Lisa Unger
Das Gift der Lüge
s&p 01/2008
Eine verblasste Fotografie – und die glänzende Welt der Ridley Jones gerät v...
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Lisa Unger
Das Gift der Lüge
s&p 01/2008
Eine verblasste Fotografie – und die glänzende Welt der Ridley Jones gerät von einer Sekunde auf die andere aus den Fugen: Denn als die junge Journalistin den Hinweis erhält, dass sie nicht das Kind ihrer geliebten Eltern ist, begibt sie sich auf die Suche nach ihrer wahren Identität. Schon bald stößt sie auf ein Netz von Lügen, in dem jeder, dem Ridley je Vertrauen und Liebe geschenkt hat, gefangen zu sein scheint. Dabei ahnt sie noch nicht, dass sie mit ihren Fragen und Nachforschungen die Drahtzieher eines infamen Komplotts aufschreckt, die keine Skrupel haben, Ridley durch Mord zum Schweigen zu bringen … ISBN: 978-3-442-20308-6 Original: Beautiful Lies (2006) DEUTSCH VON EVA BONNÉ Verlag: Page & Turner Erscheinungsjahr: 2007
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Mitten im quirligen Manhattan genießt die selbstbewusste Ridley Jones ihr Leben als freiberufliche Journalistin. Und seit sie sich Hals über Kopf in den neuen Nachbarn Jake verliebt hat, scheint das Glück perfekt. Doch es zerbirst in tausend Stücke, als sie eines Tages in ihrer Post einen Brief findet, der ein Foto enthält sowie eine Notiz mit der Frage: »Sind Sie meine Tochter?«. Da Ridley der jungen Frau auf dem Bild erschreckend ähnlich sieht, beginnt sie, ihrer Familie quälende Fragen nach ihrer wirklichen Herkunft zu stellen. Dabei stößt sie auf ein Netz von Lügen, in dem jeder, dem Ridley je vertraut hat, gefangen zu sein scheint: Ihre Eltern, ihr Bruder, selbst Jake – alle haben etwas zu verbergen. Und Ridley ahnt nicht, dass sie einer weit reichenden Verschwörung auf der Spur ist, deren Hintermänner ihr schon bald nach dem Leben trachten …
Autor Lisa Unger, geboren in Connecticut, ist in den USA, England und Holland aufgewachsen. Sie hat in einem Verlag gearbeitet, bevor sie sich entschloss, selbst Schriftstellerin zu werden. Zusammen mit ihrer Familie lebt sie heute in Florida und arbeitet dort zurzeit an ihrem nächsten Roman. Zusätzliche Informationen auch unter: www.lisaunger.com.
FÜR JEFFREY DU BIST ALLES. IMMER.
Denn er war anonym, hatte keinen Namen … völlig verwaist, Quidam. CYPRIAN K. NORWID
25. OKTOBER 1972 Manchmal wünschte sie, er wäre tot. Nicht dass er nie geboren worden wäre oder sie ihn niemals getroffen hätte, sondern dass er von einem Auto überfahren oder auf andere gewaltsame Weise umkommen würde; bei einer Kneipenschlägerei oder an einer Maschine, in der sein Arm hängen bleiben und er verbluten würde, bevor Hilfe käme. Und sie stellte sich vor, dass er in diesen letzten Momenten, während das Leben aus ihm wich, begreifen würde, was für ein Ekel er war, welch unwerte Existenz. Sie sah es deutlich vor sich: Das Blut lief in einer schwarzroten, nierenförmigen Pfütze unter ihm zusammen, während Reue und Todesangst ihn packten. Und in einem finalen Augenblick der Erleuchtung verstünde er, dass er lediglich für sein eigenes Verhalten bezahlte. In jenen dunklen Momenten würde es ihm leidtun, so unendlich leid. Aber es wäre zu spät. Solche Hirngespinste hatte sie, wenn sie an ihn dachte. Sie lag allein auf der alten, abgewetzten Decke im Dunkeln auf ihrem Bett. Der Heizkörper verströmte heiße, trockene Luft, und gelegentlich klapperte er laut, so als schlüge jemand mit einem Schraubenschlüssel gegen die Heizstäbe. Sie lauschte auf das leise, gleichmäßige Atmen ihrer Tochter aus dem Babyfon. Ein starker Wind rüttelte an den Fenstern. Sie wusste, draußen war es kalt, kälter, als es in diesem Herbst bislang gewesen war. Trotzdem schwitzte sie ein bisschen. Die Heizung in ihrem Apartment wurde immer viel zu heiß. Nachts strampelte die Kleine (die mit ihren fast zwei Jahren so klein eigentlich nicht mehr war) die Decke beiseite. Darauf wartete sie jetzt, auf den plötzlichen Ruck, mit dem das Kind sich herumwarf. Sie wartete aber auch noch auf etwas anderes.
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Endlich raste ihr Herz nicht mehr, und endlich hatte die Kleine aufgehört zu weinen; aber sie wusste, er würde zurückkommen. Sie war vollständig bekleidet, trug ein graues Sweatshirt, Jeans und Turnschuhe, und in einer Hand hielt sie das Telefon. Neben ihrem Bein lag ein Baseballschläger. Käme er zurück, würde sie wieder die Polizei rufen, auch wenn die heute Nacht schon einmal vorbeigeschaut hatte. Da war er schon längst wieder gegangen. Sie hatte eine einstweilige Verfügung. Die Polizei musste anrücken, egal, wie oft sie anrief. Sie konnte nicht glauben, dass es so weit gekommen war. Ihr Leben. Wäre da nicht ihre Tochter, sie hätte es für eine Katastrophe gehalten; so viele Fehler, so viele enttäuschte Hoffnungen. Aber sie wusste, wenigstens eine Sache hatte sie gut gemacht; ihre Tochter war trotz allem glücklich und gesund, und sie wurde von ihrer Mutter geliebt. Von dem Wecker neben ihrem Bett ging ein grüner Lichtschein aus. Außer dem Atmen des Kindes und dem Kühlschranksummen am anderen Ende der Wohnung war nichts mehr zu hören. Der Kühlschrank war alt; er brummte und klapperte leise. Sie bemerkte das Geräusch kaum noch, außer wenn sie horchend im Dunkeln lag und sich fragte, wo er sich wohl gerade aufhielt und was er als Nächstes plante. Als sie ihm eröffnete, sie sei schwanger, war ihre Beziehung längst vorbei. Wenn man überhaupt von einer Beziehung sprechen konnte. Sie waren ein paarmal ausgegangen. Er hatte sie mit seinem Monte Carlo abgeholt und war mit ihr zu einer Pizzeria gefahren, wo man ihn offenbar kannte. Er rückte ihr den Stuhl zurecht und sagte ihr, wie hübsch sie sei. Er wiederholte das noch mehrere Male während des Abendessens, als Lückenfüller für ein Gespräch, das mehr stockte, als dass es floss. Sie hatten sich The Candidate mit Robert Redford und The Getaway mit Steve McQueen angesehen. Keiner der Filme hatte sie sonderlich interessiert, aber er hatte nicht gefragt. Er fuhr mit 6
ihr zum Kino, marschierte zur Kasse und kaufte Karten für den Film, den er sehen wollte. Vielleicht hätte sie da schon hellhörig werden müssen. Wenn man eine Frau ins Kino einlädt, sollte man sie da nicht fragen, was sie sehen möchte? Während sie mit einer Tüte Popcorn zwischen den Knien im abgedunkelten Kinosaal saß, spielte er mit ihrem Pferdeschwanz und wiederholte, wie hübsch sie sei. Beim zweiten Mal, während The Getaway, ließ sie zu, dass er ihre Brust berührte. Es gefiel ihr fast, sie spürte, wie ihr warm zwischen den Schenkeln wurde. An dem Abend war er mit in ihr Apartment gekommen, und sie hatten miteinander geschlafen. Er war aber nicht über Nacht geblieben. Danach hatte sie noch ein paarmal mit ihm geschlafen, auch wenn er sie nicht länger zum Essen und ins Kino einlud. Und dann, gerade als sie angefangen hatte, bei jedem Telefonklingeln mit dem Klang seiner Stimme zu rechnen und sich an seinen Arm auf ihrer Schulter zu gewöhnen, verschwand er nach und nach aus ihrem Leben. So machten sie es alle, oder? In der einen Woche war man noch ein Paar, in der nächsten wollte man schon nichts mehr voneinander wissen. Eine Zeit lang hatte er sich jeden Abend bei ihr gemeldet, dann jeden zweiten. Dann klingelte ihr Telefon gar nicht mehr. Sie beobachtet es, wie es auf dem Küchentresen stand. Manchmal nahm sie den Hörer ab, um zu überprüfen, ob es auch funktionierte. Sie war nicht dazu erzogen worden, einem Mann nachzulaufen, ihn einzuladen oder zu fragen, warum er nicht mehr anrief. Als er sich nicht mehr meldete, versuchte sie deshalb gar nicht erst, ihn zu erreichen. Selbstverständlich war sie genauso wenig dazu erzogen worden, sich im Kino von einem Mann begrapschen zu lassen und hinterher mit ihm zu schlafen. Außerdem war er für sie nicht viel mehr als ein Zeitvertreib gewesen, ein Mittel zum Zweck, um über den Mann vor ihm hinwegzukommen. Wie unterschiedlich diese beiden Männer 7
rein äußerlich waren. Der erste war reich gewesen, hatte sie schick in die Stadt ausgeführt, ihr Geschenke gemacht, Kleider und Schmuck. Er hatte Französisch mit ihr geredet, was sie zwar nicht verstand, aber doch ziemlich beeindruckte. Ihr Fehler, dass der Mann ihr Chef war. Als er genug von ihr hatte, schlug er ihr vor, bei der Suche nach einem neuen Job behilflich zu sein. Sie waren so verschieden gewesen, dieser Mann und sein Vorgänger, aber letztendlich doch alle gleich. Irgendwann langweilten sie sich mit ihr und wollten, dass sie verschwand. Oder sie wurden kühl und distanziert. Oder gewalttätig, so wie dieser. Ihre Eltern, beide starke Raucher, waren viel zu jung und innerhalb von zwei Jahren nacheinander gestorben. Ihre Mutter an einem Emphysem, langsam und qualvoll, ihr Vater nach einem plötzlichen Herzinfarkt. Sie hatte keine Geschwister. Es gab folglich niemanden, dem sie mit ihrer unehelichen Schwangerschaft hätte Schande machen, aber auch niemanden, an den sie sich hätte wenden können. Maria war ihre einzige Freundin; sie wohnte im selben Haus und wurde von allen nur »Madame Maria« genannt. Die ältere Frau verdiente sich ihren Lebensunterhalt, indem sie Leuten, die in ihr Apartment kamen, die Tarot-Karten legte. Sie gab die guten Ratschläge der »Göttin« weiter, wie sie zu sagen pflegte. Madame Maria hatte ihr erzählt, ein Geschenk sei unterwegs. Maria sagte das immer; diesmal hatte sie Recht behalten. Als sie ganz sicher war, ging sie zu ihm. Er fragte sie, woher sie wissen wolle, dass es von ihm sei? In dem Moment hasste sie ihn und fragte sich, wie sie sich so billig jemandem hatte hingeben können, der sie so wenig verdiente. Sie versicherte ihm, dass sie nichts von ihm verlange, dass sie ihm nur die Möglichkeit geben wolle, dem Kind ein Vater zu sein. Er ließ sie mitten auf einem dunklen Parkplatz stehen. Es fing an zu regnen, ein leichter Sprühregen, und sie hörte seinen Monte Carlo davonbrausen. Es war ein Fehler gewesen, sich an ihn zu 8
wenden. Sie hatte sich in ihm getäuscht. Sie hatte gedacht, er würde Verantwortung übernehmen. Wieder falsch. Später dann, als das Baby ein paar Monate alt war, begann er, sie zu besuchen – vielleicht aus Schuldgefühl oder aus Neugier, oder vielleicht sogar aus irgendeiner verborgenen Liebesfähigkeit heraus. Offensichtlich war er daran interessiert, seine Vaterrolle zu erfüllen. Aber nach einer gewissen Zeit war es wie beim Kinobesuch: Er bestimmte Zeitpunkt und Art der Veranstaltung, und weil er schon einmal da war, machte er sich an sie heran. Die Auseinandersetzungen begannen. Die Polizei wurde gerufen. Entschuldigungen angeboten. Und angenommen, dem Kind zuliebe. Wieder und wieder … bis zu jenem unverzeihlichen Nachmittag. Danach hatte der eigentliche Krieg angefangen, und sie hatte viele Nächte so wie diese verbracht. Sie lag vollständig angezogen im Dunkeln und wartete. Sie hatte sehr viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, warum alles so gekommen war. Sie hatte sich an jedes einzelne Gespräch mit ihm zurückerinnert, jede ihrer Aussagen und Handlungen seziert und analysiert und sich gefragt, was sie hätte anders machen können. Aber immer wieder kam sie zu dem Schluss, dass ihr schon im Kino etwas hätte auffallen müssen. Nie hatte er gefragt, was sie sehen wolle. Daran hätte sie erkennen müssen, zu welchem Typ Mann er gehörte. Manchmal steckt die ganze Wahrheit in einem kleinen Detail. Sie erinnerte sich an jenen Nachmittag. Er hatte sich wie ein Zeichen auf ihrer Haut eingebrannt: »R« für Rabenmutter. Sie erinnerte sich, wie Maria sie in der Arbeit angerufen hatte, wie sie nach Hause gerannt war, wo er während ihrer Schicht auf das Kind aufpassen sollte. Sie erinnerte sich an das Wehgeschrei, durchdringend und herzzerreißend. Sie spürte die Verbindung zwischen ihrem Herzen und dem ihres Kindes, während sie die Treppe hochjagte, immer zwei Stufen auf einmal. Sie erinnerte sich, wie sie ins Zimmer stürzte und er auf dem Sofa saß, das Gesicht schlaff, wie gelähmt vor Angst. Die Tür zum 9
Kinderzimmer war geschlossen, so als hätte er das Weinen des Kindes aussperren wollen. Ihr wurde schlecht, und als sie die Tür aufstieß, spürte sie schreckliche Angst. Das Baby saß in seinem Bettchen, das Gesicht rot vom Schreien, ein Arm unnatürlich verdreht. Der Anblick war Grauen erregend. Sie packte das Kind und rannte los, schrie: »Was hast du getan? Was hast du getan? Sieh, was du getan hast!« Er saß schweigend da und streckte die Arme von sich. Mit dem verletzten, schreienden Kind auf dem Arm stürzte sie nach draußen. Sie sah ihn nicht einmal mehr an. Sie wollte nicht, sie konnte nicht auf den Krankenwagen warten. Sie setzte das Kind in den Autositz, so vorsichtig wie möglich. Spürte die Schreie des kleinen Mädchens wie Messerstiche, die sie innerlich zerstachen und töteten. Sie wünschte sich, Blut zu weinen statt Tränen. Während sie fuhr, versuchte sie, ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen, das Kind zu beruhigen. »Ist schon gut. Ist doch gut, mein Schätzchen. Mammy ist hier. Mammy ist hier.« In der Notaufnahme nahm ihr ein Arzt das Kind ab und lief durch das ganze Krankenhaus, bis zur Kinderstation, sie immer hinterher. Sie betete. Betete, dass ihr Kinderarzt, der abwechselnd hier und in der Little-Angels-Klinik arbeitete, heute Dienst hätte. Ihre Gebete wurden erhört, und wenige Minuten später befand sich ihre Tochter in den behutsamen Händen des Doktors. »Oh, mein kleines Mädchen. Was ist denn mit dir passiert?«, fragte er leise. Sie konnte nichts tun, musste stumm dabeistehen. »Mama«, sagte er sanft. Er nannte sie nie bei ihrem Namen, wenn er das Kind behandelte. »Ich weiß, dass Sie Angst haben, aber ich muss Sie bitten, draußen zu warten, bis ich dem kleinen Spätzchen hier geholfen habe. Sie sind ziemlich aufgeregt und verschreckt, und das merkt sie, sie fühlt es. Können Sie jetzt ganz tapfer sein und draußen warten?« 10
Gegen ihren Willen nickte sie und folgte der Krankenschwester nach draußen. Die Krankenschwester, eine junge Frau mit strahlend blauen Augen und dicker Hornbrille, betrachtete sie mit einer Mischung aus Mitleid und Argwohn. Sie war dabei, sich ein Urteil zu bilden. Glauben die womöglich, ich hätte meiner Tochter etwas angetan?, dachte sie voller Angst. Wären sie dazu fähig? Wenn sie zur Tür des Behandlungszimmers hinübersah, kochten die Emotionen in ihr hoch. Sie hatte das Gefühl, als würde ihr Brustkorb jeden Moment zerspringen. Das Schreien des Kindes ging in ein Jammern über, dann folgte Stille. Sie war wie gelähmt, wie an den orangefarbenen Plastiksessel gefesselt, unfähig, aufzustehen und nachzusehen. Hundert Jahre später kam der Arzt heraus. »Sie wird wieder gesund werden«, erklärte er sanft, setzte sich neben sie und legte eine Hand auf ihr Knie. Er erklärte, wie heikel Knochenbrüche bei Kleinkindern seien, was man alles beachten müsse, wenn man den Bruch richte, und welche Behandlung danach nötig sei, damit alles ausheilen könne. Die Worte »Sie wird wieder gesund werden« kreisten in ihrem Kopf. Schließlich kam die Information bei ihrem Herzen an, das zu seinem normalen Rhythmus zurückfand. Solange ihr Kind unter Schmerzen gelitten hatte, war sie voller Panik gewesen. »Es ist in Ordnung«, sagte er und schaute ihr in die Augen. »Alles wird gut werden.« Aber da war noch etwas anderes in seinem Blick. Sie entdeckte Sorge und Misstrauen in dem sonst so freundlichen Gesicht. Den restlichen Abend verbrachte sie im Krankenhaus, wo das Kind ein Beruhigungsmittel und einen winzig kleinen Gips um den Arm bekam. Der Doktor blieb bei ihnen, bis es Zeit war, nach Hause zu gehen. Als sie aufbrechen wollte, berührte er
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ihren Arm und sah sie mit einem Gesichtsausdruck an, den sie nicht deuten konnte. »Sie lieben Ihr Kind mehr als alles andere auf der Welt, nicht wahr?«, fragte er. Er wirkte sehr traurig. »Mehr als alles.« »Sind Sie in der Lage, es zu beschützen?« Das klang wirklich seltsam, zumal es das Echo jener Frage war, die ihr Herz schon gestellt hatte. »Wenn jemand meinem Kind etwas antun will, muss er zuerst mich töten.« Er nickte. »So weit wollen wir es nicht kommen lassen. Sorgen Sie dafür, dass auch wirklich Anzeige erstattet wird. Wir sehen uns hier, am Dienstag – oder früher, falls es Komplikationen gibt.« Seine Stimme klang jetzt streng, und sie nickte gehorsam. »Ich wünschte«, sagte sie, als er sich von ihr abwandte, »ich wünschte, sie hätte einen Vater wie Sie.« Er warf ihr einen merkwürdigen Blick zu und schien etwas sagen zu wollen, ließ es dann aber bleiben. Er lächelte sie an, liebenswürdig, beruhigend, voller Mitgefühl. »Ja, ich auch. Wirklich.« Wann immer sie an diesen Augenblick zurückdachte, füllte sich ihr Herz erneut mit Hass auf jenen Mann, der ihrem Kind Schmerzen zugefügt hatte. Dieser Augenblick war wie das aus Beton gegossene Fundament, auf dem ihr Entschluss fest und unverrückbar stand. Sie würde auf seine ständigen Bitten um Vergebung nicht länger eingehen, auf sein ständiges Betteln um eine Minute, nur eine Minute mit dem Kind, und den darauffolgenden Tobsuchtsanfall, wenn sie ablehnte. Er habe die Kleine versehentlich verletzt, ihr nie wehtun wollen, behauptete er. Er wirkte tatsächlich sehr zerknirscht. Trotzdem erinnerte sie sich immer wieder an die Frage des Arztes: »Sind Sie in der Lage, Ihr Kind zu beschützen?« Diese Frage konnte sie nur dann 12
mit einem Ja beantworten, wenn sie ihn aus ihrem Leben verbannte. Vermutlich war sie eingedöst, aber irgendetwas holte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie ließ das Telefon los und griff nach dem Baseballschläger. Lag reglos da. Ihr Adrenalinpegel stieg, sie lauschte in die Nacht. Die Kleine warf sich im Schlaf herum und seufzte auf. Da war ein kaum hörbares Schnappen, eher ein Klicken, wie von einer gespannten Metallfeder. Es war, als hätte jemand ganz leise die Fliegentür geöffnet. Er hatte sich noch nie bemüht, leise zu sein. Hatte immer gegen die Tür gehämmert. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Sie rutschte lautlos vom Bett. Vergaß das Telefon, doch der Baseballschläger lag schwer in ihrer Hand. Sie schlich bis zur Türschwelle und spähte durch das kleine Wohnzimmer. Von hier aus konnte sie die Wohnungstür sehen. Das Schloss wirkte plötzlich viel zu zerbrechlich, und sie verfluchte sich dafür, trotz der Ermahnungen der Polizisten kein Sicherheitsschloss und keine Kette angebracht zu haben. Sie hatte das Geld nicht gehabt. Das vergitterte Fenster neben der Tür lag über einem Treppenabsatz, der praktisch jedem zugänglich war. Hatte sie da eben am Fenster nicht seinen Umriss erkannt? Die Vorhänge waren zugezogen, aber die Lampen auf dem Parkplatz brannten die ganze Nacht. Manchmal konnte sie die Schatten der Nachbarn vorbeihuschen sehen, die auf dem Weg zu ihren Wohnungen waren. Sie horchte noch einmal, aber da war nichts. Sie wollte sich gerade entspannen, als sie es wieder hörte – das Geräusch einer gespannten Metallfeder. Stand er an der Wohnungstür, hatte er das Fliegengitter aufgemacht? Ihr Atem ging schneller, und auf ihrer Brust lastete ein schweres Gewicht. Sie schaute zum Telefon, das auf dem Bett stand. Dachte daran, die Polizei zu rufen, hatte jedoch Angst, erneut einen Fehlalarm auszulösen. Als die Beamten vorhin gekommen waren, hatte er das Haus längst wieder verlassen. Und obwohl sie ihre Aussage freundlich zu Protokoll nahmen, fühlte sie sich 13
wie der kleine Junge, der zum Spaß »Wolf!« schreit. Die Polizisten noch einmal grundlos zu rufen, wäre ihr entsetzlich peinlich gewesen. Sie packte den Schläger mit beiden Händen und ging langsam auf die Wohnungstür zu. Sie bewegte sich lautlos. Er war immer hereingepoltert, überlegte sie. Hatte nie versucht, heimlich einzudringen, um ihnen etwas anzutun. Oder – ihr zweiter Albtraum – das Kind zu entführen. In diesem Stadtteil waren während des letzten Jahres drei Kinder verschwunden. Jeden Abend konnte sie die kleinen Gesichter im Fernsehen sehen. Ihr glückliches Lachen, die strahlenden Augen verfolgten sie bis in den Schlaf. Von zu Hause verschwunden, jedes einzelne von ihnen. Keins war wieder aufgetaucht, es gab nicht einmal eine Spur. Hin und wieder hörte sie, eines der Kinder sei in einem Einkaufszentrum gesehen worden, an einer Raststätte oder in einem Freizeitpark. Aber diese Hinweise führten nie zu etwas. Sie musste oft an die Eltern denken, an die gähnende Leere in ihren Herzen, an die schrecklichen Fragen, auf die es keine Antworten gab. Vielleicht war es nur noch Hoffnung, die diese Eltern das Leben ertragen ließ; vielleicht hielt nur der Gedanke, sie könnten eines Tages die Haustür öffnen und ihr Kind vor sich stehen sehen, sie davon ab, sich die Rasierklinge ans Handgelenk oder die Pistole an die Schläfe zu halten. Sie konnte sich die alles lähmende Trauer um ein Kind nicht vorstellen, das vielleicht irgendwo – unerreichbar – lebte oder möglicherweise auch tot war … Und nie wusste man, was schlimmer war. Sie stand jetzt einen Meter entfernt vor der Tür, neben ihrem gebraucht gekauften Sofa. Während sie zur Tür geschlichen war, hatte sie nichts mehr gehört, und so stand sie nur starr wie eine Statue da, den Baseballschläger mit beiden Händen umklammernd.
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EINS
E
s ist dunkel, auf diese schreckliche Weise dunkel, in der man zwar einzelne Gegenstände erkennen kann, nicht aber den schwarzen Raum dahinter. Vor Erschöpfung und Angst geht mein Atem stoßweise. Neben mir auf dem Boden liegt der einzige Mensch, dem ich vertraue. Ich beuge mich über ihn und höre, dass er noch atmet, aber es klingt flach und angestrengt. Er ist verletzt, das weiß ich. Ich kann aber nicht erkennen, wie schwer. Ich flüstere seinen Namen in sein Ohr, aber er reagiert nicht. Ich taste ihn ab, kann jedoch kein Blut fühlen. Vor ein paar Minuten schlug sein Körper hier auf. Es war das schrecklichste Geräusch, das ich jemals gehört habe. Ich taste auf dem Boden in seiner Umgebung nach der Waffe. Einige Sekunden später spüre ich das kalte Metall an meinen Fingerspitzen und fange vor Erleichterung fast zu weinen an. Aber dafür ist jetzt keine Zeit. Vor dem ausgebrannten Gebäude höre ich den Regen fallen. Die dicken, schweren Tropfen klatschen auf Stoff. Es regnet auch hier im Haus. Der Regen kommt durch das klaffende Loch im Dach und sickert durch das morsche Holz der Stockwerke und durch die zerfallene Treppe. Er regt sich und stöhnt leise. Ich höre, wie er meinen Namen sagt, und ich beuge mich wieder über ihn. »Alles ist in Ordnung. Wir kommen hier raus«, flüstere ich, obwohl ich keinen Grund habe, das zu glauben. Irgendwo da draußen oder im Stockwerk über uns steht der Mann, den ich zu lieben glaubte, und noch andere Männer, die ich nicht kenne; sie wollen uns umbringen, um das schreckliche Geheimnis zu bewahren, hinter das ich gekommen bin. Auch ich bin verletzt, die Schmerzen sind unerträglich, und ich würde ohnmächtig werden, wüsste ich nicht, dass es unseren sicheren Tod 15
bedeutete, hier in diesem verfluchten Haus auf Manhattans Lower East Side. In meinem rechten Oberschenkel steckt irgendetwas. Vermutlich eine Kugel oder ein großer Holzsplitter, vielleicht auch ein Nagel. Es ist so dunkel, dass ich kaum das riesige Loch in meiner Jeans erkennen kann. Mein Blut hat den Stoff schwarz eingefärbt. Mir ist schwindlig, alles scheint zu schwanken, aber ich halte durch. Jetzt kann ich sie hören. Über unseren Köpfen, durch die Löcher im Fußboden sehe ich die Lichtkegel ihrer Taschenlampen herumwandern. Ich versuche, meinen Atem zu kontrollieren, der in meinen Ohren so laut wie ein einfahrender Zug dröhnt. Ich höre, wie einer der Männer zu den anderen sagt: »Ich glaube, sie sind eingebrochen. Sie liegen unten.« Niemand hat geantwortet, aber ich kann hören, wie sie über die knarrende Holztreppe nach unten steigen. Er bewegt sich. »Sie kommen«, flüstert er. Seine Stimme ist kaum mehr als ein Krächzen. »Ridley, verschwinde von hier.« Ich antworte nicht. Wir wissen beide, dass ich hierbleiben werde. Ich ziehe ihn hoch. Er bemüht sich aufzustehen, aber der Schmerz in seinem Gesicht ist noch viel schlimmer als der Schrei, den er unterdrückt, um uns ein paar Minuten länger Zeit zu geben. Wir verlassen diesen Ort gemeinsam oder gar nicht. Ich zerre an ihm, obwohl ich weiß, dass ich ihn eigentlich nicht bewegen darf. Ich ziehe ihn bis hinter ein altes, verrottetes Sofa, das umgekippt an der Wand lehnt. Der Weg ist nicht weit, aber ich sehe, dass sein Gesicht kreidebleich wird und sich vor Schmerzen verzerrt. Während ich ziehe, wird er wieder ohnmächtig und scheint plötzlich dreißig Kilo mehr zu wiegen. Aber ich habe gesehen, dass er jedes seiner Glieder bewegen kann; das ist doch immerhin etwas. Ich merke, dass ich angefangen habe zu beten, während ich ihn ziehe. Mein Bein brennt vor Schmerzen, meine Kräfte schwinden. Bitte, lieber Gott, bitte, lieber Gott, bitte, lieber Gott, wieder und wieder, wie ein Mantra. 16
So, wie das Sofa an der Wand liegt, finden wir beide dahinter Platz. Ich schleife ihn hinein und lege mich neben ihn auf den Bauch. Dann ziehe ich eine alte Holzkiste bis ans Sofa heran und spähe durch die Latten. Sie sind jetzt näher, außerdem bin ich sicher, dass sie uns gehört haben, denn sie reden nicht mehr und haben ihre Taschenlampen ausgeschaltet. Ich halte die Pistole mit beiden Händen und warte. Ich habe noch nie mit einer Waffe geschossen, und ich weiß nicht, wie viele Kugeln in dieser noch stecken. Ich glaube, wir werden hier sterben. »Ridley, bitte, lass das.« Die Stimme hallt durch das Dunkel. Sie kommt von oben. »Wir werden gemeinsam eine Lösung finden.« Ich antworte nicht. Ich weiß, es ist ein Trick. Für nichts ließe sich jetzt noch eine Lösung finden; wir alle sind zu weit gegangen. Ich hatte mehr als einmal die Gelegenheit, die Augen zu schließen und weiter in meinem alten Leben vor mich hin zu dämmern. Ich habe keine davon wahrgenommen. Wünschte ich jetzt, es wäre anders? Während die Gespenster immer näher kommen, ist die Frage schwer zu beantworten. »Sechs«, flüstert er. »Was?« »Du hast noch sechs Kugeln.«
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ZWEI
B
is vor kurzem war mein Leben eher langweilig. Ich will damit nicht sagen, ich hätte mich bis zum Eintreten des gewissen Vorfalls, der meine Welt auf den Kopf stellte und von dem ich hier berichten möchte, so dahingeschleppt, aber eigentlich war es so. Trotzdem bin ich inzwischen der Ansicht, dass es nicht nur dieses bestimmte Ereignis war, das mich und die Menschen in meinem Umfeld verändert hat, sondern eine ganze Reihe von unzähligen kleinen Entscheidungen. Menschen sind gestorben, Leben wurden umgekrempelt. Die Wahrheit hat uns weniger befreit als vielmehr die sorgsam aufgebaute Fassade weggerissen, und nun stehen wir nackt da und müssen ganz von vorn beginnen. Ich heiße Ridley Jones, und als alles losging, war ich eine freiberufliche Journalistin, Mitte dreißig, die seit ihrem Studium an der New York University allein in einem Apartment im East Village lebte. Die Wohnung lag im dritten Stock eines kleinen Hauses an der Ecke First Avenue und 11. Straße. Es gab keinen Aufzug, und unten im Haus befand sich eine Pizzeria mit Namen »Five Roses«. Die schwarz vergitterte Haustür, die düsteren Flure, die durchgetretenen Fußböden und der allgegenwärtige Geruch von Knoblauch und Oliven verströmten einen gewissen Charme. Darüber hinaus war die Wohnung für achthundert Dollar Monatsmiete traumhaft günstig. Falls Sie New York kennen, wissen Sie, dass das ein unglaublicher Preis ist, selbst für eine siebzig Quadratmeter große Zweizimmerwohnung mit »einfacher Ausstattung« und Blick auf einen Hinterhof, in dem tagsüber die Hunde bellen. Die einzig interessante Aussicht hatte ich auf das Wohnhaus gegenüber, dessen Mieter ihr Leben parallel zu meinem führten und genauso mit sich beschäftigt waren wie ich mit mir. Aber 18
die Wohnung gefiel mir, und ich war glücklich dort. Selbst als ich mir eine bessere hätte leisten können, blieb ich. Ich freute mich, in einer vertrauten Umgebung und in unmittelbarer Nähe von New York Citys bester Pizzeria zu leben. Sie haben sich vielleicht schon gefragt, was es mit meinem Vornamen auf sich hat? Mein Vater, der Kinderarzt Dr. Benjamin Jones, der mit meiner Mutter (früher Tänzerin, heute Hausfrau), die ihn seit jenem Tag im Jahr 1960, als sie sich an der Rutgers University begegneten, liebt und die er liebt, in einem idyllischen und großzügigen Haus viktorianischen Stils in New Jersey lebt, hat seinen schlichten Nachnamen nie gemocht. Für ihn gehörte Jones zu jenen Namen, die man angibt, wenn man inkognito bleiben will, wie Doe oder Smith. Als Jugendlicher hatte er sich für die Banalität seines Namens fast geschämt. Er wurde in einem grauen Vorort von Detroit in Michigan von gewöhnlichen Leuten aufgezogen, die ihn darauf vorbereiteten, ein gewöhnliches Leben zu führen. Er persönlich hielt sich jedoch für alles andere als gewöhnlich, und als er später selbst Vater wurde, wollte er seinen Kindern keinesfalls das Gefühl geben, gewöhnlich zu sein. Er nannte mich Ridley, nach dem Regisseur Ridley Scott – mein Vater war schon immer ein Filmfan. Er fand den Vornamen sehr ungewöhnlich für ein Mädchen; der Name war etwas Besonderes, und er sollte mich ermutigen, ein ganz besonderes Leben zu führen. Und mein Vater fand, dass ich als freie Journalistin in New York City genau das tat. Ich denke, ich war tatsächlich etwas Besonderes, schon vor dem Zwischenfall, von dem ich Ihnen berichten möchte. Ich meine damit, dass ich meine Eltern liebte und geliebt wurde, dass ich für den größten Teil meines Erwachsenenlebens ein glücklicher Mensch war, dass ich fast alles an mir mag (außer meine Oberschenkel), dass ich an meiner Arbeit, meinen Freunden, meiner Wohnung hing. Meine Beziehungen zu Männern waren gut, obwohl ich erst vor kurzem so etwas wie 19
wahre Liebe kennen gelernt habe. Lebt man in New York, ist das alles in der Tat außergewöhnlich. Dennoch war da so viel, von dem ich nichts wusste, eine vielschichtige, verborgene Vergangenheit, von der ich nicht einmal etwas ahnte. Ich stelle mir nur ungern vor, dass das Nichtwissen die Ursache für mein relatives Lebensglück gewesen sein soll, auch wenn Sie das jetzt bestimmt denken. In meinem Innern hat eine Veränderung stattgefunden. Die Welt ist jetzt eine andere, Glück und Harmonie sind zu Trugbildern geworden. Die Frau, die ich einmal war, kommt mir hoffnungslos naiv vor. Ich beneide sie. Ich blicke auf mein Leben zurück und bin erstaunt darüber, dass es nicht in erster Linie von den großen Ereignissen beeinflusst wurde, sondern von den kleinen, scheinbar unwichtigen. Denken Sie mal darüber nach. Denken Sie an die unerwarteten Zwischenfälle, die ihr Leben verändert haben. War es häufig nicht eine Frage von Sekunden, ob es in die eine oder in die andere Richtung weitergeht? Waren es nicht vollkommen unbedeutende Entschlüsse, aufgrund derer Sie diese Straße oder jene überquerten, sich in Gefahr brachten oder ihr entgingen? Es sind diese Entscheidungen, an denen letztendlich alles hängt. Wen man heiratet, welchen Beruf man ergreift, wie man aufgezogen wurde – ja, das ist der große Rahmen. Aber wie heißt es doch so schön: Der Teufel steckt im Detail. Dann werde ich jetzt also beginnen. Es war Montagmorgen, und der New Yorker Herbst ging langsam in den Winter über. Der Altweibersommer war vorbei, die Luft zum ersten Mal richtig kalt. Es war meine liebste Jahreszeit. Die zwischen den Betonmauern eingeklemmte Hitze und drückende Schwüle hoben sich, und die ganze Stadt wirkte wie neu in ihrer Frische. Als ich an diesem Montag aufwachte, konnte ich an dem wenigen Licht, das es durch die Fenster zu mir hereinschaffte, 20
sofort erkennen, wie grau der Tag war. An den Glasscheiben hingen Regentropfen. Dieses kleine Detail ließ mich einen Entschluss fassen. Ich streckte einen Arm unter meiner Daunendecke hervor, griff nach dem schnurlosen Telefon neben dem Bett und wählte eine Nummer. »Praxis Dr. Rifkin«, tönte eine Stimme, so hart und flach wie ein New Yorker Bürgersteig. »Hier spricht Ridley Jones«, sagte ich mit gespielter Heiserkeit. »Ich bin ziemlich erkältet. Ich könnte trotzdem kommen, aber ich will den Doktor nicht anstecken.« Zur Bekräftigung schob ich ein erbärmliches Hüsteln nach. Dr. Rifkin, ein Gnom von einem Mann, kümmerte sich seit meinem Studium an der NYU um mein Gebiss. Er hatte einen langen weißen Bart und einen Schmerbauch, trug karierte Hemden unter Hosenträgern und orthopädische Schuhe und bewegte sich mit einem lustigen Watscheln vorwärts. Ich war jedes Mal enttäuscht, wenn ich seinen breiten Long-IslandAkzent hörte. Er hätte schottisch reden und nach Whisky riechen sollen. »Lassen Sie uns einen neuen Termin vereinbaren«, kam es übertrieben pflichtbewusst zurück, so als glaubte sie mir kein Wort, scherte sich aber herzlich wenig darum. Damit war ich frei. Ich muss dazu sagen, dass Freiheit mir mehr als alles andere bedeutet – mehr als Jugend, Schönheit, Ruhm oder Geld. Nicht unbedingt mehr als Liebe, auch wenn einige meiner besten Freunde der Meinung sind, dass es in dieser Frage in meinem Innersten mindestens auf einen Gleichstand hinausliefe. Einer dieser Menschen war Zachary. »Frühstück bei Bubby’s?«, fragte ich, sobald er sich gemeldet hatte. Es folgte eine kurze Pause. Ich hörte, wie er sich im Bett umdrehte. Noch einige Monate zuvor hätte ich wahrscheinlich neben ihm gelegen. »Hast du nicht gerade einen Job?«, fragte er. 21
»Ich befinde mich momentan in einer Phase zwischen zwei Aufträgen«, entgegnete ich mit gespielter Empörung. Das stimmte; ich arbeitete freiberuflich und steckte meistens zwischen den Aufträgen. Was mir jedoch aus einer ganzen Reihe von Gründen egal war. »Wann?«, fragte er. Aus seiner Stimme klangen Hoffnung und Wehmut heraus, die ich bei Telefonaten mit ihm häufiger hörte. »In einer Stunde?« »Okay, bis gleich.« Ich hätte Zachary heiraten sollen, oder zumindest war er der Mann, den ich heiraten sollte. Wir kennen uns, seit wir Kinder waren. Meine Eltern haben ihn geliebt, vielleicht mehr als meinen Bruder. Meine Freunde mochten ihn, sein rotblondes Haar, seine strahlenden Augen, seinen durchtrainierten Körper, seine erfolgreiche Kinderarztpraxis, die Art, wie er mit mir umging. Selbst ich mochte ihn. Aber als es darauf ankam, machte ich einen Rückzieher. Warum? Aus Bindungsangst? Viele Leute haben das gedacht, ich jedoch nicht. Ich kann nur sagen, dass mir »auf ewig« und »Zachary« nicht vereinbar erschienen. Mir fällt nichts Konkretes ein, an dem es gelegen hätte. Wir waren wirklich gute Freunde, der Sex war toll, und unter anderem teilten wir eine Vorliebe für die Dinosaurierausstellung im Museum of Natural History und die Eissorte »French Vanilla« von Häagen-Dasz. Aber Liebe ist mehr als die Summe ihrer Teile, oder? Am Ende mochte ich ihn so sehr, dass ich der Meinung war, er verdiene jemanden, der ihn mehr liebte als ich. Wenn Sie das nicht verstehen, sind Sie in guter Gesellschaft. Meine Eltern und Zacks Mutter Esme (die mir manchmal näherstand als meine eigene) waren immer noch am Boden zerstört. Seit wir klein waren, hegten sie die (kaum verhohlene) Hoffnung, aus Zack und mir könne ein Paar werden. Als wir anfingen, uns zu treffen, jubilierten sie. Als wir uns trennten, litten sie mehr als Zack und ich, wenigstens kam es mir so vor. 22
An jenem Morgen versuchten Zack und ich, uns wie gute Freunde zu benehmen. Ich hatte die Beziehung vor etwas mehr als sechs Monaten beendet, und wir kämpften noch mit seiner Enttäuschung und seinen verletzten Gefühlen (und verletztem Stolz, wie ich glaubte), um etwas zu erhalten, aus dem sich vielleicht eine dauerhafte Freundschaft entwickeln könnte. Die Lage war ungewöhnlich, gab aber Anlass zur Hoffnung. Ich rollte von meinem Bett herunter und schob es zurück an die Wand. Wie gesagt, die Böden des Hauses hingen durch. Mein Schlafzimmerboden hatte in der Mitte tatsächlich eine Kuhle. Da mein Bett auf Rollen stand, fand ich mich beim Aufwachen manchmal in der Zimmermitte wieder, besonders nach unruhigen Nächten. Die Unannehmlichkeit war aber nicht der Rede wert, man hätte sie sogar eine liebenswerte Eigenart des Lebens im East Village nennen können. Ich stellte die Dusche an und schloss die Tür, um die Luft in meinem engen, schwarzweiß gekachelten Badezimmer aufzuwärmen. Während der Regen an die Fenster trommelte, trottete ich in die Küche und kochte mir einen Kaffee. Ich war immer noch nicht richtig wach und träumte vor mich hin, während der Espressokocher zischte und den Duft von Café Bustelo in die Luft blies. Ich konnte den Straßenverkehr auf der First Avenue hören und das Gebäck von Verniero’s, der Bäckerei in meinem Block, riechen, deren Lüftungsanlage den Hinterhof mit Wohlgerüchen füllte. Ich schaute zum Haus auf der anderen Seite: Bei dem niedlichen Gitarristen waren die Vorhänge noch zu; das schwule Pärchen saß, für die Arbeit gekleidet, vor großen schwarzen Kaffeebechern am Küchentisch, wobei der Blonde die Village Voice und sein dunkelhaariger Freund das Wall Street Journal las; die junge Asiatin machte wie jeden Morgen ihre Yogaübungen, ihre Mitbewohnerin las im Nebenzimmer offensichtlich irgendeinen Text laut vom Blatt ab. Wegen der Kälte waren alle Fenster geschlossen, und diese Leben spielten sich vor meinen Augen ab 23
wie in einem Fernseher ohne Ton. Sie gehörten zu meinem Morgen so wie ich zu ihrem, falls sie sich die Mühe machten, aus dem Fenster zu blicken und mich zu beobachten, wie ich auf meinen Kaffee wartete. Wie ich schon sagte, befand ich mich gerade zwischen zwei Aufträgen. Ich hatte eben für das New-York-Magazin ein Porträt von Rudi Giuliani geschrieben, für das ich ziemlich gut bezahlt worden war. Und ich hatte noch einige andere Eisen im Feuer, Artikel, die ich an mir bekannte Redakteure bei Vanity Fair, The New Yorker und The New York Times geschickt hatte. Ich war seit sieben Jahren im Geschäft und zuversichtlich, dass sich irgendeine meiner Ideen verkaufen ließe; obwohl ich hoffte, dass es eher mittel- als kurzfristig dazu käme. Es ging mir gut. Am Anfang war das freiberufliche Schreiben ein ziemlicher Kampf gewesen. Meine Einkünfte waren mager, und wenn meine Eltern mich nach dem College nicht finanziell unterstützt hätten, wäre ich vermutlich wieder zu ihnen gezogen. Aber da ich über ein Minimum an Talent verfüge, professionell arbeite, mich an Abgabetermine halte und mein nur mäßig ausgeprägtes Ego mit Kritik umgehen kann, hatte ich bald einen guten Ruf und ein paar nützliche Kontakte. Der Rest war einfach nur viel Arbeit. Dennoch würde es mir bestimmt weniger gut gehen, wäre mein Onkel Max nicht vor fast zwei Jahren gestorben. Dieser Onkel Max war, genau genommen, nicht mein Onkel, sondern der beste Freund meines Vaters. Sie waren zusammen in Detroit aufgewachsen. Mein Vater und Max, Kinder von Arbeitern der Autoindustrie, hatten achtzehn Jahre im selben Vorort zugebracht. Während mein Vater aus ordentlichen Verhältnissen kam – meine fleißigen Großeltern gehörten zur Arbeiterklasse –, hatte Max einen gewalttätigen Alkoholiker zum Vater. Eines Abends, Max war damals sechzehn Jahre alt, hatte die Brutalität seines Vaters tödliche Folgen. Er hatte die Mutter in ein Koma geprügelt, aus dem sie nicht mehr erwachte. Um ihn vor dem 24
Heim zu bewahren, nahmen meine Großeltern Max auf; sie schafften es sogar, ihm und meinem Vater ein Studium zu finanzieren. Mein Vater studierte Medizin und wurde Kinderarzt, was er bis zum heutigen Tag ist. Max ging ins Immobiliengeschäft und wurde zu einem der mächtigsten Bauunternehmer an der Ostküste. Er zeigte sich meinem Vater und meinen Großeltern gegenüber ein Leben lang dankbar. Weil meine Großeltern partout kein Geld von ihm annehmen wollten, lud er uns zu Kreuzfahrten in die Karibik ein und überhäufte uns mit großzügigen Geburtstagsgeschenken, von Fahrrädern bis hin zu neuen Autos. Wir haben ihn natürlich angebetet. Max heiratete nie und behandelte mich und meinen Bruder Ace, als wären wir seine eigenen Kinder. Jeder hatte ihn für einen glücklichen Menschen gehalten. Er lächelte fast immer und war stets zu Späßen aufgelegt. Aber selbst, als ich noch ein Kind war, habe ich diese tiefe Traurigkeit in ihm gespürt. Ich weiß noch, wie ich ihm in die Augen sah, wie der Kummer förmlich seine Mundwinkel nach unten zog. Ich erinnere mich, wie er glasige Augen bekam und abwesend wurde, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Und ich weiß noch, dass er meine Mutter Grace ansah, als wäre sie ein attraktiver Preis, den ein anderer gewonnen hatte. Onkel Max war Alkoholiker, aber da er in betrunkenem Zustand recht zufrieden wirkte, machte sich niemand Sorgen um ihn. Am vorletzten Heiligabend verließ er das Haus meiner Eltern, wo wir den Abend verbracht hatten, und kam nie zu Hause an. Offenbar hatte er nach unserer Feier eine Bar besucht, war Stunden später in seinen schwarzen Mercedes gestiegen, losgefahren und von einer Brücke in den eisigen Fluss gestürzt. Wir werden nie erfahren, ob es Selbstmord oder ein Unfall war. Das Fehlen jeglicher Bremsspuren war ein Hinweis darauf, dass er nicht versucht hatte, das Unglück abzuwenden. In der Nacht hatte es gefroren. Vielleicht war das der Grund, vielleicht hatten 25
die Reifen auf der spiegelglatten Straße keinen Halt gefunden. Vielleicht war er auch am Steuer eingeschlafen, hatte nichts davon mitbekommen. Wir alle halten an der Unfallversion fest, weil uns die Alternativen keine Ruhe mehr lassen würden. Die ganze Familie war krank vor Kummer, aber meinen Vater traf es besonders hart. Er hatte den Menschen verloren, mit dem er den längsten Teil seines Lebens zugebracht hatte. Den heiligen Abend zu feiern, kam uns irgendwie falsch vor. Der Abend, den wir immer mit Max verbracht, der Abend, an dem wir ihn verloren hatten. In seinem Testament hatte Max einen Großteil seines Vermögens meinen Eltern und der Maxwell Allen Smiley Foundation vermacht. Er hatte die Stiftung schon vor meiner Geburt ins Leben gerufen, um Hilfsprojekte für misshandelte Frauen und Kinder zu finanzieren. Auch mein Bruder Ace und ich erbten eine größere Summe. Ich legte meinen Anteil mit Hilfe eines Beraters sicher an. In der Folge besaß ich plötzlich jene Freiheit, nach der ich mich immer so gesehnt hatte. Mein Bruder hingegen jagte sich das Geld in den Arm. Zumindest nahm ich das an. Aber das ist wieder eine andere Geschichte. An jenem Morgen dachte ich an nichts von alledem. Ich freute mich einfach nur auf den Tag, der zu meiner freien Verfügung stand, an dem ich tun konnte, wozu ich Lust hatte. Ich duschte, föhnte meine Haare, zog eine alte Levi’s-Jeans an, so verwaschen und weich wie eine schöne Erinnerung, dazu ein knallrotes Sweatshirt von Tommy Hilfiger, Nikes und ein Yankee-Baseballcap und verließ mein Apartment. Hätte ich damals etwas geahnt, ich wäre an der Tür stehen geblieben und hätte mich von meinem wunderschönen Leben verabschiedet, von meiner beneidenswert einfachen, bequemen und glücklichen Existenz. Im Flur bemühte ich mich um Geräuschlosigkeit. Ich hatte Victoria, meine ältere Nachbarin, im Verdacht, hinter ihrer Tür zu lauern und mein Kommen und Gehen zu verfolgen. Seitdem 26
mir das klar geworden war, schlich ich mich leise aus und in meine Wohnung. Nicht dass ich sie nicht gemocht hätte. Es war nur so, dass sich aus ihrer Einsamkeit und meinem Mitleid häufig ein zehn- bis zwanzigminütiges Gespräch ergab. An jenem Morgen war ich jedoch nicht leise genug gewesen. Während ich meine Tür zuzog, hörte ich, wie ihre sich öffnete. »Entschuldigung«, flüsterte sie, »ist da jemand?« »Hallo, Victoria. Guten Morgen«, sagte ich und ging auf die Treppe zu. Victoria war so dünn und bleich wie ein Papierstreifen. Ihr geblümtes Hauskleid hing an ihr herunter. Irgendwann hatte sie angefangen, ihre Haare unter einer schiefergrauen Perücke zu verstecken, die sie offensichtlich mit der Schere bearbeitet hatte. Ihre Gesichtshaut hing faltig von den Knochen. Bei jeder Begegnung verkündete sie mindestens einmal stolz, sie habe noch ihre eigenen Zähne, auch wenn es nur noch fünf oder sechs waren. Sie flüsterte eher, als dass sie sprach, vermutlich aus Angst, die anderen Nachbarn lauschten wie sie hinter ihren Türen. Ich mochte Victoria, auch wenn wir im Grunde täglich das gleiche Gespräch führten und sie täglich aufs Neue vergessen hatte, wer ich war. Sie erzählte jedes Mal von ihren drei Brüdern, die allesamt Polizisten gewesen und schon lange tot waren. Sie erzählte mir, dass sie eigentlich nicht in dem Apartment hatte bleiben wollen, das sie sich mit ihrer inzwischen ebenfalls verstorbenen Mutter geteilt hatte, dass sie es aber nie geschafft habe umzuziehen. »Ja, wenn meine Brüder noch am Leben wären …«, fing sie an diesem Morgen an. Ihre Stimme klang brüchig. »Sie waren Polizisten, wissen Sie.« »Sie müssen sehr mutig gewesen sein«, antwortete ich. Ich warf der Treppe einen sehnsüchtigen Blick zu und ging dann in Victorias Richtung. Von allen Antworten, die ich ihr im Lauf der Jahre gegeben hatte, schien ihr diese am besten zu gefallen. 27
»O ja«, sagte sie, und ihr Lächeln wurde immer breiter. »Sehr mutig sogar.« Durch den schmalen Türspalt konnte ich nur ein kleines Stück von ihr sehen, das Hauskleid mit den winzigen lila Blümchen, ein bestrumpftes Bein, einen grauen orthopädischen Schuh. Victoria lebte in einer Zeitkapsel aus antiken Möbeln und zugezogenen Vorhängen. Nicht ein einziger Gegenstand in ihrer Wohnung, der nicht mindestens fünfzig Jahre älter als ich gewesen wäre; alles alt und abgenutzt, das meiste verstaubt, alles so schwer wie angewurzelt, als wäre es noch nie von der Stelle bewegt worden. Massive Eichenschränke und Sekretäre, Brokatsofas und Ohrensessel, vergoldete Spiegelrahmen, ein Miniaturflügel, auf dem eine Reihe vergilbter Fotografien stand. Ich war nur gelegentlich in ihrer Wohnung gewesen, um ihr Lebensmittel zu bringen oder eine Glühbirne auszuwechseln. Wenn ich wieder herauskam, umhüllten mich ihre Einsamkeit und Traurigkeit wie ein Mantel. In der Luft hing ein Geruch, den ich nur als vermoderndes Leben bezeichnen kann. Als wäre ein Leben umgekippt, schlecht geworden durch mangelnden Gebrauch. Ich habe mich oft gefragt, welche Entscheidungen in Victorias Leben dazu geführt hatten, dass sie schließlich ganz allein dastand. Heute beschäftigt mich die Frage nach den Entscheidungen umso mehr. Die großen, die kleinen. Vielleicht hatte sie einmal einen wundervollen jungen Mann gekannt, so wie ich, der sie heiraten wollte. Vielleicht hatte sie ihn, so wie ich, aus Gründen abgewiesen, über die sie sich selbst nicht im Klaren war. Vielleicht war das der erste Schritt in das Leben gewesen, das sie jetzt führte. Victoria hatte eine Nichte in Long Island, die gelegentlich vorbeischaute (dünnes Haar, dreiviertellanger roter Wollmantel, ganz hübsche Schuhe), einen ambulanten Pflegedienst, der dreimal pro Woche nach ihr sah (jedes Mal andere Mitarbeiter, 28
die so motiviert und energisch daherkamen wie Sargträger), und hin und wieder bemerkte ich auch Lieferanten von »Essen auf Rädern«. Obwohl ich über zehn Jahre in dem Haus gelebt habe, sah ich sie kein einziges Mal ihr Apartment verlassen. Ich hatte den Eindruck, dass sie gar nicht nach draußen gehen konnte. Dass sie, sobald sie die Wohnung verlassen und den gekachelten Flur betreten würde, augenblicklich zu Staub zerfiele. »Tja, wären sie noch am Leben, sie würden den Krach da oben sicher nicht dulden«, flötete sie, wobei sich ihre Stimme fast überschlug. Ich hatte ihn ebenfalls gehört, den neuen Nachbarn, der am Abend zuvor seine Sachen hochgeschleppt hatte. Ich war nicht neugierig genug gewesen, um den Kopf aus der Tür zu stecken. »Victoria, er ist gerade erst eingezogen. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin mir sicher, dass es da oben bald ruhiger zugehen wird.« »Wussten Sie, dass ich noch meine eigenen Zähne habe?« »Das ist toll«, sagte ich lächelnd. »Sie scheinen ein sehr nettes junges Mädchen zu sein«, gab sie zurück. »Wie heißen Sie?« »Ridley. Ich wohne gleich nebenan. Falls Sie mal etwas brauchen.« »Was für ein seltsamer Name für so ein hübsches Mädchen«, sagte sie und entblößte ihr Zahnfleisch. Ich winkte ihr zu und wandte mich zum Gehen. Treppenstufen und Wände aus grauem Stein, ein rotes Geländer, schwarzweiß gekachelte Flure. Im ersten Stock fing die Leuchtröhre unter der Decke plötzlich zu flackern an, fiel aus und erwachte dann wieder zum Leben. Alle Lampen im Gebäude taten das; es handelte sich um ein elektrisches Problem größeren Ausmaßes, aber Zelda, die Vermieterin, dachte gar nicht daran, es beheben zu lassen. 29
»Wie bitte? Denken Sie, ich hätte Geld übrig, das ganze verdammte Haus neu verkabeln zu lassen? Wollen Sie, dass ich Ihre Miete erhöhe?«, fragte sie, als ich mich bei ihr beschwerte. Das war das Ende der Diskussion; ich sorgte bloß dafür, dass in meiner Wohnung nichts den Weg zur Feuertreppe blockierte. Im engen Erdgeschossflur, der in die Eingangshalle mündete, hing ein Zettel an meinem Briefkasten. Ich hatte aus reiner Faulheit seit Freitag nicht mehr nach meiner Post gesehen. Zu viele Zeitschriften!, leuchtete mir das Gekritzel vom Postboten in vorwurfsvollem Rot entgegen. Ich konnte den Briefkasten kaum öffnen, weil er mit zahllosen Briefen, Rechnungen, Werbeprospekten, Katalogen und den neuesten Ausgaben von Tinte, Newsweek, New-York-Magazin und Rolling Stone vollgestopft war. Mit großer Mühe zog ich alles heraus, rannte die drei Etagen zu meiner Wohnung hoch, warf alles hinein, schloss die Tür ab und machte mich wieder auf den Weg. Jetzt fragen Sie sicher: Müssen wir das alles wissen? All die Einzelheiten, wie sie ihre Wohnung verlässt? Aber diese beiden Ereignisse, diese kleinen Entscheidungen, die ich traf, bevor ich nach draußen ging, veränderten alles. Wäre ich ein anderer Mensch, hätte ich mich vielleicht nicht oder auch viel länger mit Victoria unterhalten. Ich hätte am Briefkasten vorbeimarschieren und den Zettel des Postboten ignorieren können oder ihn gar nicht erst entdeckt. So viele Momente, in denen wir uns anders hätten entscheiden, so viele Dinge, die wir hätten tun können. Wir erkennen sie erst dann mit völliger Klarheit, wenn die Gelegenheit wobei ist. Dreißig Sekunden früher oder später, und ich könnte Ihnen diese Geschichte nicht erzählen. Ich wäre nicht einmal dieselbe Person, die sie erzählt. Auf der Straße weitere kleine Entschlüsse. Ich war spät dran, deswegen stellte ich mich an den Bordstein und hielt nach einem Taxi Ausschau, anstatt mich nach rechts zu wenden und zu Fuß nach TriBeCa zu laufen (zugegebenermaßen eine längere Strecke, aber durchaus zu schaffen, wenn man genug Zeit hat). 30
In diesem Moment entdeckte ich sie. Eine junge Frau mit rotbraunem, zu einem strengen Pferdeschwanz zurückgebundenem Haar, in dem Buggy vor sich ein Baby, an der Hand ein Kleinkind. Sie standen an der Ampel und warteten. Sie hatten eigentlich nichts Besonderes an sich, ich meine, nichts, was den meisten Leuten aufgefallen wäre. Ich war bloß so beeindruckt von dem Gegensatz zu Victoria. Im Vergleich zu ihrer traurigen einsamen Existenz verkörperten diese drei jungen Menschen Schönheit und Vitalität. Ich beobachtete die Frau. Sie war klein und strahlte jene Kraft aus, über die scheinbar alle jungen Mütter verfügen – die Fähigkeit zu tragen und zu schieben, kleine Hände zu halten und auf unzählige Bedürfnisse einzugehen; die fast schon buddhistische Ruhe, mit der eine Minipackung Cheerios aus dem Vorderfach der Wickeltasche hervorgezaubert wird, gerade als das kleine Gesicht sich zum Weinen verzieht; die Mimik, die einem Kleinkind, das noch nicht einmal sprechen kann, Mitgefühl und Verständnis signalisiert. Es erschien mir wie eine Symphonie, und einen Moment lang war ich fasziniert. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf die sich nähernden Taxis – um halb neun an einem verregneten Montagmorgen. Viel Glück! Nicht ein einziges mit eingeschaltetem Leuchtschild auf dem Dach, und an allen Ecken der Kreuzung ungeduldige Pendler, die sich alle auf das erste freie Taxi stürzen würden. Ich fand mich mit dem Gedanken ab, zu spät zu kommen, und beschloss, mir noch einen Kaffee zu holen. Als mein Blick wieder auf die kleine Familie auf der anderen Straßenseite fiel, schrillten plötzlich alle Alarmglocken. Die Mutter stand über den Buggy gebeugt, und das Kleinkind, nur für eine Sekunde unbeobachtet, war auf die Straße marschiert. Der Verkehr hatte kurz nachgelassen, aber jetzt stand der kleine Junge mit der verwaschenen Jeans, der roten Daunenjacke und der schwarzen Strickmütze direkt im Weg eines heranbrausenden weißen Lieferwagens. Ein Blick auf den 31
Wagen reichte mir, um einen telefonierenden Fahrer zu erkennen, der hektisch gestikulierte und die Straße vor sich anscheinend nicht weiter zur Kenntnis nahm. Augenzeugen sagen immer: »Es ging alles so schnell.« Ich kann mich aber an jede einzelne Sekunde erinnern. Ich stürzte, ohne zu überlegen, wie eine abgefeuerte Gewehrkugel auf die Straße. Ich weiß noch, dass die Frau vom Buggy aufblickte, weil die Leute zu schreien begannen. Ich sah, wie sich ihre Verwirrung in Entsetzen verwandelte. Ich sah, wie die Leute auf dem Gehsteig sich umdrehten und glotzten; ich sah den kleinen Jungen, der ahnungslos und mit wackeligen Schritten auf mich zukam. Ich spürte den harten Asphalt unter meinen Füßen und hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. Ich war ganz auf das Kind konzentriert, das mich verdutzt anlächelte, als ich mit ausgestreckten Armen auf es zurannte und an mich riss. Alles außer mir wurde langsamer; die Zeit streckte und wand sich, aber ich war eine Rakete. Ich fühlte die weiche Jacke, den warmen kleinen Körper, den ich mit einem Arm hochnahm. Ich sah den Kühler des Lieferwagens, merkte, wie der Kotflügel meinen Fuß streifte, als wir aus der Fahrbahn hechteten. Ich schaute dem Lieferwagen nach, der mit unverminderter Geschwindigkeit auf der First Avenue weiterfuhr, so als hätte der Fahrer das Drama vor seinen Augen gar nicht bemerkt. Mein Körper war angespannt, ich knirschte vor Schreck mit den Zähnen. Ich entspannte mich erst, als der kleine Junge mich erschrocken anstarrte und zu weinen anfing. Seine Mutter kam auf uns zugerannt, riss ihn mir aus den Armen und schluchzte in seine kleine Jacke. Sein Jammern steigerte sich zu einem lauten Heulen, so als hätte er instinktiv begriffen, dass er soeben einer Katastrophe entgangen war. Fürs Erste zumindest. Die Leute blieben rings um mich herum stehen und machten betroffene Gesichter. Ob alles in Ordnung sei? Selbst da hätte ich noch mit Ja geantwortet.
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Jetzt werden Sie denken, ich hätte eine gute Tat vollbracht. Alles hat sich zum Guten gewendet. War doch nicht so schlimm. Und ich gebe Ihnen Recht. Jeder Mensch, der ein Herz hat und eine halbwegs vernünftige Reaktion, hätte genauso gehandelt. Ich habe aber von den kleinen Zufällen gesprochen. Hinter mir, an der Ecke First Avenue und 11. Straße, stand ein Fotograf der New York Post. Er war gerade auf dem Rückweg vom »Walk of Shame« einiger prominenter Gangster aus dem neunten Bezirk, den er fotografiert hatte, und wollte herausfinden, ob das Five Roses schon geöffnet hätte – was natürlich um halb neun Uhr morgens nicht der Fall war. Daraufhin war er kurz in den Black Forest Pastry Shop gegangen, um sich einen Kaffee und eine Bärentatze zu holen. Nun lag sein Frühstück vor ihm auf der Straße. Er hatte es sofort fallen lassen, um nach der Kamera zu greifen und das Ganze zu fotografieren.
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DREI
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n jener Woche muss Nachrichtenmangel geherrscht haben. Na gut, mein – vom Port-Fotografen festgehaltener – Stunt war ziemlich sensationell, das muss ich zugeben. Durch Zufall kam ich zu meinen fünfzehn Minuten Ruhm. Was soll ich sagen? Es ging mir runter wie Öl. Und weil ich nicht besonders schüchtern bin und ausgesprochen gern rede, gab ich allen ein Interview: Good Day New York, der Today Show, der Post, den Daily News. Mein Telefon klingelte ununterbrochen, und ich genoss es. Der Glanz färbte sogar bis auf meine Eltern ab, die im New Jersey Record auftauchten. Meine Eltern sind ebenfalls nicht besonders schüchtern. Bis Freitag war mein Bild auf sämtlichen lokalen Fernsehkanälen und in allen Zeitungen der Region zu sehen gewesen. Wegen einer Kurzmeldung auf CNN hatten sogar ein paar überregionale Zeitungen das Thema aufgegriffen. Die Leute hielten mich auf der Straße an, um mich zu umarmen oder meine Hand zu schütteln. New York City ist ohnehin ein ziemlich lebendiger Ort, aber wenn man gerade der »New Yorker des Tages« ist, wirkt es schon fast surreal. Die Stadt, die trotz der Menschenmassen so schrecklich einsam wirken kann, löste für einen Moment ihren Blick vom Gehsteig und lächelte mich an. Ich glaube, wenn ein New Yorker eine gute Tat vollbringt, fühlt sich der Rest von uns nicht mehr ganz so allein. Es ist, als würden wir eigentlich doch aufeinander aufpassen, selbst wenn es oft anders aussieht. »Rid, das kann ich nicht glauben«, meinte Zack im NoHo Star über seinen Drink hinweg. Das Echo hundert anderer Gespräche stieg nach oben und prallte gegen die hohe Decke des Restaurants. Der warme Duft aus dem Brotkorb auf unserem Tisch vermischte sich mit den Gerüchen der asiatisch 34
angehauchten Küche. Ich betrachtete meinen guten Freund – denn das war er immer gewesen – und war dankbar, ihn zu haben. »Was? Hättest du mir so was nicht zugetraut?«, fragte ich lächelnd. Er schüttelte den Kopf. Da war er wieder, dieser Ausdruck, eine Mischung aus Sehnsucht und Wehmut und noch etwas anderem, das ich nicht definieren konnte. Ich schaute zur Seite; in solchen Momenten fühlte ich mich wie ein Schuft. »Natürlich hätte ich es dir zugetraut. Du bist schon immer so gewesen, seit wir klein waren – die Beschützerin der Schwachen und Außenseiter.« Hörte ich da so etwas wie Ablehnung heraus? »Irgendjemand muss es ja machen«, sagte ich. Ich nahm meinen Cosmopolitan und trank einen Schluck. »Aber warum du?«, fragte er. »Die Frau hätte besser auf ihr Kind aufpassen sollen. Ihr könntet beide tot sein.« Ich zuckte die Achseln. Ich konnte keinen Sinn darin erkennen, im Leben eines Menschen einen isolierten Moment zu beurteilen und zu analysieren. Ich war einfach nur froh, zur Stelle gewesen zu sein und das Schlimmste verhindert zu haben. Zack redete immer weiter auf mich ein – was zu erwarten gewesen war. »Diese ganzen Bilder von dir … meine Güte. Bald wirst du irgendwelche Verrückten am Hals haben. Du hättest dich nicht drauf einlassen sollen.« Er schüttelte missbilligend den Kopf, aber ich erkannte die Sorge und den Respekt dahinter. Er war ein gutherziger Mann, der um mein Wohlergehen besorgt war. »Ja, klar«, rief ich lachend, »und zusehen, wie ein kleines Kind von einem Lieferwagen umgemäht wird!« »Besser das Kind als du«, entgegnete Zack mit hochgezogenen Augenbrauen.
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»Du hast sie nicht mehr alle«, sagte ich lächelnd. Er wäre der Erste gewesen, sich vor einen Lieferwagen zu schmeißen, um ein Kind zu retten. Der Kleine hieß übrigens Justin Wheeler. Drei Jahre alt, und noch viele weitere vor sich. Hatte ich schon erwähnt, dass Zack Kinderarzt war, so wie mein Vater? (Und ja, sie haben zusammengearbeitet – in einigen der Kliniken, in denen sie freiwillig aushalfen. Verstehen Sie jetzt, warum diese Trennung so kompliziert war?) Er hatte sein ganzes Leben dem Schutz und Wohlergehen von Kindern gewidmet, und ich kannte außer meinem Vater niemanden, der dieser Aufgabe mit ähnlicher Hingabe nachkam. »Im Ernst«, sagte er und lächelte besänftigt zurück. »Pass auf dich auf, bis der ganze Rummel sich gelegt hat.« Ich prostete ihm zu. »Auf die Heldin. Auf meine Heldin«, sagte er. Der Rummel legte sich selbstverständlich wieder, und mein Leben fand in seinen natürlichen Rhythmus zurück. Am folgenden Montag – genau eine Woche, nachdem ich Justin gerettet hatte – musste ich feststellen, dass mein Telefon nicht mehr klingelte und mich niemand mehr interviewen wollte. Die für Features zuständige Redakteurin von Vanity Fair rief mich wegen eines Artikels über Uma Thurman an. Wir verabredeten uns für den Dienstagnachmittag. Als ich abends schlafen ging, war ich wegen meines kurzen Ruhms immer noch ein wenig aufgekratzt, aber auch froh darüber, dass bald alles wieder beim Alten wäre. Am nächsten Tag zog ich mich wie eine Erwachsene an und nahm ein Taxi nach Uptown, wo die Redaktionsräume von Vanity Fair lagen. Ich traf mich kurz mit der Redakteurin, einer geschäftigen, etwas zugeknöpften und sehr eleganten Dame mittleren Alters, mit der ich schon früher erfolgreich zusammengearbeitet hatte. Wir einigten uns auf ein Honorar und den Abgabetermin für den Fall, dass Mrs. Thurman mit dem 36
Artikel einverstanden wäre; damit war unser Treffen beendet. Ich nahm die U-Bahn zurück nach Downtown, trödelte ein bisschen im St. Mark’s Bookshop herum und spielte mit dem Gedanken, einen Roman zu schreiben. Während ich nach Hause schlenderte, kaufte ich Rosenholz-Räucherstäbchen bei einem Straßenhändler und bedauerte die Existenz der Gap-Filiale an der Ecke Second Avenue und St. Mark’s (dem Mekka meiner »Gothic«-Jugend). Es tut mir leid, aber neben einem Laden wie Trash and Vaudeville hat Gap nichts verloren. Als ich zu Hause ankam, wurde es schon dunkel. In meinem Tahari-Anzug aus schwarzer Gabardinewolle fror ich entsetzlich, außerdem taten mir die Füße weh, die immer noch in umwerfend schicken, leider aber schmerzhaft unbequemen Lederpumps von Dolce & Gabbana steckten. Ich fand jedoch, dass ich es mir redlich verdient hatte, mich in diesen wahnwitzig teuren (und so fantastischen) Klamotten unwohl zu fühlen. Es ist unser gutes Recht, im Namen der Mode zu leiden. Ich zerrte einen weiteren unhandlichen Packen Post aus meinem Briefkasten, zog meine Schuhe aus und hüpfte die Treppen zu meinem Apartment hinauf. Meine Wohnung war klein – na gut, winzig – und verfügte lediglich über ein Mindestmaß an Stauraum. Eigentlich gab es da nur einen einzigen Wandschrank am Ende des Flurs, der parallel zu meinem Schlafzimmer verlief und nirgendwo hinführte. Ich war zufrieden damit, schränkte es doch die Menge an Kram ein, der sich im Lauf der Zeit ansammelte. Ich hatte das Gefühl, notfalls alles an einem einzigen Tag einpacken und ausziehen zu können; diesen Gedanken fand ich äußerst beruhigend. Was seltsam war, denn immerhin wohnte ich schon seit zehn Jahren hier und hatte nie an einen Umzug gedacht. Irgendetwas an dem Apartment vermittelte mir sowohl das Gefühl von Sesshaftigkeit als auch von Freiheit. Alles war genau so, wie ich es haben wollte; ein gemütliches Plüschsofa, weiche Teppiche auf dem Holzfußboden, die Wände erst vor 37
kurzem in einem dezenten Creme gestrichen. Es war gemütlich, vertraut … meine Wohnung. Und dennoch fühlte ich mich an keins der Möbelstücke gebunden. Abends schlüpfte ich in meine kuschelige schwarze Yogahose und ein Sweatshirt, band meine Haare hoch und machte es mir mit dem Berg ungeöffneter Post auf dem Sofa bequem. Ich legte drei Stapel an: einen für Magazine, einen fürs Altpapier und einen für die Rechnungen. Ich begann zu sortieren. Die Gedankenlosigkeit, mit der ich die Sendungen durchsah und ablegte, hatte eine entspannende Wirkung. Dann entdeckte ich plötzlich einen großen Umschlag, auf dem mein Name und meine Adresse in schwarzen Lettern handschriftlich hingekrakelt stand. Der Absender fehlte. Obwohl es sich um einen völlig gewöhnlichen Umschlag aus Manilapapier handelte, kam mir die Sache merkwürdig vor. Im Nachhinein betrachtet, strahlte der Umschlag etwas Bedrohliches aus, eine Art Bösartigkeit, die ich natürlich ignorierte. Ich schlitzte ihn mit einem Brieföffner auf und zog den Inhalt heraus. Selbst heute noch erscheint mir unglaublich, dass drei einfache Gegenstände es schafften, mein gesamtes, vermeintlich sicheres Wissen über mein Leben in Frage zu stellen. In dem Umschlag steckte ein Zeitungsausschnitt aus der Post mit einem Bild von mir. Außerdem ein altes, vergilbtes Polaroidfoto von einer jungen Frau in einem geblümten Kleid, auf deren Hüfte ein kleines Mädchen saß. Die Frau wirkte verkrampft, ihr Gesichtsausdruck gequält. Das Kind schaute mit strahlenden Augen und einem Lächeln zu ihr auf. Hinter den beiden stand ein Mann – groß, breitschultrig, unglaublich gut aussehend, mit einem fein geschnittenen Gesicht und wachen, intelligenten Augen. Mit einer einnehmenden Geste hatte er seine Hand auf die Schulter der Frau gelegt. Irgendetwas in seinem Gesicht kam mir nicht geheuer vor, ich konnte aber nicht sagen, woran das lag. Ich kann nicht erklären, warum sich auf einmal mein Hals zuschnürte, das Adrenalin in mein Blut schoss 38
und meine Hände zu zittern begannen. Die Frau sah mir so verblüffend ähnlich, als wäre das Foto von mir. Das Mädchen in ihrem Arm ähnelte den Kinderbildern, die ich von mir kannte; auch wenn mir in dem Moment klar wurde, dass ich mich so jung noch nie gesehen hatte. Und ich fand einen Zettel mit einer Telefonnummer und einer Frage. Da stand nur: Sind Sie meine Tochter?
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VIER
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ch benötige nur ein paar Sekunden, um mich in meine Kindheit zurückzuversetzen. Ich brauche nur die Augen zu schließen, und Erinnerungen an meine Jugend tauchen auf. Die Gerüche aus der Küche meiner Mutter, der Duft nach Old Spice und Regen an meinem Vater, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kam; meine kalten Finger – mein Vater schwitzte leicht, deswegen war es im Haus immer kalt. Ich kann meine Eltern lachen oder singen hören, manchmal auch streiten; später, als es mit meinem Bruder Ace wirklich schlimm wurde, brüllten sie auch. Ich kann mich an meinen grünen Plüschteppich und die Laura-Ashley-Tapete erinnern, winzig kleine Rosen an mintgrünen Stengeln vor einem weißem Hintergrund. Aber während ich mit dem Polaroid in der Hand auf meinem Sofa saß, trat zwischen all den glücklichen und normalen Erinnerungen aus jener Zeit eine ganz besonders hervor. Klar und bedrohlich hob sie sich von den anderen ab. Ich war fünfzehn und spät von der Schule heimgekommen (in der Highschool war ich fast so etwas wie eine Überfliegerin gewesen). Obwohl ich eigentlich nicht bei Jungs im Auto mitfahren durfte, hatte ich mich von einem älteren Schüler namens Frank Alvarez mitnehmen lassen (breite Schultern, langes, dunkles Haar, ein bisschen durchgeknallt, aber sehr sexy). Nachdem er in der Einfahrt gehalten hatte, versuchte er, mich zu küssen. Ich weiß noch, dass er die Heizung voll aufgedreht hatte, dass Van Halen im Radio lief, dass er eine geradezu unbändige sexuelle Energie ausstrahlte und viel zu viel Rasierwasser benutzt hatte. Polo, glaube ich. Ich empfand die Situation keineswegs als beängstigend, und obwohl ich nicht »auf ihn stand«, wie wir supercoolen Jugendlichen zu sagen pflegten, fühlte ich mich äußert geschmeichelt und konnte es gar 40
nicht erwarten, aus dem Auto zu steigen und meine Freundinnen anzurufen. Als ich ins Haus kam, saßen meine Eltern mit grimmigen Gesichtern am Küchentisch. Mein Vater hielt eine Kaffeetasse in der Hand, meine Mutter sah aus, als hätte sie geweint. Eigentlich war es für meinen Vater noch gar nicht an der Zeit, daheim zu sein, und das Essen hätte auf dem Herd stehen müssen. Aber die Küche war kalt. »Oh, Ridley«, sagte meine Mutter, so als hätte sie vergessen, dass ich längst zu Hause sein sollte. »Wie spät ist es?« Meine Mutter war ein Spatz von einer Frau, so grazil. Sie hatte feine, edle Gesichtszüge und glänzendes, rotbraunes Haar. Sie bewegte sich mit der Anmut einer Tänzerin und hatte sich ihre verblassten Ambitionen in einer untadeligen Körperhaltung und dem stets hochgereckten Kinn bewahrt. Sie wirkte zehn Jahre jünger als die anderen Mütter, auch wenn sie älter als die meisten war. »Spätzchen, würdest du für eine Weile raufgehen?«, fragte mein Vater und stand auf. »Wir machen dir gleich etwas zu essen.« Er hatte gerade das begonnen, was wir später seine »Ernest-Hemingway-Phase« nannten, nur ohne den Alkohol. Er trug einen graumelierten Vollbart und hatte einen leichten Bauchansatz (der immer weniger leicht wurde). Er war knapp eins fünfundachtzig groß und hatte kräftige Arme und riesige Hände. Wenn er mich umarmte, verflüchtigten sich alle meine Sorgen. Damals umarmte er mich aber nicht, legte nur seine Hand auf meine Schulter und schob mich zur Treppe. Nach dem Hereinkommen hatte ich bei ihrem Anblick zuerst befürchtet, wegen Frankie Alvarez Ärger zu bekommen, stellte jedoch schnell fest, dass sie viel zu aufgeregt waren, um sich um minder schwere Vergehen wie dieses zu kümmern. »Was ist denn los?«, fragte ich. Noch bevor mein Vater antworten konnte, kam Ace mit einem 41
großen schwarzen Rucksack über der Schulter die Treppe heruntergepoltert. Obwohl mein Bruder und ich im selben Haus von denselben Eltern großgezogen wurden, erlebten wir zwei völlig verschiedene Kindheiten. Ace ist drei Jahre älter als ich. Er war widerspenstig, wo ich mich fügte; rebellisch, wo ich gehorchte; traurig und wütend, wo ich mich freute. Für mich stellte er immer den Inbegriff von Coolness dar. Mit seinem rabenschwarzen Haar und den eisblauen Augen, den definierten Muskeln und seinem energischen Kinn sah er umwerfender aus als jeder Filmstar. Alle meine Freundinnen waren in ihn verliebt. Hätte man mir erzählt, er stünde jeden Morgen fünf Minuten vor mir auf, um die Sonne an den Himmel zu hängen – ich hätte es geglaubt. »Wo willst du hin?«, fragte ich, denn er hatte nicht nur den Rucksack dabei, sondern verbreitete die Aura eines endgültigen Abschieds. Er hatte schon tausendmal damit gedroht, und bei jedem Streit mit meinen Eltern fürchtete ich, er könne seine Ankündigung wahr machen. Angst und Trauer stiegen in mir hoch, als er sich an mir vorbeidrängte. »Hier raus, verdammt noch mal«, zischte er mit einem Seitenblick auf meinen Vater. »Ridley«, sagte meine Mutter, »geh nach oben.« Sie klang verzweifelt. Zögernd ging ich hinauf, die Hand am Treppengeländer. Ich sah drei Menschen, die ich über alles liebte und die jetzt so traurig und wütend waren, dass ich sie kaum wiedererkannte. Ihre Gesichter waren grau und wie versteinert. Ich kann mich nicht an einen einzigen friedlichen Moment zwischen Ace und meinem Vater erinnern. Hielten sie sich zusammen in einem Zimmer auf, dauerte es nicht lange, bis ein Streit ausbrach. Während der letzten Monate war es immer schlimmer geworden. 42
»Mein Sohn, du gehst nirgendwohin«, sagte mein Vater. »Wir werden dir Hilfe besorgen.« »Ich will eure Hilfe nicht. Es ist zu spät. Und du bist nicht mein Vater, nenn mich also nicht Sohn.« »Ace, rede bitte nicht so«, sagte meine Mutter leise. Sie hatte Tränen in den Augen. »Ridley«, befahl mein Vater, »geh nach oben.« Ich rannte los, mein Herz klopfte wie wild. Ich warf mich im Dunkeln auf mein Himmelbett und lauschte dem Echo ihres Gebrülls. Aus der Entfernung, vom anderen Ende des Hauses, konnte ich ihre Worte nicht verstehen – und ich wollte es auch gar nicht. Als Ace ging, knallte er so wütend die Haustür zu, dass ich die Erschütterung bis in mein Zimmer spürte. Es folgte eine Stille, die schließlich vom Schluchzen meiner Mutter unterbrochen wurde. Dann hörte ich die Schritte meines Vaters auf der Treppe. Ace betrat das Haus nie wieder. An jenem Abend begriff ich, dass nicht alles im Leben glücklich ausgeht. Irgendwie hatte ich im Lauf der Zeit verdrängt, was Ace damals sagte. Vielleicht hatte ich es auch auf seine Wut geschoben, oder auf seine Sucht, oder vielleicht hatten ihn beide zusammen jenen Satz aussprechen lassen: »Du bist nicht mein Vater.« Als ich meinen Vater später einmal danach fragte, hatte er geantwortet: »Ace hat nur gemeint, er wünschte, ich wäre nicht sein Vater. Ich bin es aber, und daran lässt sich nichts ändern, egal, was zwischen uns vorgefallen ist.« »Dad, ich bin jedenfalls froh, dass du mein Vater bist«, sagte ich, um meinetwillen und um ihn zu trösten. Als ich mit dem Umschlag in meiner Wohnung saß, fielen mir die Worte meines Bruders wieder ein. Diesmal gelang es mir nicht, sie zu verdrängen. Sie waren wie ein Schlüssel zu einer Kiste mit unzähligen weiteren Fragen, die all die Jahre unter der Oberfläche meines Bewusstseins geschlummert hatten und auf die ich nie eingegangen war. Kleine Zweifel, die man vielleicht 43
mit Leichtigkeit hätte ausräumen können – oder auch nicht. Fragen wie: Warum gab es keine Fotos von den Schwangerschaften meiner Mutter? Warum keine Fotos von mir, auf denen ich jünger als zwei Jahre bin? Wie kam es, dass ich niemandem aus meiner Familie auch nur im Geringsten ähnlich sah? Diese kleinen Fragen flatterten jetzt in meinem Kopf herum wie Motten um ein Licht. Plötzlich ergriff mich Panik, und ich begann, mich in etwas hineinzusteigern. Dann fiel mir die Unterhaltung mit Zack wieder ein. Diese ganzen Bilder von dir … bald wirst du irgendwelche Verrückten am Hals haben. Natürlich hatte er Recht gehabt. Immerhin waren wir hier in New York City; die Irren brauchen keinen besonderen Anlass, um in Aktion zu treten. Ich betrachtete das Polaroidfoto in meiner Hand. So gesehen, war die Frau mir vielleicht doch nicht so ähnlich? Ich tat, was ich im Fall eines Problems, groß oder klein, immer tat und griff nach dem schnurlosen Telefon, um meinen Vater anzurufen. Das Mobilteil lag in meiner Hand, ehe ich mich versah, die Tastatur wartete darauf, dass ich die Nummer eintippte. Aber dann zögerte ich. Unschlüssig schwebte mein Finger über den Leuchtziffern. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen. Ich starrte auf das Telefon und schien meinen Finger nicht mehr bewegen zu können. Es war albern, oder? Wegen eines solchen Unsinns anzurufen. Durch das Summen des Freizeichens hindurch hörte ich aus weiter Ferne ein eindringliches Klopfen. Das Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Ich brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass jemand vor meiner Tür stand. Ich durchquerte das Zimmer und warf einen Blick durch den Spion. Vor der Tür stand ein fremder Mann, trotzdem öffnete ich sie einen Spaltbreit. Ich weiß, was Sie jetzt denken. Welche New Yorkerin öffnet einem fremden Mann die Tür, 44
besonders in einem solchen Moment, besonders, wenn sie vorher so einen Brief bekommen hat? In Wahrheit sind New Yorker nicht abgebrühter als andere Menschen auch. Wir sind nur paranoider. Ich war viel zu abgelenkt, um mir Gedanken um meine persönliche Sicherheit zu machen. Außerdem interessierte mich der Mann, den ich durch den Spion gesehen hatte. Ich meine, er war sexy. Ich öffnete die Tür und musterte ihn. Er runzelte die Stirn und hatte die Arme in die Hüften gestemmt. Manchmal kann man die Schwingungen spüren. Diesen kleinen Ruck durch den ganzen Körper, bei dem man sofort weiß: Der Sex wäre gut, sehr, sehr gut. Man fühlt es in der Lunge und zwischen den Beinen. Es hat eigentlich nichts mit dem Aussehen zu tun. Aber trotzdem, der Ordnung halber: dunkelbraune, beinahe schwarze Haare, kurz geschoren, fast nur noch Stoppeln; dunkelbraune Augen; zuckersüße Lippen, die ich mir sofort gut in der kleinen Kuhle über meinem Schlüsselbein vorstellen konnte. Er hatte es auch gefühlt, das konnte ich sehen. Einen Moment lang wirkte er weniger wütend. »Hören Sie«, sagte er und wurde ein bisschen freundlicher. »Wie wäre es, wenn Sie einfach anklopfen und Bescheid sagen, falls Sie ein Problem mit dem Krach haben? Anstatt zur Vermieterin zu rennen?« Alles an ihm schien zu einer schlanken, straffen, perfekten Linie zusammenzufließen. Trotzdem besaß er etwas sehr Handfestes. Nichts Massiges, eher eine Art geschmeidiger Kraft. Unter dem rechten Ärmel seines T-Shirts blitzte der Rand eines Tattoos hervor. »Sie haben sich in der Tür geirrt«, erwiderte ich. Ich bemühte mich, nicht in Vorfreude auf seine Verlegenheit zu lächeln. »Ich habe die Vermieterin nicht angerufen.«
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Er ließ die Information zwischen uns stehen und entschied sich dann für die einzig passende Antwort. »Oh.« Peinliche Stille, Gewichtsverlagerung von einem Bein auf das andere. »Entschuldigung.« »Kein Problem«, sagte ich und schloss die Tür. Er war sexy, aber ich war wegen des Briefs, den ich gerade bekommen hatte, nicht ganz bei der Sache. Die logische Ridley konnte klar erkennen, dass es sich hier um den bizarren Scherz eines kranken Hirns handelte. Es gab aber noch eine andere Ridley; sie war ein bisschen erschreckt, ein bisschen verunsichert und dachte: Da sind zu viele offene Fragen, du solltest dem nachgehen. Durch den Spion beobachtete ich, wie er sich entfernte. Ich lehnte mich an die gegenüberliegende Wand und träumte eine Weile vor mich hin. Alles um mich herum wurde schwerelos, mein Kopf und mein Bauch fühlten sich ganz leicht an. Ich kann nicht sagen, woher das kam, und ich weiß nicht mehr, wie lange ich dort lehnte. Schließlich ging ich zum Sofa zurück und sah mir die Bilder und den Zettel noch einmal an. Die Unterbrechung hatte mich davon abgehalten, meinen Dad anzurufen, und jetzt erschien mir die Angelegenheit schon weniger dringlich als noch vor einer Minute zuvor. Ich legte die Sachen auf den Tisch und ließ mich auf das für mein Apartment viel zu große Plüschsofa fallen. Ich liebte es sehr, es war so weich wie eine Umarmung. Plötzlich überkam mich große Traurigkeit, und ich musste schrecklich weinen, bemühte mich aber, nicht laut zu schluchzen. Die Wände und Türen waren ziemlich dünn, und ich wollte nicht, dass mich irgendwer hörte. Besonders nicht der knackige, tätowierte Typ von oben.
