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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Pawel Weshinow Das Geständnis
Kriminalroman
Eine Fra...
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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Pawel Weshinow Das Geständnis
Kriminalroman
Eine Frau wird ermordet. Ein scheinbar unkomplizierter Fall für die beiden Kriminalisten Dimow und Raltschew, denn bereits beim ersten Verhör gesteht Radew, der Mann der Ermordeten, die Tat. Und da die Indizien gegen ihn sprechen, bleiben nur Formalitäten und die Übergabe an den Untersuchungsrichter. Radew erhält einen Pflichtverteidiger. Der junge, noch unerfahrene Stamenow übernimmt ungern diesen Fall, denn er stößt in Radew auf einen unzugänglichen, verschlossenen Mandanten. Sein Ehrgeiz erwacht jedoch, als Radew ihm kurz vor der Verhandlung mitteilt, er habe seine Frau nicht umgebracht, helfen will er seinem Verteidiger aber nicht.
Pawel Weshinow
Das Geständnis
Verlag Das Neue Berlin
Titel der Originalausgabe: Самопризнание Aus dem Bulgarischen von Egon Hartmann
ERSTER TEIL
1 Nichts auf dieser Welt trügt mehr als die Ruhe, denn wie oft birgt tiefste, vollkommenste Ruhe wahre Stürme. Auch jener Frühlingsnachmittag in diesem ewig stillen Viertel der Hauptstadt war ruhig. Der Himmel war blau und weich, der schwache Wind trug Wolken von Pappelblüten durch die Straßen, bedeckte das Pflaster mit dünnem, flaumigem Weiß. In den Höfen hinter den Häusern spielten Kinder. Alte Frauen saßen an den Fenstern und blickten versonnen auf die weißen Pappelblüten. Gesprenkelte Schwarzdrosseln mit rostbraunem Rücken sangen in den alten Bäumen der Grünanlage. Auf den verwitterten Fenstersimsen saßen Tauben und blickten erwartungsvoll auf die verstaubten Scheiben. Ab und zu öffnete ein alter Mann oder ein kleiner Junge das Fenster und streute Krümel auf den Sims. Ein Junge schlenderte gemächlich die Straße entlang, blieb überall stehen und schaute sich alles an, was ihm unterwegs begegnete. Er konnte sich Zeit lassen. Es war gegen fünf, um diese Zeit brachte das Fernsehen meistens irgendwelche langweiligen Programme für Kinder. Der Junge war ungefähr zehn Jahre alt, ordentlich gekleidet, hatte sanfte braune Augen und eine zarte Nase, die ihm ein etwas mädchenhaftes Aussehen verliehen. Doch so ordentlich und manierlich er auch war, so „tief gesunken“, daß er sich das Kinderprogramm angesehen 6
hätte, war er nicht. Seine Leidenschaft waren Filme für Erwachsene, Filme mit Schießereien, im Notfall auch solche mit Küssen, aber keine über wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaften und Pionierballetts. Filme für Erwachsene kamen frühestens gegen neun Uhr, vorausgesetzt natürlich, sein Vater erlaubte ihm, sie sich anzusehen. Für gewöhnlich tat er’s nicht; wer weiß, warum Väter etwas dagegen hatten, daß sich ihre Kinder Filme für Erwachsene ansahen. Besonders die mit Küssen. Dann warfen sich die Eltern hinter dem Rücken des Jungen einen Blick zu, gaben sich mit den Augen ein kaum wahrnehmbares Zeichen, die Mutter nahm den Jungen an der Hand und führte ihn in das verhaßte Zimmer, wo die Teddys und die Eisenbahn waren und sogar ein prachtvoller Panzer aus Blech mit gesprungener Feder stand, wo man aber – o Graus! – schlafen mußte, schlafen, schlafen! So waren wohl die Eltern auf der ganzen Welt und konnten nicht einsehen, daß sie früher zwar um diese Zeit gegähnt hatten, es aber jetzt etwas zu sehen gab. Der Junge hieß Filip. Ein Flaumbällchen von den Pappelblüten setzte sich auf seine Nase. Filip lächelte und blies es weg. Er näherte sich bereits seinem Zuhause, und seine Stimmung sank. Wenn seine Eltern schon da waren, würden sie ihm lästige Fragen stellen – ob er die Hausaufgaben gemacht, ob er sich die Hände gewaschen, was er gegessen habe. Er ging schräg über die Straße zu ihrem Wohnblock, den man schwer von anderen Wohnblocks unterscheiden konnte, obwohl er ganz neu war und noch nach frischer Farbe roch. Die Fassade war cremefarben, die Haustür braun, wie üblich. Der Junge öffnete sie und ging hinein. Im Flur hing eine Reihe Briefkästen, er langte in den, an dem ein kleines Messingtäfelchen befestigt war: Familie Radew. Der Kasten war leer. Filip stieg in den zweiten Stock und blieb auf dem 7
Treppenabsatz mit den Türen der drei Wohnungen stehen. Ihre war die in der Mitte. Er zog den Schlüssel hervor, den er an einer Schnur um den Hals trug, und schloß gelangweilt auf. Danach fiel die Tür hinter ihm zu. Zwei oder drei Minuten vergingen. Draußen war es immer noch genauso friedlich: Tauben gurrten, alte Frauen schauten in den weichen Himmel und dachten an ihre Jugend. Doch plötzlich wurde die Tür aufgerissen, so daß sie beinahe krachend gegen die Wand geflogen wäre, und Filip stürzte heraus, mit bleichem Gesicht und irrem Blick. Er sah sich einen Moment lang wie benommen um und wußte offensichtlich nicht, was er machen sollte. Dann wandte er sich nach rechts und begann wie verrückt an der Nachbartür zu klingeln. Nach einer Weile wurde die Tür geöffnet, und es erschien eine unscheinbare Frau mittleren Alters, ein bißchen mollig, ein bißchen verblüht, aber mit einem guten Gesicht. Sie trug eine blaue Nylonschürze, ihre Hände waren rot und naß. Vielleicht hatte sie Geschirr gespült oder Wäsche gewaschen, als sie von dem stürmischen Klingeln an ihrer Wohnungstür aufgeschreckt worden war. Sie schaute noch immer erschrocken drein. Als Filip das bekannte, vertraute Gesicht sah, heulte er plötzlich los. „Mutti … dort … meine Mutter …“ Und er deutete auf die Tür, die er in der Eile weit offengelassen hatte. „Was ist mit deiner Mutter?“ fragte die Frau erschrocken. „Sie ist tot! – Ermordet!“ Die Frau wollte ihren Ohren nicht trauen. „Was redest du da? Wieso denn ermordet?“ Aber der Junge gab keine Antwort mehr, er schluchzte entsetzt. Die Frau nahm ihn beim Ellenbogen und führte ihn verwirrt in die Küche. „Setz dich!“ sagte sie. „Beruhige dich! – Wieso denn ermordet? Wie kommst du denn darauf?“ schloß sie mit einem blassen Rest von Hoffnung. 8
Filip setzte sich auf den Stuhl am Küchentisch, weinte aber haltlos weiter. „Wer weiß, was du dir da einbildest … So beruhige dich doch! – Möchtest du ein bißchen saure Milch?“ fügte sie sinnlos hinzu. „Nein, nein … Ich hab’ sie gesehen … Sie ist dort … auf ihrem Bett im Schlafzimmer!“ stieß der Junge unter Schluchzen hervor. „Es ist auch Blut da!“ „Blut kann auch aus der Nase kommen.“ Die Frau versuchte immer noch, sich etwas vorzumachen. „Während sie geschlafen hat …“ „Nein, sie ist ermordet worden!“ Es blieb nichts weiter übrig, sie mußte hingehen und nachschauen. Und sie hatte schreckliche Angst vor diesem Augenblick und diesem Gang. Wenn die Nachbarin nun wirklich ermordet worden war? Sie konnte kein Blut sehen. Aber was half’s. Sie seufzte schwer, murmelte kaum hörbar: „Du wartest hier!“ und schlurfte hinaus. Die Tür stand noch immer sperrangelweit offen, mit angehaltenem Atem betrat sie den Vorraum. Sie war oft in dieser Wohnung gewesen, um sich ein paar Pfefferkörner zu borgen – oder auch zu Besuch, und kannte die Lage der Zimmer genau. Im Schlafzimmer hatte der Junge gesagt, das war das letzte Zimmer mit den Fenstern zum Innenhof. Sämtliche Türen, an denen sie vorbeikam, standen weit offen. Doch zugleich herrschte überall völlige Ordnung. Staubiges Nachmittagslicht fiel durch das breite französische Fenster und funkelte in den beiden Porzellanvasen auf dem Büfett. Eine alte Wanduhr tickte kaum hörbar in der Stille. Hier war alles alt, aber still, solide, behaglich. Beide Radews stammten aus alten Familien und hatten alle schönen Dinge, die sie besaßen, in die neue Wohnung mitgenommen. So einen herrlichen Perserteppich in zarten taubenblauen Tönen gab es sicherlich im ganzen Wohnblock nicht noch einmal. Ja wohl kaum in der ganzen Straße. Aber 9
das nahm die Frau jetzt nicht wahr, wie betäubt setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis sie schließlich vor der Schlafzimmertür stand. Antonia lag wirklich, in eine leichte Baumwolldecke gehüllt, in ihrem Bett. Zuallererst sah die Frau den schrecklichen Blutfleck am Brustansatz, der sie mehr als alles andere entsetzte, und fing an zu zittern. Dann erst fiel ihr Blick auf das tote, blutleere Gesicht. Die Lider waren geschlossen, die Lippen leicht offen, wie im Todesschrei erstarrt. Der Ausdruck dieses Gesichts sprach von einem unbeschreiblichen und unbegreiflichen Drama, das vorbei war, aber seinen Stempel zurückgelassen hatte, furchtbar und geheimnisvoll wie die Züge antiker Masken. Die Frau spürte, wie ihr übel wurde. Sie lehnte sich einen Augenblick an den Türrahmen, dann wich sie verstört zurück. Und dennoch wollte sie im tiefsten Innern noch immer nicht recht glauben, daß dies Gräßliche tatsächlich geschehen war. Sie hatte von Morden gehört, da und dort etwas gelesen. Doch stets hatte sie gemeint, so etwas könne nur in einer anderen Welt passieren, nicht in ihrer. Und am allerwenigsten in diesem neuen, stillen und ruhigen Haus, wo Buchhalter wohnten, Apotheker und kaufmännische Angestellte, die selbst zu den Hunden der anderen Mietparteien zuvorkommend und höflich waren. Als sie auf den Treppenabsatz hinaustrat, wurde ihr von der frischen Luft besser. Sie ging in ihre Wohnung zurück und griff sofort zum Telefonhörer. Sie mußte die Miliz von dem Mord verständigen. Nachdem sie die Nummer gewählt hatte, meldete sich fast augenblicklich eine volle Männerstimme, die ihr unangebracht gleichmütig und ruhig erschien. „Bitte?“ Schwer atmend und aufgeregt, brachte sie immerhin die Mitteilung zustande, daß in der Nachbarwohnung 10
ein scheußlicher Mord verübt worden sei und wie sie davon Kenntnis erhalten habe. „Beruhigen Sie sich!“ sagte die Männerstimme. „Wie heißen Sie, von wo rufen Sie an?“ „Ich heiße Christina Drumewa“, entgegnete die Frau. „Von zu Hause rufe ich an, von wo sonst … FürstDobroslaw-Straße, Nummer elf.“ „Welcher Stock?“ „Zweiter.“ „Einen Augenblick, ich notiere“, sagte die Stimme. Plötzlich wurde die Frau wütend. Was gebe es da viel zu notieren? Straße, Hausnummer, alles sei klar! Er solle nichts notieren, sondern so schnell wie möglich herkommen, dafür sei die Miliz schließlich da. Dieser plötzliche Zorn beruhigte sie aus irgendeinem Grunde, und ihr erschien jetzt alles alltäglich und gewöhnlich. Offensichtlich zählten auch Morde zu den unvermeidlichen Dingen dieser Welt, die immer wieder geschahen. Sie hörte kaum noch zu. Die Miliz werde gleich dasein, aber man bitte sie, darauf zu achten, daß niemand mehr die Wohnung betrete und niemand etwas berühre. „Gut“, sagte sie und legte den Hörer erleichtert auf. Schließlich und endlich sind bei uns zu Hause alle am Leben, dachte sie, Atanas, Rumen, er muß gleich aus der Schule kommen. In diesem Augenblick egoistischer Zufriedenheit hatte sie sogar Filip vergessen. Als sie aber in die Küche kam, zuckte sie zusammen. Filip weinte immer noch, aber nur noch leise, fast lautlos, er wimmerte wie ein kleines, todkrankes Tier …
2 Man schickte eine Einsatzgruppe unter der Leitung von Oberleutnant Newjan Raltschew, dem engsten Mitarbei11
ter von Inspektor Dimow. Solch ein schweres Verbrechen kam in der Hauptstadt selten vor, und Dimow hätte eigentlich selbst hingehen müssen. Aber der Inspektor war nach Warna gefahren und wurde erst am Abend zurückerwartet. Dennoch zögerte man nicht, Raltschew hinzuschicken, obwohl er bis zu diesem Tag noch keinen größeren Fall selbständig bearbeitet, hatte. Dimow gehörte zu denen, die immer auf Nummer Sicher gingen. Aber Raltschew galt als begabter Kriminalist, und der Inspektor hielt große Stücke auf ihn. Vielleicht war es an der Zeit, ihn einmal beweisen zu lassen, was er allein konnte. Raltschew selbst drängte sich nicht nach einem eigenen Aufgabenbereich. Er fühlte sich unter den Fittichen seines Lehrmeisters wohl und meinte noch viel lernen zu müssen. Außenstehende wunderten sich oft, wie sehr Dimows Untergebene an dem Inspektor hingen. Dieser ein wenig verschlossene, wortkarge und mürrisch aussehende Mann wirkte auf seine Leute wie ein Magnet. Für nichts auf der Welt wollten sie von ihm weg. Newjan Raltschew trug seinen poetischen, vom Ringelröschen hergeleiteten Vornamen nicht ganz zu Recht. Sein Äußeres ähnelte in keiner Weise einer auch wie immer gearteten Blume. Wenn er einer Pflanze glich, dann am ehesten der Distel. Alles an ihm wirkte spitz und stachlig – der Haarstiez an seinem Hinterkopf, die scharfen Backenknochen, die eckigen Schultern. Nur seine Augen blickten ruhig und klar, und das Lächeln war weitaus gutmütiger, als man es von jemandem erwarten konnte, der so oft mit menschlicher Gemeinheit konfrontiert wurde. Als er in den Dienstwagen stieg, zögerte er einen Augenblick und setzte sich dann neben den Fahrer, auf Inspektor Dimows Platz, steckte sich eine Zigarette an und schaute zerstreut aus dem Fenster. Raltschew versuchte sich zu entspannen und ließ seine Gedanken bewußt ab12
schweifen, um sich hinterher besser konzentrieren zu können. Aber es gelang ihm nicht recht, er war unruhig und unsicher, seine Gedanken kehrten in einem fort zu dem Telefonanruf zurück. Wenn der Chef auf seinem Platz hier saß, fühlte er sich wohler. Dann war er immer überzeugt, daß sie es schaffen würden. Zu allem Überfluß rauchte Doktor Dawidow hinter ihm seine Nachmittagszigarre zu Ende, deren unangenehmer beißender Rauch ihn mehr störte als dessen kalter Blick. Als der Wagen in das stille Viertel einbog, lag der flaumige Pappelschnee noch immer auf den Straßen, und die alten Frauen saßen unverändert an den Fenstern. Nirgends war die kleinste Unruhe zu spüren – offensichtlich hatte sich die schlimme Nachricht noch nicht im Viertel herumgesprochen. Auch vor dem Haus Nummer elf standen keine Neugierigen. Er stieg in den zweiten Stock, wo ihn die Frau, die angerufen hatte, erwartete. Neben der Tür stand der diensthabende Milizionär und rauchte. Als er Raltschew erblickte, warf er die Zigarette weg und schlug die Hacken zusammen. Die Frau eilte mit verlegener Miene auf Raltschew zu. „Der Bürger Radew ist drinnen!“ sagte sie und sah ihn schuldbewußt an. „Was für ein Radew?“ „Na, wer … Antonias Mann … von der Ermordeten, will ich sagen …“ Raltschew zog unwillkürlich ein finsteres Gesicht. „Wir hatten doch angeordnet, daß niemand die Wohnung betreten darf.“ „Wie sollte ich ihn denn aufhalten?“ sagte die Frau beleidigt. „Schließlich ist es seine Wohnung.“ Raltschew warf dem Posten einen fragenden Blick zu. „Als ich herkam, war er schon drinnen, Genosse Oberleutnant“, entgegnete der junge Mann schuldbewußt. „Ich habe ihm gesagt, er soll nichts anfassen.“ Der Treppenabsatz füllte sich mit Leuten. Doktor 13
Dawidow, in einem Pepitajackett, schmal und elastisch wie ein Ballettmeister, blickte mißmutig auf die offenstehende Tür. Spassow, Spezialist für Daktyloskopie, untersuchte bereits die Türklinke. Nur der Fotograf kaute gleichmütig einen Apfel; sein Blick verriet, daß er in Gedanken bei dem Fußballspiel war, das in diesem Augenblick am anderen Ende der Stadt ausgetragen wurde. „Gehen wir also hinein!“ sagte Raltschew zögernd. Sowie er jedoch den kühlen Vorraum betrat, verließ ihn das Gefühl der Unsicherheit augenblicklich. Er hatte nie Angst vor seiner Arbeit gehabt und sich auch noch nie blamiert. Der Mann der Ermordeten saß wartend auf einem schmalen, altertümlichen Stuhl mit gerader Lehne. Er schien sie nicht zu bemerken und machte keine Bewegung. Raltschew musterte ihn sofort von oben bis unten. Wie sein Chef gab er viel auf den ersten Eindruck und versuchte, ihn sich für immer fest einzuprägen. Der Mann war ungefähr sechzig, ein bißchen weichlich und schlaff, hatte schütteres Haar. Sein Aussehen drückte in diesem Augenblick großen, untröstlichen Schmerz an der Grenze zur völligen Verzweiflung aus. Schließlich sah er sie mit feuchten Augen an, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus, und hilflos schloß er ihn wieder. Seine ganze Haltung schien zu sagen: Laßt mich um Gottes willen in Ruhe, behelligt mich nicht. Raltschew zögerte. „Haben Sie Ihre Frau gesehen?“ „Ja“, entgegnete er dumpf. „Ist Ihnen etwas aufgefallen?“ Radew gab keine Antwort, sein Kopf sank immer tiefer. Es war sinnlos, ihn weiter zu befragen. Sie traten ins Schlafzimmer, wo die Ermordete lag. Trotz der auf ihrem Gesicht erstarrten Grimasse des Entsetzens konnte man feststellen, daß sie eine schöne Frau gewesen war, vermutlich nicht älter als fünfundvierzig und sehr ge14
pflegt. Besondere Sorgfalt für ihr Äußeres verriet ihre komplizierte Frisur, die durch die Gewalttat fast unversehrt geblieben war. Als Dawidow sie aufdeckte, konnte sich Raltschew auch ein Bild von ihrer Kleidung machen. Sie trug ein elegantes Frühjahrskostüm, das vermutlich von einer teuren Schneiderin genäht war. All das paßte nicht zu dem Mann, der leidgebrochen im Wohnzimmer saß. Er war zu alt, zu unscheinbar für diese schöne, gepflegte Frau; der Gegensatz war zu kraß. Mußte man nicht hier den Schlüssel zu des Rätsels Lösung suchen? Doch er verjagte diesen Gedanken schnell. Man durfte nie zu rasch mit Hypothesen bei der Hand sein, Übereilung schadete da stets. Doktor Dawidow fuhr unerschütterlich in seiner Untersuchung fort. Er arbeitete schnell, exakt, akkurat wie immer; sein Gesicht war ausdruckslos. Die ganze Zeit über wandte er sich kein einziges Mal Raltschew zu. Schließlich riß dem jungen Oberleutnant die Geduld. „Wann ist sie ermordet worden?“ fragte er. Jetzt erst warf ihm Doktor Dawidow einen flüchtigen, mißbilligenden Blick zu. „Es kann noch nicht lange her sein“, entgegnete er. „Vielleicht vor einer Stunde … Der Körper ist noch nicht ganz kalt.“ Und er setzte seine Arbeit fort. Als er schließlich den Kopf hob, zeigte sein Gesichtsausdruck Überraschung. „Sie ist nicht im Bett ermordet worden“, sagte er kurz. „Wie kommen Sie zu dieser Annahme?“ Raltschew fuhr hoch. „Der erste Stich erfolgte in den Rücken“, entgegnete der Arzt. „Das Opfer ist vornüber gefallen … Dann hat der Verbrecher noch zweimal zugestoßen, in die Herzgegend. Er hat ein Messer mit ziemlich breiter Schneide benutzt. Wie sie Küchenmesser für gewöhnlich haben.“ „Sind Sie sicher?“ fragte Raltschew und merkte sofort, daß Dimow nie so eine Frage gestellt hätte. 15
„Natürlich!“ erwiderte der Arzt ein wenig schroff. „Aber das ist nicht alles. Aus der Wunde ist sehr wenig Blut ausgetreten … Will sagen, im Bett ist sehr wenig. Allem Anschein nach hat sie den Blutverlust nicht hier erlitten.“ Er heftete seine kalten Augen auf Raltschew und fügte vielsagend hinzu: „Und zwar nicht sehr weit von hier.“ „Ich sehe nirgends Blut“, sagte Raltschew. „Folglich müssen wir es suchen.“ „Ist das alles?“ „Fürs erste ja … Das übrige, nachdem ich die Autopsie vorgenommen habe.“ Jetzt war Raltschew an der Reihe zu zeigen, was er konnte. Und das erwies sich als nicht so schwierig, wie man hätte annehmen können. Gleich zu Anfang entdeckte er ein paar große Blutstropfen auf dem Teppich im Wohnzimmer. Sie hoben sich deutlich ab und waren offensichtlich ganz frisch. Außerdem führten sie in gerader Linie in Richtung Tür zum Vorraum. Und dort fanden sie das, was sie suchten: fast unsichtbare, stark verwischte und verschmierte Blutspuren. Unter der Lupe waren auch Spuren vom Aufwischen deutlich erkennbar; vermutlich hatte jemand das Blut mit einem nassen Lappen aufgenommen. „Klarer Fall, hier ist sie ermordet worden!“ sagte Raltschew nachdenklich. „Und danach wurde sie ins Schlafzimmer geschafft. Aber warum?“ Sie waren maßlos erstaunt, als sie gleich darauf auch den Lappen fanden, mit dem das Blut aufgewischt worden war. Natürlich war er ausgespült, aber nicht so sorgfältig, daß gar keine Spuren zurückgeblieben wären. Danach war er achtlos zu anderen Lappen und Haushaltsgegenständen unter den Ausguß geworfen worden. „Jetzt fehlt nur noch, daß wir auch das Messer finden!“ murmelte Raltschew eher besorgt als ermutigt. „Und den Mörder im Schrank versteckt!“ warf der Fotograf ein. 16
Aber sie fanden kein Messer und auch sonst nichts Verdächtiges. Keine Fußspuren, keine Unordnung, keine Gegenstände, die etwas über die begangene Gewalttat ausgesagt hätten. Bald darauf hatten auch die anderen Spezialisten ihre Arbeit beendet. Raltschew ging ins Wohnzimmer zurück. Der Ehemann der Ermordeten saß immer noch regungslos, vom Leid gebrochen, auf dem alten Stuhl. „Sie müssen mich bitte entschuldigen“, sagte Raltschew, „aber ich muß Ihnen ein paar Fragen stellen.“ Der Mann gab keine Antwort, hob nur den Kopf und sah ihn an. Dieser tiefgequälte Blick erschütterte den Oberleutnant aufs neue. „Haben Sie eine Vermutung, wer Ihre Frau ermordet haben könnte?“ Der Mann schluckte schwer. „Ich weiß nicht!“ antwortete er mit Überwindung. „Wer kann sie umgebracht haben …? Und warum? Es hat überhaupt keinen Sinn …“ „Ist aus Ihrer Wohnung etwas entwendet worden?“ „Ich habe nichts bemerkt … Was kann man hier schon stehlen? In unserer Wohnung ist nichts, was wert wäre, gestohlen zu werden.“ „Haben Sie nicht irgendwelche Wertgegenstände in der Wohnung?“ „Nein … Wir sind nicht reich …“ „Vielleicht gespartes Geld?“ „Wir lassen das Geld nicht zu Hause liegen … Und wir haben auch keins … Was wir hatten, ist für die Wohnung draufgegangen.“ „Wann haben Sie Ihre Frau zum letztenmal gesehen?“ „Heute morgen … Bevor sie zur Arbeit ging.“ „Und wo arbeitet sie?“ „Im Fremdsprachengymnasium.“ „Lehrerin vermutlich?“ „Lehrerin? – Nein; sie ist im Büro angestellt.“ 17
Radew antwortete nach wie vor stockend und mühsam. Raltschew überlegte einen Moment. „Hatte sie dasselbe Kostüm an?“ „Ja …“ Raltschew fand es merkwürdig, daß die Ermordete in ihrem besten Kostüm zum Dienst gegangen war. Er fragte noch einmal: „Wissen Sie das genau?“ „Ja, ganz genau“, antwortete der Mann diesmal fester. „Wann kommt sie normalerweise von der Arbeit nach Hause?“ „Gegen fünf … kurz nach fünf“, präzisierte er. „Heute war sie früher zu Hause. Ist das auch sonst hin und wieder vorgekommen?“ „I-ch weiß nicht …“, stotterte der Mann. „Ich glaube nicht … Ich komme für gewöhnlich später als sie.“ „Wer hat sonst noch einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung?“ Im ersten Augenblick schien Radew die Frage nicht begriffen zu haben, deshalb mußte sie Raltschew wiederholen. „Niemand natürlich“, erwiderte er. „Wer könnte schon einen haben … Wir wohnen allein hier, haben keine Untermieter …“ „Soviel ich weiß, haben Sie eine erwachsene Tochter …“ Radew hatte den Sinn der Frage anscheinend verstanden. „Die hat keinen Schlüssel, was sollte sie damit? – Wenn sie kommt, klingelt sie.“ Raltschew fand es sinnlos, ihn weiter zu befragen. Er wußte auch noch nicht, worauf er mit seinen Fragen hinauswollte; er hatte nichts als allgemeine, vage Vermutungen. „Ich rate Ihnen, lassen Sie den Jungen heute nacht nicht hier schlafen. Kinder sind sehr sensibel.“ „Ich weiß!“ sagte der Mann beinahe stöhnend. „Ich weiß; er wird nicht hier schlafen.“ Damit war das Gespräch beendet. Raltschew atmete 18
erleichtert auf und kehrte ins Schlafzimmer zurück. Auch der Arzt war mit seiner Untersuchung fertig, er stand mitten im Zimmer und betrachtete schweigend das Gesicht der Toten. Raltschew hätte schwören mögen, daß ihm etwas durch den Kopf ging. „Nun, was ist?“ fragte er behutsam. „Nichts“, entgegnete der Arzt unfreundlich. „Sowie ich die Autopsie vorgenommen habe, bekommen Sie alles schriftlich.“ Wenig später fuhren die anderen mit dem Dienstwagen weg. Raltschew klingelte bei der Nachbarin. Er war überzeugt, daß er nichts Neues erfahren würde, wollte aber doch ein völlig reines Gewissen haben. Dieses Mal öffnete ihm ein kleiner, erschrockener Mann, der vor Kälte zu zittern schien. Gleichzeitig nahm Raltschew den beruhigenden und behaglichen Geruch nach Gebratenem wahr. Tod hin, Tod her, das Leben geht weiter. Er wurde ins Wohnzimmer geführt, auch die Frau kam dazu, die den Küchengeruch noch verstärkte. „Entschuldigen Sie“, sagte Raltschew, „vielleicht erinnern Sie sich an etwas von heute nachmittag … Ist Ihnen etwas aufgefallen?“ „Was?“ antwortete die Frau mit einer Gegenfrage. An ihrer Miene konnte man ablesen, daß sie sich schrecklich gern an etwas erinnert hätte. „Ich weiß nicht … vielleicht irgendwelche verdächtigen Geräusche in der Nachbarwohnung … In diesen neuen Häusern hört man doch für gewöhnlich alles.“ „Ja“, stimmte die Frau bereitwillig zu. „Hört man zum Beispiel, wenn nebenan das Radio laut angestellt ist?“ „Ja, das hört man.“ „Vielleicht haben Sie Stimmen gehört … einen Schrei …“ „Ich war ja in der Küche“, erwiderte die Frau. „Fast die ganze Zeit über.“ 19
„Wie kamen Ihre Nachbarn miteinander aus? Verstanden sie sich?“ „Bestimmt. Sie sind schrecklich nette und höfliche Leute. Und vor allem sehr leise. Selbst der Junge macht keinen Lärm. Und Madame Antonia war eine sehr feine Frau. Obwohl sie ungefähr in meinem Alter war, grüßte sie immer zuerst.“ Offensichtlich fühlte sich die gute Frau dadurch sehr geschmeichelt. Sie würde nichts sagen, selbst wenn sie etwas gehört hatte. Über Tote redeten die Menschen selten schlecht. „Wo ist der Junge? Ist er noch bei Ihnen?“ erkundigte sich Raltschew. „Er ist bei meinem Jungen im Zimmer, Rumen zeigt ihm irgendein Album. Er ist eben ein Kind, hat sich schon ein bißchen beruhigt. Wenigstens weint er nicht mehr. Wollen Sie ihn sehen?“ „Nein, nein!“ antwortete Raltschew fast erschrocken. „Wissen Sie, wo der Junge am Nachmittag gewesen ist?“ „Im Kino halt. Das hat er mir gesagt. Hat sich ‚Fanfan, der Husar‘ angeschaut. Zum fünftenmal. Ich wußte gar nicht, daß er noch läuft.“ Raltschew wußte das auch nicht, obwohl er ihn kein einziges Mal gesehen hatte. Er mußte nachprüfen, in welchem Kino er lief. Jetzt blieb ihm nichts weiter übrig, als sich von der guten Frau zu verabschieden, im Vorraum die weiche, schweißfeuchte Hand des Mannes zu drücken und, von den friedlichen Gerüchen des Hauses verfolgt, auf die Straße zu treten. Draußen dunkelte es. Die Luft war mild, nicht der leiseste Windhauch war zu spüren. Vermutlich würde das Wetter noch lange so bleiben. Oder gerade nicht, dachte er plötzlich. Man kann nie ganz sicher sein, wie das Wetter morgen sein wird. Als er in eine der verkehrsreichen Straßen einbog, hielt er ein freies Taxi an. Solch eine Verschwendung 20
leistete er sich selten, er sparte sorgfältig an den Beförderungskosten. Die Zeit hätte bequem gereicht, um mit dem Bus zum Flugplatz zu fahren, aber er war unruhig. In diesem schwierigen Moment fehlte ihm sein Chef sehr. Und er meinte, je früher er dort sei, um so eher werde er ihn sehen.
