Truman Capote Das Geheimnis Mit Bildern von Barry Moser I n s e l - B ü c h e r e i N r. 1 1 1 1
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Truman Capote Das Geheimnis Mit Bildern von Barry Moser I n s e l - B ü c h e r e i N r. 1 1 1 1
Truman Capote Das Geheimnis Aus dem Amerikanischen von Maria Dessauer Mit Bildern von Barry Moser
Insel Verlag
Originaltitel der 1987 bei Peachtree Publishers, Ltd., Atlanta, Georgia erschienenen Ausgabe: I Remembrr Grandpa
Erste Auflage 1990 © für die deutschsprachige Ausgabe Insel Verlag Frankfurt am Main 1990 Alle Rechte vorbehalten Text Copyright © 1985 by Marie Rudisill Illustrations Copyright © 1987 by Pennyroyal Press, Inc. Satz: Hummer, Waldbüttelbrunn Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany ISBN 3 - 458 - 19111 - 9
Das Geheimnis
Einer der traurigsten Tage meines Lebens war der, an dem ich das an den Ausläufern der Allegheni Mountains in West Virginia gelegene Heim meiner Kindheit verließ. Meine Ma und mein Pa und ich wohnten zusammen mit meiner Grandma und meinem Grandpa in einem kleinen Holzhaus, etwa eine Meile von der nächsten Landstraße und dreißig Meilen von der nächsten Stadt entfernt. Unser Haus war von Generation zu Generation weitervererbt worden, wenigstens erzählte Grandpa mir das. Wir waren immer eine Familie gewesen, aber weil ich ins schulpflichtige Alter kam, beschloß mein Pa über uns alle, daß wir nach Virginia, über die Berge irgendwohin ziehen und Grandpa und Grandma in der Obhut eines neuen Arbeiters auf unserem Land zurücklassen sollten. Niemals werde ich die Tage vor unserer Abreise vergessen. Es war Spätsommer, die Blätter verwandelten ihr langweiliges Grün in flammende Farben von Orange, Rot, Gelb und Purpur. Herbststille lag in der Luft. Grandpa war untätig und teilnahmslos, weil er wußte, daß etwas nicht in Ordnung war. Er war schweigsam 9
geworden und schmollte, wie immer, wenn etwas nicht stimmte, und keiner ihm sagte, was los war. Wenn das Problem ernst genug wurde, und das wurde es immer, erfuhr er endlich davon, und dann zog er mich auf den Schoß, machte es mir bequem und sagte mir, wie er über die Lage dachte. »Bobby«, sagte er eines Freitags abends, »ich weiß da ein Geheimnis, das ich dir eines Tages mitteilen will.« Er sah zu Boden und zeichnete mit den Zehen rasche kleine Muster in den Sand. Es wurde allmählich kühl, denn die Nacht kam heran, und der Sand muß sich warm angefühlt haben. Ich schaute unverwandt in sein Gesicht, suchte seine Augen, aber sie bewegten sich nicht, starrten ausdruckslos nur auf seine nackten Füße. »Du wirst bald fortgehen von hier. Ich werde dich vermissen, wenn du gegangen bist. Du wirst unter fremden Leuten sein, und ich möchte, daß du dich an mich und mein Geheimnis erinnerst. Komm eines Tages wieder, dann wollen wir es miteinander teilen.« Und danach sah er mich an und war sehr traurig. Damals konnte ich überhaupt nicht verstehen, was er mit dem Geheimnis meinte, und wollte mehr darüber hören. Tränen traten in seine Augen, und ich wußte, daß ihm jetzt das 10
Grandpa war untätig und teilnahmslos, weil er wußte, daß etwas nicht in Ordnung war. Er war schweigsam geworden und schmollte, wie immer, wenn etwas nicht stimmte, und keiner ihm sagte, was los war.
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Herz brach. Ich saß da, konnte mich nicht bewegen, ich hatte ihn noch nie weinen sehen. In einem jammervollen Ton fragte mein Grandpa: »Du wirst doch eines Tages wiederkommen, nicht wahr?« Ich umarmte ihn und sagte, daß ich das bestimmt täte, daß ich ihn und Grandma bestimmt niemals vergessen könnte. Abends fragte ich Ma, wer Grandpa gesagt habe, ich würde fortgehen. Sie sagte, wir würden alle fortgehen, am Ersten der nächsten Woche. Sie erklärte mir, Pa hätte in der Stadt erfahren, daß ich noch für das nächste Jahr eingeschult werden könnte – wenn wir sofort wegzögen. Sie sagte, wir würden auf einer anderen Farm mit möblierter Wohnung leben und würden alles hier bei Grandma und Grandpa lassen. Wir würden nur unsere Kleider und das Auto mitnehmen. Ma sagte, wir würden am Montag abreisen. Nur noch zwei Tage – es schien unmöglich, wie ein Traum. Selbst Grandma war nicht die gleiche, still lief sie mit einer Jammermiene im Haus umher. Keiner sagte ihr etwas davon, daß wir fortgingen. Ich sagte nichts, weil Ma mich streng darüber belehrt hatte, daß dadurch nur alles noch schlimmer würde. Sie sagte, daß sie es Grandma mitteilen werde, auf ihre Weise, zur rechten Zeit. 12
Der Samstag kam. Wir waren gerade mit dem Mittagessen fertig, Grandma und Ma räumten ab, und ich wollte eine Weile allein sein. Pa sagte etwas von den Wagen überprüfen müssen, und er machte sich zur alten Räucherkammer auf, wo er mit unserem Fleisch auch das Werkzeug und die Ersatzteile für den Wagen aufbewahrte. Meine Lieblingsstelle, wenn ich allein sein wollte, war unten am Bach, wo die Butter und die Milch in der Kühle des frischen Quellwassers gelagert wurden. Auf dem Weg mußte ich immerfort denken: »Nur noch ein Tag.« Das war so eine kurze Zeit. Ich fragte mich, wie es hier am Montag, Dienstag oder Mittwoch sein würde, wenn wir nicht mehr da wären. Als ich zum Bach kam, saß dort Grandpa, rauchte seine Pfeife und beobachtete das Wasser, wie es über die Steine glitt, sich kräuselte und da und dort einen Zweig mitriß. Die Rohrkolben schaukelten hin und her, wenn ein kleiner Wind aufkam; ich glaube nicht, daß ich mich erinnern kann, auch nur einmal hierhergekommen zu sein, ohne daß der Wind blies. Grandpa beobachtete nur das Wasser, das in kleinen Kreisen wirbelte, unaufhörlich um die Biegung floß und außer Sicht geriet. Ich kam immer hierher, wenn ich allein sein wollte; ich 13
