LUX
H I S T O R I S C H E
R E I H E
Weltgeschichte in spannenden Einzelheften Jedes Heft 64 Seiten
Heftpreis 76 Pfg...
23 downloads
1683 Views
765KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
LUX
H I S T O R I S C H E
R E I H E
Weltgeschichte in spannenden Einzelheften Jedes Heft 64 Seiten
Heftpreis 76 Pfg,
LUX HISTORISCHE REIHE bringt in fesselnder Darstellung, plastisch und farbig, Zeitbilder und Szenen aus dem großen Abenteuer der Menschheitsgeschichte. Menschen, Völker, historische Schauplätze und Landschaften aus allen Zeitaltern der Vergangenheit erstehen in bunter Folge vor dem Auge des Lesers. Geschichte wird hier zur lebendigen Gegenwart. Jedes Heft gibt ein abgerundetes und in sich abgeschlossenes Bild des dargestellten Zeitraumes. Titel der ersten Hefte: 1. 2. IJ. 4. 5. 6. 7. 8.
Sphinx am Strom Priester und Magier Götter und Helden Die Griechen Die Perserkriege Die Tempel Athens Alexanderzug Pyrrhus — der Abenteurer
9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16.
Hannibal Untergang Karthagos Marius und Sulla Kaiser ohne Krone Das Goldene Rom Die ersten Christen Hadrian und Marc Aurel Das geteilte Weltreich
Titel der folgenden Nummern: Germanenzüge Die Hunnenschlacht Die Mönche von Monte Cassino Der Prophet Allahs Karl der Große Heiliges Römisches Reich Kaiser und Päpste Die Kreuzfahrer Friedrich Barbarossa Die Hohenstaufen Bürger und Bauern Die Humanisten Der Schwarze Tod Die Renaissance Neues Land im AVesten Fahrendes Volk Ritter und Landsknechte
Kaiser der Welt Der Große Krieg Der Sonnenkönig Ruf übers Meer Der Preußenkönig Rokoko Im Schatten der Bastille General Bonaparte Kaiser Napoleon Kongreß in Wien Eiserne Straßen Der vierte Stand Verschwörer und Rebellen Sieg der Technik Bis mar ck Die rote Revolution Demokratie und Diktatur
und viele weitere Hefte. LUX HISTORISCHE REIHE bringt jedes Heft mit farbigem Umschlag, Illustrationen, Geschichtsljundlichen Landkarten, Anmerkungen und Zeittafel. VERLAG SEBASTIAN LUX - M U R N A U VOR MÜNCHEN
LUX
HISTORISCHE
REIHE
16
OTTO ZIERER
DAS GETEILTE WELTREICH DER KAISER D I O K L E T I A N
VERLAG SEBASTIAN LUX MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK • ÖLTEN
EINFÜHRUNG Zwei Mächte führen den Untergang der heidnischen Welt der Antike herbei: die geistig-seelische Gewalt des Christentums und der immer stärker werdende Einfluß des Heeres auf die Reichspolitik. Die Idee des Christentums erfaßt, vom Osten ausgehend, trotz schärfster Unterdrückung und Verfolgung, die Volksmassen des Imperiums. Die verzweifelten Flüchtlinge aus den von Fremdvölkern überrannten Grenzprovinzen, die Sklaven und Entrechteten wenden sich mit opferbereiter Hingabe einer Religion zu, die sich der Armen und Elenden annimmt, die ihnen Hoffnung, Liebe und Erlösung predigt. Der Tempel des Jupiter auf dem Capitol, das heilige Herz des römischen Großstaates, wird seiner mystischen Macht, der sich die Völker so lange gebeugt haben, entkleidet. Die Fäden, die das Reich zusammengehalten haben, zerreißen unter der Spannung der Zeit. Kaiser Diokletian versucht zwar noch einmal die Gewalten zu bändigen, aber sein Werk zerbricht, nachdem er — befreit von der Last des Purpurs — den Frieden im Schloß zu Spalato gefunden hat. Erbitterte Kämpfe um die Macht zerklüften die Reichsteile, eine demoralisierende Geldentwertung, steigende Verarmung und Verelendung stürzen den Staat in immer neu sich öffnende Abgründe. Konstantin, der Sieger im Kampf um das Kaiserdiadem, gibt dem vielfach geteilten Reich durch die Anerkennung des Christentums und die Einordnung der kirchlichen Verfassung in das Staatsgefüge einen neuen Zusammenhalt. Der Reichsmittelpunkt aber verlagert sich von Rom nach dem Osten des Imperiums. 2
Die Geschichte schreitet unaufhaltsam von der Gegenwart zur Zukunft. Kriege, Hungersnöte, Erdbeben, Kaisermorde und Palastintrigen durchrütteln das Gefüge der Zeit. In stillen Gelehrtenstuben Eoms und Athens, in den Schulen und Akademien sitzen fleißige Geschichtsforscher vor ihren Schreibpulten und kritzeln mit gespitzten Rohrfedern endlose Pergamentrollen voll. Sie schreiben die Kaiserbiographien, verzeichnen die Taten der Großen und Mächtigen, auf daß die Nachwelt von Höhenflug, Wirken und Absturz der Herren dieser Erde erfahre. Da arbeiten Gelehrte römischer, gallischer, griechischer Herkunft, Kaiserverehrer und Kaiserverächter, alle jene Historiker, die man später die „Verfasser der Kaisergeschichte" — „Scriptores historiae Augustae" — nennen wird. Aber indem sie die zurückliegenden und zeitgenössischen Quellen durchwühlen und mit Bienenfleiß die Begebenheiten in den kaiserlichen Palästen und in den Feldlagern der Legionen aufzeichnen, vergessen sie den größeren Teil des Lebens: die Millionen namenloser Menschen, die Geschichte nicht machen, sondern erleiden. Aus der Tiefe der Vergangenheit wälzt sich unaufhörlich der breite Strom des Alltags ins Ungewisse der Zukunft, nur im kurzen Lichtstrahl des Gegenwärtigen glitzern seine ziehenden Wellen. * Wieder einmal haben zwei Kaiser um das Erbe der Cäsaren gerungen. Carinus, der Kaisersohn, und Diokletian, der General, waren beide von ihren Soldaten zum Imperator ausgerufen worden. Im Jahre 284 ist die Entscheidung gefallen: Carinus ist erschlagen, Diokletian aber zieht als Triumphator in Rom ein. 3
In den Tempeln und Palästen werden die alten Kaiserbüsten entfernt, die Handwerker und Kaufleute löschen mit Farbe oder Wasser die Inschriften unter den primitiv gemalten Cäsarenbildern aus, die in ihren Geschäftsräumen hängen, und zeichnen mit unbeholfenen Buchstaben den Namen Diokletian darunter. Eine Kaiserwahl ist kein aufregendes Ereignis mehr. Fünfundzwanzigmal in zwanzig Jahren hat Rom um die Mitte des 3. Jahrhunderts seinen Herrn gewechselt, kaum, daß man sich die Namen merken konnte. Rom hat Sorgen und Freuden anderer A r t . . . Gestern, am fünfzehnten des Frühlingsmonats — an den Iden des März —, haben die Innungen und Zünfte das Fest der Anna Perenna, einer altrömischen Frühjahrsgöttin, gefeiert. Es war wunderschönes, wolkenloses Frühjahrswetter, die Handwerkervereinigungen marschierten unter Fahnenschwenken und Festgesang durch die Viertel der Talstadt. Den ganzen Tag waren die Werkstätten und Geschäfte geschlossen, und alles zog auf die grünen Tiberwiesen. Dort lagerte man, kleine Zelte aus Rohrstäben und Leinwand wurden aufgestellt, die gegen die Hitze der Mittagssonne schützten. Die Festwirte schenkten Wein aus, Brote und Würste wurden verkauft, in kleinen Holzbuden gab es Süßigkeiten für die Kinder. Ausgelassene Fröhlichkeit beherrschte den Tag. Vater Volusius, der Schuster, schöpfte zusammen mit seinem Nachbarn Clodius ein Milchgefäß leer. Die Umstehenden zählten die Löffel; denn nach altem Aberglauben besagte die Zahl der gefüllten Löffel, wie viele Jahre man zu leben habe. Die Mädchen sangen die neuesten Modelieder, während auf einer mit Brettern belegten Fläche die jungen Handwerker ihre Tänze aufführten. Und wieder stehen Festfreuden in Aussicht! In vier Tagen wird das Stiftungsfest des Minervatempels gefeiert. Minerva, die Göttin der Geschicklichkeit, ist die Patronin der Handwerker und Künstler. Vom neunzehnten bis zum dreiundzwanzigsten März bleiben die Läden und Werkstätten geschlossen, und die Tiberwiesen werden sich abermals mit dem Getümmel eines Volksfestes füllen. Es ist nicht leicht für die Schuljugend, zwischen zwei so aufregenden Festen ihren Pflichten nachzukommen, noch dazu, wo die Früh Jahrsferien bald beginnen sollen. Mancher 4
Junge und manches Mädchen bedrängt seine Eltern, daß es dem Unterricht fernbleiben darf. Der zwölfjährige Gajus, Sohn des Schenkenwirtes „Zu den vier Schwestern" im Tiberviertel, versucht erst gar nicht, Befreiung von der Schule zu erreichen. Er weiß, wie stolz der Vater darauf ist, daß er seinen Sohn von einem Grammatiker unterrichten lassen kann. Seufzend kriecht Gajus am frühen Morgen unter seiner Decke hervor, entzündet die kleine, immer rußende Öllampe, fährt mit der Hand durch das Brunnenwasser und dann auch ein wenig ins verschlafene Gesicht. Das muß heute genügen; der schwarze Wuschelkopf wird mit den gespreizten Fingern gekämmt. Es ist noch dunkel, der Unterricht beginnt wie üblich mit der ersten Morgenstunde — um sechs Uhr —, und Gajus hat einen weiten Weg. Als er sein Frühstück verzehrt, hört er, wie sein Vater nebenan in der Gaststube mit Gläsern klappert. Ein früher Gast •— wahrscheinlich ein Bauarbeiter, der zum Tagewerk geht — will bedient werden. „Bleib mir nur mit allen aufrührerischen Ideen vom Leibe", poltert der Gastwirt unwirsch, ,unser Gewerbe beruht auf der Lebhaftigkeit des Verkehrs und der öffentlichen Ordnung! Gibt es Krawall, so sind die Schenken die ersten Häuser, die von der Polizei geschlossen, von den Aufrührern gestürmt und vom Pöbel angezündet werden.' 1 Wir haben das hier im Tiberviertel oft genug erlebt, wenn sich Prätorianer und Römer herumschlugen . . ." „Aber du mußt doch zugeben", antwortet eine rauhe Stimme, „daß wir Steinmetzen allen Grund zur Unzufriedenheit haben. Wir arbeiten drüben beim Marmorabladeplatz am Hafen zehn Stunden im Tagelohn! Der einzige, der dabei auf seine Kosten kommt, ist der betrügerische Freigelassene, dem das Unternehmen gehört. . . Ich weiß es ganz genau, der Beutelschneider kauft in Griechenland alte Marmorstatuen auf, läßt ihnen die Köpfe abnehmen und setzt die Porträts von Senatoren, Hofdamen oder gar Kaisern auf die Rümpfe. Das Ergebnis dieser Verwandlung verkauft er mit 80000 Sesterzen 2 für den Rumpf und 100000 Sesterzen für den Kopf! Wir aber plagen uns täglich für einen Hungerlohn von 65 Denaren. Der Höllenhund fahre darein . . .!" 5
Der kleine Gajus gähnt gelangweilt. Noch müde vom gestrigen Tag, packt er seine Wachstäfelchen und Griffel zusammen, umschnürt alles mit einem Kiemen und ergreift die Lampe. So tritt er auf die morgenkühle Straße hinaus. * Die Schule des Grammatikers Perennus liegt jenseits des Aventin-Hügels. In einem alten Gebäude, unmittelbar an der Neronischen Straße, befindet sich der offene Raum, den nur ein schmutziger Vorhang vom Getriebe der Straße trennt. Perennus, der sich in einem abenteuerlichen Leben bereits als Soldat, Kaufmann und Gerichtsbote versucht hat, steht schon seit dem Morgengrauen vor seinem Lokal und erwartet die Schüler. „Ein Lehrer muß früher aufstehen als Schmiede und Weber", denn die Eltern wünschen für den späteren Tag ihre Söhne zur Hilfe, so daß die sechs Schulstunden zur Mittagszeit beendet sein müssen. In dem düsteren, mit Zeltleinwand notdürftig überdachten, ehemaligen Hofraum, der Perennus als Schulstube dient, haben sich bereits einige Knaben zwischen zehn und fünfzehn Jahren versammelt. Jetzt kommt auch Gajus, der Wirtssohn, die Ostia-Straße herauf, grüßt den Lehrer und tritt an ihm vorbei in den Raum. Lautes Geschrei empfängt ihn; sein Freund Publius, der Sohn eines reichen Bäckers, nimmt ihm das Lämpchen ab und stellt es zu den anderen, die den Raum mit trübem Licht erfüllen. Ein paar Knaben raufen zwischen den einfachen Holzbänken; einer der Schüler ist eifrig bemüht, den verräucherten Dichterfiguren des Horatius und Virgil einen Rußbart anzumalen. Gajus ist bald in einen wichtigen Handel verwickelt. Publius bietet ihm schöne, bunte Glaskugeln zum Tausch gegen die bemalten Zinnlegionäre, die er einmal bei Gajus gesehen hat. Ein Kreis von Jungen steht um das feilschende Paar. Ehe aber noch ein Abschluß erzielt wird, betritt Perennus den Raum, ergreift den Stock und klopft drohend auf die Wandtafel. Gehorsam nehmen die Schüler ihre Plätze ein. Publius und Gajus, die schon des öfteren gemeinsam Unfug getrieben haben, sind weit auseinandergesetzt worden. Sie verständigen sich nun durch Zeichensprache, während der 6
Lehrer die jüngeren Schüler in der schwierigen Rechenkunst prüft. Die älteren müssen mit Metallgriffeln auf die Wachstäfelchen eine schöngesetzte Rede über den Verlauf des Frühlingsfestes niederschreiben. „Dionysius, dort hinten auf der letzten Bank, treibt Unfug!" ertönt die wütende Stimme des gestrengen Herrn Lehrers. Ein Dutzend Schüler ruft sogleich, Dionysius sei gar nicht anwesend. „Aber wenn er dagewesen wäre, hätte er sicherlich Unfug getrieben", erwidert Perennus mit todernstem Gesicht. „Gestern waren die Iden des März", sagt der Grammatiker plötzlich. „Es ist üblich, nach diesem Tage das Schulgeld zu bezahlen! Wer hat das Geld mitgebracht?" Mehrere melden sich durch Hochhalten der Hand, einige klimpern mit den Münzen. Perennus beginnt einzusammeln und Quittungen auf die Täfelchen zu kritzeln. Der monatliche Unterricht im Lesen und Schreiben kostet 50, im Rechnen und in der Schnellschrift zusammen 75 und in den höheren Fächern, Mathematik, Latein und Griechisch, 200 Denare. Wenn Perennus, der eine verhältnismäßig gut besuchte Schule mit dreißig Knaben führt, wirklich von allen seinen Lohn erhält, kommt er auf eine Einnahme von rund 64000 Denaren im Jahr, wenig genug bei den dauernd steigenden Preisen! „Brav, Cäpio!" lobt der Lehrer, als der Sohn des Auktionators mit einem der selten gewordenen Goldstücke bezahlt und dafür großmütig als Wechselgeld die schlechten Münzen mit dem Bilde des Kaisers Gallienus annimmt. Gleich darauf weist Perennus ein Geldstück mit dem Bilde des Kaisers Numerian entrüstet zurück. „Sage deinem Vater, Gallus, daß dieses Geld nur fünf Hundertteile echtes Silber enthält und daher nicht soviel gelten kann wie ein richtiger Denar mit dem Bilde des alten Kaisers!" Als das Einsammeln des Schulgeldes beendet ist, fährt der Lehrer im Unterricht fort. Er ruft einen der älteren Schüler — Fabius, den Sohn eines Geldwechslers — an die Tafel, gibt ihm ein Stück Kreide und stellt ihm die Aufgabe. „Da wir soeben einige Bildnisse der erhabenen Kaiser vor uns liegen haben — ich meine die Schaubilder der Münzen —, wollen wir die Namen der Kaiser wiederholen, die seit den Tagen der Tausendjahrfeier aufeinander gefolgt sind!" 7
Fabius beginnt unter reger Anteilnahme der Bubenschar mit der Kreide zu schreiben: Philippus Arabs . . . „Ermordet!" schreit der Chor der Jungen, „ermordet, ein Jahr nach dem tausendsten!" Decius Trajanus .. ., malt Fabius mit großen Buchstaben. „Ermordet!" antwortet die Klasse, „ermordet, im zweiten Jahr seiner Herrschaft!" Gallus und Volusianus . . . „Ermordet, im zweiten Jahr . . ." Valerianus und Gallienus . . . „Vom Perser gefangen der eine, der andere erschlagen Postumius . . ., schreibt der Musterschüler an die Tafel, aber er wird durch entrüstete Stimmen unterbrochen: „Falsch! Das ist ein Gegenkaiser und der zählt nicht!" Dann geht es weiter, die Kreide malt Name um Name: Macrian, Valens Thessalonicus, Aureolus, Odaenathus, Aemilianus, Postumus, Lollianus, Victorinus, Marius, Tetricus, Celsus, Ingenuus, Claudius, Aurelianus, Tacitus, Florianus, Probus, Carus, Carinus, Numerianus . . . Und jedem dieser zwanzig Namen folgt der einförmige Ruf: „Ermordet, ermordet. . .!" „Und wer regiert jetzt über das Imperium?" fragt der Lehrer. Nur wenige melden sich. Perennus ruft den kleinen Publius auf. Der Schelm zwinkert seinen Freunden zu: „Die Legionäre, Herr Magister!" Lauter Beifall lohnt das Scherzwort. Drohend schwingt der Lehrer den Stock. „Präfekt Arrius Aper!" schreit einer, „ich hab es von meinem Vater gehört!" „Ermordet!" brüllt der Chor. Der Lehrer wehrt erschreckt ab. „Nein, ihr Dummköpfe", sagt er fast flüsternd, als habe er Angst, daß seine Stimme auf der Straße gehört werde, „Arrius Aper ist nicht ermordet, sondern gerichtet worden. Merkt euch den Unterschied!" Endlich kommt Gajus zu Worte, der dabeistand, als sein Vater in der Schenke den Namen des neuen Kaisers unter das Imperatorenbild schrieb. 8
„Diokletian heißt der Augustus Imperator!" ruft er stolz, „und Diokletian hat General Arrius Aper eigenhändig mit dem Schwert gerichtet. Diokletian ist unser Kaiser!" * Am Mittag, kurz vor Schluß des Unterrichts, wird plötzlich der Vorhang zurückgeschoben und ein beleibter Mann betritt den Unterrichtsraum. Er bittet den Lehrer um eine kurze Unterredung. Der Geldwechsler Quintus Florus Fabius ist gekommen, um sich mit dem Grammatiker über die Berufswahl seines Sohnes zu bereden. Er schildert ihm die Sorgen, die er mit dem Vierzehnjährigen hat. Obschon sein Geschäft nicht nur mehrere Wechselbuden am Hafen besitzt, sondern auch über die glänzendsten Verbindungen zu den vornehmen Bürgerkreisen verfügt, findet der Junge kein Interesse an dem Beruf seines Vaters. „Ich habe", sagt der "Wechsler stolz, „nicht nur durch die vielen Münzprägungen und die damit verbundenen Wechselkurse, sondern auch durch meine Agentur allerhand Gewinne gemacht. Wer ein Testament zu vollstrekken, eine Erbschaft zu verkaufen oder ein Geschäft zu erwerben gedenkt, kommt zu mir. Glaube mir, Perennus, das Geschäft ernährt seinen Mann! Aber Fabius, dieser störrische Esel, wünscht unter allen Umständen zu studieren." Der Lehrer überlegt einen Augenblick. „Die Jugend ist ohne Verstand", sagt er dann. „Sie sieht nur die Ideale, ohne auf den Inhalt der Kochtöpfe zu achten. Schon Martial erzählt einmal, wie sich zehn Dichter, sieben Rechtsanwälte, vier Politiker und ein Geldwechsler um ein Mädchen bewerben und wie der Vater seine Tochter, ohne Überlegen, dem Geldwechsler gibt. Und an einer anderen Stelle rät der gleiche Poet den Knaben, nur nicht zu studieren, sondern Baumeister oder Agent zu werden, da wisse man wenigstens, wovon man leben könne . . ." „Keine theoretischen Betrachtungen, Perennus, wenn ich bitten darf! Sag mir lieber, ob mein Fabius überhaupt das Zeug zum Gelehrten h a t ! " „Das wohl", meint der Lehrer zögernd, „aber ein wissenschaftlicher Beruf setzt voraus, daß man jahrelang, vom eigenen Gelde lebend, sich nur dem Studium widmen kann. Natürlich würde ich gerne den privaten Unterricht deines 9