3 Als er auf dem Flughafen anlangte, war es Viertel neun. Bis zur Ankunft des Flugzeugs blieb noch eine halbe Stunde. Er trank einen Kaffee, dann bestellte er sich plötzlich noch einen kleinen Kognak. Die paar Schluck Alkohol möbelten ihn erstaunlich auf, seine Gedanken wurden auf einmal mobil und liefen in die merkwürdigsten Richtungen. Am liebsten hätte er sich noch einen bestellt, aber er lächelte über sich selbst und stand schnell auf. Draußen war es vollends dunkel geworden, am violetten Himmel blinkten die Signallichter der anund abfliegenden Flugzeuge. Über die glatte, menschenleere Startbahn flitzten kleine Elektrokarren, ein Tankwagen kroch lautlos auf den großen Rumpf des Flugzeugs der KLM zu. Eine hochgewachsene Stewardeß mit strohblondem Haar kam die Gangway herab; die Art, wie sie das kleine kokette Käppchen aufgesetzt hatte, fand er einfach hinreißend. Er merkte gar nicht, daß er sie anstarrte, und fing sich erst, als sie an ihm vorbeiging, ohne ihn auch nur eines Blickes aus den Augenwinkeln zu würdigen. Na ja, dachte er, sie ist sowieso zu groß, ihre Porzellanaugen sind ausdruckslos. Für sie war das alles einfach ein langweiliger Flugplatz, wo selbst der Kaffee kein richtiger Kaffee ist. Die Stewardeß entfernte sich, der junge Oberleutnant blieb wieder allein mit seinen Gedanken. 21
Er nahm die unverständliche Stimme aus dem Lautsprecher gar nicht wahr, die verkündete, daß das Flugzeug aus Warna in fünf Minuten eintreffen werde. Die große, weiße Maschine landete völlig geräuschlos, erst danach drang das abflauende Heulen der Turbinen und das scharfe Pfeifen der Luft an sein Ohr. Die Fluggäste stiegen aus, und er erblickte die untersetzte Gestalt seines Chefs in der Menge. Sie wirkte unwahrscheinlich stabil und irdisch inmitten der anderen kleinen menschlichen Figuren, die so komisch über den Beton trippelten. Ein kleines Mädchen rannte los, eine grobknochige Frau winkte mit ihrem Blumenstrauß. Sie waren keine ganze Stunde geflogen, hatten aber das Gefühl, eine Weltreise hinter sich zu haben. „Grüß dich, Chef!“ sagte Raltschew, als Dimow bei ihm angelangt war. Jetzt erst bemerkte ihn der Inspektor, und in seinen Blick trat Erstaunen. Es entsprach nicht seinem Stil, sich wegbringen und abholen zu lassen. „Grüß dich“, antwortete er und gab ihm die Hand. Auch das gehörte eigentlich nicht zu seiner Art. Wie sein Vater und alle vor ihm fand er sich selten zu Liebenswürdigkeiten bereit, schon gar nicht zu offiziellen. Für ihn wie für seine Vorfahren war Zurückhaltung das vornehmlichste Zeichen von Würde. „Ist was passiert?“ „Ja.“ Raltschew nickte. „Hat man dich rausgeschmissen?“ fügte Dimow scherzend hinzu. „Wenn’s nur so wäre.“ „Wieso? Hast du den Dienst über?“ Dimow sah ihn an. „Ich bin eine dynamische Natur“, ging Raltschew auf seinen Scherz ein, „dieser graue Alltag hatte schon angefangen, mich anzuöden.“ „Und was ist nun heute passiert?“ 22
„Das ist es ja … ein merkwürdiger Mord … Ich möchte sogar sagen, ein befremdlicher Mord.“ Dimow hatte seinen Moskwitsch auf dem bewachten Parkplatz abgestellt. Sie brauchten also den Wagen nur anzulassen und loszufahren. Auf dem Weg in die Stadt erzählte ihm Raltschew ausführlich, was geschehen war. Dimow schwieg, doch Raltschew merkte, daß es ihm gelungen war, das Interesse seines Chefs zu erregen. „Und worin siehst du das Befremdliche?“ fragte er. Raltschew spürte genau die verhohlene Neugier in seiner Stimme. „Worin? Auch eine Frage. Das Opfer ist im Vorraum ermordet worden. Weshalb aber wurde die Leiche danach ins Schlafzimmer geschafft? Weshalb wurde sie ins Bett gelegt und mit der Decke zugedeckt? Darin kann ich absolut keinen Sinn sehen. Vor allem hat der Mörder riskiert, sich mit Blut zu beschmieren und zusätzliche Indizien gegen sich zu schaffen. Am seltsamsten ist, daß er danach das Blut im Vorraum sorgfältig aufgewischt hat.“ „Wie sorgfältig?“ fragte Dimow sofort. „Nun, allzu sorgfältig wieder auch nicht. Wir haben natürlich recht deutliche Blutspuren gefunden. Auch auf dem Weg vom Vorraum ins Schlafzimmer haben wir Blutstropfen entdeckt. Auf die hat der Mörder überhaupt nicht geachtet. Sogar den Lappen haben wir gefunden, mit dem das Blut aufgewischt worden ist. Er war achtlos unter den Ausguß geworfen.“ „Und das Messer?“ „Das haben wir nicht gefunden … Als hätte es sich der Mörder zum Andenken mitgenommen.“ „Ja, klarer Fall“, brummte der Inspektor. Raltschew sah ihn beinahe beleidigt an. „Mir ist gar nichts klar“, antwortete er. „Ich frage mich, wieso er das alles getan hat. Es kommt natürlich oft vor, daß die Leiche woandershin gebracht wird, daß die Spu23
ren verwischt werden … Doch das geschieht nur dann, wenn der Mörder den wirklichen Tatort vertuschen will. Wenn er uns vorspiegeln will, daß die Tat woanders begangen worden ist. In diesem Fall trifft das nicht zu.“ „Ja, du hast recht.“ Dimow nickte. „Womit habe ich recht?“ Raltschew warf ihm einen schnellen Blick zu. „Auf den ersten Blick ist tatsächlich alles sinnlos und unlogisch. Ob das Opfer im Vorraum oder im Schlafzimmer erstochen wurde, ist anscheinend ohne Bedeutung. Der Umstand, daß die Frau in der Wohnung ermordet wurde, läßt sich nicht vertuschen.“ „Und weshalb sagst du ‚auf den ersten Blick‘?“ „Weil die Handlung offensichtlich weder sinnlos noch unlogisch gewesen sein kann … Der Mörder muß sich etwas dabei gedacht haben. Daß wir jetzt nicht dahintersteigen, ist eine andere Frage.“ „Wirklich eine reichlich blöde Geschichte!“ sagte Raltschew ärgerlich. „Es sei denn, der Mörder ist ein Psychopath.“ Wie Raltschew nicht anders erwartet hatte, hielt Dimow vor der Dienststelle. Sie stiegen in den ersten Stock und traten in das geräumige, kühle Büro des Inspektors. Auf dem Schreibtisch lagen schon die Fotos vom Tatort, die Ermittlungen über die familiären und dienstlichen Verhältnisse Radews. Dimow studierte aufmerksam Fotos und Dossiers. Dann kam auch der Spezialist für die Daktyloskopie. Sein gelbes, gleichmütiges Gesicht mit den weißen Ekzemflecken deutete nicht darauf hin, daß er ihnen irgendwelche Sensationen brachte. Er hatte wirklich keine. „Wir haben keine nicht zu identifizierenden Fingerabdrücke gefunden“, sagte er. „Nur die der Ermordeten und die ihres Mannes. Und von dem Jungen, versteht sich.“ „Ja, ich danke Ihnen“, sagte Dimow und nickte. 24
Der Mann ging wieder. Dimow schwieg eine Weile, dann erkundigte er sich: „Wie kam dir der Ehemann der Ermordeten vor?“ „Völlig erledigt … einfach außer sich.“ „Ein bißchen genauer: Außer sich vor Schmerz? Außer sich vor Entsetzen?“ „Mir scheint, beides.“ „Und hast du auch den Jungen gesehen?“ „Nein, ich hab’ mich davor gefürchtet.“ „Das wäre mir nicht anders gegangen. Wo war er zu der Zeit, als der Mord geschah?“ „Ach, unbesorgt, er hat ein Alibi!“ entgegnete Raltschew scherzend. „Er war zu der Zeit im Kino.“ „Ich meine es ernst“, sagte Dimow. „Wenn mein Verstand noch funktioniert, hängt das Rätsel tatsächlich irgendwie mit dem Jungen zusammen.“ Raltschew sah ihn neugierig an. „Hast du eine Hypothese?“ „Ja, habe ich!“ entgegnete Dimow. „Diese wirre Geschichte kann überhaupt nur eine vernünftige Erklärung haben. Die allerunvernünftigste …“ „Willst du mich wieder auf die Folter spannen, Chef?“ „Nein, diesmal nicht.“ Dimow lächelte. Er zündete sich eine Zigarette an und verschwand für einen Augenblick hinter dem durchscheinenden Rauchvorhang. „Die Ermordete hat zwei Schwestern. Zwei alte Jungfern, wie ich dem Bericht entnommen habe“, sagte er. „Lade sie für morgen zu einer Vernehmung vor. Sagen wir um neun Uhr. Für halb zehn bestellst du die Tochter der Radews her. Hieß sie nicht Rosa?“ „Ja.“ „Obwohl wir von ihr am wenigsten erfahren werden. Als letzten werde ich Stefan Radew vernehmen.“ „Gut, Chef.“ „Wie steht’s mit deinem Bad? Funktioniert es?“ 25
„Wieso? Funktioniert deins nicht?“ „Du darfst von unseren Bauarbeitern nicht zuviel verlangen. Aber zuerst müssen wir was essen. Glaubst du mir, wenn ich dir sage, daß ich kein Mittagessen hatte?“ Raltschew hätte eher das Gegenteil nicht geglaubt. Wenn sein Chef intensiv arbeitete, sah er kein Essen an. „Gut, gehen wir in unsere Kantine. Sie hat noch nicht geschlossen.“ „Bloß nicht!“ entgegnete Dimow kategorisch. „Bloß nicht dorthin!“ „Warum?“ „Weil ich nach dem Dienst nicht gern auch noch im Dienst bin. Die Psychologen haben schon recht, mein Junge: Man muß mal richtig abschalten, wenn man den Akku wieder aufladen will.“ Wenig später verließen sie das Gebäude. Die Nacht war still, über den schwarzen Dächern leuchtete ein gelblicher, leicht angenagter Mond. Dieser Teil der Stadt war bei Nacht menschenleer. Die beiden gingen langsam, dennoch hallten ihre Schritte auf dem Trottoir. Eine einsame Katze huschte vorbei, ein angesäuselter Passant zwinkerte ihnen gutmütig zu. Eine Straßenbahn bimmelte nervös und grundlos. Die Fahrgäste sahen hinter den gelben Scheiben starr und leblos wie Schaufensterpuppen aus. In scherzhaftem Ton begann Dimow von seinen Eindrücken im Spielkasino am Goldstrand zu erzählen. „Hast du nicht auch Lust gekriegt, mal zu setzen?“ unterbrach ihn Raltschew plötzlich. „Ist mir nicht einmal in den Sinn gekommen“, erwiderte Dimow ernst. „Ich mag Glücksspiele nicht, ich gehe immer auf Nummer Sicher.“
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4 Die beiden alten Jungfern saßen nebeneinander in den leichten Sesseln, auf den ersten Blick einander gleich und doch nach Format und Alter völlig verschieden. Beide waren rosig und mollig, beide blond, das tote, zu zahllosen Löckchen und Röllchen gedrehte Haar saß wie riesige Perücken auf ihren Köpfen. In ihren altmodischen Kleidern konnte man jedoch einen gewissen Stil und Geschmack erkennen, obwohl man ihnen ansah, daß sie sie selbst genäht hatten. Ihre Schuhe waren recht abgetreten, und sie versuchten krampfhaft, sie vor den aufmerksamen Blicken des Inspektors zu verbergen. Die Ältere wirkte viel herrischer, in ihrer Haltung lag beinahe etwas Majestätisches. Die Jüngere lebte offensichtlich in ihrem Schatten, all ihre Gesten und Bewegungen waren der älteren Schwester abgeschaut, dabei aber unendlich viel blutleerer und farbloser. Obendrein schien ihr ein Zahn zu fehlen, denn sie sprach nur mit dem halben Mund. Raltschew, der an einem Schreibtisch an der Längswand saß und das Protokoll führte, beobachtete sie mit unverhohlenem Interesse. Nicht nur ihr Äußeres amüsierte ihn, nein, auch ihr Benehmen. Beide waren betreten und zornig, verängstigt und aggressiv in einem. Nach ein paar allgemeinen Sätzen fragte Dimow sie ohne Umschweife, ob sie irgendeine Vorstellung hätten, wer ihre Schwester umgebracht haben könnte. Die Ältere der beiden ging sofort blindwütig zum Angriff über. „Nur er kann es sein, Herr Untersuchungsrichter, dessen bin ich so sicher, wie ich Sie hier vor mir sitzen sehe. Er und kein anderer. Er sieht so sanft und harmlos aus, niemals würde man ihm zutrauen, daß … Aber wir haben sie schon damals gewarnt, als sie beschloß, ihn zu heiraten: ‚Toni‘, haben wir gesagt, ‚hüte dich vor dem 27
stillen Wasser. Da ist es am tiefsten … Wenn du da hineingerätst, gibt es keine Rettung mehr!‘ Er war überhaupt kein Mann für sie, das war unsere Meinung.“ „Das war unsere Meinung“, wiederholte die Jüngere wie ein Echo. „Er war kein Mann aus guter Familie“, präzisierte die Ältere. „Von einem primitiven Menschen kann man alles erwarten. Er hat sie unentwegt gepeinigt. Besonders in den letzten Jahren hat er ihr das Leben zur Hölle gemacht.“ „Zur Hölle …“, echote die Jüngere. „Wieso in den letzten Jahren?“ erkundigte sich Dimow behutsam. Die beiden Schwestern sahen sich an – sie zögerten, sollten sie es sagen oder nicht. Aber die Ältere faßte rasch einen Entschluß. „Warum sollen wir nicht offen miteinander reden, Herr Untersuchungsrichter … Dieser Unglücksmensch hat sich eingebildet, daß sie ihn betrügt.“ „Mit wem?“ fragte Dimow lakonisch. „Mit einem Rechtsanwalt aus Plewen, einem Herrn Genow. Ein gebildeter Mann mit besten Manieren, aus sehr guter Familie.“ „Kennen Sie ihn persönlich?“ „Ja, wir haben ihn vor Jahren kennengelernt, als er in Sofia arbeitete.“ „Also ist doch was gewesen“, brummte Dimow. „Nichts ist gewesen, Herr Untersuchungsrichter!“ rief die ältere Schwester erregt. „Natürlich hatte sie viele Freunde, Juristen vor allem und Sänger … Herr Manolow zum Beispiel hat sie geradezu vergöttert. Ihr Mann war ja auch so eine Tranlampe, da brauchte sie einfach Freunde. Sie mußte sich ja schließlich mit jemandem über ein Konzert oder eine Ausstellung unterhalten können … Aber Untreue? Nie, Herr Untersuchungsrichter! Wir stammen aus einer guten alten Familie, haben beide das College Robert besucht …“ 28
„Das College Robert!“ bestätigte die Jüngere stolz. „Und Toni hat das französische Gymnasium besucht, danach französische Philologie an der Universität studiert. Um sie ins Ausland zu schicken, hatten wir nicht mehr genug Geld, Sie verstehen. In unserer Familie hat es noch keinen Ehebruch gegeben, Herr Untersuchungsrichter.“ „Ja, ich kann es mir vorstellen“, sagte Dimow ruhig. „Aber woher wissen Sie das alles? Waren Sie oft bei ihnen zu Besuch?“ „Bei ihnen? Zu Besuch? – Nie!“ „Aber dann …?“ „Was dann? Ich habe Ihnen doch gesagt, er ist ein primitiver Mensch.“ „Entschuldigen Sie, aber er ist auch Akademiker.“ „Akademiker! Was will das heißen, Herr Untersuchungsrichter? Ein bulgarischer Akademiker! Was werden jetzt nicht für unbedarfte Leute Akademiker … Die Familie ist wichtig, sie ist alles. Wirkliche Erziehung erhält man nur in der Familie. In unserer Familie haben wir uns immer alles gesagt. Von Anfang an.“ „Ja, gut, das genügt“, sagte Dimow. „Ich bin Ihnen sehr verbunden, daß Sie so bereitwillig meiner Aufforderung gefolgt sind.“ Raltschew merkte sofort, daß die beiden Frauen noch gar keine Lust zum Gehen hatten. Nach so vielen Jahren eines völlig farblosen Lebens waren sie plötzlich in den Mittelpunkt eines aufregenden Ereignisses geraten. Und sie hatten nicht die geringste Lust, wieder in ihre triste Vergessenheit unterzutauchen. Sie schwiegen, standen aber nicht auf. Dann fragte die Ältere mit Überwindung: „Herr Untersuchungsrichter, hätten Sie Interesse …“ „Woran?“ fragte Dimow. Die beiden Schwestern verstummten hilflos, sie wußten selbst nicht, was sie vorschlagen sollten. „Vielleicht an ein paar alten Familienfotos … damit Sie sich eine Vorstellung machen können …“ 29
„Ja, ja … Ich suche Sie auf, falls ich sie tatsächlich brauchen sollte“, erwiderte Dimow. „Ich danke Ihnen nochmals für Ihr Entgegenkommen.“ Die beiden Frauen standen seufzend auf. Plötzlich fiel der Älteren etwas ein. „Er ist doch nicht etwa draußen?“ „Wer?“ „Unser Schwager.“ „Nein, nein, seien Sie unbesorgt.“ „Denn wenn er draußen ist, springe ich wirklich lieber durchs Fenster“, verkündete die Ältere düster. Endlich waren die beiden Schwestern draußen. Raltschew kratzte sich hinter seinem Schreibtisch nachdenklich am Hals. „Sie erscheinen mir mächtig voreingenommen“, sagte er. „Es ist riskant, ihnen zu glauben.“ „Man braucht ihnen nicht zu glauben. Wichtig ist, daß man sie anhört.“ „Immerhin scheint dieser Herr Genow tatsächlich zu existieren.“ „Daran zweifle ich nicht. Und es ist letztlich sehr gut möglich, daß er der Liebhaber der Ermordeten war. Genausogut wäre es freilich auch möglich, daß er wirklich nur ihr Freund war. Aber diese Geschichte haben sich die beiden Frauen nicht ausgedacht. Wie sollten sie. Anscheinend hat Antonia Radewa dann und wann ihren Schwestern wirklich das Herz ausgeschüttet.“ „Ein bißchen merkwürdig“, brummte Raltschew. „Immerhin …“ „Immerhin stammen sie tatsächlich aus einer alten, guten Familie“, sagte Dimow. „Und in solchen Familien sind Traditionen heilig.“ Rosa, Radews Tochter, kam eine Viertelstunde darauf, genau zur festgesetzten Zeit. Raltschew meinte in seinem Leben noch kein so anziehendes Geschöpf gesehen zu haben. Ihre Erscheinung strahlte einen unbe30
stimmten Zauber aus, besonders die leicht vorstehenden Backenknochen, die kaum sichtbaren Sommersprossen auf der kleinen Nase. Sie trug ein dunkles Kostüm, ihre Augen waren vom Weinen gerötet. Obwohl sie gleich hereingeführt wurde, kam die Vernehmung nur schwer in Gang. Anfangs konnte sie überhaupt nicht sprechen, ihre Stimme zitterte und drohte jeden Augenblick zu versagen. Jedesmal, wenn ihre Mutter erwähnt wurde, traten ihr Tränen in die Augen, und sie wischte sie unbewußt einmal mit dem Taschentuch, dann wieder mit der Hand ab. „Entschuldigen Sie, Bürgerin, daß ich so hartnäckig in Sie dringe“, sagte Dimow behutsam. „Wir können uns Ihren Schmerz vorstellen … Aber haben Sie nicht doch eine Vorstellung, wer Ihre Mutter getötet haben könnte?“ Rosa brachte es nur mit Mühe fertig, verneinend den Kopf zu schütteln. „Und weshalb?“ „Ich habe keine Ahnung!“ antwortete das Mädchen. „Alles kommt mir so unwahrscheinlich und ungeheuerlich vor. Sie war so ein liebenswerter Mensch. So gut und geduldig …“ Raltschew merkte, wie sein Chef die nächste Frage verschluckte. Dimow schwieg ein Weilchen, zögerte, fragte dann aber doch: „Sie sagten geduldig. Weshalb geduldig? Was meinen Sie damit?“ „Eben einfach geduldig“, erwiderte das Mädchen leise. „Geduldig und anspruchslos, Sie war imstande, alles zu ertragen.“ „Und was hat sie ertragen müssen? Und wozu brauchte sie Geduld?“ Das Mädchen sah ihn befremdet an. „Ich verstehe nicht, was Sie sagen wollen.“ „Entschuldigen Sie, ich spreche von Ihrem Vater … Meinen Sie ihn? War er es, den sie ertragen mußte?“ 31
Für einen Augenblick flammte in ihren Augen Empörung auf, erlosch aber gleich wieder. „Mein Vater ist ein durch und durch anständiger Mensch!“ entgegnete sie zurückhaltend. „Ja, ich verstehe. Doch das hindert bisweilen nicht, daß die Beziehungen zwischen Ehepartnern schlecht sind. Hat er in letzter Zeit Ihre Mutter nicht mit etwas gequält?“ „Mein Vater?“ Rosa riß die Augen auf. „Nein, nie!“ „Nicht einmal laut geworden?“ „Ich bitte Sie!“ sagte Rosa aufrichtig. „Ich kann mich überhaupt nicht erinnern, daß er in seinem Leben einmal mit jemandem geschimpft hätte. Weder mit meiner Mutter noch mit mir. Er ist so ein sanfter, lieber Mensch.“ „Sind Sie sicher, daß das so ist?“ „Wie sollte ich nicht sicher sein. Ich habe doch bis vor einem Jahr zu Hause gewohnt …“ „Vielleicht in diesem letzten Jahr …“ „Nein, völlig ausgeschlossen!“ sagte das Mädchen entschieden. „Warum stellen Sie mir überhaupt solche Fragen?“ „Ich will offen zu Ihnen sein. Ihre Tanten haben das ausgesagt.“ „Unsinn!“ sagte das Mädchen. „Die verbiesterten alten Schachteln … Und weshalb ihrer Meinung nach?“ „Er soll sie der Untreue verdächtigt haben.“ Aus den weit aufgerissenen Augen des Mädchens kullerten plötzlich Tränen. Dimow wartete, bis sie sich beruhigt hatte; seine Miene verriet, daß er die Frage bereits bedauerte. „Ich bitte Sie, Genosse Inspektor!“ sagte das Mädchen endlich. „Beschmutzen Sie das Andenken meiner Mutter nicht. Sie war eine so untadelige Frau … in jeder Beziehung.“ Ihre Worte klangen bestimmt. Dimow überlegte einen Moment, dann sagte er widerstrebend: „Das wäre alles, 32
Bürgerin. Und entschuldigen Sie, daß ich Sie belästigt habe.“ Das Mädchen stand augenblicklich auf. Als sie ging, bebten ihre Schultern leicht. Raltschew hatte das Gefühl, daß sie sich mit äußerster Anstrengung beherrschte, um nicht loszuschluchzen. Dimow hatte das vorwurfsvolle Gesicht seines Assistenten wohl bemerkt, denn er brummte schuldbewußt: „Wir hätten sie wohl nicht heute vernehmen sollen.“ „Das meine ich auch. Vielleicht nach der Beerdigung …“ „Die Sache ist nur, daß sich die Leute nach jeder Beerdigung allzu schnell beruhigen – und anfangen, aufmerksam und berechnend zu werden.“ Raltschew schwieg. „So ist es“, sagte Dimow mit einem Seufzer. „Als mein Vater starb, war meine Mutter auf dem Land, sie wurde evakuiert. Luftangriffe, unterbrochene Verbindungen … Wir haben ihn ohne sie beerdigt. Sie kann es mir bis heute nicht verzeihen und weint immer noch … Wenn sie sich einmal richtig hätte ausweinen können, bei der Beerdigung selbst …“ „So ist es“, seufzte Raltschew. „Das Grab ist wie eine Tür, durch die man in eine andere Welt eingeht“, fuhr Dimow nachdenklich fort. „Du hast ihn weggehen sehen … Sonst hast du das Gefühl, daß er verschollen ist … Und dieser Gedanke ist unerträglich.“ Während sie auf Radew warteten, erhielten sie das Gutachten von Doktor Dawidow. Es stand nichts Neues und Interessantes darin. Der Mageninhalt der Toten ließ den Schluß zu, daß sie wahrscheinlich in einem Restaurant zu Mittag gegessen und ein paar Gläser Wein getrunken hatte. „Wer geht schon allein ins Restaurant“, sagte Dimow. „Vor allem Frauen.“ „Und Frauen trinken auch keinen Wein zum Mittagessen“, fügte Raltschew hinzu. 33
„Vielleicht Herr Genow?“ Dimow lächelte kaum merklich. „Wundern würde es mich nicht“, stimmte ihm Raltschew sofort zu. „Am Morgen ist sie in ihrem besten Kostüm zum Dienst gegangen. Wenn sie überhaupt im Dienst gewesen ist …“ „Ja, das muß überprüft werden.“ Der Inspektor nickte. „So oder so, dieser Jemand hat die Ermordete vermutlich als letzter gesehen. Wir müssen herauskriegen, wer es war.“ Auch Stefan Radew kam pünktlich zur angegebenen Zeit. Raltschew fand, daß er noch verfallener aussah als am Tag zuvor. In einer Nacht schien er auf die Hälfte geschrumpft zu sein, seine Haut sah verfärbt und schmutzig aus, der Blick war leer. Er trat mit weichen, geräuschlosen Schritten ein und schaute sich hilflos um. Es sah aus, als sei er sich nicht bewußt, wo er sich befand und weswegen er gekommen war. „Setzen Sie sich“, sagte Dimow. „Wo Sie möchten.“ Radew ließ sich schwer in einen der Sessel fallen. Seine Hände zitterten leicht, die Stirn bedeckte sich mit glänzenden Schweißperlen. „Wenn Sie sich zu einem Gespräch nicht imstande fühlen, können wir es auf morgen verschieben“, sagte Dimow. Radew schwieg eine Weile, dann antwortete er kaum hörbar: „Darf ich Sie um ein Glas Wasser bitten?“ Als Raltschew mit frischem Wasser wiederkam, saß Radew noch genauso in seinem Sessel. Er trank hastig und kam ein bißchen zu sich, in seinem Blick glimmte ein winziges Fünkchen Leben. Er stellte das Glas vor sich hin, und jetzt erst blickte er den Inspektor ein wenig gesammelter an. „Herr Radew“, begann Dimow, „Sie haben der Toten am nächsten gestanden. Ich möchte Sie noch einmal fragen, ob Sie etwas wissen. Haben Sie jemanden in Verdacht?“ 34
„Nein, ich weiß nichts“, entgegnete der Mann dumpf. „Also haben Sie niemanden in Verdacht?“ „Nein, niemanden …“ „Gut … Dann erzählen Sie uns, was Sie gestern gemacht haben, Stunde für Stunde und Minute für Minute.“ Radew schien die Frage gar nicht gehört zu haben. Er schwieg. Er schwieg lange und bedrückt, dann brach er auf einmal in Tränen aus. Anfangs war dieses qualvolle Männerweinen kaum zu bemerken, es glich eher einer Grimasse oder einem Krampf. Dann überströmten die Tränen geradezu sein Gesicht, sein ganzer Körper schütterte. Schließlich trank er ein paar Schluck Wasser und beruhigte sich wieder. „Was soll ich Ihnen erzählen, Genosse Inspektor“, sagte Radew gequält. „Ich habe meine Frau umgebracht.“ „Sie?“ fragte Dimow ohne die geringste Überraschung. „Und aus welchem Grund?“ „Sie hat mich betrogen.“ „Ach so! Dann fangen Sie bitte ganz am Anfang an.“ Radew wischte sich mit der Hand den Schweiß vom Gesicht. „Was gibt es da zu erzählen? Ich kam nach Hause …“ „Um wieviel Uhr?“ „Ich weiß nicht …“ „Sie müssen versuchen, sich daran zu erinnern.“ Radew überlegte eine Weile. „Es muß gegen vier gewesen sein.“ „Haben Sie da nicht noch Dienst?“ „Das habe ich öfter gemacht, Genosse Inspektor. Unser Junge geht doch zur Schule. Er müßte zu Hause sitzen und lernen, aber wie alle Jungen … Deshalb bin ich manchmal auf einen Sprung nach Hause gegangen, für eine Viertelstunde, eine halbe Stunde … Gerade nur, um nachzusehen, und bin wieder zurück.“ 35
„Gut. Fahren Sie fort.“ „Nun, ich traf meine Frau zu Hause an. Der Junge war nicht da.“ „Aber sie hat doch um diese Zeit auch Dienst?“ „Das ist es ja eben. Sie war von der Arbeit weggelaufen. Ich sehe es ihr immer an, wenn er nach Sofia kommt, Genosse Inspektor.“ „Meinen Sie Genow? Den Rechtsanwalt?“ „Ja. Wenn der also nach Sofia kam, war sie wie umgewandelt – ihre Augen waren dann anders, das Gesicht … Das ist eine furchtbare Qual; wer sie nicht erlebt hat, der weiß nicht …“ Radew fuhr sich wieder mit zitternden Händen übers Gesicht. „Glauben Sie, daß sie sich an diesem Tag mit ihrem Liebhaber getroffen hat?“ „Ja, ich war sicher.“ „Und Sie haben aus diesem Grunde Krach geschlagen?“ „Nein, ich schlage nie Krach“, entgegnete der Mann. „Das liegt nicht in meinem Charakter. Aber diesmal habe ich ihr alles gesagt, was zu sagen war. Das war ja nicht länger auszuhalten. Schließlich war sie kein junges Gänschen mehr, sie war Mutter und auch schon älter … Genau das habe ich ihr gesagt. Und es hat sie sicherlich schwer getroffen … Sie wurde wütend wie noch nie …“ Radew schwieg einen Moment und fügte hinzu: „Sie hat nach mir getreten …“ So bedrückend der Augenblick war, konnte Dimow ein Lächeln doch nicht verbergen. „Wohin hat sie Sie getreten?“ „In den Unterleib … Da habe ich dann rot gesehen. Ich bin ein ruhiger Mensch, fahre nicht leicht aus der Haut, aber ich weiß nicht, was da mit mir geschah. Schluß … Ich lief in die Küche, packte das große Messer … Das, mit dem wir Fleisch schneiden … Als ich ins Wohnzim36
mer zurückkam, stand sie noch da, das hatte sie bestimmt nicht erwartet. Dann weiß ich nichts mehr, sie muß weggelaufen sein … Und im Vorraum habe ich sie eingeholt.“ „Wie oft haben Sie zugestochen?“ fragte Dimow. „Das weiß ich nicht mehr“, antwortete Radew verzweifelt. „Ich war wie von Sinnen, wie betrunken. Aber ich glaube, den ersten Stich versetzte ich ihr in den Rücken, als sie weglief.“ „Und danach?“ „Was danach?“ „Wir haben die Leiche im Schlafzimmer gefunden, nicht im Vorraum.“ „Ich habe sie hingeschafft …“ „Warum?“ „Ich konnte sie doch nicht dort liegenlassen! Der Junge mußte nach Hause kommen; wenn er sie da hätte liegen sehen, blutüberströmt … Er ist doch noch ein Kind, wie hätte er diesen gräßlichen Anblick ertragen sollen! Zumindest hätte er eine furchtbare Erinnerung fürs ganze Leben behalten.“ „Sie waren also doch nicht so ganz von Sinnen, wenn Sie solche Überlegungen angestellt haben …“ „Als ich Sah, was ich angerichtet hatte, wurde ich plötzlich nüchtern. Und habe zuerst daran gedacht.“ „Aber dann mußte das Kind die Leiche doch im Schlafzimmer sehen?“ „Das ist immerhin etwas anderes. Ich habe sie aufs Bett gelegt und zugedeckt. Vielleicht hätte er angenommen, daß seine Mutter schläft. Und er kommt auch selten in unser Zimmer.“ „Aber das Blut?“ „Im Vorraum? Das habe ich mit einem Lappen aufgewischt. Er durfte das Blut nicht sehen, sonst hätte er etwas gemerkt.“ „Wo haben Sie das Messer gelassen?“ 37
„Das Messer?“ Der Blick des Mannes wurde hilflos und kläglich. „Ich weiß nicht“, antwortete er. „Ach ja, ich glaube, ich habe es in den Müllschlucker geworfen.“ „Damit es der Junge nicht sah?“ So benommen Radew auch war, begriff er den Sinn der Anspielung sofort. „Ach nein, natürlich nicht!“ erwiderte er dumpf. „Wie soll ich es Ihnen erklären … Ich habe einfach Angst bekommen. Zunächst hatte ich vor, niemandem etwas zu sagen und zu tun, als wüßte ich von nichts. Deshalb habe ich auch geschwiegen, als der Genosse da kam.“ Er deutete mit dem Kopf auf Raltschew. „Und heute morgen? Waren Sie auf dem Weg hierher schon entschlossen, die Wahrheit zu sagen?“ Radew sah ihn verständnislos an. „Ich weiß nicht … vielleicht … Seit gestern bin ich völlig aus dem Gleis, Genosse Inspektor. Was sind mir nicht alles für Gedanken durch den Kopf gegangen! Zuerst wollte ich mich umbringen. Was sollte das künftig für ein Leben sein? Schlimmer als die schlimmste Pein. Wozu brauchte ich so ein Leben? Es war schon bis jetzt eine Qual, geschweige denn von nun an. Seit ich geheiratet habe, eine einzige Qual …“ „Und trotzdem sind Sie am Leben.“ „Wegen des Jungen – alles seinetwegen … Bei wem sollte er bleiben? Ich kann ihn doch nicht einfach ohne Vater und Mutter lassen.“ Radew senkte den Kopf tief herab, vielleicht weinte er wieder. Raltschew biß sich auf die Lippen, aber Dimow schien es nicht zu merken, er dachte angestrengt nach. „Ich möchte noch einmal auf den Mord zurückkommen“, sagte er. „Wie haben Sie Ihre Frau vom Vorraum ins Schlafzimmer geschafft?“ Im ersten Moment begriff Radew die Frage gar nicht. 38
„Wie schon … Ich weiß es nicht mehr. Auf den Armen, wie sonst?“ „Hatten Sie diesen Anzug an?“ „Ja.“ „Sicherlich haben Sie hinterher die Blutflecke entfernt?“ „Blutflecke entfernt? Nein, das habe ich nicht … Ich weiß nicht, wie es kam … irgendwie ist es mir gelungen, keine abzubekommen … Aber saubergemacht, nein, saubergemacht habe ich den Anzug nicht.“ „Auf jeden Fall haben Sie große Geistesgegenwart bewiesen!“ entgegnete Dimow. „Vielleicht auch Kaltblütigkeit …“ Radew schwieg finster, und Raltschew glaubte auf seinem Gesicht zum erstenmal einen feindseligen Ausdruck wahrnehmen zu können. „Gehen Sie jetzt hier ins Nebenzimmer, und schreiben Sie alles auf, was Sie uns erzählt haben“, sagte Dimow. Nachdem sie allein geblieben waren, sprang Raltschew erregt auf, doch Dimow blieb in Gedanken versunken auf seinem Stuhl sitzen. Es war, als hätte sich ein Ausdruck von Unzufriedenheit über sein Gesicht gebreitet. „Deine Hypothese hat sich vollauf bestätigt!“ rief Raltschew aufgeregt. In diesem Augenblick hatte er das Drama, dessen Zeuge er geworden war, völlig vergessen. Dimow sah ihn ein wenig zerstreut an. „Es konnte keine andere Erklärung geben“, sagte er. „Ich habe gestern nacht bis um drei Uhr nachgedacht und habe keinen anderen Grund für das Wegschaffen der Leiche finden können. Nur den, daß der Junge sie nicht sehen sollte. Und wer hätte sich solche Sorgen um den Jungen gemacht? Ein zufälliger Mörder? Auf gar keinen Fall. Offensichtlich doch nur ein Mensch, der ihn liebt und ihm Kummer ersparen will.“ „Trotzdem hätte ich nicht erwartet, daß er so leicht gestehen würde.“ 39
„Wieso? Er ist offenbar ein Mensch mit äußerst schwachen Nerven. Wahrscheinlich war er mit einer ganz anderen Absicht hergekommen. Aber seine Nerven haben versagt, er fing an zu weinen … Und das Geständnis kam wie von selbst.“ Er lächelte, aber sein Lächeln war traurig. „Sie hat ihn in den Unterleib getreten … So etwas kann man sich nicht ausdenken. Da siehst du, wozu Leute aus guter Familie fähig sind.“ Doch Raltschew überlegte etwas anderes. „Und dennoch sehe ich, daß dir an dieser Geschichte etwas nicht gefällt, Chef.“ „Ja!“ antwortete Dimow kurz. Aber er erklärte sich nicht gleich genauer. Er stand auf und ging ein paarmal durchs Zimmer. Dann erst fuhr er fort: „Ich kann nicht begreifen, wie er es fertiggebracht hat, die Leiche wegzuschaffen, ohne sich mit Blut zu beschmieren. Das ist für mich ein Rätsel.“ „Er hat sich bestimmt beschmiert!“ entgegnete Raltschew. „Aber sein Anzug ist dunkel, vielleicht sieht man die Flecken nicht …“ „Ja, du hast recht. Und doch …“ Aber Raltschew merkte, daß sich Dimow ein wenig beruhigt hatte. Nach allem anderen erschien ihm dieses Detail völlig bedeutungslos. „Damit ist unsere Arbeit beendet“, sagte Dimow. „Wir führen nur die Ermittlungen und haben hier nichts mehr zu tun. Ich überlege nur, welchem Untersuchungsrichter wir den Fall übergeben sollen.“ „Das ist kein Problem. Im Augenblick ist Jakimow frei.“ „Ich weiß.“ Dimow nickte. „Aber er ist für mein Gefühl zu großzügig.“ „Wennschon! Es ist doch alles so klar wie nur möglich.“ „Genau das ist der Haken“, erwiderte Dimow mißmutig. „Das Gericht interessiert sich nicht für Geständnisse. Das Gericht interessiert sich für Fakten.“ 40
„Wenn du willst, spreche ich mit ihm.“ „Nein, das mache ich selber“, sagte Dimow. „Von dir möchte ich etwas anderes. Du mußt dich um den Jungen kümmern. Er ist jetzt ganz allein. Was meinst du, wo bringen wir ihn unter?“ Raltschew zog verlegen die Brauen hoch. „Bei den Tanten?“ „Geh mir weg mit diesen gräßlichen Krähen. Die machen ihn in zwei Wochen völlig verrückt. Lieber bei seiner Schwester. Das Mädchen hat einen guten Eindruck auf mich gemacht. Sprich mit ihr – und sieh zu, was sich machen läßt.“ „Gut, Chef“, erwiderte Raltschew. Doch er spürte, wie ihm eiskalt ums Herz wurde. Man hätte sich an diesem Tag wohl kaum eine schwierigere Mission für ihn ausdenken können als die, die man ihm hier auftrug. Erneut mußte er diesem netten Mädchen bittere und furchtbare Dinge sagen. Abermals mußte er einen Strom von Tränen hervorrufen. Und Worte des Trostes zur Beruhigung suchen. Was für einen Trost? Und was für eine Beruhigung? Nach dem ersten Schreck mußte sie jetzt einen zweiten überstehen, und das vor seinen Augen. Wie konnte er den Schock vermeiden oder mildern? An zwei aufeinanderfolgenden Tagen die Mutter und den Vater zu verlieren! Das Entsetzen, die Tochter eines Mörders zu sein. Machte sich sein Chef nicht klar, was er ihm da für einen fatalen Auftrag gegeben hatte? Zum erstenmal, seit er hier arbeitete, empfand er seinen Dienst schwer und lästig.
5 Das Ehepaar Sheljaskow – so hieß Rosa nach ihrer Heirat – hatte eine Neubauwohnung im Istokviertel. Ralt41
schew irrte lange zwischen den eben fertiggestellten Gebäuden umher, an denen noch dies und das zu machen war. Vergebens suchte er nach Hausnummern. Es gab weder Hausnummern noch irgendwelche Hinweise. Er mußte über Gräben springen, um Berge von Baumaterial herumgehen, verhedderte sich mit den Füßen in Kabeln und Leitungen, und obwohl es in der Stadt schon recht lange nicht geregnet hatte, beschmadderte er sich fast bis zu den Ohren. Seine einzige Auskunftsstelle in diesem Labyrinth waren die Kinder. Was jedoch die einzelnen Blocks betraf, waren sogar sie verschiedener Meinung. Er ging eine Weile nach links, bog dann nach rechts ab, kehrte um und stand schließlich doch vor dem verwünschten Block. Sheljaskows wohnten im achten Stock, aber einen Fahrstuhl gab es noch nicht. Das schreckte ihn freilich am allerwenigsten. Gern wäre er hundert Stockwerke geklettert, einzig und allein, um das gefürchtete Gespräch noch eine halbe Stunde hinauszuschieben. Endlich hatte er die acht Stockwerke geschafft. Er war ganz schön außer Atem und blieb deshalb stehen, um zwei, drei Minuten zu verschnaufen und Mut zu sammeln. Dann klingelte er zögernd. Nach einer Weile wurde die Tür geöffnet, und im Rahmen stand ein junger Mann. Er mochte ungefähr dreißig Jahre alt sein, hatte ein rosiges Gesicht und war recht gut angezogen. Äußerlich unterschied er sich nicht vom Standardtyp junger Leute: Koteletten, geschlitztes Sakko, Polohemd. Auf dem Revers trug er ein breites Trauerband. Das Gesicht des jungen Mannes war ziemlich verärgert, der Blick unfreundlich. „Was wollen Sie?“ fragte er ungeduldig. „Sind Sie Andrej Sheljaskow?“ „Ja.“ „Ich möchte mit Ihnen sprechen … Und mit Ihrer Frau.“ 42
„Das fehlt mir jetzt gerade noch!“ antwortete der Mann böse und hätte ihm beinahe die Tür vor der Nase zugeschlagen. Raltschew mußte seinen Ausweis zücken. Augenblicklich wurde der junge Mann freundlich, entschuldigte sich sogar und führte ihn hinein. Alles, was dann geschah, übertraf Raltschews schlimmste Befürchtungen um ein vielfaches. Dieses Mal brach Rosa nicht in Tränen aus. Aber das war beinahe noch furchtbarer. Alles war viel schrecklicher, unerwarteter, unverständlicher. Rosa erstarrte zu Eis, ihr Blick wurde plötzlich klar, man konnte mit ihr vernünftig reden. Und schließlich tastete sich Radew an das Thema heran, das zu erörtern er hergekommen war. Er machte ihr den Vorschlag, den Jungen bei sich aufzunehmen. Oder – was noch bequemer wäre – sie sollten in die Wohnung von Radews ziehen. Schließlich sei sie viel geräumiger, und eine Schule sei auch in der Nähe. Rosa sah ihn entsetzt an. „Dorthin zurückkehren? – Nie!“ rief sie kategorisch. Raltschew hatte das Gefühl, daß sie sich innerhalb weniger Minuten auf unbegreifliche und unwiederholbare Art verwandelt hatte. Das kleine, hilflose Mädchen, das heute morgen in Dimows Büro so kläglich gewimmert hatte, war auf einmal zu einer kalten, beherrschten, entschlossenen Frau geworden. Vermutlich glich sie jetzt ihrer Mutter und hatte sich endlich in der Gewalt. Ihr Gesicht war jetzt noch blasser, aber keineswegs so hilflos, lieb und gut. Erstaunt stellte Raltschew fest, daß ihm bei dieser seltsamen Verwandlung leichter ums Herz wurde. „Wir nehmen Filip zu uns“, erklärte der Mann. „Wird es Ihnen hier nicht ein bißchen zu eng werden?“ „Nein, nein, er kann in der Küche schlafen“, sagte Rosa. „Er hat schon bei uns geschlafen, es hat ihm immer gut gefallen.“ 43
„Wie es Ihnen lieber ist“, sagte Raltschew. „Natürlich geht das auch. Es hat sogar gewisse Vorteile. Sie können dann die Wohnung Ihrer Eltern frei vermieten. Was Sie dafür bekommen, wird für den Unterhalt des Jungen reichen.“ „Das ist kein Problem“, entgegnete der Mann. „Etwas anderes macht mir zu schaffen: Wie wir es ihm sagen sollen. Kann man ihm denn so etwas sagen?“ „Sie werden ihm natürlich nichts sagen. Wenigstens, solange er noch ein Kind ist. Denken Sie sich etwas aus. Daß sein Vater im Ausland ist, beispielsweise … oder etwas Ähnliches.“ „Er wird es erfahren“, widersprach der Mann. „Die anderen Kinder werden’s ihm erzählen.“ „Ja, freilich. Gut, geben Sie ihn in irgendeine Schule hier in der Nähe. Die beiden Stadtteile liegen weit auseinander, vielleicht trifft er seine jetzigen Freunde nicht wieder.“ „Ja, natürlich“, murmelte der Mann, streckte die Hand aus und strich Rosa übers Haar. Sie zog den Kopf brüsk weg. Raltschew stand auf. „Ich lasse Sie jetzt allein. Gehen Sie, und holen Sie den Jungen zu sich.“ Damit war seine Mission beendet, und als er das Haus verließ, bemühte er sich bereits, alles aus seinem Gedächtnis und seinem Herzen zu verdrängen. Diese Seite schien ihm für alle Zeiten abgeschlossen, es bestand kein Anlaß mehr, länger daran zu denken. Es verging ungefähr eine Woche. Von seinem Dienst in Anspruch genommen, vergaß Raltschew den Fall Radew fast völlig. Ab und zu ging ihm durch den Kopf, daß er einmal beim Untersuchungsrichter Jakimow vorbeischauen müßte, aber der bloße Gedanke daran war ihm schon lästig. Alles, was mit diesem Mord zusammen44
hing, war ihm unangenehm. Mitunter tauchte in seinem Bewußtsein völlig unerwartet Radews verstörtes, tragisches Gesicht auf, doch beeilte er sich, diese düstere Vision zu verscheuchen. Er fand es viel leichter, sich mit Einbrechern und Betrügern zu befassen. Da gab es wenigstens keine Dramen, und Dramen mochte er nur im Kino. Dennoch suchte er eines Morgens Jakimow auf. Der blonde junge Mann in dem eleganten Anzug empfing ihn höflich, seine Stimmung war mehr als gut. „Setz dich, Raltschew“, sagte er. Raltschew setzte sich auf den erstbesten Stuhl. „Wie kommst du voran?“ „Heute schließe ich den Fall ab“, antwortete Jakimow zufrieden. „Alles hat sich bis ins kleinste bestätigt. Am wichtigsten ist, daß wir das Messer gefunden haben, mit dem der Mord verübt wurde. Es ist tatsächlich das Küchenmesser zum Fleischschneiden. Und wir haben es im Müllschlucker gefunden, genau wie er gesagt hat.“ „Irgendwelche Spuren darauf?“ „Der Mörder hat es mit warmem Wasser abgewaschen. Trotzdem wurden Spuren vom Blut der Ermordeten gefunden.“ „Das ist gut.“ Raltschew nickte. „Du kannst deinen Chef beruhigen. Wir haben an Radews Jackett kleine Blutflecke entdeckt. Sogar an seinem Hemdsärmel. Offenbar hat er die Ermordete auf den Armen vom Vorraum ins Schlafzimmer getragen. Und das Gutachten ist eindeutig – es ist das Blut der Ermordeten.“ „Ja, ja, das ist klar“, brummte Raltschew. „Und was ist nicht klar?“ fragte Jakimow verwundert. „Ob Radew seine Frau wirklich in einem Anfall von Eifersucht umgebracht hat. Oder ob es hier einen anderen Grund gibt.“ „Was für einen anderen Grund?“ 45
„Ich weiß nicht, das frage ich ja dich.“ „Es kann keinen anderen Grund geben. Dieser Genow, von dem auch in den Aussagen des Mörders die Rede war, hat mit der Ermordeten wirklich etwas gehabt. Das hat er selbst zugegeben. Er hat sich häufig mit ihr getroffen, viele Leute haben sie zusammen gesehen.“ „Ja, du hast recht. Ich will mich nicht in deine Arbeit einmischen. Ich wollte dir nur einen Hinweis geben, wofür sich das Gericht interessieren könnte.“ Raltschew stand auf. „Alles Gute“, sagte er. „Gib mir bitte Bescheid, wenn der Prozeß beginnt. Ich möchte diesen Menschen noch einmal sehen.“ Warum hatte er diese letzten Worte gesagt? – Er wußte es selbst nicht. Doch er hatte in diesem Augenblick das merkwürdige Gefühl, als wären die Dinge noch nicht abgeschlossen.
