Das Geheimnis des schwarzen Mönchs von Marisa Parker
„Der schwarze Mönch! Schämt ihr euch nicht, solch einem Kindermär...
10 downloads
586 Views
783KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Das Geheimnis des schwarzen Mönchs von Marisa Parker
„Der schwarze Mönch! Schämt ihr euch nicht, solch einem Kindermärchen aufzusitzen?", donnert
die Äbtissin zornig. „Aber wir haben ihn doch gesehen!", ruft eine der Nonnen. Plötzlich erstarrt
sie. „Dort ist er wieder! Der schwarze Mönch steht an der Säule neben der Tür!" Alle wenden sich
um, Panik entsteht. Einige Frauen brechen in leises Schluchzen aus. Rebecca kneift die Augen
zusammen und entdeckt tatsächlich einen dunklen Schatten, der die Form eines Mannes mit einer
Kapuze hat.
„Ein Schatten, weiter nichts", sagt die Äbtissin mit eisiger Ruhe. „Ich werde hingehen und es euch
beweisen." „Gehen Sie nicht, Mutter Äbtissin", flüstert eine junge Novizin mit vor Schreck
geweiteten Augen. „Er wird Sie töten ..."
„Der wievielte?"
Rebecca hielt sich den Zeigefinger über die Lippen und blinzelte den vor ihr stehenden jungen
Mann vorwurfsvoll an. „So etwas fragt ein Gentleman nicht, Tom."
Tom war keineswegs verlegen, er grinste spitzbübisch. „Ich bin Kriminologe und kein Gentleman,
liebe Rebecca."
Sie zuckte, lachend die Schultern und nahm einen Drink von einem der silbernen Tablette, die
vorüber getragen wurden. Tante Bettys Salon hatte sich heute Abend in einen Festsaal verwandelt,
in dem an die fünfzig Gäste in Abendgarderobe plauderten, an Gläsern nippten und es sich wohl
sein ließen.
„Hier; stärke dich erst einmal. Und dann stellst du diese Frage dem Geburtstagskind am besten
selber."
„So lebensmüde bin ich nun auch wieder nicht", gab er zurück und nahm das Glas aus ihrer Hand.
„Ich wollte nur - bevor ich einen Fauxpas begehe - vorsichtshalber erst einmal eine verdeckte
Untersuchung einleiten."
„Dazu kann ich dir nur sagen, dass Tante Betty seit etlichen Jahren ihren neunundfünfzigsten
Geburtstag feiert. Ist deine Frage damit beantwortet?"
„So gut wie", sagte er und rückte den Schlips zurecht, denn Tante Betty, in feierliches Blau
gewandet, steuerte durch die Menge der Geburtstagsgäste genau auf ihn zu.
„Tom, mein Lieber!", rief, sie und reichte ihm die Hand, die er wohlerzogen an die Lippen zog.
„Was für eine Freude, dass Sie gekommen sind! Ich wurde schon von mindestens drei meiner
Freundinnen gefragt, wer der gut aussehende junge Mann dort an der Tür sei. Was denken Sie, was
ich geantwortet habe?"
„Vermutlich haben Sie gesagt, es sei der Klempner."
Tante Betty ließ ein perlendes Lachen hören, sie liebte Toms trockenen Humor.
„Im Gegenteil. Ich habe erzählt, Sie seien ein bekannter Kriminalkommissar, ein Kollege von
Sherlock Holmes und Hercule Poirot. Die Damen brennen darauf, Sie kennen zu lernen."
Toms Gesicht zeigte einige Verlegenheit, aber er behielt seinen Humor.
„Sehr schmeichelhaft, hoffentlich werde ich die Damen nicht enttäuschen, da ich nur ein ganz
schlichter und unspektakulärer Mensch bin. Dennoch möchte ich Ihnen, liebe Frau von Mora,
zuerst einmal von ganzem Herzen..."
Tante Betty macht eine abwehrende Bewegung und fasste Tom am Arm.
„Gratulieren? Ach lassen Sie das doch, Tom. Das macht mich nur älter als ich sowieso schon bin.
Ich möchte heute Abend mit allen meinen lieben Freunden zusammen sein und feiern und wer mir
etwas von Geburtstag erzählt, den werfe ich eigenhändig hinaus. Habe ich mich klar ausgedrückt,
lieber Tom?"
„Absolut. Wo ist übrigens Rebecca hin? Eben stand sie noch neben uns."
Tante Betty zog ihn zu einer Gruppe von Damen gesetzten Alters und flüsterte dabei: „Meine Güte,
das Mädchen ist wieder einmal völlig überdreht. In ein Kloster will sie gehen. Und das schon in der
kommenden Woche. Was sagen Sie dazu?"
Toms runzelte die Stirn, die Nachricht war ihm völlig neu und machte ihn betroffen. Er hatte
Rebecca vor einer Woche gefragt, ob sie Lust habe, mit ihm eine Woche in Griechenland bei einem
befreundeten Ehepaar zu verbringen. Aber es blieb ihm wenig Zeit, über seine Enttäuschung
nachzudenken, denn die Damen ließen es sich nicht nehmen, ihn nach seinen neuesten
Berufserfolgen auszufragen. Ob er an dem Fall dieses armen ermordeten Jungen gearbeitet habe,
dessen Mörder kürzlich dingfest gemacht wurde? Dieser Mensch gehöre ja eigentlich aufs Schafott
oder zumindest nach Sibirien. Ober schon einmal mit dem Orient Express gefahren sei? Ob er sich
auch am Kampf gegen die Mafia beteiligen würde? Das sei nämlich sehr gefährlich, die
Russenmafia neuerdings ja noch viel mehr als die italienische. Und dabei seien die Herren solch
gute Familienväter und Ehemänner.
Tom fand Rebecca schließlich bei einer Gruppe älterer Herren, die andächtig die Berichte über ihre
Afrikareise anhörten. Lächelnd betrachtete er sie eine Weile. Wie gut ihr das dunkelrote, eng am
Körper liegende Samtkleid stand. Ein wundervoller Kontrast zu ihrem dunklen Haar, das sie aus
dem Gesicht gekämmt und hochgesteckt hatte, und das am Hinterkopf in weichen Wellen in den
Nacken hinab floss. Rebecca wirkte zart und zerbrechlich, wenn man sie so betrachtete, die
Bewegungen, die sie beim Erzählen machte, glichen denen einer grazilen Tänzerin. Und doch
wusste Tom, dass diese zarte junge Frau hart und ausdauernd sein konnte, und dass sie neben aller
Sensibilität auch eine gute Portion Mut besaß.
„Was hältst du von einem Gang zum Buffett?", redete er sie an. „Du schaust aus, als hättest du
heute noch nicht viel gegessen."
Rebecca wandte sich zu ihm und musste lachen.
„War das jetzt ein Kompliment, Mr. Holmes?"
„Reine Sorge um dein Wohlergehen. Du hast also mitbekommen, dass deine Tante mich bei ihren
Freundinnen als Schrecken der Unterwelt eingeführt hat?"
Sie nickte fröhlich.
„Die „Ahs" und „Ohs", der Damen waren nicht zu überhören. Ich musste mir allerhand einfallen
lassen, um wenigstens die Herren davon abzuhalten, auch noch über dich herzufallen..."
„Was dir hervorragend gelungen ist..."
„Es war harte Arbeit, mein Freund. Mindestens drei Fata Morganas und etliche Luftspiegelungen
hat es mich gekostet. Von einer versuchten Entführung durch einen gut aussehenden
Wüstenscheich ganz abgesehen..."
„Du machst mich neugierig. Schreibst du das in deinem nächsten Buch?"
Sie griff sich einen Teller und ließ den Blick über das gut ausgestattete Buffett schweifen.
„Vielleicht. Auf jeden Fall möchte ich nächste Woche damit anfangen..."
Erlegte sich eher lustlos ein Lachsröllchen und etwas Kaviar auf den Teller, während Rebecca sich
ausgiebig mit Hummersalat eindeckte.
„Und was ist mit unserer Reise nach Griechenland?"
Sie spähte scheinbar hochkonzentriert in den Brotkorb, um ein Vollkornbrötchen mit Sesam
ausfindig zu machen.
„Nach Griechenland...?"
Er begann sich zu ärgern. Sie wusste ganz genau, wovon er sprach und hatte vor einigen Tagen
mehr oder weniger zugesagt. Warum jetzt dieses dumme Spiel?
„Komm schon, Rebecca. Ich habe meinen Freunden schon gemailt, dass wir am
siebenundzwanzigsten bei ihnen eintreffen."
Sie versorgte sich und ihn mit einem Essbesteck und Servietten, dann ging sie zu einer kleinen
Sitzgruppe und ließ sich nieder, den gefüllten Teller zierlich auf dem Schoß balancierend. Er folgte
ihr, immer noch auf die Antwort wartend.
„Ist der Kaviar gut?", fragte sie stattdessen.
„Ausgezeichnet. Möchtest du, dass ich dir davon hole?"
„Nein, nein. Bleib nur sitzen. Ich gehe gleich selbst."
Er sah ihr beim Essen zu und hatte Lust, ihr den Teller von den hübschen Knien fortzunehmen,
dass sie sich endlich mit ihm beschäftigte. Unglaublich, dass jemand, der solche Mengen an
Hummer mit Mayonnaise essen konnte, derart schlank blieb.
„Bekomme ich keine Antwort?“, fragte er schließlich.
„Natürlich", gab sie scheinbar unbefangen zurück und lächelte einer Bekannten zu, die gerade mit
einem ebenfalls gut gefüllten Teller vorüberging. Es war Emilie von Hartenstein, eine von Tante
Bettys besten Freundinnen.
„Du wirst immer hübscher, liebe Rebecca", meinte Emilie und blieb zu Toms Ärger vor Rebecca
stehen. „Aber lass dich ja nicht mit diesem Kriminalkommissar ein, er hat uns ganz schreckliche
Dinge über seine Arbeit erzählt."
„Ach ja?"
Tom wollte einwenden, dass er selbst eigentlich fast gar nichts erzählt hatte, da er im Kreise der
Damen überhaupt nicht zu Wort gekommen war. Aber Rebeccas belustigter Seitenblick bewies
ihm, dass ihr die Zusammenhänge völlig klar waren.
„Da haben Sie völlig Recht, liebe Emilie", sagte sie mit gespielt ernstem Kopfnicken. „Tante Betty
und ich sind auch beständig in Angst und Sorge um ihn. Man weiß ja, wie die Mafia arbeitet, nicht
wahr?"
Emilie bestätigte diese Meinung und fügte hinzu, dass es natürlich die Möglichkeit gäbe, sich der
Familie und seinen Freunden zuliebe in den Innendienst versetzen zu lassen. Dann wechselte sie
das Thema, denn sie hatte von Betty eine aufregende Nachricht erhalten.
„Ist es wahr, dass du ins Kloster gehen willst, Rebecca?"
„Aber ja", gab Rebecca strahlend zurück. „Ich freue mich schon wahnsinnig darauf. Mindestens
zwei Monate Ruhe, Konzentration und ein Leben in einer streng geregelten Gemeinschaft."
„Letzteres wird dir sicher besonders gut tun", warf Tom boshaft ein.
Rebecca ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Ich habe dieses hübsche kleine Frauenkloster auf einer Reise durch Bayern kennen gelernt und
weil es mir dort so gut gefallen hat, habe ich einfach gefragt, ob sie Gäste aufnehmen. Und siehe da
- sie sind bereit, mir ein Zimmer zu vermieten."
„Meine Güte, Kind! Jetzt im Herbst sind solche alten Gemäuer feucht und kalt. Und dann die Nebel
am Abend. Und die Einsamkeit. Nicht zu reden von den Mächten der Vergangenheit, die gerade in
der dunklen Zeit des Jahres heraufsteigen und den Weg zu uns suchen..."
„Sie meinen Gespenster?", erkundigte sich Tom interessiert.
„Geister, lieber junger Mann. Zwischen Geistern und Gespenstern gibt es einen großen
Unterschied..."
Rebecca erhob sich und verkündete, sich noch einmal am Buffett bedienen zu wollen.
„Soll ich dir etwas mitbringen?", fragte sie Tom mit freundlichem Lächeln.
Er stellte seinen Teller ab und erhob sich ebenfalls. Was er gehört hatte, reichte aus, um ihm die
Laune endgültig zu verderben. Sie hatte also wieder einmal eine ihrer verrückten Ideen ausgebrütet.
Vielleicht sogar, um dieser gemeinsamen Reise zu entgehen. Er fühlte sich verletzt.
„Tom, ich hatte noch nicht zugesagt...", sagte sie leise, da sie seinen Ärger spürte und ein
schlechtes Gewissen hatte.
„Du möchtest lieber ins Klostergehen, als mit mir eine Reise zu machen. Wo ist das Problem? Es
sollte einfach jeder tun und lassen, was er mag, oder nicht?"
Er gab ihr seinen gefüllten Teller in die Hand und tauchte in die Menge der Gäste ein, um sich von
Tante Betty zu verabschieden.
Ein wichtiger Fall, erklärte er, man habe gerade eben angerufen.
*** Das Gebirge lag im rötlichen Abendschein, lange Schatten zeichneten bizarre Formen auf die Almwiesen, die Gipfel der Berge ragten grau und unwirklich starr in den Abendhimmel. Rebecca genoss den Anblick der Gebirgslandschaft, durch die sich eine schmale Straße schlängelte, die hinüber ins Tal führte. Dort - auf der anderen Seite des mächtigen Berges - lag das liebliche Tal, in dessen Mitte ein kleiner See war. An den Ufern des Sees in einem kleinen Wäldchen lag das Kloster „Gotteslohn", das sie für zwei lange Monate aufnehmen würde. Sie hatte die Fahrt ohne weitere Aufenthalte hinter sich gebracht, nur einmal war sie auf einen Parkplatz gefahren, um aus dem mitgebrachten Proviantkörbchen, das Tante Betty ihr fürsorglich in den Wagen gestellt hatte, ein Mittagessen einzunehmen. Die Gute hatte eingepackt, als gälte es, eine Hungersnot zu überstehen, vermutlich glaubte sie, im Kloster gäbe es nichts außer Wasser und Brot. Während der Fahrt hatte Rebecca häufig an Tom denken müssen. Sie hatte ein ungutes Gefühl zurückbehalten, als er so plötzlich fort gegangen war, und sie bemühte sich, ihr Verhalten vor sich selbst zu rechtfertigen. Erstens hatte er sie mit seinem Plan einer gemeinsamen Reise sehr plötzlich überfallen. Zweitens hatte sie keineswegs zugesagt, sie hatte „vielleicht" gesagt. Drittens hatte sie einen Roman im Kopf, den sie niederschreiben wollte, und dazu war Griechenland - noch dazu in Gesellschaft von Tom und seinen Freunden - gänzlich ungeeignet. Jawohl, das waren triftige Gründe, sie hatte sicher Recht gehabt, die Reise abzulehnen. Allerdings hatte sie damit gezögert. Warum? Es wäre viel besser gewesen, Tom sofort ihre Gründe zu nennen und die Sache klar zu machen. Warum hatte sie ihn nicht gleich am folgenden Morgen nachdem er ihr das Angebot gemacht hatte, angerufen? Sie waren doch sonst immer kameradschaftlich und ehrlich miteinander umgegangen. Sie brauchte eine Weile, bis sie sich selbst auf die Schliche kam. Es war so, dass Toms unerwartetes Angebot sie verwirrt hatte. Vielleicht lag es an Tante Bettys Gerede. Tom wäre ein wundervoller Lebenspartner für dich, mein Kind. Was für ein großartiger Mensch. Intelligent, rücksichtsvoll, klug, gut aussehend und verlässlich... Sie hatte eine ganze Litanei von guten Eigenschaften aufgezählt, so dass Rebecca sich nach einiger Zeit vorkam wie auf einem
Heiratsmarkt. Sie hatte tatsächlich das Gefühl gehabt, Tom wolle sie mit dieser gemeinsamen Reise an sich binden. Und da sie Tom ja doch gern mochte, hatte sie gefürchtet, ihn mit einer Absage zu verletzen. Wie dumm. Toms Angebot war sicherlich rein kameradschaftlich gemeint gewesen und sie hätte es genauso gut annehmen können. Man war doch nicht gleich verlobt, wenn man mit einem guten alten Freund gemeinsam in den Urlaub fuhr. Wo lebte sie denn? Im neunzehnten Jahrhundert? Sie entschloss sich, Tom vom Kloster aus anzurufen und ihm zu erklären, warum sie sich so dämlich benommen hatte. Er würde es schon verstehen, schließlich kannten sie sich lange genug. Ehrlichkeit war immer noch die beste Basis für eine dauerhafte Freundschaft. Als sie den Bergpass hinter sich gelassen hatte, änderte sich das Wetter urplötzlich. Die sanfte Abendsonne war verschwunden, der Himmel war mit feinem Dunst bedeckt, Nebel stieg auf und erfüllte das Tal, in dem das Kloster stand, mit dicken weißen Schwaden. Sie war ein wenig enttäuscht, schaltete die Nebelscheinwerfer ein und drosselte das Tempo. Langsam folgte sie der Straße, die in engen Windungen talabwärts führte, hin und wieder reißende Bäche überquerte und an einigen Stellen sogar beschädigt war. Vermutlich hatte ein Unwetter die Böschung weggerissen, man musste auf dem Mittelstreifen fahren, ein entgegenkommendes Fahrzeug würde ein ernsthaftes Problem darstellen. Sie hatte den Gedanken kaum gefasst, da sah sie in der Kurve dicht vor sich zwei Nebelscheinwerfer auftauchen, Reifen quietschten, sie trat auf die Bremse und blieb dicht am Abgrund stehen. Ein dunkler Wagen schoss aus dem Nebel auf sie zu, schlingerte ein paar Sekunden lang, weil der Fahrer ebenfalls heftig bremsen musste, und schoss dann so dicht an ihr vorbei, dass ihr Seitenspiegel abgerissen wurde. Rebecca stieß einen Schrei aus und schützte ihr Gesicht instinktiv mit den Händen, da war der andere auch schon davon wie ein Spuk, der vergeht, bevor man sich seiner richtig bewusst wird. Sie wartete einen Moment, noch starr vor Schrecken und mit Herzklopfen - nichts war mehr zu hören. Langsam öffnete sie die Wagentür und stieg aus. Der Seitenspiegel war abgebrochen und lag einige Schritte entfernt auf der Straße. er zeigte zahllose feine Linien wie das Netz einer Spinne. Es war müßig, in dem dichten Nebel auf die Suche zu gehen, man sah keine drei Schritte weit. Aber immerhin hätte es ja sein können, dass der Fahrer den Schaden den er angerichtet hatte, bemerkt hatte und angehalten hatte. Sie blieb eine Weile stehen und strengte ihre Ohren an. Es war still, als sei die gesamte Bergwelt in weiße Watte gepackt, die alle Geräusche aufsog. Nur die Nebel waberten hin und her, so dass man den Eindruck bekam, schwebende, körperlose Gestalten vollführten miteinander wilde Kämpfe. Schließlich stieg sie wieder ein und fuhr weiter. Wer einen Spiegel zerschlägt, der hat sieben Jahre Unglück - das hatte Tante Betty ihr immer erzählt, und irgendwie glaubte sie heute noch daran. Nun ja, sie hatte den Seitenspiegel nicht auf dem Gewissen, das war der andere gewesen. Fast hätte sie im Tal die Abzweigung zum Kloster verpasst, sie sah sie gerade noch im letzten Moment. Ein weißes Schild mit der Aufschrift: „Kloster Gotteslohn" und einer braunen Silhouettenzeichnung der Klostergebäude. Sie folgte dem holprigen Feldweg, der, wie sie wusste, direkt zum Seeufer führte. Dort war auch der Haupteingang des Klosters, das durch eine dicke Mauer vor ungebetenen Eindringlingen geschützt war. Der Nebel schien keineswegs die Absicht zu haben, sich zu heben, im Gegenteil, in der Nähe des Wassers verdichtete er sich und mit fortschreitendem Abend wurde es nun auch noch dunkel. Rebecca fuhr langsam, die Regenfälle der letzten Tage hatten den See möglicherweise über die Ufer treten lassen und der kleine Parkplatz am Ufer, den sie vom Sommer her noch gut in Erinnerung hatte, konnte überschwemmt sein. Es war eine ungute Situation, denn sie konnte nur wenige Meter weit sehen. Mühsam erkannte sie den aufgeweichten Weg vor sich, Steine, Pfützen und dunkle Grasbüschel an beiden Seiten. Hin und wieder tauchten Zweige aus dem weißen Dunst auf und streiften ihren Wagen, als wollten sie nach ihr greifen. Dann - urplötzlich - eine dunkle Silhouette direkt vor ihr. Ein menschliches
Wesen, in einem wehenden, schwarzen Mantel gehüllt, lief über den Weg, die Hände vor sich ausgestreckt, als wolle es sich festhalten oder nach etwas fassen. Bevor sie genauer hinsehen konnte, war die Erscheinung in den weißlichen Dunst eingetaucht und verschwunden. „Merkwürdige Leute hier", murmelte sie vor sich hin, um sich Mut zu machen, denn sie war heftig erschrocken. Gleich darauf sah sie das Wasser dicht vor sich aus dem Nebel auftauchen, und sie stieg in die Bremsen. Ihr schnelles Reaktionsvermögen hatte sie gerettet, sonst wäre sie mitsamt ihrem Wagen im See gelandet. Einen Moment lang saß sie wie erstarrt hinter dem Steuer und sah auf das schwarze Gewässer, das im Licht ihrer Scheinwerfer matt aufblitzte. Dann legte sie behutsam den Rückwärtsgang ein und fuhr langsam einige Meter zurück. „Das wäre fast daneben gegangen", murmelte sie vor sich hin, schaltete den Motor ab und lehnte sich erschöpft zurück. Das Kloster konnte eigentlich nicht mehr weit sein, nur sah man in dieser elenden Milchsuppe nicht einmal die eigene Hand vor Augen. Es war irgendwie kein gutes Gefühl, allein, ohne den Schutz, den das Auto ihr bot, im Nebel herumzulaufen. Schon weil diese merkwürdige Gestalt mit den ausgestreckten Armen dort draußen herumirrte und man nicht wissen konnte, was sie suchte. Auf der anderen Seite war der Gedanke, die Nacht im Wagen zu verbringen, auch nicht gerade verlockend. Sie musste sich eingestehen, dass eine Fahrt mit Tom nach Griechenland bedeutend weniger aufregend gewesen wäre. Es wäre überhaupt angenehm gewesen, wenn Tom jetzt neben ihr gesessen hätte. Aber Tom war weit entfernt und sie auf sich allein gestellt. Und überhaupt, was konnte schon passieren? Falls sie diesen merkwürdigen Typen treffen sollte, würde sie ihn halt nach dem Weg fragen. Sagte Tante Betty nicht immer, mit Höflichkeit käme man stets zum Ziel? Sie öffnete entschlossen die Wagentür und griff nach ihrer Handtasche. Alles andere konnte vorerst im Wagen bleiben. Vorsichtig. stieg sie aus, tat einige Schritte nach links, wo das Kloster sich befinden musste, und stellte fest, dass ihr Auto nun von düsteren Nebelschwaden umweht und schon fast verschluckt war. Wenn sie Pech hatte, dann fand sie weder Kloster noch Auto wieder und irrte bis zum frühen Morgen im Nebel herum. Möglicherweise in Gesellschaft dieses Gespenstes im wehenden Mantel, der seine Arme schon nach ihr... Sie blieb überrascht stehen, denn sie hatte Töne gehört. Klänge, die ihr bekannt vorkamen und die von einer Orgel stammten. Jemand spielte eine dreistimmige Fuge von Bach, ein Stück, dass Tante Betty früher manchmal auf dem Flügel gespielt hatte. Die Klänge konnten nur aus dem Kloster kommen, sie bewegte sich in die Richtung, aus der sie zu hören waren und stand nach wenigen Schritten vordem hohen, mächtigen Eingangsportal. Erleichtert zog sie die Glocke, die einen schrillen Ton erzeugte, ein Klang, der alarmierte, als sei jemand krank oder ein Unfall geschehen. Ein Fensterchen an der Seite wurde aufgeschoben und das Gesicht einer alten Frau erschien. Misstrauisch und ein wenig ängstlich musterte die Pförtnerin die fremde junge Frau. „Grüß Gott. Ich bin Rebecca von Mora. Ich habe mich vor einigen Tagen angemeldet. Die Alte legte die Stirn in Falten und rückte die Brille zurecht, um Rebecca deutlicher sehen zu können. Rebecca verspürte den Wunsch. sie möge sich doch beeilen. denn sie hätte sich im Kloster wesentlich besser gefühlt als hier im Nebel, wo Gestalten mit ausgestreckten Armen herumrannten. „Frau von Mora, richtig. Warten Sie bitte einen Moment." Auch das noch. Wollte sie jetzt etwa Rückfrage bei der Äbtissin halten? Rebecca lehnte sich mit dem Rücken an die feuchte Mauer und starrte in den weißen Dunst, der im Eingang des Klosters umherwehte. War da ein dunkler Schatten gewesen? Oder ging ihre Fantasie mit ihr durch? Die Tür neben ihr bewegte sich fast unhörbar, und die alte Frau erschien auf der Schwelle. „Seien Sie willkommen, Frau von Mora. Wir freuen uns, dass sie bei diesem Wetter den Weg zu uns gefunden haben." „Darüber bin ich auch sehr froh!"