hatte hier auch oft geweint; als Nelly, eine unserer Milchkühe, starb, als Grandma das Fieber bekam und tagelang herumlag und litt. Pa mußte nach dem Doktor gehen und Grandpa wußte nicht, was er machen sollte und betete eine Menge, und Prediger Thomas kam her und tat, was er konnte. Bestimmt half er Grandma mit seinem prima Beten und allem sonst. Einen ganzen Tag lang blieb er an ihrem Bett. Einmal hätte sie uns fast verlassen, aber Prediger Thomas hielt sie ganz fest bei der Hand. Er befahl mir, aus dem Zimmer zu gehen. Ich ging zum Bach hinunter und weinte sehr, als könnte ich nie mehr aufhören. Ich konnte ein solches Elend nicht verstehen und warum die Leute krank werden müssen, so daliegen und leiden müssen und warum sie manchmal sterben. Grandpa hatte mich noch nicht bemerkt, und ich dachte, ich will ihn überraschen. Ich konnte mich aber nicht wirklich an jemand heranschleichen, an Grandpa schon gar nicht. Gerade als ich losbrüllen wollte, drehte er sich um. Er gab mir ein Zeichen, daß ich mich hinsetzen solle, und fing wieder mit einem seiner Lügensprüche an, aber es waren diesmal nicht die üblichen komischen oder erfundenen Geschich14
ten, die er erzählte, wenn er sich ausruhte. Er sprach wieder von dem Geheimnis, das er eines Tages mit mir teilen wolle. Er sagte mir, wie sehr Menschen, wenn sie getrennt werden, dazu neigen, einander zu vergessen. Er sagte mir, wie sehr er mich und meine Mutter und meinen Vater vermissen werde, wenn wir fort wären. Er nahm mir das Versprechen ab, jede Woche zu schreiben und ihn wissen zu lassen, wie es mir ging. Ich weiß noch, daß ich ihm sagte: »Naja, sehr gut schreiben kann ich nicht. Ich bin noch in keine Schule gegangen, weißt du.« Alles, was ich schreiben konnte, hatte Grandpa mich gelehrt. Pa hatte immer so viel damit zu tun, auf dem Feld zu arbeiten und das Geld beizubringen. Einige der Auseinandersetzungen, in die Pa und Grandpa gerieten, vergesse ich nie – Pa brüllte, ich müsse zur Schule gehen, und Grandpa legte dar, wie er mir alles, was nötig und wichtig sei, beibringen könne. Ich hätte jedoch immer gern gewußt, was auf der anderen Seite der Berge war. Grandpa konnte es mir nicht sagen. Manchmal gingen Pa und ich in die Stadt, um Nahrungsmittel und Zeugs einzukaufen. Weiter gingen wir nie. Grandpa sagte mir, unser Geheimnis sei nichts wert, wenn wir nicht beide unser Ver15
Er versprach, meine Briefe jede Woche zu beantivorten. Und mein Bild auf den Schreibtischaufsatz in seinem und Grandmas Schlafzimmer zu Grandmas und Mas und Pas Bildern zu stellen.
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sprechen hielten. Er versprach, meine Briefe jede Woche zu beantworten. Und mein Bild auf den Schreibtischaufsatz in seinem und Grandmas Schlafzimmer zu Grandmas und Mas und Pas Bildern zu stellen. Ich erinnere mich noch an den Tag, als wir alle mit Grandma in die Stadt fuhren, um sie und mich photographieren zu lassen. Der Wagen hatte eine Panne, und als wir zum Photographen kamen, war Grandma ganz außer sich. Sie schäumte und schimpfte und lächelte auch nicht einmal, als der Bildermann das Pulver zur Explosion brachte. Aber sie versöhnte sich dann wieder mit Grandpa, und auf dem Heimweg schmiegten sie sich aneinander und gaben mir ein gutes Gefühl im Innern. Das finstere Bild wurde zu den anderen Bildern in den Rahmen getan. Mein Grandpa und ich saßen den ganzen Abend am Bach zusammen. Er sagte mir, ich würde fern von ihm aufwachsen. Er sagte mir, ich solle meiner Ma und meinem Pa vertrauen und gehorchen, an Gott glauben und jeden Sonntag in die Kirche gehen. Auch dann, wenn mir nicht danach wäre. Er nahm mir das Versprechen ab, morgen mit ihm und Grandma in die Kirche zu gehen – wenn er sie dazu bewegen könnte hinzugehen –, und er ließ sich von 17
mir versprechen, auch in unserem neuen Heim mit meiner Ma und meinem Pa hinzugehen und wenn ich groß genug wäre, sie in die Kirche zu führen. Er sagte mir, er mache sich Sorgen um Grandma. »Ihr ist es wahrhaftig nicht recht, daß deine Ma fortgeht«, sagte er. »Sie hat wahrhaftig einen sonderbaren Ausdruck in die Augen bekommen, als Ma es ihr heute morgen mitteilte. Sie kann es einfach nicht glauben. Anscheinend brauchen Frauensleute die Gesellschaft anderer Frauensleute mehr als Männer. Das weiß ich aber nicht sicher. Es macht sie wahrhaftig kaputt. Ich glaube sie wird noch krank davon – schrecklich krank.« Samstag abend beim Abendbrot machten alle lange Gesichter. Die beiden Männer sprachen über den Pächter, der am Ersten der Woche einziehen sollte. Pa sagte etwas davon, die Pachtpapiere dem neuen Mann zu übergeben. Er würde frei wohnen und dafür, daß er es bearbeitete, einen Teil vom Land erhalten. Grandma und Grandpa behielten das übrige Land, um davon zu leben. Pa führte das große Wort, und Grandpa saß bloß da und stimmte zu. Ich hätte geschworen, daß Grandpa in den paar Tagen um zwei Jahre gealtert war, und ich 18
Er sagte mir, er mache sich Sorgen um Grandma. »Ihr ist es wahrhaftig nicht recht, daß deine Ma fortgeht«, sagte er. »Sie hat wahrhaftig einen sonderbaren Ausdruck in die Augen bekommen, als Ma es ihr heute morgen mitteilte. Sie kann es einfach nicht glauben.«