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FÜNF
A
uch wenn der Umstand allgemein unbekannt ist: Eltern sind wie Superhelden. Sie brauchen nur wenige Worte, und schon fühlt man sich drei Meter groß und unverletzlich; sie töten die Drachen namens Zweifel und Sorge und lassen Probleme einfach verschwinden. Natürlich besitzen sie diese Gaben nur, solange man noch ein Kind ist. Als Erwachsener wird man sein eigener Master of the Universe, und die Eltern verlieren einen Teil ihrer Macht. Vielleicht lassen sich aus diesem Grund so viele von uns mit dem Erwachsenwerden Zeit. Nach einer unruhigen Nacht und einem höchst unproduktiven Mittwoch (an dem meine größte Leistung in der Bewältigung einer Ladung Wäsche und der Zubereitung eines Thunfischsandwiches bestand) verließ ich meine Wohnung und machte mich auf den Weg zur PATH-Haltestelle in der Christopher Street. Seit meinem Umzug in die Stadt nahm ich an jedem Mittwoch den Zug nach Hause, um mit meinen Eltern zu Abend zu essen. Häufig fuhr ich auch an den Wochenenden hin, aber unser Mittwoch war zu einem Jour fixe geworden. Bis zur Trennung waren Zack und Esme oft dazugekommen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen deswegen, war aber insgeheim doch auch erleichtert. Ich hatte meine Eltern gern für mich allein. »Ridley, Schatz, wie geht es dir?«, hatte Esme mich ein paar Stunden zuvor am Telefon gefragt. Wir telefonierten immer noch relativ häufig, was ich sehr schön fand. Früher hatte sie als Kinderkrankenschwester in den verschiedenen Praxen meines Vaters gearbeitet, auch schon vor meiner Geburt. Für mich war sie eher eine liebe Tante und gute Freundin gewesen als eine Angestellte meines Vaters oder die Mutter meines Exfreundes. Um ehrlich zu sein, nach der Trennung von Zack war meine
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größte Befürchtung fast die gewesen, ich könnte auch Esme verlieren. »Zack meinte, du hättest einen leicht gestressten Eindruck gemacht«, sagte sie leise, so als spräche sie über irgendein peinliches Frauenleiden. »Er macht sich Sorgen um dich.« Ich wusste, sie meinte es nur gut. Aber dass ich während des Essens mit Zack gestresst wirkte, fand ich überhaupt nicht. Ist es nicht immer komisch, wenn man von einem anderen etwas über sich erfährt, das einfach nicht stimmt? »Nein, Ez«, sagte ich und versuchte, locker zu klingen. »Mir geht es gut.« »Ach, wirklich«, entgegnete sie, als spräche sie mit einer Geisteskranken. »Gut. Dann freue ich mich, dass er sich geirrt hat.« Sie glaubte mir nicht, ließ mich aber vom Haken. Dann dachte ich plötzlich: Vielleicht bin ich ja wirklich gestresst und merke es bloß nicht. Das ist eine von meinen Eigenschaften, die ich überhaupt nicht mag. Wenn es um mich geht, lasse ich mich schnell von den Ansichten meiner Bekannten verunsichern. Vielleicht wissen Sie, wovon ich rede? Während des Gesprächs mit Esme fühlte ich mich auf einmal wirklich erschöpft. Außerdem war mir die Vorstellung unangenehm, die anderen könnten über mich sprechen, das Ausmaß meiner Belastung feststellen, mich bemitleiden und anschließend darüber informieren. Ich empfinde das als Übergriff und Manipulationsversuch. Als wollten sie mich als schwach und überfordert hinstellen, um sich selbst stark zu fühlen, der armen Ridley überlegen, die ja so unter ihrem Stress leidet. Wir unterhielten uns ein wenig über meinen letzten Artikel, über ihre sich verschlimmernde Arthritis, über Geschenkideen für den anstehenden Geburtstag meiner Mutter. Vielleicht lag es nur an meinen Schuldgefühlen, aber irgendwie hatte ich den 48
Eindruck, Esme und ich seien sogar sechs Monate nach der Trennung noch um das Totschweigen der Tatsache bemüht, dass ich ihrem Sohn das Herz gebrochen und jedermanns Träume von einer Hochzeit und Enkelkindern zunichte gemacht hatte. In Hoboken stieg ich um und fuhr noch eine halbe Stunde bis zu dem Ort weiter, in dem ich aufgewachsen bin. Vom Bahnhof bis zum Haus meiner Eltern braucht man zu Fuß ungefähr fünfzehn Minuten. Das Haus war bereits 1919 gebaut, Ende der achtziger Jahre aber entkernt und vollständig modernisiert worden. Beschattet von riesigen Eichen und Ulmen wirkte es wie eine uneinnehmbare Festung amerikanischen Vorstadtlebens. Wir befanden uns hier in einem dieser gewissen Orte, Sie verstehen schon – so unglaublich pittoresk mit seinem alten Gemischtwarenladen und den im Original erhaltenen Straßenlaternen, den gewundenen, von Bäumen gesäumten Wohnstraßen, den hübschen Häusern auf perfekt manikürtem Rasen; Ansichtskartenmotive, wohin man auch blickte, besonders im Herbst und zur Weihnachtszeit. Als ich ins Haus trat, war es fast vier Uhr. Es roch nach Hackbraten. »Mom!«, rief ich und ließ die Fliegentür hinter mir ins Schloss krachen. »Oh, Ridley«, sagte meine Mutter, als sie lächelnd aus der Küche kam. »Wie geht es dir, Liebes?« Sie umarmte mich flüchtig und hielt mich dann mit einer Armeslänge Abstand von sich, um mich nach den Anzeichen etwaiger Probleme abzusuchen: Ringe unter den Augen, einen Pickel auf dem Kinn, Gewichtszu- oder abnahme, was auch immer. »Stimmt etwas nicht?«, fragte sie und kniff die Augen zusammen. Das war normalerweise eine der ersten Fragen, die sie stellte, wenn wir telefonierten oder ich nach Hause kam. Als würden sie mich nicht ständig sehen. Ich rief meinen Vater fast täglich in 49
der Praxis an. Gerechterweise muss ich dazu sagen, dass ich mit meiner Mutter seltener sprach. »Nein«, antwortete ich und umarmte sie. »Was soll denn sein?« Sie nickte, warf mir aber gleichzeitig einen Blick zu, der mich daran erinnern sollte, dass sie mich besser kannte als ich mich selbst und lügen deshalb zwecklos war. Wollten denn alle, dass es mir schlecht ging? Sie fühlte sich so zerbrechlich an. Wo sie an den Armen und Schultern knochig und sehnig war, wirkte ich muskulös und rundlich. Ihre Hüften und Brüste wirkten knabenhaft, meine weiblich. Während ihre Gesichtszüge fein und zart waren, wirkten meine weicher und irgendwie runder. Ich blickte ihr ins Gesicht und musste plötzlich an die Frau auf dem Foto denken, das ich gestern bekommen hatte. Ich sah meiner Mutter überhaupt nicht ähnlich; dieser Fremden war ich wie aus dem Gesicht geschnitten. »Was ist denn?«, fragte sie, legte den Kopf schief und musterte mich mit ihren eisblauen Augen. »Wann kommt Dad nach Hause?«, fragte ich, ließ sie stehen und ging in die Küche, um die Ofenklappe zu öffnen. Ein Hackbraten schmorte in Tomatensauce zufrieden vor sich hin. Die Hitze wärmte mein Gesicht. Ich war froh, einen Vorwand zu haben, meine Mutter nicht ansehen zu müssen. »Jeden Augenblick«, antwortete sie. Als ich nicht weiter darauf einging, wechselte sie das Gesprächsthema. »Und, hast du dich wieder zur Rettung von Kleinkindern in den Straßenverkehr gestürzt oder in ein brennendes Gebäude … irgendwas in der Art?« »Nein. Da war nur dieses eine Kind.« »Schön. Du solltest es dabei belassen. Vielleicht hast du beim nächsten Mal weniger Glück«, meinte sie und gab mir einen zärtlichen Klaps auf den Po. Ich setzte mich an den Küchentisch. Sie erzählte von ihrer 50
ehrenamtlichen Arbeit an der örtlichen Grundschule, von Dads Praxis und seinem Einsatz in der Klinik, wo er sich in seiner freien Zeit um benachteiligte Kinder kümmerte. Ich hörte ihr kaum zu. Nicht dass es mich nicht interessiert hätte, aber ich lauschte ungeduldig auf das Auto meines Vaters in der Einfahrt. »Hörst du mir überhaupt zu?« »Natürlich, Mom.« »Was habe ich eben gesagt?« »Na, wenn das nicht meine kleine Herzensbrecherin ist!«, rief mein Vater, als er durch die Küchentür hereinkam. Seit der Trennung nannte er mich so. Ich stand auf und ging zu ihm, ich konnte es kaum erwarten, seine Umarmung zu spüren, mich an ihn zu kuscheln. »Wie geht es dir, mein Spatz?«, fragte er und drückte mich, so fest es ging. »Prima«, murmelte ich in seinen Pullover. »Gut«, sagte er lächelnd und tätschelte meine Wange. »Du siehst wirklich gut aus«, meinte er. Ich war froh, dass wenigstens er nicht den Eindruck hatte, irgendetwas sei nicht in Ordnung. Aber vermutlich war sogar in jenem Moment irgendetwas nicht in Ordnung. Ich hatte das Foto und den Brief dabei, nachdem ich mit dem Gedanken gespielt hatte, sie einfach wegzuwerfen, sie in den Mülleimer zu schmeißen, wo sie hingehörten, und die ganze Sache zu vergessen. Aber aus irgendeinem Grund konnte ich mich nicht dazu durchringen. Ich hatte mein Apartment ohne den Briefumschlag verlassen, war dann aber auf der Treppe umgekehrt, um ihn zu holen. Vermutlich hatte ich ihnen den Brief zeigen wollen, damit sie mich von der Lächerlichkeit der ganzen Angelegenheit überzeugen konnten, und dann hätten wir alle herzlich gelacht. Ha, ha. 51
Nach dem Abendessen saßen wir satt und zufrieden im sanften Licht der alten Tiffanylampe, die über dem Tisch hing. Als die Unterhaltung einen Moment lang stockte, meinte ich: »Gestern ist mir was Komisches passiert.« »Ich wusste doch, dass irgendwas nicht stimmt«, sagte meine Mutter, hochzufrieden mit sich selbst. »Mom«, seufzte ich in einem Ton, der meiner Ansicht nach ausdrückte, wie vorhersehbar und ärgerlich ich sie manchmal fand. »Was ist es?«, fragte mein Vater interessiert und machte ein ernstes Gesicht. Ich schob das Foto und den Zettel über den Tisch und beobachtete ihre Mienen, neugierig auf ihre erste Reaktion. Aber ihre Gesichter verrieten gar nichts. Meine Eltern steckten die Köpfe zusammen und studierten das Bild. Dann zog mein Vater seine Brille aus der Hemdtasche. Ich hörte das Brummen des Kühlschranks und das Rauschen des Blutes in meinen Ohren. Das Teewasser kochte längst, was meine Mutter gar nicht merkte. Die Uhr auf dem Sims tickte leise vor sich hin. »Was ist das?«, fragte mein Vater schließlich. Er lächelte verwirrt, aber wohlwollend. »Soll das ein Witz sein?« »Ich verstehe gar nichts«, sagte meine Mutter und schüttelte den Kopf. »Wer sind diese Leute?« Ich sah sie an. Ihre Reaktion war völlig unverdächtig. Ich wartete darauf, dass sich nun ein Gefühl der Erleichterung einstellen würde, und kam mir ein bisschen albern vor, ihnen die Sachen überhaupt gezeigt zu haben. Es war genauso, wie ich es erhofft hatte. Trotzdem spürte ich eine unerklärliche Wut in mir aufsteigen. »Ich weiß nicht, wer das ist.« Meine Stimme zitterte leicht. »Es kam gestern mit der Post.« »Na und?« 52
»Schaut doch mal richtig hin«, sagte ich und klopfte mit dem Finger auf das Foto. »Die Frau sieht genauso aus wie ich.« Mein Vater beugte sich demonstrativ über das Bild. »Na ja, da existiert tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit. Na und?« Ich bemerkte, dass meine Mutter nur einmal kurz und kein zweites Mal auf das Foto geschaut hatte. Stattdessen lehnte sie sich zurück und fixierte mich. Ihr Blick war unergründlich. »Dieser Mensch hält mich für seine Tochter.« »Woher willst du wissen, dass er ein Mann ist?«, fragte meine Mutter beiläufig. »Nur so«, sagte ich leise. »Die Handschrift sieht männlich aus. Ich weiß auch nicht.« Jetzt tat mein Vater etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte. Er lachte, ein tiefes, herzliches Lachen. »Spätzchen«, sagte er schließlich, »das ist doch lächerlich.« »Also wirklich, Ridley«, meinte meine Mutter, »das ist nicht witzig.« Ich blickte sie an und richtete mich gerade auf. »Ich versuche nicht, einen Witz zu machen. Ich habe das gestern in meinem Briefkasten gefunden, und … es beschäftigt mich. Ich habe Fragen.« »Schön. Was für Fragen?«, sagte mein Vater. Er lachte nicht mehr. »Du kannst doch nicht wirklich auch nur einen Moment lang angezweifelt haben, unsere Tochter zu sein? Da macht sich jemand auf deine Kosten einen Spaß, Ridley.« »So dumm kannst du nicht sein, oder?«, fragte meine Mutter kopfschüttelnd. »Ich meine, dein Gesicht ist in der letzten Woche x-mal im Fernsehen und in den Zeitungen aufgetaucht. Irgendein Spinner findet, du siehst jemandem ähnlich, den er kennt oder kannte. Und entweder ist er verrückt und hält dich für seine Tochter … oder er will dir was. Das ist doch albern.« Ich schwieg. Zweifel stiegen in mir hoch. 53
»Warum gibt es keine Fotos von mir, auf denen ich jünger als zwei Jahre alt bin?«, fragte ich. Ohne es zu wollen, hatte ich wie ein Kind geklungen. »Herrgott noch mal«, stöhnte meine Mutter. »Jetzt hörst du dich an wie Ace.« Ich konnte es nicht leiden, wenn meine Eltern mich mit Ace verglichen. Mit dem Kind, das sie so verletzt und enttäuscht hatte. Mit dem, der das Straßenleben als Junkie ihrem Haus und ihrer Liebe vorzog. Der ihnen im Lauf der Jahre so wehgetan hatte. Ich zuckte zusammen, schwieg jedoch, starrte sie nur an, bis sie schließlich antwortete. »Ich hab dir doch erzählt, dass wir die Fotos in dem alten Spind im Keller aufbewahrt haben. Die Bilder gingen kaputt, als der Keller voll Wasser lief. Die Bilder von dir im Krankenhaus, wie wir mit dir nach Hause kamen, Bilder aus deinen ersten Jahren.« Sie hatte es mir tatsächlich erzählt. Ich hatte es vergessen und wurde immer unsicherer. Dennoch ließ ich nicht locker. »Und vermutlich lagen sämtliche Fotos aus der Zeit deiner Schwangerschaften in derselben Kiste?« »Nein«, erwiderte sie langsam. Sie dehnte die Silbe, so als spräche sie mit einem Kleinkind. »Ich hatte während beider Schwangerschaften so viel zugenommen, dass ich mich nicht vor die Kamera traute. Das klingt albern, ich weiß, aber damals war ich noch sehr jung.« Meine Mutter war eine wunderschöne Frau, mit einem cremigen Teint und mandelförmigen Augen. Ihren breiten Mund konnte sie zu einem bezaubernden Lächeln verziehen, das alle Sterne überstrahlte. Wurde sie wütend, erstarrte ihre Schönheit zu Granit. Sie hatte immer zu diesen Müttern gehört, die ohne Worte strafen können. Ein einziger Blick von ihr genügte, um einen einzuschüchtern. Genau diesen Blick hatte sie jetzt auf
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mich gerichtet, und ich brauchte einigen Mut, um nicht klein beizugeben. »Ich sehe euch überhaupt nicht ähnlich.« Meine Mutter schaute zur Seite und schnaufte empört. Sie stand auf und stellte sich an den Herd. Mein Vater beobachtete meine Mutter besorgt. Er hatte ihren Launen stets nachgegeben. In mir erwachte der alte Ärger darüber, aber ich schwieg. Er sah wieder zu mir. »Das stimmt einfach nicht«, sagte er. »Du siehst meiner Mutter sehr ähnlich. Das haben wir doch immer schon gesagt, hast du das vergessen?« Ich erinnerte mich, jetzt, wo er es sagte. Da war tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden, um die Augenpartie. Und so wie meine Großmutter hatte ich dunkles Haar und hohe Wangenknochen. Einen Moment lang befürchtete ich, dass ich unter einer Form der posttraumatischen Belastung litt. In Fernsehsendungen wie Dateline kommen ständig solche Fälle vor. Leute, die man ein paar Tage als Liebling der Massen feiert und anschließend in Vergessenheit geraten. Manche von ihnen kommen damit nicht zurecht, sie werden depressiv. Vielleicht passierte mir gerade dasselbe. Vielleicht veranstaltete ich diesen Zirkus, weil ich nach der Aufmerksamkeit gierte, die mir kurzzeitig zuteil geworden war. »Aber was war denn mit Ace?«, hakte ich nach. »Wie hat er das damals gemeint?« »Wie soll ich dir erklären, was Ace meint?«, antwortete mein Vater traurig. Ich bemerkte, wie sehr ihn die Erwähnung meines Bruders traf. Plötzlich schien die Luft aufgeladen mit der Trauer um einen Sohn, der lebte, für seine Eltern aber lieber tot sein wollte. »Ich kenne ihn nicht einmal mehr.« Wir schwiegen eine Weile. Meine Mutter stand mit verschränkten Armen und gesenktem Kopf am Herd, mein Vater saß mir gegenüber am Tisch und blickte mich zugleich 55
vorwurfsvoll und flehend an. Ich lehnte mich zurück und versuchte herauszufinden, warum ich ihnen den Brief gezeigt hatte, warum ich so hartnäckig nachfragte, warum mein Herz so hämmerte und mein Hals immer trockener wurde. Mein Vater schob mir das Bild zu. Ich nahm es hoch, starrte darauf. Es hatte seine Macht verloren; da war nur ein Paar mit seinem Kind. Fremde. »Es tut mir leid«, sagte ich und steckte das Bild wieder ein. Schamesröte stieg mir ins Gesicht, und meine Augen füllten sich mit Tränen. »Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe.« Mein Vater beugte sich vor und berührte meinen Arm. »Du stehst unter großem Druck, Ridley, nach allem, was in der letzten Woche passiert ist. Irgendjemand hat das ausgenutzt. Ich finde, du solltest zur Polizei gehen.« Ich rollte mit den Augen. »Und was soll ich denen, bitte schön, erzählen? Dass ich Angst vor einem Brief habe?« Er zuckte die Achseln und betrachtete mich mit einem Mitgefühl, das ich meiner Ansicht nach nicht verdient hatte. Meine Mutter kam mit den Teebechern an den Tisch zurück. Sie setzte sich und sah mich an. Kurz blitzte etwas in ihrer Miene auf, das ich noch nie an ihr gesehen hatte, dann verschwand es wieder. Ich hielt es für Abscheu; Abscheu vor meinem mangelnden Vertrauen und vor meiner Absicht, ihnen wehzutun. »Es tut mir leid, Mom.« »Ist schon in Ordnung, Liebes. Ich kann verstehen, dass du im Moment sehr durcheinander bist. Besonders bei all dem Stress.« Aus dem Klang ihrer Stimme hörte ich, dass sie überhaupt nicht verstand und nichts in Ordnung war. Später, auf der Zugfahrt nach Hause, zogen die Vororte an mir vorbei. Ich hatte die Beine hochgelegt und meinen Kopf an die Fensterscheibe gelehnt. Meine Eltern und ich hatten noch schweigend Schokoladeneis zum Nachtisch gegessen. Und 56
nachdem ich meiner Mutter beim Aufräumen der Küche geholfen hatte, war ich gegangen. Meine Mutter hatte mir die kalte Schulter gezeigt und mich zum Abschied nur flüchtig umarmt. So war sie eben. Sie verlangte absolute Loyalität, sonst wurde sie eiskalt, bis man Reue zeigte. Zwischen uns hatte sich vor vielen Jahren eine Kommunikation auf Metaebene eingeschlichen, die ich zutiefst verinnerlicht hatte. Sie akzeptierte den Verlust eines ihrer Kinder, weil sie ihm und seiner Sucht die Schuld geben konnte. Der Verlust des zweiten Kindes jedoch – und jede Abweichung meinerseits war in ihren Augen eine Art Verlust – hätte sie dazu gezwungen, über sich selbst nachzudenken. Und das wollte sie auf keinen Fall. Als Kind fürchtete ich ihren Zorn und ihre Erwartungshaltung. Als Erwachsene konnte ich damit leben, auch wenn ich diese Eigenschaften an ihr nicht mochte. Doch nach diesem Abend fühlte ich mich schlecht und fragte mich, warum ich mich von einem anonymen Brief und einer fremden Fotografie dermaßen hatte verunsichern lassen. Während draußen die Vororte der oberen Mittelschicht unmerklich in die urbanen Ruinen von Newark übergingen, dachte ich über meinen Bruder nach. Ich verachtete ihn. Ich verachtete ihn so, wie ein Kind einen gefallenen Helden verachtet. Ich verachtete ihn für sein schier unerschöpfliches Potenzial und seine Unfähigkeit, etwas daraus zu machen. Ich verachtete ihn, weil so vieles an ihm wundervoll war, weil er brillant und gut aussehend war – und trotzdem allem, was er hätte sein können, den Rücken gekehrt, es weggeworfen hatte wie einen teuren Designeranzug, den er nicht ein einziges Mal getragen hat. Und aus denselben Gründen liebte ich ihn, bemitleidete ihn, machte mir Sorgen um ihn, betete ihn an und verabscheute ihn. Ich erinnerte mich, wie es war, von ihm gekniffen und gejagt zu werden, geärgert, umarmt und getröstet. Was meinen Bruder anging, so klaffte in meinem Herzen eine
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tiefe Wunde. Wenn ich an ihn dachte, brach ein Sturm der Gefühle aus. Bei all dem Kummer, den Ace meinen Eltern gemacht hatte – mit seinem Drogenkonsum, den kleineren Delikten, einer Verhaftung wegen Trunkenheit am Steuer und schließlich seinem Auszug im Alter von achtzehn Jahren –, stand ich im Vergleich zu ihm wie ein Engel da. Bei mir gab’s die üblichen Scherereien; ich log, betrank mich ein paarmal, fuhr einmal Auto ohne richtigen Führerschein, wurde mit Zigaretten erwischt. Aber ansonsten kam ich mit guten Noten nach Hause, schrieb für die Schülerzeitung, deren Mitherausgeberin ich war, suchte mir nette Freunde, mit denen meine Eltern einverstanden waren. Keine größeren Dramen. Ich hatte das Gefühl, es ihnen schuldig zu sein. Vielleicht hegte ich insgeheim auch die Befürchtung, sie könnten nicht noch mehr Kummer ertragen. Deswegen passte ich auf mich auf, tanzte nicht aus der Reihe und machte keinen Ärger. Nachdem Ace ausgezogen war, sprachen wir nicht mehr über ihn. Nie mehr. Ich konnte seinen Namen nicht erwähnen, ohne dass meine Mutter in Tränen ausbrach und aus dem Zimmer rannte. Wir taten so, als hätte er nie bei uns gelebt. Durch dieses Schweigen wurde er in meinem Kopf zu einer mythischen Figur. Ein schöner Rebell, der für das normale Leben, das wir führten, viel zu intelligent und sensibel war. In meiner Vorstellung war er ein Musiker oder ein Dichter, der in Cafés herumsaß und das Schicksal des verkannten Genies mit stoischer Gelassenheit ertrug. Insgeheim hegte ein Teil von mir einen Groll gegen meine Eltern, weil sie ihn vertrieben hatten. Nach dem schrecklichen Abend, an dem er verschwand, begegnete ich ihm erst wieder, als ich zum Studium nach New York gezogen war. Ich wohnte in dem Studentenwohnheim an der Kreuzung Third Avenue und 11. Straße. Ich weiß nicht, wie er mich ausfindig gemacht hatte, aber als ich eines Morgens auf dem Weg zur Vorlesung das Haus verließ, stand er an der 58
Straßenecke. Seine Haut war blass und voller offener, roter Stellen. Selbst aus einigen Metern Entfernung konnte ich den Gestank seines ungewaschenen Körpers riechen. Sein Gesicht war ausgemergelt. Er hatte sich sein langes dunkles Haar, das ich so mochte, abrasiert, und sein Kopf war von schwarzen Stoppeln und kleinen Narben übersät. Seine blauen Augen – es waren die Augen meiner Mutter – strahlten gierig. »Hey, Kleine«, sagte er. Ich muss ziemlich lange mit offenem Mund vor ihm gestanden haben, denn er wand sich unter meinem Blick und fragte: »Sehe ich so schlecht aus?« Ich brachte ein »Nein …« heraus. Ich fühlte mich seltsam, wie zerrissen zwischen dem Verlangen, vor diesem Fremden, den es eigentlich gar nicht mehr geben durfte, wegzulaufen, und dem Wunsch, meinen Bruder zu umarmen, meinen Helden, den ich verloren und um den ich so getrauert hatte. »Wie geht es dir?«, stammelte ich unbeholfen. »Äh … gut«, sagte er und fuhr sich unsicher mit der Hand über den Kopf. Dabei bemerkte ich die Einstichstellen an seinem Handgelenk. Ich machte einen Schritt zurück. Erinnern Sie sich an den Batman-Film, wo alle denken, Batman wäre zum Verbrecher geworden, hätte sich nach all den Jahren, in denen er Gotham City vor dem Penguin und dem Riddler beschützt hat, auf die dunkle Seite geschlagen? So ging es mir an jenem Tag mit Ace. Ich war ungläubig; ich war schockiert. Aber vor allem fühlte ich eine tiefe Trauer darüber, dass der Held meiner Kindheit von bösen Mächten gestürzt worden war. »Hör mal«, sagte er, »hast du Geld? Ich hab diese Woche die Grippe gehabt und konnte nicht zur Arbeit gehen. Ich brauche ein Frühstück.« Ich gab ihm alles, was ich im Portemonnaie hatte. Fünfundzwanzig Dollar, glaube ich. So ungefähr lief es seitdem zwischen Ace und mir. Meine Eltern erfuhren nie davon, aber 59
seit dem Tag traf ich mich fast jeden Monat mit ihm. Normalerweise verabredeten wir uns bei Veselka auf der Second Avenue. Er nahm immer einen Knish, ich bestellte regelmäßig die Kartoffelpfannkuchen. Wir saßen in einer Ecke der stark frequentierten East-Village-Institution, und niemand beachtete den Junkie und die hippe (na ja, bin ich nun mal) Studentin (später: Yuppiebraut), die sich gegenübersaßen. Er versicherte mir jedes Mal, demnächst mit dem Entzug anzufangen. Ich gab ihm Geld, auch wenn ich wusste, dass es falsch war. Aber was sollte ich tun? Ich war die klassische Co-Abhängige. Es war wie verflucht, doch ich liebte ihn, und es war die einzige Art von Zuneigung, die er zuließ. Außerdem mochte ich mir nicht vorstellen, was er sonst getan hätte, um an das Geld zu kommen. Manchmal tauchte er monatelang ab, ohne sich auch nur ein einziges Mal bei mir zu melden. Meist wusste ich nicht, wo er zu erreichen war. Eine Zeit lang war er oben in Spanish Harlem – oder zumindest behauptete er das; manchmal auch irgendwo an der Lower East Side. Wenn ich nichts von ihm hörte, wurde ich krank vor Angst. Einmal gab ich eine Anzeige in der Village Voice auf, obwohl mir nicht einmal klar war, ob er die überhaupt las. Ein Akt der Verzweiflung, bei dem nichts herauskam. Doch irgendwann ging ihm das Geld aus, oder er fühlte sich einsam, und dann rief er mich wieder an. Ich fragte ihn nie, wo er gewesen war, was er getan oder warum er sich nicht gerührt hatte. Ich fragte nicht, weil ich befürchtete, ihn wieder zu verlieren. »Wann begreifst du es endlich?«, hatte Zachary immer gefragt. »Er benutzt dich. Er liebt dich nicht. Leute wie er wissen gar nicht, was Liebe ist.« Es gibt eine Art von Liebe, die Zachary scheinbar nicht kennt. Wenn man jemanden liebt, ist es egal, ob man wiedergeliebt wird oder nicht. Die Liebe zu einem anderen Menschen im Herzen zu tragen, ist Belohnung genug. Oder Strafe genug, je nachdem. 60
Mit kreischenden Bremsen hielt der Zug in Hoboken, und zusammen mit den vielen anderen Menschen, die auf dem Weg in die Stadt waren, stieg ich aus. Ich drängte mich in den PATHZug, der eine Ewigkeit bis Manhattan brauchte. Von der Christopher Street lief ich zu Fuß nach Hause. Nach dem langen Spaziergang in der kalten Luft ging es mir besser. Das Gespräch mit meinen Eltern schien plötzlich weit weg. Ich vergaß, dass sich das Foto immer noch in meiner Tasche befand und die Zweifel noch nicht ausgeräumt waren. Als ich beim Haus ankam, fühlte ich mich fast schon wieder normal. Ich lief an meinem Briefkasten vorbei, ohne einen Blick hineinzuwerfen. Keine Post mehr heute Abend. Ich stieg die Treppe hoch, hielt aber vor meiner Tür abrupt inne. Vor mir standen eine Flasche Merlot und zwei Weingläser. In einem der Gläser steckte ein zusammengefalteter Zettel: Nimmst du meine förmliche Entschuldigung an? Jake, Apartment 4E.
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SECHS
I
ch ging zu Jakes Wohnung hinauf. Auf der letzten Treppenstufe zögerte ich. Die Leuchtröhre summte und flackerte und tauchte den Flur in ein unheimliches Licht. Ich betrachtete die Weinflasche und die Gläser, die ich in der Hand hielt, und dachte: Wer ist dieser Typ eigentlich? Was mache ich hier? Aber noch bevor ich mir die Frage beantworten konnte, öffnete sich die Tür, und Jake stand in einem schwarzen T-Shirt und ausgewaschenen Levi’s vor mir. Er streckte den Arm aus, nahm mir Gläser und Weinflasche ab und lächelte. Ein schüchternes, verführerisches Lächeln. »Ich war mir nicht sicher, ob du kommen würdest.« Ich werde Ihnen etwas über mich verraten. Wie die meisten jungen Frauen lasse ich mir von einem gut aussehenden Mann schnell den Kopf verdrehen; aber einfach nur sexy macht bei mir keinen Eindruck. Intelligenz beeindruckt mich, und Charakterstärke. Aber mehr als alles andere beeindruckt mich Güte. Ich glaube, Güte kann man nur erwerben, wenn man aus seinen Fehlern lernt, wenn man hingefallen und wieder aufgestanden ist. Sie erwächst aus Versagen und Verlust. Sie setzt ein tiefes Verständnis für das Menschliche voraus, sie vergibt Schwächen und Fehler. Es erfüllt mich mit Bewunderung, Güte in einem anderen zu erkennen. Und bei ihm erkannte ich Güte. Ich sah in seine dunkelbraunen, fast schwarzen Augen unter den schweren Lidern und den langen Wimpern und verspürte den Wunsch, ihm all meine Sünden und Geheimnisse anzuvertrauen, in seinen Armen Buße zu tun. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte ich und deutete auf den Zettel, der immer noch im Weinglas steckte. »Ich hätte mich auch geärgert.«
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Er trat zur Seite und hielt mir die Tür auf. Als ich hineingegangen war, schloss er sie leise hinter mir. Ich drehte mich um und sah ihn an, dabei muss ich ein erschrecktes Gesicht gemacht haben. »Soll ich sie lieber offen lassen?«, fragte er besorgt. »Nein«, antwortete ich lachend. »Ich mache eben den Wein auf«, sagte er und verschwand in der Küche. Während meine Wohnung nach hinten rausging, konnte man von seiner auf die First Avenue blicken. Der Straßenlärm drang fast ungedämpft durch die dünnen Scheiben, und das Fensterbrett fühlte sich wegen der Zugluft eiskalt an. Obwohl er die Heizung aufgedreht hatte, war es unangenehm kühl. Sein Apartment hatte den gleichen, hell lasierten Holzfußboden wie meins, aber da endeten die Gemeinsamkeiten schon. Wenn es um meine Wohnung ging, bemühte ich mich um Luxus und Behaglichkeit. Baumwollbettwäsche für vierhundert Dollar, Daunenkissen und Daunendecken, kuschelige Läufer, warme Decken. Ich hatte eine Vorliebe für leuchtende Farben, frische Blumensträuße und Duftkerzen. Ich meine dabei nicht Kitsch; es ging mir eher darum, alle Sinne anzusprechen. Jakes Wohnung sah aus wie eine Gefängniszelle, wenn auch auf eine urban-industrielle, coole Art. An einer Wand hing eine riesige Blechskulptur aus übereinandergeschobenen, ausgezackten geometrischen Formen. Um einen Chromtisch mit Glasplatte standen sechs kunstvoll geschmiedete Eisenstühle. Ein Futon und ein paar Eames-Stühle aus Holz bildeten die wenig einladende Sitzecke. In der Ecke stand ein Laptop auf einem schwarzen Extratisch. Keine Fotos, kein einziger persönlicher Gegenstand. Ich schaute zu der Tür, hinter der ich das Schlafzimmer vermutete. Bestimmt stand da ein Nagelbrett unter einer Verhörlampe. »Ich weiß, es wirkt ein bisschen spartanisch«, begann er, als er mit dem Wein aus der Küche kam. 63
»Nur ein bisschen«, antwortete ich. »Ich brauche nicht besonders viel«, erklärte er. Er reichte mir ein Glas. Als wir anstießen, hörte ich den Klang von Kristall. »Auf einen zweiten Versuch«, sagte er. Wir blickten uns einen Moment lang in die Augen, und da war sie wieder, diese elektrische Spannung. Sie trieb mir die Röte ins Gesicht. Wir schwiegen eine Weile, was ich aber gar nicht als unangenehm empfand. Das Zimmer war nur schwach beleuchtet; ein paar Stumpenkerzen brannten, und die Deckenlampe war bis auf ein sanftes Glimmen heruntergedimmt. »Von wo bist du hergezogen?« »Uptown«, antwortete er. »Ich hatte da eine billige Wohnung in der Nähe der Columbia-Universität. Aber das Viertel ist ziemlich runtergekommen. Zum Schluss hatte ich das Gefühl, in einem Kriegsgebiet zu wohnen. Wegen der ständigen Schießereien habe ich in manchen Nächten kein Auge zugetan.« »Und deswegen bist du ins sichere East Village gezogen?« »Ich mag es lebendig. Mit piekfeinen Stadtvierteln kann ich nichts anfangen«, sagte er und lächelte wieder so umwerfend, dass mein Herz Rumba tanzte. »Was machst du so?«, fragte ich, obwohl ich diesen Satz sonst hasse. »Möchtest du dich setzen?«, fragte er und führte mich am Arm zu seinem Futon. Er nahm neben mir Platz, in höflichem Abstand, aber immer noch nah. Ich konnte sein Rasierwasser riechen. Bewegte ich meine Hand ein paar Zentimeter zur Seite, könnte ich seinen Oberschenkel berühren. »War das ein Ablenkungsmanöver?«, fragte ich. Er lachte. Es klang angenehm, tief und voll.
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»Vielleicht. Es ist bloß so, dass sich, wenn ich den Leuten davon erzähle, die Unterhaltung nur noch darum zu drehen scheint. Dabei ist es längst nicht so cool, wie es sich anhört.« »Was bist du denn … Varietékünstler?« »Nein, Bildhauer«, erwiderte er und zeigte auf das Ding an der Wand. Ich trank einen Schluck von meinem Wein. »Das ist cool«, sagte ich und betrachtete das Objekt plötzlich mit anderen Augen. Harte Linien, die dennoch flüssig wirkten – ein stählerner Wasserfall. Es wirkte auf seltsame Weise kraftvoll und irgendwie abweisend. Das ist eine typische Eigenschaft von Metall, nicht? Schön auszusehen und sich gleichzeitig kalt anzufühlen. »Kannst du davon leben?« »Davon, und von den Möbeln«, sagte er und nickte in Richtung des Tisches. »Und hier und da mache ich auch andere Sachen. Es ist nicht so einfach, von der Kunst zu leben.« Ich nickte. Das verstand ich. Kennen Sie das Gefühl, wenn man einem Fremden begegnet und meint, ihn schon ewig zu kennen? So als wäre einem seine Art so vertraut wie das Summen des eigenen Kühlschranks? Dieses Gefühl hatte ich bei Jake nicht. Alles an ihm war neu und aufregend. Er war mir kein bisschen vertraut, er war ein Fremder, der mich faszinierte und beschäftigte wie ein kniffliges Rätsel. Mit Zack war mir alles wie die Wiederholung einer vertrauten Handlung erschienen – ich konnte jedes Mal genau vorhersagen, was zwischen uns geschehen würde (und das meiste davon war wirklich angenehm). Aber ich wollte kein Leben führen, das mir vorkam wie ein gelöstes Rätsel. Manche Leute finden diese Art von Vorhersehbarkeit beruhigend. Ich nicht. Das Gespräch floss leicht dahin. Wir unterhielten uns über meine Arbeit, auch kurz über Zack, der übliche Kennen65
lernkram. Du verrätst mir dies, ich verrate dir das. Rückblickend betrachtet, habe ich den Eindruck, als hätte ich sehr viel mehr von mir erzählt als er von sich. Er schenkte mir immer wieder Wein nach, und mir wurde wärmer. Ich entspannte mich zusehends. Irgendwie waren wir aufeinander zugerückt. Er hatte seinen Arm über die Sofalehne gelegt. Ein Stückchen tiefer, und er wäre auf meiner Schulter gelandet. Ich spürte die Wärme seiner Haut und sah jeden einzelnen Bartstoppel an seinem Kinn. Hatte ich gesagt, sexy würde mich nicht beeindrucken? Na ja, ein bisschen vielleicht doch. »Und du hast also eine aufregende Woche hinter dir?«, fragte er und goss mir Wein ein. »Sind wir immer noch bei der ersten Flasche?«, fragte ich. Er war ein paarmal aufgestanden, um mein Glas zu füllen. Ich hatte nicht darauf geachtet, wie viel ich trank. »Nein«, sagte er. »Schon lange nicht mehr.« Ich bemerkte, dass seine Haut sich gerötet hatte. Ich mochte seine auf einmal so gelöste Art. Daran erst erkannte ich, wie nervös ich anfangs gewesen war. Das gefiel mir. Es sprach für ihn. Es bedeutete, dass er nicht arrogant war. »Du hast davon gehört?« »Wer nicht? Es stand in allen Zeitungen.« »Ja …«, sagte ich. Das Thema holte mich abrupt in die Realität zurück. Das Foto fiel mir wieder ein, und meine Eltern. Mein Gesicht muss ein offenes Buch gewesen sein. Ich bin nicht besonders gut darin, meine Gefühle zu verbergen. »Hey«, sagte er und berührte meine Schulter. »Hab ich was Falsches gesagt?« Er beugte sich vor und machte ein besorgtes Gesicht. Ich schaute zur Seite, denn irgendwie weckte sein Mitgefühl in mir den Wunsch zu weinen.
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»Ridley, es tut mir leid«, sagte er und stellte sein Weinglas ab. »Wir müssen nicht drüber reden.« Aber es war zu spät. Er hatte die Schleusen geöffnet, und die ganze Geschichte sprudelte nur so aus mir heraus – von jenem Montagmorgen, an dem ich das Haus verließ, bis zum Besuch bei meinen Eltern an diesem Abend. Ich hatte nur meinen Eltern von dem Foto erzählt. Er war aufmerksam, hörte genau zu, war ganz und gar auf mich konzentriert. »Wow«, sagte er schließlich. »Jetzt bereust du sicher, danach gefragt zu haben«, meinte ich und lachte leise. »Nein«, sagte er. »Überhaupt nicht.« Er berührte vorsichtig mein Haar, strich es mir aus dem Gesicht. Eine sanfte, intime Geste. Er sah mich immer noch an. »Du glaubst deinen Eltern also? Du wirst es dabei belassen?« »Was soll ich sonst glauben?«, gab ich zurück, selbst nicht ganz überzeugt. »Das alles ist lächerlich. Ich weiß, wer ich bin.« Er nickte und schaute mir in die Augen. Er hatte etwas in mir erkannt, das mir undeutlich bewusst war, das ich jedoch zu ignorieren versuchte. »Ja«, sagte er nach einer Weile. »Aber bist du nicht doch ein bisschen neugierig, da anzurufen?« Es ist schon seltsam, jemandem zu begegnen, der so ganz anders ist als man selbst und es trotzdem schafft, einen auf etwas Verdrängtes aufmerksam zu machen. Die Neugierde brannte wie eine Flamme in mir; unter den Beschwichtigungen meiner Eltern hatte sie geflackert, aber sie brannte noch. Jake hatte Öl darauf gegossen. »Nein, ich glaube nicht«, erklärte ich und stand auf. »Es tut mir leid«, sagte er, »ich wollte dich nicht erschrecken.« Ich lächelte. »So leicht bin ich nicht zu erschrecken.« 67
Er nickte zögernd. Glücklicherweise versuchte er nicht, mich zum Bleiben zu bewegen. Es wäre zu einfach gewesen. Ich sehnte mich mit jeder Faser meines Körpers danach, ihn zu küssen, seine Muskeln zu spüren. Ich wollte den Rest seines Tattoos sehen, das sich aus seinem Kragen schlängelte und unter dem Ärmel seines Shirts herauskroch. Aber ich empfand etwas für Jake, und dieses Gefühl war zu stark, um in dieser Nacht mit ihm zu schlafen oder ihn auch nur zu küssen. Ich wollte mehr. Und ich wollte mir Zeit dafür lassen. Der ganze Stress, der Wein, Jake – ich war völlig erschöpft, als ich ins Bett fiel. Ich schlief sofort ein und träumte von Ace. Ich verfolgte ihn durch eine dunkle Stadtlandschaft, Schatten huschten über meinen Weg. Ich wollte durch Eingänge gehen, die sich plötzlich verformten und verschwanden. Dann war ich nicht mehr hinter Ace her, sondern wurde selbst von einer dunklen Gestalt gejagt. Ich kam zu einem Haus, das dem meiner Eltern glich, aber als ich es betrat, merkte ich, dass ich in meiner Eingangshalle stand. Ich drehte mich um und sah, wie die dunkle Gestalt an der vergitterten Tür rüttelte. Ich konnte kein Gesicht erkennen. Ich wachte auf, lag erschreckt im Dunkeln. Mein Atem ging schnell, während ich versuchte, mich zu orientieren und die Angst aus meinem Traum abzuschütteln. Ich spürte die Gegenwart von etwas Bösem in meinem Apartment. Ich saß einen Moment lang wie gelähmt im Bett und horchte auf den Eindringling, der, davon war ich überzeugt, jeden Moment aus dem Schatten treten würde. Aber mit den Traumbildern verschwand auch die Furcht. Ich stand auf und durchwühlte meine Hosentaschen, bis ich den Zettel und das Foto gefunden hatte. Ich zerknüllte sie und warf sie in den Mülleimer, zog eine Trainingshose und Turnschuhe an, nahm den Müllbeutel und ging hinaus auf den Flur. Es war schon nach drei, und das ganze Haus lag, abgesehen von einem Fernseher irgendwo in der Ferne, vollkommen still da. 68
Ich schlich die Treppe hinunter und betrat den Gang zur Hintertür. Ich schob den schweren Riegel der Metalltür zurück und knipste das Licht an. Das Geräusch hatte die Ratten aufgeschreckt, die davonstoben. Als ich den Beutel in den nächsten Container warf, schlug mir ekelhafter Müllgestank entgegen. Ich wusste, Zelda würde kommen und die Container noch vor Sonnenaufgang auf die Straße rollen. Der Müll würde abgeholt, noch bevor ich aufgestanden war, und der Zettel und das Foto würden verschwinden. Es wäre so, als hätten sie nie existiert. Was war mit der Flamme der Neugier, von der ich gesprochen hatte? Sie war nicht erloschen, aber ich war nicht bereit, mir die Konsequenzen der möglichen Antworten vorzustellen. Ich hatte mich für das Nichtwissen entschieden, auch wenn das nicht besonders heldenhaft war. Erleichtert stieg ich die Treppe hinauf. Auf halbem Weg bemerkte ich plötzlich einen Schatten auf dem Treppenabsatz über mir. Außerhalb meines Blickwinkels stand jemand. Ich blieb abrupt stehen, mein Herz begann zu rasen. »Ist da jemand?«, rief ich. Ich kannte alle im Haus und hatte mich dort noch nie unsicher gefühlt. Jeder meiner Nachbarn, der einen guten Grund hatte, sich um diese Zeit im Treppenhaus aufzuhalten, hätte mir geantwortet. Ich hörte ein Scharren, jemand drückte sich an die Wand. Ich drehte mich um. Das Licht auf der Etage unter mir begann zu flackern und ging dann aus. Mein eigener Atem klang laut in meinen Ohren, das Adrenalin schoss mir durch die Adern, mein Körper wurde starr vor Angst. Ich wusste nicht, ob ich vor- oder zurückgehen sollte. »Wer ist da?«, fragte ich, lauter. Auf der Suche nach einem Gegenstand, mit dem ich mich hätte verteidigen können, sah ich mich um, aber da war nichts. Dann hörte ich das Geräusch rennender Füße. Ich drückte mich fest an die Wand, so als könnte ich in sie hineinkriechen. Ich wollte schreien, als ich plötzlich merkte, dass die Schritte sich 69
entfernten. Ich duckte mich, spähte durchs Treppengeländer nach oben und erkannte die Umrisse eines Mannes. Er war groß. Ich sah seinen Handschuh am Geländer hochwandern. Er nahm den letzten Treppenabsatz mit wenigen Sprüngen und verschwand durch die Feuertür, die aufs Dach führte. Ich machte mich auf das Schrillen der Alarmglocke gefasst, aber nichts passierte. Erleichtert sank ich auf die Treppe. Ich fragte mich, wie er vom Dach herunterkommen würde. Da vernahm ich das Quietschen der Feuerleiter vorne am Haus. Ich überlegte, ob das außer mir noch jemand gehört hätte, aber nach ein paar Minuten war es im Haus wieder so still, als wäre nichts geschehen. Ich schlich vorsichtig in meine Wohnung und schloss die Tür. Sekunden später hörte ich, wie eine weitere Tür ins Schloss fiel und verriegelt wurde. Ich konnte nicht sagen, ob das Geräusch von unten oder oben gekommen war.
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SIEBEN
D
en Rest der Nacht schlief ich kaum noch. Ich überprüfte die Fenster, schloss die Tür zweimal ab, saß eigentlich nur noch mit weit aufgerissenen Augen im Bett und schreckte beim kleinsten Geräusch zusammen, bis der pechschwarze Himmel langsam heller wurde. In jeder anderen Nacht hätte ich Zack oder meinen Vater angerufen; aber anscheinend waren alle davon überzeugt, ich stünde am Rand eines Nervenzusammenbruchs, und da wollte ich ihnen keinen Beweis für die Richtigkeit ihrer Annahme liefern. Nach einer Weile döste ich ein, wurde aber etwa eine Stunde später von meinem Wecker aus dem Schlaf gerissen. Ich stand auf und machte mir einen Kaffee. Während ich das vertraute Zischen und Gurgeln der Kaffeemaschine hörte und der Duft von Verniero’s in meine Nase stieg, ging es mir wieder besser. Plötzlich erschien mir die letzte Nacht vollkommen surreal, so als hätte ich ab dem Moment, als ich den Zug nach New Jersey bestieg, geträumt. Ich hatte das Foto weggeworfen und damit die ganze Angelegenheit als dummen Scherz abgetan. In meiner sonnigen Küche kam mir die nächtliche Begegnung im Treppenhaus wie eine Einbildung vor. Sie wissen schon – vor lauter Stress habe ich vermutlich halluziniert. Jedenfalls war es vorbei. Ich war es, Ridley, an einem ganz normalen Dienstagmorgen. Verleugnung ist nicht nur ein Begriff aus dem Psychologielexikon. Nein, es handelt sich hier um einen praktischen Trick, mit dem sich unser Verstand vor Überforderung schützt. Ich ging in mein Büro – eigentlich nur eine kleine Ecke für meine Aktenordner und meinen Laptop, die ich mit einem Wandschirm vom Rest der Wohnung abgetrennt hatte. Ich durchwühlte die Zettel auf meinem Schreibtisch und fand die 71
Visitenkarte von Uma Thurmans Pressesprecherin. Ich hatte sie beim Yoga kennen gelernt und war mit ihr auf einen Chai zu Starbucks gegangen. Sie hieß Tama Puma, wirkte immer ein bisschen zerknirscht und roch nach Patschuli. Sie war groß und breitschultrig, hatte einen fahlen Teint und dünnes Haar wie anscheinend alle sich makrobiotisch ernährenden Leute. Sie war extrem dünn und sprach mit sanfter, aber dennoch überheblich klingender Stimme. Wir hatten uns kurz über den Artikel unterhalten, und ich hatte ihr versprochen, sie anzurufen, falls die Redakteurin von Vanity Fair Interesse zeigte. Ich sprach eine Nachricht auf ihren Anrufbeantworter und freute mich darauf, wieder zu arbeiten. Ich hatte die Katastrophe elegant abgewendet. Als ich die Tür öffnete, lag er vor mir auf dem Boden. Allein der Anblick war wie ein Schlag in die Magengrube. Noch ein Umschlag, auf den mein Name mit schwarzem Filzstift in der gleichen unbeholfenen Handschrift geschrieben stand. Ich hob ihn auf und ging in mein Apartment zurück. Als ich den Umschlag aufriss, schien sich alles um mich herum zu drehen. Ich fand einen Zeitungsausschnitt vom 27. Oktober 1972: Junge Mutter ermordet aufgefunden; Kleinkind verschwunden. Der Artikel selbst fehlte, aber da war das Porträt der jungen Frau vom ersten Foto und eins von dem kleinen Mädchen. Obwohl ich nur einen grobkörnigen Zeitungsausschnitt vor mir hatte, war es, als sähe ich mein Spiegelbild. Und mit einem Blick auf das Mädchen entdeckte ich in ihrem Gesicht, was mir beim ersten Foto entgangen war. Unter ihrem linken Auge saß ein kleines braunes Muttermal. Es war identisch mit dem in meinem Gesicht. Dann entdeckte ich den Zettel. Da stand nur: Sie haben gelogen. Ich stürzte aus meinem Apartment und die Treppe hinunter um den Müll abzufangen. Im Flur kam mir Zelda entgegen, die Vermieterin. »War die Müllabfuhr schon da?«, rief ich und rannte zur Vordertür. 72
»Ach«, winkte sie gereizt ab. »Die Müllmänner streiken. Allesamt faule Säcke. Als würden sie nicht schon genug verdienen! Der Müll steht immer noch im Hof. Verdammte Gewerkschaft.« Der Müllbeutel lag im Container obenauf, so dass Foto und Telefonnummer leicht zu finden waren. Ich strich das Polaroid und den Zettel glatt, stieg wieder nach oben und ging kurz in meine Wohnung, um den Ausschnitt zu holen. Dann nahm ich alles mit hinauf zu Jake. Warum tat ich das? Ich kannte ihn kaum, aber wahrscheinlich war genau das der Grund. Er war ein Fremder, der mit den Menschen in meinem Leben in keiner Verbindung stand. Vielleicht dachte ich, er hätte als Einziger einen unverstellten Blick auf die Angelegenheit. »Entschuldige«, sagte ich, als er die Tür öffnete. »Ich brauche deine Hilfe.« Ich drückte ihm meinen Fund in die Hand und schob mich an ihm vorbei in die Wohnung, obwohl er mich nicht hereingebeten hatte. Er sah erst mich an, dann die Zettel in seiner Hand. »Sind das die Sachen, von denen du mir gestern Abend erzählt hast?« »Ja. Und noch etwas anderes. Es lag heute Morgen vor meiner Tür.« Er nickte, sein Gesicht war ruhig und ernst. Er fragte nicht, warum ich damit zu ihm gekommen war oder was ich von ihm wollte. Er setzte sich an den Tisch und fing an, den Zeitungsausschnitt zu überfliegen. Ich sah, wie er beim Lesen die Stirn in Falten legte. »Diese Frau könntest du sein«, sagte er nach einer Weile. »Sie sieht genauso aus wie du.« »Ich weiß«, antwortete ich. »Möglicherweise will dir jemand einen üblen Streich spielen.« »Wozu? Was sollte er davon haben?« 73
»Manchen Leuten macht es Spaß, sich in fremde Leben einzumischen. Irgendein Verrückter sieht dein Bild in der Zeitung, fühlt sich an jemanden erinnert, den er mal kannte, jemanden, der gestorben ist. Und dann nimmt er dich ins Visier.« »Okay. Dann erklär mir das«, sagte ich und zeigte auf den winzigen Leberfleck unter meinem linken Auge. Während ich mich ihm gegenüber an den Tisch setzte, beugte er sich über das Bild des Kindes und entdeckte das Muttermal. Er nickte langsam und sah mich an. »Ich muss schon zugeben, das ist wirklich seltsam.« Es gab da Dinge an ihm, die mir am vorangegangenen Abend gar nicht aufgefallen waren. Um die Augen herum hatte er etwas Trauriges, Fältchen, in die sich allem Anschein nach ein großer Kummer eingegraben hatte. Durch sein weißes T-Shirt konnte ich das Tattoo erkennen. Es lugte unter dem kurzen Ärmel hervor, verlief über die Brust bis hinauf zu seinem Schlüsselbein. An seinem Hals entdeckte ich eine Narbe, knapp drei Zentimeter lang. Sie war dick geschwollen, so als steckte etwas unter der Haut. »Was erwartest du von mir?«, fragte er sanft und setzte sich neben mich. Ich betrachtete seine Hände; sie waren breit und kräftig, mit schwieligen Knöcheln; dunkelblaue Adern durchzogen die Haut. Irgendetwas daran zog mich an und versetzte mir zugleich einen Schrecken. Bei Tageslicht wirkte er härter, kräftiger, größer als am Abend zuvor. »Weißt du was?«, sagte ich und stand auf. »Vergiss es. Du hast Recht. Wir kennen uns nicht einmal. Es tut mir leid.« Er antwortete nicht. Was war ich doch für eine Idiotin. Ich sammelte mein Zeug zusammen. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. »Ich übertreibe maßlos, und außerdem hast du nichts damit zu tun«, erklärte ich. Er stand auf und stellte sich mir in den Weg. 74
»Ich finde nicht, dass du übertreibst«, sagte er. Ich ließ zu, dass er mir die Sachen aus der Hand nahm. Er legte sie außer Reichweite und nahm meine Hand. »Ist schon gut, Ridley. Ich weiß zwar noch nicht, wie – aber wenn du willst, helfe ich dir dabei, die Angelegenheit zu klären.« Und so standen wir da. Einem anderen Menschen die Hand zu reichen wird, was den Austausch von Vertraulichkeiten angeht, sträflich unterschätzt. Man küsst Freunde und Kollegen als unverbindliches »Hallo« oder »auf Wiedersehen«. Manchmal gibt man guten Freunden ein Küsschen auf den Mund. Man umarmt flüchtige Bekannte. Man kann sogar während einer Party jemanden kennen lernen, ihn mit nach Hause nehmen und mit ihm schlafen, ohne ihn jemals wiederzusehen oder von ihm zu hören. Aber sich die Hände zu reichen und still dazustehen, während zwischen zwei Menschen eine Spannung auf Zukünftiges entsteht – das kommt einer Zärtlichkeit gleich, einer Hoffnung auf Zärtlichkeit, die man im Leben nur mit wenigen Menschen teilt. Er zog mich an sich. Ich konnte mich nicht wehren. »Wirklich?« fragte ich, während eine Welle der Erleichterung und Dankbarkeit mich durchströmte. »Wirklich.« »Okay.« Ich spürte seine Hand, die fest und warm in meiner lag. Ich sah jede Facette in seiner Iris und bemerkte seinen fragenden Blick. Ich ahnte, dass dieser fremde Mann vor mir aus unzähligen Schichten bestand. Das machte mir Angst, aber gleichzeitig interessierte und rührte es mich. Als er mich in den Arm nahm und an sich drückte, verschmolzen die Umrisse unserer Körper. Ich legte meine Wange an seinen Hals und fühlte seinen Puls. Ich stand am Rand eines Abgrunds und war froh, einen Verbündeten zu haben, selbst wenn er so schwer einzuschätzen 75
war wie dieser. Ich weiß nicht mehr, wie lange wir so dastanden. Ziemlich lange, glaube ich. Schließlich sagte er: »Dieser Typ will also, dass du ihn anrufst?« »Ja, ich glaube schon«, antwortete ich, machte mich langsam von ihm los und setzte mich an den Tisch. »Kommt dir das nicht merkwürdig vor?« »Warum?« »Na ja, denk mal drüber nach«, sagte er und setzte sich mir gegenüber. »Wie kommst du überhaupt darauf, dass der Absender ein Mann ist?«, fragte ich. Ich war einfach davon ausgegangen und wunderte mich jetzt, dass auch Jake zu diesem Schluss gekommen war. Er überlegte einen Moment. »Zunächst einmal ist die Handschrift männlich. Und in dem Artikel steht, die Frau auf dem Bild sei tot und das Kind werde vermisst.« »Ja, aber warum findest du es merkwürdig, dass er mir einen Brief schickt?« Jake zuckte die Achseln. »Falls der Kerl sich für deinen Vater hält und du die Kleine auf den Fotos bist, dann sucht er dich seit vielen, vielen Jahren. Und es hieße, dass seine Tochter entführt wurde. Wenn deine Tochter, aus welchem Grund auch immer, vermisst würde und du jahrelang nach ihr gesucht hast und plötzlich herausfindest, dass sie gesund und munter ist … Würdest du dann nicht persönlich hingehen oder die Polizei verständigen? Einen Zettel und ein Foto zu schicken erscheint mir doch ein bisschen seltsam.« Ich dachte eine Weile darüber nach. »Vielleicht ist er sich nicht sicher. Oder er hat Angst.« Jake schüttelte den Kopf. »Vielleicht«, sagte er. »Aber vielleicht hat er selbst etwas zu verbergen.« 76
»Zum Beispiel?« »Ich weiß nicht«, erwiderte er und nahm wieder den Zeitungsausschnitt. Offensichtlich kam ihm ein Gedanke, aber er behielt ihn für sich. »Was denn?«, bohrte ich nach, »was meinst du?« »Ich hab da einen Freund«, sagte er und sah mich an. Plötzlich wirkte er unentschlossen und hob die Hände. »Hör mal, ich will dir nicht zu nahe treten.« Wahrscheinlich spielte er auf letzte Nacht an, als ich überstürzt gegangen war und er den Eindruck gewinnen musste, ich hätte Angst vor ihm. »Wenn hier irgendwer irgendwem zu nahe tritt«, entgegnete ich, »dann ich dir, weil ich dich mit dem Zeug belästige.« Er zögerte wieder. Dann sagte er: »Dieser Freund von mir ist Privatdetektiv.« Jetzt starrte er auf seine Füße. »Wir sind zusammen aufgewachsen. Vielleicht kann er dir weiterhelfen.« Wenn Sie sich jetzt fragen, aus welchem Grund dieser Mensch mir weiterhelfen sollte – ich weiß es nicht. Ich wunderte mich nicht, war einfach nur dankbar. Außerdem: Wenn ein Mann sich zu einer Frau hingezogen fühlt, tut er fast alles für sie, richtig? Richtig.
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ACHT
I
ch lief nach Osten in Richtung Fluss. Mir fiel nichts Besseres ein, als loszumarschieren. Lange Spaziergänge sind für mich nichts Außergewöhnliches, und New York City ist der perfekte Ort, sich eine Weile zu verlieren – oder eine Ewigkeit, wenn man will. Man kann hundert Blocks entlangwandern und Tausenden von Menschen begegnen, ohne dass jemand Notiz von einem nimmt, selbst wenn man fünf Minuten zuvor noch auf allen Fernsehkanälen und Titelseiten zu sehen war. Ich war schon dabei zu verschwinden, durch die Risse zu sickern, die sich unvermittelt in der Fassade meines Lebens auftaten. Ich war Dunst und ließ mich durch die 8. Straße bis auf den Tompkins Square treiben, vorbei an den sanierten Mietshäusern, in deren Mauern die Erinnerung an Jahrzehnte der Mühsal und Armut konserviert waren; inzwischen hatte man sie saniert, frisch gestrichen und mit Schaufenstern versehen, in denen schicke East-Village-Boutiquen ihr Angebot präsentierten. In den blanken Scheiben erkannte ich eine Frau, die nicht mehr wusste, wer sie war, die nicht mehr wusste, woher oder von wem sie stammte. Ich blieb stehen, um die Frau zu betrachten. Sie wirkte ganz real, bestand aus Muskeln, Blut und Knochen. Aber wenn man sie berühren wollte, verschwand sie wie ein Hologramm. Meine Probleme hatte ich bei Jake gelassen. Er hatte mir geraten, eine Pause einzulegen, um Abstand und einen klaren Kopf zu bekommen. Also ließ ich die ungeklärte Frage nach meiner Identität an seiner Tür zurück wie einen Packen Altkleider bei der Heilsarmee. Jetzt wollte ich so viel Distanz wie möglich zwischen mich und mein Problem bringen. Während das East Village langsam in Alphabet City überging, wurde ich jedoch bei jedem zufälligen Blick auf mein 78
Spiegelbild daran erinnert, dass ich mir selbst fremd geworden war. Vielleicht finden Sie, dass ich überreagierte? Besaß ich zu jenem Zeitpunkt überhaupt schon genug Informationen? Hatte ich mich nicht noch vierundzwanzig Stunden zuvor für meine Vermutungen geschämt und schuldig gefühlt? Was soll ich sagen? Ein Gedanke hatte sich in mein Bewusstsein gebohrt, und nun er wühlte er darin herum und ließ mir keine Ruhe mehr. Ich kann nicht behaupten, dass ich am Boden zerstört gewesen wäre, aber ich fühlte mich wie eines jener Mietshäuser im East Village: bis auf die nackte Bausubstanz entkernt, mit freiliegenden Kupferrohren und losen Kabeln, die überall herunterhängen. Ich war eine Hülle meiner selbst und wartete auf meine Reinkarnation. Ich fand mich auf der Avenue C wieder. Hier begann das echte Alphabet City; nicht an der Avenue A kurz vor dem Tompkins Square, wo sich moderne Läden und Cafés, unbezahlbare Eigentumswohnungen und schick heruntergekommene Lofts aneinanderreihen in dem Bemühen, trotz des neuen Glanzes noch diese gewisse East-Village-Schäbigkeit auszustrahlen, die allen, als sie noch authentisch war, so wenig begehrenswert erschien. Das Geld hatte es noch nicht bis zur Avenue C geschafft. Es war so, als träte man hinter dem Park in eine tote Zone ein, in ein Viertel, das die Stadt längst aufgegeben hatte. Hier fühlte man sich ausgesetzt wie in einem rechtsfreien Raum. Es gab auch Ausnahmen wie das Nuyorican Poets Café, Blüten der Kreativität, die sich einen Weg durch den Beton gebahnt hatten. Angesichts des immer weiter vordringenden Reichtums, der die alten Bewohner des Viertels bald vertreiben würde, wirkten die verlassenen Gebäude wie angeschlagene Guerillakämpfer. In den Baulücken sammelten sich Müll, kaputte Möbel, ausgeschlachtete Autowracks und brennende Ölfässer, um die sich die von der Stadt Ausgeschlossenen scharten. Obdachlose, Junkies, Ausreißer, diejenigen von uns, die vom 79
Weg abgekommen sind und es längst aufgegeben haben, ihn wiederzufinden. Ich lief weiter, wachsam, aber mit gesenktem Kopf. Das hier war kein Ort, an dem man auffallen sollte. Hier bewegte man sich am besten so, als gehörte man dazu. Und heute gehörte ich tatsächlich dazu. Ich war auf der Suche nach Ace. An der Kreuzung von Avenue D und 5. Straße blieb ich vor einem Haus stehen. Bei unserem letzten Treffen hatte Ace mir seine Adresse gegeben. Das Gebäude war in besserem Zustand als die meisten anderen in der Umgebung. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte man sich beeilt, im East Village für die zurückgekehrten GIs so viel Wohnraum wie möglich zu schaffen. In der Folge wurden Häuser aus dem Boden gestampft, von denen heute viele (wie meins) absackten, Risse bekamen und Teile ihrer Fassade verloren. Dieses Haus machte jedoch einen soliden Eindruck. Breite weiße Treppenstufen führten zu einem von dorischen Säulen flankierten Eingang hinauf. Neben der Tür saß ein massiger Schwarzer und schob Wache. Sein Hocker war unter seiner unglaublichen Körperfülle verschwunden, so dass es aussah, als hinge er in der Luft. Er trug ein Sweatshirt der New York Rangers und eine umgedrehte rote Baseballkappe. Seine modisch ausgewaschenen Jeans waren sauber und schienen gebügelt. Grellbunte Turnschuhe umschlossen seine Knöchel. Sein Fuß klopfte einen stummen Rhythmus. Ich stand am Fuß der Treppe und schaute zu ihm hoch. Er hatte mich schon entdeckt und versuchte, mich einzuschätzen. War ich in Ordnung? Er nickte mir zu, wobei sein Dreifachkinn hin und her wabbelte. Sein stumpfer Blick aus gelben Augen verriet nichts. Es gab eine Zeit, in der ich einen solchen Mann verurteilt hätte. Diesen Wachposten am Tor zur Hölle, der in seinen Taschen oder in einem Versteck irgendwo in der Nähe sein Crack oder Kokain, oder was immer er verkaufte, aufbewahrte. Abscheu wäre in mir hochgekommen wie Galle. Aber das Verhältnis zwischen Dealer und Junkie ist äußerst kompliziert 80
und heikel. Wer war schlimmer – derjenige, der kaufte, oder derjenige, der verkaufte? Und was war mit dem Rest – den nachlässigen Eltern, der misslungenen Sozialisation, dem Rassismus, der Armut, aus der jener Schmerz erwuchs, der die Junkies und ihre Dealer erst hervorbrachte? Ich selbst war als Co-Abhängige Teil der Kette. Hatte ich mich nicht mitschuldig gemacht, indem ich Ace Geld gab? Ich gehörte wirklich hierher. »Was willst du, Kleine?«, fragte der Mann. Es klang nicht unfreundlich. Seine Augen verengten sich, und ein Lächeln, das mehr ein zögerliches Heben der Mundwinkel war, legte sein fleischiges Gesicht in Falten. »Ich suche meinen Bruder. Er heißt Ace.« Selbst für mich klang meine Stimme dumm und naiv. Er kicherte kurz, was seinen gesamten Körper zum Beben brachte. »Wenn er da drin ist, ist er nicht mehr dein Bruder.« Die Wahrheit dieser Worte verblüffte und verletzte mich, und ich wurde rot. Ich stieg die Treppe hinauf, was ihn zu überraschen schien, so als hätte er damit gerechnet, dass ich mich umdrehte und weglief. Ich starrte ihn an, als ich oben ankam, doch er zuckte nur die Schultern. Es war nicht das erste Mal, dass ich mich auf der Suche nach meinem Bruder in so ein Gebäude hineinwagte. Einmal war ich in einem Anfall von Sorge mit der Bahn bis Spanish Harlem gefahren. Oberhalb der 96. Straße scheint es härter zuzugehen. Das ganze Leben findet draußen statt. Die Leute fahren in röhrenden Autos herum, hängen aus den Fenstern, brüllen durch die Gegend. Gefahr liegt wie ein Gewitter in der Luft; die Frage ist nur, wann und wo es sich entlädt und wer es heil überstehen wird. Hier im East Village ist die Gewalt weniger offensichtlich, schwieriger zu entzünden. Trotzdem spürte ich einen Schauder der Angst, als ich in die dunkle Halle trat. Die Luft um mich herum wurde plötzlich schal und war dennoch von Leben erfüllt – es roch nach menschlichem Unrat, nach zu vielen Körpern in 81
einem ungelüfteten Raum. Und da war der allgegenwärtige, giftige Gestank von brennenden Chemikalien. Durch die Wände hörte ich Murmeln, leises Stöhnen, von irgendwoher den Klang eines Radios oder Fernsehers, eine gedämpfte, klare Stimme, die wichtige Informationen vortrug. Ich wagte mich durch das Halbdunkel auf die Treppe zu. Früher war die Wand zwischen meinem Kinderzimmer und dem von Ace so dünn gewesen, dass ich jeden Seufzer und jede Bewegung meines schlafenden Bruders hören konnte. Unsere Zimmer waren einmal ein großer Raum gewesen. Bei der Renovierung hatte man zwei kleinere Zimmer mit einem angrenzenden Bad daraus gemacht. Es war ein eigenes kleines Universum, vom Rest des Hauses und vom Elternschlafzimmer im Erdgeschoss, von dem aus man den Garten überblickte, getrennt. Wir benutzten ein altes Babyfon, Relikt aus meiner frühen Kindheit, als Sprechanlage, damit ich meine Eltern im Notfall nachts rufen konnte. Falls ich sie brauchte, musste ich nur das Gerät einschalten. Aber wenn ich nachts wirklich einmal aufwachte, weil ich schlecht geträumt oder Durst hatte oder mich einsam fühlte, wollte ich meistens nur zu Ace. Ich schlich über meinen weichen Teppich und durch unser gemeinsames Badezimmer. Ich konnte den Schatten der alten Eiche erkennen, der vor dem Fenster meines Bruders im Wind tanzte. Ich hörte Aces gleichmäßigen, ruhigen Atem, sah die Umrisse der Star-Wars-Figuren im Regal, die Bücher auf seinem Schreibtisch. Es roch nach Johnson’s Babyshampoo. Wir benutzten es beide, obwohl wir schon lange keine Babys mehr waren. Ace wachte jedes Mal auf, wenn ich in sein Bett kletterte und mich an ihn schmiegte. »Ridley«, sagte er dann, »geh zurück in dein Bett.« In seiner schlaftrunkenen Stimme mischten sich Ärger, Resignation und Liebe. »Mach ich«, erwiderte ich, während er mich in den Arm nahm und wieder einschlief. »In einer Minute.« 82
Ich glaube, ich habe seither nicht mehr so gut geschlafen. Irgendwann ist man für diese Art von Geborgenheit zu alt. Für diese unschuldige physische Nähe, bei der man wie ein Welpe in einem Wurf von einem anderen Körper nichts weiter will als wohlige Wärme. Wenn man heranwächst und sich der eigenen Sexualität bewusst wird, ist der Kontakt mit einem fremden Körper nicht mehr unbelastet. Ace erkannte das natürlich vor mir. Er gewöhnte sich an, die Badezimmertür zu schließen, wenn er nachts zur Toilette musste. Als ich das bemerkte, wurde mir instinktiv klar, dass ich mich nie wieder an ihn würde kuscheln können. Diese spezielle Art der Vertrautheit war uns über Nacht abhanden gekommen. Auf dem zweiten Treppenabsatz knarzte der Boden unter meinen Füßen. Plötzlich fühlte ich mich unsicher. Ich konnte spüren, wie die Stufen unter meinem Gewicht ein wenig nachgaben. Bei jedem Schritt fürchtete ich, einzubrechen und ein Stockwerk tiefer auf einem Haufen Schutt zu landen. Ace hatte mir erzählt, dass er im zweiten Stock bei einem Mädchen wohnte und ihr Fenster zur Straße hinausging. Deswegen näherte ich mich der Tür, die der Straßenseite am nächsten war, und klopfte. »Ace«, rief ich, »hier ist Ridley!« Stille. Von draußen drang Sonnenlicht durch die schmutzigen Fenster des Treppenhauses. Das rostige Geländer sah aus, als würde es bei der ersten Berührung zu Staub zerfallen. Draußen rollte langsam ein Auto vorbei, aus dem schwere Bässe dröhnten, deren Resonanz ich in meiner Lunge und in den Fingerspitzen fühlte. Mein relativ lautes Rufen hatte das Gemurmel im Haus verstummen lassen. Die Wände und Türen ringsum schienen den Atem anzuhalten. Ich hörte ein Scharren hinter der Tür und spürte, dass jemand dahinter stand und nach draußen lauschte so wie ich nach drinnen. Vom anderen Ende des Flurs drang aus einem Müllhaufen, den ich im schummrigen Licht gerade noch erkennen konnte, ein eindeutiges Quietschen 83
und Kratzen. Ich tat so, als würde ich die wühlenden Ratten nicht herumflitzen sehen. Dann klopfte ich noch einmal an, lauter diesmal. »Ace, bitte«, sagte ich. Ich klang nervös und verzweifelt. Als die Tür sich einen Spaltweit öffnete und mich ein weit aufgerissenes blaues Auge über die Kette hinweg anstarrte, erschrak ich. Vor dem Auge hingen blonde, verfilzte Haarsträhnen. Es war das Auge einer Frau. Vielleicht war sie früher einmal hübsch gewesen; jetzt hatte sie schwarze Ringe unter den blutunterlaufenen, müden Augen. »Er ist weg«, sagte sie. »Wohin?« »Seh ich aus wie seine Frau?« Ich zuckte die Achseln und wusste nichts zu entgegnen. Das Auge blinzelte langsam. »Kenne ich Sie? Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.« Ich zuckte wieder die Achseln. Mir fehlten die Worte. Ich schüttelte matt den Kopf, um ihr zu bedeuten, ich wüsste nicht, ob sie mich schon einmal gesehen hätte. Das Auge musterte mich von oben bis unten. Da entdeckte ich plötzlich etwas darin, in den Falten darunter. Es war Hunger. »Sie sind die Frau, die das Kind gerettet hat.« »Stimmt. Hören Sie, wissen Sie wirklich nicht, wo mein Bruder ist?« »Sie sind Ridley! Der Penner. Hat mir nie erzählt, dass Sie seine Schwester sind.« Ich entschied mich für ein weiteres Schulterzucken. Die Geste erschien mir praktisch und unverbindlich. »Er redet die ganze Zeit von Ihnen«, sagte sie. Ich hörte den Neid in ihrer Stimme. In mir breitete sich eine kindliche Freude darüber aus, dass er an mich dachte, dass er sogar einer Fremden von mir erzählt hatte. 84
»Sie wissen nicht zufällig, wo er stecken könnte?« Sie schloss die Tür, und ich hörte, wie sie die Kette losmachte. Dann öffnete sie die Tür wieder, wenn auch nicht ganz. Ich erkannte ein Bein, so dünn, dass der Anblick wehtat, einen spitzen Hüftknochen, der sich durch die graue, zu Shorts abgeschnittene Trainingshose abzeichnete, eine flache, harte Brust unter einem blasslila Baumwollhemd, ein Schlüsselbein, dünn und elastisch wie ein Zweig, ein halbes Gesicht, ausgezehrt, fahl, knochig, und das eine, weit aufgerissene blaue Auge. Es war, als wollte sie mir absichtlich nur eine Hälfte von sich präsentieren und mich über die andere im Unklaren lassen. Ihre Finger mit den blutig abgekauten Fingernägeln krallten sich um die Tür. Neben dieser Frau, die nur aus rechten Winkeln bestand und der ihr Unglück in Form von Narben und Einstichstellen auf den Leib geschrieben stand, fühlte ich mich rosig, wohlgenährt und unnatürlich gesund. Ich kramte in meinem Gedächtnis nach ihrem Namen. Hatte Ace ihn jemals erwähnt? »Ich habe ihn seit einer Woche nicht gesehen«, sagte sie. Ich achtete auf ihre Stimme, suchte nach Anzeichen von Trauer oder Sorge. Aber sie war flach, ohne Gefühl. Ich forschte in dem halben Gesicht, wusste selbst nicht, wonach. Vermutlich nach irgendetwas, auf das ich Bezug hätte nehmen können. Aber ihr Gesicht war eine Maske des Misstrauens, und abweisend kniff sie ihr Auge zusammen. Offenbar ging sie davon aus, von ihrem Gegenüber missbraucht zu werden; die Frage war nur, auf welche Weise und in welchem Ausmaß. »Wie heißen Sie?«, fragte ich. Sie stockte, dann antwortete sie: »Ruby.« In dem Moment schien sich etwas in ihr zu lösen. Sie öffnete die Tür ein Stückchen weiter. Ich blinzelte an ihr vorbei in das Apartment, aber da war nur Dunkelheit. »Schön, Sie kennen zu lernen«, sagte ich einfältig. 85
»Ja«, erwiderte sie. »Ebenso.« Wir standen eine Weile unschlüssig da und starrten uns an. »Wenn Sie ihn sehen …« »Ich werde ihm sagen, dass Sie ihn suchen.« Ich spielte mit dem Gedanken, ihr Geld anzubieten. In meiner lasche steckten ein paar zusammengefaltete Zwanzigdollarscheine. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, sie damit zu kränken, auch wenn sie das Geld ganz offensichtlich brauchte. Also nickte ich nur, drehte mich um und ging zur Treppe. Ich fühlte mich schuldig, so als würde ich von einem Unfallort flüchten. Ich hörte, wie sie leise die Tür schloss, ging die Treppe hinunter und eilte zur Tür. Der Dicke hatte seinen Posten verlassen und stand jetzt mit ein paar anderen Gangstern an der Straßenecke. Alle drehten sich nach mir um. Der Dicke lächelte mir zu, ein erbarmungsloses, wölfisches Lächeln, so als fühlte er sich in seiner Meinung über mich bestätigt. Ich kehrte ihnen den Rücken und machte mich auf den Heimweg, blinzelte in den strahlend blauen Himmel und sah Rubys Auge, den Hunger und die Erschöpfung darin.
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NEUN
A
us der Kälte trat ich ins Five Roses, der Pizzeria unten im Haus, die ebenfalls meiner Vermieterin gehörte. Die Wärme war eine Wohltat für mein gerötetes, kribbelndes Gesicht. An einem Ecktisch saßen ein paar Polizisten und verspeisten Sandwiches mit Fleischklößchen und Parmesan. Sauce und geschmolzener Käse tropften auf die Pappteller. Allein der Anblick ließ meinen Magen knurren. Ich war stundenlang gelaufen, und es dämmerte schon fast. Das Lokal war gemütlich, wenn auch geschmacklos eingerichtet; von der Küche wehten die wunderbaren Düfte von Zeldas Kochkunst herein. An den Wänden klebten dunkle, löchrige Paneelen aus Holzimitat. Unter der durchhängenden, fleckigen Decke hingen Neonröhren, die den Raum in das hässlichste Weiß tauchten, das man sich nur vorstellen kann. Auf den wackligen Tischchen lagen die obligatorischen weiß-rot karierten Tischdecken, drumherum standen gepolsterte Plastikstühle, aus deren Ritzen der Schaumstoff quoll. Über der Tür hing eine schiefe Pepsi-Cola-Uhr. An die Wand hinter der altmodischen Kasse hatte Zelda Hunderte vergilbter, knittriger Fotos angeklebt oder angepinnt. Mein Lieblingsbild zeigte eine selige Zelda, die Robert de Niro anstrahlt, sein Arm lässig über ihrer Schulter. Er lächelte wie in Kap der Angst und hielt ein Stück Pizza in die Kamera. Über sein Autogramm hatte er New Yorks beste Pizza gekritzelt. Auf dem Bild sah Zelda überglücklich aus, sie war damals jünger, und ihre Züge wirkten offen und sorglos. Sie trug eine knallrote Bluse, die die Röte ihrer Wangen betonte. Ihr Lächeln war breit und dennoch zurückhaltend, so als misstraute sie ihrem Glück, so als glaubte sie nicht wirklich daran. Ich hatte sie in zehn Jahren nicht einmal lächeln sehen;
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außerdem trug sie ausschließlich schwarze Chinos und Rollkragenpullover, die immer mit Mehl bestäubt waren. Ich ging zur Theke. Zelda schlurfte hin und her, ohne von mir Notiz zu nehmen. Mit einem dieser riesigen Holztabletts holte sie eine Pizza aus dem Ofen und ließ sie elegant und mühelos in die bereitgestellte Pappschachtel gleiten. Mit der gleichen Geschwindigkeit fischte sie zwei Stücke Siziliana aus der gläsernen Auslage und schob sie in den Ofen. Sie hatte mich durchschaut. Ich brauchte nicht mal mehr meine Bestellung aufzugeben. Als sie fertig war, schaute sie mich an. »Alles?«, fragte sie. »Danke, ja«, antwortete ich und reichte ihr einen Fünfdollarschein. Sie drückte die Tasten der uralten Registrierkasse, und mit einem aufgeregten Klingeling! sprang die Schublade auf. Es war das Geräusch freudiger Erwartung. Zelda war eine zierliche Frau mit schmalen, gebeugten Schultern und feinen, adlerähnlichen Gesichtszügen. Ihr Strahlen, das ich von der Fotografie kannte, war verschwunden. Aus ihren Gesten sprach Resignation, so als bereitete es ihr täglich neue Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wäre es nur eine Frage der Willenskraft, könnte sie einen zehn Tonnen schweren Betonblock schultern und beliebig weit schleppen, davon war ich überzeugt. Sie flößte mir Respekt ein; sie war einer jener Menschen, die ihr Leben als Gefängnis betrachten und den Schlüssel an einer Kette um den Hals tragen. Ich hatte immer versucht, mit ihr ins Gespräch zu kommen, es vor einigen Jahren schließlich aufgegeben, ohne ihr böse zu sein. Deswegen stand ich jetzt schweigend herum, starrte ins Leere und wartete auf meine Pizza, bis Zelda mich zu meiner großen Überraschung ansprach. »Ein Mann«, sagte sie. Unter ihren braunen Knopfaugen sah ich müde, bläuliche Schatten und unzählige Fältchen. Ihre dünnen Lippen hatte sie zu einem Strich zusammengepresst. 88
»Hat nach Ihnen gesucht.« »Wer?«, fragte ich beiläufig, obwohl sich mein Magen verkrampfte. Sie zuckte die Schultern. »Keine Ahnung.« »Was hat er gesagt?« »Er bittet um Rückruf. Er meinte, Sie hätten die Nummer.« Ich unterdrückte den Wunsch, mich umzudrehen und die Leute auf der Straße zu inspizieren. Als ich bemerkte, dass die Polizisten gegangen waren, packte mich die Angst. Zelda reichte mir die weiße Papiertüte mit der Pizza. Sie schielte mich von der Seite an. »Nicht gut«, sagte sie mit entschiedenem Kopfschütteln. »Der war nicht gut.« Bei ihren Worten wurde mir kalt. Als ich wieder auf der Straße stand, fühlte ich mich fremd und verletzlich. Die Leute liefen mit ihren Aktentaschen, Rucksäcken und aus der Reinigung abgeholten Kleidern an mir vorbei. Ein Rollerblader kam auf mich zu; auf einer Treppe gegenüber hockte ein Obdachloser. Auf der First Avenue wogte der Verkehr; die Autos hupten, hin und wieder hörte man das Quietschen von Gummi auf Asphalt. DON’T WALK, blinkte die Ampel. Alles war normal, alles war wie immer. Nur ich nicht. Seit ich vor etwas mehr als einer Woche an dieser Ecke gestanden und den kleinen Justin auf der Straße entdeckt hatte, war mein gesamtes Leben auf den Kopf gestellt worden, war alles anders. Ich hatte die paar Schritte von der Pizzeria bis zu meiner Haustür unzählige Male zurückgelegt und die Umgebung trotzdem noch nie so deutlich wahrgenommen. Ich blickte den fremden Menschen ins Gesicht und beneidete sie um die Geschäftigkeit, mit der sie ihrem Leben nachgingen, um die Sicherheit, die sie besaßen; sie wussten, wer sie waren und wohin sie gehen würden … oder zumindest wussten sie, woher sie kamen. Hinter dem Verkehrslärm spürte ich plötzlich eine Bedrohung, so als belauerte mich eine dunkle Macht, so als 89
hätte sich hinter der unschuldigen Fassade, die ich sah, etwas versteckt. Ich fühlte mich beobachtet. Schnell lief ich zur Haustür, schloss auf und schlüpfte hinein. Während die Tür mit einem metallischen Krachen ins Schloss fiel, überfiel mich ein Schauder. Viel später an dem Abend wurde ich vom Telefonklingeln aus einem unruhigen Schlaf gerissen. Noch bevor ich den Hörer aufnahm, wusste ich, dass es Ace war. »Wie ich höre, hast du nach mir gesucht?«, begrüßte er mich. Er klang wie ein Fremder, der von einem anderen Kontinent aus anruft. »Das war keine gute Idee, Ridley.« Ich sagte nichts, hing stumm am Hörer. Ich fand es nicht gerade zum Lachen, aber immerhin komisch, dass mein älterer Bruder, der Junkie, mich über gute Ideen belehren wollte. »Was ist los?«, fragte er nach einer Weile. »Ich muss mit dir reden.« »Dann rede.« Nein, ich musste ihm ins Gesicht blicken, seine Augen sehen. Am Telefon konnte man sowieso nicht mit ihm reden. Ich wusste nie, was er gerade dachte oder fühlte, obwohl das beim persönlichen Gespräch nicht unbedingt leichter gewesen wäre. »Wir müssen uns treffen.« Schweigen. Ich hörte ihn atmen. Ich hörte den Verkehrslärm, der mir verriet, dass er von einem Münztelefon aus anrief. Ich warf einen Blick auf mein Telefon; auf dem Display glimmte Unbekannt. Ich fühlte mich so einsam, so abgeschnitten vom Rest meines Lebens. Ich wartete. Unsere Telefonate setzten sich meist aus langen Phasen bedrückenden Schweigens zusammen. »Dann treffen wir uns in dem Diner an der 4. Straße«, sagte er schließlich, als hätte er seinen Verstand nach einem längeren internen Ringkampf doch noch auf die Matte gezwungen. 90
»Wann?«, fragte ich und schaute auf die Uhr. Es war halb zwei. »Jetzt.« »Okay.« In weniger als zehn Minuten war ich angezogen und aus der Tür. Auf der First Avenue winkte ich ein Taxi heran. An der 12. Straße bog der Fahrer nach links ab, und auf der Second Avenue fuhren wir nach Süden; die Straßen waren ruhig und fast leer, was mich an Truman Capote und seinen Spruch erinnerte, die Second Avenue wirke immer so verlassen. Ich sah das genauso. Wir rasten an der St. Mark’s Church und der Telephone Bar vorbei. Wer keine Ahnung hat, nennt New York »die Stadt, die niemals schläft«. Und ob sie schläft. Na ja, sie döst. Die Fenster verdunkeln sich, die Jalousien werden heruntergelassen. An einer Ampel beobachtete ich einen Mann mittleren Alters mit einer Tweedjacke, der uns entgegenkam. Er hatte sich in seine Jacke gewickelt und schien sich gegen einen eingebildeten Wind zu lehnen. Er lief schnell, leicht vornübergebeugt. Sein Gesicht war ausdruckslos, der Blick starr nach vorn gerichtet. Einzelne Fußgänger wirken zu später Stunde immer verloren, müde oder betrunken; besorgt scheinen sie auf ein bestimmtes Ziel zuzueilen. Abgesehen von den feiernden Studenten und den Leuten, die in Grüppchen unterwegs sind, kamen sie mir immer vor wie durchs Raster gefallene Menschen – Menschen, die am äußersten Rand unserer Gesellschaft existieren und sich schon lange nicht mehr mit piepsenden Weckern, Urlaubsplänen, Abgabeterminen und Verpflichtungen herumschlagen. Ich habe mich immer gefragt, was jemanden dazu veranlasst, nachts allein auf die Straße zu gehen. Und da saß ich nun, ich war so verloren wie sie, wenn auch in einem Taxi unterwegs. Ich bekam leichte Kopfschmerzen, für die ich die Flasche Wein verantwortlich machte, die ich fast geleert hatte.
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Außer meinen Eltern und Jake hatte ich niemandem von den Briefen und dem Foto erzählt; aber nach Zeldas Warnung konnte ich die Last nicht länger allein tragen. Als ich zu meiner Wohnung hinaufgestiegen war, hatten sich meine Gedanken überschlagen. Der Mann im Treppenhaus am Abend zuvor – war er es gewesen, der sich am Nachmittag nach mir erkundigt hatte? Ich dachte an den Zettel, der am Morgen vor meiner Tür lag. Sie haben gelogen. Hieß das, er wusste, dass ich meine Eltern besucht hatte? Und wenn ja, wusste er dann auch, worüber wir gesprochen hatten? Oder hatte er bloß geraten? Oder war alles ganz anders? Ich überlegte, kurz bei Jake vorbeizuschauen und ihm von dem Mann in der Pizzeria zu erzählen; aber dann wollte ich doch lieber in meiner sicheren Umgebung allein sein, von vertrauten Gegenständen umgeben. Ich war in Gedanken versunken und merkte gar nicht, dass das Taxi längst vor dem Diner gehalten hatte. Ein Klopfen an das Fenster holte mich in die Gegenwart zurück. Hinter der Scheibe erkannte ich das Gesicht von Ace. Er öffnete die Tür. Ich bezahlte den Fahrer und stieg aus. Ace sah gut aus, fast gesund, wenn auch ein bisschen dünn und bleich. Seine ausgewaschene Jeans hing an seiner mageren Gestalt herab, aber immerhin war sie sauber. Über einem schwarzen Rollkragenpullover trug er eine abgewetzte Motorradjacke. Als er mich küsste, spürte ich seine Bartstoppeln. Sein Atem roch nach Pfefferminz. Ich betrachtete diesen Hinweis auf Körperpflege als gutes Zeichen. Wir betraten das Diner. Es war voller Menschen, die nach dem Klub- oder Barbesuch Lust auf einen Cheeseburger oder Pancakes bekommen hatten. Wir nahmen in einer der Sitzecken aus rotem Kunstleder Platz. Der rotierende Kuchenständer lockte mit Käsekuchen, Key Lime Pie und Tiramisu. Zigarettenqualm vermischte sich mit dem Duft von geröstetem Kaffee, Fritierfett und Ahornsirup. Stimmengewirr, Klappern von Besteck. 92
Ace mochte es nicht, wenn ich ihn über längere Zeit direkt ansah. Er fühlte sich taxiert, hatte er mir einmal gesagt. Vielleicht stimmte das. Ich suchte ständig nach Hinweisen, ob sich sein Zustand verbessert oder verschlechtert hätte. Ob er in die Welt, in meine Welt, zurückkehren oder sich weiter aus ihr heraushalten würde. In meiner Vorstellung lebte Ace unter mir, in einer geheimen Unterwelt, und wenn ich ihn finden wollte, musste ich über eine Treppe in ein Verlies steigen, durch dunkle Gänge laufen und ihn rufen. Ich warf ihm verstohlene Blicke zu und suchte nach neuen Einstichstellen, blauen Flecken, Quetschungen, was auch immer, und währenddessen dachte ich: Wie lang wird er noch leben? Ich meine, was für eine Lebenserwartung hat man als Drogenabhängiger eigentlich? Ich wusste es nicht. »Was ist denn los, Ridley? Du siehst müde aus.« Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Einige Male wurden wir von der Kellnerin unterbrochen, die unsere Bestellung aufnahm und dann die Cheeseburger, Pommes und Schokomilchshakes brachte. Ace sagte die ganze Zeit kein Wort. Er hielt den Blick gesenkt, sah auf die grau-gold gefleckte Tischplatte, dann auf das Essen vor sich, in dem er herumpickte und das er auf dem Teller hin und her schob. »Was genau haben Mom und Dad zu dir gesagt?«, fragte er vorsichtig, als ich bei der Stelle mit unseren Eltern angelangt war. Ich wiederholte die Unterhaltung wortwörtlich oder versuchte es zumindest. »Als ich losfuhr, habe ich ihnen alles geglaubt. Ich kam mir ziemlich dumm vor und war total verunsichert.« Er schnaubte und nickte. »Sie haben eine Art, einem das zu vermitteln«, sagte er mit Verbitterung in der Stimme. »Was soll daran neu sein?«
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Ich berichtete von dem zweiten Umschlag und dem Zeitungsausschnitt. Ace schüttelte den Kopf. »Was ist denn?« »Ridley …« Er schaute aus dem Fenster und beobachtete den Verkehr. »Warum erzählst du mir das?« »Weil … ich weiß auch nicht. Weil ich Angst habe.« Er seufzte traurig und starrte auf seine Finger. Ich versuchte, die Einstichstellen auf seinem Handrücken zu übersehen. Falls er auch andere Venen benützte, konnte ich mir den Zustand seines übrigen Körpers nur vorstellen. »Die ganze Wahrheit willst du gar nicht wissen. Glaub mir.« Selbst in meiner Verzweiflung der letzten Tage hatte ein Teil von mir immer noch daran festgehalten, das Ganze könnte ein Irrtum sein. Wie nach einem Autounfall, wenn der Aufprall einen herumgeschleudert hat und man noch sekundenlang glaubt, es wäre nicht wirklich passiert. Der Wunsch, meinen Bruder zu finden und auf sein völliges Unverständnis zu stoßen, war übermächtig gewesen. Ich hatte gehofft, er würde mich für bescheuert erklären und mich dann anpumpen. Es war meine letzte Chance gewesen, mein letzter Versuch, an den Illusionen meines Lebens festzuhalten – und nun war er gescheitert. »Ace …«, begann ich. Aber er unterbrach mich, indem er die Hand hob. »Frag Dad mal nach unserem Onkel Max«, sagte er, wobei er das Wort unser mit typischer Giftigkeit betonte. Er erinnerte mich daran, dass zwischen ihm und Max immer ein seltsames Verhältnis bestanden hatte. Und eine merkwürdige Eifersucht auf meine Liebe zu Max, die ich nie verstanden hatte. »Frag ihn doch nach Onkel Max und seinen feinen Projekten. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.« »Aber …«
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»Kleines, ich muss los«, sagte er und stand auf. Mein Herz begann zu flattern. Mein gesamtes Leben kam mir wie ein einziges Chaos vor. Ich wurde von der Angst gepackt, ihn nie wiederzusehen, wenn er jetzt ginge. Außerdem wurde ich wütend, wütend darüber, dass er mich mit dem Problem – was immer es war – allein ließ. »Ace«, sagte ich mit Verzweiflung in der Stimme, »du kannst mich doch nicht einfach allein lassen.« Er schüttelte den Kopf. Sein Blick war leer, müde und – ich wage es kaum zu sagen – desinteressiert. »Ridley, ich bin nur ein Geist. Ich bin nicht wirklich hier.« Die beiden Mädchen am Tisch hinter uns hatten aufgehört, sich zu unterhalten. Sie hörten uns zu. Zum Glück saßen sie hinter mir, denn ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Die bekannte Alchemie von Bewunderung und Abscheu, die den mit Fehlern behafteten Mann vor mir in einen sagenumwobenen Helden meiner Phantasie verwandelte. Superman, der die Erde anhalten könnte, um Lois Lane zu retten, und es trotzdem nicht tat; Prometheus, der Angst vor dem Feuer gehabt hatte; Atlas, der den Himmel einstürzen ließ. »Wenn du schlau bist, vergisst du das Ganze. Leb einfach ganz normal weiter. Zieh um, damit dich derjenige, der dir das antut, nicht weiter belästigen kann.« Ich nickte bloß, weil ich fürchtete, meine Stimme würde versagen. Ich griff in meine Tasche und gab ihm das Geld, das ich für ihn mitgebracht hatte. Er nahm es, leicht verlegen, und blickte sehnsüchtig zum Ausgang. Er stand einen Augenblick lang unschlüssig da und schien mit sich zu kämpfen, aber schließlich machte er Anstalten zu gehen. »Ich liebe dich«, sagte ich, ohne ihn anzusehen. »Ich weiß«, antwortete er. »Ich weiß nur nicht, wieso.«
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Ich blieb sitzen und beobachtete, wie er auf der 4. Straße bis zur nächsten Kreuzung lief, dann nach links um die Ecke bog und verschwand. Ich starrte noch weiter in die Nacht hinaus, in der Hoffnung, dass er vielleicht zurückkommen würde – was er aber nicht tat. Ich legte den Kopf auf die Arme und weinte hemmungslos in die Ärmel meiner Jacke. »Hey.« Ich hob den Kopf und sah Jake mir gegenüber in der Sitzecke. Ich musterte ihn einen Augenblick. Über einem grauen T-Shirt trug er eine schwarze Jeansjacke. Sein Gesichtsausdruck war unergründlich. Ich wischte mir schnell die Augen, denn es war mir peinlich, vor ihm zu weinen. »Ist das ein Zufall?«, fragte ich mit zitternder Stimme. Bestimmt hatte ich ganz rote Augen. »Nein.« Darüber musste ich kurz nachdenken. »Du bist mir gefolgt?« »Ich dachte, jetzt drehst du durch und triffst dich mitten in der Nacht mit deinem vermeintlichen Vater.« Als ich nichts antwortete, sagte er: »Ich dachte, vielleicht brauchst du Verstärkung.« »Du bist mir gefolgt«, wiederholte ich. Ich wusste nicht, ob ich Angst haben, es toll finden oder sauer sein sollte. Ich fühlte ein bisschen von allem, mit einer starken Tendenz zu »sauer«. »Wer war das?«, fragte er, lehnte sich zurück und sah nach draußen, so als könnte er noch einen letzten Blick auf Ace werfen. Mir war noch nie jemand gefolgt. Ich wusste nicht, was es über Jake aussagte. Ich bin nicht und war nie eins jener hoffnungslos dummen Weiber, die kontrollierendes Verhalten bei Männern sexy finden. Ganz im Gegenteil. Sobald ich es an einem Mann entdecke, verliere ich jegliches Interesse. Deswegen war es mir vor mir selber peinlich, dass ich am liebsten die 96
Milchshakes vom Tisch gefegt und Jake auf der Stelle vernascht hätte, obwohl ich doch allen Grund hatte, ihn für einen Stalker zu halten. »Nicht, dass es dich was angeht«, antwortete ich ein wenig schroffer, als ich wollte. Im Diner war es still geworden. Ich schaute mich um, fühlte mich auf einmal unsicher. Die Gruppe der Nachtschwärmer hatte sich beträchtlich verkleinert. Ich konnte das Summen der Neonröhren hören. Ein Pärchen hockte in der Sitzecke neben der Tür. Zwei Punks teilten sich eine Portion Pommes. Beide trugen den gleichen, orange eingefärbten Irokesenschnitt (so was von out!). Ein alter Mann nippte an seinem Kaffee, und die einzige Kellnerin – ein flachbrüstiges Mädchen mit straßenköterblondem Haar und mitleiderregender Akne – tat so, als läse sie einen Liebesroman, während sie uns ganz offensichtlich belauschte. »Schon klar«, meinte Jake. Er warf mir einen kurzen Blick zu und starrte dann auf die Tischplatte. Wieder versuchte ich, seinen Ausdruck zu deuten, wieder misslang es mir. »Ich gehe«, sagte er und stand auf. »Ich hab einen Fehler gemacht.« Er marschierte auf die Tür zu, kam dann wieder zurück und pflanzte sich vor mir auf. »Ich bin kein Stalker, okay? Ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wollte nur … Ich betrachte dich als so etwas wie eine Freundin, ich weiß auch nicht, warum. Normalerweise freunde ich mich nicht so schnell mit Leuten an.« Ich betrachtete ihn und fragte mich, warum sich mein Magen zusammenzog. War es Nervosität oder Verlangen, oder lag es an dem Mist, den ich eben in mich hineingestopft hatte? »Das bin ich?«, fragte ich. »Was?«, sagte er. »Eine Freundin?«
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Er zuckte die Achseln, schüttelte unmerklich den Kopf und schaute mich dann mit dermaßen unverhohlener Begierde an, dass mir fast die Luft wegblieb. Sein Blick war wild, das Spiegelbild meiner eigenen Lust. Ich legte fünfundzwanzig Dollar auf den Tisch und folgte ihm auf die Straße. Draußen nahm er mein Gesicht in seine Hände und küsste mich sanft. Ich fühlte mich wie ein Teenager; mein eigenes Verlangen kam mir so fremd und neu vor wie seins. Während ich mich nicht von seinen Lippen lösen konnte, gelang es ihm, ein Taxi heranzuwinken. Wir ließen uns auf den Rücksitz fallen und fielen übereinander her wie Jugendliche nach dem Schulball. Während ich mich mit dem Schloss der Haustür abmühte, küsste er meinen Nacken. Er drängte mich hinein und drückte mich gegen die Wand. Er war leidenschaftlich, aber zärtlich, seine Küsse beinahe ehrfürchtig. Anstatt die Augen zu schließen, hielt er meinem Blick stand. Ich musste ihn ansehen, konnte nicht anders. Ich weiß nicht mehr, wie wir es über die drei Treppen bis in mein Apartment schafften, aber irgendwie gelang es uns. Auf dem Bett setzte ich mich auf ihn und öffnete die Knöpfe seines Hemds. Seine Brust und die Schulter waren mit dem Tattoo eines fliegenden Drachens bedeckt. Er hatte die Schwingen ausgebreitet, das weit aufgerissene Maul zeigte scharfe Zähne und eine geschlängelte, gespaltene Zunge – ein bis ins kleinste Detail ausgearbeitetes Kunstwerk. Der Drache war wütend, aber er wirkte gut und stark, weise und gerecht. Darunter konnte ich Narben erkennen. Eine zehn Zentimeter lange Narbe an der Seite und eine an der Schulter, die aussah wie von einer Schussverletzung. Während ich ihn betrachtete und mit den Fingern über die Linien des Tattoos und über die Narben fuhr, lag er reglos da. Er berührte mein Gesicht mit einer Hand, ließ sie über meine Wange gleiten, über mein Kinn. Ich weiß nicht, was er in meinem Gesicht zu sehen glaubte. 98
»Hab keine Angst«, sagte er. Ich beugte mich vor, um ihn zu küssen. Ich hatte tatsächlich Angst; nicht vor ihm, aber vor der mächtigen Flutwelle aus Verlangen, vor dem Chaos, das von allen Seiten in mein zuvor so normales Leben eindrang. Ich knöpfte meine Bluse auf und ließ sie von der Schulter gleiten. »Ich habe keine Angst«, sagte ich. »Willst du es wirklich?«, fragte er, stützte sich auf die Ellbogen und sah mich an. »Ich warne dich, ich bin kein Typ für eine Nacht. Ich war allein, Ridley. Für lange Zeit. Ich lasse mich nicht schnell auf etwas ein.« Ich spürte das Gewicht seiner Worte. Er setzte sich auf. Ich schlang meine Arme um ihn und flüsterte in sein Ohr: »Hab keine Angst, Jake.« Er stöhnte und zog mich an sich. »Es gibt da etwas, das du wissen solltest«, murmelte er in meine Haare. »Dann sag es mir, ich will alles wissen. Aber nicht jetzt sofort.« Das Licht vom Flur zeichnete Täler aus Schatten auf seinen Körper. Sein Schlüsselbein kam mir vor wie ein mächtiger Grat, den ich mit den Lippen berühren konnte. So wie sein Tattoo zeugte sein gesamter Körper von enormer Kraft und Energie. Jeder einzelne Muskel unter seiner samtweichen Haut war perfekt definiert und steinhart. Er bebte unter der Berührung meiner Lippen. Ich fühlte, dass er hart wurde. Im Halbdunkel konnte ich nur eine Seite seines Gesichts erkennen. Er hatte die Augen geöffnet und beobachtete mich, während ich ihn aufs Bett zurückdrückte. Sein kantiges Kinn wirkte entschlossen, er lächelte nicht. Auf jemand anderen hätte er vielleicht einen verbitterten, fast wütenden Eindruck gemacht. Ich wusste aber, dass sich die Wahrheit in den Mund- und Augenwinkeln verbarg; und da war sie wieder, diese Traurigkeit, die ich an ihm bemerkt hatte, und ein übermächtiges 99
Verlangen, das sich körperlich ausdrückte. Am meisten rührte mich seine Verletzlichkeit; er, der nicht viele Menschen so nah an sich heranließ, war nicht sicher, ob er die Lust und den Schmerz einer solchen Begegnung ertragen könnte. Er ließ zu, dass ich seinen Körper mit Mund und Fingerspitzen erkundete. Ich wollte die Landschaft seines Körpers entdecken und dabei keinen Umweg auslassen. Ein Teil von mir wünschte sich, ihn so schnell wie möglich zu besitzen, doch noch viel wichtiger war mir, jede seiner Nuancen auf meiner Zunge zu schmecken. Er fasste sich in Geduld, aber als sein leises Stöhnen unkontrollierter wurde, begriff ich, dass er sich nicht mehr lange zurückhalten könnte. Während meine Finger an den Knöpfen seiner Jeans nestelten, drehte er mich herum. Er war so schnell, so stark, dass ich unvermittelt unter ihm lag. Einen Augenblick lang fühlte ich mich überwältigt. Er hat mich heute Abend verfolgt, schoss es mir durch den Kopf. Meine Gefühle waren eine Mischung aus Euphorie und Panik. »Willst du mich foltern?«, flüsterte er mit erstickter Stimme. Ich lächelte und schlang meine Arme um ihn. Verlor mich in seiner Umarmung wie in einem Meer, schwamm in seinen Augen, spürte seine kräftigen Hände über meinen Körper gleiten. Er verschlang mich, und ich ließ es zu, ließ mich ganz und gar fallen. Noch nie hatte ich mich während des Liebesakts so hingegeben. Ich genoß jede einzelne Sekunde. Außer uns existierte nichts mehr. Unsere Haut bildete die äußerste Grenze unseres Universums. Ein paar Tage früher, als ich noch zu wissen glaubte, wer ich war, hätte ich mich vielleicht weniger fallen gelassen. Aber nun fühlte ich mich mit einem Mal von allem, was mich ausgemacht hatte, befreit. Es existierten keine Grenzen mehr, die ich hätte verteidigen müssen. Ich lieferte mich Jake vollkommen aus. In diesem Moment, an diesem Ort, fühlte ich mich realer, als ich es je gewesen war – und wahrscheinlich kannte mich niemand besser 100
als ausgerechnet der Mensch, der zuletzt in mein Leben getreten war.
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ZEHN
I
ch hatte Zack nie gebeten, mir meinen Wohnungsschlüssel zurückzugeben. Ich weiß auch nicht, warum; vielleicht fürchtete ich, ihn, den Verletzten, obendrein noch zu kränken. Außerdem standen wir uns immer noch nah, waren immer noch gute Freunde. Aber ich war davon ausgegangen, er würde von dem Schlüssel keinen Gebrauch machen, ohne vorher zu fragen. Am Freitagmorgen erlebte ich das Gegenteil. Als ich vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer kam und mein verschlafenes Hirn eine Gestalt auf dem Sofa registrierte, blieb mir fast das Herz stehen. Noch bevor ich Zack erkannt hatte, stieg Panik in mir auf, und meiner Kehle entrang sich ein Schrei. Er sah mich mit einem mir völlig unbekannten Ausdruck an. Ich entdeckte Sorge, aber auch Wut, so als trage er mir etwas nach. »Zack«, hauchte ich und legte mir die Hand auf die Brust. Die Angst verebbte und machte Ärger Platz. »Was willst du denn hier?« »Was ich hier will?«, fragte er ungläubig. »Ridley, es gibt Leute, die sich Sorgen um dich machen.« »Leute?«, fragte ich. »Wer denn?« »Deine Eltern, zum Beispiel. Verdammt noch mal, was ist los mit dir?« »Ich habe meine Eltern erst vorgestern besucht.« »Ja sicher, und du hast dich wie eine Irre benommen und einen Heidentanz aufgeführt, weil sie angeblich gar nicht deine Eltern sind. Und hinterher rufst du nicht mal bei ihnen an, um zu sagen, dass alles in Ordnung ist.« »Zack, was hast du damit zu tun?« Damit spielte ich auf einen Umstand an, der mich an unserer Beziehung immer gestört hatte – oder sollte ich sagen: an der 102
Beziehung zwischen Zack und meinen Eltern? Manchmal hatte ich den Eindruck, meine Eltern hätten Zack aus einem einzigen Grund künstlich erschaffen: Er sollte mich heiraten und sich um mich kümmern, weil sie das nicht mehr konnten. Als wir noch zusammen waren, fand ich das ärgerlich, aber jetzt, wo wir kein Paar mehr waren, machte mich das geradezu wütend. Ich spürte, wie der Zorn in mir aufstieg und mein Hals sich zuschnürte. »Zack, du verschwindest jetzt besser. Sofort«, sagte ich und ging in die Küche. »Ridley, rede mit mir«, bat er. »Was ist denn los?« Er folgte mir in die Küche, aber ich ignorierte ihn. Ich bemerkte, dass er keine Schuhe anhatte. Das gab mir den Rest. Wie konnte er es wagen, seine Schuhe auszuziehen? Woher nahm er das Recht, meine Wohnung zu betreten und sich ganz wie zu Hause zu fühlen? »Zack, hast du mich nicht verstanden?«, fragte ich und drehte mich um. Ich blickte ihm direkt in die Augen. »Raus!« Plötzlich sah er schrecklich verletzt aus, so als hätte ich ihm ins Gesicht geschlagen. Was war nur mit mir los? Warum war ich so gemein zu ihm? Mein Sandkastenfreund, mein Exfreund, Sohn der Frau, die ich liebte wie eine Mutter? Er war doch Zack. Warum behandelte ich ihn wie einen Eindringling, warum wollte ich ihn aus meiner Wohnung werfen? »Es tut mir leid«, sagte er kopfschüttelnd. »Du hast Recht. Es war ein Fehler hierherzukommen. Ich dachte …« Er sah auf seine Socken hinunter. Ich fühlte mich wie die allerletzte Zicke. »Ich weiß, du hast dir bloß Sorgen gemacht«, entgegnete ich so sanft wie möglich und ging auf ihn zu. »Trotzdem hättest du nicht herkommen sollen.« Ich legte meine Hand auf seinen Arm. »Ridley«, sagte er und sah mich aus eisblauen Augen an. In den zwei Silben meines Namens schwang jede einzelne Kränkung und Enttäuschung mit, die ich ihm zugefügt hatte, und 103
auch die Hoffnung, die er noch für uns hegte. Hoffnung, die meine Eltern und seine Mutter, da war ich sicher, noch angespornt hatten: Gib ihr ein bisschen Zeit. Sie wird sich schon wieder fangen. »Zack, es tut mir leid«, sagte ich. Ich weiß selbst nicht, warum ich mich entschuldigte. Er nahm mich in die Arme. Ich atmete den vertrauten Geruch ein und lehnte mich einen Augenblick lang an ihn wie an eine Erinnerung. Es ist so dumm von dir, diesen Jungen in die Wüste zu schicken, hatte meine Mutter geschimpft. Vielleicht hatte sie Recht, wie sie so oft Recht gehabt hatte. Aber ich liebte Zack nicht. Nicht auf diese gewisse Art. »Ridley, was ist los?«, fragte Jake, der gerade aus dem Schlafzimmer kam. Zack machte sich ruckartig von mir los, so als hätte ich ihn in den Hals gebissen. Verwundert und verletzt starrte er mich an. Einen Moment lang standen beide Männer vor mir, und sie sahen dermaßen verschieden aus, dass es fast schon komisch war. Zack: blond, tadellos gebügelte Chinos, weißes Hemd, die Lodenjacke von Land’s End über der Sofalehne, die Rockports unter dem Couchtisch. Jake: dunkel, einen riesigen Drachen auf Brust und Waschbrettbauch, abgewetzte Jeans, barfuß (was ich unwiderstehlich fand). Zacks Miene versteinerte sich. Ich fühlte mich wie ein Kind, das man beim Schummeln erwischt, das sich den falschen Spielkameraden angeschlossen hatte. Angesichts dieser entsetzlichen Kränkung drehte sich mir der Magen um; gleichzeitig machte mein rebellisches Herz vor Freude fast einen Sprung. Immerhin war Zack mir zu nahe getreten, hatte mir im Grunde stellvertretend für meine Eltern nachspioniert. Damit war ich nicht einverstanden. »Wer ist das?«, fragte Zack. »Zack, das ist Jake. Jake, Zack.«
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»Schön, dich kennen zu lernen«, sagte Jake und streckte seine Hand aus. Zack starrte ihn bloß an. Einen Augenblick später zog Jake die Hand mit einem verständnisvollen Nicken zurück. Zack stürmte an ihm vorbei, griff sich Jacke und Schuhe. Schuldgefühle und Trauer trieben mir die Röte ins Gesicht. Ich weiß auch nicht, warum, aber während meiner Beziehung mit Zack hatte mich das nicht weiter gestört. Als er mit seinen Sachen zur Tür ging, schwieg ich. »Gib mir den Schlüssel, Zack. Das war nicht fair.« Er zog den Schlüssel aus der Tasche und reichte ihn mir mit einem müden Lächeln, aus dem ich nicht schlau wurde. Ein merkwürdiger Gedanke schoss mir durch den Kopf. Er hat ihn nachmachen lassen. »Ich habe im Moment das Gefühl, dich nicht einmal zu kennen, Ridley«, sagte er. »Vielleicht war das schon immer so«, erwiderte ich. Es war mir einfach so herausgerutscht. Ich wusste selbst nicht, warum, zumal mir der Gedanke vorher nie in den Sinn gekommen war. Aber sobald ich ihn ausgesprochen hatte, wusste ich, dass es stimmte. Es war der Grund für mich gewesen, die Beziehung zu beenden. In Zacks Gegenwart konnte ich nie ich selbst sein, ohne mich schuldig zu fühlen oder Angst davor zu haben, ihn zu enttäuschen. Es war wie bei einem Kind und seinen dominanten Eltern; jede unabhängige Handlung verursachte ihnen Schmerzen und musste folglich bestraft werden. Der Vorgang lief jedoch sehr subtil ab, so dass Außenstehende nichts davon mitbekamen. Auf Strümpfen verließ Zack die Wohnung. Vermutlich wäre es zu viel für ihn gewesen, sich vor Jake die Schuhe anzuziehen. Nachdem ich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, spähte ich durch den Spion. Er saß draußen auf der Treppe und band sich
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die teuren Schuhe zu. Wut und Schuldgefühle vermischten sich und schnürten mir die Kehle zu. »Alles in Ordnung?«, fragte Jake, der hinter mir stand. Wie er das sagte, gefiel mir; so als wäre er zwar besorgt, gleichzeitig aber überzeugt davon, dass ich selbst damit zurechtkäme. Er war weder eifersüchtig noch böse. Auch das gefiel mir. Ich war dankbar, nicht auch noch den Babysitter für seine Gefühle spielen zu müssen. »Eigentlich nicht. Zur Zeit geht eben alles schief.« Er nickte und kam auf mich zu. »Außer letzte Nacht, oder? Vergiss nicht, ich hab ein unglaublich empfindliches Ego«, sagte er mit einem breiten, ansteckenden Lachen. Er legte seine Hände auf meine Schultern, und mir wurde ganz heiß. »Na ja, das war ganz okay«, murmelte ich und legte mein Gesicht an seine Brust. Er zog mich fest an sich. Eine Minute später lagen wir wieder im Bett. Nachdem wir uns noch einmal geliebt hatten, döste ich ein. Als ich aufwachte, wagte ich es nicht, sofort die Augen zu öffnen; ich glaubte nicht, dass er immer noch neben mir lag. Wenn ich die Augen aufmachte und er nicht da wäre, müsste ich denken, ich hätte mir alles nur eingebildet, und käme mir wie eine Idiotin vor. Aber einen Moment später roch ich sein Rasierwasser und spürte seine Hand auf meinem Bauch. »Du bist wach«, stellte er fest. Ich öffnete die Augen und bemerkte, dass er mich ansah. »Woran hast du es gemerkt?« »Du hast anders geatmet.« »Du hast mich beim Atmen beobachtet?« Er nickte und verzog seine Lippen zu einem kleinen Lächeln. Es wirkte unglaublich sexy. Ich rechnete damit, dass er etwas 106
Kitschiges sagen würde, aber er schwieg. Er gefiel mir von Minute zu Minute besser. Als ich mir des Gedankens bewusst wurde, spürte ich so etwas wie Beklemmung und pfiff meine Gefühle zurück. Nun mal sachte, Cowgirl. »Wie spät ist es?«, fragte ich, setzte mich auf und schaute auf die Uhr. Es war nach zehn. »Du musst an die Arbeit«, entgegnete Jake umstandslos. Es gefiel mir, dass er das erkannte und es für ihn kein Thema war. Zack hatte meine Arbeit nie ernst genommen und jede Minute, die ich in seiner Gegenwart damit verbrachte, als Verlust gemeinsamer Zeit betrachtet. Jake schwang die Beine aus dem Bett und stand auf. Während er seine Jeans anzog und sich nach seinem T-Shirt bückte, freute ich mich über den hübschen Anblick. Er war wirklich sehr hübsch. »Mein Atelier liegt an der Avenue A, 10. Straße«, erklärte er, setzte sich aufs Bett und nahm meine Hand, um sie zu küssen. »Wenn du ein paar meiner Arbeiten sehen willst, kannst du später vorbeikommen. Es ist die erste Tür auf der Westseite der A, zwischen 10. und 11. Straße, gegenüber vom Park. Sie ist rot, du kannst sie nicht verfehlen.« »Ja, gerne«, sagte ich lächelnd. »So gegen vier?« Er beugte sich vor, um mich zu küssen, ganz sanft, aber eine unendliche, süße Minute lang. Dann ging er, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
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ELF
N
achdem Jake gegangen war, machte ich mir Kaffee. Mit dem Koffein rettete ich mich über den Vormittag. Ich sprach mit Tama Puma. »Mrs. Thurman wäre entzückt, sich mit dir zu treffen«, schnurrte sie mit warmer, von sich selbst überzeugter Stimme. Entzückt? Wer benutzte im richtigen Leben solche Wörter? Ich sah sie vor mir, mit einer Federboa und einer langen Zigarettenspitze, die sie lässig zwischen den Fingern hielt. Obwohl Mrs. Puma natürlich lieber tot umfallen würde, als eine Zigarette zu rauchen. Ich rief bei der Honorarabteilung des New-York-Magazins an, das mir noch Geld schuldete. Der Scheck sei unterwegs (das sagen sie immer). Bis zum Mittag ließ die Wirkung des Koffeins nach, und ich konnte die Gedanken, die mich zu erdrücken schienen, nicht länger ignorieren. Ich verspürte ein altbekanntes Schuldgefühl – ich hätte meine Eltern anrufen und ihnen mitteilen sollen, dass alles in Ordnung ist. Aber ich wollte nicht. Ich wollte ihre Stimmen nicht hören, weil sie die meine übertönten. Ich surfte eine Weile durchs Internet, wo ich über LexisNexis nach Informationen über ein vermisstes Kleinkind und eine ermordete Mutter Anfang der siebziger Jahre suchte; aber es gab zu viele Treffer. Ich schränkte meine Suche auf das TristateGebiet ein, bekam aber immer noch über zehntausend Suchergebnisse. Allein bei der Vorstellung lief es mir eiskalt über den Rücken. Ich dachte an meine idyllische Kindheit und daran, wie sicher und geliebt ich mich immer gefühlt hatte. Angst kannte ich damals nur vor schlechten Zensuren, und davor, mich im Sportunterricht am Kletterseil zu blamieren.