Das Lächeln der Alten war auf einmal so freundlich und gewinnend, dass Rebecca sich fragte, wieso sie solch alberne Furcht gehabt hatte. *** „Ich bin Schwester Agnes und bringe Sie zu unserer Äbtissin", erklärte die alte Frau, schüttelte Rebecca die Hand und ging ohne Umschweife voraus. Der Weg führte aus dem Pförtnerhäuschen über einen nebeligen Innenhof - in dem Rebecca mehrere Gebäude mehr ahnen als sehen konnte in ein hohes Gebäude, das sich als romanischer Kirchenbau erwies. Die große Kirche war nur in ihrem vorderen Teil beleuchtet, Rebecca sah voller Bewunderung einen holzgeschnitzten Marienaltar, davor das Chorgestühl, in dem die Nonnen während der Andachten saßen. Schwester Agnes führte sie seitlich am Altarraum vorbei eine Treppe hinauf, von dort führte eine Rundbogentür in einen angebauten Wohnbereich. „Dies ist das Äbtissinnenhaus, wir haben dort unser Verwaltungszentrum", erklärte Schwester Agnes mit Stolz und öffnete die schwere Holztür. Ein kleiner Flur empfing sie, ein hölzernes Kruzifix an der weißgekalkten Wand, die Tür hinter der die Schwester nun verschwand, trug wieder schöne Schnitzereien. Rebecca hörte Flüstern, dann die energische, helle Stimme der Äbtissin: „Herein mit ihr!" Äbtissin Jutta war Rebecca schon von ihrem Besuch im Sommer bekannt, wo sie an einer Klosterführung teilgenommen hatte. Sie war eine jugendlich wirkende Frau um die Fünfzig, groß und schlank mit hellbraunen Augen, die sowohl einen sanften, mütterlichen als auch einen strengen Ausdruck annehmen konnten. Ebenso wie die anderen Nonnen trug sie die weiße Tracht der Zisterzienserinnen. Rebecca war damals sehr von ihr beeindruckt gewesen, denn die Äbtissin kannte sich nicht nur hervorragend in der Geschichte des alten Gemäuers aus, sie sprach auch mit viel Engagement über die Zukunft ihres Klosters, überneue Pläne, die mit dem Althergebrachten in Einklang zu bringen waren. Dazu gehörte zum Beispiel auch die Aufnahme von Gästen im Klosterbereich. „Willkommen bei uns, liebe Frau von Mora!", sagte Äbtissin Jutta und drückte Rebecca warm die Hand. „Sie sind nun also unser Versuchskaninchen - der erste Gast, den wir hier versorgen und an unserem Klosterleben teilhaben lassen. Ich hoffe, die Fahrt durch den Nebel war nicht zu anstrengend." Rebecca fühlte sich wohl und geborgen unter dem mütterlichen Blick dieser Frau, die es gewohnt war, sich der Nöte und Sorgen ihrer Nonnen anzunehmen. „Vielen Dank. Die Fahrt war ziemlich spannend, da ich unterwegs ein paar merkwürdige Begegnungen hatte. Wird der Nebel lange bleiben?" Die Äbtissin lächelte, dahinter verbarg sich jedoch leise Besorgnis. „Vermutlich ist er schon morgen wieder verschwunden. Was für Begegnungen haben Sie gehabt?" Rebecca zögerte. Sie wollte ungern für eine fantasievolle Spinnerin gehalten werden, zumal sie als Schriftstellerin sowieso leicht in den Ruf gelangen konnte, es mit der Wahrheil nicht so genau zu nehmen. Aber auf der anderen Seite gab es vielleicht eine ganz einfache Erklärung für die seltsame Erscheinung, die sie beruhigen würde. „Kurz bevor ich das Klostererreichte, rannte so ein merkwürdig aussehender Mensch mit wehendem Mantel und ausgestreckten Armen über den Weg. Vielleicht jemand aus einem Ort in der Nähe, der sich hier verirrt hat." Der Blick der Äbtissin wurde ernst, schien Rebecca durchdringen zu wollen, dann entspannte er sich wieder. „Es wird wohl so sein wie, Sie vermuten. Der Nebel ist heute sehr dicht, und es kann gut sein, dass jemand vom Weg abgekommen ist. Tun Sie mir bitte einen Gefallen, Rebecca." Rebecca sah mit Erstaunen, dass die Miene der Äbtissin besorgt war. „Natürlich, wenn ich kann."
„Sie können. Erzählen Sie diese Geschichte bitte niemandem hier im Kloster. Einige meiner Nonnen haben ein schlichtes Gemüt und lassen sich von solchen Sachen viel zu sehr beeindrucken. Versprechen Sie mir zu schweigen." „Gern", nickte Rebecca ein wenig verwundert, aber bereitwillig. Sie hatte selbst wenig Lust, weiter über diese dumme Sache zu reden. Besser war es, sie zu vergessen. Die Äbtissin schien derselben Ansicht zu sein, sie war nun heiter und voller Neugier, was Rebecca über zwei Monate lang im Kloster betreiben wolle. Rebecca berichtete über ihre Pläne, einen Roman zu schreiben, in dem sie die Erfahrungen ihrer Afrikareise verarbeiten wolle. Aufmerksam hörte die Äbtissin Rebeccas Schilderungen über ihre Fahrten durch die Wüste und verschiedene Zusammentreffen mit Beduinenfamilien an. „Manchmal bedaure ich schon, mein Leben in diesen Mauern zu verbringen anstatt mir Gottes schöne und aufregende Welt anzusehen. Aber ich denke, dass jede von uns an ihren Platz gestellt ist, und bin damit zufrieden", sagte die Äbtissin schließlich. „Auf jeden Fall bin ich sehr gespannt auf Ihr Buch und werde es gerne lesen." Rebecca lachte_ „Das wird wohl noch eine Weile dauern, bisher habe ich nichts als einige Notizen. „Dann wollen wir die Arbeit einmal vorantreiben", meinte die Äbtissin fröhlich und erhob sich. Ich vertraue Sie jetzt unserer Novizin Maria an, die Sie in ihr Zimmer bringen wird und Ihnen alles Weitere erklärt." Rebecca folgte der Äbtissin, die mit raschen Schritten vor ihr herging. Sie durchliefen einen Kreuzgang, i n dessen Mitte man im Nebel einen Garten erahnte und einen Brunnen plätschern hörte, dann öffnete die Äbtissin schwungvoll einen der hohen Türflügel. Dahinter befand sich ein größerer Saal, von runden Säulen gestützt, in dem hölzerne Tische und Stühle aufgereiht waren, an der Seite ein Lesepult mit einem aufgeschlagenen Buch. Eine weißgekleidete junge Frau war damit beschäftigt, Teller und Bestecke auszuteilen. „Hier ist unser Speisesaal, den wir auch als Versammlungsraum nutzen. Maria!" Die junge Frau wandte sich um und kam herbei. Sie trug nicht die Kopfbedeckung der Nonnen, sondern hatte das lange Haar am Hinterkopf zusammengebunden. Rebecca stellte fest, dass sie schöne dunkelblaue Augen hatte und einen offenen, freundlichen Blick. „Herzlich willkommen bei uns, Frau von Mora", begrüßte sie Rebecca. „Ich werde Ihnen jetzt erst einmal Ihr Zimmer zeigen und dann alles andere. Kommen Sie einfach mit mir mit." Rebecca nickte und hatte das Gefühl, in diesem Kloster ständig irgendwelchen Frauen durch unbekannte Gänge folgen zu müssen. Nun, mit der Zeit würde sie sich sicher selbst zurechtfinden. Bisher jedoch erschien die Klosteranlage ihr als regelrechtes Labyrinth. . Maria führte sie den Kreuzgang entlang, der offensichtlich das Herzstück der Anlage war, öffnete eine niedrige Holztür, die noch uralte Eisenbeschläge und ein großes mittelalterliches Türschloss hatte, und wies ihr den Weg durch einen breiten Flur, der keinerlei Fenster aufwies und an dessen linker Seite verschiedene Räume lagen. „Dies ist unser Gästehaus. Es stammt zwar aus dem fünfzehnten Jahrhundert, aber keine Angst. Es wurde erst kürzlich renoviert." Sie öffnete eine der Zimmertüren und vor Rebecca tat sich ein heller, gemütlicher Raum auf. Die Einrichtung war zwar einfach, bestand aus Bett, Schrank und Schreibtisch mit Stuhl, dafür gab es ein relativ großes Fenster mit kleinen weißen Gardinen und ein kleines Bad, in dem sogar eine Dusche eingebaut war. Der Nebel hatte sich endlich ein wenig gehoben, so dass Rebecca durch das Fenster auf den schwärzlich glitzernden See schauen konnte. „Ich hoffe, es enttäuscht Sie nicht zu sehr", meinte Maria. „Die Einrichtung ist einfach, aber es ist alles da, was man braucht." „Es ist wunderschön. Es ist sogar richtig luxuriös, finde ich. Zumindest für ein Kloster." Maria musste lachen, es klang fröhlich und ungezwungen. Ohne die Gegenwart der Äbtissin war die junge Frau sehr viel offener.
„Haben Sie etwa gedacht, in eine enge Klosterzelle gesperrt zu werden? Toilette und
Waschgelegenheit im See?"
„Das gerade nicht..." meinte Rebecca mit leichter Verlegenheit. „Etwas mittelalterlicher habe ich es
mir vorgestellt..."
„Und da sind Sie jetzt enttäuscht?" „Überhaupt nicht. Ich finde es hier..."
Sie unterbrach ihren Satz und starrte aus dem Fenster. Die Novizin folgte ihrem Blick. Ein Mensch
war unten im Nebel aufgetaucht, ertrug ein weites Gewand und verschwand gleich wieder hinter
einer Nebelbank.
„Der schwarze Mönch", sagte Maria ein wenig spöttisch. „Der wird Ihnen hier noch öfter
begegnen. Aber nehmen Sie die Geschichte nur nicht für bare Münze."
Die Novizin lächelte und ging zum Fenster, um hinaus zu sehen. Der Nebel hatte sich wieder
verdichtet und der See war unter dem weißen Dunst verschwunden.
„Also", begann Maria schmunzelnd. „Weil Sie ja Schriftstellerin sind, werden Sie sich bestimmt
dafür interessieren. Es ist eine uralte Geschichte, die aus der Zeit stammt, als bei uns noch die Pest
und andere schlimme Seuchen kursierten."
„Also im sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert?"
„So etwa. Es wird berichtet, dass damals ein schwarz gekleideter Mönch an die Klosterpforte
klopfte und die Nonnen um Christi Willen anflehte, ihn aufzunehmen, da er krank sei. Nun, die
frommen Schwestern haben die Pforte geöffnet und den Kranken in ihr Hospital gebracht. Dort
pflegten sie ihn und er wurde tatsächlich wieder gesund."
„Wie interessant. Hatten die Nonnen denn so etwas wie Kräuterwissen? Haben sie Tränke
hergestellt um Menschen zu heilen?"
Maria überlegte.
„Einen Kräutergarten gibt es heute noch, den hatten sie damals sicher auch schon. Aber mit diesem
Mönch ging es nicht gut aus."
„Wieso? Sie hatten ihn doch geheilt."
„Ja. Und er zog auch fröhlich wieder davon. Aber dann wurden die Nonnen von der Seuche
ergriffen, und sie starben eine nach der anderen. Bis endlich eine von ihnen, eine ganz junge Frau,
vom Turm herab in den See sprang und dort ertrank. Damit war der Bann gebrochen und die
Seuche breitete sich nicht weiter aus.
Rebecca machte ein ungläubiges Gesicht.
„Das erscheint reichlich unlogisch. Warum soll ihr Tod die Seuche zum Erliegen gebracht haben?"
Maria zuckte die Schultern und war auch nicht so recht überzeugt.
„Es heißt, sie habe heimlich mit diesem Mönch eine Liebschaft angefangen, und diese Sünde sei
der Grund für die Seuche gewesen. Sehr glaubhaft finde ich das Ganze auch nicht. Wie das halt so
ist bei alten Geschichten. Und was den armen Nonnen heute noch im Kopf herumspukt. ist
ebenfalls recht seltsam.“
„Was denn?
Maria sah immer noch in den Nebel hinaus, als warte sie auf etwas.
„Es heißt, dass dieser Mönch immer dann sichtbar wird, wenn dem Kloster eine Gefahr droht."
„Der Mönch? Aber der ist doch lange tot."
Maria wandte sich zu ihr und Rebecca konnte sehen, dass sie schmunzelte.
„Er geht als Gespenst um, verstehen Sie?"
Rebecca nickte. Sie konnte sich .gut vorstellen, dass diese Geschichte Äbtissin Jutta überhaupt
nicht gefiel.
*** Rebeccas Absicht war, am Leben der Nonnen so weit wie möglich teilzunehmen. Dabei hatte sie stillschweigend beschlossen, die drei Frühandachten zwischen 5 Uhr 25 und 6 Uhr 30 ausfallen zu lassen, bei den übrigen Andachten wollte sie jedoch anwesend sein, ebenso bei den Mahlzeiten. So ging sie mit Maria in den großen Speisesaal hinunter, in dem jetzt die dreißig Frauen des Klosters zum Abendbrot versammelt waren.
Hatte sie sich eine munter schwatzende und essende Frauengesellschaft vorgestellt, so wurde sie
nun enttäuscht. Schweigend saßen die Nonnen und Laienschwestern an den Tischen und aßen,
während eine der Frauen am Lesepult stand und aus der Bibel las. Schweigsamkeit und Sammlung
waren Tugenden, die Rebecca während einer Mahlzeit reichlich unpassend vorkamen. Hatte man
doch gerade beim Essen oft das Bedürfnis, dem Gegenüber etwas zu erzählen oder gemeinsam über
einen Scherz zu lachen.
Im Übrigen war das Essen zwar einfach, aber keineswegs schlecht, im Gegenteil, die Köchin
musste eine wahre Künstlerin sein, die aus einfachen Zutaten Schmackhaftes zauberte. Rebecca
fing einen belustigten Blick von Maria auf, die sie während des Essens beobachtet hatte, und sie
richtete es so ein, dass beide zur gleichen Zeit den Speisesaal verließen.
„Na?", fragte Maria schelmisch. „Gefällt's Ihnen immer noch im Kloster? Geben Sie zu, Sie hätten
beim Essen gern geschwätzt."
„Natürlich. Tun Sie mir einen Gefallen?"
„Gern. Was ist es?"
„Ich muss noch meine Koffer aus dem Wagen holen und habe Angst, mich im Nebel zu verlaufen."
„Oder den schwarzen Mönch zu treffen?"
„Pst! Wenn das die Äbtissin hört! Jedenfalls wäre es mir lieber, wenn jemand mit mir kommen
würde."
„Kein Problem."
Sie gingen durch die Kirche, in der jetzt die Altarkerzen angezündet wurden, und gelangten zum
Pförtnerhäuschen. Dort saß Agnes auf ihrem Posten und freute sich über Gesellschaft.
„Das Auto? Ja das habe ich vorhin sehen können. Da hatte sich der Nebel ein wenig gehoben. Aber
jetzt, wo es bereits dunkel ist, da ist nichts mehr zu wollen. Hier habt ihr eine Beleuchtung."
Sie reichte Maria eine altertümliche Laterne, suchte in der Schublade ihres Tischleins herum und
fand endlich die Zündhölzer. Umständlich entzündete sie die Kerze, die sich im Inneren der Laterne
befand. Wahrscheinlich stammte die Beleuchtung noch aus dem Mittelalter.
„Wir sind gleich wieder da", sagte Maria zuversichtlich.
Draußen verbreitete die Laterne einen milchigen Schein, der den Nebel keineswegs durchdrang.
Aber Maria schritt munter aus, und sie standen nach wenigen Minuten vor Rebeccas Wagen.
„Ist es dieser?"
„Bingo. Sie sind eine gute Pfadfinderin."
Maria lachte.
„Es ist ganz einfach, der Weg ist mit diesen grauen Schiefersteinen eingefasst."
Erst jetzt sah Rebecca, dass der Weg vom Parkplatz zum Kloster mit rötlichem Splitt bestreut und
mit Steinen gefasst war. Kopfschüttelnd reichte sie Maria die Laterne und öffnete den Wagen, um
ihren Koffer heraus zu heben.
„Ist das alles?"
„Noch eine Tasche, dann haben wir's."
Während Rebecca die Tasche aus dem Kofferraum nahm, bemerkte sie, dass Maria die Laterne
hochhielt und aufmerksam umherschaute.
„Ist da etwas?"
„Nein... ich habe mich geirrt. Wahrscheinlich nur ein Busch. der sich im Wind bewegt hat. Haben_
Sie jetzt alles?"
„Ja. Wir können gehen.“
Maria nahm die Tasche, und Rebecca rollte den schweren Koffer über den Splitt in Richtung
Kloster. Hinter ihnen rauschten die Wellen des Sees, es hatte sich Wind erhoben. der den Nebel wie
dichten Rauch hin- und herbewegte.
Als das beleuchtete Fensterchen der Pforte vor ihnen auftauchte waren sie beide erleichtert. Agnes
öffnete mit ängstlichem Gesicht.
„Habt Ihr es gesehen? Ganz deutlich war es. Darauf könnt' ich jeden Eid leisten."
„Was denn, Agnes?"
Sie wartete, bis die beiden jungen Frauen mit ihrem Gepäck eingetreten waren, dann schloss sie sorgfältig die Pforte ab und schob das Fensterchen zu. „Die schwarze Gestalt", flüsterte sie. „Draußen im Nebel spukt sie herum." „Aber Agnes", sagte Maria. „Du weißt, dass die Äbtissin es nicht mag, wenn wir über solche Dinge reden." Agnes zeigte sich nicht beeindruckt. „Hast du sie etwa nicht gesehen?" „Ein Busch hat sich bewegt. Das war alles, was ich gesehen habe. Und jetzt ist Schluss mit diesen albernen Geschichten. Wir gehen jetzt, gute Nacht." „Gesegnete Nachtruhe euch beiden." In ihrem Zimmer angekommen, bedankte sich Rebecca, wünschte Maria eine gute Nacht und begann, ihren Koffer auszupacken. Als sie alles um sich herum geordnet hatte und das Licht ihrer Lampe das Zimmer mit sanftem goldenen Schein erleuchtete, fühlte sie sich fast wie zu Hause. Sie nahm sich die Mappe mit ihren Aufzeichnungen vor und begann, die bevorstehende Arbeit noch einmal zu überdenken. Sollte sie eine längere Einführung schreiben? Oder besser gleich in eine spannende Situation hineingehen? Eine Weile saß sie und überlegte, dann legte sie die Mappe weg, weil sie spürte, dass sie müde wurde. Sie beschloss, ins Bett zu gehen, schließlich hatte sie noch genügend Zeit um sich diese Frage zu überlegen. Sie hatte erwartet, wegen der langen Reise und der ungewöhnlichen Erlebnisse nicht gleich einschlafen zu können, aber zu ihrer Überraschung fiel sie sofort in einen tiefen Schlaf. Sie musste einige Stunden geschlafen haben, als sie schweißgebadet erwachte und nach der Lampe tastete. Wieder hatte sie dieser schreckliche Albtraum heimgesucht, der sie schon ihr ganzes Leben lang verfolgte. Die Frau im weißen Kleid die ihr wehmütig zuwinkte, die sie um Hilfe bat, zu der aber kein Weg führte. Unter Aufbietung aller Kräfte kämpfte sie sich im Traum voran, tastete sich durch nicht enden wollende Nebelfelder, durchquerte Wälder und Wüsten, durchschwamm weite Meere, und dennoch konnte sie ihr Ziel nicht erreichen. Und dann immer wieder das gleiche Bild, das die Vergeblichkeit aller Anstrengungen besiegelte und sie der Verzweiflung anheim gab: Das Kleid der Frau bekam rote Flecke, die sich immer mehr ausbreiteten - Blut, ohne Zweifel -, und sie erwachte. Seufzend stand sie auf, trank einen Schluck Wasser und versuchte sich zu beruhigen. Erst nach einer Weile konnte sie wieder einschlafen. Rebecca erwachte am Morgen von einem Kitzeln in der Nase und musste niesen. Erstaunt blickte sie sich um, dann erst erinnerte sie sich, wo sie sich befand. Aber wie sehr hatte sich alles verändert! Staunend setzte sie sich im Bett auf und kniff die Augen zusammen, denn eine kräftige Herbstsonne warf ihre Strahlen durchs Fenster genau in ihr Bett. Vor dem Fenster sah sie einen strahlend blauen Himmel, in den ein vorwitziger Ast mit wunderschönen, dunkelroten Blättern ragte, die in den Sonnenstrahlen aufglühten. Rebecca stand auf und trat ans Fenster. Blau wie der Himmel lag der See vor ihr, umgeben von Eichen und Buchen im Herbstgewand, die sich im Wasser spiegelten. Weit hinten sah man ein kleines Boot, in dem jemand ruderte, nicht weit von ihrem Fenster stand ihr braves Auto, das sie gestern im Nebel kaum hatte finden können. Es stand nur wenige Schritte vorr. 'Eingang des Klosters entfernt. Gut gelaunt nahm sie eine Dusche und zog sich an. Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihr, dass sie das Frühstück verpasst hatte, es war schon nach neun. Sie würde ihre Großstadtangewohnheiten wohl ordentlich umstellen müssen - bei Tante Betty gab es niemals vor neun Frühstück. Da die Tante nachts schlecht schlafen konnte und mehrmals aufstand, wollte sie wenigstens ihren Morgenschlummer genießen. Rebecca warf noch einen frohen Blick aus dem Fenster - vielleicht konnte sie ja das Ruderboot für eine kurze Fahrt ausleihen - dann verließ sie ihr Zimmer, um herauszufinden, ob sie in der Küche vielleicht noch eine Tasse Kaffee oder ein Stück Brot ergattern konnte.
Sie blieb überrascht stehen, als sie in den Kreuzgang trat. Wie schön die vielen kleinen Säulen
gearbeitet waren, die den Gang von dem innen liegenden Garten und dem Brunnen abtrennten.
Keine Säule glich der anderen, jede war eine eigenständige Arbeit und fantasievoll ausgeschmückt.
Am schönsten aber war der kleine, runde Marmorbrunnen, der im Zentrum des Kreuzganges
unablässig plätschernd sein Wasser über mehrere Terrassen in das untere Becken ergoss.
Ein Blick in den Speisesaal belehrte sie darüber, dass vom Frühstück, das hier eingenommen
worden war, nichts mehr zu sehen war. Sie würde die Küche finden müssen und durchquerte daher
den Saal, um ans andere Ende zu gelangen. Richtig - man gelangte von hier aus in den Innenhof,
wo malerische Fachwerkgebäude zwischen hohen Bäumen standen, und ihre Nase führte sie direkt
in die Küche.
„Grüß Gott", sagte sie schüchtern. Durften diese Frauen am Ende bei der Arbeit auch nicht
sprechen?
„Grüß Gott, Frau von Mora! ", empfing sie eine wohlbeleibte Frau im hellen Kleid, das im
Unterschied zu dem der Nonnen nicht bis zum Boden reichte. Auch trug sie keine Kopfbedeckung,
sondern ihr rundes Gesicht war von kurz geschnittenem, grauem Lockenhaar umgeben. Rebecca
begriff, dass dies eine Laienschwester war.
„Sie kennen mich?"
Die Laienschwester lachte und stellte sich als Anna vor, zuständig für die Küche und alles, was
dazugehörte.