6 Für den jungen Sheljaskow kamen schwere Tage. Wie jeder Mann hatte er kleine, harmlose Gewohnheiten für seine Freizeit. Ab und an zum Fußball, öfter zu einer Bridgepartie mit guten Freunden, ein paar Gläser Wein im „Widiner Garten“. Das mußte er jetzt alles aufgeben. Gleich nach der Arbeit stieg er auf sein Moped und fuhr schnurstracks nach Hause. Aus irgendeinem Grund wollte er Rosa in diesen Tagen und Wochen nicht allein lassen. Das Gefühl, es könnte ihr etwas Schlimmes zustoßen, verließ ihn keinen Augenblick. Dabei schien, von außen betrachtet, nichts auf so eine Möglichkeit hinzudeuten. Rosa blieb unverändert ruhig und kühl, ein zugleich kalter und düsterer Glanz zeigte sich in ihren Augen. Und sie erlaubte ihm nicht, sie auch 46
nur mit einem Finger zu berühren – sie schliefen in getrennten Betten. Sie sprach sehr selten, dann aber vernünftig und sachlich. Nur zu Filip war sie besonders lieb und zärtlich, aber in dieser Zärtlichkeit war keine Zuneigung zu spüren, sie war so, als bedauerte und bemitleidete sie nicht ihren kleinen Bruder, sondern einen Fremden. Auch der Junge benahm sich recht sonderbar. Daß er schweigsam, bekümmert und verschlossen war, war nur natürlich. Aber er fragte kein einziges Mal nach seinem Vater. Nie brachte er die Rede auf ihn. Vielleicht spürte er mit seiner kindlichen Intuition, was geschehen war. Vielleicht hatte er doch irgendwo etwas aufgeschnappt? Sie kamen nie dahinter. Er ging nicht mehr auf die Straße, um mit den Kindern zu spielen, sondern las den ganzen Tag, meistens Bücher für Erwachsene aus ihrem Bücherschrank. Rosa verbot es ihm nicht, sie zwang ihn nicht, sich hinter seine Schulbücher zu setzen. Sollte er doch lesen und seine Gedanken ablenken. Nach wie vor versah Rosa gewissenhaft ihre häuslichen Pflichten, ging einkaufen, kochte mit Sorgfalt und wischte zweimal täglich in der ganzen Wohnung den Fußboden, was sie früher nie getan hatte. Vielleicht versuchte sie wie ihr Vater, die furchtbare Erinnerung an die gräßlichen Dinge, die sie gesehen hatte, zu verwischen. Eines Tages sagte sie: „Ich möchte arbeiten gehen, Andrej.“ Sie hatten schon mehr als einmal darüber gesprochen. „Es hat keinen Sinn, Rosa“, sagte ihr Mann sanft. „Ich verdiene doch gut.“ Er verdiente wirklich recht anständig, obwohl er bloß Zahntechniker war. Aber er arbeitete in seiner Freizeit auch privat, was ganz hübsche zusätzliche Sümmchen zum bescheidenen Familienetat einbrachte. 47
„Ich will wieder arbeiten gehen“, beharrte Rosa. „Ich kann nicht länger zu Hause hocken, ich muß mich mit etwas beschäftigen, muß auf andere Gedanken kommen. Wenn ich noch einen Tag länger zu Hause sitze, dann, glaube ich, drehe ich durch.“ „Dann ist Filip ohne Aufsicht“, meinte Andrej zögernd. „Filip ist kein Kind mehr!“ entgegnete Rosa ernst. „Ich verstehe ihn. Er wird nie mehr ein richtiges Kind sein. Er kann sich jetzt selbst um sich kümmern.“ „Na schön“, brummte der Mann widerstrebend. Rosa hatte einen Lehrgang als Horterzieherin absolviert. Sie bewarb sich an ein paar Stellen gleichzeitig. Überall wurde sie freundlich empfangen, und man sagte ihr, sie müsse ein, zwei Monate warten, aber es werde bestimmt eine Stelle frei. Und es hielten tatsächlich nicht viele junge Frauen lange bei dieser schweren und unwahrscheinlich nervenzehrenden Arbeit aus. Rosa wartete. Mit jeder Woche, die verging, schien sie ruhiger zu werden. Zugleich aber blieb sie unverändert kühl, weit weg, unnahbar. In ihrem Blick war kein Leben, nur Nachdenkliches, als durchdächte sie ihr Leben aufs neue und ließe Tag für Tag und Minute für Minute noch einmal an sich vorüberziehen. Sie schien nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern für das eines jeden Menschen nach einem neuen Inhalt zu suchen. Es war, als gelangte sie zu Wahrheiten, die furchtbar und unabänderlich in einem waren. Und wenn sie unabwendbar waren, mußte man sie mit weiser Resignation hinnehmen. Nur einmal geschah etwas Unerwartetes. Es war Abend, sie saßen allein, ohne den Jungen, vor dem Fernsehgerät. Man brachte ein Lustspiel, noch dazu mit guter Besetzung. Andrej starrte versunken auf den kleinen Bildschirm. Wenn er nicht so vertieft gewesen wäre, hätte er vielleicht Rosas verschlossenes, feindseliges Gesicht bemerkt. An einer Stelle mußte er spontan und ehrlich la48
chen. Rosa sah ihn nur wortlos an, stand auf und ging ins Schlafzimmer. Schuldbewußt folgte ihr Andrej. Als er das Schlafzimmer betrat, lag sie auf dem Bauch im Bett und weinte hemmungslos. Schweigend setzte sich Andrej zu ihr, er hätte sie gern berührt, hätte ihr gern wortlos übers Haar gestrichen, getraute sich aber nicht. Schließlich legte er ihr zögernd die Hand auf die Schulter. Zu seinem Erstaunen zuckte sie nicht wie sonst zurück und schüttelte sie nicht ab. Sie weinte nur genauso haltlos weiter. „Nicht, Rosa“, sagte er leise. „Ich bitte dich …“ Rosa gab keine Antwort. „Es ist schon so viel Zeit vergangen. Du mußt dich beruhigen.“ Endlich hob Rosa den Kopf. „Ich kann nicht“, sagte sie. „Ich kann es einfach nicht glauben …“ „Rosa, du mußt aufhören, daran zu denken!“ „Wie soll ich aufhören? Du weißt sehr gut, was er für ein sanfter, lieber Mensch ist. Das muß ein Irrtum sein.“ „Was denn für ein Irrtum?“ entgegnete Andrej mit mühsam beherrschter Gereiztheit. „Du bist auch noch ein Kind und kennst die Menschen nicht. Jeder ist zu Dingen imstande, die ihm niemand zutrauen würde.“ „Das ist nicht wahr!“ rief Rosa nervös, beinahe haßerfüllt. „Ich nicht! Und er auch nicht! Du vielleicht …“ „Rosa!“ „Wie kannst du lachen, wenn alles in mir tot ist?“ schrie sie. „Das bedeutet, daß du völlig herzlos bist!“ Andrej war sich nicht im klaren, ob es überhaupt Sinn hatte, ihr zu widersprechen. Sie war wirklich sehr erregt, und er war im Grunde schuld daran. „Das Leben geht weiter, Rosa. Es ist so lange her … Wir müssen die Dinge nehmen, wie sie sind. Ich gebe mir extra Mühe …“ Rosa hatte sich vollends aufgerichtet. „Ja, ich weiß! Ich 49
verstehe!“ sagte sie scharf. „Aber das ist doch nicht menschlich! Schließlich ist er mein Vater und nicht deiner! Aber du bist mein Mann! Und denkst überhaupt nicht an ihn. Ich spüre ja, wie gleichgültig dir das alles ist!“ Andrejs Gesicht verfinsterte sich. „Du verlangst, daß ich ihn immer noch liebe und achte?“ sagte er. „Bedenkst du nicht, daß er deine Mutter umgebracht hat?“ „Das hat er nicht!“ „Wieso nicht? Ich habe die Anklageschrift gelesen. Das steht außer jedem Zweifel.“ „Dann muß er unzurechnungsfähig sein … Er ist nicht bei Sinnen! Einen Unzurechnungsfähigen können sie nicht verurteilen. Sie können ihn nicht hinrichten.“ „Nein, er wird nicht hingerichtet!“ sagte Andrej bestimmt. „Woher weißt du das?“ „Ich habe mit ein paar Rechtsanwälten gesprochen. Er hat mildernde Umstände. Er wird sogar nicht lange im Gefängnis sitzen, du wirst sehen.“ „Ich weiß nicht, Andrej“, sagte Rosa hilflos. „Ich habe furchtbare Angst. Er will sich ja nicht einmal einen Verteidiger nehmen.“ „Mach dir deshalb keine Sorgen. Im schlimmsten Fall bekommt er einen Pflichtverteidiger.“ „Einen Pflichtverteidiger! Was ist das schon! Sicherlich irgendein Nichtskönner, der schon ewig keinen Mandanten mehr gehabt hat.“ Rosa schien augenblicklich alles andere vergessen zu haben, sie begann nervös im Zimmer hin und her zu gehen. „Ich muß mit ihm sprechen!“ verkündete sie entschlossen. „Ich werde den Staatsanwalt um eine Besuchserlaubnis bitten.“ „Bist du verrückt!“ rief er. „Das wäre ja unmenschlich! Wie soll er dir in die Augen sehen.“ 50
„Ich kann ihn ansehen“, entgegnete Rosa. „Aber er? Nein, er wird kaum darauf eingehen. Wie kannst du ihn einer so schrecklichen Prüfung unterziehen? Begreifst du denn nicht, daß …“ „Ich begreife“, erwiderte Rosa trocken. „Und dennoch bin ich verpflichtet, mich um ihn zu kümmern … Was er auch getan hat … Er muß einen guten Verteidiger haben.“ Andrej schwieg. Sein Gesicht sah in diesem Augenblick ganz verdüstert aus. „Ich begreife dich nicht“, sagte er leise. „Aber ich werde dich auch nicht daran hindern. Mach, was du für richtig hältst.“ Damit endete das Gespräch. Von diesem Abend an schien Rosa merkwürdig belebt, als habe ihr Leben einen neuen Sinn erhalten. Jetzt lagen in jeder ihrer Bewegungen Energie und Entschlossenheit. Am nächsten Morgen stand sie zeitig auf und blieb fast den ganzen Tag weg. Als Andrej von der Arbeit kam, sagte sie nichts zu ihm. Es war, als hätte sie ihn vergessen, sie schaute ihn, mit ihren Gedanken beschäftigt, kaum einmal an. Ihr Benehmen verriet neuen Elan, eine kaum verhohlene freudige Erregung. Den schwersten Schritt hatte sie getan: Sie hatte ihrem Vater verziehen. Sie erkannte, daß sie ihm wirklich verziehen hatte, so seltsam und unwahrscheinlich ihr das auch vorkam. Und jetzt wollte sie ihm helfen. Wie groß und wie entscheidend die Hilfe sein würde, war nicht so sehr wichtig. Wichtig war, daß sie diesen Weg ging, den menschlichen, den wahren. So dachte oder fühlte sie vielmehr. Und eines heißen, schwülen Nachmittags fand sie sich im Gefängnis ein. Erst als sie durch die stillen Korridore ging, wurde sie gewahr, daß sie sich in einer völlig anderen Welt befand … Hier schienen die Menschen nicht wie die anderen Leute zu sein. Sie waren von der wirklichen, lebendigen Welt durch eine hermetische 51
Mauer abgeschlossen, die dicker als jede Gefängnismauer und unüberwindbar war. Auch die Luft war anders, und die Menschen sahen nicht wie richtige Menschen aus. Unversehens hatte sie das Besucherzimmer erreicht und blieb mit stockendem Atem stehen. Auf den ersten Blick sah hier alles normal und alltäglich aus, und dennoch fand sie es merkwürdig und befremdlich. Sie hatte das Gefühl, sich in der Schalterhalle des Postamtes einer unwahrscheinlichen, erdachten Welt zu befinden. Die Luft war unbewegt und tot, die Zeit schien nicht weiterzulaufen. Die dünne Barriere und die kleinen Glasschalter erinnerten sie an die Halle eines Postamtes. Sie setzte sich auf die blankgescheuerte Bank vor einen der Schalter und spürte, wie ihr Herz wild und laut hämmerte. Dann wurde ihr Vater hereingeführt. Sie fand ihn sehr abgemagert, sein Gesicht hatte die Farbe eines Toten. Aber vielleicht kam ihr das nur so vor. Er sah verschlossen aus, unzugänglich, beinahe feindselig. Er setzte sich auf die andere Seite der Barriere, vor die Öffnung des Schalters. Der Milizionär, der ihn hereingeführt hatte, blieb hinter ihm stehen. Einen Augenblick lang sahen sie sich schweigend an. Ihr drückte es vor Liebe und Kummer fast das Herz ab, aber in seinem Blick war nichts, gar nichts außer einer undurchdringlichen, toten Scheidewand. „Vater!“ sagte sie erstickt. Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, aber kein Laut kam aus seiner Kehle. Dann versuchte er abermals zu sprechen, und sie hörte ihn sagen: „Du hättest nicht kommen dürfen …“ „Ich werde dich nach nichts fragen, Vater … Werde nicht darüber reden … Du sollst mir nur eins versprechen …“ „Was?“ fragte er tonlos und ohne jedes Interesse. „Versprich mir, daß du dir einen Verteidiger nimmst.“ 52
Er schwieg, sein Blick blieb fremd und unzugänglich. „Was soll ich mit einem Verteidiger?“ „Welch eine Frage!“ „Du willst, daß ich mich verteidige?“ In seiner Stimme schwang Bitterkeit mit. „Weshalb soll ich mich verteidigen? Bin ich deiner Ansicht nach im Recht?“ „Es geht nicht darum, daß du dich verteidigst, Vater. Es geht darum, daß sie dich verstehen, daß ihnen jemand erklärt …“ „Nein, Rosa!“ „Ich bitte dich inständig, Vater! – Ich habe lange darüber nachgedacht. Wenn du imstande bist, so etwas zu tun, dann ist es auch jeder andere. Einerlei, ob er es tatsächlich tut oder nicht. Wir können zwar einen einzelnen Menschen verurteilen, aber nicht alle. Bisweilen kennt man sich selbst nicht und versteht sich auch nicht.“ Der Vater schwieg. Dennoch zeigte sich in seinem Blick zum erstenmal eine leichte Erregung. „Du hast recht“, sagte er schließlich. „Wir verstehen uns selbst nicht. Wir leben wie Schatten in einer trüben Welt und können uns erst verstehen, wenn wir unsere Taten sehen. Vorausgesetzt, man kann sie wirklich begreifen.“ Er verstummte für einen Moment, dann fügte er hinzu: „Ich kann es nicht …“ „Und das ist das schlimmste!“ sagte Rosa. „Was du selbst nicht kannst, wird dein Verteidiger für dich tun.“ „Ich nehme mir keinen Verteidiger“, entgegnete der Vater. „Es hat keinen Sinn. Ich habe auch darüber nachgedacht – du kannst mir glauben, ich brauche keinen Verteidiger.“ „Vater! Du bist doch nicht allein auf der Welt!“ Ein krampfartiges Zucken lief über das Gesicht des Vaters. „Das weiß ich sehr gut“, erwiderte er trocken. 53
„Also dann?“ „Ein Verteidiger könnte mir nur hinderlich sein. Ich brauche zu meiner Verteidigung keinen Rechtsanwalt.“ Rosa schwieg hilflos. So hatte sie sich die Begegnung mit ihrem Vater nicht vorgestellt. Sie hatte geglaubt, einen schwachen, verzweifelten Menschen anzutreffen, der Hilfe brauchte. Und sie stieß nur auf die undurchdringliche Wand seines Gesichtes und seines Blickes. Was konnte sie noch tun? Nichts! Aber sie hatte auch nicht die Kraft aufzustehen. „Weiß es Filip?“ Sie zuckte zusammen, seine Stimme kam ihr so sonderbar vor. „Ich weiß nicht … Vielleicht … Nein … Ich weiß nicht … Ich glaube nicht. Er sagt nichts, als sei gar nichts geschehen.“ „Und erkundigt sich nicht nach mir?“ „Nein.“ Rosa merkte, wie die Wand vor ihr für einen Augenblick aufriß. „Also weiß er es“, sagte der Vater. Er stand automatisch auf, wie im Traum, ohne ein Wort zu sagen, ohne Ankündigung. Und gerade rechtzeitig. Durch die kleinen Risse in der Wand hatte, dick und zäh, eine unmenschliche Qual zu sickern begonnen. „Vater …“ Aber der Vater machte kehrt und schlurfte davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Der Milizionär folgte ihm wortlos. Rosa stand auf. In das Besuchszimmer war noch eine junge Frau getreten, still und resigniert setzte sie sich auf die blankgescheuerte Bank. Rosa verließ das Gefängnis wie betäubt. Die Straße war menschenleer, drückende Schwüle lag auf den Dächern der niedrigen Häuser. Trotz allem fühlte sie sich nicht deprimiert, sondern erleichtert. Vielleicht, weil sie ihre Geste gemacht hatte. Ja, ihre Geste! Jetzt spürte sie 54
unklar und voller Angst, daß in ihrem Benehmen wahrscheinlich neben der Ehrlichkeit auch ein bißchen Pose gewesen war. Oder ein klein wenig Eitelkeit über ihre eigene moralische Kraft. Jetzt hätte sie schrecklich gern ein Glas Wasser getrunken – ein gut ausgewaschenes Glas mit kaltem, kristallklarem Wasser. Weiter nichts. Ein Taxi hielt vor dem Gefängnis, und eine junge Frau in Schuhen mit Korksohlen, einen Plastbeutel in der Hand, stieg aus. Rosa nahm das Taxi kurz entschlossen und ließ sich erleichtert auf den heißen Sitz fallen. Jetzt kam ihr erst zum Bewußtsein, daß sich ihr Vater nur nach Filip erkundigt hatte. Nur für ihn hatte er sich interessiert, weder für sie noch für Andrej, noch für etwas anderes … Nur Filips wegen hatte er zunächst versucht, die furchtbare Wahrheit zu verheimlichen. Und in diesem Augenblick fühlte sie sich gekränkt. Sie hatte immer gemeint, der Liebling ihres Vaters zu sein. Davon war sie ihr Leben lang überzeugt gewesen. Das Auto raste wie verrückt durch die menschenleeren Straßen.
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ZWEITER TEIL
1 Zum Pflichtverteidiger Stefan Radews wurde ein junger Rechtsanwalt namens Georgi Stamenow bestimmt, der gerade erst am Anfang seiner Laufbahn stand. Seine Freunde nannten ihn Shorka, manche sogar Shosho – eine recht zweifelhafte Beglaubigung für einen Beruf, bei dem Solidität und der Eindruck von Seriosität beinahe die Hauptrolle spielen. Es ergab sich, daß Rosa diesen Verteidiger zum erstenmal kurz vor dem Prozeß sah. Sonst hätte sie erschrocken aufgeschrien und wäre von Pontius zu Pilatus gelaufen, um ihn durch einen anderen ersetzen zu lassen. Denn zu allem Überfluß war auch Shorkas Äußeres nicht dazu angetan, Vertrauen zu erwecken. Er sah jünger aus, als er wirklich war, und glich eher einem Bibliothekar aus der Provinz. Vor allem war er so rothaarig, daß er sich mit Erfolg an einem internationalen Wettbewerb für rote Haare hätte beteiligen können. Seine sehr weiße Haut war mit Sommersprossen übersät, was für einen Rothaarigen ganz natürlich ist, bloß daß seine Sommersprossen nicht bräunlich, sondern bläulich waren, was nicht ganz natürlich war. Er trug eine zu kurze, ungebügelte schwarze Hose, an den Füßen Riemchensandalen ohne Strümpfe. Krawatten kannte er nicht. Er hatte noch ein paar kleinere kompromittierende Schwächen, die ganz und gar nicht zu seinem Beruf paßten, 56
wie zum Beispiel eine Vorliebe für knoblauchgewürzte Speisen, Weinbrandkirschen, herrenlose Hunde. Sein Lieblingsalkohol war Rosenlikör. Der Wahrheit zuliebe müssen wir sagen, daß Shorka aber auch einige unbestreitbar gute Eigenschaften besaß. So hatte er das Jurastudium als Bester seines Studienjahres abgeschlossen. Jedermann sprach von ihm als von einem Wunderkind, was er trotz seiner Jahre auch tatsächlich war. Sein Professor wollte ihn als Assistent behalten. Dagegen hatte Shorka nichts einzuwenden, beschloß aber, zuvor ein Weilchen zu praktizieren, ist doch die Praxis Grundlage und Prüfstein jeden Wissens. Seine Seele war feurig wie sein grellrotes Haar. Ununterbrochen erregte er sich, gebrauchte nur starke Wörter und Wendungen. Eine besondere Schwäche zeigte er für mutige Taten und Selbstaufopferung. Als Kind war er hingerissen von militärischen Zeremonien und zog in Filmen, wo die Helden für Freiheit, Ehre und Würde starben, wacker die Nase hoch. Sein Lieblingsstück war „Don Carlos“, und „Dankos Herz“ so etwas wie sein Leitstern. Eines Tages sagte der mit dem Fall Radew befaßte Staatsanwalt, sein Freund und Studienkamerad von der Universität, zu ihm: „Komm doch mal in mein Büro, ich hab’ was für dich.“ Am Tag darauf erschien der junge Rechtsanwalt in seinem Büro, so wie er immer war, in Riemchensandalen. Der Staatsanwalt sah ihn mißbilligend an, verkniff sich aber eine Bemerkung. „Lies dir das mal durch!“ sagte er und knallte ihm den ganzen Aktenhefter hin. „Ich will dich als Pflichtverteidiger vorschlagen.“ Aufmerksam las der junge Mann die Anklageschrift durch. Als er schließlich fertig war, zeigten sich auf seinem Gesicht keinerlei Anzeichen von Begeisterung. „Und wieso will sich der Angeklagte keinen Verteidiger nehmen?“ fragte er. 57
„Er will eben nicht.“ „Warum denn das?“ „Anscheinend ist er sehr deprimiert und interessiert sich nicht für sein Schicksal.“ „Und seine Angehörigen?“ „Die können ihn auch nicht überzeugen. Im Gefängnis schweigt er einfach, sieht niemanden an. Und will nichts von einem Rechtsanwalt wissen.“ „Dann wäre ich ja kein Verteidiger, sondern ein zudringlicher Patron, der sich ihm aufdrängt.“ „Ja, aber in guter Absicht.“ „Ich habe mich mein Leben lang noch niemandem aufgedrängt!“ sagte der junge Rechtsanwalt ärgerlich. „Und werde es nie tun.“ „Sieh doch die Akte erst einmal durch, Menschenskind! Danach reden wir noch einmal darüber.“ „Was soll ich da viel durchsehen? Ich sehe kein Betätigungsfeld. Er hat gemordet, gestanden, bereut. Was soll ich da tun? Mir an seiner Stelle vor Gericht die Haare raufen? Und an seiner Stelle bittere Tränen vergießen?“ „Ich wußte gar nicht, daß du so furchtbar eitel bist“, sagte der junge Staatsanwalt und zog sorgfältig seine neue Krawatte zurecht. „Es geht darum, seine Pflicht zu tun.“ Als er das Wort „Pflicht“ hörte, streckte Stamenow die Waffen. Anschließend begab er sich in die nächste Garküche und vertilgte eine doppelte Portion scharf mit Knoblauch gewürzter Kuttelflecksuppe. Danach trank er eine lauwarme Limonade und kehrte ins Gerichtsgebäude zurück. Je gründlicher er den Fall studierte, desto befremdeter war er. Wie war es nur möglich, daß ein so stiller, friedlicher und ordentlicher Mensch solch einen scheußlichen Mord begehen konnte? Wie hatte eine echte Liebe in derartigen Haß umschlagen können? Und weshalb weigerte er sich so entschieden, sich einen Ver58
teidiger zu nehmen? Vielleicht war das nur ein wohlüberlegter Schachzug von ihm. Warum sollte er eigentlich nach diesem Geständnis nicht ohne Verteidiger vor Gericht erscheinen? Es liegt in der Natur des Menschen, Wehrlosen gegenüber nachsichtiger zu sein. Am Tag darauf fand er sich wieder beim Staatsanwalt ein. Er hätte den Fall gern abgegeben, fand aber nicht den Mut dazu. Deshalb brummelte er verdrossen: „Hör mal, der Fall ist sonnenklar. Und meiner Ansicht nach braucht der Angeklagte wirklich keinen Verteidiger.“ „Das Gesetz verlangt es.“ „Wennschon. Ich sehe einfach nicht, was ich für ihn tun könnte.“ „Du kannst natürlich seine Schuld nicht in Abrede stellen. Aber du könntest großartig für mildernde Umstände plädieren. Es geht auch nicht darum, bloß einer juristischen Formalität zu genügen. Mir tut dieser Unglücksmensch eigentlich leid, und ich an deiner Stelle würde ihm mit Freude helfen.“ Der junge Rechtsanwalt schüttelte ärgerlich den Kopf. „Das verstehe ich … Dieser Mensch erweckt wirklich spontan Mitgefühl. Na gut, er tut mir leid. Der Haken ist nur, daß Mitleid eine sehr kitzlige Sache ist. Ich bin überzeugt, daß ich einen schlechteren Eindruck hinterlasse, wenn ich vor Gericht zu tönen anfange, als er mit seinem rätselhaften Schweigen und seinem zerknirschten Aussehen …“ „Da hast du schon recht“, sagte der Staatsanwalt. „Und trotzdem würdest du es besser machen als jeder andere. Denn ohne Verteidiger geht es nicht ab.“ „Na gut, dann danke ich für das Vertrauen“, sagte der junge Rechtsanwalt und lächelte plötzlich. „In Wahrheit macht mich dieser Mensch neugierig. Es wird interessant sein, ihm ein bißchen auf den Zahn zu fühlen. Vielleicht liegen die Dinge doch nicht ganz so einfach.“ „Das heißt, du nimmst an?“ 59
„Ja, aber unter einer Bedingung: Ich will nicht im allgemeinen Besucherzimmer mit ihm sprechen. Ich muß mich mit ihm allein unterhalten.“ „Wozu denn das nun wieder?“ „Ganz einfach. Ich muß versuchen, sein Vertrauen zu gewinnen. Und im Besucherzimmer, hinter diesen Schaltern, wird er sich abgeschirmt fühlen und mir einfach den Rücken kehren.“ „Gut.“ Der junge Staatsanwalt nickte. Stamenow bereitete sich sorgfältig auf diese Begegnung vor. Er zog seinen neuen Anzug an, denselben, den ihm sein Vater zum Abiturientenball hatte anfertigen lassen. Sogar ein Paar anständige Schuhe zog er an. Besondere Sorgfalt verwandte er darauf, sein widerspenstiges, abstehendes grellrotes Haar zu bändigen. Der Gefängnisdirektor führte ihn persönlich in ein um diese Zeit nicht benutztes Bürozimmer und ließ ihn dort allein. Die Einrichtung stammte aus dem Anfang des Jahrhunderts und war nicht gerade anheimelnd: eine dickbauchige Flasche mit abgestandenem Wasser, ein Tintenfaß mit eingetrockneter Tinte, Federhalter, Briefbeschwerer, ein Locher. Und natürlich vergitterte Fenster, die die graue Gefängnismauer in ungleiche Stücke schnitten. Nach einer Weile führte ein Milizionär Stefan Radew herein. Er sah genauso aus, wie der junge Rechtsanwalt erwartet hatte: ein düsterer Mann mit verhärmtem Gesicht, undurchdringlich und feindselig. Er warf Stamenow nur einen flüchtigen Blick zu und ließ sich auf den altersschwachen Stuhl mit der geflochtenen Lehne fallen. Auch der Milizionär setzte sich gelangweilt hinter einen der Schreibtische, sah den Rechtsanwalt an und knöpfte, durch dessen Aussehen ermutigt, die obersten Knöpfe seiner Uniformjacke auf. „Vielleicht können Sie es sich denken“, begann der Anwalt ungezwungen und vertraulich. „Ich bin Ihr Verteidiger …“ 60
„Ich dachte es mir. Und habe schon erklärt, daß ich keinen Verteidiger möchte.“ „Ich bin Ihr Pflichtverteidiger. Bas schreibt das Gesetz vor. Sie können mich nicht abwimmeln. Ich oder ein anderer – es kommt aufs selbe heraus. Wollen wir also die Sache so menschlich wie möglich hinter uns bringen.“ Das natürliche Benehmen des Rechtsanwalts und sein energischer Ton schienen Radew beeindruckt zu haben. Jetzt hob er endlich den Kopf und musterte Stamenow genauer. Wahrscheinlich wirkte die äußere Erscheinung des jungen Mannes beruhigend auf ihn. Vermutlich dachte er: Ob mit ihm oder ohne ihn, einerlei. Zumindest hatte der junge Rechtsanwalt dieses Gefühl. Aber das war ihm in diesem Augenblick völlig gleichgültig. „Was wollen Sie von mir?“ fragte Radew finster. „Daß Sie mir Ihre Verteidigung erleichtern. Ich habe die Akten sorgfältig studiert … und einiges begriffen. Ich kann mich sehr gut in Ihre Lage versetzen. Sie hat Sie jahrelang betrogen. Das hat sie bedrückt und gedemütigt … Nun gibt es Menschen mit einem offenen, aufbrausenden Charakter. Die reagieren sich ab, teilen Ohrfeigen aus, drohen oder verprügeln den Verführer. Aber Sie sind nicht so, Sie sind still, sanft, höflich. Sie sind sensibel. Sie schlucken alles hinunter, können sich nicht abreagieren. Das staut sich nach und nach in Ihnen an, verdichtet sich, der Druck wird immer größer und größer, er wächst von Tag zu Tag … Genau wie in einem Dampfkessel, der kein Sicherheitsventil hat. Und eines schönen Tages explodiert der Kessel plötzlich.“ Der junge Mann blickte befriedigt auf seinen schweigsamen Mandanten, der ihm gar nicht zuzuhören schien. „Ist es nicht so?“ Radew antwortete nicht sofort, dann seufzte er kaum vernehmbar und entgegnete leise: „So ist es nicht.“ „Wieso nicht?“ fragte Stamenow verwundert, ja sogar mit einem leicht gereizten Unterton. 61
„Es ist eben einfach nicht so.“ „Wie ist es dann?“ fragte Stamenow ironisch. „Sie sind noch jung, ich glaube kaum, daß Sie mich verstehen werden. Und es tut mir aufrichtig leid, daß ich Ihnen Ihr schönes Plädoyer verderbe. Übrigens will ich Sie nicht hindern, es vorzutragen. Aber wir sind ja nicht hier zusammengekommen, um uns gegenseitig etwas vorzulügen.“ „Ja, natürlich“, erwiderte der Anwalt ein bißchen verwirrt. „Es ist nämlich so, daß ich mich damit abgefunden hatte. Sie wissen nicht, was es heißt, wenn sich ein Mensch abgefunden hat. Und werden es nie begreifen. Denn jetzt ist das Lehen ganz anders. Jetzt gibt es immer irgendeine Möglichkeit der Wahl …“ „Das ist mir nicht ganz klar. Womit hatten Sie sich abgefunden?“ „Mit meinem Schicksal. Bei uns konnte von wirklicher Untreue keine Rede sein. Denn sie hat mich einfach nicht geliebt. Sie hat mich nie geliebt, nicht eine Sekunde lang. Sie hat mich aus Angst geheiratet.“ „Wieso aus Angst?“ „Das können Sie eben nicht verstehen. Zu unserer Zeit haben die Frauen so geheiratet – einfach aus Angst. Aus Angst, alte Jungfern zu bleiben.“ „Wieso wäre sie denn eine alte Jungfer geblieben? Entschuldigen Sie, soviel ich weiß, war sie eine sehr schöne Frau. Und gebildet obendrein.“ „Sie war wirklich sehr schön.“ Radew nickte traurig. „Das war ihr Unglück und auch meins. Zu unserer Zeit war gerade das die Regel: Schöne Frauen fanden am schwersten einen Mann. Vielleicht stellten sie zu hohe Ansprüche, waren zu wählerisch. Sie erlebten die bittersten Enttäuschungen. Schließlich griff sie nach mir wie nach einem Rettungsring. Ich begriff sehr wohl, daß ich nicht das war, was sie erwartet hatte. Ich begriff 62
überhaupt die ganze Wahrheit. Und trotzdem habe ich sie geheiratet. Vielleicht nennen Sie das eine Gemeinheit. Oder Ausnutzung einer Zwangslage. Aber die Wahrheit ist, daß ich sie liebte. Obwohl auch dieses Wort für Sie nicht wer weiß was bedeutet.“ „Das stimmt nicht“, widersprach der junge Mann. „Nun, dann werden Sie’s verstehen. Anfangs hatte ich wirklich keinen Grund zur Klage. Sie war eine gute Gattin und noch bessere Mutter. Bis dieser Kerl auf den Plan trat …“ „Genow?“ „Ja, der“, entgegnete Radew, und zum erstenmal schwang in seiner Stimme so etwas wie Haß und Abscheu mit. „Wahrscheinlich mußte es früher oder später so kommen. Ich wußte, daß ich sie nicht verdiente. Für mich war jeder Tag ein Geschenk. Ich hatte mich damit abgefunden. Es ist so, daß ich mich wirklich abgefunden hatte. Und sogar für das dankbar war, was ich bis zu diesem Tag bekommen hatte. Ich wäre letzten Endes sogar bereit gewesen, sie freizugeben, wenn sie es gewollt hätte. An mich dachte ich schon gar nicht mehr, nur noch an den Jungen.“ „Aber warum haben Sie sie dann umgebracht?“ fragte Stamenow verständnislos. Radew schwieg. In diesem Augenblick war sein Gesicht kalt und verschlossen. Er schwieg lange, als ringe er mit sich selber. Danach sagte er schlicht: „Ich habe sie nicht umgebracht.“ „Was? Was?“ Stamenow starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Ich sagte, daß ich meine Frau nicht umgebracht habe.“ „Ach!“ rief Stamenow ironisch. „Wer war es denn dann?“ „Das weiß ich nicht!“ entgegnete Radew genauso einfach. „Nun aber mal halt! Wollen Sie mich zum Narren hal63
ten?“ rief Stamenow, nun schon leicht gereizt. „Sie haben diesen Mord doch selber zugegeben? Warum? Hat man etwa Druck auf Sie ausgeübt?“ „O nein, nein!“ wehrte Radew ab, und man sah, daß er es ehrlich meinte. „Kein Gedanke daran!“ „Wie soll ich es dann verstehen?“ „Es wird Ihnen schwerfallen, das überhaupt zu verstehen“, sagte Radew mit einem Seufzer. „Versuchen Sie lieber, es sich irgendwie vorzustellen. Stellen Sie sich einfach einen zutiefst erschütterten Menschen vor … dessen Leben völlig sinnlos geworden ist. Für Sie sind das vielleicht nur leere Worte … aber es ist nicht so. Bis zum heutigen Tage sterben zahllose Menschen physisch und moralisch, wenn der Mensch, der ihnen am nächsten steht, aus dieser Welt verschwindet. Wenn Sie sich das vor Augen halten, werden Sie mir nicht länger überflüssige Fragen stellen.“ „Das kann ich mir vorstellen“, sagte Stamenow. „Ich kann es wirklich. Aber Sie steigen ein bißchen unerwartet aus diesem Grab … in das Sie sich obendrein selbst gebracht haben.“ „Sie irren schon wieder!“ entgegnete Radew. Seine Stimme war nun schon ganz ruhig, wenn auch völlig ausdruckslos. „Wieso, bitte?“ „Weil ich mich keineswegs rechtfertigen will. Mir ist es auch jetzt einerlei, ob ich verurteilt werde oder nicht. Wenn ich mich rechtfertigen wollte, würde ich mir einen guten Rechtsanwalt nehmen und mich nicht auf Ihre zweifelhaften und naiven Dienste verlassen.“ Der junge Rechtsanwalt klappte mit den Lidern. Der Angriff kam sehr scharf und unerwartet. Und dennoch sah er ein, daß er berechtigt war. In dieser Entgegnung lag gesunde Logik, das mußte er zugeben. „Dann erwarte ich, daß Sie es mir erklären“, antwortete er. 64
„In Wahrheit ist alles ganz einfach. Ich habe einen Sohn und will nicht, daß er, wenn er größer wird, mit dem Bewußtsein lebt, sein Vater sei ein gewöhnlicher Mörder, der ihm obendrein die Mutter umgebracht hat. Können Sie sich vorstellen, wie so einem Menschen zumute ist? Damals habe ich das nicht bedacht, es ist nicht in mein getrübtes Bewußtsein gedrungen. Jetzt weiß ich, daß mir bei Gericht niemand glauben wird … Aber der Junge wird es eines Tages glauben … Es kann nicht anders sein, als daß er mir glauben wird … Schließlich ist er mein Sohn.“ Stamenow sah ihn konsterniert an. „Soll das heißen, daß Sie diese Erklärung auch vor Gericht abgeben werden?“ „Ja, natürlich.“ „Aber das ändert ja die Lage von Grund auf.“ „Für Sie vielleicht … für mich nicht.“ Er sprach noch immer genauso ruhig und kühl, und sein Verhalten verriet eine unermeßliche Stärke. „Aber was Sie da sagen, ist ein zweischneidiges Schwert. Bei Gericht wird man es so auffassen, daß Sie sich diese Version wegen Ihres Jungen ausgedacht haben.“ „Das ist mir einerlei. Wichtig ist, was mein Sohn denken wird.“ Der Rechtsanwalt wurde nachdenklich. „Ich glaube, ich verstehe Sie. Aber Sie bringen mich so oder so in eine äußerst dumme Lage.“ „Das ist nun wirklich meine letzte Sorge!“ sagte Radew schroff. „Ich habe Sie nicht aufgefordert, mich zu verteidigen, und das beste wird sein, Sie lassen es bleiben. Es gibt nichts zu verteidigen.“ Stamenow stand nervös auf. Der Wärter, der anfangs gelangweilt aus dem Fenster geschaut hatte, hörte nun dem Angeklagten neugierig zu. Eine Zeitlang hatte der junge Rechtsanwalt das Gefühl, sein Kopf sei völlig leer, 65
ohne die Spur eines Gedankens. Dann rückte er seinen Stuhl dicht an den Radews, so daß sich ihre Knie fast berührten. Aber das änderte gar nichts. Radews Miene war nach wie vor undurchdringlich. „Nehmen wir einmal an, alles, was Sie gesagt haben, ist die reinste Wahrheit. Schön, Ihr Geständnis könnte ich vor Gericht noch anfechten. Aber die anderen Fakten? Die sind einfach unwiderlegbar.“ „Ja, ich weiß …“ „Wenn wir sie nicht auch anfechten, haben wir überhaupt nichts erreicht.“ „Ich könnte nichts bestreiten“, sagte Radew leise. „Das stimmt natürlich nicht!“ sagte Stamenow erregt. „Wenn Sie diesen Mord nicht begangen haben, so bedeutet das, daß Sie zur Tatzeit woanders … mit jemanden zusammen gewesen sein müssen … Sie können nicht allein im luftleeren Raum gehangen haben. Erinnern Sie sich, wo Sie an diesem Tag waren?“ Radew schüttelte langsam den Kopf. „Ich kann mich an nichts erinnern … Und ich will auch nicht. Diese Seite meines Lebens ist für alle Zeiten abgeschlossen.“ „Und Sie wollen mir mit nichts helfen?“ „Nein.“ „Obwohl es in Ihrem Interesse ist?“ „Ich habe keine persönlichen Interessen im Leben mehr. Mich widert das Leben an. Mir ist darin keine Befriedigung zuteil geworden, keine wirkliche Freude.“ „Sie sind nicht aufrichtig“, sagte Stamenow ärgerlich. „Und es stimmt nicht. Wie jeder Mensch haben auch Sie Freuden gehabt.“ „Kann sein … Ja, sicherlich haben Sie recht. Aber ich habe sie vergessen … Das einzige, was ich weiß, ist, daß ich im Leben Pech gehabt habe.“ Stamenow stand wieder auf. Hatte es denn Sinn, weiter mit dem Kopf gegen diese undurchdringliche Wand 66
zu rennen? Wahrscheinlich nicht. Am vernünftigsten war es wohl, diesen halsstarrigen Menschen mitsamt seinen jämmerlichen Spinnereien zum Teufel zu schicken. Er lief erneut nervös durchs Zimmer. Als er sich aber einmal nach Radew umsah, war er einen Moment lang irritiert. Sein Mandant schien auf dem Stuhl zusammengeschrumpft zu sein, sein Äußeres drückte unsagbare Trauer und Hoffnungslosigkeit aus. Vielleicht auch noch Hilflosigkeit und tödliche Apathie. Der junge Rechtsanwalt merkte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte. Was für ein Mensch das auch sein mochte, er durfte ihn nicht im Stich lassen. Schließlich und endlich war er ein Mensch. „Gut“, sagte er. „Für heute lassen wir’s genug sein. Versuchen Sie dennoch, sich zu erinnern. In zwei Tagen komme ich wieder. Irgend etwas von diesem Unglückstag muß Ihnen doch wieder einfallen.“ Radew gab keine Antwort. Und ihm war nicht anzumerken, ob er die letzten Worte überhaupt gehört hatte. Sein Blick war leer, das Gesicht unbewegt. Der Rechtsanwalt biß die Zähne zusammen und stürmte hinaus. Als er auf die Straße trat, war er immer noch benommen und fühlte sich außerstande, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Wahrscheinlich mußte er mit jemandem reden, ein bißchen diskutieren. Ein unbefangener Außenstehender konnte sich vielleicht in dieser verworrenen Angelegenheit besser zurechtfinden. Ja, es war wirklich eine verworrene, komplizierte, widersprüchliche Geschichte. Traurig und furchtbar in einem, gleichgültig, ob sie wahr oder erdacht war. Genauso ein Fall, wie er gehofft hatte, daß er ihm eines Tages in seiner Praxis begegnen würde. Vielleicht kam er allzu unverhofft, jedenfalls hatte er jetzt das Verlangen, Hals über Kopf davonzulaufen. Er fing sich erst wieder, als der Autobus kam. Geduldig wartete er, bis ein altes Weiblein eingestiegen war, 67
dann zwängte er sich selbst in den heißen Blechkasten, wo es so unangenehm nach menschlichen Körpern roch. Es war ein Bus wie alle anderen – er hielt mit einem Ruck, fuhr mit einem Ruck an, die Leute schwankten geduldig vor und zurück, ohne ärgerlich zu werden. Aber schließlich gelangte er doch noch ins Stadtzentrum. Als er ausstieg, fühlte er sich plötzlich munterer. Die Straßen waren voller Menschen – gleichmütige, lustige und mürrische, doch einfache, gewöhnliche Leutchen. Mädchen in kurzen Röcken stöckelten kunstvoll auf ihren hohen, dicken Absätzen einher, Halbstarke in engen Hosen kauten Kaugummi, eine große, korpulente Frau schleppte ein gewaltiges Einkaufsnetz heimwärts; der eine lächelte im stillen, der andere fluchte in Gedanken. Das Leben erschien ihm überhaupt so gewöhnlich und normal, daß er selbst unwillkürlich lächelte. Zu guter Letzt gab es auf dieser Welt nichts, was nicht auf irgendeine Weise in Ordnung gebracht werden konnte. Jetzt mußte er mit Iliew sprechen. Mit dem alten, ramponierten, ausgedienten Iliew, wie ihn manche seiner jungen Kollegen mitunter herzlos nannten. Und er wunderte sich selber über seine Anhänglichkeit an diesen erbarmungslosen Zyniker. Vielleicht war er ein Zyniker, aber Stamenow hing wirklich an ihm. Mit Vergnügen hörte er seinen endlosen Geschichten zu von alten Prozessen aus der alten, schlimmen Zeit mit dem guten Bier und noch besseren Brathähnchen. Er steckte voller Erinnerungen. Und er erinnerte sich an die Stadt, wie sie früher gewesen war, besser als an die Gesichter seiner fünf Kinder. „Hier wurden früher gekochte Krebse verkauft“, sagte er etwa. „Richtige große Krebse. Und hier konnte man auch nach Mitternacht eine heiße Suppe bekommen. Hierher kam der Dichter Dimtscho Debeljanow, der Regisseur Massalitinow, dort drüben verkehrte der Schriftsteller Georgi Stamatow.“ Die alte Stadt lebte in seiner Seele weiter. Nein, es stimmte 68
nicht, daß er ein Zyniker war. Er hatte ein großes, gutes Herz, das immer noch voller Liebe war, und das ist Ursache genug, daß ein Mensch ein wenig scharfzüngig und traurig wird. Stamenow stieg schon die schmutzige Treppe in der Handelskammer hinauf. Auch das Kabuff, in dem er zusammen mit dem Rechtsanwalt Iliew sein Büro hatte, war schmutzig und eng, so eng, daß die beiden Schreibtische mit den Stirnseiten aneinanderstehen mußten. Sein einziger Vorzug war, daß es ewig nach gutem, frisch gemahlenem Kaffee roch. Sein Kollege Iliew trank den Tag über so viele Tassen Kaffee, daß er wohl oder übel während seiner ganzen freien Zeit die alte Kaffeemühle aus Messing drehen mußte. Und er kochte sich seinen Kaffee selber. Aber jetzt war eine Klientin bei seinem Kollegen. Sie sah so wohlgenährt und sanft bekümmert aus, daß Stamenow sofort begriff: Eine Scheidungssache war es nicht. Wahrscheinlich hatte man ihren Mann wegen Unterschlagung eingelocht. Iliew warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu, wußte aber sofort Bescheid. „Brauchst du mich?“ „Aber wenn …“ „Warte unten auf mich“, unterbrach ihn der Alte. „In zehn Minuten komme ich nach.“ „Unten“ nannten sie den kleinen Ausschank, wohin sie nach der Arbeit manchmal auf einen Sprung gingen. Es war ein altes, schmales Lokal, fast ohne Fenster und immer kühl, noch aus alten Zeiten, mit dem Geruch von Fußbodenöl durchtränkt. Glücklicherweise war ihr Stammplatz noch nicht besetzt – ein kleines Tischchen mit nur zwei Stühlen, das an einem viereckigen Pfeiler stand. Ein Mensch mit so grellem Haar kann nicht unbemerkt bleiben – der Kellner kam heran und schaute ihn fragend an. Stamenow besann sich sogleich, daß er beizeiten auch für seinen Freund Vorsorgen müsse. 69
„Einen kleinen Mastika“, sagte er, „mit sauren Gürkchen. Und für mich einen …“ „Ist alle“, sagte der Kellner. „Ganz und gar?“ „Ganz und gar. Gestern hat irgendein Suffkopp die letzte verstaubte Flasche gekauft.“ Zu dumm! Er war also nicht der einzige in der Stadt, der Rosenlikör trank. „Dann auch für mich einen kleinen Mastika“, sagte er zögernd. Als der Alte kam, standen die Mastikas schon auf dem Tisch. Iliew sah ihn beifällig an. „Aus dir wird doch noch ein Mensch“, sagte er. „Los, erzähle!“ Stamenow berichtete ihm gewissenhaft, was er an diesem schwülen Septembernachmittag erlebt hatte. Doch er hatte, während er sprach, das Gefühl, daß der Alte nicht allzu aufmerksam zuhörte. Das kränkte ihn ein wenig, aber er sagte nichts. Iliew schnurpste die letzte Gurkenscheibe, dann sagte er überzeugt: „Radew blufft offensichtlich. Ich habe in meiner Praxis viele solche Fälle erlebt. Erst gestehen sie, und wenn man sie dann am Kanthaken hat, fangen sie samt und sonders an zu leugnen. Mitunter machen sie das recht gerissen und einfallsreich.“ „Radew ist nicht gerissen“, brummte Stamenow. „Das denkst du bloß. Siehst du nicht, wie unnatürlich seine Erklärungen sind. Wer ist denn so verrückt, auf solch dumme Art Selbstmord zu begehen, indem er einen Mord gesteht?“ Stamenow schwieg unzufrieden. Er fand in diesem Augenblick, daß der Alte allzu vorschnell urteilte. „Ich kann mir einen Menschen in so einer Geistesverfassung vorstellen“, sagte er schließlich. „Ich kann’s nicht. Und kenne in der ganzen Gerichtspraxis keinen solchen Fall. Ich würde es noch einsehn, 70
wenn es irgendeinen Sinn hätte. Um eine Schuld zu sühnen, sagen wir mal … Aber in diesem Fall ist er es, dem Unrecht geschehen ist.“ Und er kaute weiter auf seinem sauren Gurkenscheibchen herum. Auf einmal fühlte sich Stamenow mutlos. Der Alte urteilte vielleicht ein bißchen primitiv, aber letztlich sind die Dinge im Leben immer simpler, als sie einem Menschen mit einer etwas reicheren Phantasie erscheinen. „Und darauf kommt es auch gar nicht an“, fuhr Iliew fort. „Auf das Geständnis, meine ich. Für das Gericht ist dieser Umstand nicht von sonderlicher Bedeutung. Das Geständnis ist kein Beweis. Doch die anderen Beweise und Indizien gegen Radew sind unanfechtbar. Und ich rate dir, sie nicht in Zweifel zu ziehen. Weder sie noch seine Schuld. Auf diese Weise würdest du dir nur die Grundlage für seine Verteidigung zerstören und ihm objektiv schaden.“ „Ja, das verstehe ich“, seufzte der Rechtsanwalt. „Du hast starke Trümpfe“, fuhr der Alte fort. „Eindeutig mildernde Umstände. Sein Geständnis. Seine aufrichtige Reue. Wenn das wegfällt, was bleibt dann übrig?“ „Ach, ein bißchen bleibt schon noch“, entgegnete Stamenow. „Der Mord wurde nicht vorsätzlich verübt. Er wurde im Zustand äußerster Erregung begangen.“ „Woher weißt du das?“ Stamenow begriff sofort den Kern dieser Frage und verstummte ein wenig betreten. „Aus dem Geständnis doch, nicht wahr? Und andere objektive Beweise hast du dafür nicht.“ „Sie hatte einen Liebhaber. Das ist bewiesen.“ „Und was, wenn sie einen Liebhaber gehabt hat? Sie hatte ihn schon ein paar Jahre. Auf so etwas reagiert ein Mensch entweder sofort, oder er findet sich damit ab. Er hat sich ein bißchen spät darauf besonnen, auf so extreme Weise zu reagieren.“ 71
„Da hast du nicht recht!“ knurrte der Rechtsanwalt. „Zorn und Wut können sich im Laufe der Zeit ansammeln.“ „Eine nicht allzu wahrscheinliche Hypothese. Und auch nicht mehr als eben bloß eine Hypothese. Und was willst du machen? Das Geständnis anzweifeln, wenn es dir nicht in den Kram paßt, und dich darauf berufen, wenn es dir in den Kram paßt. Mit dem Geständnis steht und fällt alles. Wie willst du beweisen, daß der Mord im Zustand der Erregung begangen wurde? Noch dazu aus Eifersucht! Du hast nicht den geringsten Beweis.“ Im stillen mußte ihm Stamenow recht geben. „Versuche, Radew von seiner dummen Position abzubringen. Er tut das alles offensichtlich nur, um vor seinem Jungen seine Unschuld darzulegen. Aber das kann ihn teuer zu stehen kommen.“ „Ich weiß nicht“, sagte der junge Rechtsanwalt widerstrebend. „Sicherlich hast du recht. Und trotzdem ist etwas Ehrliches an ihm … an diesem Mörder, will ich sagen. Wenn er aber nun kein Mörder ist? Da liegen meine Zweifel.“ „Wennschon!“ Der Alte lachte. „Deine Pflicht ist es, ihm auf die wirksamste Weise zu helfen. Das wird von dir verlangt. Besonders, wenn er unschuldig ist.“ „Und die Wahrheit?“ „Welche Wahrheit?“ „Na, die Wahrheit, die ganz gewöhnliche Wahrheit … der zu dienen wir geschworen haben.“ „Mein Schwur liegt schon recht lange zurück“, antwortete der Alte scherzend. „Für mich kann Wahrheit nur nützlich sein. Ich glaube nicht an nutzlose Wahrheiten.“ Er schwieg. Aber das Gesicht des jungen Anwalts zeigte deutliche Verstimmung. „So kann ich nicht denken. Es liegt nicht in meiner Natur.“ 72
Jetzt seufzte wiederum der Alte. Und seine Augen wurden zum erstenmal richtig freundlich, wie sie in Wirklichkeit waren. „Du bist noch sehr jung, mein Lieber. Das ist schön, für einen Rechtsanwalt aber ein bißchen gefährlich. Diese Sensibilität meine ich. Chirurgen und Rechtsanwälte dürfen weder sensibel noch mitleidig sein. Weißt du, wie viele furchtbare und bittere Dinge du in deinem Leben noch zu hören bekommen wirst? Wenn du’s immer so machst, hast du am Ende den schönsten Herzknacks weg.“ „Du hast auch keinen gekriegt“, sagte Stamenow. „Bist du etwa so abgebrüht? Das kann ich nicht glauben.“ Die Augen Iliews wurden noch freundlicher und vielleicht sogar ein bißchen traurig. „Mit dir hat man schon seine liebe Not!“ sagte er im selben scherzenden Ton. „Ich habe dir gesagt, was meiner Ansicht nach vernünftig ist. Wenn du dein Gewissen beruhigen willst, bitte, dann lauf dir ein bißchen die Hacken ab. Habe ich seinerzeit auch gemacht. Überprüfe noch einmal die Fakten. Vielleicht kommt doch was dabei heraus.“ Der Kellner kam gerade vorbei. „Noch einen?“ fragte der Alte. „Einen ganz kleinen?“ Stamenow hatte für den Abend eine Verabredung mit seinem Mädchen. Aber er wollte noch nicht gehen, er brauchte noch ein wenig Zuspruch. Das Mädchen konnte ein Weilchen warten. „Gut“, sagte er.