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Ich klickte mich durch die Artikel, durch die Archive alter Zeitungen und Magazine, durch Websites mit traurigen, alten Fotografien, die von Menschen berichteten, deren Kind verschwunden und nie wieder aufgetaucht war. Diese Leute konnten sich nur vage vorstellen, wie ihr Kind fünf oder zehn Jahre später aussehen würde – wenn es überhaupt noch lebte. Ich erhaschte einen Blick auf eine Parallelwelt, auf einen schrecklichen Ort des Leidens und der Gewalt, an den manche Menschen auf Lebenszeit verbannt worden waren und zu dem wir, selbst wenn wir es wollten, niemals Zutritt hätten. Ich fand nichts in Verbindung mit meinem Zeitungsausschnitt, und ich sah kein Bild, das zu dem gepasst hätte, das jetzt auf meinem Schreibtisch stand. Ich muss jedoch zugeben, dass ich gewissermaßen nur mit halbem Herzen – so hätte meine Mutter es ausgedrückt – suchte. Ich bin nicht sicher, wie viel ich damals eigentlich wissen wollte. Auf meinem Schreibtisch gab es auch ein Kinderfoto von meinem Bruder und mir. Ich nahm es in die Hand und betrachtete es genau. Ich saß auf der Schaukel in dem Park neben unserem Haus. Mein Bruder stand hinter mir und hielt sich an den Ketten der Schaukel fest. Er hatte sein Kinn auf meinen Kopf gestützt, wir lächelten beide in die Kamera. Im kräftigen Wind jenes kalten Herbsttages tanzten bunte Blätter um uns herum. Eine meiner Haarsträhnen war nach oben geweht und hing wie ein dünner Schnurrbart in seinem Gesicht. Ich konnte mich an diese glücklichen Tage gut erinnern … als wir zusammen klein gewesen waren und die Umstände, die Ace von uns fortrissen, noch in weiter Ferne lagen. Ich erinnerte mich an Spaziergänge und Feiern, Ferien und Familientreffen, bei denen die Abwesenheit meines Bruders noch nicht über uns hing wie ein dunkler Schatten. Meine Mutter erzählte gern eine Anekdote über Ace und mich. Damals zumindest, als sie noch über Ace sprach, als er noch ihr Sohn war. Wir waren damals vielleicht fünf und sieben gewe109
sen. Ich weiß noch, wie das gelbe Licht des Samstagmorgens durch die Ritzen meiner Jalousien blitzte; ich wusste, heute würde Ace nicht zur Schule gehen, und war voller Vorfreude auf einen Vormittag, den wir auf dem Bauch liegend vor dem Fernseher verbringen würden, um uns Zeichentrickfilme anzusehen. Es war Herbst, der Morgen kühl, und während ich von meinem Zimmer durchs Badezimmer zu Ace hinübertappte, spürte ich den kalten Boden unter meinen nackten Füßen. Ich kletterte in sein Bett, legte mich neben ihn und öffnete ganz vorsichtig eins seiner Augen. Natürlich war er längst wach und stellte sich nur schlafend. Nach dem üblichen Knurren und Schimpfen ließ er sich von mir die Treppe hinunterziehen. Normalerweise begannen wir den Samstagmorgen mit einer riesigen Schüssel Schokoflakes. Meine Eltern schliefen noch und würden für mindestens eine weitere Stunde im Bett bleiben, folglich gehörte die Küche uns. Niemand konnte uns vorschreiben, was wir zu essen hatten, niemand ermahnte uns, den Fernseher leiser zu stellen oder Abstand zum Bildschirm zu halten. Ein zeitlich begrenztes, goldenes Universum, in dem Ace und ich alle Entscheidungen trafen, Orgien mit klebrigen Frühstückszerealien und Kakao veranstalteten, auf den Möbeln herumsprangen und Ringkämpfe mit Kitzeln austrugen, bei denen ich mir gelegentlich in die Hose machte. Aus irgendeinem Grund hatte Ace an jenem Morgen beschlossen, dass es Kekse zum Frühstück geben würde. In der Vorratskammer entdeckte er eine Packung Oreos, die wir zusammen mit zwei Gläsern Milch zu unserem bequemen Plätzchen vor dem Fernseher schleppten. Als meine Mutter auftauchte, hatten wir ungefähr die halbe Packung verspeist. »Ace, Ridley! Was habt ihr euch dabei gedacht?« Wir hielten inne, den nächsten Keks schon fast im mit Schokolade verschmierten Mund. 110
»Gebt sofort die Kekse her!« Ich hielt meiner Mutter augenblicklich meinen Keks hin und fing an zu weinen. Mein Bruder steckte seine Hand in die Packung und stopfte sich so viele Kekse in den Mund, wie er nur konnte, bis meine Mutter ihn stoppte. Meine Mutter hatte diese Geschichte immer mit einem verwunderten Unterton zum Besten gegeben; wie unterschiedlich ihre Kinder doch waren, und dabei stammten sie doch von denselben Eltern ab, wurden im selben Haus groß! Ich erinnere mich, dass ich damals in Tränen ausgebrochen war. Nicht weil ich noch mehr Kekse essen wollte – ehrlich gesagt, war mir ohnehin schon schlecht –, sondern weil das Erscheinen meiner Mutter das abrupte Ende unseres verzauberten Vormittags bedeutete. Ich entsinne mich des Vorfalls außerdem als Wendepunkt, an dem sich meine und Aces Kindheit trennten. Meine Mutter und Ace lieferten sich wegen der Kekse einen ausgewachsenen Streit. Mein Bruder schnappte sich die Packung, jagte wie der Blitz die Treppe hinauf und verschwand in seinem Zimmer, wo er die Tür hinter sich zuknallte und sich einschloss. Meine vor Wut schäumende Mutter stand wild hämmernd wie eine Irre davor. »Grace, um Himmels willen, beruhige dich. Es geht doch nur um ein paar Kekse«, rief mein Vater, der hinter ihr die Treppe hinaufgestiegen war. Natürlich ging es nicht bloß um ein paar Kekse. Es ging um Kontrolle. Kontrolle, die meine Mutter unbedingt ausüben musste; und während ich widerstandslos nachgab, lehnte Ace sich auf. Unsere unterschiedlichen Persönlichkeiten brachten zwei unterschiedliche Elternpaare hervor, und deswegen erlebten wir zwei unterschiedliche Kindheiten. Ich lag schniefend in den Armen meines Vaters, Ace erntete das eiserne Schweigen meiner Mutter, das ihren (vermutlich durch die 111
nahenden Wechseljahre bedingten) Wutausbrüchen für gewöhnlich folgte. Meiner Mutter gelang es irgendwann, das Ganze zu einer amüsanten, dinnerpartytauglichen Anekdote zu verniedlichen. Sie entzog dem Geschehen das Tragische und destillierte auf anschauliche Weise heraus, wie eigensinnig und komisch Kinder doch sein können. Jedes Mal, wenn sie die Geschichte zum Besten gab, krümmte ich mich innerlich zusammen; nicht weil ich das Erlebnis als besonders traumatisch empfunden hatte (obwohl Ace es sicherlich so sah), sondern weil ich nicht wusste, was sie damit über mich sagen wollte. War sie der Ansicht, ich sei schwach, mein Bruder hingegen mutig? Ich angepasst, er dagegen rebellisch? Sollte ich mich schämen oder stolz sein? Wenn sie über Ace redete, klang in ihrer Stimme so eine Art zerknirschte Anerkennung mit, so als bewunderte sie ihn eigentlich für seine Aufsässigkeit. Irgendwann hörte sie natürlich ganz auf, von ihm zu sprechen. Es ist schon merkwürdig, wie die Erinnerungen sich im Laufe der Zeit verformen wie weiches Karamell, bis dasselbe Ereignis für jeden der Beteiligten eine vollkommen andere Bedeutung hat. Während ich mit dem Schaukelbild in der Hand am Schreibtisch saß, fielen mir Sachen ein, an die ich jahrelang nicht gedacht hatte und die angesichts der aktuellen Ereignisse einen leichten Sepiaton angenommen hatten. Ich konnte nicht sagen, ob ich zum ersten Mal im Leben klarsah, oder ob ich vollkommen den Verstand verloren hatte und alles – meine Erinnerungen an die Vergangenheit, meine Wahrnehmung der Gegenwart – durch die Zwischenfälle der letzten Tage verzerrt wurde. Mein Onkel Max war ein strahlender Stern, ein Bär von einem Mann, der stets etwas für mich in petto gehalten hatte: ein Ritt huckepack, Taschen voller Süßigkeiten, später voller Geld oder was immer gerade die Währung unserer jeweiligen Altersklasse war. Er stand für Rockkonzerte, Baseballspiele, für ein »Ja«, wo 112
es bei meinen Eltern »Nein« hieß. Er war die Verkörperung von Spaß; er passte auf uns auf, wenn meine Eltern auf Reisen gingen, und die Wochen mit ihm zählen zu den glücklichsten meiner Kindheit. Ace und ich liebten ihn natürlich. Wie hätte es auch anders sein können? Es ist einfach, sich bei Kindern beliebt zu machen, wenn man nicht derjenige ist, der ihnen Grenzen setzen muss, wenn man nur dazu da ist, ihnen zu zeigen, wie viel Spaß das Leben bereithält. Mein Onkel Max erschien immer in Begleitung einer Frau, wenn es auch nie dieselbe war. In meiner Erinnerung verschmelzen sie alle zu einer Person. Keine von ihnen hob sich aus dieser Parade von gebräunter Haut und Silikon, glattem, blondiertem, seidenweichem Haar und Stöckelschuhen besonders ab. Immer hochhackige Schuhe, egal, wie das restliche Outfit aussah – Kleider, Jeans, Bikinis. An eine Frau erinnere ich mich jedoch. Sie erschien zu einer Party bei uns zu Hause. Es war eine nachmittägliche Veranstaltung, vermutlich der Geburtstag von Ace. Die Decke des Esszimmers war hinter einem Meer von roten, orangefarbenen, blauen, grünen und lila Heliumballons verschwunden. Ich entsinne mich einer Melodie, die in meinen Ohren klang wie Kirmesmusik. Gelächter, irgendjemand verschüttet Limonade auf dem weißen Teppich, ein zerplatzender Ballon und entzücktes Kreischen, ein Clown, der Zaubertricks vorführt. Ich erinnere mich, wie ich um eine Ecke schoss und in die mit einer ausgebleichten Jeans bekleideten Beine von Onkel Max’ Freundin lief. »Entschuldigung«, sagte ich und schaute zu ihr auf. Ich kann mich nur noch an ihren blauen Lidschatten, ihr toupiertes blondes Haar und das kaugummifarbene Lipgloss erinnern. »Ist schon okay, Ridley«, entgegnete sie freundlich und stöckelte davon. Ich blickte ihr nach und hatte nur noch Augen für ihre unglaublichen roten Lederpumps. Sie hießen Candies, wenn ich mich recht entsinne; zu jener Zeit so cool und sexy wie nichts auf der Welt. Mir verschlug es vor Bewunderung die 113
Sprache. Ich fragte mich, was man tun müsste, um irgendwann einmal so zu sein. »Also wirklich, Max«, hörte ich meine Mutter in der Küche, in die ich unterwegs gewesen war. Ich kannte diesen Ton nur zu genau; er war vor lauter Missbilligung schwer wie ein Sack Steine. »Eine von denen hier anzuschleppen, ausgerechnet zu Aces Geburtstag. Was hast du dir dabei gedacht?« »Ich wollte nicht allein kommen«, verteidigte sich Max. In seiner Stimme schwang ein mir fremder Ton mit. »Ach, Unsinn.« »Was willst du, Grace? Hm? Tu doch nicht so scheinheilig.« Ich hatte keine Gelegenheit, über den Ton zwischen Max und meiner Mutter schockiert zu sein, denn plötzlich stand mein Vater neben mir. »Da ist ja meine Kleine!«, rief er und hob mich hoch, obwohl wir beide wussten, dass ich langsam zu schwer für ihn wurde. Er trug mich in die Küche. Vielleicht entging ihm, dass meine Mutter und Max hastig ihre Blicke abwandten und sich bemühten, ihren aggressiven Gesichtsausdruck in einen freundlichen zu verwandeln. »Was tut ihr denn hier?«, fragte mein Vater gutmütig. »Max, du machst dich doch nicht etwa wieder an meine Frau heran?« Über diese absurde Vorstellung lachten alle drei herzlich. Und dann war es Zeit, den Kuchen anzuschneiden; das reichte aus, den Vorfall fürs Erste aus meinem siebenjährigen Gehirn zu löschen. Als mir in meiner Wohnung schon fast die Decke auf den Kopf fiel, duschte ich, zog mich an und verließ das Haus. Ich weiß, was die meisten Leute von New York City halten, aber ich hatte mich hier noch nie unsicher gefühlt, keine einzige Minute – bis 114
zu diesem Tag. Plötzlich fiel mir Zeldas Warnung vor dem Mann wieder ein, der nach mir gefragt hatte. Mir wurde klar, dass ich weder Jake noch Ace von ihm erzählt hatte. Ich wusste selbst nicht, warum. Manchmal neigte ich dazu, unangenehme Tatsachen wie lästige Fliegen zu behandeln, ganz nach dem Motto: Ignorier sie einfach, dann werden sie von selbst verschwinden. Das Eingeständnis, dass mich jemand nicht nur postalisch, sondern persönlich verfolgte, hätte das Problem wahrscheinlich auf eine andere Ebene gehoben, auf der ich es nicht länger hätte verdrängen können. Es hätte nach Konsequenzen verlangt, für die ich noch nicht bereit war. Zunächst einmal hätte es eine Einschränkung meiner Bewegungsfreiheit bedeutet, und wie ich darüber denke, ist Ihnen ja bekannt. Ich drängte mich durch die Drehtür einer der Kliniken, in denen mein Vater und Zack ehrenamtlich Dienst taten. Diese hier lag in Midtown, die andere in New Jersey. Je näher der Ruhestand meines Vaters rückte, desto mehr Zeit verbrachte er in den Krankenhäusern. Normalerweise begann er seine Arbeitswoche in Jersey und beendete sie in der Stadt; ich war also recht zuversichtlich, ihn heute anzutreffen. Ich weiß, was Sie gerade denken: Hat sie nicht eben noch gesagt, sie wolle nicht mit ihren Eltern reden? Es stimmte, ich wollte nicht mit ihnen reden. In Krisenzeiten scheint mein Vater mich jedoch magnetisch anzuziehen. Wie sehr ich mir im Falle eines Problems auch schwöre, ihn weder anzurufen noch aufzusuchen – es ist, als wüsste er sowieso Bescheid und brauchte nur irgendwo im Universum einen Schalter umzulegen, der mich auf magische Weise dazu bringt, zum Telefon zu greifen oder in seine Sprechstunde zu laufen. »Ich suche Dr. Jones. Ist er heute da?«, fragte ich die junge Frau am Empfang. Ihre milchkaffeebraune Haut schimmerte, ihre tiefbraunen Augen waren von langen, gebogenen Wimpern umrahmt. Obwohl ich schon oft in der Klinik gewesen war, um Dad oder Zack zu besuchen, hatte ich sie noch nie gesehen. 115
Aber das überraschte mich nicht, denn die Fluktuationsrate beim Personal war hier immens hoch. »Haben Sie einen Termin?«, erkundigte sie sich, ohne von der Akte aufzublicken, die vor ihr lag. »Ich bin seine Tochter.« Sie sah auf und lächelte. »Ach, Sie sind Zacks Verlobte?«, fragte sie mit fröhlichem Wiedererkennen in der Stimme. Irgendwie ärgerte mich das. Wir hatten unsere Beziehung vor über sechs Monaten beendet, außerdem war ich nie mit Zack verlobt gewesen. Aber noch bevor ich antworten konnte, fuhr sie fort: »Und haben Sie nicht vor ein paar Wochen diesem Kind das Leben gerettet? Ich hab Ihr Bild in der Zeitung gesehen.« »Ah, ja«, antwortete ich. »Das war ich.« Bewundernd sah sie mich an. »Wow. Schön, Sie kennen zu lernen! Ich bin Ava.« »Ja, gleichfalls«, sagte ich und fühlte mich plötzlich seltsam. Nun war es zu spät, um zu erklären: »Oh, ganz nebenbei, ich bin nicht mit Zack verlobt. War ich eigentlich auch nie … das ist eine lange Geschichte.« Also machte ich dicht und schaute in eine andere Richtung. »Einen Moment«, sagte sie, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Ich werde ihn anpiepen. Nehmen Sie doch Platz.« Ich suchte mir einen freien Stuhl zwischen den weinenden Babys und den vielen Kleinkindern mit bellendem Husten und Rotznase. Ich konnte nur hoffen, dass mein Immunsystem diesem Bazillenansturm gewachsen war. Die Frau neben mir atmete so schwer, als wäre ihre Lunge mit Watte verstopft. »Ridley«, rief Ava ein paar Minuten später. »Sie können durchgehen. Er wartet im letzten Sprechzimmer auf Sie.« »Danke«, sagte ich.
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»Wissen Sie was«, meinte Ava, während sie mit einem Knopfdruck den Türöffner betätigte, »Sie sehen Ihrem Dad überhaupt nicht ähnlich.« Ich versuchte zu lächeln. »Das habe ich schon mal gehört.« »Dein Vater ist ein Heiliger, weißt du das überhaupt? Ihr Kinder habt Glück, verdammt viel Glück! Verratet eurer Mutter nicht, dass ich in eurer Gegenwart fluche, ja?« Onkel Max wiederholte das so oft, dass es seine Bedeutung verlor. »Ihr habt keine Ahnung«, sagte er immer. »Ihr wisst gar nicht, wie es ist, von seinem eigenen Vater nicht geliebt zu werden.« Und dann bekam er diesen Gesichtsausdruck; den gleichen, den er auch dann hatte, wenn meine Mutter in der Nähe war. So als wäre die ganze Welt ein festlicher Ball und nur er ohne Tänzerin. Ich glaube, abgesehen von Ace war Onkel Max der einsamste Mensch, dem ich jemals begegnet bin. Als Kind konnte ich es spüren, ohne es wirklich zu verstehen. Als ich älter wurde, wurde mir klar, dass er sich als völlig alleinstehend betrachtete. Begreifen konnte ich es immer noch nicht, schließlich hatte er doch meine Eltern, Ace und mich, nicht zu vergessen seine Barbiepuppensammlung. Heute jedoch verstehe ich. Einsamkeit ist ein Gemütszustand, eine Krankheit. Er trug sie mit sich herum, bis sie sein gesamtes Leben infiziert hatte. Er verschaffte sich Linderung, indem er uns verwöhnte, meine Eltern liebte, durch seine »Freundinnen«, durch Alkohol. Aber es gab kein Heilmittel. Letztendlich war seine Krankheit tödlich. »Ridley«, seufzte mein Vater und warf mir einen kurzen, gequälten Blick zu. »Du hast uns Anlass zur Sorge gegeben.« »Es tut mir leid«, sagte ich und schloss die Tür hinter mir. Ich stand in einem echten Untersuchungszimmer. Es roch nach – na ja, Sie kennen den Geruch – nach Pflaster und Desinfektionsmit117
teln. Flackernde Leuchtstoffröhren, ein billiger, gefleckter Linoleumfußboden in den abscheulichsten Farben: Senf, Olive, Lachs. Blitzsaubere avocadogrüne Arbeitsflächen, Glasbehälter mit Wattebäuschen und in Papier verpackte Zungenspatel. Obwohl mir nicht entging, dass mein Vater sich über mich ärgerte, nahm er mich in den Arm. Ich liebte ihn dafür. Wenn meine Mutter auf mich böse war, sah sie mich nicht mehr an, so als wäre ich bis zum Zeitpunkt der Vergebung komplett Luft für sie. Nach einer Weile machte ich mich los und setzte mich auf den Untersuchungstisch. Das Knittern des Papiertuchs unter mir erinnerte mich an die vielen Male, in denen ich Räume wie diesen aus unterschiedlichen Gründen betreten hatte. Alle diese Räume kamen mir gleich vor. Na ja, vielleicht nicht ganz. Obwohl dieser hier sauber schien, machte er einen leicht schäbigen, heruntergekommenen Eindruck. Daran erkannte man die Sprechzimmer in den Kliniken; sie sahen ganz anders aus als jene in den erstklassigen Privatpraxen. Ich fand das deprimierend. Alles hier war sauber und steril, aber häßlich: die überholte Einrichtung, die Haarrisse in den Wänden, die Wasserflecken an der Zimmerdecke. So als hätten arme Leute keine moderne, hübsche Umgebung verdient. An der Wand hing ein vergilbtes Poster mit ausgefransten Rändern. Die menschliche Muskulatur. Zog man in Betracht, das die abgebildete Gestalt gehäutet worden war, machte sie eigentlich ein ganz zufriedenes Gesicht. »Warum hast du Zack zur Kontrolle vorbeigeschickt?«, fragte ich. Mein Vater machte ein unschuldiges Gesicht. »Hab ich nicht, Ridley. So etwas würde ich doch nie tun.« Ich schwieg und fixierte ihn mit meinem Blick. »Ich habe ihn gebeten, dich anzurufen«, gab er schließlich zu. »Mehr nicht. Ich dachte, vielleicht redest du mit ihm.«
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»Ja, und dann ist er zu meiner Wohnung gefahren und hat sich ungefragt Einlass verschafft. Darüber bin ich nicht gerade glücklich.« »Ich bin sicher, dass er seine Lektion gelernt hat«, entgegnete mein Vater. Er wandte den Blick ab, setzte sich auf einen grünen Kunstlederstuhl mit Metallbeinen, lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und seufzte tief. »Ach nein«, sagte ich. Ich war sauer, und ein bisschen peinlich berührt. »Ist er allen Ernstes zu dir gelaufen, um alles zu petzen?« War mir klar, dass ich mich anhörte wie eine Zwölfjährige? Ja, und es gefiel mir überhaupt nicht. Aber vermutlich war das Teil eines Problems, das ich erst jetzt langsam erkannte. Wenn sich meine Eltern in der Nähe befanden, wurde ich tatsächlich zu einer Zwölfjährigen. Und ich glaube, sie wollten es nicht anders. »Triffst du dich mit jemandem, Ridley?«, erkundigte sich mein Vater. Er bemühte sich, neugierig und unbefangen zu klingen. »Dad. Ich bin nicht gekommen, um mich darüber zu unterhalten.« »Nicht?« »Nein. Ich möchte über Onkel Max reden.« Es wäre übertrieben, meinen Vater gut aussehend zu nennen, gut aussehend im herkömmlichen Sinn. Aber selbst ich, seine Tochter, hatte begriffen, dass er Frauen magisch anzog. Die Frau möchte ich erst sehen, die nicht ein strahlendes Lächeln aufsetzt, wenn sein Blick auf sie fällt. Seine Anziehungskraft ging weit über seine äußere Erscheinung hinaus. Der Höcker auf seinem Nasenrücken sprach von einer harten Kindheit im Arbeitermilieu. Das kantige Kinn zeugte von der Entschlossenheit, die er an den Tag legte, sobald er sich einmal für eine Sache entschieden hatte. In seinen hellblauen Augen spiegelte sich jede seiner Stimmungen wider. Ich hatte sie vor Mitgefühl leuchten und vor Liebe und Verständnis strahlen sehen, hatte 119
verfolgt, wie sie sich vor Kummer oder Sorge verfinsterten oder vor Wut und Enttäuschung zu einem Schlitz verengten. Aber so wie in diesem Moment hatte ich sie noch nie gesehen. Sie waren vollkommen ausdruckslos, unergründlich. Das Schweigen, das sich nach meiner letzten Äußerung breitgemacht hatte, lastete schwer im Raum. »Haben wir dir nicht genug Liebe geschenkt, Ridley?«, fragte mein Vater schließlich. »Haben wir dir nicht alles gegeben, was du brauchst, in finanzieller wie emotionaler Hinsicht, um als glücklicher Mensch durchs Leben zu gehen?« »Ja, Dad«, antwortete ich. Sofort bekam ich Schuldgefühle. »Was ist dann mit dir los? Bist du an einem Punkt in deinem Leben angelangt, an dem du uns all die Fehler vorhalten willst, die wir bei deiner und Aces Erziehung gemacht haben? Das hätte ich nicht vor dir erwartet, Ridley. Von Ace schon, aber nicht von dir.« Da war er wieder, dieser alles lähmende Vergleich. Seit er das Haus verlassen hatte, war Ace in meiner Familie zu einem Objekt der Verachtung und einem Exempel für beispielloses Versagen und Undankbarkeit geworden – nicht unbedingt durch Worte, sondern durch eine Art emotionaler Osmose. Jeder Vergleich mit ihm entzündete in mir ein Feuerwerk. Die explosive Mischung aus Scham, Wut und Groll trieb mir die Röte ins Gesicht. »Was hat das mit dem zu tun, wonach ich eben gefragt habe?«, murmelte ich. Er wirkte überrascht, so als hätte er nicht damit gerechnet, dass mir sein Manöver auffallen würde. Er hatte die schweren Geschütze der Gefühle aufgefahren, um von meiner Nachfrage abzulenken. »Willst du mir sagen, das alles hätte nichts mit unserer Unterhaltung neulich zu tun?«, fragte er mit einer Empörung,
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die mir unangemessen zu sein schien. »Deine Mutter ist immer noch nicht darüber hinweg.« »Dad«, sagte ich. Sein Blick richtete sich einen Augenblick lang auf mich, wanderte dann zur Seite und schließlich wieder auf mich. »Was willst du wissen?« Was wollte ich eigentlich wissen? Ace hatte gesagt, ich sollte Dad einmal nach Onkel Max und den »feinen Projekten« fragen. Aber das kam mir plötzlich viel zu allgemein und zudem absurd vor. »Gab es da etwas, von dem ich nichts weiß?« Mein Vater schüttelte den Kopf und musterte mich mit gerunzelter Stirn. »Wozu fragst du mich das? Wie kommst du darauf?« Ich gab keine Antwort, lehnte mich stattdessen an die Wand hinter mir und sah auf den Fußboden. »Seit wann hast du Kontakt zu Ace?« Ich starrte ihn an. Seine Augen waren jetzt voller Trauer. Ich war über diesen Anblick nicht froh, aber alles war besser als jener tote, ausdruckslose Blick, mit dem er mich noch vor wenigen Minuten angeschaut hatte, als ich nach Max fragte. »Schon lange«, erwiderte ich. »Ich dachte, du wüsstest darüber Bescheid.« Die Leuchtstoffröhre schien plötzlich heller, greller zu werden. Ich hörte, wie die Krankenschwestern mit leisen Schritten am Untersuchungszimmer vorbeigingen. Gemurmel, ein kurzes Lachen. Ich begriff endlich, dass Zack meinen Vater seit Beginn unserer Bekanntschaft mit Informationen über mich versorgt hatte. Die Vorstellung verursachte mir Übelkeit und erfüllte mich mit Zorn. Mein Vater zuckte die Schultern. »Hauptsache, er redet überhaupt mit irgendwem. Es ist mir seit Jahren nicht gelungen, 121
an ihn heranzukommen. Warum hast du mir nichts davon erzählt?« Ich spürte, wie Wut in mir aufstieg. »Davon erzählt? Ich durfte doch nach seinem Auszug nicht einmal mehr seinen Namen erwähnen«, rief ich, überrascht über meine Lautstärke und meine zitternden Hände. Mein Vater nickte. Er kam zu mir und legte seine Hände auf meine Schultern. Er duftete nach Old Spice, und mir fiel ein, wie er früher abends von der Arbeit nach Hause gekommen war und nach Regen und Rasierwasser gerochen hatte. »Es tut mir leid«, sagte er und zwang mich, ihm in die Augen zu sehen. »Wir sind falsch damit umgegangen. Das weiß ich heute.« »Das ist jetzt auch egal«, sagte ich, rutschte vom Tisch und machte einen Schritt zur Seite. »Ich will damit sagen, es ist schon okay. Ich kann es verstehen.« Ich spürte den Sog seiner Liebe. Sanft zog er mich in sich hinein, weg von den Fragen, die mich bewegten. »Wir fühlten uns zutiefst verletzt, Ridley. Wirklich, wir waren am Boden zerstört – ganz besonders deine Mutter. Wir wussten nicht, wie wir damit umgehen sollten. Und wir dachten nicht darüber nach, was das Ganze für Auswirkungen auf dich haben würde. Das war egoistisch von uns. Und es tut uns leid. Uns beiden.« Ich fühlte mit ihm, und wieder erwachten meine Schuldgefühle. Ich ließ mich auf dem Sessel nieder, in dem er Minuten zuvor noch gesessen hatte, und stützte meinen Kopf in die Hände. Plötzlich tat mir das Herz weh, ich war verwirrt. Unser Treffen verlief nicht so, wie ich es erwartet hatte. »Ich bin froh, dass er mit dir spricht«, meinte mein Vater nach einer Weile. »Solange du nicht unbedingt jedem seiner Worte Glauben schenkst.« »Wie meinst du das?« 122
»Nun ja, seit er Drogen nimmt, ist Ace auf die merkwürdigsten Gedanken gekommen. Er hegt eine große Abneigung gegen Max, Eifersucht auf dein gutes Verhältnis zu ihm. Lass dich von diesem Ärger gegen einen Mann, der dich sehr geliebt hat, nicht anstecken.« »Du glaubst, Ace hätte mir all das in den Kopf gesetzt? Ich habe euch doch das Foto gezeigt.« Ich hätte ihm noch mehr erzählen können – dass ich einen weiteren Brief bekommen, dass sich in der Pizzeria jemand nach mir erkundigt hatte. Aber ich behielt es für mich. »Ich weiß, ich weiß. Aber ich dachte, das hätten wir geklärt? Ich habe bloß das Gefühl, Ace würde jede Gelegenheit nutzen, um sein Gift zu verspritzen.« »Wie kommt er darauf, Max damit in Verbindung zu bringen? Warum hat er mir gesagt, ich sollte dich nach Onkel Max und seinen ›feinen Projekten‹ fragen? So hat er es genannt.« Mein Vater zuckte übertrieben die Schultern und hob in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände. »Was weiß ich, woher Ace seine Ideen hat? Ridley, er ist krank. Du darfst nicht alles für bare Münze nehmen, was er sagt.« Äußerlich betrachtet schien etwas Wahres daran zu sein, das sah ich ein. Ich meine, wer hört schon auf einen Junkie? Ich glaubte an Ace, weil ich wusste, dass er mehr war als nur die Abhängigkeit. Wir alle sind mehr als die Summe unserer Teile, oder zumindest hoffe ich das. Ich hatte gedacht, mein Vater würde diese Hoffnung teilen. Aber vermutlich hatte er Ace schon längst aufgegeben. »Fällt dir wirklich nichts dazu ein, Dad?« Er seufzte, schließlich sagte er: »Das Einzige, wofür Max sich – abgesehen vom Geschäft – interessiert hat, war, Tausenden von misshandelten Kindern und Frauen ein anständiges Leben zu ermöglichen.« »Du meinst die Stiftung?« 123
»Du erinnerst dich daran, oder?« Er öffnete eine Schublade, zog ein paar Handzettel heraus und reichte sie mir. Ich las: UNTERSTÜTZEN SIE DIE GESETZESVORLAGE »SICHERE ZUFLUCHT« IM STAAT NEW YORK IHR GELD HILFT LEBEN RETTEN Die Maxwell-Allen-Smiley-Stiftung Gemeinnütziger Verein zur Unterstützung misshandelter Kinder und Frauen Als ich sechzehn Jahre alt war, hatten meine Eltern mich zu einem Wohltätigkeitsball ins Waldorf Astoria mitgenommen. Die Veranstaltung war an Luxus nicht zu übertreffen gewesen; die Elite der New Yorker Society war geschlossen in schimmernden Abendroben und maßgeschneiderten Smokings erschienen. Überall prächtige Blumenarrangements, Reihen von Champagnerflöten, glitzernde Skulpturen aus Eis, eine komplette Bigband. Ich trug ein pinkfarbenes Kleid aus Naturseide, dazu mein erstes Paar Stöckelschuhe. An meinen Ohrläppchen funkelten die Diamantohrringe, die ich zu meinem sechzehnten Geburtstag bekommen hatte (ich versuchte den ganzen Abend über, mein Spiegelbild zu betrachten, wo immer ich konnte). Das Diamantarmband meiner Mutter baumelte an meinem Handgelenk, als gehörte es dorthin. Ich fühlte mich wie ein Rockstar, ein Supermodel und eine Prinzessin. Ich war aufgekratzt, und mir war schwindlig vor Aufregung. Onkel Max war mein Tischherr. Er führte mich an seinem Arm herum und stellte mich Leuten wie Ed Koch, Tom Brokaw und Leslie Stahl als seine »bezaubernde junge Nichte« vor. Ich schüttelte Donald Trump, Mary McFadden und Vera Wang die 124
Hand. Die Gala wurde zugunsten der Maxwell-Allen-SmileyStiftung zur Unterstützung misshandelter Frauen und Kinder ausgerichtet. Bei einem Preis von fünftausend Dollar pro Abendessen strich Max an jenem Abend unbeschreibliche Summen für die verschiedenen Hilfsprojekte ein, die seine Stiftung finanzierte. »Dein Onkel Max gründete die Stiftung, um die ›Sichere Zuflucht‹-Gesetzesvorlage im Staat New York durchzubringen«, erklärte mein Vater. »Das Gesetz ermöglicht es Frauen, ihre Babys in Frauenhäusern, Kliniken, Feuerwachen oder Polizeistationen abzugeben, ohne dass sie strafrechtliche Folgen zu befürchten haben und in dem sicheren Wissen, dass die Kinder gut versorgt und zur Adoption freigegeben werden.« Ich betrachtete den Prospekt in meiner Hand, blätterte darin herum. Auf der Vorderseite waren zwei Fotos, eines von einer Mülltonne, das andere von einer Krankenschwester mit einem schlafenden Säugling im Arm. Darunter stand: Treffen Sie für Ihr Kind die richtige Entscheidung. Wir stellen keine Fragen. Dann wurde das Gesetz erläutert; junge Mütter wurden aufgefordert, nicht in Panik zu verfallen, ihre Kinder nicht auf einem Müllplatz oder einer öffentlichen Toilette zurückzulassen, so wie es schon viel zu oft geschehen war. Stattdessen sollten sie sich an eine der genannten Stellen wenden. In ruhigem, unvoreingenommenem Tonfall wurde den Müttern versichert, dass alles für das Wohl des Kindes getan würde; falls sich die Mutter nach sechzig Tagen nicht meldet, um ihr Kind zurückzuholen, verliert sie das Sorgerecht. Das Baby wird zur Adoption freigegeben und in einer liebevollen Familie untergebracht. »Ich habe ihn nie über das Gesetz sprechen hören.« »Es war umstritten«, sagte mein Vater und setzte sich wieder. Er wirkte müde. »Die Kritiker waren der Ansicht, es würde es jungen Müttern zu leicht machen, sich von ihrem Kind zu trennen. Junge Mädchen, die ihr Baby andernfalls vielleicht 125
selbst großziehen würden. Befürworter des Gesetzes – wie Max und ich – glaubten hingegen, dass es für ein Kind, dessen Mutter ernsthaft daran denkt, es aus welchem Grund auch immer abzugeben, das Beste ist, an einem Ort aufzuwachsen, wo ihm all die Liebe und Fürsorge zuteil wird, die es braucht. Und wenn man einer verängstigten, verzweifelten Frau eine überzeugende Alternative dazu anbietet, ihr Kind umzubringen, wird sie sich vielleicht darauf einlassen. Das Gesetz wurde im Jahr 2000 beschlossen. Heute fungiert die Stiftung als Ansprechpartner und Pressestelle.« Jetzt, da er es erwähnte, fiel mir die Werbekampagne wieder ein, die ich überall an den Zügen und Bussen gesehen hatte. Ich hatte sogar einige der Werbespots im Radio gehört. Eine tiefe, beruhigende Stimme, im Hintergrund ein schreiendes Baby: »Sind Sie gestresst? Kommen Sie mit den Anforderungen des Elterndaseins nicht zurecht? Bevor Sie es an Ihrem Kind auslassen, rufen Sie lieber uns an. Wir können helfen.« Ich war nur nie auf den Gedanken gekommen, mein Vater und Onkel Max könnten etwas damit zu tun haben. Dass ich nichts davon gewusst hatte, verwunderte mich. Immerhin standen mein Dad und ich uns nah, und wir sprachen oft über seine Arbeit. »Wieso hast du mir nie davon erzählt?«, fragte ich. »Habe ich das nicht? Ich bin sicher, du irrst dich. Vielleicht hörst du deinem alten Vater nicht mehr zu, wenn er mit dir redet?« Er versuchte ein Lächeln, aber es erstarb auf seinen Lippen, als ich es nicht erwiderte. Wir schwiegen eine Weile. Ich starrte das Flugblatt an und fragte mich, ob es das war, was Ace gemeint hatte. »Onkel Max hat dir gegenüber aus seiner Kindheit nie ein Geheimnis gemacht. Er wurde in einem Ausmaß misshandelt, dem ich selbst als Arzt nur selten begegnet bin – und das will etwas heißen. Aber anstatt diese Erfahrung als Entschuldigung dafür zu benutzen, sein Leben wegzuwerfen, nutzte Max sie als 126
Antrieb auf seinem Weg zum Erfolg. Und diesen Erfolg wiederum setzte er ein, um das Leben misshandelter Kinder und Mütter, das er aus eigener Erfahrung kannte, entscheidend zu verändern.« Diese Ansprache hatte ich schon einmal gehört. Ich wusste nicht, warum er sie mir erneut hielt, aber ich ließ ihn weiterreden. »Dieses Gesetz durchzubringen, war Max ein besonderes Anliegen«, fuhr mein Vater fort, »denn er war überzeugt, auf diese Weise durch Misshandlung oder Vernachlässigung bedrohte Kinder in die Obhut von Menschen zu bringen, die sich sehnlichst ein Kind wünschten; und das, noch bevor wirklicher Schaden entstehen konnte. Anders als im Normalfall, in dem die Hilfe für viele Kinder zu spät kommt. Es war deinem Onkel Max deswegen so wichtig, weil es Dinge gab, über die er nie hinweggekommen ist. Bis zu seinem Tod nicht.« Ich dachte an Max, an diese tiefe Trauer in ihm, der nicht beizukommen gewesen war, selbst in den glücklichsten gemeinsamen Momenten nicht. »Ist es das, was du wissen wolltest, Ridley?«, fragte mein Vater. Ich zuckte die Achseln. Ich wusste es nicht. »Glaub mir, Liebes, da gibt es keine dunklen Geheimnisse, die du enthüllen musst. Er hat dich geliebt. Mehr, als dir klar ist.« Seine Stimme klang merkwürdig, aber als ich ihm ins Gesicht sah, entdeckte ich nur jenes liebevolle Lächeln, auf das ich mich immer verlassen konnte. »Und Ace hat er ebenfalls geliebt«, fügte ich hinzu. Mein Bruder tat mir leid, und ich fragte mich, wieso er sich immer ausgeschlossen gefühlt hatte. »Natürlich«, sagte mein Vater und nickte. »Aber Max und du, ihr hattet ein ganz besonderes Verhältnis. Vielleicht hat Ace das 127
neidisch gemacht.« Einen Augenblick lang schweifte sein Blick ab, er schaute aus dem Fenster, blies die Luft scharf durch gespitzte Lippen aus. Als er weitersprach, klang es, als führte er ein Selbstgespräch. »Ich weiß nicht. Keinem von euch hat es jemals an Liebe oder Zuwendung gefehlt. Es gab immer genug. Genug von allem … für euch beide.« Ich nickte. »Dad, das weiß ich.« »Da ist natürlich die Sache mit dem Geld. Vielleicht war Ace auch darüber ein wenig verbittert.« »Das Geld?« »Ja. Das Geld, das Max euch hinterlassen hat.« »Was ist damit?« »Nun ja«, seufzte er, »eigentlich hat Ace nicht ganz so viel bekommen wie du.« Ich schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.« Ich war immer davon ausgegangen, dass Ace die gleiche Summe geerbt hatte wie ich, obwohl ich mir über die Abwicklung des Ganzen nie Gedanken machte. Als ich mich damals mit Max’ Anwalt traf, um die Einzelheiten meiner Erbschaft zu besprechen, war Ace für längere Zeit abgetaucht. Ich hatte angenommen, dass er das Gespräch zu einem anderen Zeitpunkt führte. Wir redeten nie über Max’ Tod, sein Geld oder darüber, wo Ace während all der Monate, in denen ich ihn nicht gesehen hatte, gewesen war. Um die Wahrheit zu sagen, redeten wir kaum von etwas anderem als den unzähligen Beschwerden von Ace und den vermeintlichen Ungerechtigkeiten, die er zu erdulden hatte. Ich weiß, das klingt ziemlich traurig. »Deine Erbschaft war an keinerlei Bedingung geknüpft«, erklärte mein Dad. »Das Geld fiel im Augenblick von Max’ Tod an dich. Die Erbschaft deines Bruders wurde von der erfolgreichen Teilnahme an einem Entzugsprogramm und fünf Jahren ohne Drogen abhängig gemacht. Vielleicht ist Ace bis heute wütend darüber.« 128
Ich konnte Max nicht wirklich einen Vorwurf machen. Die Bedingung war vernünftig und offensichtlich in Aces eigenem Interesse gestellt worden. »Was habe ich damit zu tun?« Er zuckte die Achseln. »Verärgerte, eifersüchtige Menschen denken sich Bosheiten aus.« »Willst du damit behaupten, Ace hätte etwas mit all dem zu tun?« »Ich will nur sagen, dass es nicht vollkommen auszuschließen ist.« »Nein«, sagte ich bestimmt. Mein Vater sah mich an, wie man ein Kind ansieht, das immer noch an den Weihnachtsmann glaubt: nachsichtig, aber auch ein wenig betrübt. »Auf gar keinen Fall.« Er legte seine Hand auf meine Schulter. »Aber du denkst mal drüber nach?« Ich nickte hastig. »Ich muss los«, sagte ich und stand auf. Er sah aus, als wollte er mich aufhalten. Ich bemerkte, wie er die Arme hob und dann wieder sinken ließ, so als hätte er sie nach mir ausstrecken wollen und es sich dann anders überlegt. »Ruf mich heute Abend an«, meinte er, »wenn du noch einmal drüber reden willst.« »Gibt es denn noch mehr darüber zu reden?«, fragte ich und sah ihn an. »Keine Ahnung«, antwortete er achselzuckend, »das musst du wissen.« Ich umarmte ihn nur flüchtig, um nicht wieder in diesen Sog zu geraten. Irgendetwas daran entfremdete mich mir selbst. Ich
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verließ den Raum noch verwirrter, als ich ihn betreten hatte. Die Antworten meines Vaters hatten nur neue Fragen aufgeworfen. »Ridley, warte!« Ich drehte mich um und entdeckte Zack vor dem Klinikeingang. »Warte«, wiederholte er. »Können wir reden?« Ich schüttelte den Kopf. Ich war wütend auf ihn. Die Vorstellung, dass er ihm anvertraute Dinge meinem Vater erzählt hatte, die Szene in meinem Apartment am Morgen – ich konnte ihn jetzt nicht ertragen. »Bitte, Rid«, sagte er und kam auf mich zu. Durch die Türen hinter ihm erkannte ich Esme, seine Mutter, in einem Schwesternkittel mit Bärchendruck auf dem Oberteil. Sie hatte eine zierliche Figur und einen rosigen Teint; ihr goldblondes Haar war zu einem modischen Bob geschnitten. Sie hielt einen Aktenordner an die Brust gedrückt und beobachtete uns mit sorgenvollem Blick. Dann schickte sie ein trauriges Lächeln in meine Richtung und verschwand in einem Gang. Als Zack vor mir stand, sagte ich kein Wort. »Es tut mir leid«, begann er. »Die Sache heute Morgen. Das war völlig daneben, das weiß ich.« Ich nickte, fand meine Stimme aber nicht wieder. Seine Augen waren von einem wässrigen Hellblau, aus seinem energischen Kinn ragten hellblonde Stoppeln. Seine Hand lag auf meinem Arm. Ich erinnerte mich daran, dass ich noch vor kurzem gedacht hatte, ich würde ihn lieben. Ich spürte die gleiche Anziehung wie bei meinem Vater; so als würde in seinen Armen alles gut, als wäre das Leben kalkulierbar und sicher, und er würde mich lieben und auf Händen tragen – solange ich tat, was von mir erwartet wurde, solange ich die Ridley war, die sie haben wollten.
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»Ist schon okay«, sagte ich, was nicht der Wahrheit entsprach. Ich sagte es nur, um es für uns beide leichter zu machen. »Wir sehen uns später.« Ich ließ ihn ohne ein weiteres Wort stehen, und er rief mich nicht zurück. Der Splitter von Himmel zwischen den Gebäuden war wie der Beton unter meinen Füßen, eine harte Platte. Der Straßenverkehr war eine Kakophonie aus Hupen und Motorengeräuschen. Ich spürte, wie die Einsamkeit mit dem kalten Wind durch die Ärmel in meinen Mantel kroch, in meine Haut einsickerte und sich in meinem Bauch ausbreitete.
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ZWÖLF
I
ch drückte auf den Klingelknopf neben der roten Tür, aber niemand öffnete. Während ich wartete, gab ich einem Obdachlosen, der einen Einkaufswagen voller Puppenleichen und Blechdosen vorbeischob, einen Dollar. Ich winkte einem Cop im Auto zu, den ich aus dem Five Roses kannte und der mit seinem Kollegen auf der Avenue A unterwegs war. Gegenüber, im Tompkins Square Park, lärmten ein paar Kinder auf dem Spielplatz herum. Ich dachte an Justin Wheeler und fragte mich, was er wohl gerade machte. Ich drückte noch einmal auf die Klingel und drehte dann am Türknauf. Zu meiner Überraschung war die Tür nicht verschlossen. »Hallo?«, rief ich, bevor ich den winzigen Vorraum betrat. Eine steile Treppe führte ins Dunkel hinauf. Als niemand antwortete, ging ich auf die Straße zurück und schaute mich nach einer weiteren roten Tür um. Diese hier war die einzige. Ich beugte mich wieder hinein und rief: »Jake?« In dem Moment hörte ich ein Hämmern, das Geräusch von Metall auf Metall. Ich trat ein und ließ die Tür hinter mir zufallen. Ich tastete mich die düstere Treppe empor. Der Putz fühlte sich kühl an. Die Stiege war so schmal, dass ich, wenn ich die Arme anwinkelte, mit den Ellbogen die Wände rechts und links berührte. Oben stand ich plötzlich in einem riesigen Loft. Es war dunkel, abgesehen von der hintersten Ecke, in der einige Strahler auf überdimensionalen, dreibeinigen Stativen standen. Jake hatte mein Kommen nicht bemerkt und schlug mit einem großen Hammer auf einen glatten Metallbogen ein, der doppelt so breit und groß war wie er. Wer schreibt, ist in erster Linie ein Beobachter. Wir beobachten und berichten hinterher von der Welt, die wir gesehen haben. Oft fühlen wir uns wie Außenseiter, die ganz am 132
Rand des Lebens stehen. Und da gehören wir auch hin. Sobald man zu etwas dazugehört, kann man es nicht mehr beobachten. Ich verlor mich in der Beobachtung dieses Fremden, mit dem ich letzte Nacht mein Bett geteilt hatte. Ich betrachtete seine harten, definierten Rückenmuskeln, die sich bei jedem Hammerschlag anspannten und verzerrten. Der Schweiß auf seinem Körper reflektierte das grelle Licht der Lampen über ihm. Ich beobachtete, wie seine Finger den Holzgriff des Hammers umklammert hielten, sah seine weißen Knöchel, die dicken Venen seiner Unterarme. Ich fühlte die Vibrationen, den schweren Knall, der bei jedem Schlag durch den weiten Raum hallte. Ich schaute mich in dem Loft um und entdeckte im Halbdunkel weitere Figuren, alle vom selben Hammer erschaffen. Ich fühlte, was wie elektrische Spannung in der Luft hing: Wut. Er bestrafte das Metall. Er bestrafte sich selbst. In meinem Bauch regte sich etwas, eine Mischung aus Angst und Verlangen. Er hob den Hammer, hielt dann mitten im Schlag inne; ließ den Arm sinken und drehte sich um. Sein Gesicht wirkte rot und abgespannt. Es war, als hätte ich ihn bei einer hingebungsvollen Tätigkeit gestört, als hätte ich ihn beim Sex erwischt. »Ridley«, sagte er, so als wäre er sich nicht sicher, ob ich wirklich da war. Ich schwieg einen Moment. Es war mir peinlich, dagestanden und ihn angestarrt zu haben. »Hi«, meinte ich schließlich und machte einen Schritt auf ihn zu. Wände und Decke warfen das Echo meiner Schritte zurück. Er wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und legte den Hammer auf den Boden. »Alles okay?«, fragte er. »Ja«, antwortete ich und trat ins Licht. »Ich hatte ganz vergessen, dir zu sagen, dass die Klingel nicht funktioniert«, erklärte er und warf mir einen seltsamen Blick zu. 133
»Ich hab die Tür offen gelassen und gehofft, du würdest dagegendrücken.« Ich nickte. »Hab ich auch gemacht.« »Das dachte ich mir.« Er sah anders aus. Sein Gesicht wirkte hart. In dem gleißenden Licht waren die Narben an seinem Körper nicht zu übersehen. Die Linie zwischen Hals und Schlüsselbein musste von einem scharfen Gegenstand stammen, der sternförmige Wulst an seiner Schulter von einer Kugel. Wer war dieser Typ? Warum hatte ich einem Fremden so viel von mir offenbart? Ohne es zu merken, war ich zurückgewichen, aber er kam auf mich zu und legte seine Hand sanft auf meine. »Ist schon gut«, sagte er, so als hätte er die plötzliche Unsicherheit in meinem Blick bemerkt. »Wenn ich arbeite, bin ich in einer anderen Welt. Ich verlaufe mich in meinem eigenen Kopf.« Ich nickte. Dafür hatte ich natürlich Verständnis. Ich streckte die Hand nach der Narbe an seiner Schulter aus und sah, dass er unmerklich zusammenzuckte. Ich hielt inne, blickte ihm ins Gesicht und fuhr dann mit einem Finger über die dünne, helle Linie. Sie war weicher als seine übrige Haut, wie feine Gaze. Ich spürte, wie er unter meiner Berührung erzitterte. Er schloss die Augen. Ich legte meine Hand auf die geschwollene Narbe an seiner Schulter; es fühlte sich an, als steckte ein Gummiball unter seiner Haut. Mir kam nur ein Wort in den Sinn: Schmerz. Ich lehnte mich an ihn. Es war mir egal, dass er nass geschwitzt war. Ich fragte ihn nicht, woher die Narben stammten. Einerseits, weil ich mir nicht sicher war, ob ich es wirklich wissen wollte, andererseits, weil ich ahnte, dass er noch nicht so weit war. Ihn direkt zu fragen, wäre aufdringlich gewesen und hätte die Aufkündigung unseres stillschweigenden Übereinkommens bedeutet, wonach er mir alles, was ich wissen müsste, zu seiner Zeit erzählen würde. Ist es möglich, vor jemandem auf 134
der Hut zu sein und ihm gleichzeitig zu vertrauen? Er drückte mich fest an sich, dann ließ er mich los und zog sich aus, seinen Mund immer an meinem Hals. Das grelle, weiße Licht verunsicherte mich, als er mich entkleidete. Aber ich wehrte mich nicht. In diesem Licht konnte man sich nicht verstecken. Jeder Makel, jede Schwäche würde sichtbar werden. Aber sehnen wir uns nicht alle ebenso stark danach, wie wir uns davor fürchten? Uns ganz zu zeigen und trotzdem geliebt zu werden? Während wir auf unseren Kleidern am Boden lagen und der Reißverschluss meines Mantels sich in meinen Rücken bohrte, drang er tief und grob in mich ein. Es war wie ein Erdbeben. Wir lagen eine Weile da, ganz still, und sahen uns nur an. Jedes Wort wäre banal und überflüssig gewesen. Aus der Ferne hörte ich das schwache Rauschen des Verkehrs. Aus einem kleinen Nebenraum, den ich für sein Büro hielt, drang das blaue Licht seines Computermonitors. Ich begann zu frieren. Die Weichheit und Güte, die mir zuerst an ihm aufgefallen war, hatte sich, während wir uns liebten, wieder eingestellt, und ich war froh darüber. »Hör mal«, begann er und nahm meine Hand. »Wir müssen uns unterhalten.« Ich hasse es, wenn Leute das sagen. Es bedeutet meist nichts Gutes. »Worüber?«, fragte ich und lachte nervös. »Warte mal, ich ahne es … du bist ein mormonischer Fundamentalist und willst mich als deine dritte Frau ehelichen.« »Ah, nein.« »Du bist bei der CIA, machst gerade Urlaub von einer supergeheimen Mission und weißt nicht, wann wir uns wiedersehen werden.« »Auch nicht.« 135
»Du bist wirklich ein Varietékünstler?« »Im Ernst, Ridley«, sagte er und stützte sich auf einem Ellbogen auf. »Es geht um dein Problem, weißt du noch? Ich hatte dir doch erzählt, dass ich jemanden kenne, der dir vielleicht weiterhelfen kann.« Ich nickte. »Ich wollte es dir sagen, gleich nachdem du hergekommen bist, aber …« »Meine Zunge steckte in deinem Mund?« »Genau«, meinte er und lachte leise. Er streckte die Hand aus und schob eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. Er hatte das schon einmal getan. Es fühlte sich gut an, gerade so, als würden wir uns schon lange kennen. Ich schaute weg. Es war mir fast gelungen, die ganze Angelegenheit aus meinen Gedanken zu verbannen, und nun machte ich mich auf eine neue Welle von Angst und Traurigkeit gefasst. »Na, dann … erzähl mir von ihm.« »Nein, ich möchte dir lieber etwas zeigen. Komm, wir ziehen uns an und gehen in meine Wohnung.«
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DREIZEHN
T
he New Jersey Record
LEICHE VON JUNGER MUTTER ENTDECKT; KLEINKIND VERSCHWUNDEN Von Margaria Popick 27. Oktober 1972 – Hackettstown, New Jersey Heute Morgen wurde die 25-jährige Teresa Elizabeth Stone in ihrem kleinen Apartment im Oak-Groves-Komplex an der Jefferson Avenue ermordet aufgefunden. Nachbarn hatten die Polizei verständigt, nachdem der Fernseher der jungen Frau fast 24 Stunden lang bei voller Lautstärke gelaufen war – ungewöhnlich für die junge, allein erziehende Mutter, die für eine Immobilienfirma in Manhattan als Rezeptionistin arbeitete, um sich und ihre 18 Monate alte Tochter Jessie Amelia Stone zu ernähren. Die kleine Jessie wird noch vermisst. Mrs. Stone wurde in der Küche ihrer Wohnung am Boden liegend entdeckt. Sie wurde auf brutale Weise erschlagen. Es gibt keine Hinweise auf ein gewaltsames Einbrechen des oder der Täter; den Nachbarn zufolge soll die junge Frau jedoch einen gewalttätigen Freund gehabt haben, der auch der Vater von Jessie ist. Seit Jahresbeginn hatte die junge Mutter nach Streitigkeiten mit ihrem ehemaligen Lebensgefährten häufiger die Polizei gerufen. Mrs. Stone hatte erst letzten Monat eine einstweilige Verfügung gegen den Mann erlangt, um sich vor Übergriffen zu schützen. Anwohner beschreiben Mrs. Stone als ruhige, fleißige junge Frau und hingebungsvolle Mutter. Maria Cacciatore, eine Nachbarin, hatte häufiger auf die kleine Jessie aufgepasst, während Mrs. Stone bei der Arbeit war. »Wir sind verzweifelt. 137
Ich hätte nie gedacht, dass so etwas passieren könnte«, sagte Mrs. Cacciatore. »Sie hat ihre Kleine geliebt wie verrückt. Wie verrückt!« Die Polizei sucht jetzt nach Christian Luna, dem Exfreund des Opfers. Es wird vermutet, dass Jessie sich in seiner Gewalt befindet. Luna wird als äußerst gefährlich eingeschätzt. Die Polizei bittet die Bevölkerung um Mithilfe. Hinweise auf den Aufenthaltsort des Flüchtigen nimmt jede Polizeidienststelle entgegen. »Wo hast du das her?«, fragte ich und starrte auf die Fotokopie, die vor mir lag. Zu dem Artikel gehörte auch ein Foto. Es war das gleiche, das ich in meiner Post gefunden hatte. Leichte Übelkeit stieg in mir auf, meine Kehle war wie ausgetrocknet. »Mein Freund, der Privatdetektiv, hat das Schriftbild des zweiten Ausschnitts erkannt. Er hat sich ins Internetarchiv der Zeitung eingeloggt und wurde fündig.« »Wie ist das möglich?«, unterbrach ich. Ich sah wieder auf den Artikel. »Das ist Times New Roman, diese Schrift benutzen Tausende von Zeitungen!« »Hey«, sagte er sanft, »er hatte Erfolg, oder? Es hat ihn ein paar Stunden gekostet, aber hier ist das Ergebnis.« »Das kommt mir zu einfach vor«, erklärte ich. Meine Stimme klang zweifelnd, aufgebracht, so als würde ich meinen Augen nicht trauen. An dieser Stelle fragen Sie sich vielleicht, warum ich so aggressiv war? Immerhin hatte ich Jake gebeten, genau das für mich zu tun, was er getan hatte. Trotzdem war ich wütend, fühlte mich verletzlich, in der Defensive. Es ärgerte mich, dass er so schnell auf den Artikel gestoßen war. Vielleicht hatte ich gehofft, dass er gar nichts finden würde. Mir fielen die unzähligen Einträge auf LexisNexis wieder ein und dass ich nicht die Ausdauer gehabt hatte, sie zu durchforsten. Wenn ich 138
mich ein wenig angestrengt hätte, wäre ich vielleicht auch fündig geworden. Ich ging zum Fenster und schaute auf die First Avenue hinunter. Gegenüber lag Pete’s Gewürzladen, daneben die italienische Bäckerei (nicht zu verwechseln mit Verniero’s). Der Anblick war mir mehr als vertraut, trotzdem fühlte ich mich wie auf einem fremden Planeten. Auf der Treppe zum Eingang gegenüber, der mich an das Haus meines Bruders erinnerte, hingen ein paar Jugendliche mit um den Kopf gewickelten Tüchern und in den Knien hängenden Jeans ab. Ich dachte an meine Begegnung mit Ruby. Meine Gedanken schweiften ab. »Was bedeutet das?«, fragte ich schließlich. Jake saß auf der Couch und wartete geduldig, bis ich meine Gedanken geordnet hatte. »Ich weiß nicht«, antwortete er. »Vielleicht bedeutet es gar nichts.« Er schwieg, dann sagte er: »Da ist noch mehr.« Ich drehte mich zu ihm um, ging zurück zum Tisch, setzte mich, schlang die Arme um meinen Körper und beugte mich vor, so als hätte ich starke Bauchschmerzen. Ich wünschte sie mir geradezu. Ich wünschte mir, auf der Stelle mit einem Blinddarmdurchbruch umzukippen und das Bewusstsein zu verlieren. Auf diese Weise könnte ich der ganzen Sache entfliehen. »Mein Freund hat drüben auf dem Polizeirevier von Hackettstown einen Kontaktmann, den hat er einfach angerufen. Der Fall wurde nie aufgeklärt. Christian Luna wurde nie ergriffen, nie verhört und nie verurteilt. Die kleine Jessie ist nie wieder aufgetaucht.« »Wie heißt er?« »Wer?« »Der Freund, der das für dich getan hat.« 139
Für den Bruchteil einer Sekunde zögerte er. »Harley. Wir sind zusammen aufgewachsen. Er schuldet mir mehr als einen Gefallen. Ich habe ihm während der letzten Jahre öfter ausgeholfen.« »Er ist ein Detective? Bei der Polizei?« »Nein, er ist Privatdetektiv.« Ich nickte. Wozu wollte ich das wissen? Ich hatte keine Ahnung. Vielleicht wollte ich das Ganze hinauszögern, indem ich mich bemühte, irgendeinen Beweis für die Inkompetenz von Jakes Freund zu finden; so als wäre er nicht glaubwürdig und könnte diese Fakten unmöglich ausgegraben haben. Aber es klappte nicht. Man kommt nicht an gegen etwas, das schwarz auf weiß vor einem liegt. Man kann es versuchen, aber dabei macht man sich nur lächerlich. Mein Blick fiel wieder auf die Kopien auf dem Tisch. Das Foto von der Frau und ihrem Kind war so überbelichtet, dass sie wie Geister wirkten. Der vergilbte Zeitungsausschnitt, den ich bekommen hatte, lag daneben. Irgendjemand hatte dieses Stück Papier mehr als dreißig Jahre lang aufbewahrt. Und vor einigen Tagen hatte er entschieden, sich davon zu trennen und es an mich zu schicken. Ich drehte den Gedanken im Kopf hin und her und versuchte mir vorzustellen, was mich veranlassen würde, mich von einem Gegenstand zu trennen, den ich dreißig Jahre lang gehortet hatte. Es kam nur ein einziger Grund in Frage: die Hoffnung, dasjenige zurückzugewinnen, was der geliebte Gegenstand verkörperte. Aus keinem anderen Grund hängen wir an den Dingen, an alten Fotos, Schmuckstücken, vergilbten Briefen. Sie sind Talismane, kleine, verzauberte Splitter. Sobald wir sie berühren, bekommen wir für eine Sekunde das zurück, was die Zeit vernichtet und uns gestohlen hat. »Christian Luna wurde 1941 in der Bronx geboren«, las Take aus einem kleinen schwarzen Buch vor. »Er ging in Yonkers auf die Highschool, machte 1960 seinen Abschluss und trat in die 140
Armee ein. Nach achtzehn Monaten wurde er ehrenhaft entlassen. Genaueres weiß ich darüber noch nicht. 1962 zog er nach Hackettstown, New Jersey, wo er verschiedentlich als Maschinenbauer arbeitete. Er hat nie geheiratet. Eine Tochter, Jessie Amelia Stone. 1968 wurde er mal wegen Trunkenheit am Steuer festgenommen und musste dreihundert Stunden Sozialdienst ableisten. 1970 wurde er dreimal inhaftiert, immer nach häuslichen Streitigkeiten. Es kam nie zur Anklage. Im September 1972 erwirkte Teresa Stone eine einstweilige Verfügung gegen ihn. Aber das ist schon alles. Nach Teresas Ermordung ist er wie vom Erdboden verschwunden. 1974 lief sein Führerschein ab; ein Antrag auf Verlängerung wurde nie gestellt. Kein Eintrag ins Wahlregister, keine Arbeitgeber, keine weiteren Verhaftungen. Aus seinem Persönlichkeitsprofil zu schließen, ist er weder clever genug, noch scheint er die richtigen Leute zu kennen, um sich eine neue Identität zuzulegen. Entweder hat er das Land verlassen – wahrscheinlich in Richtung Kanada oder Mexiko, offiziell besitzt er ja keinen Pass – oder er ist irgendwo unbemerkt gestorben.« »Was hat das mit meinem Problem zu tun?«, fragte ich. Ich war immer noch wütend, versuchte immer noch, mir etwas vorzumachen. Jake zuckte mit einem halbwegs geduldigen Lächeln die Schultern. Entweder hatte er meine schlechte Laune gar nicht bemerkt, oder er hatte sehr viel Verständnis dafür. »Hör mal«, sagte er, stand auf, zog einen Stuhl heran und setzte sich zu mir. »Entweder willst du der Sache nachgehen oder du willst es nicht. Hattest du mich nicht gebeten, diese Nachforschungen anzustellen?« Ich nickte. Hinter meinem linken Auge machte sich wieder der Kopfschmerz bemerkbar. Jake legte mir die Hand auf den Arm. »Willst du wirklich immer noch herausfinden, was das alles bedeutet?«, fragte er und nickte in Richtung des Papierhaufens auf dem Tisch. »Wenn du es nämlich nicht wissen willst, müssen wir uns überlegen, wie du dich am besten schützen 141
kannst und nicht weiter belästigt wirst. Es ist deine Entscheidung. Es ist dein Leben. Nur du kannst wissen, ob du das Risiko eingehen willst, dass es völlig aus den Fugen gerät. Ich glaube, es ist noch nicht zu spät, das Ganze einfach zu vergessen.« Er wirkte ruhig und gelassen, aber tief in seinen Augen glühte etwas. Er gab mir eine letzte Chance, meine Illusionen aufrechtzuerhalten; und obwohl es sicher nicht in seinem Sinn war, hoffte er in meinem Interesse, dass ich mich für die Verdrängung entschied. Von wem stammt doch gleich dieses Zitat, nach dem der Verstand sich, hat er einmal das Licht erblickt, nie wieder verdunkeln kann? »Ich möchte herausfinden, was los ist. Wirklich.« »Okay«, sagte er langsam und sah mich durchdringend an. Erst als er meinen Arm losließ, bemerkte ich, wie fest sein Griff gewesen war. »Wenn wir also herausfinden wollen, wer dir die Zeitungsausschnitte und das Foto geschickt hat, müssen wir uns zuerst mit dem auseinandersetzen, was wir schon haben. Wir haben den Artikel. Und wir haben einen Namen: Christian Luna.« »Und wir haben eine Telefonnummer«, sagte ich und hielt den Zettel hoch. Schweigen. Jakes Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. »Glaubst du, dass er es ist?«, fragte ich. »Meinst du, Christian Luna hat das getan?« Jake zuckte die Schultern. »Na ja, das wäre zum jetzigen Zeitpunkt vielleicht zu weit spekuliert.« »Aber du hältst es für möglich?« »Er scheint als Verdächtiger in Frage zu kommen. Trotzdem gibt es da große Ungereimtheiten.« »Zum Beispiel?«
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»Zum Beispiel, um nur eine zu nennen: Wo hat er die letzten dreißig Jahre gesteckt? Und was ist mit Jessie geschehen? Wenn Christian Luna Teresa Stone umgebracht hat – und ich will damit nicht behaupten, er hätte es getan –, dann wüsste er doch, was mit dem kleinen Mädchen passiert ist. Aber falls er Teresa Stone nicht umgebracht und Jessie nicht entführt hat … wer dann?« »Was ist mit der Telefonnummer? Gibt es nicht auch so was wie eine Rückwärtssuche?« Jake nickte. »Die gibt es tatsächlich. Ich hab die Nummer schon eingegeben.« Er ging zu seinem Computer und schob die Maus hin und her. Der schwarze Bildschirm erwachte zum Leben, und Jake rief eine Seite mit dem Namen netcop.com auf. Er gab die Telefonnummer in ein Feld ein. Ein Name und eine Adresse wurden angezeigt, zusammen mit einer Umgebungskarte. Amelia Mira, 6061 ½ Broadway, Bronx, New York. »Wer auch immer dir die Nummer geschickt hat, ein Profi ist er nicht«, meint Jake, »und von Computern hat er keine Ahnung. Ansonsten hätten wir das niemals so schnell rausgefunden.« »Hieß Jessie mit zweitem Vornamen nicht Amelia?«, fragte ich. Jake lächelte. »Schnell geschaltet. Bist du sicher, dass du so etwas nicht schon mal gemacht hast?« »Klar. Ridley Jones, tagsüber Journalistin, nachts als Schnüfflerin unterwegs«, antwortete ich ernst. Mir war nicht nach Witzen zumute. »Okay. Wer also ist sie?« »Ich weiß es nicht. Ich habe nichts über sie rausfinden können.« Ich seufzte, stand auf und lief im Zimmer auf und ab. Ich betrachtete Jake, und wieder fielen mir seine Hände auf, groß
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und kantig, und wie sich die Ärmel seines T-Shirts über seine Muskeln spannten. Irgendetwas störte mich. »Jake«, sagte ich, »ich verstehe nicht, woher du all diese Informationen hast. Und warum du dich so gut auskennst.« »Ich hab es dir doch erklärt.« »Ja, aber das Ganze scheint dir überhaupt nicht unangenehm zu sein, so als hättest du Übung drin.« Er lächelte. »Ich wollte insgeheim immer Detektiv sein. Außerdem kenne ich viele Polizisten. Wenn man oft genug mit ihnen zusammen ist, färbt das einfach ab.« Er zuckte die Achseln und deutete auf sein Notizbuch. »Damit habe ich übrigens nichts zu tun. Mein Kumpel hat die Infos für dich zusammengesucht.« Im Hintergrund hörte ich etwas schrillen, etwas, das ich nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Ich hatte seine Zärtlichkeit und Fürsorge erfahren, ich hatte ihm den verborgenen Teil meiner selbst offenbart und mich sicher genug gefühlt, ihm meinen Körper zu schenken. Aber da war etwas an ihm, selbst sein Apartment strahlte es aus – ein Gefühl der Vorläufigkeit, so als könnte er jeden Moment einfach alles in diesem Zimmer, mich eingeschlossen, zurücklassen, ohne sich auch nur einmal umzudrehen. Auf der Suche nach einem Gegenstand, der Jakes Sesshaftigkeit bestätigen, ihn realer und beständiger erscheinen lassen würde, sah ich mich in der Wohnung um. Ein Foto, ein Adressbuch, irgendetwas, das ihn mit dem richtigen Leben verbunden hätte. Aber die Wohnung war kahl, es fehlte der ganze Krempel, der aus Mieträumen ein Zuhause macht. Ich erinnerte mich an seine Worte: Es gibt da etwas, das du wissen solltest. Er hatte das letzte Nacht gesagt, aber ich hatte ihn zum Schweigen gebracht, und dann hatten wir bis zur Besinnungslosigkeit gevögelt. Wir hatten unsere Vergangenheit weggevögelt und die Gegenwart gleich dazu. Mein von der Lust (und was weiß ich noch) völlig elektrisierter Körper machte sich 144
keine Gedanken um die Zukunft. Und heute hatte ich erneut zugelassen, dass mein Verlangen alle Fragen verdrängte. »Ridley«, sagte er und trat zu mir. Ich kam mit einem Ruck ins Hier und Jetzt zurück. Er legte seine Hände auf meine Schultern und blickte mir in die Augen. Da sah ich es wieder, das gewisse Etwas, das mein Vertrauen gewonnen hatte. Er legte seine Arme um mich und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Sein Geruch löste in mir eine chemische Reaktion aus. Die Japaner kennen einen fünften Geschmackssinn, den sie Unami nennen. Spricht eine Speise ihn an, so fühlt man ein intensives Verlangen und isst weiter, auch wenn man längst keinen Hunger mehr hat. Ich erlebte gerade die emotionale Variante des Phänomens. Ich fragte ihn nicht, was er letzte Nacht gemeint hatte. »Und jetzt?«, sagte ich, während ich mich von ihm losmachte und auf das Sofa fallen ließ, das so weich war wie Granit. »Na ja, meiner Ansicht nach hast du zwei Möglichkeiten. Ruf die Nummer an und warte ab, wer sich meldet. Achte auf die Reaktion, und lege dann dein weiteres Vorgehen fest. Vielleicht wäre es aber besser, wenn ich zur Bronx fahre und mich vor Ort ein bisschen umsehe. Vielleicht kann ich irgendwas rausfinden. Wenn du anrufst, gibst du die Kontrolle ab. Du zeigst ihnen damit, dass sie es geschafft haben, dass du eingeschüchtert bist oder neugierig oder sonst was. Dann haben sie die Oberhand.« In diesem Moment setzte bei mir so etwas wie eine geistige Lähmung ein. Mir war, als sollte ich mich zwischen zwei Selbstmordvarianten entscheiden. Soll ich von der Brooklyn Bridge springen oder mir lieber in den Kopf schießen? Mir in der Badewanne die Pulsadern aufschneiden oder Schlaftabletten nehmen? Jede Methode hat ihre Vor- und Nachteile, aber am Ende ist man immer tot.
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»Warum du?«, wollte ich nach einer Weile wissen. Ich fühlte mich plötzlich so erschöpft, dass mir selbst die Formulierung dieser Frage schwerfiel. Er zuckte die Schultern. »Warum nicht?« »Hast du Erfahrung mit solchen Sachen?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf. »Du?« Ich ließ mich auf den Rücken fallen und wart ihm einen kurzen Blick zu, dann legte ich mir den Arm über die Augen. Das ist meine »Weh mir«-Position. »Vergiss es«, sagte ich und sprang auf. »Vergiss das Ganze einfach.« Ich ließ ihn sitzen und knallte beim Hinausgehen die Tür zu.
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VIERZEHN
I
ch weiß schon, was Sie denken: wie kindisch! Da war dieser wunderschöne Mann, der alles Erdenkliche getan hatte, um mir zu helfen, obwohl wir uns eigentlich kaum kannten; der freiwillig für mich in die Bronx (die Bronx!) fahren wollte, nur um herauszufinden, in was ich da hineingeraten war. Er hatte mich wirklich gern; ich spürte, dass sein Interesse an mir von der seltenen und aufrichtigen Art war. Deswegen musste ich mich natürlich wie ein Teenager benehmen und aus seinem Apartment stürmen. Niemand, der mich näher kannte, hätte sich über mein Verhalten gewundert – fragen Sie mal Zack. Ich kann nur sagen, dass ich Angst hatte, durcheinander war und so eine Art Kernschmelze durchmachte, die einen Fluchtreflex auslöste. »Raus hier! Raus hier!«, befahl mein Hirn (oder war es mein Herz?) – und ich gehorchte. Von wie vielen Menschen können Sie ehrlich behaupten, dass sie für Sie da sind? Ich meine damit nicht bloß jene Leute, mit denen man gern seine Zeit verbringt, oder die Menschen, die man liebt und denen man vertraut. Ich meine Leute, denen es gut geht, wenn man glücklich und erfolgreich ist, und die mitleiden, wenn man verletzt wird oder gerade eine schwere Zeit durchmacht. Menschen, die ihr eigenes Leben für eine Weile vernachlässigen würden, um für Sie da zu sein. Davon gibt es nur wenige. Ich konnte spüren, dass Jake einer von ihnen war, und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte. Denn das Ganze hat natürlich eine Kehrseite. Sobald sich jemand für mein Wohlergehen einsetzt – meine Eltern, zum Beispiel – bin ich ihnen in gewisser Weise verpflichtet. Was immer man sich selbst antut, tut man auch den anderen an. In meinem Leben gab es schon viel zu viele Menschen, für die ich mich auf diese Art verantwortlich fühlte. Wenn andere sich um einen kümmern, ist 147
man nicht mehr frei; nicht wenn man sich etwas aus diesen Menschen macht. Während ich an meinem Türschloss herumfummelte, kam Jake die Treppe herunter. Er setzte sich auf eine Stufe und beobachtete mich durch die Lücken zwischen dem Geländer. »Hey«, sagte er. Das Lächeln in seiner Stimme verriet mir, dass er mich amüsant fand. »Kein Grund, sich aufzuregen.« Lächelnd lehnte ich meinen Kopf an die Tür. »Wollen wir irgendwo hingehen?«, fragte ich ihn. »Klar.« Meiner Heirat mit New York City ging eine leidenschaftliche Liebesaffäre voraus. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals irgendwo anders hätte leben wollen. Die faszinierenden Gebäude, die Musik des Straßenverkehrs, die tollen Einwohner der Stadt waren für mich der Inbegriff des Erwachsenseins. Ich stellte mir immer vor, wie ich einmal durch Manhattans Straßenschluchten laufen würde, wahnsinnig erfolgreich und unglaublich cool. Das Apartment meines Onkels Max verkörperte alles, was ich an New York liebte, jeden Traum, den die Stadt mir jemals eingeflüstert hatte. Ein Penthouse auf einem Wolkenkratzer in der 57. Straße, den Onkel Max gebaut hatte. Elegante Architektur, Pförtner in schicker Uniform, Marmorfußböden, verspiegelte Aufzüge, mit weichem Teppich ausgelegte Gänge. Damals hatte ich natürlich keine Vorstellung davon, was so eine Wohnung kostete. Ich dachte, in Manhattan hätte jeder so eine luxuriöse Wohnung mit Blick über die ganze Stadt. Ich schob mich durch die Drehtür und wurde von Dutch, dem Portier, mit einem feierlichen Nicken begrüßt. Er machte eine Bewegung, als wollte er aufstehen und den Aufzug für mich rufen, aber ich winkte lächelnd ab. Er schaute über den Rand 148
seiner Brille. Die grauen, ausdruckslosen Augen eines ehemaligen Polizisten. Kühl. Ruhig. Aufmerksam. »Guten Abend, Miss Jones. Haben Sie Ihren Schlüssel?« Er bedachte Jake mit einem vielsagenden Blick. »Ja, Dutch. Danke«, antwortete ich. Meine Stimme hallte von dem schwarzen Marmorfußboden und der meterhohen Decke zurück. »Ihr Vater war heute hier«, teilte er mir mit und schaute wieder in die Zeitung, die auf dem Empfangstresen vor ihm ausgebreitet lag. »Ach, wirklich?« Eigentlich überraschte mich das nicht. Wir alle kamen gelegentlich und aus verschiedenen Gründen hierher. Wir besuchten Max’ Wohnung so, wie manche Leute auf den Friedhof gehen; wir wollten uns ihm nahe fühlen. In seinem Testament hatte er sich gewünscht, dass wir seine Asche von der Brooklyn Bridge verstreuen, was wir auch taten. Aber während Max’ Überreste durch die Luft wirbelten und sich schließlich auf die Wasseroberfläche legten, beschlich uns alle das Gefühl, einen schrecklichen Fehler begangen zu haben. Es war so, als hätten wir ihn ganz und gar weggegeben, ohne etwas für uns zurückzubehalten. Das Gefühl hielt aber nur kurz an. Man kann nichts und niemanden ewig festhalten. Wir verlieren alles, alles außer jenen Dingen, die wir im Herzen tragen. Der Anwalt von Max erinnerte meinen Vater immer wieder an den Wert der Immobilie und daran, dass allein ihr Unterhalt ein Vermögen kostete. Aber selbst zwei Jahre nach Max’ Tod war in dem Penthouse immer noch alles so, wie er es zurückgelassen hatte. »Nette Hütte«, meinte Jake, als wir drinnen waren und ich den Alarmcode eintippte: 5-4-3-2-3. Das Wort »Liebe« auf dem Zahlenblock; es war überall Max’ Passwort gewesen – zumindest überall dort, wo ich Zugang hatte. 149
Beim Hereinkommen überblickte man die ganze Stadt. Wir befanden uns im fünfundvierzigsten Stock und schauten über die First Avenue Richtung Westen bis nach New Jersey. Nachts blinkte die Stadt wie ein Sternenhimmel. »Wo sind wir hier?«, erkundigte sich Jake. »Das ist die Wohnung von Onkel Max«, gab ich zur Antwort und knipste den Schalter für die Strahler über den Gemälden und in den Vitrinenschränken an. »Warum sind wir hergekommen?« Ich zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.« Ich ging in Max’ Büro. Jake folgte mir und betrachtete dabei die Fotos an den Wänden. Bilder von mir, von Ace, meinen Eltern und Großeltern, die ich auf meinem Weg zum Schreibtisch kaum beachtet hatte. Ich knipste die Halogenlampe an und zog eine Schublade heraus. Die Akten, die früher dort lagen, fehlten jetzt. Ich öffnete zwei weitere Schubladen, auch sie waren leer. Ich drehte mich auf dem Sessel herum und betrachtete die lange Schubladenreihe aus Eichenholz. Sie verlief am unteren Rand der turmhohen, mit Büchern, afrikanischen und orientalischen Artefakten, die Max von seinen Auslandsreisen mitgebracht hatte, und weiteren Fotos von uns vollgestopften Bücherwand. Von meinem Platz aus konnte ich erkennen, dass eine der Schubladen ein klein wenig herausgezogen war. Ich öffnete sie langsam. Leer. Ich öffnete die restlichen Schubladen, eine nach der anderen. Sie waren alle leer. Ich ließ mich auf ein breites Wildledersofa sinken. Wo waren die Akten? »Was ist?«, fragte Jake und setzte sich neben mich. »Alle seine Unterlagen sind verschwunden«, erwiderte ich. Jake runzelte die Stirn. »Seit wann?« Ich schüttelte den Kopf. Ich wusste es nicht. Während der vielen Male, die ich vor und nach Max’ Tod in diesem 150
Apartment gewesen war, hatte ich nie einen Grund gehabt, die Aktenschränke zu öffnen. Ich war hergekommen, um auf dem Sofa zu liegen, an seinen Anzügen, die immer noch in den Schränken hingen, zu riechen und mir die Fotos von uns beiden anzusehen. So wie meine Mutter und mein Vater auch. Selbst Esme war schon hier gewesen. Gerüchten zufolge hatten sie und Max vor langer Zeit eine heiße Liebesaffäre gehabt. »Ich habe es endlich eingesehen«, sagte sie eines Tages zu mir. »Man kann einem Stein kein Blut abpressen. Man kann es versuchen, aber der Einzige, der blutet, ist man selbst.« Sie hatte keine Ahnung davon, dass ich wusste, über wen sie sprach. »Für diesen Mann hätte ich alles getan«, hatte sie auf meine Frage geantwortet, ob sie außer Zacks Vater – einem Anwalt, der jung an einem Herzinfarkt gestorben war, als Zack neun Jahre alt war – jemals einen Mann geliebt hätte. »Einmal«, hatte sie geantwortet. »Ist schon eine Ewigkeit her.« Meine Mutter erzählte mir, dass Esme Max sogar geheiratet hätte. »Aber dein Onkel war nicht dazu imstande, jemanden auf diese Weise zu lieben. Es ging nicht. Er war viel zu …«, sie zögerte, suchte nach dem richtigen Wort. »Zu beschädigt«, fuhr sie schließlich fort. »Und er war klug genug, sich darüber im Klaren zu sein. Es brach Esme das Herz, aber schließlich lernte sie Russ kennen und heiratete ihn. Zack kam auf die Welt. Es war für alle das Beste. Oder zumindest hätte es so sein können, wäre Russ nicht so jung gestorben. Eine Tragödie. Die arme Esme.« Die arme Esme. Der arme Zack. Mein Onkel Max und ich, die Herzensbrecher. »Könnte dein Vater sie mitgenommen haben?«, fragte Jake. Es dauerte einen Moment, bis seine Worte in meinem Gehirn ankamen. Ich war ganz in meine Gedanken über Esme und Max versunken. 151
»Die Akten? Warum?« »Der Portier hat doch gesagt, dein Vater wäre heute da gewesen. Hast du ihn nicht heute Nachmittag besucht?« Ich überlegte kurz. Ich habe mit meinem Vater geredet, woraufhin er hergekommen ist und alle Unterlagen von Max mitgenommen hat? Nein. Viel wahrscheinlicher war, dass ich ihn an Max erinnert hatte und er der Wohnung daraufhin einen Besuch abstatten, sich zwischen Max’ Sachen aufhalten wollte. Außerdem hatten die Akten Schränke gefüllt; mein Vater hätte Kartons gebraucht und einen Karren. Das sagte ich auch Jake. »Dann war es vermutlich der Anwalt«, meinte Jake. »Ja«, sagte ich und sah ein, dass das wahrscheinlich stimmte. »Natürlich.« »Woran hast du eben gedacht?«, fragte Jake und legte einen Arm um meine Schulter. »Ach, ich dachte bloß an Max. Ich wünschte, du hättest ihn kennen gelernt.« Irgendetwas huschte über Jakes Gesicht, aber schon im nächsten Moment war es verschwunden. Ich wünschte, ich hätte den Mund gehalten. Als hätte ich mich verraten. Aber Jake machte meinen Fehler sofort wieder gut. »Ja«, sagte er und küsste mich auf die Stirn. »Das wünschte ich auch. Er muss dich sehr geliebt haben«, fügte er hinzu. Ich sah ihn lächelnd an. »Warum sagst du das?« »Schau dich doch mal um. Die Wohnung sieht aus wie eine Gedenkstätte für dich.« »Nicht für mich«, meinte ich lachend, »für uns, für die ganze Familie!« »Ja, klar. Es gibt Fotos von euch allen. Aber du stehst ganz klar im Mittelpunkt.« »Nein«, widersprach ich. Mein Blick fiel auf ein Bild, das auf dem Schreibtisch stand. Ich, drei oder vier Jahre alt, sitze auf 152
Max’ Schultern, habe meine Arme um seinen Kopf geschlungen und lehne mich lachend zurück. Ich stand auf, ging in den Flur und betrachtete die Fotos dort. Ich war den Korridor unzählige Male entlanggelaufen, war mit den Fotos aufgewachsen und hatte aufgehört, sie zu beachten. Ich sah sie gar nicht. Es waren wunderschöne Abzüge, manche schwarzweiß, manche in Farbe, alle professionell bearbeitet und in vergoldeten oder versilberten Holzrahmen. Als ich sie jetzt betrachtete, begegnete ich mir selbst in so gut wie jedem Lebensalter. Als kleines Mädchen in der Badewanne, während meine Mom mir die Haare wäscht. Mein erster lag auf dem Fahrrad, am Strand, im Schnee, der Schulball, die Abschlussfeier. Sicher, auf vielen Fotos war ich von meiner Familie umgeben; Ace und ich auf dem Schoß des Weihnachtsmannes, mein Vater und ich im Karussell in Disneyland, wir alle bei meiner Schulaufführung. Aber Jake hatte Recht. Es war mir nie aufgefallen. Ihr zwei hattet ein ganz besonderes Verhältnis, hatte mein Vater gesagt. Ich wusste natürlich, dass es stimmte. Aber ich hatte es immer für selbstverständlich gehalten, wie so vieles in meinem Leben. Es war eben so. »Kein Wunder, dass Ace eifersüchtig war«, sagte ich laut. »War er das?«, fragte Jake, der sich hinter mich gestellt hatte. »Na ja«, seufzte ich und betrachtete das Bild von Ace und mir, wie wir zusammen eine Wasserrutsche hinuntersausen, seine Arme um meinen Bauch. Ich erinnerte mich daran, dass wir, Sekunden nachdem das Foto entstand, ins Wasser klatschten und mit den Köpfen zusammenstießen. Ich jammerte, während Ace mich an den Beckenrand zog. »Ist schon gut, Ridley, es tut mir leid«, sagte er. »Nicht weinen. Wenn du weinst, müssen wir rein.« Kurz darauf zog Onkel Max mich aus dem Wasser und trug mich ins Haus. Von meinem Badeanzug wurde sein blaues Hemd ganz feucht.
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»Spiel nicht so wild mit ihr, Sportsfreund«, sagte er zu meinem Bruder. Er klang nicht barsch oder verärgert. »Sie ist noch ein kleines Mädchen.« Ich weiß noch, wie Ace sich am Beckenrand festhielt und uns nachblickte. Ich versuchte, mich an sein Gesicht zu erinnern. War er wütend gewesen? Traurig? Zerknirscht? Eifersüchtig? Ich wusste es nicht mehr. »Wir haben eigentlich nie darüber geredet«, antwortete ich Jake. »Mein Vater glaubte es jedenfalls.« Plötzlich meldete sich der Kopfschmerz zurück. »Was meinst du, wie eifersüchtig ist er?«, fragte Jake. »Nicht eifersüchtig genug für das, worauf du anscheinend hinauswillst«, gab ich zur Antwort und zog den Zeitungsartikel aus der Tasche. Ich faltete ihn auf und sah mir das Bild noch einmal an. Zwei Geister starrten zurück, eine Frau und ein kleines Mädchen. Jake schwieg. Er drückte sich an der Tür herum. Ich merkte, dass er sich hier unwohl fühlte, dass er gehen wollte. Ich fragte ihn nicht, warum. Vielleicht hatte die luxuriöse Einrichtung Jake eingeschüchtert. Als bildender Künstler musste er gleich erkannt haben, dass der Miró an der einen Wand und die Zeichnung von Dali an der anderen Originale waren. Zack hatte mir einmal gesagt, er fühle sich in Max’ Apartment wie in einem Museum. Jeden Augenblick könnte ein Aufseher hereinkommen und einen bitten, die Füße vom Sofa zu nehmen. »Aber vielleicht ist er ja eifersüchtig genug, um Öl ins Feuer zu gießen. Um dich einen Verdacht schöpfen zu lassen, der gar nicht gerechtfertigt ist.« Ich starrte ihn an. Warum unterstellten alle Ace immer nur das Schlechteste? Dass er drogenabhängig war, machte noch lange keinen Psychopathen und Lügner aus ihm. Oder doch? Jake hob die Hände, wahrscheinlich reagierte er damit auf meinen Gesichtsausdruck. 154
»War nur so ein Gedanke«, sagte er. Und der Gedanke lag nahe. Wenn ich meinen Bruder nicht von vornherein verteidigt hätte, was vielleicht daher kam, dass ich ihn jahrelang vor Zack hatte verteidigen müssen – ich wäre auf denselben Gedanken gekommen. In dem Augenblick verspürte ich aber lediglich den Wunsch, mich ein Stück weit von Jake zu distanzieren. Niemand ist besonders glücklich, wenn man ihm eine Wahrheit ins Gesicht sagt, für die er noch nicht bereit ist. Auf dem Weg nach draußen fragte ich Dutch, ob mein Vater etwas mitgenommen oder ob Dutch ihm mit irgendwelchen Kisten geholfen hätte. Dutch verneinte. »Warum? Fehlt etwas?«, fragte er stirnrunzelnd. Nein, eigentlich nicht. Bloß ein kleines Mädchen namens Jessie. Ich lächelte und schüttelte den Kopf. In der U-Bahn und während des Fußmarsches bis zu unserem Haus schwieg ich. Wenn Jake das etwas ausmachte, ließ er es sich zumindest nicht anmerken. Ich traf eine Entscheidung. Ich wurde neuerdings herumgeschleudert wie ein Schiff in einem Wirbelsturm, und ich war es leid. Alles, worüber ich bis jetzt verfügte, waren Informationen, die andere mir hatten zukommen lassen. Der mysteriöse Spinner, der mir Post schickte; meine Eltern, mein Bruder, ja sogar Jake. Jeder konfrontierte mich mit seiner Sicht der Dinge, und die war jedes Mal eine andere. Wenn ich begreifen wollte, was um mich herum passierte, musste ich die Wahrheit selbst herausfinden. Folglich entschied ich, es sei an der Zeit, in die Bronx zu fahren. Ich teilte Jake meinen Entschluss mit. Er hielt ihn für keine gute Idee und versuchte, mir das auf höfliche Art beizubringen. »Aber es war deine Idee«, sagte ich. Wir standen vor seinem Apartment.
