursachen für die implizite Unterlegenheit Nicht-Terranischer Völker als Meilenstein in der Geschichte der komparativen Anthropologie gefeiert. Aber fast sofort gab es Schwierigkeiten. Ein Raumschiffkapitän namens Jones kehrte zur Erde zurück und berichtete, daß er auf dem Planeten Loray einen Eingeborenen entdeckt habe, der einem Terraner weitestgehend ebenbürtig sei. Und er hatte Tonbandaufzeichnungen und Filmaufnahmen als Beweismaterial mitgebracht. Carvers Theorie schien eine Zeitlang in Frage gestellt, bis Carver die Beweismittel selbst in Augenschein nahm. Danach wies er mit erbarmungsloser Logik darauf hin, daß dieser sogenannte Super-Lorayaner, dieser den Terranern angeblich Ebenbürtige, in der lorayanischen Hierarchie den untersten Rang innehabe, den des Fegers, was eindeutig an dem breiten, schwarzen Streifen auf seinem Gesicht zu erkennen sei. Der Kapitän mußte zugeben, daß dies richtig war. Warum, fuhr Carver donnernd fort, sei dann dieser lorayanische Supermann nicht in der Lage, trotz all seiner sogenannten Fähigkeiten, irgendeinen höheren Rang zu erreichen in der minderwertigen Gesellschaft, in der er hause? Diese Frage ließ den Raumschiffkapitän und seine Anhänger verstummen, ja bedeutete das Ende für deren ganze wissenschaftliche Schule. Und seither wird die Carverianische Lehre von der impliziten Unterle-
genheit der Nicht-Terraner von jedem vernünftigen Terraner überall in der Galaxis akzeptiert.
Für die Ewigkeit Wo so viel auf dem Spiel stand, hätte Charles Dennison nicht unvorsichtig sein dürfen. Ein Erfinder kann es sich nicht leisten, unvorsichtig zu sein, besonders wenn seine Erfindung äußerst wertvoll und offensichtlich patentierbar ist. Zu viele Hände greifen bereitwillig nach dem, was anderen gehört, zu viele Menschen wollen sich an der Kreativität des Arglosen gütlich tun. Eine Neigung zur Paranoia hätte Dennison gute Dienste geleistet; aber ihm fehlte diese für Erfinder lebenswichtige Eigenschaft. Erst als eine aus einer schallgedämpften Waffe abgefeuerte Kugel, keine zehn Zentimeter von seinem Kopf entfernt, von einer Granitmauer abprallte, wurde Dennison vollends klar, wie überaus unvorsichtig er gewesen war. Da wußte er es. Aber da war es zu spät. Charles Dennison war von seinem Vater ein mehr als angemessenes Einkommen hinterlassen worden. Er hatte Harvard besucht, kurze Zeit in der Navy gedient und dann seine Ausbildung am M. I. T. fortgesetzt. Seit seinem zweiunddreißigsten Lebensjahr war er privaten Forschungen nachgegangen, in seinem eigenen, kleinen Labor in Riverdale, New York. Pflanzenbiologie war sein Forschungsgebiet. Er veröffentlichte mehrere beachtenswerte Aufsätze und verkaufte ein neues Insektizid an einen Entwicklungshilfekonzern. Die Einkünfte daraus halfen ihm, sein Labor auszubauen. Dennison arbeitete gern allein. Er fand es seinem Temperament angemessen, das nüchtern, aber nicht unfreundlich war. Zwei- oder dreimal im Jahr fuhr er nach New York, schaute sich einige Theaterstücke und Filme an und nahm ordentlich einen zur Brust. Danach kehrte er stets dankbar in seine Abgeschiedenheit zurück. Er war Junggeselle und schien dazu bestimmt, stets einer zu bleiben. Kurze Zeit nach seinem vierzigsten Geburtstag stieß Dennison zufällig auf eine interessante Spur, die ihn zu einem ganz anderen Zweig der
Biologie führte. Er verfolgte diese Spur, forschte nach und entwickelte allmählich eine Hypothese. Nach weiteren drei Jahren gelang es ihm durch einen glücklichen Zufall, die noch fehlenden wissenschaftlichen Beweise zu erbringen. Er hatte eine äußerst effektive Langlebigkeitsdroge erfunden. Sie schützte nicht gegen einen gewaltsamen Tod; aber davon abgesehen konnte man sie durchaus als Unsterblichkeitsserum bezeichnen. Nun war Vorsicht angebracht. Aber die Jahre der Abgeschiedenheit hatten Dennison unbedacht im Umgang mit anderen Menschen werden lassen. Er kümmerte sich kaum um die Welt um ihn herum; und er hielt es für selbstverständlich, daß die Welt sich genauso wenig um ihn kümmerte. Er dachte nur noch über sein Serum nach. Es war wertvoll und patentierbar. Aber durfte es überhaupt der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden? War die Welt bereit für eine Unsterblichkeitsdroge? Überlegungen dieser Art hatten ihm nie gefallen. Aber seit der Atombombe waren viele Wissenschaftler gezwungen, sich den ethischen Fragen ihres Gewerbes zu stellen. Auch Dennison stellte sich ihnen und entschied, daß die Unsterblichkeit ohnehin kommen würde. Die Menschheit hatte immer schon in den geheimen Winkeln der Natur herumgestochert, ständig bestrebt herauszufinden, wie alles funktionierte. Wenn ein Mensch nicht das Feuer entdeckte, oder das Hebelgesetz, oder das Schießpulver, oder die Atombombe, oder die Unsterblichkeit, würde es ein anderer tun. Der Mensch wollte der Natur alle Geheimnisse entreißen, und es gab keine Möglichkeit, das zu verhindern. Gewappnet mit dieser finsteren aber für ihn tröstlichen Philosophie packte Dennison seine Formeln und Beweise in eine Aktentasche, steckte ein Zwei-Unzen-Fläschchen des Serums in eine seiner Jackentaschen und verließ sein Labor in Riverdale. Es war schon Abend. Er hatte vor, die Nacht in einem guten Hotel in der Stadt zu verbringen, sich einen Film anzusehen und am folgenden Tag zum Patentamt in Washington zu fahren. In der U-Bahn vertiefte sich Dennison ganz in seine Zeitung. Er bemerkte die beiden Männer kaum, die links und rechts von ihm saßen. Sie
fielen ihm erst auf, als der Mann rechts ihm etwas gegen die Rippen drückte. Dennison blickte auf und sah den kurzen Lauf einer kleinen Automatik, die durch eine Zeitung vor den Augen der anderen Fahrgäste verborgen war. »Was soll das?« fragte Dennison. »Geben Sie es heraus«, sagte der Mann. Dennison war wie gelähmt. Wie konnte irgend jemand von seiner Entdeckung erfahren haben? Und wie konnten sie es wagen, ihn hier in einem öffentlichen U-Bahn-Wagen zu berauben? Dann ging ihm auf, daß sie vielleicht nur auf sein Geld aus waren. »Ich habe nicht viel dabei«, sagte Dennison heiser und faßte nach seiner Geldbörse. Der Mann links von ihm beugte sich herüber und klopfte auf die Aktentasche. »Kein Geld«, sagte er. »Das Unsterblichkeitszeug.« Auf irgendeine unbegreifliche Weise hatten sie es erfahren. Was war, wenn er sich weigerte, die Aktentasche herauszugeben? Würden sie es wagen, hier in der U-Bahn zu schießen? Es war eine sehr kleinkalibrige Waffe. Der Schuß würde vielleicht im U-Bahn-Lärm untergehen. Und vermutlich war ihnen das, was Dennison bei sich trug, dieses Risiko wert. Er schaute sie rasch an. Es waren sanft aussehende Männer, ruhig, sehr dunkel gekleidet. Etwas an ihrer Kleidung weckte in Dennison eine unangenehme Erinnerung, aber er hatte keine Zeit, sich darüber klar zu werden. Die Automatik stach ihm schmerzhaft in die Rippen. Die U-Bahn fuhr in eine Haltestelle ein. Dennison schaute den Mann zu seiner Linken an und sah eine kleine Injektionsspritze im Licht aufblitzen. Viele Erfinder besitzen, ganz in ihre Gedanken versponnen, schlechte Reflexe. Aber Dennison hatte bei der Navy als Geschützoffizier gedient und besaß einige Kampferfahrung. Er wollte verdammt sein, wenn er seine Erfindung so einfach aufgab. Er sprang vom Sitz auf, und die Spritze stach durch den Ärmel seines Mantels. Sie verfehlte knapp seinen Arm. Er schlug mit der Aktentasche nach dem Mann mit der Automatik und traf ihn mit der Metallkante an
der Stirn. Als sich die Türen öffneten, rannte er an einem die Augen aufreißenden U-Bahn-Wächter vorbei die Treppe hinauf und hinaus auf die Straße. Die beiden Männer folgten ihm. Einem von ihnen rann Blut von der Stirn. Dennison rannte davon und suchte wild nach einem Polizisten. Die Männer hinter ihm schrien: »Haltet den Dieb! Polizei! Polizei! Halten Sie diesen Mann fest!« Anscheinend wollten sie gegenüber der Polizei Aktentasche und Flasche als ihr Eigentum ausgeben. Lächerlich! Dennoch entnervte die indignierte Selbstsicherheit ihrer schrillen Stimmen Dennison. Er wollte auf keinen Fall, daß es zu einer Szene kam. Trotzdem, es würde immer noch das Beste sein, einen Polizisten zu finden. In der Aktentasche befanden sich genügend Beweise für seine Identität. Sogar die Initialen seines Namens befanden sich außen auf der Aktentasche. Ein Blick darauf würde genügen, um… Er bemerkte, daß auf seiner Aktentasche etwas metallisch aufblinkte, und warf, immer noch rennend, einen Blick darauf. Schockiert sah er, daß ein Metallschild auf dem Leder befestigt war, genau über der Stelle, wo sich seine Initialen befunden hatten. Das mußte der Mann gewesen sein, der ihm auf die Aktentasche geklopft hatte. Dennison zerrte mit den Fingerspitzen an dem Schild, aber es ließ sich nicht entfernen. Auf dem Schild stand: Eigentum von Edward James Flaherty, Smithfield Institute. Vielleicht würde ein Polizist doch keine große Hilfe sein. Aber das war eine rein akademische Frage, denn Dennison sah keinen Polizisten auf dieser dicht bevölkerten Straße in der Bronx. Die Leute wichen aus, wenn er vorbeirannte, starrten ihm mit offenen Mündern nach, und machten keinerlei Anstalten, ihm zu helfen oder ihn aufzuhalten. Aber die Männer hinter ihm schrien immer noch: »Haltet den Dieb! Haltet den Dieb!« Die ganze Straße war alarmiert. Die Leute machten, wie ein träges Raubtier, das sich nur widerwillig aufstacheln läßt, einige zögernde Be-
