Kommt, lernt die Kaiserin des endlosen Traums ken nen! Nunmehr ist nichts mehr, wie es einst schien: Gold wird glänzen...
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Kommt, lernt die Kaiserin des endlosen Traums ken nen! Nunmehr ist nichts mehr, wie es einst schien: Gold wird glänzen, Zeit wird fließen Wenn Ihr die Kaiserin des endlosen Traums kennen lernt! Ah, seht die Schwester der Heiligen Nacht, Deren strah lender Blick Euch blendet: Endloses Licht, Zeitloser Flug Das erwartet Euch bei der Schwester der Heiligen Nacht… Umarmt die Tochter der Verdammten und Geretteten, Die Euch auf jedem Weg erwartet, den Ihr zu beschrei ten wagt: Ihr schreit, Ihr wütet Wie all jene, die versklavt sind Trotzdem liebtet Ihr die Tochter der Verdammten und Geretteten! Seht die Herrin der Mystischen Suche, Die Euch an ihre heilige Brust ziehen möchte: Ost oder West, Letzte Ruhe Findet Ihr bei der Herrin der Mys tischen Suche! Kann das wirklich die Kaiserin des endlosen Traums sein? Kann denn nichts so sein, wie es zu sein scheint? Und dennoch wird das Licht strahlen, Wird die Liebe erblühen Zwischen Euch und der Kaiserin des endlosen Traums – Zwischen Euch und der Kaiserin des endlosen Traums…
Der Schnee hat wieder von der Stadt Besitz ergriffen, die weißen Flocken schweben über Kirchtürmen, über Zinnen und Giebeln, über Gassen, gepflasterten Straßen und breiten lang gestreckten Boulevards. Tagsüber ziehen zerlumpte Gruppen herum wie müde Soldaten und kämp
fen mit Schaufeln und groben Besen darum, diese Welle im Zaum zu halten. Doch schon bei Einbruch der Dunkel heit triumphiert das spöttische Weiß wieder. Unaufhörlich rollen die frostigen Wellen aus der Dunkelheit heran. Die Glockenuhr schlägt. Es ist noch früh, aber wenn sich die Dunkelheit schon am späten Nachmittag herab senkt, ist der Abend bereits fast so finster wie die Nacht. Licht spendet nur ein schmaler, schwacher Mond, und manchmal dringt der Schein einer Lampe durch einen geschlossenen Fensterladen. Es ist die Nacht vor dem Fest des Agonis. Von den stinkenden Hütten des VagaViertels bis zu den eleganten Reihenhäusern in der Neu stadt Agondons, von den Vorstädten, die sich über die Felder von Ollon erstrecken, bis zu den uralten, majestä tischen Gebäuden der Insel liegt die Stadt unter einem schimmernden Schleier. Und doch regt sich hier und da etwas. Auf der Insel fährt eine vornehme vierspännige Kutsche rumpelnd die steile Aon-Straße herunter. Vor der Wrax-Oper, direkt gegenüber dem Koros-Palast, sammeln sich die Adligen für die abendliche Vorstellung. In mehr als einer Gasse taumelt ein Betrunkener und stürzt schließlich zu Boden. Huren warten hoffnungsvoll auf Kunden. Und auf der Promenade, dem Wall, der die alte Stadt wie einen Kra gen umgibt, und dessen Steine ihn vom Fluss trennen, der darunter vorbeiströmt, stolpert eine verhüllte Gestalt frierend durch den Schnee. Es ist eine Frau, und sie trägt ein Kind in den Armen. Während sie sich durch den Schnee kämpft, blickt sie ständig hin und her. Sie dreht sich um, schaut in Rich tung Regentenbrücke und zu der in tiefer Dunkelheit lie genden Neustadt. Dann blickt sie nach vorn in die anders geartete Dunkelheit vor ihr, hinauf zu dem steilen Laby rinth aus Straßen, als wüsste sie nicht mehr, wohin sie eigentlich will. Als eine Patrouille vorbeikommt, bedroh lich mit ihren schweren Stiefeln und den Bärenfellmän teln, verschwindet die Frau wie ein Gespenst in einem Torbogen und zuckt rasch vor dem Lichtstrahl einer schwingenden Laterne zurück. Dann wirft sie einen kur zen Blick auf das warm eingehüllte Kind und eilt weiter. In ihrer Hast verrutscht ihr Kopftuch, und das Mond licht beleuchtet einen Augenblick ihr Gesicht. Ein Beob achter könnte jetzt sehen, dass diese Frau fast noch ein
Mädchen ist, und auf keinen Fall ein gewöhnliches Mäd chen. Ihre Gesichtszüge wirken zwar nicht unbedingt ad lig, aber trotzdem verraten sie ihre gute Abstammung und Vornehmheit. Die junge Frau läuft weiter, so schnell sie kann, und biegt um eine Kurve der Promenade. Aber diese Hast for dert ihren Preis. Schließlich stolpert sie in die Tornische einer hohen Mauer und lehnt sich keuchend dagegen. Flehentlich schaut sie hinauf. In der Nische steht ein Springbrunnen, einer von vielen in Agondon. Man nennt sie Orakel. Auf diesem stehen Lord Agonis und Lady Imagenta über einem breiten marmornen Becken, ver eint, wie sie in dieser Welt niemals vereint waren. Die Statuen sind lebensgroß und schauen über den gefrore nen Fluss hinweg. Während der heißen Jahreszeit läuft das Wasser über ihre nackten Marmorkörper und schimmert grünlich in dem Becken unter ihnen. Jetzt jedoch hängen Eiszapfen von ihnen herunter, und sie sind, wie das Wasser darun ter, von einer glitzernden Eisschicht überzogen. Die junge Frau fällt im Schnee auf die Knie. Sie drückt das Kind noch fester an ihre Brust und murmelt ein Ge bet. Das Mondlicht schneidet scharf durch einen Spalt in den Wolken und beleuchtet diese Szenerie einer verzwei felten Frömmigkeit. Doch jetzt hört die junge Frau Hufgetrappel. Ketten rasseln über die Pflastersteine. Eine Kutsche. Stimmen ertönen. Männerstimmen. Sie rappelt sich auf, und das Kind wimmert. Nervös wiegt sie das Baby und versucht flüsternd, es zu beruhigen. Das Kind schreit, aber ein Windstoß verweht das hohe Klagen. Frischer Schnee klatscht der jungen Frau ins Ge sicht. Sie stürmt weiter und wäre beinahe über ihre Rock säume gestolpert. Hastig dreht sie sich um die eigene Achse und wirbelt dann noch einmal herum. Welchen Weg, sag, welchen Weg? Um die junge Frau herum ist alles dunkel, nur Finsternis und Schnee. Einen Augenblick scheint es fast, als wolle sie zu Boden sinken und darauf warten, dass der Schnee sie mit seiner weißen Decke ein hüllt. Aber plötzlich ist etwas anderes wie aus dem Nichts aufgetaucht. Die junge Frau ringt nach Luft. Sind ihre Gebete erhört worden? Der Wind weht ihr Kopftuch weg,
aber sie achtet nicht darauf. Ihre Miene ist ein einziger Ausdruck des Staunens, während der Schnee auf sie her unterpeitscht. Das Kind zappelt und schreit, aber das Mädchen taumelt wie in Trance auf die geheimnisvolle, strahlende Vision zu, die vor ihr aufgetaucht ist. Es ist eine Frau mit fließenden Gewändern, wie eine der Schwestern der Eingeschlossenen. Nur sind ihre Klei der nicht von nüchternem Schwarz, sondern schimmern stattdessen in allen Farben des Regenbogens. Die Frau, nein, die Lady, streckt ihre Hände aus. Sie wirkt wie eine Verkörperung des Göttlichen, obwohl sie eigenartigerwei se kein Gesicht hat. Denn von der Stelle, wo sich ihr Ge sicht befinden sollte, ergießt sich goldenes, gleißendes Licht. Geheimnisvolle Musik erfüllt die Luft und durchdringt den Wind und den Schnee. Die junge Frau stöhnt und schluchzt. Visionäre Ekstase erfüllt sie und sie denkt nicht mehr an die Kutsche oder die Stimmen der Männer, die sie gehört hat. Für die junge Frau gibt es nur noch die Lady, diese wunderschöne Lady. Doch plötzlich taucht ein Mann auf und tritt auf sie zu. »Was denn, was denn, meine Schöne? Bei dieser Kälte bist du unterwegs?« Die junge Frau hält unwillkürlich den Atem an. Plötzlich ist die Lady verschwunden, und eine andere Gestalt ver sperrt dem Mädchen den Weg. In ihrem Bärenfellmantel wirkt sie wie ein Berg. Das Licht der Lampe dahinter wirkt wie ein orangefarbener Schleier, der von dem wirbelnden Schnee gebrochen wird. Der Mann wirkt dadurch nur um so düsterer, umso geheimnisvoller. Die junge Frau schreit beinahe auf, als er näher tritt und nach dem Kind greift, das sie so fest umklammert. Seine Stimme klingt gehetzt. »Hast du dich verirrt, meine Schöne? Bist du sitzen gelassen worden? Hat man dich hinausgeworfen? Und was haben wir denn da? Ein Kleinkind, und das bei einem solchen Wetter? Ich glaube, ich muss dir helfen. Komm, lass mich dir diese Last ab nehmen.« Vielleicht wollte die junge Frau in diesem Moment schreien oder sich umdrehen und versuchen wegzulaufen, doch plötzlich stürzt sich der Mann auf sie. Verwirrt spürt sie seinen gierigen Kuss.
Im nächsten Moment war es vorbei. Die junge Frau bemerkte, gefangen in dieser gierigen, überraschenden Umarmung, das Messer nicht, das heim tückisch durch ihre Röcke fuhr und ihr den Unterleib auf schlitzte. Vielleicht bemerkte sie vor Schreck nicht einmal den Schmerz und auch nicht, wie ihre glitschigen, damp fenden Innereien wie die Frucht einer Abtreibung aus ih ren Röcken fielen. Ihre Augen weiteten sich, sie stolperte und schwankte. Der Mann pflückte ihr, als habe er es schon viele Male geübt, das Kleinkind aus den Armen. Nur wenige Augenblicke später rumpelte die Kutsche langsam den gepflasterten Berg hinauf. In ihrem Innern sank der Mörder zufrieden in die weichen Polster. Er hielt die behandschuhte Hand über das winzige Gesicht des Kleinkindes, damit es nicht schrie. »Du Narr, du hast das Mädchen getötet, hab ich Recht?« Die gereizte Stimme kam aus der Dunkelheit der Kutsche. Es war die Stimme eines älteren Mannes, eines Mannes, der daran gewöhnt war, Autorität zu zeigen. Gleichzeitig jedoch schien ihm diese Autorität wenig Be friedigung zu geben. »Hättest du sie nicht einfach be wusstlos schlagen können? Die Kälte hätte dann schon den Rest besorgt. Und die Wache würde glauben, dass sie einfach nur betrunken gewesen und im Schnee ohnmäch tig geworden sei.« Er seufzte. »Noch mehr Blut an unse ren Händen, und wofür?« »Sir, ich musste es tun. Dieses Mädchen war merk würdig. Ich bin sicher, dass es uns Ärger gemacht hätte.« »Ärger?« Die Stimme klang ungläubig. »Wie hätte sie uns Ärger machen sollen?« »Sie war verrückt, Sir. Als ich mich ihr genähert habe, hat sie mich wie ein wildes Tier beunruhigt angestarrt…« »Sie hat dich angestarrt? Und deswegen hältst du sie für verrückt?« »Nein, es war, als sehe sie eine Vision. Einen Traum.« »Traum?« Jetzt klang die Stimme angewidert. »Was faselst du da?« »Ihre Augen, Sir, sie verhießen Ärger, Sir, ganz ein deutig Ärger.« Erneut erklang das Seufzen. »Nun, der Schnee wird sie bald zudecken. Vermutlich werden die Wachen sie eine Weile nicht finden. Und wenn, dann werden sie glauben,
dass sie bloß eine Hure war.« Beunruhigt fügte die Stim me hinzu: »Aber das Balg! Du bringst es doch nicht etwa auch gerade um, oder?« Der Mörder zog hastig die Hand weg. »Nein, Sir, natür lich nicht.« Das Kleinkind gab einen gurgelnden, keuchenden Schrei von sich. »Du warst kurz davor, hab ich Recht? Du Narr, wenn dieses hier stirbt, bevor wir es brauchen, bekommen wir wohl kaum noch eine Chance, ein anderes zu finden! Je denfalls nicht heute Nacht! Vergiss nicht, Veeldrop, dass meine Geduld vielleicht unendlich sein mag, aber die von Bruder Tranimel ist es ganz bestimmt nicht.« »Jawohl, Sir! Ja, jawohl, Generalmajor.« Das Kind stieß einen klagenden Schrei aus. »Ach, stopf ihm das Maul!«, rief der alte Mann und hämmerte mit seinem Stock ungeduldig an das Dach der Kutsche. »Beeil dich, Throsh, beeil dich! Willst du etwa, dass ich mich verspäte? Weißt du denn nicht, dass ich bei der Wrax-Oper erwartet werde? In der königlichen Loge?« Der Fahrer ließ seine Peitsche knallen. Aber es ist noch nicht ganz vorbei. Auf der Promenade ist der Leichnam schon halb mit Schnee bedeckt. Vielleicht trägt sich wirklich alles so zu, wie der Generalmajor vorhergesagt hat. Aber da kommt die Regenbogengestalt wieder, streckt geheimnisvoll die Hände aus, und jetzt strahlt der goldene Schein von der Stelle, wo ihr Gesicht sein sollte, mit einer Intensität, die noch größer ist als zuvor. Vielleicht ist es ein Ruf. Eine Aufforderung. Ein Geist erhebt sich aus dem Körper des ermordeten Mädchens und schimmert in der Finsternis wie eine fla
ckernde Flamme. 2. Eine Nacht in der Oper »Nun seht Euch nur dieses Weib an!« Constansia Cham-Charing verdrehte die Augen. Nor malerweise hätte sie sich vielleicht zurückgehalten, doch
in dem allgemeinen Tumult konnte sie ruhig laut ausspre chen, was sie dachte. »Also wirklich, seht sie Euch einfach nur an!« »Das sollte man lieber nicht tun«, erklärte Lady Mar grave. »Es gibt sicher welche, die mehr Charme besitzen«, pflichtete Freddy Chayn ihr bei. »Vor allem einige«, sagte Professor Mercol leise, »von den hier Anwesenden.« Seine Augen funkelten, als er Miss Laetitia Cham-Charing anlächelte. Sie war eine sehr gelehrte junge Lady, die nur mit Engelszungen hatte ü berredet werden können, ihr Buch im Stich zu lassen. Laetitia wirkte verlegen. Aber ihre Mutter ließ sich da von nicht täuschen. Im gesamten Opernhaus waren die Zuhörer beim Eintreffen der Königin aufgestanden. Als das Orchester die aufregende und doch so vertraute Me lodie der königlichen Hymne anstimmte, konnte sich Lady Cham-Charing weitere Bemerkungen nicht verkneifen. Die Loge ihrer Familie lag genau gegenüber der großartigen königlichen Loge. Boshaft ließ sie den Blick über die Zu hörer gleiten, vorbei an den steif dastehenden Gruppen der Wachen in ihren blauen Jacken. »Meine Güte, dieses Geschöpf trägt sogar eine Tiara! Hat sie denn den Respekt vergessen, den sie der Krone schuldet?« Die Lady schnalzte missbilligend mit der Zunge. Doch das Objekt ihrer Aufmerksamkeit war nicht etwa Königin Jelica, sondern die gewaltige, krötenartige, ganz ent schieden nicht königliche Person, die neben ihr thronte und sich fast so benahm, als würde die Hymne ihr zu Eh ren gespielt. Das war einfach ungeheuerlich. Erst vor ei nem Monat hatte Seine Kaiserliche Agonistische Majestät einen Wettbewerb ausgeschrieben, um Mr. Eignars alt ehrwürdiger Melodie einen Text zu verleihen, und ausge rechnet diese fette Frau sollte der Jury präsidieren. Fred dy hatte spöttisch angemerkt, dass der sicherste Weg zu gewinnen wohl der sei, eine Ode zum Lobpreis von Lady Umbecca zu verfassen. Aber was sollte man an ihr preisen? Ihre Fähigkeit zu essen? »Selbstverständlich besitzt sie überhaupt keinen Stil«, fuhr Lady Cham-Charing fort. »Findet Ihr das nicht auch, Freddy? Würdet Ihr mir da nicht ebenfalls beipflichten,
Professor Mercol? Und seht Euch nur dieses Kleid an! Stell dir vor, Tishy, wenn du das Glück gehabt hättest, als Braut Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät auser wählt zu werden! Würde ich dann in der bunten Kleidung eines Harlekins herumstolzieren, während meine Tochter sich mit königlichem Blau bescheidet? Sollte ich nicht viel eher als eine tugendsame Witwe auftreten?« Mit unglaublicher Grazie winkte die Königin – die jun ge, blonde, strahlende, wahrhaftige Verkörperung der »Ejländischen Rose« – wohlwollend dem bewundernden Publikum zu, das den Elementen getrotzt hatte, um heute Abend hierher zu kommen. Donnernder Applaus erfüllte das Theater, in den nur die Wachen nicht mit einstimm ten. »Und wo ist der Ehemann der Königin?«, murmelte Freddy. Einen Augenblick lang war Lady Cham-Charing ver sucht zu unterstellen, dass Seine Kaiserliche Agonistische Majestät hinter dem ungeheuren Körper der fetten Tante seiner Gemahlin verborgen war, was tatsächlich auch so abwegig nicht gewesen wäre. Natürlich war das nur ein Scherz. Da Ihre Majestät die Königin den Thron der Oper besetzte und Lady Umbecca den Stuhl ihres Gemahls malträtierte, war die Lage klar. Es würden hier heute Abend keine weiteren hoch gestell ten Persönlichkeiten erscheinen. Erneut schien Ejlands nicht ganz so rechtmäßiger Monarch verhindert, was ziemlich häufig vorkam. Aber jetzt bemerkte Lady Cham-Charing eine andere Gestalt im Hintergrund der Königlichen Loge. Sie zwinker te und lief rot an. Erlitt sie etwa wieder einen ihrer Anfäl le? In den letzten Monaten waren Constansias früher ein mal so scharfe Augen etwas verwässert. Weder Pülver chen noch Tränke schienen dieses Leiden lindern zu kön nen. Schlimmer noch, ihr Kopf begann zu wackeln, nur ein bisschen, so, als würde sie ständig zittern. Wie sie die Ballsaison mit den zahlreichen kleineren Engagements überstehen sollte, konnte man nur vermuten. Lady Margrave mischte sich ein. »Teuerste Constansia, Ihr habt wie immer Recht. Haben wir nicht schon vor lan ger Zeit die Segnungen der ehelichen Liebe kennen ge lernt? Erscheinen wir nicht voller Freude und Stolz in Schwarz? Auch wenn ich immer noch aufrichtig um mei
nen liebsten, verstorbenen Lord trauere! Aus welchem Grund sollte eine Frau sich herausputzen, wenn nicht, um die Liebe ihres zukünftigen Ehemanns zu gewinnen und ihn dann für die Wahl zu rühmen, die er getroffen hat? Außer natürlich, sie hätte keinerlei Tugend oder Schamgefühl!« Es war eine sehr beeindruckende kleine Rede, und selbst Tishy zeigte Anzeichen einer Reaktion. Wie auch Professor Mercol. Nicht einmal Freddy Chayn ließen diese Worte kalt. Bedauerlicherweise schenkte Constansia ihnen gerade nicht die geringste Aufmerksamkeit. Die Hymne war zu Ende, und eine stürmische Ouvertü re hatte sie abgelöst. Es war ein buntes Kaleidoskop aus beliebten Märschen, Balladen und neuen Liedern, wie es stets in der letzten Nacht der Oper dargebracht wurde. Die Vorfreude im Theater war deutlich zu spüren, aber Constansia hatte nur Augen für ihre Feinde. Umbecca Veeldrop war schon schlimm genug. Aber Eay Fevals Anblick war schlimmer. Viel schlimmer. Noch vor kaum einem Zyklus hatte Lady Constansias Wort im Ohr des Erz-Maximus genügt, um diese indiskrete Kreatur in die fernsten Provinzen zu verbannen. In den Tarn! Viel weiter hätte er nicht gehen können! Aber jetzt hatte diese fette, ordinäre Metze, die Tochter eines – man stelle sich das vor! –, eines Krämers, ihn wieder zurückgeholt! Contansias einziger Trost war, dass Feval trotz seines schleimigen Charakters sicher keine bedeutende Rolle in der Hauptstadt spielen würde. Sollte er doch Domherr irgendeines ordinären Vorstadttempels werden! KantorLektor von Ollon-Quintal! Allerhöchstens! Und so wollte Constansia, die überall Dekadenz vor den Toren sah, den Gerüchten keinen Glauben schenken, dass Feval als Kan didat für das Lektorat des Großen Tempels vorgeschlagen worden war. Er sollte dem verstorbenen Großen Lektor Garvice nachfolgen. Niemals! Absurd! Nicht einmal der Erz-Maximus würde so weit sinken. In der Loge neben der von Constansia ließen einige junge Männer, herausgeputzt in der Uniform eines gerade recht beliebten Regiments, einen Krug mit Bier kreisen. Sie schienen schon ein wenig angetrunken zu sein. Lady Margrave warf ihnen einen ärgerlichen Blick zu. Warum konnten nicht alle Militärs, außer natürlich den
Offizieren der höchsten Ränge, das passive, respektvolle Verhalten der Wachen an den Tag legen? Diese Wacht posten waren über das ganze Theater verteilt und boten ein schönes Bild der Männlichkeit, auch wenn einige von ihnen sicher ziemlich gewöhnlich waren. Diese jungen Männer lachten im Gegensatz dazu ordinär und laut, und einen Augenblick kam Lady Margrave der schreckliche Verdacht, dass sie über Constansia lachten. Oder… vielleicht sogar über sie selbst? Doch nein, das war ausgeschlossen! Selbst in diesem unterentwickelten Alter kannte man doch so etwas wie Respekt. Lady Margrave hob die Stimme. Vielleicht ein bisschen zu sehr. »Wirklich, Constansia«, fuhr sie vernehmlich fort, »wir sind nicht nur vornehme Frauen sondern wir sind Ago nisten, Agonisten, deren Frömmigkeit kein fauler Schwin del ist! Würden wir etwa in der Javander-Jahreszeit unse res Lebens herumstolzieren und gefärbte Strümpfe tra gen? Oder wie alberne Mädchen, die frisch von Mistress Quick kommen, vor dem Koros-Palast aufgereiht darauf warten, unsere Einführung zu begehen?« Sie deutete auf eine Loge gegenüber. Darin saßen stocksteif und weißhaarig Mistress Quick und ihre Ehr furcht gebietende Stellvertreterin, Goody Garvice. Sie waren umgeben von den frischesten Schülerinnen dieser altehrwürdigen Institution, in der, wie sie es ausdrücken würden, ganze Generationen der schönsten Blüten Ej lands in den weiblichen Künsten den letzten Schliff erhiel ten. Die große Erzieherin sah nicht zu ihnen herüber. Trotz dem verstummte Lady Margrave. Nicht so sehr aufgrund ihres unbeabsichtigten Vergleichs der Quickies, wie die Absolventinnen von Mistress Quick hießen, mit den »Da men der Nacht« – nein, sie schwieg wegen der Erinne rung an gewisse Missgeschicke, welche die Einführung der jungen Miss Laetitia begleitet hatte. Die allerdings gar nicht mehr so jung gewesen war!1 Flehentlich drehte sich Lady Margrave zu Freddy Chayn um, der die »Große Cham« – so hatte man die Mutter des Mädchens einst genannt – ebenfalls wegen ihrer tadellosen Vornehmheit lobte. Die arme Constansia ließ sich aber durch nichts besch wichtigen.
»Wirklich«, sagte sie seufzend. »Ich weiß nicht, was aus der Welt werden soll. Habe ich Euch schon erzählt, Elsan, dass ich erst heute Morgen einen Brief von der lie ben Mazy Michan erhalten habe?« Das hatte sie aller dings, und zwar mehrmals. Diese alte Freundin, Mazy Tarfoot, war die Gemahlin des zenzanischen Gouverneurs. »Sie hat mir erschreckende Neuigkeiten mitgeteilt! Erin nert Ihr Euch noch an ihre übellaunige Kusine, die sie in Wrax besucht hat? Die wurde auf dem Heimweg überfal len, und zwar von diesem Bösewicht Bob Scarlet! Sie wurde erschossen! Und tot im Wald gefunden!« Constan sia lief ein Schauer über den Rücken. 1 Das Geheimnis im Spiegel, Band 3 der Reihe »Der Kreis des Orokon«, Kapitel 27 »Und ihre treue alte Dienerin, Baines, ist spurlos ver schwunden. Ach, was ist das nur für eine Welt…« In diesem Stil ging es weiter. In der Loge neben ihnen war das Gekicher mittlerweile zu ungedämpftem Geläch ter angeschwollen. »Oh, sei vorsichtig, bitte!«, flüsterte jemand dringlich. »Komm lieber wieder zurück. Schnell, auf deine Position, auf deine Position!« Die junge Frau ließ den schweren Vorhang wieder an seinen Platz zurücksinken und drehte sich lächelnd zu ihrer Mitspielerin um. »Ich musste einfach einen Blick riskieren, verstehst du das nicht? Nur einen ganz kleinen Blick!« »Dazu hast du noch genug Gelegenheit, wenn der Vor hang sich hebt!« »Wirklich? Aber ich schaffe es ja kaum, mich auf mei ne Tanzschritte zu konzentrieren.« Ihre Mitspielerin verdrehte die Augen, das heißt, sie versuchte es. Sie hatte bereits ihre Eröffnungsposition eingenommen, die Arme graziös über ihren Kopf gehoben und das linke Bein auf die Kulissen gerichtet. Sie konzent rierte sich mit aller Kraft darauf, nicht nachzulassen. Doch jetzt schwankte sie ein bisschen und versuchte, ihr fest gefrorenes, strahlendes Lächeln beizubehalten. »Bist du jetzt bald auf deiner Position?«, stieß sie zwi schen den Zähnen hervor.
»Ich versuche es ja. Ich sage dir, wenn ich nicht gera dewegs auf mein Gesicht falle, wäre es das reinste Wun der. Ich weiß nicht, wann ich mich jemals so albern ge fühlt habe.« »Nicht einmal, als du bei Mistress Quick warst?« »Fast so, aber nicht ganz.« Die beiden jungen Frauen standen mitten in einer Kulisse, die vermutlich das Ar beitszimmer eines Landhauses darstellen sollte. Sie tru gen zottelige Perücken und die schwarzweißen Spitzen uniformen von Dienstmädchen. Jede hielt einen bunten Staubwedel in der Hand. »Jedenfalls entspricht das hier nicht gerade dem, was ich erwartet habe, als ich Bob Scarlets Rebellenbande beigetreten bin.« »Aber wir müssen heute Abend hinter die Bühne ge langen. Und welche bessere Möglichkeit gäbe es dafür als diese hier?« »Hinter die Bühne? Wir stehen mitten auf der Bühne!« Es war schon schwer genug zu glauben, dass sie über haupt so weit gekommen waren. Als Bob Scarlet das ers te Mal den Plan für diesen Abend erörtert hatte, hatten die anderen ihn für verrückt erklärt. Vielleicht war er das auch. Jedenfalls würden sie schon sehr bald erfahren, ob die Planung eines ganzen Monats vergeblich gewesen war. Dieser Abend würde entweder in einem Triumph o der mit einem Fiasko enden. Natürlich gab es noch Plan B. Es gab immer einen Plan B. Aber der, dachte Cata, ist noch schlimmer als Plan A… Die Ouvertüre endete. Dann kam ein Zeichen aus den Kulissen, und Applaus brandete auf. Als der Vorhang sich hob, drehten die beiden jungen Frauen sich auf der Stelle und sprangen dann über die Bühne, wobei sie mit ihren Staubwedeln über die Möbel huschten. Hinter ihnen öffne ten sich Lexion-Fenster auf einen gemalten üppigen Gar ten. In wenigen Augenblicken würde gnädigerweise die strahlende Gestalt von Miss Tilsy Fash durch diese Fenster hereinschreiten. Danach würden dann die männlichen Solisten und zuletzt der Chor aus der Kulisse auf die Büh ne stürmen. Die jungen Frauen strahlten. Wirklich, so schlecht war es doch gar nicht, oder? Sie hüpften und sprangen herum und schwangen ihre Staubwedel im Takt der Musik. Und dazu sangen sie:
Ein Zauberer hexte einen Bann Für die Witwe von Midle xion, Der sie unwiderstehlich machte Für jeden Mann, den sie erblickte! Diese Witwe, schön durch Zauberkraft, Brach mit Genuss Hunderte von Herzen: Sie liebte es, die vornehmen Gent lemen Vor sich auf den Knien kriechen zu sehen! Das war der Beginn von Strossinis beliebtester komischer Oper. Schon bald würde die gefeierte Miss Fash die Um armung ihrer Galane abweisen und einige Strophen des Liedes Eine Witwe bin ich, aber jung noch bin ich zum Besten geben, obwohl die vortragende Diva alles andere als jung war. Danach würde sie in einem überschwängli chen Hofknicks vor der königlichen Loge versinken, und die sattsam bekannte Geschichte würde nicht weiter er zählt werden. Das Arbeitszimmer würde in den Kulissen verschwinden und augenblicklich von einem vollkommen anderen Spektakel ersetzt werden. So hielt man es immer bei der letzten Nacht der Oper. Jedes Jahr zu dieser Zeit waren die drei öffentlichen Thea ter- die Wrax-Oper, die Volleys und das Königliche Thea ter in der Juvy Lane – wegen des Agonis-Festes verpflich tet zu schließen. Aber in der Nacht davor gab die WraxOper, das prächtigste Theater von allen, eine außerge wöhnliche königliche Galavorstellung. Sie war nach ihrem großen Gegenstück in der zenzanischen Hauptstadt be nannt, wo die Opernkunst ihre größte Blüte erlebt hatte. Man versuchte erst gar nicht, ein zusammenhängendes Programm zu erstellen – stattdessen wurde ein willkürli ches Potpourri der beliebtesten Stücke aus Musicals, Dramen und Varietes gegeben, ein Programm, das angeb lich vom Monarchen selbst ausgewählt wurde. Weder die Volleys noch das Theater in der Juvy Lane versuchten damit zu konkurrieren. Außerdem wurden ihnen ohnehin ihre besten Darsteller immer wieder für diese letzte Nacht abgeworben. Die beiden jungen Frauen bauten sich einander gegen über auf, machten große Augen und hielten sich den Zei gefinger an die Wange: Aus Rache an dem starken Geschlecht Suchte die Witwe diesen Bann:
Aber war er wirklich ein Segen?
Seht zu, dann werden wir es Euch zeigen…
Mit wirbelnden Staubwedeln zogen sie sich an die Seite der Bühne zurück, während Miss Tilsy Fash ihren pompö sen Auftritt hinlegte. Getarnt von dem Applaus konnten die beiden jungen Frauen sich unterhalten. »Du hast Recht gehabt – ich habe nicht einmal gewagt aufzublicken. Aber du hast sie doch gesehen, oder nicht? Sie ist da?« »Eine perfekte Zielscheibe. Sie sitzt. Stell dir vor, bei Mistress Quick war sie meine beste Freundin. Landa, aber was ist, wenn sie mich erkennt?« »So wie du zurechtgemacht bist? Cata, sei nicht al bern!« Aber Cata war beunruhigt. Von Anfang an war ihr die ser Plan verrückt vorgekommen. Und jetzt erst begriff sie, wie verrückt er wirklich war. Hier wimmelte es überall von Blauröcken! Wie sollte eine kleine Rebellengruppe von Rotröcken es schaffen, hier und heute Abend die Königin von Ejland zu entführen? Zögernd begab sich Cata zu ihrer nächsten Position auf die Bühne.
3. Wenn ein Mädchen heiratet »Laetitia, legst du dieses Buch jetzt endlich weg?« Mittlerweile hatten Miss Tilsy Fash und der Chor ihren Ausschnitt aus Die Witwe von Midlexion beendet. Eine langweilige Clownnummer stand als Nächstes auf dem Programm. Es waren Pierrot, Hanswurst, Kolombine und ein struppiger Hund, der durch einen Reifen sprang. Kö nigin Jelica fand sie anscheinend höchst unterhaltend. Miss Laetitia Cham-Charing dagegen ganz offensichtlich nicht. Wie es der Gepflogenheit der Zeit entsprach, war der Zuschauerraum in dem Theater während der gesamten Vorstellung erleuchtet. Und es war keineswegs so, dass die Zuhörer aufmerksam den Geschehnissen auf der Büh ne gefolgt wären. Stattdessen wurde die Aufführung von Getratsche, lauten Begrüßungen und der ständigen Be
wegung der Zuschauer untermalt, die vor allem darauf bedacht waren zu promenieren. Die Adligen waren schließlich weit mehr darauf erpicht, selbst zu sehen und gesehen zu werden, als die Schauspieler zu betrachten. Und für die einfachen Kaufleute, die auf Bänken im Or chesterraum saßen, und die niederen Klassen, die sich auf den hohen Galerien drängten, war das Spektakel, das ihre Oberschicht bot, zweifellos genauso erbaulich wie die offizielle Unterhaltung. Natürlich gab es auch weniger gewöhnliche Wege, die Helligkeit im Zuschauerraum zu nutzen. »Laetitia!«, fuhr Cham-Charing ihre Tochter an. Tishy machte sich nicht einmal die Mühe, von ihrem Buch aufzublicken, sondern knurrte nur leise. Die junge Dame hatte sich, wenn auch zögernd, dem Wunsch ihrer Mutter gebeugt, sich aus Anlass des heutigen Abends et was aufwändiger zu kleiden. Statt ihrer üblichen Strümpfe und dem grünen Kleid trug sie ein mit Perlen besetztes Gewand mit Puffärmeln, das zumindest einen kleinen Teil ihrer bemerkenswert weißen Schultern entblößte. Aber warum nur verzichtete das Mädchen nicht auf diese Horn brille? Und musste sie wirklich selbst hier ihre Studien weiterführen? Wie Tishy die Ballsaison überstehen sollte, war allen ein Rätsel. Was blieb einer Mutter anderes als blanke Ver zweiflung? Vor allem, wenn sie an den morgigen Tag dachte! Der sollte nämlich mit dem Gottesdienst im Gro ßen Tempel beginnen, der als die Inauguration des Agonis bekannt war. Obwohl die Feier sehr früh stattfand, würde sie möglichst niemand versäumen wollen. Wohl nicht zu letzt deshalb, weil der Erz-Maximus endlich verkünden würde, wer zum neuen Großen Lektor berufen worden war. Lady Cham-Charing war felsenfest davon überzeugt, dass der Domherr Floce der Glückliche sein würde. Am Abend fand dann der noch wichtigere Maskenball im Koros-Palast statt. Dieser so genannte »Vogelball« war der letzte große offizielle Ball, bevor das Jahr 999d – das vorletzte des gegenwärtigen Zyklus – und, wie einige be haupteten, auch die Zeit des Sühneopfers mit den fünf einsamen Tagen endete, die als die Meditationen2 be kannt waren. Natürlich warteten noch viele zusätzliche Aufgaben während dieser so genannten Gott-Tage auf den Adel, die ihnen bei ihren frommen Gedanken helfen
sollten. Constansia sagte stets, dass keine andere Zeit nach der Varby-Saison wichtiger für die Heiratsaussichten eines Mädchens wäre als diese. Wie viele unverheiratete Töchter brannten förmlich vor Erwartung, selbst in diesem Augenblick? Tishy jedoch las unerbittlich weiter und ver darb sich die Augen bei der Lektüre einer nutzlosen toten Sprache! Lady Cham-Charings von Leberflecken übersäte Hand schwebte einen Moment über dem Grammatikbuch. Wür de sie es tatsächlich wagen, das Buch zu ergreifen und es verächtlich nach unten ins Parkett zu schleudern? »Mutter, bitte, ich dekliniere Verben!« »Verben? Was soll ein Mann wohl mit einer Frau an fangen, die nur Verben kennt?« Lady Cham-Charing senk te die Stimme. »Tishy, begreifst du denn nicht, dass dich Junggesellen beobachten, jetzt, in diesem Moment? Ich kann sogar sehen, dass verschiedene gut aussehende Burschen in deine Richtung starren. Sie sind offenbar von deiner Schönheit fasziniert! Ja, auch der junge Baron« 2 Vgl. »Anhang: Die Zeit im Orokon«. Band 2 der Reihe »Der Kreis des Orokon« »Aldermyle! Siehst du ihn, da drüben? Er beugt sich ge rade zu Reny Bolbarr hinüber. Ich bin ganz sicher, dass er hergesehen hat. Also bitte, nimm die Hornbrille ab und leg das Buch weg. Professor Mercol, wollen Sie es ihr nicht sagen?« Der Professor lächelte nervös. Er wusste um seine un sichere Position im Kreis der Cham-Charing. Einerseits war er als Tishys Tutor engagiert worden, andererseits erwartete offenbar niemand außer dem Mädchen selbst, dass er seine Pflichten ernst nahm. Welchen Sinn machte es schließlich auch, eine junge Dame in den alten Spra chen zu unterrichten? Konnte sie vielleicht die Universität besuchen? Oder gar in dem erlernten Beruf arbeiten? Pah! Was also konnten diese Studien anderes bewirken, als dass sie sich ihre entzückenden Augen verdarb? Lady Cham-Charing hatte versucht, durch die Anstel lung von Professor Mercol ihre Tochter als Heuchlerin zu entlarven. Denn es mochte ja vielleicht noch angehen, müßig über Büchern zu hocken, aber ein einfaches Mäd chen würde es sicher bald leid sein, ein strenges klassi
sches Lernprogramm zu ertragen. Auch darin waren sich alle einig – alle außer Tishy. Denn das Mädchen studierte stattdessen die alten Sprachen mit einem Eifer und mit einer Fähigkeit, die Mercol nur bei sehr wenigen seiner jungen Gentlemen an der Universität erlebt hatte. Constansia war außer sich vor Wut. Mehr als einmal hatte die aufgebrachte Mutter beschlossen, die Stunden wieder abzusetzen, aber der Professor hatte sie immer wieder überredet, weitermachen zu dürfen. Welchen Ge winn brachte es schon, so argumentierte er, das Mädchen noch widerspenstiger zu machen? Natürlich hegte er insgeheim seine höchst eigenen Moti ve. Ein- oder zweimal während ihrer Unterrichtstunden hatte Tishy sogar ihre Brille abgenommen. Dabei war dem Professor – der allmählich zu der Überzeugung ge langt war, dass doch einiges für die Bildung von Frauen sprach – aufgefallen, dass Tishy keineswegs so schlicht und farblos war, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mochte. Im Gegenteil. Sie schien sogar das genaue Ab bild der jugendlichen Constansia zu sein. Und wenn auch die große Cham-Charing keinen tiefe ren Gedanken mehr an den jungen Phineas Mercol ver schwendete, konnte sich Phineas Mercol doch nur allzu gut an die junge Constansia erinnern. Wie hatte er sich nach ihr verzehrt, als er noch jünger gewesen war! Der alte Gelehrte räusperte sich und tastete unwillkür lich nach der eleganten Perücke, die er in Miss Laetitias Gegenwart zu tragen pflegte. Er achtete sehr darauf, sei nen haarlosen und etwas dicken Schädel vor ihr zu ver bergen. Doch jetzt steckte er in einem Dilemma: Sollte er für Tishy Partei ergreifen oder für Lady Cham-Charing? »Es ist – ehm – der Anfang der Weisheit«, bemerkte er, »zu erkennen, dass es eine Zeit und einen Ort für al les gibt. Dennoch, ist es nicht so, dass der Verstand sei nen eigenen Regeln folgt?« Sowohl die Mutter als auch die Tochter warfen dem Professor einen dankbaren Blick zu. Doch dann runzelten beide gleichzeitig die Stirn, weil sie nicht sicher waren, ob sie ihn missverstanden hatten. Verlegen wollte der ge lehrte Gentleman seine Bemerkung korrigieren, aber in diesem Moment wandte sich Lady Cham-Charings Auf merksamkeit wieder Baron Aldermyle zu, der sich gerade
zu den jungen Männern in der benachbarten Loge gesell te. Erneut wurde Kichern laut, und der Bierkrug wurde eifrig herumgereicht. Lady Cham-Charing jedoch achtete nicht darauf und neigte grüßend den Kopf. »Herr Baron, ihr kennt natürlich…«, sie machte eine großzügige Handbewegung, als wollte sie ihn einladen, in ihre Loge zu springen, »… meine Tochter Laetitia.« Der Baron strahlte. War er nicht wirklich gut aussehend? Sicher, seine Freunde waren ein kleines bisschen ungezo gen, und die Leute tuschelten hinter vorgehaltener Hand über ihn. Aber ganz bestimmt würde die Liebe einer tu gendhaften Frau ihn schon bald zähmen. Vielleicht würde er ja sogar mit Tishy auf dem Ball tanzen. Das Lächeln der Lady vertiefte sich, ebenso das des Gentlemans. Tishy versteckte derweil ihr Gesicht hinter dem Grammatikbuch. »Also wirklich! Diese Mädchen und ihre Liebesgeschich ten!«, rief ihre Mutter. »Ihr müsst wissen, dass Laetitia vollkommen aufgelöst ist. Wie jede jüngere Frau denkt sie natürlich nur an Bälle, Bälle, Bälle! Allerdings hatte ich auch nichts weiter als Flausen im Kopf, als ich noch so ein junges Ding war!« Sie wurde plötzlich ernst, beinahe ehr erbietig. »Aber wie ich meiner Tishy immer wieder ein schärfe, müssen solche Träume sehr bald enden. Ich meine natürlich, wenn ein Mädchen heiratet.« »Allerdings, sehr bald«, murmelte Freddy Chayn. Er war den Verkupplungsversuchen von Lady Cham-Charing nur entgangen, weil das Fürstentum, das er erben würde, anerkanntermaßen vollkommen bedeutungslos war. Ver bittert schoss ihm durch den Kopf, dass die Aldermyles die Herren über verschiedene reiche Landstriche des In neren waren. »Wie drückte Herr Coppergate es aus?«, fuhr Lady Cham-Charing fort, unterbrach sich dann jedoch, weil sie das Zitat vergessen hatte. Sie hätte den Professor fragen können, wollte es aber nicht riskieren, die Aufmerksam keit des Barons zu verlieren. »Na, wie auch immer, es war auf jeden Fall ein kluger Satz. Und er hatte etwas mit den Träumen eines Mädchens zu tun. Es ging darum, was aus ihm wird, wenn es heiratet. Und wirklich, welche Verwendung hätte es dann noch für Träume?« »Wahrscheinlich sogar mehr Verwendung als zuvor«, merkte der Prinz von Chayn an, der sich sehr wohl an das
Zitat erinnerte. Er hätte vielleicht noch weitere ironische Seitenhiebe von sich gegeben, wenn Lady Margrave ihm nicht ihren Ellbogen in die Rippen gerammt hätte. Das Lächeln des Barons war mittlerweile zu einem Grin sen geworden. Er beugte sich vor, und auch wenn er sei ne Worte nur an die Lady richtete, klangen sie doch deut lich genug, dass auch ihre Gefährten sie verstehen konn ten – und seine ebenfalls. »Liebesgeschichten?«, erkundigte er sich. »Sagt, Lady Cham-Charing, wart Ihr nicht eine eifrige Leserin von Mr. Beiford Slipslop?« Die Lady erbleichte. Die Werke von Mr. Slipslop, einem Autor ohne jede Bildung, waren die be vorzugte Lektüre von Küchenmädchen. Und sie wurden häufig als ein starkes Argument gegen die literarische Bildung der unteren Stände ins Feld geführt. »Oder von Fanny O?« Diesmal errötete die Lady: Madam O, eine zenzanische Kurtisane, war die Autorin von Memoiren, die zu lesen vollkommen unschicklich war. Außerdem war ihr Werk schon längst in die Kammer der verbotenen Texte überführt worden. »Aber vielleicht bevorzugt Ihr ja die hoch geschätzte Miss R…?« Nach einem kurzen Seitenblick zur königlichen Loge drehte sich der Baron wieder zu seinen Gefährten zurück. Die lachten schallend, und einer von ihnen reichte ihm den Bierkrug. Alle applaudierten, als er ihn in einem Zug leerte. Andere Zuschauer verrenkten die Köpfe, und Ap plaus brandete im Theater auf. Kein Wunder: Alex Alder myle war schließlich beinahe so etwas wie ein Star… Professor Mercol wirkte verwirrt, Tishy verkroch sich hinter ihrem Buch, und Freddy starrte wie gebannt auf sein Programm, während er hoffte, dass die Ehre es nicht von ihm verlangte, Baron Aldermyle zum Duell herauszu fordern. Constansia war schließlich nur eine entfernte Kusine, eine weit entfernte zudem. Und darüber hinaus hatte der Baron doch gerade erst im vergangenen Theron-Jahr den jungen Lord Lensky erschossen. Elsan Margrave bebte vor Verachtung. Waren ihre Ge fährten denn durch die Bank Feiglinge? Aber sie würde Alex Aldermyle nicht mit einer Entgegnung adeln, sie ganz bestimmt nicht! Mit einer großen Geste deutete sie auf die Bühne, wo die langweilige Clownnummer anschei nend dem ersehnten Ende entgegenging.
Erinnerte sich Constansia noch an letztes Jahr?, fragte sie sich. Hatte Mr. Credulon mit der Darbietung seiner Schlachtszene aus Kriege des Unergründlichen nicht einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen? Und dieses Jahr wür de er die Sturm-Arie aus dem Fliegenden Zenzaner zum Besten geben. Und war es nicht auch gelungen, Ripander, den letzten der gefeierten Kastraten von Wrax, vom Al tenteil herunterzulocken? Und was war mit den Fliegen den Mentinis? Konnte es ein größeres Vergnügen geben, als ihnen beim Fliegen zuzusehen? »Wirklich, Laetitia, du wirst dein Buch wegwerfen, wenn du die Fliegenden Men tinis siehst!«, dröhnte Lady Margrave. »Habe ich nicht Recht, Constansia?« Doch es war vergeblich. Lady Cham-Charing ließ sich nicht ablenken. Sie war gedemütigt worden. Und welche Schmach war schlimmer? Die Andeutung, dass die Ge schichte von Fanny O ein Buch war, das sie wirklich hätte lesen sollen? Oder die herzlose Anspielung des Barons auf Miss R…? Constansia hatte oft die Gerüchte gehört, dass die Tante von Königin Jelica die geheimnisvolle Autorin wäre, die sie in ihrer Jugend so gern gelesen hatte. Aber das war einfach unmöglich. Diese fette, stillose alte Schlampe? Dennoch wusste Constansia sehr gut, warum der Baron auf die königliche Loge und die bunt gekleidete, massige Gestalt gedeutet hatte, die neben der Königin saß. Die arme Constansia! Wie tief war sie gesunken! Tränen liefen über ihre Wangen, und ihr Kopf wackelte noch bedenklicher als zuvor. Sie sollte wirklich einmal Agondons berühmteste Gastgeberin gewesen sein? In ihren ruhmreichen Tagen hätte jemand wie Alex Aldermy le es niemals gewagt, sie zu beleidigen. Im Gegenteil! Dieser Säufer hätte sie auf Knien angefleht, Tishy heira ten zu dürfen! Damals wurde eine Einladung zu einer Ge sellschaft im Hause Cham-Charing höher gehandelt als eine Unze Gold, und die Hausherrin hatte – darin herrsch te breite Übereinstimmung – beinahe wie eine zweite Königin in Agondon regiert. Wie hatte sie diese Stellung verloren? Wie hatte all das nur geschehen können? Natürlich wurde diese Frage nicht wirklich ernstlich ge stellt. Lady Cham-Charings Stern war schon lange im Sinken begriffen. Bereits vor mehreren Zyklen hatte Lady
Venturons Salon den ersten Schatten geworfen. Und hat ten dann nicht Baroness Bolbarr und ihr Zirkel mit der ganzen Grausamkeit der Jugend Constansias Herabsinken in die Finsternis des Vergessens beschleunigt? ChamCharing-Haus, dieser weitläufige alte Palazzo am Rande der Insel, musste neben den neuen Anwesen der Ventu rons, Bolbarrs und Aldermyles, die sich imposant auf der anderen Seite des Flusses erhoben, einfach schäbig wir ken. Doch wenn Constansias Fall auch viele Gründe hatte, die große alte Dame dachte nur an den einen, den letz ten, den entscheidenden. Angewidert richtete sich ihr trä nenverschleierter Blick auf die königliche Loge. Es wurde immer schlimmer! Jetzt war auch noch – ver spätet, natürlich – dieser aufgeblasene Trottel, General major Heva-Harion, zum Kreis der Königin gestoßen. Also wirklich, duldete man denn jetzt jeden Unrat in der könig liche Loge? Seit dem Verschwinden von Constansias altem Freund, Mathanias Empster, war Mander Heva-Harion im Kreis der Überlegenen zu unverdienter Prominenz aufge stiegen. Wer war er denn anderes als bloß ein jüngerer Sohn? Außerdem hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, übelste Verleumdungen über den armen Lord Empster zu verbreiten. Und natürlich über Constansia. Sie blinzelte die Tränen fort und bemühte sich vergeblich, ihren wackelnden Kopf ruhig zu halten. Na gut, sie war alt, sie war eine Witwe, ihre ruhmreichen Tage waren vorbei. Aber trug sie nicht immer noch den vornehmen Namen der Cham-Charings? Wenn die Umbecca Veel drops, die Eay Fevals, die Heva-Harions triumphierten, was sollte dann werden? Nun, es war das Ende der vor nehmen Gesellschaft von Ejland! Irgendwie musste Con stansia gegen sie ankämpfen. Und irgendwie – wenn sie auch noch nicht wusste, wie – würde sie Rache nehmen. Endlich war die langweilige Clownnummer zu Ende, und Ripander, der gefeierte Kastrat, betrat die Bühne. Die merkwürdig hohe Stimme des gebrechlichen, ältlichen Eunuchen brachte selbst die rücksichtslosesten Zuhörer zum Schweigen. Sogar Alex Aldermyle war fasziniert, doch Lady Cham-Charing hörte kaum zu. Sie dachte nur an Rache, Rache.
4. Tavernenszene Ein Stück entfernt von der Wrax-Oper, weiter unten an den sanft abfallenden Hängen der Insel, befindet sich ein berühmter Platz, die Redondo-Gärten. Sie sind nach der vornehmen Familie aus Tiralon benannt, die dort einmal ein Haus bewohnte. Damals gab es auf diesem Platz tat sächlich noch Gärten, eine üppige Oase mitten in der Stadt, die von einer hohen Mauer umgeben war. Diese Mauer ist verschwunden, ebenso wie die Gärten. Das ein zig Grüne, was es hier jetzt noch gibt, sind Spinat, Salat, Sellerie und Artischocken, und die einzigen Blüten stam men von Schnittblumen und werden in Sträußen zum Verkauf angeboten. Die Redondo-Gärten sind Agondons größter Gemüsemarkt. Die vornehmen Häuser sind schon lange verfallen und dienen mittlerweile weit weniger vornehmen Zwecken. In der Nacht sind diese Gärten ein Synonym für Sünde. Aber das ist nicht ganz gerecht. Auch wenn man hier Huren findet und dubiose Händler in dunklen Torwegen verbotene Getränke und Pulver verkaufen, gibt es doch noch eine hübsche Kapelle hier, ein Krankenhaus für sieche Adlige und eine Taverne, die alles andere als anrüchig ist. Das elabethanische Fachwerkhaus liegt zwischen dem Blüten tauweg und der baufälligen Behausung eines Geldverlei hers. Das Tavernenschild zeigt eine orangerote Katze mit einer Krone auf dem Kopf. Woher es stammt, weiß nie mand mehr. Aber bei denen, die im Gartenviertel leben, ist die Katze & Krone als hervorragende Gastwirtschaft berühmt. Und wie laufen die Geschäfte hier in der letzten Nacht der Oper? Man sollte meinen, nicht besonders gut. Aber die Oper ist nicht für alle interessant, und in dieser Nacht sind in der Katze & Krone einige Fässchen aus dem Keller her aufgeschleppt und zahlreiche Scheiben vom Spießbraten abgeschnitten worden. Feuer flackern in den großen, alten Kaminen, Toasts werden ausgebracht, Witze gerissen, fröhliche Lieder angestimmt, und in dem zweitbesten Schankraum, gegenüber einem Tisch mit jungen, lärmen den Raufbolden, hat ein Blaurock in der verschlissenen Uniform eines Sergeanten ein ganz bestimmtes Schank
mädchen auf seine Knie gezogen. »Ach, Baines, es hat viele Mädchen in meinem Leben gegeben.« Die Stimme des Sergeanten klingt schon etwas undeutlich. »Na ja, ich nehme an, das ist ganz natürlich. Schließlich bin ich ein Mann mit allem Drum und Dran. Und ich bin ganz schön herumgekommen, seit ich ein Junge war. Ich war überall in diesem Königreich – Bauer oben in Harion, Walfänger vor der Küste von Varl, Wildhü ter in Vantage und Wilderer in Chayn. Ich war sogar Be diensteter im größten Haus von Agondon, in dem von Lady Cham-Charing. Und ich bin auch zum Vergnügen Seiner Majestät verhaftet worden, aber man kann wohl sagen, dass ich wieder auf die Füße gefallen bin, meinst du nicht? Immerhin habe ich es bis zu den Blauen von Irion gebracht.« Er polierte nicht ohne Stolz sein Regimentsabzeichen. »Willst du damit sagen, dass du viele Damen kennen ge lernt hast?« Baines führte den Sergeanten unauffällig wieder zum eigentlichen Thema zurück. Die Geschichten über seine Wanderungen kannte sie schon ziemlich gut, aber über Liebesangelegenheiten hatte er nur selten ge sprochen. »Damen?« Er bleckte eine Reihe von braunen Zahn stummeln. »Andere würden ein anderes Wort benutzen.« Baines zuckte zusammen. Es war nicht klar, ob sie die se Anspielung verstand. Sie war eine tugendhafte Frau, aber als Sergeant Floss sie angesprochen hatte, hatte sie nicht widerstehen können. Jetzt drückte er seinen Kopf an ihren Busen, Rauch aus seiner Tonpfeife stieg ihr in die Nase, und als die Raufbolde am Nebentisch auf die Schönheit irgendwelcher jungen Damen anstießen, konn te sich Baines beinahe einreden, der Toast gelte ihr. Wa rum auch nicht? In der rauchgeschwängerten Luft der Taverne schimmerten die Lampen und verliehen selbst den Zügen einer Kellnerin, die nicht mehr die Allerjüngste war, ein graues Gesicht und nur ein Auge hatte, einen Anflug von Schönheit. »Mit diesen beiden Augen, Baines«, fuhr der Sergeant fort, »habe ich Mädchen in Zenzau und Tiralos gesehen, im Tarn und in den Ländern von Lexion. Es gab sogar eine Witwe in Midlexion… ich scheue nicht zuzugeben, Baines… die war wirklich etwas Besonderes.« Er trank gierig einen Schluck Bier. Ein Schnurrbart aus
Schaum blieb an seiner Oberlippe hängen und wackelte grotesk hin und her. Baines überlegte, ob sie ihn wegwi schen sollte… oder vielleicht sogar ablecken? »Aber du sollst deswegen nicht glauben, ich wäre einer von der schnellen Sorte, mein Schätzchen. Nicht der alte Carney Floss. Sicher, es gab da so einiges, was ich bereut habe, schließlich bin ich ein Mann mit allem Drum und Dran. Ich meine, als ich jünger war. Kann ich etwas da für, wenn meine beiden Augen ab und zu einem Mädel zuzwinkern?« Er zwinkerte und der Schaum wackelte auf und ab. »Wie gesagt, ich habe viele Mädchen kennen gelernt. Aber glaubst du wirklich, dass ich jemals eine gesehen hätte wie diejenige hier in der Taverne?« Baines Herz tat ein paar aufgeregte Schläge. Ob sie es vielleicht doch wagen sollte, ihm den Schaum einfach wegzulecken? Als könnte er ihre Gedanken lesen, schüttelte der Ser geant den Kopf. Der Schaum flog davon, und den Rest wischte er weg. »Ja, Schätzchen, es gibt viele Mädchen, die ich gern geheiratet hätte. Das ist nicht das erste Mal und wird auch nicht das letzte Mal sein. Das ist die Geschichte meines Lebens, Baines. Zu spät, ich komme immer zu spät. Liebe Nirry! Liebe, liebe Nirry!« »Nirry? Nirry}« Baines war verwirrt, doch bevor sie etwas sagen konnte, drang eine Stimme durch den Dunst. Und diese Stimme rief ganz unmissverständlich ihren Namen. »Ach, diese himmlischen Töne!«, sagte der Sergeant und seufzte. Baines errötete, rutschte von seinem Knie herunter und nahm rasch den Bierkrug und den Teller an sich. Pflichtbewusst nickte sie ihrer Herrin zu. »Was fällt dir eigentlich ein?« Die Herrin hatte die Ar me in die Hüften gestemmt und war weit davon entfernt, sich von Baines’ unterwürfiger Geste beruhigen zu lassen. »Im vorderen Schankraum warten die Kunden, im kleinen Raum sind Kunden, und oben auch. Ganz zu schweigen von diesem Haufen…«, sie deutete auf die Raufbolde, »… die vermutlich jeden Augenblick mehr Bier wollen.« Die jungen Trinker grölten zustimmend. Ihre Toasts auf diese oder jene junge Lady waren in den letzten Minu
ten immer derber geworden. »Außerdem reicht das jetzt allmählich.« Ernst reckte Nirry Olch einen Finger in die Luft. »Das hier ist eine re spektierliche Taverne, keine von euren üblichen Ka schemmen. Hier wird weder geflucht noch gespuckt noch Dreck gemacht. Und es werden auch keine unzüchtigen Lieder gesungen. Ich weiß genau, wie ihr Männer seid. Das ist die Hausordnung in der Katze & Krone, und wenn sie euch nicht gefällt, dann macht euch davon. Verstan den? Und seid gefälligst etwas leiser. Oben im besten Zimmer haben wir vornehme Gäste… So, Baines, schenk ihnen die Krüge voll und vergiss nicht, es auf der Tafel anzukreiden.« Die jungen Raufbolde wirkten etwas verlegen. Nirry drehte sich auf dem Absatz um und durchbohrte Carney Floss mit einem scharfen Blick. Irrte sich der Sergeant, oder funkelten ihre Augen übermütig? Sie senkte die Stimme und schlug ihm mit der Hand auf die Schulter. »Du solltest dich schämen! Du Schwere nöter! Glaubst du, ich hätte nicht gesehen, wie du Baines schöne Augen machst? Ich sage dir eines: Ich lasse nicht zu, dass du sie auf den Arm nimmst. Weißt du denn nicht, dass sie nur ein Auge hat?« »Ich kenne ein Mädchen, das zwei hat. Und was für entzückende Augen!« Nirry seufzte. Wie oft hatten sie das schon durchexer ziert? Der Sergeant lächelte und versuchte, ihre Hände zu ergreifen. Sie versetzte ihm noch einen Klaps, diesmal etwas nachdrücklicher. »Carney Floss! Hast du vergessen, dass ich eine ehrbare, verheiratete Frau bin?« »Nirry, liebste Nirry…« »Für dich bin ich Goody Olch, und das kannst du dir in deine Pfeife stecken und rauchen. Mach nur so weiter, dann musst du meinem Zappelphilipp Rede und Antwort stehen.« Diese Aussicht schien den Sergeanten allerdings nicht allzu sehr zu beunruhigen. Er lehnte sich zurück, und sei ne Augen funkelten. »Und wo ist mein Freund mit den großen Ohren heute Abend? Ich dachte schon, dass er einfach weggelaufen wäre und dich sitzen gelassen hätte. Habe ich dich nicht vor den Kerls vom Fünften gewarnt?« »Ach, du! Hör auf, sein Regiment schlecht zu machen. Mein Zappelphilipp ist so stolz darauf, auch wenn ich ab
solut nicht verstehen kann, warum. Wenn ich ihn nicht freigekauft hätte, wäre er schon längst tot. Und das hat ein ganz schön großes Loch in meine Ersparnisse geris sen. Aber selbst wenn ich zehnmal mehr hätte bezahlen müssen, wäre es mir das wert gewesen, um meinen Zap pelphilipp freizubekommen.« Ihre Augen wurden feucht. »Wie ich immer sage, Carney, was will ich mit einem Beu tel voll Gold, wenn ich meinen Zappelphilipp tot daliegen sehe?« »Ich diene immer noch in meinem Regiment«, erwider te der Sergeant, »und bin alles andere als tot.« »Bei den Blauen von Irion!«, erwiderte Nirry verächt lich und blinzelte ihre Tränen weg. »Ich würde gern mal wissen, wann du jemals gegen irgendjemanden gekämpft hast. Du hockst die ganze Zeit herum, nuckelst an deiner Tonpfeife und bringst jeden Abend mein ehrbares kleines Etablissement durcheinander. Wenn du mich fragst, ist das ein ziemlich faules Leben. Die Blauen von Irion, also wirklich!« Nirry drehte sich auf dem Absatz um, aber der Serge ant rief hinter ihr her: »Und wo ist Goodman Olch, hm?« »Er bedient die vornehmen Gäste oben, das macht er.« »Vornehme Gäste, hier? In der letzten Nacht der O per?« »Du brauchst gar nicht so überrascht zu tun. Schließ lich passen nicht alle Adligen in dieses Opernhaus, nicht wahr? Und die, die nicht mehr reinpassen, wissen genau, wohin sie gehen können. Wir haben schon viele vornehme Leute hier gehabt, Carney Floss. Du brauchst nicht über rascht zu sein, wenn du eines Tages vorbeikommst und wir solche Schwerenöter wie dich nicht mehr hereinlas sen.« »Bist du sicher, dass du mich nicht hereinlässt, Schätz chen? Nur einmal?« Aber Nirry war – vermutlich zum Glück für Sergeant Floss – bereits davongerauscht. »Carney, ach, Carney!« Nirry rang nach Luft und lehnte sich gegen die Täfe lung des Hinterzimmers. Einen Moment, aber nur einen Moment, schlug sie die Hände vors Gesicht. Wenn der alte Carney doch nur endlich gehen würde, wenn er doch ein fach weggehen würde! Es gab Zeiten, da wünschte sie sich wirklich, dass sein Regiment weit weg stationiert wä
re, mindestens in Zenzau! Doch nein, eigentlich wünschte sie sich das nicht… au ßerdem, selbst das Regiment von Zappelphilipp war mitt lerweile in Agondon stationiert. Was für eine Mühe sie hatte, ihn von seinen alten Armeekumpeln fern zu halten! Und noch schwieriger war es, diese Kerle von der Katze & Krone fern zu halten! Mehr als einmal war die Taverne bis unter die Dachsparren mit Blauröcken voll gestopft gewe sen, blaue Uniformröcke, wohin man auch blickte. Wenn nun einer von ihnen Verdacht schöpfte? Wenn Carney etwas erriet? Die arme Nirry! Wie sie den Tag verfluchte, an dem sie den vermaledeiten Bob Scarlet getroffen hatte! War es denn nicht schon schwierig genug, eine ehrbare Taverne zu führen, auch ohne dass ein mordlustiger Rebell sie zu seiner Basis machte? Und wenn der heutige Plan durchgeführt wurde, dann schwebten sie in größerer Gefahr als je zuvor. Nervös blickte Nirry nach oben, wo sich die so genannten vor nehmen Gäste aufhielten. Adlige, pah! Aber sie konnte es sich nicht leisten, die Nerven zu verlieren. Schließlich konnte Baines nicht allein das ganze Erdgeschoss bedienen. Mit nur einem Auge? Das war nicht einmal annähernd genug! Und Zappelphilipp würde oben Ärger bekommen, wenn es wie üblich lief, und Nirry hatte mittlerweile die Erfahrung gemacht, dass es das immer tat. Es sollte sie sehr überraschen, wenn im Laufe der Nacht nicht die Schwerter gezückt werden würden. Wirk lich, sehr überraschen.
»Bitte, Tantchen!« »Nein, Kindchen!« »Aber… ich möchte sie sehen.« »Du möchtest sie sehen? Weshalb denn?« »Ich mag sie. Genügt das nicht?« Umbeccca Veeldrop verdrehte die Augen. »Mein liebes Kind, Theaterschauspieler mag man nicht! Hast du jemals
erlebt, dass ich eine solche Person mögen würde? Aber du bist einfach pervers! Dir ist doch sicher bewusst, wel cher Abgrund zwischen Menschen deines Ranges und ein fachen Gauklern klafft?« Königin Jelica schmollte. »Du hast aber auch über die Clumptown-Clowns gelächelt, Tantchen. Ich habe es ge nau gesehen.« »Gelächelt schon. Zum angemessenen Zeitpunkt kann man solche Personen durchaus amüsant finden, das ist schließlich auch ihr Zweck. Aber sollte man die Clowns nur, weil sie ihren Zweck angemessen erfüllt haben, gleich zum Abendessen einladen?« Die Königin hätte kontern können, dass ihre Tante die ses Privileg absolut niemandem gewährte, weil das näm lich bedeutet hätte, dass es für Umbecca möglicherweise weniger zu essen gegeben hätte. Stattdessen begnügte sie sich damit, umständlich zu erklären, dass sie gar nicht die Clowns meinte. »Außerdem habe ich auch nicht davon geredet, sie zum Essen einzuladen. Schließlich haben wir nur eine kleine Pause.« »Allerdings, Kind. Und deshalb reicht die Zeit auch nicht, diese zaxonische Nachtigall zu empfangen. Vergiss nicht, dass dieser Abend mit der Bühnenpromenade en det.« »Das ist eine kalte Formalität!« Die Königin verlor allmäh lich die Geduld. Wirklich, man konnte fast glauben, sie wäre immer noch ein Quickie bei Mistress Quick, und nicht die Königin von Ejland! Nicht, dass ihr Miss Tilsy Fash wirklich wichtig gewesen wäre, aber sie langweilte sich einfach schrecklich! »Ich habe mich entschieden.« Sie gab ihrer Kammerzofe ein Zeichen. »Jilda, überbringe meine Nachricht. Miss Fash. Hierher. Auf der Stelle.« Umbeccas Augen glühten. »Kind, das ist höchst unor thodox.« »Nun, so bin ich eben.« Die Königin schniefte, warf hoheitsvoll den Kopf zurück und drehte ihrer Tante den Rücken zu. Dieses Schauspiel hätte die Zuschauer sicherlich mehr begeistert als der Auftritt der Clumptown-Clowns, aber bedauerlicherweise hatte sich die kleine Gruppe bereits in die Ruhekammer zurückgezogen, die kleinen Privatgemä cher hinter der königlichen Loge. Die der Königin allerdings nicht besonders gefielen. Si
cher, sie waren angemessen, es gab Stühle, Bücher, im Kamin loderte ein Feuer. Man hatte kaltes Fleisch, Kuchen und Gebäck aufgetragen, und überall standen Lakaien mit Tabletts voller Gläser mit funkelndem Varl-Wein herum. Aber wie langweilig das alles war! Die Ruhekammer war nicht nur schäbig, sondern auch entsetzlich maskulin ein gerichtet. Anscheinend hatte dies einmal dem Geschmack einer raueren Epoche entsprochen. Allein der Fuchsschä del über dem Kamin! Und dann dieser Spiegel, der von Geweihen eingerahmt war! Zu allem Überfluss stand neben dem Kamin auch noch die Witwe Waxwell. Sie schien fast in der dunklen Täfe lung zu verschwinden. Bescheiden hockte die alte Freun din von Tante Umbecca auf einem der dunklen Stühle und stocherte wie ein Vögelchen an einer Scheibe Schinken herum. Die Tante der Königin hatte klugerweise darauf verzich tet, die Witwe in die königliche Loge zu bitten. Stattdes sen hatte sie ihrer alten Freundin großzügig gestattet, die Oper von der Ruhekammer aus zu verfolgen, indem sie die Tür ein Stückchen offen ließ. Gereizt verglich die Kö nigin diese triste Witwe mit der schillernden WitwenGestalt auf der Bühne, die von Miss Tilsy Fash dargestellt worden war. Berthen Waxwell dagegen war die reinste Bohnenstange, verwelkt und hatte an der Stelle, wo ihre rechte Hand sein sollte, nur einen Armstumpf. Die Königin überlief es kalt. Sie drehte sich rasch her um, nahm ein Glas von einem Tablett, legte den Kopf in den Nacken und hätte den Varl-Wein fast wie eine Medi zin heruntergestürzt, wenn ihr nicht die Kohlensäure in die Nase gestiegen wäre. Ungeduldig dachte sie an den nächsten Tag. Nicht an die langweilige Antrittsvorlesung, das war schließlich pure Pflichterfüllung. Sondern an den Maskenball! Dieses Jahr stand er unter dem Motto: »Die Vögel der Welt«. Die Kö nigin überwachte die Herstellung ihres Kostüms seit fast einem Monat unablässig. Sie tat, als starre sie fasziniert auf die Bilder, die Sportszenen zeigten, Gentlemen auf Pferden, die über Hindernisse sprangen. Sie hoben sich fleckig und ver blasst von der rötlichen Tapete ab. Wie oft war sie schon in dieser Kammer gewesen? Hatte sie ihren Ehemann nicht angefleht, sie endlich renovieren zu lassen?
Und ob sie das getan hatte, und er hatte zugestimmt! Aber bisher war nichts geschehen, rein gar nichts! Sie bemerkte aus dem Augenwinkel ihr Bild, das in dem Spie gel zu verschwimmen schien. Jemand berührte ihren Arm. Die Königin zuckte zu sammen. »Eure Majestät, darf ich es erneut wagen, meine auf richtigste Entschuldigung vorzutragen?« Es war Mander Heva-Harion. Die Königin hatte ihn noch nie besonders leiden können. Eay Feval dagegen war etwas ganz anderes, er war schließlich ein Mann vom Tuch. Heva-Harion aber war erst kürzlich vom Ehemann der Königin – oder besser gesagt, vom Ersten Minister – in den Rang eines Generalmajors befördert worden. Die Königin konnte sich auch noch so bemühen, sie fand ihn widerlich. Lag es an seinen pupurnen Lippen, die beim Lächeln porzellanfarbene Zähne entblößten? Oder war es sein verwittertes, hartes Gesicht, das wie eine Maske un ter seiner stahlgrauen Perücke zu hängen schien? War es der Rauch seines Tobarillos? Außerdem war er ein Nie mand, oder etwa nicht? Er war nur Javey Heva-Harions Onkel. Keine Titel, kein eigenes Land. Und doch, wie schnell war er im Kreis der Überlegenen aufgestiegen! Und wie oft fungierte er als Stellvertreter für den Ersten Minister, zum Beispiel auch heute Abend. Erneut erklärte dieser Kerl umständlich, wie der Schnee seine Fahrt zum Opernhaus behindert habe, und deutete die Dringlichkeit seiner Pflichten an, die ihn so niederdrückten. Die Königin nickte nur beiläufig und war beinahe froh, als Tante Umbecca wieder auftauchte. Die fette Frau hatte sich über das kalte Fleisch herge macht. Nachdem sie rasch mehrere Truthahnschenkel abgeknabbert hatte, deren Fett ihr noch am Mund klebte, hatte sie sich so viele Speisen auf ihren Teller gehäuft, dass beim besten Willen nichts mehr daraufpasste. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass ihr noch genug Zeit blieb, ihren Appetit zu stillen. Sie hatte sich schon häufig über diese unzureichenden Pausen beschwert. Schließlich gab es nur drei während der gesamten Vorstellung, und bis zum Abendessen war es noch lange hin. Beunruhigt betrachtete Umbecca einen Teller mit Sah nehörnchen, einen gewaltigen runden Pudding und eine Stachelbeertorte, während sie überlegte, ob sie ihrer
Nichte sagen sollte, dass es nicht schicklich wäre, Miss Tilsy Fash irgendwelche Erfrischungen anzubieten. Der Generalmajor wiederholte seine Entschuldigungen vor Umbecca. Die fette Frau entspannte sich und erklärte ihm lächelnd, dass sie sein kleines Malheur durchaus ver stehen könne. Dann fragte sie ihn, ob er an ihrem kleinen Abendessen nach der Vorstellung teilnehmen würde. Sie deutete an, dass es eine köstliche Angelegenheit werden würde. Das bezweifelte der Generalmajor keineswegs. Seit Lady Veeldrop in den Koros-Palast gekommen war, widmete sie ihre besondere Aufmerksamkeit der Küche. Aufgrund ihres Einflusses hatte sich das Nahrungsmittelbudget be achtlich gesteigert. Und es gingen Gerüchte um, dass der Vogelball morgen Nacht derart extravagant werden wür de, dass selbst die dekadentesten Feste an fremden Hö fen dagegen verblassten. Dennoch musste der Generalmajor mit größtem Be dauern ablehnen und erklärte, dass er sofort zu seinen Pflichten zurückkehren müsse, wenn die Vorstellung vor bei war. Umbecca gab sich bestürzt. Sie war dem Generalmajor durchaus zugetan. Er war, fand sie, ein wirklich feiner Mann, ein männlicher Mann, wie man so sagt. Alle mein ten, dass er den Titel seines Bruders hätte erben sollen. Dem stand nur dieser geistlose Neffe im Weg… wie war noch mal sein Name? Ach ja, Javey, der Fünfzehnte Mar quis von Heva-Harion. Aber schließlich, dachte Umbecca, dürfte auch dieses Problem nur schwerlich unlösbar sein. »Armer Generalmajor, dass Ihr so spät noch arbeiten müsst! Hören denn die Räder der Regierung niemals auf, sich zu drehen?« »Vielleicht spricht der Generalmajor ja von seinen mili tärischen Pflichten?« Eay Feval trat von dem Büffet weg, wo er sich ebenfalls bedient hatte. Umbecca warf einen kurzen Blick auf seinen Teller. (Schinken und Marinade. Lord Agonis sei Dank!) Er lächelte und strahlte klerikales Wohlwollen aus. »Es kursieren doch Gerüchte von einem Aufstand der Rotröcke, oder irre ich mich?« »Rotröcke?«, fragte die Königin. »Aber ich dachte…?« »Rotröcke!« Truthahnstücke flogen aus Umbeccas Mund. »Wie können sie sich erheben, wo sie doch so voll
kommen geschlagen worden sind? Ihr vergesst, Eay, dass ich die Belagerung von Irion durchleiden musste. Dort habe ich ihre völlige Vernichtung miterlebt. Und mein teu rer verstorbener Ehemann hat ihre Ansprüche und ihren Anführer ein für alle Mal erledigt.« »Natürlich, teuerste Lady«, beruhigte Feval sie rasch. Innerlich verwünschte er sich ob seiner Unüberlegtheit. Er wusste doch, dass die Rotröcke für Umbecca ein heikles Thema waren. Immerhin war ihr geliebter Neffe Torvester sogar als Verräter gehenkt worden. Und hatte nicht Je many, ihr gleichfalls geliebter Großneffe, einen ganz ähn lichen Pfad beschritten? Schnell wandte er sich an die Königin und fragte sie, ob ihr die Vorstellung gefiele. Umbecca verdrehte die Au gen, als das Mädchen in seiner naiven Art Miss Tilsy Fash lobte. Deren lebhafte Bemühungen bei der Opera Buffa hatten den ersten Teil des Programms eröffnet und auch beschlossen, und die Königin schien die Verdienste von Mr. Credulon, von Ripander und den Clumpton-Clowns gar nicht bemerkt zu haben. Umbeccas anfänglicher Verdacht verdichtete sich jetzt zur Gewissheit. Der Palast hätte gerade diese Künstlerin nicht zulassen sollen, auch wenn sie extra für diesen A bend ihre Tournee in Zenzau unterbrochen hatte. Es war ein offenes Geheimnis, dass Miss Fash über einen eher zweifelhaften Charakter verfügte. Außerdem war sie nicht mehr die Jüngste. Selbst Umbecca konnte hören, wann eine Stimme ihren Zenit hinter sich hatte. Vielleicht sollte sie die Fliegenden Mentinis hervorhe ben. Ja, das war eine gute Idee. Jelica würde kaum noch einen Gedanken an diesen abgehalfterten alten Schreihals verschwenden, wenn sie erst einmal diese außergewöhn lichen jungen Akrobaten gesehen hatte. Es waren zwei Brüder, beide blind, die auf einem Trapez hoch über den Köpfen der Menge turnten. Doch dann dachte Umbecca, dass es vielleicht besser wäre, noch nicht auf das Trapez hinzuweisen. Sie wollte die Witwe nicht auf dumme Gedanken bringen. Die konn te schließlich nur die Musik hören. Sollte Berthen ruhig denken, es handle sich um ein Musikstück. Das war für alle Beteiligten besser. Umbecca wollte gerade auf die Hymne zu sprechen kommen, als Eay Feval erklärte: »Als Nächstes kommen
doch diese beiden blinden Brüder, stimmt’s?«
Die fette Frau warf ihm einen mörderischen Blick zu. »Du
amüsierst dich doch hoffentlich, Kind?« Sie verzog das
Gesicht und trat auf die Königin zu.
»Eins stört mich noch.« Die entzückende Stirn Ihrer Hoheit furchte sich. »Mein Stuhl. Kann ich nicht den Platz mit dir tauschen, Tante?« Umbecca lachte. »Aber Kind, das ist der Opernthron. Wenn der Ehegatte nicht teilnimmt, musst du darauf sit zen. Mir gebührt dann der Stuhl des Prinzgemahls. So werden diese Dinge gehandhabt. MUSS ich mehr dazu sa gen?« Die Königin hätte erwidern können, dass sie doch ei gentlich den bequemsten Sitz haben sollte, wenn sie schon so unendlich wichtig war. Doch stattdessen sagte sie nur: »Er ist mir zu groß. Tante, können wir nicht tau schen? Du nimmst meinen Platz ein und ich deinen.« Umbecca lächelte unwillkürlich und biss von dem Trut hahnschenkel ab. Sie konnte nicht leugnen, dass sie diese Vorstellung reizte. Zwar war sie von der strikten Einhal tung der Etikette besessen, aber noch wichtiger war ihr die eigene Größe. Einen Moment lang sah sie sich auf dem königlichen Thron sitzen. Sie hörte sogar die Hymne erklingen und stellte sie sich als Loblied auf sich selbst vor. Vor langer Zeit, damals in den Provinzen, hatte ihr Feval versprochen, dass sie eine große Lady werden wür de. Durch die Gnade von Lord Agonis war dies tatsächlich eingetreten. War es nicht trotzdem absurd, dass ihre dumme junge Nichte nur wegen ihrer flüchtigen, mäd chenhaften Schönheit eine höhere Position bekleidete als sie selbst? Außerdem fand Umbecca ihren Stuhl tatsächlich etwas klein. Aber was fiel ihr da ein? »Kind, also wirklich! Was soll te aus der Welt werden, wenn wir die allgemein gültigen Grundlagen des Protokolls so einfach in Frage stellen, sag mir das?« »Ach, das Protokoll!« Die Königin wandte sich ab, griff erneut nach einem Glas und kippte den Varl-Wein hinun ter. Wie rastlos sie sich fühlte! Wo blieb diese blöde Kam merzofe? Und wo Miss Fash? Die Pause war bestimmt schon halb
vorbei. Jilda sollte Miss Fash doch zu ihr bringen, und zwar sofort! Heva-Harion hatte Feval zur Seite gezogen. »Ich neh me an, dass Seine Majestät wieder unpässlich ist?« »Wie üblich. Man kann nur hoffen, dass er dem Mas kenball beiwohnt. Ganz zu schweigen von der Antrittsre de.« »Um Euren Triumph mitzuerleben? Das kann ich mir vorstellen.« »Herr Generalmajor, ich denke nur an das Wohl unse res Reiches.« »Natürlich.« Höflich neigte Heva-Harion den Kopf. »Leider habe ich mich verspätet. Wie ist die Stimmung im Parkett? Und auf der Galerie? War das gemeine Volk be stürzt, als es erfuhr, dass sein Herrscher sich ihm nicht zeigen würde?« Feval deutete auf die Königin. »Sagen wir, dass die Abwesenheit einer anderen Person es erheblich mehr auf gewühlt hätte.« Der Generalmajor nahm einen tiefen Zug von seinem Tobarillo. »Wirklich, das Mädchen ist wahrhaftig ein wert volles Pfand für unsere Sache.« Offenbar wurde von Feval Zustimmung erwartet, doch stattdessen verhärteten sich seine Gesichtszüge. Er über legte, für wen sich dieser Heva-Harion eigentlich hielt, dass er es wagte, so zu reden? Unsere Sache, also wirk lich! Wie hoch schätzte sich dieser Kerl denn ein? War er mehr als ein vergänglicher Politiker, ein Büttel des Ersten Ministers? Wenn Feval sich einer Sache bewusst war, dann der Würde, die mit seinem eigenen Rang einherging. Das heißt, der Würde, die ihm bald verliehen werden sollte. Mit gespieltem Interesse drehte er sich zur Witwe Wa xwell um und fragte sie, ob sie sich schon auf diese flie genden Fremden freue. »Fliegen?«, stotterte sie verwirrt. »Jilda!«, rief die Königin in diesem Moment. »Miss Tilsy Fash, Eure Majestät.« Die Kammerzofe trat zur Seite, und hinter ihr wurde die Gestalt einer Frau sichtbar, die man einst als die »Zaxonische Nachtigall« gerühmt hatte. Sie trug eine Federboa, ein extravagantes Kleid und eine ebenso außergewöhnliche Frisur. Umbecca presste ihren kleinen Mund zusammen.
Nachtigall, also wirklich! Sie ähnelte eher einem großen, hässlichen Geier. Andererseits ist Miss Fash gewiss noch ein kleines Mädchen gewesen, als sie ihre amüsante Be stimmung gewählt hat, dachte sie in einem Anfall von Großzügigkeit, und das muss zweifellos schon vor sehr langer Zeit gewesen sein. Mit leichtem Unbehagen musterte Umbecca die Sahne hörnchen. »Die was, Bohne?« »Die Clumptowns. Die Clowns.« »Was ist mit denen?« »Die sollen sehr gut sein.« »Wer sagt das?« Polty trat sich stampfend den Schnee von den Füßen und klopfte ihn anschließend von Hut und Mantel. »Das weiß ich nicht«, gab Bohne zu. »Die Leute eben. Viele Leute.« Polty seufzte. »Die Leute sind dumm, Bohne. Weißt du das denn nicht? Und wenn sie sich alle in einem Punkt einig sind, kannst du darauf wetten, dass sie sich irren. Ach, lass uns ehrlich sein: Das ist nicht einmal eine Wette wert!« Bohne errötete verlegen. Sein Freund redete so schrecklich laut. Vielleicht galten seine Worte ja sogar der Menge, die jetzt in der Pause um sie herumwogte und immer noch aus dem Parkett quoll. Aber das waren doch ehrbare Leute, oder nicht? Kaufleute und dergleichen? Bohne konnte kaum glauben, dass sie alle dumm sein sollten. Doch nicht alle! »Ich dachte nur, sie könnten uns aufheitern. Die Clowns, meine ich. Wir haben ja immerhin Eintrittskar ten.« Polty packte Bohnes Schulter mit seiner schwarz be handschuhten Hand. »Mich kann nur eins aufheitern«, entgegnete er knurrend. »Dummkopf, hast du das denn immer noch nicht kapiert?« Bohne schluckte. »Willst du dich denn nicht wenigstens ein bisschen aufheitern lassen, Polty? In der Zwischen zeit? Ich meine, solange wir warten?« Polty drehte sich verächtlich weg, und die Tropfen flo gen von seinem funkelnden Mantel. Die Kaufleute tu
schelten, und das Rot auf Bohnes Wangen vertiefte sich. Sein Freund stürmte derweil schon zur Treppe, und er folgte ihm. Bohne hatte Mühe, mit Polty Schritt zu halten, und ihm wurde in seinem schweren Pelzmantel plötzlich heiß. Polty drängte sich rücksichtslos an einem Lakai vorbei. »Wahrscheinlich haben wir sie sowieso verpasst«, er klärte Bohne und rieb sich verstohlen unter seinem Man tel die Schulter. »Aber vielleicht kommen wir noch recht zeitig zu den Fliegenden Mentinis.« Polty verdrehte die Augen. »Hör auf herumzujammern, Bohne.« »Was hast du gesagt, Polty?« Sie waren auf dem ersten Absatz angekommen. In der blauen Tapete schimmerten Goldfäden, und überall fla nierten Adlige, Man hörte Gelächter und das Klirren von Gläsern. »Ich habe gesagt, hör auf herumzujammern.« Poltys Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Diese Eintritts karten gelten nur für das Parkett, hast du das etwa nicht bemerkt? Glaubst du ernsthaft, dass ich mich dort unten hinsetze, eingequetscht zwischen schmutzigen Bauern, während Mandy Marion in der königlichen Loge den gro ßen Herrn spielt? Ganz zu schweigen von Tante Umbec ca«, fügte er heftig hinzu. »Komm schon, trinken wir was.« Die Gentlemen-Lounge tauchte vor ihnen auf. Es war eine warme Höhle aus Mahagoni, mit großen, marmornen Kaminen, aus denen gemütliches, orangefarbenes Licht flackerte. Polty spähte zu der langen Bar mit den ebenso langen Reihen glänzender Flaschen. Er lächelte, nahm den Hut ab und zog einen Handschuh aus. Aber an der Tür hielt ein besorgter Lakai mit eleganten Epauletten sie mit erhobener Hand auf. »Entschuldigt, Sir. Ich glaube kaum, dass Ihr – « Poltys Augen funkelten, und er baute sich drohend vor dem Bediensteten auf. »Was glaubst du, was wir sind? Einfache Wachen?«, knurrte er. Er suchte in seiner Jacke nach dem Abzeichen der Spezialagenten. Doch der Lakai verzog nur verächtlich den Mund und sein Blick wurde härter. Rasch trat Bohne, vor. Einige Adlige drehten sich be reits nach ihnen um. Und kam da nicht gerade Baron Al
dermyle auf sie zu? Oh, hoffentlich machte Polty jetzt keine Szene! Sanft versuchte Bohne, ihn wegzuziehen. »Es gibt da doch die Händler-Lounge«, flüsterte er. »Es gibt immer noch die Händler-Lounge.« Poltys rotes Haar leuchtete, und einen Moment lang glaubte Bohne, dass es in Brand geraten würde. Doch der Moment verstrich. »Verdammter Mist! Komm, Bohne, gehen wir zum Würger.« »Nicht zum Würger!« Bohne warf dem Lakai einen fle hentlichen Blick zu. »Wir können doch in die HändlerLounge gehen, hab ich Recht? Wir warten auf unseren Herrn, ich meine, unseren kommandierenden Offizier… Wir warten nur, das ist alles, während er in der Oper ist…« Aber der Lakai hatte ihnen schon den Rücken zuge dreht und lächelte unterwürfig einen ältlichen Herrn an, der einen Opernmantel trug und auf einer Krücke an die Bar humpelte. Braucht der gnädige Herr vielleicht Hilfe? Kann der Lakai untertänigst behilflich sein? Gestattet der Herr vielleicht, dass man seinen Arm stützt? Angewidert stürmte Polty die Treppe hinunter. »Wir warten auf unseren Herrn, also wirklich!«, fuhr er seinen Freund wütend an. »Was bist du denn, Bohne? Mandys Kutscher?« »Im Augenblick«, erwiderte Bohne finster, »bin ich ziemlich genau das.« »Ach wirklich?« Polty war gereizt. »Und was bin ich?« Bohne hielt es für das Beste, darauf nicht zu antworten. Gebieterisch stürmten sie in die Händler-Lounge. »Da, er ist rot, siehst du?« »Was denn, Kleiner?« »Rot. Jem, siehst du das nicht?« Jem gähnte. Er hatte sich nicht umgedreht. »Leg ihn weg, Kleiner. Ich habe selbst einen. Und Raj ebenfalls.« »Was?« Der Kleine klopfte auf den Beutel, der an ei nem Band um seinen Hals hing. Seit der kleine unangesi sche Junge den Kristall seiner Rasse tragen durfte, hatte er jede Gelegenheit benutzt, ihn stolz herumzuzeigen, ihn im Licht zu drehen, ihn zu polieren und staunend in ihn hineinzusehen. Aber diesmal redete der Kleine nicht von dem Kristall des Theron. Diesmal nicht.
Diesmal meinte er den Mond. »Rot? Wie dein Kristall?«, erkundigte sich Jem. »Wie Blut. Er hat durch die Wolken gelugt, ganz be stimmt. Und dann war er wieder weg.« »Der Mond ist nicht rot, Kleiner. Außerdem hätte ich das bemerkt«, sagte Jem müde. »Du hast geschlafen.« Die Stimme des Kleinen klang ein wenig herausfordernd. »Du bist eingedöst, Jem. Hab ich nicht Recht, Ejjy?« Ejard Orange hatte schon vor einiger Zeit den letzten Vorrat an Milch und vorher auch die meisten anderen Vorräte verzehrt und strich ruhelos durch die enge Kabi ne. Wenn jemand es kaum erwarten konnte, dass diese Reise endete, dann war es der große, hungrige Kater. Mit einem resignierten Miau sprang er zwischen den Kleinen und Jem und rollte sich zu einem warmen, pelzi gen Ball zusammen. »Na, das nenne ich eindösen. Hoffen wir es jeden falls.« Jem blickte durch das breite Fenster, das die ge dämpften Lichter des Kabineninneren reflektierte. Geis terhafte Abbilder seines eigenen Gesichts und von dem des Kleinen schwebten in einer schwarzen Finsternis. Und weiter hinten schliefen zusammengekauert Raj und Myla. Ihr warmer Kokon summte und zischte durch die kalte, abweisende Finsternis. Das war ihre dritte Nacht in dem Sternenschiff. Es war schon dunkel geworden, als ihre kleine Gruppe endlich aufgebrochen war. Kapitän Porlos Meerbestattung hatte ihnen das Herz schwer gemacht. In dieser ersten Nacht hatten sie mit feierlichem Staunen den tropischen Himmel betrachtet, der von Tausenden von Sternen erleuchtet war. Als der Tag anbrach, glühte die Sonne durch die Fenster, und das Meer unter ihnen glitzerte wie ein zwei tes Sternenfeld. Am nächsten Tag hatten sie eine Wüste überflogen, dann wieder ein Meer, danach grünere, kühle re Länder. Jem war davon überzeugt, dass Ejland jetzt nicht mehr weit entfernt war. In der ersten und sogar noch in der zweiten Nacht hat te er geschlafen. Doch jetzt wagte er es nicht mehr. »Du musst schlafen, Jem«, drängte ihn der Kleine. »Was war mit dem magischen Teppich? Die Reise war viel gefährlicher, und du hast die ganze Zeit geschlafen.«
»Hab ich nicht.« Jem grinste. »Jedenfalls war es viel gemütlicher.« Wenn sie nur ihren wundervollen Teppich noch hätten! In seiner Müdigkeit fand Jem es bemerkenswert, dass der Kleine sich überhaupt noch an ihre merkwürdige Reise nach Wenaya erinnerte. Wie lange das schon her zu sein schien! Hätte nicht der meerblaue Kristall der Javander warm an seiner Brust geruht, hätte Jem ihre Abenteuer auf diesen Inselreichen vielleicht nur mehr für einen be unruhigenden Traum gehalten. Er zuckte zusammen, als ein Blitz an der blauen, me tallischen Hülle des Schiffes entlangglitt. Dann rieb er sich die Augen und sagte, dass auf dem Teppich alles ganz anders gewesen wäre. Der Kleine sah sich zweifelnd, beinahe ängstlich um und betrachtete die dunklen Hölzer und das Leder und das genietete Messing. »Das Schiff fliegt aus eigener Kraft, nicht wahr?« »Worauf willst du hinaus, Kleiner?« »Ich meine, woher weißt du, wohin wir fliegen, Jem?« »Das Sternenschiff scheint es zu wissen. Ich nehme an, dass Oclar ihm den Weg genannt hat. Also, nicht richtig genannt… Ach, ich weiß es nicht.« »Gib es zu, Jem, du schaust auch einfach nur aus dem Fenster.« Das war nicht ganz fair. Bevor Jem und seine Freunde Wenaya verlassen hatten, hatte der Prinz der Gezeiten Jem einige Instruktionen erteilt, wie er das Ster nenschiff bedienen sollte. Er wusste, wie er hohe Berge umschiffen und großen Vogelschwärmen ausweichen konnte. Er wusste, wie er das Schiff höher und niedriger steuern und wie er es landen konnte. Was er nicht wusste, war, wie man den Kurs richtig ein stellte. »Kleiner, warum schläfst du denn heute Nacht nicht?« »Ich habe es versucht. Aber ich bin zu aufgeregt.« »Ich auch.« Jem musste erneut gähnen. Er schüttelte den Kopf. Besorgt blickte er zum hinteren Ende der Kabine, wo Raj schwer atmend schlief. Seine bewusstlose Schwe ster hatte man auf ihrer Liege festgeschnallt. »Der arme Raj, endlich bekommt er etwas Schlaf. Und die arme Myla darf nichts anderes tun als schlafen.« »Das ist schon merkwürdig, stimmt’s?«, sagte der Kleine traurig. »Wir können gar nicht schlafen, und Myla kann
nichts anderes tun.« »Jedenfalls nicht, wenn sie jung bleiben will«, erwider te Jem. »Aber sie ist schon jetzt um so viele Jahre älter gewor den!« Die Stimme des Kleinen klang brüchig. Er um klammerte seinen Kristall und runzelte die Stirn. »Und trotzdem ist sie eigentlich immer noch so alt wie ich, hab ich Recht?« »Das war sie jedenfalls, Kleiner. Und hoffen wir, dass sie es bald wieder sein wird.« Der Kleine kämpfte gegen die Tränen an. Die arme Myla! Wie er das Böse verfluchte, das sie in seinen Klauen hielt! »Ich… Ich weiß, dass ich ihr nur einmal begegnet bin, Jem. Ich meine so richtig. Aber wie sehr ich mir wün sche, dass sie wieder zu uns zurückkehrt! Manchmal möchte ich sie einfach nur rütteln, um zu sehen, wie sie wieder aufwacht!« »Ich weiß, Kleiner, ich weiß. Wenn du sie nur erlebt hättest, wie sie früher einmal war, bevor sie in die Klauen der Spinnenmutter geraten ist! Damals in Ejland kannte ich niemanden, der so lebhaft war wie Myla.« Er senkte den Blick. »Das heißt, bis auf eine.« Catas Bild stieg peinigend in Jem empor. »Mach dir keine Sorgen«, fuhr er rasch fort. »Wir ma chen Myla wieder so gut wie neu. Ich verspreche es.« Der Kleine schluckte. »Wirklich, Jem? Machst du sie wieder jung?« »Wir haben keine Wahl. Wenn wir an Myla scheitern, dann scheitern wir auch an unserer Aufgabe.« Jem drehte sich zu seinem jungen Gefährten um und sah ihn ernst an. »Wir haben vier Kristalle gefunden. Einer ist noch üb rig. Aber, Kleiner, es ist immer noch 999d. Es dauert noch ein ganzes Jahr bis zum Ende der Zeit des Sühneopfers. Hast du daran schon mal gedacht?« Der kleine Junge sah ihn verständnislos an. »Vergiss es, das ist der ejländische Kalender. Aber wir werden nicht scheitern.« Jems Stimme klang jedoch nicht vollkommen überzeugend, nicht einmal in seinen Ohren. »Wir können jetzt einfach nicht mehr versagen, nicht wahr?« Der Kleine sah ihn nur ernst an und schluckte. »Diese Vogelmenschen…«
»Menschen? Also wirklich…« »Es sind doch Vagas, oder nicht?« »Vagas? Natürlich nicht.« »Ich meine, nicht unsere Art Vagas. Aber Vagas von irgendwo anders?« »Komm schon, Liebes, wenn sie eine Art Vagas wären, würden sie wohl kaum vor Ihrer Kaiserlichen Agonisti schen Majestät auftreten, oder?« »Natürlich nicht. Aber Ejjy Blau ist nicht da, hab ich Recht?« »Nun, eigentlich sollte er da sein.« Ein Seufzer. »Und dafür sind wir bei diesem Wetter vor die Tür gegangen.« »Komm schon, Japier, du willst dich doch wohl nicht etwa beschweren? Wir haben immerhin Königin Jelica gesehen, nicht wahr? Das ist doch die Hauptsache. Weißt du, ich finde sie noch viel hübscher als auf den Radierun gen. Als sie sich das erste Mal gezeigt hat… meine Güte, ich wäre beinahe gestorben!« Dieses Gespräch fand zwischen einem Kaufmann und seiner Gattin im Parkett direkt unter der Loge der ChamCharing statt. Freddy Chain hörte mit einem sardonischen Lächeln zu. Jedes Wort dieses Paares entlarvte es als neureich! Sie bemühten sich zwar sehr um Stil, aber die ser fatale Ruch von Vulgarität drang ihnen aus sämtlichen Poren. Wirklich, es war mehr als nur ein Ruch. Das Haar der Lady zum Beispiel war ein Chaos aus billiger Farbe, gekräuselt und von der Feuerzange verbrannt und dann zu einer billigen Imitation der Frisuren des Adels aufge türmt. Ach ja, die Mittelklasse! Aber sie klommen unaufhaltsam empor. »Diese Clumptons haben auf mich aber wie Vagas ge wirkt«, sagte die Gattin des Händlers gerade. »Nicht, dass ich etwas dagegen hätte. Immerhin haben wir die VagaFeste ja auch genossen. Und was ist mit den Silbermas ken? Sie haben sogar für den Hochadel gespielt.« »Nicht mehr. Sie sind jetzt gesetzlos.« »Weshalb eigentlich, Lieber? Ich habe nie erfahren, warum.« »Wir haben die Nase von den Vagas voll, deshalb!«, fuhr ihr Mann sie an. »Es sind schmutzige Bettler, die uns früher immer reingelegt haben. Aber nachdem jetzt Ejjy Blau auf dem Thron sitzt, ist alles anders. Der blaue König
hat uns wieder groß gemacht.« Dem Burschen schwoll vor Stolz der Kamm. Aber wor auf war er eigentlich so stolz? Erschreckt bemerkte Fred dy, dass dieser Kaufmann ein größerer Patriot war, als er es jemals gewesen war. Anderseits war Freddys wertloses Fürstentum vor langer Zeit einmal ein unabhängiger Staat gewesen. War er nun ein Ejländer oder nicht? Freddy konnte sich einfach nicht zu einer Entscheidung durchringen. Die Pause war beinahe zu Ende. Der erste Gong war bereits ertönt, und jetzt schallte der zweite Gong durch die Gänge. Langsam füllten sich die Reihen im Zuschauer raum wieder. Das Lärmen, Lachen und das Klirren der Gläser wurde lauter. Im Orchestergraben wurden die Streichinstrumente gestimmt und gaben ein wahres Kat zenkonzert von sich. Freddy rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. Als die Pause begann, hatten die anderen sich geweigert, ihre Loge zu verlassen. Lady Cham-Charing schien ir gendwie bestürzt, und ihr Kopf wackelte noch mehr als sonst. Lady Margrave kümmerte sich rührend um sie. Und Tishy hatte dem Professor eine Frage gestellt, irgendeinen Unsinn über Verben. Der alte Mann war immer noch da bei, sie zu beantworten, und murmelte unaufhörlich wei ter. Und zu allem Überfluss war auch nirgendwo ein Lakai zur Hand gewesen! Freddy hatte sich den Weg ins Foyer bah nen und sich dann mit einem Tablett mit Getränken zu rückkämpfen müssen, das er einem Lakai förmlich entris sen hatte. Leider hatte er unterwegs ein Glas verschüttet. Die Höflichkeit zwang ihn dazu, davon auszugehen, dass es sich dabei bedauerlicherweise um sein eigenes handel te. Er seufzte ungeduldig und hoffte, dass sich der Vor hang bald hob. Baron Aldermyle und die anderen Rabau ken waren lärmend in ihre Loge zurückgekehrt. Während der Pause hatten sie offenbar einige Ladys aufgegabelt, beziehungsweise weibliche Wesen in den Gewändern von Ladys, und schienen auch eine große Menge Rum mit O randy zu sich genommen zu haben. Weitere Vorräte stan den griffbereit. Freddy vermied mit gespielter Lässigkeit jeden Blickkontakt. Er schaute auf die Bühne und hinüber zur königlichen Loge, in welche die Königin und ihre klei
ne Gruppe gleich zurückkehren mussten. Mit den Fingern trommelte er auf die Balustrade. Zwischen dem Händler und seiner Frau saß… ihr Sohn vermutlich. Er sah mit seiner Perücke und seinem Samt anzug recht merkwürdig aus. Eine Weile hatte der Junge geschwiegen, doch jetzt stellte er mit hoher Stimme eine Reihe von Fragen über die Fliegenden Mentinis. Sie konn ten doch nicht wirklich blind sein, oder? Und konnten sie wirklich fliegen? Das konnten sie doch nicht, oder? »Warte, mein Junge, warte nur«, erwiderte der Händ ler. Sein Ton wurde freundlicher. »Sie hängen bestimmt an einer Art von Drähten. Sind es Drähte?« »Sie springen und hüpfen. Aber es sieht so aus, als ob sie fliegen würden. Weit über unseren Köpfen.« »Obwohl sie blind sind? Wirklich blind?« »Warte ab, mein Junge, warte einfach ab.« Draußen im Foyer ertönte der Gong zum dritten Mal. »Und wenn sie fallen?«, fragte die Frau des Händlers. »Die Fliegenden Mentinis?« Der Kaufmann lachte. »Also so was!« Die Frau schüttelte sich und zupfte un ruhig an ihrem Schal. »Meine Güte, ich bekomme be stimmt Angst.« »Komm schon, meine Liebe, sie fallen nie. Nicht die Mentinis.« »Ich beschütze dich, Mama«, piepste der Junge. Freddy merkte, dass er an seinen Knöcheln kaute. So fort hörte er damit auf und öffnete ruckartig die Augen. Die Ladys fächerten sich Luft zu. Die Herren zupften an ihren Westen. In der Loge von Mistress Quick wies Goody Garvice einige ihrer Mündel zurecht. Baron Aldermyle machte einige anzügliche Gesten, während er eine derbe Geschichte illustrierte. Aber Freddy starrte unverwandt auf die königliche Lo ge. Spielten seine Augen ihm einen Streich? Durch einen Spalt zwischen dem Opernthron und dem Samtvorhang sah er eine wattierte Tür. Es war die Tür zur Ruhekam mer, und sie wurde jetzt geöffnet. Einige Gestalten kamen heraus. Feval. Mandy. Die fet te Frau. Und Miss Tilsy Fash. Die Königin umarmte sie, und die große Sängerin zog sich daraufhin zurück und verschwand in einem Korridor,
während die königliche Gesellschaft auf der Schwelle zur Loge stehen blieb. Ein Diener gab ein Signal, und im Or chestergraben hob der Dirigent seinen Stock. Eine Fanfa re ertönte, und die Zuhörer standen, auf, während sie der Königin und ihren Begleitern applaudierten. Freddys Gedanken überschlugen sich. Während er pflichtbewusst seine weiß behandschuhten Hände gegen einander schlug, konnte er nur an Tilsy denken. Dabei hatte er sie am Beginn der Pause gesehen, als er die Ge tränke holte! Er hatte kurz ihre Hand berührt, und sie hatte ihn angelächelt und ihm zugeflüstert, dass alles nach Plan lief. Und dann war sie zur Königin gegangen? Ein schrecklicher Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Er hörte auf zu klatschen und sank auf seinen Stuhl zu rück. Elsan Margrave zischte: »Freddy! Die Königin!« Ihre königliche Majestät stand noch. Freddy sprang wie von der Tarantel gestochen hoch und errötete. Hatten die anderen diesen Fauxpas etwa bemerkt? Aber eigentlich interessierte ihn das kaum. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre das eine Katastrophe für ihn gewesen, doch jetzt waren andere Gedanken für ihn weit wichtiger. Konnte Tilsy… Konnte Tilsy die Königin… gewarnt haben? Nein, das war unmöglich! Doch nun gab es zu Freddys Erstaunen eine Änderung in der königlichen Loge. Es dauerte nur einen Moment. Viele – vielleicht sogar die meisten – hatten es mögli cherweise nicht einmal gesehen. Es war eine kleine Ges te, ein kurzer Blick. Aber was dann passierte, war nur zu klar. Die Königin grinste und setzte sich auf den Stuhl des Prinzgemahls, und ihre Tante Umbecca nahm zunächst verlegen, dann jedoch gebieterisch auf dem Opernthron Platz. Der Applaus verstummte allmählich, und das Orchester fing wieder an zu spielen. Freddy Chayn hatte eine Hand vor den Mund geschlagen, und sein geheimes Wissen brannte wie Säure in seinen Augen. Verwirrt starrte er auf den Vorhang, der immer noch geschlossen war. Dann schob er den Stuhl zurück. »Entschuldigt mich, ich…« »Freddy, was ist denn los?« Aber Freddy war bereits verschwunden.