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»Ich hatte die Idee hinzufahren. Ich! Nicht du und nicht wir. Ich.« »Warum machst du es zu deinem Problem?«, fragte ich. »Warum ist es dir so wichtig?« Er sah mich an und legte seine Hände auf meine Schultern. »Es ist mir nicht wichtig. Du bist mir wichtig. Sehr sogar. Ich glaube, mehr als du es sein dürftest zu diesem Zeitpunkt.« Er hielt inne, seufzte und senkte den Blick. Ich bemerkte, dass er rot wurde. »Aber ich werde nicht kommentarlos zusehen, wie du dich in Gefahr begibst. Und das tust du meiner Ansicht nach. Ridley, um Himmels willen, du wirst beobachtet! Hast du das schon vergessen? Er war in der Pizzeria, er war in diesem Haus.« »Du hast Recht. Nicht mal in meinem eigenen Zuhause bin ich noch sicher. Da ist es doch egal, ob ich in die Bronx fahre. Du kannst ja mitkommen.« Klingt meine Logik ein wenig verdreht? Vermutlich. Ich hatte jedoch keinerlei Erfahrung in solchen Dingen. Mich hatte nur plötzlich ein unbändiges Verlangen gepackt, selbst herauszufinden, was gespielt wurde. Ich wollte mich nicht länger von Leuten informieren oder belügen oder beeinflussen lassen, deren Eigeninteressen der Wahrheit womöglich entgegenstanden. Genau das sagte ich Jake. »Ridley, sei vernünftig.« Das machte mich wütend. Ich mochte es nicht, wenn man mit mir redete wie mit einem Kind. Sei vernünftig? Weil ihm zu widersprechen automatisch bedeutete, unvernünftig zu sein? Typisch. »Nein. Du kannst mich mal! Du hast mir gar nichts vorzuschreiben«, rief ich. Ach ja, meine Launen … Er seufzte. »Okay.«
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Er ging in seine Wohnung. Ich folgte ihm und schloss die Tür. Er zog seine Lederjacke aus und schleuderte sie aufs Sofa. Ich versuchte, nicht auf sein schwarzes T-Shirt zu schielen, unter dem sich seine muskulöse Brust abzeichnete. Er setzte sich. »Dann bist du eben auf dich gestellt«, sagte er. »Entweder fahre ich allein oder gar nicht.« Er bluffte nur. »Ach ja? Wozu soll das gut sein?« »Ich kann nicht zulassen, dass du in eine Situation gerätst, die am Ende gefährlich für dich werden könnte. Wenn du unbedingt darauf bestehst, dir selbst zu schaden – bitte schön. Aber ich werde dabei nicht mitmachen.« Ist es nicht typisch männlich, so zu tun, als wären Kontrolle und Schutz ein und dasselbe? Er mahlte mit dem Kiefer. Bluffte tatsächlich, da war ich mir sicher. Und nebenbei bemerkt, war ich nicht besonders erpicht darauf, allein zu fahren. »Na toll. Egal. Bis dann.« Ich bluffte, so viel war klar. Aber er rührte sich nicht, ließ mich nicht aus den Augen, so als wartete er darauf, dass ich mich wieder einkriegte. Ich verließ seine Wohnung und knallte mit der Tür. Während ich nach unten ging, wartete ich darauf, dass er mir nachkäme; tat er aber nicht. Ich verließ das Haus, bog nach links in die 14. Straße und nahm den Bus zur West Side. Aus reinem Trotz fuhr ich mit der Linie 1/9 bis zur 242. Straße in die Bronx. Während der Fahrt, die immerhin fast eine Stunde dauerte, fragte ich mich, was, zum Teufel, ich dort eigentlich wollte. Die New Yorker U-Bahn hat etwas Mystisches. Egal, ob Sie schon einmal mit ihr gefahren sind oder nicht – wahrscheinlich haben Sie ein gewisses Bild von ihr im Kopf. Und das ist möglicherweise kein besonders schönes. Wenn Sie die Augen schließen, sehen Sie bestimmt die alten roten Wagen vor sich, 157
die unter Manhattans Straßen durch die Tunnel rattern. Vor Ihrem geistigen Auge sind die Züge mit Graffiti beschmiert, und in jeder Kurve flackert die Beleuchtung oder fällt ganz aus. In Ihrer Vorstellung suchen hier Vergewaltiger, Straßenräuber, Totschläger, Gangmitglieder und Serienmörder aller fünf Bezirke Unterschlupf. Ältere New Yorker, Menschen, die mit der U-Bahn groß geworden sind, haben mir erzählt, dass diese Beschreibung vor gar nicht so langer Zeit noch zutreffend war. In meinem persönlichen New York hingegen ist die U-Bahn nur eins von vielen Verkehrsmitteln, und in den meisten Fällen das zuverlässigste. Die neuen Züge werden regelmäßig gewartet und sind gegen die Graffiti antihaftbeschichtet. Am meisten stört mich die unglückliche Kombination von Beige- und Orangetönen, die das Design beherrscht. Mit den vielen Obdachlosen, den Menschenmassen zur Hauptverkehrszeit, den seltsamen und unerklärlichen Verspätungen und den fehlenden Klimaanlagen in den U-Bahnhöfen selbst (wo man sich im Sommer fühlt wie am Tor zur Hölle) gehört die U-Bahn wohl zu den unangenehmsten Orten der Welt. Trotzdem habe ich mich hier noch nie unsicher gefühlt. Normalerweise kann man zu jeder beliebigen Tageszeit davon ausgehen, mit vielen anderen Passagieren unterwegs zu sein. Aber nachdem die U-Bahn an der 96. Straße gehalten hatte und jetzt zur Bronx hinaufkroch, saßen nur noch wenige Leute im Wagen. Ein Junge in Privatschuluniform mit einem vollgestopften Rucksack hörte Walkman und bewegte sich zu einem Takt, den ich im Geratter der U-Bahn noch gerade so hören konnte. Eine alte Frau mit einem dunkelblauen Wollmantel und geblümtem Rock las in einem Liebesroman. Ein Typ mit Glatze (die nichts mit Haarausfall zu tun hatte, sondern das Ergebnis einer Rasur war), Lederjacke und abgewetzten Jeans war mit zurückgelehntem Kopf und offenem Mund eingedöst. Bis zur 116. Straße war ich selbst fast eingenickt; ich schlief nicht, sondern
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verlor mich in einer Art Tagtraum, in dem alle meine Gedanken um Onkel Max kreisten. Bei all seiner Freundlichkeit war mein Onkel Max in New York ein mächtiger Mann gewesen, was jedoch auf ein Kind wenig Eindruck machte. Wenn man zwölf Jahre alt ist, scheint es nichts Besonderes zu sein, wenn der Onkel mit Senatoren und Kongressabgeordneten Golf spielt oder in Magazinen wie Forbes neben Donald Trump und Arthur Zeckendorf abgelichtet wird. Vielleicht hätte ich mich mehr für Max’ Arbeit interessiert, wenn er sich backstage mit Bono oder Simon LeBon getroffen hätte. Das Immobiliengeschäft an sich ist nicht besonders sexy, falls Sie verstehen, was ich meine. Später, nach meinem ersten Ball, den die Stiftung veranstaltete, machte ich mir nach und nach ein Bild von dem Einfluss, den mein Onkel ausübte, und von den Menschen, die er kannte. Er hatte die Wahlkämpfe von Leuten wie Al D’Amato, George Pataki und Rudolph Giuliani großzügig unterstützt. Er verfügte über nützliche Beziehungen, die er in seinem Geschäft auch brauchte. Er war darauf angewiesen, Papierkriege zu gewinnen und Bauvorschriften zu umgehen – oder dafür zu sorgen, dass sie geändert wurden. Es gab auch Gerüchte über dubiose Verbindungen. Wenn man es sich genau überlegt, wird schnell klar, dass Max an der Ostküste keine Immobiliengeschäfte tätigen konnte, ohne jene Leute zu kontaktieren, die das Baugewerbe in der Hand haben. Den Umstand, dass die Interessen meines Onkel Max oft mit denen wenig vertrauenswürdiger Personen übereinstimmten, hatte ich in eine hintere Ecke meines Bewusstseins geschoben. Immerhin war Alexander Harriman, der Anwalt meines Onkels, für seine Klientel berüchtigt. Ich hatte jedoch nie einen ernsthaften Gedanken daran verschwendet – nicht bis heute. Ich hatte in Max immer nur meinen Onkel gesehen, nie den Mann, der er außerhalb unserer Familie war. Ein bedeutender Unternehmer, wohlhabend, einflussreich und einsam; seine 159
Frauenbekanntschaften waren wechselnd und nie von langer Dauer. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass die Zuneigung seiner Freundinnen nie echt war, dass sie ihm etwas vorspielten. Jetzt fragte ich mich, ob sie Callgirls gewesen waren? Oder einfach nur Goldgräberinnen, Frauen, die seine Nähe suchten, weil er ihnen teure Geschenke machte, sie überallhin mitnahm und sie wichtigen Leuten vorstellte? Onkel Max, sagte ich leise, nur für den Fall, dass er mich hören konnte, es tut mir leid, aber vielleicht habe ich dich nie gekannt. Ist es nicht seltsam, dass die Titanen unseres Lebens, jene Menschen, die unsere Kindheit beherrschen und uns zu dem machen, was wir sind, gar keine richtigen Menschen mit Fehlern und einem Eigenleben sind? Sie stellen vielmehr Archetypen dar – die Mutter, der Vater, der nette Onkel – die im Film unseres Lebens nur Staffage sind. Sobald andere Facetten ihrer Persönlichkeit hervortreten und wir neue Eigenschaften an ihnen entdecken, reagieren wir schockiert, so als wäre unter ihrem alten Gesicht ein neues, unbekanntes zum Vorschein gekommen. Der U-Bahn-Waggon ruckelte und schwankte. Ich machte die Augen auf und stellte fest, dass ich mit dem schlafenden Typ in Lederjacke und alten Jeans allein war. Noch eine Haltestelle, dann würde der Zug den Tunnel verlassen und als Hochbahn weiterfahren. Ich schloss erneut die Augen. Dann überlegte ich, ob der Typ nicht vorhin noch am anderen Ende des Waggons gesessen hatte. Bei dem Gedanken krampfte sich mein Magen zusammen. Ich öffnete die Augen ein wenig, nur um zu sehen, dass der Kerl inzwischen hellwach war und mit einem merkwürdigen, müden Lächeln herüberstarrte. Mein Atem ging schneller, doch ich bemühte mich, es mir nicht anmerken zu lassen. Neben ihm auf dem Boden lag eine längliche Kiste, die aussah wie ein Instrumentenkoffer. Bei dem Anblick fühlte ich mich erleichtert. Ich hatte schon immer eine Theorie, nach der man vor Leuten, die etwas zu tragen haben, nichts zu befürchten hat. Kein Mörder, Räuber, Vergewaltiger oder gar Serienkiller 160
schleppt während seiner Streifzüge Ballast mit sich herum. Er muss beide Hände frei haben. Selbst ein Rucksack auf dem Rücken würde ihn behindern. Meine Erleichterung verflog jedoch rasch, als ich bemerkte, dass der Typ auf mich zurutschte. Als wir den Tunnel verließen, wurde es im Waggon plötzlich taghell. Ich räusperte mich, setzte mich auf und öffnete die Augen. Der Mann ließ sofort den Kopf auf die Schulter sinken und stellte sich wieder schlafend. Ich starrte ihn an, war unsicher. Meine Beine fühlten sich an wie Sandsäcke, mein Herz raste. Trotzdem zwang ich mich, aufzustehen und ans Ende des Wagens zu gehen, wo ich die Tür aufstemmte und in den nächsten Waggon ging. Dann drehte ich mich um und schaute zurück. Der Mann saß auf seinem Platz und starrte mir mit dem gleichen Lächeln nach, aber sein Blick hatte sich bedrohlich verdunkelt. Ich hielt ihm stand und war sicher, dass der Typ sich mir nicht nähern würde, solange ich die Augen geöffnet hielt. Ich dachte an Zelda und was sie gesagt hatte – meine Güte, das war erst gestern gewesen? Dass jemand nach mir gefragt hätte, jemand, der nicht gut aussah. War das der Mann, den sie meinte? Verfolgte er mich? Ich wusste es nicht. Schließlich wimmelt es in dieser Stadt nur so vor Freaks und Spinnern mit irrem Blick. Als die U-Bahn im nächsten Bahnhof hielt, starrten wir uns noch immer an. Doch als die Türen sich öffneten, sprang er unvermittelt auf, packte seinen Koffer und stieg aus. Falls er in meinen Wagen käme, würde ich mich auf den Bahnsteig retten und zum vordersten Wagen rennen, in dem der Zugführer saß. Es erschien mir wie eine Ewigkeit, während ich wartete. Ich war völlig allein, weder in den Waggons noch auf dem Bahnsteig konnte ich eine Menschenseele entdecken. Dann kam das Abfahrsignal, und über die Sprechanlage die Anweisung des Zugführers: »Bitte zurückbleiben, Türen schließen automatisch.« Die Türen gingen zu, sprangen dann mit einem Ruck wieder auf. 161
»Hände und Taschen aus der Tür«, tönte die gereizte Stimme des Zugführers aus dem Lautsprecher. Ich trat an die Tür und schaute den Bahnsteig entlang, konnte den Mann jedoch nirgends sehen. Ich warf einen Blick in die anderen Wagen, aber auch da war er nicht. Wo steckte er? Wenn er ausgestiegen ist, müsste ich ihn doch irgendwo auf dem Bahnsteig ausmachen können? Inzwischen hatte ich so viel Adrenalin im Blut, dass meine Hände zitterten. Wieder ertönte das Signal, und wieder schlossen sich die Türen, um im letzten Moment erneut aufzuspringen. Ich marschierte los, lief durch den Zug nach vorn in Richtung Fahrerkabine. Außer dem Geräusch der Türen, die ich aufstieß und die hinter mir krachend wieder zufielen, war es völlig still. Ich drehte mich immer wieder um und machte mich darauf gefasst, meinen Verfolger hinter mir zu sehen. »Bleib von den Türen weg, Arschloch!«, rief der Zugführer. Ich blickte aus dem Fenster des Waggons, in dem ich stehen geblieben war. Da entdeckte ich ihn, er stand mitten auf dem Bahnsteig. Wahrscheinlich hatte er sich hinter einer Säule versteckt. Endlich schlossen sich die Türen, und langsam ruckelte die Bahn aus der Station. Erleichtert ließ ich mich auf eine Sitzbank sinken, lehnte den Kopf an die Scheibe und machte die Augen zu. »Ich werde paranoid«, sagte ich laut zu mir. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich ihn noch einmal. Er starrte mir mit diesem merkwürdigen Lächeln nach, während die Bahn an ihm vorbeirollte, eine Hand zum Abschiedsgruß erhoben. Ich winkte nicht zurück. An der letzten Haltestelle stieg ich aus. Ich fühlte mich immer noch ein bisschen zittrig und blieb oben am Treppenabsatz stehen. Obwohl es dunkel war, leuchtete der Van Cortland Park im Licht der Straßenlaternen in allen Herbstfarben. Ich stieg die 162
Treppe zur Straße hinunter, neben der ein paar Jugendliche in einem Hof mit viel Gejohle und Geschrei Handball spielten. Riverdale ist eine der letzten netten Gegenden in der Bronx, und an jenem Abend wirkte es ungefährlich und idyllisch. Unten an der Treppe stand ein 69er Firebird auf der Straße. Röhrend gab der Motor eine Kostprobe davon, was in ihm steckte, so wie ein Hund, der die Zähne bleckt. Am Steuer saß Jake. Ich bemühte mich, nicht vor Erleichterung zu lächeln, hielt den Blick starr geradeaus und marschierte an ihm vorbei. »Hey«, rief er mir nach. »Ich dachte, du wolltest nur bluffen.« Er folgte mir im Auto, rollte so langsam den Broadway entlang, dass die Fahrer hinter ihm wie verrückt hupten, bevor sie ihn, Obszönitäten brüllend, schließlich überholten. »Ach komm, Ridley!«, rief er ein paar Blocks später. »Du hast gewonnen.« Mehr wollte ich nicht hören. Ich nahm auf dem Beifahrersitz Platz, und wir brausten davon. Die makellose Innenausstattung aus kirschrotem Leder roch nach Politur. Unter dem Armaturenbrett, dessen Knöpfe ebenso wie die Gangschaltung neu und aus poliertem Chrom waren, hing ein CD-Wechsler der Firma Alpine. Es war genau das Auto, in dem ich mir Jake vorgestellt hätte. Es vermittelte den Eindruck von Stärke und wirkte gleichzeitig gepflegt. Ich bemerkte, dass er den Wagen an Amelia Miras Haus vorbeilenkte. Erst einen Block später machte er kehrt und fuhr zurück, bis wir die Häuserzeile wieder im Blick hatten. Nachdem er das Auto auf Höhe des Parks unter den weit ausladenden Ästen der alten Bäume gestoppt hatte, kramte er eine abgetragene, dunkelblaue Baseballkappe und eine Sonnenbrille von Oakley hervor. Beides war mir zu groß, aber er nötigte mich, es aufzusetzen. »Du willst doch nicht erkannt werden«, erklärte er. »Das würde dem Zweck unserer Mission irgendwie widersprechen.« 163
Ich schwieg immer noch, und ich merkte, dass ihm das langsam zusetzte. Wir saßen ein paar Minuten schweigend da. Schließlich brach es aus ihm heraus: »Verdammt. Bist du immer so dickköpfig?« »Ja«, erwiderte ich. »Allerdings.« Ich musste lächeln. Er streckte seine Hand aus, und ich nahm sie. »Ridley, ich hab wirklich nicht gedacht, dass du ganz allein hierher fährst. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich dich nicht aus der Wohnung gelassen.« »Es tut mir leid«, sagte ich. Und ich meinte es ehrlich; jetzt, wo er neben mir saß, war mir klar, dass ich ihm einen Schrecken eingejagt hatte. Die Erleichterung stand ihm ins Gesicht geschrieben, und in seinen Augen sah ich Besorgnis. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich mich wie eine verwöhnte Göre benommen hatte. Wieder einmal. »Weißt du, Jake, ich hab das Gefühl, manipuliert zu werden. In der letzten Zeit scheint jeder eine andere Meinung zu haben. Ich weiß einfach nicht mehr, was ich glauben soll. Mir ist klar, dass ich das nicht allein schaffe, aber ich möchte mir ein eigenes Bild machen. Kannst du das verstehen?« Er nickte verständnisvoll. »Natürlich.« Ein seltsamer Ausdruck huschte über sein Gesicht, aber er war verschwunden, noch ehe ich ihn einordnen konnte. »Und, was machen wir jetzt?« »Wir bleiben hier sitzen und beobachten«, sagte er und blickte sich um. Der Herbstabend war kühl, aber wunderschön. Die Jungs spielten im Park Fußball, Jogger und Hundebesitzer waren unterwegs. Eine merkwürdige Umgebung für eine Überwachungsaktion, inmitten all dieser Leute, die ihrem friedlichen Leben nachgingen. Regen wäre passender gewesen, und ein gelegentliches Donnergrollen mit Blitzen. 164
»Und beobachten was?« »Das wissen wir dann schon«, antwortete er achselzuckend, »spätestens, wenn wir es sehen.« Ich überlegte, was das wohl zu bedeuten hatte – stundenlanges Sitzen im Auto. Manchmal ist es nicht unbedingt befriedigend, seinen Willen durchzusetzen. Er lächelte, als könnte er meine Gedanken lesen. Mein Magen knurrte, außerdem musste ich mal. Nachdem ich Jake dazu überredet hatte, zu dem Burger King zu fahren, den wir vorher passiert hatten, damit ich einen Whopper essen und meine schmerzende Blase erleichtern konnte, parkten wir gegenüber der Hausnummer 6061 ½ und verfolgten das Kommen und Gehen. Die dunklen Häuser erwachten zum Leben; in allen Wohnungen wurden die Lichter eingeschaltet. Während wir warteten, gingen sie in manchen Häusern schon wieder aus. Nur in dem stockfinsteren Gebäude Nummer 6061 ½ tat sich nichts. Wir redeten nicht viel, aber die Stille war angenehm. Ungefähr alle halbe Stunde ließ Jake den Motor an, um die Heizung laufen zu lassen, damit wir nicht froren. Ich hatte ein bisschen Angst und fühlte mich leicht unwohl, weil ich nicht sicher war, worauf wir eigentlich warteten. Ich würde ihm aber auf keinen Fall die Genugtuung gönnen und mich beschweren. Nachdem ein paar Stunden vergangen waren, kroch ich auf den Rücksitz, legte mich auf den Bauch und spähte aus dem Seitenfenster. Ich wollte einfach nur meine Position ändern und konnte gerade noch Jakes Hinterkopf erkennen. »Wie hast du das gemeint, Jake? Als du gesagt hast, es gebe da Dinge, die ich über dich wissen sollte?« Er antwortete nicht sofort. Ich fragte mich, ob er eingeschlafen war. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, sagte er schließlich. 165
Plötzlich wurde mir klar, dass sich unsere Gespräche während der letzten Tage fast nur um mich gedreht hatten. Ich wusste ein wenig über seine Kunst und wo er vor seinem Umzug ins East Village gewohnt hatte. Das war praktisch alles. Ich verspürte den Wunsch, ihm ins Gesicht zu sehen, aber die Tatsache, dass er es vermieden hatte, sich für seine Antwort umzudrehen, verriet mir, dass es ihm so lieber war. Ich dachte an seine Narben und merkte, wie ich unsicher wurde. Egal, wie nah wir uns gekommen waren, dieser Mann war mir immer noch fremd. Aus irgendeinem Grund vergaß ich das ständig. Ich hatte das Gefühl, ihn so gut zu kennen wie nie zuvor einen anderen Menschen; dass mein Wissen über ihn weit über seine Lebensgeschichte hinausging und sich direkt auf sein Herz bezog. Ich setzte mich auf, umschlang ihn von hinten und legte meine Wange an seine. Ich konnte gerade noch sein Profil erkennen, spürte seine Bartstoppeln und roch den Duft seiner Haut, der sich mit dem Geruch der polierten Ledersitze vermischte. Er umfasste meine Unterarme. »Fang einfach von vorne an«, flüsterte ich sanft in sein Ohr. »Erzähl mir alles.« »Ich wünschte wirklich, ich könnte das.« Seine Stimme klang irgendwie dunkel, fast ärgerlich. Ich hatte keine Gelegenheit, ihn zu fragen, wie er das meinte, denn auf einmal entdeckten wir beide einen Mann, der auf dem Gehsteig auf uns zukam. Wir hatten viele Menschen vorbeigehen sehen, aber irgendwie wussten wir beide, dass es dieser Mann war, auf den wir gewartet hatten. Wir beobachteten, wie er eilig ausschritt, die Schultern gekrümmt, eine Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen. Seine Hände steckten in den Taschen einer dünnen schwarzen Jacke, die ihn kaum ausreichend vor der Kälte schützte. Nichts an ihm hätte einen Beobachter veranlasst, ein zweites Mal hinzuschau166
en: Er war durchschnittlich groß, so um die eins achtzig, und durchschnittlich gebaut, vielleicht Kleidergröße 48. Trotzdem verfolgten wir ihn beide mit unseren Blicken und vergaßen unser Gespräch, während er die Stufen zum Broadway Nummer 6061 ½ hochstieg. Wir verbrachten weitere zehn Minuten in gespannter Stille. Das Haus blieb dunkel. »War er das? War das der Mann, der mir die Sachen geschickt hat?« Ich hatte mir diesen Menschen größer vorgestellt, bedrohlicher. »Könnte sein.« »Was machen wir jetzt?«, fragte ich. »Du bleibst hier und behältst den Vordereingang im Auge. Ich werde mich hinter dem Haus umsehen.« Noch bevor ich antworten konnte, schlüpfte Jake lautlos aus dem Auto und lief die Straße entlang, weg vom Haus. Im Rückspiegel sah ich, wie er den Broadway überquerte, wieder herankam und plötzlich in einer Einfahrt verschwand. Mein Herz hämmerte wie wild. Während ich etwa zehn Minuten, die mir wie eine Stunde vorkamen, abwartete, hörte ich nichts außer meinem eigenen Atmen. Ich hatte keine Uhr und konnte die Zeit nicht überprüfen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und kroch aus dem Wagen, um Jake zu folgen. Zu meiner Rechten gähnte mir der schwarze Park entgegen; anders als noch wenige Stunden zuvor war hier niemand zu sehen. In dem orangefarbenem Schein der Laternen überquerte ich die Straße. Auf der Westseite des Broadway gab es kein Licht. Zwischen dem kleinen Supermarkt und dem ersten Gebäude der Häuserzeile lag ein mit Bäumen bewachsenes Grundstück. Eine unheimliche, kurze Strecke, glitschig von nassem Laub. Von den Stämmen krochen mir Stille und Dunkelheit wie Gestank entgegen.
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Ich kam zu der Einfahrt, in die Jake verschwunden war, und spähte in die Finsternis. Am Ende glimmte ein Licht. Ich hielt darauf zu, vorbei an entsetzlich stinkenden Mülltonnen und bedrohlich dunklen Winkeln, in denen mir jemand auflauern könnte. Ich stieß mir an einer der Mülltonnen das Knie, und der Deckel krachte mit einem lauten Scheppern zu Boden. Irgendwo in der Nähe fing ein Hund an zu bellen, was mir einen kleinen Adrenalinstoß versetzte. Ich rannte durch den restlichen Teil der überraschend in einen weiten Durchgang mündenden Einfahrt, der sich hinter den Gebäuden entlangzog. Manche der Häuser waren von der Rückseite beleuchtet. Über mir drang das Licht der Wohnzimmer und das bläuliche Flackern der Fernsehgeräte aus den Fenstern. Ganz aus der Ferne hörte ich Pink Floyd: »Money«. Jemand kochte einen Eintopf, irgendein Fleischgericht. Der Duft verursachte mir ein Magengrummeln. Hier hinten war es zwar immer noch dunkel, aber wenigstens würde man mich hören, falls ich zu schreien anfinge. Ich war mir ziemlich sicher, dass es sich bei dem dunklen Haus in der Mitte um die 6061 ½ handelte, aber ich konnte Jake nirgendwo entdecken. Ich schaffte es, das letzte Stück ohne weitere Zwischenfälle zurückzulegen, bis ich vor einer schmalen Eisentreppe stand, die zu einem Absatz hinaufführte, der sich über die gesamte Breite des Hauses erstreckte. Ich glaubte, in einem der Fenster zum Hof einen Lichtschein gesehen zu haben. Ich stieg die Treppe hinauf und lugte hinein. Er saß auf dem Boden, der Mann von der Straße, neben sich eine dieser batteriebetriebenen Lampen, die man im Baumarkt bekommt. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand, die ausgestreckten Beine über Kreuz. Er hatte die Baseballkappe abgelegt, trug aber immer noch die Jacke. Ich erkannte sein Gesicht nicht, konnte nicht sagen, ob er der Mann auf dem Foto war. Er saß umhüllt von Schatten, und das Licht war ohnehin 168
schummrig. Neben ihm stand ein altes grünes Telefon mit Wählscheibe. Er aß Ravioli aus der Dose, langsam, mit einer Plastikgabel. Er schaute sich die Dose ganz genau an und behielt jeden Bissen lange im Mund, bevor er ihn hinunterschluckte. Ich konnte die Konturen seiner Lippen erkennen, die auffällig heruntergezogenen Mundwinkel. Trauer, Wut, Ekel … schwer einzuschätzen. Mir kam er vor wie die Verkörperung der Einsamkeit. Wer immer er war, was immer unsere Lebenswege zusammengeführt hatte – seine Einsamkeit war ansteckend, und ich fühlte, wie sie sich langsam in mir breitmachte. Tränen stiegen mir in die Augen, ich wusste selbst nicht, warum. Ich hatte einen Blick ins Fenster der Verlassenheit geworfen, und jetzt drang mir das Gesehene ins Herz. Plötzlich wurde ich von warmen Armen umfangen, und eine Hand legte sich über meinen Mund. Ich wehrte mich nicht, irgendwie wusste ich, dass es Jake war. Wahrscheinlich hatte ich ihn am Geruch erkannt. »Was machst du hier? Bist du verrückt?«, zischte er in mein Ohr. Er ließ mich los und nahm meine Hand. Wir stiegen zusammen die Treppe hinunter und gingen zurück zum Wagen. »Wozu war das gut?«, fragte ich, als wir wieder in seinem Firebird saßen. »Ich wollte sehen, mit wem wir es zu tun haben.« »Soll ich es dir sagen? Mit einem einsamen Kerl, der in einem Haus ohne Strom neben dem Telefon sitzt.« »Und was heißt das?« »Es heißt, dass ich damit fertig werde, falls er mich bedroht.« Jake musste mir meine Begriffsstutzigkeit deutlich angesehen haben.
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»Hör zu«, sagte er geduldig und legte eine Hand auf meine Schulter. »Du wolltest rausfinden, was hinter dem Ganzen steckt, und du hast mich um Hilfe gebeten, richtig? Ich habe ein paar Informationen gesammelt, den Hintergrund recherchiert und die Adresse ermittelt, die zu dieser Telefonnummer gehört. Ich wollte herausfinden, worauf wir uns da einlassen, um wen genau es sich handelt, bevor du die Nummer anrufst.« »Und um wen genau handelt es sich?« »Mein Tipp: Der Kerl ist Christian Luna. Was er will, warum er dich für seine Tochter hält, wo er all die Jahre gesteckt hat? Das können wir nur herausfinden, indem wir mit ihm reden. Das wäre der nächste logische Schritt.« »Anrufen?« Jake zog ein Handy aus der Tasche und reichte es mir zusammen mit der Telefonnummer. »Anrufen.« Ich hielt das Telefon in der Hand und zögerte. »Nur wenn du willst, Ridley. Wenn nicht, trete ich da drüben die Tür ein und versetze den Typen dermaßen in Angst und Schrecken, dass er verschwindet. Ich verspreche dir, du wirst nie wieder von ihm hören. Der Mann ist auf der Flucht. Er hat Angst und versteckt sich vor irgendwas oder irgendwem, vermutlich vor der Polizei. Er wird sich auf der Stelle wieder unter dem Stein verkriechen, unter dem er so lange gehockt hat. Und du kannst so tun, als wäre das alles hier nie passiert.« Aber dafür war es mittlerweile zu spät, das wussten wir beide. Wir saßen noch eine Weile im Dunkeln, bis ich endlich das Handy einschaltete und die Nummer eintippte. Meine Hände zitterten, und der Schweiß stand mir auf der Stirn, obwohl es im Auto so kalt war, dass ich meinen Atem sehen konnte.
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Er nahm gleich nach dem ersten Klingeln ab. Seine Stimme war tief, und er sprach mit einem leichten Akzent, den ich nicht einordnen konnte. Er sagte: »Jessie?« Ich sah ihn vor mir, wie er da auf dem Fußboden hockte. Ich hörte die Trauer, in die sich vorsichtige Hoffnung mischte. »Hier ist Ridley«, sagte ich mit unsicherer Stimme. »Ich bin Ridley.« Ich verspürte das Bedürfnis, wenigstens das klarzustellen. »Ridley«, wiederholte er. »Ach ja, natürlich. Ridley.« »Ich würde mich gern mit Ihnen treffen.« »Ja«, hauchte er. Es klang flehentlich. In einer Stunde, bei den Bänken am Eingang zum Van Cortlandt Park, hatte Jake auf einen Fetzen Papier gekritzelt. Ich wiederholte es, woraufhin er schwieg. Ich fragte mich, ob es ihm wohl verdächtig vorkam, dass der Treffpunkt in der Nähe seines Hauses lag; aber einen Moment später stimmte er zu. »Kommen Sie allein?«, fragte er. Ich bejahte, auch wenn mir das Lügen schwerfiel. Selbst diesem Fremden gegenüber, der dabei war, mein Leben zu ruinieren. »Wie heißen Sie?«, fragte ich. »Ich bin dein Vater«, erwiderte er nach einer weiteren Pause. »Wie heißen Sie?«, wiederholte ich. »Wir sehen uns in einer Stunde«, sagte er und legte auf. Ich drückte auf »Gespräch beenden« und gab Jake das Handy zurück. »Hat er seinen Namen genannt?« »Nein.« Jake rutschte auf seinem Sitz hin und her. »Hätte ich an seiner Stelle vermutlich auch nicht getan.« Ich sah ihn verwirrt an. 171
»Wenn ich auf der Flucht wäre? Wenn ich dir meinen Namen verrate, könntest du die Polizei rufen, und schon würde ich von hundert Streifenwagen empfangen. Mord verjährt nie.« Ich zuckte die Schultern. »Wozu gehen wir das Risiko dann ein?« »Das musst du ihn schon selbst fragen.«
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FÜNFZEHN
W
ir warteten, bis er aus dem Haus kam und beobachteten ihn auf seinem Weg zum Parkeingang. Jake wollte ihn losgehen sehen, damit wir sicher wären, dass er allein ist. Ich wusste nicht genau, wen Jake sich als möglichen Komplizen vorstellte, aber ich fragte auch nicht. Jake schien ein seltsames Vergnügen dabei zu empfinden, zu warten, zu observieren, das weitere Vorgehen zu planen und auf mögliche Gefahren zu achten. Mir hingegen kam unsere Situation vollkommen unwirklich vor. Ein paarmal fragte ich mich tatsächlich, ob ich vielleicht träumte. Hin und wieder dachte ich: Jetzt wachst du gleich auf. Nach einer Weile folgten wir ihm langsam im Firebird. Er hatte wieder die Schultern hochgezogen und ging schnell. Einige Male schaute er sich um, aber ich glaube nicht, dass er uns bemerkte. »Er kommt mir so einsam vor. Einsam und traurig«, sagte ich. Nach einem merkwürdig langen Schweigen meinte Jake: »Das kannst du vom bloßen Hinsehen nicht wissen. Du siehst nur, was er nach außen zeigt.« Ich fand diesen Kommentar ziemlich seltsam und drehte mich zur Seite, um Jakes Gesicht zu sehen. Er war jedoch voll und ganz auf die dunkle Gestalt vor uns konzentriert. »Man erfährt viel über einen Menschen, wenn er sich unbeobachtet fühlt«, widersprach ich. »Ich habe ihn gesehen. Seine Traurigkeit.« »Da bin ich anderer Meinung, ich glaube, dass wir unsere eigenen Gefühle auf andere projizieren. Wenn du selbst unehrlich bist, hältst du alle anderen für unehrlich. Wenn du ein guter Mensch bist, siehst du in den Gesichtern der anderen 173
immer nur das Gute. Natürlich gibt es physische Hinweise darauf, ob jemand lügt oder nervös ist. Ich glaube aber nicht, dass man vom Aussehen eines Menschen auf seinen Charakter schließen kann. Darauf, wer er ist.« Ich dachte einen Moment darüber nach. »Du willst mir also sagen, du hältst mich für traurig und einsam?« Wieder Schweigen. Wie eine Barriere hielt die Dunkelheit mich davon ab, ihm direkt in die Augen zu sehen. »Bist du das nicht?« In mir stieg der Wunsch zu leugnen auf, aber noch bevor ich etwas sagen konnte, wurde mir klar, wie recht er hatte. Genau so fühlte ich mich. Von dem Moment an, als in meiner Post der Umschlag lag. Und wenn ich ehrlich war, musste ich zugeben, dass es irgendwie auch schon vorher so gewesen war. Ich schwieg und spürte, wie mich eine Art Starre befiel, je näher wir dem Parkeingang kamen. Jake streckte seine Hand nach meiner aus, ergriff sie und drückte sie fest. Ich erwiderte den Druck und wünschte, er würde nie wieder loslassen. Jake fuhr am Eingang vorbei, machte noch einen weiteren UTurn und parkte den Wagen. Wir stiegen aus. Diesmal betrachtete ich das Auto genauer. Die Ornamente an den Seiten waren tatsächlich Mint; ein ausgesprochen auffälliges Auto mit Metalliclackierung. »Gefällt es dir?«, fragte er, während ich den Wagen musterte. Ich lächelte. »Du weißt doch hoffentlich, was man über Typen mit solchen Angeberautos sagt?« »Was denn?«, fragte er und kam näher. »Überkompensation.« »Na ja«, murmelte er und zog mich an sich, »du müsstest es eigentlich besser wissen.«
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Ich spürte, wie meine Wangen heiß wurden. »Ich glaube auch.« Er küsste mich lange und zärtlich Dann schob er mich weg und legte eine Hand auf meine Wange. Seine Miene war ernst geworden. »Alles wird gut«, sagte er. »Klar«, erwiderte ich und nickte aus einer Überzeugung, die ich gar nicht hatte. »Ich weiß.« »Nein, weißt du nicht«, widersprach er sanft, »aber ich. Los geht’s.« Etwa zwei Blöcke von dem Ort entfernt, von dem aus ich Christian Luna – oder wen auch immer – angerufen hatte, betraten Jake und ich den Park. Jake verzog sich ungefähr dreißig Meter hinter mir in die Büsche, während ich den Weg entlangging, an dessen Ende ein Mann auf einer Bank saß. Als er meine Schritte hörte, wandte er sich erschreckt um und stand dann auf. Ich blieb stehen. Er ging auf mich zu. »Kommen Sie nicht näher«, warnte ich ihn, als er nur noch zwei Meter entfernt war. Ich hatte Angst; ich wollte ihn auf Abstand halten. Er war älter und wirkte kleiner, als ich ihn mir vorgestellt hatte, aber es handelte sich ganz zweifellos um den Mann auf dem Foto. Derselbe dunkle, intensive Blick, dieselben dichten Augenbrauen, dieselben vollen Lippen. Wir starrten einander an, als befände sich zwischen uns eine Glasscheibe, in der wir nur unser Spiegelbild erblicken könnten. Einen Augenblick lang glaubte ich, in ihm etwas zu erkennen, was ich noch in keinem anderen Menschen gesehen hatte. Den Schatten meines eigenen Gesichts. Ich weiß nicht, ob es etwas Konkretes war; irgendetwas an seiner Augenpartie oder an der Form seines Kinns. Ich dachte: Vielleicht bilde ich es mir bloß ein, sehe, was 175
ich sehen will – oder was ich am meisten fürchte. Vielleicht liegt es nur an der Dramatik des Augenblicks. »Jessie«, begann er. In seinem Tonfall mischten sich Erleichterung, Freude und tiefe Trauer. Er machte einen Schritt nach vorn, ich einen zurück. Er hob die Hände ein wenig, so als wollte er mich umarmen. Aber ich verschränkte fest die Arme und wich noch weiter zurück. Auf einmal hasste ich ihn. Dafür, dass er aussah wie ich. »Haben Sie sie umgebracht?«, fragte ich. Meine Worte waren wie eine Ohrfeige. Er zuckte zusammen. »Was?«, fragte er leise. Es war fast ein Flüstern. »Teresa Elizabeth Stone. Haben Sie sie umgebracht?« »Deine Mutter«, sagte er und ließ sich auf die Bank sinken, so als hätte er keine Kraft mehr zu stehen. »Nein.« Er schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Ich setzte mich auf die Bank daneben und wartete, bis er mit dem Weinen aufhörte. Ich schaffte es nicht, ihn anzusehen oder zu trösten, aber der Hass, den ich einen Moment lang gespürt hatte, verschwand. Ich lehnte mich zurück und betrachtete die wenigen Sterne, die am Himmel funkelten. »Sind Sie Christian Luna?«, fragte ich, als sein Schluchzen nachgelassen hatte. »Woher weißt du über all das Bescheid?«, fragte er. »Das ist unwichtig«, antwortete ich. Klang ich gefühllos? Ich war es. Gefühllos. Kalt. Kälter als flüssiger Stickstoff. Heute tut es mir leid. Vielleicht hatte er mein Mitgefühl verdient; aber ich konnte es ihm in jenem Moment einfach nicht geben. Ich war ein seelisches Wrack. Es lag an seinem Gesicht. »Hören Sie«, sagte ich nach einem längeren Schweigen, während er offenbar nach Worten rang. »Was wollen Sie von mir?« 176
In seinen Augen sah ich Enttäuschung und Zweifel. Wie auch immer er sich diesen Moment vorgestellt hatte, ich war sicher, dass seine Erwartungen nicht erfüllt wurden. In meinem damaligen Zustand gönnte ich es ihm, ich empfand es als einen kleinen Sieg, seine Wiedersehensfantasien zu enttäuschen. »Was ich will? Du bist meine Tochter«, sagte er, und es klang ungläubig. »Meine Jessie.« Mit Blicken und Worten flehte er mich an; aber eher hätte er die Freiheitsstatue erweichen können. »Das können Sie gar nicht wissen«, sagte ich stur und kreuzte die Arme über der Brust wie ein Richter. Über andere zu urteilen ist wie ein Schutzschild, oder? Wir können uns dahinter verstecken, uns über andere erheben, uns abgrenzen und sicher fühlen. Da lachte er kurz auf. »Schau mich an, Jessie. Du siehst es doch, oder?« Ich gab keine Antwort. Er kam an meine Bank, und diesmal wich ich nicht vor ihm zurück. »Wenn ich Jessie bin, was ist dann mit Teresa Stone passiert?«, fragte ich. »Wenn Sie sie nicht umgebracht haben, wer dann?« Er seufzte. »Diese Frage stelle ich mir jeden Tag, seit dreißig Jahren.« Wieder Schweigen. Er betrachtete mich, während ich überall hinsah, nur nicht in seine Richtung. Ein Auto raste vorbei, und einen Augenblick lang erfüllte ein dröhnender Beat die Luft. »Ich war ein schlechter Vater«, fuhr er fort. »Außerdem habe ich deine Mutter schlecht behandelt. Aber ich habe sie nicht umgebracht.« Die Empörung und kaum unterdrückte Wut in seiner Stimme brachten mich dazu, mich ihm zuzuwenden und sein Gesicht näher zu betrachten. Er war Ende fünfzig, Anfang sechzig. Seine bräunliche Haut hatte unter zu viel Sonne gelitten und war von tiefen Furchen durchzogen. Sein verhärmtes 177
Gesicht zeugte von einem harten Leben – schlechte Ernährung, schlechte Entscheidungen mit schlechten Folgen. Ich hatte erwartet, in Christian Luna einem Schurken zu begegnen, einem bösartigen, gefährlichen, mächtigen Menschen, der die Absicht und die Möglichkeiten hatte, mir zu schaden. Aber ich sah nur jemanden, der müde war, erschöpft, nahe am Abgrund, unfähig, die Vergangenheit ruhen zu lassen und weiterzumachen. »Weißt du, auf meine Art habe ich schon versucht, alles richtig zu machen«, fuhr er mit demselben resignierenden Lachen fort. »Aber ich war jung und so was von im Arsch. Ich hatte nie einen Vater, deswegen wusste ich nicht, wie man sich als Mann verhalten soll.« Während er sich erinnerte, schüttelte er den Kopf und starrte in die Dunkelheit des Parks. Das war ein interessantes Zugeständnis. Ich wurde neugierig und begann, mich mit ihm zu beschäftigen, nicht nur mit seiner physischen Erscheinung. Ich hatte einen Mann vor mir, der sein ganzes Leben lang Reue empfunden und seine Lektion gelernt hatte – aber viel zu spät. Finden Sie nicht auch, dass das die schlimmste Strafe ist? Am Ende Einsicht zu erlangen und sich doch damit abfinden zu müssen, dass die Folgen einer Handlung unumkehrbar sind? »Ich habe Teresa bei der Arbeit kennen gelernt. Sie war Sekretärin bei einem Immobilienmakler. Ich war dort Hausmeister, eigentlich hatte ich Maschinenschlosser gelernt. Wir wohnten beide in Jersey, sind mit demselben Zug in die Stadt gependelt und zurück. Da haben wir uns zum ersten Mal unterhalten. Ich konnte auf den ersten Blick sehen, dass sie ein liebes Mädchen war. Süß. Hübsch. Wir sind ein paarmal ausgegangen. Ich hab ihr gesagt, ich würde sie lieben – was ich nicht ehrlich meinte.« Anhand des Fotos, das ich kannte, versuchte ich, mir ein Bild von ihnen zu machen. Vielleicht war sie verliebt in ihn gewesen und hatte gedacht, er würde sie wirklich lieben. Als Journalistin wünschte ich mir, dass er mir seine Geschichte so erzählte, wie ich es getan hätte. Doch das traute ich ihm nicht zu. 178
»Nach einigen Verabredungen erlaubte sie mir, ein paarmal, mit ihr zu schlafen. Dann habe ich das Interesse verloren. Hab einfach nicht mehr angerufen. Du weißt schon.« Du weißt schon. Ja, wahrscheinlich weiß ich das. Ich glaube, dass es den meisten von uns schon einmal so ergangen ist. Man vertraut jemandem, man geht mit ihm ins Bett. Man glaubt, der andere wollte sein Leben mit einem teilen. Man denkt, die körperliche Intimität sei bloß der Auftakt gewesen. Dabei hat der andere sein Ziel längst erreicht; für ihn ist das Spiel vorbei. Ob sie um ihn geweint hat? Ob sie sich einsam gefühlt und sich selbst gehasst hat, als er verschwand? Ob sie sich gewünscht hat, ihm niemals begegnet zu sein? Er saß eine Weile still da, schien auf irgendeine Form der verbalen Bestätigung zu warten. Aber ich schwieg. Ich wollte es ihm schwermachen, sogar das Erzählen seiner Geschichte. Ich weiß nicht, warum ich so gemein war; es war einfach so. »Eines Abends hatte sie auf mich gewartet, ich kam gerade von meiner Schicht. Es war schon spät, nach Büroschluss. Ich hatte sie schon eine Weile nicht mehr bei der Arbeit gesehen. Gleich als ich sie sah, wusste ich, dass sie meinetwegen in die Stadt gekommen war und im Dunkeln auf mich gewartet hatte, nur um mit mir zu reden. Sie sagte, sie wäre schwanger.« Wieder versuchte ich, mir die Szene vorzustellen. Vielleicht war es kalt gewesen, Nieselregen, hinter den Wolken ein leuchtender Halbmond. Hatte sie Angst, hat sie geweint? »Waren Sie nett zu ihr?«, fragte ich hoffnungsvoll. »Nein«, erwiderte er, senkte den Kopf und steckte die Hände in die Taschen. »War ich nicht.« »Hatte sie Angst?« Langsam schüttelte er den Kopf. »Als sie es mir gesagt hat, war sie stark. Ich habe sie gefragt – jetzt schäme ich mich dafür –, woher sie wissen wolle, dass es von mir sei. Sie sagte, sie wäre mit keinem anderen zusammen gewesen. Ich habe ihr 179
geglaubt, aber ich habe so getan, als würde ich es nicht.« Er verstummte und starrte mich so lange an, bis ich seinen Blick erwidern musste. Seine Scham stand ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass ich verlegen zur Seite blickte. »Ich schlug ihr eine …«, redete er weiter. »… eine Abtreibung vor?« Ich sprach den Satz für ihn zu Ende und zwang mich, ihn wieder anzusehen. Es hatte hässlich geklungen, aber er nickte. »Sie hat sich geweigert und etwas gesagt, das ich nie vergessen habe. Sie sagte: ›Wir wollen nichts von dir. Ich will dir nur die Möglichkeit geben, ein Vater zu sein, diese Freude zu teilen.‹« An dieser Stelle seufzte er wieder, und seine Augen begannen unnatürlich zu glänzen. »Obwohl ich ein Dreck war, obwohl ich sie schlecht behandelt hatte, wollte sie mir die Gelegenheit geben, dich kennen zu lernen. Ich verstand das nicht. Weißt du, was ich meine? Ich konnte es damals nicht einmal nachvollziehen. Trotzdem habe ich ihr angeboten, sie zu heiraten. Sie wollte nicht.« »Was, im Ernst? Nach so einem romantischen Antrag?« Er gab eine Art Grunzen von sich. »Ja. Ich war ein echter Hauptgewinn.« »Aber hin und wieder müssen Sie bei ihr gewesen sein. Es gibt das Foto. Die Notrufe bei der Polizei. Die einstweilige Verfügung.« »Wie, hast du einen Privatdetektiv engagiert?« Ich gab keine Antwort. Er nickte und sah sich um. »Ich habe die Polizei nicht verständigt«, sagte ich. »Sie haben nichts zu befürchten.« Da lächelte er, aber es war irgendwie seltsam. Er lächelte mich an wie jemanden, der so wenig Ahnung hat, dass es zwecklos
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wäre, ihm irgendetwas zu erklären. Damals achtete ich nicht weiter darauf, aber später erinnerte ich mich daran. »Ich kam und ging. Ich gab ihr Geld, wenn ich welches hatte. Aber jedes Mal, wenn ich kam, um dich zu besuchen, haben wir uns gestritten. Ich kam rein und führte mich auf wie ein Arschloch. Dann wollte sie natürlich, dass ich wieder gehe, und ich fing an zu schreien. Die Bullen kamen, um mich mitzunehmen. Ich weiß auch nicht, ich war total durcheinander, was dich anging. Ich hab dich geliebt, verdammt. Ich konnte gar nicht glauben, wie wunderschön du warst. Sobald ich dich sah, wurde mir warm ums Herz. Aber ich hatte Angst vor der Verantwortung … Ich war ein Feigling. Ich meine …« Er unterbrach sich und schüttelte den Kopf wie über die Dummheit eines anderen. Ihm muss es tatsächlich wie ein fremdes Leben vorgekommen sein, so viele Jahre waren vergangen. Und vielleicht hatte er sich wirklich geändert. Er schien mit dem Menschen, den er da beschrieb, nichts gemein zu haben. »Dann eines Tages sollte ich auf dich aufpassen. Es war ein Notfall. Sie musste zur Arbeit, und die Nachbarin, die sich sonst immer um dich kümmerte, war krank. Also fuhr ich zu eurem Apartment und blieb bei dir – du warst klein, nicht mal zwei. Ich habe nicht auf dich aufgepasst. Du hast ein Bierglas vom Tisch gezogen, und es ist zersplittert. Ich rannte zu dir und riss dich am Arm hoch. Ich war wütend, ja, aber ich wollte dich aus den Scherben rausholen, damit du dich nicht schneidest. Du hast angefangen zu schreien, und ich konnte dich nicht beruhigen. Ich hatte Angst und wusste nicht, was ich tun sollte. Deswegen hab ich dich in dein Zimmer gesteckt. Die Nachbarin hat ein paarmal angerufen und auf den Anrufbeantworter gesprochen: ›Was ist mit Jessie? So hat sie noch nie geschrien.‹« Bei der Erinnerung begann er wieder zu weinen. Ganz still diesmal. »Als Teresa eine Stunde später nach Hause kam, hast 181
du immer noch geschrien. Die Nachbarin hatte sie in der Arbeit angerufen, und sie war sofort losgefahren. Sie hat gleich gesehen, dass mit deinem Arm was nicht stimmte und ist mit dir ins Krankenhaus; und da stellte sich raus, dass ich dir den Arm gebrochen hatte. Daraufhin erwirkte sie die einstweilige Verfügung. Ich durfte dich nicht mehr sehen.« Der Abend schien kälter zu werden. Mit dem Ärmel seiner Jacke wischte er sich über die Augen. In dem Moment brachte ich sogar ein bisschen Mitgefühl für ihn auf. Obwohl ich heute nicht am Leben wäre, hätte er damals das Sagen gehabt. Er hatte Jessie als Kind misshandelt, jetzt ruinierte er mein Erwachsenenleben. Ich war immer noch nicht gewillt zu glauben, dass wir, Jessie und ich, ein und dieselbe Person waren. Trotzdem hatte ich Mitleid mit ihm, als er weitererzählte. »Ein paar Wochen später betrank ich mich und ging zu eurer Wohnung. Ich wollte so lange gegen die Tür hämmern, bis sie mich reinließ und ich sehen konnte, dass mit dir alles okay war. Ich stand vor der Tür und machte Radau, aber sie ließ mich nicht rein. Sagte mir durch die geschlossene Tür, sie hätte die Polizei angerufen, die wäre schon unterwegs. Ich hörte die Sirene und bin sofort weg. Ich trank noch mehr und ging ein paar Stunden später wieder hin. Aber diesmal stand die Tür offen.« Er atmete jetzt schwer, und immer noch waren seine Augen tränennass. »In der Wohnung war es dunkel. Ich wusste gleich, dass etwas nicht stimmte. Ich habe nur den einen Turnschuh von ihr gesehen, mitten in einer Blutlache. Sah im Dunkeln ganz schwarz aus, ihr Blut. Zähflüssig irgendwie, gar nicht echt. Ich knipste das Licht an und sah sie, wie sie auf dem Boden lag. Ihre Augen standen offen, da war Blut an ihrem Mund. Ihr Hals war übel verdreht. Und wie sie mich anstarrte, so als wäre es meine Schuld … Es war meine Schuld. Wenn ich mich besser benommen hätte, wäre sie noch am Leben. Vielleicht wären wir heute eine Familie.« 182
Wieder unterbrach er sich. Sein Atem kam stoßweise. Er schlug die Hände vors Gesicht und sprach durch die Finger weiter. »Ich hab nach dir gesucht, aber du warst weg. Also rannte ich los. Ich holte mein Erspartes raus, das ich unter meinem Bett versteckt hatte, und fuhr mit dem Greyhound nach Ciudad Juárez in Mexiko. Von da aus flog ich nach Puerto Rico. Ich war noch nie da gewesen, aber meine Großeltern kamen von dort und ich hatte noch einen Cousin zweiten Grades. Ich blieb da. Hab all die Jahre in seiner Werkstatt als Automechaniker gearbeitet.« Ich schüttelte den Kopf. Die Geschichte war gerade noch einfach und trotzdem kompliziert genug, um wahr zu klingen. Was sollte ich damit anfangen? »Und was ist dann passiert, Mr. Luna? Warum dachten Sie plötzlich an mich? Wieso sind Sie zurückgekommen?« »Ich denke jeden Tag an dich«, sagte er und streckte seine Hand nach mir aus. Ich rückte von ihm ab. »Jeden Tag. Du glaubst mir nicht? Es stimmt aber.« Wieder warf er mir einen flehenden Blick zu, aber ich schaffte es nicht, ihn zu berühren. Ich konnte einfach nicht. »Okay«, sagte ich, »aber warum sind Sie zurückgekommen?« »Ich hab dich auf CNN gesehen«, erklärte er. Bei diesen Worten machte sich ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht breit. »Ich hab das Bild von dir gesehen, wie du dieses kleine Kind von der Straße rettest. Dein schönes Gesicht … Ich wusste es sofort. Du sahst deiner Mutter so ähnlich, du sahst genauso aus wie sie. Ich dachte, ich sehe einen Geist. Während all der Jahre wusste ich nicht, ob du am Leben oder tot warst. Und da habe ich dich plötzlich gesehen. Es war, als wären alle meine Gebete erhört worden. Ich musste einfach herkommen und dich treffen. Ich musste sehen, dass du wohlauf und gesund bist.«
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Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, fühlte mich wie betäubt. Er war mir fremd. Ich war mir selbst fremd. Was hätten wir einander geben, was hätte dabei herauskommen können? »Wem gehört das Haus, in dem Sie wohnen?«, fragte ich. »Wer ist Amelia Mira?« Er warf mir einen merkwürdigen Blick zu. Wahrscheinlich kam ihm die Frage angesichts all der anderen Dinge, die ich ihn hätte fragen können, befremdlich vor. Ich wollte es trotzdem wissen. Jessie war nach dieser Frau benannt worden, und ich wollte wissen, wer sie war. »Das Haus gehörte meiner Mutter, deiner Großmutter. Letztes Jahr ist sie gestorben. Sie hat mir das Haus vermacht. Ich fürchte, die Stadt wird es bald kassieren. Ich kann die Abgaben nicht zahlen.« »Sie wusste, wo Sie waren?« Er nickte. Jessie Amelia Stone. Von einem Vater, der sie abtreiben wollte, später misshandelte und vielleicht ihre Mutter ermordete, nach einer Großmutter benannt, die sie niemals kennen lernte. Arme Jessie, dachte ich und begann zu weinen. Da tat er etwas Schreckliches. Er rutschte von der Bank herunter, ging vor mir auf die Knie und nahm meine Hände in seine. Ich hatte mich noch nie im Leben dermaßen beschämt und bedrängt gefühlt. »Mr. Luna, bitte …« Ich beugte mich vor, ergriff seinen Arm, versuchte, ihn zum Aufstehen zu bewegen. »Jessie, ich verlange nichts von dir. Ich wollte nur, dass du mich kennen lernst. Ich wollte dich mit eigenen Augen sehen.« »Bitte«, sagte ich wieder. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Er hatte so viele Gefühle für mich; ich konnte sehen, dass es ihm ernst war, dass er mich wirklich für seine
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Jessie hielt. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich das auch glaubte. »Ich verstehe das nicht, Mr. Luna«, sagte ich, stand auf und entfernte mich von ihm, der immer noch am Boden kniete. »Warum sind Sie weggelaufen? Warum haben Sie nicht nach Jessie gesucht?« In einer hilflosen Geste hob er die Hände. »Ich hätte keine Chance gehabt. Die ganzen Verhaftungen, die Verfügung … wer hätte mir geglaubt?« Noch einmal schüttelte ich seufzend den Kopf. »Du glaubst mir nicht, oder?«, fragte er leise. »Ich weiß nicht, was ich glauben soll.« Plötzlich sprang er auf, kam auf mich zu und packte mich bei den Schultern. In seinem Gesicht stand die pure Verzweiflung. »Jessie, bitte. Sag, dass du nicht glaubst, ich hätte deine Mutter umgebracht.« In jenem Moment wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Wie konnte er von mir erwarten, diese ganzen Informationen so schnell zu verarbeiten und mir ein Urteil zu bilden? Denn nur aus diesem Grund war er zurückgekommen, das wurde mir jetzt klar; ich sollte ihm die Absolution erteilen. Er war nicht meinetwegen zurückgekommen, sondern seinetwegen. Vielleicht hatte er seinen Fehler eingesehen, ihn sogar auf irgendeine Weise gebüßt; trotzdem war er immer noch derselbe Mann, der Teresa Stone und ihre Tochter Jessie misshandelt hatte. Möglicherweise war er sogar ein Mörder; zumindest war er aus Angst vor einer Anklage wie ein Feigling davongelaufen. Und nun war er gekommen, mein Leben zu ruinieren, bloß weil er sich endlich nach all den Jahren Vergebung erhoffte. Was sollte ich von ihm halten? Aus welchem Grund hätte ich diesem Mann auch nur ein einziges Wort glauben sollen?
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Ich setzte mich wieder auf die Bank, und er ließ sich neben mir nieder. Ich wartete immer noch auf irgendeine Regung, so als könnte meine DNA ihre Herkunft erkennen und Signale an mein Herz und mein Hirn senden. Aber ich spürte gar nichts. Ich fühlte mich wie ein Drache mit gekappter Schnur; ziellos entfernte ich mich immer weiter von der Erde. Mir dämmerte, dass die Freiheit, nach der ich mich immer so gesehnt hatte, eigentlich keine Freiheit, sondern eine Art gut verwurzelte Unabhängigkeit gewesen war. Das hier war Freiheit, und sie fühlte sich bedrohlich an. Ich öffnete den Mund, um zu sprechen. Ich weiß bis heute nicht, was ich gesagt hätte. Im einen Moment hatte ich ihn noch angeschaut, im nächsten sackte er neben mir zusammen, als hätten sich seine Knochen in Gelee verwandelt. Ich hielt ihn an der Schulter fest, damit er nicht auf meinen Schoß fiel. Als ich ihn gegen die Lehne der Parkbank drückte, kippte sein Kopf zur Seite. Zwischen seinen Augen erkannte ich einen winzigen roten Kreis. Die Gewalt kommt auf leisen Pfoten. Manchmal zumindest. Im Kino knallen die Schüsse, und mit lautem Krachen gehen die Fausthiebe nieder; die Leute sterben schreiend und stöhnend. Christian Lunas Tod war lautlos. Er verließ die Welt ohne einen Muckser. Ich schüttelte ihn. »Mr. Luna? Alles in Ordnung?« Was natürlich eine ziemlich dumme Frage war. Aber was soll ich sagen? Der Schock ist der Stiefbruder der Verleugnung. Passiert etwas wirklich Schlimmes, dämpft er den Schlag auf die Psyche ein wenig ab. Im selben Moment packte mich jemand. »Ridley, verdammte Scheiße! Was ist denn jetzt passiert?« »Was?«, fragte ich. Ich drehte mich um. Hinter mir stand Jake. »Ich weiß nicht.« Jake zog mich hoch, aber ich klammerte mich an Christian Luna fest. An meinem Vater. Möglicherweise. Während Jake 186
meine Finger löste, sah er sich um; ich glaube, er versuchte abzuschätzen, aus welcher Richtung der Schuss gekommen war. Dann zerrte er mich zum Auto zurück. Ich drehte mich um und sah den zur Seite gekippten Christian Luna auf der Bank liegen. Langsam holte mich die Erkenntnis ein. Ich spürte, wie Galle in meinem Hals aufstieg. »Sollten wir nicht …«, murmelte ich. Ich wollte sagen, »die Polizei rufen«, aber ich weiß nicht mehr, ob ich den Satz beenden konnte, denn im nächsten Augenblick hing ich über dem Geländer, das um den Park herum verläuft, und kotzte auf den Rasen. Jake war offenbar bemüht, mich mit seinem Körper abzuschirmen, ganz so, als befürchtete er weitere Schüsse. Er zog mich weiter und blickte sich immer wieder um. Ich schaffte es, mich weiterzuschleppen. »Die Polizei«, brachte ich schließlich heraus. Es klang eher wie eine Frage. »Wir sollten zusehen, dass wir schleunigst von hier verschwinden«, sagte Jake, legte seinen Arm um meine Schulter. »Geh schneller. Aber versuch, ganz normal auszusehen.« Das kam mir komisch vor, deswegen fing ich an zu lachen. Er lächelte zurück. Aber es war aufgesetzt, gequält. Er versuchte, normal auszusehen, und er schaffte es nicht. Ich lachte hysterisch immer weiter, bis ich die Kontrolle verlor und mir vor Lachen beinahe in die Hose machte. Dann schlug mein Gelächter um. Zum Glück saßen wir inzwischen im Auto. Jake schnallte mich an, und plötzlich musste ich so heftig schluchzen, dass ich mich zusammenkrümmte und Halsschmerzen bekam. Noch nie zuvor, und niemals mehr danach, habe ich mich einer Sache so hilflos ausgeliefert gefühlt wie diesem Schluchzen. Es war, als versuchte ein lebendiges Wesen, aus mir herauszukriechen.
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»Ridley«, murmelte Jake mit Verzweiflung in der Stimme. Sein Blick wanderte zwischen mir und der Straße hin und her. »Ist schon okay. Es ist okay.« Er wiederholte sich immer wieder, so als wäre er überzeugt, es dadurch wahr machen zu können. An der 168. Straße bog er von der Autobahn auf die Straße zum Fort Tryon Park ab. Der Park war schon geschlossen, und wir hielten auf dem Parkplatz. Jake packte mich und hielt mich fest, während ich mein Gesicht an seiner Schulter vergrub. Er drückte mich an sich und flüsterte mir beruhigende Worte ins Ohr. Endlich ließ das Schluchzen nach. Ich fühlte mich total erschöpft und lehnte zusammengesackt an Jake. »Was ist passiert?«, fragte er nach einer Weile. »Hast du gesehen, woher der Schuss kam?« Ich konnte nicht antworten. Es war, als spräche er durch Wasser zu mir. »Ich weiß nicht«, sagte ich schließlich. »Ich weiß nicht, was passiert ist.« Ich hörte ihn von einem Schatten erzählen, den er auf einem Hausdach auf der gegenüberliegenden Straßenseite bemerkt haben wollte; aber ich sah immer wieder Christian Luna vor mir, dessen Kopf mit einer kreisrunden, roten Einschussstelle mitten auf der Stirn nach hinten kippt. Die Szene spielte sich immer und immer wieder vor meinem geistigen Auge ab. Nach einer Weile ließ Jake den Motor wieder an. Wir fuhren auf dem Henry Hudson Parkway in die Stadt zurück. Ich beobachtete die funkelnden Lichter der Stadt, die flüchtigen roten und weißen Schemen der Scheinwerfer und Rücklichter, die an uns vorbeizogen. Eine Art Taubheit hatte von mir Besitz ergriffen. Ich fühlte mich, als wären alle meine Glieder mit Sand gefüllt und mein Hals zu schwach, um meinen Kopf zu halten. »Was ist los mit mir?«, fragte ich. »Es tut mir leid, Ridley«, sagte er aus unerfindlichem Grund, »es tut mir so leid.« 188
Ich kam nicht einmal auf die Idee, ihn zu fragen, wie er das meinte, warum es ihm leidtat. »Ich hätte besser auf dich aufpassen müssen. Ich hätte dich beschützen müssen«, sagte er. Ich wollte ihm antworten, es sei nicht seine Schuld, aber ich brachte kein Wort heraus. Wir fuhren zurück ins East Village und gingen zu Jake. Er brachte mich ins Bett, legte sich neben mich und streichelte über mein Haar. Sobald er annahm, ich sei eingeschlafen, stand er auf und ging aus dem Zimmer. Ich hörte, wie er NY 1 einschaltete, und ich wusste, dass er auf die Meldung von Christian Lunas Tod wartete. Beim Einschlafen fragte ich mich immer noch, warum er nicht die Polizei einschalten wollte.
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SECHZEHN
A
ls ich aufwachte, lag Jake neben mir. Sein Oberkörper war nackt, aber er trug noch seine Jeans. Sein Arm lag auf meinem Bauch, und er runzelte im Schlaf leicht die Stirn, so als träumte er schlecht. Ich lächelte. Ich befand mich in jenem Dämmerzustand, in dem sich der Schlaf noch nicht ganz verzogen hat und das Bewusstsein noch nicht ganz erwacht ist. Er bewegte sich; seine Gesichtszüge wurden weicher, das Stirnrunzeln verschwand, und einen Moment lang wirkte er ganz friedlich. Ich bemerkte, wie groß der Unterschied zu der Düsternis war, die ich sonst in seinem Gesicht sah. Und ich musste daran denken, wie wenig ich doch über ihn wusste. Plötzlich fiel mir der Vorfall vom Abend zuvor wieder ein. Während Schuldgefühle, Trauer und Angst in mir arbeiteten, überkam mich Übelkeit. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich dalag und versuchte, die Ereignisse zu begreifen. Ich schlüpfte aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer. Die Sonne kroch gerade über den Horizont, und ein milchigtrübes Licht drang durch die Fenster. Ich schaltete den Fernseher ein und stellte den Ton leise. Das Programm war immer noch auf NY1 gestellt, den lokalen Nachrichtensender, der vierundzwanzig Stunden am Tag berichtet. Ich verfolgte den kompletten Nachrichtenblock: Auf der Second Avenue war ein Hund von einem Auto angefahren, von einem Polizisten (der ihn von seinen Qualen erlösen wollte) angeschossen und in eine Gefrierkammer gesteckt worden. Der Hund hat überlebt. So etwas nenne ich eine Kämpfernatur. Paulie »die Faust« Umbruglia wurde wegen Betrugs und Steuerhinterziehung verhaftet, in Handschellen aus einem Streifenwagen gezerrt und von zwei stämmigen Polizisten abgeführt. Dann musste ich zweimal hinsehen. Ich hatte jemanden auf dem Bildschirm 190
wiedererkannt. Gleich hinter Paulie ging Alexander Harriman, der Anwalt von Onkel Max. Dichtes, schneeweißes Haar, bahamagebräumt, funkelnde Rolex, Fünftausenddollaranzug und ein charmantes Lächeln, das einem die Röte ins Gesicht treiben und das gleich darauf zu einer eiskalten Drohgebärde gefrieren konnte. Onkel Max hatte ihn geliebt. Onkel Max hatte immer gesagt: »Ridley, ein guter Anwalt verfügt über ausfahrbare Krallen, ein Rückgrat aus Titan und flexible Moralvorstellungen.« Ich war Harriman oft begegnet; auf Wohltätigkeitsveranstaltungen, beim Dinner in Onkel Max’ Apartment, einmal sogar bei einer Silvesterparty, die meine Eltern veranstaltet hatten. Wie ich schon sagte, Harrimans Klientel war ziemlich schillernd; aber wie über so viele andere Grauzonen in meinem Leben hatte ich auch über diese noch nie nachgedacht. Außerdem hatte ich nur einmal persönlich mit Harriman zu tun gehabt, und zwar, um über Onkel Max’ Erbe zu reden. Das Treffen war kurz und angenehm verlaufen; er hatte mir einen Scheck überreicht und mir angeboten, bei der Verwaltung des Geldes behilflich zu sein. Ich lehnte dankend mit dem Hinweis ab, ich hätte mich über die Anlagemöglichkeiten bereits informiert. Harriman hatte etwas an sich, das mich bei seinem Anblick jedes Mal zusammenzucken ließ. Vielleicht war Onkel Max’ Beschreibung (bei der ich unwillkürlich an den Terminator denken musste) schuld daran oder die (stets unausgesprochen gebliebene) Ablehnung durch meine Eltern. Wenn er in der Nähe war, klopfte mein Herz immer ein bisschen schneller, und ich fühlte mich unwohl, sobald sein Blick auf mir ruhte. Als ich damals seine Kanzlei verließ, sagte er zu mir: »Ridley, Ihr Onkel hat Sie sehr geliebt. Es war ihm wichtig, dass Sie sich, sollte ihm etwas zustoßen, immer an mich wenden könnten. Falls Sie einmal Hilfe benötigen oder Fragen zu irgendwelchen juristischen Angelegenheiten, welcher Art auch immer, haben – zögern Sie nicht, Ridley, kommen Sie zu mir.« 191
Ich schüttelte ihm die Hand, bedankte mich für seine Bemühungen und fragte mich im Stillen, wie weit man sinken müsste, um Alexander Harriman um Hilfe zu bitten. Ich saß auf Jakes Sofa und fragte mich, ob Harrimans Visitenkarte immer noch in meiner Rollkartei steckte. Ich fühlte mich nämlich ziemlich am Boden und hatte das Gefühl, ein Rückgrat aus Titan und ausfahrbare Krallen wären genau das, was man nach der Flucht von einem Tatort brauchte. Denn genau das hatten wir getan. Während die Nachrichten weiterliefen und Christian Luna nirgends erwähnt wurde, suchte ich nach einer überzeugenden Ausrede für unsere Flucht. Wäre es nur darum gegangen, uns aus der Schusslinie und in Sicherheit zu bringen, hätten wir an der nächsten Ecke anhalten und die Polizei rufen können. Aber das taten wir nicht. Wir sahen mit an, wie ein Mann erschossen wurde, und ließen ihn dann auf einer Parkbank liegen. Mir fiel in dem kalten, fabrikartigen Raum wieder das völlige Fehlen persönlicher Gegenstände auf. Ich dachte an den Mann, der nebenan schlief. Wie ich schon sagte: Ich hatte den Eindruck, Jake auf eine intuitive Weise zu kennen, selbst wenn ich nichts über seine Lebensgeschichte wusste. Aber während ich auf seinem Futonsofa hockte und mich in seinem Wohnzimmer nach irgendeinem Zeichen von ihm umsah, wurde mir unbehaglich zumute. Ich meine, denken Sie doch einmal an Ihr Wohnzimmer. Stellen Sie sich vor, eine Fremde betritt Ihre Wohnung und setzt sich auf Ihr Sofa. Könnte sie von dem, was sie sieht, nicht Rückschlüsse auf Sie ziehen? Gibt es da nicht zumindest ein paar Hinweise auf Ihre Abneigungen und Vorlieben, Fotos von geliebten und geschätzten Menschen, eine Zeitschrift auf dem Couchtisch … irgendetwas? In Jakes Wohnzimmer gab es nichts davon. Es war so steril wie ein Hotelzimmer, lediglich als vorübergehender Aufenthaltsort eingerichtet. So als könnte er den Raum verlassen und niemals wiederkommen, ohne einen weiteren Gedanken an die 192
zurückgelassenen Gegenstände zu verlieren. Aus einem unbestimmten Grund störte mich das plötzlich. Es machte mir bewusst, dass ich Jakes Charakter zwar zu kennen glaubte, er aber gleichzeitig einen entscheidenden Teil seines Lebens vor mir verbarg. Auf einem schlanken Tischchen in der Ecke stand sein Laptop. In Anbetracht der fehlenden Zettel, Schubladen und Papierstapel war ich doppelt und dreifach versucht, an den Computer zu gehen. Ich habe schon immer die Herausforderung geliebt, und angesichts der Umstände fühlte ich mich besonders mutig. Ich klappte den Deckel auf und drückte auf den Startknopf. Mit einem Summen und ein paar unangenehm lauten Pieptönen erwachte der Computer zum Leben. Der Bildschirm begann zu leuchten und verlangte ein Passwort. Mist. Ich dachte über das wenige nach, das ich von Jake wusste, und kam zu dem Schluss, dass sein Passwort alles andere als leicht zu erraten wäre. Dass er sich über seine Sicherheit wahrscheinlich viele Gedanken machte. Wie alle Leute, die etwas zu verbergen haben. »Quidam.« Ich fuhr herum. Jake stand in der Tür. »Was?« »Das Passwort. ›Quidam‹.« Er sah mich an. Ich versuchte, aus seiner Miene schlau zu werden. Scheinbar störte es ihn kaum, ja, überraschte ihn nicht einmal, dass ich in seinen Dateien herumschnüffelte oder es zumindest versuchte. Komischerweise war es mir nicht besonders peinlich, erwischt worden zu sein. »Was bedeutet das?«, fragte ich. »Es stammt aus einem Werk von Cyprian Kamil Norwid, einem polnischen Romantiker. Es leitet sich vom lateinischen Begriff für ›jemand, irgendjemand‹ ab. Die Hauptfigur in Norwids ›Quidam‹ ist ein Mensch, der auf der Suche nach 193
seinem Platz im Leben ist. Nach Güte und Wahrheit. ›Denn er war anonym, hatte keinen Namen … völlig verwaist, Quidam.‹« Ich setzte mich wieder aufs Sofa und zog die Beine an. »So siehst du dich selbst?« Er zuckte die Achseln. »Kann sein. Manchmal.« Er ließ sich neben mir nieder. Der traurige Schatten, den ich über sein Gesicht hatte huschen sehen, der sekundenlang seinen Blick getrübt und seine Mundwinkel verzogen hatte, schien sich jetzt dauerhaft in seinem Gesicht eingegraben zu haben. Er hätte mich gerne berührt, war sich aber nicht sicher, ob ich das auch wollte. Zwischen uns hatte sich irgendetwas verändert. Ich vermute, das lag an meinem Misstrauen. Es hielt mich davon ab, ihn in den Arm zu nehmen und seine Trauer einfach wegzuküssen. Auch wenn es genau das war, was mein Herz wollte. »Warum hast du gestern Abend nicht die Polizei gerufen?«, fragte ich. Er überlegte. »Ich glaube, darauf habe ich keine überzeugende Antwort. Außer, dass es uns in eine Sache verwickelt hätte, die für keinen von uns gut wäre.« »Wir haben ihn einfach da sitzen lassen«, sagte ich und war selbst überrascht über meine brüchige Stimme und die Tränen, die mir in die Augen schossen. Ich legte den Kopf in die Hände und versuchte, den dumpfen Schmerz hinter den Augen wegzumassieren. »Er war tot«, erklärte Jake und erkannte im selben Moment, wie kalt und schroff das klang. »Es tut mir leid, Ridley.« Er beugte sich zu mir. »Es tut mir leid, dass das passiert ist. Und dass du es mitansehen musstest. Und dass ich es nicht geschafft habe, besser auf dich aufzupassen. Aber … ich meine, es ist ja nicht so, dass wir ihm hätten helfen können. Wir wissen ja nicht einmal, wer ihn erschossen hat. Die Polizei einzuschalten hätte 194
uns nichts gebracht, außer viele Fragen. Ich wollte dich einfach nur von da wegbringen.« Ich merkte, dass er über meine Schulter starrte, und drehte mich zum Fernseher um. Eine junge Reporterin mit einem blonden Bob stand vor dem Van Cortlandt Park. Im Hintergrund liefen Polizisten herum. »Heute Morgen wurde im zur Bronx gehörenden Stadtteil Riverdale ein bislang nicht identifizierter Toter aufgefunden. Jogger entdeckten den Mann, der offenbar durch einen Kopfschuss starb«, erklärte die Reporterin. Ihre Stimme klang seltsam fröhlich, so als berichtete sie von einem Straßenumzug. Hinter ihr sah ich eine ganze Reihe von Streifenwagen. Der Platz, an dem ich gesessen hatte, war mit gelbem Polizeiband abgesperrt. Der Parkeingang wurde von einem Leichenwagen blockiert. Ich fragte mich, wie viele Leute wohl an Christian Lunas zusammengesacktem Körper vorbeigelaufen waren, bis jemandem auffiel, dass er tot war. Wie viele Leute waren vorbeigejoggt und hatten gedacht, er sei bloß ein Penner, der im Park ein Nickerchen macht? Wir hatten uns aus dem Staub gemacht und es einem Fremden überlassen, ihn zu finden, diesen Mann, der vielleicht mein Vater gewesen war. Egal, was für ein Mensch er war – so etwas hatte er nicht verdient. Oder? Die Reporterin redete weiter: »Obwohl die Polizei noch auf das endgültige Ergebnis der ballistischen Untersuchung wartet, scheint festzustehen, dass es sich bei dem Geschoss um eine Gewehrkugel handelt. Der Flugbahn nach zu urteilen wurde der Schuss von einem der gegenüberliegenden Hausdächer abgefeuert.« Die Kamera schwenkte zu der Gebäudezeile auf der anderen Straßenseite hinüber, auf jene Apartmentblocks und Reihenhäuser, vor denen wir stundenlang gewartet hatten. »Hierbei handelt es sich, wie gesagt, um vorläufige Einschätzungen, die erst durch weitere Untersuchungen bestätigt werden müssen. 195
Augenzeugen berichten von einem Paar, das den Park kurz nach Mitternacht verlassen haben soll, aber bisher konnten noch keine näheren Angaben zur Personenbeschreibung gemacht werden. Laut Polizei sind die beiden Personen zu diesem Zeitpunkt nicht tatverdächtig, werden aber dennoch als mögliche Zeugen gesucht. Das war Angela Martinez für New York One News.« Ich erhob mich, schaltete den Fernseher ab und starrte auf die dunkle Mattscheibe. »Verdammter Mist«, flüsterte ich. »Ich kann das einfach nicht glauben. Was ist mit meinem Leben passiert?« Ich wirbelte herum und starrte Jake an. Er saß reglos da und wirkte ungewöhnlich ruhig. »Hast du das gehört?«, rief ich. »Wir werden von der Polizei gesucht!« Ich fing an, im Zimmer auf und ab zu laufen. »Als Zeugen«, erklärte er, so als wäre das nicht weiter schlimm. Für ihn war es das vielleicht, aber einem Menschen, der bislang noch nicht einmal einen Strafzettel wegen Falschparkens kassiert hatte, kam es schlimm vor. »Jake«, sagte ich und baute mich vor ihm auf. »Wir müssen zur Polizei gehen.« Er schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Das ist keine Lösung. Außerdem ist die Polizei wohl kaum unser größtes Problem.« »Wovon sprichst du?« »Denk mal nach«, meinte er und tippte sich an die Schläfe. »Wer hat Christian Luna ermordet? Und warum?« Ob Sie es glauben oder nicht – in meiner augenblicklichen Selbstbezogenheit war ich nicht einmal auf den Gedanken gekommen, mich zu fragen, wer Mr. Luna umgebracht hatte. Ich versuchte immer noch, die Tatsache zu verarbeiten, dass vor meinen Augen ein Mensch erschossen worden war. Die Frage nach dem Warum hatte sich nicht mal ansatzweise gestellt. 196
»Niemand wusste, dass wir uns mit ihm treffen würden«, überlegte Jake. »Selbst wir hatten eine Stunde zuvor noch keine Ahnung davon.« »Also war es vielleicht ein Zufall. Ich meine, so eine Art Willkürakt«, entgegnete ich. An die Alternativen wollte ich gar nicht denken. »Ein so präziser Schuss? Vergiss es.« »Was dann? Hat ihn jemand verfolgt? Oder sein Telefon abgehört?« »Vielleicht. Oder vielleicht wirst du verfolgt.« »Ich?«, fragte ich und stieß ein kurzes Lachen aus. »Wozu sollte mir irgendjemand folgen?« Jetzt denken Sie wohl: Spinnt die? Der Mann im Hausflur, der Mann in der Pizzeria, der Mann in der U-Bahn … Mein verwirrter Verstand hatte diese ominösen Zwischenfälle nicht miteinander in Verbindung gebracht. Den Mann im Zug hatte ich allerdings nicht vergessen. Ich musste an seine ausdruckslosen Augen denken und an seinen Koffer. Hatte er mich verfolgt? Oder handelte es sich bei ihm bloß um einen dahergelaufenen Psychopathen? Ich hatte keine Möglichkeit, das herauszufinden. »Für mich ist klar«, fuhr Jake fort, »dass jeder, der ihn töten wollte, das schon früher hätte erledigen können. Als er sich auf dem Nachhauseweg befand zum Beispiel. Wenn er das Ziel darstellte, wäre ein Anschlag auf ihn zu einem Zeitpunkt, an dem er allein war, viel einfacher und ungefährlicher gewesen. Aber vielleicht kannte der Schütze sein Ziel gar nicht. Nicht bis zu dem Moment, in dem du es ihm gezeigt hast.« »Mir ist in der U-Bahn ein Mann aufgefallen«, sagte ich. »Vielleicht hat er mich verfolgt, aber er ist vor mir ausgestiegen.« Bei dem Gedanken, ich könnte Christian Luna seinem Mörder ausgeliefert haben, drehte sich mir der Magen um.
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»Wie meinst du das?«, fragte Jake besorgt. »Wie kommst du darauf, dass er dich verfolgt hat?« »Er hat mich angestarrt. Und mir zugelächelt«, antwortete ich. Meine Beschreibung, wie er immer näher an mich heranrückte, sobald ich die Augen schloss, klang plötzlich ziemlich unspektakulär. Wie er mir zuwinkte, als der Zug anfuhr. »Und er ist vor dir ausgestiegen?« »Ja.« Jake zuckte die Achseln. »Könnte irgendein Spinner gewesen sein. Schwer zu beurteilen.« Ich setzte mich wieder neben ihn und bemühte mich, zu irgendeinem Schluss zu kommen, aber es gelang mir einfach nicht. Stattdessen sah ich immer wieder den vornüberkippenden Christian Luna vor mir. Ich schlug erneut die Hände vors Gesicht. »Ridley, …«, begann Jake und legte eine Hand auf meinen Rücken. Aber ich stand auf, bevor er weitersprechen konnte, ging ins Schlafzimmer, zog mir Jeans und Socken an und suchte meine Schuhe. Jake rutschte auf die Sofakante und warf mir einen besorgten Blick zu. »Ich kann das jetzt nicht«, sagte ich. Er nickte und senkte den Blick. Ich wandte mich ab, wollte nicht, dass meine Gefühle für ihn mich bei dem, was ich als Nächstes vorhatte, beeinflussten. »Ich muss nachdenken.« »Ridley, warte«, meinte er und stand auf. »Du solltest vorsichtig sein.« »Bin ich. Ich verschwinde nur kurz nach unten.« Er nickte und setzte sich wieder hin. Seine Miene drückte Mitleid und Besorgnis aus und auch ein bisschen Kränkung, sodass ich mich wie ein Miststück fühlte. Ich ging trotzdem. Wäre er auf mich zugekommen und hätte mich in die Arme genommen, ich wäre auf der Stelle dahingeschmolzen. Die 198
Möglichkeit war verführerisch genug, aber durch die kleinen Risse, die mein Leben bekommen hatte, konnte ich plötzlich mein wahres Ich erkennen. Wenn ich jetzt bei ihm Zuflucht suchte, schwach und verängstigt, wie ich war – wie hätte ich dann jemals wissen können, ob ich ihn liebte oder einfach nur brauchte? Und wenn ich mich ihm aus reiner Hilflosigkeit zuwendete, wie sollte ich dann mit dem umgehen, was er offensichtlich vor mir verbarg? In jenem Moment hatte ich natürlich keinen dieser Gedanken klar vor Augen. Ich wusste nur, dass ich so schnell wie möglich von ihm und aus diesem Albtraum fliehen musste. So schnell und so weit weg wie möglich. Ich ging zurück in mein Apartment. Sobald ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, schienen die Erlebnisse der vergangenen Nacht sowie die Angst, die ich in Jakes Wohnung noch gefühlt hatte, wie hinter einer kugelsicheren Glasscheibe zu liegen. Die vertraute Umgebung gab mir Geborgenheit, und für ein paar Minuten war ich wieder die alte Ridley. Auf meinem Anrufbeantworter blinkte eine vorwurfsvolle »5«. Wann hatte ich meine Nachrichten zum letzten Mal abgehört? Mittwochmorgen? Donnerstag? Heute war Samstag, und ich fühlte mich, als hätte ich mein Leben vor einem Monat verlassen. Uma Thurmans Pressefrau hatte mir eine freundliche, dann eine knappe Nachricht hinterlassen. Die Redakteurin von Vanity Fair wollte wissen, ob ich schon Kontakt zu Uma habe und ob der Artikel in Arbeit sei. Dann eine flehende Bitte von Zachary: Ob ich ihn nicht bitte anrufen könnte, wir hätten einiges zu klären. Der letzte Anrufer hatte aufgehängt. Noch wenige Tage zuvor hätte ich alle auf der Stelle zurückgerufen aus lauter Angst davor, aus der Kurve zu fliegen, meine Angelegenheiten schleifen zu lassen. An diesem Morgen lag ich einfach nur lethargisch auf der Couch und lauschte ihren Stimmen, die durch meine Wohnung hallten. Es kam mir vor, 199
als hätte ich einen Teil von mir im Park neben dem toten Christian Luna zurückgelassen; jenen Teil, der sich mit so einfachen Dingen wie »Anrufe beantworten« auskennt. Ich lag eine Weile da. Meine Gedanken wirbelten nur so in meinem Kopf herum, bis ich das Gefühl hatte, überhaupt nicht zu denken. Ich kam zu dem Schluss, dass mir ein Kaffee guttun würde, etwas, das meiner Denkfähigkeit auf die Sprünge helfen würde. Als mein Koffeinpegel ausreichend hoch war, rief ich die Redakteurin zurück. Zum Glück war Samstag, sodass ich auf ihren Anrufbeantworter sprechen konnte: Aufgrund einer familiären Notlage müsse ich den Artikel verschieben. Mir war klar, das würde ihr nicht gefallen, und ich fühlte mich ganz schlecht bei dem Gedanken, dieses Sahnestück von Auftrag zu verlieren. Aber was blieb mir übrig? Ich rief Tama Puma an (was war das überhaupt für ein Name?) und sprach ihr das Gleiche aufs Band. Ich log nicht. Ich befand mich, was mein Leben anging, tatsächlich in einer Notlage; ob sie familiärer Natur war oder nicht, musste ich noch herausfinden. Ich schickte ein Stoßgebet gen Himmel aus Angst, meine Karriere könnte den Bach runtergehen. Die Konkurrenz im freien Journalismus ist enorm; man verschiebt einfach keine Reportagen, die man im Auftrag von Vanity Fair schreiben soll. Wenn sich einmal herumgesprochen hat, dass man seine Abgabetermine nicht zuverlässig einhält, verschwinden die Aufträge plötzlich woandershin. Ich hatte noch nie einen Abgabetermin verpasst, weil ich das als Verstoß gegen meinen persönlichen Ehrenkodex betrachtete. Ich ließ noch ein kurzes Stoßgebet folgen, nur für den Fall, dass jetzt mein ganzes Leben den Bach runterging. Was Zack betraf – nun, ich fühlte mich nicht in der Lage, mich mit ihm zu befassen. Nach diesem Kraftaufwand sank ich erschöpft aufs Sofa zurück. Man könnte an dieser Stelle meinen, durch Christian Lunas Tod hätte sich mein Problem sozusagen von selbst erledigt. Und 200
das stimmte; nun, da er nicht mehr lebte, gab es meines Wissens niemanden mehr, der bestritten hätte, dass ich die Person war, für die ich mich hielt. Aber ich konnte das, was Christian Luna mir erzählt hatte, nicht einfach aus meinem Gedächtnis löschen und weiterleben wie bisher. Daran war nicht einmal zu denken. Plötzlich drängte sich mir eine ganze Reihe neuer Fragen auf. Die dringlichste war: Wer hatte Teresa Stone ermordet? Sie halten das wahrscheinlich nicht für die wichtigste aller Fragen, aber haben Sie Geduld: Da war diese junge Frau, die sich als allein erziehende Mutter durchschlug, hart arbeitete, ihre kleine Tochter liebte und sich mit einem Arschloch wie Christian Luna auseinandersetzen musste. Dann eines Nachts wurde sie in ihrer eigenen Wohnung ermordet, und ihre Tochter entführt. Wenn man Christian Luna glaubte – und in diesem Punkt tat ich es –, hatte er Teresa nicht umgebracht; Teresas Mörder und Jessies Entführer befanden sich noch auf freiem Fuß. Falls Teresa meine Mutter war und ich Jessie, dann war ich es ihr – und mir – schuldig herauszufinden, was damals mit ihnen passiert ist. Mit uns. Mit wem auch immer. Das wusste ich instinktiv. Die Antwort auf diese Frage war vielleicht auch die auf die beiden anderen: Wer hat Christian Luna getötet? Und wer, zum Teufel, war ich? Als es an der Tür klopfte, seufzte ich auf. Ich wollte Jake jetzt nicht sehen. Ich öffnete die Tür und erblickte Zelda. Hinter ihr standen drei Polizisten, zwei in Uniform und einer in Zivil. »Miss Jones? Ridley Jones?«, fragte der Beamte in Zivil. »Ja.« Lassen Sie mich an dieser Stelle noch erwähnen, dass ich eine sehr schlechte Lügnerin bin. Ich habe einfach kein Talent. Ich werde rot. Ich fange an zu stottern. Ich wende den Blick ab. In der Schule musste ich ein paarmal nachsitzen, aber das war auch schon der ganze Ärger, den ich mir bislang eingehandelt hatte. Beim Anblick der Polizisten wäre ich vor lauter Angst am liebsten ohnmächtig geworden. 201
»Wir haben ein paar Fragen an Sie. Dürfen wir reinkommen?« »Sicher«, sagte ich so unbefangen wie möglich. Ich trat zur Seite und machte ihnen Platz. Zelda blieb im Treppenhaus stehen und warf mir einen strengen Blick zu. »Sie sind ein gutes Mädchen, Ridley«, sagte sie. »Ich will hier keinen Ärger.« »Ich weiß, Zelda. Ist schon in Ordnung.« »Die Polizei!« schnaubte sie und machte eine Art Spuckgeräusch, mit dem sie wohl ihre Abscheu zum Ausdruck bringen wollte. »Schlimmer als die bösen Männer, die hier nach Ihnen fragen. Zu viel Ärger, Ridley!« Kopfschüttelnd stieg sie die Treppe hinunter. Ich fühlte mich beobachtet. Ich schaute nach rechts und entdeckte Victoria, die durch den Türspalt spähte. Als sie sah, dass ich sie bemerkt hatte, schlug sie die Tür zu. Hatte Zelda von bösen »Männern« gesprochen? »Miss Jones?« Ich schloss die Tür und ging ins Wohnzimmer. »Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte ich, setzte mich aufs Sofa und kreuzte die Füße unter mir. »Nein danke«, sagte der Polizist in Zivil. »Miss Jones, ich bin Detective Gus Salvo. Ich werde direkt zur Sache kommen. Gestern Abend wurde oben in der Bronx im Van Cortlandt Park ein Mann ermordet. Nach Zeugenaussagen haben Sie sich mit dem Mann unterhalten, als er erschossen wurde. Kurz danach sind Sie zusammen mit einer anderen Person vom Tatort geflohen. Was haben Sie dazu zu sagen?« Mir fiel auf, dass er nicht gesagt hatte: »Jemand, auf den Ihre Personenbeschreibung passt«. Er hatte mich gemeint. »Unser Zeuge kannte Ihr Bild aus der Zeitung«, fügte er hinzu, noch bevor ich nachfragen konnte. »Vor ein paar Wochen, als Sie das Kind gerettet haben.« 202
Der Detective war ein schlanker, fast schon schmächtiger Mann, dennoch machte er einen kräftigen Eindruck. Sein Gesicht war unangenehm schmal, und seine weit aufgerissenen Augen wirkten dunkel und tief wie Brunnen. Er sah aus wie ein Mann, der Tausende fadenscheiniger Ausreden gehört hatte, der die Welt in reinem Schwarzweiß sah, richtig und falsch, gut und schlecht. Grauzonen existierten für Gus Salvo nicht. Einen Moment lang schwieg ich. Ich schloss die Augen, aber als ich sie öffnete, war er immer noch da. »Hören Sie«, begann er hilfsbereit, »ich weiß, dass Sie da waren. Sie wissen, dass Sie da waren. Warum sagen Sie mir nicht einfach, was passiert ist?« Dieser Vorschlag klang so vernünftig, dass ich ihm alles erzählte, angefangen an dem Tag, an dem ich den kleinen Jungen rettete, bis hin zum toten Christian Luna auf der Parkbank. Ich schüttete mein Herz aus, ich sang wie ein Kanarienvogel, wie auch immer es in diesen Schwarzweißgangsterfilmen heißt. Ein paar Details ließ ich allerdings aus. Ich verschwieg Jake; ich hatte das Gefühl, ihn beschützen zu müssen, und ich wollte nicht, dass er meinetwegen Schwierigkeiten bekam. Meinen Bruder verschwieg ich ebenfalls. Abgesehen davon, berichtete ich Salvo so ziemlich alles. Im Grunde sagte ich ihm, ich hätte ein paar Tage über Christian Lunas Briefe nachgedacht, ihn dann angerufen und mich im Park mit ihm verabredet. Okay, wirklich gesungen habe ich also nicht. Eigentlich verschwieg ich außer den Umschlägen, den Bildern und dem Anruf bei Christian Luna so gut wie alles. Detective Salvo zeigte keine merkliche Reaktion. Während ich redete, kritzelte er hin und wieder etwas in ein kleines, in Leder gebundenes Notizbuch. »Miss Jones, haben Sie irgendjemandem davon erzählt?« »Nein«, antwortete ich und fühlte dabei, wie meine Wangen rot anliefen. »Niemandem.« 203
Er warf mir einen kühlen, abschätzenden Blick zu. »Ach so«, sagte er dann und legte den Kopf schief, »Sie haben demnach einfach so beschlossen, sich ganz allein mitten in der Nacht mit diesem Mann in einem Park in der Bronx zu treffen. Sie haben vorher niemandem gesagt, wo Sie hingehen. Sie haben nicht daran gedacht, einen Freund mitzunehmen.« Achselzuckend schüttelte ich den Kopf. »Sie scheinen eine intelligente Frau zu sein. Dieses Verhalten erscheint mir dagegen wenig intelligent«, sagte er mit einem milden, neugierigen Lächeln. Ich zuckte wieder die Achseln. Diese Geste hatte sich in letzter Zeit als überaus nützlich erwiesen, also blieb ich dabei. »Manchmal verleiten ungewöhnliche Umstände zu ungewöhnlichen Reaktionen«, entgegnete ich. »Hm«, machte er nickend. Er musterte mich. Ich glaube, er war etwa zehn Jahre älter als ich, was die tiefen Fältchen um seine Augen verrieten. Er blätterte in seinem Notizbuch, bis er die gesuchte Seite gefunden hatte. »Zeugen behaupten, dass kurz nach dem Schuss ein Mann aus dem Gebüsch gekommen sei. Und dass Sie beide zusammen weggelaufen seien.« »Da war niemand«, beharrte ich. »Ich habe den Park verlassen, mich in die U-Bahn gesetzt und bin nach Hause gefahren.« Ich war stolz auf mich, hatte ich doch nicht einmal gestottert. Er sagte nichts, musterte mich aber wieder mit diesem Blick. Er wusste, dass ich log, und er wusste, dass ich es wusste. Dieses Wissen entspannte mich. Wir waren bloß zwei Schauspieler in einem Sketch. Von nun an brauchten wir nur noch die Sätze nachzusprechen, die sich jemand für uns ausgedacht hatte. »Warum sind Sie vom Tatort geflüchtet?« Nun schüttelte ich den Kopf. »Ich stand unter Schock. Verrückt vor Angst. Ich kann mich kaum daran erinnern, wie ich von da weggekommen bin.« 204
»Lassen Sie mich sehen, ob ich Ihrem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge helfen kann … Augenzeugen zufolge haben Sie den Park in Begleitung eines Mannes verlassen. Offenbar hat er sie gestützt. Angeblich sind Sie dann in einen schwarzen Pontiac Firebird, Baujahr 1969, eingestiegen.« Du liebe Güte. Es war dunkel. Wer sollte all das beobachtet haben? Hatte die Nachrichtensprecherin außerdem nicht erzählt, die Leiche sei heute Morgen von Joggern entdeckt worden? Wenn jemand gestern Abend alles beobachtet hat, wieso hat dieser Jemand die Polizei dann nicht sofort benachrichtigt? »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich mit der Bahn gefahren bin.« Ich musste kurz über das Auto nachdenken. Hatte Jake es auf der Straße geparkt, vor unserem Haus? Nein. Es stand in einer Tiefgarage in der 10. Straße. »Miss Jones«, sagte Detective Salvo mit sanfter, einschmeichelnder Stimme. »Sie wurden von mehr als einem Zeugen gesehen.« »Bin ich für die Einbildungen anderer Leute verantwortlich?«, fragte ich. Er legte eine andere Gangart ein. »Okay, Miss Jones. Noch einmal von vorn. Haben Sie gesehen, aus welcher Richtung der Schuss kam?« »Nein.« »Aber Sie haben doch ausgesagt, mit ihm auf einer Bank gesessen zu haben. Sie hatten sich seitlich gedreht und blickten auf die Häuserzeile gegenüber vom Park, das Opfer war ihnen zugewandt und blickte in den Park. Stimmt das?« »Ja, richtig«, antwortete ich. Da kam mir plötzlich in den Sinn, was Jake über den Schatten auf dem Haus gegenüber gesagt hatte. Auch die Reporterin hatte berichtet, der Schütze habe möglicherweise auf dem Dach gestanden. Ich war keine Exper205
tin in Sachen Ballistik, aber plötzlich wurde mir etwas klar. Der tödliche Schuss war nicht vom Dach gegenüber abgefeuert worden, sondern musste aus dem Gebüsch gekommen sein … aus Jakes Richtung. Ich bemerkte, wie ein Lächeln die Mundwinkel des Detective sekundenlang nach oben zog und dann verschwand. »Der Wagen, ein schwarzer Pontiac Firebird Baujahr 1969 mit dem Nummernschild RXT 658 ist zugelassen auf einen gewissen Harley Jacobsen, wohnhaft 258 West, 110. Straße.« Er starrte mich an. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, unbeteiligt auszusehen. Harley?, fragte eine Stimme in meinem Kopf. War das nicht der Name von Jakes Freund, dem Privatdetektiv? Er und Jake hatten denselben Nachnamen? »Drei Anzeigen wegen Körperverletzung, unerlaubten Waffenbesitzes, Einbruchdiebstahls«, zählte der Detective auf. Mir wurde ein bisschen schlecht, aber ich schwieg. »Ich halte meine Menschenkenntnis für gut, Miss Jones. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau wie Sie ihre Zeit freiwillig mit so einem Mann verbringt.« »Sie haben Recht«, sagte ich nach einer Weile. »Das tue ich auch nicht. Ich habe von diesem Mann nie gehört.« Wieder huschte dieses unmerkliche Lächeln über sein Gesicht. »Darf ich Sie Ridley nennen?« Ich nickte. »Ridley, ich möchte nicht, dass Sie Ärger bekommen, nur weil Sie einen Mann decken, der es nicht verdient hat.« Das saß. In diesem Moment erkannte ich, dass ich es mit einem Profi zu tun hatte. Detective Salvo war in der Lage, einen Menschen einzuschätzen und ihn subtil zu manipulieren, bis er mit der Wahrheit herausrückte. Ich fragte mich, ob er aufgrund dieser Fähigkeit Polizist geworden war. Oder hatte sie sich erst im Lauf seines Berufslebens offenbart? 206
»Ich kenne diesen Mann nicht«, wiederholte ich. Und wenigstens das stimmte. Ich hatte keine Ahnung, wer Harley Jacobsen war. Auch wenn es ganz so aussah, als hätte ich den gestrigen Abend in seinem Auto verbracht. Der Detective warf erneut einen Blick in sein Büchlein und ging den langen Waschzettel mit Informationen durch, die er über Harley Jacobsen gesammelt hatte. »Dieser Kerl wurde im Alter von fünf Jahren der öffentlichen Fürsorge überlassen. Ein Problemkind. Von einer Pflegefamilie zur nächsten, bis er vierzehn wurde. Zu einer Adoption kam es nie. Schließlich wurde er in einem Waisenhaus in New Jersey untergebracht, wo er bis zu seinem achtzehnten Geburtstag blieb. Ging zu den Marines. Da bekam er Ärger wegen einiger Prügeleien, Befehlsverweigerung etcetera. Seine Dienstzeit lief 1996 ab; er verpflichtete sich nicht wieder. Ein Jahr später wurde er im Staat New York als Privatdetektiv zugelassen.« In meinem rechten Ohr hörte ich ein lautes Klopfen; dieses seltsame Geräusch macht sich bemerkbar, wenn ich unter Stress stehe. Mein Verstand bemühte sich, mit dem Vortrag des Detectives Schritt zu halten. Hatte Jake mich angelogen, was seinen Vornamen betraf? War er dieser Harley? Oder war Harley sein Freund, wie er behauptete, und dieser Freund hatte uns bloß seinen Wagen geliehen? Ja, ich weiß schon: pfft. Gus Salvo reichte mir einen Zettel – eine Kopie von Harley Jacobsens Zulassung. Die Qualität war schlecht, das Bild dunkel und verzerrt. Aber es bestand kein Zweifel: Das war Jake. Mein Herz zersprang in tausend Stücke und rieselte in meinen Bauch. Jake hatte mich belogen, was seinen Namen betraf. Das machte mir Angst. Jake war Privatdetektiv; das erklärte einige Umstände, die ich aus Bequemlichkeit nicht hinterfragt hatte. Auch das machte mir Angst. Was den Rest anging, so musste ich zugeben, dass er seit unserer ersten Nacht versucht hatte, mir davon zu erzählen. 207
»Fällt Ihnen dazu irgendetwas ein?« »Nein«, sagte ich. »Nicht das Geringste.« Der Detective warf mir einen langen, strengen, durchdringenden Blick zu. »Hört sich an, als hätte er ein ziemlich hartes Leben gehabt«, fügte ich hinzu, während ich mich innerlich unter seinem Blick wand. »Das ist noch keine Entschuldigung dafür, Gesetze zu brechen.« Ich wusste nicht, was ich sonst noch zu Detective Salvo hätte sagen können. Aus irgendeinem Grund war mein Beschützerinstinkt für Jake – oder wie er auch hieß – stärker denn je. Sicher, er hatte gelogen, was seinen Namen anging. Aber ganz offensichtlich war ich schon zuvor in viel wichtigeren Fragen belogen worden. Ich hatte die Einzelheiten von Christian Lunas Ermordung wahrheitsgemäß geschildert. Ich wusste wirklich nicht, wer ihn ermordet hatte und warum. »Ich kann Ihnen nicht weiterhelfen, Detective. Ich habe Ihnen alles über gestern Abend erzählt, was ich weiß.« »Ridley«, seufzte er, »ich bin mir trotzdem nicht sicher, ob ich Ihnen glauben kann.« Ich lächelte ihn an, nicht besserwisserisch, sondern freundlich, um ihm zu signalisieren, dass das Gespräch beendet war. Er hätte es vermutlich darauf anlegen und mich wegen meiner Flucht vom Tatort verhaften können, aber so schätzte ich ihn nicht ein. Doch er würde nicht aufgeben. Er klappte sein Büchlein zu und stand auf. Ich sagte noch etwas über Christian Lunas Cousin in Puerto Rico, damit man den Toten der Familie überstellen konnte. Ich kannte den Namen des Verwandten nicht, war aber sicher, dass Detective Salvo ihn schon herausfinden würde. Die beiden Polizisten, die während unserer Unterhaltung schweigend herumgestanden hatten, gingen hinaus. Ich erhob mich und folgte dem Detective zur Tür. Dabei 208
fiel mir auf, dass er ein Stückchen kleiner als ich war; auf unerklärliche Weise ließ seine Ausstrahlung ihn größer erscheinen. »Und, was haben Sie rausbekommen? War er Ihr Vater?«, fragte Detective Salvo. »Er hat sich offensichtlich dafür gehalten«, antwortete ich. »Haben Sie eine Ahnung, wer seinen Tod gewollt hat?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kannte ihn ja nicht. Er hat sich vor irgendwem versteckt. Vor der Polizei, dachte ich. Aber vielleicht hatte er auch noch von anderen Leuten etwas zu befürchten.« »Davon ist auszugehen«, sagte er. »Denken Sie noch mal drüber nach, Ridley. Versprochen?«, fragte er und gab mir seine Karte. Ich nickte. »Es war sehr einfach, Sie zu identifizieren und zu finden. Ich stand weniger als zwölf Stunden nach Lunas Tod vor Ihrer Tür.« Ich schwieg, aber ein Frösteln überkam mich, und mein Magen zog sich zusammen. »Ich bin einer von den Guten, okay? Wenn ich vor Ihrer Tür stehe, bekommen Sie vielleicht Ärger, aber Ihnen passiert weiter nichts. Verstehen Sie mich? Wissen Sie, was ich Ihnen damit sagen will, Ridley?« Irgendwo hatte ich einmal gelesen, Polizisten würden darauf trainiert, während einer Befragung möglichst oft den Vornamen ihres Gegenübers zu benutzen. Angeblich erzeugt das ein Gefühl der Vertrautheit. Bei mir funktionierte es. »Sie sind Zeugin eines Mordes geworden. Wenn nun jemand auf die Idee kommt, Sie könnten etwas beobachtet haben oder diese Möglichkeit einfach nur ausschließen will …« Er unterbrach sich und überließ den Rest meiner Vorstellung. »Ich rate Ihnen, vorsichtig zu sein. Ich glaube, Sie wissen gar nicht, in was Sie da hineingeraten sind.« 209
Ich nickte wieder, auf meine Stimme war kein Verlass. Falls er vorgehabt hatte, mir Angst zu machen – es war ihm gelungen. Ich erinnerte mich an Jakes Einschätzung, die Polizei wäre das Letzte, worüber wir uns Gedanken machen müssten. Dass die Polizei offensichtlich derselben Meinung war, fand ich beschissen. »Ich melde mich wieder, Ridley«, sagte er und legte eine Hand auf meinen Arm. »Rufen Sie an, wenn Ihnen noch etwas einfällt, egal, ob bei Tag oder Nacht. Oder wenn Sie reden wollen. Rufen Sie an, wenn Sie in der Klemme stecken.« »Mache ich«, entgegnete ich. »Danke.« »Ich muss Ihnen bestimmt nicht sagen, dass Sie für mich erreichbar bleiben sollten.« Er warf mir einen herablassenden, gleichzeitig väterlichen Blick zu. Dann stiegen er und die beiden Uniformierten die Treppe hinunter. Ich wartete darauf, das Knarren der Haustür zu hören, und wie sie wieder ins Schloss fiel, dann rannte ich hinauf zu Jakes Apartment. Ich klopfte, aber nichts regte sich. Ich drehte am Türknauf und drückte, aber es war abgeschlossen. Ich klopfte noch einmal. Wieder nur Stille.
