John Roscoe Craig Das Geisterschiff
1. Philip Hasard Killigrew spürte die Spannung fast körperlich, die bei den Männer...
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John Roscoe Craig Das Geisterschiff
1. Philip Hasard Killigrew spürte die Spannung fast körperlich, die bei den Männern seiner Crew herrschte. Die meisten zuckten zusammen, als der schwere Stockanker am Bug der Zweimast-Galeone ins Wasser klatschte. Der Laut hatte etwas Endgültiges an sich. Dem Seewolf selbst war auch nicht recht wohl in seiner Haut, aber er versuchte, das Gefühl mit einem verwegenen Lächeln zu überspielen. Sein Blick glitt über die weite Bucht, in der mehr als zwei Dutzend Galeonen aller Größen vor Anker lagen. Die grelle Nachmittagssonne beschien die roten Dächer der großen, befestigten Stadt, die die Bucht beherrschte, und ließ sie glänzen wie pures Gold. Panama. Der Goldene Becher. So wurde diese Perle der Spanischen Krone genannt. Dieser Becher nahm sie auf, die unermeßlichen Schätze Mexicos, Perus und Chiles. Das Silber der Azteken und Mayas, das Gold der Inkas und die Perlen von den Ufern Dariens. Der Seewolf war sich darüber im klaren, welch gefährliches Spiel er trieb, indem er hier in der Bucht von Panama seinen Anker zu Wasser rauschen ließ. Der Anblick der tiefliegenden Galeonen schien ihm jedes Risiko wert, aber was nutzten ihnen alle Schätze dieser Welt, wenn er und seine Männer im Würgeeisen der Spanier starben? Der Seewolf verdrängte die Gedanken an die Gefahr. Sie fuhren in diesen Gewässern, um dem Feind Schaden zuzufügen
und gleichzeitig reiche Beute zu erkämpfen. Er wußte, daß das Risiko kleiner war, als die Männer der ›Isabella‹ annahmen. Am verschnörkelten Heck der kleinen Galeone prangte in Goldbuchstaben der alte Name ›Valparaiso‹. Na also. Sie waren ein spanisches Schiff aus dem chilenischen Hafen Valparaiso. Mit dem Seewolf, Ben Brighton, Karl von Hutten und dem Franzosen Jean Ribault hatten sie vier Männer an Bord, die fließend Spanisch sprachen. Wer sollte schon Verdacht schöpfen? Sicher war die Nachricht, daß der gefürchtete ›El Draque‹ plündernd an der Westküste der Neuen Welt nach Norden segelte, auch schon bis Panama gelangt, aber was konnte der verfluchte Engländer einer Stadt wie Panama schon antun? Die Beherrscher Panamas waren nicht mehr die grausamen und gierigen Eroberer der ersten Jahre. Die fettleibigen Kaufleute, die sich ihre Taschen mit dem Gold der alten Völker vollstopften, schwangen jetzt das Zepter. Sie hatten die Stadt zu einer uneinnehmbaren Festung ausgebaut. Dabei hatte ihnen die geographische Lage Panamas geholfen. Auf der Ostseite lag ein riesiges Sumpfgebiet, das als undurchdringlich galt. Der einzige Pfad hinüber an die Karibische See führte über schmale Pässe, die von wenigen Soldaten gehalten werden konnten. Auf der Westseite schützte sie das Meer - und auf diesem Meer fuhren keine feindlichen Schiffe. Der Seewolf hatte die Ahnungslosigkeit der Spanier mit einkalkuliert. Wer würde schon beim Anblick seiner kleinen Galeone, die den Namen ›Valparaiso‹ führte, auf den Gedanken verfallen, ein Feind hätte sich wie ein Wolf zwischen die Schafsherde geschlichen? Die Männer in der Kuhl teilten Hasards Optimismus nicht. Nur wenige Männer befanden sich an Deck. Unter der Back saßen der Kutscher, Batuti und Smoky. Am Spillgang standen Blacky, Sam Roskill und Karl von Hutten, der sich seine Haare dunkel gefärbt hatte und die Befehle weitergeben sollte, falls
Hasard oder Ben Brighton den Männern in der Kuhl Anweisungen geben mußten, während ein Spanier an Bord der ›Isabella‹ war. Gordon Watts, der dürre, verschlagene Engländer, lehnte an der einen Steuerbordkanone und starrte zur Stadt hinüber. Hasard beobachtete ihn schon eine ganze Weile. Er wußte nicht, woran es lag, aber er traute dem Mann nicht über den Weg. Wenn er eine Gefahr bei diesem gewaltigen Unternehmen sah, so nicht bei den Spaniern, sondern bei diesem undurchschaubaren kleinen Mann, dem Hasard ohne weiteres zutraute, daß er sie für ein paar Silberlinge an die Spanier verriet. Hasard hätte Watts am liebsten zu den anderen unter Deck geschickt, aber er hatte nun mal befohlen, daß sich die Dunkelhaarigen an Deck zeigen sollten. Er konnte schlecht Watts davon ausschließen, ohne dessen und das Mißtrauen der anderen Männer zu erwecken. Neben Hasard stand Ben Brighton. Er trug eine Perücke über seinem dunkelblonden Haar. Der Franzose Jean Ribault stand ihnen gegenüber an der Backbordreling und starrte zur Stadt hinüber, wo sich eine Schaluppe von der Hafenmauer gelöst hatte und auf die ›Valparaiso‹ zugepullt wurde. Ein leiser Pfiff schallte vom Großmars herunter. Das pfiffige Gesicht von Dan O’Flynn erschien über dem Rand des Mars. Hasard blickte hoch. »Was ist los, Arwenack?« rief er. »Ach, du bist’s, Dan! Ich hab dich im ersten Moment gar nicht erkannt.« Das Bürschchen fluchte unterdrückt. Er wagte nicht, laut zum Deck zu rufen. Er wies zur Stadt hinüber, und nun sah auch Hasard die Schaluppe. Ben Brighton preßte die Lippen aufeinander und fuhr nervös mit dem Zeigefinger der rechten Hand unter die Perücke. »Deine verdammten Einfalle«, murmelte er. »Kannst du nicht
wie jeder vernünftige Korsar ein Schiff auf See überfallen? Immer muß es etwas Besonderes sein, sonst bist du nicht zufrieden.« Der Seewolf grinste verwegen. »Kannst du mir sagen, wie du draußen auf See so viele vollgestopfte Schiffe auf einem Haufen finden willst?« erwiderte er. »Hier brauchen wir nicht lange zu suchen. Wir schnappen uns die dicksten Fische und segeln einfach davon, wenn wir genug haben.« Ben Brighton stöhnte. »Das hört sich an, als würdest du in Nachbars Garten Äpfel klauen wollen«, sagte er. »Du kannst mir glauben, daß ich dabei damals mehr Angst hatte als heute.« Hasard wandte sich von Ben ab und gab Karl von Hutten einen Wink, daß die Männer in der Kuhl sich auf den Besuch der Spanier vorbereiten sollten. Die Kanonen und Drehbassen der ›Isabella‹ waren geladen. Die Galeone des Seewolfs war praktisch gefechtsbereit. Man konnte schließlich nicht wissen, ob nicht gerade der Hafenkommandant von Panama ein außergewöhnlich schlauer Fuchs war. * Als der Bug der Schaluppe mit einem dumpfen Laut gegen den Rumpf der ›Isabella‹ stieß, wußte der Seewolf, daß sie von dem Hafenkommandanten nichts zu befürchten hatten. Er kannte diesen Typ zur Genüge. Ein pomadiger, fetter Kerl, der nach oben buckelte und nach unten trat. Die grobporige Haut des Spaniers war von der Anstrengung gerötet, als er über das Schanzkleid an Deck stieg. Die Hängebacken und das Doppelkinn wabbelten im Gleichklang. Ben Brightons Mundwinkel zogen sich nach oben. Er stand abwartend an der Quarterdeckgalerie und beobachtete, wie der Seewolf den Spanier begrüßte und mit einer Handbewegung
zur Kapitänskammer geleitete. Ben Brighton begrüßte den Begleiter des Hafenkommandanten, einen blaßgesichtigen, dürren Jungen, der als Schreiber fungierte, mit einem leichten Kopfnicken. Sie folgten dem Hafenkommandanten und dem Seewolf, der angeregt mit dem fetten Spanier plauderte. Hinter sich hörte Hasard Ben Brighton etwas zu dem dürren Jungen sagen. Bens Stimme zitterte etwas, aber das nahm nur Hasard wahr. Er lächelte. Er wußte, daß Ben Situationen wie diese haßte. Lieber hing er mit einem Entermesser quer im Mund an einer Brasse und ließ sich zu einem feindlichen Schiff hinüberschwingen. »Wir haben keinerlei Botschaft erhalten, daß Sie mit Ihrem Schiff auf dem Weg nach Panama sind, Senor«, sagte der Hafenkommandant mit quengeliger Stimme. »Wer sind Sie, und welche Fracht bringt Ihr Schiff nach Panama?« Hasard verbeugte sich leicht. Ben Brighton sah, wie es in Hasards Augen aufblitzte. Wahrscheinlich trieb das überhebliche Auftreten des Hafenkommandanten die Galle in Hasard hoch. Er ging um den Schreibtisch herum und setzte sich, ohne dem Spanier einen Stuhl anzubieten. »Sie konnten auch keine Benachrichtigung erhalten, Senor«, sagte Hasard scharf. »Denn die ›Valparaiso‹ ist mit einem geheimen Auftrag des Gouverneurs von Chile unterwegs.« Der Mund des fetten Spaniers öffnete und schloß sich wie der eines Frosches. Auf eine Handbewegung von Hasard hin ließ er sich auf den Stuhl fallen, der vor dem Schreibtisch stand. Hasard öffnete die Schublade des Schreibtisches und holte ein Papier heraus, das er dem Hafenkommandanten reichte. »Mein Name ist Diaz de Veloso«, sagte er. »Sie sehen anhand des Dokumentes, daß die ›Valparaiso‹ im Geheimauftrag des Gouverneurs von Chile ein englisches Kaperschiff jagt, das im Südmeer gesichtet wurde.« »›El Draque‹?« flüsterte der Spanier. Der Seewolf hob die Schultern.
»Ich halte das für ein Gerücht«, sagte er und versuchte den blasierten Gesichtsausdruck eines spanischen Adligen nachzuahmen, was ihm blendend gelang, wie Ben Brighton erstaunt feststellen mußte. »Falls es dieser Drake sein sollte, so müßte er mit seinem Schiff die Magalhaes-Straße durchfahren haben. Trauen Sie das einem Engländer zu?« »Nie!« antwortete der fette Spanier voller Überzeugung. »Ich nehme vielmehr an, daß es sich um Piraten handelt, die auf dem Landwege an diese Küste gelangt sind und sich irgendwo ein Schiff besorgten. Damit sind sie dann die Küste hinunter gefahren und haben unsere Schatzschiffe geplündert. Sie stießen nirgends auf großen Widerstand, weil kein Kapitän damit rechnete, in diesem Meer einem Feind zu begegnen.« Der fette Spanier nickte heftig. »So wird es sein, Captain de Veloso«, sagte er schnaufend. »Darf ich Ihren Namen auch erfahren?« fragte Hasard mit hochgezogenen Brauen. Der fette Spanier blickte Havard von unten herauf an, als ob es ein Sakrileg sei, seinen Namen nicht zu kennen. »Ich bin Alfonso de Roja, Hafenkommandant Seiner Majestät edler und höchst treuer Stadt Panama.« Er sagte es, als deklamiere er die Ode eines großen römischen Dichters. Der Seewolf ließ sich nicht beeindrucken. Er nahm dem Hafenkommandant das Dokument aus der Hand, das er im Schreibtisch seines spanischen Vorgängers gefunden hatte und auf dem sich sein ganzer Plan aufbaute, und stopfte es zurück in die Schublade. »Es ist zwar völlig unwahrscheinlich, daß es sich um ›El Draque‹ handelt, den wir jagen, aber ganz auszuschließen ist es nicht«, sagte Hasard. De Roja zuckte regelrecht zusammen. »Besteht die Gefahr, daß er Panama angreift?« fragte er erschrocken, und seine Fettpolster im Gesicht begannen vor Aufregung zu wabbeln.
»Wer weiß«, sagte Hasard. »Wir haben nur erfahren, daß er nach Norden segelt. Wir werden in den nächsten Tagen vor dieser Bucht kreuzen und einen Angriff zu verhindern wissen, falls ein solcher geplant ist. Außerdem haben wir die Aufgabe, die Silbergaleone ›Nuestra Senora de la Conceptiõn‹ vor einem Angriff zu schützen. Leider haben wir sie nicht mehr einholen können. Liegt sie vielleicht schon hier in der Bucht vor Anker?« Ben Brighton hielt den Atem an. Er sah, wie die anfängliche Vorsicht aus Hasards Gesicht gewichen war. Nun wurde er frech. Er wußte, daß die Silbergaleone niemals Panama mit ihrer Silberladung anlaufen würde. Sie war nach der Kaperung durch die ›Golden Hind‹ und die ›Isabella‹ geradewegs auf die Küste von Peru zugelaufen. Wußte de Roja vielleicht schon von dem Überfall? Zum Glück war die Kunde noch nicht bis Panama gedrungen. De Roja saß bleich und zitternd vor dem Schreibtisch. »Die ›Cacafuego‹ ist schon seit einer Woche überfällig«, sagte er tonlos. »Sie glauben doch nicht, daß ...« Hasard hob die Schultern und blickte de Roja ernst an. »Es ist natürlich möglich, daß Capitan Don Juan de Anton durch den fürchterlichen Sturm, in den auch wir geraten sind, weit hinaus aufs Meer getrieben wurde«, sagte er. De Roja nickte hastig. Er war froh, daß er eine Erklärung für die Verspätung des Süberschiffes gefunden hatte. »Im letzten Jahr war sie auch eine Woche zu spät«, sagte er beruhigt. »Don Juan läßt sich immer Zeit, aber bisher hat er Panama noch immer unversehrt erreicht.« »Ich glaube auch nicht, daß wir uns um ihn zu sorgen brauchen«, sagte Hasard. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Engländer den ›Feuerkacker‹ mit ihrem kleinen Schiff angreifen werden. Don Juan würde sie mit seinen Kanonen auf den Grund des Meeres schicken.« De Roja wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der
Stirn. Er lächelte den Seewolf an. »Ich bin froh, Sie in Panama zu wissen, Capitan de Veloso«, sagte er. »Sie haben selbstverständlich die Erlaubnis, in den Hafen einzulaufen, wann Sie wollen. Ich werde dafür sorgen, daß Trinkwasser, Proviant und Munition jederzeit für Sie bereit stehen. Haben Sie Papier und Tinte zur Hand? Ich werde Ihnen einen Revers ausschreiben, in dem ich Ihnen alles bestätige. Leider bin ich nicht immer zugegen, und meine Leute haben Anweisung, sehr streng zu sein. Mit dem Revers werden Sie überall Unterstützung finden.« Der Seewolf erhob sich und verbeugte sich vor dem Hafenkommandanten, nachdem dieser den Revers verfaßt hatte und ihn über den Schreibtisch reichte. »Ich bin Ihnen für Ihre Unterstützung Dank schuldig, Senor de Roja«, sagte er. »Ich werde dem Gouverneur von Chile berichten, wie zuvorkommend Sie seine Untergebenen behandelt haben.« De Rojas schweißglänzendes Gesicht rötete sich vor Freude. Fast hätte er Ben Brighton mit seinem dicken Hintern umgestoßen, als er sich rückwärts zur niedrigen Tür bewegte. Hasard begleitete den ehrenwerten Don Alfonso bis zum Schanzkleid, das er schnaufend überstieg, um wieder in seine Schaluppe zu gelangen. Nicht einen einzigen Moment las Hasard so etwas wie Mißtrauen in den Augen des schwitzenden Spaniers. Er hatte die Geschichte mit dem Geheimauftrag geschluckt wie ein Fisch den Köder. Nur Don Alfonso de Roja merkte nicht, daß er schon am Angelhaken hing.
2. Der Seewolf wartete, bis de Rojas Schaluppe hinter einer anderen Galeone verschwand, die querab etwa zwei
Kabellängen von der ›Isabella‹ entfernt lag. Er bemerkte die Blicke seiner Männer, sah das Glitzern in ihren Augen und wußte, daß sie ihn für seinen tollkühnen Plan bewunderten. Er selbst fühlte sich nicht gerade als großartiger Held, hatten ihn doch die Zweifel, ob er mit dem Besuch des feindlichen Hafens Panama nicht einen tödlichen Fehler beging, nie verlassen. Jetzt schien alles ausgestanden. Sie hatten einen Revers des Hafenkommandanten, der ihnen einen uneingeschränkten Handlungsspielraum gab. Der Seewolf hörte leise Schritte. Der Franzose trat auf ihn zu. Er schien der einzige zu sein, der nicht vor Ehrfurcht und Bewunderung erstarrte. »Und nun?« fragte er. »Wir sitzen mitten im Goldenen Becher. Mich würde interessieren, was du jetzt planst. Wenn wir eine der ankernden Galeonen angreifen, haben uns die anderen zusammengeschossen, bevor wir auch nur einen Goldbarren auf die ›Isabella‹ herüberschaffen können.« »Laß dir etwas einfallen«, erwiderte der Seewolf lächelnd. »Inzwischen instruiere Tucker und Carberry, daß am Abend alle Mann für eine Aktion bereit sein sollen.« Er drehte sich einfach um, winkte Ben Brighton urid verschwand mit ihm in der Kapitänskammer. Der Franzose kratzte sich am Kopf. Wahrscheinlich hatte er den Seewolf wieder einmal unterschätzt. * Die Nacht war rabenschwarz. Fast zu schwarz. Hasard sah die Silhouette der dickbäuchigen Dreimastgaleone erst im letzten Augenblick. Zischend gab er den Befehl, das Boot abzustoppen und die Riemen an Steuerbord einzuholen. Die sechs Bootsgasten reagierten blitzschnell, aber sie konnten nicht verhindern, daß das Boot leicht gegen den
Rumpf der Galeone schlug. Für Hasard und seine zehn Männer hörte sich das dumpfe Geräusch wie die Explosion einer Neunpfünderkanone an. Bewegungslos hockten sie im Boot und starrten zum Schanzkleid der Galeone hoch. Nichts bewegte sich dort. Der Seewolf blickte seine Männer an. Er sah nur das Weiße in ihren Augen. »Sie haben nichts gehört«, flüsterte er. »Wahrscheinlich haben sie sich aus lauter Wut, daß sie Wache gehen müssen, während sich die anderen an Land vergnügen, einen angesoffen.« Der Seewolf drehte sich um, griff nach dem breiten Bergholz, das aus dem glatten Rumpf der Galeone hervorragte, und zog sich zum Schanzkleid hinauf. Er wußte, daß er seinen Männern keine Befehle mehr zu geben brauchte. Sie hatten alles bis in die Einzelheiten abgesprochen. Nach Dan O’Flynns Beobachtungen hatten am späten Nachmittag etwa fünfundzwanzig Männer diese Galeone mit einer Segelpinasse verlassen. Viel mehr als fünf Männer konnten nicht zurückgeblieben sein. Lautlos enterten die Männer der ›Isabella‹ die Galeone. Sie verschmolzen sofort mit den Schatten an Deck. Jeder kannte seine Aufgabe. Hasard, der Franzose, Dan O’Flynn, Buck Buchanan und Batuti schlichen zum Achterdeck, um den wachhabenden Offizier und vielleicht den Kapitän auszuschalten, falls dieser sein Schiff nicht verlassen hatte. Stenmark, Pete Ballie, Matt Davies, Jeff Bowie und der Ire Patrick O’Driscoll hatten die Aufgabe, unter Führung von Ferris Tucker die Wache, die wahrscheinlich unter der Back hockte, außer Gefecht zu setzen. Ferris Tucker und seine Männer hörten das Schnarchen der Wachen, als sie an dem Beiboot, das kieloben auf der Kuhlgräting festgezurrt war, vorbeischlichen. Sie richteten sich auf. Hier war keine Vorsicht mehr nötig.
Mit wenigen Schritten waren Ferris Tucker und Stenmark unter der Back. In dem Steinofen glühte noch der Rest des Feuers. Die Jungs waren verdammt leichtsinnig. Wie leicht konnte ein Schiff in Brand geraten! Stenmark sah einen Schatten neben dem steinernen Herd. Seine mächtige Faust packte zu und riß den schnarchenden Mann hoch. Mit der Rechten holte Stenmark aus, doch er brauchte nicht zuzuschlagen. Der Mann wachte von der rauhen Behandlung nicht auf. Stenmark zog die Nase kraus, als er den säuerlichen Geruch wahrnahm, der aus dem Mund des Schnarchenden strömte. Der Mann war stockbesoffen. Die anderen schienen nicht weniger getrunken zu haben. In weniger als drei Minuten waren die vier Männer unter der Back wie Pakete verschnürt. Einer von ihnen war aufgewacht und hatte lallend gefragt, was denn los sei, doch Matt Davies hatte ihm blitzschnell einen Knebel verpaßt und ihn mit der Ledermanschette seines Eisenhakens ins Land der Träume geschickt. Hasard und seine Männer hatten inzwischen das gesamte Achterdeck der Galeone nach dem wachhabenden Offizier abgesucht, ihn jedoch nirgends entdeckt. Hasard fluchte unterdrückt. Verdammt, das gab es doch nicht! Der Kapitän würde doch sein Schiff nicht zurücklassen ohne Offizier! Oder befand sich der Mann vielleicht bei der Mannschaft unter der Back? Dan O’Flynn tauchte an Hasards Seite auf. »Ich habe Geräusche in der Kapitänskammer gehört«, flüsterte er. »Ich war auf der Heckgalerie. Es sieht so aus, als brenne in der Kammer Licht. Jemand hat wahrscheinlich die Fenster verhängt.« Der Seewolf zog die Stirn kraus. Was konnte das nun schon wieder bedeuten? Er gab Dan und dem Franzosen einen Wink, ihm zu folgen.