7. Und noch ein Schnaps »Wie? Was?« »Die Mentinis. Die Akrobaten.« »Ich habe dir doch schon gesagt, Bohne, dass es nicht geht.« Bohne starrte missmutig in sein schales Bier. Er hatte es kaum angerührt. »Ich habe ja auch nur gesagt, dass sie schon angefangen haben. Ich kann das Orchester hö ren, du nicht? Ganz leise?« Aber Polty hörte nicht zu. Er schlug auf die Theke, um ein neues Getränk zu bestellen. Bohne verzog das Gesicht und wagte nicht einmal, den Barmann anzusehen, als der ein neues Glas voll schenkte. Das wievielte war das, das fünfte? Seufzend schaute sich der Offiziersbursche mit geheucheltem Interesse in der HändlerLounge um. Er betrachtete die gepolsterten Stühle, die Teppiche aus Tiralon und das Porträt Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät, auf dem der König in seiner blauen Paradeuni form zu sehen war. Die Händler, falls es denn Händler waren, waren alle in den Zuschauerraum zurückgekehrt. Nur Polty und Bohne waren zurückgeblieben. »Die Stühle am Feuer sind jetzt frei«, sagte Bohne sanft. »Du möchtest nicht zufällig deine Stiefel trock nen?« »Ich glaube immer noch, dass wir zum Würger gehen sollten«, knurrte Polty. Bohne schluckte. »Bei diesem Wetter? Außerdem sind wir im Dienst. Was würde der Generalmajor sagen, wenn wir nicht da sind, wenn er uns braucht? Du weißt, dass wir kein Risiko eingehen dürfen. Nicht mehr.« Poltys Miene verfinsterte sich. Er beugte sich vor. »Komm schon, Bohne«, erwiderte er hitzig. »Dieser Mist hier dauert noch eine Ewigkeit. Möchtest du nicht dem Würger einen kleinen Besuch abstatten? Wir sind wieder zurück, bevor der alte Mistkerl was von uns will. Hol die Mäntel. Komm schon, letztes Mal hat es dir doch auch gefallen. Du bist zwar ein bisschen schüchtern, aber du wirst schon Geschmack daran finden, das weiß ich.«
Das stimmte nicht. Bohne mochte nicht einmal an dieses berüchtigte Etablissement denken, in dem sein Freund so viel von seiner Zeit verplemperte. Er stand auf und deu tete auf die Stühle vor dem Kamin. »Polty, draußen ist es eiskalt. Ich möchte… Ich spendiere dir eine Flasche.« Nach einem angespannten Moment richtete Polty sich auf und stolperte zum Kamin. Dem Lord Agonis sei ge dankt! Jetzt hatte Bohne nur noch ein Problem, doch das war nicht neu für ihn. Wie sollte er Polty später wieder von dem Stuhl hochbekommen? Immerhin hatten sie ei niges zu erledigen. Ihre Pflichten warteten. Aber darüber wollte er jetzt lieber nicht nachdenken. Und dennoch gingen Bohne für einen Moment die Pflichten dieser Nacht durch den Kopf. Er sah sich selbst, wie er bibbernd den Berg hinauffuhr, während die tote Mutter hinter ihm im Schnee lag. Er sah wieder, wie sie vor dem Großen Tempel hielten, sah die Gestalt, die sich in einen Mantel gehüllt zu ihnen herausschlich und das Kind aus Poltys Armen entgegennahm. Ja, alles war be reit. Und nichts davon war neu. Aber wenn Bohne sich ausmalte, was später passieren würde, schüttelte es ihn heftig, so als wäre er noch draußen in der eisigen Nacht. Er sank auf den Stuhl neben seinem Freund. »Das ist doch schön, nicht wahr, Polty?« Er schenkte Polty ein frisches Glas ein. Der stürzte es hinunter. Sie stellten ihre Füße auf den Kaminvorsetzer, und von ihren Stiefeln stieg feuchter Dampf empor. Bohne lehnte sich zurück. Konnte er es sich leisten, wenigstens einen Mo ment lang glücklich zu sein? Vielleicht, wenn er einfach nur vergessen könnte. Vielleicht bedeutete das ja Glück: die Fähigkeit zu ver gessen. Sein Kopf sank an das warme Leder, und er musterte Polty durch halb geschlossene Augenlider. Er betrachtete die blasse Gesichtshaut und das rote Haar, das beinahe hell wie das Feuer leuchtete. Fast wäre Bohne eingedöst und hätte von Polty geträumt, wie er auf der Höhe seines Ruhms ausgesehen hatte. Stattdessen öffnete er die Au gen wieder, als hätte ein böser Kobold ihn dazu gezwun gen. Der rosarote Schleier hob sich, und er bemerkte Pol tys aufgeblähte Wangen und den gespannten Stoff seines Wamses. Der arme Polty! Als es gegen Ende seiner Kindheit fast
schien, als wäre ihm ein Leben in Schande beschieden, hatte ihn eine merkwürdige Magie – wenn es denn Magie gewesen war – von einem kugelrunden Fleischklops in einen jungen Mann von teuflischer, athletischer Schönheit verwandelt. Doch jetzt, so schien es, verkehrte sich die ser Zauber in sein Gegenteil. Polty beugte sich schwankend über den kleinen Tisch zwischen ihnen, langte ungeschickt nach der Schnapsfla sche und nahm noch einen Schluck; dann griff er in seine enge Jacke, zog ein kleines Silberetui hervor und nahm einen Tobarillo heraus. Rauch kräuselte sich in die Luft. Polty inhalierte tief, während sich seine Miene verzerrte, als würden ihn beunruhigende Gedanken plagen. Das war nicht gut, ganz und gar nicht. Bohne war be unruhigt. »Du weißt, dass alles ihre Schuld ist, hab ich Recht?«, fragte Polty Bohne wusste nicht, ob er seinen Freund bit ten sollte, sich näher zu erklären, oder lieber das Thema wechseln sollte. Beides barg seine Risiken. Er hatte diese Rede häufig mit anhören müssen, und zwar immer, wenn Polty betrunken war. Es war das Beste, ihn nicht zu er mutigen, aber einfach ein anderes Thema anzuschneiden könnte fatale Folgen haben. Möglicherweise wurde Polty dann wütend. Am besten war, gar nichts zu sagen. Die Wärme des Feuers müsste Polty eigentlich schläfrig machen, und viel leicht vergaß er Catayane dann ja. Doch so viel Glück war Bohne nicht beschieden. »Ich sage dir, Bohne, es ist allein ihre Schuld. Sie ist doch meine Frau, meine rechtmäßig angetraute Ehefrau.« Das war sie keineswegs, aber Bohne schwieg wohlweis lich. »Wenn das Miststück nicht weggelaufen wäre, wäre all das niemals passiert.« Darauf wusste Bohne nichts zu erwidern. »Schließlich müsste ich Gewalt anwenden, habe ich Recht? Nur ein bisschen Gewalt, um ihr eine Lektion zu erteilen.« Bohne wünschte sich, Polty würde etwas leiser reden. »Ich wollte sie doch nur zurechtstutzen, stimmt’s? Zu ihrem eigenen Besten. Ich sage dir, wenn sie nicht gewesen wäre…« Polty traten Tränen in die Au gen, und seine Schultern bebten. »Und dieser Sultan… Er hätte nicht das getan, was er gemacht hat, hab ich nicht Recht? Er hätte doch nicht…« Bohne war rot angelaufen. Nervös warf er einen Blick
in Richtung Bar. »Polty, ich kann nicht zufällig auch einen Tropfen von diesem Schnaps bekommen, oder? Nur einen kleinen – « Polty stand ruckartig auf und warf dabei die Flasche um. »Wir gehen zum Würger Komm.« »Nein, Polty, nein!« Bohne war ebenfalls aufgesprun gen. Die dunkle Flüssigkeit wurde von dem Teppich unter ihren Füßen aufgesogen. »Meinen Mantel!«, befahl Polty »Und was glotzt du so?« Der Mann hinter der Theke drehte sich nervös weg. »Meinen Mantel, Bohne! Wo bleibt mein Mantel?« Verzweifelt redete Bohne auf seinen Freund ein. Polty wollte doch nicht wirklich in diese Kälte hinausgehen? Wäre es nicht viel schöner, am Feuer sitzen zu bleiben? Ja, sie konnten sich hinsetzen, und Bohne würde noch eine Flasche holen. Wäre das nicht das Beste? Polty beugte sich vor und presste die Hände auf seinen Unterleib. Er wäre gefallen, wenn Bohne ihn nicht ge stützt hätte. »Armer Polty, es geht dir gar nicht gut! Hier, stütz dich auf mich. Ja, so ist es richtig. Ich bringe dich zur Garde robe.« »Nur ein kleiner Blick?« »Nein, Cata.« »Nur um ganz sicherzugehen?« Es dauerte nur noch wenige Augenblicke. Hinter dem rot schimmernden Vorhang wartete die Bühne, dunkel und geheimnisvoll. Diesmal gab es kein Licht in der Mitte, aber in dem linken Vorhang sah Cata ein Loch. Es war ein kleiner Kreis aus gelbem Licht, fast wie ein kleiner Stern. Er befand sich in Augenhöhe. Genau richtig. »Nein, Cata.« Landa hielt ihre Freundin am Arm fest. »Du hast die Fanfare gehört. Sie ist wieder auf ihrem Platz. Schnell, auf deine Position.« »Du hast Recht.« Die beiden Frauen umarmten sich rasch. Sie vibrierten beinahe vor Anspannung. Der Ap plaus schallte donnernd durch den Vorhang. Cata hastete über die Bühne und nahm ihre Position in der Reihe ein. Die bemalten Leinwände hinter ihnen glänzten in dem Dämmerlicht. Sie zeigten ein hohes Gebirgsmassiv. Davor standen zahlreiche Mädchen in einem weit gespannten
Halbkreis, Landa am einen und Cata am anderen Ende. Cata warf einen Blick zu ihrer Mitverschwörerin. Die Mädchen trugen alle, wie die Fliegenden Mentinis es ver langt hatten, schwarze Kleider. Sie hatten keine Perücken aufgesetzt und ihr Haar zurückgebunden. Das einzig Auf fallende an ihnen waren ihre Gesichter, die strahlend weiß geschminkt waren. Für eine Verkleidung ist das gefährlich wenig, dachte Cata. Würde Jeli sie erkennen? Oder Tante Umbecca? Doch dann beruhigte sich Cata. Bis jetzt war alles nach Plan verlaufen. Sicherlich, einige der anderen Mädchen mochten sie nicht. Sie waren zwei Niemande, die auf grund einer Laune von Miss Fash in das Ballett befördert worden waren. Mehr als einmal hatte Cata einen neidi schen Blick bemerkt oder war scheinbar unabsichtlich gestoßen und geschubst worden. Manchmal hätte sie am liebsten zurückgeschlagen. Gestern hatte ein Mädchen Landa den Ellbogen ins Gesicht gestoßen, direkt aufs Au ge. Und heute hatte ein anderes Mädchen Cata bei der Kostümprobe ein Bein gestellt, und nur Landas schnelle Reaktion hatte sie vor einem Sturz bewahrt. Waren die Mädchen nur eifersüchtig? Oder vermuteten einige vielleicht etwas und tratschten mit ihren reichen, mächtigen Geliebten darüber? Doch diese Gefahr war jetzt vorüber. Jetzt mussten sie nur noch Jeli fürchten. Und Tante Umbecca. Cata erschauderte. Einen Augenblick erinnerte sie sich an einen alten Albtraum: Während die Mentinis durch die Luft flogen, sprang die Königin auf und rief den Namen ihrer alten Schulfreundin. Dann dröhnte Tante Umbeccas Stimme und forderte, dass die Wachen ihre entlaufene Nichte packten. Die ganze Mühsal war umsonst gewesen. All die sorgfältig ausgearbeiteten Pläne von Bob Scarlet, und all die heimlichen Übungen von Miss Fash. Hüls Hoffnungen. Und die von Bando. Die von Nirry. Nein, das war absurd. Es war bereits zu spät. In weni gen Augenblicken würden die Mentinis ihre Arbeit getan haben. Und Cata und Landa wären weit weg. Der Vorhang hob sich. Aus dem Orchestergraben drang majestätisch eine bekannte Melodie von Mr. Bachhoven, welche die Fliegenden Mentinis als Thema gewählt hatten.
Catas Herz hämmerte. Einen Augenblick lang schien die Bühne vollkommen ruhig zu sein, und nur die ge heimnisvollen weißen Gesichter leuchteten starr in dem gedämpften Licht. Dann jedoch flackerte ein Rampenlicht durch die Luft und erfasste eine Gestalt, einen Mann auf einem glänzenden Trapez, das hoch über den Zuschauern hing. Der Applaus wurde stärker. Der Mann hatte einen kahl geschorenen, leicht spitzen Kopf und einen bemerkens wert kräftigen Körper. Er wäre der Inbegriff von körperli cher Perfektion gewesen, doch ein kleines Detail störte: Dort, wo eigentlich seine Augen hätten sein sollen, befand sich nur glatte, unversehrte Haut. Den Mann jedoch schien das überhaupt nicht zu behin dern. Er trug ein enges, blauweiß gestreiftes Kostüm, und streckte zuversichtlich einen Arm aus. Es war die großzü gige Geste eines Gastgebers, der die Zuschauer einlud, mit ihm in eine andere Welt zu treten. Ein zweites Trapez sank herab, auf dem der zweite Mentini saß. Er sah genauso aus wie sein Bruder, bis auf den Anzug, der nicht blauweiß, sondern rotweiß gestreift war. Elegant schwangen die Brüder aufeinander zu, pack ten sich an den Händen, flogen durch die Luft und tausch ten die Trapeze. Die Zuschauer hielten den Atem an. Die blinden Män ner wiederholten ihre Nummer, drehten sich diesmal um die eigene Achse, schlugen Saltos, und das alles im Rhythmus der Musik. Cata kam es so vor, als sehe sie einem bemerkenswer ten Mechanismus zu, der immer kompliziertere Geschich ten mit der Präzision eines Uhrwerks abspulte. Was würde als Nächstes passieren? Sie wusste es genau. Sie sah, wie die Brüder wie Tänzer herumwirbelten, während sie zu einem lila Blitzstrahl verschmolzen: Sie sah, wie sie auf dem Hochseil spazierten, wie sie auf Zehenspitzen von einer Seite zur ändern tänzelten, hochsprangen und wie der auf dem Seil landeten. Die ganze Zeit sangen die Mädchen dabei im Chor ein höchst unpassendes, komisches Lied, irgendeinen Unsinn über wagemutige junge Kerle, die sprangen und sich drehten, immer fröhlich, immer lustig, sich schließlich in der Mitte trafen, und so weiter und so weiter… Cata hatte das alles schon vorher gesehen, immer und
immer wieder bei den Proben. Aber jetzt sollte das kom men, was sie noch nicht gesehen hatte, das, was sich nur heute Abend zutragen würde. Erst der plötzliche, scho ckierende Kampf mitten in der Luft, Blau gegen Rot, Rot gegen Blau. Dann die Faust des Roten, der Blaue, der in die Tiefe stürzte, und die verwirrten Zuschauer, die vor Schreck erstarrten. Und während dann alle Blicke die gestürzte Gestalt such ten und sich fragten, ob das wohl auch zu der Nummer gehörte, würde der rote Bruder sich ein letztes Mal in die Luft schwingen, wie ein Blitz in der königlichen Loge ein schlagen, die Königin ergreifen und sie mit sich hinweg tragen. Vorausgesetzt, alles lief nach Plan.
Wo ging es lang? Freddy Chayn stolperte über einen Flur und polterte eine Treppe hinunter. Das war das Geschoss für die Kauf leute. Er kam an einer Reihe geschlossener Türen vorbei, die ins Parkett führten. Dahinter hörte er das Orchester, gedämpft und etwas verzerrt. Aber war das auch der rich tige Weg? Dabei hätte er es eigentlich wissen müssen. War er nicht in der Pause hinter die Bühne gegangen? Und hatte er dort nicht Miss Tilsy Fash direkt vor ihrer Garderobe aufgelauert? Er bog um eine Ecke und sah zwei Blauröcke vor den Doppeltüren, die auf die Bühne führten. Mist! Waren das vielleicht dieselben wie vorher? Er erinnerte sich daran, wie sie sich in der Pause über den geistlosen jungen Gen tleman lustig gemacht hatten, der sich wegen einer Sän gerin zum Narren machte. Dabei waren die Wachen die Narren, jedenfalls hatte Freddy das in dem Moment ge glaubt. Sie betrachteten ihn neugierig. Die Pause war zu Ende. Also gab es für ihn keinen Grund, hier zu sein. Vielleicht lieferte seine Blässe einen hinreichenden Vorwand. »Mir… Mir ist nicht gut«, murmelte er und hielt sich die Hand vor den Mund. Ja, es waren dieselben! Sie kicherten schon wieder, je denfalls der eine. Der andere riss sich mit bemerkenswer
ter Mühe zusammen, verzog nur das Gesicht und deutete nach oben, zum Foyer der Gentlemen. »Ich glaube, ich kann nicht… Ich fürchte, ich schaffe es nicht bis…« »In die Waschräume der Adligen? Werden denn die der Gemeinen genügen?« Die Hand wurde gesenkt, und Freddy stürmte weiter, wobei er das Gelächter hinter sich ignorierte. War er nicht ein Prinz? Doch was bedeutete das schon? Ejland hatte das Fürstentum von Chayn zu einer bloßen Provinz de gradiert, einen Militärgouverneur eingesetzt und den fürstlichen Hof abgeschafft. Freddys Titel war kaum mehr als ein Hohn! Er war nicht einmal mehr reich! Sondern nur einer von Constansias Parasiten. Mittlerweile hatte sich das anscheinend sogar bis zu den Wachsoldaten herumgesprochen. Er stürmte noch eine Treppe hinunter. Er wollte nicht zum Adel, sondern zu den Gemeinen, ja. Er hatte den Grundriss dieses muffigen alten Labyrinths genau stu diert. Die Garderoben der Händler waren einmal für die Schauspieler reserviert gewesen. Es gab einen Zwischen gang, der hinter die Bühne führte. Den musste er neh men, aber was sollte er tun, wenn er erst dort war? Die Verzweiflung zwang ihn in die Knie. Ach, Tilsy! Hat te sie ihre Freunde wirklich betrogen? Aber er war doch in Zenzau monatelang nicht von ihrer Seite gewichen. Er war bei ihr gewesen, als Bob Scarlet ihre Kutsche überfal len hatte und Tilsy, statt in Ohnmacht zu fallen, den We gelagerer umarmt hatte. Kühn hatte sie erklärt, dass sie jetzt Partner wären und gemeinsam an dem Sturz des Regimes der Blauröcke arbeiten würden. In diesem Mo ment hatte Freddy begriffen, dass in Miss Tilsy Fash weit mehr Mumm steckte, als er jemals vermutet hatte. In diesem Moment wusste er, dass er sie liebte. Doch was sollte er jetzt von ihr halten? War das alles nur vorgetäuscht gewesen? Freddy wünschte sich fast, er hätte alle Vorsicht fahren lassen und seine Warnung in den Zuschauerraum hinaus geschrien. Nicht, hört auf! Nein, tut es nicht! Bestimmt hätten alle gedacht, dass er verrückt geworden oder aus einem Albtraum aufgeschreckt sei. Alle, bis auf die Flie genden Mentinis. Aber wie sollte er sie jetzt warnen? Er rappelte sich wieder hoch. Als Freddy in die Händ
lerLounge stürmte, wirkte er wie ein Mann, dem wirklich gleich übel werden würde. Die Garderobe! Wo ging es zur Garderobe? »So… Das ist besser, hab ich Recht?« Polty antwortete nicht sofort. Bohne seufzte. Früher einmal hatte sein Freund, wie jeder aufrechte Bursche aus dem Tarn, nur Bier getrunken. Jetzt jedoch musste es Vantage sein, der in ganz Ejland als besonders stark be rüchtigte Schnaps. Bohne schwankte schon nach einem einzigen Gläschen! Polty hockte auf den Knien und hielt den Kopf über ein rundes, stinkendes Loch. Von Zeit zu Zeit stöhnte er, und Fäden von Erbrochenem hingen aus seinem Mund. »Warte, lass mich dir den Mund abwischen.« Bohne sah sich besorgt um. Auf den Latrinen der Gemeinen gab es keine Trennwände. Wenn jetzt jemand hereinkam, würde sein Freund einen armseligen, ja grotesken Anblick bieten. Und das würde Polty sicher nicht gefallen. Der Betrunkene schniefte laut. »Ich sage dir, Bohne, wenn ich sie wiedersehe…« Seine Worte hallten in dem stinkenden Loch wider. »Und ich werde sie wiedersehen, Bohne, und diesmal werde ich sie zähmen… Ich werde sie zähmen, das verspreche ich dir!« »Leise, ich weiß… Kannst du stehen, Polty?« Bohne legte seinem Freund den Arm um die Schultern. »Wo… Wo ist sie, Bohne?« Polty stützte sich schwer auf seinen schlaksigen Gefährten und zog sich an ihm hoch. Er war grün im Gesicht, und sein Atem stank. Mit glanzlo sen Augen sah er sich um, als ob seine verlorene Geliebte irgendwo lauerte und sie spöttisch aus einer Ecke dieser widerlichen kalten Kammer beobachtete. »Glaubst du… dass sie nach Ejland zurückgekehrt ist? Oder befindet sie sich noch in Unang Lia? Zusammen mit diesem verkrüp pelten Jungen? Oder… oder vielleicht…?« »Shh, Polty, leise. Vielleicht ist sie weit weg, vielleicht aber auch näher, als wir glauben.« Polty stolperte und wäre beinahe gefallen. »Ich werde sie finden, Bohne… Ich werde sie finden, das versichere ich dir!« »Shh. Ich weiß, ich weiß… Polty, kannst du gehen?« Und Bohne fügte mutig hinzu: »Du weißt, dass wir noch
im Dienst sind, nicht wahr? Heute gibt es keinen Schnaps mehr. Nicht heute Abend.« Bohne wusste, dass er viel riskierte. Zu jeder anderen Zeit hätte Polty ihn zurechtgewiesen, aber jetzt hörte er kaum zu. Zu Bohnes Entsetzen schluchzte er plötzlich und sank auf den gefliesten Boden. »Bohne, Bohne«, rief er, »warum wollte sie mich nicht lieben? Die grausame Cata! Weiß sie denn nicht, dass sie für mich bestimmt ist? Und ich für sie? Dieses Miststück, dieses böse Miststück! Weiß sie denn nicht, dass ich sie mehr liebe als mein Leben?« »Leise! Polty, bitte… Nicht hier…!« Bohne hatte in seinem Leben schon viel Leid ertragen müssen, und oft war er von Entsetzen geschüttelt wor den. In dieser Nacht war bereits zu viel Schlimmes ge schehen, und es würde noch Furchtbareres passieren, bevor sie endlich vorüber war. Aber seine schlimmste Angst war die, dass der arme Polty endgültig zusammen brechen und sein Verstand wie ein Faden reißen würde. Bohne kniete sich auf den kalten Boden, vollkommen erfüllt von dem Wunsch, seinen Freund zu trösten. Die Tür flog auf. Polty fuhr hoch. »Was… Was will der denn hier?«, rief er. »Polty!«, zischte Bohne. »Wir sind in einem öffentli chen Waschraum…« Freddy Chayn blieb erstaunt stehen und wich dann beim Anblick von Polty und Bohne unwillkürlich einen Schritt zurück. »Ich sagte, was will er hier?« Poltys Stimme war nur noch ein lautes Krächzen. Verzweifelt versuchte Bohne, ihn zum Schweigen zu bringen. Es war schon demütigend genug, dass man ihnen den Eintritt in die GentlemenLounge verwehrt hatte. Wenn man sie jetzt auch noch aus der Lounge der Händler warf, wäre das Maß übervoll. Polty hatte seinen Stolz. Und musste es denn wirklich sein, dass er in einem derartig entwürdigenden Zustand von diesem parfümierten, Perücke tragenden Schmock gesehen wurde? Bohne schluckte, und Polty richtete sich schwankend auf. »Wenn Ihr entschuldigen würdet… meine Herren Offi ziere«, stammelte Freddy. »Ihr werdet begreifen, dass ich ebenfalls ein dringendes Bedürfnis verspüre…« »Hier? Diese Waschräume sind für Händler reserviert!«
Poltys Gesicht war nicht mehr grün, sondern rot. Er wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und schnaubte wütend. »Ich habe Euch schon einmal gesehen. Ich kenne Euch. Ihr seid eine vornehme Schmeißfliege. Ein schmut ziger kleiner Parasit. Und haltet Euch für besonders vor nehm, hab ich Recht? Euer lächerliches Reich befindet sich nicht mal auf der Landkarte. Wenn ich endlich mei nen Titel erbe, werde ich Euch ausradieren. Oh ja, ich weiß, wer Ihr seid. Ich kenne Euch.« Bohne schlug die Hände vors Gesicht. Genau vor einer solchen Szene hatte er sich gefürchtet. Und dann spielte sie sich auch noch ausgerechnet hier ab, in einem Waschraum! Freddy dachte nur an den Geheimgang an der Rück wand. Ja, er konnte ihn schon sehen. Er hatte keine Zeit zu verlieren. Ich muss sie warnen. Wen interessierten schon diese betrunkenen Narren? Sollten Sie denken, was sie wollten! Er trat einen Schritt vor. Polty ebenfalls. Freddy trat wieder zurück. »Polty, lass ihn in Ruhe. Er ist nur ein Schmock.« »Glaubst du das wirklich, Bohne? Ich glaube, dass er uns nachspioniert!« »Sei nicht albern!«, fuhr Bohne ihn an. »Lass uns ein fach hier verschwinden! Wir sind im Dienst, vergiss das nicht!« Er hätte genauso gut gegen eine Wand reden können. Freddy schluckte und nahm seinen ganzen Mut zusam men. Wieder trat er einen Schritt vor. Diesmal stieß Polty ihn gegen die Brust. »Komm schon, du Schmock, wer hat dich geschickt? Was hast du gehört?« »Polty, das reicht!«, sagte Bohne. »Komm endlich!« Fast wäre es gut gegangen, aber da trat Freddy noch einen Schritt vor. Diesmal schlug Polty zu. Er schüttelte sich vor Lachen, als der Prinz von Chayn wie ein Sack zu Boden stürzte und sich den Kopf an den Steinen anschlug. Die Perücke fiel herunter und enthüllte sein spärliches kupferrotes Haar. Freddy zuckte noch ein Mal und blieb dann re gungslos liegen. Bohne stöhnte. »Polty, was hast du getan?« Aber Polty lächelte. Jovial legte er einen Arm um die Schulter seines Freundes. »Was denn, Bohne, willst du
hier etwa Wurzeln schlagen? Komm schon, ich brauche noch ein Gläschen.« Blind mögen sie sein, aber sie fliegen so schnell,
Dass sie niemals sehen, was an ihnen vorübersaust:
Sie wirbeln und drehen sich herum, bis sie am Schluss
Sich in der Mitte treffen und Bummsfallera.
Bumms! Bumms! Bumms!
Triumph oder Verzweiflung. Entweder… Oder. Triumph oder: Plan B. Plan B verhieß Verzweiflung. Bumms! Von all den albernen Liedern, die Cata für die sen Abend gelernt hatte, war dieses bei weitem das al bernste. Sie neigte sich im Rhythmus mit den anderen Mädchen vor und zurück und hob freudig die Stimme, als die blinden Akrobaten sich in ihren gestreiften Kostümen hin und her schwangen, sich drehten, herumwirbelten und wie Bälle durch die Luft hüpften. Welche Kraft! Wel che Präzision! Die Gesichter im Parkett waren alle stau nend nach oben gewendet. Im ganzen Theater konnte man hören, wie die Leute nach Luft schnappten, selbst die Adligen. Wie hell die Trapeze blitzten! Männer? Ja. das sind sie, aber es könnten auch
Irgendwelche Vögel sein, die so frei fliegen:
Auf und ab, und dann… sieh doch, hast du das gesehen?
Sie haben sich in der Mitte getroffen und Bummsfallera
Bumms! Bumms! Bumms!
Das war der Höhepunkt der Nummer. Cata bemühte sich, weiter zu lächeln. Aus dem Augenwinkel konnte sie Landa erkennen, wie ihr eigenes Spiegelbild am anderen Ende der Bühne. Ihre Freundin hatte sie mit verträumter Stim me aufgefordert, einfach alle Ängste zu verbannen. Schließlich war Landa eine Priesterin der Viana, und sie riet Cata, sich nur auf die Melodie des Orchesters zu kon zentrieren, auf die Tanzschritte und die albernen Wörter des Liedes. Lass es passieren, hatte Landa gesagt. Denk nicht nach. Die eigentliche Aktion wird so schnell vorbei sein, dass wir kaum wissen, wie uns geschieht. Wenn es nur so wäre! Cata runzelte die Stirn. Nervös schlurfte sie im Kreis herum, eingehakt in den Arm des
Mädchens neben ihr. Bumms!, sang sie, Bumms! Bumms! Aber die ganze Zeit nahm sie diesen anderen Rhythmus wahr, ihren Herzschlag, der unheilvoll pochte, und das keineswegs in dem fröhlichen Dreivierteltakt… In letzter Zeit hatte Cata etwas zu oft dieses alarmierende Gefühl von Unwohlsein verspürt. Zuerst hatte sie des sen Ursache geleugnet, sogar vor sich selbst. Erst im letz ten Monat hatte sie die Wahrheit akzeptiert. Es passte auch einfach zu gut. Diese Nacht mit Jem in Unang Lia, im Heiligtum der Flamme… Wie hatte sie nur eine solche Närrin sein können? Und doch, wie sie sich nach diesem Kind sehnte! Bis jetzt kannte nur Nirry Catas Zustand. Aber sie frag te sich, wie lange sie ihr Geheimnis wohl noch für sich behalten und wie lange sie ihr Rebellenleben noch weiter führen konnte. Nirry würde sich um sie kümmern, das wusste Cata… aber trotzdem hatte sie Angst, nicht zuletzt wegen der Hilflosigkeit, der sie bald ausgeliefert sein würde. Im Moment allerdings hoffte sie nur, dass sie sich nicht übergeben musste oder stolperte. Nichts durfte das stö ren, was sich gleich ereignen würde. Schon bald würde das Mädchen, das Cata einst als Jeli Vance gekannt hatte, auf die Bühne sausen und krei schend in den Armen des Roten Mentini zappeln. Cata und Landa würden rasch jeweils eine Hand der Königin packen und sie dann mit Seilen fesseln. Daraufhin würde sich Jeli in die Luft erheben, während Cata und Landa sich an Seilen festhielten und hinauf in die Soffitten schweb ten. Dann würden sie die Königin durch eine Klappe in der Decke schieben, über das Dach des Nachbarhauses trei ben und dann hinunter in eine Gasse bringen, wo Hul und Bando in gestohlenen Uniformen bereits in einer Kutsche warteten, die als Fahrzeug der Blauröcke getarnt war. In der Zwischenzeit sollte der Blaue Mentini wieder auf die Bühne zurückgekehrt sein und sich zusammen mit seinem Bruder ebenfalls in die Soffitten emporgeschwun gen haben. Beide würden dann ebenfalls über die Dächer verschwinden, und die Bühnenarbeiter, welche die Me chanik bedient hatten, wären in der allgemeinen Verwir rung längst untergetaucht. Miss Fash und Freddy Chayn würden vollkommen unschuldig wirken. Es muss jeden Moment so weit sein, dachte Cata. Sie
drehte sich am Arm ihrer Partnerin im Kreis herum und bemühte sich verzweifelt zu lächeln. Bitte, lass es funktionieren, bitte, bitte. Tonartwechsel. Die letzte Strophe. Bumms! Bumms! Die weißen Gesichter der anderen Mädchen schienen zu verblassen. Als Cata sich umdrehte, sah sie die Szene im Zuschauerraum. Sie sah das blaue, gestreifte Kostüm und auch das rote, die sich hoch oben trafen und wieder trennten. Sie sah die silbern schim mernden Trapeze, die königliche Loge, auf die sie jedoch nur einen kurzen Blick werfen konnte, als das Bühnenlicht sie blendete. Dennoch blieb Cata beinahe das Herz stehen. Wie konnte das sein? Was war mit Freddy los? Was hatte das zu bedeuten? Sie verkrampfte sich und stolperte, verlor ihren Platz in der Reihe. Das Mädchen neben ihr stieß sie an. Cata achtete nicht darauf. Bumms! Was stimmte da nicht? Alles war mit äußerster Präzision geplant worden, jede Bewegung in die Sinne der Brüder eingegraben worden. Und jetzt kam der entscheidende Moment. Der Rhythmus steigerte sich zum Höhepunkt. Wieder flogen sie aufein ander zu, die beiden blinden Brüder, bereit, ein letztes Mal zusammenzustoßen. Doch nein, diesmal holte der Rote Mentini aus und ver setzte dem Bruder einen Schlag. Die blaue Gestalt segelte ins Parkett hinunter. Schreie wurden laut. Der Dirigent drehte sich erschrocken um. Das Orchester geriet voll kommen aus dem Takt, Geigen quietschten und das Cembalo verstummte. In der königlichen Loge duckte sich Königin Jeli; der Lektor und der Generalmajor sahen sich erschrocken an. Aber für höfliche Floskeln blieb keine Zeit. Unter lautem Gekeife erhob sich eine empörte Tante Umbecca vom Opernthron und schlug den Angreifer zu rück, der verzweifelt an ihrer massigen Gestalt herum zerrte. »Lasst mich los, Herr, lasst mich!«, schrie die fette Frau und holte mit ihren fleischigen Händen aus. Der General major benutzte seinen Stock als Degen, aber es war Um beccas Hieb, der zuerst traf. Ihre Faust wirkte wie ein Felsbrocken. Der Rote Mentini stürzte hinab. Umbecca sank auf den Thron zurück und presste eine
Hand über ihren gewaltigen Busen. Gentlemen um schwärmten sie, und die Lakaien sprangen vor. Hastig fächerte sie sich mit ihrem Fächer Luft zu. Unten schwärmten die Wachen durch das Parkett. Der Blaue Mentini sprang auf, als wollte er seinen Bruder ret ten. Vergeblich. Schüsse peitschten auf und durchdrangen die Kakophonie der Schreie. Cata schlug verzweifelt die Hände vors Gesicht. »Plan B! Oh nein…!« »Rasch!«, rief Landa. »Nichts wie weg hier…!« »Aber die Mentinis! Wir können sie doch nicht ein fach…« »Wir können nichts für sie tun! Schnell, Cata…!« We nigstens waren die Seile aus den Soffitten herabgelassen worden.
9 Zeremonie in der Krypta Nicht ein einziges Mal! Nicht ein einziges Mal, darauf wür de sie wetten! Goody Olch, die ehrbare Wirtin der Katze & Krone, rauschte im Vollgefühl ihrer Wichtigkeit in den hinteren Teil ihres Lokals. Sie musste die Küche überprüfen. Dass dies nötig war, stand völlig außer Zweifel. Sicher, ein Mädchen aus dem Viertel half dort aus, aber es war nutz los – schlimmer noch als einige der Flittchen, mit denen sich Nirry damals als Regimentsköchin hatte begnügen müssen. War der Spießbraten gewendet worden? War das Ragout auch nur ein einziges Mal umgerührt worden? Nirry nahm eine Kerze von einem kleinen Regal und zündete sie mit einem Kienspan an. Mit stählernem Blick wollte sie gerade in den Keller stürmen, als eine plötzliche Bewegung auf dem Treppenabsatz sie zurückhielt. Zuerst war sie beunruhigt. Doch dann erkannte sie das Tram peln. »Jungs!«, rief sie. »Jungs, hört sofort auf! Wie kommt ihr dazu, um diese nächtliche Zeit hier so ein Spektakel zu veranstalten?« Im Nu stand Nirry auf dem Treppenabsatz und trennte strengen Blickes die beiden vollkommen gleich aussehenden Zwillinge. Die dunkelhäutigen Jungen knufften sich
gegenseitig. »Werde ich langsam verrückt«, sagte Nirry, »oder ha be ich euch beide nicht gerade ins Bett gesteckt? Ich bin sicher, dass ich das getan habe, und die Kerze habe ich auch ausgeblasen, stimmt’s? Also, was hat das zu bedeu ten? Raggle? Taggle?« Raggle schniefte laut. Er wand sich in Nirrys Griff, und sein kleines Nachthemd bauschte sich. Seine Fäuste wa ren immer noch geballt. Taggle ließ den Kopf hängen. Im Licht der Kerze erkannte Nirry Tränen in Raggles Augen. Durch die Tür des privaten Salons hörte man gedämpftes Lachen und das Klirren von Bierkrügen. Sie musste die Jungen zurück ins Bett bringen. »Jungs, das sieht euch doch gar nicht ähnlich, habe ich Recht? Dass ihr in meiner Taverne wie die Wilden herum lauft, erwarte ich ja, aber dass ihr euch prügelt? Mitten in der Nacht? Was soll das? Erzählt es Tante Nirry, ja? Komm schon, Raggle, lass die Faust sinken.« Raggle gehorchte, wenn auch zögerlich. »Taggle«, meinte er schniefend, »Taggle hat gesagt – « »Hab ich gar nicht!«, platzte der Beschuldigte heraus. »Ich hab gesagt vielleicht, mehr nicht…« »Stopp, hört auf!« Nirry kniete sich hin. Ärgerlich schaute sie zwischen den beiden Brüdern hin und her. »Wer hat nun was gesagt?« »Taggle«, brach es aus Raggle heraus, »hat gesagt, Papa ist tot.« Nirry hatte das Gefühl, als greife eine kalte Hand nach ihrem Herzen. Das Schicksal ihres eigenen Vaters, Ste phel, beschäftigte sie sehr. Das Letzte, was sie gehört hatte, war, dass der alte Verwalter und Kutscher aus Lady Umbeccas Diensten entlassen worden war. Nirry wusste nicht, ob er noch in Agondon war. Sie stellte sich gern vor, wie sie ihn fand und sich um ihn kümmerte. Aber auch, wenn Nirry fürchtete, ihren Vater zu verlieren, war ihre Angst, dass die beiden kleinen Jungen den ihrigen verlieren könnten, noch viel größer. »Aber warum… Warum sagst du so etwas, Taggle?«, wollte sie wissen. »Papa war doch noch heute hier, hab ich Recht? Hat er euch nicht besucht? Kommt er nicht immer und besucht euch?« »Er könnte gestorben sein«, sagte Taggle. »Könnte.«
Was sollte Nirry darauf antworten? Dass Bando getötet werden könnte, war möglich, sogar wahrscheinlich. Bei Zappelphilipp war das eine andere Sache. Er war in Si cherheit, wenn er in der Taverne blieb. Ein gewisser roter Bursche hatte Nirry versprochen, dass Zappelphilipp in keinem Krieg kämpfen musste, solange die Rebellen ihre Taverne als Ausgangsbasis benutzen konnten. Das war ein kleiner Trost für Nirry, und mittlerweile das Einzige, was sie mit den Rebellen verband. Aber Bando? Der alte Rebell war leichtsinnig. Wenn er ums Leben kam, was sollte dann aus seinen Jungen werden? »Raggle… Taggle… Ihr wisst, dass es hier für euch si cherer ist. Ihr wollt doch sicher nicht draußen in diesem schrecklichen Bauernhaus wohnen, oder? Ich habe so sehr versucht, es euch schön zu machen, und nun sagen mir meine beiden besten Gäste, dass es ihnen nicht ge fällt! Was glaubt ihr wohl, wie ich mich dabei fühle?« »Willst du damit sagen… dass Papa nicht stirbt?«, frag te Taggle nach einem Moment. »Papa ist mutig«, erklärte Raggle. »Er ist ein Held.« »Und was war mit Mama?« Taggles Stimme brach. »Sie war auch eine Heldin, oder etwa nicht? Sie war eine Kriegerin, und jetzt ist sie tot.« Bei diesen Worten brach Taggle in Tränen aus. »Heulsuse«, spottete Raggle, aber es klang nicht gera de überzeugend. Er hatte Mühe, seine eigenen Tränen zurückzuhalten. »Leise!« Nirry warf einen besorgten Blick auf die Tür des privaten Salons. »Jungs, ich will nichts mehr davon hören. Euer Papa kämpft da draußen heldenhaft für… für die Freiheit, und seine beiden Söhne prügeln sich hier. Das ist doch nicht richtig, hab ich Recht!« Raggle schüttelte den Kopf, und Taggle schluchzte wieder. »Komm schon, Taggle, komm her.« Nirry nahm ihn in die Arme und hob ihn hoch. »Meine Güte, was bist du für ein Brocken! Du wirst mit jedem Tag schwerer. Raggle, nimm die Kerze, ja? So, und jetzt kommt, ich bringe euch beide zurück ins Bett. Und wenn ihr noch mehr Fisimaten ten macht, dann… dann bekommt ihr wirklich Ärger. Nur damit wir uns richtig verstehen, ich rede davon, dass es morgen früh kein Frühstück gibt, diesen Arger meine ich!«
Das brachte die Jungen zumindest für eine kurze Zeit zum Schweigen. Raggle schluckte, und schließlich fragte Taggle: »Tante Nirry, erzählst du uns von deiner alten Herrin und den Riesenfrühstücken, die sie immer ver schlungen hat? Und den riesigen Mittagessen und Abend essen?« Raggle zog an ihrer Hand. »Oh ja, Tante Nirry! Erzähl uns von der fetten Frau, ja?« Nirry seufzte. Ob sie noch einmal in die Taverne zu rückkam? Aus dem privaten Salon drangen jetzt wilde Flüche. Die Jungen waren an die Geräusche gewöhnt, die jeden Abend in der Katze & Krone vorherrschten. Aber diese Geräusche waren für Nirry nicht normal. Die Adligen… Adel, von wegen!… Sie wurden allmählich unruhig. Nirry stieg mühsam die Treppe hinauf und wünschte sich, dass sie Taggle nicht so bereitwillig auf den Arm genommen hätte. Sie wollte ihm gerade sagen, dass ein großer Junge seine Beine benutzen sollte, wenn er das Glück hatte, zwei gesunde sein Eigen zu nennen, als ein beunruhigendes Geräusch draußen am Fenster ertönte. Nirry hielt die Luft an und ließ Taggle zu Boden gleiten. Raggle schaute sie mit großen Augen an. »Tante Nirry! Was ist das?« Hinter dem Vorhang hörte man ein leichtes Rascheln, dann ein Quietschen, und schließlich blies ein kalter Windstoß die Kerze aus. Jemand war durch das Fenster eingestiegen! Nirry schrie leise auf. Raggle und Taggle kreischten vor Vergnügen. »Shh!« Die dunkle Gestalt legte schwer atmend einen Finger auf Nirrys Lippen. Durch einen Spalt im Vorhang drang ein Strahl des Mondlichts. »Ich bin es nur, seht ihr das nicht?« Aufgeregt stürzten sich Raggle und Taggle auf den Neuankömmling. »Hört sofort damit auf!«, rief Nirry und verdrehte die Augen. »Wirklich, Miss Cata, könnt Ihr nicht die Tür be nutzen, wie jeder andere auch? Als wenn ich nicht schon genug um die Ohren hätte! Jetzt bekomme ich diese bei den kleinen Quälgeister überhaupt nicht mehr ins Bett. Und seht Euch nur an, bloß mit einem Fähnchen von Kleid angetan, und das in diesen empfindlichen Umständen!
Seht Euch nur an! Was soll dieses weiße Zeug in Eurem Gesicht? Dummes Ding, es ist schon ein Wunder, dass Ihr wisst, dass Ihr geboren seid! Aber nun kommt, setzt Euch ans Feuer und nehmt einen Schluck von – « »Shh! Shh!« Cata rang nach Luft und musste lachen, obwohl es nichts zu lachen gab. »Nirry, ich bin entkom men. Ich bin über die Dächer gelaufen.« »Entkommen? Miss Cata, wollt Ihr damit sagen…?« Cata senkte die Stimme. »Es ist schief gegangen. Der Plan ist gescheitert.« Nirry stieß erneut einen Schrei aus und schlug sofort die Hand vor den Mund. Aber zwischen den Fingern flüs terte sie: »Ist jemand gestorben?« »Nein, es ist alles in Ordnung.« Zärtlich drückte Cata Nirrys Schultern. »Bando ist nicht tot. Niemand ist tot.« »Papa lebt! Er lebt!«, rief Raggle. Besorgt ließ sich Taggle vernehmen: »Aber ist er noch ein Held?« »Ach, Taggle!« Cata fuhr dem Jungen durch das wider spenstige Haar. »Natürlich ist er noch ein Held. Und er ist entkommen… Wir alle sind entkommen.« Bis auf die Men tinis, dachte sie. Aber Cata wollte vor den Jungen nicht von den beiden Akrobaten reden. »Uns bleibt immer noch der morgige Abend«, fuhr sie mit gezwungener Fröhlich keit fort. »Plan A hat nicht funktioniert, also gehen wir einfach zu Plan B über, das ist alles. Habe ich schon ge sagt, das Plan B noch besser ist? Habe ich… Habe ich das nicht schon immer gesagt?« »Oh, aber dein Wegelagerer-Freund hat das nicht ge sagt, oder?« Nirry deutete auf die Tür des privaten Sa lons. Bob Scarlet wollte mit der Gefangenen, die er heute Abend präsentieren zu können glaubte, seine Autorität über die bunt zusammengewürfelte, etwas unberechenba re Rebellen-Liga untermauern. Aber jetzt? »Wollt Ihr mir sagen, dass ich jetzt mit einem ganzen Salon voller Hals abschneider dasitze, die alle erwartet haben, eine… eine bestimmte Person zu sehen, und zwar gefesselt und ge knebelt, und dass eben diese Person durch Abwesenheit glänzt? Wird Euer Meister Scarlet das seinen Leuten er klären, Miss Cata, wird er das?« Cata senkte den Blick. Sie fror in dem dünnen schwar zen Kleid und rieb sich die Arme. »Wohl nicht«, erwiderte sie verunsichert.
»Was!« Nirry fuhr hoch. »Bob ist mit Hul und Bando nach Corvey Cottage gerit ten. Landa ist bei ihnen. Sie dachten, sie sollten… Na ja, Bob glaubte, sie sollten lieber verschwinden, bevor die Blauröcke die ganze Stadt auf den Kopf stellen.« »Das haben sie also tatsächlich getan, ja? Das ist ja nett, was?« »Nirry, Nirry!« Cata schüttelte den Kopf. »Ich teile der Rebellen-Liga die Neuigkeiten mit, keine Sorge. Deshalb bin ich ja hier. Glaubst du wirklich, ich würde Zappelphi lipp und dich mit dem ganzen Haufen allein lassen? Wa rum bringst du diese beiden Rabauken nicht einfach ins Bett? Ich ziehe mich nur schnell um und helfe dann Bai nes und dir unten in der Taverne.« Jetzt schüttelte Nirry seufzend den Kopf. »Ich weiß nicht, warum ich diesen ganzen Rebellen-Unsinn mitma che, Miss Cata«, zischte sie. »Wenn ich damit nicht die Sicherheit meines Zappelphilipp erkaufen würde, dann würde ich das wohl nicht tun. Wenn die da unten nicht genauso schlimm wären wie die Blauröcke, würde ich… Ach, ich hoffe nur, Ihr wisst, was Ihr tut.« »Das weiß ich, Nirry.« Cata kniete sich hin und küsste die Jungen. »Und jetzt ab ins Bett, ihr beiden.« Mit diesen Worten huschte Cata die Treppe hinunter, während Nirry die Jungen fest an die Hand nahm und sie hinter sich her zog. Aber sie drehte sich noch einmal zögernd um, als ein Lichtschein aus der Tür des privaten Salons drang. Einen Moment wurden die Geräusche der Feiernden lauter, und Nirry erhaschte einen Blick auf den armen Zappelphilipp, der mit einem Bierkrug in der einen und einer Schnapsfla sche in der anderen Hand die bunt gemischte Gesellschaft bediente, die wie eine Piratenbande wirkte und sich die Rebellen-Liga nannte. Eifrig drehten sich die Halsabschneider zur Tür um, als das hübsche, etwas mitgenommene Mädchen auftauchte. Dann schloss sich die Tür hinter Cata. Und das alles in ihrem heiklen Zustand!, dachte Nirry missbilligend. Mitternacht. Während die ganze Stadt unter einer weißen Schnee decke schläft, geschieht etwas Merkwürdiges in einem Labyrinth tief unter der Erde. Das Mondlicht, das durch
die Wolken dringt, fällt zunächst auf einen Spiegel, dann auf einen anderen und wird von einem Turm aus Spiegeln tief hinunter in eine unterirdische Kammer geleitet. Hier, zwischen Säulen und Gewölben, versammeln sich schwei gend dunkel gekleidete Gestalten. In der Nähe der Decke warten merkwürdigere Wesen, die wie Vögel aussehen und purpurn glühen. Alle sind höchst gespannt. Da kommt er, der weiß gekleidete Anführer. Die Glo cken verstummen, als er die Hände hebt. Ekstatisch blickt er in das reflektierte Mondlicht, sein Gesicht ein Spiel aus Schatten und Gold. Verzückt wendet er sich an seine Bru derschaft, und auch an die Vogelwesen, die neuen Kom plizen im Bösen, die er als Lilane tituliert. Er spricht von einem Wesen, das auf der Lauer liegt, ein Wesen, das sie bald, sehr bald, zu dem führen wird, was sie vielleicht als Erlösung ansehen, vielleicht als Ver dammnis, die sie alle herbeisehnen. Er spricht vom Mor gen, von der Inauguration, mit der der Maskenball begin nen wird, der Vogelball, und mit der er auch enden wird. Was sind diese Ereignisse in Wahrheit anderes als Vorbe reitungen auf größere Dinge, auf gewaltigere Dinge und auf unermesslich viel Böseres, als diese Stadt jemals zu vor erlebt hat? Er spricht von den fünf Gott-Tagen, die dem Fest folgen werden, und von all dem, was sich ganz sicher ebenfalls noch ereignen wird. Seine Stimme wird lauter. Er spricht von einem Böse wicht, den er Jemany den Krüppel nennt, der jetzt in sei ne Klauen geraten wird. Er spricht von der Macht des O rokon und den Fünf Kristallen, die bald, sehr bald ihm und nur ihm gehören werden. Er wirft den Kopf zurück und lacht über die Narren in der Stadt über ihm, Gefangene ihrer Ignoranz, die nichts wissen und sich die neue Welt ordnung nicht einmal vorstellen können, die sie erwartet. »Vereinigt Euch, meine Brüder, Lilane, vereinigt Euch!« Hinter dem Altar bauscht sich ein schwarzer Vorhang. Aber ist das nicht der Vorhang, der schon einmal fortge rissen wurde und Toth-Vexrah in das Reich des Seins ent ließ? Welches neue Entsetzen kann sich jetzt dahinter verbergen? Was kann es sein, diese Erlösung, diese Ver dammnis? Die Brüder singen. Und so lautet ihr Mantra:
Vogel des Nicht-Seins, mächtiger Vogel des Feuers, Komm zu uns, komm und entfache unser Begehren, Komm zu uns, komm und stille unser Begehren! Vogel des Nicht-Seins, mächtiger Vogel der Flut, Komm zu uns, komm und bade uns in Blut! TOTH, der Sassoroch ist, wartet nun auf dich, TOTH, der Chorassos ist, wird mit dir fliegen! Vogel des Nicht-Seins, mächtiger Vogel des Eises, Komm, lass uns dir unser Opfer darbringen! Vogel des Nichts-Seins, mächtiger Vogel des Schnees. Komm zu uns, bring uns dorthin, wohin die Geretteten gehen müssen: Bring uns zu den Bergen aus Eis und Schnee! TOTH, der Chorassos ist, wartet jetzt auf dich, TOTH, der Sassoroch ist, wird mit dir fliegen! Sie stampfen mit den Füßen, und Speichel fliegt durch die Luft. Die Lilane schlagen mit den Flügeln und kreischen. Unaufhörlich drehen sie sich im Kreis und singen weiter. Doch plötzlich herrscht tiefstes Schweigen. Neben dem Altar stehen zwei Gestalten, die dort schon die ganze Zeit gewartet haben. Es sind zwei Gestalten, die wir kennen, und sie tragen die Uniformen von Blauröcken. Die eine ist schlaksig und zittert, die andere hat flammend rotes Haar und wirkt trotzig. Es ist der Rothaarige, der in seinen Ar men das gebundene, zappelnde Kleinkind hält. In wenigen Augenblicken wird es nicht mehr zappeln. Und die weiße Robe des Anführers wird mit Blut be fleckt sein. »Siehst du, Jem? Was habe ich dir gesagt?« »Ein roter Mond hast du gesagt.« »Ich hatte Recht, stimmt’s?« »Scheint so. Merkwürdig.« Jem folgte der blutroten Scheibe mit dem Blick, wäh rend sie erneut hinter der undurchdringlichen Schwärze der Wolken verschwand. In der letzten Nacht und auch in der davor hatte der Mond in einem glänzenden Gold ge strahlt, so klar und nah, dass sie ihn scheinbar mühelos vom Himmel hätten pflücken können. Was sollten sie jetzt von seiner bedrohlichen Röte halten? Jem fragte sich ner vös, wie weit sie wohl noch von Ejland entfernt waren.
Wenn es nur hell würde und die Wolken endlich ver schwänden! »Soll ich noch einmal in die Kugel sehen?«, erkundigte sich der Kleine, als könnte er Jems Gedanken lesen. Er tastete sich eifrig durch die sacht vibrierende Kabine und kam mit dem Geschenk von Prinzessin Bela Dona wieder zurück. Wenn der Kleine nicht seinen roten Kristall her umzeigte, dann hockte er über dieser geheimnisvollen Glaskugel und suchte in ihren glitzernden Tiefen nach Visionen. »Vielleicht zeigt sie uns ja, wo wir sind.« »Glaubst du wirklich?« Jem mochte die Kugel nicht be sonders. Als sie verloren gegangen war, hatte er sich ins geheim gefreut. Das heißt, er hätte sich gefreut, wenn sie nicht Toth-Vexrah in die Hände gefallen wäre. Hatte die ses verdammte Ding denn irgendeinen Zweck außer dem, dass es Toths böse Kräfte bündeln konnte? »Du kannst doch gar nichts sehen, Kleiner, oder?« »Sprich nicht so überheblich!« Der Kleine hockte sich mit gekreuzten Beinen vor die glänzende Kugel. »Es braucht seine Zeit, das ist alles.« »Wie das Schiff.« Träge kraulte Jem Ejard Orange hin ter den Ohren. Ein Ohr zuckte zurück, aber ansonsten rührte sich der große, zusammengerollte Kater nicht. Er schnurrte rhythmisch, und Jem gähnte. Schneeflocken schlugen gegen das Glas der Scheibe und glänzten un heimlich in dem blauen Glühen des Schiffes. »Jem«, sagte der Kleine nach einem Moment. »Erzähl mir von Ejland.« »Was denn, langweilt dich das Ding schon?«, erkundig te sich Jem amüsiert. »Ich wusste, dass es nicht funktio nieren würde. Außer bei Toth.« Der Kleine zog die Luft durch die Nase. »Das ist ein gu ter Grund, sie zu behalten.« »Damit Toth sie nicht in die Finger bekommt? Ich wür de sagen, das spricht eher dafür, sie zu zerschlagen.« »Ich glaube nicht, dass du das schaffst. Nicht die Kugel des Sehens.« Der unangesische Junge legte seine kleine Hand auf das Glas. »Aber Jem, was ist mit Ejland? Es ist ein kaltes Land, hab ich Recht? Mit Schnee und Eis?« »Manchmal schon. Na ja, die meiste Zeit. Was weißt du von Schnee und Eis?« »Ich habe immerhin Bilder gesehen, schon vergessen? Aber was machen wir, wenn wir erst einmal dort sind,
Jem? Wir haben nicht einmal dicke Mäntel, oder? Oder Fellmützen?« Der Kleine warf wieder einen Blick in die Kugel und umkreiste sie mit dem Finger. »Ich hoffe, wir finden irgendeinen Ort mit einem großen, lodernden Feu er, wo Ejjy sich zusammenrollen kann…« Jem rieb sich die Augen. Klang da etwas Seltsames in der Stimme des Kleinen mit? Es war, als glitte er langsam in eine Trance und nehme Jem mit sich. Jem war klar, dass seinen jungen Freund wohl kaum eine gemütliche Zeit erwarten würde, jedenfalls nicht dort, wo sie hinflo gen. Ernst deutete er auf die Kristalle an seiner Brust und dann auf Myla, als brauchte er nichts zu sagen. Die Stimme des Kleinen klang weicher, als er meinte, dass er bestimmt die ganze Zeit frieren würde und sich wünschte, er wäre wieder in Unang Lia. »Wie dunkel A gondon ist! So grau und so leblos! Wo sind die Farben von Kal-Theron? Und wo ist die helle Pracht von Qatani? Ach, diese hohen Häuser mit ihren steilen Dächern! Diese Kamine, die unablässig Rauch ausspeien! Diese schweren, hängenden Giebel, die sich über den schmalen Straßen beinahe berühren!« »Kleiner…«, murmelte Jem. »Das kannst du doch nicht sehen, oder?« Der Kleine jedoch fuhr unbeirrt fort: »Und der zugefro rene Fluß Riel! Diese Insel in seiner Mitte! Diese hohe, abweisende Promenade! Diese schweren, steinernen Säu len im Großen Tempel!« Das war nicht der Kleine. Das war nicht der Kleine! Die Stimme war nur noch ein Flüstern, klang aber noch eindringlicher und viel merkwürdiger. »Und der Schnee auf den Straßen… der Schnee, der mit Blut befleckt ist… und überall Toth, Toth überall, der darunter pulsiert wie der Puls in deinem Handgelenk, wie der Herzschlag in deiner Brust – « »Kleiner!«, rief Jem. Mit der Hand schlug er nach der Kugel. Der Kleine schrie auf, als habe er sich verbrannt, und im selben Mo ment begann die Kugel zu glühen. Es gab einen gewalti gen Knall, und das Himmelsschiff machte einen Satz und warf den Kleinen und Jem zu Boden. Die Kristalle an ihrer Brust brannten – ein geheimnisvolles Feuer schien von ihnen auszugehen. »Böses… Etwas Böses…!« Diesmal war es Myla, die
schrie und sich gegen die Riemen stemmte, mit denen sie auf der Liege festgeschnallt war. Sie sank ohnmächtig zurück, während ihr Bruder auf sprang. »Myla… Jem… Kleiner!« Rajals Brust schien ebenfalls zu brennen. »Was… was geht hier vor?« »Es ist Toth!«, rief Jem. »Es muss Toth sein!« Blitze zuckten vor dem Fenster entlang. Jem schrie, und der Kleine packte Ejard Orange. Sie duckten sich, und Rajal warf sich über Myla, als das Fenster und die Bullaugen implodierten und die Kabine mit Glassplittern übersäten. Die Kristalle brannten immer noch, und die Kugel glüh te nach wie vor, während sie über den Boden und die Wände rollte und wie ein Gummiball durch die Luft segel te. Eisiger Wind fegte durch die Kabine. »Seht… Seht nur!« Jem rappelte sich hoch. Er blutete aus einer Wunde. Seine Brust schien in Flammen zu ste hen. Verzweifelt deutete er aus dem zerstörten Fenster. Rajal wand sich vor Schmerz. Der Kleine schnappte nach Luft und hätte Ejard Orange, der heftig protestierte, beinahe erdrückt. Die dunklen Wolken hatten sich geteilt, und das blutrote Licht, das jetzt den Himmel zu erfüllen schien, kam nicht mehr vom Mond, sondern von der auf gehenden Sonne. Unter dem kreiselnden Schiff lagen ein Hafen, Inseln, ein zerklüftetes Delta und eine dunkle, großartige Stadt, gefangen in den Klauen des Eises. Jetzt befand sich das, was der Kleine in der Kugel gesehen hat te, plötzlich unter ihnen, war real. »Agondon!«, brach es aus Jem heraus. »Das ist Agon don…!« »Vergiss es!«, schrie Rajal und griff wie von Sinnen nach seiner Schwester. Ach, Myla, Myla! Hatte sie so viel durchmachen müssen, nur um so zu enden? »Jem, wir werden abstürzen! Toth wird uns umbringen…!« Jem zerrte an den Hebeln und schlug auf die Scheiben. Die Kugel rollte immer noch wild umher und glühte, als hätten sie tatsächlich den Mond gepflückt und ins Schiff geholt. Ejard Orange befreite sich kratzend aus den Ar men des Kleinen und sprang auf die glänzende Kugel, als wäre sie seine Lieblingsbeute. Katze und Kugel rollten gemeinsam herum, während
Ejard Orange zischte und fauchte. Der Kleine fiel nach hinten und hielt sich die schmerzende Brust. Er drehte sich zu Rajal um. »Das Amulett von Tukhat! Raj, wünsch dir etwas…« »Was meinst du mit wünschen?« Rajal packte den Ta lisman, den er um das Handgelenk trug. »Weißt du denn gar nichts?«, schrie der Kleine. »Wünsch dir was…!« »Wir schaffen es nicht…!«, schrie Jem verzweifelt. Das Himmelsschiff stürzte immer weiter hinab, segelte über Häuser und Straßen hinweg. Das Dröhnen des Fahr zeugs hatte sich zu einem ohrenbetäubenden Kreischen gesteigert, und es zog eine gewaltige Rauchwolke hinter sich her. Das Licht der Kugel und der Kristalle pulsierte und vermischte sich. Einmal, zweimal, dreimal schaffte es Jem, das Schiff hochzureißen, und es gewann etwas an Höhe. Doch die Magie, die sie hatte fliegen lassen, war beinahe vollkommen erloschen. Raj als Augen glühten, und er griff nach dem Amulett. »Wünsch dir was!«, schrie der Kleine wieder. »Raj, wünsch es dir… Jem, halt durch!« Aber es nützte nichts. Jem schaffte es zumindest noch, sie über die Stadt hinwegzubringen. Die Bruchlandung ereignete sich in den verschneiten Hügeln dahinter.
»Nirry… Nirry!« Müde griff Umbecca nach ihrer Klingel. Eine Hand stoppte ihre Bewegung. »Euer Gnaden, es tut mir Leid. Ich – « »Beachtet sie einfach nicht, Meister Waxwell«, mischte sich eine gelangweilte Stimme ein. »Sie vergisst jeden Morgen, dass Nirry nicht mehr da ist.« Der Apotheker verbeugte sich und murmelte eine höfli che Entschuldigung. Die Königin warf sich auf einen Stuhl am Fenster. Obwohl sie nur ein durchscheinendes Ge wand trug, schien sie der Anblick eines Gentlemans nicht sonderlich zu stören. Hinter ihr waren die Vorhänge zu
rückgezogen und gewährten einen Blick auf einen tristen Morgen. Sie drehte dem weißen Glanz den Rücken zu und sah sich um. Das Gemach mit den wertvollen Teppichen, den hellen Tapeten, dem kostbaren Porzellan und den Rokokomöbeln wurde von dem gewaltigen Himmelbett dominiert, auf dem die fette Frau lag. Sie sah vollkommen grotesk aus, aufgedunsen und beinahe unsichtbar unter ihren Rü schen, Troddeln und ihrer golddurchwirkten Stickerei. Umbecca rührte sich wieder und stöhnte diesmal. Der Apotheker war die ganze Nacht nicht von ihrer Seite ge wichen, weil er, wie er es ausdrückte, um die Ausgewo genheit ihrer Säfte fürchtete. Mehr als ein Blutegel war nötig gewesen, und gewaltige Gaben von Jarvel-Orandy Jetzt umsorgte der schmierige Kerl die Lady mit seiner professionellen Fürsorge und hielt ihr erneut ein Fläsch chen an den kleinen Mund. Umbecca stöhnte noch einmal, und einige Tropfen rannen in die Falten ihres Doppel kinns. Die Königin – doch nennen wir sie Jeli – drehte sich weg und summte eine Melodie. »Habt Ihr Nirry jemals kennen gelernt, Meister Waxwell? Eine der vielen Dienstboten meiner Tante. Damals in der Provinz.« Sie schüttelte sich, vermutlich bei dem Gedanken an die Provinzen. »Erinnert Ihr Euch an Nirry, Witwe?« Witwe Waxwell saß am Feuer und hatte Strümpfe über spezielle Stopfrahmen gespannt. Für eine Frau mit nur einer Hand legte sie eine bemerkenswerte Geschicklich keit an den Tag. Jetzt brach sie ihre Arbeit ab, nahm eini ge Nadeln zwischen ihren Lippen heraus und wollte gera de zu einer ausführlichen und höflichen Antwort ansetzen, aber Jeli war nicht wirklich daran interessiert. »Nirry, also wirklich!«, fuhr sie fort. »Warum sollte man sich an die Namen seiner ehemaligen Dienstboten erinnern? Ein Diener ist eine Art Maschine, nicht mehr. Nehmt zum Beispiel Jilda. Sie ist im Augenblick zwar sehr wichtig für mich, aber ich bin davon überzeugt, dass ich mich nicht mehr an sie erinnern würde, wenn sie meinen Augen entschwände.« Bei diesen Worten warf sie Jilda einen kurzen Blick zu, die gerade in diesem Moment das Gemach betreten hatte. Die Kammerzofe war ein etwas derbes, hübsches Mäd chen, das kaum älter war als Jeli. Es trug ein Frühstücks
tablett in der Hand, das es vorher, im Zimmer der Königin abgestellt hatte. Natürlich musste Jilda das Tablett hinter der Königin her tragen, als diese in das angrenzende Ge mach eilte. Die Kammerzofe errötete und das Frühstücksgeschirr klapperte laut, als sie es erneut auf einem schönen mar mornen Tisch absetzte. Während sie mit Teetassen, Räu cherheringen und dergleichen mehr zugange war, schlug sie die Augen nieder, als fürchte sie den Blick der Königin. Zwischen den beiden jungen Frauen herrschte eine fühl bare Spannung. Ungeduldig sah Jeli zur Seite. »Meine Tante muss das Leben in der Provinz wirklich vermissen«, erklärte sie und knabberte an einer kleinen Scheibe Toast. Sie griff nach der Marmelade. »Kann eine Frau ihr Leben in dieser bäuerlichen Dunkelheit kurzer hand abstreifen und dann einfach so eine vornehme Da me in Agondon werden? Sehnt sie sich nicht insgeheim, nach ihrer früheren Schlichtheit? Was gilt ihr die Finesse der feinsten Saucen gegen die rohe, gewaltige Masse ei nes Bauernfestes? Würdet Ihr das nicht auch sagen, Wit we? Und Ihr, Meister Waxwell?« Die Witwe hätte vielleicht gesagt, dass weder sie noch ihre Freundin als arme Bauern in Irion gelebt hatten, son dern dort zum Adel gehört hatten. Aber die alte Frau hat te nicht die Zeit, die Stecknadeln zwischen ihren Lippen zu entfernen, selbst wenn sie es gewagt hätte, das zu äußern. Ihr Großneffe war geistesgegenwärtiger. Er verließ ei nen Augenblick die Bettstatt, verbeugte sich tief vor der königlichen Majestät und stimmte ihr demütig zu. Jeli spießte eine Scheibe Schinken auf. »Und wenn eine Provinzlerin sich in vornehmem Äußeren versucht, was dann? War mir nicht weh ums Herz, als ich die bunte Kleidung meiner Tante gestern Abend mit ansehen muss te? Viele Höflinge haben hinter vorgehaltener Hand über sie gelacht. Sie hätte gut zu den ClumptonClowns ge passt! Aber wie sollte das auch anders sein? Hat sie nicht beinah ihr ganzes Leben die Kleidung agonistischer Frömmigkeit getragen, wie Witwen sie anlegen? Und könnte sich eine Witwe als Lady verkleiden?« Das Gesicht von Witwe Waxwell wurde noch etwas län ger und sie betrachtete traurig den Stumpf, wo eigentlich
ihre rechte Hand hätte sein sollen. Das Lächeln ihres Großneffen wurde unmerklich härter. Dass er ein Waxwell war, hatte ihm ein festes Standbein bei Hofe verliehen. Die Lady war früher einmal von Großtante Berthens Ehe mann behandelt worden. Aber es war seine eigene her ausragende Fähigkeit, davon war der junge Waxwell fest überzeugt, die ihm diese höchst begehrenswerte Patientin zugeführt hatte. Als er ihr in Bad Varby zum ersten Mal begegnet war, war sie noch eine einfache Frau gewesen. Umbecca Veeldrop besaß nicht einmal einen Titel und war nur eine Gouver nante, die ohne viel Erfolg versucht hatte, ein undankba res kleines Biest namens Catayane unter die Haube zu bringen. Was aus dieser kleinen Schlampe geworden war, wusste der Apotheker nicht, aber als die fette Frau an den Hof gekommen war, in den Adelsstand erhoben und an die Seite der neuen Königin gerufen wurde, stellte sich sehr bald heraus, dass sie den eleganten, fähigen Bur schen nicht vergessen hatte, der sie so umsichtig behan delt hatte… Teure Lady Umbecca! Er würde sie nicht ver raten, nicht einmal für die Königin. Außerdem verfügte Umbecca über viel mehr Macht. Die Königin ließ mit kontrollierter Gewalt einen Löffel auf ein weich gekochtes Ei niederfahren. »Es ist kaum überraschend, dass die Ereignisse der letzten Nacht meine Tante verwirrt haben«, erklärte sie. »Was hat sie in ihrem provinziellen Leben schon von der Pracht der Oper erfahren? Wie ihr die Mentinis den Kopf verdreht haben! Wie ihre Augen vor Staunen glänzten! Und wie viel schlimmer war es dann danach! Ich fürchte, wir hätten sie auf einen sicheren Platz setzen sollen, ne ben die Witwe in der Ruhekammer…« Sie plapperte weiter. Auch wenn der Apotheker nicht auf ihre Worte achtete, schenkte er allmählich doch ihrer Person etwas mehr Aufmerksamkeit. Ist ihre Grundfeuch tigkeit wie sie sein sollte?, überlegte er. Oder war ihre Körpertemperatur zu hoch? Eigelb tropfte ihr aus dem Mundwinkel, und ihre Schenkel waren unter dem Nacht hemd ganz eindeutig gespreizt. Hm. Das Mädchen lehnte sich auf dem Fenstersitz zu rück, und dem Mediziner wurde klar, dass es in Bälde ei ner bestimmten intimen Untersuchung bedurfte. Bis jetzt hatte er nicht gewagt, es vorzuschlagen, nicht bei Ihrer
Königlichen Majestät. Aber er konnte schwerlich wegen
solcher närrischen Skrupel ihre Gesundheit riskieren.
Kleinere Heimsuchungen waren keine Frage des Standes,
und eine Lady konnte schließlich nicht vorsichtig genug
sein.
Jemand klopfte an die Tür.
Sie öffnete sich einen Spalt, und Lady Umbeccas geis tiger Berater, Eay Feval, schlüpfte ins Zimmer. Jeli war ein wenig verlegen und nestelte an ihrem Nachthemd. Der Apotheker drehte sich um und sein Lächeln wurde etwas schwächer, als er in das bemerkenswert gut aus sehende Gesicht des Lektors blickte. Feval schritt zum Bett und beugte sich über seine be wusstlose Lady. Er küsste ihre Stirn, und Umbecca stöhn te. »Ihr wart die ganze Nacht hier, Apotheker?«, erkun digte er sich. Welche Andeutungen selbst diese einfachen Worte ent hielten! Etwas in der Anrede des Lektors, dachte Franz Waxwell, deutet an, dass er mich, den Apotheker, nur für einen einfachen Kaufmann hält. Eisig entgegnete er, dass er gerade erst die Behandlung Seiner Kaiserlichen Ago nistischen Majestät beendet hatte, als er ans Bett der Lady gerufen wurde. Vor etwa sieben oder acht Fünfzeh nen. Jedenfalls mitten in der Nacht. »Und die Lady liegt immer noch leidend darnieder?«, fragte Feval. Waxwells Wangen brannten, und er merkte an, dass eine Frau von Lady Umbeccas Zartheit notgedrungen un ter einer solch schweren Prüfung leiden musste. Ihre Kör persäfte waren traurigerweise aus dem Gleichgewicht, und sie würden vielleicht sogar nie wieder in eine ver nünftige Balance zurückfinden. »Dann würde ich vorschlagen, dass Ihr sie häufiger aufsucht«, bemerkte Feval. »Aber die Inauguration? Ihr werdet Ihr doch wohl nicht raten, die Inauguration zu versäumen?« Jeli riss die Augen auf. »Was ist mit dem Ball?« »Ich habe gehört, dass beide Ereignisse nicht stattfin den werden.« Der Apotheker vergaß sich und lächelte, als wäre er froh, diese Nachrichten zu überbringen. Doch sein Vergnügen war nur von kurzer Dauer.
»Der Ball!«, jammerte Jeli. Sie sprang mit der Gabel in der Hand hoch. »Hat Tranimel das angeordnet? Wo ist er? Bringt ihn zu mir! Warum… warum hat man mir das nicht gesagt? Ich will, dass der Ball stattfindet! – Sollen uns die Rebellen denn alle Vergnügungen verderben? Verdoppelt die Wachen, verdreifacht, ach was, vervierfacht sie! Aber der Ball… Oh, der Ball!« Ein Würstchen schwankte traurig am Ende der Gabel. »Eure Hoheit, ich fürchte, Meister Waxwell hat Euch vollkommen überflüssigerweise beunruhigt.« Jetzt lächel te Feval und der Apotheker wurde blass. »Der Hof, das ist wahr, summt vor Gerüchten. Es ist höchst bedauerlich, dass die Wachen diese Mentinis erschossen haben. Zwei fellos haben die Kerle nicht allein gearbeitet. Und ebenso zweifellos waren sie nur ahnungslose Bauern in einem weit komplizierteren Spiel. Aber wer kann einen so raffi nierten Plan aushecken? Wer würde eine Königin entfüh ren wollen?« Fett tropfte von der Gabel. »Mich? Mich entführen?« Der Lektor schien die junge Königin weitaus wirkungs voller zu beunruhigen, als der Apotheker das je hätte tun können. »Allerdings, Eure Königliche Majestät. Denn diese blin den Brüder haben doch ihre Züge im Voraus geplant. Und Ihr hattet nur wenige Augenblicke, bevor ihre Nummer begann, den Platz mit Eurer Tante getauscht.« »Mich?«, sagte die Königin leise. »Mich? Mich?« Sie drehte sich um, vielleicht doch nicht so beunruhigt, und tanzte eine kleine Pirouette, sodass sich ihr Nacht hemd höchst unschicklich bauschte. Dann wirbelte sie zurück. »Und der Ball?« »Keine Angst, Königliche Majestät. Natürlich wird es viel mehr Wachen geben. Die Einladungen und auch die Gäste werden aufs Sorgfältigste überprüft. Aber sollen wir unsere erhabenen Traditionen wegwerfen und uns einfach der Willkür des Terrors beugen? Schwäche ist nicht die Art der Ejländer – und auch nicht die des Agonis, wenn ich das sagen darf.« Der Lektor war stolz auf diese letzte Bemerkung. Als ein Mann vom Tuch konnte er einige Privilegien für sich in Anspruch nehmen, und er wäre ein Narr gewesen, wenn er das nicht auch getan hätte. Die Witwe, fiel ihm auf, umklammerte krampfhaft ihren Kreis des Agonis, und ihre
verwelkten Lippen leierten lautlos eine tugendhafte Lita nei herunter. Waxwell und die Königin wirkten angemes sen demütig. Feval bemühte sich, sich seinen Triumph nicht anmer ken zu lassen. »Ihr seht also, Apotheker« – diesen Seitenhieb mochte er sich jedoch nicht verkneifen – »Eure… Gerüchte sind nicht ganz korrekt. Ich habe meine Informationen vom Ersten Minister erhalten. Heute Abend wird die Königin auf dem Ball glänzen, wie es vorgesehen war. Und ich denke, diese große Lady ebenfalls.« Liebevoll schaute er zum Bett. »Aber zuerst ist da noch die Inauguration. Der Morgen verstreicht. Wie ihr alle wisst, ist Lady Umbecca eine Frau von ungeheurer Fröm migkeit. Sie muss bald aufstehen, damit sie den Großen Tempel besuchen kann. Und sie wird aufstehen. Denke ich.« Umbecca grunzte wie ein Schwein. Der Blick des Apo thekers war ernst. »Dass diese Lady in Kürze aufstehen sollte, kann nur eine vage Hoffnung sein. Und ob sie an dem Ball teilnehmen kann, bleibt zu bezweifeln. Aber die Inauguration? Was wäre ich für ein Arzt, wenn ich sie so schnell aus meiner Obhut entlassen würde?« »Es ist die spirituelle Beratung«, erklärte der Lektor, »auf welche die Lady außerordentlich günstig reagiert.« »Wir müssen uns beide um unsere eigenen Wissensfel der kümmern.« Höflich nahm Feval die kluge Bemerkung des Apothe kers zur Kenntnis. Innerlich jedoch kochte er vor Wut. War seine vornehme Berufung – seine heilige Berufung – etwa nicht viel mehr wert als die Arbeit dieses Quacksal bers? Ach, er hatte sich schon eines Waxwells entledigt und den Griff dieses Bösewichts um das Herz seiner Lady gebrochen! Den zweiten würde er auch vertreiben, oder sein Name sollte nicht Feval lauten. Er hockte sich neben das Bett, und sein Ärger war ihm deutlich anzusehen. »Apotheker, sie riecht nach Eurem Trank. Was habt Ihr ihr verabreicht?« »Werter Lektor, wollt Ihr etwa andeuten, dass ich die se Lady betäubt hätte? Allerdings war letzte Nacht tat sächlich ein Schlaftrunk vonnöten. Jetzt versuche ich, ihre Grundflüssigkeit zu heben, die Grundhitze zu steigern und
so die Körpersäfte in eine ordentliche Balance zu bringen. Kurz gesagt, ich versuche sie zu wecken.« »Ach, tut Ihr das?« Feval sprang abrupt auf. Jeli lümmelte sich gelangweilt auf dem Sofa und leckte mit ihrer Zungenspitze an dem fettigen Würstchen herum. Mit überraschender Barschheit forderte Feval die Gabel von ihr. Dann ging er damit zurück zum Bett. Teure Umbecca! Wie innig er darum betete, dass sich dieses edle Herz erholte! Eine Träne schimmerte im Auge des Lektors, als er mit dem Würstchen unter ihrer Nase hin und her wedelte. Das Stöhnen kehrte wieder, doch diesmal war es ein tiefes, kuhartiges Muhen. Umbecca öffnete ruckartig die Augen. Die sich augenblicklich weiteten. Sie griff zu und schnappte sich die Gabel. Liebe, teure Umbecca! Waxwell verzog den Mund, und der Lektor jubelte. In einem Moment verschwand das Würstchen in dem kleinen Mund. Im nächsten wuchtete sich die Lady hoch, stützte sich auf die Kissen und ver langte lautstark nach ihrem Frühstück. Allerdings war sie wohl doch noch etwas verwirrt. »Nir ry…!«, schrie sie. »NIRRY!«
»Wo… wo bin ich?« Etwas Weiches stieß gegen Jems Gesicht. Müde schau te er in goldene Augenschlitze und hörte das leise rum pelnde Schnurren. Ejard Orange? Er spürte die Kälte und bemerkte einen merkwürdig stechenden Geruch. Jem rieb sich die Augen. Eine Schneeflocke landete auf seiner Wange, und er spürte etwas Stacheliges unter seinem Rücken, den Armen und Beinen und in seinem Nacken. Er blickte auf. Jetzt verstand er. Er lag auf einem Heuhaufen in einer baufälligen Scheu ne. In dem Dach hoch über seinem Kopf klaffte ein zacki ges Loch, und ein Stück von ihm entfernt lag Myla, halb begraben in dem Heu. Sie war bewusstlos, aber zu Jems Erleichterung atmete sie, noch. Neben ihr lag Rajal und
stöhnte leise. Das Amulett an seinem ausgestreckten Arm glitzerte. Vermutlich waren sie bei der Landung aus dem Him melsschiff geschleudert worden. Aber wo war das Schiff? Und was war mit dem Kleinen? Jem blickte sich besorgt um. Durch das Loch im Dach sah er den weißen Himmel, doch im Innern der Scheune war es nicht sonderlich hell. »Schön, dass du aufgewacht bist. Endlich!« Jem wirbelte herum. Der Kleine hockte in eine Decke gehüllt auf einem thronartigen Heuballen. Zwischen sei nen gekreuzten Beinen lag die Kugel des Sehens, aber jetzt glühte sie nicht mehr. Sie schimmerte matt, beinahe metallisch. »Ich habe versucht, euch zu wecken, aber es hat euch kalt erwischt, allesamt.« »Kalt? Das kannst du wohl sagen!« Jem rieb sich die Arme. »Myla hat Raj, der sie warm hält. Wie wäre es, wenn du mit mir deine Decke teilst, Kleiner? Aber… wie sind wir überhaupt hierher gekommen?« Der Kleine rückte näher und ließ Jem mit unter die De cke rutschen. »Weißt du das nicht mehr? Du hast die Lu ke geöffnet, als wir gesunken sind. Und meintest, wir sollten alle springen und unser Glück versuchen.« »Das habe ich gemacht?« Das mit der Decke ist doch keine so gute Idee, dachte Jem. Sie musste lange in der Scheune gelegen haben, war kratzig, stank widerlich und war zweifellos vollkommen von Flöhen verseucht. Er hätte das dem Kleinen auch gesagt, aber in dem Moment fühlte er einen pochenden Schmerz in seinem Schenkel. Seine Hose war blutverkrustet, und als er danach tastete, stell te er fest, dass eine kleine Glasscherbe noch in der Wun de steckte. »Raj hat Myla gerade noch rechtzeitig losgeschnallt«, fuhr der Kleine fort. »Wir sind durch die Luft direkt auf diesen verschneiten Abhang zugeflogen. Der sich als Scheunendach entpuppte! Wir haben viel Glück gehabt, Jem. Was nicht alles hätte passieren können! Ich hätte sogar die Kugel verlieren können!« »Ach, tatsächlich?« Jem hob die Glaskugel hoch und wog sie misstrauisch in der Hand. Warum hatte die Kugel so gewaltig gestrahlt? Und in welcher Verbindung stand sie zu Toth? Er hätte das Ding am liebsten vergraben,
aber Oclar hatte ihnen eingeschärft, sie unbedingt zu be halten. Vorsichtig gab er sie dem Kleinen zurück. »Wir hätten uns Arme und Beine brechen oder sogar den Schädel einschlagen können«, plapperte der Kleine weiter. »Wir hätten erfrieren können«, fügte Jem hinzu. »Was uns übrigens immer noch droht.« »Wäre das Amulett nicht gewesen, wären wir erledigt.« »Jetzt ist es also das Amulett?« Jem erinnerte sich noch sehr gut an den Sturz. Trotzdem betrachtete er Ra jals goldenes Armband skeptisch und deutete auf den Heuhaufen. »Und was ist mit der Scheune? Und dem Loch im Dach?« »Das hat uns auch geholfen. Jedenfalls sind wir alle gesund. Bis auf Myla.« »Ihr Zustand hat sich doch hoffentlich nicht ver schlimmert?« Jem zuckte zusammen, als er über das Heu krabbelte. Die Wunde in seinem Oberschenkel schmerzte. Ernst schaute er in das so veränderte Gesicht. Auf Mylas Stirn noch saß immer das Lichano-Diadem, ihr eigener magischer Talisman. Jem strich eine Strähne ihres dunklen Haars zurück. Konnte es sein, dass Myla schon wieder älter geworden war? Aber sie war doch nur einen Moment aufgewacht! Und hatte keinerlei Magie angewandt. Aber vielleicht hat te eine andere Magie sie berührt – Toths Magie. Jem sah die Linien um Mylas Augen und Mund, die in dem kalten Licht deutlich hervortraten. Schließlich rührte sich auch Rajal. »Jem? Was… was ist passiert?« »Sagen wir einfach, dass dein Armband sich als ganz nützlich erwiesen hat.« Rajal drehte sich zu seiner Schwester um. »Myla? Geht es dir gut?« Jem sah sich zitternd vor Kälte in der baufälligen Scheune um. Speichenräder und Pferdegeschirre hingen an den Wänden. Eine Leiter führte hinunter zu einem Lehmboden, auf dem Kisten, Fässer und eine Art Karren standen. Rostige Hacken und Sensen lagen herum, und die großen Türen klapperten im Wind. »Wir müssen Hilfe holen. Das ist das Wichtigste.« »Hilfe?« Rajal blickte ihn an. »Was meinst du mit Hil
fe?« Jem arbeitete sich zur Leiter vor. »Uns friert, und es wird immer kälter. Wir haben keine ordentliche Kleidung, und wir werden sehr bald Hunger bekommen.« Ejard Orange miaute wie aufs Stichwort. »Armer Ejjy!«, sagte der Kleine mitfühlend. »Gibt es hier keine Ratten?« »Gefrorene?«, erwiderte Jem. »Er wird sich nur die Zähne daran ausbeißen.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht kletterte er die Leiter hinunter. »Wohin gehst du, Jem?«, erkundigte sich Rajal. »Das hier ist doch eine Scheune, oder nicht? Also muss es in der Nähe auch einen Bauernhof geben.« »Ist dir noch nicht aufgefallen, dass diese Scheune ziemlich verlassen aussieht?« »Vielleicht ist das Bauernhaus ebenfalls aufgegeben worden. Dann können wir uns dort verkriechen, während wir uns überlegen, wie wir weitermachen.« Jem bemerkte Rajals düstere Miene. »Kopf hoch, Raj! Zumindest sind wir wieder in Ejland! Das ist vertrautes Terrain.« Der Wind heulte bitterlich durch die Scheunentore. »Kleiner, du hast wohl keine Lust, mir die Decke herunterzuwer fen?« »Schon gut, Jem. Aber ich komme mit.« »Das tust du nicht, hörst du! Du bleibst hier bei Raj und Myla. Achte auf Ejjy. Ich sehe mich kurz um und komme so schnell wie möglich wieder.« »Niemals. Niemals!« »Bitte, Eure Königliche Hoheit!« Jilda Quistos Stimme klang besorgt. Die Zeit der Inauguration rückte immer näher, und die Königin trug nach wie vor nur ihr Nacht hemd. Was sollte die Zofe tun? Sollte sie sagen, dass sich die Königin unwohl fühlte? Aber das hier war kein ge wöhnlicher gesellschaftlicher Anlass. Heute würde der Erste Minister außer sich vor Wut sein, wenn die Königs familie nicht erschien. Was sollte das Volk anderes den ken, als dass das Königspaar aus Angst vor den Rebellen kuschte? Die Kammerzofe versuchte es erneut. »Bitte, Eure Kö nigliche Majestät!« Miss Jelica Vance – wie die Königin sich selbst heimlich weiterhin nannte – drehte sich nicht vom Fenster weg.
Seufzend ließ sie ihren Blick über die Stadt gleiten, diese Stadt mit ihren schneebedeckten Dächern, ihren Türmen, Giebeln und Kaminen, die sich bis zum gefrorenen Fluss Riel hinunter erstreckte. Der Morgen war bereits weit fortgeschritten. Auf dem Fluss kreiste eine kleine Gruppe von Schlittschuhläufern, die von weitem aussahen wie schwarze, geheimnisvolle Insekten. Wie gern sie über dieses glitzernde Eis geglitten wäre! In ihrer Vorstellung war Jeli dort, lief um die Insel, fegte an der Uferpromenade vorbei und fuhr unter der Agondon-Brücke und auch unter der des Prinzregenten hindurch. Ihr Herz jubilierte, doch dann wurde sie wieder traurig und flüsterte leise: »Niemals.« Niemals würde Ihre König liche Majestät Jelica, Königin der Blauröcke und Herrsche rin von Ejland, Zenzau, Zaxos und den Neuen Kolonien, Heilige Prinzessin von Varl und Große Hohe Prinzregentin von Tiralos, diese scharfen Schneiden unter ihren Füßen fühlen. Man würde es ihr niemals gestatten. Aber sie er innerte sich noch sehr lebhaft an eine Zeit, als Miss Jeli Vance mit einem Jungen gelaufen war und ihre Kreise gezogen hatte, einem sehr attraktiven Jungen, mit stroh blondem Haar, der kurz darauf verschwunden war, als habe es ihn niemals gegeben. Er sagte, sein Name wäre Nova. Nova. Vorsichtig berührte die Kammerzofe den königlichen Arm. Jeli zuckte zusammen. »Quisto, du nutzloser Ballast! Was fällt dir ein? Hast du vergessen, dass ich zur Inaugu ration muss? Soll ich vielleicht vor meinem Ehemann und meinen Höflingen beschämt werden, vor den vornehms ten Familien des Landes? Sieh mich an: Mein Haar ist of fen, und ich bin ungeschminkt! Hast du meine Unterröcke herausgelegt, mein Gewand, meine Broschen und Ringe?« Die Zofe hatte längst einiges davon erledigt oder es zumindest versucht, zwischen den Myriaden anderer Auf gaben – dem Wegräumen des Geschirrs, dem Machen des Bettes, dem Leeren des königlichen Bettstuhls und der gleichen mehr. Eigentlich waren diese niederen Arbeiten die Aufgabe anderer Dienstboten, aber als die persönliche Kammerzofe ihrer Königin genoss Jilda Quisto nur sehr wenig Respekt. Sie erwartete ihn auch nicht – nicht vom Giftpudding, wie die Mädchen Jeli in der Quick-Akademie
genannt hatten. Die arme Jilda! Während sie sich in der königlichen An kleidekammer zu schaffen machte, erinnerte sie sich dar an, wie sehr sie Jeli damals während der Schulzeit benei det hatte. Der letzte Schultag mit seinen Lobreden war nichts anderes gewesen als eine Reihe von Oden und A rien auf die wunderschöne kleine Miss Vance. Jeli hatte den Regency Memorial Award bekommen, den ChamCharing Cup, das Ejard-Zertifikat und sogar die jährliche Ausgabe von Mr. Coppergates poetischem Werk, signiert in der zittrigen Handschrift des Dichters höchstselbst. Es hätte niemanden überrascht, wenn der alte Narr sogar noch ein neues Sonett hineingekritzelt hätte, das Jeli ge widmet war. Auf jeden Fall war Jelis Ruhm gesichert. Und mit welcher Geschwindigkeit sie anschließend emporge schossen war! Alle sagten, dass sie bald heiraten würde, und siehe da, sie hatte es getan. Trotzdem – Jilda zog eine Grimasse. Seht sie euch jetzt nur an. Seht sie euch an. Die arme Jeli! Die Königin, Herrscherin, Heilige Prin zessin und so weiter und so fort hockte niedergeschlagen vor ihrem Frisiertisch. Sie nahm die Puderquaste und spielte müßig damit herum. Sie betrachtete ihr Spiegel bild, schob das Nachthemd von ihren blassen Schultern und drehte den Hals bald hierhin, bald dorthin. Das Glas war von einer feinen Puderschicht bedeckt… Also wirklich, diese Quisto! Sie beugte sich vor und wischte mit der Hand über das Glas. Nein. Ob nein. War da etwa eine Spur von Gelb in ihren Gesichtszügen? Sie schob ihre blonden, unordentlichen Locken zurück. Oh ja, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen! Ihr Schicksal war alles andere als ruhmvoll gewesen. Und doch, dachte Jeli mit einem kleinen, boshaften Lächeln, bin ich besser dran als diese Miss Jilda Quisto. »Quisto… Wie war das eigentlich, als du ruiniert wor den bist?« Die Zofe sah sie beunruhigt an. Die Königin hatte ihr diese Frage schon häufig gestellt. »War er gut aussehend? Hast du ihn geliebt?« »Er… war sehr gut aussehend, Eure Königliche Hoheit. Und… ich dachte, ich würde ihn lieben. Aber das war vor –« »Vermutlich kannst du dich kaum noch daran erinnern. Es müssen ja seitdem so viele gewesen sein. Wie viele?«
»Bitte…« Jilda hätte vielleicht ihre flehentliche Bitte vorgebracht, aber die Königin schien bereits von ihrer eigenen Frage gelangweilt zu sein. Erneut starrte sie in den Spiegel. Träumte sie vielleicht zärtlich von der Liebe? Jilda war klar, dass ihre Herrin in gewisser Weise genauso eine Hure war wie sie selbst. Sie waren beide verkauft worden, nur war Jelis Preis erheblich höher gewesen. Je li… Jilda. Jeli, Jilda. Was machte das im Großen Plan schon für einen Unterschied? Jeli schüttelte mit einem Ruck ihre Tagträume ab. »Quisto! Komm her! Die Inauguration wartet! Die Inaugu ration!« Jilda beeilte sich, das königliche Haar zu legen, die kö niglichen Zähne und die königlichen Hände zu reinigen und das königliche Gesicht zu schminken. Es war eine Herkulesaufgabe. Das königliche Haar zum Beispiel war verfilzt und glänzte fettig. Jilda ging sehr freizügig mit Parfüm und Pomade um, und leider konnte man nicht behaupten, dass sie ihre Aufgabe beherrschte. Sie war schließlich nicht für ein Leben als Dienstmädchen geschaffen. Das wusste Jeli – und Jilda wusste es eben falls. Quisto war ungeschickt. Quisto war nutzlos. »Quisto«, sagte Jeli, als die Zofe ziemlich unsicher Schminke auf die königlichen Augenlider auftrug, »siehst du eigentlich deine Schwester noch?« War da ein barscher Unterton in der königlichen Stim me? Eine raffinierte Boshaftigkeit? Erneut wallte Widerwil len in Jilda Quisto auf. Tränen traten ihr in die Augen, und ihre Hand, die die Haarbürste hielt, zitterte, als sie – nicht zum ersten Mal – erklärte, dass es ihr nicht mehr gestat tet war, ihre Schwester zu sehen. »Dann hast du die… Neuigkeiten noch nicht gehört?« »Neuigkeiten?« Jilda Quistos Herz hämmerte. Die Kö nigin summte leise und drehte sich wieder zum Spiegel, während sie die alles andere als befriedigende Arbeit ihrer Zofe betrachtete. Diese Ringe, diese dunklen Ringe! Konnte es wahr sein, was sie einst gehört hatte, dass die Schönheit der »Rose Ejlands« zwar alle blendete, aber auch sehr rasch verging? Sie war müde, das war alles. Zu wenig Schlaf. Und zu viel Gram. Aus den königlichen Achselhöhlen stieg ein säuerlicher Geruch auf, und Jeli griff nach einem starken Parfüm. »Eure Königliche Hoheit?« Jilda musste nachfragen.
»Was denn, Quisto? Ach so… ja.« Und mit vorge täuschter Beiläufigkeit erwähnte die Königin, sie habe von ihrem Ehemann gehört, dass es gestern Abend wieder einen dieser bestialischen Messermorde auf der Uferpro menade gegeben habe. Und wer war dieses letzte Opfer der Rebellen? Irgend eine lebensuntüchtige Einheimische? Eine betrunkene Hure? Aber nein! Wer sonst als eine gewisse Miss Heka Quisto! Jelis Lächeln kehrte zurück, als ihre Kammerzofe ohn mächtig auf dem Boden zusammenbrach.
Wirklich, sie starrte vor Schmutz! Jem zog die Decke fester um seine Schultern. Wie konnte sie in dieser Kälte überhaupt so stinken? Vermut lich war es eine Pferdedecke gewesen. Hätte er doch statt ihrer das Pferd! Er biss die Zähne zusammen, kniff die Augen zu und hob die Füße an wie ein Storch, als er in das Schneegestöber hinausging. Die Schneeflocken peitschten ihm ins Gesicht. Die hü geligen Felder lagen unter einer strahlend weißen Decke verborgen. Vor ihm befand sich eine Reihe von kahlen Bäumen, deren Äste sich unter der Last des Schnees bo gen. Jem sah sich um. Kein Zeichen von Agondon. Nicht mal ein Bauernhaus war zu sehen. Und eiskalte Flüssig keit drang durch seine Schuhe. Aber was war das denn? Etwas Helles, Blaues, das auf einer Schneewehe weiter vorn schimmerte. War das etwa das Wrack des Himmelsschiffes, das schon halb von Schnee bedeckt war? Er hätte vielleicht nachgesehen, aber ihm blieb keine Zeit. Die Kälte biss sich bereits durch die Decke, und außerdem musste das Schiff irreparabel zerstört sein. Jem tastete nach dem Kristall der Javander und drück te ihn fest an seine Brust. Aber da war doch noch etwas, eine Sache, die er weit mehr schätzte? Besorgt wühlte er in seiner Hosentasche und zog die schwere Münze mit dem wirbelnden Muster heraus. Sie glänzte golden in sei ner Hand und er umklammerte sie fest.
