Das Tagebuch des Vampirs
1. Teil : Das Erwachen 2. Teil : Der Kampf 3. Teil : Der Zorn 4. Teil : Die Rache
1. Teil : ...
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Das Tagebuch des Vampirs
1. Teil : Das Erwachen 2. Teil : Der Kampf 3. Teil : Der Zorn 4. Teil : Die Rache
1. Teil : Das Erwachen
1. KAPITEL 4. September Liebes Tagebuch, heute wird etwas Schreckliches passieren. Warum habe ich diesen Satz geschrieben? Es ist absurd, denn es gibt keinen Grund für mich, mir Sorgen zu machen. Eher tausend Gründe, mich zu freuen, aber... Ich schaue auf den Wecker. Halb sechs morgens. Ich liege im Bett, bin hellwach und fürchte mich. Immer wieder rede ich mir ein, daß ich nur total durcheinander bin wegen des Zeitunterschieds zwischen
Frankreich und hier. Aber das erklärt noch lange nicht, warum ich solche Angst habe. Und mich so entsetzlich verloren fühle. Vorgestern, als ich mit Tante Judith und Margaret vom Flughafen kam, hatte ich schon diese merkwürdige Vorahnung. Wir bogen in unsere Straße ein, und ich dachte: Mom und Dad warten zu Hause auf uns. Ich wette, sie stehen schon ungeduldig auf der Veranda oder hinter dem Wohnzimmerfenster. Sie haben uns sicher schrecklich vermißt. Ich weiß. Das hört sich total verrückt an. Doch selbst, als ich das Haus sah und die leere Veranda, ließ mich dieses Gefühl immer noch nicht los. Ich rannte die Stufen hoch und hämmerte gegen die verschlossene Tür. Als Tante Judith aufschloß, stürmte ich hinein und blieb mitten im Flur stehen. Ich lauschte und erwartete jeden Moment, daß Mom die Treppe herunterkommen oder Dad aus dem Wohnzimmer nach uns rufen würde. Genau in diesem Moment ließ Tante Judith mit einem lauten Knall einen Koffer hinter mir fallen, seufzte und sagte: „Gott sei Dank. Wir sind wieder zu Hause.“ Margaret lachte. Und ich? Ich fühlte mich so verlassen und allein wie noch nie in meinem Leben. Zu Hause. Ich bin wieder zu Hause. Warum klingt das wie eine Lüge? Ich wurde hier in Fell's Church geboren und habe immer in diesem Haus gelebt. Da ist mein altes Zimmer mit dem Brandfleck auf den Dielenbrettern, der entstanden war, als Caroline und ich unsere ersten Zigaretten geraucht hatten und dabei fast erstickt wären. Ich kann aus dem Fenster schauen und den großen Baum sehen, den Matt und seine Freunde hochgeklettert sind, um vor zwei Jahren in die Pyjamaparty an meinem Geburtstag zu platzen, die ich nur für die Mädchen hatte steigen lassen. Das ist mein Bett, mein Stuhl, mein Schrank. Alles kommt mir jetzt so fremd vor, als ob ich nicht hierher gehören würde. Und das Schlimmste ist, ich fühle eine schreckliche Sehnsucht. Irgendwo anders ist mein Platz, aber ich kann diesen Ort nicht finden. Ich war gestern zu müde, um in die Einführungsveranstaltung zu gehen. Meredith hat den Stundenplan für mich aufgeschrieben, aber ich hatte keine Lust, mit ihr am Telefon zu reden. Tante Judith hat jedem, der anrief, erzählt, daß ich noch zu sehr unter der Zeitverschiebung leide und schlafen würde. Aber beim Abendessen hat sie mich mit nachdenklichem Blick beobachtet. Heute muß ich mich der Clique stellen. Wir wollen uns vor der Schule auf dem Parkplatz treffen. Warum habe ich solche Angst? Fürchte ich mich etwa vor ihnen? Elena Gilbert hörte auf zu schreiben. Sie starrte mit gezücktem Stift auf den letzten Satz in dem kleinen Buch mit dem blauen Samteinband und schüttelte den Kopf. Plötzlich hob sie den Kopf und warf Stift und Buch gegen das große Panoramafenster, wo sie abprallten und auf dem gepolsterten Fenstersitz landeten. Es war alles so total verrückt. Seit wann hatte ausgerechnet sie Scheu davor, Menschen zu treffen? Seit wann fürchtete sie sich buchstäblich vor allem? Sie stand auf und zog ärgerlich ihren roten Seidenkimono über. Dabei brauchte sie gar nicht in den kunstvoll gearbeiteten viktorianischen Spiegel über der Ankleidekommode aus Kirschholz zu schauen.. Sie wußte, was sie sehen würde: Elena Gilbert, cool, blond und schlank. Die Trendsetterin, was Mode betraf. Die Oberschülerin, mit der jeder Junge ausgehen wollte und an deren Stelle sich jedes Mädchen wünschte. Die im Moment ganz ungewohnt die Stirn runzelte und den Mund zusammenkniff. Ein heißes Bad, ein starker Kaffee, und ich bin wieder ich selbst, dachte sie. Die morgendliche Routine von Duschen und Anziehen wirkte beruhigend auf sie. Sie ließ sich Zeit und wühlte gemächlich in ihren neuen Sachen aus Paris. Schließlich wählte sie ein hellrosa Top und einen weißen Hosenrock. Gut siehst du aus, richtig zum Anbeißen, dachte sie, und ihr Spiegel zeigte ihr ein Mädchen mit einem heimlichen Lächeln auf dem Gesicht. Ihre früheren Sorgen waren wie weggeblasen. „Elena! Wo steckst du? Du wirst noch zu spät zur Schule kommen.“ Die Stimme drang schwach von unten herauf. Elena fuhr ein letztes Mal mit der Bürste durch ihr seidiges Haar und band es mit einem dunkelrosa Band zurück. Dann schnappte sie sich ihre Tasche und lief die Treppe hinunter. In der Küche saß die vierjährige Margaret am Tisch und aß Cornflakes. Tante Judith brutzelte irgendwas auf dem Herd. Sie wirkte immer leicht aufgeregt. Ihr Gesicht war schmal und gütig, und ihr dünnes, flatterndes Haar war zu einem Knoten zurückgebunden, der sich schon wieder auflöste. Elena küßte sie leicht auf die Wange.
„Morgen alle miteinander. Tut mir leid, ich hab keine Zeit mehr zu frühstücken.“
„Aber Elena, du kannst doch nicht mit leerem Magen... du brauchst deine Vitamine...“
„Ich werde mir vor der Schule etwas in der Bäckerei kaufen“, unterbrach Elena sie. Sie drückte einen Kuß
auf Margarets gesenkten Kopf und wandte sich zum Gehen.
„Aber, Elena...“
„Und ich werde nach der Schule vermutlich zu Bonnie oder Meredith gehen, also wartet nicht mit dem
Essen auf mich. Tschüß!“
„Elena...“
Doch die war schon an der Haustür. Sie schloß sie hinter sich, trat auf die Veranda... und blieb stehen.
All die bösen Gefühle, die sie am Morgen gehabt hatte, waren mit einem Schlag wieder da. Die Aufregung,
die Angst. Und die Gewißheit, daß etwas Schreckliches passieren würde.
Maple Street lag verlassen da. Die großen, viktorianischen Häuser sahen gespenstisch aus. Wie die Kulisse
eines verlassenen Drehorts. Sie machten den Eindruck, als ob sie menschenleer seien, aber voller
merkwürdiger anderer Wesen, die alles genau beobachteten.
Das war es. Etwas beobachtete Elena. Der Himmel war nicht blau, sondern milchig und verschleiert. Er
wölbte sich über ihr wie eine riesige, umgedrehte Schüssel.
Die Luft war schwül und drückend. Elena fühlte, daß jemand sie ansah.
Sie erhaschte einen Blick auf etwas Dunkles in den Zweigen des alten Quittenbaums vor dem Haus.
Es war eine Krähe. Sie saß völlig reglos im gelben Laub. Und sie musterte Elena.
Elena versuchte sich einzureden, daß das völlig verrückt war, aber in ihrem Innersten war sie sicher. Es war
die größte Krähe, die sie jemals gesehen hatte. Muskulös und geschmeidig mit einem pechschwarzen
Federkleid, auf dem sich das Licht in Regenbogenfarben brach. Elena registrierte jede Einzelheit: die
gefährlichen, schwarzen Krallen, den scharfen Schnabel und das ihr zugewandte, glitzernde schwarze Auge.
Der Vogel war so still, daß man ihn für eine Wachsfigur hätte halten können. Aber während sie ihn ansah,
fühlte Elena, wie sie langsam rot wurde. Die Hitze stieg in Wellen ihren Hals und ihre Wangen hoch. Weil
er sie so... anschaute. Genauso wie Jungs sie musterten, wenn sie einen Badeanzug oder eine durchsichtige
Bluse trug. Als ob er sie mit seinen Augen ausziehen wollte.
Bevor sie überhaupt merkte, was sie da machte, hatte sie ihre Tasche fallen gelassen und einen Stein vom
Weg aufgehoben. „Hau ab!“ schrie sie. Ihre Stimme bebte vor Wut. „Hau ab! Mach, daß du wegkommst!“
Mit den letzten Worten warf sie den Stein.
In einem Schauer aus herabfallendem Laub entkam die Krähe unverletzt. Ihre ausgebreiteten Flügel waren
riesig. Elena duckte sich unwillkürlich und geriet in Panik, als der große Vogel dicht über ihren Kopf
hinwegflog. Der Wind seines Flügelschlags wirbelte ihr blondes Haar durcheinander.
Aber die Krähe stieg wieder höher und kreiste wie eine schwarze Silhouette am weißen Himmel. Dann flog
sie mit einem heiseren Krächzen in Richtung Wald davon.
Elena richtete sich langsam auf und sah sich verschämt um. Sie konnte kaum fassen, was sie gerade getan
hatte. Jetzt, wo der Vogel fort war, war die erstickende Atmosphäre verschwunden. Ein leichter, frischer
Wind raschelte in den Blättern. Elena holte tief Luft. Ein Stück die Straße hinunter öffnete sich eine Tür,
und ein paar Kinder liefen lachend auf die Straße.
Elena lächelte sie an und atmete wieder tief ein. Erleichterung durchflutete sie wie warmes Sonnenlicht. Wie
hatte sie nur so dumm sein können? Es war ein wunderschöner Tag voller Versprechungen, und nichts
Böses würde geschehen.
Nichts Böses, außer, daß sie ausgerechnet am ersten Schultag zu spät kommen würde. Die ganze Clique
würde sicher schon ungeduldig auf dem Parkplatz warten.
Du kannst ihnen immer noch erzählen, daß du stehengeblieben bist, um einen Stein auf einen aufdringlichen
Typen zu werfen, dachte sie und hätte fast gekichert. Das würde allen was zu denken geben.
Ohne zu dem Quittenbaum zurückzusehen, ging sie schnell die Straße entlang.
Die Krähe flog in die Spitze einer Eiche. Das Laub raschelte heftig, und Stefans Kopf fuhr hoch. Als er
erkannte, daß es nur ein Vogel war, entspannte er sich.
Sein Blick fiel auf das leblose weiße Geschöpf in seinen Händen, und er fühlte tiefes Bedauern. Er hatte es
nicht töten wollen. Er hätte etwas Größeres als ein Kaninchen gejagt, wenn er geahnt hätte, wie hungrig er
war. Aber genau das war der Punkt, der ihm angst machte: nie das Ausmaß des Hungers zu kennen oder
vorher zu wissen, was er tun mußte, um ihn zu stillen. Er hatte Glück gehabt, daß er diesmal nur ein Kaninchen erwischt hatte. Er stand neben der alten Eiche. Seine schwarzen Locken glänzten in der Sonne. In Jeans und T-Shirt unterschied sich Stefan Salvatore kein bißchen von jedem anderen normalen Oberstufenschüler. Und doch war er anders. Hierher, tief in den Wald, wo niemand ihn sehen konnte, war er gekommen, um Nahrung zu finden. Jetzt leckte er sich sorgfältig die Lippen, um sicherzugehen, daß sich kein Blut mehr auf ihnen befand. Er wollte kein Risiko eingehen. Die Maskerade würde auch so schon schwer genug durchzuhalten sein. Einen Moment überlegte er, ob er nicht doch alles rückgängig machen sollte. Vielleicht war es besser, nach Italien zurückzugehen, dorthin, wo sein Versteck war. Was hatte ihn dazu getrieben, ernsthaft zu glauben, er könne einfach so in die Welt des Tageslichts zurückkehren? Aber er hatte es satt, in den Schatten zu leben. Er haßte die Dunkelheit und die Wesen, die sich in ihr verbargen. Und vor allem wollte er nicht mehr allein sein. Er war sich nicht sicher, warum er Fell's Church in Virginia gewählt hatte. Für seine Verhältnisse war es eine relativ junge Stadt. Die ältesten Gebäude waren erst vor anderthalb Jahrhunderten errichtet worden. Aber die Stadt pflegte noch die Erinnerungen an die Geister und Legenden des Bürgerkriegs. Sie gehörten zum täglichen Alltag wie die Supermärkte und Hamburgerbuden. Stefan gefiel dieser Respekt vor der Vergangenheit. Er glaubte, daß er die Leute von Fell's Church mögen würde. Und wer weiß, vielleicht würde er sogar einen Platz unter ihnen finden. Natürlich würde er nie voll akzeptiert werden. Ein bitteres Lächeln spielte um seine Lippen. Nein, das wußte er besser. Es würde nie einen Ort geben, an den er voll und ganz gehörte. Einen Ort, an dem er wirklich er selbst sein konnte. Es sei denn, er wählte wieder die Dunkelheit. Stefan schüttele heftig den Kopf und vertrieb den Gedanken. Er hatte sich von den Schatten losgesagt und sie hinter sich gelassen. All diese Jahre würde er auslöschen und heute ganz neu beginnen. Es fiel ihm auf, daß er immer noch das Kaninchen in der Hand hielt. Sanft legte er es auf ein Bett aus braunen Eichenblättern. In weiter Ferne, für das menschliche Ohr nicht wahrnehmbar, hörte er einen Fuchs. Komm, Jagdgefährte, dachte er. Dein Frühstück wartet. Als er die Jacke über die Schulter warf, bemerkte er die Krähe, die ihn vorhin gestört hatte. Sie saß immer noch in der Eiche und schien ihn zu beobachten. Irgend etwas stimmte da nicht. Stefan war versucht, seine Gedanken auszusenden, um den Vogel zu testen. Doch im letzten Moment hielt er sich zurück. Denk an deinen Vorsatz, ermahnte er sich. Er wollte seine außergewöhnliche Gabe nur benutzen, wenn es unbedingt nötig war. Wenn er keine andere Wahl mehr hatte. Lautlos bewegte er sich über totes Laub und trockene Zweige zum Waldrand hin. Dort war sein Auto geparkt. Er warf einen Blick zurück und sah, daß die Krähe den Baum verlassen hatte und sich auf das Kaninchen stürzte. Etwas Düsteres lag in der Art, wie der Vogel seine Flügel über den leblosen, weißen Körper spreizte. Etwas Düsteres und gleichzeitig Triumphierendes. Stefans Kehle war plötzlich wie zugeschnürt. Fast wäre er zurückgegangen und hätte den Vogel vertrieben. Doch die Krähe hat das gleiche Recht auf Nahrung wie der Fuchs, sagte er sich. Und das gleiche Recht wie er selbst. Wenn er dem Vogel irgendwann wiederbegegnen würde, würde er versuchen, sein wahres Wesen zu ergründen. Jetzt jedoch riß er seinen Blick los und rannte mit festen Schritten durch den Wald. Er wollte nicht zu spät in der Robert E. Lee High School ankommen. 2. KAPITEL Kaum hatte Elena den Parkplatz der High School betreten, stand sie schon im Mittelpunkt des Interesses.
Alle waren da. Die ganze Clique, die sie seit Ende Juni nicht mehr gesehen hatte, und vier oder fünf
Mitläufer, die hofften, bei dieser Gelegenheit endlich auch mal beachtet zu werden. Einer nach dem anderen
aus der Clique umarmte Elena.
Caroline war ein Stückchen gewachsen und noch schlanker geworden. Mehr denn je glich sie einem
Photomodell. Sie begrüßte Elena kühl und musterte sie aus zusammengekniffenen grünen Augen.
Bonnie war nicht gewachsen. Ihr roter Lockenkopf reichte Elena gerade bis ans Kinn, als Bonnie sie in die
Arme schloß. Moment mal, Locken? dachte Elena und schob das kleinere Mädchen um Armeslänge zurück.
„Bonnie! Was hast du mit deinem Haar gemacht?“
„Gefällt es dir? Ich finde, es macht mich größer.“ Bonnie lächelte und fuhr sich mit der Hand durch ihre
ohnehin schon aufgeplusterten Locken. Ihre braunen Augen funkelten vergnügt, und ihr herzförmiges
Gesicht strahlte vor Freude.
Elena ging ein Stückchen weiter. „Meredith! Du bist wenigstens noch die alte.“
Die Umarmung war von beiden Seiten gleich herzlich. Meredith habe ich mehr vermißt als jeden anderen
aus der Clique, dachte Elena, während sie das großgewachsene Mädchen ansah. Meredith trug nie Make-up.
Aber mit ihrer perfekten olivbraunen Haut und den dichten schwarzen Wimpern brauchte sie auch keins. Im
Moment musterte sie Elena mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Nun, dein Haar ist durch die Sonne noch heller geworden... Aber wo ist die Bräune? Ich dachte, du wolltest
sie an der französischen Riviera ein bißchen auffrischen.“
„Du weißt doch, daß ich nie braun werde.“ Elena hielt ihre Hände hoch und betrachtete sie. Die Haut war
makellos wie Porzellan und fast so hell und durchsichtig wie die von Bonnie.
„He, das erinnert mich an was“, warf Bonnie ein und packte Elenas Hand. „Ratet mal, was ich von meiner
Kusine in diesem Sommer gelernt hab?“ Bevor jemand antworten konnte, stieß sie triumphierend hervor:
„Die Kunst des Handlesens!“
Die anderen stöhnten oder lachten.
„Lacht, soviel ihr wollt.“ Bonnie war kein bißchen beleidigt. „Meine Kusine hat behauptet, daß ich das
ideale Medium bin. Also, laß mich mal sehen...“ Sie schaute auf Elenas Handfläche.
„Beeil dich, sonst kommen wir zu spät“, sagte Elena etwas ungeduldig.
„Schon gut, schon gut. Nun, ist das deine Lebenslinie - oder deine Herzlinie?“ Einige in der Menge
kicherten. „Ruhe. Ich tauche jetzt in den Abgrund. Ich sehe... ich sehe...“ Plötzlich wurde Bonnies Gesicht
ausdruckslos, als hätte sie einen Schock erlitten. Ihre braunen Augen weiteten sich, sie schien nicht länger
auf Elenas Hand zu starren, sondern durch sie hindurchzuschauen, auf etwas, das furchteinflößend war.
„Du wirst einen großen, dunklen Fremden treffen“, murmelte Meredith hinter ihr. Wieder kicherten einige.
„Dunkel ja, und auch ein Fremder... aber er ist nicht groß.“ Bonnies. Stimme klang leise und wie aus weiter
Ferne.
„Obwohl“, fuhr sie nach einem Moment fort und sah verwirrt aus, „er war einmal groß.“ Mit weit
aufgerissenen Augen sah Bonnie Elena verwundert an. „Aber das ist doch unmöglich, nicht wahr?“ Sie ließ
Elenas Hand abrupt fallen, als hätte sie sich verbrannt. „Mehr kann ich nicht erkennen.“
„Okay, die Show ist vorbei“, sagte Elena zu den anderen. Sie war leicht irritiert. Diese übersinnlichen
Sachen hatte sie bisher für Tricks gehalten. Warum ging ihr das jetzt so nahe? Nur weil sie heute morgen
beinahe selbst die Fassung verloren hätte...
Die Mädchen gingen auf das Schulgebäude zu. Doch das Geräusch eines hochgezüchteten Motors ließ sie
innehalten.
„Da schau mal einer“, murmelte Caroline. „Was für ein toller Wagen.“
„Genauer gesagt, was für ein toller Porsche“, korrigierte Meredith sie trocken.
Der glänzende schwarze Porsche 911 Turbo glitt auf der Suche nach einem Parkplatz über das Gelände. Er
glich einem Panther auf Beutejagd.
Als der Wagen anhielt und sich die Fahrertür öffnete, sahen sie den Mann hinter dem Steuer.
„Oh, oh, das glaub ich nicht“, flüsterte Caroline atemlos.
„Das kannst du laut sagen“, pflichtete Bonnie bei.
Von ihrem Blickpunkt aus konnte Elena erkennen, daß er einen durchtrainierten Körper hatte. Er trug
verwaschene Jeans, so eng, daß er sie abends wohl mit dem Dosenöffner ausziehen mußte, ein knappes T-
Shirt und eine Lederjacke von ungewöhnlichem Schnitt. Sein Haar war lockig... und dunkel.
Er war nicht sehr groß. Eher Durchschnitt.
Elena atmete hörbar aus.
„Wer ist dieser maskierte Fremde?“ fragte Meredith. Die Bemerkung war zutreffend. Eine dunkle
Sonnenbrille bedeckte die Augen des jungen Mannes und verbarg sein Gesicht wie eine Maske.
Ein Gewirr von Stimmen ertönte.
„Siehst du die Jacke? Jede Wette, die ist italienisch. Sicher aus Rom.“
„Was weißt du schon von Rom? Du bist in deinem ganzen Leben nie weiter als bis nach Rome im Staat New
York gekommen.“
„Schaut mal. Elena hat wieder dieses Jagdfieber im Blick. Der schöne Fremde sollte sich vorsehen.“
Über das ganze Geplapper erhob sich plötzlich eiskalt Carolines Stimme: „Komm schon, Elena. Du hast
doch Matt. Was willst du mehr? Und was kann man mit zwei Jungs tun, was man nicht mit einem tun
kann?“
„Dasselbe... nur länger“, gab Meredith schlagfertig zurück, und alle brachen in Gelächter aus.
Der junge Mann hatte seinen Wagen abgeschlossen und ging auf die Schule zu. Beiläufig folgte Elena ihm,
die anderen Mädchen blieben ihr dicht auf den Fersen. Ärger stieg in ihr hoch. Konnte sie nirgendwo
hingehen, ohne daß die ganze Meute hinterherhechelte? Meredith fing ihren Blick auf, und Elena mußte
wider Willen lächeln.
„Noblesse oblige“, sagte Meredith leise.
„Was?“
„Wenn du die Königin der Schule sein willst, mußt du auch die Konsequenzen tragen.“
Elena runzelte über diese Bemerkung die Stirn, während sie das Gebäude betraten. Ein langer Gang
erstreckte sich vor ihnen, und eine Gestalt in Jeans und Lederjacke verschwand durch eine Tür weiter vorn.
Elena ging langsamer, als sie auf das Büro zukam. Schließlich blieb sie stehen, um gedankenvoll die
Nachrichten am Schwarzen Brett zu betrachten, das neben der Tür hing. Es gab hier ein großes Fenster,
durch das man das ganze Büro sehen konnte.
Die anderen Mädchen starrten offen durch die Scheibe und kicherten aufgeregt. „Netter Hintern.“ „Das ist
ganz sicher eine Armani-Lederjacke.“ „Glaubst du, der Typ kommt aus Europa?
Elena bemühte sich, den Namen des Jungen zu verstehen. Es schien drinnen ein paar Schwierigkeiten zu
geben. Mrs. Clarke, die Verwaltungssekretärin, blickte auf eine Liste und schüttelte den Kopf. Der junge
Mann sagte etwas, und Mrs. Clarke hob die Hände in einer Geste: „Tut mir leid.“ Sie fuhr mit dem Finger
die Liste entlang und schüttelte wieder den Kopf. Der Junge wandte sich ab, drehte sich dann jedoch wieder
zu ihr hin. Als Mrs. Clarke hochsah, veränderte sich ihr Ausdruck.
Der junge Mann hatte die Sonnenbrille jetzt in der Hand. Mrs. Clarke schien von etwas sehr überrascht zu
sein. Elena sah, daß sie mehrmals blinzelte. Ihre Lippen öffneten und schlossen sich, als ob sie versuchte, zu
sprechen.
Elena wünschte sich, mehr sehen zu können als nur den Hinterkopf des jungen Mannes. Mrs. Clarke wühlte
in ein paar Papieren. Sie machte einen benommenen Eindruck. Schließlich fand sie ein Formular, machte
einen Vermerk darauf und schob es dem jungen Mann hin.
Er kritzelte etwas auf das Papier - vermutlich seine Unterschrift - und gab es ihr zurück. Mrs. Clarke starrte
es einen Moment lang an. Dann suchte sie in einem anderen Zettelberg herum und reichte ihm etwas, das
wie ein Stundenplan aussah. Ihr Blick war starr auf den Jungen gerichtet, der das Blatt nahm, den Kopf zum
Dank neigte und zur Tür ging.
Elena brannte inzwischen vor Neugier. Was war da drin passiert? Wie sah das Gesicht des Fremden aus? Als
er jedoch aus dem Büro trat, hatte er wieder die Sonnenbrille auf. Elena war tief enttäuscht.
Er blieb kurz in der Tür stehen, und so konnte sie wenigstens den Rest seiner Züge erkennen. Das dunkle,
lockige Haar umrahmte ein Gesicht, das von einer alten römischen Münze zu stammen schien... hohe
Wangenknochen, eine klassische gerade Nase... und ein Mund, der einem nachts den Schlaf rauben kann,
dachte Elena. Seine Oberlippe war sehr sinnlich, doch gleichzeitig verletzlich. Das Geplapper der anderen
Mädchen auf dem Flur war so plötzlich verstummt, als hätte jemand einen Schalter betätigt.
Die meisten wandten verlegen den Blick von ihm ab und schauten irgendwo in der Gegend herum. Doch
Elena hielt die Stellung beim Fenster. Sie warf den Kopf zurück und löste das Band aus ihrem Haar, so daß
es ihr verführerisch über die Schultern fiel.
Ohne nach rechts oder links zu schauen, ging der junge Mann den Flur entlang. Sobald er außer Hörweite
war, ertönte ein Chor sehnsüchtiger Seufzer.
Elena hörte ihn nicht.
Er ist glatt an mir vorbeigegangen, dachte sie wie benommen. Ohne mir auch nur einen Blick zuzuwerfen.
Undeutlich vernahm sie das Läuten zur ersten Stunde. Meredith zog sie am Arm.
„Was?“
„Ich sagte, hier ist dein Stundenplan. Wir haben jetzt Mathe in der zweiten Etage. Komm schon!“
Elena ließ es zu, daß Meredith sie den Flur entlang, die Treppe hoch und in das Klassenzimmer zog.
Automatisch setzte sie sich auf einen leeren Platz und blickte den Lehrer an, ohne ihn wirklich zu sehen. Sie
hatte sich von dem Schock noch nicht erholt.
Er war einfach an ihr vorbeigegangen. Ohne auch nur einen Blick. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr
so etwas das letzte Mal bei einem Jungen passiert war. Jeder riskierte zumindest mal einen Blick. Einige
stießen bewundernde Pfiffe aus. Andere brachten genug Mut auf, sie anzusprechen. Und dann gab es noch
die, die sie nur offen anstarrten.
Und das hatte Elena immer gefallen.
Was gab es schließlich Wichtigeres als Jungs? Sie waren der Maßstab für Beliebtheit und Schönheit.
Außerdem konnten sie für alle möglichen Sachen ganz nützlich sein. Manchmal waren sie richtiggehend
aufregend. Aber das dauerte meistens nicht lange. Und manchmal waren sie von Anfang an Trottel.
Die meisten Jungs sind wie kleine Hunde, überlegte Elena. Ganz niedlich, aber im Grunde entbehrlich. Nur
sehr wenige konnten mehr werden, sogar richtige Freunde. Wie Matt.
Oh, Matt. Letztes Jahr hatte sie gehofft, daß sie endlich gefunden hatte, wonach sie suchte. Einen Jungen,
bei dem sie mehr empfinden konnte. Mehr als nur den Triumph, ihn erobert zu haben, oder den Stolz, ihre
neueste Trophäe den anderen Mädchen vorzuführen. Und sie hatte Matt wirklich liebgewonnen. Aber als sie
den Sommer über Zeit gehabt hatte nachzudenken, war ihr aufgegangen, daß es die Art Liebe war, die man
für einen Vetter oder eine Schwester empfindet.
Miss Halpern teilte die Geometriebücher aus. Elena nahm ihres mechanisch entgegen und schrieb ihren
Namen hinein. Sie war immer noch in Gedanken versunken.
Sie mochte Matt lieber als jeden anderen Jungen, den sie kannte. Und deshalb mußte sie ihm sagen, daß es
vorbei war.
In einem Brief war ihr das nicht gelungen. Sie hatte auch jetzt noch keine Ahnung, wie sie es ihm beibringen
sollte. Es lag nicht daran, daß sie Angst hatte, er würde Terror machen. Er würde es nur nicht verstehen. Wie
auch? Sie verstand es ja selbst nicht.
Es war, als ob sie nach etwas... anderem greifen wollte. Immer, wenn sie dachte, es gefunden zu haben, war
es nicht da. So war es bei Matt gewesen und bei allen anderen Jungs.
Und dann mußte sie wieder neu mit der Suche beginnen. Zum Glück gab es genug Auswahl. Kein Junge
konnte ihr auf Dauer widerstehen, und keiner hatte sie je übersehen. Bis jetzt.
Bis jetzt. Als Elena sich wieder an den schicksalhaften Moment auf dem Flur erinnerte, krampften sich ihre
Finger um ihren Kugelschreiber. Sie konnte immer noch nicht glauben, daß der junge Mann einfach so an
ihr vorbeigegangen war.
Es läutete, und alle drängten aus dem Klassenzimmer. Doch Elena blieb in der Tür stehen. Sie biß sich auf
die Lippen und musterte die Schüler auf dem Flur. Ihr Blick fiel auf eins der Mädchen, das sich auf dem
Parkplatz an die Clique gehängt hatte.
„Frances! Komm mal her!“
Frances eilte eifrig herbei. Ihr unscheinbares Gesicht strahlte.
„Hör mal, Frances. Erinnerst du dich an den Jungen von heute früh?“
„Der mit dem Porsche? Und dem tollen... Lederjackett? Wie könnte ich den vergessen?“
„Ich brauche seinen Stundenplan. Besorge ihn mir aus dem Büro oder kopiere sein eigenes Exemplar,
wenn's sein muß. Egal, wie, mach's.“
Frances schien einen Moment sehr überrascht, dann lächelte sie und nickte. „Okay, Elena. Ich werd's
versuchen. Wenn's klappt, treffen wir uns in der Pause.“
„Danke.“ Elena sah dem davoneilenden Mädchen nach.
„Weißt du, was? Du bist total verrückt.“ Meredith war wie aus dem Nichts neben ihr aufgetaucht.
„Was hat man davon, die Königin der Schule zu sein, wenn man nicht hin und wieder mal seine Macht
spielen läßt?“ erwiderte Elena ruhig. „Wo muß ich jetzt hin?“
„Wirtschaftskunde. Hier, nimm deinen Stundenplan selbst. Ich muß in den Chemieunterricht.“
Wirtschaftskunde, wie der ganze Rest des Morgens, blieb für Elena nur eine nebelhafte Erinnerung. Sie
hoffte, wenigstens einen weiteren Blick auf den neuen Schüler erhaschen zu können, doch er war in keiner
ihrer Unterrichtsstunden. Dafür aber Matt. Elena fühlte einen scharfen Schmerz, als sie in seine lächelnden
blauen Augen blickte.
In der Pause nickte sie grüßend nach rechts und links, während sie zur Cafeteria ging. Caroline stand neben
dem Eingang und lehnte in aufreizender Pose an der Wand. Die beiden Jungen, mit denen sie sprach,
verstummten schlagartig und stiegen einander an, als Elena herankam.
„Hallo“, sagte sie kurz zu ihnen und wandte sich an Caroline. „Kommst du mit rein?“
Carolines grüne Augen musterten Elena kurz. Sie warf ihr kastanienbraunes Haar zurück. „Was? An den
königlichen Tisch?“ meinte sie spöttisch.
Elena war verwirrt. Sie und Caroline waren seit dem Kindergarten befreundet und hatten ihren
Konkurrenzkampf bisher eher humorvoll und locker gesehen. Doch in letzter Zeit hatte Caroline sich
verändert. Sie begann immer mehr, die Rivalität zwischen ihnen ernst zu nehmen. Jetzt war Elena überrascht
von der Bitterkeit in der Stimme des anderen Mädchens.
„Nun, du tust gerade so, als wärst du eine aus der breiten Masse. Und das bist du wohl kaum, liebste
Caroline“, versuchte sie zu scherzen.
„Oh, damit hast du recht.“ Caroline sah Elena geradewegs ins Gesicht. Und Elena war geschockt von der
offenen Feindschaft, die in ihren grünen Katzenaugen lag. Die beiden Jungs lächelten verlegen und machten
sich aus dem Staub.
Caroline schien es nicht zu bemerken. „Es hat sich vieles geändert, seit du den Sommer fort warst, Elena“,
fuhr sie fort. „Und vielleicht sind ja deine Tage an der Spitze gezählt.“
Elena fühlte, wie sie rot wurde. Sie bemühte sich, ruhig zu antworten. „Kann sein. Aber ich würde mir noch
kein Szepter kaufen, wenn ich du wäre, Caroline.“ Sie drehte sich um und ging in die Cafeteria.
Es tat richtig gut, Meredith, Bonnie und bei ihnen Frances zu sehen. Elena fühlte, wie ihre Wangen sich
abkühlten, während sie ihr Essen aussuchte und zu den anderen ging. Sie würde sich von Caroline nicht
anmachen lassen. Sie würde einfach überhaupt nicht mehr an sie denken.
„Ich hab's.“ Frances wedelte stolz mit einem Stück Papier, als Elena sich setzte.
„Und ich hab auch ein paar gute Neuigkeiten auf Lager“, mischte Bonnie sich ein. „Also, Elena. Hör genau
zu. Er ist in meinem Biounterricht, und ich sitze direkt schräg hinter ihm. Sein Name ist Stefan. Stefan
Salvatore. Er kommt aus Italien und wohnt bei der alten Mrs. Flowers am Stadtrand.“ Sie seufzte. „Er ist so
richtig schön altmodisch. Caroline hat ihre Bücher fallen lassen, und er hat sie ihr aufgehoben.“
Elena verzog das Gesicht. „Wie tollpatschig von Caroline. Was ist noch passiert?“
„Das war alles. Er hat sich nicht richtig mit ihr unterhalten. Oh, er ist ja so geheimnisvoll. Mrs. Endicott,
unsere Biologielehrerin, hat versucht, ihn dazu zu bringen, die Sonnenbrille abzunehmen, aber er wollte
nicht. Er hat irgendein gesundheitliches Problem.“
„Was ist es?“
„Keine Ahnung. Vielleicht ist es was Ernstes, und seine Tage sind gezählt. Wäre das nicht romantisch?“
„Ja, sehr“, erwiderte Meredith trocken.
Elena musterte den Stundenplan und biß sich auf die Lippen. „Er ist zusammen mit mir in der siebten
Stunde. Die Geschichte Europas. Hat jemand von euch das auch belegt?“
„Ich“, sagte Bonnie. „Und ich glaube, Caroline. Vielleicht auch Matt. Er machte so eine Bemerkung, daß er
ausgerechnet das Glück gehabt hätte, wieder Mr. Tanner zu erwischen.“
Toll, dachte Elena und stach mit ihrer Gabel auf die Kartoffeln auf ihrem Teller ein. Es sah ganz so aus, als
würde die siebte Stunde außerordentlich interessant werden.
Stefan war froh, daß der Schultag fast vorüber war. Er wollte raus aus den überfüllten Räumen und Fluren,
und wenn es nur für ein paar Minuten war.
So viele Menschen. Ihre Gedanken und Gefühle stürmten auf ihn ein. Aus ihrem Unterbewußtsein empfing
er so viele flüsternde Stimmen, daß ihm ganz schwindlig wurde. Es war Jahre her, seit er sich zum letzten
Mal in einer solchen Menschenmasse befunden hatte.
Und eine Person unter ihnen hob sich besonders hervor. Sie war unter denen gewesen, die ihn auf dem
Hauptflur der Schule beobachtet hatten. Er wußte nicht, wie sie aussah, aber ihre persönliche Aura war sehr
stark. Er fühlte, daß er sie auf Anhieb wiedererkennen würde.
Jedenfalls hatte er den ersten Tag seiner Maskerade soweit überstanden. Er hatte seine besonderen Gaben
nur zweimal benutzt und auch dann nur in Maßen. Jetzt war er müde, und wie er reumütig zugeben mußte,
auch hungrig. Das Blut des Kaninchens war nicht genug gewesen.
Darüber mußte er sich später Gedanken machen. Er fand den Klassenraum für die letzte Unterrichtsstunde und setzte sich. Sofort spürte er wieder diese starke Persönlichkeit. Sie schwebte wie ein Licht am Rand seines Unterbewußtseins. Golden und sanft und doch voller Leben. Zum ersten Mal konnte er das Mädchen ausfindig machen, das diese Aura ausstrahlte. Es saß direkt vor ihm. Gerade, als er daran dachte, drehte es sich um, und er sah ihr Gesicht. Er konnte gerade noch verhindern, erschrocken nach Luft zu schnappen. Katherine! Aber das konnte nicht sein. Katherine war tot, niemand wußte das besser als er. Trotzdem war die Ähnlichkeit unheimlich. Das helle, goldene Haar, so blond, daß es zu leuchten schien. Diese weiße Haut mit dem rosigen Schimmer über den Wangenknochen, die ihn immer an Schwäne oder Alabaster erinnerte. Und die Augen... Katherines Augen waren von einer Farbe gewesen, die er noch nie zuvor gesehen hatte, dunkler als das Blau des Himmels, so leuchtend wie der blaue Edelstein in ihrem Kopfschmuck. Dieses Mädchen hatte dieselben Augen. Und diese Augen sahen ihn jetzt lächelnd an. Er wandte schnell den Blick ab. Am allerwenigsten wollte er an Katherine denken. Er wollte dieses Mädchen nicht anschauen, daß ihn so sehr an sie erinnerte, und er wollte ihre Aura nicht länger spüren. Er blickte auf sein Pult und schottete sein Unterbewußtsein gegen sie ab. Schließlich drehte sie sich endlich wieder langsam nach vorn. Sie war verletzt. Sogar durch die starken Barrikaden spürte er es. Es war ihm egal. Im Grunde war er sogar froh darüber. Hoffentlich läßt sie mich jetzt in Ruhe, dachte er. Abgesehen davon hegte er keine anderen Gefühle für sie. Das redete er sich immer wieder ein, während die monotone Stimme des Lehrers ungehört an seinem Ohr vorüberging. Aber er konnte den schwachen Duft eines Parfüms riechen - Veilchen, dachte er. Und ihren schlanken weißen Nacken sehen, der über das Buch gebeugt war. Ihr blondes Haar fiel rechts und links daran vorbei über ihre Schultern. Ärgerlich und voller Frust spürte er das altbekannte Gefühl in seinen Zähnen. Es war mehr ein Kitzeln oder Kribbeln als ein Schmerz. Es war ein Hunger, ein ganz spezieller Hunger, dem er nicht nachgeben würde. Der Lehrer wieselte durch das Klassenzimmer und schoß Fragen ab wie aus dem Schnellfeuergewehr. Stefan richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf ihn. Zuerst war er erstaunt, denn obwohl keiner der Schüler die Antworten wußte, hielten die Fragen an. Dann erkannte er, daß dies die Absicht des Mannes war. Er wollte die Schüler mit ihrem Mangel an Wissen beschämen. Gerade im Moment hatte er ein neues Opfer gefunden, ein zierliches Mädchen mit roten Locken und einem herzförmigen Gesicht. Stefan beobachtete voller Abscheu, wie der Lehrer sie mit Fragen quälte. Sie war am Boden zerstört, als er sich abwandte und das Wort an die Klasse richtete. „Sehen Sie jetzt, was ich meine? Sie glauben, Sie sind die Größten, sind Oberstufenschüler und bereit für die Abschlußprüfung. Lassen Sie mich Ihnen eins sagen, einige von Ihnen stecken anscheinend noch in den Kinderschuhen. Wie sie hier!“ Er deutete auf das rothaarige Mädchen. „Keine Ahnung von der Französischen Revolution. Hält Marie Antoinette für einen Stummfilmstar!“ Die Schüler rund um Stefan rutschten unbehaglich in ihren Sitzen hin und her. Er konnte ihren Ärger spüren, die Demütigung und die Angst. Sie hatten alle Angst vor diesem kleinen Mann mit den Augen eines Wiesels. Sogar die kräftigen Jungs, die größer waren als er. „Nun gut. Versuchen wir eine andere Epoche.“ Der Lehrer wandte sich wieder an dasselbe Mädchen. „Während der Renaissance...“ Er hielt inne. „Sie wissen doch, was die Renaissance ist, meine Liebe? Der Zeitabschnitt zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert, in dem Europa die großen Ideale der alten Griechen und Römer wiederentdeckte? Die Jahre, aus denen so viele von Europas größten Denkern und Künstlern hervorgingen?“ Als das Mädchen zuversichtlich nickte, fuhr er fort: „Was haben die Schüler Ihres Alters wohl in der Renaissance während der Schulzeit getan? Nun? Haben Sie eine Vorstellung? Eine kleine Ahnung?“ Das Mädchen schluckte. Mit einem schwachen Lächeln antwortete es: „Football gespielt?“ Bei dem entstehenden Gelächter verdunkelte sich das Gesicht des Lehrers. „Wohl kaum!“ fuhr er das Mädchen an, und die Klasse verstummte schlagartig. „Sie halten das wohl für einen Scherz? In jenen Tagen beherrschten Schüler Ihres Alters bereits mehrere Sprachen perfekt. Und außerdem waren sie beschlagen in Mathematik, Philosophie, Astronomie und Grammatik. Sie waren bereit, eine Universität zu besuchen, wo natürlich jeder Kurs in lateinischer Sprache abgehalten wurde. Football war absolut das letzte...“
„Entschuldigen Sie bitte.“ Die ruhige Stimme unterbrach den Lehrer mitten in seinem Ausbruch. Alle drehten sich um und starrten Stefan an. „Was? Was haben Sie gesagt?“ „Ich sagte, entschuldigen Sie.“ Stefan stand auf und nahm seine Sonnenbrille ab. „Aber Sie haben unrecht. Die Schüler in der Renaissance wurden dazu ermuntert, an allen möglichen Sportarten teilzunehmen. Sie lernten auf der Schule, daß ein gesunder Geist in einem gesunden Körper wohnt. Und natürlich haben sie auch Mannschaftsspiele veranstaltet, wie Kricket, Tennis und sogar Football.“ Er sah das rothaarige Mädchen an und lächelte. Sie lächelte dankbar zurück. Dann wandte er sich wieder an den Lehrer und fuhr fort: „Aber das wichtigste waren gute Manieren und Höflichkeit. Ich bin sicher, Ihre Lehrbücher können Ihnen darüber Auskunft geben.“ Die Schüler ringsum grinsten. Das Gesicht des Lehrers war dunkelrot, er rang nach Worten. Doch Stefan hielt seinen Blick fest, und am Ende war es der Lehrer, der wegsah. Es läutete. Stefan setzte schnell seine Sonnenbrille auf und sammelte seine Bücher ein. Er hatte schon mehr Aufmerksamkeit erregt, als er sich erlauben durfte, und er wollte dem blonden Mädchen nicht wieder begegnen. Außerdem mußte er schnell hier raus. Ein nur zu bekanntes Brennen breitete sich in seinen Adern aus. Als er an der Tür war, rief jemand: „He, haben die damals wirklich Football gespielt?“ Stefan konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen und erwiderte über die Schulter: „Oh, ja. Manchmal mit den abgeschlagenen Köpfen der Kriegsgefangenen.“ Elena sah ihm nach, als er hinausging. Er hatte sich ostentativ von ihr abgewandt. Er hatte sie absichtlich vor den Kopf gestoßen, und das vor Caroline, die die Szene wie ein Habicht beobachtet hatte. Tränen brannten in Elenas Augen, aber im Moment beherrschte sie nur ein Gedanke. Sie würde ihn erobern, auch, wenn es sie umbringen sollte. Und sogar dann, wenn es sie beide umbrachte. 3. KAPITEL Das erste Licht der Morgendämmerung färbte den Nachthimmel rosa und hellgrün. Stefan beobachtete das Farbenspiel vom Fenster seines Zimmers in der kleinen Pension. Er hatte dieses Zimmer absichtlich gemietet wegen der Falltür in der Decke, die zu einem kleinen Rundgang auf dem Dach führte. Im Moment war die Falltür geöffnet, und ein kühler, feuchter Wind blies die herabgelassene Leiter hinab. Stefan war vollständig angezogen, aber nicht, weil er schon früh aufgestanden war. Er hatte gar nicht geschlafen. Gerade war er von einem Ausflug in die Wälder zurückgekehrt. An seinen Stiefeln klebten noch feuchte Blätter. Sorgfältig wischte er sie ab. Die Bemerkungen der Schüler gestern waren ihm nicht entgangen. Er wußte, daß sie ihn wegen seiner Kleidung angestarrt hatten. Er bevorzugte immer das Beste. Nicht aus Eitelkeit, sondern weil es sich einfach so gehörte. Sein Lehrer hatte oft zu ihm gesagt: „Ein Adliger sollte sich seiner Stellung gemäß kleiden. Wenn er das nicht tut, zeigt er damit seine Mißachtung den Mitmenschen gegenüber.“ Jeder hatte seinen Platz in der Welt. Und seiner war im Kreis des Adels gewesen. Vor langer Zeit... Warum verweilte er bei diesen Dingen? Natürlich hätte ihm klar sein müssen, daß ihm seine eigenen Schultage ins Gedächtnis zurückkommen würden, wenn er die Rolle eines Schülers spielte. Jetzt stürzten die Erinnerungen so schnell und heftig auf ihn ein, als würde er in einem Buch blättern und hier und da eine Eintragung lesen. Ein Bild war wieder ganz lebendig. Das Gesicht seines Vaters, als Damon ankündigte, er würde die Universität verlassen. Stefan hatte seinen Vater noch nie so wütend erlebt... „Was soll das heißen, du gehst nicht mehr zurück?“ Giuseppe war normalerweise ein gerechter Mann. Doch er neigte zu Wutausbrüchen. Ein solcher war jetzt durch seinen ältesten Sohn entfacht worden. Der tupfte sich gerade die Lippen mit einem Seidentaschentuch ab. „Ich hätte gedacht, daß du einen solch einfachen Satz verstehst, Vater. Soll ich ihn für dich in Latein wiederholen?“ „Damon...“ begann Stefan tadelnd, schockiert von soviel Respektlosigkeit. Aber sein Vater unterbrach ihn. „Willst du mir etwa schonend beibringen, daß ich, Giuseppe, Graf von Salvatore, einen Sohn habe, der ein 'scioparto' ist? Ein Taugenichts? Ein Faulpelz, der keinen nützlichen Beitrag zum Gemeinwohl unserer
schönen Heimatstadt Florenz leisten will? Wie soll ich meinen Freunden je wieder gegenübertreten?“ Die Bediensteten zogen sich etwas zurück, als sich Giuseppe immer mehr in Wut redete. Damon zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Wenn du diese Schmarotzer Freunde nennen willst, die dir nur schmeicheln in der Hoffnung, daß du ihnen Geld borgst, ist das deine Sache.“ „Du elender Tagedieb!“ schrie Giuseppe und stand von seinem Stuhl auf. „Ist es nicht schon schlimm genug, daß du auch während des Studiums deine Zeit und mein Geld verschwendest? Oh, ja, ich weiß alles über deine Spielsucht, die Duelle und die Weibergeschichten. Und ich weiß auch, daß du es nur deinem Sekretär und deinen Privatlehrern zu verdanken hast, daß du nicht in jeder Klasse versagst. Aber warum willst du mich jetzt ganz und gar entehren? Warum? Sag mir, warum?“ Seine kräftige Hand packte Damon am Kinn. „Warum willst du nicht wenigstens zum Schein zurückkehren an die Universität, wo du doch sowieso dein Lotterleben weiterführst?“ Stefan mußte anerkennen, daß Damon ganz ruhig blieb. Er stand stolz da, jeder Zentimeter ein Aristokrat von der elegant schlichten Kappe auf seinem schwarzen Haar über das nerzbesetzte Cape bis hin zu den weichen Lederschuhen. Ein arrogantes Lächeln spielte um seine Lippen. Diesmal bist du zu weit gegangen, dachte Stefan, während er die beiden Männer betrachtete, die einander anblickten. Selbst dein Charme wird dir diesmal nicht aus der Patsche helfen können. Genau in diesem Moment hörte man leichte Schritte vom Eingang des Studierzimmers. Stefan drehte sich um und war sofort wieder verzaubert von den dunkelblauen Augen, die von langen, blonden Wimpern umrahmt wurden. Es war Katherine. Ihr Vater, der Baron von Swartzschild, hatte sie aus dem kalten Deutschland nach Italien gebracht, damit sie sich von einer langen Krankheit erholte. Seit dem Tag ihrer Ankunft hatte sich alles für Stefan verändert. „Entschuldigung. Ich wollte nicht stören.“ Ihre Stimme war sanft und klar. Sie wandte sich mit einer zögernden Bewegung zum Gehen. „Nein, bleib hier“, sagte Stefan schnell. Er wollte noch etwas hinzufügen, nach ihrer Hand greifen, aber er wagte es nicht. Nicht vor seinem Vater. Alles, was er tun konnte, war, in diese wunderbaren, blauen Augen zu schauen, die ihn jetzt anblickten. „Ja, bleibe ruhig“, ertönte Giuseppes Stimme. Stefan sah, daß sich seine düstere Miene erhellt hatte. Er ließ Damon los, trat einen Schritt vor und glättete die schweren Falten seines langen, pelzgeschmückten Gewandes. „Dein Vater wird bald von Geschäften in der Stadt zurückerwartet. Er wird sich freuen, dich zu sehen. Aber deine Wangen sind bleich, kleine Katherine. Du wirst doch nicht wieder krank werden?“ „Ihr wißt, daß ich immer blaß bin, Sir. Ich benutze kein Rouge wie die wagemutigen italienischen Mädchen.“ „Das hast du auch nicht nötig“, entfuhr es Stefan, bevor er es verhindern konnte. Katherine lächelte ihn an. Sie war so schön. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in seiner Brust aus. Sein Vater fuhr fort: „Und ich sehe am Tag viel zu wenig von dir. Vor der Abenddämmerung bereitest du uns nur zu selten die Freude deiner Gesellschaft.“ „Ich habe meine Studien und andere Verpflichtungen, die mich in meinen eigenen Räumen halten, Sir“, erwiderte Katherine leise und senkte den Blick. Stefan wußte, daß das nicht stimmte. Doch er schwieg. Niemals würde er Katherines Geheimnis verraten. Sie sah seinen Vater wieder an. „Aber jetzt bin ich hier, Sir.“ „Ja, ja, richtig. Ich werde veranlassen, daß wir zur Feier der Rückkehr deines Vaters heute abend ein Festmahl veranstalten. Damon... wir sprechen uns später.“ Während Giuseppe einen Diener herbeiwinkte und hinausging, drehte sich Stefan voller Freude zu Katherine um. Es war selten, daß sie sich ohne die Anwesenheit seines Vaters oder ihrer deutschen Dienerin Gudren unterhalten konnten. Aber was Stefan sah, traf ihn wie ein Schlag in den Magen. Katherine lächelte - das kleine, geheime Lächeln, das sie oft geteilt hatten. Doch jetzt galt es nicht ihm, sondern Damon. In diesem Moment haßte Stefan seinen Bruder. Er haßte Damons dunklen Charme, seine Geschmeidigkeit und die Sinnlichkeit, die Frauen anzog wie Motten das Licht. Er hatte große Lust, ihn zu schlagen, seine Schönheit für immer zu zerstören. Statt dessen mußte er dabeistehen und beobachten, wie Katherine sich langsam, Schritt für Schritt, seinem Bruder näherte. Ihr goldenes Brokatkleid wischte mit leisem Flüstern über den gekachelten Boden. Und noch während Stefan zusah, streckte Damon die Hand nach Katherine aus. Sein Lächeln war triumphierend und grausam zugleich...
Stefan drehte sich mit einem Ruck vom Fenster weg. Warum riß er die alten Wunden wieder auf? Aber selbst, während er sich deswegen noch tadelte, zog er die dünne Goldkette hervor, die er unter seinem Hemd trug. Mit Daumen und Zeigefinger strich er zärtlich über den Ring, der daran hing, dann hielt er ihn hoch ans Licht. Er war aus Gold und wunderschön. Selbst fünf Jahrhunderte hatten seinen Glanz nicht trüben können. Ein tiefblauer Stein, ein Lapislazuli von der Größe seines kleinen Fingernagels, war darin eingearbeitet. Stefan betrachtete ihn und dann den schweren Silberring mit dem gleichen Edelstein, den er an seiner Hand trug. Ein altbekannter Schmerz breitete sich in seiner Brust aus. Er konnte die Vergangenheit einfach nicht vergessen, und im Grunde wollte er es gar nicht. Trotz allem, was geschehen war, war ihm Katherines Andenken lieb und teuer. Aber es gab eine Erinnerung, an die er nicht rühren durfte. Wenn er diesen Horror noch einmal durchleben mußte, würde er wahnsinnig werden. So wahnsinnig, wie er an jenem Tag gewesen war, an jenem letzten Tag, als er seine eigene Verdammnis besiegelte... Stefan lehnte sich an das Fenster. Er preßte seine Stirn gegen die kühle Scheibe. Sein Lehrer hatte noch ein anderes Sprichwort gekannt: „Das Böse wird niemals Frieden finden. Es mag triumphieren, aber Frieden wird es niemals finden.“ Warum war er überhaupt nach Fell's Church gekommen? Er hatte gehofft, hier Ruhe zu finden, aber das war unmöglich. Er würde niemals akzeptiert werden, nie ausruhen dürfen. Denn er war böse. Und er konnte nicht ändern, was er war. Elena stand an diesem Morgen früher auf als sonst. Sie hörte, wie Tante Judith in ihrem Zimmer herumkramte und sich für die Dusche fertigmachte. Margaret schlief noch fest. Wie eine kleine Maus lag sie zusammengerollt in ihrem Bett. Elena schlich leise an der halbgeöffneten Zimmertür ihrer Schwester vorbei, ging zur Eingangstür und verließ das Haus. Die Luft war frisch und klar. Im Quittenbaum saßen nur die üblichen Eichelhäher und Spatzen. Elena, die mit stechenden Kopfschmerzen zu Bett gegangen war, blickte in den strahlendblauen Himmel und atmete tief ein. Sie fühlte sich viel besser als gestern. Vor der Schule hatte sie sich mit Matt verabredet. Obwohl sie sich auf die Begegnung nicht gerade freute, war sie sicher, daß alles glatt laufen würde. Matt wohnte nur zwei Straßen von der High School entfernt. Es war ein einfaches, kleines Haus, wie die meisten in dieser Gegend, nur ein wenig ungepflegter als die anderen. Hier und da blätterte die Farbe ab, und die Ketten der Schaukel auf dem Hof waren verrostet. Matt stand schon draußen. Als Elena ihn sah, tat ihr Herz wie gewohnt einen freudigen kleinen Sprung. Er sah wirklich gut aus. Daran gab es keinen Zweifel. Matts blondes Haar war während der Footballsaison ganz kurz geschnitten. Er war tiefbraun, weil er in seiner Freizeit draußen auf der Farm seiner Großeltern arbeitete. Der Blick seiner blauen Augen war ehrlich und offen. Und heute, als er die Arme nach Elena ausstreckte, um sie sanft an sich zu ziehen, auch ein ganz klein wenig traurig. „Willst du reinkommen?“ „Nein. Laß uns ein Stück spazierengehen“, erwiderte Elena, Sie gingen nebeneinander her, ohne sich zu berühren. Ahornbäume und schwarze Walnußbäume säumten die Straße, die noch von morgendlicher Stille erfüllt war. Elena betrachtete ihre Füße auf dem nassen Asphalt und war plötzlich sehr unsicher. Sie wußte nicht, wie sie anfangen sollte. „Du hast mir immer noch nichts von Frankreich erzählt“, begann Matt. „Ach, das war toll.“ Elena sah ihn schräg von der Seite an Matt starrte auf den Bürgersteig. „Alles war super“, fuhr sie fort und versuchte, etwas mehr Begeisterung in ihre Stimme zu legen. „Die Leute, das Essen, einfach alles. Es war echt...“ Ihre Stimme verlor sich, und sie lachte nervös. „Ja, ich weiß. Super“, beendete Matt den Satz für sie. Er blieb stehen und blickte auf seine abgenutzten Tennisschuhe. Elena erkannte sie vom letzten Jahr. Matts Familie kam gerade so über die Runden. Vielleicht hatte er sich keine neuen Schuhs leisten können. Sie sah hoch und merkte, daß sein Blick jetzt auf sie gerichtet war. „Und du, du siehst heute richtig super aus“, sagte er leise. Elena öffnete den Mund, um zu protestieren, doch Matt kam ihr zuvor.
„Wahrscheinlich hast du mir was zu sagen.“
Sie starrte ihn an, und er lächelte ein wenig traurig. Dann streckte er wieder die Arme aus.
„Oh, Matt.“ Elena umarmte ihn fest. Sie trat einen Schritt zurück und sah ihm ins Gesicht. „Matt, du bist der
netteste Typ den ich jemals getroffen hab. Ich verdiene dich gar nicht.“
„Ach, deshalb machst du Schluß mit mir?“ antwortete er, als sie weitergingen. „Weil ich zu gut für dich bin.
Das hätte mir schon früher klarwerden sollen.“
Elena boxte ihn sanft in den Arm. „Nein, das ist es nicht, Und ich mache auch nicht Schluß mit dir. Wir
bleiben Freunde, okay?“
„Klar. Aber sicher doch.“
„Mir ist nämlich aufgefallen, daß wir das sind.“ Sie blieb stehen und sah ihn wieder an. „Gute Freunde.
Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Sei ehrlich, Matt. Geht es dir nicht wie mir? Empfindest du nicht im
Grunde auch nur Freundschaft für mich?“
Er runzelte die Stirn. „Dein plötzlicher Entschluß hat nicht zufällig was mit dem neuen Typen zu tun?“
„Nein“, antwortete Elena nach kurzem Zögern, dann fuhr sie schnell fort: „Ich kenn den doch gar nicht.“
„Aber du willst ihn kennenlernen. Nein, sag nichts.“ Er legte ihr den Arm um die Schulter und drehte sie
sanft um. „Machen wir uns auf den Schulweg. Wenn noch Zeit bleibt, kaufe ich dir sogar ein Stück
Kuchen.“
Während sie weitergingen, raschelte es heftig in dem Walnußbaum über ihnen. Matt pfiff leise und deutete
nach oben. „Schau mal, das ist die größte Krähe, die je ich gesehen hab.“
Elena hob den Blick, aber der Vogel war schon fort.
Die Schule diente Elena an diesem Tag nur dazu, ihren Plan durchzuführen.
Sie war am Morgen aufgewacht und wußte genau, was sie zu tun hatte. Heute sammelte sie so viele
Informationen wie nur möglich zum Thema Stefan Salvatore. Das war nicht schwer, denn jeder auf der
Robert E. Lee High School redete über ihn.
Es war allgemein bekannt, daß er gestern eine Art Zusammenstoß mit der Verwaltungssekretärin gehabt
hatte. Und heute war er in das Büro des Direktors bestellt worden. Es hatte wohl etwas mit seinen Papieren
zu tun. Doch der Direktor hatte ihn wieder in den Unterricht geschickt. Es wurde gemunkelt, ein
Ferngespräch mit Rom -- oder war es Washington? -hätte alles in Ordnung gebracht. Zumindest, was das
Amtliche betraf.
Als Elena an diesem Nachmittag zu ihrer Unterrichtsstunde europäische Geschichte ging, wurde sie auf dem
Flur mit anerkennenden Pfiffen begrüßt. Dick Carter und Tyler Smallwood hingen vor dem Klassenzimmer
rum. Die beiden hielten sich für die Größten, nur weil sie in der Footballmannschaft Verteidiger und
Stürmer waren.
Elena blieb auf dem Gang stehen, um ihr Make-up aufzufrischen. Sie hatte Bonnie genaue Anweisungen
gegeben. Der Plan sollte sofort in Kraft treten, sobald Stefan auftauchte. Der Spiegel der Puderdose erlaubte
ihr, den ganzen Flur zu überblicken.
Trotzdem verpaßte sie ihn irgendwie. Plötzlich war er neben ihr. Sie schloß schnell die Puderdose, als er an
ihr vorüberging. Eigentlich hatte sie ihn aufhalten wollen, aber etwas kam dazwischen. Stefan wirkte mit
einem Mal angespannt und wachsam. In diesem Moment traten Dick und Tyler vor die Tür des
Klassenzimmers und blockierten den Weg.
Volltrottel, dachte Elena. Sie warf den beiden über Stefans Schulter hinweg wütende Blicke zu.
Die genossen das Spiel, blieben in der Türöffnung stehen und taten so, als würden sie Stefan nicht sehen.
„Entschuldigung.“ Es war derselbe Tonfall, den er dem Geschichtslehrer gegenüber benutzt hatte. Ruhig und
distanziert.
Dick und Tyler sahen erst sich an und dann in der Gegend herum, als würden sie Geisterstimmen hören.
„'tschuldigung!“ zwitscherte Tyler mit übertrieben hoher Stimme. Er klimperte mit den Wimpern, und beide
lachten.
Elena beobachtete, wie sich unter dem T-Shirt Stefans Muskeln anspannten. Es war total unfair. Die beiden
Rüpel waren größer als Stefan, und Tyler war außerdem ungefähr doppelt so breit wie er.
„Gibt es hier ein Problem?“ Elena war so überrascht wie die Jungen, als hinter ihr eine neue Stimme ertönte.
Sie drehte sich um und sah Matt. Der Blick seiner blauen Augen war hart.
Elena mußte sich ein Lächeln verkneifen, als Tyler und Dick langsam und widerwillig den Weg
freimachten. Guter alter Matt, dachte sie. Aber jetzt ging der gute alte Matt neben Stefan in die Klasse, und
sie konnte den beiden nur nachblicken. Als sie sich setzten, glitt sie auf den Platz hinter Stefan, von wo aus
sie ihn beobachten konnte, ohne selbst beobachtet zu werden. Ihr Plan mußte bis nach dem Unterricht
warten.
Matt klimperte mit dem Kleingeld in seiner Hosentasche, was bedeutete, daß er etwas sagen wollte.
„Ja, weißt du...“ begann er schließlich und fühlte sich dabei sichtlich unwohl. „Diese Typen...
Stefan lachte. Es klang bitter. „Wer bin ich schon, um sie zu verurteilen?“ Seine Stimme war aufgewühlter,
als Elena es je zuvor bei ihm erlebt hatte. Selbst nicht, als er mit Mr. Tanner sprach. Bedauern und tiefes
Leid sprachen aus ihm. „Überhaupt, warum sollte man mich hier mit offenen Armen empfangen?“ beendete
er den Satz fast zu sich selbst.
„Und warum nicht?“ Matt hatte Stefan angestarrt. Jetzt reckte er entschlossen das Kinn vor. „Hör mal. Du
hast doch gestern von Football gesprochen. Einer unserer Teamkameraden hat sich gestern einen Bänderriß
zugezogen, und wir brauchen dringend Ersatz. Die Probespiele für die Auswahl des Neuen sind heute
nachmittag. Willst du nicht mal vorbeischauen?“
„Ich?“ Stefan hörte sich überrumpelt an. „Also... weiß nicht, ob ich geeignet bin.“
„Kannst du rennen?“
„Ob ich...“ Stefan drehte sich halb zu Matt um, und Elena konnte das kleine Lächeln sehen, das um seine
Lippen spielte. „Ja.“
„Kannst du fangen?“
„Ja. „
„Das ist alles, was du zu tun hast. Ich spiele Quarterback. Wenn du fangen kannst, was ich werfe, und es dir
gelingt, mit dem Ball wie der Wind abzuhauen, bist du dabei.“
„Verstehe.“ Stefans Lächeln wurde breiter. Obwohl Matts Miene ernst blieb, funkelten seine blauen Augen
fröhlich. Überrascht stellte Elena fest, daß sie eifersüchtig war. Zwischen den beiden Jungen herrschte ein
Einvernehmen, das sie total ausschloß.
Doch im selben Moment war Stefans Lächeln verschwunden. Wie abwesend sagte er: „Danke... aber ich
muß ablehnen. Ich hab andere Verpflichtungen.“
In diesem Augenblick trafen Bonnie und Caroline ein, und der Unterricht begann.
Während des gesamten Geschichtsvortrags von Mr. Tanner wiederholte Elena leise für sich: „Hallo, ich bin
Elena Gilbert. Ich gehöre zum Begrüßungskomitee der Oberstufe und soll dich ein bißchen in der Schule
herumführen. Du willst doch nicht, daß ich Schwierigkeiten bekomme, indem du ablehnst?“ Das letzte
wollte sie mit weit aufgerissenen Augen sagen, aber nur, falls er tatsächlich versuchte, ihr zu entkommen.
Der Plan war bombensicher. Stefan war ein Typ, der schwach wurde, wenn ein weibliches Wesen Hilfe
brauchte.
Die Hälfte der Stunde war ungefähr vorbei, als das Mädchen, das rechts von Elena saß, ihr einen Zettel
reichte. Sie erkannte sofort Bonnies runde, kindliche Handschrift: „Ich habe C., so lange ich konnte,
aufgehalten. Was ist passiert? Hat es geklappt???“
Elena blickte hoch und sah, daß Bonnie sich auf ihrem Sitz in der vorderen Reihe umgedreht hatte. Elena
deutete auf den Zettel, schüttelte den Kopf und formte mit den Lippen lautlos die Worte „nach dem
Unterricht“.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Mr. Tanner die letzten Anweisungen für die mündlichen Vorträge
gegeben hatte und die Klasse entließ. Alle sprangen gleichzeitig auf. Also los, dachte Elena, trat Stefan mit
klopfendem Herzen entgegen und versperrte ihm den Weg.
Wie Dick und Tyler, dachte sie und unterdrückte ein hysterisches Kichern. Sie sah ihn an und stellte fest,
daß sich ihre Augen genau in der Höhe seiner sinnlichen Lippen befanden.
