3. 6. 2002
Kamingespenster Nr. 3 „Das Geschöpf boden“ von Martin Clauß
im
Wald-
sie rasch in Gedanken hinzu – der g...
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3. 6. 2002
Kamingespenster Nr. 3 „Das Geschöpf boden“ von Martin Clauß
im
Wald-
sie rasch in Gedanken hinzu – der geniale Verbrecher, der es auf das verschollene Lösegeld abgesehen hatte. Ihr blieb keine Zeit, sich zu überlegen, wie sie ihm entgegentreten sollte. Sie spielte mit offenen Karten. „Ich denke nicht daran, Doktor! Was immer Sie jetzt im Schilde führen, Sie täuschen mich nicht mehr. Ich weiß jetzt Bescheid.“ Sörenson stockte einen Augenblick lang. „Das spielt nun auch keine Rolle mehr“, schnarrte er verstört. „Ich gestehe alles. Aber um Himmels Willen, kommen Sie, und helfen Sie mir!“ „Unser nächstes Zusammentreffen wird im Gerichtssaal sein“, versetzte Fryda, ohne auf sein Flehen zu hören. „Ich werde sofort die Polizei verständigen. Ihr Spiel ist aus, Doktor.“ Sie wunderte sich über ihre eigene Härte. Der Haß und die Frustration über alles, was sie in den letzten Stunden herausgefunden hatte, brach jetzt aus ihr heraus wie ein Vulkan.
1 Sie brauchte fast eine Minute, bis sie begriff, wo sie war. Das Telefon schrillte unaufhörlich, geduldig, zwanzig, dreißig Mal... Noch nie hatte sie das Klingelgeräusch als so grell und schmerzhaft empfunden. Sie griff nach dem Hörer. Noch ehe sie sich melden konnte, krächzte ihr aus der Muschel eine aufgeregte Stimme entgegen. „Frau Engbrant! Sie müssen zu mir kommen, sofort! Bitte lehnen Sie nicht ab. Es ist wichtig, lebenswichtig.“ Obwohl Fryda ihn nie so erregt und durcheinander erlebt hatte, erkannte sie auf der Stelle den Anrufer. Es war Dr. Sörenson, der sonst so kühle, beherrschte Hypnotiseur. Und – so fügte 2
„Die Polizei kann mich nicht retten“, winselte Sörenson. „Das können nur Sie. Bitte lassen Sie mich nicht sterben!“ Wovon redet er eigentlich? fragte sich Fryda und knallte wütend den Hörer auf die Gabel. War das eine neue Masche, um sie zu sich zu locken? Würde er sie diesmal mit Gewalt zwingen, den Ort des Lösegelds preiszugeben? Nein, das gab keinen Sinn. Ihm mußte klar sein, daß sie Stelle nicht in ihrem Bewußtsein zu finden war, sonst hätte sie sich längst selbst auf die Suche gemacht. Nun war sie wieder so verwirrt wie zuvor. Sie entschied sich, die Polizei vorerst nicht zu verständigen. Noch gab es zu viele Fragezeichen. Wie wollte sie Sörensons Vorhaben beweisen? Machte sie sich nicht lächerlich, wenn sie behauptete, daß er mittels Hypnose aus ihrem Unterbewußtsein eine Art Schatzkarte zu erstellen versuchte? Vorher mußte sie mit Gunnar über alles
sprechen. Aber jetzt konnte sie ihn nicht anrufen - er würde mitten im Unterricht stecken. Sie erhob sich und ging ins Badezimmer. Hinter dem Rauschen der Dusche vernahm sie plötzlich wieder das Schrillen des Telefons. Nackt, nur mit einem Badetuch um ihren triefnassen Körper, lief sie in ihr Zimmer und nahm den Hörer ab. „Bitte!“ sagte Sörensons Stimme so eindringlich wie möglich. „Lassen Sie mich nicht im Stich!“ Ohne ein Wort zu sagen, legte sie auf und kehrte unter die Dusche zurück. Das Telefon klingelte erneut und begleitete ihre gesamte Morgentoilette wie eine schaurige Hintergrundmusik. Der Mann mußte verrückt sein, wenn er glaubte, sie mit dieser Methode weichzukriegen. Es war beinahe elf Uhr, als Fryda wieder die Treppe nach unten stieg, wo ihre Mutter wie ein Häuflein Elend in 3
einem großen Ohrensessel saß und das Vormittagsprogramm des Fernsehens verfolgte. Die Tochter ahnte, daß die Frau kaum mitbekam, was die Serienhelden in der Familienserie zu erzählen hatten. Fryda warf einen Blick auf den Fernsehschirm und sah, wie ein grauhaariger Mann gerade seine junge Frau mit einem gutaussehenden blonden Kerl im Bett erwischte. „Immer dasselbe“, bemerkte sie mißmutig. „Was?“ Ihre Mutter schien eben erst bemerkt zu haben, daß sie den Raum betreten hatte. „Na, die Serie, meine ich.“ „Ach so. Nein, ich habe nicht darauf geachtet.“ Verstört fixierte sie den Bildschirm, wo der blonde Verführer hastig in seine Kleider schlüpfte. „Nicht so wichtig“, winkte Fryda ab. „Weißt du, worüber ich mir Gedanken gemacht habe, Kind? Du solltest dir
helfen lassen.“ „Helfen lassen? Heißt das, du willst mir einen Psychiater vorschlagen?“ „Nein, nein, das meine ich nicht. Ich glaube, ich kenne jemanden, der mindestens so gut ist wie ein Psychiater.“ Da habe ich auch geglaubt, dachte Fryda verbittert, und bin dabei an einen Verbrecher geraten. Vielleicht hätte ich lieber der Medizin vertrauen sollen. „Du erinnerst dich doch bestimmt an Tante Ulla“, platzte Mutter heraus. „Wie wär’s, wenn du sie gleich heute noch besuchen würdest?“ Natürlich kannte sie Tante Ulla. Sie war eine der zahllosen Schwestern ihrer Mutter, die steif und fest behaupteten, über übersinnliche Kräfte zu verfügen. In ihrem Fall waren es die Tarot-Karten, mit deren Hilfe die Tante hellsehen zu können vorgab. Fryda war überzeugt, daß sie sich damit nur wichtig machen wollte, wie die anderen auch. 4
„Mutter, ich brauche diesen Wahrsagekram nicht“, entgegnete sie in aller Deutlichkeit. Sekunden später tat es ihr schon wieder leid. Gerade weil Mutter selbst keine besonderen Fähigkeiten an sich entdecken konnte, brachte sie denen ihrer Geschwister enorme Ehrfurcht entgegen und zweifelte keinen Augenblick an ihrer Existenz. „Du solltest dich nicht so abwertend äußern“, wurde Fryda getadelt. „Wir reden von einer wundervollen Gabe, die man nicht ins Lächerliche ziehen sollte. Wer weiß, vielleicht hast du sie ja auch. Diese bösen Träume könnten ein Zeichen dafür sein, daß die Kräfte jetzt zu sprießen beginnen.“ „Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich. „Ich wollte nicht spotten.“ „Weißt du, was ich mache? Ich rufe gleich Tante Ulla an und sage ihr, daß du sofort nach dem Mittagessen bei ihr vorbeischaust. Mach kein trübes Gesicht!
Einmal Kartenlegen kann dir doch nichts schaden. Sieh es einfach als Verwandschaftsbesuch.“ Fryda zuckte ergeben die Schultern. Wenn ihre Mutter darauf bestand... „A propos anrufen, dein Telefon klingelt ja schon stundenlang. Willst du nicht abheben?“ „Nein. Und du wirst bitte auch nicht drangehen, Mutter.“ „Wer ist es denn? Etwa ein Verehrer? Konkurrenz für den armen Gunnar?“ „Telefonterror“, sagte Fryda knapp und preßte angespannt die Lippen aufeinander. 2 Ohne es zu wollen, verglich sie Tante Ullas Wohnung mit dem Haus Sörensons. Dazwischen lagen Welten. Hatte der Hypnotiseur seine Behausung bis zum letzten Winkel mit grobgehauenen Masken und ledergepanzerten Folianten 5
überladen, so herrschte in dem Appartement der Verwandten Licht, Leere und weiße, schmucklose Einrichtung. Ein Wissenschaftler mit einem Hang zum Mystischen und eine Wahrsagerin, die das Nüchterne, Klare liebte. Was es nicht alles für merkwürdige Zeitgenossen gab! Und wie verkehrt es sein konnte, voreilige Schlüsse zu ziehen... „Ich freue mich unwahrscheinlich, dich wieder mal zu sehen“, lächelte die Tante und schien auch durch ihre überschäumende Freundlichkeit das krasse Gegenteil des unheimlichen Doktors zu sein. Vielleicht war es doch keine schlechte Idee von Mutter gewesen. Das Kartenlegen mochte Humbug sein, aber ein vertrauliches Gespräch mit einem netten Menschen in entspannter Atmosphäre konnte Wunder wirken. Tante Ulla war nur drei Jahre jünger als Mutter, sah aber mindestens zehn Jahre
jünger aus. In der sportlichen, unaufdringlichen Kleidung wirkte sie wie eine Tennislehrerin. Die kurzen, blonden Haare gaben ihr zugleich etwas Burschikoses und Spritziges. Fryda schämte sich auf einmal, die Verwandte so selten besucht zu haben. Immerhin wohnte sie beide in derselben Stadt. „Wie geht es deiner Mutter?“ wollte Tante Ulla wissen, und Fryda antwortete mit einigen allgemeinen Floskeln. Mutter war nicht direkt krank, aber sie schien vorzeitig gealtert und geschwächt zu sein. Erst seit heute begann ihre Tochter die Gründe dafür zu erahnen. Frydas Entführung, die finanzielle Notsituation danach, und die Tatsache, daß Vater sich gnadenlos zu Tode gearbeitet hatte, um die Schulden zu bezahlen. Die Tante bot Fryda köstlichen grünen Tee aus China an und lenkte ihre höflichen Fragen mehr auf ihren Gast. Diese ergriff die Chance beim Schopf und 6
sprach von ihren momentanen Problemen. Sie verschwieg ihr nichts. Ulla erfuhr von den Träumen und auch von den Sitzungen bei Dr. Sörenson. Und schließlich verriet sie ihr sogar, daß Mutter sie heute morgen erst in das große Geheimnis ihrer Kindheit, die Entführung, eingeweiht hatte. „Endlich ist es raus“, freute sich Tante Ulla aufrichtig. „Ich war immer der Meinung, man hätte dir früher davon erzählen müssen! Aber deine Eltern waren schrecklich besorgt um dich.“ „Du hast es gewußt?“ „Wir wissen alle davon, mein Kind. So etwas läßt sich schlecht verbergen. Alle mußten deinen Eltern versprechen, das Schweigen zu bewahren. Für einige muß es unglaublich schwer gewesen sein. Du kennst ja Tante Margareta und die anderen Klatschbasen.“ Eins nach dem anderen zogen die Gesichter der Verwandten an Fryda