wegungen auf Dennison zu, getrieben von den wütenden Schreien seiner Verfolger. Wenn es ihm nicht rasch gelang, die öffentliche Meinung auf seine Seite zu bringen, würde sich jetzt sicher bald irgendein Wohltäter ihm in den Weg stellen. Dennison bezwang seine Schüchternheit und seinen Stolz, und rief: »Helft mir! Sie wollen mich berauben! Haltet sie auf!« Aber seiner Stimme fehlte die moralische Empörung, die völlige Überzeugungskraft seiner beiden schrill rufenden Verfolger. Ein stämmiger junger Mann trat vor, um Dennison den Weg zu verstellen, aber im letzten Augenblick zog eine Frau ihn zurück. »Misch dich da nicht ein, Charley.« »Warum ruft niemand die Polizei?« »Ja, wo ist die Polizei?« »Drüben bei einem Großbrand in der 178. Straße, habe ich gehört.« »Wir sollten diesen Kerl aufhalten.« »Ich bin bereit, wenn du bereit bist.« Dennisons Weg wurde plötzlich von vier grinsenden jungen Burschen versperrt, Teenagern in schwarzen Motorradjacken und Stiefeln. Sie waren aufgeregt, weil etwas los war, und freuten sich, daß sie im Namen von Gesetz und Ordnung jemanden schlagen durften. Dennison sah sie, wich ihnen aus und sprintete plötzlich über die Straße. Ein Bus rollte drohend heran. Dennison sprang aus dem Weg, fiel hin, stand wieder auf und rannte weiter. Seine Verfolger wurden vom dicht fließenden Verkehr aufgehalten. Ihre schrillen Rufe erstarben, als Dennison in eine Seitenstraße einbog, sie hinunterrannte, erneut um die Ecke bog. Er befand sich in einem Viertel mit großen Apartmenthäusern. Seine Lungen fühlten sich an wie ein Hochofen, und seine linke Seite schien mit glühendem Draht vernäht zu sein. Er hatte keine Wahl, er mußte sich ausruhen. Das war der Augenblick, wo die erste, aus einer schallgedämpften Waffe abgefeuerte Kugel keine zehn Zentimeter von seinem Kopf entfernt
von einer Granitmauer abprallte. Da erst wurde Dennison vollends klar, wie überaus unvorsichtig er gewesen war. Er zog die Flasche aus der Tasche. Er hatte gehofft, mehr Experimente durchführen zu können, ehe er das Serum am Menschen testete. Nun blieb ihm keine Wahl. Dennison riß den Stöpsel heraus und trank den Inhalt in einem Zug leer. Sofort rannte er weiter. Eine zweite Kugel prallte gegen die Granitmauer. Die großen Apartmentblocks ragten endlos vor ihm auf, schweigend und fremd. Es gab keine Fußgänger auf den Straßen. Es gab nur Dennison. der, langsamer jetzt, an den riesigen Apartmenthäusern vorbeirannte. Ein langer, schwarzer Wagen kam hinter ihm her, sein Suchscheinwerfer leuchtete in Hauseingänge und Gassen. War das die Polizei? »Da ist er!« rief die schrille, entnervende Stimme von einem der Verfolger Dennisons. Dennison duckte sich in eine schmale Gasse zwischen den Gebäuden, rannte sie hinunter und in die nächste Straße hinein. Auf dieser Straße warteten zwei Wagen an den beiden Enden des Häuserblocks. Ihre Scheinwerfer beleuchteten die Straße. Langsam kamen sie näher, um ihn in der Mitte zu fangen. Er saß in der Falle. Dennison rannte zum nächsten Apartmentgebäude und rüttelte an der Tür. Sie war zugesperrt. Die beiden Wagen hatten ihn jetzt erreicht. Und als er sie sah, wußte er plötzlich, woran seine Verfolger ihn in der UBahn erinnert hatten. Die beiden Autos waren Leichenwagen. Die beiden Männer in der U-Bahn mit ihren ernsten Gesichtern, der dunklen Kleidung, den schrillen, empörten Stimmen – sie hatten ihn an Leichenbestatter erinnert. Sie waren Leichenbestatter! Natürlich! Natürlich! Ölgesellschaften würden versuchen, die Erfindung eines billigen neuen Treibstoffs zu verhindern, der sie aus dem Geschäft werfen würde; Stahlkonzerne versuchten sicher die Entwicklung eines preiswerten Kunststoffes zu stoppen, der stabiler als Stahl war…
Und das Unsterblichkeitsserum würde die Leichenbestatter arbeitslos machen. Sie mußten seine Arbeit, ebenso wie die Arbeit tausend anderer Forscher auf diesem Gebiet, ständig beobachtet haben. Und als er seine Entdeckung gemacht hatte, waren sie bereit gewesen. Die Leichenwagen blieben stehen, und ernste, ehrbar aussehende Herren in schwarzen Anzügen und grauen Krawatten sprangen heraus und packten ihn. Die Aktentasche wurde ihm aus der Hand gerissen. Er fühlte den Einstich einer Spritze in der Schulter. Dann wurde er übergangslos ohnmächtig. Als er wieder zu sich kam, saß er in einem Sessel. Bewaffnete Männer standen links und rechts von ihm. Vor ihm stand ein kleiner, rundlicher, alltäglich aussehender Mann mit gesetzter Kleidung. »Ich heiße Mr. Bennet«, sagte der rundliche Mann. »Ich bitte um Vergebung, Mr. Dennison, dafür, daß wir Ihnen gegenüber Gewalt anwenden mußten. Wir erfuhren erst im letzten Augenblick von Ihrer Erfindung und mußten daher improvisieren. Die Kugeln waren lediglich dazu bestimmt, Sie zu erschrecken und aufzuhalten. Wir beabsichtigten nicht, Sie zu ermorden.« »Sie wollten mir bloß meine Erfindung stehlen«, sagte Dennison. »Keineswegs«, versicherte Mr. Bennet ihm. »Das Geheimnis der Unsterblichkeit befindet sich schon ziemlich lange in unserem Besitz.« »Ich verstehe. Dann enthalten Sie die Unsterblichkeit also der Öffentlichkeit vor, um Ihr verdammtes Bestattungsgewerbe zu schützen!« »Ist das nicht eine ziemlich naive Sichtweise?« fragte Mr. Bennet lächelnd. »Zufällig sind meine Mitarbeiter und ich keine Leichenbestatter. Wir haben diese Tarnung angenommen, um ein einsehbares Motiv bei der Hand zu haben, falls unser Plan, Sie zu fangen, gescheitert wäre. In diesem Fall hätten alle genau das – und nur das – geglaubt, was auch Sie dachten: daß es unsere Absicht gewesen sei, unser Gewerbe zu schützen.« Dennison runzelte die Stirn und wartete. »Solche Tarnungen benutzen wir häufig«, sagte Bennet, immer noch lächelnd. »Vielleicht haben Sie schon Gerüchte gehört über einen neuen
Vergasermotor, der von den Benzingesellschaften unterdrückt wurde, oder eine neue Nahrungsquelle, die von den großen Nahrungsmittelkonzernen geheimgehalten wird, oder eine neue Synthetikfaser, die von der Baumwollindustrie hastig zerstört wurde. Das waren wir. Und die Erfindungen endeten alle hier.« »Sie wollen bei mir Eindruck schinden«, sagte Dennison. »Natürlich.« »Warum haben Sie verhindert, daß ich mein Unsterblichkeitsserum patentieren lasse?« »Die Welt ist noch nicht bereit dafür«, sagte Mr. Bennet. »Sie ist für eine Menge Dinge noch nicht bereit«, sagte Dennison. »Warum haben Sie die Atombombe nicht verhindert?« »Wir haben es versucht, getarnt als Vertreter des Kohlebergbaus und der Ölindustrie. Aber es gelang uns nicht. Trotzdem, wir haben bei einer überraschenden Anzahl von Dingen Erfolg gehabt.« »Aber welchen Zweck verfolgen Sie?« »Das Wohlergehen der Welt«, sagte Mr. Bennet prompt. »Überlegen Sie einmal, was geschähe, wenn die Leute Ihr großartiges Unsterblichkeitsserum bekämen. Die Probleme des Bevölkerungswachstums, der Nahrungsproduktion, des Lebensraumes würden alle verschlimmert. Es würde zu Spannungen kommen, Kriege drohten…« »Na und?« fragte Dennison herausfordernd. »So ist die Lage jetzt auch schon, ohne Unsterblichkeit. Außerdem haben bei bisher jeder neuen Entdeckung immer einige Leute den Weltuntergang nahen sehen. Schießpulver, Druckerpresse, Nitroglyzerin, die Atombombe, von ihnen allen hat man geglaubt, durch sie würde die Menschheit vernichtet. Aber der Mensch hat gelernt, mit ihnen umzugehen. Es blieb ihm nichts anderes übrig! Man kann die Zeit nicht zurückdrehen, und man kann nichts unentdeckt machen. Wenn etwas da ist, muß die Menschheit damit fertig werden!« »Ja, auf eine unbeholfene, blutige, uneffiziente Weise«, sagte Mr. Bennet und verzog angewidert das Gesicht. »Nun, so ist der Mensch nun einmal.« »Nicht wenn er ordentlich geführt wird«, sagte Mr. Bennet.