2 Zwei Tage später war Stamenow wieder im Büroraum des Gefängnisses. Die Luft war noch genauso abgestan73
den und staubig, das Wasser in der bauchigen Flasche hatte eine grünliche Färbung angenommen. Der Milizionär führte Radew herein. Stamenow fand ihn ein wenig verändert. Er sah ruhiger aus, war bis zu einem gewissen Grade sogar freundlich, wenn man dieses Wort überhaupt auf ihn anwenden konnte. Diesmal kam das Gespräch besser voran, Radew brummelte nicht, schaute nicht feindselig und finster drein. Doch er blieb nach wie vor unzugänglich und verschlossen, seine Antworten waren kühl und ein wenig verächtlich. „Können Sie sich nun an etwas erinnern?“ fragte Stamenow sofort. „Woran soll ich mich erinnern?“ „Darüber haben wir doch gesprochen!“ sagte der Rechtsanwalt ein bißchen ungehalten. „Wo sind Sie an dem Nachmittag gewesen, als der Mord geschah?“ „Das habe ich Ihnen doch schon gesagt! Im Dienst bin ich gewesen, wie immer. Ich führe kein zweites Leben; was ich gemacht habe, liegt offen vor aller Augen.“ Schon beim erstenmal war dem Anwalt aufgefallen, daß Radew intelligenter antwortete, als man nach seinem Aussehen hätte erwarten können. Vielleicht führte er kein zweites Leben, aber er hatte auf jeden Fall ein zweites Gesicht, das vermutlich auch seine Frau nicht richtig gekannt hatte. Außerdem hatte er seine festen Ansichten und Lebensanschauungen. Nein, er war durchaus kein farbloser Angestellter in einer nebensächlichen Dienststelle. „Aber vielleicht ist an dem Tag doch irgend etwas Besonderes geschehen … das uns als Anhaltspunkt dienen könnte.“ „Ich weiß nicht. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich mich an nichts erinnere. Die Tage in unserer Dienststelle gleichen einander wie ein Ei dem anderen.“ Radew antwortete sofort, ohne auch nur zu überlegen. Der junge Rechtsanwalt wurde allmählich wütend. 74
„Na schön, aber der fragliche Tag gleicht nicht allen anderen. Schildern Sie ihn mir ausführlich.“ „Na, ganz einfach. Ich kam nach Hause. Ich klingle nie, sondern schließe mir selbst auf und gehe hinein. Es war niemand da. Ich trat in die Küche – alles war in Ordnung. Da ging ich ins Schlafzimmer, und dort fand ich sie dann, auf dem Bett.“ „Bis zum Hals zugedeckt? Oder war die Decke ein wenig zurückgeschlagen?“ „Die Decke war ein wenig zurückgeschlagen. Ich wußte einfach nicht, was ich machen sollte. Nicht einmal, daß die Miliz unterrichtet war, wußte ich. Ich setzte mich auf einen Stuhl und wartete, ohne daß etwas in mein Bewußtsein drang. Nach einer Weile wurde heftig geklingelt. Es war ein Milizionär in Zivil. Und danach kamen auch die anderen.“ Das Gespräch war völlig belanglos. Bis jetzt hatte Stamenow nichts erfahren. Er überlegte. „Ich versuche, mich auf Ihren Standpunkt zu stellen“, sagte er. „Ich glaube, daß Sie unschuldig sind. Trotzdem ist mir vieles völlig unklar.“ Radew schwieg. „So wissen Sie zum Beispiel außerordentlich viel über den Mord, und zwar erstaunliche Einzelheiten. In Ihrer schriftlichen Aussage haben Sie dargelegt, daß Sie Ihre Frau mit drei Messerstichen getötet haben. Zuerst einen in den Rücken, danach zwei in die Brust. Lassen wir einmal die Tatsache beiseite, daß dies schon an und für sich merkwürdig ist … Ein Mensch, der vor Wut von Sinnen ist, stößt blindlings und wahllos zu. Alle drei Messerstiche hätten in den Rücken gehen müssen.“ „Ich habe kein einziges Mal zugestochen.“ „Gut, das verstehe ich. Aber ich verstehe nicht, wie Sie wissen können, daß es genau drei Stiche waren. Und wo sie dem Opfer zugefügt wurden.“ Der junge Rechtsanwalt blickte Radew unverwandt 75
an. Doch dessen etwas farblose Augen blieben unverändert ruhig und ausdruckslos. „Während die Miliz die Untersuchung durchführte, habe ich im Wohnzimmer gewartet … und alles gehört, was sie redeten.“ Stamenow hätte vor Erleichterung beinahe aufgeatmet. Zum erstenmal hörte er etwas, was ihm als Argument dienen konnte. Noch dazu als Argument von unermeßlicher Bedeutung. „Ja, das ist gut, diese Antwort stellt mich zufrieden“, sagte er. „Aber Sie haben auch ausgesagt, daß Sie das Messer in den Müllschlucker geworfen haben. Und dort hat es die Miliz dann auch tatsächlich gefunden. Wie wollen Sie mir das erklären?“ Radew runzelte die Brauen. „Ich habe das erstbeste gesagt, was mir einfiel. Was sollte ich denn sagen – daß ich’s verschluckt hatte? Woher sollte ich wissen, daß sie es wirklich dort finden würden?“ Stamenow nickte wieder, wenn auch ein bißchen resigniert. So eine Erklärung wirkte nicht allzu glaubhaft. Weder ließ sie sich einwandfrei bestätigen noch widerlegen. „So weit, so gut“, sagte er. „Aber da ist noch ein rätselhafter Umstand … Die Ermordete wurde woandershin geschafft. Weshalb? Dafür gibt es nur eine einzige vernünftige Erklärung, wie der Untersuchungsrichter behauptet. Dieselbe, die Sie in Ihrer Aussage gaben – damit sie der Junge nicht sah.“ Radew schwieg. Der Rechtsanwalt sah an seinem Blick, daß er nicht nachdachte. Er schwieg einfach. „Ich habe die Leiche nicht woandershin gebracht“, antwortete er endlich. „Das hat der Mörder gemacht.“ „Aber, mein Gott, weshalb?“ „Um ihrer selbst willen.“ Stamenow horchte auf. 76
„Was wollen Sie damit sagen?“ „Das, was ich gesagt habe.“ „Aber Sie müssen dabei doch an etwas denken …“ „Selbst wenn ich dabei an etwas dächte, würde ich es Ihnen nicht sagen“, entgegnete Radew ruhig. „Weshalb soll ich Ihre Gedanken in eine falsche Richtung lenken?“ Aber Stamenow gab nicht gleich auf. Lange bemühte er sich, aus Radew herauszuholen, was dieser vermutlich im Sinn hatte, erreichte aber nichts. Schließlich brauste Radew beinahe auf. „Bitte, fragen Sie mich nichts weiter!“ sagte er nervös. „Sonst weise ich Ihre Verteidigung wirklich noch zurück.“ „Schon gut, schon gut!“ Stamenow gab sofort nach. „Ärgern Sie sich nicht. Schließlich werden Sie sich doch im klaren sein, daß ich alles zu Ihrem Besten tue.“ Damit war das Gespräch zwischen ihnen beendet. Abermals trat der Anwalt wie benommen auf die Straße. Er wurde das Gefühl nicht los, bei seinen Fragen etwas vergessen zu haben, etwas sehr Wichtiges und Ernstes. Und er kam nicht darauf, was. Vielleicht war es nichts, vielleicht kam es ihm nur so vor. Was hatte Radew mit seiner Anspielung eigentlich gemeint? Ihretwegen! Warum ihretwegen? Unerklärlich! Nein, dieser Mensch wußte unbedingt mehr! Mehr, als er sagte. Aber vermutlich würde er bis zum Schluß schweigen. Er mußte auf irgendeine Art selbst daraufkommen, was er meinte. Und zwar, indem er noch einmal sämtliche Fakten studierte. Er kam erst wieder zu sich, als er feststellte, daß er schwankte, vor und zurück. Die anderen Leute schwankten genauso wie er, ohne das weiter zu beachten. Da merkte er erst, daß er in den verstaubten, ruckelnden Bus gestiegen war.
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3 So begann für Shorka der Leidensweg. Und er ging ihn überlegt und gewissenhaft etwa eine Woche, ohne sich durch die Unbilden des Wandererdaseins abschrecken zu lassen. Das Wetter war immer noch so warm, selbst in den Morgenstunden war es schwül. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Schließlich mußte er herausfinden, was Stefan Radew eigentlich an diesem verhängnisvollen Nachmittag gemacht hatte. Wenn er wirklich die ganze Zeit im Büro gewesen war, würde das seine Rettung bedeuten. Jemand, der wie alle anderen Angestellten die Dienststelle um halb fünf verlassen hatte und die ganze Zeit ständig mit seinen Kollegen zusammen gewesen war, konnte den Mord nicht begangen haben. Zu diesem Ergebnis mußten die Ermittlungen führen, wenn Stefan Radew wirklich unschuldig war. Doch das glaubte der junge Rechtsanwalt nicht, denn tief in seinem Innern war er von der Unschuld seines Mandanten ganz und gar nicht überzeugt. Radews Dienststelle befand sich in einem neuen, geschmackvollen Gebäude. Bloß die drei Schreibtische in dem kleinen Raum erschienen Stamenow ein bißchen viel, sie standen allzu nahe beieinander. Jetzt befanden sich nur zwei Personen in dem Zimmer. Ein etwa fünfzigjähriger Mann, hager, mit einem langen, mageren Gesicht, von so tiefen, scharfen Falten durchzogen, daß der elektrische Rasierapparat augenscheinlich nicht bis auf deren Grund hatte dringen können; er war sehr gut, beinahe elegant gekleidet, eine schöne Krawatte mit großem Knoten zierte seine eingefallenen Brust. An dem kleinen Schreibtisch neben der Tür saß eine junge Frau, ihr längliches, angenehmes Gesicht war nicht geschminkt. Anscheinend hatte sie Mühe, ihre ebenfalls recht langen Beine unter dem Schreibtisch unterzubringen. 78
Der dritte Schreibtisch war leer. „Nehmen Sie Platz!“ sagte der Mann. Stamenow setzte sich auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch des Mannes. Während er sein Notizbuch hervorholte, fragte er beiläufig: „Ich nehme an, der leere Schreibtisch gehört Ihrem ehemaligen Kollegen?“ „Ja, es ist seiner“, antwortete der Mann. „Wir haben noch keinen Nachfolger für ihn gefunden, und es wird auch nicht gerade leicht sein, einen zu finden.“ „Was hatte er eigentlich für ein Arbeitsgebiet?“ „Er war Referent für Massenbedarfsgüter.“ „Aha! Ich bin sein Verteidiger.“ Auch diese neue Eröffnung rief keinen günstigen Eindruck hervor. Sie bekamen eher Angst um ihren Kollegen und verstummten reserviert. Das verdroß Stamenow ein wenig, und er beschloß, das Gespräch mit einem psychologischen Schock zu beginnen. Er sagte ruhig: „Ich habe Grund zu der Annahme, daß Stefan Radew ein falsches Geständnis abgelegt hat. In Wahrheit ist er völlig unschuldig.“ Den beiden klappte geradezu der Unterkiefer herunter. Sie sahen überrascht und verwirrt in einem aus. Doch allmählich trat ein Ausdruck der Befriedigung auf das Gesicht des Mannes. „Aber ja!“ rief er. „Natürlich! Wissen Sie, wie wir uns gewundert haben! Seine Frau umzubringen! So ein friedlicher, guter Mensch … Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun.“ „Wie soll er auch seine Frau umgebracht haben, wenn er den ganzen Nachmittag hier bei Ihnen war.“ Er merkte, wie sich die beiden einen schnellen Blick zuwarfen. Aber der Mann schwieg, er antwortete nicht gleich. Vielleicht sammelte er bloß seine Gedanken. Stamenow hielt den Atem an. „Können Sie sich an diesen Tag erinnern?“ fragte er. 79
„Selbstverständlich!“ entgegnete der Mann endlich. „Wie könnte man so etwas vergessen.“ „Aber die Tage im Büro gleichen sich doch wie ein Ei dem anderen.“ Er gebrauchte absichtlich Radews Redewendung. Das Gesicht des Mannes belebte sich, und er schüttelte energisch den Kopf. „So ist das nicht. Ich habe am nächsten Tag mit meiner Kollegin hier erörtert, wann er das hatte tun können. Und wir haben uns alles bis auf die letzte Minute ins Gedächtnis gerufen.“ „War er nun weg oder nicht?“ drängte der junge Rechtsanwalt ungeduldig. „Das ist es ja, daß er weggewesen ist“, erwiderte der Mann, und seine Stimme klang ein wenig betreten. „Gegen wieviel Uhr?“ „Gegen zehn vor zwei. Und er kam genau um drei wieder.“ Stamenow sah ihn ein wenig ungläubig an. „Eine lobenswerte Genauigkeit.“ „Nein, nein, ziehen Sie es nicht ins Lächerliche, ich habe meine Gründe“, entgegnete der Mann. „Ich bin schließlich Jurist wie Sie und verstehe etwas von diesen Dingen. Seien sie unbesorgt, ich mache Ihnen nichts vor. Um zwei trinken wir unseren Nachmittagskaffee. Alle drei, meine ich. Tag für Tag, wie nach der Uhr … Wenn wir unser Gehalt bekommen, gibt jeder ein paar Lewa, davon kaufen wir Kaffee und Zucker und trinken ihn gemeinsam. Die Kollegin hatte gerade das Stielkännchen aufgesetzt, als er aufbrach. Ich weiß noch, daß ich zu ihm sagte: ‚Warte doch noch den Moment, bis wir den Kaffee getrunken haben.‘ Aber er hatte es eilig.“ „Wohin?“ „Irgendwelche Nachfragen, so was kommt häufig vor. ‚Laßt mir meinen stehen‘, sagte er, ‚ich trinke ihn sowieso lieber kalt.‘ “ 80
„Und stimmt das auch?“ unterbrach ihn Stamenow. „Daß er ihn lieber kalt trinkt?“ „N-ja“, sagte Radews Kollege unsicher. „Manchmal trank er ihn auch kalt. Er ging also weg und kam Punkt drei Uhr wieder. Sie werden nun fragen, wieso ich das so genau weiß, Ich habe damals Erythromyzin genommen, und genau um drei war die nächste Tablette dran … Wie Sie sehen, haben wir auch jetzt kein Wasserglas. Er hat aber ein eigenes, das er im Schreibtisch verschließt. Als er hereinkam, habe ich ihn darum gebeten und ging mir frisches Wasser holen. Er hält sehr auf Sauberkeit, darin ist er sogar ein bißchen schrullig. Fremde Sachen faßt er nicht an.“ „Die Reinemachefrau hat Respekt vor ihm“, meldete sich die Frau zum erstenmal zu Wort. „Und wie kam er Ihnen vor? Ruhig wie immer?“ Radews Kollege dachte nach. „Daran kann ich mich nicht erinnern … Er benahm sich wie immer.“ „Nein, nein, er war völlig ruhig!“ mischte sich die Frau zum zweitenmal ins Gespräch. „Ich erinnere mich, daß er sogar einen Scherz gemacht hat. Er sei an einem Fischladen vorbeigekommen, wo die Leute Schlange standen. Sie hätten ihm gesagt, daß sie auf roten Kaviar warteten. ‚Na, wie stehen wir da?‘ sagte er. ‚Der Volkswohlstand wächst.‘ Und dann hat er seinen Kaffee getrunken.“ „Und danach?“ „Was danach?“ „Ist er dann bis Dienstschluß hiergeblieben?“ „Nein. Gegen vier ließ ihn unsere Chefin kommen. Sie heißt Newena Borowa und hat ihr Büro eine Etage höher. Ich habe das Telefongespräch entgegengenommen. Sie ließ ihm sagen, daß er sofort hinaufkommen solle. Danach haben wir ihn nicht mehr gesehen. Am Tag darauf erfuhren wir, was passiert war.“ 81
Der Rechtsanwalt überlegte. Bis jetzt war das alles ganz und gar nicht beruhigend. Von einem ernsthaften Alibi konnte keine Rede sein. „Hat schon jemand mit Ihnen über diese Dinge gesprochen? Von der Miliz zum Beispiel?“ „Nein, niemand!“ antworteten die beiden fast gleichzeitig. Die Ermittlungen waren offenbar nicht allzu sorgfältig geführt worden. Stamenow verabschiedete sich höflich von den beiden und stieg eine Etage höher zur Leiterin der Dienststelle. Eine hagere, nervöse Frau um die Fünfzig empfing ihn. Sie hatte etwas Nachlässiges, beinahe ein bißchen Schlampiges an sich, machte aber einen sympathischen Eindruck. Dazu trugen vielleicht ihre intelligenten, etwas müden Augen bei. Stamenow erklärte ihr mit wenigen Worten, wer er sei und weshalb er gekommen war. Das Gesicht der Leiterin verfinsterte sich sichtbar. „Ja, ein schreckliches Vorkommnis“, sagte sie leise. „Einfach nicht zu glauben. Es ist schon so lange her, und ich kann es immer noch nicht fassen. Dabei war er ein ungewöhnlich guter und gewissenhafter Angestellter. Freilich, er war nicht gerade mit Feuereifer bei der Sache, versah seinen Dienst dafür aber außerordentlich sorgfältig.“ Sie überlegte kurz und fügte hinzu: „Er hatte etwas Bedrücktes an sich … Ich begreife nicht, wie so ein Mensch zum Mörder werden kann.“ „Ich begreife es auch nicht“, antwortete Stamenow unwillkürlich. „Ja, etwas Bedrücktes und Verhärmtes … Ich verstehe, daß er sofort gestanden hat. Solche Menschen haben keinen Willen zum Widerstand.“ „Seine Kollegen sagen, Sie hätten ihn an diesem Tag zu sich bestellt.“ „Ja, das stimmt“, sagte die Frau und nickte. „Gegen wieviel Uhr?“ 82
„Ich glaube, es war gegen vier. Ich mußte einen Bericht an unsere Hauptdirektion fertigmachen. Und er ist der Hauptreferent für diese Waren, ohne ihn geht das nicht. Wir haben den Bericht geschrieben, und dann ist er gegangen.“ „Wie spät war es zu diesem Zeitpunkt?“ „Das kann ich Ihnen nicht genau sagen, bei uns gibt es kein Klingelzeichen, aber es muß gegen fünf gewesen sein.“ „Wie kam er Ihnen vor?“ „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Ich war schon recht abgespannt, darauf habe ich nicht geachtet. Doch soweit ich mich erinnern kann, sah er ganz normal aus. Mit dem Bericht kam er zum Beispiel wie immer ohne Schwierigkeiten zurecht.“ „Ich danke“, sagte der Rechtsanwalt. „Darf ich den Bericht einmal sehen?“ Die Leiterin sah ihn erstaunt an. „Muß das sein?“ „Ja, es muß sein.“ „Immerhin handelt es sich um einen dienstlichen Bericht, der vertraulich ist.“ „Es geht um das Schicksal eines Menschen, Kollegin Borowa.“ Die Leiterin zögerte einen Moment, ging dann an den Schrank und nahm einen Aktenhefter heraus. Sie blätterte eine Weile darin herum, dann reichte sie ihm zwei mit einer Klammer zusammengeheftete Blätter. „Das ist er“, sagte sie kurz. Stamenow las ihn aufmerksam durch. Es war tatsächlich ein vorbildlicher Bericht, solide und kurz, mit der Schreibmaschine geschrieben. So sorgfältig er ihn auch durchlas, er konnte weder einen Tipp- noch einen Rechtschreibfehler entdecken. Am Ende stand das Datum: 27. Mai. An diesem Tag war der Mord verübt worden. 83
„Wer hat den Bericht getippt?“ fragte der Rechtsanwalt. „Radew selbstverständlich. Er schreibt sehr gut Maschine.“ „Ja, man sieht es.“ Der junge Mann nickte. „Es wird sich erforderlich machen, daß ich einen Durchschlag des Dokuments mitnehme.“ „Wieso denn das?“ „Für mich hat dieser Bericht den Wert eines Beweisstückes“, antwortete Stamenow. „Zusammen mit Ihrer mündlichen Aussage beweist er, daß Radew zwischen vier und fünf bei Ihnen gewesen ist.“ Die Leiterin der Dienststelle runzelte die Brauen. „Das darf ich nicht ohne Genehmigung unseres Hauptdirektors“, sagte sie. „Aber ich glaube, es wird sich machen lassen.“ Stamenow verließ die Dienststelle mit recht zwiespältigen Gefühlen. Er hatte tatsächlich keine ernsthaften Beweise für ein Alibi erhalten, aber damit hatte er auch nicht gerechnet. Etwas hatte er aber immerhin doch erreicht – wenigstens für die Zeit zwischen drei und fünf hatte er jetzt präzise Aussagen. Blieb noch das fatale Weggehen. Er mußte auf irgendeine Weise feststellen, wo Radew in dieser Zeit gewesen war, was er gemacht hatte. Angeblich irgendwelche Rückfragen. Aber wo, falls es wirklich stimmte? Ob dieser finstere, verschlossene Mensch nicht endlich seinen Verstand ein bißchen anstrengen und sich an etwas erinnern wollte? Oder behauptete er vielleicht nur, sich nicht erinnern zu können? Weil er besser als jeder andere wußte, wo er wirklich gewesen war? Mit rauchendem Kopf trat er in eine Garküche und ließ sich eine doppelte Portion Kuttelflecksuppe mit Knoblauch geben. Dazu eine Limonade … Wenn er das Verbrechen wirklich zwischen zwei und drei begangen hatte, wie konnte er dann so ruhig in die 84
Dienststelle zurückkommen? Freilich gab es auch solche Fälle von verblüffender Ruhe und Kaltblütigkeit. Doch hier verwirrten sich die Dinge zu einem unlösbaren Knoten. Und wenn er ein ruhiger, berechnender und kaltblütiger Mörder war – warum sollte er dann ein Geständnis ablegen? Eine ausweglose Geschichte! Während er die brennendscharfe Suppe löffelte, merkte er, daß sich ihm immer stärker ein ungeheuerlicher Gedanke aufdrängte: Wenn nun Radews dümmliche und unwahrscheinliche Erklärungen die einzige und einfache Wahrheit waren? Können denn alle Wahrheiten logisch und wahrscheinlich sein? Welcher Wissenschaftler hatte denn einmal gesagt, daß eine bestimmte Theorie zu glaubwürdig sei, um wirklich stimmen zu können? Stamenow stürmte aus dem Lokal, ohne auch nur einen Schluck von der Limonade getrunken zu haben. Er mußte Radew unverzüglich sehen, ein bißchen tiefer in diese dunkle Geschichte eindringen. Und wenn nicht in die Geschichte des Mordes, so wenigstens in die der Gefühle. Doch die Begegnung kam erst am nächsten Tag zustande. In der Eile hatte er versäumt, eine Genehmigung für ein Gespräch unter vier Augen zu beantragen, so daß es im allgemeinen Besucherraum stattfand. Und er merkte sofort, daß er einen Fehler gemacht hatte. Durch das lästige ovale Schalterfenster voneinander getrennt, waren sie einander jetzt fremder als jemals zuvor. Außerdem war Radew anscheinend abermals von Depressionen befallen – er sah so verschlossen und abweisend wie bei ihrer ersten Begegnung aus. „Ich möchte noch einmal ein wenig mit Ihnen sprechen“, wisperte Stamenow durch die Schalteröffnung. „Ich möchte, daß Sie mir etwas mehr über Ihre familiären Verhältnisse erzählen.“ Radew antwortete nicht, blickte nur mürrisch auf sei85
nen Nebenmann. Ein kleiner, blasser, verschüchterter Mann sprach ebenfalls mit seinem Verteidiger, aber so leise, daß die beiden beinahe mit den Stirnen aneinanderstießen. „Kümmern Sie sich nicht um die!“ sagte Stamenow. „Die haben genug eigene Sorgen.“ „Ich mache mir nichts daraus“, erwiderte Radew unfreundlich. „Aber Ihnen habe ich auch nichts mehr zu sagen.“ „Schon gut, schon gut, ich mache es kurz“, sagte Stamenow nachgiebig. „Nur ein paar ganz allgemeine Fragen. Sie haben mir selbst gesagt, daß Ihre Frau Sie nicht aus Liebe geheiratet hat, sondern bloß, um nicht sitzenzubleiben.“ Radew runzelte die Brauen. „Ja, das habe ich Ihnen gesagt.“ „Aber danach war sie eine gute Frau und fürsorgliche Mutter. Was bedeutet das genauer? Daß sie Sie vor der Geschichte mit Genow nicht mit anderen Männern betrogen hat?“ „Das nehme ich wenigstens an“, erwiderte Radetrockenen. „Ja, ich verstehe, solche Fälle gibt es. In der Vergangenheit war das vielleicht sogar die Mehrzahl der Fälle – daß die Leute nicht aus Liebe heirateten. Doch viele ernst zu nehmende Psychologen und Soziologen behaupten, daß dies auch die Grundlage für eine gute Ehe abgeben kann. Beim Zusammenleben kommt im Laufe der Zeit Liebe, Zärtlichkeit, Verbundenheit und – wie soll ich sagen – eine gewisse Übereinstimmung, in dem Sinn, daß sich die sexuellen Beziehungen einspielen. Hat sich bei Ihnen nicht auch so etwas ergeben?“ „Nein!“ erwiderte Radew schroff. „Sie ist mir bis zum Schluß fremd geblieben.“ „In jeder Beziehung?“ „Ja, in jeder Beziehung.“ 86
„Aber Sie haben zwei Kinder.“ „Es geht nicht um die beiden Kinder“, antwortete Radew nervös. „Ich spreche prinzipiell.“ „Und hat sie ihre Kinder geliebt?“ „Sicherlich. Wie jede normale Mutter. Aber nicht so innig und schmerzlich wie ich.“ „Wieso schmerzlich?“ Der Rechtsanwalt warf ihm einen schnellen Blick zu. „Ganz einfach“, entgegnete Radew diesmal ruhiger. „Der Mensch überträgt das auf die Kinder, was er der Mutter nicht zu geben vermocht hat, und bemüht sich, von ihnen das zu bekommen, was er von ihr nicht erhalten hat.“ „Ja, Sie haben recht.“ Stamenow nickte. „Und trotz allem haben Sie Ihre Frau weiterhin genauso geliebt wie zu Anfang?“ „Ja, genauso ist es.“ „Das nehme ich Ihnen nicht ab!“ widersprach ihm Stamenow unerwartet scharf und heftig. „Das kann nicht wahr sein.“ Der junge Mann wäre bereit gewesen zu schwören, daß in Radews Augen so etwas wie Neugier erschien. „Warum meinen Sie das?“ fragte er. „Ganz einfach. Eine unerwiderte Liebe kann es nicht geben. Auf welcher Grundlage sollte sie gedeihen?“ „Und meiner Ansicht nach kann es keine erwiderte Liebe geben“, widersprach Radew ruhig. „Erwiderte Liebe verzehrt sich rasch selbst und verwandelt sich in egoistische Gewohnheiten.“ „Ich weiß nicht. Das ist mir zu hoch“, sagte Stamenow. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie Ihr ganzes Leben lang diese Kälte haben ertragen können … die in Wahrheit Verachtung ist … und die Beleidigung all dessen, was jeder normale Mensch in sich schätzt. Wie ist es möglich, daß dies alles nicht wenigstens in heimliche Feindschaft umschlägt?“ 87
„Möglich wäre das, selbstverständlich! Aber wie ist es möglich, daß Gläubige solche Liebe zu ihrem Gott empfinden? Kann es auf dieser Welt etwas Ferneres und Unbarmherzigeres geben als ihn?“ „Aber gerade deswegen hören doch immer mehr Menschen auf, an ihn zu glauben.“ Radew seufzte unmerklich. „Nicht alle … nur die geistig Starken. Und die Unterwerfung tötet auch den letzten Rest von geistiger Kraft und Selbständigkeit ab. Sie war in diesem tragischen Spiel stärker als ich.“ „Tragisch, sagten Sie? Wieso tragisch?“ Radews Gesicht verdüsterte sich erneut. „Sie stellen mir die Fragen nicht wie ein Verteidiger, sondern wie ein Untersuchungsrichter“, sagte er erbittert. „Da sind Sie absolut im Irrtum. Ich will Ihnen wirklich helfen. Na gut, streiten wir uns nicht länger. Können Sie mir irgendeinen objektiven Beweis für Ihre Liebe zu Ihrer Frau liefern? Etwas, was ich vor Gericht anführen kann? Irgendwelche Briefe zum Beispiel? Oder ein Vorkommnis …“ „Wir haben uns nie im Leben Briefe geschrieben“, entgegnete Radew. Stamenow blicke auf. In diesen Worten schwang ein seltsamer Gram mit. „Haben Sie sich mit Ihrer Frau nie wegen ihres Liebhabers gestritten?“ „Nie.“ „Ihn nicht einmal vor ihr erwähnt?“ Radew antwortete nicht gleich. „Nur zweimal habe ich ihr angedeutet, daß es nicht angehe, wenn man sie mit fremden Leuten an allen möglichen Orten sehe. Eigentlich war das keine wirkliche Vorhaltung. Es war eher eine Kapitulation.“ Stamenow verstummte. Auch dieses Gespräch führte 88
offensichtlich genau wie die vorangegangenen zu nichts. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als seine wichtigste Frage zu stellen. Und er stellte sie beinahe beiläufig – Radew sollte auf keinen Fall merken, daß er ihr besondere Bedeutung beimaß. „Ihre Kollegen sagen, daß Sie am Tage des Mordes Ihre Dienststelle zwischen zwei und drei Uhr verlassen haben. Wo sind Sie da gewesen?“ „Ich war wegen ein paar Rückfragen unterwegs.“ „Und zwar wo?“ „Bei Technoimpex, glaube ich … Und bei Rudmetall …“ Mehr zu fragen getraute er sich nicht – das war ja immerhin schon ein Hinweis. Doch als er wenig später das Gefängnis verließ, war er eher verstimmt als froh. Er versuchte sich diese beiden Menschen vorzustellen, die mehr als zwei Jahrzehnte ohne eine Spur gegenseitiger Liebe nebeneinanderher gelebt hatten, und konnte es nicht. Er wollte sie sich ohne ein Lächeln am frühen Morgen vorstellen und mit leerem Blick am Abend, bevor sie sich in das gemeinsame Schlafzimmer begaben. Er brachte es nicht fertig. Abermals hatte er das Gefühl, daß hinter dieser ganzen verworrenen Geschichte eine Lüge steckte. Er suchte Iliew im Büro auf, um sich mit ihm darüber zu unterhalten, aber der Alte war weggegangen. Da ging er in die Kneipe, aber dort war er auch nicht. Die Gaststube war ziemlich voll, doch ihr kleiner, unbequemer Tisch war frei. Er merkte erst, daß er sich gesetzt hatte, als der Kellner sich in Richtung auf seinen gehobenen Finger in Bewegung setzte. „Ist alle“, sagte er, noch ehe Stamenow den Mund aufgemacht hatte. „Ja, ja, ich weiß … Dann vielleicht einen kleinen Mastika. Und ein paar saure Gurken.“ Der Kellner entfernte sich. Ob nicht Iliew auf dieselbe Weise mit seinen kleinen alkoholischen Abenden angefangen hat? dachte Stamenow. Nach einem Gespräch im 89
Gefängnis, nach einem schweren Tag bei Gericht, um die bedrückenden Gedanken zu verscheuchen?