vorbei. Sie hatte nie geahnt, daß sie alle Geheimnisträger waren. „Weißt du etwas über eine Kiste oder einen dunklen Schatten?“ erkundigte sie sich, für den Fall, daß Mutter ihr doch etwas verschwiegen hatte. „Wir werden die Karten dazu befragen“, beschloß die Tante fröhlich. Fryda aber war enttäuscht. Sie hatte gehofft, ein hilfreiches Gespräch von Frau zu Frau führen zu können, ohne den ganzen Hokuspokus. Vielleicht hatte sie zu viel von Tante Ulla erwartet. Trotz aller Pfiffigkeit und jugendlichen Ausstrahlung war auch sie schließlich ein Mitglied dieser abergläubischen Sippe. Und als solche nutzte sie jede Gelegenheit, Außenstehende mit ihren besonderen Fähigkeiten zu belästigen. Ehe sie höflich ablehnen konnte, hatte die wendige Tante schon die Teetassen an den Tischrand geschoben und in der Mitte der Tischplatte Platz für die Karten 7
geschaffen. Im nächsten Moment lagen die großen, unhandlichen Tarot-Karten in Tante Ullas kleinen Händen, die reich verzierten Rückseiten nach oben. Mit geübten Bewegungen mischte sie einmal und legte den Stapel dann auf den Tisch. „Kennst du dich mit Kartenlegen ein wenig aus?“ fragte sie lächelnd. „Nein, ich – ehrlich gesagt glaube ich nicht so ganz daran.“ „Oh, das macht nichts. Die Tarot-Karten haben ihre ganz eigene Dynamik, sie funktionieren auch, wenn du nicht daran glaubst. Sie vereinigen uralte Symbole, die das Unbewußte direkt ansprechen. Es geht ganz automatisch, fast wie eine Maschine.“ Tante Ulla hob etwa die Hälfte des Stapels mit der Linken an und griff mit zwei Fingern der Rechten darunter. Ihre Beute legte sie verdeckt in die Mitte des Tisches. Keine magische Beschwörung, keine Meditation. Fryda war ein wenig
überrascht und wurde sich zum wiederholten Male bewußt, wie sehr sie in eingefahrenen Bahnen dachte. Zauberei ohne Hokuspokus, dachte sie und mußte über ihren eigenen Gedanken schmunzeln. „Wir versuchen die einfachste Legemethode“, erklärte die Verwandte. „Das gibt uns gleich eine gute Orientierung, wo die Probleme liegen. Die Karte hier, die ich gerade gezogen habe, stellt dich dar. Bevor wir uns Personen oder Umstände in deiner Umgebung ansehen, konzentrieren wir uns ganz bewußt erst einmal auf dich. Das hier bist du ganz allein, dein Inneres, ohne fremden Einfluß.“ Tante Ulla erläuterte mit langsamer, ruhiger Stimme. Prüfend blickte sie Fryda an, ob sie alles verstanden hatte. „Das sind zwei Karten“, sagte die junge Frau leise. Sie hatte schon beim Ziehen beobachtet, daß zwei Karten zwischen die 8
Finger der Ziehenden gerutscht waren. Ulla erschrak sichtlich und schob mit der Fingerspitze die Karten auseinander. „Tatsächlich“, murmelte sie verstört. „Die beiden Karten sind wie zusammengeklebt. Das ist mir noch nie passiert. Entschuldige bitte, Fryda, ich muß mich wohl besser konzentrieren.“ Sie schob die beiden Tarot-Karten getrennt in den Stapel zurück, ohne sie aufzudecken, und mischte anschließend noch einmal ausgiebig. Ihr offenes, fröhliches Gesicht hatte sich ein wenig verdunkelt. Sie gehörte wohl zu den Menschen, die nicht gerne Fehler machen. Wieder teilte sie den Stapel und griff nach der obersten Karte des liegengebliebenen Teils. „Es sind wieder zwei“, warf Fryda ein, die diesmal noch aufmerksamer zugesehen hatte. Ulla, die die Karten eben auf die Tischplatte legen wollte,
erstarrte in der Bewegung, rieb die Finger gegeneinander, und tatsächlich – sie hatte erneut zwei Karten gezogen! Diesmal entschuldigte sich die Tante nicht, sondern starrte die Rückseiten der Karten ungläubig an. Fryda ihrerseits beobachtete die Kartenlegerin. Diese schien an ihrem Verstand zu zweifeln. „Es kommt vor, daß sie bei hoher Luftfeuchtigkeit ein wenig aneinander pappen, aber zweimal nacheinander... Würdest du mir den Gefallen tun, es selbst einmal zu versuchen? Weißt du, ich bin Kartenlegerin geworden, weil ich dachte, es ist der einzige Job, zu dem man wirklich keine besondere Geschicklichkeit braucht. Heute werde ich eines besseren belehrt.“ Ullas Augen lächelten begleitend zu diesem kleinen Scherz, aber es war ein Lächeln der Unsicherheit. Etwas schien sie zu irritieren. Fryda kam der Bitte nach, mischte und 9
zog. „Da sie mich allein darstellt, sollte ich die Karte auch allein ziehen“, versuchte auch sie einen Spaß zur Auflockerung der peinlichen Situation. Aber einen Augenblick später erstarb auch das Schmunzeln auf ihrem Gesicht. Beim genauen Hinsehen erkannte sie zwei Karten. Auch sie selbst hatte es nicht geschafft, nur eine zu ziehen. „Was geht da vor?“ hauchte sie konsterniert. Als ihr Blick von den Rückseiten der Karten zu ihrer Tante wanderte, sah sie deren blaß gewordenes Gesicht. „Die erste Karte, die gezogen wird, stellt dein Inneres dar. Aber wir ziehen regelmäßig zwei Karten“, faßte sie mit langsamem, abgehacktem Tonfall zusammen. Fryda sah, wie sie mehrmals trocken schluckte. „Das bedeutet...“ „...daß da zwei Personen in meinem Innern sind“, ergänzte die junge Frau.
Plötzlich breitete sich Totenstille zwischen ihnen beiden aus. Es war wie die Ruhe nach einer Bombenexplosion, bevor sich die Ohren wieder an die Stille gewöhnt hatten. Frydas Feststellung hatte tatsächlich wie eine Bombe eingeschlagen. Für einige Sekunden schien der Dampf, der von den beiden Teetassen aufstieg, die einzige Bewegung im Raum zu sein. „Es – es muß ein Zufall sein, mein Kind“, stotterte Tante Ulla. „Du darfst nicht erschrecken. Es tut mir so leid...“ Fryda schüttelte abwesend den Kopf. „Nein, es hat alles seine Richtigkeit. Es paßt genau zu meinen Träumen, es bestätigt sie sogar. Die Karten haben nicht gelogen, Tante Ulla. Zwei verschiedene Wesen leben in meiner Seele. Ein dreijähriges Mädchen, das nie richtig vergessen konnte, was geschehen ist, und der Schatten eines Mannes. Das Mädchen bin ich, aber wer ist der Mann?“ 10
Sie spähte wieder nach den beiden Karten. War die Antwort auf der Vorderseite verborgen? „Es ist besser, du drehst sie nicht um“, warnte die Tante sacht. Sie schien Angst vor ihrer eigenen Kunst bekommen zu haben. Fryda war bereit, das Risiko einzugehen. Zuerst wandte sie die obere Karte um. Es war das Rad des Schicksals, mit einer blonden Engelin darauf, die ihr selbst ein wenig ähnlich sah. „Das Auf und Ab des Lebens“, wisperte Tante Ulla. „Eine ernste, aber auch hoffnungsvolle Karte.“ Frydas Hand zitterte, als sie die zweite Karte umdrehte. Sie wußte, welche es sein würde. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel. Jeder kannte dieses Motiv. Auch Menschen, die noch nie mit dem Tarot-Spiel konfrontiert worden waren, wußten zumeist, daß es diese Karte gab.
Fryda hielt den Atem an. Der Tod starrte sie aus dunklen Augenhöhlen an. 3 Als sie die Tür zum Elternhaus öffnete, klangen ihr Stimmen entgegen. Offenbar hatte ihre Mutter einen Gast empfangen und unterhielt sich mit ihm. Das war verwunderlich, denn die Frau lebte gewöhnlich eher zurückgezogen. Erst einen Moment später erkannte sie die Stimme. „Gunnar!“ rief sie überrascht und stürmte in den Wohnraum. Tatsächlich saßen sich ihre Mutter und ihr Verlobter an dem großen, runden Tisch gegenüber. Sie schienen eher gelangweilt ein Gespräch geführt zu haben und waren beide sichtlich froh, daß Fryda hereingeschneit kam und sie von dem festgefahrenen Dialog erlöste. „Toll, daß du hier bist“, fiel die junge Frau ihrem Liebsten um den Hals. „Ich 11
wußte, daß du heute noch anrufen würdest, aber daß du persönlich vorbeikommst, ist eine Überraschung.“ „Ich habe dich ungefähr ein Dutzend Mal zu erreichen versucht, aber niemand hat abgenommen. Da habe ich beschlossen, mich zum Abendessen einzuladen.“ Er warf der Mutter einen entschuldigenden Blick zu, doch diese lächelte nur wohlwollend. Sie hatte den Freund ihrer Tochter von Anfang an sympathisch gefunden und nie Einwände gegen die Bekanntschaft der beiden gehabt. „Du hast mir verboten, das Telefon abzunehmen“, meinte sie vorwurfsvoll zu ihrer Tochter. „Ich verstehe zwar nicht, weshalb, aber...“ „Entschuldige bitte, Gunnar“, beeilte sich Fryda zu sagen. Sie würde ihm die Gründe dafür schnellstens erklären, sobald sie beide allein waren. Noch immer vermied sie, ihrer Mutter von dem