Ach, Cata!. Der Schneefall wurde stärker, und Jem wusste, dass er bald nichts mehr würde sehen können. Und diese Kälte! Er schleppte sich weiter. Wo lag das Bauernhaus? Hinter den Bäumen? In der warmen Jahreszeit säumten diese Bäume sicher eine grüne Chaussee. Also musste doch eine Straße unter dem Schnee liegen. Und ein Weg führte irgendwohin. Ein kleiner Vogel war das einzige Zeichen von Leben. Er hüpfte von einem kahlen Ast zum nächsten, und auf seiner Brust sah Jem das vertraute rote Leuchten. »He, du bist ein Bob Scarlet, was?« Er lächelte und hoffte, dass dies ein gutes Omen sein möge. Er dachte an den Wegelagerer. Was heckte Bobs Re bellenbande wohl jetzt gerade aus? War Cata noch bei ihnen? Er ging auf den kleinen Vogel zu, als ob der ihm eine Antwort hätte geben können, aber als er näher kam, flatterte der Bob Scarlet davon und verschwand im dich ten Schneetreiben. Jem spähte den Weg hinunter und hielt eine Hand schützend an die Stirn. In dem Schnee waren deutlich Furchen zu sehen und sogar ein bisschen Grün. War ein Karren hier entlanggefahren? Mittlerweile zitterte er am ganzen Körper und seine Hände und Füße waren gefühl los. Wenn er zurückblickte, konnte er nicht einmal mehr die Scheune sehen. Noch ein kleines Stück. Er wollte nur sehen, wohin der Weg führte. Einige Augenblicke später sah Jem etwas Merkwürdi ges durch das Weiß schimmern. Was war das? Plötzlich schien ein Umhang zu flattern, und er hatte die Vision eines regenbogenfarbenen Capes mitten im Schnee. Konnte das eine Frau sein, die ihre Hände ausstreckte – Hände, die nicht einmal durch Handschuhe geschützt wa ren? Sie hätte sogar eine der Schwestern des Ordens der Eingeschlossenen sein können, die unpassenderweise in die fünf Farben des Orokon gekleidet war. »Wer seid Ihr?«, flüsterte Jem und trat vor. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, denn sie ließ den Kopf hängen. Doch als er näher kam, sah sie hoch. Jem hielt den Atem an. Die Kapuze wehte zurück und enthüllte… kein menschliches Gesicht, sondern nur einen glühenden, goldenen Lichtball.
»Wer seid Ihr?«, wiederholte Jem drängend, obwohl er die Antwort kannte. Das war eine Vision. Ein Zeichen. Er sank in dem eiskalten Schnee auf die Knie und bemerkte nicht einmal, dass ihm die Decke von den Schultern fiel. Geheimnisvolle Musik wehte ihm entgegen, und Jem fühlte sein Herz wie eine Trommel schlagen. Die Lady hatte ihre Hände immer noch ausgestreckt, und Jem griff danach. Er dachte an Cata, und einen Moment kam es ihm so vor, als wäre die Lady seine verschollene Geliebte. Jubelnd wollte er sie berühren, doch im selben Moment wich sie vor ihm zurück. Sie wandte sich nicht ab, son dern ging nur ein Stück zurück, den verlassenen Weg entlang, zu schnell, als dass er ihr hätte folgen können. Trotzdem versuchte er es. Er rief und flehte. Sie konn te ihm doch so viel sagen! Er stürmte weiter, aber die Lady verschwand. Die Hände hatte sie noch immer aus gestreckt und das Licht strömte gleichmäßig aus ihrem Gesicht, aber je weiter sie sich entfernte, desto stärker legte sich der Schnee um sie – wie ein kalter, durchsichti ger Schleier. »Kommt zurück!«, rief Jem atemlos, aber es nützte nichts. Er glitt aus und stürzte zu Boden. Benommen blieb er liegen, ohne sich zu rühren. Und es schneite immer stärker. »Niemals! Nie, niemals…!« »Also wirklich, Quisto, hör endlich auf! Ich habe dir doch gesagt, dass es ein Scherz war, oder? Dummes Mädchen, ich dachte, es würde dich amüsieren! Ich dach te wirklich, du würdest deine sitzen gelassene Schwester hassen… Da versucht man freundlich zu seinen Dienstbo ten zu sein, und was hat man davon? Komm wieder an den Frisiertisch, Mädchen, und beeil dich! Die Inaugurati on! Die Inauguration!« Zur Erleichterung der Königin gehorchte ihre Kammer zofe endlich. Jeli wusste nicht genau, warum sie gesagt hatte, dass Jildas Schwester tot wäre. Irgendein boshafter Kobold hatte sie dazu getrieben. Es war nur ein harmloser Scherz, mehr nicht. Sie konnte einfach nicht länger igno rieren, dass diese Quisto allmählich ziemlich langweilig wurde. Trotzdem war Jeli eigentlich eine gütige Person. Ihre
Tugenden wurden regelmäßig in jedem Tempel des Ago nis im ganzen Reich gepriesen, ja, sogar angebetet. Als Jilda sich nun wieder um die königlichen Haare kümmer te, nahm Jeli ihr eigentliches Thema wieder auf. Sie hatte sagen wollen, dass eine gewisse Miss Quisto mit dem Kronprinzen von Urgan-Orandy vermählt worden war. Das hatte jedenfalls das »Hofrundschreiben« vor einigen Tagen berichtet. »Eine großartige Partie für die Tochter eines einfachen Schneiders, findest du nicht?« Die königliche Stimme klang ernst. »Stell dir vor, nicht nur eine, sondern zwei königliche Verbindungen im Hause Quisto! Dein Vater muss zweifellos sehr stolz sein.« Eine Weile redete Jeli in diesem Ton weiter und tat, als habe Japier Quisto, Agondons bester Herrenschneider, seine entehrte Tochter Jilda nicht enterbt. Und als wäre »Binkie« Urgan-Orandy kein fetter, provinzieller Bauer. Zufällig hatte Jeli Gerüchte über Miss Heka Quisto ge hört. Einige behaupteten, das kleine Biest hätte seine Tugend längst verloren, vielleicht an Alex Aldermyle oder sogar an Reny Bolbarr, von dem man schließlich wusste, dass er mehr als eine Geliebte hatte. Man sprach sogar schon von einer bevorstehenden Niederkunft. Das war sicherlich pure Bosheit. Jeli kannte sich schließlich in den Mechanismen der Gerüchte aus. Erin nerte sich Jilda vielleicht an das Geschwätz über Miss Jeli ca Vance und »Binkie«? Natürlich war gar nichts dran gewesen. Wer würde schon einen Säufer mit feuchten, schlaffen Lippen, stinkendem Atem und Spielschulden so groß wie der Fluss Riel heiraten, der dazu noch nicht ein mal mit einem Mädchen tanzen konnte, ohne seine Füße zu zermalmen? Heka Quisto, die schon! Was hatte sich ihr Vater wohl dabei gedacht? Vermutlich hatte sich der Narr von »Bin kie« blenden lassen, von seinem Titel, den vielen Ringen an seinen Fingern und von der gewaltigen Menge Stoff, die für seine Anzüge gebraucht wurde. Wenn seine erste Tochter schon ruiniert war, dachte der Schneider be stimmt, sollte die zweite wenigstens Prinzessin werden. War ihm denn nicht klar, dass er die zweite damit genau so sicher ruinierte, wie der Verführer Jilda entehrt hatte? Der Stolz der Quistos war bereits angeschlagen, und jetzt sollte er im Staub zertreten werden.
Aber natürlich sprach die Königin das nicht laut aus. »Ach, wie Heka ihr neuer Titel stehen wird! War denn jemals ein Mädchen aus dem Kaufmannsstand besser dafür geeignet, in den Adelsstand aufzusteigen?« Zweifel los viele, dachte sie. »Aber wie wird sie sich an das Leben in der Provinz gewöhnen? Sie war doch immer ein recht lebhaftes Mädchen, hab ich Recht?« Das war sie nicht. Heka war – wie hieß das noch? -fade. Was hatte Alex nur in ihr gesehen? Oder Reny? Nein, an diesen Gerüchten war schwerlich etwas dran! »Zweifellos wird Heka sich bewundernswert anpassen. Der Kronprinz wird es nie be reuen, dass er die Tochter eines Schneiders zur Frau ge nommen hat.« Was hatte »Binkie« nur in ihr gesehen? Das Vermögen ihres Vaters vermutlich. Die hart verdien ten Früchte eines Lebens, in dem er Zyklus um Zyklus den Adel umschmeichelte. Alex und seinesgleichen moch ten da Skrupel haben, aber »Binkie« war sich ganz gewiss nicht zu schade, das Vermögen eines kleinen, ehrgeizigen Schneiders zu verprassen. »Hm? Was ist los, Quisto? Quisto, du weinst ja!« Diesmal hatte sie nicht gequält aufgeschrien und war auch nicht plötzlich zusammengebrochen. Das Mädchen hatte sich bei den Worten ihrer Herrin zunächst abge wandt und die Hände vors Gesicht geschlagen. Dann hat te sie sich zitternd auf das Tagesbett neben dem Kamin gesetzt und unwillkürlich ein Samtkissen vor die Brust gedrückt. Jetzt sank sie nieder, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Jeli gingen zu ihr. »Quisto, Quisto… Jilda, hör auf!« Mit der Hand strich die Königin über den Rücken der Zofe, dann streckte sie sich neben dem Mädchen aus und flüsterte beruhigende Worte, während sie sich an ihre alte Schulkameradin schmiegte. Im Kamin flammte ein Scheit zischend auf. Einen Augenblick schämte sich Jeli wegen ihrer Grausamkeit und wünschte, dass Jilda wieder ihre Freundin sein könnte. Die Königin senkte ihre Stimme zu einem tonlosen Flüs tern. »Jilda, weißt du denn nicht, wie unglücklich ich ge wesen bin? Ich wusste noch vor der Hochzeit, dass es falsch war. Trotzdem war mir klar, von dem Moment an, als der König meine Hand nahm und sagte, er könne mich nicht lieben, dass wir trotzdem heiraten mussten! Man hat mich verkauft, Jilda – Tante Vlad und Onkel Jorvel
haben mich verkauft, verstehst du das nicht? Ich habe versucht, mich ihnen zu widersetzen, wirklich! Ich bin weggelaufen, wusstest du das? Das war in Onkel Jorvels Haus, dort haben sie uns zusammengebracht. Ich habe mich losgerissen und bin die Treppe hinuntergelaufen, über Flure, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Und da habe ich dich gesehen, Jilda. An dem Ort, den die Gentlemen den Würger nennen, die Kaschemme unter dem Haus meines Onkels. Natürlich konnte ich damals nichts tun, aber in meinem Herzen, Jilda, habe ich ge schworen, dass ich dich retten würde. Und das habe ich auch getan, stimmt’s? Sicher, wir spielen unser kleines Spiel von Herrin und Zofe. Aber eigentlich sind wir Freun dinnen, stimmt doch, oder? Sind wir nicht wirklich Freun dinnen?« Doch Jilda hörte nicht auf zu schluchzen. Wollte sie vielleicht alle Kissen mit ihren Tränen und ihrem Rotz tränken? Die königliche Geduld ging schnell zur Neige, und Jeli löste sich von der zitternden Gestalt. Sie blickte zum Frisiertisch und sah ihr Spiegelbild in dem staubigen Glas. Zuerst wirkte ihr Gesicht formlos, merkwürdig schief. Dann wurden die Züge härter. Jeli sprach in die Luft. »Das muss aufhören, Quisto. Du bist nur auf Probe hier. Du weißt doch, dass du eine Probezeit hast? Du hast die Kardinalsünde unseres Geschlechts begangen. Du hast dich entehren lassen und bist eigentlich nur noch für die Arbeit als Hure geeignet. Eine Frau, damit meine ich zu fällig Tante Umbecca, ist sogar so weit gegangen, mich Närrin zu schimpfen, weil ich dich retten wollte. Trotzdem habe ich es getan. Ich wusste, dass du kein schlechtes Mädchen bist. Wie sagte ich damals noch so richtig? Dass nur die Kniffe des niederträchtigsten Verführers meine Jilda überwinden konnten! Wenn Jilda ihre Tugend verlo ren hat, sagte ich, welche junge Frau wäre dann noch sicher?« Das Schluchzen ging weiter, wenngleich etwas leiser. Jeli starrte immer noch in den Spiegel, der mit einer Pu derschicht überzogen war. Sie griff hinter sich und glitt mit der Hand unter die Röcke des Mädchens. Ihre Augen glühten wie Kohlen in ihrem königlichen Gesicht. »Jilda.« Die Stimme war jetzt härter. »Ich fürchte, dass du mir meine Güte nur sehr wenig vergolten hast.
Bin ich nicht deine Königin, wie auch deine Freundin? Und doch begegnest du mir mit Undankbarkeit! Hast du ge lernt, meine Zofe zu sein? Hast du mich als deine Herrin respektiert? Hast du deine Pflichten gewissenhaft erle digt? Deine Unfähigkeit beschämt mich – und jetzt auch noch diese vulgären Gefühlsausbrüche! Sicher, dein Schicksal war hart, aber was sind deine Leiden im Ver gleich zu meinen? Ich wurde zur Größe erzogen, habe sie errungen, und musste feststellen, dass sie mir nur Leid brachte. Jilda, auch wenn dein Ruin bedauerlich sein mag, vergiss nicht, dass du nur die Tochter eines Schneiders bist. Mein Leben ist die Tragödie, Jilda… Quisto! Hörst du mich, Quisto? Quisto, ich verbiete dir zu weinen, außer um mich!« Die Zofe versuchte sich zu beherrschen, stand auf und wischte sich die Augen. Hatte sie Jelis Hand gefühlt, die unter ihren Röcken gespielt hatte? Das konnte man schwer sagen. Sie stöhnte, schnaubte und schniefte. An gewidert sprang ihre Herrin auf und sah streng auf das entehrte Mädchen hinab. Sie hob den Finger in die Luft. »Quisto, ich sage dir nur noch eines: Werde das, was du sein sollst, oder bezahle den Preis. Spiele deine Rolle, oder geh zum Würger zurück. Ich meine es ernst. Tante Umbecca würde dich sofort zurückschicken. Onkel Jorvel wartet bloß auf deine Rückkehr. Nur mein Mitleid rettet dich vor der Schande einer Hure.« »Nein… bitte!« Jilda rang nach Luft und stolperte nach vorn. Sie brach in den königlichen Armen zusammen. »Eure Königliche Majestät… Jeli, Jeli, bitte!« Jeli? Die Königin wollte sie wegstoßen, doch stattdes sen sank sie schmachtend hinab. Das Gefühl von Einsam keit überwältigte sie, und sie nahm ihre alte Freundin fest in die Arme. Rücksichtslos griffen die königlichen Hände in die Haare des Mädchens und schoben sie hinter die Ohren. Dann küsste Jeli leidenschaftlich Jildas Lippen. Mit einem leisen Klicken öffnete sich die Tür. »Eure Königliche Majestät?« Jeli hielt die Luft an und ließ die Zofe einfach fallen. »Wie ich sehe, seid Ihr gerade beschäftigt.« Es war der Erste Minister. Die Königin war außer sich vor Wut. Wie konnte dieser Mann es wagen, einfach in ihre Gemächer einzudringen? Aber er schien von dem, was sich seinen
Augen darbot, keineswegs überrascht zu sein. Sein ge schorener Schädel wirkte wie eine Maske, steif und kalt, und schien über seinen weißen, mönchischen Roben zu schweben. »Ihr werdet mir verzeihen, wenn ich Euch un terbreche, aber darf ich mich vergewissern, dass Ihr e benfalls bei der Inauguration anwesend seid?« »Die… Inauguration?« Verwirrt legte Jeli die Hand an den Kopf. »Aber es ist ja noch so früh! Warum findet sie so früh statt?« Tatsächlich war die Inauguration früher sogar einmal kurz nach Tagesanbruch abgehalten worden. Doch mit der Zeit war sie allmählich immer weiter nach hinten ver schoben worden, um auf die Empfindlichkeiten des Adels Rücksicht zu nehmen. Der Erste Minister hätte darauf hinweisen können, doch stattdessen teilte er ihr mit, dass ein Mittagessen mit den Kriegslords – seinen Militärbera tern – auf dem Terminplan stände. Und zwar sobald der Gottesdienst vorüber war. »Ich darf mich darauf verlassen, dass meine Königin daran ebenfalls teilnimmt? Vielleicht sogar mein König, aber wichtig ist vor allem meine Königin. Ich habe festge stellt, dass meine Ratgeber sich viel leichter vernünftigen Maßnahmen beugen, wenn sie sich in der Gegenwart von Schönheit und Anmut befinden. Und in diesen Zeiten be dürfen wir dringend vernünftiger Maßnahmen, hab ich Recht? Ihr werdet sie inspirieren, meine Teuerste. Ihr werdet sie weniger… gewalttätig machen… Die Kriegs lords, meine Teure. Ich spreche von den Kriegslords.« »Oh… Oh!« Errötend schaute Jeli in diese merkwürdig glühenden Augen. Als sie antwortete, war ihre Stimme leise: »Natürlich. Meine Zofe ist gerade dabei… mich an zukleiden. Meine Zofe…« Jeli riss ihren Blick von dem Eindringling los. Sie drehte sich um, stürzte sich auf Jilda und verlangte, dass die kleine Schlampe endlich vom Boden aufstand. »Augenblicklich, Quisto! Quisto, hast du nicht gehört?«
»Myla? Myla, hast du etwas gesagt?«
Besorgt beugte sich Rajal über seine Schwester. Sie
hatte die Augen geschlossen. Ihr Gesicht war starr. Aber er war sich trotzdem sicher, dass ihre Lippen sich bewegt hatten. Bitte, dachte er, lass sie schlafen! Er umklammer te den Kristall des Koros und murmelte ein Gebet an den Gott seines Volkes. Doch sie rührte sich. »Kleiner, was soll ich tun?«, wollte Rajal wissen. »Irgendetwas geht da draußen vor.« Der Kleine blickte von seiner Kugel auf. »Ich sehe… etwas Helles. Eine Art Regenbogen.« »Vergiss dieses Ding! Ich rede von Myla!« Rajal schmiegte sich an sie und streute noch mehr Stroh über ihr zerrissenes Kleid. Sie schien von Krämpfen geschüttelt zu werden, wachte aber nicht auf. Er hielt sie an den Schultern fest und betrachtete ernst das gezeich nete, gereifte Gesicht. Er erschauderte. Lass sie schlafen, dachte er. Lass sie einfach schlafen. In der Scheune wur de es kälter. »Eine Art Regenbogen«, wiederholte der Kleine. Rajal begriff endlich die Bedeutung der Worte. »Es tut mir Leid, Kleiner. Du vermisst ihn immer noch, hab ich Recht?« Er dachte an den regenbogenfarbenen Hund, der frü her einmal die schäbige Promenadenmischung des Klei nen gewesen war. Er hatte sein Leben für seine Freunde hingegeben. Rajal strich zärtlich über das Lichano-Band, das auf Mylas Stirn saß. Früher einmal hatte es Regenbo gen als Halsband gedient. Angeblich sollte es die Kräfte des Verstandes stärken. Oclar hatte gesagt, dass es Myla beschützen würde. Aber wie sollte es das tun? Es schneite jetzt stärker durch das Loch im Scheunen dach. »Wir müssen sie bald woandershin tragen, Kleiner… Kleiner?« Es zischte, als würde irgendwo Dampf entweichen, und Rajal wirbelte herum. Der Kleine stand da und hatte den Mund weit aufgerissen. Seine kleinen Hände berührten die Kugel nicht, mehr. Stattdessen schwebte sie glühend vor ihm in der Luft. Erneut ertönte das Fauchen. Es war Ejard Orange, der rückwärts vor der magischen Kugel zurückwich. Er mach te einen prächtigen Katzenbuckel, und sein Fell war ge sträubt.
»Da war… ein Regenbogen«, erklärte der Kleine. »Et was wie ein Regenbogen. Es ist Jem. Etwas ist passiert. Ich weiß nicht, was, aber irgendetwas ist passiert.« Die Kugel begann sich zu drehen. »Toth?«, flüsterte Rajal. »Kann es Toth sein?« Bevor der Kleine antworten konnte, knackte es, und dann folgte ein lautes Krachen. Ein Balken stürzte aus dem Dach und landete im Stroh. Der Kleine schrie auf und Ra jal warf sich über Myla. Anscheinend würde die Scheune jeden Moment zusammenbrechen. Stroh flog hoch und wirbelte in der Tenne umher. Räder und Pferdegeschirre fielen von den Wänden, und die Türen knallten heftig hin und her. Genauso plötzlich, wie es angefangen hatte, endete es auch. Alles war still, bis auf das leise Rieseln des Schnees. Rajal nahm die Hände von seinem Kopf und sah sich um. Er erkannte den Kleinen, der blinzelnd zwischen dem Schutt lag und einen kläglich miauenden Ejard Orange umarmte. Die glühende Kugel war verschwunden. Rajal hob den Blick. Das Loch in dem Dach war größer gewor den, und in der Scheunenwand war ebenfalls ein gezack ter Spalt zu sehen. »Das hat uns gerade noch gefehlt. Jetzt werden wir wirklich frieren… Kleiner, was ist mit dir?« Der kleine Junge schwankte und streckte den Arm aus. Rajal rappelte sich in dem Stroh mühsam hoch. In dem Spalt in der Wand schwebte die Kugel in der Luft. Wie ein Leuchtfeuer erhellte sie die Finsternis. Hinter der Scheune fiel der Boden steil ab, und in dieser Senke, beinahe ver borgen hinter dicken Kiefern, stand ein baufälliges altes Haus. Sein Giebel und die hohen Schornsteine schienen sich unter der Last des Schnees zu biegen. »Das ist also das Bauernhaus«, sagte Rajal. »Das muss es sein. Und Jem ist in die andere Richtung gegangen.« »Wir müssen ihn finden!«, stieß Rajal hervor. Er sah sich besorgt um. »Aber… ich kann Myla nicht allein las sen.« »Ich habe dir doch gesagt, dass Jem etwas zugestoßen ist«, erklärte der Kleine. »Was meinst du mit zugestoßen? Willst du damit sa gen, er…«
Der Kleine warf einen Blick auf die Scheunentüren. Die eine war aufgegangen, und ein eisiger Wind wehte hinein. Er peitschte Schnee vor sich her. »Ich bin mir nicht si cher«, murmelte der kleine Junge. »Ich verstehe nicht alles in der Kugel, aber ich weiß, dass wir Jem nicht fin den werden, wenn wir dort entlanggehen. Er wird nicht zu uns zurückkommen. Und wie lange werden wir hier über leben können?« Der Kleine setzte Ejard Orange ab und kletterte durch den Spalt in der Wand hinaus. »Warte«, forderte Rajal ihn auf. »Was hast du vor?« »Mich umsehen natürlich.« Der Kleine deutete auf das Bauernhaus. »Du bleibst bei Myla. Ich sehe mich auf dem Grundstück um, und dann tragen wir sie hinunter… das heißt, du trägst sie hinunter. Vielleicht kann ich sogar Hilfe holen, wenn noch jemand dort unten wohnt. Ich hoffe nur, dass sie einige Pelze haben oder wenigstens Decken.« Er rieb sich die Arme, und Ejard Orange miaute erneut. »Richtig, Ejjy. Und etwas zu essen. Jede Menge zu essen.« »Warte noch«, bat ihn Rajal. »Wenn es jetzt nicht si cher ist? Was ist, wenn…« »Wir stecken sowieso in Schwierigkeiten, oder? Kommst du mit, Ejjy?« Rajal seufzte und sah zu, wie der Kleine den Hügel hinuntertrottete. Er rutschte ein bisschen und richtete sich dann wieder auf. Ejard Orange war wesentlich ge schickter. »Hör mal, Kleiner!«, rief er ihm hinterher. »Wir müs sen dir bald einen neuen Namen geben. Ich habe immer gedacht, dass du einfach nur eine kleine Plage bist. Aber so klein bist du gar nicht mehr. Nicht wirklich.« Aber der Kleine hörte ihn nicht. Einen Moment lang schwebte die Kugel noch weit über ihm, golden glühend. Doch dann zerbarst sie zu Rajals Überraschung und verschwand wie eine Seifenblase. Der Kleine hatte es anscheinend nicht bemerkt. Seine kleine Gestalt verschwand zwischen einigen Kiefern. Rajal spähte durch das Grau. Es schneite nicht mehr ganz so stark. Dann sah er einen Rauchfaden aus dem Schorn stein des Bauernhauses aufsteigen. Ob der Kleine es auch gesehen hatte?
»Taggle! Hör sofort auf!« Taggle wusste nicht genau, womit er aufhören sollte, und blickte erschrocken hoch. Nirry warf ihm einen erns ten Blick zu. Sie fuhr ihm durch das Haar und sagte ihm, er solle brav sein. Taggle verzog das Gesicht. Sein Bruder ebenfalls. Hinter ihrem Schleier sah sich Nirry zufrieden um, wie immer, wenn sie ihre kleine Gruppe in den Großen Tem pel gebracht hatte. Als Mitglieder der Händlerklasse konn ten Nirry & Co. ihre Plätze unter den Händlern einneh men. Es handelte sich dabei um eine lange, schön gepols terte Reihe von Bänken, die an der westlichen Seite des Kirchenschiffs entlangführte. In dem heiligen Raum leuchteten warm die Kerzen. Die Luft war von Weihrauch erfüllt. Um sie herum waren die frommen Menschen von Agondon bereit, die Inauguration des Agonis zu begehen, die Adligen vorn, die Gemeinen hinten. Es war eine feierliche Angelegenheit, feierlicher als gewöhnlich. Die Ereignisse der letzten Nacht hatten alle schockiert. Die Blauröcke waren in großer Zahl aus gerückt und überall im Tempel verteilt. »Brr, es ist ganz schön kalt hier, Liebes!«, sagte Zap pelphilipp ein bisschen zu laut und rieb sich die Hände. »Ein Glück, dass wir die Kissen haben, sonst würde mir noch mein – « »Zappelphilipp Olch! Wag es ja nicht!«, zischte Nirry ihm zu, obwohl sie unwillkürlich lächeln musste. »Wir werden hier keine von deinen Vulgaritäten dulden, vielen Dank. Denk an die Jungs, ganz zu schweigen von Baines und mir. Einige von uns sind fromme Frauen, auch wenn du das nicht bist.« »Was, Liebes? Natürlich bin ich keine Frau, oder?« Grinsend stieß Zappelphilipp Baines in die Seite. »Was, Piratin?« Baines kicherte und zwinkerte mit ihrem Auge. Nirry kochte. Manchmal wusste sie nicht, was sie von Baines halten sollte. War der Frau eigentlich klar, wie privilegiert sie war, dass sie mit den Olchs zusammensitzen konnte? Eigentlich hätte sie zu den Dienstboten gehört. Trotzdem musste Nirry ihr einiges nachsehen. Die arme Baines war einmal eine vornehme Lady gewesen, und sie hatte nicht wenige Talente. Eine Weile hatte Nirry versucht – ihrer neuen Rolle an
gemessen – sich das Lesen beizubringen. Sie war nicht weit gekommen, aber Baines konnte genauso gut reden wie lesen, und sie konnte sogar Zahlenreihen addieren. Mehr als einmal hatte Nirry sich gewünscht, dass ihre Dienerin sie in diesen Dingen unterrichten würde. Aber eine Herrin konnte so etwas ihrer Meinung nach nur schwerlich verlangen. »Raggle?« »Tante Nirry?« »Lass das bitte, ja?« Zu Nirrys Erleichterung gab Raggle nach. Der tiefe Ton der Pfeifenorgel erfüllte das Kirchenschiff. Jeden Augen blick musste der Gottesdienst beginnen. Nirry lächelte und hob ihren Schleier. Erneut betrachtete sie die Bilder und Monumente, die gewaltigen Säulen und die schwe ren, mit buntem Glas verzierten Fenster. Damals in Irion hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie eines Tages an einem so großartigen Ort an einem Gottesdienst teilnehmen würde. Hätte sie sich träumen lassen, dass sie überhaupt einen Gottesdienst aus einem anderen Grund als aus reinem Pflichtgefühl besuchen würde? Seit sie nach Agondon gekommen war, hatte Nir ry gespürt, wie die Liebe des Lord Agonis in ihr gewach sen war. Vielleicht lag es an diesem großartigen Tempel, der sie mit ehrfürchtiger Bewunderung erfüllte. Vielleicht waren es auch ihr neues Leben und all die Segnungen, die ihr zuteil geworden waren. Wenn sie jetzt noch ihren alten Vater finden würde… und wenn sie Zappelphilipp aus dem Krieg heraushalten könnte… wenn sich darüber hinaus nur noch ein paar andere Dinge ereignen würden… Aber Lord Agonis war schon mehr als großzügig gewesen. Sie griff nach Zappelphilipps Hand und drückte sie fest. »Wir sind eine richtige kleine Familie, hab ich Recht?«, flüsterte sie und deutete auf die beiden Jungen. »Und wenn wir ordentlich beten, Zappelphilipp, dann werden wir vielleicht bald eigene haben. Nur weil das bisher noch nicht passiert ist…« »Natürlich wird das noch passieren, Liebes. Es ist nur eine Frage der Zeit.« Zappelphilipp beugte sich zu ihr herüber und lächelte. »Aber ich glaube nicht, dass beten viel damit zu tun hat, oder?« »Zappelphilipp Olch!« Aber auch Nirry musste grinsen. Zärtlich schaute sie in
das Gesicht ihres Ehemanns. »Dein blaues Auge ist ganz schön groß! Warum habe ich dich bloß aus dem Krieg herausgehalten, wenn du hingehst und selbst einen an fängt? Was werden die Leute denken?« »Sie werden denken, dass du mich unter der Fuchtel hast, Liebes. Ich wünschte, ich hätte das Fleischstück mitgebracht, wirklich.« Mit in den Tempel? Nirry schnalzte mit der Zunge. Zappelphilipp war einfach unbelehrbar! Während ihre kleine Gruppe im Gänsemarsch durch den kalten Morgen gegangen war, hatte er mehr als einmal eine Hand voll Schnee genommen und sie gegen sein geschwollenes Au ge gedrückt. Kein Wunder, dass er sich über die Kälte beschwerte; der dumme Kerl hatte seine Handschuhe vollkommen durchnässt, und dabei waren es die neuen, die Nirry gerade erst gestrickt hatte! Aber es hätte schlimmer kommen können. Dass Zap pelphilipps blaues Auge der einzige nennenswerte Verlust der letzten Nacht war, grenzte an ein Wunder. Die Nach richt, dass Bob Scarlets Plan gescheitert war, hatte die Rebellen in rasende Wut versetzt. Sie hatten sofort ange fangen, miteinander zu kämpfen. Einige nannten Bob ei nen Gauner und erklärten, dass sie ihm nicht mehr ver trauen würden. Andere stürzten sich wütend auf diese Abtrünnigen. Flüche, Beschimpfungen und schwingende Fäuste waren die Folge… und Zappelphilipp stand zufällig im Weg. Nirry konnte kaum glauben, dass er die ganze Rebellenbande über die Hintertreppe hinausgeschafft hatte, ohne dass sie mit dem Bajonett zugestochen hatten oder ohne dass auch nur ein Schuss fiel. Die betrunkenen Narren hatten ein unglaubliches Spektakel veranstaltet. Carney hatten sie erzählt, dass die Adligen sich wegen einer Erbschaft gestritten hätten. »Ich hoffe nur, dass es Miss Cata gut geht«, sinnierte sie laut. »Der?«, sagte Zappelphilipp bewundernd. »Die kommt schon klar, keine Sorge. Du hättest sehen sollen, wie sie mit den Rebellen umgesprungen ist, Liebes! So eine hät ten wir im Fünften gut gebrauchen können!« »Lass das nur nicht Miss Cata hören! Sie war einmal eine entzückende Lady, und jetzt sieh sie nur an…« Nirry hätte noch hinzufügen können, dass Miss Cata zu
allem Überfluss in anderen Umständen war, hätte sagen können, dass sie vielleicht ihr Baby verlor, wenn sie so weitermachte. Aber das ging nur Frauen etwas an und nicht solche groben Klötze wie Zappelphilipp… Und außer dem, konnte Nirry wirklich glauben, dass Miss Cata eine ehrbare Frau war? Hatte sie Meister Jem wirklich in einem verwünschten ausländischen Tempel geheiratet? Das war nicht richtig, das war wirklich nicht richtig! Aber Nirry murmelte stattdessen nur: »Das ist wirklich ungehörig, dass eine Lady wie sie mit einem Halunken wie Bob Scarlet herumrennt.« »Und was ist mit Miss Landa?« »Das ist eine Ausländerin. Aber Miss Cata? Ich wünsch te wirklich, dass sie den Tempel besuchen würde, wirk lich!« »Sie ist doch eine Vaga, hab ich Recht?«, erkundigte sich Baines. »Jedenfalls so etwas Ähnliches. Die brauchen nicht zu kommen.« »Dann wünschte ich, ich wäre auch ein Vaga«, mur melte Zappelphilipp. Nirry kniff ihren Mann in den Arm. »Ein Vaga? Also wirklich! Wenn du glaubst, dass du in das Reich des Nichts-Seins flüchten kannst, während ich ins Unergründ liche eingehe, hast du dich verrechnet, das kann ich dir sagen! Du wirst regelmäßig den Tempel besuchen, oder ich will nicht Nirrian Jubb heißen!« Zappelphilipp grinste. »So heißt du ja auch gar nicht. Jedenfalls nicht mehr.« Auch Nirry musste lachen, aber nur einen kurzen Mo ment. Als der mächtige Klang der Orgel ertönte, sammel te sich der Chor auf dem Chorschiff, der Kantor-Lektor und die Tempel-Domherren nahmen ihre Plätze ein, und die besonders vornehmen Leute betraten durch besonde re Türen ihre reich verzierten privaten Bänke. Nirry sagte zwar immer, dass sie keinerlei vulgäres Begehren emp fände, die Oberschicht anzustarren, aber es bereitete ihr trotzdem Vergnügen, die großartige Lady Bolbarr, den umwerfenden Baron Aldermyle, die edle Lady ChamCharing und ihre wirklich unmögliche Tochter zu sehen. Und an diesem Morgen sah sie auch noch jemand an deren. »Aber ich… ich dachte…!«, stieß Nirry fassungslos her vor.
»Was denn, Liebes?« Zappelphilipp war beunruhigt. Seine Frau war bleich geworden und hielt sich die Hand vor den Mund. Dann sah sie ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich… ich dachte, sie beten in der königlichen Kapelle! Und jetzt ist sie hier!« »Eure alte Herrin?«, fragte Baines. »Na so was!« »Die fette Frau!«, erkundigten sich Raggle und Taggle unisono. Nirry schalt sich selbst für ihre Naivität. Natürlich hätte sie sich denken können, dass die Königin mit ihrem Ge folge manchmal den Großen Tempel besuchte! Und wann sonst, wenn nicht zur Inauguration des Agonis? »Komm schon, Liebes, die alte Vettel ist doch mehrere Längen weit weg«, tröstete Zappelphilipp sie freundlich. »Sie kann dich von dort aus kaum sehen, und wenn doch, was macht das schon? Du warst ihre Dienerin, nicht ihre Sklavin! Du bist jetzt deine eigene Herrin! Außerdem starren die Adligen Leu te wie uns nicht an, jedenfalls nicht so, wie wir sie an glotzen.« »Ich… Ich wollte sie einfach nur nie wiedersehen«, war alles, was Nirry entgegnen konnte. Verwirrt senkte sie den Schleier.
»Das ist also Ejland? Was für ein Ort!« Als der Kleine endlich den Boden der Senke erreicht hatte, war ihm so kalt, dass er kaum noch Gefühl in den Händen hatte. Er wünschte, er wäre wieder in Unang Lia. Missmutig betrachtete er das schäbige Bauernhaus mit den geschlossenen Fensterläden und den verram melten Türen. Es war ein typisch ejländisches Haus, a ber der Kleine hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Efeu überwucherte die Wände, und die Giebel leuchteten dunkel unter dem grauen, bleiernen Himmel. Wie düster es aussah! Der Kleine schluckte, und als Ejard Orange gegen sein Bein stieß, zuckte er zusammen. »Ejjy, hör auf damit!« Sofort tat ihm sein barscher Ton Leid, und er hob den
schweren Kater hoch. »Armer Kerl, deine Pfoten sind bestimmt gefroren! Wenigstens können wir beide uns gegenseitig warm halten. Was ist denn, Ejjy?« Der große Kater miaute und sah über die Schulter des Kleinen. Erst jetzt fiel dem die Kugel wieder ein. Er dreh te sich um und erwartete, die goldene Kugel über ihren Köpfen schweben zu sehen. Als er feststellen musste, dass sie verschwunden war, verstärkten sich seine Ängs te wieder. Er schaute zum Himmel hinauf, bemerkte aber den Rauch aus dem Schornstein des Bauernhauses nicht. Der Kleine schüttelte den Kopf. »Macht nichts, Ejjy, wozu brauchen wir diese alberne Kugel? Jem hatte Recht. Sie hat mehr Ärger gemacht, als sie wert war. Suchen wir lieber eine Möglichkeit, wie wir hier reinkommen. Eine verlassene Scheune und ein verlassenes Haus. Kein Grund, Angst zu haben. Außerdem müsste es drinnen wärmer sein als draußen, hab ich Recht?« Mittlerweile hatte der Kleine die Klinke der Tür herun tergedrückt, die über eine überdachte Veranda zu errei chen war, auf der es mächtig stank. Die Tür war ver schlossen. Mit vor Kälte gefühllosen Beinen ging er von Fenster zu Fenster und rüttelte an den Läden. »Was haben wir denn da?« Auf der Rückseite des Hau ses fand er ein Fenster, das etwas kleiner war als die an deren und dessen Fensterläden beinahe vollständig ver rottet waren. »Spring auf das Fensterbrett, Ejjy. So ist es richtig. Warte, wenn ich ein Knie hoch bekomme, können wir den Laden wegziehen, glaube ich. Au a. Noch mal. Au. Na gut, noch einmal. So, das war’s.« Der Kleine warf das morsche Holz zur Seite. Glückli cherweise befand sich dahinter keine Glasscheibe. Steif vor Kälte folgte er Ejard Orange ins Innere des Hauses und fand sich in einer dunklen Kammer wieder. »Ejjy? Bleib schön bei mir. Was ist das denn? Du kannst doch im Dunkeln sehen, hab ich Recht?« Nach dem strahlenden Weiß des Schnees konnte der Kleine jetzt so gut wie gar nichts erkennen. Seine Augen gewöhnten sich nur langsam an die entmutigende Umge bung. Die Böden waren aus Lehm und die Wände mit Ob szönitäten voll gekritzelt. Überall war der Gips abgebrö ckelt, und in den Ecken war schmutziges Bettzeug aufge häuft. Ah, da lag eine Decke. Dankbar griff der Kleine
danach und wickelte sie sich wie einen Umhang um die Schultern. Was war das für ein Geruch? Die Decke schlug gegen einen Nachttopf. Mit einem lauten Scheppern kippte der Topf um. Der Kleine riss die Decke von der dunklen Pfüt ze zurück, die sich rasch ausbreitete. Er brauchte einen Moment, bis ihm klar wurde, was das bedeutete. Ein Nachttopf mit einem stinkenden In halt? Das bedeutete, dass dieses Haus alles andere als verlassen war. Mittlerweile hatte er die ungastliche Kammer verlassen und stand in einem langen Flur, der sehr dunkel war. Der Kleine schüttelte sich und überlegte, ob er besser flüch ten sollte. Aber hier war es wärmer und außerdem war Ejard Orange schon vorausgelaufen. »Ejjy«, flüsterte der Kleine. »Wo bist du?« Sollte er nach dem Kater rufen? Das wagte der Kleine nicht, doch dann stieg ihm ein anderer Geruch in die Na se, ein angenehmerer Duft als der aus dem Nachttopf. Der Geruch von Essen wehte durch den Flur. Frühstück! Ejjy musste das bereits gerochen haben und war seiner Nase gefolgt. Der Magen des Kleinen knurrte. Unter einer Tür weiter vorn drang ein Lichtschein in den Flur. Sein Herz hämmerte, und Zweifel überkamen ihn. In dem Mo ment knarrte hinter ihm eine Bodendiele und eine Hand packte seine Schulter. »Hab ich dich, du kleiner Bandit!« »Hilfe! Hilfe!«, schrie der Kleine sinnloserweise. »Jem, Raj, Hilfe!« »Ist sie es wirklich?«, quengelte Raggle. »Natürlich!«, behauptete Taggle. »Sieh nur, wie – « »Jungs! Jungs!«, fuhr Nirry sie an. Sie konnten sich kaum noch zurückhalten. Zu jeder ande ren Zeit wären die Jungen begeistert gewesen, Seine Kai serliche Agonistische Majestät, den großen Feind ihres Vaters, leibhaftig – oder vielmehr unter dicken Schichten Hermelin, Samt und Gold – zu sehen. Doch jetzt hatten sie nur Augen für die fette Frau, die wie eine gewaltige, juwelengeschmückte Schnecke zwischen dem blassen König und seiner immer noch nicht entführten Königin präsidierte. Vor dem Altar hob der Kantor-Lektor die Arme. Mit viel
Gescharre und Gehuste stand die Versammlung der Gläu bigen auf, um das erste Lied der Inauguration anzustim men. Nirry hielt ihr Gesangbuch hoch und stieß Zappel philipp an, damit der ihrem Beispiel folge. Auch wenn die Olchs nicht lesen konnten, wollten sie doch nicht, dass ihre Banknachbarn das mitbekamen. Allerdings hätte je der, der einen Blick auf Zappelphilipps Gebetbuch gewor fen hätte, bemerkt, dass er es falsch herum hielt. Auf jeden Fall öffnete und schloss Zappelphilipp seinen Mund. Nirry ihrerseits folgte Baines’ Beispiel, während das Katzenkonzert der beiden Jungen absolut nichts mit den heiligen Worten zu tun hatte. Daher war es ganz gut, das tausend andere Stimmen um sie herum erklangen und das Kirchenschiff bis hoch an die Decke des Gewölbes erfüllten. Und so sammeln wir uns hier, um unseren Gott
Zu lobpreisen, der auf der Erde geblieben ist:
Der Heilige Suchende, der sein Element des Himmels auf
gegeben hat,
Um auf unseren Pfaden zu wandeln,
Um auf unseren Pfaden zu wandeln.
Zappelphilipp ließ sein Gesangbuch bald sinken. Nicht zum ersten Mal kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Nachdem Nirry von ihrer Herrin weggelaufen war, hatte sie ihn nicht nur aus der Armee freigekauft, sondern auch die Pacht der Katze & Krone bezahlt. Sie hatte gesagt, es wären ihre Ersparnisse. Hatte sie das Geld vielleicht von ihrer Herrin gestohlen? Zappelphilipp hoffte inständig, dass dieser Verdacht falsch war. Und außerdem: Wäre Nirry nach Agondon gekommen, wenn es stimmen wür de? Andererseits, als sie die Katze & Krone gepachtet hatten, hatte Nirry ja noch nicht gewusst, dass ihre ehe malige Herrin in Agondon lebte. Ein Mädchen im Spiegel floh vor ihm
Und durch ihre Flucht erschütterte sie alles
Gute, alle Tugend, alles Vertrauen und alle Werte,
So dass wir seit diesen Tagen nur noch
Weinen können,
Nichts als weinen.
Es war eine der schwereren Hymnen, und Nirry gab den Versuch mitzusingen rasch auf. Zitternd dachte sie an diese schicksalhafte Nacht, in der sie ihre Herrin verlas sen hatte. Während der letzten Monate hatte sie sich kaum noch vorstellen können, wie die Zeit in Umbeccas Diensten gewesen war. Wie sehr Nirry sich verändert hat te! Der Gedanke an ihr früheres Leben erfüllte sie mit Entsetzen. Natürlich hatte es auch gute Zeiten gegeben, als Lady Ela noch lebte. Lord Tor war da gewesen, der kleine Barnabas und Meister Jem. Aber dies alles hatte stets die Herrin überschattet und dominiert. Aber jetzt bricht ein Neues Zeitalter an: Mit jeder Phase, die verstreicht, Kommt das Ende dieses langen Sühneopfers näher, Und wir müssen nicht länger erleiden Diese Zeit des Mangels, Diese Zeit des Mangels. Lange Zeit hatte sie Umbecca nur für eine bösartige alte Vettel gehalten, die man leicht beruhigen konnte, wenn man ihr etwas zu essen brachte. Ihre geheuchelte Fröm migkeit hatte Nirry nicht mehr gestört als die sentimenta le Trunkenheit ihres Vaters. Und als die fette Frau sich mit Kaplan Feval eingelassen hatte, hatte Nirry vor allem die komische Seite dieser Affäre gesehen. Dann jedoch war diese schreckliche Nacht gekommen, in welcher der Kaplan, angestachelt von ihrer Herrin, Lord Margrave ermordet hatte. Nirry hatte sich in dem dichten Grün des Glaszimmers verborgen und alles mit angese hen. Der Kaplan und die Herrin hatten gemeinsam dafür gesorgt, dass sich nichts und niemand der Erhebung von Gouverneur Veeldrop in den Adelsstand in den Weg stell te. Und auf diese mörderische Art und Weise hatte die Herrin sich ihren eigenen Aufstieg in die bessere Gesell schaft geebnet. Am nächsten Tag war Nirry mit Miss Cata davongelau fen. Denn jetzt kommt der Schäfer mit dem Stab Und wird mit seiner Macht Das Aufkeimen des Bösen bekämpfen,
Damit erneut Freude und Fröhlichkeit Sich in jedem Gesicht abzeichnet, Sich in jedem Gesicht abzeichnet. Manchmal hatte Nirry versucht sich einzureden, dass es der Kaplan gewesen war, der ihre fromme, wohlwollende Herrin verführt hatte. Aber sie glaubte nicht wirklich dar an, und als sie jetzt hinter ihrem Gesangbuch hervorlugte und Lady Umbecca betrachtete, wusste Nirry, dass sie es niemals ernsthaft geglaubt hatte. Sie verschwand fast hinter ihrem Schleier und wünschte sich jetzt, dass sie sich nach hinten zu den niederen Rängen gesetzt hätte. Wie grausam ihr Stolz jetzt bestraft wurde! Furchtsam versuchte sie, sich das Schicksal ihres Va ters vorzustellen. Hatte dieses alte Miststück ihn einfach auf die Straße geworfen, nachdem er so viele Jahre in ihren Diensten gestanden hatte? Oh, Umbecca war böse, sehr böse! So wird der Königliche mit seiner Göttin im Blick
Sich in den Himmel emporschwingen,
Und alles, was die Mächte des Bösen geraubt ha
ben,
Wird wieder auf die Erde zurückkehren
Für heute und für alle Zeiten!
Für heute und für alle Zeiten!
Die Hymne endete mit diesen wohlklingenden Worten. Weitere Lieder der Inauguration folgten, einige vom Chor alleine gesungen, andere nur von der Gemeinde, einige gemeinsam von Gemeinde und Chor. Es wurde aus dem El-Orokon und aus dem Leben der Heiligen vorgele sen, es wurden Lobpreisungen gesungen, und ein Segen wurde gespendet, angeführt vom Maximus des Inneren Kreises mit seinem spitzen Hut und dem strahlend weißen Chorhemd. Gold, Elfenbein und Marmor schimmerten weich, und die heiligen Kerzen flackerten. Weihrauch wa berte durch den Raum, und die Morgensonne schien durch das bunte Glas der Fenster und zauberte einen fünffarbigen Regenbogen in den dämmrigen Raum, der sich zwischen den großen Säulen spannte. Doch trotz all dieser Pracht weht ein eisiger Wind durch die Gänge, und selbst den Adligen in ihren dicken Pelzen
wurde langsam ungemütlich. Einige nahmen verstohlen einen Schluck aus ihren kleinen Schnapsfläschchen, und so mancher sehnte sich nach einem Nachttopf, einer Kaf feetasse oder einem Tobarillo, als der Erz-Maximus, der heiligste Führer des Ordens des Agonis, endlich zu der hohen, mit prächtigen Steinmetzarbeiten verzierten Kan zel emporstieg, um den neuen Großen Lektor vorzustel len. Endlich! Nirrys Neugier stieg, und sie verdrängte sogar die Gedanken an ihre Herrin aus ihrem Verstand. Wie alle anderen, die den Großen Tempel besuchten, hatte auch Nirry den Tod des alten Lektors Garvice betrauert und war von den Gerüchten fasziniert, die seine Nachfolge umgaben. Einige hatten ihr Geld auf Kaplan Etravers von der König-Ejard-Wache gesetzt, andere auf Lektor Arden aus Varby, und es war auch Kanon Flonce im Gespräch, einer der engsten Vertrauten des verstorbenen Lektors. Da Kanon Flonce der Einzige war, den Nirry jemals leibhaftig gesehen hatte, favorisierte sie ihn. Vor allem deshalb, weil er auf eine etwas plumpe, wohlwollende Art und Weise ein gut aussehender Mann war. Natürlich gab es genügend Leute, die behaupteten, er wäre einfach zu gewöhnlich und würde Diener und Kaufleute zu seinen Freunden zählen. Trotzdem hoffte Nirry, dass er für seine hingebungsvollen Dienste an den Großen Lektor Garvice belohnt würde. Gemurmel erfüllte das Kirchenschiff. Während Nirry Raggles Kopf zur Kanzel drehte, betrachtete sie nervös den Erz-Maximus, den geistigen Vater ganz Ejlands. Im Orden des Agonis war das Große Lektorat die zweitwich tigste Funktion, weil der Große Lektor so gut wie sicher der nächste Erz-Maximus werden würde. Jetzt jedoch hob der augenblickliche Amtsinhaber seine Arme zu einem Segen. Das Gemurmel erstarb. Mit träger Stimme begann der alte Mann eine lange Lobrede, in der er die Tugenden des verstorbenen Lektors Garvice auf zählte und über die moralischen, intellektuellen und geis tigen Vorzüge der Person sprach, die seine Nachfolge an treten sollte, und so diese große Metropole, eine Zitadelle der Zivilisation, Dreh- und Angelpunkt der Welt und so weiter und so fort, sicher durch die schwierigen Zeiten führen würde, die vor ihnen lagen. Es schien fast so, als wolle der Erz-Maximus endlos
weiterreden. Daher war es fast eine Überraschung, als er unvermittelt innehielt, zurücktrat und auf die Tür der Sak ristei deutete. Die Orgel stimmte einen Kanon an, in den der Chor einfiel, und die Tür zur Sakristei öffnete sich. Eine prachtvoll gekleidete Gestalt erschien und ging ge messenen Schrittes am Altar vorbei und die Treppe zur Kanzel hinauf. Man hörte, wie die Leute nach Luft schnappten, und so gar einige Rufe wurden laut. Die Wachen, die überall im Großen Tempel verteilt waren, machten sich für einen Augenblick deutlicher bemerkbar. Raggle und Taggle ver renkten sich fast die Hälse, weil sie sich fragten, was das wohl zu bedeuten habe. Nirry war fassungslos, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. »Ganz ruhig, Liebes!«, flüsterte Zappelphilipp. »Was habt Ihr denn, Goody Olch?«, zischte Baines. Nirry sah sich hastig um und bemerkte, wie eine ge wisse vornehme Dame in der Bank der Cham-Charing ohnmächtig wurde, und sah auch das stolze, triumphie rende Lächeln auf dem runden Gesicht ihrer ehemaligen Herrin. Nirry hatte Angst, dass sie sich gleich übergeben müsste, und bemühte sich, trotzdem zuzuhören, als Eay Feval den Text seiner Predigt ankündigte.
15. Hand im Handsschuh »Myla? Myla, hast du etwas gesagt?« Wieder beugte sich Rajal über seine Schwester, und wieder bewegte sie sich. Ihre Augen waren zwar noch geschlossen, aber Rajal war überzeugt, dass sie nicht mehr schlief. Er sah sich verzweifelt um. Wie einsam er sich fühlte, jetzt, da Jem und der Kleine fort waren. Nun wäre er sogar froh gewesen, wenn er zumindest diesen fetten, nervigen Kater gesehen hätte. Verzweifelt blickte er ins Gesicht seiner Schwester. Ihre Blässe war so merkwürdig und so wächsern. Er strich über ihre Haut. Sie war eiskalt. Der Wind fegte durch die Löcher in der Scheune, und unaufhörlich fiel der Schnee aus dem grau en, diesigen Himmel. In dem Moment tauchte das Licht über seinem Kopf
auf. Rajal schluckte und blickte hoch. Es war die Kugel des Kleinen, die sich unaufhörlich drehte. Dann hörte er die Stimme. Bruder Raj, es ist ein Ruf. Der Ruf, den wir brauchen… »Myla?«, flüsterte Rajal. Seine Schwester hatte die Augen noch immer nicht geöffnet. Und auch ihr Mund hatte sich nicht bewegt. »Du… du kannst die Kugel se hen?« Ich kann alles sehen. Bruder, nimm mich in deine Ar me… »Wa… was? Ich… ich verstehe nicht – « Nimm mich in deine Arme… Rajal wollte protestieren, wusste aber nicht genau, wogegen eigentlich. Unbeholfen hob er seine so merk würdig gealterte Schwester hoch und fühlte ihre spitzen Knochen unter ihren blauen, zerknitterten Roben. Wie leicht sie ist, dachte er und betrachtete ihr todesbleiches Gesicht wie ein Liebender. Als er durch das zerschmetter te Dach spähte, sah er, wie die goldene Kugel sich drehte und in dem Nebel verschwand. Es war, als würde die Sonne eine Welt verlassen, die sie nicht länger mit ihrem Licht wärmen wollte. Deine Schulter, trage mich über deine Schulter… Der Wind frischte auf, heftiger als zuvor, und fegte ei nes der Scheunentore auf. Rajal blickte hinaus und sah die Kugel, die über dem Schnee schwebte. War es mög lich, dass sie ihn rief? Bring mich dahin, wohin die Kugel gehen will… Während seine Schwester gefährlich auf seiner Schul ter schwankte, kletterte Rajal langsam die Leiter von der Tenne hinunter. Als er schließlich hinaus in den Schnee stapfte, schwitzte er mehr, als er zitterte, als habe ihn ein gefährliches Fieber gepackt. Er warf einen Blick zurück, in die öde Scheune, die ihm plötzlich beinahe tröstlich vor kam. Dies war die Richtung, in die Jem verschwunden war. Die Kugel flog voraus wie eine kleine Sonne, wie eine ruhelose, rufende Sonne. Rajal konnte weiter voraus et was erkennen, etwas Helles, Blaues. Es war das Himmels schiff, das halb unter einem Schneehügel verborgen war. Die Kugel drehte sich genau darüber. »Schwester, erklär mir, was das bedeutet. Es ist zer stört und kaputt, ganz bestimmt – «
Das Himmelsschiff. Bring mich zu dem Himmelsschiff… Rajal musste feststellen, dass dies erheblich schwerer war, als es aussah. Während er sich ihrem zerstörten Schiff näherte, merkte er, dass seine Schwester merk würdigerweise immer schwerer wurde. Seine Schritte wurden bleiern und die Entfernung, die eigentlich nur wenige Schritte betrug, schien viel zu weit. Sein Fieber, wenn es denn Fieber war, verschlimmerte sich. »Schwester Myla… Ich muss mich ausruhen…« Merkwürdige Bilder erfüllten Rajals Gedanken, Bilder von weißen Bergen, von Eis, von einem riesigen, fantasti schen Palast. Was sollte das alles? Das Armband an sei nem Handgelenk fing an sich zu drehen, verbrannte ihn, und er fühlte, wie der Kristall an seiner Brust glühte. Das Band auf Mylas Stirn strahlte silbern. Rajal stürzte. »Schwester, nein, ich kann nicht… nein, nein, ich…« In dem Moment stieg Myla in die Luft auf und schwebte auf die sonnenartige, sich drehende Kugel zu. Rajal hätte wie Jem im Schnee ohnmächtig werden können. Stattdessen war er sich der eindringlichen Rufe seiner Schwester bewusst und schaute erstaunt zu, wie sie in die Luft emporschwebte. Ihre blauen Roben wehten, und sie stieg hoch über das Himmelsschiff, dorthin, wo eben noch die Kugel gewesen war. Sie hob ihre Hände an die Schläfen und presste die Finger auf das Lichano-Band. Jetzt rutschte der Schnee von dem Himmelsschiff. Und dann erhob es sich in die Luft. »Das ist wohl kaum sehr klug, hab ich Recht? Sich mitten auf den Weg zu legen, wo die Karren fahren, das ist allein schon dumm genug – selbst im Theron-Jahr wäre es ziemlich dumm. Aber an einem solchen Morgen? Bei dem Schnee? Hörst du mir zu, Jem? Jem, hörst du?« Eigentlich hörte Jem nicht zu. Er hatte die Augen ge schlossen und ihm war angenehm warm. Vage merkte er, dass er ein bisschen hin und her schwankte, von Seite zu Seite und auch leicht auf und ab. Er lächelte. Die Stimme war ein angenehmes Murmeln. Und er hielt etwas in der Hand. Etwas Warmes. »Allerdings, Jem. Noch ein paar Augenblicke länger, und du wärst vollkommen mit Schnee bedeckt gewesen.
Völlig unsichtbar in dem Weiß. Und was wäre dann aus dir geworden? Du hast wirklich Glück gehabt, dass ich gerade hier vorbeigekommen bin. Du könntest mich sogar deinen Retter nennen. Aber hörst du mir auch zu, Jem? Jem?« In dem Moment öffnete Jem die Augen. Er sah, dass er auf dem Bock eines Wagens saß, den Kopf an die Schulter des Kutschers gelehnt. Der verschneite Weg erstreckte sich vor ihnen, und aus den Nüstern des großen Kut schenpferdes stiegen warme Atemschwaden in die Luft. Er richtete sich rasch auf. »Ich… wer seid Ihr?« Es schneite nicht mehr, und der Himmel war bleiern. Ein Hase hüpfte über ein Feld neben ihnen. Der Kutscher beobachtete ihn und hatte das Gesicht von Jem abgewen det. Jem sah nur, dass sein Begleiter groß und in dicke, dunkle Pelze eingehüllt war. Als sein Blick auf seine ge ballte Faust fiel, öffnete er sie und sah die glänzende Münze des Harlekins auf seiner Handfläche. »Wer seid Ihr?«, wiederholte er. Vielleicht konnte sein Begleiter ja nicht hören. »Aller dings, es hätte schlecht für dich ausgehen können«, sag te der nämlich, beugte sich vor und trieb das Pferd an. Ein hoher weißer Kragen verbarg zwar sein Gesicht, aber die Stimme kam Jem merkwürdig bekannt vor. »Erfrieren ist eine ziemlich unschöne Todesart. Es gibt nur sehr we nig Zauberer, die das rückgängig machen können, wuss test du das? Auch wenn sie es noch so sehr versuchen, die Toten wieder zum Leben zu erwecken, selbst im bes ten Fall ist das eine ausgesprochen schwierige Angele genheit. Aber wenn jemand einmal erfroren ist… Hörst du jetzt zu? Jem?« »Ihr kennt meinen Namen?«, fragte Jem schließlich. Er war weniger beunruhigt als verwirrt. Immerhin war er offensichtlich kein Gefangener. Er war nicht gefesselt und spielte mit dem Gedanken, von dem Kutschbock zu springen. Aber etwas hielt ihn zurück. Vielleicht seine dünne, unpassende Kleidung? Er hatte keinen Hut auf dem Kopf und auch keine Handschuhe, nicht einmal soli de Lederstiefel an den Füßen. Dennoch spürte Jem im Augenblick keine Kälte. Was war eigentlich mit der Wunde an seinem Schen kel? Jem hatte seine Verletzung zuvor vollkommen ver gessen. Doch als er hinsah, bemerkte er, dass der Schnitt verschwunden war.
Vorsichtig betastete er seine Haut. Er war wieder ge sund. Vollkommen gesund. »Natürlich kenne ich deinen Namen, Jem«, sagte der Kutscher. »Und Eurer?«, fragte Jem erstaunt. »Wie lautet Euer Name?« Er glaubte, dass er ihn kannte. Jem hätte vielleicht den hohen Kragen wegziehen und das Gesicht entblößen kön nen, das er dahinter erwartete. Doch war das noch nötig? Der Karren bog um eine Ecke. Unter ihnen erstreckte sich mächtig und majestätisch die Hauptstadt von Ejland, die sich über das gesamte Delta des Flusses Riel erstreckte. Ach, Agondon, Stadt der Aeonen! Agondon, herrschaft licher Sitz der Könige! Wie gefroren unter dem eisigen Himmel bot die Stadt eine Vision geheimnisvoller Pracht. Und am prächtigsten war der anmutige Turm des Großen Tempels, der sich golden von dem bleiernen Himmel ab hob. Er war das Herz der Stadt, das Herz des Imperiums, das Herz der ganzen Welt. In angstvoller Erwartung schaute Jem nach vorn, selbst als sein Begleiter ihm sein Gesicht zuwandte. Jetzt hielt der Bursche das Pferd an. Von ihrem Standort in den Agondon-Hügeln aus schien es, als könnten sie abheben und über die Stadt unter ihnen hinwegfliegen. »Jem, ich habe nicht viel Zeit. Aber das weißt du si cher, hab ich Recht? Dort unten, in den engen, gewunde nen Gassen der Insel, liegt eine Taverne. In dieser Taver ne bist du nicht gewesen, damals, als du noch Lord Emp sters Schützling warst. Es ist eine einfache Gaststätte, die Kunden sind Gemeine, aber du wirst dort weit freundli cher willkommen geheißen als in den marmornen Hallen der Adligen. Es handelt sich um die Katze & Krone – dort hin musst du dich wenden.« Jem war beunruhigt. »Aber Rajal… der Kleine?« »Um deine Freunde brauchst du nicht zu fürchten. Sie haben bereits ihre eigenen Rollen in dem Spiel gefun den.« »Und Myla? Was ist mit Myla?« »Jem, denk du nur an die Katze 6- Krone. Wie ich sag te, die Zeit ist knapp, und ich muss fort.« Erst jetzt drehte sich Jem zu seinem Begleiter um. »Fort? Wohin?« Die silberne Maske funkelte. »Es ist mir nicht be
stimmt, in dieser Welt zu leben. Wie derjenige, dessen Gestalt ich angenommen habe – erinnerst du dich daran, wie du mich einst bei seinem Namen gerufen hast? –, hätte ich schon längst von hier verschwinden sollen.« Jem schluckte. Er wusste natürlich, dass dieser imagi näre Harlekin nicht derselbe war wie sein Onkel Tor vester, der mit den Vagas gereist war, bunte Kleidung getragen und seinen letzten Harlekintanz auf dem Dorf anger aufgeführt hatte. Nein, Tor war tot. Jem hatte ihn am Galgen baumeln sehen, mit grauem Gesicht und ge brochenem Genick, seinen Häschern ausgeliefert von Tan te Umbecca. Aber war nicht dieser Harlekin die Essenz von Tor, die Jem noch aus dessen Grab fühlte? »Zauberer können Menschen wiederauferstehen las sen«, murmelte er. »Das hast du selbst gesagt, Harlekin. Was bedeutet da noch Schicksal, wenn man es an der Zauberei misst?« Der Harlekin erklärte ihm, wie albern seine Worte wa ren. »Es ist dir bestimmt, den Orokon zu vereinen, hab ich Recht? Es ist dir bestimmt, die Krone dieses Königrei ches zu tragen, oder etwa nicht? Und dennoch arbeitet die ganze Zeit Toths Magie gegen dich! Du kannst viel leicht fragen, was Zauberei bedeuten mag, wenn sie in einem Kampf gegen das eingesetzt wird, was vorherbe stimmt ist. Aber erlaube niemals, dass Toth triumphiert, weil du es allein durch diesen Gedanken schon Wirklich keit werden lassen kannst.« Der Harlekin senkte den Blick. »Ich sagte schon, dass ich fort muss. Doch bald, mein Kind, werden wir uns wiedersehen. Dann, wenn dei ne Aufgabe endlich erfüllt ist.« Angst stieg in Jem hoch. Es hatte wieder angefangen zu schneien, und er deutete hilflos auf die Stadt zu seinen Füßen. »Warte, Harlekin! Es gibt noch so viel, das du mir erzählen musst! Wer war diese Lady, diese Regenbogen lady? Und wo ist Cata? Willst du mir nicht sagen, wie ich den goldenen Kristall finden soll, hier mitten im Zentrum von Toths Macht? Willst du mir keinen Hinweis geben? Ein kleines Zeichen?« Der Mund unter der silberne Maske verzog sich zu ei nem Lächeln. Durch einen Spalt in dem dunklen Pelz er haschte Jem einen Blick auf das bunte Kostüm. »Jem, Jem, hast du nicht Zeichen genug bekommen?
Vielleicht kannst du ja nicht glauben, dass deine Arbeit beinahe getan ist.« Eine behandschuhte Hand berührte seine Brust. »Der Kristall der Javander. Und der Vaga hütet den Kristall des Koros. Der kleine Unangese den Kristall des Theron, stimmt’s? Und das wilde Mädchen schützt den Kristall der Viana… ja, die Avatare sind alle an ihrem Platz. Es ist ganz einfach, Jem. Tu dich wieder mit Wolverons Tochter zusammen, schar deine kleine Gruppe um dich, und die vier Kristalle werden dich mit vereinten Kräften zu dem fünften führen. Da gibt es kein weiteres Geheimnis. Wenn die Avatare in der Einsiedelei der Winde versammelt sind, ist alles vorüber. Dann ist die Zeit ge kommen.« Jems Gedanken überschlugen sich. »Kein Geheimnis? Avawas? Einsiede-was? Harlekin, aber-« »Ich kann nicht länger warten.« Der Mund unter der Maske verzog sich erneut zu einem Lächeln, und der Har lekin ergriff Jems Hand. Es war die Hand, die die Münze hielt. »Mein Kind, nach dem heutigen Tag kann ich nur noch einmal zu dir kommen, nur noch ein einziges Mal, und dann verschwinde ich für immer. Ruf mich, wenn du mich brauchst. Aber nur dann, wenn du mich wirklich brauchst. Dann werde ich kommen.« »Aber heute… heute habe ich Euch ja nicht gerufen…« »Wenn du nicht gerufen hättest, hätte ich nicht kom men können.« Jem konnte nur in die Augenschlitze der Maske des Harlekins starren, in die Augen hinter dem gebogenen, polierten Silber. Sein Herz schwoll vor Liebe an, denn wie hätte er nicht glauben können, dass dieser Harlekin sein Onkel Tor war? Die Maske begann zu vibrieren, schien fast zu tanzen. »Harlekin! Was ist das?« »Vergiss nicht, Jem, Katze &… Katze &…« Diesmal klang die Stimme weit entfernt, und plötzlich war der Harlekin verschwunden. Nur sein Mantel lag noch da… sein Hut… seine Handschuhe… und seine Stiefel. Verwirrt sah Jem sich um und drückte die Münze so fest, dass sie ihm in die Handfläche schnitt. Er zitterte am ganzen Körper. Es war so kalt, so eisig kalt! Der Turm des Tempels war trotz des Schneetreibens noch zu sehen, wie Jem feststellte, nachdem er seine Tränen weggewischt hatte. Rasch zog er die zurückgelas
sene Kleidung an, und nahm die Zügel des unruhig auf der Stelle stampfenden Pferdes. »Los, mein Junge, auf zu Katze & Kanarienvogel!« Langsam arbeiteten sie sich den Hügel hinunter.
»Oder… hieß es Katze & Krone?«
Und in der Zukunft, so sagte er, würde es eine Zeit der Sühne geben, in der alle für die Irrtümer der Vergangen heit büßen müssen. Orok. Juv. V 54/7-9 Mit der Zuversicht eines erfahrenen Redners beugte sich Eay Feval vor. Die Ärmel seiner luxuriösen Robe strichen über ein gewaltiges, uraltes Exemplar des El-Orokon, das mit einer goldenen Kette an der Kanzel befestigt war. Über seine scharf geschnittenen, ansprechenden Ge sichtszüge glitt ein Lächeln. Man hörte, wie die Gläubigen mit den Füßen scharrten, und sah, wie sie die Köpfe neig ten. Zappelphilipp versuchte, seine Ohren ruhig zu halten, und Baines zwinkerte rasch mit ihrem Auge. In der Bank der Cham-Charing hielt eine aufgeregte Miss Laetitia ab wechselnd ihrer Mutter ein Fläschchen mit Riechsalz unter die Nase und fächerte sich mit ihrem Gesangbuch hastig Luft zu. Sehr zum Missfallen von Lady Margrave, die auf der anderen Seite der großen Cham saß. Freddy Chayn, der noch ein wenig verwirrt von der letzten Nacht war, und Professor Mercol saßen ebenfalls in der Bank und wirkten entsetzt. Der Lektor holte tief Luft. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht, und plötzlich schlug er mit der flachen Hand auf das heilige Buch. »Frauen und Männer von Agondon!«, rief er. »Wisst ihr, was hier geschrieben steht? Betet, dass ihr es wisst, denn nur die Treue zu diesem Buch, zu diesem und nur zu die sem, wird entscheiden, wie über euch gerichtet wird, wenn die Zeit kommt. Gehorcht den Lehren, brennt sie in eure Herzen ein, und ewige Seligkeit ist euch gewiss, wenn ihr hinauf in die Herrlichkeit des Unergründlichen
gerufen werdet! Vergesst sie, missachtet sie, und ihr werdet wie Treibgut in einem Sturm vom Hüter des Por tals in seinem gerechten Zorn ins Reich des Nicht-Seins geschleudert. Dort erwarten euch solch unendliche Qua len, dass euch im Vergleich dazu all die Torturen eures irdischen Lebens wie das Zucken der Lust vorkommen werden!« Eine erstaunliche Eröffnung. Umbecca blickte weiterhin stolz um sich. Der Erste Minister Tranimel, der vor weni gen Augenblicken unauffällig die Kirche betreten hatte, gestattete sich ein ironisches Lächeln. Selbst die ChamCharings, Mutter und Tochter, schreckten aufmerksam hoch. Doch Eay Feval war ein gewiefter Redner. Feuer und Schwefel waren nur eine Waffe aus seinem Arsenal. Schon bald sollte sich sein Ton ändern, und das sollte nicht das letzte Mal sein. »Ich frage euch, wisst ihr, was in diesem Buch geschrie ben steht?« Er beugte sich vor und sprach schnell und leise, als wolle er jeder Frau und jedem Mann, die hier versammelt waren, etwas im Vertrauen mitteilen. »Es steht geschrieben, dass wir einmal im Tal des Orok leb ten, in diesem ersten Zeitalter der Welt, welches wir die Zeit der Unschuld nennen. Es steht geschrieben, dass dieses Tal von Kriegen erschüttert wurde, als die Streit kräfte von Theron und seiner Schwester Javander ge meinsam gegen die vereinte Streitmacht von Koros und Viana fochten. Nur Agonis, der größte der Götter, hielt sich von dem gewalttätigen Wahnsinn dieser Kriege fern. Dennoch stieg der Ur-Gott aus der Dunkelheit seines To des tief im Felsen des Seins und Nicht-Seins auf, nach dem die Kriege geendet hatten. Er verkündete, dass die fünf Rassen nunmehr das Tal des Orok verlassen und ins Exil gehen sollten. So endete die Zeit der Unschuld und das gegenwärtige Zeitalter begann. Diese Ära haben wir die Zeit des Sühneopfers genannt.« Fevals Blick huschte über erwartungsvolle, ängstliche Gesichter. Nirrys Kopf hämmerte vor Unrast. Wie konnte es sein, dass dieser Mann, dieser gewalttätige, hinterlisti ge Mörder, der Große Lektor von Agondon wurde? Was bedeutete ihr Glaube noch, wenn so etwas geschehen konnte? Sie fragte sich auch, warum solch ein Mann überhaupt
dem Orden des Agonis angehören durfte. Sie wusste, dass er einst in Ungnade gefallen war. Hatte man ihn nicht deshalb nach Irion verbannt? Und wie konnte er erneut in eine solch bedeutende Position aufsteigen? Nirry Olch war in vielerlei Hinsicht eine einfache Frau geblieben. Deshalb kam ihr der Gedanke, dass Lord Ago nis bestimmt gleich erscheinen und Feval niederstrecken würde. Die Gesten des Lektors wurden immer überschwängli cher. Von Zeit zu Zeit schüttelte er den Kopf, wie ein Mann, den traurige Gedanken Umtrieben. »So ergab es sich, dass wir diesen Ort unserer Un schuld verließen und von da an große Entbehrungen und Gefahren erdulden mussten, während wir dieses Reich suchten, in dem wir jetzt leben. Die Legende besagt wei ter, dass der Lord Agonis, dessen Herz wegen unseres Leidens blutete, sich dem Befehl seines Vaters widersetz te und nicht in sein Heim im Unergründlichen zurückkehr te. Stattdessen begann der Gott unserer Rasse seine lan ge Suche nach seiner Geliebten, der Lady Imagenta, de ren strahlendes Antlitz die Kriege ausgelöst hatte, die unser erstes und bei weitem prächtigstes irdisches Heim vernichtet hatten. Dies ist, wie ich schon sagte, nur eine Legende, die das heilige Buch weder bestätigt noch bestreitet. Aber wäh rend all der Zeitalter ist der Glaube unerschütterlich ge blieben, dass sich die gegenwärtige Ordnung der Dinge ändern muss, wenn unser Lord seine Lady endlich gefun den hat.« Baines schluckte und zwinkerte die Tränen weg, die ihr einziges Auge trübten. Zappelphilipp rutschte nervös auf der Bank hin und her, und als er den Gesichtsausdruck seiner Frau unter dem Schleier sah, verstärkte sich sein Unbehagen noch. Verwirrt und wütend starrte Nirry zwischen dem glatt züngigen, selbstgefälligen Lektor und der stolzen, strah lenden Umbecca hin und her. Wie sie triumphierten! Sie malte sich aus, wie sie aus der Bank sprang und die Wahrheit herausschrie. Doch das wagte sie nicht. Auf eine diffuse Art und Wei se hatte sie sich die Welt immer als wohl geordnet vorge stellt, wo alle Dinge am richtigen Platz waren. Nur um Miss Catas und Miss Landas willen hatte sie sich mit den
Rebellen eingelassen. Jetzt jedoch verstand sie deren Anliegen auf einen Schlag. Ejland schmachtete in den Klauen des Bösen. Und irgendwie musste dieser Griff gebrochen werden, koste es, was es wolle. Sie zitterte heftig und packte den Arm von Zappelphi lipp. »Aber wann kommt es denn, dieses Ende des Sühne opfers?« Eay Feval deutete mit gestrecktem Finger in die Ge meinde. »Frauen und Männer von Agondon, sehe ich Furcht in euren Gesichtern? Es ist Furcht, denn haben wir uns nicht heute Morgen hier versammelt, um gemeinsam den Beginn des Festes des Agonis zu feiern, den Beginn der Meditationen, die das gegenwärtige Jahr beschließen? In wenigen Tagen bezeichnen wir dieses Jahr nicht mehr als das Jahr 999d, sondern als 999e, das letzte Jahr, be vor der Tausendste Zyklus beginnt. Und was kommt dann? Welche Ängste stehen uns noch in dieser kurzen Spanne eines Jahres bevor? Ach, ich weiß schon, was einige sagen werden! Einige halten Reden an Straßenecken, andere flüstern es hinter vorgehaltener Hand, aber viele werden glauben, dass der bevorstehende Tausendste Zyklus schon in dem Moment, in dem er anbricht, das Ende von all dem markiert, was wir kennen. Nur, ob dieses Ende ein freudiges oder ein trübseliges wird, ist das Thema einer leidenschaftlichen Debatte.« Der Lektor strich sich über das Kinn. »Und was ist mit euch, meine Kinder, die ihr euch heute Morgen hier ver sammelt habt? Was stellt ihr euch vor? Täusche ich mich, dass die Worte das Ende, das Ende, die wie eine Glocke klingen, in euren Herzen kein Echo finden? Frauen und Männer von Agondon, ich täusche mich nicht. Lasst mich euch betrachten.« Mit einer übertriebenen Geste legte der Lektor die Hand über die Augen und spähte in den dämmrigen Raum. Unter den Gemeinen rührten sich ängstlich einige Leute. »Oh, ja, dahinten am Ende sehe ich einen korpu lenten Burschen mit rotem Gesicht. Vermutlich ist er ein Schuhmacher oder ein Kerzendreher. Vielleicht ist er aber auch ein Händler, der giftige Schnäpse verschachert.« Gelächter brandete auf, und viele verdrehten sich fast die Hälse, um den Burschen sehen zu können.
»Was also stellst du dir vor, mein Freund? Vielleicht Dämonen aus dem Reich des Nicht-Seins? Dämonen, die durch die Wände dieser Dimension brechen, um diese Stadt zu zerstören?« Die Augen des Lektors glühten wie heiße Kohlen. Sein Flüstern zischte durch die hohen Steingewölbe. »Oh ja, ich glaube, das tust du. Ich glaube, genau das tust du.« Furchtsam hielten die Leute die Luft an, und das Ge lächter erstarb, als sein Blick weiterschweifte, diesmal beunruhigend dicht über die kleine Gruppe der Olchs hin weg. Einen schrecklichen Moment lang fürchtete Nirry, er würde sie aus der Menge herauspicken. Und du, meine Verschleierte? Komm schon, zeig uns dein Gesicht. Nirry zitterte, Baines dagegen gestattete sich ein kleines koket tes Lächeln. Zufällig schien sich Feval jedoch auf eine Lady ein paar Bänke weiter zu konzentrieren, aber welche Dame das war, konnten weder die erleichterte Nirry noch die ent täuschte Baines genau sehen. »Und du, meine gute Frau? Aus der Stelle, an der du sitzt, schließe ich, dass du die Gemahlin eines Kaufmanns bist, ebenso wohlhabend wie realistisch? Darf ich dir ein Kompliment für deine Kleidung machen, die, da bin ich sicher, nach der neuesten Mode von Varby geschneidert ist?« Die Leute kicherten, und mehrere Frauen unter den Kaufleuten erröteten, weil ihnen klar war, dass auch ihre eigene Kleidung nicht ganz der letzten Mode entsprach. »Aber nein, meine Schöne, ich will dich nicht beleidi gen. Dem Geschäft deines Gatten gereichst du gewiss zur Zierde, und du bist sicher wahrhaft fromm. Vielleicht freust du dich deshalb darüber – denn ich bin sicher, dass du es tust –, dass der Lord Agonis bald unter uns sein wird mit seiner Lady an der Seite. Wird er dann nicht ein fach die Arme ausbreiten und damit eine neue, ewige Ära des Friedens einläuten?« Das Gelächter verwandelte sich in Freudenrufe. Feval lächelte. Er war sich seiner Meisterschaft bewusst, die er durch lange Übung im Tempel von Irion erlangt hatte. Wie er dieses Leben in der Provinz verachtet hatte! Doch jetzt zahlte sich sein Leiden aus. Und nun würde er mit seiner Rache an der Quelle dieses Leidens beginnen, aber indirekt, spielerisch.
Sein Blick richtete sich auf die privaten Bänke. Verwirr tes Gemurmel schlug ihm entgegen. Der Große Lektor würde doch gewiss nicht Adlige bloßstellen, doch nicht hier mitten in diesem ordinären Haufen? Doch diesmal gab es keinen Zweifel, wer sein Opfer war. Er streckte seinen langen Finger aus wie eine Lanze. Gelächter bran dete auf, während sich die Köpfe auf Miss Laetitia ChamCharing richteten, die vor Verlegenheit errötete. »Und du? Was ist mit dir, mein schöner Blaustrumpf? Der Ruf deiner Belesenheit hat sich weit verbreitet, und es finden sich welche, die behaupten, die Weisheit von Zeitaltern wäre zwischen diesen makellosen Ohren ver borgen! Hoffen wir, dass dein Mann nicht versucht ist, dir einen Schlag hinter dieselben zu geben, gereizt, wie er aufgrund deiner überlegenen Bildung sein muss… Ach ja, natürlich, ich vergaß, dass du erst noch einen Ehemann finden musst.« Das Gelächter wurde jetzt lauter, beinahe höhnisch. »Armes Kind, was musst du eine Plage für deine Mut ter sein. Und was für eine Schande, dass du so wenig Mitgefühl für sie aufbringst, wo die arme Frau doch all mählich in die Dämmerung der Senilität abrutscht und nur noch von schwachen Erinnerungen an ihre einstige Größe aufrechtgehalten wird!« Der Lektor schüttelte den Kopf, als täte es ihm Leid, und mittlerweile hatte das Gelächter, das zunächst unter den adligen Damen begonnen hatte, die ganze Gemeinde erfasst. Lady Cham-Charing sank zurück, ihr Blick starr vor Entsetzen, während Tishy mittlerweile aus allen Poren schwitzte. Sie konnte ihren Folterer nur anstarren und kämpfte gegen den Drang an, sich die Ohren zuzuhalten, zu schreien, in Tränen aufgelöst zu flüchten. Das Grölen des Mobs prasselte wie Peitschenhiebe auf sie herab und wurde von der Höhe des gewaltigen Gewölbes noch ver stärkt. Der Lektor fuhr im Plauderton fort. »Ich frage mich nur, welche Gedanken wohl unter diesen streng nach hinten gekämmten Haaren zu dem drängenden Thema des Endes des Sühneopfers kreisen? Ach, Miss Tishy, ich habe das Gefühl, dass ich fast hinter diese hübsche kleine Hornbrille sehen kann – in die wirbelnden Zahnräder Eures Gehirns! Und welche Gedanken sollen da schon her vortreten, wenn nicht… ausgemachter Unsinn… blanker
Unsinn? Nein, mein kleiner Blaustrumpf, streite es nicht ab, denn sind es nicht dein Stolz und deine Anmaßung, die dich mit Verachtung auf den einfachen Glauben unse rer Schwestern und Brüder herabblicken lassen, die sich hier in der gemeinsamen Liebe zum Lord Agonis versam melt haben?« Rufe wurden laut: Schande! und Schämt Euch! Sie ertönten immer wieder, bis das hilflose Mäd chen in Tränen aufgelöst war und das Gesicht hinter zit ternden Händen verbarg. Professor Mercol versuchte, sie zu trösten, während Lady Margrave die zitternde Con stansia festhielt. Freddy Chayn dagegen war in sich zu sammengesunken und verachtete sich selbst, während der Lektor zurücktrat und seinen Triumph genoss. Er hatte Lady Cham-Charing vernichtet. An einem ein zigen Morgen waren die ungebrochenen Ansprüche dieses Weibes vollkommen zerstört worden! Welche Frau unter den hier Versammelten – selbst unter den Gemeinsten – würde die alte Hexe nicht mit Verachtung strafen? Und welcher Mann würde jetzt noch ihre armselige, hässliche Tochter heiraten? Oh, wie süß war die Rache! Doch das war nur der Anfang. Feval hatte sich gerade erst für sein Thema erwärmt. Er atmete langsam und tief ein und betrachtete dieses Meer von Gesichtern vor sich. Im nächsten Moment ließ er seine Faust krachend auf das El-Orokon fallen, schob seine drei Opfer, den Schwarzhändler, die Kaufmannsfrau und selbst Miss Laetitia, achtlos zur Seite, und schrie, dass sich alle irrten, vollkommen in ihren fadenscheinigen Vorstellungen irrten. Der Tausendste Zyklus, erklärte er, war von allergröß ter Bedeutung. Aber würde die Menschheit so einfach aus dieser irdischen Verbannung entlassen werden, sei es durch Vergebung oder durch sinnliche Segnungen? Nie mals! Was war dies in Wahrheit anderes als eine Zeit für die Erneuerung des Herzens, eine Zeit für die heiß glü hende Erneuerung des Glaubens, welche allein sicherstel len konnte, dass der Lord Agonis niemals seine Macht über dieses große und uralte Königreich aufgeben würde? Was, wenn nicht feige, wäre es, etwas anderes zu erwar ten? Oh ja, denn mit dem Tausendsten Zyklus würde ein Zeitalter des Ruhms beginnen, aber Ruhm hier auf der
Erde, wenn die mächtigen Streitkräfte von Ejland erst die Rebellen vernichtet hatten, die es gewagt hatten, die rechtmäßige Herrschaft Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät in Frage zu stellen. Danach würden sie einen triumphalen heiligen Krieg gegen alle zurückgebliebenen minderwertigen Rassen dieser Welt beginnen. Deshalb würde die Dominanz Ejlands noch weitere tausend Zyklen andauern, dann noch weitere tausend, und noch weitere tausend, und das alles im heiligen Namen von König Ejard Blau, welcher die menschliche Gestalt des großen und gnädigen Lord Agonis verkörpere! Es war eine brillante rhetorische Meisterleistung, die großartigste, die Eay Feval jemals dargeboten hatte. Er stand auf der Kanzel und sah den weiteren Verlauf seiner Rede klar vor sich. Er würde gemessenen Schrittes den Gipfel dieser großartigen Ansprache erklimmen. Er hatte die Zuhörer in der Hand, und zwar vollkommen. Sein Ruhm war gesichert. Er war der Große Lektor, und bald, sehr bald, wenn dieser alte Narr endlich aus dem Weg geräumt war, würde er der Erz-Maximus werden, der geistige Leiter des mächtigsten Reiches der Welt! Feval hätte am liebsten den Kopf nach hinten geworfen und gelacht. Er stellte sich bereits die Berichte über sei nen Triumph vor, die in einer nicht enden wollenden Rei he von Kolumnen in der Gazette erscheinen würden. Dar über würde ein vornehmer Kupferstich seines Gesichts prangen. Er sah die Denkmäler, die Büsten und Bildnisse. Er sah sich selbst in den Olymp der Heiligen erhoben. Seine Brust schwoll an, als er tief Luft holte, um weiterzu sprechen. Doch diese Chance bekam er nicht. Nach den Ereignissen von gestern Nacht drängten sich heute Morgen Soldaten der Blauröcke im Tempel. Sie hiel ten Ausschau nach den kleinsten Anzeichen von Ärger. Sie hatten sogar die Gläubigen sorgfältig überprüft, bevor sie hatten eintreten dürfen. Alle waren nach Waffen durchsucht worden. Einige hatte man weggeschickt, an dere in Haft behalten. Doch womit niemand gerechnet hatte, war das Ausmaß des Fanatismus bei den Rebellen. So kam es, dass eine bestimmte Lady aus ihrer Bank stürmte und auf die Gruppe mit dem Königspaar zulief. Einige behaupteten, es wäre die Frau des Kaufmanns gewesen, die der Lektor in
seiner Rede bloßgestellt hatte. Zuerst wusste niemand, was passierte. Lady Umbecca schrie als Erste. Schüsse peitschten auf. Ein Soldat sprang vor und hol te mit seinem Bajonett zum Stoß aus. Blut spritzte. Der Rebell wich zurück, und seine schwere Perücke fiel zu Boden. Darunter kam ein haarloser männlicher Schädel zum Vorschein. Der Mann krachte gegen die Kanzel. Ein weiterer Schuss knallte, dann noch einer, aber dies hier war eine Selbstmordmission. Die Bombe war scharf und bereit. Es geschah so schnell, dass Eay Feval nicht einmal die Chance bekam, sich zu rühren. Einen winzigen Moment später flogen Fetzen der falschen Lady – Glieder, Organe, Haarbüschel und die neueste Mode aus Varby – in einer ohrenbetäubenden, blutigen Explosion durch die Luft. Feval bekam die volle Wucht des Schlages ab. Der Große Tempel versank im Chaos. In diesem ersten, schrecklichen Augenblick wusste niemand, wer lebte und wer schon tot war und ob viel leicht noch eine Bombe explodieren würde. Die Menge stürmte schreiend und kreischend zum Portal. Adlige, Gemeine, Chorsänger und Domherrn bildeten ein klassen loses Durcheinander. Einige rannten in die eine Richtung, nur um von der gewaltigen Woge aus Leibern in die ande re davongetragen zu werden. Die Soldaten waren macht los. Es fielen weitere Schüsse und Fäuste flogen. Kleider wurden zerfetzt, Augen ausgekratzt und Arme aus den Gelenken gedreht. Kerzenständer kippten um. Plötzlich züngelten Flammen hoch. Irgendwo in dem Gewühl umklammerte eine gewisse ehrbare verheiratete Frau verzweifelt zwei kleine Jungen und wurde in Richtung der zerstörten Kanzel geschoben. Kurz nachdem ihr jemand den Schleier vom Gesicht geris sen hatte, stieß sie gegen eine große, bunt gekleidete Gestalt, die sich schluchzend und keuchend an den übel zugerichteten Körper des Lektors klammerte. Es gab einen Augenblick des gegenseitigen Wiederer kennens. Der kleine Mund öffnete sich weit, und ein ge keuchtes Nirry! entfloh den Lippen, bevor eine neue Woge von Leibern von hinten herandrängte, Nirry und ihre bei den jungen Schutzbefohlenen erfasste und sie geschwind
den Mittelgang hinuntertrug.
Raggle und Taggle kreischten vor Vergnügen.
17. Rat-a-tat-tat! Und dann? Was hast du dann gemacht? »Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich habe das Kind auf die Arme genommen. Und es zum Fluss ge bracht. Die Sonne hat geschienen, und ich habe es zum Fluss gebracht.« Und dann? Was hast du dann gemacht? »Ich sagte doch, ich habe es zum Fluss gebracht. In die Sonne.« War sie hell? Die Sonne? »Sie hat auf dem Wasser gefunkelt. Und auf den Wel len schwammen Stockenten. Das Kind war ja so aufge regt! Wir haben ein bisschen im Schilf herumgeplanscht, das war so grün, so hoch, so… spitz…« Spitz? Wie Schwerter? »Nein… nicht wie Schwerter…« Dann vielleicht wie Messer? »Nicht wie Messer… nein, wie Messer auch nicht.« Und das Schilf? Lag da etwas im Schilf?