„Die Äbtissin hat angeordnet. dass wir Ihnen das Frühstück zurechtstellen. Weil sieben Uhr Ihnen
wahrscheinlich zu früh ist."
Rebecca sah sich als Langschläferin ertappt und schämte sich. In Zukunft würde das aber anders
werden.
„Das ist sehr nett von Ihnen."
Sie setzte sich an den Tisch, schmierte sich ein Honigbrötchen und trank eine Tasse Milchkaffee.
Dabei sah sie zwei jungen Frauen zu, die nach Annas Anweisungen Gemüse schnitten und
Kartoffeln schälten, wobei sie lebhaft miteinander plauderten.
„Gesehen hat ihn nur die Agnes. Gestern Abend draußen im Nebel."
„Die Agnes? Der glaub' ich das. Die ist keine Lügnerin."
„Freilich. Und gute Augen hat sie auch. Trotz ihres Alters. Weitsichtig ist sie ein wenig, aber das
ist dabei sogar gut."
Die beiden Frauen schauten sich nach Anna um, die beschäftigt war, eine Anzahl Fische zu
zerlegen.
„Die Gertrude hat es auch gesehen."
„Die Gertrude? Geh, die wird geträumt haben."
„Eine schwarze Gestalt hat sie gesehen. Die ist in der Bibliothek zwischen den Regalen gestanden.
Und als sie das Licht am Eingang angeschaltet hat, da ist sie davongehuscht."
„Wer? Die Gertrude? Die möcht ich mal davonhuschen sehen mit ihren achtundsiebzig Jahren und
dem Hinkebein."
"Unsinn. Der schwarze Mönch ist davongehuscht. So hat sie es erzählt."
„Seid's schon wieder am Schwatzen.“, fuhr Anna dazwischen. „Bring einmal die Zwiebeln herbei,
Birgid. Und drüben die Lorbeerblätter."
Rebecca trank den Kaffee aus, nahm das angebissene Brötchen mit und ging aus der Küche. Im Hof
stand die Sonne in den alten Bäumen und ließ das bunte Laub schimmern, es versprach, ein
schöner, warmer Herbsttag zu werden. Der Ausgleich für den gestrigen, bösen Nebeltag. Rebecca
setzte sich auf eine Holzbank und lehnte sich mit dem Rücken an die Steine der Hauswand. Wie
wundervoll still und beschaulich es hier sein konnte. Wenn nur dieses ständige dumme Gerede um
diesen Mönch nicht wäre. Aber wahrscheinlich wurden solche Geschichten hier, wo den lieben
langen Tag so gut wie nichts passierte, besonders gehegt und gepflegt, weil sie einen wohligen
Gruselschauer in den ruhigen Alltag brachten.
„Nein", ertönte es plötzlich hinter ihr in dem Gebäude, an dessen Mauer sie sich anlehnte. „Niemals werde ich das tun. Bitte geh jetzt und lass mir meinen Frieden." - Es klang sehr aufgeregt und Rebecca erkannte sofort Marias Stimme. Zu ihrem grenzenlosen
Erstaunen ertönte jetzt die Stimme eines jungen Mannes.
„Es kann doch nicht dein Ernst sein, dass du dich hier vergraben willst, Maria. Für den Rest deines
Lebens hinter diesen Mauern. Weißt du, was du alles aufgibst?"
Jetzt klang Marias Stimme ruhig und entschlossen.
„Das weiß ich sehr genau, Simon. Ich habe meinen Entschluss gefasst und denke, dass ich meinen
Weg gefunden habe."
„Du bist verrückt. Weißt du, was ich dir alles bieten werde, wenn du erst meine Frau geworden
bist? Reisen, die teuersten Kleider, Schmuck, Gesellschaften, Theater, eine Villa im Süden, ganz
nach deinen Wünschen eingerichtet... "
„Hör auf, Simon. Es hat keinen Sinn. Ich sage es dir jetzt zum letzten Mal und ich wünsche, dass
du es endlich respektierst: Ich will dich nicht heiraten. Mein Leben wird sich innerhalb dieser
Klostermauern abspielen."
„Aber warum? Warum nur?" „Weil Gott der Herr mich an diesen Platz gestellt hat. Darum."
„Woher willst du das wissen?"
„Das Gespräch ist beendet, Simon. Geh jetzt."
Rebecca hörte eine Tür ins Schloss fallen. Es war ihr unangenehm, das Gespräch unwillentlich
belauscht zu haben. Sie stand leise auf und ging in den Kreuzgang zurück.
*** Nachdenklich ging Rebecca durch den Kreuzgang, in den die Sonne schien und die schwarzen
Silhouetten. der kleinen Säulchen auf den Steinboden warf. Wie mutig Maria ihren Entschluss,
Nonne zu werden. verteidigt hatte! Verlockend war es schon, was dieser Mann ihr da versprochen
hatte. Aber was war aller Reichtum schon wert, wenn man einen Menschen nicht wirklich liebte?
Oder liebte Maria diesen Mann etwa? Welchen Grund hatte sie wohl, sich ihm zu entziehen?
Sie war in ihrem Grübeln einfach vor sich hin geschritten und stand nun vor einer Tür, die ihr
bisher unbekannt geblieben war. Neugierde ergriff sie. Dieses Kloster war voller Geheimnisse und
Überraschungen, sie würde jetzt herausfinden, was sich hinter dieser Tür verbarg.
Mutig drückte sie die schwere, eiserne Klinke herunter und der Türflügel öffnete sich. Der Raum
dahinter erschien zuerst sehr dunkel, dann entdeckte sie hohe Schränke und die Rücken alter
Folianten. Sie war in der Klosterbibliothek gelandet.
Leise ging sie die drei Stufen hinab, die in den Raum hineinführten, und besah sich voller Staunen
die Büchersammlung. Längs der Wände des großen, etwas düsteren Raumes standen zahlreiche
Schränke, die meisten verglast, nur wenige offen. Alle enthielten Bücher, in braunes oder
schwarzes Leder eingefasst, die meisten Buchrücken mit vergoldeten Buchstaben bedruckt.
Neugierig trat sie an eines der Regale, um die Titel zu entziffern.
Sie musste alle ihre Lateinkenntnisse zusammenraffen, um die Aufschriften zu verstehen.
Geschichtliche Werke waren hier versammelt, die meisten von antiken Autoren geschrieben, weiter
oben befanden sich Werke aus frühchristlicher Zeit. Heiligenlegenden und Chroniken von Klöstern
in Irland und England.
Rebecca überlegte gerade, dass eine solche Sammlung für ein Frauenkloster eher ungewöhnlich,
war als sie einen lauten Schrei hörte und erschrocken zusammenfuhr.
Am anderen Ende des Raumes war eine weiße Gestalt aufgetaucht, die einen Moment lang wie
erstarrt stand und dann langsam in sich zusammensank.
Rebecca spürte eine unbestimmte Panik in sich aufsteigen und begriff, dass sie mit ihrem Traum
zusammenhängen musste. Die weiß gekleidete Frau erinnerte sie an die Frau in ihrem Albtraum.
Erst nach einigen Augenblicken des Zögerns ging sie langsam durch den halbdunklen Raum auf die
am Boden liegende Frau zu.
Es war ohne Zweifel die Nonne, der die Bibliothek anvertraut war, eine alte Frau mit scharfer Nase
und seltsam zarten Gesichtszügen. Als Rebecca bei ihr niederkniete sah sie, dass ihre Augendeckel
sich langsam wieder hoben. Sie musste für kurze Zeit ohnmächtig geworden sein.
„Haben Sie sich verletzt?"
Die Nonne sah Rebecca verwirrt an, ihre Augen kreisten im Raum, sie versuchte sich aufzurichten.
Rebecca stützte sie und spürte dabei, dass die alte Frau zart und dünn wie ein Vöglein war.
„Wahrscheinlich habe ich Sie erschreckt", meinte Rebecca voll schlechten Gewissens. „Ich bin hier
einfach ohne Anmeldung hineingelaufen, weil ich so begeistert von den vielen Büchern war. Es tut
mir sehr Leid."
Die Bibliothekarin kam nun langsam wieder zu sich und schien die Situation zu begreifen.
„Meine Brille", sagte sie leise. „Sie muss irgendwo auf dem Boden liegen."
„Moment, ich sehe mich mal um. Das haben wir gleich."
Die Brille fand sich in zwei Meter Entfernung und sie war sogar heil geblieben.
..Vielen Dank", sagte die Nonne. „Ich bin es, die sich entschuldigen muss. Ich sah eine dunkle
Gestalt gegen das Licht, das durch die Tür hereinfiel. Ich habe Sie tatsächlich für... für eine
Erscheinung gehalten. Es ist das Alter."
„Unsinn. So was kann passieren, wenn jemand sich so heimlich in einen halbdunklen Raum
hineinschleicht. Das ist ganz natürlich."
Die Nonne lächelte höflich und ließ sich von Rebecca beim Aufstehen helfen.
„Ich bin Schwester Gertrude. Wenn Sie die Bibliothek anschauen wollen, dann führe ich Sie gern
herum."
Rebecca nickte.
„Ich bin sehr erstaunt über diese reiche Sammlung. Zumal ich bei der Führung im Sommer nichts
davon gesehen habe."
„Die Äbtissin hält diese Bibliothek noch ein wenig geheim. Die wertvollen Folianten sollten erst
durch Gitter gesichert werden, bevor wir den Besuchern unsere Tore öffnen. Nicht dass wir
grundsätzlich an das Schlechte in der Welt glaubten - aber die Erfahrungen anderer orten sind
leider nicht immer gut."
„Natürlich", nickte Rebecca während ihr Blick über die Sammlung glitt. „Gibt es einen
Hauptkatalog, in dem alle Bücher...
Sie wurde von einem leisen Aufschrei unterbrochen und wandte sich erschrocken um. Gertrude
hatte die Hand vor den Mund geschlagen und starrte mit angstvollem Blick auf ein großes, altes
Ölgemälde, das neben dem Eingang der Bibliothek aufgehängt war.
„Die Augen", flüsterte sie. „Haben Sie es gesehen?"
Rebecca strengte ihre Augen an. Auf dem Gemälde war ein Mann dargestellt, der vermutlich eine
Perücke trug, wie es im 18. Jahrhundert üblich war, genau konnte man es nicht erkennen, weil der
Hintergrund sehr dunkel war. An seinem Hals leuchtete eine rote Schleife. Rebecca stellte fest, dass
das Gesicht des Mannes ungeheuer gut gemalt war, er schien die beiden Betrachterinnen mit
herablassend ironischem Blick zu betrachten
„Was ist mit seinen Augen?"
Gertrudes Zeigefinger zitterte, als sie damit auf das Bild deutete.
„Sie sind lebendig. Er schaut zu uns hinüber."
Rebecca schüttelte den Kopf. In diesem Kloster schien eine Art Hysterie ausgebrochen zu sein. Erst
der schwarze Mönch, und nun noch ein lebendiges Gemälde.
„Das Bild ist hervorragend gemalt", meinte sie gedehnt. „Aber deshalb ist es nicht lebendig,
Gertrude. Es ist Kunst - weiter nichts. Der Maler hat die Person so gut dargestellt, dass wir den
Eindruck haben, sie sei lebendig."
Aber Gertrude schüttelte eigensinnig den Kopf und ging zu einem kleinen Stuhl, um sich dort
nieder zu setzen.
„Die Augen sind aus dem Bild herausgeschnitten und ein anderer hat hindurch gesehen", sagte sie
leise und nahm die Hände vors Gesicht. „Gehen Sie um Gottes willen fort von hier, junge Frau.
Dieser Ort ist verflucht. Die Sünde hat uns alle ereilt und wir werden eine nach der anderen sterben müssen." Rebecca stand ein wenig hilflos vor der zitternden alten Frau und wusste nicht recht, wie sie mit dieser Form von Wahnvorstellung umgehen sollte. Was für eine Idee! Ein Gemälde, in das wie in eine Maske Augenlöcher geschnitten worden waren? Das klang nach Hitchcock oder nach Gruselkrimi. „Das ist alles Quatsch, Gertrude!" Rebecca ging entschlossen zu dem Gemälde, fasste das große Bild mutig mit beiden Händen und hob es von seinem Nagel. Eine Staubwolke wirbelte empor und rieselte auf sie herab. Aber das war ihr jetzt gleichgültig, wichtig war etwas anderes. „Sehen Sie?", rief sie stolz. „Da ist gar nichts herausgeschnitten." Sie drehte das Bild um und zeigte der verblüfften Gertrude die heile, unversehrte Leinwand. Staunend besah sich die alte Frau. was sie gezeigt bekam, fühlte schließlich sogar mit dem Finger nach und musste feststellen, dass Rebecca Recht hatte. „Und überhaupt. Wo sollte da jemand hindurch sehen? Hinter dem Bild ist die Wand. und wie ich dieses Kloster kenne, ist sie mindestens einen halben Meter dick-. fügte Rebecca lächelnd hinzu. „Das ist wohl wahr, junge Frau", gab Gertrude zu, die immer noch nicht ganz überzeugt war. Vielleicht war sie der Meinung, dass Geister ja durch Wände sehen konnten. Erst das Läuten der Andachtsglocke brachte sie auf andere Gedanken. „Fast hätte ich über dieser dummen Sache die Andacht vergessen. Sehen Sie sich nur ungestört um, ich bin bald wieder da." „Nett von Ihnen. Aber ich werde mit zur Andacht gehen. Ich habe die Erlaubnis, am Klosterleben weitgehend teilnehmen zu dürfen und habe schon das Frühstück verpasst." „Es braucht ein wenig Umstellung, wenn man es nicht gewohnt ist", sagte Gertrude lächelnd und erhob sich, um in die Kirche zu gehen. Rebecca folgte ihr, sah voll Interesse zu, wie sie die Tür der Bibliothek mit einem großen Schlüssel verschloss. In der Kirche suchte sie sich einen Platz im vorderen Bereich, wo sie die Andacht mit anhören konnte ohne die Nonnen zu stören. Die Zeremonie bestand aus dem Absingen verschiedener liturgischer Texte, unterbrochen von Gebeten, die Äbtissin Jutta mit eindringlicher Stimme zu Gehör brachte. Im rechten Seitenschiff war eine Orgel installiert, an der Rebecca zu ihrer Freude Maria entdeckte. Also war es auch Maria gewesen, die ihr gestern Abend den Weg zum Kloster durch ihre Musik gewiesen hatte. Maria begleitete die Gesänge an wichtigen Stellen, zwischen den einzelnen Abschnitten der Andacht fügte sie Improvisationen ein. die bewiesen, dass sie eine sehr gute musikalische Ausbildung gehabt hatte. Rebeccas Fantasie war sofort wieder angeregt. Hatte Maria Musik studiert? War sie vielleicht von den Eltern für eine musikalische Karriere bestimmt gewesen und hatte sich dann von allem abgewandt und war ins Kloster gegangen? Oder hatte eine unglückliche Liebe ihr bisheriges Leben von Grund auf umgekrempelt, so dass sie sich ins Kloster geflüchtet hatte? Rebecca hörte den gleichförmigen, schwebenden Gesängen der Nonnen zu und spürte eine Art Schläfrigkeit, die sie überkam. Es war schön, hier zu sitzen und diesen sanften Klängen zu lauschen, die sie wie zärtliche Hände hinaufzutragen schienen. Wer hatte sich solche Melodien ausgedacht? Waren sie bei der Betrachtung des Sees und des sich darin spiegelnden Himmels im Kopf irgendeiner Nonne vor langer Zeit entstanden? Man wusste ja, dass in Klöstern oft hoch begabte Menschen gelebt hatten, deren Fähigkeiten nur in wenigen Fällen über die Klostermauern hinaus bekannt wurden. Ein kleiner Misston riss sie aus ihren Träumereien, im Chor der Nonnen schien jemand aus dem Takt gekommen zu sein. Rebecca schaute ein wenig amüsiert nach vorn um herauszufinden, welche der Frauen falsch gesungen hatte. War es die junge Frau, die vorhin noch in der Küche das Gemüse geputzt hatte? Zumindest schaute sie nicht in ihr Buch, sondern hatte die Augen ins Kirchenschiff gerichtet, als wäre sie dort auf etwas aufmerksam gewesen. Dann aber entdeckte Rebecca im Gesicht der Pförtnerin Agnes den Ausdruck blanken Entsetzens. Etwas, das sich im
hinteren Teil des Kirchenschiffs befand musste die Pförtnerin in solche Furcht versetzt haben, dass sie sich sogar von ihrer Andacht ablenken ließ. Auch die anderen Frauen schienen nun eine nach der anderen zu bemerken, dass etwas die Andacht störte. Unruhige Blicke überflogen das Kirchenschiff, aber nur einige der Nonnen, jene, die gute Augen hatte, wurden fündig. Rebecca hielt es nicht mehr aus, sie wandte sich um. Zuerst sah sie kaum etwas, denn die große Kirche war nur im vorderen Teil gut ausgeleuchtet. Dann aber erkannte sie eine Gestalt, die in der hinteren Reihe dicht neben einer Säule saß. Offensichtlich ein Mann, im Halbdunkel konnte man nicht erkennen, was er anhatte, aber es schien ein Mantel zu sein, sein Kopf war mit einer Art Haube bedeckt. Er saß unbeweglich und schien die Andacht der Frauen mit großer Aufmerksamkeit zu verfolgen. Die Orgel setzte ein und Rebecca wandte sich für einen Moment nach vorn, weil sie sehen wollte, wie die Frauen reagierten. Sie hatten sich unter dem zornigen Blick der Äbtissin zusammengenommen und sangen ihre Liturgie zu Ende. Es klang jedoch anders als vorher, nicht mehr schwebend und angenehm, sondern unruhig und an manchen Stellen auch unrein. Als Rebecca sich jetzt umwandte, war die Gestalt verschwunden. *** „Also eines ist sicher", sagte Rebecca. „Dieses Mal war es kein Spuk. Ich haben den Typ mit
eigenen Augen gesehen."
„Ich auch."
Die beiden Frauen hatten sich im Kreuzgang getroffen und waren in einer Ecke stehen geblieben
um miteinander zu reden. Mehr und mehr fühlte Rebecca sich zu Maria hingezogen, und sie hätte
gern mehr über ihr Schicksal erfahren. Sie freute sich vor allem darüber, dass Maria eine der
wenigen Frauen war, die ihren gesunden Menschenverstand bei all diesem diffusen Gerede
bewahrte.
„Wer kann es nur gewesen sein?"
Maria zuckte die Schultern.
„Das ist ja das Rätsel. Das Kloster ist von außen mit einer dicken Mauer umgeben. Im Prinzip kann
niemand hinein ohne durch die Pforte zu gehen."
„Das ist allerdings rätselhaft. Und du bist sicher, dass alle Frauen bei der Andacht anwesend
waren?"
„Natürlich. Danach schaut schon die Äbtissin, und auch wir anderen hätten sofort bemerkt, wenn
eine von uns gefehlt hätte."
„Dann ist das Ganze tatsächlich ein Mysterium. Es hat dort jemand gesessen. Und dieser jemand
war kein Geist, sondern
aus Fleisch und Blut."
Maria nickte beklommen und schien etwas sagen zu wollen. Sie zögerte jedoch und meinte
stattdessen: „Kein gutes Gefühl, wie? Irgendjemand treibt sich hier im Kloster herum, sitzt in der
Kirche bei der Andacht in der letzten Reihe, und wer weiß wo noch..."
„Am Ende der Typ im schwarzen Mantel, der gestern draußen im Nebel herumgeisterte", überlegte
Rebecca. „Du hast ihn doch auch gesehen, oder?"
Sie war unwillkürlich vom Sie zum Du übergegangen und Maria ging darauf ein, ohne zu
überlegen. „Ja. Ich habe ihn gesehen während du deine Tasche aus dem Wagen genommen hast.
Erstand keine fünf Schritte von dir entfernt und verschwand gleich wieder."
Rebecca spürte einen Schauer. „Puh! Das sagst du mir jetzt erst."
Maria lächelte schwach. „Hätte ich es dir gestern gesagt, dann hättest du in der Nacht kein Auge
zugemacht, stimmt's"
„Das ist allerdings wahr. Und was machen wir jetzt?"
„Ich denke, wir müssen mit der Äbtissin reden", sagte Maria nach kurzem Nachdenken. „Sie ist
eine kluge und vernünftige Frau."
„Da hast du sehr Recht, Maria. Lass uns gleich zum Äbtissinnenhaus - gehen."
Maria schüttelte den Kopf. „Das geht jetzt nicht, Rebecca. Das Mittagessen steht an. Und die
Äbtissin würde sich eher einen Arm abschneiden lassen, als eine der althergebrachten Klosterregeln
zu verletzen."
„Na schön. Reden wir nach dem Essen mit ihr. Aber mir ist der Appetit gründlich vergangen."
„Das wird nicht nur dir so gehen, Rebecca."
Die beiden Frauen gingen mit eiligen Schritten durch den Kreuzgang zum Speisesaal. Rebecca
stellte fest, dass sie ohne Marias Führung völlig in die falsche Richtung gelaufen wäre. Der
Kreuzgang war an jeder Seite gleich, und auch der runde Brunnen in seiner Mitte gab keinen
Anhaltspunkt. Einzig der Stand der Sonne hätte ihr helfen können sich zu orientieren. Der Himmel
war jetzt jedoch bewölkt, es schien regnen zu wollen.
Das Mittagessen verlief ruhig und beherrscht wie immer. Die Nonnen und Laienschwestern saßen
an den Tischen und hörten auf die Stimme der Vorleserin, die heute ein wenig leiser zu sprechen
schien. Auch musste sie sich immer wieder räuspern, als habe sie sich verschluckt. Unter den
wachsamen Blicken der Äbtissin füllten die Nonnen sich ihre Teller und aßen, als wäre nichts
geschehen. Eine zweite Portion nahm sich keine, ein guter Teil des Essens wanderte wieder zurück
in die Küche.
Auch Rebecca musste sich zwingen, die Mahlzeit einzunehmen und Maria, die neben ihr saß, ging
es genau so. Das Essen wurde schweigend beendet, die Vorleserin erhob sich, um ihren Teller, der
für sie warm gestellt worden war, abzuholen. Sie setzte sich davor und machte keine Miene, den
Löffel in die Hand zu nehmen.
„Was ist?", flüsterte die Äbtissin der jungen Frau zu.
„Ich kann nicht, Mutter Äbtissin."
„Du kannst nicht? Wieso nicht?"
Hilflos schaute die junge Frau in die Runde. Die meisten Nonnen waren schon auf dem Weg nach
draußen, wo sie zu verschiedenen Beschäftigungen eingeteilt worden waren.
„Ich bringe keine Bissen herunter, Mutter Äbtissin."
„Nimm dich zusammen, Clara. Du bist in Gottes Hand, wo immer du auch bist, was immer auch
geschieht."
Tränen traten in die Augen der jungen Nonne. „Das weiß ich ja, Mutter Äbtissin."
„Und? Warum handelst du nicht nach deinem Wissen?"
„Ich... ich habe Angst. Er hat dort hinten gesessen. In der Kirche. Der schwarze Mönch..."
„Rede keinen Unsinn, Clara. Dort war niemand. Eine Sinnestäuschung."
Jetzt war es mit der Beherrschung der jungen Frau zu Ende. Sie schluchzte laut auf, sodass auch
dies engen, die schon an der Tür des Saales gewesen waren, sich umwandten und erschrocken
zurückkehrten.
„Ich habe ihn gesehen. Es war der schwarze Mönch. Der schwarze Mönch hat in der Kirche
gesessen. Das kann ich bei Christi Blut beschwören!", rief sie laut in den Saal hinein.
„Versündige dich nicht, Clara!", hörte man die scharfe Stimme der Äbtissin.
Aber in der Menge der anderen Frauen rumorte es. Rebecca hörte Getuschel, dann die laute Stimme
der Bibliothekarin Gertrude: „Sie hat Recht, ehrwürdige Mutter. Ich habe ihn auch gesehen. Mit
diesen meinen Augen habe ich den schwarzen Mönch gesehen."
„Gertrude! Ich will es deinem Alter zugute rechnen, dass du solchen Unsinn von dir gibst!", wehrte
die Äbtissin ab.
Andere Nonnen meldeten sich jetzt zu Wort. Es war, als sei ein Damm gebrochen, die Panik, die
bisher nur unterschwellig ihre Kreise gezogen hatte, trat plötzlich offen zutage.