Besuch bei Dr. Sörenson zu berichten. „Also dann werde ich mal mit den Vorbereitungen fürs Essen anfangen“, meinte die alternde Frau und erhob sich beinahe militärisch vom Stuhl. „Ihr beiden Turteltäubchen scheint euch ja einiges zu erzählen zu haben.“ Damit hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Doch kein verträumtes Liebesgeflüster war es, das in den Herzen der beiden auf Befreiung wartete, obwohl sich Fryda gerade jetzt mehr denn je danach gesehnt hätte. Düstere und unerfreuliche Dinge harrten darauf, preisgegeben zu werden, und die junge Frau ahnte, daß es sie eine Menge Nervenkraft kosten würde, ihrem Verlobten zu berichten, was sie im Laufe des Tages alles erfahren hatte. Die Mutter schritt so resolut auf die Küchentür zu, daß sie nicht einmal wagte, ihre Mithilfe beim Kochen anzubieten. Mutter wollte ihnen bewußt 12
ihre Privatsphäre lassen, und das kam ihnen in diesem Moment mehr als gelegen. Gunnar folgte Fryda die Treppe nach oben. Er war ein gutaussehender, weizenblonder Riese, nach dem sich so manches Mädchen umsah. Seine Figur mochte vielleicht ein wenig zu schlaksig sein, aber das hatte Fryda nie gestört. Sie wußte, daß er lieber über Büchern brütete als im Fitness-Studio Hanteln zu stemmen, und seine Belesenheit gefiel ihr besser als die hochgezüchteten Muskeln anderen Männer. Dabei war Gunnar keineswegs unsportlich. Er segelte traumhaft und war auch ein passabler Tennisspieler. Nur ließ ihm sein unstillbarer Wissenshunger und seine Lehrtätigkeit zu wenig Zeit für sportliche Aktivitäten. Fryda öffnete ihm die Tür und schloß sie wieder hinter ihm. Daß Mutter heimlich lauschen würde, mußte sie nicht
befürchten. Wie für viele Skandinavier galt auch für sie die Privatsphäre anderer Menschen als unantastbar. Gunnar setzte sich ungefragt neben Fryda aufs Bett. Es ließ sich leichter reden, wenn sie dabei einen Arm umeinander legen konnten. „Sörenson hat zigmal versucht, mich zu sich zu rufen“, begann die junge Frau. „Er meinte, es gehe um Leben und Tod.“ „Du bist hoffentlich nicht hingegangen!“ „Natürlich nicht.“ Unbewußt warf sie einen ängstlichen Blick auf den Telefonapparat, der jetzt brav und stumm blieb. „Hast du etwas über ihn herausgefunden?“ „Leider eine ganze Menge“, meinte Gunnar und kramte einen zerknitterten Notizzettel aus der Brusttasche seines farbenfrohen Hemdes. „In alten Zeitungsartikeln tauchte sein Name öfters auf. Er ist mehrfach vorbestraft wegen ganz unterschiedlichen, zum Teil recht 13
bizarren Vergehen. Alle Verbrechen weisen ein gemeinsames Merkmal auf: Seine Waffe ist Hypnose." Fryda zuckte merklich zusammen. „Er hat anderen Menschen seinen Willen aufgezwungen?“ „Nein, das nicht“, verneinte Gunnar rasch. „Das dürfte auch zu schwierig sein. Die Geschichten, laut denen Menschen unter Hypnose zu willenlosen Sklaven werden, gehören wohl größtenteils in den Bereich der Legende. So etwas gibt es fast nur in Romanen. Um jemandem einen hypnotischen Befehl zu geben, braucht man ein höchst willensschwaches Opfer, und selbst dann gelingt es nur selten.“ Fryda nickte gedankenversunken. Sie ahnte, worauf Gunnars Erklärungen hinausliefen. „Er hat in der Seele seiner Patienten herumgeforscht, nicht wahr?“ „Richtig, so kann man es ausdrücken. Sörenson hat Menschen Geheimnisse
entlockt, um sie auf unterschiedlichste Weise zu benutzen. Oft war dies den Patienten selbst gar nicht bewußt. Alle möglichen Schätze beförderte er dabei ans Tageslicht. Zum Beispiel psychische Schwachpunkte von Menschen, die er später einsetzte, um sie unter Druck zu setzen. Oder Geheimnisse, die er als Mittel für Erpressungen nutzte. Und manchmal erfuhr er einfach die Geheimzahlen von Bankkonten. Seine Vergehen waren meist verhältnismäßig kleine Fische. Er wendet niemals körperliche Gewalt an. Ihn interessiert nur, wie er aus dem Wissen und Seelenzustand seiner Patienten finanziellen Gewinn schlagen kann.“ Fryda kniff verbittert die Lippen aufeinander. „Geistige Gewalt läßt sich wohl schwer nachweisen. Wer weiß, wieviele Menschen heute noch unter seinen angeblichen Behandlungen leiden!“ 14
„So ist es. Er kam mit kleineren Geldund Haftstrafen davon, dachte sich immer wieder neue Arbeitsmethoden aus und schlug weiter zu. Alles spricht dafür, daß du sein neustes Opfer bist.“ Fryda dachte schweigend nach. Gunnars Nachforschungen erklärten manches, aber längst nicht alles. Einiges davon hatte sie selbst schon herausgefunden. Daß Sörenson ein alter Hase auf dem Gebiet war, war gut zu wissen, erklärte aber nicht, was es mit der mysteriösen Kiste und dem Schattenmann auf sich hatte. Dies, so vermutete sie, hing weniger mit Sörenson zusammen als vielmehr mit ihr selbst. Der Schatten hatte in ihrem Innern gelauert und war von dem betrügerischen Hypnotiseur lediglich an die Oberfläche befördert worden. Ohne daß dieser etwas derartiges beabsichtigt hatte. Gunnar wartete geduldig, bis Fryda ihrerseits begann, die Neuigkeiten des
Tages zu berichten. Sie fing damit an, Mutters Eröffnungen vom Morgen nachzuerzählen. Als sie die Geschichte von ihrer eigenen Entführung wiedergab, traten ihr Tränen in die Augen. Sie lauschte ihrer Stimme wie der einer Fremden. Gunnar stellte zwischendurch Fragen, ähnlich, wie sie sie selbst am Morgen ihrer Mutter gestellt hatte. Hatten die Entführer sie gut behandelt? Was war aus dem Lösegeld geworden? Fryda antwortete unter leisem Schluchzen. Obwohl sie sich selbst nicht mehr an die zwei Wochen in den Händen der Entführer entsinnen konnte, war ihr nun, als käme der ganze Schmerz und die Furcht wieder nach oben. „Es war so viel Wald, nur Bäume, Bäume... Ich kenne den Lageplan des Lösegelds nicht mehr. Alles sah so gleich aus.“ „Beruhige dich“, tröstete sie Gunnar 15
und drückte sie enger an sich. „Die Sache liegt über zwanzig Jahre zurück. Du kannst dich glücklich schätzen, daß du völlig unbeschadet davongekommen bist.“ Fryda schüttelte verständnislos den Kopf, immer und immer wieder. „Irgend etwas muß doch geschehen sein! Es war bis gestern in meiner Seele vergraben, bis es die Hypnose freigeschaufelt hat. Daß ich monatelang im Schlaf von einer Kiste gesprochen habe, muß eine Bedeutung haben. So etwas kommt doch nicht durch Zufall in meinen Kopf!“ Gunnar hatte seinen ernsten Blick ins Leere gerichtet. In ihm arbeitete es. Er teilte die Gedanken seiner Verlobten. Allein, ihm fehlte ebenso wie ihr der Ansatzpunkt zur Lösung dieses Fragezeichens. Plötzlich hob Fryda den Kopf und riß die Augen auf. „Ich habe dir ja noch kein
Wort von Tante Ulla erzählt!“ rief sie. Und im nächsten Moment verfinsterte sich ihre Miene wieder. Es war der schwärzeste Punkt inmitten des Durcheinanders, das der heutige Tag gebracht hatte. Denn es bedeutete den Beweis, daß ein zweites Wesen in ihr wohnte. Und die Karte, mit der es charakterisiert wurde, war keine andere als der Tod! Gunnar schüttelte unablässig den Kopf, während ihm Fryda die Episode in Tante Ullas Wohnung erzählte. Unter normalen Umständen hätte er versucht, seine Verblobte von der Unzuverlässigkeit des Kartenlegens zu überzeugen, doch das seltsame Ereignis paßte genau zu Frydas Situation. „Der Tod“, versuchte er sie zu beruhigen, „kann vielerlei bedeuten. Du darfst nicht zu schwarz sehen." „Ich soll nicht verzweifeln, wenn mir der Tod prophezeit wird?“ Ihre Stimme klang 16
schrill und unbeherrscht. Sie stand kurz davor, die Nerven zu verlieren. „Niemandem ist der Tod prophezeit worden“, widersprach Gunnar nachdrücklich. „Es kann höchstens bedeuten, daß das, was in dir ist, eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Tod aufweist. Vielleicht ist es selbst tot.“ „Das glaube ich nicht!“ versetzte sie. Kurz darauf ließ sie den Kopf wieder sinken. Vielleicht hatte Gunnar recht. Sein klarer, geübter Verstand durchschaute die Dinge besser als der ihre, der von Angst und Verwirrung umwölkt war. Aber wer sollte der Tote in ihr sein? Ihr Vater vielleicht? Dazu gab es keinen Grund. „Du mußt dich zu entspannen versuchen“, riet Gunnar. „Nach dem Abendessen solltest du ein leichtes Schlafmittel einnehmen und dich wieder einmal richtig ausschlafen. Du letzten Tage waren einfach zu viel für dich. All
diese Enthüllungen in zwei, drei Tagen...“ „Bleibst du bei mir?“ „Ich muß morgen um acht Uhr wieder in Örebro an der Schule sein. Ich werde bleiben, bis du eingeschlafen bist, okay?“ „Gut, einverstanden.“ Sie lächelte resigniert. Sie brauchte ihn am meisten in der Nacht, wenn der Schatten wieder in ihren Träumen umherschlich und sie schweißgebadet aufwachte. Dann hätte sie gern jemanden neben sich gewußt, der sie schützend in den Arm nahm. An der Tür klopfte es. „Es ist angerichtet“, klang Mutters Stimme scherzhaft vom Flur herein. „Wenn die jungen Herrschaften sich im Speiseraum einfinden möchten...“ Die „jungen Herrschaften“ lächelten sich zu. Erschöpfung sprach aus Frydas Augen, aber auch aufkeimende Hoffnung. „Ich werde ein braves Mädchen sein“, versprach sie Gunnar, bevor sie die Stufen hinabstiegen. Und er streichelte 17
aufmunternd ihre Schulter.