»Du meinst… eine Leiche?« Wie bitte? »Ich… ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe.« Vielleicht solltest du mir einfach sagen, was passiert ist. »Das habe ich dir doch gesagt. Ich habe das Kind an die Hand genommen, und – « Ach ja, dieser Fluss! Aber da waren doch nicht wirklich Enten? »Der Fluss war zugefroren. Und es war stockdunkel.« Dunkel? Du hast es doch nicht wirklich zum Fluss ge bracht, oder? Nein, du hast es weggeholt. Du hast es sei ner Mutter weggenommen, als es dunkel war. »Nein, das war ich nicht. Ich war das nicht!« Willst du etwa deinem braven Komplizen die Schuld in die Schuhe schieben? Komm schon, mein Freund, das Kind wurde entführt. Es wurde entführt – und dann? »Wir haben es zum Tempel gebracht. Wir haben gebe tet.« Zum Tempel? »Ich habe es entführt. Ja.« Und gebetet? »Ich… nein, wir haben nicht gebetet.« Dann sag mir, was ihr getan habt. »Ich… aber das weißt du doch! Du weißt es!« Du musst es aussprechen. Sag es mir! »Nein… nein. Ich…« Bis jetzt hatte Bohne seine Antworten nur gemurmelt und starrte auf die Gestalt, die vor ihm in dem dämmri gen Licht schwebte. Erst bei diesen letzten Worten erhob sich seine Stimme zu einem Schrei, aber er unterdrückte diesen Schrei sofort. Beunruhigt schaute er zu Poltys Bett und stellte erleichtert fest, dass sein Freund sich nicht gerührt hatte. Bohne rieb sich die Augen. Das Phantom war ver schwunden, aber es würde wiederkommen. Ob es real war oder nur ein Geschöpf, das seinem angstvollen Hirn entsprungen war, wusste er nicht. Es würde ihn auf jeden Fall immer und immer wieder heimsuchen. Bevor er ein schlief, würde er sich schütteln und in den zerwühlten Laken schwitzen, sein Herz würde hämmern, und er wür de einen trockenen Mund bekommen. Dann, wenn er end lich in einen unruhigen Schlaf fiel, würde ihm langsam
dämmern, dass etwas da war, irgendetwas… Erschreckt würde er aufwachen und sehen, wie sich das Phantom vor ihm aufrichtete. Es war schwarzweiß und grau, hatte eine gestreifte Robe, trug einen Hut und hatte ein glänzendes Licht an der Stelle, an der sich eigentlich sein Gesicht hät te befinden sollen. Warum kam es immer zu ihm? Doch Bohne kannte die Antwort nur zu genau! Zusammengekauert und steif vor Angst hockte er auf dem Rand seines Betts und war nur froh, dass wenigstens diesmal das Phantom verschwun den war, bevor seine Fragen noch weitergingen. Er zitter te und schlug die Hände vors Gesicht. Keine Sonne. Kein Schilf. Und keine Stockenten. Er dachte an das Kind in der schmutzigen Zelle, irgendwo in dem Labyrinth unter dem Großen Tempel. Dort tropfte Schleim von den Wän den, und der Geruch war schlimmer als in einem Abwas serkanal. Es gab dort kein Licht außer dem flackernden Schein, den Bohnes Fackel warf, wenn er mit Polty kam, um das Kind zu holen. Wie Polty grinste, wenn er die Rie gel zurückschob, und wie sein Haar in dem Licht der Fa ckel glühte! Bohne sank nach hinten, von Scham gepeinigt. Sah er sich selbst, wie er das schmutzige, verängstigte Kind streichelte, leise mit ihm sprach und es bat zu schweigen, während Polty es auf dem Opferstein festband? Oh, er war es, der den Tod verdiente! Angewidert sah er die Bruderschaft des Toth vor Augen, sah das Messer in Tra nimels Hand. Nacht für Nacht hatte Bohne tief in seinem Herzen gegen diese abscheulichen Dinge aufbegehrt. Hat te er nicht versucht, das dem Phantom zu erklären? Hatte er das Phantom nicht angefleht, ihm zuzuhören? Doch das Phantom weigerte sich. Wie jede Nacht. Bohne zwang sich aufzustehen. Seine langen Glieder knackten. Rasch zog er Hose, Strümpfe und Schuhe an. Polty war schon wieder in den Kleidern eingeschlafen. Bohne hätte ihn eigentlich ausziehen sollen, aber er war zu müde gewesen. Er war immer noch müde, aber es hätte keinen Sinn gehabt zu versuchen, wieder einzu schlafen. Es musste bereits später Morgen sein. Ein rötlich graues Licht drang in die Kammer und lauerte hinter den langen Vorhängen. Bohne zog sie zurück und kniff die Augen zusammen, als er den hellen Schnee sah. Oh ja, der Mor
gen war schon sehr weit fortgeschritten. Vermutlich hat ten sie sogar die Inauguration verpasst! Nicht, dass Polty das irgendwie kümmerte… Bohne zitterte und rieb sich die Arme. Er musste ein Feuer im Kamin entfachen, Pol tys Frühstück holen und Poltys Stiefel putzen. Müde schlurfte er in der unordentlichen Kammer her um, mit ihren staubigen Teppichen und zusammenge knüllten Theaterbilletts, den verstreuten Kleidungsstü cken, den fettigen Tellern und den leeren, glänzenden Flaschen. Aufgrund ihres Ranges als Spezialagenten brauchten Polty und Bohne weder in den Ollon-Barracken zu wohnen noch in einer der anderen Kasernen, die über die Insel verstreut waren. Stattdessen hausten sie in ei ner Wohnung im Clumpton Castle. Früher einmal war das die königliche Residenz gewesen, jetzt jedoch war es nur noch ein Flügel des baufälligen, heruntergekommenen Gebäudes, in das sich der einst so prächtige Koros-Palast verwandelt hatte. Früher einmal – zu Zeiten der guten Königin Elabeth vielleicht – waren ihre Gemächer sicherlich luxuriös ge wesen. Für Militärs waren sie immer noch eindrucksvoll, mit ihrer dunklen Mahagonitäfelung und ihrer gewölbten Decke, mit ihrem kostbar gearbeiteten Kamin und den diamantförmigen Fensterflügeln. Viele wären sicherlich dankbar ob eines solchen Privilegs gewesen, Polty und Bohne hatten es wie üblich missbraucht. Bohne zündete das Feuer an und schichtete die Thea terzettel auf, als die Flammen hochzüngelten. Er streckte die Hände aus und hielt sie über das Feuer. Fast wäre er wieder eingedöst und hätte sich wie eine Katze auf dem Kaminvorleger ausgestreckt. Aber das ging nicht; Polty würde bald aufwachen. Bohne rollte sich herum und betrachtete seinen Freund. Polty lag auf dem Bett und schnarchte unregel mäßig. Es hörte sich fast an wie das Grunzen eines Schweins. Nachdem sie von der Zeremonie in der Krypta zurückgekehrt waren, hatte er eine ganze Flasche Schnaps geleert. Die Flasche lag immer noch neben ihm auf dem Laken, und er hielt sie leicht mit seiner Hand fest. Er rührte sich ein wenig und grub sein Gesicht tiefer in das Kissen. Der Grund für diese Exzesse hatte wohl kaum etwas mit Schuldgefühlen zu tun. Nein, Polty hatte ande
re Sorgen, die sich in einem bestimmten Glas manifes tierten, das neben seinem Bett stand. Über das Glas hatte er ein kariertes Tuch gelegt. Für Polty gab es nichts ande res als dieses Glas: In ihm befand sich das Zentrum sei nes Seins. Denk nicht daran. Bohne schlug sich mit der Hand ge gen die Stirn. Aber wenn er nicht an das Glas dachte, würde er an die Krypta denken. Und dann an das schrei ende Kind. Wie das Blut gespritzt war! In der letzten Nacht war es eine hellrote Fontäne gewesen, die die wei ße Robe des Ersten Ministers besudelt hatte. So viel Blut von einem so kleinen Kind! Denk nicht daran, sagte er sich wieder. Er wünschte, sie wären bei der Inauguration. Wenn Polty nicht hinsah, hätte Bohne vielleicht sogar ein bisschen beten können. Stattdessen musste er den Nachttopf leeren. Ja, das war eine gute Idee. Die kalte Luft von draußen würde seinen Kopf klären. Außerdem… stank es hier nicht? Anscheinend hatte sich Polty in der Nacht wieder erbrochen. Bohne schnüffelte und kroch auf allen vieren über he rumliegende Mäntel, Schuhe und die unordentlichen Tep piche. Der Topf, wo war der Topf? Er tastete blindlings unter Poltys Bett und zog eine modische Krawatte hervor, einen lange verschwundenen Strumpf und einige klebrige Taschentücher. Aber was war das? Wuselte da etwas au ßerhalb seiner Reichweite herum? War es eine Ratte oder eine große Schabe? Vorsichtig bewegte Bohne die Hand, und als seine Fin ger über die staubigen Bohlen strichen, stieß er gegen einen verdrehten Lederriemen. Daran hing ein knüppelar tiges, zylindrisches Objekt. Polty musste offenbar in der Nacht aufgewacht sein und in seinem Rausch versucht haben, das Objekt anzulegen, bevor er wieder eingeschla fen war. Vorsichtig hob Bohne den langen, dicken Zylinder hoch, entwirrte die Riemen an der flachen Wurzel und wischte die Staubflocken von der pilzförmigen Spitze. Er strich über den langen Schaft, und seine Fingerspitzen glitten dabei über die kunstvoll geschnitzten Adern. Das Objekt war das Meisterstück eines hervorragenden Handwerkers und war, jedenfalls Polty und Bohne, als »Holzpenge«, kurz »Penge«, bekannt. Es war zwar ein bisschen größer als der Körperteil, der als Vorbild gedient
hatte, und dennoch war Penge großartig naturgetreu. Zu Bohnes wichtigsten Pflichten gehört es, ihn zu ölen und polieren. Und Penge sah aus, als brauchte er eine Politur. Selbst wenn alles andere in diesen Gemächern schmutzig war, wenigstens Penge sollte glänzen. Und funkeln. Bohne stand auf und genehmigte sich einen kleinen Moment der Hingabe. Früher einmal, als Penge noch neu gewesen war, hatte er sich das Ding selbst vorgeschnallt. Ich habe doch nur den richtigen Sitz der Riemen über prüft, hatte er protestiert, als Polty ihn dabei überrascht und einen Wutanfall bekommen hatte. Natürlich hatte Bohne mehr getan. Besorgt warf er einen Blick auf den schlafenden Polty Diesmal hielt Bohne sich das Ding nur an die richtige Stel le. Das genügte schon, und er schüttelte staunend den Kopf. Wirklich, Penge war wahrhaftig monströs… elefan tös! Bohne huschte zum Spiegel und drehte sich zur Seite. Wenn er seine Augen halb schloss, konnte er sich dann nicht vorstellen, dass Penge zu seiner Person gehörte? Er stieß das Ding nach vorn, wackelte damit hin und her; er wickelte die Riemen um seine Hüften und Schenkel und verknüpfte sie dann mit leichtsinniger Gier. Es war doch nur für einen Moment. Nur für einen Au genblick. Mittlerweile war es schon etwas länger her, dass Bohne diesen gefährlichen Weg beschritten hatte. Dennoch war es fast schon eine kleine Gewohnheit geworden. Er nann te es – hm – Penges Hochzeitstanz. Der Tanz beinhaltete mehrere komplizierte Wackeleien, ganz zu schweigen von Schwüngen, Stößen und Reibungen. Es war ihm gerade gelungen, auf den Händen zu ste hen, als ein scharfes Rat-a-tat-tat! an der Tür ertönte. Bohne landete unsanft auf dem Boden. Das Rat-a-tat-tat! kam erneut. Heftig zerrte er an den verknoteten Riemen, während Poltys undeutliche Stimme aus dem Kissen rief: »Bohne… Bohne, verdammt, mach die Tür auf!« »Ich versuche… Ich versuche sie loszuwerden, Polty!«, rief Bohne. Diese verdammten Knoten! Plötzlich schien Penge schwer zu werden, und er merkte, wie die Wurzel
schmerzhaft gegen seine eigenen weniger erstaunlichen Körperteile drückte. Was war er doch für ein Narr! Was hatte er da wieder getan? Er zerrte und riss. Wo war ein Messer? Konnte er diese Riemen nicht zerschneiden? Aber Polty würde wütend sein! Polty würde ihn verprügeln! Erneut klopfte es; diesmal war es ein hartnäckiges Rat… Rat. Erneut rief Polty nach Bohne, und der wagte es nicht, noch länger zu zögern. Er konnte nur hoffen, dass sein Freund sich nicht umdrehen würde, während er zur Tür hastete und sie einen Spalt öffnete. Vorsichtig spähte er in den Flur. Diejenigen, die geklopft hatten, entsprachen nicht ganz dem, was er eigentlich erwartet hatte. In dem dämmri gem Licht erkannte er zwei sehr junge und rangniedere Blauröcke. Der eine, offensichtlich der Klopfer, war beina he genauso hager wie Bohne, wenn auch längst nicht so groß. Hinter runden Brillengläsern blinzelten ihn zwei gro ße Augen an. Sein Gefährte stand neben ihm. Er war ein korpulenter kleiner Kerl, ganz offensichtlich ein Bauer, der albern grinste. Der dicke Kerl wollte gerade etwas sagen, aber der Hagere brachte ihn rasch zum Schweigen. Er schluckte heftig und fragte: »Ma… Major… P… Poltiss Veeldrop?« Bohne sagte, dass er nicht der Gesuchte wäre und füg te rasch hinzu, er sei der Offiziersbursche des fraglichen Gentlemans. Schließlich war das ein angesehener Beruf. Sie könnten die Botschaft an Major Veeldrop genauso gut ihm anvertrauen. »Gut, sagt ihm – «, begann der Dicke und unterbrach sich dann mit einem kleinen Schrei. »Aua! Morvy, du trampelst mir auf den Zehen herum!« Der hagere Bursche schniefte und schluckte erneut. »Ich bin Rekrut Plaise Morven von den Fünften Königli chen Füsilieren vom Tarn, Königliche Wache, InselAbteilung«, sagte er wichtigtuerisch, »und ich muss Euch mitteilen, dass ich bevollmächtigt bin, meine Nachrichten nur Major Veeldrop persönlich zu überbringen. Ist er da drin?« »Er ist was, Morvy?«, erkundigte sich der Dicke. »Du hast gesagt, er wäre ein Kriegsheld. Dieser Veeldrop…« Der ahnungslose Bursche schaute Bohne fragend an. »Hat er nicht Zenzau gerettet, damals in dem Feldzug gegen Orvik? Wir waren bei diesem Feldzug dabei, wisst Ihr, ich
und Morvy.« »Crum, halt den Mund!«, zischte sein Gefährte. Bohne seinerseits erschien es das Einfachste, diesen Morvy zu fragen, von wem er, wie er es ausdrückte, bevollmächtigt worden war. Bohne wollte sich nicht widersetzen – er wollte nur ein fach nicht die Tür öffnen. »Von Sergeant Bunch«, erwiderte Morven, »von den Fünften Königlichen, Königliche Wache, Insel-Abteilung. Aber soweit ich weiß, ist der von Generalmajor HevaHarion bevollmächtigt, der wiederum von Tranimel… ich wollte sagen, Seiner Loyalen Exzellenz, dem Höchsten Beschützer der Krone und des Reiches, dem Ersten Minis ter des…« »Ja, ja.« Bohne seufzte. Dieser Morvy hatte etwas von einem Pedanten. Genau genommen war er sogar die Ver körperung eines Pedanten. Murmelnd entschuldigte er sich und trat von der Tür weg. Polty rührte sich ebenfalls. Das würde schwierig werden. Bohne ließ sich nach hinten fallen, griff nach unten und schob Penge zwischen seine Schenkel, was eine ziemlich schmerzhafte Angelegenheit war. Dann presste er seine Knie zusammen und stand langsam wieder auf, schob seine Hüften nach vorn und kreuzte einen Fuß über den anderen. Ja, so ging es. Aber… er zog das Hemd aus dem Ho senbund und ließ es über die verräterischen Riemen fal len. Ja, so ging es. Solange er jetzt die Schenkel fest zu sammenpresste, wobei er sich bemühte, den stechenden Schmerz in seinen Weichteilen zu ignorieren, würde nie mand vermuten, dass er Penge versteckte. Im Flur hörte man deutliches Räuspern, und Bohne be fürchtete ein erneutes Klopfen. Er schleppte sich mit ge kreuzten Beinen zurück zur Tür, öffnete sie und lächelte, obwohl er aufgrund der Schmerzen ständig Grimassen schnitt. Dann bat er die jungen Blauröcke herein und teil te ihnen mit, dass Major Veeldrop auf dem Bett zu finden wäre. Er winkte sie mit zuckendem Gesicht und einer elegan ten Handbewegung ms Zimmer. »Warte hier, Crum«, zischte Morven zur Enttäuschung seines Gefährten. Crum protestierte, weil er eigentlich gehofft hatte, den Kriegshelden zu sehen, doch Morven
blieb hart. Er zwinkerte rasch hinter seinen Augengläsern, während er sich erstaunt in der stinkenden, schmutzigen Kammer umschaute. Diese Kerle sollten wirklich Offiziere sein? Morven salutierte. »Ma?… Major Veeldrop?« Bohne seufzte. Er hatte sich hastig gegen die Wand direkt neben der Tür gelehnt. Bedauerlicherweise stand die noch einen Spalt offen, und der Soldat namens Crum lungerte direkt davor herum. Zwar konnte er Polty nicht sehen, dafür aber Bohne, und er schnitt ihm ebenfalls Grimas sen. Anscheinend versuchte der Bursche, freundlich zu sein. Wusste er denn nicht, dass Bohne Leutnant war? Sicherheitshalber reagierte Bohne nur mit einem kurzen Zucken. Doch Crum erwiderte es. Offenbar glaubte er, dass sie ein Spiel spielten…. Was folgte, waren zahlreiche Grimassen, unfreiwillig von Bohnes Seite aus und höchst gezielt von Crum. »Ma… Major Veeldrop?« Morven salutierte noch einmal. Bohne verdrehte die Augen und wandte sich ab, bevor Crum ihn erneut nachmachen konnte. »Natürlich ist das Major Veeldrop! Habe ich das nicht gesagt?« Vorsichtig streckte Morven die Hand aus und berührte Poltys Schulter. Das war keine gute Idee. Bohne berührte Polty niemals überraschend. Mit einem erschreckten Schrei sprang die rothaarige Gestalt vom Bett auf und packte den blauen Uniformrock. »Crum! Hilfe, zu Hilfe!« Morven stolperte zurück und stürzte, während seine Muskete zu Boden polterte. Crum stürmte herein, seine Waffe schussbereit im Anschlag. Doch in dem Moment lief Polty grün an, beugte sich vor und erbrach sich. Der Segen landete auf der Jacke des unglücklichen Morven. Polty sank wieder auf das Bett zurück und wischte sich den Mund ab. Crum drehte sich hastig um, als wollte er irgendjemandem Feuerschutz geben, bevor er über einen seiner Schnürsenkel stolperte, in den Nachttopf trat und zu Boden stürzte. Aber Crum dachte auch in dieser Situation keineswegs an sich selbst. »Morven!«, rief er. »Morven, geht es dir gut?« Morven rappelte sich langsam wieder auf, rot im Ge sicht, und zischte seinen Gefährten wütend an: »Du Narr,
Crum! Ist dir denn nicht klar, dass das hier Offiziere sind? Dafür werden sie uns vor Gericht stellen!« »Du hast um Hilfe gerufen, Morvy«, erwiderte Crum, womit er nicht ganz Unrecht hatte. »Crum, sie stehen auf unserer Seite«, entgegnete Morven, womit er ziemlich Unrecht hatte. »Aber wo ist der Kriegsheld?«, flüsterte Crum. Eine nur zu berechtigte Frage. »Geht es dir gut, Polty?«, rief Bohne von der Wand aus. »Natürlich geht es mir gut«, erwiderte Polty finster und schob sich eine Strähne seiner fettigen Locken zurück. Er sog heftig die Luft durch die Nase. Dieser Nachttopf stank ja bestialisch! Na ja, dafür hatten sie jetzt keine Zeit. »Bohne? Was machst du da? Und wo ist mein Fusel? Hast du meinen verdammten Fusel gesehen?« Crum fragte sich, was der Offizier wohl meinen könnte, und schaute besorgt um sich. Morven suchte nach einem Taschentuch. Bohne schluckte und schätzte die Entfer nung zum Schrank ab, wo er zufällig eine frische Schnapsflasche für genau diese Gelegenheit verwahrt hatte. Konnte er einen der Besucher bitten, sie für ihn zu holen? Wahrscheinlich nicht. Jetzt kam es darauf an, schnell zu gehen, bevor jemandem auffiel, dass er seine Beine kreuzte. »Bohne«, sagte Polty, »das mag vielleicht eine alberne Frage sein, aber kannst du mir erklären, warum du so watschelst?« »Ich habe einen Krampf, Polty Ich… habe heute Nacht einen Krampf bekommen.« Polty kniff die Augen zusammen. »Und was ist mit dei nem Gesicht?« »Mein Gesicht?« Es zuckte in Bohnes Gesicht. »Ich… habe mir einen Nerv eingeklemmt.« Erleichtert verschwand er für einen Augenblick hinter der Tür des Schranks und nutzte die Gelegenheit, um Penge neu zu justieren. Wenn er nur ein Messer hätte! Es würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als die Riemen zu zerschneiden. Er musste sie nur ersetzen, bevor Polty es herausfand. Bohne sprang vor und warf Polty die Schnapsflasche zu. Der fing sie auf, setzte sie an und schluckte einen großen Teil des Inhalts, bevor er sich mit einem erwar
tungsvollen Lächeln an seine Besucher wandte. Was konnten diese Kerle wollen? Im Moment war der jenige namens Morvy jedenfalls ausschließlich mit seinem Taschentuch beschäftigt. Das war schon völlig durch weicht, aber das Erbrochene auf seiner Uniformjacke war erst zur Hälfte abgewischt. Crum sah sich Hilfe suchend um und erblickte ein gewisses Tuch, das ein bestimmtes Glas bedeckte, welches auf dem kleinen Tisch neben Pol tys Bett stand. Der untersetzte, dicke Kerl streckte die Hand danach aus, aber Polty erwischte ihn am Handge lenk. Crum traten Tränen in die Augen. Was für ein Griff! Polty lächelte und umklammerte für einige schmerzhafte Augenblicke lang, das Handgelenk des Soldaten. Bestürzt trat Crum zurück und signalisierte dann stumm, dass er aufgab. Also wirklich, es war doch nur ein altes Tuch, oder nicht? Aber Crum wusste, dass Offiziere sich manchmal seltsam verhielten. Und wo war nun eigentlich der Held? Das war doch hoffentlich nicht dieser Kerl hier! Verstohlen scharrte Crum mit dem Stiefel auf dem Teppich und bückte sich, als er seinen offenen Schnür senkel bemerkte. Bohne seinerseits wollte unbedingt eine Barriere zwischen Polty und sich bringen und trat hinter die gebückte Gestalt. Crum brauchte außergewöhnlich lange für seinen Schnürsenkel. In Wahrheit hatte er auch Schnurrbarthaa re unter dem Bett entdeckt. War das eine Maus? Oder eine Ratte? Für den gutmütigen Crum war jedes noch so kleine Tier eine Quelle des Staunens. Er wünschte sich nur, dass er etwas Käse hätte, um das Tier hervorzulo cken! Polty stand auf. Der Schnaps rann nun sehr angenehm durch seine Adern. Er marschierte vor Morven hin und her. »Also, was wollt Ihr von uns?«, fragte er in einem durchaus nicht unfreundlichen Tonfall. Er war durchaus bereit, nachsichtig zu sein. Denn es war vollkommen un denkbar, dass diese Burschen irgendeine wichtige Bot schaft überbringen würden. Irgendwelche unbedeutenden Dinge, zweifellos. Wahrscheinlich etwas, was die Etikette anging. Morvens Adamsapfel hüpfte auf und ab, und er salu tierte wieder, während er die Hacken laut klackend zu sammenschlug. Er drehte sich um und wollte Crum ei
gentlich zu einer ähnlichen Respektsbezeugung auffor dern, aber mittlerweile hatte er die Geduld von Major Veeldrop schon genug strapaziert. Aus dem Nachttopf stieg ein stechender Geruch in sei ne Nase. »S… Sir«, begann Morven. »Man befiehlt Euch…« Polty richtete sich auf. Sein Temperament war genauso feurig wie sein Haar! Er machte einen Schritt nach vorn und packte Morvens Kehle. »Man befiehlt? Was denn, werde ich etwa gesucht? Welcher Hund wagt es, mich per Steckbrief suchen zu lassen?« Morven konnte nicht antworten, weil die Hand an sei ner Kehle ihm die Luft abschnürte. Crum antwortete e benfalls nicht, denn er tat immer noch, als wäre er mit seinem Schnürsenkel beschäftigt. Er war davon über zeugt, dass die Ratte jeden Augenblick herauskommen würde. Und was Bohne anging, sein Gesicht zuckte un willkürlich. Ein Steckbrief? Auf Poltys Namen? Schreckli che Gedanken schossen ihm durch den Kopf, und er musste sich ernstlich ins Gedächtnis rufen, seine Knie fest zusammenzupressen. Sein Blick fiel auf Crums breiten Hintern, der den Stoff seiner blauen Hose mächtig spann te. Schließlich kam Polty auf die Idee, den Adamsapfel wieder loszulassen, und nach einer Weile gelang es Mor ven, heiser herauszubringen, dass er bevollmächtigt sei, Major Poltiss Veeldrop, Spezialagent, höchst dringlich vor seine Loyale Exzellenz, den Höchsten Beschützer der Kro ne und des Reiches, den Ersten Minister Seiner Kaiserli chen Agonistischen Majestät König Ejard Blau und Über legensten der Überlegenen, Ethan Archan Tranimel zu rufen. Crum sah erneut den kleinen pelzigen Schnurrbart und stieß leise Lockrufe aus. Poltys Verhalten änderte sich schlagartig. »Tranimel?«, rief er. »Er will mich sehen?« Erleichterung durchströmte Bohne. Gleichzeitig kniff er seine Knie noch fester zusammen. Aufgeregt schob Polty Morven aus dem Weg, tanzte um Crum herum, der sich endlich aufrichtete und verstohlen die Ratte in seine Ta sche schob. Polty deutete auf das Glas neben seinem Bett. »Bohne! Bohne, weißt du, was das bedeutet? Sein Versprechen! Er wird sein Versprechen erfüllen!«
Bohne nickte, und Polty schlug seinem Freund freund schaftlich auf den Rücken. Leider war das ein sehr ungünstiger Moment. Denn im selben Augenblick schüttelte ein erneuter Krampf Bohnes Körper und gleichzeitig bemerkte Crum, der mehr an der Ratte als an seinem Stiefel interessiert gewesen war, dass er vergessen hatte, seinen Schnürsenkel ordentlich zuzu binden. Der Bauernbursche beugte sich erneut vor, Bohne stolperte, Penge schoss empor und rammte den breiten Hintern von Crum wie ein Rammbock. »Autsch!« Crum schwankte und ruderte mit den Ar men. Dabei traf er das mit einem Tuch verhüllte Glas, das daraufhin glitzernd durch die Luft flog. »Meine Güte!« Polty erwischte das Glas und rettete es gerade noch rechtzeitig. Beinahe augenblicklich stürzte er sich wütend auf Bohne. Bohne duckte sich. »Warte, Polty! Du brauchst ihn doch nicht mehr! Verstehst du denn nicht? Du brauchst ihn ab jetzt nie mehr!« Weder Morven noch Crum wussten, was diese Worte zu bedeuten hatten. Aber ihre Wirkung war unmissverständ lich. Langsam wich die Wut aus Poltys Gesicht, und seine erhobene Faust verharrte dicht über seinem Freund in der Luft. Schließlich bat Bohne unterwürfig: »Glaubst du, du könntest… die Riemen durchschneiden, Polty?« Im Augenblick lag Crum noch ausgestreckt auf Poltys Bett, also blieb es Morven überlassen, ungläubig und mit offenem Mund dem außerordentlichen Spektakel zu fol gen, das diese beiden Offiziere darboten. Der eine hatte ein monströses, künstliches Anhängsel umgeschnallt, während der andere ein Glas umklammerte, das in einer grünlichen Flüssigkeit offensichtlich ein Körperorgan des selben Typs und fast der gleichen Ausmaße enthielt. Aber das konnte doch nicht sein! Es war ein Aal, es musste ein Aal sein! Morvens Wangen brannten. Es blieb ihm nur noch, sich Crum zu schnappen, zu salutieren und sich schleunigst zurückzuziehen. Im Flur schüttelte er staunend den Kopf. »Meine Güte, meine Güte… mir ist ja durchaus klar, dass es in den alten Schauspielen einige merkwürdige Dinge gibt. Aber bei Offizieren? Heutzutage? In Agondon?« Crum hörte nicht zu und griff in seine Jacke. Erleichte
rung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Gott sei Dank. Es geht ihm gut, Morvy! Ich hab mir vielleicht Sor gen gemacht, das kann ich dir sagen.« »Wie?«, erwiderte Morven. »Ach so, ich auch. An die sen Burschen war irgendwas völlig andersrum, Crum.« »Das kannst du laut sagen. Mein schmerzender Hintern ist der beste Beweis.« Tishy Cham-Charing schrie.
Und zwar nicht zum ersten Mal an diesem Tag. »Leise,
meine Liebe! Ruhig doch, es ist ja alles gut…«
»Professor Mercol? Aber wo sind wir denn? Es ist so dun
kel…«
»Keine Sorge, weiter unten ist eine Lampe. Nur noch ein paar Schritte… nimm meine Hand, ich kann den Weg ertasten.« »Wohin gehen wir?« Tishys Stimme zitterte. »Wir umgehen den Tumult.« »Aber Mama! Was ist mit Mama und…« »Lady Margrave wird schon dafür sorgen, dass ihr nichts passiert. Außerdem könnten wir sie in diesem gan zen Durcheinander ohnehin nicht finden. Das Beste ist wohl, wenn wir warten, bis das Chaos sich gelegt hat, hab ich Recht? In der Zwischenzeit möchte ich dir etwas zei gen… Deine Hand, gib mir deine Hand.« Tishy zögerte zwar, aber der Professor nahm trotzdem die Hand des Mädchens. Verwirrt stolperte sie hinter ihm eine dunkle Wendeltreppe hinunter. Es war alles so schnell gegangen. In dem Durcheinan der im Großen Tempel war Tishy von der Menschenmenge plötzlich abgetrieben worden. Sie landete in einer Kapelle irgendwo an der Seite und wurde gegen eine Wand ge drückt. Sie rang schwer nach Luft und weinte, als sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter legte. Es war die von Professor Mercol. Eine Tür hatte sich geöffnet und wurde klappernd hinter ihnen zugeschlagen. Tishy rückte ihre Brille zurecht, als wenn sie ihr im Dunkeln helfen könnte. Sie hatte zwar mehr als nur ein bisschen Angst, konnte sich aber nicht widersetzen. Sie hatte eine ganze Skala von Gefühlen durchlebt, und das alles in so kurzer Zeit! »Aber wohin gehen wir, Professor? Ist das… gibt es einen Weg hinaus?«
»Genau genommen gibt es fünf, meine Liebe, und zwar durch die Kreuztunnel. Aber wir werden sie kaum benöti gen.« »Nein?« Tishy wollte fragen, worum es sich bei diesen Kreuztunneln handelte, aber der Professor war stehen geblieben und tastete murmelnd und fluchend an der Wand entlang, bevor es ihm gelang, eine zerbeulte Later ne zu entzünden. Ihr goldener Schein beleuchtete feuch te, uralte Steine. Tishy schüttelte sich und betrachtete ihren Begleiter genauer. Wie anders er jetzt aussah! Er hatte seine Perücke verloren, und darunter kam sein Schädel zum Vorschein. Der war vollkommen kahl bis auf einige weiße Strähnen über den Ohren. Seine Augen fun kelten merkwürdig, als er wieder Tishys Hand nahm und sie beinahe hastig durch eine unheimliche, gewölbte Pas sage führte. Vor ihnen tauchte eine Tür auf. Sie war dunkel und abweisend und bestand ganz offensichtlich aus ge schwärztem Eisen. »Komm, meine Liebe, da drin sind wir sicher. Natürlich bringe ich nur meine Lieblingsschüler hierher.« Tishy blinzelte verwirrt, als ihr der Professor die Lampe in die Hände drückte und einen Schlüsselbund mit gro ßen, klirrenden Schlüsseln aus seiner Tasche zog. Er steckte einige von ihnen abwechselnd in das Schloss. Zu erst dachte Tishy, er versuche nur, den Richtigen zu fin den. Doch dann wurde ihr klar, dass er jeden Schlüssel auf eine besondere, anscheinend genau festgelegte Weise in dem Schloss drehte. Als sich die Tür schließlich öffnete, scheuchte er Tishy rasch hinein, zog die Tür hinter sich zu und wiederholte den Schließkode von der anderen Seite. Klick. Klick-Klack. Klick. »Heb die Lampe bitte ein bisschen, Liebes.« Tishy gehorchte automatisch. Sie hatte sich schon ge fragt, ob sie überhaupt hier hereingehen sollte, doch als sie sich jetzt umsah, verwandelten sich ihre Zweifel in Staunen. Sie hatte ein Verlies erwartet. Stattdessen schimmerte eine höhlenartige Kammer in dem Lampen licht. Ein weicher, prächtiger Teppich lag in der Mitte, Le dersessel, ein Sofa und schöne Mahagonitische standen darauf, und die Wände waren ganz und gar von Büchern gesäumt. Es mussten Tausende von Büchern sein, die prächtig eingebunden waren und auf deren Rücken Gold
prägungen glänzten. Es hätte auch die Bibliothek eines vornehmen Hauses sein können, die durch Magie an die sen unterirdischen Ort gezaubert worden war. Es roch nach Leder, Papier, Pergament und Staub, und dieser Geruch wirkte auf eine junge Frau mit Tishys Vorlieben geradezu berauschend. Hastig stellte sie die Laterne auf einen Tisch und machte sich daran, die überquellenden Regale zu inspi zieren. »Ich habe es mir im Laufe der Jahre etwas gemütlicher gemacht«, erklärte der Professor, während er verschie dene Lampen an den Wänden entzündete. »Kannst du dir vorstellen, dass dieser Ort früher einmal über keinerlei zivilisierten Komfort verfügte? Es war einfach nur ein La gerraum. Dabei ist Bequemlichkeit so wichtig, hab ich nicht Recht? Vor allem für einen Mann meines Alters. A ber warte, bis ich den Ofen angezündet habe, dann haben wir es richtig gemütlich.« Tishy nickte automatisch. Die Regale verwirrten sie. In einer so ehrbaren Bibliothek hätte ein Gelehrter erwarten können, viele Bücher wiederzuerkennen, zumindest dem Titel nach. Wo waren die Klassiker? Kaum ein Band war ihr auch nur vom Hörensagen bekannt, und doch schie nen es wissenschaftliche Werke zu sein. Jedenfalls einige von ihnen. Die Regierungszeit der Regentin.
Ein Kommentar des El-Orokon.
Über Unterdrückung: Eine politische Philosophie.
Dialog, den Orden des Agonis betreffend.
In den Boudoirs der Schönen von Agondon.
Der Professor schloss die Ofenklappe und rieb sich die Hände. »Komm, meine Liebe, ich helfe dir aus dem Man tel… so ist es recht, so ist es recht… was für ein hübsches Kleid! Nun, wie wäre es mit einem Schlückchen Tiralos? Aber setz dich, mein liebes Kind, mach es dir gemütlich.« »Diese Bibliothek«, erkundigte sich Tishy. »Warum… ist sie hier unten?« »Sollte ein Großer Tempel nicht auch eine große Biblio thek haben?« Der Professor reichte ihr ein funkelndes kleines Glas. »Auf dein Wohl, meine Liebe, auf dein Wohl.«
Tishy rührte die rubinrote Flüssigkeit nicht an, aber der Professor leerte sein Glas in einem Zug und schenkte sich sofort nach. »Aber warum sollte man eine Bibliothek in diesen Ge wölben verstecken?«, erkundigte sich Tishy hartnäckig. »Hinter so vielen Schlössern?« Der Professor lachte, aber es war ein liebevolles La chen. »Liebes Kind, das hier ist die Kammer der verbote nen Texte.« Unsicher ließ sich Tishy auf den Rand des Sofas sinken. »Verboten? Warum?« Der Professor setzte sich neben sie. »Meine Liebe, das sind böse Bücher… ketzerische, subversive und unmorali sche Bücher. Es ist ganz natürlich, dass man solche Bü cher aufspüren und verbrennen muss, aber man wird auch immer ein Exemplar in dieser Kammer aufbewah ren.« Tishy wusste, dass Bücher faszinierend sein konnten. Aber es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, sie als »bö se« anzusehen. Während sie ihren Blick über die Bände gleiten ließ, empfand sie eine geheimnisvolle Angst, aber auch eine langsam aufkeimende Erregung. »Aber warum hier?«, fragte sie. »Warum werden sie ausgerechnet hier aufbewahrt?« »Ich weiß, meine Liebe. Ich habe oft darauf gedrängt, sie in die König-Ejard-Bibliothek zu schaffen, aber das Komitee stimmt mir nicht zu. Außerdem folgen wir einer mächtigen Tradition. Einige behaupten, die heilige Macht des Tempels neutralisiere das Böse… Ich vermute, dass vor allem der Erz-Maximus diesen Standpunkt einnimmt. Und außerdem befinden wir uns hier natürlich auch am Knotenpunkt der Kreuztunnel – « Tishy unterbrach ihn. »Aber warum behält man diese Bücher? Warum werden sie alle aufbewahrt, wenn sie doch böse sind?« »Meine Liebe, müssen wir uns nicht mit allen Tücken und Schlichen des Bösen vertraut machen? Diese Sammlung ist ein Archiv von allem, gegen das wir kämpfen müssen, wenn wir dieses edle Reich bewahren wollen. Warum ist die Königin beinahe entführt worden? Und warum gab es soeben im Tempel ein Attentat? Das, meine Liebe, sind die Konsequenzen von subversiven Ideen.« Tishy dachte, dass es in dem Fall nicht sehr viel ge
nützt hatte, Bücher zu verbieten. Und außerdem fand sie auch, dass jemand, der Eay Feval in die Luft gesprengt hatte, nicht unbedingt ein Feind sein musste. Mitgefühl mit ihrer Mutter rührte sich in ihr, aber sie brachte es einfach nicht über sich, Mitleid für Feval zu empfinden. Tishy riss sich zusammen. »Aber wer entscheidet das? Ich meine… wie wird entschieden, ob ein Buch verboten wird?« »Es sind nicht nur Bücher, mein Liebes.« Der Professor schwenkte sein Glas. »Es sind auch Pamphlete, Zeitun gen, Fahnen, Radierungen… einige höchst amüsante Ra dierungen, ganz zu schweigen von Gemälden, die natür lich nicht öffentlich an den Wänden hängen dürfen. Oh, in dieser Kammer lagern viele Schätze. Das Komitee hat viel zu tun. Ich habe bei einigen höchst lebhaften Treffen den Vorsitz geführt, das kann ich dir versichern! Aber komm, nimm doch einen kleinen Schluck.« Tishy trank einen Schluck, obwohl sie gar keinen Durst hatte. Sie verzog das Gesicht. Liebevoll nahm der Professor wieder ihre Hand. »Armes Kind, du hast heute Morgen einige aufwühlende Erfahrungen durchgemacht. Es geht dir wohl nicht besonders gut, hab ich Recht? Verflucht soll dieser Mistkerl Feval sein! Ich wusste zwar, dass er Lektor werden würde, aber wenn ich eine Ahnung gehabt hätte, was er vorhatte… na ja, ich hätte…« »Ihr wusstet, dass er der Große Lektor werden wür de?« »Mein Liebes, halb Agondon wusste das. Leider hat deine Mutter – « Tishy starrte ihn an. »Dann seid Ihr wohl auch auf sei ner Seite, hab ich Recht?« »Auf seiner Seite, Liebes? Was meinst du damit?« Das wusste Tishy auch nicht so genau. Verwirrt stam melte sie, dass der Professor wohl ein sehr wichtiger Mann war, ein mächtiger Mann, ein bedeutender Mann, der in Komitees saß. Und ein alter Mann, der ihre Finger streichelte. Der Professor sagte leise: »Oh, ich bin gar nicht so be deutend, mein Liebes, gar nicht bedeutend. Natürlich ha be ich, wie jeder Gentleman, meine Vorzüge.« Er zog ein zusammengerolltes Pergament aus seiner Tasche. Seine
Stimme nahm einen ironischen Unterton an. »Zum Bei spiel bin ich es, der den Aon-Stipendiaten vorschlägt. Der Glückspilz, dessen Namen ich auf diesem Dokument ein trage, kommt in den Genuss von Ejlands angesehenstem Stipendium. Seine Karriere ist gesichert, und das alles liegt in meiner Hand. Nenn das Macht, wenn du willst, aber ist es das wirklich? Früher einmal wurde Phineas Mercol selbst in den wichtigsten Angelegenheiten um Rat gefragt. Doch seit Tranimel… nun, sagen wir einfach, dass der Erste Minister einige Veränderungen eingeleitet hat. Trotzdem habe ich noch die Schlüssel zu dieser Kammer. Er kann mir schließlich nicht alles wegnehmen, nicht wahr? Nein, nicht alles…« Er plapperte weiter, aber Tishy hörte ihm nicht mehr zu. Beunruhigt schaute sie auf seine welke, geäderte Hand, die in einem merkwürdig bedrohlichen Rhythmus ihre Finger streichelte. Der Professor rückte auf dem quietschenden Sofa näher. Tishy betrachtete das Gesicht mit dem teigigen, welken Fleisch und den Hängebacken unter dem gefleckten, kahlen Schädel. Bis jetzt hatte er immer respektvoll Abstand gehalten. Und seine junge Schülerin hatte ihn auch noch nie aus solcher Nähe betrachten können. Was für buschige Au genbrauen er hatte! Und was für große Ohren! Was für ein fliehendes Kinn, fast wie ein Kaninchen! Die Wangen des Professors waren mit roten Adern übersät, ebenso wie seine gewaltige, poröse Nase. Hinter den farblosen, zerknitterten Lippen lauerten gelbe Zähne, und Tishy fiel auf, dass der Blick seiner Augen in keiner Weise mehr dem glich, mit dem er sie während der Unterrichtsstun den betrachtete. Sie stand rasch auf und ging hin und her. »Professor«, begann sie mit gekünstelter Unbeschwertheit, »Ihr habt gesagt, dass Ihr schon Schüler hergebracht habt… Lieb lingsschüler, sagtet Ihr. Waren es denn… waren es viele?« Der alte Mann lächelte. »Natürlich nicht, Liebes! Weißt du denn nicht, dass du die erste Angehörige des anderen Geschlechts bist, die ich unterrichte? Ich habe zuvor ü berhaupt noch nie Privatschüler angenommen, aber für Lady Cham… Nun ich erinnere mich an die Zeit, als jeder Mann für Lady Cham sogar auf den Mond geklettert wä re!« Das Lächeln wurde traurig. »Nein, ich habe mich
immer an den offiziellen Grundsatz gehalten und erklärt, dass Ladys zur wissenschaftlichen Arbeit ungeeignet sind. Seit ich dich kennen gelernt habe, habe ich meine Mei nung allerdings geändert.« »Das habt Ihr getan?« Tishy strahlte diesmal aufrich tig. »Das ist ja großartig, Professor! Ihr meint, Ihr glaubt… Ihr haltet es für möglich, dass man auch Ladys den Zugang zur Universität gestattet? Dann… dann könnt Ihr das befehlen! Ihr könnt dafür sorgen, dass es dazu kommt! Ich genieße natürlich Eure Privatstunden… aber auf die Universität zu gehen…« Die Pergamentrolle war zu Boden gefallen. Lachend hob Tishy sie auf und drückte sie an ihr Herz. »Das AonStipendium! Stellt Euch vor, Ihr könntet mich nominieren! Professor, ich würde vor Glückseligkeit sterben!« Nachsichtig schüttelte der alte Mann den Kopf. »Es gibt noch andere Formen der Glückseligkeit, Liebes. Hast du vergessen, dass du bald heiraten wirst?« »Heiraten? Weshalb denn?« Tishy wirbelte mit ausge streckten Armen herum und ließ ihren Blick über die Bü cher gleiten, über all die Bücher. »Professor, ich will ein Gelehrter werden wie Ihr! Ihr seid doch auch nicht verhei ratet, hab ich Recht?« »Ja,« räumte er ein. »Aber ich kann nicht behaupten, dass mich das sonderlich befriedigt.« Er trat näher, und Tishy wich zurück. Das Licht der Lampe spiegelte sich in ihren Brillengläsern. Eine Haarsträhne war ihrem Haar band entkommen und rollte sich mutwillig auf ihrem Na cken. Wie sie wohl aussah, wenn sie ihr Haar ganz offen trug? »Kind, ich habe deine Trauer gesehen, als der Lek tor meinte, dass du niemals heiraten würdest.« »Professor, Ihr versteht nicht – « »Im Gegenteil, ich verstehe alles. Und ich möchte sa gen, ich glaube, Feval hat sich geirrt. Und zwar sehr! Lie be, süße Tishy.« Sie errötete. »Wer… wer waren denn diese Lieblingsschüler?«, fragte sie rasch. Dabei überlegte sie fieberhaft, wie sie entkommen könnte. Dann wiederum dachte sie an die Bücher und wollte unbedingt bleiben. Ach, es war alles so verwirrend! »Es gab keine Lieblingsschüler, keinen einzigen – « »Ihr sagtet doch, es hätte welche gegeben – « »Keine… bis auf einen.« Der alte Mann drehte sich um. Sein Verhalten änderte sich plötzlich. Tishy beobachtete,
wie er zum Regal ging und ein offensichtlich vertrautes Buch herunternahm. »Danach nie wieder. Siehst du die sen kleinen Band, Liebes?« Tishy nahm das Buch in die Hand und öffnete vorsich tig den zerfledderten Deckel. »Freiheit oder Kontrolle?«, las sie laut. »Ein Diskurs oder eine Untersuchung von Mr. Vytoni über die Natur, die Vorzüge und die Erreichbarkeit von Freiheit im Staate, von politischer, sozialer und… Hört sich ziemlich schwierig an.« »Ich hätte ihm niemals trauen dürfen«, sagte der Pro fessor und seufzte. »Ihr meint diesen… Vytoni?« »Aber nein, Liebes! Ich meine einen jungen Burschen namens Eldric Hulverside. Er war niemand anders als mein bester Aon-Stipendiat! Oh, das war vor langer Zeit, aber jedes Mal, wenn ich daran denke, werde ich traurig. Er war so brillant! So viel versprechend! Und so… so hin terhältig! Man sagt, er würde mittlerweile gemeinsame Sache mit den Rebellen machen. Mit den Rebellen, ich bitte dich!« Tishy betrachtete das Buch bewundernd, beinahe so, als ob das Buch und dieser Mr. Hulverside ein und dassel be wären. Rebellen, ich bitte dich! »Professor, diese Re bellen… Ich habe so viel darüber gehört, wie böse sie sind, wie ruchlos, aber… wer sind sie wirklich? Und wa rum sind sie Rebellen? Dieser Mr. Hul – « »Höre ich da etwa Begeisterung in deiner Stimme? Was für ein Hunger nach Wissen! Dennoch würden dir viele deine mädchenhafte Unschuld neiden… und viele davon stammen aus den höchsten Kreisen und wünschen sich, sie wüssten auch so wenig von den Rotröcken und ihren Listen und Tücken!« Der Professor nahm ihr das Buch aus der Hand und warf es verächtlich zu Boden. Tishy war mehr als nur ein bisschen erschrocken. »Wie kann ein so kleines Buch nur so viel Ärger ma chen!« Der Professor seufzte. »Doch genug davon. Was wäre schon der Gewinn, einem unschuldigen Mädchen den Kopf mit Geschichten über Rebellen zu füllen?« Tishy fühlte sich plötzlich so kühn wie nie. »Ich… ich habe fast das Gefühl, als wären sie auf meiner Seite.« »Also wirklich, Liebes! Sag nichts, was du später be reuen könntest.« »Warum sagen die Leute das? Manchmal… manchmal
weiß man erst, was man fühlt, wenn man es laut aus spricht.« »Sagte das nicht schon Ovanal in seinem dritten Ge sang der Liebeskünste? Aber ich vergesse, dass deine Studien noch in einem sehr frühen Stadium sind.« Der Professor schenkte sich das nächste Gläschen Tiralos ein und drehte sich dann nachdenklich um. »Wir haben oft Angst davor zu sagen, was wir fühlen. Wir behalten es für uns, verleugnen es vielleicht sogar vor uns selbst. Später bedauern wir diese Vorsicht… wir bedauern sie bitterlich. Habe ich nicht gesagt, dass ich früher einmal sogar den Mond erstiegen hätte, nur um Lady Cham zu erfreuen? Natürlich war sie damals noch nicht Lady Cham. Damals war sie noch Consy Grace, die kleine Consy Grace! Ach, meine Liebe, du bist ihr so ähnlich. Ohne diese Brille… und das Haar etwas anders… also wirklich, du wärst das Abbild meiner Consy! Mein süßes Mädchen – « Tishy sah sich hastig um und nahm wahllos ein Buch aus den Regal. »Seht nur, Professor… dies hier ist in Ju vescial geschrieben! Soll ich es übersetzen? Ich weiß doch, wie gern Ihr mich übersetzen hört. Mal sehen, wie heißt das? Etwas… ach, was bedeutet dieses Wort?… Et was von den Winden; eine Vorhersage. Nein, eine Pro phezeiung. Seht doch, Professor, schaut nur, dieses Wort hier – « »Tishy, Tishy, stell das Buch zurück – « »Aber Ihr habt mich doch in diese Bibliothek geführt!« Sie lachte gezwungen. »Ihr wisst doch, Professor, dass ich dann nicht widerstehen kann – « »Ich auch nicht!« Der alte Mann packte sie. Das Buch fiel zu Boden. »Keine Angst, süßes Kind, deine Tugend ist mir heilig! Weißt du denn nicht, dass meine Absichten vollkommen ehrenhaft sind? Ist dir nicht klar, dass ich nur die Ehe will? Ein KUSS, ein kleiner KUSS ist alles, wor um ich jetzt bitte – « »Nein, Professor… bitte nicht – « »Nenn mich Phineas…!« Das kam Tishy obszön vor. »Das will ich nicht, nie im Leben…!« Er drückte sie gegen die Buchregale. Eine ledrige Hand griff eifrig nach oben und löste das Band in ihrem Haar. Kupferfarbene Locken fielen auf Tishys Schultern. Profes sor Mercol lächelte wölfisch. »Oh, ich hätte viele Schüle
rinnen, wenn sie alle so hübsch wären wie du! Komm, ich nehme dir deine kleine Hornbrille ab – « »Ich sagte Nein, Professor!« Tishy versetzte dem alten Mann einen heftigen Stoß und stolperte zur Seite. Aber im gleichen Augenblick sank er zu Boden und schlang seine Arme um ihre Knie. Er presste sein Gesicht zwi schen ihre Schenkel. Angewidert sah sie auf den kahlen, fleckigen Schädel herunter. Er wirkte wie etwas Krankes, Widerliches, wie ein großer, harter Pilz, der sich förmlich in ihr Kleid bohrte. »Tishy, Tishy, ich habe solange ge wartet! Liebstes Kind… liebste Consy-!« »Nein!« Erneut riss Tishy sich los. Verzweifelt hob sie das Exemplar von Etwas von den Winden: eine Prophe zeiung vom Boden auf und schwang es wie eine Waffe. Der Professor lachte. Es war kein großes Buch. Er sprang vor. Sie schlug zu. Der Professor taumelte zurück und schlug mit dem Kopf gegen den Ofen. Er stöhnte einmal auf und war dann still. »Professor!« Tishy rang nach Luft. »Professor Mercol, geht es Euch gut?«
»Bohne, was hast du? Mach schnell, beeil dich!« Bohne keuchte unter der Last der Dinge, die er trug, und folgte schwankend seinem Freund. Polty war offen sichtlich aufgeregt. Bohne hatte ihm schnell geholfen, sich den Mund auszuspülen, sein Haar zu entfilzen, sich zu rasieren, Gesicht und Hals zu waschen, seine Unterwä sche zu wechseln und sich in seine Ausgehuniform zu zwängen. Sicher hatte Polty nach seinem Unfall ein wenig an Ge wicht zugelegt – eigentlich hatte er sogar erheblich zuge nommen –, aber er bot immer noch einen imposanten Anblick mit seinen leuchtend roten Locken, den Epaulet ten und der langen, verzierten Scheide seines zeremoniel len Schwertes, das hinter ihm über den Boden klickte. Wie prachtvoll es war, ihn so zu sehen! Mehr als ein mal hatte Polty Bohne verwünscht, selbst als sein treuer Freund ihm die Stiefel bürstete und die Knöpfe polierte. Kein Offiziersbursche, der auch nur einen Pfifferling wert ist, sagte er, hätte zugelassen, dass er so viel Schnaps
säuft. Das stimmte. Bohne stellte sich besorgt vor, wie Polty mit schlaffem Mund und glasigen Augen vor den Ersten Minister trat, als kehre er auf einer Sauftour gera de in die zehnte Kneipe ein. Aber Polty hatte sich wieder erholt. Vornehm und ganz der Held, der er einmal gewesen war, marschierte er durch das Labyrinth des Koros-Palastes. Mit geschwellter Brust stürmte er über den gepflasterten Hof, durch lange Korridore, Treppen hinauf und wieder hinunter, vorbei an nickenden Höflingen, buckelnden Dienern und grüßenden Wachen. »Bohne!«, warf er über die Schulter zurück. »Trödel nicht!« Bohne tat zwar sein Bestes, wollte dabei aber keines wegs riskieren, etwas von seiner Last aufs Spiel zu set zen. Obwohl zugegebenermaßen einiges davon keine gro ße Bedeutung hatte. Seine Jacke hatte er über den linken Arm geworfen, weil Polty ihm nicht die Zeit gelassen hat te, sie anzuziehen. Seinen linken Stiefel konnte er im Au genblick ebenfalls nicht anziehen, und der Hut hing noch in seiner linken Hand. Außerdem hielt er eine große Schachtel unter den linken Arm geklemmt. Sie enthielt verschiedene Papiere, und eines davon war von aller höchster Wichtigkeit. Doch noch wichtiger war Penge in seinem Lederetui, das Bohne unter dem rechten Arm trug. Und in der rech ten Hand hielt Bohne das Original aus Fleisch, das in dem Glas von dem Tuch verborgen hin und her schwappte. Bohne kümmerte es nicht, welchen Anblick er den Höf lingen, Dienern und Wächtern bot. Atemlos und schwit zend achtete er nur darauf, seine Last festzuhalten, als sich schließlich eine große Eichentür vor ihnen öffnete und er Polty in einen schönen Raum folgte. Bücherregale säumten die Wände, weiche Teppiche lagen auf dem Bo den, und vor einem lodernden Kamin standen rote Leder sessel. Ein Wachtposten informierte sie darüber, dass seine Loyale Exzellenz im Augenblick mit den Kriegslords zu Mittag speise. Sie sollten bitte warten, denn der Erste Minister würde sich sofort um sie kümmern. »Er isst zu Mittag?« Während sich der Wächter zurück zog und die Tür sich klickend schloss, ließ sich Polty ein wenig betreten in einen Sessel fallen. Wie schnell der Tag
verstrichen war! »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich beeilen, Bohne?« Bohne hatte seine Last mittlerweile abgestellt und setzte sich auf den Boden, um seinen linken Stiefel anzu ziehen. Er hätte zwar ganz gut ohne seine blaue Uniform jacke auskommen können, musste sie aber schon aus Respekt tragen. Einen Augenblick bekam er Angst. Das war doch die saubere, oder nicht? Oder die mit den Fle cken? Poltys Laune besserte sich. »Er wird bald zurückkom men. Schließlich passiert es nicht jeden Tag, dass man eine solche Gelegenheit bekommt, hab ich Recht? Kriegs lords, na und? Was sind schon Kriegslords?« »Wichtige Generäle«, sagte Bohne, der die Frage miss verstand. »Helden von – « Er brach ab und wischte sich die Stirn. Er hätte beina he einen schlimmen Fehler begangen. War Polty schließ lich nicht ebenfalls ein Held von Ejland? Wenn jemand ein Kriegslord sein sollte, dann er. Und er würde auch noch einer werden, wenn es Gerechtigkeit gab. Vielleicht war es ja schon so weit, noch bevor dieser Nachmittag vor über war. Vielleicht diskutierten die Kriegslords ja gerade im Augenblick die Rolle, die er einnehmen könnte. Lächelnd machte Bohne eine diesbezügliche Andeu tung, und Polty sprang aufgeregt aus seinem Sessel auf. Er stolzierte vor dem Kamin auf und ab und beobachte te die Flammen. Auf dem Kaminsims tickte eine Olton-Uhr viel zu laut vor sich hin. Darüber hing ein merkwürdiges Gemälde, auf dem alle Arten von mythischen Biestern und Vogelwesen abgebildet waren. Sie hüpften, krochen, glit ten und flatterten um einen Haufen efeubewachsener Ruinen. Polty überlegte. Hatte dieses Gemälde schon vor her dort gehangen? Oder war an dieser Stelle nicht immer das Porträt des Königs gewesen? Plötzlich machte er sich Sorgen, obwohl er nicht genau wusste, warum, und wandte sich den Büchern zu. Sie waren in Rot und seit Neuestem auch in Blau eingebun den, ein Haufen von langweiligen, aber kostbaren Exemp laren. Es waren offizielle Geschichtsbücher, Stammbäume der Adligen, Almanache, Gesetzesbücher und eine endlos scheinende Reihe von Ausgaben der Entwicklung der Ü berlegenen. Polty spielte mit der Scheide seines Schwer tes, pfiff ein Liedchen und setzte den Weltglobus in Be
wegung. Die Länder des El-Orok drehten sich wirbelnd im Kreis. »Ich nehme an, wir dürfen uns wie zu Hause fühlen?« Auf dem Tisch neben dem Kamin stand eine Karaffe. »Polty, ich weiß nicht…« »Ach, mach dir nicht in die Hose!« Mit einem leichten Zittern goss Polty erst ein bisschen und dann ein bisschen mehr der kostbaren Flüssigkeit in ein Glas. »Kriegslord?«, brummte er nachdenklich und schwenkte die Flüssigkeit in dem Glas. »Vielleicht sogar eine Erhebung in den A delsstand? Ich habe natürlich schon häufiger darüber nachgedacht, Bohne. Schließlich habe ich schon lange genug gedient. Habe ich nicht genug erlitten?« »Mehr als genug, Polty Viel mehr.« Polty lächelte – wann hatte er das letzte Mal gelächelt? –, ging zu Bohne und schlug ihm aufmunternd auf die Schulter. »Genau das wird passieren, mein Freund… ich sage dir, es wird endlich dazu kommen. Und dann, wenn es so weit ist, glaubst du denn wirklich, dass ich verges se, wer mir in dieser schweren Zeit geholfen hat? Ich bin dir zu besonderem Dank verpflichtet, Bohne.« Bohne schnürte es fast die Kehle zu. »Wirklich?« »Natürlich. Ich vergesse doch nichts, hab ich Recht? Oder habe ich Vel vergessen, damals, im Tarn?« »Du hast ihn umgebracht, Polty«, sagte Bohne bewun dernd. Das war Poltys erste wirkliche Großtat gewesen. Ach, die hehren Tage der Unschuld! Polty zuckte allerdings unmerklich zusammen. »Ich habe ihn nicht umgebracht, Bohne. Vel hatte einen… Un fall. Sagen wir einfach, ich habe etwas nachgeholfen.« Er marschierte wieder über den Teppich, während sein Schwert leise klickte. In dem Raum herrschte makellose Sauberkeit. Die Vorhänge vor den Fenstern waren zuge zogen, damit der kalte, blasse Tag nicht eindringen konn te. Stattdessen spendeten Lampen ein warmes Licht, das den dunklen Schnaps funkeln ließ. »Nein, ich vergesse niemanden, stimmt’s?«, fuhr Polty fort. »Deshalb, merk dir meine Worte, Bohne, deshalb wird eine Zeit kommen, da alle bekommen, was sie ver dienen. Alle. Du, Bohne, ja, und deine Mutter auch. Du weißt, dass ich die alte Wynda immer gerne mochte, nicht wahr? Wer noch? Natürlich Umbecca, ganz zu schweigen
von Eay Feval. Sie haben ganz entschieden etwas ver dient.« Er hielt inne, als müsse er den Gedanken auskos ten. »Und dann haben wir da natürlich auch noch eine ganz bestimmte junge Lady« Bohne erstarrte. Es war schon schlimm genug, dass Polty seine Herzensmutter erwähnt hatte. Seitdem sie in die feine Gesellschaft aufgestiegen war, hatte sich die fette Frau geweigert – und zwar auf Bestreben von Feval, des sen war Polty sich vollkommen sicher –, ihren angeheira teten Sohn auch nur zu empfangen. Offenbar hielt sie es jetzt für unter ihrer Würde, zu ihm zu stehen. Das war eine Unverschämtheit, aber so schlimm es auch sein mochte, es verblasste im Vergleich zu der Infamie von Miss Catayane Veeldrop. Wie immer ließ sich Polty ausführlich über dieses The ma aus. Bohne spitzte die Lippen. Andererseits war es tatsächlich alles Catas Schuld gewesen, alles, was ihnen in Unang Lia und danach widerfahren war. Laut den Be dingungen des Testaments seines Vaters hätte Polty schon vor langer Zeit in den Adelsstand erhoben werden können. Er hätte sogar nicht einmal nach Unang Lia se geln müssen, wenn Cata eingewilligt hätte, ihn zu heira ten. Stattdessen war sie vor ihm weggelaufen, und das alles wegen dieses kleinen verkrüppelten Jungen aus Iri on. »Stell dir das vor, Bohne! Wenn sie nicht mit diesem Krüppel zusammen gewesen wäre, hätte ich meinen Un fall nicht erlitten. Wenn Sie sich mir nicht widersetzt hät te, hätte ich sie dann mit Penge züchtigen müssen?« Er sank hintenüber und presste seine Hände auf die Lenden. »Hat je ein Mann so leiden müssen? Dieses Mädchen ver dient kein Mitleid, Bohne. Ich werde sie finden, das sage ich dir, sobald ich wieder vollkommen hergestellt bin.« Während Polty weitersprach, bemühte sich Bohne, nur an den schrecklichen Unfall seines Freundes zu denken. Er unterdrückte die Erinnerungen an alles andere, was in Unang Lia geschehen war. War er vielleicht unter einem Bann gewesen? Wie sonst hätte er es ertragen können, in einem Wagen mit Cata, Rajal und Amed über den glühenden Sand in die heilige Stadt zu reisen? Wie sollte er da mit fertig werden, dass er Catas Freund gewesen war und Polty – jedenfalls eine Zeit lang – genauso gesehen hatte, wie Cata ihn sah?
Und was war mit Rajal? Hatte Bohne in dieser letzten Nacht tatsächlich Rajals Hand gehalten, ihm in die Augen gesehen und gewusst, dass Rajal ihn liebte? Und dass er Rajal ebenfalls liebte? Das war völliger Wahnsinn. Bohne gehörte zu Polty. Es fiel ihm schwer zu reden. »Ich glaube, Polty, dass die se roten Sessel… letztes Mal noch blau gewesen sind. Ist dir das auch aufgefallen? Letztes Mal waren sie blau.« Polty war mittlerweile auf den Boden geglitten. Zärtlich nahm er das Glas mit Penge in die Hand, zog ungeduldig das Tuch fort und blickte auf das erstaunliche Stück Pö kelfleisch. Der arme Penge, er war ein bisschen ge schrumpft. Wie tragisch, ihn so grünlich zu sehen, so zer fressen! Polty konnte nur beten, dass er bald wieder er selbst sein konnte und fest und stolz stand wie sein höl zerner Bruder! Polty strich mit den Fingern über das kalte Glas und flüsterte mit Penge, als wäre er seine Geliebte. Aber Boh ne war sicher, dass Polty zu keiner seiner Geliebten je mals so gesprochen hatte. »Mein süßer Geliebter, kannst du mir vergeben? Es war wirklich ein Unfall, Penge! Hätte ich dich aus deiner ver borgenen Festung geholt, wenn ich gewusst hätte, dass der Sultan dich abtrennen würde? Ich war verrückt, mein Liebling, völlig außer mir! Sicher, da war diese Frau, aber Penge, war da nicht immer eine Frau? Ich wollte, dass du ihr eine Lektion erteilst. Es wäre der ruhmreiche Höhe punkt deiner Herrschaft gewesen! Armer Penge, dass man dich um einen so süßen Triumph betrogen hat! Aber weißt du nicht, dass du ihr diese Lektion immer noch erteilen kannst? Weißt du nicht, dass deine Herrschaft weiterge hen wird? Dies hier ist nur ein Interregnum, Penge. Cata wird dein erster Triumph werden, das schwöre ich, wenn wir wieder vereint sind! Und mein Schatz Penge, diese Zeit wird bald kommen!« Jetzt strich Polty nicht nur mit den Fingern, sondern auch mit seinen Lippen über das Glas. »Bohne, hast du den Vertrag mitgebracht?« Polty blickte abrupt hoch. »Ich… natürlich!« Bohne wühlte in der Kiste. Sie hatten keine Zeit gehabt, den ganzen Haufen von Armeepapieren zu durchsuchen, die Rechnungen der Handwerker, die
Liebesbriefe und dergleichen. Wo war dieses Stück Per gament bloß? Polty trommelte nervös mit den Fingern, doch schließlich holte Bohne die Pergamentrolle heraus, die mit Blut unterzeichnet war und in der sein Freund ein gewilligt hatte, ihrem Herrn zu dienen. »Lies vor, was da steht.« Polty seufzte. »Nur den bes ten Teil, du weißt ja, welchen.« Bohne kannte ihn nur zu gut. Er überflog rasch das in gestochener Schrift verfasste Manuskript und las dann, mit angemessen deklamatorischem Tonfall, die fragliche Stelle vor: … und wenn ich seinen Dienste für beendet erachte, werde ich meinen flammenhaarigen Freund erneut zu mir rufen: Und erneut wird mich seine Trauer schmerzen, über all das, was er in meinen Diensten verloren hat. Dieser Unfall, wenn es denn ein Unfall war, musste ihn so lange peinigen! Doch soll es ein Ansporn sein für seine Mühen in meinen Diensten, für den Tag, an dem ich seinen schlimmsten Verlust ersetze. Ja, er soll mir dienen treu und lange, auf dass ich mit meiner Magie diesen Irrtum korrigiere. »Warum glaubst du, hat er das so geschwollen ausge drückt?«, erkundigte sich Bohne. »Was?« Polty umarmte immer noch das Glas mit Pen ge, streichelte es und seufzte. »Er ist ein böser Anti-Gott, und deshalb… es wirkt einfach… ich weiß nicht, magi scher.« »Sehr gut ist es jedenfalls nicht«, meinte Bohne. »Seit wann fühlst du dich zum Kritiker berufen?« Bohne schürzte die Lippen. Ein alter Zweifel regte sich wieder in ihm und machte ihn unvorsichtig. »Was soll das eigentlich bedeuten, diese Passage: wenn es denn ein Unfall war? Das klingt beinahe bedrohlich. Und was heißt: Er soll mir dienen treu und lange? Wie lange? Und warum sollte unser Dienst plötzlich zu Ende sein? Warum jetzt?« »Wovon redest du eigentlich?« »Na ja… es sind ja erst ein paar Monate verstrichen.« Polty stieß langsam den Atem aus. Vorsichtig stellte er
das Glas mit Penge auf den Kaminsims. Der arme Penge, wie kalt ihm sein musste! Dann richtete er sich auf und zog die Strümpfe in seiner Hose glatt. »Ein paar Monate? Ja, seit ein paar Monaten schiebe ich mir diese Strümpfe in die Hose. Seit ein paar Monaten hocke ich mich auf den Nachttopf wie ein Mädchen. Seit ein paar Monaten binde ich mir Penge um, damit ich mich wenigstens daran erinnern kann, wie es war, die natürli che Ausstattung meines Geschlechts zu besitzen… und da sagst du, das genügt noch nicht? Mein Freund, Burschen wie du werden vielleicht nur selten von männlichen Be gehren geplagt. Ein paar verstohlene Aktionen in einer Garderobe, ein- oder zweimal im Monat, das reicht dir! Aber in deiner blutleeren Art bist du trotzdem ein Mann und besitzt, wenn auch in ungleich winzigerer Form, die Geschlechtsteile eines Mannes. Du erweckst sie zum Le ben und verschaffst dir durch sie Erleichterung.« Polty ging wieder auf und ab und zog das Schwert aus seiner Scheide. Mit undurchdringlicher Miene wog er das glitzernde Schwert in der Hand. Dachte er an den Krummsäbel, der ihm Penge genommen hatte? Er ließ das Schwert durch die Luft zischen. »Po… Polty?« Bohne war nervös. Er hockte immer noch in dem roten Sessel und hatte sich von dem lodernden Feuer abgewandt. »Polty, steck das Schwert weg.« Statt dessen machte Polty einen Ausfall. Bohne sprang zurück. Das Schwert zischte dicht an seinen Augen vorbei, und er sah nach unten. Die Klinge schwebte heftig zitternd direkt über seinen Lenden. Polty legte die Lippen dicht an Bohnes Ohr. »Freund, hast du die Länder von Unang vergessen? In diesen Reichen gibt es Menschen, die vollkommen entmannt sind. Ein solches Schicksal scheint grausam, das grausamste, wel ches ein Mann erleiden kann. Doch hast du mein grausa meres Schicksal schon bedacht? Ich sage grausamer, denn was bedeutet es, wenn man die Körperteile noch besitzt, die das Begehren erzeugen, aber den Teil verliert, der allein dieses Begehren stillen kann? Hast du jemals darüber nachgedacht, Bohne?« Das hatte Bohne, schon viele Male. Das Gesicht seines Freundes, das vorher noch rot gewesen war, wirkte jetzt plötzlich merkwürdig weiß. Sein rotes Haar dagegen leuchtete kräftiger als jemals zuvor, und seine Stimme
ähnelte dem Flüstern eines Wahnsinnigen. »Was weißt du schon von meinen Qualen, von meiner Schande? Weißt du, wie ich gelitten habe? Woher solltest du es wissen? Wie könnte irgendjemand das wissen?« Der arme Polty! Er durfte sich jetzt nicht aufregen. Zärtlich berührte Bohne die Hand, welche die Klinge hielt. »Ich weiß… ich weiß es.« »Das tust du nicht!« Die Klinge holte aus. »Nein! Polty, nein…!« »Verflucht sollst du sein, Bohne…« Ob Polty in seiner Wut Bohne angegriffen hätte, sollten jedoch weder er noch sein Freund jemals herausfinden. Polty hielt plötzlich die Luft an. Die Klinge schien wie durch Magie unbeweglich hinter seinem rot leuchtenden Kopf in der Luft zu verharren. Er wirbelte herum und blickte Tranimel in die Augen. Die Tür hatte sich nicht geöffnet. Es hatte keinerlei Ge räusch gegeben. Trotzdem stand da der große Mann in seiner weißen Robe, wirkte kühn und unerschrocken und lächelte kalt. Was war das für ein Geräusch? Polty und Bohne kam es vor, als ob etwas Flüssiges, Schweres in großen Trop fen auf den Teppich fallen würde. Dann sahen sie es. Tranimel hatte mit der Hand die Klinge des Schwertes fest umklammert. Sein Blut floss aus der Wunde und tauchte seinen Ärmel in ein leuchtendes, weinfarbenes Dunkelrot.
Tranimel schleuderte Poltys Schwert achtlos beiseite. Lautlos fiel es auf den Teppich. Ein wenig später sollte Bohne einen Blick auf die Handfläche des Ersten Ministers erhaschen und sehen können, dass keine Spur von dem tiefen Schnitt mehr zu erkennen war. Tranimel trat an die Bücherwand und zog eine abge griffene Ausgabe mit rotem Einband heraus. Die weiß ge kleidete Gestalt blätterte zielstrebig durch die Seiten, fast wie ein Gelehrter, der ein Zitat suchte. Dann strich er sich über das Kinn. »Außergewöhnlich. Wusstet ihr, dass unter dem Akt der Erlösung (Zaxos) AC 859c, Unmengen von Paragraphen die Macht des Monar chen regeln, eine Armee aus dieser fraglichen Provinz zu rekrutieren? Aber jetzt frage ich euch nach dem Warum.
Warum wohl ist das so, hm? Wenn jemand eine Provinz annektiert, tut er das doch wohl kaum, um ihr Rechte zu gewähren, hab ich Recht? Oder Privilegien? Was für ein Unsinn! Alles Unsinn!« Er riss den Artikel aus dem Gesetzbuch warf ihn ins Feuer. Bohne hatte sich respektvoll erhoben, und Polty stand zitternd da, während er mit der leeren Scheide an seinem Gürtel spielte. Die Lampen zischten und etwas knallte gegen die verdeckten Fenster, als wäre ein Vogel gegen das Glas geflogen. Tranimel riss derweil ungerührt weiter Seiten aus dem Buch, und Polty räusperte sich. Er deute te auf das Glas, das funkelnd auf dem Kaminsims stand, für den Fall, dass der große Mann es übersehen haben sollte. »Ich… wir… wir haben Penge mitgebracht, Eure Loyale Exzellenz. Ich wollte sagen, meinen… mein… und auch Penge.« Polty klang beunruhigt. Beinahe ärgerlich deutete er auf Bohne, der sofort an dem Lederetui herumnestelte. »Auf diese Weise… so könnt Ihr sehen, wie Penge aus gesehen hat«, erklärte Bohne und hielt das hölzerne Or gan in die Luft. »Vorher, meine ich… er ist jetzt natürlich aus Holz gemacht und nicht an Polty befestigt, und… ich meine, außer wenn er ihn sich anschnallt, aber… es ist eine sehr schöne Kopie, wirklich ziemlich bemerkenswert. Sie ist vielleicht ein bisschen größer, das gebe ich zu, a ber ziemlich… bemerkenswert…« Bohne errötete und verstummte, aber Polty schnitt Grimassen, bis der verwirrte Offiziersbursche das obliga torische Eure Loyale Exzellenz hinzugefügt hatte. Aber was war das? In der Gegenwart dieses Mannes – dieses Wesens, dieser Kreatur – kam es Bohne und Polty vor, als würde die Realität schwanken. Beide versuchten sich ihre letzte Besprechung mit Tranimel zu vergegen wärtigen, nachdem er sie aus Unang Lia zurückbeordert hatte. Aber irgendwie erschien ihnen auch diese Erinne rung wie hinter einem Schleier verborgen, und der Ver trag, der mit Blut unterzeichnet war, war der einzige Be weis, dass sich das Treffen wirklich ereignet hatte. Beide dachten an die Gewölbe unter dem Tempel, wo sie mit angesehen hatten, wie diese weiß gekleidete Ges talt ein blutiges Messer geschwungen hatte. Dies hier war derselbe Mann, das Wesen, die Kreatur. Und ganz allmäh
lich schien sich die Kammer zu neigen. Tranimel war es anscheinend leid, die Seiten herauszu reißen, und warf schließlich kurzerhand den ganzen Ge setzestext in die Flammen. Eine Weile schaute er kalt lächelnd zu, wie die Gesetze von Ejland in Rauch aufgin gen. Der große Mann achtete dabei weder auf Polty oder Bohne, weder auf Penge oder Penge. Doch dann deutete er auf den Kaminsims. »Meine Freunde, habt ihr dieses Gemälde bemerkt? Es ist fantas tisch, hab ich Recht? Ich habe es, glaube ich, in den un terirdischen Gewölben des Palastes gefunden, zusammen mit Tausenden eroberten Schätzen aus den entlegensten Teilen des Reiches, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum man es versteckt hat. Ich finde diesen Fund höchst interessant, wirklich höchst interessant.« Der große Mann schritt vor dem Kamin hin und her und deutete nachdrücklich auf die Leinwand in ihrem goldenen Rahmen. »Es handelt sich hier – das habt ihr sicherlich bereits bemerkt – um einen Nachahmer, und zwar einen sehr fähigen Nachahmer eines der größten Heiligenbild maler – nämlich Belloretto. Solche Gemälde sieht man in den Tempeln von Ana-Zenzau, Wrax oder Tiralos. Einige schreiben es sogar Belloretto zu, obwohl ich eher geneigt bin, es als das Werk eines seiner Schüler zu betrachten. Es stammt jedenfalls eindeutig aus der Schule von Bello retto. Würde der große Meister sein Werk unsigniert las sen? Dafür kennen wir kein einziges Beispiel. Merkwürdi gerweise ist jedoch auf dem Rücken der Leinwand der Titel mit Blut geschrieben.« »Bl… Blut?«, stotterte Bohne. Hatte sich das Gemach schon vorher langsam gedreht, beschleunigte sich diese Rotation jetzt noch. »Ich muss zugeben, dass der Titel sowohl unelegant als auch verwir rend ist. Das Ende des Endes des Sühneopfers. Eine Alle gorie«, sagte Tranimel. »Aber was daran ist die Allegorie, könnt ihr mir das vielleicht erklären?« Dieses Drehen! Polty umklammerte Penge und Bohne Penge. Keiner sagte etwas, aber beide nickten beflissen, während Tranimel erläuternd auf das Gemälde deutete. »Seht ihr diese Kreaturen, die in dem roten Zwielicht herumflattern und hüpfen, kriechen und gleiten? Seht ihr die Schlange, stark und gigantisch, die ihre Windungen über die zerstörten Stufen wuchtet? Die große Eidechse
mit ihren gewaltigen Lidern, die hinter den umgestürzten Steinsäulen hervorlugt? Und hier! Die Fledermaus mit ledernen Flügeln, die wie ein Geier um den zerfallenen Glockenturm kreist! Ein Schlag ihrer mächtigen Schwin gen könnte die Reste dieses Turms zum Einsturz bringen. Und dann seht nur diese Geschöpfe hier, die noch viel merkwürdiger sind. Zum Beispiel dieses, mit dem Panzer einer Schildkröte und den Beinen einer Spinne! Dieser gigantische Käfer mit dem Hals einer Giraffe! Dieser he rumschleichende, geifernde, vierköpfige Wolf! Und dieser ungeheure Frosch mit Hörnern und seinem schleimigen Schwanz!« Die Rotation der Kammer wurde immer schlimmer. Bohne schwankte und stolperte, und Polty tat es ihm nach. Tranimel jedoch fuhr scheinbar ungerührt fort: »Was können diese schrecklichen Kreaturen anderes sein als Wesen, die in den Ur-Tagen existierten, bevor der Ur-Gott in diese Welt hinabstieg, um ihr eine Ordnung zu geben? Was können sie anderes sein als Kreaturen des Bösen, deren Verbannung für diese Welt lebenswichtig war, wenn nicht finsteres, schreckliches Chaos herrschen sollte?« Schließlich drehte sich der Erste Minister wieder zu Pol ty und Bohne um. Die beiden taumelten und stolperten in dieser kreisenden, sich immer mehr verfinsternden Kam mer. Die Lampen und das Kaminfeuer flackerten, und für einen Augenblick fiel nur durch einen kleinen Spalt zwi schen den Vorhängen Licht in den Raum. Ein Vogel nach dem anderen flog gegen das Fensterglas. Das rote Ge mälde verschwand fast in dem dämmrigen Licht. Doch plötzlich glühte die Leinwand auf, als würde sie von innen von einem unheimlichen Licht erhellt. Und die gemalten Monster wanden sich, zu einem unmöglichen Leben erweckt. »Kreaturen des Bösen?«, rief Tranimel. »Oder vielleicht doch eher die wahren, ursprünglichen Besitzer dieser Welt, die von denen fälschlicherweise als Böse verbannt wurden, die sich in Knechtschaft vor Orok und seinen fünf verweichlichten Kindern verbeugten? Kreaturen des Bö sen? Oder von Orok Verstoßene, grausam Verbannte, die jedoch bald zurückkehren und glorreich Rache nehmen werden? Sind es in Wahrheit Kreaturen, deren Zeit end lich gekommen ist, nun, da die Epoche des Sühneopfers
ihrem Ende entgegeneilt? Und wenn das Ende des Sühne opfers endet? Wie lautet die Allegorie? Hah! Es ist keine Allegorie, sondern eine Prophezeiung, die eine ewige Herrschaft des Bösen vorhersagt – das Böse, welches nur von heuchlerischen Narren böse genannt wird!« Während sich Polty und Bohne bemühten, nicht umzu fallen, konnten sie nur erstaunt zusehen, gebannt von dem Leben in dem roten Gemälde. Plötzlich fuhr Tranimel herum. Im gleichen Moment hörten die Bewegungen auf dem Bild auf. Der Boden neigte sich nicht mehr, und die Lampen und das Kamin feuer loderten wieder hell auf. »Aber meine Freunde, ver gebt mir meine Unhöflichkeit! Soll ich etwa meine ver trauenswürdigen Freunde in einer derartig kalten, formel len Kammer bewirten? Kommt, kommt.« Er schritt zu einem Regal, drückte einen verborgenen Hebel und bat Polty und Bohne, ihm zu folgen. Das Regal schwenkte zur Seite. Die Freunde zögerten kurz, traten dann jedoch durch die Öffnung, während sie Penge und Penge fest umklammerten. Ein blasses Licht umspielte sie, ein Licht, in dem sich Purpur, Rot und Blau mischten. Von weiter unten drangen Stimmen zu ihnen. Sie waren überrascht. Sie fanden sich auf einer Galerie wieder und wurden von dem Licht bunter Fenster be schienen. Die Galerie lief über alle vier Wände einer ge waltigen Kammer. Und unter ihnen war offensichtlich ein Bankett in vollem Gange. Gelächter perlte zu ihnen hin auf, abgelöst von leiseren Stimmen. Der Erste Minister legte einen Finger an die Lippen. Er bedeutete seinen Gefährten, ebenfalls zu schweigen, duckte sich unter das Geländer der Galerie und huschte rasch zu einer Tür auf der anderen Seite. Polty kauerte sich nieder, Penge fest gegen seine Brust gedrückt. Das mächtige Organ schwappte in dem Glas hin und her. Boh ne klemmte sich Penge unter den Arm und bückte sich, was aussah, als habe er mehr Gelenke als jeder andere Mensch. Sie huschten um die Galerie herum, verborgen vor den Blicken der Feiernden. Aber während sie dort entlanglie fen, hörten sie den Stimmen zu. Mehr als einmal riskier ten Polty und Bohne einen kurzen Blick über das Gelän der. Erst wunderten sie sich über die Worte, die sie hör
ten, doch es wurde ihnen bald klar, dass sie anscheinend etwas sehr Wichtiges verpasst hatten. Was war da pas siert, während sie schliefen? »Die Rebellen haben den Fehdehandschuh geworfen«, erklärte ein alter Gentleman mit einem gewaltigen weißen Schnauzbart. »Dieser Wahnsinn bei der Inauguration war der letzte Tropfen.« »Der letzte?«, widersprach ein anderer. »Pah! Einzelne Bombenattentäter sind nur der Anfang. Es ist schon merkwürdig genug, wenn Kerle bereit sind, sich als Lady zu verkleiden. Aber wenn man dann auch noch eine Bom be in einer – bitte, verzeiht mir – intimen Öffnung ver steckt, welche Grenze soll dann die Verworfenheit der Rotröcke noch haben?« »Aber Agondon?«, brach es aus einem anderen her aus. »Können sie es denn wirklich wagen, nach Agondon zu marschieren?« »Hinter diesem ›Bob Scarlet‹ steckt mehr, als wir ver mutet haben. Er ist nur die Spitze eines riesigen Rebel lennetzwerks«, behauptete »Mandy« Heva-Harion, denn um niemand anderen handelte es sich. »Wir mögen noch so viele Rebellen auf der Insel Xorgos inhaftiert haben, eine viel größere Anzahl befindet sich noch in Freiheit. Und es werden ständig mehr. Ich bin sicher, dass sich bald geheime Armeen erheben und angreifen werden. Da bleibt uns keine Alternative als der Bürgerkrieg.« Das waren erschreckende Worte, aber Polty und Bohne waren mittlerweile mehr an den Personen selbst interes siert, die an der Tafel saßen. War das tatsächlich die Kö nigin, die dort thronte, strahlend schön und stumm? Viel leicht war sie ja gelangweilt, fürchterlich gelangweilt, während sie dem sabbernden König gegenübersaß. Selbst das Gespräch über intime Öffnungen schien ihr Interesse nicht geweckt zu haben. Doch dann sahen die beiden etwas wirklich sehr Merk würdiges. »Na und! Sollen diese Elenden doch angreifen, wir sind bereit!«, erwiderte ein grober, rotgesichtiger Kerl. »Stellt nur keine weiteren Forderungen mehr an Zaxos, das ist alles, worum ich bitte.« Die Antwort klang sehr kühl. Doch wer war das, der da am Kopfende der Tafel zwischen König und Königin thron te und sprach? »Der Akt der Erlösung (Zaxos), AC 859c,
ist aufgehoben worden. Ich denke, ihr werdet den ent sprechenden Paragraphen schon finden. Aber vielleicht gibt es ja ein Maß, auf das wir uns einigen können?« Es war der Erste Minister, der dort unten genauso real schien, wie er hier oben über die Galerie huschte. »Der endgültige Konflikt ist unausweichlich«, fuhr er fort. »Es ist der Konflikt, der das Schicksal unseres Rei ches entscheiden wird. Und ja, wir werden uns wacker schlagen. Ja, wir werden keine Furcht kennen. Gibt es denn irgendeinen Krieg, den wir verlieren könnten? Noch ein Toast, Eure Kaiserlichen Agonistischen Majestäten. Noch ein Toast, meine Lords.« Er hob sein Glas. »Ejland wird immer glorreich sein!« Erstaunt schlichen Polty und Bohne hinter Tranimel her – ihrem Tranimel – und folgten ihm durch die Tür auf der anderen Seite der Galerie. »Ejland wird immer glorreich sein!«, dröhnte es hinter ihnen her, als sie die Tür hinter sich schlossen. Sie standen in einer Kammer, die ganz anders war als die, in der ihre Unterredung begonnen hatte. Sicher, einiges war ähnlich: Die Vorhänge waren zugezo gen, Bücher lagen herum, ein Kaminfeuer loderte – oh, sogar mehr als eins, denn diese Kammer war ungeheuer groß. Außerdem stank es bestialisch; es war ein säuerli cher, fauliger Gestank. Der ganze Böden war mit Putz bedeckt, die Regale waren umgekippt, Tische und Stühle zerschmettert. Mehrere Ratten huschten durch die Trümmer. Und ein gewaltiger Spiegel schimmerte ge heimnisvoll. Tranimel – nein, es musste Toth sein – sprang in die Luft, unglaublich hoch. Polty und Bohne hielten den Atem an, während sie hochsahen. Toths Augen glühten böse, während er wie eine gewaltige Fledermaus an der Decke hing. War er in Wahrheit etwa die Geierfledermaus aus dem Ende des Endes des Sühneopfers? Andere Geschöpfe aus dem Gemälde traten aus dem Spiegel, bildeten Phantomkörper und tanzten die ganze Zeit in der zerstörten, stinkenden Kammer herum. Bohne schrie, und Polty schwankte. Sie sanken auf die Knie, mitten in den Putz, zwischen die zerfetzten Bücher und die Ratten. Plötzlich stürzten sich die Schildkröten spinne, die Käfergiraffe und die Rhinozeroskröte auf sie
und tanzten um sie herum. Toth lachte fröhlich. »Seht ihr meine Hübschen, seht ihr sie?« Freudig sprang er über Decke und Wände, wobei noch mehr Putz herabregnete. Dann sprang er in einen lodernden Kamin und hockte sich wie ein grinsender Alb mitten in die Flammen. »Ja, seht euch meine Hübschen an! Ehrt sie, denn sie sind meine Brüder, und wenn das Ende des Sühneopfers kommt, wird ihnen die Welt gehö ren… zusammen mit meinen hingebungsvollen menschli chen Dienern«, fügte er listig hinzu. Dann deutete er ver ächtlich mit der Hand in Richtung Speisesaal. »Diese Nar ren, die dort von einem endgültigen Konflikt sprechen! Kriege? Armeen? Was ist das alles als ein bloßes Vorspiel für die ruhmreichen Tage, die bald anbrechen werden?« Toth sprang aus dem Feuer, wobei er einen Flammen schweif hinter sich her zog, wirbelte in der Luft herum und schnitt wie eine Sense durch die Phantommonster. Plötzlich ließ er sich zwischen Polty und Bohne fallen und vertrieb Phantome und Ratten. Mit einem boshaften Grin sen legte er seine Arme um seine Diener, den einen um Polty, den anderen um Bohne. Fasziniert gingen sie mit ihm mit. Mittlerweile war Toths Gesicht nur noch eine verwesende Masse. Seine Gliedmaßen waren missgestaltet und schuppig. Aber sei ne Stimme klang leise, beinahe zärtlich. »Und warum, frage ich euch, sage ich, dass diese Tage bald kommen werden?« »Weil… weil Ihr der Anti-Gott seid?«, stotterte Polty. »Weil Eure Kräfte Euch das sagen?« Bohnes Stimme klang schrill. »Allerdings.« Toth lächelte. »Das sagen mir meine Kräfte. So wie sie mir verraten, dass sich der Schlüssel zum Orokon in diesem Augenblick wieder unter uns be findet.« »Der Krüppel?« Polty schnürte es fast die Kehle zu. »Natürlich, Veeldrop. Glaubt dieser Narr tatsächlich, dass er vor mir sicher ist? Bildet er sich ein, dass er mich besiegen kann? Ich habe nur abgewartet, das ist alles. Aber jetzt werde ich nicht mehr warten.« Eine Hand pack te Poltys Schulter. »Du hasst ihn, hab ich Recht, Veeldrop? Du hasst ihn doch? Willst du ihn vernichten?« Polty zuckte zusammen. »Selbstverständlich, erhabe ner Lord.«
Die Stimme wurde noch leiser. »Dann sollst du deine Chance bekommen. Sein Untergang beginnt heute Nacht. Ich brauche dich, Veeldrop, dich und deinen nützlichen Freund. Glaubst du etwa, ich wüsste nicht einzuschätzen, wie sehr ich dich brauche?« Polty nickte. Er war errötet und zitterte, doch jetzt wurde er kühner. Er hielt das Glas hoch. Bohne sprang rasch herbei und schwenkte Penge vor dem Loch, wo sich eigentlich Toths Nase hätte befinden sollen. War jetzt der Moment gekommen? Doch das Monster riss sich von seinen Dienern los, krabbelte erneut über die Wände und rammte mehrmals seinen Schädel gegen die Decke, bis es schließlich wieder zu Boden fiel und mit sei nem lippenlosen Mund grinste. »Ach, Veeldrop!« Es lachte. »Sagte ich nicht, dass ich dich brauche?« Polty schluckte. »Erhabener Lord, ich weiß, aber… aber wird Euer Diener nicht alle Kraft brauchen, all seine Stär ke für die Aufgabe, die vor ihm liegt? Ich habe Euch so gut gedient, wie ich kann, aber… aber… könnte ich Euch nicht noch viel besser dienen, wenn ich wieder ganz ich selbst wäre?« Toth lachte erneut. »Was, du hast mir gut gedient? Ich habe dich herbestellt, um dir die Bedeutung deiner Auf gabe vor Augen zu führen, nicht, um dich aus dem Ver trag zu entlassen, den du unterzeichnet hast!« Poltys Zuversicht schwand. »Dein Dienst«, fuhr Toth fort, »hat gerade erst begon nen. Hör mir zu, und hör gut zu! Heute Nacht wirst du mir ein anderes Kind bringen, aber diesmal handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Kind. Geh zu einem Ort na mens Blütentauweg. Er zweigt von einem Platz ab, den man Redondo-Gärten nennt. Dort wirst du genau bei Ein bruch der Dämmerung einen kleinen Jungen spielen se hen. Es ist ein Kind, das für sich betrachtet keinerlei Be deutung besitzt, durch das sich aber das Schicksal der Welt wenden wird. Ergreife dieses Kind, nur dieses Kind und kein anderes! Denn durch diesen Jungen, das sehe ich voraus, wird der Schlüssel zum Orokon endlich in meine Gewalt geraten.« Toth pfiff grotesk durch seinen lippenlosen Mund. »Ja, der Narr wird in meine Falle tap pen. Und dann gehören die Kristalle mir! Hast du ver standen, Veeldrop?«
Polty war vor Enttäuschung am Boden zerstört und konnte nur wortlos nicken. Ein schwerer, uralter Vorhang fiel von einem Fenster herunter, und grelles Tageslicht durchflutete die Kammer. Der Anti-Gott war verschwunden.
21. Armes kleines reiches Mädchen »Wachen! Wachen!« Umbeccas Stimme dröhnte ohrenbetäubend. Jeli ver drehte die Augen, und von seinem Bett aus winkte Seine Kaiserliche Agonistische Majestät seiner Frau mitfühlend zu. Er bewegte dabei drei Finger und den Daumen. Es schüttelte sie vor Ekel. Natürlich musste diese Hand sie anwidern, fehlte ihr doch von Geburt an der Mittelfinger. Jeli wünschte mittlerweile, sie hätte Ejard Rot geheiratet! Das Mittagessen mit den Kriegslords war vorüber, und der Erste Minister erkundigte sich zusammen mit dem Königspaar nach dem Gesundheitszustand von Lektor Feval. Franz Waxwell schwebte mit frommer Miene wie ein verantwortungsbewusster Geist um das Bett herum. Von Zeit zu Zeit wechselte der Apotheker die Blutegel aus, wischte die glühende Stirn ab und träufelte löffelwei se den teuren, zähen Sirup zwischen die Lippen des Pati enten. Witwe Waxwell saß in respektvoller Entfernung auf einem Stuhl und schluchzte unaufhörlich. »Wachen! Wachen!«, rief Umbecca erneut und wuchte te ihren massigen Körper über den Teppich. Verschiedene Silbertabletts standen auf einem niedrigen Mahagonitisch. Hastig bückte sie sich, packte einen Hühnerschenkel, schob ihn sich in den Mund und riss gierig das helle Fleisch vom Knochen. Fett tropfte auf ihr prachtvolles Kleid, bis sie schließlich den kleinen Knochen aus dem Mund zog und ins Feuer warf. Endlich tauchte ein Wachposten an der Tür auf. »Gedankt sei dem Lord Agonis!«, rief Umbecca. »Gibt es schon Nachricht? Habt ihr sie gefunden?« »Es gibt noch keine Nachricht, Madam, ich – « »Findet sie endlich, sage ich! Ach, geh mir aus den Au gen!« Umbecca schlug dem Mann wütend die Tür vor der Nase zu und stampfte wieder zu dem großen Bett zurück,
auf dem ihr Freund, ihr Geliebter, das Gehirn hinter all ihren Triumphen, mit dem Tode rang. Sie ließ sich auf den Rand des Bettes fallen und stöhnte. »Eay, ich schwö re Euch, dass die Mörderin vor Gericht gestellt wird!« »Also wirklich, Tante!«, fuhr Jeli sie an. »Du weißt gar nicht, ob diese Frau irgendetwas damit zu tun hatte. Au ßerdem haben wir doch gesehen, wie der Mörder von der Bombe zerfetzt wurde, hab ich Recht?« Umbeccas Augen glühten, und sie packte kühn den Arm der Königin. »Es war eine Frau, die meinen lieben Eay angegriffen hat, oder etwa nicht? Eine Frau aus der Händlerschicht?« »Aber nein, Tante, es war ein Mann in der Verkleidung einer Frau und – « »Es war Nirry! Ich habe Nirry gesehen!«, kreischte Umbecca. »Um Oroks willen! Erster Minister, bitte macht ihr klar « Doch Tranimel lächelte nur dünn. »Eure Königliche Ma jestät, Ihr wart doch bei unserem kleinen Mittagessen anwesend, hab ich Recht? Ich habe Euch deutlich ge macht, dass ein Verantwortlicher für diesen Wahnsinn gefunden werden muss. Sollte dieser Täter eine schwache Frau ein, wäre das umso besser für uns… denn es unter streicht noch klarer, in welchen Verkleidungen die Rebel len auftauchen und wie sehr wir unsere Wachsamkeit er höhen müssen. Eine ständige, unnachgiebige Wachsam keit, gegen die Infiltration in unserer Mitte!« Jeli runzelte die Stirn. »Wie bitte?« »Ich will, Eure Königliche Majestät, damit Folgendes sagen: Ob Lektor Feval lebt oder stirbt, irgendjemand ist dieser Tat schuldig, die schnell und gnadenlos mit einer öffentlichen Bestrafung gesühnt werden muss. Ich meine damit, dass diese Nirrian Jubb, wie Lady Veeldrop andeu tete, zweifelsohne hinter diesem Anschlag steckt. Selbst wenn die Bombe nicht an ihrer Person verborgen war. Und ich sage, dass sie gefunden werden muss… und auch gefunden werden wird.« »Das ist doch lächerlich!«, protestierte Jeli. Sie wandte sich ab und strich ihre hübschen blonden Locken zurück. Ihre Königliche Majestät war im Moment bedauerlicher weise offenbar mehr geneigt zu widersprechen, als dafür zu sorgen, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.
Sie wollte wohl auch noch mehr sagen. Doch als sie sich wieder umdrehte, war Tranimel ver schwunden. Also wirklich! Er hatte sich nicht einmal verbeugt! Gereizt schaute sich Jeli in den Privatgemächern des Lektors um. Heiligenbilder schimmerten vor der Tapete, und ein großer goldener Kreis des Agonis hing über dem Bett. Es war einfach schrecklich. Aber der ganze Tag war schrecklich gewesen. Zum Beispiel war das Mittagessen mit den Kriegslords viel zu mächtig gewesen, denn Jeli war entschlossen, ihre schlanke Figur zu behalten. Des halb hatte sie sich sofort danach erbrechen müssen. Und jetzt hatte sie natürlich wieder Hunger. Sie warf einen Blick auf den niedrigen Mahagonitisch. Typisch! Ihre Tan te hatte sämtliche Hühnerschenkel aufgegessen oder ins Feuer geworfen. Wann würde Jilda endlich den Nachmit tagstee servieren? Dieses kleine, nutzlose Miststück! Und außerdem stank es in dem Gemach widerlich nach verbranntem Fleisch. Jeli marschierte unruhig hin und her. Was interessierte sie eigentlich Eay Feval? Sie hätte große Lust gehabt, einfach in ihre Privatgemächer zurückzukehren. Schließ lich musste sie sich auf den Ball vorbereiten. Aber irgend etwas hielt sie zurück. Hinter ihren Augen machte sich allmählich ein stechender Schmerz bemerkbar. Und dabei hätte sie glücklich sein sollen! Nach der Wahnsinnstat im Großen Tempel hatte Jeli schon befürchtet, dass man den Ball absagen würde. Noch schlimmer wäre es gewesen, wenn zu viele Gäste Angst vor einem weiteren Bombenattentat bekommen hätten und weggeblieben wären. Glücklicherweise hatte der Erste Minister diesen großen Ball zu einer Staatsange legenheit erklärt. Die Rebellen sollten nicht glauben, dass sie die Oberhand gewonnen hatten. Alle, die eingeladen wurden, mussten erscheinen, sonst würde er sie für im mer von allen königlichen Festen ausschließen. Das war ein brillanter Schachzug… die gesellschaftliche Höchst strafe! Jeder andere wäre Tranimel dankbar gewesen, aber Jeli konnte so etwas natürlich nicht für jemanden empfinden, der in ihren Augen nicht mehr war als ein blo ßer Beamter. Sie ging weiter hin und her. Jeli empfand den Drang, etwas Böses und Grausames zu tun. Sie musterte die an
deren Anwesenden der Reihe nach. Witwe Waxwell schniefte immer noch jämmerlich. Umbecca stöhnte wie eine Kuh und umklammerte jetzt die Hand des Apothe kers. »Guter Meister Waxwell, gibt es denn gar nichts, was Ihr tun könnt? Besteht keine Möglichkeit, wie Ihr ihn wieder gesund machen könntet?« Ein schmerzlicher Ausdruck erschien auf dem Gesicht des Apothekers. Eines war jedenfalls sicher, seine Rech nung wuchs immer mehr an, wurde ebenso prall wie die Blutegel und stieg mit jedem Augenblick, der verstrich. Allerdings war einem Mann von seinem beruflichen Ehr geiz jede Andeutung, dass er nicht alles Menschenmögli che tat, höchst zuwider. Seine Stimme hatte einen kalten Unterton, als er einen langen Vortrag über die Verheerun gen hielt, welche die Körpersäfte seines Patienten heim gesucht hatten. Und auch die anderen Körperteile. Gewandt deutete er auf eine Couch vor dem Kamin, auf der drei zylindrische Gegenstände in blutverschmierte Tücher eingewickelt lagen. Ein weiterer war an den Bade stuhl gelehnt, der direkt neben dem Bett des Patienten stand, als warte er auf eine schnelle Genesung. Die fragli chen Gegenstände waren die Gliedmaßen des Lektors. Bei der Explosion waren drei Extremitäten abgerissen wor den, während diejenige an dem Badestuhl so schwer in Mitleidenschaft gezogen worden war, dass eine Amputati on die einzig mögliche Lösung darstellte. Sollte Feval ü berleben, war er wenigstens symmetrisch verstümmelt. Meister Waxwell hob eines der Beine hoch und schlug vorsichtig die steifen Verbände zurück. Der Gestank wur de stärker, und traurig blickte er auf das verbrannte, blu tige Fleisch. Der schwarzrote Farbton war Ekel erregend. Umbecca schwankte. Einen Augenblick sah es so aus, als würde ihr massiger Körper über den gliederlosen, mit Blutegeln bedeckten Torso auf dem Bett sinken. Glückli cherweise konnte sie sich zurückhalten und schlug die Hände vors Gesicht, als Waxwell mit geschickt versteck ter Bosheit sein berufliches Urteil über das Ding in seinen Händen zum Besten gab. Passenderweise verlieh er sei nen Worten einen klerikalen Unterton. »Bedauerlicherweise, Lady Veeldrop, würde es die Macht eines Gottes erfordern, diese Gliedmaßen wieder anzunähen. Ob Lektor Feval diese Nacht überleben wird,
weiß ich nicht, aber ich fürchte, dass er niemals wieder auf diesen edlen Extremitäten wandeln wird, die ihn einst so elegant getragen haben. Dem Lord Agonis sei Dank, dass es ihm wenigstens erspart blieb, auch gewisse ande re Körperteile zu verlieren, wie es einem anderen vor nehmen Patienten von mir widerfahren ist.« »Einem vornehmen Patienten?« Jeli witterte wunder vollen Klatsch. »Um welchen Gentleman könnte es sich da wohl handeln?« Waxwell konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Die ses kleine geile Biest! Ja, er musste unbedingt auf einer gründlichen, intimen Untersuchung bestehen… Er dachte über seine Antwort nach, weil die richtige Wirkung ent scheidend war, und wollte gerade mit einem weltmänni schen Lacher erwidern, dass der in Frage kommende Gentleman vermutlich in der Verkleidung einer… Wald schnepfe an dem Vogelball teilnehmen würde, doch dann besann er sich eines Besseren. Vielleicht ging er damit doch ein wenig zu weit? Andererseits konnte die Königin durchaus von ihm verlangen, dass er den Namen des Gentlemans nannte. Glücklicherweise öffnete sich die Tür, bevor der Apo theker der gewaltigen Versuchung unterliegen konnte, seine berufliche Schweigepflicht zu verletzen. Jilda kam herein. Sie trug ein schweres Tablett in der Hand. »Lord Agonis sei gedankt!«, rief Jeli und stürzte sich auf das Tablett, bevor ihre Tante ihr zuvorkommen konn te. Seine Kaiserliche Agonistische Majestät kurierte sich mittlerweile selbst mit Rum-und-Orandy. Bei Jildas Eintre ten hatte sich seine Miene ein wenig aufgehellt, aber vermutlich weniger wegen der Aussicht auf Tee, sondern aufgrund des Anblicks der entzückenden kleinen Kam merzofe seiner Gattin. Der König war offenbar von Jilda sehr angetan und eifrig darauf bedacht, sie das auch wis sen zu lassen. Er winkte ihr zu und achtete sorgfältig dar auf, diesmal seine intakte Hand zu benutzen. Dabei grins te er wie ein Schwachsinniger. Jeli hatte wahllos Kekse in sich hineingestopft, doch jetzt war sie verärgert. Sie hatte zwar ihren Ehemann seit ihrer Hochzeit beinahe vollkommen ignoriert und gewisse widerwärtige Intimitäten nur für den bisher allerdings ziemlich fruchtlosen Zweck der Zeugung eines Erben ges
tattet – dennoch war sie keineswegs glücklich darüber, dass sich das Interesse des Königs plötzlich auf jemand anderen richtete. Er mochte die kleine Jilda also? Sehr gut, dann würde sie ihm reinen Wein über das Mädchen einschenken! Ihre Königliche Majestät schritt auf die andere Seite des Bettes und setzte sich demonstrativ neben ihren Ehemann. Um becca nutzte erleichtert die Gelegenheit und stürzte sich auf das Teetablett. Jeli schnippte mit den Fingern und bedeutete ihrer Kammerzofe, sich neben sie zu setzen. Der König grinste. Umbecca schlang derweil vernehm lich. »Komm, Jilda«, sagte die Königin. Sie sprach so leise, dass nur die Zofe und der Monarch sie hören konnten. »Mein Ehemann und ich langweilen uns, während wir darauf warten, ob der Herr ohne Glieder endlich auf wacht oder stirbt. Vielleicht möchtest du uns mit Erinne rungen an deine vornehme Karriere beim Würger unter halten?« Jilda wurde blass. Aber wenn die grausamen Worte der Königin auch den gewünschten Effekt auf ihr Zofe hatten, schienen sie auf Seine Kaiserliche Agonistische Majestät nur geringen Eindruck zu machen. Der König drehte sich um und hatte so beide Mädchen vor Augen. Er schloss erst das eine Auge, dann das andere, sodass er erst Jeli sah und dann Jilda… Jeli, Jilda. Ein entzückendes Spiel. »Mo… Morvy?« Crums Stimme bebte vor Eifer. Morven verzog das Ge sicht. Während sie durch den Schnee stapften, hatte er über eine höchst interessante philosophische Frage nach gedacht und war nicht in der Stimmung, sich unterbre chen zu lassen. Hatte er Crum nicht gebeten, den Mund zu halten? Und zwar bereits zweimal? »Was gibt es denn jetzt schon wieder? Wenn es sich wieder um diese blöde Ratte dreht, die du in deinem Wams versteckst, dann ver schon mich damit. Oder ist es wieder eine von deinen berüchtigten Rattengeschichten? Vielleicht die, in der Zohnny Ryle deiner besten Rennratte den Schwanz abge schnitten hat? Wenn es nämlich um so etwas geht, Crum, dann bekommst du Ärger, ich warne dich.« »Was für Ärger, Morvy?«, erkundigte Crum sich un
schuldig. »Ich meine… ich werde sehr wütend«, fuhr Morven ihn an und schob den Riemen seiner Muskete hoch, die stän dig von der Schulter seines Bärenfellmantels zu rutschen drohte. Es wurde sehr schnell dunkel, und der Schnee bildete eine Art Nebel. Sie mussten doch nahe am Tuchviertel sein, oder nicht? Zusammen mit anderen Wachen, die an ande ren Vierteln patrouillierten, waren Morven und sein Ge fährte auf der Suche nach einer gewissen verdächtigen Rebellin. Ihnen hatte man das Tuchviertel zugeteilt. Sol che Aufgaben hatten sie oft zu erledigen – sie waren an strengend, zweifellos vollkommen sinnlos und man muss te ständig irgendwelche Dokumente überprüfen. Der ar me Morven! Konnte Crum ihm nicht ein wenig Ruhe gön nen, bevor sie damit anfangen mussten? Man hätte ei gentlich meinen sollen, dass der Bursche beschäftigt war – schließlich zappelte eine räudige alte Ratte in seiner Uniformjacke herum. Allein der Gedanke! »Du weißt einfach die Konzentration nicht zu schätzen, die für das Geistesleben notwendig ist, Crum. Mir ist zwar klar, dass du nur ein einfacher Bauer bist, aber könntest du nicht wenigstens versuchen, dir vorzustellen, dass es Menschen gibt, die deine Faszination für Ratten nicht tei len? Ganz zu schweigen von deinen Geschichten über die Crum-Familie und die Ryle-Familie auf ihren benachbarten Bauernhöfen im Varl?« »Ich denke schon«, erwiderte Crum und schob die Un terlippe vor. Dann hellte sich seine Miene auf. »Aber es geht gar nicht um Blenkinsop.« »Blenkin… wer?«, fragte Morven verwirrt. »Meine Ratte. Das ist ihr Name.« Liebevoll klopfte Crum an seine Brust. »Es geht nicht einmal um Zohnny Ryle. Außerdem hat er das nur einmal getan, ich meine, Bombers Schwanz abgeschnitten… na ja, schließlich hatte der ja auch nur einen, hab ich Recht?… Bomber meine ich, nicht Zohnny.« Morven verdrehte die Augen. »Nein, diesmal ist es etwas anderes, Morvy.« Vielleicht höre ich ihm einfach nicht weiter zu, dachte Morven. Ja, das war die Lösung. Sollte Crum doch weiter plappern und seine Geschichten von Ratten und Bauern herunterleiern. Morven würde einen Schild aus Taubheit
bilden, hinter dem er seine komplizierten Gedankengänge weiterführen konnte. Crum würde das kaum auffallen. Der Varianer begann eifrig seine Ansprache. Morven da gegen beschloss, nur an das Thema zu denken, welches ihm in diesem Augenblick im Kopf herumging. Während der Verfassung seines preisgekrönten Aufsatzes Themen des Versmaßes Im Jelandros mit besonderer Erwähnung der Herkunft und Angemessenheit der Großen Zäsur hat te er über eine Passage in dem Drama gerätselt, die of fenbar bestimmte künstliche Anhängsel bei den Sportlern der alten Zeit beliebt gemacht hatte. In dem bekannten »Mercol«3 lieferte ein Satz (IVii.189), der grob mit an die Hintertür hämmern übersetzt worden war, nach Professor Mercol den Beweis für eine Sitte, in welcher ein Freier eines dieser Anhängsel in der Hand hielt, wenn er an die Tür seiner Geliebten pochte. Nach den Ereignissen in Ma jor Veeldrops Unterkunft war Morven nunmehr davon überzeugt, dass Mercol sich irren musste. Er war gleichzeitig aufgeregt und frustriert. Natürlich war das alles schrecklich unmoralisch, aber das Auge des Gelehrten durfte sich der Wahrheit nicht verschließen. Wenn er doch sofort die König-Ejard-Bibliothek hätte auf suchen können! Dort standen die gelehrten Werke, die er zu Rate ziehen musste, aber Morven war auch so sicher, dass seine Theorie stimmte. Verzückt stellte er sich den Aufsatz vor, den er schreiben würde, komplett mit zahllo sen Fußnoten, die auf die verdorbenen Sitten der alten Zeiten hinwiesen. Er würde ihn der Juvescial-Gesellschaft übergeben, nein, besser noch, auf spezielle Einladung in der Akademie Ejlandica verlesen. Deren Mitglieder würden aufspringen und ihm donnernd applaudieren. Dann wür den einige verkünden, dass dieser brillante junge Mann der Einzige wäre, der als Nachfolger für Mercols Lehrstuhl in Frage käme. Einige würden sogar erklären, dass es sofort eine neue Ausgabe des Jelandros geben musste, und zwar unter Federführung von Plaise Morven. Man stelle sich Mercols Wut vor! Doch bald ließ Morvens Erregung wieder nach, und es blieb nur Enttäuschung zurück. Mehr als einmal hatte er in den letzten 3 Offiziell: Die Endgültige Ausgabe mit Anmerkungen, Agondon-Universitätsverlag, in 12 Bänden, AC 992e-994d
(Hrg. Phineas Mercol, B. Juv. (Hons.) M. Juv. D. Litt, Phil. D. O. M. E R. S. E. Ac. Ej). Monaten Professor Mercol geschrieben und sogar erfolglos versucht, zu ihm vorgelassen zu werden. Morven war ver zweifelt. Von einem alten Studienkollegen in Websters Kaffeehaus hatte er gehört, dass das Aon-Stipendium zu vergeben war. Eustace Bolbarr hatte sich als blanker Fehlschlag erwiesen und sich mit seiner unfertigen Dok torarbeit zurückgezogen. Alle waren sich einig, dass er ohnehin ein Schnösel war und sich eigentlich gar nicht erst hätte bewerben dürfen. Nun lag die neuerliche Ver gabe wieder in Mercols Hand. Und wer wäre besser für das Stipendium geeignet als Plaise Morven? Mit diesem Stipendium hätte sich Morven nicht nur aus der Armee freikaufen können, nein, es hätte ihm auch völlige Frei stellung garantiert! Keine Paraden mehr! Keine Patrouil len! Und kein Crum. Wenn Mercol das nur endlich einsehen würde! »Er weiß, dass ich ihn übertrumpfen würde, das ist der Grund«, murmelte Morven. »Habe ich nicht eben ein bril lantes Dissertationsthema gefunden? Noch dazu eines, das ihm vor Augen führt, was für ein alter Betrüger er ist? Ich wette, er hofft sogar, dass ich getötet werde. Da kann er über das Aon-Stipendium verfügen, und was tut er für mich? Es lässt mich einfach im Stich! Ein Gelehrter mit meinen Fähigkeiten, der im Tuchviertel herumläuft und nach Rebellen sucht!« »Aber genau das ist es!«, rief Cum. »Morvy, hast du denn nicht zugehört?« Morven drehte sich verärgert um. Wie lächerlich Crum in seinem Bärenfell aussah! Der Hut rutschte ihm ständig über die Augen, in seinem Wams zappelte etwas herum, und er versuchte nicht einmal, seine Muskete zu schul tern, sondern schleppte sie mit dem Bajonett nach unten über die schneebedeckten Pflastersteine, dass es nur so klapperte. »Du Idiot, wovon redest du eigentlich?« »Das versuche ich dir doch die ganze Zeit zu sagen! Das ist nicht das Tuchviertel. Wir haben uns verirrt, Mor vy.« »Was? Auf der Insel kann man sich nicht verirren!« »Aber wir haben uns verlaufen!«, wiederholte Crum
eigensinnig. Morven seufzte. Vermutlich war es an ihm, vernünftig zu sein. »Also gut… wo ist die Laterne, Crum? Es ist ziem lich schnell dunkel geworden, hab ich Recht?« »Ich… ich glaube, ich habe sie in unserem Quartier ge lassen, Morvy. Vielleicht habe ich sie auch auf den Boden gestellt, als ich mir an der Ecke dahinten… als ich meinen Schnürsenkel zubinden musste, weißt du noch? Habe ich dir eigentlich schon mal erzählt, wie Zohnny Ryles Schnürsenkel aufging, als wir unterwegs waren, um Vo gelnester auszunehmen? Na ja, er nahm Vogelnester aus, während ich immer gesagt habe, man sollte die armen Vogeleier lassen, wo sie – « »Halt den Mund, Crum!« Durch die Schlitze der Fens terläden drang Lichtschein, und der tief stehende Mond ergoss seinen fahlen Glanz auf den Schnee. Morven wischte sich die Brillengläser ab. »Hör mir zu, ich habe Jahre als Student in dieser Stadt verbracht… Jahre, Crum, die genügt hätten, um das Aon-Stipendium mehr als nur zu verdienen… Mal sehen, hier ist ein Platz. Wenn ich mich nicht irre, ist das Corveys Corner, wo der Spring brunnen ist… hier ist die Kapelle… dort das Krankenhaus… hier haben wir Bulganis, den Geldverleiher. Die Raufbolde aus dem Kolleg sind immer zu ihm gegangen, wenn der Gerichtsvollzieher ihnen auf den Fersen war. Und siehst du diese Taverne? Die heißt Katze & König oder so ähn lich. Dort sind die Raufbolde auch hingegangen, obwohl das ein überaus schockierender Ort war… Crum, das hier sind die Redondo-Gärten.« Triumphierend stolzierte Mor ven weiter. »Verirrt, also wirklich!« »Aber… wir sind doch nicht da, wo wir sein sollten, hab ich Recht?«, sagte Crum, womit er nicht ganz falsch lag. »Vermutlich sind wir irgendwo falsch abgebogen«, gab Morven zu. »Das Tuchviertel ist auf der anderen Seite der Insel.« »Was sollen wir jetzt tun, Morvy?«, jammerte Crum. »Na was wohl? Wir drehen um und gehen ins Tuchvier tel, was sonst?« »Könnten wir nicht zurück in die Kaserne gehen?« Crum stampfte mit den Füßen. »Wir können doch einfach sagen, dass wir diese Rebellin nicht finden konnten. Ser geant Bunch wird es nie erfahren, stimmt’s?« Morven war nicht überzeugt.