„Wir haben ihn auch gesehen, ehrwürdige Mutter. Draußen im Nebel ist ein schwarz gekleideter
Mann herumgelaufen.
„Im Beichtstuhl ist er gewesen. Ich habe gesehen, wie er hinein stieg. Ich habe sogar seinen Atem
hören können. Und als ich den Vorhang zurückzog, da war niemand. Ein leerer Platz."
„In der Bibliothek hat er mit den Augen des Stifters Graf Balduin auf mich herabgeschaut."
„Im Nebel ist er durch den Kreuzgang gelaufen. Ich habe sogar gespürt, wie sein Mantel neben mir
vorübergeweht ist.
„Ruhe!", rief die Äbtissin und die Flut der Stimmen verebbte. Angstvoll und zugleich voller
Erwartung und Hoffnung sahen die Nonnen zu ihrer Führerin. Sie hatten ihre Not hinausgeschrieen,
jetzt musste ihnen Hilfe zukommen. Die Äbtissin musste Rat schaffen.
Äbtissin Jutta war sich ihrer Aufgabe bewusst. Nie in ihrem Leben war sie in einer solchen Lage
gewesen. Noch niemals hatte eine ihrer Frauen ihren Verboten zuwider gehandelt.
„Ein schlimmer Geist geht in diesem Kloster umher", begann sie und die Frauen sahen sich
bedeutungsvoll an. Nun war also auch die Äbtissin endlich davon überzeugt, dass der schwarze
Mönch hier sein Unwesen trieb. Nur würde man...
Aber die Äbtissin war weit davon entfernt, solches zu glauben.
„Ein Geist der Kleinmut und der Furcht", fuhr sie zornig fort. „Ein Geist der Unvernunft und - ich
wage es kaum zu sagen - der Gotteslästerung!"
Beklommen hörten die Frauen zu. Was würde jetzt kommen?
„Ist es denn tatsächlich möglich, dass wir, die wir allesamt ein Leben im Vertrauen auf Gott den
Herrn und seinen Sohn, unseren Erlöser, führen, einem dumpfen Aberglauben verfallen? Der
schwarze Mönch! Schämt ihr euch nicht, solch einem Kindermärchen aufzusitzen?"
„Aber wir haben ihn doch gesehen...", warf Gertrude ein, die keineswegs von der Standpauke
beeindruckt war.„ Mit eigenen Augen habe ich ihn gesehen..."
„Wie willst du etwas gesehen haben, Gertrude", fiel ihr die Äbtissin scharf in die Rede. „Seit
Jahren bis du so stark kurzsichtig, dass du kaum die Buchstaben auf deinen Bücherrücken lesen
kannst."
Dieses Argument beeindruckte die Frauen, denn Gertrudes Kurzsichtigkeit war bekannt. Zweifel
kamen auf. Hatte man vielleicht einfach nur einen Schatten gesehen? Und wenn draußen jemand im
Nebel herumlief - was ging es das Kloster an? Ein verirrter Wanderer oder gar ein liebeskranker
Dörfler, den die Verzweiflung umher trieb.
„Solange ich dieses alberne Gespenst nicht mit eigenen Augen sehe, werde ich sicher nicht daran
glauben", versicherte die Äbtissin.
„Dann sieh genau hin!", kreischte eine der Frauen. „Dort steht er. Der schwarze Mönch steht an der
Säule neben der Tür."
Alle wandten sich um, Panik entstand. Die Frauen drängten sich aneinander, einige sanken auf die
Stühle und brachen in leises Schluchzen aus. Rebecca kniff die Augen zusammen und entdeckte
tatsächlich neben der letzten Säule vor dem Ausgang einen dunklen Schatten, der die Form eines
Mannes mit einer Kapuze hatte.
„Ein Schatten, weiter nichts", sagte die Äbtissin mit eisiger Ruhe. „Ich werde hingehen und es euch
beweisen:"
Totenstille ringsum. Die Frauen sahen sich an.
„Gehen Sie nicht, Mutter Äbtissin", flüsterte Clara. „Wenn er dich tötet, dann werden wir ohne
Schutz sein."
„Unser Schutz ist nur Gott der Herr allein", gab Äbtissin Jutta zurück.
Sie ging einige Schritte, man hörte leises Stöhnen unter den Nonnen. Rebecca konnte sich nicht
mehr beherrschen.
„Was seid ihr für Feiglinge!", rief sie zornig. „Warum lasst ihr sie allein gehen? Ich gehe mit ihr!"
„Und ich auch!", stimmte Maria bei.
Die anderen schwiegen, ihre Furcht war zu groß. Rebecca griff sich im Vorübergehen das große
Brotmesser - Geist oder nicht, sicher war sicher. Maria schritt neben ihr, die Äbtissin ging voraus.
So näherten sie sich langsam der Säule, neben der ein merkwürdig geformter Schatten lag.
Die drei Frauen hatten noch wenige Meter zu gehen, da bewegte sich das Dunkel, es schmolz auf
einen kleinen Fleck zusammen, der sich gleich darauf mit der Säule vereinigte. Als sie die Säule
erreichten war nichts aber auch gar nichts zu finden.
„Kommt alle her!", rief die Äbtissin. „Ihr seid einem Trugbild aufgesessen. Gottes Macht ist groß,
mächtiger als die des Fürsten der Dunkelheit. "
Zögernd und langsam näherten siel die Nonnen, blickten scheu hinter die Säule und küssten der
Mutter Äbtissin die Hand. Sie waren stolz auf ihren Mut. Aber sie glaubten weiterhin an den
schwarzen Mönch.
*** Eine trügerische Ruhe kehrte ein im Kloster. Die Nonnen schwiegen über das Erlebte, die Äbtissin
hatte sich in ein langes, inbrünstiges Gebet versenkt, dann machte sie die Runde im Kloster und
beaufsichtigte ihre Nonnen. Durch ihre Anwesenheit wollte sie allen deutlich machen, dass
abergläubische Geschichten und unsinnige Furcht keine Chance haben durften.
Rebecca hatte den Nachmittag mit Nachdenken verbracht. Bisher hatte sich noch keine Gelegenheit
ergeben, mit Äbtissin Jutta allein zu sprechen. Nach der Abendandacht, in der alle Frauen sehr
gefasst und ruhig waren, klopfte es an Rebeccas Zimmertür.
„Ich bin's, Maria. Ich möchte mit dir sprechen."
Rebecca beeilte sich, die Tür zu öffnen. Maria trat hastig ein, offensichtlich wollte sie nicht, dass
jemand merkte, wo sie sich befand.
„Ich habe ein kurzes Gespräch mit der Äbtissin geführt. Sie ist der festen Überzeugung, dass alles,
was mit dem Schwarzen Mönch zusammenhängt, nur Hirngespinste sind."
Rebecca bot ihr einen Stuhl an und setzte sich selbst an den kleinen Schreibtisch. Draußen vor dem
Fenster sank die Dämmerung herab, der See war zu einer schwarzen, glitzernden Fläche geworden.
„Ich möchte das ja auch gern glauben", seufzte sie. „Aber der Mann in der Kirche heute Früh war
keine Einbildung. Da hat einer gesessen, ich habe es genau gesehen."
„Du hast völlig Recht. Rebecca. Nur wollte die Äbtissin nichts von unserer Theorie, dass sich
jemand ins Kloster eingeschlichen habe. wissen. Sie sagt, sie sehe keinen Sinn darin. Es gibt bei
uns nichts zu stehlen."
„Doch", fiel Rebecca ein...Das Kloster besitzt wertvolle alte Bücher."
Maria sah sie nachdenklich an. -Ein Bücherdieb? Meinst du, der schleicht sich in die Bibliothek,
um dort die wertvollsten Folianten herauszusuchen und mitzunehmen?"
„Zumindest will Gertrude dort jemanden gesehen haben..."
„Ach, Gertrude. Die ist doch fast blind."
„Das stimmt. Mich hat die Ärmste heute Mittag auch mit einem Gespenst verwechselt. Sie ist vor
Schreck in Ohnmacht gefallen."
Maria hörte die Nachricht mit Besorgnis.
„Die arme Gertrude ist in letzter Zeit überhaupt nicht gut beieinander. Aber weil sie zu keinem Arzt
gehen will, sagt sie nicht, was ihr fehlt. Die Äbtissin hat schon ein ernstes Wort mit ihr geredet,
jedoch ohne Erfolg. Gertrud hat gesagt, sie sei nun schon so alt geworden, da brauche sie zum
Sterben auch keine ärztliche Hilfe mehr."
Rebecca lächelte.
„Vielleicht hat sie da sogar Recht. Aber wir sind immer noch nicht weiter, Maria. Es könnte doch
sein, dass jemand sich hier eingeschlichen hat und im Auftrag eines Sammlers ganz bestimmte
Bücher stehlen soll."
„Deine Fantasie geht mit dir durch, Rebecca."
„Aber nein", verteidigte Rebecca ihre Idee. „Solche Leute haben meist sehr viel Geld und sind
fanatisch, was ihre Sammlerleidenschaft betrifft."
„Bleibt immer noch das Problem, wie dieser Dieb ins Kloster hineinkommt."
„Mit einer Leiter über die Mauer?"
„Schwierig. Es sind fast überall Gebäude innen an die Mauer angebaut. Zudem ist das Kloster im
Osten direkt am Seeufer gelegen, da kann man keine Leiter anlehnen."
„Oder es gibt einen unterirdischen Gang? So etwas haben doch viele mittelalterliche Klöster
gebaut, damit man sich im Falle einer Belagerung retten konnte."
„Rebecca, deine schriftstellerische Fantasie schlägt Purzelbäume. Ein Bücherdieb, der heimlich
durch unterirdische Gänge ins Kloster schleicht und sich hinten in die Kirche setzt, um die Andacht
zu hören..."
„Das ist schon sehr seltsam. Was immer er hier will - hin und wieder legt er Wert darauf, gesehen
zu werden. Wenn ich ihm das nächst Mal begegne, werde ich ihn daraufhin ansprechen. Vielleicht
darf ich ja ein Foto von ihm machen..."
Die beiden mussten lachen.
„Es ist schön mit dir zu reden, Rebecca", gestand Maria. „Du bewahrst dir bei all diesen
unheimlichen Geschehnissen immer noch deine Fröhlichkeit. Ich bin sehr froh, dass du hier bist."
Rebecca freute sich über diese Worte, denn auch sie mochte Maria sehr.
„Ich bin auch sehr froh, hier zu sein, Maria. Trotz schwarzer Mönche und sonstiger Turbulenzen.
Aber ich möchte dich etwas fragen."
„Gern."
Rebecca zögerte. Sie wollte nicht aufdringlich erscheinen. Auf der anderen Seite war sie an Marias
Schicksal interessiert, nicht aus Neugierde, sondern aus ehrlicher, freundschaftlicher Anteilnahme.
„Ich habe da heute Früh, ohne dass ich es beabsichtigt habe, ein Gespräch gehört. Oder nur einen
Teil davon. Wenn du nicht darüber sprechen möchtest, dann akzeptiere ich das natürlich, Maria.
Weil es mich ja auch nichts angeht..."
Marias Gesicht drückte zuerst ein Erschrecken aus, dann wurde sie jedoch ruhig und sah
nachdenklich zu Boden.
„Nein, nein, es ist schon in Ordnung so, Rebecca. Ich hätte es dir früher oder später sowieso
erzählt. Da kann ich genauso gut jetzt damit anfangen."
„Aber nur, wenn es dir nichts ausmacht, Maria. Ich kann auch warten."
„Das brauchst du nicht. Außerdem ist die Sache auch nicht so wahnsinnig spannend, wie du
vielleicht denken magst. Du hast gehört, dass dieser Mann, der mich besucht hat, mich heiraten
will, nicht wahr?"
„Ja, das habe ich mitbekommen. Er hat dir ziemlich großartige Angebote gemacht. Ist er denn so
wohlhabend?"
Maria sah zum Fenster hinaus, wo die Dunkelheit inzwischen See und Wald verschluckt hatte. Ein
Ast wippte dicht vor dem Fenster im Wind, hin und wieder klopfte er an die Glasscheibe.
„Simons Eltern hatten eine große Firma, die irgendwelche Teile herstellte, die man für
Atomreaktoren braucht. Simon führt die Firma nach dem Tode des Vaters weiter und hat eine
Menge neuer Produkte entwickelt. Er kann sich einen großen Lebensstil wohl leisten. Und er würde
seine Frau sicher auf Händen tragen."
Rebecca lächelte. Maria sprach sehr ernsthaft und bemühte sich sichtlich, positiv über den jungen
Mann zu sprechen.
„Aber du hast entschieden, dass du lieber hier im Kloster leben möchtest."
„So ist es."
Rebecca wartete einen Moment, aber Maria schien tief in Gedanken versunken zu sein.
„Liebst du diesen Simon?", fragte Rebecca leise in die Stille hinein. Maria hob überrascht den
Kopf.
„Nein. Er ist ein netter Kamerad und ich habe ihn die ganze Zeit über wie einen guten Freund
gesehen. Sein Antrag kam für mich völlig überraschend. verstehst du?"
„Ziemlich gut", gab Rebecca zurück. „Ich habe auch so einen guten Freund, einen richtig lieben
Kumpel, den ich schon sehr lange kenne. Er hat mich zu einer Reise eingeladen, verstehst du? Zwei
Wochen Griechenland zu zweit mit Besuch bei einem befreundeten Ehepaar. Da bin ich irgendwie
aus dem Takt geraten und in aller Eile zum Kloster gefahren."
Maria lächelte. „Bist du sicher, dass du ihn nicht doch liebst?“, fragte sie.
Rebecca spürte, dass sie rot wurde und sie ärgerte sich darüber.
„Ich habe ihn gern. verstehst du? Das ist etwas anderes als die richtige, große Liebe. Dieses Gefühl,
das dich überfällt wie eine Krankheit und das dich so vereinnahmt. dass du glaubst, ohne diesen
Menschen nicht mehr leben zu können."
„Warst du einmal so richtig verliebt, Rebecca?"
Rebeccas Augen wurden traurig, so dass Maria bereute, diese Frage gestellt zu haben.
„Das war ich, Maria. Aber es war nichts als eine große Enttäuschung, und darum hüte ich mich vor
der großen Liebe. Und wie ist es mit dir? Warst du auch einmal so richtig verliebt?"
Maria sah sinnend vor sich hin, dann hob sie den Blick zu Rebecca. Ihre Augen waren groß und
ernst.
..Ich bin es, Rebecca. Aber ich habe keine Chance. Würde ich diesen Mann heiraten, dann würde
ich ihm großes Unglück bringen."
Rebecca war ergriffen. Maria, die Novizin, war verliebt.
„Bist du darum ins Kloster gegangen?"
„Hauptsächlich darum. Sicher habe ich auch früher schon hin und wieder über einen solchen Schritt
nachgedacht. Aber als Simon drohte, seinen Bruder zu vernichten falls ich ihn heirate, da habe ich
entschieden, dass ich nicht schuld am Unglück eines Menschen sein will, den ich über alles liebe."
Rebecca runzelte die Stirn. Ganz konnte sie Marias Entscheidung nicht verstehen.
„Moment einmal: Simon, der Mann, der dich unbedingt heiraten will, hat einen Bruder. Und den
liebst du und er dich?"
„Ja. Aber es hat sich ein solch schlimmer Streit zwischen den beiden Brüdern entwickelt, dass ich
Angst um Claudius bekam. Simon ist so fanatisch, dass man das Schlimmste befürchten muss."
Rebecca schüttelte unzufrieden den Kopf. „Und was hat Claudius zu deiner Entscheidung gesagt?
Wollte er nicht lieber mit dir zusammen um euer Glück kämpfen?"
„Natürlich wollte er das. Und genau das will ich verhindern. Simon ist zu allem..."
In diesem Moment hörte man ein polterndes Geräusch draußen im Flur. Es klang, als sei etwas von
der Wand gefallen.
Rebecca sprang von ihrem Stuhl und riss die Tür auf. „Wer..."
Der Satz blieb ihr im Halse stecken. Deutlich sah sie einen dunkel gekleideten Menschen, der eilig
davonlief und die schwere, hölzerne Tür zum Kreuzgang hinter sich zuwarf.
„Der schwarze Mönch!", entfuhr es ihr. „Jetzt kriegen wir ihn."
*** Maria starrte sie an, von ihrem Mut überwältigt.
„Du willst doch nicht..."
„Was sonst? Los komm, er kann noch nicht weit sein!"
Rebecca zog die Zögernde in den Flur hinaus und riss die Tür auf, die der Flüchtende eben noch
hinter sich zugeworfen hatte.
„Dort! Siehst du es?“. flüsterte sie Maria zu.
Maria sah gar nichts.
Der Kreuzgang lag im Dunkel, nur in seiner Mitte neben dem Brunnen gab es eine Beleuchtung.
Das Licht reichte jedoch nicht in die Säulengänge hinein.
„Wir brauchen eine Lampe, so ist es viel zu dunkel."
„Psst. Still!"
Die beiden Frauen lauschten. Man hörte ein Schleifen am Boden, leises Quietschen wie von
rostigem Eisen, das bewegt wurde.
„Die Tür zur Kirche ist geöffnet worden", hauchte Maria. „Ich kenne das Geräusch ganz genau."
„Da! ", flüsterte Rebecca und deutete mit dem Finger auf den matten, rötlichen Schein, der links
über den düsteren Kreuzgang fiel und gleich darauf wieder verschwand.
„Jemand hat die Tür der Kirche geöffnet und ist hineingegangen."
„Was tun wir?"
„Wir gehen hinterher."
„Im Dunklen?"
„Wir haben keine Zeit, eine Lampe zu holen, sonst entwischt er uns. Hier im Kreuzgang ist er nicht
mehr, er ist in der Kirche. Also brauchen wir hier keine Furcht zu haben."
Maria war unsicher. Was, wenn der Unbekannte sie getäuscht hatte? Wenn er gar nicht in die
Kirche hineingegangen war, sondern im Gang auf sie wartete?
„Kommst du jetzt mit, oder soll ich allein gehen?"
„Ich komme mit", sagte Maria. Auf keinen Fall würde sie Rebecca allein gehen lassen.
Die beiden Frauen fassten sich an den Händen und gingen lautlos Schritt für Schritt den dunklen
Gang entlang. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Düsternis, sie erkannten die Form der
Säulen, die Steine der alten Mauern, die Grabplatten, die in die Wände des Kreuzgangs eingelassen
waren. Als sie das Eingangsportal der Kirche erreichten, konnten sie beide die geschnitzte Holztür
erkennen. Rebecca fasste die Klinke und drückte sie herab. Zentimeter für Zentimeter schob sie die
schwere eichene Tür auf. Als sie leise in den Angeln quietschte, hielt Rebecca erschrocken für
einen Augenblick inne, dann fuhr sie in ihrer Bemühung fort.
Aus der Kirche fiel ein sanfter, rötlicher Lichtschein in den Kreuzgang, denn an einem der
Seitenaltäre brannten Kerzen. Die beiden Frauen spähten angestrengt durch den Türspalt - in der
Kirche herrschte Stille, keine Bewegung war zu erkennen. Im hinteren Teil, wo sich der Altar und
das Chorgestühl der Nonnen befand, lag alles in Dunkelheit, dorthin reichte das Licht der Kerzen
nicht.
Unschlüssig standen die beiden und wussten nicht, was weiter zu tun war. Wer auch immer dort in
der Kirche war - er würde sie sehen, wenn sie jetzt durch das Portal eintreten würden. Maria
überlegte, ob es besser war, ins Äbtissinnenhaus zu gehen, um von dort ungesehen in die Kirche zu
gelangen. Die Äbtissin und die Nonnen hatten einen eigenen Zugang zum Kirchenraum. Dort
befand sich auch die Schaltstelle für die elektrische Beleuchtung der Kirche.
Sie spürte plötzlich Rebeccas Hand auf ihrem Arm und sah im selben Moment einen Schatten, der
sich im hinteren Teil der Kirche regte, dort wo das sanft flackernde Licht der Kerzen in die
Dämmerung überging. Ein leises Geräusch war zuhören, es klang wie eine Tür oder ein Gitter, das
bewegt wurde.
„Der Eingang zur Gruft", flüsterte Maria dicht an Rebeccas Ohr. „Das Gitter ist eigentlich
verschlossen."
„Dann hat er sich einen Schlüssel besorgt. Gehen wir."
„Warte. Glaubst du, er ist in die Gruft hinab gestiegen?"
„Was sonst?"
„Aber von dort gibt es keinen Ausgang."
..Umso besser. Dann gehen wir jetzt hin und verbarrikadieren das Gitter."
..Du bist tollkühn, Rebecca. Und wenn er das merkt und über uns herfällt ?'
„So wie er hier herumschleicht, ist der Typ eher ein Feigling." „Hoffentlich hast du Recht."
Rebecca hatte gerade den ersten Schritt getan, da erstarrten alle beide. Ein mattes Licht wurde weit
hinten am Altar sichtbar, jemand hatte eine Kerze angezündet.
„Ist denn schon Zeit für die Frühmesse?", flüsterte Rebecca.
„Noch lange nicht."
Das Licht flackerte still vor sich hin, jetzt wurde die Silhouette eines menschlichen Wesens
sichtbar, das vor dem Altar kniete.
„Wer ist das, Maria?"
„Keine Ahnung. Vielleicht ist der Kerl aus der Gruft gestiegen, um jetzt vor dem Altar zu beten."
„Das glaubst du doch wohl selber nicht."
„Aber was kann es denn sonst sein? Ein Gespenst?"
„Gespenster zünden keine Kerzen an. Vielleicht kann die Äbtissin nicht schlafen und betet vor dem
Altar."
„Das könnte sein. Dann lass uns vorsichtig zu ihr gehen und ihr die Sache mit der Gruft erzählen."
Rebecca öffnete die Tür soweit, dass beide hindurch schlüpfen konnten. Der Weg durch die
dämmrige Kirche erschien beiden unendlich lang und unheimlich, die Heiligenfiguren an den
Säulen schienen im flackernden Kerzenlicht lebendig, die eingemeißelten Totenschädel auf den
Grabepitaphen grinsten sie mit hohlen Mündern an.
Sie waren noch nicht ganz in der Mitte der Kirche angelangt, als das Kerzenlicht vorn am Altar sich
bewegte. Jemand hatte die Kerze ergriffen und trug sie fort. Die Aussieht, hier in der dunklen
Kirche fast ohne Licht bleiben zu müssen, versetzte Maria in Panik.
„Mutter Äbtissin! Warten Sie!"
Rebecca ergriff sie fest am Arm, um sie von weiteren Rufen abzuhalten. Aber der laute,
erschrockene Klang ihrer Stimme hatte seine Wirkung getan. Ein dumpfes Poltern war zu hören,
dann war das Licht erloschen.
Rebecca legte den Arm um Maria um sie zu beruhigen. Eines war klar: Das da vorn war nicht die
Mutter Äbtissin gewesen. Entweder war es tatsächlich der merkwürdige Eindringling, der in der
Kirche herumschlich, oder es war außer ihnen dreien noch jemand in dieser Nacht unterwegs. Eine
Tür schlug.
„Das war die Tür zum Turm. Jemand steigt dort hinauf."
Rebecca hatte es satt, im Dunklen herumzutappen. Geist, Mönch, Bücherdieb oder wer auch immer
- sie brauchte Licht.
„Hier muss es doch Streichhölzer für die Kerzen geben." „Ich weiß, wo sie sind. Komm mit."
Sie liefen im Eilschritt durch das Dunkel, stolperten über Stühle, erreichten die Altarstufen, und
gleich darauf stieß Rebeccas Fuß an etwas Hartes, das davon rollte.
„Hier liegt die Kerze. Warte, ich habe sie gleich."
Maria tastete an den Steinen der Stufe herum. Unter einem losen Stein waren die Streichhölzer und
andere Dinge verborgen, ein trickreiches Geheimversteck, auf das die Nonnen stolz waren.
„Hier. Hast du die Kerze?"
„Ja. Mach schnell."
Maria war so aufgeregt, dass die ersten beiden Streichhölzer abbrachen, dann flackerte das Licht
auf, und sie konnte Rebecca sehen, die ihr eine dicke Altarkerze entgegenhielt. Sie ließ sich leicht
entzünden, der Docht war noch warm, das Wachs noch flüssig.