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glaube immer noch, daß er die Vorgänge nicht wirklich begriff. Sie sprachen über das Auto, und Grandpa schien zu denken, daß es am besten sei, in den Bergen langsam im zweiten Gang zu fahren. Er sagte, die kühle Herbstluft sorge dafür, daß der Motor nicht zu heiß werde. Grandma stocherte nur in ihrem Essen herum und schob es auf dem Teller hin und her, als suchte sie etwas darin. Sie hielt den Kopf gesenkt, wie wenn sie in die Kirche ging und betete. Vielleicht betete sie jetzt auch, ich konnte ihre Augen nicht sehen. »Möchtest du gleich zu Bett gehen?« fragte Ma sie, und Grandma fing leise an zu weinen. Tränen tropften auf ihren Teller und auf ihr schönes karmesinrotes Kleid, das sie eigens für uns trug, weil sie wußte, daß wir am Montag fortgingen. Ich glaube, sie hatte es nur einmal zuvor angezogen – als Prediger Thomas letzte Weihnachten gestorben war. Ich weiß noch, daß Grandpa einige Einwände machte gegen ein helles Kleid an einer Beerdigung, aber Grandma zog es trotzdem an. Sie sagte, es sei noch neu und sauber, und sie würde sich seiner nicht schämen. Grandpa wußte genau, wann er geschlagen war und sagte kein Wort mehr. 20
Ma brachte Grandma in ihr Schlafzimmer, und Grandpa ging auf die Veranda hinaus. Pa legte nur den Kopf auf die Arme und war sehr still, so als sei er eingeschlafen. Ich konnte nicht weiteressen und fühlte mich furchtbar, so als wollte ich sterben. Ich ging auf die Veranda zu Grandpa. Ein paar Grillen waren noch zu hören, und eine kühle Brise prickelte auf der Haut und ließ einen an Kürbisse und Heumieten, Erntedankfest, Weihnachten und Schnee denken. Ich war neugierig, ob sie solche Sachen in Virginia kannten. Grandpa saß in dem alten Schaukelstuhl, den Grandma so gern mochte, schaukelte sich, schaute direkt zum Himmel auf und blinzelte dann und wann mit den Augen. »Schneewolken kommen dies Jahr früh«, sagte er, »Sehen mächtig dicht aus, und der Wind fühlt sich nicht gut an.« Diesmal zog er mich nicht auf den Schoß. Vielleicht dachte er, ich sei allmählich zu groß dafür. »Weißt du«, fing er wieder mit seinem Geschichtenerzählen an, »dein Vater hat die letzten fünf Jahre dieses Land allein bestellt. Es ist seit mehr als siebzig oder achtzig Jahren in der Familie. Ich hatte gehofft, du würdest es als nächster bestellen. Jetzt kommt irgendein Fremder, und wer weiß, was dann geschieht. 21
Junge, ich kann’s wahrhaftig nicht begreifen. Wie eigensinnig aber auch dein Vater sein kann. Läßt uns plötzlich einfach im Stich. Scheint mir nicht in Ordnung. Ist nicht gerecht.« Ein Geräusch von Töpfescheuern war nun zu hören. Ein jäher Schwall von kalter Luft nahm mir die Lust, länger draußen zu bleiben. Ma wusch das Geschirr und deutete auf einen großen Behälter mit Schweinefutter, einen größeren als sonst, weil keiner von uns viel zu Abend gegessen hatte. »Bring das den Schweinen, bevor es noch dunkler wird und wir ein Unwetter bekommen. Und mach heute abend keinen Lärm hier, deine Großmutter ist krank«, sagte sie zu mir. Ma blieb sich trotz allem immer gleich. »Hörst du?« fragte sie, und ich konnte sehen, daß sie geweint hatte; ihre Augen waren gerötet, und sie sah richtig müde aus. Pa hielt in einiger Entfernung vom Haus fünf Schweine. Quiekten laut und sprangen überall herum. Sie waren richtig fett, und es tat mir sehr leid, dieses Jahr das Schlachtfest zu versäumen. Die neuen Leute würden all das neue frische Fleisch bekommen. Ich dachte über den neuen Mann nach, der einziehen würde, ob er Familie hatte oder nicht. Ich schätzte, sie würden sich Mas und Pas Zimmer nehmen. Ich 22
schaute ein paar Minuten über das Land und erinnerte mich so klar an die vielen Stunden und Tage, die Pa auf diesen Feldern gearbeitet hatte. Von dort, wo ich war, konnte ich fünf sehen. Zwei davon gehörten uns, die würden an den neuen Mann übergehen. Auf denen bauten wir Kartoffeln und etwas Getreide und Erbsen an. Ich weiß noch, daß Ma in einem Jahr einige Erdbeeren gesetzt hatte. Sie sollten eine Überraschung für Pa werden. Nun, Pa grub sie um. Sagte, sie seien das komischste Unkraut, das er je gesehen habe. Ihr hättet Mas Gesicht sehen sollen, als Pa ins Haus gerannt kam und ihr von seinem Fund erzählte. Ich weiß nicht, woher Ma all die Ausdrücke genommen hatte, die sie Pa an dem Tag an den Kopf warf. Zwei weitere Felder trugen nur Gras und Disteln. Pa sagte, er habe sie zu kaufen gesucht, aber der Eigentümer wolle sie nicht hergeben. Pa schien zu glauben, daß der Eigentümer nur darauf wartete, Pas Land aufzukaufen. Mit dem letzten Stück Land, einer gerodeten Fläche, die sich durch das Tal erstreckte, machte Pa sein Geld, indem er Kartoffeln und Getreide anbaute – alles von Hand – und sie den Leuten in der Stadt verkaufte. Pa hielt nichts von modernen Maschinen –, trotzdem aber hatte er 23
erst vor ein paar Monaten gesagt, falls er noch lange auf diesen Feldern arbeiten müsse, werde er einige Maschinen anschaffen oder einen oder zwei Männer als Hilfsarbeiter nehmen. Ich versuchte ihm immer zu helfen, aber er jagte mich immer davon und sagte, ich könne keinerlei Männerarbeit verrichten und stehe ihm nur im Weg. Ma und Pa stritten, als ich zum Haus zurückkam. Ich stellte mich ans Wohnzimmerfenster und hörte ihnen zu. Zwar hatte ich Angst vor dem, was Pa tun würde, wenn er mich erwischte, aber ich machte mich einfach ganz klein, so daß sie mich nicht sehen konnten und hörte weiter zu. Es wurde immer kälter, und dann und wann bewegte ich mich, um mich warm zu halten. Pa erklärte Ma, daß ich nun mit einer Ausbildung heranwachsen und es zu etwas bringen würde. Ma versuchte immer wieder, etwas zu sagen, aber Pa redete einfach weiter: »Wegen der Dinge, die ich nicht weiß, bin ich immer angebunden gewesen. Wir haben nicht viel, und jetzt wächst Bobby auf die gleiche Weise heran. Also, solange ich lebe und mich noch rühren kann, werde ich versuchen, ihm ein besseres Leben zu schaffen, als ich es gehabt habe. Ich weiß, daß ich das Ergebnis 24
Pa machte sein Geld damit, daß ei Kat löffeln und Getreide anbaute und sie den Leuten in der Stadt verkaufte.