4 Am Tag darauf konnte man in den Straßen des Stadtzentrums einen jungen Mann beobachten, der aussah, als hätte er nicht alle beisammen. Er ging immer geradeaus, den Blick starr nach vorn gerichtet, und bewegte kaum merklich die Lippen, als zähle er. Alle zwei, drei Minuten schaute er prüfend auf seine Armbanduhr. Danach trat er in einen Fischladen und kam mit lächelnder Miene heraus, obwohl sie nur gesalzene Anschovis hatten. Dann legte er denselben Weg noch einmal zurück, diesmal aber mit schnellen Schritten. Die Füße taten ihm schon weh, deshalb trat er in eine Konditorei und bestellte sich eine Bosa. Er leerte das Glas fast auf einen Zug, so zufrieden war er mit dem Ergebnis seines Marsches. Diesmal traf er Iliew im Büro an – er hatte gerade das Stielkännchen aufgesetzt, um sich einen Kaffee zu kochen. Stamenows erregtes Gesicht verriet deutlich, daß er irgendwelche Neuigkeiten brachte. „Erst trink mal deinen Kaffee!“ sagte der Alte. „Dann kannst du erzählen.“ Aber Stamenow begann schon, als sie den Kaffee erst zur Hälfte getrunken hatten. Er berichtete hastig und ein bißchen zusammenhanglos. „Es ist keine Lüge!“ sagte er. „Er war tatsächlich zwischen zwei und drei in diesen beiden Verwaltungen. Das kann ich belegen. Der Mann hat dort seine Unterschrift hinterlassen, weil er an beiden Stellen verschiedenes Material bekommen hat. Mit Datum und allem Drum und Dran. Die Uhrzeit steht freilich nicht dabei, aber die Leute haben sich erinnert. Ich habe sie ganz genau be90
fragt, er hat sich an den beiden Stellen insgesamt etwa dreißig Minuten aufgehalten.“ „Und die übrigen dreißig Minuten?“ „Das ist der Weg. Ich bin ihn zweimal abgegangen, einmal in fünfundzwanzig, einmal in dreißig Minuten. Auch der Fischladen ist da, alles stimmt. Ich meine jetzt die Schlange. Er hat ganz eindeutig keine Zeit gehabt, noch nach Hause zu gehen, den Mord zu verüben und in die Dienststelle zurückzukehren.“ Doch Iliew schien von den Entdeckungen seines jungen Kollegen nicht sonderlich beeindruckt. „Und wenn er ein Fahrrad genommen hat?“ sagte er. „Was sollte er mit einem Fahrrad?“ „Na, dein Alibi zunichte machen. Oder sagen wir, ein Motorrad. Oder einen Hubschrauber …“ „Ich spaße nicht!“ sagte Stamenow gekränkt. „Ich auch nicht. Begreifst du nicht, daß das kein Alibi ist? Das Gericht wird überhaupt nichts darauf geben.“ Stamenow sah ihn ein wenig erstaunt an. „Das Gericht? Vom Gericht rede ich ja noch gar nicht. Mich beschäftigt diese Frage persönlich.“ „Wie willst du dir dann diese Frage beantworten? Wegen des Hubschraubers, meine ich.“ „Er hat keinen Hubschrauber genommen. Auch kein Motorrad und keine Rollschuhe. All das würde für Vorbedacht sprechen. Gut, er hat gewußt, daß seine Frau zu Hause ist, hat von der Zeit was abgeknapst, ist hingegangen und hat sie umgebracht. Dann kehrt er in die Dienststelle zurück und spielt den Ahnungslosen. Akzeptiert! Aber wieso, zum Teufel, soll er dann ein paar Stunden später anfangen, Geständnisse abzulegen? Darin liegt doch kein bißchen Logik!“ Iliew seufzte unbehaglich. „Das sehe ich auch, so dumm bin ich nicht. Und ich will dir darauf antworten. Danach ist etwas geschehen, was ihn genötigt hat, ein Geständnis abzulegen.“ 91
„Was zum Beispiel?“ „Weiß ich’s? Er hat beispielsweise irgendein unanfechtbares Beweisstück zurückgelassen und erkannt, daß man auf ihn stoßen würde. Da hat er beschlossen, die geringere Schuld auf sich zu nehmen.“ „Aber das sind doch Hirngespinste!“ rief der junge Rechtsanwalt ärgerlich. „Warum Hirngespinste? Es betritt, sagen wir mal, seine Tochter die Wohnung und überrascht ihn am Tatort … Welche andere Version könnte er sich da ausdenken als die, die er bei der Ermittlung erzählt hat?“ Stamenow sah ihn mit großen Augen an. „Weißt du, das ist eine Idee!“ rief er. „Komm, komm, du bist gleich wieder Feuer und Flamme. Das, was du mir erzählst, sind Kommentare. Und was ich rede, sind auch Kommentare … Aber das Gericht interessiert sich nur für Fakten.“ Stamenow ließ plötzlich den Kopf hängen. „Ja, du hast recht“, gab er kleinlaut zu. „Ich rate dir folgendes: Sieh noch einmal sämtliches Material der Ermittlung durch. Fotos, Gutachten, Beweisstücke und so weiter. Such seine Tochter auf.“ „Aber ich habe es doch schon durchgesehen.“ „Ich sagte: noch einmal! Vielleicht entdeckst du etwas, was verborgen geblieben ist – sowohl der Ermittlungsbehörde als auch dir – und das das Rätsel vielleicht löst.“ Stamenow schien plötzlich alles um sich herum vergessen zu haben. Er dachte lange nach, dann stand er bedrückt auf. „Seine Tochter, sagst du …“, brummte er vor sich hin. Dieser Gedanke ließ ihn den ganzen Tag nicht los. Und er führte ihn gleich am nächsten Morgen zur Trolleybushaltestelle. Danach fand er sich, gehörig mit gelöschtem Kalk und Asphalt beschmiert, mit hängender Zunge vor Rosas Wohnung im achten Stock ein. Aber sein 92
Klingeln war so kraftlos, daß Rosa es kaum hörte. Hier wurde selten geklingelt. Sie erschien recht befremdet an der Tür. Der Mann, der draußen stand, blies offensichtlich auf dem letzten Loch. „Ich bin der Verteidiger Ihres Vaters“, stieß er schnaufend hervor. Rosa hätte ihm am liebsten die Tür vor der Nase zugeschlagen. Nur sein erschöpfter Blick hielt sie zurück. „Wer hat sie engagiert?“ erkundigte sie sich für alle Fälle. „Niemand. Ich bin sein Pflichtverteidiger.“ Rosa gab ihm widerwillig den Weg frei. Wie stets war sie am Morgen allein – ihr Mann war zur Arbeit gegangen, Filip war in der Schule. Wie sollte sie diesen Kerl mit dem Aussehen eines Bankräubers in die Wohnung lassen? Nachdem er sich ausgewiesen hatte, beruhigte sie sich ein bißchen. Dennoch sah sie ihn recht unfreundlich an, während er, nach Atem ringend, auf einem der Stühle saß und sich langsam erholte. „Was kann ich für Sie tun?“ fragte sie einsilbig. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß so ein Mensch ihren Vater wirklich verteidigen werde. Ein wenig brachte sie auch sein neugieriger Blick auf. „Zunächst möchte ich Sie fragen, ob Sie die Anklageschrift gelesen haben“, begann er. „Nein“, erwiderte sie. „Und warum nicht? Interessiert Sie das Schicksal Ihres Vaters denn nicht?“ Das war kein guter Anfang. Ihr Gesicht verfinsterte sich, und sie sagte trocken: „Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen eine Erklärung zu geben.“ „Ja, verzeihen Sie. Ich bin ja auch nicht gekommen, um mich mit Ihnen zu streiten, sondern um Ihrem Vater zu helfen.“ Jetzt sah wiederum sie ein, daß sie etwas falsch gemacht hatte. Sie errötete ein wenig und sagte leise: „Ich habe sie nicht gelesen, wie ich schon sagte.“ 93
„Wie dem auch sei, mich interessiert, wie das Verhältnis zwischen Ihrem Vater und Ihrer Mutter war.“ Ihre Miene wurde wieder verschlossen. „Auf diese Frage habe ich schon ein paarmal geantwortet. Zwischen Ihnen war alles in bester Ordnung.“ „Gut, einverstanden. Aber könnten Sie mir dafür ein paar Beweise liefern? Etwas, was ich vor Gericht verwenden kann.“ „Was zum Beispiel?“ „Ich weiß nicht. Eben etwas, woraus hervorgeht, daß ihre Beziehungen zumindest gut waren. Oder sogar herzlich; nehmen Sie es, wie Sie wollen. Daß sie zum Beispiel gemeinsam ins Restaurant gegangen sind, ins Theater oder vielleicht ins Konzert …“ „Ist das wichtig?“ „Begreifen Sie nicht, wie wichtig das ist? Kann etwa jemand seine Frau umbringen, wenn er mit ihr in Frieden und gutem Einvernehmen gelebt hat?“ Rosa schwieg, ihre Augen wurden traurig. „Sie sind nie zusammen ausgegangen“, antwortete sie leise. „Wie erklären Sie sich das?“ „Sie waren einfache Leute … und lebten ihr eigenes, zurückgezogenes Leben. Ich glaube, alle Leute in ihrem Alter führen so ein Leben.“ „Ja, ich verstehe“, antwortete er so niedergeschlagen, daß sie abermals fragte: „Ist es denn wirklich so wichtig?“ „Auch wenn es wichtig ist, werde ich Sie deswegen nicht zu einer falschen Aussage verleiten“, erwiderte er. „Haben Sie einmal etwas von einem gewissen Herrn Genow gehört?“ „Klatsch interessiert mich nicht“, entgegnete sie kurz. „Haben Sie einen Schlüssel zur Wohnung Ihrer Eltern?“ fragte er plötzlich. „Nein.“ 94
„Aber Sie haben doch bei ihnen gewohnt.“ „Wir haben Sie zurückgegeben, als wir hierherzogen.“ „Ein bißchen merkwürdig“, wandte er ein. „Es ist schließlich Ihr Elternhaus.“ „Schlüssel werden immer gebraucht“, widersprach sie ungeduldig. „Was sollten wir damit?“ „Und wo waren Sie am Tage des Mordes?“ erkundigte er sich. „Ich meine, an diesem Nachmittag.“ „Hier … zu Hause.“ „Ganz allein? Oder mit ein paar Freundinnen?“ „Allein, natürlich …“ Sie blickte ihn starr an, dann sagte sie böse: „Weshalb stellen Sie mir diese Fragen? Sie wollen doch nicht etwa behaupten, ich hätte meine Mutter umgebracht?“ „Ich weiß nur, daß Ihr Vater sie nicht getötet hat, wie er in seinem Geständnis erklärt.“ Eine Weile sahen sie sich an, als wollten sie einander mit Blicken durchbohren. „Glauben Sie das wirklich?“ fragte sie dann erregt. „Ja, das glaube ich!“ entgegnete er dann bestimmt. „Der Haken ist nur, daß mir niemand helfen kann.“ Unvermittelt stand er auf. Rosa sah ihn erschrocken an. „Sind Sie in Eile?“ „Ja, ich bin in Eile. Aber ich lasse Ihnen meine Anschrift hier, falls Sie mir noch etwas zu sagen haben …“ Er wußte sehr gut, daß sie ihm nichts weiter zu sagen hatte. Das Mädchen war offenbar völlig unschuldig. Wie es wahrscheinlich auch ihr Vater war. Aber der Verdacht Iliews bohrte weiter in ihm – er konnte nicht die Augen davor verschließen, daß auch solch eine Variante möglich war. Deshalb machte er sich mit noch größerem Eifer über die Ermittlungsakten her und merkte erst jetzt, auf welch schwachen Füßen die ganze Anklage stand. Der Untersuchungsrichter hatte sich offenbar viel stärker auf das Geständnis gestützt, als es das Gesetz zuließ. 95
Er hatte diesem Geständnis einfach vorbehaltlos Glauben geschenkt und sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Fakten in Erfahrung zu bringen, die er selbst, Stamenow, mit so viel Fleiß herausgefunden hatte. Als er die Beweisstücke sorgfältig studierte, fiel ihm auf, daß das Messer, mit dem der Mord begangen worden war, ganz neu war. Sowohl der Holzgriff als auch die Stahlschneide glänzten vor Neuheit. Der Anwalt hatte den Eindruck, daß es nur ein einziges Mal benutzt worden war – eben bei dem Mord. War das dem Untersuchungsrichter etwa nicht aufgefallen? Er fand nirgends einen Hinweis darauf … Ebenso leicht ließ sich feststellen, daß die Ermordete am Tag des Mordes, einem gewöhnlichen Werktag, am Morgen in ihrem besten Kostüm weggegangen war. Das deutete darauf hin, daß sie offenbar ein Rendezvous mit ihrem Liebhaber gehabt hatte. Aber auch diesen Umstand hatte der Untersuchungsrichter nicht beachtet; er hatte ihn eher als Beweis für seine These genommen. Ja, nicht einmal die Mühe, den berühmten Herrn Genow persönlich zu vernehmen, hatte er sich gemacht, sondern sich mit dessen schriftlicher Aussage begnügt. Der Advokat hatte einfach seine Beziehungen zu der Ermordeten zugegeben. Er versicherte, es habe sich um seriöse, ehrliche Beziehungen gehandelt und sie hätten die Absicht gehabt zu heiraten. Nur das Alter des Jungen habe sie davon abgehalten – sie hätten warten wollen, bis er älter war, damit ihn die Scheidung der Eltern nicht so schmerzlich traf. Stamenow wurde nachdenklich. Ein dunkler Verdacht bohrte in ihm, aber er wagte nicht, ihn laut werden zu lassen. Er seufzte bedrückt, gab das ganze Aktenmaterial zum Wegschließen zurück und verließ mit wirrem Kopf das Untersuchungsgericht. Seine Fußmarschabenteuer begannen aufs neue. Zuerst suchte er das Fremdsprachengymnasium auf. 96
Wenn auch nicht ohne Mühe, so brachte er doch heraus, daß die Radewa am Tage des Mordes bis Mittag im Dienst gewesen war oder doch fast bis Mittag. Sie sei gegen drei Viertel zwölf weggegangen, ohne Bescheid zu sagen, daß sie am Nachmittag nicht wieder zur Arbeit kommen werde. „Ist das auch sonst hin und wieder vorgekommen, daß sie der Arbeit ohne triftige Gründe fernblieb?“ fragte Stamenow. Die beiden verblühten aristokratischen Kolleginnen der Ermordeten sahen sich vielsagend an. „Nicht sehr oft“, antwortete die eine. „Und dann für gewöhnlich nachmittags.“ „Sie haben sie selbstverständlich gedeckt?“ sagte er. „Selbstverständlich.“ „Und warum?“ „Was heißt warum? Einfach aus Kollegialität.“ „Dieses Wort ist nicht sehr gut gewählt“, wandte er ein bißchen ironisch ein. „Denn Sie haben gewußt, daß sie zu einem Rendezvous ging.“ Die beiden Frauen versuchten Einwände zu machen. Nichts dergleichen hätten sie gewußt, und woher hätten sie es auch wissen sollen? Nie habe ihnen die Radewa so etwas gestanden. „Natürlich nicht“, entgegnete er. „Aber Sie haben doch wie alle Frauen eine gute Beobachtungsgabe. Es muß Ihnen aufgefallen sein, daß sie an solchen Tagen immer recht feingemacht zur Arbeit kam.“ Die beiden Frauen schwiegen verlegen. Er brauchte nicht weiter zu fragen – es war klar, daß er die Wahrheit getroffen hatte. Dennoch stellte er eine letzte Frage: „Wie erschien sie Ihnen an diesem letzten Tag? Also faktisch wenige Stunden vor ihrem Tod? Bedrückt? Niedergeschlagen? Oder aber erregt und aufgekratzt?“ Dieses Mal dachten die beiden Frauen recht gründlich nach. „Sie verstand es, sich zu verstellen“, antwortete 97
schließlich die Jüngere. „Man sah ihr nie etwas an. Aber im großen und ganzen schien sie guter Dinge zu sein.“ Abermals nahm Stamenow die Beine unter die Arme. Jetzt suchte er die beiden alten Jungfern auf. Als sie erfuhren, daß er Radews Verteidiger war, hätten sie ihn beinahe hinausgeworfen. „Daß Sie sich nicht schämen!“ brauste die Ältere auf. „Einen Mörder zu verteidigen! Ist das die neue Gerichtsbarkeit?“ Recht und schlecht gelang es ihm, sie zu beruhigen. Dann stellte er ihnen seine einzige Frage: „Waren Sie bei der Beerdigung?“ „Wie denn nicht?“ Sie schauten ihn entrüstet an. „Es war ein sehr schönes Leichenbegängnis.“ „Die Feier fand in der Kirche statt“, fügte die Jüngere würdevoll hinzu. „Und mit Chor … wie es sich für eine wahre Christin gehört.“ „War Herr Genow auch da?“ „Nein, er ist nicht gekommen“, sagte die Ältere beleidigt. „Vielleicht hat er’s nicht gewußt.“ Ja, vielleicht … Stamenow schritt finsteren Gesichts durch die Straße, von der matten Herbstsonne beschienen. An diesem Tag war es nicht so heiß, und es versprach, noch kühler zu werden. Aber das besserte seine schlechte Laune auch nicht. Zum Teufel, er war auf dem falschen Weg! Es war nicht seine Sache, zu beweisen, wer der wirkliche Mörder war. Und es widersprach sogar der Berufsethik, irgendwelche Andeutungen in dieser Hinsicht zu machen. Seine Aufgabe war es, Radews Unschuld zu beweisen. Obwohl sich im Laufe des vergangenen Tages ein neuer Verdacht in seinen Kopf geschlichen hatte. Dieses Messer, dieses so neue Messer! Weshalb hatte er das ein paar Tage vor dem Mord kaufen müssen? Bei diesen Geschichten ist selbst solch ein zufälliges Zusammentreffen von Umständen fatal. Zu gern hätte er Radew noch einmal danach gefragt, aber er 98
hatte es im Gefühl, daß dies ein falscher Zug wäre. Am Tage des Prozesses mußte zwischen ihnen wenigsten das elementarste Vertrauen bestehen. Und er kehrte wieder ins Untersuchungsgericht zurück – er mußte seine Arbeit zu Ende führen. Dieses Mal nahm er sich die medizinischen Gutachten sorgfältig vor. Auch hier waren die Ermittlungen nicht einwandfrei geführt worden – allzu schwerwiegende Schlüsse wurden aus Fakten gezogen, zu denen man auch auf andere Weise hätte gelangen können. Auf einmal zuckte er zusammen und sprang verblüfft auf. Nein, ein Irrtum war ausgeschlossen, die Fakten waren eindeutig … Alles konnte man auf dieser Welt anfechten, aber dieses Gutachten des Gerichtsmediziners nicht. Erregt lief er im Zimmer hin und her, dann gab er die Akten zurück und rannte mit glühendem Kopf auf die Straße. Glücklicherweise war Iliew im Büro. Er bemerkte das triumphierende Funkeln in den Augen seines jungen Kollegen sofort. „Ich werde Radew heraushauen“, sagte Stamenow mit scheinbar ruhiger Stimme. „Ich kann seine völlige Unschuld beweisen.“ „Hast du was gefunden?“ „Ja, selbstverständlich. Und zwar etwas ganz Merkwürdiges.“ „Sagst du’s mir?“ „Nein!“ antwortete Stamenow und lächelte. „Warum nicht?“ Der Alte sah ihn verwundert an. „Ich möchte, daß du zum Prozeß kommst … und es dir dort mit anhörst …“ Der Alte dachte nach. Doch sein Gesicht war eher besorgt als enthusiastisch. „Ich weiß nicht recht. Vernünftiger wär’s, wenn du’s mir sagtest … und wenn wir uns berieten.“ „Nein!“ Der junge Rechtsanwalt schmunzelte sonderbar vergnügt. „Es ist etwas, das keinem Zweifel unterliegt.“ 99
„Denkst du!“ „Ja, denke ich!“ „Na schön!“ Der Alte sah schon etwas beruhigter aus. „Entweder läßt du vor Gericht eine wirkliche Bombe platzen, oder du blamierst dich bis auf die Knochen. Wobei auch das letztere nicht gar so schlimm wäre. Das wichtigste auf dieser Welt ist wohl, daß man von sich reden macht … . und sei es durch einen Skandal.“ Und indem er etwas von Zwacken in den Gelenken murmelte, schleppte Iliew seinen jungen Kollegen in die Kneipe, wo kein Rosenlikör mehr ausgeschenkt wurde.
5 Am Tag des Prozesses begann es zu regnen. Es war die erste schnelle, kalte Husche, die den Wetterumschwung ankündigt, wie die Alten sagen. Danach heitert sich der Himmel auf, er wird glatt und hart, und es ist nach dem langen Sommer eine Wohltat, die kalte Luft einzuatmen. Stamenow erwachte wohlgemut, allerdings ziemlich aufgeregt, beinahe fiebernd. Weder der trübe Himmel noch der graue, blinkende Vorhang des Regens konnten ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Das Problem mit dem Regenschirm hatte er schnell gelöst, indem er sich einen von seiner Wirtin borgte. Vor dem großen Gerichtssaal im Erdgeschoß wartete sein Mädchen auf ihn. Sie gehörte nicht zu den schicksten Mädchen der Stadt, ihr nasses Seidenkleidchen klebte an den Knien. Dafür aber glänzten ihre Augen wie ein warmer Frühlingsmorgen. „Warum bist du bloß im Kleid?“ fragte er erschrocken. „Und hast nicht den Regenmantel übergezogen?“ „Halt so!“ antwortete sie lustig. Das war ihre ständige Antwort, im Guten wie im Bö100
sen. Damit erklärte sie alles. Er schleifte sie schnell zum Büfett, wo sie sich mit einem Tee aufwärmen konnte. Sie sah ihn lächelnd an, und mit ihr lächelten die düsteren, dunklen Säle. Aber er war unruhig, rutschte unbehaglich auf dem harten Stuhl hin und her. Bis zum Prozeßbeginn war noch reichlich Zeit, aber er hatte das Gefühl, längst hoffnungslos zu spät zu kommen. Sie verstand ihn sehr gut. „Keine Angst, dein Radew läuft dir nicht weg“, sagte sie, und ihre Augen lächelten immer noch. „Schließlich hättest du dann immer noch mich.“ Als sie ihren Tee ausgetrunken hatte, schleppte er sie zum Verhandlungssaal. Die Korridore waren wie stets voller Menschen. Die zum Scheidungstermin gingen, stiegen die Stufen argwöhnisch oder finster hinauf. Die geschieden worden waren, kamen erleichtert oder verzweifelt herunter. Kleine Gauner redeten in den Ecken auf ihre Zeugen ein. Die größeren trafen mit einer staatlichen Eskorte ein. Der Tag verlief grau, nüchtern, gewöhnlich, wenngleich Stamenow das Gefühl hatte, es sei ein besonderer und feierlicher Tag. Endlich war er an der Reihe. Wie er nicht anders erwartet hatte, war der Saal voller Menschen. So muß es auch sein, wenn auf der Szene des Gerichts eine neue Leuchte der Jurisprudenz auftritt. Auf den ersten Bänken erörterten die Jurapraktikanten lebhaft irgend etwas und warfen ihm von Zeit zu Zeit ermutigende Blicke zu. Irgendwo dazwischen lachten die grünen Augen seines Mädchens, das ihm verstohlen die Daumen drückte. Er sah sich um. In der dritten Reihe saß Rosa, blaß, aber undurchdringlich. Neben ihr, hoch aufgerichtet, ihre beiden Tanten; ihre Gesichter sahen viel triumphierender und schadenfroher aus, als es der Anstand erlaubte. Er setzte sich auf die Verteidigerbank und ließ den Blick erneut durch den Saal schweifen. Es hätte ihn brennend interessiert, ob einer der Hauptakteure dieses Trauer101
spiels zur Verhandlung gekommen war – der Rechtsanwalt Genow. Er hatte keine andere Möglichkeit, es zu erfahren, als abermals die beiden Tanten zu fragen. Nein, er durfte es nicht tun, das gehörte weder zu seinen Rechten noch zu seinen Pflichten. Auf dem Gang zwischen den Bänken erschien Iliew und setzte sich neben ihn. Obwohl er seinem jungen Kollegen aufmunternd zuzwinkerte, schien auf dem Grund seiner Augen ein wenig Unruhe zu sitzen. „Bist du bereit?“ erkundigte er sich leise. Stamenow nickte wortlos. „Irgendwelche Besorgnisse?“ Stamenow schwieg. Nachdem er eine Weile nachgedacht hatte, macht er schließlich widerstrebend den Mund auf: „Für den Augenblick fürchte ich nur Radew. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, was er vor Gericht sagen wird. Wenn er nun wieder zu seiner alten Version zurückkehrt?“ „Zu welcher Version?“ „Na, daß er seine Frau wirklich umgebracht hat. Das brächte mich in eine fatale Lage. Ich habe mich darauf vorbereitet, seine völlige Unschuld zu beweisen.“ Jetzt wurde Iliew nachdenklich. „Ja, das ist schlecht“, brummte er „Aber du hast jetzt keinen anderen Ausweg mehr. Du mußt dich nur an dieses verwünschte Weibsbild halten.“ Und da ihn Stamenow fragend ansah, fügte er scherzend hinzu: „An dieses Weibsbild, bei dem wir geschworen haben … an diese Justitia …“ Weiter kam er nicht. In diesem Augenblick wurde der Angeklagte durch eine Seitentür hereingeführt. Stamenow musterte ihn forschend. Er mußte zugeben, daß sich Radew zumindest ein bißchen um sein Äußeres gekümmert hatte, wenn auch ohne sonderlichen Eifer. Immerhin war er gut rasiert, sein Anzug war gebügelt, er trug ein sauberes, wenn auch ein wenig zerdrücktes 102
Hemd. Als er über die Schwelle getreten war, blieb er zunächst stehen. Der überfüllte Saal verwirrte ihn sichtlich, sein Gesicht wechselte langsam die Farbe. Man sah, daß er mit dem Blick etwas im Saal suchte, sicherlich seine Tochter. Sein Gesicht verriet durch nichts, ob er gefunden hatte, was er suchte. Der Milizionär stieß ihn an und flüsterte ihm etwas zu. Radew ging weiter und setzte sich in die erste Reihe. Seine Miene war abweisend. Gleich darauf kam auch das Gericht herein. Stamenow kannte nur den Vorsitzenden; er galt als sehr ruhiger, vernünftiger und vorsichtiger Richter. Auch die Anwälte fühlten sich sicherer, wenn sie mit ihm arbeiteten, insbesondere die jungen. Die Zuschauer standen auf, der Vorsitzende nickte, und alle setzen sich wieder. Die Verhandlung begann. Zuallererst wurde der Name des Angeklagten aufgerufen, und Radew erhob sich. Jetzt wirkte er viel gefaßter, antwortete, wenn auch leise, so doch ganz deutlich auf alle Fragen. Nach der Aufnahme der Personalien gab der Vorsitzende das Zeichen zum Prozeßbeginn. Die Anklageschrift war recht kurz und für so ein schweres Verbrechen allzu lakonisch. Von ihr ging eine solche Zuversicht und Sicherheit aus, als wäre der Prozeß bloß eine lästige Formalität. Stamenow hörte gar nicht hin. Er suchte den Blick seines Mandanten, aber Radew saß mit gesenktem Kopf da und schaute nicht auf. Die Anklageschrift war verlesen, jetzt kam der entscheidende Augenblick. „Angeklagter, haben Sie eine Abschrift der Anklageschrift erhalten?“ fragte der Vorsitzende. „Ja“, antwortete Radew leise. „Haben Sie verstanden, wessen Sie der Staatsanwalt anklagt?“ „Ja.“ „Bekennen Sie sich schuldig?“ 103
Radew schluckte mühsam. „Nein, ich bekenne mich nicht schuldig!“ antwortete er. „Ich habe meine Frau nicht umgebracht.“ Der Vorsitzende schien von dieser so unerwarteten Antwort des Angeklagten nicht sonderlich überrascht zu sein. Seine Miene veränderte sich kaum, und er sagte: „Bei der Ermittlungsbehörde haben Sie ein volles mündliches und schriftliches Geständnis abgelegt. Warum? Hat man etwa Druck auf Sie ausgeübt?“ „Nein, nein!“ entgegnete Radew fest. „Die Genossen waren außerordentlich höflich.“ „Warum also dann?“ Radew schwieg eine geraume Zeit, dann sagte er kaum hörbar: „Ich war wegen des Todes meiner Frau sehr verzweifelt, Herr Richter.“ „Sie müssen lauter sprechen!“ warf der Vorsitzende ein und wandte sich der Sekretärin zu. „Er sei wegen des Todes seiner Frau sehr verzweifelt gewesen. – Weiter!“ „Es war mir einerlei, was aus mir werden würde. Ich wollte zusammen mit ihr von der Welt verschwinden.“ Diese Erklärung hatte Stamenow schon gehört. Im leeren Büroraum des Gefängnisses mochte sie noch angehen. Aber jetzt, vor dem Gericht und dem ganzen Saal, klang sie kein bißchen überzeugend. Der junge Rechtsanwalt spürte das deutlich am unzufriedenen Gebrummel im Saal. „Das ist ja die Höhe!“ ertönte deutlich eine Frauenstimme. Es war die ältere der beiden Tanten. Der Vorsitzende runzelte die Brauen. „Ruhe!“ sagte er. Er schwieg ein Weilchen, dann fügte er hinzu: „Ihre Erklärung erscheint mir völlig unglaubwürdig. Ich könnte verstehen, daß Sie von Beweisen in die Enge getrieben worden sind, für die Sie keine vernünftige Erklärung geben konnten, und daß Sie einfach nicht die Willens104
kraft hatten, sich zu wehren. Aber es ist doch so, daß Sie der Ermittlung fast alle Beweise selbst geliefert haben.“ „Ich sagte bereits, Herr Richter: Ich wollte nicht länger auf dieser Welt leben.“ „Deshalb wollten Sie Ihr Leben wegwerfen? Auf die Gefahr hin, für alle Zeit vor der Welt und Ihren Angehörigen entehrt zu sein?“ Radew seufzte tief, dann sagte er: „Ich war damals nicht imstande, meine Handlungen richtig einzuschätzen. Der Tod meiner Frau hatte mich völlig aus dem Gleis geworfen. Doch im Gefängnis wurde mir klar, daß ich einen furchtbaren Fehler begangen hatte … und daß ich meine Kinder mit einem Makel behaftet hatte … Gerade deshalb habe ich beschlossen, hier die volle Wahrheit zu sagen.“ Stamenow merkte, daß der Saal jetzt schweigend zuhörte und eher bereit war, Radew zu glauben. Nur das Gesicht des Richters war immer noch verschlossen und abweisend. „Und haben Sie nicht daran gedacht, daß Sie durch dieses falsche Geständnis die Ermittlung in die Irre geführt und es dem wirklichen Verbrecher ermöglicht haben zu entkommen?“ „Ein verzweifelter Mensch denkt nicht an Vergeltung, Herr Richter“, erwiderte Radew. „Und auch nicht an Gerechtigkeit. Ein verzweifelter Mensch sieht nichts als sein großes Unglück.“ Nicht sosehr die Worte, sondern der Ton, in dem sie gesprochen wurden, wirkte aufrichtig. Zum erstenmal heftete der Vorsitzende seinen Blick lange auf den Angeklagten. Es war, als sehe er ihn jetzt zum erstenmal richtig und bemühe sich, ihn zu studieren. „Und finden Sie es nicht seltsam, daß die Erklärungen, die Sie gegeben haben, so überzeugend klingen?“ fragte der Richter. „Nur jemand, der bei dem Mord zugegen gewesen ist, kann solche genauen Auskünfte und Erklärungen geben.“ 105
„Ich war ja dabei, Herr Richter.“ „Bei dem Mord?“ Der Richter horchte auf. „Nein, bei der Untersuchung. Ich habe alles gehört, was die Genossen von der Miliz zueinander gesagt haben … Ich habe bei der Vernehmung einfach wiederholt, was ich von ihnen gehört hatte.“ Der junge Rechtsanwalt atmete erleichtert auf. Radew war offenbar über das Schwerste hinweg. Alles andere würde wahrscheinlich viel leichter sein. Und bei der weiteren Vernehmung war es dann tatsächlich so. Der Vorsitzende kam erneut auf sämtliche Umstände zurück, die in der Anklageschrift aufgeführt waren. Aus irgendeinem Grund schenkte er dem Wegschaffen der Leiche keine besondere Aufmerksamkeit. Viel mehr interessierte ihn das Küchenmesser, mit dem der Mord begangen worden war – er hielt das offensichtlich für den aussagekräftigsten Beweis. Natürlich konnte Radew keine dieser Fragen befriedigend beantworten. Gleichzeitig konnte jedoch auch keine seiner Antworten widerlegt oder verworfen werden. Radew antwortete annähernd auf die gleiche Weise wie gegenüber dem Anwalt im Gefängnis. Dann begann die Zeugenvernehmung. Radews Arbeitskollegen machten ihre Aussagen so gewissenhaft und exakt, wie sie es auch bei Stamenow getan hatten. Selbstverständlich ließ sich der Anwalt die Gelegenheit nicht entgehen, ihnen noch ein paar zusätzliche Fragen zu stellen. Die Sekretärin, die bei Radew arbeitete, fragte er: „Könnten Sie mir etwas über Radews Charakter sagen, Frau Kostowa? Wie benahm er sich seinen Kollegen gegenüber? Oder gegenüber Besuchern?“ „Kollege Radew war ein außerordentlich höflicher Mensch“, antwortete die Frau bereitwillig. „Und sein Charakter? War er abweisend, verschlossen? Oder im Gegenteil heiter, sorglos, mitteilsam?“ „Das sind keine Fragen, das sind Antworten!“ rief der Staatsanwalt ärgerlich. 106
„Sie dürfen keine Suggestivfragen stellen!“ sagte der Richter streng. „Ich erkläre nur das Wesen der Frage, Herr Richter!“ entgegnete Stamenow ruhig. „Bitte, Frau Kostowa.“ „Was soll ich sagen“, entgegnete Frau Kostowa. „Eigentlich weder das eine noch das andere. Er war ein sehr ruhiger Mensch, sehr vernünftig. Und hatte einen gesetzten Charakter. Wir hielten ihn allesamt für gutmütig, wenn auch ein wenig eigensinnig und zurückhaltend.“ „Haben Sie ihn je aufbrausend und jähzornig gesehen? Haben Sie erlebt, daß ihm die Nerven durchgegangen wären? Daß er einmal Krach geschlagen hätte?“ „Nein, nein!“ sagte Frau Kostowa entschieden. „Er war überhaupt ein sehr geduldiger Mensch. Ich habe nur gehört, wie er die Reinemachefrau manchmal gerügt hat … und das sehr höflich.“ „Ich danke Ihnen, Frau Kostowa. Das war alles.“ Auch Radews Chefin stellte er ein paar zusätzliche Fragen. „Frau Borowa, wer hat den Bericht geschrieben?“ „Der Kollege Radew.“ „Direkt in die Maschine?“ „Aber ja. Wie immer.“ „Danach haben Sie ihn selbstverständlich durchgelesen. Waren vielleicht irgendwelche Tippfehler drin, oder hatte er Buchstaben ausgelassen?“ „Nein, es war nicht ein Fehler darin. Er schreibt zwar ein bißchen langsam, vertippt sich aber nie.“ „Auch dieses Mal nicht?“ „Auch dieses Mal nicht.“ „Ist er Ihnen ein bißchen unruhig, zerstreut … unkonzentriert vorgekommen?“ Frau Borowa dachte nach. „Nein, nicht, daß ich wüßte. Mir ist nichts aufgefallen. Wahrscheinlich war er wie immer.“ „Ich danke Ihnen, Frau Borowa.“ 107
In diesem Moment murmelte Oberleutnant Newjan Raltschew, der der Verhandlung die ganze Zeit aufmerksam gefolgt war, ein paar Entschuldigungen zu den Zuhörern in der letzten Reihe, schob sich an Knien und ärgerlichen Blicken vorbei und verließ den Saal. Zehn Minuten später war er in seiner Dienststelle. Glücklicherweise war Inspektor Dimow in seinem Büro, wo er aufmerksam ein paar Fotos betrachtete. Raltschew setzte sich in den Sessel, der ihm am nächsten stand, und fuhr unnötigerweise mit der Hand prüfend über sein glattrasiertes Kinn. „Eine etwas unangenehme Neuigkeit, Chef!“ sagte er schließlich. „Nur eine?“ erwiderte Dimow scherzend und lächelte. „Fürs erste langt die. Radew hat sein Geständnis von Anfang bis Ende widerrufen.“ Jetzt erst legte Dimow die Fotos aus der Hand und sah seinen Assistenten verblüfft an. Einen Augenblick lang empfand Raltschew Befriedigung. Diesen Luxus erlaubte sich sein Chef nur selten. „So?“ sagte er. „Und hat er irgendwelche Beschuldigungen gegen uns vorgebracht?“ „Wenigstens das hat er Gott sei Dank nicht gemacht.“ „Und wie begründet er es?“ Raltschew erzählte ihm alles ausführlich. Dimow hörte ihm schweigend zu, ohne ihn ein einziges Mal zu unterbrechen. Dann überlegte er ein Weilchen und meinte: „Mir ist nicht klar, worauf sein Rechtsanwalt die Verteidigung aufbauen will. Die Beweise sind derart überzeugend …“ „Das sind sie, aber …“ „Was aber?“ „Der Haken ist, daß ihm der Verteidiger recht geschickt ein Alibi zusammengezimmert hat.“ „Und zwar wie?“ fragte Dimow stirnrunzelnd. „Indem er sich Jakimows Versäumnisse zunutze macht. 108
Jakimow hat sich nicht einmal der Mühe unterzogen, zu überprüfen, was Radew am Nachmittag des Mordes getrieben hat. Und nun stellt sich heraus, daß …“ Und er berichtete eingehend, was die Zeugenvernehmung erbracht hatte. Dimows Miene verfinsterte sich zusehends. Es war bis zu diesem Tag noch nicht vorgekommen, daß vor Gericht ein Fall angefochten wurde, den sie der Untersuchungsbehörde übergeben hatten. Noch nie war es ihm passiert, daß er die Untersuchung auf eine falsche Fährte geführt hatte. Die Arbeit des Inspektors hatte sich stets durch außergewöhnliche Präzision ausgezeichnet. „Gut, ich komme zur Nachmittagsverhandlung“, sagte er mißmutig. „Bestell auch Jakimow hin.“
6 Die Nachmittagsverhandlung begann mit der Anklagerede des Staatsanwalts. Dimow saß in der zweiten Reihe und hörte aufmerksam zu. Der junge Mann mit der ruhigen, selbstsicheren Miene wirkte recht gereizt und nervös. Die seiner Meinung nach unsinnigen Ausflüchte Radews erschwerten nur seine Lage als Angeklagter. Leeres Geschwätz sei eins, etwas anderes seien unbestreitbare Fakten. Und die Fakten bewiesen eindeutig, wer den Mord begangen habe. Und er ging erneut auf die Tatsachen ein, die in der Anklageschrift erwähnt waren, indem er noch einiges hinzufügte. „Beachten Sie bitte besonders folgenden Umstand: Der Angeklagte hat zugegeben, daß er den Mord mit einem Küchenmesser begangen hat … Nicht mit irgendeinem Messer, sondern mit einem Küchenmesser. Woher kann er das wissen? Aus den Bemerkungen der Mitarbeiter der Miliz? Ausgeschlossen! Von dem Messer ha109
ben sie überhaupt nichts erwähnt, weil sie es noch gar nicht gesehen hatten. Und ich frage: Wenn der Mörder ein Außenstehender wäre, wenn er in der Absicht gekommen wäre, einen Diebstahl oder einen Mord zu begehen, würde er sich dann etwa darauf verlassen, zufällig eine Waffe vorzufinden? Hätte er sie dann nicht mitgebracht? Der Angeklagte gibt zu, daß er das Messer abgewaschen und in den Müllschlucker geworfen hat. Beachten Sie wohl – abgewaschen! Und die Untersuchungsorgane haben das Messer tatsächlich im Müllschlucker gefunden. Und es war abgewaschen. Ich frage Sie: Wer außer dem Mörder kann das wissen? Bis in solche Einzelheiten! Ich frage Sie: Wird ein Mörder, der von außen kommt, seine Zeit damit vergeuden, das Messer abzuwaschen, statt zu fliehen? Bedenken Sie, daß der Müllschlucker auf dem Balkon im Innenhof ist. Weshalb sollte ein Mörder, der von außen kommt, das Risiko eingehen, auf den Balkon hinauszutreten, wo ihn die Nachbarn sehen könnten?“ Ausführlich ging der Staatsanwalt auf das Fortschaffen der Toten und die Blutstropfen auf Radews Anzug ein. Die Zeugenaussagen tat er ganz kurz ab, in der offenkundigen Absicht, ihre Bedeutung herabzumindern. „Der Verteidiger des Angeklagten versucht offenbar, so etwas wie ein Alibi zusammenzuzimmern“, sagte er. „Ein meiner Meinung nach erfolgloser Versuch. Mehr noch: Der Verteidiger beweist geradezu, daß Radew kein Alibi hat. Wo ist er zwischen zwei und drei gewesen? Bei irgendwelchen Behörden. Gut, akzeptiert. Aber wenn der Angeklagte sich eines Fahrzeugs bedient hat, kann er die Wege in einer Viertelstunde gemacht haben.“ Damit waren seine Argumente gegen Stamenows Versuch, Radew ein Alibi zu verschaffen, erschöpft. Die ganze Zeit über machte sich Dimow sorgfältig Notizen. Das tat er selten, er verließ sich für gewöhnlich auf sein ausgezeichnetes Gedächtnis. Aber dieser Prozeß war 110
nicht wie die bisherigen, vielleicht mußten besondere Maßnahmen ergriffen werden. Er bedauerte schon lebhaft, daß er am Vormittag nicht selbst zur Verhandlung gekommen war. Das Protokoll würde ihm kaum genügend Eindrücke von den Vorgängen vermitteln, die ihn interessierten. Dann war der Verteidiger Stamenow an der Reihe. Dimow blickte ein wenig mißtrauisch auf den mageren, rothaarigen Jungen, der vor den Richtertisch trat. Er sah allzu ruhig aus, nur das Funkeln seiner Augen verriet innere Erregung. Der Anfang seines Plädoyers erinnerte eher an einen kleinen wissenschaftlichen Vortrag. Sei es denkbar, daß sich ein unschuldiger Mensch bewußt selbst eines Verbrechens bezichtige? Es sei denkbar, versicherte der Verteidiger. Er analysierte recht geschickt die psychische Verfassung des Angeklagten und führte interessante Beispiele aus der Gerichtspraxis für falsche Geständnisse an, die später widerlegt worden seien. Der Staatsanwalt, der mit gelangweilter Miene zuhörte, rief nervös dazwischen: „Ja, diese Fälle sind mir bekannt! Aber die falschen Geständnisse sind immer in irgendeiner Absicht gemacht worden!“ „Hier gibt es keine Absicht, hier gibt es Motive!“ entgegnete der Verteidiger mit kalter Stimme. „Und die Motive sind Verzweiflung und Depression.“ „Märchen!“ erwiderte der Staatsanwalt geringschätzig. Danach begann der Verteidiger mit einer detaillierten Analyse der Beweise. Er sprach unverändert ruhig und überlegt, ohne sichtbare Erregung; er hielt kein Plädoyer, er plauderte. „Mir scheint, die Anklage mißt dem im Müllschlucker gefundenen Messer zuviel Bedeutung bei. Warum der Mörder keine Waffe mitgebracht habe? Nun, ganz einfach: Weil er nicht die Absicht hatte zu morden. Er ist in einer anderen Absicht gekommen, die vielleicht weder 111
mit Mord noch mit Diebstahl etwas zu tun hat, und die Umstände haben ihn dann zum Mord getrieben. Wieso hat er das Messer nicht mitgenommen? Wieso hat er es in den Müllschlucker geworfen? Eine einleuchtende Antwort wäre, daß er die Ermittlung in die Irre führen wollte. Daß er den Eindruck hinterlassen wollte, der Mord sei von jemandem aus dem Haus verübt worden. Und warum hat er das getan? Vielleicht wollte er seine Spuren verwischen. Vielleicht hat er die Absicht gehabt, es in die Tasche zu stecken und mitzunehmen … Niemand wird ein blutiges Messer in die Tasche stecken, es müßte ja Spuren hinterlassen. Der Verbrecher hat es deshalb abgewaschen … Und danach ist ihm die neue Idee gekommen.“ Der Saal hörte mit angehaltenem Atem den ruhigen Erklärungen des Verteidigers zu. Dimow schrieb eifrig. „Oder nehmen wir den sogenannten Beweis vom Wegschaffen der Leiche“, fuhr Stamenow fort. „Radew hat die Tote weggebracht, weil er allein ein Interesse daran hatte, daß das Kind sie nicht sah. Und daraus soll folgen, daß Radew der Mörder ist. Eine andere vernünftige Erklärung gebe es eigentlich nicht. Was ist das für eine Logik? Ich werde Ihnen eine andere vernünftige Erklärung geben. Radew ist zufällig nach Hause gekommen, als der Mord schon geschehen war. Er sah die Tote und brachte sie weg, damit das Kind sie nicht sah. Danach hat er es mit der Angst bekommen, daß man vielleicht ihn verdächtigen könnte, und ist weggelaufen.“ Eine Welle der Erregung ging durch den Saal. Gedämpfte Ausrufe der Überraschung wurden laut. Dimow hob den Blick von seinem Notizbuch und sah den Verteidiger erstaunt an. Das Gericht schwieg. Schließlich rief der Staatsanwalt von seinem Platz: „Wollen Sie behaupten, daß dies die Wahrheit ist?“ „Nein!“ entgegnete der junge Rechtsanwalt. „Ich behaupte, daß die Wahrheit ist, was der Angeklagte sagt … 112