Jetzt konnten sie auch erkennen, dass niemand in der Nähe des Altars war. Das Chorgestühl konnte
die Kerze nicht ausleuchten, es lag im Halbdunkel und warf bizarre Schatten an die Wände.
„Der Schlüssel zur Gruft ist auch in der Nische hinter dem Stein, es kann eigentlich niemand die
Gittertür geöffnet haben, Rebecca", sagte Maria. „Das alles ist rätselhaft. Am Ende war es doch der
schwarze Mönch."
„Geister bewegen keine Türen, Maria. Sie gehen einfach durch sie hindurch. "
„Musst du so was gerade jetzt erzählen, Rebecca. Lass uns zur Äbtissin gehen."
„Und sie mitten in der Nacht aus dem Schlaf reißen? Unsinn. Sag mir lieber, ob es normal ist, dass
jemand um diese Zeit auf den Turm steigt."
„Eigentlich nicht."
„Dann lass uns besser nachsehen, Maria."
„Kommt nicht in Frage. Wir gehen jetzt zur Mutter Äbtissin und fragen sie um Rat. Auf den Turm
zu steigen ist glatter Wahnsinn, Rebecca. Wer weiß, wer dort auf uns beide wartet. Komm mit mir,
es ist nicht mehr weit."
Maria nahm Rebecca die Kerze aus der Hand und ging nach links, wo der Eingang zum
Äbtissinnenhaus war. Es war derselbe Eingang, durch den Rebecca zwei Tage zuvor mit der
Pförtnerin Anna gegangen war. Resigniert folgte sie Maria, die eiligen Schrittes voranging, sie
hatte eine dumpfe Ahnung, dass sie etwas Falsches taten. Aber wenn man vernünftig nachdachte,
hatte Maria natürlich Recht.
Als sie in den kleinen Flur des Äbtissinnenhauses traten, atmeten beide unwillkürlich auf. Hier
konnte man sich sicher fühlen, der große, unheimlich dunkle Kirchenraum lag hinter ihnen. Maria
klopfte zaghaft an die Tür des Äbtissinnenzimmers und zu ihrer Überraschung erklang sofort die
Stimme der Äbtissin Jutta.
„Wer ist dort?"
„Maria und Rebecca, ehrwürdige Mutter."
„Wieso schlaft ihr nicht? Herein mit euch!"
Die Äbtissin saß an ihrem Schreibtisch, auch sie hatte die Nacht bisher schlaflos verbracht, das sah
man ihr an. Ihr Gesicht war blass und um die Augen lagen ungewohnte Schatten.
„Du weißt, dass es verboten ist, während den Zeiten der Nachtruhe im Kloster umher zu laufen,
Maria! ", sagte sie vorwurfsvoll. „Und auch Sie, Frau von Mora, sollten sich an diese Regel halten."
„Verzeihung", gab Rebecca mit schlechtem Gewissen zurück.„ Es war jemand an meiner Tür, der
geflüchtet ist, als ich in den Flur trat. Wir sind ihm bis in die Kirche gefolgt und dort ist er
vermutlich in die Gruft geschlüpft. Danach haben wir gesehen, dass jemand eine Kerze anzündete
und auf den Turm stieg."
Äbtissin Jutta schien die Wichtigkeit dieser Mitteilung nicht ganz zu erfassen, sie hatte im
Gegenteil Probleme, das Geschehen überhaupt zu begreifen.
„Wollen Sie mir jetzt auch von einer Erscheinung des schwarzen Mönches berichten? Ich will
davon nichts mehr hören, auch von Ihnen nicht, Frau von Mora."
„Es war kein Geist, ehrwürdige Mutter", stand Maria ihrer Freundin bei. „Wir sind davon
überzeugt, dass ein Wesen aus Fleisch und Blut hier sein Unwesen treibt."
Äbtissin Jutta seufzte.
„Du kennst meine Ansicht zu diesem Punkt, Maria. Und ich habe nicht die Absicht, sie zu ändern,
weil ihr beide irgendwelche imaginären Einbrecher verfolgt."
„Aber es ist jemand auf den Turm gestiegen", rief Rebecca. „Das ist doch merkwürdig."
Die Äbtissin wollte abwehren, aber sie hielt inne.
„Auf den Turm, sagst du? Wer?"
„Das haben wir nicht genau sehen können, ehrwürdige Mutter."
Plötzlich, war die Äbtissin aufgeregt.
„Wir sehen besser nach. Folgt mir."
Sie ging aus dem Raum, öffnete im Flur einen kleinen Schrank und schaltete dort die elektrische
Beleuchtung ein. Hell lag das Kircheninnere kurz darauf vor ihnen, alle Schatten und Gespenster
waren daraus vertrieben.
„Die Tür zum Turm steht offen!"
Äbtissin Jutta wusste, warum sie die Stufen zum Turm in ungebührlicher Eile hinaufhastete, sodass
Maria und Rebecca ihr kaum folgen konnten. Im oberen Teil des Turms gab es einen schmalen
Umlauf, dessen Brüstung nicht sehr hoch war.
„Der Herr sei uns gnädig!", rief die Äbtissin und bückte sich nach einem Gegenstand, an den ihr
eiliger Fuß gestoßen war.
Es war ein altes Buch, aus dem ein Blatt heraus sah.
„Gertrude", murmelte die Äbtissin. „Ich ahnte es!"
*** Die Glocken wurden geläutet, Lampen und Scheinwerfer herbeigeholt, der See abgeleuchtet.
Endlich fand man Gertrude am Seeufer. Sie hatte sich vom Turm in den See gestürzt und war - Gott
weiß wie - ans Ufer gelangt. Sie lebte.
Rebecca war erstaunt, wie energisch und zielgerichtet die Äbtissin ihre Anweisungen gab und wie
eifrig sie befolgt wurden. Jetzt, da es sich um einen realen Unglücksfall handelte. war alles Panik
verschwunden, man handelte rasch und umsichtig. Ein Rettungswagen aus der Kreisstadt traf ein,
und die Ohnmächtige wurde in die Klinik abtransportiert.
„Arme Gertrude", meinte Agnes, die Pförtnerin. „Nun hat sie immer gesagt, dass sie keinen Arzt
sehen will. Und dann gleich in die Klinik."
„Sie wird sich vermutlich einige
Brüche zugezogen haben", meinte die Köchin. „Da ist sie in der Klinik am besten aufgehoben.
Warum hat sie das nur getan?"
-Sie war schon seit längerer Zeit so merkwürdig. Wir haben alle gedacht. dass sie an einer
Krankheit leidet. Aber vielleicht war sie einfach geistig etwas verwirrt."
„Das kann passieren, wenn man tagein tagaus mit nichts anderem als mit Büchern zu tun hat", gab die Köchin Anna zurück. „Jedenfalls ist es merkwürdig." „Das ist es. Sie sprang vom Turm wie damals die Frauen, die das Kloster erlösen wollten." „Der schwarze Mönch geht um. Das bedeutet, dass dem Kloster ein Unglück droht. Am Ende hat die arme Gertrude tatsächlich eine Sünde auf ihr Gewissen geladen und hat uns jetzt 'erlöst", mutmaßte Anna. „Aber sie ist doch nicht tot", meinte Agnes nachdenklich. „Wie kann sie uns da erlöst haben." „Versündige dich nicht, Agnes", schalt die Köchin, die zwar nur Laienschwester war, dafür aber viel praktische Mitmenschlichkeit besaß. Trotz der schlimmen Ereignisse achtete die Äbtissin darauf, dass alle Andachten und Mahlzeiten nach der Regel eingehalten wurden. Auch die täglichen Arbeiten der Nonnen und Laienschwestern durften nicht darunter leiden, Arbeit war die beste Methode, um sich von trüben Gedanken abzulenken. Auch Maria absolvierte ihren Küchendienst und kehrte anschließend das Laub im Innenhof zusammen. Hin und wieder sah sie hinüber zum Gästehaus, wo sie Rebecca in tiefem Schlaf wusste. Beide hatten bis zu den frühen Morgenstunden kein Auge zugemacht, aber sie, Maria, hatte wenig Gelegenheit, den versäumten Schlaf nachzuholen. Rebecca erschien pünktlich zum Mittagsmahl, sah aber wenig ausgeschlafen aus. Schweigend wie alle anderen setzte sie sich auf ihren Platz, aß kaum und schien sehr nachdenklich zu sein. Auch die anderen Frauen waren erschöpft und übernächtigt, keine hatte großen Appetit, und so manche Schüssel ging zum Ärger der Köchin Anna unberührt in die Küche zurück. Kaum war das Essen beendet, da hörte man die energische Stimme der Äbtissin. „Bleibt alle hier und setzt euch wieder auf eure Plätze. Ich habe euch etwas mitzuteilen." Alle leisteten der Aufforderung Folge, niemand sprach ein Wort. Auch Maria, die an diesem Tag die Texte gelesen hatte. setzte sich zu den anderen. „Zunächst teile ich euch mit, dass ich aus der Klinik gute Nachrichten habe. Schwester Gertrude hat sich etliche Prellungen zugezogen, aber nichts gebrochen. Sie wird nach einer gründlichen Untersuchung in wenigen Tagen entlassen werden." Flüstern der Erleichterung wurde hörbar. Nicht wenige waren überzeugt gewesen, dass Gertrude bereits gestorben war. Die Frauen lächelten sich zu - vielleicht war ja doch alles gar nicht so schlimm, wie man zunächst befürchtet hatte. Dann aber wurde die Äbtissin sehr ernst. „Gott der Herr hat das Leben unserer Schwester Gertrude erhalten. Verdient haben wir es alle nicht, dass diese böse Sache so gut ausgegangen ist. Denn an dem, was Schwester Gertrude heute Nacht getan hat, sind wir alle mitschuldig." Niemand sagte ein Wort, die Frauen hatten die Köpfe gesenkt. Alle wussten, was jetzt kommen würde. „Unsere Schwester Gertrude hat einen Brief geschrieben und in ein Buch gelegt. Ihr Brief besagt, dass sie der Meinung war, das Kloster durch ihren Opfertod vor Unheil retten zu müssen." Die Äbtissin sah die Frauen der Reihe nach an, keine bewegte sich. Alle spürten, dass etwas Unsinniges, Schlimmes geschehen war, für das sie in irgendeiner Weise mit verantwortlich waren. „Ein teuflischer Aberglaube hat Besitz von uns genommen und bereits eine von uns fast ins Verderben getrieben", rief die Äbtissin. „Wie lange wollen wir den Teufel der Angst und des Unglaubens noch unter uns dulden? Wer soll das nächste Opfer sein?" Alles schwieg betreten. Die Nonnen hätten ja so gern geglaubt, dass der schwarze Mönch nur ein Aberglaube sei. Aber was man gesehen hatte, das hatte man gesehen. „Merkt ihr denn nicht, dass es erst euer Aberglaube ist, der das Unheil in unser Kloster bringt? Die arme Gertrude befand sich in dem Wahn, sich für uns alle opfern zu müssen. Sie glaubte, eine schlimme Sünde auf ihr Gewissen geladen zu haben, weil sie einige Bücher in unserer Bibliothek fand und las, die auf dem Index der Kirche stehen. Sicher eine Sünde, meine Töchter. Aber keine, die Gott nicht vergeben würde. Ich sage euch: Wer sich nicht von dem teuflischen Aberglauben entfernt, der beschwört die Katastrophe herauf!"
Die Frauen sahen sich an – keine hatte den Mut, etwas zu entgegnen. Nur Maria, die einen Blick
mit Rebecca gewechselt hatte, fasst sich ein Herz.
„Es gibt keinen schwarzen Mönch, Äbtissin, da bin ich ganz Ihrer Meinung. Es ist nichts als ein
dummer Aberglaube. Aber es befindet sich mit Sicherheit jemand innerhalb der Klostermauern, der
nicht hier hergehört."
Die Äbtissin war ärgerlich. Sie war jedoch klug genug, um das Gespräch über dieses Thema nicht
zu verbieten. Zumal die Reaktion der Frauen enorm war. Viele starrten Maria mit weit
aufgerissenen Augen an. An eine solche Möglichkeit hatte keine bisher gedacht. Neue Panik
machte sich breit-ein Mann im Kloster. Ein Dieb? Ein Mörder gar? Ein Vergewaltiger?
„Ich sagte bereits, dass ich dies für ein Hirngespinst halte", hörte man die klare Stimme der
Äbtissin.
„Und wenn nicht?", sagte eine Nonne angstvoll. „Wenn ich es mir recht überlege, dann scheint mir
dies eine vernünftige Erklärung zu sein."
Widerspruch erhob sich. Die meisten waren davon überzeugt, dass niemand ohne durch die Pforte
zu gehen ins Kloster gelangen konnte.
„Wo sollte sich hier jemand versteckt halten?"
„Im Getreidespeicher zum Beispiel. Oder in den Vorratsräumen. Vielleicht gar in der Gruft."
„Das ist doch alles Unsinn. Die Erscheinung in der Kirche war ein Geist. Und dann habe ich ihn im
Beichtstuhl gesehen..."
„Und war er nicht erst gestern hier im Speisesaal mitten unter uns? Zuerst leibhaftig hinter der
Säule und dann urplötzlich nur noch ein Schatten. Geister sind auch in der Bibel verbürgt,
ehrwürdige Mutter. Geister sind kein Aberglaube, es gibt sie wirklich."
„Ich schäme mich über euren hartnäckigen Aberglauben..."
Die Rede der Äbtissin wurde von der Glocke am Eingang des Klosters unterbrochen. Schrill und
gebieterisch mischte sie sich unter die aufgeregten Diskussionen der Nonnen und brachte alle mit
einem Mal zum Schweigen.
„Oh Gott. Sie bringen uns die arme Gertrude zurück, die inzwischen verschieden ist..."
„Unsinn. Es wird ein Wanderer sein, der hier einkehren möchte."
„Oder es ist der schwarze Mönch. Hat er nicht damals auch an der Klosterpforte geläutet?"
„Euch ist wirklich nicht zu helfen", stöhnte die Äbtissin und winkte Agnes, auf ihren Posten zu
gehen.
Agnes lief eilig davon und kehrt nach kurzer Zeit aufgeregt zurück.
„Ein junger Mann steht draußen. Er fragt, ob es möglich sei, im Kloster einige Tage zu verbringen."
Die Äbtissin schüttelte energisch den Kopf. In der momentanen Situation war man nicht darauf
eingerichtet, Gäste aufzunehmen. Gerade wollte sie Agnes anweisen, dem Frager eine abschlägige
Antwort zu erteilen, da sagte Rebecca leise:
„Das wäre vielleicht gar nicht so dumm. Warum sehen wir uns den Kandidaten nicht einfach
einmal an? Am Ende bringt er die Frauen auf andere Gedanken, und sie vergessen den schwarzen
Mönch?"
„Oder wir haben den doppelten Verdruss", mutmaßte die Äbtissin, war aber einverstanden, den
jungen Mann einer Musterung zu unterziehen. In Zeiten der Not musste man jede Möglichkeit zur
Rettung einkalkulieren.
„Kommen Sie mit, Frau von Mora. Ich denke, dass Sie als Weltkind die beste Menschenkenntnis
haben."
Zu dritt gingen sie hinüber zum Pförtnerhäuschen, und Agnes schob das Fenster auf. Der junge
Mann, der draußen wartete, trug eine Kniebundhose zum karierten Hemd, darüber einen Anorak
und einen gut gefüllten Wanderrucksack. Seinen Schuhen nach zu urteilen, war er schon ein gutes
Stück durch Wald und Feld gelaufen. Als er sich umwandte, sah Rebecca freundliche braune
Augen und offene Gesichtszüge.
„Er ist in Ordnung", flüsterte sie der Äbtissin zu. „Riskieren wir es?"
„Vielleicht sollten wir diesen unschuldigen, jungen Menschen nicht mit in das Verhängnis ziehen,
das über diesem Kloster schwebt", erwiderte die Äbtissin beklommen. „Er macht einen so netten
Eindruck."
„Vielleicht kann er uns helfen", sinnierte Rebecca. „Ein Mann würde diese Probleme ganz anders
anpacken."
Nachdenklich sah die Äbtissin sie an. „Wenn Gott der Herr ihn hierher gesandt hat, dann wird das
wohl einen Sinn haben. Lassen wir ihn herein", entschied sie.
Der junge Mensch draußen war über den prüfenden Blick der drei Frauen am Fenster reichlich
verwundert. Als man ihn jetzt bat, einzutreten zögerte er ein wenig. Dann aber girr er mit festen
Schritten durch die Eingangspforte in den Innenhof.
*** „Was ist los mit dir?"
Maria saß auf der Bank im Innenhof des Klosters, hatte den Kopf an die Mauer gelehnt und die
Augen geschlossen. Sie wirkte wie leblos, als Rebecca sie dort entdeckte, erst als sie ihren Namen
rief, öffnete Maria die Augen.
„Ich... ich muss eingeschlafen sein. Die ganze Nacht über habe ich kein Auge zugetan."
Rebecca sah Maria an, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Es hatte eher den Anschein gehabt, dass
Maria einen schweren Schrecken erlitten und darüber einen Moment das Bewusstsein verloren
hatte. Aber sie tat, als habe sie es nicht bemerkt.
„Ja, ich habe auch kaum geschlafen. Auch am Morgen nicht, da habe ich die ganze Zeit nur
gegrübelt. Ich habe mich sogar dazu überwunden, meinen Bekannten anzurufen und um Rat zu
fragen. Du weißt doch, von wem ich spreche."
Maria lächelte schwach und setzte sich gerade hin. Ihre Bewegungen waren langsam und zögernd,
als müsse sie sich erst wieder in der Wirklichkeit zurechtfinden.
„Der Mann, der dich zu einer Reise nach Griechenland eingeladen hat?"
„Genau der. Erreicht habe ich ihn leider nicht, aber ich habe auf seinen Anrufbeantworter
gesprochen."
Maria nickte, sie schien mit sich selbst beschäftigt. Rebecca wusste ziemlich gut, was in ihr
vorging, und sie hielt es für richtig, offen miteinander zu sein.
„Der junge Mann hat im Gästehaus das Zimmer am Ende des Flurs bezogen", erzählte sie und
setzte sich neben Maria. Sie spürte, wie sie zusammenzuckte.
„Hast du mit ihm gesprochen?"
„Ich war dabei, als die Äbtissin sich mit ihm unterhielt. Er sagte, er sei Kunstmaler und sein Name
sei Claudius Kortner."
„Claudius...", flüsterte Maria und schloss wieder einen Moment lang die Augen. „Er nennt sogar
seinen richtigen Namen."
„Es ist also..."
„Rebecca, du musst mir helfen, ich bin völlig durcheinander. Claudius ist der Mann..."
„...den du liebst. Ich weiß, Maria. Stell dir vor, ich habe es geahnt, als die Torglocke ging. Es war
mir irgendwie klar, dass er kommen würde. Wenn er dich liebt, dann wird er um dich kämpfen."
Maria machte eine abwehrende Bewegung. „Das darf er auf keinen Fall, Rebecca. Ich habe ihm
deshalb auch gesagt, dass ich ihn nicht liebe, sondern nur freundschaftliche Gefühle für ihn habe."
Rebecca lächelte amüsiert. „Das scheint er dir nicht so ganz geglaubt zu haben, wie? Sonst wäre er
wohl nicht hier."
Maria stöhnte verzweifelt. „Er nutzt die Abwesenheit seines Bruders. Simon ist geschäftlich nach
Südamerika gereist - da glaubt Claudius offensichtlich, freie Bahn zu haben. Aber er riskiert
unendlich viel. Simon kann ihn um sein gesamtes Erbe bringen, er kann ihn finanziell vernichten,
er ist zu allem fähig..."
Rebecca schüttelte unzufrieden den Kopf.
„Sag mal, traust du deinem Claudius so wenig zu? Er schaut nicht gerade aus wie ein Dummkopf,
finde ich. Er macht auf mich einen recht klugen und sympathischen Eindruck."
Maria errötete, sie freute sich über Rebeccas Urteil.
„Er ist ein Künstler, Rebecca. Er ist den Machenschaften seines Bruders nicht gewachsen. Er ist ein
Träumer und ein Idealist."
„Und du? Was bist du, Maria?"
Maria seufzte.
„Ich bin Realistin genug um zu sehen, dass Simon auf jeden Fall der Stärkere ist."
Rebecca sah nachdenklich zum Himmel auf, wo ein paar helle Wölkchen vor der Sonne einher
flogen. Der Herbst zeigte sich heute wieder einmal von seiner bunten und schönen Seite.
„Glaubst du nicht, dass ein Mensch durch die Liebe ganz neue Kräfte und Fähigkeiten gewinnen
kann?", fragte sie ihre Freundin.
„Ich habe Angst um ihn, Rebecca. Er ist immer der Verlierer gewesen, wenn er sich mit seinem
Bruder angelegt hat."
„Dann wird es Zeit, dass er einmal der Gewinner ist. Wenn er das nicht schafft, wenigstens einmal
in seinem Leben, wird er ewig darunter leiden und später vielleicht in schlimme Depressionen
fallen."
„Ach, Rebecca. Du mit deiner schriftstellerischen Fantasie!"
„Das sind Tatsachen, Maria. Da kannst du jeden Psychologen fragen. Ich glaube, dass du Claudius
nicht hilfst, wenn du ihn vor dieser Auseinandersetzung bewahren willst. Im Gegenteil. Du kannst
ihm nur helfen, wenn du ihm zur Seite stehst."
„Rebecca, das verstehst du nicht. Bitte versuche nicht, mir etwas einzureden. Claudius darf mich
hier auf keinen Fall zu sehen bekommen..."
Ärgerlich stand Rebecca auf. Natürlich hatte Maria Recht, es ging sie nichts an, sie hatte keinen
Grund, sich in Marias Angelegenheiten einzumischen. Und doch fiel es ihr schwer, den Mund zu
halten.
. „Willst du dich unsichtbar machen? Er wird dich spätestens bei den Mahlzeiten sehen. Oder bei
den Andachten."
Maria dachte nach. Was Rebecca sagte, war richtig. Claudius würde als Gast des Klosters ebenso
wie Rebecca bei den Mahlzeiten und Andachten zugelassen werden.
„Ich werde auf keinen Fall mit ihm sprechen, Rebecca", entschied sie. „Falls er dich etwa um eine
Vermittlung bittet, dann kennst du meine Entscheidung."
Rebecca seufzte.
„Alles klar, Maria. Ich werde mich neutral verhalten."
„Ich danke dir, Rebecca", sagte Maria sanft und zögerte einen Moment, bevor sie weiter sprach.
„Ich weiß, dass du es gut mit mir meinst, aber meine Entscheidungen muss ich dennoch selbst
fällen, nicht wahr?"
„Natürlich, Maria. Das verstehe ich sehr gut und würde es umgekehrt auch so machen."
Maria erhob sich, sie hatte für den Nachmittag die Aufgabe erhalten, sich um die Kerzen für die
Altäre zu kümmern.
„Du kannst unbesorgt in die Kirche gehen", sagte Rebecca mit leisem Lächeln. „Dein Claudius ist
mit Palette und Leinwand draußen am See und malt nach der Natur."
„Danke", gab Maria zurück.
Rebecca sah ihr nach als sie davonging, und sie war sich ziemlich sicher, dass Maria sich jetzt ein
Fenster suchen würde, das auf den See hinausging. Sie wäre keine Frau gewesen, wenn sie nicht
wenigstens einen Blick auf den Mann hätte werfen wollen, den sie liebte.
Es war still im Innenhof, auch im Kreuzgang herrschte Ruhe und Andacht. Rebecca nickte zwei
Frauen zu, die die Beete inmitten des Kreuzganges mit Reisig abdeckten, eine dritte war damit
beschäftigt, den Brunnen von Moos und Algen zu reinigen. Die Äbtissin trug Sorge, dass ihre
Nonnen immer etwas zu tun hatten. Gerade in der momentanen Lage war dies ungeheuer wichtig.
Müßiggang ist aller Laster Anfang, fand Äbtissin Jutta, und in der Furcht vor dem schwarzen
Mönch sah sie das schlimme Laster des Aberglaubens.