Batuti und Buck Buchanan sollten auf dem Quarterdeck bleiben und sofort zupacken, wenn von irgendwoher ein Spanier auftauchte. Die Tür, die vom Quarterdeck in den Gang führte, ließ sich lautlos öffnen. Im Gang war es nicht so dunkel wie draußen auf dem Deck. Hasard drückte sich sofort an die Wand, um nicht in den Lichtschein zu geraten, der aus der offenstehenen Tür am Ende des Ganges fiel. Sie hörten ein leises Rumoren. Der Seewolf wunderte sich. Es hörte sich fast so an, als sei der Kapitän der Galeone dabei, seine Kammer umzuräumen. Langsam schlich sich Hasard näher. Vorsichtig schob er den Kopf vor und warf einen Blick in die große Kapitänskammer. Er sah, daß seine Vorsicht überflüssig gewesen war. Der Mann in der Kammer hockte auf den Knien vor einer bemalten Seemannskiste und durchstöberte sie. Ein Grinsen schlich sich in Hasards Gesicht. Er wollte einen Besen fressen, wenn das der Kapitän dieser Galeone war. Er trat in die Kammer, baute sich breitbeinig hinter dem knienden Mann auf und räusperte sich. Der Spanier fuhr herum. Seine Augen waren vor Überraschung weit aufgerissen. Angst schoß in ihm hoch, als er die drei Männer erblickte, die ihre Hände auf den Waffen liegen hatten. Der Spanier zuckte zusammen, als Hasard seinen Degen hervorzog. Fast bedächtig richtete der Seewolf die Spitze der Klinge auf die Nase des Spaniers, die sehr bleich war. »Was wohl dein Capitan dazu sagen wird, daß du hier in seinen Sachen herumwühlst«, sagte Hasard in Spanisch. Der Spanier hob abwehrend die linke Hand. Die rechte lag noch auf dem Rand der Seemannskiste, deren Deckel hochgeklappt war. Der Mann wollte sich erheben. Dabei verschob er die Kiste, der Deckel fiel, und dann jaulte der Spanier auf und hielt sich die gequetschte Hand. Tränen standen in seinen Augen. Er starrte Hasard, Jean
Ribault und Dan O’Flynn angstvoll an. »Wer seid ihr?« fragte er gequält. »Ich stelle hier die Fragen«, gab Hasard kalt zurück. »Was hast du in der Kiste deines Capitans zu suchen?« »Ich - ich ...« Der Spanier stotterte. An seinen Augen las Hasard ab, daß der Mann krampfhaft nachdachte. Vielleicht ahnte er schon, daß hier viel mehr auf dem Spiel stand als nur seine Karriere, weil er seine Neugier nicht hatte bezwingen können. »Ich - ich habe eine Karte gesucht, auf der der Capitan eingezeichnet hat, wo er seine Schätze verborgen hat, die er schon seit zwei Jahren unterschlägt«, sagte er hastig. »Ich arbeite im Auftrag des Vizekönigs von Peru.« Seine Stimme hatte ihren festen Klang wiedergefunden. Er richtete sich auf und beachtete Hasards Degen, dessen Spitze immer noch auf seine Nase zeigte, nicht mehr. »Du kannst uns viel erzählen«, erwiderte Hasard. Der Spanier nestelte an seiner Jacke herum. Er holte ein Dokument hervor, das er Hasard reichte. Hasard las es. Der Mann hatte die Wahrheit gesagt. Er war ein Spitzel. Aber das half ihm in diesem Fall herzlich wenig. Hasard gab Dan ein kurzes Zeichen mit den Augen, und als der Spanier aufatmen wollte, weil Hasard seinen Degen zurückzog, pfiff der kurze Stiel von Dan O’Flynns Pike durch die Luft und schickte den spanischen Spitzel zu Boden. Das Bewußtsein des Mannes war so schnell erlöscht, daß er nicht einmal mehr Zeit fand, sich beim Fallen mit den Händen abzustützen. Er fiel mit der Nase auf die Planken. »Fessel ihn«, sagte der Seewolf zu Dan, nachdem er sich gebückt und dem Spanier das Dokument abgenommen hatte. »Jean, du schaust nach, ob es draußen noch Schwierigkeiten gibt. Wenn alles klar ist, dann setzt die Segel. Wir müssen uns beeilen. Bereitet während der Fahrt alles vor, damit wir nachher beim Umladen nicht zuviel Zeit verlieren.«
»Aye, aye«, sagte Jean Ribault und verschwand in den Gang. Der Seewolf bückte sich und schaute in die Kiste des Kapitäns. Er sah die braune Mappe aus Schweinsleder, nahm sie heraus und öffnete sie. Der Spitzel war nahe daran gewesen, die Wahrheit zu erfahren. Hasard blickte auf eine Karte, die eine kleine Bucht etwas südlich von Callao, dem Hafen der peruanischen Hauptstadt Lima, zeigte. An der Stelle, an der er seinen Schatz verborgen hatte, war ein Kreuz eingezeichnet. Hasard wußte nicht, ob diese Karte ihm jemals von Nutzen sein würde, denn seine Fahrt würde ihn wahrscheinlich nicht wieder nach Peru hinunterführen, aber dennoch steckte er sie ein - zusammen mit dem Ausweis des Spitzels. Dann lief Hasard mit Dan hinaus aufs Quarterdeck. An den Bewegungen der Galeone hatte Hasard schon gespürt, daß die Männer der ›Isabella‹ den Anker der Galeone gelichtet hatten. Das Fock- und das Großsegel hatten sich bereits mit Wind gefüllt. Langsam nahm die Galeone Fahrt auf. Hasard gab ein paar Befehle, als er das kurze Blinken sah, das ihm mitteilte, daß Ben Brighton auf der ›Isabella‹ ebenfalls Kurs aufs offene Meer genommen hatte. Jean Ribault stand plötzlich wie aus dem Boden gewachsen neben Hasard. Seine Augen strahlten. »Mann, weißt du, was die Galeone geladen hat?« fragte er keuchend. »Kisten, voll bis obenhin mit den herrlichsten Perlen, die ich je gesehen habe! Ich hätte nie für möglich gehalten, daß es überhaupt auf der ganzen Welt so viele Perlen gibt! Das Zeug muß ein ungeheures Vermögen wert sein!« »Wie lange werden wir brauchen, umzuladen?« fragte Hasard kühl. Der Franzose starrte ihn einen Augenblick entgeistert an. Dann huschte ein Grinsen über seine Züge. »Dich bringt aber auch nichts aus der Ruhe, wie?« fragte er. »Mon Dieu, solange ich auf Piratenschiffen gefahren bin, habe ich nie erleben dürfen, daß wir eine solche Beute erobert
hätten. Und auf der ›Isabella‹ ist so etwas schon alltäglich.« Der Seewolf verzog seine Lippen. ,,Du hast dir eben bisher immer die falschen Schiffe ausgesucht«, erwiderte er. »Und die falschen Kapitäne«, fügte Ribault hinzu. Dann beantwortete er Hasards Frage. »Wenn alle Mann mit anpacken, sind wir in knapp einer Stunde mit dem Umladen fertig.« »In Ordnung«, sagte Hasard. »Wir segeln noch ein paar Meilen weiter hinaus. Gib Ben Blinkzeichen, damit er sich dichter an uns hält. Ferris soll alles vorbereiten, damit die Galeone absäuft, nachdem sie ein paar Meilen an Taboga vorbeigelaufen ist.« »Aye, aye.« Der Franzose flitzte los, um seine Befehle an den Mann zu bringen. Nach knapp anderthalb Stunden war alles erledigt. Die Kisten mit den Perlen befanden sich an Bord der ›Isabella‹, die jetzt wieder unter ihrem alten Namen ›Valparaiso‹ segelte. Hasard hatte wieder auf ein paar Pulverfässer verzichten müssen, um Platz für die Perlen zu schaffen. Jean Ribault tauchte mit den anderen Männern und der Pinasse wieder auf. Sie hatten die fünf Spanier am Strand der Insel Taboga ausgesetzt. Die geplünderte Galeone segelte mit festgezurrtem Ruder weiter. Sie würde vielleicht noch zwei Seemeilen auf See hinaus laufen, dann waren ihre Laderäume voll Wasser, und die Galeone würde auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Die Pinasse und das Boot, mit dem Hasard zur Galeone hinübergepullt war, wurden wieder an Deck geholt. Dann kreuzte die ›Isabella‹ gegen den ablandigen Wind zurück auf die Reede vor Panama, wo niemand bemerkt hatte, daß der Wolf, der sich zwischen die fetten Schafe geschlichen hatte, zur reißenden Bestie geworden war. Kurz nach Mitternacht hatten sie ihren Liegeplatz erreicht,
aber zum Erstaunen der Männer befahl der Seewolf nicht, den Anker fallen zu lassen, sondern das zweite Unternehmen vorzubereiten. Ben Brighton führte die ›Isabella‹ etwas dichter an die Galeone heran, die sich Hasard als zweites Opfer ausgesucht hatte, und die Kaperung erwies sich auch diesmal als völlig problemlos. Eine Stunde später ging die ›Isabella‹ längsseits der gekaperten Galeone. Ben Brighton wunderte sich über die langen Gesichter der Männer, die diesmal mit Hasard auf der spanischen Galeone gefahren waren. Die Beute war nicht annähernd so wertvoll wie die der ›Victoria‹, der ersten Galeone. Ben Brighton rümpfte die Nase, als er hörte, was die Männer an Bord der ›Isabella‹ schleppten. Tabak! Was, verdammt noch mal, sollten sie mit dem widerlich stinkenden Zeug, das die Indianer in merkwürdigen länglichen Behältern genossen, die sie aus Holz, Ton oder Knochen herstellten? Von diesen Dingern, die Karl von Hutten Pfeifen nannte, waren auch allerhand in den Laderäumen der Galeone gewesen. Hasard stimmte Ben Brighton zwar zu, daß sich dieser zweite Fischzug nicht gelohnt hatte, aber er war der Meinung, daß sich auch für diese Ladung ein guter Preis in London würde erzielen lassen, hatte er doch gehört, daß es schon einige Etablissements geben sollte, in denen Tabak geraucht wurde. Und das Zeug, das die Spanier oder die Holländer nach England importierten, sollte nicht gerade billig sein. Die Spanier dieser Galeone wurden auf der kleinen Insel Vinda abgesetzt, dann trat auch dieses Schiff seine Reise auf den Meeresgrund an. Mit dem ersten grauen Streifen, der über den Bergen Dariens erschien, lag die ›Isabella‹ wieder vor Anker auf der Reede von Panama, als sei in der Nacht nicht das geringste geschehen.
3.
Obwohl sie alle die ganze Nacht auf den Beinen gewesen waren, konnte keiner von ihnen schlafen. Sie alle warteten auf die Reaktion der Mannschaften der beiden verschwundenen Galeonen, wenn sie nach durchzechter Nacht zu ihren Schiffen zurückkehren wollten. Sie beobachteten die Pinassen, Schaluppen und Boote, die sich im Hafen langsam füllten und dann auf die Reede hinaus gesegelt oder gepullt wurden. Die Männer der beiden verschwundenen Galeonen merkten erst, daß ihre Schiffe nicht mehr da waren, als sie an der Stelle angelangt waren, wo ihre Galeonen liegen mußten. Hasard und Ben Brighton grinsten sich an, als die überraschten Rufe durch die klare Morgenluft zu ihnen herüberwehten. Sie konnten sich vorstellen, in welche Verwirrung die Kapitäne und Mannschaften der beiden verschwundenen Galeonen gestürzt worden waren. Drei Pinassen kurvten immer noch auf der Reede herum. Eine von ihnen näherte sich auch der ›Valparaiso‹. Der Kapitän schrie zum Achterdeck herauf, ob denn niemand die ›Victoria‹ gesehen habe. Hasard verneinte. »Vielleicht war sie schon gelöscht und ist heute nacht wieder ausgelaufen!« rief er zur Pinasse hinunter. Er mußte sich zusammenreißen, um nicht hell aufzulachen. Er sah, wie sich das Gesicht des Spaniers zu einer wilden Grimasse verzog und rot anlief. »Verdammt noch mal, nein!« brüllte er. »Ich bin der Kapitän und muß es doch wohl am besten wissen, ob mein Schiff ausgelaufen ist oder nicht!« »Tut mir leid!« rief Hasard hinunter. »Dann kann ich Ihnen nicht helfen!«
Fluchend befahl der Spanier, die Pinasse zu wenden und zurück in den Hafen zu segeln. Der Wutanfall des Kapitäns steigerte sich noch. Er brüllte seine Leute an. Wen sollte er auch sonst anbrüllen? Die Männer in der Pinasse zogen die Köpfe ein. Sie waren sich keiner Schuld bewußt, aber sie kannten ihren Kapitän gut genug, um zu wissen, daß eine Widerrede in der jetzigen Situation böse Folgen haben konnte. Grinsend blickten die Männer der ›Isabella‹ der Pinasse nach. Auch in den beiden Booten, die zur Tabak-Galeone gehörten, war der Teufel los. Sie brauchten eine ganze Weile länger, bis sie begriffen hatten, daß ihr Schiff verschwunden war. Der Kapitän brüllte die Leute auf den anderen Galeonen an. Wahrscheinlich vermutete er, daß ihm irgend jemand einen bösen Streich gespielt hatte. Aber als er überall nur abschlägige Bescheide erhielt, blieb auch ihm nichts weiter übrig, als zurück zur Stadt zu segeln. Knapp zwei Stunden später beobachteten die Männer der ›Isabella‹, wie die Schaluppe des Hafenkommandanten von Schiff zu Schiff segelte. Hasard kniff die Augen zusammen, als die Schaluppe ablegte, doch als er sah, daß sie nicht zuerst die ›Isabella‹, sondern das erstbeste Schiff ansteuerte, war er beruhigt. Der Hafenkommandant hatte keinen Verdacht gegen die Galeone geschöpft, die im Sonderauftrag des Gouverneurs von Chile nach Panama gesegelt war. Hasard wartete in stoischer Ruhe ab, bis die Schaluppe an der ›Valparaiso‹ längsseits ging. Er begab sich persönlich zum Schanzkleid und half dem schnaufenden und vor Wut kochenden de Roja an Bord. »Stimmt es, was ich von den Leuten in den Pinassen gehört habe?« fragte Hasard, bevor de Roja auch nur den Mund auftun konnte. »Zwei Galeonen sind spurlos von der Reede verschwunden?«
Der Hafenkommandant nickte voller Zorn. »Ich verstehe das alles nicht«, sagte er, als er vor Hasard den Aufgang zum Quarterdeck hinaufstieg. »Zwei Galeonen können doch nicht spurlos von der Reede verschwinden! Niemand will etwas bemerkt haben!« Er drehte sich schnaufend um, als er auf dem Quarterdeck stand. »Oder haben Sie etwas bemerkt, Capitan de Veloso?« Hasard stellte sich so unwissend, wie die Leute der restlichen Galeonen wohl waren. Er winkte Ben Brighton herbei. »Dieser Mann hat in der Nacht Wache gehabt«, sagte er. »Die anderen Männer hatten Befehl, sich auszuschlafen, da wir noch schwere Wochen vor uns haben. Ist etwas Ungewöhnliches in der Nacht vorgefallen?« Er blickte Ben Brighton an. Ben schüttelte den Kopf und antwortete in Spanisch: »Nichts, Capitan. Es war alles ruhig. Wenn die beiden Galeonen ausgelaufen sind, dann müssen die Mannschaften mit besonderer Vorsicht zu Werke gegangen sein, denn sonst hätte sicher irgend jemand hier auf der Reede etwas bemerkt.« Hasard nickte. »Genau das ist auch meine Meinung«, sagte er zu de Roja. »Wissen Sie vielleicht, ob die beiden Galeonen etwas Wertvolles in den Laderäumen hatten?« De Roja schaute Hasard überrascht an. »Sie meinen ...« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Die ›Victoria‹ hatte mehrere Truhen mit den kostbarsten Perlen geladen.« »Dann ist für mich die Sache klar«, sagte Hasard. »Da ich nicht an Geister glaube, gibt es für mich nur eine Möglichkeit: Die zurückgebliebene Ankerwache hat der Versuchung nicht widerstehen können und ist abgehauen, um den unermeßlichen Schatz für sich selbst zu behalten.« De Roja blickte Hasard zweifelnd an. Sicher, was der Capitan der ›Valparaiso‹ da behauptete, war schon ein paarmal passiert, aber noch nie hatten sich die Meuterer ihres Reichtums
erfreuen können. Alle waren sie erwischt worden. De Roja hatte bisher angenommen, daß es so schnell niemand mehr wagen würde, sich am Eigentum des Königs von Spanien zu vergreifen, denn die Meuterer waren allesamt eines grausigen Todes auf der Plaza von Panama gestorben. De Roja schüttelte den Kopf. »Ihr Verdacht würde das Verschwinden der ›Victoria‹ erklären«, sagte er, »aber nicht das der ›Annabella‹. Sie hatte nichts weiter als Tabak geladen.« Hasard zuckte mit den Schultern. »Warum nicht?« sagte er. »Vielleicht verkaufen die Kerle die Ladung an irgendeinen Spelunkenwirt in einem der Häfen an der Westküste. Das Rauchen kommt ja immer mehr in Mode.« De Roja wischte sich mit einem großen bunten Tuch den Schweiß von der Stirn. Er war völlig geschafft. »Ich verstehe das nicht«, murmelte er immer wieder. »Ich verstehe das nicht.« Hasard trat neben den Hafenkommandanten. »Ich werde in dieser Nacht besser aufpassen«, sagte er. »Ich werde mein Hauptaugenmerk darauf richten, ob sich ein Schiff von See her nähert. Vielleicht tauchte das Kaperschiff doch noch hier vor der Reede auf. Ich kann allerdings nicht dafür garantieren, daß nichts geschieht, wenn das Beispiel von letzter Nacht Schule macht. Ich könnte höchstens mein besonderes Augenmerk auf ein paar Schiffe richten. Hat vielleicht eins eine besonders wertvolle Ladung und ist daher besonders gefährdet?« Ben Brighton, der neben Hasard stand, hielt den Atem an. War der Seewolf verrückt geworden? Der Hafenkommandant mußte bei einer solchen Frage doch mißtrauisch werden, wenn er kein besonders großer Trottel war! Aber Hasard hatte de Roja richtig eingeschätzt. Der Mann war keiner klaren Überlegung mehr fähig. Er ging so prompt in die Falle, wie Hasard es erwartet hatte.
Seine Hand wies hinüber zu einer Dreimastgaleone, die nicht weit von der Stelle entfernt lag, an der gestern noch die ›Victoria‹ geankert hatte. »Das ist die ›San Gabriel‹. Sie hat mehrere Truhen mit peruanischem Gold- und Silberschmuck an Bord, der konfisziert und nicht eingeschmolzen worden ist. Der Vizekönig von Peru hat die Stücke selbst ausgesucht und als besonderes Geschenk für König Philipp zusammengestellt.« Der Seewolf spürte förmlich, wie seine Männer den Atem anhielten. Auch ihn erregte diese Nachricht ungeheuer. »Die ›San Gabriel‹ sollte erst übermorgen entladen werden«, sagte de Roja nachdenklich, »aber nach diesen Geschehnissen werde ich wohl dafür sorgen müssen, daß die Truhen schon morgen an Land gebracht werden.« Er blickte zu Hasard auf, als sei er von einem Alptraum erwacht. »Ich danke Ihnen, daß Sie mir Ihre Hilfe anbieten«, sagte er. »Ich werde es Ihnen nicht vergessen, Capitan de Veloso.« Er nickte Hasard noch einmal zu, dann drehte er sich um und verließ die ›Valparaiso‹. Als die Schaluppe des Hafenkommandanten zum nächsten Schiff segelte, wußte jeder an Bord der ›Isabella‹, daß in dieser Nacht die dritte Galeone von der Reede verschwinden würde: die ›San Gabriel‹.
4. Die Nacht war genauso dunkel wie die vorhergegangene. Jeder der Männer war sich darüber im klaren, daß das Risiko um ein Vielfaches höher war als vergangene Nacht. Aber die Beute, die es zu erringen galt, hatte auch die größten Skeptiker und Zauderer verstummen lassen. Das Boot, das lautlos von der ›Isabella‹ abstieß und zur ›San Gabriel‹ hinübergepullt wurde, war diesmal mit fünfzehn
Männern besetzt. Sie mußten damit rechnen, daß sie einer doppelten Übermacht gegenüberstanden, wenn sie die ›San Gabriel‹ enterten, aber mit den Männern, die Hasard bei sich hatte, würde er auch gegen eine Meute von hundert Spaniern kämpfen. Nur - sie mußten diesmal genauso lautlos zuschlagen wie in der letzten Nacht. Die Wache auf der ›San Gabriel‹ würde nicht besoffen sein. Der Seewolf war davon überzeugt, daß keiner der Seeleute, die diese Nacht auf irgendeiner Galeone auf dieser Reede zur Ankerwache eingeteilt waren, es auch nur wagen würde, einen Weinschlauch anzuschauen. Hasard hatte diesmal noch Carberry und vier Männer von den ehemaligen Karabikpiraten mitgenommen. Carberry hatte sich von der fürchterlichen Folter im Kerker des Gouverneurs der Provinz Libertad gut erholt. Bis auf ein paar Narben erinnerte nichts mehr daran, daß sein Leben nur noch an einem seidenen Faden gehangen hatte. Hasard wußte, daß er mit Carberry einen unersetzlichen Mann für seine Crew hinzugewonnen hatte, und im Grunde war er Francis Drake dankbar, daß er stur geblieben war und den Bruder des geköpften Sir Thomas Doughty nicht bestraft hatte. John Doughty hatte Carberry in einer Sturmnacht über Bord gestoßen, und nur ein sagenhaftes Glück und die eigene Zähigkeit hatten Carberry davor bewahrt, schon im Sturm mit dem kleinen Beiboot der ›Golden Hind‹ abzusaufen. Carberry selbst war nicht weniger froh, jetzt auf der ›Isabella‹ unter dem Kommando des Seewolfs zu fahren. Er blühte von Tag zu Tag mehr auf. Das Gefühl der Kameradschaft, das unter der Mannschaft des Seewolfs herrschte, war ihm bisher fremd gewesen. Sicher, er hatte immer Freunde unter den anderen Männern gehabt, aber es gab immer eine gewisse Distanz zwischen allen Mannschaftsteilen. Die Männer auf der ›Isabella‹ waren eine Einheit. Weder der Seewolf als Kapitän oder die Karabikpiraten, die noch nicht
lange zur Mannschaft gehörten, bildeten da eine Ausnahme. Der Seewolf hatte sich die Position der ›San Gabriel‹ genau gemerkt. Fast schien es, als sei diese Nacht noch schwärzer als die letzte. Der Himmel war von einer dichten Wolkenbank überzogen. Der Wind wehte stetig von den Bergen herunter aufs Meer hinaus. Flüsternd gab der Seewolf einen Befehl. Die Riemen wurden eingeholt. Lautlos trieb das Boot übers Wasser. Hasard lauschte. Er hörte ein leises Plätschern. Das mußte die ›San Gabriel‹ sein. Er versuchte die Dunkelheit mit den Augen zu durchdringen, aber er konnte nichts sehen. Eine leise Stimme klang durch die Nacht. Im selben Moment sah Hasard eine große dunkle Wand vor dem Bug des Bootes aufsteigen. Er streckte sofort die Hände vor und stützte sich am Rumpf der Galeone ab, um zu vermeiden, daß das Boot dagegenschlug. Carberry hatte blitzschnell reagiert. Er warf die Vorleine über das Ruder der Galeone und verhinderte damit, daß das Boot abtrieb. Dan O’Flynn hangelte sich schon an den Verzierungen des Heckspiegels hinauf und verschmolz mit der Dunkelheit. Hasard knuffte Carberry in die Seite, als dieser plötzlich unterdrückt zu fluchen begann. Carberry hielt ihm den Rampen vor die Nase, den das Bürschchen von der Heckgalerie heruntergeworfen hatte. Hasard grinste und gab den Männern ein Zeichen, daß es losging. Einer nach dem anderen hangelte sich an dem Tau hinauf zur Heckgalerie. Dan O’Flynn war schon weiter. Wie ein Affe kletterte er über die Besanrüsten an Steuerbord und steckte seinen Kopf zwischen den Wanten hindurch. Er konnte nicht viel sehen, aber die leisen Stimmen vernahm er deutlich. Er wartete, bis Hasard neben ihm auftauchte. Mit der rechten Hand wies Dan auf die Stelle, an der die beiden Wachen stehen mußten. Hasard nickte. Gemeinsam schwangen sie sich über das
Schanzkleid aufs Achterdeck. Ihre bloßen Füße verursachten nicht das geringste Geräusch. Plötzlich sahen sie die beiden Spanier, die sich an den Besanmast lehnten und sich leise unterhielten. Hasard erschrak. Er warf einen kurzen Blick zum Himmel. Die Wolkendecke war aufgerissen. Sterne blinkten herab und leuchteten mit ihrem blassen Schein das Deck der Galeone aus. Die beiden Spanier schienen nichts davon bemerkt zu haben, daß es plötzlich nicht mehr so dunkel war. Hasard wußte, daß er ihnen keine Zeit lassen durfte, sich an die veränderte Situation zu gewöhnen. Er gab Dan einen Wink, wartete, bis sich der eine Spanier umgedreht hatte, und huschte dann hinüber zum Besanmast. Seine Hand, in der er einen Belegnagel hielt, sauste nieder und landete mit einem dumpfen Laut auf dem Kopf des einen Spaniers. Der Mann sackte lautlos zusammen. Der zweite Spanier, der sich gerade abgewandt hatte, riß den Mund zu einem Schrei auf, als er sich wieder umdrehte und seinen Kameraden zusammensacken sah. Dan O’Flynn stieß ihm den Stiel seiner Enterpike in den Leib. Der Mann krümmte sich zusammen und gab einen würgenden Laut von sich. Noch ehe er wieder Luft holen konnte, wurde auch er von Hasards Belegnagel ins Reich der Träume geschickt. Hasard atmete auf. »Das war knapp«, flüsterte er. Dan O’Flynn war schon dabei, dem einen Spanier das Wams auszuziehen. Er zog sich die Jacke mit den weiten Puffärmeln über und setzte sich den Hut des Spaniers auf. Jetzt war er von weitem nicht mehr von einem Spanier zu unterscheiden. Der Seewolf sah die Köpfe der anderen Männer über dem Schanzkleid auftauchen. Er gab den Männern Zeichen, daß sie im Schatten der Reling bleiben sollten. Karl von Hutten huschte herbei und half Dan O’Flynn, die beiden bewußtlosen
Spanier zu fesseln. Dann wurden sie zur Reling geschleift. Hasard stand inzwischen am Niedergang zum Quarterdeck. Er sah zwei weitere Männer. Einer von ihnen blickte zu ihm herauf, drehte sich aber gleich wieder um. Hasard atmete auf. Obwohl sie zu mehreren Wache gingen, waren die Spanier nicht besonders mißtrauisch. Wer sollte sie hier auf der Reede schon überfallen? Wahrscheinlich nahmen sie auch an, daß die beiden anderen Galeonen in der letzten Nacht von der Ankerwache gekapert worden waren. Der Seewolf verfluchte das Loch in den Wolken, das immer größer wurde. Er blickte sich um und sah die schwarzen Umrisse der anderen Galeonen auf der Reede. Hoffentlich beobachtete niemand auf den anderen Schiffen, daß die ›Isabella‹ dichter an der ›San Gabriel‹ lag als tagsüber. Ben Brighton hatte sofort reagiert und die Segel bergen lassen, damit die Spanier nicht bemerkten, daß er die Reede verlassen wollte. Hasard wußte, daß ihr Plan scheitern mußte, wenn die Wolkendecke vollends aufriß. Aber sie konnten nicht mehr zurück. Selbst wenn sie sich jetzt zurück ins Boot begaben, würde man sie sofort entdecken, wenn sie zur ›Isabella‹ zurückpullten. Sie hatten keine andere Wahl. Sie mußten ihren Plan durchführen. Hasard flüsterte Karl von Hutten einen Befehl zu. Ein Paar Männer sollten sich außenbords bis zur Back vorarbeiten, um die Männer vorn abzulenken. Sie warteten eine Weile, bis sie die Köpfe von mehreren Männern auf der Back auftauchen sahen. Hasard gab Karl von Hutten ein Zeichen und schlich dann den Niedergang zum Quarterdeck hinunter. Hasard hörte Karl von Huttens leise Stimme. Er rief etwas zu den beiden Wachen auf dem Quarterdeck hinunter. Die beiden Spanier lachten. Hasard spürte neben
sich eine Bewegung. Dan O’Flynn war ihm gefolgt. Sie warteten, bis Karl von Hutten an der Steuerbordreling war. Die Blicke der beiden Spanier folgten ihm. Einer von ihnen lachte plötzlich nicht mehr. Er flüsterte seinem Kameraden etwas zu. Hasard wußte, daß es Zeit wurde, einzugreifen. Das Quarterdeck lag im bleichen Sternenlicht vor ihm. Es war unmöglich, ungesehen in den Rücken der beiden Wachen zu gelangen. Hasard gab sich einen Ruck. Er schritt auf die Spanier zu. Er beeilte sich nicht besonders. Den Belegnagel hatte er hinten im Gürtel stecken. Die beiden Spanier drehten die Köpfe und blickten Hasard und Dan O’Flynn entgegen. Doch ehe sie sich miteinander verständigen konnten, waren Hasard und Dan heran. »Habt ihr irgend etwas Verdächtiges bemerkt?« fragte Hasard auf Spanisch. Die beiden Wachen starrten Hasard und Dan überrascht an. Der eine öffnete den Mund. »Wer seid ihr?« fragte er leise. Hasard gab ihm die Antwort mit dem Belegnagel. Der Spanier riß zwar noch den Mund auf, doch bevor er einen Schrei ausstoßen konnte, traf ihn der Eichenknüppel auf der Stirn. Lautlos sackte der Mann zusammen. Der andere hatte seinen Mund ebenfalls aufgerissen, doch auch er schrie nicht. Seine Augen traten aus den Höhlen hervor, als versuchten sie, die Spitze der Pike zu erblicken, die sich in seinen Hals bohrte. »Setz dich hin, aber langsam«, befahl Hasard auf Spanisch. Der Mann gehorchte. Als er saß, hieb Hasard mit dem Belegnagel zu. Mit einem Seufzer kippte der Mann um. Hasard stieß zischend den Atem aus. Er blickte zur Achterdeckreling hoch und winkte Karl von Hutten und den anderen zu, die jetzt neben ihm auftauchten.