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SIEBZEHN
K
anzlei Alexander Harriman«, tönte eine helle, schneidende Frauenstimme. Ich hatte mir gedacht, dass jemand wie Alex Harriman auch samstags arbeitet. »Hier spricht Ridley Jones«, sagte ich. »Ist er da?« Eine kurze Pause. »Einen Moment, bitte.« Ich war völlig mit den Nerven am Ende. Ich hatte mit angesehen, wie ein Mann erschossen wurde, und war anschließend vom Tatort geflüchtet. Der Mann, mit dem ich geschlafen hatte, entpuppte sich als Fremder, der mich über seine Lebensumstände belogen oder sie zumindest verschwiegen hatte. Die Polizei hatte mich in meiner Wohnung aufgesucht und mich gebeten, »jederzeit erreichbar« zu bleiben. Das mit den ausfahrbaren Krallen hörte sich auf einmal ziemlich gut an. »Ridley«, sagte Alexander Harriman in einem warmen, familiären Tonfall, so als würde er mich schon mein ganzes Leben kennen – was er ja, aus der Distanz sozusagen, auch tat. »Was kann ich für Sie tun?« »Ich glaube, ich habe ein Problem.« Eine Pause. »Was für ein Problem?«, fragte er. Seine Stimme klang jetzt ernst. »Ich bin Zeugin eines Mordes geworden.« »Ich muss Sie unterbrechen. Sagen Sie bitte nichts mehr.« »Wie bitte?« »Über solche Angelegenheiten spreche ich am Telefon nicht gern. Können Sie in die Kanzlei kommen?« Ich ging unter die Dusche und riss mich zusammen. Abgesehen von den dunklen Augenringen und der gerunzelten Stirn sah mein Gesicht im Badezimmerspiegel ganz normal aus. 211
Auf der First Avenue hielt ich ein Taxi an und ließ mich bis zur Central Park West fahren, um dem Anwalt meines Onkels einen Besuch abzustatten. Die Kanzlei war in einem schlichten noblen Sandsteingebäude untergebracht. Überall schweres Eichenholz und Leder, orientalische Teppiche und die gleichen asiatischen und afrikanischen Kunstobjekte, wie sie auch mein Onkel bevorzugte. Von seinem Nischenplatz blickte ein glücklicher roter Buddha auf mich herab. Eine afrikanische, mit überlangen, roten Federn geschmückte Maske aus Baumrinde schien den Ernst meiner Lage erkannt zu haben. Sie hockte auf ihrem Platz über Regalen mit Gesetzestexten und starrte grimmig herunter. Es kam mir merkwürdig vor, so tief in Schwierigkeiten zu stecken, ohne dass meine Eltern davon wussten. Ich glaube, ich habe meinen Vater sogar angerufen, um mich auszuweinen, wenn ich an der Uni einmal eine schlechte Note bekommen hatte. Auf einmal hatte ich das Gefühl, von meinem Leben abgetrennt worden zu sein, frei zu schweben; von nun an würde ich immer kleiner und kleiner werden und schließlich ganz verschwinden. »Ich wünschte, wir hätten uns vor Ihrer Unterhaltung mit der Polizei gesehen«, sagte Harriman, nachdem ich ihm die ganze Geschichte erzählt hatte, vom ersten Umschlag in der Post bis hin zu Detective Salvos Besuch. Ich zuckte die Achseln. »Um genau zu sein«, fuhr er fort und lehnte sich, die Augen immer auf mich gerichtet, zurück, »hätten Sie mich in dem Moment anrufen müssen, als die Belästigungen anfingen.« »Ich habe mit so was keine Erfahrung.« Ich rieb meine Augen in der Hoffnung, die Müdigkeit vertreiben zu können. »Nein, natürlich nicht«, meinte er, beugte sich vor und stützte seine Ellbogen auf den riesigen Eichenholzschreibtisch. Ich
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könnte schwören, es gibt Autos, die kleiner sind als dieses Möbelstück. »Was soll ich jetzt tun?« »Mein Rat? Machen Sie Urlaub. Fahren Sie nach Hause, und wohnen Sie eine Weile bei Ihren Eltern. Ich werde Detective Salvo anrufen. Von nun an wird jeglicher Kontakt zwischen Ihnen über mich laufen. Ich übernehme die Sache von jetzt an, und falls Sie noch einmal mit der Polizei reden müssen, werde ich dabei sein. Sie haben nichts Falsches getan. Sie haben sich nichts zuschulden kommen lassen; alles andere ist Ansichtssache.« Das klang überzeugend. Verlockend, um ehrlich zu sein. Ich sollte in meinen Schafspferch zurückgehen und zusehen, wie das Tor hinter mir zufällt. Das Ganze einfach vergessen. »Wie mir scheint, wurde der Verursacher Ihrer Probleme eliminiert«, erklärte Harriman. »Wenn Sie wollen, ist all das nie passiert.« Ich stand auf und stellte mich vor ein Regal mit Fotos, das rechts neben seinem Schreibtisch stand. Vor dem Fenster erstreckte sich der Central Park und dahinter die Fifth Avenue. Eliminiert. Eine merkwürdige Wortwahl; immerhin ging es um den Mann, der möglicherweise mein Vater gewesen war. »Er hat mich für seine Tochter gehalten. Er kam hierher, um sich mit mir zu treffen, und dann wurde er ermordet«, sagte ich und beobachtete den Verkehr unten auf der Avenue. »Wie soll das nie passiert sein?« Er sagte nichts, aber ich spürte seinen Blick in meinem Rücken. »Wer immer dieser Mann auch war – Ihr Vater war er nicht. Das garantiere ich Ihnen.« Er klang sehr überzeugt. Ich drehte mich um. »Ich meine, kommen Sie«, lachte er spöttisch, »hören Sie doch auf. Der Kerl taucht nach dreißig Jahren aus dem Nichts auf und behauptet, Ihr Vater zu sein? Und Sie glauben ihm? Ridley, Sie 213
sind ein kluges Mädchen. Viel zu klug für so einen Blödsinn.« Ich erwiderte nichts, sah ihn bloß an. Ich suchte nach irgendeiner Erklärung, warum das Ganze kein Scherz sein konnte, aber ich fand keine. »Okay«, sagte er und hob die Hände. »Wir gehen folgendermaßen vor. Ich werde einen Gerichtsbeschluss zur Entnahme einer Gewebeprobe erwirken. Wir machen einen DNA-Abgleich.« Bei dem Gedanken wurde mir schlecht. Warum war ich nicht schon früher darauf gekommen? Vielleicht wollte ich die Wahrheit gar nicht wissen. Vielleicht lebte es sich mit der offenen Frage besser als mit der Antwort. »Sehen Sie?«, sagte er auf mein Schweigen hin. »Sie wollen es gar nicht wissen, oder?« Ich betrachtete die Bilder im Regal. Eins fiel mir besonders auf; es zeigte Harriman, Onkel Max, Esme, meinen Vater und einen Mann, den ich nicht kannte. Sie standen unter einem Transparent mit der Aufschrift. PROJECT RESCUE WIR LASSEN ELTERNLOSE KINDER NICHT IM REGEN STEHEN Ich nahm das Bild in die Hand und studierte es eingehend. Alle schienen sehr jung darauf, und ich bemerkte, dass Max seinen Arm um Esmes Schulter gelegt hatte. Sie lächelte strahlend, ihr Arm verschwand hinter Max’ Rücken. »Wann wurde das aufgenommen?« Harriman kam herüber. Ich roch sein teures Aftershave. Mit der Uhr an seinem Handgelenk hätte man wahrscheinlich einem oder zwei Kindern das Studium finanzieren können. Seine Hände waren so gebräunt, dass es aussah, als trage er
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Lederhandschuhe. Er nahm mir das Foto aus der Hand und betrachtete es lächelnd. »Vor langer, langer Zeit. Da waren Sie noch nicht auf der Welt«, sagte er. »Was ist Project Rescue?« »Das Rettungsprojekt. Eins der Hilfsprojekte der Maxwell Allen Smiley Foundation. Erinnern Sie sich daran, wie Ihr Onkel sich für die ›Sichere Zuflucht‹-Gesetzesvorlage eingesetzt hat?« Ich nickte. Das Gespräch mit meinem Vater fiel mir wieder ein. »Die Mitarbeiter von Project Rescue haben Lobbyarbeit geleistet – PR, Werbung, Beschaffung von Geldmitteln, Suche nach prominenten Sponsoren«, erklärte er. »Seit Inkrafttreten des Gesetzes betreiben sie eine Hotline für Notrufe, machen PRArbeit und verteilen Aufkleber an Kliniken, Krankenhäuser, Polizei- und Feuerwachen. Die Aufkleber, an denen man erkennt, dass es sich um eine jener Einrichtungen handelt, in der man sein Kind abgeben kann. Project Rescue veranstaltet Wohltätigkeitsdinner zu Ehren der Kinderärzte, die sich besonders für bedürftige Kinder einsetzen. Die finanziellen Mittel dafür stammen bis heute aus Max’ Vermögen.« Er stellte das Foto ins Regal zurück und drehte mich zur Seite, indem er eine Hand auf meine Schulter legte. »Wie dem auch sei«, meinte er, »das ist alles lange her.« Ich hatte das Gefühl, in der Plüschcouch gegenüber seines Schreibtischs zu versinken. Harriman nahm Platz in einem riesigen, kunstvoll verzierten Sessel mit Brokatbezug und geschnitzten Armlehnen aus Schwarzholz, deren Abschlüsse zwei Löwenköpfe bildeten und der eher wie ein Thron aussah. »Was meinen Sie, soll ich Ihnen einen Wagen bestellen, der Sie zu Ihren Eltern bringt?«, fragte er mit einem Griff zum Telefon, das neben ihm stand. »Dort können Sie sich ein wenig 215
ausruhen. Ich kümmere mich derweil um das NYPD. Spätestens in einer Woche ist alles wieder beim Alten.« Ich schaute ihn an. Er wäre in der Lage, meine Probleme einfach wegzuzaubern, so viel war klar. Man sah es ihm an; er war einer dieser Männer, die einem Problem Betonschuhe verpassen und es anschließend im East River versenken. Man sollte nur nicht zu viele Fragen bezüglich der angewandten Methoden stellen. Das wollte man lieber nicht wissen. »Nein«, lehnte ich ab. »Das ist nicht nötig. Ich nehme den Zug.« »Seien Sie nicht albern«, meinte er und nahm den Hörer ab. »Nein, wirklich, danke. Ich brauche etwas Zeit zum Nachdenken.« Er hielt inne, den Hörer in der Hand, und kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Und Sie werden wirklich nach Hause fahren? Zu Ben und Grace?« Ich nickte. »Wo sollte ich sonst hin? Sie haben Recht, ich brauche Ruhe.« Er legte den Hörer auf, und ich erhob mich. »Meine Eltern dürfen nichts davon erfahren«, sagte ich. »Noch nicht. Sie würden sich unnötige Sorgen machen.« »Das unterliegt meiner Schweigepflicht, Kleines«, sagte er und stand auf. »Alles, was wir heute besprochen haben, bleibt unter uns. Sobald ich mit diesem Detective geredet habe, hinterlasse ich eine Nachricht auf Ihrem Anrufbeantworter. Hören Sie ihn regelmäßig ab? Das sollten Sie.« »Werde ich tun.« »Vertrauen Sie mir«, sagte er und legte mir den Arm um die Schulter. »Nächste Woche um die gleiche Zeit, hier in diesem Büro? Alles beim Alten. Gut, dass Sie gekommen sind. Es war Ihrem Onkel Max ein besonderes Anliegen, dass man sich immer um Sie kümmern würde. Das wissen Sie doch?« 216
Ich nickte und nahm seine Hand, die er mir entgegenstreckte. »Vielen Dank, Mr. Harriman.« Ich bin keine gute Autofahrerin. Zum einen, weil ich über wenig Fahrpraxis verfüge, zum anderen, weil ich zum Tagträumen neige. Als Teenager war ich in eine Menge Unfälle verwickelt. Bagatellschäden, und immer hatte ich Schuld. Bis mein Vater eines Tages schimpfte: »Ridley, bist du eigentlich auch mal unterwegs, ohne irgendwo reinzufahren?« Die Versicherung stufte uns hoch, die Reparaturkosten waren erheblich. Ich glaube, die meisten Sorgen haben meine Eltern sich gemacht, weil es viel schlimmer hätte kommen können. Jede verbogene Stoßstange erinnerte sie an die Zerbrechlichkeit meines Lebens und daran, dass meine Unabhängigkeit das Ende jener Zeit bedeutete, in der sie imstande waren, alle Gefahren von mir fernzuhalten. Langsam verloren sie die Kontrolle über mich. Noch am selben Tag mietete ich im West Village einen schwarzen, unglaublich teuren Grand-Cherokee-Jeep und verließ die Stadt. Ich kroch den Henry Hudson Parkway entlang, vorbei an unzähligen Schikanen in Form von Baustellen (einige davon, das kann ich beschwören, gibt es schon seit mehr als fünfzehn Jahren). An der Ausfahrt zur George Washington Bridge ließ ich das Chaos endlich hinter mir. Ich war auf dem Weg nach Jersey. Nicht zu meinen Eltern, auch wenn ich das Harriman versprochen hatte. Nein, dazu war ich nicht in der Lage. Nach Hause zu fahren, kam jetzt nicht Frage. Im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten bin ich keine Privatdetektivin. Aber ich bin Journalistin. Was bedeutet, dass ich so mancher Spur gefolgt bin und die eine oder andere Person aufgespürt habe. Und es ist mir gelungen, hartnäckig verschwiegene Leute dazu zu bringen, mit mir zu reden. Nach meinem Besuch bei Alexander Harriman fuhr ich in mein Apartment, setzte mich mit einem Riesenbecher Kaffee aufs Sofa, starrte aus dem Fenster und genoss den Ausblick auf eine 217
Betonmauer mit dunklen Fenstern. Ich grübelte über meine eigene Story nach. Und dann stellte sich mir eine Frage, die immer aufkam, wenn ich an einem Artikel arbeitete: Wenn ich die Leserin wäre, was würde ich als Nächstes erfahren wollen? Welche grundlegenden Fragen waren bislang offen geblieben? Ich dachte gar nicht daran, zu meinen Eltern zu fahren oder so zu tun, als wäre nichts passiert. Das kam nicht in Frage. Ich hatte alle Brücken in dem Moment hinter mir abgebrochen, als ich mich mit Christian Luna im Park traf. Der Rückweg in mein altes Leben war vollkommen verbaut. Mir blieb nichts anderes übrig, als nach vorn zu schauen. Ich fühlte mich unglaublich ruhig. Bevor Sie mich jetzt für einen hoffnungslosen Fall halten: Ich erinnere mich an etwas, das mir eine Psychologin einmal erklärt hat. Meine Eltern und ich hatten sie damals nach Onkel Max’ Tod aufgesucht, weil mein Vater der Ansicht gewesen war, wir bräuchten professionelle Hilfe. Die Frau sagte, Trauer sei kein linearer Vorgang, keine langsame, stetige Vorwärtsbewegung in Richtung Heilung. Nein, man trauere vielmehr auf einem Zickzackkurs, auf schmerzliche Weise geht es hin und her zwischen »zerstört« und »heil«, bis man eines Tages mehr heile Stellen an sich entdeckt als zerstörte. Der Verstand ist nicht in der Lage, Trauer und Angst über lange Zeit zu ertragen, deswegen schaltet er sich hin und wieder ab. Ich war nicht sicher, ob ich trauerte. Vielleicht. Christian Luna, der sich für meinen Vater gehalten hatte, war tot. Jake war ein Fremder, der mich angelogen hatte. Ich wusste nicht mehr, wer ich wirklich war. Aber trotzdem konnte ich darüber hinwegsehen; es gelang mir, meine Angst von mir abzuspalten und in Ruhe über all die Fragen nachzudenken, auf die ich eine Antwort finden musste. Die wichtigste Frage war für mich immer noch: Wer hatte Teresa Stone ermordet? Wie gesagt, ich war überzeugt, mit der Antwort auf diese Frage viele andere beantworten zu können. 218
Meiner Einschätzung nach gab es noch andere dicke Brocken. Mal sehen, ob Sie meiner Meinung sind: Erstens: Wer, zum Teufel, ist Jake? Diese Frage konnte ich jedoch nicht beantworten, ohne mit ihm zu sprechen; das müsste allerdings noch ein wenig warten, schließlich war Privatdetektiv Jake/Harley im Kampfgetümmel vorübergehend verloren gegangen. Die nächsten Fragen lauteten: Wer hat Christian Luna getötet, und warum? Auch hier befand ich mich in einer Sackgasse. Ich hatte keine Möglichkeit, es herauszufinden. Ich wusste nicht einmal, wo ich anfangen sollte. Und die letzte Frage: Hatte Christian Luna die Wahrheit gesagt? War ich seine Tochter? Hatte er mit Teresa Elizabeth Stones Tod wirklich nichts zu tun? Ich las noch einmal den Artikel, den Jake/Harley im New Jersey Record entdeckt hatte. Maria Cacciatore war Teresas Nachbarin gewesen; sie hatte auf Jessie aufgepasst, wenn Teresa zur Arbeit ging. Ich fuhr meinen Computer hoch, wählte mich ins Internet ein und besuchte LexisNexis. Sekunden später hatte ich Telefonnummern und Adressen von drei M. Cacciatores in Hackettstown, New Jersey, ermittelt. Außerdem fand ich die Nummer der Gebäudeverwaltung, die für den Oak-GrovesApartmentkomplex zuständig war. »Sicheres und sauberes Wohnen in bezahlbaren Apartments«, begrüßte mich die Website. Ich hatte noch nie gesehen, dass jemand mit Adjektiven in ihrer Grundform – wie »sicher« und »sauber« – für etwas warb; vermutlich hatte man sich hier mit dem zufriedengeben müssen, was vorhanden war. Den Fotos nach zu schließen, richtete sich das Wohnungsangebot vor allem an Leute mit geringem Einkommen. Das wunderte mich kaum, passte es doch zu Teresas damaliger Lage. Falls ich Maria Cacciatore nicht ausfindig machen könnte, würde ich mit Hilfe der Hausverwaltung vielleicht einen Mieter finden, der während der siebziger Jahre in dem Haus gewohnt hat. 219
Vielleicht glauben Sie, ich hätte all diese Anrufe erledigt, bevor ich mich auf den Weg nach New Jersey machte? Aber herumzusitzen und Telefonate zu führen, bei denen vielleicht etwas herauskam, vielleicht aber auch nicht, war meiner Ansicht nach keine gute Idee. Ich wusste, ich sollte vorsichtig sein; aber da Jake/Harley mich bezüglich seines Namens, seines Berufs und was weiß ich noch belogen hatte, fühlte ich mich an mein Versprechen, vorsichtig zu sein, nicht länger gebunden. Also machte ich mich auf den Weg nach New Jersey. Ich war der einzige Mensch in New York City, der kein Mobiltelefon besaß. Diese Tatsache hatte keinen ideologischen Hintergrund; es war einfach so, dass ich zu Hause arbeitete und deshalb fast immer erreichbar war. Normalerweise fuhr ich auch nicht Auto und war folglich nicht darauf angewiesen, für den Notfall mit einem Handy ausgerüstet zu sein. In der U-Bahn funktionieren die Mobiltelefone nicht, aber nur dort hätte ich überhaupt Verwendung dafür gehabt: »Ich sitze noch in der Bahn«, »Ich werde mich verspäten« und so weiter. Um ehrlich zu sein – wenn man mich nicht erreichen kann, liegt es meist daran, dass ich nicht erreicht werden will. Meine Freunde und meine Familie hatten seit ewigen Zeiten versucht, mich zu einem Handy zu überreden, was meinen Widerstand natürlich nur noch verstärkte (inzwischen können Sie sich ein Bild von mir machen). Aber heute fuhr ich an der Rockaway Mall von der Bundesstraße 80 ab, um mir in einem dieser kleinen AT-&T-Läden ein Handy zu kaufen. Ich hatte eingesehen, dass ich für meine Mission eins gebrauchen könnte und entschied mich für ein winziges rotes Nokia, das kaum größer war als eine Kaugummipackung. Da ich nun mal ausgestiegen war, besorgte ich mir auch noch ein Cin-a-Bon und einen Shake von Orange Julius. Ich legte eine Pause auf dem Parkplatz ein, aß, trank und unterzog mein neues Spielzeug einer weiteren Prüfung. Gott segne Amerika.
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Das hört sich an, als wäre ich zwar ein wenig voreilig und unbesonnen, dafür aber auch fest entschlossen und klar im Kopf gewesen. Und es stimmte. Ich hatte Angst, die letzte Nacht steckte mir noch in den Knochen, und immer wieder tauchten die schrecklichen Bilder vor mir auf; aber ich hatte das Gefühl – zu Unrecht vielleicht –, meine Situation wieder unter Kontrolle zu haben. Maria Cacciatore stellte die einzige Verbindung zwischen mir und meiner Vergangenheit dar, einer Vergangenheit, von der ich bis vor wenigen Tagen nichts geahnt hatte. Wenn sie noch lebte, wenn es mir gelingen würde, sie zu finden – dann war die Wahrheit vielleicht doch nicht mit Christian Luna gestorben. Ich war voll der Hoffnung und fest entschlossen herauszufinden, wer Teresa Stone ermordet hatte, was mit Jessie passiert war und welche Konsequenzen das für mich hatte. Ich wusste, ich suchte die Stecknadel im Heuhaufen; aber ich war mir sicher, sie zu finden. Bringt man nur genug Mut auf, den Hinweisen zu folgen, dann fügt sich im Universum alles zusammen, um einem den Weg zu ebnen und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und Mut hatte ich an jenem Tag. Vielleicht keinen Weitblick, aber jede Menge Mut. Als ich Hackettstown erreicht hatte, parkte ich vor einem 7Eleven und tätigte meine Anrufe. Die ersten beiden verliefen nicht gerade erfolgreich. Ich weiß nicht, ob das an unserer postmodernen, entfremdeten Gesellschaft liegt oder an den vielen Telefonumfragen, die die Familie Cacciatore vor meinem Anruf erdulden musste … Oder ich hatte es hier lediglich mit einer besonders unfreundlichen Sippe zu tun. Martino Cacciatore schlug mir vor, meinen Kopf aus dem Arsch zu ziehen und nicht länger fremde Leute, die sich für meine Angelegenheiten nicht interessierten, telefonisch zu belästigen. Ich hatte ihn beim Fernsehen gestört, als er sich eine Gameshow ansah, und er würde nun niemals den korrekten Preis der angepriesenen Karibik-Kreuzfahrt erfahren. Margaret 221
Cacciatore war schwerhörig; nachdem wir uns zehn Minuten lang angebrüllt hatten, ließ sie ein verärgertes Grunzen hören, legte auf und ging, als ich erneut anrief, nicht wieder ans Telefon. Ich wählte die letzte Nummer. »Hallo?«, fragte eine ältere Frau. »Hallo. Ich bin auf der Suche nach Maria Cacciatore«, sagte ich vorsichtig. »Kein Interesse«, meinte sie. Die Verbindung wurde unterbrochen. Ich wählte die Nummer ein zweites Mal. »Mrs. Cacciatore, ich will Ihnen nichts verkaufen.« »Ich weiß, ich weiß. Ich habe im Lotto eine dreitägige Reise nach Orlando gewonnen, richtig? Es besteht keine Kaufverpflichtung, richtig?« »Nein, Madam. Ich will Ihnen wirklich nichts verkaufen und auch nichts andrehen.« »Na ja«, meinte sie widerwillig, »was wollen Sie dann?« »Sind Sie Maria Cacciatore?« »Ja«, seufzte sie. »Hören Sie, was wollen Sie?« »Kannten Sie eine Teresa Elizabeth Stone und ihre Tochter, Jessie?« Wieder eine Pause. Ich dachte schon, sie hätte aufgelegt. Dann hörte ich sie atmen. »Ja«, antwortete sie endlich. »Das ist schon sehr lange her. Teresa … ist gestorben. Möge sie in Frieden ruhen.« »Ich weiß, Mrs. Cacciatore«, fuhr ich fort. »Ich würde Sie gern ein paar Sachen über Teresa fragen. Und über Christian Luna. Können Sie mir helfen?« »Wie, sagten Sie gleich, war Ihr Name?« Sie klang plötzlich erregt, wütend, so als zwänge ich sie, sich an Dinge zu erinnern, die sie lieber vergessen hätte.
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»Mein Name ist Ridley Jones. Ich bin Journalistin und schreibe gerade eine Reportage über vermisste Kinder, die nie wiedergefunden wurden. Ich habe Ihren Namen in einem Artikel entdeckt, der 1972 im New Jersey Record erschien.« Na ja, vielleicht bin ich als Lügnerin doch besser, als ich behauptet habe. So langsam bekam ich Übung. Außerdem war es ja nur zum Teil gelogen. »Für wen schreiben Sie denn?«, fragte sie. Gut zu wissen, dass sie noch bei klarem Verstand war. »Ich arbeite freiberuflich. Ich habe den Artikel noch nicht verkauft.« Sie schien einen Moment lang zu überlegen. Ich rechnete schon damit, von ihr abgewiesen zu werden, als sie sagte: »Wenn Sie wollen, können Sie vorbeikommen. Ich telefoniere nicht gern.« Sie erklärte mir den Weg und lud mich für vier Uhr ein. »Das ist alles sehr lange her«, erklärte sie, bevor wir auflegten. »Ich weiß nicht, ob ich mich an viel erinnern kann.« »Das macht nichts, Mrs. Cacciatore. Versuchen Sie einfach Ihr Bestes. Mehr kann niemand von Ihnen verlangen.« Ich hatte Zeit totzuschlagen. Der Verkäufer des 7-Eleven beobachtete mich schon argwöhnisch durch die Fensterscheibe. Ich verließ den Parkplatz und kurvte herum, bis ich eine Barnes&-Noble-Filiale entdeckte. Man musste zwangsläufig an einer vorbeikommen. Wurde das eigentlich schon einmal wissenschaftlich untersucht, wie lange man geradeaus fahren kann, ohne an einer Filiale von Barnes & Noble oder Starbucks oder beidem vorbeizukommen? Jedenfalls war ich froh, mit einem gekühlten Chai in einem bequemen Ledersessel sitzen und durch die aktuelle Ausgabe der New York Times blättern zu können. Es dauerte einige Minuten, bis ich das Unbehagen, das sich unterschwellig eingestellt hatte, voll zur Kenntnis nahm. Ich 223
fühlte mich beobachtet. Rutschte in meinem Sessel herum, vermied es aber, meinen Blick von der Zeitung zu heben. Nach einer Weile legte ich die Zeitung beiseite, streckte mich und schaute mich unauffällig um. Links von mir stand ein Mann in der Fantasy-Abteilung und las die Rückseite eines Taschenbuchs. Ein untersetzter Typ mit Sonnenbrille, deren Gläser so dick und breit wie Schiefertafeln waren, einer Baseballkappe auf dem rasierten Schädel, einer olivfarbenen Bomberjacke und sauberen, gebügelten Jeans. Er trug schwarze, schwere Stiefel. Er warf mir einen kurzen Blick zu. Hatte er gelächelt, ganz kurz? Er stellte das Buch ins Regal zurück, drehte sich um. Sein Gesicht war hässlich, er wirkte kalt und brutal. Das war nicht bloß irgendein gruseliger Typ, der mich anstarrte. Merkwürdigerweise kam er mir bekannt vor. Ich hatte ihn schon einmal gesehen. So ein Mist, dachte ich, war das etwa der Kerl aus der U-Bahn? Mein Herz begann zu rasen. Ich nahm meinen Chai und verließ den Laden, schnell, aber ohne zu rennen. Wegen der Baseballkappe und der Sonnenbrille konnte ich nur schwer sagen, ob es sich tatsächlich um ein und denselben Mann handelte. Ich stieg wieder in den Jeep, saß schwer atmend auf dem Fahrersitz und beobachtete die Ladentür im Rückspiegel. Ob er hinter mir herauskommen würde? Aus irgendeinem Grund erinnerte ich mich an die Unterhaltung mit Zelda. An den Mann, der nach mir gefragt hatte. Die Worte von Jake fielen mir ein und auch die Andeutungen des Detective – dass mir jemand gefolgt sein könnte, der es auf Christian Luna abgesehen und jetzt vielleicht mich ins Visier genommen hatte. Ich zog mein Nokia aus der Manteltasche und rief Zelda an. »Fiveroseswaskannichfürsietun?«, murmelte sie. Sie klang so schroff und mürrisch wie immer. »Hier ist Ridley.« »Wollen Sie eine Pizza?« 224
»Nein, Zelda, Sie haben doch gesagt, da hätte neulich ein Mann nach mir gefragt. Wie sah er aus?« Im Hintergrund hörte ich den Lärm im Restaurant. Klingeling!, machte die Registrierkasse. Ich ließ die Ladentür im Rückspiegel nicht aus den Augen. »Ach«, schnaufte sie. »Ich erinnere mich nicht. Bin ich Einstein?« »Zelda, es ist wirklich wichtig.« Ich wusste, dass sie sich an jede Einzelheit erinnern konnte, wenn sie nur wollte. Sie hatte bloß keine Lust. Sich mit anderen zu unterhalten, zählte nicht gerade zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. »Er sah nach Ärger aus. Genau so.« »War er mittelgroß, schon ein bisschen älter, mit dunklen Haaren und dunklen Augen und einer Baseballkappe?«, fragte ich in der Hoffnung, sie würde bejahen. Dann könnte ich nämlich weiterhin glauben, Christian Luna wäre bei ihr gewesen; ich könnte den Skinhead aus der Barnes-&-Noble-Filiale vergessen und den Rest auf meine Paranoia schieben. »Neinneinnein. Der nicht.« Ich wartete auf weitere Erklärungen, die aber nicht folgten. »Zwölffünfundfünzig«, hörte ich sie sagen. Klingeling! »Ihr Wechselgeld. Schönen Tag noch.« »Zelda«, flehte ich. Sie ließ einen Seufzer hören. »Großer Kerl. Kahl – Sie wissen schon, rasierter Kopf. Ein Penner, das sag ich Ihnen. Ridley, in was sind Sie da reingeraten?« Mir sank der Mut. »Ich weiß nicht.« »Ich will keinen Ärger im Haus«, sagte sie streng. »Okay. Bis dann, Zelda.« Ich beendete das Gespräch und rutschte auf dem Fahrersitz nach unten, die Tür immer im Blick. Wenn er hinter mir her war, dann … Ich wusste es selbst nicht. Dann war ich wohl im Arsch. Ich hatte die Seitenspiegel nicht ordentlich eingestellt, so 225
dass ich plötzlich mein eigenes Bild darin erkannte. Ich sah albern aus, hatte die Augen weit aufgerissen, hockte zusammengekrümmt da und kaute auf meinem Strohhalm herum. »Du bist paranoid«, sagte ich zu meinem Spiegelbild. Aber gerade als ich über mich selbst lachen wollte, sah ich ihn durch die Doppeltür des Buchladens auf den Parkplatz herauskommen. Suchend blickte er sich um. Ich konnte nicht sagen, ob er der Mann aus dem Zug war oder nicht. Er sah ihm ähnlich, aber das hieß noch nichts. Er drehte sich von meinem Jeep weg, setzte sich in Bewegung und verschwand in der Menschenmenge vor dem Laden. Als er nicht in meine Richtung schaute, verließ ich hastig den Parkplatz. Nachdem ich eine Weile ziellos herumgekurvt war, zittrig und unkonzentriert, fuhr ich zu Maria Cacciatore. Niemand folgte mir.
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ACHTZEHN
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s war vermutlich unrealistisch, aber während ich mit klopfendem Herzen und zwischen Hoffen und Bangen so dahinfuhr, hielt ich immer wieder nach dem Firebird Ausschau. Ich stellte mir vor, Jake hätte es irgendwie geschafft, mich aufzuspüren. Vielleicht folgte er mir in einem anderen Wagen, um mich vor meinen vermeintlichen Jägern zu beschützen. Vielleicht hatte er sich Zugang zu meinen Kreditkartendaten verschafft und wusste, dass ich ein Auto gemietet, in New Jersey ein Mobiltelefon gekauft und bei Barnes & Noble gewesen war. Privatdetektive konnten das, oder? Aber natürlich bildete ich Idiotin mir das bloß ein. Ich stellte mir Jakes Gesicht vor, und plötzlich wurde ich von der Erinnerung an unsere gemeinsamen Nächte überwältigt. Die waren wahr gewesen, selbst wenn er mir Lügen aufgetischt und das Wichtigste verschwiegen hatte. Diese Art von Nähe ließ sich nicht vortäuschen. Oder doch? Machte ich mir etwas vor? Normalerweise ergriff ich schon beim geringsten Anzeichen von Unehrlichkeit die Flucht. Aber inzwischen lebte ich in einer anderen Welt. Ich fühlte mich wie Alice im Wunderland. Alles war auf merkwürdige Art daneben, und die alten Gesetzmäßigkeiten schienen nicht länger zu gelten. Als ich die Adresse gefunden hatte, die Maria mir am Telefon nannte, parkte ich den Wagen. Ich warf einen letzten Blick in den Rückspiegel, immer noch auf der Suche nach dem Psychopathen aus dem Buchladen und der U-Bahn. Ich sah niemanden und musste über mich lachen. Anscheinend litt ich wirklich unter Verfolgungswahn. Millionen von untersetzten Kerlen mit rasiertem Schädel liefen durch die Gegend. Ich hatte absolut keinen Grund anzunehmen, dass der Mann in Zeldas Pizzeria, der in der U-Bahn und der Verrückte bei Barnes & 227
Noble ein und derselbe seien. Im Grunde genommen war die Vorstellung grotesk. Ich lief durch den Laubengang und las die Nummern an den Türen. Vor Apartment vier blieb ich stehen und klopfte. Es blieb lange still, und ich fragte mich schon, ob Maria Cacciatore es sich vielleicht anders überlegt hatte. Ich klopfte noch einmal. »Ist ja gut, Hergott noch mal«, kam es gedämpft von drinnen. »Ich komme ja schon.« Ich hörte eine Toilettenspülung, dann den Wasserhahn, schließlich schwere Schritte im Flur. Die Tür schwang auf, und vor mir stand eine rundliche Frau in einem leuchtend blauen hawaiianischen Umhang mit passendem Turban. Sie runzelte die Stirn. »Mrs. Cacciatore?« Sie starrte mich an, und plötzlich verschwand das Stirnrunzeln und machte Verblüffung Platz. »Jesus, Maria und Josef«, keuchte sie und trat einen Schritt zurück. Ich warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, was sie meinte. Aber als ich mich wieder umdrehte, starrte sie mich noch immer an. »Zum Glück haben Sie vorher angerufen«, sagte sie. »Ansonsten hätte ich einen Herzinfarkt bekommen.« Sie trat zur Seite, und ich ging hinein. Dabei ließ sie mich nicht aus den Augen. »Ich verstehe nicht«, sagte ich, obwohl ich überzeugt war, sehr wohl verstanden zu haben. »Sie müssen es wissen«, erklärte sie. »Sie sehen genauso aus wie sie. Sie sind ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.« Als sie die Tür schloss, wurde es dunkel. Vor den Fenstern hingen rote Samtvorhänge, die das Zimmer in blutrotes Licht tauchten. Auf jeder Ablagefläche standen Stumpenkerzen in Glasbehältern, die mit Heiligenbildern verziert waren, wie man 228
sie aus spanischen Restaurants kennt. In einer Ecke stand ein Tischchen mit einem dunklen Tuch darüber. Auch das sah rot aus, wie alles im Raum, sogar meine Hände. Auf jeder Seite des Tischchens stand ein Stuhl, in der Mitte ein Stapel Tarot-Karten und eine weitere Kerze. Von der Decke hingen Klangspiele reglos in der stillen Hitze des Raums. Irgendwo brannte ein Räucherstäbchen. Ich fühlte, wie der beißende Rauch meine Nasenschleimhaut anschwellen ließ. »Soll ich den Weihrauch ausmachen? Manche Kunden stört der Geruch.« »Nein, ist schon gut«, sagte ich. Ich blickte mich immer noch um, versuchte, den Raum auf mich wirken zu lassen. »Mrs. Cacciatore …« »Meine Liebe, nennen Sie mich doch Madame Maria, das tun alle. Oder einfach nur Madame.« »Jaaaa …«, meinte ich zögerlich. »Also«, sagte sie und ließ sich seufzend auf das Sofa fallen. Ihr Gewand bauschte sich. Sie rückte sich den Turban zurecht. Meine Augen hatten sich inzwischen an das schummrige Licht gewöhnt, und mir fiel auf, dass sie mich immer noch anstarrte. »Warum hast du mich angelogen, Jessie? Warum lügst du eine alte Frau an, die dir früher die Windeln gewechselt hat?« Sie klopfte neben sich aufs Sofa. Ich setzte mich. »Ich habe nicht gelogen. Nicht, was meinen Namen betrifft. Ich bin nicht Jessie. Ich heiße Ridley Jones.« Sie nickte. »Du bist hergekommen, um etwas über deine Mutter zu erfahren. Du willst wissen, was mit ihr passiert ist.« Sie hörte sich an, als hätte sie ein Orakel befragt, als hätte ich ihr bereits alles erzählt. »Ich bin hergekommen, um etwas über Teresa Elizabeth Stone zu erfahren«, wiederholte ich. Man hat es nicht leicht, wenn die Leute einen ständig verwechseln. Sie nennen einen bei einem 229
Namen, den man nicht hat, und sie reden von Eltern, die man nicht kennt. Sie sind ganz von sich überzeugt, so wie man selbst von sich überzeugt ist. Davon wird man wirr im Kopf. Es bringt einen durcheinander. Es gab immer noch keinen Beweis dafür, dass ich Jessie Stone war; und, ehrlich gesagt, war ich jetzt nicht Jessie Stone, selbst wenn ich es vor langer Zeit einmal gewesen sein sollte. Ich war Ridley Jones. Ich hatte eine Identität, an der ich festhalten würde. »Na schön«, lenkte sie ein, und es klang wissend, mütterlich. »Ridley. Na schön. Erzähl mir, was passiert ist.« Ich ließ den Blick schweifen. »Wissen Sie das nicht, Madame?« »Hey, nun mal sachte!«, rief sie lachend. »Schließlich muss man sich auch als alte Frau seinen Lebensunterhalt irgendwie verdienen. Ich lege sowieso nur Karten. Die Menschen brauchen eine Orientierungshilfe in dieser Welt, jemanden, mit dem sie ihre Probleme besprechen können, jemanden, der sie bestärkt und ermutigt. Bist nicht auch du deswegen gekommen?« Ich gab keine Antwort, spielte mit dem Gedanken, aufzustehen und zu gehen. Aber irgendetwas an der alten Dame war mir sympathisch, obwohl sie (oder weil sie?) sich so pseudomystizistisch gab. Ihr ausdrucksvolles Gesicht war voller Falten, sie hatte Tränensäcke und ein wabbeliges Kinn. Ihr Körper wirkte weich und einladend, so als hätten schon viele Menschen in ihren Armen Trost gefunden. In ihrem seltsamen kleinen Reich fühlte ich mich sicher. Deswegen erzählte ich ihr meine Geschichte. Anders, als ich sie Detective Salvo geschildert hatte; diesmal ließ ich nichts aus. Wie Sie sehen, braucht es nicht viel, mich zum Reden zu bringen. Ich war noch nie besonders gut darin, Geheimnisse für mich zu behalten. Als ich fertig war, seufzte sie tief auf. »Du brauchst einen Tee.«
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Sie stand auf und ging zur Küchenzeile gegenüber der Couch, füllte einen Becher mit Leitungswasser, hängte einen Teebeutel hinein und stellte das Ganze in die Mikrowelle. Während das Gerät summte, kam sie zu mir und legte ihre Hand auf meine Wange. »Ridley, dein Kopf muss ja förmlich zerplatzen.« Ihr Mitgefühl trieb mir Tränen in die Augen, aber ich riss mich zusammen. Ich war ihr dankbar, dass sie mich ganz bewusst »Ridley« genannt hatte und nicht »Jessie«. Die Mikrowelle piepste. Sie nahm den Becher heraus, gab etwas Milch und Honig hinein und reichte ihn mir. »Deine Mutter – entschuldige, Teresa – war ein gutes Mädchen«, sagte sie und setzte sich wieder. »Sie hat nur die Dummheit begangen, sich auf einen Nichtsnutz wie Christian Luna einzulassen. Als ich ihn zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass er nichts für sie wäre. Aber das gehörte zu ihrem Karma, sie suchte sich ständig die falschen Männer. Einige waren reich, andere arm, mancher war attraktiv, mancher hässlich. Aber eins hatten sie alle gemeinsam – sie taten Teresa nicht gut.« Sie warf mir einen raschen Blick zu, so als fürchtete sie, mich verletzt zu haben. Ich schüttelte den Kopf, um ihr zu zeigen, dass es in Ordnung war, dass sie offen sprechen sollte. »Wie auch immer, vielleicht sollte ich nicht so hart über Christian Luna urteilen«, fügte sie gedankenverloren mit einem kleinen Lächeln hinzu. Sie beugte sich vor und tätschelte wieder meine Wange. »Ohne ihn hätte es vielleicht keine Jessie gegeben. Und das Kind war Teresas große Liebe. Mit dem kleinen Mädchen war für sie die Sonne aufgegangen.« Sie hielt inne und legte sich die Hand auf die Brust. »Wie auch immer, er ist tot, sagst du? Und von den Toten soll man nicht schlecht reden.« »Er hat behauptet, er hätte Teresa nicht umgebracht. Glauben Sie das?« 231
»Ich habe nie geglaubt, dass er ihr Mörder war. Ich weiß, dass es danach aussah. Immerhin war er in besagter Nacht bei Teresa gewesen, hatte getobt und rumgebrüllt. Jeder hielt ihn für den Täter. Besonders, nachdem er doch einfach verschwand und die kleine Jessie gleich mit. Aber Christian Luna war ein Feigling. Es braucht schon etwas Mumm, eine Frau umzubringen und ihr Kind zu stehlen. Außerdem war er nicht sonderlich interessiert daran, sich um Jessie zu kümmern. Wozu hätte er sie entführen sollen?« »Klar, aber bei solchen Verbrechen geht es um Macht, oder? Man will etwas unbedingt haben, nur weil ein anderer sagt, man habe kein Anrecht mehr drauf.« Sie zuckte die Achseln. »Kann sein. Ich hätte es ihm trotzdem nicht zugetraut. Er konnte immer bloß rumbrüllen und Teresa hin und wieder eine knallen. Er hat Jessie den Arm gebrochen, aber das war ein Unfall. Ein Mensch, der so gestrickt ist, bringt nicht einfach die Mutter seines Kindes um.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe nie geglaubt, dass er es war.« »Wer dann?« »Keine Ahnung«, sagte sie. »Ich weiß nur eins: Jessie war nicht das einzige Kind in der Gegend, das in dem Jahr spurlos verschwunden ist.« Ich starrte sie an. »O ja«, meinte sie nickend. »In den darauffolgenden Monaten habe ich in den Nachrichten von drei weiteren Fällen gehört. Und im Lauf der Jahre wurden es noch mehr.« »Wurden die Eltern jedes Mal ermordet?«, erkundigte ich mich. Maria kniff die Augen zusammen und blickte ins Weite. »Ich glaube nicht. Nicht, dass ich wüsste.«
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»Und dann?«, fragte ich und setzte mich kerzengerade auf. »Ich meine, das muss doch groß durch die Presse gegangen sein.« »Eigentlich nicht. Das war früher nicht so wie heute. Damals hat man von solchen Geschichten nichts gehört. Die Vorstellung, dass irgendwelche Pädophilen Kinder verschleppen, diese ganzen Serienverbrecher … darüber erfuhren die Leute früher nichts, und sie wollten es auch gar nicht. Außerdem traf es ausschließlich Kinder aus sozial schwachen Familien, Kinder von armen Leuten. Es war ja nicht so, als wäre der Nachwuchs reicher Leute verschwunden.« »Klar«, sagte ich, weil mir nichts anderes einfiel. Diese neuen Informationen machten mich aus verschiedenen Gründen ziemlich betroffen. Erstens verliehen sie Christian Lunas Version eine gewisse Glaubwürdigkeit; und wenn er die Wahrheit über Teresa und ihren Tod gesagt hatte, hatte er vielleicht auch die Wahrheit über mich gesagt. Zweitens: Wenn Jessie eins von mehreren aus diesem Stadtteil entführten Kindern und ich tatsächlich Jessie war, was hieß das dann für mich? Wie war ich von hier nach dort gekommen? Plötzlich begannen die Klangspiele unter der Decke zu klimpern. Da hingen mehrere, und jedes gab einen anderen Ton von sich. Das Geräusch klang schaurig und beunruhigend. Madame Maria sprang auf. »Keine Angst!«, rief sie und verschwand hinter dem Tresen, der die Küchenzeile vom Rest der Wohnung trennte. »Ich habe einen Ventilator mit Zeitschaltung. Er geht jede Stunde los, damit ich weiß, wann eine Sitzung zu Ende ist.« Sie tauchte ab, und der Ventilator, der in einer Ecke unter der Decke hing, wurde langsamer. Die Klangspiele klirrten leise. Ich war unruhig und aufgewühlt und wollte gehen. Ich stand auf, zog meine Visitenkarte aus der Tasche und reichte sie Madame Maria. 233
»Es tut mir leid«, sagte sie und verstaute die Karte in ihrem Umhang. »Was?« »Dass du das alles durchmachen musstest. Es kommt mir ungerecht vor.« Plötzlich sah sie traurig aus und viel älter, als sie mir anfangs erschienen war. Ich zuckte die Achseln. »Das Leben an sich ist ungerecht«, erwiderte ich. Der Satz stammte von meiner Mutter. Sie hatte ihn im Laufe der Jahre ständig wiederholt. Ehrlich gesagt, war ich anderer Meinung. Ich fand das Leben gerecht. Na ja, vielleicht nicht unbedingt gerecht, aber immerhin ausgewogen. Yin und Yang. Gut und böse. Richtig und falsch. Bitter und süß. Das eine konnte es nicht ohne das andere geben. Wenn einem das Leben schlecht vorkommt, weiß man, dass es besser werden wird. Ist es gut, kann man sicher sein, dass es sich irgendwann verschlechtert. Wenn das nicht gerecht ist, was dann? Sie nickte. »Hey, soll ich dir die Karten legen?« »Nein, danke«, erwiderte ich lächelnd. Ich war nicht besonders erpicht darauf zu erfahren, was sie daraus lesen würde. »Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt, ja?« Sie nickte wieder und sah aus, als wollte sie noch etwas sagen. Ich wartete. »Weißt du«, begann sie, »Teresa ging mit Jessie immer in die Klinik an der Drew Street. Dort akzeptierte man ihre Krankenversicherung, außerdem mochte sie den Kinderarzt. Vielleicht haben die noch ihre Krankenakte. ›Little-Angels‹, so hieß die Klinik, es gibt sie noch.« Ich sah sie verständnislos an. »Falls du es genau wissen willst. Ich meine, vielleicht haben die ja zahnmedizinische Daten aufbewahrt oder Fingerabdrücke.« Nur für den Fall, dass ich herausfinden wollte, ob ich Jessie war oder nicht. So hatte sie es gemeint. Schließlich waren 234
Jessies Eltern tot, und wahrscheinlich hielt sie diesen Weg für die einzige Möglichkeit, die Wahrheit herauszufinden. Dann nahm sie mich in die Arme und drückte mich. Ihre Arme waren so weich und warm, wie ich sie mir vorgestellt hatte. »Danke«, murmelte ich und wandte mich zum Gehen. »Pass auf dich auf, Jessie«, sagte sie leise, bevor sie die Tür schloss. Sie dachte wohl, ich hätte es nicht gehört. Ich wünschte, es wäre so.
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NEUNZEHN
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ussten Sie, dass im Jahr 1972 aus derselben Gegend drei weitere Kinder verschwunden sind?«, fragte ich Detective Salvo. Ich saß auf dem Parkplatz vor der Bücherei von Hackettstown in dem gemieteten Jeep. Nachdem ich mehr als zwei Stunden vor den Mikrofiches gesessen hatte, warf mich die Bibliothekarin raus, weil sie Feierabend machen wollte. Sie hatte mich kurz vor Schluss eingelassen und mir erlaubt zu recherchieren, solange sie noch mit Aufräumen beschäftigt war. Schließlich knipste sie die Lichter aus und forderte mich zum Gehen auf. Jetzt tat mir der Kopf weh. Vermutlich hatte ich meine Augen überanstrengt. Es war schon dunkel. Ich fühlte mich total erschöpft und gleichzeitig durch die vielen Frappuccinos aufgekratzt. Draußen war es kalt, und das Auto brauchte zum Warmwerden eine ganze Weile. Ich konnte meinen Atem sehen. Als der Detective schwieg, fügte ich zur Bekräftigung hinzu: »Wirklich, glauben Sie mir, alle innerhalb eines Radius von nicht mal acht Kilometern.« Am anderen Ende der Leitung blieb es still. Dann sagte er: »Ridley, ich verstehe nicht, was das mit meinem Fall zu tun haben soll. Sie reden hier von etwas, das vor dreißig Jahren in einem anderen Bundesstaat passiert ist.« Nun war es an mir zu schweigen. In meiner Arbeitsnische aus Holzimitat war meine Entdeckung mir sehr wohl bedeutend vorgekommen. Innerhalb eines Jahres waren aus einer der ärmeren Wohngegenden von Hackettstown vier Kinder verschwunden, darunter auch Jessie Stone. Zwei Jungen, beide drei Jahre alt; zwei Mädchen, eins ein Baby von neun Monaten, das andere, Jessie, knapp zwei Jahre. Alle Kinder hellhäutig; eins blond, eins mit roten Haaren, zwei brünett. Kein einziger 236
der Fälle wurde jemals aufgeklärt. Ich hatte es mir aufgeschrieben. Jetzt dachte ich: Warum habe ich ihn angerufen? Vielleicht, weil ich sonst niemanden hatte, den ich deswegen anrufen konnte … zumindest nicht in dieser Sache. »Wissen Sie, worüber sich Polizisten noch mehr ärgern als über Privatdetektive? Über Zivilisten, die sich wie Privatdetektive aufspielen.« »Vielleicht besteht ein Zusammenhang zu Christian Lunas Ermordung«, sagte ich. Es klang wenig überzeugend, geradezu stümperhaft. »Inwiefern? Sie meinen, weil er vielleicht etwas drüber wusste?« »Genau.« »Ridley, wenn der Mann etwas gewusst hätte, das ihn vom Mordvorwurf an seiner Freundin befreit hätte, wäre er sicher schon vor dreißig Jahren damit rausgerückt und nicht den Rest seines Lebens auf der Flucht gewesen.« Ich erwiderte nichts. Er klang überzeugend. »Wo sind Sie?« »In Jersey.« »Kommen Sie zurück, okay?«, sagte er. Diesmal klang er sanfter. »Ich werde mich drum kümmern, versprochen.« Ich fragte mich, ob er mich bevormunden wollte. Er hatte eine dieser Stimmen, die sich von Natur aus bevormundend anhören. »Oh«, meinte er, »noch etwas. Dieser Freund von Ihnen … Verzeihung, dieser Mann, von dem Sie noch nie gehört haben.« »Ja?« »Wie sich herausstellt, ist er umgezogen. Raten Sie mal, wohin? Er wohnt jetzt bei Ihnen im Haus!« »Na so was«, sagte ich. Ich klang ziemlich cool. Fand ich wenigstens. Trotzdem breitete sich diese seltsame Angst aus, die man als Kind spürt, wenn man beim Lügen erwischt wird. 237
Verängstigt, dumm, um eine Antwort verlegen. Beim geringsten Druck bereit zur nächsten Lüge. »Und wissen Sie was?« Er konnte sich das Lachen nicht verbeißen. »Der Kerl gibt zu, gestern Abend in Riverdale gewesen zu sein. Da gibt es eine Bar, die er angeblich öfter besucht … Jimmy’s Bronx Café. Auf dem Nachhauseweg hat er dann noch kurz bei einer Pizzeria in Riverdale gehalten, um etwas zu essen. Will am Park aber nichts gesehen und gehört haben. Und Sie kennt er angeblich auch nicht.« »Hm«, machte ich. Jetzt bloß nicht zu kompliziert werden. »Na ja, Sie wissen ja, wie das in der großen Stadt so ist. Man lebt jahrelang Tür an Tür mit jemandem und kennt nicht mal seinen Namen.« »Trotzdem ist das ein bemerkenswerter Zufall, finden Sie nicht?« »Ja, natürlich.« »Und ich glaube nicht an Zufälle«, fuhr er tonlos fort. »Kommen Sie zurück in die Stadt, Ridley. Ich habe das Gefühl, wir beide sollten uns noch einmal unterhalten.« »Ich habe einen Anwalt«, entgegnete ich schwach. »Ja, ich weiß«, entgegnete Detective Salvo. »Er hat sich bereits gemeldet. Ridley, Sie kennen mich noch nicht. Glauben Sie, ich würde mich von jemandem wie Alexander Harriman einschüchtern lassen? Da irren Sie sich gewaltig. Und jetzt kommen Sie nach Hause.« Ich fuhr tatsächlich sofort in die Stadt zurück, beschloss jedoch, den Jeep noch eine Weile zu behalten. Ich parkte ihn in derselben Tiefgarage, die auch Jake benutzte. Der Parkplatz des Firebird war leer. Ich hatte jede Menge neuer Informationen gesammelt, jetzt aber keine Hirnkapazitäten mehr frei, sie zu verarbeiten. Als ich an meine Wohnung dachte, bekam ich ein merkwürdiges 238
Gefühl, so als gehörte sie nicht länger zu mir. Alle Erinnerungsstücke darin waren Gespenster aus dem Leben einer fremden, leichtfertigen und dummen Person. Eine Sekunde spielte ich mit dem Gedanken, kehrtzumachen und mich wieder in den Jeep zu setzen. An einen anderen Ort zu fahren, egal, wohin. Aber dafür war ich zu müde. Die Pizzeria hatte geschlossen, in der Straße war es ruhig. Ich schleppte mich die Treppe hinauf bis in meine Wohnung. Er war schon da und wartete auf mich. Natürlich. Ich hatte es instinktiv gespürt, und wäre er nicht dort gewesen, hätte es mich sehr enttäuscht. Er hatte die kleine Leselampe neben der Couch eingeschaltet, sich hingelegt und an die Decke gestarrt. Als ich hereinkam, sprang er erleichtert auf. »Wie bist du hier reingekommen?«, fragte ich. »Du hast heute Morgen deine Schlüssel vergessen.« Das stimmte. Als ich aus dem Haus ging, hatte ich Zacks Ersatzschlüssel mitgenommen, weil ich meine nicht finden konnte. Jede Frau mit einem Funken Verstand hätte Abstand gewahrt, hätte ihn gebeten, sofort zu gehen; dass ich aber alles andere als das war, ist ja nicht neu. Er zog mich an sich. Ich umarmte ihn und klammerte mich an ihn. Mein Herz dröhnte wie eine Dampfmaschine. Ich wäre am liebsten in ihn hineingekrochen. »Mann«, murmelte er in mein Haar, »ich glaube, ich habe mir noch nie solche Sorgen um jemanden gemacht wie heute Abend um dich.« Ich schaute zu ihm auf. Da war sie wieder, diese Traurigkeit. Mir fiel ein, was Detective Salvo mir erzählt hatte. Ich entdeckte eine seltsame Verletzlichkeit in Jakes Gesicht, so als wäre er diese überwältigenden Gefühle nicht gewohnt und würde sich ein wenig vor ihnen fürchten. Er hatte eine Hand auf meine Wange gelegt.
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»Es gibt viele Dinge, die du über mich wissen solltest«, sagte er leise und zum zweiten Mal, seit wir uns kannten. Diesmal war ich bereit, ihm zuzuhören. »Ich weiß«, erwiderte ich. »Lass uns bei deinem Namen anfangen.« Einer Geschichte wie der von Jake kann man nur mit Schweigen begegnen. Mit Schweigen und unbedingter Aufmerksamkeit. Wir setzten uns auf die Couch, und ich legte meine Beine über seinen Schoß. Er sprach leise und vermied es, mich anzusehen. Nur hin und wieder riskierte er einen kurzen, scheuen Blick. Er geriet immer wieder ins Stocken, so als hätte er seine Geschichte nicht oft erzählt. Als er fertig war, wusste ich, dass er mir etwas ganz Besonderes anvertraut hatte. Etwas, das ich schützen und bewahren musste. Etwas, das uns verband. »Merkwürdig ist, dass ich mich an sie erinnern kann. An meine Mutter. Oder vielleicht habe ich sie mir nur erträumt? Aber ich entsinne mich, wie es war, geliebt zu werden, sich behütet zu fühlen, nachts zugedeckt zu werden. Vielleicht bin ich nur deshalb kein totales Wrack.« Harley Jacobsen nannte sich seit seinem ersten Aufenthalt in einer Pflegefamilie Jake. Harley war ein Kind, ein kleiner Junge, der manchmal ins Bett machte und einen zerfledderten Winnie Pooh, das letzte Überbleibsel aus seiner Kindheit, mit sich herumschleppte. Harley war ein Kind, das sich gegen seine beiden Stiefbrüder nicht durchsetzen konnte, die größer waren als er und gemeiner und hinterhältiger als Wölfe. Jake schlug zurück, wo Harley sich weinend verkrochen hätte. Jake war furchtlos; er war wütend. Und er kämpfte wie ein Berserker, setzte all seine Kraft und seinen ganzen Willen ein. Ihm blieb nichts anderes übrig, denn er war klein. Um den anderen, den Größeren, Paroli zu bieten, musste er alles aufbieten, was er hatte. Und eines Tages, als seine Brüder ihn wieder einmal im 240
kleinen Hinterhof ihres Wohnhauses in New Jersey verhöhnten, nach Monaten der Schläge und Beschimpfungen, gab Harley auf und überließ es Jake, nach einem großen, spitzen Stock zu greifen; als sein ältester Bruder auf ihn losgehen wollte, stieß er ihm den Stock ins Auge. »Ich kann ihn immer noch schreien hören«, sagte Jake. »Heute macht es mich traurig, aber damals war es das Geräusch des Triumphes. Dieses Geräusch bewies mir, dass ich nicht länger nur ein Opfer war.« Selbstverständlich wurde er aus der Pflegefamilie entfernt und als Problemkind abgestempelt. Einer der Seelenklempner hatte in Jakes Jugendakte – die er später einsehen konnte – sogar notiert, der Junge leide unter einer Persönlichkeitsstörung, weil er sich einen neuen Namen zugelegt hatte. »Ich war keine gespaltene Persönlichkeit, sondern wusste genau, wer ich war. Ich habe nur gemerkt, dass ich mir, wollte ich überleben, sehr schnell eine harte Schale zulegen müsste. Für meinen siebenjährigen Verstand war Harley der Name eines kleinen Jungen, Jake, abgeleitet von der ersten Silbe meines Nachnamens, hingegen ein Männername. Da wusste ich, wer ich sein wollte.« Der Rest seiner Kindheit war eine Abfolge von Quälereien. In einem Heim zwang man ihn dazu, in einem Schlafsack unter dem Bett eines anderen Kindes zu schlafen. »Die nannten das ›Schlafkoje‹«, sagte Jake mit einem kurzen, bitteren Lachen. In jenem Heim bekam er zu jeder Mahlzeit ein Käsesandwich vorgesetzt, drei Monate lang. »Das war aber gar nicht so übel. Rückblickend betrachtet, war es sogar das beste aller Heime. Da wurde ich wenigstens in Ruhe gelassen.« Schließlich schob die Heimleitung ihn wieder dem Staat zu, weil er immer wieder ins Bett machte und ständig krank war. Er fing sich eine Erkältung nach der anderen ein. In den darauffolgenden Pflegefamilien erfuhr er Misshandlungen 241
unterschiedlichster Art, von Vernachlässigung bis hin zu körperlicher Gewalt. Die Narben an seinem Körper bewiesen es. Da war die Ziehmutter, die ihn zwang, in den Scherben eines zerbrochenen Fensters zu knien, das er beim Fußballspielen im Hof zerschlagen hatte. Und der Mann, der seine Zigarette auf ihm ausdrückte, weil er den letzten Schluck Milch getrunken hatte. In der Schule kam es fast jede Woche zu einer Schlägerei oder Messerstecherei. »Meine Zeit in den Pflegefamilien endete, als ich vierzehn wurde«, erzählte er und schaute mich kurz an. Ich erwiderte seinen Blick, und offenbar fand er in meinen Augen, wonach er gesucht hatte. Sein Bericht hatte mich aufgewühlt. Ich wollte unter seine Haut kriechen und jede Erinnerung an sein Leiden auslöschen. Aber natürlich ist niemand in der Lage, das für einen anderen Menschen zu tun, und es zu versuchen ist eine große Dummheit. Abgesehen davon, schien er unversehrt, stabil. Ein Mann, der die Hölle auf Erden erlebt und sie überlebt hatte. Er war stark. »Einer meiner Ziehväter, er hieß Ben Wright, schoss auf mich. Eigentlich schien er am Anfang ganz okay zu sein. Ich meine, er machte wirklich einen netten Eindruck. Er nahm mich ein paarmal zu Baseballspielen ins Yankee-Stadium mit. Seine Frau Janet fand ich cool, sie war ziemlich hübsch. Ich war ihr einziges Ziehkind. Eine Zeit lang gefiel es mir da wirklich gut. Damals war ich schon ziemlich durchtrainiert. Ich habe jeden Tag Sport gemacht, aus verschiedenen Gründen. Wahrscheinlich kanalisierte ich damit meine Wut, auch wenn mir das damals noch nicht klar war. Außerdem sah ich härter aus. Die Leute hielten sich von mir fern. Ich wirkte wie sechzehn oder siebzehn. Inzwischen hatte ich auch schon ein paar Tattoos und einige ziemlich grässliche Narben. Niemand traute sich mehr, mir blöd zu kommen. Ich glaube, alles an mir signalisierte: Bleib weg! Der Nachteil war natürlich, dass ich es nicht gerade einfach hatte, Freunde zu finden. Dann wurde Janet schwanger. 242
Ich dachte, na toll, jetzt bin ich draußen. Aber sie sagte, nein, du bleibst, solange du willst. Das Problem war nur, dass Ben zeugungsunfähig war und Janet nichts davon wusste. Sie hatte in der Gegend rumgevögelt und war versehentlich schwanger geworden. Ben ist durchgedreht. Hat sich eingeredet, ich hätte ihr das Kind gemacht.« »Du warst vierzehn«, warf ich ein. Jake lachte verbittert. »Ja, ich weiß.« »Eines Nachts lag ich im Bett und wachte plötzlich auf. Ben hatte sich vor mir aufgebaut und tippte mir mit einem Gewehrlauf auf den Kopf. ›Du gehst mit meiner Frau ins Bett, du Penner?‹, sagt er. Ich sage: ›Nein, Ben, natürlich nicht.‹ Ich weiß noch, dass ich in dem Moment so unendlich traurig war. Das war schlimmer als die Angst. Bis dahin war noch niemand so nett zu mir gewesen wie Ben. Der Gedanke, er könnte so was von mir denken, machte mich krank. Ich sagte: ›Bitte, schick mich nicht weg. Es gefällt mir bei euch.‹ Ich fand das so ungerecht. Ich benahm mich inzwischen auch besser, kam in der Highschool einigermaßen zurecht und brachte gute Noten nach Hause. Und trotzdem ging alles den Bach runter. Jedenfalls versuchte ich, mich aufzusetzen, und daraufhin hat er mir in die Schulter geschossen. Er wollte mich umbringen, aber er hat nicht getroffen.« Den Rest seiner Jugend verbrachte Jake in einem Heim für Jungen. Ausgerechnet dort begegnete er seinem Freund und Mentor, dem Sozialarbeiter Arnie Coel. »Er hat mir einen Weg gezeigt, die Dämonen in meinem Kopf zu bändigen, meine Wut auf gesunde Weise abzureagieren. Er überredete mich, Tagebuch zu führen, und hinterher besprachen wir, was ich aufgeschrieben hatte. Er hat mir viel über Kunst beigebracht und mich ermutigt, selbst kreativ zu sein. Weil ich mich dafür interessierte, bezahlte er mir aus eigener Tasche 243
Workshops für Metallarbeit und Bildhauerei. Auch er war in Heimen groß geworden und sagte immer: ›Bloß weil die meisten Leute dich wie Dreck behandeln und du dich selber manchmal wie Dreck fühlst, bist du noch lange kein Dreck. Du kannst was aus deinem Leben machen. Du hast der Welt etwas zu geben und kannst dazu beitragen, sie ein bisschen besser zu machen.‹ Er schlug mir vor, zur Army zu gehen, weil ich dort eine kostenlose Ausbildung erhalten würde. Der Weg war nicht einfach, aber ich glaube, für mich war er der richtige. Nach meinem Auszug aus dem Heim brauchte ich diesen disziplinierten Rahmen, ansonsten wäre ich sicher auf die schiefe Bahn geraten. Sagt man das nicht über Soldaten – dass sie, wären sie nicht in der Army, im Knast säßen? Nach dem Militärdienst zog ich nach New York City und ging aufs John Jay College. Mir gefiel der Gedanke, ein Hüter des Rechts zu werden; die New Yorker Polizei gefiel mir weniger.« »Und deswegen bist du Privatdetektiv geworden?« Er nickte und sah zu Boden. »Die Polizei war hier. Der Detective hat mir alles erzählt«, sagte ich. Er nickte wieder. »Warum hast du es mir nicht selbst gesagt?«, fragte ich. Er zuckte die Achseln. »Es sagt nichts über mich aus. Meine Kunst verrät viel mehr über mich. Je mehr Geld ich mit meinen Skulpturen und den Möbeln verdiente, desto seltener arbeitete ich als Privatdetektiv. In erster Linie habe ich Fälle von Versicherungsbetrug untersucht, manchmal auch den einen oder anderen untreuen Ehemann observiert. Ein paarmal habe ich im Auftrag der New Yorker Polizei Leute überwacht, die wegen Trunkenheit am Steuer auf Bewährung waren.« Er machte eine kurze Pause und rieb sich die Augen. Ich fand seine Erklärung nicht besonders überzeugend. Sie erschien mir unvollständig und ein bisschen vage. Das Sprechen hatte ihn 244
aber ziemlich erschöpft, sodass ich nicht weiter nachbohren wollte. Mir brannten noch viele andere Fragen auf der Seele, aber der Moment schien unpassend. Wir würden ja später noch genug Zeit haben. Als ich nichts sagte, fuhr er fort. »Ich hatte das Gefühl, mich als Privatdetektiv für eine gerechte Sache einsetzen und trotzdem mein eigener Herr sein zu können. Deswegen habe ich mich 1997 um die Lizenz beworben. Aber der Job war unbefriedigend. Man überführt einen Kerl, der seine Frau betrügt, oder irgendein armes Schwein, das aus Geldmangel die Sozialversicherung betrügt, und versaut ihnen ihr Leben damit. Wahrscheinlich habe ich mir unter dem Job was anderes vorgestellt und mir vielleicht eingebildet, mit einer entsprechenden Ausbildung etwas über meine Vergangenheit rausfinden zu können, über meine Eltern. Aber auch in dem Punkt bin ich nicht besonders weit gekommen.« Er seufzte und starrte an die Zimmerdecke. Ich bemerkte, wie die Anspannung von ihm abfiel. »Ich blieb eng mit Arnie befreundet, bis er vor etwa einem Jahr starb. Darmkrebs. Er war derjenige, der mich immer wieder angespornt hatte, nach meinen Eltern zu suchen. Und als er starb …« Er führte den Satz nicht zu Ende. Er hatte genug gesagt, lehnte sich zurück und sah mich an, wie um abzuschätzen, was für einen Eindruck er gemacht hatte. Er wirkte ein bisschen unsicher, so als erwartete er, nun von mir hinausgeworfen zu werden. Ich kuschelte mich in seine Arme, und so blieben wir ziemlich lange auf dem Sofa sitzen. »Es tut mir leid«, sagte er nach einer Weile. »Ich habe eigentlich noch nie jemandem davon erzählt. Außer Arnie. Ich wollte dich nicht damit belasten. Besonders jetzt, wo du selbst genug Probleme hast.« Ich setzte mich auf. »Ich bin stärker, als ich aussehe«, meinte ich lächelnd. 245
»Du siehst ziemlich stark aus«, sagte er und lächelte erleichtert. Er wollte über mein Haar streicheln, aber ich fing seine Hand ab und drückte sie an meine Lippen. »Danke«, sagte ich. Er schüttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Wofür?« »Für deine Offenheit mir gegenüber, dafür, dass du mir alles erzählt hast.« »Ich …«, begann er und unterbrach sich sofort. »Ich will nicht von dir bemitleidet werden. Deswegen habe ich es dir nicht gesagt.« »Jake«, erklärte ich und schaute ihm fest in die Augen, »glaub mir, Mitleid ist das Letzte, was ich für dich fühle. Du bist ein starker Mann. Du hattest die miesesten Karten und hast trotzdem gewonnen. Ich bewundere dich. Ich respektiere dich. Ich bemitleide dich überhaupt nicht.« Lernt man einen anderen Menschen besser kennen, beginnen seine körperlichen Eigenschaften in den Hintergrund zu treten. Man spürt seine Energie, erkennt den Duft seiner Haut wieder. Man sieht nur noch sein Wesen, nicht mehr die äußere Hülle. Deswegen ist es unmöglich, sich in Schönheit zu verlieben. Man kann sie begehren, von ihr bezaubert sein, sie besitzen wollen. Man kann sie mit Blicken und dem Körper lieben, nicht aber mit dem Herzen. Aus diesem Grund werden alle körperlichen Makel unwichtig, sie verschwinden, sobald man sich auf einen anderen Menschen wirklich einlässt. Meinen Exfreund Zack zu lieben war, so denke ich heute darüber, eine bewusste Entscheidung. Er war attraktiv, witzig und verkörperte all jene Eigenschaften, die Frauen bei einem Partner suchen. Ich mochte ihn. Er gehörte fast zur Familie. Ich wollte mich in ihn verlieben und eine Beziehung mit ihm eingehen. Es war eine gute Idee gewesen, die allgemeinen Zuspruch fand. Bei Jake hingegen hatte ich Feuer gefangen: Ich brannte lichterloh. Das hatte nichts mehr mit meinem freien 246
Willen zu tun. Das Gefühl war wie Wildwasser, das mich fortriss; jeder Widerstand hätte den sicheren Untergang bedeutet. Als er mich in diesem Moment ansah, wusste ich, dass es ihm genauso erging, dass auch ihn dieser Strudel erfasst hatte. Er sah mich, das eigentliche Wesen, das in mir steckte. Ich fühlte solche Dankbarkeit, weil ich nicht sicher war, ob ich mich selbst erkannt hätte. Natürlich wusste ich, wer ich war, ich wusste nur nicht mehr, wie ich dieses weibliche Wesen nennen sollte. Vielleicht ist Liebe nicht mehr als das: einander zu erkennen. Durch alle Äußerlichkeiten hindurch. Es war egal, ob er Harley hieß oder Jake, ob ich Ridley war oder Jessie. Dann stand er auf, zog mich hoch und küsste mich leidenschaftlich. Es gab noch viel zu sagen, aber wir hatten keine Worte mehr, nur noch dieses brennende körperliche Verlangen. Wir gingen hinauf in seine Wohnung, denn in meiner befanden sich überall die Schatten der Vergangenheit. In der grauen Kargheit seines Apartments verloren wir uns in einem Ozean aus Lust. Wir gaben alles, verlangten nichts und waren am Ende doch beide gesättigt.
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ZWANZIG
A
m nächsten Morgen machte Jake mir ein Sonntagsfrühstück: Pfannkuchen mit Erdbeermarmelade (der Sirup war ihm ausgegangen), dazu viele Tassen starken schwarzen Kaffee. Während wir essend im Bett saßen, berichtete ich ihm von meinem gestrigen Tag. Dass seit Christian Lunas Tod noch nicht einmal achtundvierzig Stunden vergangen waren, schien unglaublich. Ich erzählte Jake von Detective Salvo, Madame Maria und meiner Entdeckung in der Bibliothek. »Detective Salvos Kollege kam auf ein Schwätzchen vorbei. Es endete damit, dass er mich auf die Wache im 9. Bezirk mitnahm«, sagte Jake. »Ich war vermutlich weniger kooperativ als du. Trotzdem mussten sie mich nach ein paar Stunden wieder laufen lassen. Ich hatte das Gefühl, sie hätten mich gerne noch ein Weilchen dabehalten. Jedenfalls haben sie mein Auto beschlagnahmt.« »Salvo hat mir gesagt, dass sie dich befragt haben.« »Wann?« »Ich habe ihn angerufen, um ihn über die vermissten Kinder in Hackettstown zu informieren.« »Warum?«, fragte Jake. Einen Moment lang hatte ich das Gefühl, aus seiner Stimme mehr herauszuhören als bloße Neugier. Machte er sich Sorgen? »Weiß auch nicht.« Ich zuckte die Achseln und dachte über eine Antwort nach. Ich war mir selbst nicht sicher. »Ich hatte das Gefühl, einen Verbündeten zu brauchen.« Dann fügte ich hinzu: »Ich wusste ja nicht, wem ich noch trauen konnte.« Er nickte. »Ich weiß«, meinte er leise. »Ich habe dich angelogen. Du hattest Zweifel, ob du mir vertrauen kannst. Das tut mir leid.« 248
Ich schüttelte den Kopf. Es hatte keine Bedeutung mehr. »Was hat er gesagt? Über die Kinder?«, fragte Jake einen Moment später. »Nichts. Er meinte, er würde sich drum kümmern. Ich glaube, er wollte mich nur beruhigen. Er hat mir geraten, mich nicht länger als Privatdetektivin zu betätigen und stattdessen zurückzukommen.« »Klingt vernünftig.« Ich verdrehte die Augen. »Jake«, fragte ich nach ein paar Schlucken Kaffee und einem weiteren Stück Pfannkuchen, »wie war das, als du nach deiner Familie gesucht hast?« Ich wusste nicht, ob es gut war, diese Frage jetzt zu stellen, aber ich verfolgte eine neue Strategie, nach der ich aussprach, was ich dachte. Außerdem war mir die Frage seit dem Abend zuvor, als wir uns geliebt hatten, nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Jake war eingeschlafen, ich lag wach neben ihm und dachte über das nach, was er mir erzählt hatte. Ich musste an Detective Salvos Worte denken, Jake sei »der öffentlichen Fürsorge« überlassen worden. Jake selbst hatte gesagt, er könne sich einzig und allein an seine Mutter erinnern. Er hörte auf zu kauen und zuckte die Schultern. »Im Grunde war ich seit meiner Zulassung als Privatdetektiv pausenlos auf der Suche. Bis zu Arnies Tod. Wie ich schon erwähnte, es war ihm unheimlich wichtig. Er meinte, ich könne mir erst dann eine Zukunft aufbauen, wenn ich das Rätsel meiner Herkunft gelöst habe. Ehrlich gesagt, wurde ich nur deswegen Privatdetektiv.« »Und?« »Ich bin heute nicht schlauer als vor fünf Jahren«, erklärte er achselzuckend. Er sammelte die leeren Teller ein und brachte sie in die Küche. Ich blieb einfach liegen, nur für den Fall, dass er
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nach meiner Frage etwas Abstand bräuchte. Dann kam er zurück, setzte sich neben mich und redete weiter. »Angeblich hat sie mich ohne irgendwelche Papiere ausgesetzt. Keine Geburtsurkunde, kein Impfbuch. Wenn ich dir jetzt sagen würde, dass ich das nicht glaube, dass ich mich an die Liebe dieser Frau erinnere, deren Gesicht ich immer noch vor mir sehe, dass ich nicht glaube, einfach so ausgesetzt worden zu sein – würdest du das dann für die Fantasien eines kleinen Jungen halten?« Ich schüttelte den Kopf. Seine Augen leuchteten, als er mich ansah. Ich verstand, wie wichtig es ihm war, dass ich ihm Glauben schenkte. Und das konnte ich. »Nein, würde ich nicht. Ich denke, du solltest deinem Instinkt vertrauen. Manchmal bleibt uns nichts anderes, an das wir uns halten können.« Er nickte und sah zur Seite. »Arnie hat viel für mich getan – auch inoffiziell. Dadurch bekam ich auch Einsicht in meine Jugendakten. Ich erfuhr, wie ich von Anfang an vom System abgestempelt und vor potentiellen Adoptiveltern schlecht gemacht wurde. Nicht, dass ich Chancen gehabt hätte. Ich war schon zu alt; die Leute wollen Kleinkinder.« »Wo wurdest du gefunden?«, fragte ich, weil ich den Eindruck hatte, jede Suche müsste logischerweise an diesem Ort beginnen. »Darüber gibt es keine Angaben«, antwortete er. »Meine Aufnahmeunterlagen sind verloren gegangen.« Das hörte sich alles ziemlich schrecklich an. Keine namentlich bekannten Eltern, keine Geburtsurkunde. Ich dachte an sein Passwort, »Quidam«. Plötzlich ergab es Sinn. »Wie dem auch sei«, sagte er, schlug sich auf die Schenkel und stand auf. »So sieht er aus, mein persönlicher Kreuzzug … Aber im Moment liegt Wichtigeres an, dein persönlicher Kreuzzug nämlich.« Er gab sich wirklich große Mühe, die
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Stimmung aufzuheitern. So leid es mir tat, er hatte keinen Erfolg damit. »Unsere Kreuzzüge sind sich verblüffend ähnlich«, bemerkte ich, bemüht, meine Traurigkeit zu unterdrücken. »Da hast du Recht«, stimmte er mir zu. »Außer dass meine Gesprächspartner nicht erschossen werden und mich kein Skinhead bedroht.« Wir lachten so, wie Leute auf einer Beerdigung lachen. Im Lauf des Tages versuchten Jake und ich, die Eltern der vermissten Kinder in Hackettstown ausfindig zu machen. Dazu benutzten wir dieselbe Geschichte, die ich Madame Maria zunächst aufgetischt hatte. Ich saß mit dem Telefon und dem Telefonbuch von Morris County auf dem Sofa – Jake hatte sich als Privatdetektiv eine ganze Telefonbuchsammlung zugelegt, die er in einem Schrank aufbewahrte. Jake saß am Computer, surfte im Internet und rief von seinem Mobiltelefon aus einige seiner Polizeifreunde an. Am Ende des Tages hatten wir mit Hilfe von Verwandten, Zeitungsberichten und Polizeiakten herausgefunden, dass mit einer Ausnahme alle Beteiligten tot waren. Viele der Informationen, die wir benötigten, hatte Jake in den Internetarchiven der verschiedenen Tageszeitungen von New Jersey gefunden, vor allem im Record und im Star-Ledger. Sheila Murray, die Mutter der kleinen Pamela, die im Alter von neun Monaten entführt worden war, starb 1975 bei einem selbst verschuldeten Autounfall, bei dem Alkohol im Spiel gewesen war. Drei Jahre nach dem nie aufgeklärten Verschwinden ihrer einzigen Tochter überfuhr sie bei Rot eine Kreuzung und raste in ein Auto, in dem drei junge Mädchen saßen. Die Teenager starben noch am Unfallort. Zeitungsartikeln zufolge wurde Pamela aus ihrem Bettchen entführt, während Sheila
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schlief; offenbar wusste man nicht, wer der Vater des Kindes war, weswegen Sheila das Mädchen allein großzog. »Sackgasse«, urteilte Jake, nachdem wir sämtliche Artikel über Sheila und Pamela Murray in beiden Zeitungen durchgeackert hatten. »Im wörtlichen Sinn«, sagte ich. Michael Reynolds, der Vater des kleinen Charlie, der im Alter von drei Jahren verschwand, war mit seinem Sohn ganz auf sich gestellt, nachdem seine Frau Adele den schweren Verletzungen erlegen war, die sie sich während einer Kneipenschlägerei zugezogen hatte. Einem Artikel im Record zufolge wurde die Familie von Adeles Mutter, Linda McNaughton, versorgt. Als wir im Telefonbuch keinen Eintrag fanden, entdeckten wir nach kurzer Onlinesuche die Nummer der Frau, die immer noch im selben Ort wohnte. Nach einem knappen, unangenehmen Telefonat mit Linda McNaughton wusste ich, dass der heroinabhängige Michael Reynolds nicht einmal ein Jahr nach Charlies Entführung aus der elterlichen Zweizimmerwohnung gestorben war. Während des Gesprächs sagte Mrs. McNaughton etwas sehr Gruseliges, das ich für den Rest des Tages nicht vergessen konnte. »Sie war meine Tochter. Möge sie in Frieden ruhen, denn ich habe sie geliebt«, erklärte sie, »aber den Jungen wollte sie nie. Hat ein paar Tage nach seiner Geburt versucht, ihn abzugeben, und ist später noch mal hin, um ihn wieder zurückzuholen. Sie kam mit ihren Schuldgefühlen nicht zurecht. Was Michael angeht, der hat sich nie für was anderes interessiert als für seinen Stoff. Wenn Sie mich fragen, für den Kleinen war es das Beste, egal, ob tot oder lebendig.« Als ich auflegte, starrte Jake auf seinen Computermonitor. »Und?«, fragte er, ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden. Ich wiederholte, was sie gesagt hatte. Er erwiderte nichts, tippte nur mit seinem rechten Zeigefinger auf die Maus. Er 252
scrollte sich durch einen Artikel, den ich vom Sofa aus nicht sehen konnte. »Ist es nicht merkwürdig, dass all diese Leute gestorben sind?«, fragte ich. »Es ist sehr merkwürdig«, antwortete er zerstreut. »Sieh dir das mal an«, meinte er dann. Ich stand auf und stellte mich hinter ihn. Marjorie Mathers, die Mutter des kleinen Brian, der im Alter von drei Jahren mitten in der Nacht aus seinem Bettchen verschwand, saß zur Zeit eine lebenslängliche Haftstrafe wegen Mordes an ihrem Ehemann ab. Sie hatte ihn drei Wochen nach Brians Entführung umgebracht. Die Eltern hatten sich im Laufe eines üblen Sorgerechtsstreits ineinander verbissen; Marjorie war überzeugt, ihr Ehemann habe ihren Sohn von angeheuerten Helfern entführen lassen. Ihre Anwälte hatten plädiert, sie sei aufgrund der Kindesentführung halb wahnsinnig geworden, außerdem sei sie nach den langen Jahren der Misshandlung durch den Ehemann kaum noch zurechnungsfähig. Sie habe ihren Mann nicht töten, sondern ihn lediglich zur Rechenschaft dafür ziehen wollen, dass er den Jungen entführt habe, um sie für die Trennung zu bestrafen. Den Angaben der Angeklagten zufolge löste sich der Schuss versehentlich im Handgemenge. Alle Beweise sprachen jedoch für die Version der Staatsanwaltschaft, derzufolge die Frau ihren Mann im Schlaf von hinten in den Rücken geschossen hatte. Vielleicht käme sie im Jahr 2020 auf Bewährung frei. »Tja, vielleicht gibt es irgendeine Möglichkeit, mit dieser Frau zu sprechen«, schlug ich vor. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, entgegnete Jake und schwang auf seinem Drehstuhl herum. »Warum nicht?« »Weil sie offensichtlich einen Sprung in der Schüssel hat.« 253
»Warum sagst du das?« »Weiß nicht, warte mal … Vielleicht, weil sie ihren Ehemann ermordet hat?« Ich zuckte mit den Achseln und ging wieder zur Couch. »Sie hat jemanden umgebracht, aber das muss noch lange nicht bedeuten, dass sie keine Informationen besitzt. Von allen betroffenen Eltern ist sie die Einzige, die noch lebt.« Jake seufzte. »Ich halte es einfach für unverantwortlich, ohne stichhaltige Gründe in der Vergangenheit dieser Frau rumzuwühlen. Das wird sicher sehr schmerzhaft für sie – falls sie sich überhaupt bereit erklärt, mit uns zu reden. Die Frau sitzt für den Rest ihres Lebens hinter Gittern. Ihr Sohn ist entführt worden und nie wieder aufgetaucht. Versuch mal, dir das vorzustellen. Willst du ihr das wirklich antun?« Er hatte Recht. Ich fühlte mich wirklich mies. Vollkommen selbstsüchtig verfolgte ich nur meine eigenen Ziele; offenbar hatte ich jedes Gespür für das Leid anderer Menschen verloren. »Und, was machen wir jetzt?« »Keine Ahnung«, sagte Jake. Gegen acht Uhr ging Jake los, um Essen zu besorgen. Ich blätterte in meinen Aufzeichnungen und fragte mich, warum es mir so wichtig erschienen war, all diese Leute zu finden. Was hatte ich mir davon erhofft? Wohin sollte das führen? Ich dachte an Linda McNaughtons Worte, blätterte zurück, fand ihre Nummer und wählte sie ein zweites Mal. »Mrs. McNaughton?«, begann ich, als sie abgenommen hatte. »Ja«, sagte sie. Ihre Stimme klang müde und gereizt, denn sie hatte mich gleich erkannt. »Hier ist Ridley Jones. Es tut mir leid, Sie noch einmal zu stören, aber ich wollte Sie noch etwas fragen. Sie hatten da etwas gesagt …«
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Ich hörte sie seufzen, dann das Klicken und Zischen eines Gasfeuerzeugs. Sie inhalierte tief. »Das ist nicht einfach für mich, Miss.« »Ich weiß«, sagte ich so sanft, wie ich konnte. Ich dachte an Jakes Worte. »Trotzdem, bitte, eine Frage noch.« »Was ist denn?« »Sie haben gesagt, dass Ihre Tochter Charlie gleich nach der Geburt abgeben wollte?« »Das stimmt«, sagte sie, als müsste sie sich verteidigen. »Ich habe versucht, es ihr auszureden. Aber wir hatten ganz schön zu knapsen, finanziell gesehen. Sie dachte, es wäre das Beste für ihn.« »Und deswegen … gab sie ihn zur Adoption frei?« »Nein«, widersprach sie, inhalierte wieder tief und machte dann eine längere Pause. »Sie müssen das verstehen. Wo Michael doch drogenabhängig war und alles. Sie dachte einfach, dass sie keine guten Eltern sein könnten.« »Ja, das verstehe ich«, sagte ich. »Wohin genau hat sie Charlie denn gebracht?« »Sie … sie hat ihn vor einer dieser Einrichtungen ausgesetzt.« »Was für Einrichtungen?«, fragte ich. Das Blut schoss mir in den Kopf. »Diese Einrichtungen, wo man sein Baby abgeben kann und niemand Fragen stellt. Wissen Sie, die wollen vermeiden, dass die Leute ihr Baby in den nächsten Müllcontainer werfen, deswegen kann man es da abgeben, auf eine Klingel drücken und abhauen. Man hat drei Tage Zeit, sich zu überlegen, ob man das Kind wiederhaben will.« »Mrs. McNaughton«, sagte ich, »hat Ihre Tochter Charlie bei einer Project-Rescue-Einrichtung abgegeben?« »Ja, genau. So hieß es. Aber wie ich schon sagte, sie ist zurück und hat ihn wiedergeholt. Die waren nett zu ihr, haben sie sogar 255
beraten. Danach ging es ihr besser. Sie hatte das Gefühl, es mit Charlie irgendwie schaffen zu können. Aber wenn Sie mich fragen, hat er gemerkt, dass sie ihn eigentlich nicht haben wollte. Koliken, wie sie im Buch stehen, und die Lunge hat er sich aus dem Hals geschrien, Tag und Nacht.« Aber ich hörte ihr kaum noch zu. Ich konnte nur noch an Ace denken, an das, was er an jenem Abend zu mir gesagt hatte. Frag Dad doch nach Onkel Max und seinen feinen Projekten. Ich bedankte mich und legte auf. Was hatte das zu bedeuten? Ich wusste es nicht. Aber immer wieder tauchten die Prospekte vor mir auf, die mein Vater mir gezeigt hatte. Die Fotos von dem verdreckten Müllcontainer und daneben die Arme der Krankenschwester mit der weichen Kuscheldecke. In meinem Kopf kreiste ein Gedanke. Einer, den ich sofort als absurd verwarf. Dennoch kam er wieder und wieder. Es war unmöglich, ihn loszuwerden. »Was ist passiert?«, fragte Jake, als er mit den duftenden Essenstüten von Young Chow’s hereinkam. Wir lagen knapp außerhalb des Liefergebiets, aber da Jake und ich uns einig waren, dass man nirgendwo sonst im East Village so gute Knoblauchgarnelen bekam, lohnte sich der Fußmarsch. »Nichts«, log ich. »Ich träume bloß vor mich hin. Ich bin total erledigt.« »Kein Wunder«, meinte er und betrachtete mich von der Seite. Ich glaube, er wusste, dass ich ihm etwas verschwieg, aber er bohrte nicht weiter. Ich war noch nicht so weit, ihn mit meinem Gedanken zu konfrontieren. Mein Gott, ich traute mich ja selbst kaum, ihn zu denken. »Hast du noch was rausbekommen?«, fragte er. »Nein. Nichts.« Ich stand auf und begann, das Essen auszupacken.
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Jake ging in die Küche und kam kurz darauf mit Tellern, Besteck, Servietten und einer Flasche Weißwein zurück, die er sich unter den Arm geklemmt hatte. »Lass uns essen«, sagte er und zog mir einen Stuhl heran. »Danach sieht die Welt ganz anders aus.« Ich lächelte, und hoffte, dass er Recht behielt.
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EINUNDZWANZIG
W
enn ich heute zurückschaue, muss ich mich wirklich über mich selbst wundern. Ich weiß, hinterher ist man immer klüger, aber, ehrlich gesagt, hatte es in meinem Leben so viele Dinge gegeben, die ich einfach so hingenommen und nie hinterfragt hatte. Ist das nicht verrückt? Andererseits nehmen die meisten Menschen ihre Lebensumstände als gegeben hin, oder? Was ihr gutes Recht ist. Trotzdem glaube ich, dass es immer schon Anzeichen gegeben hat. Seit ich denken kann, hatte ich meiner Mutter die Verbissenheit vorgeworfen, mit der sie alles und jeden verleugnete, der sie und ihr Lebensmodell auch nur ansatzweise in Zweifel zog; zum Beispiel ihre Fähigkeit, so zu tun, als hätte Ace nie existiert. Und trotzdem war das eine Eigenschaft, die ich, ohne mir darüber im Klaren zu sein, von ihr geerbt hatte. Ist es nicht merkwürdig, dass ich mich in der ganzen Zeit nicht einmal wirklich an jenen letzten Abend mit Onkel Max zurückerinnert habe? Sein Tod hatte mich dermaßen schockiert, dass die Ereignisse nach dem entscheidenden Anruf im Haus meiner Eltern, als wir von seinem Autounfall erfuhren, alle anderen Erinnerungen an den Abend auslöschten. Es war der perfekte Heiligabend gewesen. Es schneite leicht, und alle Häuser strahlten im Licht unzähliger kleiner weißer Lichter (auf Anordnung der Gemeinde durften keine bunten Lichterketten verwendet werden; so piekfein ging es dort zu). Die gesamte Nachbarschaft hatte während der letzten Wochen Milchflaschen und Wasserkanister gesammelt, und nun säumten die mit Sand und Votivkerzen gefüllten Behälter die Straßen. Es hatte etwas Magisches; links und rechts der Straße schimmerten weiße Kerzen, durch die Plastikbehälter vor dem Wind geschützt. Nach dem Abendessen ging die ganze Familie nach 258
draußen. Die alten Gaslaternen wurden extra für diesen Abend gedimmt, und so unternahm man einen Verdauungsspaziergang, blieb im Kerzenlicht für ein Schwätzchen mit Nachbarn und Bekannten stehen. Es war schön. Selbst eine so schicke und blasierte New Yorkerin wie ich war von der schlichten Schönheit des Ganzen beeindruckt. Außer mir schien niemand bemerkt zu haben, dass Onkel Max bereits in betrunkenem Zustand bei uns erschien. Na ja, vielleicht hatten meine Eltern es bemerkt, aber niemand gestand sich die Tatsache ein. Begreifen Sie langsam, wie es in meiner Familie läuft? Ich schon, endlich. Hässliche oder besorgniserregende Vorfälle werden einfach ignoriert. Typisch WASP. Nicht dass wir wirklich zu dieser Bevölkerungsgruppe zählten … aber der Widerstand gegen alles Unangenehme war so entschieden, so absolut, dass jede Erwähnung, jeder Gesprächsversuch gleichbedeutend mit einem Brandanschlag auf unser Haus gewesen wäre. Die Verleugnung ist ein zickiges Miststück, stimmt’s? Sie ist nervös und unsicher, und sie kann ihren eigenen Anblick nicht ertragen. Onkel Max war ein geübter, souveräner Alkoholiker. Wenn man ihn nicht kannte, fiel einem sein singender Tonfall vielleicht gar nicht auf, seine glänzenden Augen, der schwankende Gang. Unser Haus war voller Gäste. Darunter befanden sich einige der jungen Ärzte, mit denen mein Vater zusammenarbeitete, und ihre Ehefrauen. Esme war ebenfalls eingeladen, und Zack. Wir standen am Anfang unserer Beziehung. Alles kam uns neu und viel versprechend vor. Wenn es auch nicht gerade aufregend war, spürte ich doch eine Art angenehmes Kribbeln. Einige der Nachbarn waren dazugekommen. Meine Mutter hatte sich abgerackert, damit vom Essen bis hin zum Blumenschmuck alles perfekt wäre. Sie rannte überdreht wie eine Aufziehpuppe herum und überwachte ihr Werk. Inmitten all der glücklichen, geröteten Gesichter wirkte ihres wie eine verbissene Maske des Ehrgeizes. Ich weiß noch, wie Zack bemerkte: »Was ist denn 259
mit deiner Mom los? Alles in Ordnung mit ihr?« Ich sah zu ihr hinüber. Sie hielt sich kerzengerade, bediente die Gäste, hastete immer wieder in die Küche und war gespannt wie eine Feder. »Wie meinst du das?«, fragte ich durch den Lärm aus Weihnachtsliedern und Stimmengewirr. »Sie ist so wie immer.« Damals verstand ich die Frage nicht. Wie eine Geistesgestörte war meine Mutter darauf fixiert, alles perfekt aussehen zu lassen; sie hätte den kleinsten Fehler als Katastrophe empfunden und mit emotionalem Rückzug von allen, die sie umgaben, reagiert. Mir kam das völlig normal vor. Im Nachhinein muss ich mir eingestehen, dass mein Vater zu ihr den größtmöglichen Abstand wahrte. Ich erinnere mich, dass sie mit ihm schimpfte, weil er ein Blech mit Horsd’œvres mit einem Geschirrhandtuch statt mit einem Topflappen aus dem Ofen zog. Weil er zu viel Pulver genommen hatte und der Kaffee zu stark geworden war. Alle möglichen Kleinigkeiten. Sie schimpfte leise, aber im Tonfall kältester Verachtung. Irgendwann hatte er gelernt, sich einfach aus der Schusslinie zu halten. Auch das erschien mir völlig normal. Meine Ahnungslosigkeit war vollkommen, und ich amüsierte mich prächtig. Max kam mit der Windstärke eines Orkans hereingeweht. Er lächelte überglücklich und war beladen mit Tüten, in denen sich, wie ich wusste, unverschämt teure Geschenke verbargen. Ein Magnet, um den die Gäste sich scharten wie Metallstaub. Ich weiß nicht, warum er so viel Aufmerksamkeit erregte; ob es an seiner Persönlichkeit, an seinem Geld oder vielleicht an der unwiderstehlichen Kombination von beidem lag. Aber er stand im Mittelpunkt, sobald er einen Raum betrat, und die allgemeine Heiterkeit multiplizierte sich auf das Zehnfache. Sogar meine Mutter schien sich ein bisschen zu entspannen, weil ihre Leistung als Gastgeberin nicht mehr allein im Zentrum stand. Zack und ich zogen uns in die Küche zurück, wo wir uns an den Tisch setzten und Kekse aus einer Schachtel verspeisten, die 260
irgendjemand meinen Eltern als Geschenk mitgebracht hatte. Von unserem Platz aus konnten wir das Fest weiterhin verfolgen, uns aber trotzdem ungestört unterhalten. Wir rissen die dekorative rote Zellophanverpackung auf und entdeckten dieses köstliche italienische Weihnachtsgebäck mit Himbeerfüllung und Puderzuckerüberzug. »Mann, dein Onkel kann wohl eine Menge vertragen«, sagte Zack. »Hmm?«, machte ich. »Was meinst du?« Zack sah mich an. »Ich meine, er ist gerade mal eine Stunde hier und hat schon fünf Bourbon getrunken.« Ich zuckte die Schultern. »Er ist erwachsen.« »Ja, aber … Mein Gott, es scheint ihm gar nichts auszumachen.« Achselzuckend konzentrierte ich mich auf die Kekse vor mir. »So ist er eben.« So ist er eben. Als ob ich ihn wirklich gekannt hätte. Ein paar Stunden später war es im Haus ruhig geworden. Esme und Zack waren gegangen. Mein Vater befand sich mit einigen Gästen auf dem weihnachtlichen Kerzenlichtspaziergang, und meine Mutter schrubbte wie wild die schmutzigen Töpfe. Ich hatte ihr immer wieder meine Hilfe angeboten, aber sie ließ mich jedes Mal abblitzen, weil sie voraussetzte, dass niemand die Arbeit so gut erledigen könnte wie sie. Was auch immer. Auf der Suche nach etwas Süßem streifte ich durchs Wohnzimmer und entdeckte plötzlich Onkel Max, der im schummrigen Licht vor dem riesigen Weihnachtsbaum saß. Ein Weihnachtsbaum mit brennenden Kerzen in einem abgedunkelten Raum zählt für mich übrigens zum Schönsten überhaupt. Ich ließ mich neben ihm auf die Couch fallen, und er legte seinen Arm um mich. Mit der freien Hand balancierte er ein Whiskeyglas auf seinem Knie. 261
»Wie geht’s, Onkel Max?« »So lala. Nette Party.« »Ja.« Wir saßen eine ganze Weile in einträchtigem Schweigen beisammen, bis mich etwas veranlasste, ihn anzusehen. Er weinte. Er gab keinen Laut von sich. Die Tränen liefen ihm übers Gesicht wie Regentropfen über eine Glasscheibe. Ich hatte in seinem Gesicht noch nie einen ähnlichen Ausdruck bemerkt. Es war voll hoffnungsloser Trauer. Ich muss ihn schockiert angestarrt haben. Ich griff nach seiner Hand, so groß wie eine Bärenpranke. »Onkel Max, was ist denn?« flüsterte ich, so als hätte ich Angst, jemand könnte ihn so sehen, sein wahres Gesicht. Ich wollte ihn beschützen. »Meine Vergangenheit holt mich ein, Ridley.« »Welche Vergangenheit?« »All das Gute, das ich tun wollte. Ich habe es vermasselt. Eine schöne Scheiße hab ich da gebaut.« Seine Stimme zitterte. Ich schüttelte den Kopf. Ich dachte: Er ist betrunken. Er ist bloß betrunken. Aber da packte er mich bei den Schultern, nicht grob, aber leidenschaftlich. Trotz seiner Verzweiflung leuchteten seine Augen hell und klar. »Du bist doch glücklich, Ridley, oder? Du bist sicher und behütet aufgewachsen, oder?« »Ja, Onkel Max, natürlich«, erwiderte ich. Ich wollte ihn unbedingt trösten, auch wenn ich keine Ahnung hatte, warum ihm mein persönliches Glück so am Herzen lag. Er nickte und lockerte seinen Griff, blickte mir aber immer noch fest in die Augen. »Ridley«, sagte er, »vielleicht bist du das einzig Gute in meinem Leben.« »Was ist hier los? Max?« Wir drehten die Köpfe und entdeckten meinen Vater, der in der Tür stand. Er war nicht 262
mehr als ein dunkler Umriss, umgeben von Licht. Seine Stimme klang seltsam. Etwas Unbekanntes hatte von ihm Besitz ergriffen, es war düster und fremd. Max ließ mich los, als hätte er sich die Hände an mir verbrannt. »Max, wir sollten uns unterhalten«, sagte mein Vater, und Max erhob sich. Ich folgte ihm, aber im Flur legte mein Vater seine Hand auf meine Schulter und hielt mich zurück. Max ging weiter, durch die Flügeltüren hindurch ins Arbeitszimmer meines Vaters. Er ließ die Schultern hängen und hielt den Kopf gesenkt, aber bevor er im Zimmer verschwand, drehte er sich um und warf mir ein Lächeln zu. »Was ist los mit ihm?«, fragte ich meinen Vater. »Mach dir keine Sorgen, Schatz«, antwortete er gezwungen fröhlich. »Onkel Max hat ein bisschen zu viel getrunken. In seinem Kopf hocken einige Dämonen, und manchmal lockt der Bourbon sie hervor.« »Wovon hat er geredet?«, bohrte ich nach. Ich hatte das Gefühl, von etwas Wichtigem ausgeschlossen zu werden. »Ridley«, sagte mein Vater. Es klang einen Hauch zu streng. Er hielt inne und korrigierte seinen Ton so schnell, dass ich glaubte, mir seine Schroffheit nur eingebildet zu haben. »Wirklich, mein Schatz, mach dir um Max keine Gedanken. Aus ihm spricht der Bourbon.« Er drehte sich um und verschwand in seinem Arbeitszimmer. Ich lungerte noch eine Weile vor der Tür herum und hörte ihr Gemurmel durch das schwere Eichenholz. Ich wusste, dass man an diesen Türen nicht lauschen konnte; zu oft hatte ich das als Kind schon versucht. Sie waren zu dick. Selbst wenn man sein Ohr direkt ans Holz legte, konnte man die Leute drinnen nur hören, wenn sie sich anbrüllten. Außerdem kam im Flur gerade meine Lieblingstante auf mich zu, Sie wissen schon, Tantchen Verleugnung. Sie nahm mich in die Arme und flüsterte mir beruhigende Worte ins Ohr: Schuld ist nur der Bourbon. Max’ 263
Dämonen schlagen Krach. Du kennst ihn doch. Morgen ist er wieder ganz der Alte. Es war das letzte Mal, dass ich meinen Onkel sah. Sein Gesicht, immer noch nass von Tränen und vom Bourbon gerötet, sein trauriges Lächeln, seine letzten Worte Ridley, vielleicht bist du das einzig Gute in meinem Leben. O Gott, dachte ich, als ich an Jakes Fenster stand und den Autoverkehr unten auf der First Avenue beobachtete. Was hatte Max gemeint? Jake räumte in der Küche den Geschirrspüler ein. Ich hörte ihn etwas summen und freute mich, dass er das Essen besorgt hatte und sich jetzt um den Abwasch kümmerte. Zack war so ein verwöhntes Muttersöhnchen gewesen. Esme hatte ihm immer alles abgenommen, ihm sogar morgens seine Kleider ausgesucht, bis er aufs College ging. Wahrscheinlich fragen Sie sich jetzt: Wann wird sie endlich ansprechen, was sie von Detective Salvo weiß? Jakes Strafregister und die Tatsache, dass der tödliche Schuss auf Christian Luna aus der Richtung kam, wo er sich versteckt hatte, und nicht von einem Dach, wie Jake an jenem Abend noch andeutete. Nein, ich hatte es nicht vergessen und inzwischen lange genug gewartet, um auch jene Fragen zu stellen, vor deren Antworten ich mich fürchtete. Ich starrte immer noch aus dem Fenster, als er hereinkam und seine Arme um mich schlang. Ich wartete darauf, dass er fragte, was ich gerade dachte, aber er tat es nicht. »Detective Salvo hat erzählt, du seist vorbestraft«, sagte ich ruhig. Er atmete dicht an meinem Ohr aus, hielt mich aber weiter umfangen. »Als Privatdetektiv bekommt man schnell Ärger. Das läuft nicht wie im Kino; die meisten Polizisten können Privatdetektive nicht ausstehen. Man kommt ihnen in die Quere, und schon hat man eine Anzeige am Hals. Aber sie haben mir 264
nichts anhängen können. Jedenfalls bin ich nicht in dem Sinne vorbestraft. Ich hab ja nicht einmal gesessen, Himmelherrgott.« Er klang belustigt, und ich musste lächeln. »Du stehst auf böse Jungs, was?«, fragte er und küsste mich in den Nacken. »Du bist der Erste.« Ich wollte ihn gerade nach dem Schuss im Park fragen, als er plötzlich erstarrte und ganz still wurde. Ich drehte mich um, weil ich dachte, etwas Falsches gesagt zu haben. Aber er beachtete mich gar nicht und starrte wie gebannt aus dem Fenster. Dann schob er mich beiseite. »Was siehst du?« »Der Typ in dem Hauseingang da drüben. Ist das der Mann, der dich verfolgt hat? Er stand schon dort, als ich mit dem Essen wiederkam. Und jetzt ist er immer noch da.« Ich spähte über Jakes Schulter und entdeckte eine Gestalt, die in dem dunklen Hauseingang herumlungerte. Ich konnte jedoch kein Gesicht erkennen, nur ein Bein und einen schwarzen Stiefel. »Ich weiß nicht«, sagte ich und fühlte ein Kribbeln im Bauch, »das könnte jeder sein.« »Ich hab ein komisches Gefühl.« »Ja, klar. Zwielichtige Gestalten, die sich im East Village in Hausfluren rumdrücken … Das ist wirklich ungewöhnlich. Kommt so gut wie nie vor.« »Ich werde mal nachsehen. Du bleibst hier.« Er hatte sich Jacke und Schlüssel geschnappt und war draußen, noch bevor ich »Wie meinst du das, mal nachsehen? Das ist doch lächerlich.« sagen konnte. Ich hörte ihn die Treppe hinunterpoltern und rechnete mir aus, dass er längst wieder oben wäre, bis ich es geschafft hätte, eine
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Hose anzuziehen und ihm nachzulaufen. Deswegen blieb ich am Fenster stehen und behielt den Mann im Hauseingang im Auge.