Rebecca ging langsam und wie ohne Absicht in die Kirche. Der große Raum lag in weihevoller Stille, durch die bunten Fenster drang farbiges Licht, das sich über die Sandsteinplatten des Fußbodens in roten und blauen Flecken legte. Eine sanfte, beruhigende Dämmerung beherrschte den Raum, freundlich blickten die Heiligenstatuten von den Säulen herab, auch die Darstellungen an den Grabepitaphen hatten in diesem milden Licht ihren Schrecken verloren. Undenkbar, dass sich hier jemand aufhielt, der Böses plante. Rebecca setzte sich auf eine der Kirchenbänke und grübelte. Sie war inzwischen sicher, dass die Gestalt mit der Kerze in der vergangenen Nacht die arme Gertrude gewesen sein musste. Vermutlich hatte sie vor dem Altar noch ein Gebet gesprochen, bevor sie auf den Turm steigen und sich herabstürzen wollte. Als Maria dann laut nach der Äbtissin rief, war Gertrude erschrocken, die Kerze fiel herab und erlosch. Dann musste die Ärmste in wilder Hast auf den Turm gestiegen sein, da sie fürchtete, man wolle sie an der Ausführung ihres Opfertodes hindern. Aber Gertrude war auf keinen Fall vor Rebeccas Tür gewesen, um dort zu lauschen. Und sie war auch sicher nicht durch den Kreuzgang in die Kirche gelaufen, um sich dort in der Gruft zu verbergen. Es musste in dieser Nacht also noch ein zweites Wesen im Kloster unterwegs gewesen sein. Ein Wesen - das aus welchem Grund auch immer - Interesse an ihr, Rebecca, hatte, denn es hatte sich vor ihrer Tür aufgehalten. Nur mit großem Unbehagen dachte Rebecca daran. dass sie die Nacht zuvor bei offener Tür geschlafen hatte. Langsam ging sie durch die Kirche, blieb da und dort stehen und besah sich die Seitenaltäre, die wohlhabenden Stifter in verschiedenen Jahrhunderten hatten einrichten lassen. In den kleinen Nischen befand sich meist ein Marienaltar, davor eine Stufe, auf der man niederknien konnte, und ein kleiner Tisch, der voller brennender Kerzen war. Wie zufällig blieb sie vor dem reich vergoldeten, schmiedeeisernen Gitter stehen, das die letzte Ruhestätte der Stifter und Äbtissinnen verschloss. Man sah von oben nur einige in Stein gehauene Stufen, die in die Gruft hinabführten. Maria hatte berichtet, dass die Nonnen nur einmal im Jahr an der Stiftungsfeier der Kirche dort hinunter stiegen, um eine Messe zu lesen. Sie berührte das Gitter, es ließ sich ohne weiteres bewegen. Als sie genauer hinsah, erkannte sie den Grund dafür: jemand hatte den eisernen Riegel des Schlosses mit einer feinen Metallsäge durchtrennt. Es war so perfekt gemacht, dass man den Schaden nur bei genauerem Hinsehen erkennen konnte. Der Weg in die Gruft war also offen. Aber weshalb? Wer trieb sich dort unten herum? *** Die Tage vergingen in trügerischer Ruhe. Fast schien es, als seien alle Schrecken und Ängste vergessen, klar und warm zeigte sich der Herbst, die Sonne beleuchtete Wälder und den See mit schrägen, goldenen Strahlen. Nur das fallende Laub und der Nebel, der in den Nächten und am Morgen vom See aufstieg, erinnerten daran, dass die dunkle Jahreszeit vor der Tür stand. Rebecca hatte Recht gehabt. Die Gegenwart des jungen Malers Claudius hatte die Stimmung im Kloster verändert. Die Nonnen hatten nur zu gern alle Schrecknisse vergessen. Wo und wann der schwarze Mönch gesehen worden war, interessierte plötzlich niemanden mehr. Nicht wenige waren geneigt, das Ganze für eine Sinnestäuschung zu halten. Stattdessen wurde in allen Ecken über den jungen Maler geplaudert, der so freundlich und unbefangen war, der so höflich grüßte und auch immer zu einem kleinen Plausch geneigt war. Und was für schöne Bilder er doch malte! Als Claudius zaghaft anfragte, ob die eine oder andere Frau bereit wäre, sich von ihm portraitieren zu lassen, war die Aufregung groß. Diejenigen, die gefragt worden waren, wurden von den anderen heftig beneidet, es entspannen sich Rivalitäten und sogar offene Streitgespräche. Äbtissin Jutta war nach wenigen Tagen der Ansicht, den Teufel mit Beelzebub ausgetrieben zu haben. „Zuerst war es der schwarze Mönch, der sie zum Aberglauben verführt hat, und nun haben wir diesen jungen Maler, der ihnen unzüchtige Gedanken ins Hirn setzt", seufzte sie, als sie mit Rebecca allein im Äbtissinnenhaus saß. „Der Herr schickt uns in diesem Jahr eine Prüfung nach der anderen, und wir müssen es hinnehmen und uns bewähren, so gut es uns eben gelingen mag."
Rebecca war seit der Ankunft des Malers zur engsten Vertrauten der Äbtissin geworden. Sie war stolz darauf, denn Äbtissin Jutta hatte großen Eindruck auf sie gemacht. „Ich bin schon verblüfft, wie rasch der schwarze Mönch seinen Schrecken verloren hat" meinte Rebecca nachdenklich. „Fast scheint es, dass unser neuer Gast Kräfte besitzt, die Gespenster bannen. Dennoch haben wir das Rätsel des geheimnisvollen Fremden hier im Kloster noch nicht gelöst." „Da ist auch nichts zu lösen", sagte Äbtissin Jutta. „Weil es keinen geheimnisvollen Fremden gibt. Oder ist Ihnen etwa in den letzten Tage etwas aufgefallen?" Während der letzten Tage - genauer gesagt seit der Ankunft des jungen Malers - war es tatsächlich ruhig gewesen. Unerwartet und unverständlich ruhig. Keine Schritte im Flur, kein Schatten im Kreuzgang, kein fremder Gast, der in der Kirche den Andachten zuhörte. Außer Claudius, der voller Begeisterung in einer der vorderen Reihen saß und die Zeremonie beobachtete. Nur Rebecca wusste, wen er da so sehnsüchtig anschaute ohne auch nur das winzigste Zeichen oder gar einen Blick von ihr zu erhaschen. Maria spielte die Orgel mechanisch wie eine Marionette und schien völlig in die Texte der Andacht versunken. In Wirklichkeit war sie jedoch völlig verzweifelt und mit sich selbst uneins. Gelang es ihr, während der Mahlzeiten und Andachten einen beherrschten Eindruck zu machen, so war es zu anderen Zeiten mit ihrer Ruhe ganz und gar zu Ende. In einem unbewachten Augenblick hielt sie Rebecca im Kreuzgang an, und beschwor sie um Himmels willen dafür zu sorgen, dass Claudius endlich das Kloster verließ. ..Aber wie soll ich das machen?" „Sprich mit ihm. Sag ihm, dass ich ihn dazu auffordere..." „Sag es ihm doch selbst." „Das kann ich nicht." Erschüttert sah Rebecca, dass sie weinte. Wie schwer machte sie es sich doch! „Er muss von hier Rebecca. Sonst weiß ich nicht. was ich tue..." „Das wird schwierig werden, Maria. Er hat gesagt, dass er sich hier sehr wohl fühlt und noch gern ein paar Wochen bleiben würde. Die Äbtissin ist geneigt, es zu gestatten. denn er scheint den schwarzen Mönch gebannt zu haben." Maria schwieg und wandte sch ab, um ihre Arbeit in der Küche zu tun. Bisher hatte Claudius ihre ablehnende Haltung respektiert und keinen Versuch gemacht, sie anzusprechen. Lange würde sich diese Taktik jedoch nicht mehr durchhalten lassen, denn Maria war wohl die einzige Frau im Kloster, mit der Claudius nicht hin und wieder ein wenig plauderte. Eine Tatsache, die den anderen Frauen früher oder später auffallen musste, und die für Gerüchte und Vermutungen sorgen würde. Besonders Rebecca hatte es Claudius angetan. Oft standen die beiden zu langen Gesprächen im Kreuzgang, besahen miteinander die Kirche, und Claudius machte Rebecca auf manches Detail in den Heiligendarstellungen und den Altären aufmerksam. Er hatte eine profunde Kenntnis mittelalterlicher Skulptur und Malerei, redete jedoch keineswegs wie ein Kunstwissenschaftler, sondern voller Wärme und Begeisterung für die unbekannten großen und kleinen Meister des Mittelalters, die in der Kirche ihre Werke hinterlassen hatten. Rebecca entging jedoch nicht, dass seine Augen, während er mit ihr redete, umherwanderten, und sie wusste recht gut, wen er so sehr zu sehen wünschte. Er machte jedoch keinen Versuch, sie als Vermittlung einzubeziehen. Kein einziges Wort fiel über Maria, obgleich Rebecca nur zu deutlich spürte, dass er ganz und gar von ihr erfüllt war. Das Leben im Kloster ging seinen gewohnten Gang - alles schien ruhig zu sein bis auf die Tatsache, dass der junge Malereinige heimliche Verwirrungen unter den Frauen anrichtete. Darüber sprach jedoch niemand. Auch Gertrude war wieder zurückgekehrt, mit Medikamenten für eine bessere Durchblutung versorgt und der Anweisung, täglich mehrere Liter Wasser oder Tee zu sich zu nehmen. Sie hatte als Einzige wenig Interesse an dem neuen Gast, sondern zog sich in ihre Bibliothek zurück. Man hätte zufrieden sein können, und doch spürte Rebecca eine ungeheuer große Anspannung, die sie nächtelang wach hielt und deren Grund sie sich nicht genau erklären konnte. War es die immer
noch schwelende Furcht vor dem unheimlichen Besucher? War es die Geschichte vom schwarzen Mönch, die in ihrem Kopf herumspukte? Oder die ungelöste Liebesgeschichte, die Maria in immer tiefere Verzweiflung stürzte? Sie grübelte darüber nach und kam zu keinem Ergebnis. Es war eine unbestimmte Ahnung, dass etwas Schlimmes bevorstand, und Rebecca wusste, dass ihre Ahnungen nicht selten zur Wahrheit wurden. Als die Glocke an der Pforte ertönte, erwartete sie daher nichts Gutes. Aber sie wurde angenehm enttäuscht, denn vor der Pforte stand ein hoch gewachsener, gut gebauter junger Mann mit braunem Haar und wachen blauen Augen. „Tom! Was für eine Überraschung." Er war unsicher gewesen, ob sein plötzliches Erscheinen sie nicht am Ende verärgerte, jetzt war er erleichtert über ihre aufrichtige Freude. Tante Betty hatte Recht gehabt: Es war eine gute Idee gewesen, einfach spontan zum Kloster zu fahren. „Ich dachte, ich schaue mir dieses Wunderkloster einmal an. Wenn du dafür eine Reise nach Griechenland zurückgewiesen hast, dann muss dieser Ort ja unglaublich faszinierend sein." Rebecca lachte und fiel ihm um den Hals. Für einen Augenblick spürte sie eine angenehme Geborgenheit. Wie sicher man sich in seiner Gegenwart fühlte, vielleicht ein wenig zu sicher. Man war versucht, alle Probleme einfach dem großen Bruder Tom zu überlassen. „Faszinierend und ungeheuer aufregend, Tom. Du kommst gerade richtig zur Andacht. Komm, wir gehen in die Kirche und ich zeige dir „meine" Nonnen." „Oho. Du redest, als würdest du demnächst hier als Äbtissin anfangen. Das gefällt mir gar nicht." Sie lachte ihn aus, legte dann scherzhaft den Finger auf die Lippen und zog ihn in die Kirche, wo die Orgel bereits spielte und die Andacht begonnen hatte. Leise gingen sie durch den Mittelgang nach vorn und setzten sich in eine Bank, wo auch Claudius bereits Platz genommen hatte. Tom nickte ihm freundlich zu und Claudius erwiderte den stummen Gruß mit einem Lächeln. Die Zeremonie nahm ihren Fortgang. Alles schien sich abzuspielen wie immer, bis zu dem Augenblick, da die Orgel plötzlich mitten im Choral abbrach. Erschrocken sah Rebecca, dass Maria über die Tasten gebeugt saß, zu keiner Bewegung mehr fähig, hilflose Tränen rannen ihr über das Gesicht. Claudius starrte voller Verzweiflung zu ihr hinüber, die Hände in die Bank gekrallt, als müsse er sich festklammern um nicht aufzuspringen und nach vorn zu laufen. Die Äbtissin rettete die Situation, indem sie den Choral mit fester Stimme weiter sang und somit auch die anderen nicht aus dem Takt gerieten. Nach der Andacht, als die Nonnen in ihren weißen Gewändern in gewohnter Ordnung aus der Kirche ins Äbtissinnenhaus gegangen wären, erhob sich Claudius langsam von seinem Platz, mühsam, als hingen Zentnergewichte an seinem Körper. Rebecca sah ihm an, dass er in großer Sorge um Maria war und viel darum gegeben hätte, jetzt zu ihr gehen zu können. Aber selbst wenn er zu ihr hätte vordringen können, hätte sie ihn doch ohne Zweifel fortgeschickt. Er tat ihr unendlich Leid und sie überlegte, was sie für ihn tun konnte. Rebecca stellte die beiden Männer einander vor und hatte plötzlich eine Idee. Natürlich - warum war sie nicht gleich darauf gekommen. Sie würde Toms Kombinationsgabe einsetzen und Claudius von seinem Kummer ablenken. „Ich hätte da eine Frage an dich, Tom", sagte sie dann und zog ihn zu der Gittertür. „Vielleicht können Sie mir ebenfalls helfen, Claudius. Sagt mir bitte, was ihr davon haltet." Tom betrachtete sich das durchsägte Schloss und pfiff durch die Zähne. „Saubere Arbeit. Da war ein Profi mit Profiwerkzeug dran. Habt ihr hier im Kloster eine Einbrecherwerkstatt eingerichtet?" „Nein, aber es treibt sich jemand im Kloster herum. Die einen behaupten, es handele sich um den schwarzen Mönch, ein Gespenst aus dem Mittelalter, die anderen vermuten, dass es jemand aus Fleisch und Blut ist." Claudius machte große Augen. Niemand hatte bisher den schwarzen Mönch in seiner Gegenwart erwähnt. „Ein Gespenst? Aber ein Geist sägt doch keine Schlösser durch, oder?"
„Das denke ich auch", gab Rebecca zurück. „Auf der anderen Seite ist die Sache mit dem schwarzen Mönch nicht so einfach von der Hand zu weisen. Er scheint schon seit Jahrhunderten immer wieder im Kloster herumzuspuken." Tom, der Rebeccas Neigung zu Geister- und Gespenstererscheinungen kannte, musste zwar grinsen, das durchsägte Schloss jedoch sprach eine nur zu deutliche Sprache. Als Kriminalist konnte er sich dabei mit einer geisterhaften" Erklärung nicht zufrieden geben. „Wie könnte jemand ins Kloster hineinkommen?" „Es sind überall Mauern. Nur durch die Pforte kommt man hinein." „Und was ist hinter diesem Gitter?" „Die Gruft." Tom hatte keinerlei Berührungsängste mit Toten. Er wusste von Berufs wegen, dass es eher die Lebenden waren, vor denen man sich in Acht nehmen musste. „Schauen wir doch einmal nach." Ohne eine Antwort abzuwarten schob er das Gitter zur Seite und Rebecca hörte wieder das Geräusch, das sie in jener Nacht vernommen hatte, als sie mit Maria an der Kirchentür stand. Es zwar außer Zweifel, dass derjenige, den sie damals verfolgt hatten, dieses Gitter geöffnet hatte. „Wenn uns die Mutter Äbtissin erwischt, wirft sie uns alle miteinander aus dem Kloster", flüsterte Rebecca und folgte Tom die Stufen hinunter. Claudius ging hinter ihr und sie konnte seinen unruhigen Atem hören. Die Geschichte schien ihn ganz außerordentlich aufzuregen, vielleicht war es doch nicht klug gewesen, den armen Kerl in diese Suche einzubeziehen. Die Stufen führten mehrfach im Kreis und endeten abrupt auf einem Steinboden. Es war dunkel, aber dem Schall nach musste man sich in einem größeren Saal befinden. „Hier muss es doch eine elektrische Beleuchtung geben", murmelte Tom. „Wir sind doch schließlich nicht mehr im Mittelalter." Er tastete die Wände ab, und tatsächlich leuchteten bald einige Wandlampen auf. Sie befanden sich in einer Krypta, die von dicken Säulen gestützt wurde. Rechts und links sah man Begräbnisstätten aus Stein, von dicken steinernen Platten abgedeckt auf denen Namen und Lebensdaten der Verstorbenen eingemeißelt waren. Tom ließ den Blick aufmerksam im Raum umhergehen. Aber es war keine Nische, keine Tür zu erkennen. „Was man hier unten suchen könnte, ist mir ein Rätsel", meinte er dann und trat an die Steinsarkophage heran. „Afranasia Abbatissa Anno Domini 1209-1223", entzifferte er.„Das ist vermutlich die Zeit, in der sie Äbtissin war-" „Hier auf dieser Seite liegen die Stifter", verkündete Claudius, der neben einem Steinsarkophag kniete, um den Text zu lesen. „Roderich zu Gutenstein, lebte von 1350 bis 1403. Vermählt mit Elisabetha zu Gutenstein, geborene Fürstin zu Schönborn. Er liegt hier in Erwartung der ewigen Seligkeit." Rebecca war bis zum anderen Ende des Saales gegangen und hatte sich dort über einen der steinernen Särge gebeugt. „Merkwürdig", sagte sie. „Auf dem hier steht gar nichts." „Vielleicht ist der für die noch lebende Äbtissin reserviert", mutmaßte Tom. „Möglich", gab Rebecca zurück. „Allerdings ist die Reihenfolge dann irgendwie falsch, denn die Nachbarin stammt aus dem fünfzehnten Jahrhundert." Sie wollte sich schon abwenden, da entdeckte sie etwas Ungewöhnliches. An der linken Seite der steinernen Sargabdeckung befand sich ein eiserner Knauf, der in den Stein eingelassen war. „Hier ist so etwas wie ein Griff, Tom", rief sie aufgeregt. Tom wollte herbeilaufen, da erklang plötzlich von der Treppe her ein leiser Aufschrei. Alle wandten sich um. Maria musste in die Kirche zurückgekehrt sein und Rebeccas Stimme unten in der Krypta gehört haben. So war sie auf der Suche nach ihr die Stufen hinab gelaufen. Nun stand sie starr vor Schrecken Aug in Auge mit Claudius.
„Maria!"
„Nein. Rühr mich nicht an!"
Sie drehte sich um, wollte in panischer Flucht die Treppe hinaufhasten, trat jedoch fehl und stürzte
zu Boden. Claudius war ihr nach gesprungen und fing die Ohnmächtige in seinen Armen auf.
„Langsam, Freund", sagte Tom. „Wir sind hier in einem Kloster."
Aber Rebecca nahm ihn am Arm und drehte ihn zu sich herum.
„Still!", befahl sie ihm lächelnd. „Was die beiden jetzt miteinander ausmachen, das geht uns nichts
an. Verstehst du?"
„Nicht ganz", meinte er unsicher und wollte sich wieder umdrehen. „Ich nehme an, du wirst es mir
gleich erklären."
Rebecca hielt ihn fes
„Du warst schon immer etwas langsam von Begriff", sagte sie kopfschüttelnd.
Als er sich jetzt zur Treppe wandte, war dort niemand mehr zu sehen.
*** „Ich muss schon sagen, Rebecca", meinte Tom, der ihr zugehört hatte ohne sie zu unterbrechen.
„Wo du dich herumtreibst, da geschehen immer aufregende Dinge. Du scheinst eine besondere
Anziehungskraft sowohl auf Geistererscheinungen als auch auf Liebesdramen zu haben. „
„Dieses Mal kann ich wirklich nichts dafür", wehrte sie sich. „Aber du kannst mir helfen, den
beiden die Daumen zu drücken. Sie hätten eine glückliche Wendung verdient, glaube ich."
„Wenn's denn hilft", brummte er. „Auf der anderen Seite hast du meine Neugier mit diesem
merkwürdigen Eisenknauf geweckt, und ich würde meine Daumen gern zu anderen Sachen
verwenden."
Das sah Rebecca ein. „Dann lass uns einmal schauen, ob wir herauskriegen, was der Zweck von
diesem seltsamen Ding ist."
Neugierig sah sie zu, wie Tom sich mit dem Knauf zu schaffen machte. Er zog zuerst vorsichtig,
dann mit aller Kraft daran. Ohne Ergebnis. Er schob ihn zur Seite, ebenfalls ohne jeglichen Effekt.
„In irgendeiner Weise wird das Ding bewegt", meinte er ärgerlich. „Das sieht man schon daran,
dass es nicht direkt mit dem Stein verbunden ist. Außerdem scheint es öfter angefasst zu werden.
Hier, wo man es in die Hand nimmt, ist es fast blank, nur am äußeren Ende hat das Eisen Rost
angesetzt."
„Vielleicht musst du es drehen." Tom mühte sich ab. Der eiserne Knauf zeigte keine Neigung,
seinen Bemühungen zu folgen.
„Am Ende hat der Fürst hier nur sein Schwert angelehnt", murmelte er verärgert. „Oder seinen
Hund angebunden."
„Es ist vielleicht eine Art Belüftungsklappe."
„Sehr witzig. Begräbnisstätte mit Umluft und allem Komfort."
„Zieh einmal daran."
Tom folgte ihrem Rat, ein leises Knirschen war zu hören.
„Bingo. Bist ein kluges Mädchen, Rebecca."
Der Knauf ließ sich ein Stück aus dem Stein herausziehen, Tom hatte eine Verriegelung gelöst.
„Pass auf, was jetzt passiert! ", sagte er und schob den schweren Steindeckel des Sarkophags zur
Seite. Stufen wurden sichtbar.
„Ein unterirdischer Gang", flüsterte Rebecca überwältigt. „Jetzt wissen wir, wie der schwarze
Mönch ins Kloster gekommen ist."
„Was für eine trickreiche Einrichtung", staunte Tom und untersuchte den Stein. „Der Deckel ist am
Fußende mit einem Eisenstift befestigt und dreht sich um diese Achse. Hier innen ist noch ein
Griff, mit dem kann man den Steindeckel von innen zurückschieben und wieder verschließen."
„Meinst du, dass die Anlage aus dem Mittelalter stammt?"
„Schon möglich. Wenn ich richtig liege, dann führt dieser Gang auf Umwegen ins Freie und endet
irgendwo gut versteckt im Wald oder am See."
Rebecca blinzelte ihn abenteuerlustig an.
„Steigen wir hinab?"
Tom zögerte. Es war nicht ungefährlich, in einen völlig unbekannten Gang einzusteigen. Vor allem
angesichts der Tatsache, dass jemand diesen Gang benutzte, der eine professionelle Metallsäge
besaß. Aber Rebeccas Neugierde steckte auch ihn an.
„Wir können ja mal ein kleines Stück hineingehen. Mein Schlüsselanhänger hat eine kleine Lampe.
das wird uns genügen."
„Allzeit bereit, wie die Pfadfinder sagen", lobte Rebecca und ließ Tom den Vortritt.
Die Stufen führten einige Meter in die Erde hinein, dann schloss sich ein schmaler Gang an, der in
mühevoller Arbeit in den Fels hineingeschlagen worden war. Toms Minilämpchen reichte immer
nur wenige Meter, dennoch kamen die beiden langsam aber stetig voran.
„Was tun wir, wenn uns der schwarze Mönch entgegenkommt?", flüsterte Rebecca.
„Wir fragen ihn nach dem Weg", grunzte Tom. „Hörst du auch was?"
Rebecca blieb stehen und lauschte. Es klang nach tropfendem Wasser.
„Sind wir am Ende unter dem See?"
„Kaum. Meinem Gefühl nach sind wir in nördlicher Richtung gegangen, das würde bedeuten, wir
gehen parallel zum Wasser."
„Du könntest Recht haben. Aber was tropft dann dort hinten?"
„Das werden wir gleich sehen."
Der unstete Lichtschein, den die kleine Lampe in den düsteren Gang warf erfasste nach einigen
Metern einen Seitengang, der nach rechts führte. Dort fand sich ein rechteckiges Wasserbecken aus
Sandstein, in das eine unterirdische Quelle hineintröpfelte. Das Becken hatte einen Überlauf, der
das Wasser über eine Rinne in einen Felsspalt leitete, wo es verschwand.
„Schau dir das an, Rebecca. Eine unterirdische Quelle. Das Becken mit dem Überlauf haben die
Erbauer des Klosters angelegt, um in Notzeiten Wasser zu haben."