Sohnes übernehmen. Ich kann ihn in Grammatik, Redekunst und Rechtskunde einführen..." Der Wechsler winkt unhöflich ab. „Nein, nein, davon ist keine Rede! Wenn Fabius studieren will, dann bringe ich ihn in die Schule der Rhetoren3 Statius und Corunatius am Aventin. Dort wird in Redekunst, Arithmetik, Geometrie, Astronomie, griechischer Literatur und Rechtskunde unterrichtet. Auf das Geld soll es mir nicht ankommen." Als der Lehrer gekränkt schweigt, drückt Quintus Florus ihm ein Goldstück in die Hand. „Du wirst ihm als Privatlehrer zur Seite stehen!" tröstet er den sich dankbar verneigenden Grammatiker. * Als Perennus den Unterricht beendet, stürmen dreißig Knaben auf die belebte Neronische Straße und zerstreuen sich lärmend in alle Richtungen. Gajus und Publius machen einen Umweg durch die Innenstadt. Sie traben durch die Riemenschneider- zur Kornhändlergasse, vorbei an den schmalen Häusern, in denen Sandalenmacher, Silberschmiede, Salbenreiber und Sichelschärfer ihr Handwerk betreiben. Als sie in die Stadtteile mit den großen Plätzen und Tempeln, den ausgedehnten Säulenhallen und öffentlichen Gebäuden gelangen,wird das Menschengewühl dichter. Sänften, Reiter und Lastwagen drängen sich in der „Heiligen Straße", einer der Hauptverkehrsadern Roms. Hier gibt es für die Knaben immer etwas Interessantes zu sehen und zu bestaunen. Sie betrachten mit Neugier und Spott eine auffallend geschminkte Frau, die, in ihrer prachtvollen Sänfte liegend, sich von dem Inhaber eines Luxusgeschäftes neu eingetroffene Waren vorlegen läßt. Sie mustert gelangweilt die modernen „cajetanischen" — in Gallien hergestellten — Halsketten, die Fächer aus Pfauenfedern, blitzende Smaragdhalsbänder und feine, geschliffene Kristallschalen. Als der Kaufmann den Preis für die gewählten Sachen genannt hat, beginnt sie zu feilschen. Nach langem Hin und Her befiehlt die Römerin dem Haushofmeister, einem dunkelhäutigen Syrer, zu zahlen. ,,In den Bogengängen am Circus Maximus", sagt der Knabe Publius, „sind noch viel prächtigere Läden!" 10
Manni Hesse
Digital unterschrieben von Manni Hesse DN: cn=Manni Hesse, c=DE Datum: 2007.02.25 11:40:00 +01'00'
„Und in den Kaufhallen bei den Caracalla-Thermen erst!" trumpft Gajus auf, „oder am Marsfeld, in den großen Läden beim Agrippa-Bad, beim Domitianischen Circus und am Pompejischen Theater! Da kannst du alles sehen, was es in der Welt g i b t . . ." Sie trollen langsam talwärts, dem Tiberfluß entgegen. Auch hier gibt es allerhand zu sehen. Die zahlreichen Ladengeschäfte haben in der beginnenden Mittagshitze die Leinwandvorhänge herabgezogen, die mit grellen Eeklamebildern oder Sinnsprüchen bemalt sind. Eine Wildbrethandlung zeigt eine ganze Jagdszenerie im Gemälde, ein Schweinemetzger hat drei große Schinken auf sein Ladenschild pinseln lassen. Die Knaben bleiben vor der Bude einer poetischen Gemüsefrau stehen, die ihren Stand mit Versen Virgils geschmückt hat. Sie werden in ihrem Herumgaffen gestört, als lautes Geschrei ertönt. Aus einem Gewölbe, zu dem einige Stufen hinabführen, stürzt ein pechbeschmierter Schusterlehrling, gefolgt von dem Meister, der einen Lederriemen schwingt. Als der Schuster erkennt, daß er den flinkfüßigen Lehrjungen nicht mehr einholen wird, zieht er kurz entschlossen den Pantoffel vom Fuß und schleudert ihn dem Flüchtenden in den Bücken. 4 „Wage dich nicht wieder in meine Werkstatt!" ruft der erboste Meister, und er nickt befriedigt, als eines der Weiber am Salzfischmarkt seinem Lehrjungen einen Thunfisch um die Ohren schlägt, so daß er aufheulend davonrennt. Publius und Gajus lachen vergnügt über den Zwischenfall. Plötzlich hält eine verhängte Sänfte neben ihnen, eine gepflegte, ringgeschmückte Hand winkt ihnen zu, und als Gajus nähertritt, hört er eine näselnde Männerstimme. „Bring rasch den Brief dem Mädchen dort drüben!" Gajus nimmt überrascht eine wohlduftende Papyrusrolle, die mit rosa Bändern gebunden ist, zusammen mit einem Vierdenarstück entgegen. Er läuft wie ein Wiesel quer über den Fischmarkt zur Blumenbindergasse, wo eben die bezeichnete Schöne an den Blumenständen eine Auswahl trifft. Er übergibt seine Botschaft. Von dem beglückten Mädchen erhält Gajus ebenfalls vier Denare. Die beiden Freunde betrachten begeistert das Geld, acht Denare sind in ihrem Besitz! Sie streben den Verkaufsbuden am Circus Maximus zu, wo es Honiglebkuchen und Marzipan, Glaskugeln, bunte Steinbaukästen und Blei11
Wirtschaftskarte des Imperiums (westlicher Teil) Die lateinischen Namen bedeuten u. a.: Londinium a London, Augusta Trevirorum = Trier, Danuvius = Donau, Liger = Loire, Iberus = Ebro, Mauretania = Marokko, Numidia = Numidien
figuren zu kaufen gibt. Vielleicht werden sie sogar auf der großen Schaukel fahren. Freilich sind auch hier die Preise sündhaft hoch. Eine einzige Fahrt auf der Schaukel kostet vier Denare in neuem Geld oder einen alten Denar. Das ist natürlich reiner Betrug, denn der gute Silberdenar von einst wird überall für dreißig bis vierzig ,,Weißgesottene" gehandelt. 12
Wiitschaftskarte des Imperiums (östlicher Teil) Die lateinischen Namen bedeuten: Sarmatia = Land des Sarmatenvolkes (in der Völkerwanderung untergegangen), Vistula = Weichsel, Ister = untere Donau, Tyras = Dnestr, Borysthenes = Dnepr, Xanais = Don, Ena = Wolga, Byzantium = das spätere Konstantinopel
Viel bekommen sie nicht für ihr Geld, und so stehen sie unschlüssig herum, gehen von einer Bude zur andern und gelangen auf diese Weise bis ans Ende des Circus, wo die Aquädukte die Straßen überspannen. Drüben steigen die riesigen Mauern der Caracalla-Thermen empor. Gongs verkünden die Mittagsstunde. Aus der grauen Fabrik, die am Fuße des Cälius-Hügels liegt, strömen die 13
Arbeiter, abgerackerte Männer in zerlumpten Gewändern. Sie setzen sich in die Sonne, um ihr mitgebrachtes Mittagessen zu verzehren. Brote werden geschnitten, ein paar Oliven hervorgekramt, und aus plumpen Tongefäßen fließt der saure Landwein. , ,Das ist die Kriegsgerätefabrik des reichen Senators Tertius Coruncianus", sagt Publius, „da machen sie die größten Belagerungsgeschütze, Sturmböcke und Schleudern!" Ein paar armselig gekleidete Kinder betteln die Arbeiter an. Nie gestillter Hunger spricht aus ihren tiefliegenden, umschatteten Augen. „Wir sind sechs", klagt ein blasses Mädchen, „und der Vater sitzt als Gefangener auf den Galeeren!" I Plötzlich hat Gajus einen Einfall. Er tritt zu dem Mädchen heran, drückt ihm wortlos die acht Denare in die Hand und läuft, gefolgt von dem sprachlosen Publius, davon. In der Nähe des Mercurtempels bleibt Gajus stehen. „Was hast du getan?" schreit atemlos der Bäckerssohn, „warum gibst du unser schönes Geld fort?" „Das verstehst du nicht!" antwortet Gajus verlegen. Doch dann bequemt er sich zu einer Erklärung. „Einer der Maler, die bei uns verkehren", sagt er, „ein Mann, der in der Verzierergilde arbeitet, hat mir von dem Gotte erzählt, den er verehrt. Dieser Gott hat gesagt, man solle anderen Menschen Gutes tun, dann werde man nicht sterben, sondern ewig im Himmel leben." „Daran glaubst du?" spottet Publius, „ein Christ bist du?" „Deswegen bin ich noch kein Christ! Ich bete zu Mithras, wie mein Vater!" Das Geplänkel endet wie üblich mit Püffen und Schlägen. Heulend und zerzaust läuft der dicke Publius schließlich davon. Die Freundschaft hat einen Biß bekommen — wenigstens bis morgen früh! * Bald darauf betritt Publius das väterliche Geschäft, wo ihn sein Vater, der angesehene Bäckermeister Sextius Publius, wegen seines langen Fernbleibens zur Rede stellt. Da kommen dem kleinen Publius die Schrammen und Kratzer im Gesicht gut zustatten. Er erzählt weinend von den Schlägen, die er bezogen hat. 14
„Wie!" ruft der Meister entrüstet, „das Früchtchen eines Kneipwirts wagt es, meinen Sohn zu schlagen? Ist es die Möglichkeit! Sofort werden ich in die Schenke ,Zu den vier Schwestern' hinübergehen!" Dann wendet er sich an seinen Sprößling und streicht ihm tröstend über die Haare. „Und du, hebe den Kopf, mein Sohn! Bedenke, daß der Beruf eines Bäckers einer der wichtigsten auf der Welt ist. Es gibt wohl mehr als dreitausend Wirtshäuser in Rom, aber nur zweihundertfünfzig Bäckereien! Das wollen wir dem Schenkwirt und seinem gewalttätigen Lausbuben klarmachen! Komm!" * Das Volk der Großstädte empfindet kaum mehr irgendwelche innere Anteilnahme an der Kaiserpolitik. Der Wechsel zwischen dem jähen Aufstieg irgendeines Abenteurers und seinem ebenso plötzlichen Absturz ist zu alltäglich geworden, um noch Interesse erwecken zu können. Auch den Bürgern und Bauern, den Kleinsiedlern und Kolonisten in den verheerten Provinzen ist es gleichgültig, welcher Legionärsführer den Cäsarenpurpur trägt. Jeder Kaiser ist doch nur bemüht, möglichst viel Steuern und Abgaben zu erpressen, um sich die Gunst der Soldaten zu erhalten. In der engeren Heimat Diokletians freilich, an der Bucht von Salona in Dalmatien, hat die Verkündung des neuen Imperators ungeheures Aufsehen erregt. Die meisten kannten den jungen Bauernsohn, der eines Tages mit den Soldaten davongezogen war. Im steingefügten Häuschen an der Straße lebt noch der alte Vater Aureolus Valerius, der durch Zuwendungen seines Sohnes reich und angesehen geworden ist. Die großen Weinberge des Gutes Dioclea gehören nun ihm, auch die Halbinsel Spalato5 hat er im Auftrag des Sohnes gekauft. Aber nichts in der Welt vermag ihn zu bewegen, sein Haus und jenen Acker zu verlassen, den er mit seinem Schweiß gedüngt und mit seinen Händen gerodet hat. Es ist eine blutbesudelte und gefährliche Würde, die Diokletian errungen hat. Aber er fühlt die Berufung in sich, Großes zu leisten, und dieses Selbstbewußtsein hat ihn im Alter von kaum vierzig Jahren zur Spitze des Weltreiches emporgetragen. 15
In jener Stunde, als die Legionäre ihre Schwerter aneinanderschlugen und mit brausendem Jubel dem neuen Cäsar huldigten, ahnte niemand, daß dieser neue Soldatenkaiser für einige Zeit das staatliche Chaos bändigen könne, das seit einem Menschenalter das Imperium verheerte. Wer konnte es damals wissen, daß schon wenige Jahre später alle Provinzen dem Kaiser Diokletian dankbar Denkmäler und Altäre errichten würden. Als der neue Augustus eine Eeichskonferenz nördlich der Alpen in der Stadt Augsburg abhält, wird zum Gedenken an seine Anwesenheit ein steinernes Bild errichtet und auf dem Sockel die Schrift eingemeißelt: Imperator Augustus Diokletianus — Der Bringer des ewigen Friedens"6. Der Bauernsohn aus Salona am Adriatischen Meer zwingt die entfesselte Zeit zurück in die Bahnen einer harten Ordnung. * Das Leben der namenlosen Massen unterliegt immer dem gleichen Rhythmus, mag die große Politik dem Chaos zutreiben oder sich zu neuen Höhen erheben. Inmitten des dahinrauschenden Stromes der Geschichte, der bald diesen, bald jenen Weg nimmt, glitzern doch immer die zahllosen kleinen Tropfen, aus denen sich die verheerende Woge ebenso wie die befruchtende Flut zusammensetzt. Die Schicksale der einzelnen Menschen gleichen in ihrer Art jenen von Weltreichen; die kleinen Handwerker oder Schreiber durchleben dieselben Jahre wie die Kaiser und Generäle, wie die mächtigen Beweger der Welt. Und für viele dieser kleinen Leben haben die Ereignisse der Nähe, des Alltags und des persönlichen Kreises viel stärkere und aufwühlendere Bedeutung als der laute Gang der Weltgeschichte. * In den sechs Jahren, die seit der Ausrufung Diokletians als Imperator Augustus verflossen sind, hat sich das Lebensschicksal der Zöglinge aus der Schule des Grammatikers Perennus entschieden. Der dicke Publius ist zum tüchtigen Gehilfen in der väterlichen Bäckerei und zum Mitglied des Kollegiums der Brotbäcker geworden. Er hat geheiratet und denkt daran, eine Filiale im Hafen Ostia zu gründen. Sein ehemaliger Freund Gajus, der Sohn des 18
Schenkwirts, steht nicht im besten Rufe, und Publius hat den Verkehr mit ihm seit langem abgebrochen; dennGajus und sein Vater sind—wie man sich erzählt — Christen geworden, Anhänger der seit einiger Zeit wieder verbotenen und als staatsfeindlich erklärten Sekte. Abends, wenn die Ladenbretter vor die Fenster gelegt werden, huschen vermummte Gestalten in die Schenke „Zu den vier Schwestern", sogar entlaufene Sklaven will man gesehen haben. Manchmal hören die Nachbarn deutlich fremdartigen Gesang vieler Stimmen. Vielleicht halten die Christianer dort geheime Versammlungen ab. Gajus flucht nur noch selten, er meidet die blutigen Spiele im Amphitheater, und man sieht ihn weder bei Prozessionen noch bei Tempelfesten. Der einzige unter den Schülern des Perennus, der den Wissenschaften treu geblieben, ist der lange Fabius, der Sohn des Geldwechslers, den Begabung, innerer Drang und Vermögensverhältnisse seines Vaters gleichermaßen zum höheren Studium bestimmt haben. Er allein von all den Jungen hat den Entwicklungsgang des Studenten genommen; so hat er berechtigte Aussicht, eine staatliche Anstellung zu bekommen. 7 Heute herrscht ungewöhnlich reger Betrieb in den Amtszimmern und Lehrsälen der Hohen Schule; denn mit Beginn des Wintersemesters sind wieder viele Jungstudenten — Novizen genannt — aus der Provinz herbeigeströmt, um sich an der Römischen Akademie eintragen zu lassen. Nach altem Brauch beginnt das Studienjahr nach Schluß der Weinleseferien. Die „bemoosten Häupter" — ältere, erfahrene Studenten — ziehen mit den Neuangekommenen über das Forum Romanum zum Tal des Circus Maximus hinunter, die Appische Straße entlang zu den CaracallaThermen. Hier warten bereits andere Eingeweihte und empfangen die verschüchterten Novizen mit Spottliedern, Stockschlägen, Steinwürfen und allerhand Quälereien, so daß es zu einer wahren Straßenschlacht zwischen den Beschützern der jungen Füchse und den übrigen Studenten kommt. Erbarmungslos werden schließlich die Neulinge in die große Thermenhalle gezerrt, ihrer Kleider entledigt und ins Warmbad geworfen, herausgezogen und unter Püffen in die Piscina — das Schwimmbad mit kaltem Wasser — getaucht, bis den armen Schelmen fast die Luft fortbleibt. Das ganze Bad ist von Gewühl und Lärm 2(16)
17
erfüllt, so daß die Bürger, die friedlich im Dampf der Wannen sitzen oder sich in den vorhangverschlossenen Kammern massieren lassen, ärgerlich über das Studentenunwesen schimpfen. Auch Sextus Fabius ist dabei. Ihm kommen bei all dem fröhlichen Treiben die Erinnerungen an die eigene, unbeschwerte Novizenzeit; er steht kurz vor dem Schlußexamen, und dann beginnt der Kampf um Stellung und Brot. Es gehört zum Brauch der Studenten, ihrem Professor einige Novizen zu gewinnen und dafür zu sorgen, daß sein Kolleg gut besetzt bleibt. Der gestrenge Lehrer wird solche Aufmerksamkeit bei der Prüfung zu berücksichtigen wissen. Als die Tauf Zeremonien der jungen Provinzialen beendet sind, und die meisten, nach Luft schnappend, erschöpft und dem Weinen nahe, im seichten Wasser des Tepidariums, des Warmluftraums, liegen, gesellt sich Sextus Fabius zu einigen von ihnen, die am intelligentesten aussehen. „Was wollt ihr studieren, Novizen? Habt ihr schon die Fakultät gewählt?" fragt er. Ein zähneklapperndes „Nein!" gibt ihm Antwort. Die beiden Jungen sind nicht älter als fünfzehn Jahre — das übliche Alter für den Beginn des Hochschulstudiums. Verordnungen der Kaiser begrenzen das Fachstudium auf fünf Jahre. Studenten über zwanzig Jahre sind bis vor kurzem von der Polizei mit Schande aus der Stadt entfernt worden; denn es galt seit jeher für schimpflich, wenn Bürger in diesem Alter noch nicht für den Staat arbeiteten. Kürzlich hat Kaiser Diokletian allerdings den Studenten einer berühmten Rechtsschule erlaubt, bis zum fünfundzwanzigsten Jahre an der Akademie zu weilen, darum wird die Polizeimaßnahme auch in Rom nicht mehr mit der alten Schärfe gehandhabt. Sextus Fabius steht selbst schon im einundzwanzigsten Jahre. „Ihr müßt natürlich wissen, welche Fachrichtung euch zusagt!" belehrt der Kandidat die respektvoll zuhörenden Neulinge. „Die Hohe Schule in Rom besitzt einunddreißig Professoren: drei römische und fünf griechische Rhetoren, zehn Grammatiker für jede der beiden Sprachen, einen Philosophen und zwei Juristen. Unter diesem Kollegium sollt ihr eure Auswahl treffen; es ist auch möglich, daß ihr 18
euch bei mehreren Lehrern einschreiben laßt. Das Hörgeld beträgt zwischen 1500 und 3000 Sesterzen." Vertrauensvoll blickt der eine der beiden Knaben zu Sextus Fabius auf und wagt zu bemerken, er habe vernommen, daß es in Born auch billigere Privatlehrer gebe. Sextus Fabius lacht verächtlich. „Es gibt solche Lehrer, und sie prahlen mit der größeren Zahl ihrer Hörer, aber das Gesetz verbietet ihnen die öffentlichen Hörsäle; sie müssen in ihren Privatwohnungen unterrichten, auch ist es fraglich, ob der Staat die bei ihnen abgelegten Prüfungen anerkennt. Ihr hofft doch sicherlich auf Anstellung in irgendeinem Zweige der Verwaltung, des Gerichts oder der Regierung?" Die Knaben nicken eifrig. „Ich rate euch dringend ab, zu den Privatlehrern zu laufen. Laßt euch bei den Ehetoren Statius und Corunatius einschreiben, bei denen auch ich studiere, so werdet ihr dereinst berühmte Sachwalter, Advokaten, Prätoren oder Steuereinnehmer, vielleicht sogar Präfekten werden."