»Nein?« »Sicher nicht«, sagte Mr. Bennet. »Sehen Sie, daß Unsterblichkeitsserum kann das Problem der politischen Herrschaft lösen. Die Herrschaft einer permanenten und aufgeklärten Elite ist die bei weitem beste Regierungsform; unendlich viel besser als die verworrene Ineffizienz demokratischer Regierungen. Aber in der bisherigen Geschichte konnte sich diese Elite, sei es nun Monarchie, Oligarchie, Diktatur oder Junta, niemals ständig an der Macht halten. Die Führer starben, die Nachfolger kämpften um die Macht, und ständig drohte das Chaos. Mit der Unsterblichkeit wird dieser letzte Mangel korrigiert. Es wird keine Brüche in der Herrschaft mehr geben, denn die Führer werden für immer da sein.« »Eine permanente Diktatur«, sagte Dennison. »Ja. Eine permanente, wohltätige Herrschaft einer kleinen, sorgfältig ausgewählten Elite, die allein über die Unsterblichkeit verfügt. Es ist historisch unvermeidlich. Die einzige Frage ist, wer als erster die Macht übernimmt?« »Und Sie glauben, daß sind Sie?« fragte Dennison. »Natürlich. Unsere Organisation ist noch klein, aber fest gefügt. Jede neue Erfindung, die in unsere Hände fällt, stärkt unsere Macht, ebenso jeder Wissenschaftler, der sich uns anschließt. Unsere Zeit wird kommen, Dennison! Wir möchten, daß Sie zu uns kommen, Mitglied unserer Elite werden.« »Sie wollen, daß ich mich Ihnen anschließe?« fragte Dennison verblüfft. »Das wollen wir. Unsere Organisation braucht kreative Wissenschaftler, die uns bei unserer Aufgabe helfen, die Menschheit vor sich selbst zu retten.« »Auf mich können Sie nicht rechnen«, sagte Dennison mit rasch klopfendem Herzen. »Sie wollen sich uns nicht anschließen?« »Mir wäre es lieber, wenn man Sie alle hängt.« Mr. Bennet nickte nachdenklich und schürzte seine schmalen Lippen. »Sie haben Ihr eigenes Serum geschluckt, nicht wahr?« Dennison nickte. »Dann werden Sie mich jetzt wohl töten?«
»Wir töten nicht«, sagte Mr. Bennet. »Wir warten ab. Ich glaube, daß Sie ein vernünftiger Mensch sind. Irgendwann werden Sie die Dinge so sehen wie wir. Wir werden noch lange hier sein. Sie auch. Bringt ihn weg.« Dennison wurde zu einem Aufzug geführt, der tief in die Erde hinabfuhr. Er wurde durch einen langen Tunnel geführt, in dem bewaffnete Männer entlang den Wänden postiert waren. Man führte ihn durch vier massive Türen hindurch. Durch die fünfte stießen sie Dennison in einen Raum hinein und schlossen die Tür hinter ihm ab. Er befand sich in einem großen, gut möblierten Apartment, Ungefähr zwanzig Menschen hielten sich in dem Raum auf, und sie kamen zu ihm, um ihn zu begrüßen. Einer von ihnen, ein untersetzter, bärtiger Mann, war ein alter Collegefreund von Dennison. »Jim Ferris?« »Der bin ich«, sagte Ferris. »Willkommen im Unsterblichkeits-Club, Dennison.« »Ich habe gelesen, du seist letztes Jahr bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen.« »Ich – verschwand einfach«, sagte Ferris mit einem reuevollen Lächeln, »nachdem ich das Unsterblichkeitsserum erfunden hatte. Genau wie die anderen.« »Sie alle?« »Fünfzehn der Männer hier erfanden das Serum unabhängig voneinander. Die anderen sind erfolgreiche Erfinder auf anderen Gebieten. Unser ältestes Mitglied ist Doktor Li, ein Serumentdecker, der neunzehnhundertelf in San Francisco verschwand. Du bist unser jüngster Neuzugang. Unser Klubhaus ist vermutlich der bestbewachte Ort auf der Welt.« Dennison sagte: »Neunzehnhundertelf!« Verzweiflung befiel ihn, und er ließ sich schwer auf einen Stuhl sinken. »Dann besteht keine Hoffnung auf Rettung?« »Keine. Es gibt für uns nur vier Alternativen«, sagte Ferris. »Einige haben uns verlassen und sich den Leichenbestattern angeschlossen. Andere
haben Selbstmord begangen. Wir übrigen haben den UnsterblichkeitsKlub gegründet.« »Wozu?« fragte Dennison verwirrt. »Um von diesem Ort zu fliehen!« sagte Ferris. »Um zu entkommen und die Welt zu informieren. Um diese erwartungsvollen kleinen Diktatoren zu stoppen.« »Sie werden wissen, was ihr vorhabt.« »Natürlich. Aber sie lassen uns leben, weil hin und wieder einer von uns aufgibt und sich ihnen anschließt. Und sie glauben nicht, daß uns je gelingt auszubrechen. Sie sind viel zu selbstgefällig. Das ist die grundlegende Schwäche aller Machteliten, und ihr möglicher Untergang.« »Du sagtest, das hier sei der bestbewachte Ort auf der Welt?« »Das ist er«, sagte Ferris. »Und einige von euch versuchen schon seit fünfzig Jahren auszubrechen? Nun, da werden wir für unsere Flucht eine Ewigkeit brauchen!« »Wir haben ja schließlich auch eine Ewigkeit Zeit«, sagte Ferris. »Aber wir hoffen, daß es nicht ganz so lange dauern wird. Jeder neue Mann bringt neue Ideen, neue Pläne mit. Einer davon wird klappen.« »Eine Ewigkeit«, sagte Dennison, das Gesicht in den Händen vergraben. »Du kannst zurück nach oben gehen und dich ihnen anschließen«, sagte Ferris mit einem harten Unterton in der Stimme, »oder du kannst dich umbringen, oder dich einfach in eine Ecke setzen und allmählich verrückt werden. Such es dir aus.« Dennison blickte auf. »Ich muß euch und mir selbst gegenüber ehrlich sein. Ich glaube nicht, daß uns die Flucht gelingen wird. Außerdem denke ich, daß das auch von euch niemand ernsthaft glaubt.« Ferris zuckte mit den Schultern. »Davon abgesehen«, sagte Dennison, »halte ich es für eine verdammt gute Idee. Wenn ihr mich in alles einweiht, werde ich zum Projekt Ewigkeit beisteuern, was in meiner Macht steht. Und hoffen wir, daß ihre Selbstgefälligkeit anhält.« »Das wird sie«, sagte Ferris.
Es dauerte natürlich keine Ewigkeit, bis ihnen die Flucht gelang. Nach einhundertsiebenunddreißig Jahren brachen Dennison und seine Kollegen aus und enthüllten den Plan der Leichenbestatter. Den Leichenbestattern wurde vor dem Hohen Gerichtshof wegen Kidnapping, Verschwörung zum Sturz der Regierung und illegalen Besitzes der Unsterblichkeit der Prozeß gemacht. Sie wurden für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Dennison und seine Kollegen befanden sich ebenfalls illegal im Besitz der Unsterblichkeit, die das ausschließliche Privileg unserer herrschenden Elite ist. Aber in Anrechnung der Dienste, die der Unsterblichkeits-Klub dem Staat erwiesen hatte, verzichtete man auf die Verhängung der Todesstrafe. Diese Gnade war jedoch voreilig. Nach ein paar Monaten gingen die Mitglieder des Unsterblichkeits-Klubs in den Untergrund, mit dem erklärten Ziel, die regierende Elite zu stürzen und die Unsterblichkeit den Massen zugänglich zu machen. Das Projekt Ewigkeit, wie sie es nannten, erfuhr einige Unterstützung durch Dissidenten, die noch nicht gefaßt werden konnten. Es kann aber nicht als ernste Bedrohung angesehen werden. Aber diese abweichlerischen Tätigkeiten schmälern in keiner Weise den Ruhm, den sich der Klub durch seine Flucht von den Leichenbestattern erwarb. Die Einzelheiten des genialen Ausbruchs von Dennison und seinen Kollegen aus ihrem scheinbar undurchdringlichen Gefängnis, bei dem sie lediglich eine stählerne Gürtelschnalle, einen Wolframfaden und drei Hühnereier benutzten sowie zwölf Chemikalien, die sich ohne weiteres aus dem menschlichen Körper gewinnen lassen, sind so bekannt, daß sie hier nicht wiederholt zu werden brauchen.
Der Auftrag Sein Bewußtsein kehrte langsam zurück, er hatte Schmerzen, spürte Prellungen und einen quälenden Knoten im Magen. Probeweise streckte er die Beine aus. Sie berührten nichts, und er erkannte, daß sein Körper durch nichts gestützt wurde. Er glaubte, er sei tot. Frei im Raum schwebend… Schwebend? Er öffnete die Augen. Ja, er schwebte. Über ihm befand sich eine Decke – oder war es ein Boden? Er widerstand dem Drang, laut zu schreien; er blinzelte, und seine Sehschärfe kehrte zurück. Er erkannte, daß er sich in einem Raumschiff befand. In der Kabine herrschte ein heilloses Durcheinander. Kisten und Ausrüstungsteile trieben umher, offensichtlich durch einen plötzlichen Stoß aus ihrer Verankerung gerissen. Verschmorte Kabel liefen über den Boden. An einer Wand befand sich eine Reihe von zu Schlacke zusammengeschmolzenen Spinden. Er starrte darauf, doch er erkannte nichts davon wieder. Soweit er wußte, sah er diese Dinge zum erstenmal. Er hob eine Hand und stieß sich von der Decke ab, trieb nach unten, stieß sich wieder ab und bekam ein Geländer an der Wand zu fassen. Er klammerte sich daran fest und versuchte nachzudenken. »Es gibt eine logische Erklärung für all das«, sagte er laut, nur um seine eigene Stimme zu hören. »Ich muß mich lediglich erinnern.« Erinnern… Wie lautete sein Name? Er wußte es nicht. »Hallo!« rief er. »Ist hier jemand?« Seine Worte hallten zwischen den engen Wänden des Schiffes. Er erhielt keine Antwort. Er schwebte durch die Kabine, duckte sich dabei, um den treibenden Kisten auszuweichen. Nach einer halben Stunde wußte er, daß er die einzige Person an Bord des Schiffes war.
Er schwebte zurück in den vorderen Teil des Schiffes. Dort befand sich ein gepolsterter Sitz mit einer breiten Konsole davor. Er schnallte sich in dem Sitz fest und betrachtete die Konsole. Sie bestand aus zwei dunklen Bildschirmen, von denen der eine deutlich größer war. Unter dem großen Schirm befanden sich zwei Knöpfe, die mit Bugsicht und Hecksicht beschriftet waren. Mit einem Regler unter den Knöpfen konnte man die Schärfe einstellen. Der kleine Bildschirm war unbeschriftet. Da er keine anderen Armaturen entdecken konnte, drückte er den Bugsicht-Knopf. Der Bildschirm hellte sich auf und zeigte das schwarze All mit den funkelnden Punkten der Sterne. Er starrte lange mit offenem Mund darauf, dann wandte er sich ab. Er entschloß sich, zunächst einmal alles ihm zur Verfügung stehende Wissen zusammenzutragen und zu sehen, welche Schlüsse sich daraus ziehen ließen. »Ich bin ein Mensch«, sagte er. »Ich befinde mich in einem Raumschiff, im Weltraum. Ich weiß, was Sterne und was Planeten sind. Mal sehen…« Er verfügte lediglich über astronomische Grundkenntnisse, von Physik und Chemie verstand er noch weniger. Er erinnerte sich an Teile der englischen Literatur, wenn ihm auch außer Traudzel, einem populären Romancier, keine Schriftsteller einfielen. Er erinnerte sich an die Autoren verschiedener historischer Abhandlungen, vermochte ihnen aber keine Inhalte zuzuordnen. Er kannte den Namen seines Zustandes: Amnesie. Plötzlich spürte er ein starkes Verlangen, sich selbst zu sehen, sein eigenes Gesicht zu betrachten. Sicher würden Erkennen und Erinnerung folgen. Er schubste sich wieder durch den Raum und begann, nach einem Spiegel zu suchen. In den Wänden waren Spinde eingebaut. Er öffnete sie hastig und verstreute ihren Inhalt in der schwerelosen Luft. Im dritten Schrank fand er Rasierzeug und einen kleinen Stahlspiegel. Ängstlich betrachtete er sein Spiegelbild. Ein langes, unregelmäßiges Gesicht, aus dem alle Farbe gewichen war, blutleere Lippen.