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ZWEIUNDZWANZIG
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och bevor Jake auf der Straße war, löste die Gestalt sich aus der Dunkelheit und rannte los. Es war nicht der Mann aus der Bahn oder dem Buchladen, sondern mein Bruder. Was machte er hier? Hatte er auf mich gewartet? Ich öffnete das Fenster und schrie seinen Namen, aber der Verkehrslärm übertönte meine Stimme. Ich wollte mich schnell anziehen und stieg gerade in meine Jeans, als ich ein seltsames Klingeln hörte. Es klang gedämpft, wie durch viele Stoffschichten hindurch. Mir wurde klar, dass das Geräusch aus meinen Kleidern kam, die in Jakes Schlafzimmer auf dem Boden lagen. Ich wühlte herum, bis ich in einer Manteltasche fündig wurde – mein neues Mobiltelefon. Ich fischte es heraus und las die Nummer, die auf dem Display blinkte. Ich kannte sie nicht und überlegte, ob ich überhaupt rangehen sollte. Schließlich hatte niemand, den ich kannte, meine Nummer. Am Ende siegte meine Neugier. »Hallo?«, fragte ich zögerlich. »Ridley Jones?« Schroffe, älter klingende Stimme. Ich kannte sie, konnte sie aber nicht einordnen. »Ja?« »Hier ist Detective Salvo.« Mist. »Woher kennen Sie meine Nummer?« »Sie haben mich angerufen, schon vergessen? Ich habe Ihre Nummer gespeichert.« »Oh.« Ein weiterer Grund, sich gegen ein Handy zu entscheiden. »Ridley, hören Sie. Ich habe schlechte Nachrichten. Das Gewehr, mit dem man Christian Luna aller Wahrscheinlichkeit nach erschossen hat, wurde gefunden«, sagte er. Mein Herz begann zu hämmern. Wozu erzählte er mir das? 267
»Wir haben es auf einem Parkplatz neben dem Fort Tryon Park gefunden, oben in der Bronx. Es ist auf den Namen ihres Freundes Harley Jacobsen registriert.« Meine Gedanken überschlugen sich, während ich versuchte, mich an jenen Abend zu entsinnen. Jake, wie er aus der Dunkelheit auftaucht und mich von Christian Luna wegzerrt. Ich erinnerte mich, wie er seinen Arm um mich legte und mich eilig zum Auto drängte. Ich erinnerte mich daran, dass er zum Fort Tryon Park fuhr und auf dem verlassenen Parkplatz hielt, damit ich mich an seiner Schulter ausweinen konnte. An ein Gewehr konnte ich mich nicht erinnern, es wäre mir sicher aufgefallen. Oder nicht? »Ich möchte nur, dass Sie ihm heute Abend aus dem Weg gehen. Wir werden ihn verhaften. Ich möchte nicht, dass Ihnen etwas zustößt.« »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich …« »Verschonen Sie mich damit, Miss Jones.« Er hatte vollkommen Recht. Es war ziemlich albern von mir, die Bekanntschaft mit Jake weiter abzustreiten, wo sie doch offensichtlich war. Trotzdem verspürte ich das Bedürfnis, an meiner Geschichte festzuhalten. »Wenn Sie mich für seine Freundin halten, warum warnen Sie mich dann vor seiner Verhaftung? Sie riskieren bloß, dass ich ihm einen Tipp gebe.« Er schwieg einen Moment lang, bevor er sagte: »Weil ich Sie für einen anständigen Menschen halte, der sein Vertrauen nicht jemandem schenkt, der es nicht verdient. Um ehrlich zu sein, möchte ich verhindern, dass Sie in einen Schusswechsel geraten. Sorgen Sie dafür, dass ich diesen Anruf nicht bereue«, sagte er und legte auf. Im selben Moment kam Jake herein. Er schloss die Tür hinter sich. 268
»Er ist abgehauen«, erklärte er, zog die Jacke aus und warf sie über einen Stuhl. »War schon weg, als ich auf die Straße kam.« Ich stand da und hielt mein Telefon noch immer in der Hand. Wusste nicht, was ich sagen oder tun sollte. »Hast du ihn weglaufen sehen?« Ich hatte Ace vollkommen vergessen. Ich muss seltsam ausgesehen haben, als ich dort stand, Jake anstarrte und versuchte, Detective Salvos Warnung zu verarbeiten. »Was ist denn?«, fragte Jake und runzelte die Stirn. Plötzlich glaubte ich, von weitem die Polizeisirenen zu hören. Jake schien nichts zu merken. Es ist ja nicht so, als wäre es ein ungewöhnliches Geräusch in New York. »Jake, sie kommen, dich zu holen«, sagte ich. »Wer?« »Detective Salvo hat eben angerufen«, antwortete ich. Ich knöpfte meine Hose zu und sah ihn an. »Er hat dich angerufen?«, fragte Jake und warf mir einen prüfenden Blick zu. »Wie?« »Auf meinem Handy. Er hat die Nummer, weil ich ihn gestern angerufen habe.« Ich ging auf Jake zu. »Das ist doch jetzt egal. Er sagt, sie haben das Gewehr gefunden, mit dem Christian Luna erschossen wurde.« »Okay, schön«, erwiderte Jake achselzuckend. »Was hat das mit mir zu tun?« »Er sagt, es ist auf deinen Namen zugelassen, Jake.« Meine Worte trafen ihn voller Wucht. »O Scheiße«, murmelte er und griff nach dem Stuhl neben sich. »Das ist Quatsch, Ridley.« »Sie werden dich jetzt holen.« Ich zog meine Turnschuhe an und band mir die Schnürsenkel zu. Ich hörte die Sirenen immer näher kommen. Ich nahm meinen Mantel.
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»Nein«, sagte er kopfschüttelnd, »die Waffe gehört mir nicht. Niemand kann das Gegenteil beweisen.« Wie soll ich beschreiben, was ich in jenem Moment fühlte? Ich vernahm wieder dieses seltsame Rauschen in meinem rechten Ohr. Meine Hände zitterten leicht. Ich wusste nicht mehr, was ich von Jake halten sollte, und stand wohl ziemlich unter Schock. Noch nie zuvor hatte ich etwas Ähnliches erlebt und befand mich folglich im Blindflug. »Der Schuss. Sie behaupten, er wäre aus dem Gebüsch gekommen, aus deiner Richtung. Nicht vom Dach«, erklärte ich. Jake blickte zu Boden, dann wieder zu mir. »Ich weiß nicht, woher der Schuss kam. Jedenfalls nicht von mir.« Jake wirkte verängstigt, genau wie ich. Er nahm seine Jacke und ging zur Tür. »Ridley, ich möchte, dass du dich in Sicherheit bringst. Sofort.« Bei seinen Worten wurde mir kalt. »Was sagst du da?« Ich rannte ihm hinterher. Als er sich umdrehte und seine Hand sanft auf meinen Arm legte, wurde er bleich. »Ridley, hör mir gut zu. Ich möchte, dass du dir ein paar Sachen aus deiner Wohnung holst und dann in ein Hotel gehst. Sag niemandem, wo du bist. Niemandem. Nicht deinen Eltern, nicht deinem Freund Zack. Hast du mich verstanden?« »Ich komme mit dir.« Ich konnte selbst nicht glauben, was ich da sagte. War ich wirklich bereit, ihn auf seiner Flucht vor den Behörden zu begleiten? Die Antwort lautete Ja. Ich fühlte mich so entwurzelt, so entfremdet von meiner früheren Existenz, dass es mir als ernst zu nehmende Option erschien. Das Heulen der Sirenen war noch lauter geworden. Inzwischen sah ich, wie das rote Blinklicht der Polizeiwagen von der Häuserfassade gegenüber zurückgeworfen wurde. Jake küsste
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mich flüchtig auf den Mund und musterte mich wieder mit diesem Blick, den ich nicht deuten konnte. »Ich kann dir das nicht antun, Ridley«, sagte er. »Jake …« »Versprich mir zu tun, was ich dir gesagt habe. Schwöre mir, dass du niemandem dein Versteck verrätst, und bezahl das Zimmer in bar. Das ist wichtig. Nur in bar.« »Warum?« Ich verstand nicht, was vor sich ging, aber ich hatte – vielleicht seit dem Telefonat mit Linda McNaughton – begriffen, dass hier viel dunklere, größere Mächte am Werk waren als Christian Luna und seine Machenschaften. »Ridley, du bist in Gefahr. Wir beide sind in Gefahr. Also versprich es.« »Jake, ich begreife nicht, was du meinst.« »Ich werde dir alles erklären. Du hast keinen Grund, mir dein Vertrauen zu schenken, aber ich bitte dich trotzdem darum. Versprich einfach nur zu tun, was ich dir gesagt habe.« Ich hörte ein Hämmern gegen die Metalltür unten am Haus. »Ich verspreche es«, sagte ich. »Ich werde dich finden. Mach dir keine Sorgen.« Ich nickte, und er ging Richtung Tür. Aus Angst, ihn nie mehr wiederzusehen, zog sich mein Magen zusammen. »Ich habe Christian Luna nicht umgebracht. Ich möchte, dass du das weißt.« Und dann war er verschwunden. Ich wartete einen Augenblick und hörte, wie die Polizisten unten an der Eingangstür rüttelten. Als ich in den Flur trat, kam mir von unten Zeldas Geschrei entgegen. Von Jake keine Spur. »Warten Sie, warten Sie!«, hallte Zeldas Stimme durchs Treppenhaus. Ich hörte das Knarren der Tür, dann schwere Schritte auf der Treppe. Ich rannte ins oberste Stockwerk und stieß die Tür zum Dach auf. Kalte Luft schlug mir entgegen. Ich 271
stand im Dunkeln und fragte mich, was, zum Teufel, ich hier oben wollte. Ich hatte fast damit gerechnet, Jake über die Dächer springen zu sehen, aber ich entdeckte ihn nirgends. Ich wusste nicht, ob und wie er es geschafft hatte, das Haus zu verlassen. Ich schwang die Beine über die Dachbrüstung und stieg auf die Feuerleiter. Unter mir flippten die Hunde aus, bellten sich um den Verstand, während ich die Leiter hinunterkletterte. Ein kurzes Rütteln reichte, und mein Fenster ging auf. Ich schlüpfte so leise wie möglich in mein Apartment. Es war dunkel. Draußen im Flur hörte ich lautes Rufen, das Knacken und Piepsen der Funkgeräte, die schweren Schritte großer Männer mit festen Stiefeln. Ich hörte Zelda schreien: »Hey, haben Sie überhaupt einen Durchsuchungsbefehl? Ich rede mit Ihnen!« Ein Blick durch den Spion verriet mir, dass sich auf meiner Etage niemand befand. Ich öffnete die Tür einen Spaltbreit. Einen Moment lang überlegte ich, einfach die Treppe hinunterzugehen und den Hinterausgang zu benutzen. Allerdings hatte ich genug Krimis im Fernsehen gesehen, um zu wissen, dass sie nicht so verrückt waren, die Rückseite des Gebäudes unbewacht zu lassen. Als ich mich gerade wieder zurückziehen wollte, bemerkte ich, dass Victorias Tür offen stand. Ich sah ihr vor Angst weit aufgerissenes Auge, mit dem sie mich in diesem Augenblick anstarrte, war im Moment jedoch nicht in der Lage, etwas für sie zu tun. Ich schloss rasch die Tür und rutschte mit dem Rücken an ihr zu Boden. Mein Atem ging schnell. Ich dachte: Du versteckst dich gerade vor der Polizei. Du hast dein altes Leben ganz offiziell verlassen. Ich befand mich im freien Fall; mit fuchtelnden Armen stürzte ich einer unbekannten Finsternis entgegen. Dann hörte ich Schritte auf der Treppe. »Sie ist nicht da. Ich habe es Ihnen doch gesagt. Sie ist weggegangen und noch nicht wiedergekommen.« Zelda blaffte irgendjemanden an.
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»Wo ist sie hin?« Detective Salvo. Ich hörte ihre Schuhe auf den Fliesen vor meiner Tür. Ihre Stimmen kamen näher. »Hey, fürwenhaltensiemich, für ihre Mutter?« Detective Salvo hämmerte gegen die Tür. Ich musste mich zusammenreißen; ich lehnte schließlich immer noch dagegen. »Sindsietaub, oderwas?«, kreischte Zelda. In der nun folgenden Stille hielt ich die Luft an; dann schlug er wieder dagegen. »Ridley! Wenn Sie da drin sind, tun Sie sich den Gefallen und kommen Sie raus. Reden Sie mit mir. Zwingen Sie mich nicht, per Haftbefehl nach Ihnen suchen zu lassen. Beihilfe zur Tat, Behinderung polizeilicher Ermittlungen. Ridley, ich habe wirklich nicht vor, Ihr Leben zu ruinieren, aber wenn es sein muss, werde ich es tun.« Ich saß so still und reglos da wie ein Stein. Ich konnte jetzt nicht mehr hinaus. Ich hatte Jake gewarnt; ich war aus seinem Apartment geflohen und hatte mich vor der Polizei versteckt. Mir blieb keine andere Wahl als durchzuhalten. Das Telefon in meinem Apartment begann zu klingeln. Ich hielt den Atem an. Nach zwei Klingelzeichen sprang der Anrufbeantworter an. Ich hörte die Stimme meines Vaters. »Ridley«, sagte er in strengem, besorgtem Tonfall. »Deine Mutter und ich haben einen sehr beunruhigenden Anruf von Alexander Harriman erhalten. Wir sind in großer Sorge und müssen sofort mit dir sprechen. Ruf an.« Ein Piepen. So viel zur anwaltlichen Schweigepflicht … Das hätte er nicht tun dürfen, oder? Meine Eltern anrufen, meine ich. Wie viel hatte er ihnen erzählt? Das fragte ich mich. Verdammt. »Haben Sie einen Schlüssel zu der Wohnung?«, erkundigte sich Detective Salvo draußen bei Zelda. Ich schloss die Augen und betete. »Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?« »Machen Sie es nicht unnötig kompliziert, Mrs. Impecciate.« 273
»Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?«, wiederholte Zelda seelenruhig. In dem Augenblick liebte ich sie. »Nein.« »Dann habe ich auch keinen Schlüssel.« Zelda log für mich und deckte mich. Sie wusste, dass ich im Haus war. Ich glaube, sie wusste sogar, dass ich hinter der Tür saß. Dafür, dass sie niemals auch nur ein freundliches Wort zu mir gesagt hatte, lehnte sie sich meinetwegen ziemlich weit aus dem Fenster. Ich fragte mich, ob es daran lag, dass sie mich während all der Jahre insgeheim gemocht hatte oder ob sie die Polizei hasste wie die Pest. »Was machen Sie da?« »Ich rufe sie auf dem Mobiltelefon an«, antwortete er. »Ich habe eben noch mit ihr gesprochen.« Ich wühlte in meinen Taschen nach dem Handy und vernahm den langgezogenen Signalton, als er auf Anrufen drückte. Im Dunkeln suchte ich nach dem Ausknopf; ich fand und drückte ihn, bevor das Gerät zu klingeln anfangen konnte. »Mailbox«, brummelte er wie zu sich selbst. »Verdammt, Ridley.« Sie gingen ohne ein weiteres Wort davon. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich noch dort saß, lauschte, bis der Tumult über mir sich legte, die schweren Stiefel im Treppenhaus nach unten polterten und nach draußen verschwanden, bis ich keine Polizeifunkgeräte und dröhnenden Männerstimmen mehr hörte. Es muss ziemlich lange gewesen sein, denn zwischendurch bin ich sogar eingedöst. Mein Telefon klingelte noch öfter, aber der Anrufer, wer immer er war, legte jedes Mal auf, wenn der Anrufbeantworter sich meldete. Ich verharrte noch immer in meiner Hockstellung an der Tür, als plötzlich jemand ganz leise klopfte. »Ridley«, kam es flüsternd durch den Türspalt. Ich schreckte hoch und spürte, dass meine Beine eingeschlafen waren. Ich hielt den Atem an, wusste nicht, was ich tun sollte. 274
»Ridley«, hörte ich noch einmal, »ich bin’s, Zelda.« »Zelda?« Ich öffnete die Tür ein wenig. »Kommen Sie«, sagte sie. »Ich zeige Ihnen einen Weg nach draußen, den die Polizei nicht kennt. Die warten draußen auf Sie. Der Bulle meinte, er würde sich einen Durchsuchungsbefehl für Ihre Wohnung besorgen.« Ich wusste nicht, warum Zelda mir half, und ich hatte auch keine Gelegenheit, sie zu fragen. Ich folgte ihr die drei Stockwerke nach unten, dann durch die Restaurantküche in den Hinterhof. Wir durchquerten das Rudel der Hunde, das uns freudig kläffend begrüßte. Zelda bückte sich und zog mit einem Schwung eine Metalltür im Boden auf, unter der der Keller lag. Ich folgte ihr hinunter und musste den Kopf einziehen, um mich nicht an der niedrigen Decke zu stoßen. Sie führte mich durch dunkle Regalreihen mit Olivenöl in Flaschen und passierten Tomaten in Dosen, riesigen Gewürzkisten, Papiertellern, Servietten und Lattenkisten mit Knoblauchzehen. Die Düfte der Lebensmittel vermischten sich mit dem erdigen Kellergeruch, und das Resultat war nicht unangenehm. Am Ende des Gewölbes öffnete Zelda eine weitere Metalltür. Dahinter war es stockduster. Zelda verschwand durch die Tür, ich ging hinterher, wobei ich mich an den Wänden entlangtastete. Wir befanden uns in einer Art kaltem, feuchtem Tunnel. Es roch modrig. »Dieser Tunnel endet in der 11. Straße«, hallte Zeldas Stimme durch die Dunkelheit. »Keine Ahnung, wozu er gut ist, jedenfalls zieht er sich unter dem Black Forest Pastry Shop durch. Die haben auch eine Kellertür.« Sie hatte den Satz kaum beendet, als meine Finger gegen etwas stießen, das sich wie eine Metalltür anfühlte. Die ganze Situation kam mir plötzlich surreal vor. Ich spürte, wie ein Lachen in mir aufstieg, ein kräftiges, hysterisches Lachen, das sich, da war ich mir sicher, in 275
Schluchzen verwandeln würde, sobald ich ihm nachgab. Ich erstickte es auf der Stelle und tastete mich weiter vorwärts. Wenig später hörte ich, wie Zelda ein paar Riegel zurückschob, und dann öffnete sich die Tür auf die 11. Straße. Die kühle, frische Luft strich über mein Gesicht. Nach dem stockfinsteren Tunnel kam mir der nächtliche Himmel so strahlend hell vor wie der Tag. Ich ging an Zelda vorbei, drehte mich auf der Straße aber noch einmal um. »Danke, Zelda.« Sie sah mich an und war im Begriff etwas zu sagen, presste aber dann doch die Lippen zusammen. »Sei vorsichtig«, meinte sie. Sie versuchte zu lächeln, was ihr aber nicht gelang. In ihren Augen blitzte etwas auf, das ich nicht verstand. Mit einem lautem Knall zog sie die Tür ins Schloss.
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DREIUNDZWANZIG
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rinste er selbstgefällig? In dem abgedunkelten, nach Bier und Müll stinkenden Zimmer konnte ich es nicht erkennen. Ace war nicht gerade erfreut, mich zu sehen, als ich vor seiner Tür stand. »Was willst du hier?«, hatte er durch denselben Türspalt gefragt, durch den ich mich Tage zuvor mit Ruby unterhalten hatte. Mir fiel keine Antwort ein. Ich wusste sowieso nichts mehr. An wen sonst hätte ich mich wenden können? Ganz sicher nicht an meine Eltern. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei sich auch mit ihnen in Verbindung setzen würde – wenn sie das nicht längst getan hatte. Und auch nicht an Alexander Harriman. Ich fand ihn gruselig und aus irgendeinem Grund wenig vertrauenswürdig (schon bevor er mich bei meinen Eltern verpfiffen hatte). Ein Teil von mir hatte das Bedürfnis, sich Zack anzuvertrauen, aber den brachte ich schnell zum Schweigen. Bei ihm angerannt zu kommen, nur weil ich in Schwierigkeiten steckte, wäre ziemlich egoistisch gewesen, besonders nach dem, was in den letzten Tagen zwischen uns vorgefallen war. Nach einer unangenehmen Schweigeminute hatte Ace die Tür schließlich doch geöffnet. Ich war hineingegangen. Die Wohnung war genauso dreckig und eklig, wie man es sich vorstellte. Ruby hing, alle viere von sich gestreckt, in einem klapprigen Sessel mit verblichenem Blümchenmuster und herausquellender Polsterung. Hätte ich sie so auf der Straße liegen sehen, ich hätte sie für tot gehalten. In einer winzigen Linie lief ihr die Spucke vom Mundwinkel übers Kinn. »Alles okay mit ihr?«, fragte ich. »Es könnte ihr gar nicht besser gehen«, antwortete Ace kühl. »Jetzt sag schon, was los ist.«
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Ich hatte ein flaues Gefühl im Magen und einen trockenen Mund. »Warum benimmst du dich immer wie ein Arsch?«, wollte ich wissen. »Glaubst du, ich wäre hergekommen, wenn ich eine Wahl gehabt hätte?« Ich begann zu schluchzen. Es war nicht so schlimm wie nach Christian Lunas Tod, aber fast. Ich setzte mich aufs Bett. Ace ließ sich neben mir nieder, legte eine Hand auf meinen Rücken und wartete. Als ich mich beruhigt hatte und Tränen und Rotz mit einem Papiertaschentuch abwischte, das er in einem Müllhaufen gefunden hatte, sagte er: »Erzähl einfach, was passiert ist. Ich tu für dich, was ich kann.« Was nicht viel ist – sagte er zwar nicht, aber es schwang in seinem letzten Satz mit. Ich erzählte ihm alles, was sich seit unserem letzten Treffen ereignet hatte. »Wahrscheinlich drehen Ben und Grace gerade durch«, kommentierte er lachend. »Die brave kleine Ridley auf der Flucht vor dem Gesetz. Wahrscheinlich halten sie im Moment mit Esme und Zack eine Konferenz ab, um das weitere Vorgehen zu besprechen.« Sein Spott war so beißend, dass eine Ohrfeige mir weniger wehgetan hätte. Jetzt konnte ich sie klar sehen, seine Eifersucht, seinen Hass. So unverhohlen wie jetzt waren sie mir noch nie entgegengeschlagen. Ich dachte an die Worte meines Vaters und an Jakes Vermutung, Ace könnte irgendwie in die Sache verwickelt sein. Einen Moment lang sah ich meinen Bruder so, wie alle anderen in meinem Leben ihn sahen: heruntergekommen, unglaubwürdig, bereit, mich zu verletzen. Das machte mich unendlich traurig. »Ich habe dich gesehen«, sagte ich. »Du hast vor meinem Haus gewartet, ist noch nicht lange her. Was wolltest du?« Achselzuckend stützte Ace sich auf seine Ellbogen. Starrte an die Wand hinter mir.
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Als ich gerade nach New York gezogen war und anfing, mich mit Ace zu treffen, hatte ich die Fantasie, er würde mich heimlich beschützen, würde mich beschatten, nur für den Fall, dass ich in Schwierigkeiten geriete. In den buntesten Tagträumen malte ich mir aus, wie ich in einer dunklen Gasse überfallen und mein Bruder hinter Mülltonnen hervorspringen würde, um mich zu retten. Dann würde er mich ins Studentenheim zurückbringen und sich um mich kümmern, bis es mir besser ginge. Später würde er sich wieder ganz seinem Leben widmen und ich meinem. Und ich könnte immer sicher sein, dass er mir den Rücken freihält, dass er auf mich aufpasst. In einem anderen Tagtraum fuhren wir zu meinen Eltern, wo es zu einem tränenreichen Wiedersehen kam, und danach lebten wir alle glücklich zusammen bis an unser Ende. Ganz schön traurig, ich weiß. Aber allen kleinen Mädchen werden Märchen erzählt, und da ist es kein Wunder, wenn wir uns später in belastenden Lebenssituationen nach einem glücklichen Ausgang sehnen. Niemand warnt einen davor, dass etwas Trauriges traurig bleibt, dass manche Leute verbittert und ohne eine Hoffnung auf Vergebung sterben, dass manche Dinge verloren gehen und nie wiederkommen. »Bekomme ich noch eine Antwort?«, fragte ich. »Ich hab auf dich gewartet. Ich brauchte Geld. Aber dann war plötzlich dein Schlägertyp hinter mir her, und da bin ich abgehauen.« »Mein Schlägertyp?« »Dein neuer Freund, wie auch immer. Vor dem solltest du auf der Hut sein. Jede Wette, dass er nicht der ist, für den du ihn hältst.« Er warf mir einen selbstgefälligen, unfreundlichen Blick zu. Am liebsten hätte ich ihm in die Fresse gehauen. »Was weißt du schon über ihn? Von was hast du überhaupt eine Ahnung?« 279
Er zuckte wieder die Achseln und schwieg. »Du hast mich nicht immer gehasst, oder?«, fragte ich. »Ich weiß, dass du mich geliebt hast, als wir klein waren.« Das höhnische Lächeln (ja, es war höhnisch) verschwand aus seinem Gesicht. Verdutzt schaute er mich an. »Ich hasse dich nicht, Ridley. Das habe ich nie getan.« Ich starrte zurück, bis er wegsah. »Es gibt da so vieles, das du nicht verstehst«, erklärte er mit einem langsamen Kopfschütteln. »Ich glaube, ich verstehe sehr wohl«, entgegnete ich. Eine entsetzliche Wut kochte in mir hoch. »Es geht um Max, oder?« Erschreckt schaute Ace mich an. »Was meinst du denn zu wissen, Ridley?« »Ich weiß von der Sache mit dem Geld, das er uns vermacht hat.« Ace verdrehte die Augen. »Das er dir vermacht hat, meinst du.« »Dir auch, wenn du dich nur zusammenreißen würdest.« Mir gefiel der Klang meiner Worte nicht, aber ich glaube, ein Teil von mir war überzeugt, Ace hätte sich sein Leben selbst ausgesucht. Vielleicht hatten ihn die Drogen tatsächlich im Griff, aber wenn man sich entscheiden kann, damit anzufangen, kann man sich auch entscheiden, damit aufzuhören, nicht? Der Weg ist lang und mühsam, aber den ersten Schritt könnte man doch tun, oder? Ace standen alle Möglichkeiten offen. Er bekäme Hilfe. »Wer hat dir davon erzählt? Dad?« »Ist doch egal. Es stimmt, nicht wahr?« »Wie immer hast du keine Ahnung, wovon du redest. Du lebst in deiner eigenen kleinen Welt. Ridleys Welt, in der ist alles schwarz oder weiß, richtig oder falsch. Man muss sich bloß entscheiden, was? Alles eine Frage der richtigen Entscheidung.« 280
Haben Sie geglaubt, ich hätte meinen Vortrag über richtige Entscheidungen noch niemals zuvor gehalten? Wie Sie sehen, lag Ace total daneben. Ich stand auf und ging zur Tür. Ich zitterte vor Wut und Trauer, in meinem Magen herrschte Aufruhr. Ich war gekommen, um Hilfe und ein bisschen Trost zu erhalten, musste jedoch einsehen, dass er zu keinem von beidem fähig war, ja, dass er mir seine Unterstützung, wäre er zu so etwas überhaupt in der Lage, vorenthalten würde. Ich wollte weg von ihm. Ich wollte mich ihm an den Hals werfen und ihn so fest umarmen, wie ich nur konnte. Ich hasste ihn. Ich liebte ihn. »So einfach ist es im Leben nicht, Ridley.« Ich wusste nichts darauf zu sagen, und noch bevor ich etwas dagegen tun konnte, fingen die Tränen an zu fließen. Ich hatte nie behauptet und auch nie geglaubt, das Leben sei einfach. »Ridley, du solltest dich stellen. Ruf Mom und Dad an. Am Ende wird sich alles in Wohlgefallen auflösen. Tut es doch immer.« Solche Gemeinheiten von dem Mann, den ich von Kindheit an geliebt habe. Mein Bruder. Ich hatte ihn so lange bedingungslos geliebt, dass mir sein Hass nie aufgefallen war. Vielleicht hasste er nur sich selbst? Mir kamen Esmes Worte über Max in den Sinn. Man kann einem Stein kein Blut abpressen. Man kann es versuchen, aber der Einzige, der blutet, ist man selbst. Ich verließ den Raum und knallte so heftig mit der Tür, dass ich die Erschütterung noch unter meinen Füßen spürte. Dann rannte ich die Treppe hinunter und auf die Straße hinaus. Ich wusste nicht, in welche Richtung und wohin ich gehen sollte, und hockte mich im Tompkins Square Park auf eine Bank. Die ganze Welt versuchte mir etwas zu sagen. Du bist auf dich gestellt, Kleines.
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Ich wollte ins West Village und wählte dafür einen ziemlich ungewöhnlichen Weg. Ich nahm die U-Bahn bis zur 96. Straße, stieg dann aus, winkte ein Taxi heran, ließ mich vor der Barnes&-Noble-Filiale schräg gegenüber von der Met absetzen, ging durch den Eingang am Broadway hinein und auf der Rückseite wieder hinaus. Ich suchte einen Geldautomaten und hob so viel Geld ab, wie der Automat mir gab. Dann sprang ich wieder in ein Taxi. Während der ganzen Zeit hielt ich angestrengt nach der Polizei, dem Skinhead oder anderen verdächtigen Personen Ausschau. Ich glaube nicht, dass mir jemand folgte. Aber das alles war neu für mich. Bevor er vor der Polizei geflohen war, hatte Jake mich gewarnt, und nun klingelten mir seine Worte in den Ohren. Ich gebe offen zu, dass ich schreckliche Angst hatte. Ich mietete mich in einem heruntergekommenen Hotel nahe dem Washington Square ein, an dem ich ein paarmal vorbeigelaufen war. Es war eins dieser Hotels, die trotz aller Renovierungsbemühungen nach dem aussehen, was sie sind: ein Durchgangsort für Leute, die ihr Zimmer am liebsten bar und im Voraus bezahlen. Hinter dem Empfangstresen stand ein alter Mann in einem Jeanshemd auf dessen Brusttasche ein nach Ketchup aussehender Fleck prangte. Sein faltiges und verkniffenes Gesicht wirkte wie eine Gummimaske. Er schaute mich nicht einmal an, nahm das Geld und gab mir meinen Schlüssel. »Zimmer 203. Aufzug ist rechts, Treppe links.« Er hätte mich bei keiner Gegenüberstellung wiedererkannt, da war ich mir sicher. Vermutlich gehört das hier zu den Voraussetzungen für eine Einstellung, dachte ich. Merkwürdigerweise wollte ich, dass er mich ansah. Ich wollte darin bestätigt werden, in dieser Welt nicht nur ein Geist zu sein. »Gute Nacht noch«, sagte ich und lungerte vor dem Tresen herum. Er antwortete nicht, drehte sich nur um und schlurfte in sein Büro zurück. 282
Das Zimmer war einigermaßen sauber, aber ich entdeckte zerplatzte Fliesen im Bad, Wasserflecken an der Zimmerdecke, von zu viel Zigarettenqualm vergilbte Vorhänge. Als ich auf dem Bett lag, in das orangefarbene Licht der Straßenlaternen hinausstarrte und dem Verkehrslärm lauschte, fühlte ich mich so einsam wie noch nie zuvor in meinem Leben. Niemand wusste, wo ich mich befand und was mit mir passierte. Mir war, als hätte mir jemand ein Loch durch die Brust gestanzt, und nun pfiff der Wind hindurch. Der hohle, klagende Ton ließ mich die ganze Nacht nicht schlafen.
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VIERUNDZWANZIG
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ontagmorgen. Nach einer schlaflosen Nacht nahm ich ein Taxi zu der Tiefgarage, in der ich meinen Jeep hatte stehen lassen und fuhr wieder nach New Jersey. Auf dem Weg hielt ich bei einem Internetcafé auf der Third Avenue und besorgte mir mit der Hilfe von MapQuest einen Straßenplan, der mich direkt bis vor Linda McNaughtons Haustür führte. Es ist schon irre, dass man bloß die Adresse einer Person einzugeben braucht und dann eine Schritt-für-Schritt-Anleitung erhält, wie man zu ihr gelangt … Da es sich in meinem Fall aber als überaus nützlich erwies, konnte ich mich eigentlich nicht beschweren. In dem Internetcafé musste ich mit meiner Kreditkarte bezahlen; mir blieb keine Wahl. Die Ereignisse des letzten Abends kamen mir inzwischen ganz und gar unwirklich vor. Ich hatte einen seltsamen gedanklichen Abstand zu allem gewonnen. So viel war seit meinem Anruf bei Linda McNaughton geschehen. Mein Hirn gönnte sich eine kleine Pause, wenn es um gewisse Fakten ging – zum Beispiel, dass mein Freund (das war er doch, oder?) auf der Flucht vor der Polizei war (wie ich selbst übrigens auch) und mein Bruder mich hasste, und das offensichtlich schon seit Jahren. Sobald ich auf der Autobahn war, rief ich mit dem Handy meinen Vater an. »Ridley«, sagte er, wobei es ihm gelang, in den zwei Silben meines Namens Ärger, Besorgnis, Erleichterung und Liebe unterzubringen. »Sag mir sofort, was los ist.« »Nichts. Wieso?«, fragte ich. »Ridley!« »Dad, alles in bester Ordnung«, log ich. »Ich möchte nur, dass du mir ein bisschen was über Project Rescue erzählst.« 284
Eine kurze Pause. »Ridley, du kommst augenblicklich nach Hause. Wir haben mit Alexander Harriman gesprochen. Die Polizei war heute Morgen da.« Es ist schon traurig, wenn man von den eigenen Eltern Befehle erhält, für die man zu alt ist. Sie zeugen von der Kluft zwischen dem Menschen, für den sie einen halten, und dem Menschen, der man tatsächlich geworden ist. Sie klammern sich an die Vorstellung von einem Kind, das sich noch unter ihrer Kontrolle befindet; und es dauert lange, bis sie begreifen, dass die Dinge sich geändert haben. »Ich kann nicht nach Hause kommen, Dad. Ich muss rausfinden, was mit meinem Leben passiert ist. Erzähl mir vom Rettungsprojekt.« »Welches Rettungsprojekt? Ridley, wovon redest du?« »Dad, sag es mir!« Ich schrie. Ich hatte meinen Vater noch nie angeschrien, und irgendwie fühlte es sich gut an. Er schwieg so lange, bis ich mich fragte, ob er aufgelegt hatte oder die Verbindung unterbrochen war. Dann hörte ich ihn Luft holen. »Dad?« »Es handelt sich um dieselbe Gruppe von Leuten, die die ›Sichere Zuflucht‹-Gesetzesvorlage durchgebracht hat«, erklärte er. Seine Stimme klang fremd, blechern. »Nein«, widersprach ich. »Da war noch mehr.« In dem Moment fiel mir auf, dass ich viel zu schnell fuhr. Ich konnte mir nicht erlauben, deswegen angehalten zu werden. Ich trat auf die Bremse und wechselte auf die rechte Spur. Er seufzte. »Tja, lass mich überlegen. Zunächst einmal gab es Anlaufstellen – Einrichtungen, die Project Rescue angeschlossen waren. Normalerweise handelte es sich um Kirchen oder Krankenhäuser, manchmal auch um kooperierende Kinderheime. Das war schon lange, bevor das Gesetz überhaupt beschlossen wurde. Es war zwar nicht illegal, aber auch nicht gerade behördlich genehmigt … die Mittel stammten aus 285
Privatspenden. Wir haben es immer als eine Art geheimes Netzwerk im Dienst einer guten Sache betrachtet.« »Von wem kam das Geld? Von Max?« »Ja, von ihm und von anderen Leuten.« Mein Vater klang müde. Ich glaubte zu hören, dass seine Stimme leicht zitterte, aber das lag vielleicht am schlechten Empfang. »Was ist in diesen Einrichtungen passiert?« »Das Gleiche, was heute dort passiert. Eltern können ihr Kind in gute Hände geben. Das Kind wird zweiundsiebzig Stunden in der Einrichtung versorgt. Wenn eine Mutter es sich innerhalb dieser Zeit anders überlegt, kann sie zurückkommen und ihr Kind wieder abholen. Man bietet ihr eine Beratung und weitere Hilfe an, falls sie welche braucht.« »Und wenn sie das nicht tut?« »Dann wird das Kind der städtischen Fürsorge übergeben.« »Hattest du etwas damit zu tun?« »Eigentlich nicht. Obwohl einige der Kliniken, in denen ich im Lauf der Jahre freiwillig gearbeitet habe, zum Netzwerk des Projekts gehörten. Wenn dort ein Baby oder ein Kind abgegeben wurde, habe ich es medizinisch versorgt, so wie ich es für jedes andere Kind auch mache.« »War das ungesetzlich?« »Streng genommen nicht. Es gab kein Gesetz, nach dem es verboten gewesen wäre, sich um ein bedürftiges, ausgesetztes Kind zu kümmern, solange der Vorgang innerhalb von zweiundsiebzig Stunden angezeigt wurde.« »Ihr seid also unter dem Radar durchgeflogen.« Er seufzte wieder. »Zum Wohl der Kinder, versteht sich.« Dass mein Vater jede Gesetzeslücke nutzen würde, um Kindern zu helfen, kam mir einleuchtend vor. So etwas traute ich ihm zu. Trotzdem schien die Gleichung nicht ganz aufzugehen. Ich meine, was ergab es für einen Sinn, ein Kind 286
aus einer möglicherweise gefährlichen Lebenssituation zu holen und es dann der öffentlichen Fürsorge zu überlassen, die ja selbst völlig unzureichend war und Missbrauch zuließ? Ich dachte an Jakes Kindheitserlebnisse. Irgendetwas war mir entgangen, so viel war klar. Die Antworten lagen vor mir, doch ich konnte sie nicht erkennen. Ich war müde und überfordert. Ich hatte tausend Fragen an meinen Vater, aber keine einzige fiel mir ein. »Was muss ich sagen, damit du nach Hause kommst?« Ich überlegte einen Moment. »Sag mir, dass es da nichts zu wissen gibt. Dass ich mich in eine Sache reingesteigert habe, die nichts mit mir zu tun hat. Dass ich das Augenmaß verloren habe.« Er zögerte nur kurz, dann meinte er: »Ridley, da gibt es nichts, das du wissen müsstest.« Ich habe keine Ahnung, warum, aber mir wurde mit plötzlicher Klarheit bewusst, dass mein Vater log. Im Hintergrund hörte ich meine Mutter: »Sag Ridley, ihr Zimmer ist fertig. Alex kann sich um alles kümmern, und sie bleibt hier, bis Gras über die Sache gewachsen ist.« »Dad, ich rufe euch wieder an. Macht euch keine Sorgen.« Als ich das Telefon sinken ließ, hörte ich ihn noch reden. Ich beendete das Gespräch. Ich hatte auf der ganzen Welt niemanden mehr, dem ich vertrauen konnte. Linda McNaughton lebte in zwei aneinandergekoppelten Wohnwagen in einem gepflegten Trailerpark an der Bundesstraße 206. Der Ort hieß Lost Valley. Ihr Wagen war ganz hübsch, mit Flügelfenstern und Aluminiumverkleidung, und stand gegenüber der örtlichen Leihbücherei. Lächelnd kam sie an die Tür, die sie aber nur ein Stückchen weit öffnete. Ich hatte
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meinen Besuch nicht angekündigt, weil ich befürchtete, sie würde mich nicht sehen wollen. »Kann ich Ihnen helfen?« »Hi, Mrs. McNaughton«, sagte ich mit meinem freundlichsten Pfadfinderinnenlächeln. »Ich bin Ridley … wir haben gestern Abend telefoniert.« Ihr Lächeln gefror. »Was wollen Sie hier?« »Ich war zufällig in der Gegend, um für meine Story zu recherchieren und hab mir gedacht, dass wir uns vielleicht noch ein wenig unterhalten könnten. Ehrlich gesagt, hatte ich gehofft, dass Sie mir vielleicht ein Foto von Charlie ausleihen.« In einer Mischung aus Misstrauen und Verärgerung kniff sie die Augen zusammen. »Ich habe keine Fotos, und ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen. Bitte gehen Sie.« Dann schlug sie mir mit einem Knall die Tür vor der Nase zu. »Was wäre …«, rief ich durch die geschlossene Tür, weil ich sicher war, dass sie dahinterstand und mich durch den Spion beobachtete … »was wäre, wenn ich Ihnen sagte, dass Charlie vielleicht noch am Leben ist?« Ich hörte, wie sie hinter der Tür nach Luft schnappte, und bekam sofort ein schlechtes Gewissen. Immerhin hatte ich keine Beweise dafür, dass Charlie noch lebte. Aber während ich die letzte Nacht wach auf dem fremden Bett gelegen hatte und über die Dinge nachdachte, die Christian Luna mir erzählt hatte, über das, was ich über die anderen vermissten Kinder herausgefunden hatte, über Onkel Max, über Aces Worte, da war plötzlich ein Gedanke in mir aufgekeimt, der sich jetzt, besonders nach dem Gespräch mit meinem Vater, wie ein Virus verbreitete. Die Tür öffnete sich wieder, und ich sah Lindas besänftigtes Gesicht. Sie machte die Tür ganz auf und trat zur Seite, um mich einzulassen.
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In ihrem Salon nahm ich auf einem harten, beigen Sofa mit Plastiküberzug Platz und nippte an dem Kaffee, den sie mir gemacht hatte. Er war äußerst schwach und zugleich bitter. Linda trug einen grauen Hausanzug, der genau die gleiche Farbe hatte wie ihr kurz geschnittenes Haar. Ihr Gesicht war eine Landschaft aus Falten und schlaffer Haut, doch ihre strahlend blauen Augen musterten mich aufmerksam. Wir waren umgeben von Schildkröten – Porzellanfiguren in Schildkrötenform, auf Kissen gestickte und auf Tellerchen gemalte Schildkröten, ausgestopfte Schildkröten, Schildkröten-Mobiles. »Wissen Sie«, kommentierte sie meine neugierigen Blicke, »eigentlich mag ich Schildkröten gar nicht. Aber einmal hatten wir eine Schildkrötenfarm in der Karibik besucht, und da hat mir mein Mann einen goldenen Schildkrötenanhänger gekauft. Ich hab allen erzählt, wie toll ich ihn fände. Seitdem kriege ich nur noch Schildkröten geschenkt.« Sie warf mir einen beinahe entschuldigenden Blick zu und stieß ein seltsames Lachen aus. Dann ging sie zu einem Bücherregal am anderen Ende des Raums. Sie kam mit einem kleinen Foto in einem Zinnrahmen zurück und reichte es mir. Ich sah ein Paar mit einem Kind. Der kleine Junge, er war nicht älter als zwei Jahre, trug ein rot-weiß gestreiftes T-Shirt und kurze Jeans und saß auf einem Pony. Der dünne, bärtige Mann stand auf der einen Seite, er lächelte scheu und hatte eine Hand beschützend auf das Bein des Kindes gelegt. Die Frau, mager und unscheinbar, strahlte in die Kamera. Ich weiß nicht, wie ich mir Michael und Adele Reynolds vorgestellt hatte. Ich wusste nur, dass Michael ein Junkie gewesen war und Adele eine Frau, die ihr Kind hatte loswerden wollen. Auf dem Foto jedoch sah ich zwei Menschen, die ein bisschen verbraucht aussahen, erschöpft vielleicht, die aber trotzdem einen schönen Tag mit ihrem Sohn verbrachten. Das Bild schien mit dem Urteil, das ich unbewusst über sie gefällt hatte, unvereinbar. Ich war überrascht, weil ich sie mir kalt, 289
egoistisch und gleichgültig vorgestellt hatte. Und vielleicht waren sie das manchmal auch gewesen, aber in anderen Momenten hatten sie sich vielleicht als liebende, glückliche Eltern erwiesen, die ihr Kind beschützten. Vielleicht wollte Adele Charlie nur deswegen weggeben, weil sie Angst hatte, den Anforderungen des Mutterdaseins nicht gewachsen zu sein. Vielleicht glaubte sie, er wäre anderswo besser aufgehoben. Ich hatte mich so oft über Zack geärgert, der Ace aus einem einzigen Grund – seiner Drogensucht – verurteilte. Unbewusst hatte ich das Gleiche mit Adele und Michael gemacht. »Wenn es nur wenige glückliche Momente gegeben hat, erinnert man sich an die wohl um so intensiver«, sagte Linda. »Ich kann mich genau an den Tag erinnern. Wir waren alle glücklich – es war Charlies zweiter Geburtstag. Einen Monat später war meine Tochter tot. Dann verschwand Charlie, dann Michael. Innerhalb von achtzehn Monaten habe ich sie alle verloren.« Ich spürte, wie sich mein Herz zusammenzog und stellte mir vor, wie es für sie gewesen sein musste, als ihre Welt in Trümmer sank. Ich sah sie an, erwartete Tränen in ihren Augen zu sehen, aber sie betrachtete nur mit einem wehmütigen kleinen Lächeln das Bild, so als sei ihr nur die traurige Einsicht geblieben, dass sich die Dinge eben nicht ändern ließen. Auch über Linda hatte ich mir ein Urteil gebildet. Mir eine Frau vorgestellt, die ihre Tochter nicht genügend geliebt, sich dagegen entschieden hatte, ihr bei den Problemen mit ihrem Kind beizustehen. Weil ich in einem Haus aufgewachsen war, in dem es immer ausreichend Geld und Liebe gegeben hatte, war ich davon ausgegangen, dass es allen Menschen so erging. Ich gebe es nur ungern zu, aber erst in Linda McNaughtons Wohnwagen begriff ich, dass Armut kein abstrakter Begriff ist; dass manche Leute einfach nicht über genug Liebe oder Geld verfügen, um sich um ein Kind zu kümmern. Man kann 290
jemanden nicht nach dem beurteilen, was er nicht zu geben vermag, oder? »Sind Sie sicher?«, fragte sie plötzlich und sah mich mit einem rätselhaften Gesichtsausdruck an. »Haben Sie Beweise dafür, dass er noch lebt?« Ich bemerkte, dass ihre Hände leicht zu zittern anfingen, so als versetzte die Hoffnung sie in Aufregung. »Nein«, bekannte ich und versuchte, ihrem Blick standzuhalten, »noch nicht.« Mit einem Seufzen setzte sie sich wieder und blickte zur Seite. Ich betrachtete das Foto in meiner Hand. Es war unscharf und im Lauf der Zeit vergilbt. »Ich werde mich bemühen, die Hoffnung nicht aufzugeben. So wie letztes Jahr.« »Letztes Jahr?« »Ein junger Mann stand vor der Tür. Etwa in Ihrem Alter. Behauptete, ein Privatdetektiv zu sein, der alte Fälle aufrollt. So nannte er es. Er rief immer wieder an und wollte Sachen wissen wie, wie hieß Charlies Kinderarzt, war er jemals in der Notaufnahme, wenn ja, wie oft. Ich erzählte ihm, was ich wusste. Aber nach einer Weile meldete er sich nicht mehr. Einmal rief ich ihn an, und er sagte mir, er wäre immer noch an der Sache dran. Er versprach, mich nicht zu vergessen und sich sofort zu melden, wenn er eine Spur hätte. Doch ich habe nie wieder was von ihm gehört. Komisch. Ich hatte neulich erst daran gedacht, ihn anzurufen.« »Warum?« »Ich hatte in einem Stapel mit alten Papieren Charlies Geburtsurkunde entdeckt und dachte, vielleicht könnte sie ihm nützlich sein.« »Mrs. McNaughton, dürfte ich vielleicht einen Blick drauf werfen?«
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»Natürlich«, sagte sie und ging zu dem in der Zimmerecke stehenden Schreibtisch. Ich beugte mich vor. »Dieser Mann, der Sie besucht hat … Können Sie sich an seinen Namen erinnern?« »Nun, ich bewahre seine Karte hier bei Charlies Geburtsurkunde auf. Ich kann sie ohne Brille nicht lesen.« Als sie mir die cremefarbene Visitenkarte mit den schwarzen Lettern reichte, drehte sich mir der Magen um. Jake Jacobsen, Privatdetektiv. Mir schossen Bilder von Momenten durch den Kopf, die wir zusammen erlebt hatten. Ich erinnerte mich an den merkwürdigen Klang seiner Stimme, als ich ihm von den anderen vermissten Kindern erzählte, und dass er kein bisschen überrascht schien. Ich dachte daran, wie schnell er die Informationen über die Eltern im Internet gefunden hatte und wie rasch er den Zeitungsausschnitt zuordnen konnte, den Christian Luna mir schickte. Wie bestürzt er gewirkt hatte, als ich ihm erzählte, ich hätte Detective Salvo von meiner Entdeckung berichtet. Er wusste Bescheid, dachte ich. Er hatte von den anderen vermissten Kindern bereits Kenntnis. »Miss Jones, alles in Ordnung?« Ich muss reglos dagesessen und die Visitenkarte angestarrt haben, während sie mir, keine Ahnung, wie lange schon, ein Dokument entgegenhielt. »Entschuldigen Sie«, sagte ich und nahm das Blatt. »Charlies Geburtsurkunde. Es ist eine Kopie, Sie können Sie behalten.« Ich warf einen Blick auf das Papier, faltete es zusammen und steckte es in die Innentasche meiner Jacke. Als ich aufblickte, stellte ich fest, dass Linda mich immer noch musterte. »Sie haben mir nicht gesagt, wie Sie darauf kommen«, sagte sie. »Wieso glauben Sie, Charlie könnte noch am Leben sein?«
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Ich zögerte einen Moment und gab ihr dann die zum jetzigen Zeitpunkt ehrlichste Antwort: »Weil ich es auch bin.« Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »Mrs. McNaughton, in dem Jahr verschwanden noch andere Kinder, und so wie es aussieht, ist zumindest eins von ihnen gesund und wohlauf. Für Charlie hoffe ich dasselbe.« Sie starrte mich an, und ich entdeckte eine leise Freude in ihrer Miene. »Das hoffe ich auch«, meinte sie und faltete die Hände wie zum Gebet. Ich stand auf, gab ihr die Hand, bedankte mich für ihre Hilfe und versprach, das Foto zurückzuschicken, sie nicht bloß mit einem Haufen Fragen sitzen zu lassen. Als ich über den Kiesweg auf den Highway zurollte, stand sie in der Tür und hob winkend die Hand. Ich musste daran denken, dass Hoffnung zu haben nicht immer ein Segen ist. Als ich auf die Bundesstraße 206 fuhr, entdeckte ich im Rückspiegel einen schwarzen 1969er Firebird mit verdunkelten Scheiben. Mein Herz machte einen Satz, und ich hielt sofort auf dem Seitenstreifen an. Ich hatte erwartet, das Auto hinter mir würde ebenfalls stoppen, aber das tat es nicht. Mit röhrendem Motor donnerte es an mir vorbei. In mir kämpften Erleichterung und Enttäuschung gegeneinander. Als ich den Wagen an der nächsten Kreuzung um die Ecke biegen sah, fiel mir ein, dass die Polizei Jakes Auto beschlagnahmt hatte. Ich wäre ohnehin nicht in der Lage gewesen, mich mit ihm auseinanderzusetzen, nicht jetzt, wo neues Misstrauen an mir nagte. Wenn er schon über die anderen verschwundenen Kinder Kenntnis hatte, wusste er auch von Jessie Stone. Er hatte sogar schon von ihr gewusst, als wir uns noch nicht kannten. Ich überlegte, was das bedeuten könnte, aber mein Verstand machte sofort dicht. Ich wollte es gar nicht wissen.
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Ich lenkte den Wagen wieder auf den Highway und über Skully’s Mountain zurück nach Hackettstown. Weil mir nichts Besseres einfiel, beschloss ich, die Klinik aufzusuchen, zu der Teresa Stone mit Jessie gegangen war. Was würde ich dort sagen? Keine Ahnung, ich würde mir etwas einfallen lassen müssen. Ich war der festen Überzeugung, dass die Wahrheit nun mal siegt. Dass Lügen labile, ständig vom Zerfall bedrohte Gebilde sind. Der Himmel über mir war schwarzgrau und kündete von Schnee. Während ich unter einem Blätterdach dahinfuhr, wurde es so dunkel, dass ich die Scheinwerfer einschalten musste. In einer kleinen Ortschaft verließ ich die Hauptverkehrsstraße und bog in die Straße nach Skully’s Mountain ein. Ich befand mich auf einem schmalen, dunklen Pass. Als ich eine enge Brücke am Fuß eines steilen Abhangs überquerte, sah ich, dass die Vorbeifahrenden nur durch ein hölzernes Geländer vor dem Sturz in den rauschenden Wildbach geschützt waren. In dem Augenblick entdeckte ich erneut den Firebird im Rückspiegel. Ich fragte mich, wie er dorthin gekommen war. Ich konnte den Fahrer nicht erkennen, aber in mir stieg Angst auf. Ich trat das Gaspedal durch, und mit quietschenden Reifen schoss der Jeep die Straße entlang. Mit einem Firebird konnte er es allerdings nicht aufnehmen. Eine Sekunde später hing er mir an der Stoßstange und blendete mich mit seiner Lichthupe. Ich spürte einen schweren Schlag, als der Wagen meinen Jeep von hinten rammte. Mein Kopf schleuderte nach vorn und schnellte dann wieder zurück. Ich wurde zusammengestaucht und ließ für einen Moment unwillkürlich das Lenkrad los. Der Jeep schlitterte beängstigend nah an den Straßenrand, bis ich wieder nach dem Steuer greifen konnte. Ich riss das Lenkrad herum, und das Fahrzeug schoss auf die Gegenfahrbahn. Ich konnte gerade noch ausweichen, als vor mir ein Auto um die Kurve kam und mit lautem Hupen vorbeisauste. 294
Wenn man Todesangst hat, verlangsamt sich plötzlich alles. Es lief wie in Zeitlupe ab, als der Firebird meinen Jeep erneut rammte. Als wir auf die nächste Haarnadelkurve zurasten, hörte ich außer meinem abgehackten Atem nichts mehr. Ich trat mit aller Kraft aufs Gaspedal, aber der Firebird war zu schnell. Jetzt ging er mich noch aggressiver an. Die Tränen schossen mir in die Augen und ließen die Straße vor mir verschwimmen. »Aufhören!«, schrie ich, obwohl mich niemand hörte. Ein weiterer Stoß beförderte den Jeep wieder auf die Gegenfahrbahn. Er schrammte an der Leitplanke entlang, dass die Funken stoben. Der Firebird holte auf gleiche Höhe auf, sodass ich nicht zurück auf die rechte Fahrbahn konnte. Ich sah hinüber, konnte aber nichts als die getönte Seitenscheibe erkennen. Plötzlich stieg Wut in mir auf, und die Angst, die meinen Verstand vernebelt hatte, verschwand. Ich wusste nicht, wer in dem Auto saß, und es war mir auch egal. Ich riss das Lenkrad herum, und ließ den Jeep in die Seite des Firebird krachen. Nicht umsonst trug er den Spitznamen muscle car. Ich hatte das Gefühl, gegen eine Betonmauer zu krachen. Der Firebird schwankte kurz, hielt jedoch seine Spur. Da wurde ich richtig sauer. Ich rammte ihn wieder, diesmal noch härter. Es war mir egal, ob wir beide in die Tiefe stürzten. So fuhren wir in einem Höllentempo weiter, die Fahrgestelle der Autos unter dem schrecklichen Gekreisch von Metall auf Metall ineinander verkeilt, bis ich hinter der nächsten Kurve das Licht herannahender Scheinwerfer entdeckte. Der Firebird gab keinen Zentimeter nach. Ich hupte wie verrückt, um dem immer näher kommenden Fahrer zu signalisieren, dass ich mich auf seiner Spur befand. Ich wusste, der Jeep würde sich überschlagen, ginge ich in einer dermaßen scharfen Kurve auf die Bremse; und selbst wenn nicht, würde ich frontal mit dem herankommenden Auto zusammenstoßen. Ich würde es nicht mehr schaffen, den Wagen auf die rechte Seite zu ziehen. Wieder drückte ich wie verrückt auf die Hupe 295
und betete, dass der Fahrer mich hören und abbremsen würde; aber im selben Moment heulte der Firebird auf und schoss davon. Ich riss das Steuer nach rechts und war noch keine zwei Sekunden auf meiner Fahrbahn, als ein riesiger roter Dodge um die Ecke geschossen kam. Er raste an mir vorbei und bestrafte mich mit einem wütenden Hupen für meine rücksichtslose Fahrweise. Ich sah, wie der Firebird hinter der nächsten Kurve verschwand. Ich trat auf die Bremse und blieb stehen, das Lenkrad fest umklammernd. Ich klapperte mit den Zähnen und zitterte unkontrolliert. Schluchzend hing ich über dem Lenkrad, als sich von hinten ein Wagen näherte. Bibbernd fuhr ich den letzten Teil des Abhangs hinauf, um auf der anderen Seite vor einem Burger-King-Drive-in anzuhalten und mir einen Schokoladenshake und Pommes zu bestellen. Ich fand, dass ich mir das redlich verdient hatte, schließlich war ich gerade einem Mordanschlag entkommen, und das aller Wahrscheinlichkeit nach von einem Mann, mit dem ich noch vor kurzem im Bett gelegen hatte. Bebend und heulend saß ich im Auto und stopfte mir, so schnell ich konnte, die fettigen Pommes in den Mund. Die Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Ich war unfähig, das Erlebte zu verarbeiten, und wusste nicht, was ich als Nächstes tun sollte. Ich hatte den Fahrer nicht erkannt, aber das Auto war zweifellos Jakes gewesen. Hatte er am Steuer gesessen? Warum würde er mir schaden wollen? Und wenn nicht er, wer dann? Und wie war dieser Jemand an Jakes Auto gekommen? Und ständig dieselbe Frage: Warum passierte das alles überhaupt? Wie geht man damit um, wenn man feststellen muss, dass das Fundament des eigenen Lebens auf einmal wegbricht und alles zu bröckeln beginnt? An wen kann man sich wenden? Meine Gedanken schweiften ab. Aus irgendeinem Grund musste ich an meine Mutter denken. 296
Nachdem ich mein Studium abgeschlossen hatte, fuhr ich jahrelang mittwochs und freitags mit der U-Bahn-Linie 4/5 zum Yoga in der Upper East Side. Die Zeit immer von sechs bis halb acht Uhr morgens war grässlich, aber nach einer Weile merkte ich, dass mein Tag wesentlich erfolgreicher und produktiver verlief, wenn ich den Termin einhielt. An einem besonders kalten Februarmorgen lief ich durch die morgendliche Dunkelheit zur 14. Straße und stieg dort die Treppe zur Haltestelle Union Square ab. Ich schlief fast noch, als ich in die Bahn stieg und mich hinsetzte. Der Zug blieb eine Weile im Bahnhof stehen, und ich blickte aus dem Fenster. Draußen flatterte ein Monarchschmetterling herum. Während ich ihn verwundert anstarrte, dachte ich, wie kommt der bloß hierher, an diesen dunklen, unterirdischen Ort, mitten im Winter? Wie konnte er in der Kälte überleben? Ich schaute mich im Waggon um, um festzustellen, ob irgendeiner der übrigen Passagiere den Falter bemerkt hätte; aber alle Leute dösten oder lasen und waren dabei, ein kleines Wunder zu verpassen. Als ich wieder nach draußen sah, war er verschwunden. Die Türen schlossen sich, und die U-Bahn fuhr los. Was ich nie verstanden hatte, wurde mir jetzt, auf diesem Parkplatz, in diesem kaputten Jeep klar. Ich liebte meine Mutter auf ebendiese Weise, wie durch eine Glasscheibe, aus einem Zug heraus, der ständig im Begriff war abzufahren. Meine Mutter war eine Frau, die man ihrer Schönheit, ihres Charmes, ihrer Charakterstärke wegen bewunderte. Aber so wie jener Monarchschmetterling blieb sie letztendlich fern und unerreichbar. Man konnte einen Blick auf sie erhaschen, sie aber niemals festhalten. Vielleicht wäre sie heute anders, hätte sie Ace nicht verloren; denn eigentlich wussten wir alle – davon bin ich überzeugt – dass er ihre große Liebe war und sie es nie verkraftet hatte, von ihm verlassen worden zu sein. Dass sie ihn trotz all der leidenschaftlichen Auseinandersetzungen anbetete. Wenn sie früher meinen Bruder ansah, hatte sie innerlich zu leuchten 297
begonnen. Nach seinem Verschwinden wurde es dunkel auf der Bühne, und wir alle stolperten in der Finsternis herum, bemüht darum, unsere neuen Rollen in ihrem Stück zu finden. Ich glaube, dass ich sie dafür sogar gehasst habe, so sehr, wie ich sie liebte. In meinem Innersten war ich immer überzeugt gewesen, dass sie, vor die Entscheidung Ace oder ich gestellt, Ace gewählt und mich, ohne mit der Wimper zu zucken, eingetauscht hätte. Aber so läuft es nicht im Leben. Man kann niemanden eintauschen. Dachte ich zumindest.
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er Schaden war beträchtlich. Am Verhalten der anderen Autofahrer auf dem Parkplatz, die einen gebührenden Abstand zu mir hielten und sich im Vorbeifahren die Hälse nach mir verrenkten, merkte ich, dass der Jeep wirklich schlimm aussehen musste. Ich stieg aus und lief einmal um ihn herum. Er machte den Eindruck, als wäre er der Schrottpresse gerade noch entkommen. Fahrer- wie Beifahrerseite waren an den Stellen, an denen sie entweder den Firebird oder das Geländer gerammt hatten, zerschrammt und eingedrückt. Ich war froh, mich für die Vollkaskoversicherung entschieden zu haben. Vermutlich hätte ich die Polizei rufen oder sogar zur nächsten Wache fahren und meine Suchaktion einstellen sollen. Ich meine, anders konnte es nicht gemeint gewesen sein, oder? Wenn der Fahrer mich wirklich hätte umbringen wollen, hätte er mir kaum im letzten Moment Platz gemacht, sodass ich die Fahrbahn wechseln und der Kollision mit dem entgegenkommenden Auto entgehen konnte. Seine Absicht war gewesen, mir eine Todesangst einzujagen, mich von meinem Vorhaben abzubringen. Und Todesangst hatte ich. Aber ich war auch wütend, so wütend wie noch nie zu vor in meinem Leben. Und ich war entschlossener denn je herauszufinden, was mit mir passierte. Die andere wichtige Frage an diesem Punkt lautete: Was genau tat ich da? Wie Sie sich erinnern können, hatte alles damit begonnen, dass ich einem kleinen Jungen das Leben gerettet hatte. Diese Tat hatte eine ganze Reihe von Ereignissen ausgelöst, bis ich am Schluss meine eigene Identität in Frage stellte. Inzwischen war ich aber ebenso interessiert daran, das Schicksal der anderen Kinder aufzuklären, die im selben Jahr verschwanden wie Jessie Amelia Stone. Noch bevor ich mit den Pommes 299
fertig war, traf ich eine Entscheidung. Ich konnte die Frage, was aus Charlie, Pamela oder Brian geworden war, nicht beantworten, solange ich nicht über Ridley Bescheid wusste. Und die jüngsten Vorfälle in meinem neuen Leben sagten nun, dass ich bei Jessie anfangen müsste. Folglich machte ich mich mit dem ramponierten Wagen auf den Weg zu dem Krankenhaus, das Teresa nach Aussage von Maria Cacciatore mit Jessie besucht hatte, die Little-Angels-Kinderklinik. Unterwegs dachte ich mir verschiedene Lügen aus, mit denen ich mir Zugang zu Jessies Krankenakten verschaffen wollte – falls sie noch existierten. Am Ende kam ich jedoch mit der Wahrheit am weitesten. Als ich durch die sich automatisch öffnenden Glastüren trat, fiel mir gleich der »Project Rescue«-Aufkleber auf. Das Logo zeigte Arme, in die sich ein stilisiertes Baby kuschelte. Darunter stand: Hier ist ein sicherer Zufluchtsort. Was für ein Zufall. Mir fiel ein, dass Detective Salvo Zufälle nicht ausstehen konnte. Ich beschloss, mich in diesem Fall seiner Meinung anzuschließen. »Ich möchte jemanden sprechen, der hier zuständig ist«, erklärte ich dem jungen Mann hinter dem Empfangstresen. »Sie meinen, zuständig für alle Ärzte und so?« »Nein. Zuständig für den ganzen Laden. Und die Krankenakten.« »Oh, Sie wollen Ihre Krankenakte einsehen.« »So gesehen … ja.« »Gehen Sie zu der Dame dort hinten, die wird Ihnen weiterhelfen.« Er deutete auf eine ziemlich humorlos wirkende alte Frau, die hinter einem riesigen Schreibtisch thronte. Ich begriff sofort, dass ich bei ihr keinen Millimeter weiterkäme. »So wird es schwierig für mich. Ich kann mich nicht ausweisen.« Er warf mir einen strengen Blick zu und wollte eben den Kopf schütteln. »Ne …« 300
»Können Sie nicht einfach den zuständigen Mitarbeiter holen? Bitte«, unterbrach ich ihn mit meinem süßesten Lächeln. Er lächelte zurück. Ich glaube, dass man als einigermaßen attraktive Frau fast überall durchkommt, wenn man sich ein bisschen Mühe gibt. »Na gut«, meinte er und warf mir einen verschwörerischen Blick zu, »nehmen Sie Platz.« Während ich wartete, blätterte ich in der alten Ausgabe einer Elternzeitschrift. Die alte Debatte um den »Klaps auf den Po« erfreute sich größter Aktualität, ebenso wie die neuere Debatte »Impfen – pro und kontra«. Ich entschied mich für: Klaps – nein, Impfung – ja. Warum wollen die Leute überhaupt noch Kinder? Bei den unzähligen Möglichkeiten, etwas falsch zu machen, musste ich mich das wirklich fragen. »Kann ich Ihnen helfen?« Ein warmer Bariton unterbrach meine Gedanken. Ich blickte auf. Vor mir stand ein sehr großer schwarzer Mann mit glänzender Glatze und Nickelbrille. Die Bartstoppeln an seinem Kinn schimmerten in einem ersten Hauch von Grau. Über einem königsblauen Oxfordhemd trug er einen Arztkittel. Seine Krawatte war mit den tanzenden Bären von Grateful Dead bedruckt. Ihr Stil erinnerte mich an M C Escher. Ich stand auf und gab ihm die Hand, die er mit seiner Bärenpranke ergriff und eine Sekunde lang festhielt. »Kennen wir uns?«, fragte er mit schief gelegtem Kopf. »Ich glaube nicht.« »Doch«, widersprach er und begann, breit zu grinsen. Beim ersten Hinsehen hatte ich ihn auf Ende fünfzig geschätzt; dieses Megawattlächeln tilgte ungefähr fünfzehn Jahre von seinem Gesicht. »Sie sind die Frau, die das Kind gerettet hat. Unglaublich. Meine Hochachtung!« »Oh, ja, stimmt, das war ich«, sagte ich und lächelte. »Ridley Jones. Danke.«
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»Dr. Jonathan Hauser.« Er nickte vor sich hin und fragte dann: »Was kann ich für Sie tun?« »Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten? Das ist eine längere Geschichte.« In wohlwollender Neugier runzelte er die Stirn. »Sicher«, sagte er mit einem kurzen Blick auf seine Armbanduhr. »Kommen Sie.« Wir setzten uns in sein einfaches, dafür aber freundlich helles Arbeitszimmer. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Alles Fragwürdige und Illegale ließ ich aus, so auch Jake. Ich verriet ihm auch nicht, dass ich von einem geheimnisvollen Mann in einem 69er Firebird fast von der Straße gefegt worden war. Ich hoffte, dass die Bärenkrawatte des guten Mannes ein Zeichen einer hippieartigen, unkonventionellen Lebensauffassung war, die es mit den Regeln nicht immer so genau nahm. Dass er einer von jenen Menschen wäre, die im Namen der Gerechtigkeit gegen Dienstvorschriften zu verstoßen bereit sind. »Das ist ja unglaublich«, sagte er leise, als ich geendet hatte. »Aber Sie sind sich doch darüber im Klaren, dass ich Ihnen Jessies Akten nicht geben darf, wenn Sie Ihre Identität nicht beweisen können.« »Aber Sie glauben, die Akten könnten hier irgendwo sein?« »Wir haben sie ganz bestimmt aufbewahrt. Ich weiß das so genau, weil vor ungefähr einem Jahr ein junger Mann hier auftauchte, ein Privatdetektiv, der dasselbe wollte. Er hat erzählt, er würde alte Fälle von Kindesentführung während der siebziger Jahre neu aufrollen. Eines dieser Kinder war Jessie Amelia Stone. Wir gruben die Krankenakte aus dem Kellerarchiv dieses Krankenhauses aus.« Jake war auch hier gewesen. Es überraschte mich nicht einmal mehr.
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»Waren alle betroffenen Kinder Patienten in dieser Klinik?«, fragte ich und versuchte, mich zu konzentrieren. »Ich bin leider nicht befugt, Ihnen darüber Auskunft zu erteilen«, antwortete er. Dann beugte er sich vor. »Wenn ich allerdings von den anderen Kindern noch niemals gehört hätte, würde ich Ihnen das natürlich sagen.« Ich nickte. »Hatte der Detektiv Einsicht in irgendeine dieser Akten?« »So gerne ich ihm auch geholfen hätte, musste ich ihm sagen, dass ich ihm die Akten nur aufgrund eines Gerichtsbeschlusses aushändigen dürfe.« »Und dann?« »Habe ich nie wieder von ihm gehört.« Ich seufzte und lehnte mich zurück. Ich fühlte mich wie bei der Fahrprüfung, hilflos einem System gegenüber, das so unnachgiebig ist wie eine Betonmauer. Entweder hält man sich an die Regeln oder man ist draußen. Ich appellierte an den Hippie in ihm. »Dr. Hauser, ich bin keine Privatdetektivin, aber vielleicht eines dieser Kinder. Können Sie wirklich nichts tun?« Er senkte den Blick und atmete laut und vernehmlich aus. »Was erwarten Sie sich von den Akten? Wie soll ein Blick da hinein Antworten auf Ihre Fragen geben?« Ich zuckte die Achseln und gab offen zu: »Ich weiß es nicht. Mir fällt aber im Moment nichts mehr ein, was ich sonst noch versuchen könnte.« Mit vor dem Kinn gefalteten Händen schaute er mich eine Weile an. Dann schüttelte er kurz den Kopf und stand auf. »Warten Sie einen Moment, ja?« »Ja«, erwiderte ich. Er ging nach draußen und schloss leise die Tür hinter sich.
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Ich betrachtete die Wand hinter seinem Schreibtisch. An den dunklen Paneelen aus Holzimitat hingen Urkunden, Fotos und Zeitungsausschnitte. Ein Diplom der Rutgers University erregte meine Aufmerksamkeit. Grundstudium im Jahr 1962 erfolgreich abgeschlossen. Mein Vater war im selben Jahr vom College abgegangen, um Medizin zu studieren. Ich ließ meinen Blick über die unzähligen Diplome und Preisurkunden schweifen, bis er an einem Gegenstand hängen blieb: einer von Project Rescue an die Little-Angels-Klinik gestifteten Gedenkplakette. Für »herausragende Leistungen auf dem Gebiet des Kinderschutzes«. Der Aufkleber an der Kliniktür fiel mir wieder ein, und plötzlich schrillten in meinem Kopf die Alarmglocken. LittleAngels-Kinderklinik – hatte ich den Namen vielleicht schon gehört, bevor Maria Cacciatore ihn mir sagte? Ich überlegte. Vergeblich. Mit einer Akte in der Hand kam der Arzt zurück. »Ridley, hören Sie. Als Klinikarzt bin ich an sehr strenge Vorschriften gebunden. Jeder Verstoß könnte mich meine Karriere kosten. Verstehen Sie das?« »Ja«, erwiderte ich, in Gedanken immer noch mit dem Namen der Klinik beschäftigt. »Gut, dass das klargestellt ist«, fuhr er fort. »Ich habe dem Privatdetektiv geholfen, ich werde Ihnen helfen. Zumindest werde ich Ihnen sagen, was ich ihm gesagt habe.« Mit einem dankbaren Lächeln beugte ich mich vor. »Dieser Privatdetektiv – sein Name war Jake – kam ebenfalls aus der staatlichen Fürsorge. Sein Mentor Arnie Coel war ein guter Freund von mir«, erklärte er. »Von seinen Ermittlungen einmal abgesehen, hatte er ganz persönliche Gründe, sich für das Schicksal dieser Kinder zu interessieren.« Er seufzte. »Ich darf Ihnen nicht sagen, was in dieser Akte steht, so gerne ich das auch würde«, meinte er. »Aber zufälligerweise bin ich darüber informiert, dass Jessie Stones Kinderarzt noch immer praktiziert, 304
in New Jersey. Er steht kurz vor der Pensionierung, aber vielleicht ist er bereit, mit Ihnen zu sprechen. Eventuell können Sie ihn sogar dazu überreden, bei der Ärztekammer einen Antrag auf Herausgabe dieser Akte einzureichen. Da Jessie seine Patientin war, wäre er als Einziger dazu befugt.« Ich nickte. »Danke«, sagte ich. Ich war mir nicht sicher, ob mich das weiterbringen würde, aber es war vermutlich immer noch besser als gar nichts. »Sein Name ist Benjamin Jones. Ich gebe Ihnen die Telefonnummer seiner Privatpraxis.« Dann musste er schmunzeln. »Ist schon ein ziemlicher Zufall, dass Sie beide denselben Nachnamen haben. Aber wahrscheinlich passiert Ihnen das ständig.« Dr. Benjamin Jones. Mein Vater. Der Raum schien zu schwanken und sich zu verdunkeln. Ich hatte Angst, mich in Dr. Hausers Büro übergeben zu müssen. »Ja«, hauchte ich, ein falsches Lächeln im Gesicht. »Kommt ständig vor.«
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SECHSUNDZWANZIG
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ch lief nach draußen, so schnell ich konnte. Im Nachhinein ist mir klar, dass ich Dr. Hauser tausend Fragen hätte stellen müssen – eine echte Detektivin hätte nicht wie ich die Nerven verloren und das Weite gesucht –, aber ich wusste nicht, wie lange ich mein falsches Lächeln und das höfliche Nicken noch durchhalten würde. Ich fühlte mich, als wäre in meinem Kopf eine Sirene losgegangen, als liefe ich durch eins dieser Häuser auf dem Jahrmarkt, wo die Fußböden schwanken und kippen. Ich ging, sofort nachdem der Doktor mir die Telefonnummer gegeben hatte, fragte ihn nicht weiter nach Jake oder dem Rettungsprojekt. Ich riss die ramponierte Tür des Jeeps auf (sie ließ sich zum Glück noch öffnen und schließen, wenn auch nur mit Mühe), kletterte hinein und blieb eine Weile in der Kälte sitzen. Draußen wurde es inzwischen dunkel, und der leichte Schneefall war jetzt dichter geworden. Ich ließ den Motor an und überlegte, wohin ich jetzt fahren sollte. Ich fischte das Handy aus der Manteltasche und wählte. »Salvo.« Er hatte noch vor dem zweiten Klingeln abgenommen. Seine Stimme klang ruppig und müde, aber pflichtbewusst. »Hier ist Ridley Jones.« Ein Seufzen, dann Stille. »Sie haben ihn gewarnt. Und jetzt ist er abgetaucht.« Ich schwieg. Ich wollte mich nicht selbst belasten, aber ich hatte auch keine Lust mehr zu lügen. »Ist sein Auto immer noch beschlagnahmt?«, fragte ich stattdessen. Ich hatte Salvo unter anderem angerufen, um ihn das zu fragen. Ich musste wissen, ob Jake versucht hatte, mich umzubringen. 306
»Wie bitte?« »Der Firebird«, sagte ich. Es klang ein bisschen schnippisch, gereizt. »Ist er immer noch beschlagnahmt?« Er schwieg einen Moment. »Wir haben den Wagen nie beschlagnahmt, Ridley.« Mir wurde ganz bang zumute, und ich kämpfte gegen Tränen der Angst und Enttäuschung an. »Detective Salvo, ich stecke in Schwierigkeiten. Jemand hat versucht, mich umzubringen.« Meine eigene Stimme war mir fremd, so angespannt und hohl klang sie. Aber selbst jetzt kam es mir nicht über die Lippen. Ich brachte es nicht heraus: Ich glaube, Jake hat versucht, mich mit seinem Firebird von der Straße abzudrängen. »Kommen Sie auf die Wache. Ich kann Sie nicht beschützen, wenn ich nicht weiß, wo Sie sind.« Er hörte sich betroffen, aber ruhig und sanft an. Aber auch ihm vertraute ich nicht mehr. Vielleicht versuchte er, mich in eine Falle zu locken? »Ich muss herausfinden, was hier gespielt wird«, erklärte ich, wobei ich mir größte Mühe gab, einen gefassten und entschlossenen Eindruck zu machen. »Haben Sie sich mal um die Sache mit den vermissten Kindern gekümmert? Oder wollten Sie mich bloß beruhigen?« Ich hörte Papiergeraschel im Hintergrund. »Ich habe mich ein bisschen umgehört, aber nur, weil ich es versprochen hatte. Alle betreffenden Eltern sind tot … außer Marjorie Mathers, die Mutter von Brian. Sie sitzt im Frauengefängnis von Rahway eine lebenslängliche Haftstrafe wegen Mordes ab.« »Finden Sie das nicht komisch?« »Was? Dass alle Kinder entführt und nie gefunden wurden? So was passiert häufiger, als man glaubt. Traurig, aber wahr.« »Ja, schön. Aber dass dann die meisten der Eltern sterben?«
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»Nun ja, immerhin geht es hier um eine höchst gefährdete Bevölkerungsgruppe. Wissen Sie, diese Leute bringen sich durch ihr Leben und ihre Gewohnheiten selbst in Gefahr. Junkies zum Beispiel. Alkoholiker, die sich, ohne zu zögern, hinters Lenkrad setzen. Leute, die sich auf Schlägereien einlassen. Das sollten Sie sich klarmachen. Menschen wie Sie, Ridley, sind kaum gefährdet. Sie sind gesetzestreu – waren sie jedenfalls. Sie verhalten sich den Menschen in Ihrem Umfeld und auch sich selbst gegenüber verantwortlich. Aufgrund Ihrer Lebensentscheidungen gehen Sie ein weitaus geringeres Risiko ein, früh oder auf gewaltsame Weise zu sterben. Wenn Sie mal zu viel getrunken haben, bestellen Sie sich wahrscheinlich ein Taxi oder rufen eine Freundin an, statt sich ans Steuer zu setzen. Wenn Sie in so einem Augenblick die falsche Entscheidung treffen, hat das möglicherweise Ihren Tod und den dreier junger Mädchen zur Folge … oder auch nicht.« Entscheidungen. Da waren sie wieder – die Entscheidungen, die den Verlauf unseres Lebens beeinflussen. War es wirklich so einfach? Manche von uns sind weniger gefährdet, manche mehr? Manche treffen die richtigen, andere die falschen Entscheidungen? Und fühlen sich folglich glücklich oder unglücklich, gesund oder krank, geliebt oder ungeliebt? Ich fragte mich nur, auf welcher Grundlage diese Entscheidungen getroffen werden. Die offensichtliche Antwort lautet: Von unseren Eltern hängt es ab. Von den Menschen, die uns lieben oder nicht, die uns recht oder schlecht aufgezogen haben. Natürlich gab es noch andere Faktoren. Aber konnte man alles auf die Frage reduzieren, ob jemand uns genug geliebt hat, um uns beizubringen, wie man im Leben die richtigen Entscheidungen trifft? Nein. So einfach ist das Leben nicht. Nie. Schauen Sie sich doch einmal Ace und mich an. Wir wurden von denselben Menschen im selben Haus großgezogen. Mit völlig unterschiedlichen Resultaten; Ace und ich haben für unser Leben völlig 308
unterschiedliche Entscheidungen getroffen. Wie ich schon sagte, ist die Art, wie man erzogen wurde, von großer Bedeutung; aber sie ist nur ein Faktor unter vielen. Letztendlich machen uns aber nicht die großen und kleinen Ereignisse in unserem Leben zu dem, was wir sind – es kommt vielmehr auf unsere Reaktion an. In diesen Momenten haben wir Einfluss auf unser Schicksal. Davon bin ich überzeugt. »Was ist denn nun mit den Kindern? Sie hatten arme Eltern – hochgefährdet, wie sie sagen. Jeder, der diese Kinder hätte lieben können, ist tot. Niemand schert sich darum, was aus ihnen geworden ist. Aber macht ja nichts …« Ich hörte Detective Salvo am anderen Ende der Leitung seufzen. »Das alles ist dreißig Jahre her. Ich würde sagen, es gibt keine heißen Spuren mehr.« »Wenn jemand die Kinder geliebt hat, würde er – oder sie – sie dreißig Jahre später noch immer lieben.« »Jetzt hören Sie sich an wie Marjorie Mathers.« »Sie haben mit ihr gesprochen?« »Ich habe Ihnen doch gesagt, ich würde mich drum kümmern.« »Und?« Wieder ein tiefer Seufzer. Vielleicht rauchte er auch nur und blies den Qualm aus. »Sie hat behauptet, in jener Nacht seien zwei in Schwarz gekleidete, maskierte Männer in ihre Wohnung eingedrungen, um den Jungen zu entführen. Sie war überzeugt, ihr Mann hätte die Kerle angeheuert, weil sie sich wegen des Sorgerechts in den Haaren lagen. Sie hatte behauptet, er habe das Kind misshandelt, und auf das alleinige Sorgerecht geklagt. Und durchgesetzt, dass ihr Mann den Sohn nur unter Aufsicht sehen darf.« Er hielt inne und räusperte sich. Ich hörte, wie er erneut herumblätterte. 309
»Das Dumme war nur, dass sie die Polizei erst am nächsten Morgen verständigte. Hat damals behauptet, sie wäre durch irgendwelche Drogen bewusstlos geworden und erst am nächsten Tag wieder aufgewacht. Es gab dafür aber keine Beweise. Die Polizei hat ihr die Geschichte nicht abgenommen, sodass beide unter Verdacht standen, sie und ihr Mann. Und sie war nicht gerade glaubwürdig – hatte eine Vorgeschichte mit Depressionen und Selbstmordversuchen. Laut Polizeiprotokoll war sie vollkommen hysterisch.« Ich musste auflachen. »Wären Sie das nicht gewesen?« »Und dann erschoss sie ihren Mann ›aus Versehen‹ bei dem Versuch herauszufinden, was mit ihrem Jungen passiert war. Jedenfalls wurde sie wegen Mordes verurteilt. Die Jury hat ihr die Geschichte nicht abgekauft. Und das war’s dann.« »Brian ging zum zweiten Mal verloren.« »Tja, wahrscheinlich haben Sie Recht. Der Prozess zog sich über ein Jahr hin. Aus den Akten ersehe ich, dass Berufung eingelegt wurde.« »Was offensichtlich nicht viel genutzt hat«, entgegnete ich. »Was hat sie gesagt, als Sie mit ihr geredet haben?« »Sie ist ein bisschen durchgeknallt«, sagte Salvo unfreundlich. »Ich habe mit ihr telefoniert. Sie hält jedenfalls an ihrer Version fest. Sie behauptet, es verginge kein Tag, an dem sie nicht um ihren kleinen Sohn weint. Sie schwört, er sei noch am Leben.« »Ich möchte Sie was fragen. Hat sie einen Privatdetektiv erwähnt, der sie vor einiger Zeit besucht hat?« Der Detective schwieg einen Moment. »Ja, hat sie. Woher wissen Sie das?« »Seit ich diese Spur verfolge, hat es noch keinen Ort gegeben, an dem er nicht schon vor mir gewesen wäre.« »Harley Jacobsen?«, fragte er. Ich antwortete nicht. 310
»Was schließen Sie daraus?«, fragte er. Ich gab keine Antwort. Das letzte Licht war vom Himmel verschwunden, und ich saß im Dunkeln. Die Luft aus der Klimaanlage war bestenfalls lauwarm. Das Auto würde sich erst beim Fahren aufheizen. Die Armaturen leuchteten in Orange und Grün. Ich hatte das Radio leise gestellt, dennoch drang Stimmengemurmel aus den Lautsprechern. »Na ja, ich schließe etwas daraus«, fuhr er schließlich fort. »Ich schließe daraus, dass Sie das Ende der Spur sind, Ridley. Dass er auf diesem Weg auf Sie aufmerksam wurde und Sie nun für seine Zwecke benutzt.« Die Worte trafen mich bis ins Mark. An diese Möglichkeit hatte ich noch nie gedacht. Plötzlich erschien sie logisch. Logisch wie ein Tritt in den Magen. Ich dachte daran, wie Jake an jenem Abend vor meiner Tür stand, just nachdem ich Post von Christian Luna bekommen hatte. Ich dachte an die Einladung vor meiner Tür, den Wein und die schriftliche Entschuldigung. Und daran, wie ich ihm an unserem ersten Abend alles erzählt hatte. An den Mann im Treppenhaus. An den zweiten Brief und den Zeitungsausschnitt, den Jake so schnell zuordnen konnte. Sie haben gelogen. Das hatte auf dem Zettel gestanden, und ich hatte mich gefragt, wie jemand wissen konnte, was meine Eltern zu mir gesagt hatten. Jake wusste Bescheid, weil ich es ihm erzählt hatte. Ich dachte an Christian Luna. Den hatte es wirklich gegeben, so viel wusste ich; aber wer hatte ihn ermordet? Jake? Warum? Wozu hätte er so etwas tun sollen? Aus welchem Grund hätte er mich auf Christian Lunas Spur bringen und ihn dann töten sollen? Es ergab keinen Sinn. »Was sind denn seine Zwecke?«, murmelte ich. Ich hatte eher laut gedacht als wirklich gefragt. »Das weiß ich nicht, Ridley«, erwiderte Detective Salvo, und ich schreckte auf. Ich hatte ganz vergessen, dass ich mit ihm 311
telefonierte. »Aber lassen Sie mich Ihnen helfen, okay? Kommen Sie einfach her, dann finden wir schon eine Lösung.« Gus Salvo war ein netter Mann, ein guter Polizist, und obwohl ich nicht an seiner ehrlichen Absicht, mir zu helfen, zweifelte, sagte mir mein Instinkt, dass er dazu nicht in der Lage wäre. Dass ich, wollte ich die Wahrheit herausfinden, auf mich selbst gestellt wäre. Ich trieb in einem Ozean aus Lügen, und allein mein Instinkt bewahrte mich vor dem Ertrinken. Deswegen beendete ich das Gespräch mit Detective Salvo ohne ein weiteres Wort und verließ den Klinikparkplatz. In meinem zerbeulten Jeep fuhr ich in die Stadt zurück. Während der ganzen Fahrt hielt ich nervös nach dem Firebird oder nach Streifenwagen Ausschau. Ich brachte den Jeep zu der Annahmestelle, die nach Geschäftsschluss zuständig war, und ließ Schlüssel und Fahrzeugpapiere im Getränkehalter liegen. Ich wollte gerade gehen, als die Angestellte, eine junge schwarze Frau mit glatt frisiertem Haar, strassverzierten rot und lila lackierten Fingernägeln und den größten Goldkreolen, die ich jemals in meinem Leben gesehen hatte, mich anstarrte, als hätte ich den Verstand verloren. »Das werden Sie bezahlen müssen«, rief sie. »Dieses Auto ist beschädigt.« Sie griff nach den Unterlagen des Jeeps und begann, die kleine Autoabbildung mit einem roten Stift zu bearbeiten. »Das geht schon in Ordnung. Sie haben alle meine persönlichen Daten«, sagte ich. Es war mir vollkommen egal. Früher hätte ich schon wegen eines Brandlochs auf einem Fahrersitz ein schlechtes Gewissen gehabt. Aber plötzlich schien das sehr, sehr lange her, wie aus dem Leben einer ganz anderen Ridley. Im Moment wollte ich mich einfach nur noch hinlegen. Ich lief zu Fuß zu meinem Hotel am Washington Square, das nicht weit von der Autovermietung entfernt war. 312
Ich betrat die schummrige Lobby, fuhr mit dem winzigen Aufzug nach oben und stieg in der zweiten Etage aus. Es roch nach Schimmel und Mottenkugeln, obwohl das Hotel einen frisch renovierten Eindruck machte. Ich schloss die Tür zu meinem Zimmer auf und ließ mich auf die harte Matratze mit der kratzigen Decke fallen. Mein Kopf war vollkommen leer, mein Körper taub. Dann fiel ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
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SIEBENUNDZWANZIG
C
arl Gustav Jung glaubte an einen Schatten, an die dunkle Seite im Menschen, die wir zu verbergen suchen. Aber er war der Ansicht, wir könnten diese Seite nicht verleugnen; je mehr wir uns bemühen, sie zu verstecken und zu ignorieren, desto beharrlicher würde die Welt daran arbeiten, sie ans Tageslicht zu bringen. Jung behauptete, unser Schatten sehne sich vor allem danach, erkannt und angenommen zu werden. Erst wenn wir unserem Schatten vergeben, könnten wir zu einer wirklich intakten, wirklich freien Persönlichkeit werden. Ich schreckte in meinem Hotelbett auf. Ich brauchte einige Sekunden, um mich zu orientieren, dann weitere, um alle Ereignisse der letzten Tage wie einen hässlichen Film an mir vorüberziehen zu lassen. Ich knipste die Lampe neben dem Bett an und erwartete fast, Jake in dem Sessel am Fenster zu sehen. Aber da war niemand. Ich war allein. Ich erlaubte mir zum ersten Mal, seit ich Dr. Hausers Praxis verlassen hatte, über seine Worte nachzudenken. Mein Vater war Jessie Amelia Stones Kinderarzt gewesen. Er kannte sie. Konnte das ein Zufall sein? C. G. Jung würde sagen, dass es keine Zufälle gibt, nur Synchronizität. Die Kräfte im Universum wirken darauf hin, uns unsere Schatten bewusst zu machen. In dem Moment, als ich ohne jede Aussicht auf Trost in einem völlig sterilen Raum lag, war ich plötzlich dem ausgesetzt, was ich auf unbewusster Ebene wohl immer schon geahnt hatte: dass mein Leben bis zu dem Tag, als ich Post von Christian Luna bekam, eine Aneinanderreihung von schönen Lügen war. Schöne Lügen, die mich glücklich gemacht und mir ein gutes Leben ermöglicht hatten, Lügen, die mir zweifellos aus Liebe erzählt worden waren. Und trotzdem Lügen blieben.