* Mit seinen beiden Schützlingen wandert Fabius zum Forum zurück. Dort — im achten Stadtbezirk — liegt die Hochschule, ein riesiger Bau mit schattigen Säulengängen und gepflegten Gärten. Ehe die Novizen die Einrichtung der Schule noch recht zu erfassen vermögen, werden sie in die Quästur geführt, um die Einschreibung für einen bestimmten Lehrer zu vollziehen. Schon bei der ersten allgemeinen Anmeldung sind ihre Papiere geprüft worden: Bescheinigungen der Heimatbehörden über Alter, Eltern, Würdigkeit und Leumund der Bewerber, dazu das Zeugnis über die Absolvierung der drei notwendigen Vorbereitungsjahre bei einem Grammatiker. Selbst ein so alter und beliebter Student wie Sextus Fabius befleißigt sich im Amtsraum der Quästur größter Höflichkeit und Zuvorkommenheit, denn mit den „Zensuales" — den Schreibern und Verwaltern der Hochschule — muß man sich gut stellen, sie sind einflußreich und können einem widerspenstigen Studenten das Leben zur Hölle machen. Ihr Ämtsbereich erstreckt sich nicht nur auf die Einnahmen der Studiengelder und die Führung der Bücher, sondern auch auf die Überwachung des studentischen Lebenswandels; sie sind die Pedelle der Universität. 19
„Man verbietet euch", sagt der Archivar Panucius würdevoll, „vor allem das lästerliche Kneipen, die heimlichen Trinkgelage hinter verschlossenen Fensterläden und den häufigen Besuch der Schauspiele im Circus8. Gerade vor einigen Wochen haben wir einen Studenten der Gesetzeskunde davonjagen müssen, weil er sich nicht mehr von den blutigen Gladiatorenspielen losreißen konnte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als selbst Gladiator zu werden. Ein anderer Student darf die Hörsäle nicht mehr betreten, weil er sein ganzes Geld durch Wetten bei den Pferderennen im Circus Maximus verloren und dabei Betrügereien vorgenommen hat." Doch die Rede des Archivars ist wenig wirkungsvoll, weil er selbst die rote Rosette, das Zeichen der Anhänger einer Rennpartei des Circus, an der Tunika trägt.
* Der schmächtigere der beiden von Sextus Fabius gewonnenen Novizen scheint ein armer Bursche zu sein. Er stammt aus Nepi, sein Vater ist dort schlecht bezahlter Schullehrer — nach dem Wort Juvenals: „Viele schon reute die Wahl des gewinnlosen, eitlen Katheders . . . " Der Lehrerssohn bittet den Archivar um Ermäßigung der Gebühren, denn seit der Regierungszeit des Kaisers Alexander Severus gibt es Stipendienfonds an den Hochschulen, die begabten, aber armen Novizen das Studium ermöglichen sollen. Die Entscheidung über die Höhe der Vergünstigung muß hinausgeschoben werden, denn eben betritt der Rhetor Statius, einer der bekanntesten Lehrer der Universität, die Quästur. Die Studenten empfehlen sich eilig. „Was höre ich? Schon wieder Stipendien?" fragt der Professor unzufrieden, ,, .bezahlen doch nur wenige der Studenten das schuldige Hörgeld, es ist ganz unmöglich für einen Gelehrten, durch seine Einnahmen reich zu werden. Der Erlaß der Kollegiengelder ist zudem eine Herabsetzung der Schule, weil man das umsonst Erhaltene nicht schätzt und auf das, was man nicht bezahlt, keinen Wert legt.' " 9 Der Archivar wagt eine respektvolle Erwiderung. 20
„Aber Statius, du lebst nicht vom Hörgeld allein! Besoldet dich nicht der Staat mit 20000 Sesterzen, ungerechnet die Zuteilungen, die man dir aus den staatlichen Kornspeichern zuweist?" „Was sind 20000 Sesterzen? Das Geld ist nichts mehr wert. Sieh dir doch an, wie die Professoren der Hohen Schule leben! ,Wie die Schuhflicker wohnen sie in fremden Häusern und zahlen Miete . . . Der eine hat nur drei Sklaven, ein anderer nur zwei und ein dritter gar nur einen, und diese Sklaven sind gegen ihre Herren übermütig, weil diese mit ihnen zusammen viele niedere Arbeit tun. Der eine Rhetor preist sich glücklich, weil er nur eines Kindes Vater ist; dem anderen gilt die große Zahl seiner Kinder als ein Unglück, am verständigsten scheint der zu sein, der die Ehe meidet. Früher gingen die Professoren in die Werkstätten der Silberarbeiter und bestellten Gefäße, heute verhandeln sie nur mit dem Bäcker, dem sie das Geld für das Brot schuldig sind.' ""> Der Archivar Panucius gibt nicht nach. Er nimmt den Akt über die amtlichen Zuweisungen für die Bhetoren heraus und zählt die Menge der Lebensmittel auf, die der Professor beanspruchen kann. „Dem Bhetor stehen 25 Annonen Getreide zu, dem Grammatiker die Hälfte. Diese Bezüge sind seit der großen Hungersnot herabgesetzt auf 20 Annonen. Dazu kommen aber 200 Krüge öl und das Vorrecht, verbilligte Lebensmittel aus den kaiserlichen Magazinen zu beziehen. , u " „So steht es auf dem Papier! Praktisch weist man uns verschimmelten Weizen und ranziges Öl zu." Ungerührt fährt der Archivar fort: „Die zustehenden 20 Annonen füllen rund 1200 Scheffel; ein Scheffel hat den durchschnittlichen Marktpreis von 40 Denaren, so daß du also jährlich allein vom Weizenverkauf 48000 Denare oder 192000 Sesterzen einnimmst." „Du weißt so gut wie ich, daß die Sesterze nichts mehr gilt und daß gute Lebensmittel nur auf den geheimen Märkten zu bekommen sind. Ich wollte, auch ich wäre, gleich meinen Studenten, Sachwalter, Testamentsvollstrecker, Advokat, Auktionator oder Steuereinnehmer geworden, da würden sich meine Forderungen der Geldabwertung anpassen." 21
„Statius, sei nicht undankbar! Du genießt alle Vorrechte, die den Gelehrten an staatlichen Hochschulen zustehen: die Bevorzugung bei städtischen Ämtern, Befreiung von Kriegsdienst und Einquartierung. Die neuesten Verordnungen Diokletians schützen dich und jeden Professor vor Prozessen, vor Unruhe und Kränkung. Jeder Freigeborene, der dich bei deiner Arbeit stört, kann mit 100000 Sesterzen bestraft werden. Und noch eines: Die Beformen Diokletians verheißen auch den Hohen Schulen jene Sicherheit, die sich nun wieder überall auszubreiten beginnt. Der Lehrer, der zwei Jahrzehnte lang seinen Pflichten ohne Tadel nachgekommen ist, wird künftig Orden und Titel der ersten Verdienstklasse in Anspruch nehmen dürfen und eine Pension erhalten. Ist das nicht sehr viel in dieser schwankenden Zeit?" „Vielleicht hast du recht", sagt der Bhetor nachdenklich, „man muß den Kaiser um vieler Dinge willen preisen, nicht zuletzt aber wegen seines Verständnisses für die Wissenschaft." * Die beiden Novizen schlendern mit ihrem Beschützer durch die Säulengänge. Dort sind in größeren Abständen halbmondförmige Ausbuchtungen mit amphitheatralisch ansteigenden Sitzreihen, kleine und größere Loggien oder Balkone — die Hörsäle der Hochschule — eingebaut. In einigen von ihnen finden Vorlesungen statt. Gegen die Säulengänge sind die Unterrichtsräume durch Vorhänge abgeschlossen. Man hört abfälliges Scharren vieler Füße, Zischen und Murren, dann wieder erhebt sich Beifallsruf, Klatschen und begeistertes Trampeln auf den Holztribünen. Die beiden Novizen bleiben erschreckt stehen, als sie zum erstenmal den unerwarteten Lärm einer solchen Kundgebung akademischer Zustimmung vernehmen. Aber Sextus Fabius winkt verächtlich ab, er zitiert ein Seneca-Wort: „Wie groß ist doch die Narrheit des Lehrers, den das Beifallklatschen Unwissender in heiterer Stimmung aus dem Vorlesungssaale schreiten läßt! Wer sollte sich über das Lob von Menschen freuen, die er nicht selbst zu loben vermag?" 12 Einige reich gekleidete Studenten begegnen ihnen; als Söhne von Senatoren und Rittern sind sie von ihren 22
Pädagogen begleitet. Sextus Fabius nennt diese Hofmeister allerdings mit boshaftem Spott „Hirten" oder „Schäferhunde" und die Behüteten „Schafe" 18 . Er lädt seine beiden Schützlinge ein, an einer Übungsstunde der Rhetorik teilzunehmen. Es ist allgemeiner Brauch, daß auch Studenten aus anderen Hörsälen bei interessanten Vorlesungen oder Übungen ungeladen und unentgeltlich teilnehmen. Die drei Jünglinge betreten einen der kleineren, verandaähnlichen Vorbauten, der wie eine Bastion in die Jugarische Straße hineinragt und nur durch eine Reihe Platanen vom Strom des Verkehrs getrennt ist. Halbrunde Holzbänke steigen treppenförmig empor, im Halbkreis der Säulenfront steht ein erhöhter Rednerstuhl — die Kathedra des Lehrers. * Als Statius, der Lehrer für Rhetorik, die Halle betritt, empfängt ihn das beifällige Getrampel seiner Studenten. Der Unterricht findet in vertraulicher, ganz ungezwungener Form statt. Wenige Vorlesungen und viel praktische, persönliche Übungen sind das Ziel jedes Lehrplanes. Auch für die heutige Übungsstunde ist den Studenten eine längere schriftliche Abhandlung über eines der Themen aufgegeben, die seit vielen Generationen immer wieder bearbeitet werden. Die Musterreden müssen entworfen, durchgefeilt, auswendig gelernt und vorgetragen werden. Doch das gilt nur für die jungen Semester, die älteren Studenten wie Sextus Fabius, die kurz vor der Ablegung der Examina stehen, schulen sich durch Besuch berühmter Rednervorträge, durch Entwerfen eigener Reden und Zergliederung wissenschaftlicher Themen im Streitgespräch. Manchmal fordert Statius auch die freie, aus dem Augenblick entstandene Stellungnahme zu einem von ihm gestellten Thema. Als er die Schriftrollen mit den ausgearbeiteten Musterreden der Schüler eingesammelt hat, verteilt er die neuen Aufgaben für die kommende Woche. Der eine bekommt den Auftrag, eine Prunkrede auf Cäsar als den Begründer des Kaisertums auszuarbeiten, ein anderer soll sich zu der Frage äußern, „ob Alexander der Große den Weltozean hätte erforschen sollen", und eine Gruppe jüngerer Scholaren wird über das Thema
23
schreiben „War es richtig, daß der Senat die Auslieferung Hannibals forderte?"14 Dann beginnt die Disputation, die Übung in freier Eede, als Examensvorbereitung. Da Statius noch unter dem Eindruck der soeben in der Quästur erfahrenen Neuigkeit steht, daß Kaiser Diokletian ein Pensionsgesetz für verdiente Professoren plane, stellt er Sextus Fabius die Aufgabe, sich darüber zu äußern, ob es berechtigt sei — wie kürzlich zu Augsburg geschehen —, daß man Kaiser Diokletian den „Begründer des ewigen Friedens" nenne. Dem Studenten bleiben nur wenige Minuten, um sich in schärfster Konzentration vorzubereiten; soll er doch auch später einmal — als Anwalt oder Politiker — sofort zu jedem Thema sprechen können. Statius fordert den Studenten mit einer Handbewegung auf, den Platz auf der Kathedra einzunehmen, und Fabius schreitet, ein wenig blaß, aber ganz gesammelt, hinauf und überblickt das Auditorium. Leises Klatschen empfängt und ermutigt ihn. * „Es gibt Menschen" — so beginnt Sextus Fabius —, „die sagen, der Kaiser sei durch nichts von seinen Vorgängern unterschieden, er sei, wie sie, ein emporgestiegener Provinziale und Soldat, der Sohn eines ehemaligen Sklaven. Wer aber frevelhaft genug ist, aus diesen unleugbaren Tatsachen ein absprechendes Werturteil über den göttlichen Imperator Augustus Diokletian abzuleiten, verkennt die entscheidenden Unterschiede, die den Kaiser vor allen Herrschern der Vergangenheit auszeichnen. Keiner vor ihm hat das Reich in einem ähnlich verwirrten, zerrütteten und hoffnungslosen Zustand übernommen; und keinem jemals waren ähnlich gewaltige, durch Menschenhand kaum mehr zu bewältigende Aufgaben gestellt. Aber wie ein Titan der Sage ergreift Diokletian den zerstampften Ton des Imperiums und knetet daraus die Form, die so genial durchdacht ist, daß sie alle Merkmale der Dauer in sich trägt, daß wir mit guter Hoffnung behaupten dürfen, sie sei das Vorbild der fernsten Zukunft." Sextus Fabius hat fest und ruhig gesprochen, wie ein Mann, der sich seiner Sache sicher ist. Seine rhetorische Schulung gebietet ihm, mit den schauspielerischen, stimmlichen und sprachlichen Mitteln sparsam umzugehen und 24
25
sie erst allmählich zu steigern. Er macht eine kleine Pause, die dazu bestimmt ist, seinen Zuhörern Raum für eigene Gedanken zu lassen, dann fährt er fort, immer noch sachlich, ohne Leidenschaft, gebändigt und ruhig. Er will zunächst durch die strenge Logik des Aufbaus wirken. „In drei gewaltigen Abschnitten seiner bisherigen Regierung hat der Kaiser versucht, sich seiner Aufgabe zu entledigen. Zuerst errichtete er eine unumschränkte Monarchie und sicherte durch die Ernennung von Mitregenten die Dauer der Herrschaft und die Nachfolge des Kaisertums. Nachdem er auf diese Weise den schwankenden Boden, auf dem er stand, gefestigt hatte, warf er alle Kräfte des Imperiums an die bedrohten Stellen und stellte in raschen Schlägen den Weltfrieden wieder her. Diese beiden Epochen seiner Regierung liegen hinter uns, nun befinden wir uns im dritten Stadium. Jetzt eben greift Diokletian das Schwerste und kaum mehr zu Schaffende an: Er versucht, die zerbröckelnde, innere Einheit der römisch-hellenischen Welt zu erneuern und das geistige Leben der Alten Welt wieder zu erwecken. Über diese Abschnitte der Wirksamkeit Diokletians werde ich mich im nachfolgenden äußern." Bisher hat sich die Zuhörerschaft recht unterschiedlich verhalten. Die älteren Semester, die solche Übungsansprachen gewöhnt sind, schenken Fabius nicht viel Aufmerksamkeit. „Kaum hat der Vortrag begonnen, so unterhalten sie sich flüsternd über Wagenlenker, Mimen, Pferde und Tänzer, über ein stattgefundenes oder bevorstehendes Gladiatorengefecht. Die einen sitzen da wie steinerne Bildsäulen, ohne die Hände zum Beifall zu rühren, oder auch um mit beiden Händen in den Nasen zu bohren; andere schwatzen und lümmeln faul in den Bänken, ohne dem Redner Aufmerksamkeit zu zollen . . ." 15 Die beiden Novizen freilich, die sich vorstellen, wie sie selbst in einigen Jahren vor einer Versammlung frei sprechen und über soviel Logik, Ordnung und Sprachdisziplin wie Sextus Fabius verfügen müssen, sind begeistert und wenden keinen Blick von dem Redner. Sextus Fabius steigert nun langsam die Gewalt der Stimme und zieht endlich auch die Gleichgültigen und Schwatzenden in seinen Bann. 26