Alle ihre Vorsätze waren mit einem Mal wie weggewischt. Was hatte sie ihm noch sagen wollen? Sie
öffnete den Mund, und irgendwie überschlugen sich ihre einstudierten Worte fast: „Hallo. Ich bin Elena
Gilbert. Ich gehöre zum Begrüßungskomitee der Oberstufe, und ich soll...“
„Tut mir leid, ich habe keine Zeit.“ Eine Minute lang konnte Elena kaum glauben, daß er sie unterbrochen
hatte. Daß er ihr nicht die Chance gab, ihre Rede zu Ende zu führen. Sie redete einfach weiter: „... dich ein
wenig in der Schule...“
„Ich bin untröstlich, aber es geht nicht. Ich... ich muß zum Footballtraining.“ Stefan drehte sich zu Matt um,
der die Szene mit wachsendem Erstaunen verfolgte. „Du hast gesagt, das ist gleich nach dem Unterricht?“
„Ja“, erwiderte Matt langsam. „Aber...“
„Dann beeile ich mich wohl besser. Vielleicht kannst du mir zeigen, wo das ist.“ Matt schaute hilflos zu Elena und zuckte mit den Schultern. „Klar... komm mit.“ Als sie gingen, warf er noch einen Blick zurück. Stefan nicht. Elena bemerkte, daß sich inzwischen ein Kreis interessierter Zuschauer um sie gebildet hatte. Unter ihnen war auch Caroline, die ihre Schadenfreude nicht verbarg. Elenas Kehle war wie zugeschnürt. Ein taubes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus. Sie würde es nicht ertragen, auch noch eine Sekunde länger dort zu bleiben. Abrupt drehte sie sich um und ging so schnell sie konnte aus dem Raum. 4. KAPITEL Als Elena an ihrem Schließfach angekommen war, schwand das taube Gefühl langsam, und der Knoten in ihrer Kehle drohte sich in Tränen aufzulösen. Ich werde in der Schule nicht weinen, sagte sie sich mit zusammengebissenen Zähnen. Nachdem sie das Schließfach geschlossen hatte, lief sie sofort zum Ausgang. Zum zweiten Mal hintereinander ging sie nach Schulschluß direkt nach Hause, und zwar allein. Tante Judith würde die Welt nicht mehr verstehen. Doch als Elena zu Hause ankam, stand Judiths Wagen nicht in der Auffahrt. Sie war wohl mit Margaret zum Markt gefahren. Das Haus lag still und friedlich da, als Elena aufschloß. Sie war froh darüber. Im Augenblick wollte sie nur allein sein. Aber auf der anderen Seite wußte sie nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Jetzt, wo sie endlich weinen konnte, wollten die Tränen nicht kommen. Sie ließ ihre Tasche in der Diele fallen und ging langsam ins Wohnzimmer. Es war ein schöner, eindrucksvoller Raum, der einzige außer Elenas Zimmer, der von dem Originalhaus noch übrig geblieben war. Das ursprüngliche Haus war vor 1861 erbaut worden und im Bürgerkrieg fast ganz ausgebrannt. Nur dieses Zimmer mit seinem wunderschönen Kamin und das große Schlafzimmer oben hatte man retten können. Elenas Urgroßvater hatte das Haus wieder aufgebaut, das Generationen der Gilberts seither bewohnt hatten. Elena wandte sich um und schaute aus einem der vom Boden bis zur Decke reichenden Fenster. Das dicke Glas war so alt und uneben, daß alles, was man dadurch sah, leicht verschwommen wirkte. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater ihr zum ersten Mal diese Scheibe gezeigt hatte. Damals war sie jünger gewesen als Margaret heute. Elenas Kehle war wieder wie zugeschnürt, doch sie konnte immer noch nicht weinen. Ihre Gefühle waren ein einziges Durcheinander. Sie wollte keine Gesellschaft und fühlte sich doch schrecklich allein. Sie wollte nachdenken, doch so sehr sie sich bemühte, ihre Gedanken rannten davon wie Mäuse vor einer weißen Eule. Weiße Eule... Jagdvogel... Fleischfresser... Krähe, dachte sie. „Die größte Krähe, die ich je gesehen habe“, hatte Matt gesagt. Ihre Augen brannten wieder. Armer Matt. Sie hatte ihm weh getan, und er war so nett zu ihr gewesen. Er hatte sich sogar Stefan gegenüber freundlich verhalten. Stefan. Ihr Herz machte einen Sprung, und zwei, drei heiße Tränen rannen aus ihren Augen. Endlich weinte sie. Sie weinte aus Wut, Frust, weil sie so gedemütigt worden war - und warum eigentlich noch? Was hatte sie tatsächlich heute verloren? Was fühlte sie wirklich für diesen Fremden, diesen Stefan Salvatore? Er war eine Herausforderung, und das machte ihn irgendwie anders, irgendwie interessant. Stefan wirkte exotisch und war... aufregend. Komisch, genau das hatten manche Jungs von ihr behauptet. Und später hatte sie von ihnen oder von ihren Freunden oder Geschwistern gehört, wie nervös sie gewesen waren, bevor sie mit ihr ausgingen. Wie ihre Hände geschwitzt hatten oder der Bauch plötzlich voller Schmetterlinge gewesen war. Elena hatte solche Geschichten immer sehr amüsant gefunden. Noch nie hatte ein Junge sie so aus der Fassung gebracht. Aber als sie heute mit Stefan gesprochen hatte, hatte ihr Puls gerast, ihre Knie waren weich geworden und ihre Hände naß. In ihrem Bauch hatten keine Schmetterlinge getobt, sondern ausgewachsene Fledermäuse. Interessierte sie sich für den Jungen, weil er sie ganz kribbelig machte? Kein sehr guter Grund, Elena, sagte sie sich selbst. Im Grunde sogar ein ganz schlechter. Doch da war noch sein Mund. Dieser sinnliche Mund, der ihr Herz schneller schlagen ließ, aber aus einem ganz anderen Gefühl als Nervosität. Das nachtschwarze Haar - ihre Finger brannten geradezu darauf, in seinen Locken zu wühlen. Der geschmeidige, durchtrainierte Körper, diese langen, langen Beine... und die Stimme. Es war seine Stimme gewesen, bei deren Klang sie sich gestern entschlossen hatte, daß sie ihn um
jeden Preis haben mußte. Sie war kühl und distanziert gewesen, als er mit Mr. Tanner gesprochen hatte, doch gleichzeitig merkwürdig unwiderstehlich. Elena fragte sich, ob sie auch ganz zärtlich und dunkel werden konnte, und wie es wohl klang, wenn diese Stimme ihren Namen sagen, ihn flüstern würde... „Elena!“ Elena schreckte aus ihren Träumen hoch. Aber es war nicht Stefan Salvatore, der da nach ihr rief, sondern Tante Judith, die gerade geräuschvoll die Eingangstür öffnete. „Elena! Elena?“ Das war Margaret. Ihr Stimmchen war hoch und schrill. „Bist du zu Hause?“ Sofort überfiel Elena wieder Trübsal. Sie sah sich im Wohnzimmer um. Im Moment konnte sie weder Tante Judiths besorgte Fragen ertragen noch Margarets unschuldige Fröhlichkeit. Nicht, wenn ihre Wimpern noch naß waren und jeden Augenblick neue Tränen drohten. Sie traf eine blitzschnelle Entscheidung und verschwand leise durch die Hintertür, als vorne die Eingangstür zuschlug. Draußen zögerte sie. Sie wollte niemandem begegnen. Doch wo konnte sie allein hingehen? Die Antwort kam ihr sofort. Natürlich. Sie würde Mom und Dad besuchen. Es war ein langer Weg, der fast an den Rand der Stadt führte, aber in den letzten drei Jahren war er für Elena zur Gewohnheit geworden. Sie überquerte die Wickery-Brücke, stieg den Hügel hoch, vorbei an der Ruine einer Kirche und dann hinab in das kleine Tal. Dieser neue Teil des Friedhofs war gepflegt. Es war der alte Teil, den man ein wenig verwildern ließ. Hier war das Gras geschnitten, und Blumensträuße sorgten für bunte Farbtupfer. Elena setzte sich neben einen großen Grabstein aus Marmor, in den der Name „Gilbert“ eingeritzt war. „Hallo, Mom. Hallo, Dad“, flüsterte sie. Sie lehnte sich nach vorn und legte einen Strauß aus Wildblumen nieder, die sie auf dem Weg gepflückt hatte. Dann blieb sie mit übereinandergeschlagenen Beinen einfach sitzen. Seit dem Unfall war sie oft hierher gekommen. Margaret war damals erst ein Jahr alt gewesen, sie konnte sich kaum an die Eltern erinnern. Aber Elena wohl. Die vielen Erinnerungen, die auf sie einstürmten, ließen den Knoten in ihrer Kehle anschwellen, und die Tränen kamen leichter. Sie vermißte die beiden schrecklich. Mom, so jung und schön, und Dad, mit seinem unwiderstehlichen Lächeln. Natürlich konnte sie von Glück reden, daß sie Tante Judith hatten. Nicht jede Tante gab einen gutbezahlten Job auf, um in eine kleine Stadt zu ziehen und sich um zwei verwaiste Nichten zu kümmern. Und Robert, Tante Judiths Verlobter, war mehr ein Stiefvater für Margaret als ein zukünftiger angeheirateter Onkel. Aber Elena fehlten die Eltern trotzdem schrecklich. Kurz nach der Beerdigung war sie manchmal auf den Friedhof gekommen und hatte sie beschimpft, weil sie so dumm gewesen waren, sich töten zu lassen. Damals hatte sie Tante Judith noch nicht so gut gekannt und das Gefühl gehabt, nirgendwo auf der Welt hinzugehören. Und wohin gehöre ich jetzt? fragte sie sich. Die einfachste Antwort lautete: hierher nach Fell's Church, wo sie ihr ganzes Leben verbracht hatte. Aber seit kurzem schien die einfache Antwort falsch zu sein. Sie spürte, daß es da draußen noch etwas anderes für sie geben mußte, einen Platz, den sie sofort erkennen und aus vollem Herzen „zu Hause“ nennen würde. Ein Schatten fiel auf sie, und sie sah erstaunt hoch. Einen Moment lang kamen ihr die beiden Gestalten, die dort standen, fremd und leicht bedrohlich vor. Wie erstarrt blickte Elena sie an. „Elena“, sagte die kleinere von beiden, die Hände in die Hüften gestemmt. „Manchmal mache ich mir echte Sorgen um dich. Das kannst du mir glauben.“ Elena blinzelte und lachte erleichtert auf. Es waren Bonnie und Meredith. „Was kann man tun, wenn man hier mal ein bißchen für sich sein will?“ fragte sie, als die beiden sich setzten. „Uns einfach sagen, daß wir abhauen sollen“, schlug Meredith vor, aber Elena zuckte nur mit den Schultern. Meredith und Bonnie waren in den Monaten seit dem Unfall oft hergekommen, um sie zu suchen. Plötzlich war sie froh darüber und den beiden dankbar. Es machte ihr nichts aus, wenn sie wußten, daß sie geweint hatte. Sie nahm das zerknüllte Taschentuch, das Bonnie ihr wortlos anbot, und wischte sich die Augen. Die drei blieben eine kurze Weile schweigend zusammen sitzen und beobachteten den Wind, der in den Blättern der alten Eichen am Rand des Friedhofs raschelte. „Was passiert ist, tut mir leid“, sagte Bonnie schließlich leise. „Das war wirklich schrecklich.“ „Schon mal was von Taktgefühl gehört, Bonnie?“ schalt Meredith sie. „Aber so schlimm kann's doch nicht gewesen sein, Elena.“
„Du warst nicht dabei.“ Elena fühlte, wie ihr nur schon bei der Erinnerung am ganzen Körper heiß wurde. „Es war entsetzlich. Aber das ist mir schnurzegal“, fügte sie heftig hinzu. „Ich bin fertig mit ihm. Ich will ihn sowieso nicht.“ „Elena! „ „Ehrlich, Bonnie. Er denkt anscheinend, er sei zu gut für... für uns Amerikaner. Also kann er seine Designer-Sonnenbrille nehmen und sie sich sonstwohin stecken.“ Die beiden anderen Mädchen lachten. Elena putzte sich die Nase und schüttelte den Kopf. „Nun“, wandte sie sich an Bonnie und änderte entschlossen das Thema, „zumindest schien Tanner heute bessere Laune zu haben.“ Bonnie machte ein gequältes Gesicht. „Weißt du, daß ich die erste sein werde, die einen Vortrag halten muß? Eigentlich ist es mir ja egal. Ich werde über die Druiden sprechen und...“ „Über was?“ „D-r-u-i-d-e-n“, buchstabierte Bonnie. „Das waren die alten Knaben, die den magischen Steinkreis von Stonehenge errichtet haben. Die konnten zaubern und solche Sachen. Die haben im vorchristlichen England gelebt. Ich stamme von ihnen ab, und deshalb bin ich auch ein Medium.“ Meredith schnaubte verächtlich, aber Elena betrachtete mit gerunzelter Stirn den Grashalm, den sie zwischen ihren Fingern hin- und herdrehte. „Bonnie, hast du gestern tatsächlich etwas in meiner Hand gelesen?“ fragte sie plötzlich. Bonnie zögerte. „Ich weiß nicht“, erklärte sie schließlich. „Ich... ich dachte es zumindest. Aber manchmal geht meine Phantasie mit mir durch.“ „Sie wußte, wo du bist“, warf Meredith ein. „Ich wollte im Café nach dir suchen, aber Bonnie sagte „sie ist auf dem Friedhof.“ „Hab ich das?“ Bonnie sah etwas überrascht aus. „Nun, da ist der Beweis. Meine Großmutter in Edinburgh hat das zweite Gesicht und ich auch. Die Gabe überschlägt immer eine Generation.“ „Und du stammst von den Druiden ab“, fügte Meredith feierlich hinzu. „Das stimmt! In Schottland achten sie die alten Bräuche. Ihr würdet nicht glauben, was für Sachen meine Großmutter macht. Sie kann herausfinden, wen du heiraten wirst, und dein Todesdatum. Sie hat vorausgesagt, daß ich früh sterben werde.“ „Bonnie!“ „Hat sie! Ich werde wunderschön und jung in meinem Sarg liegen. Findet ihr das nicht romantisch?“ „Nein, ich finde das abstoßend“, sagte Elena heftig. Die Schatten waren länger geworden und der Wind plötzlich kalt. „Wen wirst du denn heiraten, Bonnie?“ lenkte Meredith ab. „Das weiß ich nicht. Meine Großmutter hat mir zwar verraten, wie man es herausfindet, aber ich hab's noch nicht ausprobiert. Natürlich...“ Bonnie nahm eine hochmütige Pose ein,...muß er sehr, sehr reich sein und total super. Wie unser dunkler, geheimnisvoller Fremder. Wenn ihn sonst schon keiner will...“ Sie warf Elena einen vielsagenden Blick zu. „Elena?“ Doch die weigerte sich, darauf einzugehen. „Was ist mit Tyler Smallwood?“ erwiderte sie unschuldig. „Sein Vater ist doch wohl reich genug.“ „Und Tyler sieht nicht schlecht aus“, stimmte Meredith zu. „Natürlich nur, wenn man auf Steinzeitmenschen steht.“ Die Mädchen sahen sich an und brachen gleichzeitig in Lachen aus. Bonnie warf eine Handvoll Gras auf Meredith, die es locker abbürstete und sich mit Löwenzahn revanchierte. Irgendwann mitten in dem freundlichen Gerangel spürte Elena, daß sie wieder okay war. Sie war wieder sie selbst, nicht verloren, keine Fremde, sondern Elena Gilbert, die Königin der Robert E. Lee High School. Sie nahm das apricotfarbene Band aus ihrem Haar und schüttelte ihre Mähne. „Ich hab das Thema für meinen Vortrag“, verkündete sie und sah zu, wie Bonnie sich mit den Fingern das Gras aus ihren Locken kämmte. „Was?“ fragte Meredith. Elena hob das Kinn und betrachtete den rotviolett gefärbten Himmel über dem Hügel. Sie seufzte gedankenvoll und steigerte die Spannung noch einen Moment. Dann sagte sie cool: „Das Thema lautet ,Die italienische Renaissance'.“ Bonnie und Meredith starrten sie an und brachen dann wieder in lautes Gelächter aus.
„Aha“, meinte Meredith, als sie sich ein wenig erholt hatte. „Die Tigerin kehrt zurück.“
Elena lächelte ein Raubtierlächeln. Ihr angeschlagenes Selbstbewußtsein hatte sich wieder voll erholt.
Obwohl sie es selbst nicht verstehen konnte, wußte sie eins: Stefan Salvatore würde nicht ungeschoren
davonkommen.
„Okay“, sagte sie energisch. „Jetzt hört mal gut zu, ihr zwei. Niemand darf etwas davon erfahren, sonst
werde ich zum Gespött der ganzen Schule. Und Caroline ist jedes Mittel recht, um mich zu blamieren. Ich
will ihn immer noch, und ich werde ihn auch kriegen. Keine Ahnung, wie, aber ich werd's schaffen. Bis ich
einen neuen Plan habe, zeigen wir ihm erst mal die kalte Schulter.“
„Oh, tun wir das?“
„Ja, das tun wir! Du kannst ihn nicht haben, Bonnie. Er gehört mir. Und ich muß euch total vertrauen
können.“
„Warte mal eine Minute“, unterbrach Meredith mit einem Glitzern in den Augen. Sie machte die verzierte
Brosche von ihrer Bluse los, hielt den Daumen hoch und stach schnell zu. „Bonnie, darf ich um deine Hand
bitten?“
„Warum?“ Bonnie musterte die scharte Nadel der Brosche mißtrauisch.
„Weil ich dich heiraten will. Warum sonst wohl, du Idiotin?“
„Aber... aber. Okay, ist schon gut. Aua!“
„Jetzt du, Elena.“ Rasch stach Meredith in Elenas Daumen, dann preßte sie ihn zusammen, um einen
Tropfen Blut zu bekommen. „Jetzt“, fuhr sie fort und sah die beiden Mädchen mit leuchtenden dunklen
Augen an, „pressen wir unsere Daumen zusammen und schwören. Das gilt besonders für dich, Bonnie. Wir
schwören, daß wir dieses Geheimnis bewahren und alles tun werden, was Elena in bezug auf Stefan von uns
verlangt.“
„Mit Blut zu schwören ist gefährlich“, protestierte Bonnie ernst. „Es bedeutet, daß du zu deinem Eid stehen
mußt, egal, was auch passiert, Meredith.“
„Ich weiß. Deshalb sollst du's ja auch machen. Ich kann mich gut erinnern, wie das damals mit Michael
Martin war.“
Bonnie zog eine Flunsch. „Die ollen Kamellen. Das ist schon Jahre her und überhaupt. Ach, was soll's.
Okay, ich bin dabei.“ Sie schloß die Augen und sagte:“ Ich schwöre, dieses Geheimnis zu bewahren und
alles zu tun, was Elena in bezug auf Stefan von uns verlangt.“
Meredith wiederholte den Eid. Elena starrte auf die zusammengepreßten Daumen, die sich blaß aus der
Dämmerung abhoben, holte tief Luft und sagte leise: „Und ich schwöre, daß ich nicht ruhen werde, bis er
mir gehört.“
Ein eiskalter Windstoß blies bei diesen Worten über den Friedhof. Er ließ die Haare der Mädchen flattern
und wirbelte das trockene Laub vom Boden hoch. Bonnie stieß einen leisen Schrei aus und zog ruckartig
ihre Hand zurück. Die drei sahen sich mißtrauisch um und kicherten dann nervös.
„Es ist schon dunkel“, meinte Elena überrascht.
„Wir machen uns besser auf den Heimweg.“ Meredith befestigte die Brosche wieder an ihrer Bluse,
während sie aufstand. Bonnie erhob sich ebenfalls und steckte den Daumen in den Mund.
„Auf Wiedersehen“, sagte Elena leise, zum Grabstein gewandt. Die Wildblumen auf dem Grab waren nur
noch undeutlich zu erkennen. Sie hob das apricotfarbene Haarband auf, das daneben lag, drehte sich um und
nickte Bonnie und Meredith zu. „Okay, machen wir uns auf den Weg.“
Schweigend gingen sie den Hügel hoch auf die Kirchenruine zu. Der Eid, den sie mit Blut besiegelt hatten,
hatte bei ihnen allen ein merkwürdig düsteres Gefühl hinterlassen. Als sie an der Kirche ankamen,
erschauderte Bonnie unwillkürlich. Da die Sonne untergegangen war, war es plötzlich sehr kalt geworden.
Ein schneidender Wind war aufgekommen. Jede Böe fuhr wie ein Peitschenschlag durch das hohe Gras und
wirbelte das trockene Laub der Eichen durcheinander.
„Ich friere.“ Elena blieb einen Moment stehen und schaute durch das schwarze Loch, das einmal die
Kirchentür gewesen war, auf die Landschaft unter ihnen.
Der Mond war noch nicht aufgegangen. Sie konnte den alten Friedhof und die Wickery-Brücke dahinter
gerade noch erkennen. Seine Grabstätten stammten aus der Zeit des Bürgerkriegs, und viele Grabsteine
trugen die Namen von gefallenen Soldaten. Das Land dort war verwildert. Dornige Sträucher und hohes
Gras wuchsen auf den Gräbern. Giftiger Efeu rankte sich um die zerfallenen Grabsteine. Elena hatte den Ort
nie gemocht.
„Er sieht anders aus, findet ihr nicht? Im Dunkeln, meine ich“, fügte sie unsicher hinzu. Sie wußte nicht, wie
sie ihre wirklichen Gefühle ausdrücken sollte. Nämlich, daß das kein Platz war, an dem Lebende verweilen
sollten.
„Wir können einen Umweg machen“, schlug Meredith vor. „Aber das bedeutet zwanzig Minuten mehr
Fußmarsch.“
„Meinetwegen müssen wir das nicht machen.“ Trotzdem schluckte Bonnie nervös. „Ich wollte immer schon
auf dem alten Teil des Friedhofs beerdigt werden.“
„Hör endlich auf, andauernd von Tod und Beerdigungen zu reden!“ fuhr Elena sie an, während sie ohne
weiteres Zögern losging. Doch je weiter sie den schmalen Pfad hinunterging, desto mehr verstärkte sich ihr
unbehagliches Gefühl. Sie verlangsamte ihr Tempo, bis Bonnie und Meredith sie eingeholt hatten. Als sie
sich dem ersten Grabstein näherten, begann ihr Herz wie wild zu klopfen. Sie versuchte, nicht darauf zu
achten, aber ihre Haut prickelte vor Anspannung, und die feinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf.
Jedes Geräusch zwischen den Windböen erschien ihr unnatürlich laut. Das Knirschen ihrer Schritte auf dem
laubbedeckten Weg war geradezu ohrenbetäubend.
Die alte Kirche war jetzt nur noch ein schwarzer Schatten hinter ihnen. Der schmale Pfad führte an mit
Flechten bedeckten Grabsteinen vorbei, von denen viele größer waren als Meredith. Die sind riesig genug,
daß sich jemand dahinter verstecken kann, dachte Elena ängstlich. Einige der Steine waren an sich schon
furchteinflößend genug. Der Puttenengel zum Beispiel, der wie ein richtiges Baby aussah, nur, daß man
seinen abgeschlagenen Kopf sorgsam neben den Körper gelegt hatte.
Die weitaufgerissenen Augen in dem kindlichen Gesicht starrten blicklos vor sich hin. Elena konnte sich
nicht von dem Anblick losreißen, und ihr Herz begann wie wild zu klopfen.
„Warum halten wir an?“ fragte Meredith.
„Es ist... tut mir leid“, flüsterte Elena, doch als sie sich zwang, sich von dem Grab wegzudrehen, erstarrte
sie. „Bonnie?“ rief sie. „Bonnie, was ist los?“
Bonnie schaute über den Friedhof. Ihre Augen waren so leer wie die des kleinen Engels aus Stein. Angst
kroch in Elena hoch. „Bonnie, hör auf! Hör auf! Das ist nicht mehr lustig!“
Bonnie antwortete nicht.
„Bonnie!“ rief auch Meredith. Sie und Elena sahen sich an, und plötzlich wußte Elena, daß sie weg mußte.
Sie begann, den Pfad weiter entlangzulaufen, als plötzlich hinter ihr eine fremde Stimme ertönte.
Erschrocken fuhr sie herum.
„Elena“, sagte die Stimme. Sie gehörte nicht Bonnie, doch sie kam aus ihrem Mund. Bonnie starrte weiter
über den Friedhof. Ihr Gesicht, das schneeweiß in der Dämmerung leuchtete, war völlig ausdruckslos.
„Elena“, ertönte es wieder. Bonnies Kopf drehte sich in ihre Richtung, und das Fremde, das aus ihr sprach,
fuhr fort: „Es wartet da draußen jemand auf dich.“
Elena sollte nie erfahren, was in den nächsten Minuten wirklich geschah. Es schien etwas aus dem Gewirr
der schwarzen, unförmigen Grabsteine auf sie zuzukommen. Es hob und senkte sich zwischen ihnen. Elena
und Meredith schrien gleichzeitig auf und rannten los. Und plötzlich war auch Bonnie wieder sie selbst. Sie
schrie ebenfalls und floh mit ihnen.
Elena raste den schmalen Pfad entlang. Hier und da stolperte sie über Steine und Grasbüschel. Fast
schluchzend kämpfte Bonnie hinter ihr um Atem. Selbst die coole Meredith schnappte hektisch nach Luft.
Plötzlich hörten sie ein wildes Flügelschlagen in der Eiche über ihnen, gefolgt von einem lauten, rauhen
Krächzen, und Elena merkte, daß sie noch schneller rennen konnte.
„Etwas ist hinter uns“, rief Bonnie schrill. „Oh, Gott, was passiert mit uns?“
„Zur Brücke“, keuchte Elena. Ihre Lungen fühlten sich an wie Feuer. Sie wußte nicht, warum, aber sie
spürte, daß sie es dorthin schaffen mußten. „Bleib nicht stehen, Bonnie. Schau dich nicht um.“ Sie packte
die Freundin am Ärmel und zog sie mit sich.
„Ich kann nicht mehr.“ Bonnies Tempo wurde langsamer.
„Oh, doch, du kannst“, entgegnete Elena scharf, verstärkte ihren Griff und schleppte Bonnie hinter sich her.
„Komm schon! Komm, komm, komm!“
Sie sah als erste das silberne Glitzern des Wassers. Und da war die Lichtung zwischen den Eichen und die
Brücke gleich dahinter. Elenas Beine fühlten sich an wie Gummi, und ihr Atem ging pfeifend, aber sie
wollte auf keinen Fall zurückfallen. Jetzt konnte sie die hölzernen Planken des Fußwegs über den Fluß
erkennen. Die Brücke war zwanzig Meter weg, zehn, fünf.
„Wir haben's geschafft“, keuchte Meredith, als ihre Füße das Holz berührten.
„Nicht stehenbleiben! Auf die andere Seite!“
Die alte Brücke knarrte, als sie hinüberrannten. Ihre Schritte hallten unheimlich auf dem Wasser wider. Erst
als Elena auf dem lehmigen Pfad auf der anderen Seite angekommen war, ließ sie Bonnies Ärmel los und
blieb halb stolpernd vor Schwäche stehen.
Meredith beugte sich nach vorn, die Hände auf die Schenkel gestützt, und atmete tief ein und aus. Bonnie
weinte.
„Was war das? Um Himmels willen, was war das?“ wiederholte sie. „Kommt es immer noch hinter uns
her?“
„Ich dachte, du wärst die Expertin“, sagte Meredith mit unsicherer Stimme. „Mensch, Elena. Schauen wir,
daß wir so schnell wie möglich hier wegkommen.“
„Nein, jetzt ist alles wieder in Ordnung“, flüsterte Elena. Auch in ihren Augen standen Tränen, und sie
zitterte am ganzen Körper. Aber der heiße Atem, den sie in ihrem Nacken gespürt hatte, war verschwunden.
Der Fluß erstreckte sich zwischen ihr und dem geheimnisvollen Wesen. Seine dunklen Wasser waren
aufgewühlt. „Es kann uns nicht hierher folgen.“
Meredith starrte erst sie an, dann die andere Seite mit den dicht stehenden Eichen und schließlich Bonnie.
Sie benetzte sich die Lippen und lachte kurz auf. „Klar. Es kann uns hierher nicht folgen. Aber laßt uns
trotzdem nach Hause gehen, okay? Es sei denn, ihr zwei wollt die Nacht hier draußen verbringen.“
Elena überlief ein unerklärlicher Schauder. „Nein, danke.“ Sie legte den Arm um Bonnie, die immer noch
leise schniefte. „Es ist alles wieder gut, Bonnie. Wir sind jetzt in Sicherheit. Komm mit.“
Merediths Blick schweifte wieder zur anderen Seite des Flusses. „Ich sehe da drüben gar nichts“, sagte sie,
ruhiger geworden. „Vielleicht sind wir überhaupt nicht verfolgt worden und nur in Panik geraten, weil wir
uns selbst bange gemacht haben. Zugegebenermaßen mit ein bißchen Hilfe unserer Druidenpriesterin hier.“
Elena schwieg, als sie eng beieinander den Lehmpfad hinuntergingen. Aber sie machte sich so ihre
Gedanken.
5. KAPITEL Der Vollmond stand direkt über der kleinen Pension, als Stefan nach Hause kam. Er fühlte sich aufgekratzt und schwindlig, fast taumelte er, sowohl vor Müdigkeit als auch vor Übersättigung von dem Blut, das er getrunken hatte. Es war schon lange her, daß er sich erlaubt hatte, soviel Nahrung zu sich zu nehmen. Aber der Ausbruch der rohen Urgewalt auf dem Friedhof hatte ihn in Raserei versetzt und die ohnehin schon geschwächte Kontrolle über seinen Hunger mit einem Schlag zerstört. Er war sich immer noch nicht sicher, wie diese mysteriöse Kraft so plötzlich entstanden war. Aus den Schatten heraus hatte er die drei Mädchen beobachtet, als plötzlich hinter ihm die Luft förmlich explodiert war und die Mädchen in wilder Panik flohen. Er war hin- und hergerissen zwischen seiner Angst, sie könnten sich kopflos in den Fluß stürzen, und dem Verlangen, sein übersinnliches Talent zu nutzen, um den Ursprung des elementaren Ausbruchs festzustellen: Am Ende war er diesem Mädchen gefolgt. Er konnte nicht zulassen, daß ihr etwas geschah. Ein schwarzer Schatten war auf den Wald zugeflogen, als die Mädchen die rettende Brücke erreicht hatten. Aber selbst Stefans empfindliches Nachtgespür hatte nicht feststellen können, was es war. Er hatte zugeschaut, wie sie und die beiden anderen in Richtung Stadt gegangen waren. Dann erst war er zum Friedhof zurückgekehrt. Der Ort lag jetzt einsam und verlassen im Mondlicht da, frei von dem, was immer auch vorher dort gewesen war. Auf dem Boden fand Stefan ein Stückchen Seide, das für normale Augen in der Dunkelheit grau ausgesehen hätte. Aber er erkannte die echte Farbe, und als er es langsam an seine Lippen hob, konnte er den Duft ihrer Haare riechen. Die Erinnerung überwältigte ihn fast. Es war schlimm genug. wenn sie nicht da war, wenn die kühle Aura ihres Geistes sich nur neckend am Rand seines Unterbewußtseins aufhielt. Aber in der Schule im selben Raum mit ihr zu sitzen, sich ihrer Anwesenheit in jeder Sekunde bewußt zu sein, den Duft ihrer Haut zu riechen, das war fast mehr, als er ertragen konnte. Er dachte zurück an den vergangenen Tag . Stefan hörte jeden leisen Atemzug, den sie machte, fühlte ihre Wärme in seinem Rücken, spürte jedes Klopfen ihres Pulses. Und schließlich, über sich selbst entsetzt, merkte er, wie er nachgab. Seine Zunge fuhr
über die scharfen Zähne, er genoß den bittersüßen Schmerz, der langsam größer wurde, und fachte das Feuer noch an. Nach und nach ließ er zu, daß die Bilder kamen. Er stellte sich vor, wie es wohl sein würde... wie er ihren weichen Nacken erst sanft mit kleinen Küssen bedeckte. Hier und da bis hinunter zu der verlockenden Grube ihres Halses. Er liebkoste sie zärtlich dort, wo er unter ihrer zarten Haut den Schlag ihres Herzens auf seinen Lippen spürte. Bis sich sein Mund endlich öffnete und seine Zähne, jetzt scharf wie kleine Dolche, sich... Nein! Mit einem Schlag holte er sich aus seiner Trance. Sein Puls raste, und er zitterte am ganzen Körper. Die Unterrichtsstunde war zu Ende. Alle um ihn herum sprangen auf. Er konnte nur hoffen, daß ihn niemand genauer beobachtet hatte. Als sie ihn angesprochen hatte, während das Feuer noch wie wild in seinen Adern raste, prickelten seine Zähne vor ungestilltem Verlangen. Er hatte große Angst gehabt, die Beherrschung zu verlieren, sie an den Schultern zu packen und seinen speziellen Hunger nach ihr vor aller Augen zu befriedigen. Wie er schließlich entkommen war, wußte er nachher nicht mehr. Erst als er einige Zeit später seine ganze Willenskraft in das eiserne Footballtraining gesteckt hatte, wurde ihm verschwommen bewußt, daß er seine speziellen Kräfte hier auf keinen Fall benutzen durfte. Es war im Grunde egal. Auch so war er den menschlichen Jungen überlegen, die mit ihm auf dem Footballfeld trainierten. Sein Auge war schärfer, seine Reflexe schneller, und seine Muskeln waren stärker. Plötzlich hatte er einen Klaps auf dem Rücken gespürt, und Matts Stimme klang in seinen Ohren. „Herzlichen Glückwunsch! Willkommen im Team!“ Als Stefan in Matts offenes, ehrliches Gesicht blickte, schämte er sich sehr. Du würdest mich nicht anlächeln, wenn du wüßtest, was ich bin, dachte er bitter. Ich habe deinen Wettbewerb durch Betrug gewonnen. Und das Mädchen, das du liebst - du liebst sie doch, oder? - ist ständig in meinen Gedanken. Auch jetzt. Und trotz aller Bemühungen an diesem Nachmittag konnte er sie nicht vergessen. Er war blindlings zum Friedhof gewandert, zu den Wäldern hingezogen von einer Kraft, die er nicht verstand. Einmal dort, hatte er sie beobachtet, hatte sich selbst bekämpft und sein immer größer werdendes Verlangen, bis der gewaltige Ausbruch der fremden Kraft die Mädchen in die Flucht getrieben hatte. Danach war er nach Hause gegangen. Aber erst, nachdem er sich gesättigt und dabei die Kontrolle über sich verloren hatte. Er konnte sich nicht daran erinnern, was passiert war oder wie er es geschehen lassen konnte. Die fremde Kraft hatte es angefacht, sie hatte Dinge in ihm geweckt, die besser weiter geschlafen hätten. Den Jagdtrieb, die Lust, das Wild zu verfolgen, den Geruch seiner Angst zu spüren und den wilden Triumph beim Töten der Beute. Es war Jahre, nein Jahrhunderte her, daß dieses Verlangen ihn mit solcher Macht überfallen hatte. In seinen Adern raste das Feuer. Alle Vernunft war wie ausgelöscht. Er konnte an nichts anderes mehr denken als an den heißen, metallischen Geschmack, das Pulsieren der Lebenskraft unter seinen Lippen, an Blut. Völlig aufgewühlt war er den Mädchen in ein oder zwei Schritten Entfernung gefolgt. Was hätte passieren können, wenn er nicht die Witterung des alten Mannes unter der Brücke aufgenommen hätte, daran dachte er besser nicht. Als er das Ende der Holzplanken erreicht hatte, bebten seine Nasenflügel. Ein Mensch! Menschliches Blut. Die beste Nahrung für ihn, verboten und verlockend zugleich. Berauschender als jeder Alkohol, der Inbegriff der Lebenskraft. Und er war so müde, gegen sein Verlangen anzukämpfen. Unter der Brücke lag ein Haufen Stoffetzen, in dem sich etwas bewegte. Im nächsten Moment war Stefan geschmeidig wie eine Katze daneben gelandet. Er streckte die Hand aus, schob die Lumpen zur Seite und sah in ein verwittertes, ihn anblinzelndes Gesicht über einem faltigen Nacken. Stefan entblößte die Zähne. Und dann hatte es kein Geräusch mehr gegeben als sein hastiges Trinken. Jetzt, als er die Treppe zur Pension hochstolperte, versuchte er nicht mehr daran zu denken - und auch nicht mehr an sie. An das Mädchen, das ihn mit seiner Wärme, seiner Sinnlichkeit so in Versuchung führte. Sie war es gewesen, die er in Wirklichkeit begehrt hatte. Aber er mußte dem ein Ende setzen. In Zukunft mußte er solche Gedanken im Keim ersticken. Ihr zuliebe und auch seiner selbst zuliebe. Er war das Schlimmste, was ihr zustoßen konnte, und sie wußte es nicht einmal. „Wer ist da? Bist du das, mein Junge?“ rief eine brüchige Stimme. Eine der Türen auf dem zweiten Stock öffnete sich, und eine grauhaarige Frau schaute heraus. „Ja, Signora. Ich meine, Mrs. Flowers. Es tut mir leid, daß ich Sie gestört habe.“
„Ach, was. Es braucht mehr als nur ein knarrendes Dielenbrett, um mich zu stören. Hast du die Tür hinter
dir abgeschlossen?“
„Ja, Signora. Sie... Sie sind hier im Haus völlig sicher.“
„Das ist gut. Sicherheit ist wichtig. Wer weiß, was sich alles so in Wäldern herumtreibt, nicht wahr?“
Stefan musterte das lächelnde Gesicht, das von feinen grauen Haarsträhnen umgeben war. Flinke, wache
Augen musterten ihn. Verbarg sich ein Geheimnis in ihnen?
„Gute Nacht, Signora.“
„Gute Nacht, mein Junge.“ Sie schloß ihre Tür.
In seinem eigenen Zimmer ließ Stefan sich aufs Bett fallen und starrte auf die schräge Decke.
Meistens schlief er bei Nacht sehr schlecht, es war nicht seine gewohnte Zeit zu ruhen. Aber heute war er
erschöpft. Es kostete soviel Kraft, sich immer aufs neue dem Sonnenlicht zu stellen, und das üppige Mahl
machte ihn zusätzlich müde. Obwohl er die Augen offen hatte, sah er die weißgekalkte Decke über sich
schon bald nicht mehr.
Erinnerungsfetzen kamen ihm wahllos ins Gedächtnis. Katherine, wunderschön, an jenem Abend beim
Springbrunnen. Das Mondlicht schimmerte in ihrem hellgoldenen Haar. Er war so stolz gewesen, bei ihr zu
sitzen und derjenige zu sein, der ihr Geheimnis teilte...
„Kannst du denn überhaupt im Sonnenlicht ausgehen?“
„Doch, solange ich dies hier trage.“ Sie hielt ihre schmale, weiße Hand hoch, und der Mond beschien den
Lapislazuliring, den sie trug. „Aber die Sonne ermüdet mich sehr. Ich bin nie besonders kräftig gewesen.“
Stefan musterte sie, ihre zarten Gesichtszüge und den zierlichen Körper. Sie wirkte fast so unwirklich, als
sei sie aus gesponnenem Glas. Nein, sie war nie stark gewesen.
„Als Kind war ich oft krank“, fuhr sie leise fort, den Blick auf das Wasserspiel des Springbrunnens
gerichtet. „Das letzte Mal hat der Arzt schließlich gesagt, daß ich sterben werde. Ich erinnere mich daran,
wie Papa geweint hat und wie ich in dem großen Bett lag, zu matt, um mich zu bewegen. Sogar das Atmen
bereitete mir große Mühe. Ich war traurig, daß ich diese Welt verlassen mußte, und mir war kalt, schrecklich
kalt.“ Sie erschauderte und lächelte dann.
„Aber was ist geschehen?“
„Ich wachte mitten in der Nacht auf. Gudren, meine Magd, stand über mich gebeugt am Bett. Sie trat zur
Seite, und ich sah den Mann, den sie mitgebracht hatte. Ich hatte Angst. Sein Name war Klaus. Die Leute im
Dorf hielten ihn für böse und fürchteten ihn. Ich rief nach Gudren, sie solle mich beschützen, aber sie rührte
sich nicht und beobachtete nur alles. Als er seinen Mund auf meinen Hals legte, glaubte ich, er würde mich
töten. „
Sie hielt inne. Stefan betrachtete sie mit einer Mischung aus Entsetzen und Mitleid. Sie lächelte ihn tröstend
an. „Eigentlich war es gar nicht so schrecklich. Zuerst hat es ein bißchen weh getan, aber das verging schnell
wieder. Und dann war das Gefühl sogar richtig schön. Er gab mir sein eigenes Blut zu trinken, und ich fühlte
mich stark, wie schon seit Monaten nicht mehr. Gemeinsam warteten wir auf die Morgendämmerung. Als
der Arzt kam, konnte er kaum glauben, daß ich mich aufsetzen und sprechen konnte. Papa hielt es für ein
Wunder, und er weinte wieder. Diesmal vor Glück.“ Ihre Miene verdüsterte sich. „Ich werde Papa bald
verlassen müssen. Eines Tages wird er merken, daß ich seit der Krankheit keine Stunde älter geworden bin.“
„Und du wirst auch nie altem?“
„Nein. Das ist das Wunderbare daran, Stefan!“ Sie schaute voll kindlicher Freude zu ihm hoch: „Ich werde
niemals alt werden, und ich werde niemals sterben. Kannst du dir das vorstellen?“
Er konnte sie sich sowieso nicht anders vorstellen als in diesem Augenblick. So lieblich, so unschuldig, so
perfekt. „Aber hat dir das anfangs keine Angst gemacht?“
„Ein wenig. Gudren hat mir gezeigt, was zu tun ist. Sie hat mir geraten, diesen Ring machen zu lassen, mit
dem Edelstein, der mich vor der Sonne schützt. Während ich im Bett lag, brachte sie mir reichhaltige Brühe,
später dann kleine Tiere, die ihr Sohn für mich fing.“
„Keine... Menschen?“
Katherine lachte. „Natürlich nicht. Alles, was ich in einer Nacht brauche, kann ich von einer Taube
bekommen. Gudren sagte zwar, wenn ich richtig gesund und kräftig werden wollte, müßte ich menschliches
Blut trinken, denn der Lebenssaft der Menschen wirkt am stärksten. Und Klaus hat mich auch dazu ge
drängt. Er möchte, daß wir noch einmal unser Blut austauschen. Aber ich habe Gudren erklärt, daß ich so
zufrieden bin. Und was Klaus angeht...“
Sie hielt inne und senkte die Lider. Ihre dichten Wimpern warfen dunkle Schatten auf ihre Wangen. Als sie
fortfuhr, war ihre Stimme ganz leise. „Ich glaube nicht, daß das eine Sache ist, die man leichtfertig tun
sollte. Ich werde erst wieder menschliches Blut trinken, wenn ich meinen Gefährten gefunden habe. Denje
nigen, der bis in alle Ewigkeit an meiner Seite sein wird.“ Sie sah ihn ernst an.
Stefan lächelte. Er fühlte sich plötzlich wie beschwipst und platzte fast vor Stolz. Er konnte kaum verbergen,
wie glücklich er sich in diesem Moment fühlte.
Aber das war gewesen, bevor sein Bruder von der Universität zurückgekehrt war. Bevor Damon in
Katherines tiefblaue Augen geblickt hatte.
In seinem Bett in dem kleinen Zimmer stöhnte Stefan auf. Dann zog ihn die Dunkelheit weiter hinab, und
neue Bilder erschienen vor ihm.
Es waren verstreute Szenen aus der Vergangenheit, die in keiner Verbindung zueinander standen. Er sah sie
kurz aufleuchten, wie eine Landschaft, die von einem grellen Blitz erhellt wird und dann wieder in der
Schwärze der Nacht verschwindet.
Damons Gesicht, verzerrt vor ungeheurer Wut. Katherines blaue Augen, wie sie leuchteten, während sie mit
einer kleinen Pirouette ihr neues, weißes Kleid vorführte. Ein Schimmer von Weiß hinter dem
Zitronenbaum. Das kalte Gefühl des Schwertes in Stefans Hand. Giuseppes Stimme, die von weit her etwas
rief. Er durfte nicht hinter den Zitronenbaum gehen. Wieder sah er Damons Gesicht, aber diesmal lachte sein
Bruder wie wild. Lachte und lachte, ein Geräusch wie zersplitterndes Glas. Und der Zitronenbaum rückte
immer näher...
„Damon, Katherine, nein!“
Stefan fuhr aus dem Bett hoch. Mit zitternden Hände strich er sich durchs Haar und versuchte, wieder ruhig
zu atmen.
Ein schrecklicher Traum. Es war lange her, seit ihn diese Alpträume zum letzten Mal gequält hatten, lange
her, seit er überhaupt etwas geträumt hatte. In seinem Kopf spielten sich die letzten Sekunden immer wieder
ab. Er sah den Zitronenbaum und hörte das Lachen seines Bruders.
Das nachhallende Echo war fast zu wirklich. Plötzlich stand Stefan am offenen Fenster, ohne sich bewußt zu
sein, daß er sich überhaupt bewegt hatte. Er spürte die kühle Nachtluft auf seinen Wangen und sah hinaus in
die silbrige Schwärze der Nacht.
„Damon?“ Er schickte seine telepathischen Kräfte suchend aus. Dann fiel er in völlige Regungslosigkeit und
lauschte. Alle seine Sinne waren angespannt.
Stefan fühlte nicht einmal einen Funken Antwort: Nahe am Fenster stiegen zwei Nachtvögel in die Luft. In
der Stadt schliefen die meisten Menschen. In den Wäldern gingen die Nachttiere auf ihre heimliche Jagd.
Er seufzte und wandte sich vom Fenster ab. Vielleicht hatte er sich bei dem Lachen genauso geirrt wie bei
der Bedrohung, die er auf dem Friedhof gespürt hatte. Fell's Church lag ruhig und friedlich da. Er sollte
versuchen, es der Stadt gleichzutun. Denn er brauchte dringend Schlaf.
5. September (besser 6. September, ungefähr 1 Uhr nachts)
Liebes Tagebuch,
ich müßte eigentlich gleich zurück ins Bett gehen. Vor ein paar Minuten bin ich aufgewacht, weil ich
glaubte, ein Rufen zu hören. Aber jetzt ist das Haus ganz still. Wahrscheinlich bin ich nur mit den Nerven
total fertig, weil heute abend so viele merkwürdige Dinge geschehen sind.
Jedenfalls fiel mir beim Aufwachen ein, was ich wegen Stefan unternehmen werde. Der ganze Ablauf stand
mir plötzlich glasklar vor Augen. Plan B, Teil 1 beginnt morgen.
Frances' Augen funkelten, und ihre Wangen waren vor Aufregung ganz rot, als sie sich den drei Mädchen
am Tisch näherte.
„Oh, Elena! Das mußt du erfahren!“
Elena lächelte sie an. Höflich, aber nicht zu vertraulich. Frances senkte den Kopf. „Ich meine... darf ich
mich zu euch setzen? Ich hab gerade 'ne wilde Story über Stefan Salvatore gehört.“
„Bitte“, sagte Elena cool mit einer einladenden Handbewegung. „Aber“, fügte sie hinzu und bestrich ihr
Brötchen mit Butter, „an deinen Neuigkeiten sind wir nicht interessiert.“
„Ihr seid nicht...?“ Frances fielen fast die Augen aus dem Kopf. Sie blickte erst zu Meredith, dann zu
Bonnie. „Ihr macht Witze, stimmt's?“
„Keinesfalls.“ Meredith spießte eine grüne Bohne auf ihre Gabel und betrachtete sie nachdenklich. „Wir
beschäftigen uns heute lieber mit anderen Sachen.“
„Genau“, stimmte Bonnie zu, nachdem sie vorher heftig zusammengezuckt war. „Stefan Salvatore ist doch
Schnee von gestern. Total out. Mega out.“ Sie beugte sich hinunter und rieb sich den Knöchel.
Frances sah Elena bittend an. „Aber ich dachte, du wolltest alles über Ihn wissen?“
„Reines Pflichtgefühl“, erwiderte Elena gleichgültig. „Schließlich Ist er ein Fremder, und ich wollte ihn
lediglich in Fell's Church willkommen heißen. Natürlich bleibe ich nur Jean-Claude treu.“
„Jean-Claude?“
„Ach, Jean-Claude.“ Meredith verdrehte die Augen und seufzte innig.
„Ja, Jean-Claude“, wiederholte Bonnie brav.
Vorsichtig zog Elena mit Daumen und Zeigefinger ein Photo aus Ihrer Tasche. „Hier steht er vor dem
Häuschen, in dem wir gewohnt haben. Das war direkt, nachdem er mir eine Blume gepflückt und gesagt
hatte... nun.“ Sie lächelte geheimnisvoll „Das sollte ich wirklich nicht wiederholen.“
Frances starrte auf das Photo. Es zeigte einen jungen, braungebrannten Mann vor einem Hibiskusbusch. Er
trug kein Hemd und lächelte schüchtern in die Kamera. „Er ist älter, nicht wahr?“ sagte sie mit Respekt.
„Einundzwanzig. Natürlich...“ Elena schaute über ihre Schulter. „... wäre meine Tante strikt gegen eine
solche Verbindung.
Deshalb schreiben wir uns nur heimlich, bis ich meine Abschlußprüfung habe.“
„Wie romantisch“, flüsterte Frances. „Von mir erfährt keiner ein Sterbenswort, das schwöre ich dir. Aber die
Sache mit Stefan...“
Elena lächelte sie überlegen an. „Also, was europäische Spezialitäten angeht, geht nichts über die
französische und die italienische... Küche. Was meinst du, Meredith?“
„Aber klar doch. Da kommt nichts ran. In jeder Hinsicht.“ Meredith und Elena zwinkerten einander
verschwörerisch zu und wandten sich an Frances. „Findest du nicht auch?“
„Ja, aber sicher“, stotterte Frances hastig. Sie nickte mehrere Male, bevor sie einen schnellen Abgang
machte.
Als sie weg war, klagte Bonnie: „Das bringt mich noch um, Elena. Ich werde sterben, wenn ich nicht den
neuesten Klatsch über Stefan höre.“
„Wenn's weiter nichts ist. Damit kann ich dir helfen“, erwiderte Elena ruhig. „Sie wollte uns erzählen, daß
Stefan Salvatore drogensüchtig ist.“
„Was!“ schrie Bonnie und brach einen Moment später in Gelächter aus. „Aber das ist doch totaler Quatsch.
Welcher Junkie kann sich solch teure Klamotten leisten? Oder trägt andauernd 'ne Sonnenbrille? Ich meine,
er hat doch alles getan, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken...“ Sie hielt inne. Plötzlich weiteten sich
ihre braunen Augen. „Aber vielleicht ist das alles nur Mittel zum Zweck. Wer würde jemanden
verdächtigen, der sich so auffällig benimmt? Er lebt allein, tut schrecklich geheimnisvoll... Elena! Wenn das
nun stimmt?“
„Er ist kein Junkie“, beruhigte sie Meredith.
„Woher willst du das wissen?“
„Weil ich das Gerücht in die Welt gesetzt habe.“ Als sie Bonnies entsetztes Gesicht sah, lächelte sie und
fügte hinzu: „Auf Elenas ausdrücklichen Wunsch hin.“
„Oh.“ Bonnie schaute Elena bewundernd an. „Du bist eine ganz Schlimme. Darf ich dann allen erzählen,
daß er an einer tödlichen Krankheit leidet?“
„Nein, darfst du nicht. Ich möchte nicht, daß sich alle Mädchen der Schule plötzlich zur Krankenschwester
berufen fühlen und Schlange stehen, um voller Mitleid sein Händchen zu halten. Aber du kannst alles
verbreiten, was dir zum Thema Jean-Claude so einfällt.“
Bonnie hob das Photo auf. „Wer ist das eigentlich in Wirklichkeit?“
„Der Gärtner. Er ist so stolz auf seine Hibiskusbüsche. Außerdem verheiratet und Vater von zwei Kindern.“
„Schade“, meinte Bonnie ernsthaft. „Und du hast Frances schwören lassen, niemandem davon zu erzählen.“
„Genau.“ Elena sah auf ihre Uhr. „Was bedeutet, daß es bis zwei Uhr die ganze Schule weiß.“
Nach der Schule gingen die Mädchen zu Bonnie nach Hause. An der Tür wurden sie von einem schrillen
Kläffen begrüßt. Als Bonnie aufschloß, versuchte ein sehr alter und genauso fetter Pekinese nach draußen zu
flüchten. Sein Name war Yangtze, und er war so verwöhnt, daß ihn niemand außer Bonnies Mutter leiden
konnte.
Das Wohnzimmer war dunkel und vollgestellt mit schweren Möbeln. An den Fenstern hingen schwere
Vorhänge. Bonnies Schwester Mary war schon zu Hause und löste gerade die Schwesternhaube aus ihren
roten Locken. Sie war zwei Jahre älter als Bonnie und arbeitete als Krankenschwester im Fell's-
Church-Krankenhaus.
„Oh, Bonnie. Ich bin froh, daß du zurück bist, Hallo, ihr beiden“ , sagte sie zu Elena und Meredith, die sie
ebenfalls grüßten.
„Was ist los? Du siehst müde aus“, fragte Bonnie.
Mary ließ die Haube auf einen Beistelltisch fallen. Statt zu antworten, stellte sie ebenfalls eine Frage.
„Letzte Nacht, als du so aufgewühlt nach Hause gekommen bist, wo wart ihr Mädels da gewesen?“
„Unten auf dem... bei der Wickery-Brücke.“
„Hab ich's mir doch gedacht.“ Mary holte tief Luft. „Jetzt hör mir mal gut zu, Bonnie McCullough. Du wirst
nie wieder dort hingehen und auf gar keinen Fall allein und während der Dunkelheit. Hast du mich
verstanden?“
„Und warum nicht?“ fragte Bonnie erstaunt.
„Weil gestern abend dort jemand überfallen worden ist, deshalb. Und weißt du, wo man ihn gefunden hat?
Direkt unter der Wickery-Brücke.“
Elena und Meredith starrten sie ungläubig an. Bonnie packte Elena am Arm. „Jemand ist unter der Brücke
überfallen worden? Wer war das? Und was ist passiert?“
„Das weiß ich auch nicht“, erwiderte Mary geduldig. „Heute morgen haben die Friedhofsgärtner ihn dort
gefunden. Es war wahrscheinlich ein Obdachloser, der unter der Brücke geschlafen hat, als der Überfall
stattfand. Er war halbtot, als man ihn bei uns einlieferte, und hat das Bewußtsein bis jetzt noch nicht
wiedererlangt. Kann sein, daß er stirbt.“
Elena schluckte. „Wie hat sich der Überfall abgespielt?“
„Seine Kehle war halb herausgerissen. Er hat eine unglaubliche Menge Blut verloren. Zuerst tippte man auf
ein wildes Tier. Aber Dr. Lowen meint jetzt, der Angreifer muß ein Mensch gewesen sein. Und die Polizei
hält es für wahrscheinlich, daß sich der Täter irgendwo auf dem Friedhof versteckt.“
Mit zusammengepreßten Lippen musterte Mary die Mädchen nacheinander scharf. „Wenn ihr also gestern
abend bei der Brücke oder auf dem Friedhof wart, dann könnte es gut möglich sein, daß sich der Verbrecher
zur gleichen Zeit wie ihr dort aufgehalten hat. Habt ihr verstanden, was ich sagen will?“
„Du brauchst uns nicht noch mehr Angst zu machen“, wehrte Bonnie schwach ab. „Wir haben's kapiert,
Mary.“
„Schön.“ Mary ließ die Schultern sacken und rieb sich müde den Nacken. „Ich werde mich eine Weile
hinlegen. Entschuldigt, ich wollte nicht so barsch sein.“ Sie ging aus dem Zimmer.
Als sie allein waren, sahen die drei Mädchen sich an.
„Es hätte eine von uns erwischen können“, sagte Meredith leise. „Besonders dich, Elena. Du bist allein
dorthin gegangen.“
Elenas Haut prickelte. Es war dasselbe schmerzhafte Gefühl der Wachsamkeit, das sie auf dem alten
Friedhof gespürt hatte.
„Bonnie“, begann sie zögernd. „Hast du da draußen jemanden gesehen? Hast du das damit gemeint, als du
sagtest, daß jemand auf mich wartet?“
In dem dämmrigen Zimmer starrte Bonnie sie verständnislos an. „Wovon redest du? Ich hab das nie im
Leben gesagt.“
„Doch, hast du wohl.“
„Nein. Niemals.“
„Bonnie“, mischte Meredith sich ein. „Wir haben dich beide gehört. Du hast über die alten Grabsteine
hinweggestarrt und dann zu Elena gesagt...
„Ich weiß nicht, was ihr wollt. Und ich hab nichts gesagt!“ Bonnie stampfte wütend mit dem Fuß auf. Aber
in ihren Augen standen Tränen. „Ich möchte nicht mehr darüber reden.“
6. KAPITEL
26. September Liebes Tagebuch, es tut mir leid, daß es so lange her ist, und ich kann wirklich nicht erklären, woran es lag, daß ich nichts eingetragen habe. Vielleicht daran, daß so viele Dinge geschehen sind, über die ich mich fürchte zu reden. Selbst mit dir. Zunächst ist etwas Schreckliches passiert. An dem Tag, an dem Bonnie, Meredith und ich auf dem Friedhof waren, ist dort ein alter Mann angegriffen und fast getötet worden. Die Polizei hat den Täter immer noch nicht gefunden. Die Leute halten den Alten für verrückt, weil er etwas faselt von „Im Dunklen glühenden Augen“, von Eichen, in denen es spukt, und ähnliches. Aber ich erinnere mich, was uns in jener Nacht zugestoßen ist, und ich mache mir so meine Gedanken. Und bekomme Angst. Alle gerieten zuerst in Panik. Die Kids durften nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr nach draußen, und wenn, dann nur in großen Gruppen. Aber das ist nun alles schon drei Wochen her. Es hat keine Überfälle mehr gegeben, und die Aufregung legt sich allmählich. Tante Judith meint, der Täter sei ein anderer Obdachloser gewesen. Tyler Smallwoods Vater hält es für möglich, daß der Alte sich die Verletzungen selbst beigebracht hat. Also, ich würde mal gern sehen, wie sich jemand in die eigene Kehle beißt. Die meiste Zeit war ich jedoch mit Plan B beschäftigt. So weit klappt alles ganz gut. Ich habe mehrere Briefe und einen Strauß roter Rosen von „Jean-Claude“ bekommen. (Der Onkel von Meredith hat einen Blumenladen.) Alle scheinen vergessen zu haben, daß ich mich jemals für Stefan interessiert habe. Meine Position in der Schulhierarchie ist unangefochten. Selbst Caroline hat keinen Ärger mehr gemacht. Im Grunde weiß ich gar nicht, was Caroline dieser Tage so treibt, und es ist mir auch egal. Ich sehe sie nie mehr während der Pause oder nach der Schule. Sie scheint sich von der alten Clique völlig zurückgezogen zu haben. Es gibt nur einen, der mir im Moment wirklich etwas bedeutet: Stefan. Selbst Bonnie und Meredith wissen nicht, wie wichtig er für mich ist. Ich habe Angst, es ihnen zu sagen. Und Angst davor, daß sie mich für verrückt halten. In der Schule bin ich cool und beherrscht. Alles nur Schauspielerei. In mir drinnen sieht es anders aus, und es wird mit jedem Tag schlimmer. Tante Judith beginnt, sich Sorgen um mich zu machen. Sie meint, ich würde nicht genug essen. Damit hat sie recht. Der Unterricht fließt an mir vorbei, ohne daß ich viel davon mitbekomme. Selbst so lustige Sachen, wie Vorbereitungen für das „Spukhaus“ zu treffen, die alljährliche Wohltätigkeitsparty der Schule, machten mir keinen Spaß. Ich kann mich auf nichts mehr konzentrieren. Nur noch auf ihn. Und ich weiß selbst nicht, warum das so ist. Seit unserem ersten Zusammentreffen, das ja für mich in einer Katastrophe endete, hat er nicht mehr mit mir gesprochen. Aber ich muß dir etwas Merkwürdiges erzählen, liebes Tagebuch. Letzte Woche im Geschichtsunterricht sah ich hoch und hab ihn erwischt, wie er mich anschaute. Wir sitzen ein paar Plätze voneinander entfernt. Er hatte sich auf seinem Stuhl ganz umgedreht und blickte mich an. Einen Moment lang fürchtete ich mich fast, und mein Herz begann wie wild zu klopfen. Wir starrten uns nur an. Dann sah er wieder weg. Aber seither ist das zweimal passiert, und jedesmal habe ich seinen Blick gespürt, bevor ich hochschaute. Das ist die Wahrheit und keine Einbildung. Er ist so ganz anders als die Jungs, die ich bisher kennengelernt habe. Irgendwie kommt er mir einsam vor. Er scheint sich jedoch aus freien Stücken abzukapseln. Im Footballteam kommt er sehr gut an, aber er hängt nie mit seinen Kumpels herum, außer vielleicht mit Matt. Matt ist der einzige, mit dem er spricht. Er hat auch keine Freundinnen. Vielleicht liegt das an dem Gerücht, er sei ein Junkie. Aber eigentlich ist es so, daß er andere Menschen mehr meidet, als sie ihn meiden. In den Pausen und nach dem Footballtraining verschwindet er. Ich habe ihn noch nie in der Cafeteria gesehen. Er lädt nie jemanden in sein Zimmer in der kleinen Pension ein. Und nach der Schule trifft man ihn auch nicht im Café. Wie kann ich ihn also irgendwohin locken, wo er mir nicht entkommen kann? Das ist das größte Problem bei Plan B. Bonnie schlägt eine Scheune bei Gewitter vor, wo wir uns aneinanderkuscheln müssen, um nicht zu frieren. Und Meredith meint, mein Auto sollte direkt vor seiner Pension den Geist aufgeben. Aber keine dieser Ideen ist vernünftig, und ich verliere noch den Verstand, weil mir nichts Besseres einfällt.
Mit jedem Tag wird es schlimmer. Meine Nerven sind zum Zerreißen gespannt. Wenn ich nicht bald einen
Ausweg finde, werde ich...
Ich wollte doch tatsächlich schreiben, sterben.
Die Lösung wurde Elena plötzlich und auf dem Silbertablett dargeboten.
Matt tat ihr leid. Sie wußte, wie sehr ihn die ganzen Gerüchte um „Jean-Claude“ verletzen mußten. Seitdem
die Story die Runde durch die Schule gemacht hatte, hatte er kaum mit ihr gesprochen. Mit einem kurzen
Nicken war er meist an ihr vorbeigegangen. Als sie ihn eines Tages vor dem Klassenzimmer auf dem leeren
Schulflur traf, wich er ihrem Blick aus.
„Matt“, begann sie. Sie wollte ihm alles erklären. Sie wollte ihm sagen, daß es nicht ihre Absicht war, ihn zu
verletzen, und daß sie sich deswegen schrecklich fühlte. Aber sie wußte nicht, wo sie beginnen sollte.
Schließlich stieß sie hervor: „Es tut mir leid!“ und drehte sich um, um ins Klassenzimmer zu gehen.
„Elena!“ Matt hielt sie zurück. Erst jetzt sah er sie an. Zumindest streifte sein Blick ihre Lippen und ihre
Haare. Dann schüttelte er den Kopf, als wollte er ausdrücken, daß er bei der ganzen Sache der Dumme war.
„Ist das mit dem Franzosen echt?“ fragte er schließlich.
„Nein“, erwiderte Elena sofort. „Ich hab ihn erfunden, um allen zu zeigen, daß ich nicht gekränkt bin
wegen...“ Sie hielt inne.
„Wegen Stefan. Kapiere.“ Matt nickte ernst. Doch er schien Verständnis zu haben. „Hör zu, Elena. Er hat
dich ziemlich schlimm behandelt. Aber ich glaube nicht, daß er das persönlich gemeint hat. Er ist zu allen
anderen auch so.“
„Außer zu dir.“
„Stimmt nicht ganz. Er redet manchmal mit mir. Aber das sind keine persönlichen Dinge. Er spricht nie von
seiner Familie oder von dem, was er außerhalb der Schule macht. Er hat eine Mauer um sich errichtet, die
auch ich nicht durchdringen kann. Wahrscheinlich wird er niemanden wirklich an sich ranlassen. Das ist
sehr schade, denn ich glaube, daß er sich im Grunde ziemlich elend fühlt.“
Elena dachte darüber nach, fasziniert von diesem Blickpunkt, von dem aus sie Stefan bisher noch nie
betrachtet hatte. Er war ihr immer so cool vorgekommen, so überlegen und durch nichts zu erschüttern. Aber
sie wußte, daß auch sie selbst vielen Leuten so erschien. War es möglich, daß er hinter seiner Maske
genauso verwirrt und unglücklich war wie sie?
Da hatte sie die Idee. Die Lösung war im Grunde ganz einfach. Nichts Kompliziertes wie Gewitterstürme
oder kaputte Autos.
„Matt“, begann sie langsam. „Hältst du es nicht für eine gute Idee, wenn jemand versuchen würde, diese
Mauer zu durchbrechen? Vielleicht müssen wir Stefan nur zu seinem Glück zwingen?“ Sie blickte ihn
eindringlich an.
Er betrachtete sie kurz, dann schloß er einen Moment die Augen und schüttelte ungläubig den Kopf. „Elena,
du bist unglaublich. Du wickelst die Leute um den kleinen Finger, wie's dir gerade paßt, und weißt im
Grunde nicht mal, was du tust. Jetzt willst du doch tatsächlich meine Hilfe, um Stefan zu überrumpeln. Blöd,
wie ich bin, werde ich vermutlich auch noch ja sagen.“
„Du bist nicht blöd, sondern ein Gentleman. Klar, ich möchte dich um einen Gefallen bitten. Allerdings nur,
wenn du die Sache auch in Ordnung findest. Ich möchte weder dich noch Stefan verletzen.“
„Wirklich nicht?“
„Nein! Ich weiß, wie sich das anhören muß, aber es ist wahr. Ich will nur...“ Sie hielt inne. Wie konnte sie
ihm erklären, was sie wollte, wenn sie es nicht einmal selbst richtig wußte?
„Du möchtest nur, daß sich alles um Elena Gilbert dreht“, antwortete er bitter. „Weißt du, was dein Problem
ist? Du willst nur das, was du nicht kriegen kannst.“
Schockiert trat Elena einen Schritt zurück und schaute ihn fassungslos an. Tränen traten ihr in die Augen.
„Nicht“, sagte Matt schnell. „Elena, sieh mich bitte nicht so an. Es tut mir leid.“ Er seufzte. „Okay, was soll
ich tun? Soll ich ihn geknebelt und gefesselt vor deiner Haustür abliefern?“
„Nein.“ Elena kämpfte darum, die Tränen zu unterdrücken. „Ich möchte nur, daß du ihn überredest, zum
Schulball nächste Woche zu kommen.“
Matt war verblüfft. „Er soll zu der Fete kommen, das ist alles?“
Elena nickte.
„Okay. Ich bin ziemlich sicher, daß er da sein wird. Noch was, Elena... es gibt wirklich keine außer dir, mit
der ich hingehen möchte. „
„Gut“, stimmte Elena nach kurzer Überlegung zu. „Und... danke, Matt.“
Matts Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. „Danke mir nicht, Elena. Keine Ursache... wirklich, keine
Ursache.“
Elena blickte Matt verwirrt nach, als er sich umdrehte und den Flur hinunterging.
„Halt still“, schalt Meredith und legte letzte Hand an Elenas Frisur.
„Ich finde, daß beide absolut wunderbar sind“, seufzte Bonnie vom Fenstersitz aus.
„Wer?“ fragte Elena abwesend.
„Als ob du das nicht wüßtest. Die beiden Typen von dir, die gestern bei dem Spiel in letzter Minute das
Wunder vollbracht haben. Als Stefan diesen schwierigen Passierball gefangen hat, wäre ich fast ohnmächtig
geworden. Oder hätte mich übergeben.“
„Bonnie, bitte!“ warnte Meredith.
„Und Matt, wie der sich bewegt... absolut sexy.“
„Keiner von beiden gehört mir“, stellte Elena nüchtern richtig. Unter Merediths geschickten Fingern
verwandelte sich ihr hellblondes, dichtes Haar in ein wahres Kunstwerk. Das Kleid war ebenfalls ideal. Das
helle Violett brachte Elenas dunkelblaue Augen vorteilhaft zur Geltung. Aber selbst sie mußte zugeben, daß
sie blaß und angespannt aussah. Ihr Gesicht war nicht rosig überhaucht in freudiger Erwartung, sondern
bleich und entschlossen wie das eines sehr jungen Soldaten, der in die vordersten Linien geschickt wird.
Gestern, in der Pause des Footballspiels, war die diesjährige Ballkönigin bekanntgegeben worden. Als Elena
ihren Namen aus den Lautsprechern hörte, hatte sie nur ein Gedanke beherrscht: Jetzt konnte er sich nicht
weigern, mit ihr zu tanzen. Wenn er überhaupt kam, konnte er der Ballkönigin schlecht einen Tanz
abschlagen. Und jetzt vor dem Spiegel wiederholte Elena sich das immer wieder.
„Heute abend wird dir keiner widerstehen können“, versuchte Bonnie sie zu beruhigen. „Wenn du Matt
abschiebst, darf ich ihn dann trösten?“
„Und was soll Raymond davon halten?“ fragte Meredith ätzend.
„Och, den kannst du trösten. Aber ehrlich, Elena. Ich mag Matt. Wenn's zwischen dir und Stefan erst mal
gefunkt hat, ist er doch sowieso außen vor. Also...“
„Mach, was du willst. Matt verdient es, daß man sich um ihn kümmert.“ Und ich werde nicht diejenige sein,
dachte Elena. Sie konnte immer noch nicht recht glauben, daß sie ihm das antat. Aber im Moment konnte sie
sich keine Gewissensbisse leisten. Sie brauchte all ihre Kraft und Konzentration.
„Fertig.“ Meredith befestigte die letzte Haarnadel in Elenas Haar. „Achtung, Bühne frei für die Ballkönigin
und ihren Hofstaat. Na, jedenfalls für einen Teil des Hofstaats. Sind wir nicht wunderschön?“
„Du meinst natürlich nur mich mit diesem königlichen ,wir’“, scherzte Elena. Aber Meredith hatte recht. Sie
sahen alle drei super aus. Merediths Kleid aus burgunderfarbenem Satin hatte eine enge Taille und fiel von
der Hüfte aus in Falten bis auf den Boden. Sie trug ihr langes, schwarzes Haar offen. Bonnie sah in ihrem
pinkfarbenen Kleid mit den schwarzen Pailletten zum Anbeißen aus.
Und sie selbst... Elena betrachtete sich kritisch und überlegte. Das Kleid war in Ordnung. Es erinnerte sie an
kristallisierte Veilchen. Ihre Großmutter hatte ein kleines Glas davon besessen. Es waren richtige Blüten, die
in Zucker getaucht und dann gefroren wurden.
Sie gingen gemeinsam nach unten, wie sie das seit der siebten Klasse bei jedem Schulball getan hatten.
Doch in den Jahren zuvor war Caroline bei ihnen gewesen. Leicht überrascht stellte Elena fest, daß sie nicht
einmal wußte, mit wem Caroline heute abend zum Schulball kam.
Tante Judith und Robert, der bald Onkel Robert werden sollte, warteten zusammen mit Margaret im
Wohnzimmer. Die Kleine war schon im Schlafanzug.
„Oh, ihr drei Mädchen seht ja wunderschön aus!“ Tante Judith war so aufgeregt, als würde sie selbst zum
Ball gehen. Sie küßte Elena. Margaret wollte von Elena umarmt werden.
„Du bist hübsch“, sagte sie bewundernd.
Robert musterte Elena ebenfalls. Er blinzelte, öffnete den Mund und schloß ihn wieder.
„Was ist los, Bob?“
„Oh.“ Er blickte rasch zu Judith. Das Ganze schien ihm peinlich zu sein. „Nun, mir ist gerade eingefallen, daß Elena eine andere Version des Namens Helena ist. Und da mußte ich an die schöne Helena aus dem alten Troja denken.“ „Schön und verdammt“, gab Bonnie begeistert ihren Senf dazu. „Wenn man so will“, erwiderte Robert und machte dabei gar keinen glücklichen Eindruck. Es klingelte an der Tür. Matt stand draußen. Er trug seinen gewohnten, blauen Sportmantel. Bei ihm waren Ed Goff, Merediths Freund, und Raymond Hernandez, der mit Bonnie ging. Elena suchte nach Stefan. „Er ist vermutlich schon da.“ Matt hatte ihren Blick aufgefangen. „Hör mal, Elena...“ Aber was immer er sagen wollte, ging im Geplauder der beiden anderen Paare unter. Bonnie und Raymond fuhren in Matts Auto mit und gaben bis zur Schule witzige Bosheiten über alles und jeden von sich. Musik erklang aus den offenen Türen der festlich geschmückten Turnhalle. Beim Aussteigen packte Elena ein merkwürdiges Gefühl, während sie das häßliche Schulgebäude betrachtete. Etwas Entscheidendes würde heute passieren, das wußte sie ganz genau. Nach den friedlichen letzten Wochen schaltete ihr innerer Motor wieder auf Höchststufe. Ich bin bereit, dachte sie. Und hoffte, daß es auch stimmte. Drinnen herrschte reges Treiben. Sie und Matt wurden sofort umringt. Es hagelte Komplimente. Für Elenas Kleid... ihr Haar... ihre Blumen. Und Matt war auf dem besten Weg, ein Held zu werden, der nächste Footballstar der Nation, ein sicherer Kandidat für ein Sportstipendium. In dem schwindelerregenden Durcheinander, das Elena eigentlich gewohnt war, suchte sie nur nach einem... Tyler Smallwood drängte sich an sie. Er roch nach einer Mischung aus Punsch, Eau de Toilette und Pfefferminzkaugummi. Seine Freundin versuchte Elena mit Blicken zu erdolchen. Elena achtete nicht auf Tyler und hoffte, daß er wieder abziehen würde. Mr. Tanner kam vorbei. Er hielt einen durchweichten Pappbecher in der Hand und sah aus, als würde sein Kragen ihn erwürgen. Sue Carson, die zweite Ballkönigin, beglückwünschte Elena zu ihrem violetten Kleid. Bonnie war bereits auf der Tanzfläche. Ihre schwarzen Pailletten glitzerten im Licht. Doch nirgendwo konnte Elena Stefan entdecken. Noch eine Brise Kaugummiatem, und mir wird schlecht, dachte Elena verzweifelt. Sie wedelte mit der Hand, doch Tyler verstand nicht. Endlich stieß Elena Matt an. Sie flohen gemeinsam zum kalten Buffet, wo Trainer Lyman gerade einen Vortrag über das letzte Footballspiel hielt. Wieder kamen Paare und ganze Cliquen zu ihnen, redeten ein paar Minuten mit ihnen und machten dann Platz für die nächsten in der Schlange. Genauso, als ob wir wirklich ein Königspaar wären, dachte Elena und war nahe daran, hysterisch zu lachen. Sie sah Matt an, um festzustellen, ob er das Ganze auch lustig fand, doch er schaute starr nach links. Elena folgte seinem Blick. Dort, halb verborgen hinter ein paar Footballspielern, befand sich die Person, nach der sie den ganzen Abend gesucht hatte. Selbst im dämmrigen Licht war keine Verwechslung möglich. Ein Schauder, so heftig, daß es fast schmerzte, überlief Elena. „Was jetzt?“ fragte Matt ernst. „Soll ich ihn fesseln?“ „Nein. Ich werde ihn um einen Tanz bitten, das ist alles. Wenn du willst, warte ich, bis wir zweimal getanzt haben.“ Er schüttelte den Kopf, und Elena machte sich durch die Menge auf den Weg zu Stefan. Während sie sich ihm näherte, sog sie jede Einzelheit an ihm in sich auf. Sein schwarzer Blazer war eine Spur eleganter geschnitten als die der anderen Jungs, und er trug darunter einen weißen Cashmere-Pulli. Er stand ganz still da und hielt ein wenig Abstand von der Gruppe um ihn herum. Obwohl Elena ihn nur im Profil sehen konnte, erkannte sie, daß er keine Sonnenbrille trug. Natürlich nahm er die Sonnenbrille auch zum Footballspielen ab, aber sie hatte ihn noch nie aus der Nähe ohne gesehen. Das versetzte sie in eine freudige Erregung. Sie kam sich vor wie beim Kostümball um Mittemacht, wenn es Zeit war, die Masken abzunehmen. Sie konzentrierte sich auf seine Schulter, die Linie seines Kinns, als er sich plötzlich umdrehte und sie ansah. In diesem Moment wußte Elena, daß sie schön war. Es lag nicht nur an dem Kleid oder an ihrer Frisur. Sie selbst war schön. Stefans Blick bestätigte es. Sie sah, wie sich seine Lippen unwillkürlich öffneten und wieder schlossen. Dann schaute sie ihm in die Augen.