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nicht mehr erleben werde, aber ich werde ihm einen guten Start geben.« Pa regte sich wieder auf. Er war müde davon, die Sachen für die Reise beizubringen, und zuletzt drehte Ma sich einfach um und ging zur Tür, Pa hielt sie zurück und fing richtig schmusig an zu reden: »Schatz«, nannte er sie jetzt, »ich will es doch nur für Bobby, für dich und für uns alle besser haben.« Ma tat so, als verstehe sie, wovon er sprach. Sie ging weiter zur Tür und ich fürchtete, daß sie mich entdecken würde. Sie rief meinen Namen. Ich wartete ein wenig und ließ sie noch ein paar mal mehr rufen, ehe ich antwortete. Dann kam ich um die Ecke des Hauses gegangen und händigte ihr den leeren Schweinefutterbehälter aus. Sie hieß mich, ihn zu spülen und zu Bett zu gehen. Es war noch ein bißchen zu früh, aber ich hatte keine Lust, ihr zu widersprechen. Ich versuchte zu schlafen, aber Bilder von Grandpa und dem Haus und den Feldern und Grandma schwebten in meinem Gehirn herum wie Ballons, so leicht und federnd und aneinanderstoßend. Ein schneidender Wind war zu hören, der ums Haus fuhr, und riesige schwarze Wolken glitten über den Himmel und deckten den Vollmond zu. Mir fiel ein, daß ich Grandpa 26
nicht Gute Nacht gesagt hatte. Es war noch früh, und vielleicht war er noch wach. Ich ging auf Zehenspitzen zu seinem und Grandmas Zimmer. Grandma schlief. Grandpa lag da, hellwach, und schaute ins Dunkel. Er hörte mich und rief mich leise beim Namen. »Ich wollte nur Gute Nacht sagen«, flüsterte ich. Dann schlang ich die Arme um ihn und fing an zu weinen. Ich weiß nicht warum, aber ich wollte ihn nicht so da liegen lassen. Ganz allein, ohne jemand, mit dem er reden konnte. Ich konnte hören, wie Grandma dann und wann im Schlaf stöhnte und sich in ihrem Bett herumdrehte. Grandpa sagte mir, ich solle besser gehen und sie nicht aufwecken. Ich ging wieder zu Bett und dachte an Grandpa und sein Geheimnis. Vielleicht war es etwas, was er uns eröffnen und was uns vom Fortgehen abhalten würde. Vielleicht würde er Pa etwas zeigen und ihn dazu bringen, seine Absicht zu ändern. Da ich nun wußte, daß er etwas tun würde, fühlte ich mich besser; daß er ein Geheimnis besaß, genügte mir. Ich wußte, daß Grandpa mich nicht anlog, nicht bei etwas so Ernstem wie diesem. Ich dachte mir aus, wie der Montagmorgen verlaufen würde. Es wäre früh, und Pa hätte alles zur Abfahrt bereit. Ma und 27
Grandma würden voneinander Abschied nehmen und plötzlich würde Grandpa sein Geheimnis vorzeigen. Alle würden es anschauen, als sei es ein seltenes kostbares Juwel, und dann würden sie anfangen zu lachen und einander umarmen und küssen, weil wir nicht fortmußten, und Grandpa würde versuchen, uns weiszumachen, er hätte das Geheimnis schon die ganze Zeit über gewußt, um es uns aber zu zeigen nur den richtigen Augenblick abgewartet. Ich würde mich auf dem Boden herumwälzen, brüllen vor Glück und so stolz auf Grandpa sein, daß ich all das gar nicht in mir festhalten könnte. Ich würde über die Felder rennen und aus Leibeskräften rufen: »Wir brauchen nicht fortzugehen! Wir können bei Grandpa und Grandma bleiben. Wir sind noch eine ganze Familie. Wir können bleiben!« Ich würde wieder zurückrennen, am Haus vorbei und zum Bach hinunter. Ich würde ins Wasser hineinrennen, mich über und über bespritzen und so froh und glücklich sein, weil Grandpa mich nicht angelogen hatte. Am nächsten Morgen wachte ich spät auf. Im Zimmer war es dunkel, und der Wind blies so, als ob er das Haus umreißen wolle. Ich setzte mich aufs Bett, und ein einziges schweres Wort 28
tauchte in meinem Kopf auf: Sonntag. Ich konnte es nicht glauben. Noch in meinem Nachtzeug, stürzte ich in die Küche, und da bereiteten Ma und Grandpa gerade das Frühstück zu. Ma sagte mir, ich solle mich waschen und zum Essen fertig machen, und dann warfen ihre nächsten Worte mich beinahe um: »Mach dich auch zur Abreise fertig. Ein böser Sturm ist im Anzug, und wir fahren einen Tag früher. Pa ist in die Stadt gefahren, um den Leuten zu sagen, sie sollen herkommen. Deine Grandma ist furchtbar krank, ich wünsche deshalb, daß du keinen unnötigen Lärm machst. Hast du mich verstanden?« Es gelang mir, ein »Ja« hervorzubringen. Ich setzte mich an den Frühstückstisch, konnte aber nichts essen. Ich starrte nur Grandpa an, flehte und bat ihn schweigend, mit den Augen, etwas, irgend etwas zu tun. Tränen strömten mir die Wangen hinab, aber alle taten so, als ob ich gar nicht auf der Welt wäre, als ob ich nicht einmal dasäße. Ich stand auf und sagte ihnen, ich hätte keinen Hunger. Ma fing an zu schimpfen, und Grandpa sagte ihr, sie solle mich in Ruhe lassen. Ich ging in mein Zimmer und begann meine Sachen in eine alte Pappschachtel zu packen, für die ich immer andere Verwendungen ge29
funden hatte, als Sachen hineinzupacken. An der Fensterscheibe war jetzt Schneeregen zu hören, und es schien ein wenig kälter geworden zu sein. Wieder flehte ich in meinem Innern Grandpa an, er möchte sein Geheimnis vorzeigen, damit wir nicht fortgehen müßten, aber ich war nicht länger in einem Tagtraum befangen. Dies hier war die Wirklichkeit, und ich fing an zu glauben, daß er überhaupt kein Geheimnis besaß. Ich mußte mich mächtig anstrengen, um es nicht zu glauben. Ich hörte, daß Pa ins Haus trat. Fluchend und mit erhobener Stimme fragte er, ob wir alle fertig seien. Ma kam zu mir ins Zimmer, als ich gerade den letzten meiner Socken in die zum Bersten volle Schachtel stopfte. Sie sah mich an, und da bemerkte ich erst, warum sie mich so ansah. Ich war noch gar nicht angezogen. Sie drehte sich um und sagte zu Pa: »Trag du schon die anderen Schachteln in den Wagen. Ich helfe Bobby beim Anziehen.« Während sie mich an den Armen zerrte und meine Beine und Füße hin und her drehte, sah ich zum Fenster hinaus – große flaumige Schneeflocken fielen an die Scheiben. Ich konnte Pa wieder hereinkommen hören. Er sagte Grandpa etwas von einem Doktor, der 30
Ma und Grandpa bereiteten das Frühstück zu. Ma sagte mir, ich solle mich waschen und zum Essen fertig machen.