»Könnten wir nicht einfach hier an irgendwelchen Haustüren klopfen? Das müsste doch genügen, oder? Morvy? Blenkinsop ist müde, und ich auch.« Kohlblätter wehten über den leeren Marktplatz. Hier und dort gingen selbst in dieser eisigen Dunkelheit Huren ihrem Gewerbe nach. Morven schluckte. »Ich glaube nicht, dass das genügt, Crum. Außerdem haben Korporal Supp und Soldat Rotts dieses Viertel zugeteilt bekommen, stimmt’s? Wenn wir jetzt zufällig auf sie stoßen? Dann stecken wir in der Klemme, Crum.« Eine der Huren kam langsam auf sie zu und winkte ih nen mit dem Finger. Morven und Crum eilten so schnell sie konnten über den Platz. Vor der Katze & Krone blieb Crum stehen und betrach tete das gemalte Schild. Sehnsüchtig rieb er sich die Hän de. »Morvy? Glaubst du, dass wir vielleicht einen kleinen heißen Grog trinken könnten? Ich meine, in dieser Taver ne?« »Einen heißen Grog!«, rief Morven entsetzt. Er war allerdings nicht sicher, warum er eigentlich so entsetzt war. »Habe ich dir schon mal erzählt, wie Zohnny Ryle nach Woolly gesucht hat und nicht wusste, dass Woolly, sein Lieblingslamm, schon längst wieder zu Hause war? Der dumme Zohnny, du hättest sein Gesicht sehen sollen!« Crum grinste. »Auf jeden Fall, nachdem der Suchtrupp ihn gefunden hatte, nahmen sie ihn mit nach Hause und bekamen dafür einen heißen Grog. Großmutter Ryle sagte immer, dass man einen heißen Grog trinken soll, wenn man sich beinahe zu Tode gefroren hat.« Das Grinsen verzerrte sich zu einer Grimasse. »Ich friere mich beinahe zu Tode, Morvy. Und Blenkinsop auch. Und wenn wir erst erfroren sind, sind wir für die Suche nach einer Rebellen lady nicht mehr sonderlich gut zu gebrauchen, hab ich Recht?« Diesmal musste Morven Crum Recht geben. Unsicher drängten sich die unwilligen Rekruten durch die Tür unter dem knarrenden Schild. Sie kamen in einen kleinen Vor raum, von dem aus man nach zwei Seiten in verschiedene Gaststuben gelangte. Als sie nach links schauten, in die gemütlichere, sahen sie einen Soldaten der Blauröcke, der zusammengesunken dasaß und beinahe von der Ecke
am Kamin verdeckt wurde. Sie stolperten hastig zurück, aber Crum widersetzte sich, als Morven versuchte, ihn wieder nach draußen zu drängen. Schließlich war der Kerl nicht von ihrem Re giment. Und es war weder Rottsy noch Supp. Außerdem war die Stube auf der rechten Seite bis auf ein paar Händler und zwei heruntergekommene Bettler leer. Die Neuankömmlinge entledigten sich rasch ihrer nassen Bä renfellmäntel und setzten sich so nah sie konnten ans Feuer. Schnell bestellte Crum die heißen Grogs und schilderte der einäugigen Lady hinter der Theke ausführlich die Er eignisse des Abends, an dem Zohnny Ryle nach Woolly gesucht hatte.
Das Feuer in dem Kamin loderte hell. »Kalt? Ich würde sagen, du musst ganz schön gefroren haben! Wenn ich nur dein dunkles kleines Gesicht an schaue, mein Junge, dann sehe ich schon, dass du aus einer heißen Gegend stammst: Roter, geh mir aus dem Weg! Ich weiß nicht, wie du es hier auch nur einen Au genblick aushältst. Ich stamme aus Holluch-auf-demHügel, und ich sage dir, wenn ich nicht diese ganzen Felle über meiner Kutte hätte, selbst hier drinnen, wüsste ich nicht, wie ich die Kälte ertragen sollte. Sind die Felle ku schelig warm, mein Junge? Es sind alte Sachen von Ban dos Gören, aber ich fürchte, sie müssen genügen, was? Roter, Platz, sage ich! Du meinst, wenigstens gibt es ein Feuer? Ja, und rate mal, wessen Aufgabe es ist, es am Brennen zu halten… aber was nützt dieses Feuerchen schon gegen ein solches Wetter? Was gäbe ich nicht für ein nettes, warmes Kloster in Tiralos oder in NiederLexion! Wenn man nur dort nicht so früh aufstehen müss te. Rebellen! Lass dich nicht mit Rebellen ein, mein Junge, wenn du jemals wieder ein bisschen Frieden oder Be quemlichkeit haben willst!« Diese Szene spielte sich in einem schäbigen, niedrigen Wohnzimmer in einem bekannten Cottage in den Hügeln von Agondon ab. Der pummlige Bruder plauderte munter weiter, und seine Tonsur glänzte im Lampenlicht. Für den Kleinen verschwammen die Worte in einem Nebel. Er lag
in seinen geliehenen Fellen auf dem Sofa und starrte auf ein Muster an der dunklen Decke. Es wirkte wie eine Landkarte aus braunem, feuchtem Lehm. Er schloss die Augen und hatte sofort wieder diese Visionen. Irgendwo, als wäre sie weit entfernt, schwebte Myla in ihren blauen, wehenden Roben. Dann verwandelten sich diese blauen Roben in einen Regenbogenmantel, und Mylas Gesicht verschwand hinter dem goldenen, blendenden Licht. Aber nein, es war gar nicht Myla. Jetzt sah der Kleine das Himmelsschiff, das sich wieder in die Luft erhob. »Hungrig? Du bist bestimmt sehr hungrig. Ich war immer hungrig, als ich ein Junge war. Immer. Wenn ich ehrlich sein soll, ich bin auch jetzt noch die ganze Zeit hungrig.« Die Würstchen bruzelten und ein Wasserkessel summte leise. »Ja, komm her, Roter, lass dich streicheln. Hör nur, wie er miaut! Glaub nur nicht, dass du wieder so viel be kommst, Roter! Ein Würstchen, mehr nicht. Ich habe dir gerade erst eine Schüssel mit Milch gegeben, stimmt’s nicht? Und das war auch noch die letzte Milch! Es ist schrecklich, was wir hier für Lebensmittel bekommen! Du kannst dich glücklich schätzen, dass ich diese Würstchen habe, Junge, mehr brauche ich wohl nicht zu sagen. Das hier ist schmackhafter als alles andere, was wir in Corvey Cottage seit langer Zeit gegessen haben! Warum ich nicht auch in dieser gemütlichen Taverne in der Stadt wohnen darf, weiß ich wirklich nicht… Rebellen! Was kann man von denen schon erwarten?« Der Kleine sah das Himmelsschiff aufsteigen, wenden und sinken. Vielleicht war es ja eine Vision von dem Schiff kurz vor der Bruchlandung. Aber nein, es war das Schiff, wie es sich wieder erheben würde, bereit für einen letz ten, verzweifelten Flug. Bewundernd sah der Kleine, wie geheimnisvolle Kräfte die Beulen und Risse in dem Metall rumpf glätteten. Er sah, wie das zerstückelte Glas wieder in die Fenster zurückflog, als liefe die Zeit rückwärts. Er sah, wie das Himmelsschiff durch die Finsternis sauste, sah die Berge aus Eis und Schnee. Er sah Jem. Und Rajal. Und Myla. Der Kleine fuhr aus seinem leichten Schlummer hoch und schlug sich die Hand vor den Mund. »Hast du Angst? Mein Lieber, mir musst du nichts von Angst erzählen.« Der Bruder klapperte mit Schüsseln und
Tellern am Feuer und servierte dem Kleinen Tee. Sich selbst vergaß er auch nicht, und häufte sich seinen Teller voll, bis beim besten Willen nichts mehr draufpasste. »Glaubst du, ich hätte mich mit dem Maskierten eingelas sen, wenn ich bei Verstand wäre? Ja doch, Kater, dein Tee kommt ja schon. Du musst nicht so… was hast du denn? Ganz zu schweigen von den anderen, Junge. Merkwürdige Bande. Nehmen wir zum Beispiel Miss Lan da. Sie ist eine Heidin, ganz eindeutig eine Heidin. He, Roter, du rennst ja herum wie ein Verrückter! Beruhige dich, ja? Ich kann dir sagen, dass ich nur froh bin, dass Bandos Buben nicht auch hier in Corvey Cottage sind. Diese boshaften kleinen Mistkerle! Kannst du dir vorstel len, dass sie mich Kapaun geschimpft haben? Dabei bin ich ein Mann vom Tuch! Aber es ist ihr Vater, der sie er mutigt, so viel ist klar. Du dagegen bist sicher ein sehr freundlicher Junge… was ist denn los? Kleiner, was machst du?« Der Kleine rannte aus dem Zimmer und folgte Ejard Orange. Schwere Vorhänge verdeckten das Fenster. Er zog sie zurück und blickte über die dunklen, verschneiten Felder. Und zum Himmel hinauf. Der Kleine klatschte in die Hände. Das Himmelsschiff! »Entschuldige, Piebald, aber ich glaube, zu Fuß komme ich schneller weiter.« Jem tätschelte die weiche Schnauze des Kutschpferdes und ließ es einfach an der Ecke stehen. Dann ging er rasch weiter und sah sich noch einmal schuldbewusst um. Es war dunkel geworden und es schneite stärker. Piebald sah ziemlich mürrisch aus. Den ganzen Weg vom Hügel herunter hatten Jem und das Kutschpferd Käl te, Schlamm und den Patrouillen der Blauröcke getrotzt, die sie immer wieder angehalten hatten und wissen woll ten, wohin sie gingen und warum. Jem hatte einen Akzent des Inneren nachgemacht und so getan, als wäre er ein Stoffhändler aus einem Hügeldorf, der in die Stadt fuhr, um eine Ladung Tuch abzuholen. Zum Glück ließ seine blasse Haut keinen Zweifel an seiner Rasse aufkommen, sonst hätte man ihn vielleicht durchsucht oder ihn ge zwungen, ein Bestechungsgeld zu zahlen. Jetzt jedoch würde die Masche mit dem Tuchhändler nicht mehr funktionieren. Er war nicht einmal in der Nähe des Tuchviertels. Es waren so wenig Leute auf der Straße
unterwegs, dass er mit dem Pferd schnell auffallen wür de. Er schüttelte den Kopf und sah zwischen Piebald und den gepflasterten Straßen hin und her, die sich bis zur Spitze der Insel schlängelten. Dann lief er zurück und klopfte an die Fensterläden eines Kerzenladens. Der Ker zendreher war hoffentlich froh über ein zuverlässiges neues Kutschpferd. Bevor der Mann die Läden öffnen konnte, war Jem schon weitergelaufen. Er hüllte sich fester in den Mantel des Harlekins und mühte sich durch die gewundenen, verschneiten Straßen. Wo war nur diese Taverne? Wie hieß sie noch? Krone & Katze’› Jem kannte sich im Redondo-Viertel nicht aus. Er wusste nur, dass es in einem Teil der Insel lag, der von den besseren Kreisen gemieden wurde. Die vornehmen Adligen waren schon lange weggezogen und hatten sich in der Neustadt von Agondon niedergelassen. Jem hatte keine Ahnung, was ihn erwartete. Aber er musste dem Harlekin vertrauen. Jem kniete sich neben einen Bettler, der in einer Tür kauerte. »Wo ist die Krone & Katze? Oder die Katze & Krone? « Der Bettler lächelte zahnlos und winkte schlaff mit der Hand. Jem bedankte sich und suchte in der Tasche nach einer Münze. Doch gerade als der Bettler danach griff, fiel Jem auf, dass die einzige Münze, die er besaß, die des Harlekins war. Rasch zog er die Hand zurück. Der Bettler verwünschte ihn und hätte ihn verfolgt, wenn er nicht so betrunken gewesen wäre, dass er statt dessen vornüber in den Schnee fiel. Der Zwischenfall hatte Jem aufgeregt, und er stürmte in die Redondo-Gärten, bevor er wusste, wo er eigentlich war. Es schneite. Er betrachtete nervös die niedrigen Um risse des Armenhauses und der alten Kapelle. Hinter ihm lag ein holzverziertes Haus aus der elabethanischen Zeit, und auf der anderen Seite des Platzes sah er Türen, aus denen weibliche Gestalten lugten. Ein kleiner Laternenträger trottete vorbei und leuchtete einer Sänfte den Weg. Der Gentleman auf dem Stuhl war offensichtlich unterwegs zu einer Hure. Er fluchte unge duldig, und Jem trat rasch aus dem Weg. Er sah sich um, als das Licht der Laterne auf das knarrende Schild der Taverne fiel. Er hatte gehofft, ein Hinweis würde ihm verraten, dass
er auf dem richtigen Weg war. Hier war einer. Die Katze auf dem Schild, die eine prächtige kleine Krone auf dem Kopf trug, war zweifellos das Spiegelbild von Ejard Oran ge. Trotzdem trat Jem nur zögernd in den kleinen Flur. Nach einem kurzen Blick in die Gaststube zu seiner Rech ten zuckte er alarmiert zurück. Blauröcke! Er sah sie nur kurz und nur von hinten, aber er wusste sofort, dass einer von ihnen ernst und offenbar ausführ lich mit dem Mädchen hinter dem Tresen sprach. Suchten diese Kerle vielleicht nach Fremden und durchsuchten die Stadt nach verdächtigen Gestalten? Jem wollte schon wieder gehen, aber das wäre absurd gewesen. Natürlich war die ganze Stadt voll mit Blaurö cken. Was hatte er denn erwartet? Er riskierte einen Blick in die andere, gemütlichere Gaststube. Als er dachte, sie wäre leer, ging er hinein. Jem bemerkte den anderen Blaurock erst, als es zu spät war. Ein ganz offensichtlich betrunkener Sergeant saß in einer Ecke am Kamin. »Ah, ein Freund!« Der Mann winkte ihn heran. »Ich kenne dich zwar nicht, mein Junge, aber das spielt keine Rolle. Komm und trink einen Krug mit dem alten Carney Floss!« Zögernd gehorchte Jem. »Wachen! Wachen! Was denn, immer noch nichts?« Umbecca fluchte, als die Neuigkeiten kamen – vielmehr eben nicht kamen. Nirry konnte doch nicht einfach ver schwunden sein? Seit heute Morgen? Nein, die hinterhäl tige Mörderin versteckte sich irgendwo, in irgendeiner schmutzigen Gasse, in irgendeinem stinkenden Abwas serkanal und plante noch mehr Wahnsinnstaten gegen die guten, frommen, agonisfürchtigen Menschen! Aber damit würde sie nicht davonkommen. Die Soldaten würden Miss Nirrian Jubb finden, und wenn sie ganz Agondon, ja selbst Ejland auf den Kopf stellen mussten. Sie würden sie fin den und vor ihre empörte Herrin schleppen. Irgendwo in einem Winkel ihres Verstandes wusste Umbecca, dass sie alles andere als vernünftig war. Aber wie sollte sie auch nach all dem, was geschehen war, vernünftig sein? Überall sah sie Nirrys Gesicht, es lachte
sie von den Wänden, vom Teppich, von den Vorhängen am Fenster an, und vor ihren Augen stand wie mit Feuer das Wort MÖRDER geschrieben. Nirry. MÖRDER. Nirry MÖRDER. Selbst im Spiegel stand es. REDRÖM. Die Frau stampfte in dem Gemach hin und her. Sie hob eines der abgetrennten Beine des Lektors hoch und wieg te es in den Armen. Dabei wimmerte und stöhnte sie. »Meine gute Lady, beruhigt euch«, tröstete sie der A potheker. »Leider haben die Ereignisse des Tages Eure Körpersäfte bedenklich hoch getrieben. Ich möchte Euch ein Beruhigungsmittel verabreichen«, fügte er freundlich hinzu. »Ich habe genau das richtige in meinem Beutel, eine neue Mischung, deren Geschmack viele meiner Pati enten sehr angenehm finden… und der, wenn ich das hin zufügen darf, einem Erdbeer-Käse-Kuchen nicht ganz un ähnlich ist.« Normalerweise hätte Umbecca zugestimmt, aber dies mal ignorierte sie den Apotheker. Die ganze Zeit hatte Witwe Waxwell geschnieft und geschluchzt, als wenn das tragische Schicksal des Lektors sie genauso erschüttern könnte, wie es Umbecca erschütterte. Trotzdem hatte Umbecca diese kleine Zurschaustellung geduldet. Aber jetzt humpelte das verwelkte Weib – das schließlich niemand gewesen war, absolut niemand, bevor Umbecca sich herabgelassen hatte, sie zu bemerken – nach vorn, fast so, als wäre sie eine Fürstin! Sie ergriff das andere abgetrennte Bein des Lektors und presste es an ihre Brust wie ein Kleinkind. Umbeccas Reaktion war unvermittelt und überwälti gend. Mit einem lauten Wutschrei verbannte sie die Witwe aus dem Krankenzimmer. Die alte Frau ließ ihre blutige Last fallen und eilte wimmernd hinaus, so schnell ihre altersschwachen Beine sie trugen. Hätte sie auch nur ei nen Moment länger gezögert, hätte Umbecca sie zweifel los mit dem anderen Bein des Lektors niedergeschlagen. »Die Alte ist verrückt, völlig verrückt!«, kreischte sie. Auf der anderen Seite des Krankenbettes zeichnete sich ein anderes Verbannungsdrama ab. Während sich der Apotheker wieder um seine Blutegel kümmerte, setzte Seine Kaiserliche Agonistische Majestät sein albernes Spielchen mit der Königin und ihrer Zofe fort, zwinkerte erst der einen, dann der anderen zu.
Wenn er nur schnell genug zwinkerte, verschwammen sie zu einer Person. »Jeli… Jilda! Jeli… Jilda!«, rief der König entzückt. »Wirklich, das ist absurd!« Jeli brannte vor Scham. Sie wäre längst weggegangen, aber ihr Ehemann hatte erst ihr Handgelenk gepackt und dann auch das der Zofe. Jeli wehrte sich, und Jilda rang nach Luft. Sie war machtlos, als der König sie mit einem triumphierenden Schrei auf das Krankenbett warf. Waxwells Schrei folgte dem seinen augenblicklich, als seine Egeltabletts durch die Luft segelten. Er wollte protestieren, aber konnte er es wagen? Schließlich war das der König. Währenddessen versuchte der König, die hübsche Zofe zu besteigen, und kicherte dabei die ganze Zeit. »Jeli… Jilda! Jeli… Jilda!« Jilda kreischte, Jeli kreischte, und Umbecca kreischte ebenfalls. Allerdings ließ Umbecca es nicht dabei bewenden. Die fette Frau schwang das Bein des Lektors und stürzte sich auf den Monarchen. »Monster!«, schrie sie. »Ihr zer quetscht Eay! Ihr zerquetscht Eay, Ihr Monster!« Glücklicherweise wurde diese Tragödie abgewendet. Der Torso nahm ohnehin nur sehr wenig Platz in dem Bett ein, und außerdem landete das Bein mit voller Wucht auf dem Schädel Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät. Und zwar genau in dem Moment, als er dabei war, seine Hose auszuziehen. Der König krachte zu Boden. Erschöpft stolperte Umbecca zurück. Waxwell überlegte derweil fieberhaft, was zu tun wäre. Es blieb Königin Jelica vorbehalten, das Kommando zu übernehmen. Die Wachen stürmten von dem Lärm alar miert in das Gemach. Ihre Verwirrung war ihnen deutlich anzumerken, als sie zwischen dem König, der zusammen gesunken auf dem Boden lag, und der schluchzenden Zo fe, die mit zerrissener Tracht auf dem Bett kauerte, hin und her sahen. Jeli legte jetzt ein bemerkenswertes kö nigliches Verhalten an den Tag, etwas, was man seit ihrer Hochzeit selten bei ihr erlebt hatte, und ließ eine Rede los, die sie schon oft geprobt hatte. Es kümmerte sie da bei nicht im Geringsten, ob die Wachen ihre blumigen Worte verstanden. Mit blitzenden Augen und glänzenden Locken deutete sie in rechtschaffenem Ärger auf das Bett.
»Wachen, diese Zofe hat mein Vertrauen missbraucht. Ich habe dieses Geschöpf aus der tiefsten Erniedrigung geholt, welche eine Frau erfahren kann, weil ich dachte, man hätte ihr Unrecht getan. Ich hatte gehofft, mit die sem Zeichen des Mitgefühls das Herz von Lord Agonis zu erfreuen. Ich begreife jetzt, das s ich mich geirrt habe und dass manchmal der Zorn der einzige Pfad der Recht schaffenheit ist. Niemand kann eine so liederliche Hure retten; dennoch werde ich mein Mitgefühl nicht vollkom men vergessen. Eigentlich wäre der Tod ihre gerechte Strafe, aber ich werde meine strafende Hand zurückhal ten. Bringt sie zurück zum Würger l« Eigentlich wäre das ein eindrucksvolles Schlusswort gewesen, aber die Szene fand doch noch ein glückliches Ende. Der Lektor stieß ein Stöhnen aus. Umbecca fing sich und eilte an seine Seite. »Meine Heilmittel!« Waxwell klatschte erfreut in die Hände. »Habe ich Euch nicht gesagt, dass sie ein Wunder vollbringen würden?« »Biddie-Biddie-Bobbel!« »Diddie-auf-dem-Doppel!« »Jungs, bitte!«, rief Nirry. Sie bemühte sich zwar, den Ärger in ihrer Stimme zu unterdrücken, doch das gelang ihr nicht so ganz. Sie zwang sich mühsam zu einem Lä cheln. Raggle und Taggle wälzten sich auf dem Küchen boden und wären einige Male fast durch die offene Keller luke gestürzt. »Seid bitte vorsichtig! Ihr werdet noch et was zerbrechen, und wenn es nicht mein bestes Steingut ist, dann bestimmt eure Köpfe! Was denn, bist du mit den Krügen immer noch nicht fertig?«, fuhr sie ohne Luft zu holen an die Küchenmagd gerichtet fort. Das Mädchen stand an der Spüle. »Du brauchst gar nicht so eine Gri masse zu schneiden, Mädchen! Sei froh, dass du nicht auf der anderen Seite des Gartens bist, wo du hingehörst!« Nirry saß zusammengesunken neben ihrem Kaminfeu er. Von Zeit zu Zeit richtete sie sich halbherzig auf, rührte in einem Kessel oder drehte den Spießbraten. Sie konnte nicht verhehlen, dass sie nicht ihr altes, energisches Selbst war. Wie sie die Jungen beneidete! Raggle und Taggle schienen die dramatischen Ereignisse des Morgens längst vergessen zu haben.
Zappelphilipp kam aus dem Keller, tief gebeugt von der Last eines Bierfasses. Er wischte sich die Stirn und stellte es ab. Dann sah er seine Frau an. »He, Liebes, Kopf hoch! Jetzt ist alles vorbei.« »Tatsächlich? Ich sage dir, Zappelphilipp, die Herrin hat mich erkannt, das ist gewiss.« »Und ich sage dir, dass diese alte Kuh nicht mehr dei ne Herrin ist. Komm schon, Liebes, das sieht dir gar nicht ähnlich! Das ist nicht meine Nirry!« Zappelphilipp trat zu ihr und nahm ihre Hand. »Wenn das jemand anders ma chen würde, würdest du ihn einen Narren schelten. Aber meine Nirry ist doch keine Närrin, hab ich Recht? Schließ lich verlasse ich mich auf ihren Verstand.« Das rang Nirry ein Lächeln ab. Zappelphilipp wackelte mit den Ohren, und das Lächeln vertiefte sich. Aber es hielt nur einen Moment an. »Raggle! Lass das Fass in Ruhe! Was hast du vor, willst du Taggle darunter zerquetschen? Und was fällt dir ein, Zappelphilipp Olch, einfach die Kellertür offen zu lassen? Ich muss schon sa gen, du hast manchmal wirklich genauso wenig Verstand wie bei deiner Geburt!« Zappelphilipp grinste. Das klang schon eher nach sei ner alten Nirry! Aus dem hinteren Flur drang lautes Klopfen. Nirry drehte sich um und spähte durch die geöffnete Tür. Sie sah Waffen schimmern, Messer funkeln, sah unrasierte Gesichter und struppige Frisuren. Dann trampelten schwere Stiefel die Treppe zum König-Ejard-Zimmer hoch. »Zappelphilipp, das gefällt mir nicht!« Nirry zog rasch den Kopf zurück. »Es hat mir schon gestern Abend nicht gefallen, und jetzt gefällt es mir noch weniger. Was denkt sich Bob dabei, dass er sie schon wieder alle zusammen ruft? Ich verstehe den Sinn nicht.« »Der Sinn liegt darin, Liebes, dass sie den Lektor in die Luft – « »Shh!« Nirry legte rasch einen Finger auf seine Lippen. »Irgendjemand hat das zwar getan«, zischte sie, »aber es war verrückt, vollkommen…!« »Aber sie sind verrückt, alle wie sie da sind.« »Ja, und sie tagen in meiner Taverne! Ach, wenn das alles nur schon vorbei wäre! Es wird Schießereien geben, Aufstände… und Carney hockt im Moment mitten in der
Gaststube! Die ganze Taverne könnte von Blaujacken nur so wimmeln. Warum können wir nicht ein bisschen Frie den und Ruhe haben?« Dieser letzte Satz war eindeutig an Raggle und Taggle gerichtet, die mittlerweile aufgehört hatten, auf dem Fass herumzutoben. Stattdessen jagten sie sich jetzt in der Küche herum. Raggle hielt sich einen Topfdeckel über den Kopf, und Taggle schlug mit einem Holzlöffel darauf. »Was soll das denn? Was ist hier los?« Die Stimme ü bertönte mühelos das Geschrei. »Kämpfen da etwa kühne Krieger in Nirrys Küche? Wie können sie es wagen?« Es war Cata, die durch den Hintereingang hereinge schlüpft war. Ihr Haar und ihre Kleider waren mit Schnee bedeckt. »Miss Cata, also wirklich!«, protestierte Nirry. »Habe ich Euch nicht gesagt, dass Ihr Euch noch den Tod holt, wenn Ihr ohne Mantel hinausgeht?« »Ich habe mich doch nur kurz umgesehen, Nirry« »Ach ja? Und? Rebellen, wohin man sieht?« »Schau nicht so finster drein. Ein paar Rebellen magst du doch auch, hab ich Recht, Nirry?« Cata lächelte über mütig. »Sieh mal, wen ich draußen gefunden habe!« Sie trat zur Seite, und zwei Gestalten in Reitkleidung erschienen im Lichtkreis der Lampe. Nirry und Zappelphi lipp lächelten, Raggle und Taggle jedoch quietschten ge radezu vor Vergnügen. Bandos Flinte fiel klappernd zu Boden, als er beide Arme ausstreckte. Hul trat zur Seite, als sich die Jungen in die Arme ihres strahlenden Vaters warfen. Sie kletterten an seinem beachtlichen Bauch empor, zogen an seinem Schnurrbart und zupften an dem roten Tuch, das er sich um den Hals gebunden hatte. Fröhlich schwenkte ihr Va ter sie in der Luft herum, erst den einen, dann den ande ren. »He, wie fett ihr seid! Wie ich sehe, war Madam Nirry gut zu euch!« »Sie wachsen ja noch«, meinte Nirry lächelnd. »Und wachsen, und wachsen. Zappelphilipp, bring unseren Gä sten Bier, bist du so gut? Und dann solltet Ihr besser rasch nach oben gehen. Die anderen Rebellen werden bald hier sein.« Bando kniff erst Raggle und dann Taggle in die Wange. »Ach, ihr Racker, wenn ihr erst wieder beim alten Vater
seid, werdet ihr nicht mehr so gut essen können. Wartet nur, wenn wir nach der großen Schlacht wieder in Zenzau sind. Dort müsst ihr euch euren Lebensunterhalt selbst verdienen!« »Aber du bist doch ziemlich fett, Papa!«, rief Raggle. Taggle kreischte: »Du bist noch fetter als – « Bando versetzte ihm einen spielerischen Knuff. Aber Nirry war das Lächeln vergangen. »Schlacht… Zenzau?« Cata zog Hul auf die Seite. »Anscheinend spitzt sich die Lage allmählich zu, hab ich Recht?« Der Gelehrte nickte ernst. »Die Narren in der Rebellen liga haben uns jetzt zwar gezwungen, unsere Karten auf den Tisch zu legen, aber wir haben noch ein paar Trümpfe im Ärmel. Die Blauröcke haben keine Ahnung, wie groß unsere Streitmacht wirklich ist. Sie haben uns in Wrax zwar geschlagen, aber trotzdem hatten wir eine Chance. Nun, wir haben noch eine… aber das heutige Treffen ist wichtig. Wenn wir es noch einmal mit den Blauröcken aufnehmen wollen, müssen wir eine disziplinierte, schlag fertige Armee zur Verfügung haben. Bob muss sich gegen diese Rebellenführer durchsetzen.« »Ich weiß nicht, wo Zappelphilipp bleibt«, sagte Nirry. Sie fauchte die Küchenhilfe an nachzusehen. »Und bring uns auf dem Rückweg Bier mit, hast du gehört?« »Wo ist Bob?«, erkundigte sich Cata. »Keine Sorge, er wird bald hier sein.« Cata warf ihm einen schiefen Blick zu. »Ich kann ein fach nicht glauben, was er gestern Abend getan hat. Was hat er sich nur dabei gedacht, sich einfach in Corvey Cot tage zu verkriechen. Hat er da die Gazette gelesen?« »Er hat eben so seine Marotten, Cata.« »Hul, du bist einfach zu verständnisvoll! Wenn wir ihm doch nur trauen könnten!« »So darfst du nicht reden«, erwiderte der Gelehrte ge quält. »Nun, ich bin nicht die Einzige, die so denkt, stimmt das etwa nicht?« Viel sagend blickte Cata an die Decke. Das Trampeln und Scharren aus dem König-Ejard-Zimmer über ihnen war deutlich zu hören. Und auch, dass noch mehr Leute die Treppe hinaufpolterten. Die Küchenhilfe kam mit einem vollem Tablett Bierkrü ge zurück, beugte sich vor und flüsterte Nirry etwas ins
Ohr. Nirry verdrehte die Augen und deutete mit dem Daumen auf den vorderen Gastraum. »Typisch Zappelphi lipp. Jetzt hockt er mit zwei Kameraden aus seinem frü heren Regiment zusammen. Und wer wartet im KönigEjard-Zimmer? Regimentskameraden, also wirklich!« »Sind die immer noch im Dienst?«, erkundigte sich Ca ta. »Das sind Blauröcke durch und durch, Miss Cata! Als wenn es nicht schon schlimm genug wäre, dass Carney Floss ständig hier herumlungert… Außerdem wird er be stimmt bald rufen und mich ärgern, wenn sein Humpen leer ist. Vielleicht sollten Meister Hul und Meister Bando lieber schon einmal nach oben gehen.« Die beiden trugen die Jungen gerade auf den Schultern in der Küche herum. »Hallo, was für schwere Brocken!«, rief Bando lachend. »Nicht wie der kleine Junge in dem Cottage, was Hul?« »Ganz… bestimmt… nicht«, erwiderte Hul keuchend und setzte sichtlich erleichtert den zappelnden Taggle ab. »Nein, dieser kleine Bursche war so leicht wie eine Fe der!« Cata runzelte die Stirn. »Was für ein kleiner Bursche?« »Ja, das war wirklich sehr merkwürdig.« Hul nahm ei nen genüsslichen Schluck aus seinem Krug. »Heute Mor gen kam ein kleiner Junge, ein dunkelhäutiger fremder Bursche, mitten aus dem Schnee hereinspaziert. Er hatte weder Schuhe noch Mantel dabei, sondern trug nur ein paar dünne Lumpen, kannst du dir das vorstellen? Wir glauben, dass er durch das hintere Fenster hereinge kommen ist… Der Bruder hat ihn gefunden, und der klei ne Junge ist vor Erschöpfung beinahe zusammengebro chen. Wir haben ihn ins Bett gesteckt, aber ich kann kaum glauben, dass er hier keine Freunde oder Gefährten hat. Landa hat einen Suchtrupp zusammengestellt, als wir aufgebrochen sind.« Er sah Bando an. »Komm, alter Freund, gehen wir nach oben und sehen zu, ob wir den Haufen beruhigen können…« »Warte, Hul.« Cata hielt ihn am Arm fest. »Du hast ge sagt, dieser kleine Junge hätte fremdartig ausgesehen. Woher könnte er gekommen sein, was meinst du?« »Aus Wenaya? Oder vielleicht Unang Lia? Ach, und da war noch etwas. Ich weiß nicht, ob es ein Merkmal für seine Kaste oder ein Stammeszeichen war, jedenfalls trug
der kleine Junge unter seinem Wams einen Lederbeutel – « »Einen Beutel? Auf seiner Brust?« »Richtig. Und in dem Beutel steckte ein Stein, eine Art… Kristall, glaube ich… He! Was ist denn los?« Cata schoss zur Tür. »Miss Cata!«, rief Nirry ihr hinterher. »Wohin wollt Ihr?« »Nach Corvey Cottage! Ich muss sofort dorthin!« »Heute Abend? In Eurem Zustand? Wovon redet das Mädchen eigentlich?« Hilflos schaute Nirry zwischen Hul und Bando hin und her und streckte schließlich resigniert die Hände in die Luft. »Miss Cata… vergesst wenigstens Euren Mantel nicht!« Eine Tür fiel vernehmlich ins Schloss. Und aus dem Hof hörten sie ein helles Wiehern und dann das laute Klap pern von Hufen. »Allerdings, sie ist ein großartiges Mädchen«, behauptete Carney Floss undeutlich und trank sein Bier. »Vermutlich hattest du nie so ein großartiges Mädchen, was, Bursche? Da wette ich drauf!« »Ich… Ich kannte ein großartiges Mädchen«, erwiderte Jem abwehrend. »Du willst sie wohl nicht zu mir schicken? Was?… Nein, Bursche, das war nur ein Scherz, ein kleiner Scherz.« Der Soldat legte eine Hand auf Jems Unterarm, als wollte er sich festhalten. »Man kann es so sehen… man kann es anders sehen… es ist allemal dasselbe. Für Carney Floss gibt es nur ein Mädchen!« »Ja, das sagtet Ihr schon.« Jem entschlüpfte ein klei ner Seufzer. Er hatte gedacht, es wäre das Beste, höflich zu diesem Blaurock zu sein. Jetzt wünschte er sich, er wäre stattdessen abweisender gewesen. Unauffällig be trachtete er das Regimentabzeichen, das beinahe in den Falten der Uniformjacke verschwand. Die Blauen von Iri on? Es durchzuckte ihn kurz, als er sich fragte, ob dieser Kerl tatsächlich aus seiner Heimatstadt kam. Wahrschein lich nicht. Angeblich waren diese Regimenter heute ja alle durcheinander gemischt. Die Kellnerin kam herein und füllte ihre Krüge ohne nachzufragen. Offenbar war dieser »Carney Floss« ein Stammkunde. Und zweifellos eine Last. Jem wünschte
sich, er wäre in den anderen Raum gegangen. Diese Kat ze & Krone war sehr wahrscheinlich eine falsche Spur, aber vielleicht passierte ja noch etwas oder es kam je mand. Er dachte erneut an das Bild von Ejard Orange auf dem schwingenden Schild draußen im Schnee. Irgendwie musste er von Carney Floss wegkommen. Jem überlegte, ob er ihn fragen sollte, wo die Latrine war, als sich der Griff des Sergeanten um seinen Arm verstärkte und der Mann weinerlich jammerte: »Jawohl, sie ist ein großartiges Mädchen! Ach, meine liebe Nirry!« Baines kniff ihr Auge zusammen. »Hört damit auf, Carney Floss, oder ich werde…!« »Nirry?«, erkundigte sich Jem. »Ihr Name ist… Nirry?« »Allerdings«, bestätigte der Sergeant. »Und ich habe niemals – « »Für Euch ist sie immer noch Goody Olch«, schalt ihn Baines. »Und lasst Euch nur nicht einfallen – « Sie schrie überrascht auf, als Jem sie am Arm packte. Er befreite sich aus dem Griff des Sergeanten, sprang auf die Füße und hätte dabei fast den Tisch umgeworfen. Ein Bierkrug konnte sich nicht mehr retten und fiel um. Sein Inhalt ergoss sich in den Schoß des verdutzten Sergean ten. »Wo ist sie?«, wollte Jem wissen. »Wo ist Nirry?« Baines schluckte. Und da behaupteten die Leute immer, die Blau röcke wären gefährlich! »In… in der Küche, hinten. Aber Herr…!« Mehr Zeit für Worte blieb ihr nicht. Jem stürmte hastig aus dem Gastraum. »Dummes Ding! Weißt du denn nicht, dass es drüben auf der anderen Seite des Gartens genügend Platz für Mäd chen gibt, die mit ehrlicher Arbeit nicht zurechtkommen? Leider, muss ich hinzufügen. Ich hätte nicht übel Lust, mit meinem besten Besen rüberzugehen und dieses schmut zige Gesindel wegzufegen… Es ist nicht richtig, so etwas zuzulassen, und das nur einige Straßen vom Großen Tempel entfernt!« Nirry fuchtelte mit ihrem Schälmesser in der Luft her um. Sie bekam keine Antwort, aber sie erwartete auch keine. Sie sprach mit sich selbst. Nachdem sie aus ihrer Erstarrung erwacht war, hatte sie sich darangemacht, die Kartoffeln vorzubereiten. Diese Arbeit war zwar eigentlich
unter ihrer Würde, aber sie hatte die Küchenmagd weg geschickt, damit sie oben aushalf. Hul und Bando waren ebenfalls hinaufgegangen, und Raggle und Taggle, denen es untersagt war, ihrem Vater zu folgen, langweilten sich in der hinteren Diele. Mürrisch suchten sie nach einer neuen Ablenkung, aber natürlich gab es nichts, was ihren Vater ersetzen konnte. »Ach, es werden auch wieder anständige Leute in die Redondo-Gärten ziehen, davon bin ich fest überzeugt. Warte nur, dann wirst du schon sehen, was aus der Katze & Krone wird! Du hältst das hier wohl für eine ganz nor male Kaschemme, hab ich Recht? Passend für dich und deinesgleichen? Ich habe deine überheblichen Blicke ge sehen, Mädchen, bild dir nur nichts ein. Du magst von mir aus die Tochter eines Rebellen sein, aber glaubst du wirk lich, du wärst mehr als ein einfaches Flittchen für mich? Ich sage dir, irgendwann steht ein Lakai vor meiner Tür, und wenn du nicht vornehm genug bist, dann glaub ja nicht, dass du in die Katze & Krone hereingelassen wirst! Keine Rebellentöchter! Und schon gar keine Rebellen!« Nirry unterbrach ihren Tagtraum und blickte besorgt an die Decke. Was ging da oben wohl gerade vor? Und wo steckte Bob Scarlet? Wenn er nicht bald auftauchte, dann würde noch das Chaos ausbrechen. Aber das konnte auch passieren, wenn er kam. Nirry war froh, dass Meister Hul da war. Und Meister Bando. Den beiden konnte sie we nigstens trauen. Zu denen, denen sie nicht trauen konnte, zählten Raggle und Taggle. Die beiden Jungen zogen sich gerade heimlich ihre Mäntel an und stahlen sich durch die Hinter tür davon. Sie liefen in den Hinterhof, dann in die Gasse dahinter und formten begeistert Schneebälle. »Ich weiß genau, was du denkst«, fuhr Nirry fort. »Träum nur weiter, Goody Olch, denkst du, aber dieser Teil der Stadt ist viel zu vulgär. Wenn du eine Taverne haben willst, musst du halt nehmen, was du kriegen kannst, oder nicht? Sicher, das Champion hätte mir gefallen, aber leider konnte ich mir die Pacht nicht leisten. Und wenn es eine Lektion gibt, die du lernen musst, mein Mädchen, dann diese: Lebe niemals über deine Verhältnisse.« Nirry fuchtelte wieder mit dem Schälmesser in der Luft herum. »Hast du das verstanden, Mädchen?« »Ich glaube nicht, dass sie dich gehört hat. Aber ich
schon, Nirry.« Nirry wirbelte erschrocken herum. In der Küche brann te nur eine Lampe, und es war ziemlich finster. Nirry schlug die Hände vor den Mund und ihr Herz hämmerte heftig, als der schlanke, blonde junge Mann aus der Dun kelheit an die Tür trat. »Das… das glaube ich nicht! Meister Jem!« Voller Freude stürzten der Prinz von Ejland und die e hemalige Dienstmagd aufeinander zu. Jem hob Nirry hoch und wirbelte sie herum. Sie umarmte ihn und hielt sich fest. »Meister Jem«, stieß sie hervor. »Aber wie… warum… ihr wart so lange fort, ich dachte… Sicher, Miss Cata hat mir merkwürdige Geschichten erzählt, aber ich wusste nicht, was ich glauben sollte, ich… ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll!« Jem umarmte sie wieder. »Ich glaube, du tust gerade beides!« »Nirry, wie kannst du nur!«, dröhnte plötzlich eine Stimme neben ihnen. Nirry zuckte zusammen. »Meine Güte, das ist Carney! Car… Carney, das hier ist ein alter Freund aus Trion, ich meine, mein alter-« Wütend ging der Sergeant auf Jem los. Baines stand dahinter und rang hilflos die Hände. »Herrin, ich habe versucht ihn aufzuhalten, aber – « »Ich habe genau gesehen, wie du meine Nirry geküsst hast, du… du…« Der Sergeant holte aus und schlug mit der Faust nach Jem. Er verfehlte ihn jedoch und stürzte zu Boden. Beina he augenblicklich rappelte er sich wieder auf, diesmal wild entschlossen, seinen massigen Körper einzusetzen, um Jem zu Boden zu werfen. Carney Floss war ein schwerer Bursche und hätte Jem möglicherweise hart zusetzen können. Aber er war auch sehr betrunken. Jem schnappte sich eine Pfanne und schlug sie ihm auf den Kopf. »Meine Güte, jetzt ist alles im Eimer, Meister Jem!«, rief Nirry Einen Augenblick wirkte sie sehr ernst, doch dann konnte sie nicht anders, als hilflos zu kichern. »Es tut mir Leid«, keuchte sie, »es ist nur… Miss Cata hat einmal genau das Gleiche getan… Sie hat ihn mit meiner besten Soßenpfanne bewusstlos geschlagen! Der arme
Carney! Außerdem sieht es aus, als hätte er sich auch noch selbst eingenässt.« »Das ist nur Bier… Entschuldige, das habe ich ver schüttet«, erklärte Jem. »Aber Nirry, was war das mit Cata? Willst du damit sagen, dass du sie gesehen hast? Du weißt, wo sie ist?« »Natürlich Meister Jem…« Nirry schlug die Hand vor den Mund. »Meine Güte, sie ist gerade erst weg! Jetzt verstehe ich, sie muss gedacht haben – « »Weg?«, rief Jem. »Wohin?« »Nach Corvey Cottage. Das liegt in den Hügeln von Agondon, einige Stadien entfernt! Und das im Dunkeln, du meine Güte, und dazu in ihrem Zu…!« »Aber ich bin doch gerade von dort gekommen! Wann ist sie weggegangen?« »Gerade eben. Sie ist…« »Ich muss sie einholen! Nirry, hast du ein Pferd?« Nirry nickte und deutete auf den Hof. Meister Jem ver schwand genauso plötzlich, wie er aufgetaucht war. Ver wirrt ließ sich Nirry auf die Küchenbank sinken und wisch te sich die Tränen aus den Augen. Das war vielleicht ein Tag! Und er war noch lange nicht vorbei. »Das gefällt mir nicht, Hul! Wo bleibt Bob?« »Du glaubst doch nicht, dass er uns im Stich lassen würde, Bando?« »Ich glaube, du glaubst das nicht, alter Freund. Viel leicht sollte mir das genügen. Wirklich, ich wünschte, ich könnte ihm so trauen wie du! Wir waren doch schon Re bellen, bevor wir uns ihm angeschlossen haben, hab ich Recht? Gibt es nicht viele verschiedene Gruppierungen? Und viele verschiedene Führer? Sieh dich doch nur mal um.« »Das tue ich, Bando. Und ich weiß nicht genau, ob mir gefällt, was ich sehe.« Hul stand neben dem Kamin und ließ seinen Blick durch die heiße, überfüllte Kammer gleiten. Es stank nach Schweiß, feuchten Kleidern und Tobarillorauch. Die Rebel lenführer saßen ungeduldig an zwei dunklen, wurmstichi gen Tischen. Einige von ihnen waren tapfere und ehrliche Kerle. Es
waren Burschen – und auch eine Frau – neben denen Hul voller Stolz gekämpft hätte. Folio Webster war unter ih nen, Sproß des Inhabers des berühmten Kaffeehauses. Er kontrollierte ein geheimes Netzwerk von radikalen Stu denten. Dann war da noch Roly Rextel, Kantor von Varby und trauernder Bruder der schönen Miss Vyella Rextel. Sie war verschwunden und vermutlich ermordet worden. Roly gab den Blauröcken die Schuld daran. Neben ihm thronte der große schlurfende Onty Michan, der rebellische Cousin des zenzanischen Gouverneurs. Außerdem waren der sehnige Danny Garvice, ein wahrer Zauberer mit Spreng stoffen, und die wunderschöne, dunkeläugige Magda Vy toni, Enkelin des berühmten Philosophen, anwesend. Bedauerlicherweise lümmelten sich aber im Hintergrund auch Shammy die Kapuze, Narben-Majesta, Offero der Maulwurf, und Figaro Finger, der korrupte Schließer vom Alten Knast. Das waren allesamt schmutzige, hinterhälti ge Burschen. Auch wenn Rebellen eigentlich von ihrem politischen Engagement angetrieben werden sollten, musste Hul einräumen, dass viele einfach nur den Boden satz – oder die Creme – von Agondons Verbrecherwelt darstellten. Sie sahen im Chaos einer Revolution die Chance, in einem Ausmaß zu plündern und zu stehlen, das bis dahin ohne Beispiel war. Was sollte man auch sonst von der Anwesenheit Peter Impalinis halten, einem ehemaligen Schwertschlucker einer Gauklertruppe, dem man sämtliche willkürliche Gewaltakte zuschrieb, bei de nen Messer im Spiel waren? Oder von Molly Halbe-Halbe, einer berüchtigten weiblichen Verbrecherin mit ihren gro ßen Reifenohrringen, ihrem frechen Mundwerk und ihren vielen Zahnlücken? Was Hul allerdings von dem Harlekin mit der Silber maske, den man »Maske« nannte, und seinem ständigen Begleiter, dem Clown, halten sollte, wusste er nicht so recht. Die beiden hielten sich abseits von den anderen und saßen auf zwei harten Stühlen an der Wand, ernst und undurchsichtig. Die Maske stützte sich auf einen kräftigen Stock und legte seine Lippen nah an das Ohr des Clowns. »Ich fürchte sehr um ein fruchtbares Ergebnis dieser Zusam menkunft, alter Kumpan«, murmelte er. »Ich fürchte wirklich sehr darum.« »Fruchtbares Ergebnis? Du kannst schon von Glück
sprechen, wenn überhaupt etwas kommt«, erwiderte der Clown. »Sehr komisch. Was würde passieren, wenn uns dieser Wegelagerer im Stich lässt? Sieh dich doch um. Wer sonst könnte diese unvereinbaren Fronten vereinen? Und ich denke, dass sie vereint werden müssen.« »Warum denn? Denk doch nur an den Einfluss, den wir bei unseren Vaga-Stammesgenossen genießen.« »Das tue ich auch, und ich weiß, dass es nicht genügt. Wie sollten die Vagas ausgerechnet in Agondon das voll bringen, was die Streitkräfte des Grünen Thronprätenden ten nicht einmal in Wrax geschafft haben? « »Ich weiß, ich weiß. Wenn nur Tor hier wäre!« »Du sagst es, alter Gefährte. Aber Tor wurde ebenfalls besiegt.« »Mehr Bier, Schlampe!«, rief Shammy die Kapuze und schnappte sich die Küchenmagd, als sie an seinem Tisch vorbeikam. Sie trug einen vollen Krug in der Hand. »Vorsicht, ihr verspritzt ja alles!«, rief das Mädchen. »Ha! Das hat ihre Mutter auch immer gesagt«, meinte Offero der Maulwurf und grinste. Die Magd war seine Tochter. »Und ich wünschte, ich hätte es nicht getan.« Er stieß eine Rauchwolke aus. »Komm her, Mädchen, und setz dich auf Figaros Schoß. Er wird eine kleine Aufmun terung brauchen, wenn ich diesen bunten Haufen über nehme!« »Was meinst du mit übernehmen?«, knurrte Finger und entblößte seine Goldzähne, die er sich mit den vielen Bestechungsgeldern gekauft hatte, an denen er sich in seiner Eigenschaft als Schließer bereicherte. »Wir sind doch loyal, hab ich Recht?«, erklärte Peter Impalini. »Stehen wir etwa nicht mehr hinter dem Wege lagerer?« »Ach, steck dir doch das Schwert in den Hintern, Im palini«, keifte Molly Halbe-Halbe, während sie sich eine frische Jarvel-Rolle drehte. »Ich höre immer nur Wegela gerer, Wegelagerer! Wo ist er denn? Der versteckt sich und bepisst sich vor Angst, das tut er! Ich wette, dass er seine Nase nicht zeigt!« »Wie wäre es, wenn du uns stattdessen was zeigst, Molly?«, schlug Shammy die Kapuze lüstern vor. »Zum Beispiel deine Brüste, für den Anfang.« »Gute Idee! Molly soll sich auf meinen Schoß setzen«,
erklärte Finger und schubste die Küchenmagd achtlos beiseite. »Offeros Göre besteht ja nur aus Haut und Kno chen!« »Sie könnten Recht haben«, sagte Roly Rextel. Er sog an seiner Pfeife und wechselte einen besorgten Blick mit Danny Garvice. »Was die Kleine von Offero angeht?« Onty Michan lä chelte. »Was den Wegelagerer angeht«, erwiderte Danny. »Ich konnte kaum fassen, dass die Entführung fehlge schlagen ist. Aber ich werde nicht glauben, dass Bob vom Glück verlassen ist. Das werde ich nie!« »Und wenn doch?« Magda Vytoni hob eine Braue. Sie rauchte eine lange, dünne Zigarre und ihre Stimme klang kühl und gelassen. »Denkt nur an all die Versprechungen, die sich nie erfüllt haben. Hat er nicht gesagt, dass wir die Insel Xorgos erstürmen und alle gefangenen Rebellen befreien würden? Stellt euch vor, wie sehr das unserer Sache genützt hätte! Ich habe es schon einmal gesagt, und ich wiederhole es auch gern. Wir sollten einen neuen Anführer wählen, und zwar nach gerechten, ehrlichen und offenen Prinzipien. Was ist dieser Wegelagerer denn an deres als ein Tyrann? Soll mein Großvater dafür gestor ben sein, dass wir jetzt einen Kriminellen wie einen Helden verehren? Als wäre er ein König?« »Ja, Magda, und einen König würdest du auch nicht wollen.« Folio Webster seufzte. »Macht doch die Augen auf. Wollen die einfachen Leute denn überhaupt etwas anderes? Wie weit kommst du wohl mit deinen gerechten und ehrlichen Prinzipien? Wenn wir etwas erreichen wol len, brauchen wir einen Tyrannen!« »Aber die Prinzipien…!«, spie Magda hervor. »Sieh es doch einfach so«, fiel ihr Onty Michan ins Wort. »Bevor wir überhaupt etwas unternehmen können, müssen wir die Blauröcke besiegen. Sind wir uns da einig, Freunde? Also wollen wir doch praktisch bleiben.« Folio, Roly und Danny nickten, während Magda ihnen finstere Blicke zuwarf. Dann verzog sie angewidert das Gesicht, als Peter Impalini ihr einladend zulächelte. Währenddessen wuchs die Unruhe bei Hul und Bando. Wo blieb Bob nur? »Ich komme mir wie ein Schullehrer in einer ungebär digen Klasse vor«, sagte Hul. »Ha, wenn du Lehrer wärst, dann wären das hier Jun
gen und du könntest sie alle verprügeln.« »Da bin ich mir nicht so sicher«, widersprach Hul. »Die hier nicht.« Er wischte sich die beschlagenen Brillengläser ab. Wie entsetzlich es hier stank! Und wie heiß es hier direkt am Kamin war! Die Flammen loderten den Schornstein hinauf wie der Odem eines wütenden Drachen, und ihre fla ckernden Schatten, die vom Licht der Lampen vervielfacht wurden, reichten bis zu den Vorhängen vor dem Fenster. Der rote Stoff flackerte, als ob auch er brennen würde. Hul hätte gern die Vorhänge zurückgeschlagen und die Fenster aufgerissen. Aber er wollte nicht an diesem Tisch im Hintergrund vorbeigehen, jedenfalls jetzt nicht. Das Licht fing sich drohend auf Ohrringen, Schwertscheiden, Pistolen und Goldzähnen. Er setzte sich gerade wieder die Brille auf die Nase, als ein Messer an seinem Ohr vorbeizischte. Hul schnappte nach Luft. Bando schrie auf und hob seine Muskete. Aus den hinteren Rängen drang Gelächter. Peter Impa lini lächelte kalt. »Das Bild«, sagte er. »Das Bild.« »Oh. Ach ja.« Hul war verlegen. »Schon gut, Bando.« An der Wand über dem Kaminsims hing das Porträt Seiner Kaiserlichen Agonistischen Majestät. Er hatte klei ne Augen, sah jugendlich aus und wirkte sehr beeindru ckend in seiner blauen Robe. In Ejland waren solche Ge mälde weit verbreitet und wurden in großer Zahl von den königlichen Studios produziert, um öffentliche Plätze und patriotische Heimstätten zu schmücken. Bei diesem hier jedoch handelte es sich um ein ganz besonderes Bild, und es war höchst illegal. Man nannte es »Schiebebild«. Hul tastete nach dem verborgenen Hebel im Rahmen und betätigte einen raffinierten Mechanismus. Im nächsten Augenblick verschwanden die blauen Teile des Gemäldes und wurden von roten ersetzt. So wurde Ejard Blau in seinen abgesetzten Bruder verwandelt. Die beweglichen Teile passten sich so geschickt in die festen Teile des Bil des ein, dass nur eine sehr genaue Untersuchung das Geheimnis des Bildes hätte enthüllen können. Impalini applaudierte, als sein Held zum Vorschein kam. Die anderen am Hintertisch höhnten, was sie aller dings zweifellos bei allem taten, was heilig war. »Kann es sein«, sagte der Clown, »dass es viele sol
cher Bilder gibt? Selbst in den Heimen der Höchsten?« »Das können wir nur hoffen, alter Kumpel«, erwiderte die Maske. »Als wir in den Häusern der Adligen aufgetre ten sind, hatte ich oft diesen Verdacht. Aber man muss nahe genug herankommen, um es zu überprüfen, das ist die Schwierigkeit. Man lässt zwar gerne mal ein paar An deutungen fallen, aber die Adligen sind ausgesprochen vorsichtig. Vor allem die Damen.« »Allerdings.« Der Clown seufzte. »Wie ich unsere Auf tritte vermisse! Ob wir Vagas frei sein werden, wenn die Rotröcke triumphieren?« »Auch das können wir nur hoffen, alter Kumpan«, sag te die Maske erneut. Magda hob die Hand und deutete verächtlich auf das Bild. »Ein König? Ein toter König?« »Ein roter König! Begreifst du denn nicht, was ein Symbol ist?«, entgegnete Folio Webster. »Ja, ein Symbol für die Tyrannei. Blaurock und Rotrock hüpfen herum wie Narren auf einer Bühne! Warum denn nicht Gelbrock? Oder Grünrock? Welche Rolle spielt das schon?« »Im Moment eine große«, erwiderte Danny Garvice. Bando hatte sich umgedreht und studierte das Bild. »Er war sehr vornehm, unser König Rotrock, hab ich Recht? Wenn er doch noch unter uns weilen würde!« »Ehm… allerdings«, meinte Hul verlegen. Dann stieß er einen leisen Schrei aus, als ein weiteres Messer durch die Luft zischte, in die Täfelung der Wand hinter seinem Kopf einschlug und vibrierend stecken blieb. »Wir langweilen uns!«, rief Peter Impalini. »Wo bleibt er?« »Es ist nicht genug Bier da!«, rief Shammy die Kapu ze. »Und welchen Sinn macht es, wenn nur diese eine Schlampe es serviert?« »He, du redest von meiner Tochter!«, knurrte Offero der Maulwurf. Manchmal und höchst unerwartet packte ihn die väterliche Zuneigung zu diesem Kind, das er bei anderen Gelegenheiten ohne mit der Wimper zu zucken, verschachern würde. Er griff nach seinem Dolch. »Meine Güte, genau das habe ich befürchtet«, mur melte Hul. Im nächsten Moment war die stinkende Kam mer von Chaos erfüllt. Füße stampften und Fäuste flogen. Hände griffen nach Pistolen. Maske und Clown gingen in
Deckung. Bando schwang feuerbereit seine Muskete. »Bitte, nicht schießen!«, rief Hul. Dennoch zischte eine Kugel durch die luft. Und jemand schrie. Es war Magda. Einen Augenblick glaubte Hul, dass sie getroffen worden wäre, doch sie hob zitternd die Hand und deutete auf das Fenster. Die roten Vorhänge waren zurückgezogen worden, aber von der anderen Seite. Und im Fensterrahmen stand Bob Scarlet. Schlagartig herrschte Schweigen. Die rot gekleidete Gestalt mit der schwarzen Maske und dem dreieckigen Hut wirkte gleichzeitig schrecklich und romantisch. Der Wegelagerer wirbelte seine Pistole um den Finger, blies den Rauch von der Mündung, sprang vom Fensterbrett und schien durch den Raum zu fliegen, während er mit außerordentlicher Eleganz von Tisch zu Tisch sprang. Er stieß dabei nicht einen einzigen Bierkrug um, lande te vor dem Kamin und wirbelte auf dem Absatz herum. Dann ließ er seinen Blick über die Rebellenversammlung gleiten, während seine Augen hinter der dunklen Maske leuchteten. Die Lippen verzogen sich zu einem spötti schen, grausamen Lächeln. »Seid gegrüßt Freunde. Ich habe mich schon gefragt, was ihr wohl über mich reden würdet, wenn ihr glaubt, ich wäre nicht da. Es war aufschlussreich… wirklich, sehr aufschlussreich.« »He, Zappelphilipp, weißt du noch, damals, als Bunch uns angeschrien hat, dass wir der schlaffste Haufen in der ganzen Armee wären? Er meinte, wir könnten genauso gut zu den Rebellen gehen. Meinte, wir wären sowieso auf ihrer Seite, so wie wir uns benähmen. Ich weiß, dass er so was oft erzählt hat, aber ich meinte bei der Gelegen heit, als er anschließend auf sein Pferd steigen wollte, es hieß Glockenblume. Du weißt schon, er wollte Eindruck schinden und schneidig davonreiten, aber er hatte sich nicht mal umgedreht und dachte, das Pferd wäre da und –« Zappelphilipp brachte die Geschichte zu Ende. »Aber es war nicht da, und er landete im Dreck!« Er trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Der gute alte Bunch! Es war immer komisch, wenn er sich auf das hohe ROSS setzte, stimmt’s?«
Sie lachten fröhlich, und Crum schüttelte den Kopf. Während er der kleinen braunen Ratte eine Scheibe Käse gab, streichelte er sie. Jetzt runzelte er die Stirn. »Wie? Nein, du hast mich nicht verstanden. Er saß nicht auf sei nem Pferd, nicht in dem Moment.« Crum hob die Hand. »Und Glockenblume war auch nicht gerade das, was man ein hohes Ross nennen würde. Sie war vielleicht… mal sehen… so groß…« Zappelphilipp grölte vor Lachen und wackelte ausgiebig mit den Ohren. Dann versetzte er seinem alten Kumpel einen Schlag auf den Arm. »Crum, Crum, du hast dich wirklich nicht verändert! Wie hältst du es nur mit ihm aus, Professor?« Morven war schweigsam geworden. Auch wenn er ger ne noch länger an diesem Ort geblieben wäre, wo der Dampf von ihrem heißen Grog aufstieg und das Feuer fröhlich im Kamin flackerte, quälten ihn sorgenvolle Ge danken. Wenn man sie nun erwischte? Er wollte gerade zum Aufbruch drängen, doch bei dem Wort Professor hellte sich seine Miene auf. War das nur ein Spitzname? Nein, es war eine Prophe zeiung! Aufgeregt begann Morven seinen Freunden von seiner großen gelehrten Entdeckung zu erzählen, und vom Aon-Stipendium und der goldenen Zukunft, die vor ihm lag… das heißt, er hätte es getan, wenn Crum nicht einfach seinen Monolog unterbrochen und stattdessen umständlich beschrieben hätte, wie einmal ein Wurm in einem von Morvys Büchern gewohnt hatte. »Weißt du noch, wie er seinen kleinen Kopf herausge streckt hat, Morvy? Und sich hin und her gedreht hat? Das hätte dir gefallen, Zappelphilipp, denn er war genau so zappelig wie du. Ich glaube, es war ein alter Wurm, denn es war ein ziemlich altes Buch. Dein Lieblingsbuch, hab ich Recht, Morvy? Hattest du nicht sogar einen Na men dafür, genau wie ich dem Wurm einen Namen gege ben habe? Vy-irgendwas, genau. Vy-Toni…« »Leise, Crum!« Ängstlich sah Morven sich um. Glückli cherweise schienen diese Silben, die im Speisesaal seines alten Kollegs oder in Websters Kaffeehaus schockiertes Schweigen hervorgerufen hätten, den einfachen Gästen der Katze & Krone nichts zu bedeuten. Aber um sicherzugehen, fügte Morven hinzu: »Du ver
wechselst das mit einem Buch von jemand anderem. Mei ne Güte, ich glaube, wir sollten jetzt besser aufbrechen. Die Pflicht ruft, die Pflicht…« Doch es nützte nichts. Crum war schon von diesem ei nen Grog etwas betrunken und hörte nicht mehr zu. »Ich meinte dein Rebellen-Buch, Morvy, du weißt schon, wel ches ich meine«, fuhr er fort. »Kannst du dir vorstellen, Zappelphilipp, dass Morvy und ich einmal Rebellen waren? Na ja, jedenfalls fast. Weißt du noch, als wir damals kurz vor der Schlacht um Wrax verschwunden waren? Als wir zurückkamen, warst du schon weg, verheiratet und alles, deshalb konnten wir dir diese Geschichte nie erzählen – « »Genau, du bist ja jetzt verheiratet, Zappelphilipp«, unterbrach ihn Morven lautstark. Dann hob er seinen Krug und fügte hinzu: »Unseren Glückwunsch an deine Frau!« Dann senkte er die Stimme und murmelte Crum ins Ohr: »Wir müssen jetzt wirklich gehen…« Crum blinzelte. »Gehen? Aber wir haben doch Zappel philipp gerade erst wiedergefunden. Und der arme Blen kinsop hat es hier so schön warm! Wir können jetzt nicht gehen, Morvy! Sei nicht albern!« Der Bauernbursche leer te seinen Krug, wischte sich den Mund ab und rülpste ungeniert. »Erzähl uns etwas von deiner Ehefrau, Zappel philipp. Es muss wirklich aufregend sein, eine so schöne Taverne zu besitzen und sie gemeinsam zu führen und das alles.« »Eigentlich ist es meine Frau, die sie führt«, erwiderte Zappelphilipp schüchtern. »Und ich bin nicht auf Rosen gebettet, bildet euch das nur nicht ein. Manchmal kann man es ihr genauso wenig recht machen wie Sergeant Bunch. Aber ich würde trotzdem nicht mehr tauschen, o nein, ganz gleich, wie viele Fässer Bier ich aus dem Keller hochschleppen muss. Sie ist eine gute Frau, meine Frau…« Crum beugte sich vor und runzelte die Stirn. »Aber Zappelphilipp, wie hat sie denn ihr Auge verloren? Ich frage mich das nur, weil die Katze von Zohnny Ryle – « Zappelphilipp sah ihn erstaunt an und brach dann in lautes Gelächter aus. Ein Glück, dass Baines im anderen Schankraum war. Es hätte ihr kaum geschmeichelt, dass er sich so über die Vorstellung amüsierte, dass er sie ge heiratet hätte. »Ach, Crum, Crum, das ist doch nicht – « Morven schnappte nach Luft. Ein kalter Luftzug war
durch den Schankraum geweht. Neue Gäste, natürlich. Aber durch die Tür des Schankraums sah er ein bekann tes Gesicht. Er packte Crum und zog ihn unter den Tisch. Zappelphilipp bückte sich und sah sie erstaunt an. »Morvy! Crum! Was ist los?« »Du meinst wohl: Was ist da unten?« Crum kicherte. Er tastete nach oben und schnappte sich Blenkinsop. »Morvy, was soll dieses Spielchen?« »Rottsy und Supp sind gekommen! Wir sollten eigent lich im Tuchviertel sein. Zappelphilipp, wir müssen hier sofort weg, oder wir sind erledigt…« Zappelphilipp dachte kurz nach. »Hinten raus…!« Rasch versuchten die beiden Rekruten zu flüchten, ob wohl es eigentlich keine richtige Flucht war. Natürlich hät ten sie durch den Flur hinaus auf den Hof und auf die Straße dahinter laufen sollen. Aber Crum war betrunken und hielt alles nur für ein Spiel. Er stopfte Blenkinsop wieder in sein Wams, pfiff und lachte und stampfte fröh lich die Treppe hinauf. Morven lief hinter ihm her und versuchte, ihn einzuho len. In der Zwischenzeit schauten sich Korporal Supp und Soldat Rotts im Schankraum um und musterten die Gäs te. Ja, das musste der Ort sein. Sie hatten schon einiges von den hässlichen Huren auf der anderen Seite der Gär ten gehört. Anscheinend hatte diese Nirry sie ziemlich wüst beschimpft. Nun, jetzt würde sie ihre Meister finden. Und was für welche. Supp schaute den verunsicherten Zappelphilipp aus druckslos an. Ungerührt hielt der Korporal ein Pergament mit seinen behandschuhten Händen hoch und stimmte, vielleicht zum fünfzehnten Mal an diesem Nachmittag, seine Litanei an. »Im Namen Seiner Kaiserlichen Agonisti schen Majestät sind wir bevollmächtigt, diese Taverne zu durchsuchen und die Ausweispapiere aller Personen zu überprüfen, die sich darin aufhalten. Wir haben einen Haftbefehl gegen eine gewisse Miss Nirrian Jubb.« Zappelphilipps Gesicht verriet ihn sofort. Und seine Stimme erst recht. »Nirry? Doch nicht meine Nirry!«
Was sollte sie tun? Tishy Cham-Charing hatte lange und gründlich über das Problem Professor Mercol nachgedacht. Der alte Mann schien nicht tot zu sein. Er atmete, wenn auch schwach, und sein Puls war, wenn auch sehr unregelmäßig, in den tiefen Hautfalten seines Halses fühlbar. Er wollte nur ein fach nicht aufwachen. Nichts konnte ihn wecken. Immer wieder hatte Tishy die Schlüssel im Schloss ausprobiert. Aber es funktionierte nicht. Hätte sie sich doch nur die Reihenfolge gemerkt! So aber war sie in der Kammer der verbotenen Texte gefangen, bis jemand sie befreite oder der Professor aufwachte. Und beide Mög lichkeiten schienen im Augenblick recht unwahrscheinlich zu sein. Aber sie verzweifelte nicht. Im Gegenteil, Tishy war ge radezu begeistert. Eine Weile wanderte sie mit der Lampe in der Hand in ihrem behaglichen Gefängnis herum und stellte fest, dass es viel größer war, als sie es sich zu nächst vorgestellt hatte. Schattige Gänge zwischen den Buchregalen führten in eine Vielzahl von weiteren Kam mern. Tishy wünschte sich, sie könnte all diese Bücher in sich aufnehmen, indem sie sie einfach nur einatmete wie ihren köstlichen Geruch! Dieses Gefühl überkam sie im mer in Bibliotheken. Es war eine Art Verzückung. Sie glaubte keine Sekunde, dass diese Bücher schlecht wa ren. Vielleicht waren einige von ihnen ein bisschen unmo ralisch… Nur die Angst sich zu verirren, trieb Tishy dorthin zurück, wo der Professor lag. Die Kammer war in Wirklichkeit ein Labyrinth. In einem Schrank neben dem Ofen fand sie zwischen einem gewaltigen Vorrat an Papier, Tinte, Fe dern und dergleichen einen Kaffeetopf, Kaffeebohnen und einen ziemlich großen Käse aus Varby Daneben stand eine Dose mit Keksen. Man musste dem Professor zubilli gen, dass er sich sein kleines Heiligtum recht gemütlich eingerichtet hatte. Tishy breitete diese Schätze auf dem Schreibtisch aus. Natürlich gehörten für sie auch Papier, Schreibfedern und Tinte dazu. Dann legte sie behutsam ein Kissen unter den Kopf des Professors und hob das Pergament auf, das ne ben ihm lag. Und auch das kleine Buch, welches er so verächtlich zu Boden geworfen hatte. Eine solche Res pektlosigkeit konnte sie einfach nicht ertragen. Umsichtig
löschte sie alle Lampen bis auf eine kleine flackernde 01funzel. Dann setzte sie sich in deren Lichtkegel und widmete sich ihren Studien. Aber womit sollte sie anfangen? Als Erstes kehrte sie wieder zu dem Buch Etwas über die Winde: eine Prophe zeiung zurück, weil sie fand, dass sie ihr Juvescial ver bessern sollte. Worum ging es darin wohl? I. So wisse, dass, als die Zeit kam, die man die Zeit des Sühneopfers nannte, viele Töchter und Söhne der Men schen aus dem Tal des Orok fortzogen: Sie sollten ein neues Leben an gefährlichen Orten beginnen, wo bis da hin nur die Kreaturen des Bösen gelebt hatten. Dorthin zogen diese Töchter und Söhne. II. Und wisse, dass von diesen Töchtern und Söhnen nie mand jemals so gesegnet und so verflucht war wie diese, die Agonis lieb und teuer gewesen waren. Durch das Dek ret von Orok, dem Sterbenden Gott, waren die Kinder des Agonis besonders gesegnet, und doch waren sie auch besonders verflucht, diese Kinder des Agonis. III. Denn es wurde verkündet, dass die Kinder des Agonis sich als unwert dieses Schönsten der Götter erwiesen hat ten und dass ein besonders schweres Schicksal auf sie wartete: Ihr Heim sollte kein Ort der badenden Sonne, des wärmenden Sandes und der Meere sein, nein, und auch kein grünes und bewaldetes Land. IV. Stattdessen wurde dieser Stamm von Orok, dem Ster benden Gott, in die nördlichen Lande von Eis und Schnee geschickt, wo sie ihr Leben unter dem Kristallenen Him mel fristen sollten: Denn nur hier, so verkündete der Sterbende Gott, in den gewaltigen und entlegenen Ge birgsmassiven, würden die Kinder des Agonis sühnen können. V.
Doch vielfältig und gewunden sind die Wege des Schick sals und ebenso zahlreich und verschlungen sind die der Menschheit. Denn es begab sich, dass die Kinder des A gonis unter dem Befehl eines Lords namens Ondon in ein grünes und bewaldetes Land kamen, von dem die eisigen Berge noch weit entfernt waren. Tishy seufzte. Wie lange hatte sie gebraucht, um so weit zu kommen? Die Probleme, die diese Übersetzung ihr aufbürdeten, waren gewaltig, und leider war das Buch nicht einmal in normalem Juvescial geschrieben, sondern in der gezierten, uralten Variante, die als die Zunge des Agonis bekannt war. Es war mehr als nur ein bisschen anspruchsvoll, und sie wünschte sich beinahe, dass Pro fessor Mercol wieder zu sich kommen würde, damit er ihr helfen konnte. Falls er ihr überhaupt noch helfen wollte. Beunruhigt dachte Tishy darüber nach, ob der heutige Vorfall möglicherweise das Ende für ihren Privatunterricht bedeutete. Hoffentlich nicht. Sie selbst würde sofort be reitwillig vergessen, was heute passiert war. Wenn nur der Professor dasselbe tat! Sie waren beide ein bisschen überspannt gewesen, das war alles. Welcher Gelehrte würde einen solchen Vorfall nicht als vollkommen belang los betrachten, wenn man dagegen das Geistige in die Waagschale warf? So empfand Tishy jedenfalls, aber sie war trotzdem nicht ganz überzeugt und durch diese Gedanken zu abge lenkt, um sich weiter auf Juvescial zu konzentrieren. Stattdessen zog sie andere Bücher aus dem Regal, und schon bald war der kleine Tisch voll davon. Beiläufig rollte sie das Pergament auf, das neben dem Professor gelegen hatte. Ihr Herz machte einen kleinen Hüpfer. Die Kopfzei le zierten in geschwungener Schrift die Worte Universität von Agondon, und am unteren Rand des Blattes befand sich das rote Siegel der Universität. Dazwischen waren eng beschriebene Abschnitte, welche die Bedingungen – und was für großzügige Bedingungen! – des AonStipendiums festlegten. Zu Tishys Überraschung war der Name des Stipendia ten bereits eingetragen worden. In Professor Mercols kra keliger Handschrift stand dort der Name Plaise – hieß das Alexander oder Aloysiust – Morven. Tishy runzelte die Stirn und ging in Gedanken die Namen verschiedener
junger Männer aus der Gesellschaft Agondons durch. Plai se Morven? Nein, von einem Plaise Morven hatte sie noch nie gehört. Wer auch immer es war, er war auf jeden Fall ein Glückspilz. Wenn doch ihr Name dort stehen würde! Plötzlich packte sie der Übermut. Sie griff nach Feder und Tinte, kratzte den Namen dieses Morven aus und schrieb, während sie sorgfältig die Klaue des Professors imitierte, Stattdessen einen anderen Namen: Laetitia El san Constansia Cham-Charing. Ach, wenn das nur wahr sein könnte! Natürlich war es nur ein Scherz, ein kleiner Schaber nack! Tishy seufzte. Aber alles Jammern würde ihr nichts nüt zen. Der Lauf der Welt war eben der Lauf der Welt. Sie lehnte sich zurück, nippte an ihrem Kaffee und dachte über die außerordentlichen Ereignisse des Tages nach. Sie dachte an ihre Mama… Wie ging es ihr wohl? Dann dachte sie an Eay Feval. Sie dachte an die Rebellen und erinnerte sich wieder an das Buch, das der Professor so verächtlich zu Boden geschleudert hatte. Das Buch, das sich sein e hemaliger Lieblingsschüler so sehr zu Herzen genommen hatte. Diskurs über die Freiheit. Von Mr. Vytoni. Wenigstens war es auf Ejländisch geschrieben. Während der Lektüre der ersten Seiten nippte Tishy noch gelegentlich an ihrem Kaffee, knabberte an einem Keks und rutschte unruhig hin und her. Doch dann flogen ihre Blicke schneller über die Seiten. Sie ließ ihren Kaffee erkalten und rührte sich nicht mehr, bis sie das kleine Buch von vorn bis hinten durchgelesen hatte. Im König-Ejard-Zimmer ging Bob Scarlet vor dem Kamin hin und her und wirbelte die Pistole um seinen Finger. Der Rauch der Lampen waberte durch das Zimmer und das Schiebebild leuchtete geheimnisvoll rot hinter ihm. Wie groß er war und wie gut aussehend! Seine Maske konnte nicht verbergen, dass er ein sehr attraktiver Mann war, der seinen Dreispitz wie eine Krone trug. Die Rebel len spürten, wie ihre Zweifel allmählich schmolzen. Eini ge, wie Offero der Maulwurf, waren eingeschüchtert und zitterten. Andere erfüllte ein plötzliches, unkontrollierba res Glücksgefühl. Die schöne Magda Vytoni betrachtete ihn aufmerksam und ließ ihren Zigarrenstumpen achtlos
zwischen den Fingern verglühen. Molly Halbe-Halbe ver gaß ihre gewalttätige Stimmung, während Figaro Finger unwillkürlich seine Goldzähne fletschte, was ein Lächeln darstellen sollte. Der Wegelagerer löste stets diese Wir kung aus. Und aus diesem Grund hatte auch niemand ihn jemals direkt herausgefordert, trotz allen Murrens gegen ihn. Flankiert von Hul und Bando hielt der Wegelagerer eine Rede. Seine kultivierte Stimme verriet, dass er kein normaler Verbrecher sein konnte, ganz gleich, wer er auch sein mochte. Ironisch äußerte er sein Bedauern über die Er eignisse des Morgens und betonte den Wahnsinn des Re bellenführers, der dieses blutige Attentat angeordnet hat te. »Dass einige unserer Gefolgsleute solche Dinge tun können, ist kein Grund, solche Dinge auch wirklich zu tun. Ich gebe gerne mein Leben für unsere Sache, aber würde ich dafür auch Sprengstoff an meinem Körper verbergen oder mich damit unter eine Gruppe von Adligen mischen? Einige nennen das vielleicht eine Heldentat. Ich dagegen nenne es die Tat eines Feiglings, der darüber hinaus auch noch ein vollendeter Dummkopf ist. Was anderes bewirkt so etwas als noch größere Rachsucht von Seiten der Blau röcke? Sind unsere Operationen nicht schon gefährlich genug? Wir riskieren Tag für Tag, entdeckt zu werden. Ich weiß natürlich, was dahinter steckt. Einer von euch hat es befohlen, hab ich Recht? Vielleicht trägt es die Handschrift von Figaro Finger, vielleicht auch die von Of fero dem Maulwurf. Möglicherweise hegen Peter Impalini und sogar Folio Webster einen heimlichen Groll mir ge genüber. Nein, Freunde, protestiert nicht. Denn viele von uns tragen Masken, selbst wenn ihre Gesichter nackt zu sein scheinen. Stimmst du mir da nicht zu, Harlekin? Ich bin sicher, dass du es tust, und ich bin davon überzeugt, dass auch du hinter diesem Wahnsinn stecken könntest. Genauso leicht wie einer von euch anderen. Könntest du nicht unter dem Mantel der Brutalität dieses Ereignisses den Geist verborgen haben, der einst solch wunderbare Unterhaltung ersonnen hat, als deine Truppe noch in den Häusern des Hochadels willkommen geheißen wurde? Komm schon, Clown, klapp deinen Mund zu. Du könntest wenigstens die Würde deines undurchschaubaren Freun
des zeigen.« Der Wegelagerer drehte sich mit einem theatralischen Seufzer um. »Kann es nicht auch meine Magda, meine wunderschöne Magda gewesen sein? Oder der große, schlurfende Onty Michan? Leider kann ich nicht einmal euch davon ausnehmen. Außerdem ist mir wieder einge fallen, dass der junge Danny Garvice sehr geschickt mit Sprengstoff umgehen kann. Ruhig, Danny Habe ich nicht gesagt, dass keine große Geschicklichkeit für eine solche Operation vonnöten war? Im Gegenteil, man könnte in ihr mehr als nur einen Hauch von Shammy der Kapuze oder Narben-Majesta finden. Oh, und wenn wir schon von Grausamkeiten sprechen, fällt uns dazu nicht sofort Molly Halbe-Halbe ein? Nein, Molly, du weißt, dass es so ist… aber ich habe auch gesagt, dass diese Grausamkeit viel leicht ein Trick war, um mich von der richtigen Fährte abzubringen. Roly Rextel, dich habe ich bisher noch gar nicht erwähnt. Du bist ein Mann vom Tuch, von adliger Herkunft… Von wem würde man es wohl weniger erwar ten, dass er eine Bombe in den Großen Tempel schmug gelt? Und doch, von einem anderen Blickwinkel aus, wer wäre besser geeignet? Genug jetzt, ich bin es leid. Einer von euch hat diese Aktion befohlen, und sie war genauso gegen mich gerich tet wie gegen die Blauröcke. Natürlich könnte ich versu chen, den Schuldigen aufzuspüren, und würde ihn zwei fellos auch finden. Aber leider, meine Freunde, haben wir nicht mehr genug Zeit. Wenn wir uns zerstreiten, müssen wir scheitern. Es ist besser, wenn ich mir eure Loyalität sichere, und zwar die Loyalität von euch allen, als dem Wunsch nachzugeben, jemanden zu bestrafen. Ich muss zugeben, die Aktion gestern Abend war ein Fehlschlag. Aber auf dem Weg zum Erfolg lauern selbstverständlich Fehlschläge. Die Wrax-Oper war nur der erste unserer Pläne. Unsere Chancen standen schlecht, aber wir haben trotzdem aus den Fehlern gelernt. Hab ich nicht Recht, Hul? Stimmt’s, Bando?« Der Wegelagerer lehnte sich an den Kaminsims und schaute zu dem Schiebeschild hoch. Er sprach so leise, dass die Rebellen sich anstrengen mussten, ihn zu ver stehen. »Heute Abend findet im Koros-Palast ein Masken ball statt, der so genannte ›Vogelball‹. Ich habe bereits erfahren, dass dieses Fest trotz der Ereignisse von heute
Morgen stattfinden wird. Darüber muss man sich nicht wundern. Natürlich verzichtet der Adel nicht auf seine Vergnügungen. Sie sind das Einzige, was ihn von den Schuldgefühlen und geheimen Ängsten ablenken kann, die an seinem Herzen nagen! Außerdem könnte es ernst hafte Konsequenzen haben, wenn man eine so wichtige gesellschaftliche Festlichkeit absagt. Ich habe gehört, dass der Erste Minister die Adligen unter Androhung schärfster Vergeltungsmaßnahmen zwingt, daran teilzu nehmen. Welche Ironie! Soll der Ball doch stattfinden. Und noch bevor er vorüber ist, wird die so genannte Kö nigin, die Frau des Usurpators, in meiner Gewalt sein!« Er drehte sich entschlossen um. »Zweifelt nicht an mir, meine Freunde, denn alles ist bereit. Und dieser Schlag wird dieses Regime bis in seine Grundfesten erschüttern. Dennoch ist es nur der Anfang eines größeren, vornehme ren Planes. Durch das hohe Lösegeld, welches die Königin zahlen muss, werden unsere Streitkräfte endlich die Mittel haben, die wir brauchen. Dann müssen wir nicht länger warten. Ich bin euer Oberkommandierender und ihr seid meine Generäle, und wir vereinen unsere verschiedenen Gruppen zu einer einzigen Armee. Ich hatte gedacht, wir müssten warten, bis die Jahres zeit der Viana den Schnee zum Schmelzen bringt. Jetzt ist mir klar, dass wir nicht länger warten können, weil das Böse der Blauröcke immer schneller wuchert. Schnellig keit muss unsere Waffe sein – und Überraschung. Denn ja, meine Freunde, der letzte, entscheidende Konflikt steht bevor, und es heißt: Agondon einnehmen oder ster ben. Denn der, der Agondon kontrolliert, kontrolliert das Reich. Das war schon immer so, hier in diesen kalten nördlichen Ländern. Und wer sollte das Reich kontrollie ren, wenn nicht Bob Scarlet?« Es war eine mitreißende Rede, und sie hätte an dieser Stelle enden können mit dem Applaus, der in der viel zu warmen Kammer aufbrandete. Einen Augenblick lang dachte Hul auch, sie wäre zu Ende. Er wunderte sich: Noch vor kurzem schien die Macht seines Anführers so stark geschwächt zu sein wie nie. Es schien jeden Mo ment möglich, dass sie ihm vollkommen entglitt. Hul hat te schon eine Revolte befürchtet, gerade an diesem heu tigen Tag… Doch nun regte sich eine neue Angst in Hüls Brust, als
die rote Gestalt die Hände hob und Schweigen gebot. Dann fuhr sie in einem ganz anderen Tonfall fort, der so wohl von Trauer als auch von rebellischer Entschlossen heit erfüllt war. »Meine Freunde, hegt ihr immer noch Zweifel im Her zen? Gibt es welche unter euch, die glauben, dass meine Worte nichts als leeres Gerede sind? Ich sage euch, unser Sieg ist gewiss… ich sage euch, dass wir triumphieren müssen, denn welcher wahre Sohn Ejlands würde sich nicht um unsere Fahne scharen, wenn sie endlich rot und kühn auf dem Schlachtfeld flattert? Ach, meine Freunde, so lange habe ich eine große, geheime Last getragen. Ich hatte vor, sie weiterhin zu tragen – bis zum Sieg – und mich nur dem König der Blauröcke zu offenbaren, und zwar in dem Moment, bevor ich ihm sein verhasstes Le ben nehme. Doch nun erkenne ich, wie dumm mein Stolz gewesen ist. Denn was ist mein Geheimnis anderes als der letzte und größte Ansporn, den unsere Rebellen streitmacht braucht, um unseren Sieg zu sichern?« »Sire…«, zischte Hul. »Seid Ihr wirklich sicher, Sire…?« Sein Anführer unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Meine Freunde, ihr seht mich jetzt zum letzten Mal in dieser Maske. Ihr kennt mich alle als Bob Scarlet, den GentlemanWegelagerer, die Geißel der Straße nach Wrax. Doch es gab eine Zeit, als ich unter einem anderen Namen lebte. Nur Hul hat bisher mein Geheimnis geteilt, doch jetzt ist es eines, das ich mit euch allen teile.« Mit diesen Worten neigte der Rebellenführer den Kopf und nahm seinen Dreispitz ab. Blonde Locken fielen herab bis auf seine Schultern, und dann hob er langsam die Maske von seinem Gesicht. Es war mucksmäuschenstill, und man hörte nur das Knis tern des Feuers. Dann jedoch wurden Rufe der Verblüf fung laut, als die Blicke der Anwesenden von der Gestalt, die da vor ihnen stand, zu dem Porträt auf dem Schiebe bild wanderten, und dann wieder zurückhuschten. Der rechtmäßige König lächelte, als nacheinander alle, selbst die Rohesten und Brutalsten, von ihren Stühlen glitten und verlegen und verwirrt auf die Knie sanken. Es wäre nicht einmal überraschend gewesen, wenn einige von ihnen Gebete gemurmelt hätten. Dieses Schauspiel war heiliger als alles, dessen man seit vielen Zyklen selbst im
Großen Tempel von Agonis Zeuge geworden war. Aber vielleicht ist die Kammer einer Taverne doch nicht der rechte Platz für ein solches Schauspiel. Vor allem nicht, wenn man vergessen hat, die Tür abzuschließen. »Mich kriegst du nicht!«, rief jemand, und eine andere Stimme antwortete: »Crum, komm zurück!« Im gleichen Moment flog die Tür auf und zwei unglückliche, blau ge kleidete Gestalten taumelten herein und krachten gegen einen der Tische. Die Augen des rechtmäßigen Königs glühten. »Blaurö cke! Ergreift sie!«
26. Lichtstrahl »He! Heda, Mädchen!« Nachdem Cata Hals über Kopf aus Nirrys Taverne ge ritten war, hatte sie sofort die Gangart ihres Pferdes ver langsamt, sich wohl bewusst der Gefahren, die in der Fin sternis und dem Schnee lauerten. Sie war eine Weile im Schritt durch die gewundenen, engen Straßen der Insel geritten. Als sie um eine Ecke bog, sah Cata die Laternen, die die Regentenbrücke säumten. Eine Patrouille mar schierte vorbei – es waren Wachen der Blauröcke. Das war einfach absurd! Wie lange würde sie bis nach Corvey Cottage brauchen? Und welchen Gefahren wären sie un terwegs ausgesetzt? Cata spielte mit dem Gedanken, um zudrehen und zurückzureiten. Ja, sie konnte auch morgen früh zum Cottage reiten. Aber nein! Wenn der Kleine wieder da war, musste sie ihn einfach sehen. Sie musste wissen, was mit Jem pas siert war. Noch diese Ecke, dann über die Brücke. Dahin ter lag die Ebene – dort würde es sicher einfacher sein. In dem Moment glitt das Pferd auf den gefährlichen Pflastersteinen aus. Es gelang Cata nur unter großen Schwierigkeiten, die Kontrolle zu behalten. »Ruhig, ganz ruhig.« Sie beugte sich herunter und tät schelte den schwarzen Hals der Stute. »Was ist los? Sag mir, Mädchen, was hast du?« Cata bediente sich ihrer Kräfte aus dem Wildwald und hatte ihre Sinne denen des Pferdes angepasst. Irgendet was stimmte hier nicht, aber es war nichts, was Cata er
wartet hatte. Sie empfing keine normale Warnung vor drohendem Ungemach durch Blauröcke oder irgendwelche Schurken, die in finsteren Eingängen lauerten. Für Cata war diese Stadt wie ein Wald, der noch gefährlicher war als der, den sie in ihrer merkwürdigen Kindheit kennen gelernt hatte. Im Wildwald hatte sie keine Angst verspürt, und auch jetzt fürchtete sie sich nicht vor irgendwelchen Übeltätern, seien es Blaugekleidete oder welche in Lum pen. Doch dies hier war anders. Die Stute nahm Kurs auf eine dunkle Gasse. Und am Ende dieser Gasse sah Cata die Vision. »Was… was ist das? Wer ist das?« Cata stockte der A tem und ihr Herz hämmerte. Sie legte eine Hand an ihre Stirn. In dem Moment flammte der Lichtstrahl auf. Komm, lern die Kaiserin des endlosen Traums kennen! Nunmehr ist nichts mehr, wie es einst schien: Gold wird glänzen, Zeit wird fließen, Wenn Du die Kai serin des Endlosen Traumes kennen lernst! »Bist du real?«, wollte Cata wissen. »Oder eine Illusion?« Die Regenbogenfrau trat vor und glitt über den Schnee. Von der Stelle, an der eigentlich ihr Gesicht hätte sein sollen, strömte Licht aus. Und die Musik kam von nir gendwoher. Cata war sicher, dass sie nur in ihrem Kopf ertönte. Die Gestalt stimmte eine zweite Strophe an. Ah, sieh die Schwester der Heiligen Nacht, Deren strahlender Blick Dich blendet. Endloses Licht. Zeitloser Flug. Das erwartet Dich bei der Schwes ter der Heiligen Nacht… »Bist du böse? Bist du gut?« Die gesichtslose Frau antwortete nicht. Es gab nur die Musik und das Lied. Cata war schon seit frühesten Kinder tagen an Magie gewöhnt, doch in dieser Regenbogenfrau spürte sie einen Zauber, der stärker war als alles, was sie vorher erlebt hatte. Stärker und bedrohlicher.
Umarme die Tochter der Verdammten und der Gerette ten, Die Dich auf jedem Weg erwartet, den Du zu be schreiten wagst: Du schreist, Du wütest Wie all jene, die versklavt sind. Trotzdem, Du kennst die Tochter der Verdammten und Geretteten! »Meinetwegen? Bist du meinetwegen gekommen?« Cata wusste nicht, warum sie das fragte. Gebannt starrte sie in das goldene Licht, das sie tief in ihrem Innersten erschütterte, und wusste, dass ihre Reaktion nichts mit der Kälte, mit der Nacht oder mit der ungewohnten Furcht zu tun hatte, die sie jetzt erfüllte. Es war ein Ge fühl von Verlust. Von einem tiefen, ungeheuren Verlust. Sieh die Herrin der Mystischen Suche,
Die Dich an ihre Heilige Brust ziehen möchte:
Ost oder West
Letzte Ruh
Findest Du bei der Herrin der Mystischen Suche!
»Nein«, murmelte Cata. »Nein, ich will nicht kommen.« Sie riss ihren Blick von der Vision los. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass sie eine falsche Richtung eingeschlagen hat te. Sie durfte nicht zum Cottage reiten, nicht heute Nacht. Sie zog an den Zügeln und rammte der Stute die Hacken in die Flanken. Dann wandte sie sich wieder in Richtung der Taverne. Das Lied schallte hinter ihr her, während sie davongalop pierte Kann das wirklich die Kaiserin des Endlosen Traums sein?
Kann denn nichts so sein, wie es zu sein scheint?
Und dennoch wird das Licht strahlen,
Wird die Liebe erblühen
Zwischen Dir und der Kaiserin des…
Eine Patrouille der Blauröcke überprüfte ihre Papiere und verzögerte so Catas Rückkehr zur Katze & Krone. Als sie zurückkam, sollte sie ein ganz bestimmtes kleines Kind im Blütentauweg finden, allein, zitternd und schluchzend.