„Hallo.“ War das ihre eigene Stimme? So ruhig, so selbstbewußt? Seine Augen waren grün. Grün wie die Eichenblätter im Sommer. „Amüsierst du dich gut?“ fragte sie. Jetzt, ja. Er sagte es nicht, aber sie wußte, was er dachte. Sie konnte es an der Art erkennen, wie er sie anstarrte. Niemals zuvor war sie sich ihrer weiblichen Macht so sehr bewußt gewesen. Trotzdem sah Stefan nicht so aus, als ob er tatsächlich Spaß hatte. Er machte einen gepeinigten Eindruck, wie jemand, der Schmerz erleidet und es kaum eine Minute länger ertragen kann. Die Band spielte einen langsamen Song. Stefan starrte sie immer noch an, schien sich an ihrem Anblick zu berauschen. Seine grünen Augen wurden ganz dunkel vor Verlangen. Elena hatte das Gefühl, daß er sie plötzlich an sich reißen und sie, ohne ein Wort der Erklärung, leidenschaftlich küssen könnte. „Möchtest du gern tanzen?“ fragte sie leise. Ich spiele mit dem Feuer, mit etwas, was ich nicht verstehe, dachte sie. Und genau in diesem Moment bekam sie Angst. Ihr Herz begann wie wild zu schlagen. Es war, als würden diese grünen Augen einen tief im Inneren verborgenen Teil ihres Ichs ansprechen. Flieh, lauf weg! schrie alles in ihr. Elena bewegte sich nicht. Dieselbe Kraft, die ihr Angst einjagte, hielt sie fest. Alles gerät außer Kontrolle, dachte sie plötzlich. Was immer auch im Moment passierte, es ging über ihren Verstand. Es war weder normal noch mit Worten erklärbar. Doch es gab kein Zurück mehr. Obwohl sie sich fürchtete, genoß sie gleichzeitig das Gefühl, das er in ihr auslöste. Noch nie hatte sie das Zusammensein mit einem Jungen so intensiv erlebt, wie mit Stefan in diesem Moment. Und doch war gar nichts passiert. Er schaute sie nur wie hypnotisiert an. Sie erwiderte seinen Blick, und die Luft zwischen ihnen schien elektrisch geladen zu sein. Sie sah, wie seine Augen noch dunkler wurden, wie er sich geschlagen gab. Ihr Herz tat einen wilden Sprung, als er langsam die Hand ausstreckte. Und dann war mit einem Schlag alles zerstört. „Nein, Elena, wie süß du aussiehst“, sagte eine Stimme, und Elena wurde fast geblendet von dem gleißenden Gold, das plötzlich vor ihr auftauchte. Es war Caroline. Sie trug ein Kleid aus purem Goldlama, das fast unanständig viel von ihrer perfekt gebräunten Haut zeigte. Rötliche Lichter schimmerten in ihrem dichten, kastanienbraunen Haar. Besitzergreifend hakte sie sich bei Stefan ein und lächelte ihn verführerisch an. Die beiden ergaben ein tolles Paar. Sie sahen aus wie zwei Topmodels, die sich aus Versehen auf einen High-School-Ball verirrt hatten. „Und dein Kleidchen ist so niedlich“, fuhr Caroline fort, während Elena wie gelähmt dastand. Der wie zufällig um Stefan geschlungene Arm sagte ihr alles. Jetzt war ihr klar, wo Caroline in den vergangenen Wochen die Pausen verbracht und was sie im Schilde geführt hatte. „Ich hab Stefan versprochen, daß wir nur für einen Moment hereinschauen, aber nicht lange bleiben werden. Du hast doch nichts dagegen, daß ich ihn für die paar Tänze für mich selbst reserviere, oder?“ Elena war jetzt merkwürdig ruhig, ihr Verstand war wie leergefegt. Sie hörte sich wie mechanisch sagen, nein, sie hätte nichts dagegen, und sah zu, wie Caroline zur Tanzfläche ging. Stefan folgte ihr. Ein paar Leute umringten Elena. Sie wandte sich ab und stand Matt gegenüber. „Du wußtest, daß er mit ihr kommen würde“, sagte sie tonlos. „Ich hab nur gehört, daß sie ihn als Begleiter wollte. Sie ist ihm in den Pausen und nach der Schule gefolgt. Hat sich ihm richtig aufgedrängt. Aber...“ „Verstehe.“ Immer noch unnatürlich ruhig, glitt ihr Blick suchend über die Menge. Sie sah, daß Bonnie auf sie zukam und Meredith ihren Tisch verließ. Sie hatten also alles mitbekommen. Wie vermutlich jeder im Saal. Ohne ein weiteres Wort zu Matt ging sie auf ihre Freundinnen zu und unwillkürlich in Richtung des Waschraums für Mädchen. Dort war es brechend voll. Meredith und Bonnie achteten darauf, daß sie sich nur über Belangloses unterhielten, während sie Elena voll Sorge ansahen. „Hast du Carolines Kleid gesehen?“ fragte Bonnie, während sie Elenas Hand heimlich mitfühlend drückte. „Das Vorderteil muß mit Klebstoff befestigt sein. In was wird sie sich wohl beim nächsten Ball wickeln? In Cellophan?“ „In Frischhaltefolie“, erwiderte Meredith trocken und fügte leise hinzu: „Bist du okay?“ „Ja.“ Elena betrachtete sich im Spiegel. Ihre Augen glänzten fiebrig, und auf jeder ihrer Wangen war ein hektischer roter Fleck aufgetaucht. Sie glättete ihr Haar und drehte sich um. Der Raum leerte sich. Schließlich waren die drei allein. Bonnie spielte nervös mit der paillettenbesetzten Schleife ihres Kleides. „Vielleicht ist es ganz gut so“, meinte sie ruhig. „Schau mal, seit Wochen denkst du
nur noch an ihn. Ach, Quatsch, seit über einem Monat schon. Jetzt kannst du mal was anderes machen, als
nur... hinter ihm herzujagen.“
Ist ja toll, wie du dich an unseren Schwur erinnerst, dachte Elena. „Danke für deine liebe Unterstützung“,
sagte sie laut.
„Komm, Elena, sei nicht so ätzend“, warf Meredith ein. „Sie wollte dich nicht verletzen, sie glaubt nur...“
„Und das glaubst du auch, habe ich recht? Na, prima. Gut, wie ihr wollt. Ich werde jetzt rausgehen und mich
mit anderen Dingen beschäftigen. Mir neue Freundinnen suchen, zum Beispiel.“ Sie wirbelte herum und
rannte hinaus. Bonnie und Meredith starrten ihr fassungslos nach.
In der Turnhalle schmiß Elena sich voll ins Geschehen. Sie war witziger als je zuvor bei einem Ball. Sie
tanzte mit jedem, lachte zu laut und flirtete zu heftig.
Man rief sie zur Krönung. Sie stand auf der Bühne und blickte hinunter auf die bunte Menge. Jemand
überreichte ihr Blumen, ein anderer drückte ihr die Straßkrone aufs Haar. Es gab Applaus. Elena erschien
alles unwirklich wie ein Traum.
Sie flirtete mit Tyler, weil er am nächsten stand, als sie von der Bühne kam. Dann fiel ihr wieder ein, was er
und Dick mit Stefan veranstaltet hatten, und sie gab ihm eine Rose aus ihrem Blumenstrauß. Matt sah mit
zusammengekniffenem Mund von der Seitenlinie aus zu. Tylers vergessene Freundin war den Tränen nah.
Elena konnte jetzt den Alkohol in Tylers Atem riechen. Sein Gesicht war rot. Seine Kumpel standen um sie
herum, eine schreiende, lachende Meute. Sie beobachtete, wie Dick etwas aus einer braunen Papiertüte in
seinen Punsch goß.
Sie war noch nie mit dieser Clique zusammengewesen. Man hieß sie herzlich willkommen, bewunderte sie,
und die Jungs kämpften um ihre Aufmerksamkeit. Witze wurden gerissen, und auch wenn sie keinen Sinn
ergaben, lachte Elena. Tyler legte den Arm um ihre Taille, und sie lachte noch mehr. Aus den Augenwinkeln
sah sie, wie Matt den Kopf schüttelte und wegging. Die Mädchen wurden schriller, und die Jungs wurden
mutiger. Tyler pflanzte nasse Küsse auf Elenas Hals.
„Ich hab eine Idee!“ verkündete er und preßte Elena enger an sich. „Gehen wir irgendwohin und machen ein
Faß auf.“
Jemand schrie: „Und wohin, Tyler? Zu dir nach Hause?“
Tyler grinste alkoholumnebelt. „Nein. Das ist doch langweilig. Wir wollen doch was erleben. Wie wär's mit
dem Friedhof?“
Die Mädchen kreischten auf, die Jungs stießen einander an.
Tylers Freundin stand immer noch außerhalb des Kreises. „Tyler, das ist verrückt“, sagte sie mit hoher,
dünner Stimme. „Du weißt, was dem alten Mann zugestoßen ist. Ich werde nicht mitgehen.“
„Super, dann bleibst du eben hier.“ Tyler holte seine Autoschlüssel aus der Tasche und wedelte mit ihnen
herum. „Wer hat keine Angst?“ rief er herausfordernd.
„He, ich bin dabei“, sagte Dick, und die anderen stimmten laut zu.
„Ich auch“, meldete Elena sich trotzig. Sie lächelte Tyler an, und er riß sie fast von den Füßen.
Dann führten Tyler und sie die laute, wilde Gruppe zum Parkplatz, wo sie sich auf verschiedene Autos
verteilten. Tyler machte das Verdeck seines Sportcabrios auf. Elena stieg bei ihm ein. Dick und ein
Mädchen namens Vickie Bennett quetschten sich auf den Rücksitz.
„Elena!“ rief jemand von weit her aus der erleuchteten Tür der Turnhalle.
„Fahr los!“ befahl sie Tyler und nahm ihre Krone ab. Der Motor heulte auf. Mit qualmenden Reifen ließen
sie die Schule hinter sich. In der Luft lag der Geruch von verbranntem Gummi, und der kühle Nachtwind
blies Elena ins Gesicht.
7. KAPITEL Mit geschlossenen Augen genoß Bonnie auf der Tanzfläche die Musik. Als sie sie einen Moment öffnete,
sah sie, wie Meredith sie von der Seitenlinie zu sich heranwinkte. Bonnie schob trotzig das Kinn vor, doch
als Merediths Gesten drängender wurden, schaute sie bedauernd zu Raymond hoch und gehorchte. Raymond
folgte ihr.
Matt und Ed standen hinter Meredith. Matts Miene war düster. Ed fühlte sich in seiner Haut sichtlich
unwohl.
„Elena ist gerade gegangen'', begann Meredith.
„Das hier ist ein freies Land.“ Bonnie zuckte mit den Schultern.
„Sie ist mit Tyler Smallwood weg“, erklärte Meredith Matt, hast du wirklich nicht gehört, wo sie hin
wollten?“
Matt schüttelte den Kopf. „Egal, was passiert, sie hat es sich eigentlich selbst zuzuschreiben. Aber irgendwie
ist alles auch meine Schuld“, meinte er ernst. „Wir sollten nach ihr suchen.“
„Jetzt?“ fragte Bonnie ungläubig. Sie schaute zu Meredith, die mit den Lippen lautlos die Worte formte: „Du
hast es versprochen.“ „Das glaub ich einfach nicht“, mummelte sie wütend.
„Keine Ahnung, wie wir sie finden sollen, aber wir müssen's zumindest versuchen“, sagte Meredith fest.
Dann fügte sie seltsam zögernd hinzu: „Bonnie, du weißt nicht zufällig, wo sie ist?“
„Was? Natürlich nicht. Ich hab getanzt. Du hast doch sicher schon davon gehört. Wozu geht man zu einem
Ball? Zum Tanzen!“
„Ed und Ray, ihr bleibt hier“, befahl Matt. „Sollte sie zurückkommen, sagt ihr, daß wir draußen nach ihr
suchen.“
„Wenn's schon sein muß, dann machen wir uns besser gleich auf den Weg.“ Bonnie drehte sich um und
rannte prompt jemandem in die Arme.
„Entschuldige“, sagte sie schnippisch, schaute hoch und erkannte Stefan Salvatore. Schweigend beobachtete
er, wie Bonnie, Meredith und Matt zur Tür gingen. Ed und Ray schauten ihnen mit unglücklichen
Gesichtern nach.
Weit entfernt am wolkenlosen Nachthimmel glitzerten die Sterne. Elena fühlte sich mit ihnen verwandt. Ein
Teil von ihr schrie und lachte mit Dick, Vickie und Tyler gegen das Brausen des Windes an. Ein anderer
Teil jedoch beobachtete das Geschehen wie aus großer Entfernung.
Tyler hatte das Auto auf halber Höhe zur Kirchenruine auf dem Hügel geparkt. Er hatte die Scheinwerfer
angelassen, als sie ausstiegen. Obwohl ihnen mehrere Autos von der Schule aus gefolgt waren, schienen sie
die einzigen zu sein, die wirklich bis zum Friedhof gefahren waren.
Tyler öffnete den Kofferraum und holte ein Paket Bierdosen heraus. „Okay, bleibt für uns eben mehr.“ Er
bot Elena ein Bier an, die den Kopf schüttelte und versuchte, das elende Gefühl, das sich in ihrem Magen
ausbreitete, zu verdrängen. Sie wußte, sie gehörte nicht hierher, doch um nichts in der Welt hätte sie das
zugegeben.
Sie kletterten den Weg hoch. Die Mädchen stolperten auf ihren hohen Absätzen und lehnten sich an die
Jungs. Als sie oben angekommen waren, holte Elena erschrocken Luft, und Vickie stieß einen kleinen Schrei
aus.
Etwas Großes, Rotes hing am Horizont. Elena brauchte einen Moment, um zu erkennen, daß es der Mond
war. Er war so riesig und unwirklich wie aus einem alten Science-fiction-Film. Ein gespenstisches Licht
ging von ihm aus.
„He, sieht aus wie ein verfaulter Kürbis!“ schrie Tyler und warf einen Stein in die Richtung. Elena zwang
sich, ihn strahlend anzulächeln.
„Warum gehen wir nicht dort rein?“ Vickie zeigte auf das Loch, wo einmal die Kirchentür gewesen war.
Fast das ganze Dach war eingefallen, obwohl der Glockenturm noch intakt war. Er ragte hoch in den
Nachthimmel hinein. Drei der Wände standen noch, die vierte war nur kniehoch. Überall lagen Haufen von
losem Gestein herum.
Neben Elenas Wange flammte ein Licht auf. Erschrocken drehte sie sich um. Tyler hatte sein Feuerzeug
angezündet. Er grinste breit. „Na, wollen wir ein bißchen mit dem Feuer spielen?“
Elena lachte am lautesten, um ihre Befangenheit zu verbergen. Sie nahm das Feuerzeug und beleuchtete das
Grab auf der anderen Seite der Kirche. Es war einzigartig auf dem Friedhof. Elenas Vater hatte ihr erzählt,
daß er ähnliche Grabstätten in England gesehen hatte. Das Grab glich einem großen Steinkasten, es bot Platz
für zwei Menschen. Zwei Marmorstatuen lagen wie schlafend auf dem Deckel.
„Thomas Fell und Honoria Fell“, sagte Tyler mit einer großen Geste, als wollte er die beiden vorstellen.
„Der alte Tom hat seinerzeit Fell's Church gegründet. Obwohl, die Smallwoods gab's damals auch schon.
Der Ururgroßvater meines Urgroßvaters lebte in dem Tal bei Drowning Creek...“
„... bis er von den Wölfen gefressen wurde.“ Dick legte den Kopf zurück, um einen Wolf nachzuahmen.
Dabei entfuhr ihm ein Rülpser. Vickie kicherte. Einen Moment lang sah Tyler ziemlich ärgerlich aus, doch
dann zwang er sich zu lächeln.
„Thomas und Honoria sind ziemlich blaß“, erklärte Vickie immer noch kichernd. „Ich glaube, sie brauchen
ein bißchen Farbe.“ Sie holte einen Lippenstift aus ihrer Tasche und begann die Marmorlippen der
weiblichen Statue dunkelrot zu beschmieren. Wieder stieg Übelkeit in Elena auf. Als Kind hatte sie großen
Respekt gehabt vor der bleichen Lady und dem ernsten Mann, die dort mit geschlossenen Augen und über
der Brust gekreuzten Armen ruhten. Nachdem ihre Eltern gestorben waren, hatte sie sich gern vorgestellt,
wie sie Seite an Seite wie diese Statuen in ihrem Grab lagen. Trotzdem spendete sie Vickie mit dem
Feuerzeug Licht, während diese mit dem Lippenstift Thomas Fell einen Schnurrbart und eine Clownsnase
verpaßte.
Tyler beobachtete sie. „He, jetzt sind die aufgetakelt, aber weit und breit ist keine Party.“ Er legte seine
Hände auf den
Rand des Steindeckels, lehnte sich darauf und versuchte, ihn seitlich wegzuschieben. „Was meinst du, Dick?
Sollen wir ihnen heute nacht einen kleinen Stadtbummel gönnen?“
Nein, schrie Elena innerlich auf, während Dick blöd grinste und Vickie an ihrem Lachen fast erstickte. Dick
stellte sich neben Tyler. Er sammelte seine Kraft und packte den Steindeckel.
„Bei drei“, erklärte Tyler und begann zu zählen: „Eins, zwei, drei.“
Elenas Blick war starr auf das schreckliche Clownsgesicht von Thomas Fell gerichtet, während die Jungen
sich ächzend anstrengten. Der Deckel bewegte sich keinen Zentimeter.
„Das verdammte Ding muß irgendwie befestigt sein“, sagte Tyler schließlich ärgerlich und gab auf.
Elena wurde fast schwach vor Erleichterung. Sie versuchte, ganz lässig zu wirken, als sie sich gegen den
Deckel lehnte, um sich abzustützen. Und genau da geschah es.
Sie hörte das Knirschen von Steinen und fühlte gleichzeitig, wie sich der Deckel unter ihrer linken Hand
bewegte. Er glitt von Ihr weg, und sie verlor das Gleichgewicht. Das Feuerzeug flog ihr aus der Hand. Elena
schrie und schrie, während sie versuchte, auf den Beinen zu bleiben. Sie drohte in das offene Grab zu fallen.
Um sie herum peitschte ein eisiger Wind. Schreckliche Schreie hallten in ihren Ohren.
Dann war sie plötzlich draußen. Das Mondlicht war jetzt hell genug, daß sie die anderen erkennen konnte.
Sie mußten sie stützen. Elena schaute sich mit wildem Blick um.
„Bist du wahnsinnig? Was ist passiert?“ Tyler schüttelte sie.
„Er hat sich bewegt! Der Deckel! Er ging auf, und ich... ich weiß nicht, ich wäre beinahe hineingefallen. Es
war so kalt...“ Die Jungen lachten. „Armes Baby, hat 'ne Heidenangst“, spottete Tyler. „Komm, Dickieboy,
laß uns mal nachsehen.“
„Nein, Tyler, nicht...“
Doch sie gingen trotzdem hinein. Vickie blieb in der Türöffnung stehen und sah zu, während Elena ein
Schauder nach dem anderen überlief. Schließlich winkte Tyler sie zu sich.
„Schau“, sagte er, während sie zögernd eintrat. Er hatte das Feuerzeug wiedergefunden und beleuchtete die
Statue von Thomas Fell. „Der Deckel sitzt ganz fest. Siehst du?“
Elena starrte das Grab fassungslos an. „Er hat sich bewegt. Ich bin fast reingefallen...“
„Okay, wie du meinst, Baby.“ Tyler legte die Arme um Elena und preßte sie mit dem Rücken an sich. Elena
sah, daß Dick und Vickie sich in derselben Position befanden. Nur hatte Vickie die Augen geschlossen und
schien es sehr zu genießen. Tyler rieb mit dem Kinn über Elenas Haar.
„Ich möchte jetzt gern zurück zum Ball“, erklärte sie nüchtern.
Tyler hielt inne. Dann seufzte er. „Okay, Baby.“ Er schaute zu Dick und Vickie. „Was ist mit euch beiden?“
Dick grinste. „Wir bleiben noch ein bißchen hier.“ Vickie kicherte mit geschlossenen Augen.
„Okay.“ Elena fragte sich, wie die beiden wohl zurückkommen wollten, aber sie folgte Tyler. Draußen
jedoch blieb er stehen.
„Ich kann dich nicht gehen lassen, bevor du den Grabstein meines Großvaters gesehen hast“, erklärte er.
„Nun komm, Elena“, drängte er, als sie protestieren wollte. „Du willst doch meine Gefühle nicht verletzen.
Das Grab ist der Stolz der ganzen Familie.“
Elena zwang sich zu lächeln, obwohl ihr Magen sich anfühlte wie ein Klumpen Eis. Wenn sie ihn bei Laune
hielt, würde er sie sicher zurückfahren. „Gut“, sagte sie und ging in Richtung Friedhof.
„Nein, nicht da lang. Hier.“ Einen Moment später führte er sie zum alten Teil des Friedhofs. „Es liegt nah
beim Weg. Ehrlich. Da drüben. Siehst du?“ Er deutete auf etwas, das im Mondlicht leuchtete.
Elena holte erschrocken Luft. Sie fühlte, wie ihr Herz sich verkrampfte. Es schien, als würde dort drüben ein
Mensch stehen. Ein Riese mit einem runden, kahlen Kopf. Mit einem Mal wollte sie nur noch weg von hier.
Weg von den verfallenen, jahrhundertealten Grabsteinen. Das helle Mondlicht warf seltsame Schatten, und
überall gab es Stellen von undurchdringlicher Dunkelheit.
„Das ist nur die Kugel oben drauf. Nichts, wovor man sich fürchten muß.“ Tyler zog sie weiter den Pfad
entlang zu dem glänzenden Grabstein hin. Er war aus rotem Marmor, und die riesige Kugel, die den Stein
krönte, erinnerte sie an den Mond von vorhin. Jetzt strahlte derselbe Mond ein weißes Leuchten aus, weiß
wie die Hände der Statue von Thomas Fell. Elena erschauderte.
„Armes Baby friert. Muß dich wärmen“, flüsterte Tyler. Elena wollte ihn wegstoßen, doch er war zu stark
für sie. Er zog sie in seine Arme.
„Tyler, ich will zurück. Und zwar jetzt sofort...“
„Klar, Baby. Gleich. Aber zuerst müssen wir dich aufwärmen. Mensch, du bist ja eiskalt.“
„Tyler, hör auf.“ Seine Umarmung war ihr erst nur lästig gewesen, doch jetzt merkte sie erschrocken, wie
seine Hände grapschend nach ihrer nackten Haut suchten.
Noch nie in ihrem Leben hatte Elena sich in einer solchen Situation befunden, so weit weg von jeder Hilfe.
Sie zielte mit ihrem spitzen Absatz zwischen seine Beine, aber er wich geschickt aus. „Tyler, nimm die
Hände weg!“
„Komm, Elena. Stell dich nicht so an. Ich möchte dich nur am ganzen Körper aufwärmen...
„Laß mich gehen.“ Sie versuchte, sich von ihm zu befreien. Tyler stolperte und preßte plötzlich sein ganzes
Gewicht gegen sie. Elena fiel zu Boden und landete in einem Gestrüpp aus Efeu und Unkraut... Ich bring
dich um, Tyler. Das ist kein Witz! Geh von mir runter!“
Tyler machte einen halbherzigen Versuch, zur Seite zu rollen, kicherte plötzlich und blieb mit schlappen
Gliedern liegen. „Mensch, Elena. Nun werd' nicht gleich sauer. Ich wärme dich doch bloß. Elena, die
Eisprinzessin, wird jetzt aufgetaut. Na, wie gefällt dir das?“
Sie fühlte seinen Mund naß und heiß auf ihrem Gesicht. Sie war unter ihm gefangen und spürte mit hilfloser
Wut, wie seine Küsse ihren Hals hinunterwanderten. Plötzlich hörte sie das Reißen von Stoff.
„Oje“, murmelte Tyler. „Tut mir leid.“
Elena drehte den Kopf. Ihr Mund berührte Tylers Hand, die linkisch ihre Wange streichelte. So fest sie
konnte biß sie zu. Sie schmeckte Blut, und Tyler schrie auf. Die Hand wurde weggerissen.
„He, ich hab mich doch entschuldigt.“ Tyler betrachtete wehleidig die kleine Wunde. Dann verdüsterte sich
seine Miene, und er ballte die Hand langsam zur Faust.
Das war's, dachte Elena mit alptraumhafter Ruhe. Er wird mich bewußtlos schlagen oder sogar töten. Sie
machte sich auf den ersten Schlag gefaßt.
Stefan hatte sich dagegen gewehrt, zum Friedhof zu gehen. Alles in ihm hatte sich gesträubt. Das letzte Mal
war er an dem Abend dort gewesen, an dem er den Alten...
Horror überfiel ihn, wenn er daran dachte. Er hätte geschworen, daß er dem alten Mann nur soviel Blut
abgenommen hatte, daß es nicht schädlich war. Aber alles in dieser Nacht, was nach dem Ausbruch der
geheimnisvollen Kraft geschehen war, war verschwommen. Wenn es überhaupt einen solchen Ausbruch
gegeben hatte. Vielleicht war er nur seiner Phantasie entsprungen, oder er hatte ihn selbst ausgelöst.
Merkwürdige Dinge konnten geschehen, wenn das Verlangen zu groß wurde.
Stefan schloß die Augen. Als er gehört hatte, daß der alte Mann, dem Tode nah, im Krankenhaus lag, war
sein Schock zu groß gewesen, um ihn in Worte zu fassen. Wie konnte er so die Kontrolle über sich
verlieren? Fast zu töten, dabei hatte er nicht mehr getötet, seit...
Jetzt stand er in der mitternächtlichen Dunkelheit vor dem Tor des Friedhofs und wollte nichts mehr, als sich
umdrehen und weggehen. Zurück zum Ball, wo er Caroline zurückgelassen hatte. Caroline, die bei all ihrer
dunklen Schönheit sicher war, weil sie ihm absolut nichts bedeutete.
Aber er konnte nicht zurück, denn Elena befand sich auf dem Friedhof. Er konnte sie spüren, konnte ihre
steigende Angst fühlen. Elena war in Schwierigkeiten, und er mußte sie finden.
Er war halb den Hügel hoch, als ihn der Schwindel überfiel. Schwankend lief er auf die Kirchenruine zu,
weil sie das einzige war, was er noch einigermaßen erkennen konnte. Graue Nebelschleier hüllten seinen
Verstand ein, und er mußte um jeden Schritt kämpfen. Schwach, er war so schwach. Und hilflos gegen das übermächtige Schwindelgefühl. Er mußte... Elena finden. Aber er hatte keine Kraft mehr. Er durfte nicht... schwach sein, wenn er... Elena helfen wollte. Er mußte unbedingt... Vor ihm erschien wie ein gähnender Schlund das dunkle Loch der Kirchentür. Elena blickte auf den Mond über Tylers linker Schulter. Es schien ihr irgendwie passend, daß er das letzte war, was sie auf dieser Welt sehen würde. Ein Schrei war ihr vor lauter Angst in der Kehle steckengeblieben. Und dann wurde Tyler hochgerissen und gegen den Grabstein seines Großvaters geschleudert. Jedenfalls kam es Elena so vor. Keuchend rollte sie sich zur Seite, hielt mit einer Hand das zerrissene Kleid zusammen und suchte mit der anderen nach einer Waffe. Sie brauchte keine. Etwas bewegte sich in der Dunkelheit, und sie erkannte, wer Tyler hochgehoben hatte. Stefan Salvatore. Noch nie hatte sie ihn so erlebt. Sein aristokratisches Gesicht war weiß vor Wut. In seinen grünen Augen tanzte ein mörderisches Licht. Auch ohne sich zu bewegen, strahlte er soviel Zorn aus, daß Elena sich jetzt vor ihm mehr fürchtete als vorhin vor Tyler. „Schon als ich dir zum ersten Mal begegnet bin, war mir klar, daß du nie Manieren lernen würdest“, sagte Stefan. Seine Stimme war kalt und leise. Irgendwie machte ihr Klang Elena schwindlig. Sie konnte den Blick nicht abwenden, als Stefan sich Tyler näherte, der benommen den Kopf schüttelte und Anstalten machte, aufzustehen. Stefan bewegte sich leichtfüßig wie ein Tänzer. Er hatte jeden Muskel unter Kontrolle. „Aber ich hatte keine Ahnung, daß du so charakterlos bist.“ Tyler war größer und kräftiger als Stefan. Er ballte die Faust, doch bevor er etwas tun konnte, traf Stefans Hand ihn wie nebenbei auf die Wange. Tyler flog gegen einen anderen Grabstein. Er rappelte sich hoch und blieb keuchend stehen. Blut tropfte aus seiner Nase. Dann griff er wie ein wilder Stier an. „Ein Gentleman drängt sich niemandem auf“, fuhr Stefan fort und schlug zu. Wieder ging Tyler zu Boden und landete mit dem Gesicht nach unten in Unkraut und Dornen. Diesmal stand er langsamer auf. Blut floß jetzt aus beiden Nasenlöchern und aus dem Mund. Er schnaubte wie ein verängstigtes Pferd, als er sich erneut auf Stefan stürzte. Stefan packte Tyler an den Jackenaufschlägen. Er schüttelte ihn zweimal hart, während die großen Fäuste seines Gegners um ihn herumwirbelten, unfähig, auch nur einen Treffer zu landen. Dann ließ er Tyler fallen. „Und er beleidigt keine Frau“, setzte er seine Rede fort. Tylers Gesicht war schmerzverzogen, seine Augen rollten, doch er griff nach Stefans Bein. Stefan riß ihn auf die Füße und schüttelte ihn wieder. Tyler wurde schlaff wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. Er verdrehte die Augen. Stefan redete weiter. Er hielt den schweren Körper aufrecht und unterstrich jedes seiner Worte mit einem heftigen Schütteln. „Und vor allem tut er ihr nicht weh...“ „Stefan!“ schrie Elena. Tylers Kopf wurde bei jedem Mal vor- und zurückgeschleudert. Sie hatte Angst vor dem, was sie sah, Angst vor dem, was Stefan noch tun könnte. Aber am meisten fürchtete sie sich vor Stefans Stimme, dieser kalten Stimme, die einem tanzenden Degen glich, schön, tödlich und absolut unbarmherzig. „Stefan, hör auf!“ Er wandte ihr ruckartig den Kopf zu, überrascht, als hätte er ihre Anwesenheit vergessen. Einen Moment lang sah er sie an, ohne sie zu erkennen. Seine Augen waren im Mondlicht ganz schwarz. Er erinnerte sie an ein Raubtier, einen großen Vogel oder einen geschmeidigen Panther, der keine menschliche Regung kennt. Dann schien ihm plötzlich etwas einzufallen, und sein Blick erhellte sich ein wenig. Er blickte auf Tylers schwach herabhängenden Kopf und setzte den Jungen sanft gegen den roten Marmorgrabstein. Tylers Knie gaben nach, und er glitt zur Seite. Elena sah jedoch erleichtert, daß sich seine Augen öffneten. Zumindest das linke, das rechte schwoll zu einem Schlitz an. „Er kommt wieder in Ordnung“, erklärte Stefan ausdruckslos. Als ihre Furcht nachließ, fühlte sich Elena wie ausgelaugt. Das ist der Schock. Wahrscheinlich fange ich gleich an, wie hysterisch zu schreien, dachte sie. „Kann dich jemand nach Hause bringen?“ Stefans Stimme war immer noch völlig leer. Elena dachte an Vickie und Dick, die gerade neben Thomas Fells Statue weiß der Himmel was trieben. „Nein“, sagte sie. Ihr Verstand begann wieder zu arbeiten, und sie nahm die Dinge um sie herum wahr. Ihr
violettes Kleid war vorne ganz aufgerissen. Es war ruiniert. Wie mechanisch zog sie es über ihrer
Unterwäsche zusammen.
„Ich fahre dich.“
Obwohl sie noch halb betäubt war, spürte Elena doch einen kurzen Moment Angst. Sie sah ihn an, seine
Gestalt wirkte selbst zwischen den Grabsteinen merkwürdig elegant, sein Gesicht leuchtete weiß im
Mondlicht. Er war ihr noch nie so... attraktiv vorgekommen, aber seine Schönheit hatte etwas fast Fremdes,
direkt Unmenschliches, denn kein Mensch konnte eine derartige Kraft ausstrahlen oder eine solche
Unnahbarkeit.
„Danke. Das wäre nett“, antwortete sie langsam. Was blieb ihr sonst übrig?
Sie ließen Tyler zurück, der sich vor Schmerzen stöhnend am Grabstein seines Großvaters hochrappelte.
Elena überlief ein weiterer Schauder, als sie den Pfad erreichten und Stefan sich zur Wickery-Brücke
wandte.
„Ich habe das Auto bei meiner Pension stehenlassen“, erklärte er. „Das hier ist der schnellste Weg zurück.“
„Bist du auch so hergekommen?“
„Nein, ich habe die Brücke nicht überquert. Aber es ist sicher.“
Elena glaubte ihm. Bleich und schweigend ging er neben ihr. Er berührte sie nur einmal, um ihr sein Jackett
über die nackten Schultern zu legen. Mit merkwürdiger Klarheit wußte sie, daß er jeden töten würde, der
versuchte, ihr etwas anzutun.
Die Wickery-Brücke lag weiß im Mondlicht da. Unter ihr rauschte das eiskalte Wasser über die uralten
Steine. Die ganze Welt war ruhig, wunderschön und kalt, als sie durch die Eichen zu der kleinen Landstraße
gingen.
Sie kamen an eingezäuntem Weideland und dunklen Feldern vorbei, bis sie eine lange, gewundene Auffahrt
erreichten. Die Pension war ein geräumiges Gebäude aus roten Ziegelsteinen, die aus der Tonerde der
Gegend gebrannt worden waren. Rechts und links davon befanden sich uralte Zedern und Ahornbäume.
Außer einem Fenster waren alle dunkel.
Stefan schloß eine der Doppeltüren auf, und sie traten in einen kleinen Flur, der direkt zu einer Treppe
führte. Das Geländer war wie die Türen aus Eichenholz und so poliert, daß es zu leuchten schien.
Sie gingen die Treppe hoch in den zweiten Stock, der nur spärlich beleuchtet war. Zu Elenas Überraschung
führte Stefan sie in eins der Schlafzimmer und öffnete eine Tür, die zu einem Schrank zu gehören schien.
Dahinter jedoch befand sich eine sehr steile, sehr enge Treppe.
Was für ein merkwürdiger Ort, dachte sie. Diese geheime Treppe, mitten im Haus verborgen, wo kein
Geräusch von außen mehr hineindrang. Sie stieg hinauf und kam in ein großes Zimmer, das den gesamten
dritten Stock des Hauses bildete.
Das Licht hier war fast so schlecht wie unten, doch Elena konnte den befleckten Holzfußboden und die
bloßliegenden Balken der schrägen Decke erkennen. An allen Seiten gab es hohe Fenster. Zwischen den
wenigen schweren Möbelstücken standen viele große Koffer herum.
Sie merkte, daß er sie beobachtete. „Gibt's hier ein Badezimmer, wo ich...?“
Er deutete auf eine Tür. Sie nahm das Jackett ab, reichte es ihm, ohne ihn anzusehen, und ging hinein.
8. KAPITEL Elena war leicht betäubt in das Badezimmer gegangen und hatte einen stillen Dank gemurmelt. Doch als sie wieder rauskam, war sie wütend. Sie war nicht ganz sicher, wie diese Verwandlung stattgefunden hatte. Aber während sie die Kratzer auf Gesicht und Armen wusch und sauer darüber war, daß es hier keinen Spiegel gab und sie ihre Handtasche bei Tyler im Auto gelassen hatte, kehrten ihre Gefühle zurück. Und was sie fühlte, war Wut. Zur Hölle mit Stefan Salvatore. So kalt und beherrscht, selbst als er ihr das Leben gerettet hatte. Zur Hölle mit seiner Höflichkeit, seiner Ritterlichkeit und den Mauern um ihn herum, die höher und dicker denn je zu sein schienen. Sie zog die übriggebliebenen Nadeln aus ihrem Haar und benutzte sie, um ihr Kleid vorne zusammenzustecken. Dann fuhr sie schnell mit einem verzierten Elfenbeinkamm, den sie beim Becken gefunden hatte, durch ihr offenes Haar. Mit zusammengekniffenen Augen und trotzig vorgerecktem Kinn trat sie aus dem Bad.
Er hatte sein Jackett nicht wieder angezogen. Wartend stand er mit gebeugtem Kopf in seinem weißen
Cashmere-Pulli am Fenster und wirkte angespannt. Ohne den Kopf zu heben, deutete er auf ein großes Stück
schwarzen Samt, das über einer Stuhllehne hing.
„Vielleicht möchtest du das gern über dein Kleid anziehen.“
Es war ein bodenlanger Mantel mit Kapuze, der himmlisch weich war. Elena zog den schweren Stoff über
ihre Schultern. Aber dieses Angebot stimmte sie nicht milder. Ihr war aufgefallen, daß Stefan weder näher
herangekommen war noch sie angesehen hatte, während er sprach.
Absichtlich forderte sie ihn heraus. Sie kuschelte sich enger in den Mantel und genoß, wie die schweren
Falten ihren Körper umhüllten und hinter ihr über den Boden schleiften. Langsam ging sie zu Stefan, stellte
sich dicht neben ihn und musterte die schwere Mahagonitruhe beim Fenster.
Darauf lagen ein gefährlich aussehender Dolch mit Elfenbeingriff und ein wunderschöner Achatbecher, der
in Silber gefaßt war. Außerdem sah sie eine goldene Kugel mit einer Art Zifferblatt und einige Münzen.
Elena nahm eine der Münzen in die Hand. Zum Teil, weil sie sich dafür interessierte, aber auch, weil sie
wußte, daß es ihn ärgern würde, wenn sie seine Sachen anfaßte. „Was ist das?“
Es dauerte einen Moment, bevor er antwortete. „Ein Goldflorin. Ein Geldstück aus Florenz.“
„Und das?“
„Eine deutsche Taschenuhr. Spätes fünfzehntes Jahrhundert“, erklärte er abwesend. „Elena...“
Sie griff nach einer kleinen Eisenkiste, deren Deckel mit einem Scharniergelenk versehen war. „Kann man
die öffnen?“
„Nein.“ Er hatte die Reflexe einer Katze. Seine Hand schlug auf die Kiste und hielt den Deckel fest. „Das ist
privat.“ Der Streß in seiner Stimme war deutlich hörbar.
Elena bemerkte, daß er nur den Deckel berührte und nicht ihre Hand. Sie hob die Finger, und er zog sich
sofort zurück.
Plötzlich war ihre Wut zu groß, um sie noch länger zu unterdrücken. „Vorsicht“, zischte sie. „Faß mich bloß
nicht an, sonst könntest du dir eine Krankheit holen.“
Er wandte sich wieder dem Fenster zu.
Doch selbst, während sie zur Mitte des Zimmers zurückging, spürte sie, wie er ihr Spiegelbild in der Scheibe
beobachtete. Plötzlich wußte sie, wie sie für ihn aussehen mußte, in dem zu großen Mantel, den sie vorn mit
einer Hand zusammenhielt, und dem wilden blonden Haar, das offen über den nachtschwarzen Samt fiel.
Wie eine Prinzessin, die unter die Räuber gefallen war und jetzt rachedurstig in ihrem Turm herumwanderte.
Sie legte den Kopf weit zurück, um die Falltür in der Treppe zu betrachten, und hörte ein leises Aufseufzen.
Als sie sich umwandte, war sein Blick auf ihren nackten Hals gerichtet. Der Blick in seinen Augen verwirrte
sie. Aber im nächsten Moment verhärteten sich seine Züge, und er schloß sie wieder aus.
„Ich glaube, ich bringe dich jetzt besser nach Hause“, sagte er.
In diesem Augenblick wollte sie nur noch eins, ihn verletzen. Er sollte sich genauso elend fühlen wie sie.
Aber sie wollte auch die Wahrheit. Sie war dieses Spiel leid. Sie war es müde, sich etwas auszudenken, zu
planen und zu versuchen, Stefan Salvatores Gedanken zu lesen. Es war beängstigend und gleichzeitig
herrlich befreiend, als sie sich die Worte sagen hörte, die sie so lange schon beschäftigt hatten.
„Warum haßt du mich?“
Er starrte sie an. Einen Moment lang schien er sprachlos. „Ich hasse dich nicht“, antwortete er schließlich.
„Doch“, erwiderte Elena. „Ich weiß, es ist nicht gerade... höflich, so was jemandem ins Gesicht zu sagen,
aber das ist mir jetzt egal. Ich weiß, daß ich dir dankbar sein sollte, weil du mir das Leben gerettet hast, auch
das ist mir egal. Ich hab dich schließlich nicht darum gebeten. Eigentlich weiß ich gar nicht, warum du
überhaupt auf dem Friedhof warst. Und mir ist völlig schleierhaft, aus welchem Grund du es getan hast,
wenn deine Gefühle für mich so sind.“
Er schüttelte den Kopf, aber seine Stimme war sanft. „Ich hasse dich nicht.“
„Von Anfang an hast du mich gemieden, als wäre ich... eine Aussätzige. Ich wollte freundlich zu dir sein,
aber was war der Dank dafür? Benimmt sich so ein Gentleman, wenn jemand ihn willkommen heißen will?“
Er wollte jetzt etwas sagen, aber Elena überrumpelte ihn einfach: „Du hast mich mehrmals vor der ganzen
Meute bloßgestellt, du hast mich in der Schule gedemütigt. Du würdest auch jetzt nicht mit mir sprechen,
wenn es nicht um Leben und Tod gegangen wäre. Muß man so weit gehen, um dir ein Wort zu entlocken?
Muß man sich fast umbringen lassen? Und selbst jetzt meidest du meine Nähe“, fuhr sie bitter fort. „Was ist
los mit dir, Stefan Salvatore, daß du ein solches Leben führen mußt? Daß du Mauern um dich errichten
mußt, damit die anderen nur ja draußen bleiben? Daß du niemandem trauen kannst?
Was stimmt nicht mit dir?“
Er schwieg jetzt mit abgewandtem Gesicht. Sie holte tief Luft, richtete die Schultern auf und hielt den Kopf
hoch, obwohl in ihren Augen Tränen brannten. „Und was stimmt nicht mit mir“, fügte sie leiser hinzu, „daß
du mich nicht einmal ansehen willst, aber zuläßt, daß Caroline Forbes praktisch über dich herfällt?
Zumindest habe ich ein Recht, es zu erfahren. Danach werde ich dich nie wieder belästigen. Ich werde dich
sogar in der Schule nicht mehr ansprechen, aber ich will die Wahrheit wissen, bevor ich gehe. Warum haßt
du mich so sehr, Stefan?“
Er drehte sich langsam um und hob den Kopf. Sein Blick war leer, und Elena wurde wider Willen von der
Qual berührt, die seine Züge überschattete.
Er hatte seine Stimme gerade noch unter Kontrolle. Sie konnte hören, wieviel Mühe ihn das kostete.
„Ja“, begann er. „Ich glaube, du hast ein Recht, es zu erfahren, Elena.“ Er sah ihr in die Augen, und sie
dachte: So schlimm? Was kann so schlimm sein?
„Ich hasse dich nicht.“ Er betonte jedes Wort sorgfältig. „Ich habe dich niemals gehaßt. Aber du... erinnerst
mich an jemanden.“
Elena war total überrascht. Was immer sie auch erwartet hatte, das war es nicht gewesen. „Ich erinnere dich
an jemanden, den du kennst?“
„Den ich gekannt habe“, antwortete er leise. „Aber“, fügte er so langsam hinzu, als müßte er sich erst selbst
über etwas klar werden, „du bist eigentlich nicht wie sie. Vom Aussehen her schon, aber sie war zart,
zerbrechlich. Und sehr verletzlich, innerlich wie äußerlich.“
„Und ich bin das nicht?“
Er gab ein Geräusch von sich, das wie ein Lachen klang. Nur lag keine Spur Humor darin. „Nein. Du bist
eine Kämpferin. Du bist ganz... du selbst.“
Elena schwieg einen Moment. Den Schmerz in seinem Gesicht sehend, konnte sie nicht länger zornig sein.
„Du hast ihr sehr nahe gestanden?“
„Ja.“
„Was ist passiert?“
Es entstand eine Pause, so lang, daß Elena fürchtete, er würde ihr nicht antworten. Schließlich sagte er: „Sie
starb.“
Elena atmete hörbar aus.. Auch der letzte Rest Wut war jetzt verschwunden. „Das muß ja schrecklich für
dich gewesen sein“, sagte sie leise und dachte an den weißen Grabstein ihrer Eltern. „Es tut mir leid.“
Er schwieg. Sein Gesicht war wieder verschlossen. Er schien in weite Ferne zu blicken und dort etwas zu
sehen. Etwas Schreckliches und Herzzerreißendes, was nur für ihn allein bestimmt war. Aber es lag nicht
nur Trauer in seinem Blick. Hinter all den Mauern, hinter seiner mühsam aufrecht gehaltenen
Selbstbeherrschung spürte Elena die Schuldgefühle und die Einsamkeit. Stefans Blick war so verloren und
gehetzt, daß sie zu ihm ging, bevor sie wußte, was sie da tat.
„Stefan“, flüsterte sie. Versunken in seinen eigenen Schmerz, schien er sie nicht zu hören.
Elena legte unwillkürlich ihre Hand auf seinen Arm. „Stefan, ich weiß, wie weh das tun kann...“
„Nichts weißt du!“ explodierte er. Seine ganze Beherrschtheit verwandelte sich in puren Zorn. Er blickte auf
Elenas Hand, als habe er gerade erst gemerkt, daß sie gewagt hatte, ihn anzufassen. Die Pupillen seiner
grünen Augen waren unnatürlich erweitert, als er ihren Griff abschüttelte und gleichzeitig den Arm hob, um
zu verhindern, daß sie ihn wieder berührte...
Doch irgendwie hielt er plötzlich statt dessen ihre Hand. Seine Finger waren so fest um ihre geschlungen, als
wollte er sie nie mehr loslassen. Er schaute verwundert auf ihre miteinander verbundenen Hände. Langsam
wanderte sein Blick zu Elenas Gesicht.
„Elena...“ flüsterte er.
In seinen Augen las sie, daß er nicht länger kämpfen konnte. Sein Widerstand war gebrochen, die Mauern
fielen zusammen, und sie sah, was sich dahinter befand. Und dann beugte er wie hilflos den Kopf, um ihre
Lippen zu berühren.
„Warte mal hier“, sagte Bonnie. „Ich glaube, ich hab was gesehen.“
Matts verbeulter Ford fuhr langsamer und näherte sich der Straßenseite, wo sich dichtes Gebüsch befand.
Etwas Weißes schimmerte durch und kam auf sie zu.
„Oh, nein. Es ist Vickie Bennett“, rief Meredith.
Das Mädchen stolperte ins Scheinwerferlicht und blieb schwankend stehen, während Matt scharf bremste.
Vickies hellbraunes Haar war völlig durcheinander, und ihre Augen blickten glasig aus einem Gesicht, das
schmutzbeschmiert war. Sie trug nur noch ihre dünne weiße Unterwäsche.
„Schafft sie ins Auto“, befahl Matt. Meredith öffnete bereits die Tür. Sie sprang hinaus und lief auf das
benommene Mädchen zu.
„Vickie bist du okay? Was ist mit dir geschehen?“
Vickie stöhnte und starrte geradeaus. Dann plötzlich schien sie Meredith zu erkennen und klammerte sich an
sie. Ihre Fingernägel gruben sich in Merediths Arme.
„Schnell weg hier.“ Ihre Stimme klang fremd und belegt, als hätte sie etwas im Mund. „Ihr alle, schnell weg
hier. Es kommt!“
„Was kommt, Vickie? Wo ist Elena?“
„Wir müssen fort...“
Meredith blickte die Straße entlang und führte das zitternde Mädchen zurück zum Auto. „Wir werden dich
von hier fortbringen“, versuchte sie Vickie zu beruhigen. „Aber du mußt uns erzählen, was passiert ist.
Bonnie, gib mir deinen Schal. Sie ist total durchgefroren.“
„Und verletzt“, fügte Matt grimmig hinzu. „Außerdem hat sie einen Schock. Die Frage ist, wo sind die
anderen? Vickie, war Elena bei dir?“
Vickie schluchzte und verbarg das Gesicht in den Händen, während Meredith ihr Bonnies pinkfarbene Stola
um die Schultern legte.
„Nein... Dick“, stieß Vickie hervor. Das Reden schien ihr Schmerzen zu bereiten. „Wir waren in der
Kirche... Es war schrecklich. Es kam... wie Nebel. Schwarzer Nebel. Und Augen. Ich sah seine Augen in der
Dunkelheit glühen. So heiß. Sie haben mich verbrannt...“
„Sie phantasiert“, erklärte Bonnie nüchtern. „Völlig hysterisch. Oder wie man's sonst nennen will.“
Matt sprach ganz langsam und deutlich. „Vickie, bitte sag uns nur eins. Wo ist Elena? Was ist mit ihr
geschehen?“
„Ich weiß es nicht. Ehrlich.“ Vickie hob ihr tränenbeschmiertes Gesicht. „Dick und ich waren allein. Wir
haben... dann war es plötzlich überall um uns herum. Ich konnte nicht fortlaufen. Elena hat behauptet, das
Grab hätte sich geöffnet. Vielleicht ist es dorther gekommen. Es war entsetzlich...“
„Sie waren auf dem Friedhof in der Kirchenruine“, übersetzte Meredith das Gestammel. „Und Elena war bei
ihnen. Schaut euch das mal an.“ Im Deckenlicht des Autos konnten sie die frischen, tiefen Kratzer erkennen,
die von Vickies Hals hinunter bis zu ihrem Spitzen-BH liefen.
„Das sieht aus wie von einem Tier“, meinte Bonnie. „Wie die Krallen einer Katze, zum Beispiel.“
„Es war keine Katze, die sich den Alten unter der Brücke vorgeknöpft hat“, sagte Matt. Sein Gesicht war
bleich und angespannt. Meredith folgte seinem Blick die Straße hinunter und schüttelte den Kopf.
„Matt, wir müssen zuerst zurück. Das ist unsere Pflicht“, erklärte sie eindringlich. „Hör auf mich. Ich mach
mir genauso große Sorgen um Elena wie du. Aber Vickie braucht einen Arzt, und wir müssen die Polizei
verständigen. Wir haben keine andere Wahl. Wir müssen zurück.“
Matt starrte noch einen langen Moment die dunkle Straße entlang, dann atmete er seufzend aus. Er schlug
die Wagentür heftig zu, ließ ruckartig den Motor an und wendete.
Auf dem ganzen Weg in die Stadt stammelte Vickie stöhnend etwas von glühenden Augen.
Elena spürte Stefans Lippen auf ihren.
Und... es war so einfach. Alle Fragen waren beantwortet, alle Ängste beschwichtigt und alle Zweifel
beseitigt. Was sie fühlte, war nicht nur Leidenschaft, sondern auch überwältigende Zärtlichkeit und eine
Liebe, die so stark war, daß sie davon bis ins Mark erschüttert wurde. Das Ausmaß ihrer Gefühle hätte ihr
Angst einjagen können. Aber während sie bei ihm war, fürchtete sie sich vor nichts.
Sie war nach Hause gekommen.
Hier gehörte sie hin, und endlich hatte sie es gefunden. Ihr Platz war an Stefans Seite.
Er zog sich ein wenig zurück, und sie fühlte, wie er zitterte.
„Oh, Elena“, flüsterte er gegen ihre Lippen. „Wir können nicht...“
„Es ist bereits geschehen“, antwortete sie leise und zog ihn wieder an sich.
Es war fast so, daß sie seine Gedanken hören, seine Gefühle spüren konnte. Eine Welle von Lust und
Begehren trug sie davon, band sie fester aneinander. Doch Elena erkannte auch, was ihn noch bewegte. Er
wollte sie für immer festhalten, sie vor allem Bösen beschützen. Er wollte sein Leben mit ihrem verbinden.
Sie fühlte den sanften Druck seiner Lippen auf ihren, und was er in ihr auslöste, war so süß, daß sie es kaum
ertragen konnte. Ja, dachte sie. Stefans Liebe hüllte sie ein, erwärmte sie und erhellte jede dunkle Ecke ihrer
Seele wie die Sonne. Sie zitterte vor Liebe und vor Verlangen.
Er hob langsam den Kopf, als könnte er es nicht ertragen, von ihr getrennt zu sein. Sie sahen sich an mit
Blicken, in denen sich kindliche Verwunderung mit grenzenloser Freude mischte.
Worte waren unnötig. Er strich ihr so sanft übers Haar, als hätte er Angst, sie könnte unter seinen Händen
zerbrechen. Elena wußte jetzt, daß es nicht Haß gewesen war, weswegen er sie so lange gemieden hatte.
Nein, Haß war es nicht gewesen.
Elena hatte keine Ahnung, wieviel Zeit vergangen war, bis sie wieder leise die Treppen der Pension
hinunterstiegen. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre sie begeistert gewesen, in Stefans schwarzen Sportwagen
einsteigen zu können. Aber heute nacht achtete sie kaum darauf. Stefan hielt ihre Hand, während sie durch
die verlassenen Straßen fuhren.
Das erste, was Elena sah, als sie sich ihrem Haus näherten, waren die Lichter.
„Die Polizei ist da.“ Ihre Stimme gehorchte ihr nicht gleich. Es war merkwürdig, nach so langem Schweigen
wieder zu sprechen. „Und Roberts Auto steht in der Einfahrt. Matts auch“, fügte sie hinzu. Sie sah Stefan an,
und der Friede, der sie erfüllt hatte, schien plötzlich zerbrechlich. „Ich frage mich, was passiert ist. Glaubst
du, Tyler hat ihnen schon alles erzählt?“
„Selbst Tyler würde nicht so blöd sein“, erwiderte Stefan.
Er parkte hinter einem der Polizeiautos. Elena ließ widerwillig seine Hand los. Sie wünschte sich von
ganzem Herzen, daß sie und Stefan allein sein könnten, daß sie sich nie mehr der Welt stellen mußten.
Doch es half nichts. Sie gingen zur Haustür, die offen stand. Drinnen war alles hell erleuchtet.
Elena trat ein. Dutzende von Köpfen fuhren herum. Sie sah sich plötzlich selbst da in der Tür stehen, in dem
langen, schwarzen Samtmantel, mit Stefan Salvatore an ihrer Seite. Dann stieß Tante Judith einen Schrei
aus, riß sie in ihre Arme, schüttelte sie und umarmte sie gleichzeitig.
„Elena! Gott sei Dank, dir ist nichts geschehen. Wo bist du gewesen? Warum hast du nicht angerufen?
Kannst du dir vorstellen, was wir deinetwegen durchgemacht haben?“
Elena blickte sich verwirrt im Zimmer um. Sie verstand nichts.
„Wir sind froh, daß du wieder da bist“, mischte Robert sich ruhig ein.
„Ich war mit Stefan in seiner Pension“, erklärte sie langsam. „Tante Judith, das ist Stefan Salvatore. Er hat
dort ein Zimmer gemietet. Er hat mich zurückgebracht.“
„Danke“, sagte Tante Judith zu Stefan über Elenas Kopf hinweg. Sie trat einen Schritt zurück und musterte
Elena. „Aber dein Kleid, dein Haar... Was ist passiert?“
„Wißt ihr es denn nicht? Dann hat Tyler euch nichts erzählt? Aber warum ist die Polizei da?“ Elena drängte
sich instinktiv enger an Stefan. Sie fühlte, wie auch er, um sie zu beschützen, näher zu ihr kam.
„Die Beamten sind da, weil Vickie Bennett heute nacht auf dem Friedhof überfallen worden ist“, erklärte
Matt. Er, Bonnie und Meredith standen hinter Tante Judith und Robert. Die drei sahen erleichtert, ein wenig
verlegen und sehr, sehr müde aus. „Wir haben sie vor ungefähr zwei, drei Stunden gefunden und seither
nach dir gesucht.“
„Überfallen?“ rief Elena erstaunt. „Von wem?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Meredith.
„Nun, vielleicht ist alles nur halb so schlimm“, tröstete Robert.
„Der Arzt sagt, daß sie einen schlimmen Schock hat. Außerdem hatte sie Alkohol im Blut. Kann sein, daß
sie sich alles nur eingebildet hat.“
„Diese Kratzer waren echt“, warf Matt höflich ein.
„Welche Kratzer? Wovon redet ihr?“ fragte Elena und sah einen nach dem anderen an.
„Okay, ich erklär's dir.“ Meredith erzählte in kurzen Worten, wie sie und die anderen Vickie gefunden
hatten. „Sie hat andauernd wiederholt, daß sie nicht weiß, wo du bist, und daß sie mit Dick allein war, als es
geschah. Wir brachten sie zurück, aber der Arzt konnte auch keinen Hinweis finden, was genau passiert war.
Abgesehen von den Kratzern ist sie unverletzt, und die könnten auch von einer Katze stammen.“
„Und sie hatte keine anderen Wunden?“ fragte Stefan scharf. Es war das erste Mal, daß er sich zu Wort
meldete, seit sie das Haus betreten hatten.
„Nein“, erwiderte Meredith. „Natürlich zieht ihr eine Katze nicht die Kleider aus. Aber das könnte Dick
getan haben. Ach, noch was, ihre Zunge war zerbissen.“
„Was?“ Elena faßte es nicht.
„Ja. Ziemlich schlimm. Muß höllisch geblutet haben. Und sie hat Schmerzen, wenn sie redet.“
Stefan war neben Elena ganz still geworden. „Hat sie eine Erklärung dafür, was passiert ist?“
„Sie war hysterisch“, sagte Matt. „Total hysterisch. Man kriegte kein klares Wort aus ihr heraus. Sie faselte
was von Augen, dunklem Nebel und daß sie nicht davonlaufen konnte. Der Arzt hält das für eine Art
Halluzination. Aber die Fakten sind, daß Dick und sie allein um Mitternacht in der Kirchenruine beim
Friedhof waren und daß etwas hereingekommen ist und sie angegriffen hat.“
„Dick ist nichts geschehen“, fügte Bonnie hinzu. „Das zeigt zumindest, daß der Täter Geschmack hatte. Die
Polizei fand Dick bewußtlos auf dem Kirchenboden. Er erinnert sich an nichts.“
Aber Elena hörte die letzten Worte kaum. Stefans Verhalten hatte sich dramatisch verändert. Sie hatte keine
Ahnung, woher sie es wußte, aber sie war sich ganz sicher. Bei Matts letzten Worten hatte er sich plötzlich
angespannt, und obwohl er sich nicht bewegt hatte, kam es ihr so vor, als würden sie mit einem Mal Welten
trennen.
„In der Kirche, Matt?“ fragte er mit dieser kalten, gefaßten Stimme, die sie schon vorhin in seinem Zimmer
gehört hatte.
„Ja, in der alten Ruine.“
„Bist du sicher, daß sie gesagt hat, es warum Mitternacht?“
„Ganz genau wußte sie es nicht, aber irgendwann um den Zeitpunkt muß es gewesen sein. Wir haben sie
kurz nachher gefunden. Warum?“
Stefan schwieg. Elena fühlte, wie sich die Kluft zwischen ihnen vergrößerte. „Stefan“, flüsterte sie
drängend. Dann sagte sie lauter und fast verzweifelt: „Stefan, was ist?“
Er schüttelte den Kopf. Schließ mich nicht aus, dachte sie, doch er sah sie nicht einmal an. „Wird sie
überleben?“ fragte er.
„Der Arzt hat nichts weiter an ihr festgestellt. Niemand hat behauptet, daß Vickie sterben könnte“, erwiderte
Matt.
Stefan nickte kurz, dann wandte er sich an Elena. „Ich muß gehen. Du bist jetzt in Sicherheit.“
„Natürlich bin ich in Sicherheit. Dank dir.“
„Ja“, erwiderte er. Aber in seinen Augen lag keine Antwort. Sie waren glanzlos und verhangen.
„Ruf mich morgen an.“ Sie drückte seine Hand und versuchte, unter den wachen Blicken der anderen ihre
wahren Gefühle zu verbergen. Sie zwang ihn dazu, es zu verstehen.
Er schaute ausdruckslos auf ihre Hände, dann langsam wieder zu ihr. Schließlich erwiderte er den Druck
ihrer Finger. „Ja, Elena“, flüsterte er und sah sie sehnsüchtig an. Eine Minute später war er gegangen.
Sie holte tief Luft und wandte sich wieder dem überfüllten Zimmer zu. Tante Judith hielt sich immer noch in
ihrer Nähe auf, den Blick auf das gerichtet, was sie unter dem Samtmantel von dem zerrissenen Kleid sehen
konnte.
„Elena?“ fragte sie. „Was ist passiert?“ Sie schaute zu der Tür durch die Stefan gerade verschwunden war.
Elena drängte ein hysterisches Lachen zurück. „Stefan hat es nicht getan. Stefan hat mich gerettet.“ Dann
verhärtete sich ihr Gesicht, und sie schaute zu dem Polizeibeamten hinter Tante Judith. „Es war Tyler. Tyler
Smallwood.“
9. KAPITEL Sie war nicht die wiedergeborene Katherine. Während Stefan im dunkelvioletten Zwielicht kurz vor der
Morgendämmerung zu seiner Pension zurückfuhr, dachte er darüber nach.
Er hatte es zu ihr gesagt, und es war die Wahrheit. Aber erst jetzt fiel ihm auf, wie lange er gebraucht hatte,
um zu diesem Schluß zu kommen. Er hatte jeden Atemzug, jede Bewegung Elenas in den letzten Wochen
beobachtet und jeden Unterschied registriert.
Ihr Haar war ein, zwei Schattierungen heller als Katherines, ihre Augenbrauen und Wimpern dunkler. Katherines Wimpern waren fast silbern gewesen. Und Elena war gut eine Handbreit größer als Katherine. Sie bewegte sich mit mehr Selbstverständlichkeit, denn die Mädchen dieses Jahrhunderts waren freier und selbstbewußter. Sogar ihre Augen, diese Augen, die ihn am ersten Tag fast gelähmt hatten aufgrund der großen Ähnlichkeit, waren eigentlich nicht dieselben. Katherines Blick war meistens von einer kindlichen Verwunderung erfüllt gewesen oder gesenkt, wie es sich für ein junges Mädchen des fünfzehnten Jahrhunderts ziemte. Aber Elena sah einen offen an, ohne zu blinzeln. Und manchmal verengten sich ihre Augen, wenn sie einen Entschluß gefaßt hatte oder eine Herausforderung annahm. Bei Katherine war das nie geschehen. In Anmut, Schönheit und der Faszination, die von ihnen ausging, waren sie absolut gleich. Doch während Katherine ein weißes Kätzchen gewesen war, glich Elena einer schneeweißen Tigerin. Als Stefan an den dunklen Schatten der Ahornbäume vorbeifuhr, zuckte er vor den aufsteigenden Erinnerungen zurück, die ihn zu überwältigen drohten. Nein, er wollte nicht daran denken. Aber die Bilder begannen sich schon vor seinem geistigen Auge zu entfalten. Es war, als ob ein Buch aufgeschlagen worden war, und er konnte nichts anderes tun, als hilflos auf die Seiten zu starren, während in seinem Kopf die Geschichte begann. Weiß, Katherine hatte an diesem Tag weiß getragen. Ein neues Kleid aus venezianischer Seide, die Ärmel waren aufgeschlitzt, um das feine Leinenhemd darunter zu zeigen. Um den Hals hatte sie eine Kette aus Gold und Perlen geschlungen, und kleine Perlenohrringe tanzten an ihren Ohren. Sie hatte sich so gefreut über das neue Kleid, das ihr Vater extra für sie hatte schneidern lassen. Sie hatte sich vor Stefan im Kreis gedreht und den weiten, bodenlangen Rock hochgehoben, damit er den Brokatunterrock darunter sehen konnte... „Schau, mein Vater hat meine Anfangsbuchstaben einsticken lassen. Mein lieber Papa...“ Ihre Stimme verklang, und sie hörte auf, sich zu drehen. „Was ist los, Stefan? Du lächelst nicht einmal.“ Er brauchte sich keine Mühe zu geben. Ihr Anblick, eine fast unirdische Erscheinung aus Weiß und Gold, verursachte ihm körperliche Schmerzen. Wenn er sie verlor, wußte er nicht, wie er weiterleben sollte. Seine Finger krampften sich um das glatte Metallgeländer. „Wie kann ich lächeln, Katherine? Wie kann ich überhaupt glücklich sein, wenn...?“ „Wenn?“ „Wenn ich zusehen muß, wie du Damon anschaust.“ Da, jetzt war es heraus. Gequält fuhr er fort: „Bevor Damon nach Hause kam, waren wir jeden Tag zusammen. Unsere Väter waren erfreut und sprachen bereits von Heirat. Aber jetzt werden die Tage kürzer, der Sommer ist fast vorbei... und du verbringst genausoviel Zeit mit Damon wie mit mir. Der einzige Grund, warum Vater ihm erlaubt hierzubleiben, ist, weil du ihn darum gebeten hast. Warum hast du das getan, Katherine? Ich dachte, du fühlst etwas für mich.“ Ihre blauen Augen blickten entsetzt. „Aber ich mag dich, Stefan. Oh, das weißt du doch!“ „Warum hast du dann bei meinem Vater für Damon ein Wort eingelegt? Wenn du nicht gewesen wärst, hätte er Damon auf die Straße geworfen...“ „Was dich sicher sehr gefreut hätte, kleiner Bruder.“ Die Stimme, die von der Tür her kam, war sanft und überheblich. Doch als Stefan sich umwandte, sah er, daß Damons dunkle Augen vor Wut brannten. „Nein, das ist nicht wahr“, warf Katherine schnell ein. „Stefan würde sich nie wünschen, daß dir etwas geschieht.“ Damons Lippen zuckten, und er warf Stefan einen spöttischen Blick zu, während er an Katherines Seite trat. „Vielleicht nicht“, sagte er zu ihr. Sein Tonfall wurde eine Spur freundlicher. „Aber mein Bruder hat in einem recht. Die Tage werden kürzer, und dein Vater wird Florenz bald verlassen. Er wird dich mitnehmen, wenn du keinen triftigen Grund hast, hierzubleiben.“ Wenn du keinen Ehemann hast, der sich um dich kümmert. Die Worten blieben ungesprochen, aber alle drei hörten sie. Der Graf würde seine geliebte Tochter nie zu einer Heirat gegen ihren Willen zwingen. Am Ende würde es Katherines Entscheidung sein. Katherines Wahl. Jetzt, wo das Thema einmal angeschnitten war, konnte Stefan nicht länger schweigen. „Katherine weiß, daß sie ihren Vater bald verlassen muß“, begann er und protzte mit seinem geheimen Wissen. Aber sein Bruder unterbrach ihn.
„Klar. Der alte Herr wird mißtrauisch“, sagte er wie beiläufig. „Selbst der liebevollste Vater wird sich
irgendwann einmal fragen, warum sein Töchterchen sich nur bei Nacht zeigt.“
Eine Mischung aus Zorn und Schmerz packte Stefan. Es stimmte also, Damon wußte alles. Katherine hatte
ihr Geheimnis auch seinem Bruder anvertraut.
„Warum hast du es ihm erzählt, Katherine? Warum? Was siehst du in ihm, einem Mann, für den nur das
eigene Vergnügen zählt? Wie kann er dich glücklich machen, wenn er nur an sich selbst denkt?“
„Und wie kann dieser Junge dich glücklich machen, der keine Ahnung von der Welt hat?“ unterbrach
Damon voller Verachtung. „Wie kann er dich beschützen, wenn er die Wirklichkeit da draußen gar nicht
kennt? Er hat sein ganzes Leben unter Büchern und Gemälden verbracht. Lassen wir ihn dort.“
Katherine schüttelte kummervoll den Kopf. Tränen standen in ihren blauen Augen.
„Keiner von euch versteht mich“, sagte sie. „Ihr glaubt, ich kann heiraten und mich hier in Florenz
niederlassen wie jede andere Adlige. Aber ich bin nicht wie die anderen Damen. Wie kann ich einen
Haushalt leiten, mit Dienstboten, die jeden meiner Schritte beobachten? Wie könnte ich nur an einem Ort
wohnen, wo die Menschen sehen können, daß ich nicht älter werde? Für mich wird es kein normales Leben
geben.“
Sie holte tief Luft und sah einen nach dem anderen an. „Wer mein Mann werden will, muß das Leben im
Sonnenschein aufgeben“, flüsterte sie. „Er muß den Mond und die Stunden der Dunkelheit wählen.“
„Dann wähle du jemanden, der keine Angst vor den Schatten hat“, warf Damon ein. Stefan war überrascht
von seinem eindringlichen Tonfall. Er hatte Damon noch nie mit soviel Ernst und solcher Ehrlichkeit reden
hören. „Sieh dir meinen Bruder an, Katherine. Wird er es schaffen, das Sonnenlicht aufzugeben? Er hängt zu
sehr an den normalen Dingen: an seinen Freunden, seiner Familie, seinem Pflichtgefühl der Heimatstadt
Florenz gegenüber. Die Dunkelheit würde ihn vernichten.“
„Lügner!“ schrie Stefan. Er kochte vor Wut. „Ich bin so stark wie du, Bruder, und ich fürchte nichts, weder
bei Tag noch bei Nacht. Ich liebe Katherine mehr als meine Freunde oder meine Familie...“
„Oder dein Pflichtgefühl? Liebst du sie genug, um auch das aufzugeben?“
„Ja“, verteidigte Stefan sich. „Genug, um alles aufzugeben.“
Damon lächelte eins seiner plötzlichen, rätselhaften Lächeln. Dann wandte er sich an Katherine. „Es scheint,
daß die Wahl ganz bei dir liegt. Du hast zwei Verehrer, die um deine Hand anhalten. Wirst du einen von uns
nehmen oder keinen?“
Katherine senkte einen Moment den Kopf. Dann blickte sie beide tränenerfüllt an. „Gebt mir bis Sonntag
Bedenkzeit. Und bis dahin quält mich nicht mit Fragen.“
Stefan nickte zögernd. „Und Sonntag?“ wollte Damon wissen.
„Sonntagabend bei Anbruch der Dämmerung werde ich meine Wahl treffen.“
Die Dämmerung... die tiefe, violette Dunkelheit des Zwielichts...
Am Himmel wurde es langsam hell. Stefan kam wieder zu sich. Es war die Morgendämmerung, nicht die
Abenddämmerung, die gerade anbrach. In Gedanken verloren war er zum Waldrand gefahren. Im
Nordwesten konnte er die Wickery-Brücke und den Friedhof sehen. Neue Erinnerungen ließen seinen Puls
höher schlagen.
Er hatte Damon ins Gesicht geschleudert, daß er alles für Katherine aufgeben würde. Und genau das hatte er
getan. Ihretwillen war er zu einem Geschöpf der Nacht geworden. Ein Jäger, dazu verdammt, immer selbst
gejagt zu werden, ein Dieb, der Leben stehlen mußte, um seinen Hunger zu stillen.
Und nun auch noch ein Mörder?
Nein, man hatte gesagt, daß das Mädchen Vickie nicht sterben würde. Aber vielleicht sein nächstes Opfer.
Das Schlimmste an dem letzten Überfall war, daß er nicht wußte, was geschehen war. Er erinnerte sich an
seine Schwäche, an die riesige Not und daran, daß er durch die offene Kirchentür gestolpert war. Aber an
nichts hinterher. Er war erst wieder zu sich gekommen, als er Elenas Todesangst spürte. Und dann war er zu
ihr gerannt, ohne sich damit aufzuhalten, was passiert sein könnte.
Elena... Einen Moment lang fühlte er so große Freude, ja sogar Ehrfurcht, daß er alles andere vergaß. Elena,
warm wie das Sonnenlicht, weich wie der Morgen und doch mit einem Rückgrat aus Stahl, das nicht
gebrochen werden konnte. Sie war wie ein Feuer, das im Eis brannte, wie die scharfe Klinge eines silbernen
Dolches.
Aber hatte er das Recht, sie zu lieben? Schon seine Gefühle für sie brachten sie in Gefahr. Was würde
geschehen, wenn seine Not wieder zu groß wurde und Elena das einzige menschliche Wesen in seiner Nähe
war, das ihm die lebensnotwendigen Kräfte spenden konnte?
Ich werde sterben, bevor ich sie anrühre, dachte er sich. Bevor ich ihre Adern berühre, verdurste ich lieber.
Und ich schwöre, daß sie mein Geheimnis niemals kennenlernen wird. Sie soll meinetwegen nie das
Sonnenlicht aufgeben müssen.
Hinter Stefan wurde es am Himmel hell. Aber bevor er wegfuhr, benutzte er seine telepathischen Kräfte und
schickte sie auf die Suche nach einem verwandten Wesen, das sich vielleicht in der Nähe befand. Er suchte
nach einer anderen Lösung für das, was in der Kirche geschehen war.