„Lange scbon klafft die Brucblinie zwischen den westlichen Reichsteilen mit Italien als Mittelpunkt und den östlichen Provinzen mit dem Schwerpunkt Kleinasien. Die stürmischen Zeiten dieses Jahrhunderts haben gelehrt, daß das Imperium zu groß geworden ist, um von einem Manne überblickt und gesteuert zu werden. Darum berief Augustus Diokletian gleich nach dem Regierungsantritt seinen alten Mitarbeiter, den Präfekten Maximian, als zweiten Augustus, als Nebenkaiser, an seine Seite, und bald darauf erhielt jeder der beiden Kaiser das Recht, sich einen Gehilfen und erklärten Nachfolger zu erwählen; man nennt sie jünterkaiser' oder Cäsaren. Das Reich ist in vier Präfekturen — Verwaltungsbezirke — aufgeteilt. Heute beherrscht Augustus Diokletian von Nikomedia aus, der Großstadt am Marmarameer, den Osten, unterstützt von Cäsar Galerius, der seine Residenz in Sirmium an der mittleren Donau errichtet hat. In Mailand residiert Augustus Maximian, ihm steht Cäsar Konstantius Chlorus in seinem Amtssitz Trier zur Seite. ,Es sollen fortan immer zwei Größere im Staate sein als Herrscher und zwei Geringere als Helfer oder Cäsaren.'16 Das neue Netz der Macht wird durch verwandtschaftliche Bande fester geknüpft, die Kinder der Augusti und Cäsaren gehen Ehen miteinander ein. Der Mord, dessen grausiges Haupt unsere Zeit beherrscht hat, scheint gebändigt; denn künftig ist jede Truppenmeuterei und Verschwörung zum Scheitern verurteilt, weil die Mörder nicht mit dem Tode eines Kaisers allein die Macht erringen können, sondern sogleich drei andere Machthaber gegen sich haben würden. Wenn auch die Zahl der Herrscher vermehrt ist, so gilt von dem Schöpfer dieser Ordnung, von Diokletian, was Persius sagt: ,Schön ist's doch, wenn man auf dich zeigt und der Ruf ertönt —• Der ist's!' 17 Die Bürger Roms werden zwar klagen, daß der Kaiser ihre Stadt, die Catull einst „Haupt der Welt" nannte, ihrer Krone beraubt, daß die einstige Herrin der Welt ihren Rang als Herz des Imperiums eingebüßt hat. Aber auch dies ist Größe, wenn es jemals Größe war, sich den Wirklichkeiten und der Not der Zeit zu beugen. Der Schwerpunkt des Imperiums liegt heute bei den Meerengen von Byzanz, nahe den gärenden Völkerströmen 27
der Barbaren, nahe der gefährlichen Parthergrenze und an den Schlagadern unseres Handels. Sirmium, die Eesidenz des Galerius, und Trier, diejenige des Konstantius Chlorus, sind Brennpunkte der Gefahr an Donau und Ehein; Augustus Maximian aber hält in Mailand Wach vor den bedrohten Alpenpässen." Statius nickt mit ermutigendem Lächeln dem Studenten zu. „Sokrates", fährt Sextus Fabius mit vermehrtem Eifer fort, „nannte die Meinungen der Menge Gespenster, Schreckgestalten für Kinder. So dürfen auch wir unsere Ansicht von der Größe des Kaisers nicht nach dem Gemurr der römischen Märkte bilden, nicht nach dem Geschrei des Circus, der alle Dinge nur nach der Zahl der gestifteten Wagenrennen, der Menge der zu Tode gehetzten Tiere und nach dem Wert des verteilten Getreides beurteilt. Diokletian hat Größeres getan, als um die Gunst des Pöbels zu betteln: Er ist der Schöpfer des Weltfriedens geworden. Denken wir an die Tage zurück, da der Kaiser eben die Zügel des Imperiums ergriffen hatte; wie lärmend war der Erdkreis von Kriegsgetümmel erfüllt! Die allgemeine Not und Eechtlosigkeit, die Korruption und die Übergriffe der Beamten, die Gewalttaten der Legionen und feindliche Einfälle trieben die Bevölkerung der Grenzprovinzen zur Verzweiflung. Überall flackerten Aufstände auf, wie die gefährliche Eebellion in Gallien, wo sich die verarmten Bauern gegen die Ausbeutung erhoben. Ich las darüber kürzlich in der Schrift eines gelehrten Historikers: , . . . Wir nennen sie Eebellen, wir nennen sie Verworfene, und doch zwangen wir Eömer sie, zu Verbrechern zu werden. Denn wodurch anders wurden sie zu Empörern, als durch unsere Ungerechtigkeit, durch die Euchlosigkeit der Eichter, durch die Eäubereien derer, die das Amt der staatlichen Steuereinhebung zu eigenem Gewinn und Vorteil mißbrauchten . . .' 18 Auf Anordnung Diokletians warf der Cäsar Konstantius Chlorus die Aufrührer mit Militärgewalt nieder. Furchtbar muß das Strafgericht gewesen sein, wie es uns aus den Berichten der römischen Staatszeitung bekannt 28
ist. Der Rhetor Gallus schrieb ungefähr folgendes über die Verwüstungen: , . . . Die riesigen Weinstöcke, die einst Bewunderung erregten, sind durch mangelnde Pflege verwildert und nutzlos, und wir sind nicht imstande, neue zu pflanzen. Wie aber steht es mit den übrigen Gegenden Galliens? Von Autun nordwärts, wo die Straße nach Belgien einbiegt, ist alles wüste, unbebaute, schweigende Einöde, selbst die Heeresstraße ist kaum mehr für halbbeladene, oft nicht einmal mehr für leere Fuhrwerke benutzbar . . ,'19 Sind das die Spuren — so werdet ihr, meine Freunde, einwenden —, die der ,Bringer des ewigen Friedens' hinterläßt? Ich antworte euch mit einem Wort des Tacitus: ,Sterblich sind die Fürsten, ewig ist der Staat!' In diesem Falle könnte es heißen: Mögen die Menschen sterben, wenn der Staat nur lebt! Tausende mußten umkommen, damit das Imperium erhalten bleibt. Mit Blut und Brandgewölk hat der Kaiser Unordnung in Ordnung verkehrt, die Ruhe wiederhergestellt, die Provinzen befriedet und den Ansturm der Feinde abgewehrt. Blicken wir nach Ägypten, der Kornkammer Roms! Aufstände, Einfälle von Wüstenvölkern, Negerstämmen und feindlichen Nachbarn verwüsteten noch vor wenigen Jahren das Niltal. Der Krieg war über die Städte hinweggefegt, Kaiser Probus hatte furchtbar gewütet. Dort griff Diokletian persönlich ein. Das ewig unruhige und aufsässige Alexandria fiel nach achtmonatiger Belagerung, und Diokletian versprach seinen Legionären im ersten Zorn, so lange plündern zu lassen, bis sein Pferd bis zu den Knien im Blut waten würde. Aber schon nach dem ersten Tage der entsetzlichen Greuel stürzte das Roß des Kaisers und schürfte sich das Knie blutig. Das nahm der schon wieder zur Milde neigende Herrscher zum Anlaß, die Plünderung zu beenden. Er will befrieden, nicht strafen! Große Gefahr drohte aus dem Nordwesten, wo sich der Stadthalter Carausius auf der vom Meere beschützten britannischen Insel selbständig gemacht hatte. Er schloß Bündnisse mit den unruhigen Franken und zog aus dem verwüsteten, von Kriegswirren geschwächten Gallien kunstreiche Handwerker an sich. Auch gelang es dem Rebellen, die vierte Reichsflotte, die in Boulogne stationiert 29
war, auf seine Seite zu ziehen und mit ihr die Mittelmeerfiotte zu schlagen. Aber auch im Kampfe mit Carausius bewährte sich der Genius des Friedensbringers Diokletian. Solange, bis er und Maximian die Kriege in den anderen Provinzen beendet hatten, erkannten sie Caurasius als dritten Augustus an. Dann war das Ende der britannischen Freiheitsträume gekommen. Die übrigen drei Eeichsflotten, aus dem östlichen und westlichen Mittelmeer und aus dem Schwarzen Meer, führten ihre Geschwader gegen Britannien. Gleichzeitig schlug Cäsar Konstantius Chlorus die Franken bei Trier und schloß Boulogne vom Land her ein. Die Schiffe des Carausius gingen in Flammen auf, und Britannien verlor die Seeherrschaft über Kanal, Nordsee und Atlantik. In schnellem Feldzuge wurde die Insel dem Reiche zurückerobert. Diokletian hat damit bewiesen, daß er würdig ist, Nachfolger eines Cäsar, eines Claudius und Agricola zu sein." Wieder macht Sextus Fabius eine wirkungsvolle Pause, holt tief Atem und setzt zum Schluß seiner Eede an. „Der Friede ist einer bedrohten Welt wiedergeschenkt worden. Bald schon mag es in Erfüllung gehen, was Empedokles vom goldenen Zeitalter sagt: ,Da waren alle Geschöpfe zahm und den Menschen zugetan, die wilden Tiere wie die Vögel, und die Flamme der gegenseitigen Freundschaft glühte.' Die kriegerischen Jahre der diokletianischen Herrschaft sind an uns vorübergezogen, der Kaiser hat begonnen, sich der inneren Ordnung der Dinge zuzuwenden. Bald werden ihm überall in Dankbarkeit Gedenktafeln errichtet werden, auf denen er als ,Begründer des ewigen Friedens' verzeichnet steht. ,Wir sehen zu ihm empor, wie zu einem Vater oder höchsten Gott. Wieviel das aber heißen will, wird erst klar, wenn man all den Mord von Romulus bis auf unsere Tage bedenkt.' " 2 0
* Als sich Sextus Fabius unter dem Beifallklatschen der Zuhörer aufatmend wieder auf seinen Platz gesetzt hat, tritt Statius vor die Kathedra und sagt mit bewegter Stimme: „Was Ewigkeit bedeutet, wissen wir nicht; daß sie auf Erden keine Heimstatt hat, scheint uns sicher. Doch mag 30
für den Kaiser, den man ,Begründer des ewigen Friedens' nennt, das Wort des Horatius gelten: ,Non omnis moriar — Nie werde ich gänzlich sterben...!"1 * Nun, da der Kaiser das Imperium geordnet zu haben glaubt, ist er bemüht, auch seine eigene Stellung gründlich zu sichern und zu festigen. Seine Faust zerreißt die Schleier republikanischer Formen, die noch seit der Zeit des Augustus Octavian die Kaisergewalt umhüllen. Der Senat wird seiner Regierungsrechte entkleidet, die Kaiser werden künftig auch staatsrechtlich absolute Souveräne sein. Diokletian übernimmt die Formen der persischen Hofhaltung und errichtet eine durch Verordnungen genau festgelegte Eangordnung von Hofämtern. Der Kaiser verschwindet für die Blicke der Völker hinter einer Mauer hoher Würdenträger und feierlicher Zeremonien ; er entrückt sich selbst aus der Sphäre des politischen Alltags und der Menschlichkeit in das Gewölk eines irdischen Olymps. Da gibt es die Stabträger, die an den Pforten des Palastes wachen; in schweren Samtgewändern schreiten die „Silentarii" — die Schweigengebietenden — durch die Galerien und schaffen Platz, wenn die Majestät erscheint. Vor den Türen der inneren Gemächer stehen mit blanken Klingen die „Degenmänner" — die Leibwache des Kaisers —, und jenseits dieses inneren Ringes beginnt der Bereich der Minister, Hofmeister, Zeremonienmeister, Räte, Senatoren und persönlichen Gefolgsleute des Kaisers. Jede Handreichung ist festgelegt! Es gibt eigene Beamte für die Zureichung des kaiserlichen Untergewandes in der Morgenfrühe. „Cubicularii" — Beamte der kaiserlichen Schlafkammer — leisten Hilfe beim Salben, Frisieren, Ankleiden; hohe Hofbeamte genießen den Vorzug, die Majestät durch Schläge an die Tür zur genau festgelegten Stunde wecken zu dürfen. Die Anrede wird neu befohlen. Bislang war es üblich, Höhergestellte, einschließlich der Cäsaren, als „Parens" —• Vater — anzusprechen; der Kaiser teilte diese Bezeichnung mit den Senatoren und Ministern. Untergeordnete und Jüngere hießen „Fratres" •— Brüder, hohe Beamte des Staates',,Clarissimi"—-Erlauchteste. Nun beansprucht 31
der Herrscher in den Ländern des lateinischen Westens die Anrede „Dominus", Herr, die bisher nur zwischen Sklave und Herr üblich war. Im griechischen Osten wird wieder der uralte Königstitel „Basileus" eingeführt. Die Erhebung des neuen Kaisers in die von Ehrfurchtsschauern umwitterten Höhen irdischer Göttlichkeit wird durch prächtige Hoftrachten unterstrichen. An Stelle der bisher üblichen weißen oder purpurnen Toga hüllt sich der „Basileus" in köstliche, seidene oder goldgewirkte Gewänder und trägt auf dem Haupte das orientalische Diadem — eine breite, weiße Stirnbinde, die reich mit Edelsteinen besetzt ist. Dieses neugeschaffene Idol kann nicht mehr in der bislang gebräuchlichen Art, durch Umarmung und Kuß, begrüßt werden. Vor dem Kaiser hat man künftig das Knie zu beugen und mit der Stirn den Boden zu berühren; hochmütige Andeutung von Umarmung und Kuß bedeutet höchste Auszeichnung. Der Orient hat die Regeln dieses Hofzeremoniells geschrieben, und Diokletian residiert auch vornehmlich im Osten. In Nikomedia wächst eine neue Hauptstadt des Imperiums empor; sie wird unter Diokletian nächst Rom, Alexandria und Antiochia zur viertgrößten Stadt. Gewaltige Paläste, Basiliken, Waffenfabriken und Münzwerkstätten, Theater und öffentliche Gebäude werden dort gebaut. Rom sieht den Kaiser nur selten; die Stadt ist Diokletian zu ehrfurchtslos, zu freimütig in ihrer Kritik. Die Bürger, die bisher von den Cäsaren durch Brotverteilungen und Circusspiele verwöhnt worden sind, können sich nicht an den östlichen Majestätskult gewöhnen. * Im Kaiserpalast von Nikomedia treffen sich die Spitzen der Reichsregierung zur anberaumten Konferenz, deren Zweck es sein soll, dem allgemeinen Wirtschaftsverfall zu steuern und dem Staate wieder innere Festigkeit, Sicherheit der Finanzen und Sauberkeit der Verwaltung zu geben. Den ganzen Tag über fahren die prunkvollen Karossen an der „Torhalle der Garden" vor, Sänften schaffen sich mit Hilfe vorauseilender Stabträger Bahn und schwanken 32
durch das Portal zum Innenhof. Auf dem Platz vor dem Schloß drängt Kopf an Kopf die neugierige Menge; die weißuniformierte Palastwache mit vergoldeten Brustpanzern, die Helme mit roten Roßschweifen gekrönt, steht als unbewegliche Mauer vor den Säulendurchlässen. Jedermann, der hier eintreten will, wird genau geprüft, Offiziere kontrollieren sorgfältig die Ausweise. Um die vierte Nachmittagsstunde kommt Bewegung in das wartende Volk. Aus den Palasthöfen hört man schmetternde Fanfarenstöße, zwischen den Säulendurchblicken erspähen die Neugierigen das Vorüberschreiten zahlreicher hoher Hofbeamter. Die Kaiser und die beiden Cäsaren begeben sich zum Sitzungssaal. Die Majestäten selbst bekommt man nicht zu Gesicht, alles vollzieht sich in der strengen Abgeschlossenheit der inneren Gemächer. Gongs verkünden die Annäherung der Augusti. Die grüne Malachitgalerie ist von „Degenmännern" abgesperrt, aufgeregte Hofbeamte laufen hin und her, schwenken dampfende Weihrauchpfannen oder sprengen persische Duftwässer aus. Da nahen schon mit würdigem Schritt die in bestickten Brokat gekleideten „Silentiarii". Sie tragen Ebenholzstäbe mit Goldknöpfen, die sie rhythmisch auf die Marmorfliesen stoßen, monoton hallt ihr Ruf „Silentium" — Ruhe! In einigem Abstand folgen hinter ihnen die Hofbeamten in seidenen, mit kostbaren Perlen bestickten Gewändern. Von einer ehrfürchtigen Schar von „Cubicularii" umgeben, inmitten eines freien Raumes, schreiten die Augusti. Diokletian geht einen Schritt vor dem Westkaiser Maximian einher. Er ist mittelgroß, schlank trotz seiner sechzig Jahre und erst wenig ergraut. Seine durchdringenden Augen blicken starr geradeaus, als sähen sie nichts von all den niedergebeugten Rücken, den zu Boden gestreckten Gestalten der Hofbeamten, die den Aufzug an sich vorbeigehen lassen. Maximian ist schlicht, betont römisch gekleidet. Er trägt die altgewohnte Purpurtoga, die einfache, weiße Stirnbinde und rotgefärbte Ledersandalen. Hinter den Kaisern schwingen nubische Sklaven lange Straußenfederfächer, in einiger Entfernung folgen feierlich und ernst die Präfekten, Minister und Statthalter. Am Ende der Grünen Galerie fliegt, von riesigen Gardisten geöffnet, die elfenbeingeschnitzte Türe eines Saales auf.