Sörenson hatte seine nüchterne Wissenschaftlichkeit völlig abgelegt. Seine vierschrötige Gestalt huschte nervös in den hellerleuchteten Gängen umher, seine buschigen roten Augenbrauen waren vor Angst und Sorge tief ins Gesicht gezogen und zuckten unruhig. Der verbrecherische Hypnotiseur fürchtete um sein Leben. In seiner Rechten lag ein langes Küchenmesser. Es warf blitzende Reflexe an die Wände, die ihn mehr erschreckten als ihm ein Gefühl von Sicherheit zu schenken. Zum ersten Mal hielt er eine Waffe in der Hand. Bislang waren seine psychologischen Kenntnisse seine Waffe gewesen, auf Gewalt in körperlichem Sinn hatte er verzichtet. Sie widerte ihn an und machte ihm zugleich Angst. Er kämpfte mit Worten und Gedanken, nicht mit Fäusten. Doch die schemenhafte Erscheinung von letzter Nacht hatte ihn gezwungen,
4 In dem kleinen Haus brannten sämtliche Lichter. Alles, was Helligkeit liefern konnte, war eingeschaltet und verscheuchte auch die letzten Fetzen Dunkelheit aus den schmalen Gängen und engen Zimmern. Sogar Kerzen flackerten dort, wo das elektrische Licht nicht ganz ausreichte. Das Haus wirkte wie ausgewechselt, die fettigen Ledereinbände der schweren Folianten glänzten, die Masken an den Wänden hatten jegliche Bedrohlichkeit abgelegt und zeigten nun ihr wahres Gesicht – nichts waren sie als billige Touristenandenken, am Fließband gefertigt und an unbedarfte Ausländer verscherbelt. Wie ausgewechselt erschien auch der Mann, dem das Haus mit all seinem fragwürdigen Inhalt gehörte. Dr. 18
zu anderen Mitteln zu greifen. Er hätte es vorgezogen, Fryda Engbrant in sein Behandlungszimmer zu führen und einen erneuten Blick in ihre Seele zu werfen. Der Unheimliche, der ihn bedroht hatte, war zweifellos ihrem Geist entsprungen, und was befreit worden war, konnte auch wieder eingesperrt werden. „Steinzeitliche Methoden“, brummte er mißmutig und hätte das Messer am liebsten weggeworfen. In der linken Hand trug er eine Taschenlampe, die er vor wenigen Stunden erworben hatte. Auch sie weigerte sich, ihm Sicherheit zu vermitteln. Er fühlte sich wie eine Maus, die in einem kleinen Raum mit einer Katze zusammen eingesperrt war. Die Nacht kam unerbittlich rasch. Elf Uhr. Die Zeiger der Uhr verrieten ihm, daß draußen bereits tiefste Dunkelheit herrschen mußte. Im Inneren des Hauses behauptete sich ein künstlicher Tag, dessen Zerbrechlichkeit sich Sörenson
nur zu deutlich bewußt war. Daß der Schatten bei Nacht kam, hing gewiß mit Fryda Engbrants Schlaf zusammen. Wenn sie träumte, wurde das Wesen frei. Die Zeit schritt fort, und der Doktor gönnte sich keine Minute Ruhe, streifte unermüdlich durchs Haus. Wenn er nur wüßte, was der Schatten überhaupt von ihm wollte! War er eine Art Schutzengel seiner Patientin, der die Menschen bedrohte, die ihr zu schaden versuchten? Um zwei Uhr nachts zeigten sich bei ihm erste Anzeichen der Erschöpfung. Er setzte sich aufs Bett und legte das Messer neben sich auf die Matratze. Da ging es los. Langsam und schwer klangen die Fußtritte aus dem Flur. Der Eindringling war im Haus! Sofort umgriff die dicken Finger des massigen Doktors wieder den Messergriff. Beinahe hätte er sich an der frisch geschliffenen Klinge geschnitten. Ein Schaudern lief über seinen Rücken, als er 19
sich von dem quietschenden Bett erhob. Mußte er ihm nicht entgegenlaufen, ihn überrumpeln? Stattdessen blieb er nur wie versteinert im Türrahmen des kleinen Schlafzimmers stehen. Kein Funken Mut war in ihm. Er zitterte wie ein Opferlamm, das auf den erlösenden Schnitt wartet. Eine kleine Ewigkeit verging, bis der Schatten in Sörensons Blickfeld trat. Er wirkte deplaziert inmitten des strahlenden Lichts, das von allen Seiten herandrang. Aber all die Helligkeit tat seiner grauenvollen Erscheinung keinen Abbruch. Schwarze Schleier waberten um seinen Leib. Seine Bewegungen wirkten wie in Zeitlupe. War er wirklich lange Zeit in einer Holzkiste gefangen gewesen? Ab und an lugte ein Fetzen zerlumpter, von Moder bedeckter Kleidung unter den Schatten hervor. Er hatte es anscheinend nicht eilig. Er
wußte, daß ihm sein Opfer nicht entkommen konnte. Sörenson hatte sich selbst in eine Sackgasse verkrochen. Aus dem Schlafzimmer gab es keinen Ausgang als jenen, der durch diesen engen Flur führte. Aber gab es ein Vorbeikommen an diesem Wesen? Der Hypnotiseur reckte sein Küchenmesser weit nach vorn und kam sich lächerlich dabei vor. „Was willst du?“ ächzte er. „Ich habe dir nichts getan! Wer bist du überhaupt?“ Auf eine Antwort hoffte er vergebens. Die Kreatur schien voll und ganz damit beschäftigt zu sein, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Mehr lag nicht in ihrem Sinn, zu mehr war sie vielleicht nicht einmal fähig. Ein unangenehmer Geruch von feuchter Erde und Moder wehte Sörenson entgegen. Er war an den stickigen Geruch gewöhnt, den die Bücher verströmten, aber solch verbrauchte, muffige Luft 20
hatte selbst er noch nie geatmet. Als ob man in eine Kammer unter der Erde gesperrt sei. Eine Kiste tief im Waldboden... Das Ungetüm war jetzt keine fünf Schritte mehr von ihm entfernt. Sörenson warf sich herum und verkroch sich in seinem Schlafzimmer. Mit schreckensgeweiteten Augen beobachtete er, was im Flur geschah. Der Unheimliche hob schwerfällig die Hand und wischte an einer Lampe vorbei. Das Licht erstarb flackernd. Sörenson glaubte den Verstand zu verlieren. Er hatte genau gesehen, wie die schwarze Hand die Lampe nur gestreift hatte. Eine dunkle Macht wohnte in dem Schatten, deren Berührung ausreichte, das Licht verlöschen zu lassen. Würde die gleiche Berührung aus ausreichen, das Lebenslicht eines Menschen auszublasen? „Laß mich!“ schrie er. Er war mit den
Nerven am Ende. Nie hatte er in seiner kriminellen Karriere dem Tod ins Auge sehen müssen. Wenn er von der Polizei gefaßt wurde, ließ er sich mit gesenktem Kopf abführen, ohne es auf einen Kampf ankommen zu lassen. Als der Schatten vor ihm stand, ließ ihn der Modergeruch beinahe ohnmächtig werden. Sörensons Finger zitterten so sehr, daß ihm der Griff des Messers aus der Hand zu rutschen drohte. Er wußte, auch jetzt würde er zu keinem Kampf fähig sein, würde alles über sich ergehen lassen, genau wie bisher. Doch diesmal würde er nicht vor Gericht enden, nicht im Gefängnis. Er wich bis zur Wand des Zimmers zurück, preßte sich flach dagegen. Der Schatten schritt an der gleißenden Nachttischlampe vorbei, und das Licht erlosch. Der Raum wurde in Dunkelheit getaucht. Nur vom Flur her drang noch schwach das Flackern einiger Kerzen, die 21
der Dunkle nicht gelöscht hatte. „Neeeeiiiin!“ Mehr Gegenwehr als einen Schrei des Entsetzens brachte Sörenson nicht zustande. Schwärze breitete sich aus, zuerst vor seinen Augen, dann in seinem Inneren, als die schwarze Hand seine Brust berührte und das Herz zum Stillstand brachte. Der leblose Körper des HypnoseBetrügers glitt an der Wand herab auf den Fußboden. Daneben stand für einen Moment stumm sein Mörder. Kein Laut entrann seiner Kehle, kein Zeichen von Triumph blitzte in seinen schwarzen Augen. Nur Ernst und ein Hauch von Traurigkeit stand auf dem Gesicht des Mannes unter den dunklen Schleiern...
Hand aus der ihren gezogen und den Raum verlassen. Frydas Mutter war eine aufgeschlossene Frau und hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn der junge Mann über Nacht bei ihrer Tochter geblieben wäre. Zumal die beiden schon seit Jahren verlobt waren. Außerdem ahnte sie, daß Fryda nach all den Eröffnungen, die sie ihr am Morgen gemacht hatte, einen starken, tröstenden Arm bitter nötig hatte. Sie selbst hätte seinerzeit die seelischen Strapazen der Entführung kaum ohne ihren Mann durchgestanden. Doch so sehr Gunnar sich gewünscht hätte, bei seiner Verlobten bleiben zu können, er konnte es sich nicht leisten, den Unterricht ausfallen zu lassen. In der heutigen Zeit gab es eine harte Konkurrenz, und Dutzende von arbeitslosen Lehrern warteten auf eine Stelle wie die seine. Während er in seinem Wagen die mehr
5 Gunnar war leider bei seiner Ankündigung geblieben. Kaum war Fryda eingeschlafen, hatte er langsam seine 22
als hundert Kilometer nach Örebro zurücklegte, schlief Fryda tief und traumlos. Erst nach Mitternacht begannen die ersten Träume ihren Schlaf zu durchsetzen. Zunächst waren es wirre Bruchstücke, in denen beinahe alle Personen vorkamen, denen sie in den letzten Wochen begegnet war. Doch dann erschien der Schatten wieder, nahm sie an der Hand und zog sie mit sich, wie ein Vater sein kleines Kind. Mehrmals erwachte sie, doch kaum war sie eingeschlafen, fand sie sich erneut an der Seite des Schattenmannes. Sie suchten verschiedene Orte auf, irrten im Wald umher, danach gerieten sie in ein winziges Zimmer, in dem ein Mann schlief. Sie sahen ihn erwachen und zu Tode erschrecken. Das Traumbild währte nicht lange. Der Schatten führte sie jetzt durch schmale, hell erleuchtete Flure. Undeutlich glaubte sie an den Wänden Holzmasken zu erkennen.
Nein, schrie sie in Gedanken. Und Sekunden später glaubte sie, Dr. Sörenson in einem der Gänge auszumachen. An den Rest wollte sie sich nicht mehr erinnern. Er war so schrecklich, auch wenn sie alles nur verschwommen wie durch eine schlammverschmierte Brille wahrnahm. Zwei Wünsche duellierten sich in ihrer Brust. Der Wunsch, den Hypnotiseur für seine Verbrechen zu bestrafen, und der Wunsch, ihn vor dem Schatten zu retten. Welcher von beiden in Erfüllung ging, wollte sie nicht wissen. Sie wandte sich von ihrem eigenen Traum ab und verschloß die Augen. Eine Wolke tiefer Traurigkeit erfaßte sie, dann wachte sie erneut auf. „Gunnar“, flüsterte sie im Selbstgespräch. „Wärst du doch bei mir geblieben!“ Sie setzte sich auf und starrte eine Weile in die Dunkelheit. Bin ich die 23