Ich wollte Ihnen lediglich beweisen, daß es auch eine andere vernünftige Erklärung geben kann.“ „Fahren Sie fort!“ sagte der Vorsitzende. „Ein weiterer anfechtbarer Beweis“, sagte Stamenow. „Die Blutflecke auf Radews Anzug. Das soll angeblich beweisen, daß Radew die Leiche weggetragen hat. Sie wissen sehr wohl, Herr Vorsitzender, daß es sich um ein paar unbedeutende Blutflecke an der Hemdmanschette und am Jackettärmel Radews handelt. Wenn jemand bloß ein geschlachtetes Huhn vom Hof hereinbringt, ist er schon von oben bis unten voller Blut, geschweige denn bei einem Menschen mit drei furchtbaren, blutenden Wunden. Meiner Meinung nach beweist das überhaupt nichts, es ist geradezu eine absurde Behauptung. Woher also dann dieses Blut? Sehr einfach! Radew ist nach Hause gekommen noch bevor die Miliz zur Stelle war. Er ist ins Schlafzimmer gegangen und hat seine ermordete Frau gesehen … Ist es denkbar, daß er sie da nicht berührt hat, um sich zu überzeugen, ob sie wirklich tot war? Das ist psychologisch unmöglich. Da haben Sie die Erklärung, wo die kleinen Blutflecke herkommen.“ Der Staatsanwalt schwieg, seine Miene wurde immer finsterer. „Obendrein mißt die Anklage dem fundierten Alibi des Angeklagten nicht den ihm zukommenden Wert bei!“ fuhr der Anwalt fort. „Für die Zeit zwischen drei und fünf Uhr unterliegt es gar keinem Zweifel. Es geht also darum, wo er zwischen zwei und drei gewesen ist. Die Anklage behauptet, daß der Angeklagte in dieser Zeit den Mord begangen hat. Doch das würde bedeuten, daß es ein vorsätzlicher, geplanter Mord gewesen ist.“ „Das bedeutet es nicht!“ rief der Staatsanwalt ärgerlich dazwischen. „Und ich muß Ihnen sagen, Kollege, daß Sie die Fakten völlig außer acht lassen.“ „Mir scheint, Genosse Staatsanwalt, daß Sie die Fakten außer acht lassen!“ erwiderte der Verteidiger trocken. 113
„Welche Fakten?“ „Die offiziellen Fakten, die in den Dokumenten der Anklage festgehalten sind.“ „Was wollen Sie damit sagen?“ fragte der Staatsanwalt ungeduldig. „Ich meine das von Doktor Dawidow unterzeichnete Schriftstück. Er hat die Leiche gegen drei Viertel sechs untersucht … und eigenhändig geschrieben: ‚Ich fand die Leiche noch nicht völlig erkaltet vor.‘ Was bedeutet das?“ Er machte eine kleine Pause. In diesem Augenblick war es nur Dimow völlig klar, was das bedeutete. Und da niemand reagierte, fuhr der Verteidiger gelassen fort: „Das, Genosse Staatsanwalt, bedeutet, daß der Mord nach halb vier verübt worden ist. Denn aus der Gerichtspraxis ist bekannt, daß eine Leiche in längsten zwei Stunden erkaltet … Und die Zeugen haben hier völlig klar und eindeutig bewiesen, daß der Angeklagte zwischen drei und fünf in seiner Dienststelle war. Folglich kann er nicht der Mörder sein.“ Durch den Saal ging ein langgezogenes „Aah“. Nur auf Dimows Gesicht erschien ein kleines schuldbewußtes Lächeln. Er wandte sich Raltschew zu und sagte spöttisch: „Ein prachtvoller K.-o.-Schlag … Und ich muß dir sagen, daß der Junge da seine Sache ausgezeichnet gemacht hat.“ Der „Junge“ stand inzwischen immer noch vor dem Gerichtsvorsitzenden, der sich mit seinen beiden Beisitzern beriet. Der Angeklagte saß wie versteinert auf seinem Platz, in seinem Gesicht regte sich kein Muskel. Niemand sah in diesem Moment seine Augen, niemand konnte erkennen, was in ihnen stand – Freude über den Beweis seiner Unschuld oder Kummer und Qual. Schließlich beendete das Gericht seine kleine improvisierte Beratung. Der Vorsitzende verkündete: „Die Verhandlung ist auf morgen vertagt. Es wird ein kompetentes medizinisches Gutachten eingeholt.“ 114
Stamenow kehrte zur Verteidigerbank zurück. Dort saß immer noch Iliew, seine Augen funkelten lustig. „Meinen Glückwunsch!“ sagte er. „Du hast erreicht, was du wolltest.“ Doch seine Stimme verriet keine übertriebene Begeisterung. „Nur das?“ fragte Stamenow. „Fürs erste nur das. Aber ist das etwa wenig?“ Eine halbe Stunde später fand in Inspektor Dimows Büro eine kleine Beratung statt. Raltschew betrachtete konzentriert seine Fingernägel, Jakimow schwieg bedrückt. Selbst Dimow hatte einiges von seiner guten Laune eingebüßt. Und er war vermutlich viel besorgter, als er sich anmerken ließ. „Da haben wir eine sehr schöne Lektion erhalten!“ sagte er. „Noch dazu von so einem Grünschnabel. Wir können sagen, was wir wollen, seine Argumente sind hieb- und stichfest.“ „Ich bin noch nicht überzeugt“, brummte Raltschew mißmutig. „Morgen wirst du dich überzeugen, nehme ich an“, antwortete der Inspektor. „Nein, ich will nicht die ganze Schuld auf Jakimow schieben. Sicherlich haben wir ihn auch ein bißchen auf die falsche Fährte geführt. Freilich habe ich ihn gewarnt, daß die einfachsten Dinge mitunter am kompliziertesten werden. Und habe ihn besonders auf die Blutflecke auf dem Anzug hingewiesen. Schuld bleibt also Schuld.“ Jakimow schwieg. „Über das Beweismaterial kann man noch streiten“, fuhr Dimow fort. „Aber ich muß mich über ein derartiges Versäumnis wundern, Jakimow. Wie war es möglich, daß du nicht überprüft hast, was Radew am Mordtag gemacht hat?“ „Sie haben recht, Genosse Dimow“, erwiderte Jakimow kleinlaut. „Aber die grundlegenden Fakten waren so sonnenklar. Das Geständnis, die Beweisstücke …“ 115
„Sonnenklar!“ brummte Dimow ärgerlich. „Nichts ist auf dieser Welt sonnenklar, Jakimow. Und darum geht es auch gar nicht. Arbeit bleibt Arbeit. Ein Prozeß wird wie ein Pullover gestrickt – Masche auf Masche, Fakt auf Fakt. Von der ersten Masche bis zur letzten, da darf nichts ausgelassen werden. Überspringst du ein paar, entsteht ein Loch. Niemand zieht einen Pullover mit Löchern an.“ Es entstand ein bedrücktes Schweigen. „Und was machen wir jetzt?“ fragte Raltschew. „Was können wir schon machen?“ Dimow hob die Schultern. „Nichts als das Ende des Prozesses abwarten.“
7 In der Vormittagssitzung wurde als erster Doktor Dawidow vernommen. Der elegant gekleidete Arzt wirkte nicht im geringsten verlegen. Er bestätigte erneut die Genauigkeit seiner Angaben. Der Vorsitzende sah ihn ein bißchen mißtrauisch an. „Und weshalb haben Sie in dem Gutachten nicht ausdrücklich angegeben, um welche Zeit der Tod eingetreten ist?“ fragte er. „Sondern haben sich mit einer recht allgemeinen Erklärung begnügt?“ „Entschuldigen Sie, Genosse Vorsitzender, aber diese Erklärung ist nicht recht allgemein. Im Gegenteil, sie ist sehr genau und konkret.“ „Das kann ich nicht finden“, widersprach der Vorsitzende ärgerlich. „Nach wie langer Zeit wäre Ihrer Ansicht nach die Leiche völlig erkaltet?“ „Nach längstens einer Viertelstunde.“ „Gut … Wann ist also unter diesen Umständen Ihrer Meinung nach der Tod eingetreten?“ 116
„Gegen vier Uhr“, antwortete der Arzt, ohne zu zögern. Vor den Richtertisch trat ein Mann mit einem so abgeklärten Gesicht, daß er eher wie ein Prediger aussah. Nur das sorgfältig gescheitelte Haar gab seiner recht zerknitterten Gestalt einen Anflug von Koketterie. „Wir warten auf Ihre Meinung, Genosse Professor.“ „Die Norm ist Ihnen bekannt“, antwortete der Professor mit sanfter, ein wenig singender Stimme. „Die Leiche erstarrt etwa zwei Stunden nach dem Tode. Abweichungen kommen vor, aber sehr selten, bis zu einer halben Stunde, in Ausnahmefällen bis zu einer Stunde in Abhängigkeit von der Umwelt, Temperatur und so weiter. Für mich ist dieser Mord jedoch nach halb vier verübt worden.“ „Ich danke Ihnen, Genosse Professor.“ Der gelehrte Mann trippelte mit kleinen Schritten auf den Ausgang zu. Im Saal entstand ein leises Gemurmel. Der Staatsanwalt erhob sich unsicher von seinem Platz. „Genosse Vorsitzender, Sie haben gesehen, daß die Aussagen des Gutachters nicht kategorisch waren“, sagte er. „Letzten Endes räumt er ein, daß die Leiche auch nach drei Stunden erkalten kann.“ „Das hat nichts zu sagen, Kollege!“ widersprach der junge Rechtsanwalt. „Sie wissen sehr wohl, daß man in solchen Fällen von der für den Angeklagten günstigsten Annahme ausgeht.“ „Ich führe hier keine juristische Diskussion, ich spreche nach bestem Wissen und Gewissen!“ entgegnete der Staatsanwalt trocken. „Innerlich bin ich fest von seiner Schuld überzeugt. Beim Nachweis eines Alibis können auch fatale Fehler unterlaufen. Um so mehr, als dieses Alibi viel später erbracht worden ist, zu einem Zeitpunkt, als die Erinnerung der Zeugen nicht mehr so frisch war.“ „Das ist ebenfalls nicht unsere Schuld!“ versetzte Sta117
menow ruhig. „Die Untersuchungsbehörde wäre verpflichtet gewesen, diese Umstände rechtzeitig zu erhellen. Und sie hat sie einfach übergangen.“ Jetzt war der Augenblick gekommen, wo sich der Gerichtsvorsitzende zum letztenmal an den Angeklagten wenden mußte. „Sie haben das Wort. Haben Sie dem, was Sie bisher gesagt haben, noch etwas hinzuzufügen?“ Radew saß wie ein Götzenbild auf seinem Platz. Er verriet durch kein Anzeichen, daß er die Frage gehört oder verstanden hatte. Der Saal schwieg mit angehaltenem Atem. Nur das Gericht konnte in diesem Augenblick sein Gesicht sehen. Es war ein unglückliches, vergrämtes Gesicht, über das leichte Zuckungen liefen. Offensichtlich bemühte er sich zu sprechen, aber die Stimme versagte ihm. „Lassen Sie sich Zeit, beruhigen Sie sich!“ sagte der Vorsitzende freundlich. Endlich schien sich Radews Stimme zu lösen, und er begann dumpf und leise zu sprechen, wobei er sich nur mühsam beherrschte: „Ich habe meine Frau nicht umgebracht, Herr Richter … Ich habe sie geliebt … Außer ihr und meiner Familie hatte ich nichts auf der Welt …“ Auch der Saal schwieg beklommen, man hörte kein Geräusch, keinen lauten Atemzug. Das Gericht zog sich zur Beratung zurück. Als es nach einer Viertelstunde wiederkam, hatte sich niemand im Saal bewegt. Der Vorsitzende las mit lauter Stimme den Beschluß des Gerichts vor. Der Angeklagte wurde für unschuldig befunden und freigesprochen. Der Saal atmete mit einem gewaltigen Seufzer der Erleichterung auf. Mit einem Schlag schwoll der Lärm an, man hörte erregte Stimmen und Ausrufe. Niemand konnte ihm mehr Einhalt gebieten, die Verhandlung war geschlossen. Die beiden Tanten schritten entrüstet zum Ausgang. Iliew saß auf seinem Platz und lächelte ver118
sonnen. Stamenow bahnte sich mit Mühe einen Weg durch die aufgeregten Praktikanten und begab sich zu Radew, der immer noch wie benommen auf der vordersten Bank saß. Als Stamenow herankam, stand er auf. Aber er sah dessen ausgestreckte Hand nicht und schien auch ihn selber nicht zu bemerken. Sein Blick wich irgendwohin zur Seite aus, über die Schulter des jungen Rechtsanwalts. Verwirrt blieb Stamenow stehen, dann drehte er sich um und gewahrte hinter sich das vor Freude tränenüberströmte Gesicht Rosas. Jetzt weinte auch der Vater, lautlos und ohne Tränen. Stamenow zwinkerte verlegen, machte eine geschickte Wendung und zog sich diskret zurück. Iliew fing ihn aufgeräumt zwischen den Bankreihen ab. „Und was jetzt?“ fragte er spöttisch. „Jetzt trinken wir einen, was? Auf den Sieg …“ „Einverstanden!“ antwortete Stamenow bereitwillig. „Aber nicht in unserem Loch!“ schlug der Alte plötzlich vor. „Irgendwo, wo es ein bißchen festlicher ist … Ich bezahle!“ „Warum du?“ „Weil du mein Schüler bist.“ „Gut. Aber … soll es mit Damen sein?“ „Einverstanden.“ Aber Stamenow hörte deutlich heraus, daß er nicht gerade begeistert war. Vielleicht wollte er, daß sie ungestört miteinander schwatzen konnten. Er zögerte einen Moment – das wäre wohl wirklich am besten gewesen. Aber die freudestrahlenden Augen seines Mädchens, das er ein paar Schritte vor sich erblickte, entschieden die Frage. Eine halbe Stunde später saßen sie in einem Lokal im Stadtzentrum bei einem Imbiß. Der Alte sah die beiden jungen Leute aufmerksam an und warf wie beiläufig hin: „Slawtschew ist ganz schön wütend auf dich.“ Slawtschew war der Staatsanwalt dieses Prozesses. 119
„Warum?“ fragte der junge Rechtsanwalt erstaunt. „Na, das ist doch klar. Er ist der Meinung, es wäre deine Pflicht gewesen, ihn zu informieren.“ „Damit er Gegenmaßnahmen ergreifen und sich vorbereiten kann?“ „Nein! Um den Prozeß eventuell einzustellen.“ Stamenow wurde nachdenklich. „Er ist mein Freund. Ich habe ihn bestimmt nicht blamieren wollen. Aber ich werde seinetwegen nicht einen Unschuldigen ins Gefängnis gehen lassen.“ Iliew schwieg und dachte nach. „Und trotzdem bin ich nicht allzu sicher, daß er unschuldig ist“, sagte er widerstrebend. „Aber wie dem auch sei: Besser zehn Schuldige in Freiheit als ein Unschuldiger im Gefängnis. Also dann zum Wohl! – Ich muß dir sagen, daß du erst ab heute wirklich ein Rechtsanwalt bist.“ Stamenow hob das Glas und lächelte nachsichtig.
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DRITTER TEIL
1 Seit der Urteilsverkündung waren zwei Tage vergangen, und Inspektor Dimow hatte noch kein Wort darüber verloren. Er kam zum Dienst, befaßte sich mit der laufenden Arbeit. Manchmal lächelte er sogar sein sparsames Lächeln, doch seine Augen waren stets ein wenig nachdenklich. Selbstverständlich bestellte ihn der General ins Ministerium und verlangte Erklärungen. Niemand erfuhr, was da gesprochen wurde, aber der Inspektor kam so ruhig zurück, wie er hingegangen war. Erst am dritten Tag fragte er Raltschew leichthin: „Möchtest du mit auf einen Ausflug kommen?“ „Jetzt?“ fragte Stamenow verwundert zurück. „Warum nicht? Können uns dabei ein bißchen den Kopf auslüften.“ „Na schön.“ Raltschew nickte ohne sonderliche Begeisterung. Er hatte bisher ein einziges Mal einen Ausflug gemacht, und zwar in der Schule, zu den Goldenen Brücken auf dem Witoscha. Und er bewahrte nicht eben schöne Erinnerungen daran: Sein einziges ärmliches Stückchen Käse war schwarz von Ameisen gewesen. „Aber wir müssen zeitig aus den Federn!“ verkündete Dimow noch. „Gegen drei.“ Raltschew nahm das als eine der kleinen Wunderlichkeiten seines Chefs hin. Vielleicht machte er auch nur 121
Spaß. Als aber das Telefon auf seinem Nachtschränkchen gegen halb drei in der Nacht laut schrillte, merkte er, daß der Spaß reine Wahrheit war. Natürlich war er schon zu jeder Nachtstunde aus dem Bett geholt worden, aber daß man ihn wegen irgendeines zweifelhaften Ausflugs aus dem Schlaf riß, das ging denn doch zu weit. Er brummte verdrossen, daß er in einer Viertelstunde fertig sein werde, und kroch widerwillig aus dem warmen Bett. Die Nacht war recht kühl. Ihre finstere Trostlosigkeit hatte zu dieser Stunde einen einzigen Reiz: die Stille. All diese widerwärtigen Dinge einer Stadt, die klingelten, knatterten und jeden erdenklichen Höllenlärm verursachten, schliefen jetzt an den Bordkanten und in den Depots. Raltschew lauschte mit Genuß dem Schall seiner eigenen Schritte auf dem Trottoir. Im trüben Licht der Lampen hatte er plötzlich das Gefühl, allein auf der Welt zu sein, wie durch ein Wunder nach einem dieser Menschheitsalpträume am Leben geblieben. Doch Dimow erwartete ihn in seinem Wagen, das Ende seiner Zigarette glomm fröhlich in der Dunkelheit. Erleichtert ließ sich Raltschew neben ihn auf den Sitz fallen. „Wohin geht’s denn?“ erkundigte er sich, ohne allzusehr mit einer Antwort zu rechnen. „Richtung Pernik.“ „Nach Pernik? Was soll denn ein Ausflug nach Pernik?“ „Du wirst schon sehen“, antwortete Dimow wortkarg, dann tat ihm der junge Mann auf einmal leid. „Wir werden dort in der Gegend Krebse fangen.“ Raltschew ging plötzlich ein Licht auf. Der Inspektor hatte bei Pernik einen Freund, einen merkwürdigen Kerl namens Pargow. Ab und an besuchte er Dimow in der Dienststelle – ein riesiger, plumper Mann, schäbig angezogen, aber gutmütig und verträglich wie alle Riesen. Obendrein war er wohl Chef der Bezirksverwaltung der 122
Miliz. Raltschew war ein bißchen eifersüchtig auf ihn – er hatte bislang noch niemanden gesehen, den Inspektor Dimow mit solch lustiger und herzlicher Aufmerksamkeit behandelte. Bis zu den Ohren schmunzelnd, schüttelte er lange dessen schwere Pranke, setzte ihm sogar in seinem Büro einen Kaffee vor, was er außerordentlich selten tat. Sie hatten anscheinend vor Jahren zusammen gedient und waren durch gemeinsame Erinnerungen verbunden. Als sie in das Städtchen kamen, war es kurz vor vier, aber der Gigant wartete bereits vor dem Milizgebäude auf sie. Breitbeinig an der Bordkante stehend, sah er in seinen Segeltuchsachen eher wie ein nicht fertig gewordenes Standbild aus und nicht wie ein lebendiger Mensch. Doch sowie der Wagen hielt, bewegte sich das Ungetüm, und Raltschew sah im schwachen Lichtschein sein gutmütiges Grinsen. Gleich darauf begrüßten sich die beiden Freunde auf ihre bekannte Art, wobei sie einander die Hände derart schüttelten, als wollten sie sich die Arme ausreißen. Raltschew verstaute inzwischen die Krebsreusen im Kofferraum und langte dann nach dem mächtigen Rucksack, aber Pargow zog ihn behutsam zu sich heran. „Was ist denn drin?“ erkundigte sich Dimow verwundert. „Ach, nichts weiter“, brummte der Riese. „Zwei gekochte Hühnchen.“ Er sah Raltschew ein bißchen schuldbewußt an. „Ich wußte ja nicht, daß noch jemand mitkommt …“ „Wird das nicht ein bißchen zuviel sein?“ „Woher denn! Eierkuchen habe ich ja auch noch mit. Und eine ganze Blätterteigpastete … Mutter Zweta hat sie eigens für dich gebacken.“ Eine halbe Stunde später tauchte Pargow die Krebsreusen schon behutsam in das ruhige, dunkle Wasser. Ein wenig verwundert beobachtete Raltschew seine geräuschlosen, leichten Bewegungen, die man bei seiner 123
plumpen Gestalt nicht erwartet hätte. Ein beinahe jungenhafter Ausdruck war auf seinem bartlosen Gesicht erschienen – lauernd und verschmitzt zugleich –, als wilderten sie in verbotenen Gewässern. Raltschew hatte sich inzwischen mit Dimow im Gebüsch niedergelassen; sie rauchten und warteten geduldig. „Ist das unsere ganze Jagd?“ fragte Raltschew im Scherz. „Dasitzen und zusehen?“ „Das ist doch auch schon was!“ entgegnete Dimow. „Sieh nur, was für eine Luft. Da lüftet man wirklich wunderbar innerlich durch – du wirst’s sehen, wenn wir aufbrechen …“ Bald war Pargow mit seinen Vorkehrungen fertig und kam zu den anderen zurück. Er breitete seinen schweren Pelz in der kleinen Mulde im Gebüsch aus und nötigte Dimow beinahe mit Gewalt, sich daraufzusetzen. Der Himmel über ihnen hellte sich schon ein bißchen auf, es wurde noch kälter. Pargow rieb sich vergnügt die mächtigen Pranken. „Weißt du noch, wie wir von hier aus eines Nachts eine fliegende Untertasse gesehen haben?“ fragte er gutgelaunt. „Natürlich weiß ich das noch“, antwortete Dimow ein bißchen abwesend. Und plötzlich begann er ohne Einleitung und Ankündigung die Geschichte mit Radew zu erzählen. Er erzählte sie ruhig, beinahe ein wenig kühl, doch objektiv und exakt. Raltschew hatte das Gefühl, daß er sie nicht so sehr deshalb erzählte, damit Pargow sie hörte, sondern vielmehr um sich selbst noch einmal alle Fakten zu verdeutlichen. Aber Pargow hörte sehr aufmerksam zu, den Mund halb offen, was ihm ein etwas dümmliches Aussehen verlieh. Nach einer Weile schreckte er hoch. „Die Krebse!“ Er sprang auf und lief zu den Krebsreusen. Als er nach zehn Minuten wiederkam, krabbelten in seiner ho124
hen Gummitasche ein Dutzend Krebse und stießen klappernd mit ihren harten Panzern aneinander. „Weiter!“ sagte er kurz. Dimow erzählte geduldig zu Ende. Pargow saß regungslos da und schien dem verheißungsvollen Rappeln in der Tasche zu lauschen. „Willst du meine Meinung hören?“ fragte er plötzlich. „Genau!“ sagte Dimow ruhig und nickte. „Der Mensch tut die verrücktesten Dinge!“ fuhr Pargow fort. „Man kann ihm alles mögliche zutrauen. Aber daß einer mir nichts, dir nichts die Schuld an einem Mord auf sich nimmt, erscheint mir völlig unwahrscheinlich.“ „Aber darauf läuft es hinaus!“ murmelte Dimow. „Das Gericht hat nachgewiesen, daß er nicht der Mörder ist.“ „Kann sein, daß er kein Mörder ist!“ entgegnete Pargow ein bißchen hitzig. „Aber das muß nicht heißen, daß er völlig unschuldig ist. Stell dir beispielsweise vor, er wäre Mittäter.“ Dimow schwieg. „Hast du daran gedacht?“ „Ja, habe ich.“ Dimow nickte. „Und?“ „Nichts. Jetzt frage ich ja dich …“ „Dann nehmen wir einmal an, ein anderer hat seine Frau umgebracht. Jemand, mit dem er sich abgesprochen hat. Danach ist Radew nach Hause gegangen. Und als er das Blutbad sah, haben seine Nerven versagt. Und anstatt den wirklichen Mörder zu verraten, hat er sich selbst angegeben …“ Ist gar nicht dumm, dieser Berg von einem Kerl, dachte Raltschew mit einem Anflug von Neid. Wenn man von dieser Annahme ausging, wurden alle anderen Umstände dieses Mordes auf einmal begreiflich und erklärbar. Aber Dimow schwieg immer noch; aus der Tasche drang das Rascheln der Krebse. 125
„Die Hypothese entbehrt nicht der Logik“, ließ sich Dimow schließlich vernehmen. „Aber es fehlen ihr die Fakten. Vor allen Dingen: Bei uns gibt es keine käuflichen Mörder. Wer wird sich bereit finden, für einen andern so einen abscheulichen Mord zu begehen?“ „Wieso denn käuflich?“ Pargow sah ihn verwundert an. „Der Mörder kann doch ein persönliches Motiv für den Mord gehabt haben.“ „Welches zum Beispiel?“ „Woher soll ich das wissen? Da gibt es so viele Möglichkeiten. Vielleicht hat sie zwei Männer gleichzeitig an der Nase herumgeführt. Vielleicht hat sie ein fremdes Geheimnis gewußt … Auf dieser Welt ist alles möglich.“ „Möglich schon“, antwortete Dimow leise und schwieg dann eine Weile. „Der Haken ist nur, daß Dimow seine Frau wirklich geliebt hat. Ich hab’s bei der Verhandlung gehört. Darin kann ich mich nicht täuschen.“ Sie fingen Krebse, bis die Sonnenstrahlen warm auf den Fluß fielen. Über hundert hatten sie schon gefangen, doch Pargow holte seine Krebsreusen noch immer nicht ein. Nach der Nachtkühle wurde es auf einmal recht warm, sie zogen ihre Oberbekleidung aus. Das in der Nacht dunkle Wasser war ganz klar geworden, ab und zu sahen sie ein Fischchen durch das stille Stauwasser flitzen. Gegen neun kam Pargow schließlich von seinem letzten Rundgang wieder und sagte ein wenig müde: „Genug für heute! Sie haben sich schon verkrochen … Los, jetzt essen wir erst mal was.“ Er breitete eine durchsichtige Nylontischdecke auf der Erde aus und zerteilte geschickt die beiden großen Hühner. „Keine Angst, es sind keine Broiler. Richtige Haushühner. Nur mit Krümelchen und Würmern gefüttert.“ Dann förderte er aus dem unerschöpflichen Rucksack weitere Leckerbissen zutage. Neben der Blätterteigpastete 126
und den Eierkuchen erschienen auf der Tafel geröstete Paprikaschoten, frischer, gesalzener Weißkäse, eine Dose mit knoblauchgewürztem Auberginenpüree. Schließlich fingen die beiden anderen an zu lachen. „Lacht nur, lacht nur!“ Pargow sah sie ein wenig gekränkt an. „Ihr werdet noch nach mehr schreien.“ Sie aßen, bis sie nicht mehr konnten; aber obwohl sich Pargow die größte Mühe gab, blieb ein bißchen vom Essen übrig. „Wir werden es den Krebsen ’reinwerfen“, sagte er. „Mit irgend etwas müssen wir uns bei ihnen bedanken.“ Er dachte einen Moment nach und fügte hinzu: „Ich glaube, wir werden wohl bald Abschied von ihnen nehmen müssen.“ „Warum?“ fragte Dimow erstaunt. „Flußaufwärts wird eine Hefefabrik gebaut. Wenn die erst ihre Abwässer in den Fluß leitet, geht alles zum Teufel.“ „Daraus wird bestimmt nichts!“ sagte Dimow entschieden. „Woraus? Daß sie die Fabrik bauen?“ „Nein, daß sie die Abwässer in den Fluß leiten. Überlaß das mir. Bevor sie nicht eine Kläranlage bauen, können sie lange auf ihre Fabrik warten.“ „Ich weiß nicht!“ Pargow zuckte die Schultern. „Sicherlich werden sie die bauen. Und sie dann doch nicht nach Vorschrift in Betrieb nehmen, weil’s anders viel leichter ist.“ Wenig später war der Gummisack mit den Krebsen schon unterwegs nach Sofia. Sie setzten Pargow im Städtchen ab und fuhren weiter. Das Wetter war wärmer geworden, und obwohl sie in der Nacht fast nicht geschlafen hatten, fühlten sie sich beide großartig. Die reine Nachtluft hatte ihre Wirkung getan. Sie fuhren schon die Anhöhe bei Wladaja hinauf, als sich Raltschew endlich entschloß zu fragen: „Wann machen wir uns nun an die Arbeit?“ 127
„Morgen“, antwortete Dimow kurz. „Und wo fangen wir an?“ Dimow lächelte. „Wie denkst du darüber?“ „Meiner Ansicht nach müssen wir Radews Alibi noch einmal überprüfen. Wir können uns nicht ausschließlich auf diesen großkotzigen Advokaten verlassen …“ „Er war nicht großkotzig und hat uns ganz schön zurechtgestaucht.“ „Trotzdem habe ich noch meine Zweifel. Er ist in diesem Fall Partei.“ „Wenn du noch zweifelst, dann nimm dich der Sache an. Obwohl ich überzeugt bin, daß nichts dabei herauskommt.“ „Und du?“ „Für mich selber habe ich einen fetteren Knochen aufgehoben.“ Dimow lächelte abermals. „Wer ist dieser rätselhafte Liebhaber? Und was spielt er in dieser Geschichte für eine Rolle? Ich meine diesen Herrn Genow …“
2 Gleich am nächsten Tag fuhr Inspektor Dimow nach Plewen, nur mit einem Übergangsmantel und einer leichten Reisetasche ausgerüstet. Er machte es sich im Speisewagen bequem, frühstückte ordentlich und bestellte sich, weil ihn der Kellner ein bißchen scheel ansah, eine Flasche Exportbier. An den Zweck seiner Reise verschwendete er noch keinen Gedanken, er wollte sich nicht im voraus mit Hypothesen befassen. Das wichtigste war möglicherweise, diesen Menschen einfach einmal zu sehen. Der Jurist arbeitete in einem großen, modernen Industriebetrieb, der außerhalb der Stadt lag. Dimow nahm in Plewen gleich vor dem Bahnhof ein Taxi und 128
nannte dem Fahrer die Adresse. Eine Viertelstunde später setzte ihn der Wagen vor der Direktion ab, er bezahlte und stieg in den ersten Stock, wo sich die Verwaltung befand. Es war nicht schwierig, die Tür mit dem Schild „Rechtsabteilung“ zu finden. Er klopfte an und trat ein. Hinter dem wuchtigen Schreibtisch saß ein etwa fünfzigjähriger Mann von angenehmem Äußeren und sehr geschmackvoll gekleidet. Der Mann hob nicht gleich den Kopf von seinen Papieren, so daß Dimow ausreichend Zeit hatte, ihn zu mustern. Etwa annähernd so sahen die Männer aus den alten bürgerlichen Familien aus – ein breites, ein bißchen blutleeres und weiches Gesicht, fleischige, feminine Lippen, ovales Kinn, das spärliche Haar äußerst sorgfältig gescheitelt. Als Genow den Blick hob, stellte Dimow überrascht fest, daß er sehr schöne dunkelblaue, fast frauliche Augen mit einem angenehmen Ausdruck hatte. „Sie wünschen?“ fragte er obenhin, aber auch seine Stimme war weich und angenehm. „Ich bin von der Miliz“, entgegnete Dimow. Weder im Blick noch auf dem Gesicht Genows regte sich etwas. Das kam dem Inspektor ein bißchen unnatürlich vor. So rein sein Gewissen auch sein mochte, hatte er doch einigen Grund, besorgt zu sein. Als Jurist wußte er sehr gut, daß er nicht außerhalb jeden Verdachts stehen konnte. Dimow wies sich aus. „Ich komme aus Sofia“, fügte er hinzu. „Im Zusammenhang mit dem Mord an Frau Radewa.“ „Aber ich habe doch schon …“ „Sie haben eine schriftliche Erklärung abgegeben … Das ist mir bekannt. Doch ich möchte mir selber einen gewissen Eindruck verschaffen.“ „Gut. Setzen Sie sich“, sagte Genow. Dimow ließ sich in dem weichen Ledersessel nieder. Genow langte nach den Zigaretten – bis jetzt das einzige Anzeichen von Nervosität. 129
„Was interessiert Sie speziell?“ „Vor allem Ihre Beziehungen …“ „Aber dazu habe ich schon Erklärungen abgegeben“, antwortete Genow ruhig. „Toni war meine Freundin. Vielleicht ist das nicht das treffende Wort. Wir hatten vor zu heiraten, wollten aber warten, bis der Junge noch ein, zwei Jahre älter war.“ „Entschuldigen Sie, aber warum hat Frau Radewa Sie ihrem Mann vorgezogen?“ „So etwas weiß nur eine Frau“, erwiderte der Mann, und auf seinen Lippen erschien ein kaum merkliches Lächeln. „Ich möchte, daß Sie meine Frage genau verstehen. Hatte sie einen besonderen Grund, von ihrem Mann enttäuscht zu sein?“ „Nein!“ antwortete der Jurist sofort. „Und sie hat sich nie über ihn beklagt? Bitte, denken Sie genau nach.“ „Nnnein!“ antwortete Genow dieses Mal nicht ganz so bestimmt. „Sind Sie sicher?“ „Sie war eine sehr gebildete und taktvolle Frau. Und sie hat ihn überhaupt selten erwähnt. Obendrein hat sie ihn nicht ein einziges Mal beim Namen genannt. Dennoch konnte ich mir aus den wenigen Äußerungen ein Bild machen. Sie haben überhaupt nicht zusammen gepaßt, weder in ihrer Mentalität noch in ihrer Gefühlswelt.“ „Gut, Herr Genow. Sagen Sie mir jetzt, wann Sie die Ermordete zum letztenmal gesehen haben.“ Dimow kam es so vor, als hole der Jurist verstohlen tief Luft. „Am Tage des Mordes“, antwortete er ruhig. „Das habe ich nicht anders erwartet“, versetzte Dimow ebenso ruhig und nickte. „Wieso?“ Erst jetzt schien in Genows Stimme eine gewisse Unruhe mitzuschwingen. 130
„Das geht aus Radews Aussagen hervor. Er hat es immer gemerkt, wenn Sie nach Sofia kamen. An ihrer Aufmachung vermutlich … und an ihrer Stimmung …“ Zum erstenmal verfinsterte sich Genows Miene sichtbar. „Ja, ich bin an diesem Tag wirklich in Sofia gewesen“, erwiderte er. „Erzählen Sie genauer …“ „Ich hatte im Kombinat etwas Wichtiges zu erledigen“, fuhr Genow fort. „Deshalb ließ ich mir eine eintägige Dienstreise geben. Nach auswärts fahre ich immer mit meinem eigenen Wagen, das ist bequemer. Ich bin zeitig aufgestanden und war gegen zehn schon in Sofia. Gegen halb zwölf hatte ich meine Arbeit bereits erledigt und rief sie sofort im Gymnasium an. Wir trafen uns in einer Konditorei. Danach waren wir zusammen in der Folkloregaststätte in Bojana essen.“ „Wußte sie, daß Sie an diesem Tag kommen würden?“ Genow zögerte kaum merklich. „Ja, sie wußte es.“ „Weiter?“ „In der Gaststätte blieben wir etwa zwei Stunden. Sie werden verstehen, daß wir in unserer Lage nicht gehen konnten, wohin wir wollten.“ „Haben Sie etwas getrunken?“ „Nur eine Flasche Weißwein. Sie war völlig nüchtern, falls Sie das meinen.“ „Wie kam sie Ihnen vor? Ruhig? Erregt?“ „Nein, sie war wie immer … Sie verstand es, sich zu beherrschen, Genosse Inspektor, sie ließ sich ihre Stimmungen nie anmerken. Sie war überhaupt ein Mensch mit einem außergewöhnlich starken, ich möchte sagen: herrischen Charakter. Ihre Wünsche waren für mich Gesetz.“ „Und danach?“ „Danach sind wir in die Stadt zurückgekehrt. Sie wollte sich kurz im Dienst sehen lassen, anschließend wollten wir uns wieder treffen.“ 131
„Um wieviel Uhr sind Sie auseinandergegangen?“ Genow überlegt. „Das kann ich nicht genau sagen … Aber es war wahrscheinlich gegen halb vier. Wir verabredeten uns für Punkt fünf im Park beim Ärztedenkmal.“ „So! Und wo verbrachten Sie die Zeit bis zum zweiten Rendezvous?“ „Mir blieb ja nicht mehr allzuviel Zeit. Ich spiele gern ein bißchen Karten, Genosse Inspektor, am häufigsten Bridge. Im Cafe ‚Witoscha‘ wird Bridge gespielt, deshalb bin ich hingegangen, um ein bißchen zu kiebitzen. Ich habe mich an einen Tisch gesetzt, wo vier recht ordentliche Spieler beisammensaßen. Auf diese Weise habe ich gar nicht gemerkt, wie die Zeit verging.“ „War irgendein Bekannter von Ihnen in dem Cafe?“ „Ich verstehe, was Sie meinen. Nein, es war keiner da. Dort verkehrt hauptsächlich Laufkundschaft, in so einem Cafe ist es schwer, einen Bekannten zu finden. Ich gehe da auch nur sehr selten hin, vielleicht ein-, zweimal im Jahr.“ „Und dann?“ „Dann begab ich mich zum Treffpunkt. Ich habe bis sechs gewartet, aber sie ist nicht gekommen. Da nahm ich an, daß etwas Unvorhergesehenes dazwischengekommen ist, und bin nach Plewen zurückgefahren. Sie hat zu Hause kein Telefon, ich wußte nicht, wie ich mich mit ihr in Verbindung setzen sollte.“ „Wann haben Sie von ihrem Tod erfahren?“ Genows Gesicht verfinsterte sich vollends. „Ein paar Tage später, und zwar ganz zufällig, von einem gemeinsamen Bekannten.“ „Aha! Und waren Sie beim Prozeß?“ „Ja, ich war da …, Sie werden verstehen, daß mich das alles berührte.“ „Das verstehe ich sehr gut. Aber Ihr Verhalten verstehe ich nicht. Aus Ihrer Aussage ergibt sich, daß sie zwi132
schen zwölf und halb vier bestimmt noch am Leben war. Sie sind doch Jurist, nicht wahr?“ „Ja, ich bin Jurist.“ „Vor Gericht ging es um die Zeit zwischen zwei und drei Uhr, für die Radew kein sicheres Alibi hat. In diesem Fall hätte Ihr persönliches Eingreifen alles entscheiden können …“ Genow lehnte sich zurück, etwas Kaltes und Abweisendes erschien in seinem Blick. „Genosse Inspektor, Sie kennen meine heikle Lage sehr gut.“ „Ja, das schon. Aber es ging um das Schicksal eines Menschen. Wollten Sie etwa zulassen, daß ein Unschuldiger ins Gefängnis kam?“ Genow schwieg, und Dimow erkannte genau, daß er in diesem Moment zögerte, ob er das, was er im Sinn hatte, sagen sollte oder nicht. „Das ist es ja, daß ich ihn ganz und gar nicht für unschuldig halte“, entgegnete er schließlich. „Und mit welcher Begründung?“ fragte Dimow streng. „Wozu braucht es hier noch besondere Begründungen?“ widersprach Genow müde. „Ich kenne Toni sehr gut, kenne ihre Umgebung. Wer kann sie umgebracht haben? Und weshalb? Das kann doch auf keinen Fall irgendein Fremder sein, den niemand kennt.“ „Genau dasselbe denke ich auch“, erwiderte Dimow. „Aber wer auch der Mörder ist, eins ist klar: Er hat ein Interesse daran, daß Radew ins Gefängnis kommt.“ „Sie haben kein Recht, mir so etwas zu sagen. Noch dazu ohne jeden Grund.“ „Wichtig ist, daß jeder es denken wird.“ „Die Sache ist bloß, daß Stefan Radew das nicht gedacht hat. Sonst wäre er nicht an meiner Stelle ins Gefängnis gegangen. Ich sehe keinerlei Ursachen dafür, daß er mir dankbar sein sollte. Und gerade das veranlaßt mich zu der Annahme, daß er selbst der Schuldige ist.“ 133
„Darin liegt Logik!“ Dimow nickte ruhig. „Aber das Leben ist oft überhaupt nicht logisch. Mitunter können zwei Todfeinde unter einem Regenschirm stehen.“ Dimow erhob sich. „Auf Wiedersehen!“ sagte er. „Ich glaube, das wird nicht unser letztes Gespräch gewesen sein. Wie kommen Sie von hier aus in die Stadt?“ „Es gibt einen bequemen Bus.“ Der Bus war nicht gerade bequem, brachte ihn aber in die Stadt. Dort begab er sich in die Bezirksverwaltung der Miliz und sprach mit ein paar Leuten. Anschließend mußte er noch mit einigen außerhalb der Dienststelle reden. Als er abends endlich zum Bahnhof ging, hatte er das Gefühl, den Tag nicht umsonst vertan zu haben. Mehrere neue Wege hatten sich vor ihm aufgetan. Obwohl sie in verschiedene Richtungen wiesen, waren es eben doch Wege. Und es war zu früh, sich Gedanken zu machen, ob sie danach nicht irgendwo wieder zusammenführten. Dimow traf nach Mitternacht in Sofia ein, ging aber am Tag darauf wie immer auf die Minute pünktlich zum Dienst. Trotzdem wartete Raltschew schon in seinem Büro auf ihn. In seiner Miene deutete nichts auf außergewöhnliche Ereignisse hin. „Na?“ fragte Dimow kurz. „Du hast recht gehabt“, antwortete Raltschew kleinlaut. „Alle halten an ihren Aussagen vor Gericht fest.“ „Wenn du was anderes erwartet hast, warst du auf dem Holzweg. Du solltest was Neues rauskriegen.“ „Nichts zu machen. Und wie war’s bei dir?“ „Ich könnte nicht sagen, daß es gar nichts wäre“, entgegnete Dimow. Und er berichtete in großen Zügen von seinem Gespräch mit Genow. Raltschew wurde nachdenklich. „Das heißt also, daß er kein Alibi hat?“ fragte er. „Bis jetzt braucht er noch keins.“ 134
„Und trotzdem. Ich kenne dieses Cafe. Dort kommen meiner Ansicht nach recht zwielichtige Typen zusammen. Es ist kein Lokal für einen Mann mit seinen Ansprüchen. Aber dort wird wirklich Bridge gespielt, damit hat er dich nicht angelogen. Es wäre interessant zu wissen, ob er selbst auch spielt.“ „Ja, er spielt. Obwohl er lieber pokert. Wenn man ihm eine Schwäche nachsagen kann, so sind das kaum die Frauen. Eher die Karten. Und manchmal sieht er sich die Leute nicht allzu genau an, mit denen er spielt.“ „Interessant!“ brummte Raltschew. „Aber da ist noch etwas viel Interessanteres. Am Tag nach dem Mord hat Genow sein Auto verkauft. Einen ganz neuen Skoda. Warum wohl? Er hat ihn so nötig gebraucht, um damit zur Arbeit zu fahren. Und für seine amourösen Abenteuer …“ „In welchem Zusammenhang könnte das mit dem Mord stehen?“ „Ach, da gibt es Hypothesen, soviel du willst … Von einem Menschen, der dringend Geld braucht, kann man alles erwarten.“ „Tatsache ist aber doch, daß er von der Radewa nichts bekommen hat“, wandte Raltschew ein. „Weder von der lebenden noch von der toten. Sonst hätte er ja seinen Wagen nicht verkauft.“ „Darauf läuft es hinaus. Aber das ist kein Beweis dafür, daß er nicht versucht hat, welches zu bekommen … und daß es bloß nicht geklappt hat.“ Er dachte einen Moment nach. „So oder so, etwas wissen wir nun genau … unabhängig von dem Gutachten. Bis halb vier war die Radewa wirklich noch am Leben. In dem Punkt hat Genow sich nicht getraut zu lügen. Er ist ein kluger, intelligenter Mann und, wie ich erfahren habe, ein ausgezeichneter Jurist. Ihm ist klar, daß ihn eine diesbezügliche Lüge belasten würde. Er war unter Leuten – in der Gaststätte, 135
auf der Straße … Er kann immerhin gesehen worden sein. Was er aber nach halb vier gemacht hat, das kann uns niemand sagen. Nur er selber, versteht sich.“ „Du meinst, er hat versucht, sie zu berauben? Und es ist schiefgegangen?“ „Ich meine gar nichts“, erwiderte Dimow trocken. „Aber niemand kann mir verbieten, daß ich mir so meine Gedanken mache.“ „Aber was kann man bei den Radews holen? Sie sind nicht wohlhabend.“ „Woher willst du das wissen?“ Dimow sah ihn spöttisch an. „Das sieht man doch an allem.“ „Meiner Ansicht nach sieht man das nicht an allem. Hast du die schönen, altertümlichen Möbel nicht bemerkt, den teuren Teppich? Antonia Radewa geborene Mandilowa stammt aus einer alten, wohlhabenden Familie.“ „Ja, das weiß ich.“ „Wir wissen wenig“, sagte Dimow hart. „Ich möchte, daß du mal in ihrer Vergangenheit herumgräbst. Je tiefer, desto besser. Es gibt noch genug lebende Zeugen. Vielleicht führt uns irgendeine Kleinigkeit auf den richtigen Weg.“ „Gut. Wieviel Zeit gibst du mir?“ „Unbeschränkt! Jetzt brauchen wir uns nicht mehr zu beeilen und müssen jeden künftigen Schritt sorgfältig erwägen. Die Verbrecher oder der Verbrecher, wer es auch sein mag, sind jetzt noch mehr auf der Hut.“ Raltschew schwieg. Seine Miene verriet deutlich, daß ihn dieser neue Auftrag nicht eben begeisterte. Er war schon immer mehr für aufregende, dramatische Aktionen gewesen. „Ich weiß nicht“, brummelte er. „Laß aber trotzdem Radew nicht aus den Augen. Damit wir nicht die Taube in der Hand für den Spatzen auf dem Dach sausen lassen.“ 136
„Radew braucht dich nicht länger zu interessieren!“ antwortete der Inspektor kurz angebunden. „Er ist vom Gericht freigesprochen worden. Jetzt suchen wir den wirklichen Mörder.“ Raltschew seufzte und stand auf. Er wußte, daß er unverzüglich mit der Arbeit beginnen mußte.