Sie sollte erfahren, dass Jem – ihr Jem! – das Kind dazu gebracht hatte, in die warme Taverne zu fliehen, bevor er plötzlich überhastet aufgebrochen war. Doch davor, was war davor passiert? »Komm, Rebellin! Du wanderst in den Alten Knast!« Während Morven und Crum den Rebellen in die Hände fielen, wehklagten in einem anderen Teil der Taverne Zappelphilipp und Baines und rangen die Hände. Verzwei felt mussten sie mit ansehen, wie die Blauröcke Nirry ab führten. Die Anklage lautete auf Verschwörung und Terro rismus. So recht vermochte keiner von ihnen zu glauben, was da passierte, am wenigsten Nirry selbst. Aber alle wussten, dass der Anblick von Sergeant Floss, der be wusstlos auf dem Küchenboden lag, kaum etwas Gutes nach sich ziehen würde. Mittlerweile stand Jem, der von all dem nichts ahnte, zitternd in dem Straßengewirr hinter den RedondoGärten. Er war einfach nach draußen gestürmt, beinahe wahnsinnig vor Sehnsucht nach Cata, und hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, nach einem Pferd zu verlan gen. Mittlerweile jedoch war ihm klar geworden, dass sein Unterfangen ohnehin sinnlos wäre. Cata war gewiss schon weit weg. Und wie sollte er heute Nacht nach Corvey Cot tage finden? Er würde sich in der Dunkelheit und dem Schnee nur verirren. Kleinlaut kehrte er zu der Taverne zurück. Er hatte seinen Mantel vergessen und ihm klapperten die Zähne. Doch das kümmerte ihn nicht. Er schlurfte durch den Schneematsch und hörte aus der Ferne eine Glocke schlagen. Merkwürdig, dass es erst Nachmittag war. Denn es war kälter als je zuvor – nicht einmal in den Tälern des Tarn war es so eisig gewesen. Jem schlang die Arme um seinen Körper und wünschte sich, es wären Catas. »Was bin ich für ein Narr«, sagte er laut. »Ich bin Cata so nahe, wie schon seit vielen Mondleben nicht mehr! Wir sind fast wieder zusammen. Wir sind hier, in Ejland, wo wir hingehören, und die Suche ist beinahe vorüber. Hat der Harlekin das nicht gesagt? Ich bin wirklich ein Narr! Was bedeutet schon eine Nacht, wenn wir bald eine ganze Ewigkeit Zusammensein werden?« Jem vergaß sogar seine klappernden Zähne. Konnte er sich nicht auf einen Abend mit Nirry freuen, in ihrer net ten warmen Taverne? Sie könnten sich Geschichten er
zählen, und in Erinnerungen schwelgen. Als Jem im Schatten der überhängenden Giebel hin durchschritt, wurde er von einem pulvrigen Wurfgeschoss aufgeschreckt, das gegen die Wand neben ihm prallte. Er hörte ein Lachen, und eine kleine Gestalt in einem Schneemantel stürzte sich auf ihn. Fast hätte sie ihn um gerissen. Jem hielt das Kind fest. »Sag mal, du bist ja wirklich ein kleiner Wilder!« »Lass mich los!« Das Kind trat und schlug um sich. »He, ganz ruhig!« Mit einiger Mühe drehte Jem den klei nen Jungen um und hielt ihn an den Fußknöcheln fest. Der Schneeumhang fiel über den Kopf mit der Wollmütze. »Was für ein Bursche! Hat deine Mutter dir nicht erzählt, dass man nicht einfach um sich tritt?« »Meine Mama war eine Kriegerin«, erwiderte das Kind. »Sie hat jeden getreten, den sie wollte. Und mein Papa ist ein gefährlicher Bandit, also solltest du lieber aufpassen!« »Moment mal, ich kenne dich doch!« Ohne viel Um stände drehte Jem den Jungen wieder herum und zog ihm die Kapuze vom Gesicht. Das Mondlicht fiel auf ein dun kelhäutiges, beleidigtes Gesicht. »Na, wenn jemals je mand das Ebenbild seines Vaters war, dann bist du das. Du bist Raggle, hab ich Recht? Raggle, erkennst du mich denn nicht?« »Wenn du mich hinstellst, dann vielleicht.« Tem stellte ihn auf die Erde. »In Zenzau, weißt du noch? Aber Raggle, was machst du hier? Wohnst du etwa bei Nirry? Ist dein Papa auch da? Jetzt im Moment? Und wo ist Taggle? Komm schon, Raggle, sag es mir.« Das Kind zog eine Schnute. »Ich bin Taggle.« »Oh«, erwiderte Jem. »Und wo ist dann Raggle? Ich dachte ihr beiden wärt unzertrennlich.« Raggle war noch vor wenigen Momenten da gewesen und hatte den Schneeball geworfen, der seinen Bruder nicht getroffen und Jem knapp verfehlt hatte. Mittlerwei le, das deutete Taggle jedenfalls an, war er bestimmt schon davongelaufen und bereit, sich mit wurfbereiten Schneebällen auf seinen Bruder zu stürzen, wenn der nach ihm suchen sollte. »Er versteckt sich?«, fragte Jem. »Ich glaube, wir soll ten ihn besser suchen, findest du nicht? Ihr Jungen solltet nicht im Dunkeln hier draußen herumlaufen. Meine Güte,
ich wünschte, ich hätte so einen Schneemantel wie du.« »Er würde dir nicht passen«, erwiderte Taggle spöt tisch. »Und außerdem gehört er mir«, fügte er beleidigt hinzu und wich zurück, als Jem lachend versuchte, ihn bei der Hand zu nehmen. Der kleine Junge trottete voraus und rief seinen Zwil lingsbruder. »Bruder, komm heraus! Bruder, wir sind ge fangen!« In Wirklichkeit jedoch war nur Raggle gefangen. Sie bogen um eine Ecke in den Blütentauweg, die Gas se hinter der Katze <§- Krone. Hier schneite es stärker, und in dem blassen Mondlicht konnten weder Jem noch Taggle die niedrige, finster wirkende Kutsche der Blaurö cke erkennen, die am Ende des Weges wartete. Aber sie hörten den plötzlichen, schrillen Schrei. Und ihren Gegner sahen sie auch früh genug. Die schlacksige Gestalt trug Umhang, Schal und Hut und zerr te ein kleines, um sich tretendes Bündel den Weg ent lang, während sie dem Kind den Mund zuhielt. Jem stürmte vor. »Hee! Lass ihn los…!« Eine Wolke schob sich vor den Mond. In der plötzlichen Dunkelheit fühlte Jem, wie eine Faust gegen seinen Kopf schlug. Er wehrte sich, doch dann trat jemand immer wieder zu, und schwere Schritte entfernten sich zum Ende des Weges. Raggle schrie, und jemand rief etwas. Jem rappelte sich auf, brach jedoch sofort wieder zusammen. Als der Mond schließlich hinter einer Wolke hervorkam, lag Jem auf der Seite. Er blutete aus einer Kopfwunde. Taggle hockte wimmernd neben ihm. Jem rappelte sich wieder auf die Füße und hörte eine Peitsche knallen und das Rumpeln einer Kutsche. Im gleichen Moment durch fuhr es ihn heiß, als er sich an die Worte erinnerte, die er vor einem Augenblick gehört hatte. Er hatte die Stimmen nur zu gut gekannt. »Hör auf mit dem Geschrei, du Balg! Heb dir das für die Opferung auf!« »Hast du ihn, Polty?… Schnell, Polty! Beeil dich!«
27. Blenkinsop ist unschuldig Schon von alters her bedeutete für die Ejländer das Fest des Agonis eine Zeit der Wunder. In diesem finstersten Teil des Jahreszyklus, in dem das Licht schon am Nachmittag schwand und Eiszapfen von den Wasserspeiern herunterhingen, fanden sich immer wieder Menschen, die behaupteten, dass Magie am Werke wäre. Denkt nur an die Schlittschuhläufer, die auf den gefrorenen Flüssen ihre Kreise ziehen, an Kinder, die auf weißen Feldern ihre Schneebälle schleudern. Denkt nur an kleine, hüpfende Vögel mit roter Brust, die in den kahlen Zweigen der Bäume herumflattern. Musste das nicht eine Zeit sein, in der die Liebe des Lord Agonis, die so oft ver borgen und heimlich blieb, darauf drängte, sich der Welt zu offenbaren? Wie könnte ihr Gott nicht auf die Lieder reagieren, die zu seinem Lob im ganzen Reich ertönten? Wie könnte er sich nicht manifestieren und Zeuge der Verzückung in den Gesichtern der Kinder werden, die am Gott-Tag ihr Geschenk öffneten? Das war der Aberglaube der gemeinen Gläubigen in ei nem, wie uns jetzt scheinen will, Zeitalter der Unschuld. Heute jedoch, unter der langen Herrschaft des Königs der Blauröcke, gibt es nur noch wenige Ejländer, die Wunder erwarten. Zweifellos würde man aus den Provinzen wie zuvor das Auftauchen der Lady Imagenta melden, und hier und da gab es sicher auch Berichte über wundersame Heilungen. Doch all das tat man als Unwissenheit von Bauern ab. In Agondon war ein rationales Zeitalter an
gebrochen, ein hartes, unversöhnliches Zeitalter. Umso erstaunter waren die Leute, als sie vernahmen, was sich am Abend des Vogelballes zutrug. Bevor dieser Abend endete, sollten sich diese seltsamen Vorfälle ereignen. Die Berichte am nächsten Tag waren schrill ausgeschmückt und übertrieben und wurden von vielen als Verrücktheit oder Illusion abgetragen. Doch sie begannen alle mit dem Auftauchen eines höchst unge wöhnlichen Fahrzeugs, einer Art fliegendem Schiff, das über den Himmel kreuzte. Und was hielten die Beobachter von diesem Himmels schiff? Welche Gedanken erfüllten sie, abgesehen von ihrer Angst? Dies hing davon ab, wer diese Beobachter waren und wo sie ihre Beobachtungen gemacht hatten. Einige, die auf der Regentenbrücke gestanden hatten, sprachen davon, dass das Schiff sich herabgestürzt und eine Patrouille der Blauröcke vertrieben hätte. In OllonQuintal war die Rede von einem Feuerstrahl, den das Schiff auf die Ollon-Kaserne geschleudert hätte. Und oft mals waren diese Berichte von einer klammheimlichen Freude in den Gesichtern der Berichtenden begleitet, als sie andeuteten, dass sich ein neuer und mächtiger Feind – ein geheimer, magischer Feind – gegen die Tyrannei der Blauröcke aufgelehnt habe. Andere sahen das Himmelsschiff auf andere Weise. Sie waren vor dem über ihnen kreisenden Fahrzeug geflohen und dachten nur an die Farbe der genieteten, metalli schen Hülle, an die knisternde, summende Aura, die auf ihr zuckte. Was konnte dies anderes sein als eine neue Geheimwaffe der Blauröcke? Was anderes als eine War nung an die Rebellen? Einige lächelten bei dem Gedan ken, dass die Blauröcke jetzt unbesiegbar wären, andere brachen schluchzend zusammen. Hätten sie nur einen Blick in das Himmelsschiff werfen können! Unter seiner gepolsterten Decke schwebte eine ge heimnisvolle weibliche Gestalt. Ein merkwürdiges Strahlen spielte über ihre Haut, und eine fremdartige, überirdische Musik drang aus ihrem Mund. Vom Boden schauten zwei verängstigte Jungen und ein großer orangefarbener Kater mit großen Augen zu ihr hoch, während das Schiff plötzli che Sätze machte, dass sich ihnen der Magen umdrehte. »Aber… aber wohin fliegen wir? Was hat das zu bedeu ten?«
»Es ist Magie, Raj! Ach, hätte ich nur meine Kugel noch!« »Denk nicht weiter daran. Sie ist verschwunden, als Myla sich erhoben hat…« »Verschwunden? Aber wie kann sie einfach…?« »Ich weiß es nicht, ich verstehe es auch nicht…« »Wenigstens ist sie wieder Myla, nicht…« »Und wenigstens ist sie nicht älter geworden, son dern…« »Sie benutzt ihre Macht…« »Und wie viel kann sie…« »Sie verbraucht sie ganz…« »Aber warum…?« »Ahh!« »Nein!« »Sind wir so weit, Hul?« »Wir warten nur noch auf Cata.« »Ach, dieses Mädchen! Wo bleibt sie nur?« »Und was wird… aus uns?« Die Sprecher waren der Reihe nach; Bob Scarlet, Hul, Bando und Morven. Crum war zwar ebenfalls anwesend, brachte jedoch kein Wort heraus. Er hatte wegen seiner Gefangennahme so laut protestiert, dass der Wegelagerer darauf bestand, ihm nicht nur die Hände zu binden, son dern ihm auch einen Knebel zu verpassen. Der Varianer würgte und schaute sich ängstlich im König-Ejard-Raum um. Die Rebellenversammlung war im Aufbruch begriffen. Bierkrüge funkelten auf den leeren Tischen, und einige rollten auf dem Boden. Ihn fröstelte. Das Kaminfeuer war heruntergebrannt, aber niemand dachte daran, Holz nachzulegen. Bob Scarlet wirbelte seine Pistole um den Finger und ging vor dem Schiebebild hin und her. Der Wegelagerer schien Morvens letzte Frage einfach ignorieren zu wollen, was Crum enttäuschte. Immerhin war das eine sehr gute Frage. Aber dann drehte er sich doch noch zu den gefangenen Blauröcken um. »Was ich mit euch tun soll? Ich denke, wir wissen genau, was wir mit gefangenen Doppelagenten machen, hab ich Recht? Bando? Hul?« Crum schluckte schwer, und Hul räusperte sich. »Bob, ich sagte schon, dass ich mir nicht so sicher bin. Immer
hin waren Morven und Crum damals in Wrax auf unserer Seite, hab ich Recht?« »Ja, und sind sie nicht schnellstens wieder in die Arme der Blauen zurückgekehrt, sobald sie die Gelegenheit da zu hatten?«, erwiderte Bando. »Wenn es eins gibt, was ich noch mehr hasse als einen Feigling, Hul, dann ist das ein Verräter. Wenn du sie richtig beurteilen willst, brauchst du dir nur die Farbe ihrer Uniformröcke anzuse hen.« Der Wegelagerer hielt wie zur Bestätigung die Mün dung seiner Pistole an Crums Schläfe und drückte ab. Es klickte. »Sind die beiden wirklich Dummköpfe, oder tun sie nur so? Eines ist sicher, es sind sehr unzuverlässige Zeitgenossen. Doch dies hier ist eine Falle, aus der sie sich nicht so rasch herauswinden werden!« Crum traten beinahe die Augen aus den Höhlen, und er dachte unwillkürlich an den langen Wurm, so lang wie eine Schlange, den Zohnny Ryle einmal während der Ko ros-Jahreszeit im Nordfeld gefunden und als Haustier mit nach Hause gebracht hatte. Der arme, alte Widdershin! Wäre Crum nicht geknebelt gewesen, hätte er nur zu ger ne diese Geschichte erzählt. »Bitte… Sire…!«, sagte Morven. »Wir sind wirklich Dummköpfe! Nein, ich meine… Crum ist ein Dummkopf… Ich wollte sagen, ich bin Plaise Morven, JagenamPreisträger für meinen Aufsatz Themen des Versmaßes im Jelandros mit besonderer Erwähnung der Herkunft und Angemessenheit der Großen Zäsur. Also kann ich doch wohl kein Dummkopf sein, nicht wahr?« Hul lächelte und Bando schnaubte verächtlich. »Es ist sowieso ein unseliger Zufall, dass ich überhaupt in der Armee bin«, fuhr Morven fort. »Ich sollte eigentlich an der Universität sein, aber das soll nicht heißen… Ich meine, mein Arbeitsgebiet ist Juvescial, aber ich… ich ha be nicht einfach nur die Theaterstücke von Thell studiert, nein, ich bin kein Fachidiot, ich habe… Versteht Ihr, ich habe Vytoni gelesen, den Diskurs über die Freiheit, und…« Der Wegelagerer seufzte vernehmlich. »Was ich sagen wollte«, fuhr Morven rasch fort, wäh rend er sich wünschte, dass er sich seine Augengläser ordentlich auf die Nase schieben könnte, »wir hatten ei nen Unfall und sind im Krankenhaus gelandet und hatten
keine Wahl, als zurückzugehen und… und dann wurden die Rebellen besiegt, und wir sind wieder bei den… Ich meine, ich wollte sagen, wir haben Euch niemals betro gen, Meister Scarlet, und das würden wir auch niemals tun!« Hul lächelte wieder, und Morven warf sich in die Brust, was allerdings niemanden sonderlich beeindruckte. »Ich meine, Meister Scarlet, Sire…«, fuhr er unsicher fort. »Wenn unsere Jacken dieselbe Farbe hätten wie un sere Herzen, dann wären sie rot, durch und durch rot! Und achtet nicht auf Crum.« Morven lächelte kläglich. »Er wird niemals die Jagenam-Plakette gewinnen, aber er steht genauso auf Eurer Seite wie ich… Hab ich Recht, Crum?« Es war vielleicht ganz gut, dass Crum nicht antworten konnte. Der Varianer hatte noch nie viel Verständnis für Morvens Sympathie mit den Rebellen gehabt. Er fand, sie kam vor allem daher, dass Morven zu viele Bücher las und nicht wusste, welche Seite seines Brotes gebuttert war, wie der alte Ryle es auszudrücken pflegte. Anderer seits schienen im Moment alle ihre Brotseiten eindeutig vom Wegelagerer bestrichen zu werden. Crum schluckte wieder, als er den Druck der silbernen Pistole an der Schläfe fühlte. Bando war ungeduldig. »Können wir sie nicht einfach erledigen, Bob? Wir verschwenden hier nur unsere Zeit.« »Sei nicht albern, alter Freund«, widersprach Hul. »Sie sind auf unserer Seite, das versichere ich dir! Aber den noch, wir verschwenden Zeit… Binden wir sie einfach los. Sie gehen jetzt mit uns!« Der Wegelagerer ignorierte seine alten Kampfgefährten und betrachtete Morven mit unverhohlenem Missfallen. »Eine nette Rede, aber soll es mich wirklich beeindrucken, dass eure Herzen rot sind? Das ist bei jedem Menschen so, wie ihr wüsstet, meine jungen Freunde, wenn ihr so viele Menschen getötet hättet wie ich. Ach, wir könnten sogar die Farben eurer Uniformen ganz leicht ändern, hier und jetzt…« Crum wollte ihn darauf hinweisen, dass Rot und Blau purpurrot ergab und ärgerte sich, dass er wegen des Knebels nicht dazu in der Lage war. Außerdem ärgerte es ihn, dass sich Blenkinsop höchst ungemütlich unter seiner Uniformjacke zu schaffen machte.
Bob Scarlett konnte das ebenfalls nicht übersehen. »Wie ich sehe, ist ohnehin an euren Herzen etwas merk würdig«, meinte er. »Jedenfalls an einem.« »Das ist nur Blen… Blenkinsop, Sire!«, erklärte Morven und errötete. »Ach ja? Und wer oder was ist Blenkinsop?« »Eine braune Ratte. Crum hat sie irgendwo gefunden und – « Mit einer geschickten Bewegung riss Bob Scarlet einige Knöpfe von Crums Uniformjacke ab und zog den zappelnden und sich heftig wehrenden Nager hervor. Er hielt ihn am Schwanz hoch, was Blenkinsop nicht sonderlich zu gefallen schien. Zum ersten Mal wehrte sich Crum gegen seine Fesseln. »Wir verschwenden hier nur Zeit«, wiederholte Bando. »Bei Vianas Beeten, wo bleibt Cata nur?« »Warte!«, rief Hul. »Das ist es!« »Das ist was?«, fragte Bando gereizt. »Bando, Bob… das ist das fehlende Puzzlestück in un serem Plan, seht ihr das denn nicht? Lasst es mich erklä ren…« Hüls Begeisterung war so groß, dass sich selbst Bob Scarlet herabließ, ihm zuzuhören. Plan B handelte von den »Kreuztunneln«, dem ausgedehnten, vergessenen Netzwerk unterirdischer Gänge, die sich vom Zentrum des Großen Tempels aus erstreckten. Hul hatte von diesen Tunneln durch eine alte Landkarte erfahren, auf die er vor langer Zeit in der Bibliothek der Universität gestoßen war. Sie hatte zusammengerollt in einer staubigen Ecke gele gen. Die fünf Arme des agonistischen Kreuzes, die in den alten Zeiten als »Heilige Routen« bezeichnet wurden, führten zum Tempelkolleg, zum Kloster der weißen Brü der, zum Koros-Palast, zur Wrax-Oper und zur Universi tät. Diese letzte Route hatte Hul damals zu seiner Zeit als eigenbrötlerischer Gelehrter benutzt, um heimlich die Kammer der verbotenen Texte zu besuchen. Ein Loch in einer zerfallenen Mauer im Keller von Websters Kaffee haus führte in die Untergeschosse der Universitätsbüche rei, von wo sich eine Falltür in die Tunnel öffnete. Bei Plan A, der Entführung in der Wrax-Oper, hatte Hul die Königin durch diesen Tunnel wegschaffen wollen. Die anderen hatten für die Dächer gestimmt. Richtig war, dass diese Tunnel schwierig und gefährlich waren. Doch
heute waren sie der einzige Weg. Nachforschungen hatten ergeben, dass der Tunnel, der in den Koros-Palast führte, in einen der neuen Ruheräume neben dem kaiserlichen Ballsaal mündete. Jede dieser Kammern, so hatte Hul erklärt, war nach einer der neun Provinzen Ejlands be nannt. An den Wänden hing jeweils ein großes Gemälde dieser Provinz, und die Tür zu dem Kreuztunnel lag offen sichtlich vergessen hinter dem Panorama der Täler des Tarn, die von dem hohen Gebirgsmassiv überragt wurden, welches man den Kolkos-Aros oder auch den Kristallenen Himmel nannte. Der Plan lautete folgendermaßen: Hul, Cata und Bando sollten sich zu diesem Tarn-Raum schleichen, von dem aus sich dann Hul und Cata in Vogelkostümen leicht unter die Ballgäste mischen konnten. Bando sollte derweil im Tunnel warten, um bei der Entführung zu helfen, nach dem Cata sich ihrer früheren Freundschaft mit der Köni gin bedient und das verblüffte Mädchen in den Ruheraum gelockt hatte. »Ihr wollt die Königin… entführen?« Morven rang nach Luft. Crum riss die Augen auf, und seine Knie zitterten. »Ja, wirklich, dieser Plan ist vollkommen lächerlich«, sagte Bando. »Wie soll Cata das Mädchen überhaupt er kennen, wenn alle Masken tragen?« Bob Scarlet lächelte. »Wie ich sehe, verstehst du wenig vom Hofzeremoniell, alter Freund. Die Identität der kö niglichen Familie wird nie verborgen, das wäre vollkom men unschicklich. Außerdem demaskieren sich die Gäste um Mitternacht. Nein, ich denke, dass dieses alberne Mädchen ganz leicht entführt werden kann. Was glaubst du, Hul?« Hul war weniger überzeugt. »Ich fürchte, Bando hat Recht. Der Plan steckt wirklich voller Löcher. Aber ein großes Loch haben wir soeben gestopft! Morven und Crum sind doch Blauröcke, hab ich Recht? Ich wette, dass sie heute Abend im Palast Dienst schieben…« »Das tun wir tatsächlich«, bestätigte Morven. »Und wir kommen auch fast schon zu spät…« »Ihr werdet euch nicht verspäten«, beruhigte ihn Hul. »Denn ihr werdet dorthin gehen, und zwar genau jetzt…« »Alter Freund, bist du verrückt geworden?«, brach es aus Bando heraus.
»Nein, Bando, hör mir zu. Wir brauchen Morven und Crum. Sie werden vor dem Tarn-Raum Wache halten. Sie können sagen, dass dieses Gemach geschlossen ist oder irgend so etwas, Hauptsache, sie halten die Leute daraus fern, bis die Luft wieder rein ist – « »Du bist tatsächlich verrückt geworden!«, erklärte Bando. »Wie könnten wir ihnen trauen?« Hul legte Morven eine Hand auf die Schulter. Als die beiden berühmten Gelehrten nebeneinander standen, sahen sie sich bemerkenswert ähnlich. »Ich habe diesen jungen Mann letztes Mal sehr gut kennen gelernt«, sagte Hul. »Ich schwöre, dass er ein aufrichtiger Bursche ist. Ich würde Plaise Morven mein Leben anvertrauen, und es macht mir nichts aus, das auch laut zu sagen. Immerhin ist er ein Anhänger von Vytoni.« Bando stöhnte. »Und der andere?« Crum perlte der Schweiß von der Stirn. Ängstlich schaute er auf Blenkinsop, der immer noch zwischen den Fingern des Wegelagerers zappelte. Der arme Blenkinsop, ihm musste fürchterlich schwind lig sein! »Dieser Dummkopf?«, fragte Bob Scarlet. »Wir könn ten ihn als Geisel behalten.« »Das ist eine sehr gute Idee«, stimmte ihm Bando zu. »Sein Freund scheint ihn zu mögen.« »Sicher«, meinte Hul. »Und was soll er sagen, wenn man Crum ‘vermisst? Oder glaubt ihr, dass niemand sein Feh len bemerkt?« »Sire, ich schwöre, dass…«, begann Morven stotternd. »Ja, er mag ihn«, erklärte Bob und deutete mit seiner Pistole in Morvens Richtung. »Aber er mag ihn vielleicht nicht so sehr wie dieser Dummkopf den Prachtkerl hier.« Die Pistole richtete sich auf Blenkinsops Bauch. Nicht Blenkinsop! Blenkinsop ist unschuldig!, kreischte Crum hinter seinem Knebel. Sein Gesicht war dunkelrot ange laufen, und seine Augen traten beinahe aus den Höhlen. »Er würde alles tun, das schwöre ich!«, rief Morven. »Wenn Ihr nur…!« »Das dachte ich mir«, sagte der Wegelagerer und stopfte Blenkinsop in eine Tasche seines Mantels. »Binde sie los, Bando.« »Ist das… Ist das Euer Ernst, Sire?«, stammelte Bando. Die unseligen Rekruten wären vor Dankbarkeit beinahe
zusammengebrochen, als jemand laut schrie und die Tür aufflog. Der Wegelagerer wirbelte schussbereit herum. Es war nur Zappelphilipp… Doch war dies ein Zappel philipp, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatten. Er hatte seine Perücke verloren, und sein natürliches Haar stand in alle Richtungen ab, als hätte er versucht, es mit samt den Wurzeln herauszuziehen. Sein Gesicht war ge rötet und tränenüberströmt. Er warf sich auf den Boden, trommelte auf den Teppich und gab unartikulierte Schreie von sich. In seiner Trauer bemerkte er nicht einmal, wel ches Schicksal seine alten Kameraden ereilt hatte. »Goodman Olch, hört auf damit!«, rief Baines, die hin ter ihm in den Raum stürmte. »Es ist noch nicht vorbei!« »Was ist denn passiert?«, rief Morven. »Zappelphilipp, was…?« Baines sank neben dem schluchzenden jungen Mann auf den Boden. Seine steifen roten Ohren sahen aus, als würden sie nie wieder wackeln können. Sie streichelte ihn, wiegte ihn und sprach ihm mit mütterlicher Stimme Trost zu. Doch erst als seine schrecklichen Schluchzer aufhör ten, konnte Zappelphilipp die fürchterliche Wahrheit ent hüllen, eine Wahrheit, die Morven und Crum voller Ent setzen schon vermutet hatten. »Nirry… Jubb!«, rief Morven. »Aber genau die haben wir doch…« Er brach ab. »Morven, was willst du damit sagen?«, setzte Hul nach. »Deshalb waren wir hier… wir haben eine Rebellin ge sucht, die hinter dem Bombenattentat steckte, jedenfalls hat man uns das gesagt… wir haben uns verlaufen, und Rottsy und Supp… meine Güte, was ist das für ein schrecklicher Irrtum, es muss ein Irrtum sein! Crum, schnell, wir müssen sofort zu Sergeant Bunch, wir müs sen ihm – « Morven wollte loslaufen, aber eine kräftige Hand stieß ihn zurück. Er stürzte gegen die Wand, und seine Brille rutschte ihm die Nase herunter. Unwillkürlich zog Morven den Kopf ein. Crum sank neben ihm auf die Knie und stieß unartikulierte Laute hinter sei nem Knebel aus. »Ein Irrtum?«, rief der Wegelagerer angewidert. »Glaubt ihr wirklich, dass die Blauröcke einen Irrtum so
einfach zugeben? Für was haltet ihr mich eigentlich? Für genauso große Narren wie euch? Ihr Burschen hattet also mit dieser Sache zu tun, hab ich Recht? Ihr wusstet, dass so etwas passieren würde!« »Nein!«, stieß Hul hervor. »Bob, ich habe dir doch schon gesagt, dass weder Morven noch Crum – « »Wir… wir dachten… wir haben nicht… wir wussten nicht…« Bando hob seine Muskete. »Ich erledige sie, Chef!« »Lass das, Bando!« Hul schlug verärgert das Gewehr zur Seite. »Versteht ihr denn nicht, dass unsere Pläne jetzt noch dringlicher sind als vorher? Und begreift ihr nicht, wie sehr wir auf Morven und Crum angewiesen sind? Hör zu, Morven: Ihr werdet nicht zu irgendeinem Sergeanten gehen. Wir werden einfach den Plan so durch führen, wie wir ihn euch geschildert haben, einverstan den?« Morven nickte ernst, und Crum gurgelte hinter seinem Knebel. »Und was wird aus meiner Nirry?«, jammerte Zappel philipp, der immer noch auf dem Boden hockte. »Diese brutalen Kerle werden sie umbringen…« »Das werden sie nicht, jedenfalls nicht gleich«, erklärte Hul hoffnungsvoll. »Und wenn sie es doch – « »Die Exekution einer Verräterin?« Der Wegelagerer schien nachdenklich. »Bevor sie das tun, werden sie mächtig auf die Pauke hauen und es überall bekannt ma chen.« »Sie ist keine Verräterin!«, rief Zappelphilipp. »Na ja, wenn man genau darüber nachdenkt…«, sagte Baines. »Ich glaube nicht, dass sie Nirry umbringen werden«, unterbrach Hul sie rasch. »Jedenfalls nicht, wenn wir et was haben, was wir gegen sie eintauschen können. Und genau aus diesem Grund brauchen wir die Königin…« Zappelphilipp achtete nicht auf ihn. »Sie bringen sie bestimmt… in den Alten Knast, hab ich Recht?« Er richte te sich auf und schüttelte Baines ab, die sich an ihn ge klammert hatte. »Ich muss zu ihr. Ich bin ihr Ehemann, sie müssen mich einfach zu ihr lassen – « »Der Alte Knast?«, fragte Bando. »Was ist denn mit Figaro Finger? Wir können ihn noch sicher – « »Denk nicht einmal daran!«, unterbrach ihn Hul. »Fin
ger kann vielleicht etwas für kleine Diebe, Huren und Tot schläger tun. Aber für die Tempelbomberin? Ich meine… Ich glaube, dass Nirry die strengste Sicherheitsverwah rung bekommt. Die Blauröcke werden sicher nicht riskie ren – « »Alter Freund, hier verliert ein Mann seine Ehefrau!« Bando packte Zappelphilipp und kniff dem armen Kerl in die Wangen. »Sieh doch, wie ihm die Tränen in die Augen schießen! Von diesem Schmerz verstehst du nichts, Hul! Du alter, grausamer Hul – « »Im Gegenteil!«, rief Hul. »Das ist genau der Grund, warum ich – « »Ich gehe in den Alten Knast!« Zappelphilipp riss sich los und stürmte zur Tür. »Nicht so eilig, Freundchen.« Bob Scarlet versperrte ihm den Weg. »Dein hübsches kleines Weibchen wird viel leicht ein paar Geheimnisse ausplaudern, bevor die Blau en mit ihr fertig sind – « »Goody Olch? Nie und nimmer!«, rief Baines erschro cken. Der Wegelagerer achtete nicht auf sie. Stattdessen schaute er ernst den bestürzten Zappelphilipp an. »Und was ist mit dir, mein Freund? Was würdest du alles verra ten, in der vergeblichen Hoffnung, deine Frau damit viel leicht freizubekommen?« Zappelphilipp stammelte: »Ich… ich… nein, ich schwö re…« »Die Königin«, wiederholte Hul entschlossen. »Sie ist unsere einzige Chance.« Zappelphilipp schluckte und nickte. Und sank an die Wand zurück. »Dann aber schnell«, befahl der Wegelagerer. »Wir müssen diesen Ort hier aufgeben und dürfen nicht zu rückkehren. Die Blauröcke können jeden Augenblick auf tauchen.« Er griff an den Rahmen des Porträts, das über dem Kamin hing, und betätigte den verborgenen Mecha nismus. Sofort kam das Bildnis von Ejard Blau wieder zum Vorschein. »Morven, Crum, macht euch auf die So cken.« Crum war immer noch geknebelt und protestierte unartikuliert. »Der Rest kommt mit mir. Ist alles für heute Nacht vorbereitet, Hul?« »Alles«, bestätigte Hul. »Nur eines… wo bleibt Cata?« Wie aufs Stichwort flog die Tür auf. Es war Cata, und
sie hielt einen schluchzenden Taggle in den Armen. »Cata, wo hast du nur…?«, begann Hul. Doch Catas Miene ließ ihn innehalten. Ihr Blick verriet blanke Verzweiflung. »Ich… Ich habe ihn in der Gasse gefunden«, stieß sie atemlos hervor. »Irgendetwas ist passiert. Etwas Schreckliches…« Bando stieß einen langen, lauten Schrei aus. Im Koros-Palast bahnte sich derweil ein weiteres Drama an. Das winzige Gemach, in dem Umbecca die Witwe Wa xwell untergebracht hatte, glich eher einer Dienstboten kammer. Die Wände waren weiß und kahl, und die Möb lierung bestand aus einem schmalen Bett, einem Stuhl und einem Kreis des Agonis aus Messing, der an der Wand hing. Die Witwe kniete auf dem Boden und betete, während sie mit ihrer Hand den verstümmelten Armstumpf um klammerte. Schreckliche Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Wie lange, wie schrecklich lange schon hatte sie ihre Gefühle für Lektor Feval unterdrückt! Sie dachte an das verstümmelte Bein, das sie in den Arm genommen hatte. Sie wäre gern zu Boden gesunken und hätte ge schluchzt, doch ihre Augen blieben trocken, während sie auf den Kreis des Agonis schaute. Stärke. Sie musste um Stärke bitten. Bei dem Gedanken an Umbecca durchströmte sie un vermittelt eine heiße Wut. Gedemütigt war die Witwe weggegangen. Jetzt wünschte sie sich fast, sie wäre da geblieben, wünschte sich, sie hätte die furchtbare Wahr heit in dieses aufgedunsene, dumme Gesicht geschrien. Sie war so in Gedanken versunken, dass sie das Dienstmädchen zunächst gar nicht bemerkte. Erst als das Mädchen das Feuer schürte, fiel ihr auf, dass es nur müh sam die Tränen zurückhielt. Die Witwe drehte sich um. »Was hast du denn, Lie bes?« »Ich… Es tut mir Leid, Madam«, erwiderte das Mäd chen und schluckte, während es sich die Augen wischte. Die alte Frau erhob sich mühsam. Alles tat ihr weh. »Was hast du denn, Kind? Sag mir, was passiert ist.« Augenblicklich brach das Mädchen in ihren Armen zu
sammen. »Madam, ich weiß, dass ich nicht das Recht da zu habe, aber es ist nicht richtig… Es ist einfach nicht ge recht! Es… es geht um Jilda, Madam. Sie… Man schickt sie wieder zurück zum Würger!« Der Witwe lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Nein, nein, das kann nicht sein!« Sie wiegte das Dienstmädchen sanft in den Armen. Die alte Frau schaute starr auf den Kreis des Agonis und hoff te inständig, dass ihre Gebete erhört wurden. Stärke. Sie brauchte all ihre Stärke. Polty! Aber wie war das möglich? Mit eisigen Fingern klammerte sich Jem an die Kofferkiste der schwankenden Kutsche. Die Peitsche knallte wieder. Sie rasten über die gewundenen Wege und rumpelten unter den schneebedeckten Giebeln hindurch. Patrouillen der Blauröcke mit ihren schwankenden Laternen flogen nur so an ihnen vorbei. Wie Jem sie um ihre Bärenfell mäntel beneidete! Gleichzeitig betete er inständig darum, dass die Patrouillen nicht sahen, wie er sich an diese Kut sche klammerte, die das Wappen der Regierung trug! Wie lange konnte er sich noch festhalten? Es schneite wieder stärker, und Jem klapperten die Zähne. Wenn es noch lange dauerte, würde er erfrieren und auf die Pflas tersteine stürzen. Er musste an Raggle denken. Ja, denk an Raggle! Jem schloss die Augen, aber es war der Häscher des kleinen Jungen, dessen Gesicht in seinem Kopf auftauchte. Es grinste gierig wie eine verdorbene Kreatur des Bösen. O Polty, Polty! Jem stellte sich seinen Feind vor, wie er da mals in Irion gewesen war, ein aufgeschwemmter Tyrann, der ihn gequält hatte. Dann wiederum sah er ihn als den gut aussehenden Blaurock, der er geworden war, nach dem Kommandeur Veeldrop ihn als Sohn angenommen hatte. Wut erfüllte Jems Herz. Er dachte an das, was Polty ihm angetan hatte und schlimmer noch, viel schlimmer, an das, was er Cata angetan hatte. Wenn Jem sich an Polty rächen könnte, würde er die Chance ergreifen. Doch dann sah er Polty erneut auf sich sitzen und ihn zu Boden drücken, als wäre er wieder in seine Kindheit versetzt. Er sah die harte Faust, die zum Schlag ausholte. Und doch, was war mit dem Polty, den Jem zuletzt ge sehen hatte? Der sich auf einem schimmernden Boden
wälzte, tief unter der heiligen Stadt der Unangesen? Schreiend hatte Polty ein blutiges, aalähnliches Organ umklammert, das der Sultan ihm unmittelbar zuvor mit dem Krummsäbel vom Körper abgetrennt hatte. Jem hatte nicht mehr mit ansehen können, was als Nächstes geschah. Er hatte vermutet, dass Polty verblutet und in das Reich des Nicht-Seins verschwunden war, wo hin er gehörte. Andererseits, dachte Jem, wusstest du doch schon lange, dass Polty ein Agent von Toth gewor den war. Hatte er Polty nicht in seiner dämonischen Ver kleidung gesehen, mit blauer Haut und Flammen, die aus seinem roten Haar züngelten? Jem riss die Augen auf und schob die Vision beiseite. Die Kutsche rumpelte den Berg hinauf. Aus ihrem Inneren hörte er einen Schrei, der rasch erstickt wurde. Dann hör te er Poltys Gelächter. Jem fluchte. Er malte sich aus, wie er sich über das Dach der Kutsche hochzog und eine Tür aufriss, Polty verprügelte, Raggle aus den Armen des Monsters befreite… doch das war unmöglich. Jem konnte gegen Poltys Kraft nichts ausrichten. Außerdem war er beinahe betäubt vor Kälte. Im Moment schaffte er es ge rade noch, sich an der Kutsche festzuhalten. Fackelträger drückten sich an ihnen vorbei. Die Fackeln schimmerten hell, während die Jungen zwei vermummte Gentlemen die gefährlich steile Straße hinunterbegleite ten. Jem hörte die ältlichen, zitternden Stimmen. »Der reinste Wahnsinn! Und das an einem heiligen Ort, also wirklich!« »Am heiligsten Ort! Diesmal sind sie zu weit gegan gen!« »Wir müssen zurückschlagen, und zwar schnell!« »Und ohne Gnade!« Diese Worte glichen den anderen, die Jem gehört hat te, als er sich heute in die Stadt gewagt hatte, vorbei an den Wachstationen und den stark bewachten Straßen. Irgendetwas musste geschehen sein, so viel war klar. Aber was hatte dies mit Polty und Bohne zu tun und dem gemeinen Spiel, das sie gerade spielten? Jem war über zeugt, dass es hier eine Verbindung geben musste. Er musste herausfinden, wohin sie Raggle brachten. Und er hatte auch bereits einen furchtbaren Verdacht. Ein Verdacht, der sich schon bald bestätigen sollte. Ein trauriges Klingen erfüllte die Luft, als hingen direkt über
ihm ungeheure Glocken. Dann begannen sie zu schlagen. Einmal, zweimal… Ja, Jem wusste, wohin sie fuhren. Das Mondlicht drang durch die Wolkenfetzen, und Jem er kannte den Tempelbezirk. Die Glocken schlugen ein drittes und ein viertes Mal, als die Tore des Friedhofs geöffnet wurden. Jem presste sich fest an den Kasten der Kutsche und hoffte, dass die Wachen ihnen nicht nachschauten. Mittlerweile hatten die Glocken ein fünftes und sechstes Mal geschlagen. Jem vermutete, dass noch mehr Wachen den Eingang des Großen Tempels bewachten. Er nahm allen Mut zusam men, ließ los und rollte in eine tiefe Schneewehe am Rand der Auffahrt, welche die Kutsche knirschend hinauffuhr. Rasch krabbelte er in den Schatten eines Grabsteins und hockte sich zitternd in die schützende Dunkelheit. Die Glocken schlugen immer noch, siebenmal, achtmal. Jem lugte hinter dem gewaltigen Grabstein hervor. Durch das Schneetreiben sah er die Laterne, die an Boh nes Arm baumelte. Dann erkannte er Raggle, der sich in Poltys Griff wand. Sie redeten, fluchten vielleicht oder drohten. Aus dieser Entfernung konnte Jem nichts verste hen. Aber einmal glaubte er die Worte Kerker und Opfer zu hören. Genau das hatte er befürchtet. Die Glocken schlugen ungerührt ein neuntes und zehntes Mal, und Jem erinnerte sich daran, was er damals in der Krypta erlebt hatte, als Myla beinahe gestorben wäre. Damals hatte Tranimel diese Kindermorde befohlen, noch bevor Toth aus dem Reich des Nicht-Seins befreit wurde. Wel che schlimmeren Pläne mochte der Anti-Gott ersonnen haben, welche größeren Ungeheuerlichkeiten, mit denen er seine bösen Energien stärken konnte, jetzt, wo er den Körper des Ersten Ministers beherrschte? Die Wut loderte wie eine Flamme in Jem empor und hätte fast sogar die Kälte vertrieben. Elfmal schlugen die Glocken, zwölfmal. Einen Augen blick diskutierte Bohne mit seinem Herrn, bis Polty schließlich das Gespräch mit einer verächtlichen Handbe wegung beendete. Er schwang sich Raggle über die Schulter, und Bohne konnte nur noch hinter ihm herlau fen. Die Laterne schwankte heftig, während sie zu einem Seiteneingang des Tempels gingen. Zwischen zwei gewal tigen Pfeilern aus uraltem Stein befand sich eine niedrige Tür, die beinahe von der Finsternis verschluckt wurde. Die
beiden Wachtposten ließen sie passieren. Dann waren sie weg, und die Glocken schlugen dreizehn. Jem presste seine Faust an den Kopf und verwünschte seine Hilflosigkeit. Doch was hätte er tun sollen? Sie an greifen? Er wäre gefangen genommen und getötet wor den. Jem schlang die Arme um sich. Die Kälte drang ihm bis in die Knochen. Sicher, er könnte Hilfe holen, aber wie? Würde er überhaupt zu Nirrys Taverne zurückfinden? Und blieb ihm genug Zeit? Verzweifelt schaute er sich auf dem dunklen Friedhof um. Es war ein Garten des Todes mit seinen Grabsteinen und Gabmälern und den kahlen Bäumen, deren Äste sich miteinander verwoben. Drohend wie eine riesige, uneinnehmbare Festung erhob sich der Tempel vor ihm. Es waren sicher überall Wachen. Doch das spielte keine Rolle. Irgendwie musste Jem hinein kommen. »Harlekin«, murmelte er, »kannst du mir jetzt helfen?« Doch Jems Zähne klapperten so laut, dass seine Worte untergingen. »Halt den Mund, Kind! Oder willst du, dass ich dir das Hirn rausprügle?« Die Wendeltreppe schien sich endlos zu winden. Die Krypta lag tief unten in einem finsteren Labyrinth. Mit jedem weiteren Schritt sank auch Bohnes Mut. Seine Stimmung wurde noch schlechter, als er mit ansah, wie Polty seine kleine Last durch die Luft schleuderte. Raggles Kopf schlug beinahe gegen die feuchten Wände. Seine Schreie hinter dem improvisierten Knebel wurden immer lauter. Polty kicherte und presste das Kind gegen seine Brust. 4 Die Glocken haben die Dreizehnte Fünfzehn eingeläutet; in unserer Welt wäre es entsprechend kurz nach sieben Uhr abends. Siehe auch »Anhang: Die Zeit im Orokon«, Band 2 der Reihe »Der Kreis des Orokon« Bohne stolperte mit der Laterne hinterher. »Sei vorsich tig, Polty!« »Die Göre muss doch sowieso sterben, hab ich Recht?« Die Schreie wurden jetzt von dem Bärenfellmantel er stickt. »Verstehst du denn nicht, dass ich nur gnädig bin, Bohne? Wenn er etwas von seinem unnützen Gehirn ver
liert, ist er vielleicht ruhig. Soll ich ihm einen oder zwei Finger brechen oder ihm die Augen ausstechen?« Er ki cherte erneut. »Weißt du noch letzten Monat? Erinnerst du dich an den Spaß, den wir mit dem Tobarillo hatten?« »Ja, Polty«, erwiderte Bohne kläglich. Er hatte ver sucht, den fraglichen Vorfall zu vergessen. Sein betrunke ner Freund hatte einem Baby mit dem brennenden Toba rillo grinsend ein Auge ausgebrannt. Zuerst waren die zarten Wimpern und Lider versengt worden, und dann hatte der Augapfel wie ein Spiegelei gezischt, bis schließ lich das Auge wie eine Eiterbeule aufgeplatzt und die Flüssigkeit herausgespritzt war. Polty hatte geflucht – wütend über den Verlust eines guten Tobarillo. Trotzdem hatte er sich einen frischen angezündet, mit dem er sich eifrig an das andere Auge des Kindes gemacht hatte, während Bohne sich in einer Ecke der Zelle erbrochen hatte. »Ich glaube, du solltest das nicht noch einmal versu chen, Polty«, gab Bohne zu bedenken. »Vergiss nicht, was der Erste Minister gesagt hat.« Polty lenkte mürrisch ein. Augen auszubrennen war nur einer seiner Exzesse. Einem anderen Kind hatte er die Finger gebrochen, einen nach dem anderen. Wieder ei nem anderen hatte er die Zunge an der Wurzel herausge rissen, hatte Nasen aufgeschlitzt, Ohren abgeschnitten, einen nervigen, schniefenden kleinen Jungen kastriert und seine Initialen in die zarten Bäuche und Schenkel kleiner Mädchen geritzt. Er hätte noch mehr tun können, aber nachdem er einem Kind die Gliedmaßen amputiert hatte, hatte Toth ihn zu rechtgewiesen und verlangt, dass seine Opfer unversehrt auf den Altar kommen sollten. Seitdem hatte Polty wider strebend davon Abstand genommen und die Kinder nur spielerisch geschlagen, ein paar Arme ausgekugelt und die hübscheren Mädchen nur leicht verletzt, manchmal mit der Hilfe von Penge. »Denk daran, Polty, der hier ist etwas Besonderes«, mahnte Bohne. »Pah! Das ist nur ein Kind wie all die anderen, wenn du mich fragst.« »Aber Toth hat das doch gesagt! Und ihm vertraust du doch, oder nicht?« Bohne hätte wissen müssen, dass er sich auf gefährli
ches Terrain begab. Ein übel riechender Flur erstreckte sich vor ihnen. Er glänzte feucht im Licht der Laterne. Sie hatten den tiefsten und ältesten Teil der Krypta erreicht, und waren kurz vor dem hallenden Gewölbe, in welchem der Erste Minister, beobachtet von seiner schwarz geklei deten Bruderschaft, seine widerlichen Rituale abhielt. Während Polty ihr heutiges Opfer zu den Zellen schleppte, drehte er sich ärgerlich um. »Ich soll Toth ver trauen? Was meinst du mit ›ihm vertrauen‹? Wollte er mir nicht heute Penge wiedergeben? Und trotzdem bin ich immer noch in demselben elenden, demütigenden Zu stand! Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, Bohne, würde ich sofort mit ihm brechen.« »Wirklich, Polty? Denkst du wirklich darüber nach?« Polty kniff die Augen zusammen. »Was willst du andeu ten, Bohne? Hältst du das etwa für eine gute Idee?« Er wühlte in seiner Tasche und förderte schließlich einen Schlüsselring zutage. Er steckte erst einen, dann den an deren Schlüssel in das Zellenschloss. »Komm, leuchte mir ein bisschen. Wir stecken ihn mit dem Ersatzbaby zu sammen, was denkst du? Dann hat er wenigstens ein bisschen Gesellschaft. Wer sagt, ich empfände kein menschliches Mitgefühl, hm?« Bohne schlurfte heran. Er hatte gehofft, dass er den heu tigen Abend überstehen könnte, ohne das zu sehen, was Polty das Ersatzbaby nannte. »Polty«, sagte er rasch, »aber wir könnten doch mit Toth brechen, glaubst du nicht? Wir könnten einfach weggehen, nur du und ich, vielleicht in ein anderes Land und – « »Sei nicht so ein Waschlappen, Bohne!« Das Kind hör te einfach nicht auf, sich zu wehren. Und Polty widerstand nur mühsam der Versuchung, seinen kleinen Kopf gegen die Wand zu schlagen. »Dummkopf, wie soll ich ver schwinden, bevor Penge wieder hergestellt ist?« »Aber… aber du hast doch gesagt, dass du ihm nicht vertrauen kannst! Er ist verrückt, Polty! Er redet davon, die Welt zu zerstören und – « »Was interessiert mich die Welt, solange Penge in ei nem Glas dümpelt?« Das Gespräch lief nicht so, wie Bohne es geplant hatte. Er wünschte sich so sehnlichst zu fliehen! Trotz allem, was Bohne von Toths Macht gesehen hatte, mochte er
nicht glauben, dass er die ganze Welt beherrschte. Wenn Polty nur einfach Penge vergessen und sich mit Penge zufrieden geben würde! Wie glücklich sie leben könnten, Herr und Diener, weit weg, und wie sehr sie das Leben in einem warmen, exotischen Klima genießen könnten! Bohne hatte oft versucht, dieses Thema anzuschnei den, aber stets hatte Polty ihn mit körperlicher Gewalt zum Schweigen gebracht. Jetzt jedoch öffnete er einfach die Tür zu der Zelle. »Igitt, was für ein Gestank! Dem Ersatzbaby geht es immer schlechter, was, Bohne?« Das Licht der Laterne erhellte ein elendes, ekelhaftes Verlies mit feuchten, moosigen Wänden und einem stroh bedeckten Boden. Polty ließ seine Last erleichtert fallen und hinderte Raggle geschickt daran wegzulaufen. Polty drückte sein Knie auf die schmale Brust und band rasch die kleinen Handgelenke mit Fesseln, weil sie für Hand schellen zu klein waren. Aus der Ecke der Zelle drang ein Stöhnen. »Hast du Vy schon ihre Brotkruste gegeben, Bohne? Vergiss nicht, wir müssen das Ersatzbaby füttern!« »Ich dachte, das machst du gern selbst, Polty« »Mir ist heute nicht danach, kapiert?«, fuhr Polty ihn an. »Und außerdem habe ich zu tun.« Er drehte sich weg und band einen festeren Knebel um den Mund des Jun gen. »Keine Sorge, Bürschchen, es dauert nicht lang. Lei ste nur unserer Vy hier etwas Gesellschaft, hm? Was hast du schon für große Sorgen? Bald liegst du auf dem Opfer stein, und alles ist für dich vorbei. Es ist ganz einfach.« Polty verhöhnte das Kind, aber Bohne hörte auch eine gewisse Rührung in den Worten. Der arme Polty! Bohne hätte alles getan, um seinem Freund das Leiden zu er leichtern. Aber glaubte Polty ihm? Seit einem gewissen Zwischenfall in Unang Lia vertraut Polty mir nicht mehr, dachte Bohne traurig. Bei diesem Ereignis hatte Penge eine entscheidende Rolle gespielt. Aber welcher andere Offiziersbursche würde ihm schon so gut dienen? Viel leicht erkannte Polty ja eines Tages, dass Bohne der bes te Freund war, den er jemals gehabt hatte, und der einzi ge Freund, der ihn niemals verlassen würde. So war sie beschaffen, die bedingungslose Liebe. Bohne stellte seufzend die Laterne ab und suchte in seiner Manteltasche nach der schalen, muffigen Brotrinde, die Polty als Ernährung für das Ersatzbaby für ausrei
chend hielt. Eine Weile hatte Bohne noch andere kleine Gaben in seinen Taschen versteckt, Äpfel, Karotten und Kekse und einmal sogar ein Stück Schokoladenkuchen, was eine ziemliche Schweinerei verursacht hatte. Als Pol ty es herausgefunden hatte, war er sehr wütend gewor den und hatte sogar von Verrat gesprochen, von Betrug. Nur durch Tränen und Flehen hatte Bohne eine Katastro phe abwenden können. Als er die Laterne hob, wurde die stinkende Gestalt sichtbar, die auf dem Rücken lag und an der gegenüber liegenden Wand angekettet war. Es war eine erwachsene Frau, nackt und hochschwanger. Ihr Haar war vollkommen verfilzt, und Maden und Scha ben krochen über ihre Haut. Ratten hatten ihr schon meh rere Zehen abgefressen. Zwischen ihren Beinen war eine Menge Stroh aufgeschichtet. Zweifellos in Erwartung des frohen Ereignisses. Allerdings war das Stroh im Augen blick voller Exkremente. Bohne schluckte und brach eine Brotecke ab. Er tauch te sie in eine Schüssel mit abgestandenem Wasser und hielt die Kruste dann an den Mund der Frau. Sie drehte den Kopf weg und stöhnte erneut. Vorsichtig versuchte Bohne, ihr die Rinde zwischen die Lippen zu schieben. Wie er diese Pflichten hasste! Wie er sich selbst dafür verachtete! Aber Bohne war ebenfalls ein Gefangener, genau wie dieses bedauernswerte Opfer. »Du musst etwas essen, Vy! Komm schon, tu es für das Baby!« Ein tiefer, beinahe tierischer Seufzer war die einzige Antwort. Die Frau konnte nicht mehr reden, was Bohne Leid tat. Sie hatten sich früher auf eine gewisse Art un terhalten. Doch das war, bevor Polty ihr die Zähne ausge schlagen hatte. Die Närrin hatte ein bisschen zu laut pro testiert, als Polty eine dieser Babyquälereien, die ihn so amüsierten, vor ihr durchgeführt hatte. Wenn sie nur auf Bohnes Warnungen gehört und den Mund gehalten hätte! Aber wahrscheinlich konnten Frauen dagegen nichts tun. Nicht, dass Bohne etwas von Frauen verstand. Diese hier war die erste, die er jemals nackt gesehen hatte. Er gab seine Versuche mit der Brotrinde auf und hielt der Frau stattdessen den Blechnapf an die Lippen. We nigstens trank sie etwas. »Es wird nicht mehr lange dauern.« Polty stieß Bohne
beiseite und fuhr mit dem Finger über den aufgeblähten Bauch der Frau. Ein Wasserstrahl spritzte ihm ins Gesicht, aber Polty lachte nur und schob sich dichter an die gefes selte Frau heran. Er legte sich über sie, als wollte er sie mit seinem Bärenfellmantel beschützen. Aber Bohne wusste, was passierte. Polty genoss dieses kleine Spiel. Begriff er denn nicht, dass er nur sich selbst demütigte? Aber nein, Polty ging in die Knie, als müsste er den richti gen Zugang finden, und stieß dann obszön mit der Hüfte vor und zurück. Rein und raus, rein und raus, und das unter dem kugelförmig geschwollenen Bauch. Bohne wandte sich ab, aber er wusste, dass Polty jetzt das verfilzte Haar der Frau zurückschob und ihr Worte ins Ohr flüsterte. So laut, dass sein Freund mithören konnte. »Du magst vielleicht andere für dein Schicksal veranwort lich machen, meine Hübsche, vielleicht sogar die ganze Welt!« Rein und raus, rein und raus. »Doch hast du dir das nicht alles selbst zuzuschreiben? Das ist die Strafe für deine Sünden, meine Hübsche.« Rein und raus, rein und raus. »Kaum vorzustellen, dass du einmal die Stolzeste der vornehmen Schönen der Gesellschaft warst! Wer hät te gedacht, dass du einmal so weit sinken würdest? Du bist mit dem jungen Heva-Harion davongelaufen, hm?« Immer weiter, immer weiter. »Und dann beim Würger gelandet, hm?« Rein und raus, rein und raus. »Und dann ein kleiner Unfall, als wir gerade Bedarf für ein Ersatzbaby hatten! Nein, du hättest nie gedacht, dass es so weit kommen könnte, nicht wahr?« Polty wandte sich ab und schrie plötzlich: »Du schmut zige Schlampe, glaubst du, dass ich vergessen hätte, wie du beim Ball in Irion auf und ab stolziert bist und die gan zen Jungen an der Nase herumgeführt hast? Für was hast du dich gehalten, für eine Art Göttin? Wusstest du denn nicht, dass du ein Pferdegesicht hast? Ein Pferdegesicht, das haben alle gesagt!« Polty trat mit dem Stiefel gegen das Stroh. Er hob die Hände und warf den Kopf wie ein Hengst in den Nacken. Dann wieherte er. »Oh, es ist ganz gut, dass ich dir die Zähne ausgeschlagen habe, du hässliches Miststück! Aber mach dir keine Sorgen, du wirst sie nicht mehr brau chen!« Er schlug der Frau ins Gesicht. Ihr Kopf flog zur Seite, und sie schluchzte. »So endet es immer, Miss Vyel la Rextel, so endet es!«
Bohne ballte die Fäuste. Er hätte sich so gern dazwi schengeworfen! Aber das wagte er nicht, er wagte es ein fach nicht! Heiße Tränen traten ihm in die Augen, und er wandte den Blick ab, schaute auf das gefesselte Kind an der anderen Wand. Es wehrte sich jetzt nicht mehr, son dern starrte mit weit aufgerissenen Augen auf diese grau envolle Szene. Polty wirbelte unvermittelt herum. »Komm, Bohne, ich will zum Würger.« Bohne schnappte nach Luft. »Nein, Polty! Toth hat ge sagt, dass wir hier bleiben sollen! Wir sind im Dienst, Pol ty!« Polty verdrehte die Augen und deutete auf die Gefan genen. »Und wo wird sie wohl hingehen? Oder er? Benutz deinen Verstand, Bohne! Wir haben unser Tagwerk erle digt. Was sind wir, Wachtposten? Es ist noch früh. Komm schon, wir können uns einen netten Abend im Würger machen und dann um Mitternacht wieder hier sein.« »Aber Polty, wenn Toth das herausfindet – « »Und? Was wird er dann tun? Was, Bohne?« »Er hat Zauberkräfte, Polty« »Zauberkräfte? Und dann kann er nicht einmal Penge wiederherstellen? Wie kann er erwarten, dass ein Mann all das erträgt-« »Es muss sehr schwierig zu bewerkstelligen sein, Polty Ich meine-« »Ich habe es satt, seine Befehle entgegenzunehmen, ich habe es satt, hast du verstanden?« Polty spie ins Stroh. »Und ich habe auch dein Gejammer satt. Du willst einfach nicht zum Würger gehen, hab ich Recht? Habe ich nicht versprochen, dir zu helfen? Hab ich nicht gesagt, dass ich dir gute Tipps geben würde? Du bist so ein Waschlappen, Bohne!« Polty griff nach der Laterne und trat auf den Korridor hinaus. Die Schlüssel warf er hinter sich ins Stroh. »Schließ ab, wenn du fertig bist. Du kannst an Vy üben, sie liegt ja schon auf dem Rücken und ist bereit. Sei nur vorsichtig mit dem Ersatzbaby. Wir wissen nicht, wann wir es brauchen. Allerdings kann ich mir nicht vorstellen, dass du große Probleme verursachen wirst. Schließlich reden wir hier ja nicht von Penge, hab ich Recht? Nicht bei dir!« »Polty, warte!« Bohne mühte sich mit dem Schloss ab,
während der Schein der Laterne sich den feuchten Korri dor hinunterbewegte. Mehr noch als Angst vor Toth trieb Bohne in diesem Moment die Furcht an, allein im Dunkeln zurückzubleiben. »Polty, ich komme ja mit zum Würger! Aber warte auf mich!« »Oh, Eya… Oh, Eay… Oh, Eay…« Eine lange Zeit sagte Umbecca nichts anderes und wiederholte diese Silben, bis sie zu einem Mantra zu wer den schienen. Die fette Frau wiegte sich von Trauer er schüttert auf einem vergoldeten Lehnstuhl neben dem Krankenbett langsam hin und her. Von Zeit zu Zeit griff sie hinter sich nach einem kleinen Tischchen, auf dem eine mehrstöckige Etagere stand, die mit ihren Lieblings delikatessen beladen war. Doch heute konnte Umbecca kein Vergnügen aus den Cremehörnchen, den Minzkuchen oder den extra für sie gemachten Blaubeertörtchen zie hen, die sie sich achtlos in ihren kleinen Mund stopfte. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Bett und dem glie derlosen Ding, das darin lag. Von Zeit zu Zeit tupfte sie Fevals Stirn mit einem feuchten Tuch ab oder beugte sich vor und küsste seinen Hals oder seine Lippen. Wie sollte sie glauben, dass er niemals wieder gesund werden wür de? »Oh, Eay… Oh, Eay… Oh, Eay. « Die Witwe war nicht zurückgekommen, und die anderen bereiteten sich auf den Ball vor, sogar der Apotheker. Umbecca war mit dem Torso auf dem Bett allein. Auf die Bettdecke hatte sie die vier abgetrennten Gliedmaßen gelegt, alle in ihren korrekten Positionen, so als wäre es nur eine Frage der Zeit, bis sie wieder an den kauterisier ten Stümpfen anwachsen würden. Vielleicht konnte Um becca das mit Hilfe der Liebe des Agonis sogar vollbrin gen. Sie ging neben dem Bett auf die Knie, was eine schmerzhafte Angelegenheit war, und faltete ihre Hände zu einem Gebet. Was war mit dem Glauben geschehen, der einst so heiß in ihrem Herzen gebrannt hatte? Ihr Blick glitt über die Wände, als suche sie Rat bei den Heili genbildern und dem großen goldenen Kreis des Agonis. Sie versuchte sich an die Sätze der Litanei zu erinnern, aber das Einzige, was sie zustande brachte, war das
Mantra. »Oh, Eay… Oh, Eay… Oh, Eay…« Der Wind heulte und fegte um den Koros-Palast, und das Feuer knackte und zischte im Kamin. Umbecca dachte an die Zeit, bevor sie ihren geliebten geistigen Ratgeber kennen gelernt hatte. Wusste sie denn nicht ganz genau, was sie ihm alles ver dankte? Damals hatte sie in ihrer provinziellen Tugendhaftigkeit demütig ihr unwürdiges Los akzeptiert. Dann jedoch kam der gut aussehende, gewandte Feval wie ein Bote der großen Welt, den man ihr geschickt hatte, um sie ihrer Berufung zuzuführen. Aber wie konnte eine Frau mit so viel Macht und solchem Ruhm trotzdem noch von einer solch hoffnungslosen Sehnsucht erfüllt sein? Eay, der teu re Eay hatte ihr so viel gegeben. Doch leider nie das, was sie eigentlich von ihm gewollt hatte. Umbecca strich mit der Hand über einen kalten, dunkelro ten Arm. Wie sehr sie sich wünschte, dass diese Arme sie umfingen! Sie küsste ihn, leckte an dem verkrusteten Blut, und alle Gedanken an das Gebet waren vergessen. Ein Rumpeln ähnlich einem unterseeischen Beben melde te sich tief in ihrer aufgeblähten Gestalt. Sie widmete sich jetzt zärtlich dem Torso. Ungeduldig zog sie die Decken zurück. Ein Bein fiel zu Boden, doch Umbecca achtete nicht darauf. Mit der Hand strich sie über die verschwitz te, haarlose Brust. Der Torso bebte, und ihre Hand glitt tiefer. Umbecca stöhnte wie ein Seehund, der gebar. Sie schob ihre Röcke hoch, und ihr Körper wackelte wie ein gewalti ger Pudding. Blindlings griff sie hinter sich zu der Etagere, um sich mehr Essen, noch mehr Essen, in den Mund zu stopfen. »Wird das gehen, Umbecca?« Umbecca schrie auf. Ihre Blase gab nach, und sie nässte sich ihre Unterhose mit der stinkenden Flüssigkeit ein. »Silas Wolveron! Nein, das kann nicht sein…!« Aber die Gestalt war unverwechselbar. Der alte Mann trug seine vertraute, braune Robe und hatte die Kapuze zurückgeschlagen. Deutlich waren die leeren Höhlen zu sehen, in denen einst seine Augen gewesen waren. In seiner Hand hielt er den knorrigen Stab, und mit der an deren reichte er ihr ein tropfendes Sahnehörnchen, wäh
rend sein Mund sich zu einem unheimlichen Grinsen ver zerrte. »Was machst du hier? Wie bist du…?« Umbecca ver suchte, sich zu erheben, aber sie hatte plötzlich keine Kraft mehr. Ängstlich drückte sie sich gegen das Bett des Lektors, während ihr die nassen Röcke wieder über die Schenkel rutschten. Ihr Mund war klebrig von Teigkrü meln, Glasur und Blut. »Du bist… du bist tot, du…« Das Grinsen wurde zu einem Lachen, als die Gestalt sich veränderte, verschwamm und plötzlich ihre wahre Identität annahm. »Erster Minister! Ich – « »Ihr dachtet, ich wäre jemand anders?« Die weiß ge kleidete Gestalt trat näher und biss ein Stück von dem Sahnehörnchen ab. »Würde es Euch gefallen, wenn ich jemand anders wäre?« Seine Lippen waren mit Sahne verschmiert, die von seinem Kinn tropfte. Umbecca riss sich zusammen und rappelte sich hoch. »Ihr unverschämter Kerl, was macht Ihr hier? Ist Euch nicht klar, dass dies hier das Schlaf zimmer einer Lady ist?« »Genau genommen, Mylady, ist das hier das Schlafzim mer des Lektors. Außerdem interessiert mich viel mehr, was Ihr hier zu schaffen habt. Solltet Ihr Euch nicht längst für den Ball schmücken? Wie sollen wir diesen lan gen und anstrengenden Abend überstehen, wenn wir nicht von Eurer entzückenden Harlekin-Eule unterhalten werden?« Umbecca war verwirrt. »Ball? Wovon redet Ihr? Wie kann ich… wenn doch…« »Ihr meint, Ihr würdet teilnehmen, wenn Feval eben falls anwesend wäre?« »Selbstverständlich würde ich… wie könnt Ihr nur…?« Tranimel leckte sich die Finger ab. Dann warf er einen Blick auf das zerwühlte Bett und schaute anschließend auf den Teppich. »Meine Güte«, murmelte er. »Hier ist ein Bein… es liegt einfach auf dem Boden. Wie unachtsam.« Er hob das steife, rote Ding auf und hielt es sich unter die Nase. Dann roch er daran, als wäre es Wildbret. »Ehrlich gesagt, scheint mir, dass es allmählich verfault.« Umbec ca beobachtete ihn fassungslos. »Eays Bein? Niemals…« »Es sei denn, er hätte Wundbrand, hab ich Recht? Nein, die Hitze hier ist wirklich erstickend, daran liegt es. Den
noch glaube ich, dass er ohne Decke friert.« Tranimel trat an das Bett und stieß den Patienten mit dem Finger an. »Hm, Torso? Willst du mir nicht antworten, Torso? He, das ist wirklich ein sehr schweigsamer Bursche, das muss ich schon sagen…« »Lasst ihn in Ruhe!«, rief Umbecca. »Er ist krank…« »Krank? In der Nacht des Vogelballs? Und fällt dadurch in königliche Ungnade? Ich kann nicht glauben, dass das diesem Burschen passiert, Ihr vielleicht? Wenn ich Lektor Feval eines zugute halten muss, dann seine Fähigkeit, wie eine Klette an der besseren Gesellschaft zu hängen. Denn das hat er doch getan, hab ich Recht? Lady ChamCharing hat versucht, ihn für immer zu verbannen, und was ist passiert? Er ist zurückgekommen, mächtiger als je zuvor. Einen guten Mann kann man eben nicht aufhalten, richtig? Würdet Ihr mir da nicht zustimmen, teure Lady?« Während er sprach, ging der Erste Minister mit dem ab getrennten Bein auf und ab und stampfte damit auf den Teppich wie mit einem Gehstock. Als er sich jetzt wieder dem Bett zuwandte, ließ er das Bein einfach los. Doch es fiel nicht einfach zu Boden. Stattdessen begann das ver faulende Glied ein bisschen herumzuzucken, als würde es sich auf einen Tanz vorbereiten. Umbecca schlug die Hand vor den Mund. »Aber was ist schon ein Bein ohne das andere?«, rief der Erste Minister und schleuderte das andere Bein zu seinem Gegenstück. Funken stieben durch die Luft, und eine körperlose Musik erklang, als beide Beine jetzt mit einander eine fröhliche Gavotte tanzten. Hier und da tropfte ein bisschen Fett aus dem blutigen Fleisch, und ein Stück zerfetzte Haut fiel zu Boden. Die Arme folgten sogleich. Im nächsten Moment tanz ten alle vier Gliedmaßen gleichzeitig. Absätze Hackten, und die Hände klatschten. Umbecca drohte in Ohnmacht zu fallen, aber Tranimel war noch längst nicht fertig. Während die fette Frau hilflos zusah, beugte er sich über das Bett und hob den Torso mit seinem schwankenden, willenlosen Kopf an. Dann, als würde er so gut wie nichts wiegen, schleuderte er ihn einfach mitten zwischen die tanzenden Gliedmaßen. Funken flammten auf, und jetzt tanzten die abgetrenn ten Körperteile im Einklang, als würden sie von der strah lenden, zischenden Aura zusammengehalten. Umbecca
schaute fasziniert und gleichzeitig entsetzt zu, wie Fevals Kopf gefährlich hin und her zuckte, wie die von Blutegeln entstellte Brust und der Bauch schwankten, und lauschte dem obszönen Klatschen des Unterleibs. »Geht zu ihm, teure Lady Leistet ihm bei diesem Tanz Gesellschaft.« Umbecca war beinahe schlecht vor Entsetzen, aber ir gendwie vermochte sie diesem Befehl nicht zu widerste hen. Sie stolperte vorwärts. Verfaulende Arme umarmten sie, und aus der Gavotte wurde ein langsamer, romanti scher Walzer. Die Frau drehte sich immer weiter herum, spürte ihre nassen Unterröcke, sah den schwankenden Kopf des Torsos, die Speichelfäden, die aus seinem Mund schwangen und ihre Brüste mit silbernen Fäden überzo gen. Es schüttelte sie, aber die Musik wurde lauter, stieg an wie eine Flutwelle. Sie schloss einen Moment die Augen und stellte sich vor, sie wäre wirklich auf dem Ball und wirbelte in den Armen des Mannes herum, den sie liebte. Das Fett rollte sich in den Speckfalten ihres Halses, als sie sich zurückneigte und nach dem schlaffen, sabbernden Mund suchte. Sie presste ihre klebrigen Lippen gierig auf die seinen, bis der Kopf wieder zurückfiel. Sie erschauer te, als ihr sein Speichel in den Mund lief. Der Tanz ging weiter. Als Umbecca die Augen wieder öffnete, stellte sie fest, dass Feval und all seine Gliedma ßen bereits sein Papageienkostüm trugen. Eine mit Fe dern geschmückte Maske bedeckte sein Gesicht, und als sie in die bunten Federn schaute, wurde ihr klar, dass sie ebenfalls wie durch Magie ihr eigenes Kostüm trug und hinter ihrer gewaltigen Harlekin-Eulen-Maske hervorlugte. Es war wirklich so, als wären sie auf dem Ball! Fröhlich schwoll die Musik an, das Feuer im Kamin loderte im Takt und die Heiligenbilder an der Wand wackelten ebenso wie Umbeccas Fleischmassen. Sie war überzeugt, dass ihr Geliebter gleich mit ihr reden und endlich die Worte der Liebe aussprechen würde, die er so grausam und so uner träglich lange zurückgehalten hatte. »Oh, Eay… süßer Eay…!« »Tante Umbecca?« Die Tür hatte sich geöffnet. Es war die Königin. Sie trug ein prächtiges, silberfarbenes Schwanenkostüm und watschelte in das Zimmer, während sie das aufwändige
Kopfteil abnahm, das den gebogenen Hals eines Schwa nes darstellte. Bei ihrem Eintreten verstummte die Musik augenblicklich. Jeli runzelte die Stirn, als sie sah, wie die monströse Harlekin-Eule den Papagei umarmte. Der Erste Minister trat aus dem Schatten und summte die Melodie des verstummten Walzers. Er trug seine übliche weiße Tunika und rollte den Badestuhl vom Bett vor sich her. Der gewaltige Papagei rutschte aus Umbeccas Armen und plumpste in den Stuhl. Umbecca drehte sich um und setzte ihre Maske ab. Ihr Gesicht war rot und in Schweiß gebadet wie eine Speck schwarte in einer Bratpfanne. Ihre Augen hatten einen wahnsinnigen Ausdruck. »Kind…« Umbecca griff nach den Sahnetörtchen. Es war noch eines übrig. Danach nahm sie sich ein Stück Stachelbeer torte. Jeli legte den Schwanenhals auf das Sofa. »Ich bin… Ich freue mich, dass du schon fertig bist, Tante«, stam melte sie. »Ich dachte… Aber wer ist das?«In dem ge dämpften Licht konnte sie nicht sehen, dass Eay Fevals Torso vom Bett verschwunden war. Außerdem hatte der Papagei die richtige Anzahl von Gliedmaßen. »War dieses Kostüm nicht eigentlich für den…?« Misstrauisch sah sie sich in dem Gemach um, ohne zu wissen, wonach sie eigentlich suchte. Die Heiligenbilder an den Wänden hingen merkwürdig schräg, und noch erfüllte der Geruch von verbranntem Fleisch die Luft. Doch es duftete auch nach-etwas anderem, etwas Feuch tem und Heißem. Und was waren das für Funken, die den Papagei umspielten? Tranimel summte immer noch, während er den Bade stuhl nach vorne schob. »Eure Hoheit, ich möchte Euch jemanden vorstellen. Vermutlich möchtet Ihr ihn gerne kennen lernen… das heißt, wiedersehen. Wie schade, dass er ein hilfloser Krüppel ist!« Lächelnd streckte der Erste Minister seine schlanke Hand aus, als wollte er das Mädchen segnen. Dann zog er den schlaffen Kopf zurück und riss die Masken herunter. Ein junger Mann lächelte Jeli an. Er hatte ein schmales, knochiges Gesicht, das von einer strohblonden Mähne gekrönt wurde. Jeli wich zurück. Konnten das wirklich die Augen sein, nach denen sie sich so gesehnt hatte, die Lippen, die sie so gern geküsst hätte?
Sie unterdrückte einen Schrei. »Nova… Nova?« Umbecca verschlang mit vollen Backen mehrere Blau beertörtchen. Sie hatte sich in ihrem gewaltigen HarlekinEulen-Kostüm einfach auf den Teppich fallen lassen. Jeli ließ sich etwas eleganter auf das Sofa sinken. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Gestalt in dem Badestuhl keineswegs der junge Mann war, dessen Liebe sie einst verschmäht hatte. Ihr fiel allerdings nicht auf, dass der kostümierte Lektor ein ebenso merkwürdiger Anblick war, denn sie konnte nur an ihre Vision denken. Fragend blick te sie den Ersten Minister an. Versteckte sich da ein La chen in seinen Augen? Ein Lakai trat ein und verbeugte sich vor Umbecca. »Entschuldigt, Madam, da ist eine Lady, die – « »Eine Lady? Jetzt?« Krümel flogen aus Umbeccas klei nem Mund. »Schickt sie weg, ich empfange niemanden!« Aber diese Lady wollte sich nicht einfach abwimmeln lassen. Sie stürmte an dem Lakaien vorbei. »Lady Veeldrop, ich – « Lady Margrave verstummte. Verwirrt starrte sie die fette Frau auf dem Boden an, dann den schwankenden Torso und danach den sardonisch lächelnden Ersten Mi nister. Und da hatte sie gedacht, die Lage im Haus der Cham-Charing wäre beunruhigend! Sie hatte sich der Gnade von Lady Umbecca ausliefern und für ihre Freundin bitten wollen – und auch für die unglückliche Tochter ihrer Freundin. Constansia war vollkommen bestürzt über Tis hys Verschwinden und begriff noch nicht ganz, was pas sieren würde, wenn Tishy nicht rechtzeitig zum Ball er schien. Lady Margrave dagegen war die Tragweite dieser Bedrohung durchaus bewusst. Es wäre der gesellschaftli che Ruin! Sie war verzweifelt. Aber wie sollte sie ihren Fall vortragen? Dann sah sie die Königin und geriet erneut ins Stam meln. »Euer… Majestät, ich – « »Lakai!«, kreischte Umbecca. »Schafft diese Dirne – « Sie wurde von erneuter Unruhe an der Tür unterbro chen. Eine Gruppe von Wachen tauchte auf. »Lady Veeldrop?«, bellte eine Stimme. Umbecca stand mühsam auf und wischte sich Krümel von ihrem feuchten Kleid. »Was gibt es denn jetzt wieder?«
»Lasst mich los, ihr brutalen Kerle!«, schrie jemand. Umbecca wurde blass. Wie oft hatte sie diese Stimme gehört? Dieser heisere, gewöhnliche Akzent aus dem Tarn war unverwechselbar. Umbecca sprang zur Tür, gerade als die Wachen die sich heftig wehrende, ziemlich zerrupf te ehemalige Dienstmagd hereinzerrten. »Die Herrin!«, rief Nirry beim Anblick einer Gestalt, die eine ungeheure, bunte Eule mit einem fetten, menschli chen Kopf zu sein schien. Sie schnappte nach Luft und sank zu Boden, als das gefiederte Geschöpf sich auf sie stürzte. Die anderen waren angesichts dieser wütenden Konfrontation zum Zuschauen verdammt. Eay Feval zuck te in seinem Stuhl hin und her, als Umbecca wütend los keifte. »Du tust recht daran, Nirrian Jubb, vor deiner Herrin zu zittern, die du so heimtückisch verraten hast! Ich När rin habe dir die Geheimnisse meines Herzens offenbart, habe dich in die innersten Intimitäten meiner Seele ein geweiht. Du hast mich angezogen und gewaschen… Es schüttelt mich, wenn ich nur an deine Berührung denke! Du böses, undankbares Geschöpf! Mit meiner Hilfe hättest du die höchsten Stufen einer Dienstbotenkarriere erklim men können. Du hättest hier in Agondon meine Kammer zofe sein und mich im Glanz meines neuen Ranges bedie nen können. Stattdessen hast du mein Vertrauen schmählich enttäuscht und bist weggelaufen, um was zu sein… eine Hure? Eine Hure, ist es das, was du jetzt bist, Nirry Jubb?« Das war zu viel für Nirry. Eine Weile hatte sie ge schwankt, doch jetzt erhob sie sich wieder und kämpfte gegen die beiden Wachen an ihren Seiten. »Ich heiße Nirry Olch! Ich bin eine verheiratete ehrbare Frau, du fette alte Kuh, und das eine sag ich dir, ich bin – « »Eine Rebellin!«, kreischte Umbecca. Sie schlug Nirry ins Gesicht. »Genau richtig, Nirry Jubb… eine Rebellin und eine Verräterin, das bist du! Glaubst du wirklich, wir wüssten nicht, wer die Bombe im Großen Tempel gezün det hat? Glaubst du, wir wüssten nicht, wessen Leben verwirkt ist? Kaum auszudenken, dass ich dich an mei nem Busen genährt habe! Habe ich dich nicht wie meine eigene Tochter behandelt? Denk nur an das, was du ge tan hast, verruchtes Kind, in der kurzen Zeit, die dir noch vor deiner Exekution bleibt.«
Umbecca drehte sich weg und zitterte vor Zorn. »Wa chen, schafft sie mir aus den Augen! Ich kann es nicht länger ertragen, diese Rebellin… diese Verräterin… diese Mörderin zu sehen!« »Mörderin?« Wenn die Wachen sie nicht zurückgehal ten hätten, hätte Nirry Umbecca sicherlich angegriffen. Ihre Schreie hallten laut, während man sie wegzog. »Ich, eine Mörderin? Du verlogene, böse alte Hexe! Weißt du nicht, warum ich dich verlassen habe? Weißt du nicht, dass ich gesehen habe, was du getan hast – du und diese Schlange Feval? Ich habe gesehen, wie ihr Lord Margrave getötet habt… Ich habe euch dabei beobachtet!« Nachdem Nirry weggeschafft worden war, herrschte be stürztes Schweigen. Umbecca sank langsam auf einen Stuhl. »Das Mädchen ist natürlich verrückt«, flüsterte sie. »Ziemlich verrückt…« »Selbstverständlich«, stimmte ihr der Erste Minister zu. »Sie ist doch zum Tode verurteilt?« »Dieser Akzent«, sagte Jeli. »Er ist so widerlich gewöhn lich!« Erst jetzt fiel Umbecca auf, dass ihre adlige Besu cherin ebenfalls verschwunden war, ohne zu sagen, was sie gewollt hatte. Merkwürdig. »Diese… diese Frau. Wer war das? Ich habe sie schon einmal gesehen, aber – « Der Lakai räusperte sich und verbeugte sich kurz. »Wenn Ihr erlaubt, Madam… Sie hat sich vorgestellt als… Lady Margrave.« Im gleichen Moment schlug Eay Feval die Augen auf, und ein schauerliches Lachen drang aus seinem sabbernden Mund. Umbecca wurde leichenblass.
30. Die Karten auf den Tisch Es waren zwei Wachen. Aber es waren nicht Morven und Crum! Die beiden Soldaten standen gereizt zwischen zwei ge waltigen steinernen Strebepfeilern. Der eine war entsetz lich gelangweilt und hoffte, dass die lange Wache bald vorüber sein würde. Er sehnte sich danach, wieder in sei ner Kaserne zu sein und einen Humpen Bier in der Hand zu halten! Er würde ein paar Runden Orokon-Tarot spielen
und alles zurückgewinnen, was er letzte Nacht verloren hatte. Die Verzweiflung des anderen schien dringlicherer Na tur zu sein. Er stampfte mit den Füßen, wiegte sich hin und her und schlang sich die Muskete über die andere Schulter. »Bei Lord Agonis, ich muss gehen.« »Dann geh doch. Wofür gibt es denn eine Tür?« »Das meine ich nicht. Ich meine etwas anderes.« Ein lautes Geräusch unter dem Bärenfellmantel unterstrich seine Worte. »He, nicht hier, hörst du? Mach das dahinten bei den Gräbern.« »Bei den Gräbern?«, kam die furchtsame Antwort. »Da sind Adlige begraben… ich meine, das ist doch Blasfer… oder so was, hab ich Recht? Ich… ich verkneife es mir einfach noch ein bisschen.« Doch das stellte sich als ziemlich schwierig heraus. Er neut ertönte das Geräusch, diesmal noch lauter. Der Bur sche hielt sich den Bauch und sein Gefährte wedelte mit den Händen in der Luft. »Verschwinde, sage ich!« »Aber wir sollen uns doch nicht wegbewegen…« »Und was hast du vor? Willst du mit einem kneifenden Darm herumlaufen? Früher oder später landet die Besche rung in deiner Hose, und ich muss es die ganze Nacht riechen. Verschwinde!« »Aber sie sind tot! Und es ist dunkel – « »Feigling, ich hatte bestimmt schon hundert Huren hin ter diesen Grabsteinen… natürlich nicht bei diesem Wet ter. Du glaubst doch nicht wirklich, dass da draußen je mand lauert? Höchstens irgendwelche Rebellen, die uns in den Himmel schießen wollen!« »Genau wegen denen stehen wir doch Wache – « »Und keiner ist zu sehen. Verschwinde, verschwinde endlich!« Das war Jems Chance. Während Polty und Boh ne unten im Verlies waren, hatte der frierende Eindring ling es geschafft, einen kurzen Rundgang um den Großen Tempel zu machen. Er war von einem Versteck zum an deren gehuscht, hinter verschneiten Grabsteinen, Grab mälern und unter Bäumen in Deckung gegangen. Aber trotz seiner Suche fand er einfach keinen Weg, auf dem er hineingelangen könnte. An jedem Eingang standen bewaffnete Wachen, und eine Patrouille marschierte im merzu um den Tempel. Jem wusste, dass er in Bewegung bleiben musste. Mehr als einmal hätte er sich gern hinge
hockt und sich einfach dem Schnee und Eis ergeben. Ei nes war sicher: viel länger konnte er nicht mehr durchhal ten. Jetzt kam der Wachposten näher und knöpfte sich has tig seinen Bärenfellmantel auf. Jem ging hinter einem großen, zerfallenen Grabstein in Deckung, der ihn vor dem bläulichen Mondlicht schützte. In der Hand hielt er eine Scherbe aus dem Mauerwerk. Es musste schnell ge hen. Wenn der Kerl seinen Gefährten rief, war Jem erle digt. Der Bursche hockte sich hin und riss sich die Hose her unter. Jem sprang vor und schlug zu. Momente später tauchte Jem hinter dem Grabstein auf. Er trug die Uniform der Blauröcke, den Bärenfellman tel und die Muskete. Den Kopf hielt er gesenkt, und den Hut hatte er tief über die Augen gezogen, als er zu der Pforte zwischen den Pfeilern ging. »Das ist doch besser, hab ich Recht?« Jem knurrte zur Antwort. Der andere grinste. »Und? Hast du irgendwelche Re bellen gesehen? Wahrscheinlich hat dein Gestank sie ver scheucht, was? Ist so eine Art Geheimwaffe.« Jem lachte undeutlich und machte sich bereit. Überra schung war die Devise. Er wandte sein Gesicht ab und hielt sich im Schatten, während sein Gefährte anfing, aus führlich vom Orokon-Tarot zu sprechen und wie er das Geld zurückgewinnen wollte, das er letzte Nacht verloren hatte. Und zwar jeden einzelnen Heller, vor allem von Rottsy – von Rottsy und Supp. Diese Kerle waren nichts weiter als gemeine Diebe… Plötzlich hörten sie Stimmen, und die niedrige Pforte flog auf. Jem zuckte zusammen. »Polty, das ist wirklich keine gute Idee. Komm zu rück!« »Was habe ich dir gesagt, Bohne? Stell dich nicht so an!« Jem betete inständig, dass Polty sich nicht umdrehen würde, nicht einmal kurz! Doch sein Feind ging weiter, und Bohne hastete hinter ihm her. Mit knirschenden Schritten marschierten sie über die Auffahrt. Man hatte die Kutsche in die Tempelställe geschafft, also gingen sie zu Fuß weiter.
Mit einem zynischen Lächeln spielte Jems Kamerad auf die Richtung an, die sie eingeschlagen hatten. »Ich wette, sie sind wieder unterwegs zum Würger. Diese Spezial agenten haben es wirklich gut. Ich frage mich nur, was sie mit all diesen Kindern im Tempel wollen… Einige be haupten, dass der Große Lektor nachts spezielle Segnun gen vornimmt… an kranken Kindern. Aber jetzt gibt es keinen Großen Lektor mehr, stimmt’s? Es sei denn, sie hatten ganz schnell einen neuen gefunden.« Der Bursche machte mit den Lippen ein Knallen nach. »Vermutlich ha ben sie ihn von den Wänden abgekratzt.« Er schwieg. Jem wartete angespannt darauf, dass sich die Schritte auf der Auffahrt entfernten. Dann streckte er plötzlich die Hand aus. »Sieh mal!« Sein Gefährte drehte sich erschrocken herum. Aber die Gefahr war näher, als er glaubte. Er stieß die Luft aus und stürzte zu Boden, als ein Musketenkolben gegen seinen Hinterkopf schlug. Jem verschwand durch die niedrige Seitenpforte. »Es ist wie in der Krypta – « »Was meinst du, Bohne?« »Es ist dunkel und böse, Polty – « Aber Polty hörte nicht zu. Er breitete die Arme aus, stieß einen lauten Ruf aus und eilte durch die verrauchte Luft, um den alten Mann zu umarmen, der ihnen entge genschlurfte. Er sah aus wie eine alte Eidechse. Bohne schluckte nervös. Er verzog das Gesicht und sah im Dämmerlicht der gedämpften Lampen Jarvel-Pfeifen, Weinkaraffen und grüne Spieltische. Dieser Anblick wie derholte sich tausendfach in den verspiegelten Wänden. Vor einiger Zeit war das Reich des Würgers erweitert worden – ein zweites, gewaltiges Kellergeschoss war da zugekommen. Doch heute waren anscheinend nur wenig Stammgäste da. Ein Lakai in einer Jacke mit zerfransten Quasten lä chelte Bohne schleimig an und nahm ihm Mantel und Hut ab. »Und Euer… Musikinstrument, Sir?« »Das behalte ich.« Bohne umklammerte den Kasten mit Penge und folgte Polty an einen großen Tisch, der sehr gut platziert und für die besonderen Stammkunden
des Besitzers reserviert war. »Bälle!«, erklärte der Würger gerade. »Wie ich sie ver abscheue! Bedauerlicherweise, meine Lieben, sind wir ziemlich dezimiert… Nun, das sind eben die Risiken, wenn man ein Etablissement für vornehme Gentlemen führt… Aber Meis ter Veeldrop, Ihr nehmt doch sicherlich ebenfalls an dem Ball teil? Ich kann nicht glauben, dass der Koros-Palast für einen Herrn mit Euren Verbindungen verschlossen bleibt.« Polty wedelte gelassen mit der Hand, als wollte er an deuten, dass er selbstverständlich jederzeit im KorosPalast aus und ein gehen könne. Und dass ihn der Ball folglich auch kaum reizen konnte. Vielleicht würde er spä ter einmal kurz hereinschauen, aber wahrscheinlich würde er sich dazu nicht aufraffen können. »Es gibt doch genug andere Unterhaltungsmöglichkei ten«, sagte er grinsend. Diese Antwort wusste der Würger zu schätzen. Der alte Mann rieb sich seine verwelkten Hände und gestattete sich einige Bemerkungen über die Verrücktheiten des ge sellschaftlichen Lebens, die Korruption bei Hofe und die weit überlegenen Attraktionen seines eigenen Etablisse ments. Dann schnippte er mit den Fingern, damit Jarvel und Schnaps gebracht würden. »Und, Meister Veeldrop, wird Euer Freund auf seinem Instrument spielen?« Der Würger fixierte den verzierten Kasten. »Ich habe ihn schon vorher mit diesem Ding ge sehen. Was für ein Instrument ist es denn? Eine kleine Gitarre? Vielleicht ein Horn? Eine sehr große Blockflöte? Wollt Ihr uns nicht ein Liedchen vorspielen, Meister Throsh?« Polty lachte, als hätte er einen guten Witz gemacht. »Mein Bursche ist sehr schüchtern. Allerdings, mein alter Freund, habe ich tatsächlich an eine kleine Unterhaltung gedacht. Etwas von der Art, die Ihr schon früher geliefert habt.« »Ein Liedchen und ein Tanz? Kommt sofort.« Polty drohte dem Eidechsenmann mit dem Finger. Bohne seufzte gelangweilt über ihr albernes Spiel. Schnaps und Jarvel wurden gebracht, und Bohne stürzte sich sofort darauf. Das sah ihm eigentlich gar nicht ähnlich, aber in letzter Zeit legte Bohne häufig merkwürdige Verhaltens
weisen an den Tag. Er zündete seine Jarvel-Pfeife an. Während er den scharfen Rauch inhalierte, musterte er den herunterge kommenen alten Mann, der wie ein böser, verkommener Verwandter neben Polty stand. Der Würger war noch hässlicher geworden, wenn das bei einem Mann möglich war, der einen mit Leberflecken übersäten, haarlosen Schädel und ein zerknittertes, reptilienartiges Gesicht hatte. Einige behaupteten, dass er all seine Mädchen per sönlich zuritt. Angeblich war er ein Experte in der Kunst der Liebe und selbst in raffiniertesten Techniken bewan dert. Bohne schüttelte sich. »Ihr habt wahrscheinlich nichts Frisches da?«, fragte Polty und zündete sich seine eigene Pfeife an. »Habt ihr nicht eine junge Frau aus Tiralos erwartet?« »Leider ist sie schon tot«, erwiderte der Würger, als wären das kaum unerwartete Neuigkeiten. »Bedauerli cherweise hat Reny Bolbarrs Clique sie zuerst in die Fin ger bekommen… Diese jungen Burschen lassen sich manchmal wirklich etwas gehen, hab ich Recht? Wenigs tens haben sie sie anschließend in die Pestgrube gewor fen.« Der Eidechsenmann strich sich über das Kinn und hielt dann wie durch Zauberei ein Kartenspiel in der Hand. Beiläufig ließ er es zwischen die Weinhumpen und JarvelPfeifen fallen. »Keine Frau aus Tiralon… außerdem war sie auch unkeusch.« Polty wirkte bestürzt. »Aber«, fuhr der Würger fort, »wir haben tatsächlich etwas Neues hereinbekommen.« »Jung?« Poltys Laune hob sich. »Selbstverständlich.« »Hübsch?« »Natürlich.« »Unschuldig?« »Hah! Möchtet Ihr es herausfinden?« »Hah! Ich glaube, alter Freund, das möchte ich!« Bei diesen Worten schlugen der Besitzer und sein Kun de die Handflächen gegeneinander. Offenbar waren sie entzückt über die Schlagfertigkeit des anderen. »Und Euer Offiziersbursche?«, erkundigte sich der Be sitzer. »Wenn ich mich recht erinnere, nimmt er nur sel ten an diesen Spielen teil.«
»Gebt ihm ein bisschen Zeit, um sich aufzulockern, was, Bohne? Aber Würger, dieses neue Mädchen… Ihr habt es doch präpariert… wie letztes Mal?« »Ihr meint mit Augenbinde? Die Hände gebunden? Meister Veeldrop, betrachtet es als erledigt. Gebt mir nur ein bisschen Zeit.« »Ich hoffe, es dauert nicht zu lange. Ein echter Mann kann eben nicht lange warten!« »Ho, bin ich nicht erfahren in den Wegen der Liebe? Hübsch, sehr hübsch«, fügte der Würger mit einem merkwürdig senilen Murmeln hinzu, während er erneut einen Blick auf den mit glitzernden Intarsien verzierten Kasten warf, in dem Penge schlummerte. Die verwelkte Hand betastete kurz die kühle Oberfläche und zuckte so fort zurück. »Aber ein bisschen Zeit, ein kleines bisschen Zeit brauche ich. Wie gesagt, das Mädchen ist gerade erst frisch hereingekommen, und ich muss sie darauf vorbe reiten, euch zu… empfangen.« Polty lächelte über diese feinsinnige Doppeldeutigkeit und schenkte sich ein großzügiges Glas Schnaps ein. Er trank einen Schluck, sog an seiner Pfeife und sang ein Loblied auf den davonwatschelnden Würger. Ganz so, als wäre dieser Kerl ein kluger und weiser Lehrer, kein bos hafter, zynischer Geschäftsmann, der die schlimmsten Instinkte in den jungen Männern weckte, um anschlie ßend von ihrer Verdorbenheit zu profitieren. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass dieser Echsenmann ein Monster war. Das wusste Bohne, selbst als er den Schnaps des Würgers schlürfte und seine Lungen mit des sen Jarvel voll sog. Angewidert blickte er der schlurfenden Gestalt hinterher. Wo war nur Agonis? Koros, Viana, Theron, Javander… Neu mischen. Gelangweilt legte Polty die Gott-Karten aus, jedenfalls diejenigen, die er finden konnte. Um sie herum schimmerte das gedämpfte Licht des Würgers. Der Amethystring glitzerte an Poltys Hand. Er mischte erneut. »Kann es sein«, murmelte er leise vor sich hin, »dass der Würger in Wirklichkeit Jovel Ixiter ist, der Erzherzog von Irion?« Die Gerüchte behaupteten es jedenfalls, und Ge rüchte, so sagte Polty gerne, logen nur selten. »Stell dir vor Bohne, stell dir bloß einmal vor, dass der Würger über
unsere eigene kleine Provinz geherrscht hat, damals, be vor Gouverneur Veeldrop kam. Das war ein großer Mann!« Was sollte Bohne dazu sagen? Der Erzherzog konnte nur eine einzige Ruhmestat für sich in Anspruch nehmen. Er hatte Ejard Rot an die Blauröcke ausgeliefert. Alle im Tarn verfluchten die Erinnerung an ihn, vor allem, weil er die Provinz einfach im Stich gelassen hatte, nachdem die Belagerung von Irion vorüber war. Und es war eine Ironie des Schicksals, dass Jorvel Ixiter seines ganzen Einflusses unter dem neuen Regime verlustigt gegangen war. Wie so manch anderer dekadenter Fürst oder Aristokrat war der Verräter nach Agondon geflohen, entschlossen, sich mit den Vergnügungen der Stadt zu trösten. Und das alles hier war sein Trost. Polty warf die Joker auf den Tisch… Hexenmeister, Va ga, Hure, Pferdeknecht… aber wo steckte der Harlekin? Dabei sprach er stolz von der größeren Bestimmung, der schöneren Provinz, die der Würger hier in seinem unterir dischen Reich gefunden hatte. Bohne hätte protestieren sollen. War es kein Hohn, keine Blasphemie, ihr schönes, bewaldetes Heimatland mit der Provinz zu vergleichen, die der Würger jetzt re gierte? Natürlich hätte er protestiert, aber der Jarvel tat be reits seine Wirkung. Bohne hörte Poltys Worte wie aus weiter Ferne. Jetzt versuchte sich sein Freund an einer komplizierten Metapher, in welcher er den Würger als Gärtner darstellte, der sich um seine Pflänzchen küm mert, als Fischer, der seinen Fang einholt, als Bäcker, der frisches Brot liefert… der Würger war ein Vater, und sie waren seine Kinder. Während Polty sich eine Jarvel-Träne aus dem Auge wischte, segnete er den Zustand der Va terschaft und den besten aller Väter, die er kennen ge lernt hatte. Konnte Polty sich denn wirklich wünschen, der Sohn des Würgers zu sein? Natürlich kannte Bohnes Freund andere Väter, Goodman Waxwell und Lord Veeldrop. Er hatte wahrlich keinen Grund, einen von ihnen zu lieben. Warum sollte er da nicht den Würger bevorzugen, einen Vater, der ihm in all seinen Wünschen entgegenkam, der all seine Exzesse gestattete? Sein Adoptivvater, der fromme Goodman Waxwell, hatte Polty furchtbar geschla
gen, immer wieder. Als Waxwell bei einem Kutschunfall starb, hatte Polty nicht einmal eine Spur von Trauer ge zeigt. Von seinem natürlichen Vater, Lord Veeldrop, hatte Polty Hingabe und Nachsicht erwartet. Doch was hatte Veeldrop ihm anderes als Verbitterung mit seinem grau samen, gefühllosen Testament beschert? Er verurteilte den Charakter seines Sohnes und gewährte ihm Titel und Vermögen nur unter der Bedingung einer Heirat mit Ca tayane! Der alte Narr hatte das Mädchen für die Verkör perung der Unschuld gehalten! Ausgerechnet sie, eine Schlampe, wie sie im Buche stand! Anscheinend hatte er geglaubt, dass sie seinen Sohn vor dem Abgrund der Ver derbnis retten könnte. Wie sehr Polty den senilen alten Heuchler verfluchte, der ein Leben voller moralischer Verworfenheit genossen hatte, nur um dann auf dem To desbett der Frömmigkeit zu erliegen! Mit seinen Müttern hatte Polty auch nicht mehr Glück gehabt. Seine erste Adoptivmutter, Goody Waxwell, war eine armselige, untätige Kreatur gewesen, die sich ihrem monströsen Ehemann vollkommen untergeordnet hatte. Seine zweite, Tante Umbecca, schien ihn zunächst zwar zu lieben, hatte ihn dann jedoch brutal betrogen und ihm nach ihrer Erhebung aus ihrem provinziellen Dasein ein fach den Rücken gekehrt. Wenigstens hatte seine leibliche Mutter ihn geliebt, auch wenn sie ihm niemals erzählt hatte, dass er ihr Sohn war. Wynda Throsh! Eine Weile hatte Polty die Vorstellung entsetzt, dass er ihren Lenden entsprungen sein sollte. Doch jetzt sah er in Wynda die einzige Frau, die ihn je mals gut behandelt hatte. Sie hatte ihn in ihre Taverne aufgenommen, nachdem er von Goodman Waxwell fort gelaufen war. Sollte er jemals wieder nach Irion zurück gehen, würde er sie für ihre Güte belohnen. Wenn nur Bohne niemals die Wahrheit herausfand! Es war bestimmt nicht gut für ihn, wenn er erfuhr, dass sie Brüder waren. Bohne starrte in die rauchige Dämmerung, in der der Würger wie eine unheimliche Erscheinung verschwunden war. Mädchen streiften zwischen den spärlich besetzten Tischen umher und kümmerten sich um Offiziere oder Gentlemen… Gentlemen, die, wie Bohne vermutete, nicht vornehm genug waren, um Einladungen zu dem Ball zu
erhalten. Er sah das Aufblitzen von Spielkarten, hörte ein Kichern, das Klirren von Münzen, und irgendwo leise ein Cembalo. Was für ein Lied spielte es? Es war sicher ein Trinklied, aber so leise, wie es gespielt wurde, glich es einer melancholischen Ballade. Bohnes Blick glitt über die verspiegelten Wände und blieb an dem Instrument und dem Spieler hängen. Er wirkte fast wie ein Schatten in seinem dunklen Umhang und der schwarzen, falkenähnlichen Maske mit den vielen Federn. Bohne schluckte. Aus irgendeinem Grund legte er schützend die Hand auf sein angebliches Instrument. Zweifellos würde er es in wenigen Augenblicken seinem Besitzer übergeben müssen. Er wünschte sich so sehr, dass er es einfach verlieren könnte! Quälte es Polty denn nicht nur? Aber selbst wenn er Penge in den Abwasserkanal wer fen würde, kam das verdammte Ding bestimmt zu ihnen zurück. Bohne stellte sich vor, wie es klappernd über die gepflasterten Straßen lief, als wäre es von einer bösen Magie belebt worden. Er warf seinem Freund über den Tisch hinweg einen Blick zu. Leider war Polty selbst in dem schmeichelhaften Lampenlicht nicht mehr besonders attraktiv. Sein langes Haar war strähnig und glanzlos und ließ sein altes Leben und das Feuer vermissen. Seine Wangen waren dick, als wollten sie auf gespenstische Weise an den fetten Jungen erinnern, der er vor der geheimnisvollen Ankunft von Penge gewesen war. Polty hatte endlich die Agonis-Karte gefunden und hielt sie nachdenklich hoch. »Dieser Bursche wurde doch von seinem Vater geliebt, hab ich Recht? Hat Orok ihn nicht all seinen anderen Kindern vorgezogen? Hat er ihm nicht den wertvollsten der Kristalle anvertraut? Siehst du, Boh ne, Väter können ihre Söhne durchaus lieben! Wie ich meinen Sohn lieben werde, wenn ich ihn erst in meinen Armen halte! Wie ich die flaumigen Locken seines Haares streicheln werde! Und wie wird meine Brust vor Stolz schwellen, wenn er zu einem großen Mann heranwächst!« Er lächelte traurig. »Manchmal bin ich ungeduldig, das muss ich zugeben. Ich habe dieses Leben satt, Bohne. Wenn Penge wieder an seinem angestammten Platz sitzt… und Cata meine Ehefrau ist… Wenn die Titel meines Va ters endlich auf mich übergegangen sind… Welches Glück
werden wir dann erleben! Du auch, Bohne. Natürlich bleibst du mein treuer Diener! Aber das größte Glück wird uns allen aus meinem Sohn erwachsen, meinem Sohn und Erben. Poltiss junior, so werden wir ihn taufen! Keine Sorge, mein dünner Freund, du wirst ihn ebenfalls lieben. Malst du dir nicht schon aus, wie er auf deinem Rücken reitet im Kinderzimmer und die Treppe hinauf und hinun ter? Natürlich wird Klein-Poltiss nur der Erste sein. Catas Bauch wird viele Male anschwellen und viele Brüder und Schwestern hervorbringen. He, Bohne, vielleicht lasse ich dich sogar eine der weniger Hübschen heiraten. Wie wür de dir das gefallen, hm? Andererseits, wie könnte ein Kind hässlich werden, wenn doch Cata, die süße Cata, die Mut ter ist? Ach, Bohne, was werden wir für eine Familie ha ben! Und es wird auch die deine sein, sage ich, denn na türlich wirst du die vorzüglichste Position unter meinen Dienern einnehmen. Ich sehe uns schon liebevoll in hohem Alter bei einer Karaffe Wein sitzen und über die fröh lichen Abenteuer unserer Jugend lachen! Doch trotz all unserer Glückseligkeit, trotz all unseres Ruhmes wird es immer Klein-Poltiss sein, der unserer zärtlichsten Auf merksamkeit bedarf. Wie ich mich nach ihm sehne! Ach, mein Sohn, mein Sohn!« Eine Träne rann Polty über das Gesicht. Vielleicht hätte er sogar richtig geschluchzt, aber in diesem Moment er schien der Lakai mit den zerfransten Troddeln und mur melte, dass eine gewisse Lady jetzt für ihn bereit sei. Polty riss sich zusammen und erwiderte etwas Geistrei ches. Er zwinkerte Bohne zu, schnappte sich den Kasten mit Penge und marschierte davon. »Schon gut, du hast deinen Spaß gehabt.« »Komm schon, das reicht…« »Bitte, Folio…« Folio Webster kostete es sichtlich Mühe, sich zusam menzureißen. Natürlich sollte er eigentlich nicht lachen, vor allem nicht, wenn Bando es hören konnte. Der junge Mann schämte sich auch, aber er konnte einfach nichts dagegen tun. Hul und Cata sahen… sie sahen einfach zu albern aus! Er brach ab und wischte sich die Augen. »Es tut mir
Leid. Es sind wirklich brillante Kostüme, viel besser als das von Vater…« »Es sind die einzigen, die wir noch bekommen konn ten, wie du sehr wohl weißt«, erwiderte Cata scharf. »Es ist schließlich nicht so, als hätten wir endlos Zeit gehabt, uns unsere eigenen Kostüme anzufertigen, oder – « »Ich muss zugeben, dass sie auf jeden Fall originell sind«, fuhr Folio unbeirrt fort. »Eine Art… Krähe mit ei nem deformierten Hals und ein fettes braunes gefiedertes Bündel von – « Hul seufzte. »Wie du sehr wohl weißt, stellt Cata den gefeierten schwarzen Schwan von Lania Chor dar. Ich glaube, du solltest den Kopfschmuck besser in der Hand tragen, Liebes. Die Tunnelgänge sind sehr niedrig.« Hul setzte seine Federmaske auf. »Und ich nehme an, du weißt, was ich bin, Folio?« »Vielleicht der Festtagsbraten?« Hul verzog mürrisch das Gesicht. »Nun ja… Truthahn trifft es wohl eher.« »Das ist ganz unverkennbar.« Folio grinste und hätte beinahe wieder losgelacht, doch nach einem kurzen Sei tenblick auf den armen Bando riss er sich zusammen. Allerdings konnte er es sich nicht verkneifen, mit einem Schnauben hinzuzufügen: »Es ist ganz gut, dass Vater nicht hier ist, mehr sage ich dazu nicht. Er wäre sicher neidisch.« »Als was geht denn dein Vater?«, erkundigte sich Cata mit bemühter Gelassenheit. »Als Tiralon-Tigermöwe… achtet auf die Streifen. Oder besser, tut es nicht. Ihr würdet vielleicht unnötig Auf merksamkeit erregen, wenn ihr genauso lachen müsstet, wie ich gelacht habe.« Folio schnitt eine Grimasse und warf dann kopfschüt telnd einen Blick auf Bando. Wirklich, es konnte einen aus der Fassung bringen, wie unbeweglich und teilnahmslos dieser Kerl an der Wand lehnte. In dem dämmrigen Lam penlicht sah das vertraute rote Tuch um Bandos Kopf aus wie eine Mütze aus getrocknetem Blut. »Aber Vater war ja so stolz, dass er eingeladen wur de… Ihr hättet sehen sollen, wie er sich herausgeputzt hat.« Folio begann, Fässer und Kisten wegzuräumen und legte die zerfallene Kellerwand frei, die in das Innerste der König-Ejard-Bibliothek führte. »Es gibt nur sehr wenig
Platz für die Kaufleute, und bisher hat er noch nie Glück gehabt.« »Was ja auch ganz gut ist, sonst hätten wir erhebliche Schwierigkeiten, nicht wahr?«, sagte Hul. Er warf einen besorgten Blick über ihre Köpfe. Aus dem Kaffeehaus drangen die Geräusche von Schritten und das Murmeln der versammelten Gelehrten. Wie gerne würde Hul jetzt mit ihnen zusammensitzen und über Philosophie diskutie ren! Manchmal, aber nur manchmal, wünschte sich Hul, er hätte niemals etwas von Vytoni gehört, dem großen zenzanischen Philosophen, der sein Leben so grundlegend verändert hatte. »Aber Folio, ich kann kaum glauben, dass dein Vater so begeistert darüber ist, dass die Rebel len – « »Hul, hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, wollte Cata wissen. Sie presste ihren Schwanenhals unter einen ihrer gefiederten Flügel und schüttelte ihr langes, schwar zes Haar nach hinten. Hul war überrascht. »Aber Cata, das sieht dir ja gar nicht ähnlich!« »Ich meinte nicht, ob unser Plan eine gute Idee ist… schließlich haben wir kaum eine Wahl. Ich meinte, ob wir wirklich jetzt schon unsere Kostüme anziehen sollen?« »Willst du dich erst in den Kreuztunneln umziehen?« »Nein, eigentlich nicht. Aber werden wir nicht schmut zig sein, wenn wir auf den Ball kommen?« »Das sind die anderen auch. Bist du noch nie auf ei nem Ball gewesen, Cata? Schweiß, tropfendes Wachs, verschmierte Pomade-« »Und was ist mit Ziegelstaub, Spinnweben und Schleim?« »Cata, ich würde dieses Ding niemals im Tunnel anle gen können!« »Ich würde sagen, du kannst von Glück reden, wenn du in diesem Aufzug überhaupt durch den Tunnel kommst«, bekam er zur Antwort. Im gleichen Moment wünschte sich Cata, sie hätte ge schwiegen, weil Folio aussah, als wolle er erneut losla chen. Glücklicherweise tauchte in diesem Moment Magda Vy toni auf. Sorgfältig tastete sie sich mit ihren zierlichen spitzen Schuhen über die hölzerne Trittleiter nach unten. Hul beobachtete, wie ihre Röcke um ihre Knöchel
schwangen, und Folio tat es ihm gleich. »Magda, habe ich dir nicht gesagt, dass du oben bei den anderen bleiben sollst? Du weißt doch, dass wir es nicht alle riskieren – « Die Tochter des großen Philosophen und Märtyrers zog an ihrem Tobarillo, lehnte sich gegen die Trittleiter und stemmte die Hand in ihre Hüfte. »Schon, aber ich habe deine Freunde satt, Folio… Roly Rextel, Onty Michan, Danny Garvice, was sind sie schon? Sie nennen sich Re volutionäre! Aber kennt einer von ihnen eine zusammen hängende Kritik der Kaiserlichen Agonistischen Gesell schaft und ihrer inhärenten Widersprüche? Aufweiche fundamentalen Prinzipien gründen sie ihre – « »Wie wäre es mit dem Prinzip, dass Ejard Blau ein Ty rann ist?«, platzte Bando heraus. Er runzelte verächtlich die Stirn, als Hul mit der Hand – das heißt, mit seinem Flügel – wedelte und ihn mit einer ernsten Geste zum Schweigen brachte. »Er mag ein Tyrann sein, aber manchmal glaube ich, dass euer maskierter Wegelagerer nichts anderes ist« erwiderte Magda. Sie betrachtete Bando kühl. »Warum geht Meister Scarlet denn nicht mit auf diese Mission, wenn er so unerschrocken ist? Wie jeder korrupte Herr scher schickt er seine Untergebenen vor. Er ist deiner nicht wert, Bando, hast du nie daran gedacht? Er ist ein fach nicht – « »Ich… Ich glaube, wir sollten besser losgehen«, unter brach Hul sie. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte er einer Diskussion mit Magda nur schwer widerstehen können. »Bando, bist du fertig?« Sein alter Freund stieß einen Fluch aus, erhob sich jedoch müde aus der Ecke, wo er gesessen hatte, schulterte sei ne Muskete und nahm eine wacklige rostige Lampe hoch. »Du bist doch in Ordnung, Bando?«, fragte Hul ruhig. Bando drehte sich wortlos zu dem Loch in der Wand um. Anscheinend verärgerte ihn diese deutliche Fürsorge. Hul hielt es für das Beste, nichts mehr zu sagen. Hätte ihr Freund gesagt, er könne nicht mit ihnen gehen, hätten weder Hul noch Cata Einwände gehabt, so sehr sie ihren Aufpasser und Führer auch benötigten. Dass Bando es schaffte, angesichts des möglichen Verlustes seines Soh nes nicht zusammenzubrechen, erstaunte sie beide. »Hast du die Lampe, Bando?«, erkundigte sich Hul und zog seine Truthahnmaske wieder herunter. »Ich habe den
Lageplan. Cata, vergiss deinen Kopfschmuck nicht, ver standen?« In seiner Stimme schwang eine gezwungene Forschheit mit, als wären sie zu einem Picknick unter wegs. Nervös räusperte er sich. »Lass uns noch ein paar Sachen klarstellen. Das hier ist eine wichtige Mission, und es wird nicht leicht werden. Es ist – « »Das wissen wir. Gehen wir einfach los«, unterbrach ihn Cata. Magda trat ihren Tobarillo mit dem Fuß aus. Der Aus druck ihres schönen, exotischen Gesichts veränderte sich, als sie die drei Freunde umarmte. Am längsten ließ sie sich mit Bando Zeit. Die anderen sahen überrascht zu, als sie den Zenzaner zärtlich küsste. »Verzweifle nicht, mein Rebell«, flüsterte sie. »Wir ha ben alle gute Beziehungen in der Rotrock-Liga. Wir wer den deinen Jungen finden, das schwöre ich, selbst wenn wir dafür die ganze Stadt in Stücke reißen müssten!« Folio räusperte sich. »Vergesst nicht… schaut nicht zu Vater hin. Also… wir sehen uns hier bald wieder… zusam men mit der Königin?« Er lächelte verlegen, als die kleine Gruppe durch das Loch in der Wand verschwand. »Ich gehe und übe meinen Hofknicks«, sagte Magda ironisch, und Bando musste beinahe lächeln, als er sich zum Gehen wandte. »Schnell, schnell, meine Hübsche, schneller. Hast du dei ne grünen Strumpfhalter noch nicht angezogen? Hier, lass mich – « »Nein!« Jilda schlug die gekrümmten Finger weg, die an eine Klaue erinnerten. »Kleine Heuchlerin!« Der Würger grinste. »Nun, ich würde sagen, genau das will dieser Gentleman ja. Man muss schon sagen, dass er einen sehr absonderlichen Geschmack entwickelt hat, seit er aus fernen Erdteilen zurückgekommen ist – aber ist das nicht immer so? Trotzdem, er zahlt gut…Er ist einer meiner besten Kun den. Betrachte dich als privilegiert, Liebchen. Und stell dir vor, dass du auch Reny Bolbarr hättest erwischen kön nen!« Der Echsenmann rieb sich die Hände und ging genüss lich in der exotischen kleinen Höhle umher, die aus Kissen und kunstvollen Teppichen bestand und die hinter den Spiegelwänden verborgen lag. Entzückt betrachtete der Würger das halbnackte Mäd
chen. Er beugte sich vor, korrigierte ihr Gewand und zog hier und dort an einer Spitzenrüsche. O ja, sie hatte nichts von ihrem Charme verloren! »Aber was ist denn das? Sehe ich da Tränen in deinen Augen? Eine kleine Rotznase? Weißt du denn nicht, liebe kleine Jilda, wie sehr wir dich vermisst haben? Ich nehme an, dass du immer noch von Gefühlen überwältigt bist. Denn wie könntest du traurig sein, wenn du wieder dort bist, wohin du gehörst? Du bist wieder zu Hause! Wieder bei deiner Familie… Sicher, ich weiß, dass es dir hier et was einfach vorkommt, nach dem Ort, an dem du vorher gewesen bist. Aber mach dir keine Sorgen, wir werden schon hübsche Sachen für dich zum Anziehen finden. Immerhin musst du nicht bibbern und zittern, wie die in den Redondo-Gärten, hab ich Recht? Habe ich dir nicht stets gesagt, Liebchen, dass es viele Kunden gibt, die eine Lady mögen, die sich als Königin verkleidet? Und ich habe immer gefunden, dass niemand das besser kann als die kleine Jilda! Ich würde meinen, dass du Ihre Königliche Majestät doch sicher in ein oder zwei sehr intimen Situationen be obachtet hast, nicht wahr? Du kennst doch sicher den Schnitt ihres Dekolletes? Stell dir vor, was du einem Gen tleman ins Ohr flüstern könntest! So, lass mich deine Handgelenke hinter dem Rücken zusammenbinden… Nein, Liebchen, zucke nicht zurück! Vorsicht, Vorsicht… keine Krallen… Er ist ein sehr vornehmer Gentleman, das ver spreche ich dir. Vergiss nicht, du tust, was er will, sonst bekommst du die Peitsche zu schmecken!… So, jetzt sind wir fertig, Liebchen. Die Bänder sind zu fest? Nein, ich glaube nicht, dass sie dir wehtun… Ja, das ist richtig, setz dich auf die Couch… Und jetzt noch die Augenbinde… Der Gentleman hat wirklich einen ganz besonderen Ge schmack.« Der Würger hatte dem Mädchen gerade die Augenbin de angelegt, als es leise an die Tür klopfte. Er öffnete, tauschte murmelnde Bemerkungen mit dem Lakai aus und kehrte dann wieder zu Jilda zurück. Die hockte zit ternd auf der Couch. Das alte, runzlige Gesicht verzog sich zu einem erwar tungsvollen Grinsen. »Kopf hoch, Liebchen, dein Geliebter ist da! Was bedeutet, dass ich besser verschwinden soll te…« Aber der Würger machte keine Anstalten, die Kam
mer zu verlassen, sondern verschwand stattdessen in einer Einbuchtung in der Wand, die zwischen zwei bunten Wandteppichen verborgen war. »Sei mir nicht böse, Lieb chen, aber das muss ich sehen. Es kursieren viele Ge rüchte über Meister Veeldrop, seit er aus den fernen Län dern zurückgekehrt ist… Und ich muss zugeben, dass ich ein bisschen neugierig geworden bin… Achte nicht auf mich, achte einfach nicht auf mich.« Doch Jilda hörte kaum noch zu. Sie war von Traurigkeit überwältigt. Konnte es wirklich wahr sein, dass ihr das jetzt widerfuhr? Sollte der Würger tatsächlich wieder ihr Vater sein? Schluchzend dachte sie an die Zeit ihrer Un schuld zurück und daran, wie plötzlich und gewalttätig sie diese Unschuld verloren hatte. Sie hatte Hauptmann Foys Foxbein niemals wiederge sehen, den gewandten, dunkelhaarigen Blaurock, der sie am Ende dieser schicksalhaften Saison in Varby entehrt hatte. Natürlich hatte sie ihm geschrieben, sogar sehr häufig. Zuerst in der Hoffnung, dass nicht alles vorbei war, sondern, dass er zurückkehren und sie zur Frau nehmen würde. Sie war sogar so tief gesunken, dass sie ihm schrieb, sie liebe ihn noch, und gab sich selbst die Schuld an allem, was passiert war. Der arme Hauptmann Foxbein! Wie sehr er sich schämen musste! Aber wie hät te sie wissen sollen, dass sie ihn mit ihrer albernen, spöt tischen Art so sehr entflammen würde? Dabei hatte sie gar nicht die Absicht gehabt, so grausam zu sein! Konnte er denn einem albernen leichtsinnigen Mädchen nicht ver zeihen, das mit den Leidenschaften der Männer nicht ver traut war? Später hatten sich ihre Briefe verändert. Jetzt waren sie voller Anschuldigungen, Verwünschungen und Forde rungen. Doch es nützte in beiden Fällen nichts. Es kam nie eine Antwort von Hauptmann Foxbein, doch schließlich hatte sie einen Brief vom Kaplan seines angeblichen Re giments erhalten. Darin wurde sie informiert, dass kein Foys Foxbein in den Soldlisten der Blauröcke registriert war. Die Worte des Kaplans an das Mädchen waren nicht unfreundlich, und dennoch schnitten sie ihr ins Herz. Sie war getäuscht worden, schrieb er, riet ihr zu beten, viel zu beten, und Rettung in der Liebe des Lord Agonis zu suchen – bevor sie nicht nur für die Ehe ruiniert war, son dern sich vollkommen der Verderbtheit hingab.