33
Ein Zeremonienmeister ruft laut in das Innere des Saales: „Ihre Göttlichkeiten, die erhabenen Augusti!" Erzene Gongs dröhnen, die Versammelten erheben sich, werfen sich beim Erscheinen der Kaiser auf die Knie nieder und heben grüßend beide Arme. Nur die Cäsaren Konstantin Chlorus und Galerius begnügen sich mit einer knappen Verneigung. Diokletian tritt auf die beiden „Gehilfen" zu, deutet eine Umarmung an und reicht ihnen die Wange zum K u ß ; Maximian folgt seinem Beispiel. Darauf begeben sich die Herrscher zu einem mit Akten bedeckten, erhöhten Tisch. Dort nehmen sie auf vier Thronsesseln Platz. Eine Handbewegung Diokletians fordert auch die übrige Versammlung auf, sich niederzulassen. Die hohen Beamten breiten Mappen mit Pergamentblättern, dickleibige Folianten, Gesetzbücher und Notizen vor sich aus. Im Hintergrund des Saales, wo eben jetzt der höfische Aufzug wieder verschwindet, stehen die Pulte der Stenographen, deren Aufgabe es ist, die Verhandlungen im Protokoll festzuhalten. Sie arbeiten nach dem System der verbesserten „Tironischen Noten", die es ermöglichen, auch die schnellste Bede mitzuschreiben. „Eilet nur hurtig, ihr Worte, die Hand ist doch schneller als ihr! Noch will die Zunge zum Ziel, längst ist der Griffel schon dort!" 2 1 Der Führer der „Silentiarii" tritt vor, stößt dreimal mit dem Stabe auf und gebietet Ruhe. Diokletian neigt ein wenig das Haupt, der Präfekt des Palastes erhebt sich und erteilt einem der kaiserlichen Räte das Wort. Der weißhaarige, im Dienste vieler Kaiser erfahrene Greis wirft sich vor dem Kaiserthron zu Boden und begibt sich dann zu dem Rednerpult. „Erhabene Herrscher, Beamte des Imperiums!" beginnt er. „Die Kaiserwürde ist wiederhergestellt, der Friede scheint gesichert — nur die innere Zerrüttung des Reiches bereitet immer noch Sorge. Ich will versuchen, das Bild unserer gegenwärtigen wirtschaftlichen Zustände zu schildern und will mich bemühen, gehorsam dem Befehl des göttlichen Basileus, mit schonungsloser Offenheit zu sprechen. Seit die Augusti begonnen haben, in das Gefüge der Wirtschaft einzugreifen, scheint sich — man verzeihe mir 34
die Offenheit! — alles zu verschlimmern. Ich will hier als Beispiel nur das kürzlich erlassene Höchstpreisedikt anführen, in dem die kaiserliche Regierung genaue Tarife für alle Wirtschaftsgüter aufstellte, um von einer entscheidenden Stelle aus die unsichere Währung zu reformieren. Nun, ich kann nur feststellen, daß die praktischen Auswirkungen niederschmetternd waren!" Geraune entsteht im Saal. Der Verwalter der Staatsgelder blickt besorgt zu den Augusti hinüber. Konstantius Chlorus flüstert mit seinem Sohne Konstantin; Galerius zieht finster die Augenbrauen zusammen. Nur Diokletian nickt dem alten Legaten aufmunternd zu. Er liebt die Wahrhaftigkeit und ist sich bewußt, daß nur klare Aussprache zum Ziele führen kann. „Als das Höchstpreisedikt erschien" 22 , fährt der Beamte unbeirrt fort, „verschwanden beinahe schlagartig alle Waren von den Märkten. Dabei war die Verordnung weder unbillig, noch unerfüllbar. Ja, die für Wein, Brot, Öl, Fleisch, Fett und hundert andere Artikel des täglichen Verbrauches festgesetzten Höchstpreise bedeuteten meist eine starke Erhöhung der normalen Preise. Besonders in den Gegenden, die aus militärischen Notwendigkeiten von starken Truppenverbänden belegt werden mußten, hielten profitgierige Händler die Waren zurück und verkauften sie dann heimlich zum Vier- bis Achtfachen des üblichen Preises. Zu den festgelegten Preisen war nichts mehr zu kaufen, und die Teuerung nahm derartige Ausmaße an, daß das Edikt wieder zurückgezogen werden mußte. Alle seither getroffenen Erlasse, Marktkontrollen und Beschlagnahmungen von Gütern haben nichts gefruchtet. Dabei weiß jedermann, daß alle Waren zu haben sind, nur nicht in den öffentlichen Verkaufsstellen. Dafür wird auf den sogenannten „Geheimmärkten" — die es heute in jeder Stadt gibt — zu hohen Überpreisen gehandelt. Das hat nicht nur den Nachteil, daß die gesetzestreuen Bürger, die kleinen Arbeiter, Handwerker und Bauern, die Leidtragenden sind; es ist auch so weit gekommen, daß der Staat jeden Einfluß auf die Wirtschaft verliert. Die Händler mit Geheimware bezahlen trotz der riesigen Gewinne keine Steuern, sie entziehen unter Beihilfe von bestochenen Beamten kriegswichtige oder lebensnotwendige Waren dem Zugriff des Staates und bauen allmählich einen Staat im Staate auf. 35
Die Regierung hat versucht, der steigenden Preisbewegung durch vernünftige Tarifordnungen entgegenzuwirken, aber es erwies sich, daß jede Lohnerhöhung eine entsprechende Preissteigerung zur Folge hatte. Finanzfachleute glaubten, in der zerrütteten Währung die Ursache der Schwierigkeiten zu erkennen. Bekanntlich ist seit den Tagen des Kaisers Septimius Severus der Feinmetallgehalt der Münzen von etwa 90% auf 5% gesunken, das entspricht einer Abwertung um das Achtzehnfache. Die Inflation hat bereits die öffentliche Moral so weit erschüttert, daß es Provinzialbehörden gibt, die zwar von den Steuerzahlern vollwertige Münzen mit den Bildern der alten Kaiser verlangen, aber Gehälter und Rechnungen, Legionärssold und Löhne in minderwertigem Geld bezahlen. Die Folge ist eine allgemeine Geldhamsterei; wer das Glück hat, Gold oder gute Silbermünzen zu bekommen, gibt sie nicht wieder heraus. Auch hier kämpfte die Regierung einen aussichtslosen Kampf gegen die Gespenster der Vergangenheit. Als die Augusti die vollwertigen ,Argentei', Silbermünzen mit dem Bilde des Basileus Diokletian, prägen ließen in der Meinung, damit die Währung zu retten, zeigte es sich, daß die guten Münzen innerhalb weniger Wochen in den Sparbeuteln der Bürger oder in den Truhen der Spekulanten verschwanden. Kein Mittel gab es gegen diese Habgier, nicht einmal die Todesstrafe schreckte die Leute ab, ihre Geschäfte mit dem Gelde weiter zu betreiben. Der Rettungsversuch der Regierung kann als gescheitert angesehen werden. Wir können uns der Folgerung nicht entziehen, daß die alte Finanzordnung, in der das Geld nur nach dem Metallwert berechnet wurde, überholt ist. Die Augusti haben denn auch den Schluß daraus gezogen und den neuen ,Doppeldenar' wieder aus geringwertigem Silber prägen lassen. Bei der Nachforschung nach den Gründen unserer Schwierigkeiten tauchte auch die Meinung auf, daß der übermäßige Umlauf minderwertigen Geldes die Ursache wäre. Darum sind die von weiten Volkskreisen als bedrückend empfundenen Steuern eingeführt worden. Die Bildseite rechts: o b e n: römische Gelehrte; Münze mit dem Bildnis des Kaisers Diokletian; M i t t e : Bau eines Grenzkastells; Cäsar Constantius (Residenz Trier) und Cäsar Galerius (Residenz Sirmium); u n t e n : Palast des Alt-Kaisers Diokletian in Spalato-Split.
36
37
neuen Kopf-, Grund- und Einkommensteuern, zu denen die Einschätzung wie bisher alle fünf Jahre vorgenommen wird, haben zudem den Vorteil, die Bevölkerung stärker an Wohnsitz und Beruf zu binden, weil die Bezahlung nach durchgeführter Schätzung auf jeden Fall zu erfolgen hat, ob der Mann nun auswandert, seinen Beruf wechselt oder zu arbeiten aufhört. Eine weitere Maßnahme der Regierung war die Teilverstaatlichung der Großbetriebe. Die Fabriken arbeiten bei dem herrschenden Währungsverfall zum großen Teil nur noch für den Tauschhandel. Das lastet aber ihre Möglichkeiten nicht aus, und darum zwingen wir die Großunternehmer, öffentliche Aufträge anzunehmen. Sie werden für die gelieferten Waren aber bewußt so niedrig bezahlt, daß sie staatliche Kredite nehmen müssen und auf diese Weise über kurz oder lang in die Abhängigkeit der öffentlichen Hand geraten." Der Vortragende wird von einem plötzlichen Hustenanfall geschüttelt. Eine geraume Zeit vergeht, bevor er weitersprechen kann. Diokletian winkt einem Sklaven, dem Legaten ein Glas Wein zu reichen. Nach einer Entschuldigung fährt der Beamte in seinem Bericht fort. „Die Wurzeln des Übels", sagt er mit heiserer, angestrengter Stimme, „hegen wohl in dem Jahrhundert der Katastrophen, das uns vorausgegangen ist! Auch muß gesagt werden, daß schon das Imperium der großen Adoptivkaiser — von Nerva bis Marc Aurel — eine ständig passive Handelsbilanz aufwies, wenigstens was Rom und Italien anbelangte. Rohstoffe und Lebensmittel strömten in großen Mengen aus den Provinzen in die Städte, als Gegenleistung wurde zum kleinen Teil mit den Erzeugnissen unserer Industrie, zum anderen aber mit Edelmetall bezahlt, das durch Beutekriege und die oft überhöhten Steuern der Reichsteile aufgebracht wurde. Unterdessen ist ein Zeitalter der Bürgerkriege, Barbareneinfälle, der Pest und Naturkatastrophen über uns hingegangen. Weite Provinzen sind verloren, andere liegen verwüstet, entvölkert und verarmt und sind aus Lieferanten zu Zuschuß- und Notstandsgebieten geworden. Nach zuverlässigen Schätzungen hat sich die Reichsbevölkerung in den letzten hundert Jahren auf die Hälfte vermindert. Das bedeutet weniger Arbeitshände. Die Bergwerke sind zudem ziemlich erschöpft, die fruchtbarsten Landstriche 38
benötigen Einfuhren an Getreide. Ich erinnere nur an Ägypten, ein Land, das in normalen Zeiten jährlich 5 Millionen Amphoren Weizen, ein Fünftel seiner Gesamternte,nach Italien zu liefern pflegte und das im vergangenen Jahr keinen Scheffel auszuführen vermochte, weil es selber Hunger litt. Bezeichnend für die Veränderung unserer Versorgungslage und zugleich für die Zusammenhänge zwischen Verschlechterung der Erzeugung, Münzverfälschung und Währungsverfall ist die Entwicklung der Weizenpreise. Unter Kaiser Hadrian lag der Großeinkaufspreis für eine Artaba — 65 Liter — ägyptischen Weizens zwischen sieben und acht Drachmen, was ebenso vielen Denaren entsprach; bis zur Zeit der Jahrtausendfeier im Jahre 248 war der Preis auf zwölf bis zwanzig Drachmen gestiegen, in den Tagen der großen Hungerkatastrophen, der Münzverschlechterung und der Warenknappheit wurden für das gleiche Maß Weizen 1200 Drachmen geboten. Ich gestehe freilich zu, daß dies ein besonders drastisches Beispiel ist, das aber nichtsdestoweniger unsere Lage beleuchtet. Wenn es erlaubt ist, an unserer glänzenden Armee Kritik zu üben, so sei gesagt, daß die oft sinnlose Zerstörungswut der Soldaten viel geschadet hat. Das prächtige Palmyra, ein Hauptumschlagplatz zum Osten ist, heute eine Schutthalde; das seemächtige, lebensprühende Alexandria hat vor vier Jahren gebrannt, ist geplündert worden und erholt sich nur schwer von diesen Schlägen. Ebenso ergeht es den gallischen, den afrikanischen und den Donauprovinzen. Der einstmals blühende Osthandel ist beinahe versiegt, seit die Perser wieder mächtig geworden sind und zu Lande wie zu Wasser die Wege verlegen. Die Verwaltung ist ebenfalls reformbedürftig. Sie hat leider noch die Gewohnheiten der rechtlosen und aufgelösten Zeit. Wenn die Augusti gestatten, so will ich hier nur als einziges für viele Beispiele einen Brief verlesen, den ein kleiner Pächter an die Verwaltung von Nikomedia geschrieben hat." Der Legat entnimmt seiner Mappe einen Papyrus, hält ihn nahe vor die Augen und beginnt zu lesen. „Wir werden in unerhörter Weise geplagt und ausgesogen von denen/deren Pflicht es wäre, das Volk zu schützen . . . Diese Männer, Offiziere und städtische Beamte, Soldaten und kaiserliche Beauftragte, 39
kommen in unsere Dörfer und hindern uns an der Arbeit, und — indem sie unsere Pflugochsen requirieren — nehmen sie uns fort, was ihnen gar nicht zukommt. So erleiden wir ungewöhnliche Unbilden und Erpressungen . . ." 2 3 „Es ist genug!" sagt Diokletian mit leiser, aber klarer Stimme. Der Beamte beugt gehorsam das Knie und tritt dann vom Kednerpult zurück. Schweigen lastet auf der Versammlung. Diokletian und Maximian flüstern miteinander. Endlich ergreift Augustus Maximian das Wort. Er spricht kurz, abgehackt und ohne Phrasen. „Die von uns geforderte Offenheit der Kritik", sagt er, „ist uns durch den eben gehörten Bericht zuteil geworden. Mit der Kritik allein ist es aber nicht getan. Wir erwarten von den Reichsamtsstellen Vorschläge zur Behebung der Krise." Als erster erhebt sich der Finanzfachmann der ägyptischen Provinz, ein ehemaliger Großkaufmann aus Alexandria. „Meiner Meinung nach sind wir vor allem durch den Mangel an wertbeständiger Währung auf die primitive Stufe des Tauschhandels zurückgeworfen worden. Unsere Wirtschaft hat unter dem Druck der Not den Schritt von der Geldwirtschaft zur Naturalwirtschaft getan. Ware ist zur Münze geworden, selbst die Beamten verlangen heute Öl, Fleisch, Weizen anstatt Geld; die Handwerker arbeiten nur noch für Realwerte, der Händler tauscht, anstatt zu verkaufen. Und das alles nur, weil der Besitz von Münzen des gegenwärtigen Umlaufs keinen erstrebenswerten Besitz darstellt. Die verschiedenen Außerkurssetzungen, Abwertungen und Umrechungen haben das Vertrauen zum Geld restlos zerstört. Wenn wir diesen Zustand belassen, so werden allmählich gewaltige Bevölkerungsmassen zur Verzweiflung getrieben; denn jeder, der nicht über materielle Werte verfügt und Handelsgeschäfte treibt, sieht sich ohne Tauschobjekte der bittersten Not ausgesetzt. Darum muß beschleunigt zu einer festen und begehrenswerten Währung zurückgekehrt werden. Zur Beantwortung der Frage, auf welche Weise das gewünschte Ziel zu erreichen ist, möchte ich die Aufmerksamkeit der erhabenen Majestäten auf den berühmten 40
Versuch des Kaisers Aurelian richten. Das in Palmyra erbeutete Gold bot damals die Möglichkeit, vom entwerteten Silberdenar abzugehen und Goldmünzen auszuprägen. Gold als Währungsgrundlage ist im gesamten Osten üblich; wenn wir uns darin angleichen könnten, käme sicherlich auch der Außenhandel mit Persien wieder in Gang. Im Innern des Reiches aber wäre es ein vernichtender Schlag gegen die Tauschhändler, die heute zu wahnwitzigen Überpreisen Gold aufkaufen. Machen wir das Gold zur gängigen Münze, so ruinieren wir den geheimen Markt, geben dem Volk Vertrauen zum Gelde und . . . " „... verlieren in kürzester Zeit das Gold," fällt Diokletian ein, „wie wir vor zwei Jahren unsere guten Silberstücke einbüßten! Man würde die Münzen sofort hamstern, mit Überpreisen handeln, und in weniger als einem Jahr wäre nicht eine einzige mehr im Verkehr!" Eine heftige Debatte entbrennt um das schwierige Thema. Manchmal greifen auch die Kaiser ein. Diokletian spricht meist sachlich und richtungweisend, Maximian barsch und herrisch, Galerius sarkastisch und hochmütig. Nur Konstantius Chlorus sitzt schweigsam auf seinem Thronsessel. Viele Maßnahmen werden vorgeschlagen, besprochen und verworfen. Galerius ergreift das Wort. „Es hat keinen Wert, theoretische Maßnahmen zu erörtern", sagt er ohne Übergang, „man muß Gewalt anwenden! Das aus inneren Wirren, aus Barbarenkriegen und Perserkämpfen wiedererstandene Imperium darf nicht den Tauschhändlern, Schiebern und Spekulanten überlassen bleiben! Jede Widersetzlichkeit ist aufs schärfste zu unterdrücken! Nur auf diese Weise können wir den Geist der alten Reichseinheit wiederherstellen. Ohne das Zusammengehörigkeitsgefühl der Völker, Stände und Klassen werden alle wirtschaftlichen Maßnahmen ohne Ergebnis sein. Das Übel muß an der Wurzel gepackt werden! Was hat denn das Rom des Augustus Octavian oder des Hadrian so groß gemacht, wenn nicht die Einigkeit seiner Bürger, die gemeinsame und selbstverständliche Verehrung des Jupiter Capitolinus, die vergöttlichte Gestalt der Cäsaren und der Wille, stark und groß zu sein. ,Tu regere impero populos, Romane, memento!' hat Virgil einst gesagt: Du sei, Römer, bedacht, mit Macht zu gebieten den Völkern! 41