Nackte Sohlen huschten über die Decksplanken. Hasard gab leise Befehle. Der Rest dürfte kein Problem mehr sein. Wenn sie erst einmal die Wachen an Deck der Galeone ausgeschaltet hatten, würde es ihnen auch gelingen, die restlichen Männer, die wahrscheinlich unter Deck schliefen, in ihre Gewalt zu bringen. Die Sicht war wieder schlechter geworden. Ein Blick zum Himmel sagte Hasard, daß sich das Loch in der Wolkendecke wieder schloß. Er konnte die anderen Galeonen auf der Reede kaum mehr erkennen. Von der Back her erklang ein erstickter Schrei. Die Männer hielten den Atem an. Doch es blieb alles still. Einen Moment später tauchte der Däne Sven Nyberg auf und berichtete, daß sechs Spanier unter der Back überwältigt seien. Sie hatten jetzt also zehn Spanier in ihrer Gewalt. Hasard rechnete damit, daß sich unter Deck mindestens noch einmal die dreifache Menge aufhielt. Flüsternd gab Hasard seine Anweisungen. Karl von Hutten sollte die Dons an Deck locken, wo die Engländer sie dann erwarteten und ins Reich der Träume schickten, bevor sie überhaupt ahnten, daß irgend etwas faul war. Hasard wollte mit Dan O’Flynn und Batuti in die Offizierskammern eindringen. Er nahm an, daß sich der Kapitän der ›San Gabriel‹ nach den Vorfällen der letzten Nacht nicht von seinem Schiff getraut hatte. Während Batuti sich vor der Tür zur Kapitänskammer aufbaute, suchten Hasard und Dan die anderen Kammern ab. Aber nicht eine einzige war besetzt. Wahrscheinlich hatte der Capitan seinen Offizieren befohlen, zusammen verstärkte Wache zu gehen. Hasard nickte Batuti zu, als sie mit der Durchsuchung fertig waren. Der Schwarze drehte den Knopf der Tür. Sie war nicht verschlossen. Es war dunkel in der Kammer. Einen Moment glaubte Hasard schon, der Capitan wäre doch an Land
gegangen, als er das Schnarchen hörte. Um so besser. Dan O’Flynn war schon bei den Fenstern und zog die schweren Vorhänge zu. Dann schlug Hasard Feuer und entzündete mit der Lunte die Öllampe, die auf dem Schreibtisch stand. Der Capitan hatte einen gesegneten Schlaf. Er schnarchte weiter und merkte auch nichts, als Dan O’Flynn über einen Fußschemel stolperte und sich auf den Hosenboden setzte. Batuti trat neben die Koje und blickte Hasard fragend an. Hasard nickte. Batutis Faust sauste hinab, und der Schlaf des Capitans ging in eine tiefe Bewußtlosigkeit über, ohne daß er etwas davon bemerkt hatte. Dan O’Flynn hatte die Schublade des Schreibtisches aufgezogen und wühlte darin herum. Hasard kümmerte sich nicht darum. Er hatte etwas anderes entdeckt, das ihn magisch anzog. Er ging in die Ecke, in der ein paar lange Rollen an der Wand lehnten. Seit Hasard damals auf der ersten ›Isabella‹ die Karte von der Neuen Welt gefunden hatte, wußte er, daß in diesen langen Rollen manchmal größere Schätze steckten als in den Truhen, die das Gold der Inkas bargen. Seine Augen begannen zu leuchten, als er die erste Karte herauszog und ausbreitete. Zuerst hatte er vermutet, eine Karte der Westküste der Neuen Welt zu sehen, doch als er sie ganz aufgerollt hatte, stockte ihm der Atem. Er las die Anweisungen in Spanisch, die für eine Überquerung des Stilles Ozeans gedacht waren! Mit zitternden Fingern rollte Hasard die anderen Karten auf. Er schob Dan O’Flynn beiseite und setzte sich. Er war sich darüber im klaren, daß er hier den Schlüssel für die östliche Welt in den Händen hielt. Er suchte weiter. Vielleicht hatten die Spanier auch schon die Nordwestpassage gefunden, nach der so viele Engländer bereits
geforscht hatten. Er fand keine Karten, die viel weiter hinaufreichten als bis zu einer schmalen Halbinsel, die den Namen California trug. Hasard rollte die Karten wieder ein. Er erhob sich, warf noch einen kurzen Blick auf den gefesselten Capitan und verließ dann mit Dan und Batuti die Kapitänskammer. Draußen war die Nacht wieder undurchdringlich geworden. Man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Dan O’Flynn huschte davon und kehrte schon nach wenigen Augenblicken zurück. »Alles erledigt«, sagte er. »Carberry garantiert mit seinem Kopf, daß auf dieser Galeone kein Don mehr frei herumläuft.« »Sag ihm, er soll nicht so leichtsinnig mit seinem Kopf umgehen«, erwiderte Hasard. »Er hat nur den einen. Er soll Segel setzen lassen und den geplanten Kurs steuern. Ribault soll alles vorbereiten, damit das Umladen nicht zu lange dauert. Ferris ...« »... ist schon dabei, sich die besten Stellen auszusuchen, wo er den Kahn anbohren kann«, sagte Dan grinsend. »Dann los«, sagte Hasard. * Als erstes hatten sie die gefesselten Spanier auf Melones, einer kleinen Insel westlich von Taboga, ausgesetzt. Der Capitan hatte sein Bewußtsein nicht wiedererlangt. Hasard hoffte, daß Batuti nicht zu fest zugeschlagen hatte. Jetzt lagen die ›Isabella‹ und die ›San Gabriel‹ nebeneinander, und die Männer brachten die letzte der zwölf Schatztruhen, die für den spanischen König bestimmt waren, an Bord der ›Isabella‹. Hasard nahm die strahlenden Gesichter seiner Leute kaum wahr. Er war mit seinen Gedanken bei den Karten, die er in die Kapitänskammer der ›Isabella‹ gebracht
hatte. Sollte er es wagen, sich diesen Karten anzuvertrauen und den Sprung über den großen unbekannten Ozean in Erwägung ziehen? Die Entscheidung war nicht einfach. Hasard wußte, daß er sein Glück nicht viel länger strapazieren durfte. Der Feind war in einer riesigen Übermacht. Es war praktisch nur eine Frage der Zeit, wann es den Spaniern gelang, die ›Isabella‹ aufzubringen. Mit den Schätzen, die seine Galeone in ihren Laderäumen trug, brauchte sich Hasard wahrscheinlich hinter der ›Golden Hind‹ von Francis Drake nicht zu verstecken. Seine Gedanken schweiften zurück. Sie hatten auf der Fahrt an der chilenischen und peruanischen Küsten reiche Beute erobert. Zuerst war da die Muliladung von Silberbarren gewesen, dann die Ladung Silber der Handelsgaleone, die sie den Piraten abgejagt hatten, von denen einige zu Hasard übergelaufen waren. Dazu kamen die Schätze des Gouverneurs der Provinz Libertad, die sie bei der Befreiung Carberrys erbeutet hatten. Die Goldbarren und Edelsteine hatten an Wert noch die riesige Silberladung der Handelsgaleone übertroffen. Die beiden Schatztruhen von den Chincha-Inseln mit dem Inkaschmuck und die herrlichen Perlen, die sie in der vorigen Nacht von der ›Victoria‹ geholt hatten, vervollständigten die Beute. Als Krönung ihrer Kaperfahrt übernahmen sie jetzt von der ›San Gabriel‹ den größten Goldschatz, den je ein spanisches Schiff getragen hatte. Der Seewolf blickte auf, als Ben Brighton neben ihn trat. »Es ist alles erledigt, Hasard«, sagte er. »Ferris hat den Kahn gebohrt. Er sagt, daß die ›San Gabriel‹ in weniger als einer Stunde die Reise zum Meersgrund antritt.« Hasard nickte. Er wartete, bis Ferris Tucker und Al Conroy wieder auf der ›Isabella‹ waren und die ›San Gabriel‹ mit vollen Segeln in südlicher Richtung davonrauschte.
Hasard spürte die Unruhe, die unter der Mannschaft herrschte. Er preßte die Lippen zusammen. Er ahnte, was viele seiner Männer dachten, doch er wußte, daß er den bisher eingeschlagenen Weg weiterverfolgen mußte, wenn er nicht alles aufs Spiel setzen wollte. »Kurs Nord«, sagte er laut zu Ben Brighton. Die Männer auf dem Quarterdeck schauten überrascht hoch. Der Franzose blickte Hasard an, als hätte sich der gerade in den Leibhaftigen verwandelt. Nur Carberry hatte nicht mit der Wimper gezuckt. »Kurs Nord!« rief er mit seiner dröhnenden Stimme hinunter zur Kuhl, wo die Männer auf ihre Befehle warteten. Die Überraschung in der Kuhl war noch größer als die auf dem Quarterdeck. Einen kurzen Augenblick war es still, dann schrie eine schrille Stimme: »Bist du verrückt geworden, Carberry? Im Norden liegt Panama!« Ein tiefes Grollen drang aus Carberrys Kehle. Seine behaarte Hand zuckte vor und riß einen Belegnagel aus der Nagelbank. Mit stampfenden Schritten setzte er sich in Bewegung und ging auf den Niedergang zur Kuhl zu. Hasard hielt ihn nicht zurück. Er trat an die Quarterdeckgalerie und blickte auf die Kuhl hinunter. Er entdeckte die dürre Gestalt von Gordon Watts neben der zweiten Steuerbordkanone. »Vielleicht hast du es bisher immer noch nicht bemerkt, Watts«, sagte Hasard. Seine Stimme war nicht laut, aber so scharf, daß auch die Männer, die die letzte Schatztruhe im Lagerraum verstauten, sie noch hörten. »Hier an Bord gibt es nur einen, der bestimmt, was geschieht. Und das bin ich. Wenn ich Kurs Nord befehle, dann hast du die Klappe zu halten, verstanden?« Er wartete eine Weile, bevor er weitersprach. Er beobachtete regungslos, wie Carberry Watts am Kragen hochriß und ihm den linken Handrücken quer übers Gesicht schlug.
»Wir können jetzt nicht einfach abhauen«, sagte er so ruhig, als wäre nichts geschehen. »Die Spanier würden sofort alle Schiffe hinter uns herschicken, die auf der Reede von Panama liegen. Und welche Chance wir dann haben, kann sich jeder an den Fingern einer Hand ausrechnen.« »Meinst du, daß der Hafenkommandant so blöd ist und immer noch nichts merkt, wenn die ›San Gabriel‹ auch noch verschwunden ist?« fragte Ben Brighton. Hasard nickte. »Er wird es schlucken«, sagte er mit fester Stimme. »Wenn niemand von den anderen Schiffen das Verschwinden der Galeone bemerkt hat, warum sollen dann ausgerechnet wir etwas gesehen haben? Auf alle Fälle ist es bedeutend ungefährlicher, auf die Reede von Panama zurückzukehren und so zu tun, als wisse man von nichts, als abzuhauen und damit seine Schuld zuzugeben. Außerdem habe ich nicht vergessen, was es in einer Stadt wie Panama noch alles zu holen gibt.« Diesmal vergaßen einige Männer, Luft zu holen. Mit weitaufgerissenen Augen starrten sie den Seewolf an. Das konnte doch nicht wahr sein, was sie da eben gehört hatten! Ihr verrückt gewordener Kapitän wollte nun auch noch die Stadt plündern, nachdem er sich die fetten Brocken bereits von der Reede geholt hatte! In die Stille, die nur vom Knarren 4er Takelage durchbrochen wurde, klang die helle Stimme von Dan O’Flynn. »Arwenack!« schrie er. »Die Spanier kriegen was auf die Rübe!« Kreischend fiel der Schimpanse in Dans Schlachtruf ein. »Schau sich einer die beiden Affen im Großmars an«, sagte Ferris Tucker grollend. »Immer die große Schnauze, aber sich verstecken, wenn es hart auf hart geht.« »Wer versteckt sich hier?« schrie Dan wütend. »Ich werde dir gleich mit meiner Enterpike ...« »Halt die Klappe!« rief Ferris Tucker zurück. »Ich meine
doch den anderen Affen!« Die dreckige Lache des Kutschers brach die gespannte Atmosphäre. Grinsend begannen auch die ehemaligen Piraten, Carberrys Befehlen Folge zu leisten. Gordon Watts, der aus der Nase blutete, kroch hinter den anderen her. Der Seewolf hoffte, daß der dürre Engländer seine Lektion gelernt hatte. Er fürchtete die Spanier nicht, aber gegen einen Verräter in den eigenen Reihen war jeder machtlos. Ben Brighton steuerte die ›Isabella‹ an den Inseln Vinda und Venados vorbei zurück auf die Reede von Panama. Es war nicht einfach, gegen den ablandigen Wind anzukreuzen, aber sie schafften es, noch vor dem ersten Morgengrauen ihre alte Position zu erreichen und den Anker zu werfen. Auch diesmal dachte keiner der Männer an Schlaf. Sie wußten, daß sie einen höllischen Tag vor sich hatten. Selbst einige von der alten Crew waren diesmal nicht so ganz sicher, ob sich ihr Kapitän für das Richtige entschieden hatte. Der Kutscher faßte sich immer wieder an den Hals, als spüre er bereits das Würgeeisen der Spanier. Der Seewolf hatte Ferris Tucker an eins der Backbordgeschütze beordert, und als der erste Lichtschimmer über den Bergen die Konturen der Galeonen auf der Reede von Panama aus der Dynkelheit riß, hielt Ferris Tucker die Lunte an das Zündkraut. Die Detonation zerriß die Stille des Morgens. Die Männer auf der ›Isabella‹ waren nicht weniger erschrocken als die Spanier auf den anderen Galeonen, die von dem Kanonenschuß aus dem Schlaf gerissen wurden. Die Kugel klatschte irgendwo ins Wasser, aber dennoch hatte der Schuß die Wirkung, als sei das runde Eisen mitten in der Stadt eingeschlagen. Überall wurden Fackeln entzündet. Menschen liefen zusammen. Hasard sah, wie sich innerhalb weniger Minuten Hunderte
von Leuten am Hafen einfanden. Ein Grinsen zog seine Lippen in die Breite, als er sah, wie die Schaluppe des Hafenkommandanten vom Kai ablegte und auf die ›Isabella‹ zusegelte. Hasard wußte, was er dem Hafenkommandanten zu erzählen hatte. Und de Roja mußte einsehen, daß die Leute von der ›Valparaiso‹, wie die ›Isabella‹ nun wieder hieß, wachsamer waren als alle anderen. Schließlich hatten sie das Verschwinden der ›San Gabriel‹ zuerst bemerkt.
5. Alfonso de Roja war einem Schlaganfall nahe. Keuchend ließ er sich auf den Stuhl vor Hasards Schreibtisch sinken. Mit einem bunten Tuch wischte er sich die Schweißtropfen von der Stirn. »Wieso haben Sie nicht vorher etwas bemerkt?« fragte er und blickte den Seewolf vorwurfsvoll an. »Ich kann Ihre Erregung verstehen, Senor de Roja«, erwiderte Hasard. »Wenn ich nicht selbst die ganze Nacht an Deck verbracht hätte, würde ich die Wachen wahrscheinlich züchtigen lassen wegen ihrer Nachlässigkeit. Aber ich kann Ihnen versichern, daß absolut nichts zu erkennen war. Ich habe sogar den Befehl gegeben, noch näher bei der ›San Gabriel‹ zu ankern, wie Sie sehen, aber weder meine Männer noch ich haben auch nur einen einzigen Laut gehört - geschweige denn, etwas gesehen. Wenn ich an Geister glaubte, müßte ich annehmen, der Satan hätte seine Hand im Spiel.« De Roja raufte sich die Haare. »Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?« jammerte er. »Ausgerechnet das Geschenk für den König! Wissen Sie, was das für mich bedeutet, Capitan?« »Ihnen kann niemand etwas vorwerfen, Senor de Roja«, sagte
Hasard. »Sie haben alles getan, um ein weiteres Verschwinden eines Schiffes zu vermeiden. Wenn andere Ihnen vielleicht einzureden versuchen, hier ginge nicht alles mit rechten Dingen zu, so ist das meiner Ansicht nach nur Augenwischerei. Ich glaube nicht an Hexerei. Eher halte ich es für möglich, daß die Mannschaft der ›San Gabriel‹ die Situation ausnutzte und mit der Galeone heimlich die Reede verlassen hat, um den Schatz des Königs für sich zu behalten. Und wenn das der Fall ist, dann liegt die Schuld nicht bei Ihnen, sondern bei den Kapitänen der verschwundenen Schiffe, die nicht in der Lage waren, Disziplin an Bord zu halten.« Das war Wasser auf die Mühlen des Hafenkommandanten. Er nickte schnaufend. »Sie haben recht, Capitan«, sagte er. »Aber wie soll ich beweisen, was ich vermute?« Der Seewolf erhob sich und begann in der niedrigen Kammer auf und ab zu gehen. »Ob wir den Schatz des Königs jemals Wiedersehen, weiß ich nicht«, sagte er. »Ich vermute, die meuternden Seeleute werden irgendwo an Land pullen, die Truhen verstecken und dann die ›San Gabriel‹ anbohren und untergehen lassen.« De Roja stöhnte qualvoll auf. »Wir müssen auf jeden Fall verhindern, daß noch mehr Schiffe verschwinden«, fuhr Hasard fort. »Sie müßten den Kapitänen die Köpfe zurechtrücken und ihnen sagen, daß Sie Nachlässigkeiten nicht mehr dulden werden. Schließlich ist jeder Kapitän für sein Schiff verantwortlich. Vielleicht sollten Sie alle Kapitäne zusammenrufen, um über gemeinsame Abwehrmaßnahmen zu beraten. Am besten wäre es, die Kapitäne der hier versammelten Schiffe würden sich in der Hafenkommandantur an den grünen Tisch setzen, um das geheimnisvolle Verschwinden der drei Galeonen zu beraten. Ich bin sicher, es wird sich herausstellen, daß das alles nichts mit Hexerei zu tun hat. Die Besatzungen der verschwundenen
Schiffe müssen ihre Finger im Spiel gehabt haben. Denn selbst, wenn wir annehmen, dem englischen Kaperfahrer, den wir suchen, wäre es gelungen, ungesehen auf die Reede von Panama zu gelangen, so ist es unmöglich, ein Schiff völlig lautlos und ohne Kampf zu entführen.« »Sie haben recht«, sagte de Roja. »Wenn sich herausstellt, daß die Mannschaften aus Geldgier gemeutert haben, können Sie den Kapitänen ein Feuer unter dem Hintern entzünden, das sie auf Trab bringt, besser auf ihre Mannschaften aufzupassen. Sie als Hafenkommandant sind der einzige, der die Kompetenz dazu hat. Vielleicht sollten Sie auch den Gouverneur einschalten, denn schließlich stehen die Interessen der spanischen Krone auf dem Spiel.« Ein leichtes Lächeln zeichnete sich auf de Rojas gerötetem Gesicht ab. Das, was er da hörte, klang wie Musik in seinen Ohren. Nicht nur, daß er die Schuld an diesen empörenden Vorfällen weit von sich schieben konnte, er würde sogar noch als Mann dastehen, der diesem Treiben durch entschlossenes Eingreifen Einhalt geboten hatte. »Sie haben völlig recht, Capitan de Veloso«, sagte er. Schnaufend quälte er sich von seinem Stuhl hoch. »Ich werde den Kerlen zeigen, was es heißt, seine Pflicht für Spanien zu erfüllen!« Er wandte sich an seinen dürren Begleiter und sagte: »Notieren Sie, Garcia. Heute abend um sechs Uhr will ich die Kapitäne der neun Schiffe bei mir auf der HafenKommandantur sehen. Es ist erwünscht, daß die Kapitäne ihre Offiziere mitbringen. Erklären Sie den Kapitänen, um was es geht, und sagen Sie ihnen, daß der nächste, dessen Mannschaft meutert, mit ihr zusammen an der Großrah seines Schiffes baumeln wird.« Er nickte Hasard noch einmal zu, warf den Kopf in den Nacken und verließ wie ein römischer Diktator, der gerade einen Krieg gewonnen hat, Hasards Kammer. Der Seewolf wartete, bis Ben Brighton de Roja und seinen
Begleiter durch den Gang hinaus aufs Achterdeck geführt hatte. Erst dann begann er zu lächeln. De Roja war tatsächlich so einfältig, wie er angenommen hatte. Er sah noch das Aufleuchten im feisten Gesicht des Hafenkommandanten, als Hasard ihn an der richtigen Stelle, seiner Eitelkeit und seinem Stolz, gepackt hatte. Jetzt galt es, einen Plan auszuarbeiten, der sie gefahrlos aus dem feindlichen Hafen brachte - und der ihnen womöglich noch eine Menge Beute versprach. Während der Seewolf seinen Plan ausarbeitete, segelte die Schaluppe des Hafenkommandanten, nachdem de Roja an der Pier abgesetzt worden war, von Galeone zu Galeone.