Herberge eines Gespenstes geworden? fragte sie sich. Aber warum ich? Und wie kann ich mich seiner entledigen? Angenommen, die weibliche Linie ihrer Familie verfügte tatsächlich über besondere Fähigkeiten, konnte ihr dann nicht jemand helfen? Der Gedanke alarmierte sie, denn irgend etwas daran war unlogisch. Richtig! Wenn das Gerücht stimmte und alle weiblichen Mitglieder übernatürliche Kräfte besaßen, dann galt das auch für sie selbst. Und dann mußte sie sich doch irgendwie selbst helfen können! Sie seufzte. Wie sollte sie das anstellen? Nach einer Stunde erfolglosen Grübelns legte sie sich wieder unter die Decke. Kurze Zeit später war sie eingeschlafen und schlief diesmal tief und erholsam, ohne von weiteren Träumen behelligt zu werden. Irgendwann zerriß ein Klingeln ihre
Ruhe, und sie griff noch im Halbschlaf nach dem Telefon. Einige Zeit lauschte sie dösend dem Freizeichen, bis sie begriff. Das Läuten hatte seinen Ursprung nicht im Telefonapparat, sondern kam von der Türglocke. Rasch warf sie einen Morgenmantel über ihr Nachthemd. Als sie die Stufen nach unten stolperte, hörte sie schon die Stimme ihrer Mutter vom Eingangsbereich her. „Tut mir leid, meine Tochter schläft heute sehr lange. Sie fühlt sich nicht ganz wohl. Natürlich, ich werde sie auf der Stelle wecken...“ „Mutter!“ Fryda meldete sich schon von der Treppe aus. An deren Fuß angekommen, sah sie sofort, wer vor ihrer Mutter an der Tür stand. Es waren zwei Männer mittleren Alters, gekleidet in die unmißverständliche Uniform der Polizei. Sie hielt den Atem an. Plötzlich wußte sie, daß sich der Vorhang zum 24
nächsten Akt der seltsamen Geschehnisse gerade öffnete. Was war geschehen? „Wenn Sie gestatten...“ Die beiden Beamten drängten sich höflich, aber bestimmt an der Mutter vorbei in die Eingangshalle. „Frau Fryda Engbrant?“ fragte der Kleinere der beiden, und die Angesprochene nickte. „Entschuldigen Sie die Störung, aber wir würden uns gerne einen Augenblick mit Ihnen unterhalten. Eine Routinesache – vermutlich.“ Die Art und Weise, wie er das letzte Wort betonte, machte deutlich, daß sich die Routinesache leicht zu einer höchst brisanten Angelegenheit ausweiten konnte... „So früh am Morgen“, stotterte Fryda überrascht. Einer der Beamten zog die Augenbrauen hoch und sah beinahe provozierend auf seine Armbanduhr. „Elf Uhr, Frau Engbrant.“ „Wirklich?“ Erschrocken warf sie ihrer
Mutter einen Blick zu, die ernst nickte. „Wenn wir vielleicht alleine mit ihnen sprechen könnten...“ „Ich verschwinde in der Küche“, sagte Mutter beflissen. „Ihr könnt nach nebenan ins Arbeitszimmer gehen.“ Vaters ehemaliges Arbeitszimmer diente heute mehr als Handarbeitsraum für Mutter, doch seinen Namen hatte es behalten. Außer ein paar Rollen Nähgarn, die auf Vaters Schreibtisch verstreut waren, herrschte peinlichste Ordnung in dem Raum. Mutter legte Wert auf Sauberkeit. Als die Beamten an einem kleinen Tischchen platzgenommen hatten, schloß Fryda die Tür. „Darf ich Ihnen etwas anbieten?“ Sie war beinahe stolz, daß ihr die Frage trotz ihrer Verwirrung einfiel. Doch die Polizisten lehnten ab. „Nein danke, wir bleiben nicht lange. Uns liegen nur zwei, drei Fragen auf dem Herzen. Sobald wir Antworten darauf 25
bekommen haben, verschwinden wir wieder.“ „Wie Sie möchten.“ „Setzen Sie sich doch zu uns, bitte. Sie sind Patientin bei Dr. Sörenson?“ Fryda hatte etwas derartiges erwartet. Der Traum, in dem sie in Sörensons Haus gewesen war, war ihr sofort eingefallen, als sie die beiden Beamten in der Tür hatte stehen sehen. „Das ist richtig“, meinte sie so ruhig wie möglich. „Ich hatte zwei Behandlungen bei ihm.“ „Aber gestern haben Sie ihn nicht aufgesucht, sagen wir gestern abend?“ „Nein. Ich war gestern den ganzen Tag nicht dort. Ist etwas passiert?“ Die beiden Männer sahen sich an. „War Ihre Behandlung abgeschlossen?“ fragte einer der beiden anstelle einer Antwort. „Nein, nicht ganz, das heißt...“ Fryda wußte nicht, wie sie es formulieren sollte. Sie entschloß sich, so nahe wie möglich
an der Wahrheit zu bleiben. „Ich war ehrlich gesagt nicht ganz zufrieden und habe entschieden, die Therapie abzubrechen.“ „Hatten Sie das Gefühl, hm, beispielsweise ausgehorcht zu werden?“ Der Beamte schien mit seiner Wortwahl nicht ganz zufrieden zu sein und verzog das Gesicht. „Ja, man könnte es so sagen“, entgegnete Fryda. „Er fragte mir Löcher in den Bauch, und ich hatte den Eindruck, daß es nicht dazu beiträgt, meine Probleme zu beseitigen.“ Beide Beamte strahlten. „So etwas hatten wir erwartet“, sagte einer. „Ich muß Ihnen sagen, Dr. Sörenson war ein Betrüger. Er war mehrmals vorbestraft wegen Delikten, die alle mit Hypnose zu tun haben.“ „Sie sagen, er war ein Betrüger. Heißt das, er...“ „Dr. Sörenson ist tot. Vermutlich starb 26
er heute nacht in den frühen Morgenstunden. Neben dem Toten fanden wir ein Messer, es könnte also ein Kampf stattgefunden haben. Spuren, die auf einen Mord hindeuten, konnten wir ansonsten keine feststellen. Aber einige Umstände gaben uns zu denken. Wir haben brennende Kerzen vorgefunden, defekte Lampen, eine Taschenlampe in seiner Hand, naja, es gibt alles wenig Sinn, wissen Sie.“ „Tut mir leid, Ihnen nicht weiterhelfen zu können“, brachte Fryda hervor. In ihrem Inneren tobte ein Strudel aus Gedanken. Der Doktor tot, die Polizei hier, der Traum in ihrer Erinnerung... „Kein Problem. Wir haben nichts anderes erwartet. Sie waren in seinem Notizbuch als neuste Patientin aufgeführt, deshalb sind wir auf Sie gekommen. Sie hätten ohnehin kein Motiv, ihn umzubringen. Wir rechnen mit einem Racheakt eines seiner früheren Opfer –
falls wir es wirklich mit einem Mord zu tun haben.“ Wie auf ein lautloses Kommando erhoben sich beide Männer. „Entschuldigen Sie, wenn wir Sie wegen diesen Fragen aus den Federn geholt haben.“ „Keine Ursache“, murmelte Fryda und begleitete die Beamten zur Tür. Sie war unendlich froh, daß sie nicht nach den Gründen für die Hypnosebehandlung gefragt hatten. Dann nämlich hätte sie ihnen eine Menge erzählen müssen, das sie sicherlich hätte stutzig werden lassen. Kaum hatte sie die Tür hinter den Polizisten geschlossen, tauchte eine Idee in ihr auf. Eigentlich hatte sie gestern abend schon einmal kurz daran gedacht, als Gunnar ihr berichtete, was er im Zeitungsarchiv über Sörenson herausgefunden hatte. Konnte sie nicht selbst versuchen, in dreiundzwanzig Jahre alten Zeitungen über die 27
Entführung nachzulesen? Mittlerweile war sie fest überzeugt davon, daß noch ein wichtiges Detail verborgen lag, das ihr ihre Mutter um keinen Preis verraten wollte. Wenn es bedeutsam genug war, um in die damaligen Zeitungsartikel aufgenommen zu werden, würde sie endlich die ganze Wahrheit erfahren. Sörensons Tod hatte sie nicht nur schockiert. Vielmehr hatte er ihr bewiesen, daß sie sich erstens den Schattenmann nicht nur einbildete, sondern daß er wirklich existierte, und daß sie zweitens schnell handeln mußte, um weitere Opfer zu retten. Letzte Nacht hatte der Schatten ihr einen weiteren Mann in einem sehr kleinen Zimmer gezeigt, bevor er Sörenson aufsuchte. Würde dieser der nächste Tote sein? Eilig zog sie sich um und schlang in der Küche rasch ein Butterbrot hinunter, um etwas im Magen zu haben. „Wo willst du denn so plötzlich hin?“
fragte Mutter perplex. „Bis eben hast du doch noch tief geschlafen. Und was wollte die Polizei von dir?“ „Ich verspreche, dir alles zu erklären. Aber erst muß ich ins Stadtarchiv. Ich muß unbedingt fündig werden, bevor sie schließen.“ Es geht um Leben und Tod, wollte sie noch hinzufügen, doch dann zügelte sie sich. Kaum hatte sie die Küche betreten, verließ sie sie auch schon wieder. Und als die Mutter bemerkte, daß sich ihre Tochter noch die letzten zwei Äpfel eingesteckt hatte, hörte sie schon den Anlasser des Autos. Da sollte noch jemand die junge Generation verstehen! Erst schliefen sie fünfzehn Stunden, dann nahmen sie sich nicht einmal Zeit zum Frühstücken... 6 Die Suche im Archiv gestaltete sich 28
einfacher als erwartet. Über einen großen Bildschirm konnte sie die Mikrofilme der alten Tageszeitungen einsehen. Nachdem ein Angestellter ihr die Benutzung des Geräts erklärt und einige Tipps zur Suche gegeben hatte, ließ sie ihre Augen zwanzig Minuten lang über die Zeitungsseiten gleiten. Nie hätte sie geglaubt, daß sie eines Tages ihre eigene Vergangenheit in der Zeitung nachlesen würde. Aber ihr war nun jedes Mittel recht. Sie hätte sogar einen Detektiv beauftragt. Doch so weit brauchte sie nicht zu gehen. Schwarz auf weiß lagen die Überschriften der Artikel vor ihr, die ihre Entführung dokumentierten. DREIJÄHRIGES MÄDCHEN AUS ELTERLICHEM GARTEN ENTFÜHRT ÜBERGABE DES LÖSEGELDES OFFENBAR GEGLÜCKT DIE KLEINE FRYDA ENGBRANT NOCH IMMER IN DER GEWALT DER VER-
BRECHER BALD ENDE DES ENTFÜHRUNGSDRAMAS? BLUTIGE WENDUNG IM ENTFÜHRUNGSFALL ENGBRANT Fryda hielt den Atem an. Die Schlagzeile verschwamm vor ihren Augen. Eine blutige Wendung? Mutter hatte nie etwas derartiges erwähnt. Wessen Blut war vergossen worden? Mit rasendem Puls begann sie den kurzen Artikel zu überfliegen. Im Entführungsfall der dreijährigen Fryda Engbrant gab es am Samstag eine neue Wendung. Die Polizei stieß bei ihrer Verfolgungsjagd auf die Leiche eines der beiden Entführer. Anders Briggen (48) wurde mutmaßlich von seinem Komplizen auf der Flucht erschossen. Die Polizei nimmt an, daß es zwischen den beiden Männern zu einem Streit kam, worauf Ulf Peterson (43) den Komplizen erschoß. Von Peterson und der entführten Fryda 29
fehlt nach wie vor jede genaue Spur. Der Bibliotheksraum drehte sich um Fryda. Sie mußte sich an der Tischplatte festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Hier lag das Geheimnis, von dem ihre Mutter nicht sprechen wollte, vermutlich, um ihrer Tochter noch schlimmere Alpträume zu ersparen! Einer der beiden Entführer war ums Leben gekommen, getötet von seinem Kompagnon! Es mußte in Frydas Beisein geschehen sein, wenn auch vielleicht nicht vor ihren Augen. Hatte ihr dieses Erlebnis einen solchen Schock versetzt, daß sie zwei Jahrzehnte später noch von Alpträumen geplagt wurde? Fryda verstand jetzt auch, weshalb sie manchmal von zwei Entführern träumte, manchmal nur von einem. Einige der Träume entstammten der Zeit vor Briggens Tod, die anderen der Zeit danach bis zur Festnahme Petersons durch die Polizei.