3 Der junge Oberleutnant gelangte bald zu der Überzeugung, daß es mitunter fast ebenso schwer ist, eine Vergangenheit aufzudecken wie einen komplizierten Mord. All das ist in den kleinen Vierteln am Stadtrand, wo die Menschen vor aller Augen leben, selbstverständlich viel leichter. Dort lebt man in engem Kontakt miteinander, und jeder kennt die Geheimnisse des anderen. Doch wie sollte er sich Zutritt in die stillen, dumpfen Wohnungen derjenigen verschaffen, die bis vor ein paar Jahrzehnten die Creme der Hauptstadt waren? Wie sollte er mit diesen kalten, abweisenden Menschen ins Gespräch kommen, die nur untereinander verkehrten? Wie sollte er in ihre Erinnerungen eindringen, die sie nur im engsten, vertrautesten Kreis mitteilten? Seine ersten Versuche in dieser Richtung waren ein völliges Fiasko. Da versuchte er es auf Umwegen. Er stöberte zunächst die ehemaligen Dienstmädchen, Gouvernanten und Diener auf. Dann machte er sich an die Kellner, Lieferanten, den altersschwachen Gärtner heran – an all die, die sie unmittelbar bedient hatten. Und allmählich vervollständigte sich das Bild durch immer neue und interessante Details, bis er schließlich das komplette Panorama beisammen hatte. Auf den ersten Blick sah das recht imposant aus. Am Ende des vergangenen Jahrhunderts eine reiche Kauf137
mannsfamilie, die die Augen allmählich auf die Politik richtete. Ein Minister, ein paar hohe Staatsbeamte, alle von der konservativen Volkspartei. Danach ein paar Generationen Diplomaten. Aber die alte Partei schmolz allmählich zusammen, die Staatsposten wurden für sie immer spärlicher. „Krum Mandilow, Antoinettas Vater“, berichtete Raltschew ausführlich und gewissenhaft, „war Mitglied des Obersten Kassationsgerichts. Ein Mann mit einem festen Charakter, ein Demokrat, untadelig, ehrlich … Für die Kollaborateure des Dritten Reiches kein eben bequemer Mann. Und sie nutzten die erste sich bietende Gelegenheit, um ihn in Pension zu schicken. Bloß mit einem Ruhegehalt ist so ein großes Haus natürlich schwer zu erhalten. Zu allem Überfluß hatte er auch noch die Schwestern auf dem Hals. Ganz zu schweigen davon, daß seine Tochter, eins der schönsten Mädchen im damaligen Sofia, ganz ohne Mitgift dasaß.“ „Und die Mutter?“ unterbrach ihn Dimow. „Sie ist recht früh gestorben. Ich habe ihr Bild gesehen – Antoinetta ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Sie stammte aus einer vergleichsweise bescheidenen Familie, ihr Vater war Inspektor im Finanzministerium. Nach dem Umsturz neunzehnhundertvierundvierzig wurde das Haus der Mandilows enteignet und dem diplomatischen Korps zur Verfügung gestellt.“ „Gegen Entschädigung?“ „Zunächst wurde es einfach enteignet. In der Folgezeit wurde es ihnen nach einer Klage der Erben aber voll bezahlt. Doch das war erst vor ungefähr zehn Jahren.“ „Und wieviel haben sie bekommen?“ Raltschew nannte die Summe. „Das ist ein schöner Batzen Geld!“ sagte Dimow. „Das ist es schon, aber den Löwenanteil haben die beiden Schwestern eingesteckt. Doch wie dem auch sei, nach dem Krieg war die Familie völlig verarmt. Antoi138
netta hat wirklich, wie dir bekannt ist, auf der Universität französische Philologie studiert, aber mit einem staatlichen Stipendium. Mehr noch – um leben zu können, hat sie schon als Studentin Französischstunden in verschiedenen wohlhabenden Familien gegeben. Neunzehnhundertsiebenundvierzig hat sie das Examen gemacht. Man bot ihr eine Lehrerstelle in der Provinz an, aber sie schlug sie aus. Lange Jahre gab sie Privatstunden, unter anderem auch recht einflußreichen Genossen. Erst neunzehnhundertsiebenundfünfzig nahm sie die Stelle im Fremdsprachengymnasium an.“ „Und in welchen Familien hat sie Stunden gegeben?“ fragte Dimow. „Ich meine in der Zeit kurz vor und nach dem Umsturz von neunzehnhundertvierundvierzig?“ „Ist das auch wichtig?“ fragte Raltschew zweifelnd. „Alles ist wichtig!“ entgegnete Dimow mit Nachdruck. „Entschuldige, Chef, aber danach konnte ich sie nicht mehr fragen.“ „Du wirst schon eine Möglichkeit finden, es zu erfahren. Geh zu den beiden Schwestern. Die erzählen dir mehr, als du wissen willst.“ Bald darauf war Raltschew mit seinem Bericht fertig. Dimow schwieg. Alles, was er da erfahren hatte, brachte ihn nicht weiter. Allem Anschein nach war die Familie wirklich verarmt. Die Hypothese, daß es sich auch um einen Raubmord handeln könnte, wurde immer unwahrscheinlicher. Am besten von allen mußte freilich Stefan Radew wissen, was die Familie besaß und was nicht. Am einfachsten und natürlichsten wäre es gewesen, ihn selbst danach zu fragen. Aber diesen Gedanken schlug er sich gleich wieder aus dem Kopf. Für ein Gespräch gleich welcher Art war es noch zu früh. Wahrscheinlich würde auch gar nichts dabei herauskommen. Und er beschloß, noch einmal Rosa aufzusuchen. Das Mädchen hatte gleich beim erstenmal mit seiner Offenheit und Ehrlichkeit einen guten Eindruck auf ihn ge139
macht. Leider kam aber auch ihre treuherzige Naivität dazu. Doch mitunter kann auch Naivität nützlich sein – einem naiven Menschen kann man die Familiengeheimnisse leichter entlocken. Dimow ließ sich von Raltschew Rosas Adresse geben, stieg in seinen Moskwitsch und war bald darauf vor dem Wohnblock. Glücklicherweise war der Fahrstuhl endlich in Betrieb genommen worden, so daß er keine Mühe hatte, in den achten Stock zu gelangen. Er klingelte, wenig später erschien Rosa an der Tür. Sie sah ihn einen Augenblick lang fragend an, als versuchte sie, sich zu erinnern, wer das war. Dann sagte sie zurückhaltend: „Ach, Sie sind es, Genosse Inspektor. Treten Sie näher.“ Rosa führte ihn in das winzige Wohnzimmerchen. Er setzte sich in einen der Sessel, ohne das Mädchen einen Augenblick aus den Augen zu lassen. Sie kam ihm sehr verändert vor, als sei sie für ein neues, viel komplizierteres Leben zum zweitenmal geboren worden. „Ich habe ein paar Fragen an Sie, Bürgerin Sheljaskowa“, sagte er weich. „Bitte“, entgegnete das Mädchen reserviert. „Die Gerichtsverhandlung ist vorbei, die Ermittlungen gehen weiter. Wir wissen noch immer nicht, wer Ihre Mutter ermordet hat. Und weshalb sie ermordet worden ist. Das ist die Kernfrage. Wenn wir das herausfinden, wird der Weg zur Wahrheit viel leichter sein.“ „Aber ich habe Ihnen doch schon gesagt, ich habe keine Ahnung“, entgegnete Rosa. „Ich kann mir nicht vorstellen, wer meine Mutter umgebracht haben könnte. Sie hatte keine Feinde.“ „Ja, daran zweifle ich nicht … Aber auch der harmloseste Mensch kann ermordet werden. Beispielsweise, um beraubt zu werden.“ „Beraubt?“ „Ich nenne das als Beispiel. Das ist das häufigste Mordmotiv. Sagen Sie, hatte Ihre Mutter irgendwelche 140
Wertgegenstände in der Wohnung? Geld zum Beispiel? Oder etwas anderes?“ „Nein!“ sagte Rosa bestimmt. „Wir waren nicht reich. Fast alles, was wir hatten, haben wir für die Wohnung ausgegeben.“ „Sogar das Geld, das Sie von der Erbschaft bekommen haben?“ „Alles, alles … Sie wissen, daß Wohnungen heutzutage ziemlich teuer sind.“ „Denken Sie trotzdem einmal nach. Sie stammen aus einer alten Familie, waren in der Vergangenheit einmal wohlhabend … In Familien wie der Ihren gibt es immer irgendwelche Wertgegenstände – Armreifen, kostbare Ringe, Kolliers …“ „Nein!“ sagte Rosa. „Davon weiß ich nichts. So kostbar solche Dinge auch sein mögen, sie werden doch getragen. Ich habe meine Mutter nie mit wertvollem Schmuck gesehen.“ „Nein, sie werden nicht immer getragen“, widersprach Dimow sanft. „Sie wissen, daß das in einer Gesellschaft wie der unseren abgelehnt wird. Manche haben geradezu Angst, wenn vor nichts anderem, so wenigstens vor dem Gerede. Doch auch die ärmsten Familien haben ein bißchen was. Das eine oder andere Goldstück im Knoten, einen Ring, eine goldene Uhr … Nun gar eine Familie wie die Ihre. In der es sogar einmal einen Minister gegeben hat. Da müssen einfach irgendwelche Erbstücke vorhanden sein.“ „Vielleicht waren welche da“, sagte Rosa bedrückt. „Aber wahrscheinlich hat mein Großvater alles verkauft. Ich habe gehört, daß sie zehn, fünfzehn Jahre fast kein Einkommen hatten.“ „Ja, ich verstehe. Und trotzdem … Hatte Ihre Mutter nicht doch eine Schublade, die sie sorgfältig verschloß?“ „Ja, natürlich, die hatte sie!“ antwortete Rosa plötzlich. 141
Dimow horchte auf. „Na sehen Sie!“ fuhr er sanft fort. „Wissen Sie noch, welches Schubfach das war?“ „Das oberste in der Kommode!“ erwiderte Rosa. „Und die Kommode steht im Schlafzimmer. Vielleicht haben Sie sie gesehen – ein sehr schönes, altertümliches Stück, irgendwo im Ausland gekauft … Meine Mutter sagte mir, daß man ihr dafür zweitausend Lewa geboten habe.“ „Und trotzdem hat sie sie nicht verkauft“, sagte Dimow. „Niemand gibt seine schönsten und wertvollsten Sachen her. Sie sind so etwas wie eine letzte Reserve. Das muß in unserem Volk eine Art Instinkt sein – daß man immer irgendeine letzte kleine Reserve hat. Für eine schwere Krankheit, für Todesfälle … Hat Ihnen Ihre Mutter, als Sie heirateten, nicht etwas geschenkt – eine Brosche zum Beispiel, einen Armreifen?“ „Nein!“ antwortete Rosa. „Solche Dinge verwahrt man für gewöhnlich in wohlverschlossenen altertümlichen Kästchen. Bisweilen in Kassetten …“ Plötzlich fuhr Rosa zusammen und sah ihn erstaunt an. „In Kassetten?“ fragte sie. „Ich glaube, so etwas war da … Obwohl ich sie nur einmal gesehen habe.“ Dimow hatte das Gefühl, als stocke ihm der Atem. Dennoch fuhr er ruhig fort: „Erzählen Sie, erzählen Sie … Wann haben Sie sie gesehen?“ „Vor zwei Jahren. Als wir in die neue Wohnung umzogen. Ich saß mit meiner Mutter vorne beim Schofför des Lastautos. Und sie hielt die Kassette auf dem Schoß.“ „Haben Sie sie nicht gefragt, was das ist?“ „Natürlich habe ich sie gefragt. Aber sie hat mir zur Antwort gegeben, daß sie nicht ihr gehöre.“ „Und danach haben Sie die Kassette nicht mehr gesehen?“ 142
„Nein, es war das erste und das letzte Mal.“ „Erinnern Sie sich, wie sie aussah?“ „Etwa so groß.“ Rosa zeichnete mit dem Finger die Abmessungen auf den Tisch. „Und grün war sie.“ „Und sonst nichts? Ich weiß, daß junge Leute wie Sie ein gutes optisches Gedächtnis haben.“ Rosa überlegte schweigend. „Ja, grün … mit einem Griff … Und ein quadratisches Bronzeornament an den Rändern. So etwas wie ein rotes Wappen am Schlüsselloch. Allzu sicher bin ich nicht, vielleicht irre ich mich …“ „Sie irren sich nicht!“ sagte Dimow ruhig. „Auf dem Wappen war ein goldener Löwe mit der Firmeninschrift dargestellt.“ „Woher wissen Sie das?“ Das Mädchen zuckte zusammen. „Nirgendwoher.“ Dimow lächelte. „So ungefähr sehen alle Kassetten aus, müssen Sie wissen. Bei uns sind sie vor Jahren nur von zwei Eisenwarenfirmen hergestellt worden.“ „Ich habe so etwas zum erstenmal gesehen …“ „Ja, natürlich … Sie sind in einer anderen Zeit aufgewachsen. Jetzt brauchen wir keine eisernen Kassetten mehr. Ich danke Ihnen, Rosa!“ Zum erstenmal nannte er sie beim Vornamen. Er stand auf. Sein Gesicht war wohlwollend und ein bißchen nachsichtig. „Haben Sie jemandem etwas von dieser Kassette gesagt?“ „Nein! Absolut niemandem. Weshalb sollte ich? Ich habe diesen bedeutungslosen Vorfall sofort vergessen. Sie haben mich jetzt zum erstenmal wieder daraufgebracht.“ „Ja, ja, versteht sich … Nun, entschuldigen Sie die Störung. Wenn ich Sie noch einmal wegen etwas brauchen sollte – Sie nehmen mir’s doch nicht übel, nicht wahr?“ 143
„Ich bitte Sie!“ „Und lassen Sie Ihren Vater in Ruhe. Ich wage es auch nicht, ihn zu belästigen. Seine seelischen Wunden müssen erst verheilen.“ „Das verstehe ich besser als Sie“, sagte Rosa. Eine Viertelstunde später war Dimow in seiner Dienststelle. Als erstes erkundigte er sich nach Raltschew. „Er wird gegen zwölf wiederkommen“, erklärte die Sekretärin. „Sofort zu mir, wenn er da ist!“ Dimow trat in sein Büro. Doch er setzte sich nicht wie sonst hinter seinen Schreibtisch, warf nicht einmal einen Blick auf die letzten Meldungen, sondern ging nachdenklich hin und her. Eine Stunde später traf Raltschew ihn so an. Doch der Glanz in seinen Augen verriet deutlich, daß etwas Wichtiges geschehen war. Er fragte geradezu: „Was gibt’s, Chef?“ Dimow lachte. „Nichts Besonderes. Und trotzdem habe ich das Gefühl, als seien mir Flügelchen gewachsen.“ „Sagst du’s mir?“ „Ja, natürlich. Aber zuvor muß ich dich etwas fragen.“ „Hauptsache, ich weiß es.“ „Du weißt es genau. Im Schlafzimmer der Radews steht eine sehr schöne altertümliche Kommode. Erinnerst du dich?“ „Ja, sehr gut. So ein schönes Stück möchte jeder gern haben.“ „Wer hat sie durchsucht?“ „Ich selbst.“ „Waren irgendwelche Schubfächer abgeschlossen?“ Dimow spürte erneut, wie ihm der Atem stockte. „Nein, Chef. Alle Schubfächer waren unverschlossen.“ „Ja, das hatte ich erwartet. Und hast du in einem eine grüne Eisenkassette gefunden? Etwa mit diesen Abmessungen?“ 144
Und er zeigte die Ausmaße wie Rosa an. „Nein!“ antwortete Raltschew kurz. „Bist du sicher?“ „Absolut sicher.“ Dimow atmete auf und setzte sich in einen Sessel. Sein Gesicht entspannte sich, er berichtete ausführlich von seinem Gespräch mit Rosa. Jetzt begannen auch Raltschews Augen sichtbar zu glänzen. „Ja, ich verstehe“, sagte er. „Das ist immerhin schon etwas.“ Eine Weile schwiegen beide. „Stefan Radew muß von dieser Kassette wissen“, sagte Dimow schließlich. „Das kann gar nicht anders sein. Er muß auch ihren Inhalt kennen. So fremd sie einander auch waren, war es doch immerhin eine Familie. Aller Wahrscheinlichkeit nach enthielt die Kassette irgendwelche Wertsachen. Oder etwas anderes, sehr Wichtiges, wenn sie sorgfältig versteckt und weggeschlossen wurde.“ „Natürlich hat er es gewußt“, antwortete Raltschew. „Also – die Kassette verschwindet … Warum? Nachdem sie so lange aufbewahrt worden ist. Es liegt die Vermutung nahe, daß sie am Tage des Mordes gestohlen wurde, vielleicht vom Mörder. Vielleicht aber auch … Nun, es ist natürlich möglich, daß sie schon früher weggekommen ist. Wenn das stimmt, läßt sich das leicht feststellen. Wenn sie aber wirklich am Mordtag gestohlen wurde?“ „Ja, ich verstehe“, sagte Raltschew. „Das ist nicht schwer einzusehen.“ Dimow nickte aufgeregt. „Dann wird begreiflich, warum Raltschew schweigt. Offensichtlich handelt es sich um einen Raubmord. Aber warum ist Radew, der doch wissen muß, daß die Kassette verschwunden ist, bis jetzt nicht zu uns gekommen? Warum hat er nichts gesagt? Es sei denn …“ Dimow verstummte plötzlich. 145
„Es sei denn, er hat diese Kassette selbst genommen.“ Dimow schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf. „So einen gewagten Schluß möchte ich nicht ziehen, obwohl er sich einem von selbst aufdrängt. Offensichtlich ist jedoch, daß er aus irgendeinem Grund Interesse hat zu schweigen.“ „Das verstehe ich nicht“, brummte Raltschew. „Ich verstehe es ja selbst auch nicht. Wir gehen davon aus, daß Radew nicht der Mörder ist. Warum schweigt er dann? Warum bringt er uns nicht auf die Spur des wirklichen Täters? Vielleicht verbindet sie ein gemeinsames Geheimnis … Vielleicht sind sie wirklich Komplicen …“ „Einer Sache bin ich mir sicher, Chef“, sagte Raltschew überzeugt. „Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Erscheinen dieses Herrn Genow und dem Mord.“ „Jetzt bin ich davon auch beinahe überzeugt. Na schön, was würdest du an meiner Stelle tun?“ „Zuallererst würde ich sofort Stefan Radew vernehmen.“ „Warum sofort?“ Dimow lächelte unmerklich. „Weil ihn Rosa warnen kann … Wenn sie es nicht schon getan hat. Dann wird er sich eine Antwort zurechtlegen, eine entsprechende Lüge, meine ich.“ „Nein, sie hat ihm nichts gesagt.“ Dimow schüttelte den Kopf. „Da habe ich vorgebaut.“ „Ausgezeichnet!“ sagte Raltschew. „Dann müssen wir uns an die Arbeit machen.“ Jetzt schwang in seiner Stimme kaum verhohlene Schadenfreude mit, und er beeilte sich, das zu erklären: „Ich bin neugierig, was für ein Geständnis Radew uns jetzt auftischen wird.“ Aber Dimow schien es gar nicht gehört zu haben. „Ich möchte, daß Genow morgen früh zur Vernehmung hier ist. Ohne daß wir ihn festnehmen. Aber er muß unter allen Umständen zur Stelle sein.“ 146
„Ist klar, Chef. Er darf keine Möglichkeit zur Flucht haben.“ „Ich glaube nicht, daß er fliehen wird. Aber wir dürfen kein Risiko eingehen. Obwohl er uns den besten Beweis seiner Schuld lieferte, wenn er wirklich davonliefe.“ Dimow lachte und stand auf. „Und jetzt gehen wir irgendwohin ordentlich essen. Nach so vielen Aufregungen habe ich plötzlich Hunger wie ein Wolf.“ „Besser, wir schieben es nicht auf die lange Bank“, wandte Raltschew besorgt ein. „Nein, ich möchte ihn in seiner Wohnung vernehmen. Ich möchte mir noch einmal das ganze Haus ansehen.“ „Aber wenn …“ „Keine Angst!“ unterbrach ihn Dimow spöttisch. „Alle drei werden beobachtet. Will sagen, Rosa auch. Obwohl das Mädchen völlig schuldlos ist.“ „Selbst das wage ich schon nicht mehr zu glauben“, brummte Raltschew. „Laß Rosa jetzt aus dem Spiel. Wichtig ist, daß sie bei ihrem Vater nicht plappert. So, und jetzt sag mir, wohin du mich einlädst. Ich hätte Appetit auf was Scharfes und Pikantes.“ „Dann die Folkloregaststätte in Bojana“, sagte Raltschew im Spaß. „Das ist eine Idee. Tauchen wir sozusagen in die Atmosphäre unserer Haupthelden.“ Ein paar Minuten später surrte der Moskwitsch schon über die Straße nach Bojana.
4 Obwohl sie wirklich Hunger hatten, schmeckte ihnen das Essen gar nicht. Wie in allen teuren Lokalen ging es 147
mit der Küche langsam bergab. Das Fleisch war nicht frisch, das Gemüse fast faulig, der Chefkoch, offenbar von einer Abart der Schlafkrankheit befallen, hatte das dürftige Menü mit merklichem Widerwillen zubereitet. „Möchte gern wissen, was der Kerl selbst ißt“, überlegte Dimow laut, während er an dem Fleisch säbelte. „Vermutlich ist er Vegetarier.“ „Ich weiß nicht, aber wir haben einen Fehler gemacht. Wir hätten ins ‚Schumako‘ gehen sollen. Obwohl es dort immer proppenvoll ist.“ „Genau!“ Dimow nickte. „Er hat es darauf angelegt, allein zu sein. Damit ihn die Leute nicht sehen. Weißt du noch, was in dem Schubfach war?“ „In welchem Schubfach?“ „In der Kommode.“ „Nichts Besonderes. Ein paar alte englische Cremebüchsen. Leer natürlich.“ „Niemand hält alte Cremebüchsen unter Verschluß“, meinte Dimow. „Selbst volle nicht.“ Sie brachten das mißlungene Mittagessen rasch hinter sich und fuhren enttäuscht in die Stadt zurück. Dimow setzte Raltschew vor dem Haus der beiden alten Tanten ab und begab sich selbst in die Dienststelle. Aber seine laufende Arbeit ging ihm nicht von der Hand. Erst gegen halb fünf läutete das Telefon. Dimow hatte schon ein paarmal ungeduldig zum Hörer gegriffen. „Radew ist nach Hause gegangen, Genosse Dimow“, sagte die Stimme. „Ja, gut.“ Er verließ eilig sein Büro. Das Wetter draußen war unfreundlich, es fiel ein feiner Regen. Und als er sich ins Auto setzte, merkte er plötzlich, daß man ihm die Scheibenwischer gestohlen hatte. Ausgerechnet ihm! Ihm war unerklärlich, wie das hatte passieren können, aber nun blieb ihm keine andere Wahl mehr. Wütend durch die regennasse Scheibe starrend, kam Dimow doch noch ans 148
Ziel. Das Täfelchen im zweiten Stock lautete unverändert: „Familie Radew“. Er klingelte, wenig später erschien Radew in der Tür. Er war ohne Jackett, über den Sachen trug er eine Frauenschürze aus Nylon. Die Ärmel des Hemdes waren bis über die Ellenbogen hochgekrempelt, seine Hände waren gerötet und naß. Als er den Besucher sah, runzelte er die Brauen. „Wollen Sie zu mir?“ fragte er abweisend. „Ja, zu Ihnen.“ Radew zögerte sichtlich. „Ich bade jetzt den Jungen“, entgegnete er. „So klein ist er ja nicht mehr, er kann allein baden.“ „Kommen Sie herein!“ sagte Radew kühl. Er führte ihn ins Wohnzimmer, die beiden setzten sich an den niedrigen polierten Tisch. „Ich möchte Ihnen nur ein paar kleine Fragen stellen“, begann Dimow. Radew sah ihn feindselig an. „Was denn nun noch für Fragen? Was ich zu sagen hatte, habe ich vor Gericht gesagt. Lassen Sie mich endlich in Ruhe.“ Dimow antwortete nicht gleich. Er saß auf seinem Stuhl und musterte Radew mit einem langen, starren Blick. „Sie sind ein seltsamer Mensch, Radew. Der Mörder Ihrer Frau geht frei und unbestraft in der Stadt spazieren, und das scheint Ihnen völlig gleichgültig zu sein.“ „Es ist mir nicht gleichgültig!“ antwortete Radew nervös. „Aber ich kann Ihnen auch nicht helfen.“ „Sie haben schon einmal versucht, ihn zu decken, indem Sie die Schuld auf sich nahmen. Ist das nicht merkwürdig?“ „Ich habe schon vor Gericht erklärt …“ „Gut, gut, ich kann mir Ihre damaligen Gefühle vorstellen. Aber jetzt? Ich kann Sie nicht begreifen, Ehrenwort. Irgendein Unmensch bringt Ihre Frau um. Sie war 149
der einzige Sinn Ihres Lebens, wie Sie vor Gericht erklärten. Haben Sie nicht das Verlangen nach Rache? Nach Gerechtigkeit? Das wäre doch für jeden normalen Menschen nur natürlich … Ich warte nun schon so lange darauf, daß Sie von selbst zu mir kommen, daß Sie meine Hilfe suchen … und daß Sie mir helfen. Aber Sie scheint das alles gar nicht zu interessieren.“ Radew schwieg verstockt. „Oder sind Sie ihm im Grunde Ihrer Seele dankbar? – Daß er Sie von einem Alpdruck befreit hat?“ „Schweigen Sie!“ schrie Radew aufgebracht. „So ist es nicht!“ „Und wie ist es dann? Sagen Sie mir, was ich denken soll. Und wenn es Ihnen einerlei ist, mir ist es nicht einerlei. Ich vertrete das Gesetz und bin vor ihm verantwortlich. Denn das Gesetz ist für mich nicht bloß einfach das Gesetz, sondern ein Teil meines Gewissens. Außer ihm habe ich nichts auf der Welt, wie Sie sich vor Gericht auszudrücken beliebten.“ „Aber was wollen Sie denn von mir? So fragen Sie doch, wenn Sie einmal da sind.“ „Wo ist die grüne Kassette der Toten, Radew?“ fragte Dimow plötzlich. Die Wirkung dieser Frage war verblüffend. Radew fuhr zusammen, in seinem Blick erschien Entsetzen. „Welche Kassette?“ „Sie wissen sehr genau, welche … die grüne Eisenkassette, die am Tag des Mordes aus der Kommode verschwand.“ Radew brachte es fertig, sich wieder in die Gewalt zu bekommen. „Ich weiß von keiner grünen Kassette“, entgegnete er gleichgültig und dumpf. „Das ist eine Lüge, Radew. Sie waren Mann und Frau, wohnten in einem Haus. Es ist unmöglich, daß Sie nicht wissen, was sie besaß.“ 150
„Ich habe nie eine grüne Kassette zu Gesicht bekommen“, entgegnete Radew nun schon ziemlich ruhig. „Sie lügen doch. Ihre Tochter weiß von ihrer Existenz. Sie hat diese Kassette mit eigenen Augen gesehen. Und Sie wissen, daß sie im obersten Kommodenfach verschlossen war. Sagen Sie, was mit ihr geworden ist. Hat sie der Mörder mitgenommen? Oder haben Sie sie hinterher versteckt?“ „Denken Sie, was Sie wollen!“ antwortete Radew. „Was ich Ihnen zu sagen hatte, habe ich gesagt.“ „Ist das Ihr letztes Wort?“ „Ja, das ist es!“ versetzte Radew fest. „Tut mir leid, Radew … Aber das gibt mir die Hände frei, mit der ganzen Strenge des Gesetzes gegen Sie vorzugehen.“ „Das Gesetz kann gegen einen Unschuldigen nicht streng sein.“ Für einen Augenblick schienen Dimow die Nerven durchzugehen. Und obwohl er sich schnell wieder beherrschte, sagte er leise und mit Nachdruck: „Zu allem Überfluß sind Sie auch noch unverschämt! Aber bei mir kommen Sie damit nicht durch.“ Er stand auf und verließ, ohne noch ein Wort zu sagen, die Wohnung. Draußen hatte sich der Regen verstärkt. Durch die nasse Frontscheibe sah alles verschwommen und verwischt aus, die Menschen wurden zu grotesk verzerrten Figuren. Er sah durch diesen trüben Schleier irgendwelche glänzenden, nassen Gummimäntel, bizarre Umrisse mit von Zeit zu Zeit aufleuchtenden Bremslichtern, vorbeihuschende Schatten. Ausgerechnet ihm mußten sie die Scheibenwischer stehlen. Sie hätten sie ruhig Prodanow klauen können, der sich mit kleinen Rowdyrüpeleien befaßte. Wie dem auch sei, er erreichte seine Dienststelle und betrat sein Büro, wo er sich einen doppelten Kaffee bestellte. Aber der Kaffee half auch nicht. 151
Raltschew kam erst gegen sieben zurück. Dieses Mal wartete Dimow nicht erst, daß man ihm Fragen stellte, sondern erzählte von sich aus, was geschehen war. Raltschew erlebte bei seinem Chef zum erstenmal solch eine starke, durch seine professionelle Gewohnheit nur mühsam unterdrückte innere Erregung. Als Dimow schließlich fertig war, erkannte Raltschew, daß diese Erregung nicht grundlos war. „Und was ergibt sich aus der ganzen Sache?“ fragte er befremdet. „Daß Radew seine Frau umgebracht hat, um sie zu berauben?“ „Wahrscheinlich nicht genau das … Aber ich bin nun fest überzeugt, daß er weiß, wer der Mörder ist.“ „Und warum schweigt er dann?“ „Weil der Mörder weiß, wo die Kassette ist. Und Radew möchte, daß das niemand erfährt.“ Raltschew schwieg. Seine Miene verriet, daß ihm an der ganzen Geschichte etwas nicht geheuer war. „Ja, schon, aber …“, brummelte er. „Was aber?“ „Wenn er das alles aus Habgier gemacht hat, weshalb, zum Teufel, soll er sich dann selbst ins Gefängnis bringen?“ „Hier hinkt die Hypothese“, knurrte Dimow ärgerlich. „Aber dahinter werde ich auch noch kommen.“ Er ging lange im Büro auf und ab. Dann drehte er sich um und fragte beiläufig: „Hast du von den beiden Tanten was erfahren?“ Raltschews Augen begannen zufrieden zu funkeln. „Ja, ich glaube, da ist etwas“, sagte er. Dimow horchte auf. „Warum schweigst du dann bis jetzt?“ „Im Vergleich mit deinem ist es so gut wie nichts.“ „Erzähle.“ Raltschew holte sein dünnes Notizbuch aus der Tasche. Draußen wusch der Regen geräuschlos die Schei152
ben. In sein graues Netz stießen behäbig wie Walrosse die Straßenbahnen, wütend klatschten die Reifen der nassen Autos.