Rebecca hatte die Hand in das Becken gestreckt und spürte das kalte, klare Quellwasser. Auch Tom
war herzu getreten, weil er schauen wollte, wie weit man den Lauf des Wassers in der Felsspalte
verfolgen konnte. Die Spalte war sehr schmal und führte offensichtlich noch. einige Meter weiter
hinab. Ein leichter Wind wehte aus dem Spalt - das ließ vermuten, dass sie in ein Höhlensystem
führte.
„Was war das?", flüsterte Rebecca plötzlich.
Tom sah sie fragend an, er hatte nichts bemerkt.
„Ich hatte das Gefühl, dort hinten im Hauptgang sei ein Schatten vorübergehuscht."
Tom grinste belustigt, dann schaltete er das Lämpchen aus.
„Der berühmte schwarze Mönch?"
„Wer weiß?"
Sie gingen vorsichtig bis zur Abzweigung und horchten, Das Geräusch der fallenden Wassertropfen
erschien ihnen ungeheuer laut. Dann aber vernahmen beide ein schleifendes Geräusch, wie wenn
ein Mühlstein bewegt wird.
„Verdammt!", entfuhr es Tom.
„Er verschließt den Ausgang in der Gruft. Oh Tom, wenn er den Eingang nun auch verschlossen
hat - wie kommen wir dann jemals wieder hier heraus?"
„Nur keine Panik.
Das kleine Licht des Lämpchens wuchs wieder empor, und Rebecca sah in Toms Zügen so viel
Ruhe und Selbstvertrauen. dass sie sich entspannte.
„Du hast Recht. Panik bringt uns im Moment überhaupt nichts. Warum sollte er den Eingang
verschlossen haben? Dazu gibt es keinen Grund."
..Erstens das. Und außerdem kann man den Stein in der Gruft auch von unten bewegen, wie du ja
weißt. Wir kommen auf jeden Fall irgendwie hier heraus."
„Ach Tom. Es ist so beruhigend, mit dir zusammen in einem unterirdischen Gang eingesperrt zu
sein!", scherzte sie mit Galgenhumor.
„Schön. dass du das sagst", knurrte er. „Ich hatte es schöner gefunden, mit dir in Griechenland am
Strand zu liegen und auf Odysseus Spuren zu wandeln
„Ich habe nun mal einen ungewöhnlichen Geschmack", gab sie zurück. „Was soll ich mit Odysseus
und dem blauen Meer, wenn ich Gelegenheit habe, einem schwarzen Mönch in einem feuchten,
modrigen Geheimgang zu begegnen."
„Ich wusste, dass ich etwas falsch mache", witzelte er. „Lass uns jetzt den Ausgang suchen, bevor
die Batterie der Lampe ihren Geist aufgibt."
„Gute Idee."
Sie folgten dem Hauptgang, so rasch es möglich war. Hin und wieder leuchtete Tom mit besorgtem
Gesichtsausdruck nach oben, denn es tropfte aus dem Erdreich über ihnen. Hölzerne Stützen
Verhinderten, dass die Decke einbrach, die hie und da schon nachgegeben hatte.
„Es wird hell!", sagte Rebecca erleichtert.
„Ich wette, dass ich weiß, wo wir herauskommen", erwiderte Tom, und er schaltete das schon
reichlich schwache Lämpchen aus.
„Na wo, Herr Neunmalschlau?"
„Irgendwo am Seeufer."
Tom hatte Recht. Als sie das Ende des geheimen Ganges erreichten, glitzerten und gluckerten vor
ihnen die Wellen des Sees. Sie befanden sich in einer schmalen Bucht, in der dicke
Sandsteinbrocken und dichtes Gebüsch den geheimen Gang vor allen neugierigen Blicken
verbargen.
„Genial", meinte Tom zufrieden. „Hierher kommt man nur, wenn man ein guter Kletterer ist, oder
man benutzt ein Boot."
Beide entdeckten im gleichen Moment das Ruderboot, das zwischen dem Gebüsch lag. Ein kleines,
braunes Boot, das auch einem zufälligen Wanderer zwischen den dichten Büschen kaum
aufgefallen wäre.
„Wenn wir das jetzt nehmen, weiß er Bescheid", sagte Rebecca nachdenklich.
„Er weiß auf jeden Fall Bescheid, dass wir ihm auf die Schliche gekommen sind", gab Tom zurück.
„Denk daran, dass der Stein in der Gruft zurückgeschoben war und dass er uns vermutlich auch am
Wasserbecken gesehen hat."
„Dann sollten wir uns beeilen, Tom. Ich habe kein gutes Gefühl."
Tom zog das Boot unter den Büschen hervor und half ihr, hineinzuklettern. Mit geschickten
Ruderschlägen manövrierte er das Boot aus der Bucht und ruderte über den See.
„Es wird etwas dauern, bis wir drüben sind", sagte er, während er das Boot mit kräftigen
Ruderschlägen vorantrieb.
„Das macht nichts, Tom", sagte sie lächelnd. „Ich sehe gern dabei zu, wie du ruderst."
Sie glitten über die dunkelblaue Fläche, während sich schon die Abendsonne in den See senkte und
am Wald die ersten Nebelbänke aufstiegen.
*** Claudius war vor Aufregung außer Atem, als er die Treppen hinaufstieg. Maria lag immer noch wie leblos in seinen Armen, ihr Gesicht war blass, aber die Augenlider flatterten. Sie würde aufwachen. Was würde sie dann tun? Als er das Gitter der Gruft erreicht hatte, sah er mit Besorgnis in die Kirche hinein. Es war niemand zu sehen. Die Nonnen würden sich erst in einer Stunde wieder zur Andacht versammeln. Der Gedanke durchfuhr ihn, dass es für seine Wünsche und Hoffnungen ja nur gut sein könnte, wenn man ihn hier mit Maria entdeckte. Dann würde sie Rede und Antwort stehen müssen und in ihrer Verwirrung Dinge sagen, die die Äbtissin ohne Zweifel veranlassen würden, ihre Entscheidung ins Kloster zu gehen noch einmal gründlich zu überdenken. Aber es war nicht das, was er erreichen wollte. Auf keinen Fall wollte er Maria zu einer Entscheidung nötigen - sie musste sie selbst aus eigener Überzeugung fällen. Jetzt allerdings, da er sie auf seinen Armen trug und ihr Kopf an seiner Brust lag, fiel es ihm unendlich schwer, nicht wenigstens einen Kuss auf ihre Lippen zu hauchen.
Maria schlug die Augen auf, als sie fast schon im Kreuzgang waren. Er sah ihren erneuten
Schrecken und setzte sie sanft auf einer der niedrigen Steinbänke ab.
„Claudius", flüsterte sie. „Was ist geschehen?"
„Nichts Schlimmes. Du hast dich erschrocken, das ist alles."
„Mir ist schwindelig. Wo ist Rebecca? Ich habe doch ihre Stimme gehört?"
„Unten in der Gruft. Mit ihrem Bekannten. Du musst dir um sie keine Sorgen machen, ich glaube,
sie hat einen verlässlichen Beschützer."
Maria nickte und strich sich mit der Hand über die Stirn. „Hat uns jemand gesehen?"
„Niemand."
Sie schien zufrieden und stand langsam und vorsichtig auf. Als sie schwankte wollte er sie stützen,
sie machte jedoch eine abwehrende Bewegung.
„Fass mich bitte nicht an, Claudius."
„Ich erinnere mich an Zeiten, da du nicht so ablehnend warst, Maria", sagte er bitter und ließ die
schon ausgestreckten Arme sinken.
„Du weißt, dass ich entschlossen bin, den Schleier zu nehmen, und bitte dich inständig, diesen
Entschluss zu respektieren."
Sein Gesicht wurde finster. Es konnte nicht sein, dass sie ihn wiederum fortschickte. Nicht jetzt, da
er ihr schon so nah gekommen war, da er schon fast ihre Lippen gespürt hatte.
„Was spielst du für ein Spiel mit mir?", fragte er ärgerlich. „Noch vor wenigen Monaten hast du
mir gesagt, dass du mich liebst. Und dann auf einmal sollte alles zu Ende sein. Deine Liebe sei
erloschen, hast du behauptet. Ohne mir einen Grund, eine Erklärung für diesen plötzlichen
Sinneswandel geben zu können. Meinst du denn, dass ich das so einfach hinnehmen kann?"
„Claudius, ich bitte dich. Jeden Moment kann jemand vorbeikommen. Lass uns das nicht
ausgerechnet hier besprechen."
„Dann sag mir, wo", rief er trotzig.
Sie rang die Hände und wusste nicht, was sie tun sollte. Sein Zorn erschütterte sie fast noch mehr
als seine Verzweiflung. Nie hatte sie den immer fröhlichen und sanften Claudius zornig erlebt.
„Ich bitte dich, Claudius", flehte sie. „Verlass das Kloster und gönne mir meinen Seelefrieden.
Dann wirst auch du Frieden finden."
„Niemals!", tobte er. „Weder ich noch du werden in Frieden leben können, wenn wir für immer
getrennt sind. Wir gehören zusammen, das weißt du so gut wie ich."
Schritte wurden am Ende des Ganges laut, Maria fuhr entsetzt zusammen.
„Um Himmels willen, Claudius. Geh!"
„Nur wenn du mitgehst."
Die Schritte kamen näher, leises Gelächter aus Frauenkehlen erklang. Maria ging eilig davon und
machte Claudius ein Zeichen, ihr zu folgen. Sie flüchtete am Eingang des Speisesaales vorbei und
öffnete hastig die Tür zum Gästehaus. Als sie beide hindurchgeschlüpft waren, blieb sie schwer
atmend im Flur stehen.
„Glaube bitte nicht..."
„Ich schwöre dir, Maria..."
„Es ist nur, damit wir ungestört reden können."
„Selbstverständlich. Du kannst ganz sicher sein. Kennst du mich als einen Betrüger?"
Sie sah verwirrt zu Boden, während er die Tür zu seinem Zimmer öffnete.
„Ich vertraue dir, Claudius."
„Ich wünschte, du tätest das wirklich. Tritt ein."
Der Raum ähnelte dem Zimmer, in dem Rebecca untergebracht war. Es gab ein Bett, einen
Schreibtisch, einen Stuhl und ein kleines Fenster, das zum See hinausging. Claudius hatte überall
Kleidungsstücke und Malutensilien verstreut und versuchte jetzt ungeschickt, wenigstens den Stuhl
für Maria freizumachen. „Es tut mir Leid..."
Maria lächelte über seine Verwirrung, hob eines seiner Hemden vom Boden auf und legte es über
die Lehne des Schreibtischstuhls.
„Es ist schlimm", sagte sie. „Aber ich bin sicher, dass du eines Tages eine Frau finden wirst, die
alle diese Dinge für dich ordnet."
„Diese Frau wirst du sein, Maria. Du oder keine."
Sie spürte, dass ihr Herz heftig klopfte und sie zwang sich, es ihn nicht merken zu lassen.
„Nein, Claudius. Ich werde es nicht sein, denn ich werde hier im Kloster bleiben."
Er hatte sich jetzt selbst auf den Schreibtischstuhl gesetzt und starrte zum Fenster hinaus. Die
Sonne war zu einem roten Feuerball geworden und warf eine schwankende, rötliche Bahn über die
Wellen des Sees.
„Du willst also Nonne werden? Nun, dann sage mir wenigstens die Wahrheit auf meine Frage, denn
eine Lüge ist eine schwere Sünde."
„Claudius, ich habe dir doch schon alles gesagt."
„Ich will es noch einmal von dir hören. Schwöre mir bei allem, was dir heilig ist, dass du mich
nicht liebst, Maria. Schwöre mir diesen Eid und ich gehe."
Sie sah sich in die Enge getrieben und wurde ärgerlich.
„Einen Eid verlangst du von mir? Mit welchem Recht?"
„Mit dem Recht dessen, der liebt, Maria. Schwöre mir, dass ich dir gleichgültig bin."
Sie ging aufgeregt im Raum umher wie ein gefangenes Tier. Wie sehr hatte sie gekämpft. Wie sehr
sich gegen diese Liebe gewehrt. Hatte sie nicht nächtelang gegen Traumbilder zu Felde ziehen
müssen? Aber das war alles nichts gegen diesen Moment, da er leibhaftig vor ihr stand und sie in
die Enge trieb. Fast musste sie ihn für seine Hartnäckigkeit bewundern. War das noch der
schüchterne, verträumte Maler, den sie vor seinem gewissenlosen älteren Bruder schützen wollte?
„Ich lehne es ab. Entweder du glaubst meinem Wort, oder..."
Er stellte sich ihr in den Weg und sie musste dicht vor ihm stehen bleiben. Wie einen Sog spürte sie
die Anziehung seines Körpers, seinen aufgeregten Atem, sah seine blitzenden Augen.
„Ich glaube dir kein Wort, Maria. Ich weiß genau, dass du mich liebst. Du glaubst, mich vor Simon
schützen zu müssen, das ist der Grund für deine Entscheidung."
„Aber nein! "
„Aber ja! Ohne mich zu fragen entscheidest du selbstherrlich über unser beider Schicksal. Wie eine
gute Mutter willst du dein Kind vor Schaden bewahren und opferst dich selbst dafür."
„Du redest Unsinn, Claudius..."
Aber er sah an ihrer Verwirrung, dass er Recht hatte. Zornbebend stand er vor ihr, all seine
zurückgehaltene Leidenschaft schien sich jetzt ihre Bahn brechen zu müssen.
„Hast du einmal darüber nachgedacht, dass du über meinen Kopf hinweg über unser Lebensglück
entschieden hast? Ich liebe dich, Maria. Warum vertraust du mir nicht? Warum kämpfst du nicht an
meiner Seite?"
Sie sah in sein zorniges Gesicht und spürte die Kraft, die von ihm ausging. Plötzlich schämte sie
sich ihrer Kleinmut und ihrer Ängste. Rebecca hatte das richtige Gespür gehabt - sie, Maria,
gehörte an die Seite ihres Geliebten.
„Verzeih mir, Claudius", flüsterte sie. „Ich habe gelogen um dich zu schützen. Ich habe dich
verleugnet und bin dabei vor Liebe und Verzweiflung fast gestorben. Aber ab jetzt will ich zu dir
stehen, komme, was da wolle..."
Weiter konnte sie nicht sprechen, denn er hatte sie an sich gerissen und bedeckte ihr Gesicht mit
Küssen.
Als die Sonne im See versank und ein kleines Ruderboot weit hinten eine helle Linie in das dunkle
Wasser zog, saßen die beiden eng aneinandergeschmiegt am Bettrand und flüsterten miteinander.
Claudius würde nach Italien gehen um dort zu malen. sie würden gemeinsam ein Haus in der
Toskana mieten, Maria würde den Haushalt führen und später Wege finden, seine Bilder zu
verkaufen. Gleich morgen Früh wollten sie beide zur Mutter Äbtissin gehen und ihr alles gestehen.
Plötzlich hob Claudius den Kopf.
„Da ist jemand im Flur."
„Es wird Rebecca sein. Lass uns einmal nachfragen, was sie in der Gruft gefunden haben."
„Richtig. Die Geschichte mit der Gruft hatte ich völlig vergessen."
Er öffnete die Tür und prallte zurück. Ein schwarzer Schatten war an ihm vorübergehuscht und
hinter der Tür zum Kreuzgang verschwunden.
„Das ist nicht Rebecca", flüsterte er. .Warte hier auf mich, Maria."
„Um Himmels willen, Claudius! Geh nicht!"
Aber er war dem Schatten schon gefolgt.
*** Es war Dämmerlicht um sie her, weißliche Nebelschwaden stiegen vom Boden auf und hüllten
uralte Grabsteine ein. Wo bin ich?, dachte sie und sah sich suchend um, aber die weiße Frau, der sie
bis hierher gefolgt war, schien sich in Nebel aufgelöst zu haben. Sie stand vor einem Grabstein,
spürte wie heiße Tränen ihre Wange herabrannen und versuchte voller Verzweiflung die Inschrift
zu lesen. Aber immer, wenn sie meinte, einen der Buchstaben entziffert zu haben, strichen
Nebelschwaden vorüber und verwischten die Worte vor ihren Augen.
Dann spürte sie mit einem Mal eine unbestimmte Furcht in sich aufsteigen. Sie war nicht allein an
diesem düsteren Ort, jemand beobachtete sie. Eine Nebelbank trieb vorüber und enthüllte für einen
Moment die Silhouette eines Mannes, in eine schwarze Mönchskutte gehüllt, der bewegungslos
hinter dem Grabstein stand und zu warten schien. Sie erschauerte, als sie versuchte, seine
Gesichtszüge zu erkennen. Anstelle eines Gesichts war da nichts als ein schwarzer Fleck.
„Tom... wo bist du? Tom...", hörte sie ihre eigene Stimme flüstern.
Ein hartes Klopfen war die Antwort. Hohl klang es aus dem Grabstein heraus, als begehre der dort
Eingeschlossene, dass man ihm öffne.
„Rebecca! So mach endlich auf! Rebecca!"
Die dunkle Erscheinung machte einen Schritt auf sie zu, sie versuchte verzweifelt, sich hinter dem
Grabstein zu verstecken, wissend, dass er sie auf jeden Fall finden würde. Wie gelähmt kauerte sie
sich zusammen, schmiegte sich an den kalten Stein, erwartete jeden Augenblick, die Hände des
Monsters im Rücken zu spüren...
Schweißgebadet erwachte Rebecca und setzte sich im Bett auf. Was für ein schrecklicher
Albtraum. Jetzt war sie schon so weit, dass sie der schwarze Mönch bis in ihre Träume verfolgte.
„Rebecca! Wenn du jetzt nicht aufmachst, schlage ich die Tür ein!" „Tom? Bist du das? Warte, ich
mache auf."
Sie zog sie einen Pullover über den Schlafanzug und ging zur Tür, die sie vorsichtshalber
abgeschlossen hatte. Tom, der gestern Abend noch eines der Gästezimmer bezogen hatte, stand
fertig angezogen vor ihr.' Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs Uhr am Morgen.
„Was in aller Welt machst du so früh..."
Er trat in ihr Zimmer und überschaute es mit kurzem Blick, als müsse er sich darüber klar werden,
ob auch alles in Ordnung war.
„Ich konnte nicht schlafen. Lach mich aus, aber mein Instinkt sagt mir, dass hier irgendwas im
Gange ist. Wir sollten sofort mit der Äbtissin reden und sie davon überzeugen, dass hier eine
polizeiliche Untersuchung sinnvoll wäre. Leute, die heimlich in Klöster eindringen, sind meist im
Kopf nicht ganz richtig."
Rebecca nickte und fuhr sich durch das wirre, lange Haar. Sie fühlte sich wie gerädert.
„Warte einen Moment. ich ziehe mich schnell an. Außerdem ist um zehn nach sechs sowieso eine
Andacht, die müssen wir abwarten. Wir können uns Zeit lassen."
Während sie sich im Bad zurecht machte, ging Tom unruhig im Zimmer umher.
„Sag mal, ist dieser Claudius eigentlich ein notorischer Frühaufsteher?"
„Claudius?“, rief sie etwas undeutlich aus dem Bad, da sie sich gerade die Zähne putzte. „Der
kommt nie vor neun aus den Federn."
„Dann scheint er heute eine Ausnahme gemacht zu haben."
Sie erschien in Jeans und Pulli, das lange Haar band sie zu einem Pferdeschwanz zusammen.
„Ist er nicht in seinem Zimmer? Am Ende sind die beiden schon auf und davon."
„Kaum. Seine Sachen sind alle noch da."
„Das ist allerdings merkwürdig", meinte Rebecca betreten. „Hoffentlich machen die beiden keinen Unsinn." Es war noch dunkel draußen, sie gingen langsam durch den stillen Kreuzgang, der nur von eine kleinen Lampe in seiner Mitte beleuchtet wurde. Morgennebel umhüllten den Lichtschein wie eine geheimnisvolle Spukgestalt. „In Punkto Geister und Gespenster kommst du hier ja voll auf deine Kosten", murmelte Tom. Aber Rebecca hörte an seinem Tonfall, dass auch ihm nicht ganz geheuer war. In der Dämmerung fanden sie den Eingang zur Kirche nur mit Mühe und öffneten das hohe Portal, das leise in den Angeln quietschte. Die Kirche lag im Halbdunkel, nur an wenigen Seitenaltären brannten noch kleine Flämmchen, im Hintergrund sah man den schönen, geschnitzten Altar, vor dem zwei Kerzen angezündet worden waren. Die Nonnen, die sich zur Morgenandacht versammelt hatten, saßen nahezu bewegungslos in ihrem Gestühl. Rebecca hatte plötzlich die merkwürdige Assoziation, eine Versammlung von Wachsfiguren vor sich zu haben, die jemand dort zu einem abstrusen Kunstwerk angeordnet hatte. Sie setzte sich neben Tom auf eine der vorderen Bänke. Beide sahen sich vielsagend an: Claudius war nicht da. Man hörte die klare Stimme der Äbtissin. die die Andacht mit einem festgelegten Text einleitete, dann setzte die Orgel ein. Leise erklang das Vorspiel zu einem Choral. Tom spürte. dass Rebecca zusammenzuckte. „Was ist?" „Das ist nicht Maria." „Woher weißt du das? Man sieht ja kaum etwas." Die Person, die die Orgel spielte, saß mit dem Rücken zum Kirchenraum, zusätzlich war sie heute noch von einem hohen Lesepult verdeckt, dass sonst nicht an dieser Stelle stand. „Ich höre es. Maria spielt ganz anders." Auch die Äbtissin hatte den Kopf gehoben und lauschte den ungewohnten Klängen. Rebecca hielt es nicht mehr aus. Leise erhob sie sich und ging auf die Seite, von wo aus man einen besseren Blick auf die Orgelbank hatte. Sie war nur wenige Schritte gegangen, da erkannte sie im schwachen Licht der Notenlampe die Silhouette desjenigen, der da spielte. Spielte ihr die Traumfantasie einen Streich? Einen Augenblick lang war sie wie gelähmt vor Schrecken, dann brach es aus ihr heraus: „Der schwarze Mönch. Der schwarze Mönch sitzt an der Orgel!" Ihr Schrei hatte die Stimmen der Nonnen, die den Choral sangen, zum Schweigen gebracht. Zornig über die Störung erhob sich die Äbtissin, die Nonnen starrten in ungläubiger Furcht zur Orgelbank, von der sich jetzt ein dunkler Schatten löste. Eindeutig war es die Silhouette eines Mannes, in einen schwarzen Umhang gehüllt. Tom war im selben Moment, als Rebeccas Schrei erklang, aufgesprungen und nach vorn zur Orgel gerannt, er kam jedoch zu spät. Die Gestalt war in unheimlicher Schnelligkeit geflüchtet, man hörte ein Geräusch an der Tür zur Gruft. Ein metallisches Klicken. Die Nonnen hatten sich in panischer Angst aneinander geklammert, einige waren in ihren Stühlen sitzen geblieben, unfähig zu jeder Bewegung. Zornig stand die Äbtissin vor dem Altar und versuchte, das Geschehen im Kirchenraum zu erkennen. Sie war die Einzige, die sich nicht von der allgemeinen Panik anstecken ließ. „Wer wagt es, die Andacht zu stören? Verlassen Sie die Kirche! ", rief sie zornbebend. Aber Rebecca ließ sich dieses Mal nicht einschüchtern. „Wo ist Maria? Und wo ist Claudius?", rief sie aufgeregt. „Es treibt sich ein Irrsinniger im Kloster herum. Wer weiß, was heute Nacht geschehen ist!" „Der schwarze Mönch! Wir sind alle verloren!", stöhnte eine der Nonnen. „Maria war nicht in ihrer Zelle. Wir alle haben geglaubt, sie sei schon in der Kirche." „Er hat ein Vorhängeschloss am Gitter angebracht", hörte man Toms tiefe Stimme. „Wir brauchen Werkzeug und vor allem Licht."
„Gott vergebe Ihnen, wenn Sie uns zum Narren halten", stöhnte die Äbtissin. „Agnes, besorge das
Werkzeug. Ich werde das Licht anmachen."
Kurz darauf erhellten die beiden Kronleuchter den großen Kirchenraum und alle Spukgestalten der
Dunkelheit schienen gebannt. Nur die Schatten, die Säulen und Seitenaltäre warfen, glichen
unheimlichen Wesen, die sich vor dem Licht zusammenkauerten und weiterhin Böses planten.