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zu Grandma käme und daß die neuen Leute ebenfalls unterwegs seien. Ich dachte daran, daß ich nun den Kirchgang mit Grandpa versäumte, meinen Lieblingsplatz am Bach nicht mehr aufsuchen konnte und daß Grandma krank war. Und wir einfach auf und davon und ließen alles so zurück. Ich schaute Grandpa starr an. Er beugte sich vor und küßte mich. Pa nahm die große Schachtel mit meinen Kleidungsstücken auf, und Ma und Grandpa sagten einander Ade. Wir gingen alle ins Wohnzimmer, und Grandpa neigte sich wieder vor und umarmte mich. Ich umarmte ihn nicht – ich konnte nicht. Und dann sagte er mir etwas; »Denk an unser Geheimnis«, und ich sah, wie er mit den Augen zwinkerte und wie eine Träne seine Wange herabrollte. »Auf Wiedersehen, Bobby«, hörte ich ihn sagen, als ich zur offenen Tür hinaus in den kalten, beschneiten Vorgarten lief. Ma öffnete die hintere Wagentür, und ich sprang mitten in die Schachteln hinein und versteckte mein Gesicht im Rücksitz und weinte. Ma stieg ein, und ich hörte, wie der Wagen anfuhr. Als wir den Feldweg hinunterfuhren, preßte ich mein tränenüberströmtes Gesicht an die Heckscheibe und wischte den Beschlag 32
weg. Ein Bild ist mir im Gedächtnis geblieben: Grandpa steht im Vorgarten und winkt. Der Schnee verhüllte fast die Bäume und Gehölze. Das Haus war kaum noch zu sehen – eine dünne Rauchfahne zog ein paar Fußhoch zum Schneehimmel hinauf. Dann kamen wir an den Kühen vorbei, und ich wußte, daß ich alles verließ, was ichje vom Haus aus gesehen hatte, und daß eine lange Reise begann. Doch diesmal nicht in die Stadt, eine viel weitere Reise, eine weitere Reise als ich je zuvor unternommen hatte. Ich klebte mit dem Gesicht an der Scheibe, bis ich, als wir über die Landstraße fuhren, nichts mehr sehen konnte, nur noch Schneenebel und beharrlich vorbeiziehende Bäume. Die Landstraße hat eine Abzweigung, eine der beiden Straßen, die linke, führt in die Stadt. Wir schlugen die rechte ein. Pa schaltete die Heizung an, und Ma rutschte auf dem Vordersitz hin und her, um es bequemer zu haben und zu sehen, wohin Pa fuhr. Ich bekam jetzt Hunger, wagte aber nichts zu sagen, weil ich wußte, daß Ma nur schimpfen würde, weil ich mein Frühstück nicht gegessen hatte. Bei all den neuen Orten, die ich sah, hatte ich ein Gefühl, als ob ich schliefe und einen Traum hätte. Die Scheiben beschlugen sich immer aufs 33
neue, und schließlich hatte Pa genug davon, daß ich von einer Wagentür zur anderen ging, stolperte und die Schachteln verschob, weil ich etwas zu sehen versuchte. Da war nichts als Schnee, Bäume, Berge und eine Leere innen in mir, die ich mir gar nicht erklären konnte. Ich schlief ein wenig, aber Ma weckte mich und gab mir zwei Stücke Brathähnchen und ein Glas eiskalte Milch. Es war noch Tag. Wir standen an einer Tankstelle mit Restaurant. Es schneite noch, aber die Berge waren verschwunden. Ich drehte mich auf dem Rücksitz um und suchte sie. Ich konnte nicht viel sehen, nur Schnee und ein kleines Stück Landstraße. Ein Mann füllte Benzin in den Wagen, und Pa war wohl drinnen in der Tankstelle. Ma sagte mir, ich solle das Hähnchen essen, ehe es kalt würde, und hungrig wie ich war, brauchte sie mich nicht lange zu überreden. Am Fenster des Restaurants bemerkte ich eine große Uhr: halb vier. Ma sah, daß ich hinblickte, und erklärte mir, Pa habe gesagt, wenn wir uns nicht verführen oder sonstwas, sollten wir in einer Stunde dort sein. Auf dem Gras lag der Schnee jetzt hoch, aber die Straße war frei. Ma sagte, wir befänden uns auf einer Hauptstraße, aber wie die Straßen an unserem 34
Der Schnee verhüllte fast die Bäume und Gehölze. Das Haus war kaum noch zu sehen – eine dünne Rauchfahne zog ein paar Fußhoch zum Schneehimmel hinauf.