6. »Es geht mir vor allem darum, Unruhe auf der Reede zu stiften«, sagte Hasard und blickte Ben Brighton, Carberry und Ferris Tucker an, die ihm in der Kapitänskammer gegenübersaßen. »Wir werden versuchen, einige von den Schiffen zu versenken, um so wenige Verfolger zu haben wie möglich, wenn wir diesen gastlichen Goldenen Becher verlassen. Vielleicht gelingt es uns sogar noch, die Stadt ein wenig zu plündern. Es müssen ungeheure Schätze in dieser Stadt liegen. Kapitän Drake hat viel darüber erzählt. Hier wird alles gesammelt, was von den Inkareichen an Gold und Silber herbeigeschafft wird, bevor man es über die Landenge hinüber nach Portobello an die Karibikküste bringt. Es soll Lagerhäuser geben, in denen die Goldbarren bis zur Decke gestapelt sind.« Die drei Männer blickten Hasard skeptisch an. Der Seewolf bemerkte, daß sie auch jetzt noch lieber still und heimlich von der Reede verschwinden würden, obwohl sich die Sache mit de Roja so vorteilhaft entwickelt hatte. »Selbst wenn es diese Lagerhäuser gibt«, sagte Ben Brighton
brummend, »wie willst du das Gold fortschaffen?« »Er kriegt es fertig und bittet die Soldaten, es auf die ›Isabella‹ zu schaffen, damit es in Sicherheit vor bösen Piraten ist«, sagte Ferris Tucker. Der Seewolf lächelte. »Wir werden sehen«, sagte er. »Alles kann man nicht vorausplanen. Ich werde mich der Situation anpassen.« Er holte eine Karte aus einer Rolle und breitete sie auf dem Tisch aus. Sein Finger wies auf eine Insel, die östlich von Panama dicht unter der Küste vor der Einmündung des Rio de Bayano lag. »Das ist Chepillo«, sagte er. »Sie liegt etwa eine Seemeile vor der Küste. Merk dir die Richtung, Ben, denn hinter dieser Insel werden wir uns treffen.« »Du willst tatsächlich an Land gehen?« fragte Ben Brighton. »Natürlich«, erwiderte Hasard. »Wenn ich nicht erscheine, wird de Roja sofort mißtrauisch. Wie ich ihn inzwischen kenne, erwartet er von mir Unterstützung, wenn er die anderen Kapitäne herunterputzt. Außerdem wollte ich schon immer mal Panama näher kennenlernen.« Ben Brighton preßte die Lippen zusammen. Ich sage dir gar nichts mehr, dachte er. Der verrückte Seewolf wird erst zufrieden sein, wenn sein Hals im Würgeeisen steckt. Ferris Tucker dachte praktischer. Er versuchte immer, das Beste aus einer Situation herauszuholen. Er wußte, daß der Seewolf stur wie ein Bulle seinen Weg ging, wenn er sich etwas vorgenommen hatte. Also war es sinnlos, ihn davon abbringen zu wollen. »Wie sollen wir die Schiffe versenken?« fragte er. »Wir können ja schlecht um uns ballern, während du mit den anderen Kapitänen an einem Tisch sitzt.« Hasard schüttelte den Kopf. »Am Tage unternehmt ihr nichts«, sagte er. »Ich vermute, daß die Konferenz mit de Roja und den Kapitänen bis in die Nacht
dauern wird. Sobald es dunkel ist, pullt Ferris mit ein paar Männern los, bohrt die einzelnen Galeonen an und kappt ihre Ankertrossen. Sucht euch als erste eine aus, die vom Wind auf eine andere zugetrieben wird. Danach wird Zustand auf der Reede herrschen. Niemand wird sich mehr wundern, wenn er euch herumpullen sieht. Ihr könntet Schiffbrüchige sein. In diesem Durcheinander wird es euch ohne Schwierigkeiten gelingen, euch abtreiben zu lassen, indem ihr einen ähnlichen Zustand wie auf den anderen Schiffen markiert. Wenn ihr außer Sicht der anderen seid, segelt ihr zu unserem Treffpunkt an der Ostseite von Chepillo. Ferris, du segelst mit der Pinasse hinterher. Es dürfte euch nicht schwerfallen, euch im rechten Moment abzusetzen.« »Und du?« fragte Carberry. »Ich nehme das kleine Boot, wenn ich mit Ribault zum Treffen der Kapitäne fahre«, sagte Hasard. »Mit dem Franzosen?« fragte Carberry grollend. »Warum nimmst du nicht einen von uns mit?« Der Seewolf schüttelte den Kopf. »Was heißt das - einen von uns?« erwiderte er. »Wir sind eine Mannschaft, und Ribault gehört genauso dazu wie du, Carberry. Außerdem kennt Ribault die Stadt und spricht fließend Spanisch. Wen sollte ich denn deiner Meinung nach sonst mitnehmen?« Carberry hob die Schultern. »Na, Ben zum Beispiel«, sagte er. »Ben leitet die Aktion hier auf der Reede«, sagte Hasard ernst. »Er muß die eigentliche Arbeit erledigen. Ich kann die Aktion nicht selbst leiten, weil mein Alibi bei der Besprechung in der Hafenkommandantur notwendig ist - für uns alle.« Carberry grollte noch, doch er mußte einsehen, daß es keinen anderen und wahrscheinlich auch keinen besseren Mann als den Franzosen gab, der Hasard auf seinem Weg in die Höhle des Löwen begleiten konnte.
7. Der Seewolf blickte nicht ein einziges Mal zur ›Isabella‹ zurück, als er auf die Pier zusegelte, auf die von allen Seiten Boote zusteuerten. Er wußte, daß er sich seines Schutzes beraubte, indem er sein Schiff und seine Mannschaft verließ, aber wenn er seinen Plan in die Tat umsetzen wollte, blieb ihm keine andere Wahl. Der Franzose hatte nicht ein einziges Wort erwidert, als Hasard ihm mitgeteilt hatte, daß er ihn als Offizier der ›Valparaiso‹ zur Besprechung in der Hafenkommandantur begleiten solle. Ribault war ein Mann mit einem schwer durchschaubaren Charakter. Daß man sich auf ihn verlassen konnte, hatte Hasard schon des öfteren festgestellt, doch irgend etwas war mit ihm los. Er redete nicht darüber, und der Seewolf war nicht der Mann, der jemanden über etwas ausfragte, was er nicht freiwillig erzählen wollte. Hasard hatte Ribault schon unbefangen und fröhlich erlebt, und so gefiel er ihm auch am besten. Doch meistens war er in sich gekehrt. Hasard wußte, daß der Franzose in seinem Heimatland schlimme Dinge erlebt haben mußte, und er war überzeugt, daß Ribault ihm eines Tages davon erzählen würde. Denn kein Mensch konnte jahrelang etwas in sich hineinfressen, ohne daran zugrunde zu gehen. Hasard steuerte das kleine Boot zu einer Nebenpier in einem schmalen Hafenbecken, das ziemlich versandet war und nicht mehr benutzt zu werden schien. Sie kümmerten sich nicht um die Leute, die ihnen nachstarrten und sich wahrscheinlich wunderten, daß ein Capitan es nötig hatte, sein Boot selbst zu pullen. Der Seewolf und Jean Ribault trugen die Kleidung der
Spanier, die sie zum Teil noch von der ›Valparaiso‹ und zum anderen von der ›Victoria‹ und der ›San Gabriel‹ hatten. Hasard fühlte sich in dem großen weißen Kragen, den geschlitzten weiten Ärmeln und den Pumphosen nicht sonderlich wohl, aber es war ihm nichts anderes übriggeblieben, wenn er in der Stadt nicht auffallen wollte. Sie hatten noch mehr als eine Stunde Zeit. Hasard wollte sich die Stadt noch bei Helligkeit ansehen. Hier am Hafen reihten sich Lagerhäuser an Lagerhäuser, Ställe an Ställe. Es herrschte hektische Betriebsamkeit. Immer wieder mußten sie Lastenträgern und Karren ausweichen. Jean Ribault blickte Hasard an und wies mit dem Kopf zur Seite. »Da hinten sind die Kasernen der Soldaten«, sagte er leise. Sie sprachen spanisch miteinander, damit niemand Verdacht schöpfte, wenn er plötzlich fremde Laute hörte. »Weißt du, wie viele Soldaten in der Stadt sind?« fragte Hasard. Ribault hob die Schultern. »Ich glaube, das ist sehr unterschiedlich«, erwiderte er. »Oft werden von hier aus Expeditionen unternommen. Dann wimmelt es in Panama nur so von ihnen. Auf jeden Fall müssen wir das Kasernengebiet meiden. Den rauhen Kerlen ist es gleich, ob sie einem Unschuldigen ihren Degen auf den Kopf schlagen. Vor einem Jahr wurde der Sohn des Gouverneurs im Kasernengebiet von besoffenen Soldaten erschlagen und ausgeraubt.« Sie gelangten in die Wohngebiete der Kaufleute. Die prächtigen Bauten aus Zederntholz beeindruckten Hasard. Mit ihren Dächern aus rosafarbenen Ziegeln sahen sie alle gleich aus. Der von den Mauren beeinflußte spanische Stil war unverkennbar. Vier Kirchen streckten ihre Türme in den Himmel, und an der Plaza, auf der in der Mitte ein kleiner Pavillon stand, wurde an einer mächtigen Kathedrale gebaut, die wahrscheinlich erst in
zwanzig Jahren fertiggestellt war. »Du mußt erst sehen, was abends hier los ist«, sagte Jean Ribault. »Du meinst, du bist in Sevilla oder Cordoba. Da drüben im Pavillon sitzt dann eine Kapelle, und die Plaza wimmelt nur so von Dons und Senoras, die vor Ranghöheren katzbuckeln und auf die anderen verächtlich hinabschauen. Soviel Borniertheit und Eitelkeit hast du noch nie auf einem Haufen gesehen.« »Eine nette Stadt«, sagte Hasard lächelnd. »Und vollgestopft bis obenhin mit Gold und Edelsteinen«, sagte Ribault. »Nur, daß die Pfeffersäcke darauf aufpassen wie auf die Unschuld ihrer Töchter. Sie verzeihen dir alles. Du kannst ein paar Sklaven von ihnen erschlagen oder ihnen ins Gesicht spucken und sie verprügeln - aber geh an ihren Reichtum oder an ihre Töchter, und sie werden zu reißenden Bestien.« »Pech für sie, daß wir es gerade auf ihren Reichtum abgesehen haben«, sagte Hasard. Er zog die Lippen in die Breite, und zwei Reihen prächtiger Zähne blitzten in der rötlichen Nachmittagssonne. Der Franzose führte Hasard bis zum Rand der eigentlichen Stadt, an der die armseligen Hütten der Sklaven standen. Sie waren aus Stroh errichtet, und Hasard konnte sich ausmalen, daß in diesem Schmutz ein Mann nicht viel älter als fünfundzwanzig Jahre wurde. Im weiten Bogen gelangten sie zurück zum Lagerkomplex am Hafen. Hier wurde ein Zehntel der Erzeugnisse aufgestapelt. Es war der Anteil des Königs. In großen Maultierkarawanen wurden die Schätze von Zeit zu Zeit über den Isthmus von Darien transportiert. In Portobello nahm die Silberflotte des Königs die Schätze auf und brachte sie dann über Havanna ins Mutterland. Hasard stockte der Atem, als er den grauen Barrenstapel vor einer der Lagerhallen erblickte. Er stieß Jean Ribault an.
Der Franzose reagierte gelassen. Er kannte Panama. Für ihn war es wie für die Bewohner der Stadt nichts Außergewöhnliches, daß aus Platzmangel die Silberbarren vor den vollgestopften Lagerhäusern gestapelt wurden. Die Barren waren größer als normal. Wahrscheinlich waren mindestens zwei Männer nötig, um einen von ihnen davonzuschleppen. »Niemand kann das Zeug tragen«, sagte Ribault. »Und jeder weiß, daß er am nächsten Tag einen Kopf kürzer ist, wenn er sich daran vergreift.« »Was muß erst in den Lagerhäusern sein, wenn das Silber schon draußen gestapelt wird«, sagte Hasard heiser. Sie gingen weiter, denn nun wurde es langsam Zeit, daß sie sich zur Hafenkommandantur begaben. Der verwehte Klang einer Schiffsglocke trieb sie zur Eile an. Sie passierten ein langgestrecktes Lagerhaus, aus dem ein fürchterlicher Gestank drang. Die beiden Flügeltüren standen weit offen. In der Dunkelheit des Lagerhauses war kaum etwas zu erkennen, doch Hasard hörte an den dumpfen Lauten, daß dort drinnen Menschen waren. Er blieb trotz des Gestankes stehen und schaute hinein. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die Dunkelheit. Sie weiteten sich, als sie die Käfige wahrnahmen, in denen schwarze Menschen wie Tiere eingesperrt waren. Jean Ribault trat neben Hasard. »Ein Geschäft, das eine Menge Profit bringt«, sagte er leise. »Die Händler sollen Genuesen sein, die diese armen Teufel aus Afrika herüberbringen. Da sie kräftiger und ausdauernder sind als die Indianer, erzielen die Händler für sie hohe Preise.« Der Seewolf preßte die Lippen aufeinander. Er dachte an Batuti und seine Stammesgefährten, die er vor einem Schicksal wie diesem bewahrt hatte, als er das Schiff kaperte, daß sie als Sklaven in die Neue Welt hatte bringen sollen. Seit Hasard den riesigen Neger in seiner Mannschaft hatte,
wußte er, daß es trotz der verschiedenen Hautfarbe keinen Unterschied zwischen den Menschen alle Kontinente gab. Das einzige Kriterium schien ihm Gut oder Böse, und er hatte in seinen jungen Jahren schon erfahren müssen, daß es unter den Weißen die meisten Bösen gab. Aber vielleicht bildete er sich das nur ein, weil er zu wenige farbige Menschen kannte. Jean Ribault, der merkte, was in Hasard vorging, zerrte ihn weiter. »Du kannst nichts daran ändern«, sagte er. »Wir müssen uns beeilen, wenn wir die Hafenkommandantur noch rechtzeitig erreichen wollen.« Hasard nickte verbissen. Es gab keine Möglichkeit, den armen Teufeln zu helfen, wenn er nicht ihr ganzes Unternehmen gefährden wollte. Er wandte sich abrupt ab und ging neben Jean Ribault her die schmale Straße zwischen den Lagernhäusern entlang, bis sie auf einen großen Platz traten, der ihnen den Blick auf die Reede frei gab. Das große Gebäude auf der gegenüberliegenden Seite war die Hafenkommandantur. Der Seewolf sah, wie ein Mann, der sicher Kapitän eins der Schiffe war, das Haus betrat. Zwei seiner Offiziere begleiteten ihn. Hasard nickte dem Franzosen zu. Nebeneinander überquerten sie den Platz. Ochsenkarren und Maultiere wirbelten Staub hoch. Schwitzende Männer liefen an ihnen vorbei, und unten am Hafen schlug ein Spanier mit einer Peitsche auf einen Indianer ein, der unter dem Gewicht eines Sackes zusammengebrochen war. Über der Veranda der Kommandantur, die von geschnitzten Zedernstämmen gestützt wurde, hing das Wappen der Stadt Panama. Es war zweigeteilt. Auf der linken Seite zeigte es einen Schild auf goldenem Felde, auf der rechten zwei Karavellen und eine Handvoll Pfeile. Über dem Wappen stand der Polarstern, der Freund der Seefahrer. Der Schild wurde vom Wappen des spanischen Zwillingskönigreiches, Löwen
und Burgen, kreisartig eingefaßt. Hasard hörte den Stimmenlärm, als er die Veranda betrat. Er bemühte sich, das Lächeln, das sich auf seine Lippen schleichen wollte, zu unterdrücken. Die Lage war zu ernst, als daß sich ein spanischer Kapitän ein Lächeln erlauben durfte. Der Seewolf war beeindruckt, als er den großen Saal sah, in dessen Mitte ein riesiger Kronleuchter von der Balkendecke herabhing. An den Wänden hingen riesige Gemälde, die die Eroberungszüge der Konquistadoren zeigten. Mitten unter dem Kronleuchter stand eine Gruppe von Männern, die ähnlich gekleidet waren wie Hasard und Ribault. In ihrer Mitte entdeckte Hasard das gerötete, feiste Gesicht des Hafenkommandanten Alfonso de Roja. De Roja schien in der Klemme zu stecken, denn seine kleinen Augen huschten hin und her, als suchten sie irgendwo Hilfe. Hasard sah das Aufleuchten in de Rojas Augen. Der Hafenkommandant hatte ihn und Ribault entdeckt. Er breitete seine Arme aus, schob ein paar der Männer hastig zur Seite und eilte auf Hasard zu. »Da sind Sie ja endlich, Capitan de Veloso!« rief er erleichtert. »Wir warten schon eine ganze Weile. Ich wollte die Besprechung ohne Sie nicht beginnen.« Der Seewolf drückte de Rojas verschwitzte Hand, die schwammig war und nicht fest zudrücken konnte. Er war froh, als de Roja seine Hand wieder freigab. Der Hafenkommandant drehte sich um und sagte: »Die Besprechung kann beginnen, Senores. Bitte nehmen Sie dort drüben am Tisch Platz.« Hasard sah die mißtrauischen und haßerfüllten Blicke der anderen Kapitäne. Wahrscheinlich hatte de Roja ihnen bereits erzählt, wer die Idee zu dieser Besprechung gehabt hatte. Und vielleicht kannten sie auch schon die Vermutungen betreffs der Galeonen, die Hasard gegenüber de Roja geäußert hatte. Hasard nickte Jean Ribault zu und folgte dem
Hafenkommandanten zum Tisch, wo de Roja auf die beiden Stühle neben sich wies. »Setzen Sie sich, Senores«, sagte er zu Hasard und dem Franzosen. Er selbst blieb stehen. In seinen Augen war wieder der Ausdruck, den Hasard bereits beim Verlassen der ›Isabella‹ an ihm entdeckt hatte. Jetzt, da er Capitan de Veloso an seiner Seite hatte, war sein Mut zurückgekehrt. »Ich bin empört über die Vorfälle der letzten beiden Nächte!« begann er mit erhobener Stimme. »So etwas ist noch nie geschehen, solange ich Hafenkommandant bin. Früher herrschte auf den Schiffen Seiner Majestät noch Disziplin! Niemals hätte es eine Ankerwache gewagt, zu meutern und des nachts heimlich von der Reede zu verschwinden.« Einer der Kapitäne sprang auf. »Ich muß mich gegen diese Verdächtigungen verwahren, Don Alfonso!« rief er mit zornbebender Stimme. »Meine Männer würden niemals meutern!« De Rojas Gesicht lief rot an. »Und wie wollen Sie mir erklären, daß Ihre ›Victoria‹ spurlos verschwunden ist?« gab er gereizt zurück. »Ich habe keinen Sturm bemerkt, der die Galeone hätte losreißen und abtreiben lassen. Ich glaube auch nicht an Geister, die sich nachts große Schiffe von der Reede holen. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Kaperer es wagen würde, die Reede von Panama anzulaufen, um sich hier Beute zu suchen. Irgend jemand hätte etwas bemerkt!« Der Capitan der ›Victoria‹ preßte die Lippen zusammen. Er sah wütend und verzweifelt zugleich aus. Er war überzeugt davon, daß seine Mannschaft mit dem Verschwinden der Galeone nichts zu tun hatte, aber er hatte nicht den Schimmer einer Idee, was wirklich vor sich gegangen war. »Es gibt nur eine vernünftige Erklärung für die Vorfälle«, sagte de Roja voller Genugtuung, als er sah, daß der Capitan zurücksteckte. »Die Geldgier hat die Ankerwache dazu
getrieben, die Schiffe in ihre Gewalt zu bringen, und dann hat sich sogar ein Capitan dazu herabgelassen, den Gehorsam gegen seinen König zu vergessen!« Das nahmen die anderen Kapitäne nicht mehr hin. Hasard las die Empörung in ihren Augen, aber bevor irgendeiner von ihnen etwas sagen konnte, stand er auf und blickte de Roja an. »Ich glaube nicht, daß wir den Capitan der ›San Gabriel‹ verdächtigen sollten«, sagte er. »Eher nehme ich an, daß er von den Leuten, die das Schiff in ihre Gewalt gebracht haben, überwältigt wurde.« Er hatte absichtlich vermieden, von Meuterern zu sprechen, um die anderen Kapitäne nicht vollends gegen sich aufzubringen. »Ich kann das alles nicht glauben«, sagte ein anderer und schüttelte sein mähnenartiges Haar. »Irgend etwas stimmt an der ganzen Sache nicht. Sie, Don Alfonso, sind für die Sicherheit unserer Schiffe auf der Reede verantwortlich. Denn ebenso, wie Sie vermuten, daß die Ankerwachen gemeutert haben und mit den Galeonen verschwunden sind, ist es möglich, daß Ihre Soldaten wußten, welche Schiffe die wertvollsten Dinge geladen hatten. Sie sind nachts zu den Galeonen hinübergepullt, haben die Ankerwachen ermordet und sind dann auf Nimmerwiedersehen verschwunden.« Die anderen Kapitäne murmelten beifällig. De Rojas Gesichtsfarbe wechselte hektisch von Weiß in Rot. »Das - das ist ...« Er begann zu stottern und holte tief Luft. »Wenn das der Fall wäre«, sagte Hasard in die Stille, »wäre Don Alfonso sicherlich mitgeteilt worden, daß einige seiner Soldaten desertiert sind. Oder nehmen Sie an, daß die drei Galeonen jeweils nur von einem Soldaten gekapert wurden, der gerade Nachturlaub hatte?« De Rojas Augen begannen wieder zu strahlen. Er blickte Hasard dankbar an. Der Kapitän mit dem mähnenartigen Haar hob die Schultern. Er war jetzt mit seinem Latein am Ende. De Roja gewann wieder Oberwasser. Er warf sich in die
Brust, als er fortfuhr: »Ich behaupte ja nicht, daß die gesamten Mannschaften keine Disziplin hätten oder Sie, meine Herren, mit den Meuterern gemeinsame Sache gemacht hätten. In jeder Schiffsbesatzung gibt es üble Subjekte. Vielleicht ist es ihnen gelungen, die anderen zu überreden oder zu gewinnen, ihnen zu helfen. Vielleicht sind auch welche, die sich geweigert haben, zu meutern, von den anderen umgebracht worden. Aber einen Vorwurf kann ich Ihnen nicht ersparen, Senores. Wer so wertvolle Ladungen wie die ›Victoria‹ oder die ›San Gabriel‹ an Bord hat, ist verpflichtet, seine Mannschaft im Auge zu behalten und dafür zu sorgen, daß nicht die Gier nach Reichtum in den Kerlen überhandnimmt.« Hasard hatte sich wieder gesetzt und den Kapitän der ›Victoria‹ im Auge behalten. Der Spanier konnte sich nicht mehr beherrschen. Die Wut über die Anschuldigungen schien ihn aufzufressen. Als de Roja geendet hatte, sprang er auf, fuchtelte mit den Armen in der Luft und schrie: »Ich lege für jeden einzelnen meiner Männer die Hand ins Feuer! Niemand würde es wagen, auf einem Schiff, das unter meinem Kommando steht, zu meutern! Ich verwahre mich gegen eine solche Unterstellung, solange Sie keine Beweise für Ihre empörenden Vorwürfe vorweisen können, Senor de Roja!« Der Hafenkommandant erbleichte. Seine Lippen bebten. Nicht der Inhalt der Rede des Kapitäns hatte ihn verletzt, sondern die Tatsache, daß der Kapitän ihm plötzlich die ehrende Anrede Don Alfonso nicht mehr gewährte. »Wollen Sie damit behaupten, ich wäre an diesen Vorfällen beteiligt und versuchte jetzt, die Schuld anderen in die Schuhe zu schieben?« fragte er giftig. »Ich will gar nichts behaupten«, gab der Kapitän der ›Victoria‹ zurück. »Ich verlange nur Beweise, wenn man auch nur den geringsten meiner Männer eines Verbrechens beschuldigt!«
Hasard dachte sich seinen Teil über den spanischen Kapitän, der sich hier so aufplusterte und seine Männer in Schutz nahm. Er spielte sich als Ehrenmann auf und verteidigte seine Besatzung gegen den Vorwurf, die Schätze der ›Victoria‹ geraubt zu haben. Dabei hatte sich dieser Ehrenmann seit zwei Jahren selbst die Taschen gefüllt und Unterschlagungen begangen, indem er von den Schätzen, die er nach Panama zu transportieren hatte, bestimmt keine kleinen Mengen für sich abzweigte. »Ich will nichts weiter, als die Schatztruhen, die für den König bestimmt waren, zurückhaben!« brüllte de Roja. »Sie wollen Ihren einträglichen Posten nicht verlieren«, sagte der Kapitän der ›Victoria‹ kalt. De Roja schnappte nach Luft. Seine rechte Hand griff an die linke Brustseite. Sein Gesicht war dunkelrot angelaufen, die Augen quollen aus ihren Höhlen. Der Kapitän mit dem mähnenartigen Haar erhob sich. »Meine Herren«, sagte er. »So geht es doch nicht! Was nutzt es, wenn wir uns gegenseitig beschuldigen? Wir müssen herausfinden, was wirklich geschehen ist, und wir müssen vermeiden, daß noch weitere Schiffe verschwinden. Ich schlage vor, daß Don Alfonso einen festen Wachtörn mit ein paar Schaluppen vor der Reede einrichtet. Dann wird es niemandem gelingen, eine weitere Galeone zu kapern.« Hasard blickte de Roja ah. Wie würde der Hafenkommandant auf diesen Vorschlag reagieren? Hasard war sich darüber im klaren, daß der Plan, den er mit Carberry, Ferris Tucker und Ben Brighton besprochen hatte, in Gefahr geriet, wenn de Roja auf den Vorschlag des Kapitäns einging. Doch wenn de Roja auch in vielen Dingen einfältig zu sein schien, er hatte einen sechsten Sinn dafür, wenn ihm jemand die Verantwortung für etwas Unangenehmes in die Schuhe schieben wollte. De Roja schüttelte wild den Kopf.