Solange Sektierer, wie die Christianer, die Opfer an den Kaiseraltären, ja, sogar den Kriegsdienst verweigern, solange es Menschen gibt, die an der göttlichen Einrichtung unseres Staates, an der Erhabenheit der Augusti zweifeln, wird kein Höchstpreisedikt, keine Münzreform und keine Tarifordnung eine Änderung unserer Lage herbeiführen. Laßt uns die alte, straffe Eeichsautorität wiederherstellen, dann kann die wirtschaftliche und innenpolitische Neuordnung nicht ausbleiben. Das Mittel dazu heißt: rücksichtlose Polizeimaßnahmen, Gericht und Gewalt!" Maximian neigt zustimmend das Haupt, die Versammlung schweigt betroffen. Diokletian scheint in Gedanken versunken, nach einer Weile blickt er zu dem Kaiser des Westens, Konstantius Chlorus, hinüber, der mit unbewegtem Gesicht zugehört hat. „Wir warten immer noch auf die Meinung des Cäsars Konstantius!" Konstantius, der aus dem entfernten Trier zu dieser Konferenz herbeigeeilt ist, erhebt sich langsam. Er stützt sich schwer auf die Schulter eines kraftvollen Jünglings, der etwas tiefer sitzt — es ist sein Sohn Konstantin, ein hoffnungsvoller, außergewöhnlich begabter Sproß einer Familie, die schon viele tüchtige Männer hervorgebracht hat. „Du willst meine Meinung wissen, Augustus?" sagt Konstantius Chlorus, „nun, ich glaube, daß wir sehr mächtig sind. Aber mächtiger als wir ist die Natur, die den Menschen die Wahrung ihres Vorteils gebietet; und größer als wir ist die Habgier, die selbst das Leben um des Gewinnes willen wagen wird. Setzt nicht jeder Seemann auf stürmischem Meere, jeder Bergmann in dunkler Tiefe sein Leben aufs Spiel und geschieht dies nicht um geringen Lohn? Warum also sollten nicht auch Tauschhändler und Spekulanten dasselbe um hohen Gewinn tun? Ich sage, daß wir weder durch Gewalt noch durch Drohung an den Zuständen etwas zu ändern vermögen . . . " Diokletian horcht erstaunt auf. Soll er, der den Weltfrieden erzwang, der Ägypter, Gallier, Briten, Franken und Perser schlug, vor der allmächtigen Korruption im Innern kapitulieren? „So sage, Cäsar Konstantius", fragt er beherrscht, „wie ist nach deiner Meinung dem Übel abzuhelfen?" 42
„Es gibt nur ein einziges Mittel, um einen zerrütteten Staat wieder in Ordnung zu bringen; dieses Mittel bat drei Bestandteile — Friede, Arbeit und Einigkeit! Sorge für die Beendigung aller äußeren und inneren Kämpfe, und du wirst den Völkern das Vertrauen zum Staate und damit zur Währung zurückgeben! H a t das Volk aber Vertrauen, so spielt es keine Rolle, ob die Denare aus Gold oder aus Blei sind. Fördere die Arbeit, und die Menge der erzeugten Güter wird über die engen Grenzen der geheimen Märkte hinausquellen und das ganze Land mit neuem Wirtschaftsleben füllen! Kette die vielen Nationen, die sich unter dem Dach des Imperiums zusammengefunden haben, durch Förderung ihrer Interessen im Rahmen der Gesamtheit fest aneinander, und der Reichtum des Ostens, die Kraft des Westens, die Industrie des Südens und die Menschenmassen des Nordens werden wieder ihre Gemeinsamkeit entdecken! Friede ist der Vater des Wohlstandes, Krieg sein Vernichter." Diokletian blickt den Cäsar aus halbgeschlossenen Augen an. Nach einem Augenblick des Schweigens sagt er nachdenklich: ,,Du siehst wohl das Ziel, aber der Weg dorthin ist auch dir verborgen." Und sich zu der Versammlung der Räte und Minister wendend, gebietet der Kaiser: „Die Sitzung ist beendet. Jeder möge die Worte wägen, die hier gesprochen wurden und nach einem Ausweg aus den Schwierigkeiten suchen. Morgen um diese Zeit will ich wieder den R a t meiner getreuen Legaten und Präfekten hören . . .!" * Im achtzehnten Jahre dieser Friedensepoche eines gewaltigen staatlichen Wiederaufbaus gibt Kaiser Diokletian dem Drängen seines Mitregenten Galerius nach und beschließt die Erneuerung der heidnischen Staats- und Lebenstradition und des Kultus der alten Götter, deren Eingreifen er die Erfolge auf allen Gebieten zu verdanken glaubt. Das gefestigte römische Staatswesen soll durch die Wiederbelebung der überkommenen Staatsreligion für immer unzerstörbar werden. Das aber bedeutet Wiederaufnahme des Kampfes gegen die Christen, die von der heidnischen Priesterschaft, von Teilen des Volkes, von •13
zahlreichen Schriftstellern und vom kaiserlichen Rat als die Hauptgegner der römischen Staatsgewalt bezeichnet werden. Auf einer Zusammenkunft mit Galerius, die im Winter in Nikomedia stattfindet, werden die Maßnahmen festgelegt, die zunächst die Zerstörung aller Gotteshäuser, die Verbrennung der heiligen Schriften und die öffentliche Absage an den Christenglauben befehlen. Am Tage des Gottes Terminus, des Gottes der Grenze, wollen Kaiser und Minister dem Vordringen der Christen in alle Bereiche des öffentlichen Lebens eine Grenze setzen. „Die Christianer sollen der Folter unterworfen werden, welchem Rang und Stand sie immer angehören mögen. Gegen sie sollen die Gerichte jede Klage annehmen, ihnen selbst aber jeden Rechtsschutz verweigern. Sie sollen aller Freiheit und der bürgerlichen Rechte beraubt sein."24 „Die Bethäuser werden vom First bis zum Estrich niedergerissen und von Grund auf zerstört, die göttlichen und heiligen Schriften gehen auf den Marktplätzen in Feuer auf. . ."2ä Die große Auseinandersetzung zwischen den Ideen des irdischen und des jenseitigen Reiches ist in ihr letztes Stadium getreten. Man schätzt, daß von den etwa hundert Millionen der Reichsbevölkerung der zwölfte Teil zur christlichen Religion gehört, in den Großstädten ist der Prozentsatz noch höher. Rom allein hat unter seinen 700000 Einwohnern fast 100000 Christen. Wenn die Kaiser die alte Reichsidee Roms, deren irdischer und geistiger Mittelpunkt die vergöttlichte Gestalt des Herrschers ist, wiederherstellen wollen, so ist es jetzt zu spät. Schon macht sich der Geist der neuen Zeit in der nächsten Umgebung der Kaiser bemerkbar. Tochter und Gemahlin Diokletians neigen der christlichen Lehre zu, der Oberkammerherr Lucianus ist Christ, viele Hofbeamte tragen versteckt das Kreuz unter den seidenen und samtenen Gewändern. Die Verordnung gegen die Christen offenbart die Zerklüftung des Reichsgefüges vor aller Welt. Rom kämpft gegen eine starke und opferbereite Gruppe seiner Bürger, es streitet mit einer neuen Idee um seine alte Lebensform. Da das erste Edikt nicht ausreicht, folgen zwei weitere und, alle vorhergehenden an Härte überbietend, ein viertes, das von allen Christen wieder das Götzenopfer fordert. 44
Die Edikte Diokletians werden nicht überall in der gleichen Weise verwirklicht. Während Galerius und Maximian mit rücksichtsloser Härte gegen die Christenheit vorgehen, tut Konstantius Chlorus in seinem Machtbereich nur das Notwendige und manchmal sogar weniger als das. „Da er den Schein des Abweichens von den Vorschriften vermeiden will, befiehlt er zwar das Niederreißen der christlichen Versammlungsstätten, das heißt, der Wände, die man wiederherstellen kann. Der wahre Tempel Gottes — der Mensch — bleibt unversehrt .. ." 26 Maximian läßt in Eom den Befehlshaber der Leibgarde, den Präfekten Sebastianus, festnehmen, da er beschuldigt wird, heimlich zu Christus zu beten. Stolz bekennt sich Sebastian zu seinem Glauben und weigert sich, dem Kaiserbilde Opfer darzubringen. Ein Militärgericht verurteilt ihn zum Tode; er wird durch Bogenschützen hingerichtet. In Gallien und am Niederrhein gibt es Legionseinheiten, die sich fast ausschließlich aus Christen zusammensetzen. Mit aller Härte greift Maximian ein und befiehlt strenge Untersuchung, die mit dem Henkertode vieler Offiziere und Mannschaften endet. Auch der Kommandant einer Truppe, Mauritius, fällt unter dem Richtbeil. Noch furchtbarer wütet die Verfolgung im Osten. In der ägyptischen Landschaft Thebais kommt es zu schrecklichen Massenhinrichtungen. „Täglich werden Hunderte von Männern, Frauen und Kindern getötet und zu Martern in mannigfachem Wechsel verurteilt.. . Das Richtschwert wird stumpf und unbrauchbar, die Henkersknechte müssen sich wegen Ermüdung gegenseitig ablösen . . . Aber kaum sind die einen gerichtet, da eilen von allen Seiten andere herbei, geben sich freiwillig als Christen an; sie bekennen sich ohne Furcht angesichts der schrecklichen Qualen und verschiedenartigsten Foltern zum Glauben an den Weltengott und nehmen freudig und lächelnd das Todesurteil entgegen. Ja, sie jubeln und singen Gott Dank- und Loblieder bis zum letzten Atemzug . . ." 27 Diokletian — der „Bringer des ewigen Friedens"—trägt Zerstörung und Mord in die kaum beruhigten Gaue des Imperiums. Er gibt dem erbarmungslosen Galerius die Zügel frei, damit er mit Richtschwert, Folter und Scheiter45
häufen die christliche Idee unterdrücke; er duldet es, daß ganze Städte und Landschaften, deren Bewohner von einem allgemeinen Bekennerwillen, einem heroischen Märtyrermut, erfaßt sind, verwüstet werden. Unter den Schmerzensschreien der Gequälten, unter Blut und Tränen soll das Volk zum alten Götterglauben, zur olympischen Freude und Diesseitigkeit und zur römisch-imperialen Idee zurückgeführt werden. „Die einen werden, wie es in Arabien geschieht, mit dem Beile hingerichtet, die anderen büßen mit zerbrochenen Beinen, wie es in Kappadokien üblich ist; wieder andere werden mit dem Kopf nach unten an beiden Füßen aufgehängt, und darunter wird ein schwelendes Feuer angefacht, so daß sie im aufsteigenden Rauch langsam ersticken . . ." 28 Bedrängt von den dunklen Strömen der mannigfaltigsten religiösen Ideen, geängstigt inmitten einer sich zusehends von innen her wandelnden Zeit ficht das alte Rom mit Henkerbeil und Schwert seinen letzten Kampf für eine Lebensform, die weder durch Gewalt noch durch Gesetze zu retten ist, weil sie, ausgeblutet und überlebt, schon der Vergangenheit angehört.
* Im Herbst des Jahres 304 n.Chr., in dem die Christenverfolgung ihren Höhepunkt erreicht, folgt der nun einundsiebzigjährige Philosoph Porphyrios einem Ruf der Hochschule von Nikomedia. Er soll dort im Auftrage Diokletians Gastvorlesungen halten. In Nikomedia lernt Porphyrios den Rhetor Lactantius kennen, der von seinen Schülern „der neue Cicero" genannt wird. In den Hörsälen und Wandelgängen der Universität flüstert man sich zu, daß Lactantius dem Christentum nahestehe; manche behaupten sogar, daß er heimlich Mitglied der verfolgten Gemeinde sei. Die Gedanken, die um diese Zeit überall diskutiert werden •— die Christenverfolgungen und der Versuch einer Wiederbelebung der antiken Welt —, bewegen auch die Gespräche der beiden Gelehrten. „Ich urteile wie du, mein Lactantius", sagt Porphyrios, „man kann nicht mit Gewalt gegen Ideen ankämpfen; jeder Gebildete wird die Folterungen und Hinrichtungen 46
von Menschen, die nichts weiter verbrochen haben, als ihrem Gott getreu zu sein, verurteilen. Aber im Gegensatz zu dir sehe ich in den Verfolgungen eine Schändung des römischen Geistes, du glaubst zu Unrecht, in ihnen einen Ausdruck dieses Geistes zu erkennen!" „Die Idee des Imperiums, wie es Diokletian verkörpert", erwidert Lactantius, „bedeutet doch im Grunde nichts anderes als willenlose Unterwerfung unter einen allmächtigen Machthaber. Was ist denn aus dem vielgerühmteii Geist der alten, römischen Bürgerschaft anderes geworden als Knechtschaft und Hingabe an die Obergewalt eines irdischen Gottes! Ein Verteidiger des Römertuins hat vor hundert Jahren einmal geschrieben, die Güter der Erde seien alle dem Willen des Imperators übergeben, aller Besitz komme von ihm. Die Untertanen benützen also gleichsam nur geliehenen Besitz, den der Kaiser, wann immer er will, zurückholen kann — was die Soldatenkaiser übrigens oft genug getan haben. Das heißt, daß alle Menschen willenlos der Kaisergewalt Untertan sein müssen. Den Kaisern sind Tempel errichtet, man opfert auf ihren Altären, vor ihren Bildern, schwört bei ihrem Namen, und ihre Statuen gewähren Asyl wie die Stätten der Götter. Religion ist nicht mehr der demütige Glaube an eine höhere, bessere Welt, sondern eine Sklavin der Staatsallmacht, dazu bestimmt, die Macht der Kaiser und den Reichtum Roms zu erhalten. Dieser Anschauung steht die ganz anders geartete christliche Welt gegenüber. Ihr eigentliches Wesen ist geistig, es konzentriert sich auf die Seele und ihr Schicksal. Der christliche Mensch anerkennt für sein inneres Leben nur das Gesetz Gottes. Das Religiöse in ihm verweigert den Gesetzen den Gehorsam, wo sein ewiges Heil durch sie gefährdet erscheint. Der Christ befreit seine Innenwelt von äußerer Bindung und strebt nach der höchsten Freiheit, die es gibt, nach dem Reiche Gottes, das die ganze Menschheit umfaßt und keine Grenzen kennt." Porphyrios setzt sich auf den Rand des marmornen Brunnens, der die Luft in der Wandelhalle der Hochschule erfrischt und kühlt. Nachdenklichkeit und eine leise Trauer liegen in seinen Augen, die dem Spiel der Goldfische im Wasser folgen. „Das bedeutet Aufgabe des Imperiums und seiner Idee", sagt er, „das bedeutet das Ende des römischen Bürger47
rechtes. Die Mauern um das Reich würden fallen. Wir müßten auch den Sklaven, den verhaßten Perser und den germanischen Barbaren als gleichwertig anerkennen. Wenn das Christentum alle Menschen umfassen will, stirbt unsere Welt. Ich kann nicht glauben, daß du mit deinen Prophezeiungen recht hast, Rom ist zu groß und zu gewaltig, um auf solche Weise zu sterben. Vergiß es nicht, daß wir auf dem Boden tausendjähriger, unübertrefflicher Weisheit stehen. Die Philosophen des alten Hellas haben Himmel und Erde durchforscht und Gedankengebäude von unerhörter Schönheit und Gewalt gebaut! Es gibt keine Wissenschaft, deren Wurzeln nicht im hellenischen Boden steckten — Athen aber wird niemals dem Propheten aus Jerusalem weichen!" Lactantius lehnt an einer der polierten Säulen, die die Halle begrenzen. Sein Antlitz ist von schwärmerischer Glut überflössen. „Ich liebe die griechische Weisheit wie du", bekennt er feierlich, „aber ich weiß auch, daß Christus größer ist als Piaton und Aristoteles. Die Wissenschaften, die du rühmst, ruhen auf schwankendem Boden, und die Schulen, an denen sie gelehrt werden, widersprechen einander; die christliche Lehre aber ruht auf dem unerschütterlichen Felsen der gottgeoffenbarten Wahrheit und öffnet dem Menschen den Blick auf die letzten Probleme des Weltalls und bietet ihm die Einsicht in die göttlichen Dinge. Indem sie nur eine Sittlichkeit für Herren wie Sklaven predigt und mit der Gottesliebe die allumfassende Nächstenliebe aufs engste verknüpft, erweckt sie in allen Menschen die neue Hoffnung auf die innere Freiheit wie auf die Allmacht der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit." Lange schweigt Porphyrios, dann erhebt er sich schwerfällig, sein schmales Gelehrtengesicht ist wie von tödlicher Müdigkeit umschattet. „Immer wird sie mir fremd bleiben, die Welt, von der du sprichst! Wo du Liebe siehst, erblicke ich Finsternis, was du ein Tor der Freiheit nennst, ist für mich ein Abgrund. Bildseite rechts: o b e n : römische Thermenhalle des 3. Jhs.; Prätorianer, Soldaten der kaiserlichen Leibgarde; M i t t e : Kaiserporträt des 3. Jhs.; preisgekrönter Wagenlenker und Rennwagen; darüber: Fasces, Rutenbündel mit Beil, Zeichen der Strafgewalt der hohen Beamten; u n t e n : Unfall beim Wagenrennen im Circus.
48
49
Vielleicht aber hast du recht, daß diese, meine Welt sich zum letzten Schlafe neigt, daß der Knabe mit der gesenkten Fackel 29 schon den Weg ins Unbekannte weist. Nun, dann will auch ich die Augen schließen und hoffen, daß mir die Götter gnädig sind."