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Reiseziel sein würden, wisse sie nicht. Sie sagte, wie früh doch dieser Schneefall sei und welches Glück wir hätten, so bald herauszukommen. Ich war mit Essen beschäftigt, bis mir plötzlich ein Gedanke kam und ich ihn laut aussprach: »Glaubst du, daß der Doktor imstande ist durchzukommen, um nach Grandma zu sehen?« Ich merkte, daß Ma sich plötzlich darüber klar wurde, was ich gesagt hatte. Sie sagte, sie sei sicher, daß die neuen Leute es dort schon recht machen würden und daß sie genau so viel wie jeder andere tun könnten, um den Doktor zu holen. Pa öffnete die Wagentür und fragte mich, ob ich auf die Toilette gehen müsse. Er zeigte mir eine Tür an der Seite des Gebäudes und wies mich an, gleich zum Wagen zurückzukehren und nicht zu trödeln. Er schaute zum Himmel und schüttelte nur den Kopf. Als ich zum Wagen zurückkehrte, waren sie fertig zur Abfahrt. Der Schnee sah so sauber aus, und die Luft war so frisch und kalt. Ich hätte gern ein bißchen gespielt, aber das kam nicht in Frage. Pa hatte einen kleinen Kuchen für mich, der mich erwartete, als ich mich in meinem Nest zwischen den Schachteln niederließ. Ich beobachtete, wie die Stadt an uns vorüberzog und sah ein paar 36
Leute, die ich nie zuvor gesehen hatte. Doch dann kam wieder die gleiche langweilige Landschaft, und ich schlief zum zweiten Mal ein. Ma rüttelte mich, als wir gerade in die Einfahrt einbogen zu einem der schönsten Häuser, die ich je gesehen hatte. Es schneite nicht mehr, aber Junge, wie tief der Schnee war. Pa versuchte, die Einfahrt hinaufzufahren, doch der Wagen nahm nur einen großen Anlauf, und dann starb der Motor ab. Ma fragte Pa, ob er sicher sei, daß dies das richtige Haus sei, und Pa sagte, er sei sicher. Ein Mann kam auf die Veranda heraus und starrte uns an. Zwei kleine Jungens folgten ihm, und dann kam noch ein weiteres Kind heraus, ein Mädchen, und die starrten uns auch an. Pa ging ein kleines Stück über die Einfahrt, bis er hören konnte, was der Mann sagte. Pa nickte zweimal mit dem Kopf, drehte sich um und ging zum Wagen zurück. Der Schnee reichte ihm bis an die Knie, und Ma und ich mußten nun auch hindurchgehen. Pa nahm zwei große Schachteln und Ma nahm eine. Sie gaben mir keine, wahrscheinlich weil ich sie sowieso nicht tragen konnte. Wir gingen in das große Haus, und aus der Küche kam eine Frau. Pa schüttelte dem Eigen37
tümer die Hand und dann der Frau. Dann tat Ma das gleiche. Wir Kinder standen einfach da und sahen einander an. Ich stellte mich dicht zu Pa, denn sie waren zu dritt gegen mich allein, und sie sahen gemein aus. Der Mann sagte zu Pa, das erste Stockwerk sei für uns. Es habe eine Küche, zwei Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und ein Badezimmer. Pa sagte uns, wir sollten hinaufgehen und uns einrichten, und er und der andere Mann gingen in ein großes Zimmer, um zu reden. Die Jungen beobachteten, wie Ma und ich die Treppe hinaufstiegen. Ich mußte eine der Schachteln tragen, die Pa hereingebracht hatte; die andere ließ ich unten stehen, ich mußte eben nochmal zurückkommen und sie holen. Als ich zurückkam, waren die beiden Jungen noch da, aber das Mädchen war anderswohin gegangen. Ich fragte sie, ob sie zur Schule gingen. »Klar. Gerade angefangen«, antwortete einer von ihnen. »Müssen etwa eine halbe Meile zu Fuß gehen«, sagte der andere. Sie sahen fast wie Zwillinge aus. »Beide in derselben Klasse?« fragte ich. »Jawohl, erste Klasse. Unsere Schwester geht erst nächstes Jahr«, erklärte mir der andere Junge. Ma verlangte gellend nach der letzten Schach38
Wir Kinderstanden einfach da und sahen einander an. Ich stellte mich dicht zu Pa, denn sie waren zu dritt gegen mich allem, und sie sahen gemein aus.
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tel, darum mußte ich gehen. Sie beobachteten, wie ich die Treppe wieder hinaufstieg. Ma sagte mir, der Mann heiße Mr. Spade Henderson, und Pa werde für ihn arbeiten. Sie hatte schon einige Lebensmittel entdeckt und bereitete das Abendessen vor. Ich dachte laut: »Heute ist Sonntag. Morgen geht wieder Post ab. Ich will Grandpa einen Brief schreiben!« Als ich in mein Schlafzimmer rannte, kam ich an diesem schönen Schreibtisch mit allerlei Bleistiften und Tintenfässern und Sachen darauf vorbei. Auch eine Lampe stand darauf, damit man abends schreiben konnte, vermutlich. Etwas fiel mir ins Auge. Es war der matte Farbton von gelbem Papier, das in den Ecken seltsame Schnörkel hatte. Das Papier fühlte sich glatt und weich an. Ich war neugierig, wie sich darauf wohl schreiben ließe. Vielleicht hatte Grandpa auch noch nie solches gesehen. Ich
stahl
ein
Blatt
davon
und
rannte
in
mein
Zimmer, wühlte in der Schachtel nach einem Bleistift und begann meinen Brief: »Lieber Grandpa. Wir sind gut angekommen. Hier das ist ein großes Haus, mit zwei Lagen. Wir haben die obere Lage. Sie haben drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Pa ist unten an der Einfahrt im Schnee stecken geblieben.« Ich 40
machte zu große Buchstaben und merkte nun, daß nicht mehr viel Platz für das Briefende übrig war. Die kleinen Schnörkel nahmen viel Platz weg. Den restlichen Raum brauchte ich für die folgenden Worte: »Schreib bald. Du fehlst mir. Ich wollte, Du wärst hier.« Ich unterschrieb nur mit »Bobby«. Jetzt brauchte ich noch einen Umschlag. Ich ging wieder an den Schreibtisch und fand einen, aber auf der Ecke links oben stand etwas geschrieben. Ma kam herein und erwischte mich. Ich sagte ihr, daß ich Grandpa geschrieben hatte und einen Umschlag brauchte. Sie sah sich den Umschlag an und sagte, der sei ganz recht. Was im oberen Eck stand, sei Mr. Hendersons eigene Adresse. »Vergiß nicht, deinem Großvater mitzuteilen, daß er dahin schreiben muß, und sage ihm, Pa und ich lassen ihn grüßen.« Ich kehrte in mein Zimmer zurück und schaute erst den Umschlag und danach den Brief an. Mir schien nicht genug Platz übrig zu sein, um alles, was sie gesagt hatte, hinzuschreiben. Dann fiel mir etwas Einfaches ein. Ich drehte das Blatt um und hatte eine ganze neue Seite vor mir. Ich begann gleich diese Seite zu beschreiben: »P. S.«, fing ich an, »Ma und Pa lassen Dich grüßen. Schreib an die Anschrift in 41