»So geht das nicht«, sagte er. »Nicht ich bin für Ihre Schiffe verantwortlich, sondern Sie selbst. Wenn jemand einen Wachturn organisiert, dann sind Sie es, Senores!« »Damit Sie uns hinterher wieder beschuldigen können, wenn etwas geschieht!« rief der Kapitän der ›Victoria‹. »Sie erwarten also, daß wieder eine Galeone verschwindet?« fragte de Roja lauernd. Der Kapitän ließ sich wutschnaubend auf seinen Stuhl fallen. Er preßte die Lippen aufeinander und sagte kein Wort mehr. De Roja reckte den kurzen Hals. Er fühlte sich als Sieger. Sein triumphierender Blick streifte Hasard, und dieser Blick besagte, daß de Roja dem Capitan de Veloso seine Hilfe niemals vergessen würde. Ein Diener trat neben den Hafenkommandanten und flüsterte ihm etwas ins Ohr. De Roja nickte und wandte sich dann wieder an die Kapitäne. »Der Gouverneur erweist Ihnen die Gunst seines Besuches«, sagte er. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, so belästigen Sie ihn bitte nicht mit den Problemen, die wir soeben geklärt haben. Er gibt heute abend ein Fest, und er kann sehr unangenehm werden, wenn man ihm die Laune verdirbt.« Die Kapitäne schwiegen erbittert. Hasard konnte sie gut verstehen. Sie hatten den Schaden davongetragen und mußten sich auch noch beschuldigen lassen, ihre Pflichten vernachlässigt zu haben. Hasard drehte sich um, als er Schritte vernahm. Er hatte von Ribault gehört, daß Diego de Avila ein Großneffe des blutrünstigen Konquistadors Pedro Arias de Avila war, den man Pedrarias nannte. Doch Diego de Avila schien nicht viel von seinem Großonkel geerbt zu haben. Das Leben im Goldenen Becher Panama hatte ihn verweichlicht. Sein Körper war noch aufgeschwemmter als der de Rojas. Mit seinem runden, rosigen Gesicht, das ohne Hals auf den Schultern saß, sah er aus wie ein in Kleider gehülltes Mastschwein.
»Ah, die Herren sind bereits zu einer Entscheidung gelangt?« sagte er mit einer hellen, weichen Stimme, die einen Schauer auf Hasards Rücken erzeugte. Er wedelte sich mit einem Spitzentuch Kühlung zu. Hasard hätte fast die Nase gerümpft, als der Gouverneur neben de Roja stehenblieb. Eine Wolke von Parfüm und Schweiß ging von ihm aus, die einem Mann, der den Seewind gewohnt war, den Atem nehmen konnte. »Das ist gut, das ist sehr gut«, fuhr der Gouverneur fort, ohne auf eine Antwort gewartet zu haben. »An einem Abend wie diesem sollte es keine Probleme geben. Das Fest hat schon begonnen, und ich möchte Sie herzlich dazu einladen.« Sein Blick streifte Hasard, wanderte weiter und kehrte dann langsam zurück. Die Stimme war Hasard schon unangenehm genug gewesen. Der Blick aber trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Verdammt, hoffentlich verliebt sich das Mastschwein nicht in mich, dachte Hasard entsetzt. Diego de Avilas Augen tasteten Hasards männliches Gesicht in allen Einzelheiten ab. Der Gouverneur genierte sich nicht, seinen Blick zu Hasards Beinen hinabgleiten zu lassen, die in engen Strümpfen steckten. Jedem anderen Mann hätte Hasard für einen solchen Blick die Faust ins Gesicht gesetzt, aber das konnte er sich in diesem Augenblick nicht leisten. Der Blick des Gouverneurs hob sich wieder. »Sie sind Capitan Diaz de Veloso?« fragte er verzückt. Er schien grundsätzlich keine Antworten zu erwarten. Ohne Pause fuhr er fort: »Don Alfonso hat mir von Ihnen erzählt. Ich muß sagen, er hat nicht übertrieben. Don Miguel wird überrascht sein, wenn er Sie sieht.« Er drehte sich um und zog de Roja am Arm zur Seite, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Dabei ließ sein lüsterner Blick nicht von Hasard ab. Mein Gott, dachte Hasard, wer ist denn nun schon wieder
Don Miguel? Teilte sich der Gouverneur vielleicht mit ihm seine Eroberungen? Hasard war drauf und dran, seinen Degen zu ziehen und sich einen Weg an die Luft zu bahnen, damit er wieder frei atmen konnte, aber ein Blick zu den Fenstern zeigte ihm, daß draußen gerade erst die Dämmerung hereingebrochen war. Er mußte warten. Noch konnte Ben Brighton nicht losschlagen. Zum Glück hatten de Roja und die Kapitäne über dem Besuch des Gouverneurs vergessen, einen Entschluß zu fassen, wie die Galeonen in dieser Nacht geschützt werden sollten. Niemand wagte es, mit einem Einwand die gute Laune des Gouverneurs zu trüben. Wenn Diego de Avila auch äußerlich nichts von seinem Großonkel geerbt hatte, so war doch allgemein bekannt, daß er nicht weniger geldgierig und blutrünstig war als sein Vorfahr. »Folgen Sie mir, Senores«, sagte der Gouverneur. »Draußen warten zwei Karossen.« Er wandte sich an Hasard. »Bereiten Sie mir das Vergnügen, an meiner Seite zum Palast zu fahren, Don Diaz?« Hasard stöhnte innerlich auf. Er sah das Grinsen auf Jean Ribaults Gesicht, der hinter dem Gouverneur stand, und er nahm sich vor, dem Franzosen die Schadenfreude später mit der Faust aus dem Gesicht zu wischen. »Es ist mir eine große Ehre, Gouverneur«, sagte Hasard mit heiserer Stimme. Diego de Avila seufzte leise. Vielleicht schrieb er Hasards Heiserkeit seiner erwartungsvollen Erregung zu. »Nennen Sie mich Don Diego«, sagte er lächelnd, dann watschelte er vor Hasard und de Roja her zur Tür und auf eine prunkvolle Karosse zu, die jedem König zur Ehre gereicht hätte.
8.
Hasard dankte im stillen den Speichelleckern und Arschkriechern, die sich um Diego de Avila drängten. Sie ersparten ihm die Gegenwart des schwitzenden Mastschweins, das mit Frauen nicht viel im Sinn zu haben schien. Die Fahrt zum Palast war für den Seewolf eine einzige Qual gewesen, denn die Ausdünstungen des Gouverneurs, vermischt mit dem Geruch des süßlichen Parfüms, das er literweise benutzte, hatten ihm den Atem genommen. Diego de Avila war zum Glück ein Mann mit Bildung, der sich der Abartigkeit seiner Neigungen durchaus bewußt zu sein schien. Jedenfalls mußte Hasard anerkennen, daß er seine Stellung nicht ausnutzte und gleich mit der Tür ins Haus fiel. Wenn der Gouverneur nicht so verdammt gestunken hätte, wäre die Unterhaltung mit ihm sogar äußerst angenehm gewesen. Er war ein Kunstliebhaber und berichtete in einem Spanisch, das wie Musik in Hasards Ohren klang, über das große Werk seines Königs, der sich im Schloß »El Escorial« ein Denkmal für die Ewigkeit gesetzt hatte. Der König hatte die großen italienischen Maler Tizian und Tintoretto an den Hof geholt und ihren unsterblichen Werken einen hervorragenden Platz geschenkt. Als Hasard dann den Palast betreten hatte und nicht mehr die unmittelbare Nähe Diego de Avilas genießen mußte, gefiel ihm der Gouverneur schon besser. Er hatte Geschmack. Das bewies die Ausstattung des großen Ballsaals, an dessen Wänden Gemälde und Wandteppiche hingen, wie Hasard sie noch nie gesehen hatte. Mit den schweren Portieren aus Samt und Brokat bildeten die Kunstwerke einen Einklang, wie ihn Hasard sich schöner nicht vorstellen konnte. Jean Ribault war nicht weniger beeindruckt. Er war erst im Ballsaal wieder zu Hasard gestoßen, nachdem die Höflinge, die Hasard eifersüchtig abschätzten, den Gouverneur vom Seewolf
getrennt hatten. »Einfach phantastisch«, sagte Jean Ribault leise. »Selbst am Hofe des französischen Königs habe ich einen solchen Prunk nicht gesehen.« Hasard blickte ihn von der Seite an. »Kennst du dich am französischen Hof aus?« fragte er. Das Gesicht Jean Ribaults wirkte plötzlich verschlossen. Ein Schatten huschte über seine Züge. Hasard bemerkte, daß er mit seiner Frage einen Fehler begangen hatte. Er sprach weiter, als wäre die Frage rein rhetorisch gewesen. »Der Gouverneur hat nicht nur Geschmack, was die Ausschmückung seines Palastes betrifft, er scheint auch die schönsten Blumen dieser Provinz an seinen Hof geholt zu haben.« Jean Ribault begann wieder zu lächeln. Er nickte und strich mit dem Zeigefinger der rechten Hand genießerisch über seinen schmalen Oberlippenbart. »Das sind die Mädchen, von denen ich dir erzählt habe«, sagte er. »Sei nur vorsichtig. Sie sind gefährlicher als ein Pulverfaß mit kurzer Lunte. Keine von ihnen scheint abgeneigt zu sein, aber man weiß nie, ob nicht hinter der nächsten Säule ein eifersüchtiger Bräutigam mit gezücktem Dolch oder geladener Pistole steht.« »Warum steht er denn hinter der Säule und nicht neben seiner Braut?« fragte Hasard. »Damit man sehen kann, wo ein Angriff Erfolg verspricht und wo nicht.« »Ah, du scheinst die spanischen Mädchen noch nicht recht zu kennen«, erwiderte Ribault grinsend. »Sie sind wie kleine Vulkane. Sie fühlen sich zwar an die Konvention gebunden und sind darauf aus, einen Bräutigam zu kriegen, sobald sie den Unterschied zwischen Männchen und Weibchen begriffen haben, aber wenn sie ihn haben, lassen sie ihn jahrelang zappeln, bis er kapiert hat, daß er ihr zu dienen und sie zu
beschützen hat, wenn ein anderer Mann das von ihr haben will, was sie mit ihrer Koketterie herausgefordert hat.« Hasard blickte den Franzosen mit hochgezogenen Brauen an. »Du scheinst die Senoritas ausführlich studiert zu haben«, sagte er. »Eine Notwendigkeit in dieser Welt, wenn man als Mann sein Vergnügen nicht nur bei den Hafenweibern suchen will«, sagte er. »Es ist ein gefährliches Spiel, aber die Gefahr und die Ungewißheit, ob der eigene Charme größer ist als die Standhaftigkeit einer Schönen, erhöht den Reiz nur noch.« »Wenn wir Zeit haben, werde ich bei dir Unterricht nehmen«, sagte Hasard. Jean Ribaults Gesicht verzog sich zu einem verwegenen Lächeln. »Wir können gleich damit anfangen«, sagte er leise. »Siehst du dort drüben neben der Säule das zierliche Wesen in dem goldenen Kleid? Sie verschlingt dich bereits die ganze Zeit mit ihren großen schwarzen Augen. Sie hat schon zwei Tänze abgelehnt. Ich glaube nicht, daß sie dir einen Korb geben würde.« »Und wo ist ihr Bräutigam?« fragte Hasard. Jean Ribault grinste. »Gut aufgepaßt«, lobte er. »Siehst du den langen, dürren Kerl, der ungefähr vier Schritte von ihr entfernt lustlos mit der alten Dame plaudert? Wenn mich mein Auge nicht trübt, müßte er es sein. Sein geierartig vorgereckter Hals und die unsteten, brennenden Augen sind typisch für einen Bräutigam.« »Und woran siehst du, daß es ihr Bräutigam ist?« fragte Hasard erstaunt. »Paß mal auf, was er tut, wenn ein Mann an seiner Braut vorbeigeht. Ich wette, sein Hals wird noch länger, und seine Hände krallen sich zu Fäusten zusammen.« Hasard beobachtete ihn eine Weile, aber er hatte wohl noch nicht den Blick dafür wie Ribault.
»Hast du gesehen?« fragte der Franzose leise. Hasard schüttelte den Kopf. »Das lernst du schon noch«, tröstete Ribault ihn. »Du hast das Glück, bei deinem ersten Versuch einen Meister seines Fachs zur Seite stehen zu haben. Ich werde dir den dürren Gockel vom Leib halten. Nutze deine Chance. Wie ich das Mädchen einschätze, hat sie ihren Bräutigam an der Kette und schätzt ihr Vergnügen wahrscheinlich höher ein als ihre Erziehung.« »Meinst du, daß jetzt der richtige Zeitpunkt für solche Experimente ist?« fragte Hasard. »Vergiß nicht, was wir vorhaben.« Der Franzose hob die Schultern. »Wir haben noch mehr als drei Stunden Zeit, bevor Ferris mit seiner Arbeit auf der Reede beginnt. Und wir fallen eher auf, wenn wir hier nur herumstehen, statt die Gelegenheit zu nutzen, uns mit einer schönen Frau zu unterhalten. Man erwartet nichts anderes von uns. Kapitäne sind die gefürchtesten Hechte im Karpfenteich, Besonders, wenn einer auftaucht, auf den die Schönen nur so fliegen.« »Damit meinst du sicherlich dich, wie?« sagte Hasard. Ribault lächelte eine vorübertanzende junge Frau an. »Die Natur hat mich nun einmal bevorzugt«, sagte er. »Warum soll ich das nicht ausnutzen?« »Ich dachte, du wolltest mir den Bräutigam vom Hals halten.« Der Franzose seufzte. »Na gut, schließlich habe ich es versprochen. Ich hoffe, du weißt mein Opfer zu schätzen.« »Man muß auch mal verzichten können«, sagte Hasard grinsend. Er blickte zu dem grazilen Mädchen hinüber, das immer noch am selben Fleck stand. Ihre großen Augen glitten immer wieder zu ihnen herüber. Hasard sah, wie der schlanke junge Mann mit dem langen Hals an ihre Seite trat. Sie sagte etwas zu ihm, ohne daß sie den Kopf wandte. Der Mann preßte die Lippen zusammen und begab sich wieder zu der alten
Dame, mit der er vorher lustlos geplaudert hatte. Hasard ging los, ohne sich noch einmal nach Ribault umzudrehen. Seine Augen waren unverwandt auf das Mädchen gerichtet, das nun doch etwas unruhig wurde, als es merkte, daß der große, gutaussehende Fremde mit dem verwegenen Gesicht geradewegs auf sie zuging. Aus den Augenwinkeln sah Hasard, daß der Bräutigam unruhig wurde. Er wollte sich schon wieder an die Seite seiner Verlobten stellen, aber ein kurzer Blick aus den großen, dunklen Augen nagelte ihn an seinem Platz fest. Hasard verzog seine Lippen zu einem Lächeln. Er bedauerte den armen Tropf, der sich von diesem Mädchen demütigen ließ. Es wäre besser gewesen, er hätte sich eine Senorita ausgesucht, die vielleicht weniger gut aussah, ihn dafür aber liebte. Der Seewolf schob diese Gedanken beiseite. Er wußte, daß es dem jungen Spanier nicht viel helfen würde, wenn er sich von seiner Braut fernhielt. Sie würde sich einen anderen Platz zum Flirten suchen. Ihre Atemzüge gingen schneller. Hasard ließ seinen Blick eine Weile auf ihrem schicklichen Ausschnitt ruhen, der trotzdem genau zeigte, was einen Verehrer erwartete, wenn es ihm gelang, die Festung zu erobern. Hasard verbeugte sich leicht. Sein Blick tauchte tief in den ihren und zauberte eine sanfte Röte auf ihr Gesicht. »Verzeihen Sie meine Unverfrorenheit, mit der ich Sie anspreche, Senorita«, sagte er, »aber seit ich Sie vorhin zum ersten Mal sah, bin ich nicht mehr Herr meiner selbst. Sagen Sie mir, daß Sie nicht mit mir tanzen werden, und ich werde mir hier vor Ihren Augen meinen Degen ins Herz stoßen.« Ihre großen Augen waren tief wie das unendliche nächtliche Meer. Hasard sah, wie sich die Pupillen noch etwas weiteten. Er dachte schon, daß er ein wenig zu dick aufgetragen hätte,
aber dann mußte er feststellen, daß Jean Ribault recht hatte, wenn er sagte, daß die dümmsten Sprüche bei der holden Weiblichkeit den größten Erfolg zeitigten. Ihre vollen Lippen glänzten feucht. Er sah die hochgewölbte Zunge rosafarben durch die ebenmäßigen Zahnreihen schimmern. »Ich werde mit Ihnen tanzen, Senor«, erwiderte sie. »Ich möchte nicht dafür verantwortlich sein, daß sich ein Mann wie Sie seinen Pflichten der Damenwelt von Panama gegenüber auf so undelikate Weise entzieht.« Sie hatte ihre erste Befangenheit überwunden. Ein Lächeln zauberte ein Licht auf ihr Gesicht. Hasard trat dicht an sie heran, nahm die ihm gereichte Hand und hauchte einen Kuß darauf. Er roch die Frische ihrer Haut, er ertappte sich dabei, wie er in Gedanken bereits die sanft gewölbten Rundungen streichelte, die sich ihm so verlockend darboten. Hasard spürte plötzlich, daß er sich auf ein Spiel mit dem Feuer eingelassen hatte. Zu lange war er auf See gewesen. Seit er mit Francis Drake von England aufgebrochen war, um wie ein Wolf in die Gewässer der Spanier einzudringen und Beute zu schlagen, hatte er ein Mädchen wie dieses nicht mehr gesehen, geschweige denn berührt. Sie war außergewöhnlich schön. Hasard redete sich ein, daß sie wahrscheinlich ein kleines, eiskaltes Biest war, das sich auf Kosten ihres Bräutigams amüsieren wollte, aber das konnte die Faszination, die sie auf ihn ausübte, nicht mindern. »Sie haben mich um einen Tanz gebeten, Senor.« Hasard spürte ihre Hand auf seinem Arm und erwiderte ihr Lächeln. »Ich hätte Sie nicht ansprechen dürfen«, sagte er leise. »Sie werden mir meinen Schlaf rauben, wenn ich wieder auf See bin.« Sie lachte hell. »Bis dahin wird hoffentlich noch einige Zeit vergehen«, sagte
sie fröhlich. Sie zog ihn zur Tanzfläche und stellte sich ihm gegenüber in der Reihe der Tanzenden auf. Aus den Augenwinkeln hatte Hasard den jungen Spanier gesehen, dem dieses Mädchen versprochen war. Er war puterrot im Gesicht. Er versuchte den Arm Jean Ribaults, der auf ihn einredete, abzustreifen, doch der Franzose war kräftiger als er. Während des Tanzes sprachen sie wenig. Mehrmals streifte sie absichtlich seinen Arm mit ihrem Busen, und als Hasard seinerseits damit begann, sie hier und da wie zufällig zu berühren, sah er, wie ein leichtes Zittern durch ihren zierlichen Körper lief. Er dachte nicht mehr an ihren Bräutigam. Er sah nur noch dieses bezaubernde Geschöpf, das ihm wie ein Geschenk des Himmels erschien. Er war plötzlich sicher, daß sie nicht allein die Schuld daran trug, daß sie ihren Verehrer nicht nett behandelte. Vielleicht hatten ihre Eltern sie mit dem jungen Mann verkuppelt, weil er wohlhabend war. Sie tanzten fast eine Stunde lang. Er stellte sich ihr als Capitan Diaz de Veloso vor und brauchte nicht einmal sehr viel zu lügen, als er ihr sagte, daß er sich unsterblich in sie verliebt habe. Hasard war mit sich selbst so stark beschäftigt, daß er nicht das volle Ausmaß seiner Wirkung auf das junge Mädchen erkannte. Als sie im Garten des Gouverneurspalastes im Schatten eines Baumes standen und Hasard sie leidenschaftlich küßte, brach in dem Mädchen ein Vulkan aus, der alle Überlegungen und Gedanken in ihr fortschwemmte. Hasard hörte das laute Rufen nur im Unterbewußtsein. Er war betäubt vom Geruch der Hibiskusblüten und der Haut des leidenschaftlichen Mädchens, dessen Körper sich ihm verlangend entgegendrängte. Er spürte, wie sie zusammenzuckte und sich aus seinen
Armen löste. »Was ist?« flüsterte er und versuchte sie wieder an sich zu ziehen. »Sie rufen deinen Namen«, sagte sie atemlos. Hasard hob den Kopf. Jetzt hörte er es auch. Mehrere Männer näherten sich von der großen Terrasse des Palastes und riefen nach Capitan de Veloso. Hasard wollte das Mädchen weiter zwischen die Bäume ziehen, aber sie blieb stehen. »Hörst du nicht?« fragte sie atemlos. »Der Gouverneur sucht dich. Du mußt zu ihm gehen. Er ist sehr grausam, wenn man ihn ärgert.« »Und ich bin sehr böse, wenn man mich stört«, sagte Hasard. »Bitte, Diaz«, flüsterte sie. »Wir können uns doch später noch sehen ...« Eben nicht, dachte Hasard. Wahrscheinlich würde der fette Gouverneur, der sich mehr zu Männern als zu Frauen hingezogen fühlte, ihn nicht wieder gehenlassen, wenn er ihn erst mal in den Klauen hatte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich zu melden. Es war nicht leicht, das Mädchen zurückzulassen. Vielleicht würde er sie nie Wiedersehen. Aber da war etwas anderes, das noch wichtiger war. Hasard dachte an die Männer auf der ›Isabella‹, die jetzt vielleicht schon in einem Boot unterwegs waren, um die spanischen Galeonen zu den Fischen zu schicken. »Geh«, sagte sie leise. »Ich werde allein in den Tanzsaal zurückgehen.« Sie hing plötzlich an seinem Hals. Ihre Lippen preßten sich auf seinen Mund, und ihr zitternder Körper drängte sich gegen ihn. Er wollte sie umarmen, doch da hatte sie sich schon wieder von ihm gelöst. »Geh«, wiederholte sie. Sie schob ihn aus dem Schatten des Baumes auf den Weg hinaus, der vom Licht der Pechfackeln erleuchtet wurde. Ein Lakai lief auf ihn zu.