5 Am Morgen darauf betrat Rechtsanwalt Genow Punkt zehn Uhr das Büro des Inspektors. Er war glatt rasiert, gelassen, der Anzug saß wie angegossen auf seinem athletischen Körper. Nur in seinen blauen Frauenaugen verbarg sich heimliche Unruhe. Und gleich bei seinem Eintritt wuchs diese Unruhe schnell an, obwohl er versuchte, sie sich nicht anmerken zu lassen. Dimow saß hinter seinem Schreibtisch, sein Gesicht war unfreundlich und streng. An dem kleinen Tischchen vor dem Schreibtisch hatte Raltschew Platz genommen. „Setzen Sie sich!“ forderte ihn Dimow ein wenig kühl auf. Genow setzte sich wortlos. „Ich mache Sie darauf aufmerksam, Herr Genow, daß Ihre Lage diesmal recht ernst ist – und daß jede Lüge, jedes Mißverständnis für Sie verhängnisvolle Folgen haben kann …“ Sein Ton war ungewöhnlich streng und bestimmt. „Ich bitte Sie!“ „Ich möchte, daß Sie mir klar und eindeutig sagen, was Sie bewogen hat, Ihren Wagen so eilig zu verkaufen.“ Genows Gesicht verfinsterte sich plötzlich, und er brachte mühsam hervor: „Das Geld war für meinen Bruder … Er hat es dringend benötigt …“ „Jetzt passen Sie einmal auf, Genow. Wenn sich das als unwahr herausstellen sollte, sehe ich mich gezwun153
gen, Sie festzunehmen. Und das unter einem äußerst schwerwiegenden Verdacht.“ „Ich protestiere, Genosse Inspektor! Sie haben kein Recht …“ „Ich werde Ihren Protest zur Kenntnis nehmen. Aber nachdem Sie mir die Wahrheit gesagt haben.“ Genow wurde auf einmal still und schien in sich zusammenzukriechen. „Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt, Genosse Inspektor. Das Geld war wirklich für meinen Bruder bestimmt. Er ist Rechnungsführer und hatte ein paar … unerlaubte Transaktionen vorgenommen, so daß sich in der Kasse ein recht beträchtlicher Fehlbetrag ergab.“ „Wieviel genau?“ „Achttausend. Ich hatte zweitausend auf meinem Sparbuch, zweitausend borgte ich mir bei Freunden zusammen … und viertausend bekam ich für den Wagen.“ „Gut. Und haben Sie davor die Verstorbene um diese viertausend Lewa gebeten?“ Genow erbleichte. „Ja, ich habe sie darum gebeten“, sagte er stockend. „Erzählen Sic ausführlich.“ „Ich habe ihr unumwunden gesagt, wofür ich das Geld brauchte. Wir standen einander sehr nahe, hatten keine Geheimnisse voreinander.“ „Wo war das?“ „Während des Mittagessens in Bojana. Sie antwortete mir, daß sie kein bares Geld habe. Ihre Ersparnisse seien für die Wohnung draufgegangen. Aber sie habe für jemanden zweitausend Dollar in Verwahrung … die sie nicht so bald zurückzugeben brauche. Sie fragte, ob ich mit den Dollars etwas anfangen könnte. Sie werden verstehen, daß mir kein anderer Ausweg blieb. Zweitausend Dollar unterzubringen, ist zwar nicht einfach, aber auch nicht unmöglich.“ „Und was geschah weiter?“ 154
„Wir verabredeten, daß sie nach Hause ginge und das Geld holte. Um fünf wollten wir uns wieder treffen, damit sie es mir gab. Aber wie ich Ihnen schon sagte, erschien sie nicht zu der Verabredung. Ehrlich gestanden, ich dachte, sie habe es sich anders überlegt … und daß es ihr daraufhin peinlich war, sich wieder mit mir zu treffen. Ich habe etwa eine Stunde gewartet und bin nach Hause gefahren. Deshalb sah ich keinen anderen Ausweg, als am Tag darauf meinen Wagen zu verkaufen.“ „Das ist Ihre Version!“ sagte Dimow. „Ich würde sie Ihnen gern glauben, wenn Sie irgendwelche Beweise hätten. Aber Sie sind Jurist und wissen genau, daß Ihr Besuch in dem Kaffeehaus kein Alibi darstellt.“ „Wozu brauche ich ein Alibi?“ fragte Genow mit kaum spürbarer Feindseligkeit in der Stimme. „Weil es auch noch eine andere Version geben kann … eine viel wahrscheinlichere.“ „Da bin ich aber neugierig.“ Seine Stimme klang unerwartet gelassen, beinahe ironisch. „Nun, das ist doch ganz einfach. Sie haben gewußt, daß die Ermordete die Kassette mit den Wertsachen zu Hause hatte. Ich betone: mit den Wertsachen, Genow, denn die Dollars waren nur ein unbedeutender Teil dieses Reichtums. Sie haben die Radewa in ihre Wohnung gelockt, und weil sie sich geweigert hat, Ihnen das Geld zu geben, das in Wahrheit nicht ihr gehörte, haben Sie sie getötet.“ „Sehr interessant!“ sagte Genow kühl. „Und warum habe ich dann hinterher den Wagen verkauft?“ „Ich habe nicht gesagt, daß Sie an die Kassette herangekommen sind. Was danach geschah, werden Sie mir erzählen.“ „Ja, und weil Sie gern Erfindungen hören, erzähle ich Ihnen eine andere, die viel glaubhafter klingt.“ „Bitte!“ sagte Dimow höflich. 155
„Antoinetta geht nach Hause, um das Geld zu holen. Ihr Mann kommt zufällig dazu und sieht, daß Antoinetta im Begriff ist, sich an dem Reichtum zu vergreifen, wie Sie sich ausdrückten, und den er wahrscheinlich schon als sein Eigentum betrachtet hat. Es kommt zu einem heftigen Streit zwischen ihnen, in dem Geldgier und Eifersucht zusammentreffen. Und er tötet seine Frau …“ „Ja, eine interessante Hypothese!“ sagte Dimow ironisch. „Ich würde sie akzeptieren; der Haken ist bloß, daß Radew ein Alibi hat. Das obendrein vom Gericht bestätigt wurde. Zwischen drei und fünf war Radew in seiner Dienststelle.“ Das Gesicht des Juristen wurde merkwürdig spitz. „Der Haken ist, daß Stefan Radews Alibi falsch ist!“ sagte er mit schadenfrohem Triumph. In dem Büro wurde es still. Raltschew zuckte zusammen, aber Dimow wirkte nach wie vor ruhig und unerschütterlich. „Was wollen Sie damit sagen?“ „Damit will ich sagen, daß ich etwas herausgefunden habe, das weder der Rechtsanwalt noch ihre Organe bemerkt haben. Und obendrein etwas ganz Einfaches.“ Er schwieg, als ringe er nach Atem. „Ich höre“, sagte Dimow gelassen. „Der Bericht, den Stefan Radew geschrieben hat, trägt das Datum vom siebenundzwanzigsten Mai, nicht wahr? Das ist der Tag, an dem der Mord verübt wurde. Die Kollegin Borowa versichert, daß ihn Radew zwischen vier und fünf geschrieben hat. Und das ergibt sein Alibi.“ „Genauso ist es.“ „Gut. Dann überprüfen Sie einmal die Protokolle des Ministeriums. Und Sie werden feststellen, daß die Borowa am siebenundzwanzigsten Mai diesen Bericht ihrem Minister vorgetragen hat! Und das war Punkt halb fünf. Die Kollegin Borowa kann nicht gleichzeitig an 156
zwei Stellen sein. Und man kann keinen Bericht vortragen, der noch gar nicht geschrieben ist.“ In dem Büro war es so still, daß die drei ihre Atemzüge hörten. Genow schwieg einen Augenblick, dann fuhr er fort: „Wenn Sie sich die Mühe machen, die Borowa noch einmal zu befragen, werden Sie feststellen, daß der Bericht am Tag zuvor, am sechsundzwanzigsten Mai, geschrieben wurde. Und wie es üblich ist, wurde das Datum von dem Tag eingesetzt, an dem er vorgetragen werden sollte. Natürlich hat die Kollegin Borowa Sie nicht absichtlich irregeführt. Sie ist in einem Alter, wo das Gedächtnis nachläßt. Und es war ja auch schon allerhand Zeit vergangen, da kann jedem so ein Irrtum unterlaufen.“ Genow verstummte. Auch Dimow schwieg. Er hatte sich vorsorglich auf alle möglichen Komplikationen eingestellt, bloß nicht auf diese. Jetzt versuchte er vergebens, Ordnung in seine durcheinanderlaufenden Gedanken zu bringen. „Wann haben Sie diesen Fehler entdeckt?“ fragte er schließlich. „Ich will ganz offen zu Ihnen sein“, erwiderte Genow. „Schon während des Prozesses. Ich habe einen guten Freund im Ministerium, und es bereitete mir also keine Schwierigkeiten, diese kleine Überprüfung vorzunehmen.“ Dimow warf seinem Assistenten einen schnellen Blick zu – Raltschew war krebsrot geworden. Und er hätte viel dafür gegeben, wenn er in diesem Moment woanders und nicht in Dimows Büro gewesen wäre. „Warum haben Sie dann vor Gericht nicht die Wahrheit gesagt?“ fragte Dimow. „Warum ließen Sie zu, daß das Gericht irregeführt wurde?“ „Ich weiß nicht, was Sie für eine Vorstellung von den Menschen haben, Genosse Inspektor“, entgegnete Genow mit gerunzelten Brauen. „Sie halten mich wahrscheinlich 157
für ein Überbleibsel aus einer fremden Welt, wie Sie sich bisweilen auszudrücken belieben. Vielleicht ist es so, ich will mich nicht mit Ihnen streiten. Aber ich habe auch ein Gefühl für Moral und ein Gewissen. Können Sie sich in meine Lage versetzen? Ich habe diesen Mann in seiner allerprivatesten Sphäre bestohlen. Auf die eine oder andere Art bin ich zur Ursache für all sein Unglück geworden. Und dann stehe ich plötzlich vor Gericht auf, entlarve ihn und bringe ihn ins Gefängnis. Können Sie sich ein abscheulicheres und verwerflicheres Vorgehen denken?“ „Sie hätten nicht vor Gericht aufzustehen brauchen. Es hätte genügt, wenn Sie zu mir gekommen wären … oder zum Untersuchungsrichter …“ Genow schüttelte energisch den Kopf. „Nein!“ sagte er fest. „Und warum nicht? Das wäre Ihre elementarste Bürgerpflicht gewesen. Unabhängig von allen persönlichen Gefühlen und Vorurteilen. Letztlich läuft es darauf hinaus, daß er den Menschen umgebracht hat, der Ihnen am nächsten stand und am teuersten war.“ „Nein, Genosse Dimow! Ich bin weder das Gericht noch die Miliz und kann mir nicht deren Pflichten aufladen. Und schließlich bin ich auch gar nicht überzeugt, daß er der Mörder ist. Wenn ich das von Anfang an gewesen wäre, dann natürlich … Aber Sie haben ihn doch selbst vor Gericht erlebt. Sein Aussehen, sein Benehmen haben mich einfach erschüttert … Wenn nun Radew unschuldig ist? Wenn er seine Frau wirklich tief und innig geliebt hat? Wer hätte dann als der wahre moralische Mörder dagestanden?“ Genows Stimme schwankte, er verstummte. Während dieser letzten Erklärungen sah ihn Dimow unverwandt an, ohne daß der kleinste Muskel in seinem Gesicht zuckte. Alle drei schwiegen eine Weile, jeder hing seinen Gedanken nach. Keiner hätte hinterher sagen können, wie lange dieses Schweigen gedauert hatte. 158
„Gut“, sagte Dimow schließlich. „Genug für heute. Ich bedaure, Bürger Genow, aber ich werde Sie für einige Zeit festhalten müssen.“ Im Blick des Juristen flackerte Angst auf. „Weshalb, Genosse Inspektor? Sie haben keinerlei Handhabe …“ „Im Interesse der Ermittlung“, sagte Dimow kühl. „Aber Sie sind nicht verhaftet, Sie sind bloß vorläufig festgenommen. Heute abend werden Sie wieder auf freien Fuß gesetzt. Oder spätestens morgen mittag.“ Bald darauf führte der diensthabende Wachtmeister Genow hinaus, der nicht einmal versuchte, weiter zu protestieren. Dimow blieb mit Raltschew allein. Als erster brach Raltschew bedrückt und verdrossen das Schweigen. „Und was ist nun bei der ganzen Sache herausgekommen?“ „Daß wir bei dieser Geschichte beinahe wie blind herumtappen!“ knurrte Dimow übellaunig. „Wieso hast du bloß nicht daran gedacht, zu überprüfen, was an diesem siebenundzwanzigsten Mai wirklich geschehen ist?“ Raltschew seufzte. „Ich wundere mich, wie er daraufgekommen ist“, erwiderte er ärgerlich. „Es sei denn, er hat wirklich gewußt, daß Radew an diesem Tag nicht in seiner Dienststelle gewesen ist.“ „Ja, das ist auch eine Möglichkeit.“ Dimow nickte. „Warum, meinst du, habe ich ihn festgehalten? Wir müssen sämtliche Fakten, die er uns mitgeteilt hat, sorgfältig überprüfen. Dann erst lasse ich ihn wieder frei.“ „Das bedeutet also, daß Radew kein Alibi hat?“ „Es sieht so aus.“ „Warum wollen wir dann noch viele Umstände machen? Wenn man alles übrige in Rechnung stellt.“ „Nein, zuerst müssen wir die Fakten überprüfen. Vielleicht hält uns jetzt wieder Genow zum besten. Du siehst ja, wohin es führt, wenn man überstürzt handelt.“ 159
Plötzlich biß sich Dimow auf die Lippen und stand erregt auf. Er lief ein paarmal wie vor den Kopf geschlagen im Zimmer auf und ab, dann setzte er sich wieder. „Jetzt ist mir was eingefallen“, sagte er und bemühte sich, Ruhe zu bewahren. „So oder so, aber wir stehen an der Schwelle … genau an der Schwelle zur vollen Wahrheit. Mach dir keine Gedanken, bis jetzt war nicht ein Zug umsonst.“ Er lächelte und fügte hinzu: „Verlange vom Staatsanwalt einen Haftbefehl für Stefan Radew. Gründe dafür haben wir mehr als genug.“
6 Punkt sechs hielt vor dem Wohnblock, in dem Stefan Radew wohnte, ein Wagen der Miliz. Aus ihm stiegen gelassen und ohne Hast Dimow und Raltschew. Der Beobachter vor dem Haus nickte ihnen unauffällig zu – Radew war in seiner Wohnung. Sie stiegen in den zweiten Stock und klingelten. Wie sie nicht anders erwartet hatten, machte ihnen Radew selbst auf. In seinem Blick erschien für einen Moment etwas mehr als nur Feindseligkeit, etwas, das an Haß grenzte, und erlosch sofort wieder. „Was wollen Sie?“ fragte er kurz. „Gehen wir hinein, Radew!“ antwortete der Inspektor im selben Ton. „Finden Sie nicht, daß Sie es langsam übertreiben?“ „Daran sind Sie selbst schuld.“ „Also schön, kommen Sie herein.“ Sie gingen hinein und setzten sich alle drei an das alte lackierte Tischchen. „Ich höre.“ „Ihr Alibi besteht nicht mehr, Radew!“ begann Dimow streng. „Es hat sich herausgestellt, daß Sie den Be160
richt bei der Kollegin Borowa nicht am siebenundzwanzigsten Mai geschrieben haben, sondern einen Tag früher.“ Dimow hatte das Gefühl, daß Radews Hals plötzlich zwischen den Schultern verschwand. Aber seine Miene veränderte sich nicht. Er schwieg. „Und Sie haben das genau gewußt.“ „Ja, ich wußte es!“ entgegnete Radew dumpf. „Sie haben es gewußt und doch vor Gericht geschwiegen? Ja?“ Radew hob den Kopf wieder. In seinem Blick war diesmal eine sonderbare Festigkeit. „Genosse Dimow, ich weiß besser als jeder andere, daß ich unschuldig bin. Und zu guter Letzt dient alles, was mir nützt, auch der Wahrheit.“ „Keine Winkelzüge, Radew! Und antworten Sie nur auf meine Fragen. Am siebenundzwanzigsten Mai, Punkt vier Uhr, hat Ihre Dienststellenleiterin Sie tatsächlich in ihr Büro gerufen. Was geschah danach?“ Radews Miene verfinsterte sich. „Das ist es ja, daß die Kollegin Borowa außerordentlich vergeßlich ist. Für gewöhnlich hat sie nach fünf Minuten vergessen, was sie gesagt oder angeordnet hat. Als ich in ihr Büro kam, war sie nicht mehr da. Vielleicht war sie ins Ministerium gegangen. Ich blieb dort und wartete auf sie.“ „Wie lange?“ „Ungefähr zwanzig Minuten, aber sie kam nicht … Da bin ich gegangen. Um noch einmal in mein Büro zurückzukehren, war es schon zu spät, es hätte wegen der halben Stunde nicht gelohnt. Deshalb bin ich nach Hause gegangen …“ „Und was fanden Sie dort?“ Radew zuckte zusammen. „Sie wissen, was ich fand … meine Frau, ermordet. Wenig später kam dann auch dieser Genosse.“ 161
„Und wo fanden Sie sie?“ „Das habe ich vor Gericht schon gesagt … im Bett, in die Decke gehüllt.“ „Sie lügen, Radew!“ unterbrach ihn Dimow streng. „Sie haben selbst gesagt, daß Sie etwa zwanzig Minuten im Büro der Kollegin Borowa geblieben sind … dazu zehn Minuten Weg, macht zusammen eine halbe Stunde. Also waren Sie gegen halb fünf zu Hause …“ „Nein, ich habe mir damals Zeit gelassen und bin durch den Park geschlendert – das mache ich ziemlich oft –, so daß ich kurz nach fünf zu Hause war.“ „Haben Sie im Park jemanden getroffen?“ „Nein, ich habe niemanden gesehen.“ „Wie sollten Sie auch, Radew, da Sie doch auf kürzestem Weg nach Hause gegangen sind und lange vor fünf da waren. Danach sind Sie noch einmal weggegangen und ein zweites Mal nach Hause gekommen.“ Radew schwieg. „Sagen Sie mir, was in Ihrer Wohnung geschah, als Sie das erste Mal nach Hause kamen. Was haben Sie dort gefunden?“ Radew schwieg weiter. „Denken Sie, was Sie wollen“, antwortete er dann. „Was ich zu sagen hatte, habe ich Ihnen gesagt.“ „Unter diesen Umständen ist es meine Pflicht, Sie erneut dem Gericht zu übergeben.“ „Es steht Ihnen frei, zu machen, was Sie wollen“, erwiderte Radew. „Eins hätte Ihnen aus dieser ganzen Geschichte doch wenigstens klarwerden sollen: daß mich mein persönliches Schicksal nicht interessiert. Was ich mache, tue ich für meine Kinder.“ „Vielleicht ist es so. Von jetzt ab werden Sie mit dem Untersuchungsrichter sprechen. Ziehen Sie sich bitte an.“ „Und der Junge?“ „Keine Sorge, darum haben wir uns gekümmert.“ 162
Radew seufzte und schlurfte ins Schlafzimmer. In seiner Haltung war etwas Gebrochenes, Zögerndes. Wer weiß, vielleicht würde er endlich reden … Vielleicht sagte er endlich die Wahrheit …
7 In Inspektor Dimows Notizbuch war nur noch ein Punkt rot angestrichen – die Begegnung mit dem Rechtsanwalt Stamenow. Es wäre selbstverständlich auch ohne sie abgegangen, aber er fühlte sich dazu verpflichtet. Er schickte ihm eine Benachrichtigung, und am nächsten Tag erschien der junge Anwalt pünktlich zur angegebenen Zeit und noch dazu in einem neuen Anzug in Dimows Büro. Der Anzug war nichts Besonderes, weder vom Stoff noch von der Machart her, aber er war immerhin neu. Der Anflug eines jungen Bartes wuchs auf seinem nicht sehr stark ausgeprägten Kinn. Er trug auch eine Krawatte. Überhaupt trat er recht selbstsicher auf – sein letzter Erfolg, der in Kollegenkreisen lange kommentiert worden war, hatte ihn offensichtlich auch in seinen eigenen Augen gehoben. Er war nicht mehr der alte bescheidene und anspruchslose Shorka. Die Leute werden nie begreifen, welch schlechter Ratgeber der Erfolg sein kann. Der Glanz seiner warmen Strahlen hat mehr Menschen ins Verderben gebracht als die Machenschaften von Feinden. Deshalb übergoß Inspektor Dimow das aufgeplusterte Hähnchen gleich zu Anfang des Gesprächs mit siedendem Wasser. Die Federn brauchte er nicht auszurupfen, sie fielen von allein aus. „Ich bin einfach perplex!“ sagte Stamenow leise. Dann schwieg er lange. „Haben Sie an seine Unschuld geglaubt?“ fragte Dimow. 163
„Ja, ich war davon überzeugt.“ „Gerade deshalb habe ich Sie hergebeten. Was gab Ihnen eigentlich diese Sicherheit?“ Stamenow breitete hilflos die Arme aus. „Alles!“ antwortete er. „Und was nun genau?“ „Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Er verteidigte sich zum Beispiel nicht, erleichterte mir mit nichts meine Arbeit. Ich habe die kleinsten Tatsachen geradezu gewaltsam aus ihm herausholen müssen. Ein Mensch, der lügt und nach Ausflüchten sucht, verhält sich nicht so. Der wehrt sich mit Krallen und Zähnen.“ „Ja, ich verstehe Sie“, sagte Dimow freundlich. Er behandelte den jungen Mann überhaupt viel freundlicher und herzlicher als seine sonstigen Besucher. Der junge Anwalt war ihm offenbar sympathisch. „Ich möchte Sie noch etwas anderes fragen“, fuhr Dimow fort. „Vor Gericht äußerten Sie die folgende Vermutung: Vielleicht sei Stefan Radew noch vor dem Jungen nach Hause gekommen. Er habe seine Frau ermordet vorgefunden und ins Schlafzimmer geschafft, damit der Junge sie nicht sah. Dann habe er sich durch irgend etwas genötigt gesehen, das Haus noch einmal zu verlassen …“ „Ja, das habe ich gesagt.“ Stamenow nickte. „War das Ihr Einfall? Oder hat Ihnen das Radew suggeriert?“ „Es war mein Einfall“, antwortete Stamenow gekränkt. „Ich habe lange über diese Frage nachgedacht.“ „Über welche?“ „Über diese: Was konnte Radew bewogen haben, die Wohnung zu verlassen? Und warum hat er nicht als erster die Miliz alarmiert?“ „Sind Sie zu einem Ergebnis gelangt? Weil das, wie ich sehe, nicht Ihr einziger interessanter Einfall gewesen ist.“ 164
„Was soll ich sagen?“ brummte Stamenow zögernd. „Ich habe mir gedacht, daß er etwas aus der Wohnung schaffen mußte … oder etwas verstecken oder beseitigen … das weder die Miliz noch hinzukommende Zeugen sehen sollten.“ „Sie sind ein kluger junger Mann!“ sagte Dimow anerkennend. Stamenow spürte, wie ihm die Federchen nachzuwachsen begannen, die für gerupfte Hähnchen freilich kein sonderlicher Trost sind. „Was halten Sie von Rosa?“ „Von Radews Tochter? Sie ist zweifellos ein nettes Mädchen.“ „Geht’s nicht ein bißchen genauer?“ „Eben ganz einfach lieb, gut, zutraulich … Und viel naiver, als es die jungen Mädchen von heute sind. Wahrscheinlich allzu sensibel …“ Jetzt schwieg wiederum Dimow und überlegte. Sein Gesicht verriet nichts. „Sie werden wahrscheinlich eine Revision des Prozesses beantragen?“ fragte Stamenow. „Ich kann doch nicht für mich behalten, was ich weiß.“ „Ja, ja, natürlich … Das wird freilich ein schwerer Schlag für meinen Ruf als gewissenhafter Anwalt. Aber das ist nicht das wichtigste. Mir tut einfach dieser Mensch leid. Ich kann nicht glauben, daß er wirklich schuldig sein soll.“ „Ich weiß nicht, vielleicht haben Sie recht“, entgegnete Dimow. „Und wenn er wirklich unschuldig ist, kann ihn jetzt nur noch seine Tochter retten.“ Diese letzten Worte machten dem jungen Rechtsanwalt den Kopf vollends heiß. Er ging mit einer blassen, unklaren Hoffnung und in der heimlichen Überzeugung, doch etwas zur endgültigen Klärung der Dinge beigetragen zu haben. 165
8 Rosa weinte. Sie lag mit dem Gesicht nach unten auf der Couch und weinte hemmungslos. Von Zeit zu Zeit wischte sie die Tränen ab, konnte sie aber nicht zurückhalten. Sie wußte schon selbst nicht mehr, wie lange sie so weinte, ohne sich zusammennehmen zu können. Die unerwartete Neuigkeit hatte ihr den Rest gegeben. Dieser Rabe, der Inspektor, war nicht zufällig vor ein paar Tagen herbeigeflattert und auf ihrem Dach niedergegangen. Zuerst hörte sie das Klingeln an der Wohnungstür nicht, so tief war sie in ihre Verzweiflung versunken. Aber es klingelte immer nachdrücklicher. Endlich hob Rosa den Kopf. Eine unklare Ahnung, eine winzige Hoffnung bewog sie aufzustehen. Sie wischte sich die Tränen ab und machte auf. Vor der Tür standen ihre beiden Tanten; sie trugen immer noch ihre düsteren, schwarzen Gewänder. Rosa warf sich der älteren sofort an den Hals. „Sie haben Vater wieder festgenommen!“ schluchzte sie. Die alte Dame strich ihr übers Haar. „Ja, ich weiß … Wir haben es heute erfahren.“ Rosa führte sie in das winzige Wohnzimmer. Die Tränen rannen ihr wieder unaufhörlich übers Gesicht. „Er ist unschuldig!“ schluchzte sie. „Er kann nicht schuldig sein … Das Gericht hat es doch auch festgestellt.“ „Wenn er unschuldig ist, wird er’s noch einmal beweisen“, sagte die Ältere. Aber in ihrer Stimme schien kein bißchen Mitgefühl zu sein. Ganz ihrer Verzweiflung hingegeben, bemerkte Rosa das nicht. „Aber warum? Warum?“ Sie schrie beinahe. „Sie richten ihn dort zugrunde!“ 166
Die beiden Frauen schwiegen. Plötzlich fragte Rosa: „Und wo ist Filip?“ „Man hat ihn zu uns gebracht.“ „Sie werden auch das Kind zugrunde richten. Haben diese Menschen denn nicht endlich Erbarmen?“ „Wir sind jetzt wegen etwas anderem da“, sagte die Ältere. „Das Grab deiner Mutter soll eine Marmorplatte bekommen. Mit einem kleinen Bild von ihr … Deshalb wollten wir dich bitten, uns eins zu geben, wenn du eins hast. Als sie noch jünger war …“ Rosa sah sie fassungslos an. Waren diese beiden Weiber denn völlig durchgedreht? Wegen eines Fotos bei ihr anzurücken, und das an einem solch entsetzlichen Tag? Aber vielleicht hatten sie, von sich aus gesehen, recht. Schließlich ging sie Stefan Radew nichts an. Und vielleicht empfanden sie heimliche Schadenfreude, daß er eingelocht worden war. Sie wischte ihre Tränen ab und ging widerstrebend zum Schrank. Dort verwahrte sie in einer Pralinenschachtel die Fotos von ihrer Mutter. Sie zog das unterste Schubfach auf und begann zu kramen. Die Schachtel schien nicht dort zu sein, wo sie sie hingetan hatte. Deshalb zog sie schließlich das ganze Schubfach heraus und hob ungeduldig den Wäschestapel an. Und erstarrte auf einmal vor Entsetzen. Ganz unten in dem Schubfach lag die verhängnisvolle grüne Kassette. Genau so, wie sie sie beschrieben hatte – mit bronzierten Kanten und Monogramm. Sie wagte nicht, ihren Augen zu trauen, wagte nicht, sich zu rühren, und meinte zu träumen. Auf einmal blitzte in ihrem gelähmten Bewußtsein die Wahrheit auf. „Was ist denn?“ erkundigte sich die ältere Tante. „Ach nein … Nichts, nichts!“ antwortete Rosa und hätte vor Entsetzen beinahe geschrien. Fieberhaft wickelte sie die Kassette in ein Wäschestück und suchte weiter. Endlich fand sie die Pralinen167
schachtel. Als sie zu den Tanten zurückging, war sie totenbleich. Aber die beiden Frauen sahen sie überhaupt nicht an, sondern stürzten sich auf die Schachtel. „Sucht euch eine aus“, sagte Rosa mit erstickter Stimme und trat schnell ans Fenster. Die beiden alten Tanten begannen in der Schachtel zu wühlen und schienen ihre Nichte ganz vergessen zu haben. Schließlich wählten sie zwei Aufnahmen aus und richteten sich zufrieden auf. „Wir müssen jetzt gehen“, sagte die Ältere. „Filip wartet auf uns. Wir haben das Kind ganz allein gelassen.“ Lautes, verzweifeltes Schluchzen antwortete ihnen. Rosa wandte ihnen brüsk den Rücken zu. Doch die Tanten gingen weder zu ihr hin, noch unternahmen sie einen Versuch, sie zu trösten. Sie sahen sich nur an und beeilten sich hinauszukommen. Rosa hörte, wie die Wohnungstür ins Schloß fiel; sie waren gegangen. Jetzt warf sie sich wieder auf die Couch und brach nicht erneut in Tränen aus. In ihren fiebrig glänzenden Augen reifte langsam ein unbarmherziger Entschluß. Ihr Mann kam gegen sieben Uhr mit dem Moped nach Hause. Er schloß es sorgfältig ab, sah sich noch einmal prüfend nach ihm um und ging auf den Fahrstuhl zu. Sein Gesicht war ein bißchen ungeduldig; so sah er in letzter Zeit immer aus, wenn er nach Hause kam. Als zweifle er daran, daß er seine Frau oben in der Wohnung vorfinden werde. Und als erwarte er irgendeine Eröffnung von ihr. Dennoch vermochte er sich zu beherrschen. Als er aus dem Fahrstuhl trat, war sein Gesicht schon ganz anders. Er lächelte freundlich. Mit dieser eingeübten Miene klingelte er an der Tür, schloß dann auf, ohne abzuwarten, daß ihm geöffnet wurde, und ging hinein. Vom Vorraum aus sah er durch die Glastür, daß das Wohnzimmer dunkel war. Das befremdete und beunruhigte ihn, er stürmte hinein und sah sich um. Nein, Rosa war zu Hause. Sie saß immer noch mit ver168
steinertem Gesicht und starrem Blick am Fenster. Andrej ging auf sie zu, blieb aber, offenbar von ihrem ungewöhnlichen Anblick betroffen, gleich wieder stehen. „Was hast du? Was ist passiert?“ „Knips das Licht an!“ antwortete Rosa. Ihre Stimme war beinahe heiser. Andrej drehte sich um und schaltete die Lampe ein. Dann ging er wieder auf seine Frau zu. „Was hast du, Rosa?“ fragte er noch einmal, von düsteren Ahnungen erfüllt. „Schau, was dort auf dem Tisch steht!“ sagte Rosa. Befremdet drehte sich Andrej um. Auf dem Tisch stand, in ein dünnes Tuch gewickelt, tatsächlich etwas. Er ging hin und zog das Tuch weg. Vor ihm stand die grüne Kassette. Er erstarrte und wagte nicht, sich zu bewegen. Aber Rosa konnte in diesem Moment seine entsetzten Augen nicht sehen. Sie merkte nur, daß der unerwartete Anblick ihn wie ein Faustschlag getroffen und auf der Stelle festgenagelt hatte. „Was ist mit dir?“ fragte Rosa. Aber er hörte es nicht, er stierte immer noch entgeistert auf die Kassette. „Das kann doch nicht sein!“ sagte er endlich dumpf. Rosa stand von ihrem Stuhl auf, ihr Gesicht war blaß. „Du bist ein Mörder!“ sagte sie. „Du hast meine Mutter umgebracht!“ Andrej warf ihr einen schnellen Blick zu, dann packte er die Kassette. „Das ist nicht dieselbe!“ rief er. Dann wandte er sich Rosa zu und herrschte sie an: „Wer hat die gebracht?“ „Wer schon?“ antwortete Rosa schrill. „Ich habe sie dort gefunden, wo du sie hingetan hast!“ „Wo soll ich sie hingetan haben, dummes Ding?“ „Das weißt du ganz genau! In den Schrank! Ins unterste Schubfach!“ 169
Andrej stellte die Kassette weg, als hätte er sich daran die Finger verbrannt. „Bist du verrückt? Ich habe nichts hineingetan!“ Plötzlich war ihm alles klar, und er schaute seine Frau starr an. „Sie haben dich hinters Licht geführt, dummes Ding! Sie haben diese Kassette absichtlich da hineingetan, um dich auf die Probe zu stellen …“ Rosa sah ihn fassungslos an, dann wurde sie still. Für einen Augenblick schien eine schwache Hoffnung in ihrem Blick aufzublitzen, die plötzlich wieder erlosch. „Und woher weißt du, daß es nicht dieselbe ist? Woher willst du das wissen, wenn du die andere nicht gesehen hast? Und wenn du sie nicht genommen hast?“ Von der unerwarteten Frage überrascht, schwieg Andrej verwirrt. „Du hast sie umgebracht, ich weiß es! Niemand sonst wußte von der Kassette. Dir hatte ich es aber gesagt. Heute ist es mir erst wieder eingefallen, daß ich es dir gesagt habe …“ Andrejs Gesicht veränderte sich plötzlich, es wurde hart und böse. „Halt den Mund! Ich habe sie nicht getötet. Weshalb hätte ich deine Mutter umbringen sollen?“ „Um sie zu berauben! Du Mörder!“ schrie Rosa hysterisch. „Still, bist du verrückt! Die Nachbarn werden es hören!“ „Sollen sie doch! Alles sollen sie wissen! Oder willst du, daß mein Vater deinetwegen leidet?“ „Was leidet er denn schon groß, dein Vater? Sie haben ihn doch freigelassen.“ „Heute ist er wieder verhaftet worden.“ Andrej sah sie verblüfft an. „Heute?“ „Ich weiß nicht … vielleicht auch gestern … Aber heute haben sie es mir gesagt.“ 170
Auf einmal brauste Andrej auf: „Versteht sich, daß sie ihn verhaften werden! Er hat deine Mutter ermordet! Und ein Geständnis abgelegt! Dann hat er’s zurückgenommen. So was verfängt bei denen nicht. Er hat gestanden, folglich ist er schuldig! Warum schreist du also mit mir herum?“ Rosa sah ihn mit weit aufgerissenen, angewiderten Augen an. „Ach so?“ fragte sie mit leiser, böser Stimme. „Zuerst hast du meine Mutter umgebracht. Und jetzt möchtest du auch noch meinen Vater ins Unglück stürzen. Kennst du meinen Vater, du … du … Unmensch! Weißt du, was er für ein Mensch ist?“ „Ich weiß es. Und alle anderen wissen es auch …“ „Nein, das lasse ich nicht zu!“ fuhr Rosa ihn an. „Deine Rechnung wird nicht aufgehn, dafür werde ich sorgen!“ Plötzlich rannte Rosa flink wie eine Katze zur Tür. Dennoch gelang es Andrej, sie einzuholen und am Kleid festzuhalten. Er zog sie heftig zurück, sie verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Andrej beugte sich über sie. „Nur einen Mucks, und ich mache dich kalt!“ stieß er drohend hervor. „Ohne mit der Wimper zu zucken!“ „Ja, ich weiß. Wie du meine Mutter umgebracht hast.“ „Ich habe dir doch schon gesagt … wollte bloß die Kassette nehmen … weil sie ihr ohnehin nicht gehörte. Sie ist gestohlen.“ „Gestohlen?“ „Was denn sonst! Wo sollte deine Mutter eine Kassette voller Wertsachen herhaben? Und Dollars noch obendrein. In Wahrheit hat sie ein Verbrechen begangen, nicht ich.“ „Ach? So!“ schrie Rosa außer sich. Sie sprang wieder auf die Beine und rannte dieses Mal zum Fenster. Während sie sich bemühte, es zu öffnen, 171
riß sie Andrej erneut zu Boden. Seine Finger krallten sich in ihren Hals. „Ich erwürge dich!“ Doch plötzlich hörte er Lärm, schnelle Schritte im Vorraum. Die Tür flog auf, ein paar Männer stürzten herein. Allen voran Dimow, eine schwere Pistole in der Hand. „Halt! Und die Hände hoch, Sheljaskow!“ Andrej richtete sich auf. Sein ergrimmtes Gesicht verfiel langsam, wurde innerhalb weniger Augenblicke hilflos und kläglich. „Schaut nach der Frau!“ sagte Dimow leise. Raltschew lief zu Rosa; die Eile war gerechtfertigt – sie hatte das Bewußtsein verloren.
9 Die vier saßen im Gebüsch und lauschten dem leisen Rauschen des Flusses. Es wurde schon Tag, nur ein einziger weißer Stern leuchtete am hell gewordenen Himmel. Doch der Fluß war noch dunkel, und sein kühler Atem wehte durch die Dämmerung. Der vierte, Pargow, hatte sich soeben zu ihnen gesetzt. Dimow und Raltschew sahen ihn neugierig an, Stamenow wartete geduldig. Er war zum erstenmal in seinem Leben beim Krebsefangen dabei. „Wie steht’s?“ erkundigte sich Dimow. „Es klappt nicht so recht“, antwortete Pargow. „Nun, alles kann nicht klappen“, meinte Dimow. „Es gibt im Leben so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit.“ „Nun erzähle“, sagte Pargow und wickelte seine langen Beine in den Halbpelz. Dimow überlegte. 172
„Am besten fange ich vielleicht mit der Kassette an“, begann er. „Wem sie gehört und wie sie zu Antonia Radewa geriet … Sagt euch der Name Awram Zonew etwas?“ Nur Raltschew kannte ihn. Er hatte nicht nur über den einen Vorgang Nachforschungen angestellt, sondern sein ganzes Dossier studiert. Und da die beiden anderen schwiegen, fuhr Dimow fort: „Vor neunzehnhundertvierundvierzig war Awram Zonew der bekannteste und reichste Juwelier bei uns … Sein Name war geradezu zum Inbegriff nicht nur von Reichtum, sondern auch für ausgezeichnete, unverwechselbare Wertarbeit geworden … ‚Bei Awram Zonew gekauft‘ – das war mehr als eine Garantie. Antoinetta Mandilowa war ein paar Jahre bei ihm beschäftigt, sie hat seinen Sohn im Französischen unterrichtet. Alles spricht dafür, daß sie wohl auch Awram Zonews Geliebte war.“ „Wann?“ brummte Pargow. „Zwischen neunzehnhundertdreiundvierzig und neunzehnhundertsechsundvierzig. In diesen Jahren war Antoinetta zwar noch Studentin, aber sie sprach schon von Kind auf ausgezeichnet französisch. Neunzehnhundertachtundvierzig fuhr Awram Zonew mit einem ordentlichen Paß in die Schweiz, obendrein mit seinem Sohn. Aber natürlich konnte er seine Reichtümer nicht mitnehmen … Versteht sich, daß er in der Schweiz ein hübsches Konto hatte, das ihm ein Leben in Wohlstand ermöglichte. Was aber sollte er mit dem machen, was er in Bulgarien besaß? Aller Wahrscheinlichkeit nach hat er es unter ihm nahestehende Leute verteilt, die ihm versprachen, es eines Tages zurückzugeben … Einzelheiten wissen wir nicht, wir kennen nur das, was er Antoinetta in Verwahrung gegeben hat. Das war die grüne Kassette mit Diamanten und anderen Edelsteinen. Und als Zugabe eine beträchtliche Summe in Dollars.“ „Hat Stefan Radew etwas von dieser Kassette gewußt?“ fragte Stamenow. 173
„Natürlich hat er davon gewußt … Doch neunzehnhundertzweiundfünfzig ist Awram Zonew in Lugano plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben. Blieb nur noch sein Sohn. Natürlich hätte nichts Antoinetta hindern können, sich dieses beträchtliche Vermögen anzueignen. Unsere Experten haben sich noch nicht geäußert, aber es ist wirklich beträchtlich. Doch sie war eine selten ehrliche Frau. Trotz aller Versuchungen hat sie die Kostbarkeiten für den gesetzlichen Erben aufbewahrt. Bis zum letzten Atemzug hat sie sie eifersüchtig gehütet. Und das hat sie das Leben gekostet.“ Er schwieg ein Weilchen, dann fuhr er fort: „Ihr wißt ja, daß Rosa und ihr Mann nach der Heirat ungefähr ein Jahr bei Radews gewohnt haben. Ganz zufällig hat die junge Frau vor ihrem Mann einmal die Kassette erwähnt. Und die Phantasie des Verbrechers fing sofort an zu arbeiten. Er machte sich ein paar Nachmittage zunutze, wo niemand zu Hause war. Für die Kommode fertigte er sich einen Nachschlüssel an. Natürlich überstürzte er den Diebstahl nicht, er wartete einen geeigneten Zeitpunkt ab. Zunächst ging er auf die Suche nach einer hübschen Wohnung, was schließlich auch klappte. Und trotz allem hatte er es nicht eilig. Er rechnete damit, daß der Verdacht auch auf ihn fallen würde, wenn die Radews den Diebstahl meldeten. Aber er war fast sicher, daß sie ihn nicht melden würden. Sie hatten dieses Vermögen letztlich ungesetzlich versteckt.“ „Möchte wissen, wieso Stefan Radew sich darauf eingelassen hat“, warf Stamenow ein. „Bei seiner bekannten Ehrlichkeit …“ „Er hat ein bißchen zu spät davon erfahren. Und hatte auch nicht genügend innere Kraft, um sich seiner Frau zu widersetzen. Doch wie dem auch sei, eines Tages gelangt Sheljaskow zu dem Ergebnis, daß der Zeitpunkt gekommen sei. In die Wohnung einzudringen, war kein Problem, da er einen Reserveschlüssel hatte. Alles Wei174
tere ist ein unglückliches Zusammentreffen von Umständen. Als erste erscheint Antoinetta, um die Dollars zu holen, und trifft ihren Schwiegersohn am Tatort an. Ursprünglich hatte Sheljaskow nicht die geringste Absicht, jemanden umzubringen. Doch mit der Kassette in den Händen überrascht, bekam er es mit der Angst zu tun. Der Gedanke an den Mord reifte blitzschnell in seinem Kopf. Er wußte, wo das Küchenmesser lag, und stürzte in die Küche, um es zu holen. Jetzt ging Antoinetta erst auf, was ihr bevorstand, und sie versuchte natürlich zu fliehen. Im Vorraum holt er sie ein und sticht zum erstenmal zu. Sie fällt hin, er sticht so lange zu, bis sie tot ist. Als wäre er von Sinnen gewesen, wie er selbst behauptet.“ „Ganz so ist es nicht“, knurrte Raltschew mit kaum verhohlenem Haß. „Um ein Haar hätte er auch seine Frau erwürgt.“ „Jetzt beginnt das Furchtbarste“, fuhr Dimow leise fort. „Plötzlich erscheint Radew. Beim Anblick seines Schwiegervaters macht Sheljaskow auf einmal schlapp. Was zwischen den beiden genau vorgefallen ist, weiß ich noch nicht. Aber es gab weder Geschrei noch Beschuldigungen. Zusammen haben sie die Leiche weggebracht, damit sie der Junge nicht sehen konnte. Radew wusch das Messer ab und warf es in den Müllschlucker. Warum er das gemacht hat? Das kann er auch nicht erklären … Er wollte anscheinend jede Spur des Verbrechens beseitigen. Die beiden wischten auch das Blut im Vorraum auf. Offenbar waren sie nicht ganz bei Sinnen, sie waren sich nicht bewußt, was sie da eigentlich machten. Bis in die Tiefe seiner Seele erschüttert, hat sich Radew selbst verdammt. Er wollte sich für seine Tochter aufopfern. Er habe nicht die Kraft gehabt, ihr Elend mit anzusehen. Und sein eigenes Schicksal habe ihn nicht mehr interessiert.“ „So eine psychische Reaktion kann ich mir nicht vor175
stellen“, sagte der junge Anwalt mit gerunzelten Brauen. „Sich mit dem Gedanken abzufinden, daß seine Tochter mit einem Mörder zusammen leben würde.“ „Ich kann’s auch nicht!“ knurrte Dimow ärgerlich. „Aber Tatsache ist, daß es solche psychischen Reaktionen gibt. Vielleicht ist es mehr ein Instinkt, ein Gefühl, das wir nicht begreifen können. Er hat seine Tochter wirklich über alles geliebt, viel mehr als den Jungen. Erst dachte ich auch, das könne nicht der Grund sein. Ich nahm an, er hatte Angst vor dem Skandal … vor der Aufdeckung der Affäre mit der Kassette … Aber es ist nicht so … Er hat einfach an seine Tochter gedacht und nicht die Kraft gehabt, ihr moralisches Leid zu ertragen.“ „Und wie bist du daraufgekommen, daß Sheljaskow der Mörder ist?“ fragte Pargow. Dimow seufzte kaum hörbar. „Die Fakten häuften sich allmählich“, antwortete er. „Und ich wäre früher zur Wahrheit gelangt, wenn sich Radew und Genow nicht so zweideutig benommen hätten. Schließlich kam ein Fakt hinzu, der meine Zweifel fast völlig zerstreute. Ich habe mich heimlich mit dem Jungen getroffen und lange mit ihm gesprochen. Es gelang mir, sein Vertrauen zu gewinnen … Da fragte ich ihn, wer ihm an jenem fatalen Tag, wo der Mord geschah, das Geld fürs Kino gegeben habe … ‚Onkel Andrej‘, antwortete Filip, ohne zu zögern. Freilich darf man Kindern nicht immer glauben, aber manchmal glaube ich ihnen eher als Erwachsenen. Das Bild rundete sich ab, aber die Schwierigkeiten blieben. Da dachten wir uns den Trick mit der Kassette aus. Wir trieben eine ähnliche Kassette auf, überredeten die beiden Tanten, uns bei unserem Vorhaben zu helfen. Und sie haben ihre Rolle recht gut gespielt. Zuvor mußten wir noch Radew festnehmen, weil das Rosa aus ihrem seelischen Gleichgewicht bringen mußte. Alles Weitere verlief dann nach 176
unserem Plan. Am schwierigsten war es natürlich, zu verhindern, daß dem Mädchen etwas passierte. Aber das haben wir auch geschafft. Wir waren rechtzeitig zur Stelle.“ Pargow stand auf und sah nach den Krebsreusen. Der Himmel über ihnen hatte eine rosa Färbung angenommen, der weiße Stern war längst verblaßt. Nur das Rauschen des Flusses war jetzt deutlicher zu hören. „Wenn ich nur daran denke, was wir beinahe für einen Bock geschossen hätten!“ sagte Raltschew und holte tief Luft. „Und dabei wollen wir erfahrene Kriminalisten sein.“ „So ist es! Wir hatten ihn schon geschossen!“ versetzte Dimow. „In Wahrheit hat uns Stamenow gerettet. Mitunter fange ich an zu denken, daß die Gefühle schneller zur Wahrheit gelangen als der Verstand. Ich bin zum Beispiel ein gewöhnlicher Kriminalist und kein Philosoph oder Schauspieler und habe mit den düsteren Seiten menschlicher Gefühle zu tun. Und es ist gefährlich, wenn du anfängst, dich daran zu gewöhnen. Wir hatten nicht rechtzeitig das Gespür dafür, was Radew für ein Mensch ist. Natürlich entschuldige ich sein Verhalten nicht. Aber man kann ihm moralische Kraft nicht absprechen. Ich wünsche ihm, daß er in seinem Leben Ruhe und Frieden findet …“
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1. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1976 (deutschsprachige Ausgabe) Lizenz-Nr.: 409-160/108/76 • LSV 7244 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Scan & Ebook by *MM* 622 297 9 DDR 2,-M