Aber es gab nicht den Hauch einer Antwort. Der Friedhof verspottete ihn mit seiner völligen Stille.
Die Sonne schien hell in ihr Zimmer, und Elena erwachte. Sie fühlte sich, als hätte sie gerade eine Grippe
hinter sich, und gleichzeitig freute sie sich, als wäre es der Weihnachtsmorgen. Während sie sich aufsetzte,
überschlugen sich ihre Gedanken.
Aua. Der ganze Körper tat ihr weh. Aber sie und Stefan... das brachte alles wieder in Ordnung. Dieser
betrunkene Wüstling Tyler... Ach was, der zählte nicht mehr. Nichts war mehr wichtig, nur noch, daß Stefan
sie liebte.
Im Nachthemd stieg sie die Treppe hinunter. An den Sonnenstrahlen, die durch die großen Fenster fielen,
erkannte sie, daß sie sehr lange geschlafen haben mußte. Tante Judith und Margaret waren im Wohnzimmer.
„Guten Morgen, Tante Judith.“ Elena umarmte die überraschte Tante herzlich. „Und guten Morgen,
Mäusekind.“ Sie hob Margaret hoch und tanzte mit ihr durchs Zimmer. „Da ist ja auch noch Robert. Guten
Morgen!“ Selbst ein wenig peinlich berührt von ihrem überschäumenden Ausbruch und der Tatsache, daß
sie nur das dünne Nachthemd trug, floh sie in die Küche. Tante Judith folgte ihr. Obwohl sie dunkle Ringe
unter den Augen hatte, lächelte sie. „Du scheinst ja heute morgen sehr gute Laune zu haben.“
„Ja, das stimmt.“ Elena umarmte sie erneut, um sich für die dunklen Ringe zu entschuldigen.
„Du weißt, daß wir noch einmal wegen Tyler zum Sheriff müssen.“
„Ja.“ Elena holte eine Flasche Saft aus dem Kühlschrank und goß sich ein Glas ein. „Aber kann ich erst zu
Vickie Bennett rübergehen? Sie muß völlig aufgelöst sein, besonders, da ihr niemand glaubt.“
„Glaubst du ihr?“
„Ja“, sagte sie langsam. „Ich glaube ihr. Und, Tante Judith“, fügte sie nach kurzem Zögern hinzu, „auch mir
ist in der Kirche etwas passiert. Es kam mir so vor...“
„Elena! Bonnie und Meredith sind hier für dich“, rief Robert vom Flur her.
Der Moment der Vertrautheit war vorbei. „Oh... schick sie rein“, antwortete Elena und trank einen Schluck
Orangensaft. „Ich erzähl's dir später, Tante Judith“, versprach sie, während sich Schritte der Küche näherten.
Bonnie und Meredith blieben ungewohnt steif in der Tür stehen. Auch Elena fühlte sich ein wenig befangen.
Sie redete erst, als ihre Tante die Küche verlassen hatte.
Dann räusperte sie sich, den Blick auf eine abgenutzte Platte des Linoleumbodens gerichtet. Als sie kurz
hochsah, merkte sie, daß Bonnie und Meredith auf dieselbe Stelle starrten.
Sie lachte, und beide sahen sie an.
„Ich bin zu glücklich, um mich zu verteidigen“, erklärte sie und breitete die Arme für die beiden aus. „Ich
weiß, daß ich mich entschuldigen sollte für das, was ich gesagt hab. Und ehrlich, es tut mir leid. Aber
deshalb werde ich nicht den Rest des Tages Asche auf mein Haupt streuen. Ich war entsetzlich, ich verdiene,
daß man mich hinrichtet, okay. Können wir jetzt nicht so tun, als ob es nie passiert wäre?“
„Du solltest dich schämen, einfach so von uns wegzulaufen“, schimpfte Bonnie, während die drei sich in
einer Umarmung verstrickten.
„Und ausgerechnet mit Tyler Smallwood“, fügte Meredith hinzu.
„Was das betrifft, habe ich meine Lektion gelernt“, erwiderte Elena. Einen Moment lang verdunkelte sich
ihr Gesicht: Dann lachte Bonnie plötzlich.
„Und du hast dir nebenbei einen großen Fisch geangelt. Stefan Salvatore! War das ein dramatischer Auftritt.
Als du mit ihm zur Tür reinkamst, hab ich gedacht, ich hab 'ne Erscheinung.
Wie hast du das bloß angestellt?“
„Ich hab gar nichts gemacht. Er kam einfach im richtigen Moment vorbei, wie die Kavallerie in alten
Westernfilmen.“
„Um deine Ehre zu verteidigen“, schwärmte Bonnie. „Was könnte aufregender sein?“
„Na, da fallen mir auf Anhieb ein, zwei Sachen ein“, sagte Meredith nüchtern. „Aber vielleicht hat Elena die
auch schon abgehakt.“
„Ich werde euch alles erzählen.“ Elena ließ die Freundinnen los und trat einen Schritt zurück. „Aber kommt
ihr erst mit mir zu Vickie? Ich möchte mit ihr reden.“
„Du kannst erst mal mit uns reden, während du dich anziehst, dir die Zähne putzt und so weiter“, erklärte
Bonnie fest. „Und wenn du auch nur eine Kleinigkeit ausläßt, wirst du dich vor der Spanischen Inquisition
wiederfinden.“
„Na, schau mal“, spottete Meredith. „Mr. Tanners Arbeit hat sich bezahlt gemacht. Unsere Bonnie weiß
inzwischen, daß die Inquisition was mit den Hexenjagden im Mittelalter zu tun hatte und keine Rockband
ist.“
Elena lachte einfach so aus überschäumender Freude, während sie die Treppe hochging.
Mrs. Bennett sah blaß und müde aus, aber sie ließ die Freundinnen eintreten.
„Vickie ruht sich aus“, erklärte sie. Ihr Lächeln zitterte leicht. Elena, Bonnie und Meredith drängten sich in
den engen Flur.
Mrs. Bennett klopfte leicht an Vickies Tür. „Vickie, Liebling, ein paar Mädchen aus deiner Schule möchten
dich besuchen. Aber bitte nicht zu lange“, fügte sie hinzu, als sie die Tür öffnete.
„In Ordnung“, versprach Elena. Sie trat in das hübsche, blauweiß eingerichtete Zimmer. Die anderen folgten
ihr. Vickie lag, auf Kissen gestützt, im Bett, die hellblaue Steppdecke hatte sie bis ans Kinn gezogen. Ihr
Gesicht hob sich schneeweiß dagegen ab. Ihr Blick unter den schweren Lidern war starr und leer.
„So hat sie auch letzte Nacht ausgesehen“, flüsterte Bonnie.
Elena trat neben das Bett. „Vickie?“ sagte sie leise. Vickie starrte weiter vor sich hin, aber ihr Atem änderte
sich kaum merkbar. „Vickie, kannst du mich hören? Ich bin's, Elena Gilbert.“ Sie schaute unsicher zu
Bonnie und Meredith.
„Sie scheint unter Beruhigungsmitteln zu stehen“, meinte Meredith.
Mrs. Bennett hatte jedoch behauptet, daß Vickie keine Medikamente bekommen hatte. Elena runzelte die
Stirn und wandte sich wieder an das reglose Mädchen.
„Vickie, ich bin's, Elena. Ich möchte mit dir nur über letzte Nacht reden. Du sollst wissen, daß ich dir
glaube.“ Sie achtete nicht auf den scharfen Blick, den ihr Meredith zuwarf, und fuhr fort. „Ich wollte dich
fragen...“
„Nein!“ Ein gellender Schrei kam aus Vickies Kehle. Ihr Körper, der reglos wie eine Wachspuppe
dagelegen hatte, bewegte sich plötzlich heftig. Das hellbraune Haar fiel ihr über die Augen, während sie den
Kopf vor- und zurückwarf. Ihre Hände fuchtelten in der Luft herum. „Nein“, schrie sie. „Nein.“
„Tut was“, keuchte Bonnie erschrocken. „Mrs. Bennett! Mrs. Bennett!“
Elena und Meredith versuchten, Vickie im Bett festzuhalten. Das Mädchen wehrte sich verzweifelt. Das
Schreien hielt an. Plötzlich stand Vickies Mutter neben ihnen und stieß die anderen weg. Sie nahm Vickie in
die Arme. „Was habt ihr mit ihr gemacht?“ rief sie.
Vickie klammerte sich an die Mutter und beruhigte sich langsam, aber dann fiel ihr Blick über Mrs. Bennetts
Schulter auf Elena.
„Du gehörst dazu! Du bist böse“, schrie sie Elena hysterisch an. „Bleib mir vom Leib!“
Elena war wie vor den Kopf geschlagen. „Vickie! Ich bin nur gekommen, um dich zu fragen...“
„Ich glaube, ihr geht besser. Laßt uns in Frieden.“ Mrs. Bennett beugte sich beschützend über ihre Tochter.
„Könnt ihr nicht sehen, was ihr ihr antut?“
Geschockt und schweigend verließ Elena das Zimmer. Bonnie und Meredith folgten ihr.
„Es muß doch von den Medikamenten kommen“, sagte Bonnie, als sie aus dem Haus waren. „Sie ist ja total
ausgeflippt.“
„Sind dir ihre Hände aufgefallen?“ fragte Meredith Elena. „Als wir versucht haben, sie festzuhalten, hatte
ich eine ihrer Hände gepackt. Sie war eiskalt.“
Elena schüttelte verwirrt den Kopf. Es ergab alles keinen Sinn, aber sie würde sich den Tag nicht verderben
lassen. Verzweifelt suchte sie nach einer Ablenkung von dem unangenehmen Erlebnis.
„Ich hab's“, rief sie plötzlich. „Die Pension.“
„Was?“
„Ich hab Stefan gebeten, mich heute anzurufen, aber wir könnten doch genausogut zu ihm hingehen. Es ist
nicht weit.“
„Nur zwanzig Minuten zu Fuß“, meinte Bonnie düster. Dann hellte sich ihre Miene auf. „Zumindest kriegen
wir endlich mal sein Zimmer zu sehen.“
„Also, ich hatte mir eigentlich vorgestellt, daß ihr zwei unten wartet. Ich bleib nur ein paar Minuten bei
ihm“, verteidigte sich Elena, als die Freundinnen sie verblüfft ansahen. Es war merkwürdig, aber sie wollte
Stefan noch nicht mit ihren Freundinnen teilen. Er war so neu für sie, daß er ihr fast wie ein Geheimnis
vorkam.
Auf ihr Klopfen an der polierten Eichentür öffnete Mrs. Flowers. Sie war eine alte, winzige Frau. Ihr
Gesicht war voller Falten, doch der Blick ihrer schwarzen Augen war erstaunlich scharf und klar.
„Du mußt Elena sein“, sagte sie. „Ich hab dich und Stefan letzte Nacht rausgehen sehen. Als er zurückkam,
hat er mir deinen Namen verraten.“
„Sie haben uns gesehen?“ fragte Elena überrascht. „Ich habe Sie gar nicht bemerkt.“
„Nein, das stimmt.“ Mrs. Flowers kicherte. „Was bist du für ein hübsches Mädchen. Ein sehr hübsches
Mädchen“, fügte sie hinzu und tätschelte Elenas Wange.
„Danke“, sagte Elena verlegen. Sie mochte die schwarzen Augen nicht, die sie musterten. „Ist Stefan zu
Hause?“ Sie blickte an Mrs. Flowers vorbei zur Treppe.
„Ja. Wenn er nicht vom Dach aus abgeflogen ist.“ Sie kicherte wieder, und Elena lachte höflich.
„Wir bleiben hier unten bei Mrs. Flowers“, erklärte Meredith Elena, während Bonnie wie eine Märtyrerin
die Augen gen Himmel rollte. Ein Lächeln verbergend nickte Elena und stieg die Treppe hoch.
So ein merkwürdiges altes Haus, dachte sie wieder, als sie die verborgene Treppe im Schlafzimmer des
zweiten Stocks fand. Die Stimmen von unten drangen nur schwach herauf, und während sie die Stufen
hochging, verstummten sie ganz. Es herrschte völlige Stille, als sie die spärlich erleuchtete Etage am Ende
der Treppe erreicht hatte. Elena kam sich vor wie in einer anderen Welt. Ihr Klopfen klang sehr ängstlich.
„Stefan?“
Von drinnen war kein Laut zu hören, aber plötzlich ging die Tür auf. Sicher sieht heute jeder müde und blaß
aus, dachte sie. Und dann war sie in seinen Armen.
Stefan drückte sie fest an sich. „Elena. Oh, Elena...“
Doch er zog sich ein wenig zurück. Es war wie letzte Nacht. Elena konnte spüren, wie sich der Abgrund
zwischen ihnen öffnete. Sie sah, wie der kalte Blick in seine Augen trat.
„Nein.“ Sie merkte kaum, daß sie laut gesprochen hatte. „Ich lasse das nicht zu.“ Sie küßte ihn auf den
Mund.
Einen Moment lang kam keine Reaktion von Stefan. Dann überlief ihn ein Schauder, und sie küßten sich
leidenschaftlich. Seine Finger wühlten in ihrem Haar. Die Welt um Elena versank. Nichts mehr existierte
außer Stefan, seinen Armen, die sie umfangen hielten, und seinem Kuß, der in ihr ein wildes Feuer
entfachte.
Ein paar Minuten oder ein paar Jahrhunderte später trennten sie sich zitternd voneinander. Aber ihre Blicke
blieben verbunden. Elena sah, daß seine Pupillen selbst für das spärliche Licht zu sehr erweitert waren. Die
Iris war nur noch ein schmales, grünes Band. Er machte einen benommenen Eindruck, und sein Mund... sein
Mund war angeschwollen.
„Ich glaube, daß wir besser vorsichtig sind, wenn wir so etwas noch einmal machen.“ Elena hörte die
mühsame Beherrschtheit in seiner Stimme.
Sie nickte, selbst ein wenig betäubt. Nicht in der Öffentlichkeit, dachte sie. Und nicht, wenn Bonnie und
Meredith unten warten. Und auch nicht, wenn sie ganz allein waren, es sei denn...
„Aber du kannst mich doch einfach nur halten“, sagte sie.
Wie merkwürdig, daß sie sich nach dieser überwältigenden Leidenschaft in seinen Armen jetzt so friedlich
und geborgen fühlte. „Ich liebe dich“, flüsterte sie.
Sie fühlte den Schauder, der ihn durchfuhr. „Elena“, sagte er wieder, und diesmal klang es fast verzweifelt.
Sie hob den Kopf. „Was ist daran falsch? Was kann schlimm daran sein, Stefan? Liebst du mich nicht?“
„Ich...“ Er sah sie hilflos an. Da hörten sie undeutlich Mrs. Flowers von der Treppe her rufen. „Stefan!
Stefan!“ Sie schien mit einem Schuh auf das Geländer zu klopfen.
Stefan seufzte. „Ich schau besser mal nach, was sie will.“ Er entfernte sich von ihr. Sein Gesicht war nicht zu deuten. Allein gelassen, kreuzte Elena die Arme vor der Brust. Sie fror. Es war so kalt hier drin. Er sollte ein Kaminfeuer haben, dachte sie. Ihr Blick schweifte durch den Raum und blieb schließlich an der Mahagonitruhe hängen, die sie gestern untersucht hatte. Das Kästchen. Sie schaute zu der geschlossenen Tür. Wenn er zurückkam und sie erwischte... Sie sollte wirklich nicht, aber sie ging bereits auf die Truhe zu. Denk an Blaubarts Frau aus dem Märchen, ermahnte sie sich. Neugier hat sie umgebracht. Doch ihre Hand lag schon auf dem eisernen Deckel. Ihr Herz klopfte wie wild, als sie ihn hochhob. In dem dämmrigen Licht sah die kleine Kiste zunächst leer aus. Elena lachte nervös. Was hatte sie denn erwartet? Liebesbriefe von Caroline? Einen blutigen Dolch? Dann entdeckte sie den schmalen Streifen Seide. Er lag sorgfältig kleingefaltet in einer Ecke. Sie nahm ihn heraus und zog ihn durch die Finger. Es war das apricotfarbene Haarband, das sie am zweiten Schultag verloren hatte. Oh, Stefan. Tränen traten in ihre Augen, und ein hilfloses Gefühl überwältigender Liebe stieg in ihr auf. Schon so lange? Du liebst mich schon so lange? Ich liebe dich auch... Und es macht mir nichts aus, wenn du es mir nicht sagen kannst, dachte sie. Draußen vor der Tür ertönte ein Geräusch. Elena faltete das Haarband schnell zusammen und legte es in das Kistchen zurück. Dann richtete sie den Blick auf die Tür und wischte sich schnell die Tränen ab. 10. KAPITEL 7. Oktober, ungefähr 8 Uhr morgens Liebes Tagebuch, ich schreibe das hier während der Geometriestunde und hoffe, daß Miss Halpern mich nicht erwischt. Letzte Nacht bin ich nicht zum Schreiben gekommen, obwohl ich große Lust dazu hatte. Ich sitze an diesem Morgen im Unterricht, und das ganze Wochenende kommt mir fast wie ein Traum vor. Einige Sachen waren sehr schlimm und andere sehr, sehr schön. Ich werde keine Anzeige gegen Tyler erstatten. Er ist immerhin für eine Zeit vom Unterricht ausgeschlossen und auch aus dem Footballteam geflogen. Dick ebenfalls, weil er auf dem Ball betrunken war. Niemand spricht es aus, aber ich vermute, daß viele Leute glauben, er war's, der Vickie so zugerichtet hat. Bonnies Schwester hat Tyler gestern im Krankenhaus gesehen. Seine Augen sind schwarz und zugeschwollen, sein ganzes Gesicht ist voller Blutergüsse. Ich mach mir echt Sorgen, was passieren wird, wenn er und Dick wieder zur Schule kommen. Jetzt haben sie noch mehr Grund, Stefan zu hassen. Was mich zu Stefan bringt. Als ich heute morgen aufwachte, packte mich eine Riesenangst. Wenn nun alles nicht wahr ist? dachte ich. Wenn es nie geschehen ist oder er seine Meinung geändert hat? Tante Judith machte sich beim Frühstück wieder Sorgen, weil ich nichts essen konnte. Aber in der Schule habe ich ihn vor dem Büro auf dem Flur getroffen. Wir haben uns nur angesehen. Und ich wußte es. Kurz bevor er sich abwandte, hat er mich ein wenig traurig angelächelt. Auch das habe ich verstanden. Er hat recht. Wir gehen in der Öffentlichkeit besser nicht aufeinander zu. Es sei denn, wir wollen den Mitschülern etwas Nervenkitzel verschaffen. Wir gehören ganz fest zusammen. Jetzt muß ich nur noch einen Weg finden, Jean-Claude das alles zu erklären. Ha, ha. Mir ist jedoch unverständlich, warum Stefan darüber nicht so glücklich ist wie ich. Wenn wir zusammen sind, kann ich spüren, was er fühlt, und ich weiß, wie sehr er mich liebt und begehrt. Er küßt mich mit einem verzweifelten Hunger. Fast, als wollte er mir die Seele aus dem Leib reißen. Wie ein Wasserstrudel, der... Immer noch 7. Oktober, jetzt ungefähr zwei Uhr nachmittags.
Nun, es gab eine kleine Unterbrechung, weil Miss Halpern mich tatsächlich erwischt hat. Sie begann sogar,
den Text laut vorzulesen, aber das Thema schien ihr dann doch zu heiß zu werden, und sie hörte auf. Sie war
ziemlich verstimmt. Egal, ich bin zu glücklich, um mich über einen Tadel zu ärgern.
Stefan und ich waren in der Pause zusammen. Wir sind zu einer Ecke der Wiese gegangen. Ich hatte mein Lunchpaket dabei, er hatte nichts mitgebracht. Wie es sich herausstellte, konnte ich auch nichts essen. Wir haben uns nicht angefaßt - ehrlich nicht! Uns nur viel unterhalten und tief in die Augen gesehen. Mehr als bei jedem anderen Jungen sehne ich mich danach, ihn zu berühren. Ich weiß, daß er es auch will, aber er hält sich zurück. Das ist es, was ich nicht verstehen kann. Warum er mit aller Macht dagegen ankämpft. Gestern habe ich ja in seinem Zimmer mein Haarband als Beweis gefunden, daß er mich von Anfang an beobachtet hat. Ich habe ihm nicht gebeichtet, daß ich es weiß. Denn augenscheinlich will er, daß es ein Geheimnis bleibt. Aber das zeigt doch, wieviel ich ihm bedeute, oder? Ich werde dir von jemand anderem berichten, der auch ziemlich verstimmt ist. Anscheinend hat die süße Caroline Stefan in jeder Pause ins verlassene Photolabor gezerrt, und als er heute nicht auftauchte, hat sie nach ihm gesucht... und uns beide gefunden. Armer Stefan, er hatte sie total vergessen und war selbst ziemlich geschockt. Als sie, im Gesicht ganz grün vor Wut, wieder abgezogen war, hat er mir erzählt daß sie sich vom ersten Tag an wie eine Klette an ihn geheftet hat. Ihre Masche war ganz einfach. Sie hatte bemerkt, daß er in den Pausen nie etwas aß, und ihm weisgemacht, daß sie auch nicht ißt, weil sie gerade eine Diät macht. Also hat sie ihm vorgeschlagen, sich irgendwohin zurückzuziehen, wo sie sich ungestört ein wenig entspannen könnten. Er hat kein schlechtes Wort über sie verloren. Das liegt sicher nur an seinen guten Manieren. Ein Gentleman tut so etwas eben nicht. Aber er hat mir versichert, daß zwischen ihnen nichts war. Und was Caroline angeht, für sie ist es sicher schlimmer, einfach vergessen zu werden, als wenn zwischen ihr und Stefan die Fetzen geflogen wären. Ich wundere mich allerdings, warum er nichts ißt. Das ist seltsam für einen Footballspieler. Hilfe, Mr. Tanner kam gerade vorbei, und ich konnte mein Tagebuch gerade noch zuknallen. Bonnie kichert hinter ihrem Geschichtsbuch. Ich kann sehen, wie ihre Schultern zittern. Stefan, vor mir, ist so angespannt, als würde er am liebsten jeden Moment aufspringen. Matt wirft mir Blicke zu, die nur bedeuten können „du Idiotin“, und Caroline kocht vor Wut. Ich habe Mr. Tanner als er vor der Klasse stand, sehr, sehr unschuldig angesehen, während ich gleichzeitig geschrieben habe. Deshalb ist meine Schrift etwas undeutlich. Jetzt verstehst du das sicher, liebes Tagebuch. Im letzten Monat bin ich nicht ich selbst gewesen. Ich konnte weder klar denken noch mich auf etwas konzentrieren. Es ist soviel unerledigt geblieben, daß ich fast Angst bekomme. Ich soll mich um die Dekoration für unser Schulfest unter dem Motto „Spukhaus“ kümmern und hab noch keinen Handschlag dafür getan. Jetzt habe ich noch genau dreieinhalb Wochen, um alles auf die Beine zu stellen - und dabei möchte ich nur mit Stefan zusammensein. Ich könnte das Komitee verlassen, doch dann hätten Bonnie und Meredith den Schwarzen Peter. Und ich höre noch Matt sagen: „Du willst nur, daß sich alles immer um dich dreht“, als ich ihn bat, Stefan zum Ball einzuladen. Das stimmt nicht. Oder, wenn's in der Vergangenheit so war, dann soll's nie wieder so werden. Ich möchte das klingt jetzt total albern - aber ich möchte Stefans Liebe wert sein. Ich weiß, daß er seine Sportkameraden nicht im Stich lassen würde, nur weil es ihm gerade in den Kram paßt. Ich will, daß er stolz auf mich ist. Er soll mich so sehr lieben, wie ich ihn liebe. „Beeil dich!“ rief Bonnie von der Tür der Turnhalle her. Neben ihr wartete der Hausmeister der Schule, Mr. Shelby. Elena warf einen letzten Blick auf die entfernte Gestalt auf dem Footballfeld, dann ging sie widerstrebend über den Asphalt auf Bonnie zu. „Ich wollte Stefan noch Bescheid geben, wo ich hin will“, erklärte sie. Seit einer Woche waren sie jetzt zusammen, und noch immer durchfuhr sie freudige Erregung, wenn sie nur seinen Namen aussprach. Jeden Abend war er bei Sonnenuntergang vor ihrer Tür erschienen, die Hände in den Taschen und den Kragen seiner Jacke hochgestellt. Sie waren gewöhnlich in der Dämmerung spazieren gegangen und hatten auf der Veranda lange Gespräche geführt. Elena wußte, das war Stefans Art, sicherzugehen, daß sie nie ganz allein waren. Seit dem Tag, an dem sie sich so leidenschaftlich geküßt hatten, hatte er darauf geachtet. Er schützt
meine Ehre, dachte Elena ein wenig spöttisch. Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr sie, denn es war klar, daß
mehr dahinterstecken mußte als nur Ritterlichkeit.
„Er kann auch mal einen Abend ohne dich auskommen“, erwiderte Bonnie ätzend. „Wenn du jetzt mit ihm
redest, kannst du dich doch wieder nicht losreißen, und ich möchte vor dem Abendessen zu Hause sein.“
„Guten Tag, Mr. Shelby“, begrüßte Elena den Hausmeister, der immer noch geduldig wartete. Erstaunt
bemerkte sie, daß der Hausmeister ihr verschwörerisch zuzwinkerte. „Wo ist Meredith?“ fügte sie hinzu.
„Hier“, erklang eine Stimme hinter ihr, und Meredith erschien mit einem Karton voller Schnellhefter und
Notizblöcke. „Ich hab das Zeug aus deinem Schließfach geholt.“
„Sind jetzt alle da?“ fragte Mr. Shelby. „Gut, dann achtet darauf, daß ihr die Tür hinter euch schließt und
den Schlüssel rumdreht. So kann keiner rein.“
Bonnie, die gerade eintreten wollte, blieb wie angewurzelt stehen. „Sind Sie denn sicher, daß nicht schon
jemand drinnen auf uns lauert?“ wollte sie ängstlich wissen.
Elena versetzte ihr einen Schubs. „Beeil dich!“ äffte sie Bonnie nach. „Ich will vor dem Abendessen zu
Hause sein.“
„Es ist niemand drin“, beruhigte Mr. Shelby sie. Sein Mund zuckte unter dem Schnurrbart belustigt. „Aber
ihr Mädchen könnt schreien, wenn ihr etwas braucht. Ich bin in der Nähe.“
Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloß. Das Geräusch hörte sich merkwürdig endgültig an.
„An die Arbeit“, seufzte Meredith und stellte den Karton ab.
Elena nickte und sah sich in der großen, leeren Halle um. Jedes Jahr veranstalteten die Schüler eine
„Spukhaus-Party“ für einen guten Zweck. Elena gehörte wie Bonnie und Meredith seit zwei Jahren zum
Dekorationsteam. Doch es war diesmal anders, da sie die Vorsitzende war. Sie mußte Entscheidungen fällen,
die alle betrafen, und konnte sich nicht einmal daran orientieren, wie man die Dekoration in den Jahren
zuvor gemacht hatte.
Das „Spukhaus“ war sonst immer in einer leerstehenden Lagerhalle eingerichtet worden. Aber nach den
letzten Ereignissen hielten es alle für sicherer, es diesmal in der Turnhalle stattfinden zu lassen. Für Elena
bedeutete das, sie mußte die gesamte Dekoration neu entwerfen, und in drei Wochen war schon Halloween.
„Es ist tatsächlich ziemlich gespenstisch hier drin“, sagte Meredith leise. Die Atmosphäre ist beklemmend,
dachte Elena. Sie merkte, daß auch sie unwillkürlich die Stimme senkte.
„Laßt uns die Halle erst mal ausmessen“, schlug sie vor. Die drei gingen den Raum entlang. Ihre Schritte
hallten hohl von den Wänden wider.
„Gut“, erklärte Elena, als sie fertig waren. „Jetzt legen wir los.“ Sie versuchte, das ungute Gefühl
abzuschütteln, das sie überfallen hatte. Warum sollte sie sich in der Turnhalle mitten im Schulgelände
fürchten? Außerdem waren Bonnie und Meredith bei ihr, und das gesamte Footballteam trainierte draußen,
nur ein paar Meter entfernt.
Die drei setzten sich auf die Tribüne, Notizblock und Bleistift in der Hand. Elena und Meredith blätterten
die Entwürfe der vergangenen Jahre durch, während Bonnie auf ihren Stift biß und sich gedankenvoll
umsah.
„Also, das ist der Grundriß.“ Meredith zeichnete eine kurze Skizze auf ihren Block. „Und hier kommen die
Leute rein. Wir könnten die blutige Leiche am ganz anderen Ende... übrigens wer spielt die Rolle dieses
Jahr?“
„Trainer Lyman, würde ich sagen. Er hat seine Sache letztes Jahr gut gemacht, und er hilft immer, unsere
lieben Jungs im Zaum zu halten.“ Elena deutete auf die Zeichnung. „Wir können den Teil abtrennen und
eine mittelalterliche Folterkammer daraus machen. Von dort aus kommt man dann direkt in den Raum der
lebenden Toten...“
„Ich finde, wir sollten Druiden dabei haben“, unterbrach Bonnie plötzlich.
„Was?“ fragte Elena. Doch als Bonnie gerade „Druiden“ buchstabieren wollte, wehrte sie ab. „Schon gut.
Ich erinnere mich. Aber warum?“
„Weil sie praktisch das Halloween-Fest erfunden haben. Ehrlich. Es ist aus einem ihrer Festtage entstanden.
Damals wurden große Feuer angezündet und in weiße Rüben Gesichter geschnitzt, um die bösen Geister
fernzuhalten. Die Menschen glaubten, daß die Grenze, die das Totenreich von den Lebenden trennt, an
diesem Tag am dünnsten sei. Es war richtig furchteinflößend, Elena. Sie haben Menschenopfer veranstaltet.
Vielleicht könnten wir Trainer Lyman opfern.“
„Gar keine schlechte Idee“, überlegte Meredith. „Die blutige Leiche könnte diesmal ein Opfer sein. Wißt
ihr, so richtig auf einem Steinaltar mit einem Messer in der Brust und Pfützen von Blut drumherum. Und
dann, wenn man nahe herantritt, richtet sich das Opfer plötzlich auf.“
„Und verursacht beim Zuschauer einen Herzinfarkt“, sagte Elena trocken. Doch sie mußte zugeben, daß der
Einfall gut war. Ihr wurde nur ein bißchen schlecht, wenn sie es sich vorstellte. All das Blut... aber das
würde ja nur eine Mischung aus Ketchup und Kaffee sein.
Die anderen beiden Mädchen waren ebenfalls still geworden. In den Waschräumen der Jungs nebenan
wurden geräuschvoll Wasserhähne aufgedreht und Schließfachtüren zugeknallt.
„Das Training ist vorbei“, murmelte Bonnie. „Draußen muß es schon dunkel sein.“
„Ja, und unser Held steht jetzt unter der Dusche, wie Gott ihn schuf. Na, würdest du nicht gern einen Blick
riskieren?“ Meredith schaute Elena mit hochgezogenen Augenbrauen an.
„Aber sicher doch“, erwiderte Elena, doch nur halb scherzend. Irgendwie hatte sich die Atmosphäre in der
Halle bedrohlich verändert. Elena wünschte sich in diesem Moment nichts mehr, als Stefan zu sehen, mit
ihm zusammenzusein.
„Habt ihr was Neues von Vickie Bennett gehört?“ wechselte sie plötzlich das Thema.
„Nun“, antwortete Bonnie nach kurzem Zögern. „Ihre Eltern wollen wohl einen Psychiater hinzuziehen.“
„Warum denn das?“
„Sie glauben, daß die Dinge, die sie uns erzählt hat, Halluzinationen oder so was gewesen sind. Außerdem
leidet sie unter schrecklichen Alpträumen.“
„Oh.“ Elena schwieg. Die Geräusche von nebenan verstummten. Dann wurde die Außentür zugeworfen.
Halluzinationen, dachte sie. Halluzinationen und Alpträume. Aus irgendeinem Grund erinnerte sie sich
schlagartig an den Abend auf dem Friedhof. Jenem Abend, an dem Bonnie die Freundinnen beschworen
hatte, vor etwas zu fliehen, das keine von ihnen sehen konnte.
„Wir machen uns wohl besser wieder an die Arbeit“, sagte Meredith. Elena fuhr aus ihren Gedanken und
nickte.
„Wir könnten einen Friedhof bauen“, schlug Bonnie zögernd vor, als hätte sie Elenas Gedanken gelesen.
„Im Spukhaus, meine ich.“
„Nein“, erwiderte Elena heftig. „Wir bleiben bei dem, was wir haben“, fügte sie ruhiger hinzu und beugte
sich über den Notizblock.
Wieder hörte man nur das Kratzen der Bleistifte auf dem Papier.
„Gut“, meinte Elena schließlich. „Jetzt müssen wir die verschiedenen Bereiche abmessen. Jemand muß
hinter die Tribüne gehen... Was ist das?“
Die Lichter in der Turnhalle flackerten und leuchteten nur noch mit halber Kraft.
„Oh, nein“, stöhnte Meredith. Die Neonröhren flackerten erneut, gingen ganz aus und kamen schwach
wieder.
„Ich kann überhaupt nichts mehr lesen.“ Elena starrte auf ihr Blatt Papier und dann zu Bonnie und Meredith,
deren Gesichter sich wie weiße Schemen aus der Dunkelheit abhoben.
„Die Notstromversorgung muß kaputt sein“, sagte Meredith. „ich hole Mr. Shelby.“
„Können wir nicht morgen weitermachen?“ klagte Bonnie.
„Morgen ist Samstag. Und wir sollten schon letzte Woche hiermit fertig sein“, gab Elena zu bedenken.
„Ich hole Shelby“, erklärte Meredith wieder. „Und du kommst mit, Bonnie.“
„Wir können doch alle drei...“ begann Elena, aber Meredith unterbrach sie.
„Wenn wir ihn alle suchen und ihn nicht finden, kommen wir nicht mehr rein. Auf die Beine, Bonnie. Denk
dran, wir gehen nur in die gute, alte Schule.“
„Aber es ist so dunkel.“
„Es ist überall dunkel, schließlich ist Abend. Wir sind zu zweit. Uns passiert nichts.“ Sie zog die
widerstrebende Bonnie zur Tür. „Laß keinen rein, Elena.“
„Als ob du mir das noch sagen müßtest.“ Elena ließ die beiden raus und sah ihnen nach, bis sie in der
Dunkelheit auf dem Flur verschwanden. Dann trat sie zurück in die Halle und schloß die Tür.
Na, das war ja ein feiner Schlamassel, wie ihre Mutter immer
zu sagen pflegte. Elena ging zu dem Karton und legte die Schnellhefter und Notizblöcke wieder hinein. Bei
diesem Licht konnte sie die Dinge nur verschwommen erkennen. Und es war totenstill. Sie war ganz allein
in der riesigen, dämmrigen Halle.
Jemand beobachtete sie...
Sie hatte keine Ahnung, woher sie das wußte, aber sie war sicher. Jemand verbarg sich in der dunklen
Turnhalle und beobachtete sie. Augen, die im Dunklen glühen, hatte der Alte gestammelt. Und Vickie
ebenfalls. Jetzt waren diese Augen auf sie gerichtet.
Elena fuhr herum. Sie versuchte, in den Schatten etwas zu erkennen. Unwillkürlich hielt sie den Atem an.
Sie hatte Angst, dieses... Ding da würde sie anfallen, wenn sie ein Geräusch machte. Aber sie konnte weder
etwas sehen noch hören.
Die Tribüne schien sich ins Unendliche zu erstrecken. Das andere Ende der Halle war wie von grauem
Rauch verhangen. Dunkler Nebel, dachte sie plötzlich. Sie spürte, wie jeder ihrer Muskeln sich schmerzhaft
verkrampfte, während sie verzweifelt lauschte. Was war das jetzt für ein flüsterndes Geräusch? Bitte, laß es
nur Einbildung sein, flehte sie innerlich.
Plötzlich war ihr Verstand wieder ganz klar. Sie mußte hier raus. Sofort! Hier drohte ihr echte Gefahr. Es
war keine Ausgeburt ihrer Phantasie. Etwas war da, etwas Böses, das es auf sie abgesehen hatte. Und sie war
ganz allein.
Da! In den Schatten! Eine Bewegung!
Der Schrei blieb Elena in der Kehle stecken. Ihr Körper gehorchte ihr nicht. Sie war wie gelähmt vor Angst
und wurde gleichzeitig von einer unheimlichen Kraft an der Stelle festgehalten. Hilflos sah sie zu, wie das
Wesen aus dem Dunkel auf sie zukam. Es schien, als würden die Schatten selbst lebendig und vor ihren
Augen eine menschliche Gestalt annehmen. Die Gestalt eines jungen Mannes.
„Es tut mir leid, wenn ich dir Angst eingejagt habe.“
Die Stimme war freundlich und hatte einen leichten Akzent, den sie nicht kannte, Außerdem klang sie gar
nicht entschuldigend.
Die Erleichterung, die sie plötzlich überkam, war so groß, daß es fast schmerzte. Elena fiel in sich
zusammen und atmete hörbar aus.
Es war nur ein junger Mann. Ein früherer Schüler oder vielleicht eine Aushilfe von Mr. Shelby. Ein ganz
normaler Typ, der leicht lächelte, als amüsierte er sich darüber, daß sie fast umgekippt wäre.
Nun... ganz so normal vielleicht doch nicht. Er sah unverschämt gut aus. Sein Gesicht wirkte in dem
künstlichen Zwielicht fahl, aber sie konnte erkennen, daß seine Züge fast perfekt geschnitten waren. Er hatte
dichtes, schwarzes Haar. Die Linie seiner Wangenknochen mußte der Traum eines jeden Bildhauers sein.
Und er hatte fast unsichtbar gewirkt, weil er nur Schwarz trug: weiche, schwarze Stiefel, schwarze Jeans,
schwarzer Pullover und darüber eine schwarze Lederjacke.
Er lächelte immer noch. Elenas Erleichterung verwandelte sich in Zorn.
„Wie bist du hier reingekommen?“ fragte sie scharf. „Und was machst du überhaupt hier? In der Turnhalle
darf sich niemand aufhalten.“
„Ich kam durch die Tür.“ Seine Stimme war sanft und kultiviert. Aber Elena konnte hören, daß er immer
noch amüsiert war, und das verwirrte sie.
„Alle Türen sind abgeschlossen“, erwiderte sie anklagend.
Er hob die Augenbrauen und lächelte wieder. „Tatsächlich?“
Elena bekam langsam Angst. Die Haare in ihrem Nacken sträubten sich. „Jedenfalls sollten sie das sein“,
sagte sie, so kalt sie konnte.
„Du bist sauer“, stellte er ernst fest. „Ich sagte, es tut mir leid, daß ich dir angst gemacht hab.“
„Du hast mir keine angst gemacht!“ fuhr sie ihn an. Sie kam sich in seiner Gegenwart irgendwie dumm vor.
Wie ein Kind, das von jemandem bei Laune gehalten wird, der viel älter und welterfahrener ist. Das machte
sie noch wütender. „Ich war nur ein wenig erschreckt“, fuhr sie fort. „Das ist auch kaum überraschend, wenn
jemand so wie du in den Schatten herumschleicht.“
„Interessante Dinge passieren in der Dunkelheit... manchmal.“ Er lachte sie immer noch aus. Sie erkannte es
an seinen Augen. Er war einen Schritt näher herangekommen, und sie konnte sehen, daß diese Augen
ungewöhnlich waren. Sie waren fast schwarz, doch merkwürdige Lichter tanzten darin. Man schien in sie
eintauchen zu können. Tiefer und tiefer...
Elena fiel auf, daß sie ihn wie hypnotisiert anstarrte. Warum gingen die Neonröhren nicht wieder an? Sie
wollte hier raus. Sie bewegte sich fort von ihm, so daß eine Sitzreihe zwischen ihnen war, und machte sich
daran, den letzten Stapel Schnellhefter in den Karton zu legen. Vergiß die Arbeit für heute abend, dachte sie.
Nur weg!
Aber das anhaltende Schweigen wurde ihr unbehaglich. Er stand nur reglos da und beobachtete sie. Warum
sagte er nichts?
„Hast du nach jemandem gesucht?“ Sie war ärgerlich auf sich selbst, weil sie als erste gesprochen hatte.
Er starrte sie immer noch an. Elena wand sich innerlich unter dem Blick seiner dunklen Augen. Sie
schluckte.
Die Augen auf ihre Lippen gerichtet, murmelte er: „Oh, ja.“
„Was?“ Elena hatte vergessen, was sie gefragt hatte. Brennende Röte stieg ihren Hals und die Wangen hoch.
Sie fühlte sich plötzlich wie beschwipst. Wenn er doch nur aufhören würde, sie so anzusehen...
„Ja, ich habe nach jemandem gesucht“, wiederholte er nicht lauter als vorher. Mit einem geschmeidigen
Schritt trat er auf sie zu. Sie waren jetzt nur noch durch die Ecke eines Sitzes getrennt.
Elena konnte nicht mehr atmen. Er stand so nahe. Nahe genug, um sie berühren zu können. Sie roch einen
schwachen Duft. Eine Mischung aus Eau de Cologne und Leder. Seine Augen hielten sie immer noch
gefangen. Sie konnte den Blick nicht abwenden. Diese Augen glichen keinen anderen. Sie waren schwarz
wie der Himmel um Mitternacht, die Pupillen erweitert, wie die einer Katze. Sie füllten ihren ganzen
Blickwinkel, als er den Kopf zu ihr hinunterbeugte. Elena fühlte, wie sich ihre Lider halb schlossen. Ihr
Kopf lehnte sich zurück, und ihre Lippen öffneten sich unwillkürlich.
Nein! Gerade noch rechtzeitig drehte sie das Gesicht zur Seite. Sie hatte das Gefühl, in letzter Sekunde vom
Rand eines gähnenden Abgrunds zurückgesprungen zu sein. Was tue ich da? dachte sie zutiefst erschrocken.
Ich wollte zulassen, daß er mich küßt. Ein total Fremder, den ich erst vor wenigen Minuten kennengelernt
habe.
Aber das war nicht das Schlimmste. Ein paar Momente lang war etwas Unvorstellbares geschehen. Für diese
kurze Zeit hatte sie Stefan vergessen.
Doch jetzt war er wieder in ihrem Herzen, und ihr Verlangen nach ihm war so groß, daß es fast schmerzte.
Sie sehnte sich nach Stefan, nach der Sicherheit, die seine Umarmung bot.
Elena schluckte hart. Ihr Atem ging schnell. Sie bemühte sich, ruhig und gefaßt zu sprechen. „Ich werde
jetzt gehen. Wenn du jemanden suchst, siehst du dich besser woanders nach ihm um.“
Er schaute sie merkwürdig an, mit einem Gesichtsausdruck, den sie nicht verstand. Es war eine Mischung
aus Ärger, widerwilligem Respekt und etwas anderem. Einem heißen, unbeherrschten Gefühl, das ihr
irgendwie angst machte.
Er wartete mit seiner Antwort, bis ihre Hand auf dem Türknopf lag, und seine Stimme war leise, aber ernst,
ohne eine Spur von Belustigung. „Vielleicht habe ich sie ja schon gefunden... Elena.“
Als sie sich nach ihm umdrehte, war in der Dunkelheit nichts mehr von ihm zu sehen.
11. KAPITEL Elena stolperte den düsteren Flur entlang und versuchte, ihre Umgebung zu erkennen. Dann wurde die Welt
plötzlich in grelles Licht getaucht, und sie fand sich bei den vertrauten Schließfächern wieder. Ihre
Erleichterung war so groß, daß sie fast laut geschrien hätte. Sie hätte es nie für möglich gehalten, einmal so
froh zu sein, nur wieder sehen zu können. Sie blieb einen Moment stehen und sah sich dankbar um.
„Elena! Was machst du hier draußen?“
Bonnie und Meredith eilten auf sie zu.
„Wo seid ihr die ganze Zeit gewesen?“ fragte sie scharf.
Meredith zog eine Grimasse. „Wir konnten Shelby erst nicht finden. Und als wir ihn hatten, schlief er.
Ehrlich“, fügte sie bei Elenas ungläubigem Blick hinzu. „Er schlief. Wir kriegten ihn nicht wach. Erst als die
Lichter wieder angingen, hat er die Augen aufgemacht. Wir sind sofort zu dir zurückgelaufen. Aber was
machst du hier?“
Elena zögerte. „Ich war es leid, zu warten“, antwortete sie so unbeschwert wie möglich. „Für heute abend
haben wir genug getan, finde ich jedenfalls.“
„Und das aus deinem Mund“, sagte Bonnie spöttisch.
Meredith schwieg, blickte Elena jedoch fragend an. Elena war froh, daß Meredith nichts sagte, aber sie hatte das ungute Gefühl, daß die Freundin ihr nicht glaubte. Das ganze Wochenende über und während der folgenden Woche arbeitete Elena an den Plänen für das „Spukhaus“. Sie hatte wenig Zeit für Stefan, und das war frustrierend. Aber noch frustrierender war Stefan selbst. Sie konnte seine Leidenschaft für sie spüren, doch ebenso, daß er dagegen ankämpfte. Er weigerte sich nach wie vor, mit ihr ganz allein zu sein. In vieler Hinsicht war er ihr immer noch dasselbe Rätsel wie am ersten Tag. Er sprach nie von seiner Familie oder von seinem Leben vor Fell's Church. Ihre Fragen umging er. Einmal hatte sie ihn gefragt, ob er Italien vermißte, ob es ihm leid tat, hierhergekommen zu sein. Einen kurzen Moment hatten seine grünen Augen geleuchtet. „Wie kann es mir leid tun, wenn du hier bist?“ hatte er geantwortet und sie so geküßt, daß sie alle weiteren Fragen vergaß. In diesem Augenblick hatte Elena erkannt, was es bedeutete, ganz und gar glücklich zu sein. Sie hatte auch seine Freude gefühlt, und als er sich zurückzog, hatte sein Gesicht gestrahlt. „Elena“, hatte er geflüstert. Und doch hatte er sie in den letzten Tagen immer seltener geküßt, und sie hatte erkennen müssen, wie die Kluft zwischen ihnen wieder größer wurde. An diesem Freitag hatten Elena und Meredith beschlossen, bei Bonnie zu übernachten. Der Himmel war grau, und es drohte zu regnen. Für Mitte Oktober war es ungewöhnlich kalt. Die Bäume, die die stille Straße säumten, hatten den Frost schon zu spüren bekommen. Die Blätter der Ahornbäume waren scharlachrot, während die der Ginkgo-Zierbäume hellgelb leuchteten. Bonnie begrüßte sie an der Tür „Klar Schiff! Alle sind weg. Bis morgen nachmittag haben wir das ganze Haus für uns. Dann kommt meine Familie aus Leesburg zurück.“ Sie winkte sie herein und griff nach dem fetten Pekinesen, der rausdrängte. „Nein, Yangtze, bleib drinnen. Nein, hab ich gesagt.“ Aber es war zu spät. Yangtze war entwischt. Er rannte durch den Vorgarten zu einer einzelnen Birke und kläffte daran hoch. Die Speckrollen auf seinem Rücken wackelten. „Hinter wem ist er denn jetzt wieder her?“ Bonnie hielt sich die Ohren zu. „Sieht wie eine Krähe aus“, meinte Meredith schulterzuckend. Elena erstarrte. Sie ging ein paar Schritte um den Baum herum und schaute hoch zu dem goldenen Laub. Da saß sie. Dieselbe Krähe, die sie schon zweimal zuvor gesehen hatte. Vielleicht sogar dreimal, überlegte sie und dachte an den dunklen Schatten, der sich zwischen den Eichen auf dem Friedhof erhoben hatte. Während sie hochblickte, fühlte sie, wie sich ihr Magen vor Angst verkrampfte und ihre Hände eiskalt wurden. Der Vogel starrte sie wieder aus einem schwarzglänzenden, fast menschlichen Auge an. Dieses Auge... wo hatte sie schon einmal ein solches Auge gesehen? Plötzlich sprangen alle drei Mädchen einen Schritt zurück, als die Krähe heiser aufschrie, mit den Flügeln schlug und aus dem Laub auf sie zuflog. Im letzten Moment änderte sie die Richtung und stürzte sich statt dessen auf den kleinen Hund, der jetzt hysterisch bellte. Der Vogel glitt nur Millimeter an den fletschenden Hundezähnen vorbei, dann stieg er wieder in die Höhe und flog über das Haus, um in dem dichten Walnußbaum dahinter zu verschwinden. Die drei Mädchen blieben vor Erstaunen wie erstarrt stehen. Schließlich tauschten Bonnie und Meredith einen Blick. „Einen Moment lang dachte ich, der Vogel geht auf uns los“, sagte Bonnie und schleppte den wütend bellenden Pekinesen ins Haus. „Ich auch“, erwiderte Elena leise. Sie folgte ihren Freundinnen nach drinnen, ohne jedoch in ihr fröhliches Gelächter einzustimmen. Nachdem sie und Meredith ihre Sachen abgelegt hatten, verlief der Abend so wie immer. Es war auch schwer, ein unbehagliches Gefühl aufrechtzuerhalten, wenn man mit einer Tasse dampfenden Kakaos in der Hand in Bonnies vollgestopftem Wohnzimmer neben einem gemütlichen Kaminfeuer saß. Schon bald diskutierten die drei die letzten Pläne für das „Spukhaus“, und Elena entspannte sich. „Es klappt alles ganz gut“, erklärte Meredith schließlich. „Natürlich haben wir uns so viele Gedanken über die Kostüme der anderen gemacht, daß wir unsere eigenen ganz vergessen haben.“ „Meins ist einfach“, sagte Bonnie. „ich werde als Druidenpriesterin gehen. Dazu brauche ich nur eine Girlande aus Eichenblättern für mein Haar und weiße Gewänder. Mary und ich nähen die an einem Abend.“
„Ich werde mich wohl als Hexe verkleiden“, meinte Meredith nachdenklich. „Ein langes, schwarzes Kleid,
und schon bin ich fertig. Was ist mit dir, Elena?“
Elena lächelte. „Es soll zwar ein Geheimnis sein, aber... Tante Judith hat mir den Luxus erlaubt, zu einer
Schneiderin zu gehen. Ich habe in einem der Bücher für meinen mündlichen Vortrag das Bild einer
Renaissanceprinzessin gesehen. Das Kleid laß ich mir machen. Es ist aus hellblauer venezianischer Seide
und einfach traumhaft.“
„Hört sich gut an“, stimmte Bonnie zu. „Und teuer.“
„Ich benutze mein eigenes Geld aus dem Nachlaß meiner Eltern. Ich hoffe nur, Stefan gefällt das Kostüm.
Es soll eine Überraschung für ihn werden, und... na ja, hoffentlich mag er's.“
„Als was wird Stefan gehen? Hilft er bei der Spukhaus-Besetzung mit?“, fragte Bonnie neugierig.
„Ich weiß es nicht“, sagte Elena nach einem kurzen Moment. „Er scheint sich für Halloween nicht gerade zu
begeistern“, fügte sie hinzu.
„Man kann sich ihn auch nur schwer vorstellen in einem zerrissenen Bettlaken und bedeckt mit künstlichem
Blut wie die anderen Jungs“, erklärte Meredith. „Er scheint... zu würdevoll für so was.“
„Ich weiß es!“ rief Bonnie triumphierend. „Ich weiß genau, was er sein soll. Und er braucht sich dafür kaum
zu verkleiden. Schaut mal. Er ist Ausländer, hat dieses dunkle, geheimnisvolle Aussehen... Steck ihn in
einen Smoking, und du hast den perfekten Grafen Dracula!“
Elena mußte wider Willen lächeln. „Ich kann ihn ja mal fragen.“
„Wo wir gerade bei Stefan sind“, Meredith heftete ihre Augen auf Elena, „wie läuft's so zwischen euch?“
Elena seufzte und schaute ins Feuer. „Ich... bin nicht sicher“, antwortete sie schließlich langsam. „Es gibt
Zeiten, da ist einfach alles wundervoll, und Momente, da...“
Meredith und Bonnie tauschten einen Blick, dann sagte Meredith sanft: „Momente, da...?“
Elena zögerte. Sie schwankte, was sie tun sollte. Dann traf sie eine Entscheidung. „Eine Sekunde.“ Sie stand
auf und lief die Treppe hoch. Als sie wiederkam, hatte sie ein kleines, in blauen Samt gebundenes Buch in
der Hand.
„Ich habe es gestern nacht aufgeschrieben, als ich nicht schlafen konnte. Besser könnte ich es auch jetzt
nicht ausdrücken.“ Sie fand die Seite, holte tief Luft und begann:
17. Oktober
Liebes Tagebuch,
ich fühle mich heute nacht schrecklich. Und ich muß mich jemandem mitteilen.
Etwas läuft schief zwischen Stefan und mir. Es gibt so eine tiefe Traurigkeit in ihm, die ich nicht erreichen
kann. Und sie treibt uns immer weiter auseinander. Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Die Vorstellung, ihn zu verlieren, ist mir unerträglich. Aber er ist so unglücklich, und wenn er mir nicht
sagt, warum, wenn er also kein Vertrauen zu mir hat, sehe ich für uns beide keine Hoffnung.
Gestern, während er mich in den Armen hielt, habe ich unter seinem Hemd etwas Glattes, Rundes gespürt.
Etwas, das an einer Kette hing. Um ihn zu necken, habe ich ihn gefragt, ob das ein Geschenk von Caroline
sei. Er erstarrte und weigerte sich, weiter mit mir zu reden. Es war, als ob er plötzlich Tausende Kilometer
entfernt sei, und seine Augen... es lag ein solcher Schmerz in ihnen, daß ich es kaum ertragen konnte.“
Elena hörte auf zu lesen. Sie überflog die letzten Sätze im Tagebuch schweigend. Ich fühle, daß ihn jemand
in der Vergangenheit schrecklich verletzt hat und daß er nicht darüber hinwegkommt. Aber ich glaube auch,
daß da noch etwas anderes ist, wovor er Angst hat. Ein Geheimnis, von dem er befürchtet, daß ich es
herausfinden könnte. Wenn ich nur wüßte, was es ist, und ich ihm beweisen könnte, daß er mir vertrauen
kann!
Daß er mir bis zum Ende vertrauen kann, egal, was auch passiert.
„Wenn ich es nur wüßte“, flüsterte sie.
„Was?“ fragte Meredith, und Elena schaute erschrocken hoch.
„Oh, wenn ich wüßte, was passieren wird“, sagte sie schnell und schlug das Tagebuch zu. „Ich meine, ob
wir schließlich doch Schluß miteinander machen werden. In dem Fall würde ich es nicht länger
hinausschieben. Sollte es jedoch gut mit uns ausgehen, wäre mir die Krise, in der wir im Moment stecken,
einfach egal. Aber die Unsicherheit macht mich fertig.“
Bonnie biß sich auf die Lippen. Dann setzte sie sich mit funkelnden Augen auf. „Ich kann dir einen Weg
zeigen, es herauszufinden, Elena. Meine Großmutter hat verraten, wie du erfährst, welchen Mann du
heiraten wirst.“
„Sicher ein alter Druidentrick“, warf Meredith trocken ein.
„Keine Ahnung, wie alt die Methode ist“, verteidigte Bonnie sich. „Aber meine Großmutter sagte, daß sie
schon von Generationen unserer Familie angewendet worden ist. Ist auch egal, jedenfalls klappt's. Meine
Mutter hat das Bild meines Vaters gesehen, als sie's versucht hat, und einen Monat später waren sie
verheiratet. Es ist ganz einfach, Elena. Und was hast du schon groß zu verlieren?“
Elena schaute von Bonnie zu Meredith. „Ich weiß nicht.“ Sie zögerte. „Bonnie, du glaubst doch nicht
wirklich...“
Bonnie richtete sich mit ihrer ganzen Würde auf. „Willst du behaupten, meine Mutter lügt? Komm schon,
Elena. Es kann nichts schief gehen, wenn wir's mal ausprobieren.“
„Was muß ich tun?“ Elena hatte immer noch Zweifel. Auf der einen Seite war sie fasziniert von der
Vorstellung, auf der anderen fürchtete sie sich.
„Es ist ganz einfach. Wir müssen nur um Punkt Mitternacht alles fertig haben...“
Fünf Minuten vor Mitternacht stand Elena im Eßzimmer der McCulloughs und kam sich ziemlich blöd vor.
Vom Hof her war Yangtzes hysterisches Bellen zu hören, aber im Haus war es still bis auf das Ticken der
alten Standuhr. Nach Bonnies Instruktionen hatte sie den großen Walnußtisch mit einem Teller, einem Glas
und einem Silberbesteck gedeckt, ohne dabei ein Wort zu sprechen. Dann hatte sie in dem Kerzenhalter
mitten auf dem Tisch eine einzelne Kerze angezündet und sich selbst hinter den Stuhl vor dem gedeckten
Platz gestellt.
Bonnie hatte gesagt, daß sie um Punkt Mitternacht den Stuhl wegziehen und ihren zukünftigen Ehemann
einladen sollte. Zu diesem Zeitpunkt sollte die Kerze ausgehen und Elena eine geisterhafte Gestalt auf dem
Stuhl sitzen sehen.
Vorhin war ihr ein wenig unbehaglich zumute gewesen. Sie wußte nicht, ob sie überhaupt einem Geist
begegnen wollte, auch wenn es ihr zukünftiger Mann war. Aber jetzt kam ihr das Ganze nur wie ein
harmloser Scherz vor. Als die Uhr zu schlagen begann, hob sie entschlossen die Schultern und packte den
Stuhl fester. Bonnie hatte sie gewarnt, ihn nicht loszulassen, bis die Zeremonie vorbei war.
Oh, das war zu albern. Vielleicht würde sie einfach schweigen... aber als der letzte Ton des Glockenschlags
verklungen war, hörte sie sich die Worte sprechen.
„Komm herein“, sagte sie verlegen in das leere Zimmer und zog den Stuhl nach hinten. „Komm herein,
komm herein...“
Die Kerze ging aus.
Elena starrte in die plötzliche Dunkelheit. Sie hatte den kalten Windstoß gefühlt, der die Flamme
ausgeblasen hatte. Er war von den großen Verandatüren hinter ihr gekommen, und sie drehte sich schnell
um, den Stuhl immer noch mit einer Hand festhaltend. Sie hätte geschworen, daß die Türen verschlossen
gewesen waren.
Etwas bewegte sich in der Dunkelheit. Panik stieg in Elena auf. Auf einmal war alles gar nicht mehr witzig.
Was hatte sie getan? Auf was hatte sie sich eingelassen? Ihr Herz verkrampfte sich, und sie hatte das Gefühl,
ohne Vorwarnung in einen schrecklichen Alptraum gestürzt zu sein. Es war nicht nur pechschwarz um sie
herum, sondern auch völlig still. Nichts war zu sehen oder zu hören. Und sie fiel und fiel...
„Darf ich?“ sagte eine Stimme, und eine helle Flamme glühte auf.
Einen schrecklichen Moment lang glaubte Elena, es sei Tyler.
Sie erinnerte sich an sein Feuerzeug in der Kirchenruine. Aber die Kerze auf dem Tisch war angezündet
worden, und sie sah die schlanken, bleichen Finger, die sie hielten. Stefan! Doch dann fiel ihr Blick auf das
Gesicht. Der Fremde aus der Turnhalle!
„Du?“ fragte sie erstaunt. „Was, zum Teufel, machst du hier?“ Sie schaute von ihm zu den Verandatüren,
die tatsächlich offen waren. Man konnte die dahinterliegende Wiese sehen. „Kommst du immer
uneingeladen in das Haus fremder Leute?“
„Aber du hast mich doch eingeladen.“ Seine Stimme war so, wie sie sie in Erinnerung hatte, ruhig, spöttisch
und amüsiert. Sie erinnerte sich auch an sein Lächeln. „Danke“ , fügte er hinzu und setzte sich geschmeidig
auf den Stuhl, den sie hervorgezogen hatte.
Elena riß die Hand von der Stuhllehne zurück. „Dich hab ich nicht eingeladen“, stammelte sie, hilflos
zwischen Wut und Verlegenheit hin- und hergerissen. „Wieso treibst du dich vor Bonnies Haus herum?“
Er lächelte. Sein schwarzes Haar sah im Kerzenschein fast flüssig aus, zu weich und fein für menschliches
Haar. Seine Gesichtszüge waren schneeweiß, doch gleichzeitig von unwiderstehlichem Charme. Er blickte
ihr geradewegs in die Augen. „Helena, du bist schön wie die graziösen Barken, die im lauen Abendwind
über das parfümierte Meer...“
„Ich glaube, du gehst jetzt besser.“ Sie wollte ihm nicht länger zuhören. Seine Stimme hatte eine seltsame
Wirkung auf sie. Ihr Klang machte sie schwach. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus. „Du
solltest nicht hier sein. Bitte.“ Sie wollte die Kerze nehmen und ihn verlassen, wollte sich gegen den süßen
Schwindel wehren, der sie zu überwältigen drohte.
Bevor sie die Kerze erreichen konnte, tat er etwas Ungewöhnliches. Er nahm ihre ausgestreckte Hand mit
sanfter Geste und hielt sie zwischen seinen kühlen, feingliedrigen Fingern. Dann drehte er sie um und küßte
ihre Handfläche.
„Nicht...“flüsterte Elena total überrascht.
„Komm mit mir“, sagte er und schaute ihr in die Augen.
„Bitte nicht.“ Alles um sie her drehte sich. Er war verrückt.
Wovon redete er? Wohin sollte sie mit ihm gehen? Aber sie fühlte sich gleichzeitig so schwindlig, so
köstlich schwach.
Er stützte sie. Sie lehnte sich gegen ihn und fühlte, wie seine Finger den obersten Knopf ihrer Bluse
öffneten. „Bitte, nicht...“
„Ruhig. Es ist alles gut. Du wirst sehen.“ Er zog den Stoff von ihrem Hals fort und legte eine Hand hinter
ihren Kopf.
„Nein!“ Plötzlich kehrte ihre Kraft zurück. Sie riß sich von ihm los und stolperte gegen den Stuhl. „Ich hab
dir gesagt, du sollst gehen, und das meine ich auch. Raus hier... und zwar sofort!“
Einen Moment blitzten seine Augen vor mörderischer Wut. Doch dann würde sein Blick wieder ruhig, und
er lächelte kurz.
„Ich werde gehen“, sagte er. „Doch nicht für immer.“
Elena schüttelte den Kopf und sah ihm nach, wie er durch die Verandatüren verschwand. Als sie sich hinter
ihm geschlossen hatten, stand sie schweigend da und versuchte wieder normal zu atmen.
Diese Stille. Es konnte doch nicht so ruhig sein. Sie drehte sich zu der alten Standuhr um und erkannte, daß
sie stehen geblieben war. Bevor sie die Uhr näher untersuchen konnte, hörte sie Bonnies und Merediths
erregte Stimmen.
Elena eilte auf den Flur. Ihre Beine trugen sie immer noch nicht ganz. Sie zog ungeduldig die Bluse am Hals
hoch und knöpfte sie zu. Die Hintertür stand offen. Sie konnte zwei Gestalten sehen, die sich über etwas auf
der Wiese beugten.
„Bonnie? Meredith? Was ist passiert?“
Bonnie schaute hoch, als Elena herankam. Tränen standen in ihren Augen. „Oh, Elena. Er ist tot.“
Entsetzt blickte Elena auf das kleine Bündel zu Bonnies Füßen. Es war der Pekinese. Er lag ganz steif auf
der Seite. Seine Augen waren offen. „Bonnie, es tut mir leid.“
„Er war schon alt“, schniefte Bonnie. „Aber irgendwie hab ich nie gedacht, daß er so schnell sterben würde.
Noch vor kurzer Zeit hat er wie verrückt gebellt.
„Ich glaube, wir gehen besser rein“, schlug Meredith vor. Elena sah sie an und nickte. In einer Nacht wie
dieser hielt man sich besser nicht draußen in der Dunkelheit auf. Und es war, auch keine Nacht, um fremde
Wesen einzuladen. Das wußte Elena jetzt, obwohl sie noch immer nicht verstand, was geschehen war.
Erst als sie wieder ins Wohnzimmer traten, fiel ihr auf, daß ihr Tagebuch verschwunden war.
Stefan hob den Kopf, den er über den samtweichen Hals eines Rehs gebeugt hatte. Die Wälder waren von
nächtlichen Geräuschen erfüllt, und er war sich nicht sicher, was ihn gestört hatte.
Als seine besonderen Kräfte abgelenkt wurden, erwachte das Reh aus seiner Trance. Er fühlte, wie seine
Muskeln zitterten, während es versuchte, wieder auf die Füße zu kommen.
Dann lauf, dachte er, setzte sich auf die Fersen zurück und gab das Tier frei. Mit einem Ruck sprang es auf
und rannte davon.
Er hatte genug gehabt, säuberte sich den Mund und fühlte, wie sich seine scharfen Eckzähne zurückzogen
und wieder stumpf wurden. Sie waren jetzt fast schmerzhaft empfindsam, wie immer, wenn er länger seinen
Hunger gestillt hatte. Es wurde für ihn immer schwieriger, zu erkennen, wann es reichte. Seit dem letzten
Mal bei der Kirchenruine hatte er keine Schwindelanfälle mehr gehabt. Aber er lebte in ständiger Angst, daß
sie zurückkommen könnten.
Und eine weitere, beklemmende Furcht beherrschte ihn. Nämlich, daß er eines Tages verwirrt zu sich
kommen und Elenas schlaffen Körper in seinen Armen halten würde. Die frischen, roten Male seiner Zähne
auf ihrem Hals... ihr Herz für immer still.
Das war es, was die Zukunft für ihn bereithielt.
Diese Gier nach Blut war ihm auch jetzt noch ein Geheimnis. Obwohl er seit Jahrhunderten jeden Tag damit
gelebt hatte, verstand er es nicht. Als Mensch hätte er die Vorstellung verabscheut, frisches, warmes Blut
von einem atmenden Wesen zu trinken. Das heißt, wenn ihm jemand den Vorgang wortreich erklärt hätte.
Aber in jener Nacht waren keine Worte benutzt worden. In der Nacht, in der Katherine ihn verwandelt hatte.
Auch nach all den Jahren war die Erinnerung noch ganz deutlich. Er hatte geschlafen, als sie leise wie ein
Geist in sein Zimmer gekommen war. Er hatte allein geschlafen...
Sie trug nur ein dünnes Leinenhemd, als sie zu ihm kam.
Es war die Nacht vor dem Tag, an dem sie ihre Wahl treffen wollte. Und sie war zu ihm gekommen.
Eine weiße Hand hatte die Vorhänge seines Bettes geöffnet, und Stefan war erschrocken aus dem Schlaf
hochgefahren. Als er sie sah, das blonde Haar, das offen über ihre Schultern fiel, und ihre blauen Augen,
halb in den Schatten verborgen, fehlten ihm vor Erstaunen die Worte.
Und vor Liebe. Er hatte noch nie in seinem Leben etwas so Schönes gesehen. Zitternd versuchte er zu
sprechen, aber sie legte ihm sanft zwei kühle Finger auf die Lippen.
„Still“, flüsterte sie, und die Matratze senkte sich unter dem neuen Gewicht, als sie sich neben ihn legte.
Sein Gesicht brannte. Sein Herz klopfte wie wild vor Verlegenheit und Erregung. Es war noch nie zuvor
eine Frau in seinem Bett gewesen. Und das war Katherine, die wunderschöne Katherine, die er mehr als
seine Seele liebte.
Und weil er sie so liebte, unternahm er eine gewaltige Anstrengung. Als sie unter die Laken schlüpfte und
sich so nah an ihn preßte, daß er das kühle Leinen ihres Hemds auf seiner heißen Haut spüren konnte,
begann er zu reden.
„Katherine“, sagte er mühsam beherrscht. „Wir... ich kann warten. Bis wir in der Kirche getraut worden
sind. Ich werde Vater bitten, daß für nächste Woche schon alles vorbereitet wird. Es... es wird nicht so
lange...“
„Still“, flüsterte sie, und er fühlte wieder die Kühle auf seiner Haut. Er konnte nicht anders und zog sie in
seine Arme.
„Was wir jetzt machen, hat nichts damit zu tun“, sagte sie und streichelte seinen Hals.
Stefan verstand. Und fühlte kurz Angst, die jedoch verschwand, als ihre Finger weiter seine Haut liebkosten.
Er wollte es, wollte alles, was ihn mit Katherine verbinden würde.
„Leg dich zurück, Liebster“, befahl sie sanft.
Liebster. Das Wort machte ihn so unendlich froh, während er den Kopf auf das Kissen sinken ließ und das
Kinn zurückbog.
Sein Hals war entblößt. Seine Furcht war verschwunden und hatte einem wilden Glücksgefühl Platz
gemacht.
Er fühlte, wie ihr Haar sacht über seine Brust strich, und versuchte, ganz ruhig zu werden. Dann spürte er
den Hauch ihres Atems auf seinem Hals, ihre Lippen und... ihre Zähne.
Der Schmerz war stechend, aber Stefan zwang sich, ganz still zu liegen, nur an Katherine zu denken und an
das, was er ihr geben wollte. Fast gleichzeitig ließ der Schmerz nach, und Stefan spürte, wie das Blut aus
seinem Körper gesaugt wurde. Es war nicht so schrecklich, wie er es sich vorgestellt hatte. Mehr wie ein
Gefühl des Gebens, der Hingabe.
Ihr Geist schien sich zu vermischen, eins zu werden. Er konnte Katherines übermächtige Freude fühlen und
gleichzeitig seine eigene. Die Freude des Nehmens und Gebens. Die Grenze zwischen Traum und
Wirklichkeit verwischte. Er konnte nicht mehr klar denken, nur noch fühlen. Und die Empfindungen trugen
ihn höher und höher. Die letzten Bande zu dieser Welt brachen.
Einige Zeit später lag er benommen in Katherines Armen. Sie wiegte ihn wie eine Mutter ihr Kind und führte seinen Mund zu ihrem bloßen Hals. Dort war eine kleine Wunde, wie ein winziger Schnitt, der sich dunkel von der weißen Haut abhob. Stefan zögerte weder noch fühlte er Furcht, und als sie ermutigend über sein Haar strich, begann er, das zu tun, was sie zuvor mit ihm getan hatte. Nüchtern und eiskalt bürstete Stefan sich den Schmutz von seiner Hose. Die Welt der Menschen schlief, war wie betäubt. Doch seine eigenen Sinne waren messerscharf. Er hätte eigentlich satt sein sollen, aber die Erinnerung hatte sein Verlangen wieder geweckt. Er nahm die Spur eines Fuchses auf und begann zu jagen. 12. KAPITEL Elena drehte sich langsam vor dem großen Spiegel in Tante Judiths Schlafzimmer. Margaret saß am Ende
des großen Betts. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen vor Bewunderung.
„Ich wünsche mir auch so ein schönes Halloweenkostüm“, sagte sie.
„Du gefällst mir aber als weißes Kätzchen viel besser.“ Elena pflanzte einen Kuß zwischen die weißen
Samtohren, die an Margarets Haarband befestigt waren. Dann wandte sie sich an ihre Tante, die mit Nadel
und Faden bei der Tür stand. „Es ist perfekt“, erklärte sie glücklich. „Wir brauchen nichts zu ändern.“
Das Mädchen im Spiegelbild hätte aus einem von Elenas Büchern über die italienische Renaissance
stammen können. Schultern und Hals waren bloß, und das enge Mieder des hellblauen Kleids betonte die
schmale Taille. Die langen, vollen Ärmel waren aufgeschlitzt, so daß man die weiße Seide des Unterkleids
darunter sehen konnte, und der weite Rock berührte gerade eben den Boden. Das Kleid war wunderschön,
und das klare, helle Blau ließ Elenas dunkelblaue Augen noch strahlender wirken.
Plötzlich fiel ihr Blick auf die altmodische Pendeluhr über der Kommode. „Oh, nein. Es ist fast sieben.
Stefan wird jeden Moment hier sein.“
„Da ist sein Auto.“ Tante Judith schaute aus dem Fenster. „Ich gehe runter und mache ihm auf.“
„Ist schon okay“, entgegnete Elena. „Ich mache selber auf. Tschüß, ihr zwei!“ Sie rannte die Treppe
hinunter.