* Diokletian hat den äußeren Verfall aufgehalten, das Eeich scheint trotz der Gewaltenteilung gefestigt, aber trotzdem lastet Weltuntergangsstimmung auf den Riesenstädten, trotzdem leben die Provinzen wie unter schwefelgelbem Gewölk. Drohung und Lebensangst beherrschen den Tag, die Menschen erwarten kommendes Unheil. Zeitgenössische Schriftsteller spielen mit den Gedanken, daß das Ende der römischen Zeit bevorstehe. Die Teilung der Kaisergewalt erscheint vielen als die vollzogene Teilung des Reiches. Die vornehme Gesellschaft, soweit sie nicht christlich geworden ist, flüchtet sich in jede Form des Lebensgenusses, die Armen suchen Vergessen und Betäubung im Circus, beim Rennen, in Sensationen. Nun erweist sich der Fluch der Macht. Die vergangenen Jahrhunderte imperialer Kaiserherrlichkeit haben den oberen Klassen der Gesellschaft alles gegeben, was Menschen vom Leben erträumen: Sicherheit, Reichtum, Machtstellungen und Genuß. Aristokraten und Bürger haben im Bannkreis dieser Welt als Herren gelebt; wunschlose Zufriedenheit ließ alles Kämpferische und Schöpferische in ihnen erlahmen. Manchmal, im Überfluß des Genießens, waren zwei Fragen aufgetaucht, Probleme, die das Dasein betrafen: die Frage nach Sinn und Urgrund des Lebens und die Frage nach der Existenz des Ewigen. Aber das schweigende All hatte keine Antwort gegeben, und so war jeder Glaube geschwunden. Zuletzt blieb nur das Durchleben des Tages oder die tatenlose Ergebung. Wissenschaft und Kunst hatten es aufgegeben, um die Geheimnisse der Ewigkeit zu ringen, sie wiederholten nur das schon in Jugendzeiten Erreichte, formten es zu neuen Kombinationen, verwandelten es ins Spielerische und technisch Erklügelte. Die Wurzeln des Baumes begannen zu dörren, und sie lösten sich aus dem religiösen Urgrund der Väterzeit, aus der Verbindung mit der übersinnlichen, höheren Welt der Götter. 50
In diese sich selbst aufgebende, altersmüde Stimmung waren die großen Katastrophen hereingebrochen, die seit den Tagen Marc Aureis in beinahe unaufhörlicher Folge das Imperium erschütterten. Nur ein kraftvoller Aufschwung der Völker hätte die allseitigen Gefahren des Weltreichs noch bändigen können. Jene Kreise aber, die Eoms Größe heraufgeführt hatten — Aristokratie und Bürgertum, Milizen und Bauern —.waren zu Begeisterung, staatsschöpferischer Gesinnung undüberzeugung nicht mehr fähig. Den Wehrbauern der Kepublik hatte der von Großgütern und von Geldleuten abhängige Pächter abgelöst, das Bürgerheer war seit langem zur Soldtruppe geworden; der Stadtadel — Senat, Eitterschaft und freies Bürgertum — hatte seine politische Freiheit an die Cäsaren hingegeben und sich dafür Wohlleben und Eeichtum eingetauscht. Die einst strahlende Stadtkultur des Imperiums war von sozialen Klüften und Gegensätzen durchrissen. Von einer gleichgültig und träge gewordenen Oberschicht und von den unzufriedenen niederen Ständen konnten die Kaiser keine Hilfe bei der Verteidigung des Eeiches erwarten. So war jenes System drückender Gewalt zustande gekommen, das die Niedrigen erhob, die Hohen herabzog und die ungeheuren Lasten des stehenden Heeres wie eine tödliche Krankheit auf die Provinzen warf. * In diesem Jahr 304 ist endlich der gewaltige Bau der Diokletians-Thermen vollendet30, die der Kaiser der Stadt Eom, der entthronten Hauptstadt des Eeiches, gestiftet hat. Die riesenhafte Anlage, die am nordöstlichen Fuße des Hügels Viminal und nahe bei den Prätorianerkasernen eine ausgedehnte Fläche bedeckt, bietet den Besuchern doppelt soviel Badekabinen wie die bisher größten Thermen — die des Caracalla •— und allein 3200 Marmorsessel für medizinische Bäder. Von den hohen Gewölbehallen, den Prunkräumen, Galerien und Wandelgängen, den Becken des warmen, lauen und kalten Bades, den Sportplätzen und Aufenthaltsräumen werden Wunderdinge erzählt. Eom wird immer noch von seinen Kaisern umschmeichelt; seit Jahrzehnten ist viel für das Volk gebaut worden, das Imperium rafft fast unter jedem neuen Kaiser seine Kraft zusammen, um der altüberkommenen Bau51
leidenschaft zu frönen, wann nur immer Barbaren oder Perser, Aufstände oder Bürgerkriege ihm Atem lassen. Jetzt, da nach beinahe zwanzigjähriger Arbeit die Thermen eingeweiht werden sollen, folgt eine Reihe großartiger Feste aufeinander. Circus Maximus, Colosseum, Circus Flaminius, die Theater, Rennplätze und Schaubuden erleben große Tage. Ungeheure Massen wogen durch die Straßen der Weltstadt, im Hafen von Ostia laufen ganze Flotten von Fahrgastschiffen ein, die Besucher aus fernen Provinzen heranführen. „Schon in der Frühe wälzen sich Massen hin und her, eine große Menge begibt sich zum Forum zu den Gerichtsverhandlungen, eine größere zu den Wagenlenkern und Schaustellungen, eine nicht geringere Zahl verbringt die Zeit mit Liebschaften, Würfelspiel, Bädern, Trinkgelagen und anderen Genüssen, bis sie sich abends bei Gastmählern versammeln, wo dann die Unterhaltung nicht in Musik und ernsten Gesprächen besteht, sondern in wüstem Zechen, das oft bis zum Morgen währt." 3 1 Bei der Einweihung der Thermen gibt es einen Mißklang. Im November des vergangenen Jahres ist Kaiser Diokletian mit seinem gewaltigen Hofstaat in Rom angekommen, und dem Programm nach sollte der Augustus den Festlichkeiten der Thermenweihe beiwohnen. Es war das erstemal, daß der Kaiser die alte Welthauptstadt betreten hatte. Diokletian und sein Mitregent Maximian begingen in jenen Tagen den Jahrestag ihres Regierungsantrittes und feierten zugleich ihren Triumphzug zum Capitol. Es lag im Zuge der Wiederbelebung der alten Religion, nach Sieg und Triumph über zahllose Feinde den ehrwürdigen Bund mit den Göttern zu bestätigen. War doch nach überkommenem Brauch der im Purpur zur Capitolshöhe hinauffahrende Imperator der sinnbildhafte Vertreter des alleinsiegenden Gottes, war doch der Triumphzug die Dankprozession des gesamten Römervolkes zum Vater Jupiter Capitolinus, dem es Beute, Gefangene und Eroberung zu Füßen legte. Die beiden Kaiser standen auf vergoldetem Wagen, vier Elefanten zogen das Gefährt. Die Bilder des persischen Königshofes wurden mitgeführt, und gefangene Goten, Sudanneger und Araber schritten in Ketten hinterdrein. Nach feierlichen Opfern und Spielen empfing Diokletian 52
den Senat, Rom erlebte zum erstenmal das Schauspiel des Kniefalls und der Huldigung. Schon bei dem Aufzug der Beute, der Vorüberfahrt der kaiserlichen Wagen und dem Aufmarsch der Gefangenen war es unter den Zuschauern zu lauten Mißfallensäußerungen gekommen. In der Erinnerung der Römer gab es größere und prunkvollere Triumphe als diesen; Rom war von Diokletians Sparsamkeit unangenehm berührt, zumal er Münzen mit der Inschrift,, Vater des Goldenen Zeitalters" hatte verteilen lassen. Leider war die Mehrzahl der „Goldzeitalter"-Münzen in — Silber geprägt worden. Als der Kaiser später gar mit orientalischem Diadem auf dem Haupte, im verhaßten Königspurpur, das elfenbeinerne Szepter in der Rechten, in der Loge des Circus thronte und die Häupter der ältesten Römerfamilien vor ihm bis auf die Teppiche niedersanken, begann man laut zu zischen. Sprechchöre spotteten über das orientalische Zeremoniell, lautes Gelächter brauste durch das weite Oval. So hatten die beiden Herrscher, verärgert über die Freimütigkeit des großstädtischen Volkes, Rom früher verlassen, als ursprünglich geplant gewesen war. Nicht einmal die Festlichkeiten der Konsulats- und Jahresweihe hatte man abgewartet. Diokletian war, nach kurzem Aufenthalt in Ravenna, wo er krank daniederlag, in seine eigentliche Sphäre — nach dem Orient und nach Nikomedia — zurückgekehrt. Die Eröffnung seiner gigantischen Thermen fand ohne den Kaiser statt. * Unter den Personen, die im Gefolge der Cäsaren nach Rom gekommen sind, befinden sich einige, die es mit der Abreise nicht eilig haben. Zu ihnen gehört auch Jamblichos, ein aus Syrien stammender Philosoph. Er ist Gast bei dem Rhetor Sextus Fabius, der es vom Sohn eines Geldwechslers zum staatlich besoldeten Lehrer gebracht hat und nun schon zur älteren Generation gehört. Was die beiden Männer verbindet, ist die Erinnerung an ihre gemeinsame Studienzeit und das ernsthafte Ringen um die Wahrheiten der Philosophie. Inmitten der bunten Menge, die den Feierlichkeiten zur Thermeneröffnung beigewohnt hat, streben die beiden Gelehrten dem Hauptgebäude zu, um das Innere der Bäder53
anläge zu besichtigen. Wie stets bei derartigen Gelegenheiten, hat sich längs der Straße und vor den Pforten eine Unzahl von Gauklern angesammelt: Hypnotiseure, Bauchredner, Taschenspieler und allerhand „Wundermänner". Eine schwarzhaarige Orientalin mit vergoldeten Armreifen und farbigen Glasohrringen zupft Jamblichos an der Tunika und flüstert ihm zu, sie sei „Kennerin der Gesetze von Solyma, hohe Priesterin des Baumes und verläßliche Botin des obersten Himmels . . .", um die kleinste Münze wisse sie alle Träume zu deuten. Fabius weist die Wahrsagerin ärgerlich ab. „Dummer Aberglaube!" sagt er. „Leider fallen immer mehr Leute auf diese Betrüger herein. Es ist, als hätte Juvenal niemals auf dieses Volk seine Satire geschrieben: „Hüte dich wohl, dem Weibe zu begegnen, das den Sternkalender in der Hand hält, beschmutzt vom Gebrauch und gelb wie Bernstein!" „Lästere nicht, mein Fabius!" antwortet Jamblichos. „Das Dasein ist ein weitläufigerer Mantel, als wir glauben wollen. Es hüllt viele Kräfte und Mächte ein, die unseren Sinnen entgehen und die dennoch vorhanden und wirksam sind. Auch den Wind siehst du nicht, und doch wirkt er." „Ich leugne nicht das Geheimnisvolle — ich lehne nur ab, ihm hier auf dem Jahrmarkt zu begegnen! Sieh dich nur um: ,Die Reichen lassen sich von phrygischen, indischen oder chaldäischen Zeichendeutern Auskunft geben . .. das niedere Volk knüpft sein Schicksal an Donner und Rennbahn! Dieses ganze Römervolk ist förmlich gelähmt vom Aberglauben, kaum einer wagt mehr zu handeln, ehe er nicht sein Wochenhoroskop oder das Pendel befragt hätte.' " 3 1 Unmittelbar vor den Marmortreppen, die zum Steinwald der Säulenhalle hinaufführen, haben chaldäische Astrologen ihre Buden aufgeschlagen, stehen in sternenbestickten Mänteln und spitzen Mützen vor riesigen Tierkreisen. Schreiend preisen sie die Unfehlbarkeit ihrer Voraussagen, und die Menschen drängen sich zuhauf. Sextus Fabius wettert zornentbrannt gegen die verhaßten Gaukler, die der Volksmund kurzweg „Graeculi" — Griechen — nennt, was hier die Bedeutung von „Schwindler" hat. „Dieses Überhandnehmen des Gauklertums ist einfach ein Bildungsproblem! Gerade ich als Lehrer an einer Hoch54
schule kann immer wieder feststellen, daß junge Leute mit mehr als dürftigen Vorkenntnissen studieren wollen. Man sagt, daß schon in den Tagen des Kaisers Marc Aurel das Absinken unserer Schulbildung den Anfang nahm, und ich glaube daran; denn je mehr das Militär die Zügel übernahm, um so deutlicher wurde, daß nicht Wissen, sondern Geschäftskenntnisse und Rücksichtslosigkeit auch dem Niedrigen den Weg nach oben bahnen können. Wozu also Bildung? Von Augustus Octavian erzählt man, er habe einen Legaten nur darum abberufen, weil er in einem Schreiben des Beamten ein Wort las, wie es nur die Gasse gebraucht. Und noch Hadrian wurde als Staatsbeamter im Senat ausgelacht, da seine Aussprache den fremdländischen Akzent verriet." „Diese Zeiten sind vorüber, lieber Fabius. Seit wir Legionäre und Männer unbekannter Herkunft zu Kaisern gemacht haben, gilt der Grundsatz: Bildung ist Nebensache, wichtig allein ist die politische Macht." „Wir Römer gehen an den Legionen zugrunde, mein Jamblichos! Schon Marc Aurel mußte erfahren, daß die Offiziere seines Stabes ihn nicht verstanden, wenn er sauberes Latein sprach. Und von Konsul Oclatinius Adventus erzählt Cassius Dion, daß er weder schreiben noch lesen konnte und der Rede so wenig mächtig war, daß er sich krank meldete, wenn er eine Verhandlung leiten sollte. Und seither ist alles noch schlimmer geworden, wir haben höchste Beamte ohne Gesetzeskenntnis, Provinzstatthalter, die Analphabeten sind, und Kaiser, die nirgendwo anders als im Legionslager ,studiert' haben. Was darf man da vom Volk erwarten?" „Ja, wir sind herabgestiegen!" bestätigt Jamblichos. „Aus den Tagen der Republik berichtet Tacitus, daß niemand zur Macht gelangen konnte, der nicht Meister der klassischen Beredsamkeit geworden war. Und Diodor erklärt: ,Durch die Macht der Rede haben die Hellenen vor den Barbaren, die Gebildeten vor den Ungebildeten den Vorrang; durch Bildung allein vermag der einzelne der Masse überlegen zu sein.' " Sextus Fabius sucht sein eigenes hartes Urteil über Rom etwas zu mildern. „Nun, wir besitzen auch einige Bildungsgüter, auf die frühere Tage verzichten mußten. Asinus Pollio hat der Stadt die erste öffentliche Bibliothek geschenkt; Augustus 55
Octavian, Vespasian und Trajan haben weitere gestiftet. Heute gibt es immerhin 28 Büchereien mit Hunderttausenden von lateinischen und griechischen Werken. Und die Lesesäle sind von morgens bis abends gefüllt. Ganz so hoffnungslos ist es mit der römischen Bildung also nicht." Die beiden Männer haben endlich die weitgeöffneten Pforten erreicht und betreten zusammen mit anderen Neugierigen die gewaltige Halle der Thermen. Auf der spiegelnden Fläche des buntausgelegten Marmorbodens verlieren sich die Besucher. Unter den riesenhaften Pfeilern und hochragenden Gewölben wimmeln die Menschen in ihren weißen Gewändern gleich Ameisen. Über ihnen strahlt die vergoldete Decke mit purpurbemalten, elfenbeinausgelegten Feldern. Wo die Bogenreihe auf die Wand stößt, leuchten in bunten Farben bleigefaßte Fenstergläser und werfen eine Flut geheimnisvollen Lichtes in die Halle. Die beiden Gelehrten wandeln schauend und staunend zwischen den Säulen aus grünem, ägyptischem Malachit; Jamblichos verharrt mit dem Blick zur Höhe an einem der plätschernden Brunnen, die sich in achatfarbene Schalen ergießen. Er beachtet nicht den Strom der Gaffer, die endlos vorübertreiben. „Da hast du, mein Freund", sagt er, „die ganze Situation dieser Welt: alles wird von Massen beherrscht. Unsere Zeit übersteigert alle Maßstäbe, vergröbert die Formen ; alles muß kolossal sein — den Architekten fällt kein neuer Baugedanke mehr ein. Rom schwelgt in Achat, Porphyr, Marmor und Vergoldung, um darzutun, wie reich und mächtig es sei. Es führt dem griechischen Geiste vor, daß es die hellenischen Schöpfungen verzehnfachen könnte, wenn es wollte. Aber es beweist zugleich, daß es das Griechentum weder zu erneuern, noch fortzuführen vermag." * Zur selben Stunde, da die beiden befreundeten Männer den Wunderbau der Thermen durchwandern, braust im Langrund des Circus Maximus der Jubel von dreihunderttausend Menschen zum sonnenflimmernden Himmel. Das Hauptrennen des Tages, von dem ganz Rom seit langem spricht, beginnt. Die Zuschauer auf den Rängen und in den Logen sind aufgesprungen und blicken zu dem Eingangstor im Nordwesten des Riesenbaues, an dessen bei5G
den Seiten die „Carzer" liegen — breite Hallen, in denen die am Rennen beteiligten Gespanne das Zeichen zum Beginn erwarten. Der Auslauf in die Arena ist noch durch Seile gesperrt. Nur mit Mühe bändigen die Fahrer die edel gezogenen Rennpferde aus Afrika, Arabien, aus Gallien, Spanien oder Sizilien; die Nüstern der Tiere sind von tiefem Rot und weit geöffnet, die gepflegten, glasharten Hufe scharren erregt den Sandboden. Fanfarenbläser haben auf der Zwischenmauer, die das Arenafeld der Länge nach in zwei Hälften trennt, Aufstellung genommen. Auf ein Zeichen des Quästors heben sie ihre Instrumente an die Lippen, ihr schmetternder Ton treibt die Erregung der Zuschauer auf den Höhepunkt. Langsam steht der Quästor auf, tritt an die Brüstung seiner Loge und wirft ein weißes Seidentuch mitten in die Arena. Im selben Augenblick fallen die Seile vor den Carzern, die Gespanne rasen mit donnerndem Galopp in die Bahn — und nun scheint es, als ob die Hölle losgebrochen sei. Da ist keiner unter den Hunderttausenden, der nicht brüllt, tobt, den Namen seiner Partei, seines Lieblingspferdes oder des Fahrers, auf den er gewettet hat, schreit. Tücher in den Farben der vier Rennparteien — weiß, rot, blau und grün — werden geschwenkt, Prügeleien entstehen, oben im obersten Rang kracht eine der Holztribünen zusammen und begräbt die Männer und Frauen unter sich — aber die Hilferufe der Verletzten und Eingeklemmten gehen unter in dem rasenden Tosen, das wie der Ausbruch eines Vulkans die Mauern des Circus Maximus erbeben läßt. Die Favoriten dieses Rennens sind die Gespanne der blauen und grünen Partei; die Roten und Weißen haben nur wenig Siegesaussichten. Die Farben der Grünen werden von Scorpus, dem Liebling des Rennpublikums, und die der Blauen von Eutychus, der heute sein zweitausendstes Rennen fährt, vertreten. Scorpus liegt vorn, er ist mit seinem Gespann — den vier nebeneinander vor den zweirädrigen Wagen gespannten Pferden — wie von Dämonen gejagt und rennt die Bahn rechts der Trennungsmauer hinunter. Hinter ihm liegt der Rote; dann folgt der Weiße und mit Abstand das Gespann des Eutychus. Man sieht an den gespannten Armmuskeln des Blauen, daß er seine Hengste mit aller Kraft zurückhält. 57