Aber auch jetzt waren noch nicht alle Unklarheiten beseitigt. Wer war der Schatten? Ein Dutzend Mal hatte sie sich die Frage schon gestellt, und noch immer fehlte ein winziges Stück der Wahrheit, um das gefährliche Puzzle zum komplettieren. Doch immerhin gab es nun einen Kandidaten, der für den Schatten in Frage zu kommen schien. Anders Briggen, den getöteten Entführer! Sein Rachegeist wollte den eigenen Tod sühnen. Nein. Fryda schüttelte entschieden den Kopf. Eine ältere Dame, die an dem Gerät neben ihr saß, schielte mißbilligend zu ihr herüber. Wenn der Schatten Briggens Rachegeist war, weshalb tötete er dann Sörenson? Und warum suchte er Zuflucht in Frydas Seele? Briggen und Sörenson waren tot – die beiden konnte sie nicht mehr fragen. 30
Wenn jemand Aufschluß über diese mysteriöse Angelegenheit geben konnte, war es Peterson. Sie hatte keine Ahnung, ob er sich noch in Haft oder inzwischen auf freiem Fuß befand. Aber das würde herauszubekommen sein. Aufgeregt ging sie in den Vorraum des Archivs, wo ein öffentliches Telefon stand. Der Uhrzeit nach mußte Gunnar jetzt im Lehrerzimmer seiner Schule zu erreichen sein. Sie kannte seinen Stundenplan auswendig, wußte auch, daß er heute keinen Nachmittagsunterricht hatte. „Gunnar“, sagte sie mit bebender Stimme, „wie finde ich heraus, ob ein gewisser Ulf Peterson in einem Gefängnis sitzt?“ „Ist das denn wichtig?“ fragte Gunnar etwas überrumpelt. „Sehr wichtig.“ „Dann finde ich es für dich heraus, mein Schatz. Ruf mich in einer halben Stunde
wieder an, geht das?“ 7 Die Haftvollzugsanstalt von Örebro lag in idyllischer Umgebung, eingebettet in grünende Weizenfelder. Der traumhafte Ausblick auf den Hjälmarsee, den man nur von der hohen Gefängnismauer aus genießen konnte, blieb wohl dem Wachpersonal vorbehalten. Fryda sah sich zum ersten Mal in ihrem Leben eine solche Anstalt bewußt an und fand sie heller, aber auch steriler als erwartet. Daß Gunnar den Aufenthaltsort von Ulf Peterson so rasch ausfindig gemacht hatte, war allein noch nicht verblüffend. Er hatte das naheliegende getan und als erstes in seiner Heimatstadt angefragt. Daß es ihm aber auf die Schnelle gelungen war, einen Besuchstermin zu erwirken, grenzte schon an ein Wunder. „Kein Wunder“, berichtigte Gunnar und hob belehrend den Zeigefinger, was 31
schon beinahe eine Berufskrankheit war, „sondern ein unglaublicher Zufall. Der Mann, den du suchst – und jetzt halt dich fest -, hat heute nach dir gefragt.“ „Nach mir?“ Fryda zog die hübsche Stirn kraus. „Ja, er bat einen ihm vertrauen Wärter, nach einer gewissen Fryda Engbrant zu forschen und sie auf dem schnellsten Wege zu ihm zu bringen. Natürlich hat ein Haftinsasse keinen Anspruch auf solche Leistungen. Deshalb hat man auch keinerlei Schritte unternommen. Erst, als mein Anruf kam, wurde man hellhörig.“ „Weiß man, in welchem... Verhältnis ich zu Peterson stehe?“ „Zuerst kam wohl niemand darauf, aber dann hat man die Akten hervorgekramt und dort deinen Namen gefunden. Seit der Sache sind immerhin 23 Jahre ins Land gezogen, das ist schon fast eine Generation.“ Am Eingangstor nahmen zwei
Wachbeamte sie zwischen sich und führten sie in ein Büro. Nachdem sie auf Waffen abgetastet worden waren und mit dem stellvertretenden Gefängsnisdirektor ein paar belangslose Worte gewechselt hatten, brachte man sie weiter ins Innere der Haftanstalt. Sie hatte in einem schmucklosen Raum platzzunehmen, der von zwei jungen Beamten kontrolliert wurde. „Gedulden Sie sich einen Augenblick“, meinte einer in hoher Jungenstimme. „Peterson wird gleich hereingeführt.“ „Ich dachte immer, man wird von den Insassen durch ein Gitter oder eine Glasscheibe getrennt“, wunderte sich Gunnar, dessen angeborene Neugier sich wieder regte. „Kommt darauf an. In manchen Fällen sehen wir es nicht für nötig an. Wenn ein Mensch 23 Jahre im Gefängnis verbracht hat und es nur noch drei Monate bis zu seiner Entlassung dauert, wird er sich 32
gewiß keine Dummheiten mehr erlauben. Das ist sicherer als der Sonnenuntergang morgen früh.“ Gunnar belohnte den netten Vergleich mit einem Lächeln. Eigentlich war ihm nicht nach Frohsinn zumute. Auf der Fahrt hierher hatte ihm Fryda von ihrer Entdeckung im Archiv und von Sörensons Tod berichtet. Das bedeutete, daß sie gleich einem Mörder gegenübersitzen würden, dem von Anders Briggen. Und was noch erschreckender war – ein zweiter Mörder, der von Dr. Sörenson, befand sich offenbar in Frydas Innerstem, in ihrer Seele, war sozusagen ihr zweites Ich. Gunnar konnte nicht umhin, an den Tod auf der Tarot-Karte zu denken... Hinter einer Tür entstand ein Geräusch. Schritte von mehreren Männern, ungeordnet und wirr. Manche kraftvoll und exakt, andere schlurfend und unregelmäßig. Wachbeamte brachten den Entführer.
In Fryda spannte sich etwas. In den Zeitungsartikeln, die sie am Mittag durchgegangen war, hatte es keine Photos von Briggen und Peterson gegeben. Und sie selbst hatte keine brauchbare Erinnerung mehr an die Gesichter der Männer. In dem Moment, als Ulf Peterson den Raum betrat, trafen sich sofort ihre Blicke. Für eine Sekunde musterte er sie, dann schien er ihrem Blick nicht mehr standhalten zu können und senkte den Kopf. So blieb er, auch als er sich drei Meter von Fryda und Gunnar entfernt auf einen Stuhl setzte. Die Beamten, die ihn hereingeführt hatten, verließen den Raum, die beiden anderen blieben. Der Entführer trug graue Sträflingskleidung, seine Hände steckten nicht in Handschellen, wie Fryda irrtümlich erwartet hatte. Er war klein und hager. Auf Fryda wirkte er wie irgend ein kleiner alter 33
Mann, der nichts besonderes an sich hatte. Nichts an ihm war auffallend, nichts böse, nichts verbrecherisch. Seine dünnen Haare waren ergraut, tiefe Falten durchzogen sein Durchschnittsgesicht. Wenn sein Alter in dem Zeitungsartikel korrekt angegeben war, mußte er heute 66 Jahre alt sein. Dies entsprach ungefähr seinem Äußeren. Fryda wurde sich erstmals bewußt, daß sie selbst der Anlaß war, daß dieser Mann mehr als ein Drittel seines Lebens hinter Gittern verbracht hatte. Gewiß, sie traf keine Schuld, sie war das Opfer. Und doch glaubte sie zu spüren, daß auch dieser Mann ein Opfer war, und auch Anders Briggen. Alle, die in ein Verbrechen verwickelt waren, trugen Wunden davon, ob Täter oder Opfer. „Vielen Dank, daß Sie gekommen sind“, sagte Ulf Peterson leise. „Ich wollte mit Ihnen sprechen“, entgegnete Fryda. „Ich vermag nur
schlecht zu erklären, warum, aber ich habe ein paar Fragen an Sie.“ „Zuerst möchte ich“, der Mann schluckte, „mich entschuldigen. Ich weiß, es klingt dumm und lächerlich, sich nach zwei Jahrzehnten für etwas so Schlimmes zu entschuldigen. Ich hätte Sie nicht einmal wiedererkannt, auf der Straße, meine ich. In meiner Vorstellung waren Sie immer noch drei Jahre alt, die ganze Zeit über, bis vorhin, als ich Sie sah.“ Er hielt seinen Blick starr auf den Boden gerichtet. „Sie – denken oft an mich?“ erkundigte sich Fryda. Der Verlauf, den das Gespräch jetzt schon nahm, verblüffte sie. „Ich träume von Ihnen“, erwiderte Peterson. „Ich muß Ihnen so viel Angst gemacht haben!“ Fryda zuckte die Schultern. Er konnte es wohl nicht sehen. „Ab und zu habe ich noch böse Träume“, gestand sie 34
wahrheitsgemäß, „aber ich kann damit umgehen. Es freut mich, daß wir heute miteinander reden können. Ich nehme Ihre Entschuldigung gerne an. Die Zeit wird wohl alle Wunden heilen.“ „Ja, sie heilt auch Dummheit“, flüsterte er dumpf. „Aber ich wollte etwas anderes wissen. Haben Sie einen Hypnotiseur namens Sörenson kennengelernt? Vielleicht auch unter anderem Namen. Er ist groß und...“ „Ich kenne ihn“, unterbrach Fryda. „Ich bin auf ihn hereingefallen. Aber ich verstehe nicht, woher Sie ihn kennen!“ Sie hatte wirklich nicht damit gerechnet, von dem Gefangenen auf Sörenson angesprochen zu werden. „Er war hier, im Knast. Nur zwei Monate, aber er hat mich tüchtig ausgefragt. Ich habe ihm von der Entführung erzählt und vom Lösegeld. Ich sagte, ich könne mich nicht mehr an den Ort erinnern, wo ich es verloren habe. Er
lachte nur und meinte, er würde es finden.“ Fryda nickte. „Daher hat er sich also mich als Ziel ausgesucht. Eines Morgens hatte ich eine Werbung im Briefkasten. Ich dachte, die ganze Stadt hätte die gleichen Zettel bekommen, aber offenbar hatte er es auf mich abgesehen.“ Plötzlich ruckte Petersons Kopf hoch. Fryda sah in wäßrige, charakterschwache Augen. „Weiß er, wo das Geld ist?“ „Er konnte es in meiner Erinnerung nicht finden. Entweder habe ich damals nicht mitbekommen, wo die Män-, wo Sie es versteckt haben, oder ich habe es einfach vergessen. Übrigens kann Sörenson es nicht mehr finden. Er ist tot. Ich glaube, er wurde letzte Nacht umgebracht.“ Jetzt sprang Ulf Peterson auf. Die beiden Beamten gingen einen Schritt auf ihn zu, griffen aber nicht ein. Mit hängenden Schultern verharrte er und 35
ließ sich schließlich wieder kraftlos in den Stuhl fallen. „Wer soll ihn denn umbringen?“ fragte er nachdenklich. „Eigentlich hatte ich gehofft, das heute von Ihnen zu erfahren.“ Frydas Stimme klang nicht so fest und zwingend, wie sie es sich gewünscht hätte. „Ich habe damit nichts zu tun.“ „Sie haben damals Anders Briggen getötet, nicht wahr?“ „Das ist über zwanzig Jahre her. Ich bereue diese Tat jeden Tag. Wir hatten Streit. Er wollte, daß wir uns der Polizei stellen, alles aufgeben und auf mildernde Umstände hoffen. Aber ich glaubte noch immer fest daran, daß wir es schaffen könnten. Wir hatten das Mädchen, ich meine, wir hatten Sie!“ „Haben Sie ihn vor meinen Augen erschossen?“ Trockenheit breitete sich in ihrem Mund aus, auch wiederholtes Schlucken