Während sie zum Türknopf griff, erinnerte sie sich an den Tag vor fast zwei Monaten, an dem sie Stefan im
Geschichtsunterricht in den Weg getreten war. Jetzt beherrschte sie dasselbe Gefühl wie damals. Eine
Mischung aus Anspannung, Erregung und Erwartung.
Hoffentlich klappte es heute besser. Die letzten anderthalb Wochen lang hatte sie ihre ganzen Hoffnungen
auf diesen Augenblick, diesen Abend gerichtet. Wenn zwischen ihr und Stefan in dieser Nacht nichts
Entscheidendes geschah, dann würde es nie geschehen.
Die Tür ging auf, und Elena trat einen Schritt zurück. Sie war merkwürdig schüchtern, hielt die Augen
gesenkt, als habe sie Angst, ihn anzusehen.
Als sie hörte, wie er scharf die Luft einzog, schaute sie schnell hoch - und ihr wurde kalt ums Herz.
Er starrte sie zwar voller Erstaunen an. Aber sein Blick war nicht voller Freude, wie in der ersten Nacht in
seinem Zimmer, sondern eher schockiert.
„Es gefällt dir nicht“, flüsterte sie und merkte entsetzt, daß Tränen in ihre Augen traten.
Stefan fand wie immer schnell die Fassung wieder. Er blinzelte und schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Es ist
wunderschön. Du bist wunderschön.“
Warum stehst du dann da, als hättest du einen Geist gesehen? dachte sie. Warum umarmst du mich nicht?
Warum küßt du mich nicht?
„Du siehst auch toll auch“, erwiderte sie leise. Das stimmte. Der schwarze Smoking und der Umhang, den er
für seine Rolle angezogen hatte, standen ihm tadellos. Elena war überrascht gewesen, daß er ihrem
Vorschlag zugestimmt hatte. Für eine Nacht Graf Dracula zu sein, schien ihn sehr zu belustigen. Und er trug
die eleganten Sachen so selbstverständlich, als wären es die alltäglichen Jeans.
„Wir machen uns wohl besser auf den Weg“, antwortete er genauso leise und ernst.
Elena nickte und folgte ihm zu seinem Auto. Ihr Herz war inzwischen zu einem Eisklumpen erstarrt. Stefan
schien innerlich weiter von ihr entfernt denn je, und sie hatte keine Ahnung, wie sie ihn zurückholen konnte.
Während sie zur High School fuhren, donnerte es, und Elena schaute mißmutig aus dem Autofenster. Dicke,
violettschwarze Wolken bedeckten den Himmel, obwohl es noch nicht zu regnen begonnen hatte. Die Luft
schien wie elektrisch geladen zu sein. Es war die perfekte Stimmung für Halloween, bedrohlich und irgendwie unwirklich. Aber in Elena löste sie nur Angst aus. Seit jener Nacht in Bonnies Haus hatte sie genug von unheimlichen und außergewöhnlichen Dingen. Ihr Tagebuch war nicht wieder aufgetaucht, obwohl die drei Mädchen das ganze Haus auf den Kopf gestellt hatten. Sie konnte immer noch nicht glauben, daß es wirklich weg war. Die Vorstellung, daß ein Fremder ihre geheimsten Gedanken lesen könnte, machte sie rasend. Natürlich war es gestohlen worden. Welche Erklärung sollte es sonst wohl geben? Mehr als eine Tür war in dieser Nacht bei den McCulloughs geöffnet gewesen. Jeder hätte einfach so reinspazieren können. Sie hatte große Lust, den Dieb umzubringen. Unwillkürlich mußte sie an jenes Paar schwarzer Augen denken. Dieser junge Mann, dem sie fast nachgegeben hätte, der es geschafft hatte, daß sie Stefan vergaß, hatte er es getan? Sie nahm sich zusammen, als sie vor der Schule hielten, und zwang sich zu lächeln, während sie über die Flure gingen. In der Stunde, die Elena zum Umziehen weg gewesen war, hatte sich alles verändert. Vorhin war die Halle noch voller Oberstufenschüler gewesen, die letzte Hand an die Dekorationen und die Requisiten legten. Jetzt wimmelte es von Fremden, von denen die meisten nicht einmal menschlich waren. Mehrere Zombies wandten sich um, als Elena hereinkam. Ihre grinsenden Totenköpfe waren durch das verweste Fleisch zu sehen. Ein grotesk verformter Buckliger humpelte in Begleitung einer Leiche mit weißer Haut und leeren Augen heran. Aus einer anderen Richtung näherten sich ein Werwolf mit blutbefleckter Schnauze und eine schöne, schwarze Hexe. Elena stellte überrascht fest, daß sie nicht einmal die Hälfte der Leute in ihren Kostümen erkannte. Dann wurde sie von ihnen umringt, hörte Komplimente über ihr Kleid und wurde von allen Seiten mit Problemen bombardiert, die sich noch in letzter Minute ergeben hatten. Elena bat um Ruhe und wandte sich an die Hexe, deren langes, dunkles Haar lose den Rücken ihres engen, schwarzen Kleides herunterfiel. „Was ist los, Meredith?“ fragte sie. „Trainer Lyman ist krank“, erwiderte Meredith ernst. „Also hat jemand Mr. Tanner überredet einzuspringen.“ „Ausgerechnet Tanner!“ Elena war entsetzt. „Ja, und er macht schon Schwierigkeiten. Die arme Bonnie ist fast mit den Nerven am Ende. Du schaust besser mal nach, bevor die ersten Besucher kommen.“ Elena seufzte und nickte. Sie bahnte sich einen Weg durch die verschlungenen Pfade des „Spukhauses“. Als sie durch die scheußliche mittelalterliche Folterkammer und den Raum des wahnsinnigen Mörders ging, kam ihr der Gedanke, daß die Kulissen ein bißchen zu echt wirkten. Das „Spukhaus“ konnte einem trotz der Neonbeleuchtung Angst einjagen. Der Druidenraum befand sich nahe am Ausgang. Der Steinkreis von Stonehenge war aus Pappe nachgebildet worden. Aber die kleine Druidenpriesterin, die, in weiße Gewänder gehüllt und mit einem Kranz aus Eichenblättern im Haar, zwischen den ziemlich echt wirkenden Hinkelsteinen stand, sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. „Das Blut muß sein“, bettelte sie. „Es gehört dazu. Sie sollen schließlich ein Menschenopfer darstellen.“ „Diese lächerlichen Gewänder sind schon schlimm genug“, erwiderte Tanner kurz. „Niemand hat mich informiert, daß ich mich außerdem mit dieser... Soße beschmieren lassen muß.“ „Das künstliche Blut berührt Sie doch gar nicht“, erklärte Bonnie. „Es kommt auf das Gewand und auf den Altar. Sie sind ein Menschenopfer“, wiederholte sie, als ob sie ihn dadurch überzeugen könnte. „Was das angeht“, erwiderte der Lehrer voller Abscheu, „so ist die Echtheit der ganzen Angelegenheit höchst fragwürdig. Entgegen der populären Meinung wurde Stonehenge nicht von den Druiden erbaut, sondern während der Bronzezeit, die...“ Elena trat heran. „Mr. Tanner, darum geht es doch gar nicht.“ „Für Sie beide nicht, kein Wunder“, antwortete Mr. Tanner erregt. „Deshalb werden Sie und Ihre neurotische Freundin auch in Geschichte durchfallen, das können Sie mir glauben.“ „Dazu besteht kein Grund“, sagte eine Stimme. Elena schaute schnell über die Schulter und erkannte Stefan. „Mr. Salvatore. Sieh da.“ Mr. Tanner betonte jedes Wort, als wollte er sagen: „Der hat mir noch zu meinem Glück gefehlt.“ „Ich nehme an, Sie haben uns ein paar neue Erkenntnisse aus Ihrem unendlichen Schatz an Wissen mitzuteilen. Oder wollen Sie mir ein blaues Auge verpassen?“ Er musterte Stefan, der cool und lässig in seinem perfekt sitzenden Smoking dastand, und Elena ging plötzlich ein Licht auf.
Tanner ist eigentlich nicht viel älter als wir, dachte sie. Er sah älter aus, weil er weniger Haare hatte, aber sicher war er erst Mitte Zwanzig. Sie erinnerte sich daran, wie unwohl er sich auf dem Schulball in seinem billigen Anzug gefühlt hatte. Sicher hatte ihm auch als Schüler so etwas nie Spaß gemacht. Zum ersten Mal fühlte sie so etwas wie Sympathie für ihn. Vielleicht dachte Stefan ebenso, denn obwohl er an den kleinen Mann herantrat und ihm gerade ins Gesicht blickte, war seine Stimme ganz ruhig. „Nein, das möchte ich nicht. Ich finde, das Ganze ist etwas aus den Fugen geraten. Warum tun wir nicht folgendes...“ Elena konnte den Rest nicht verstehen, aber Stefans Stimme war beruhigend, und Mr. Tanner schien ihm tatsächlich zuzuhören. Sie schaute auf die Menge, die sich hinter ihr versammelt hatte: vier oder fünf Ghouls, der Werwolf, ein Gorilla und ein Buckliger. „Okay, die Show ist vorbei, alles ist unter Kontrolle“, verkündete sie, und die Zuschauer zerstreuten sich. Stefan hatte sich der Sache angenommen. Sie wußte zwar nicht, wie, denn sie konnte nur seinen Hinterkopf sehen. Seinen Hinterkopf... Für einen Moment entstand ein Bild vor ihrem geistigen Auge. Es war an seinem ersten Schultag gewesen. Stefan hatte im Büro mit Mrs. Clarke geredet, und die hatte ganz merkwürdig reagiert. Als Elena Mr. Tanner ansah, hatte er den gleichen, leicht benommenen Gesichtsausdruck. Ein ungutes Gefühl überlief sie. „Komm“, sagte sie zu Bonnie. „Gehen wir mal nach vorn.“ Sie nahmen die Abkürzung durch den Alien-Landeplatzraum und den der lebenden Toten in den vorderen Teil der Halle. Hier war der Eingang, wo die Besucher von einem Werwolf begrüßt werden sollten. Der Werwolf hatte seinen Kopf abgenommen und unterhielt sich mit ein paar Mumien und einer ägyptischen Prinzessin. Elena mußte zugeben, daß Caroline als Kleopatra umwerfend wirkte. Der Umriß ihres gebräunten Körpers war durch das dünne Leinenhemd, das sie trug, klar zu erkennen. Man konnte es Matt, dem Werwolf, kaum übel nehmen, daß seine Blicke von ihrem Gesicht nach unten schweiften. „Wie läuft's hier?“ fragte Elena gespielt fröhlich. Matt zuckte wie ertappt leicht zusammen, wandte sich dann zu ihr und Bonnie um. Seit dem Schulball hatte Elena ihn kaum gesehen, und sie wußte, daß er sich auch von Stefan fernhielt. Ihretwegen. Obwohl sie Matt deswegen kaum einen Vorwurf machen konnte, war ihr klar, wie weh das Stefan tat. „Alles okay.“ Matt fühlte sich sichtlich unwohl. „Wenn Stefan mit Tanner fertig ist, werde ich ihn zu dir schicken. Er kann dir helfen, die Leute zu begrüßen“, sagte Elena. Matt zuckte gleichgültig mit den Schultern. Dann fragte er: „Was hat er mit Tanner zu tun?“ Elena sah ihn überrascht an. Sie hätte geschworen, daß er noch vor ein paar Minuten im Druidenraum gewesen war und alles mitbekommen hatte. Sie erklärte es ihm. Draußen krachte der Donner, und durch die offene Tür sah Elena einen Blitz über den Himmel zucken. Ein weiterer, heftiger Donnerschlag folgte Sekunden später. Hoffentlich fängt's nicht auch noch an zu regnen“, murmelte Bonnie. „Ja.“ Während Elena mit Matt sprach, hatte Caroline schweigend dabeigestanden. „Wäre doch schade, wenn niemand kommen würde.“ Elena musterte sie scharf und erkannte unter dem Schlangenkopfschmuck den offenen Haß in Carolines Katzenaugen. „Caroline“, begann sie impulsiv. „Sollen wir nicht damit aufhören? Warum vergessen wir nicht alles und fangen von vorne an?“ Caroline verengte die Augen. Ihr Mund verzog sich, während sie auf Elena zutrat. „Ich werde niemals vergessen“, zischte sie und schritt aus dem Zimmer. Schweigen herrschte. Bonnie und Matt schauten zu Boden. Elena machte einen Schritt durch die offene Tür, um die kühle Nachtluft auf ihren heißen Wangen zu spüren. Draußen sah sie den Sportplatz und die im Wind peitschenden Zweige der Eichen dahinter. Wieder überkam sie eine merkwürdige Vorahnung. Heute ist die Nacht der Nächte, dachte sie. Die Nacht, in der es geschieht. Aber was „es“ sein sollte, davon hatte sie keine Ahnung. Eine Stimme aus dem Lautsprecher hallte durch die umgewandelte Turnhalle. „Okay, wir lassen die Meute jetzt vom Parkplatz rein. Mach das Licht aus, Ed!“ Plötzlich lag der Raum im Dämmerlicht da, und die Luft war erfüllt von Stöhnen und wahnsinnigem Gelächter. Elena seufzte und drehte sich um.
„Halten wir uns besser bereit, die Besucher durchs Spukhaus zu führen“, sagte sie leise zu Bonnie. Bonnie
nickte und verschwand in der Dunkelheit. Matt stülpte seinen Werwolfkopf über und schaltete ein Tonband
ein, das die ganzen Geräusche mit nervenzerfetzender Musik untermalte.
Stefan kam um die Ecke. Seine Kleidung und sein Haar verschmolzen mit der Dunkelheit. Nur sein weißes
Hemd war deutlich zu sehen. „Mit Tanner ist alles klar“, sagte er. „Wie kann ich sonst noch helfen?“
„Nun, du könntest mit Matt die Leute begrüßen...“ Elena verstummte. Matt verstellte die Lautstärke an der
Tonbandanlage und sah nicht hoch. Elena blickte zu Stefan. Sein Gesicht war angespannt und völlig
ausdruckslos. „Oder du könntest in die Garderobe der Jungs gehen und dich um Kaffee und Erfrischungen
für die Helfer kümmern“, beendete sie den Satz müde.
„Dann mach ich das“, antwortete er. Als er sich abwandte, bemerkte sie ein leichtes Schwanken in seinem
Gang.
„Stefan! Ist alles in Ordnung?“
„Klar.“ Er riß sich zusammen. „Ich bin nur ein bißchen müde, das ist alles.“ Sie sah ihm nach. Ihr Herz
wurde immer schwerer.
Dann wandte sie sich an Matt, wollte ihm noch etwas sagen, doch die ersten Besucher waren schon an der
Tür.
„Die Show kann beginnen!“ rief Matt und kauerte sich in die Schatten.
Elena ging mit kritischen Augen von Raum zu Raum. In den Jahren zuvor hatte es ihr immer am meisten
Spaß gemacht zuzusehen, wie Spukszenen nachgespielt wurden und die Besucher mit wohligem Gruseln
erschraken. Heute jedoch war sie nervös und angespannt.
Jemand im Kostüm von Gevatter Tod ging an ihr vorbei, eine dunkle Gestalt, die Kapuze tief ins Gesicht
gezogen. Elena grübelte, ob sie ihn schon einmal bei einer der Halloween-Partys gesehen hatte. Etwas an der
Art, wie die Gestalt sich bewegte, kam Ihr bekannt vor.
Bonnie tauschte ein gequältes Lächeln mit der großen, schlanken Hexe, die den Besucherstrom in den
Spinnenraum lenkte. Einige der jüngeren Kids schlugen nach den Gummispinnen, die von der Decke
hingen, grölten herum und machten Terror. Bonnie drängte sich rasch in den Druidenraum.
Die Deckenstrahler verliehen der ganzen Szene eine unwirkliche Atmosphäre. Bonnie triumphierte
innerlich, als sie Mr. Tanner ausgestreckt auf dem Opferstein liegen sah. Seine Gewänder waren
blutdurchtränkt, und sein Blick war starr auf die Decke gerichtet.
„Ey, cool!“ schrie einer der Jungen und raste zu dem Altar. Bonnie blieb lächelnd zurück. Sie wartete
darauf, daß sich das Blutopfer aufrichtete und dem Typen einen gehörigen Schreck einjagen würde. Aber
Mr. Tanner rührte sich nicht. Er blieb sogar völlig still, als der Junge seine Hand in die blutige Pfütze am
Kopf des Opfers tauchte.
Das ist komisch, dachte Bonnie und stürzte nach vorn, um zu verhindern, daß der Junge sich das scharfe
Opfermesser schnappte.
„Finger weg!“ warnte sie ihn. Er hielt statt dessen seine blutbefleckte Hand hoch und streckte ihr die Zunge
raus. Bonnie hatte einen Moment Angst, daß Mr. Tanner warten würde, bis sie sich über ihn beugte, und
dann hochfuhr. Aber der Lehrer starrte weiter an die Decke.
„Mr. Tanner? Mr. Tanner, alles in Ordnung? Mr. Tanner?“
Er rührte sich weder noch gab er einen Laut von sich. In den weit aufgerissenen Augen lag kein
Lebenszeichen. Faß ihn nicht an, warnte Bonnie plötzlich eine innere Stimme. Faß ihn bloß nicht an...
Im Licht der Deckenstrahler sah sie, wie ihre Hand sich unwillkürlich ausstreckte... wie sie nach Mr.
Tanners Schulter griff und ihn schüttelte, sah, wie der Kopf schlaff nach hinten kippte. Ihr Blick fiel auf
seine Kehle...
Elena hörte die Schreie. Sie waren schrill und lang anhaltend, ganz anders als die übrigen Geräusche im
Spukhaus. Elena wußte sofort, daß das kein Scherz war.
Danach wurde alles zum Alptraum.
Im Druidenraum erwartete sie eine gespenstische Szene, die nicht zum Programm gehörte. Bonnie schrie.
Meredith hielt sie fest. Drei junge Burschen versuchten, durch den Notausgang zu fliehen, zwei der
Aufpasser stellten sich ihnen in den Weg.
Mr. Tanner lag ausgestreckt auf dem Altar. Und sein Gesicht...
„Er ist tot!“ schluchzte Bonnie. „Oh, Gott, das Blut ist echt, und er ist tot. Ich habe ihn angefaßt, Elena! Er
ist tot, tot, tot!“
Menschen strömten in den Raum. Einige begannen zu schreien. Die Nachricht verbreitete sich. Plötzlich
brach Panik aus, und alle drängten hinaus. Sie schubsten einander und stießen krachend in die Kulissen.
„Alle Lichter an!“ schrie Elena. Sie hörte, wie ihr Befehl weitergegeben wurde. „Meredith, lauf schnell ans
Telefon. Ruf einen Krankenwagen und die Polizei... Licht an, verdammt noch mal!“
Als es hell wurde, sah Elena sich um. Sie konnte keinen Erwachsenen entdecken. Niemanden, der die
Verantwortung übernehmen konnte. Ein Teil von ihr war eiskalt und nüchtern. Ihre Gedanken überschlugen
sich, während sie fieberhaft überlegte, was als nächstes zu tun war. Doch ein anderer Teil war vor Entsetzen
wie betäubt. Mr. Tanner... Sie hatte ihn nie gemocht, doch das schien alles noch schlimmer zu machen.
„Schafft die Kids hier raus. Alle außer den Helfern sollen nach
draußen“, rief sie schließlich.
„Nein! Türen zu! Keiner darf raus, bis die Polizei hier ist!“ schrie ein Werwolf neben ihr und nahm die
Maske ab. Elena drehte sich erstaunt um. Es war nicht Matt, sondern Tyler Smallwood.
Er hatte erst in dieser Woche wieder zurück in die Schule gedurft. Sein Gesicht war immer noch verfärbt
von den Schlägen, die Stefan ihm verpaßt hatte. Aber in seiner Stimme lag Autorität. Die Aufpasser
schlossen die Türen.
Unter den Dutzenden Leuten, die sich im Bereich von Stonehenge drängten, sah Elena nur einen Helfer. Den
Rest kannte sie lediglich flüchtig von der Schule her. Einer von ihnen, ein Junge im Piratenkostüm, sprach
mit Tyler.
„Du glaubst... du glaubst tatsächlich, jemand von uns hier hat es getan?“
„Ja, jemand, der sich irgendwo im Spukhaus aufhält.“ Tyler klang merkwürdig erregt, als würde ihm das
Ganze Spaß machen. Er deutete auf die Blutlache vor dem Opferstein. „Das Blut ist noch nicht geronnen.
Die Tat muß vor kurzem passiert sein. Und schau mal, auf welche Art seine Kehle durchschnitten wurde.
Der Mörder muß das hier benutzt haben.“ Er zeigte auf das Opfermesser.
„Dann ist er also noch unter uns“, flüsterte ein Mädchen in einem Kimono ängstlich.
„Es ist nicht schwer zu raten, wer es war“, verkündete Tyler. „Jemand, der Tanner haßte. Der immerzu Zoff
mit ihm hatte. Jemand, der sogar heute abend mit ihm gestritten hat. Ich war Zeuge.“
Also warst du der Werwolf, dachte Elena wie benommen. Aber was hatte Tyler überhaupt dort zu suchen
gehabt? Er gehörte nicht zu den Helfern.
„Jemand, der für seine Gewalttätigkeit bekannt ist“, fuhr Tyler fort. „Jemand, der, wer weiß, vielleicht sogar
ein Geisteskranker ist, der nur nach Fell's Church gekommen ist, um zu morden.“
„Tyler, was soll der Quatsch?“ Elenas Benommenheit war geplatzt wie eine Seifenblase. „Du bist ja
verrückt!“
Er machte eine Geste in ihre Richtung, ohne sie anzusehen.
„Das behauptet seine Freundin. Aber vielleicht ist sie ein wenig voreingenommen.“
„Vielleicht bist du ein bißchen voreingenommen, Tyler“, meldete sich eine Stimme aus der Menge. Elena
sah, wie ein zweiter Werwolf nach vorne kam. Matt.
„Ach, wirklich? Nun, warum erzählst du uns nicht, was du über Stefan Salvatore weißt? Wo kommt er her?
Wo ist seine Familie? Woher hat er das viele Geld?“ Tyler wandte sich an die anderen. „Wer weiß überhaupt
etwas von ihm?“
Die Zuschauer schüttelten die Köpfe. Elena sah, wie in den Gesichtern Mißtrauen aufkeimte. Die
unterschwellige Angst vor allem Unbekannten, allem, was anders war. Und Stefan war anders. Er war ein
Fremder in ihrer Mitte, und jetzt brauchten sie einen Sündenbock.
Das Mädchen im Kimono begann: „Ich hab da ein Gerücht gehört...“
„Das ist alles, was jeder von uns gehört hat, irgendwelche Gerüchte!“ schrie Tyler. „Niemand weiß wirklich
etwas von ihm. Aber eins kann ich mit Sicherheit behaupten. Die Überfälle in Fell's Church haben in der
ersten Schulwoche angefangen. Das war die Woche, in der Stefan Salvatore plötzlich wie aus dem Nichts
hier aufgetaucht ist!“
Das Murmeln der Menge wurde lauter. Selbst Elena war geschockt. Natürlich war das alles Blödsinn und
nur ein dummer Zufall. Aber Tyler hatte recht. Die Überfälle hatten begonnen, als Stefan nach Fell's Church
kam.
„Und noch was kann ich euch sagen!“ Tyler brüllte jetzt. „Hört mir zu, da ist noch was!“ Er wartete, bis alle
still waren und ihn ansahen. „Er war in der Nacht auf dem Friedhof, als Vickie Bennett angegriffen wurde.“
Tyler betonte jedes Wort.
„Klar, er war auf dem Friedhof und hat dir das Gesicht poliert“, entgegnete Matt, doch seiner Stimme fehlte
die übliche Überzeugungskraft. Tyler griff seine Bemerkung sofort auf.
„Ja, er hat mich fast umgebracht. Und heute nacht hat jemand Tanner tatsächlich ermordet. Ich weiß nicht,
was ihr denkt, aber ich glaube, daß Salvatore es getan hat. Er ist der Mörder!“
„Aber wo ist er?“ rief jemand aus der Menge.
Tyler sah sich um. „Wenn er es war, muß er noch irgendwo hier stecken. Auf, Freunde, finden wir ihn!“
„Stefan hat nichts getan! Tyler...!“ rief Elena verzweifelt. Aber der Lärm der anderen übertönte sie. Tylers
Worte wurden wie eine Litanei wiederholt. „Finden wir ihn... finden wir ihn...“ Elena hörte, wie sie vom
einen zum anderen weitergegeben wurden. Und die Gesichter im Stonehenge-Raum füllten sich immer mehr
mit Mißtrauen. Elena erkannte in den Mienen auch Wut und Rachedurst. Von Tyler angestachelt, war die
Menge außer Kontrolle geraten.
„Wo steckt er denn, Elena?“ fuhr Tyler sie an. In seinen Augen sah sie den unverhüllten Triumph. Er genoß
das alles tatsächlich.
„Ich weiß es nicht“, entgegnete sie scharf und hatte große Lust, ihn zu schlagen.
„Er muß noch hier sein! Suchen wir ihn!“ schrie jemand, und alle setzten sich schiebend und drängend in
Bewegung. Die so liebevoll aufgebauten Kulissen wurden einfach niedergetrampelt oder achtlos zur Seite
geschoben.
Elenas Herz klopfte wie wild. Die harmlosen Besucher hatten sich in eine blutrünstige Meute verwandelt.
Sie hatte Angst, was sie Stefan antun würden, wenn sie ihn fanden. Aber wenn sie versuchte, ihn zu warnen,
würde sie Tyler direkt zu ihm führen.
Sie sah sich verzweifelt um. Bonnie starrte immer noch auf den toten Mr. Tanner. Von ihr war keine Hilfe
zu erwarten. Plötzlich fiel ihr Blick auf Matt.
Sein blondes Haar war wirr und sein Gesicht rot und verschwitzt. Er schien wütend, doch gleichzeitig auch
unsicher zu sein. Elena legte ihre ganze Überzeugungskraft in den Blick. Bitte, Matt. Du kannst das alles
doch nicht glauben. Du weißt, daß es nicht stimmt.
Aber an seinen Augen erkannte sie, daß er wirklich nicht wußte, was er glauben sollte. Sie sah ihn
eindringlich an, wollte ihn zwingen, sie zu verstehen. Bitte, Matt. Nur du kannst ihn retten. Selbst, wenn du
es nicht begreifst, versuch wenigstens, Vertrauen zu haben... bitte...
Matts Gesicht veränderte sich. Die Verwirrung wich fester Entschlossenheit. Er sah Elena noch einen
Moment an, dann nickte er, wandte sich um und verschwand in der Menge.
Matt bahnte sich ungehindert einen Weg zur anderen Seite der Turnhalle. Einige Schüler der Unterstufe
standen neben der Tür zu den Waschräumen der Jungen. Matt befahl ihnen barsch, die umgestürzten
Kulissen wieder aufzurichten. Als sie abgelenkt waren, riß er die Tür auf und verschwand nach drinnen.
Er traute sich nicht, laut zu rufen und sah sich schnell um. Stefan mußte den Tumult draußen doch
mitbekommen haben. Vermutlich war er schon verschwunden. Aber dann entdeckte Matt die
schwarzgekleidete Gestalt auf dem weißgekachelten Boden.
„Stefan, was ist passiert?“ Einen schrecklichen Moment lang glaubte Matt, vor der zweiten Leiche des
Abends zu stehen. Aber als er sich neben Stefan kniete, bewegte dieser sich leicht.
„He, ist ja alles gut. Setz dich langsam auf. Bist du in Ordnung, Stefan?“
„Ja“, kam die leise Antwort. Du siehst aber gar nicht so aus, Junge, dachte Matt. Stefans Gesicht war
schneeweiß, seine Pupillen riesig erweitert. Er schien nicht zu wissen, wo er sich befand, und wirkte krank.
„Danke“, flüsterte er.
„Dank mir nicht zu früh“, antwortete Matt trocken. „Stefan, du mußt hier raus. Kannst du sie nicht hören?
Sie sind hinter dir her!“
Stefan drehte sich in Richtung Turnhalle, als würde er lauschen. Aber er begriff nicht. „Wer ist hinter mir
her? Und warum?“
„Die ganze Meute. Und warum, ist im Moment egal. Du mußt hier weg, bevor sie dich in die Finger
kriegen.“ Als Stefan ihn weiter ungläubig anstarrte, fügte Matt hinzu: „Es hat wieder einen Überfall
gegeben. Diesmal war Tanner das Opfer. Er ist tot, Stefan. Und man hält dich für den Mörder.“
Endlich schien es Stefan zu dämmern. Matt erkannte das blanke Entsetzen in seinen Augen. Und eine Art
trauriger Selbstaufgabe, die schrecklicher war als alles andere, was er heute abend gesehen hatte. Er griff
fest nach Stefans Schulter.
„Ich weiß, daß du's nicht getan hast.“ In diesem Moment glaubte Matt fest daran. „Und die da draußen
werden's auch kapieren, wenn sie wieder zur Besinnung kommen. Aber inzwischen mußt du hier weg.“
„Weg von hier... ja“, sagte Stefan. Seine Benommenheit war gewichen. Bitterkeit lag in seinen Worten. „Ich
werde... fortgehen.“
„Stefan...“
„Matt.“ Die grünen Augen waren dunkel und brannten. Matt konnte den Blick nicht abwenden. „Ist Elena in
Sicherheit? Gut. Paß auf sie auf. Bitte.“
„Wovon redest du, Stefan? Du bist unschuldig, das alles wird sich aufklären.“
„Paß auf sie auf, Matt.“
Matt trat einen Schritt zurück. Er blickte immer noch in diese fordernden, grünen Augen. Dann nickte er
langsam. „Ich versprech's.“ Er sah Stefan nach, bis dieser in der Dunkelheit verschwunden war.
13. KAPITEL Elena stand in einem Kreis aus Polizeibeamten und anderen Erwachsenen und wartete auf ihre Chance,
gehen zu können. Sie wußte, daß Matt Stefan rechtzeitig gewarnt hatte - sein Gesicht hatte es ihr verraten - ,
doch er kam nicht nah genug an sie heran, um mit ihr zu sprechen.
Endlich wandte sich die ganze Aufmerksamkeit der Leiche zu, und Elena konnte sich von der Gruppe lösen.
Sie ging zu Matt.
„Stefan ist okay“, sagte er leise, den Blick auf die anderen gerichtet. „Aber er hat mir gesagt, ich soll auf
dich aufpassen. Und ich möchte, daß du hierbleibst.“
„Du sollst auf mich...?“ Unruhe und Argwohn packten Elena. Dann fügte sie flüsternd hinzu: „Okay.“ Sie
überlegte einen Moment und sagte ruhig: „Ich muß mir mal die Hände waschen, Matt. Bonnie hat mich mit
Blut beschmiert. Warte hier, ich bin gleich zurück.
Bevor er protestieren konnte, hatte sie sich schon von ihm entfernt. Als sie zum Waschraum kam, hielt sie
wie zur Erklärung ihre blutbefleckten Hände hoch. Der Lehrer, der inzwischen die Tür bewachte, ließ sie
durch. Drinnen jedoch ging Elena geradewegs zur Hintertür und verschwand in der Nacht.
Zuccone! dachte Stefan, packte ein Bücherregal und warf es um. Idiot! Er haßte sich. Wie hatte er nur so
dumm sein können?
Einen Platz unter ihnen finden? Als einer von ihnen anerkannt werden? Er mußte verrückt gewesen sein, so
etwas für möglich zu halten.
Stefan schmiß einen der schweren Koffer quer durchs Zimmer. Er krachte gegen die Wand und
zerschmetterte ein Fenster. Dumm, so dumm!
Wer war hinter ihm her? Alle! Matt hatte es ausgesprochen. „Es hat einen weiteren Überfall gegeben... Man
hält dich für den Täter.“
Nun, diesmal sah es ganz so aus, als hätten die feigen Menschen mit ihrer Furcht vor allem Unbekannten
sogar recht. Wie sonst sollte man erklären, was geschehen war? Er hatte die Schwäche gefühlt, die
Verwirrtheit. Alles hatte sich gedreht... und dann war ihm schwarz vor Augen geworden. Als er wieder zu
sich gekommen war, hatte er gehört, wie Matt berichtete, daß wieder ein Mensch angegriffen worden war.
Diesmal hatte das Opfer nicht überlebt. Wie sollte man das erklären, wenn nicht er, Stefan, der Mörder war?
Das war er. Ein Mörder. Abgrundtief böse. Eine Kreatur, in der Schwärze der Nacht erschaffen, vom
Schicksal dazu bestimmt, zu jagen und sich zu verbergen. Warum dann nicht auch töten? Warum nicht die
wahre Natur seines Wesens ganz ausleben? Wenn er es schon nicht ändern konnte, konnte er es doch
genauso gut genießen. Er würde Dunkelheit über diese Stadt bringen, die ihn haßte, die ihn in diesem
Moment sogar jagte.
Aber erst war er durstig. Seine Adern brannten wie ein Netz glühender Drähte. Er mußte seinen Hunger
stillen.
Die Pension lag im Dunkeln. Elena klopfte an der Tür, doch sie bekam keine Antwort. Über ihr tobte der
Donner. Doch es regnete immer noch nicht.
Nachdem sie länger gegen die Tür getrommelt hatte, drehte sie den Türknopf. Die Tür ging auf. Im Haus
war es dunkel und totenstill. Elena ertastete sich den Weg zur Treppe und stieg hoch.
Auf der zweiten Etage war es genauso finster. Stolpernd suchte sie das Schlafzimmer mit der Treppe zum
dritten Stock. Ein schwaches Licht drang von oben herab. Sie kletterte darauf zu und fühlte sich von den
Wänden bedroht, die sie von allen Seiten einzuschließen schienen.
Das Licht schimmerte unter der geschlossenen Tür durch. Elena klopfte leise. „Stefan?“ flüsterte sie. Dann
rief sie lauter:
„Stefan, ich bin's.“
Keine Antwort. Elena drehte den Türknopf und öffnete die Tür. Vorsichtig spähte sie ins Zimmer.
„Stefan...“
Sie sprach ins Leere.
Das Zimmer sah völlig verwüstet aus. Ein Orkan schien hindurchgefegt zu sein. Die schweren Koffer, die
friedlich in ihren Ecken gestanden hatten, lagen offen herum. Ihr Inhalt war über den ganzen Raum verteilt.
Eine Fensterscheibe war zersplittert. Stefans ganzer Besitz, all die Dinge, die er sorgsam gehütet hatte und
die ihm so viel bedeuteten, waren wie billiger Plunder überall verstreut.
Panik stieg in Elena auf. Man spürte auch jetzt noch die blinde Wut und die brutale Gewalt, die für diese
Zerstörung verantwortlich waren... Jemand, der zur Gewalttätigkeit neigt, hatte Tyler gesagt...
Es ist mir egal, dachte sie. Aufsteigender Ärger drängte die Angst zurück. Mir ist alles egal, Stefan. Ich
möchte dich trotzdem sehen. Wo bist du?
Die Falltür in der Decke war offen. Kalte Luft blies herein. Oh, nein, dachte Elena, und neue Furcht
überkam sie. Das Dach war so hoch...
Sie war noch nie die steile Leiter zu dem Wandelgang auf dem Dach hochgeklettert. Der weite Rock machte
alles noch schwieriger. Langsam kroch sie durch die kleine Tür, zog sich auf Knien auf das Dach und
richtete sich auf. In einer Ecke entdeckte sie undeutlich eine dunkle Gestalt. Elena ging schnell darauf zu.
„Stefan. Ich mußte einfach kommen...“ begann sie und hielt inne, denn gerade als die Gestalt herumfuhr,
zuckte ein greller Blitz über den Himmel. Und dann schien es ihr, als würden all die bösen Vorahnungen
und Alpträume der letzten Zeit mit einem Mal grausige Wirklichkeit.
Oh, nein, nein. Ihr Verstand weigerte sich zu verstehen, was ihre Augen sahen. Nein, nein. Sie würde nicht
weiter hinsehen, sie wollte es nicht glauben...
Aber es war bereits geschehen. Selbst, wenn sie jetzt die Augen schloß, würde sie sich an jede Einzelheit
erinnern. Es war, als ob der Blitz dieses Bild für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt hätte.
Stefan. Stefan, so cool und unwiderstehlich in seiner Lederjacke mit dem hochgestellten Kragen. Stefan, den
der Blitz überrascht hatte. Der dort, halb zu ihr hingewandt, kauerte wie ein wildes Tier, sein Gesicht vor
Wut zu einer bestialischen Fratze verzerrt.
Und Blut klebte an seinen Lippen. Es hob sich gespenstisch von seiner weißen Haut und den scharf
blitzenden Zähnen ab. In seinen Händen hielt er den schlaffen Körper einer weißen Taube. Eine weitere lag
zu seinen Füßen.
„Oh, nein, nein“, flüsterte Elena und wich unwillkürlich zurück. Ihr Verstand konnte diesen Horror nicht
verarbeiten. Ihre Gedanken überschlugen sich voller Panik. Sie wollte es nicht glauben. Nein, sie wollte es
nicht glauben. Ihr wurde schwindlig.
„Elena!“ Noch schrecklicher als alles andere war es, Stefan hinter dieser Tierfratze zu erkennen. Zu sehen,
wie sich die Wut in Schock und Verzweiflung verwandelte. „Elena, bitte. Bitte, nicht...“
„Nein!“ Die Schreie erstickten in ihrer Kehle. Stolpernd wich sie zurück, als er auf sie zukam. „Nein!“
„Elena, bitte, sei vorsichtig...“ Diese Kreatur, die Kreatur mit Stefans Gesicht verfolgte sie. Sie sprang
zurück, als er einen weiteren Schritt machte und die Hand ausstreckte. Die schmale, feingliedrige Hand, die
ihr Haar so sanft gestreichelt hatte...
„Faß mich nicht an!“ schrie sie und stieß im selben Moment mit dem Rücken gegen das Geländer des
Wandelgangs. Es war alt und verrostet. Elenas Gewicht war zuviel. In das quietschende Geräusch des
zerbrechenden Eisens und das Splittern des morschen Holzes mischte sich ihr eigener Schrei. Und dann war
nichts mehr hinter ihr, nichts, an das sie sich klammern konnte. Nur noch Leere.
Im Fallen sah sie die violettfarbenen Wolken, die über den Himmel jagten, dann das Haus, dunkel und irgendwie bedrohlich. Es schien, als habe sie genug Zeit, alles genau zu registrieren und die unbeschreibliche Angst zu spüren, während sie fiel und fiel. Aber der schreckliche, endgültige Aufprall blieb aus. Plötzlich umfingen sie Arme und trugen sie sanft. Es gab ein dumpfes Geräusch. Der Griff der Arme verstärkte sich, der andere Körper fing den Sturz auf. Dann war alles ruhig. Elena rührte sich nicht und versuchte, zur Besinnung zu kommen. Versuchte, das nächste, unglaubliche Ereignis zu begreifen. Sie war von einem dreistöckigen Haus gefallen und trotzdem noch am Leben. Sie stand im Garten hinter der Pension. Zwischen den Donnerschlägen herrschte völlige Stille. Auf dem Boden, wo ihr zerschmetterter Körper hätte liegen sollen, war nur welkes Laub. Langsam richtete sie den Blick auf den, der sie hielt. Stefan. In dieser Nacht hatte es zuviel Angst gegeben. Zuviel war auf sie eingestürmt. Elena war wie betäubt. Sie konnte nicht länger reagieren und ihn nur noch verwundert anstarren. In seinen Augen lag eine solche Trauer. Diese Augen, in denen ein grünes Feuer gebrannt hatte, waren jetzt dunkel, leer und ohne jede Hoffnung. Diesen Blick hatte Elena schon einmal an ihm gesehen. In der ersten Nacht in seinem Zimmer. Doch diesmal war es schlimmer. Denn jetzt mischten sich in die Trauer Selbsthaß und bittere Vorwürfe. Elena konnte es nicht länger ertragen. „Stefan“, flüsterte sie und fühlte, wie die tiefe Trauer ihre eigene Seele ergriff. Immer noch war sein Mund rot verschmiert, doch das weckte in ihr neben der instinktiven Furcht jetzt Mitleid. So allein zu sein, so fremd und so schrecklich allein... „Oh, Stefan.“ In seinen leeren Augen lag keine Antwort. „Komm“, sagte er leise und führte sie zurück zum Haus. Stefan schämte sich, als sie die dritte Etage erreicht hatten und er das Ausmaß der Verwüstung in seinem Zimmer musterte. Daß ausgerechnet Elena das sehen mußte, fand er unverzeihlich. Aber vielleicht war es ganz passend, wenn sie erkannte, was er wirklich war und wozu er imstande war. Sie bewegte sich langsam und wie benommen auf das Bett zu und setzte sich. Dann richtete sie den Blick auf ihn. „Erzähl mir alles.“ Er lachte kurz und bitter auf. Als sie bei dem Geräusch zusammenzuckte, haßte er sich noch mehr. „Was willst du wissen?“ fragte er. Er stellte einen Fuß auf den Deckel eines umgestürzten Koffers und sah sie fast trotzig an. Dann deutete er auf das Zimmer. „Wer das getan hat? Ich.“ „Du bist stark“, sagte sie und betrachtete einen der durch den Raum geschleuderten Koffer. Als ob sie sich erinnerte, was auf dem Dach geschehen war, fügte sie noch hinzu: „Und schnell.“ „Stärker als ein Mensch“, erwiderte er und betonte das letzte Wort. Warum wich sie nicht vor ihm zurück? Warum betrachtete sie ihn nicht mit dem Haß, der ihm sonst entgegenschlug? Es war ihm inzwischen egal, was sie dachte. „Meine Reflexe sind schneller, und ich bin elastischer. Das muß ich auch sein. Ich bin ein Jäger“, sagte er hart. Etwas in ihrem Blick erinnerte ihn daran, wobei sie ihn unterbrochen hatte. Er wischte sich mit dem Handrücken den Mund ab, dann griff er schnell zu dem Glas Wasser, das unbeschädigt auf seinem Nachttisch stand. Er fühlte, wie sie ihn beobachtete, während er trank, und wischte sich wieder den Mund ab. Oh, er hatte sich selbst belogen. Was sie von ihm hielt, bedeutete ihm trotz allem immer noch viel. „Du kannst essen und trinken... und andere Dinge“, flüsterte sie. „Ich brauche es nicht“, erwiderte er leise und fühlte sich müde und ausgelaugt. „Ich habe nichts anderes nötig.“ Plötzlich fuhr er herum und fügte leidenschaftlich hinzu: „Du behauptest, ich sei schnell, aber gerade das bin ich nicht. Hast du das Wort ,schnell’ schon einmal in der Verbindung mit ,tot’ gehört, Elena? Schnell heißt lebendig. Es trifft auf jene zu, die leben. Ich gehöre zu der anderen Hälfte.“ Er konnte sehen, daß sie zitterte. Aber ihre Stimme war ruhig, und sie wandte den Blick nicht von ihm ab. „Erzähl mir alles, Stefan. Ich habe ein Recht, es zu erfahren.“ Diese Worte hatte er schon einmal gehört. Und sie waren jetzt so wahr wie beim ersten Mal. „Ja, das hast du wohl.“ Seine Stimme war müde und hart. Er starrte ein paar Momente lang aus dem zerbrochenen Fenster, dann sah er sie wieder an und sagte nüchtern: „Ich wurde im fünfzehnten Jahrhundert geboren. Glaubst du das?“
Sie schaute auf die verstreuten Gegenstände, die er mit einer heftigen Armbewegung von der Truhe
geschleudert hatte. Die Goldmünzen, den Achatbecher, seinen Dolch... „Ja“, antwortete sie leise. „Ich
glaube dir.“
„Und? Willst du mehr wissen? Wie ich zu dem geworden bin, was ich bin?“ Als sie nickte, drehte er sich
wieder zum Fenster um. Wie sollte er es über sich bringen, ihr davon zu erzählen? Er, der so lange allen
Fragen ausgewichen war. Der ein solcher Meister im Verbergen und Betrügen geworden war.
Es gab nur einen Weg. Die völlige Wahrheit, ohne irgend etwas zu verschweigen. Alles vor ihr offen
auszubreiten, wie er es bei noch keinem Menschen getan hatte.
Und er wollte es. Obwohl er wußte, daß sie sich am Ende von ihm abwenden würde. Er mußte Elena einfach
zeigen, was er war.
Während er in den Nachthimmel schaute, über den hin und wieder Blitze zuckten, begann er.
Er sprach ohne Emotionen. Erzählte von seinem Vater, einem ehrlichen, zuverlässigen Mann, von dem
Leben in Florenz und auf dem Landsitz der Familie. Er berichtete von seinen Studien und Plänen. Von
seinem Bruder, der so verschieden von ihm war, und dem Haß zwischen ihnen.
„Ich weiß nicht, wann Damon begann, mich zu hassen. So lange ich mich erinnern kann, ist es zwischen uns
so gewesen. Vielleicht kam es daher, daß meine Mutter sich von meiner Geburt nie richtig erholt hat. Sie ist
ein paar Jahre später gestorben. Damon hat sie sehr geliebt. Ich hatte immer das Gefühl, daß er mich für
ihren Tod verantwortlich machte.“ Er hielt inne und schluckte. „Und dann gab es später ein Mädchen.“
„Das Mädchen, an das ich dich erinnere?“ warf Elena leise ein. Er nickte. „Das Mädchen...“ Sie zögerte
einen Moment. „... das dir den Ring geschenkt hat?“
Stefan blickte auf den Silberring an seinem Finger. Dann schaute er Elena an. Langsam zog er die Kette
unter seinem Hemd hervor und betrachtete den kleinen Ring, der daran hing.
„Ja. Das war ihr Ring. Ohne einen solchen Talisman würden wir in der Sonne verbrennen.“
„Dann war sie... wie du?“
„Sie hat mich zu dem gemacht, was ich bin.“ Stockend erzählte er ihr von Katherine. Von ihrer Schönheit
und Anmut und seiner großen Liebe zu ihr. Einer Liebe, die auch Damon für Katherine empfand.
„Sie war zu zart, von zuviel Zuneigung erfüllt“, sagte er schließlich. Die Worte schienen ihm weh zu tun.
„Sie schenkte ihre Liebe jedem. Auch meinem Bruder. Doch am Ende haben wir sie gezwungen, zwischen
uns zu wählen. Und dann... kam sie zu mir.“
Die Erinnerung an jene Nacht, jene von bittersüßem Schmerz erfüllte Nacht, kam zurück. Sie war zu ihm
gekommen. Und er war so glücklich gewesen. So voller Stolz und Freude. Er wollte Elena das fühlen lassen,
bemühte sich, die richtigen Worte zu finden. Die ganze Nacht lang war er glücklich gewesen. Sogar noch
am nächsten Morgen, als er aufwachte und sie fort war...
Es hätte alles ein Traum sein können, doch die kleinen Wunden an seinem Hals waren Wirklichkeit. Stefan
wunderte sich, daß sie nicht schmerzten und schon halb verheilt zu sein schienen. Der hohe Kragen seines
Hemdes verbarg sie vor neugierigen Blicken.
Ihr Blut brennt jetzt in meinen Adern, dachte er, und schon allein die Worte ließen sein Herz höher schlagen.
Sie hatte ihm ihre Stärke geschenkt. Sie hatte ihn gewählt.
Er hatte sogar ein Lächeln für Damon, als sie sich an diesem Abend an dem vereinbarten Ort trafen. Damon
war den ganzen Tag fort gewesen, doch er war pünktlich in den gepflegten Park der elterlichen Villa
gekommen und lehnte jetzt lässig an einem Baum. Katherine verspätete sich.
„Vielleicht ist sie müde“, meinte Stefan und beobachtete, wie sich der Himmel dunkel färbte. Er versuchte,
den schüchternen Stolz in seiner Stimme zu verbergen. „Vielleicht braucht sie mehr Ruhe als sonst.“
Damon sah ihn scharf an, seine dunklen Augen schienen ihn zu durchbohren. „Vielleicht...“ Er wollte mehr
sagen, doch leichte Schritte näherten sich, und einen Moment später erschien Katherine zwischen den
gestutzten Hecken. Sie trug ein weißes Kleid und war schön wie ein Engel.
Sie schenkte jedem der Brüder ein Lächeln. Stefan erwiderte es höflich. Nur mit seinem Blick sprach er von
ihrem Geheimnis. Dann wartete er.
„Ihr habt mich gebeten, meine Wahl zu treffen“, begann sie und sah erst ihn, dann seinen Bruder an. „Und
jetzt seid ihr zu der Stunde, die ich festgelegt habe, gekommen: Ich werde euch sagen, wie meine
Entscheidung ausgefallen ist.
Sie hielt die Hand hoch, an der sie den Ring trug. Stefan betrachtete den Stein. Ihm fiel auf, daß er tiefblau
war wie der Abendhimmel. Es schien, als würde Katherine immer ein Stück der Nacht bei sich haben.
„Ihr habt beide schon diesen Ring gesehen“, fuhr sie leise fort. „Und ihr wißt, daß ich ohne ihn sterben
würde. Es ist nicht leicht, einen solchen Talisman herstellen zu lassen, zum Glück ist meine Dienerin
Gudren schlau. Und es gibt viele Silberschmiede hier in Florenz.“
Stefan hörte die Worte, ohne sie zu verstehen. Aber als sie sich ihm wieder zuwandte, lächelte er ihr
aufmunternd zu.
„Und deshalb“, sie blickte ihm tief in die Augen, „habe ich ein Geschenk für dich machen lassen.“ Sie nahm
seine Hand und preßte etwas hinein. Als er nachsah, entdeckte er einen Ring, der ähnlich war wie der ihre.
Nur war er größer und schwerer und statt aus Gold aus Silber geschmiedet.
„Du brauchst ihn jetzt noch nicht, um am Tag überleben zu können.“ Sie lächelte ihn an. „Doch schon sehr
bald wirst du ihn nötig haben.“
Vor lauter Stolz und Glück war er sprachlos. Er griff nach ihrer Hand, um sie zu küssen. Er wollte Katherine
jetzt und hier, selbst vor Damon, in die Arme nehmen. Doch sie entzog sich ihm.
„Und für dich. Für dich auch.“ Stefan traute seinen Ohren nicht. Katherine konnte doch nicht so voller
Wärme und Zuneigung zu seinem Bruder sprechen. „Auch du wirst ihn bald brauchen.“
Das war unmöglich! Es konnte nicht sein. Katherine überreichte Damon den gleichen Ring.
Das Schweigen, das folgte, war tödlich. Wie das Schweigen nach dem Ende der Welt.
„Katherine...“Stefan fehlten die Worte. „Wie kannst du ihm den Ring geben? Nach dem, was zwischen uns
war?“
„Was zwischen euch war?“ Damons Stimme klang wie ein Peitschenknall. Er wandte sich wütend an Stefan.
„Letzte Nacht ist sie zu mir gekommen. Die Wahl ist bereits getroffen.“ Damon riß sich den Hemdkragen
herunter, um ihm die beiden kleinen Wunden an seinem Hals zu zeigen. Stefan starrte sie an. Er kämpfte mit
Übelkeit. Sie sahen genauso aus wie seine Wunden.
Total verwirrt schüttelte er den Kopf. „Aber, Katherine... es war doch kein Traum. Du kamst zu mir...“
„Ich habe euch beide besucht.“ Katherines Stimme klang ruhig und zufrieden. Ihr Blick war froh. Sie
lächelte erst Stefan, dann Damon an. „Es hat mich sehr geschwächt, aber ich bin so glücklich. Könnt ihr das
nicht verstehen?“ fuhr sie fort, während die beiden sie nur anstarrten, zu verblüfft, um etwas zu sagen. „Es
war meine Wahl! Ich liebe euch beide, und ich will keinen von euch aufgeben. Jetzt werden wir drei
zusammensein und für immer glücklich.“
„Glücklich?“ Stefan erstickte fast an dem Wort.
„Ja! Glücklich. Wir werden Gefährten sein. Für alle Ewigkeit.“ Ihre Stimme jubilierte. Sie wirkte
ausgelassen wie ein Kind. „Wir werden immer zusammensein“, wiederholte sie. „Nie krank werden, nie
altern. Bis ans Ende der Zeit. Das war meine Entscheidung.
„Glücklich? Mit ihm?“ Damon zitterte vor Wut. Stefan sah, daß er, der sonst so beherrscht wirkte, weiß war
vor Zorn. „Mit diesem, diesem Knaben zwischen uns? Diesem Ausbund an Tugend? Ich kann seinen
Anblick schon jetzt kaum ertragen. Ich wünschte, ich würde ihn nie wiedersehen, nie mehr seine Stimme
hören müssen!“
„Mir geht es ebenso, lieber Bruder“, entgegnete Stefan heftig. Der Schmerz in seiner Brust war kaum zu
ertragen. Das alles war Damons Schuld. Er hatte Katherines Verstand vergiftet, bis sie nicht länger wußte,
was sie tat. „Und ich habe große Lust, meinen Wunsch in die Tat umzusetzen“, fügte er, außer sich, hinzu.
Damon verstand sofort. „Dann hole dein Schwert. Falls du es überhaupt finden kannst“, erwiderte er ätzend.
„Damon, Stefan, bitte! Nein, nein!“ rief Katherine, warf sich zwischen beide und griff Stefan am Arm. Sie
sah von einem zum anderen. Ihre blauen Augen waren weit aufgerissen vor Schreck. Tränen glitzerten in
ihnen. „Denkt darüber nach, was ihr da sagt. Ihr seid Brüder!“
„Nicht durch meine Schuld.“ Damons Worte klangen wie ein Fluch.
„Könnt ihr euch nicht vertragen? Für mich! Damon, Stefan? Bitte!“
Einerseits wollte Stefan Katherine nachgeben, doch sein verwundeter Stolz und seine Eifersucht waren
stärker. Sein Gesicht war hart und unerbittlich wie das von Damon.
„Nein. Das ist unmöglich. Es kann nur einen von uns geben, Katherine. Ich werde dich niemals mit ihm
teilen.“
Katherine ließ ihn los. Sie begann zu weinen. Die Tränen fielen auf ihr weißes Kleid. Schluchzend hob sie
ihre Röcke hoch und lief davon.
Und Damon nahm den Ring, den sie ihm geschenkt hatte, und steckte ihn sich an.“ Stefans Stimme war
heiser und aufgewühlt. „Und er sagte zu mir: ,Ich werde sie bekommen, Bruder.' Dann ging er weg.“ Er
drehte sich um und blinzelte wie jemand, der von völliger Dunkelheit ins Helle kommt. Er sah Elena an.
Sie saß reglos auf dem Bett und beobachtete ihn mit diesen Augen, die Katherines Augen so glichen.
Besonders jetzt, wo ihr Blick von Mitleid und böser Vorahnung erfüllt war. Aber Elena lief nicht weg. „Was
ist dann geschehen?“ fragte sie.
Stefan ballte die Faust. Er riß sich vom Fenster los. Nein, nicht diese Erinnerung. Er konnte nicht einmal den
Gedanken daran ertragen, geschweige denn, ihn laut auszusprechen. Wie sollte er das über sich bringen?
Wie sollte er Elena in die Finsternis führen und ihr die schrecklichen Dinge zeigen, die dort lauerten?
„Nein. Ich kann nicht!“
„Du mußt es mir sagen“, erwiderte sie sanft. „Das ist das Ende der Geschichte, nicht wahr, Stefan? Das ist
es, was du hinter deinen Mauern verbirgst und wovor du wirklich Angst hast, daß ich es erfahre. Aber du
mußt es mir jetzt sagen. Oh, Stefan, du kannst nicht einfach aufhören.“
Er fühlte, wie Horror und Verzweiflung in ihm aufstiegen. Wie damals, an jenem Tag vor so langer Zeit. An
dem Tag, an dem alles endete... und alles begann.
Elena nahm seine Hand. Sie schenkte ihm von ihrer Wärme, von ihrer Stärke. Ihr Blick war auf ihn
gerichtet. „Erzähl es mir.“
„Du willst wirklich wissen, was als nächstes geschah? Was aus Katherine wurde?“ flüsterte er. Sie nickte
stumm. „Ich werde es dir also erzählen. Sie starb am nächsten Tag. Damon und ich, wir haben sie
umgebracht.“
14. KAPITEL Elena fühlte, wie sie bei diesen Worten eine Gänsehaut überlief. „Das meinst du doch nicht wirklich?“ fragte sie unsicher. Ihr fiel wieder ein, was sie auf dem Dach beobachtet hatte, sah erneut das Blut an seinen Lippen und mußte sich zwingen, nicht vor ihm zurückzuzucken. „Ich kenne dich, Stefan. Du könntest unmöglich...“ Er achtete nicht auf ihren Protest und starrte sie weiter mit seinen brennenden grünen Augen an. Doch er schien durch sie hindurchzublicken in die ferne Vergangenheit. „Als ich in jener Nacht im Bett lag, hoffte ich gegen jede Vernunft, daß sie wieder zu mir kommen würde. Ich bemerkte schon Veränderungen an mir. Ich konnte im Dunklen besser sehen. Ich fühlte mich stärker als je zuvor und war voller Energie. Und ich hatte Hunger. Es war ein Hunger, wie ich ihn mir nie vorgestellt hätte. Die normalen Speisen und Getränke beim Abendessen konnten mich nicht befriedigen. Ich verstand es nicht. Dann fiel mein Blick auf den weißen Hals einer Dienstmagd, und alles wurde mir klar.“ Stefan holte tief Luft. Seine Augen waren dunkel und gequält. „In jener Nacht bekämpfte ich dieses Verlangen. Es kostete mich alle Willenskraft. Ich dachte an Katherine und betete, daß sie zu mir kommen würde. Betete, ha!“ Er lachte kurz auf. „Als ob ein Wesen wie ich beten könnte.“ Elenas Finger waren taub, so klammerte er sich an ihre Hand. Doch sie versuchte, den Druck zu erwidern, um ihm Mut zu machen. „Fahr fort, Stefan.“ Jetzt bereitete es ihm keine Mühe mehr zu reden. Er schien ihre Anwesenheit vergessen zu haben, die Geschichte erzählte sich wie von selbst. „Am nächsten Morgen war das Verlangen noch stärker. Meine Adern fühlten sich wie ausgedorrt an. Sie schrien geradezu nach Flüssigkeit. Ich wußte, daß ich mich nicht mehr lange beherrschen konnte. Ich ging zu Katherines Gemächern. Ich wollte sie bitten, sie anflehen...“ Seine Stimme versagte. Er hielt einen Moment inne und fuhr dann fort: „Aber Damon war bereits dort. Er wartete vor ihrem Zimmer. Ich konnte sehen, daß er das Verlangen nicht bekämpft hatte. Der Glanz seiner Haut, sein federnder Gang, all das verriet es mir. Er sah so zufrieden aus wie eine Katze, die Sahne genascht hat. Doch er war nicht mit Katherine zusammen gewesen. ,Es ist eine Schande', erzählte er mir. ,Aber ihre Dienerin, dieser weibliche Drache, will mich nicht zu ihr lassen. Sollen wir zwei sie überwältigen?'