Das Gesicht eines Fremden. Er unterdrückte die aufsteigende Panik und suchte weiter nach einem Hinweis auf seine Identität. Rasch durchwühlte er die umherschwebenden Kisten und stieß sie beiseite, wenn sie nur Lebensmittel und Wasser enthielten. Er suchte weiter. In einer Ecke schwebte ein angesengtes Stück Papier. Er griff es sich. »Lieber Ran«, stand darauf, »die Jungs von der Biochemie haben in letzter Minute noch einige Versuche mit dem P-Präparat gemacht. Wie’s aussieht, kann es Amnesie verursachen. Ungefähr so stark wie die Droge, und dazu kommt dann noch das quasi-traumatische Erlebnis, das Sie über sich ergehen lassen, ob es Ihnen bewußt ist oder nicht. Und das sagen sie uns jetzt! Also, ich bringe diese Zeilen fünfzehn Minuten vor dem Start noch schnell zu Papier, nur als Gedankenauffrischung, falls die Jungs recht haben. Dann suchen Sie nicht nach irgendwelchen Steuerungsschaltern! Alles geht automatisch, sollte es wenigstens, falls dieser Haufen aus Pappe und Klebstoff zusammenhält. (Schieben Sie die Schuld nicht auf die Techniker. Die hatten vor dem Blitz kaum Zeit, alles fertigzukriegen.) Das Raumschiff ist auf automatische Planetenwahl eingestellt. Also bleiben Sie nur still sitzen. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, daß Sie das Marsellische Theorem vergessen haben, aber sollte es der Fall sein, machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie bei achtzehnköpfigen, intelligenten Tausendfüßlern landen. Sie werden menschenähnliches Leben antreffen, weil es menschenähnliches Leben sein muß. Sie sind wahrscheinlich nach dem Start ein bißchen lädiert, aber das PPräparat wird Ihnen da durchhelfen. Wenn die Kabine in Unordnung ist, liegt das nur daran, daß wir keine Zeit hatten, alles auf extreme Beanspruchungsgrenzen zu überprüfen. Nun zu Ihrem Auftrag. Gehen Sie sofort zu Projektor Eins in Spind Fünfzehn. Der Projektor ist auf Selbstzerstörung nach einmaliger Abspielung programmiert. Also passen Sie gut auf, damit Sie alles verstehen. Ihr Auftrag ist sehr wichtig. Jeder Mann und jede Frau der Erde ist bei Ihnen. Lassen Sie uns nicht im Stich, Doktor.«
Jemand namens Fred Anderson hatte unterschrieben. Ran – er benutzte automatisch den Namen, der ihm in dem Brief gegeben worden war – suchte nach Spind Fünfzehn. Er sah sofort, wo sich dieser befunden hatte. Die Spinde Elf bis Fünfundzwanzig waren zu einem Klumpen verschmolzen, ihr Inhalt zerstört. Na schön. Nun verband ihn nur noch das Stück angesengtes Papier mit seiner Vergangenheit, seinen Freunden, der Erde. Wenn er seine Erinnerungen auch verloren hatte, so war es doch tröstlich, daß es für seine Amnesie eine Erklärung gab. Aber was hatte das alles zu bedeuten? Warum hatten sie das Schiff so überstürzt zusammengezimmert? Warum hatten sie ihn – ganz allein – hineingesetzt? Und dieser ungeheuer wichtige Auftrag – wenn er so lebenswichtig war, warum hatten sie dann nicht alles besser überprüft? Der kurze Brief warf mehr Fragen auf, als er beantwortete. Stirnrunzelnd schwebte er zurück zur Konsole. Er betrachtete auf dem Bildschirm wieder das Schauspiel der Sterne und versuchte zu begreifen. Vielleicht war eine Seuche ausgebrochen, und er war der einzige nicht infizierte Mensch. Die anderen hatten dieses Schiff gebaut und in den Weltraum geschossen. Und der Auftrag? Sollte er mit anderen Planeten Kontakt aufnehmen, ein Gegenmittel finden und es zur Erde zurückbringen… Lächerlich. Er blickte wieder auf die Konsole und drückte auf den Knopf Hecksicht. Und wurde beinahe ohnmächtig. Blendendes, grelles Licht erfüllte den ganzen Bildschirm und brannte ihm in den Augen. Hastig drehte er am Schärferegler, bis er erkennen konnte, was es war. Eine Nova. Und in dem Brief war von einem Blitz die Rede. Ran wußte, daß Sol diese Nova war, und daß die Erde verschluckt wurde.
An Bord gab es keine Uhr, und Ran hatte keine Ahnung, wie lange er schon unterwegs war. Lange Zeit ließ er sich einfach wie benommen treiben, kehrte aber immer wieder zum Bildschirm zurück. Die Nova schrumpfte, während das Raumschiff weiterraste. Ran aß und schlief. Er durchstreifte suchend das Schiff. Die umherschwebenden Kisten waren im Weg. Also begann er, sie nach unten zu ziehen und festzumachen. Tage vergingen, vielleicht auch Wochen. Nach einiger Zeit begann Ran, die ihm bekannten Tatsachen in einen schlüssigen Zusammenhang zu bringen. Es blieben Lücken und Fragen, sicherlich auch Irrtümer, aber es war ein Anfang. Man hatte ihn auserwählt, mit dem Raumschiff zu fliegen. Nicht als Pilot, denn alles funktionierte automatisch, sondern aus irgendeinem anderen Grund. In dem Brief wurde er mit Doktor angesprochen. Vermutlich war er also ein Doktor. Doch Doktor für was? Er wußte es nicht. Die Konstrukteure des Schiffes hatten gewußt, daß Sol zur Nova wurde. Offensichtlich hatten sie keinen größeren Teil der Erdbevölkerung retten können. Statt dessen hatten sie sich und alle anderen geopfert, um ihn zu retten. Warum ihn? Man erwartete von ihm, daß er einen Auftrag von größter Wichtigkeit ausführte. So wichtig, daß die Zerstörung der Erde an sich zweitrangig erschien, wenn nur der Auftrag erfüllt wurde. Was konnte das für ein Auftrag sein? Dr. Ran konnte sich nichts derart Wichtiges vorstellen. Aber er konnte auch keine anderen Schlüsse aus den ihm bekannten Tatsachen ziehen. Er versuchte, das Problem von einer anderen Seite her anzugehen. Was würde er tun, fragte er sich, wenn er wüßte, daß Sol in nächster Zeit zur Nova würde, und er nur eine begrenzte Anzahl Menschen retten könnte? Er hätte Ehepaare ausgesucht, zumindestens ein Paar, um die menschliche Rasse zu retten.
Aber offensichtlich hatten die Regierenden der Erde das anders gesehen. Nach einiger Zeit leuchtete der kleine Bildschirm auf. Man konnte folgendes lesen: Planet. Kontakt 100 Stunden. Er saß vor der Konsole und beobachtete das Bild. Nach einer langen Weile änderten sich die Ziffern. Kontakt 99 Stunden. Er hatte viel Zeit. Er aß und machte sich daran, das Schiff in Ordnung zu bringen, so gut er konnte. Während er die Kisten in den verbliebenen Spinden verstaute, fand er einen sorgfältig verpackten und verschnürten Apparat. Er erkannte sofort, daß es sich um einen Projektor handelte. An der Seite war eine große »2« eingraviert. Ein Ersatzgerät, dachte er. Sein Herz schlug schneller. Warum hatte er daran nicht gedacht? Er sah in das Okular und schaltete den Projektor ein. Der Film dauerte über eine Stunde. Er begann mit einem poetischen Überblick über die Erde, Momentaufnahmen ihrer Städte, Felder, Wälder, Flüsse, Meere. Ihre Völker, Tiere, mit einem Wort: Skizzen. Es war ein Stummfilm. Die Kamera schwenkte auf eine Sternwarte und erklärte mit Bildern ihren Zweck. Man sah die Entdeckung der Sonnenlabilität und die Gesichter der Astrophysiker, die diese Entdeckung gemacht hatten. Dann begann der Wettlauf mit der Zeit und der schnelle Bau des Raumschiffs. Er sah sich selbst zum Raumschiff laufen, in die Kamera grinsen, jemandes Hand schütteln und im Inneren des Schiffes verschwinden. Hier endete der Film. Danach mußten sie die Kamera verstaut, ihm die Spritze gegeben und ihn losgeschickt haben. Ein anderer Film begann. »Hallo Ran«, sagte eine Stimme. Der Film zeigte einen großen, ruhigen Mann in einem Anzug. Er schaute Ran vom Bildschirm aus in die Augen. »Ich konnte dieser Gelegenheit, noch einmal mit Ihnen zu sprechen, nicht widerstehen, Dr. Ellis. Sie sind nun weit im Weltall. Sie haben zweifellos gesehen, wie die Nova die Erde verschluckt hat. Sie fühlen
sich allein, könnte ich mir denken. Nehmen Sie es nicht so schwer. Als Vertreter aller Völker der Erde nutze ich diese letzte Chance, Ihnen Glück für Ihren großen Auftrag zu wünschen. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß wir alle bei Ihnen sind. Fühlen Sie sich nicht einsam. Sie haben natürlich den Film auf Projektor Eins gesehen und haben eine umfassende Vorstellung von Ihrem Auftrag. Dieser Teil, mit meinem Gesicht und meiner Stimme, wird genauso automatisch zerstört. Wir können natürlich die Außerirdischen jetzt noch nicht in unser kleines Geheimnis einweihen. Sie werden es noch früh genug herausfinden. Sie können Ihnen irgend etwas über den Verbleib dieses Films erzählen. Das würde Ihnen gewiß eine Menge Sympathie einbringen. Aber selbstverständlich sollten Sie keinen Hinweis bezüglich der großen Entdeckung oder sich daraus herleitenden Techniken geben. Wenn sie die Überlichtgeschwindigkeit wollen, sagen Sie ihnen die Wahrheit – daß Sie nichts über das Verfahren wissen, da man es erst ein Jahr, bevor Sol zur Nova wurde, entdeckte. Sagen Sie ihnen, daß jedes Herumhantieren am Raumschiff die Zerstörung der Maschinen zur Folge hat. Viel Glück, Doktor. Und Waidmannsheil.« Das Gesicht verschwand, und die Maschine brummte lauter, während sie die letzte Spule vernichtete. Er stellte das Gerät vorsichtig zurück in seinen Kasten, zurrte ihn im Spind fest und ging wieder zur Steuerkonsole. Auf dem Bildschirm las er: Kontakt 97 Stunden. Er setzte sich und versuchte, das neue Wissen zu ordnen. Im Unterbewußtsein erinnerte er sich undeutlich an die große, friedliche Zivilisation der Erde. Man war beinahe so weit gewesen, zu den Sternen zu stürmen, als die Labilität der Sonne entdeckt wurde. Der Überlichtantrieb war zu spät entwickelt worden. Vor diesem Hintergrund hatte man ihn als Besatzung für das Fluchtschiff ausgesucht. Nur ihn, aus unerfindlichen Gründen. Er sollte Kontakt mit intelligenten Lebewesen aufnehmen und ihnen über die Erde berichten. Aber er sollte ihnen jeden Hinweis auf die große Entdeckung und die sich daraus herleitenden Techniken vorenthalten.