»Senor de Veloso!« rief er. »Der Gouverneur sucht Sie schon seit einer ganzen Weile!« Dem Mann lief der Schweiß in Strömen von der Stirn. Wahrscheinlich hätte er um sein Leben fürchten müssen, wenn es ihm nicht gelungen wäre, Hasard zu finden. Hasard nickte dem Lakai zu und folgte ihm zur Terrasse hinüber. Er drehte sich noch ein paarmal um, aber von dem Mädchen war nichts mehr zu sehen. Erst jetzt fiel ihm ein, daß er nicht einmal ihren Namen kannte. Er blieb abrupt stehen. Doch als er sich umdrehen wollte, um zurückzulaufen, sah er sie mit wehendem Kleid auf die Terrasse zueilen. Er wollte rufen, doch da war sie bereits im Palast verschwunden. Der Lakai blickte Hasard ängstlich an. »Bitte, folgen Sie mir, Capitan de Veloso«, sagte er flehend. Eine Menschentraube ergoß sich über die Terrasse in den Garten. Laute Stimmen und Gelächter erstickten den Zauber der Natur. Hasard folgte dem Lakai in den Palast. Sie gelangten in einen riesigen Raum, in dem zwei lange Tischreihen aufgebaut waren, deren Platten sich bogen unter der Last der Speisen, die sie trugen. Die meisten Plätze waren schon besetzt, aber noch mehr als doppelt so viele Leute standen um den Tischen herum. Hasard sah den schwitzenden Gouverneur inmitten einer Menschentraube. Die kleinen Augen blitzten ihn einen kurzen Moment böse an. Dann sagte Diego de Avila etwas zu einem Mann neben sich, der daraufhin auf Hasard zutrat. Der Spanier verbeugte sich vor Hasard. »Der Gouverneur möchte, daß Sie sich ihm zur Verfügung halten«, sagte er. »Er hat noch etwas sehr Wichtiges mit Ihnen zu besprechen. Sie möchten hier auf ihn warten.« Er schwieg eine Weile und sah Hasard interessiert an, als ob er sich fragte, wie es Hasard gelungen war, die Gunst des Gouverneurs zu erringen. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann rühren
Sie sich nicht von der Stelle, bis der Gouverneur Sie ruft«, flüsterte er. Hasard spürte, daß der Rat durchaus gut gemeint war, dennoch regte sich in ihm sein Stolz. Niemand befahl ihm, wie ein dummer Junge in irgendeiner Ecke auszuharren, bis man ihn rief. Der Spanier hatte Hasards Antwort nicht abgewartet, er drehte sich um und ging zum Gouverneur zurück. Hasard blieb stehen, obwohl die Wut ihn aufzufressen drohte. Aber er dachte an die Männer, die jetzt vielleicht die erste Galeone auf der Reede von Panama anbohrten. Er mußte nur noch ein wenig Geduld haben, vielleicht bot sich ihm schon bald die Gelegenheit, dem fetten Mastschwein von einem Gouverneur zu zeigen, was ein englischer Korsar von ihm hielt. Plötzlich sah Hasard ein helles Kleid, und sein Herz begann heftiger zu klopfen. Seine Augen verfolgten ihren anmutigen Gang am Arm ihres Bräutigams, der mit hochrotem Kopf und zusammengepreßten Lippen neben ihr herging. Er beobachtete, wie sich die beiden an die Tafel setzten. Ihr Bräutigam ließ sich links von ihr nieder. Der Platz an ihrer Rechten blieb frei. Hasard atmete tief ein. Nur zwei Stühle waren zwischen ihrem Platz und dem prunkvollen Sessel des Gouverneurs. Sie mußte zu einer sehr einflußreichen Familie gehören. Hasard drehte sich um und wollte den erstbesten Mann, der an ihm vorüberging, nach ihrem Namen fragen. Seine Augenbrauen schoben sich zusammen, als er die dunklen haßerfüllten Augen Juan Bravo de Madingas, des Kapitäns der ›Victoria‹, auf sich gerichtet sah. Der Mann stand nur ein paar Schritte von ihm entfernt. Wahrscheinlich hatte er ihn schon eine ganze Weile beobachtet. Als er Hasards Blick auf sich ruhen sah, trat er einen Schritt vor. »Sie sind ein Heuchler, de Veloso«, sagte er. Seine Stimme
war leise, und doch klang sie scharf wie das Zischen einer Schlange. »Ich weiß nicht, was es ist, das Sie verbergen, aber ich weiß, daß Sie nicht der sind, für den Sie sich ausgeben.« Hasard überwand seinen ersten Schreck schnell. Er erkannte, daß der letzte Satz des Kapitäns nur bildlich gemeint war. Aber irgend etwas mußte Juan Bravo de Madinga bewogen haben, an der Integrität de Velosos zu zweifeln. »Und was veranlaßt Sie zu dieser Annahme?« fragte Hasard. Er bemühte sich, ruhig zu bleiben. Doch seine Sehnen und Nerven waren gespannt. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, was de Madinga über ihn erfahren haben konnte, aber vielleicht wehte der Wind aus einer Richtung, die er nicht vermutet hatte. »Ich glaube, daß Sie ein Verräter sind, de Veloso«, erwiderte de Madinga gefaßt. »Ein Glücksritter, der nur seinen eigenen Vorteil sieht und dabei unbedenklich die Ehre anderer Männer in den Dreck zieht.« Hasard hätte fast laut aufgelacht. Dieser Kerl nannte ihn einen Heuchler! Er dachte an die vorletzte Nacht zurück, als er den Spitzel des Vicekönigs von Peru in der Kapitänskammer der ›Victoria‹ überrascht hatte. Und er dachte an den Lageplan, der bewies, daß Juan Bravo de Madinga, der ehrenwerte Capitan, sich unrechtmäßig bereichert hatte, indem er seinem König ein wenig für sich selbst von dem Blutzoll der Inkas abzapfte. Hasard hob die Schultern. »Ich weiß nicht, was Sie mit diesen Beleidigungen beweisen wollen«, sagte er. »Ich will beweisen, daß Sie hinter dem geheimnisvollen Verschwinden der Galeonen stecken!« stieß de Madinga hervor. »Niemand anderer als Sie hatte die Gelegenheit, die Schiffe auf der Reede zu kapern! Sie waren als einziger in der ersten Nacht an Bord Ihres Schiffes!« »Das nennen Sie einen Beweis?« fragte Hasard spöttisch. »Sie wissen genau, weshalb ich an Bord blieb. Schließlich habe ich eine Aufgabe zu erfüllen.«
»Das ist nicht mein Beweis, de Veloso«, sagte er leise. »Einer meiner Leute hat Ihren Ersten Offizier erkannt Er schwört bei seinem Leben, daß er den Mann vor drei Monaten in Nombre de Dios gesehen hat. Nur nannte er sich dort Jean Ribault und gab sich als Franzose aus. Er gehörte zur Besatzung eines Piratenschiffes, das beim Angriff auf eine Kriegsgaleone vor Cartagena versenkt wurde. Der Kapitän war der verrückte Araber. Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört?« Die Frage klang lauernd. Ein Grinsen hatte das Gesicht de Mandingas verzerrt. »Ist das alles?« fragte Hasard kalt. »Genügt das etwa nicht?« gab de Madinga haßerfüllt zurück. Hasard begann zu grinsen. »Sie können Ihrem Mann bestellen, daß er ein gutes Gedächtnis hat«, sagte er. »Mein Erster Offizier ist tatsächlich Franzose und heißt Jean Ribault. Ich habe ihn vor drei Wochen vor der Küste Chiles aus dem Wasser gezogen, nachdem sein neues Piratenschiff absoff. Er fuhr unter dem Kommando von einem gewissen Mac-Dundee-Einohr, der den verrückten Araber an der Rah aufgehängt hatte. Vielleicht haben Sie von dem schon gehört?« Juan Bravo de Madinga keuchte vor Wut. Sein Gesicht lief rot an. »Sie nehmen einen französischen Piraten als Offizier auf Ihr Schiff?« »Wenn er ein guter Mann ist, dem ich vertraue, warum nicht?« sagte Hasard. »Auf jeden Fall würde ich ihn einem Mann wie Ihnen immer vorziehen.« Das war zuviel für de Madinga. Er war drauf und dran, seinen Degen herauszureißen. Hasard war mit einem schnellen Schritt bei ihm. Seine Finger schlossen sich wie ein Schraubstock um das Handgelenk des Kapitäns. »Was wollen Sie eigentlich, de Madinga?« fragte Hasard
zischend. »Geht es Ihnen wirklich um die Ehre Spaniens und um die Ladung der ›Victoria‹, oder wollen Sie vielleicht nur diese Karte wiederhaben ...« Bei den letzten Worten hatte Hasard den Lageplan hervorgezogen, den er dem Spitzel auf der ›Victoria‹ abgenommen hatte, und hielt ihn dem Kapitän unter die Nase. Juan Bravo de Madinga erbleichte. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf das Stück Pergament, das er selbst beschriftet hatte. »Bevor Sie die falschen Schlüsse ziehen, de Madinga, möchte ich Ihnen sagen, woher ich diese Karte habe«, fuhr Hasard leise fort. »In der Nacht, als Ihre Galeone spurlos verschwand, erschien Ihr Erster Offizier bei mir an Bord der ›Valparaiso‹ und fragte mich, ob ich ein Dokument, das seinen Kapitän belaste, an mich nehmen würde. Er fühle sich bedroht. Leider ließ ich ihn wieder von Bord. Hätte ich ihn festgehalten, wäre mir wohler. Denn ich nehme an, Ihre Leute haben ihn ermordet, bevor sie mit der ›Victoria‹ davonsegelten. Wenn ihr Kapitän schon ein Dieb ist, weshalb sollen sie dann selbst viel besser sein?« Dicke Schweißperlen standen auf de Madingas Stirn. Seine Lippen zitterten. Er versuchte, nach dem Plan zu greifen, aber Hasard zog ihn weg und steckte ihn wieder ein. »Der Plan beweist gar nichts!« sagte de Madinga keuchend. »Ich werde bestreiten, daß er mir gehört!« »Genau das ist der Grund, weshalb ich ihn noch nicht dem Gouverneur übergeben habe«, sagte Hasard. »Vielleicht ist Ihr Erster Offizier sogar auf Ihren Befehl hin getötet worden. Ich kann es nicht beweisen. Aber wenn Sie noch einmal gegen mich oder einen Mann meiner Besatzung eine Beschuldigung erheben, werde ich alles daransetzen, daß Sie des Diebstahls und des Mordes überführt werden. Und nun hauen Sie ab, de Madinga, bevor ich mich in meinem Zorn dazu hinreißen lasse, Sie auf der Stelle zu töten.«
Juan Bravo de Madinga drehte sich um und hastete davon. Hasard konnte sich trotz seiner Aufregung ein Grinsen nicht verkneifen. Der Kapitän war erledigt. Die Angst in seinen Augen hatte Bände gesprochen. Vielleicht verschwand er noch in dieser Nacht heimlich aus Panama und ließ sich nie wieder in einer Stadt sehen, in der man ihn kannte. Schließlich wußte er nicht, daß Hasard allen Grund hatte, sein Wissen für sich zu behalten. Hasards Erregung schwand schnell. Er hielt Ausschau nach Jean Ribault. Hoffentlich hatte sich der Franzose nicht mit einer Schönen verdrückt und vergaß darüber, daß sie in dieser Nacht noch einiges zu tun hatten. Hasards Blick schweifte hinüber zur Tafel. Er lächelte leicht, als er die beiden Augenpaare auf sich gerichtet sah - das eine voller Liebe und Bewunderung, das andere voller Haß und Mordgedanken. Hasard beneidete sie beide nicht um die Ehe, die sie vielleicht eines Tages führen würden. Der Gouverneur hatte sich entschlossen, daß Hasard lange genug gewartet hatte. Mit einer huldvollen Geste winkte er ihn zu sich heran. Wut stieg wieder in Hasard hoch. Verdammt, wann hörte er endlich die Detonationen von der Reede, die diese aufgeplusterten Laffen durcheinander wirbeln würden wie ein Windstoß einen Stapel Karten? »Geben Sie mir die Ehre, beim Speisen den Platz neben mir einzunehmen.« Die helle, weiche Stimme ließ Hasard zusammenzucken. Es war keine Frage, es war ein Befehl. Hasard wußte, daß er innerhalb einer Stunde einen Kopf kürzer war, wenn er die Einladung ablehnte. Er verfluchte Jean Ribault, der nirgends zu sehen war. Aber der Franzose hätte ihm in dieser Situation wahrscheinlich auch nicht helfen können. Ein Gutes hatte die Situation. Er würde in der Nähe des Mädchens sitzen, das er vor einer halben Stunde im Garten in
den Armen gehalten hatte. Hasard hoffte, daß ihr Bräutigam damit wartete, ihn zu ermorden, bis er ihren Namen wußte. Als Hasard neben dem Gouverneur Platz nahm, blickte er Diego de Avila an. Er fragte sich, ob er das rosige Mastschwein nach dem Namen des Mädchens fragen sollte, doch er ließ es lieber sein. Wahrscheinlich würde de Avila die Frage übelnehmen. Hasard atmete auf, als er Jean Ribault entdeckte, der ein paar Yards hinter den Sitzenden neben anderen Leuten stand, die diesem Essen zuschauen wollten. Hasard blickte das Mädchen, das nur durch einen leeren Stuhl von ihm getrennt war, lächelnd an. Der Gouverneur schnaufte mißbilligend, aber das war Hasard egal. Der junge Spanier, der neben dem Mädchen saß, hatte den Kopf gewandt und blickte zum Eingang, in dem ein elegant gekleideter Mann mit Gefolge erschien und mit großen Schritten auf das Ende der Tafel zuschritt, an der der thronartige Sessel des Gouverneurs stand. Schon von weitem streckte der Mann die Arme aus. Hasard blickte ihm entgegen. Der Mann war eine imposante Erscheinung. Die schwungvollen Locken seiner vollen Perücke hoben die scharfen Züge des Adlergesichtes noch hervor. Die dunklen Augen blickten stolz und kühn. Hasard vergaß in diesem Augenblick sogar das Mädchen, das sich jetzt ebenfalls umwandte. So ungefähr stellte sich Hasard die Konquistadoren vor, die es geschafft hatten, mit wenigen Männern und nichts weiter als ihren Waffen, ihrem Mut und ihrem unbezwingbaren Willen, mächtig und reich zu werden, die riesigen Völker der mächtigen Inkas, Mayas, Azteken und Tolteken zu unterwerfen. Diego de Avila war aufgestanden und ging dem hochgewachsenen, sehnigen Mann entgegen. »Don Miguel«, sagte er laut, »ich freue mich, daß Sie meiner
Einladung gefolgt sind.« Der große Mann blieb einen Schritt vor dem fetten Gouverneur stehen. Seine Adleraugen blickten sich suchend um, dann hefteten sie sich wieder auf Diego de Avila. An seinem Blick erkannte Hasard, daß dieser Mann nicht viel Achtung vor de Avila hatte. »Man hat mir berichtet, daß ein alter Freund von mir Ihre Gastfreundschaft genießt, Don Diego«, erwiderte der Mann. Die Stimme klang wie das Grollen eines nahen Gewitters. Etwas in Hasard versteifte sich. Die Gedanken in seinem Kopf begannen sich zu jagen. Ein alter Freund - Don Miguel ... Hasard hatte sich bereits halb erhoben, als Diego de Avila sich umdrehte und mit dem rechten Arm auf ihn wies. »Hier ist Ihr alter Freund, Don Miguel«, sagte er, »Don Diaz de Veloso. Er ist mit einem Geheimauftrag des Gouverneurs von Chile in Panama.« Hasard stand dem großen Mann, der nur etwas kleiner war als er selbst, Auge in Auge gegenüber. Ringsum war es still geworden. Die Menschen schienen zu spüren, daß hier etwas Ungewöhnliches geschah. In den schwarzen Augen des großen Mannes tanzten Funken. Seine schmalen Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. »Du hast Pech gehabt, mein Freund«, sagte er ruhig. »Ich bin Miguel de Villanueva, Polizeipräfekt von Panama und Freund von Diaz de Veloso. Und wer bist du?« Hasard sah die hastige Bewegung neben sich. Das Mädchen war aufgesprungen. Sie hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen. »Nein!« hauchte sie. »Setz dich, Isabella!« Die harte Stimme Villanuevas duldete keinen Widerspruch. Isabella! dachte Hasard. Fast hätte er laut aufgelacht. Der Name, der ihm bisher soviel Glück gebracht hat. Und im
Augenblick seiner größten Niederlage, die vielleicht sogar seinen Tod bedeutete, mußte er erfahren, daß das junge Mädchen, in das er sich verliebt hatte, Isabella hieß! Miguel de Villanueva drehte sich um. »Packt ihn!« befahl er. In diesem Moment hatte Hasard seine Erstarrung überwunden. Noch hatte er beide Hände frei. Noch hatte er seinen Degen, seinen Mut und seinen Willen, zu überleben. Die drei Dinge, mit denen Männer wie Villanueva Weltreiche erobert hatten.
9. Mit einem wilden Schrei stieß der Seewolf den überraschten Gouverneur auf den Polizeipräfekten zu. In der Drehung riß er seinen Degen heraus und zerfetzte die wattierte Schulter eines Spaniers, der dem Befehl des Polizeipräfekten sofort Folge geleistet hatte. Der Mann geriet ins Stolpern und fiel vor die Füße Villanuevas, der jetzt ebenfalls seinen Degen in der Hand hielt. Zu dritt gingen sie zu Boden. Diego de Avila kreischte, als läge er auf der Schlachtbank. Miguel de Villanueva brüllte Befehle, die Türen zu besetzen und niemanden aus dem Saal zu lassen. Hasard sah, wie Jean Ribault in Bewegung geriet. Der Franzose hielt seinen Degen in der Hand und nahm einen Mann aufs Korn, der sich auf Hasard stürzen wollte. Der Seewolf versuchte, Ribault ein Zeichen zu geben, daß er verschwinden und die Männer der ›Isabella‹ warnen solle, aber entweder sah Ribault nichts, oder er wollte nichts sehen. Sein Degen schlug die Waffe des Spaniers zur Seite und durchbohrte dessen Schulter. Schreiend taumelte der Mann zurück. Ein großer Blutfleck breitete sich auf seinem Wams aus.