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Ich hatte das Puzzle noch nicht ganz zusammengesetzt, das Warum, Wie und Wer hinter den Vorgängen. Aber ich begriff, dass Ridley Jones in der Nacht zur Welt gekommen war, in der Teresa Stone in ihrer Wohnung ermordet wurde. Und dass meine Eltern (als die ich sie natürlich immer noch betrachtete) davon gewusst haben müssen. Sie hatten beschlossen, die Tatsache um jeden Preis vor mir geheim zu halten, und sie hatten mich bei drei verschiedenen Gelegenheiten belogen. Ich begriff auch, dass es noch jemanden gab, der ein ebenso starkes Interesse an meinem Nichtwissen hatte; stark genug, um mir zu folgen, Christian Luna umzubringen und mich von der Straße abzudrängen, damit ich meine Suche nach der Wahrheit abbrach. Wie ich darauf kam? Weil ich meine Eltern kannte. Sie hatten Fehler und Mängel, sie lebten inmitten von Lügen und Halbwahrheiten, aber sie liebten mich, das wusste ich, und sie würden lieber sterben, als mich unglücklich sehen. Was immer sie zu verbergen hatten, nie im Leben würden sie mich opfern, um ihr Geheimnis zu bewahren. Ich schwebte tatsächlich in Gefahr, und die einzige Fluchtmöglichkeit bestand darin, mich wieder in meine schönen Lügen einzuhüllen, so zu tun, als wäre all das niemals passiert und nur ein schlechter Traum gewesen. Aber das kam natürlich nicht mehr in Frage. Hat man den Pfad der Selbsterkenntnis einmal betreten, gibt es kein Zurück, egal, wie gefährlich er auch sein mag. Und wie passte Jake da hinein? War er Freund oder Feind, Geliebter oder Mörder? Ich wusste es nicht. Er hatte mich belogen, ja. Ich war sicher, dass er über meine Identität Bescheid wusste, noch bevor wir uns trafen. Und je länger ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich davon, dass er mir den zweiten Umschlag geschickt hatte. Den ersten hatte ich von Christian Luna bekommen, den zweiten von Jake. Dennoch konnte ich nicht vergessen, wie er mich angesehen, wie er mich gehalten und geliebt hatte. Ich konnte nicht vergessen, wie er mir seine schreckliche Vergangenheit offenbart und sich mir 315
gegenüber verletzlich gemacht hatte. Trotz all der Lügen gab es da etwas Wahrhaftiges. Und dennoch konnte ich nicht sicher sein, ihn jemals wiederzusehen. Vielleicht war er für immer verschwunden. Gegen zwei Uhr morgens verließ ich mein Hotelzimmer. Zu dieser Stunde liegt Ruhe über der Stadt. Es war, als hielte sie den Atem an, und trotzdem wirkte sie rastlos. Oder lag das nur an mir? Als ich an einem auch nachts geöffneten Restaurant vorbeikam, stieg mir der Duft von Speck und Kaffee in die Nase. Ich roch Holz, das jemand in seinem Kamin verbrannte. Die Luft war kühl, und ein leiser Wind kroch in meinen Kragen. Ich fühlte mich hundemüde und erschöpft. Ich stieg die Vortreppe empor und drückte auf die Klingel. Einmal. Zweimal. Dreimal. »Hallo?« Eine müde, alarmierte Stimme. »Ich bin’s. Ridley.« »Du meine Güte«, sagte er und drückte auf den Türöffner, um mich einzulassen. Ich wartete auf den Aufzug. Ich wollte den einzigen Menschen sehen, der mich und meine Eltern kannte. Der einzige Mensch, der vielleicht Antworten für mich hätte. Zachary. Er erwartete mich an der Tür zu seiner Wohnung. Er trug Boxershorts und ein Sweatshirt mit dem Logo der Rutgers University. Sein blondes Haar war zerzaust, das Gesicht vom Schlaf zerknautscht. Er nahm mich in den Arm, was ich mir gefallen ließ, ohne jedoch seine Umarmung zu erwidern. Es war schön, gedrückt zu werden, und sei es auch nur von ihm. Er führte mich hinein und nahm mir meinen Mantel ab. Er machte mir einen Tee und setzte sich dann schweigend neben mich aufs Sofa. Dann fragte er: »Ridley, willst du mir nicht endlich sagen, was los ist?« Seine Stimme war sanft, sein Blick sorgenvoll. Ich erinnerte mich daran, wie ruppig ich bei unserer letzten Begegnung mit ihm umgesprungen war und schämte mich (na ja, 316
eigentlich nicht, schließlich hatte er sich gründlich danebenbenommen). Mittlerweile dürften Sie wissen, wie gern ich mein Herz ausschütte. Ich überschlug mich förmlich beim Erzählen meiner Geschichte, berichtete Zachary außer Einzelheiten über Jake alles. Ich wollte ihn nicht noch mehr verletzen, als ich es ohnehin schon getan hatte. Als ich fertig war, lehnte er sich kopfschüttelnd zurück. »Mann. Du bist ja wie durch den Fleischwolf gedreht.« Tröstend legte er eine Hand auf meine Schulter. Ich hatte meine Schuhe ausgezogen und hockte im Schneidersitz neben ihm. Ich fand es angenehm, in einer vertrauten und gemütlichen Umgebung zu sitzen, die mich nichts anging. Die Ledercouch, der Großbildfernseher, die überall verstreuten KnicksFanartikel, die Bar mit Zacks Bierdosensammlung. »Ja«, gab ich zu. »Die letzte Zeit war ziemlich anstrengend.« »Hör mal«, sagte er. »Warum legst du dich nicht ins Bett und versuchst, ein wenig zu schlafen? Ich bleibe hier auf dem Sofa. Und morgen früh, wenn du ausgeschlafen bist, lässt du dir alles noch einmal durch den Kopf gehen. Ich bin sicher, die Sache sieht ganz anders aus, wenn du ausgeruht bist.« »Was?«, fragte ich. »Nein, Zachary, ich kann jetzt nicht schlafen. Ich will Antworten. Deswegen bin ich gekommen.« Er warf mir wieder diesen besorgten Blick zu, aber anstatt mich getröstet zu fühlen, bekam ich Lust, ihn zu ohrfeigen. Plötzlich wirkte er nicht besorgt, sondern herablassend. Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf die Knie und faltete die Hände. Ich wusste, jetzt würde er mir einen Vortrag halten. »Rid, ich möchte, dass du einmal kurz über etwas nachdenkst.« »Über was denn?«
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»Ich weiß, dass aufreibende Tage hinter dir liegen, aber ich möchte, dass du kurz innehältst und dich fragst, ob das Ganze überhaupt vernünftig erscheint.« »Vernünftig?« »Ja. Ist dir schon einmal in den Sinn gekommen, das alles könnte ein Haufen Mist sein? Dass dieser Psychopath, der alles losgetreten hat, dich angelogen hat, genauso wie dein ›Freund‹ Jake? Dass das Ganze bloß eine Art Masche ist?« Ich fand den Vorschlag lächerlich und wunderte mich, dass Zack überhaupt auf so etwas kam. »Eine Masche? Wem sollte das denn nützen? Hast du mir überhaupt zugehört?« »Ja, habe ich«, sagte er. »Hast du dir selbst zugehört?« Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Er glaubte mir nicht. »Ich meine, wie kommst du darauf, diesen vollkommen fremden Leuten mehr zu glauben als deinem eigenen Vater?«, wollte er wissen. »Zack, ich habe dir eben erzählt, dass mein Vater Jessie Stones Kinderarzt war.« Er zuckte die Achseln. »Na und? Dein Vater hat schon im Krankenhaus gearbeitet, als du noch gar nicht geboren warst. Wahrscheinlich hat er Tausende von Kindern behandelt. Und ja, vermutlich sind einige von denen verschwunden oder an Krankheiten, Vernachlässigung oder Misshandlungen gestorben. Was noch lange nicht heißt, dass er etwas damit zu tun hat.« Ich starrte Zack an. Ein Schleier der Verwirrung legte sich über meine Gedanken. Zog man die Zwischenfälle der letzten Tage grundsätzlich in Zweifel, so ließ sich jeder einzelne von ihnen als Teil einer komplexen Lüge, eines Plans erklären, mich in meiner Identität zu verunsichern. Ich stellte es mir einen Moment lang vor, so wie man von einem Lottogewinn oder einem Leben in der Karibik träumt. Hier, in der Wärme und Geborgenheit von Zacharys Wohnung, hätte ich es fast geglaubt. 318
Es wäre so einfach gewesen, mir von ihm einreden zu lassen, ich wäre betrogen und manipuliert worden und leide unter einer Art Geistesverwirrung. Ich könnte eine »Auszeit« auf dem Land nehmen, in einer dieser schönen Einrichtungen, und mich von meinem Nervenzusammenbruch erholen. Und nach meiner Entlassung könnte ich Zack heiraten und Kinder kriegen, und wir alle wären wieder eine große, glückliche Familie. Niemand würde ein Wort über Ridleys kleine »Phase« verlieren. Ich streckte mich auf der Couch aus, machte die Augen zu und versuchte, mich mit dem Gedanken vertraut zu machen. Wäre es möglich? Immerhin hatte ich auf die Frage nach dem Warum noch keine Antwort. Warum sollte irgendjemand mich so verunsichern wollen? Selbst Ace, der vielleicht Grund hatte, mich zu hassen, und der von einer irrationalen Eifersucht geplagt wurde – was hätte er davon? Zack legte seine Hand beruhigend auf meine Stirn. Ich öffnete die Augen und sah ihn an. Er lächelte erleichtert. »Ruh dich aus«, sagte er. »Morgen früh sieht alles anders aus.« Er griff nach der großen Kuscheldecke mit Knicks-Motiv, die ich ihm letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt hatte, und deckte mich zu. Während ich dalag und er sich um mich kümmerte, konnte ich es mir beinahe vorstellen. Er würde eine Weile neben mir sitzen, bis ich eingeschlafen wäre, und dann nach nebenan gehen und meine Eltern anrufen. Er würde ihnen sagen, dass alles in Ordnung sei und er sich um mich kümmere. Nichts wäre leichter, nichts wäre naheliegender für mich gewesen. »Erzähl mir etwas über Project Rescue«, sagte ich. Der Ausdruck der Erleichterung verschwand aus seinem Gesicht, er lächelte nicht mehr. Plötzlich wirkte er verärgert. »Ridley, du solltest damit abschließen«, meinte er. »Du darfst jemandem wie Christian Luna nicht mehr Glauben schenken als deinem Vater.« 319
Zu jedem anderen Zeitpunkt in meinem Leben wäre es mir vielleicht entgangen. Es wäre einfach durchgerutscht. Aber diese Ridley gab es nicht mehr. Ich lächelte Zachary an. Wahrscheinlich mit einem wütenden und zugleich traurigen Lächeln, denn genau so fühlte ich mich. Ich setzte mich auf und stieß die Decke weg. »Ich habe seinen Namen nie erwähnt«, sagte ich leise. »Wie bitte?« »Christian Luna. Ich habe seinen Namen nie erwähnt.« »Doch, hast du«, widersprach er und warf mir einen betrübten Blick zu. Nein, hatte ich nicht, da war ich mir sicher. Ich hatte den Namen aus unerklärlichen Gründen sogar bewusst verschwiegen. Zachary konnte jetzt ruhig so tun, als hielte er mich für verrückt; ich wusste, dass ich bei Verstand war. »Bitte, Ridley.« Als ich Zachary in dem Moment ansah, begriff ich, dass ich ihn nicht nur deswegen verlassen hatte, weil ich frei sein wollte oder ihn nicht genug liebte. Er hatte etwas an sich, das ich instinktiv gespürt, etwas, das mich unbewusst gestört hatte. Als er sich an jenem Tag Zutritt zu meiner Wohnung verschafft hatte, konnte ich einen kurzen Blick darauf erhaschen. Jetzt fühlte ich es ganz deutlich, auch wenn ich es noch nicht benennen konnte. Ich erhob mich langsam und griff nach meinem Mantel. Er stand neben mir, und als ich ihm noch einmal ins Gesicht schaute, erkannte ich ihn nicht wieder. »Wenn du jetzt gehst, werde ich für das, was dir passiert, keine Verantwortung übernehmen.« Seine Stimme klang brüchig, aber sein Blick war stumpf und kalt. »Was verbirgt sich hinter dem ›Rettungsprojekt‹, Zack?«, fragte ich mit zitternder Stimme. Plötzlich hatte ich Angst vor
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ihm. Körperliche Angst. Rückwärts bewegte ich mich auf die Tür zu. Auch er hatte die Angst in meiner Stimme bemerkt und wirkte überrascht, so als hätte ich ihn geohrfeigt. Und für einen Moment verwandelte er sich wieder in den Mann, den ich geliebt hatte. »Rid, bitte, sieh mich nicht so an. Ich könnte dir niemals wehtun, das weißt du doch.« Ich konnte keine Lügengesichter mehr ertragen, keine Masken mehr. »Was ist damit?« Inzwischen kreischte ich. »Beruhige dich. Hör auf zu schreien«, flehte er mich an. »Project Rescue ist genau das, als was dein Vater es beschrieben hat. Die Organisation bietet verängstigten Müttern eine Alternative dazu an, ihr Baby auf der Straße auszusetzen. Mehr nicht.« »Du lügst.« »Nein. Ich sage die Wahrheit.« Ich schwieg. Er seufzte und ließ sich wieder auf die Couch fallen. »Das öffentliche Fürsorgesystem hat nicht immer so gut funktioniert wie heute. Mit welchen Fehlern es auch behaftet war, im Zweifelsfall entscheidet es sich zum Wohl des Kindes. In den Siebzigern sah das anders aus. Es war fast unmöglich, misshandelte Kinder aus ihren Familien rauszuholen. Einige Kinderärzte mussten sozusagen aus der ersten Reihe mit ansehen, wie ein Kind systematisch vernachlässigt und misshandelt wurde, manchmal bis zum Tod. Und dem Arzt waren die Hände gebunden.« »Was willst du damit sagen?«, fragte ich. Aber langsam begriff ich. Langsam konnte ich mir ein Bild von dem Puzzleteil machen, das mir während des Gesprächs mit meinem Vater gefehlt hatte. »Ich will sagen, dass manche Menschen nicht länger 321
dabeistehen und zusehen wollten. Sie haben es nicht mehr ertragen.« »Leute wie mein Vater und Onkel Max.« »Und noch andere. Meine Mutter, zum Beispiel«, sagte er und sah mir direkt in die Augen. Ich erinnerte mich an Esmes Worte. Ich hätte für diesen Mann alles getan. Plötzlich bekamen sie eine neue Bedeutung. Ich fragte mich, was sie alles für Max getan hatte. »Zack, das reicht.« Ich hörte die Stimme und fuhr herum. Vor mir stand Esme in einem rosafarbenen Pyjama mit passendem Morgenmantel. Mir fiel ein, dass sie manchmal, wenn sie spät aus der Klinik kam, auf dem Futon in Zacks Arbeitszimmer schlief. Ich hatte unsere Abende zu dritt geliebt; wir hatten zusammen gekocht, einen Film angesehen und Popcorn gemacht. »Ridley«, sagte sie sanft. »Schätzchen, du begehst einen schrecklichen Fehler.« Ich starrte sie an. »Welchen denn?« »Die Vergangenheit auf diese Weise ans Licht zu zerren. Das ist nicht gut, für niemanden von uns.« »Ich habe nichts ans Licht gezerrt. Alles kommt von ganz allein raus.« Sie schüttelte den Kopf und schien etwas sagen zu wollen, ließ es dann aber doch bleiben. »Weißt du, wer ich bin, Esme?« »Und ob ich das weiß, Ridley. Ich weiß, wer du bist. Die Frage ist nur: Warum weißt du es nicht?« Sie hatte ein freundliches Lächeln aufgesetzt, aber ich sah die Angst in ihren Augen. Ich warf einen Blick zu Zack hinüber in der Hoffnung, in seinem Gesicht etwas Vertrautes zu entdecken. Er war bleich, und in seinen Augen blitzten Wut und noch etwas anderes. Nach den Jahren an seiner Seite war mir dieser 322
Ausdruck bekannt, er hatte sich aber nie auf mich bezogen; ich hatte ihn nur gesehen, wenn er über einige der Patienten aus der städtischen Klinik sprach, in der er einmal pro Woche zusammen mit meinem Vater arbeitete. Normalerweise tauchte der Blick mit einem Kommentar auf wie: »Manche Leute haben es einfach nicht verdient, Eltern zu sein.« Ich hatte das stets mit Hingabe verwechselt, Hingabe an seine Arbeit, Liebe zu Kindern und Traurigkeit darüber, dass so viele von ihnen einfach durch das Raster fielen. Aber jetzt erkannte ich es als das, was es war: ein Urteil, ein Mangel an Mitgefühl, Arroganz. »Wärst du bei mir geblieben, nichts von alldem wäre je passiert«, sagte er gereizt. »Du hättest dich mit nichts von dem auseinandersetzen müssen.« Natürlich hatte er Recht. Wäre ich bei ihm geblieben, wäre ich an jenem Morgen in seinem oder er in meinem Bett aufgewacht. Ich hätte meine Wohnung nicht verlassen müssen, um ihn zu sehen. Die Wahrscheinlichkeit, im entscheidenden Moment an jener Straßenecke zu stehen, wäre gegen null gegangen. Aber wer weiß, vielleicht war es für meinen Schatten an der Zeit, sich zu zeigen, und nichts hätte ihn aufhalten können. Vielleicht waren all die großen und kleinen Entscheidungen, die ich im Lauf meines Lebens getroffen hatte und denen ich solche Bedeutung beimaß, in Wahrheit gar keine Entscheidungen. Vielleicht hatte mir mein Schatten den richtigen Weg zu mir selbst ins Ohr geflüstert, den Weg zu Wahrheit und Erfüllung. »Richtig, Zack. Vielleicht hätte ich mein ganzes Leben lang niemals erfahren, wer ich eigentlich bin.« »War es denn so schlecht … dein Leben?«, fragte Esme. In ihrer Stimme schwang fast so etwas wie Verbitterung mit. »Hast du jemals über die Alternative nachgedacht?« Ich musterte sie. Sie war so klein, fast zierlich. Aber aus ihren Augen blitzte Zorn. »Wie hätte ich das tun sollen? Ich wusste nicht einmal, dass es eine Alternative gibt.« 323
Sie lachte auf. »Tja, dann weißt du’s jetzt. Zufrieden?« Ich drehte mich um und rannte aus der Wohnung. »Ridley«, rief Zack mir mit verzweifelter Stimme nach, »du bist da draußen nicht sicher.« Ich wusste nicht, wohin. Aber ich rannte. Nicht die Stärksten überleben oder die Intelligentesten, sondern jene, die sich am schnellsten Veränderungen anpassen. Ich weiß nicht mehr, von wem dieser Satz stammt, aber mir kam er immer unglaublich scharfsinnig vor. Er ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich rannte ein paar Blocks weit, bis ich Seitenstechen und einen Krampf in den Beinen bekam. Humpelnd lief ich weiter und hielt mir dabei die schmerzenden Seiten. Lieben Sie nicht auch diese Filme, in denen ganz normale Leute kilometerweit rennen, am Ende von Sackgassen die höchsten Maschendrahtzäune erklimmen und auf fahrende Autos aufspringen? Zu derartigen Meisterleistungen war ich nicht mehr in der Lage. Ich konnte mich nicht einmal erinnern, wann ich das letzte Mal Sport getrieben hatte. Hätte mich in dem Moment irgendjemand verfolgt, ich wäre eine ziemlich leichte Beute gewesen. Ich schaute mich ständig um, immer auf der Hut vor dem Firebird oder dem Skinhead. Zack hatte gesagt, ich sei nicht länger sicher, und ich hatte allen Grund, ihm zu glauben. Ich lief schnell, aber ohne Ziel. Ich konnte nicht nach Hause. Ich konnte nicht zurück in das trostlose, einsame Hotelzimmer. Ich konnte nicht zu meinen Eltern. Also ging ich immer weiter. Ich war angeknackst. Beschädigt, aber nicht zerstört. In meinem Kopf schwirrten unzusammenhängende Gedanken und Fragen herum, aber ich war noch bei Verstand. Durch die erwachende Stadt lief ich in Richtung Osten. Der Himmel war nicht mehr schwarz, sondern samtig blau. Ich lief zu Jakes Atelier, aber die Tür war verschlossen. Ich drückte auf die Klingel und wusste im selben Moment, dass es keinen Sinn hatte. Er war nicht da, vielleicht für immer verschwunden. 324
Wahrscheinlich war es besser so, hatte er doch möglicherweise versucht, mich umzubringen. Bis Sonnenaufgang war es mindestens noch eine Stunde, aber der Berufsverkehr hatte schon eingesetzt. Ich ging an einem Mann vorbei, der einen Kaffeewagen durch die Straße zog. Ich durchquerte das zu dieser frühen Stunde bereits geschäftige Chinatown, wo schon einzelne Fischstände öffneten und in den Läden die Neonlichter angingen. In der Chambers Street entstiegen die ersten Anwälte und Richter ihren geparkten Limousinen der Marke Lincoln, um schnellen Schrittes in die riesigen, schmutzig weißen Gerichtsgebäude zu eilen. Ich war so müde wie noch nie zuvor in meinem Leben, aber ich ging weiter. Ich dachte an alte Filme über die Mount-EverestBesteigungen, die ich einmal gesehen hatte; die Leute befinden sich bei zweistelligen Minusgraden achttausend oder mehr Meter über dem Meeresspiegel und kriegen kaum genug Sauerstoff, aber sie laufen weiter. Setzen immer einen Fuß vor den anderen, denn wenn sie anhalten, müssen sie sterben. So einfach ist das. Ich weiß nicht, ob es bei mir auch so einfach war, aber ich spürte, dass ich in Bewegung bleiben müsste, um nicht vom Gewicht meiner Gedanken und Ängste erdrückt zu werden. Schließlich stand ich am Beginn des Fußgängerwegs über die Brooklyn Bridge. Ich stieg die Holzstufen hinauf. Falls ich es bis auf die andere Seite schaffte, könnte ich mir dort ein Hotel suchen. Vielleicht würde ich die nächsten anderthalb Wochen durchschlafen. Oder einfach immer weiterlaufen, bis ich vom Rand der Erde herunterfiele. Ich würde gern von mir behaupten, ich hätte immer gewusst, dass mit meinem Leben etwas nicht stimmt – aber das kann ich nicht. Trotzdem war da immer ein unbestimmtes Gefühl gewesen: War es denn so schlecht, dein Leben? Hast du jemals über die Alternative nachgedacht?, hatte Esme mich gefragt. Wie Sie bereits wissen, brauche ich nur die Augen zu schließen, und schon ist meine Kindheit mit all ihren Gerüchen und 325
Gefühlen wieder präsent. Keine einzelnen Erinnerungen, sondern so etwas wie ein Erinnerungsextrakt. Johnson’s Babyshampoo und verbranntes Toastbrot, Geburtstagsfeiern und gemähter Rasen, brennende Holzscheite im Kamin und Weihnachtsbäume. Ich wurde geliebt. Ich wuchs mit einem Gefühl der Sicherheit auf und in der Gewissheit, niemals Hunger leiden zu müssen. Ich hatte zu Hause niemals Angst. Gab es da Dinge, von denen ich nichts wusste oder die ich ignorierte? Ganz offensichtlich. Trotzdem verlebte ich eine gute amerikanische Vorstadtkindheit mit Minivans und Footballspielen. Nach allem, was ich wusste, hätte die Alternative wohl schlechter ausgesehen. Vielleicht hätte mein Vater mich geschlagen, meine Mutter Angst vor ihm gehabt, weil er sie schlecht behandelte. Wer kann schon sagen, was aus mir geworden wäre, hätte Teresa Elizabeth Stone mich als Jessie großgezogen? Ich würde es nie erfahren, und ich konnte nicht sagen, dass mir das leidgetan hätte. Aber es war noch lange keine Rechtfertigung für das, was passiert war. Jemand hatte Teresa Stone ermordet und ihr Kind entführt, und ich gehöre nicht zu den Leuten, für die der Zweck alle Mittel heiligt. »Hey.« Ich wirbelte herum und sah ihn dicht hinter mir stehen. »Du kannst nicht ewig davonrennen«, sagte er. »Irgendwann wirst du stehen bleiben und dich mit deinem Leben auseinandersetzen müssen.« Bei seinem Anblick wurde ich von einer Gefühlswelle erfasst – diese fatale Mischung aus Liebe, Wut und Angst, in der ich beinahe ertrank. »Und du willst mir wahrscheinlich dabei helfen?«, fragte ich, ohne das Zittern in meiner Stimme unterdrücken zu können. Er nickte langsam. »Falls du bereit bist, die Wahrheit zu hören.«
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ACHTUNDZWANZIG
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u erkennst die Ironie meiner Lage wohl nicht«, sagte ich und wich einen Schritt vor Jake zurück. Ich hasste meine Stimme und meine Hände dafür, dass sie mit ihrem Zittern meinen Gefühlszustand verrieten. Jake sah mich bloß an und schwieg. Der Himmel hellte sich auf, und der Autoverkehr erwachte zum Leben. Die Luft war vom Zischen der Reifen auf dem Asphalt erfüllt, das ab und zu vom schrillen Klang einer Hupe zerrissen wurde. Jake stand ganz still, wie vor einem Vogel, den er nicht erschrecken wollte. Und ich war zum Wegfliegen bereit. »Ich weiß alles«, sagte ich, straffte mich und sah ihm direkt in die Augen. »Nein«, sagte er mit einem bedächtigen Kopfschütteln, »nein, weißt du nicht.« In der Sekunde sah ich in ihm all jene vereint, die mich in meinem Leben jemals belogen haben. Ich wollte auf ihn losgehen, ihn schlagen, mit meiner Wut und Trauer ein Loch in die Welt reißen und ihn hineinstoßen. Erstaunlicherweise gelang es mir, mich noch eine Weile zurückzuhalten. »Ich weiß, dass du nicht zufälligerweise ins selbe Haus gezogen bist wie ich. Ich weiß, dass du einer langen Spur gefolgt bist, die dich irgendwann irgendwie zu mir führte. Ich weiß, dass du mir den zweiten Umschlag geschickt hast.« »Ridley.« Es hörte sich an wie ein Gebet. »Bleib, wo du bist«, sagte ich. Kernschmelze. Das Zucken der Hände ging auf meinen gesamten Körper über, bis ich unkontrolliert zitterte. »Komm keinen Schritt näher.« »Ich würde dir niemals etwas antun.«
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Ich stieß ein kurzes, schrilles Lachen aus, das selbst in meinen Ohren ein wenig hysterisch klang. »Weißt du«, sagte ich, wobei meine Stimme ein paar Oktaven nach oben kletterte, »das habe ich heute Abend schon mal irgendwo gehört. Ich werde das Gefühl nicht los, dass ein ernstes Problem vorliegt, wenn ein Mensch Beschwichtigungen dieser Art ausspricht.« Er erbleichte und sah plötzlich müde aus. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Das irre Lachen schüttelte mich wieder. Es schien nicht von mir zu kommen. Es klang hart und fremd. »Du bist so ein verdammter Lügner. Du hast uns gestern beinahe umgebracht. Was hast du dir dabei gedacht?« Ich schrie und sah mich dabei um. In New York City ist man nie allein, immer ist irgendwer in der Nähe. Außer man hat Angst; in diesem Fall scheint die Stadt sich in den verlassensten Ort der Welt zu verwandeln. Niemand sonst befand sich auf der Brücke. »Wovon redest du?« Er klang überzeugend, das muss ich ihm lassen. »Das Auto!«, schrie ich. Mein Hals wurde langsam wund. »Dein verdammter Firebird. Hast du am Steuer gesessen, hast du mich fast in einen Frontalzusammenstoß reingedrängt?« »Wie bitte?« Entsetzt schüttelte er den Kopf. »Nein. Mein Gott, Ridley, ist alles in Ordnung?« Er machte einen Schritt vor und ich einen zurück, als würden wir tanzen. Ich war mir nie sicher gewesen, ob er den Wagen wirklich gefahren hatte, erinnern Sie sich? Um die Wahrheit zu sagen, auf emotionaler Ebene hatte ich es beinahe ausgeschlossen. Aber in jenem Augenblick, als sich die Sonne über die Brooklyn Bridge erhob und den neuen Tag ankündigte, hatte ich kein Vertrauen mehr in das, was ich vor fünf Minuten, vor einem Tag, vor dreißig Jahren gefühlt, gesehen oder erzählt bekommen hatte. Ich konnte nur noch in der Gegenwart handeln und war gleichermaßen wütend und verängstigt. 328
»Hör mal«, sagte er langsam, »der Firebird ist weg. Er wurde gestohlen.« Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Hältst du mich für bescheuert, Jake? Du hast mir selbst erzählt, er wäre beschlagnahmt worden, aber ich weiß ganz sicher, dass das nicht stimmt.« Ein vom Wasser kommender kalter Windstoß blies meinen Mantel auf. Ich schlug ihn enger um den Körper. »Okay«, beschwichtigte er mich und hob die Hand. »Ich weiß, was ich dir gesagt habe. Es war ein Irrtum. Ich hatte angenommen, der Wagen sei beschlagnahmt worden, aber zufälligerweise habe ich inzwischen das Gegenteil erfahren.« Darüber dachte ich einen Moment lang nach. Ich wog die Wahrscheinlichkeit ab und befand sie für ziemlich gering. »Wie willst du das erfahren haben? Es ist ja nicht so, dass du anrufen und nachfragen kannst. Du bist auf der Flucht, weil du wegen Mordes an Christian Luna gesucht wirst.« Er nickte, so als hätte er Verständnis für meine Skepsis. »Ich verfüge immer noch über ein paar Freunde mit guten Verbindungen.« »Wer hätte so etwas tun sollen? Wer würde dein Auto stehlen, um mich damit umzubringen?« »Dieselben Leute, die ein auf mich registriertes Gewehr im Fort Tryon Park liegen lassen, damit die Polizei es findet.« Ich musterte ihn angestrengt, so als könnte ich die Wahrheit mit der reinen Kraft meines Blicks aus ihm herausquetschen. »Ach so, handelt es sich jetzt um eine Art Verschwörung?« »Wie würdest du es denn nennen?« In meinem Kopf stauten sich viel zu viele Informationen über viel zu viele unterschiedliche Leute und Umstände. Ich spürte wieder, wie sich der Nebel über mein Hirn senkte. Plötzlich war alles verschwommen, dunkle Gestalten bewegten sich hinter einem Vorhang aus Qualm. 329
»Ich will ganz genau wissen, was los ist, Jake. Keine Lügen mehr. Bist du bereit, mir alles zu erzählen? Ohne etwas auszulassen?« »Ich werde dir sagen, was ich weiß. Ich habe keinen Grund mehr, irgendwas vor dir zu verstecken«, erwiderte er sanft. Ich blieb eine Weile stumm, bis sich aus den unzähligen Fragen, die mir auf der Zunge lagen, eine herauskristallisierte. »Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«, sagte ich, als sich endlich meine Traurigkeit Bahn gebrochen hatte. Im selben Moment kamen mir auch schon die Tränen. »Nach all dem Morden, Lügen und Manipulieren. Hast du endlich gefunden, wonach du gesucht hast?« Er seufzte, wandte den Blick ab und starrte auf seine Füße. »Nein, ich habe nicht gefunden, wonach ich gesucht habe.« Er sprach mit leiser Stimme und sah wieder auf. »Aber ich habe etwas anderes gefunden. Etwas, von dem ich gar nicht wusste, dass es existiert.« »Also, bitte«, sagte ich und hasste ihn dafür, gesagt zu haben, was ich hatte hören wollen. »Tu doch nicht so, als hättest du dich jemals für mich interessiert. Weißt du was? Zum Teufel mit dir, Jake.« Ich drehte mich um und marschierte los. »Ridley, bitte.« Er war schnell, viel zu schnell für mich. Er hielt mich entschlossen fest, während ich mich umso entschlossener wehrte. Ich trat ihm ans Schienbein. Hämmerte auf seinen Rücken ein. Er ließ mich nicht los. »Lass mich los. Du bist ein Lügner. Ich hasse dich!« Ich kreischte wie eine Verrückte. Zwischen meinen Schlägen auf seinen Rücken sagte er: »Ich lasse dich los, wenn du versprichst, mir zuzuhören.« Ich versuchte, ihm mein Knie zwischen die Beine zu rammen, aber er wehrte mich geschickt mit einem Bein ab. Schließlich 330
lehnte ich erschöpft an ihm, so wie Boxer sich manchmal im Ring umarmen. Ich atmete tief aus und lehnte meinen Kopf an seine Schulter. »Okay«, sagte ich. »Okay.« Er hielt Wort. Ich nicht. Sobald er mich losgelassen hatte, schoss ich wie der Blitz in Richtung Brooklyn davon. »Ridley, um Himmels willen!«, rief er. Ich rannte, so schnell ich noch konnte, aber er hatte mich schon im nächsten Moment eingeholt, packte mich von hinten und drückte meine Arme an meinen Körper. Ich versuchte, rückwärts nach ihm zu treten, zappelte und schrie wie ein Kind, das einen Trotzanfall bekommt. »Du hattest Recht«, versuchte er mein Gekreische zu übertönen, »ich habe dich angelogen. Lass es mich dir erklären.« Ich weiß nicht, wie lange es noch so weiterging, aber am Ende brachte die Erschöpfung mich dazu, aufzugeben und mich an ihn zu lehnen. »Okay«, sagte ich schließlich. »Lass mich los. Ich werde nicht weglaufen. Ich bin zu müde.« »Bitte«, keuchte er, »lauf nicht weg. Ich bin zu müde, dich einzuholen.« Er lockerte seinen Griff, und ich machte mich los. Ich stellte mich an das Brückengeländer. Der Morgen war beinahe schön. »Sag mir, dass du es nicht warst«, bat ich ihn und starrte in die Ferne. »Sag mir, dass du Christian Luna nicht umgebracht hast. Sag mir, dass ein anderer den Wagen gefahren hat.« Nach allem, was zwischen mir und Jake gewesen war, obwohl er mich belogen und manipuliert hatte, waren das die beiden einzigen Dinge, für die es keine Vergebung und keine Entschuldigung gab. Jake stellte sich neben mich, legte einen Arm um mich und hob mein Kinn, bis ich ihm in die Augen sehen musste. »Ich war es nicht.«
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Hätte er mehr gesagt, wäre ich vielleicht wieder ins Zweifeln geraten. Aber mit einem Blick in seine Augen wusste ich, dass er die Wahrheit sprach. Ich nickte. »Wie hast du mich gefunden?« »Wann? Jetzt gerade?« »Nein, ich meine etwas anderes. Ich weiß, du hast rausgefunden, dass mein Vater Jessie Stones Kinderarzt war. Aber wie hast du mich gefunden?« Er lachte kurz auf. »Auf dieselbe Weise wie Christian Luna auch. Bedank dich beim Fotografen der Post.« Ich seufzte. »Verdammt, ich hasse diesen Mann.« Jake ließ den Kopf ein wenig sinken. Ich hatte ihn mit diesen Worten verletzt, aber ich tat nichts, um es wiedergutzumachen. »Du bereust es, mir begegnet zu sein«, sagte er nach einer Weile. »Lass es mich so sagen: Du hast mir noch eine Menge zu erklären.« Ich weiß nicht mehr, wie lange wir auf der Brücke standen und auf den Verkehrsstrom hinunterblickten. Der Abgasgeruch stieg uns in die Nase, und keiner von uns sagte ein Wort. Meine Ängste und Fragen lagen zwischen uns wie eine Rolle Stacheldraht. Es wäre möglich hindurchzukommen, aber es würde verdammt wehtun. In der Montague Street in Brooklyn fanden wir ein geöffnetes Diner. Auf dem ganzen Weg dorthin schwiegen wir. Jake hatte sich die Kapuze seines Sweatshirts über den Kopf und den Schirm seiner Baseballkappe tief in die Stirn gezogen. Ich hielt Abstand und lief mit schnellen Schritten. Seit die Sonne aufgegangen war, hatte ich das Gefühl, wir beide seien ungeschützt und müssten uns irgendwo verkriechen.
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Wir schlüpften in die Sitzecke aus rotem Leder und bestellten Kaffee. »Wie hast du mich gefunden?«, begann ich. »Gerade eben, meine ich.« »Ich habe vom Tompkins Square aus mein Atelier beobachtet.« Ich nickte. »Hast du gewusst, dass ich hingehen würde?« »Nein. Ich habe es nur gehofft.« Wir schwiegen. »Ich war bei Zack«, sagte ich eine Weile später. »Warum?« »Wohin hätte ich sonst gehen sollen?« Ich zuckte die Achseln. »Ich dachte, vielleicht könnte er mir helfen, das Ganze zu verstehen. Schließlich kennt er meinen Vater.« »Und?« »Er … er hat versucht, mir einzureden, ich hätte mir alles nur eingebildet. Seine Mutter war auch da. Und dann habe ich plötzlich begriffen.« »Was hast du begriffen?« »Das Rettungsprojekt. Was immer es auch ist – Zack und seine Mutter gehören dazu.« Jake nickte, als wüsste er es längst. Ich griff in meine Tasche, zog Charlies Geburtsurkunde, das Foto von Charlie, Adele und Michael heraus, legte alles auf den Tisch und schob sie zu Jake hinüber. »Du bist Charlie, stimmt’s?«, fragte ich leise. Wie kam ich darauf? Während des Telefonats mit Detective Salvo hatte ich mir die Geburtsurkunde angesehen und bemerkt, dass Charlie am 4. Juli 1969 zur Welt gekommen war. An meinem ersten Abend mit Jake hatte ich ihn nach seinem Sternzeichen gefragt. Er war Krebs. Ich sah das verwackelte 333
Bild mit dem Kleinkind auf dem Rücken des Ponys und war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob das Jake sein könnte. Aber während wir auf der Brücke standen, hatte mich irgendetwas in seinem Gesicht an das Foto erinnert. Ich war nicht überrascht, ihn nicken zu sehen. Sein Blick ruhte auf den Gegenständen vor sich. »Ja«, sagte er. »Ich glaube, schon. Zumindest war ich das früher einmal.« »Was ist passiert?« »Keine Ahnung. Ich weiß nicht, warum man mich irgendwann der staatlichen Fürsorge überließ. Ich weiß nur, dass Charlie im Alter von drei Jahren aus der Wohnung seiner Eltern entführt wurde. Was danach geschah, liegt noch im Dunkeln.« »Aber du hast dich nicht geirrt, als es um deine Mutter ging. Sie hat dich geliebt.« »Sie wollte mich weggeben.« »Aber dann hat sie dich zurückgeholt. Sie war jung und hatte schreckliche Angst. Ihr Mann war ein Junkie. Das heißt noch lange nicht, dass sie dich nicht geliebt hat.« Jake antwortete mit einem Achselzucken und einem halbherzigen Nicken. Sind wir nicht alle kleine Kinder und versessen darauf zu erfahren, wie sehr unsere Eltern uns geliebt haben? »Und du hast deine Großmutter gefunden. Wieso hast du ihr nichts erzählt?« Er zuckte wieder die Achseln und starrte in seinen Kaffeebecher, den er zwischen den Händen hielt. »Das verstehe ich nicht«, fuhr ich fort, als er keine Antwort gab. »War es nicht das, wonach du gesucht hast? Deine Familie?« »Das dachte ich auch«, antwortete er. »Aber als ich dann vor Linda McNaughton stand … Ich weiß auch nicht. Es war so unpassend. Der von ihr geliebte Junge war schon so lange 334
verschwunden. Ihre Tochter ebenfalls. Ich brachte es einfach nicht übers Herz, nahm mir aber vor, sie wieder zu besuchen, wenn ich alles wüsste. Aber das ist bis heute nicht der Fall.« Wir schwiegen einen Moment. Dann sagte er: »Es gibt nur noch einen Menschen, der genau weiß, was uns beiden zugestoßen ist. Warum und wie wir entführt wurden und was danach geschah.« »Wer?« »Dein Vater. Er hat alle vier Kinder, die in jenem Jahr verschwanden, ärztlich betreut. Und wer weiß, wie viele noch.« »Es gibt noch mehr Kinder?« »Sehr viele mehr, vermute ich.« »Project Rescue …« murmelte ich. Ich konnte die Verbindung zwischen Charlie, Jessie und den anderen Kindern und Onkel Max’ Organisation nicht erkennen, aber ich war davon überzeugt, dass es sie gab. »Und deswegen hast du mich gesucht?« Jake atmete laut und vernehmlich aus und sah mich an. »Ehrlich gesagt, steckte ich in einer ziemlichen Sackgasse, als ich plötzlich dein Foto auf der Titelseite der Post entdeckte. Ich hatte damals schon mit Dr. Hauser gesprochen und wusste von deinem Vater, hatte allerdings keine Ahnung, wie ich an ihn herankommen sollte. Ich hätte ihn ja nicht einfach aufsuchen und nach dem Rettungsprojekt fragen können. Dann starb Arnie. Sämtliche meiner Versuche, etwas über die Organisation zu erfahren, scheiterten. Eine Zeit lang war ich einfach nur orientierungslos. Ich trauerte, lief durch die Gegend wie ein Zombie und übernahm hin und wieder einen Fall, um an Geld zu kommen. Dann entdeckte ich dein Bild in der Zeitung. Du hast Teresa Stone auf dem Bild im Record so ähnlich gesehen, dass ich ins Grübeln kam. Ich meine, die Ähnlichkeit war erschreckend. Ich 335
dachte schon, ich werde verrückt, ich bin so besessen von meiner Suche und so verzweifelt, eine Spur zu finden, dass ich mir Sachen einbilde. Dann las ich, du seist Benjamin Jones’ Tochter, und das war für mich ein Wink des Schicksals. Ich dachte, dass ich an deinen Vater herankommen könnte, wenn ich dich kennen lerne.« »Du hast mich also benutzt.« Er griff nach meiner Hand, und ich überließ sie ihm. »Am Anfang, ja. Aber …« Er beendete den Satz nicht, wofür ich dankbar war. Ich wollte nicht hören, dass er sich anfänglich niemals hätte vorstellen können, etwas für mich zu empfinden. »Wenn du also Charlie bist und ich Jessie, wer sind dann die anderen zwei Kinder, die im selben Jahr verschwanden?« »Ich habe keine Ahnung. Es ist mir nie gelungen, sie aufzuspüren. Diese Kinder sind alle verschwunden. Nimm doch nur dich, zum Beispiel. Du hast einen anderen Namen und dazu noch eine andere Sozialversicherungsnummer. Es gibt eine Geburtsurkunde auf den Namen Ridley Jones. Bei mir ist es genauso: Auf meiner Geburtsurkunde steht Harley Jacobsen. Charlie, Brian, Pamela und Jessica existieren nicht mehr. Die meisten ihrer biologischen Eltern sind tot.« Es kam mir nicht weiter seltsam vor, in der dritten Person über Charlie und Jessie zu sprechen. Ich glaube, zu jenem Zeitpunkt identifizierte sich keiner von uns beiden mit einem der vermissten Kinder. Ich hatte nicht das Gefühl, jemals Jessie gewesen zu sein. Ihr Schicksal war untrennbar mit meinem verbunden, und ich musste das Rätsel um sie lösen, um die Wahrheit über mich selbst zu erfahren. An Jakes Art und Weise, sich auszudrücken, merkte ich, dass es ihm genauso erging. »Ich verstehe es immer noch nicht. Die Kinder wurden aus den Wohnungen ihrer Eltern verschleppt und landeten in anderen Wohnungen, bei anderen Leuten, mit neuen Namen und
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Versicherungsnummern. Aber warum? Und wie konnte so etwas überhaupt geschehen?« »Weil es sich hier um ein Netzwerk sehr mächtiger Leute mit sehr viel Geld und Einfluss handelt«, sprudelte es aus Jake heraus, so als hätte er sich eingehend damit beschäftigt. »Das Niveau, auf dem hier organisiert und bestochen wird, ist ganz beachtlich.« »Aber warum?«, wiederholte ich. »Warum sollte jemand so etwas tun?« »Als ich anfing, der Sache nachzugehen, ging es mir ausschließlich um mich, ausschließlich um das, was mir passiert war. Zunächst hielt ich das Ganze für eine Art Schwarzmarkt. Ich dachte, okay, die Kinder wurden einfach bei irgendwelchen Projekt-Einrichtungen abgegeben; viele von ihnen wahrscheinlich ohne Geburtsurkunde und Sozialversicherungsnummer. Also muss jemand den Kindern neue Identitäten verpasst haben, oder? Vielleicht wurden die gesunden, weißen Kinder irgendwie unterschlagen und an Leute verkauft, die sich Kinder wünschten, aber keine eigenen bekommen konnten.« »Aber deine Mutter hat dich zurückgeholt. Eigentlich bist du gar nicht weggegeben worden.« »Richtig. Und als ich erfuhr, dass die anderen Kinder aus der Gegend ebenfalls nicht ausgesetzt worden waren, krachte meine Theorie zusammen.« »Trotzdem waren alle Patienten der Little-Angels-Klinik gewesen.« »Genau, das hatten sie gemeinsam.« »Und die Klinik arbeitet mit Project Rescue zusammen.« »Genau.« »Und? Was bedeutet das?« »Darüber hinaus hatten die Kinder noch etwas gemein: die Anzahl ihrer Klinikbesuche. Wenn ein Kind zu oft wegen 337
bestimmter Verletzungen oder Krankheiten dem Arzt vorgestellt wird, wird in der Krankenakte der Verdacht auf Misshandlung vermerkt. Jessies Arm war gebrochen. Charlie wurde abgegeben. Brian wurde wegen eines gebrochenen Beins und nach einem Schlag auf den Kopf eingeliefert. Pamela hatte einen ausgerenkten Arm. Diese Verletzungen sind bei Kleinkindern nicht normal.« »Woher weißt du das alles? Dr. Hauser hat behauptet, dir die Akten nie gezeigt zu haben.« »Na ja, er würde dir gegenüber kaum zugeben, dass er seinem Freund Arnie zuliebe gegen die Klinikvorschriften verstoßen hat.« Innerlich musste ich lächeln. Ich hatte mich in Dr. Hauser und seiner Bärenkrawatte also nicht getäuscht. Der Hippie in ihm hatte gesiegt, selbst wenn dafür ein Regelverstoß nötig war. »Du willst also sagen, irgendwer hat diese Kinder für Misshandlungsopfer gehalten.« »Nicht irgendwer, Ridley. Dein Vater.« Mit gerunzelter Stirn starrte Jake an mir vorbei. Ich drehte mich um, um zu sehen, was er sah. Dann entdeckte ich es. Draußen rollte langsam der Firebird vorbei, leise und bedrohlich wie ein Haifisch. Jake streckte die Arme aus, packte meinen Kopf und drückte ihn auf die Tischplatte. Er duckte sich neben mich und schrie der Kellnerin, mit der wir allein waren, zu: »Runter!« Sie reagierte sofort, als hätte sie es geübt, und kauerte sich hinter dem Tresen zusammen. Im selben Moment barsten die Fenster des Restaurants in einem Kristallregen. Das Rattern der Maschinenpistole und das Splittern der Glasscheiben waren ohrenbetäubend und mit Abstand das Schrecklichste, was ich jemals erlebt hatte. Die ganze Welt verwandelte sich in ein Kaleidoskop aus tödlichen 338
Scherben und blendendem Licht. Jake rutschte unter den Tisch und zog an meinem Hosenbein, damit ich ihm folgte. Gemeinsam krochen wir hinter den Tresen, wo die erschreckte Kellnerin auf dem Boden lag und weinte. »Gibt es einen Hinterausgang?«, schrie Jake durch den Lärm. Die Kellnerin nickte und kroch in die Küche. Der Koch musste durch die immer noch geöffnete Tür geflohen sein. Auf allen vieren schoben wir uns ins Freie. Als wir den Hinterhof erreichten, hörten die Schüsse auf. Mit quietschenden Reifen und röhrendem Motor schoss der Firebird davon. Jake zog mich auf die Füße. »Rufen Sie die Polizei!«, schrie er die verängstigte Kellnerin an, die schluchzend an einer Betonmauer lehnte. »Fragen Sie nach Detective Gus Salvo.« Der Morgen war kalt und klar. Jake nahm meine Hand, und wir rannten los. Wir versteckten uns in einer Kirche an der Hicks Street. In meinen Ohren hallte noch der Lärm nach, und ich hatte Probleme zu atmen. Ich klammerte mich wie eine Schraubzwinge an Jakes Hand fest, was ich erst bemerkte, als ich ihn einmal losließ und meine Hand verkrampfte. In der Kirche herrschte Stille. In der ersten Bank saß eine alte Frau mit schwarzem Kopftuch und betete. Das Morgenlicht fiel durch die bunten Bleiglasfenster ins Innere, sodass die strahlenden Farben auf dem Boden zu tanzen schienen wie Schmetterlinge. In den Nischen brannten Votivkerzen. Hier fühlte ich mich sicher. Wer würde es schon wagen, in einer Kirche jemanden umzubringen? Jake zog mich in einen Beichtstuhl. Ein kleines Schild kündigte den Beginn der Beichte für sechzehn Uhr an. Ich war froh, denn allein hätte ich nicht gewusst, was zu tun wäre. Ich ließ mich auf das rote Samtpolster sinken. Es war so abgewetzt, dass an einigen Stellen die Füllung durchschimmerte. Ich 339
berührte die in Leder eingebundene Bibel und betrachtete meinen staubschwarzen Finger. Jake spähte durch den Vorhang. »Wer will uns umbringen?«, zischte ich. »Ridley, wir haben da was ausgegraben, und irgendjemand will uns am Weitergraben hindern. Im Moment weiß ich nicht mehr als du«, flüsterte er. »Aber ich weiß gar nichts.« Er warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte, und konzentrierte sich dann wieder auf den Kirchenraum. Da bemerkte ich die Waffe. Eine halbautomatische Pistole, kalt und bedrohlich, lag in seiner Hand. Mir wurde bewusst, dass ich noch nie zuvor eine echte Schusswaffe gesehen hatte. Mir drehte sich der Magen um. »Was hast du damit vor?«, fragte ich. »Uns beschützen … wenn es sein muss.« Was meinen Sie, ob man wohl direkt zur Hölle fährt, wenn man in einer Kirche einen Menschen erschießt? Oder lässt der liebe Gott in machen Situationen mildernde Umstände gelten? Ich lehnte den Kopf an die Holzwand und wurde von einer unglaublichen Erschöpfung erfasst. »Ich weiß gar nichts«, wiederholte ich flüsternd. Ich dachte an all die Wohltätigkeitsgalas, diese glamourösen Feste, zu denen sich die gesamte New Yorker Elite versammelt hatte. Ich dachte an all das Geld, das in Max’ Stiftung geflossen, an die vielen Leute, denen es zugute gekommen war. Ich dachte an Max’ leidenschaftlichen Einsatz zur Rettung all der misshandelten Kinder und Frauen, ein Einsatz, den für ihn und seine Mutter niemand gezeigt hatte und der zu einem Heilmittel gegen seinen Schmerz geworden war. Ich erinnerte mich daran, wie oft er und mein Vater sich enttäuscht über ein System geäußert hatten, das so häufig versagte, das den Ärzten der bedrohten Kinder die Hände fesselte. Während unzähliger Abende hatten sie beim Essen darüber diskutiert. So viele Male 340
hatte ich ihre hitzigen Debatten im Arbeitszimmer verfolgt. So oft hatte ich mich als Kind gefragt, warum sie so wütend und traurig waren. Und was wäre, wenn mein Vater und Max beschlossen hätten, bestimmte Fälle selbst in die Hand zu nehmen? Wenn die Einrichtung sicherer Zufluchtsorte für verlassene Babys nur eine Unterabteilung von Project Rescue war? Was, wenn da noch ein weiteres Projekt existierte, eines, für das die New Yorker Eliten ihren guten Namen nicht so ohne weiteres hergeben würden? »Du hast also keine Ahnung, wie und warum die Kinder entführt wurden? Du hast keine Theorie?«, flüsterte ich. »Das habe ich nicht gesagt.« Er quetschte sich neben mich auf die Bank, steckte die Pistole in seinen Hosenbund, wischte sich den Schweiß von der Stirn und legte seinen Arm auf meine Schulter. »Wir bleiben ein bisschen hier, okay?« »Und dann?« »Keine Ahnung. So weit hab ich noch nicht gedacht.« Zum ersten Mal fiel mir auf, wie hundemüde er aussah. »Was hast du vor, Jake?«, fragte ich leise. Meine Lippen berührten fast sein Ohr, ich konnte ihn schmecken. »Wie meinst du das?« »Wenn du alles herausgefunden hast. Wenn geklärt ist, was das Rettungsprojekt eigentlich beinhaltet und was damals mit uns passierte – was wirst du dann tun?« Jake sah mich fragend an und schüttelte den Kopf, so als hätte er sich darüber noch nie Gedanken gemacht. »Ich will endlich wissen, wer ich bin«, sagte er. »Das weißt du doch, oder?« »Ich will wissen, was mit mir geschehen ist. Ich glaube, die anderen Kinder landeten in Familien, so wie du. Aber was war 341
mit mir? Warum war plötzlich der Staat für mich zuständig? Ridley, willst du nicht auch ganz genau wissen, was damals vorgefallen ist? Willst du die Wahrheit nicht wissen?« Wir flüsterten immer noch. Er hatte eine gute Frage gestellt. Wir halten die Wahrheit, für die angeblich kein Opfer zu groß ist, hoch wie den Heiligen Gral. Ständig redet man uns ein, die Wahrheit würde uns befreien, und alles würde gut, wenn man sich ihr stellt. Zumindest in diesem Fall drängte sich nur der Verdacht auf, dass sich die Wahrheit als ziemlich unangenehm herausstellen würde und meine schönen Lügen um einiges besser waren. Inzwischen war mir deutlich geworden, wie sehr die Welt sich gegen Geheimnisse wehrt. Sie stellt überall Fallen auf, in die man unweigerlich tappt. Ich war wie ein Tier mit eingeklemmter Pfote, und um mich zu befreien, müsste ich mich vom ganzen Lauf trennen. Dass ich weinte, bemerkte ich erst, als Jake sich vorbeugte und mir eine Träne von der Wange wischte. »Es tut mir so leid. Das alles tut mir schrecklich leid«, sagte er und küsste mich. Ich spürte seinen heißen Atem an meinem Ohr und bekam eine Gänsehaut. »Ich hätte das Ganze um deinetwillen stoppen können, aber ich hab’s nicht getan. Stattdessen habe ich Öl ins Feuer gegossen und dich auf Christian Lunas Spur gebracht. Das war so selbstsüchtig von mir. Ich wollte nur …« »Du wolltest einfach nicht länger allein damit leben?« Er nickte. Ich konnte ihn so gut verstehen. Ich erinnerte mich daran, wie ich in dem dunklen Hotelzimmer lag und mich fragte, wer ich eigentlich war, woher ich kam und wer mir schaden wollte. Jake schien sich sein ganzes Leben so gefühlt zu haben. Und dann, während er auf der Suche nach seiner Familie war, auf der Suche nach Antworten, starb ausgerechnet sein einziger Freund. Wie einsam er sich gefühlt haben musste. Die Hoffnung, auf einen Menschen zu treffen, den dieselbe Frage 342
beschäftigt, der auf einer ähnlichen Suche war wie er, muss Jake unwiderstehlich vorgekommen sein. »Es tut mir leid«, sagte er noch einmal und zog mich an sich. Ich umarmte ihn, so gut es in der engen Nische ging, und drückte ihn. »Ist schon gut«, flüsterte ich. »Ich verstehe das jetzt.« »Was denn?« »Quidam.« Als er mich ansah, lag Ungläubigkeit und Dankbarkeit in seinem Blick. Während wir uns in der Kirche versteckten, fuhr Detective Gus Salvo zum Schauplatz der Schießerei. Ich erfuhr später, wie er in dem Diner zwischen dem gläsernen Konfetti, das den ganzen Fußboden bedeckte, gestanden hatte und sich von der zitternden Kellnerin eine Personenbeschreibung der zwei flüchtigen Gäste geben ließ. Während sie den Ablauf beschrieb, schüttelte er den Kopf. Ein weiteres, unpassendes Teil in einem Puzzle, das ihm umso verwirrender erschien, je mehr er erfuhr. Was als willkürlicher Schuss in einem berüchtigten Park begonnen hatte, nahm inzwischen unglaubliche Dimensionen an. Die Waffengesetze im Staat New York waren streng. Möchte man sich auf legale Weise eine Waffe beschaffen, gilt es, einen wahren Spießrutenlauf durch die Behörden und eine lange Wartezeit zu überstehen. Harley Jacobsen hatte sich an die gesetzlichen Vorschriften gehalten, um sich eine NeunMillimeter-Glock und eine fünfschüssige Smith & Wesson Kaliber achtunddreißig zu besorgen. Diese kleine Waffe haben viele Polizisten bei sich, wenn sie außer Dienst sind. Jacobsen war zum Tragen beider Waffen berechtigt. Das zur Ermordung von Christian Luna benutzte Gewehr wurde jedoch in Florida erworben, wo die Waffengesetze wesentlich lockerer sind und lediglich eine Wartezeit von drei Tagen erfordern. Tatsächlich 343
kann man sich in Florida auf legalem Weg eine Waffe kaufen, ohne sich registrieren zu lassen. Nun konnte Detective Salvo ohne weiteres nachvollziehen, dass jemand nach Florida fährt, sich ein Gewehr kauft und später in New York einen Mord damit begeht. Was er nicht verstehen konnte, war, wieso Jacobsen sich als Besitzer der Waffe hatte registrieren lassen. Salvo forderte die Dokumente aus Florida an, die Jake unterschrieben hatte. Er verglich sie mit der Unterschrift auf Jakes Antrag auf Zulassung zum Privatdetektiv und musste feststellen, dass die Handschriften sich nicht mal ansatzweise ähnelten. Er hatte Wort gehalten und sich mit den Fällen der vier entführten Kinder beschäftigt, wobei er mehr oder weniger denselben Weg einschlug, den ich – und vor mir Jake – genommen hatte. Aber anders als Jake und ich war Gus Salvo ein äußerst zielstrebiger Mann, frei von Ablenkungen und persönlichen Interessen. Und er verlor sein eigentliches Ziel – herauszufinden, wer Christian Luna getötet hat und warum – zu keinem Zeitpunkt aus den Augen. Die Polizei hielt Luna für den Mörder von Teresa Stone. Weil man ihn nie gefasst hatte, war der Fall nicht zu den Akten gelegt worden. Aus den Unterlagen, die Detective Salvo einsah, ging hervor, dass damals niemand in andere Richtungen ermittelte. Teresa Stone besaß auch keine Angehörigen, die vielleicht Druck ausgeübt hätten, und so wanderte ihre Akte zu den ungelösten Fällen, die, mehr oder weniger vergessen, tief in einem Keller irgendwo in New Jersey Staub ansammelten. Ihr Mörder konnte sich darüber freuen. Die Tatsache, dass Christian Luna wieder aufgetaucht war, um der Frau, die unter einer neuen Identität lebte und die er für seine gekidnappte Tochter hielt, seine Unschuld zu beteuern, muss jemandem als ziemlich unglückliche Wendung und großes Problem erschienen sein. Folglich schloss Detective Salvo, Christian Luna müsse für irgendwen ein Störfaktor gewesen sein. Auch Jake wurde zu einem solchen, als er begann, im selben alten Trümmerhaufen 344
zu wühlen. Und selbst ich hatte mich, was das anging, ein Stück weit in die Schusslinie geschoben. Salvo sah sich in dem von Glasscherben übersäten Restaurant um. Auf dem Bürgersteig lagen unzählige Patronenhülsen aus der Maschinenpistole verstreut. Was, zum Teufel, fragte er sich, ging hier vor? Ich hätte all das schon viel früher erfahren können, hätte ich nur nicht jedes Mal, wenn es in meiner Tasche zu vibrieren begann und ich auf dem Display Salvos Nummer blinken sah, stur mein Handy ausgeschaltet.
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NEUNUNDZWANZIG
M
an ist auf einer Autobahn hinter einem Lkw unterwegs, und plötzlich schlägt ein Schottersteinchen mit einem lauten Knall gegen die Windschutzscheibe. Der Stein, vermutlich nicht größer als ein Fingernagel, hinterlässt einen winzigen, beinahe unsichtbaren Sprung, der sich unbemerkt ausbreitet und mit der Zeit die Stabilität des Ganzen gefährdet. Ein weiterer, egal, wie kleiner Schlag, und die Scheibe zerbirst in einem tödlichen Scherbenregen. Durch die gesprungene Windschutzscheibe meiner Erinnerung erkannte ich plötzlich Dinge, an die ich, wenn überhaupt, seit meiner Kindheit nicht mehr gedacht hatte. Situationen kamen mir in den Sinn, die ich abgespeichert und dann in irgendeiner Ecke meines Gehirns vergraben hatte. Ich erinnerte mich an einen Winternachmittag, an dem der Unterricht früher als gewöhnlich endete. Ich war in der dritten Klasse und vielleicht acht Jahre alt, als wir alle am Fenster unseres Klassenzimmers standen und beobachteten, wie rasch der Schulhof unter der Schneedecke verschwand. Die Schüler wurden in Etappen nach Hause geschickt; die Kindergartenkinder und Vorschüler mittags, wir anderen um drei. Es gab nicht genug Schulbusse, um alle Kinder gleichzeitig nach Hause zu bringen. Mütter wurden angerufen, bis die Auffahrt zur Schule einer Kolonne aus Kombis und Minivans glich. Ich erinnere mich an das Gefühl von Vorfreude auf ein gemütliches Plätzchen; am Fenster neben dem Kamin würde ich Käsetoast essen, Kakao trinken und zuschauen, wie die kalte, nasse Welt draußen im Schnee versank. Warm verpackt standen wir hinter den Glastüren und warteten. Immer wenn sie aufgingen, wirbelten Schneeflocken herein, so dass unsere Nasen und Wangen ganz rot wurden. Ich war eines 346
der letzten Kinder, die abgeholt wurden. Ich entdeckte draußen unser Auto, aber die Frau am Steuer sah gar nicht aus wie meine Mutter. Ihr Teint war fahl, ihr Gesicht hart und verkniffen. Ihr Haar wirkte zerzaust, die Augen hatte sie zusammengekniffen. Meine Mutter war eine schöne Frau, stets auf ihr Äußeres bedacht. Ich kann mich nicht erinnern, sie je einmal gesehen zu haben, bevor sie sich »fertiggemacht« hatte, wie sie es nannte. An dem Morgen hatte ich mich von einer Frau verabschiedet, die zwar noch ihren roten Seidenpyjama anhatte, dafür aber makellos geschminkt, gewaschen und frisiert und deren schwarzer Morgenmantel genau auf die Slipper abgestimmt war. Sie trug ein Kostüm und spielte die Rolle der Mutter perfekt. Die Frau am Steuer des schwarzen Mercedes wirkte ängstlich, wütend und tieftraurig. Sie starrte hinter der Windschutzscheibe in den Schnee, als wäre sie vom Wetter maßlos enttäuscht. Es gab mir einen Stich, den ich damals nicht erklären konnte. Ich glaube, in dem Moment habe ich meine Mutter zum ersten Mal ohne Maske gesehen. Miss Angelica, meine Lehrerin, sagte zu mir: »Ridley, los geht’s! Da ist deine Mom.« Ich wandte den Blick von der Frau am Steuer ab und schüttelte den Kopf. »Das ist nicht meine Mutter.« Meine Lehrerin spähte durch ihre Brillengläser wieder hinaus in das Schneegestöber. »Aber natürlich ist sie das, Ridley.« Sie warf mir einen leicht verwirrten, aber freundlichen Blick zu. Als ich erneut hinsah, war da plötzlich meine Mutter, die mir lächelnd zuwinkte. Ich hielt verdutzt inne und stürmte hinaus. Meine Mutter beugte sich über den Beifahrersitz und öffnete die Autotür. Ich kletterte neben sie und roch ihr Parfüm, L’Air du Temps in einem Flakon aus mattiertem Glas, mit einem kleinen Vogel auf dem Stöpsel. Sie wischte die Schneeflocken von meiner Mütze.
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»Schneetag!«, rief sie fröhlich. »Komm, wir holen Ace von der Schule ab. Dann fahren wir nach Hause und machen uns einen heißen Kakao.« Ich suchte immer noch nach der Geisterfrau. Als sie meinen forschenden Blick bemerkte, fragte sie: »Was ist denn?« »Du hast gar nicht wie du ausgesehen«, antwortete ich. »Durchs Fenster. Du hast anders ausgesehen.« Sie stieß ein helles Lachen aus, so als wäre ich albern oder wollte sie hereinlegen. Trotzdem zuckte ihre Lippe ein bisschen. »Wirklich?«, fragte sie. Dann zog sie eine Grimasse und streckte die Zunge heraus. »Sehe ich jetzt aus wie ich?« Ich konnte gar nicht mehr aufhören zu kichern. Warum erzähle ich das? Was will ich damit sagen? Ich glaube, dass ich nicht nur im Großen belogen wurde – manchmal ging es nur um Kleinigkeiten. Mir fiel auch wieder jener bestimmte Tag ein, als wir den Geburtstag von Ace feierten und ich Onkel Max und meine Mutter in der Küche belauschte und nicht fassen konnte, in welchem Ton sie miteinander sprachen. So boshaft und – das ist mir heute klar – so vertraut. Denn so spricht man natürlich nicht mit einem guten Bekannten, selbst wenn er der beste Freund des eigenen Ehemannes ist und man sich im Laufe der Zeit ebenfalls mit ihm angefreundet hat. In ihren Stimmen klangen alle möglichen Gefühle mit, so als wären sie auf eine Weise verbunden, von der ich nicht einmal etwas ahnte. Eine von denen hier anzuschleppen, ausgerechnet zu Aces Geburtstagsfeier. Was hast du dir dabei gedacht? Ich wollte nicht alleine kommen. Ach, Unsinn. Was willst du, Grace? Hm? Tu doch nicht so scheinheilig.
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Meine Großmutter hatte immer voller Stolz über meine Mutter und ihre Geschwister gesprochen. »Oh, sie haben sich niemals gestritten.« Und ich hatte die Abwesenheit von Konflikten ewig lange für das Gütesiegel einer guten Beziehung gehalten. Aber als meine Großmutter ihren Spruch eines Abends wieder zum Besten gab, hörte ich meinen Vater leise flüstern: »Ja, sie streiten sich nie, weil sie nie miteinander reden.« »Was war das, Benjamin?« »Nichts, Mutter.« Er sprach das Wort aus, als hätte er etwas Saures im Mund. Seine eigene Mutter nannte er Ma. Ich erinnerte mich daran, dass meine Eltern niemals stritten – außer es ging um Ace. Ihre Wut auf ihn – ich habe nie bemerkt, dass er auf sie wütend gewesen wäre – manifestierte sich in Kälte und Dunkelheit. Wenn meine Mutter gute Laune hatte, brannten im Haus alle Lampen, im Herbst und im Winter loderte ein Kaminfeuer, und irgendwo lief ein Fernseher oder das Radio. War sie wütend, saß sie still im Dunkeln, bis man sie besänftigte. Daran erkannte ich, wenn etwas nicht stimmte. »Alles okay?«, fragte Jake und legte seine Hand an meine Wange. »Ja. Ich erinnere mich bloß«, antwortete ich. Er nickte, als hätte er verstanden. In der Hicks Street winkten wir ein Taxi heran und fuhren zu Ace. Ich kann nicht sagen, ich hätte mich darauf gefreut, ihn wiederzusehen, da ich nach unserer letzten Begegnung immer noch wütend auf ihn war. Aber er schien der Einzige zu sein, der vielleicht Antworten für uns hätte. Er wusste mehr, als er mir sagte, so viel konnte ich aus seinen passiv-aggressiven Andeutungen entnehmen. Und diesmal würde er endlich mit der Wahrheit herausrücken müssen. Ich würde mich nicht mehr abspeisen lassen. Diesmal nicht. Auf der Treppe war niemand zu sehen. Obwohl es erst kurz nach halb fünf war, hatte sich der Himmel verdunkelt. Wir 349
hatten eine Weile in der Kirche ausgeharrt und uns dort sicher gefühlt; offenbar war uns niemand gefolgt. Im Beichtstuhl hatten wir bis zur Nachmittagsmesse so vor uns hin gedöst, bis uns plötzlich einfiel, dass die Beichte um vier Uhr beginnen würde. Nach dem Ende der Messe reihten wir uns in die Gruppe der Gläubigen ein und verließen das Gotteshaus. Direkt davor hielten wir ein Taxi an. Jake sah zur Heckscheibe hinaus, bis er sicher war, dass wir nicht verfolgt wurden. Erst dann erlaubte er mir, dem Fahrer die genaue Adresse zu nennen. Nun standen wir vor dem Mietshaus. »Wohnt er hier?«, fragte Jake. »Falls man das wohnen nennen kann.« Als wir das Haus betraten, legte Jake eine Hand auf die Waffe in seinem Hosenbund. Wie schon zuvor stieg mir der ekelhafte Geruch von Müll, Exkrementen und irgendetwas Chemischem in die Nase. Aber heute schien das Haus ruhig und verlassen, und kein Sonnenlicht mühte sich ab, durch die dreckigen Fenster einzudringen. »Ist schon gut«, sagte ich und nahm Jakes Hand. »Dunkelheit mag ich gar nicht«, erklärte er. Ich dachte an all die entsetzlichen Dinge, die ihm im Dunkeln zugestoßen waren, und verstand. Ich drückte seine Hand fester. Während wir die Treppe emporstiegen, knarrte das Holz unter unseren Füßen. Als wir zu Aces Apartment kamen, stand die Tür offen. Mein Herz begann zu hämmern. »Ace?«, fragte ich. Keine Antwort. Jake zog die Waffe, machte einen Schritt zur Seite und schob mich sanft an die Wand. Er versetzte der Tür einen Stoß, so dass sie mit einem Knarren aufging. Quer über dem Bett lag eine Gestalt, deren Umrisse ich im Dunkeln erkannte und die sich leicht zu bewegen schien. Dann hörte ich ein leises Schluchzen. »Ruby?«, sagte ich und ging auf sie zu. Jake wollte mich zurückhalten, doch ich schüttelte ihn ab. 350
»Sie haben ihn mitgenommen«, flüsterte sie zwischen den Schluchzern. »Wer hat ihn mitgenommen?«, fragte ich und kniete mich neben sie. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen, dafür roch ich ihren Nikotinatem. »Weiß ich nicht«, antwortete sie. »Zwei maskierte Männer. Haben die Tür eingetreten. Einer hat mir ins Gesicht geschlagen.« Sie rieb sich den Kiefer. »Ich war bewusstlos. Als ich aufgewacht bin, waren sie weg, und Ace auch.« »Alles in Ordnung?«, fragte ich sie. Mit Augen voller Tränen sah sie mich an. »Was haben die gesagt?«, fragte Jake von der Tür her. »Sie haben gesagt, du sollst aufhören.« »Wer, ich?«, fragte ich ungläubig. »Ihr beide. Sie haben gesagt: ›Gebt es auf, und wir lassen ihn frei‹.« Einen Moment lang verschlug es mir die Sprache. Ich bekam wieder dieses Albtraumgefühl, wo man sich umblickt und hofft, durch irgendein Detail daran erinnert zu werden, dass man lediglich träumt. »Es war mein Fehler«, erklärte sie. »Ich hab ihm gesagt, er müsste dir helfen. Hab ihn überredet, dir alles zu erzählen, was er weiß, und dich vor ihnen zu beschützen.« »Mich vor wem zu beschützen?« »Er weiß es«, behauptete sie und nickte in Jakes Richtung. »Er weiß, vor wem.« Jake schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung«, sagte er, als ich ihn ansah. »Die Männer, die dich mitgenommen haben, Ridley«, sagte sie und blickte mich ernst an. »Die Leute, die für alles verantwortlich sind, was mit dir passiert ist.« 351
»Wer, Ruby? Wer ist verantwortlich?« Sie fing wieder zu weinen an. Ich war hin und her gerissen; ich wollte sie umarmen und gleichzeitig ohrfeigen. »Ich weiß nicht. Er wollte es mir nicht verraten«, erwiderte sie, und ihr Weinen wurde lauter. »Aus demselben Grund, aus dem er es dir nicht sagen wollte. Er war der Meinung, das sei zu gefährlich für uns.« War dieses Mädchen nur ein durchgedrehter Junkie? Wusste sie überhaupt, wovon sie da sprach? »Die haben eine Telefonnummer hinterlassen«, fuhr Ruby fort, setzte sich auf und hielt mir einen Zettel hin. Ihr misstrauischer Blick ruhte auf Jake. Obwohl es im Zimmer dunkel war, konnte man noch unsere Gesichter erkennen. Dichter Zigarettenqualm hing in der Luft. Ich zog mein Handy aus der Tasche und schaltete es ein. Ich hatte drei neue Nachrichten und wusste nicht, wie ich sie abhören konnte. Ich sah zu Jake. »Soll ich anrufen?«, fragte ich. Er kam näher. »Hast du eine Wahl?« In Anbetracht dessen, was mit Ace passiert war und gerade mit mir geschah, hätte ich in Panik verfallen, vor Angst wie gelähmt sein müssen. Aber ich war ganz ruhig. Einzig das hartnäckige Rauschen in meinem rechten Ohr, meine trockene Kehle und ein unmerkliches Händezittern verrieten meine Furcht. Ich tippte die Nummer ein. Gespannt warteten wir auf das Klingelzeichen. »Ridley, das ging ja schnell. Sie waren schon immer ein schlaues Mädchen.« Ich erkannte die Stimme, es war die eines älteren Mannes, konnte sie jedoch nicht zuordnen. Sie klang weich und gebildet und dennoch eine Spur boshaft. »Ich dachte, wir hätten uns darauf geeinigt, dass Sie zu Ihren Eltern fahren, Ridley.« 352
Mit einem Schnappen rastete meine Erinnerung ein. Es war Alexander Harriman. »Ich verstehe nicht …«, sagte ich. »Als ich Ihr Foto vorne auf dieser Zeitung sah, wusste ich sofort, es würde Ärger geben.« Sein Tonfall war freundlich, so als wären wir alte Freunde. »Was wollen Sie, Mr. Harriman?« »Ich denke, wir sollten uns zusammensetzen und ein paar Dinge klären, ein paar Missverständnisse ausräumen, einen Plan für die Zukunft entwerfen. Und wenn das geschafft ist, können wir uns über Ihren Bruder unterhalten. Ihm die Hilfe zuteil werden lassen, die er dringend braucht.« Er drückte sich am Telefon sehr vorsichtig aus. »Ich könnte mich mit meinem Wissen an die Medien wenden, Mr. Harriman, oder die Polizei einschalten, schließlich weiß ich, dass Sie meinen Bruder haben.« Er antwortete prompt. »Könnten Sie. Aber das hätte Folgen. So langsam müssten Sie eigentlich begriffen haben, dass die Wahrheit nicht unbedingt frei macht. Ich kenne viele Menschen, für die sogar das Gegenteil zutrifft. Menschen, die Sie auch kennen.« »Wollen Sie mir drohen, Mr. Harriman?« »Ganz sicher nicht«, sagte er mit gespielter Empörung. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich hatte von diesem Spiel keine Ahnung. Ich fühlte mich wie eine Maus, die zwischen den Krallen einer Hauskatze zappelt. »Ich muss hören, dass es Ace gutgeht.« Schwacher Versuch, aber mir fiel nichts Besseres ein. Außerdem wollte ich Ace wirklich hören, sicher sein, dass es ihm gutging und ich ihm immer noch helfen konnte. »Wenn Sie und ich uns einigen, braucht sich Ihr Bruder und der Rest Ihrer Familie, von Ihrem Freund Mr. Jacobsen ganz zu 353
schweigen, keine weiteren Gedanken zu machen. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.« »Das reicht mir nicht«, sagte ich kraftlos. »Ridley, hören Sie mal«, erklärte er ungeduldig in einem geschäftsmäßigen Tonfall, »Sie haben hier keine Trümpfe auszuspielen, also lassen Sie den Unsinn. Ich will Sie in einer Stunde hier in meinem Büro sehen. Ich komme Ihnen so großzügig entgegen, weil Max Sie sehr mochte. Aber ich bin von Natur aus nicht besonders sentimental, und außerdem sind Sie zu einem ziemlichen Ärgernis geworden.« Er legte auf, hatte ja schließlich alles Nötige gesagt. Ich ließ das Handy sinken und starrte es an, als wäre es ein Mordinstrument. Ich spürte, wie ein Schauder meinen Körper durchlief; bislang hatte sich sein großzügiges Entgegenkommen in einem Schießkommando und einem besonderen Fall von Nötigung im Straßenverkehr geäußert. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn seine Sentimentalität sich erschöpfte. Ich sah zu Jake hinüber. Er packte mich an den Schultern. »Wer war dran, Ridley?« »Der Anwalt meines Onkels. Ein Mann namens Alexander Harriman.« »Du meinst den Mafia-Anwalt Alexander Harriman?« So hatte ich ihn nie gesehen; aber vermutlich ist man, hat man einen Mafioso verteidigt, ein Mafia-Anwalt. Ich setzte mich neben Ruby aufs Bett, die mich jetzt verzweifelt anstarrte. »Ich liebe ihn«, sagte sie. Sie war ein Gerippe, so dürr, dass ihre Knochen aus Schultern und Ellbogen ragten. Mascara lief ihr übers Gesicht. Trotzdem war sie hübsch, irgendwie süß, und weckte in mir den Wunsch, sie zu beschützen. »Ich auch«, flüsterte ich. »Was will er?«, fragte Jake.
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»Er will, dass ich innerhalb einer Stunde in seiner Kanzlei erscheine.« Jake schüttelte den Kopf. »Das klingt nicht gut.« »Was wäre die Alternative?« Einen Augenblick lang sahen wir einander an, aber keinem von uns fiel etwas ein. »Gut, aber du gehst nicht allein«, sagte er. »Du kannst ihm nicht vertrauen«, meinte Ruby, packte meinen Arm und schaute mit einem angsterfüllten Blick zu Jake. Sie schien verzweifelt, aber keinesfalls verrückt. »Warum nicht, Ruby? Warum sagst du das?«, fragte ich, während ich Jake beobachtete. Er hob lediglich die Hände. Ruby zog mich zu sich heran, bis ich wieder ihren Zigarettenatem roch. »Er hat deinen Onkel Max umgebracht«, zischte sie. Die Worte ließen mich erstarren. »Ruby, mein Onkel ist von einer Brücke gestürzt. Er war betrunken. Es war glatt. Er wurde nicht ermordet.« Ich sah Jake an, der reglos und stumm dastand und langsam den Kopf schüttelte. »Man kann einen Menschen umbringen, auch ohne ihn zu erschießen«, sagte sie direkt in Jakes Richtung. Seufzend machte Jake einen Schritt vor ins Licht. »Manchmal«, sagte er, »manchmal reicht es, ihm die Wahrheit zu sagen.« »Was? Wovon redest du?« Ich erinnerte mich an jenen Heiligen Abend, an Onkel Max’ Tränen. Ich erinnerte mich an seine Worte. Ridley, vielleicht bist du das einzig Gute in meinem Leben. Und da verstand ich, was Jake gemeint hatte. »Du warst bei ihm«, sagte ich zu Jake. »Du hast ihm erzählt, was mit dir passiert ist.« 355
Er nickte. »Als ich Max kennen lernte, war ich am Ende. Ich hatte von den anderen Entführungen gehört und von deinem Vater. Aber ich wusste nicht, was ich als Nächstes tun sollte. Dann starb Arnie. Ich war so fertig, dass ich nachts ohne Alkohol nicht mehr schlafen konnte. Als ich von der MaxwellAllen-Smiley-Stiftung und der Finanzierung des Rettungsprojekts erfuhr, wusste ich, dass ich mit deinem Onkel sprechen müsste. Du hast mich nach meiner Theorie gefragt. Meine Theorie lautete, dass die Little-Angels-Klinik und andere Stellen, die sich als ›Zufluchtsorte‹ für ratlose Mütter ausgeben, noch andere Funktionen übernahmen. Einige der Kinderärzte betrachteten sich als ›Schutzengel‹.« Er seufzte, so als bereitete ihm das Reden Schmerzen. »Sie behielten die Kinder, bei denen ein Verdacht auf Misshandlung bestand, im Auge?«, fragte ich. Ich dachte an Jessie und ihren gebrochenen Arm. Ich dachte an meinen Vater, der stets um das Wohl der Kinder besorgt war, und wie er sich gefühlt haben musste, als er sie behandelte. »Ja, und sie haben sie auf die Liste gesetzt«, sagte Jake. »Wie meinst du das?« »In den siebziger Jahren war es sehr schwierig, gewalttätigen Eltern ihr Kind zu entziehen.« »Und du glaubst, bestimmte Krankenhausärzte hätten ein System aufgebaut, um auf misshandelte Kinder aufmerksam zu machen … und dann?« »Dann wurden die Kinder entführt«, sagte er. »Vielleicht.« »Aber von wem? Und was passierte anschließend mit ihnen?« »Ich wusste es nicht, als ich Max traf, und ich bin mir bis heute nicht sicher.« »Was ist passiert?« »Ich hatte versucht, ihn in seinem Büro zu treffen, aber ich bekam keinen Termin. Deswegen beobachtete ich ihn ein paar 356
Tage lang und fand heraus, welche Bars er besuchte. Ich habe im Blue Hen auf ihn gewartet, ganz in der Nähe vom Haus deiner Eltern.« »Am Heiligen Abend?« »Nein. Ein paar Wochen vorher. Er war schon betrunken, als er reinkam; alle schienen ihn zu kennen. Ich saß an einem Ecktisch, hielt mich an einem Guinness fest und wartete, bis er allein war. Dann setzte ich mich zu ihm. Ein netter Kerl. Hat mir einen ausgegeben. Ich hasste ihn. Ich hasste seine Selbstzufriedenheit.« Plötzlich klang Jakes Stimme kalt. Ich hörte den Zorn heraus, von dem er mir erzählt hatte, und mir wurde klar, dass dieser Zorn unvermindert in ihm brodelte. Vielleicht würde er sich legen, sobald Jake alles über seine Vergangenheit erfahren hätte. »Ich hab ihn gefragt: ›Wissen Sie, wer ich bin?‹ Er hat mich neugierig und ein bisschen misstrauisch angesehen. ›Nein, mein Junge. Keine Ahnung.‹ Ich sagte: ›Ich will Ihnen von mir erzählen.‹ Und weißt du was? Er war nett zu mir, hat sich meine Geschichte angehört. Er brachte sich ein, hat ein bisschen was von seiner eigenen schlimmen Kindheit berichtet. Aber ich wollte seine Freundlichkeit nicht. Ich wollte Antworten. Als ich fertig war und wir noch ein Bier zusammen getrunken hatten, fragte ich: ›Mr. Smiley, was können Sie mir über Project Rescue erzählen?‹ Ab dem Moment war er nicht mehr freundlich, und er wurde ganz blass. ›Wer sind Sie?‹, wollte er wissen. ›Das ist es ja gerade. Ich weiß es nicht‹, antwortete ich. Er verlangte die Rechnung und wollte gehen, aber ich bin ihm nach draußen gefolgt. Er hätte einen Riesenwirbel veranstalten, mich von den Typen in der Bar verprügeln lassen oder die Polizei anrufen können, aber er tat nichts von alledem. Auf dem Parkplatz konfrontierte ich ihn mit meiner Theorie über das Rettungsprojekt. ›Ich war eines dieser Kinder, Mr. Smiley. Aber 357
irgendwas ist furchtbar schiefgelaufen, und ich fand mich im Heim wieder.‹ Er sagte, ich wäre verrückt, ich wüsste nicht, wovon ich redete. ›Project Rescue kümmert sich um ausgesetzte Kinder, mehr nicht. Sie brauchen professionelle Hilfe, Junge.‹ ›Sie haben Recht. Ich brauche Hilfe. Ihre Hilfe. Sie müssen mir die Wahrheit über Project Rescue sagen.‹ Wir standen so nah beieinander, dass wir nur noch flüsterten. ›Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt. Ich kann Ihnen nicht helfen.‹ Dann stieg er ins Auto, aber bevor er die Tür zuschlagen konnte, warf ich ihm meine Visitenkarte in den Schoß. An seinen glänzenden Augen merkte ich, dass er sich aufgeregt hatte, dass er dabei war, die Fassung zu verlieren. Ich dachte: Falls er doch mehr weiß, wird sein schlechtes Gewissen ihn fertigmachen. Vielleicht hatte ich Recht damit. Vielleicht ist er deswegen am Heiligen Abend von der Brücke gestürzt.« Ich riss mich zusammen, als eine Welle der Trauer um Onkel Max mich erfasste. Mich schmerzte der Gedanke an den Kummer, mit dem er gestorben war. Ein Kummer, der immer gegenwärtig war, ihm jede Lebensfreude genommen und ihn zu unsäglichen Dingen angestiftet hatte, über die er nicht sprechen konnte. Der Kummer hatte ihn umgebracht. »Wie hat Ace davon erfahren?« »Dein Onkel hat es ihm erzählt«, erklärte Ruby. »Ein paar Tage vor seinem Unfall kam er her, um mit Ace zu reden. Er wollte die Sache mit Ace ins Reine bringen, ihm den Entzug und eine Reha bezahlen. Er sagte zu Ace, dass seine Vergangenheit ihn eingeholt hätte und er ein paar Sachen regeln müsste, die er kaputtgemacht hätte. Ich glaube, er meinte damit auch Ace.« Ich dachte an meine letzte Unterhaltung mit Onkel Max und fragte mich, was er mir an besagtem Abend erzählt hätte, wäre mein Vater nicht dazwischengegangen. Ich erinnerte mich an die Worte meines Vaters, nachdem Ace sein Erbe erst nach fünf 358
drogenfreien Jahren antreten durfte. Hatte Onkel Max auf diese Weise versucht, an Ace etwas wiedergutzumachen? Ruby starrte Jake an und kaute an dem herum, was von ihren Fingernägeln noch übrig war. Ich glaube, in dem Moment wurde meine Angst nur noch von einer erdrückenden Schwermut darüber übertroffen, dass so viel Schaden angerichtet worden, dass so viel falschgelaufen und nicht mehr zu ändern war. Ob ich Jake die Schuld an Max’ Tod gab? Nein. Er hatte ein Anrecht auf seine Wahrheit. Gab ich Max die Schuld an Jakes Schicksal? Ich weiß es bis heute nicht. Ich bezweifelte ohnehin, dass die Schuldfrage noch wichtig war. »Wir müssen gehen«, sagte ich zu Jake. »Ich habe ihn vor einer halben Stunde angerufen.« Überrascht sah er mich an, so als hätte er eine andere Reaktion erwartet. Dann nickte er kurz. »Los geht’s.« Auf dem Weg nach unten fing das Handy in meiner Tasche zu vibrieren an. Ein Blick aufs Display verriet mir, dass Detective Salvo mit mir reden wollte. Ich wagte nicht, das Gespräch anzunehmen, aber mir kam eine Idee.
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DREISSIG
J
eder Augenzeuge einer Hinrichtung wird Ihnen bestätigen, wie ernüchternd dieser Vorgang ist. Nachdem sie jahrelang gekämpft, in der Hoffnung auf Gerechtigkeit und Bestrafung des Mörders endlose Gerichtsverhandlungen durchgestanden und ein Gnadengesuch nach dem anderen abgewartet haben, versammeln sich die Angehörigen des Mordopfers in einem sterilen Zimmer. Durch eine Glasscheibe sehen sie, wie der Gerechtigkeit Genüge getan wird, sehen einen Mörder sterben. All die Jahre haben sie auf diesen Moment gewartet, an dem der Schmerz enden und der Heilungsprozess einsetzen würde. Sie haben sich vorgestellt, dass eine schwere Last von ihnen abfallen und ihr Schlaf ohne Albträume sein würde. Doch danach müssen sie feststellen, dass der Kummer nicht von ihnen gewichen ist, sie nicht vom Leiden erlöst wurden. Ihr Schmerz ist so groß wie am ersten Tag; daran hat auch der Tod des Täters nichts geändert. Vielleicht verhält es sich so, weil der Bestrafung völlig falsche Vorstellungen zugrunde liegen; weil jede Tat, ob gut oder böse, eine unumkehrbare Veränderung unseres Umfelds zur Folge hat. Unsere Erfahrungen verändern uns. Jede Begebenheit hinterlässt ihre Spuren. Diese zu verurteilen und unsere Vergangenheit zu hassen, käme einem Hass auf den Menschen gleich, zu dem wir geworden sind. Ich glaube, dass ich aus diesem Grund keine Wut fühlte, als wir im Taxi auf dem Weg zu Harrimans Kanzlei waren. Ich hatte Angst, meine Erlebnisse hatten mich traurig gemacht – aber ich verfluchte nicht den Tag, an dem ich einen kleinen Jungen gerettet hatte. Ich hasste meinen Vater nicht dafür, dass er die kleine Jessie Stone ›herausgepickt‹ hatte, falls es überhaupt so war. Ich hasste Jake nicht dafür, dass er Max zur Rede stellen wollte. Das liegt, wie gesagt, an meinem Glauben 360
an die Ausgewogenheit, an das Karma. Neben dem Guten existiert das Schlechte, für jedes Richtig gibt es ein Falsch. Doch stellte ich solche Überlegungen zu dem Zeitpunkt natürlich nicht an. Ich zitterte vor Angst um meinen Bruder und meine Familie und vor Harrimans Forderungen. Ich lehnte mich nach vorn, wie um das Taxi anzutreiben. Aber als wir endlich vor dem eleganten Sandsteinhaus am Central Park hielten, in dem sich Alexander Harrimans Kanzlei befand, schaffte ich es nicht auszusteigen. »Ist schon gut«, beruhigte mich Jake, bezahlte den Fahrer und schob mich auf den Bürgersteig. »Wenn er dir etwas antun wollte, wärst du längst tot.« Das klang logisch, aber besser fühlte ich mich deswegen nicht. Wir klingelten, und ich war kein bisschen überrascht, als der Skinhead uns die Tür öffnete. Lächelnd klopfte er Jake ab und zog die Waffe aus seinem Hosenbund. Er sah gar nicht mehr so schrecklich aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte, und roch aufdringlich nach billigem Rasierwasser. »Hübsch«, meinte der Kahlkopf und drehte die Waffe hin und her. Dann leerte er mit zwei raschen Handgriffen das Magazin und die Kammer und gab sie Jake zurück. Dann sah er mich mit dem seltsamen Lächeln an, das ich schon kannte. »Kennen wir uns?«, fragte er. »Nein«, antwortete ich, bemüht, mich kühl und gelassen zu geben, klang aber wie ein verängstigtes Kind. Das Lächeln verschwand nicht aus seinem Gesicht. Bei meinem letzten Besuch in Alexander Harrimans luxuriösem Büro war ich ein anderer Mensch gewesen, obwohl das erst ein paar Tage zurücklag. Jetzt wirkte alles anders auf mich – die dicken Teppiche, die Ledermöbel, das Porträt seiner Frau und seiner Tochter an der Wand über der Bar. Was mir damals elegant und vertrauenerweckend vorgekommen war, schien plötzlich verdorben. 361
»Ich habe etwas für Sie, Ridley, was Sie von niemand anderem bekommen können«, sagte Harriman, als wir hereinkamen. Der Schlägertyp ging wieder nach draußen und schloss die Tür. Wahrscheinlich würde er ganz in der Nähe bleiben. »Und das wäre?« Harriman lehnte mit vor der Brust verschränkten Armen an der Kante seines riesigen Eichenschreibtischs. Er wirkte attraktiv; übersah man das eisige Funkeln in seinen Augen, hätte man ihn glatt für gutmütig halten können. »Die Wahrheit«, erwiderte er, hob die Augenbrauen und zeigte uns seine Handflächen. »Ich hab die Wahrheit, für beide von Ihnen.« »Wozu machen Sie sich die Mühe?«, fragte Jake. »Warum bringen Sie uns nicht einfach um? Sie haben es doch schon versucht.« »Nun ja«, lachte Harriman beschwichtigend, »ich wollte Sie, genau genommen, nicht töten. Bloß abschrecken. Die Eigendynamik mancher Vorgänge … Man stellt jemanden für eine bestimmte Aufgabe ein, und dann übertreibt der in seinem Arbeitseifer maßlos. Wie dem auch sei«, fuhr er abwinkend fort, »ich werde Ihnen sagen, was Sie beide wissen wollen, und dann darauf bestehen, dass es unter uns bleibt. Ich habe viel darüber nachgedacht und halte es für die einzige Möglichkeit, Sie vom Herumschnüffeln abzuhalten, ohne Sie gleich umbringen zu müssen.« »Und warum sollten wir uns darauf einlassen?«, fragte Jake. »Weil ich Sie auf die möglichen Konsequenzen hinweisen werde. Ridley, glauben Sie im Ernst, irgendjemand wäre überrascht, wenn Ihr Bruder morgen früh tot auf einem Bürgersteig im East Village gefunden oder Ihr Freund hier spurlos verschwinden würde? Wer – von Ihnen einmal abgesehen – vermisst ihn schon? Soll ich fortfahren, oder haben Sie verstanden?« 362
Und ob ich verstanden hatte. Es war wie ein Schlag in die Magengrube. Ich nickte. »Wo ist mein Bruder?«, fragte ich. »In einem besseren Zustand als dem, in dem wir ihn vorgefunden haben. Setzen Sie sich, Ridley. Je schneller wir das hier hinter uns bringen, umso eher sehen Sie Ace wieder.« Ich sank auf das Ledersofa. Jake blieb neben der Tür stehen. »Was ich Ihnen jetzt anbiete«, verkündete Harriman theatralisch, »nennt man in der Strafverfolgung ›verbotene Früchte‹. Sie werden erfahren, wonach Sie gesucht haben, aber Sie werden es nicht im rechtlichen Sinne nutzen können – so wie das Ergebnis einer illegalen Hausdurchsuchung. Ihre Fragen werden beantwortet, und damit hat es sich.« Ich dachte einen Moment darüber nach. Vielleicht wollte ich es gar nicht wissen, nach allem, was passiert war? Was sollte ich mit einem Wissen anfangen, das ich nicht weitergeben, nicht vertiefen, nicht benutzen durfte, um Irrtümer aufzuklären? Ich nickte trotzdem. »Max führte einen Kreuzzug. Er hatte das Übel erkannt, er sah die Fehler im System, und er bemühte sich um eine Korrektur. Aber die Veränderung gesetzlicher Regelwerke nimmt ausgesprochen viel Zeit in Anspruch – Zeit, in der Kinder sterben. In der Kinder misshandelt, vernachlässigt und auf hundert verschieden Arten kaputtgemacht werden von Menschen, die sie weder lieben noch wollen oder die nicht wissen, was sie mit ihnen anfangen sollen. Zur selben Zeit ließen sich andere verzweifelte Menschen, die keine eigenen Kinder bekommen konnten, auf lange Adoptionslisten setzen. Durch die Stiftung begegnete Max vielen solcher Paare. Er kannte ihre Verzweiflung und wusste, was sie einem bedürftigen Kind bieten konnten. Er betrachtete diese Paare als verschwendete Ressourcen, und dieses Wissen frustrierte ihn zutiefst.
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Max legte die Grundlage dafür, solchen Kindern zu helfen. Er konnte andere Menschen überzeugen, ihn zu unterstützen. Seinen Anstrengungen gab er einen Namen: Project Rescue.« Während Harriman begonnen hatte, wie beim Schlussplädoyer auf und ab zu laufen, konnte ich meinen Blick nicht von ihm wenden. Jake, der immer noch an der Tür stand, ließ den Mann ebenfalls nicht aus den Augen. Sein Gesicht war eine Maske. »Das Rettungsprojekt hatte zwei Seiten. Auf der einen arbeiteten Lobbyisten daran, die ›Sichere Zuflucht‹-Gesetzesvorlage im Staat New York durchzusetzen und Müttern zu ermöglichen, ihre Babys in Krankenhäusern, Kliniken, Feuerwachen oder wo auch immer ohne weitere Erklärung abzugeben. Diese Kinder wurden der städtischen Fürsorge übergeben – alles total legal. Auf der anderen Seite herrschten weniger klare Verhältnisse. Zur Zusammenarbeit bereite Mitarbeiter der öffentlichen Krankenhäuser in sozial schwächeren Wohngegenden erhielten die Möglichkeit, Project Rescue anonym auf bestimmte Kinder hinzuweisen, die misshandelt und vernachlässigt wurden. Viele der betroffenen Ärzte und Krankenschwestern handelten in bester Absicht, glaubten sie doch, Project Rescue habe besonders gute Verbindungen zu jenen offiziellen Stellen, die bei Kindesmissbrauch ermitteln.« »Aber tatsächlich«, unterbrach Jake ihn, »beschrieben sie die Kinder als unterstützungsbedürftig.« »Genau«, sagte Harriman. »Obwohl die Idee hinter dem Rettungsprojekt äußerst nobel war, gestaltete sich die Umsetzung weniger nobel. Irgendjemand musste in Aktion treten und die Kinder aus den Wohnungen holen. Das war eine Sache, mit der Ihr Onkel sich nur ungern beschäftigte.« »Und an dieser Stelle kamen Ihnen ein paar Ihrer anderen Mandanten gerade recht«, warf Jake ein. »Sehr gut, Mr. Jacobsen.«
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»Wie bitte?«, fragte ich. »Das habe ich nicht verstanden. Wie meinst du das, andere Mandanten?« Harriman warf mir ein Lächeln zu, das man vielleicht einer begriffsstutzigen Schülerin schenken würde, die sich zwar große Mühe gibt, die dem Schulstoff aber hoffnungslos hinterherhinkt. »Ich denke, ich muss Ihnen die Mandanten, mit denen ich täglich zu tun habe, nicht weiter beschreiben.« »Also was?«, fragte ich angewidert. »Sie haben eine Art Deal zwischen Project Rescue und der Mafia vermittelt?« Harriman zuckte theatralisch zusammen. »Ridley, bitte. Das habe ich nicht gesagt. Und ich an Ihrer Stelle würde so etwas niemals wieder in den Mund nehmen.« Ich starrte ihn an und kam zu der Ansicht, dass er ein Monster ohne jede Moral war. Er räusperte sich und sprach weiter. »Eine Zeit lang lief alles ziemlich glatt. Ärzte und Krankenschwestern meldeten Kindesmisshandlungen an Project Rescue. Die Entfernung der Kinder aus ihrem Umfeld übernahmen ›Subunternehmer‹. Die Kinder wurden in guten Familien untergebracht. Keiner der offiziell Beteiligten machte sich selbst die Hände mit irgendwelchen fragwürdigen Dingen schmutzig. Und es wurde Geld verdient. Sehr viel Geld.« »Sie haben die Kinder verkauft?«, fragte ich, zunehmend entsetzt und empört. Harriman zuckte die Achseln. »Die Aktionen waren kostspielig. Und einigen Beteiligten ging es nicht ausschließlich ums ›Wohl der Kinder‹, wenn Sie verstehen.« Er wirkte so ruhig, so unbeteiligt, dass ich seine Erklärungen kaum glauben konnte. Er hatte soeben gesagt, Max hätte gemeinsame Sache mit dem organisierten Verbrechen gemacht, um Kinder aus ihren Wohnungen und Familien zu verschleppen und an fremde Leute zu verkaufen. Wohlhabende, wichtige Leute. Ich dachte an die Starbesetzung bei den Galadinnern der 365
Stiftung und fragte mich, wie viele dieser Leute ihre Kinder bei Project Rescue gekauft hatten. »Ihrem Onkel war besonders wichtig, dass niemand zu Schaden käme. Als Teresa Stone während der Entführung ihrer Tochter Jessie ums Leben kam, rastete Max aus. Er wollte das Projekt beenden, aber mittlerweile war es ihm über den Kopf gewachsen. Einige der Beteiligten verdienten eine Menge Geld damit, und von denen wollte keiner einfach aufhören.« Harriman setzte sich mir gegenüber und schenkte Wasser aus einer Kristallkaraffe in drei dazu passende Gläser ein, die auf einem Tablett standen. »Sie sehen blass aus.« Er hielt mir ein Glas hin, aber ich lehnte ab. Er stellte es auf das Tablett zu »Max befürchtete, etwas angestoßen zu haben, das er nicht mehr unter Kontrolle hatte. Und das stimmte.« »Wie viele Kinder waren betroffen?«, fragte Jake und stellte sich hinter mich. Harriman schüttelte den Kopf. »Das weiß niemand«, erwiderte er lachend. »Ich meine, es hat ja schließlich niemand Buch geführt.« Jake sah aus wie eine Statue, kalt und starr. »Was ist mit Jake passiert?«, fragte ich. »Wir wissen, dass seine Mutter ihn abgeben wollte und später zurückgeholt hat. Wir wissen, dass er entführt wurde. Wie kam es, dass er im Heim landete?« Harriman hob wieder die Hände. »Es tut mir leid, aber diese Frage kann ich nicht beantworten. Ich kann nur so viel sagen: Jemand, der sich ein Kind kauft, gerät wahrscheinlich kaum in einen Gewissenskonflikt, wenn es darum geht, die Ware wieder umzutauschen. Denken Sie doch nur mal an die vielen Leute, die sich einen reinrassigen Welpen leisten und ihn ins Tierheim bringen, weil er zu viel bellt oder auf den Teppich scheißt.« Der Vergleich ließ mich zusammenzucken. Aber in einem Punkt hatte Harriman Recht. Man sollte an ein Kind nicht 366
ebenso leicht herankommen dürfen wie an einen Hundewelpen. Ich sah zu Jake. Sein Gesicht war bleich, seine Lippen ein schmaler Strich. »Sie glauben also, ich wurde aus meiner Familie ›entfernt‹, weil Dr. Jones mich für ein misshandeltes Kind hielt; und die Familie, an die ich verkauft wurde, fand mich zu anstrengend, so dass sie mich bei einer Einrichtung von Project Rescue abgab?« »Das wäre möglich«, antwortete Harriman und sah Jake an. »Es tut mir leid, mein Junge. Ich habe wirklich keine Ahnung. Diese Einzelheiten lassen sich nicht rekonstruieren.« »Einen Augenblick«, warf ich ein. »Wollen Sie mir sagen, mein Vater hätte da mitgemacht? Er wusste Bescheid?« »Ich weiß nicht, ob Ihr Vater über die andere Seite von Project Rescue informiert war.« »Ridley, er war der Arzt der vier vermissten Kinder«, sagte Jake leise. Er setzte sich neben mich und legte seine Hand auf mein Bein. »Gut. Das muss noch lange nicht heißen, dass er die Kinder herausgepickt hat. Jeder in der Klinik hätte das tun können, jeder Arzt und jede Krankenschwester.« Jake warf mir einen traurigen Blick zu. »Wie ist er dann an dich gekommen?« Wir saßen einen Augenblick schweigend da. Ich wandte mich wieder Harriman zu: »Bin ich Jessie Stone?« Er sah mich an, und ich meinte, in seinen Augen einen Hauch von Mitgefühl zu erkennen. »Ja«, sagte er, »das sind Sie. Ich weiß es nur, weil Ihr Fall besonders war.« »Inwiefern besonders?« »Ridley, ich habe eine Abmachung mit Ben und Grace. Sie müssen mit ihnen sprechen.« »Wollen Sie mir sagen, meine Eltern hätten mich gekauft?« »Das habe ich nicht gesagt. Fragen Sie Ben und Grace.« 367
»Ich frage aber Sie«, beharrte ich. Ich dachte an den Mann, den ich mein Leben lang für meinen Vater gehalten hatte. Sein Gesicht, seine Hände, seine Arme, die mich festhielten, waren mir so vertraut. Ich hatte gedacht, ich käme von ihm, seine Haut wäre meine Haut. Dabei hatte er mich gekauft wie ein Haus oder ein neues Auto. Unsere ganze Familie war nur eine künstliche Fassade gewesen, und dahinter war alles hohl und leer. »Was ist mit Ace?« »Ace«, sagte Harriman langsam. »Ace ist kein Kind aus dem Rettungsprojekt.« »Wie? Ich verstehe nicht, ich dachte …« »Ridley, ich kann mich nur wiederholen: Wenden Sie sich an Ben und Grace.« Mir fiel auf, dass er sie nicht meine Eltern nannte. Ich wusste nicht, was ich fühlen sollte. Ich hing in der Luft und fragte mich, wie sich der Aufprall wohl anfühlen würde. »Läuft es weiter?«, fragte Jake in meine Gedanken hinein. »Ich habe von derlei Vorgängen keine Kenntnis. Soweit ich informiert bin, hat Project Rescue die Operationen eingestellt.« »Wie können wir das glauben?«, fragte ich. Ich fühlte mich mutlos. »Sie haben selbst gesagt, es wäre Max über den Kopf gewachsen.« »Was Sie glauben, interessiert mich nicht«, erwiderte Harriman und stand auf. Seine Stimme war eiskalt. »Mich interessiert nur, dass Sie Ihren verdammten Mund halten. Zwingen Sie mich nicht, das Max gegebene Versprechen zu brechen. Zwingen Sie mich nicht, Sie zum Schweigen zu bringen.« Jake stand auf und ging auf Harriman zu. Ich griff nach seiner Hand, aber er riss sich los, und im nächsten Moment krachte seine harte Faust gegen Harrimans Kinn. Harriman keuchte so etwas wie »uff« und taumelte zurück. Ich dachte, er würde 368
fallen, aber er fing sich und klammerte sich an der Schreibtischkante fest. Ich sprang auf und packte Jake am Arm, bevor er wieder auf Harriman losgehen konnte. »Hör auf, das bringt nichts!«, rief ich. Aber Jake sah mich gar nicht an, er hatte nur Harriman im Blick. Mit kalter Miene zog Harriman ein Taschentuch heraus und tupfte sich das Blut ab, das ihm in einer dünnen Linie übers Kinn lief. »Geht es Ihnen jetzt besser?«, fragte er Jake. »Ich werde Ihnen den Gefallen tun, Sie nicht zu verklagen. Sie hatten eine schwere Kindheit.« Ich spürte, wie Jakes Körper sich anspannte, so als wollte er einen weiteren Schlag landen, aber ich klammerte mich an ihm fest. »Kinder, es gibt im Leben keine Garantien. Geliebt oder nicht, misshandelt oder verzärtelt, bewundert oder vernachlässigt … Wir können es uns nicht aussuchen. Nur unsere Einstellung dazu, die liegt bei uns. Jake, Sie hatten es schwer. Ridley, Sie hatten es ziemlich gut. Aber Sie stehen beide hier, gesund und lebendig. Und Sie haben sich gefunden. Machen Sie was daraus. Das ist schon mehr, als die meisten Menschen haben.« Eine Ridley wollte sich auf das Sofa legen und weinen. Eine andere Ridley wollte sich auf Alexander Harriman stürzen und ihn in ihrer Wut und Verzweiflung schlagen. Wieder eine andere Ridley wollte davonlaufen und nie wieder an diesen Mann und an das, was er gesagt hatte, denken. Und noch eine andere Ridley wollte zur Polizei und zur Presse gehen und sich nicht um die Folgen für sich, Ace, ihre Eltern, Jake und für all die Kinder von Project Rescue, die ihre schönen Lügen lebten, scheren. Harriman hatte Recht damit gehabt, seine Informationen seien verbotene Früchte. Was sollten wir damit machen? Ich fühlte mich innerlich wie abgestorben. Ich suchte panisch nach weiteren Fragen, schließlich wusste ich, dass dies die letzte
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Gelegenheit war, ihm welche zu stellen. Aber mir fiel keine einzige ein. »Mein Vater würde bei so etwas nicht mitmachen. Niemals.« Ich sah zu Jake. Ich wollte ihn unbedingt davon überzeugen. Aber sein Blick verriet mir, dass es anders war. Harriman zuckte die Achseln. »Es würde schwierig, die Behörden davon zu überzeugen – bei seiner Position, bei der Arbeit, die er für die legale Abteilung des Projekts geleistet hat, bei seiner Beziehung zu Max und nicht zuletzt Ihrem Besitz.« Ich wusste darauf nichts zu antworten. Das Wort Besitz gab mir den Rest. Schließlich brachte ich ein »Was haben Sie da gesagt?« heraus. »Ich habe gesagt, dass Max nicht mehr lebt. Falls all das herauskommt, muss irgendjemand für Project Rescue einstehen. Sie sind die einzige Verbindung zwischen dem kriminellen und dem legalen Arm des Projekts. Was, glauben Sie, würde das für Ihren Vater bedeuten? Für seine Karriere? Für all das Gute, das er in seinem Leben erreichen wollte? Es würde ihn ruinieren.« Ich war wie betäubt. Ich sah zu Jake, der offenbar ruhiger geworden war. Er setzte sich neben mich. Ich nahm ihn in die Arme. »Es tut mir leid«, sagte ich leise. »Ist schon gut«, flüsterte er in mein Haar. »Ist schon okay. Komm, wir gehen.« »Wo ist mein Bruder?«, fragte ich erschreckt. Ace war mir plötzlich wieder eingefallen. Harriman ging zu einer Tür am Ende seines Büros und öffnete sie. Dahinter befand sich ein Konferenzraum mit einem langen Tisch und mehreren Schreibtischen. Auf einer breiten Ledercouch lag mein Bruder. Er wirkte unverletzt und war nicht gefesselt, nur bewusstlos. Er sah, abgesehen von den dunklen
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Schatten unter seinen Augen, kreidebleich und wie eine Leiche aus. Ein Arm baumelte herunter. »Seine Freundin hat sich heftiger gewehrt als er«, erklärte Harriman. »Heute liegt er auf meiner Couch, morgen in einer Nebenstraße auf der Lower East Side. Heute lebendig, morgen … Hängt ganz von Ihnen ab.« Ich wünschte, ich könnte jetzt sagen, an diesem Punkt sei ein Wunder geschehen, und es wäre uns durch irgendeinen heldenhaften Trick gelungen, Alexander Harriman übers Ohr zu hauen. Wir konnten aber nicht mehr tun, als Ace auf die Beine zu stellen und zur Tür zu schleifen. Alexander Harriman hatte in einem weiteren Punkt Recht behalten. Ich weiß nicht, woher er mich so gut kannte. Das Wissen über die möglichen Konsequenzen hatte auf mich eine äußerst abschreckende Wirkung. Selbst wenn das Leben von Ace nicht in Gefahr gewesen wäre – wäre ich wirklich bereit, meinem Vater das anzutun? Würde ich wirklich wollen, dass er für das bezahlt, was er vielleicht oder vielleicht auch nicht getan hat? Wäre ich stark genug, das Rettungsprojekt bloßzustellen? Hatte ich überhaupt das Recht? In jenem Moment lautete die Antwort auf alle Fragen: Nein. Aber vergessen Sie nicht, wie wir auf das alles kamen. Es ging um die kleinen Dinge und wie sie die Entwicklung unseres Lebens beeinflussen. In diesem Fall war es mein Handy. Während ich zögernd im Taxi vor Harrimans Kanzlei gesessen hatte, war mir eine alberne und verzweifelte Idee gekommen. Ich drückte die Verbindungstaste auf meinem Handy und steckte es wieder in die Tasche. Ich wusste, das Gerät würde automatisch meinen letzten Anrufer zurückrufen – Detective Salvo. Ich wusste nicht, ob es funktionieren würde, ob er etwas verstehen oder die Verbindung eventuell nutzen könnte, uns zu lokalisieren. Es war der verzweifelte Griff nach dem rettenden
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Strohhalm. Zum Schluss erwies es sich als gar nicht so albern, wie ich gedacht hatte. Durch die kleinen Gesprächsfetzen, die Salvo durch den Stoff meiner Jacke aufschnappen konnte, kam Licht in einige dunkle Winkel seiner Ermittlungen. Als Jake und ich mit dem bewusstlosen Ace zwischen uns aus Harrimans Kanzlei kamen, hatte sich die Central Park West in ein Meer aus Streifenwagen verwandelt. Am Bordstein lehnte Detective Salvo an seinem Dienstwagen, einem Caprice. »Mrs. Jones, Mr. Jacobsen, wie schön, Sie beide gesund und munter zu sehen. Wer ist Ihr Freund da?« »Mein Bruder«, antwortete ich rasch wie zur Verteidigung. Das war er gewesen, und das würde er immer bleiben, egal, ob blutsverwandt oder nicht. Salvo nickte. »Mr. Jacobsen, ich muss Sie bitten, Ihre Waffe auf den Boden zu legen und außer Reichweite zu treten. Dann heben Sie bitte Ihre Hände über den Kopf.« Während ich das Gewicht von Ace allein stützte, kam Jake der Aufforderung nach. Aus einem Krankenwagen, den ich im Dunkeln zunächst gar nicht bemerkt hatte, stiegen zwei Sanitäter. Sie legten Ace auf eine Trage. »Ist er verletzt?«, fragte einer der Sanitäter. »Ja«, sagte ich. »Ich weiß nicht. Ich glaube, er ist high.« Ich sah auf meinen Bruder hinunter und fühlte mich unendlich traurig. Als ich wieder aufschaute, begegnete ich Detective Salvos Blick. »Das waren ein paar ziemlich anstrengende Tage, Ridley«, meinte er leise. »Wie haben Sie uns gefunden?«, fragte ich. Er hielt sein Handy hoch. »Gut gemacht«, sagte er. »Das war kein Zufall, oder?« Ich schüttelte den Kopf.