Was immer das sein mochte. Und dann sollte er seinen Auftrag erfüllen… Er hatte das Gefühl, er müsse platzen. Er konnte sich nicht erinnern. Warum hatten diese Verrückten seinen Auftrag nicht in Bronze eingraviert? Was konnte das für ein Auftrag sein? Auf dem Bildschirm stand: Kontakt 96 Stunden. Dr. Ran Ellis schnallte sich im Pilotensessel fest und weinte vor lauter Verzweiflung. Das große Raumschiff suchte, sondierte und berichtete. Der kleine Bildschirm leuchtete auf. Chlor-Atmosphäre. Unbelebt. Die Daten wurden in den Bordspeicher eingegeben. Schaltkreise schlossen sich, andere wurden unterbrochen. Ein neuer Kurs wurde ausgearbeitet, und das Schiff raste weiter. Ellis aß und schlief und dachte nach. Ein anderer Planet wurde gemeldet, untersucht und abgelehnt. Dr. Ellis dachte weiter nach und machte eine einzige, unwichtige Entdeckung. Er verfügte über ein photographisches Gedächtnis. Er entdeckte das, als er über den Film nachdachte. Er konnte sich an jede Einzelheit dieser einstündigen Vorführung erinnern, an jedes Gesicht, jede Bewegung. Während das Schiff weiterflog, stellte er sich auf die Probe und fand heraus, daß es sich um eine ständig vorhandene Begabung handelte. Das beunruhigte ihn für eine Weile, bis ihm klar wurde, daß es sicher ein Grund für seine Auswahl gewesen war. Ein photographisches Gedächtnis würde beim Erlernen einer neuen Sprache ein großer Vorteil sein. Welche Ironie, dachte er. Ein perfektes Gedächtnis – aber keine Erinnerung. Ein dritter Planet wurde für ungeeignet befunden. Ellis bemühte sich herauszufinden, welcher Art sein Auftrag war, indem er alle Möglichkeiten, die ihm einfielen, durchdachte. Sollte er der Erde ein Denkmal errichten? Vielleicht. Aber warum dann diese Dringlichkeit, diese Wichtigkeit seines Auftrages?
Vielleicht hatte man ihn als Lehrer ausgesandt. Eine letzte Handlung der Erde, um einige bewohnte Planeten in Frieden und Zusammenarbeit zu unterweisen. Warum schickte man einen Arzt auf eine solche Mission? Außerdem war das unlogisch. Völker lernen über Jahrtausende, nicht in wenigen Jahren. Und es paßte nicht zur Stimmung der beiden Botschaften. Sowohl der Mann im Film als auch der Briefschreiber schienen praktisch denkende Menschen zu sein. Ellis konnte sich keinen der beiden als humanitären Wohltäter vorstellen. Ein vierter Planet kam in Reichweite, wurde überprüft und links liegen gelassen. Und was, fragte er sich, war »die große Entdeckung«? Wenn nicht die Überlichtgeschwindigkeit, was dann? Höchstwahrscheinlich eine philosophische Entdeckung. Wie Menschen in Frieden leben konnten oder so etwas. Warum sollte er dann nicht darüber sprechen? Ein Bildschirm leuchtete auf und zeigte den Sauerstoffgehalt des fünften Planeten an. Ellis kümmerte sich nicht darum. Dann blickte er auf, als die Generatoren tief im Inneren des Schiffes zu brummen begannen. Fertigmachen zur Landung, wies ihn der Bildschirm an. Sein Herz hüpfte krampfartig, und Ellis verspürte eine kurze Atemnot. Da war es also. Als die Schwerkraft am Raumschiff zerrte, packte ihn Entsetzen. Er kämpfte dagegen an, aber es wurde stärker. Er schrie und riß an seinen Gurten, als das Schiff begann, merklich zu sinken. Auf dem großen Bildschirm sah man das Blau und Grün eines Sauerstoffplaneten. Dann erinnerte sich Ellis an etwas. »Das Heraustreten aus dem tiefen Weltall in ein planetares System entspricht dem Geburtstrauma.« Eine normale Reaktion, sagte er sich, aber leicht kontrollierbar für einen Psychiater. Ein Psychiater! Dr. Randolph Ellis, Psychiater. Nun wußte er, was für ein Arzt er war. Er durchsuchte sein Gedächtnis nach weiteren Informationen, vergeblich. Er kam nicht weiter. Warum hatte die Erde einen Psychiater in den Weltraum geschickt?
Er wurde ohnmächtig, als das Schiff kreischend in die Atmosphäre eintrat. Als das Schiff landete, erholte Ellis sich beinahe augenblicklich. Er schnallte sich los und öffnete die Sichtluken. Mit Leuten gefüllte Fahrzeuge näherten sich dem Schiff. Die Leute waren menschenähnlich. Er mußte nun eine Entscheidung treffen, die sich auf seinen weiteren Aufenthalt auf diesem Planeten auswirken würde. Was sollte er tun? Wie sollte er vorgehen? Er dachte kurz nach und beschloß, auf seine Ohren zu vertrauen. Er würde improvisieren. Eine Verständigung war erst möglich, wenn er die Sprache erlernt hatte. Dann wollte er sagen, daß er von der Erde gesandt worden war, um… um… Um was? Das wollte er entscheiden, wenn es soweit war. Mit einem Blick auf den Bildschirm stellte er fest, daß die Atmosphäre atembar war. Die Seitenwand des Raumschiffes öffnete sich, und Ellis ging hinaus. Er war auf einem Subkontinent namens Kreld gelandet, und die Bewohner hießen Kreldaner. Politisch hatte der Planet das Stadium der Weltregierung erreicht, aber erst vor so kurzer Zeit, daß die Bewohner noch immer nach den früheren politischen Unterscheidungen eingeteilt wurden. Mit seinem photographischen Gedächtnis fiel es Ellis nicht schwer, die kreldanische Sprache zu lernen, nachdem einmal mit Schlüsselwörtern eine Grundlage geschaffen worden war. Die Bewohner Krelds waren mit den Menschen eng verwandt, und erschienen ihm nicht fremder als einige Vertreter seiner eigenen Rasse. Ellis wußte, daß diese Tatsache vorhergesehen worden war. Das Schiff hätte die Landung sonst verworfen. Je länger er darüber nachdachte, desto sicherer war er sich, daß sein Auftrag von dieser Ähnlichkeit abhing. Ellis lernte, beobachtete und dachte nach. Sobald er die Sprache gut genug beherrschte, mußte er sich mit der regierenden Versammlung tref-
fen. Er fürchtete diese Begegnung und schob sie so lange wie möglich vor sich her. Trotzdem kam der Moment. Er wurde durch die Hallen des Regierungsgebäudes zur Tür des Obersten Staatsrates geleitet. Mit dem Projektor unter dem Arm trat er ein. »Sie sind uns höchst willkommen«, sagte der Ratsvorsitzende. Ellis erwiderte die Begrüßung und führte seine Filme vor. Niemand sprach, bis alle die Filme gesehen hatten. »Dann sind Sie der letzte Vertreter der Rasse?« fragte der Ratsvorsitzende. Ellis nickte und schaute in das liebenswürdige, runzelige, alte Gesicht. »Warum hat Ihr Volk nur Sie gesandt?« fragte ein anderes Ratsmitglied. »Warum wurden nicht eine Frau und ein Mann geschickt?« Die gleiche Frage habe ich mir auch gestellt, dachte Ellis. »Es ist mir unmöglich«, antwortete Ellis, »die Psychologie meiner Rasse in wenigen Worten zu erklären. Unsere Entscheidung wird von unserem besonderen Gefühl für das Dasein getragen.« Eine nichtssagende Lüge, dachte er bei sich. Doch was hätte er sonst sagen können? »Sie werden uns einmal die Psychologie Ihrer Rasse näher erläutern müssen«, sagte der Mann. Ellis nickte und musterte die Gesichter der Ratsmitglieder. Auf ihnen konnte er die Wirkung der wunderbar ausgearbeiteten Filme ablesen. Sie würden diesen letzten Vertreter einer großen Rasse freundlich behandeln. »Wir sind sehr an Ihrem Überlichtantrieb interessiert«, begann ein Ratsmitglied, »könnten Sie uns helfen, ihn nachzubauen?« »Ich fürchte nicht«, erwiderte Ellis. Aus dem, was er herausgefunden hatte, schloß er, daß ihre Technik prä-atomar war und gegenüber der Erde einige Jahrhunderte im Rückstand. »Ich bin kein Naturwissenschaftler. Mir fehlt das Wissen über die Antriebskraft. Es handelt sich um eine sehr neue Entwicklung.« »Wir könnten das selbst untersuchen«, entgegnete der Mann.