Die Aufmerksamkeit der Spanier war einen Moment von Hasard abgelenkt. Er sah den entsetzten Blick des Mädchens auf sich gerichtet und fragte sich, ob sie wohl die Tochter Villanuevas sei. Aber war das nicht völlig gleichgültig? Wenn es ihm gelang, aus diesem Saal zu entwischen, würde er Isabella niemals Wiedersehen. Wenn es ihm nicht gelang, würde er wohl kaum Gelegenheit erhalten, sein Leben noch ein wenig mit ihr zu genießen. Fast hätte Hasard den Mann übersehen, der sich ihm von der Seite genähert hatte. Isabellas entsetzter Aufschrei warnte ihn. Er wirbelte herum. Seine Degenklinge schnitt durch die Luft und schlug klatschend gegen den Hals des Spaniers, der würgend in die Knie ging und die Hand auf die stark blutende Wunde preßte. Der Seewolf erfaßte die Situation mit einem Blick. Es gab keine Möglichkeit, an den langen Tischen vorbei zu den Türen zu gelangen. Um de Avila und de Villanueva hatten sich mehrere Männer geschart, um sie vor eventuellen Angriffen zu schützen. Es war unmöglich, einen der beiden Männer als Geisel in die Gewalt zu kriegen. Hasard blieb nur eine Möglichkeit, der sich zuziehenden Schlinge zu entwischen. Mit einem Satz war er auf dem Tisch. Seine Stiefel stießen gegen Schüsseln und Teller. Geschirr zerbarst unter seinen Hacken. Eine braune Sauce ergoß sich über das weiße Linnen und spritzte einem fetten Mann, der bereits mit vollen Backen kaute, über das Wams. Es schien ihn nicht zu stören. Hasard warf einen Blick zu Ribault hinüber. Der Franzose hatte noch genügend Bewegungsfreiheit. Vielleicht begriffen die Spanier noch nicht, daß Ribault zu dem Fremden gehörte, der sich als Capitan de Veloso ausgegeben hatte. Hasard sprang blitzschnell in die Höhe. Eine Degenklinge pfiff unter seinen Beinen hinweg und köpfte einen Fasan, der in vollem Federschmuck die Festtafel zierte. Der Fasanenkopf
landete im Ausschnitt einer fetten Frau, die kreischend mit ihrem Stuhl umkippte. Der Degen des Seewolfs tanzte wie die Zunge einer angriffslustigen Viper. Die Klinge war rot vom Blut der Spanier, die so unvorsichtig waren, sich in ihre Nähe zu begeben. Hasards Stiefel stampften alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Das Durcheinander wurde immer größer. Die Frauen und Männer, die sich vom Tisch und dem Mittelpunkt des Geschehens entfernen wollten, liefen denjenigen, die den Mut hatten, den schwarzhaarigen Teufel anzugreifen, vor die Füße. Der Lärm war ohrenbetäubend. Doch die grollende Stimme des Polizeipräfekten übertönte ihn. Hasard sah, wie sich vor der Tür eine Wand von Männern aufbaute. Frauen, die den Saal verlassen wollten, wurden zurückgedrängt. Hasard war es nur recht. Je mehr Personen sich in diesem Raum aufhielten, desto größer waren seine und Ribaults Chancen, sich durchzuschlagen. »Arwenack!« Hasard hörte den wilden Schrei und wandte den Kopf. Ein Grinsen zog seine Lippen in die Breite. Er sah, wie Jean Ribault sich an einem Wandteppich emporhangelte, mit einer gewandten Drehung nach einem Tau schlug und es mit der Klinge seines Degens durchtrennte. Ein Kronleuchter, der fast einen Durchmesser von zwei Yards hatte, rauschte von der verzierten Decke und schlug krachend auf. Der Lärm wurde zu einem Inferno. Zwei Männer waren von dem schweren, hölzernen Kronleuchter begraben worden. Mehrere Männer sprangen hinzu und versuchten, sie unter der schweren Last hervorzuzerren. »Hierher, Hasard!« schrie der Franzose. Er hatte sich von einem Mauervorsprung auf die breite Marmortreppe geschwungen, die in das obere Stockwerk führte. Der Seewolf sah, wie sich die Spanier um Miguel de
Villanueva zum Angriff formierten. Isabellas Bräutigam war auch dabei. In der zitternden Rechten hielt er einen zierlichen Degen, der eher zum Angeben als zum Kämpfen gedacht schien. Hasard hoffte, daß Isabella es ihm verzeihen würde, daß er sich an diesem Kampf beteiligte. Jean Ribault verteidigte die Marmortreppe mit Erfolg. Vier Verwundete lagen bereits am Fuße der Treppe und hielten sich jammernd ihre Wunden. Die vordrängenden Männer scheuchte der Franzose zurück, indem er mit den silbernen Kronleuchtern warf, die in geringem Abstand auf der Marmorbrüstung standen. Er unterzog sich nicht erst der Mühe, die Kerzen zu löschen. Eine von ihnen fiel unter den herabgerissenen Wandteppich, und ohne daß jemand etwas bemerkte, fing der Teppich Feuer. Ich muß zu Ribault! dachte Hasard verzweifelt. Seine Lage wurde immer bedrohlicher. Je weiter die Zeit voranschritt, desto mehr Männer besannen sich ihres Mutes. Die Mauer aus Menschenleibern, die sich zwischen ihm und der Marmortreppe befand, schien ihm unüberwindlich. Mit einem Satz sprang er in die Mitte der beiden Tischreihen. Die fette Frau, die den Fasanenkopf immer noch nicht in ihrem Ausschnitt gefunden hatte, kroch schreiend auf allen vieren unter dem nächsten Tisch hindurch. Mit einem Ruck zerrte Hasard die Leinendecke herunter. Der Degen steckte wieder in der Scheide. Er war gegen eine solche Übermacht nicht die richtige Waffe. Hasard bückte sich blitzschnell und entging einem Messer nur um Haaresbreite. Nur wenige Yards von ihm entfernt glühte eine grelle Flamme auf. Das Krachen des Schusses zerrte an seinen Trommelfellen. Durch die aufsteigende Pulverdampfwolke sah er das verzerrte Gesicht von Isabellas Bräutigam. Hinter Hasard schrie ein Mann. Hasard vermutete, daß er von der Kugel getroffen worden war. Neben Isabellas Bräutigam
tauchte Miguel de Villanueva auf und schlug ihm die flache Hand ins Gesicht, daß er zu Boden ging. »Niemand schießt hier!« brüllte der Polizeipräfekt. »Bringt den Idioten ‘raus!« Hasard zögerte nicht länger. Er sah, daß die Aufmerksamkeit der Spanier einen Moment von ihm abgelenkt war. Jean Ribault war im Begriff, seine gute Stellung aufzugeben, um Hasard zu Hilfe zu eilen. Alles durfte geschehen, nur das nicht! Hasard bückte sich. Seine Hände packten den Tisch an den Beinen dicht unterhalb der Tischkante. Mit einem kräftigen Ruck stemmte er den Tisch hoch. Er nutzte den Schwung aus und rannte vorwärts. Er konnte nichts sehen, doch hatte er den Augenblick des Aufpralls richtig berechnet. Es war, als wäre er gegen eine Mauer gelaufen, die nur langsam nachgab. Aber sie gab nach. Das war das wichtigste. Hasard mobilisierte seine letzten Kräfte. Er schleuderte den schweren Tisch von sich und riß seinen Degen wieder hervor. Er stach einem Spanier, der dem Tisch hatte ausweichen können, in die Schulter und hieb ihm die Glocke des Degens über den Kopf, als er immer noch nicht genug hatte. Blutüberströmt brach der Mann zusammen. Hinter Hasard brüllte Miguel de Villanueva. Jean Ribault gestikulierte mit seinem Degen und hätte fast einen Spanier übersehen, der die Verwirrung genutzt hatte und an der Seite der Marmortreppe hinaufgeklettert war. Hasard rief Ribault eine Warnung zu. Der Franzose duckte sich im selben Augenblick. Der Spanier wurde von der Wucht seines Angriffes nach vorn gerissen. Seine Augen weiteten sich. Er wollte sich herumwerfen, um der Waffe zu entgehen, die auf seinen Leib gerichtet war. Er schaffte es nicht ganz mehr. Er rannte in Ribaults Degen. Die Klinge durchbohrte seine linke Seite und drang hinten wieder aus. Schreiend wälzte sich der Spanier auf den
steinernen Stufen. Ribault hatte Mühe, den Degen wieder zurückzuziehen. Hasards Degen bahnte ich fauchend eine Bahn zur Marmortreppe. Die Übermacht der Spanier war machtlos vor diesem Wirbelsturm, der alles niederwalzte, was sich ihm in den Weg stellte. Miguel de Villanueva schrie sich die Seele aus dem Leib. Immer wieder hetzte er seine Männer auf Hasard, und einem, der sich nicht schnell genug bewegte, schlug er die flache Seite seines Degens auf den Kopf. Der Mann sackte bewußtlos zu Boden. »Haltet den Kerl auf, verflucht noch mal!« schrie Villanueva. »Sie sind nur zu zweit, ihr Feiglinge!« Hasard hörte seine Stimme nur im Unterbewußtsein. Drei Spanier versperrten ihm noch den Weg zur Marmortreppe. »Aus dem Weg!« brüllte Hasard, aber die Männer blieben stehen. Ihre Angst vor dem Polizeipräfekten war wahrscheinlich größer als die vor dem Tod. Hasard zögerte nicht, denn er wußte, daß es nicht lange dauerte, bis sich die Spanier hinter ihm wieder von ihrem Schrecken erholt hatten. Er griff mit einer Wildheit an, die die Spanier in Schrecken versetzte. Die Klinge seines Degens glänzte nicht mehr im Licht der vielen Kerzen. Sie war bis zum Glockenkorb mit Blut befleckt. »Feuer!« schrie jemand. Die Flammen, die jetzt am Wandteppich emporleckten, warfen zuckende Bilder an die bemalten Wände des großen Saales. Hasard duckte sich unter der pfeifenden Klinge des letzten Spaniers, der ihm den Weg zur Treppe versperrte. Im selben Augenblick stach er selbst zu. Die blutige Klinge bohrte sich in den Unterleib des Spaniers. Hasard stürmte vorwärts. Von Jean Ribault war plötzlich
nichts mehr zu sehen. Hatte er bereits das Weite gesucht? Hasard hatte die obersten Stufen noch nicht erreicht, als er den Franzosen auftauchen sah. Sein Gesicht war von der Anstrengung gerötet. Er hatte sich an Hasard ein Beispiel genommen. Mit einem wilden Schrei schleuderte er die Kommode, die er hochgestemmt hatte, den Spaniern entgegen, die jetzt die Marmortreppe stürmen wollten. Das Möbel schlug zwischen ihnen ein wie eine Kanonenkugel. Keiner der Spanier wurde verschont. Auch das Schreien Villanuevas nutzte nichts mehr. Die Spanier waren völlig demoralisiert. So etwas hatten sie bei den wildesten Piratenangriffen noch nicht erlebt. Zwei Männer beherrschten die Schlacht gegen eine zwanzigfache Übermacht! Hasard und Jean Ribault lachten sich an. Die Augen des Franzosen glänzten. Hier war er in seinem Element. In einem solchen Kampf vergaß er alles. Hasard wußte, daß nur ein Mann, der keine Angst vor dem Tod kannte, so kämpfen konnte. Er sah, daß Ribault am liebsten auf die Spanier gewartet hätte, um den ungleichen Kampf fortzusetzen, doch Hasard hatte keine Lust, sein Glück noch mehr zu strapazieren. Er riß Ribault mit sich und lief den Flur entlang, der nur von vereinzelten Kerzen erhellt wurde. Hasard hatte angenommen, daß sie in einen weiteren Saal gelangen würden, von dem aus ihnen die Flucht in den Garten gelang. Aber der Flur war plötzlich zu Ende. Rechts und links gingen Türen ab. Hasard rüttelte am Griff der nächsten Tür. Sie war verschlossen. Er blickte zurück. Der Lärm aus dem Saal klang hier oben gedämpft. Die Flammen des brennenden Wandteppichs leuchteten einen Teil des Flures aus. Jean Ribault hatte an der nächsten Tür gerüttelt. Sie war ebenfalls verschlosssen, aber Ribault sprengte sie mit einem kräftigen Fußtritt. »Hierher, Hasard!« rief er leise und verschwand im Zimmer.
Hasard folgte ihm. Bevor er die Tür wieder schließen konnte, sah er die ersten Spanier am Ende des Flures auftauchen. Jean Ribault wartete bereits am Fenster. Er trug ein paar Kleider in den Armen und warf sie durchs offenstehende Fenster hinaus. »Damit die Herrschaften nicht auf die Idee verfallen, uns aufhalten zu wollen«, sagte er grinsend. Erst jetzt sah Hasard das breite Bett. Eine Kerze auf einem kleinen Tisch beleuchtete die unwirkliche Szene. Die beiden schweißglänzenden Gesichter starrten die beiden Eindringlinge entsetzt an. Hasard fragte sich, ob die beiden jungen Männer mehr Angst vor dem blutbefleckten Degen in seiner rechten Hand oder vor der Bloßstellung ihres Treibens hatten. Hasard lief zum Fenster hinüber und blickte in den Garten. Sie waren mindestens acht Yards hoch, aber es blieb ihnen keine andere Möglichkeit, als hinabzuspringen. »Laß ihnen die Sachen hier«, sagte Hasard leise zu Ribault, der noch die beiden Hosen der Spanier in der Hand hielt. Der Franzose wollte protestieren, aber Hasard riß sie ihm aus der Hand und warf sie zum Bett hinüber. Dann schwang er sich durch das Fenster. Er sah noch, wie die beiden jungen Spanier aus dem Bett sprangen und sich auf ihre Hosen stürzten, dann konzentrierte er sich auf den Aufprall. Er war zum Glück nicht sehr hart. Ribault landete nur Sekunden später neben ihm im Blumenbeet. Sie liefen nebeneinander auf die Büsche zu. Als Hasard sich umdrehte, sah er, wie aus einem der Fenster Flammen schlugen. Der Lärm war bis in den Garten zu hören. Hasard meinte sogar, die Stimme Villanuevas hören zu können. Jean Ribault blieb keuchend stehen. Er grinste Hasard an. »Na, wie war’s mit der Kleinen?« fragte er. Hasard verzog das Gesicht. Dieser verrückte Franzose würde sich nie ändern. Sie waren nur mit Mühe dem Tod entronnen,
hatten einen höllischen Kampf hinter sich, und er fragte nach Hasards amourösen Abenteuern. »Wart’s ab, bis wir wieder auf der ›Isabella‹ sind«, erwiderte Hasard. »Wir haben jetzt an was anderes zu denken.« Er wies hinüber zur Terrasse, auf der ein Dutzend Spanier erschienen. Unter ihnen war Miguel de Villanueva, der adlergesichtige Polizeipräfekt. Einer der Männer wies hinauf zu dem Fenster, aus dem Hasard und Ribault gesprungen war. »Verteilt euch im Garten!« rief Villanueva. »Sagt den Wachen, daß sie die Tore abriegeln sollen! Niemand darf das Grundstück verlassen!« Hasard zog Ribault mit sich fort. Sie drangen tiefer in die Büsche ein, und nach ein paar Minuten gelangten sie an eine mehr als fünf Yards hohe Mauer. Der Franzose pfiff durch die Zähne. »Wie willst du da rüber kommen?« fragte er. Hasard blickte sich um. Nirgends stand ein Baum dicht genug an der Mauer. Seine Gedanken jagten sich. Sie mußten einfach hinüber, wenn sie die ›Isabella‹ lebend erreichen wollten. Hasard lief zu einem Baum und hängte sich an einen langen Ast. Nachdem er ein paarmal auf- und abgeschwungen war, brach der Ast ab. Ribault blickte ihn skeptisch an. »Meinst du, daß du daran hochklettern kannst, ohne daß er abbricht?« fragte er. Hasard warf den Ast zu Boden. »Stell nicht so blöde Fragen«, erwiderte er leise. »Komm her.« Er verschränkte die Hände ineinander und hielt sie Ribault entgegen. Der Franzose schüttelte den Kopf. »Kannst du nicht rechnen?« fragte er. »Zusammen sind wir nicht einmal vier Yards groß.« »Du wirst fliegen«, sagte Hasard grinsend. »Und jetzt tu, was
ich dir sage, sonst lasse ich dich hier zurück. Vielleicht fällt dir selbst dann auch etwas ein.« Ribault hob die Schultern. Ergeben stellte er seinen rechten Fuß in die verschränkten Hände von Hasard. »Versuche, das Gleichgewicht zu halten, wenn ich dich hochschleudere«, sagte er. »Wenn du die Mauerkrone mit den Händen erreichst, haben wir es geschafft.« »Ich habe es dann geschafft«, erwiderte Ribault. »Ob ich dich dann mitnehme, kann ich dir jetzt noch nicht sagen« »Dir wird nichts anderes übrigbleiben«, sagte Hasard grinsend. »Allein findest du doch nicht mal zum Hafen zurück.« Er wartete Ribaults Antwort nicht ab. Er ging leicht in die Knie und stieß dann die Hände mit einem Ruck nach oben. Er hörte den unterdrückten Schrei des Franzosen, ein Schatten sauste an ihm vorbei, und dann krachte neben ihm etwas dumpf zu Boden. Hasard bückte sich und zerrte den fluchenden Ribault in die Höhe. »Verdammt, kannst du denn nicht vorher Bescheid sagen?« »Ich hab gedacht, du bist soweit«, sagte Hasard.,.Los, noch mal.« »Willst du nicht lieber ...« Hasard unterbrach ihn. »Wenn ich auf dich ‘rauffalle, bist du platt wie eine Flunder.« Ribault stellte seinen Fuß wortlos in Hasards Hände. »Jetzt«, sagte Hasard. Diesmal klappte es. Hasard hörte schabende Geräusche an der Mauerkrone, dann klang Ribaults Stimme auf. »Was ist, warum bist du noch nicht oben?« Hasard hob den langen Ast auf und hielt ihm dem Franzosen entgegen. Nach zweimaligem Versuch hatte es auch Hasard geschafft. Es wurde höchste Zeit. Die Spanier kämmten den Garten durch, und ihre flackernden Pechfackeln näherten sich immer schneller.
Sie sprangen auf der anderen Seite der Mauer hinunter. Ribault lief voraus. Sie mieden die erleuchteten Straßen, die zum Gouverneurspalast führten, und tauchten schließlich zwischen den armseligen Hütten der Leibeigenen unter. Ribault atmete auf. »Hier wird uns niemand aufhalten«, sagte er leise. »Es ist den Sklaven verboten, nachts die Straßen zu betreten.« Der Seewolf blieb stehen. Eine dumpfe Explosion draußen auf dem Meer drang an sein Ohr, und dann sah er über den Hütten einen Flammenschein. »Ferris Tucker«, sagte der Franzose. »Er hat eins der Schiffe in die Luft gejagt.« Sie liefen weiter, um einen Platz zu erreichen, von dem aus sie auf die Reede hinunterblicken konnten. Der Franzose bog um eine Ecke und blieb abrupt stehen. Hasard prallte gegen ihn und konnte sich gerade noch fangen. Er fluchte leise. Eine Gruppe von Männern lief an ihnen vorbei. Sie trugen Pechfackeln in den Händen und schrien sich etwas zu. Hasard verstand nur einige Wörter. Er begann zu grinsen. Ferris Tucker und seine Männer hatten ganze Arbeit geleistet. Die Spanier nahmen an, daß eine mächtige Flotte zum Angriff auf Panama ansetzte. »Weiter!« flüsterte Ribault. »Wir müssen uns beeilen. In ein paar Minuten wird es hier von Menschen wimmeln.« Sie gelangten ungesehen zum Hafen hinunter. Sie brauchten nur noch an den Lagerschuppen vorbei. Ribault warf einen etwas wehmütigen Blick auf die gestapelten Silberbarren, die sie nun vermutlich zurücklassen mußten. Er drehte sich zu Hasard um, der im Schatten eines Schuppens stand und die große Plaza vor der Hafenkommandantur beobachtete, auf der sich immer mehr Männer ansammelten. »Sollen wir die Lagerhäuser noch untersuchen?« fragte der Franzose leise. »Wir können doch nicht mit leeren Händen zurückkehren.«
Hasard nickte. »Deshalb sind wir ja schließlich hier«, erwiderte er und grinste verwegen. »Oder sollen wir uns vorwerfen lassen, wir hätten uns auf unserem Landgang nur amüsieren wollen?« »Fangen wir gleich bei diesem an«, sagte Ribault und lief auf das verschlossene Tor zu. Er zog seinen Dolch aus dem Gürtel und schob die Klinge in den Spalt der beiden Torflügel. Hasard sah den Schatten, der aus der Dunkelheit auftauchte. Der Fackelschein, der von der Plaza in die Gasse fiel, brach sich auf einer blitzenden Degenklinge. Hasard dachte im ersten Moment, daß es sich um einen Wächter handelte, der für die Lagerhäuser verantwortlich war. Er warnte Ribault mit einem leisen Zuruf und sprang vor. Mit einem zischenden Geräusch glitt der Degen aus der Scheide. Hasard wunderte sich, weshalb der Mann nicht laut Alarm schlug. Schließlich mußte auch er den Lärm auf der Plaza schon vernommen haben und wissen, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Dann trat der Mann einen weiteren Schritt vor, und sein Gesicht geriet für einen kurzen Moment in den schwachen Schein des Fackellichtes. Hasard wußte plötzlich, warum der Mann nicht schrie.
10. Das dunkle Gesicht Juan Bravo de Madingas war zu einer Fratze des Hasses verzerrt. In seinen Augen, die das zuckende Fackellicht reflektierten, las Hasard den Willen, gnadenlos zu töten. Ribault war zur Seite gesprungen, aber de Madinga reagierte nicht darauf. Der Spanier hatte es auf Hasard abgesehen. Ihn wollte er töten, um das Dokument wieder in seine Hände zu bringen, das für ihn wie ein Todesurteil war.
Der Seewolf hatte Mühe, den ersten wilden Angriff de Madingas zu parieren. Er sah, wie Jean Ribault wieder am Tor des Lagerhauses stand und seine Bemühungen, es zu öffnen, fortsetzte. Der Franzose sah keinen Grund, dem Seewolf zu Hilfe zu eilen. Schließlich war der schon mit mehr als einem Spanier fertig geworden. Hasard beschränkte sich vorerst darauf, den heftigen Attacken des spanischen Kapitäns auszuweichen. Zu oft hatte er erlebt, wie unberechenbar Männer waren, deren Aktionen vom Haß bestimmt waren. Juan Bravo de Madinga war ein exzellenter Fechter. Aber das Gefährliche an ihm war, daß er sich an keinerlei Regeln hielt. Als ihre Klingen klirrend gegeneinanderstießen und sie sich plötzlich dicht gegenüberstanden, konnte Hasard dem hochgerissenen Parierdolch de Madingas noch ausweichen, doch den Tritt gegen das Schienbein mußte er voll hinnehmen. Hasard sah für einen Moment Sterne vor den Augen. Er stieß den Spanier mit einem Knurren von sich. Zorn stieg in ihm auf, und nun begann er, so wild zu kämpfen wie sein Gegner. Nur im Unterbewußtsein nahm Hasard wahr, wie Jean Ribault im Lagerhaus verschwand. Er wich einem weiteren Tritt des spanischen Kapitäns aus und schlug seinerseits mit der linken Faust zu. Sie traf den Spanier auf das rechte Jochbein. De Madinga taumelte zurück, stolperte und setzte sich auf den Hosenboden. Hasard sprang hinterher. Sein Degen pfiff durch die Luft, aber der Spanier hatte sich blitzschnell zur Seite gerollt und war sofort wieder auf den Beinen. Hasard wollte ihm keine Gelegenheit geben, sich von seinem Schreck zu erholen. Er setzte nach. Er sah die Bewegung von de Madingas linker Hand, doch ehe er begriff, was sie bedeutete, traf ihn schon der Sand in den Augen. Hasard wich zurück. Er fluchte im stillen über seine Unachtsamkeit. Er sah nichts mehr. Wild hieb er mit dem
Degen um sich. Er spürte den leichten Widerstand und hörte den unterdrückten Aufschrei des Spaniers. Seine Augen tränten. Er kniff sie immer wieder zusammen, aber er sah nichts als Schwärze. Er spürte, wie er mit dem Rücken gegen die Bretterwand des Lagerhauses prallte. Unentwegt fauchte die Klinge seines Degens durch die Luft. Er durfte sich jetzt keine Blöße geben, sonst würde de Madinga ihn gnadenlos töten. Der Schleier vor seinen Augen lichtete sich nur langsam. Er hörte eine leise Stimme aus dem Lagerhaus, aber er verstand nicht, was Ribault sagte. Seine Gedanken konzentrierten sich voll auf den verschwommenen Schatten, der sich ihm näherte. Er ließ für einen kurzen Moment seinen Degen sinken, und als er sah, daß der Schatten auf ihn zusprang, riß er die Klinge wieder hoch. Er spürte den Lufthauch an seinem linken Ohr, hörte den dumpfen Laut, mit dem die Klinge des Spaniers in die Wand des Lagerhauses fuhr, und konnte nicht verhindern, daß ihm der Griff des eigenen Degens in die Magengrube gerammt wurde. Der Degen in seiner rechten Hand wurde plötzlich schwer. Hasard konnte wieder sehen. Die haßerfüllten, weit aufgerissenen Augen de Madingas starrten ihn an. Der Spanier bewegte sich nicht. Starr stand er vor Hasard, der seinen Degen nicht mehr kontrollieren konnte. Er steckte bis zur Glocke im Leib des Spaniers. Juan Bravo de Madinga röchelte. Seine zitternden Lippen öffneten sich zu einem Schrei. Hasard hatte keine andere Wahl. Er schlug zu und traf den tödlich verwundeten Mann mit der linken Faust auf den Mund. De Madinga wurde von der Wucht des Schlages rückwärts geschleudert. Hasard konnte seinen Degen nicht mehr halten. Er wurde ihm aus der Hand gerissen. Mit einem dumpfen Laut fiel der Spanier in den Staub der
Straße. Der Degen, der aus seinem Rücken geragt haben mußte, wurde zurückgestoßen. Er pendelte langsam hin und her, als Juan Bravo de Madinga sein Leben aushauchte. Hasard trat auf den toten Spanier zu und nahm den Degen wieder an sich. Er atmete schwer. Er wußte, daß er diesmal dem Tod nur knapp entronnen war. Wieder einmal hatte er erfahren müssen, daß ein in die Enge getriebener Mann ein höllisch gefährlicher Gegner war, den man niemals unterschätzen sollte. Hasard hörte ein leises Geräusch hinter sich und wirbelte herum. Der blutige Degen in seiner Hand zuckte hoch. Jean Ribault hob abwehrend die Hände, »Ich bin’s«, sagte er hastig. »Ich habe einige Sachen entdeckt, die wir am besten gleich mitneh ...« Er sprach nicht weiter. Hasard hätte ihm auch nicht mehr zugehört. Fackellicht zuckte auf und erhellte die Straße vor dem Lagerhaus. Eine Gruppe bewaffneter Männer stand etwa zwanzig Yards von Hasard und Ribault entfernt. Einer schrie auf Spanisch: »Siehst du! Habe ich doch richtig gehört! He, wer seid ihr?« Hasard dachte nur einen kurzen Moment daran, sich als Capitan de Veloso auszugeben, doch dann schien ihm das Risiko zu groß, daß die Männer bereits von den Geschehnissen im Gouverneurspalast erfahren hatten. Er drehte sich um und begann zu laufen. Ribault blieb an seiner Seite. Sie hörten das Geschrei hinter sich, aber die Spanier hatten zu spät reagiert. Als sie die Verfolgung aufnahmen, waren Hasard und der Franzose schon um die nächste Ecke verschwunden. Ribault lief jetzt wieder voran. Die Gasse, in der sie sich nun befanden, war schmal. Sie führte auf eine breitere Straße, die plötzlich ebenfalls von Fackellicht erleuchtet wurde. Laute Stimmen klangen auf. Männer in nassen Kleidern hasteten vorbei. Sie schrien durcheinander. Es war nichts zu verstehen.