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»Sie beide kommen mit mir«, befahl er. »Wir haben eine Menge zu besprechen.« »Sind wir verhaftet?«, fragte Jake. »Nein, im Moment nicht. Aber Sie sollten kooperieren, in Ihrem eigenen Interesse. Ansonsten kann ich Sie gerne festnehmen. Mr. Jacobsen. Ich verhafte Sie wegen des Mordes an Christian Luna. Und Sie, Ridley, verhafte ich wegen Beihilfe. Soll ich Ihnen Ihre Rechte vorlesen?« Ich sah zu Jake und schüttelte den Kopf. »Wir kommen mit«, erklärte ich. »Gute Idee«, sagte Detective Salvo. »Wie viel haben Sie gehört?«, fragte ich. »Genug«, antwortete er und führte mich zum Wagen. Jake folgte uns. »Dann wissen Sie, dass ich Ihnen nichts sagen darf.« »Ich habe genug gehört. Sie brauchen mir nichts zu sagen«, meinte er. In dem Augenblick dachte ich: Wenn Detective Salvo alles weiß, was ich der Polizei nicht verraten darf, was wird dann aus Ace und meinen Eltern? Ich blieb stehen. Beim Gedanken an meinen Bruder, der nicht mein Bruder war, und meine Eltern, die nicht meine Eltern waren, wurde mein Herz schwer wie Blei. Ich dachte an alles, was uns bevorstand, nur weil ich eine bestimmte Entscheidung getroffen hatte. Ich dachte an meinen Onkel Max, der Gutes im Sinn gehabt hatte und mit dem schrecklichen Wissen sterben musste, dass seine wohlgemeinten Absichten entsetzliche Folgen zeitigten. Nichts davon war rückgängig zu machen. Niemand würde für Gerechtigkeit sorgen. Wo blieb da die Ausgewogenheit, an die ich immer geglaubt hatte? Auf einmal konnte ich kaum mehr atmen. Ich hörte, wie Jake etwas sagte. Detective Salvos besorgte Stimme schien von weit, 373
weit her zu kommen. Vor meinen Augen tanzten Sterne, in meinem Kopf war ein Rauschen, und dann kippte plötzlich alles und wurde pechschwarz. Mit dröhnendem Kopf kam ich im hinteren Teil eines Krankenwagens kurz zu Bewusstsein. Ich tastete nach meinem Kopf und spürte einen Verband. Meine Finger wurden feucht von Blut. Jake und Detective Salvo saßen neben mir. »Was ist los?«, fragte ich. Ich blieb nicht lange genug wach, um die Antwort zu hören. Im Eingangsbereich eines Krankenhauses liefen junge Leute in grüner Pflegekleidung geschäftig hin und her. Ich hörte eine Durchsage, roch das Verbandszeug und Desinfektionsmittel. Jake hielt meine Hand und beobachtete mich. Er wirkte überaus besorgt. »Was ist denn?«, fragte ich. »Du bist umgekippt«, antwortete er. »Ich habe es nicht geschafft, dich rechtzeitig aufzufangen, und du bist hart mit dem Kopf auf den Bürgersteig aufgeschlagen. Du hast eine …« Aber da verschwand seine Stimme wieder. Als ich wieder aufwachte, war alles dunkel und still. Ich hörte das gleichmäßige Piepen eines Herzmonitors und brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass hier mein Herz überwacht wurde. Kratzige, steril riechende Bettlaken, harte Matratze, metallenes Bettgestell. Durch den Türspalt kroch Licht herein, und als meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich eine Gestalt auf dem Stuhl gegenüber sitzen. Ich hätte ihn überall wiedererkannt. »Dad?« »Ridley«, sagte er, stand rasch auf und kam zu mir. »Wie geht es dir, Spätzchen?« »Mein Kopf tut weh.« 374
Vorsichtig legte er eine Hand auf meine Stirn. »Kein Wunder«, meinte er. »Was ist passiert?« »Du bist ohnmächtig geworden und hast dir den Kopf aufgeschlagen, bevor dich irgendjemand auffangen konnte. Du hast eine böse Gehirnerschütterung und eine Menge Blut verloren.« Ich versuchte, mich an den Sturz zu erinnern, und dabei fiel mir augenblicklich der ganze Tag wieder ein: Die Glasscheiben im Diner, die Kirche, Aces Wohnung, Alexander Harrimans Kanzlei. »Dad«, schluchzte ich, »so viele Lügen!« Mein Vater seufzte und zog einen Stuhl heran. Er ließ sich darauf nieder und stützte den Kopf in die Hand. Als er mir wieder das Gesicht zuwandte, konnte ich erkennen, dass er geweint hatte. Das machte mir Angst. »Dad, wer bin ich?« Ich versuchte, mich aufzurichten; aber als der Raum ins Schwanken geriet, ließ ich mich wieder aufs Kissen zurücksinken. Er schüttelte langsam den Kopf. »Du bist Ridley. Meine Ridley. Das wirst du immer sein.« Ich erkannte die Wahrheit in dem, was er sagte. Aber es war nicht die ganze Wahrheit, das wussten wir beide. »Dad, keine Lügen mehr.« »Ich lüge nicht!«, rief er. Er schrie fast. »Noch mehr könntest du nicht meine Tochter sein.« Mir war klar, dass er uns beide am liebsten in seinen Mantel der Verleugnung eingehüllt hätte. Aber es war zwecklos. Der Mantel passte nicht mehr. Ich war herausgewachsen. »Dad, ich bin Ridley, aber das war ich nicht immer. Ich war einmal Jessie Amelia Stone, die Tochter von Teresa Stone. Die Tochter einer Frau, die für Project Rescue sterben musste.« 375
Mein Vater sah mich einen Augenblick lang verständnislos an. Die Falten um seine Augen waren mir nie zuvor aufgefallen. Die Haut seiner Hände wirkte so trocken wie Pergament. Es waren die Hände eines alten Mannes. Er stützte seinen Kopf damit. »Nein«, murmelte er durch die Finger. »Hast du es gewusst, Dad? Hast du gewusst, was diese Leute getan haben?« Er schüttelte energisch den Kopf. »Nein«, wiederholte er entschlossen. »Ich hab dir alles über Project Rescue erzählt, was ich weiß. Falls sie getan haben, was dieser Detective vermutet, so habe ich nichts davon geahnt. Ridley, du kennst mich. Du weißt, ich wäre zu so etwas niemals imstande. Das weißt du, oder?« Ich war mir nicht sicher, ob ich ihm glauben sollte. Das war das Schlimmste von allem. Ich konnte niemandem mehr vertrauen. Jeder hatte seine eigenen Interessen und Gründe, mir die Wahrheit vorzuenthalten. »Wie bist du dann ausgerechnet an mich gekommen, Dad? Wie konnte Ridley Jones aus mir werden, wenn du nichts geahnt hast?« Er warf mir einen tieftraurigen Blick zu, der mich an den von Max damals erinnerte, als mein Vater die Arbeitszimmertür hinter ihnen geschlossen hatte. In dem Moment ging die Tür auf, und meine Mutter kam herein. Sie wirkte gefasster als mein Vater, reservierter. Um ihren Mund spielte ein leises, trauriges Lächeln. Ich war mir nicht im Klaren, wie lange sie uns belauscht hatte, ja, nicht einmal darüber, wie viel sie überhaupt wusste. Ich sah sie an und musste an den Schmetterling im U-Bahnhof Union Square denken. Sie stellte sich neben mein Bett und legte mir ihre kühle, trockene Hand auf die Stirn, so als gäbe sie dem mütterlichen Impuls nach, meine Temperatur zu überprüfen.
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»Es ist Zeit, Ben. Ridley hat Recht. Keine Lügen mehr.« Sie sah mich immer noch an, aber ich wurde aus ihrem Blick nicht schlau. »Nein, Grace. Wir haben es versprochen.« Mein Vater flüsterte fast. »Max ist tot«, entgegnete meine Mutter schroff. Ihr Tonfall schien meinen Vater zu erschrecken. »Ich will dieses Geheimnis nicht länger für mich behalten. Es hat schon zu viel Schaden angerichtet. Wenn wir von Anfang an ehrlich gewesen wären, hätte Ridley diesen Albtraum gar nicht erst durchleben müssen.« Mein Vater schien auf seinem Stuhl zusammenzusacken. Langsam schüttelte er den Kopf, dann sagte er: »Vielleicht hast du Recht.«
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EINUNDDREISSIG
I
ch hatte gedacht, sie würden mir vom Rettungsprojekt erzählen, dass sie Max heimlich unterstützten oder auf andere Weise an der Sache beteiligt waren. Ich dachte, sie würden mir berichten, wie ich Teresa Stone weggenommen, von ihnen gekauft und wie ein eigenes Kind großgezogen wurde. Ich erwartete, die vielen Gründe zu hören, mit denen sie das rechtfertigten, und dass sie mir klarmachten, dass ich es bei ihnen ohnehin besser gehabt hätte als anderswo. Aber das waren nicht die Geheimnisse, die meine Mutter meinte. »Zunächst einmal möchte ich, dass du weißt, dass dein Vater mit Project Rescue nichts zu tun hatte«, begann meine Mutter. »Was dieser Privatdetektiv behauptet, ist mir egal. Du musst mir glauben, dein Vater würde niemals und unter gar keinen Umständen Verbrechen wie Kindesentführung oder Mord unterstützen. Er mag diese Kinder behandelt und sie als Missbrauchsopfer eingestuft haben, aber er würde sich niemals für derlei kriminelle Sachen hergeben.« Ich schwieg. Ich wollte ihr glauben. Außerdem entsprach es dem Bild, das ich von meinem Vater hatte. Trotzdem konnte ich mir nur schwer vorstellen, dass er von den Aktivitäten des Rettungsprojekts nichts geahnt haben sollte. Außerdem blieb die Tatsache bestehen, dass sie beide mich mein ganzes Leben lang belogen hatten. Ich glaubte nicht mehr in dem Maße an sie, wie ich es noch vor einer Woche getan hatte. »Ridley.« Meine Mutter wartete auf meine Zustimmung. Ich nickte, nur damit sie weitersprach. »Du bist nicht auf diesem Weg zu uns gekommen.« »Wie denn?«
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»Max hatte während seines Lebens ständig wechselnde Freundinnen gehabt, und anfangs schien Teresa Stone nichts Besonderes zu sein. Eine hübsche junge Frau, die in Max’ Büro in Manhattan am Empfang saß. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er auf sie aufmerksam wurde und sie zum Essen einlud. Natürlich sagte sie ja. Niemand konnte Max widerstehen, seinem Charme, seinem Geld, seiner Art, einem Mädchen den Kopf zu verdrehen. Um ehrlich zu sein, machte ich mir meist nicht einmal die Mühe, mir ihre Namen zu merken. Ich glaube, abgesehen von Esme, war Teresa die einzige Frau, mit der Max sich öfter als einmal traf.« »Ich habe sofort gemerkt, dass sie anders war«, warf mein Vater ein. »Sie hatte etwas an sich, eine Freundlichkeit, eine Anständigkeit, die Max gefiel. Sie war nicht wie die anderen.« Durch einen Blick gab meine Mutter ihm zu verstehen, er hätte sie unterbrochen. »Entschuldige«, murmelte er. Zum ersten Mal waren sie ihr bei einer Weihnachtsfeier begegnet, dann brachte Max sie zum Essen bei meinen Eltern mit. Eine Weile später begleitete sie ihn zu einer Aufführung von La Bohème in der Met, und danach hatten sie alle zusammen im »21« gegessen. »Sie war zurückhaltend«, erinnerte sich meine Mutter, »ganz offensichtlich schüchterte der Rahmen der Veranstaltung sie ein. Die Logenplätze in der Oper, Max’ Aufmerksamkeit im ›21‹ … Ich weiß auch nicht. Mir gefiel sie. Sie nahm das alles nicht als selbstverständlich hin und hatte auch nicht diese Anspruchshaltung wie viele andere von Max’ Freundinnen.« Das Wort Freundinnen betonte sie ganz besonders, um ihrer Verachtung unmissverständlich Ausdruck zu verleihen. »Jedenfalls dachten wir, na ja, vielleicht wird es ernst? Eine echte Freundin, keine gemietete – gemietet im übertragenen und manchmal auch wörtlichen Sinn.« Meine Mutter war immer 379
schon ein wenig boshaft. »Aber dann verschwand sie. Wir haben sie nie wiedergesehen. Ich erkundigte mich einmal nach ihr, obwohl das bei Max ein absolutes Tabu war. Er meinte, sie hätten nicht dieselben Interessen gehabt – irgendwas Ausweichendes in der Art. Aber es steckte mehr dahinter. Ridley, wir haben uns bereits darüber unterhalten.« Ich erinnerte mich an unser Gespräch über Esme und an die Dinge, die meine Mutter über Max gesagt hatte. »Ein Mann wie Max«, erklärte mein Vater, »der sich nach all den Jahren der Misshandlungen und schrecklichen Erlebnisse innerlich so gebrochen und vereinsamt fühlt, ist kaum zur Liebe fähig. Er war intelligent genug, das zu erkennen. Aus diesem Grund hat er nie geheiratet.« Ich dachte an die Parade von Max’ Prostituierten, die Einsamkeit, die ich stets in seiner Gegenwart spürte, die seltsame Mischung aus Zuneigung und Neid, mit der er meine Eltern immer betrachtete. All das, was ich bislang ignoriert hatte, fügte sich plötzlich zu einem Ganzen. »Dad, was willst du damit sagen? Dass er Teresa Stone kannte und die Entführung ihres Kindes trotzdem zuließ?« Meine Eltern tauschten einen Blick. »Nein, so war es nicht«, antwortete meine Mutter und starrte auf ihre Fingernägel. Mit großer Mühe gelang es mir, mich aufzurichten. Mein Vater sprang auf, um mir zu helfen. Das Zimmer begann, sich unangenehm zu drehen. »Max und Teresa gingen getrennte Wege«, sagte meine Mutter. »Schließlich verließ sie seine Firma und nahm eine andere Stelle an. Ich habe sie nie wiedergesehen.« Sie seufzte und stellte sich ans Fenster. Sie zögerten es hinaus, aber ich drängte sie nicht.
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»Ein paar Jahre später tauchte sie mit einem Kleinkind in der Little-Angels-Klinik auf. Ein kleines Mädchen, fast zwei Jahre alt«, sagte mein Vater. »Ich konnte mich an sie erinnern, aber sie hat mich, glaube ich, nicht erkannt. Ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, deswegen erwähnte ich meine Freundschaft zu Max nicht. Während der folgenden Monate gab es einige Zwischenfälle, die mich beunruhigten.« »Er hat Jessie den Arm gebrochen. Christian Luna.« Mein Vater nickte. »Du weißt also Bescheid?« »Er hat es mir erzählt, kurz bevor er erschossen wurde.« Ich kämpfte mit den Tränen und gegen die Erschöpfung. Mein Vater nickte stirnrunzelnd. »Ich habe mit ihr darüber geredet«, fuhr er fort. »Sie versprach mir, Luna aus ihrem Leben zu verbannen, und ich hakte die Sache ab.« »Aber Max hast du trotzdem davon erzählt?« Mein Vater schüttelte den Kopf. »Nein, habe ich nicht. Durfte ich auch gar nicht. Ich war an meine ärztliche Schweigepflicht gebunden.« »Er hat trotzdem irgendwie davon erfahren«, sagte ich. »Das weiß ich nicht.« Mein Vater zuckte die Achseln und blickte zur Seite. »Ich weiß bloß, dass er einige Wochen später vor unserer Tür stand. Zusammen mit der kleinen Jessie Stone.« Er hielt inne und legte seine Hand auf meinen Arm. »Mit dir.« »Mit mir?« »Ridley«, sagte mein Vater mit brüchiger Stimme und leeren Augen. »Ich bin nicht dein leiblicher Vater; so viel weißt du. Aber Christian Luna auch nicht, selbst wenn er das geglaubt hat. Vielleicht hatte Teresa es ihm eingeredet.« Ich schüttelte den Kopf. »Wer dann?« »Ridley, Schätzchen«, erklärte meine Mutter, »du bist die Tochter von Max.« 381
Ich starrte sie an und erkannte, dass sie die Wahrheit sagte. In meinem Kopf hörte ich Max’ Stimme. Ridley, vielleicht bist du das einzig Gute in meinem Leben. Ich fing an zu weinen, denn endlich hatte ich begriffen, wie er das meinte. Max war spätabends bei ihnen erschienen, nach Mitternacht und unangekündigt. Er hielt ein kleines Mädchen auf dem Arm. Seine Tochter, erklärte er ihnen, das Kind einer Frau, die er seit Jahren nicht gesehen hatte. Das kleine Mädchen klammerte sich an ihm fest und weinte leise und mit weit aufgerissenen Augen. So viele unbekannte Geräusche und Gesichter. »O mein Gott«, sagte mein Vater und nahm Max das Kind ab, »das ist die kleine Tochter von Teresa Stone. Ich habe sie in der Klinik behandelt.« Max sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. Auf seiner Stirn stand der Schweiß. »Du wusstest, dass ich eine Tochter habe?« »Nein, natürlich nicht«, antwortete mein Vater. »Ich wusste nicht, dass sie deine Tochter ist.« Max stolperte in die Küche und rieb sich die Schläfen. Er setzte sich an den Tisch. Die kleine Jessie zog meinen Vater am Ohrläppchen und gluckste leise. »Etwas Schreckliches ist mit Teresa passiert. Ben, sie ist tot. Wurde in ihrer Wohnung ermordet.« Seine Stimme war nur noch ein Flüstern. Das kleine Mädchen fing an zu weinen. Meine Mutter nahm es auf den Arm und ging ins Nebenzimmer, um es zu beruhigen. »Was? Wann?«, fragte mein Vater schockiert. »Das ist doch jetzt egal«, zischte Max. »Das ist doch jetzt egal?«, wiederholte mein Vater ungläubig. »Max, was ist los?« »Ich kann dieses Kind nicht versorgen, Ben. Das weißt du.« »Moment. Noch einmal von Anfang an, bitte. Wie bist du an dieses Kind gekommen?« 382
»Die Polizei hat mich angerufen. Teresa hat mich als Vater in die Geburtsurkunde eintragen lassen. Ich habe das Kind eben vom Kinderheim abgeholt.« »Aber das war gelogen«, unterbrach ich meinen Vater. »Teresa Stone wurde nachts ermordet, und Jessie verschwand spurlos.« Mein Vater nickte. »Du hast Recht. Max’ Name stand nicht in der Geburtsurkunde. Teresa hatte keinen Vater angegeben. Die Polizei wäre nie und nimmer auf Max gekommen. Aber als wir das erfuhren, war es schon zu spät.« »Wie meinst du das, zu spät?« Mein Vater schüttelte den Kopf. »Wir haben dich in derselben Nacht aufgenommen und alles, was er uns erzählte, ohne Fragen akzeptiert.« »Wir hatten achtzehn Monate lang vergeblich versucht, ein zweites Kind zu kriegen. Du warst die Antwort auf unsere Gebete«, sagte meine Mutter. Sie saß inzwischen am anderen Ende des Zimmers. Es war dunkel. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen. »Und als euch klar wurde, dass Max gelogen hatte, dass Jessie vermisst wurde, dass man den Mörder ihrer Mutter suchte – da habt ihr einfach geschwiegen?« »Wir hatten uns sofort in dich verliebt. Und bis wir begriffen, dass Max uns das Wesentliche verschwiegen hatte, waren wir schon ziemlich weit gegangen«, erklärte mein Vater. Er wirkte verlegen. »Weit gegangen?« »Wir hatten uns Max’ Verbindungen zunutze gemacht, um dich wie ein Kind aus dem Rettungsprojekt aussehen zu lassen, das ohne Papiere ausgesetzt wurde. Wir ließen eine neue Geburtsurkunde und Sozialversicherungskarte für dich ausstellen.« 383
»Und so wurdest du Ridley Jones«, sagte meine Mutter lächelnd, so als verkündete sie mir das glückliche Ende einer Gutenachtgeschichte. »Und Jessie Stone verschwand«, sagte ich. »Bis ich Justin Wheeler vor seinem Schicksal rettete.« Nichts an ihrer Geschichte überzeugte mich. Da war irgendein Missklang, und zu viele Fragen blieben offen. Wie kam man beispielsweise dazu, mitten in der Nacht von einem Freund ein Kind aufzunehmen, ohne Fragen zu stellen? War es nicht ein merkwürdiger Zufall, dass Jessie, die Tochter von Max, von Dr. Benjamin Jones, dem besten Freund von Max, ärztlich betreut wurde? Wenn Ben nicht gewusst hatte, wessen Tochter Jessie war, und Max’ Name nicht auf der Geburtsurkunde stand, wie hatte Max dann überhaupt von Jessie erfahren? Hatte er an jenem Abend für Jessies Entführung gesorgt? Hatte er Teresa Stones Ermordung angeordnet? Fragen über Fragen, und eine Weile brachte ich keine einzige heraus. Die Antworten waren möglicherweise zu hässlich. Beide musterten mich. Ich war nicht sicher, was ich als Nächstes sagen sollte. »Also habt ihr das Mädchen aufgenommen und Max versprochen, es als euer eigenes Kind auszugeben. Ihr habt Urkunden gefälscht, um seine wahre Identität zu verschleiern. Habt ihr niemals nach der Mutter gefragt und wie sie zu Tode kam?« »Na ja, wir waren alle der Überzeugung, Christian Luna hätte sie umgebracht. Er war auf der Flucht. Abgesehen von Max, hatte das Kind keine Angehörigen mehr.« Mein Vater hielt kurz inne. »Was wäre mit ihr passiert, wenn wir sie nicht aufgenommen hätten? Sie wäre ins Heim abgeschoben worden oder von irgendwelchen Fremden adoptiert.« »Wenn Max sie bei sich behalten hätte, wäre sie von Kindermädchen großgezogen worden«, sagte meine Mutter. 384
Sie hatten ein Leben lang Zeit gehabt, sich Entschuldigungen zurechtzulegen. Ich fühlte mich nicht berechtigt, sie zu verurteilen. Wie auch? Wenn sie gelogen und gegen das Gesetz verstoßen hatten, wenn sie die Augen vor den suspekten Details meines Auftauchens in ihrem Haus verschlossen haben, so geschah das nur für Jessie, für mich. »Warum habt ihr mir nicht einfach die Wahrheit gesagt und mich adoptiert? Viele Eltern machen das, es ist ja nicht gerade ein Tabu.« »Max war fest entschlossen, seine Vaterschaft vor dir geheimzuhalten. Er wollte verhindern, dass du jemals von seiner Unfähigkeit, dir ein guter Vater zu sein, erfährst. Dass du auf die Idee kommst, er hätte dich nicht gewollt.« »Und er wollte verhindern, dass ich meiner Vergangenheit auf den Grund gehe. Dass ich herausbekomme, was Teresa Stone zugestoßen ist. Und er wollte keine Fragen über Project Rescue beantworten müssen.« »Project Rescue hat nichts damit zu tun«, wiederholte mein Vater streng. Ich wusste nicht, wie er darauf kam, aber mir wurde klar, dass er wirklich daran glaubte. Dass er es glauben musste. »Wenn der Name von Max nicht in der Geburtsurkunde auftauchte und die Polizei ihn nie verständigte, wie kam er dann in jener Nacht an Jessie?«, fragte ich. Sie sahen erst einander, dann mich an. »Hatte er etwas mit dem Mord zu tun?«, fragte ich mit schwacher Stimme. »Nein«, entgegnete mein Vater. »Selbstverständlich nicht.« »Wie sonst? Wie erfuhr er von mir? Wie kam ich damals zu ihm?« Beide schwiegen. Dann sprach meine Mutter, ganz leise, sie flüsterte fast. 385
»Wir haben uns diese Fragen nie gestellt, Ridley«, sagte sie. »Wozu wäre das gut gewesen?« Verleugnung, mein Familienerbe. Wenn du die Frage nicht stellst, wirst du dich auch nicht mit unbequemen Antworten herumschlagen müssen. Ich versuchte, die Informationen zu verarbeiten, aber mein erschöpftes Gehirn streikte. Ben und Grace waren nicht meine Eltern. Max war mein Vater. Meine Mutter war brutal ermordet worden. Max hatte eventuell – sogar mit einiger Wahrscheinlichkeit – etwas damit zu tun. Und ich war mehr oder weniger verschleppt worden. Meine Geburtsurkunde und meine Sozialversicherungsunterlagen waren gefälscht. So viel hatte ich verstanden. Dennoch drangen die Informationen nicht wirklich zu mir durch. Ich sank erschöpft in meine Kissen zurück. Ich hatte keine Tränen mehr übrig, war vollkommen abgestumpft. Vielleicht lag das an den Medikamenten. Ich betrachtete die Menschen, die an meinem Bett saßen, und versuchte mir vorzustellen, sie wären nicht meine Eltern. Es war unbegreiflich. Es brachte mich darauf, dass es nicht das Blut ist, das uns verbindet, sondern gemeinsame Erfahrungen. Teresa Stone war für mich ein fremder Mensch, der ein grausames und ungerechtes Ende gefunden hatte. Aber sie kam mir so weit entfernt und verblichen vor wie das Foto, mit dem alles anfing. Was Max betraf, so würde ich einige Zeit brauchen, ihn in seiner neuen Rolle zu sehen; als meinen Vater, meinen verhinderten Vater. Er war der gute Onkel gewesen, den ich mein ganzes Leben lang lieb gehabt hatte. Natürlich gelang es mir nicht, Wut auf ihn zu empfinden für die Dinge, die er meines Wissens getan hatte, und jene, die ich nur vermuten konnte. »Was ist mit Ace?« »Was soll mit ihm sein?«, fragte mein Vater. »Ist er euer Sohn?« 386
Mein Vater nickte. »Ja, das ist er, unser leibliches Kind.« Ich dachte einen Moment darüber nach. »Weiß er, dass ich nicht euer leibliches Kind bin?« Mein Vater nickte. »Einmal hat er ein Gespräch zwischen mir und deinem Onkel belauscht. Wir waren unvorsichtig. Aber unsere Probleme mit Ace hatten schon lange vor diesem Tag begonnen. Ich glaube sogar, er wollte damals Geld aus meinem Arbeitszimmer klauen, als Max und ich hereinkamen und die Tür hinter uns zumachten. Er hat sich hinter dem Schreibtisch versteckt und alles mit angehört.« Ich musste lachen. »Na ja, aus welchem Grund ist er dann am Arsch?« »Ridley«, rügte mich meine Mutter, die bei der Erwähnung von Ace sichtlich erstarrt war. »Rede nicht so.« Rede nicht so. War das zu glauben? Eltern hören einfach nie auf, einen zu bevormunden. Ben und Grace waren meine Eltern, und das würden sie immer bleiben. Daran war nicht zu rütteln. »Wo ist er?« »Sie haben ihn in eine Entzugsklinik eingewiesen, dürfen ihn aber nicht gegen seinen Wille dabehalten. Wenn er gehen will, müssen sie ihn entlassen.« Ich nickte. Normalerweise wäre ich verzweifelt und besorgt um ihn gewesen. Doch ein Teil von mir hatte sich von Ace verabschiedet. Natürlich liebte ich ihn noch immer, und ich wollte nur sein Bestes. Aber ich hatte endlich begriffen, dass ich, egal, wie sehr ich mich bemühte, nicht über ihn bestimmen konnte. Denn das war es, was ich die ganze Zeit versuchte. Ich hatte gehofft, dass ich ihn nur genug lieben, ihm genug helfen müsste, und dann würde er sich selbst lieben und sich selbst helfen.
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Mein Vater seufzte. »Ich glaube, er fühlte sich zurückgesetzt. Von mir und Max. Aber so war es gar nicht. Es gab immer genug Liebe für euch beide. Genug von allem.« In seinem Sprechzimmer hatte er mir das Gleiche gesagt. Es klang wie ein Mantra, das er sich zur eigenen Beruhigung immer wieder vorsagen musste. »Mit dir war es immer einfach, Ridley. Es war leicht, dich zufriedenzustellen, und leicht, dich zu lieben.« Er sagte nicht »leichter«, aber ich hörte es an seinem Tonfall. »Wir wollen das nicht vertiefen«, unterbrach ihn meine Mutter. Ja, lass uns nicht weiter vertiefen, wer hier wen bevorzugt und das auf alle möglichen, nicht verbalen Arten vermittelt hat – dachte ich, ohne es auszusprechen. Als ich meiner Mutter einen Blick zuwarf, schaute sie weg. Mein Vater saß an meinem Bett. Er hatte die Hände auf meinen Arm gelegt und schien sich zu schämen. Ich weiß nicht genau, wofür, aber ich hatte keine Gelegenheit, ihn zu fragen. Die Tür ging leise auf, und Jake kam herein. Als ich ihn erkannte, fiel mir ein Stein vom Herzen. »Alles in Ordnung?«, wollte er wissen und blieb an der Schwelle stehen. »Ja«, gab ich zur Antwort. »Das sind meine Eltern, Ben und Grace.« Meine Mutter stand auf, klemmte sich die Handtasche unter den Arm und trat an mein Bett. »Wir haben uns bereits kennen gelernt«, klärte mich Jake auf, »und uns lange unterhalten.« Mein Vater nickte. Meine Mutter machte irgendein leises Geräusch, um ihre Missbilligung auszudrücken, beugte sich vor und küsste mich auf die Stirn. »Ruh dich aus, Schatz. Morgen früh sieht alles schon viel besser aus.« Einfach so. An ihren gestrafften Schultern und ihrem vorgereckten Kinn erkannte ich, dass sie das wirklich glaubte. Dass sie schon dafür sorgen würde. Ich beneidete sie. 388
Mein Vater stand auf und küsste mich aufs Haar. »Ich liebe dich, Kleines. Es tut mir so schrecklich leid.« Seine Entschuldigung klang so simpel; so als wäre das alles nur ein dummes Missverständnis, über das wir morgen schon lachen würden. »Ich liebe dich auch, Dad«, erwiderte ich, eher aus Gewohnheit. Natürlich liebte ich ihn. In einem Punkt hatte er Recht, mehr konnte ich seine Tochter nicht sein, leiblich oder nicht. Er beeilte sich, den Raum zu verlassen, nahm seinen Mantel vom Stuhl und nickte Jake knapp und kühl zu. Er wirkte alt und gebeugt. »Bis morgen«, sagte er und warf mir von der Tür her noch einen Blick zu. »Wir werden über alles reden, Ridley. Alles wird wieder gut werden.« »In Ordnung«, sagte ich. Ich sah, dass er nur ungern ging, dass er mich nicht mit der Wahrheit alleinlassen wollte. Er musterte Jake, den Wahrheitsboten, ohne die Wut in seiner Miene verbergen zu können. Ich glaube, er fühlte sich durch Jake entthront, so als hätte Jake in meinem Leben einen Platz eingenommen, der eigentlich für ihn frei bleiben sollte. Kaum war mein Vater aus der Tür, als ich auch schon zu weinen begann. Jake zog den Stuhl nah ans Bett heran, nahm meine Hand und ließ mich weinen. »Bist du in Ordnung?«, fragte ich Jake, als ich mich endlich wieder beruhigt hatte. »Ich bin okay. Ich fühle mich wirklich beschissen, weil ich dich nicht rechtzeitig aufgefangen habe.« »Das meine ich nicht.« Achselzuckend drückte er meine Hand. »Ich weiß gar nicht, was ich im Moment spüren soll. Ich hab noch so viel zu verarbeiten. Das wird ein bisschen dauern.« 389
Ich versuchte, verständnisvoll zu lächeln, und berichtete ihm alles, was meine Eltern mir gebeichtet hatten. »Ridley, das alles tut mir so leid – die ganzen Lügen, das ganze Chaos«, sagte er schließlich. So wie Jake musste ich die Erlebnisse der letzten Tage erst noch verarbeiten. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie meine Zukunft aussehen würde. Mein altes Leben lag in Scherben. Dennoch war ich immer noch ich, ich existierte immer noch. Das hatte etwas Tröstliches. »Mir tut es nicht leid«, sagte ich. Verwirrt sah er mich an. »Auf der Brücke«, erklärte ich und berührte sein schönes Gesicht. »Du hast gefragt, ob es mir leidtäte, dir begegnet zu sein. Ich bin dir noch die Antwort schuldig. Nein, es tut mir nicht leid.« Er lächelte, beugte sich vor und küsste mich ganz sanft auf den Mund. Dann flüsterte er in mein Ohr: »Ich liebe dich, Ridley Jones … oder wie auch immer du heißt.« Dann lachten wir, denn so traurig und schrecklich die Wahrheit auch war – Alexander Harriman hatte Recht: Wir waren gesund und lebendig, und wir hatten uns. Das war, wie er meinte, schon mehr, als die meisten Menschen haben.
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ZWEIUNDDREISSIG
I
ch glaube nicht an Fehler. Habe ich nie. Ich glaube an unzählige Wege, die vor uns liegen; die Frage ist nur, auf welchem wir zu unserem Ziel gelangen. Ich glaube nicht an Reue. Wenn man seine Vergangenheit bereut, konzentriert man sich nicht mehr auf das Wesentliche. Im Mount-Sinai-Hospital waren sie versessen darauf, mich schnell wieder loszuwerden. Ich war nur für den »Katastrophenfall« krankenversichert (private Krankenkassen sind teuer, und ich werde so gut wie nie krank). Es entspann sich eine Debatte darüber, ob man tatsächlich von einer Katastrophe sprechen kann, wenn jemand infolge einer Panikattacke – denn danach sah es aus – ohnmächtig wird und sich auf dem Bürgersteig den Kopf aufschlägt. Es gab eine Debatte über die Bedeutung des Wortes und darüber, ob der Vorfall selbst oder die Folgen desselben lebensbedrohlich sein müssten, damit die Versicherung einspringt. Da mich die letzten knapp vierundzwanzig Stunden im Krankenhaus schon über zweitausend Dollar kosteten, überlegte ich mir, dass ich mich woanders kostengünstiger erholen könnte. Jake war nach unten gegangen, um ein Taxi zu rufen, während ich mir vor dem Spiegel das Gesicht wusch. Ich sah bleich und mit dem Verband um den Kopf irgendwie komisch aus, als Detective Salvo hereinkam. »Sie fliegen raus?« »Ja, die haben genug von mir.« Er lächelte und setzte sich auf den Plastikstuhl neben der Tür. Er wirkte müde. Ich stellte fest, dass er dieselbe Kleidung trug wie am Tag zuvor. »Die Anklage gegen Harley Jacobsen wurde fallengelassen«, erläuterte er, als ich mich aufs Bett setzte. Er berichtete von der 391
Unterschrift auf Jakes Waffenscheinen, die nicht zu den Gewehrpapieren passte. Dies und der Umstand, dass auf dem Gewehr keine Fingerabdrücke gefunden worden waren, hatte zur Einstellung der Ermittlungen gegen Jake geführt. »Das ist eine gute Nachricht.« »Für Sie und Mr. Jacobsen vielleicht. Ich habe immer noch einen ungelösten Mordfall und keine Spuren.« Wir saßen schweigend da. Ich hätte ihm vorschlagen können, sich Alex Harrimans Klientenkartei vorzunehmen, aber ich ließ es, konnte es einfach nicht. »Trotzdem gibt es da etwas Interessantes«, sagte er. »Einige der Patronenhülsen, die wir nach dem Anschlag auf das Diner gefunden haben, stammen aus einer Pistole, die letzte Woche bei einer Schießerei an der Arthur Avenue benutzt wurde. Raten Sie mal, wer der Hauptverdächtige ist.« Ich zuckte die Achseln. »Ein Gangster namens Angelo Numbruzio, ein aktenkundiger Handlanger von Paulie ›die Faust‹ Umbruglia. Sagt Ihnen der Name was?« »Ich glaube schon. Ich habe in den Nachrichten von ihm gehört.« »Alexander Harriman ist sein Anwalt.« »Was für ein Zufall!« »Ich dachte mir, das wüssten Sie vielleicht gern. Ich meine, jemand, der auf der Suche nach Zusammenhängen ist, findet das möglicherweise interessant.« Im selben Moment erschien Jake in der Tür, und sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass er es interessant fand. Mein Magen verkrampfte sich. War er immer noch auf der Suche nach Gerechtigkeit, nach Antworten? »Ich habe alle nötigen Schlüsse gezogen«, sagte ich. »Noch etwas, Detective?« 392
Als ich nach draußen ging, folgte er mir auf den Flur. »Falls noch etwas sein sollte, rufe ich Sie an. Ich habe ja Ihre Nummer.« »Ich werde das Handy abmelden.« Er lachte, und ich lächelte zurück. Er war in Ordnung, aber ich wusste, er würde nicht lockerlassen. Ich konnte seine Fragen nicht gebrauchen, nicht, wo Alexander Harrimans Drohungen immer noch im Raum standen. Sind Sie von mir enttäuscht? Haben Sie erwartet, ich würde mich auf einen Kreuzzug begeben, weltweit alle Kinder aus dem Rettungsprojekt aufspüren und ihren möglicherweise gewalttätigen Eltern zurückbringen? Fragen Sie sich doch selbst, was Sie machen würden, wenn Sie zwischen den Trümmern ihres einstigen Lebens stünden, wenn das Leben der einzigen Familie, die Sie kannten, von einem Anwalt bedroht würde, der Leute mit Namen wie Paulie »die Faust« vertritt? Während wir mit dem Taxi nach Downtown fuhren, lehnte ich mich an Jake. Ich trug keine Schuhe, weil meine Nikes irgendwo zwischen meiner Einlieferung ins Krankenhaus und meiner Entlassung verloren gegangen waren. Also hatte ich die Klinik auf Socken verlassen. Der sonnendurchflutete Central Park rauschte an uns vorbei. Die Bäume verloren ihre Blätter; die Leute joggten, fuhren auf Rollerblades herum oder führten ihre Hunde spazieren. Für die anderen war es ein ganz normaler Tag. »Es gibt überhaupt keine Beweise dafür, wusstest du das?«, sagte Jake, als würde er laut denken. »Die waren wirklich vorsichtig. Es gibt keinen Beweis, dass es jemals passiert ist.« »Außer, dass die Kinder bis heute vermisst werden. Außer, dass du Charlie bist und ich Jessie.« »Klar, aber überall im Land und auf der ganzen Welt werden Kinder vermisst. Ungelöste Fälle wie die von Charlie, Jessie, 393
Brian und Pamela. Und die konnten wir nicht mit Project Rescue in Verbindung bringen.« Das stimmte. Sie hatten keine Spuren hinterlassen. Auf irgendeine Weise war es ihnen gelungen, den Kindern eine völlig neue Identität zu geben. Diese Kinder waren … Phantome. Vielleicht war es ihnen gut ergangen, vielleicht auch nicht. »Es sei denn …«, meinte Jake mit einem Blick aus dem Fenster. »Es sei denn?« »Es sei denn, wir können jemanden zum Reden bringen.« »Und wie, bitte schön, willst du das anstellen?« »Weiß ich nicht«, sagte er und sah mich an. »Wir müssen jetzt nicht darüber sprechen. Lass uns erst mal nach Hause fahren.« »Jake, meine Familie …« »Ich weiß. Mach dir keine Gedanken. Vergiss einfach, was ich gesagt habe.« Ich antwortete nicht, spürte lediglich die Anspannung in meinen Schultern und hörte das Rauschen in meinem rechten Ohr. Und da wusste ich, dass es noch nicht vorbei war.
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DREIUNDDREISSIG
W
ährend des Abendessens – ich trank ein Glas Wein und aß mit Genuss, während Jake die Spaghetti auf seinem Teller hin und her schob und im Salat herumstocherte – war die Angst bei uns zu Gast. Wir sprachen kaum ein Wort. Als Jake die Teller abräumte, setzte ich mich aufs Sofa, starrte auf die First Avenue hinaus und überlegte, wo ich als Nächstes hinziehen würde. Ich brachte es nicht über mich, mein Apartment auch nur zu betreten. Jake hatte mir versprochen, nach dem Essen nach unten zu gehen und mir saubere Kleidung, Schuhe und ein paar Kosmetika zu holen. Ich schaltete den Fernseher ein, stellte den Ton aus und döste vor mich hin, während die stummen Bilder über den Schirm flackerten. Nach einer Weile setzte Jake sich neben mich. Ich lehnte mich an ihn, und wir blieben eine ganze Weile so sitzen. Zwischen uns hatte sich so viel angestaut, dass das Schweigen unangenehm war. Ich konnte ihn förmlich denken hören. »Bist du in der Lage, es abzuhaken?«, fragte ich schließlich. »Kannst du dich mit dem, was wir wissen, zufriedengeben und dich der Zukunft zuwenden?« Er schwieg einen Augenblick. »Du?« »Ich glaube, mir bleibt nichts anderes übrig«, antwortete ich, obwohl die ersten Zweifel leise an mir nagten. »Du hast es selbst gesagt: Es gibt keine Beweise, keine Spuren.« »Es sei denn, wir können jemanden zum Auspacken überreden. Zu einem Geständnis. Dazu, die Verantwortung für das Rettungsprojekt zu übernehmen.« »Wen denn?«
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»Ich habe darüber nachgedacht. Dein Vater behauptet felsenfest, über die dunkle Seite von Project Rescue nichts gewusst zu haben, aber irgendjemand muss die Kinder ausgewählt haben. Einer seiner Mitarbeiter vielleicht?« Ich schaute ihn an. Er hielt die Augen gesenkt, so als wollte er meinem Blick ausweichen. »Hat die Mutter von deinem Exfreund nicht jahrelang für deinen Vater gearbeitet?« »Esme?« »Ich habe ihren Namen auf jeder einzelnen der Krankenakten gefunden.« Ich dachte an meine nächtliche Begegnung mit Esme in Zacks Apartment und an unser Gespräch über Max. Für diesen Mann hätte ich alles getan, das waren ihre Worte gewesen. Was hatte sie getan? »Ridley, vielleicht redet sie mit uns. Vielleicht verrät sie uns aus Freundschaft zu dir, was sie über das Rettungsprojekt weiß.« Ich erinnerte mich an Esmes Verhalten in Zacks Wohnung. Sie hatte sich nicht wie jemand benommen, der gern über seine Vergangenheit spricht, so viel war klar. »Und dafür willst du unser aller Leben aufs Spiel setzen?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf, hielt die Augen aber weiterhin gesenkt. »Du hast ein Leben«, sagte er leise, »ich nicht.« Unerklärlicherweise verletzte mich diese Bemerkung. Ich glaube, ein Teil von mir hatte sich eingebildet, Jake und ich hätten nun ein gemeinsames Leben, möglicherweise sogar eine Zukunft; das hätte mir gereicht, um nach vorne zu schauen und die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Aber im Gegensatz zu ihm kannte ich jetzt die Antworten auf meine Fragen. Ich wusste, was Jessie und Teresa Stone zugestoßen war. Ich wusste, was mit Christian Luna passiert war. Ich wusste, wer ich 396
früher gewesen und was aus mir geworden war. Jake war immer noch eine Waise, immer noch quidam. Mich bei sich zu haben, reichte ihm nicht aus. Mir standen meine Möglichkeiten klar vor Augen. Entschied ich mich für Jake, musste ich die Wahrheit ertragen, egal, wie schmerzhaft, hässlich oder riskant sie war. Entschied ich mich dafür, stillzuhalten und meine Familie zu schützen, kam das einer Rückkehr zu den schönen, altbekannten Lügen gleich, die nichts waren als eine Fassade. Ich bin sicher, Sie haben kein großes Vertrauen in mich. Bislang hatte ich mich nicht gerade durch Mut ausgezeichnet. Jake war derjenige gewesen, der mich auf unserem Weg immer angetrieben, mir all die Fragen eingeflüstert hatte, die uns so weit brachten. Ich spürte seinen Blick, und als ich in seine Augen sah, wusste ich es. Wir waren in dieser Welt bereits zu Verbündeten geworden. Unsere Reise hatte an dem Tag begonnen, als ich hier vor ihm stand und seine Hand nahm. Jetzt, da wir am Abgrund standen, blieb uns nichts weiter übrig, als zu springen. »Sie war neulich abends dort, bei Zack. Ich glaube, sie weiß, was damals geschah. Sie sagte, ich würde Dinge ausgraben, die uns allen nur schadeten.« Jake lehnte sich vor. »Was meinst du, wie viel weiß sie?« »Keine Ahnung. Sie hat nicht viel gesagt, aber sie ist zweifellos auf dem Laufenden. Ich vermute, dass Zack ebenfalls Bescheid weiß. Als er mir alles über Project Rescue erzählen wollte, ging sie dazwischen.« »Wenn sie diejenige war, die die Kinder als gefährdet eingestuft hat, dann müsste sie zumindest darüber informiert sein, welche Fälle an Project Rescue gemeldet wurden«, sagte Jake. »Und vielleicht weiß sie sogar, wie Max von dir erfuhr.« »Du meinst, vielleicht kann sie uns sagen, ob Max für Teresa Stones Tod verantwortlich war.« 397
Jake warf mir einen durchdringenden Blick zu. Dann stand er auf und ging an mir vorbei. Da war mir klar, dass er nicht mich angesehen hatte, sondern den Fernseher hinter mir. »Der berüchtigte Mafia-Anwalt Alexander Harriman und sein bislang noch nicht identifizierter Mitarbeiter wurden heute in Harrimans Kanzlei an der Central Park West ermordet aufgefunden. Die Polizei spricht von einer Hinrichtung«, verkündete der Nachrichtensprecher mit ernster Miene, als Jake den Ton aufdrehte. Im Hintergrund erkannte ich den Eingang zu Harrimans Bürogebäude, vor dem wir noch vierundzwanzig Stunden zuvor gestanden hatten. Auf einer Trage wurde ein in einen Leichensack gehüllter Toter herausgebracht. »Bisher gibt es noch keine Hinweise auf Verdächtige.« »Mr. Harriman mangelte es nicht an Feinden«, sprach ein Beamter der Mordkommission ins Mikrofon. »Wir haben jede Menge Arbeit vor uns.« Jake drehte sich um und sah mich an. In seiner Miene spiegelten sich meine eigenen Gefühle: Fassungslosigkeit und Angst. »Wir hatten eine Abmachung mit Harriman«, sagte ich langsam. »Ich habe die Befürchtung, die Abmachung gilt nicht mehr.« Eigentlich wollte ich mein Apartment gar nicht mehr betreten, aber leider hatte ich, wie Sie wissen, keine Schuhe. Vom Krankenhaus bis zum Taxi und vom Taxi bis ins Haus war ich auf Socken gelaufen, aber als wir auf dem Weg zu Jakes Wohnung an meiner vorbeikamen, brachte ich es nicht über mich, hineinzugehen. Ich lieh mir von Jake ein paar frische Strümpfe aus und beließ es dabei. Nun, da Jake seine Jacke anzog und mir meine reichte, bereute ich es. »Wir sind hier auf keinen Fall mehr sicher und müssen verschwinden.« 398
»Wohin?« »An irgendeinen Ort, an dem wir noch nie waren.« Ich sah auf meine Füße hinab. »Mist«, sagte er und ging zur Tür. »Okay. Warte hier.« »Auf keinen Fall. Entweder wir gehen zusammen oder ich bleibe so, wie ich bin.« Er seufzte und verschwand im Schlafzimmer. Er kam mit der mir bereits bekannten Waffe zurück und schob sie sich in den Hosenbund. »Gut, dann los.« Rasch schlichen wir die Treppe bis in meine Etage hinunter. Als ich Jake vor meiner Tür die Schlüssel gab, bedeutete er mir, leise zu sein. »Ridley!« Ein Zischen erschreckte uns beide. Ich drehte mich um und entdeckte Victorias Auge, das uns aus dem Dunkel ihrer Wohnung heraus anstarrte. Ich legte einen Finger auf die Lippen und ging auf sie zu. »Victoria, das ist zu gefährlich. Gehen Sie wieder hinein, und schließen Sie die Tür ab.« Sie zwängte sich durch den Türspalt und starrte mich verängstigt an. Sie hatte ihre Perücke vergessen, und in dem leichten Luftzug standen ihr die wenigen grauen Haare auf dem fast kahlen Schädel zu Berge. »Da ist einer drin. In Ihrer Wohnung.« »Wie viele?«, fragte Jake, der jetzt hinter mir stand. »Nur einer«, murmelte sie und schloss die Tür. Ich hörte, wie kurz nacheinander drei Riegel vorgeschoben wurden. Ich war bereit, barfuß die Flucht zu ergreifen, aber Jake stellte fest, dass die Tür offen war. Mit gezückter Waffe schob er sich langsam an der Wand entlang hinein. Obwohl er mir ein Zeichen machte, im Hintergrund zu bleiben, folgte ich ihm. 399
Die Schreibtischlampe hinter dem Wandschirm, der mein »Büro« von meinem Schlafzimmer trennte, brannte. Wir hörten jemanden Papiere durchwühlen. Fin massiger Schatten bewegte sich. Wir gingen nicht näher heran, sondern blieben hinter der Ecke stehen. »Heben Sie die Hände so weit, dass ich sie sehen kann, und kommen Sie raus!«, rief Jake. Seine volltönende Stimme klang geradezu angsteinflößend. Irgendetwas krachte auf den Boden, und ich hoffte nur, dass es nicht mein Laptop gewesen war. Der Schatten erstarrte. »Hände hoch, bis ich sie sehen kann, ansonsten werde ich einfach abdrücken, Arschloch.« Seine Stimme klang hart und ausdruckslos, und ich musste mich mit einem Blick vergewissern, dass sie tatsächlich aus seinem Mund kam. Er hörte sich an wie ein eiskalter Killer. Wir warteten einen Moment, dann sah ich, wie Jakes Finger sich um den Abzug krümmte. Ich bin mir sicher, dass er geschossen hätte; aber im selben Moment tauchten zwei Hände über dem Wandschirm auf. »Nicht schießen«, sagte eine mir bekannte Stimme. Der Schatten bewegte sich zur Seite, bis wir den Mann sehen konnten. Die Anspannung verflog augenblicklich. In meinem Innern kämpften Angst, Wut und Erleichterung. »Zack, was machst du hier?«, fragte ich hinter Jakes Rücken. Ich war überrascht, wie fest meine Stimme klang. »Ich versuche, dein Leben zu retten, Ridley.« »Wie das?« »Es gibt Leute, die hinter dir her sind – Leute, die sich fragen, wie viel du weißt. Ich möchte das rausfinden, bevor die es tun.« »Dieselben Leute, die auch Alexander Harriman umgebracht haben?«, fragte ich.
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Zack nickte. »Du steckst in ernsten Schwierigkeiten. Ihr beide. Aber ich kann euch helfen. Ich kann dafür sorgen, dass ihr beide unbehelligt aus der Sache rauskommt.« Er machte einen Schritt auf uns zu. Jake und ich wichen zurück. »Bleib, wo du bist«, befahl Jake, und Zack erstarrte. »Okay, okay. Lasst es mich erklären.« »Wir hören«, sagte ich. »Jake muss einfach nur verschwinden. Wenn er mit dem Herumschnüffeln aufhört und nicht länger in der Sache herumwühlt, wird man ihn in Ruhe lassen. Er bekommt Geld, um irgendwo auf der Welt neu anzufangen. Irgendwo, nur nicht hier.« Er nickte zu einer Reisetasche, die auf meinem Bett lag. »Los«, meinte er, »seht doch nach.« Ich ging zu der Tasche und öffnete den Reißverschluss. Gebündelte Banknoten quollen heraus. Ich hätte die Summe nicht einmal schätzen können. Auf jeden Fall war es viel. »Unmarkiert. Nirgendwo registriert«, erklärte Zack. Ich bemerkte, dass Jakes Blick kurz an den Geldscheinen hängen geblieben war, und versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu deuten, aber es gelang mir nicht. Er hielt seine Waffe immer noch auf Zack gerichtet, der mit erhobenen Händen dastand. »Was ist mit Ridley?«, fragte Jake. Bei seinen Worten drehte sich mir der Magen um. Dachte er über das Angebot nach? »Wenn ich mein Wort gebe, dass sie die Angelegenheit nicht weiter verfolgt, dass sie in den Kreis der Menschen zurückkehrt, die sie geliebt und umsorgt haben, hat sie nichts zu befürchten. Es wird ihr gutgehen. Und ihrer Familie auch.« »Und warum reicht dein Wort?«, hakte Jake nach. Zack lachte leise. »Weil ich selbst zu tief drinstecke. Die haben mich in der Hand und wissen das auch. Und meine Mutter
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ebenfalls. Sie war von Anfang an dabei, so viel müsstet ihr inzwischen rausgefunden haben.« »Also geht es weiter. Immer noch werden Kinder entführt und verkauft.« »Jetzt sei doch nicht so garstig, Ridley«, sagte Zack abwehrend. »Wir retten Kinder, die vernachlässigt und misshandelt werden. Schalte doch nur mal den verdammten Fernseher ein – jeden Tag hört man von irgendeiner Bestie, die das Kind seiner Freundin totgeschlagen hat, nur weil es zu laut geschrien hat. Oder von einer Verrückten, die ihre Kinder mit Gottes Hilfe vor der Sünde bewahren wollte und sie deswegen in der Badewanne ertränkt hat. Wir sind hier nicht die Kriminellen.« »Es steht euch nicht zu, dieses Urteil zu fällen«, sagte Jake mit zitternder Stimme. »Manche Entscheidungen dürfen wir nur für ein einziges Leben treffen, für unser eigenes.« »Nein«, erwiderte Zack. »Wenn alle so denken würden wie du, wäre Ridley heute vielleicht nicht mehr am Leben. Vom Freund ihrer Mutter erschlagen. Selbst du hättest deine Kindheit vielleicht nicht überlebt.« »Meine Mutter hat mich geliebt«, widersprach Jake. »Ich wurde geliebt.« »Das reicht jetzt«, schnaubte Zack. »Viele Leute lieben ihre Kinder und schaffen es trotzdem nicht, sie vor Schaden zu bewahren. Viele Leute behaupten, ihre Kinder zu lieben, und fügen ihnen trotzdem Verletzungen zu, vernachlässigen oder töten sie.« Diese Argumentation klang logisch und war nachvollziehbar, sogar für Jake. Trotzdem rechtfertigte sie nichts. Sie konnte nicht als Entschuldigung dafür dienen, Kinder aus ihren Elternhäusern zu entführen und an reiche Familien zu verkaufen. Das Schicksal der vielen Kinder, denen vielleicht tatsächlich geholfen worden war, machte noch lange nicht wieder gut, was Teresa Stone oder Jake passiert war. 402
Jake sah mich an. Ich wusste, dass er mich ziehen ließe und nicht verurteilte, wenn ich mich für die Familie entscheiden würde. Und obwohl er es mir am Abend zuvor schon gesagt hatte, begriff ich in diesem Moment, dass er mich liebte. Ich stellte mich neben ihn. »Es tut mir leid«, sagte ich zu Zack. »Das kann ich nicht einfach so akzeptieren.« Er sah überrascht und traurig aus. »Ridley, was ist mit deiner Familie? Was ist mit meiner Mutter? Sie hat dich immer behandelt wie ihre eigene Tochter. Was, glaubst du, wird mit diesen Menschen geschehen, wenn Project Rescue auffliegt? Meinst du, irgendjemand würde glauben, dein Vater hätte nichts damit zu tun?« Ich schwieg und wollte mich nicht länger mit den Konsequenzen von Entscheidungen anderer Menschen beschäftigen. Ich holte mir ein Paar Turnschuhe aus dem Kleiderschrank, zog sie an und setzte mich neben die Tasche mit dem Geld aufs Bett. »Komm, wir gehen«, sagte ich zu Jake und stand auf. »Bist du sicher?«, fragte er. »Ich weiß nicht, mit wem wir es zu tun haben und ob ich uns beschützen kann.« Ich nickte. »Ich weiß.« »Ridley, wenn du jetzt gehst, kann ich nichts mehr für dich tun«, sagte Zack gereizt. »Selbst wenn dir deine Familie egal ist – ich werde alles Nötige tun, um meine Mutter vor Schaden zu bewahren.« Jake und ich ließen Zack einfach stehen. Im Treppenhaus zog mich Jake an sich, um mich zu küssen. Ich sah die Erleichterung in seinen Augen. Er war nicht mehr allein. Wir rannten die Treppe hinunter. Unten angekommen, zupfte ich ihn am Arm. »Es gibt einen anderen Weg nach draußen«, sagte ich und zeigte ihm Zeldas Tunnel.
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VIERUNDDREISSIG
I
ch war clever, aber nicht clever genug. Wir hatten uns in Richtung Osten bis zur Avenue C vorgearbeitet, als wir mehr spürten als sahen, dass wir verfolgt wurden. Als wir an einem verlassenen Grundstück mit Müll und einem ausgebrannten Auto vorbeikamen, auf dem ein paar Junkies eine glimmende Pfeife kreisen ließen, hörten wir den leise grummelnden Motor des Autos, das uns mit ausgeschalteten Scheinwerfern folgte. Jake nahm meine Hand, und wir rannten los. Rechneten jeden Augenblick mit dem Knall der Schüsse, aber nichts passierte. An der Avenue D bogen wir um die Ecke. Wir sahen uns um, entdeckten aber niemanden. Wir rannten die Stufen eines Abbruchhauses hinauf und schlüpften durch eine dreieckige Öffnung; jemand hatte die Sperrholzplatte beiseite geschoben, mit der die Tür vernagelt war. Wir lugten durch ein vom Feuer, das hier einst gewütet hatte, immer noch verrußtes Fenster und entdeckten eine Lincoln-Limousine, die auf der Avenue hielt. Mir blieb fast das Herz stehen, als Männer mit Skimasken aus dem Wagen sprangen. Die Stadt kam mir wie eine fremde Welt vor, in der sich alle Regeln geändert hatten. Jake legte mir seine Hand über den Mund, um mich am Schreien zu hindern. »Bleib bei mir, Ridley. Bleib ruhig, Mädchen.« Ich nickte, und zusammen bahnten wir uns einen Weg durch eine zerfallene Eingangshalle, in der es nach Rauch stank. Ich zog mir meinen Pullover über die Nase, um nicht die verdreckte Luft einatmen und womöglich husten oder niesen zu müssen. Wir liefen an einer senfgelben Couch vorbei, die umgekippt neben einem verrosteten Aktenschrank lag, dem sämtliche Schubladen fehlten. Wir stiegen die morsche Treppe hinauf, die unter unserem Gewicht ächzte. Im nächsten Stockwerk warfen wir wieder einen Blick aus dem Fenster und sahen vier Männer, 404
die auf der Suche nach uns über die Straße liefen, Vortreppen hochstiegen und in Fenster hineinspähten. In der obersten der drei Etagen entdeckten wir, dass ein Teil des Dachbodens durch alle Stockwerke hindurch bis nach unten gestürzt war. Über unseren Köpfen und in jeder der unteren Etagen klaffte ein riesiges Loch, sodass wir von unserem Posten aus freien Blick auf die Eingangstür im Erdgeschoss hatten. Wir setzten uns auf den Boden. Jake zog seine Pistole heraus, legte sich flach auf den Bauch und zielte probehalber auf den Eingang. Wir hörten, wie sich die Männer unten auf der Straße etwas zuriefen. Dann wurde es still. Wir warteten. Es fing an zu tröpfeln, und kurz darauf lagen wir ungeschützt im Regen. »Es tut mir so leid«, flüsterte Jake. Ich schüttelte den Kopf. »Das braucht es nicht.« »Ich habe dir das eingebrockt, Ridley.« »Nein«, widersprach ich. »Doch. Wenn ich diesen zweiten Umschlag nicht vor deine Tür gelegt hätte, wenn ich dir die ganze Sache erspart hätte, wären wir jetzt nicht hier.« Ich schüttelte erneut den Kopf. Solche Gedanken lohnten sich nicht; dafür war es viel zu spät. Wir konnten jetzt nur noch die Flucht nach vorn antreten. Hoffentlich würden wir die kommende Nacht überleben. Ich legte meine Hand auf seine Schulter. »Es war meine Entscheidung, dich zu begleiten.« Jake nickte, und ich beugte mich vor, um ihn zu küssen, aber im selben Moment drückte er ab, und dann fielen wir. Ich landete im nächsten Stockwerk, aber Jake stürzte ganz nach unten. Sein Körper schlug so heftig auf dem Boden der Eingangshalle auf, dass ich den Aufprall selbst zu spüren glaubte. Ich verlor kurz das Bewusstsein, dann holten Stimmen mich zurück. 405
»Verdammt, wo stecken sie?« Offenbar waren sie vom Dach des Nebenhauses herübergestiegen. »Pass auf, du Vollidiot, der Fußboden gibt nach.« Ich hörte ein schweres Stampfen, und im nächsten Moment krachte weiterer Bauschutt durchs Loch. Ich konnte die Männer über mir nicht sehen – was hoffentlich bedeutete, dass es umgekehrt genauso war. »Schießt erst, wenn ihr einen von ihnen seht, verdammt noch mal. Diese Bruchbude fällt jeden Moment zusammen.« Jake lag immer noch regungslos am Boden, und auf einmal bekam ich Angst wie noch nie zuvor im Leben. Als ich loskriechen wollte, schoss ein so stechender Schmerz durch mein Bein, dass ich mich fast übergeben musste. Was mit meinem Bein los war, wusste ich nicht, ich sah nur den Riss in meiner Hose und fühlte das warme, klebrige Blut. Trotz des Schmerzes schleppte ich mich bis zur Treppe, zog mich am Geländer hoch und machte mich an den Abstieg. An die Wand gedrückt, hoffte ich, keine der Kugeln abzubekommen, die jetzt durch die Luft flogen. Plötzlich hörte ich einen dumpfen Schlag und ein Splittern, dann ein lautes Stöhnen. »Angelo! Alles in Ordnung?« »Ja«, hörte ich jemanden in breitem New Yorker Akzent sagen. »Ich bin durch den Scheißfußboden gekracht.« Ich nutzte die kurze Ablenkung, um zu Jake zu gelangen, bevor der Kugelhagel wieder einsetzte.
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FÜNFUNDDREISSIG
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echs«, flüstert er. »Was?« »Du hast noch sechs Kugeln.« Ich nicke und lasse die Treppe nicht aus den Augen. Ich habe Zacks Stimme gehört; deswegen weiß ich, auch wenn ich es nicht wirklich begreifen kann, dass er einer dieser Männer ist. Er wird uns umbringen und dann während meiner Beerdigung den Trauernden spielen. Wäre es nach meinem Vater gegangen, hätte ich diesen Mann geheiratet. Meine Händen zittern vor Angst und Wut. »Wir können das in Ordnung bringen«, ruft er jetzt. Ich kann ihn immer noch nicht sehen, vermute aber, dass sie ganz in der Nähe sind, weil ich die Treppe ächzen höre. Sobald ich das erste Bein sehe, schieße ich. Daneben. Der Knall ist so laut und der Rückstoß so gewaltig, dass ich einen kleinen Angstschrei ausstoße. Meine Ohren klingeln. Als ich wieder hinsehe, ist das Bein verschwunden. Vielleicht kann ich sie so für eine Weile auf Abstand halten. Jetzt habe ich noch fünf Kugeln und vier Gegner. »Verschwende die Munition nicht mit aussichtslosen Schüssen«, flüstert Jake. »Warte, bis du auf die Körpermitte zielen kannst, sonst triffst du nie.« Er liegt vollkommen bewegungslos da und kann sich nicht mehr rühren. Ich sehe, dass er entsetzliche Schmerzen hat. »Ridley, bitte«, ruft Zack. »So muss es doch nicht enden. Mein Angebot steht noch. Du hast mich einmal geliebt. Kannst du mir nicht einfach vertrauen?« Jake legt einen Finger an die Lippen und deutet dann nach oben. Über uns entdecke ich die Männer, die mit ihren Waffen 407
nach unten zielen. Zack will mich nur deshalb zum Reden bringen, damit sie wissen, wohin sie schießen müssen. »Ach, scheißegal«, sagt Zack schließlich. Als sie das Feuer eröffnen, erwidere ich es. Die Geschosse pfeifen uns um die Ohren und prallen von den Wänden ab, eine Kugel schlägt sogar in den Rahmen der Couch ein. Ich merke, dass Jake mich mit seinem Körper zu schützen versucht. Pulvergeruch steigt mir in die Nase, und das Klingeln in meinen Ohren wird unerträglich laut. Plötzlich erscheint mir die Situation unwirklich, und ich habe kaum noch Angst. Nach einem meiner Schüsse fällt ein Mann stöhnend zu Boden, doch die drei anderen schießen weiter. Bald ist die Pistole leer. Ich lasse sie fallen und klammere mich an Jake in der Gewissheit, dass wir heute Nacht sterben werden. Immerhin kann ich eins sagen: Ich bereue nichts und bin froh, bei Jake zu sein. Als ich plötzlich das Geräusch von Rotorblättern höre und die Scheinwerfer eines Helikopters die Eingangshalle in gleißendes Licht tauchten, schließe ich ungläubig die Augen. »Waffen fallen lassen!«, erschallt Gottes Stimme. »Runter auf den Boden, und Hände hinter den Kopf.« Plötzlich endet die Schießerei. Ich spüre Jakes muskulöse Arme um meinen Körper. »Ridley!«, höre ich Gott rufen. »Ridley Jones, alles in Ordnung? Sind Sie da unten?« Vor Angst, vor Schmerz, vielleicht auch vor Erleichterung wird mir schwarz vor den Augen.
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SECHSUNDDREISSIG
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s ist, wie ich schon sagte: Das Universum duldet keine Geheimnisse. Alles arbeitet darauf hin, die Wahrheit ans Licht zu bringen. So leicht es auch gewesen wäre, Alexander Harrimans Vorschlag anzunehmen und davonzuspazieren – das Universum hätte es nicht zugelassen. Laut Harriman hatte Max die Kontrolle über Project Rescue verloren. Wie sich herausstellte, war es Harriman genauso ergangen. Abschlüsse. Wir alle streben danach. Wir suchen das Ende einer Sache, und den Anfang einer neuen. Was wir nicht abschließen können, verfolgt uns. Es taucht unvermittelt in unseren Träumen auf, schleicht sich in freien Momenten in unsere Gedanken wie ein kniffliges Problem, das unsere Denkfähigkeit übersteigt. Ich denke an Teresa Stone, meine leibliche Mutter, die um ihr Kind kämpfte und dabei ihr Leben verlor. An Christian Luna, seine Reue und seine misslungenen Wiedergutmachungsversuche. Ich denke an meinen Vater Max und die unzähligen Verbrechen, die er begangen hat bei dem Versuch, sich selbst zu heilen, indem er anderen »half«. Ich denke an all die anderen Eltern und Kinder, deren Gesichter uns von Milchtüten und Wurfsendungen ansehen. An die entsetzlichen Phantombilder der Kinder, die in Briefkästen stecken und in Kantinen ausliegen, Mutmaßungen darüber, wie ein Kind wohl fünf, sechs, zehn Jahre nach seinem Verschwinden aussieht. Einige der betroffenen Eltern haben es vielleicht nicht besser verdient, andere schon. Trotzdem wette ich, dass auf jedes Project-Rescue-Baby da draußen eine verfluchte Seele kommt. Bei Jessie war es Christian Luna, bei Charlie Linda McNaughton. Hätte ich getan, was Harriman von mir verlangte, würden die Verantwortlichen bis heute ihre Geschäfte machen; Leute wie 409
Zack und Esme würden auch weiterhin Urteile fällen und im Leben fremder Menschen Gott spielen, ohne auch nur einen Augenblick lang Schuld oder Kummer zu empfinden. Und mein eigenes Leben wäre bevölkert von den Geistern jener Menschen, die ich im Stich gelassen hätte, vor allem Jake. Wo wir gerade beim Thema sind – Gus Salvo war derjenige, der uns in besagter Nacht aus dem Abbruchhaus rettete. Wegen der Patronenhülsen, die die Polizei am Schauplatz von Christian Lunas Ermordung gefunden hatte, war Angelo Numbruzio auf seine Anweisung hin beschattet worden. Als der zuständige Polizist merkte, dass Numbruzio Zack kontaktiert hatte und auf dem Weg zu meiner Wohnung war, zählte Detective Salvo eins und eins zusammen … Bei seinem Sturz hatte Jake sich das rechte Bein und den linken Arm gebrochen und sich die Lunge verletzt. Er hatte sich den Rücken übel gezerrt, aber zum Glück waren die Wirbel unversehrt geblieben. Die Kugel in meinem Bein hatte die Schlagader nur knapp verfehlt. Auf die Details kommt es an, Sie erinnern sich? Nur einige Millimeter weiter, und ich könnte Ihnen heute nicht von dem berichten, was uns passiert ist. Als ich im St. Vincent’s Hospital wieder zu Bewusstsein kam, fiel mein erster Blick auf Gus Salvo. »Wo ist Jake?«, fragte ich voller Panik. »Alles in Ordnung«, erwiderte Salvo freundlich. »Na ja, er kommt wieder in Ordnung.« Er zog einen Stuhl heran, nahm meine Hand, klärte mich über Jakes Verletzungen auf und darüber, dass Jake in unmittelbarer Nähe meines Krankenhauszimmers lag. »Machen Sie sich keine Sorgen, Ridley. Es ist vorbei.« Ich sah ihn an und wusste, dass er log. »Warum sind Sie dann hier, Detective?«
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Er wich meinem Blick seufzend aus. »Ich weiß, ich sollte damit warten, bis Sie sich erholt haben. Aber …« »Aber?« »Ich muss wissen, wo Sie stehen. Die Männer, die Sie letzte Nacht verfolgt haben, sind in Haft. Ich bin überzeugt, einer von ihnen hat Christian Luna auf dem Gewissen. Erinnern Sie sich, wie ich ihnen von Angelo Numbruzio erzählt habe? Und dass ich ihn mit dem Überfall auf das Diner in Verbindung bringen konnte? Wir haben ihn auf Video; das Band stammt aus einem Waffenladen in Florida, wo er das Gewehr gekauft hat, mit dem Christian Luna erschossen wurde. Doch ohne Ihre Zeugenaussage wird aus der Anklage vielleicht nichts. Wenn wir weiterermitteln, wird Ihre persönliche Vergangenheit ans Licht gezerrt werden, und das Rettungsprojekt gerät ins Kreuzfeuer der Öffentlichkeit. Ich weiß, Sie haben Angst um Ihre Familie, aber ich muss Ihnen mitteilen, dass Zack und Esme Gray sich auf einen Handel mit der Staatsanwaltschaft eingelassen haben. Die Sache wird so oder so auffliegen.« Ich sagte nichts. Alexander Harriman war tot, und seine Mörder würden sich nicht an eine Abmachung halten, die er mit mir getroffen hatte. Sie hatten bereits versucht, mich umzubringen. Ich begriff, dass ich nicht länger in der Lage war, irgendjemanden zu schützen. Vielleicht war ich es nie gewesen. »Detective Salvo, ich werde aussagen, im Fall Luna. Aber ich werde keine Angaben zu Project Rescue machen.« Wir sahen uns an. »Ich kann nicht gegen Max oder Esme aussagen.« Er nickte. »Ridley, Sie waren damals ein Baby. Falls es zu einer Verhandlung kommt, werden Sie vermutlich gar nicht aussagen müssen. In dem Fall sind Sie Opfer, nicht Zeugin.« Diese Einschätzung traf mich wie ein Schlag. Detective Salvo hielt meine Hand und ließ mich weinen. Ich weinte um Teresa Stone. Ich weinte um Christian Luna. Ich weinte um Max. Und
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ja, ich weinte auch um all das, was ich von mir selbst verloren hatte. Später an dem Abend humpelte ich, verbunden mit meinem Morphiumtropf (vermutlich der Grund dafür, dass ich überhaupt humpeln konnte), aus meinem Zimmer und machte mich auf die Suche nach Jake. Die Dienst habende Schwester setzte mich in einen Rollstuhl und brachte mich persönlich zu Jake. Er war ziemlich angeschlagen, hob aber zum Gruß seine unverletzte Hand. »Du bist wunderschön«, sagte er mit einem leichten Lallen. Das konnte ich mir nur schwer vorstellen. Ich hatte einen widerlichen Geschmack im Mund. »Du bist high«, sagte ich und fing an zu kichern. Ich war selbst ein bisschen high, auch wenn ich allmählich das dumpfe Pochen in meinem Oberschenkel spürte. Sein rechtes Bein und der linke Arm steckten in Gips. Sein Gesicht war voller Blutergüsse, seine muskulöse Brust eng bandagiert. Ich hatte noch nie etwas Hinreißenderes gesehen. »Du solltest zurück ins Bett gehen«, sagte er und nahm meine Hand. »Mach ich«, antwortete ich. »Ich wollte dir nur sagen, dass du nicht mehr allein bist. Ich bin bei dir.« Ich küsste seine Hand, und er streichelte mein Gesicht. In seinem Augenwinkel sah ich eine kleine Träne, die er angestrengt wegzublinzeln versuchte. »Ich liebe dich, Jake … oder wie auch immer du heißt.« Er begann zu lachen und stöhnte im selben Moment vor Schmerz auf. Ich blieb bei ihm, bis er eingeschlafen war, was nicht lange dauerte. Dann schob die Krankenschwester mich in mein Zimmer zurück.
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SIEBENUNDDREISSIG
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ielleicht erinnern Sie sich, dass ich Linda McNaughton ein Versprechen gab? Es dauerte jedoch über einen Monat, bis Jake und ich wieder auf den Beinen waren. Und noch ein bisschen länger, bis ich Jake überredet hatte, mir bei der Einlösung des Versprechens zu helfen. Sein Bein befand sich noch im Gips, als wir uns ein Auto mieteten und nach Jersey fuhren. Der Firebird war verschwunden; er tauchte nie wieder auf. Dem Kerl, der ihn aller Wahrscheinlichkeit nach gestohlen hatte, um mich damit umzubringen – oder einzuschüchtern, wie Alexander Harriman meinte –, steckte eine Kugel im Kopf. Was er mit dem Auto angestellt hatte, war nicht mehr herauszufinden. »Komm mit rein«, sagte Jake mit blassem Gesicht, als ich vor dem Wohnwagen hielt. »Ihr braucht kein Publikum«, sagte ich. »Du kannst mich später dazuholen.« Während er ausstieg lief im Autoradio »Roxanne« von The Police. Ich beobachtete, wie er auf Krücken über den Kiesweg humpelte, sie ihm die Tür öffnete und er im Trailer verschwand. Ich stellte mir mit geschlossenen Augen vor, wie er Linda McNaughton zwischen den vielen Schildkröten gestand, dass er Charlie war, ihr seit vielen Jahren vermisster Enkel. Ich sah sie vor mir: Der graue Hausanzug passte zu ihrem grauen Haar, sie schlug die Hand vor den Mund, und Tränen traten ihr in die Augen. Ich stellte mir vor, wie sie ihn umarmte, wie er die Umarmung unbeholfen erwiderte. Ich wäre gern dabei gewesen, aber dieser Moment gehörte ihnen allein. Etwa eine halbe Stunde später erschien Jake in der Tür und winkte mir zu. Ich suchte in seiner Miene nach Freude, die ich aber nicht entdecken konnte. Er wirkte dennoch ganz zufrieden, 413
und als ich näher kam, bemerkte ich sein gerötetes Gesicht. Draußen war es bitterkalt, der Boden war hart gefroren, und schwarze, tote Bäume säumten den Wohnwagenpark. Drinnen in der Wärme klammerte die verweinte Linda sich an das Foto, das ich mir ausgeliehen und Jake gegeben hatte. Sie stand auf und umarmte mich. »Ich dachte nicht, dass Sie wiederkommen«, sagte sie. »Keiner von Ihnen.« Wir blieben noch eine Weile. Was soll ich sagen? Es war seltsam. Sie waren sich fremd. Sie erzählte von seinen Eltern, und er lauschte aufmerksam. Sie schilderte ein paar Episoden aus seinen ersten Lebensjahren; dass er früh zu laufen und zu sprechen angefangen und ein Stofftier besessen hatte, einen Frosch, den er überall mit hin schleppte. Jake lächelte und machte passende Bemerkungen. Aus seiner Kindheit gab es kaum etwas zu berichten, das ihr keinen Kummer bereitet hätte, deswegen beschönigte er dies und das und erzählte ihr nur Allgemeinheiten. Wir tranken Tee mit ihr. Dann begann Jake: »Mrs. McNaughton …« »Bitte nenn mich Oma«, unterbrach sie ihn schüchtern. »Oder wenigstens Linda.« Ich sah, wie unwohl er sich dabei fühlte, aber er sagte es. »Oma«, fuhr er mit einem verlegenen Lachen fort, »wir müssen los.« Mussten wir eigentlich nicht; trotzdem nickte ich und stand auf. »O ja, natürlich«, sagte sie, und ich spürte die Erleichterung in ihrer Stimme. »Vielleicht kommt ihr zwei am Sonntag zum Essen? Unsere Familie ist nicht sehr groß, aber ich habe eine Schwester, die euch sicher gerne kennen lernen würde.« »Ja, warum nicht«, erwiderte Jake. Er umarmte sie, und ihr kamen wieder die Tränen. Sie stand in der Tür und blickte uns 414
nach, wie sie mir damals nachgeblickt hatte, mit zum Winken erhobenem Arm. Als wir schweigend im Auto saßen und auf den Highway zusteuerten, legte ich eine Hand auf sein Bein. »Wie war es für dich?« Er seufzte. »Ich weiß nicht. Nicht so, wie ich dachte. Wahrscheinlich hatte ich gehofft, ich würde mich ihr näher fühlen.« »Das kommt noch«, sagte ich. »So was braucht Zeit.« Wie gesagt, bin ich inzwischen der Meinung, dass es nicht die Gene sind, sondern die geteilten Erfahrungen, die ein Gefühl von Nähe erzeugen. Nach allem, was wir durchgemacht hatten, nach all den Lügen meiner Eltern und ihren vielen Fehlern waren sie immer noch meine Eltern. Ich hatte keinen Moment lang aufgehört, sie als genau das zu betrachten; für mein Herz waren sie niemals Fremde. Und obwohl das Ideal, von dem ich stets ausgegangen war, sich als kompletter Irrtum entpuppt hatte, änderte das nichts an meinen Gefühlen. Auf dem Rückweg hielten wir kurz bei ihnen. Da war sie wieder, meine Postkartenkindheit. Das Haus war bereits für Weihnachten dekoriert, in den Fenstern hingen hübsche Kränze, die elektrischen Kerzen brannten. Im Erker sah ich am Weihnachtsbaum die weißen Lichter und roten Bänder glitzern. »Die wollen mich bestimmt nicht sehen«, meinte Jake. »Warum sagst du so was?« Er warf mir einen Blick zu. »Ich habe fast ihr Leben ruiniert. Und deins auch.« »So sehe ich das nicht«, entgegnete ich, öffnete die Tür und stieg aus. Weil Jake an Krücken ging, kamen wir auf dem Weg zur Haustür nur langsam voran. Mein Vater trat heraus, um uns zu helfen, meine Mutter wartete mit verschränkten Armen in der
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Tür. Wir gingen hinein, ließen uns neben dem Weihnachtsbaum nieder und tranken heißen Kakao. Ich hatte das Drehbuch unseres Lebens radikal umgeschrieben. Kennen Sie das Gefühl aus eigener Erfahrung? Jeder spielt seine Rolle, und solange sich alle daran halten, läuft die Chose wie immer. Man lacht und streitet sich wegen derselben Dinge, hegt immer denselben alten Groll und teilt dieselben Erinnerungen, gute wie schlechte. Aber sobald einer anfängt zu improvisieren, sich einen eigenen Text auszudenken, wird das ganze Drehbuch hinfällig. Die anderen verpassen ihre Einsätze, woraufhin sich befremdliches Schweigen herabsenkt und schließlich Chaos ausbricht. Wenn man Glück hat, kommt eine neue Produktion zustande. Eine, die auf der Gegenwart basiert, auf Ehrlichkeit, und sich Veränderungen anpasst. Wir befanden uns noch in der Phase befremdlichen Schweigens. Viele Verlegenheitspausen. Viele gemeinsame Erinnerungen, an die zu rühren plötzlich unpassend erschien; besonders an jene mit Max. »Jake und Ridley«, unterbrach mein Vater die Stille, die eingetreten war, als ich ein Schmuckstück bemerkte, das Max einmal meiner Mutter geschenkt hatte. Eine silberne Ballerina mit einem kristallenen Tütü, die vermutlich von dem DegasGemälde inspiriert worden war. »Ich möchte, dass ihr wisst, dass ich von den wahren Hintergründen des Rettungsprojektes niemals etwas geahnt habe.« Er schwieg einen Moment, den Blick auf die Tasse in seinen Händen gerichtet. »Was wir mit dir gemacht haben, war falsch, Ridley. Und auch sonst haben wir uns einige Fehler vorzuwerfen. Ich werde trotzdem niemals bereuen, dich in jener Nacht aufgenommen und damit die Möglichkeit bekommen zu haben, dir ein Vater zu sein. Trotzdem möchte ich euch beiden versichern, dass ich mich niemals an der Entführung und dem Verkauf von Kindern beteiligt hätte. Nie und nimmer.« Jake nickte höflich, aber ich vermute, dass er nicht überzeugt war. Ich entschied mich dafür, meinem Vater zu glauben. Ich 416
kannte ihn gut und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er zu so etwas fähig gewesen wäre. »Dann war es also Esme Gray?«, fragte Jake. »Sie hat die Kinder ausgesucht, die ihrer Ansicht nach in Gefahr schwebten? Sie hat Max von Jessie erzählt?« Für mich war das eine der großen, bislang unbeantworteten Fragen. Alexander Harriman hatte behauptet, Teresa Stones Tod sei ein Unfall gewesen, ein Zeichen für Max, dass er die Kontrolle über Project Rescue verloren hatte. Aber wer hatte Jessies Entführung damals angeordnet? Und wie war das Mädchen zu Max gekommen? Hier klaffte ein Lücke. Und Esme, die Einzige, die etwas darüber hätte sagen können, schwieg sich in diesem Punkt beharrlich aus. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete mein Vater nach langem Schweigen. »Ich weiß es wirklich nicht, Jake.« »Und Sie wollen es auch gar nicht wissen«, meinte Jake, wobei er meinen Vater nicht aus den Augen ließ. Mein Vater seufzte und blickte zur Seite. »Ich bin sicher, dass wir noch einiges erfahren werden. Wie Sie wissen, dauern die Ermittlungen an.« Plötzlich hörte ich die Abneigung in seiner Stimme. Und ich bemerkte sie in meiner Mutter, die mit einem aufgesetzten Lächeln still in der hintersten Sofaecke saß, aufmerksam, aber distanziert. Sie ertrug diesen Besuch, aber sie beteiligte sich nicht am Gespräch. Jake war die Wahrheit, der sie sich nicht stellen mochten. Und er war in mein Leben getreten, um zu bleiben. Sie wünschten sich, nichts von alldem wäre jemals passiert. Könnten sie die Uhr zurückdrehen und mich davon abhalten, vor den Lieferwagen zu springen – sie würden es tun. Sie würden sich für ein Leben in Unwissenheit entscheiden. Jetzt fragen Sie wahrscheinlich: Was war mit mir? Was wollte ich? Würde ich die Uhr zurückdrehen? Ich weiß keine Antwort. Wie ich schon sagte, ich glaube nicht an Fehler oder an Reue. 417
Wir kennen den anderen Weg nicht, jenen Weg, den wir nicht eingeschlagen haben, und wir wissen auch nicht, wohin er führt.
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EPILOG der Fremde, der unbekannte Passant. Der Mann, der Q uidam, nach Mitternacht im Regen durch die Straßen läuft. Der Ton einer Violine in der Wohnung nebenan. Der Obdachlose, der auf der Kirchentreppe um Almosen bittet. Die alte Frau, die neben Ihnen im Bus sitzt. Sie alle haben mit Ihrem Leben nichts zu tun und sind nur durch einen kurzen Augenblick mit Ihnen verbunden. All die Ereignisse und Entscheidungen im Leben dieser Fremden und die Ereignisse und Entscheidungen in ihrem Leben haben dazu geführt, dass Sie sich genau zur selben Zeit am selben Ort befinden. Ich schreibe Ihnen aus meinem neuen Apartment am südlichen Ende der Park Avenue, gegenüber der Haltestelle der UBahnlinie 4/5. Es handelt sich um ein Atelier, geräumig, luftig, lichtdurchflutet und mit einem Blick über Lower Manhattan. Die Fußböden hängen nicht durch, und man riecht nicht den Duft von Pizza und Gebäck – den ich wirklich vermisse. Die liebenswerten Eigenheiten des Lebens im East Village. Wir haben genug Platz für zwei Arbeitszimmer, obwohl Jake sein Atelier Downtown behalten hat. Ich verfüge jetzt über ein richtiges Schreibzimmer, nicht nur eine vom Schlafzimmer abgetrennte Ecke. Wir haben eine neue Wohnung gesucht, um gemeinsam neu anzufangen. Neues Leben, neue Wohnung. Klingt doch vernünftig, oder? Jake und ich lernen Linda immer besser kennen. Langsam wird sie zu einem Familienmitglied. Jake wurde nach und nach mehr mit seinen Eltern vertraut, oder wenigstens mit Lindas Erinnerungen an sie. Sicherlich hatten sie viele Fehler, aber wer hat die nicht? Indem er etwas über sie erfährt, erfährt Jake etwas über sich. Er sagt, er fühle sich zum ersten Mal im Leben nicht
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quidam, fremd in seiner eigenen Haut, abgeschnitten vom Rest der Welt. Ich bilde mir ein, etwas dazu beigetragen zu haben. Ace ist immer noch auf Entziehungskur, mittlerweile seit drei Monaten. Ich besuche ihn immer donnerstags. Ich lerne ihn erst jetzt wirklich kennen. Als ich klein war, habe ich ihn als meinen Helden verehrt; als Erwachsene wollte ich ihn retten. Jetzt ist er nur noch Ace, mein Bruder. Wir gehen zusammen zur Familientherapie. Er hat mir erzählt, ich hätte seiner Ansicht nach immer nur eine Vorstellung von ihm geliebt und den echten Menschen dahinter nie gesehen. Ich denke, das ist richtig. Er hat damit zu kämpfen. Ich weiß nicht, ob er es schaffen wird, aber ich weiß, dass ich ihm nicht helfen kann. Ich kann nur für ihn da sein, ehrlich zu ihm sein und ihn für das lieben, was er ist. Er hatte mit den ganzen Machenschaften und dem, was passiert ist, nichts zu tun. Seine einzige Schuld besteht darin, sein Wissen über die Wahrheit nicht mit mir geteilt zu haben. Aber er hat sie mir nur vorenthalten, um mich nicht zu verletzen und zu schützen. Meine Eltern und Ace haben sich vorsichtig darangemacht, eine neue Beziehung aufzubauen. Es ist ein ständiges Auf und Ab. So viel Wut hat sich aufgestaut, so viele Jahre des Leidens sind vergangen. Ruby ist verschwunden. Sie war einmal bei Ace, als er nach den ersten Wochen auf Entzug Besuch empfangen durfte. Er hat versucht, sie zu einer Entziehungskur zu überreden. Ich bot ihr an, ihr den Aufenthalt in derselben Klinik, in der auch Ace untergebracht ist, zu bezahlen, aber sie lehnte ab. Wir haben sie seither nicht wiedergesehen. Auf Bitten von Ace fuhren Jake und ich an einem Sonntag in die Lower East Side, um bei ihr vorbeizuschauen und ihr zu sagen, dass Ace nach ihr gefragt hat; aber da war sie schon weg. Ace hofft, sie eines Tages wiederzusehen.
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Hoffnung ist etwas Gutes. Sie ist wie ein Gebet; man vertraut sich einer Macht an, die größer ist als man selbst. Wenn ich während der letzten Monate etwas gelernt habe, dann dies: Wir haben keine Kontrolle über unser Leben, wir können nur Entscheidungen treffen. Unsere kleinen und großen Entscheidungen bestimmen unser Leben. Wir sollten sie nach bestem Wissen treffen und auf das Beste hoffen. Meine Eltern und ich arbeiten noch an unserem neuen Verhältnis. Inzwischen hat es einige Wortgefechte gegeben. Die ganze Wut und Trauer, von der während unseres ersten Gesprächs nichts zu spüren war, hat sich seither des öfteren Bahn gebrochen. Aber keiner von uns ist ihnen aus dem Weg gegangen oder hat den Kontakt abgebrochen. Vieles trennt uns, aber wir lieben uns und versuchen, in diesem neuen Leben zurechtzukommen – ohne Lügen und Geheimnisse. Ich vertraue darauf, dass die Wunden heilen und unsere Beziehung danach umso stärker sein wird, weil sie auf Ehrlichkeit basiert. Ich hoffe, meine Eltern finden irgendwann einen Weg, auch Jake zu lieben. Tief in ihrem Herzen, da bin ich mir sicher, geben sie ihm die Schuld für alles. Die Verhandlung im Mordfall Luna rückt bedrohlich näher. Ich werde aussagen, was er mir erzählt hat und wie ich ihn sterben sah. Der Staatsanwalt wird meine Aussage dazu benützen, um Angelo Numbruzio und den Leuten, von denen er seine Befehle entgegennahm, ein Motiv nachzuweisen. Abhängig vom Ausgang des Verfahrens wird der Generalstaatsanwalt das weitere Vorgehen im Fall Project Rescue festlegen. Dann erst wird sich das Schicksal von Zack und Esme entscheiden. Mein Vater wird vermutlich einige Fragen beantworten müssen. Ich weiß, dass er Angst davor hat, wie ich übrigens auch. Mit Zack oder Esme habe ich nie wieder gesprochen. Zack sitzt unter Mordanklage in Haft. Ich bemühe mich, ihn nicht so zu sehen wie bei unserem letzten Zusammentreffen, als er versuchte, Jake und mich umzubringen. Ich meide alle 421
Gedanken über die Entwicklung, die sein Leben genommen hat. Zacks und Esmes Anwälte haben ihnen geraten, nicht in Kontakt mit uns zu treten. Der Handel, den sie mit den Staatsanwälten im Project-Rescue-Fall eingegangen sind, verbietet das. Nicht, dass sie darauf gebrannt hätten, mit uns zu reden. Doch mit Esme würde ich mich gern einmal unterhalten und erfahren, was für ein Mensch sie damals war; was sie über die Todesnacht von Teresa Stone und die Kinder weiß, die in die Little-AngelsKlinik kamen und dann spurlos verschwanden. Ich bin überzeugt, sie ist das fehlende Bindeglied, sie kennt all die Antworten, nach denen Jake und ich bis heute suchen. Die Medien haben sich bereits auf das Thema gestürzt. Die Sendung Dateline hat sich schon ausgiebig mit Max und seinen mutmaßlichen Verbindungen zu Project Rescue befasst. Sie haben ihn wie ein Monster dargestellt. Für manche Menschen ist er das wahrscheinlich auch. Nicht jedoch für mich. Das Rettungsprojekt basierte auf einem fehlerhaften Plan, und es hatte schreckliche Auswirkungen. Aber er ist immer noch Max. Mehr noch, er war mein Vater. Ich habe versucht, meine Erinnerungen an unsere Vergangenheit mit diesem Wissen in Deckung zu bringen, aber das ist mir nicht wirklich gelungen. Als mein Vater war er von Makeln behaftet, aber als mein Onkel Max war er perfekt, der hellste Stern am Himmel meiner Kindheit und Jugend. Ist es falsch von mir, das bewahren zu wollen? Ich weiß nicht, was in jener Nacht geschah, als er Jessie zu meinen Eltern brachte. Ich weiß nicht, auf welche Weise er in die Sache verwickelt war und ob Teresa Stone durch einen unglücklichen Zufall ums Leben kam. Vielleicht werde ich niemals erfahren, ob mein Vater für die Ermordung meiner Mutter verantwortlich war. Ob ihn die entsetzliche Last von Gewalt und Mord, der er sein ganzes Leben zu entkommen suchte, am Ende doch noch zerdrückt hat. Ich denke oft an seine Worte an unserem letzten Abend. Ridley, vielleicht bist du das 422
einzig Gute in meinem Leben. Er hat so gelitten. Die Dämonen, gegen die er angekämpft hatte, waren wieder aufgetaucht und hatten ihn am Ende besiegt. Der Redakteur von Dateline hat auch mich angerufen, aber ich gebe keine Interviews. Nicht mehr. Ich werde meine ganze Kraft benötigen, um im Mordprozess Christian Luna über meine Erlebnisse zu sprechen. Betrachtet man es genau, kommen in meiner Geschichte keine Verbrecher vor. Wenn man Zack oder Esme jedoch als solche sehen will, kann man das vermutlich tun. Oder vielleicht auch Max. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass sie alle in dem Glauben handelten, das Richtige zu tun: das Richtige für die Kinder, für sich selbst, für mich. Was ist mit all den anderen Kindern, den vielen Babys von Project Rescue? Meines Wissens wurde eine Hotline für Leute eingerichtet, die sich für eines dieser Kinder halten. Meine Vermutung ist jedoch, dass sich viele der Betroffenen über die Hinweise auf das, was mit ihnen geschah, gar nicht im Klaren sind. Oder die Wahrheit gar nicht erfahren wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Eltern sich freiwillig melden und vor aller Welt verkünden würden, sie wären auf illegalem Weg zu ihrer Tochter gekommen. Jake und ich wurden zu Verbündeten, seit wir uns in seiner Wohnung die Hände reichten – trotz Lügen und Augenblicken des Zweifels. Wir haben vereinbart, vollkommen ehrlich zueinander zu sein, was nicht immer einfach ist. Und ich würde mich jederzeit wieder für die Wahrheit entscheiden, egal, wie schön die Lügen sind. DER ANFANG
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