vertrieb sie nicht. „Um Himmels Willen, nein! Sie waren fast fünfzig Meter entfernt, schliefen. Wir gingen sogar zum Streiten von Ihnen weg, um Sie nicht zu wecken. Wir konnte ja nicht ahnen, daß es so weit kommen würde.“ Er vergrub den Kopf in den Händen und begann leise zu schluchzen. Die Beamten hörten interessiert zu. Offenbar war ihnen ein so spannendes Gespräch schon lange nicht mehr untergekommen. Vor Aufregung hatten sie beide ganz rote Ohren bekommen. In den Augen eines der beiden schimmerte es seit geraumer Zeit feucht. „Darf ich Ihnen eine ungewöhnliche Frage stellen?“ bat Fryda. „Bitte“, schniefte Peterson und versuchte sich wieder zu fangen. „Ich weiß, es klingt verrückt, aber... hatten Sie das Gefühl, daß Ihr Kollege sich an Ihnen zu rächen versucht, als Gespenst, meine ich, als Rachegeist?“ 36
Peterson richtete sich kerzengerade auf und stierte sie an, als sei sie selbst ein Wesen aus einer anderen Welt. „Also bin ich nicht übergeschnappt“, sagte er langsam, Wort für Wort einzeln betonend. „Ich habe von ihm geträumt. Nein, nicht geträumt. Er war bei mir, letzte und vorletzte Nacht. Er hat kein Wort gesagt, und er war schwarz wie die Nacht, aber ich wußte sofort, mit wem ich es zu tun hatte. Ich dachte, er komme, um mich zu töten. Zweimal hat er mich verschont. Ich bin überzeugt, in der nächsten Nacht holt er mich. Es ist Briggen. Er riecht nach Moder, nach Waldboden, oh mein Gott...“ Die Worte schossen aus ihm hervor, dann verebbten sie wieder, und er sank erneut in sich zusammen. „Wollten Sie mich deshalb zu sich rufen?“ fragte Fryda tonlos. „Ja, ja! Sie waren damals dabei. Ich dachte, Sie könnten mir helfen. Nicht
wahr, er war es, der Sörenson getötet hat? Weil Sörenson es auch auf das Geld abgesehen hatte. Er war wie eine Art verspäteter Komplize von mir. Anders Briggen hat sich zuerst an ihm gerächt. Der nächste werde ich sein.“ „Wenn ich nur wüßte, was ich tun soll“, stöhnte Fryda hilflos. „Er ist in mir. Briggen hat sich irgendwo in meinem Inneren eingenistet. Er lebt in meinen Träumen, aber erst, seit Sörensons Hypnose ihn geweckt hat.“ Sie unterbrach sich, als sie feststellte, wie verworren ihre Worte klingen mußten. Ein Schwindelgefühl erfaßte sie, zunächst wie eine leichte Übelkeit, dann allmählich stärker werdend. Sie griff sich an den Kopf, spürte, wie eine Hitzewelle sie durchlief. Die beiden Beamten behielten Peterson im Auge, und dieser fixierte wiederum den kalten Linoleumfußboden. Nur Gunnar, der die ganze Zeit über 37
schweigend zugehört hatte, beobachtete Fryda. Und nur er erkannte die Veränderung, die in diesen Momenten mit ihr vorging! Der Körper der jungen Frau versteifte sich, ihr Kopf ruckte in den Nacken, und ihr Mund öffnete sich weit. Ein fernes Stöhnen drang aus ihrer Kehle, und Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn. Der Gedanke an einen epileptischen Anfall streifte durch Gunnars Gehirn, aber instinktiv spürte er, daß etwas anderes mit seiner Verlobten geschah. Sie fiel in eine Art Trancezustand. Ein Zustand, in dem sich das zeigen konnte, was sonst nur die Freiheit erlangt, wenn sie gerade träumte. Jetzt fiel es auch den Wachbeamten auf, aber sie waren so grün und unerfahren, daß sie keinen Finger zu rühren vermochten. Peterson sprang auf, als ihm ein leichter Geruch von Moder in
die Nase drang. In der hintersten Ecke des Raumes, drei Schritte von einem der Wachmänner entfernt, formierte sich ein schwarzes Etwas. Es entstand aus einem dunklen Punkt in der Luft und breitete sich nach allen Seiten aus, bis es die Umrisse eines Menschen angenommen hatte. Schattenfetzen umwehten es, sein Gesicht war kaum zu erkennen, unter den strähnigen schwarzen Haaren, die wie Schlingpflanzen waberten. Vier Augenpaare waren auf die Erscheinung gerichtet. Nur Fryda, deren weit aufgerissene Augen an die Decke starrten, sahen es nicht. Nicht direkt zumindest, denn sie träumte die Situation in diesem Augenblick völlig identisch, erblickte sie mit den Augen ihrer Seele. Anders Briggen, oder sein Gespenst, machte einen Schritt in Richtung seines ehemaligen Komplizen, der auch sein Mörder war. 38
Gunnar spürte, daß es keinen Zweck haben würde, das Geschöpf anzugreifen. Er hatte gesehen, wie es aus dem Nichts entstanden war, und er hatte von Fryda erfahren, daß es Sörenson getötet hatte, ohne Spuren eines Kampfes zu hinterlassen. Vermutlich war schon seine Berührung tödlich. Aber es mußte einen Weg geben! Er war nicht bereit, zuzusehen, wie es Peterson umbrachte. Seine Gedanken wirbelten fieberhaft. Wie war das Geschöpf entstanden, wie in Frydas Geist geraten? Wann wurde ein Rachegeist geboren? Im Moment des Todes. Als Peterson seinen Komplizen erschoß, löste sich dessen Seele vom Körper und wurde zum Rachegespenst. Aber wenn die Seele es geschafft hatte, zum körperlosen Geist zu werden, warum vernichtete sie den Mörder dann nicht auf der Stelle? Warum wartete sie zwei Jahrzehnte, um die Rache zu vollenden? Es gab nur eine Antwort: Weil sie
jemand daran hinderte. Weil jemand den zweiten Mord nicht zulassen wollte. Und wer war diese Person? Auch dafür kam nur ein Mensch in Frage. Der einzige nämlich, der sich in diesen schrecklichen Sekunden in der Nähe der beiden Entführer aufhielt. Fryda! Die kleine, dreijährige Fryda war von dem Schuß geweckt worden, den Peterson auf Briggen abgab. Sie erschrak und versuchte sich zu orientieren. Kurz darauf spürte sie die Anwesenheit von etwas Bösem, Haßerfülltem. Ganz in ihrer Nähe wurde ein Rachegeist geboren. Sie begriff nicht, worum es ging, was passiert war. Aber sie fühlte, daß dieses körperlose Seelenwesen, das bis zum Bersten gefüllt war mit Zorn und Haß, im Begriff war, einen Menschen zu töten. Und dieses konnte sie nicht zulassen. Also hielt sie das Gespenst auf. An dieser Stelle drohte Gunnars 39
Gedankengang in sich zusammenzufallen wie ein Kartenhaus. Vor den Augen des Mannes wich gerade Peterson vor dem Schatten zurück. Der Abstand vergrößerte sich für einen Augenblick, aber da stieß Peterson auch schon gegen die Wand. Der Schatten kam wieder näher, unerbittlich. Gleichzeitig zerbrach sich Gunnar den Kopf, wie ein dreijähriges Mädchen einen Rachegeist aufzuhalten vermochte. Es war schlicht und einfach unmöglich. Es sei denn... ...es sei denn, das Mädchen gehörte einer Familie an, deren weibliche Mitglieder übersinnliche Fähigkeiten besaßen! Das Mädchen würde intuitiv von diesen Kräften wissen, sie alle zusammennehmen, um das Böse zu bannen. Nein, bannen konnte sie es nicht. Dazu reichte ihre Macht nicht. Sie konnte es nur - - einsperren, wie man ein
wildes Tier einsperrt. „Fryda!“ schrie Gunnar. Denk an die Kiste!“
„Die
Kiste!
8 Fryda war wieder ein kleines Mädchen. Ihre Ohren schienen zu zerplatzen von dem donnernden Schuß, der durch den Wald dröhnte. Und kaum war das Echo des Schusses verhallt, schwebte eine Wolke des Unheils in der Luft. Sie bebte vor Energie und vor Rachegier. Fryda hatte in ihrem kurzen Leben noch nie etwas so Furchterregendes gespürt. Alle Tränen, die sie vergossen hatte, alle Schmerzen, die sie empfunden hatte – all das verblaßte neben diesem schrecklichen Geschöpf. Man mußte es einfangen, bevor es Schaden anrichten konnte. Mutter hatte einmal eine Ratte in einer Holzkiste gefangen. Eine Holzkiste müßte man haben, dann konnte man das unheilvolle 40
Wesen vielleicht einsperren! Die kleine Fryda sah sich nach allen Seiten um. Wohin sie blickte, nur Blätter, Büsche, Bäume, keine Kiste. Es blieb ihr nur eine Möglichkeit: Sie mußte sich eine Holzkiste wünschen, ganz, ganz fest mußte sie es wollen. Mutter sagte, was man sich ganz fest wünschte, würde auch in Erfüllung gehen. Immer. Ganz bestimmt. Sie wünschte sich eine Kiste mehr als alles in der Welt! Mehr als sie sich wünschte, Vati und Mutti wiederzusehen. Sie mußte einfach dieses böses Wesen einsperren, bevor es ein Unglück heraufbeschwor! Die Kiste war da. Plötzlich war sie mitten in ihrem Kopf. Für kleine Kinder bedeutet Phantasie etwas Festes, Verläßliches. Was man sich vorstellt, kann man haben. Puppen können vor den Augen eines Kindes zum Leben erwachen, ein Planschbecken kann zum Ozean werden, ein Versteck unter der Bettdecke
zu einem Märchenschloß. Kinder haben noch nicht gelernt, die Phantasie abzutun als etwas Trügerisches, Falsches. Für sie ist sie nichts als eine Form der Wirklichkeit... Der böse Geist tobte, als er die Gefahr spürte, denn sie kam aus einer Richtung, aus der er keine Bedrohung erwartet hatte. Er hatte das Mädchen nicht einmal wahrgenommen. Er lebte nur für seine Rache. Ein paar Sekunden noch, und er würde die Vergeltung vollziehen, und damit würde auch sein kurzes Dasein ein Ende haben. Ganz selten nur reichte die Energie eines Sterbenden aus, sich an seinem Mörder zu rächen. Eine Seele unter Hunderttausenden schaffte es. Anders Briggens Seele war von einer solchen Stärke erfüllt. Es war eine Seele, die im Leben viel gelitten hatte, die viele dunkle Zeiten durchstanden, tiefe Täler durchwandert hatte. All dieses Leid war es, das sie hart und unbeugsam machte. 41
Dieser Geist, dieser eine unter Zahllosen, hatte die Macht zur Rache. Und ausgerechnet diese Seele traf auf eine noch größere Kraft, die sie in ihre Schranken zwang. Fryda wußte nicht, wie ihre Waffe in Briggens Augen aussah. Für sie war es nur eine kleine, morsche Holzkiste, die den Rachegeist anzog wie ein Strudel. Anders Briggens Seele kämpfte, stemmte sich gegen die unerwartete Macht. Sie wollte nicht gefangen werden. Ein Leben lang war sie gefangen gewesen in einem Körper, der ihr nur Unglück gebracht hatte. Doch die magischen Kräfte in Frydas Familie waren stärker. Es war die Macht nicht eines einzelnen Menschen, sondern die einer ganzen Sippe, eines alten Geschlechts, das in seiner Abstammung bis auf die mutigen Wikinger zurückging. Mehr über diese Kraft und ihren Ursprung würde Fryda nie erfahren.