»Wir können nicht auf die Straße laufen«, flüsterte Hasard. »Wahrscheinlich suchen sie schon nach uns.« Jean Ribault antwortete nicht. Er hatte eine Leiter entdeckt, die auf das Dach des nächsten Lagerhauses führte. Mit ein paar Sprüngen war er oben. Hasard folgte ihm, und gemeinsam wuchteten sie die schwere Leiter aufs Dach. Es war keine Sekunde zu früh. Ihre Verfolger tauchten in der Gasse auf. Hasard und Ribault preßten sich auf das flache Dach und hielten den Atem an. Sie hörten, wie die Männer vorbeirannten und auf der breiten Straße stehenblieben. Sie fragten einen Mann, ob er vielleicht zwei flüchtende Kerle gesehen hätte. »Mann!« sagte der Gefragte. »Ich habe in den letzten Minuten hundert flüchtende Kerle gesehen. Wißt ihr eigentlich, was da draußen los ist? Ein Geisterschiff greift unsere Galeonen an! Unsere Ankertrosse war plötzlich gebrochen, der ablandige Wind trieb uns sofort ab, und als wir die ersten Segel gesetzt hatten, war das Schiff schon halb voll Wasser gelaufen ...« Einer der Männer unterbrach ihn. »Die beiden müssen aus dieser Gasse gekommen sein.« »Dann sucht sie doch, verdammt noch mal!« erwiderte der Seemann wütend. »Ich bin froh, wenn ich erst wieder trockene Klamotten anhabe.« Er drehte sich um und stiefelte davon. Die Verfolger berieten eine Weile, dann teilten sie sich und suchten jeden Winkel der Gasse ab. Sie fanden nichts. Niemand fand die richtige Erklärung für das Verschwinden der beiden verdächtigen Männer, die den Kapitän der ›Victoria‹ ermordet hatten. Hasard und Ribault blieben still liegen, bis die Spanier verschwanden. Doch von nun an gab es keine Gelegenheit mehr, ungesehen das Dach des Lagerhauses zu verlassen. Das Hafengebiet Panamas glich einem Hexenkessel. Sämtliche Einwohner der Stadt schienen sich hier zu versammeln, um
dem unwirklichen Kampf, in den die Galeonen auf der Reede verwickelt waren, beizuwohnen. Ribault schlug vor, sich einfach zwischen die Menge zu mischen, doch die Soldaten und bewaffneten Lakaien, die in immer größerer Zahl die Gassen und Straßen durchkämmten, gaben Hasard zu denken. Miguel de Villanueva hatte schnell und überlegt gehandelt. Er schien zu ahnen, daß es für den Fremden, der sich als Capitan de Veloso ausgegeben hatte, nur den einen Fluchtweg zu seinem Schiff geben konnte. Wahrscheinlich ahnte er auch, daß dieses Schiff für die Vorfälle auf der Reede von Panama verantwortlich war. Hasard preßte die Zähne aufeinander. Vielleicht hatte er mit seinem waghalsigen Landgang doch einen Fehler begangen. Er hätte damit rechnen müssen, daß irgend jemand in Panama Capitan Diaz de Veloso kannte. Daß es ausgerechnet der Polizeipräfekt war, das war ausgesprochenes Pech. Hasard schob die Gedanken beiseite. Sie saßen jetzt hier auf dem Dach eines Lagerhauses und konnten nicht hinunter, ohne in eine Falle zu laufen. Das war die Situation, von der er ausgehen mußte. Er blickte sich um und entdeckte einen niedrigen, kastenartigen Aufbau auf dem Dach. Er stieß Ribault an und wies mit der Hand zurück. »Was ist das?« fragte er. Ribault zuckte mit den Schultern. »Wenn du es unbedingt wissen willst, müssen wir es uns anschauen«, sagte er. Hasard kroch auf dem Bauch darauf zu. Je mehr er sich dem Aufbau näherte, desto deutlicher nahm er den Gestank wahr. Dann hatte er den Aufbau erreicht. Seine Hände tasteten den oberen Rand ab. Er erkannte sofort, daß der Aufbau eine Öffnung im Dach war. Vorsichtig zog er sich hoch und schob den Kopf über den Rand.
Er sah nichts. Aber dafür roch er um so mehr. Der Gestank warf ihn fast um. Er ließ sich zurücksinken und brauchte eine Weile, um sich wieder zu erholen. Er wußte plötzlich, auf welchem Lagerhaus er sich befand. Sie hatten es am Abend, bevor sie sich zur Hafenkommandantur begeben hatten, passiert. Er sah noch die engen Käfige, in die die schwarzen Sklaven wie Tiere eingepfercht waren. Hasard winkte Ribault zu sich heran. Der Franzose schien eine noch feinere Nase als Hasard zu haben. Er weigerte sich, weiterzukriechen, als der Gestank sein Riechorgan zu quälen begann. »Stell dich nicht so an«, flüsterte Hasard. »Einohr Mac Dundee, dein alter Kapitän, hat nicht viel besser gerochen als diese armen Teufel da unten.« »Das ist noch lange kein Grund, die Nase da über den Rand hängen zu lassen«, gab Ribault unwillig zurück. »Wir werden nicht nur die Nasen rüberhängen«, sagte Hasard grinsend, »sondern sogar unsere edlen Alabasterkörper hinunterlassen.« Das verschlug dem Franzosen die Sprache. »Da ... das kannst du nicht verlangen!« protestierte er. »Lieber lasse ich mir von den Dons die Haut in Streifen schneiden!« »In Ordnung«, sagte Hasard trocken. »Spring du zur Straße hin vom Dach und laß dich schnappen. Mir ist ein bißchen Gestank lieber als ein Messer im Bauch.« Ribault fluchte, als er sah, wie Hasard sich über den Rand des Aufbaus gleiten ließ und von der Dunkelheit verschluckt wurde. Dann gab er sich einen Ruck und folgte dem Seewolf. Der Gestank nahm ihm den Atem. Eine große Faust schien seinen Magen zu packen und mit aller Gewalt umdrehen zu wollen. Er konnte nichts sehen. Es war stockdunkel im Lagerhaus.
»Hier!« flüsterte Hasard. Ribault spürte die Hand und sprang. Er landete neben Hasard auf einem der Käfige. Mit dem rechten Fuß glitt er aus und wäre beinahe durch die Käfigstäbe gekracht, wenn Hasard ihn nicht festgehalten hätte. Sie spürten die Unruhe, die die Sklaven ergriffen hatte. Einige flüsterten miteinander. »Versteht jemand von euch Spanisch?« fragte er leise. Es blieb still. »Sie haben Angst«, sagte Jean Ribault. »Sie wissen nicht, daß sie von uns nichts zu befürchten haben.« Hasard sprang vom Käfig hinunter und wartete, bis auch Ribault neben ihm stand. Ihre Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Sie sahen, wie sich ein Schatten in dem Käfig bewegte. »Los«, sagte Hasard plötzlich. »Wir öffnen alle Käfige.« Jean Ribault begriff. Er begann zu grinsen. Das war die Lösung. Wenn die Schwarzen flohen, war die Hölle los. In diesem Durcheinander mußte es ihm und Hasard gelingen, ihr Boot zu erreichen und zu der Insel zu segeln, hinter der die ›Isabella‹ auf sie warten würde. Die Frage war nur, ob die eingeschüchterten Sklaven ihre Chance nützen würden. Hasard hatte bereits den vierten Käfig geöffnet, als eine heisere Stimme auf Spanisch fragte: »Warum tut ihr das?« Hasard starrte ins Dunkel, aus dem ihm zwei Augen musterten. »Ich mag keine Sklaven«, erwiderte er leise. »Ich glaube daran, daß jeder Mann das Recht hat, über sein eigenes Leben zu bestimmen. Wenn ihr noch Männer seid, dann nehmt euer Schicksal in eure Hände und kämpft für eure Freiheit.« »Was hätte das für einen Sinn?« fragte der Schwarze. »Wir sind in einem, fremden Land, das wir nicht kennen. Man hat uns monatelang mit einem Schiff von unserer Heimat
verschleppt. Wohin sollen wir gehen, wenn wir hier ausbrechen? Man wird einige von uns töten, und die anderen werden ausgepeitscht.« »Ihr müßt euch Waffen besorgen, und dann zwingt einen Spanier, euch über die Landenge nach Nombre de Dios zu bringen. Von dort aus könnt ihr mit einem gekaperten Schiff zu den Piraten gelangen. Sie werden euch bei sich aufnehmen und euch eines Tages die Gelegenheit geben, in eure Heimat zurückzukehren. Wenn ihr hierbleibt, wird es für euch nichts weiter als Demütigungen, Züchtigungen und harte Arbeit geben, an der ihr nach spätestens zwei Jahren krepiert. Mir fiele die Wahl an eurer Stelle nicht schwer.« Hasard spürte, wie der Mann überlegte. Dann sprach er plötzlich in einer kehligen Sprache auf die anderen ein. Hasard wurde unruhig, als das Palaver eine beängstigende Lautstärke annahm. Dann war es schlagartig wieder ruhig. »Wo sollen wir die Waffen hernehmen?« fragte der Schwarze. Hasard wußte es auch nicht. Ribault trat neben ihn. »Im Lagerhaus nebenan, das ich untersucht habe, liegen Hunderte von Haumessern, Säbeln, Degen, Messern und Schußwaffen«, sagte er. »Wenn es ihnen gelingt, das Lagerhaus zu stürmen, wird sie so leicht niemand aufhalten.« Das Murmeln der Schwarzen wurde wieder lauter, als der eine Mann ihnen die Worte Ribaults übersetzte. Inzwischen hatten die befreiten Schwarzen die restlichen Käfige geöffnet. »Helft ihr uns, die Waffen zu besorgen?« fragte der Mann vor Hasard. Hasard nickte. Ihnen blieb nichts anderes übrig, denn sie waren auf die Hilfe der Schwarzen angewiesen, wenn sie ihr Boot unversehrt erreichen wollten. Am Lagerhaustor war plötzlich ein schabendes Geräusch zu hören. Laute Stimmen klangen auf. »Sie werden nur wegen des Lärms auf den Straßen unruhig
sein«, sagte ein Mann. »Es ist trotzdem besser, wenn wir nachschauen«, erwiderte ein anderer. »Don Alfonso wird uns aufhängen lassen, wenn den Sklaven was passiert, bevor er sie verkauft hat.« Hasard und Jean Ribault waren mit ein paar Sätzen am Tor und preßten sich gegen die Bretterwand. Die Schwarzen blieben wie erstarrt stehen. Als die Torflügel aufschwangen und das Licht der flackernden Fackeln in die Halle fiel, sah Hasard die Angst in ihren aufgerissenen Augen. Hasard und Ribault handelten gleichzeitig. Sie hielten ihren Degen in der Hand und sprangen aus der Dunkelheit auf die beiden Männer zu, die immer noch mit herabgeklapptem Unterkiefer auf die Schwarzen starrten, die vor ihren Käfigen standen, statt darin zu hocken.
11. Die beiden Spanier schafften es nicht einmal mehr, einen Schrei auszustoßen. Zu groß war ihre Überraschung. Der Mann, auf den Ribault zusprang, versuchte zwar noch, die Hände zur Abwehr über den Kopf zu reißen, doch da krachte die Glocke des Degens schon gegen seine Stirn. Lautlos sackten die beiden Spanier zu Boden. Sie wurden in das Lagerhaus gezerrt, und Hasard und Ribault rissen ihnen in aller Eile die Kleider vom Körper. Rasch zogen sie sich die Wamse der Wächter über, nahmen die Pechfackeln und traten hinaus auf die Straße. Männer hasteten vorbei. »Was ist da los?« rief ihnen ein Mann zu. »Die Sklaven sind unruhig!« schrie Ribault. »Wir haben mal nachgeschaut!« Der Mann schien mit der Antwort zufrieden zu sein. Hasard wandte sich an den Schwarzen.
»Wir werden zu dem Lagerhaus da vorn gehen und versuchen, das Tor zu öffnen. Wenn es uns gelungen ist, geben wir euch ein Zeichen, indem wir die Fackeln schwenken.« Der Schwarze nickte nur. Noch immer saß ihm der Schreck im Nacken. Seine wulstigen Lippen zitterten vor Aufregung und Angst, aber er schien entschlossen, mit seinen Brüdern um ihre Freiheit zu kämpfen. Hasard und Ribault war nicht sehr wohl in ihrer Haut, als sie die Straße entlanggingen. Sie hielten ihre Fackeln zur Seite, damit ihre Gesichter nicht ausgeleuchtet wurden. Doch niemand schien sich um sie zu kümmern. Der Lärm auf der Plaza vor der Hafenkommandantur hatte das Ausmaß eines mittleren Kampfgetümmels angenommen. Noch hatten Hasard und Ribault keine Schüsse vernommen. Auch draußen auf der Reede war es nach der Detonation ruhig geblieben. Hasard hoffte, daß es Ben Brighton und Ferris Tucker gelang, sich ungesehen von der Reede abzusetzen. Hasard und der Franzose hatten den Schuppen mit den Waffen fast erreicht, als ihnen von der Plaza her drei Männer entgegenliefen. Einer von ihnen trug die Uniform eines Offiziers. Er hielt geradewegs auf das Tor des Schuppens zu, das auch Hasards Ziel war. Ribault fluchte und wollte schon abdrehen, als der Offizier zu brüllen begann. »He, ihr da! Ich brauche noch zwei Männer, die uns tragen helfen! Habt ihr eine bestimmte Aufgabe?« Hasard und Ribault versuchten, Haltung anzunehmen. Sie verneinten die Frage des Offiziers. »Mitkommen!« befahl er. Ohne sich weiter um Hasard und den Franzosen zu kümmern, brachte er die letzten Schritte zum Tor hinter sich und öffnete es mit einem Schlüssel, den er am Hosenbund trug. »Verdammt, was ist denn das?« fragte er. »Das Tor ist ja offen!« Er stieß die beiden Flügel nach innen.
»Vielleicht haben schon andere den Befehl erhalten, Waffen zu holen«, sagte Ribault. »Klappe halten!« brüllte der Offizier. »Ich kann alleine denken!« »Die Frage ist nur, wie weit«, sagte Hasard. Die beiden anderen Soldaten starrten den Seewolf und Ribault an. Sie hatten jedoch keine Zeit mehr, sich über die despektierlichen Reden ihrer vermeintlichen Kameraden zu wundern. Etwas krachte auf ihre Köpfe, und dann fühlten sie sich vorwärts in die Dunkelheit des Lagerhauses gestoßen und krachten auf den staubigen Boden. Der Offizier, der seine Fackel in der Hand hielt, hatte sich abrupt umgedreht. Sein Gesicht war vor Wut rot angelaufen. Hasard schlug mitten hinein. Der Offizier fiel um wie ein Brett. Nicht einmal einen Seufzer brachte er mehr zustande. Ribault versorgte die beiden Soldaten. Dann huschte er zurück zur Straße und schwenkte die Fackel. Ein paar Männer wunderten sich zwar, was Ribault mit seinem Theater bezweckte, aber bevor das Mißtrauen in ihnen erwachen konnte, brach es wie ein Wirbelsturm aus dem Lagerhaus hervor, in dem die Sklavenkäfige standen. Die Spanier, die sich auf der Straße befanden, mußten glauben, die Hölle sei aufgebrochen und hätte ihre Söhne ausgespuckt. Sie liefen schreiend davon. Einige warfen ihre Waffen fort, derer sich sofort die Schwarzen bemächtigten. Nur ein Spanier hatte die Nerven behalten und war stehengeblieben. Er zerrte seine Pistole aus dem Gürtel und legte auf die heranstürmenden Schwarzen an. Die Kugel zischte über die Köpfe der Sklaven hinweg. Hasard wußte nicht, was sie vorwärts trieb, aber wahrscheinlich war ihre Angst eine stärkere Triebfeder als ihr Wille, sich die Freiheit zu erkämpfen. Sie wußten, daß es für sie keinen Weg zurück mehr gab.
Der Spanier wurde von ihnen förmlich in den Boden gestampft. Sein entsetztes Schreien ging in dem Gebrüll der Schwarzen unter, die nichts mehr aufhalten konnte. Hasard und Ribault verteilten hastig die Waffen. Sie alle wollten am liebsten Haumesser haben, und fast für jeden war eines da. Hasard rann ein Schauer über den Rücken, als er daran dachte, was diese verzweifelten Männer anrichten würden, wenn sie gegen die Spanier zum Kampf gezwungen wurden. Er betete darum, daß sie es schafften, über den Isthmus nach Nombre de Dios oder nach Porto Bello zu gelangen, von wo aus es vielleicht eine Möglichkeit für sie gab, in ihre Heimat zurückzukehren. Hasard verdrängte die Gedanken daran, daß er sich das alles nur einredete. Wenn er ehrlich war, dann mußte er zugeben, daß diese Schwarzen nicht den Hauch einer Chance hatten, Afrika jemals wiederzusehen. Aber vielleicht gab es unter ihnen einige, die genauso dachten wie er und lieber tot waren, als unter der Knute zu schuften und innerhalb eines Jahres zu Tode geschunden zu werden. Die ersten Schwarzen stürmten bereits wieder aus dem Lagerhaus. Sie hörten nicht mehr auf den Mann, der mit Hasard gesprochen hatte. Ihre Angst trieb sie vorwärts. Sie wollten nichts als fliehen - fort von dem Ort, an dem man sie für ihre Flucht fürchterlich bestrafen würde. »Mein Gott«, murmelte Hasard erschüttert. Der Schwarze stand mit hängenden Schultern neben ihm. »Du kannst nichts dafür«, sagte er leise. »Wir waren schon zu lange ihren Peitschen ausgesetzt. Wir haben vergessen, was es bedeutet, frei zu sein. In uns ist nur noch Angst. Die meisten von uns würden den Kot der Spanier fressen, nur um noch ein paar Stunden länger leben zu dürfen.« Er ging auf das Tor zu. Hasard hob die Hand, aber er ließ sie wieder sinken. Der Mann wollte seine Brüder in ihrer Not nicht allein lassen.
Hasard zuckte regelrecht zusammen, als die ersten Schüsse aufpeitschten, und obwohl er sie erwartet hatte, lösten sie in ihm einen Schock aus. Ribault hatte Mühe, ihn davon abzuhalten, hinter den Schwarzen herzulaufen. »Los!« schrie der Franzose scharf. »Das ist unsere letzte Gelegenheit! Wenn wir jetzt nicht verschwinden, können wir uns gleich selber eine Kugel in den Kopf jagen!« Er zerrte Hasard zum Tor und schlich dicht an der Bretterwand entlang auf die Plaza zu. Nur dort würde sie niemand suchen. In der Menge waren sie am besten aufgehoben, seit sie die Kleidung der Soldaten trugen. Die Schwarzen waren in die entgegengesetzte Richtung gerannt. Immer wieder peitschten Schüsse durch die Straßen. Der Ruf: »Die Sklaven sind ausgebrochen!« ging wie ein Lauffeuer durch die Stadt, und Jean Ribault dachte, daß es in dieser Nacht besser und gesünder war, eine weiße Hautfarbe zuhaben. Der Franzose sah, daß sich der Seewolf nur allmählich von seinem Schock erholte. Er drängte sich durch die Leute, die nicht wußten, wohin sie sich zuerst wenden sollten. Die Menge unten an der Pier ließ sich von der Aufregung, die der Ausbruch der Sklaven verursacht hatte, nicht ablenken. Männer, Frauen und sogar Kinder starrten hinaus auf die Reede, die von einer brennenden Galeone erleuchtet wurde. Von den anderen Schiffen war nichts zu sehen. Ribault hörte aus Wortfetzen, daß fast alle Schiffe abgetrieben waren. Einige waren noch auf der Reede gesunken. Ein Schrei pflanzte sich von der Pier aus fort bis zur Hafenkommandantur. Eine Gasse bildete sich. Vor Nässe triefende Männer schleppten einen Verwundeten, der blutüberströmt war. Hasard sah, daß dem Mann ein Bein abgerissen worden war. »Tiburones!« Der Ruf löste Entsetzen unter der Menge aus.
Haie! Die schwarzen Mörder waren an dieser Küste überall zur Stelle, wenn sich ihnen eine lohnende Beute bot. Hasard hatte nur noch den einen Gedanken: weg von hier! Sie bahnten sich einen Weg durch die Leute, und in den meisten Gesichtern sah Hasard statt Entsetzen nur blanke Neugier. Eine tiefe Stimme übertönte den Lärm. Hasard drehte sich um. Mit seiner Größe war es ihm unschwer möglich, über die Köpfe der Menge hinwegzublicken. Er sah, wie eine Kompanie Soldaten auf die Plaza marschierte und vor der Hafenkommandantur Aufstellung nahm. Miguel de Villanueva betrat die Veranda, wo Alfonso de Roja, der fette Hafenkommandant händeringend stand und wahrscheinlich nicht wußte, was er tun sollte. Auf der Veranda drehte sich de Villanueva um, ohne de Roja angesprochen zu haben. Er gab knappe Befehle an die Soldaten, und Hasard erkannte, daß de Villanueva der einzige war, der bei kühlem Verstand geblieben war und wußte, worauf es jetzt ankam. »Alle Boote werden beschlagnahmt!« rief er. »Jeder Mann, der rudern kann, wird mit hinaus auf die Reede fahren, um die Männer von den Schiffen zu bergen. Die Soldaten riegeln das Hafenviertel hermetisch ab. Jeder Verdächtige ist sofort festzunehmen und zur Hafenkommandantur zu bringen. Auf Fliehende wird nach Anruf geschossen!« Sie wußten, daß sie sich beeilen mußten. Vielleicht gelang es ihnen, vor den Soldaten bei ihrem Boot zu sein. Hasard und der Franzose schoben sich rücksichtslos durch die Leute. »Ein Boot für uns!« rief Ribault. »Wir wollen den Männern draußen helfen!« Sofort bildete sich eine Gasse. Jeder schien froh zu sein, daß sich jemand freiwillig meldete, in diese Hölle da draußen zu tauchen, wo ein unheimlicher Gegner erbarmungslos
zugeschlagen hatte. Hasard merkte, daß sie zum Hafen hinunter abgedrängt wurden, doch bevor sie die Pier erreichten, konnten sie seitlich in der Menge untertauchen. Sie sahen, wie die Soldaten im Eiltempo durch die Straßen liefen, die an den Lagerhäusern vorbeiführte. »Verdammt, sie werden eher dasein als wir«, sagte Ribault. »Und wir können noch nicht einmal laufen. Sie würden uns abschießen wie tollwütige Hunde.« »Wir können immer noch sagen, daß wir ein Boot gesucht haben, um den Männern auf der Reede zu helfen«, sagte Hasard, aber es hörte sich an, als würde er selbst nicht glauben, die Soldaten damit täuschen zu können. Sicher existierte längst eine Beschreibung von dem Mann, der sich als Capitan de Veloso ausgegeben hatte. Sie ließen die lärmerfüllte Plaza hinter sich zurück und tauchten ins Dunkel der Hafenanlagen, die nur schwach vom fernen Schein der brennenden Galeone erhellt wurde. Schatten huschten hier und da vorbei, und Hasard und Ribault ließen die Hände nicht mehr von den Waffen. Sie wußten, daß Panama eine einzige große Falle für sie war, und ein kurzer Moment der Unachtsamkeit konnte für sie den Tod bedeuten ...
ENDE
Die Hölle von Panama von Roy Palmer
Diese Nacht werden einige spanische Kapitäne nicht mehr
vergessen. Ihre Schiffe liegen auf der Reede vor Anker. Doch plötzlich beginnt ein Schiff nach dem anderen abzutreiben, gleichzeitig schießt das Wasser in die Unterdecksräume. Um Mitternacht sind sechs von neun Schiffen auf die letzte Reise gegangen. Auf der Reede treiben Wrackstücke, Schiffbrüchige, Boote. Und auch die Mörder sind zur Stelle: Haie. Der Polizeipräfekt von Panama durchschaut das waghalsige Spiel des Seewolfs und von da an hat Hasard mit seinen Männern keine ruhige Minute mehr ...