Natürlich war dieser Ratschlag zu spät gekommen. Von dem Augenblick an, als die Wachen die blutende und stöhnende Jilda Quisto aufgefunden hatten, war ihr Schicksal vorgezeichnet gewesen. Im Gras hinter ihr la gen einige Münzen, als wäre sie schon eine Hure gewe sen. Sie war sicher, dass diese Münzen ein Omen waren. Und wie schnell sich dieses Omen erfüllt hatte! In der Gerüchteküche von Varby konnte Jilda ihre Entehrung unmöglich geheim halten. Innerhalb eines einzigen Tages war sie zu einer Aussätzigen geworden. Ihre eigene Schwester wandte sich von ihr ab, als wäre sie anste ckend. Und als sie zu ihrem Elternhaus kam, warf ihr Va ter sie auf die Straße. Jilda stöhnte. Konnte sie all dies erneut ertragen? Sie wiegte sich auf der Couch vor und zurück. Zweifellos würde sie hier bald wieder die tatschenden Hände und die grunzenden Stöße erdulden müssen. Sie hätte schluchzen oder sich wehren können, aber wozu? Das würde den Echsenmann nur verärgern. Außerdem hatte er Recht mit dem, was er sagte. Hier war wieder ihre Heimat, ihre Fa milie, ihre Welt. Jetzt hört das Mädchen mit der Augenbinde die schwe ren Schritte eines Mannes, der um die Couch herumging. Sie hörte ein tiefes, lustvoll anerkennendes Murmeln. Eine Hand berührte ihre Wange, strich ihren Hals entlang, öff nete ihr Mieder und entblößte ihre Brüste. Jilda bemühte sich, nicht zurückzuzucken, und lächelte sogar. Dann hör te sie, wie ein Paar Stiefel aus- und eine Hose herunter gezogen wurde. Beinahe apathisch wartete Jilda darauf, was als Nächstes passieren würde, ohne dabei ihr Lächeln aufzugeben. Würde der Mann vielleicht zärtlich ihr Ge wand entfernen oder einfach grob die störenden Röcke wegschieben? Stattdessen hörte sie ein leises Klicken, als würde eine Dose geöffnet, und es klang so, als würde jemand Riemen anlegen. Jilda schluckte furchtsam und überlegte zum ersten Mal, was genau der besondere Geschmack dieses Gentlemans sein mochte. »Du hattest Recht, Hul. Hier unten hätten wir uns niemals umziehen können«, flüsterte Cata. Missmutig sah sie sich in dem niedrigen, gewölbten
Tunnel um. Und da hatte sie gedacht, dass der Gestank in der Bücherei unten im Keller übel gewesen war! Doch hier war er geradezu widerlich, eine ekelhafte, tödliche Fäul nis. Die Kälte drang durch ihr gefiedertes Kostüm, wäh rend sie vorsichtig weiterging. Sie rutschte und stolperte über den schmutzigen, von schlammigen Pfützen übersä ten Boden. Vor ihr ging Bando mit einer Fackel in der Hand, und Hul bildete die Nachhut. »Hul, es muss dir sehr schwer fallen«, fuhr Cata fort. »Kannst du einigermaßen gehen? Oder wenigstens wat scheln?« »Ich fühle mich tatsächlich wie ein Festtagstruthahn.« »Hah! Meine Flügel schaben an den Wänden entlang. Es würde mich überraschen, wenn wir noch irgendwelche Federn übrig haben, nachdem wir den Ball endlich er reicht haben. Und wie schmutzig wir wohl sind?« »Du brauchst dir keine Sorge zu machen. Du bist we nigstens schwarz.« »So eng ist es doch nicht die ganze Zeit, oder?« »Nun, wir gehen unter dem Tempel entlang«, erwider te Hul nachdenklich. »Das gibt einige Krypten, und… nein, aber es ist ein beachtliches Labyrinth. Der beste Weg führt direkt durch die Aon-Tunnel.« »Die Aon-Tunnel?«, erkundigte sich Cata. »Gibt es et wa mehr davon?« Hul raschelte mit dem Pergament und hielt die zerknit terte Landkarte hoch. Cata drehte sich um und sah ein kompliziertes Netz von Linien darauf, das in dem dämm rigen Schein von Bandos Lampe zitterte. Hul fuhr mit dem Finger die Route nach. »Wir müssen zum Tempelkreuz, wo sich die Linien tref fen… Und dann müssen wir uns leicht rechts halten, siehst du das?« »Es gibt so viele Tunnel! Ich dachte, es gäbe nur fünf, einen für jeden Gott.« »Schon, aber der Tempel steht hier seit ewigen Zei ten.« Unbeholfen gingen sie weiter. »Einige Tunnel sind zusammengebrochen, und neue wurden gebaut. Andere wurden geschlossen und wieder geöffnet… jedenfalls habe ich das so verstanden. Zu unserem Glück achtet heute niemand besonders auf sie.« »Aber sollten sie das nicht? Wenn es doch Fluchtwege sind?«, gab Cata zu bedenken.
»Aber das sind sie ja gar nicht, jedenfalls nicht wirk lich. Sie wurden unter jedem Tempel des Agonis gebaut und führten vom Altar zu dem Gebiet des Friedhofs… Es ging darum, den Einfluss des Heiligen auszuweiten«, er klärte Hul. Seine gelehrte Art wirkte für einen Mann in einem Truthahnkostüm vielleicht ein wenig unangemes sen. »Die frühesten Tunnel waren Sackgassen, weil es keine Rolle spielte, ob sie irgendwohin führten. Erst spä ter begann man, sie weiter zu treiben… Jedenfalls ist das meine Theorie. Trotzdem glaube ich, dass man durch die ses Tunnelnetzwerk in so ziemlich jedes wichtige Gebäude in Agondon gelangen kann… Vorausgesetzt natürlich, man hat meine Karte.« »Bist du dir sicher, was diese Karte angeht?«, erkun digte sich Bando säuerlich. Hul hielt es für besser, nicht zu antworten. Sie tasteten sich weiter vor, froren in der Kälte und schreckten vor den Spinnweben und den herumhuschenden Ratten zu rück. Das Wasser tröpfelte ständig die Wände herunter, und uralte Steine tauchten im Licht der Lampe auf. Sie waren mit Moos bedeckt und feucht. Hüls Herz hämmerte. So viel hing von ihrer Mission in dieser Nacht ab! Er machte sich Sorgen, dass sie in die Gewalt der schlimmsten Kriminellen von Agondon geraten könnten, doch noch mehr bekümmerte ihn ihr Anführer. Voller Unbehagen dachte er an die Katastrophe, die sie an diesem Tage erlebt hatten. Er spähte voraus und kniff die Augen zusammen, um im Licht von Bandos Laterne etwas zu erkennen. Sie mussten doch bald unter dem Tempel sein! Hul hatte diese Strecke oft zurückgelegt, wenn er zur Kammer der verbotenen Texte geschlichen war. Catas Gedanken kreisten derweil um Jem. Konnte es stimmen, dass ihr Geliebter wieder zurück war? Sie wagte es kaum zu glauben. Ihre Freude schlug rasch in schmerzhaftes Verlangen um. Dann in Scham. Wie konnte sie an ihr eigenes Unglück denken? Sie dachte an Raggle, dann an Nirry Cata hatte keine Ahnung, wo Bandos Sohn steckte, aber wo Nirry war, konnte sie sich ziemlich ge nau vorstellen. Vermutlich hockte sie im Moment in einer dunklen Zelle und war vollkommen verängstigt. Nein, nicht vollkommen verängstigt. Nicht Nirry. Der Gedanke an den Mut und die Güte ihrer alten Freundin trieb Cata die Tränen in die Augen, also zog sie
vernehmlich die Nase hoch und sagte: »Hul? Hast du ge sagt, dass dieser Plan uns überallhin bringen könnte? Wie wäre es mit dem Alten Knast, wenn wir im Palast fertig sind?« »Denk nicht einmal daran«, erwiderte Hul. »Ich könnte uns zum Kloster der Weißen Brüder führen, zum Tempel kolleg, sogar zur Wrax-Oper. Aber zum Alten Knast? Die ser Weg wurde vor… ach, schon vor Epizyklen verschlos sen.« »Und wie bist du entkommen? Du bist doch gefangen genommen worden, nachdem du dieses Buch über Vytoni veröffentlicht hast, hab ich Recht?« »Stimmt, aber ich war nie im Alten Knast. Heutzutage würde ich sofort als Verräter gebrandmarkt, aber damals war ich nur als verrückter Gelehrter verschrien. Sie haben mich aufgrund der Statuten der Universität angeklagt… Kannst du dir vorstellen, dass Mercol mich in der Bücherei eingesperrt hat, während ich auf meine Anhörung warte te? Glücklicherweise hat der alte Knacker niemals heraus gefunden, wie ich m die Kammer der verbotenen Texte gekommen bin. Es genügt zu sagen, dass ich rasch frei war… Sie haben mich nur zum Verräter gestempelt, weil ich entkommen konnte.« »Vermisst du dein altes Leben?«, erkundigte sich Cata nach einem Moment. »Es muss sehr schwer gewesen sein, sich all die Jahre bei den Rebellen zu verstecken.« Hul schwieg, als müsse er darüber nachdenken. »Na ja.« Er seufzte. »Ich vermisse meinen Vater und meine Mutter… Ich habe sie niemals wiedergesehen… Und mei nen jüngeren Bruder habe ich schrecklich vermisst. Ich konnte nicht riskieren, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Und dann gab es da ein Mädchen«, fügte er schüchtern hinzu, »das ich eigentlich – « »Bei den Beeten der Viana!«, schrie Bando, als ein Haufen Ziegelsteine vor ihm von der Decke regnete. Die Lampe schwankte gefährlich hin und her, als er sich ge gen die Wand lehnte. »Bist du sicher, dass dies der richti ge Weg ist, Hul? Mir gefällt das hier gar nicht. Der Boden wird immer schlimmer, und wie es aussieht, wird auch die Decke immer niedriger…« Er machte noch einen Schritt vor, nur einen. Es krachte wieder, und Bando stürzte mit einem wilden Schrei durch den Boden.
Entsetzt blieben Hul und Cata vor dem gezackten Loch stehen, das ihren Freund und Anführer verschluckt hatte. Einen Augenblick flammte das Licht seiner Lampe auf, blendend wie eine Aura. Dann erlosch sie zischend, und es wurde dunkel. »Bando? Bando?« Doch aus dem Loch antwortete ihnen nur Schweigen. … Schöne Lady, Lady Fein. Fuhr mit ihren Fingern durch sein Haar Und lächelte und nahm den eifrigen Jungen an die Hand! War es etwa dieses Lied? Bohne lauschte der Melodie, die auf dem Cembalo ge spielt wurde. Früher einmal hatte ihm dieses Lied die Schamesröte ins Gesicht getrieben. Aber war das wirklich das Lady-Fein-Lied? Vielleicht war es auch ein anderes… Ach, was machte das schon aus? Er leerte sein Schnaps glas, stopfte sich frischen Jarvel in die Pfeife und schaute verständnislos auf die verstreuten Karten auf dem Tisch: die Sieben der Speere, der König der Schwerter, der Har lekin und Lord Agonis, die sich auf dem grünen Filz über lappten. Die Fantasie von einer glücklichen Familie hatte Bohne gründlich aufgeschreckt. Er dachte an seinen dem Trunk verfallenen Vater und seine ordinäre, grobe Mutter mit ihren schrecklichen Perücken und der Schminke, die sie sich dick wie Putz auf ihr zerstörtes Gesicht geschmiert hatte. Ebenezer Throsh war in seiner Schandecke auf dem Friedhof von Irion sicher schon zum Skelett verfallen. A ber was war aus Wynda geworden? Verrottete sie auch schon, dahingerafft von einer Krankheit? Oder servierte sie immer noch im Trägen Tiger und schrie ihre Zoten über die Blauröcke hinaus? Auf jeden Fall glaubte Bohne nicht daran, dass er sie jemals wiedersehen würde. Und wenn doch, würde sie ihn dann verächtlich auslachen, wie sie es an jenem Tag getan hatte, als er sein Heim verlas sen hatte, um sich bei der Armee einzuschreiben? Bohnes wahre Familie waren Die Fünf gewesen, Poltys Bande aus Kindertagen. Selbst jetzt rührte es Bohne zu Tränen, wenn er an diese wundervollen Tage zurückdach te. Damals waren sie in lange verflossenen Theron-Zeiten
über Felder und Wege von Irion gelaufen. Wie er ihre alten Gefährten Leny, Vel und Tyl vermisste! Wie schnell ihre Kindheit vergangen war! Mit einem Schaudern erin nerte sich Bohne an den Tag am Todesfelsen, als Polty, wahnsinnig vor Neid und Eifersucht, den Tod von Vel ver ursacht hatte. Bohne hatte versucht, ihren alten Freund zu retten, aber es war unmöglich gewesen. Seit diesem Tag hatte er gewusst, dass er für immer an Polty gebun den sein würde. Aus der Asche Der Fünf waren Die Zwei auferstanden. Oft fragte sich Bohne, was wohl aus den beiden Mäd chen geworden war, aus der blonden, etwas plumpen Leny und der elfenhaften, dunklen Tyl. Tyl war vor langer Zeit Bohnes besondere Freundin gewesen. Wie er ge schluchzt hatte, als sie ihr Dorf verließ, um niemals wie der zurückzukehren! »Habt Ihr etwas dagegen, wenn ich Euch Gesellschaft leiste?«, sagte eine leise Stimme neben ihm. Bohne blickte hoch. Ohne auf eine Antwort zu warten, nahm der Besitzer der Stimme Poltys Platz ein. Es war der Mann mit der Maske. Bohne rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her. Die Maske bedeckte den größ ten Teil des Gesichts des Mannes und war sehr kunstvoll gefertigt, und ihre dornenartigen schwarzen Federn wur den von zahllosen kleinen Schmucksteinen gehalten. Das selbe Muster zeigte sich auf dem dunklen Wams des Mannes und auch auf der Rückseite seiner schwarzen Handschuhe. Er winkte nach mehr Vantage, nahm die Karten auf und begann zu mischen. Immer noch ertönte das Cemba lo. Anscheinend hatte jemand anders den Platz von Boh nes neuem Gefährten eingenommen. »Ihr seht ein wenig traurig aus.« Die Stimme klang nicht unfreundlich. »Ich vermute, man hat Euch nicht zu dem Ball eingeladen?« »Euch dagegen offensichtlich schon«, erwiderte Bohne. »Allerdings«, kam die Antwort. »Es ist ein wunderbares Kostüm, hab ich Recht? Es ist der Falke der Finsternis. Aber seid Ihr mit der besseren Gesellschaft vertraut, mein Freund? Kennt Ihr sie vom Hörensagen? Oder habt Ihr sogar Umgang mit ihr? Vielleicht versteht Ihr dann ja auch, warum ein Mann… Zerstreuung sucht, bevor… die Amüsements des Abends beginnen. Findet Ihr das nicht
auch?«
Bohne wusste zwar nicht genau, was er da bestätigte,
aber er nickte teilnahmslos. Er sah einen Haufen Gold
neben dem dunklen Ellbogen aufgehäuft. Bohne hatte nur
wenig Bargeld und war nicht einmal darum gebeten wor
den, dieses Spiel zu spielen.
»Wir müssen bald gehen«, sagte er nervös. »Wir ha ben nicht viel Zeit…« »Das kümmert Euren Freund wohl kaum, denke ich. Er scheint ein sehr leidenschaftlicher Bursche zu sein. Habe ich jedenfalls gehört. Allerdings gibt es da gewisse Ge rüchte…« »Gerüchte?« Bohnes Blatt war abgrundtief schlecht. »Dass er… dass er nicht mehr ist, was er einmal war.« Bohne durchzuckte die Angst wie ein Stich. Aber nein, er hatte seinen Stolz. »Gerüchte lügen«, erwiderte er. »Tun sie das nicht immer?« »Nein, nicht immer. Aber vielleicht ist ja keiner von uns mehr das, was er einmal war. Ihr seid Spezialagen ten, hab ich Recht?« Bohne schaute scharf hoch. »Ich erhöhe.« Die Stimme klang spöttisch. Eine Weile spielten sie schweigend weiter. Bohne ver lor, und zwar hoch. Warum konnte er nicht einfach aufhö ren? Er nahm eine Karte hoch. Es war der Vaga. Das Cembalo hatte aufgehört und war von einem klei nen Orchester ersetzt worden. Irgendwo in einer Kammer sangen zwei Mädchen des Würgers ein Lied. Bohne konn te sie erkennen, als sie wie Phantome hinter den Spiegeln sichtbar wurden. Ihr Lied war zwar melancholisch, aber sie boten es in einem merkwürdig beschwingten Rhythmus dar. Das ist mein Leben,
Es ist mir entglitten.
Verloren und weggeweht an einem windigen Tag:
Alle Versprechen, die Männer machen, werden bald ge
brochen.
Und alles in allem hast du Glück, wenn sie ein Geschenk
zurücklassen.
Bohne musterte die Vaga-Karte. Er dachte nicht zum ers ten Mal an den Vaga-Jungen, den Freund von Jem. Lang sam breitete sich Wärme in ihm aus, als er an eine be stimmte Nacht in Unang Lia dachte. Was hatte es bedeu tet, diese Szene mit Rajal im Heiligtum der Flamme? Händchen halten in einer heißen Nacht, das war alles, und zwar zu einem Zeitpunkt, als Bohne glaubte, Polty sei für ihn für immer verloren. Ja, aber es war Wahnsinn gewesen, Wahnsinn und Verrat, und das mit einem schmutzigen Vaga! Wie könnte jemand Polty ersetzen? Rajal hatte Bohne sogar mit sei nem richtigen Namen angesprochen – Aron hatte er ihn genannt, nicht Bohne! Wer hatte ihn jemals so genannt, außer seine Mutter? Bohne schüttelte sich. Er kam sich vor wie jemand an ders. »Ich erhöhe.« Das Lied kam näher. Das ist meine Liebe
Die von mir fortgerissen wurde.
Weggeschleudert in einer stürmischen See:
Alles in allem werden die Hoffnungen einer Frau sicher
missverstanden.
Alles in allem kann sie froh sein, wenn sie nicht traurig
und verlassen endet.
»Geht es Euch gut?«, sagte der Falke der Finsternis. Es klang ironisch. »Ich dachte gerade… an einen anderen Ort«, erwiderte Bohne und schob die Karte mit dem Gesicht nach unten weg. Eins war sicher. Polty durfte niemals etwas von dem Vaga erfahren. Niemals. »Und dieser Ort?«, fragte der Falke der Finsternis. »Wo kann der sein?« Warum sollte Bohne antworten? »Irgendwo… weit weg.« »So weit weg wie… Unang Lia? Ich erhöhe.« Bohne schluckte. Wie gern er gegangen wäre! Aber jetzt waren die beiden Mädchen, ein dunkelhaariges und ein blondes, an ihren Tisch gekommen. Sie traten neben den verlegenen Bohne und ließen ihre Seidenschals in der Luft schweben, drapierten sie um seine Schultern und
seinen Hals. Und die ganze Zeit sangen sie mit ihren lieb lich klingenden Stimmen weiter: Das ist mein Herz,
Es blutet rot,
Zerschmettert und zerschlagen auf einem schmutzigen
Bett:
Alles in allem waren mein Leben und meine Liebe nicht
mal ein
Andenken wert.
Ach, ich frage mich, warum ausgerechnet mein Herz
Dazu ausersehen war, gebrochen zu werden!
Die Stimmen wurden leise und lockend, Finger strichen Bohne durchs Haar und glitten liebkosend über seine Brust. Jeder andere Mann hätte die Mädchen angezwin kert, vielleicht eines von ihnen auf seinen Schoß gezogen und gierig nach den Brüsten gegriffen, die von dem hauchdünnen, schimmernden Gewand kaum verborgen wurden. Aber Bohne war kein gewöhnlicher Mann, und Tränen traten ihm in die Augen. Fragend blickte er zwischen den beiden Quälgeistern hin und her. Sie wirkten unendlich fremdartig. Die eine war dunkel, die andere blond. »Leny«, sagte er. »Tyl.« Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück. »Leny! Tyl!« Doch die Mädchen wussten nicht, wovon er redete. Sie liefen lachend davon, an einen anderen Tisch, und Bohne sank niedergeschlagen zusammen. Hinter der schwarzen Maske glitzerten dunkle Augen. In dem Moment gab es Unruhe an der Treppe, wo der Lakai mit den zerfransten Quasten stand. Er hatte Schwierigkei ten mit einem Besucher, wie man ihn im Würger nur sel ten sah. Der Besucher war eine Frau, schlimmer noch, es war eine ältliche Frau, in Schwarz gekleidet und mit dem Kreis des Agonis um den Hals. Alle Köpfe drehten sich nach ihr um, als sich die Alte rücksichtslos ihren Weg durch den Würger bahnte. Alle waren verblüfft, aber keiner staunte mehr als Bohne. Er hatte seit seinen Tagen in Irion diese Frau mit ihrem runzligen Gesicht und ihrer hageren Gestalt nicht mehr gesehen, die Frau mit dem Arm, der in einem Stumpf endete.
Und noch nie hatte sie sich so aufgeführt. Er drehte sich wieder zu seinem Gefährten um, aber der Falke der Finsternis war verschwunden. Er hatte nicht nur seine Karten, sondern auch einen Haufen Gold zu rückgelassen. »Aus dem Weg!«, rief die Witwe Waxwell. »Wo ist mein Sohn? Ich bestehe darauf, meinen Sohn zu sehen!« »Bando? Bando?« Hul und Cata waren verzweifelt. Es war dunkel, und von unten war kein Laut zu hören. Sie tasteten das Loch im Boden ab und umklammerten den kantigen Rand, als könnten sie Bando durch reine Willenskraft zurückholen. »Er ist auf eine andere Ebene gestürzt«, erklärte Hul schließlich. »In einen der alten Tunnel weiter unten…« »Er muss ohnmächtig geworden sein…« »Er hat einen Kienspan in der Tasche. Wenn wir nur runterklettern und die Lampe suchen könnten. Wir könn ten herausfinden, ob sie noch…« »Da runter? Wie weit würden wir fallen?« »Es muss doch eine Möglichkeit geben…« »Hul, ich bin leicht. Wenn du mich an den Händen festhältst, kann ich vielleicht irgendwie… mich irgendwie herunterlassen und…« »Ja, wir müssen es jedenfalls versuchen…« »Warte! Was ist das?« Das Loch im Boden wurde von einem unirdischen Glü hen erhellt. Einen Augenblick war es nicht mehr als ein blasses, rötliches Strahlen, das schwach die Stelle be leuchtete, an der Bando lag. Cata sah, dass dieser tiefer gelegene, mit Steinen übersäte Tunnel sich gar nicht so weit unter ihnen befand. Sie hatte sich bereits hingelegt, und wollte gerade hinabsteigen, als das merkwürdige Licht sich veränderte, und ein Muster aus dunklerem Pur pur bildete. »Was ist das denn?« Hul war verwirrt. »Ich verstehe das nicht…« »Das ist Magie! Böse Magie…« Die Muster wirbelten umher. Cata fühlte die Hitze an ihrer Brust, und durch ihr Kostüm nahm sie das pulsie rende grüne Glühen ihres Kristalls wahr. Sie umklammer te Hüls Arm und zog ihn von dem Loch zurück. Mittlerwei
le war das purpurrote Licht zu einer wirbelnden Säule aus Helligkeit geworden, die zu dem steinernen Portal empor schoss. Verwirrt schaute Hul zwischen dem purpurnen Schein und dem grünen Strahlen von Catas Kristall hin und her. Er stolperte zurück, und Cata fiel nach hinten. Sie stöhnte. »Lauf!«, fuhr sie ihn an. »Lauf einfach, Hul…!« Das purpurfarbene Licht explodierte. Im nächsten Moment waren überall Vögel. Sie kreischten und hackten und prallten wie wild gegen die Wände des Tunnels. Cata wusste nicht, ob sie real waren oder nur Phänomene aus Licht. Sie wusste nur, dass ihr magisches Mitgefühl mit lebenden Kreaturen ihr hier nicht weiterhalf. Nein, das hier waren keine Vögel, sondern Vogelerschei nungen im Dienst des Bösen. Ihre schrecklichen Angriffe und ihre wahnsinnigen, wütenden Schreie waren alles, was sie noch wahrnahm. Cata rannte los, vergaß Bando, vergaß Hul, vergaß al les außer ihrem verzweifelten Wunsch, diesen Vögeln zu entkommen. Ach, Penge! In dem Spiegel zwischen den Wandteppichen, musterte Polty seine nackte Gestalt. Er kniff die Augen zusammen, nur ein bisschen, und das dämmrige Licht der flackernden Kerzen erledigte den Rest. Er schüttelte sich vor Erre gung. Er sah sich selbst als Vision der Schönheit, sein Haar eine Masse kupfernen Feuers, sein Gesicht ohne Hamsterbacken und sein Bauch fest. Und was Penge an ging, Penge sah er gar nicht. Natürlich nicht: Stattdessen sah er Penge, der in ganzer Pracht aufragte. Polty trat auf das Mädchen zu, strich ihr übers Haar, über den Hals, über die Wangen. Er zog sie von der Couch hoch, und seine Lippen suchten die ihren. Er lieb koste ihre Brüste und nahm die Brustspitzen nacheinan der in den Mund. Oh, welche Ekstase durch seine Adern strömte! Er umarmte das Mädchen fest und versuchte, nicht an die Riemen zu denken, die ihre Arme hielten. Er schloss die Augen und spürte voller Begeisterung, wie das Mädchen zitterte, als es die Härte des ungeheuren Penge spürte, der sich gegen die Vorderseite ihres Gewandes presste. Er schob es zurück und flüsterte ihr folgende Worte ins Ohr:
»Schwester, liebe Schwester, endlich sind wir wieder vereint. Kann uns jetzt noch etwas trennen? Nichts, gar nichts… Doch liebst du mich auch, Schwester? Das musst du, ich weiß, dass du das musst. Erinnerst du dich nicht an die Zeit unserer Unschuld, als wir zusammen im Wild wald herumgetobt sind? Wie schön diese Zeit war, bis dieser böse Jemany zwischen uns getreten ist. Das wird er nie wieder tun… denn er ist tot, und du gehörst mir. Geliebte Schwester, fühlst du meinen männlichen Stolz nicht, der in der Gewissheit seiner Eroberung anschwillt? Fühlst du nicht bereits meinen Samen? Die Zeit deiner weiblichen Bestimmung ist gekommen. Denk an das Le ben, das bald deinen Leib erfüllen wird! Denk an den Sohn, der deinen Lenden entspringen wird! Wie ich mich danach sehne, ihn in meinen Armen zu halten!« Jildas Gedanken überschlugen sich. Nahm sie in den krankhaften Worten dieses Mannes nicht das Echo einer Stimme wahr, die sie kannte? Nein, das war doch unmög lich! Aber das verdorbene Zischen, das über seine Lippen drang, erinnerte Jilda an den Geist eines anderen. Entset zen erfüllte sie, als sein Griff fester wurde und er sie auf die Couch drückte. Er zerquetschte sie fast mit seinem schwammigen Körper. Dann riss er ihr das Gewand her unter. Jilda wappnete sich. Der Mann hatte sich mit sei nen Worten so angeheizt, dass ihr nur die Hoffnung blieb, dass wenigstens seine Handlungen kurz sein würden. A ber auf jeden Fall würde er brutal sein. Angewidert fühlte sie seine suchenden Hände und die heftigen Stöße des Dings zwischen seinen Schenkeln. Hauptsache, es dauerte nicht lange. Die Tür flog auf. »Mein Sohn, wo ist mein Sohn?« »Mylord, ich habe versucht, sie aufzuhalten, aber – « Polty wirbelte herum. Er sah die Teppiche an der Wand, deren Muster sich im Kerzenlicht zu drehen schie nen, er sah den verlegenen, stotternden Lakai, und dann erkannte er in dem schimmernden Licht des Spiegels die dünne, verwelkte Frau. Ihm wurde eiskalt ums Herz, und er stieß sich von dem Mädchen ab. Ungläubig schaute er die Witwe Waxwell an und brachte nur ein einziges Wort heraus, eines, das zudem nicht einmal stimmte: »Mut ter!« Einen Augenblick schaute die Witwe Polty an, und Polty
erwiderte ihren Blick. In seiner Verwirrung dachte er nicht einmal daran, sich zu bedecken, jedenfalls nicht, bis sich ein Riemen von seinem hölzernen Anhängsel löste. Das Ding senkte sich und fiel dann mit einem dumpfen Poltern zu Boden. Polty schnappte sich ein Kissen und bückte sich voller Scham. »Mylord, es tut mir Leid«, sagte der Lakai schluchzend. Aber seine Worte galten gar nicht Polty. »Armes Kind!«, brach es aus der Witwe hervor. Ihre Worte galten ebenfalls nicht Polty Sie ging zu Jilda, küsste und liebkoste sie und zog ihr die Augenbinde ab. Dann befahl sie dem Lakai barsch, die Hände des Mädchens loszubinden. »Liebes Kind, ich konnte einfach nicht zulas sen, dass sie dir das antun. Ich konnte es nicht. Ich war so schwach, habe solange nur zugesehen…« »Ach, Witwe, Witwe…« »Aber jetzt bin ich gekommen, um dich von hier weg zubringen…« »Aber Witwe, die Königin…« »Denk nicht an sie… Es gibt da eine Möglichkeit. Und wo ist nun mein Sohn?« »Mutter«, sagte Polty kleinlaut. »Es ist nicht so, wie du denkst…« »Halt den Mund, Poltiss! Wie sollte es denn sonst sein? Glaubst du etwa, ich wüsste nicht alles über dich?« Jildas Hände waren mittlerweile frei und die Witwe half ihr, eine Decke umzulegen. Das zitternde Mädchen strich sich die Haare aus dem Gesicht und blickte Polty in das schamer füllte Gesicht. Ein merkwürdiger Ausdruck trat in ihre Züge. »Wo ist mein Sohn?«, wiederholte die Witwe ihre Fra ge. »Mutter?« Polty begriff immer noch nicht. Doch schließlich tat er es. In dem Spalt zwischen den beiden Gobelins sah er den Würger, dem vor Staunen der Mund offen stand. Die Witwe trat kühl auf ihn zu. »Ach, Jorvel, du siehst aus wie ein heimatloser Verstoßener! Als du geboren wurdest, war ich noch ein Mädchen… ich hätte wissen müssen, dass du mittlerweile ein alter Mann bist, aber ich hätte mir niemals träumen lassen, dass du so tief sinken würdest. Das Laster hat dich zerstört, mehr noch, als es mich zerstört hat.«
»Laster… was? Aber Mutter, du bist… tot«, stieß der Würger atemlos hervor. Seine Stimme wurde kräftiger, und er hätte beinahe geschrien. »Du bist auf einer Reise nach Tiralos am Fieber gestorben. Ich habe den Brief noch. Du wurdest auf See beigesetzt…« »Das war nur eine Geschichte, um dich hinters Licht zu führen, mehr nicht…« »Aber deine Hand! Und Veeldrop, warum nennt er dich…?« »Das ist Wahnsinn, das ist verrückt!«, polterte Polty. Er hatte sich mittlerweile seine Hose angezogen und streifte sich rasch die Tunika über den Kopf. »Mutter, du bist Goodmann Waxwells Witwe, Berthen Waxwell aus Irion! Wie kannst du – « Die Witwe warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Pol tiss, schimpfe mich nicht Mutter… Es genügt, wenn ich ein Monster meinen Sohn nenne. Waxwell war mein zweiter Mann, ist das nicht klar genug?« Das war es nicht, aber die Witwe hatte jetzt keine Zeit für Erklärungen. Sie packte Jildas Hand und zog sie aus dem Raum. Doch plötzlich erwachte das Mädchen zum Leben, stürzte sich auf Polty und trommelte mit ihren kleinen Fäusten auf seine Brust. »Du bist es, du bist es, ich wusste es!« »Sie ist verrückt geworden! Lass mich in Ruhe, du Miststück!« »Jilda, es nützt nichts. Komm weg hier…« »Jilda?«, murmelte Polty, als das Mädchen schon längst fort war. Aber er wusste dennoch nicht genau, wer ›Jilda‹ eigentlich war. Er sah den Würger an. Die beiden Männer waren ver wirrt und konnten diese erstaunlichen Geschehnisse kaum fassen. Konnte es wirklich wahr sein, dass Berthen Wax well und Lady Lolenda, Witwe des Erzherzogs von Irion, ein und dieselbe Person waren? »Ich… ich verstehe das nicht«, sagte Polty. »Ich… verstehe das auch nicht«, echote der Würger. Dem Lakai ging es nicht anders, aber er zog es vor zu schweigen. Plötzlich veränderte sich der Ausdruck in Poltys Augen. Es war beinahe so, als fliehe er vor seiner Scham in die Gewalttätigkeit. Drohend trat er vor den Bordellbesitzer. »Was habt Ihr da gemacht, mir nachspioniert? Belohnt
Ihr so Euren besten Kunden? Schmutziger, widerlicher Perverser!« Der Würger ließ sich nicht einschüchtern, sondern hob nur eine Augenbraue. Er deutete auf Penge, der auf dem Boden lag und aussah wie ein Knüppel. »Kommt schon, Meister Veeldrop, es gab doch so viele Gerüchte, hab ich Recht? Ich wollte nur sichergehen, ob sie zutrafen. Schließlich muss ich mich auf dem Laufenden halten, was den Geschmack meiner Kunden angeht, wenn ich Ihnen die Dienste erweisen soll, die sie von mir erwarten.« Polty hob Penge auf und wog ihn in der Hand. »Das waren sicher die Pocken, hab ich Recht?«, fuhr der alte Mann fort. »Armer Meister Veeldrop, habe ich Euch nicht vor diesem fremden Klima gewarnt? Dummer Junge, Ihr hättet vorsichtiger sein sollen. Wie Ihr geweint haben müsst, als Ihr vor dem Chirurgen standet! Trotz dem bin ich froh, dass Ihr eine Methode der Befriedigung gefunden habt… Allerdings fürchte ich, dass ich Euch et was mehr in Rechnung stellen muss. Immerhin könnte dieses Ding da eine Menge Schaden anrichten… Mehr Schaden als Reny Bolbarr, da bin ich sicher.« »Ihr… Ihr verspottet mich…!« Der Würger blinzelte unschuldig. »Wie meinen, Meister Veeldrop?« »Ihr… verspottet mich!« Poltiss Stimme klang heiser. »Ganz recht, ich verspotte Euch.« Die Augen des Würgers waren schmale Schlitze. Plötzlich ähnelte er mehr als je zuvor einer Echse. »Warum sollte ich das auch nicht tun? Glaubt Ihr denn nicht auch, dass ich allmählich genug von Euch habe, wenn Ihr jedes Mal mit gespielter Überlegen heit hereinmarschiert und erwartet, dass man Euch be handelt wie die vornehmsten Adligen? Glaubt Ihr nicht, dass ich hundert Kunden habe, die so gut sind wie Ihr? Besser sogar… viel besser! Ihr tragt nicht einmal einen Titel! Und wo könnt Ihr es wagen, meine Mutter Mutter zu nennen? Ich habe Euch lange ertragen, Veeldrop, aber damit ist jetzt Schluss. Ihr könnt Euer Stück Holz nehmen und verschwinden… Ihr habt Hausverbot. Das hier ist ein Etablissement für Gentlemen, nicht für Wallache!« »Du widerlicher Mistkerl!« Polty sprang vor und schwang Penge wie eine Keule über dem Kopf. Aber der Lakai stürzte sich auf ihn. Er wollte seinen Herrn schützen und packte Poltys Arm. Polty wirbelte herum. Er rammte
dem Lakai die Faust in den Bauch, und der Kerl ging zu Boden. Dann trat er ihm in die Rippen und schlug mit Penge auf ihn ein, bevor er sich wieder auf den Würger stürzte. Er packte den alten Mann an der Kehle. »Polty! Was ist los? Was wollte Witwe Waxwell…?« Es war Bohne. Beunruhigt hatte er die Separees durch sucht und nach dem einen gesucht, in dem Polty sein musste. Er hatte seinen Freund keinen Augenblick zu früh gefunden. »Herein, immer nur herein«, krächzte der Würger. »Wir plaudern gerade nett, der Wallach und ich…« »Ich bin kein Wallach!« Polty holte mit Penge aus. Aber der Würger hatte keine Angst. »Trotzdem vermu te ich«, sagte er grinsend, »dass Ihr niemals Kinder zeu gen werdet. Jedenfalls nicht mehr…« »Nicht mehr? Was meint Ihr damit?« »Polty…« Bohne berührte seinen Freund am Arm. »Es ist schon spät. Sollten wir nicht allmählich – « »Lass mich in Ruhe, Bohne!« Polty schob sein Gesicht direkt vor das des Echsenmannes. »Ich sagte, was meint Ihr damit?« Der Würger gurgelte. Vielleicht war es auch ein La chen. »Wie rührend, Meister Veeldrop, dass ein Mann wie Ihr sich nach Kindern sehnt. Ist das nicht rührend, Meis ter Throsh? Aber sie entwickeln sich immer zum Schlech ten – seht nur meine Mutter an und dann mich. Und erst meine Sprösslinge, Torvester und Elabeth! Beides Rebel len, beides Verräter an Ihrer Majestät! Wenn sie nicht schon tot wären, würde ich sie beide eigenhändig erwür gen, das schwöre ich Euch. Ihr seid sentimental, Veeldrop. Das hätte ich nicht erwartet, das ist alles.« Es war die längste Rede, die der Würger jemals gehal ten hatte. Polty packte die Kehle des alten Mannes noch fester. Er schlug ihn gegen die Wand, schüttelte ihn hin und her und warf ihn schließlich wie eine Hure auf die Couch. »Sag mir, was du gemeint hast!«, kreischte Polty. Bohne hüpfte hilflos hinter ihm herum. »Polty, Polty…!« Der Kopf des Würgers rollte hin und her, als hätte er sich schon den Hals gebrochen. Er lachte erneut, es klang gebrochen und wahnsinnig. »Erinnert Ihr Euch an die Nacht, bevor Ihr nach Unang Lia abgesegelt seid? Natür
lich erinnert Ihr Euch nicht daran! Ihr wart blind, Meister Veeldrop! Wie lange ist es her, neun Mondleben oder mehr?« Polty rammte dem Würger beide Fäuste in den Leib. »Polty, nein! Lass ihn in Ruhe…!« »Wovon redest du, verdammt?« Der Würger lachte nur, und Blutblasen gurgelten aus seinem Mund. »Ihr wart blind! Wie solltet Ihr Euch daran erinnern, wer in dieser Nacht gearbeitet hat? Wie könntet Ihr Euch an die entzückende Vy erinnern? Ihr Narr! Miss Vyella Rextel trägt Euer Kind unter dem Herzen!« »NEIN!«, brüllte Polty Er schlug den Würger erneut, diesmal mit Penge und mit voller Wucht. Blut spritzte aus dem Schädel des alten Mannes und landete in hohem Bo gen auf dem Spiegel. Gehirnmasse quoll aus dem ech senartigen Schädel. Schließlich polterte Penge zu Boden. Polty sank erschöpft daneben. Bohne war schwindlig vor Schreck und brach neben seinem Freund zusammen. Er hielt Polty fest und drückte ihn an sich, während er seinem schluchzenden Freund zärtlich über den kupfer farbenen Schädel strich.
Cata brach auf dem steinigen Boden zusammen und blieb eine Weile ruhig liegen. Sie atmete tief durch und dachte an nichts anderes als an die Vögel und an deren fürchter liche, unirdische Schreie. Erst langsam drang ihr ins Bewusstsein, dass sie die Schreie nicht mehr hörte. Und noch länger dauerte es, bis ihr dämmerte, dass sie sich nicht mehr in dem muffigen, dunklen Tunnel befand. Ein goldenes Licht glomm warm um sie herum. Cata rappelte sich auf und strich sich das Haar aus der Stirn. Sie war in einer niedrigen, runden Kammer, in deren Mitte eine bläuliche Lichtsäule leuchte te. Erst hielt sie die Quelle des Lichts für magisch, doch dann sah sie, dass es der Mond war, der durch einen Schacht im Stein hereinschien. Und so, wie es durch die ses Loch in der Decke hereinschien, strahlte es auch durch ein Loch im Boden und durchdrang so Ebene für Ebene des unterirdischen Reiches. Cata wurde klar, dass sie sich unmittelbar unter dem
Großen Tempel des Agonis befinden musste. Fünf Bögen gingen von diesem großen, runden Gewölbe ab. Was hat te Hul noch gesagt? Im Tempelkreuz treffen sich alle Gänge. Aber wo steckte er? »Hul? Hul?« Cata rief in jeden einzelnen Tunnel hinein und hielt dann nervös inne. Sie wollte nicht die Vögel oder vielleicht et was noch Schlimmeres anlocken. Was aus Bando und aus Hul geworden war, konnte sie nicht einmal erahnen. Sie würde später nach ihnen suchen, aber jetzt musste sie erst etwas anderes erledigen. Das Gleiche hätten auch Hul und Bando gesagt, wenn sie an ihrer Stelle gewesen wären. Cata war die letzte Chance der Rebellen. Auf dem Boden neben ihr lag der sperrige Schmuck, der Kopf und Hals ihres Schwanenkostüms formte. We nigstens ihn hatte sie nicht verloren. Cata untersuchte ihn im Mondlicht. Er war zwar etwas mitgenommen, musste aber genügen. Dann sah sie sich sorgfältig um. Aus welchem Tunnel war sie gekommen? Konnte sie das sicher sagen? Nicht vollkommen sicher. Aber es genügte. Sie dachte an Hüls Richtungsangaben und marschierte rasch los. »Vater?… Vater?« Der Falke der Finsternis beugte sich über den Leich nam des Würgers. An der Tür lag der Lakai mit den zer zausten Troddeln. Sein Hals war eine einzige schwarz blaue Masse. »Vater… Vater!« Der Versuch, ihn wiederzubeleben, war sinnlos. Was sollte man auch wiederbeleben, wenn das Gehirn des Bordellbesitzers als blutige Masse am Spiegel klebte? Selbst wenn der Falke der Finsternis geheimnisvolle Kräf te besessen hätte, wären sie bei weitem nicht stark genug gewesen, um einen Toten auferstehen zu lassen. Er schluchzte erstickt hinter seiner Maske. »Ich mag ein Bastard gewesen sein, Vater, aber war ich nicht dennoch dein Kind? Und ich habe mir immer nur gewünscht, dass du mich liebst! Wie ich mich danach ge sehnt habe, dass du mich umarmst, bevor du stirbst, nur einmal! Komm, leg deine Hände auf meine Schultern… Oh, wie kalt sie sind! Oje, sie rutschen herunter!«
Langsam nahm die dunkle Gestalt ihre juwelenbesetzte Maske ab. Er hob den Vater in die Arme, küsste die kalten Lippen und ließ den Leichnam dann wieder sanft zu Boden gleiten. »Ach«, flüsterte er, »dies konnte ich nicht vorherse hen! Mein Meister hat mich nicht gewarnt, dass so etwas passieren könnte! Verflucht sollst du sein, Poltiss Veel drop, verflucht!« Er stand auf und drehte sich zum Spiegel um. Das Ge sicht, das ihm in dem dämmrigen Licht der Lampen ent gegensah, war vor Entsetzen verzerrt. Er machte einen Schritt vor und fuhr mit einer behandschuhten Hand über das kalte Glas. Dann drehte er sich wieder zu seinem toten Vater um. Plötzlich trat er wütend gegen den Leichnam. »Vater!«, schrie er. »Ich bin kein Monster! Ich bin kein Tier! Was bin ich anderes als dein Sohn, nur dein Sohn?« Er schluchzte. »Verflucht sei Veeldrop«, wiederholte er, »verflucht soll er sein!« »Ich kann das nicht glauben! Ich kann es einfach nicht glauben!« Constansia Cham-Charing rannte aufge scheucht in ihrem großen, eleganten Ankleidezimmer umher, wütend und im nächsten Moment trauernd. Manchmal warf sie sich auf eine Chaiselongue, als wollte sie sich ungestört ihren Tränen hingeben. Doch dann stand sie sofort wieder auf, lief weiter herum und fluchte ausgiebig. Einmal hatte sie sogar Tränen auf das schlan ke, weiße Kostüm ihrer Tochter vergossen, das wartend an der Schneiderpuppe hing, und dabei Arme, arme Tishy und Wie entzückend sie darin ausgesehen hätte, ge schluchzt. Dabei war Seide doch so empfindlich! »Euer Gnaden, bitte…« Betty, ihre Kammerzofe, stand hilflos daneben. Sie hatte Stecknadeln im Mund und Schmuckfedern in den Händen. Doch was konnte Betty ausrichten? Ihre Gnaden war halb angekleidet und an scheinend fest entschlossen, diesen Zustand beizubehal ten, bis der Ball vorüber war. »Constansia, beruhigt Euch!« Aber Freddy Chayns Stimme klang nicht sonderlich ruhig. Der Erbe eines un bedeutenden Fürstentums stand in einem außergewöhnli chen braunroten Kostüm in einem Wald von Gewändern
und suchte verlegen etwas, an das er sich anlehnen könn te – vielleicht war es aber auch nur die verlegene Miene eines Mannes, der sich im Ankleidezimmer einer Lady befand. Betty war schockiert. Jeder Anstand schien vom Winde verweht worden zu sein. Andererseits, so überlegte sie, passiert es schließlich auch nicht jeden Tag, dass die jun ge Herrin… Dann begann sie selbst zu schniefen, riss sich aber mit einem scharfen, schluchzenden Seufzer zusam men. Constansia warf dem Mädchen einen Seitenblick zu, aber er war nicht annähernd so wütend wie der, mit dem sie Freddy bedachte. »Ich soll mich beruhigen? Wie kann ich mich beruhigen, wenn meine Tochter tot ist?« »Ihr wisst genau, dass das nicht stimmt« erwiderte Freddy seufzend. »Schließlich war ich den ganzen Tag beim Tempel. Sie haben die Zeugen befragt, sie haben im Müll herumgewühlt, sie haben…« Er brach ab und trat neben sie. Die arme Constansia! Er ergriff ihre Hand und fuhr freundlicher fort: »Dumme alte Freundin, man hätte sie gefunden… wenn sie… Ihr wisst doch, dass sie noch bei uns war, nachdem es passiert ist… Wir haben sie im merhin gesehen, und zwar gesund und munter… Sie ist einfach… verschwunden, das ist alles.« Constansia räusperte sich. »Sie ist entführt worden von… von Rebellen…« »Nein, nein… das ist unmöglich, das schwöre ich Euch.« »Wie könnt Ihr Euch da so sicher sein, Freddy?« »Ich habe nur… na ja, was könnten die Rebellen schon mit Tishy anfangen?« Erneut kehrte der vernichtende Ausdruck in Constansias Gesicht zurück. Also wirklich! Da gewährte man Leuten Zugang zu seinem Zirkel, vertraute ihnen seine intimsten Geheimnisse an, und was passierte? Sie sagten einem Beleidigungen frech ins Gesicht! Sie antwortete langsam und beherrscht, als habe sie ein Kind vor sich. »Meine Tochter ist eine junge Lady von vornehmer Abstammung. Und bin ich nicht auch vermö gend? Sicher, ich weiß, dass Tishy niemals Königin wer den wird… Und ich weiß auch, dass ich nicht mehr bin, was ich einmal war. Ich kann den Bolbarrs und den Ven turons sicher nicht mehr das Wasser reichen. Aber haben
wir nicht genug von den Rebellen erduldet, um sie richtig einschätzen zu können? Wir wurden im Tempel getrennt! Tishy war da, und sie haben sie entführt! Das ist voll kommen klar!« »Tatsächlich? Bisher haben wir noch keine Lösegeld forderung erhalten, oder irre ich mich?« »Sie lassen sich Zeit. Damit wir uns mehr Sorgen ma chen.« Jetzt mischte sich eine andere Stimme ein. »Constan sia, noch mehr Sorgen kannst du dir wohl kaum noch machen.« Es war Lady Margrave. Constansia presste die Lippen zusammen. Ihre alte Freundin hatte sich bemerkenswert rasch erholt. Angesichts des bevorstehenden Balls hatte Elsan Instinkte mobilisiert, die durch lange Jahre im ge sellschaftlichen Fegefeuer geschult worden waren. In ei nem Kleid aus zahllosen bunten Federn und mit einer Vo gelmaske vor ihrem Gesicht trat sie ein und machte eine elegante Handbewegung. Dann ließ sie ihre Maske sinken und von ihrer behandschuhten Hand herunterbaumeln… Doch ihr gepudertes Gesicht wirkte ebenfalls wie eine Maske. »Guten Abend, Freddy Was stellt dieses Kostüm dar?« »Der Braune Chayn-Trällerer«, erwiderte Freddy kein bisschen verlegen. »Constansia hat es ausgesucht. Und Eures?« »Die Spatzen der Welt… Es verkörpert eine gewisse Bescheidenheit, die einer Frau in meinen Jahren durchaus ansteht, sage ich mir. Aber Constansia, du bist ja immer noch nicht angekleidet! Wo sind deine Federn? Was für eine Art Blauer Gefiederter Regenpfeifer willst du denn sein? Ist dir denn nicht klar, dass wir bald aufbrechen müssen? Und dein Haar! Ist deine Kammerzofe so ver rückt, wie sie aussieht, oder bist du es, du seniles, altes Weibsbild?« Was für eine Sprache gegenüber Ihrer Gnaden! Betty schluckte – jedenfalls hätte sie das getan, wenn ihr nicht im letzten Moment eingefallen wäre, dass sie den Mund voller Stecknadeln hatte. Vorsichtig näherte sie sich er neut Ihrer Gnaden und wollte eine Feder befestigten, nur eine, als ihre Herrin sich ihr wieder entzog. Sie drohte Lady Margrave mit dem Finger. »Ach, für dich mag das alles in Ordnung sein, Elsan! Liegt deine
Tochter gebunden und geknebelt im Unterschlupf der Re bellen, wo vielleicht im Augenblick unrasierte, brutale Kerle damit drohen, ihr die Unschuld zu rauben?« »Natürlich nicht! Wie du sehr genau weißt, habe ich keine Tochter.« »Genau genommen gibt es da noch eine andere Mög lichkeit«, erklärte Freddy. »Welche?« Constansia drehte sich auf dem Absatz um, genau wie Elsan. »Nun… wir vermissen doch jemanden, hab ich Recht?« »Das wissen wir!« Constansia stampfte mit dem Fuß auf. »Ich meinte Professor Mercol. Er sollte doch eigentlich herkommen und dieses alberne Kostüm anziehen, das Ihr für ihn vorgesehen habt.« »Freddy, wie kannst du es wagen! Albern?« Ob nun albern oder nicht, jedenfalls stand das DerkoldKahlkopf-Adler-Kostüm immer noch in der Ecke. Lady Margrave sah es an, und es kam ihr plötzlich unheimlich vor. Vor allem das kahle, kuppelförmige Kopfteil. »Was wollt Ihr damit sagen, Freddy?« »Ich will damit sagen, dass er trotz der vorgerückten Stunde noch nicht hier ist. Ich… Zuerst wollte ich es ja nicht glauben, aber ich… ich fürchte, dass Professor Mer col auch nicht kommen wird. Ich habe schon einige Male Nachrichten zu ihm nach Hause geschickt, und er ist… er ist…« »Was ist er… Freddy?« Constansias Stimme zitterte. »Ist Euch nicht aufgefallen, wie er Tishy angeschaut hat? Und wie viel Zeit sie mit ihm verbringt? Sicher, ich weiß, dass er ihr Lehrer ist, ich weiß, dass sie lernen will, aber…« Freddy senkte den Blick und errötete. »Ich… ich glaube, die beiden sind durchgebrannt.« Constansia kreischte. Betty verschluckte die Stecknadeln. Lady Margrave schlug die Hand vor den Mund. Ihre Souveränität verließ sie. Sie hatte sich eingeredet, dass sie die Situation noch irgendwie retten könnte. Jetzt je doch wusste sie, dass es hoffnungslos war. »Das ist entsetzlich«, sagte sie atemlos. »Denk nur an die Vergeltungsmaßnahmen, Constansia! Wir sind nur noch zu zweit! Du wirst aus dem Palast verbannt werden!
Deine gesellschaftliche Karriere… Constansia, es ist vor bei, alles vorbei! Oh, dieses selbststüchtige, böse Mäd chen!« Mittlerweile war die Kammerzofe, unbeachtet von den anderen, zwischen zwei Ständern mit besonders schönen Kleidern auf die Knie gefallen. »Böse? Was interessiert mich meine gesellschaftliche Karriere?«, jammerte die Besitzerin der Kleider. Bisher hatte sich Constansia nur selten um etwas anderes ge kümmert. »Ich denke an meine Tochter, mein armes, ruiniertes Kind… Ach, Tishy, meine Tishy, und dabei wärst du die Schönste auf dem Ball gewesen.« »Nun, so weit würde ich nicht gehen…« »Freddy!« Lady Margrave stampfte ihm auf den Fuß. »Au! Wenigstens wäre das dumme Mädchen dann end lich verheiratet, hab ich Recht?« Er warf ihr einen wüten den Blick zu. Mittlerweile war die Kammerzofe auf die Seite gefallen und riss ihren Mund in Todesqualen auf. Die arme Betty sah aus, als hätte sie gerne geschrien, aber kein Laut drang über ihre Lippen. Außerdem machte Constansia genug Lärm für zwei. Verzweifelt klammerte sie sich an der Schneiderpuppe fest, die gefährlich vor und zurück schwankte, während sie folgenden Monolog hielt: »Freddy, Freddy, also hattest du doch Recht! Hast du nicht gesagt, dass dies eine schlechte Wahl wäre? Hast du nicht gefragt, ob eine Mutter klug beraten ist, wenn sie ihre Tochter als Zaxonische Nachtigall verkleidet? Hast du mich nicht daran erinnert, dass eine anrüchige Frau unter diesem Namen berühmt geworden ist? Leider habe ich in der Blindheit einer liebenden Mutter nur daran gedacht, wie wunderschön dieses Kostüm ist, wie weiß, und mir vorgestellt, wie es eine unterschwellige Verbindung zu dem Kleid einer Braut erschafft.« Erneut stiegen ihr Tränen in die Augen. »Ja, eine Braut. Und welche Hoffnungen hatte ich, dass es mir heu te Abend gelingen würde, endlich die großzügige Partie für meine Tochter zu finden, die sie aus der Schande mei nes untergehenden Hauses erheben und sie zu den Höhen hinaufschwingen würde, die ich für ihre Bestimmung gehalten hatte! Aber sich an einen gierigen, hinterhältigen alten Niemand wegzuwerfen! Das kann nicht sein! Warum habe ich diesen Kerl in mein Haus gelassen? Warum habe
ich die Bücher meiner Tochter nicht einfach ins Feuer ge worfen? Ach Tishy, warum musstest du unbedingt eine gelehrte Lady werden?« Der Monolog wäre gewiss noch weitergegangen, aber in dem Augenblick gab es eine Unterbrechung. Es war der Butler. Er kündigte Besucher an. »Was?« Ärgerlich wischte sich Constansia die Augen. »Besucher, in der Nacht des Balls? Wer…?« Mit sichtlichem Unbehagen musterte der Butler die blau gesichtige Kammerzofe, die ansonsten unbeachtet unter einem Kleiderständer lag. Vielleicht zitterte seine Stimme ja auch deshalb ein bisschen, als er seine Herrin darüber informierte, dass die ältere der beiden Besucherinnen sich als Lady Lolenda Ixiter von Irion vorgestellt hätte. Constansia schaute Elsan an. Elsan schaute Constansia an. Dann fielen beide in einträchtiger Harmonie in Ohn macht. »Oh, nicht…!« »Nein…!« »Ich wünschte…!« »Wir alle wünschten…! « »Aber wo sind wir jetzt…?« »Was war das für ein… Ort?« »Ich bin sicher, dass es die Insel Xorgos war…!« »Was denn? Ejjy, geht es dir gut?« »Die Insel Xorgos! Die Gefangeneninsel…!« »Wir haben sie zerstört. Aber warum? Warum haben wir nicht…?« »Aber siehst du es denn nicht? Wir befreien sie… Wir geben ihnen die Freiheit wieder…! « Das Himmelsschiff war über die Hafenanlagen geflogen und dann hinaus in die Dunkelheit – bis zur Insel Xorgos. Dort hielten die Blauröcke viele Rebellen gefangen. Unter einem gewaltigen Donnerschlag waren die Wände des Gefängnisses zerbröselt, und der berüchtigte Pfeiler des Todes, der Turm, der die Insel beherrschte, war zusam mengestürzt. Es war unmöglich zu sagen, wie viele Ge fangene entkommen und den Weg aufs Festland finden würden. »Wenn wir dieses verdammte Ding nur kontrollieren
könnten! Wenn nur Jem…! « »Ja, wenn Jem nur hier wäre! Kleiner, ist dir aufgefal len…?« »Was denn? Dass niemand es führt? Myla…« »Ich wünschte, sie würde es nicht tun! Diese böse Ma gie…« »Sag das nicht, Raj! Aber wo können wir jetzt…?« »Nach Agondon? Wir fliegen zurück…!« »Merkst du das? Wir drehen uns, wir taumeln…« »Aber die Lichter! Sieh nur…!« »Ich kann nicht…! Heh, Ejjy…!« »Oh! Klei… Kleiner…!« »Nicht schon wieder!« »Oh, nicht!« »Nein!« »Ich kann es nicht glauben! Ich kann es einfach nicht glauben!« Der Wind heulte in den Kaminen des Hauses der Cham-Charing und rüttelte hartnäckig an den Fensterlä den des Salons. Die Herrin des Hauses marschierte vor dem Kamin hin und her, halb in ihr Kostüm gekleidet, halb in einen Schal gehüllt. Sie spürte die Hitze kaum, und zum Sitzen war sie zu rastlos. Elsan Margrave beugte sich in ihrem Spatzen-der-Welt-Kostüm auf ihrem Stuhl vor. Die beiden Freundinnen starrten die alte Frau auf dem Sofa eindringlich an. Ob sie dieses heruntergekommene Geschöpf auch wiedererkannt hätten, wenn es sie nicht mit der leidenschaftlichen Stimme ihrer Jugendzeit ge grüßt hätte? Consy Grace! Ich bin Lolenda Mynes, erinnerst du dich noch an mich?… Elsan Crispian! Wenn ich mir vorstelle, dass du tatsächlich diesen Langweiler Margrave geheiratet hast! Es war unheimlich, wie der verwelkte Körper dieser alten Frau den Geist eines längst verstorbenen Mädchens behalten hatte und ihn in sich trug wie einen flatternden, erschreckten Star. Das Mädchen, das mit einer Decke über ihrem zerris senen Kleid neben ihr saß, würdigten Lolendas alte Freundinnen kaum eines Blickes. Sicher, vielleicht erin nerten sie sich an eine Miss Quisto, ein Quickie-Mädchen aus einer zurückliegenden Saison. Sicher, deren Schicksal
mochte sie schockiert haben, aber all das verblasste ne ben ihrem Staunen über Lolenda. Die Fragen überschlu gen sich in ihren Köpfen. Wie hatte sie in die Verkleidung der Witwe Waxwell schlüpfen können? Und was um Him mels willen war mit ihrer armen Hand geschehen? Freddy kam mit einem Tablett voller Getränke zurück und reichte den Damen Gläser mit Rum und Orandy. Es war nicht gerade einfach für ihn, sich in seinem Kostüm zu bewegen. Jilda schenkte ihm ein zittriges Lächeln, während die anderen Lolenda keinen Moment aus den Augen ließen. »Du… hast deinen eigenen Tod nur vorgetäuscht?« La dy Margrave schüttelte den Kopf. »Das kann ich einfach nicht fassen.« »Um dann einen Landarzt zu heiraten! Einfach aus der Gesellschaft zu verschwinden!« Constansia schüttelte sich trotz der Hitze, die aus dem Kamin in ihrem Rücken auf stieg. »Lolenda, ich… ich verstehe dich einfach nicht.« Die Frau, die als Berthen Waxwell bekannt war, blickte traurig zu Boden. Sie musste so viel erklären, doch als sie anfing, ihre Geschichte zu erzählen, wuchs die Verwirrung ihrer Zuhörer noch. Mehr als einmal wollten die Freundin nen aus ihrer Jugendzeit protestieren, wollten heraus schreien, dass das doch verrückt wäre und sie nicht die wirkliche Lolenda sein könne. Entsetzen und Trauer er fassten sie, als sie hörten, was mit dem Mädchen gesche hen war, das ihnen einst so ähnlich gewesen war.
LOLENDAS GESCHICHTE
Meine alten Freundinnen, ihr seid Frauen von untadeliger moralischer Aufrichtigkeit. Früher einmal habe auch ich diesen Ruf genossen. Wie du, Elsan, war ich für meine Treue zu meinem Ehemann bekannt. Und wie du, Con stansia, war ich eine intime Freundin des Erz-Maximus… Ich vermute sogar, dass meine Intimitäten größer waren als deine. Wie sollte man mich also nicht respektieren und verehren? Mein Ehemann war der Erzherzog von Irion, aber genau wie der Sohn, der nun diesen Titel trägt, habe ich meinem erlauchten Rang wenig Ehre gemacht. Ach, dieses Entsetzen in euren Augen! Wende dich
nicht von mir ab, Elsan; Constansia, halt dir nicht die Oh ren zu! Ihr könnt nicht so tun, als hättet ihr nicht von meinem Sohn gehört oder von dieser Lasterhöhle, die unter dem Namen »Würger« bekannt ist. Ist dieser Name nicht in ganz Agondon ein Begriff, selbst unter seinen frommsten Bürgern? Es mag welche geben, die nicht glauben, dass ein solcher Ort existiert, aber weit zahlrei cher sind die, die nur zu gut wissen, was aus dem Verrä ter von Ejard Rot geworden ist. Seit mein Sohn seine zer störte Burg verlassen und seinem Geburtsland den Rü cken gekehrt hat, hat er sich wie ein Schwein im Dreck gesuhlt… Aber dem gleichen Laster war auch seine Mutter verfallen. Ihr sagt, das könne nicht stimmen? Wenn dem nur so wäre! Teuerste Elsan, liebste Constansia, erinnert ihr euch nicht an diese wundervolle Theron-Jahreszeit unse rer jungfräulichen Tage? Wisst ihr noch, wie wir über den Riel stakten, zusammen mit Mazy Tarfoot, lange bevor sie die Regentenbrücke erbaut haben? Oder wie wir durch Narzissen und Gänseblümchen gelaufen sind und mit un seren Schmetterlingsnetzen in der Luft herumgefuchtelt haben, dort, wo sich jetzt die Villen von Ollon-Quintal er strecken? Wie wir lachten, wie wir spielten! Meine Freun dinnen, all dies lebt in meiner Erinnerung fort, deshalb existieren dort auch diese Versuchungen weiter, die von mir Besitz ergriffen, nachdem ich diese Tage hinter mir gelassen hatte. Aber warum nenne ich es Versuchungen? Ich sollte lie ber von Sehnsucht sprechen… und die Ehe, muss ich lei der gestehen, hatte nicht dazu beigetragen, sie zu stillen. Ich habe den Erzherzog häufig betrogen, mich selber zu einer willigen Hure gemacht. Und häufig ging ich meinen niederen Lüsten mit Gentlemen nach, die äußerlich höchst tugendhaft taten. Sink nicht auf die Knie, Constansia! Schlag nicht die Hände vors Gesicht, Elsan! Die Wahrheit muss heraus, zu lange schon habe ich geheuchelt… den noch, darum bitte ich euch, meidet mich nicht, als wäre ich infiziert. Denn dieser Kreis des Agonis, der auf meiner Brust hängt, ist keine bloße Heuchelei. Als fromme Frauen, die ihr seid, versteht ihr doch sicherlich, dass man das eigene Böse unterdrücken kann, wenn man von der Liebe des Herrn Agonis geleitet wird? Meine Freundinnen, ich habe lang und schwer für all das Böse gebüßt, das ich in
meinem früheren Leben getan habe. Folgendes ist geschehen: Nach einer langen Zeit der Ausschweifungen wurde ich schließlich gebührend be straft. Immer und immer wieder hatte ich mich in Affären mit jungen Männern vom Tempelkolleg gestürzt, während ihr, meine Freundinnen, in dem Glauben schwebtet, ich wäre nur nach Agondon gekommen, um den ehrbarsten Vergnügungen der Gesellschaft nachzugehen. In Wirklich keit jedoch fand ich meine größte Freude in der Abge schiedenheit meines Schlafgemachs, wenn ich mich wie ein Vieh mit diesen wilden, willigen Jungen paarte. Wie es mich amüsierte, ihre Herzen zu verderben und ihre un schuldigen Körper mit dem glühenden Fieber der Lust zu versengen! Und doch war da ein junger Mann, den ich beinahe ge liebt hätte, einer, der mehr für mich war als nur ein Spiel zeug. Vielleicht war er auch deshalb mein Verderben, ja, Verderben, denn was hätte ich sonst empfinden können als Entsetzen und Schande, als ich entdeckte, dass mein lieber, süßer Silas, mit dem ich jede Spielart der Lust ausprobiert hatte, auf seinem Schenkel das Mal der Vaga trug? Ja, meine Freundinnen, es ist verständlich, dass ihr entsetzt seid! Welche schlimmere Erniedrigung für eine Ejländerin wäre denkbar, als sich einem Vaga-Mann hin zugeben? In diesem Augenblick begriff ich, wohin meine Lust mich geführt hatte. Mein Herz brach, und ich schluchzte wie ein Kind. Erneut sehnte ich mich nach der Liebe des Herrn Agonis. Leider sollte meine Strafe erst beginnen. Ich entdeckte nämlich auch, dass ich die Frucht des Vaga unter dem Herzen trug. Außer mir vor Pein spielte ich mit dem Ge danken, mir das Leben zu nehmen. Ich hätte diesen tödli chen Akt auch beinahe vollzogen. Seitdem habe ich mir oft gewünscht, dass ich mich überwunden hätte. Aber nein: In der Glut meines neu entdeckten Glaubens wusste ich, dass ich eine so ernste Sünde niemals begehen könn te. Stattdessen bestrafte ich mich mit einem Leben in Buße. Deshalb fälschte ich Berichte meines Todes. Den Spross der Vaga-Lust übergab ich dem Erz-Maximus, der mir versprach, sich seiner so zu entledigen, wie er es für richtig hielt, und ich kehrte unerkannt in die Täler des Tarn zurück. Ich nahm den Namen Berthen Spratt an, nach einem Dienstmädchen, das ich einmal in Agondon
hatte, und fügte mich in die Verkleidung einer einfachen, frommen Witwe. Es kommt euch vielleicht merkwürdig vor, dass ich nach Irion zurückgegangen bin. Ich bildete mir ein, dass ich mich danach sehnte, nahe bei meinem Ehemann zu sein, dass das Wissen um diese Nähe meine Strafe noch vergrößern würde. Ich sagte mir, dass ich hinter meinem Witwenschleier vielleicht manchmal einen Blick auf mei nen Sohn erhaschen könnte… Er war damals ein gut aus sehender Bursche mit wunderschönen blonden Locken. Ich fürchte jedoch, dass mich auch ein dunkleres Motiv antrieb. Und leider ist es beschämend, dieses Motiv zu enthüllen. Doch was könnte nach den bisherigen Enthül lungen meine Schande noch vergrößern? Es genügt viel leicht zu sagen, dass mein junger Vaga-Liebhaber mitt lerweile Lektor von Irion war. Er hatte das Geheimnis seines vergifteten Blutes verheimlicht. Ja, Constansia, ich weiß, wie ungeheuerlich das ist. Ein Vaga, der sich den Mantel des Glaubens überwirft? Doch keine Sorge, Silas ereilte ebenfalls seine Strafe, und zwar eine sehr harte, doch das ist eine andere Geschichte. Ich sage nur, dass gewisse Sehnsüchte noch nicht vollständig aus meinem Herzen gelöscht waren, obwohl ich mein früheres Leben aufgegeben hatte. Dennoch wollte ich sie aufrichtig ver treiben! Ich stellte mir vor, dass ich vielleicht die Reinheit wieder schmecken dürfte, die ich verloren hatte, wenn ich mich noch weiter demütigen würde. Etwa um diese Zeit starb mein Ehemann. Erneut erfüll te Verzweiflung mein Herz! Jetzt war ich wahrhaftig eine Witwe und froh, dass der Tod des Erzherzogs eine Welle von Trauer im ganzen Tarn auslöste. Das bot mir ein we nig Trost in meinem Leiden. Mein armer Ehemann! Wie hatte ich ihn betrogen! Dennoch war mir die Lust nur zu bewusst, die mein Vaga-Liebhaber in meinem Herzen er regte. Häufig sehnte ich mich danach, zu ihm zu gehen, meinen Witwenschleier abzuwerfen und mich erneut sei ner brennenden Leidenschaft hinzugeben. Dann traf ich Nathanian Waxwell, der gerade nach Iri on gekommen war und als Mediziner praktizierte. Ich hielt ihn für einen Mann von tiefster Frömmigkeit, und eine Weile liebte ich ihn sogar. Als er mich bat, ihn zu heira ten, glaubte ich Närrin schon, meine Ehre wäre endlich wiederhergestellt.
Doch meine Strafe war noch lange nicht zu Ende. In unserer Hochzeitsnacht forderte Goodman Waxwell mich auf, meine früheren Sünden zu gestehen. Natürlich log ich und gestand nur unbedeutende Dinge. Dennoch rang der Wunsch nach einer Beichte in meinem Herzen mit dem Instinkt der Klugheit. Vielleicht verriet ich mich durch eine Geste, durch einen Blick… auf jeden Fall wusste ich, dass mein Gatte mir nicht glaubte. Schon bald nagte er wie eine hartnäckige Ratte an meinem Widerstand und wollte unbedingt wissen, welche Sünden ich verheimlichte. Ja, zwar waren es nur kleine Gesten und Andeutungen, doch langsam wuchs sein Verdacht, und die Eifersucht vergifte te jede Chance auf Glück, die wir gehabt hätten. Immer drängender wurde sein Flehen, ihm doch die Wahrheit zu gestehen, und einmal kam er sogar zu mir und bat unter Tränen darum. Er war hartnäckig, beteuer te, er sähe mein Unglück, sagte, er würde mir vergeben, meinte, er wolle mir nur als ein Ratgeber und Freund hel fen. Was konnte ich da noch erwidern? Seine Sehnsucht war auch meine Sehnsucht, also erzählte ich ihm alles. Die Konsequenzen waren natürlich klar. Nennt mich ruhig eine Närrin, aber es ist schon verrückt gewesen, dass ich ihn überhaupt geheiratet hatte. Zuerst sperrte er mich auf dem Dachboden ein und weinte meinetwegen, dann wieder verprügelte er mich und terrorisierte mich mit Visionen der Verdammnis, die mich erwartete. Eines Morgens kam er nach einer Nacht inbrünstiger Gebete zu mir und behauptete, er kenne die Quelle meiner Sünde. Mit diesen Worten packte er meine rechte Hand. Könnt ihr erraten warum, Constansia? Elsan? Nein, ich denke nicht, denn ich hatte dieses dünne, durchscheinende Häutchen zwischen meinem dritten und vierten Finger so lange verborgen. Nur ein sehr guter Be obachter hätte es bemerkt, aber mein Ehemann war ge nau das, ein guter Beobachter. Damals hörte ich zum ersten Mal seine Theorie, die er später noch oft äußern sollte, eine, mit der er viele seiner Grausamkeiten während seines langen Regimes als Arzt in Irion rechtfertigen sollte. Er behauptete, dass meine Missbildung die Quelle meines Übels wäre, eine äußerliche Manifestation des verseuchten Geistes. Nur durch eine Amputation könne meine Essenz gerettet werden. Es gä be keinen anderen Weg, behauptete mein Ehemann. Wie
er mit mir weinte! Wie er betete! Und dann hackte er mir mit einer Axt die Hand ab. So begann das längste Kapitel meines Leidens, in dem ich die Terrorherrschaft meines Gatten erdulden musste. Vielleicht glaubt ihr, dass mein Schicksal verdient war, eine gerechte Bestrafung, oder ihr fragt euch, warum ich nicht vor ihm geflohen bin. Ich kann nur sagen, dass ich wie betäubt unter Waxwells schrecklicher Herrschaft leb te. Ich konnte nur leiden und nochmals leiden, denn ins geheim glaubte ich, dass ich nichts anderes verdiente. Aber alle Dinge enden irgendwann, vielleicht sogar die Schuld. Mittlerweile begreife ich, dass meine eigene Schuld nichts war im Vergleich zu der Verkommenheit meines Ehemanns. Und schlimmer noch, Waxwell war nur ein Kind des Bösen, verglichen mit seiner Geliebten und Schülerin Umbecca Veeldrop. Sie machte mich nach dem Tod meines Ehemanns zu ihrer Gefährtin. Kaum auszu denken, dass dieses Monster meinen Platz als Große Da me in Irion eingenommen hatte! Und dass sie jetzt sogar in Agondon herrscht! Wie ich meine Passivität verwünsch te, während ich mich zurücklehnte und ihren unaufhalt samen Aufstieg beobachtete! Ich kann nur ins Feld führen, dass ich vor Umbecca genauso viel Angst hatte wie vor Waxwell. Doch das ist Vergangenheit. Das Leben hat mich zerbrochen, doch nun raffe ich all die Bruchstücke meines jugendlichen Geistes zusammen und lasse meine Tage als Witwe Waxwell hin ter mir. Heute habe ich mit Umbecca gebrochen, schlim mer noch, ich habe mich der Königin widersetzt. Sie ist fast genauso böse wie ihre Tante und hätte dieses Kind, das ihr hier neben mir seht, zu einem Leben als Hure ver dammt. Ach, Constansia, ach Elsan, ich weiß, dass ihr viele Ge schichten über dieses Mädchen gehört habt. Die Mühlen der Gerüchte mahlen fein, und sie haben meine arme Jil da Quisto zu Staub gemahlen. Glaubt bitte nicht, dass man sie verloren geben sollte. Denn ihr glaubt doch ge nauso wenig, dass Lady Umbecca eine Verkörperung der frommen Tugend ist. An diesem Mädchen hat man sich mehr vergangen, als es selbst gesündigt hat, und ich bin mutig genug zuzugeben, dass auch ich da keine Ausnah me gemacht habe. Meine Freundinnen, wir haben kein Geld, und wir ha
ben kein Heim. Wir erwarten nicht, dass ihr uns schätzt, vielleicht widern wir euch sogar an. Aber ihr seid Frauen von wahrer Frömmigkeit, und weil ihr mich einmal geliebt habt, damals, in diesen heißen, trägen Tagen, in den Fel dern von Ollon, bitte ich euch jetzt, uns nicht fortzujagen. Als die Geschichte endete, herrschte einen Augenblick tiefstes Schweigen. Freddy marschierte mit glühenden Wangen zum Tablett mit den Getränken. Jilda zitterte und verkroch sich in ihrer Decke, während Lady Margrave sich vorbeugte, als leide sie Schmerzen. Lady Cham-Charing marschierte über den Teppich, während das runzlige alte Weib, das einmal Lolenda My nes gewesen war, langsam und mühsam aufstand. Die Scheite fielen im Kamin zusammen, dass die Funken sto ben. Vielleicht war das ein Zeichen. Mit einem erstickten Schrei umschlang Constansia ihre alte Freundin. Sie um armten sich, schluchzten, und dann trat auch Lady Mar grave dazu. Freddy hockte sich auf die Armlehne des Sofas, auf dem Jilda saß. Erwirkte in seinem Braunen-ChaynTrällerer- Kostüm ziemlich lächerlich. Während er auf die rührende Szene deutete, prostete er Jilda verlegen zu. Und war entzückt, als das bedauernswerte Mädchen sich ein Lächeln abrang. Trotz der Unschicklichkeit ihres Klei des – oder vielleicht gerade deswegen – fiel Freddy so langsam auf, dass Miss Quisto sehr hübsch war. Und außerdem war sie viel jünger als Miss Tilsy Fash. Der Butler kam herein. Falls ihn Bettys bedauerlicher Unfall noch irritierte, gelang es ihm dennoch vorzüglich, die Fassung zu bewahren. Er räusperte sich, um die Aufmerksamkeit Ihrer Gna den zu erlangen. »Was gibt es, Baines?«, erlöste Freddy ihn schließlich. »Mit Verlaub, Sir, die Kutsche… die Kutsche wartet noch.« Freddy schnappte nach Luft und stand auf. »Der Ball.« Erst jetzt dachte die kleine Gruppe wieder an die Ka tastrophe, die wie ein Damoklesschwert über ihnen hing, das jeden Moment auf sie herabstoßen konnte. Unter Umarmungen und Tränen hatten sie versprochen, Lady Lolenda und das Mädchen zu beschützen. Aber welchen Schutz konnten sie ihnen noch gewähren, wenn sie nicht
auf dem Ball erschienen? »Wir müssen gehen!«, rief Elsan. »Wir müssen – « »Aber Tishy!«, rief Constansia, »Professor Mercol – « »Wartet!« Freddy übernahm das Kommando. »Das Ko stüm des Professors hätte ihn doch vollkommen verbor gen. Lady Lolenda, Ihr habt etwa die gleiche Größe. Wärt Ihr bereit, euch als Derkold-Kahlkopf-Adler zu verklei den?« Lolenda schien verwirrt. »Und… Miss Quisto«, fügte Constansia hinzu. »Ich… ich bitte Euch, meine Tochter zu spielen. Nur für heute Nacht. Helft ihr uns, Miss Quisto? Lolenda? Dann können wir euch morgen aus Agondon herausbringen.« »Wer… wer ist da?« Die Stimme klingt dünn und zittrig. Aber wie könnte das auch anders sein, wenn die Angst so groß ist? Um ihn herum ist es dunkel, es stinkt, und die Ratten quieken. Und die angekettete, blutende Frau stöhnt unablässig. Jetzt knarrt leise die Tür, und er hört verstohlene Schritte. »Wer… wer bist du?« Raggle schnappt nach Luft, als ein Messer die Seile durchtrennt, die ihn fesseln. »Bist du… bist du gekommen, um mich zu retten? Oder… bist gekommen, um mich zu töten?« Er bekommt keine Antwort. Die Hand zerrt Raggle grob auf die Füße und schiebt ihn zur Tür hinaus. Das Kind wehrt sich, tritt um sich, in der sicheren Erwartung des Todes. Aber die Hand schiebt ihn weiter. »Geh, Kind, geh…« »Was… wie…?« Raggle zögert. »Aber die Lady, da ist diese – « »Habe ich nicht schon genug getan? Nun geh endlich!« Raggle läuft los. Vor ihm ist alles dunkel. Er stößt gegen eine Wand, rappelt sich wieder auf und tastet sich weiter vor. Er hat Angst und schluchzt. Nicht einmal schaut der kleine Junge zurück und sieht so auch nicht das goldene Schimmern, das wie eine Aura das geheimnisvolle, verhüllte Wesen umgibt, das ihn befreit hat. Das Wesen lächelt. Der nächste Zug in diesem Spiel. Die Vögel, diese Vögel.
Waren sie fort? Waren sie wirklich verschwunden? »Cata… Cata?«, flüsterte Hul. Keine Antwort. »Cata, kannst du mich hören?« Immer noch keine Antwort. Offenbar war sie weg. Hul war auf den Steinboden ge fallen. Eine Weile blieb er reglos und benommen liegen. Außerdem, wie sollte er in seinem Festtagstruthahnkos tüm wieder auf die Beine kommen? Der Gelehrte war ei gentlich schlank, doch in diesem Aufzug war er so fett wie Lady Umbecca. Irgendwie schaffte er es schließlich doch, sich aufzu richten. Langsam tastete er nach seiner Brille. Sie war noch heil, aber sie nützte ihm hier nicht viel. Es war stockfinster. Nein, Moment. Was leuchtete dahinten? Es war ir gendwie golden… nicht purpurn, wie diese schrecklichen Vogelwesen. Eine Laterne? Aber wessen Laterne? Schwach erinnerte sich Hul, in welche Richtung er ge laufen war. Natürlich war das beinahe automatisch ge schehen, waren seine Schritte den vertrauten alten We gen gefolgt. Er war durch den Vytoni-Spalt gekommen. So nannte Hul dieses besondere Loch in der Wand, diesen Ort, wo der Fels dünn und durchbrochen gewesen war. Aber wie ungewöhnlich, dass es noch immer exis tierte! Offenbar hatten in den letzten Jahren nur sehr we nig Menschen die dunkleren Bereiche dieses geheimen Ortes untersucht. Hul stand in der Kammer der verbotenen Texte. Und war, jedenfalls nahm er das an, nicht allein hier. Neugier regte sich in dem Gelehrten. Er konnte schwerlich in das Labyrinth zurückkehren, in dem voll kommene Finsternis herrschte. Konnte er den anderen vielleicht überraschen? Oder gar die Lampe stehlen? Er wagte kaum zu atmen und drückte sich an einem Buchregal vorbei. Noch eine Ecke, und noch eine, und er sah vielleicht, wer dieser andere sein mochte. Seine Fe dern kratzten an der Wand lang – es überraschte Hul, dass sein Kostüm überhaupt noch welche hatte – und er blieb stocksteif stehen. Hoffentlich hatte man ihn nicht gehört. Und was hörte er?
Eine Seite wurde umgeschlagen. Und jemand hielt hef tig den Atem an. Hul tastete sich weiter vor und wünschte sich, dass er nicht ausgerechnet wie ein Festtagstruthahn angezogen wäre. Wie langsam, wie unendlich langsam er vorankam! Noch mehr Federn fielen ihm aus. Er bog um die zweite Ecke. Jetzt hielt Hul die Luft an. Eine weibliche Gelehrte? Die Lady hatte übersetzt. Jetzt legte sie ihren Stift bei seite, lehnte sich auf dem Stuhl zurück und begann mit gerunzelter Stirn, ihr Werk laut vorzulesen. I. So begab es sich, dass Ondon, der Heilige Lord der Kinder des Agonis, sie aufforderte, in dem grünen und bewalde ten Land am Rand der Welt zu bleiben: Die Feiern der Kinder des Agonis nahmen kein Ende, als sie sicher waren, dass sie das Ende ihrer Reise er reicht hatten und nicht Weiterreisen mussten. II. Doch unter den Kindern des Agonis gab es eine Kaste von Bruder-Priestern, die mit einer heiligen Aufgabe betraut worden waren, in all den Tagen vor dem Ende der Reise. Diese Priester nannte man die Träger des Juwels des Krüppels, und ihr Anführer, der Vater-Priester Ir-Ion, ver kündete ihnen jetzt mahnende Worte. III. Denn in seiner Hingabe zu Orok, dem Sterbenden Gott, und zu Agonis, dem Sohn des Sterbenden Gottes, musste der Vater-Priester Ir-Ion erklären, dass dieses grüne und bewaldete Land am Rand der eisigen nördlichen Reiche lag: Sie mussten noch weiter reisen, um ihr göttliches Schicksal zu erfüllen. IV. So sprach der Vater-Priester Ir-Ion zu Ihrem Führer, aber es begab sich, dass Ondon ihnen nicht folgte. Denn dieser erste Monarch war weltlich und korrupt geworden, und wollte nicht mehr auf die Ratschläge der Träger des Ju wels des Krüppels hören.
V.