»Ich glaube nicht, daß das klug wäre«, erklärte Ellis. »Mein Volk hält es nicht für ratsam, einem Planeten Ergebnisse technischer Entwicklung zugänglich zu machen, die über seinen Kenntnisstand hinausgehen.« Soviel zur Theorie. »Die Maschinen werden überlastet, wenn man an ihnen herumhantiert.« »Sie sagen, Sie seien kein Naturwissenschaftler«, fragte der alte Ratsvorsitzende freundlich und wechselte das Thema. »Was sind Sie dann, wenn ich fragen darf?« »Ein Psychiater«, antwortete Ellis. Sie redeten stundenlang. Ellis wich aus, schwindelte, erfand und versuchte gleichzeitig, die Lücken in seinem Wissen zu füllen. Die Ratsversammlung wollte alles über die Entwicklungsstufen des Lebens auf der Erde und den sozialen und technischen Fortschritt wissen. Sie staunten über die irdische Methode der Novafrüherkennung. Und warum war er gerade hierher gekommen? Und schließlich, da er allein gekommen war, neigte seine Rasse etwa zum Selbstmord? »Wir möchten Ihnen bald noch mehr Fragen stellen«, sagte der alte Vorsitzende und beendete die Sitzung. »Ich werde mich glücklich schätzen, alles in meiner Macht Stehende zu beantworten«, sage Ellis. »Das scheint nicht viel zu sein«, bemerkte ein Ratsmitglied. »Nun Elgg – bedenken Sie, welchen Schock dieser Mann erlitten hat«, beschwichtigte ihn der Vorsitzende. »Seine gesamte Rasse ist untergegangen. Wir sind, glaube ich, nicht sehr gastfreundlich.« Er wandte sich Ellis zu. »Mein Herr, Sie haben uns schon unermeßlich geholfen. Zum Beispiel können wir jetzt, da wir von der Möglichkeit kontrollierbarer Atomenergie wissen, unsere Forschung darauf ausrichten. Sie werden natürlich vom Staat für Ihre Mühe entschädigt. Was möchten Sie gerne tun?« Ellis zögerte und überlegte, was er antworten sollte. »Möchten Sie gerne ein Museumsprojekt über die Erde leiten? Ein Denkmal für Ihr großes Volk?« War das sein Auftrag, fragte er sich. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin Arzt. Psychiater. Vielleicht kann ich in dieser Richtung helfen.«
»Aber Sie kennen unser Volk nicht«, sagte der alte Vorsitzende bedauernd. »Sie wären ein Leben lang damit beschäftigt, unsere Spannungen und Probleme verstehen zu lernen, ehe sie hier praktizieren könnten.« »Das ist wahr«, sagte Ellis. »Aber unsere Rassen sind sich ähnlich. Unsere Zivilisationen haben ähnliche Wege eingeschlagen. Da ich eine fortschrittlichere psychologische Tradition vertrete, könnten meine Methoden Ihren Ärzten vielleicht helfen…« »Natürlich, Dr. Ellis. Ich darf nicht den Fehler begehen, eine Spezies zu unterschätzen, die das Weltall durchquert hat.« Der alte Ratsvorsitzende lächelte reumütig. »Ich selbst werde Sie dem Leiter eines unserer Krankenhäuser vorstellen.« Er stand auf. »Wenn Sie bitte mit mir kommen würden.« Ellis folgte ihm, sein Herz schlug heftig. Sein Auftrag mußte etwas mit Psychiatrie zu tun haben. Warum hätten sie sonst wohl einen Psychiater geschickt? Aber er wußte immer noch nicht, was man von ihm erwartete. Und zu allem Unglück wußte er so gut wie gar nichts mehr von seiner psychiatrischen Vergangenheit. »Nun haben Sie unsere sämtlichen Untersuchungsapparaturen gesehen«, sagte der Arzt und sah Ellis durch seine stahlgefaßte Brille an. Er war jung, hatte ein Mondgesicht und war erpicht darauf, von der älteren Zivilisation der Erde zu lernen. »Können Sie Verbesserungen vorschlagen?« fragte er. »Ich werde mir die Anlage noch genauer ansehen müssen«, erwiderte Ellis, während er dem Arzt durch einen langen, blaßblauen Flur folgte. Angesichts der Untersuchungsapparatur hatte sich bei ihm eine klaffende Wissenslücke offenbart. »Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie gespannt ich auf diese Gelegenheit bin«, erzählte der Arzt. »Ich zweifle nicht daran, daß es euch Terranern gelungen ist, viele Geheimnisse des Bewußtseins aufzudekken.« »O ja«, antwortete Ellis.
»Dort unten haben wir die Pflegefälle«, sagte der Doktor. »Wollen Sie sie sehen?« »Gerne.« Ellis folgte dem Arzt und biß sich ärgerlich auf die Lippen. Ihm fehlte noch immer jede Erinnerung. Er besaß nicht mehr psychiatrisches Wissen als ein schlecht informierter Laie. Wenn nicht bald etwas geschah, war er gezwungen, seine Amnesie zuzugeben. »In diesem Raum«, begann der Arzt, »haben wir verschiedene ruhige Fälle.« Ellis folgte ihm und blickte in die stumpfsinnigen, leblosen Gesichter dreier Patienten. »Katatonisch«, sagte der Arzt und zeigte auf den ersten Mann. »Ich nehme an, dagegen haben Sie auch keine Therapie gefunden.« Er lächelte gutmütig. Ellis antwortete nicht. Eine neue Erinnerung tauchte in seinem Kopf auf. Es waren lediglich einige Sätze einer Unterhaltung. »Aber ist es ethisch vertretbar?« hatte er gefragt, in einem Raum wie diesem hier, auf der Erde. »Natürlich«, hatte jemand geantwortet. »Wir machen keine Versuche mit Normalen. Aber diese Idioten, die schwachsinnigen Kriminellen, die Psychoten, die ihr Bewußtsein nie gebrauchen können. Wir rauben ihnen ja nichts. Es ist eine Gnade für sie, wirklich…« Nur so viel. Er wußte nicht, mit wem er gesprochen hatte. Wahrscheinlich mit einem anderen Arzt. Sie hatten sich über irgendeine neue Methode zur Behandlung Geisteskranker unterhalten. Ein neues Heilverfahren? Das konnte sein. Dem Inhalt nach offenbar eine sehr drastische Methode. »Haben Sie ein Heilverfahren dafür?« fragte der mondgesichtige Doktor erneut. »Ja. Ja, das haben wir«, sagte Ellis, allen Mut zusammennehmend. Der Arzt wich einen Schritt zurück und starrte ihn an. »Aber das ist unmöglich! Sie können kein Gehirn heilen, wenn ein organischer Schaden vorliegt – Verfall oder eine Unterentwicklung…« Er hielt inne. »Aber wenn ich es Ihnen doch sage, Doktor.«
Ellis betrachtete den Mann im ersten Bett. »Holen Sie mir ein paar Assistenten, Doktor.« Der Arzt zögerte, dann eilte er aus dem Zimmer. Ellis beugte sich über den Katatoniker und sah in sein Gesicht. Er wußte nicht genau, was er tat, aber er streckte seine Hand aus und berührte die Stirn des Mannes mit dem Finger. Etwas in Ellis’ Hirn klickte. Der Katatoniker sank in sich zusammen. Ellis wartete, aber offenbar geschah weiter nichts. Er ging zum zweiten Patienten und wiederholte die Prozedur. Dieser wurde ebenso ohnmächtig, und auch der nächste. Der Arzt kam mit zwei verblüfft dreinblickenden Assistenten zurück. »Was geht hier vor sich?« fragte er. »Was haben Sie gemacht?« »Ich weiß nicht, ob unsere Methoden bei Ihren Leuten anschlagen«, sagte Ellis, völlig verblüfft. »Bitte lassen Sie mich einen Moment allein – völlig allein. Die nötige Konzentration…« Er wandte sich den Patienten zu. Der Arzt wollte etwas sagen, besann sich aber und verließ mit den Assistenten leise den Raum. Schwitzend prüfte Ellis den Puls des ersten Mannes. Er schlug noch. Ellis richtete sich auf und durchschritt den Raum. Er verfügte offenbar über eine besondere Kraft. Er konnte einen Psychoten glatt außer Gefecht setzen. Schön. Nerven – Verbindungen. Er wünschte, er hätte sich erinnern können, wie viele Nervenverbindungen es im menschlichen Gehirn gab. Eine unvorstellbare Zahl; zehn hoch fünfundzwanzig hoch zehn? Nein, das schien nicht richtig zu sein. Aber eine unvorstellbare Zahl. Was spielte das für eine Rolle? Es spielte eine, da war er sicher. Der erste Mann stöhnte und setzte sich auf. Ellis ging zu ihm. Der Mann faßte sich an den Kopf und stöhnte wieder. Meine ganz persönliche Schocktherapie, dachte Ellis. Vielleicht hatte die Erde das Problem der Geisteskrankheiten gelöst. Und als letztes Geschenk an das Universum hatte man ihn ausgesandt, um zu heilen…