Ich wollte ihm nicht antworten. Der Ausdruck auf seinem Gesicht, dieses glatte, selbstgefällige Lächeln stieß mich ab. Ich hämmerte gegen die Tür, als wollte ich...“ Er lachte kurz auf. „Beinahe hätte ich gesagt, die Toten aufwecken. Dabei sind die Toten ja gar nicht so schwer zu wecken, nicht wahr?“ Nach einer kleinen Pause erzählte er weiter: „Gudren, die Dienerin, machte auf. Ich bat sie, Katherine sehen zu dürfen, und erwartete eine ablehnende Antwort. Statt dessen starrte Gudren erst mich an und dann Damon hinter mir. ,Ihm würde ich es nicht sagen’, erklärte sie schließlich. ,Aber Euch, Signore. Lady Katherine ist nicht da. Schon früh ist sie heute morgen in den Garten gegangen. Sie sagte, sie müsse über vieles nachdenken.’ Ich war überrascht. Gudren musterte uns ohne jede Sympathie. ,Meine Herrin war letzte Nacht sehr unglücklich', fuhr sie bedeutungsvoll fort. ,Sie hat die ganze Zeit geweint.’ Bei ihren Worten packte mich ein seltsames Gefühl. Es war nicht nur Scham und Trauer, weil Katherine so unglücklich war. Nein, es war Angst. Ich vergaß Hunger und Schwäche. Ich vergaß sogar meine Feindschaft zu Damon und erklärte ihm voller Hast, daß wir Katherine schnell finden mußten. Zu meiner Überraschung nickte er nur, ohne Fragen zu stellen. Wir begannen unsere Suche und riefen ihren Namen. Ich erinnere mich genau, wie alles an jenem Tag aussah. Die Sonne schien auf die hohen Zypressen und Pinien. Damon und ich rannten zwischen ihnen hindurch. Schneller und schneller... Ununterbrochen riefen wir ihren Namen...“ Elena spürte die Schauder, die seinen Körper durchliefen. Sein Atem kam jetzt in kurzen, flachen Stößen. „Wir hatten fast alles abgesucht, als mir ein Platz einfiel, den Katherine besonders geliebt hatte. Ein kleiner Pfad führte durch dichtes Gebüsch zu der niedrigen Mauer bei einem Zitronenbaum. Ich rannte dorthin. Doch als ich näher kam, hörte ich auf zu rufen. Ich fühlte eine... Angst, eine schreckliche Vorahnung. Ich wußte, ich durfte nicht, ich durfte nicht dorthin gehen...“ „Stefan!“ rief Elena. Er brach ihr fast die Finger, so klammerte er sich an ihre Hand. Die Schauder wurden heftiger. Er zitterte am ganzen Leib. „Stefan! Bitte!“ Aber er schien sie nicht zu hören. „Es war wie ein Alptraum. Alles passierte so langsam. Ich konnte mich nicht bewegen und mußte es doch. Mit jedem Schritt wurde die Angst größer. Ich konnte es riechen. Es roch nach verbranntem Fett... Ich will nicht dorthin gehen... ich will es nicht sehen...“ Stefans Stimme wurde hoch und drängend, sein Atem kam in keuchenden Zügen. Er hatte die Augen aufgerissen, seine Pupillen waren erweitert, wie die eines zu Tode erschrockenen Kindes. Elena griff seine verkrampften Finger mit der anderen Hand und streichelte sie beruhigend. „Stefan, es ist alles gut. Du bist nicht dort. Du bist hier bei mir.“ „Ich will es nicht sehen, aber ich kann es nicht verhindern. Da ist etwas Weißes. Etwas Weißes unter dem Baum. Bitte zwing mich nicht, es anzuschauen.“ „Stefan! Stefan, sieh mich an!“ Er hörte sie nicht mehr. Seine Worte kamen in unzusammenhängenden Schüben, als könnte er sie nicht schnell genug aussprechen. „Ich bin wie gelähmt, doch irgendwie gehe ich weiter. Ich sehe den Baum, die Mauer. Und das Weiße. Hinter dem Baum. Weiß mit Gold darunter. Und dann weiß ich es, ich weiß es, und ich gehe hin, weil es ihr Kleid ist. Katherines weißes Kleid. Und ich gehe um den Baum, ich schaue auf den Boden. Es ist wahr. Es ist Katherines Kleid...“ Seine Stimme wurde schriller und brach vor Entsetzen. „... aber Katherine ist nicht in dem Kleid.“ Elena erstarrte, als wäre ihr Körper in Eiswasser getaucht worden. Eine Gänsehaut überlief sie. Sie versuchte, zu ihm zu sprechen, doch die Worte blieben ihr in der Kehle stecken. Er redete weiter, als könnte er den Horror abwenden, wenn er nicht aufhörte zu sprechen. „Katherine ist nicht da. Vielleicht ist alles ein Scherz. Aber ihr Kleid liegt auf dem Boden, und es ist voller Asche. Wie die Asche im Herd, genau wie die. Nur daß diese Asche hier nach verbranntem Fleisch riecht. Sie stinkt. Von dem Geruch wird mir übel. Neben dem Ärmel liegt ein Stück Papier. Und auf einem Stein, einem Stein ein Stück entfernt, ist ein Ring. Ein Ring mit einem blauen Stein. Katherines Ring...“ Plötzlich schrie er mit schrecklicher Stimme: „Katherine, was hast du getan?“ Dann fiel er auf die Knie, ließ Elenas Finger endlich los und verbarg das Gesicht in den Händen. Elena hielt ihn, während er von heftigen Schluchzern geschüttelt wurde. Sie nahm seine Schultern und zog ihn auf ihren Schoß. „Katherine hatte den Ring abgezogen“, flüsterte sie. Es war keine Frage. „Sie hat sich selbst der Sonne ausgesetzt.“ Sein heftiges Schluchzen wollte nicht verstummen. Elena preßte Ihn gegen den weiten Rock ihres blauen Kleides und streichelte seine zitternden Schultern. Dabei murmelte sie nichtssagende, tröstende Worte und
drängte ihren eigenen Horror zurück. Endlich beruhigte er sich und hob den Kopf. Er sprach mit belegter Stimme, aber er schien in die Gegenwart zurückgekehrt zu sein. „Das Stück Papier war eine Nachricht für mich und für Damon. Sie schrieb, daß es egoistisch von ihr gewesen sei, uns beide haben zu wollen, und daß sie es nicht ertragen könne, die Ursache des Zerwürfnisses zwischen uns zu sein. Wenn sie nicht mehr da wäre, so hoffe sie, würden wir uns nicht länger hassen. Sie habe das Opfer gebracht, um uns wieder zusammenzubringen.“ „Oh, Stefan“, flüsterte Elena. Sie fühlte, wie ihr aus Mitleid Tränen in die Augen stiegen. „Es tut mir so leid. Aber kannst du nicht heute, nach all der Zeit, erkennen, daß das, was Katherine getan hat, falsch war? Es war sogar sehr egoistisch, und es war ihre freie Entscheidung. Ja, man könnte sogar sagen, daß es nichts mit dir und Damon zu tun hatte.“ Stefan schüttelte den Kopf, als wollte er die Wahrheit nicht hören. „Sie hat ihr Leben gegeben... dafür. Wir haben sie getötet.“ Er setzte sich auf. Seine Pupillen waren immer noch stark erweitert, und er sah aus wie ein verwirrter kleiner Junge. „Damon war mir gefolgt. Er nahm die Nachricht und las sie. Und dann... führte er sich wie ein Wahnsinniger auf. Wir waren beide wie verrückt. Ich hatte Katherines Ring aufgehoben. Er versuchte, ihn mir wegzunehmen. Wir rangen miteinander. Wir beschimpften uns entsetzlich. Ich weiß nicht mehr, wie wir ins Haus zurückgelangten, doch plötzlich hatte ich mein Schwert in der Hand. Wir kämpften. Ich wollte dieses arrogante Gesicht für immer zerstören, wollte ihn töten. Ich erinnere mich, wie Vater vom Haus her nach uns rief. Wir kämpften heftiger, wollten es beenden, bevor er uns erreichte. Wir waren im Grunde ebenbürtig. Doch Damon war immer stärker gewesen, und an diesem Tag schien er auch schneller zu sein, als hätte er sich bereits mehr verändert als ich. Während Vater aus dem Fenster gelehnt schrie, wir sollten aufhören, spürte ich, wie Damons Klinge an meiner Deckung vorbeizischte... und in mein Herz eindrang.“ Elena starrte ihn fassungslos an. Doch er erzählte ohne Pause weiter. „Ich fühlte diesen entsetzlichen Schmerz tief in mir drin. Dann verließ mich meine Kraft, und ich fiel. Ich blieb am Boden liegen.“ Er sah Elena an und beendete den Satz nüchtern. „Und so bin ich... gestorben.“ Elena war wie erstarrt. Damon kam und beugte sich über mich. Ich hörte die Schreie meines Vaters und den Tumult im Haus. Aber alles, was ich sehen konnte, war Damons Gesicht. Diese schwarzen Augen, wie ein Nachthimmel ohne Mond. Ich wollte ihm weh tun, aus Rache für das, was er mir angetan hatte. Für alles, was er mir und Katherine angetan hatte.“ Stefan schwieg einen Moment, dann sagte er fast verträumt: „Und so hob ich mein Schwert und stieß es ihm mit letzter Kraft ins Herz.“ Das Gewitter war vorübergezogen. Durch die zerbrochene Scheibe konnte Elena die leisen Nachtgeräusche hören, das Zirpen der Grillen und den Wind in den Bäumen. In Stefans Zimmer war es ganz still. „Ich weiß nichts mehr, bis ich in meinem Grab erwachte“, erzählte Stefan. Er lehnte sich zurück, von ihr fort und schloß die Augen. Sein Gesicht wirkte hager und müde. Doch dieser schreckliche, kindlich entsetzte Ausdruck war verschwunden. „Beide, sowohl Damon und als auch ich, hatten genug von Katherines Blut getrunken, um zu verhindern, daß wir wirklich starben. Statt dessen machten wir eine Verwandlung durch. Wir erwachten zusammen in unserem Grab, angekleidet mit unseren besten Sachen und Seite an Seite aufgebahrt. Wir waren zu schwach, um uns weiter gegenseitig zu verletzen. Und wir waren zu verwirrt. Ich rief nach Damon, aber er stürzte hinaus in die Nacht. Zum Glück waren wir mit den Ringen beerdigt worden, die Katherine uns gegeben hatte. Und ich fand ihren Ring in meiner Tasche.“ Unbewußt streichelte Stefan den kleinen Ring an der Kette. „Wahrscheinlich hat man geglaubt, daß sie ihn mir geschenkt hätte. Ich versuchte, nach Hause zu gehen. Das war dumm. Die Diener schrien erschrocken, als sie mich sahen, und rannten fort, um einen Priester zu holen. Ich floh ebenfalls. Zu dem einzigen Ort, an dem ich mich sicher fühlen konnte. In die Dunkelheit. Und dort bin ich bisher geblieben, Elena. Dort gehöre ich hin. Ich habe Katherine durch meinen Stolz und meine Eifersucht getötet und Damon durch meinen Haß. Aber ich habe Damon Schlimmeres angetan, als ihn nur umzubringen. Ich habe ihn verdammt. Wenn er nicht in diesem Moment gestorben wäre, mit Katherines Blut noch in seinen Adern, hätte er eine Chance gehabt. Mit der Zeit wäre ihr Blut immer schwächer geworden und dann ganz verschwunden. Er
wäre wieder zu einem normalen Menschen geworden, Elena. Indem ich ihn tötete, habe ich ihn zu einem Leben in der Nacht verurteilt. Ich habe damit seine einzige Chance auf Rettung vernichtet.“ Stefan lachte bitter. „Weißt du, was der Name Salvatore in Italien bedeutet? Retter! Und ich habe meinen Bruder zu ewiger Hölle verdammt.“ „Nein“, sagte Elena und fuhr mit fester Stimme fort: „Nein, Stefan. Er hat sich selbst verdammt. Schließlich hat er dich zuerst getötet. Aber was ist später aus ihm geworden?“ „Eine Zeitlang hat er sich einer Söldnerbande angeschlossen. Ist plündernd durchs Land gezogen, hat gemordet und das Blut seiner Feinde getrunken. Ich habe damals vor den Stadttoren gelebt. Immer dem Hungertod nah, habe ich mich, selbst halb ein Tier, von Tieren ernährt. Lange erfuhr ich nichts von Damon. Dann hörte ich seine Stimme in meinem Kopf. Er war stärker als ich, weil er Menschenblut trank. Und weil er tötete. Menschen haben die stärkste Lebenskraft, und ihr Blut verleiht Macht. Wenn sie getötet werden, ist diese Macht irgendwie am stärksten. Es scheint, als ob in diesen letzten Momenten des Kampfes auf Leben und Tod die Seele am lebendigsten ist. Weil Damon Menschen tötet, kann er die geheimnisvollen Kräfte, die wir besitzen, auch besser ausnutzen als ich.“ „Welche... Kräfte?“ fragte Elena. Ein Verdacht keimte in ihr auf. „Körperkraft und Schnelligkeit. Eine schärfere Wahrnehmung, als Menschen sie besitzen, besonders bei Nacht. Das sind die Grundlagen. Außerdem können wir den Verstand der Menschen... ertasten. Wir können ihre Gegenwart spüren und manchmal auch ihre Gedanken. Schwächere Naturen unter ihnen können wir verwirren, sie überwältigen oder ihnen unseren Willen aufzwingen. Wenn wir genug Menschenblut getrunken haben, können wir unsere Gestalt verändern und uns in Tiere verwandeln. Damons Stimme in meinem Kopf war ganz deutlich. Er erklärte, daß er jetzt der Anführer einer eigenen Söldnerbande sei und mit ihr nach Florenz zurückkommen würde. Er drohte, mich zu töten, wenn wir uns begegnen würden. Ich glaubte ihm und verschwand. Ein- oder zweimal habe ich ihn seither gesehen. Die Drohung ist immer die gleiche geblieben, und Damon wurde von Mal zu Mal mächtiger. Er hat das Beste aus seinem Schicksal gemacht. Er hat sich für die Dunkelheit entschieden und scheint sie geradezu zu lieben. Aber das Böse liegt auch in meiner Natur. Dieselbe Dunkelheit ist auch in mir. Ich glaubte, ich könnte sie besiegen. Deshalb bin ich hierher nach Fell's Church gekommen. Ich dachte, wenn ich mich in der kleinen Stadt eines anderen Kontinents niederlasse, weit weg von den alten Erinnerungen, könnte ich der Dunkelheit entkommen. Doch ich habe mich geirrt. Statt dessen habe ich heute nacht einen Menschen getötet.“ „Nein!“ sagte Elena voller Überzeugungskraft. „Das glaube ich nicht, Stefan.“ Seine Geschichte hatte Entsetzen, Mitleid und... Angst in ihr geweckt. Doch ihre Abscheu war verschwunden, und über eins war sie sich ganz sicher. Stefan war kein Mörder. „Was ist wirklich geschehen, Stefan? Hast du dich mit Tanner gestritten?“ „Ich... kann mich nicht erinnern“, erwiderte er düster. „Ich habe meine Macht gebraucht, um ihn zu überreden, das zu tun, was ihr wolltet. Dann bin ich gegangen. Später spürte ich, wie mich Schwindel und Schwäche überfielen. Es war nicht das erste Mal.“ Er sah sie direkt an. „Das letzte Mal geschah es auf dem Friedhof, bei der alten Kirche. In der Nacht, in der Vickie Bennett überfallen wurde.“ „Aber du hast es nicht getan. Du könntest so etwas nicht tun... Stefan?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete er hart. „Welche andere Erklärung soll es denn geben? Ich habe dem Alten unter der Brücke Blut abgezapft in der Nacht, in der ihr Mädchen vom Friedhof geflohen seid. Ich hätte geschworen, daß es nicht so viel war, daß es ihm schaden konnte. Doch er ist beinahe gestorben. Als Vickie und Tanner überfallen wurden, war ich beide Male da.“ „Aber du kannst dich nicht daran erinnern, ihnen etwas angetan zu haben“, gab Elena erleichtert zu bedenken. Der Verdacht, der in ihr aufgekeimt war, verdichtete sich zur Gewißheit. „Welchen Unterschied macht das? Wer sonst sollte es getan haben, wenn nicht ich?“ „Damon.“ Stefan zuckte zusammen. „Ein netter Gedanke. Zuerst hatte ich auch gehofft, daß das die Lösung sei. Ein anderes Wesen wie ich, ein Wesen wie mein Bruder, mußte Sich hier aufhalten. Ich habe mit all meinen Sinnen gesucht, doch keinerlei Anzeichen einer anderen Gegenwart gespürt. Die einfachste Erklärung ist, daß ich der Mörder bin.“
„Nein“, unterbrach Elena ihn. „Du verstehst nicht. Ich will nicht sagen, daß jemand wie Damon für die Dinge verantwortlich ist, die in Fell's Church passiert sind. Damon selbst ist hier. Ich habe ihn gesehen.“ Stefan starrte sie verständnislos an. „Er muß es gewesen sein.“ Elena holte tief Luft. „Er ist mir zweimal begegnet. Vielleicht dreimal. Stefan, du hast mir gerade eine lange Geschichte erzählt. Jetzt bin ich an der Reihe.“ So schnell und einfach sie konnte, erzählte sie ihm, was in der Turnhalle und bei Bonnie zu Hause geschehen war. Stefan preßte die Lippen zu einer dünnen, weißen Linie zusammen, als sie berichtete, wie Damon versucht hatte, sie zu küssen. Ihre Wangen brannten bei der Erinnerung daran, wie sie selbst auf ihn reagiert und ihm fast nachgegeben hatte. Aber sie ließ nichts aus. Sie erzählte auch von der Krähe und all den anderen merkwürdigen Dingen, die geschehen waren, seit sie aus Frankreich nach Hause zurückgekehrt war. „Und ich glaube, Damon war heute abend im Spukhaus“, schloß sie. „Kurz, nachdem dir vorn beim Eingang schwindlig wurde, ging jemand an mir vorbei. Er trug schwarze Gewänder wie... der Tod. Eine Kapuze verbarg sein Gesicht. Aber etwas an der Art, wie er sich bewegte, kam mir bekannt vor. Er war es, Stefan. Damon war da.“ „Das ist noch keine Erklärung für die anderen Male. Für Vickie und den alten Mann. Ich habe das Blut des Alten getrunken.“ Stefans Gesicht war angespannt, als habe er Angst davor zu hoffen. „Du hast selbst gesagt, daß es nicht soviel war, um ihm ernsthaft zu schaden. Wer weiß, was geschehen ist, nachdem du den Alten verlassen hast. Wäre es nicht kinderleicht für Damon gewesen, ihn anzugreifen? Besonders, wenn Damon dir bereits die ganze Zeit hinterherspioniert hat. Vielleicht in einer anderen Gestalt...“ „Wie zum Beispiel als Krähe“, murmelte Stefan. „Genau. Und was Vickie angeht... Stefan, du kannst den Verstand von schwächeren Menschen verwirren, kannst sie überwältigen. Könnte es nicht sein, daß Damon genau das mit dir macht? Daß er deinen Verstand außer Kraft setzt, so wie du es mit einem menschlichen Verstand tun kannst?“ „Ja. Und gleichzeitig verbirgt er seine Gegenwart vor mir.“ Wachsende Erregung lag in Stefans Stimme. „Deshalb hat er meine Rufe nicht beantwortet. Er wollte...“ „..daß genau das geschieht, was auch geschehen ist. Er wollte, daß du an dir zweifelst. Daß du dich für einen Mörder hältst. Aber das stimmt nicht, Stefan. Oh, Stefan. Du weißt es jetzt, und du brauchst keine Angst mehr zu haben.“ Elena stand auf. Freude und Erleichterung durchliefen sie. Aus dieser schrecklichen Nacht war doch noch etwas Wunderbares entstanden. „Deshalb warst du oft so... kühl zu mir, nicht wahr?“ Sie streckte die Hände nach ihm aus. „Du hattest Angst davor, was du tun könntest. Dafür gibt es jetzt keinen Grund mehr.“ „Nein?“ Sein Atem ging wieder in kurzen Stößen. Er betrachtete ihre Hände, als wären sie zwei giftige Schlangen. „Du glaubst, es gibt keinen Grund mehr, Angst zu haben? Damon mag diese Menschen überfallen haben, aber er kann meine Gedanken nicht kontrollieren. Und du weißt nicht, was ich über dich gedacht habe.“ „Du würdest mir nicht weh tun“, sagte Elena ganz ruhig und überzeugt. „Nein? Es hat Zeiten gegeben, da habe ich dich beobachtet und konnte mich selbst in der Öffentlichkeit kaum zurückhalten. Dein weißer Hals war eine solche Versuchung für mich. Deine zarte Haut, durch die die blauen Adern hindurchschimmern...“ Sein Blick war starr auf ihren Nacken gerichtet, in einer Art, die sie an Damon erinnerte. Ihr Herz begann schneller zu schlagen, als er weitersprach. „Zeiten, in denen ich dich am liebsten gepackt und dir vor der ganzen Schule meinen Willen aufgezwungen hätte.“ „Du brauchst mich nicht zu zwingen“, flüsterte Elena. Sie konnte jetzt das Pochen ihres Blutes fast überdeutlich in ihrem ganzen Körper spüren, in ihren Handgelenken, in den Innenseiten ihrer Ellbogen und in ihrem Hals. „Ich habe eine Entscheidung getroffen, Stefan“, sagte sie leise und sah ihm fest in die Augen. „Ich will es.“ Er schluckte. „Du weißt nicht, was du da tust.“ „Doch. Du hast mir erzählt, wie es mit Katherine war, Stefan. Ich möchte, daß es so auch mit uns wird. Du sollst mich nicht verwandeln, wie sie dich verwandelt hat. Aber wir können doch ein wenig miteinander teilen, ohne daß das geschieht, nicht wahr? Ich weiß, wie sehr du Katherine geliebt hast“, fügte sie noch leiser hinzu. „Aber sie ist fort, und ich bin hier. Und ich liebe dich, Stefan. Ich möchte mit dir zusammen sein.“
„Du hast keine Ahnung, wovon du redest!“ Sein Körper war angespannt und sein Blick voller Seelenqual. „Wenn ich einmal nachgebe, was sollte mich dann davon zurückhalten, dich zu verändern oder dich sogar zu töten? Diese... Gier ist größer, als du es dir vorstellen kannst. Verstehst du denn immer noch nicht, was ich bin und wozu ich imstande bin?“ Elena blieb ganz ruhig stehen. Sie betrachtete ihn schweigend, das Kinn entschlossen vorgestreckt. Irgendwie schien ihn das noch mehr zu quälen. „Hast du noch nicht genug gesehen? Soll ich dir mehr zeigen? Kannst du dir nicht ausmalen, was ich dir antun könnte?“ Er ging zu dem kalten Kamin und nahm ein Stück Holz, das dicker war als beide Handgelenke Elenas zusammen. Mühelos brach er es wie einen Zahnstocher entzwei. „Deine zarten Knochen“, schrie er, mit einem Mal wütend. Vom Bett hob er ein Kissen auf und zerschlitzte die Seidenhülle in Sekundenschnelle mit seinen scharfen Fingernägeln. „Deine weiche Haut.“ Dann war er schnell wie ein Blitz bei Elena und packte ihre Schultern, bevor sie wußte, was überhaupt geschah. Er starrte sie einen Moment lang an. Dann zog er mit einem Fauchen, bei dem sich ihr die Haare im Nacken sträubten, die Lippen zurück. Es war dieselbe Fratze, die sie auf dem Dach gesehen hatte. Seine weißen Zähne waren entblößt und jetzt von unglaublicher Länge und Schärfe. Das Gebiß eines Raubtiers, eines Jägers. „Dein weißer Hals“, sagte er eiskalt. Seine Stimme hatte kaum mehr etwas Menschliches an sich. Elena blieb einen Augenblick wie erstarrt stehen und schaute wie hypnotisiert in dieses furchteinflößende Gesicht. Dann regte sich etwas tief in ihrem Unterbewußtsein. Sie nahm sein Gesicht zwischen ihre Hände und spürte seine Wangen kühl gegen ihre Handflächen. So hielt sie ihn ganz sanft, als wollte sie den brutal harten Griff seiner Hände auf ihren bloßen Schultern wortlos tadeln. Sie sah, wie die Wut der Verwirrung Platz machte, als er erkannte, daß sie das nicht tat, um sich zu wehren oder ihn wegzustoßen. Elena wartete, bis der Zorn aus seinen Augen wich und sie einen fast flehenden Ausdruck bekamen. Sie hatte keine Angst. Beide atmeten jetzt hastig, aber im selben Rhythmus. Elena spürte, wie er wieder zu zittern begann. Genau wie vorhin, als die Erinnerungen an Katherine zuviel für ihn wurden. Dann zog sie sehr sanft seinen Mund zu ihren Lippen. Er versuchte, sich gegen sie zu wehren. Aber ihre Sanftheit bezwang all seine übermenschliche Kraft. Elena schloß die Augen und dachte nur an Stefan, nicht an die schrecklichen Dinge, die sie heute nacht über ihn erfahren hatte. Sondern an den Stefan, der so vorsichtig ihr Haar gestreichelt hatte, als habe er Angst, sie könnte unter seinen Händen zerbrechen. Sie dachte daran und küßte den Raubtiermund, der sie noch vor ein paar Minuten bedroht hatte. Sie fühlte die Verwandlung, während er hilflos ihre zarten Küsse genauso zart erwiderte. Sie fühlte die Schauder, die ihn durchfuhren, und merkte, wie der brutale Griff seiner Hände zu einer Umarmung wurde. Da wußte sie, daß sie gewonnen hatte. „Du würdest mir niemals weh tun“, flüsterte sie. Es schien, als würden die Küsse alle Furcht, Einsamkeit und Verzweiflung, die in ihnen herrschte, vertreiben. Elena merkte, wie die Leidenschaft sie wie ein Blitz durchzuckte, und spürte in Stefan das gleiche Gefühl. Aber vor allem war da die Zärtlichkeit, fast schon angsteinflößend in ihrer Stärke. Es gibt keinen Grund für Hast oder Grobheit, dachte Elena, während beide engumschlungen auf das Bett glitten. Die Küsse wurden drängender. Elenas Herz hämmerte, und ihr Atem ging in kurzen Stößen. Ein süßes, schwindelerregendes Gefühl packte sie. Sie schloß die Augen und ließ den Kopf wehrlos nach hinten fallen. Es wird Zeit, Stefan, dachte sie. Und sehr, sehr sanft führte sie seinen Mund an ihren Hals. Sie fühlte, wie seine Lippen ihre Haut berührten, fühlte seinen Atem, heiß und kühl zugleich. Und dann einen scharfen Stich. Aber der Schmerz verging gleich wieder. Er wurde von einer übermächtigen Freude verdrängt, die sie erbeben ließ. Eine Freude, die von ihr auf Stefan überging. Schließlich blickte sie in sein Gesicht. Es war völlig schutzlos. Die Wände, hinter denen er sich verborgen hatte, waren endlich verschwunden. Und was sie darin erkannte, machte sie schwach vor Glück. „Vertraust du mir?“ flüsterte er. Als sie schweigend nickte, griff er nach einem Gegenstand neben dem Bett. Es war sein Dolch. Elena betrachtete die Waffe ohne Furcht. Dann richtete sie den Blick wieder auf sein Gesicht.
Er schaute ihr die ganze Zeit in die Augen, während er den Dolch aus seiner Hülle holte und sich am
Halsansatz einen kleinen Schnitt zufügte. Elena starrte mit großen Augen auf das helle Blut, doch als er sie
drängte, zu ihm zu kommen, versuchte sie nicht, dagegen anzukämpfen.
Nachher hielt er sie eine lange Zeit einfach nur in den Armen, während draußen die Grillen zirpten.
Schließlich rührte er sich.
„Ich wünschte, du könntest hierbleiben“, flüsterte er. „Für immer hierbleiben. Aber das geht nicht.“
„Ich weiß“, antwortete sie genauso leise. Ihre Blicke sprachen ohne Worte. Es gab noch so viel zu sagen, so
viele Gründe, zusammenzusein.
„Morgen“, seufzte Elena. Dann lehnte sie sich an seine Schulter und flüsterte: „Was immer auch geschieht,
Stefan. Ich werde bei dir bleiben. Sag mir, daß du mir glaubst.“
Seine Stimme wurde gedämpft durch ihr Haar. „Oh, Elena, ich glaube dir. Was immer auch geschieht, wir
werden zusammenbleiben“, sagte er zärtlich.
15. KAPITEL Als Stefan Elena nach Hause gebracht hatte, ging er zum Wald. Er fuhr unter dem wolkenverhangenen
Himmel die Old-Creek-Landstraße entlang zu dem Platz, wo er am ersten Schultag geparkt hatte.
Er ließ das Auto stehen und ging auf genau dem gleichen Weg zu der Lichtung, auf der er die Krähe gesehen
hatte. Sein Jagdinstinkt half ihm. Er erinnerte sich an die Form dieses Gebüschs und jener knorrigen Wurzel,
bis er schließlich auf der offenen Fläche stand, die von uralten Eichen umgeben war.
Hier. Von welkem, braunem Laub verdeckt, könnten sogar noch ein paar der Kaninchenknochen liegen.
Stefan holte tief Luft, um ruhig zu werden und seine übersinnlichen Kräfte zu sammeln. Dann schickte er
suchend seine Gedanken aus.
Zum ersten Mal, seit er nach Fell's Church gekommen war, fühlte er den Hauch einer Antwort. Aber er war
nur schwach, und Stefan konnte nicht erkennen, woher er kam.
Er seufzte, drehte sich um und hielt wie erstarrt inne.
Vor ihm stand Damon. Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt und lehnte an einer Eiche. Es sah so aus,
als hätte er dort schon Stunden gestanden.
„So“, sagte Stefan ernst. „Es ist also wahr. Es ist lange her, Bruder.“
„Nicht so lange, wie du glaubst, Bruder.“ Stefan erkannte den sanften, spöttischen Klang der Stimme sofort
wieder. „Ich habe über die Jahre hinweg deine Spur verfolgt“, fuhr Damon ruhig fort. Er wischte sich so
lässig ein Stückchen Baumrinde von seiner Lederjacke, wie er früher seine Brokatmanschetten
zurechtgezupft hatte. „Aber das weißt du ja nicht, oder? Nein, du kannst es nicht wissen. Deine Kräfte sind
noch so schwach wie eh und je.“
„Sei vorsichtig, Damon“, sagte Stefan gefährlich ruhig. „Sei heute nacht vorsichtig. Ich bin nicht in der
Stimmung, tolerant zu sein.“
„Mein Brüderchen fühlt sich auf die Zehen getreten. Nein, so etwas. Du bist wahrscheinlich wütend, weil
ich in dein Gebiet gekommen bin. Aber ich wollte doch nur in deiner Nähe sein. Brüder sollten immer
zusammenhalten.“
„Du hast heute nacht einen Menschen ermordet. Und ich sollte glauben, ich hätte es selbst getan!“
„Bist du denn so sicher, daß du es nicht doch warst? Vielleicht haben wir es ja zusammen getan. Vorsicht!“
warnte er, als Stefan einen Schritt auf ihn zu machte. „Ich bin heute auch nicht sehr tolerant. Schließlich
hatte ich nur einen dürren Geschichtslehrer, während du ein hübsches Mädchen...“
Stefan explodierte vor Wut. „Laß Elena zufrieden“, zischte er so drohend, daß Damon unwillkürlich mit
dem Gesicht zurückfuhr. „Halte dich von ihr fern, Damon. Ich weiß, daß du hinter ihr herspioniert und sie
beobachtet hast. Aber damit ist jetzt Schluß. Wenn du dich ihr noch einmal näherst, wirst du es bitter
bereuen.“
„Du warst immer schon egoistisch. Das ist einer deiner Fehler. Nie wolltest du etwas mit mir teilen.“
Plötzlich erschien auf seinem Gesicht ein unwiderstehliches Lächeln. „Aber zum Glück ist unsere schöne
Elena großzügig. Hat sie dir von unserer kleinen Romanze erzählt? Nun, als wir uns das erste Mal trafen,
war sie fast sofort bereit nachzugeben.“
„Das ist eine Lüge!“
„Oh, nein, mein lieber Bruder. Ich lüge nie, wenn es um etwas Wichtiges geht. Oder sollte ich besser sagen, um etwas Unwichtiges? Egal. Jedenfalls ist deine hübsche Freundin in meinen Armen in Verzückung geraten. Ich glaube, sie mag Männer in Schwarz.“ Während Stefan ihn anstarrte und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu halten, fügte Damon, fast mitfühlend, hinzu: „Du irrst dich, was sie betrifft. Du glaubst, sie sei sanft und fügsam wie Katherine. Das ist sie nicht. Sie ist überhaupt nicht dein Typ, mein tugendhafter Bruder. Sie hat soviel Feuer und Kraft in sich, du wüßtest gar nicht, was du damit anfangen solltest.“ „Und du wohl?“ Damon entfaltete die Arme und lächelte wieder. „Oh, ja.“ Stefan wollte ihm an die Kehle springen. Er hatte sich kaum noch unter Kontrolle. „Du hast in einem recht. Sie ist stark. Stark genug, um dir zu widerstehen. Und jetzt, wo sie weiß, wer du wirklich bist, wird es ihr gelingen. Sie fühlt nur noch Abscheu für dich.“ Damon zog die Augenbrauen hoch. „Wirklich? Wir werden sehen. Vielleicht gefällt ihr die völlige Dunkelheit besser als das ungewisse Zwielicht. Ich jedenfalls bekenne mich zu meiner wahren Natur. Aber ich mache mir Sorgen um dich, kleiner Bruder. Du siehst schwach und halbverhungert aus. Elena spielt nur mit dir, stimmt's?“ Töte ihn, forderte eine innere Stimme Stefan auf. Töte ihn, brich seinen Hals, reiß ihm die Kehle raus. Aber er wußte, daß Damon heute nacht seinen Hunger ausgiebig gestillt hatte. Die schwarze Aura, die ihn umgab, war fast zum Greifen spürbar. „Ja, ich habe mich gesättigt“, sagte Damon freundlich, als wüßte er, was in Stefan vorging. Er seufzte und fuhr sich bei der Erinnerung mit der Zunge über die Lippen. „Er war zwar für einen Mann recht zierlich, und Elena duftet sicher besser, aber es ist eine Freude, neues Blut in den Adern zu spüren.“ Damon atmete hörbar aus, trat von dem Baum weg und sah sich um. Stefan erinnerte sich an seine geschmeidigen Bewegungen. Jede Geste war kontrolliert und präzise. Die Jahrhunderte hatten Damons natürliche Anmut noch verstärkt. „Jetzt habe ich große Lust, so etwas zu tun.“ Damon ging zu einem jungen Baum ein paar Schritte entfernt. Er war ungefähr anderthalb mal so groß wie Damon. Als er ihn packte, reichten seine Finger nicht um den Stamm. Doch Stefan beobachtete, wie sein Bruder kurz Luft holte und sich die Muskeln unter seinem dünnen, schwarzen Hemd anspannten. Dann riß er den Baum mit einem Ruck aus dem Boden. Der Geruch von feuchter Erde erfüllte die Luft. „Er hat mir dort sowieso nicht gefallen.“ Er warf den Baum so weit weg, wie es das verflochtene Wurzelwerk erlaubte. Dann lächelte er Stefan freundlich an. „Und dazu bekomme ich ebenfalls Lust.“ Eine kaum merkliche Bewegung, und Damon war verschwunden. Stefan sah sich um, konnte jedoch keine Spur von ihm entdecken. „Hier oben, Bruder!“ Die Stimme ertönte über seinem Kopf. Als Stefan hochblickte, entdeckte er Damon zwischen den ausladenden Ästen einer Eiche. Das braune Laub raschelte, und Damon war wieder fort. „Wieder da, Bruder.“ Stefan fuhr herum, als jemand ihm auf die Schulter klopfte, aber nichts war hinter ihm. „Jetzt hier.“ Er wirbelte wieder herum. „Nein, dort.“ Wütend versuchte Stefan, Damon festzuhalten, doch seine Finger griffen in die Leere. Hier, Stefan. Diesmal hörte er die Stimme in seinem Kopf, und die ungeheure Kraft, die dahintersteckte, erschütterte ihn bis ins Mark. Man brauchte eine enorme Macht, um seine Gedanken so klar zu übermitteln. Langsam drehte er sich wiederum. Damon lehnte wie vorhin an der großen Eiche. Aber diesmal war der Humor aus seinen dunklen Augen verschwunden. Sie waren schwarz und unergründlich. Sein Mund war zu einer dünnen Linie zusammengepreßt. Welche Beweise brauchst du noch, Stefan? Ich bin viel stärker als du, und du bist stärker als diese bemitleidenswerten Menschen. Ich bin auch schneller als du und besitze Kräfte, von denen du kaum etwas ahnst. Uralte, geheimnisvolle Kräfte. Und ich habe keine Angst, sie zu benutzen. Wenn du mich angreifst, werde ich sie auch gegen dich benutzen. „Bist du deshalb hergekommen? Um mich zu quälen?“ Ich habe bisher Mitleid mit dir gehabt, Bruder. Schon viele Male hätte ich dich töten können. Aber ich habe dir immer das Leben geschenkt. Diesmal ist es anders. Damon trat wieder von dem Baum weg und sprach laut: „Ich warne dich, Stefan. Lege dich nicht mit mir an. Es ist egal, weshalb ich eigentlich herkam. Jetzt will ich Elena. Und wenn du versuchen solltest, mich aufzuhalten, werde ich dich töten.“
„Du kannst es versuchen“, erwiderte Stefan. Die Wut in ihm brannte heißer denn je. Sie strahlte mit großer Helligkeit, wie ein ganzer Himmel voller funkelnder Sterne. Unbewußt fühlte er, daß sie Damons Dunkelheit bedrohte. „Du glaubst, ich kann es nicht? Du wirst es nie lernen, stimmt's, kleiner Bruder?“ Stefan blieb noch genug Zeit, um das müde Kopfschütteln seines Bruders wahrzunehmen. Dann fühlte er, wie ihn in einer fast unsichtbar schnellen Bewegung zwei starke Hände ergriffen. Er begann sofort, sich heftig zu wehren, versuchte den Griff mit aller Kraft abzuschütteln. Aber er hielt ihn fest wie ein Stahlband. Stefan schlug wütend um sich, er wollte die verwundbare Stelle an Damons Hals gleich unter dem Kinn treffen. Es hatte keinen Zweck. Seine Arme wurden nach hinten gedreht, sein ganzer Körper wurde zur Bewegungslosigkeit verdammt. Er war so hilflos wie ein Vogel in den Krallen einer Katze. Er ließ sich ganz schlaff fallen, um dann zu versuchen, sich unter Anspannung aller Muskeln plötzlich zu befreien und einen Schlag zu landen. Doch die grausamen Hände packten ihn nur fester und machten seinen Widerstand zwecklos. Du warst immer schon stur. Vielleicht wird das dich überzeugen. Stefan blickte in das bleiche Gesicht seines Bruders. Er fühlte eine Hand in seinem Haar. Sein Kopf wurde nach hinten gerissen, sein Hals entblößt. Er wehrte sich verzweifelt. Gib dir keine Mühe, sagte die kalte Stimme in seinem Kopf. Dann spürte er die Zähne und den entsetzlichen Schmerz. Er fühlte die Demütigung und Hilflosigkeit des gejagten Opfers. Das Blut wurde gegen seinen Willen aus seinem Körper gesaugt. Stefan weigerte sich nachzugeben. Die Schmerzen wurden schlimmer. Es schien, als würde ihm die Seele herausgerissen. Glühende Speere durchzuckten ihn. Die Qual konzentrierte sich auf die zwei Stellen an seinem Hals, in die Damon seine Zähne gesenkt hatte. Stefan wurde schwindlig. Er war nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren. Dann ließen ihn die Hände plötzlich los. Er fiel auf den Boden auf ein Bett von verloderten, feuchten Eichenblättern. Nach Atem ringend, richtete er sich mühsam auf Hände und Knie auf. „Siehst du, kleiner Bruder. Ich bin stärker als du. Stark genug, dich zu überwältigen, dir Blut und Leben zu nehmen, wie es mir gefällt. Überlasse Elena mir, oder ich werde dich vernichten.“ Stefan schaute hoch. Damon hatte den Kopf zurückgeworfen. Er stand mit leicht gespreizten Beinen da, wie ein Sieger, der bereit ist, dem Verlierer den Fuß in den Nacken zu setzen. Seine schwarzen Augen glühten triumphierend, und Stefans Blut klebte noch an seinen Lippen. Haß erfüllte Stefan. Ein solcher Haß, wie er ihn noch nie erlebt hatte. Im Vergleich dazu war der Haß, den er bisher für Damon gespürt hatte, so gering wie ein Tropfen Wasser in einem Ozean. Sehr oft in den vergangenen Jahrhunderten hatte er bereut, was er seinem Bruder angetan hatte, und sich aus tiefster Seele gewünscht, es ändern zu können. Jetzt jedoch wollte er es wieder tun, wieder und wieder... „Elena gehört dir nicht“, stieß er hervor. Er stand langsam auf und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, welche Mühe es ihn kostete. „Und sie wird dir nie gehören.“ Langsam, sich auf jeden Schritt konzentrierend, setzte er einen Fuß vor den anderen und begann, sich zu entfernen. Sein ganzer Körper schmerzte, und die Scham, die er fühlte, war sogar noch größer als die körperliche Qual. Erdkrumen und Blätter klebten an seiner Kleidung, doch er wischte sie nicht ab. Er brauchte seine ganze Kraft, um sich weiter zu bewegen und gegen die Schwäche anzukämpfen, die ihn zu überfallen drohte. Du wirst es nie lernen, Bruder. Damons Stimme hallte in seinem Kopf. Stefan blickte weder zurück, noch antwortete er. Er biß die Zähne zusammen und schleppte sich weiter. Ein Schritt, und noch ein Schritt. Wenn er sich nur einen Moment setzen könnte, um sich auszuruhen... Ein Schritt, und noch ein Schritt. Das Auto konnte doch nicht mehr weit sein. Unter seinen Füßen raschelte das Laub, und plötzlich hörte er auch hinter sich Laub rascheln. Er versuchte, sich schnell umzudrehen. Doch seine Reflexe waren fast ganz verschwunden. Die ruckartige Bewegung war zuviel. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er stürzte in die undurchdringliche Finsternis der Nacht. Und danach deckte der Schleier der Barmherzigkeit alles zu, und er wußte nichts mehr. Elena eilte auf die High-School zu. Es kam ihr vor, als sei sie Jahre weggewesen. Die letzte Nacht erschien ihr wie ein längst vergangenes Ereignis aus ihrer Kinderzeit. Etwas, an das sie sich kaum erinnern konnte. Aber sie wußte, daß sie sich den Folgen stellen mußte.
Gestern abend hatte sie es erst mal mit Tante Judith zu tun gehabt. Ihre Tante hatte durch Nachbarn von dem Mord erfahren und sich schrecklich aufgeregt. Noch mehr hatte es sie allerdings mitgenommen, daß ihr niemand sagen konnte, wo Elena steckte. Als Elena so gegen zwei Uhr morgens nach Hause kam, war Tante Judith außer sich vor Sorge. Elena hatte keine Erklärung. Sie konnte nur sagen, daß sie mit Stefan zusammengewesen war, daß man ihn angeklagt hatte, sie jedoch wußte, daß er unschuldig war. Alles andere, was sonst noch passiert war, mußte sie für sich behalten. Selbst, wenn Tante Judith ihr geglaubt hätte, verstanden hätte sie es nie. An diesem Morgen hatte Elena verschlafen, und jetzt war sie zu spät dran. Außer ihr war niemand auf den verlassenen Straßen. Der Himmel war grau, und Wind kam auf. Sie wünschte sich verzweifelt, Stefan zu sehen. Die ganze Nacht hindurch, als sie so fest geschlafen hatte, hatte sie schreckliche Sachen von ihm geträumt. Ein Alptraum war besonders realistisch gewesen. Stefans Gesicht war bleich, sein Blick wütend und anklagend. Er hielt ein Buch hoch und sagte: „Wie konntest du nur, Elena? Wie konntest du nur?“ Dann warf er ihr das Buch vor die Füße und ging davon. Sie rief ihm nach, bitte, bitte stehenzubleiben, doch er lief einfach weiter, bis er in der Dunkelheit verschwand. Als sie das Buch betrachtete, sah sie, daß es einen dunkelblauer Samteinband hatte. Ihr Tagebuch. Sie wurde wieder wütend, als sie daran dachte, wie ihr Tagebuch gestohlen worden war. Aber was hatte der Traum zu bedeuten? Welche Stelle in ihrem Tagebuch hatte Stefan so wütend gemacht? Elena wußte es nicht. Ihr war nur eins klar. Sie mußte ihn sehen, seine Stimme hören, seine Umarmung spüren. Von ihm getrennt, fühlte sie sich, als ob die Hälfte von ihr fehlen würde. Sie rannte die Stufen zur Schule hoch und durch die fast leeren Flure zu dem Schulzimmer, in dem Stefans erste Unterrichtsstunde stattfand. Wenn sie nur für einen Moment einen Blick auf ihn werfen konnte, würde es ihr gleich besser gehen. Aber er war nicht da. Durch das kleine Fenster in der Tür konnte sie seinen leeren Platz sehen. Matt war da, und der Ausdruck auf seinem Gesicht machte ihr noch mehr angst. Er betrachtete Stefans Platz mit einer müden Vorahnung. Elena wandte sich wie mechanisch von der Tür ab. Wie ein Automat stieg sie die Stufen hoch und ging in ihre Geometrieklasse. Als sie die Tür öffnete, wandten sich alle Gesichter zu ihr um. Hastig glitt sie auf den leeren Platz neben Meredith. Mrs. Halpern hielt kurz inne, betrachtete Elena einen Moment und fuhr dann fort. Als sie etwas an die Tafel schrieb, schaute Elena zu Meredith. Meredith nahm ihre Hand. „Bist du okay?“ flüsterte sie. „Ich weiß nicht“, antwortete Elena wie abwesend. Sie hatte das Gefühl zu ersticken. Meredith' Finger waren trocken und heiß. „Hast du eine Ahnung, was mit Stefan los ist?“ „Du hast es also noch nicht gehört?“ Meredith riß ihre dunklen Augen weit auf. Elena spürte, wie das Gewicht, das auf ihrer Brust lastete, immer größer wurde. „Sie... man hat ihn doch nicht verhaftet, oder?“ Nur mit Mühe stieß sie die Worte hervor. „Elena, es ist schlimmer als das. Er ist verschwunden. Die Polizei war heute morgen in seiner Pension, und er war nicht da. Die Beamten sind dann in die Schule gekommen, aber hier ist er auch nicht aufgetaucht. Man hat sein Auto leer an der Old-Creek-Road gefunden. Jetzt nimmt man an, daß er geflohen ist, weil er den Mord begangen hat.“ „Das stimmt nicht!“ rief Elena. Sie sah, wie die anderen sich zu ihr umdrehten, aber das war ihr egal. „Er ist unschuldig.“ „Wir kennen deine Meinung, Elena. Aber warum sonst sollte er abgehauen sein?“ „Er ist nicht geflohen. Und er hat's nicht getan.“ Wut stieg in Elena auf und drängte die lähmende Angst zurück. Ihr Atem kam in kurzen Stößen. „Er würde niemals freiwillig fortgehen.“ „Du meinst, daß ihn jemand gezwungen hat? Aber wer? Tyler würde sich niemals trauen....“ „Man hat ihn gezwungen oder ihm Schlimmeres angetan“, unterbrach Elena. Die ganze Klasse starrte sie jetzt an. Mr. Halpern wollte etwas sagen, als Elena plötzlich aufsprang. „Gott helfe ihm, wenn er Stefan verletzt hat.“ Sie blickte über die Klasse, ohne jemanden wahrzunehmen. „Gott helfe ihm.“ Dann wirbelte sie herum und rannte zur Tür. „Elena, komm zurück! Elena!“ Sie hörte, wie Meredith und Mrs. Halpern hinter ihr herriefen. Elena lief schneller. Ihre Gedanken konzentrierten sich nur auf eins.
Alle glaubten, sie wäre hinter Tyler Smallwood her. Gut. Sollten sie ihre Zeit ruhig damit vergeuden, in der falschen Richtung zu suchen. Sie wußte genau, was sie zu tun hatte. Elena rannte durch die kühle Herbstluft zur Old-Creek-Road. Und von dort aus weiter zur Wickery-Brücke und dem alten Friedhof. Ein eisiger Wind blies ihr Haar zurück und biß ihr ins Gesicht. Um sie herum wirbelten Eichenblätter. Aber ihre heiße Wut vertrieb die Kälte. Jetzt wußte sie, was rasender Zorn bedeutete. An purpurroten Buchen und Trauerweiden vorbei schritt sie zur Mitte des alten Friedhofs. Dort sah sie sich fieberhaft um. Über ihr am Himmel jagten die grauen Wolken dahin. Die Zweige der Eichen und Buchen schlugen krachend aneinander. Ein plötzlicher Windstoß schleuderte ihr welkes Laub ins Gesicht. Es schien, als wollte der Friedhof sie vertreiben, als wollte er seine ganze Macht zeigen und alle Kräfte sammeln, um ihr etwas Schreckliches anzutun. Elena kümmerte sich nicht darum. Sie wirbelte herum. Ihr fieberhafter Blick glitt suchend zwischen die Grabsteine. Dann warf sie den Kopf zurück und schrie direkt in den brausenden Wind. Es war nur ein Wort. Aber sie wußte, daß es ihn zu ihr bringen würde. „Damon!“
2. Teil : Der Kampf
1. KAPITEL
„Damon!“ Der eiskalte Sturm peitschte durch Elenas Haare und zerrte an ihrem dünnen Pullover. Eichenlaub wurde zwischen den Marmorgrabsteinen hochgewirbelt, und die Äste der Bäume schlugen krachend
gegeneinander. Elenas Hände waren kalt, ihre Lippen und Wangen wie betäubt, aber sie hielt dem
brüllenden Wind stand.
„Damon!“
Mit diesem Unwetter wollte er ihr seine Macht zeigen, wollte sie vertreiben. Aber es klappte nicht. Der
Gedanke daran, daß dieselbe Macht Stefan bedrohte, erweckte in ihr eine heiße Wut, die dem Sturm trotzte.
Wenn Damon Stefan etwas angetan hatte, wenn er ihn verletzt hatte...
„Damon! Antworte mir gefälligst!“ schrie sie in Richtung der Eichen, die den Friedhof säumten.
Ein welkes, braunes Eichenblatt, das aussah wie eine verwitterte Hand, landete zu ihren Füßen. Aber
niemand antwortete. Der Himmel über ihr war grau wie Glas, grau wie die Grabsteine, die sie umgaben.
Elena fühlte, wie hilfloser Zorn und Frust in ihr hochstiegen. Sie ließ die Schultern sinken. Anscheinend
hatte sie sich geirrt. Damon war nicht hier. Sie war allein mit dem brüllenden Sturm.
Sie drehte sich um und holte erschrocken Luft.
Er stand direkt hinter ihr. So nah, daß ihre Kleidung ihn berührte, als sie sich umwandte. In dieser Nähe
hätte sie die Gegenwart eines anderen Menschen erahnen müssen. Hätte seine Körperwärme gefühlt, ihn
gehört... Aber Damon war kein Mensch.
Elena wich unwillkürlich ein paar Schritte zurück. Ihr Selbsterhaltungstrieb drängte sie zu fliehen. Sie ballte
die Fäuste. „Wo ist Stefan?“
Eine kleine Falte erschien zwischen Damons Augenbrauen. „Welcher Stefan?“
Elena trat nach vorn und schlug ihm voll ins Gesicht.
Sie hatte es nicht geplant und konnte hinterher kaum glauben, daß sie das gewagt hatte. Aber es war ein
guter, fester Schlag gewesen. Ihre ganze Körperkraft hatte darin gelegen, und Damons Kopf wurde zur Seite
geschleudert. Ihre Hand brannte. Sie versuchte, sich zu beruhigen, und musterte ihn.
Wie beim erstenmal, als sie sich begegnet waren, trug er Schwarz: schwarze, weiche Stiefel, schwarze Jeans,
einen schwarzen Pullover und eine schwarze Lederjacke. Er glich Stefan. Elena fragte sich, warum ihr das
nicht schon vorher aufgefallen war. Er hatte dasselbe dunkle Haar, dieselbe bleiche Haut und dasselbe
verwirrend gute Aussehen. Aber sein Haar war glatt, nicht lockig, seine Augen waren schwarz wie der
Himmel um Mitternacht und sein Mund grausam.
Er wandte langsam den Kopf zurück, um sie anzuschauen. Sie sah, daß auf der Wange, die sie geschlagen
hatte, ein roter Fleck brannte.
„Lüg mich nicht an“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Ich weiß, wer du bist. Ich weiß auch, was du bist. Du
hast letzte Nacht Mr. Tanner ermordet. Und jetzt ist Stefan verschwunden.“
„Tatsächlich?“
„Das weißt du doch genau!“
Damon lächelte kalt.
„Ich warne dich, wenn du ihm etwas angetan hast...“
„Was dann?“ fragte er spöttisch. „Was willst du mit mir machen, Elena? Was kannst du schon gegen mich
ausrichten?“
Elena schwieg. Zum erstenmal fiel ihr auf, daß der Sturm sich gelegt hatte. Um sie herum war es totenstill
geworden. Es war, als würden sie im Zentrum einer gewaltigen Kraft stehen. Alles, der bleierne Himmel, die
Eichen und Rotbuchen, ja, die Erde selbst schien mit Damon verbunden zu sein.
Und er zog seine Kraft daraus. Er stand da mit leicht zurückgeworfenem Kopf. Seine Augen waren
unergründlich und voller seltsamer Lichter.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie. „Aber mir wird schon etwas einfallen, darauf kannst du dich verlassen.“
Er lachte plötzlich auf. Elena zuckte zusammen. Ihr Herz begann, heftiger zu schlagen. Sie mußte zugeben,
daß er wunderschön war. Worte wie hübsch oder gutaussehend waren zu schwach und zu farblos, um ihn zu
beschreiben. Wie gewöhnlich dauerte das Lachen nur einen Moment. Aber diesmal hinterließ es Spuren in
seinen Augen, auch als seine Miene wieder ernst war.
„Ich glaube dir“, sagte er. Er entspannte sich und sah sich auf dem Friedhof um. Dann streckte er die Hand
nach ihr aus, als wollte er sie streicheln. „Du bist zu gut für meinen Bruder“, erklärte er lässig.
Elena wollte die Hand wegschlagen, aber sie hatte Scheu davor, ihn noch einmal zu berühren. „Sag mir, wo
er ist.“
„Später vielleicht. Zu einem bestimmten Preis.“ Er zog seine Hand zurück. Gerade noch fiel Elena auf, daß
er denselben Ring wie Stefan trug. Er war aus Silber mit einem Lapislazuli-Stein. Vergiß das nicht, dachte
sie fieberhaft. Es ist wichtig.
„Mein Bruder ist ein Narr“, fuhr er fort. „Er glaubt, weil du wie Katherine aussiehst, bist du auch so
schwach und so leicht zu beeinflussen wie sie. Aber er irrt sich. Ich konnte deinen Zorn schon vom anderen
Teil der Stadt aus spüren. Ich fühle ihn in diesem Moment, gleißend wie die Wüstensonne. Schon jetzt hast
du Kraft, Elena. Aber du könntest noch viel stärker werden...“
Sie starrte ihn an, ohne ihn zu verstehen. Es gefiel ihr nicht, wie er das Thema gewechselt hatte. „Ich weiß
nicht, wovon du redest. Und was hat das mit Stefan zu tun?“
„Ich rede von Macht, Elena.“ Plötzlich trat er ganz nah an sie heran. Er blickte ihr gerade in die Augen.
Seine Stimme war sanft und drängend. „Du hast alles versucht, und nichts hat dich zufriedengestellt. Du bist
das Mädchen, das alles hat, aber da ist immer etwas, das du nicht bekommen kannst, obwohl es greifbar nah
zu sein scheint. Du sehnst dich verzweifelt danach. Das ist es, was ich dir anbiete. Macht. Ewiges Leben.
Und Gefühle, wie du sie noch nie gekannt hast.“
Jetzt verstand Elena. Übelkeit stieg in ihr hoch. Sie erstickte fast vor Entsetzen und Abscheu. „Nein!“
„Warum nicht?“ flüsterte er. „Warum es nicht einmal versuchen, Elena? Sei ehrlich. Gibt es nicht einen Teil
in dir, der es möchte?“ Sein Blick war so heiß und zwingend, daß sie die Augen nicht abwenden konnte.
„Ich kann Dinge in dir wecken, die dein ganzes Leben geschlafen haben. Du bist stark genug, um in der
Dunkelheit zu leben und dich an ihr zu erfreuen. Du kannst die Königin der Schatten werden. Warum willst
du diese Macht nicht annehmen, Elena? Laß mich dir dabei helfen.“
„Nein.“ Mit Mühe riß sie ihren Blick von ihm los. Sie wollte ihn nicht ansehen, wollte nicht dulden, daß er
ihr das noch einmal antat. Daß sie vergaß...
„Es ist das höchste der Geheimnisse, Elena.“ Seine Stimme war sanft wie die Fingerspitzen, die ihren Hals
berührten. „Du wirst so glücklich sein wie nie zuvor.“
Da gab es etwas sehr Wichtiges, an das sie sich erinnern mußte. Er benutzte seine Macht, um sie vergessen
zu lassen. Aber sie würde es nicht zulassen...
„Und wir werden zusammen sein, du und ich.“ Die kühlen Finger strichen über ihren Hals, fuhren unter den
Kragen ihres Pullovers. „Nur wir beide. Für alle Ewigkeit vereint.“
Ein kurzer Schmerz durchfuhr sie, als seine Finger die beiden kleinen Wunden an ihrem Hals berührten. Ihr
Verstand wurde mit einemmal wieder ganz klar.
Sie sollte Stefan vergessen!
Das war es, was Damon erreichen wollte. Die Erinnerung an Stefan vertreiben, an seine grünen Augen und
sein Lächeln, das immer ein wenig traurig war. Aber nichts konnte ihn jetzt noch aus ihren Gedanken
verbannen, nach dem, was sie miteinander geteilt hatten. Sie stieß Damons Finger weg und sah ihm fest in
die Augen.
„Ich habe schon gefunden, was ich gesucht habe“, sagte sie hart. „Und denjenigen, mit dem ich für immer
zusammen sein will.“
Zorn stieg in seinen Augen auf. Ein kalter Zorn, der die Luft zwischen ihnen erfüllte. Elena fühlte sich beim
Anblick seiner Augen an eine Kobra erinnert, die zustoßen will.
„Sei nicht so dumm wie mein Bruder“, warnte er sie. „Sonst muß ich dich auf die gleiche Art behandeln.“
Elena hatte jetzt Angst. Sie konnte es nicht verhindern. Eine Kälte erfüllte sie, die ihr das Blut in den Adern
gefrieren ließ. Der Wind wurde wieder stärker und rüttelte an den Ästen der Bäume. „Sag mir, wo er ist,
Damon.“
„In dieser Minute? Ich weiß es nicht. Kannst du nicht einmal einen Moment lang aufhören, an ihn zu
denken?“
„Nein!“ Sie erschauderte. Das Haar wurde ihr wieder ins Gesicht geweht.
„Und das ist für heute deine endgültige Antwort? Bist du auch ganz sicher, daß du dieses Spiel mit mir
spielen willst, Elena? Das Ende könnte fürchterlich werden.“
„Ich bin sicher.“ Sie mußte ihn aufhalten, bevor er sie wieder in seinen Bann zog. „Du kannst mir keine
Angst machen, Damon. Hast du das noch nicht gemerkt? In dem Augenblick, in dem Stefan mir erzählt hat,
was du bist und was du getan hast, hast du jede Macht über mich verloren. Ich hasse dich. Du erweckst nur
Abscheu in mir. Und es gibt nichts, was du mir antun könntest. Jetzt nicht mehr.“
Bitterer Zorn verdrängte den Charme aus seinen Zügen. Er lachte. Es klang grausam, und er hörte nicht auf.
„Nichts? Ich kann dir und deinem Liebsten alles antun. Du hast ja keine Vorstellung von dem, was ich tun
kann, Elena. Aber du wirst es bald erfahren.“
Er trat zurück. Ein schneidender Wind durchfuhr Elena wie ein Messer. Sie konnte kaum noch etwas sehen.
Glühende Punkte tanzten vor ihren Augen.
„Der Winter kommt, Elena.“ Damons Stimme war sogar über das Brausen des Windes hell und klar zu
hören. „Eine unbarmherzige Jahreszeit. Bevor sie da ist, wirst du lernen, was ich tun kann und was nicht.
Bevor der Winter kommt, wirst du mit mir zusammensein. Du wirst mein sein.“
Das wirbelnde Weiß blendete sie. Selbst Damons dunkle Gestalt konnte sie nicht länger erkennen... Jetzt
verklang auch seine Stimme. Mit gebeugtem Kopf schlang sie die Arme fest um ihren zitternden Körper.
„Stefan“, flüsterte sie.
„Oh, und noch etwas.“ Damons Stimme kam zurück. „Du hast vorhin nach meinem Bruder gefragt. Mach
dir nicht die Mühe, weiter nach ihm zu suchen, Elena. Ich habe ihn letzte Nacht getötet.“
Ihr Kopf fuhr hoch, aber nichts war zu sehen. Nur dieser schwindelerregende weiße Schleier, der auf ihrer
Nase und ihren Wangen brannte und ihre Wimpern verklebte. Erst, als sich die ersten feinen Körnchen auf
ihrer Haut niederließen, erkannte Elena, was es war. Schneeflocken.
Es schneite am ersten November. Und die Sonne war vom Himmel verschwunden.
2. KAPITEL Ein unnatürliches Zwielicht hing über dem verlassenen Friedhof. Und obwohl der Schnee Elenas Sicht trübte und der eiskalte Wind ihre Glieder betäubte, beschloß sie trotzig, nicht über den neuen Friedhof zur Straße zurückzugehen. Soweit sie es beurteilen konnte, mußte die Wickery-Brücke genau vor ihr liegen. Die Polizei hatte Stefans leeres Auto bei der Old Creek Road gefunden. Das bedeutete, er mußte irgendwo zwischen Drowning Creek und dem Wald ausgestiegen sein. Elena stolperte auf dem von Unkraut überwucherten Pfad des alten Friedhofs. Aber sie gab nicht auf. Mit gesenktem Kopf, die Arme fest um den dünnen Pullover geschlungen, ging sie weiter. Sie kannte den Friedhof schon ihr ganzes Leben lang. Notfalls konnte sie den Weg blind finden. Als sie die Brücke überquerte, schmerzten die Kälteschauder, die sie überliefen, immer mehr. Es schneite nicht mehr so heftig, aber der Wind war noch schlimmer. Er schnitt durch ihre Kleider, als wären sie aus Papier. Stefan, dachte sie und bog nach Norden in die Old Creek Road ein. Sie glaubte Damon nicht. Wenn Stefan wirklich tot wäre, würde sie es wissen. Er lebte, und sie mußte ihn finden. Er konnte überall da draußen in dem wirbelnden Weiß stecken; er konnte verletzt sein und halberfroren. Flüchtig fiel Elena auf, daß jede Vernunft sie verlassen hatte. Sie konzentrierte sich nur noch auf einen Gedanken: Stefan. Sie mußte ihn unbedingt finden. Es wurde immer schwerer, dem Pfad zu folgen. Auf Elenas rechter Seite befanden sich Eichen, auf der linken die reißenden Wasser von Drowning Creek. Sie schwankte und blieb stehen. Sie mußte sich ausruhen. Nur einen Moment. Als sie neben den Pfad sank, ging ihr plötzlich auf, wie dumm es von ihr gewesen war, Stefan zu suchen. Er würde zu ihr kommen. Sie brauchte nur sitzenzubleiben und zu warten. Wahrscheinlich war er schon auf dem Weg. Elena schloß die Augen und lehnte den Kopf an die hochgezogenen Knie. Jetzt war ihr schon viel wärmer. Ihre Gedanken schweiften ab, und sie sah Stefan auf sich zukommen. Sah, wie er sie anlächelte. Fühlte seine Umarmung. Jetzt war sie geborgen und sicher. Elena lehnte sich entspannt gegen ihn, froh, alle Angst und Anspannung hinter sich lassen zu können. Sie war zu Hause. Sie war dort, wo sie hingehörte. Stefan würde niemals zulassen, daß ihr ein Leid geschah. Aber statt sie weiter liebevoll zu halten, schüttelte Stefan sie heftig. Er zerstörte den wunderbaren Frieden, der sie erfüllte. Sie sah sein Gesicht, blaß und eindringlich. Seine grünen Augen waren dunkel vor Schmerz. Sie versuchte ihm zu erklären, er solle aufhören, aber er wollte ihr nicht zuhören. „Elena, steh auf“, sagte er, und sie fühlte, wie sein Blick sie zwang, es zu tun. „Elena, steh bitte jetzt auf...“ „Elena, steh auf!“ Die Stimme war hoch, dünn und voller Angst. „Komm schon, Elena! Steh auf! Wir können dich nicht tragen!“
Zwinkernd erkannte Elena ein Gesicht. Es war klein und herzförmig mit weißer Haut, und wurde von Unmengen weicher, roter Locken umrahmt. Große braune Augen, in deren Wimpern Schneeflocken hingen, starten sie besorgt an. „Bonnie“, sagte Elena langsam und mit belegter Stimme. „Was machst du denn hier?“ „Helfen, nach dir zu suchen“, erwiderte eine zweite, dunklere Stimme an Elenas anderer Seite. Sie drehte sich mühsam um und erkannte elegante, gewölbte Augenbrauen und eine olivfarbene Haut. Meredith' Blick, in dem sonst immer leichte Ironie lag, war jetzt ebenfalls von Sorge erfüllt. „Steh auf, Elena. Oder willst du wirklich zur Eisprinzessin werden?“ Schnee bedeckte sie wie ein weißer Pelzmantel. Steif rappelte Elena sich hoch und lehnte sich schwer gegen die beiden Mädchen. Sie gingen zurück zu Meredith' Auto. In dem Auto war es warm. Aber Elena zitterte wie verrückt. Der ganze Körper tat ihr weh. Ihre wiedererwachenden Nerven ließen sie spüren, wie unterkühlt sie tatsächlich war. „Was ist los, Elena?“ fragte Bonnie vom Rücksitz her. „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, einfach so aus dem Unterricht wegzulaufen? Und wie bist du ausgerechnet hierher gekommen?“ Elena zögerte, dann schüttelte sie den Kopf. Im Grunde drängte es sie danach, Bonnie und Meredith alles zu sagen. Ihnen die ganze entsetzliche Geschichte von Stefan und Damon zu erzählen und das, was letzte Nacht wirklich mit Mr. Tanner geschehen war - und was hinterher passiert war. Aber selbst, wenn sie ihr glauben würden, sie hatte kein Recht, das Geheimnis zu verraten. „Alle suchen nach dir“, erklärte Meredith. „Die ganze Schule ist wie aus dem Häuschen und deine Tante einem Nervenzusammenbruch nah.“ „Tut mir leid“, murmelte Elena zähneklappernd. Sie bogen in die Maple Street ein und hielten vor ihrem Haus. Tante Judith wartete drinnen schon mit geheizten Decken in der Hand. „Ich wußte, daß du halberfroren sein würdest, wenn sie dich finden“, sagte sie betont fröhlich, während sie nach Elena griff. „Schnee an dem Tag nach Halloween! Ich kann's kaum glauben. Wo habt ihr Mädchen sie gefunden?“ „Auf der Old Creek Road hinter der Brücke“, erklärte Meredith. Tante Judith wurde blaß. „Nahe beim Friedhof? Wo die Überfälle stattgefunden haben? Elena, wie konntest du nur?“ Sie stockte, als sie Elena näher betrachtete. „Lassen wir das für den Augenblick“, fuhr sie fort und versuchte, wieder so fröhlich zu klingen wie vorhin. „Wir wollen dich erst mal aus den nassen Sachen rausholen.“ „Wenn ich trockene Sachen anhabe, muß ich dorthin zurück“, sagte Elena. Ihr Verstand arbeitete wieder, und eins war ihr klar: Sie hatte Stefan da draußen nicht wirklich gesehen. Er war immer noch verschwunden. „Du mußt überhaupt nichts“, mischte sich Robert ein, Tante Judiths Verlobter. Elena hatte bis jetzt kaum bemerkt, daß er neben ihnen stand. Aber seine Stimme duldete keinen Widerspruch. „Die Polizei sucht nach Stefan. Laß sie ihre Arbeit machen.“ „Die Polizei hält ihn für Tanners Mörder. Aber das war er nicht. Das wißt ihr doch auch, oder?“ Während Tante Judith ihr den nassen Pullover auszog, sah Elena einen nach dem anderen hilfesuchend an. In allen Gesichtern lag jedoch der gleiche Ausdruck. „Ihr wißt, daß er es nicht getan hat“, wiederholte sie fast verzweifelt. Schweigen folgte. Schließlich sagte Meredith: „Elena, keinem gefällt die Vorstellung, daß er es war. Aber... nun, es sieht schlimm aus. Jetzt, wo er geflohen ist.“ „Er ist nicht geflohen! Er ist nicht geflohen! Nein!“ „Elena, beruhige dich“, versuchte Tante Judith sie zu beschwichtigen. „Du mußt dich nicht so aufregen. Sicher bist du krank. Es ist so kalt draußen, und du hattest letzte Nacht nur ein paar Stunden Schlaf...“ Sie legte die Hand auf Elenas Wange. Plötzlich wurde Elena alles zuviel. Niemand glaubte ihr. Selbst ihre Freunde und die Familie ließen sie im Stich. Sie fühlte sich in diesem Moment von lauter Feinden umgeben. „Ich bin nicht krank.“ Sie stieß Tante Judiths Hand weg. „Und ich bin auch nicht verrückt. Stefan ist nicht geflohen, er hat Mr. Tanner nicht ermordet, und es ist mir egal, wenn keiner mir glaubt...“ Ihre Stimme versagte. Tante Judith kümmerte sich um sie. Elena ließ zu, daß sie sie eilig nach oben führte. Aber ins Bett wollte sie nicht. Nachdem sie sich etwas aufgewärmt hatte, setzte sie sich in Decken gehüllt ins Wohnzimmer neben das Kaminfeuer. Das Telefon klingelte den ganzen Nachmittag.
Elena hörte, wie Tante Judith mit Freunden, Nachbarn und der Schule sprach. Sie versicherte allen, daß es
Elena gutgehe. Die Ereignisse der letzten Nacht hätten sie nur sehr mitgenommen, und sie hätte leichtes
Fieber. Aber mit ein wenig Ruhe würde alles wieder in Ordnung kommen.
Meredith und Bonnie setzten sich neben Elena. „Willst du reden?“ fragte Meredith leise. Elena schüttelte
den Kopf und starrte ins Feuer. Sie waren alle gegen sie. Tante Judith hatte unrecht. Es ging ihr nicht gut.
Und es würde ihr auch nicht gutgehen, bis Stefan gefunden war.
Matt kam vorbei. Sein blondes Haar und sein Parka waren voller Schnee. Elena sah ihn hoffnungsvoll an.
Gestern, als der Rest der Schule Stefan lynchen wollte, hatte Matt geholfen, ihn zu retten. Aber heute
erwiderte er ihren Blick nur mit Bedauern, und seine Besorgnis galt allein ihr.
Die Enttäuschung war kaum zu ertragen. „Was machst du hier?“ fuhr Elena ihn an. „Willst du dein
Versprechen halten, ,auf mich aufzupassen'?“
Man sah Matt kurz an, daß ihn ihre Worte verletzten: Aber seine Stimme war ruhig. „Zum Teil, vielleicht.
Aber ich versuche immer, auf dich aufzupassen, unabhängig davon, was ich versprochen habe. Ich hab mir
Sorgen um dich gemacht. Elena, hör mir zu...“
Sie war nicht in der Stimmung, irgend jemandem zuzuhören. „Es geht mir gut, danke. Also, hör auf, dir
Sorgen zu machen. Außerdem sehe ich nicht ein, warum du ein Versprechen halten willst, daß du einem
Mörder gegeben hast.“
Überrascht blickte Matt zu Meredith und Bonnie. Dann schüttelte er hilflos den Kopf. „Du bist nicht fair.“
Elena war auch nicht in der Stimmung, fair zu sein. „Ich hab gesagt, du kannst aufhören, dir wegen mir oder
allem, was mich betrifft, Sorgen zu machen. Mir geht's gut, danke.“
Der Wink mit dem Zaunpfahl war nicht zu übersehen. Matt wandte sich zur Tür, gerade als Tante Judith mit
einem Tablett voller belegter Brote hereinkam.
„Tut mir leid, ich muß weg“, murmelte er und verließ das Haus, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Während des vorgezogenen Abendessens am Kaminfeuer versuchten Meredith, Bonnie, Tante Judith und
Robert eine lockere Unterhaltung zustande zu bringen. Elena konnte nichts essen und wollte nicht reden. Die
einzige, die nicht von der trüben Stimmung angesteckt wurde, war Elenas kleine Schwester Margaret. Die
Vierjährige kuschelte sich fröhlich an Elena und bot ihr Bonbons an, die sie an Halloween bekommen hatte.
Elena umarmte die Schwester heftig und verbarg ihr Gesicht einen Moment in Margarets weißblondem
Haar. Wenn Stefan die Möglichkeit gehabt hätte, sie anzurufen oder ihr eine Nachricht zukommen zu lassen,
hätte er es inzwischen getan. Nichts in der Welt hätte ihn davon abhalten können. Es sei denn, er wäre
schwerverletzt, oder...
Elena wollte über das „oder“ nicht weiter nachdenken. Stefan lebte. Er mußte einfach noch am Leben sein.
Damon war ein Lügner.
Aber Stefan war in großen Schwierigkeiten, und sie mußte ihn unbedingt finden. Den ganzen Abend
zerbrach sie sich den Kopf darüber und versuchte verzweifelt, einen Plan zu entwerfen. Eins war klar. Sie
war ganz auf sich allein gestellt.
Es wurde draußen langsam dunkel. Elena rutschte auf der Couch hin und her und gähnte gespielt.
„Ich bin müde“, sagte sie leise. „Vielleicht bin ich ja doch krank. Ich werde zu Bett gehen.“
Meredith beobachtete sie scharf. Sie wandte sich an Elenas Tante. „Mir ist da gerade etwas eingefallen, Miss
Gilbert. Vielleicht sollten Bonnie und ich über Nacht hierbleiben. Um Elena Gesellschaft zu leisten“, fügte
sie noch hinzu.
„Das ist eine gute Idee.“ Tante Judith war erfreut. „Wenn eure Eltern nichts dagegen haben, seid ihr
willkommen.“
„Es ist einlanger Weg zurück nach Herron. Ich glaube, ich bleibe auch“, sagte Robert. „Ich kann mir's hier
auf der Couch gemütlich machen.“ Tante Judith protestierte, daß es oben genügend Gästezimmer gebe, aber
Robert gab nicht nach. „Keine Umstände. Die Couch reicht völlig.“
Elena erstarrte, als ihr auffiel, daß man von der Couch den Flur und die Haustürvoll im Blickwinkel hatte.
Die hatten das alles geplant, oder zumindest steckten sie jetzt alle unter einer Decke. Man wollte verhindern,
daß sie das Haus verließ.
Als Elena, in ihren roten Seidenkimono gewickelt, ein wenig später aus dem Badezimmer trat, saßen Bonnie
und Meredith schon auf ihrem Bett.
„Hallo, Rosenkranz und Güldenstern“, sagte sie bitter.
Bonnie, die traurig ausgesehen hatte, fuhr erschrocken zusammen und schaute jetzt zweifelnd zu Meredith.
„Sie hat uns entlarvt“, erklärte Meredith trocken. „Sie glaubt, wir sind Spione ihrer Tante. Elena, du solltest
einsehen, daß das nicht stimmt. Kannst du uns denn gar nicht mehr vertrauen?“
„Ich weiß es nicht. Kann ich es denn?“
„Ja, weil wir deine Freundinnen sind.“ Bevor Elena reagieren konnte, war Meredith vom Bett gesprungen
und hatte die Tür zugemacht. Dann wandte sie sich an Elena. „Jetzt hör mir mal einmal in deinem Leben
richtig zu, du kleine Idiotin. Es ist wahr, daß wir nicht wissen, was wir von Stefan halten sollen. Das ist
deine eigene Schuld. Seit ihr zusammen seid, hast du uns ausgeschlossen. Dinge sind passiert, von denen du
uns nichts erzählt hast. Zumindest hast du uns nicht die ganze Geschichte erzählt. Aber trotzdem, trotz
allem, vertrauen wir dir noch immer. Wir stehen zu dir, Elena. Wir wollen dir helfen. Und wenn du das nicht
einsiehst, dann bist du wirklich eine Idiotin.“
Langsam blickte Elena von Meredith zu Bonnie.
Bonnie nickte. „Es stimmt.“ Sie blinzelte, als kämpfte sie mit den Tränen. „Selbst, wenn du uns nicht mehr
magst, wir mögen dich noch immer.“
Elena fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und ihre abwehrende Haltung zusammenbrach. Dann
sprang auch Bonnie vom Bett, und die drei umarmten sich. Elena weinte hemmungslos.
„Es tut mir leid, wenn ich nicht mit euch geredet habe“, sagte sie schließlich und putzte sich die Nase. „Ich
weiß, daß ihr das nicht versteht, und ich kann nicht einmal erklären, warum ich euch nicht alles sagen kann.
Es geht nun mal nicht.“ Sie trat einen Schritt zurück und wischte sich die Augen trocken.
Dann sah sie beide ernst an. „Egal, wie schlimm die Beweislage gegen Stefan auch sein mag, er hat Mr.
Tanner nicht ermordet. Ich weiß, daß er's nicht war, weil ich den wahren Täter kenne. Es ist derselbe, der
Vickie angegriffen hat und den alten Mann unter der Brücke. Und...“ Sie hielt inne und überlegte einen
Moment. „... oh, Bonnie, ich glaube, er hat auch Yangtze getötet.“
„Yangtze?“ Bonnie riß die Augen weit auf. „Aber warum sollte er einen Hund umbringen?“
„Das weiß ich nicht. Aber er war da in jener Nacht. Und er war... wütend. Es tut mir leid, Bonnie.“
Bonnie schüttelte wie benommen den Kopf.
„Warum erzählst du das alles nicht der Polizei?“ fragte Meredith nüchtern.
Elenas Lachen klang leicht hysterisch. „Das ist keine Angelegenheit für die Polizei. Das ist auch so eine
Sache, die ich nicht erklären kann. Ihr sagt, daß ihr mir immer noch vertraut. Vertraut mir also auch in
diesem Fall.
Bonnie und Meredith blickten erst einander an, dann schauten sie auf die Überdecke des Betts, aus der Elena
nervös einen Faden zupfte. Schließlich sagte Meredith: „Gut. Was können wir tun?“
„Ich weiß es nicht. Nichts, es sei denn...“ Elena hielt inne und sah Bonnie an. „Es sei denn“, fuhr sie mit
veränderter Stimme fort, „du willst mir helfen, Stefan zu finden.“
Bonnie sah verwirrt aus. „Ich? Was kann ich denn tun?“ Dann, als Meredith heftig die Luft einsog, ging ihr
ein Licht auf. „Oh, oh.“
„An dem Tag, als ich auf den Friedhof ging, wußtest du, wo ich war“, erklärte Elena. „Und du hast sogar
vorhergesagt, daß Stefan an unsere Schule kommen wird.“
„Ich dachte, du glaubst nicht an diese übersinnlichen Sachen“, protestierte Bonnie schwach.
„Seitdem habe ich ein, zwei Sachen dazugelernt. Ist auch egal. Ich bin bereit, an alles zu glauben, wenn es
hilft, Stefan zu finden. Wenn es nur eine winzige Chance gibt, daß es klappen könnte.“
„Elena, du verstehst das nicht“, versuchte Bonnie abzuwehren. „Ich bin nicht ausgebildet. Ich kann diese
Gabe nicht kontrollieren. Und... und das ist kein Spiel mehr. Je mehr du diese Kräfte nutzt, desto mehr
benutzen sie dich. Am Ende benutzen sie dich die ganze Zeit, ob du es willst oder nicht. Es ist gefährlich.“
Elena stand auf. Sie ging zu der Kommode aus Kirschholz und starrte sie an, ohne wirklich etwas zu sehen.
Schließlich wandte sie sich um.
„Du hast recht. Es ist kein Spiel. Ich glaube dir, wenn du sagst, wie gefährlich es werden kann. Aber es ist
auch für Stefan kein Spiel. Bonnie. Er ist irgendwo da draußen. Schwer verletzt. Und es gibt niemanden, der
ihm helfen könnte. Niemanden, der nach ihm sucht. Außer seinen Feinden. Es kann sein, daß er im Sterben
liegt. Daß er sogar schon...“ Sie konnte nicht weitersprechen, senkte den Kopf und versuchte, die Fassung
wiederzufinden. Als sie hochschaute, merkte sie, wie Meredith Bonnie ansah.
Bonnie streckte die Schultern und richtete sich so groß wie möglich auf. Sie hob das Kinn und preßte den Mund entschlossen zusammen. Selbst ihre sonst so freundlichen braunen Augen waren ernst, als sie Elenas Blick erwiderte. „Wir brauchen eine Kerze“, war alles, was sie sagte. Das Streichholz zischte und versprühte Funken in der Dunkelheit. Einen Moment später brannte die Kerze. Als Bonnie sich über die Flamme beugte, verlieh der Schein ihrem blassen Gesicht einen goldenen Glanz. „Ich brauche eure Hilfe, um mich einzustimmen“, sagte sie zu Elena und Meredith. „Schaut in die Flamme und denkt an Stefan. Stellt ihn euch vor. Egal, was passiert, schaut immer weiter in die Flamme. Und sagt um Himmels willen kein Wort.“ Elena nickte. Dann gab es kein Geräusch mehr im Zimmer außer dem leisen Atmen. Die Flamme zuckte und tanzte. Sie warf Muster aus Licht über die drei Mädchen, die im Schneidersitz um sie herumsaßen. Bonnie atmete mit geschlossenen Augen tief und regelmäßig wie jemand, der gleich einschläft. Stefan, dachte Elena. In die Flamme starrend, versuchte sie, ihre ganze Willenskraft in diesen Gedanken zu stecken. Mit all ihren Sinnen konzentrierte sie sich auf ihn und beschwor sein Bild herauf. Das Gefühl seines rauhen Wollpullovers an ihrer Wange, der Geruch seiner Lederjacke, die Stärke seiner Umarmung. Oh, Stefan... Bonnies Wimpern zuckten. Ihr Atem ging schneller, wie bei einem Schläfer, der einen schlechten Traum hat. Elena schaute entschlossen weiter in die Flamme, aber als Bonnie das Schweigen brach, lief ihr ein Schauder den Rücken hinunter. Zuerst war es nur ein Stöhnen, das Geräusch von jemandem, der Schmerzen hat. Dann warf Bonnie den Kopf hin und her, ihr Atem kam in heftigen Stößen, formte sich zu Worten. „Allein...“, sagte sie und hielt inne, als sich Elenas Fingernägel in ihre Hand bohrten. „Allein... in der Dunkelheit.“ Bonnies Stimme klang gequält und wie aus weiter Ferne. Es herrschte kurzes Schweigen, dann fuhr Bonnie fort. Ihre Worte überschlugen sich fast. „Es ist dunkel und kalt. Und ich bin allein. Etwas ist hinter mir... zerklüftet und hart. Felsen. Sie haben weh getan. Aber jetzt nicht mehr. Ich bin betäubt von der Kälte. Es ist so kalt...“ Bonnie drehte den Kopf, als wollte sie sich von etwas befreien. Und dann lachte sie. Ein schreckliches Lachen, das fast wie ein Schluchzer klang. „Das... ist lustig. Ich hätte nie gedacht, daß ich mich einmal danach sehnen könnte, die Sonne wieder zu sehen. Aber hier ist es immer dunkel. Und kalt. Das Wasser reicht mir bis an den Hals. Wasser, kalt wie Eis. Das ist auch lustig. Überall Wasser, und ich vergehe vor Durst. So durstig... und es tut so weh...“ Elena fühlte, wie sich ihr Herz zusammenkrampfte. Bonnie war in Stefans Gedanken eingedrungen, und wer wußte, was sie da sonst noch entdecken würde? Stefan, sag uns, wo du bist, dachte sie verzweifelt. Schau dich um, sag mir, was du siehst. „Durst. Ich brauche... Leben?“ Bonnies Stimme klang zweifelnd, als wüßte sie nicht, wie sie etwas in Worte fassen sollte. „Ich bin schwach. Er spottete, daß ich immer der Schwächere sein werde. Er ist so stark...ein Mörder. Aber das bin ich auch. Ich habe Katherine getötet. Vielleicht verdiene ich zu sterben. Warum nicht einfach aufgeben und sterben...?“ „Nein!“ stöhnte Elena, bevor sie es verhindern konnte. In diesem Moment vergaß sie alles, außer Stefans Schmerz. „Stefan...“ „Elena!“ rief Meredith gleichzeitig scharf. Aber Bonnies Kopf fiel nach vorn. Der Wortschwall war abgeschnitten. Entsetzt erkannte Elena, was sie getan hatte. „Bonnie, bist du okay? Kannst du ihn wiederfinden? Ich wollte nicht...“ Bonnie hob den Kopf. Ihre Augen waren jetzt offen, aber sie blickten weder auf die Kerze noch auf Elena. Als sie sprach, war ihre Stimme verzerrt, und Elena blieb fast das Herz stehen. Es war nicht Bonnie, die da sprach, aber die Stimme erkannte Elena sofort. Sie war schon einmal aus Bonnies Mund gekommen. Damals auf dem Friedhof. „Elena“, warnte die Stimme. „Gehe nicht zur Brücke. Es bedeutet Tod. Dein Tod wartet dort auf dich.“ Dann fiel Bonnie nach vorn. Elena packte sie an den Schultern und schüttelte sie. „Bonnie!“ Sie schrie beinahe. „Bonnie!“ „Was?... Oh, bitte nicht. Hör auf.“ Bonnies Stimme war schwach und zitterte, aber es war wieder ihre eigene. Noch immer nach vorn gebeugt, faßte sie sich mit der Hand an die Stirn. „Bonnie, bist du okay?“
„Ich glaube... ja. Aber es war so merkwürdig.“ Ihr Tonfall wurde schärfer. „Was bedeutet das, Elena? Ich
meine, daß er ein Mörder ist?“
„Du kannst dich daran erinnern?“
„Ich erinnere mich an alles. Ich kann's euch nur nicht beschreiben. Es war so entsetzlich. Aber was hatte der
Satz zu bedeuten, Elena?“
„Nichts“, erwiderte Elena kurz. „Er hat phantasiert. Das ist alles.“
„Er?“ unterbrach Meredith. „Du glaubst wirklich, daß sie sich in Stefans Gedanken eingeschaltet hat?“
Elena nickte. Ihre Augen brannten vor unterdrückten Tränen. Sie wandte den Blick ab. „.Ja. Ich glaube, das
war Stefan. Und sie hat uns sogar gesagt, wo er ist. Unter der Wickery-Brücke, im Wasser.“
3. KAPITEL Bonnie war überrascht. „Ich kann mich nicht an die Brücke erinnern. Es fühlte sich auch nicht nach einer
Brücke an.“
„Aber du hast es doch selbst gesagt. Am Schluß. Ich dachte, du erinnerst dich...“ Elena verstummte. „Daran
erinnerst du dich nicht“, stellte sie nüchtern fest.