Der Rachegeist verschwand zappelnd und schreiend in der Kiste, und bevor er einen Fluchtversuch unternehmen konnte, schnappte der Deckel zu. Fryda, deren kleiner Kopf unter der Konzentration zu zerplatzen schien, begrub die Kiste in ihrer Phantasie tief im feuchten Waldboden, wo sie niemand finden würde. Einige Minuten lang verharrte das Bild in ihrem Innern, dann öffnete sie die Augen und sah Ulf Peterson. Er schwankte mit zitternden Gliedern auf sie zu. Der Schock der eigenen Tat steckte in seinen Knochen und ließ ihn von Innern heraus erschaudern. „Komm, mein Schätzchen“, murmelte er, und seine Stimme bebte bis zur Unverständlichkeit. „Wir gehen schnell weg von hier.“ Er hoffte, daß das Mädchen nicht mitbekommen hatte, was vorgefallen war. Vor ihr schämte er sich mehr für 42
seine Tat als vor Gottes Auge. In Wirklichkeit aber war er selbst derjenige, der nicht verstand, was geschehen war. Daß dieses kleine Mädchen soeben sein Leben gerettet hatte...
Peterson schrie nicht, obwohl der Dunkle nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt war. Aber jemand schrie. Es war Gunnar. „Die Kiste!“ brüllte er. Fryda verstand sofort, was er meinte. Wozu sie damals als Kind fähig gewesen war, das konnte sie auch heute wieder vollbringen. Ohne die Augen zu schließen, konzentrierte sie sich auf die Kiste. Sie war über zwanzig Jahre in ihr gewesen, ein Produkt ihrer Phantasie und ihrer übernatürlichen Kräfte. Auch jetzt mußte sich noch vorhanden sein! Aber wollte sie den Schatten überhaupt wieder einsperren? War es nicht besser, ihn seine Rache vollziehen zu lassen? Darauf hatte er schließlich all die Jahre gewartet. Und war es nicht sein gutes Recht, Vergeltung an seinem Mörder zu üben? Fryda starrte Gunnar fieberhaft an. Wie sollte sie sich verhalten? Es gab zwei Alternativen: Entweder sie
9 Fryda riß die Augen auf. Wieder war es Ulf Peterson, den sie zuerst wahrnahm. Und wieder zitterte der Mann vor Angst und Verwirrung. Doch diesmal bildete nicht der undurchdringliche Wald die Kulisse, sondern ein schmuckloser Raum in der Haftanstalt von Örebro. Aus Fryda war eine junge Frau geworden, aus Peterson ein hagerer alternder Mann. Und der Rachegeist des Anders Briggen, der zwei Jahrzehnte in einer aus Geisteskraft erschaffenen Kiste gesessen hatte – tief in Frydas Seele und in stickigem Waldboden zugleich – war zu einem düsteren Schattenwesen herangewachsen. 43
ließ Briggens Geist gewähren und befreite sich damit endlich von dem Schatten. Das bedeutete einen ruhigen Schlaf, keine Alpträume, kein dunkles Geheimnis mehr in ihrem Herzen. Oder sie sperrte den Schatten wieder in sein modriges Gefängnis, vorausgesetzt, sie hatte die Kraft dazu. Damit rettete sie Peterson das Leben. Aber der dunkle Geist blieb gefangen in ihrem Innern, für immer in ihr, wie eine stumme zweite Seele. Laß Peterson sterben! riet eine Stimme in ihr. Er ist ein Mörder, er hat es nicht anders verdient. Er hat kein Recht, Gnade zu verlangen. Aber du hast ein Recht auf Freiheit, auf Frieden. „Nein!“ Fryda schrie das Wort gellend, und es war ihr, als zuckte sogar der unheimliche Schatten unter ihrem Schrei zusammen. Ihre Entscheidung fiel in letzter Sekunde, bevor es zu spät war.
Vor ihren Augen erschien die Kiste. Sie schwebte mitten im Raum, und diesmal konnte nicht nur sie alleine sie sehen. Die Wachbeamten, Gunnar, Peterson und auch der Schatten, alle hatten die Augen auf den hölzernen Gegenstand gerichtet. Mit einem dunklen Schatten in der Seele konnte man leben, nicht aber mit der Schuld, den Tod eines Menschen verursacht zu haben. Fryda kam plötzlich zu dieser Erkenntnis, und sie wunderte sich, wie sie überhaupt hatte zögern können! Ein Sog entstand im Innern der Kiste, wie ein heulender Sturm. Unwillkürlich hielten sich die Männer im Raum fest und stemmten sich dagegen an, doch der Strudel erfaßte sie nicht. Er hatte nur ein einziges Ziel – den Schatten! Für einen Moment glaubte Fryda, seine Hände hielten Petersons Hals schon umklammert, doch sie hatten lediglich den Kragen seines Hemdes zu fassen 44
bekommen, als der Sog den schwarzen Körper erfaßte. Die Fetzen von Dunkelheit, die den Körper einhüllten, peitschten wie die Äste einer Trauerweide im Wind, lösten sich Stück für Stück und wurden von der Kiste verschluckt. Wie lange das Schauspiel währte, vermochte später niemand zu sagen. Es konnten Sekunden, ebenso aber auch Stunden vergangen sein. Die Kiste schloß sich klappernd hinter dem letzten Schattenfetzen. Einen Augenblick schwebte sie noch dort, schließlich verblaßte sie und verschwand. Wo Fryda sie in ihren Gedanken diesmal vergraben hatte, wußte niemand außer ihr. Gunnar und Peterson ahnten, daß sie die Kiste nun wieder verschlossen in sich trug, ganz wie früher, bevor Dr. Sörensons Hypnose sie unabsichtlich geöffnet hatte. Die beiden Beamten sanken völlig durcheinander auf zwei Stühle nieder, und Ulf Peterson setzte sich gleich neben
sie. Auf seiner Stirn stand noch der Angstschweiß, und Tränen rannen in Strömen über seine Wangen. Er schämte sich vieler Dinge, die er in seinem Leben getan hatte, aber dieser Tränen der Reue und Erleichterung schämte er sich nicht. „Danke“, sagte er nach einer Weile tonlos. „Ich hatte geglaubt, Sie würden zulassen, daß er mich tötet. Es wäre Ihr gutes Recht gewesen.“ „Anders Briggens war gekommen, um Rache zu nehmen, nicht ich!“ entgegnete Fryda, die selbst noch nicht ganz begreifen konnte, was eigentlich geschehen war. „Wenn mir ein Menschenleben nichts bedeutete, hätte ich damals als kleines Mädchen nicht eingegriffen.“ „Sie haben mir zweimal das Leben gerettet“, flüsterte Peterson. „Dabei hätten Sie ihn nur gewähren lassen brauchen, um ihn für immer loszuwerden.“ 45
Fryda suchte Gunnars Hand und drückte sie. Sie begriff nur eines: daß sie die richtige Entscheidung getroffen hatte, und diese Gewißheit erfüllte sie mit einer tiefen, stillen Freude. „Der Schatten wird in mir ruhen, mir höchstens dann und wann ein paar Alpträume bringen. Die Schuld am Tode eines Menschen würde mich mein ganzes Leben lang nicht zur Ruhe kommen lassen. Meine eigene Todesstunde wird einst auch die Todesstunde von Anders Briggen sein. Erst, wenn ich sterbe, wird er erlöst werden. Vorher darf ich ihn nicht in die Freiheit entlassen.“ Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie mit ernster Miene und geschlossenen Augen hinzufügte: „Ich hoffe, du kannst dich noch etwas gedulden, Anders Briggen...“
Gunnar eng umschlungen auf der Treppe vor Frydas Elternhaus. Es war genau die Stlle, an der das Mädchen vor 23 Jahren von den beiden Männern entführt worden war. Die Mutter werkelte neben ihnen im Garten. Seit die böse Geschichte mit Briggens Rachegeist ausgestanden war, schliefen sie alle wieder besser, und Mutters Sorgenfältchen schienen sich jeden Tag ein wenig zu glätten. Die beiden Verlobten sprachen nicht mehr viel von den unheimlichen Geschehnissen. Es half niemandem, die Ereignisse fortwährend durchzukauen. Stattdessen redeten sie lieber über die Zukunft. Sie wollten so schnell wie möglich heiraten, nun, da Fryda mit sich ins Reine gekommen war. Während sie Zukunftspläne schmiedeten und den ziehenden Wolken nachsahen, hielt plötzlich ein Fahrrad vor dem Eingangstor. Der Briefträger war auch hier, wie in vielen skandinavischen
10 Drei Tage später saßen Fryda und 46
Ländern, meist auf dem Drahtesel unterwegs. „Na, ihr zwei Verliebten?“ neckte er die beiden. „Darf ich bald Einladungen zur Hochzeit austragen?“ Gunnar und Fryda ertappten sich dabei, wie sie beide ernst nickten, anstatt eine witzige Antwort zurückzugeben. Der Postbote schien ihre Gedanken gelesen zu haben. „Heute habe ich nur einen Brief für das Fräulein Engbrant.“ Fryda nahm die Post entgegen und versuchte, den Absender an der Schrift zu erkennen. Doch sie hatte kein Glück. Nicht einmal ein Absender war auf dem Umschlag vermerkt. Geschickt schlitzte sie den Brief mit einem Fingernagel auf. Zum Vorschein kamen zwei Blätter – auf einem schien eine Art primitiver Landkarte gezeichnet zu sein, das andere enthielt einige wenige geschriebene Zeilen. Sie reichte Gunnar schulterzuckend die Karte und las den
kurzen Text laut vor. „Liebe Fryda. Vielleicht darf ich Dich, die Du ja meine Lebensretterin bist, so nennen. Jetzt, wo Du nicht mehr vor mir stehst, sehe ich Dich wieder als kleines Mädchen. Keine Entschuldigung und kein Dank wäre angemessen. Aber ich möchte versuchen, wenigstens einen winzigen Teil des Unheils wiedergutzumachen, das ich angerichtet habe. Als ich Sörenson im Gefängnis sagte, ich würde den Ort des Lösegelds nicht kennen, habe ich ihn belogen. Beiliegend findest du einen Lageplan von der Stelle, an der ich das Geld damals versteckt habe. Es gehört Dir und Deiner Familie. Wenn Du es nicht findest, warte bis in drei Monaten. Sobald ich entlassen werde, kann ich es für Dich holen. Auf ewig in Deiner Schuld, Ulf Peterson.“ Fryda wußte nicht, wie sie auf den Brief reagieren sollte. Reglos starrte sie ins Leere, warf nicht einmal einen Blick auf 47
die Karte. „Freust du dich nicht?“ fragte Gunnar vorsichtig an, als er bemerkte, wie betroffen der Brief seine Verlobte gemacht hatte. „Ich weiß nicht. An das Geld habe ich schon nicht mehr gedacht. Es ist mir unwichtig erschienen, nach alldem, was geschehen ist.“ „Aus seiner Sicht ist es sehr bedeutsam, weil es seine einzige Chance ist, einen Bruchteil seiner Schuld zu sühnen. Und für ihn gibt es nichts Wichtigeres als das.“ Fryda nickte gedankenvoll. Sie dachte an alles mögliche. An frohe und an traurige Dinge. Und an die Bedeutung des Geldes. Zwei Millionen Kronen, im Waldboden vergraben, hatten Schicksale verändert. Ihr Vater, ihre Mutter, sie selbst, Ulf Peterson, Anders Briggen und Dr. Sörenson – alle ihre Schicksale waren mit dem Geld verbunden. Und was war es
wirklich wert? Sie würden in den nächsten Tagen in den Wald fahren und danach suchen. Und wenn sie es in ihren Händen hielten, würden sie vielleicht spüren, daß es ein zu billiger Preis gewesen war für das Unglück, das es ihnen allen gebracht hatte...
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