der Ecke. Das ist der Mann, dem das Haus gehört. Vielleicht kannst Du uns einmal besuchen kommen.« Ich machte wieder so große Buchstaben, und nun war kein Platz mehr da. Ich drehte den Brief um und las die erste Seite wieder durch. Am unteren Ende fügte ich die Worte »siehe Rückseite« hinzu. Ich klebte den Brief zu und saß eine Minute einfach da und sah unsere neue Adresse an. Ma kam wieder herein und sagte mir, ich solle den Umschlag adressieren. Sie hatte eine Marke gefunden und wollte ihn morgen einwerfen. Ich mußte Ma fragen, wohin ich schreiben solle, und sie sagte mir, ich müsse Grandpas Namen schreiben und R. F. D.* darunter setzen, und sie würde die Adresse vervollständigen. Draußen begann es dunkel zu werden, und ich schaute zum Fenster hinaus, sehnte mich wieder danach, die Berge zu sehen. Schnee trieb die Anhöhen hinab und im Kreis um die Zaunpfähle. Unten am Ende der Einfahrt konnte ich Pas Wagen noch erkennen. Da waren sie, die Berge – in weiter Ferne, so dunkel und klar. Der Wind peitschte um die Ecken des Hauses, und ich fragte mich, ob Grandpa und Grandma es warm hatten. Ich fragte mich, wie * R. F. D. = Rural Free Delivery
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Ich drehte das Blatt um und hatte eine ganze neue Seite vor mir. Ich begann gleich diese Seite zu beschreiben: »P. S.«, fing ich an, »Ma und Pa lassen Dich grüßen. Schreib an die Anschrift in der Ecke. Das ist der Mann, dem das Haus gehört. Vielleicht kannst Du uns einmal besuchen kommen.«
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der Mann sie behandeln mochte und ob der Doktor überhaupt hatte hinkommen und nach Grandma sehen können. Ich fragte mich, was sie jetzt wohl machten, wie hoch der Schnee dort lag und ob der neue Mann zu faul war, die Einfahrt frei zu schaufeln, damit sie in die Stadt gehen oder in die Kirche gehen oder auch nur die Post holen gehen konnten. Ma rief mich zum Abendessen. Pa war wieder da und berichtete, was für ein gutes Abkommen er getroffen hatte. Er sagte, Mr. Henderson besitze zwischen dreihundertfünfzig und vierhundert Acre Land hier, und Pa werde dafür die Verantwortung tragen und vierhundert Dollar monatlich verdienen, sofern er die Bodenproduktion auf dem vollen Leistungsniveau hielte. Er schloß Ma in die Arme, und sie lachten und machten so weiter, und dann zog er die größte Rolle Geld hervor, die ich je gesehen hatte. »Er hat mir meinen ersten Monatslohn im voraus gegeben!« brüllte Pa, und er umarmte Ma von neuem. Ich stand einfach nur da. Ich konnte nicht glauben, daß uns so etwas geschah. Pa eine gute Stelle, Ma wieder glücklich, und ich würde zur Schule gehen. Ich machte auch Luftsprünge und umarmte Ma ebenfalls. Nur wir drei. 44
Wir aßen fertig zu Abend und saßen im Wohnzimmer herum. Da war das riesig große Radio, und Pa stellte es an und suchte, bis er ein bißchen Musik fand. Er und Ma saßen beieinander und hielten sich bei den Händen. Ich hatte immer ein so gutes Gefühl, wenn ich Ma und Pa so sah. Er sagte ihr, die Schule liege eine halbe Meile weiter unten an der Straße und ich würde, Schnee oder nicht, morgen mit den anderen Jungen hingehen. Er sagte, er werde Grandpa und Grandma etwas Geld schicken und vielleicht könnten wir sie bald besuchen – vielleicht im Frühling. Ich schwebte fast in den Wolken, als ich das hörte, wirklich eines Tags, vielleicht schon bald, zum alten Zuhause zurückkehren, um Grandpa und Grandma zu besuchen. Eine Woche verstrich, zwei Wochen, und jeden Abend nach der Schule rannte ich ins Haus und hoffte auf einen Brief von Grandpa. Und dann kam er. Er war an mich adressiert – Master Bobby stand in Grandpas eigener Handschrift in Druckbuchstaben darauf. Darunter stand per Adresse Mr. Spade Henderson, R. F. D.2, und dann die Stadt, die ich noch nicht auszusprechen gelernt hatte, und Virginia. »Grandpa hat’s geschafft!« brüllte ich, als 45
ich die Treppe hinauf in mein Zimmer hüpfte. Diese ganzen zwei Wochen, in denen ich in die Schule gegangen war, fleißig gelernt, die Kirche besucht und an den Samstagen Pa manchmal geholfen hatte, waren die Mühe wert gewesen – Grandpa hatte geschrieben! Eine Minute lang betrachtete ich die Handschrift auf dem Umschlag, bevor ich ihn aufriß. Immer schob ich die Dinge gern so hinaus, damit sie ein wenig länger dauern sollten, als sie es gewöhnlich taten. Der Brief begann: »Lieber Bobby. Ich bin so froh und glücklich für Dich. Das Briefpapier, das Du benutzt hast, ist schön. Die Leute dort müssen wirklich reich und freundlich sein. Ich fürchte so sehr, daß Du mich vergessen wirst. Grandma ist tot, einen Tag, nachdem Ihr alle fort wart, ist sie gestorben. Wollte nichts mehr essen oder tun. Ich wußte nicht, was ich machen sollte. Der Doktor sagte, sie wollte einfach nicht mehr länger leben.« Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Es war so, als läse ich einen fremden Brief. Er war nicht für mich bestimmt. Grandma konnte nicht sterben und Grandpa verlassen. Sie waren füreinander gemacht. Wenn zwei Leute so gemacht sind, verläßt der eine den anderen nicht 46