„Ich erinnere mich daran, daß ich allein war, irgendwo, wo es kalt und dunkel ist. Ich fühlte mich schwach...
und habe Durst. Oder ist es Hunger? Ich weiß es nicht, aber ich brauche... etwas. Und fast wünsche ich mir
zu sterben. Dann hast du mich geweckt.“
Elena und Meredith tauschten einen Blick.
„Und danach“, erklärte Elena Bonnie, „hast du noch etwas anderes gesagt. In einer ganz fremden Stimme.
Du warntest uns davor, zur Brücke zu gehen.“
„Du solltest nicht zur Brücke gehen, Elena“, berichtigte Meredith. „Du ganz allein warst gemeint. Sie sagte,
daß der Tod auf dich warten würde.“
„Mir ist es egal, was auf mich wartet“, sagte Elena ungeduldig. „Wenn Stefan dort ist, hält mich keiner
zurück.“
„Dann gehen wir mit dir“, meinte Meredith.
Elena zögerte. „Das kann ich nicht von euch verlangen“, sagte sie langsam. „Es könnte dort draußen eine
Gefahr lauern. Eine tödliche Gefahr von einer Art, die ihr nicht kennt. Vielleicht gehe ich am besten allein.“
„Du machst wohl Witze?“ Bonnie schob entschlossen das Kinn vor. „Wir lieben die Gefahr. Ich will jung
und wunderschön in meinem Sarg liegen, erinnerst du dich?“
„Nicht!“ mahnte Elena. „Du warst doch diejenige, die gesagt hat, daß es kein Spiel mehr ist.“
„Und es ist auch kein Spiel für Stefan“, erinnerte Meredith. „Es hilft ihm nicht, wenn wir hier rumstehen.“
Elena zog bereits ihren Kimono aus und ging auf den Schrank zu. „Wir ziehen uns besser sehr warm an.
Nehmt euch alles, was ihr brauchen könnt.
Als die drei mehr oder weniger dem Wetter entsprechend angezogen waren, wandte Elena sich zur Tür.
Doch plötzlich hielt sie inne.
„Robert. Es gibt keinen Weg, unbemerkt an ihm vorbeizukommen. Selbst, wenn er schläft.“
Gleichzeitig drehten sie sich zum Fenster um.
„Na, toll“, seufzte Bonnie.
Als sie den Quittenbaum hinunterkletterten, fiel Elena auf, daß es aufgehört hatte zu schneien. Doch die
schneidendkalte Luft erinnerte sie an Damons Worte. Der Winter ist unbarmherzig, dachte sie und
erschauderte.
Im ganzen Haus war es dunkel, auch im Wohnzimmer. Robert mußte sich bereits schlafengelegt haben.
Trotzdem hielt Elena den Atem an, als sie an den Fenstern vorbeikrochen. Im letzten Moment entschloß sie
sich, ein Seil mitzunehmen. Die Strömung bei Drowning Creek war reißend. Das Waten im Wasser würde
gefährlich sein. Lautlos öffnete sie die Garagentür.
Die Fahrt zum Ende der Stadt verlief in gespanntem Schweigen. Als sie am äußeren Rand des Walds
vorbeifuhren, erinnerte sich Elena daran, wie Blätter auf dem Friedhof, vom Wind hochgewirbelt, gegen sie
gepeitscht waren, als wollten sie sie angreifen. Besonders die Eichenblätter.
„Bonnie, haben Eichen eine besondere Bedeutung? Hat dir deine Großmutter etwas darüber erzählt?“
„Nun, Bäume galten bei den Druiden als heilig. Eigentlich alle Bäume, aber die Eichen besonders. Sie
glaubten, daß der Geist dieses Baumes ihnen besondere Macht verleihen würde.“
Elena verdaute diese Information schweigend. Als sie die Brücke erreicht hatten und ausgestiegen waren,
musterte sie die Eichen an der rechten Seite der Straße mit einem unbehaglichen Gefühl. Aber die Nacht war
still, und keine Brise störte die trockenen braunen Blätter, die noch an den Zweigen hingen.
„Haltet nach einer Krähe Ausschau“, sagte sie zu Meredith und Bonnie.
„Einer Krähe?“ fragte Meredith scharf. „So einer wie der, die in der Nacht beim Haus war, als Yangtze
starb?“
„Wie in der Nacht, als Yangtze getötet wurde.“ Elena näherte sich dem dunklen Wasser von Drowning
Creek mit wild schlagendem Herzen. Trotz seines Namens war es kein Bach, sondern ein schnell fließender
Fluß mit Ufern aus roter Tonerde. Darüber wölbte sich die Wickery-Brücke, eine Holzkonstruktion, die vor
fast einem Jahrhundert erbaut worden war. Sie war einmal stark genug gewesen, um Pferde und Wagen zu
tragen. Heute war sie nur ein Fußweg, der selten benutzt wurde, weil er zu weit außerhalb war. Ein kahler,
einsamer, unfreundlicher Ort, dachte Elena. Hier und da gab es kleine Schneeverwehungen.
Trotz ihrer tapferen Worte von vorhin blieb Bonnie etwas zurück. „Erinnert ihr euch an das letzte Mal, als
wir über die Brücke liefen?“ fragte sie.
Nur zu gut, dachte Elena. Das letzte Mal waren sie von... etwas auf dem Friedhof gejagt worden. Oder von
jemandem...
„Wir gehen jetzt noch nicht rüber“, erklärte sie. „Erst suchen wir mal diese Seite ab.“
„Wo der alte Mann mit aufgeschlitzter Kehle gefunden wurde“, murmelte Meredith, aber sie folgte Elena.
Die Scheinwerfer des Autos beleuchteten nur einen kleinen Teil des Ufers unter der Brücke. Elena war von
einer bösen Vorahnung erfüllt, als sie aus dem kleinen Lichtkreis trat. Der Tod wartet, hatte die Stimme
gesagt. Hier unten?
Sie rutschte auf den feuchten, glitschigen Steinen aus. Alles, was sie hören konnte, war das Rauschen des
Wassers und das hohle Echo der Brücke über ihrem Kopf. Obwohl sie sich anstrengte, konnte sie in der
Dunkelheit nur das Ufer und das hölzerne Gerüst der Brücke erkennen.
„Stefan?“ flüsterte sie und war fast froh, daß das Wasser
sie übertönte. Sie kam sich vor wie jemand, der in einem leeren Haus „Ist da jemand?“ ruft und sich
gleichzeitig vor der Antwort fürchtet.
„Da stimmt was nicht“, sagte Bonnie hinter ihr.
„Was meinst du damit?“
Bonnie sah sich um und schüttelte den Kopf. Ihr Körper war angespannt vor Konzentration. „Es ist nicht
richtig. Ich... nun, ich habe den Fluß vorhin nicht gehört. Ich konnte überhaupt nichts hören, es herrschte
völlige Stille.“
Elena war tief enttäuscht. Ein Teil von ihr wußte, daß Bonnie recht hatte. Stefan befand sich nicht an diesem
wilden, verlassenen Ort. Aber ein anderer Teil von ihr hatte zuviel Angst, weiter zuzuhören.
„Wir müssen ganz sichergehen“, stieß sie hervor und tastete sich weiter in der Dunkelheit voran. Aber
schließlich mußte sie einsehen, daß es keinerlei Anzeichen dafür gab, daß jemand in letzter Zeit hier
gewesen war. Und im Wasser befand sich auch keine Spur von Stefan. Sie wischte sich die schlammigen,
kalten Hände an den Jeans ab.
„Wir können noch auf der anderen Seite der Brücke suchen“, schlug Meredith vor. Elena nickte wie
mechanisch. Sie brauchte nicht in Bonnies Gesicht zu schauen, um zu wissen, was sie finden würden. Das
hier war der falsche Ort.
„Machen wir, daß wir hier wegkommen“, sagte sie und kletterte durch das Gestrüpp zu dem Lichtkreis
hinter der Brücke. Sie hatte ihn fast erreicht, als sie plötzlich erstarrte.
„Oh, nein“, keuchte Bonnie.
„Zurück“, zischte Meredith. „Verstecken wir uns hinter dem Ufergestrüpp.“
Gegen das Licht der Scheinwerfer hob sich klar eine dunkle Gestalt ab. Elena starrte sie mit wild
klopfendem Herzen an. Es war ein Mann, mehr konnte sie nicht erkennen. Das Gesicht lag im Dunkeln,
doch sie hatte eine schreckliche Ahnung.
Die Gestalt kam auf sie zu.
Um nicht gesehen zu werden, duckte Elena sich. Sie preßte sich so eng wie möglich an das schlammige Ufer
unter der Brücke. Elena fühlte, wie Bonnie hinter ihr zitterte, und Meredith krallte ihre Finger in ihren Arm.
Von ihrer Position aus konnten sie nichts sehen. Plötzlich ertönten schwere Schritte auf der Brücke. Die Mädchen wagten kaum zu atmen. Aneinandergeklammert starrten sie zur Brücke hoch. Die Schritte entfernten sich über die Planken von ihnen fort. Bitte, laß ihn weitergehen, dachte Elena. Oh, bitte... Sie biß sich die Lippen blutig, und dann begann Bonnie leise zu wimmern. Der Mann kam zurück. Ich sollte rausgehen, dachte Elena. Damon will mich und nicht sie. Das hatte er gesagt. Ich sollte rausgehen und mich ihm stellen. Vielleicht läßt er Bonnie und Meredith dann gehen. Aber die heiße Wut, die sie am Morgen erfüllt hatte, war erloschen. Trotz aller Willenskraft brachte sie es nicht über sich, Bonnies Hand loszulassen. Sie konnte sich nicht aus ihrem Versteck lösen. Die Schritte waren jetzt genau über ihnen. Dann herrschte kurz Stille, die gefolgt wurde von einem rutschenden Geräusch. Nein! dachte Elena entsetzt. Er kam runter. Bonnie stöhnte und verbarg ihr Gesicht an Elenas Schulter. Elena spürte, wie sich jeder ihrer Muskeln anspannte, als sie die Bewegungen sah. Füße, Beine... tauchten aus der Dunkelheit auf. Nein! „Was macht ihr hier unten?“ Elenas Verstand weigerte sich zunächst, diese Information zu registrieren. Sie war immer noch außer sich vor Angst und hätte fast geschrien, als Matt einen weiteren Schritt zum Ufer hinunter machte und unter die Brücke spähte. „Elena? Was machst du da?“ fragte er wieder. Bonnie hob rasch den Kopf. Meredith atmete erleichtert auf. Elena fühlte, wie ihre Knie nachzugeben drohten. „Matt.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Bonnie hatte keine solchen Schwierigkeiten. „Was soll das Theater?“ fuhr sie ihn an. „Wolltest du uns einen Herzinfarkt verpassen? Was machst du hier mitten in der Nacht?“ Matt steckte eine Hand in die Tasche und spielte verlegen mit seinem Kleingeld. Als die Mädchen unter der Brücke hervorkamen, starrte er auf den Fluß. „Ich bin euch gefolgt.“ „Du bist was?“ Elena konnte es kaum glauben. Zögernd wandte er sich zu ihr um. „Ich bin euch gefolgt“, wiederholte er. Seine Schultern waren angespannt. „Ich hab mir schon gedacht, daß du einen Weg finden würdest, deine Tante zu überlisten und aus dem Haus zu schleichen. Also habe ich mich in mein Auto auf der anderen Straßenseite gesetzt und euer Haus beobachtet. Schon bald seid ihr drei aus dem Fenster geklettert. Und so bin ich euch gefolgt.“ Elena wußte nicht, was sie sagen sollte. Sie war wütend. Natürlich hatte er es nur gemacht, um sein Versprechen zu halten, das er Stefan gegeben hatte. Aber die Vorstellung, wie Matt in seinem alten Ford gesessen hatte, vermutlich frierend und ohne Abendessen... versetzte ihr einen merkwürdigen Stich, über den sie nicht weiter nachdenken wollte. Er schaute wieder auf den Fluß. Sie trat näher an ihn heran und sprach leise: „Es tut mir leid, Matt. Ich meine, wie ich dich vorhin im Haus behandelt habe und wegen...“ Sie suchte einen Moment hilflos nach Worten. Einfach wegen allem, dachte sie hoffnungslos. „Und mir tut es leid, daß ich euch erschreckt habe.“ Er drehte sich forsch zu ihr um, als wäre die Angelegenheit damit erledigt. „Könnt ihr mir jetzt bitte mal verraten, was ihr hier macht?“ „Bonnie hielt es für möglich, daß Stefan hier sein könnte.“ „Bonnie hielt es nicht für möglich“, berichtigte Bonnie Elena. „Bonnie hat gleich gesagt, daß es der falsche Ort ist. Wir müssen nach einem ruhigen Platz suchen, ganz still und abgeschieden. Ich fühlte mich von allen Seiten... wie eingesperrt“, erklärte sie Matt. Matt schaute sie vorsichtig an, als hätte er Angst, sie könnte ihn beißen. „Klar, verstehe.“ „Es waren Steine um mich herum, aber nicht solche wie hier im Fluß.“ „Sicher, natürlich nicht solche.“ Er warf einen Blick auf Meredith, die schließlich Mitleid mit ihm hatte. „Bonnie hatte eine Vision.“ Matt trat einen kleinen Schritt zurück. Elena konnte sein Profil im Scheinwerferlicht erkennen. Aus seinem Ausdruck war zu entnehmen, daß er nicht wußte, ob er einfach weggehen oder sie alle ins nächste Irrenhaus bringen sollte. „Das ist kein Witz“, erklärte sie. „Bonnie ist ein Medium, Matt. Ich weiß, ich hab immer gesagt, daß ich nicht an solche Sachen glaube, aber ich habe mich geirrt. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr. Heute nacht
hat sie... hat sie sich irgendwie in Stefans Gedanken eingeschaltet und einen Hinweis bekommen, wo er sein
könnte.“
Matt holte tief Luft. „Verstehe. Okay...“
„Behandle mich nicht wie ein kleines Kind! Ich bin nicht dumm, Matt, und was ich dir sage, stimmt. Sie war
da, bei Stefan. Sie wußte Dinge, die nur er wissen kann. Und sie sah den Ort, an dem er festsitzt.“
„Festsitzt“, warf Bonnie ein. „Das ist es. Es war mit Sicherheit nichts Offenes wie ein Fluß. Aber es war
Wasser da. Es reichte mir bis zum Hals. Pardon, ihm bis zum Hals. Und überall waren Felsen, die mit
dickem Moos bedeckt waren. Das Wasser war eiskalt und ruhig. Und es stank.“
„Aber was hast du gesehen?“ fragte Elena eindringlich.
„Nichts. Ich war wie blind. Irgendwie wußte ich jedoch, daß ich schon beim kleinsten Lichtstrahl etwas
erkennen würde. Aber es ging nicht. Es war total finster wie in einem Grab.
„Wie in einem Grab...“ Leichte Schauder überliefen Elena. Sie dachte an die Kirchenruine auf dem Hügel
über dem Friedhof. Es gab dort ein Grab. Ein Grab, von dem sie einmal geglaubt hatte, daß es sich unter
ihren Händen öffnete.
„Aber in einem Grab würde es nicht so naß sein“, gab Meredith zu bedenken.
„Nein. Und ich habe keine Ahnung, wo es sein könnte“, sagte Bonnie. „Stefan war nicht ganz bei sich. Er
war so schwach und verletzt. Und so durstig.“
Elena öffnete den Mund, um Bonnies Redefluß zu stoppen, aber Matt kam ihr zuvor.
„Ich werde euch jetzt mal erzählen, wonach sich das für mich anhört.“
Die drei Mädchen sahen ihn an. Er stand etwas von ihrer Gruppe entfernt wie jemand, der lauschen will. Sie
hatten ihn fast vergessen.
„Nach einem Brunnen?“, fragte Elena.
„Genau. Für mich kann das nur ein Brunnen sein.“
Elenas Herz klopfte vor Aufregung schneller. „Bonnie?“
„Könnte sein“, erwiderte Bonnie langsam. „Die Größe, die Wände, alles paßt. Aber ein Brunnen ist offen.
Ich hätte die Sterne sehen müssen.“
„Nicht, wenn er abgedeckt ist“, warf Matt ein. „Viele der alten Bauernhöfe in der Gegend haben Brunnen,
die nicht mehr benutzt werden. Einige der Bauern decken sie ab, damit die kleinen Kinder nicht reinfallen
können. Meine Großeltern zum Beispiel haben das getan.“
Elena konnte ihre Aufregung nicht länger verbergen. „Das könnte es sein. Das muß es sein. Bonnie,
erinnerst du dich? Du hast gesagt, daß es dort immer dunkel ist.“
„Ja. Und es war ein Gefühl, als wäre man irgendwo unter der Erde.“ Bonnie war ebenfalls aufgewühlt, doch
Meredith unterbrach mit einer trockenen Frage.
„Was glaubst du, wie viele solcher Brunnen gibt's hier in Fell's Church, Matt?“
„Bestimmt Dutzende. Aber abgedeckt? Nicht so viele. Und wenn ihr sagen wollt, daß Stefan in einen
hineingeworfen wurde, kann das nirgendwo geschehen sein, wo es Zeugen geben könnte. Vermutlich eher
an einem abgelegenen Ort...“
„Und sein Auto wurde hier an der Straße gefunden“, sagte Elena.
„Das alte Francher-Farmhaus“, meinte Matt.
Die vier sahen sich an. Das Gehöft war schon seit Menschengedenken heruntergekommen und verlassen. Es
stand mitten im Wald, und der Wald hatte es vor fast einem Jahrhundert in Besitz genommen.
„Auf geht's“, sagte Matt ohne lange Umschweife.
Elena legte ihm die Hand auf den Arm. „Du glaubst uns also...?“
Er sah einen Moment lang fort. „Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“ Er zuckte mit den Achseln. „Aber ich
komme mit.“
Sie teilten sich auf und nahmen beide Autos. Matt fuhr mit Bonnie vor, Meredith und Elena hinterher. Matt
folgte einem überwucherten Weg in den Wald, bis dieser völlig im Unterholz verschwand.
„Von hier aus müssen wir zu Fuß weiter“, erklärte er.
Elena war froh, daß sie daran gedacht hatte, ein Seil mitzunehmen. Sie würden es brauchen, wenn Stefan
tatsächlich im Brunnen des Farmhauses steckte. Und wenn nicht...
Sie wollte nicht darüber nachdenken.
Der Weg durch den Wald war mühsam, besonders in der Dunkelheit. Das Gestrüpp war dicht, und immer
wieder verfingen sich ihre Kleider in toten Ästen. Motten umflatterten sie und strichen mit unsichtbaren
Flügeln an den Wangen vorbei.
Endlich kamen sie an eine Lichtung. Der Grundriß des alten Hauses war noch zu sehen. Die Steine der
Grundmauern wurden jetzt von Unkraut und Gestrüpp zusammengehalten. Der Schornstein stand noch.
Löcher gähnten dort, wo einst der Mörtel gewesen war. Es sah aus wie ein Denkmal, das jeden Moment
zusammenbrechen konnte.
„Der Brunnen muß sich irgendwo dahinten befinden“, sagte Matt.
Es war Meredith, die ihn fand und die anderen rief. Sie stellten sich darum herum und betrachteten den
flachen, viereckigen Steinblock, der die Brunnenöffnung verschloß.
Matt kniete sich hin und untersuchte die Erde und das Unkraut ringsum. „Er ist vor kurzem bewegt worden.“
Elenas Herz schlug immer schneller. „Heben wir ihn runter.“ Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.
Der Steinblock war so schwer, daß Matt ihn nicht einmal verschieben konnte. Schließlich drückten alle vier
mit aller Kraft dagegen und stemmten sich am Boden ab. Mit einem Knirschen verrutschte der Block ein
paar Zentimeter. Matt benutzte ein kräftiges Stück Holz, um den entstandenen Spalt zwischen Brunnen und
Stein zu verbreitern. Dann drückten alle wieder.
Als die Öffnung für Elenas Kopf und Schultern groß genug war, beugte sie sich hinunter und spähte hinein.
Sie hatte Angst vor dem, was sie eventuell entdecken würde.
„Stefan?“
Die Sekunden, in denen sie in die Dunkelheit starrte und kein Geräusch vernahm, außer dem Echo der
Kiesel, die durch ihre Bewegung abgebröckelt waren, wurden zur Qual. Dann hörte sie plötzlich etwas.
„Wer? - Elena?“
„Oh, Stefan!“ Vor Erleichterung drehte Elena fast durch. „Ja! Ich bin hier, wir sind hier, und wir werden
dich da rausholen. Bist du okay? Bist du verletzt?“ Das einzige, was sie daran hinderte, selbst
hinabzustürzen, war Matt, der sie von hinten festhielt. „Halte durch, Stefan! Wir haben ein Seil. Sag mir
endlich, daß du okay bist!“
Ein leises, fast unkenntliches Geräusch ertönte. Doch Elena wußte, was es war. Ein Lachen. Stefans Stimme
war dünn, aber verständlich. „Es ist mir schon... besser gegangen. Aber ich... lebe. Wer ist bei dir?“
„Ich, Matt.“ Er ließ Elena los und beugte sich selbst über die Öffnung. Elena, die vor Glück fast trunken
war, bemerkte, daß er leicht verwirrt aussah. „Und Meredith. Und Bonnie nicht zu vergessen, die als
nächstes ein paar Löffel für uns verbiegen wird. Ich werde dir jetzt ein Seil hinunterwerfen das heißt, falls
Bonnie es nicht schafft, dich kraft ihrer Gedanken herauszuholen.“ Er drehte sich um und sah Bonnie an.
Sie schlug ihm auf den Kopf. „Mach keine Witze darüber, du Blödmann. Hol ihn lieber raus.“
„Zu Befehl, Madame.“ Matt fühlte sich selbst wie leicht beschwipst. „Hier, Stefan. Du mußt das Seil um
deine Taille binden.“
„Ja.“ Stefan sagte nicht, daß seine Finger von der Kälte wie betäubt waren und daß auch nicht klar war, ob
die anderen es überhaupt schaffen würden, sein Gewicht nach oben zu ziehen. Es gab keinen anderen Weg.
Die nächsten fünfzehn Minuten waren für Elena schrecklich. Alle vier mußten mit anpacken, um Stefan aus
dem Brunnen zu holen. Obwohl Bonnies Beitrag im wesentlichen daraus bestand, die anderen anzutreiben,
wenn sie einmal Atem holten. Endlich erschienen Stefans Hände am Rand des schwarzen Lochs. Matt
beugte sich hinunter und packte ihn unter den Schultern.
Und dann hielt Elena ihn in ihren Armen. An der unnatürlichen Bewegungslosigkeit und Schlaffheit seines
Körpers konnte sie erkennen, wie schlimm es stand. Er hatte seine letzte Kraft verbraucht, um mitzuhelfen,
sich hochzuziehen. Seine Hände waren zerkratzt und blutig. Aber am meisten beunruhigte Elena die
Tatsache, daß er ihre verzweifelte Umarmung nicht erwiderte.
Als sie ihn kurz losließ, um ihn näher anzuschauen, sah sie, daß seine Haut wächsern und bleich war und
unter seinen Augen tiefe schwarze Schatten lagen. Er fühlte sich so eiskalt an, daß sie Angst bekam.
Sie blickte erschreckt zu den anderen.
Matt runzelte besorgt die Stirn. „Wir bringen ihn am besten auf schnellstem Weg ins Krankenhaus. Er
braucht einen Arzt.“
„Nein!“ Die Stimme war heiser und schwach. Elena spürte, wie Stefan sich zusammenriß und langsam den
Kopf hoch. Seine grünen Augen blickten sie eindringlich an.
„Keinen... Arzt.“ Sein Blick durchbohrte sie fast. „Versprich es... Elena.“
Elena traten Tränen in die Augen, und ihre Sicht verschwamm. „Ich verspreche es“, flüsterte sie. Dann fühlte sie, wie seine letzte Kraft aufgebraucht war und er bewußtlos in ihren Armen zusammenbrach. 4. KAPITEL „Aber er muß zu einem Arzt! Er sieht aus, als würde er jeden Moment sterben!“ drängte Bonnie.
„Das geht nicht. Ich kann es dir jetzt nicht erklären. Bringen wir ihn einfach nach Hause, okay? Er ist naß
und friert sich hier draußen noch zu Tode. Danach können wir weiter darüber diskutieren.“
Als die vier ihn schließlich auf den Rücksitz von Matts Auto legten, waren sie zerkratzt, erschöpft und von
seinen triefnassen Kleidern völlig durchnäßt. Elena hielt seinen Kopf in ihrem Schoß, während sie zu seiner
Pension fuhren. Meredith und Bonnie folgten ihnen im anderen Auto.
„Ich sehe Licht“, sagte Matt, als er vor dem großen, rotbraunen Gebäude hielt. „Seine Wirtin muß noch
wach sein. Aber die Tür ist bestimmt abgeschlossen.“
Elena ließ Stefans Kopf sanft von ihrem Schoß gleiten, stieg aus und merkte, daß hinter einem der Fenster
die Gardine zurückgeschoben wurde. Dann erschien eine Gestalt hinter der Scheibe und blickte nach unten.
„Mrs. Flowers!“ rief Elena und winkte. „Ich bin's, Elena Gilbert. Wir haben Stefan gefunden und wollen
rein.“
Die Frau hinter der Scheibe bewegte sich nicht und machte auch keinerlei Anstalten, ihnen die Tür zu
öffnen. Aber an ihrer Haltung erkannte Elena, daß sie immer noch hinunterschaute.
„Mrs. Flowers, wir haben Stefan“, rief sie wieder und zeigte in den erleuchteten Innenraum des Autos.
„Bitte!“
„Elena! Es ist schon auf!“ Bonnies Stimme kam von der Vordertür und lenkte Elena von der Gestalt hinter
dem Fenster ab. Als sie wieder hochschaute, wurde die Gardine vorgezogen, und das Licht in den oberen
Räumen ging aus.
Das war merkwürdig, aber sie hatte keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Sie und Meredith halfen Matt, Stefan
hochzuheben und ihn die Vorderstufen hinaufzutragen.
Im Haus war es dunkel und still. Elena führte die anderen die Treppe zur ersten Etage hoch, die sich
gegenüber der Tür befand. Von dort gingen sie in ein Schlafzimmer. Elena wies Bonnie an, die Tür von
etwas, das wie ein Schrank aussah, zu öffnen. Dahinter befand sich eine weitere Treppe, die sehr düster und
steil war.
„Wer... würde schon seine Haustür offenlassen... nach allem, was in letzter Zeit geschehen ist?“ Matt
keuchte, während sie ihre reglose Last weiterschleppten. „Sie muß verrückt sein.“
„Sie ist verrückt“, sagte Bonnie von der obersten Stufe aus und öffnete die Tür, die sich dort befand. „Als
wir das letzte Mal hier waren, hat sie uns die unglaublichsten...“ Ihre Stimme brach entsetzt ab.
„Was ist los?“ fragte Elena. Als sie die Schwelle zu Stefans Zimmer erreicht hatten, sah sie es selbst.
Sie hatte vergessen, in welchem Zustand der Raum sich befunden hatte, als sie ihn das letzte Mal gesehen
hatte. Schrankkoffer voller Kleider waren umgestürzt oder lagen auf der Seite, als wären sie von einem
Riesen gegen die Wand geschleudert worden. Ihr Inhalt war zusammen mit anderen Sachen auf dem ganzen
Boden verstreut. Möbel waren umgeworfen. Ein Fenster war zerbrochen, und der kalte Wind blies hindurch.
Nur in einer Ecke brannte eine Lampe und malte unheimliche Schattenlichter an die Decke.
„Um Himmels willen! Was ist denn hier passiert?“ fragte Matt entsetzt.
Elena antwortete erst, als sie Stefan auf das Bett gelegt hatten. „Ich weiß es nicht genau.“ Und das stimmte
sogar, wenn auch nur knapp. „Es sah hier schon so aus, als ich letzte Nacht ankam. Matt, hilfst du mir bitte?
Wir müssen ihn abtrocknen.“
„Ich hole eine zweite Lampe“, sagte Meredith. Doch Elena unterbrach sie schnell.
„Nein, wir sehen genug. Warum versuchst du nicht, das Kaminfeuer in Gang zu bringen?“
Aus einem der Koffer lugte ein rotbrauner Frotteemantel heraus. Elena nahm ihn. Sie und Matt begannen,
Stefan die durchweichten Sachen auszuziehen. Elena mühte sich mit dem Pullover ab. Ein Blick auf seinen
Nacken genügte ihr jedoch, um zu erstarren.
„Matt, würdest du mir bitte das Handtuch geben?“
Sobald er sich umgedreht hatte, zog Elena Stefan schnell den Pullover über den Kopf und den
Morgenmantel an. Als Matt ihr das Handtuch reichte, wickelte sie es um Stefans Hals wie einen Schal. Ihr
Puls raste, und ihre Gedanken überschlugen sich.
Kein Wunder, daß er so schwach war und so leblos. Oh, nein. Sie mußte ihn untersuchen, mußte feststellen,
wie schlimm es war. Aber wie konnte sie das, mit Matt und den anderen in der Nähe?
„Ich hole einen Arzt“, sagte Matt entschlossen, den Blick auf Stefans Gesicht gerichtet. „Er braucht Hilfe,
Elena.“
Elena war der Panik nahe. „Matt, nein... bitte. Er, er hat schreckliche Angst vor Ärzten. Ich weiß nicht, was
geschehen würde, wenn du einen herholst.“ Das war wieder die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze. Sie
hatte eine Idee, wie sie Stefan helfen konnte, aber das ging nicht in Gegenwart der anderen. Sie beugte sich
über ihn, rieb seine Hände und bemühte sich, einen Ausweg zu finden.
Was konnte sie tun? Stefans Geheimnis bewahren, auch wenn es ihn vielleicht das Leben kostete? Oder ihn
verraten und ihn so retten? Würde es ihn retten, wenn sie Bonnie, Matt und Meredith alles erzählte? Sie
schaute ihre Freunde an und versuchte, sich ihre Reaktion vorzustellen, wenn sie die Wahrheit über Stefan
Salvatore erfuhren.
Es hatte keinen Zweck. Sie konnte es nicht riskieren. Der Schock und das Entsetzen hatten selbst sie fast in
den Wahnsinn getrieben, als sie herausgefunden hatte, daß Stefan ein Vampir war, seit Jahrhunderten
verdammt, mit seiner dunklen Natur zu leben. Wenn sie, die Stefan liebte, schon schreiend vor ihm geflohen
war, was würden diese drei hier tun?
Und da war noch der Mord an Mr. Tanner. Wenn sie die Wahrheit über Stefan erfuhren, würden sie ihm
dann jemals glauben können, daß er unschuldig war? Oder würden sie ihn im stillen um so mehr
verdächtigen?
Elena schloß die Augen. Es war zu gefährlich. Meredith, Bonnie und Matt waren ihre Freunde, aber dieses
Geheimnis konnte sie nicht mit ihnen teilen. Niemandem auf der ganzen Welt konnte sie sich anvertrauen.
Damit war sie ganz allein.
Sie richtete sich auf und sah Matt an. „Er hat Angst vor Ärzten, aber eine Krankenschwester ... das würde
gehen.“ Dann wandte sie sich an Bonnie und Meredith, die vor dem Kamin knieten. „Wie wäre es mit deiner
Schwester, Bonnie?“
„Mary?“ Bonnie sah auf die Uhr. „Sie hatte diese Woche Spätschicht im Krankenhaus und ist vermutlich
schon zu Hause. Nur...“
„Das ist die Lösung. Matt, du fährst mit Bonnie und bittest Mary, herzukommen. Wenn sie glaubt, daß er
einen Arzt braucht, werde ich nichts mehr dagegen haben.
Matt zögerte. Dann atmete er scharf aus. „Gut. Ich finde zwar immer noch, daß du einen Fehler machst,
aber... Komm, Bonnie. Wir werden ein paar Verkehrsübertretungen begehen.“
Als sie zur Tür gingen, blieb Meredith beim Kamin stehen und beobachtete Elena prüfend.
Elena riß sich zusammen und begegnete ihrem Blick. „Ich finde, ihr solltet alle fahren, Meredith.“
„Ach, findest du?“
Elena hatte das ungute Gefühl, daß Meredith ihre Gedanken lesen konnte. Aber die Freundin stellte keine
weiteren Fragen. Nach einem kurzen Moment nickte sie und folgte Matt und Bonnie ohne ein weiteres Wort.
Als Elena hörte, wie die Tür unten geschlossen wurde, hob sie die Lampe auf, die neben dem Bett lag, und
steckte den Stecker rein. Jetzt konnte sie sich wenigstens Stefans Verletzungen näher ansehen.
Seine Gesichtsfarbe war noch schlechter als vorher. Er war jetzt fast so weiß wie das Bettlaken unter ihm.
Auch seine Lippen waren bleich. Elena mußte plötzlich an Thomas Fell denken, den Gründer von Fell's
Church. Oder besser, an die Statue von Thomas Fell, die neben der seiner Frau auf dem Steindeckel des
gemeinsamen Grabes lag. Stefan war blaß wie dieser Marmor.
Die Schnitte und Abschürfungen an seinen Händen waren purpurrot, aber sie bluteten nicht mehr. Elena
drehte sacht seinen Kopf zur Seite, um sich den Hals anzusehen.
Und da war es. Automatisch berührte sie ihren eigenen Hals, als ob sie die Ähnlichkeit bestätigen wollte.
Aber Stefans Wunden waren keine kleinen Punkte. Es sah aus, als hätte jemand versucht, ihm die Kehle
herauszureißen.
Rasender Zorn stieg wieder in Elena auf. Und Haß! Sie erkannte, daß sie trotz ihres Abscheus und Ärgers
Damon vorher nicht gehaßt hatte. Nicht wirklich. Aber jetzt, jetzt haßte sie ihn! Sie haßte ihn mit einem so
heftigen Gefühl, wie sie es für noch keinen anderen Menschen verspürt hatte. Sie wollte ihn verletzen! Er
sollte bezahlen für seine Tat. Wenn sie in diesem Moment einen hölzernen Pflock gehabt hätte, hätte sie ihn
Damon ohne zu zögern ins Herz gestoßen.
Doch zunächst mußte sie an Stefan denken. Er lag so erschreckend ruhig da. Das war für sie am
schlimmsten zu ertragen, dieses völlige Fehlen jeden Widerstands oder Aufbäumens in ihm. Es schien, als
habe er seinen Körper verlassen, und nur eine leere Hülle sei zurückgeblieben.
„Stefan!“ Ihn zu schütteln half nichts. Mit einer Hand auf seiner eiskalten Brust versuchte sie, den
Herzschlag zu finden. Wenn es einen gab, war er so schwach, daß sie ihn nicht fühlen konnte.
Bleib ruhig, Elena, ermahnte sie sich und versuchte die schnell aufsteigende Panik zu verdrängen. Wenn er
nun tot war? Wenn sie ihn nicht mehr retten konnte?
Sie sah sich im Zimmer um. Ihr Blick fiel auf die zerbrochene Scheibe. Glasscherben lagen auf dem Boden.
Sie ging hinüber und hob eine auf. Schön anzusehen, doch scharf wie ein Rasiermesser, dachte sie. Dann biß
sie die Zähne zusammen und schnitt sich damit in den Finger.
Der Schmerz ließ sie leise aufstöhnen. Nach einem kurzen Moment drang Blut aus dem Schnitt und lief
ihren Finger hinunter. Schnell kniete sie sich neben Stefan und hielt ihm den Finger an die Lippen.
Mit der anderen Hand nahm sie seine leblosen Finger und fühlte unter ihrem Griff den harten Silberring, den
er trug. Bewegungslos wie ein Statue blieb sie neben ihm knien und wartete.
Fast hätte sie seine erste, kaum wahrnehmbare Reaktion verpaßt. Ihr Blick war auf sein Gesicht gerichtet.
Das sachte Heben und Senken seiner Brust nahm sie nur aus dem Augenwinkel wahr. Doch dann zitterten
die Lippen unter ihrem Finger, öffneten sich leicht, und er begann reflexartig zu schlucken.
„Das ist es“, flüsterte Elena. „Komm, Stefan.“
Seine Wimpern zuckten. Mit aufsteigender Freude fühlte sie, wie er den Druck ihrer Hand erwiderte. Er
schluckte wieder.
„Ja.“ Sie wartete, bis seine Augen erst blinzelten und sich dann langsam öffneten, bevor sie sich
zurücksetzte. Dann griff sie mit einer Hand zum Rollkragen ihres Pullover und schlug ihn zurück.
Der Blick seiner grünen Augen war benommen und schläfrig. Und doch sturer, als sie es je erlebt hatte.
„Nein“, flüsterte er heiser.
„Du mußt, Stefan. Die anderen kommen gleich zurück und bringen eine Krankenschwester mit. Und wenn
du nicht gut genug auf den Beinen bist, um sie zu überzeugen, daß du nicht ins Krankenhaus mußt...“ Sie
beendete den Satz nicht. Sie hatte keine Ahnung, was ein Arzt oder Krankenhauslabor über Stefan
herausfinden konnte. Aber ihr war klar, daß er es wußte und daß es ihm angst machte.
Aber Stefan wurde nur noch sturer und wandte den Kopf ab. „Geht nicht“, flüsterte er unter Anstrengung.
„Zu gefährlich. Habe... schon... zuviel genommen... letzte Nacht.“
War das wirklich erst letzte Nacht gewesen? Es schien ein Jahr her zu sein. „Wird es mich umbringen?“
fragte sie. „Stefan, antworte mir! Wird es mich umbringen?“
„Nein... aber...“
„Dann müssen wir es tun. Streite nicht mit mir!“ Sich über ihn beugend, seine Hand in der ihren, spürte sie
seine übergroße Not. Sie war erstaunt, daß er überhaupt versuchte zu widerstehen. Er kam ihr vor wie
jemand, der dem Hungertod nahe war und vor einer übervollen Tafel stand. Unfähig, den Blick von den
dampfenden Speisen abzuwenden, weigerte er sich dennoch zu essen.
„Nein“, sagte er wieder. Elena war nahe daran zu verzweifeln. Stefan war der einzige, den sie kannte, der
genauso stur war wie sie.
„Doch. Und wenn du nicht mitmachst, werde ich mir noch etwas anderes aufschneiden. Das Handgelenk,
zum Beispiel.“ Sie hatte den Finger in die Laken gepreßt, um den Blutfluß zu stoppen. Jetzt hielt sie ihn
hoch.
Seine Pupillen erweiterten sich, und seine Lippen öffneten sich. „Schon... zuviel“, murmelte er. Aber sein
Blick blieb auf den hellroten Blutstropfen an Elenas Fingerspitze gerichtet. „Und ich... kann mich nicht
kontrollieren...“
„Ist schon gut“, flüsterte sie. Sie zog den Finger wieder über seine Lippen, fühlte, wie sie sich öffneten.
Dann lehnte sie sich über ihn und schloß die Augen.
Sein Mund war kühl und trocken, als er ihren Hals berührte. Seine Hand stützte ihren Nacken, während
seine Lippen die beiden kleinen Wunden suchten, die schon dort waren. Elena zwang sich, nicht vor dem
kurzen, scharfen Schmerz zurückzuzucken. Dann lächelte sie.
Vorher hatte sie seine große Not gespürt, seinen schrecklichen Hunger. Jetzt erlebte sie durch das Band, das
sie miteinander verband, seine helle Freude und die Befriedigung. Tiefe Befriedigung, während der Hunger
langsam gestillt wurde.
Ihre Freude kam vom Geben, von dem Wissen, daß sie Stefan mit ihrem eigenen Leben half. Sie konnte spüren, wie seine Kraft wiederkehrte. Nach und nach ließ seine Not nach. Aber er war noch lange nicht gesättigt, und Elena konnte es nicht verstehen, als Stefan versuchte, sie wegzustoßen. „Das ist genug“, keuchte er und zwang sie, sich aufzurichten. Elena öffnete die Augen. Das wohlige, traumhafte Gefühl, das sie erfüllt hatte, war mit einemmal zerstört. Stefans grüne Augen waren dunkel, und in seinem Gesicht sah sie den wilden Hunger des Jägers. „Es reicht noch nicht. Du bist zu schwach...“ „Es reicht für dich!“ Er stieß sie wieder fort, und sie erkannte die Verzweiflung in seinem Blick. „Elena, wenn ich mehr nehme, wirst du anfangen, dich zu verändern. Und wenn du jetzt nicht sofort von mir weggehst...!“ Elena zog sich ans Fußende des Betts zurück. Sie beobachtete, wie er sich aufsetzte und seinen Frotteemantel richtete. Im Schein der Lampe sah sie, daß seine bleiche Haut ein wenig Farbe wiedergewonnen hatte. Ein rosiger Schimmer lag auf seinen Wangen. Sein Haar trocknete zu einer schwarzen Lockenmähne. „Ich habe dich vermißt“, sagte sie leise. Riesige Erleichterung überfiel sie. Das Gefühl war schmerzhaft und intensiv. Fast so schlimm, wie die Angst gewesen war. Stefan lebte! Er redete mit ihr. Alles würde wieder gut werden. „Elena...“ Ihre Blicke trafen sich. Unbewußt bewegte sie sich zu ihm hin und hielt verwirrt inne, als er laut auflachte. „So hab ich dich noch nie gesehen“, sagte er. Sie schaute an sich hinunter. Ihre Schuhe und die Jeans waren voller roter Tonerde. Eigentlich war sie von Kopf bis Fuß damit beschmiert. Ihre Jacke war aufgerissen, an einigen Stellen quoll das Futter heraus. Sie hatte keinen Zweifel daran, daß ihr Gesicht genauso verschmiert und schmutzig war, und sie wußte, daß ihr Haar völlig zerzaust und struppig war. Elena Gilbert, das Modevorbild der ganzen High-School, sah aus wie eine Schlampe. „Mir gefällt's.“ Stefan lachte wieder, und diesmal stimmte sie ein. Sie lachten immer noch, als sich die Tür öffnete. Elena erstarrte und zog sich den Rollkragen hoch. Sie schaute sich nervös im Zimmer um, ob etwas sie verraten könnte. Stefan richtete sich höher auf und fuhr sich kurz über die Lippen. „Es geht ihm besser!“ rief Bonnie fröhlich aus, als sie ins Zimmer trat und Stefan sah. Matt und Meredith folgten ihr auf den Fersen. Auch sie waren freudig überrascht. Die vierte Person, die hereinkam, war nur ein wenig älter als Bonnie. Aber sie strahlte eine Autorität aus, die ihre Jugend Lügen strafte. Mary McCullough ging sofort zu ihrem Patienten und griff nach seinem Puls. „Also Sie sind derjenige, der solche Angst vor Ärzten hat“, sagte sie. Stefan sah einen Moment verwirrt aus, dann erholte er sich. „Das ist so eine Art Kindheitstrauma“, erklärte er leicht verlegen. Er blickte aus den Augenwinkeln zu Elena, die ihn nervös anlächelte und kurz nickte. „Jedenfalls brauche ich jetzt keinen Arzt mehr, wie Sie selbst sehen können.“ „Wollen Sie das nicht mir überlassen? Ihr Puls ist in Ordnung. Er ist sogar überraschend langsam, selbst für einen Sportler. Ich glaube nicht, daß Sie unterkühlt sind, aber Sie frieren immer noch. Stellen wir mal Ihre Temperatur fest.“ „Nein, ich glaube nicht, daß das nötig ist.“ Stefans Stimme war tief und ruhig. Elena hatte diesen Tonfall schon früher erlebt und wußte, was er bezwecken sollte. Aber Mary nahm nicht die geringste Notiz davon. „Machen Sie bitte den Mund auf.“ „Komm, ich mach das“, sagte Elena schnell und riß Mary das Thermometer aus der Hand. Irgendwie entglitt ihr das kleine Glasröhrchen und fiel auf den Holzboden. Dabei zersprang es in tausend Stücke. „Oh, das tut mir leid!“ „Macht nichts“, antwortete Stefan. „Ich fühle mich schon besser, und mir wird von Minute zu Minute wärmer.“ Mary betrachtete den Schaden auf dem Boden und sah sich dann in dem verwüsteten Zimmer um. „Also.“ Sie drehte sich um. „Was ist hier passiert?“ Stefan zuckte mit keiner Wimper. „Nichts. Mrs. Flowers ist eben eine sehr schlechte Haushälterin.“ Er sah Mary dabei gerade in die Augen.
Elena hatte große Lust zu lachen und erkannte, daß es Mary ebenso ging. Statt dessen jedoch zog Mary eine
Grimasse und kreuzte die Arme über der Brust. „Es ist wohl zwecklos, auf eine anständige Antwort zu
warten“, sagte sie. „Und es ist klar, daß Sie nicht lebensgefährlich erkrankt sind. Ich kann Sie nicht zwingen,
ins Krankenhaus zu gehen.
Aber ich würde Ihnen dringend raten, sich dort morgen gründlich untersuchen zu lassen.“
„Danke“, antwortete Stefan. Elena wußte, daß er absolut nicht vorhatte, Marys Rat zu befolgen.
„Elena, du siehst aus, als könntest du einen Arzt brauchen. Du bist weiß wie ein Bettuch.“
„Ich bin nur müde, es war ein langer Tag.“
„Mein Rat für dich lautet: geh nach Hause und leg dich ins Bett. Du leidest doch nicht unter Blutarmut,
oder?“
Elena unterdrückte den Wunsch, mit der Hand an die Wange zu greifen. War sie wirklich so blaß? „Nein,
ich bin nur müde“, wiederholte sie. „Wir können jetzt alle nach Hause gehen, wenn Stefan sich wieder gut
fühlt.“
Stefan nickte bestätigend. Die Nachricht in seinen Augen galt allein Elena.
„Gebt uns eine Minute, bitte!“ bat er Mary und die anderen. Sie zogen sich zur Treppe zurück.
„Auf Wiedersehen, und gib auf dich acht!“ sagte Elena laut, während sie ihn umarmte. Dann fragte sie ihn
leise flüsternd: „Warum hast du bei Mary nicht deine geheimen Kräfte angewandt?“
„Hab ich doch“, erklärte er grimmig. „Zumindest hab ich's versucht. Ich muß noch sehr schwach sein. Aber
mach dir keine Sorgen. Das wird vorübergehen.“
„Natürlich“, beschwichtigte Elena, aber ihr Magen verkrampfte sich. „Bist du sicher, daß du jetzt allein
bleiben solltest? Was ist, wenn...?“
„Ich komme schon zurecht. Für dich ist es viel gefährlicher, allein zu bleiben.“ Stefan sprach leise, aber
eindringlich. „Ich hatte noch keine Gelegenheit, dich zu warnen, Elena. Du hattest recht. Damon ist in Fell's
Church.“
„Ich weiß. Er hat dir das angetan, stimmt's?“ Elena erwähnte nicht, daß sie auf dem Friedhof nach Damon
gesucht hatte.
„Ich... ich kann mich nicht erinnern. Aber er ist gefährlich. Bitte Bonnie und Meredith, dir heute nacht
Gesellschaft zu leisten. Und achte unbedingt darauf, daß niemand einen Fremden in euer Haus läßt.“
„Wir gehen sofort ins Bett“, versicherte Elena und lächelte ihn an. „Und werden auf keinen Fall jemanden
hereinlassen.“
„Bitte sei sehr, sehr vorsichtig.“ Seine Stimme klang ernst.
Elena nickte langsam. „Ich verspreche es dir.“
Sie küßten sich. Ihre Lippen berührten sich kaum, doch ihre ineinander verschlungenen Hände ließen
einander nur widerwillig los. „Sag den anderen, daß ich ihnen danke“, fügte Stefan noch hinzu.
„Das mache ich.“
Die fünf teilten sich vor der Pension wieder in zwei Gruppen auf. Matt bot an, Mary nach Hause zu fahren,
so daß Meredith, Bonnie und Elena zusammenbleiben konnten. Mary war immer noch mißtrauisch, was die
Ereignisse dieser Nacht betraf. Elena konnte ihr keinen Vorwurf machen. Sie konnte außerdem vor lauter
Müdigkeit nicht mehr klar denken.
„Stefan bat mich, euch allen zu danken“, erinnerte sie sich, nachdem Matt weg war.
„Keine... Ursache.“ Bonnies Worte wurden von einem heftigen Gähnen unterbrochen, als Meredith ihr die
Wagentür aufhielt, damit sie einsteigen konnte.
Meredith selbst sagte nichts. Seit sie Elena mit Stefan allein gelassen hatte, war sie sehr still gewesen.
Bonnie lachte plötzlich laut. „Eins haben wir alle vergessen. Die Prophezeiung nämlich.“
„Welche Prophezeiung?“ fragte Elena.
„Na, die von der Brücke. Die, von der du behauptest hast, ich hätte sie ausgesprochen. Nun, du bist zur
Brücke gegangen, und der Tod hat dort nicht auf dich gewartet. Vielleicht hast du die Worte nicht richtig
verstanden.“
„Nein“, warf Meredith ein. „Wir beide haben es deutlich gehört.
„Dann war's vielleicht die falsche Brücke. Oder... hmm...“ Bonnie wickelte sich auf dem Rücksitz fester in
ihren Mantel, schloß die Augen und machte sich nicht die Mühe, den Satz zu beenden.
Aber Elena tat es in Gedanken für sie. Oder der falsche Zeitpunkt.
Eine Eule schrie draußen, als Meredith das Auto startete.
5. KAPITEL
2. November, Liebes Tagebuch, heute morgen wachte ich auf und fühlte mich ganz merkwürdig. Ich weiß gar nicht, wie ich es beschreiben soll. Einerseits war ich so schwach, daß ich nicht aufstehen konnte. Aber andererseits... fühlte ich mich einfach... wundervoll. So behaglich und entspannt. Als ob ich auf einem Bett aus goldenem Licht schweben würde. Von mir aus hätte dieser Zustand bis in alle Ewigkeit anhalten können. Dann fiel mir Stefan ein, und ich versuchte, mich hochzurappeln. Doch Tante Judith steckte mich wieder ins Bett. Sie erzählte mir, daß Bonnie und Meredith schon seit Stunden weg seien. Ich hatte so fest geschlafen, daß es ihnen nicht gelungen war, mich zu wecken. Tante Judith bestand darauf, daß ich Ruhe brauche. Deshalb bin ich noch hier. Tante Judith hat mir einen Fernseher ins Zimmer gestellt. Aber ich habe keine Lust, fernzusehen. Ich liege lieber hier und schreibe oder döse ein wenig. Ich warte darauf, daß Stefan anruft. Er hat es mir versprochen. Oder nicht? Ich kann mich nicht erinnern. Wenn er sich meldet, muß ich... 3. November (10 Uhr 30) Ich habe gerade den Eintrag von gestern gelesen und bin schockiert. Was war los mit mir? Ich habe mitten in einem Satz abgebrochen, und jetzt weiß ich nicht einmal, was ich eigentlich schreiben wollte. Und ich habe gar nichts von meinem neuen Tagebuch erwähnt. Ich muß total ausgeflippt gewesen sein. Ist auch egal. Das ist jetzt der offizielle Beginn meines neuen Tagebuchs. Es ist nicht so schön eingebunden wie mein altes, aber es muß reichen. Ich habe die Hoffnung aufgegeben, das andere jemals wiederzufinden. Wer immer es auch gestohlen hat, wird es nicht zurückbringen. Aber wenn ich mir vorstelle, daß jemand das alles liest, all meine geheimen Gedanken und meine Gefühle für Stefan, dann habe ich große Lust, den Dieb umzubringen, und gleichzeitig sterbe ich vor Scham. Ich schäme mich nicht wegen meiner Liebe zu Stefan. Doch das ist ganz privat. Und da sind noch andere Dinge geschildert. Zum Beispiel, wie wir uns küssen, uns umarmen, und ich weiß genau, daß auch er nicht will, daß ein Fremder das liest. Natürlich steht nichts über sein Geheimnis drin. Das hatte ich damals zum Glück noch nicht herausgefunden. Erst als ich die Wahrheit kannte, konnte ich Stefan richtig verstehen. Und wir konnten endlich wirklich zusammensein. Jetzt sind wir unzertrennlich. Es kommt mir vor, als hätte ich ein Leben lang auf ihn gewartet. Vielleicht kann man mich verurteilen, weil ich ihn liebe, wenn man bedenkt, was er ist. Er kann gewalttätig werden, und ich weiß, daß es in seiner Vergangenheit einige Dinge gibt, derer er sich schämt. Aber er würde mir nie etwas antun, und die Vergangenheit ist vorbei. Er fühlt sich schuldig und ist so schrecklich verletzt worden. Ich möchte das alles wieder gutmachen. Ich weiß nicht, was jetzt passieren wird. Ich bin nur froh, daß er in Sicherheit ist. Heute bin ich zu seiner Pension gegangen und habe erfahren, daß die Polizei gestern da war. Stefan war noch schwach und konnte seine Kräfte nicht einsetzen, um sie loszuwerden, aber sie haben keinerlei Anklage gegen ihn erhoben. Die Beamten haben nur ein paar Fragen gestellt. Stefan sagte, daß sie sehr freundlich waren, was mich mißtrauisch macht. Im Grunde geht es doch nur um drei Dinge: wo war Stefan, als der alte Mann unter der Brücke überfallen wurde, und wo war er bei dem Anschlag auf Vickie Bennett in der Kirchenruine? Und am allerwichtigsten: Hat er ein Alibi für die Zeit, in der Mr. Tanner in der Schule ermordet wurde? Sie haben nichts in der Hand gegen ihn. Okay, die Verbrechensserie hat angefangen, seit er in Fell's Church ist, na und? Das besagt noch lange nichts. Er hat sich in der Schule in jener Nacht mit Tanner gestritten. Auch das will nichts heißen. Jeder hat mit Tanner gestritten. Stefan war verschwunden, nachdem man Tanners Leiche fand. Aber jetzt ist er wieder da; und es ist sonnenklar, daß er selbst überfallen wurde. Und zwar von derselben Person, die auch die anderen Verbrechen begangen hat. Mary hat der Polizei geschildert, in welchem Zustand Stefan sich befand, als wir sie gerufen haben. Und wenn man uns verhören sollte, können Bonnie, Meredith, Matt und ich bestätigen, wie wir ihn gefunden haben und daß er schwer verletzt war. Es wird kein Verfahren gegen ihn geben. Stefan und ich haben über dies und andere Dinge gesprochen. Es ist schön, wieder bei ihm zu sein, auch wenn er bleich und müde aussieht. Er kann sich immer noch nicht erinnern, wie dieser Donnerstagabend
endete, aber das, was er weiß, ist genauso, wie ich es schon vermutet hatte. Nachdem er mich in jener Nacht nach Hause gefahren hat, hat er Damon gesucht. Sie haben sich gestritten. Am Ende ist Stefan halbtot in dem Brunnen gelandet. Man braucht kein Genie zu sein, um sich vorzustellen, was dazwischen passiert ist. Ich habe ihm immer noch nicht gestanden, daß ich am Freitagmorgen Damon auf dem Friedhof gesucht habe. Ich werde es wohl besser morgen nachholen. Ich weiß, daß es ihn aufregen wird, besonders, wenn erhört, was Damon mir vorgeschlagen hat. Nun, das ist für heute alles. Ich bin müde. Dieses Tagebuch werde ich so verstecken, daß es keiner finden kann. Weshalb, das ist wohl klar. Elena hielt inne und las den letzten Satz noch einmal. Dann fügte sie hinzu: PS. Ich frage mich, wer wohl nach Tanners Tod unser neuer Lehrer für europäische Geschichte werden wird? Sie stopfte das Tagebuch unter ihre Matratze und machte das Licht aus. Elena ging den Schulflur entlang und kam sich vor wie in einem merkwürdigen Vakuum. In der Schule wurde sie normalerweise von allen Seiten gegrüßt. Aber heute wandte man die Augen ab, wenn sie sich näherte, oder kehrte ihr verlegen den Rücken zu. Das passierte den ganzen Tag über. Vor dem Unterrichtszimmer für europäische Geschichte blieb Elena stehen. Einige der Schüler saßen bereits, und vor der Tafel stand ein Fremder. Er sah selbst noch wie ein Student aus. Sein dunkelblondes Haar war ziemlich lang, und er hatte den durchtrainierten Körper eines Sportlers. An die Tafel hatte er geschrieben: Alaric K. Saltzman. Als er sich umwandte, sah Elena sein freches, jungenhaftes Lächeln. Er lächelte weiter, während Elena sich setzte und die anderen Schüler hereinkamen. Stefan war unter ihnen. Als er auf den freien Sitz neben Elena rutschte, trafen sich ihre Blicke. Doch sie redeten nicht miteinander. Niemand sprach. Im Klassenzimmer herrschte tiefe Stille. Bonnie setzte sich an Elenas andere Seite. Matt war nur ein paar Tische entfernt, aber er blickte starr vor sich hin. Als letzte traten Caroline Forbes und Tyler Smallwood ein. Sie kamen zusammen, und Elena gefiel der Ausdruck auf Carolines Gesicht überhaupt nicht. Sie kannte das katzenartige Lächeln und diese verengten grünen Augen nur zu gut. Tyler strahlte selbstzufrieden. Die blauen Flecken unter seinen Augen, die Stefan mit seinen Schlägen verursacht hatte, waren fast verschwunden. „Okay, warum stellen wir für den Anfang nicht alle Tische in einem Kreis zusammen?“ Elenas Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf den Fremden vor der Klasse. Er lächelte immer noch. „Kommen Sie. Dann können wir uns besser sehen, während wir uns unterhalten.“ Schweigend gehorchten die Schüler. Der Fremde nahm nicht hinter Mr. Tanners Pult Platz, sondern zog einen Stuhl in den Kreis und setzte sich rittlings drauf. „Sie sind sicher neugierig, wer ich bin. Mein Name steht auf der Tafel: Alaric K. Saltzman. Aber ich möchte, daß Sie mich Alaric nennen. Ich werde Ihnen später ein bißchen mehr von mir erzählen, aber zunächst sind Sie an der Reihe. Heute ist sicher ein schwieriger Tag für die meisten von Ihnen. Jemand, der Ihnen etwas bedeutet hat, ist gestorben. Ich möchte Ihnen die Gelegenheit geben, sich auszusprechen und diese Gefühle mit mir und Ihren Klassenkameraden zu teilen. Zunächst sollen Sie sich mit dem Schmerz auseinandersetzen. Denn so können wir unsere neue Beziehung gleich auf gegenseitiges Vertrauen aufbauen. Wer möchte anfangen?“ Alle starrten ihn an. Niemand zuckte auch nur mit einer Wimper. „Schauen wir mal... was ist mit Ihnen?“ Noch immer lächelnd, deutete er aufmunternd auf ein hübsches Mädchen mit hellblondem Haar. „Stellen Sie sich bitte vor, und erzählen Sie uns von Ihren Gefühlen.“ Verlegen stand das Mädchen auf. „Ich heiße Sue Carson und, äh...“ Sie holte tief Luft und fuhr stotternd fort. „Und ich habe Angst. Denn der Wahnsinnige, wer immer es war, läuft noch frei herum. Nächstes Mal könnte ich das Opfer sein.“ Sie setzte sich schnell. „Danke, Sue. Ich bin sicher, daß viele Ihrer Klassenkameraden diese Sorge teilen. Nun, wenn ich richtig unterrichtet bin, waren einige von Ihnen sogar am Tatort, als diese Tragödie passierte?“ Stühle knarrten, während die Schüler verlegen hin- und herrutschten. Plötzlich stand Tyler Smallwood auf. Sein Lächeln war kalt. „Die meisten von uns waren da.“ Er blickte zu Stefan. Elena sah, daß andere seinem Blick folgten. „Ich kam hinzu, kurz nachdem Bonnie die Leiche
gefunden hatte. Ich mache mir große Sorgen um unsere Stadt. Ein gefährlicher Killer treibt sich auf den
Straßen herum, und bisher hat noch niemand etwas dazu getan, ihn aufzuhalten. Außerdem...“ Er brach ab.
Elena war sich nicht ganz sicher, aber sie hatte das Gefühl, daß Caroline ihm ein Zeichen gegeben hatte.
Caroline warf ihr glänzendes, kastanienbraunes Haar zurück und schlug provozierend ihre langen Beine
übereinander, als Tyler sich wieder setzte.
„Okay, vielen Dank. Also, die meisten von Ihnen waren dabei. Das macht es doppelt schwer. Können wir
die Person hören, die die Leiche gefunden hat? Ist Bonnie hier?“ Der Lehrer schaute sich um.
Bonnie hob langsam die Hand, dann stand sie auf. „Ja, ich glaube, ich habe den Toten entdeckt“, begann sie.
„Ich meine, ich war die erste, die wußte, daß er richtig tot ist und es nicht nur spielt.“
Alaric Saltzman war erstaunt. „Es nicht nur spielt? Hat er oft den Toten gemimt?“ Einige kicherten, und er
setzte wieder sein jungenhaftes Lächeln auf. Elena drehte sich zu Stefan, der die Stirn runzelte.
„Nein... nein“, wehrte Bonnie ab. „Sie müssen wissen, er stellte ein Opfer da. lm Spukhaus. Also war er
sowieso mit Blut bedeckt, nur daß es Kunstblut war. Und das war zum Teil meine Schuld, denn er wollte
sich nicht mit Blut beschmieren lassen. Doch ich habe darauf bestanden. Schließlich war er die blutige
Leiche. Aber er protestierte, das sei ihm zu schmutzig. Erst als Stefan kam und mit ihm diskutierte...“
Sie hielt inne. „Ich meine, wir sprachen mit Mr. Tanner, und schließlich willigte er ein. Dann fing die,
‚Spukhausshow’ an. Ziemlich schnell merkte ich, daß er sich nicht aufsetzte und die Kids erschreckte, wie
wir es geplant hatten. Ich ging hinüber und fragte ihn, was los sei. Er antwortete nicht. Er... er starrte nur an
die Decke. Dann habe ich ihn berührt, und er... es war schrecklich. Sein Kopf plumpste...“ Bonnies Stimme
schwankte und versagte. Sie schluckte.
Elena stand auf. Und mit ihr Stefan, Matt und ein paar andere.
Elena griff nach Bonnie. „Bonnie, es ist okay. Bonnie, nicht. Bitte. Es ist alles gut.“
„Und meine Hände waren voller Blut. Überall war Blut, soviel Blut...“ Sie schluchzte hysterisch.
„Okay, das reicht“, sagte Alaric Saltzman. „Es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht so aufregen. Aber ich
glaube, Sie sollten diese Gefühle in nächster Zukunft aufarbeiten. Natürlich war das ein schreckliches
Erlebnis für Sie alle.“
Er stand auf und ging nervös in der Mitte des Kreises hin und her. Bonnie schluchzte immer noch leise.
„Also“, begann er, und plötzlich war sein jungenhaftes Lächeln wieder voll da. „Ich möchte, daß unsere
Schüler-Lehrerbeziehung einen guten Start bekommt. Wie wäre es, wenn Sie alle heute abend zu mir nach
Hause kommen würden, wo wir uns einmal ungezwungen unterhalten können? Vielleicht nur, um uns besser
kennenzulernen, vielleicht aber auch, um über das zu sprechen, was geschehen ist. Sie können sogar einen
Freund mitbringen, wenn Sie wollen. Wie wär's?“
Ungefähr dreißig Sekunden wurde er ungläubig angestarrt. Dann fragte jemand: „Zu Ihnen? Nach Hause?“
„Ja... oh, ich vergaß. Wie dumm von mir. Ich wohne bei der Familie Ramsey in der Magnolia Avenue.“ Er
schrieb die Adresse an die Tafel. „Die Ramseys sind Freunde von mir. Sie haben mir das Haus zur
Verfügung gestellt, während sie im Urlaub sind. Ich komme aus Charlottesville, und Ihr Direktor hat mich
am Freitag angerufen und gefragt, ob ich bereit bin, herzukommen. Ich habe diese Chance natürlich sofort
ergriffen. Das hier ist meine erste richtige Stelle als Lehrer.
„Das erklärt alles“, flüsterte Elena.
„Wirklich?“ erwiderte Stefan.
„Nun, was halten Sie von einer kleinen Party? Abgemacht?“ Alaric Saltzman sah sich in der Klasse um.
Niemand hatte den Mut abzulehnen. Man hörte ein paar gemurmelte „Ja“ und“ Na gut“.
„Fein. Ich werde für die Erfrischungen sorgen, und wir werden uns alle besser kennenlernen. Ach, und noch
etwas...“
Er öffnete das Klassenbuch und überflog es. „In meinem Unterricht trägt die Anwesenheit zur Hälfte zu
Ihrer Schlußnote bei.“ Er blickte wieder hoch und lächelte. „Sie können jetzt gehen.“
„Der hat vielleicht Nerven“, murmelte jemand, als Elena aus der Tür trat. Bonnie war direkt hinter ihr, doch
Alaric Saltzman rief sie zurück. „Würden diejenigen, die eben gesprochen haben; bitte noch einen Moment
bleiben?“
Stefan mußte auch weg. „Ich schau mal lieber nach, für wann das Footballtraining angesagt ist. Es ist
vermutlich gestrichen, aber ich will sichergehen.“
Elena war besorgt. „Und wenn nicht, stehst du es überhaupt durch?“
„Mir geht's gut“, antwortete er ausweichend. Doch sie sah deutlich, daß sein Gesicht immer noch angespannt
war und er sich bewegte, als habe er Schmerzen. „Wir treffen uns später an deinem Schließfach“, fügte er
hinzu.
Sie nickte. Als sie zu ihrem Schließfach kam, bemerkte sie, wie Caroline in der Nähe mit zwei anderen
Mädchen sprach. Drei Augenpaare folgten jeder Bewegung Elenas, als sie ihre Bücher weglegte. Doch als
sie aufsah, blickten zwei von ihnen plötzlich weg. Nur Caroline starrte sie mit leicht zur Seite geneigtem
Kopf an, während sie den anderen Mädchen etwas zuflüsterte.
Elena hatte genug. Sie schmiß das Schließfach zu und ging direkt auf die Gruppe zu. „Hallo, Becky, hallo,
Sheila“, sagte sie. Und dann mit besonderer Betonung: „Hallo, Caroline.“
Becky und Sheila murmelten ein „Hallo“ und dann etwas davon, daß sie dringend wegmüßten.
Elena drehte sich nicht einmal um, als sie sich verdrückten. Sie hielt den Blick auf Caroline gerichtet. „Was
soll das alles?“ fragte sie.
„Was soll was?“ Caroline machte das Ganze offensichtlich einen riesigen Spaß, den sie möglichst in die
Länge ziehen wollte.
„Das weißt du genau, Caroline. Leugne ja nicht, daß du eine krumme Tour vorhast, denn ich weiß es... Jeder
hat mich heute gemieden, als hätte ich die Pest. Und du siehst aus, als hättest du gerade das große Los
gewonnen. Was hast du getan?“
Carolines unschuldiger Ausdruck verschwand. Sie lächelte böse. „Ich habe dir bereits beim Schulanfang
gesagt, daß die Dinge sich in diesem Jahr ändern werden, Elena“, sagte sie. „Ich habe dich gewarnt, daß
deine Zeit auf dem Thron sich dem Ende zuneigen könnte. Aber nicht ich habe dazu beigetragen. Was jetzt
passiert, ist ganz natürlich. Das Gesetz des Dschungels.“ Sie zuckte mit den Schultern.
„Und was, bitteschön, soll das bedeuten?“
„Nun, sagen wir mal, daß deine Beziehung zu einem Mörder deine gesellschaftliche Stellung ruinieren
könnte.“
Elena verkrampfte sich, als hätte Caroline sie geschlagen. Einen Moment lang war die Lust,
zurückzuschlagen, fast unwiderstehlich. Das Blut rauschte ihr in den Ohren, und sie stieß zwischen
zusammengepreßten Zähnen hervor: „Das ist nicht wahr. Stefan hat nichts getan. Die Polizei hat ihn verhört
und von jedem Verdacht freigesprochen.“
Caroline zuckte wieder mit den Schultern. Ihr Lächeln hatte nun etwas Gönnerhaftes. „Elena, ich kenne dich
schon seit dem Kindergarten. Deshalb gebe ich dir um der alten Zeiten willen einen guten Rat. Laß Stefan
fallen. Wenn du es jetzt sofort tust, kannst du vielleicht gerade noch vermeiden, wie eine Aussätzige
behandelt zu werden. Sonst kannst du dir für alle Fälle schon mal eine kleine Glocke umhängen, damit alle
gewarnt sind, wenn du irgendwo auftauchst.“
Elena war außer sich vor Wut. Caroline warf lässig das kastanienbraune Haar über die Schulter und wandte
sich zum Gehen.
Dann fand Elena die Sprache wieder.
„Caroline!“ Das andere Mädchen drehte sich um. „Kommst du heute abend zu dieser Einladung von Mr.
Saltzman?“
„Klar. Warum?“
„Weil ich auch da sein werde. Mit Stefan. Wir sehen uns im Dschungel.“ Diesmal war es Elena, die sich
abwandte.
Der Triumph ihres Abgangs wurde ein wenig dadurch getrübt, daß am anderen Ende des Flurs eine
schlanke, dunkle Gestalt auftauchte. Elenas Schritte verlangsamten sich, doch als sie näher kam, erkannte sie
Stefan.
Sie wußte, daß das Lächeln, das sie ihm schenkte, gezwungen wirkte, und er blickte zurück zu den
Schließfächern, während sie Seite an Seite aus der Schule gingen.
„Das Footballtraining war also abgesagt?“ fragte sie.
Er nickte. „Was sollte das eben?“
„Ach, nichts. Ich habe Caroline gefragt, ob sie heute abend zu der Veranstaltung von Saltzman kommt.“
Draußen legte Elena den Kopf zurück, um den trüben, grauen Himmel zu betrachten.
„Und darüber habt ihr euch unterhalten?“
Sie erinnerte sich daran, was er ihr in seinem Zimmer erzählt hatte. Er konnte besser sehen als ein Mensch
und auch besser hören. Gut genug, um Worte aufzufangen, die ungefähr vierzig Meter entfernt auf einem
Flur gesprochen wurden?