»Wie fühlen Sie sich?« fragte er den Patienten. »Nicht schlecht«, antwortete der – auf Englisch! »Was haben Sie gesagt?« keuchte Ellis. Er fragte sich, ob eine Art Gedankenübertragung stattgefunden hatte. Hatte er dem Mann seine Englischkenntnisse weitergegeben? Mal überlegen, wenn man die Belastung von den kranken Nerven auf unbenutzte verlagerte… »Ich fühle mich gut, Doktor. Gute Arbeit. Wir waren nicht sicher, ob dieses Kartenhaus von einem Raumschiff zusammenhält. Aber wie ich Ihnen schon sagte, war es das Beste, was wir unter diesen Umständen…« »Wer sind Sie?« Der Mann stieg aus dem Bett und sah sich um. »Sind die Einheimischen weg?« »Ja.« »Ich bin Haines. Vertreter der Erde. Was ist los mit Ihnen, Ellis?« Die anderen Männer kamen zu sich. »Und sie…« »Dr. Clitell.« »Fred Anderson.« Der Mann, der sich mit Haines vorgestellt hatte, betrachtete seinen Körper. »Sie hätten ruhig einen besseren Gastkörper für mich finden können, Ellis. In Erinnerung an alte Zeiten. Aber macht nichts. Was ist los, Mann?« Ellis berichtete von seiner Amnesie. »Haben Sie den Brief nicht gefunden?« Ellis erzählte ihnen alles. »Wir werden Ihr Erinnerungsvermögen schon wieder hinkriegen, keine Bange«, sagte Haines. »Es tut gut, wieder einen Körper zu haben. Still.« Die Tür öffnete sich, und der junge Doktor spähte hinein. Er sah die Patienten und stieß einen Schrei aus. »Sie haben es geschafft! Sie sind in der Lage…« »Bitte, Doktor«, unterbrach Ellis ihn. »Kein plötzlicher Lärm. Ich muß darum bitten, mindestens noch eine Stunde nicht gestört zu werden.«
»Natürlich«, sagte der Arzt respektvoll, zog seinen Kopf zurück und schloß die Tür. »Wie ist das möglich?« fragte Ellis und sah die drei Männer an. »Ich verstehe nicht…« »Die große Entdeckung«, begann Haines. »Sie erinnern sich doch? Sie haben selbst daran gearbeitet. Erklären Sie es ihm, Anderson.« Der dritte Mann kam langsam zu ihnen herüber. Ellis bemerkte, daß sich die ausdruckslosen Gesichtszüge bereits schärften, geformt vom Verstand dahinter. »Erinnern Sie sich noch an die Erforschung der Persönlichkeitsfaktoren, Ellis?« Ellis schüttelte den Kopf. »Sie suchten nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner von Leben und Persönlichkeit. Nach dem Ursprung, wenn Sie so wollen. Eigentlich begann diese Forschung schon vor hundert Jahren, als Orgell herausfand, daß die Persönlichkeit vom Körper unabhängig ist, obwohl sie von ihm beeinflußt und verändert wird. Erinnern Sie sich jetzt?« »Nein. Erzählen Sie weiter.« »Um es einfach zu machen: Sie – und etwa dreißig andere – fanden heraus, daß die kleinste, unteilbare Einheit der Persönlichkeit eine freie, nicht materielle Substanz ist. Sie nannten sie das M-Molekül. Es handelt sich um ein komplexes mentales Muster.« »Mental?« »Ein nicht-materielles, demnach«, antwortete Anderson. »Es kann von Wirt zu Wirt übertragen werden.« »Das klingt nach Besessenheit«, sagte Ellis. Anderson entdeckte in einer Ecke des Zimmers einen Spiegel. Er ging hinüber, um sein Gesicht zu betrachten. Er erschauerte, als er es sah und wischte sich Speichel von den Lippen. »Die alten Mythen über Geisterbesessenheit sind gar nicht so abwegig«, meinte Dr. Clitell. Er war der einzige, der seinen Körper mit etwas Wohlbehagen trug. »Es gab schon immer Menschen, die ihr Bewußtsein vom Körper trennen konnten. Astralprojektion und dergleichen. Doch
erst vor kurzem wurde die Persönlichkeit lokalisiert und ein invariables Separations- und Resynthese-Verfahren entwickelt.« »Heißt das, daß Sie unsterblich sind?« fragte Ellis. »O, nein!« sagte Anderson und kam herüber. Er zog eine Grimasse und versuchte, das unkontrollierte Sabbern seines Wirtskörpers zu unterdrücken. »Die Persönlichkeit hat eine festgelegte Lebenszeit. Sie ist natürlich länger als die des Körpers, aber sie hat auch bestimmte Grenzen.« Er konnte den Speichelfluß stoppen. »Trotzdem kann sie schlafend beinahe ewig aufbewahrt werden.« »Und welcher Ort«, warf Haines ein, »wäre besser geeignet, ein immaterielles Molekül aufzubewahren, als Ihr eigenes Bewußtsein? Ihre Nervenverbindungen haben uns alle beherbergt, Ellis. Dort ist viel Platz. Die Anzahl der Verbindungen im menschlichen Gehirn wurde berechnet auf zehn hoch…« »Daran erinnere ich mich«, sagte Ellis. »Ich beginne zu verstehen.« Er wußte, warum man ihn ausgewählt hatte. Für diesen Auftrag wurde ein Psychiater gebraucht, damit man Zugang zu den Wirtskörpern erlangte. Er war besonders ausgebildet worden. Natürlich durften die Kreldaner jetzt noch nichts von seinem Auftrag und dem M-Molekül erfahren. Sie würden es nicht gut aufnehmen, wenn ihr Volk – wenn auch nur die Kranken – von den Erdenwesen in Besitz genommen wurde. »Sehen Sie sich das an«, sagte Haines. Begeistert bog er seine Finger nach hinten. Er hatte entdeckt, daß sein Wirtskörper doppelgelenkig war. Die beiden anderen probierten ihre Körper aus, wie man ein Pferd testet. Sie beugten ihre Arme, spannten die Muskeln an, übten Laufen. »Aber«, fragte Ellis, »wie wird sich die Rasse… ich meine, was ist mit den Frauen?« »Schaffen Sie mehr Wirte ran«, antwortete ihm Haines, der immer noch seine Finger ausprobierte. »Männliche und weibliche. Sie werden der größte Arzt dieses Planeten werden. Jeden Behinderten wird man Ihnen zur Heilung bringen. Natürlich bleibt alles geheim. Niemand wird frühzeitig etwas ausplaudern.« Er hielt inne und grinste. »Ellis, begreifen Sie, was das bedeutet? Die Erde ist nicht tot! Sie wird wieder leben.«
Ellis nickte. Er hatte Schwierigkeiten, den großen, verbindlichen Haines aus dem Film in dieser schrill krächzenden Vogelscheuche wiederzuerkennen. Sie würden alle Zeit brauchen, das wußte er, und eine Menge Anpassungsfähigkeit. »Wir sollten uns lieber an die Arbeit machen«, sagte Anderson. »Wenn Sie alle geistig Behinderten dieses Planeten behandelt haben, tanken wir Ihr Raumschiff auf und schicken Sie weiter.« »Wohin?« fragte Ellis. »Auf einen anderen Planeten?« »Natürlich. Hier gibt es vermutlich nur einige Millionen Wirtskörper, weil wir die Normalen nicht anrühren.« »Nur! Aber wie viele Leute habe ich denn gespeichert?« Man hörte Stimmen im Flur. »Sie sind mir vielleicht einer«, sagte Haines belustigt. »Zurück in die Betten, Männer – ich glaube, ich höre den Doktor. Wie viele? Die Bevölkerung der Erde zählte etwa vier Milliarden. Die tragen Sie alle in sich!«
Endlich allein Das jährliche Raumschiff nach Io befand sich bereits in Startposition, und Scharen von Androiden waren mit den letzten Vorbereitungen beschäftigt. Eine Menschenmenge hatte sich versammelt, um das Ereignis zu beobachten, um eng beieinander zu stehen und sich zu amüsieren. Signalhörner ertönten, und eine Warnsirene begann zu kreischen. Aus den letzten unverschlossenen Luken quollen Konfetti und lange, silberne und rote Bänder. Aus einem Lautsprecher ertönte die herzliche Stimme des – natürlich menschlichen – Schiffskapitäns: »Alles an Land, was an Land soll.« Inmitten dieses fröhlichen Durcheinanders stand Richard Arwell mit schweißüberströmtem Gesicht. Um ihn herum war Gepäck aufgetürmt, und ständig kam mehr dazu. Vom Schiff trennte ihn ein lächerlicher, kleiner Regierungsbeamter. »Nein, Sir. Ich fürchte, ich muß Ihnen die Erlaubnis verweigern«, sagte der Beamte mit Inbrunst. Arwells Weltraumpaß war unterzeichnet und gegengezeichnet. Sein Ticket bezahlt und quittiert. Um bis hierher zu gelangen, hatte er vor hundert Türen gewartet, sich bei hundert unwissenden Speichelleckern gerechtfertigt. Und jetzt auf der Schwelle zum Erfolg, sah er sich dem Mißerfolg gegenüber. »Meine Papiere sind in Ordnung«, betonte Arwell mit einer Ruhe, die er nicht spürte. »Sie scheinen in Ordnung zu sein«, erwiderte der Beamte verständnisvoll. »Aber Ihr Ziel ist so widernatürlich…« In diesem Moment rumpelte ein Trägerroboter mit der Kiste herbei, die Arwells persönlichen Androiden enthielt. »Vorsicht damit«, sagte Arwell. Der Roboter setzte die Kiste mit einem dumpfen Schlag auf.