Die Fahrer sind in die Farben ihrer Partei gekleidet. Sie tragen alle die kurze, kniefreie Tunika, die mit Lederriemen eng an den Körper geschnallt ist; die Zügel haben sie um die Schultern gelegt, im Gürtel steckt das gebogene Messer, mit dem nach einem Sturz die gefährlichen Zügelriemen durchschnitten werden. Kopf, Stirn und Wangen sind durch eine helmartige Lederkappe geschützt. Die linke Hand hält die Peitsche. Jetzt wendet der erste "Wagen oben, an der gegenüberliegenden Querseite, in die linke Bahn ein, die zum Ausgangspunkt zurückführt. Das linke Handpferd, zu dem immer das beste und zuverlässigste Tier gewählt wird, verhält mitten im wilden Galopp, tritt mit trommelnden Hufen fast auf der Stelle und galoppiert sofort wieder an, als das rechte Handpferd die ganze Kehrtschwenkung vollführt hat. Ein Schrei brandet auf. Der Lenker der Weißen hat den richtigen Augenblick zum Wenden verfehlt und ist in das Gespann des Roten hineingerast. Ein wildes Knäuel von Pferden und zerbrochenen Wagen wälzt sich auf dem Sand. Circussklaven eilen herbei, hängen sich in die Zügel der wütend um sich beißenden und schlagenden Hengste und räumen in kurzer Zeit die Bahn; die beiden Fahrer werden hinausgetragen. Höchste Zeit ist es, denn nun donnert schon wieder das Gespann des Scorpus heran, wendet exakt und galoppiert zum zweitenmal die linke Bahn herunter; Eutychus folgt mit einigen Pferdelängen Abstand. Die Menge tobt und brüllt. „Scorpus . . .! Scorpus . . . ! " schreien die Anhänger der Grünen, und von den Sitzreihen der Blauen gellen die aufpeitschenden Sprechchöre: „Eutychus . . . ! Eutychus . . . ! " Was geht es dieses Volk von Rom an, ob das Imperium lebt oder stirbt, ob Jupiter oder Christus der wahre Gott ist, ob es ein Leben nach dem Tode gibt oder ob das ewige Dunkel der Unterwelt auf die Seelen der Abgeschiedenen wartet — entscheidend ist allein, wer den goldenen Kranz des Siegers in der Arena davonträgt! In der sechsten Runde hat sich das Bild des Rennens noch nicht verändert, immer noch führt der Grüne vor den leuchtendweißen Araberschimmeln seines Gegners. Als Eutychus zur siebenten und letzten Umfahrt in die Gerade einbiegt, geht es plötzlich wie ein Aufstöhnen durch 58
den Circus. Der schlanke, kaum zwanzig Jahre alte Grieche lockert seine starre Haltung, er beugt sich nach vorn, weit streckt er seine Arme vor, die Zügel gleiten ihm durch die Hände, und wie die Katzen strecken sich die Pferde in raumgreifendem Galopp. In wenigen Augenblicken hat er so weit aufgeholt, daß seine Hengste mit den Stirnen fast den vor ihnen herjagenden Wagen berühren. Scorpus peitscht auf seine Pferde ein und feuert sie durch Zurufe an, aber langsam schiebt sich der Grieche neben ihn. Die Zuschauer gebärden sich wie Wahnsinnige, sie stehen auf den Bänken, um besseren Überblick zu haben, Fremde, die sich nie gesehen haben, umarmen sich im Freudentaumel, andere raufen sich verzweifelt die Haare oder werfen in zorniger Enttäuschung Sitzkissen und leere Tonkrüge in die Arena. Die nächste Wendung oben am Ende der Arena muß die Entscheidung bringen. Die beiden Eennwagen liegen jetzt nebeneinander; kurz bevor die Gerade sich zur Kurve biegt, schwingt Eutychus die Peitschenschnur über den Köpfen der Araber, ruft ihnen ein paar Worte zu — und da geschieht das Unfaßbare: Die vier prachtvollen Hengste werfen sich nach vorn, daß ihre Bäuche fast über die Erde zu fegen scheinen, und in drei, vier ungeheuren Galoppsprüngen haben sie die Führung erkämpft. Unmittelbar darauf zieht der Fahrer die Zügel straff, das linke Handpferd bäumt sich auf, fast auf der Stelle wendet das Gefährt, Staub wölkt auf, und dann galoppiert das Gespann in unverminderter Schnelligkeit dem Ziel, einem weißen Kreidestrich am Ende der linken Geraden, entgegen. Scorpus mußte die Hengste zurückreißen, um nicht in den Wagen seines Gegners hineinzurasen und hat dadurch kostbare Sekunden verloren. Verzweifelt peitscht er auf die Gäule ein, aber der Vorsprung ist zu groß, er rollt als zweiter durch das Ziel. Der Aufruhr im Circus ist unbeschreiblich. Die Menschen stürmen die Arena, Frauen werfen ihren kostbaren Schmuck in den Wagen des Siegers, breiten ihre Mäntel vor die Hufe der schweißüberflockten Rosse, und Senatoren und Prätoren gebärden sich wie besessen vor Freude über den Triumph ihrer Partei. Der römische Konsul, der als höchster Staatsbeamter die Spiele leitet und dessen Vorfahren an maßgeblicher Stelle halfen, den Gigantenbau des Imperiums zu errichten, tritt 59
tief bewegt zu dem Hengst, dessen glänzende Dressur den Sieg errang, und legt ihm eigenhändig die purpurgesäumte Toga, das Zeichen der Konsularswürde, über den Kücken. * Langsam sinkt die Nacht über das weite Rund des Circus. Verlassen liegen die Marmorlogen, die steingehauenen Ränge und die Holztribünen. Fahles Mondlicht erfüllt die Arena mit ungewissem Licht. Als sich der Wind aus den Albaner Bergen erhebt und klagend durch die Gänge und Bögen streicht, da ist es, als ob die Geister der Tausende, die hier dem Taumel der Masse, der Lust am Schmerz und der Grausamkeit geopfert wurden, wieder zum Leben erwachten. Gladiatoren und Sklaven, Gefangene, Verbrecher und die heiligen Bekenner der Christengemeinde starben hier den qualvollsten Tod. Stärker wird der Wind und steigert sich zum Sturm. Nebelfetzen jagen über den Himmel, aus dem Westen steigen schwarze Wolkentürme und schieben sich langsam, in drohender Stille, über die leuchtende Scheibe des Mondes. In den fauchenden Sturm mischt sich ferner Gesang; es sind die betenden, flehenden Stimmen von Kindern, Frauen und Männern. Der klagende Hymnus kommt aus einem der unterirdischen Kerker, in denen die verfolgten Christen auf den Tag der Bewährung warten. „De Profundis clamavi ad te, Domine; Domine, exaudi orationem meam . . ." Aus der Tiefe rufe ich zu dir, o Herr; Herr, erhöre mein Gebet. .. * Im Hof lager zu Nikomedia verdichten sich in der Folgezeit die Gerüchte, daß Kaiser Diokletian seine Abdankung erwäge. Krankheiten haben seinen Körper geschwächt; sein Leben neigt sich dem Abend zu. Die Last der Regierungssorgen ist zu groß geworden für die Schultern des sechzigjährigen Augustus, der vom einfachen Soldaten bis zur höchsten Würde des Weltreiches emporgestiegen ist. Der Imperator betreibt mit Nachdruck den Bau seines riesenhaften Schlosses, das er in seiner dalmatinischen Heimat, in Spalato-Split, als Alterssitz aufführen läßt, um sich nach seiner Abdankung dorthin zurückzuziehen. 60
Vom ersten April bis zum ersten Mai des Jahres 305 finden in Nikodemia prunkvolle Feste mit Tierhetzen, Wettrennen und Schaukämpfen statt. Am letzten Tag der Feiern befiehlt Diokletian, das in der Osthauptstadt zusammengezogene Heer am Fuße eines Hügels zu versammeln, der von einer Statue des göttlichen Jupiter gekrönt wird. Hier erfolgt die feierliche Ablösung in der Führung des Eeiches. Um dieselbe Stunde legt im fernen Mailand Augustus Maximian — mehr dem Willen Diokletians als dem eigenen gehorchend — die Macht in die Hände seines Nachfolgers. Die Machtaufteilung, die an diesem Tage im römischen Weltreich erfolgt, bewährt sich nicht. Während Diokletian sich nach der Abdankung in der Palaststadt von Spalato vergräbt, muß er zusehen, wie sein Eeichssystem und sein Lebenswerk in Stücke zerbricht. Aus den Nachfolgekämpfen um die Kaisermacht geht Flavius Valerius Konstantinus als Sieger hervor. Als Kaiser Konstantin der Große, der die christliche Kirche unter kaiserlichen Schutz gestellt hat, ist er in die Geschichte eingegangen.
61
ANMERKUNGEN J
) So berichtet Cicero über die Schenken Roms; — 2 ) Der Wert der Sesterzen
in normalen Zeiten etwa 1U Mark) ist in dieser Zeit stark zurückgegangen; 1000 S. entsprechen um 280 n.Chr. nur etwa 6 Mark; — 3) Die Rhetorik — die Beredsamkeit — spielt im Altertum als politische und juristische Waffe eine größere Rolle als heute; die Kunst des Rhetors wurde in den Schulen und Hochschulen gelehrt; es kennzeichnet den Verfall der Redekunst, daß in spätrömischer Zeit das Wie der Rede hoher geschätzt wurde als ihr Inhalt und als die Gesamtbildung des Redenden; — *) nach dem Dichter Martial; — 6
) Spalato, das heutige Split, an der Ostküste des Adriatischen Meeres, ist
aus dieser Besitzung Diokletians hervorgegangen; der Ort zeigt noch heute gewaltige Reste der alten Kaiserbauten; — 6) Inschrift auf einem Denkmal in Augsburg; — 7) das Folgende nach Angaben des hl. Augustinus, des Kirchenlehrers, 354—430; — 8) nach Berichten des Rhetors Libanios von Antiochia, 4. Jh. n.Chr.; — 9 ) und
10
) nach Libanios; — n ) nach Verord-
nungen Gratians, 4. Jh.; es handelt sich hier um Infiationswerte; — 12) zitiert nach Seneca; — 13) nach Libanios; — u ) Themen nach Angaben Quintilians, Verfassers eines Lehrbuches über die Redekunst; — 1 5 ) nach einem unbekannten Rhetor des 4. Jhs.; — 16 ) aus den Briefen des Lactantius, des „christlichen Cicero", Anfang 4. Jh.; — 1 7 ) aus den Satiren des Persius; — 18
) nach Silvianus von Marseille; — 19) aus den Akten des Kaisers Gallus,
3. Jh.; — 20) nach den ,,Kaiserbiographen"; — 21) nach Martial; — 22) im Jahre 301; — 2S) Brief aus der Zeit um 300; — 2*) aus einem Edikt Diokletians; — a&) nach Eusebios, Bischof von Cäsarea; — S6 ) nach Lactantius;— 27
) und 28) nach Eusebios; — zB ) das antike Symbol für den Tod; — 30) nach
dem römischen Arzt Galenos; — 81) nach Galenos.
62
ZEITTAEEL Seit 180 Unbeschränkte Kaisermacht unter den von n. Chr. den Legionären ausgerufenen Soldatenkaisern. 212n.Chr. Kaiser Caracalla verleiht allen freien Städten des Reiches das römische Bürgerrecht. Überfremdung der Garde, des Heeres und der Verwaltung. 219n.Chr. Der syrische Hohepriester Elagabulus römischer Kaiser. 226 n. Chr. Erneuerung des alten Perserreiches durch die Sassaniden. Perser dringen in Syrien ein, Goten auf dem Balkan, Franken in Gallien und Spanien. 235n.Chr. Der Germane Maximinus Kaiser. Im Widerstand gegen Rom gewinnen die Provinzen große Selbständigkeit. Sie werden mehr und mehr zu ,, Kaisermachern". 244 n. Chr. Der Araber Philippus Kaiser. 248 n. Chr. Tausendjahrfeier der Stadt Rom. In dieser Zeit weitere Ausbildung des christlichen Lehrgebäudes und der kirchlichen Organisation. Forderung der Christen nach völliger Religionsfreiheit. 250n.Chr. Christenverfolgung unter Kaiser Decius, der die Rückkehr zur alten Religion erzwingen will; die Verfolgung erlischt im Wirrwarr nach des Kaisers Tod (Thronwirren; germanische Plünderungszüge im Osten, die Perser in den Grenzländern, die Alemannen in Oberitalien). 260—268 Nach der Gefangennahme des Kaisers Valerian n. Chr. durch die Perser völlige Reichszerrüttung unter den „dreißig Tyrannen". Rettung der Reichseinheit durch die Kaiser: Claudius IL, der die Alemannen aus Oberitalien und die Goten und ihre Hilfsvölker aus dem Ostmittelmeer vertreibt; Aurelianus, der gegen die Bedrohung aus dem Norden Rom stark befestigt (Aurelianische Mauer) und im Osten die Reichsgründung von Palmyra zerschlägt; Kaiser Probus, der den Limes wiederherstellt und die Reichsgrenzen sichert. 63
285—305 Kaiser Diokletian.Vollender der absolutenMonn. Chr. archie. Um der Kaisermacherei in der bisherigen Form ein Ende zu setzen und gleichzeitig in den Grenzräumen starke Verwaltungszentren zu schaffen, gibt er dem Reich vier Schwerpunkte (Nikomedia, Sirmium, Mailand, Trier) mit eigenen Herrschern, die in ihren Reichsteilen die Ordnung aufrechterhalten sollen. Zwei Unterkaiser (Cäsaren) sollen die künftigen Nachfolger der Hauptregenten (Augusti) sein. Diokletian regiert nicht mehr in Rom, um den Bruch mit der Tradition deutlich zu machen. Italien wird zur Provinz. Auf dieser Neuordnung baut sich die Militär-, Finanz- und Verwaltungsreform des Kaisers auf. 288 n. Chr. Armeebefehl, nach dem die christlichen Offiziere den Göttern opfern oder den Dienst verlassen müssen. um 300 Ein Zwölftel der Reichsbevölkerung ist christn. Chr. lieh. 301 n. Chr. Höchstpreisedikt für die wichtigsten Lebensmittel. 302n.Chr. Vier Edikte zur Verfolgung der Christen. 305 n. Chr. Diokletian und sein Mit-Augustus entsagen der Herrschaft, aber das vorgesehene System der Nachfolge versagt. Sieben Kaiserkandidaten treten auf; die Wirren erleichtern das Los der Christen. 311 n.Chr. Den Christen wird erlaubt, für das Wohl des Kaisers zu ihrem Gotte zu beten. 313n.Chr. Der aus den Thronwirren als Sieger hervorgehende Cäsar Konstantin erläßt ein allgemeines Toleranzedikt, das den Christen freie Religionsausübung zugesteht.
Alle Kechte vorbehalten. TJmschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Kartenzeichnung: Anton Eckert; Illustrationen: H. G. Strick Druck: Dr. P. P. Datterer & Cie. - Inhaber Sellier - Preising/Obb.
64
Der Leser, der die in diesem Heft geschilderten Ereignisse im großen Rahmen wetterverfolgen will, wird auf die spannend geschriebene Weltgeschichte
BILD DER JAHRHUNDERTE von OTTO Z I E R E R verwiesen. In neuartiger, eindrucksvoll erzählender Darstellung behandelt Otto Zierer im „Bild der Jahrhunderte", dem der Text zu dem vorliegenden Heft im wesentlichen entnommen ist, die Geschichte des Abendlandes und der Welt von ihren Anfängen bis zur Gegenwart.
Der Kauf leicht gemacht Das „Bild der Jahrhunderte" kann auf Wunsch bei sofortiger Lieferung ohne Anzahlung gegen zwanzig Monatsraten erworben werden: DM 10.90 für die Rotleinen-Ausgabe, DM 13,75 für die Lux-Luxus-Ausgabe. Das Werk besteht aus zwanzig Doppelbänden, dem Band 41/44 und dem Historischen Lexikon; es umfaßt rund 8000 Seiten. 189 ausgewählte Kunstdrucktafeln, 500 Lexikonbilder und 124 historische Karten ergänzen den Text. Jeder Band enthält Anmerkungen, ausführliche Begriffserklärungen und Zeittafeln. Zusätzlich können zur vollen Erschließung des „Bild der Jahrhunderte" der Registerband mit Saeh- und Namensverzeichnis und einer Inhaltsübersicht über das Gesamtwerk und Lux-Historischen Bildatlas mit 131 sechsfarbigen Karten 18,5 X 25,5 cm sowie 72 Seiten historische Bilder und Texte geliefert werden. Preis des Werkes bei Barzahlung: Rotleinenausgabe Registerband
DM 198,— I Lux-Luxusausgabe DM 250,— DM 7,50 | Registerband DM 10,50
Lux-Historischer Bildatlas, Lux-Luxusausgabe DM 19,80 Presseurleile zu Otto Zierer: BILD DER, JAHRHUNDERTE „Wenn Napoleons Formulierung, Genie sei die Verbindung von Phantasie und Fleiß, zutrifft, so liegt diesem Werk gewiß Genie zugrunde. Die Wucht, mit der dem wissenden Leser längst Versunkenes wieder emporgeholt, dem weniger wissenden Neues vorgetragen wird, bleibt aller Bewunderung wert." Die Neue Zeitung „Mit einer unwahrscheinlichen Anpassung in Sprache und Szenerie trifft der Autor die Atmosphäre, die aus dem Wissen um die geschichtlichen Ereignisse ein so lebendiges Erleben schafft, daß der Leser sich als Teilnehmer an den abrollenden Ereignissen wähnt. Mehr vermag ein Geschichtswerk nicht zu geben. Die Absicht des Autors ist in diesem Werk voll erfüllt." EURO PA-Union Prospekte durch jede Buchhandlung und durch den Verlag VERLAG SEBASTIAN LUX - MURNAU VOR MÜNCHEN