Agnes erschien mit einem perfekt ausgestatteten Werkzeugkasten.
Tom brauchte nur wenige Minuten, um das dicke Vorhängeschloss am Gitter zur Gruft zu
sprengen.
„Gelernt ist eben gelernt", meinte er zufrieden.
„Sagen Sie mir besser nicht, wo Sie das gelernt haben", sagte die Äbtissin. „Aber was Sie dort
unten zu finden gedenken, würde ich schon gern wissen."
„Ich habe eine dunkle Ahnung, Mutter Äbtissin. Bleiben Sie mit Ihren Nonnen besser hier oben, es
könnte dort unten gefährlich werden."
„Das kommt überhaupt nicht in Frage, junger Mann."
Die Nonnen standen voller Angst und Neugier um den Eingang zur Gruft. Jetzt, da die Kirche gut
ausgeleuchtet war, hatten einige sich von ihrem Schrecken erholt, andere zitterten noch am ganzen
Körper und hielten sich aneinander fest.
„Gehen Sie nicht dort hinunter, Mutter Äbtissin. Der schwarze Mönch steigt dort aus seinem Sarg
und zieht sie mit sich fort."
„Lassen Sie uns nicht allein zurück, Mutter Äbtissin."
„Bleiben Sie bei uns, Mutter Äbtissin. Um Christi willen, bleiben Sie hier!"
„Ruhe!", schalt die Äbtissin. „Ich steige mit hinunter. Agnes, du bist in meiner Abwesenheit für
alles verantwortlich."
Die Angesprochene senkte den Kopf zum Zeichen, dass sie den Willen der Äbtissin ausführen
würde, dann sahen die Frauen beklommen zu, wie ihre Führerin Tom und Rebecca in die Gruft
folgte.
„Hier ist niemand. Sie haben sich getäuscht, Rebecca. Wir alle sind von dieser Hysterie
angesteckt."
Die Äbtissin überblickte die Krypta, die ihr wohlbekannt war, und schüttelte den Kopf. Dann sah
sie staunend, wie Tom und Rebecca zielstrebig auf einen der hinteren Steinsärge zugingen und sich
daran zu schaffen machten. Der schwere Deckstein wurde beiseite geschoben, Stufen erschienen.
„Der geheime Ausgang", rief sie verblüfft. „In alten Chroniken wird er mehrfach erwähnt. Nur
haben wir ihn nie finden können."
„Leise", sagte Tom. „Wir steigen jetzt hinunter."
Der Werkzeugkasten hatte auch eine Taschenlampe enthalten, die Tom jetzt gut gebrauchen
konnte. Vorsichtig gingen sie die Stufen hinunter, folgte dem schmalen, düsteren Gang, jeden
Moment gewärtig, einen dunklen Schatten vor sich zu erblicken. Als sie die Stelle erreichten, wo
das Wasserbecken sich befand, erfasste der Lichtstrahl einen Körper, der halb im Wasser lag.
,Um Himmels willen! Claudius!"
Rebecca war die Erste, die den Gefesselten erreichte. Sie zog ihn mit Toms Hilfe aus dem Wasser,
dann leuchtete man ihm ins Gesicht. Er war völlig durchnässt und hatte eine Wunde an der Schläfe,
die stark geblutet hatte. Aber er lebte. Tom zückte ein Taschenmesser und schnitt die Fesseln an
Claudius' Händen und Füßen durch.
„Was ist passiert?"
„Hat mich böse erwischt", stammelte Claudius, der noch nicht ganz klar war. „Da war ein Schatten
im Flur und ich bin hinterher. Irgendwo im Kreuzgang zieht mir einer etwas über den Schädel
dann war nichts mehr. Alles dunkel. Ich wache auf und glaube, ich ertrinke. Denke, ich bin im See,
unter Wasser. Merke, dass ich gefesselt bin. Ich habe herumgestrampelt und gedacht, es ist aus mit
mir."
„Der Dreckskerl hat Sie mit dem Kopf ins Wasserbecken gelegt, als Sie bewusstlos waren. Ihr
Glück, dass Sie rechtzeitig aus der Ohnmacht erwacht sind. Wer war es?"
Claudius setzte sich mühsam auf und betastete seinen Kopf. Er hatte eine starke Schwellung an der
Schläfe, die aufgeplatzt war.
„Wer? Keine Ahnung. Ich habe niemanden zu sehen bekommen."
„Also wieder einmal der schwarze Mönch", meinte Rebecca.
„Der ganz gewiss nicht", entfuhr es der Äbtissin. „Ich fürchte, sie hatten Recht, Rebecca. Ein
Wahnsinniger treibt in diesem Kloster sein Unwesen."
„Wo ist Maria?", rief Claudius plötzlich voller Angst. „Ist sie in Sicherheit?“
„Wir haben keine Ahnung. Sie scheint verschwunden."
Claudius stöhnte auf.
„Oh Gott, dann ist vielleicht schon alles zu spät."
„Rasch!", rief Rebecca, einer plötzlichen Eingebung folgend. „Ich glaube, ich weiß, wo sie ist."
*** Als Claudius verschwunden war, stand Maria einen Augenblick wie erstarrt. Dann trat sie auf den Flur hinaus. Der Kreuzgang lag im Dunkeln, Maria konnte Claudius' eilige Schritte hören, sehen konnte sie ihn nicht. Aber sie lief in die schwarze Finsternis hinein, was auch immer kommen würde, sie wollte an seiner Seite sein. Ein dumpfer Schlag war zu hören, sie blieb stehen, starr vor Angst. Was war geschehen? „Claudius?" Es kam keine Antwort. Verzweiflung ergriff sie. Es musste ihm etwas geschehen sein, sonst hätte er ohne Zweifel geantwortet. Sie drückte sich an die Mauer, spürte die Reliefform einer alten Grabplatte, die hier eingelassen war, und lauschte. Leise Schritte waren zu vernehmen. Oder täuschte sie nur ihr laut klopfendes Herz? Es waren Schritte, die sich ihr näherten. Eine Gestalt löste sich aus dem Dämmerlicht, ein Mensch, der einen dunklen Mantel trug, das Gesicht von einer Kapuze beschattet. Es gab kein Entrinnen, sie klammerte sich an die steinerne Grabplatte, sah starr auf die Erscheinung, die nur noch wenige Schritte entfernt war. „Maria", sagte eine Stimme, die sie zu kennen glaubte. Der Unbekannte stand dicht vor ihr, sein schwarzer Mantel wehte ihr entgegen, zwei Hände legten sich kalt und hart auf ihre Schultern. „Maria. Meine süße Maria", flüsterte das Gespenst. „Jetzt gehörst du nur mir allein." In diesem Augenblick begriff sie alles, und eine mildtätig, Ohnmacht nahm sie in ihre Arme. Als sie die Augen aufschlug, sah sie über sich den Nachthimmel, an dem ein schmaler Mond wie eine kupferne Sichel stand. Nebel stiegen auf und wehten vorüber. Sie lag zwischen alten Mauern, es war kalt und feucht. Ich bin auf dem Turm, dachte sie. Aber wie komme ich hierher? Sie erhob sich, sah über die steinerne Brüstung hinab in die wabernden Nebelmassen, die dem tief unten gelegenen See entstiegen und sie erschauerte. Hier hatte sich die arme Gertrude hinabgestürzt. Claudius! Was war mir Claudius geschehen? Der Umlauf war nur vom schwachen Licht des Mondes erhellt, sie tastete sich voran, jeden Augenblick gewärtig, einem schwarzen Schatten zu begegnen. Endlich fand sie die Tür, die ins Treppenhaus im Inneren des Turmes führte. Sie drückte die Klinke herab und erschrak: Die Tür war verschlossen. Er hatte sie auf den obersten Umlauf des Turmes getragen und dort eingesperrt. Warum? Was erhoffte er sich davon? Sie versuchte sich daran zu erinnern, was geschehen war. Der Schatten vor ihrer Tür, dem Claudius nachgeeilt war. Der dumpfe Schlag im Kreuzgang und dann ihre Begegnung Aug in Auge mit dem Wesen, das als schwarzer Mönch im Kloster umhergeisterte. Er musste den Verstand verloren haben. Maria erinnerte sich jetzt daran, dass Simon mehrfach für längere Zeit in Kliniken gewesen war. Angeblich war es der Rücken, der ihm zu schaffen machte. Sie hatte sich schon immer gewundert, dass man ihm niemals irgendwelche Rückenbeschwerden
ansah. Seine Klinikaufenthalte waren anderer Art gewesen. Simon, der kühle Geschäftsmann, der erfolgreiche Erfinder und gewandte Weltmann hatte eine Seite, die er vor allen anderen Menschen verborgen hielt. Er musste ein gespaltenes Bewusstsein haben. Maria starrte in den Nebel, den der Wind zu ihre herüberwehte und der sie nun einhüllte wie eine Schar zarter milchweißer Geister. Jetzt begriff sie auch, warum sie vor diesem Menschen eine solche Furcht gehabt hatte. Unbewusst hatte sie die Abgründe seines Charakters gespürt und geahnt, dass man sich vor ihm hüten musste. Dass Claudius dieser krankhaften Veranlagung seines Bruders nicht gewachsen sein konnte, weil er nicht im Entferntesten ahnte, wozu sein Bruder fähig war, wenn die Krankheit ihn überkam. Was um Himmels willen hatte er mit Claudius getan? Hatte er ihn erschlagen? Sie lehnte die Stirn an die kalten Steine der Turmwand und versuchte die Tränen der Verzweiflung zurückzuhalten. Es half jetzt niemandem, wenn sie weinte. Sie musste einen Weg finden, aus diesem Turm zu gelangen. Nur so konnte sie Claudius vielleicht noch helfen. Sie rüttelte erneut an der Tür, aber das alte Schloss war tief in die Mauer eingelassen, es hätte vermutlich einer ganzen Armee getrotzt. Sie lief suchend umher, ob nicht ein loser Stein herumlag, mit dem sie das Schloss hätte bearbeiten können. Es war nichts zu finden. Sie versuchte um Hilfe zu rufen, aber sie wusste nur zu gut, dass die Rufe vom Wind davongetragen wurden und unten im Kloster nichts davon zu hören war. Ein Windstoß trieb die Nebelschwaden davon - sie konnte tief unter dem Turm das schwärzliche, schwach glitzernde Wasser des Sees erkennen. Sie schauderte. Aber es war der einzige Weg. Wenn die alte Gertrude den Sprung in den kalten See überlebt hatte, dann musste ihr das auch gelingen. Wenn sie es schaffte, ans Ufer zu schwimmen, konnte sie zur Klosterpforte laufen und dort Alarm schlagen. Langsam trat sie an die niedrige Steinbrüstung und sah hinab. Kalt und feindlich schimmerte das Wasser unter ihr, eine tückische glatte Fläche, die manche Untiefen barg. Sie setzte sich auf die Brüstung und schwang die Beine auf die andere Seite, ließ sie ins Leere baumeln, rutschte immer weiter vor, nur noch wenige Zentimeter, dann würde sie das Übergewicht bekommen und hinabfallen... Plötzlich spürte sie sich von harten Armen umschlungen und zurückgerissen. Sie schrie auf und wehrte sich, aber den eisernen Kräften des Angreifers war nicht zu widerstehen. Er schüttelte sie förmlich, außer sich vor Zorn über diesen Fluchtversuch, und sie stürzte zu Boden. Über ihr stand das Wesen, das das Kloster seit Tagen in Angst und Schrecken gehalten hatte. Der schwarze Mönch. „So nicht, mein Liebling", sagte Simon. „Nicht ohne meine Erlaubnis. Nicht auf eigene Faust." „Simon", rief sie. „Was ist in dich gefahren? Wo ist Claudius?" Er schob die dunkle Kapuze vom Kopf, so dass sie sein Gesicht sehen konnte. Erschrocken starrte sie in die verzerrten Züge des Wahnsinnigen. War das noch Simon? War es nicht eher ein Fantom, das entfernte Ähnlichkeit mit dem Menschen hatte, den sie einmal gekannt hatte. Schaudernd wandte sie sich ab und barg das Gesicht in den Händen. „Du hast Angst vor mir?", flüsterte er heiser. „Das brauchst du nicht. Ich will nur dein Glück, Maria. Unser Glück. Unser großes, gemeinsames Glück." Sie begriff, dass er die Realität längst weit hinter sich gelassen hatte. Er lebte nur noch in seiner eigenen Welt, in der Werte wie Gut und Böse nicht existierten, in der ein Menschenleben keine Bedeutung hatte. „Was hast du mit Claudius gemacht?", stieß sie hervor. „Sehnst du dich so nach ihm? Er ist nicht weit. Er ist sogar im gleichen Element, in das auch wir uns versenken werden, um dort ewiges, gemeinsames Glück zu finden." Sie begriff den Sinn seiner Worte nicht, aber sie hatte verstanden, dass Claudius in höchster Gefahr war. Möglicherweise war es schon zu spät, ihm noch zu helfen. Bittere Verzweiflung erfasste sie, sie hob den Kopf und sah dem Peiniger offen ins Gesicht.
„Wenn du deinem Bruder etwas angetan hast, dann wirst du deine Strafe erhalten. Lass mich jetzt
gehen, ich habe mit dir nichts zu schaffen! "
Sie hörte ihn leise lachen und eine Gänsehaut überlief sie dabei. Das irre Lachen von jemandem,
der jeglichen Bezug zum Leben verloren hat. Das Gelächter eines Wahnsinnigen.
„Gehen willst du? Aber nicht so, wie du denkst, mein Liebling. Vergiss nicht, dass du die große
Liebe meines Lebens bist. Wir gehen gemeinsam, Maria. Du wirst niemals wieder ohne mich sein.
Wir sind für ewig aneinander gebunden."
Sie wollte sich von ihm losreißen, aber er hielt sie mit eisernem Griff. Dann spürte sie, dass sich ein
Strick um ihren Arm legte, der blitzschnell und hart zugeschnürt wurde. Es tat weh und sie schrie
auf.
„Es dauert nicht lange, mein Engel", hörte sie ihn frohlocken, während der Strick sich um ihren
ganzen Körper wand. „Wir werden gemeinsam den letzten Flug antreten, und du wirst an meiner
Brust deinen letzten Atemstoß tun."
Er hatte sie mit einem Strick an sich gebunden, so fest, dass ihre verzweifelten Bemühungen. sich
zu befreien, ohne jegliche Chance waren.
„Ich will nicht sterben! ", schrie sie in die Nacht hinaus. „Lass mich frei, du Teufel!"
Er wollte antworten, aber im selben Moment hörte man ein lautes Krachen im Inneren des Turmes.
Jemand hatte unten die Tür eingeschlagen. Maria wollte schreien, aber seine Hand verschloss ihr
den Mund.
„Es ist zu spät", rief er laut. „Ihr kommt zu spät. Wir fliegen schon in die Ewigkeit hinaus."
Er drängte sie an die Brüstung, wollte sie darüber heben, da hörte sie, wie die Tür aufgerissen
wurde. Simon stürzte zu Boden, eilige Hände befreiten sie von den Stricken.
„Es ist alles gut, Maria", hörte sie Rebeccas Stimme. „Wir sind da, du musst keine Furcht mehr
haben."
Wie durch einen Nebel sah sie zwei Männer miteinander ringen, dicht an der Turmbrüstung hielten
sie sich umfasst, wollten sich gegenseitig in die Tiefe stürzen. Einer schien die Überhand zu
gewinnen, er stieß den anderen von sich, so dass der Gegner gegen die Mauer des Turms prallte.
Doch er stürzte sich von neuem mit unbändiger Wut auf seinen Widersacher, dieser verlor den Halt
und kippte über die steinerne Brüstung kopfüber in die Tiefe.
Man hörte unten den Aufprall des Körpers. Es klang dumpf und schwer. Der Unglückliche war
dicht am Turm herabgestürzt, wo einige große Felsblöcke am Seeufer lagen.
„Maria!"
Sie ging wie im Traum auf Claudius zu und sank in seine Arme. Er lebte, es war der andere, der
jetzt dort unten mit zerschmetterten Gliedern lag.
*** Tante Betty ergriff die Teekanne und goss ihren Freundinnen die dampfende, goldgelbe Flüssigkeit
in die dünnen Porzellantässchen. Im Kamin brannte ein munteres Feuer, während draußen vor dem
Fenster dicke Schneeflocken herabsanken und Tante Bettys Garten wie mit feinem, weißem Flaum
bedeckten.
„Sahne und Zucker stehen hier auf dem Tablett", bemerkte sie und sah dabei ein wenig ungehalten
zur Tür hinüber. Wollte Rebecca sich denn gar nicht von ihrer Arbeit trennen?
„Deine Nichte schreibt wieder einmal an einem Roman, nicht wahr?", bemerkte Emilie von
Hartenstein, während sie Zucker in ihren Tee löffelte.
„Ja, sie ist seit Wochen kaum aus dem Turmzimmer herausgekommen.
Sie schreibt mit solcher Begeisterung, dass ich sie kaum zu stören wage."
„Am Ende über dieses mysteriöse Kloster, in dem sie einem schwarzen Mönch begegnet ist?",
wollte Emilie voller Neugier wissen.
„Ich bitte dich, Emilie", ließ sich die Gräfin Carina van Belleen hören. „Der so genannte schwarze
Mönch hat sich ja doch als ein Wesen aus Fleisch und Blut entpuppt, wie man hörte."
„Soweit ich informiert bin, gibt es den schwarzen Mönch bereits Jahrhunderte lang. Wenn sich ein
ruchloser Gauner und Mörder in die Rolle des unschuldigen Gespenstes begibt, heißt das ja noch
lange nicht, dass dieses Gespenst nicht wirklich existiert. Ich bin todsicher, dass der schwarze
Mönch weiterhin im Kloster erscheinen wird."
„Das glaube ich allerdings auch", fiel Tante Betty ein. „Die Nonnen sind seit langer Zeit an dieses
Gespenst gewöhnt und werden kaum darauf verzichten wollen. Es ist doch einfach spannend, an
dunklen Abenden im Kreuzgang einem schwarzen Mönch zu begegnen. Wo doch in solch einem
Kloster sonst so wenig geschieht..."
Emilie von Hartenstein setzte ihre Teetasse ab und lehnte sich mit vorwurfsvoller Miene in ihrem
Sessel zurück.
„Mir scheint, du nimmst meine Ausführungen nicht so ganz ernst, liebe Betty", beschwerte sie sich.
„Immerhin gilt doch wohl als gesichert, dass besagter Mönch seit Jahrhunderten immer erschien,
wenn dem Kloster ein Unheil drohte. Und das ist jetzt ja wohl der Fall gewesen. Es soll ja jemand
vom Turm gestürzt sein, wie man hörte..."
„Von wem hast du denn solche Geschichten gehört, liebe Emilie?", wollte Tante Betty wissen.
„Oh", sagte Emilie und eine leichte Röte überzog ihre mageren Wangen. „Ich hatte einen lieben
Gast, der sich im Übrigen ganz besonders nach deiner Nichte erkundigt hat."
„Doch nicht etwa Tom?"
„Genau der. Er war auf der Durchreise nach Schottland, wo er irgendeiner aufregenden Sache auf
der Spur ist, und hat bei mir den Tee genommen. "
Tante Betty wollte etwas erwidern, aber in diesem Moment betrat Rebecca das Wohnzimmer. Sie
trug einen warmen Wollpullover und hatte das lange Haar am Hinterkopf zu einem dicken Zopf
geflochten.
„Du schaust aus, als wolltest du gleich hinaus in den Schnee, Rebecca. Ein Spaziergang täte dir gut,
Mädchen. Seit Wochen sitzt du nur noch am Schreibtisch.
Rebecca lächelte über die Besorgnis der Tante und begrüßte Emilie von Hartenstein und Carina van
Bellten, die sie schon seit ihrer Kindheit kannte.
„Keine Sorge, Tante Betty. Ich muss sowieso spätestens übermorgen den Griffel fallen lassen und
auf Reisen gehen."
„Doch nicht etwa nach Schottland?", fiel die Gräfin ein.
„Nach Schottland? Mitten im Winter - oh nein. Ich werde nach Italien reisen."
„Das halte ich für eine gute Idee, Rebecca", meinte Tante Betty und goss der Nichte eine Tasse Tee
ein.
„Italien! ", sagte Emilie von Hartenstein gedehnt. „Ein wundervolles Land. Das Land, wo die
Zitronen blühen. Rom - die ewige Stadt. In einer kleinen Villa unweit von Neapel hat ein
Verwandter von mir eine höchst aufregende Begegnung der übersinnlichen Art gehabt. Habe ich
euch das bereits erzählt?"
„Bitte, liebe Emilie", meinte die Gräfin erheitert. „Ich denke, dass Rebecca momentan genug von
übersinnlichen Erlebnissen hat. Nach allem, was sie durchmachen musste, steht wohl eher eine
Erholung an, oder?"
Rebecca trank den heißen, duftenden Tee in kleinen Schlucken und nickte der Gräfin dabei
freundlich zu.
„Nicht ganz, Gräfin. Ich werde vermutlich viel zu tun haben. Freunde von mir haben sich eine
einsam gelegene Villa gekauft, und nun soll ich ihnen dabei behilflich sein, sie mit den passenden
Möbeln auszustatten."
..Handelt es sich etwa um die beiden netten jungen Leute, die du in dem Kloster kennen gelernt
hast?", wollte Tante Betty wissen.
„Genau. Claudius hat seinen Bruder beerbt und ist nun finanziell in der Lage, sich ganz der Malerei
zu widmen. Sie haben ein wundervolles kleines Anwesen zwischen Florenz und Siena auf dem
Land gekauft und wollen es sich dort gemütlich machen."
„Was für eine wundervolle Idee", meinte die Gräfin. „Handelt es sich um ein historisches
Anwesen?"
„Oh ja", verkündete Rebecca strahlend. „Es gibt dort sogar einen Hausgeist. Giovanni heißt er, glaube ich. Er soll vor einigen Jahrhunderten in diesen Mauern aus Liebeskummerzugrunde gegangen sein und erscheint seitdem allen hübschen Frauen im Schlafzimmer, um ihnen seine traurige Geschichte zu erzählen."
„Dann bist du dort ja genau richtig", bemerkte Tante Betty trocken. „Vergiss nur dein Notebook nicht, damit du gleich mitschreiben kannst."
ENDE
Sie lasen einen Roman mit der Bastei-Zinne.
Wo gute Unterhaltung zu Hause ist.
Sie finden uns auch im Internet: unter http://www.bastei.de. Hier können Sie aktuelle Informationen zu unseren Serien und Reihen abrufen, mit anderen Lesern in Kontakt treten, an Preisausschreiben und Wettbewerben teilnehmen oder in Fan-Shops stöbern. Schauen Sie mal rein - es lohnt sich!
Kalter Hauch der Angst
Rebecca kneift die Augen zusammen, um die Einzelheiten des Geländes besser erkennen zu können. Tatsächlich, durch das Gestrüpp hinter dem Deich schimmert die Fassade eines Hauses hindurch - ist es bewohnt? Entschlossen geht Rebecca darauf zu. Die Flügel eines ehemals prachtvollen Tores stehen offen, überwuchert von Unkraut. Der Pfad dahinter scheint ins Nirgendwo zu führen. Plötzlich hat Rebecca das Gefühl, dass es um sie herum düsterer wird. Als hätte sich eine dunkle Wolke vor die Sonne geschoben - dabei ist der Himmel strahlend blau! Das Anwesen hat etwas Abweisendes, das Böse scheint hier zu lauern. Unsinn!, ruft sich Rebecca zur Ordnung und geht weiter. Doch mit jedem Schritt verstärkt sich das Gefühl, beobachtet zu werden...
Kalter Hauch der Angst heißt der neue Spannungs-Roman von Marisa Parker um Rebecca, eine mutige junge Frau, die das Abenteuer sucht und vor keiner Gefahr zurückschreckt. Niemand wagt sich in die Nähe der verlassenen Villa am Deich. Auf dem alten Gemäuer soll ein Fluch lasten, so erzählt man sich im Dorf. Auch Rebecca spürt das Grauen, das von der Villa ausgeht - aber sie will nicht an einen Spuk glauben. Was sie in dem Schrecken erregenden Haus erlebt, erfahren Sie in Band 10 der neuen Romanserie „Rätselhafte Rebecca" aus dem Bastei Verlag - erhältlich bei Ihrem Zeitschriftenhändler! BASTEI - wo gute Unterhaltung zu Hause ist