»Idiot!« schrie Arwell. »Unfähiger Dummkopf!« Er wandte sich dem Beamten zu. »Ob die wohl irgendwann mal einen Roboter bauen, der Befehle genau befolgt?« »Das fragte mich meine Frau neulich auch«, sagte der Beamte und lächelte freundlich. »Erst neulich hat unser Androide…« Der Roboter fragte: »Das hier aufs Schiff bringen?« »Noch nicht«, antwortete der kleine Beamte. Der Lautsprecher dröhnte: »Letzter Aufruf! Alle Mann an Bord!« Der Beamte nahm wieder Arwells Papiere in die Hand. »Nun denn. Das Problem des Reiseziels. Sie wollen also wirklich auf einen Asteroiden, Sir?« »Genau«, sagte Arwell. »Ich werde auf einem Asteroiden leben, so wie es in meinen Papieren steht. Wenn Sie nun so freundlich wären, meine Papiere zu unterschreiben und mich an Bord gehen zu lassen…« »Aber auf den Asteroiden lebt niemand«, sagte der Beamte. »Es gibt dort keine Kolonien.« »Weiß ich.« »Es gibt niemanden auf den Asteroiden!« »Richtig.« »Sie würden allein sein.« »Ich möchte allein sein«, sagte Arwell nur. Der Beamte starrte ihn ungläubig an. »Aber bedenken Sie das Risiko. Niemand ist heutzutage allein.« »Ich werde es sein. Sobald Sie dieses Papier unterschreiben«, sagte Arwell. Bei einem Blick zum Raumschiff sah er, daß sich die Luken gerade schlossen. »Bitte!« Der Beamte zögerte. Die Papiere waren in Ordnung, gewiß. Aber allein zu sein – völlig allein – war gefährlich, selbstmörderisch. Trotzdem war es zweifellos legal. Er kritzelte seinen Namen. Sofort rief Arwell: »Träger, Träger! Bring das aufs Schiff. Beeil dich! Und sei vorsichtig mit dem Androiden!«
Der Träger hob die Kiste so plötzlich an, daß Arwell hören konnte, wie der Kopf des Androiden gegen die Seitenwand schlug. Arwell zuckte zusammen, doch es blieb ihm keine Zeit für einen Tadel. Die letzte Luke schloß sich gerade. »Wartet!« schrie Arwell und spurtete über den Betonboden. Der Trägerroboter donnerte hinter ihm her. »Wartet!« schrie er wieder, weil ein Schiffsandroid systematisch die Luke verriegelte, ohne von Arwells unbefugtem Zuruf Notiz zu nehmen. Doch ein menschliches Besatzungsmitglied schritt ein, und das Verriegeln wurde unterbrochen. Arwell sprintete hinein, und der Roboter schleuderte ihm das Gepäck hinterher. Die Luke schloß sich. »Legen Sie sich hin!« rief ein Mannschaftsmitglied. »Schnallen Sie sich an. Trinken Sie das. Wir heben ab.« Als das Schiff erbebte und aufstieg, durchflutete Arwell eine ungeheure, trunken machende Zufriedenheit. Er hatte es geschafft. Er hatte gewonnen und bald, sehr bald würde er allein sein! Aber selbst im Weltraum hatten Arwells Schwierigkeiten kein Ende, denn der Kapitän des Raumschiffs, ein hochgewachsener, aufrechter, ergrauender Mann, beschloß, ihn nicht auf einen Asteroiden zu bringen. »Ich kann einfach nicht glauben, daß Sie wissen, was Sie tun«, begann der Kapitän. »Ich bitte Sie, sich das noch einmal zu überlegen.« Sie saßen auf gepolsterten Stühlen im gemütlichen Salon des Kapitäns. Arwell fühlte sich unsagbar müde, als er in das selbstgefällige, gewöhnliche Gesicht des Kapitäns blickte. Einen Moment dachte er daran, den Mann zu erwürgen. Aber das konnte ihm niemals die Einsamkeit bringen, die er sich wünschte. Irgendwie mußte er auch diesen letzten, langweiligen Idioten überzeugen. Ein Robotdiener glitt lautlos hinter den Kapitän. »Einen Drink, Sir?« fragte er mit einer schrillen, metallischen Stimme. Der Kapitän schreckte hoch. »Mußt du dich so heranschleichen?« fragte er den Roboter. »Entschuldigung«, erwiderte er. »Einen Drink, Sir?«
Beide Männer ließen sich Drinks reichen. »Warum«, fragte der Kapitän, »kann man diese Mechanischen nicht besser ausbilden?« »Das habe ich mich auch schon oft gefragt«, sagte Arwell mit einem wissenden Lächeln. »Dieser hier«, fuhr der Kapitän fort, »ist ein absolut effizienter Diener. Und dennoch hat er diese lächerliche Gewohnheit, sich von hinten an die Leute heranzuschleichen.« »Mein Android«, sagte Arwell, »hat ein äußerst störendes Zittern in der linken Hand. Eine synaptische Verzögerung nennen die Techniker das, glaube ich. Man sollte meinen, daß sich daran etwas ändern ließe.« Der Kapitän zuckte die Schultern. »Vielleicht bei den neuen Modellen… na ja.« Er nippte an seinem Drink. Arwell nippte an seinem und fand, daß eine freundschaftliche Atmosphäre geschaffen worden war. Er hatte dem Kapitän gezeigt, daß er kein wilder Exzentriker war, sondern im Gegenteil recht normale Ideen hatte. Nun galt es, diesen Vorteil zu nutzen. »Ich hoffe, Sir, daß es wegen dem Asteroiden keine Probleme gibt.« Der Kapitän blickte verärgert drein. »Mr. Arwell«, sagte er, »Sie bitten mich, etwas zu tun, was im Grunde ein asozialer Akt ist. Wenn ich Sie auf einem Asteroiden absetze, wäre das ein menschliches Versagen meinerseits. Heutzutage ist niemand allein. Wir halten zusammen. In der Mehrzahl liegt Behaglichkeit, in der Menge Sicherheit. Wir kümmern uns umeinander.« »Völlig richtig«, unterbrach ihn Arwell. »Aber Sie müssen Raum für individuelle Unterschiede lassen. Ich bin einer der wenigen, die sich wirklich Einsamkeit wünschen. Das macht mich vielleicht ungewöhnlich. Aber meine Wünsche müssen doch gewiß respektiert werden.« »Hmmm.« Der Kapitän betrachtete Arwell ernst. »Sie glauben, daß Sie sich Einsamkeit wünschen. Aber haben Sie je Einsamkeit erlebt?« »Nein«, gab Arwell zu. »Aha. Dann können Sie sich auch keine Vorstellung von den Gefahren machen, den wirklichen Gefahren, die diesem Zustand innewohnen. Wäre es nicht besser, sich an die Vorteile unserer Zeit anzupassen?«
Der Kapitän fuhr fort, über den Großen Frieden zu reden, der nun schon zweihundert Jahre dauerte, und über die seelische Stabilität, auf der er beruhte. Mit leicht gerötetem Gesicht sprach er von der gesunden, gegenseitigen Symbiose zwischen dem Menschen, diesem gesellschaftlich integrierten Lebewesen, und seiner Schöpfung, dem heiter arbeitenden Mechanischen. Er sprach von der großen Aufgabe der Menschheit – der Organisation der Fähigkeiten ihrer Roboter. »Ganz richtig«, sagte Arwell, »aber nicht für mich.« »Ah«, sagte der Kapitän, weise lächelnd, »aber haben Sie es je versucht? Haben Sie je den erregenden Reiz der Zusammenarbeit verspürt? Die Ernteandroiden zu leiten, wenn sie sich auf den Weizenfeldern abmühen, ihre Meeresarbeit zu überwachen – gesunde, befriedigende Arbeit. Selbst die kleinste Aufgabe – sagen wir, Vorarbeiter von zwanzig oder dreißig Fabrikrobotern zu sein – entbehrt nicht dieses Gefühls solider Leistung. Und dieses Gefühl kann durch den Kontakt mit Mitmenschen geteilt und vergrößert werden.« »All diesen Dingen fehlt die Befriedigung für mich«, entgegnete Arwell. »Das ist einfach nichts für mich. Ich will den Rest meines Lebens allein verbringen, um meine Bücher zu lesen, um nachzudenken, um auf meinem eigenen Asteroiden zu leben.« Der Kapitän rieb sich müde die Augen. »Mr. Arwell«, sagte er, »ich weiß, daß Sie normal sind und also Herr Ihres Schicksals. Ich kann Sie nicht aufhalten. Aber überlegen Sie es sich! Einsamkeit ist für den modernen Menschen gefährlich. Aus diesem Grund hat er gelernt, sie zu meiden.« »Für mich wird es nicht gefährlich«, antwortete Arwell. »Das hoffe ich für Sie«, sagte der Kapitän, »das hoffe ich wirklich.« Schließlich hatte man die Umlaufbahn des Mars passiert und erreichte den Asteroidengürtel. Mit Unterstützung des Kapitäns suchte sich Arwell einen angemessenen großen Felsbrocken aus. Das Schiff paßte sich dessen Geschwindigkeit an. »Sind sie sicher, daß Sie wissen, was Sie tun?« fragte der Kapitän.
»Bestimmt!« sagte Arwell, kaum fähig seine Ungeduld zu beherrschen, jetzt wo die Einsamkeit so nah war. In den folgenden Stunden überführte die behelmte Crew seine Ausrüstung vom Raumschiff zum Asteroiden und verankerte sie. Sie stellten seinen Wassererzeuger auf und verstauten seine Grundnahrungsmittel. Zum Schluß bliesen sie die widerstandsfähige Plastikblase auf, unter der er leben würde, und überführten schließlich seinen Androiden. »Vorsicht damit«, warnte Arwell. Plötzlich rutschte die Kiste aus den ungeschickten, behandschuhten Händen eines Roboters und begann davonzutreiben. »Leint das Ding fest!« rief der Kapitän. »Beeilung!« schrie Arwell, als er seinen kostbaren Mechanischen ins Vakuum des Weltraums davontreiben sah. Ein Mitglied der menschlichen Besatzung schoß eine Harpunenleine in die Kiste und zog sie zurück. Dabei prallte sie heftig gegen die Seite des Raumschiffs. Ohne weitere Verzögerung wurde die Kiste auf dem Asteroiden vertäut. Schließlich konnte Arwell seine eigene kleine, private Welt in Besitz nehmen. »Ich wünschte, Sie würden es sich noch einmal überlegen«, sagte der Kapitän ernst. »Die Gefahren der Einsamkeit…« »Sind purer Aberglaube«, erwiderte Arwell schroff, darauf erpicht, endlich allein zu sein. »Es gibt keine Gefahren.« »Ich werde in sechs Monaten mit weiteren Vorräten wiederkommen«, sagte der Kapitän. »Glauben Sie mir, es gibt Gefahren. Es ist kein Zufall, daß der moderne Mensch…« »Darf ich nun gehen?« fragte Arwell. »Natürlich. Und viel Glück«, antwortete der Kapitän. Im Raumanzug und behelmt schwebte Arwell zu seiner kleinen Insel im Weltraum. Von dort beobachtete er den Abflug des Schiffes. Als es zu einem Lichtpunkt kaum größer als ein Stern geworden war, begann er, seine Habseligkeiten auszupacken. Zuerst natürlich den Androiden. Er hoffte, daß er unbeschädigt war nach der rauhen Behandlung, die er erlitten hatte. Schnell öffnete er die Kiste und aktivierte den Mechani-
schen. Das Kontrollinstrument auf seiner Stirn zeigte an, daß sich Energie aufbaute. Immerhin, ein gutes Zeichen. Arwell sah sich um. Dies war also der Asteroid, ein kleiner, schwarzer Felsen. Dort lagen seine Vorräte, sein Androide, seine Nahrung und sein Wasser, seine Bücher. Um ihn herum war die Unendlichkeit des Weltalls, das kalte Sternenlicht, die blasse Sonne und absolut schwarze Nacht. Er erschauerte leicht und drehte sich um. Sein Androide war aktiviert. Es gab eine Menge Arbeit. Aber fasziniert blickte er wieder ins Weltall. Das Raumschiff, dieser schwach leuchtende Stern, befand sich außer Sichtweite. Zum erstenmal empfand Arwell, was er sich vorher nur schwach hatte vorstellen können: Einsamkeit, absolute, völlige, unabänderliche Einsamkeit. Die unbarmherzigen, diamantenen Punkte der Sterne strahlten ihn grell an aus den Tiefen einer Nacht, die niemals enden würde. Kein Mensch in seiner Nähe – ihm war, als hätte die menschliche Rasse aufgehört zu existieren. Er war allein. Eine Situation, die einen wahnsinnig machen konnte. Arwell liebte sie. »Endlich allein!« rief er den Sternen zu. »Ja«, sagte sein Androide. Er richtete sich schwankend auf und kam drohend auf Arwell zu. »Endlich allein.«
ENDE