Und er verschloss auch seine Ohren, als Vater-Priester IrIon seine Gründe für seinen Rat offen legte: Dieses grüne und bewaldete Land, wo Ondon siedeln wollte, war nicht für die Kinder des Agonis gedacht, sondern für die Rasse der Viana, der Göttin der Erde. Nachdenklich kaute die Lady an ihrem Stift. Für Hul war das, was sie vorgelesen hatte, mystischer Mumpitz, aber was machte das schon? Lady oder nicht, sie war jedenfalls eine bemerkenswerte viel versprechende Gelehrte. Sehr bemerkenswert. »Aber wie heißt dieses Buch?«, meinte die Lady seuf zend. »Etwas von den Winden.« Sie sprach den Titel auf Juvescial aus. »Etwas, sicher, aber was?« Hul konnte nicht anders. »Einsiedelei, Liebes.« »Wa… Was?« Tishy blickte verwirrt hoch. War das wirklich eine Stimme gewesen? Sie hörte ein kratzendes Geräusch und ein schweres Buch fiel polternd zu Boden. Hul stolperte mit flatternden Flügeln ins Licht. Tishy schrie… und musste gleich darauf lachen. Was war das denn für ein Witz? Ein Mann, der als Truthahn verkleidet war? Der Truthahn stolperte über etwas und fiel hin. »Oh, nein…!«, rief Tishy, als sie sich an das Hindernis erinnerte. Hul drehte sich um und erkannte die reglos auf dem Rücken liegende Gestalt, über die er gestolpert war. »Professor Mercol!« »Mist! Mist!« War er hier schon entlanggegangen? Jem drehte sich langsam um und hielt die schwere Fackel hoch. Wie lange war er bereits durch dieses dunkle Labyrinth gewandert? Er war zuvor erst einmal unter dem Großen Tempel ge wesen. Damals war er jedoch in Begleitung von Lord Empster gewesen, und außerdem hatten sie einen ganz anderen Weg eingeschlagen. Beunruhigt schaute sich Jem in der finsteren, bedroh lich wirkenden Kammer um, in der er sich jetzt wieder fand. Wenn er nicht in dieser hier gewesen war, dann in
anderen, die genauso ausgesehen hatten – in viel zu vie len anderen. Der Altar und das Gewölbe schimmerten rötlich im Fackellicht. Auf einem Grabstein, der unter ei ner dicken Schicht von Spinnweben verborgen war, stand eine bröckelnde Statue des Lord Agonis, flankiert von den Gestalten seiner göttlichen Schwestern und Brüder. Die ses Monument war vor vielen Epizyklen als ›Der FünfGott‹ bekannt gewesen. Wie immer war die Gestalt im Zentrum halb abgewendet, als wollte sie gehen. Die klei neren Figuren seiner Schwestern und Brüder streckten die Hände aus, als flehten sie ihn an, ihnen im Unergründli chen Gesellschaft zu leisten. Jem seufzte müde. Ja, er war schon hier gewesen. Also musste er wieder dorthin zurückgehen, woher er gekom men war, und einen anderen Weg einschlagen. Irgendwie musste er herausfinden, wohin Raggle verschleppt wor den war. Was er tun wollte, wenn er ihn fand, wusste Jem aller dings noch nicht. Aber er trug immerhin die Uniform eines Blaurocks und hatte eine Muskete. Er fuhr herum, als er ein leises Rascheln hörte. Eine Ratte? Es hörte sich nicht wie eine Ratte an. Er drehte sich wieder um und sah eine purpurne, durchscheinende Gestalt, die über dem Fünf-Gott schweb te. Es war ein Vogel, ein Geistervogel. Einen Augenblick flatterte er ziellos umher und stürzte sich dann auf Jem, als wollte er ihn angreifen. Jem schlug mit der Fackel nach ihm. Der Vogel durchflog die Flamme und war verschwun den. Im nächsten Moment erschienen andere Vögel. Sie stürzten hinter den Statuen, den Säulen und dem Grab stein hervor. Sie tauchten das Gewölbe in ein unheimli ches, purpurfarbenes Licht und flogen wie bösartige Phan tome zwischen den Vorhängen aus Spinnweben herum. Jem wich zurück, als der blaue Kristall an seiner Brust pulsierte. Er wollte weglaufen. Aber wohin? Die Vögel waren überall. In diesem Moment begann der Grabstein des Lord A gonis zu glühen, erst sacht, dann immer heller, und strahlte in einem leuchtenden, goldenen Licht. Sofort flat terten die Vögel davon und verblassten. Jem rang nach
Luft. Es war möglicherweise eine Illusion, aber der stei nerne Agonis schien sich umzudrehen und ihn anzuschau en. Jem sank auf die Knie und hätte beinahe seine Fackel zu Boden fallen lassen. Jetzt pulsierte der Kristall heiß, als wollte er ihn warnen, während eine ätherische Musik die Luft erfüllte und der steinerne Agonis anfing zu singen. Es war ein merkwürdiges Lied, und die Melodie war vollkommen unirdisch. Es waren drei Strophen, und nach jeder Strophe stimmten die Schwestern und Brüder in den Refrain ein, während sie in ihren Farben leuchteten.
DAS LIED DES FÜNF-GOTTES
AGONIS: Junger Prinz von Ejland, kannst das wirklich du sein? Auch deine Verkleidung kann die Wahrheit nicht verstecken: Also treffen wir uns wieder, wie es bestimmt ist, Auf dieser launenhaften Bühne in der Welt der Men schen. CHOR: Dreh dich im Uhrzeigersinn, eine 15 zu rück: Das ist dein Weg, das ist dein Weg. AGONIS: Junger Prinz Jemany, du magst mich also nicht? Was denn, wäre es dir lieber, wenn ich sterbe und verrotte? Verurteile mich nicht, denn du wirst noch mehr lernen. Bis wir endlich das Ende dieses Krieges erreicht haben. CHOR: Dreh dich im Uhrzeigersinn, eine 15 zurück: Das ist dein Weg, das ist dein Weg. AGONIS: Blauer König und Roter König, Roter König, Blauer König. Jem-Jem-Jemany, für wen singst du dein Lied? Gib keine rasche Antwort, damit du dich nicht falsch entschei dest: Vielleicht singst du bald ein anderes Lied! CHOR: Dreh dich im Uhrzeigersinn, eine 15 zurück: Das ist dein Weg, das ist dein Weg. Nach einigen Wiederholungen verstummte der Chor all mählich. Später sollte Jem über die merkwürdigen Strophen nachdenken, doch jetzt verstand er sie kaum. Nur der Refrain schien Sinn zu machen. Jedes Mal, wenn sie ihn
sangen, bewegten sich die Hände der Schwestern und Brüder ein wenig, bis sie am Ende in die Richtung deute ten, die Jem einschlagen sollte. Er rappelte sich hoch und packte seine blakende Fackel fester. Der Kristall an seiner Brust kühlte ab – anschei nend war die Magie vorbei. Aber als Jem nach oben schaute, sah er die purpurfarbenen Vögel immer noch. Sie wirkten wie Vorboten des Unheils, die lautlos zwischen den dichten Spinnweben schwebten. Ihm war unbehaglich zumute. Beinahe ohne es zu wol len, drehte sich Jem langsam im Uhrzeigersinn herum und rückte dann eine 15 zurück. Er ging weiter, kletterte über Trümmer und quetschte sich zwischen Grabsteinen hin durch. Sollte er den Weg einschlagen, den der Fünf-Gott ihm gezeigt hatte? Wenn Jem an Lord Agonis dachte, er füllte ihn Furcht. Als der goldene Gott noch unter dem Namen Lord Empster über die Erde gewandelt war, hatte Jem ihm vertraut, sich sogar auf ihn verlassen. Doch jetzt wusste er, dass sein geheimnisvoller Schutzengel ein fal scher Führer gewesen war, ein Verräter an seiner Aufga be. Aber war es wirklich Agonis gewesen, der zu ihm ge sprochen hatte? Und wenn nicht Agonis, wer dann? Erneut dachte Jem an die Hitze seines Kristalls und fragte sich, ob er besser zurückgehen sollte. Hätte er es getan, hätte er möglicherweise die dunkle Gestalt gesehen, die hinter dem Standbild des FünfGottes auftauchte. In dem schwachen Schein der Phan tomvögel konnte man sehen, dass sie einen dunklen Um hang trug und dass ein breitkrempiger Hut ihr Gesicht verhüllte. Mit einem Schwung ihres Umhangs war sie verschwun den. Doch Jem sah kurz darauf eine andere Gestalt. Sie lag zwischen den Resten des Mauerwerks und war mit einer Schicht kreidigen Staubs überzogen. Jem stürmte vor. »Bando! Bando, bist du das?« »Morvy?« »Crum?« »Er wird sich doch wieder erholen, hab ich Recht?« Wie oft schon? Einen Augenblick war Morven versucht, wütend hochzufahren. Hatten sie nicht schon genug Schwierigkeiten, auch ohne diese blöde Ratte? Doch et
was hielt ihn zurück. Seine Antwort fiel nicht unfreundlich aus: »Natürlich, Crum, selbstverständlich wird er das. Gab es jemals eine tapferere Ratte als Blenkinsop?« Crum dachte darüber nach, runzelte die Stirn und be gann dann, die Geschichte einer gewissen anderen Ratte zu erzählen, die Zohnny Ryle in einer Jahreszeit der Viana in der Räucherscheune gefunden hatte. Deren Mut war, da waren sich alle einig, ein wahres Wunder. »Meine Güte, Morvy, man könnte ein Buch über Blen kinsop schreiben!« »Diese andere Ratte hieß auch Blenkinsop?« »Na ja, die meisten Ratten heißen Blenkinsop«, erwiderte Crum ungerührt. »Jedenfalls die braunen. Aber… aber dieses Buch, Morvy… stell dir vor, ich könnte dir die Ge schichte erzählen, und du würdest sie aufschreiben! Da mit könntest du deinen Verstand wenigstens einmal für etwas Nützliches einsetzen! Ist das nicht die beste Idee, die du j e gehört hast? Warte, ich erzähle dir einfach…« Morven seufzte und hörte nicht mehr zu. Es war ganz gut, dass die Gäste so viel Lärm machten und die Musik spielte, sonst hätte er Crum anfauchen müssen, er solle den Mund halten. Zweifellos war es viel besser, ihn ein fach weiterplappern zu lassen. Morven war beunruhigt. Würden sie das Klopfen von der anderen Seite der Wand hören? Die Wachen standen vor der bemalten Täfelung, auf der die Täler des Tarn dargestellt waren. Es war mehr als schwierig gewesen, sich diese Position zu ergattern. An dere Wachen waren hier postiert gewesen. Morven hatte behauptet, er handle auf Befehl von Sergeant Bunch und hatte ihnen einen nutzlosen Auftrag erteilt. Jetzt konnte er nur hoffen, dass seine Anmaßung nicht aufflog. Und was war mit den Gästen, die bereits in dieser Ruhekam mer herumschlenderten? Wie sollten Hul und Cata unbe merkt hereinkommen? Crum redete immer noch über den Mut irgendeiner Ratte, und Morven nahm seine Muskete auf die andere Schulter. Gelassen hörte er zu, wie ein Gentleman, der als Tira lon-Tigermöwe verkleidet war und eigentlich einer unge heuren Biene ähnelte, Höflichkeiten mit zwei anderen Masken austauschte. Die eine war ein rosa VarbyRebhuhn und die andere eine breitschnäblige Orandy
Ente. »Aber woher wissen wir, wer wer ist?«, fragte die Mö we. »Ich dachte, es wäre der Sinn, dass wir es eben nicht wissen«, erwiderte das Rebhuhn. »Unsinn!«, behauptete die Ente. »Erkenne ich Euch beide etwa nicht?« »Tut Ihr das?«, erkundigte sich das Rebhuhn kokett. »Kommt, Freunde«, fuhr die Ente fort, deren Stimme von dem gewaltigen Schnabel etwas entstellt wurde, »wir gehören doch alle der Händlerschicht an, hab ich Recht? Ist es nicht genau das, was uns zusammenhält? Darf ich es wagen zu sagen, dass einer von euch der Besitzer ei nes gewissen, sehr berühmten Kaffeehauses ist? Und der andere Agondons gefeiertster Haarkünstler?« »Also wirklich!«, erklärte das Rebhuhn, das tatsächlich Meister Carrousel war. »Wie ich sehe, muss ich das näch ste Mal erheblich mehr Aufmerksamkeit auf mein Kostüm verwenden! Bedauerlicherweise bleibt mir dazu immer nur sehr wenig Zeit. Schließlich muss ich mich erst um die Frisuren der vornehmsten adligen Ladys Agondons kümmern.« Die Möwe, fürwahr Webster senior, drehte sich kurz zu der Ente um, und dann wieder fort. Es schien fast, als überlege er, ob er seine Unwissenheit enthüllen und zu geben sollte, dass er keine Ahnung hatte, wer sein ge schätzter Gesprächspartner war. Er überlegte es sich an ders, gab jedoch damit eine noch viel größere Ignoranz preis. »Aber wie erkennen wir den König und die Königin? Wir werden sie doch sicherlich erkennen?« »Aber selbstverständlich. Und ihren Kostümen applau dieren«, erwiderte die Ente weltmännisch. »Wenn der Ball weiter fortgeschritten ist, wird eine Fanfare ertönen. Der König wird als der Blaue Rabe von Wenaya und die Köni gin als ein Silberner Schwan auftreten, und Seine Kaiser liche Agonistische Majestät wird eine adlige Dame erwäh len, mit der er den Ball eröffnen wird.« »Merkwürdig, findet Ihr nicht?«, sinnierte Meister Car rousel. »Wie könnte der Ball noch mehr eröffnet werden, als er es schon ist?« »Tanzt er denn nicht mit seiner Königin?«, erkundigte sich Webster. »Das ist eine reine Formalität«, erwiderte die Ente und
antwortete damit beiden Fragern gleichzeitig. »Eine Tradi tion. Aber die Launen unserer Herrscher sind – « »Seht nur!« Meister Carrousel schlug mit einem rosa Flügel und deutete zur Tür, die in den Ballsaal führte. »Zufällig weiß ich, wer diese Lady ist. Ist sie nicht großartig? Das ist Lady Bolbarr, die als Schnapsdrossel aufgedonnert ist! Ich habe ihre Haartracht entworfen. Ist das nicht eine Herausforderung?« »Tatsächlich«, stimmte Webster zu. »Aber meine gute Ente – « »Ach, und wisst Ihr auch, was sie mir heute Nachmit tag erzählt hat?«, schnitt ihm der Friseur das Wort ab. »Lady Bolbarr ist immer gut für Klatschgeschichten, wisst Ihr. Anscheinend ist die andere Tochter dieses Empor kömmlings, dieses Herrenschneiders, Japier Quisto, Ihr wisst schon, wen ich meine… Nun, könnt Ihr Euch vorstel len, dass seine andere Tochter ebenfalls entehrt ist? Die se kleine Schlampe Heka, die meine ich. Das Neueste, was ich gehört habe, war, dass sie kurz davor war, ›Bin kie‹-Urgan-Orandy zu heiraten, wenn Ihr Euch das vor stellen könnt. Nun, Lady Bolbarr hat aus ihrer verlässli chen Quelle erfahren, dass dieses kleine Früchtchen schon ein uneheliches Kind hat und dass sie verzweifelt versucht, es loszuwerden, selbst auf Kosten von… « Während Meister Carrousel sprach und seinen Blick die ganze Zeit auf die bewundernswerte Lady Bolbarr gerich tet hielt, zog die Orandy-Ente unter einigen Schwierigkei ten den gewaltigen Schnabel herunter, der ihr Gesicht verbarg. Selbst vernehmliches Räuspern von Webster konnte den Friseur nicht stoppen, der sich, nachdem er sich umgedreht hatte, Angesicht zu Angesicht mit Japier Quisto wiederfand. Der Schneider hatte sich bisher untadelig verhalten, doch jetzt brach seine Fassade zusammen. »Meister Carrousel«, sagte er mit belegter Stimme. »Bedauerlicherweise wurde meine Tochter Heka heute Morgen ermordet aufgefunden.« Morven hatte das Gespräch gebannt verfolgt und schluckte jetzt. Glücklicherweise machte ihn ausgerechnet in diesem Moment Crum auf das Klopfen von der anderen Seite der Täfelung aufmerksam. Die Geheimtür wurde geöffnet und sofort wieder ge schlossen. »Bürstet mich ab, schnell…!«, zischte Cata.
»Miss Cata«, zischte Morven zurück, »aber wo…?« »Kleine Änderung im Plan, Jungs. Wünscht mir Glück!« Morven konnte nur noch dem Schwarzen Schwan von Lania Chor hinterherstarren, als der in den Ballsaal rauschte.
Die herumflanierenden Höflinge unterhielten sich. »Und dieses Spatzen-Ding?« »Elsan Margrave, glaube ich.« »Professor Mercol? Der Kahlkopfadler?« »Ganz sicher. Und das da ist die Große Cham.« »Und ihre Tochter, vermute ich? Armseliges Ge schöpf.« »Oh, ich glaube, das ist etwas zu hart. Das Mädchen ist eigentlich ganz entzückend.« »Findet Ihr? Wisst Ihr, eines habe ich nie verstanden. Die Cham ist doch uralt, oder nicht? Kann sie denn wirk lich noch eine so junge Tochter haben?« »Kennt Ihr diese Geschichte etwa nicht? Das über rascht mich aber wirklich.« »Welche Geschichte?« »Hah, höre ich da Eifer in Eurer Stimme? Es ist wirklich eine ziemlich gute Geschichte. Natürlich hat Constansia alles versucht, sie zu unterdrücken, aber die Wahrheit findet eben ihren Weg. Könnt Ihr Euch vorstellen, dass Constansia eine Tochter hatte? Vor vielen Zyklen? Sie wurde entehrt.« »Ach, wie denn?« »Sie gebar einen Bastard.« »Nein! Diese Schlampe!« »Genau. Jedenfalls ist diese Tishy – die echte Tochter hieß ebenfalls Tishy – im Kindbett gestorben. Also blieb nur noch Lady Cham-Charing, die das Gör aufziehen konnte. Einige behaupten, dass sie seitdem etwas merk würdig ist.« »Die Cham? Haltet Ihr sie für merkwürdig?« »Für verdreht. Sie hat das Mädchen Tishy genannt, genau wie ihre Erstgeborene… Sie vergisst ihre Erstgebo rene… und behauptet steif und fest, dass dies hier ihre Tochter wäre… Versucht, das perfekte Mädchen aus ihr zu machen… Natürlich hat Tishy keine Ahnung davon. Aber das weiß heute sowieso kaum noch jemand.«
»Meine Güte! Seid Ihr sicher, dass das stimmt?« »Jedenfalls behauptet man das.« »Hm. Wisst Ihr, ich erinnere mich auch an einige Ge rüchte über die Cham. War es nicht die Cham? Es muss vor etwa einem Zyklus gewesen sein. Habe ich nicht ge hört, dass sie selbst einen Bastard zur Welt gebracht hat?« »Nun, in gewisser Weise kann man das so sagen. Sie war fuchsteufelswild wegen dieser Geschichte! Hat ver sucht zu verhindern, dass sie sich herumsprach, aber wie Ihr seht, hat sie keinen Erfolg damit gehabt.« »Sie hat versucht, ein Gerücht einzudämmen? Wie denn?« »Sagen wir, dass ein gewisser Bursche… ein Läster maul… seine Redseligkeit sehr bereut hat.« »Ach? Und wer wäre das gewesen?« »Erinnert Ihr Euch etwa nicht? Feval. Eay Feval.« »Meine Güte… Vermutlich tut es ihm jetzt noch viel mehr Leid.« »Amüsant. Wirklich sehr amüsant.« Die Höflinge flanierten weiter. Gläser klirrten, und Fä cher wedelten. Die Hitze war erdrückend und der Gestank bestialisch. Dampf pfiff durch die Rohre unter dem Boden, und Wachs tropfte von den flackernden Kerzenleuchtern. Viele Adlige, die in ihren Kostümen schwitzten, beneideten die Lakaien, die sich mit ihren Silbertabletts und in leichten Uniformen durch das Gewühl schlängelten. Diejenigen, die schwerere Masken trugen, hoben sie häufig an, damit sie einen Schluck Varl-Wein oder den kräftigen Fest punsch trinken konnten. Die Höflinge tanzten. »Ist das Mistress Quick?« »Sicher. Und Goody Garvice.« »Ich habe gehört, dass sie ein Verhältnis haben. Und seht nur, dort ist Mandy Heva-Harion.« »Ist er das wirklich? In diesem Aufzug?« »Ihr habt wirklich keine Ahnung. Ihr solltet Mandy bes ser erkennen. Er ist so gut wie sicher der nächste Erste Minister, wisst Ihr das nicht?« »Der nächste?« »Falls es einen gibt. Und es wird doch einen geben. Obwohl sein Neffe ein ziemliches Handicap darstellt. Ich
habe gehört, dass ihm gestern Nacht Räuber aufgelauert und ihn halbtot geprügelt haben.« »Javey Heva-Harion? Ermordet?« »Fast ermordet. Das ist ein feiner Unterschied.« »Sehr komisch. Aber… Wer ist diese Lady da? Der Schwarze Schwan?« »Was? Beim Lord Agonis, das weiß ich tatsächlich nicht!« »Macht nichts. Schließlich ist das ein Maskenball.« »Aber ich kenne hier jeden!« »Ach, Unfug!« Lauschen wir einer anderen Konversation. »Dahinten, den meine ich! Ist das nicht der Prinz von Chayn?« »Als Brauner Chayn-Trällerer? Dieses Kostüm macht kaum einen Unterschied!« »Ganz und gar nicht. Aber mit dieser Frau zu tanzen, und das hier vor allen Leuten!« »Welche Frau? Kennt Ihr sie?« »Die Zaxonische Nachtigall! Wer sonst?« »Natürlich! Miss Tilsy Fash… Aber wartet, seht Ihr, was ich sehe? Ist da nicht noch eine Zaxonische Nachtigall?« »Allerdings. Und sie rauscht mächtig schnell heran!« »Meine Güte, was…?« Es war die erste und am wenigsten bedrohliche von verschiedenen Szenen, die diesen Abend beleben sollten. Amüsiert sahen die Gäste zu, wie die gefeierte Miss Fash ihr ungezügeltes zaxonisches Temperament zum Besten gab und dem erstaunten Freddy Chayn die Maske vom Gesicht riss. Der arme Kerl kam nicht einmal dazu, seiner eifersüch tigen Geliebten gestammelte Erklärungen zu liefern, von Entschuldigungen ganz zu schweigen. Denn er hatte alle Hände voll zu tun, seine Tanzpartnerin, die andere Zaxo nische Nachtigall, vor dem Zorn des Originals in Sicher heit zu bringen. Schon bald machte das Gerücht die Run de, dass es sich bei dem fraglichen Mädchen um eine ge wisse Laetitia Cham-Charing gehandelt habe, aber noch bevor die rasende Miss Fash die Identität ihrer Rivalin öffentlich enthüllen konnte, endete der Tanz. Eine Fanfare verkündete den Auftritt des Königspaares. Keinen Augen blick zu früh. Die Höflinge tuschelten: »Oh, seht nur, der König! Sah er jemals -?«
»So schlecht aus? Manchmal noch viel schlimmer. A ber-« »Was? Ihr meint, wir sollen froh sein, dass er eine Maske trägt?« »Das kann seinen schwankenden Gang auch nicht ver bergen.« »Mit wem wird er tanzen?« »Doch wohl nicht mit Ihrer Königlichen Majestät?« »Sehr amüsant. Seht mal, Mandy wählt für ihn aus.« »Mandy? Ist das nicht eigentlich Tranimels Aufgabe?« »Der Erste Minister steht wohl über solchen Dingen, denke ich.« »Ach wirklich? Sagt man nicht, dass es damals zur Zeit der guten Königin Elabeth beinahe einen Bürgerkrieg ge geben hätte, als sie mit einem Venturon tanzte statt mit einem Cham-Charing? Aber was ist das? Was ist das für eine Lady, auf die Mandy da deutet?« »Wer auch immer es ist, sie scheint jedenfalls zu zö gern.« »Na so was. Ist sie sich denn der Ehre nicht bewusst?« »Wie amüsant. Ah, aber sie will keine Szene machen. Da kommt sie. Ein sehr kluges Mädchen.« »Ein Mädchen? Es könnte sich auch eine alte Schachtel unter dieser Verkleidung verstecken.« »Das glaube ich nicht. Seht Ihr diesen hübschen zarten Arm?« »Mit dem König zu tanzen! Das ist der Traum eines jeden Mädchens, hab ich Recht?« »Ha-ha. Aber sie tanzt gut, stimmt’s?« »Wie ein Traum… wie ein Traum.« »Aber… das ist ja merkwürdig.« »Was ist merkwürdig?« »Dahinten steht Ihre Königliche Majestät in der Maske des Silbernen Schwans. Und hier tanzt der König mit dem Schwarzen Schwan.« »Komisch. Wer sie wohl ist?« »Bist du sicher, Bando? Wenn du dich auf mich lehnst…« »Es ist nichts. Jedenfalls ist nichts gebrochen…« »Aber du humpelst… Du bist – « »Lass mich in Ruhe! Es geht mir gut!« Der Ärger in Bandos Stimme war echt. Was interessier te ihn jetzt schon sein Schmerz? Jems Geschichte hatte
alle anderen Gedanken aus seinem Gehirn verbannt. Selbst Bob Scarlet war nicht mehr wichtig. Bando hatte geglaubt, sein Sohn wäre verloren und nichts könnte ihn zurückbringen. Jetzt war nur noch eines wichtig: dass es vielleicht eine Chance gab, Raggle zu retten. Die Grabsteine lagen hinter ihnen. Die Richtung, wel che der Fünf-Gott ihnen gewiesen hatte, führte sie zu einem schmalen, stinkenden Durchgang. Mehr als einmal hatte Jem eine merkwürdige Ahnung verspürt, als würde ein purpurner Vogel unmittelbar außerhalb seines Ge sichtsfelds neben ihnen schweben. »Igitt!« Die Flamme der Fackel verbrannte mit einem Zischen einen Vorhang aus Spinnweben. Jem wischte sich eine Spinne aus dem Haar. »Jem, du hast sie wirklich gesehen?«, erkundigte sich Bando aufs Neue. Jem fühlte den Schmerz in der Stimme des alten Rebellen. »Du hast gesehen, wie sie ihn ent führt haben? Aber warum haben sie ihn hierher gebracht? Ich habe gehört, dass kleine Kinder in die Sklaverei ver kauft und in die Kolonien verschachert werden…« »Es ist viel schlimmer, Bando«, murmelte Jem grim mig. »Ich habe gesehen, was unter dem Großen Tempel vor sich geht und – « »Was werden sie ihm antun? Sag es mir!« Jem wünschte sich, er hätte gar nichts gesagt. Mitfüh lend erwiderte er, dass sie im Moment keine Zeit für Ge spräche hätten. Sie mussten Raggle finden. Welchen Sinn machte es, Bando noch mehr aufzuregen? Man konnte leicht vergessen, dass die meisten Menschen nichts von der finsteren Magie wussten, welche die Tyrannei der Blauröcke stützte. Sie tasteten sich weiter vor. Fragen wirbelten Jem durch den Kopf. Bando mochte von Jems Geschichte er schreckt worden sein, doch Bandos Geschichte hatte Jem mindestens ebenso überrumpelt. Kaum zu glauben, dass Cata hier war, irgendwo in diesem Labyrinth! Wie nah sie war, und doch so weit weg! Wo mochte sie sein? Und wo war Hul? Würden sie schaffen, die Königin zu entführen? Es durchfuhr Jem wie ein Stich, als er an das Mädchen dachte, das er als Jeli Vance gekannt hatte, damals, als er noch unter dem Namen Nova Empster lebte. Es hatte eine Zeit gegeben, als er glaubte, in dieses oberflächli che, kalte Mädchen verliebt zu sein. Vielleicht hatte er sie
ja tatsächlich ein wenig geliebt. Aber nein, daran wollte Jem nicht denken. Bando seufzte schwer. »Du bist sicher, dass es dieser Veeldrop war?«, fing er wieder von vorne an. »Dieser rothaarige Kerl? Ich weiß, dass er ein Schuft ist, aber ich hätte mir niemals träumen lassen…« Er wirbelte herum und packte die Revers von Jems Mantel. »Sag mir, was er meinem Sohn antun wird! Wird er ihn foltern, oder-« »Leise, Bando!« Jem stolperte zurück und hätte beina he die Fackel fallen lassen. Das Licht flackerte. »Nein, sag es mir…« »Bando, leise!«, flüsterte Jem. »Ich habe etwas ge hört, du nicht?« Vorsichtig spähten sie in das Dämmerlicht vor ihnen. In den Schatten sahen sie die dunkle, höhlenartige Öffnung eines anderen Ganges, der den ihren kreuzte. Und sie waren sicher, dass etwas diesen Gang entlangkam. Schritte. Stimmen. Jem hielt seine Lippen dicht an Bandos Ohr. »Du hast doch Kienspane, stimmt’s? Ich muss die Fackel löschen. Es ist zwar ein Risiko, aber ich glaube, wir müssen es ein gehen.« Sie versuchten, den Rauch mit ihren Händen in der Luft zu verteilen, und pressten sich dicht an die Wand, während sie auf die Stimmen warteten, die näher kamen. Jem erkannte sie nur zu bald. Bando ebenfalls. »Dieses alte Miststück! Ich werde ihr nie vergeben, Bohne.« »Ich glaube nicht, dass sie das sonderlich interessiert.« »Nein, und genau das ist das Problem! Was ist das für eine Mutter… meine Güte, sie ist noch schlimmer als dei ne.« »Aber sie ist doch nicht deine Mutter, hab ich Recht? Sie ist die Mutter vom Würger.« »Aber sie war meine Mutter! Habe ich nicht jahrelang gedacht, dass sie meine Mutter wäre? Und hat sie auch nur das kleinste Zeichen von Sorge um mich gezeigt… Auch nur einen Schimmer von mütterlichen Gefühlen? Was kümmert sie diese kleine Dirne Jilda? Dieses alte Miststück ist senil!« »Polty, reg dich nicht wieder auf.« »Was?« Pause. »Nein, Bohne, du hast Recht. Was
kümmert mich außer meinem Sohn? Wie ich bete…« Poltys Sohn? Jena hatte keine Zeit, sich darüber zu wundern. Er hatte alle Hände voll zu tun, Bando zurück zuhalten. Er hielt dem Rebellen mit einer Hand den Mund zu, und mit der anderen packte er seinen Arm. So leise wie möglich raunte er Bando ins Ohr, dass er sie bitte, bitte nicht verraten möge! Noch nicht, jetzt noch nicht! »Aber Polty, du kannst das doch nicht glauben, oder? Der Würger hat dich einfach nur auf den Arm genommen. Er wollte dich ärgern, da bin ich sicher.« »Ach ja? Und woher willst du das wissen? Der Würger macht keine Scherze, nicht über solche Dinge. Es ist wahr, davon bin ich überzeugt… der alte Schuft hat so gelacht, weil es wahr ist!« »Aber was willst du machen, Polty?« »Ich werde meinen Sohn retten, das will ich! Ich schaf fe Vy hier weg-« »Aber Toth – « »Er hat doch den anderen, oder etwa nicht? Soll er doch mit diesem dunkelhäutigen kleinen Fremdling aus dem Blütentauweg tun, was er will – mit ihm und all den anderen kleinen Gören. Aber wenn er glaubt, dass er sein Messer in meinen Sohn…« Mit stampfenden Schritten und klirrenden Waffen wa ren Polty und Bohne an der Verbindung der beiden Tunnel vorbeigegangen. Die Lampe in Bohnes Hand spendete nur einen armseligen, winzigen Lichtstrahl. Jem zog Bando dichter an die Wand zurück. »Aber wir haben keine Zeit, Polty. Die Zeremonie – « »Was? Willst du mir etwa nicht helfen?« »Nein… ich meine, ich will dir helfen, aber er wird doch heute Abend das Ersatzbaby nicht brauchen, oder? Du hast gerade selbst gesagt, dass er das andere – « Das Licht entfernte sich, schimmerte jedoch noch hin ter der Ecke. Polty und Bohne waren stehen geblieben. Man hörte Schlüssel klappern. »Bohne«, sagte Polty, »verstehst du denn nicht die Gefühle eines Vaters? Glaubst du, ich würde meinen Sohn… auch nur einen Moment länger an diesem schreck lichen Ort lassen? Ich bete wirklich inständig, dass ihm nichts passiert ist!« »Polty, du bist derjenige, der nicht versteht.« Bohne
sprach schnell, und seine Stimme klang ängstlich. »Es ist schon schlimm genug, dass wir dies hier tun. Glaubst du, mir gefällt es, dass wir diese Kinder entführen müssen und sie in den Tod schicken? Es macht mich krank, Polty, und ich kann nicht so tun, als wäre es anders… nicht mehr. Aber jetzt haben wir eine Chance, etwas Gutes zu tun. Ich bin auf deiner Seite, das bin ich wirklich. Aber denk nach… Wenn wir Toth wütend machen, was wird er dann tun? Er wird uns töten, hab ich Recht? Und wie kön nen wir dann Vy helfen… ich meine, deinem Sohn?« Das war eine sehr schöne Rede, jedenfalls für Bohnes Verhältnisse, aber Polty hörte kaum zu. Bando bedauerlicherweise auch nicht. Der alte Rebell hatte schon viele gefährliche Situationen erlebt und sich immer unter Kontrolle gehabt. Aber noch nie war sein Sohn in Lebensgefahr gewesen. Er riss sich los. »Nein, bitte…!«, rief Jem. Es war gut, dass Polty die Schlüssel fallen ließ. Ihr Klappern hallte laut im Flur wider. Er fluchte, hob sie wie der auf und suchte den richtigen. Frustriert trat er gegen die Tür. »Sie ist ja offen!«, rief er. »Was zum…?« »Sterbt, Blauröcke!«, rief Bando. Polty zuckte zurück und Bohne auch. Ein Musketen schuss knallte. Bohne kreischte, brach zusammen und hielt sich die Schulter. Polty griff nach seiner Muskete. Aber es war zu spät. Ein Stein stürzte herunter. Der Schuss hatte ihn aus der Decke gelöst. Polty fiel ebenfalls zu Boden. »Schnell, Jem!«, befahl Bando. »Hier muss es sein…« Jem stürzte vor. Sein Herz hämmerte. Er verwünschte seine Feigheit. Bando hatte Recht gehabt, natürlich hatte er Recht gehabt. Sie stürmten durch die offene Zellentür. »Mein Sohn, mein Sohn…!«, rief Bando. Nach Bohnes Sturz war die Laterne über den Boden gerollt. Schatten tanzten grotesk in dem flackernden Lichtschein. Die beiden Freunde sahen sich in der finste ren Zelle um, während ihnen der bestialische Gestank beinahe den Atem raubte. Wo war Raggle? Sie sahen nur einige zerschnittene Seilreste auf dem Boden liegen.
Doch dann bemerkten sie an der gegenüberliegenden Wand noch etwas anderes. Jem stolperte zurück. Erst dachte er, das aufgequolle ne, blutige Ding wäre ein Tier, doch dann dämmerte ihm die Wahrheit. Fassungslos dreht er sich zu Bando um, als müsse der ihm bestätigen, dass das, was er sah, real war. Die Tür wurde zugeschlagen. Sie waren in der Dunkel heit gefangen. Und aus dem Korridor hörten sie Poltys Lachen. Die Frau an der Wand stöhnte gequält auf. Und Raggle? Er rannte immer weiter durch die Dunkelheit. Er fühlte die klebrigen Spinnweben, das widerliche Tropfen des Schleims von den Wänden. Der Geruch von Fäulnis drang in seine Nase. Er hörte das Huschen der Ratten, dann stärkere, unerklärliche Echos. Purpurne Vogelwesen flat terten vor seinen Augen. Raggles Entsetzen steigerte sich immer mehr. Er glitt zu Boden. Doch die purpurnen Vögel, wenn es denn Vögel waren, umringten ihn immer dichter. Sie schimmerten und kreischten. Dann hörte er die Stimme. »Sehr gut, kleiner Mann…« Die Gestalt, die von dem purpurnen Licht beleuchtet wurde, verkörperte das Böse, das spürte Raggle sofort. Obwohl sie zweifellos in religiöse Gewänder gekleidet war. Instinktiv krabbelte Raggle zurück. »Nein, kleiner Mann, du wirst mit mir kommen…« Toth lächelte. Ja, der nächste Zug im Spiel. Tishy Cham-Charing seufzte. »Ich… Ich kann es kaum glauben.« »Was gibt es da zu glauben? Die Rebellen – « »Nein… ich meine, dass ich hier bin, Euch kennen ler ne…« »Ach ja, das ist… nun… « Hul errötete und wünschte sich fast, er hätte seine Maske nicht abgenommen. Seine Brille glänzte im Lampenlicht und die von Tishy ebenfalls. Das junge Mädchen hatte die Einsiedelei der Winde zur Seite geschoben und dachte jetzt nur noch an den Diskurs über die Freiheit. Beglückt presste sie das
kleine Buch an ihr Gewand. »Wenn ich mir vorstelle, dass Ihr diese Ausgabe hier herausgegeben habt! Ihr habt so gar… die Fußnoten geschrieben!« »Und die Einführung«, fügte Hul schüchtern hinzu. »Oh, die ist großartig!« Tishy seufzte erneut und blät terte das kleine Buch durch. »Aber Mr. Hulverside, was sollen wir jetzt tun? Welchen Plan habt Ihr?« Hul fühlte sich geschmeichelt. »Der Plan, Miss ChamCharing? Nun, ich bringe Euch hier heraus und sicher nach Hause. Da ich jetzt eine Lampe habe, die uns den Weg leuchtet, dürfte das – « Tishy sah ihn erstaunt an. »Aber Mr. Hulverside!« Hul blinzelte. »Miss Cham-Charing?« »Habe ich Euch nicht von meiner Bewunderung für… für Mr. Vytoni erzählt… und meiner Sympathie für die Re bellen… und meiner Verachtung für Tyrannei, ganz gleich in welchem Gewand sie daherkommt? Und doch wollt Ihr mich nach Hause bringen? Ihr enttäuscht mich, Mr. Hul verside! Welche andere Bestimmung hätte ich denn als die, Eurer Rebellenbande beizutreten?« »Ihr… Ist das Euer Ernst, Miss Cham-Charing?« Hul wusste, dass er ihr eigentlich hätte widersprechen müs sen, aber irgendwie brachte er das nicht fertig. Stattdes sen schluckte er und blickte in das junge, grüblerische Gesicht. Es wirkte so unschuldig und doch so merkwürdig klug. »Kommt, wir müssen die anderen suchen.« Tishy stieß einen Freudenschrei aus und schob ihren Stuhl zurück. Rasch zog sie sich den Mantel an und um klammerte Mr. Vytonis Buch wie einen Talisman. Überset zungen konnte sie überall finden, aber Hulversides Vyto nis-Ausgabe? Die würde sie auf keinen Fall loslassen! »Können wir wirklich so einfach hier herauskommen, Mr. Hulverside? Ich habe gedacht, ich wäre gefangen! Wie dumm von mir!« »Aber nein, Ihr seid ganz und gar nicht dumm, meine Liebe.« »Doch, halt… was ist mit dem Professor?« »Hm… auf jeden Fall atmet er noch. Ich werde bei Websters eine Nachricht hinterlassen… Seid Ihr fertig, Miss Cham-Charing? Vytoni-Spalt, wir kommen!« »Eins noch.« Tishy legte ihr Buch kurz auf den über füllten Tisch, nahm eine Rolle Pergament, bückte sich und schob sie Professor Mercol in die Hand.
Hul runzelte die Stirn. Tishy lächelte. »Ein Scherz«, sagte sie. »Nur ein klei ner Scherz.« »Wirklich? Der alte Rammler hatte zu meiner Zeit we nig Sinn für Scherze«, erwiderte Hul. »Rammler?« Tishy musste lachen. »Das passt wirklich, nicht wahr? So, wo ist jetzt dieser Spalt des Vytoni?« Dann drehte sie sich um, nicht ohne vorher das Buch vom Tisch genommen zu haben. »Komm schon hoch, Bohne.« Polty grinste triumphierend und klopfte sich den Mantel ab. Beiläufig trat er den schweren Stein zur Seite, der ihn zu Boden gezwungen hatte. Dann bückte er sich, stellte die Laterne hin und stieß Bohne mit der Stiefelspitze aufmunternd an. »Komm schon, steh auf.« »Ich bin verletzt, Polty Meine Schulter…« Polty kniete sich neben ihn. »Das ist nur eine Fleisch wunde… Meine Güte, sie hat so gerade eben deinen Man tel durchschlagen. Steh endlich auf, du langes Elend!« Bohne gehorchte zögernd und schwankte hin und her, während er eine Hand auf seine Schulter presste. »Und was… was tun wir jetzt?« Ein listiger Ausdruck trat in Poltys Augen. Er nahm Bohne zur Seite, damit die Gefangenen in der Zelle nicht mithören konnten. Seine Stimme zitterte vor Erregung. »Ist dir klar, wer das war, Bohne?« »Ich nehme an, irgendein Rebell – « »Nicht der, ich meine den anderen. >Jem, schnell!‹ Das hat der Bursche gesagt, hab ich Recht? Es war der Krüppel. Weißt du, was das bedeutet?« »Dass Jem Krüppel wieder aufgetaucht ist? Das wussten wir doch schon.« Bohne schluchzte beinahe vor Schmerz und lehnte sich gegen die Wand. »Wir wissen auch, dass die Zeremonie jeden Moment los geht und wir den Jungen aus dem Blütentauweg verloren haben – « »Bist du sicher, dass du die Tür abgeschlossen hast, Bohne?« »Natürlich habe ich… ich muss doch…« Bohne errötete. Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Polty einen Wut anfall bekommen. Doch jetzt grinste er nur. »Freund, das war vorherbestimmt… Denn jetzt habe ich ihn, den Krüp pel, verstehst du das nicht? Toth wollte ihn, und ich habe
ihn. Bohne, was sonst spielt jetzt noch eine Rolle? Weißt du noch, was Toth gesagt hat? Wofür dient die heutige Nacht, wenn nicht dafür, den Krüppel anzulocken? Toth mag unseren Wert früher angezweifelt haben, doch wie sollte er ihn jetzt noch anzweifeln können?« »Ich bin nicht sicher, ob wir so viel gewonnen haben, Polty – « »Du hast nicht viel gewonnen«, konterte Polty verächt lich. Er packte die Umschläge von Bohnes Mantel und hievte seinen Freund hoch. Bohne verzog das Gesicht, und Polty lächelte. »Was mich angeht, ich kann einfach nicht länger mit ansehen, dass Penge noch länger in die sem Glas schmachtet.« »Was ist mit Vy? Oder hast du sie schon vergessen?« »Für was hältst du mich, Bohne? Ich hole Vy augen blicklich da heraus – « »Das wird nicht leicht werden, hab ich Recht? Sie ist immerhin mit den anderen da drin. Und sie sind bewaff net…. sehr gut bewaffnet«, fügte Bohne bedauernd hinzu und wischte sich seine blutige Hand am Mantel ab. »Du hast überhaupt kein Vertrauen zu mir, Bohne, hab ich Recht? Glaubst du nicht, dass ich den Krüppel und irgendeinen alten heruntergekommenen Rebellen genau so schnell entwaffnen kann, wie ich mit den Fingern schnippe? Und jetzt hör zu: Du hast doch mitbekommen, wie der Rebell sagte: ›Mein Sohn‹?« Bohne wand sich die ganze Zeit vor Schmerzen und begriff nicht so recht, worauf Polty hinauswollte. Polty deutete mit den Daumen auf die Zellentür. »Hast du das begriffen, Bohne? Das Gör aus dem Blütentauweg muss der Balg von dem Rebellen sein! Verstehst du denn nicht, dass der Krüppel an irgendeinem albernen Plan beteiligt ist, einen schmutzigen kleinen Jungen zu befrei en? Es geht alles auf. Genau wie meine Pläne.« Polty beugte sich dichter zu Bohne hinunter und seine Stimme wurde leiser. Während Bohne seinem Plan zuhörte, blinzelte er mit den Augen. Er wollte nur eins, sich hinlegen. Stattdessen musste er neben Polty an der Zellentür knien und auf Poltys Befehl eine Reihe schriller Schreie ausstoßen. Es erinnerte an einen geprügelten Hund. Ob der Plan wohl funktionierte? Polty war davon felsenfest überzeugt. Er klopfte mit dem Schaft seiner Muskete an die Tür.
»Könnt ihr mich hören da drin? Könnt ihr mich hören?« Jems Stimme antwortete: »Wir hören dich, Polty…« »Dann hört zu. Ich habe den Schlüssel zu dieser Tür und habe auch den Jungen. Hört ihr ihn quietschen? Er ist zwar weggelaufen, aber wir haben ihn gefunden…« Ein Schrei antwortete ihm. Er kam von Bando. »Halt den Mund, und hör zu!«, befahl Polty »Ich lasse ihn gehen, aber dafür will ich Jem Krüppel… Ich will, dass er sich mir ergibt. Ich werde jetzt diese Tür aufmachen, nur ein bisschen, und ihr werft eure Waffen raus, habt ihr verstanden? Dann kommt ihr heraus und hebt die Hände hoch. Tut, was ich sage, und das Kind lebt. Ich werde seinem Vater genug Zeit gewähren, damit er ihn weg schaffen kann. Aber wenn ihr irgendwelche Tricks ver sucht, ist der Junge erledigt.« Bohne jammerte besonders laut, als Polty mit dem Ba jonett nachhalf. Aus der Zelle antwortete nur Schweigen. »Habt ihr mich gehört?«, kreischte Polty. »Woher sollen wir wissen, dass du den Jungen wirklich hast?« Das war wieder Jem. »Hörst du ihn denn nicht winseln? Kannst du nicht hö ren, wie er weint?« »Lass mich mit ihm reden.« Das war Bando. »Taggle… Taggle, geht es dir gut?« Polty schlug mit der Muskete wütend gegen die Tür. »Glaubst du, du kannst mit mir feilschen, du Rebellenab schaum? Ich hab dir meine Bedingungen genannt. Jetzt tu, was ich gesagt habe!« Er packte Bohne am Kragen und zog ihn von der Tür weg. Diesmal war das Heulen seines Freundes wirklich echt. »Bohne«, zischte er. »Halt die Muskete bereit-schnell, schnell!« Der Schlüssel drehte sich im Schloss. Polty hob seine eigene Flinte. Er hatte gesagt, dass er die Türe nur ein bisschen öffnen würde, doch nun trat er heftig dagegen. »Werft eure Waffen heraus! Sofort!«, befahl Polty. Es gab eine Pause, aber sie dauerte nicht lange. Zwei Musketen flogen klappernd heraus. Polty trat sie weiter den Flur hinunter, an Bohne vorbei. »Jetzt kommt mit erhobenen Händen raus, habt ihr gehört?« Wieder antwortete eine Pause, die diesmal länger dau
erte. »Und wenn nicht?«, erwiderte Jem schließlich. »Da jetzt die Tür offen ist, sehen wir etwas besser hier drin, Polty. Vielen Dank. Wir sehen jetzt Dinge, die wir vorher nicht erkennen konnten… Zum Beispiel sehe ich Bando da drüben an der Wand stehen. Er hat zwar keine Muskete mehr, aber er hat ein scharfes Messer… Hast du nicht gerade von deinem Sohn geredet, Polty? Eben habe ich das nicht verstanden. Doch jetzt verstehe ich.« Polty stockte der Atem. »Wovon… redest du?« »Du bist derjenige, der jetzt seine Waffen niederlegt, Polty Du und Bohne, verstanden? Ich glaube, ihr versteht mich sehr gut. Oder etwa nicht?« Dieser Täuschungsversuch war noch verzweifelter als der davor. Bohne durchschaute ihn sofort. Aber Polty be urteilte den Charakter anderer Menschen nach seinem eigenen, wie alle Übeltäter. Panik durchströmte ihn. Sein Sohn! Nicht seinen Sohn! Er stürzte kopflos in die Zelle und schoss in die Rich tung, aus der Jems Stimme gekommen war. Der Schuss verfehlte sein Ziel. Jem sprang ihn an, und Bando folgte ihm sofort. Sie kämpften. »Bohne, hilf mir…!« Aber Bohne lag auf dem Rücken und hielt seine Schul ter fest. Polty schwankte, als eine Faust ihn wie ein Fels brocken traf. Jemand warf die Laterne um. Schlagartig wurde es dunkel. »Lauf, Bando!« »Torso! Torso!« »Ha-ha, ha-ha!« Woher kam sie wohl, die Stimme des toten Mannes? Umbecca und der Torso wirbelten im Dreivierteltakt eines Strossini-Walzers über den Tanzboden. Die anderen Paare hielten respektvoll Abstand, was bei einer so monströsen Frau auch kein Wunder war. Jeder wusste, wer sich hinter dieser riesigen Harlekin-Eule verbarg. Die Klatschbasen zerrissen sich nur die Mäuler darüber, wer wohl ihr Galan sein mochte. Denn das Papageien-Kostüm war, da herrschte breite Einigkeit, für Lektor Feval bestimmt ge wesen. Sie drehten sich unaufhörlich im Kreis. »Torso, ich habe mit dem Erz-Maximus gesprochen!
Sagte ich dir schon, dass ich mit ihm sprechen wollte? Es ist alles arrangiert, mein Liebling… deine Heiligspre chung!« Sie wirbelten weiter herum. »Wie sie uns beneidet, die Masse! Aber wer ist diese Lady, die so aufmerksam zu uns herschaut? Ich glaube, es ist eine ziemlich alte Lady, meinst du nicht? Ich habe fast das Gefühl, als würden sich ihre Augen durch ihre Masken brennen!« Die Musik spielte fröhlich weiter… »Ich fühle mich unwohl unter ihrem Blick! Wirklich, ihr Kostüm könnte aus allen Spatzen dieser Welt gemacht sein! Aber komm, Torso, sprich mit mir! Willst du nicht ein bisschen reden?« Die arme Umbecca! Diese Aufforderung sollte sie noch bereuen. Bis jetzt hatte die Stimme, die aus dem Schnabel des Papageis drang, ihr nur Komplimente gemacht, ihr ge schmeichelt und unverbindlich geplaudert. Die fette Frau schwebte, angestachelt von diesem edlen Galan, wie auf Wolken. Jetzt redete wieder eine Stimme mit ihr, aber es war nicht die von Eay Feval. Sie schien von weiter weg zu kommen, obwohl sie durch den Schnabel drang. Konnte das Tranimel sein? Aber wo war Tranimel? Ihre Gedanken überschlugen sich, aber sie konnte nichts weiter tun als tanzen, gefangen in den Armen der kreisenden, zucken den Marionette. Nur Umbecca konnte diese Stimme hören. Misstönend und grotesk passte sie sich dem Takt des Walzers an. »Sehr schön, Torso, halte sie in deinen Armen! Ach, aber glaubst du wirklich, sie liebt dich, Torso? Umbecca, glaubst du, dass du ihn liebst? Was war er denn anderes als ein bloßer Ersatz? Arme Lady, die einem kalten und leidenschaftslosen halben Mann hinterherlief… Denn war er nicht nur ein halber Mann, selbst als er noch heil gewe sen ist? Ein Dandy, der die neuesten Kleiderschnitte kannte und wusste, wie ein Vorhang drapiert werden muss, aber niemals das Pochen eines Frauenherzens wahrnahm… er kannte den Preis eines Teeservice, aber nicht den Wert der Liebe, die er hervorbrachte!« »Nein, das darfst du nicht sagen… Nein, nein…!« Um becca legte schluchzend den Kopf an die Brust des Tor
sos. Die Marionette tanzte weiter. »Umbecca, du hast mit ihm über die große Welt ge tratscht, von deiner Eroberung der Gesellschaft ge träumt… doch haben nicht die ganze Zeit deine Schenkel nach anderen Eroberungen gegiert? War es wirklich die ser halbe Mann, den du begehrt hast, ein Kapaun in allem außer der Wahrheit? Es war doch Wolveron, hab ich Recht? Silas Wolveron? Ja, er war derjenige, für den dein Herz immer schlug! Als er Lektor von Irion war, wärst du seine Frau geworden, als er verrückt geworden ist, hät test du ihn gepflegt, und selbst als er mit deiner Kusine Yane Rench davongelaufen ist und im Wildwald wie ein Tier in einer Höhle vegetiert hat, wärst du zu ihm gegan gen und hättest alles zurückgelassen, wenn er dich nur auf den Waldboden geworfen und deine Schenkel mit kochender Lust aufgespießt hätte!« »Das stimmt nicht… Das ist nicht wahr…« Hilflos ver suchte Umbecca sich von der Marionette zu befreien, von der Schnabelmaske, von den mitleidlosen Worten, die ihre Brüste wie Pfeile durchbohrten. Sie murmelte Gebete und rief die Liebe des Lord Agonis an. Aber es kam keine Hilfe. Die Musik spielte weiter. »Oh, doch«, fuhr die Stimme gnadenlos fort. »Wäre es nicht der Höhepunkt deines Schicksals gewesen, dich in Ekstase auf dem Waldboden zu wälzen, festgenagelt un ter einem Vaga mit schmutzigen Kleidern? Aber du warst nicht die hübsche kleine Yane Rench, nicht wahr? Nein, du warst der Liebe nicht wert, nicht einmal der Liebe eines heruntergekommenen, verrückten Renegaten! Du hast in der Liebe versagt, Umbecca, und in deiner Schande, dei ner Demütigung, blieb dir nur die Rache. Und was für eine Rache! Weißt du noch, wie du ihn verraten hast, wie du den Blauröcken eingeredet hast, er wäre ein feindlicher Agent? Weißt du noch, wie Veeldrop ihm die Augen aus gebrannt hat? Was für eine erschütternde Lust deinen Körper erfüllte, die glühendste Lust, die du jemals erfah ren solltest!« »Bitte«, schluchzte Umbecca. »Gnade, Gnade…!« Mittlerweile konnten alle ihre Verwirrung erkennen. Um das zuckende, schwankende Paar hatte sich ein Kreis ge bildet. Die Höflinge starrten sie an und zeigten auf sie. Meine Güte, die alte Vettel steigerte sich noch in einen
Anfall! Wer war bloß dieser Kerl, der sie so stark festhielt? Der Walzer zog ein letztes Mal an. »Aber selbst damals wurde deine Lust nicht gestillt! Wenn er dich noch wollte – der stinkende alte Vaga mit seinen Läusen und entzündeten Schwären – würdest du ihn nicht jetzt noch erhören, deine soziale Stellung und deine Völlerei aufgeben, all die Heuchelei von Frömmig keit und Tugend vergessen? Arme Umbecca, tragische Umbecca! Da hast du so hart gearbeitet, hast Pläne er sonnen und Ränke geschmiedet und so wenig erreicht! Du tanzt in den Armen dieser impotenten Puppe, denkst aber an den einen Mann, den du wirklich wolltest! Teure Lady, wirst du ihn jemals wiedersehen? Was würdest du nicht alles geben, um ihn noch einmal zu sehen?« »Ihr seid verrückt… Silas… er ist tot…« »Seid Ihr Euch da sicher, Lady? Seid Ihr Euch da wirk lich sicher?« Endlich war der Walzer zu Ende. Umbecca glitt aus den Armen der Marionette und brach auf dem Boden zusam men. Sie nahm ihre Umgebung nur noch schemenhaft wahr, die beunruhigten Gäste, die herbeieilenden Lakaien. Aber wer war diese eine Gestalt, die sie durch ihre Tränen deutlich sah? Wolveron? Silas Wolveron? Wie ein böses Omen stand er mitten im Ballsaal, den Stab in der Hand und die Kapuze über den Kopf gezogen. Mit knotigen Händen zog er sie zurück und enthüllte die Höhlen, in denen einst seine Augen gewesen waren. Umbecca schrie. Und riss ihre Maske herunter. Die Feval-Marionette tanzte mittlerweile durch die Menge, die sich entsetzt vor ihr teilte. Aber immer noch hörte Umbecca die grausamen Worte, die nur in ihrem Schädel hallten. »Lady, er ist hier! Dein Geliebter ist hier! Aber liebt er dich wirklich? Hat er dich je geliebt? Nein, es ist eine an dere, die seine Liebe auskosten durfte… sie hat zahllose Male unter ihm gestöhnt und auch seinen Balg zur Welt gebracht! Es war eine andere, und dazu noch eine, die dir nahe stand! Wer sonst als die Frau, die früher einmal als Lady Lolenda bekannt war… die Frau, die du als Berthen Waxwell kennst…« »Ihr seid verrückt, ich höre euch nicht zu, ich will euch nicht…«
»Und das Kind? Niemand kannte das Geheimnis seiner Eltern, es wurde von einer Pflegemutter erzogen, die der Erz-Maximus auserwählt hatte, während seine wahre Mut ter sich selbst in einer qualvollen Ehe kasteite. Wer konn te das wohl anderes sein, dieser halbe Vaga-Bastard, als unser lieber, heißgeliebter Eay Feval? Welche Ironie, Um becca, was für eine köstliche Ironie…!« Wildes, verrücktes Gelächter gellte in ihren Ohren. A ber Umbecca konnte nichts mehr aufnehmen. Sie rappelte sich hoch, wischte sich die Tränen ab und suchte nur nach Silas, Silas. Sie hätte sich ihm an den Hals geworfen, ihn umarmt oder vielleicht auch mit ihren eigenen Händen zerrissen. Aber wo war er? Silas? Silas? »Teure Lady, es geht Euch nicht gut, kommt, kommt mit…« Umbecca fegte den Lakai mit einem Fausthieb zur Sei te. Ein Tablett polterte zu Boden. Wachen tauchten auf. »Euer Gnaden…« Würden sie es wagen, sie anzufassen, sie sogar festzu halten? Ihr Liebhaber, ihr Geliebter. »Silas, komm zu mir…!« Stattdessen stürmte eine andere Gestalt durch die Menge. Es war das Spatzen-Der-Welt-Kostüm, und seine Trägerin hatte ihre Maske zur Seite geschoben. Der Brau ne-Chayn-Trällerer und auch der Derkold-Kahlkopf-Adler versuchten sie zurückzuhalten. Der Blau Gefiederte Re genpfeifer kreischte und hielt sich die Augen zu. Aber El san Margrave stürmte weiter vor, Mordlust in den Augen. »Du hast ihn umgebracht, du hast meinen Ehemann umgebracht!« Wütend legten sich kräftige Hände um Umbeccas Hals. Aber jetzt war es zu spät für Gerechtig keit. Schüsse peitschten auf, und Lady Margrave stürzte zu Boden. Die Höflinge waren verwirrt. »Das wird ja immer widerlicher…« »Wo ist denn die fette Frau jetzt?« »Das weiß ich nicht, aber seht Ihr den Ersten Minis ter?« »Allerdings. Aber warum ist er nicht als Vogel verklei
det?« »Könnt Ihr Euch das nicht vorstellen? Doch seht, wie böse er lächelt! Und wie seine Augen glühen! Ganz offen sichtlich ist er ziemlich an Lady Cham-Charing interes siert, hab ich Recht?« »Die arme Lady! Da steht sie in einer Ecke und schluchzt, und das beim Vogelball!« »Das dumme alte Miststück! Hat sie das nicht auch verdient, nachdem sie uns so viele Jahre beherrscht hat?« »Aber mit ansehen zu müssen, wie ihre beste Freundin getötet – « »Ich weiß, ich weiß, schon gut. Wenn man uns nur endlich gestatten würde, diesen verdammten Ball zu ver lassen!« »Nun, es ist bald Mitternacht…« »Mitternacht? Sie werden uns bis zum Morgengrauen dabehalten!« »Ich würde sagen, die Tochter von Cham-Charing scheint ziemlich vertraut mit Freddy Chayn zu sein, hab ich Recht? Glaubt Ihr, dass sie es sich anders überlegt hat?« »Ihr meint die andere Zaxonische Nachtigall? Doch wartet, wohin geht sie jetzt? Lakai, mehr Punsch! Ach, anscheinend steht dort mehr als einer schluchzend in der Ecke! Seht Ihr, sie geht zu ihm… zu der Orandy-Ente, seht Ihr?« »Sie versucht, ihn zu trösten? Aber wer ist das denn?« »Wisst Ihr was? Ich glaube, das ist dieser Schneider… Quisto?« »Was? Wie seltsam! Aber ihre Gesten, schaut nur, es sieht so aus… als hätte das Mädchen gerade etwas Schreckliches gehört. Doch seht, er wendet sich ihr zu… und schickt sie weg! Ganz offensichtlich ist er wirklich verärgert!« »Endlich! Die Glocken…!« Es schlug Mitternacht, und das Schlagen der Glocken war trotz des Durcheinanders und Lärms auf dem Ball zu hören. Schlagartig veränderte sich alles. Das Orchester hörte auf zu spielen, und die erschöpften Paare auf dem Tanzboden gingen auseinander. In dem heißen Saal wur den die Gläser gehoben und die Masken abgenommen. Alle kannten die Bedeutung der Mitternacht für dieses Fest. Es war die Zeit für die Ansprache des Monarchen…
Zeit für den Vertreter der Götter im Reich des Seins, am Ende der Gott-Tage zu seinem Volk zu sprechen. Letztes Jahr hatte Seine Kaiserliche Agonistische Majestät nur ein paar trunkene Sätze gestammelt, bevor er zwischen die Lauten und Violen gestürzt war. Dieses Jahr sollte es je doch anders werden. Eine merkwürdige Lebhaftigkeit er füllte das königliche Gesicht, eine Lebendigkeit, die nur wenige zuvor gesehen hatten. Die Höflinge tuschelten hinter vorgehaltener Hand. »Igitt, dieses Wachs tropft in mein Haar! Aber ich finde –« »Wer hat den alten Sack nur so munter gemacht? Beim Lord Agonis, er wirkt lebendig!« »Glaubt Ihr? Nein, er ähnelt eher einer Marionette, die an ihren Fäden zappelt…« »Sicher, aber war er denn jemals etwas anderes als ei ne Marionette?« »Nein, hört ihm zu! Was für eine Beredsamkeit! Ich habe noch nie – « »Wovon redet er? Mein Gehör ist nicht mehr so ganz – « »Er spricht über die Rebellen und wie wir sie besiegen können! Über den Krieg, der uns bevorsteht, den Krieg, der alle Kriege beendet! Ehrlich gesagt hätte ich nicht erwartet, dass er dazu fähig wäre! Wo ist der Erste Minis ter? Ich kann nicht glauben, dass er sich nicht blicken lässt!« »Seid Ihr sicher? Stachelt er ihn denn nicht an?« »Ich sehe ihn nicht. Aber schaut dort drüben!« »Die Schwäne? Was… was geht denn da vor?« »Der Silberne Schwan, das ist die Königin… Aber wer ist dieser andere? Sie hat immer noch ihre Maske auf…« »Ich habe sie vorhin mit der Königin gesehen…« »Es scheint fast so… als würde sie sie necken…« »Als würde sie versuchen, sie irgendwohin zu locken…« »Sie wollen weggehen? Verstehe, in diesen Ruhe raum…« »Während der Festrede? Meine Güte, es scheint fast, als wollte sie ihr etwas zeigen. Als würde sie sie anfle hen…« Auf dem Podium hatte Seine Kaiserliche Agonistische Majestät die Arme ausgebreitet und kam zum Höhepunkt seiner Rede. Er sprach vom Triumph, von der Macht, vom
Reich der Agonisten und wie sein Ruhm sich in der gan zen Welt verbreiten würde. In dem Moment ertönte ein Klirren, und von einem Kronleuchter schwang sich ein Vogel herab, mit dessen Erscheinen auf dem Ball niemand gerechnet hatte. Die Höflinge schrien und Chaos brach aus. Schüsse peitschten. Eine Pistole wirbelte durch die Luft, und Wa chen stürzten. Blut sprudelte aus Wunden. »Seht nur, er springt hinunter auf das Podium…!« »Bob Scarlet! Ich glaube es nicht, aber…!« »Er… er schlägt den König nieder…!« »Er nimmt seine Maske ab…!« »Nein, das kann ich einfach nicht glauben…!« »Es ist… es ist Ejard Rot!« »Flieht, die Rebellen sind da!« »Flieht, flieht…« »Ohh…!« Ejard Rot legt den Kopf in den Nacken und lachte gel lend. »Sollte das vorherbestimmt sein?«, keuchte einer der Höflinge. »Soll das das Ende sein?«, schrie ein anderer. »Aber er ist doch tot, er wurde getötet…!« »Was wirft er da durch die Luft?« »Also wirklich, das ist ein Nager…!« »Seht, dieser Wachsoldat…!« »Er hat die Ratte aufgefangen!« »Aber was…?« »Warum…?« Triumphierend musterte der abgesetzte König seine treuen Untertanen. »Aber meine Liebe, wie kannst du nur denken, dass ich dich im Stich lassen würde? Glaubst du wirklich, dass ich untreu würde? Dummes Mädchen, zu glauben, dass ich dich in diesem Kerker schmachten lassen würde… Wenn es nach mir gegangen wäre, wäre nichts von dem hier geschehen! Es war Toth, der böse Toth, der uns gezwun gen hat, dich hier zu lassen… Stimmt das nicht, Bohne?« Bohne schluckte und hielt die Laterne hoch. Sie gingen durch den feuchten, gewundenen Korridor. Was sie ma chen würden, wenn ihnen die Flucht gelang, wusste er nicht. Er wusste nur, dass sie diesen Ort verlassen muss ten, und zwar sofort.
Polty stützte die schwankende Miss Rextel. Heftig, bei nahe schreiend, wiederholte er seine Frage. »Stimmt das nicht, Bohne? Hab ich nicht Recht?« »Ich… natürlich, Polty. Es war Toths Schuld…« »Hast du das gehört, mein Liebling?« Zärtlich strich Polty über den gewaltigen Bauch des Mädchens. »Was du für ein Glück hast! Gerettet in letzter Sekunde! Mach dir keine Sorgen, diese paar Kratzer werden schon bald hei len. Es ist nur schade, dass deine perlengleichen Zähne ausgeschlagen sind. Aber keine Angst, es gibt viele Mäd chen, die ihre Zähne verkaufen… Liebling, denk nur an all das Glück, das uns erwartet! Ich, der kleine Polty und du! Was, Vy? Was, Bohne?« Da Miss Rextel nur ihren Kopf hin und her neigen konnte, war es an Bohne, die Antwort zu liefern. Das wollte er auch, und er war gerade dabei, eine schmeichel hafte Lobrede auf das Familienleben und den häuslichen Segen zu verfassen, als er die Gestalt sah, die in diesem Moment im Lichtkreis der Lampe auftauchte. »Was, Bohne?«, wiederholte Polty, der nichts bemerkt hatte. Bohne schnappte nach Luft. »Sieh doch, Polty…« Purpurne Vögel scharten sich um die weiß gekleidete Gestalt. »Sieh an, sieh an«, sagte Toth, »meine Lieblingsassis tenten. Und dann auch noch mein Lieblingsbaby. Aber kommt doch, Freunde, ich fürchte, ihr habt den falschen Weg eingeschlagen.« Sie rannten durch die Finsternis. Plötzlich war da ein Licht. Jem hielt inne. »Der Hornlichtfokus!« »Der was…?« Bando presste seine Hand auf seine schmerzende Seite. »Er kommt von der Spitze des Turms«, murmelte Jem und erinnerte sich an das, was ihm sein Mentor vor langer Zeit erzählt hatte. »Er führt hinunter durch die große, zentrale Säule… immer tiefer, durch alle Ebenen…« »Das heißt, wir befinden uns unter dem Tempel?« »Direkt darunter.« Jem sah sich in der Krypta um. So viele Pfeiler, fast wie in einem Kloster. Und er bemerkte dunkle Bänke vor einem erhöhten Altar. Dann erkannte er die Steinplatte, die mit Blutflecken bedeckt war, und die
düsteren Vorhänge, die dahinter hingen. »Aber dieser Ort ist doch zerstört worden… ich habe gesehen, wie er zer stört wurde…« »Und wenn schon!«, fuhr Bando ihn an. »Wo ist mein Sohn?« Sie wollten weiterlaufen, aber etwas an dem Hornlicht fokus ließ sie innehalten. »Es sieht aus, als wäre Raggle entkommen«, sagte Jem. »Der gute Raggle! Ich wusste doch, dass er genauso mutig ist wie sein Vater!« »Wir sollten trotzdem vorsichtig sein.« Jem forderte Bando mit einer Handbewegung auf weiterzugehen. »Wir haben Polty zwar niedergeschlagen, aber es würde mich nicht wundern, wenn er uns bereits verfolgte. Und wir haben unsere Waffen verloren…« Plötzlich stürmten zwei Gestalten aus einem anderen Gang in die Krypta. »Hul!«, rief Bando voller Freude. »Wo hast du ge steckt? Und wer…?« Einen Moment musste Jem lachen, als er Huis Kostüm sah. Doch dann vergaß er den Festtagstruthahn und dachte nur an den Mann, der darinsteckte. Es war großartig, wieder mit Hul vereint zu sein! Aber wer war dieses Mädchen? Im ersten Augenblick hatte Jem gehofft, es wäre Cata. Jetzt jedoch konnte er seine Enttäuschung kaum verbergen. Dieses Mädchen trug eine Hornbrille und hatte das Haar zurückgebunden. Und an ihre Brust presste sie ein Buch – wie einen Ta lisman. »Das ist Miss Laetitia Cham-Charing«, sagte Hul atem los. »Jem, ich war sicher, dass du es bist! Wir haben uns so beeilt, dich einzuholen… aber die arme Lady ChamCharing war in der Kammer der – « »Lady Cham-Charings Tochter?«, platzte Jem heraus. Eine Menge Fragen drängten sich ihm auf, aber Hul umarmte ihn mit seinen gefiederten Armen. Es blieb Bando überlassen, sich nach Cata zu erkundi gen. »Wir wurden getrennt«, sagte Hul. »Purpurne Vögel – « Verzweifelt schlug Jem seine Fäuste gegen die Stirn. War es etwa sein Schicksal, Cata niemals wiedersehen zu
dürfen? Er versuchte, sich zusammenzureißen. »Geht es Euch gut, Miss Cham-Charing?« »Aber ja«, erwiderte Tishy und lächelte dabei Hul an. »Miss Cham-Charing ist eine Rebellin, genau wie wir – «, begann Hul. Weiter kam er nicht. Ein donnerndes Dröhnen unter brach ihn. Die Freunde stolperten zurück und hielten sich die Ohren zu. Das waren die Tempelglocken, deren Schla gen durch den Hornlichtfokus bis nach unten schallte. Alles um sie herum – der Altar, die Vorhänge, ja, sogar das Licht – vibrierte im Widerhall dieses kalten, metalli schen Dröhnens. Es war Mitternacht. Furcht bemächtigte sich Jems, und er dachte an das letzte Mal, als er diese Glocken gehört hatte. Das war auch in dieser Krypta gewesen. Und als würden seine Erinnerungen zum Leben erwa chen, bildeten sich plötzlich Phantomgestalten um ihn herum, mit schwarzen Kapuzen verhüllt, die jeden Platz in den dunklen Bänken besetzten. Jems Gedanken über schlugen sich. Konnte das eine Illusion sein? Bando schrie auf, und Tishy kreischte. »Was ist das?«, rief Hul. »Woher kommen sie?« Sie wollten weglaufen, durch einen Korridor flüchten, doch es war bereits zu spät. Eine weiße Gestalt tauchte schimmernd am Altar auf, und dann schimmerten die schwarzen Gestalten plötzlich nicht mehr. Jems Kristall brannte an seiner Brust. Rasch drängte er die anderen in den Schatten zwischen den Pfeilern. Die Glocken schlugen unaufhörlich weiter… vier, fünf, sechs, sieben… »Sind das Geister?«, rief Bando. »Oder sind es Men schen?« »Leise, Bando! Sie dürfen nicht wissen, dass wir hier sind…« »Jem, deine Brust!«, sagte Hul. »Was geht hier vor?« »Leise, Hul! Miss Cham-Charing, schweigt! Wenn Toth… Wenn Tranimel uns sieht, wird er uns töten.« Jem beugte sich über den Kristall. Wie konnte das Licht sogar durch den Mantel dringen? »Ich… ich kann jetzt nicht alles er klären, aber hört zu, ihr alle: Schreit nicht, und bewegt euch nicht, wenn die Glocken aufgehört haben zu läuten.
Es wird etwas passieren, und es wird grausam sein… Furcht einflößend… das Schrecklichste, was ihr je gese hen habt. Aber wir können nichts dagegen tun – nicht jetzt, nicht im Augenblick.« Aber was kann Toth tun?, dachte Jem. Er bemerkte die Vögel, die sich um die Pfeiler drängten. Er schluckte und starrte ängstlich zu den Bänken. Die Glocken schlugen immer noch… zehn, elf. Jetzt wirkten die verhüllten Brü der sehr real, und auch Toth schien zu leben. Er stand mit ausgestreckten Armen hinter dem Altar. Dann warf er den Kopf zurück und starrte scheinbar verzückt in den Horn lichtfokus. Als das Schlagen der Glocken fast zu Ende war – zwölf, dreizehn –, sah Jem die schlaksige Gestalt von Bohne, der auf den Altar zuwanderte, als würde er von einer Kraft getrieben, die er nicht kontrollieren konnte. Er stammelte Entschuldigungen, verneigte sich, kroch über den Boden. Polty stolperte kläglich hinterdrein und führte das ge heimnisvolle Mädchen aus der Zelle an der Hand. Das Mädchen humpelte und hinterließ eine Blutspur auf dem Boden. Über den Schultern trug sie Poltys Jacke, und er hatte schützend einen Arm um sie geschlungen. Bando schlug entsetzt die Hand vor den Mund. Polty redete auf Toth ein, flehte ihn an, aber alles, was über seine Lippen kam, waren unartikulierte Schreie. Jetzt schlugen die Glocken das letzte Mal – vierzehn, fünfzehn – und Toth entließ seine unglücklichen Diener mit einer kurzen Handbewegung. Machtlos stolperten sie hinter den Altar, neben die dunklen Vorhänge. Was nun folgte, beobachtete Bohne voller Furcht und am ganzen Körper zitternd. Polty dagegen achtete überhaupt nicht darauf, sondern war kurz davor, zu Boden zu sin ken. Er schlang immer noch die Arme um das Mädchen. Manchmal beugte er sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr, wie ein Liebhaber. Manchmal war sein Gesicht vor Stolz gerötet, und er streichelte die fruchtbare Kugel ihres Bau ches. Das Mädchen zitterte heftig. Ihr Haar war verfilzt, ihr Gesicht eine einzige blaue Masse. Aber Jem wusste plötz lich ganz sicher, dass er dieses Mädchen früher schon mal gesehen hatte. Was hatte ein alter Bock mit einer Holzna se zu ihm gesagt, auf einem Ball in der Provinz? Sieh doch, Junge, weide deinen Blick, weide deinen Blick an
der üppigen Vy… Doch jetzt begann die Schwarze Messe. Das Läuten endete. Toth starrte triumphierend auf die Brüder. Die stimmten sofort ein unheimliches Lied an, als würden sie von seinem schieren Willen dazu gezwungen. Die Füße stampften, und ihre Stimmen erhoben sich wie eine und dröhnten und hallten in dem unterirdischen Reich wider. Jem konnte es kaum ertragen, das Mantra zu hören. All das war ihm so furchtbar vertraut. Hatte er diese Ge sänge nicht schon so oft gehört? Hallten sie nicht immer und immer wieder in seinen Träumen wider? Doch dies mal waren es andere Worte. Vogel des Nicht-Seins, mächtiger Vogel des Feuers. Komm zu uns, komm und entfache unser Begehren! Komm zu uns, komm und stille unser Begehren! Vogel des Nicht-Seins, mächtiger Vogel der Flut, Komm zu uns, komm und bade uns in Blut! TOTH, der Sassoroch ist, wartet nun auf dich, TOTH, der Chorassos ist, wird mit dir fliegen! Vogel des Nicht-Seins, mächtiger Vogel des Eises, Komm, lass uns dir unser Opfer darbringen! Vogel des Nicht-Seins, mächtiger Vogel des Schnees, Komm zu uns, bring uns dorthin, wohin die Geretteten gehen müssen: Bring uns zu den Bergen aus Eis und Schnee! TOTH, der Chorassos ist, wartet fetzt auf dich, TOTH, der Sassoroch ist, wird mit dir fliegen! Die purpurnen Vogelwesen an der Decke tanzten und krächzten. Der Kanon ging weiter und weiter und hörte schließlich auf. Jetzt begann Toth zu sprechen. In der blendenden Helligkeit des Hornlichtfokus wirkte sein Gesicht wie ein Schleier aus weißem Glanz und schwarzen Schatten, und er stieß die Worte heftig aus dem Mund des Ersten Minis ters hervor. »Brüder, erneut rufe ich Euch zusammen!«, kreischte er. »Während Eure Zweit-Gestalt auf dem Ball bleibt, ge kleidet in die Kostüme von Feiernden, habe ich Euer wah
res Wesen hierher gerufen, hier, wo nur die Wahrheit regiert, hier, wo alle Illusionen verblassen, hier, wo Ihr heute Nacht Zeugen des Ereignisses werdet, das endlich unseren Triumph ankündigt! Ja, Brüder, lasst Eure Herzen vor Stolz schwellen, denn schon bald wird uns die Herrschaft zufallen! Während die Narren in der Welt über uns wie Vögel herumstolzieren, können sie nicht einmal ahnen, welch gewaltigen und mächtigen Vogel meine Macht auf diese Stadt loslassen wird! Selbst jetzt noch, während ich zu Euch spreche, tanzt meine Marionette, der so genannte König, vor den Fei ernden an seinen Drähten und spricht von Kriegen, von Vergeltung, von der Niederlage der Rebellen. Hier unten jedoch spreche ich von unserer wahren Bestimmung, dem Schicksal, das sich zutragen wird, wenn Chorassos sich zum Flug erhebt!« Er deutete auf die zusammengedrängten, unruhigen purpurnen Vögel. »Lilane, wie begierig ihr auf euren Herrn wartet! Meine Schönen, heute Nacht ist die Warte zeit vorüber. Und dann? Fünf Tage lang wird der mächtige Vogel des Nicht-Seins dieses Königreich in einer großen Spirale umkreisen. Unsichtbar für die, deren Augen nicht von Magie berührt sind. Ja, Brüder, bedauert die Narren in der Welt über uns, die ahnungslos in dem Glauben ver harren, dass dieses Jahr unseres Sühneopfers das Jahr 999d wäre. Ein uralter Irrtum in ihrem erbärmlichen Ka lender, der sich zu unserem Vorteil auswirkt. Diese Nar ren! In fünf Tagen wird auch ihnen die Wahrheit däm mern, wenn sich der Vogel des Nicht-Seins zeigt! Dann endlich ist die Zeit des Sühneopfers vorbei! Und dann bricht die Zeit unserer Macht an!« Toth warf den Kopf zurück und lachte. Hinter den Pfei lern versteckt schauten Jem und seine Gefährten entsetzt zu. Jem versuchte immer noch, seinen Kristall zu verber gen. »Aber was meint er«, murmelte er leise, »mit diesem Jahr?« »Ist denn schon 999e… jetzt?«, fragte Hul. »Aber das ist außergewöhnlich!« »Sollte der Kalender nicht stimmen?«, stieß Tishy a temlos hervor. »Das heißt, nach dem heutigen Abend gibt es nur noch die Meditationen? Und dann beginnt der tau
sendste Zyklus?« Jem hielt die Luft an. Konnte das wahr sein? »Brüder, was ist mit den Kristallen des Orok? Nagt die se Frage nicht in allen Köpfen? Braucht meine Macht nicht die fünf mystischen Kristalle, wenn sie dauern soll, wenn sie wachsen soll? O ja, nur mit den Kristallen werde ich regieren, und zwar für immer regieren! Doch glaubt ihr wirklich, dass ich versagt hätte? Denkt ihr, dass ich bei jedem Schritt versagt hätte – wie ein Krüppel?« Jem schüttelte sich, als er das ironische Lächeln auf dem Gesicht des Ersten Ministers sah. Dann flackerte es, als würde ein Vorhang zurückgezogen, und enthüllte für einen Moment eine Visage aus verfaultem Fleisch, die einen grinsenden Schädel nur notdürftig bedeckte. Die schwarzen Vorhänge blähten sich drohend auf. »Genug von Krüppeln – und auch von Jemany Krüp pel!« Toths nächste Worte hallten triumphierend in dem Gewölbe. »Denn was ist Chorassos anderes als die ulti mative Waffe, die Waffe, die die Kristalle zu mir bringt? Ich habe alle Kräfte eingesetzt, die mir zur Verfügung stehen, und aus den Tiefen des Nicht-Seins habe ich die se Kreatur herbeigerufen. Ihre mächtigen Strahlen psy chischer Macht werden endlich den Krüppel und seine Gefährten vernichten, und mir die Kristalle in die Hände spielen!« Jem riss furchtsam die Augen auf. Mittlerweile ver sengte ihm sein Kristall beinahe die Brust. Toth beugte sich vor und erneut schien es so, als wür de eine Maske von seinem Gesicht genommen und das fürchterliche, verfaulende Wesen entblößt, das einmal aus dem magischen Spiegel gesprungen war. »Denn ist dies nicht der letzte Tag des letzten Monats des letzten Jahres des Sühneopfers? Die ganzen Mondle ben lang haben wir Nacht für Nacht Chorassos geopfert. Jetzt kommt die Nacht unseres letzen Opfers; jetzt, bevor das Sühneopfer endet, stehen nur noch die Meditationen bevor. Ja, nur noch die Gott-Tage von Oroks fünf Kindern – des verachtenswerten Koros, der Viana, des Theron, der Javander und… des Agonis, des Verhasstesten von allen! Brüder, was sind diese Tage anderes als die endgültige Verneinung von Oroks Kindern, von allem, wofür sie ste hen? Denn an jedem dieser Tage wird – bei jeder Umkrei sung des Vogels des Nicht-Seins – einer dieser Kristalle
zu mir gelangen, Brüder! Der Schlüssel zum Orokon glaubt, er habe triumphiert, aber seine endgültige Nieder lage ist nah! O ja, ich werde ihn wie ein Insekt unter mei nen Füßen zerquetschen und alle Macht der fünf Kristalle besitzen! Brüder, es ist vorherbestimmt! Unser Plan kann nicht scheitern!« Toths Gelächter donnerte wie ein Gewitter durch das Gewölbe. Jem wand sich vor Qualen in seinem Versteck und um klammerte seinen blauen, glühenden Kristall, als griffe der Anti-Gott schon danach, begierig, ihn in seine Klauen zu bekommen. Seine Gefährten zischten besorgt: Jem, was ist los? Jem, geht es dir gut? Aber Jem konnte nicht sprechen. Bilder der Kristalle schossen ihm durch den Kopf und wirbelten in einem Schleier aus Farben in sei nem Verstand umher. Durch den Kreis, den sie bildeten, sah er Toth und dessen verfaultes Gesicht. Jem hatte das Gefühl, als würde die Zeit selbst zusammenbrechen, als würde es keine Zeit mehr geben, als wären Toths wahn sinnige Pläne bereits von Erfolg gekrönt. Jetzt nehmen die Brüder die Gesänge wieder auf, aber diesmal sind sie wilder. Nun wird auch der Vorhang weg gerissen. In dem Spiegel sieht man das Bildnis einer dra chenartigen Kreatur, halb Schlange, halb Vogel, die un heilvoll leuchtet. Ihre Macht bringt das Glas zum Dampfen und stößt die Brüder und auch die Eindringlinge zurück, als wären sie von einem physischen Schlag getroffen worden. Die Energie steigt immer mehr an. Die Gesänge gehen weiter und der Anti-Gott kreischt und lacht. Die Vögel fliegen im Kreis und stoßen über die Versammlung der Verhüllten zusammen. Die Erwartung der Ankunft ihres Meisters scheint sie in den Wahnsinn zu treiben. Die Zeit ist reif. »Jetzt!«, kreischt Toth. »Das Opfer« »Nein!«, schreit Jem. »Das kann er nicht…!« »Nein, nein… bitte…« Polty sinkt auf die Knie und um klammert verzweifelt das nackte Mädchen in seinen Ar men. Toth lacht nur. Es amüsiert ihn ungeheuerlich, seinen Diener in Angst und Schrecken zu versetzen. Aber nein, er hat nicht nach Miss Vyellas Leibesfrucht gerufen! Aus seinen Fingern zucken Energiestrahlen, und auf dem Op
ferstein materialisiert sich ein nackter Junge, der sich windet und gefesselt und geknebelt ist. Toth zieht ein Messer aus seiner weißen Robe. »Raggle!« Bando kennt kein Halten mehr. »Mein Sohn, mein Sohn…!« »Verrat!« Toths Augen glühen. Ein Energiestrahl zuckt aus seiner Hand, und der alte Rebell bricht qualvoll auf dem Boden zusammen. Jetzt herrscht völliges Chaos. Die Macht baut sich im mer weiter auf. Jetzt, in diesem Augenblick, muss das Opfer vollzogen werden, jetzt, in diesem Moment, muss Chorassos kommen. Die Vögel kreischen und flattern durcheinander. Die Brüder stampfen und singen immer weiter, und der Hornlichtfokus zuckt, erlischt, zuckt wie der und erlischt aufs Neue. Jetzt ist auch Jem aus seinem Versteck hervorgesprun gen. Der blaue Kristall glüht an seiner Brust. Hul und Tis hy laufen zu Bando. »Der Kristall der Javander!«, jubelt Toth, als habe er ihn schon in seinen Klauen. Strahlen zucken, und Jem wird in die Luft emporgerissen, gefangen in einem krei senden Feld von Magie. »Schlüssel zum Orokon, du wirst mich nicht besiegen!« Toth hält den heftig zuckenden, nackten Raggle fest. Gleich wird er den Brustkorb des Kindes aufschneiden. Und dann wird er das schimmernde, blutende Herz he rausreißen. Er hebt den Arm mit dem Messer hoch in die Luft. »Nein… nein!« Bohne stürzt vor und klammert sich an Toths Arm. Der Anti-Gott schüttelt ihn ab wie ein lästiges Insekt. Erneut hebt er das Messer hoch über den Kopf. In diesem Augenblick begreift Jem, was er tun muss. Er denkt an die Macht, als Myla auf dem Opferstein lag. Er denkt an das Klirren, an einen Energiestoß, der einen ent scheidenden Moment lang Toths böse Energie bekämpfte. Ob dieser Plan erneut funktioniert, weiß er nicht. Viel leicht gibt er nur seinen Kristall aus der Hand, vielleicht verwirkt er damit sogar alles bisher Erreichte. Aber wenn Jem etwas riskieren muss, dann jetzt. Er reißt den glühenden Kristall von der Brust und schleudert ihn in den magischen Spiegel. Eine Explosion erschüttert das Gewölbe.
Das Glas zersplittert und fliegt in alle Richtungen. Toth kreischt wie von Sinnen, und das Messer fällt ihm aus der Hand. Raggle windet sich vom Stein und rollt in Bandos Arme. Keuchend umklammert Bando seinen Sohn. Tishy und Hul schreien vor Freude laut auf. Doch Jem wirbelt immer noch in der Luft herum. Die Macht baut sich immer weiter auf und zuckt in heftigen Wellen aus den Spiegelscher ben. Am Altar deutet Toth auf die Eindringlinge. »Brüder, packt sie!« Doch nur einer der Brüder tritt vor. Etwas, eine neue Kraft, hält die anderen zurück. Die Zeit scheint stillzustehen, und eine Kapuze wird zurückgeschlagen. »Fürchte dich nicht, Jemany, dein Schicksal ist nah!« »Lord Empster!«, ruft Jem erstaunt, als sein Schutzen gel eingehüllt von geheimnisvoller Energie eine schlanke Hand ausstreckt und ihm den Kristall der Javander hin hält. »Rasch, Jemany, nimm ihn zurück, nimm ihn…!« Toth kreischt: »Agonis, du wirst mich nicht besiegen! Agonis, nein…!« Jubelnd ergreift Jem den Kristall. Sein Licht flammt auf, und dann rast die Zeit schneller und schneller. Jem dreht sich ebenso rasch im Kreis. Während die beiden gegnerischen Energien miteinander streiten, verzerrt sich das Gewölbe, die Wände, die Säulen, der Boden und die Decke. Die Vögel sind plötzlich überall, steigen empor und lassen sich fallen. Jems Freunde versuchen vergeblich, ihn festzuhalten. Tishy erwischt seine Hände, aber die Strahlen des Kris talls wirbeln ihn weiter herum. Und plötzlich wird auch Tishy, die die ganze Zeit ihr Buch festgehalten hat, vom Boden in die Luft gehoben… sie scheint mit Jems Hand zu verschmelzen. Hul versuchte sie zu befreien, aber jetzt steigen Jem und Tishy immer höher und höher. Unausweichlich wer den sie zu dem Hornlichtfokus gezogen und bewegen sich kreisend auf den klaffenden Schacht zu. Das Licht glüht immer noch mit unglaublicher Helligkeit und erlischt dann in tiefstem, unheimlichem Schwarz. Unmittelbar bevor sie im Schacht verschwinden, sieht
Jem, wie sein verschwunden geglaubter Schutzengel ei nen gewaltigen Umhang aufhält und Bando, Raggle und den verwirrten Hul darin einhüllt. Ein Blitz zuckt, und A gonis ist fort. Er hat Jems Freunde aus dieser gefährlichen Lage gerettet. Immer noch ist die Kreatur namens Chorassos in den Spiegelscherben sichtbar und rennt verzweifelt gegen die Barriere des Seins an. Toth stößt Polty zur Seite und schlägt Bohne nieder. Dann packt er Miss Vyella Rextel und wirft das nackte Mädchen auf den Altar. Diesmal gibt es keine Verzögerung. Das Mädchen kämpft und schreit, aber Toth schneidet ihr kurzerhand die Kehle durch. Wieder holt das Messer aus und saust dann herunter. Tishy schreit in ohnmächtiger Wut. »Nein!«, brüllt Jem. »Nein…!« Die Brüder singen und stampfen, Blut spritzt in einer Fontäne aus dem gewölbten Bauch. Toths Robe färbt sich rot. Mit bloßen Händen reißt er die Bauchdecke des Mäd chens zurück und zerrt triumphierend einen bluttriefenden Jungen heraus. Die Nabelschnur pulsiert heftig. »Mein Sohn, mein Sohn…!« Erneut ruft jemand diese Worte, aber diesmal ist es Polty Doch eine Kraft hält ihn zurück und seine Gegenwehr ist nutzlos. Nein, diesmal wird es keine Verzögerungen geben! »Chorassos, komm zu mir! Komm, Chorassos!« Das Kind schreit, zum ersten und letzten Mal. Denn noch während die Nabelschnur pulsiert, schlitzt Toth den Torso des Neugeborenen auf und reißt das winzige Herz heraus. Ein unirdisches Brüllen erfüllt die Krypta. Durch die Spie gelscherben bricht Chorassos ins Sein, seine mächtige Gestalt ist halb Phantom und halb real und viel zu gewal tig, als dass dieses Gewölbe sie aufnehmen könnte. Hoch und immer höher steigt die Kreatur durch die De cke und durchstößt dabei eine unterirdische Schicht nach der anderen. Und auf dem Ball? Das Entsetzen hat sich immer weiter gesteigert. Ein Rumpeln wie von einem Erdbeben erschüttert den KorosPalast. Kerzenleuchter fallen von den Decken, dann hört man das Rauschen mächtiger Schwingen, und es wird
dunkel. Ist das etwa wieder so ein verrücktes Attentat der Rebellen? Doch sofort wird allen klar, dass dies hier viel schlimmer ist. Als wenn das Böse plötzlich in die Welt träte, fegt ein gewaltiges purpurnes Phantom durch die Finsternis. Rasch ergreift Ejard Rot die Flucht. Cata umklammert die entsetzte Königin und versucht, sie zur Geheimtür in der Täfelung zu zerren. Das ist die Chance, ihre letzte Chance. Schreie und lautes Kreischen erfüllen den Ball saal. Aber Catas Vorhaben ist zum Scheitern verurteilt. Als die Vision verschwunden ist, sind alle erstarrt und fassungslos. Viele sind verletzt. Einige tot. Cata kann die Königin nicht festhalten, weil sie plötzlich nach oben schwebt, von einem knisternden blauen Strom aus Magie in die Luft gehoben wird, während Morven und Crum ihr ungläubig hinterherstarren. Cata steigt immer weiter nach oben, dreht sich und durchdringt die Decke, wie auch der Vogel des NichtSeins es getan hat. Mit rudernden Armen fliegt sie in den Himmel empor und sieht gerade noch rechtzeitig, wie die se gewaltige Kreatur in den dunklen Wolken verschwin det. Aber Cata hat keine Flügel. Sie beginnt gerade hin abzustürzen, als plötzlich in den Wolken das Himmels schiff auftaucht! Sie schnappt nach Luft, als eine Luke geöffnet wird. Cata fällt hinein. In der Zwischenzeit wird auch Jem weiter nach oben gehoben, während er Tishy umklammert. Er schießt durch den Hornlichtfokus empor, während er sich um die eigene Achse dreht. Schließlich segeln sie beide hinaus in die Nacht. Jems Kristall glüht. Sie drehen sich langsam wie durch Magie in der Luft. Entsetzen durchströmt sie, Entsetzen wegen all dem, was geschehen ist, und wegen dem, was noch geschehen wird. Jetzt, wo der Vogel des Nicht-Seins frei ist. Doch weder Jem noch Tishy haben Zeit, lange über diese Dinge nachzudenken. »Der Kristall!«, stößt Jem hervor. »Er verblasst…« »Soll das heißen…?«, kann Tishy gerade noch sagen. Dann stürzen sie bereits in die Tiefe. In diesem Moment taucht das Himmelsschiff vor ihnen auf.
Dramatis Personae JEM, der Held, Sucher des Orokon CATA, die Heldin, Geliebte von Jem RAJAL, Jems treuer Freund, Geliebter von Aron Throsh MYLA, Rajals jüngere Schwester, mittlerweile sehr viel älter geworden KLEINER, ihr kleiner Gefährte EJARD ORANGE, ein höchst bemerkenswerter Kater POLTY (POLTISS VEELDROP), ihr unerbittlicher Feind BOHNE (ARON THROSH), Poltys treuer Freund, Geliebter Rajals LADY UMBECCA VEELDROP, niederträchtige Großtante von Jem und Cata NIRRY, ihr früheres Dienstmädchen, jetzt Wirtin von Kat ze&Krone ZAPPELPHILIPP, Nirrys treuer Gatte EAY FEVAL, ein vornehmer Mann vom Tuch KÖNIG EJARD ROT, rechtmäßiger Herrscher von Ejland, siehe auch: BOB SCARLET SEINE KAISERLICHE AGONISTISCHE MAJESTÄT KÖNIG EJARD BLAU IHRE KÖNIGLICHE MAJESTÄT JELICA, seine Frau, gebore ne Miss Jeli Vance TRANIMEL, beider Erster Minister, siehe auch: TOTH VEXRAH FRANZ WAXWELL, Apotheker WITWE WAXWELL, seine Tante und noch eine Menge mehr CONSTANSIA CHAM-CHARING, einst große Dame der besseren Gesellschaft TISHY CHAM-CHARING, ihre unverheiratbare Tochter LADY MARGRAVE, Constansias Freundin FREDDY CHAYN, Spross eines unbedeutenden Fürsten tums PROFESSOR MERCOL, von der Universität von Agondon BAINES, auch bekannt als: »Die einäugige Schönheit« MORVEN und CRUM, arglose junge Rekruten BLENKINSOP, eine braune Ratte, Crums Haustier WÜRGER, der Inhaber des gleichnamigen exklusiven Her renclubs MR. BURGROVE (JAC), ein heruntergekommener Lebe
mann GENERALMAJOR HEVA-HARION, ein Kriegslord PRINZ-ELECTOR JAREL, ein Kriegslord LORD-GENERAL GORGOL, ein Kriegslord BARON-ADMIRAL AYNELL, ehemaliger Konteradmiral VARBY & HOLLUCH, ein einzelner Mann, nicht etwa zwei WEBSTER, eine Kaffeehausberühmtheit JAPIER QUISTO, Agondons bester Herrenschneider JILDA QUISTO, seine entehrte Tochter HEKA QUISTO, seine andere entehrte Tochter MEISTER CARROUSEL, der große Frisör XAL, die »Große Mutter« des Vaga-Volkes Die FLIEGENDEN MENTINIS, bemerkenswerte blinde Tra pezakrobaten MISS TILSY FASH, die »Zaxonische Nachtigall« SERGEANT CARNEY FLOSS, Säufer und Blaurock ROTTSY und SUPP, ebenfalls Blauröcke MISS VYELLA REXTEL, eine unselige junge Dame Das ERSATZBABY ALEX ALDERMYLE, ein junger Hurenbock der besseren Gesellschaft
Andere ALDERMYLES, VENTURONS und BOLBARRS MAZY MI CHAN, die Gattin des zenzanischen Gouverneurs SIR PELLION PELLIGREW, hat sich aus der Gesellschaft zurückgezogen MISTRESS QUICK, die einen Auftritt ganz in Kamee hin legt GOODY GARVICE, ihre vertrauenswürdige Stellvertreterin ERZ-MAXIMUS des Ordens von Agonis CANON FLONCE, dessen soziale Stellung sich bald ändern wird LEKTOR ARDEN, der seine ebenfalls bald verändert RIPANDER, letzter der gefeierten Kastraten von Wrax. Die CLUMPTON-CLOWNS MOPS, ein Hund, aber eigentlich kein Mops Die GLÄUBIGEN im Großen Tempel ADLIGE in der Wrax-Oper und auf dem Ball AUSLÄNDISCHE WÜRDENTRÄGER die nach Agondon ein
geladen wurden HÖFLINGE, DIENER, WACHEN, SOLDATEN, PÖBEL etc. REBELLEN DER ROTRÖCKE: BOB SCARLET, Rebellenführer, siehe auch: KÖNIG EJARD ROT HUL, Gelehrter, treuer Anhänger der Rebellen BANDO, kein Gelehrter, aber noch treuer RAGGLE und TAGGLE, seine beiden Buben LANDA, eine wunderschöne Priesterin der Viana Der BRUDER, noch einer aus der Rebellenbande FOLIO WEBSTER, ein Rebellengelehrter ROLY REXTEL, Kantor von Varby, dessen Schwester ver schwunden ist ONTY MICHAN, Kusine des zenzanischen Gouverneurs DANNY GARVICE, ein wahrer Magier, wenn es um Bom ben geht MAGDA VYTONI, Enkelin des Philosophen SHAMMY DIE KAPUZE, Führer der Unterwelt NARBEN-MAJESTA, noch einer, schlimmer OFFERO DER MAULWURF, noch einer, noch schlimmer SKIWY oder SCHLAMPE, seine bedauernswerte Tochter FIGARO FINGER, korrupter Schließer des Alten Knastes PETER IMPALINI, ehemaliger Schwertschlucker, Künstler mit Messern MOLLY HALBE-HALBE, eine berüchtigte Verbrecherin HARLEKIN VON DEN SILBERMASKEN CLOWN, sein langjähriger Gefährte GEFANGENE auf der Insel Xorgos Abtrünnige Blauröcke etc.
IM KRISTALLHIMMEL: STARZOK, ein geheimnisvoller alter Mann BLAYZIL, sein geheimnisvoller Sohn SILAS WOLVERON, Catas Vater, nicht wirklich tot BARNABAS, ein magischer Zwerg, ganz und gar nicht tot LORD EMPSTER, Jems undurchschaubarer Hüter, siehe auch: AGONIS ONDON, Lord-Heiliger der Kinder des Agonis (vor langer
Zeit) VATER-PRIESTER IR-ION, ein uralter Vater-Priester ANHÄNGER und FALSCHE ANHÄNGER der Götter TRÄGER DES JUWELS DES KRÜPPELS STOCKENTEN AKOLYTHEN etc.
AUF NEBENSCHAUPLÄTZEN ODER TOT: ZOHNNY RYLE und seine Familie, damals in Varl TOR (TORVESTER), Jems Onkel und ein Harlekin LEKTOR GARVICE, ehemals am Großen Tempel tätig STEPHEL, der verschwundene Vater von Nirry WYNDA THROSH, Mutter von Bohne und auch die von Polty LENY, VEL und TYL, Mitglieder von Poltys alter Bande Starzoks Familie, MISHJA, EKIK, LANZIK und JAMAJA NATHANIAN WAXWELL, Arzt in Irion BERTHEN SPRATT, ein Dienstmädchen Die LADY LOLENDA ZADY, ein Vaga GAROLUS VYTONI, der große zenzanische Philosoph »MISS R…«, die vornehme Autorin »FANNY O«, keine vornehme Autorin MR. COPPERGATE, ein vornehmer Autor MR. BELFORD SLIPSLOP, kein vornehmer Autor DR. TONSON, ein berühmter Spekulant MR. CREDULON, der bekannte Bühnenarchitekt THELL, uralter Autor der »Theaterstücke des Thell« Die Komponisten ELGNAR, STROSSINI und BACHOVEN Die Künstler RAPHIAN und BELLORETTO Viele andere LEBENDIGE Viele andere TOTE etc.
GÖTTER UND SELTSAME KREATUREN: OROK, Ur-Gott, Göttervater
KOROS, Gott der Finsternis, wird von den Vagas verehrt (purpurn) VIANA, Göttin der Erde, wird in Zenzau verehrt (grün) THERON, Gott des Feuers, wird in Unang Lia verehrt (rot) JAVANDER, Göttin des Wassers, wurde einst in Wenaya verehrt (blau) AGONIS, Gott der Lüfte, wird in Ejland verehrt (golden) DIE KAISERIN DES ENDLOSEN TRAUMS PENGE, ein höchst wichtiger Teil von Polty H’ENGE (HOLZPENGE) sein hölzerner Nachfolger TOTH-VEXRAH, der böse Anti-Gott, siehe auch: TRANIMEL LADY IMAGENTA, seine geheimnisvolle Tochter FALKE DER FINSTERNIS, sein geheimnisvoller Diener Die LILANE, geheimnisvolle purpurne Vögel CHORASSOS, oder der Nicht-Vogel Die Schlange SASSOROCH Der HARLEKIN Andere KREATUREN DES BÖSEN etc.
Digitalisiert und korrigiert
von
Minichi Nightingale