einfach so plötzlich. Daraufhin dachte ich an Ma und Pa. »Nun weiß ich nicht, was ich tun soll«, schrieb er weiter. »Die Leute hier sind wie Fremde. Der Doktor hat sie beerdigen lassen, und nun bin ich ganz allein. Manchmal wünsche ich, ich hätte mit ihr sterben können.« Der Brief war nicht einmal unterschrieben. Sein Versprechen aber hatte Grandpa gehalten. Ich dachte daran, wie schwer es ihm gefallen sein mußte, diesen Brief zu schreiben, welchen Mut er erfordert haben mußte und wie es ihn innerlich gequält haben mußte, mir all das zu sagen. Jahre vergingen, und ich kam in die High School. Mr. Henderson verkaufte Pa ein Stück Land, und wir bauten uns ein eigenes Heim darauf. Pa sagte, ich würde bald heiraten, und dann würden wir mehr Platz und ein eigenes Zuhause brauchen. Ich hatte Grandpa vergessen, bis eines Tages ein Brief kam von einem Mr. Joseph Ridley. Er erklärte, daß der alte Mann, der bei ihm gelebt hatte, gerade gestorben sei und daß sich unter seinen Sachen ein Brief mit meinem Namen und Mr. Hendersons Adresse daraufgefunden habe. Er erklärte, er sei ein Landarbeiter und vor acht Jahren dorthin gezogen und habe auf den alten Mann ge47
wissermaßen aufgepaßt. »Ich schicke seine einzige Habe in einer Schachtel, die ich morgen an Sie absenden werde, weil ich in die Stadt gehen muß, um sie wegen der Postgebühr wiegen zu lassen.« Das war alles, was er geschrieben hatte. Grandpa war tot. Mr. Ridley konnte unmöglich von einem anderen gesprochen haben. Ich dachte an Grandpas Geheimnis – was er mich gelehrt hatte und was er mir gesagt hatte: »Liebe deinen Vater und deine Mutter«, hatte er mir so oft gesagt. »Geh jeden Sonntag mit ihnen in die Kirche und führe du sie hin, wenn du groß genug bist.« Seine Worte klangen jetzt so deutlich in mir nach. Ich hatte es getan. Das alles war Teil von Grandpas >Geheimnis<, wie wir leben sollen, leben lassen sollen und uns des Lebens freuen sollen, das Geheimnis hieß geliebt zu sein und einer den anderen zu lieben. Das Paket traf am nächsten Tag ein. Ich öffnete es sehr vorsichtig, denn es schien etwas Zerbrechliches und sehr Zartes zu enthalten. Da war er – der große Bilderrahmen, der die vielen Jahre auf dem Schreibtischaufsatz in Grandpas Zimmer gestanden hatte. Ich betrachtete die Bilder eines nach dem anderen, zuerst Grandma, danach Grandpa, dann Pa und zuletzt Ma. Mein Bild hatte er anderswo 48
Mein Bild hatte er anderswo aufgehoben. Ich fragte mich, was er damit wohl gemacht hatte, wo es sein mochte.
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aufgehoben. Ich fragte mich, was er wohl damit gemacht hatte, wo es sein mochte. Ich schaute die Bilder aufs neue an, diesmal alle zusammen als eine ganze Familie. Ma und Pa wandten sich ab, gingen fort und ließen mich, der den Bilderrahmen ehrfurchtsvoll in der Hand hielt, allein. Ich begann zu weinen, und dann kamen mir diese Worte: »Das ist mein Erbe, meine Vergangenheit und Teil meines ganzen Lebens. Grandpa hat es all die Jahre auf seinem Schreibtisch aufbewahrt. Wie muß es ihn gequält haben, wenn er sich dabei ertappte, daß er die Bilder ansah, wenn er sich verlassen und leer fühlte.« Doch vielleicht hatte es ihn gar nicht gequält; ich glaube, Grandpa besaß einen Umfang an Wissen und Macht, der meine kleine Welt und was ich zu sehen verstand, weit übertraf. Solange Grandpa noch lebte, waren wir nie dazu gekommen, einmal wieder dorthin zurückzukehren, obwohl Pa ständig davon redete, und jetzt war da nichts mehr, wohin wir zurückkehren konnten, nur noch Erinnerungen. Vielleicht aber werde ich, bevor ich sterbe, eines Tages zurückkehren und wieder dort leben.
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Als Kind einer erst Siebzehnjährigen, verbrachte Truman Capote die sieben ersten Jahre seines Lebens bei Tanten und Vettern, darunter Marie Rudisill, der jüngeren Schwester seiner Mutter. Bud, ein ältlicher Verwandter, ist das Vorbild für den Grandpa dieser Geschichte gewesen, seine Schwester Sook hat der ältlichen Cousine in A Christmas Memory als Modell gedient. 1946, zu Besuch bei Mrs. Rudisill, schrieb Truman Capote, der damals zweiundzwanzig Jahre alt war und an Other Voices, Other Rooms arbeitete, I Remember Grandpa zum Geschenk für seine Tante, weil Bud einer ihrer Lieblingsvettern war. Als sie ihn fragte, was sie mit der Geschichte anfangen solle, sagte der junge Autor: »Egal was. Mach damit, was du willst. Wer weiß, vielleicht werde ich noch mal berühmt.« Und so geschah es. Nach Truman Capotes Tod fand Mrs. Rudisill das lange vergessene Manuskript unter ihren Papieren. Sie hatte das Gefühl, daß es veröffentlicht werden sollte, weil »die frühen Schriften jedes Menschen seine reinsten« seien. Für sie fängt I Remember Grandpa sowohl die Liebe des jungen Truman Capote zu dem Vetter ein, der ihn gedrängt hatte, in ihm einen Großvater zu sehen, wie auch des jungen Mannes schließliche Enttäu52
schung über das Familienleben und seine verheißenen Freuden. Für Mrs. Rudisill ist dies eine liebenswürdige, rührende Geschichte, die klar und einfach Truman Capotes Herkunft offenbart, ein Geschenk, das sie meint, mit anderen teilen zu sollen. *
* An dieser Stelle handschriftliche Eintragung: »Anm.: Tiny Marie Rudisill konnte die Autorschaft niemals beweisen[;] das Manuskript war getippt und enthielt keine einzige Anmerkung in seiner [Capotes] Handschrift. Fest steht heute, daß Capote diese Erzählung nicht geschrieben hat, sondern daß Rudisill hierin nur eine Möglichkeit des Profits für sich gesehen [hat] (nach Capotes eigener Aussage ›eine der fürchterlichsten Verwandten überhaupt‹). (s. auch Clarke, G.: ›Truman Capote‹, [1990] Kindler Verlag, München)«