„Ja“, sagte sie und betrachtete immer noch die Wolken.
„Und das hat dich so wütend gemacht?“
„Ja“, wiederholte sie im selben Tonfall.
Sie fühlte seinen Blick auf ihr ruhen. „Elena, das stimmt nicht.“
„Nun, da du meine Gedanken lesen kannst, brauchst du ja keine Fragen zu stellen, nicht?“
Sie starrten sich jetzt verbissen an. Stefan war angespannt, sein Mund eine dünne Linie. „Du weißt, daß ich
das nie tun würde. Aber ich dachte, du wärst diejenige, die soviel Wert auf Ehrlichkeit in einer Partnerschaft
legt.“
„Also gut. Caroline war biestig wie immer und hat sich ihren Mund über den Mörder zerrissen. Na und?
Geht dich das etwas an?“
„Ja“, erwiderte Stefan brutal und direkt, „weil sie nämlich recht haben könnte. Nicht über den Mörder,
sondern, was dich betrifft. Genauer gesagt, was dich und mich betrifft. Ich hätte voraussehen müssen, daß
das passieren würde. Und es ist nicht nur sie, stimmt's? Ich habe den ganzen Tag über die Feindseligkeit und
die Angst gespürt. Aber ich war zu müde, um zu versuchen herauszufinden, was genau vorgeht. Sie halten
mich für den Mörder und lassen es an dir aus.“
„Was die anderen denken, ist mir egal! Sie haben unrecht, und eines Tages werden sie es einsehen. Dann
wird alles wieder wie früher.
Ein wehmütiges Lächeln spielte um seine Lippen. „Das glaubst du wirklich, nicht wahr?“ Er schaute fort,
und sein Gesicht verhärtete sich. „Und was ist, wenn sie's nicht einsehen? Wenn alles noch schlimmer
wird?“
„Was willst du damit sagen?“
„Es ist vielleicht besser...“ Stefan holte tief Luft und fuhr behutsam fort. „Es ist vielleicht besser, wenn wir
uns eine Weile nicht sehen. Wenn sie denken, daß wir nicht mehr zusammen sind, lassen sie dich in Ruhe.“
Sie starrte ihn an. „Und du könntest das fertigbringen? Mich nicht mehr zu treffen oder mit mir zu reden,
egal, wie lange es auch dauert?“
„Wenn es nötig ist, ja. Wir könnten so tun, als hätten wir Schluß gemacht.“
Elena starrte ihn einen weiteren Moment an. Dann trat sie an ihn heran. So nah, daß sie sich fast berührten.
Er mußte zu ihr hinunterschauen. Seine Augen waren wenige Zentimeter von den ihren entfernt.
„Es gibt nur einen Weg, mich dazu zu bringen, der ganzen Schule zu erklären, daß wir Schluß gemacht
haben. Und dazu mußt du mir sagen, daß du mich nicht liebst und nie mehr wiedersehen willst. Sag es mir
jetzt, Stefan. Sag mir, daß du nicht mehr mit mir zusammensein willst.“
Er hielt den Atem an und sah sie an.
„Sag es!“ befahl sie ihm. „Sag mir, daß du es ohne mich aushältst, Stefan. Sag es mir...“
Sie kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, denn seine Lippen senkten sich auf die ihren.
6. KAPITEL Stefan saß im Wohnzimmer der Gilberts und stimmte höflich allem zu, was Tante Judith sagte. Die ältere Dame fühlte sich in seiner Gegenwart unwohl. Man brauchte nicht Gedanken lesen zu können, um das zu spüren. Aber sie gab sich große Mühe, genau wie Stefan auch. Er wollte, daß Elena glücklich war. Elena. Selbst, wenn er sie nicht ansah, war er sich ihrer mehr bewußt als aller anderen Dinge in diesem Zimmer. Er liebte sie so sehr. Und er sah in ihr auch nicht mehr Katherine. Er hatte fast vergessen, wie sehr sie dem toten Mädchen glich. Außerdem gab es viele Unterschiede. Elena hatte das gleiche hellblonde Haar, die gleiche makellose weiße Haut und die gleichen, zarten Gesichtszüge wie Katherine. Aber hier endete die Ähnlichkeit auch schon. Ihre Augen, die jetzt im Schein des Feuers violett wirkten, aber normalerweise tiefblau waren, blickten weder ängstlich noch so kindlich wie die von Katherine. Im Gegenteil, sie waren das Fenster zu ihrer Seele, die wie eine helle Flamme hinter ihnen brannte. Elena war Elena, und sie hatte den sanften Geist der toten Katherine aus seinem Herzen vertrieben.
Doch es war auch Elenas Stärke, die ihre Liebe so gefährlich machte. Er hatte ihr letzte Woche nicht
widerstehen können, als sie ihm ihr Blut angeboten hatte. Gut, er wäre vielleicht ohne ihre Hilfe gestorben,
aber es war viel zu früh für Elenas eigene Sicherheit gewesen. Zum hundertstenmal glitt sein Blick über
Elenas Gesicht und suchte nach den Merkmalen der Verwandlung. War ihre weiße Haut schon bleicher? Ihr
Ausdruck abwesender?
Sie mußten von nun an sehr vorsichtig sein. Vor allem er mußte mehr aufpassen. Er mußte sichergehen, daß
er immer gesättigt war, damit er nicht in Versuchung geriet. Niemals durfte er das Verlangen zu stark
werden lassen. Jetzt, wo er daran dachte, wurde er hungrig. Der trockene Schmerz, das Brennen breitete sich
in seinen Kiefern aus, fuhr durch seine Adern. Er sollte jetzt draußen im Wald sein, alle Sinne geschärft
beim kleinsten Knacken der dürren Zweige, die Muskeln angespannt und bereit für die Jagd. Und nicht hier
am Feuer, den Blick auf die blauen Adern in Elenas zarter Kehle gerichtet.
Elena drehte sich zu ihm um.
„Möchtest du zu der Einladung von Mr. Saltzman heute abend gehen? Wir könnten Tante Judiths Auto
nehmen?“ fragte sie.
„Aber ihr müßt erst etwas essen“, warf Tante Judith schnell ein.
„Wir können uns unterwegs etwas holen.“ Etwas für Elena, dachte Stefan. Er selbst konnte zwar normales
Essen kauen und schlucken, wenn es sein mußte. Aber es stillte nicht seinen Hunger, und er hatte längst den
Geschmack daran verloren. Nein, sein Appetit... war jetzt ausgefallener. Wenn sie die Party besuchten,
würden Stunden vergehen, bevor er sich Nahrung verschaffen konnte. Trotzdem nickte er. „Wenn du
möchtest.“
Natürlich wollte sie. Sie hatte es sich fest vorgenommen. Er hatte es gewußt.
„Gut, dann werde ich mich mal umziehen.“ Elena stand auf.
Er folgte ihr zum Fuß der Treppe. „Zieh etwas an mit einem hohen Rollkragen. Einen Pullover“, bat er so
leise, daß nur sie es hören konnte.
Sie blickte durch die Tür ins leere Wohnzimmer und flüsterte: „Ist schon okay. Sie sind fast verheilt.
Schau.“ Sie zog den Spitzenkragen herunter und drehte den Kopf zur Seite.
Stefan starrte wie gebannt auf die zwei runden Male auf ihrer zarten Haut. Sie waren sehr hell, schimmerten
fast durchsichtig rot, wie stark gewässerter Wein. Er biß die Zähne zusammen und zwang sich, den Blick
abzuwenden. Jeder Augenblick länger konnte ihn in den Wahnsinn treiben.
„So hab ich das nicht gemeint“, erwiderte er hart.
Ihr langes, glänzendes Haar fiel wieder über die kleinen Wunden und verbarg sie. „Oh.“
„Nur herein!“
Als sie eintraten, verstummte jedes Gespräch. Elena musterte die Menge, die sie anstarrte, sah die
neugierigen, verstohlenen Blicke, den argwöhnischen Ausdruck auf den Gesichtern. Es war kein Empfang;
wie sie ihn sonst gewohnt war, wenn sie hereinkam.
Ein Mitschüler hatte ihnen die Tür geöffnet. Alaric Saltzman war nirgendwo zu sehen. Aber Caroline
posierte auf einem Barhocker und zeigte ihre langen, wohlgeformten Beine. Sie warf Elena einen
spöttischen Blick zu und machte eine Bemerkung zu dem Jungen, der neben ihr saß. Er lachte laut.
Elena spürte, wie ihr Lächeln zu schmerzen begann, während ihr die Röte ins Gesicht stieg. Dann hörte sie
eine vertraute Stimme.
„Elena, Stefan! Hier sind wir.“
Dankbar entdeckte sie Bonnie, die mit Meredith und Ed Geof auf einem kleinen Sofa in der Ecke saß. Stefan
und sie setzten sich auf die große Couch ihnen gegenüber. Langsam kamen die Gespräche im Zimmer
wieder in Gang.
Aus Taktgefühl erwähnte keiner von ihnen den peinlichen Empfang, den man Elena und Stefan bereitet
hatte. Elena selbst war fest entschlossen, so zu tun, als wäre alles wie immer.
Bonnie und Meredith unterstützten sie nach Kräften. „Du siehst toll aus“, lobte Bonnie sie warm. „Den roten
Pullover finde ich echt super.“
„Elena ist hübsch wie immer. Stimmt's, Ed?“ Meredith stieß Ed an, der leicht verwirrt zustimmte.
Das Wohnzimmer der Ramseys war mit Schülern verschiedener Jahrgangsstufen gefüllt. Es liefen auch noch
eine ganze Menge Kids zwischen dem Eßzimmer, dem vorderen Wohnzimmer und vermutlich auch der
Küche hin und her.
Andauernd streiften Ellbogen Elenas Haar, während die Leute sich hinter ihr einen Weg bahnten. „Was hat Saltzman nach der Stunde noch von dir gewollt?“ fragte Stefan Bonnie. „Alaric, bitte, ja?“ verbesserte Bonnie ihn streng. „Er möchte, daß wir ihn Alaric nennen. Ach, er wollte nur nett sein. Es tat ihm leid, daß er mich gezwungen hat, dieses schreckliche Erlebnis noch einmal durchzumachen. Schließlich wußte er weder, wie Mr. Tanner genau gestorben ist, noch, daß ich sehr sensibel bin. Da er selbst auch so ist, konnte er mein Entsetzen gut nachfühlen. Er ist übrigens Wassermann.“ „Mit dem Mond im achten Haus, und die Sonne wohnt gleich nebenan“, murmelte Meredith spöttisch. „Du glaubst doch nicht etwa dieses Gesülze? Er ist ein Lehrer. Er sollte nicht versuchen, seine Schülerinnen anzumachen.“ „He, das hat er nicht versucht! Zu Sue Carson und Tyler hat er genau dasselbe gesagt. Er schlug vor, wir sollten eine Selbsthilfegruppe gründen oder einen Aufsatz über diese schreckliche Nacht schreiben, um alles zu verarbeiten. Junge Leute sind nämlich sehr schnell zu beeindrucken, und Alaric möchte vermeiden, daß dieses Schockerlebnis einen bleibenden Einfluß auf unser Leben bekommt. „Das hältst du im Kopf nicht aus!“ stöhnte Ed. Stefan gelang es gerade noch, ein Lachen in ein Husten zu verwandeln. Er war eigentlich nicht belustigt und hatte seine Frage an Bonnie auch nicht aus reiner Neugier gestellt. Elena wußte es. Sie konnte fast körperlich spüren, daß er aus einem bestimmten Grund gefragt hatte. Stefan empfand das für Alaric Saltzman, was die meisten im Zimmer ihm selbst entgegenbrachten: nämlich Argwohn und Mißtrauen. „Ist schon komisch, daß er vor der Klasse so getan hat, als sei die Party eine spontane Idee, wo er sie doch ganz klar geplant hat.“ Elena reagierte unbewußt auf Stefans unausgesprochene Worte. „Noch merkwürdiger kommt mir vor, daß eine Schule einen Lehrer einstellt, ohne ihm zu sagen, wie sein Vorgänger ums Leben gekommen ist“, fügte Stefan hinzu. „Alle haben darüber geredet. Es muß sogar in der Zeitung gestanden haben.“ „Aber nicht in allen Einzelheiten“, erklärte Bonnie fest. „Tatsache ist, daß die Polizei manche Dinge verschwiegen hat, von denen sie glaubt, daß sie sie auf die Spur des Mörders bringen könnten. Zum Beispiel das.“ Sie senkte ihre Stimme. „Wißt ihr, was Mary erzählt? Dr. Feinberg hat mit dem Arzt gesprochen, der die Autopsie vorgenommen hat. Und der hat behauptet, daß sich in Tanners Körper kein Tropfen Blut mehr befunden hat. Kein einziger!“ Elena spürte einen eisigen Windstoß. Sie kam sich vor wie damals auf dem Friedhof. Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Statt dessen fragte Ed: „Wo soll das ganze Blut denn geblieben sein?“ „Ist wahrscheinlich auf den Boden getropft“, erwiderte Bonnie. „Auf den Altar, zum Beispiel. Das untersucht die Polizei gerade. Aber es ist sehr ungewöhnlich, daß eine Leiche kein Blut mehr in sich hat. Normalerweise sammelt sich der Rest auf der Unterseite des Körpers. Man nennt das Leichenblässe. Sieht aus wie riesige blaue Flecken. Was ist los?“ „Du bist so wunderbar sensibel, daß ich mich gleich übergeben muß“, sagte Meredith gequält. „Können wir nicht mal das Thema wechseln?“ „Na, hör mal. Du warst schließlich nicht mit Tanners Blut beschmiert“, begann Bonnie beleidigt, doch Stefan unterbrach sie. „Haben die Ermittlungen schon irgendwas ergeben? Hat die Polizei eine heiße Spur?“ „Ich weiß es nicht.“ Bonnie runzelte die Stirn. Plötzlich strahlte sie. „Da fällt mir was ein. Elena, du hast doch behauptet...“ „Halt den Mund“, bat Elena verzweifelt. Wenn es einen falschen Ort gab, um das zu besprechen, dann war es hier, in einem überfüllten Zimmer, wo sie von vielen Leuten umgeben waren, die Stefan haßten. Bonnie riß die Augen weit auf, dann nickte sie und schwieg. Trotzdem kam Elena nicht zur Ruhe. Stefan hatte Mr. Tanner nicht ermordet. Doch dieselben Indizien, die Damon belasteten, konnten genausogut zu Stefan führen. Und genau das würde geschehen, denn niemand außer ihr und Stefan wußte, daß es Damon gab. Er war irgendwo da draußen in den Schatten und wartete auf sein nächstes Opfer. Wartete vielleicht auf Stefan - oder auf sie. „Mir wird schrecklich heiß“, sagte sie abrupt. „Ich werde mal nachsehen, welche Erfrischungen der liebe Alaric für uns vorbereitet hat.“
Stefan machte Anstalten aufzustehen, doch Elena bedeutete ihm sitzenzubleiben. Für Kartoffelchips und Cola hatte er wenig Verwendung. Außerdem wollte sie ein paar Minuten allein sein, wollte sich in der Masse bewegen, um sich zu beruhigen. Doch bei Bonnie und Meredith hatte sie sich in falscher Sicherheit gewiegt. Nachdem sie die beiden verlassen hatte, sah sie sich wieder den schrägen Blicken und plötzlich zugewandten Rücken gegenüber. Diesmal machte es sie wütend. Betont lässig schritt sie durch das Zimmer und hielt jeden Blick fest, der sie zufällig traf. Ist der Ruf mal ruiniert, lebt es sich recht ungeniert, dachte sie spöttisch. Sie würde sich jedenfalls nichts mehr gefallen lassen. Elena war hungrig. lm Eßzimmer hatte jemand einen Tisch mit Häppchen hergerichtet, die erstaunlich lecker aussahen. Sie nahm einen Pappteller und legte ein paar Selleriesticks mit Käsecreme darauf. Dabei übersah sie die Typen völlig, die sich um den gebleichten Eichentisch scharten. Sie würde sie nicht als erste ansprechen. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Essen. Sie drängte sich an den Leuten vorbei, um Käse und Kräcker zu nehmen, stieß andere weg, um an die Weintrauben zu kommen, und musterte die ganze Auswahl demonstrativ, ob sie vielleicht etwas übersehen hatte. So gelang es ihr, die Aufmerksamkeit aller auf sich zu ziehen, etwas, was sie spürte, ohne die Augen heben zu müssen. Sie biß sanft in einen Brotstick, behielt ihn zwischen den Zähnen wie einen Bleistift und wandte sich vom Tisch ab. „Darf ich mal abbeißen?“ Entsetzen ließ sie die Augen weit aufreißen und den Atem anhalten. Ihr Verstand weigerte sich zu verstehen, was vorging, und machte sie völlig schutzlos. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, doch ihre Sinne registrierten alles messerscharf: die dunklen Augen, die plötzlich ihren Blickwinkel füllten, den Duft von Eau de Cologne in ihrer Nase und die zwei geschmeidigen Finger, die ihr Kinn hochhoben. Damon lehnte sich nach vorn und biß das andere Ende der Brotstange ab. In diesem Moment waren ihre Lippen nur Zentimeter voneinander entfernt. Er wollte gerade ein weiteres Stückchen abbeißen, als Elena noch rechtzeitig zu sich kam. Sie riß den Kopf zurück, nahm das Brotstückchen aus dem Mund und schleuderte es fort. Er fing es mitten in der Luft auf. Eine wunderbare Zurschaustellung seiner Reflexe. Sein Blick hielt ihren immer noch fest. Elena fand ihren Atem wieder und öffnete den Mund. Sie war nicht sicher, warum. Vielleicht, um zu schreien? Um all die Leute hier aufzufordern, in die Nacht hinaus zu flüchten? Ihr Herz klopfte wie ein Vorschlaghammer, und ihre Sicht verschwamm. „Ruhig, ruhig.“ Damon nahm ihr den Pappteller aus der Hand. Dann gelang es ihm irgendwie, ihr Handgelenk zu packen. Er hielt es leicht fest. So, wie Mary Stefans Puls gehalten hatte. Während sie ihn immer noch keuchend anstarrte, strich er mit dem Daumen sanft über ihre Haut, als wollte er sie beruhigen. „Ruhig. Es ist alles in Ordnung.“ Was machst du hier? dachte sie. Die ganze Szene schien in ein grelles Licht getaucht und wirkte unnatürlich. Es war wie in einem dieser Alpträume, wo alles zunächst ganz normal ist und dann etwas Schreckliches passiert. Er würde sie alle töten. „Elena? Bist du okay?“ Sue Carson sprach mit ihr und packte sie an der Schulter. „Ich glaube, sie hat sich an etwas verschluckt“, erklärte Damon und ließ Elenas Handgelenk los. „Aber jetzt ist sie wieder in Ordnung. Warum stellst du uns nicht vor?“ Er wird sie alle töten... „Elena, das ist Damon, äh...“ Sue machte eine entschuldigende Geste, und Damon beendete den Satz für sie. „Smith.“ Er prostete Elena mit einem Pappbecher zu. „Sehr erfreut.“ „Was machst du hier?“ flüsterte sie. „Er ist Student“, sprang Sue ein, als klar wurde, daß Damon nicht antworten würde. „An der Universität von Virginia, stimmt doch?“ „Unter anderem.“ Damon sah Elena unverwandt an. Er hatte Sue noch keines Blickes gewürdigt. „Ich reise gern.“ Plötzlich war Elena wieder in der realen Welt. Doch es war eine eiskalte Welt. Leute standen um sie herum und beobachteten die kleine Gruppe fasziniert. Deshalb konnte sie nicht frei sprechen. Aber die anderen verschafften ihr auch Sicherheit.
Damon spielte ein Spiel. Aus welchem Grund auch immer. Er tat so, als sei er einer von ihnen. Und solange er diese Maskerade aufrechterhalten wollte, würde er ihr vor der Menge nichts antun... hoffte sie zumindest. Ein Spiel. Aber eins, bei dem er die Regeln bestimmte. „Er ist nur für ein paar Tage hier.“ Das war wieder Sue. „Und besucht Freunde. Oder sagtest du Verwandte?“ „Ja“, erklärte Damon. „Hast du aber ein Glück, daß du so unabhängig bist“, meinte Elena. Sie wußte nicht, was in sie gefahren war, daß sie versuchte, ihm die Maske herunterzureißen. „Glück hat nur sehr wenig damit zu tun“, erwiderte Damon trocken. „Möchtest du tanzen?“ „Was studierst du denn?“ Er lächelte sie an. „Amerikanische Volksweisheiten. Wußtest du übrigens, daß eine Warze auf dem Hals bedeutet, daß du reich wirst? Hast du was dagegen, wenn ich bei dir mal nachsehe?“ „Ich habe etwas dagegen.“ Die Stimme erklang hinter Elena. Sie war klar, kalt und ruhig. Elena hatte Stefan erst einmal in diesem Tonfall sprechen hören: als er gesehen hatte, wie Tyler versuchte, sie auf dem Friedhof zu vergewaltigen. Damons Finger hielten auf ihrem Hals inne. Der Bann war gebrochen. Elena trat einen Schritt zurück. „Tatsächlich?“ sagte Damon leise und gefährlich. Die beiden starrten sich unter dem flackernden, gelben Licht des bronzenen Kerzenleuchters an. Elenas Gedanken überschlugen sich. Alle sehen die beiden wie gebannt an, dachte sie. Das muß schöner sein als ein Film... Mir ist gar nicht aufgefallen, daß Stefan größer ist... Da sind Bonnie und Meredith. Sie fragen sich bestimmt, was hier vorgeht... Stefan ist wütend, aber er ist noch schwach und verletzt... Wenn er Damon jetzt angreift, wird er verlieren... Und plötzlich hatte sie die Erklärung. Nur deshalb war Damon hier. Er wollte, daß Stefan ihn scheinbar grundlos angriff. Dann hatte er gewonnen. Egal, was danach passierte. Wenn Stefan ihn jetzt aus dem Haus jagte, war das für seine Ankläger ein weiteres Indiz für seine ‚Neigung zur Gewalt’. Und wenn Stefan den Kampf verlor... Das kann ihn das Leben kosten, dachte Elena. Oh, Stefan, Damon ist im Moment soviel stärker, bitte tu es nicht. Spiel ihm nicht noch in die Hände. Er will dich töten. Er wartet nur auf seine Chance. Elena zwang sich, ihre Glieder zu bewegen, obwohl sie steif waren wie die einer Marionette. „Stefan“, sagte sie und nahm seine kalte Hand in ihre. „Komm, wir gehen nach Hause.“ Sie fühlte seine enorme Anspannung. In diesem Moment konzentrierte er sich ganz auf Damon. Das Licht spiegelte sich in seinen Augen wider wie in der Schneide eines Dolches. In dieser Stimmung war er ihr völlig fremd. Und er machte ihr angst. „Stefan.“ Sie rief ihn, als hätte sie sich im Nebel verirrt und könnte ihn nicht finden. „Stefan, bitte.“ , Und langsam, ganz langsam spürte sie seine Reaktion. Sie hörte ihn atmen und fühlte, wie sein Körper sich allmählich entspannte. Die tödliche Konzentration auf ein Ziel wurde abgelenkt. Dann blickte er zu ihr und erkannte sie. „Einverstanden“, sagte er leise und schaute ihr in die Augen. „Gehen wir.“ Sie ließ ihn nicht los, während sie sich abwandten. Mit eiserner Willenskraft gelang es ihr, nicht zurückzuschauen, als sie aus dem Zimmer gingen. Doch die Haut ihres Rückens prickelte, als erwartete sie jeden Moment einen Messerstich. Statt dessen hörte sie Damons tiefe, spöttische Stimme: „Und wußtet ihr schon, daß der Kuß eines rot haarigen Mädchens Fieberbläschen heilen kann? Komm her, Kleine.“ Es folgte ein lauter Schmatzer, und Bonnie quietschte erschrocken auf und lachte dann geschmeichelt. Auf dem Weg nach draußen begegneten sie endlich ihrem Gastgeber. „Wollen Sie schon weg?“ fragte Alaric. „Ich hatte doch noch gar keine Gelegenheit, mit Ihnen zu reden.“ Er sah gleichzeitig freudig erregt und vorwurfsvoll aus. Wie ein Hund, der weiß, daß er nicht Gassi geführt wird, aber vorsichtshalber trotzdem mit dem Schwanz wedelt. Elena bekam Angst um ihn und die anderen im Haus. Schließlich überließen sie und Stefan Damon das Feld. Sie konnte nur hoffen, daß ihre Vermutung von vorhin richtig gewesen war und Damon seine Maskerade aufrechterhalten wollte. Im Moment hatte sie genug damit zu tun, Stefan hier rauszubringen, bevor er seine Meinung änderte.
„Ich fühle mich nicht gut“, erklärte sie, während sie ihre Handtasche aufhob, die neben dem kleinen Sofa
lag. „Tut mir leid.“ Sie hakte sich bei Stefan unter. Es bedurfte nur einer Kleinigkeit, und er würde wieder
zurück in das Eßzimmer stürmen.
„Ich bedaure es sehr“, sagte Alaric. „Auf Wiedersehen.“
Sie waren schon auf der Schwelle, als Elena das Stückchen violettes Papier entdeckte, das in der
Seitentasche ihrer Handtasche steckte. Sie zog es heraus und faltete es unwillkürlich auf, die Gedanken
dabei auf andere Dinge gerichtet.
Es stand etwas darauf geschrieben. Die Handschrift war groß, energisch und ihr unbekannt. Nur drei Sätze.
Sie las sie, und die Welt drohte, um sie zusammenzubrechen. Das war zuviel, sie konnte nicht noch mehr
ertragen.
„Was ist los?“ fragte Stefan.
„Nichts.“ Sie stieß den Papierfetzen mit den Fingern in die Tasche zurück. „Es ist nichts, Stefan. Gehen
wir.“
Sie traten hinaus in den prasselnden Regen.
7. KAPITEL „Nächstes Mal werde ich nicht fliehen“, sagte Stefan.
Elena wußte, daß er es ernst meinte, und das machte ihr angst. Aber im Moment beruhigten sich ihre
aufgewühlten Sinne gerade, und sie hatte keine Lust zu streiten.
„Damon war da“, wunderte sie sich. „in einem Haus mitten unter vielen normalen Menschen. Kaltblütig, als
hätte er jedes Recht, dort zu sein. Ich hätte nie gedacht, daß er so etwas wagt.“
„Warum nicht?“ erwiderte Stefan bitter. „Ich war schließlich auch in diesem Haus, mitten unter vielen
normalen Menschen, als hätte ich jedes Recht dazu.“
„Ich hab's nicht so gemeint, wie es sich vielleicht angehört hat. Für mich war es nur ein totaler Schock. Denn
ich habe Damon in der Öffentlichkeit bisher nur einmal gesehen, und da war er verkleidet. An dem Abend
im ,Spukhaus' trug er Maske und Kostüm. Außerdem war es dunkel. Vorher sind wir uns immer an einem
verlassenen Ort begegnet. Wie in der Turnhalle, wo ich ganz allein war, oder auf dem Friedhof...“
Kaum hatte sie die letzten Worte ausgesprochen, erkannte sie ihren Fehler. Sie hatte Stefan immer noch
nicht erzählt, daß sie Damon vor drei Tagen gesucht hatte, und merkte, wie er plötzlich sehr aufmerksam
wurde.
„Auf dem Friedhof?“
„Ja... ich meine den Abend, an dem Bonnie, Meredith und ich vom Friedhof verjagt worden sind. Es muß
Damon gewesen sein, der damals hinter uns her war. Und der Friedhof war total verlassen, bis auf uns drei.“
Warum log sie ihn an? Weil eine kleine innere Stimme ihr zuflüsterte, daß er sonst total ausflippen würde.
Wenn Stefan erfuhr, was Damon zu ihr gesagt und ihr versprochen hatte, würde ihn das in den Wahnsinn
treiben.
Ich werde es ihm nie gestehen können, dachte sie schweren Herzens. Weder diese eine Sache noch alles,
was Damon in Zukunft tun würde. Wenn Stefan sich auf einen Kampf mit Damon einließ, würde er sterben.
Er wird es nie erfahren, schwor sie sich. Egal, was ich auch tun muß. Ich werde verhindern, daß sie
miteinander kämpfen. Um jeden Preis!
Einen Moment lang erfüllte sie eine düstere Vorahnung. Vor fünfhundert Jahren hatte Katherine dasselbe
versucht und damit nur erreicht, daß die Brüder sich gegenseitig umgebracht hatten. Aber sie würde nicht
den gleichen Fehler machen. Katherines Methoden waren dumm und naiv gewesen. Wer sonst als ein
törichtes Kind käme auf den Gedanken, Selbstmord zu begehen, um zu erreichen, daß die beiden Rivalen
um ihre Gunst Freunde werden? Das war der schlimmste Fehler der ganzen traurigen Affäre gewesen.
Dadurch hatte sich die Feindschaft zwischen den Vampirbrüdern für alle Ewigkeit in unversöhnlichen Haß
verwandelt. Und mehr noch. Stefan lebte seitdem mit einer schrecklichen Schuld. Er machte sich selbst
verantwortlich für Katherines Tod.
Das Thema wechselnd, fragte sie: „Glaubst du, daß jemand Damon eingeladen hat?
„Natürlich. Denn er war ja im Haus.“
„Dann stimmt es, was über Wesen wie euch gesagt wird. Ihr müßt eingeladen werden. Aber was war mit der
Turnhalle? Damon gelangte so hinein.“
„Eine Turnhalle ist kein Ort, an dem Menschen leben. Es ist egal, ob es ein Haus, ein Zelt oder ein Zimmer
über einer Garage ist. Solange Menschen darin essen und schlafen, müssen wir eingeladen werden, wenn wir
hinein wollen.“
„Aber ich habe dich nicht in mein Haus eingeladen.“
„Doch, das hast du. In der ersten Nacht, als ich dich nach Hause gefahren habe, hast du mir die Tür
aufgehalten und mir zugenickt. Es muß keine ausgesprochene Einladung sein.
Wenn der Wille da ist, genügt das. Und die Person, die das macht, muß nicht jemand sein, der tatsächlich in
dem Haus wohnt. Jedes menschliche Wesen kann es.“
Elena überlegte. „Was ist mit einem Hausboot?“
„Dafür gilt das gleiche. Obwohl fließendes Wasser eine Barriere darstellen kann. Für einige von uns ist sie
fast unmöglich zu überwinden.“
Elena sah plötzlich vor ihrem geistigen Auge, wie sie, Meredith und Bonnie zur Wickery-Brücke gerannt
waren. Irgendwie hatte sie gewußt, daß sie auf der anderen Seite des Flusses sicher waren vor dem, was
immer sie auch verfolgte.
„Also, deshalb“, flüsterte sie. Das erklärte natürlich noch nicht, woher sie es gewußt hatte. Es schien, als sei
ihr dieses Wissen von außen zugeflossen. Dann fiel ihr noch etwas anderes ein.
„Wir beide sind gemeinsam über die Brücke gegangen. Also kannst du fließendes Wasser überqueren.“
„Das kommt daher, weil ich so schwach bin.“ Er sagte das völlig nüchtern, ohne jedes Gefühl. „Es ist schon
lustig, aber je stärker deine außergewöhnlichen Kräfte sind, desto eher stößt du an bestimmte Grenzen. Je
mehr du zur Dunkelheit gehörst, desto mehr wirst du durch ihre Gesetze gebunden.“
„Gibt's noch andere Einschränkungen?“ Ein Plan nahm in Elenas Kopf langsam Gestalt an. Oder zumindest
die Hoffnung auf einen Plan.
Stefan sah sie an. „Ja. Ich glaube, es wird Zeit, daß du es erfährst. Jede weitere Information über Damon
hilft dir, dich besser vor ihm zu schützen.“
Sich besser vor ihm zu schützen? Wußte Stefan am Ende mehr, als sie vermutete? Aber als er mit dem Auto
in eine Seitenstraße bog und hielt, sagte sie nur scherzend: „Okay. Soll ich mir als erstes einen Vorrat an
Knoblauch zulegen?“
Er lachte. „Nur, wenn du dich bei deinen Mitmenschen unbeliebt machen willst. Es gibt jedoch bestimmte
Pflanzen, die dir nützlich sein könnten. Eisenkraut zum Beispiel. Das ist ein Kraut, das dich vor
Verzauberung schützt. Es kann bewirken, daß dein Verstand klar bleibt, wenn jemand seine
außergewöhnlichen Kräfte gegen dich anwendet. Die Menschen haben es früher um den Hals getragen.
Bonnie würde es lieben, denn es galt bei den Druiden als heilig.“
„Eisenkraut“, wiederholte Elena. „Was noch?“
„Starkes Licht oder direktes Sonnenlicht kann sehr schmerzhaft sein. Du hast sicher gemerkt, daß das Wetter
umgeschlagen ist.“
„Ja“, sagte Elena nach kurzem Zögern. „War das Damon?“
„Er muß es gewesen sein. Man braucht enorme Kraft, um die Elemente zu kontrollieren, aber so wird es
einfacher für ihn, sich im Tageslicht aufzuhalten. Solange er es schafft, daß es bewölkt bleibt, braucht er
seine Augen nicht zu schützen.“
„Und du auch nicht. Was ist mit Kreuzen und anderen religiösen Dingen?“
„Das bringt überhaupt nichts. Außer, die Person, die sie trägt, glaubt sehr fest an den Schutz. Dann können
sie die Willenskraft, zu widerstehen, ganz enorm steigern.“
„Und... silberne Pistolenkugeln?“
Stefan lachte wieder kurz auf. „Das ist was für Werwölfe. Soweit ich gehört habe, hassen sie Silber in jeder
Form. Ein hölzerner Pflock mitten durchs Herz, das ist immer noch die bewährteste Methode für unsere Art.
Natürlich gibt es noch andere, die mehr oder weniger erfolgreich sind: Verbrennen, Köpfen, Nägel durch die
Schläfen treiben. Oder, am allerbesten...“
„Stefan!“ Das einsame, bittere Lächeln auf seinem Gesicht machte sie traurig. „Was hat es mit der
Verwandlung in Tiergestalten auf sich? Du hast einmal gesagt, wenn die Kräfte groß genug sind, kann man
es tun. Wenn Damon sich in jedes beliebige Tier verwandeln kann, wie sollen wir ihn dann erkennen?“
„Nicht in jedes beliebige Tier. Er ist an eine Tierform gebunden, im höchsten Fall an zwei. Selbst mit seiner
enormen Macht kann ich mir nicht vorstellen, daß er mehr erreicht.“
„Also müssen wir nach einer Krähe Ausschau halten.“
„Genau. Du kannst aber auch herausfinden, ob er sich irgendwo in der Nähe herumtreibt, indem du die normalen Tiere beobachtest. Sie reagieren meistens sehr feindselig auf uns, denn sie spüren den Jäger.“ „Yangtze hat die Krähe unentwegt angekläfft. Es schien, als wußte er, daß etwas daran nicht stimmte“, meinte Elena nachdenklich. „Ach, Stefan“, fügte sie aufgeregt hinzu, als ihr etwas Neues einfiel. „Was ist mit Spiegeln? Ich kann mich nicht erinnern, dich mal in einem gesehen zu haben.“ Einen Moment lang schwieg er. Dann sagte er: „Der Legende nach reflektiert der Spiegel die Seele des Menschen, der hineinschaut. Deshalb hatten die Urvölker Angst vor Spiegeln. Sie fürchteten, ihre Seelen würden eingefangen und gestohlen. Unserer Art wird nachgesagt, daß man sie nicht im Spiegel sehen kann... weil wir keine Seele haben.“ Langsam griff er nach dem Rückspiegel und drehte ihn so, daß Elena hineinschauen konnte. Im silbrigen Glas sah sie seine Augen. Sein Blick war verloren, gehetzt und unendlich traurig. Elena konnte nichts weiter tun, als Stefan ganz eng an sich zu drücken. „Ich liebe dich“, flüsterte sie. Das war der einzige Trost, den sie ihm geben konnte. Ihre Liebe war alles, was sie beide hatten. Er erwiderte ihre Umarmung fest und verbarg das Gesicht in ihrem Haar. „Du bist mein Spiegel“, flüsterte er. Es war gut zu spüren, wie seine Anspannung sich löste und Wärme und Trost Platz machte. Auch Elena war getröstet. Der Friede, den sie fühlte, war so groß, daß sie ganz vergaß zu fragen, was er meinte, bis sie an der Haustür waren und sich verabschiedeten. „Ich bin dein Spiegel?“ Sie sah ihn an. „Du hast meine Seele gestohlen“, erwiderte er. „Schließ die Tür hinter dir ab und öffne sie heute nacht nicht mehr.“ Dann war er verschwunden. „Elena, dem Himmel sei Dank“, rief Tante Judith. Als Elena sie sprachlos anstarrte, fügte sie hinzu: „Bonnie hat von der Party aus angerufen. Sie sagte, du wärst ganz plötzlich weggegangen. Als du nicht gleich nach Hause gekommen bist, habe ich mir Sorgen gemacht.“ „Stefan und ich haben noch eine Spritztour mit dem Auto gemacht.“ Elena gefiel der Gesichtsausdruck ihrer Tante gar nicht. „Gibt's ein Problem?“ „Nein, nein. Es ist nur...“ Tante Judith schien nicht zu wissen, wie sie den Satz beenden sollte. „Elena, ich frage mich, ob es nicht eine gute Idee wäre, wenn du dich ein bißchen weniger oft mit Stefan treffen würdest.“ Elena wurde ganz still. „Du also auch“, sagte sie leise. „Es ist ja nicht so, als ob ich etwas auf das dumme Geschwätz geben würde“, versicherte Tante Judith ihr. „Aber, Kind. Zu deinem eigenen Besten, überlege es dir.“ „Ich soll also Schluß mit ihm machen? Ihn fallenlassen, weil sich die Leute das Maul über ihn zerreißen? Mich schleunigst in Sicherheit bringen, damit nur ja nichts von dem ganzen Dreck an mir hängenbleibt?“ Der Zorn war ein willkommenes Ventil für ihre Anspannung. Elenas Worte überschlugen sich. „Nein, ich halte das nicht für eine gute Idee, Tante Judith! Und wenn es hier um deinen Robert ginge, würdest du genauso denken. Oder vielleicht auch nicht!“ „Elena! Ich dulde nicht, daß du in einem solchen Ton mit mir sprichst!“ „Ich bin sowieso fertig!“ rief sie und rannte blindlings zur Treppe. Es gelang ihr, die Tränen zurückzuhalten, bis sie in ihrem Zimmer war und die Tür geschlossen hatte. Dann warf sie sich aufs Bett und weinte hemmungslos. Eine Weile später rappelte Elena sich auf, um Bonnie anzurufen. Bonnie war aufgekratzt und redselig. Was meinte Elena damit, ob etwas Ungewöhnliches passiert sei, nachdem sie und Stefan die Party verlassen hatten? Komisch war doch nur gewesen, daß sie so früh gegangen waren! Nein, dieser Damon hatte nachher nicht mehr von Stefan gesprochen. Er hatte noch eine Weile herumgehangen und war dann auch verschwunden. Nein, Bonnie hatte nicht mitgekriegt, ob er in Begleitung gewesen war. Warum? War Elena etwa eifersüchtig? Ja, das sollte ein Scherz sein! Aber im Ernst, der Typ war echt aufregend. Fast so heiß wie Stefan. Das heißt, falls man dunkle Augen und Haare mochte. Wenn man natürlich helleres Haar und haselnußbraune Augen vorzog... Elena schloß sofort messerscharf, daß Alaric Saltzman braune Augen hatte. Endlich gelang es ihr, Bonnie abzuwimmeln und aufzulegen. Und erst jetzt fiel ihr der Papierschnipsel wieder ein, den sie in ihrer Handtasche gefunden hatte. Sie hätte Bonnie fragen sollen, ob sich jemand in der Nähe der Tasche herumgetrieben hatte, während Elena selbst im Eßzimmer gewesen war. Aber Bonnie und
Meredith hatten sich auch eine Zeitlang am kalten Buffet aufgehalten. Jemand konnte die günstige Gelegenheit genutzt haben. Schon allein der Anblick des violetten Papiers verursachte einen bitteren Geschmack in Elenas Mund. Sie mußte sich zwingen, hinzusehen. Aber jetzt, wo sie allein war, führte kein Weg daran vorbei. Sie mußte es auffalten und wieder lesen. Dabei hoffte sie die ganze Zeit, daß sie sich verlesen hatte. Doch das Wunder blieb aus. Die klaren, saubergeschriebenen Druckbuchstaben hoben sich gegen das helle Papier ab, als wären sie metergroß. Ich sehne mich danach, ihn zu berühren, wie bei noch keinem Jungen zuvor. Und ich weiß, daß er es sich auch wünscht, doch er hält sich zurück. Ihre eigenen Worte in einer fremden Schrift. Aus ihrem Tagebuch abgeschrieben. Dem Tagebuch, das
gestohlen worden war.
Am nächsten Morgen klingelten Bonnie und Meredith an Elenas Haustür.
„Stefan hat mich gestern abend noch angerufen“, erklärte Meredith. „Er wollte nicht, daß du allein zur
Schule gehst. Da er heute nicht hinkommen wird, bat er uns, dich zu begleiten.“
„Dich zu begleiten“, wiederholte Bonnie. „Und auf dich aufzupassen. Ich find's unheimlich süß, daß er so
ritterlich ist.“
„Wahrscheinlich ist er auch Wassermann.“ Meredith verdrehte die Augen. „Komm, Elena. Machen wir uns
auf den Weg, bevor ich Bonnie erschlage, damit sie endlich aufhört, von diesem Alaric zu schwärmen.“
Elena ging schweigend neben den Freundinnen her und fragte sich, was Stefan wohl davon abhielt, zur
Schule zu kommen. Heute fühlte sie sich besonders verletzlich und allen ausgeliefert, so wie eine Schnecke
ohne Haus. Es war einer jener Tage, an denen sie wegen einer Nichtigkeit in Tränen ausbrechen konnte.
Am Schwarzen Brett hing ein violetter Papierschnipsel.
Elena hätte damit rechnen müssen. Sie hatte es tief im Innersten gewußt. Der Dieb war nicht damit
zufrieden, ihr zu zeigen, daß er ihre privaten Worte gelesen hatte. Er wollte ihr beweisen, daß er sie in der
Hand hatte und alles veröffentlichen konnte.
Sie riß den Papierfetzen vom Brett und zerknüllte ihn, jedoch nicht, ohne vorher einen kurzen Blick darauf
geworfen zu haben. Flüchtiges Lesen genügte, um die Worte in ihr Gedächtnis einzubrennen.
Ich fühle, daß jemand ihn in der Vergangenheit tief verletzt hat und daß er darüber nicht hinwegkommt. Aber ich glaube, es gibt noch etwas, wovor er sich fürchtet. Ein Geheimnis, von dem er Angst hat, daß ich dahinterkomme. „Elena, was soll das? Was ist los mit dir? Elena, komm zurück!“
Bonnie und Meredith folgten Elena zum nächsten Waschraum für Mädchen. Elena rannte zum Papierkorb
und zerriß den Zettel in winzigkleine Stücke. Dabei ging ihr Atem stoßweise, als hätte sie einen
Marathonlauf hinter sich. Die beiden Freundinnen sahen sich an und begannen dann, die einzelnen Toiletten
zu überprüfen.
„Okay!“ rief Meredith laut. „Geschlossene Gesellschaft nur für Oberschüler! Alle anderen raus!“ Sie klopfte
gegen eine verschlossene Tür.
Man hörte ein Rascheln, dann kam eine verwirrte Schülerin der Unterstufe heraus. „Aber ich hab noch nicht
mal...!“
„Raus!“ befahl Bonnie kurz. „Und du!“ Sie zeigte auf das junge Mädchen, das sich am Waschbecken die
Hände wusch.
„Du gehst vor die Tür und paßt auf, daß keiner uns stört!“
„Aber warum? Was bildest...“
„Beweg deinen Hintern, Süße. Wenn jemand durch diese Tür kommt, kannst du was erleben.“
Als die beiden weg waren, gesellten sich Meredith und Bonnie zu Elena.
„So, Elena. Und jetzt raus damit“, sagte Meredith. „Was ist los?“
Elena riß an dem letzten Stückchen Papier und schwankte zwischen Lachen und Weinen. Sie wollte alles
erzählen, aber sie konnte nicht. So entschloß sie sich, nur das Tagebuch zu erwähnen.
Bonnie und Meredith waren genauso wütend und empört wie sie selbst.
„Er muß auch auf Alarics Party gewesen sein“, überlegte Meredith schließlich, nachdem sie sich ausgiebig
über den Dieb ausgelassen und ihm alle möglichen Plagen an den Hals gewünscht hatte. „Praktisch jeder
kommt in Frage. Ich kann mich nicht erinnern, jemanden bei deiner Handtasche gesehen zu haben, aber das Zimmer war so voll. Es könnte passiert sein, ohne daß mir etwas aufgefallen ist.“ „Aber was will derjenige damit bezwecken?“ warf Bonnie ein. „Es sei denn... Elena, in der Nacht, in der wir Stefan fanden, hast du so komische Andeutungen gemacht. Du sagtest, du wüßtest vielleicht, wer der Mörder ist.“ „Ich weiß genau, wer der Mörder ist! Aber ob diese beiden Sachen zusammenhängen, weiß ich nicht. Es könnte sein. Vielleicht steckt dieselbe Person dahinter.“ Bonnie war entsetzt. „Das würde ja bedeuten, daß der Killer ein Schüler unserer Schule ist!“ Als Elena stumm den Kopf schüttelte, fuhr sie fort. „Okay, die einzigen auf der Party, die keine Schüler waren, sind Alaric und dieser neue Typ.“ Ihr Ausdruck veränderte sich. „Alaric hat Mr. Tanner nicht getötet. Er war damals noch gar nicht in Fell's Church.“ „Ich weiß. Alaric war es nicht.“ Elena war zu weit gegangen, um jetzt innezuhalten. Bonnie und Meredith wußten schon zuviel. „Damon hat es getan.“ „Dieser Kerl soll ein Mörder sein? Der Typ, der mich geküßt hat?“ Bonnie war außer sich. „Halt die Luft an, Bonnie.“ Wie immer wurde Elena ruhiger, je mehr sich die anderen aufregten. „Ja, er ist der Mörder, und wir drei müssen uns vor ihm in acht nehmen. Ihr dürft ihn unter keinen Umständen in eure Häuser einladen.“ Elena hielt inne und betrachtete die Gesichter der Freundinnen. Sie starrten sie an, und einen schrecklichen Moment lang hatte sie das Gefühl, daß sie ihr niemals glauben und sie einfach für verrückt halten würden. Doch Meredith stellte mit ruhiger, neutraler Stimme nur eine Frage: „Bist du auch ganz sicher?“ „Ja. Ich bin sicher. Er ist der Mörder, und er hat Stefan in den Brunnen geworfen. Als nächstes könnte er hinter einer von uns her sein. Und ich habe keine Ahnung, ob es überhaupt einen Weg gibt, ihn aufzuhalten.“ „Nun.“ Meredith hob die Augenbrauen. „So betrachtet, ist es kein Wunder, daß du die Party mit Stefan so schnell verlassen hast.“ Es läutete zum Unterricht. Caroline warf Elena ein böses Lächeln zu, als diese mittags in die Cafeteria trat. Aber Elena merkte es kaum. Eins jedoch fiel ihr sofort auf. Vickie Bennett war wieder da. Vickie war nicht mehr in der Schule gewesen seit jener Nacht, in der Matt, Bonnie und Meredith sie auf der Straße aufgelesen hatten. Sie war damals - nur mit ihrer Unterwäsche bekleidet - umhergeirrt und hatte etwas von Augen und Nebel und anderen schrecklichen Dingen auf dem Friedhof gefaselt. Die Ärzte, die sie untersucht hatten, konnten außer ein paar Kratzern und blauen Flecken nichts feststellen. Doch als sie trotzdem nicht gleich wieder in die Schule kam, machten Gerüchte die Runde, in denen von Psychiatern und verschiedenen Therapien mit Medikamenten die Rede war. Vickie macht nicht den Eindruck, als ob sie verrückt ist, dachte Elena. Sie war blaß, verschüchtert und schien sich in ihren zerknautschten Kleidern verkriechen zu wollen. Als Elena an ihr vorbeiging, sah Vickie sie an wie ein verschrecktes Reh. Es war schon merkwürdig, an einem halbleeren Tisch zu sitzen, nur mit Bonnie und Meredith als Gesellschaft. Sonst hatte immer ein großes Gedränge um einen Platz neben den dreien geherrscht. „Wir sind heute morgen nicht dazu gekommen, zu Ende zu reden“, begann Meredith. „Holen wir uns erst was zu essen, und dann wollen wir überlegen, was wir wegen der Zitate aus deinem Tagebuch unternehmen. Wir müssen herausfinden, wer es gestohlen hat.“ „Ich hab keinen Hunger“, erklärte Elena. „Und was können wir überhaupt tun? Wenn wirklich Damon dahintersteckt, gibt es keinen Weg, ihn aufzuhalten. Glaubt mir, das ist kein Fall für die Polizei. Deshalb habe ich denen auch nicht gesagt, daß er der Mörder ist. Es gibt keinerlei Beweis, und außerdem würden sie niemals... Bonnie, du hörst ja überhaupt nicht zu!“ „Tut mir leid.“ Bonnie starrte an Elenas linkem Ohr vorbei. „Aber dahinten bahnt sich was ganz Scharfes an.“ Elena drehte sich um. Vickie Bennett hatte sich auf einen etwas erhöhten Platz gestellt, von dem aus die ganze Cafeteria sie sehen konnte. Und sie wirkte ganz und gar nicht mehr verschüchtert. Sie musterte die Menge mit einem spöttischen, abschätzenden Lächeln.
„Nun, sie sieht nicht gerade aus wie die alte Vickie, die wir kennen. Aber scharf? Bonnie, du übertreibst.“
Meredith zuckte mit den Achseln. Doch plötzlich fügte sie hinzu: „He, wartet mal. Was wird denn das?“
Vickie knöpfte ihre Jacke auf. Langsam und geschickt wie eine Stripteasetänzerin ließ sie ihre Finger von
Knopf zu Knopf gleiten. Dabei musterte sie ihr Publikum die ganze Zeit mit diesem überlegenen, leicht
hungrig wirkenden Lächeln. Als der letzte Knopf offen war, packte sie den Pullover mit Daumen und
Zeigefinger, zog ihn in Zeitlupe aus und ließ ihn auf den Boden fallen.
„Scharf war doch das richtige Wort“, mußte Meredith zugeben.
Schüler gingen mit beladenen Tabletts an Vickie vorbei, musterten sie neugierig und warfen im Gehen noch
einen Blick über die Schultern zurück. Sie blieben jedoch nicht stehen, bis Vickie begann, ihre Schuhe
auszuziehen.
Sie tat es sehr graziös, setzte den Absatz des einen Schuhs auf die Spitze des anderen und streifte ihn ab.
Dann schleuderte sie den zweiten Schuh in hohem Bogen fort.
„Lange sollte sie dieses Spielchen nicht mehr treiben“, murmelte Bonnie, während Vickies Finger langsam
zu den Knöpfen ihrer weißen Seidenbluse krochen.
Köpfe fuhren herum. Die Schüler stießen einander an und kicherten. Um Vickie hatte sich eine kleine
Gruppe geschart, die aber genug Platz ließ, um den anderen nicht die Sicht zu versperren.
Die weiße Seidenbluse flog raschelnd auf den Boden. Vickie trug darunter einen weißen Spitzen-BH.
In der Cafeteria war es totenstill. Nur hier und da war aufgeregtes Flüstern zu hören. Die Menge um Vickie
wurde immer größer.
Vickie lächelte ihr Sirenenlächeln und stieg aufreizend langsam aus ihrem Faltenrock. Geschickt schob sie
ihn mit dem Fuß zur Seite.
Plötzlich schrie jemand hinten aus der Cafeteria: „Ausziehen! Ausziehen!“ Andere stimmten ein, und bald
hallte der ganze Raum von den Rufen wider.
„Warum tut keiner was, um sie aufzuhalten?“ Bonnie schäumte.
Elena stand auf. Als sie sich Vickie das letzte Mal genähert hatte, hatte das Mädchen geschrien und um sich
geschlagen. Aber jetzt lächelte Vickie sie nur verschwörerisch an. Ihre Lippen bewegten sich, doch Elena
konnte über das laute Rufen nicht hören, was sie sagte.
„Komm, Vickie, gehen wir“, bat sie.
Vickie warf ihr hellbraunes Haar zurück und spielte mit den Trägern ihres BHs.
Elena hob die Jacke auf und legte sie um die schlanken Schultern des Mädchens. Als sie Vickie berührte,
schien diese wie aus einem Traum zu erwachen. Sie sah entsetzt an sich hinunter. Dann blickte sie mit
wildem Ausdruck in die Menge. Zitternd wickelte sie sich fest in ihre Jacke und stolperte unsicher.
In der Cafeteria herrschte wieder völlige Stille.
„Es ist alles okay“, versuchte Elena sie zu beruhigen. „Komm schon.“
Beim Klang von Elenas Stimme fuhr Vickie zusammen, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen.
Sie starrte Elena an.
„Du bist eine von ihnen!“ schrie sie plötzlich. „Ich hab dich gesehen! Du bist böse!“
Sie drehte sich um und rannte barfuß aus der Cafeteria. Elena blieb taub vor Schock zurück.
8. KAPITEL „Wißt ihr, was noch merkwürdig war an der Sache, die Vickie heute in der Schule abgezogen hat? Außer dem kleinen Striptease?“ Bonnie leckte sich genüßlich den Schokoladenguß ihres Kuchens von den Fingern. „Was?“ fragte Elena gleichgültig. „Nun, am Schluß ihrer Vorstellung hat sie in ihrer Unterwäsche dagestanden. Genauso haben wir sie damals nachts auf der Straße gefunden. Nur die Kratzer fehlten.“ „Von denen wir glaubten, daß sie von einer Katze stammten.“ Meredith aß ihren letzten Bissen Kuchen. Sie schien sehr nachdenklich zu sein und musterte Elena scharf. „Aber das ist eigentlich nicht sehr wahrscheinlich.“ Elena hielt ihrem Blick stand. „Vielleicht war sie in ein Dornengestrüpp gefallen“, erklärte sie. „Seid ihr jetzt endlich mit Essen fertig? Dann können wir uns nämlich der ersten Nachricht aus meinem Tagebuch widmen.“
Die drei stellten die Teller in die Spüle und gingen hoch in Elenas Zimmer. Elena spürte, wie sie rot wurde,
als Bonnie und Meredith das erste Zitat aus dem Tagebuch lasen. Doch die beiden waren ihre besten
Freundinnen, vielleicht sogar ihre einzigen. Sie hatte ihnen schon früher aus ihrem Tagebuch vorgelesen.
Aber das hier war anders. Elena hatte sich noch nie so gedemütigt gefühlt. „Nun?“ sagte sie schließlich zu
Meredith.
„Die Person, die das geschrieben hat, ist zwei Meter groß, hinkt leicht und trägt einen falschen Schnurrbart“,
entfuhr es Meredith. „Tut mir leid“, fügte sie sofort hinzu, als sie Elenas Gesicht sah. „Das war nicht
komisch. Eigentlich haben wir nichts, womit wir etwas anfangen könnten. Die Schrift sieht aus wie die eines
Mannes, aber das Papier ist eindeutig mehr was für Frauen.“
„Das Ganze riecht sowieso eher nach weiblicher List.“ Bonnie wippte auf Elenas Bett auf und ab. „Denkt
doch mal nach. Dir Zitate aus deinem eigenen Tagebuch zu schicken, darauf kommt nur eine Frau. Jungs
interessieren sich nicht für so was.“
„Du möchtest nur Damon da raushalten“, sagte Meredith. „Ich kenne dich doch. Als Dieb ist er dir zu
langweilig. Als Psychokiller würde er deine Phantasie mehr auf Touren bringen.“
„Ich weiß nicht. Killer haben etwas Romantisches an sich. Stell dir vor, du spürst seine kräftigen Hände an
deiner Kehle. Er schnürt dir langsam die Luft ab, bis du stirbst. Und als letztes siehst du sein Gesicht.“
Bonnie legte sich die Hände um den Hals und starb auf Elenas Bett einen dramatischen Erstickungstod.
„Das könnte er jeder Zeit bei mir machen“, seufzte sie mit geschlossenen Augen.
Elena lag es auf den Lippen, Bonnie eindringlich klarzumachen, daß das Ganze bitterernst und kein Spiel
war. Statt dessen stieß sie nur hervor: „Oh, nein“, und lief rasch zum Fenster. Die Luft im Zimmer war
stickig gewesen, und das Fenster stand weit auf. Draußen in den kahlen Ästen des Quittenbaums saß eine
Krähe.
Elena riß das Fenster so heftig herunter, daß das Glas klirrte. Die Krähe sah sie durch die zitternde Scheibe
mit kalten, schwarzen Augen an. Ihr glattes Gefieder schimmerte in allen Regenbogenfarben.
„Kannst du nicht die Klappe halten? Warum hast du das gesagt?“ wandte Elena sich ungehalten an Bonnie.
„He“, versuchte Meredith, sie sanft zu beruhigen. „Da draußen ist doch keiner. Es sei denn, du zählst die
Vögel mit.“
Elena drehte sich um. Die Krähe war verschwunden.
„Tut mir leid“, sagte Bonnie nach einer kurzen Weile leise. „Es kommt mir nur manchmal alles so
unwirklich vor. Sogar Mr. Tanners Tod. Und dieser Damon... also, er sah auf der Party einfach heiß aus.
Aber auch gefährlich. Ich kann mir vorstellen, wozu er imstande ist.“
„Außerdem würde er dir nicht den Hals zudrücken, er würde ihn dir durchschneiden“, erklärte Meredith
nüchtern. „Zumindest hat er das bei Tanner gemacht. Aber dem alten Mann unter der Brücke hat man die
Kehle halb herausgerissen.“ Meredith blickte Elena nach einer Erklärung suchend an. „Damon besitzt doch
kein Tier, oder?“
„Nein. Nicht, daß ich wüßte.“ Plötzlich war sie total erschöpft. Sie machte sich Sorgen um Bonnie, um die
Folgen, die ihre unbedachten Worte haben könnten.
,Ich kann dir oder denen, die du liebst, alles antun.' Damons Worte fielen ihr wieder ein. Wie würden
Damons nächste Schritte aussehen? Sie verstand ihn nicht. Jedesmal, wenn sie ihn getroffen hatte, war er
anders gewesen.
In der Turnhalle hatte er sie erst ausgelacht und geneckt. Doch im nächsten Moment hatte er Gedichte zitiert
und sie verführen wollen, mit ihm zu gehen. Letzte Woche auf dem eisigen Friedhof, vom Wind umpeitscht,
war er grausam zu ihr gewesen und hatte sie bedroht. Und hinter den spöttischen Worten der letzten Nacht
hatte sie dieselbe Gefahr gespürt. Sie konnte einfach nicht vorhersagen, was er als nächstes tun würde.
Aber, was immer auch geschah, sie mußte Bonnie und Meredith vor ihm schützen. Besonders, da sie die
Freundinnen nicht vor dem wahren Ausmaß der Gefahr warnen konnte.
Und was trieb Stefan eigentlich die ganze Zeit? Sie brauchte ihn mehr denn je an ihrer Seite. Wo steckte er
bloß?
Es war am Morgen desselben Tages gewesen.
„Okay, reden wir Klartext.“ Matt lehnte sich an den verbeulten Kühler seines alten Fords. „Du willst meine
Karre borgen.“
„Ja“, sagte Stefan.
„Um Blumen zu holen. Du möchtest Blumen für Elena pflücken.“
„Ja.“
„Und diese Blumen, die du unbedingt für sie brauchst, wachsen nicht in unserer Gegend?“
„Doch, das könnte sein. Aber der plötzlich einsetzende Frost hat sie hier schon verwelken lassen.“
„Also willst du nach Süden fahren, um diese Blüten zu finden, die du Elena ganz dringend schenken mußt.
Wie weit nach Süden, weißt du nicht.“ Matts Stimme klang leicht spöttisch.
„Die Knospen würden schon reichen“, erklärte Stefan ernst. „Obwohl ich sie lieber in voller Blüte hätte.“
„Da die Polizei dein Auto beschlagnahmt hat, möchtest du meins leihen. Und wie lange die ganze Prozedur
dauern wird, weißt du nicht.“ Matt schüttelte den Kopf.
„Mit dem Auto kann ich unauffällig die Stadt verlassen. Ich möchte nämlich nicht, daß die Polizei mir
folgt.“
„Alles klar. Deshalb brauchst du mein Auto.“
„Ja. Jetzt hast du's verstanden. Gibst du es mir?“
„Was? Erst nimmst du mir Elena weg, und jetzt brauchst du auch noch ausgerechnet meine Hilfe, weil du
aus einer Laune heraus irgendwo in der Wildnis nach Blumen für sie suchen willst? Bist du total verrückt
geworden?“ Matt, der die ganze Zeit über die Häuserdächer auf der anderen Straßenseite geblickt hatte, sah
Stefan an und schüttelte ungläubig den Kopf.
Stefan blickte zu Boden. Er hätte es besser wissen müssen. Nach allem, was Matt bereits für ihn getan hatte,
war es Wahnsinn, noch mehr von ihm zu verlangen. Besonders jetzt, wo die Leute sich abwandten, wenn
Stefan auch nur in ihre Nähe kam. Matt hatte gute Gründe, ihn zu hassen. Immerhin war er vorher mit Elena
gegangen, bevor er, Stefan, auf der Bildfläche erschienen war.
„Nein, ich bin nicht verrückt.“ Stefan wandte sich zum Gehen.
„Und ich auch nicht.“ Matt hielt ihn zurück. „Also werde ich dir mein Auto nicht leihen. Nein, Kumpel, ich
werde mit dir fahren.“
Als Stefan sich wieder umdrehte, starrte Matt auf seinen alten Ford und wühlte mit der Fußspitze im Dreck.
Schließlich hob er den Blick und strich über den verkratzten Lack des Kühlers. „Schließlich wollen wir doch
nicht, daß du mir eine Beule in das gute Stück fährst.“
Elena legte den Hörer auf. Jemand war in der Pension, denn das Telefon wurde abgenommen, wenn es
klingelte. Es folgte Stille und dann das Klicken, wenn die Verbindung abgebrochen wurde. Sie vermutete,
daß es Mrs. Flowers war, aber das verriet ihr immer noch nicht, wo Stefan steckte.
Sie hatte große Lust, einfach zu ihm zu gehen. Doch draußen war es dunkel, und Stefan hatte sie
eindringlich davor gewarnt, im Dunkeln draußen herumzustreifen, und auf keinen Fall sollte sie dem
Friedhof oder dem Wald zu nahe kommen. Die Pension lag genau in dieser Gegend. Also mußte sie auf
Stefans Anruf warten.
„Keine Antwort?“ fragte Meredith, als Elena zurückkam und sich aufs Bett setzte.
„Sie hängt andauernd auf, die alte...“ Elena murmelte leise etwas sehr Unfreundliches.
„...Kuh“, ergänzte Meredith.
„Hört mal.“ Bonnie setzte sich auf. „Wenn Stefan sich melden will, wird er hier anrufen. Es gibt keinen
Grund, warum du bei mir übernachten solltest.“
Doch, es gab einen. Obwohl Elena selbst nicht genau wußte, wie sie es erklären sollte. Schließlich hatte
Damon Bonnie auf der Party von Alaric Saltzman geküßt. Es war Elenas Schuld, daß Bonnie sich überhaupt
in Gefahr befand. Irgendwie fühlte sie, daß sie Bonnie beschützen konnte, wenn sie sich nur zur richtigen
Zeit bei ihr befand.
„Mom, Dad, Mary, alle sind zu Hause“, beharrte Bonnie. „Wir verschließen sowieso immer alle Türen und
Fenster, seit Mr. Tanner ermordet worden ist. An diesem Wochenende hat Dad sogar zusätzliche Schlösser
angebracht. Ich kapiere echt nicht, was du da noch tun könntest.
Elena konnte es selbst nicht erklären. Aber sie würde trotzdem mit Bonnie gehen.
Sie ließ bei Tante Judith eine Nachricht für Stefan zurück, damit er wußte, wo sie war. Das Verhältnis
zwischen ihr und ihrer Tante war nach wie vor gespannt. Und so wird es wohl auch bleiben, bis sie ihre
Meinung über Stefan ändert, dachte Elena.
Bei Bonnie zu Hause bekam sie das Zimmer von Bonnies älterer Schwester, die jetzt aufs College ging. Als
erstes überprüfte Elena das Fenster. Es war geschlossen und verriegelt, und draußen gab es nichts zum
Hochklettern, weder ein Fallrohr noch einen Baum. So unauffällig wie möglich überprüfte sie auch Bonnies Zimmer und alle anderen, in die sie hineinkam. Bonnie hatte recht. Das Haus war total einbruchsicher. Von draußen kam niemand herein. Elena lag in der Nacht lange wach, ohne Schlaf zu finden. Sie starrte an die Decke und erinnerte sich, wie Vickie halb in Trance den Striptease aufgeführt hatte. Was war bloß los mit dem Mädchen? Sie mußte unbedingt Stefan danach fragen, wenn sie ihn das nächste Mal sah. Die Erinnerungen an Stefan waren schön, trotz der schrecklichen Ereignisse, die in der letzten Zeit passiert waren. Elena lächelte in der Dunkelheit und ließ ihre Gedanken wandern. Eines Tages würde das ganze Elend vorüber sein, und sie und Stefan konnten ihr gemeinsames Leben. planen. Natürlich hatte er noch nichts in dieser Richtung erwähnt, aber Elena war sich ganz sicher. Sie würde Stefan heiraten oder keinen. Und Stefan würde sie heiraten und keine andere... Der Übergang vom Wachsein zum Traum war so fließend, daß Elena es kaum merkte. Doch irgendwann wußte sie, daß sie träumte. Es war, als würde ein kleiner Teil von ihr danebenstehen und den Traum wie ein Theaterstück betrachten. Sie saß in einem langen Flur. An der einen Seite war er mit Spiegeln bedeckt, an der anderen befanden sich viele Fenster. Sie wartete auf jemanden. Dann sah sie eine Bewegung, und Stefan erschien draußen vor einem der Fenster. Sein Gesicht war bleich und sein Blick verletzt und zornig. Sie ging zu ihm, doch durch die Scheibe konnte sie nicht hören, was er sagte. In einer Hand hielt er ein Büchlein mit blauem Samteinband. Er deutete darauf und fragte sie etwas. Dann ließ er das Bändchen fallen und drehte sich um. „Stefan! Geh nicht. Laß mich nicht allein!“ flehte sie. Ihre ausgebreiteten Finger hoben sich weiß gegen das kalte Glas ab. Dann sah sie den Riegel an der einen Seite des Fensters, öffnete ihn und rief ihm nach. Doch er war bereits verschwunden, und alles, was sie sah, war wirbelnder weißer Nebel. Untröstlich wandte sie sich von dem Fenster ab und ging langsam den Gang hinunter. Ihr Bild wurde glitzernd von den Spiegeln zurückgeworfen, als sie an einem nach dem anderen vorüberging. Dann fiel ihr etwas an einem der Spiegelbilder auf. Die Augen waren ihre Augen, doch der Blick war neu. Es war der verschlagene Blick eines Raubtiers. Vickie hatte so ausgesehen, als sie sich ausgezogen hatte. Und es lag etwas Beunruhigendes, Hungriges in Elenas Lächeln. Während sie stillstand und sich betrachtete, begann das Bild sich plötzlich zu drehen, als würde es tanzen. Entsetzen packte Elena. Sie rannte den Flur hinunter. Aber die Spiegelbilder waren zu eigenem Leben erwacht. Sie drehten sich, lockten sie und lachten sie aus. Gerade als Elena glaubte, Herz und Lunge müßten ihr platzen, hatte sie das Ende des Flures erreicht und riß eine Tür auf. Sie fand sich in einem großen, wunderschönen Saal wieder. Die hohe Decke war mit Stuck verziert und vergoldet, die Türen von weißem Marmor umrahmt. Klassische Statuen standen in den Nischen an den Wänden. Elena hatte noch nie einen so prunkvollen Raum gesehen, aber sie wußte, wo sie war. Im Italien der Renaissance, der Zeit, in der Stefan gelebt hatte. Sie blickte an sich herunter und sah, daß sie ein Kleid trug, ähnlich wie das, das sie sich zum HalloweenFest hatte schneidern lassen. Das Kostüm war ein hellblaues Ballkleid im Stil der Renaissance gewesen. Doch dieses Kleid hier war tiefrot, und um die Hüften trug sie einen dünnen Gürtel, der mit strahlendroten Steinen besetzt war. Die gleichen Steine funkelten in ihrem Haar. Wenn sie sich bewegte, schimmerte die Seide wie Flammen im Schein von Hunderten von Kerzen. Am anderen Ende des Saals gingen zwei große Türen auf. Eine Gestalt erschien zwischen ihnen. Sie kam auf Elena zu. Es war ein junger Mann, ebenfalls im Stil der Renaissance gekleidet. Er trug ein Wams, enge Hosen und eine pelzgeschmückte Lederjacke. Stefan! Elena rannte ihm freudig entgegen. Sie fühlte, wie die schweren Falten ihres Kleides ihre Beine umschmeichelten. Doch als sie näher kam, hielt sie inne und zog scharf die Luft ein. Es war Damon! Arrogant und lässig schritt er auf sie zu. Er lächelte herausfordernd. Als er Elena erreicht hatte, legte er eine Hand auf sein Herz und verbeugte sich. Dann hielt er ihr die Hand hin, als wollte er sie auffordern, sie zu nehmen. „Möchtest du tanzen?“ fragte er. Seine Lippen bewegten sich nicht. Sie hörte die Stimme in ihrem Kopf. Ihre Angst wich, und sie lachte. Was war bloß mit ihr los gewesen, daß sie sich jemals vor ihm gefürchtet hatte? Sie verstanden sich doch sehr gut. Statt seine Hand zu nehmen, drehte sie sich um. Die Seide ihres
Kleides raschelte. Leichtfüßig ging sie zu einer der Statuen, ohne zurückzusehen, ob er ihr folgte. Sie wußte es auch so. Sie tat, als sei sie ganz in die Betrachtung des Kunstwerks vertieft, und wenn er sie fast erreicht hatte, ging sie weiter. Dabei mußte sie sich auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen. Sie fühlte sich einfach herrlich. So lebendig, so wunderschön. Gefährlich? Natürlich war dieses Spiel gefährlich. Aber sie hatte immer schon das Prickeln der Gefahr genossen. Als er das nächste Mal hinter ihr stand, warf sie ihm im Gehen einen neckischen Blick zu. Er griff nach ihr, bekam aber nur den juwelenbesetzten Gürtel um ihre Taille zu fassen. Abrupt ließ er ihn los. Elena schaute zurück und sah, daß er sich an einem der scharfen Edelsteine geschnitten hatte. Der Tropfen Blut an seinem Finger hatte genau die Farbe ihres Kleides. Seine Augen blitzten, und er schenkte ihr ein herausforderndes Lächeln, als er den verletzten Finger hochhielt. Du würdest es nicht wagen, sagte sein Blick. Oh? Würde ich nicht? erwiderte Elena mit ihren eigenen Blicken. Kühn griff sie nach seiner Hand, hielt sie einen Moment fest, um ihn noch mehr zu reizen. Und dann hob sie langsam den Finger an ihre Lippen. Einige Momente später ließ sie ihn wieder los und sah Damon an. „Ich tanze sehr gern“, sagte sie und merkte, daß auch sie mit ihm reden konnte, ohne die Lippen zu bewegen. Diese Erkenntnis berauschte sie fast. Sie ging zur Mitte des Saals und wartete. Er folgte ihr geschmeidig wie ein Jäger, der seine Beute verfolgt. Seine Finger waren warm und hart, als sie die ihren umschlangen. Die Musik spielte, verstummte mitunter, setzte dann wieder ein und klang, als käme sie aus weiter Ferne. Damon legte seine andere Hand um ihre Taille. Sie fühlte den Druck seiner Finger. Dann hob sie graziös ihre Röcke hoch, und sie begannen zu tanzen. Es war wunderschön, berauschend, als würde sie fliegen, und ihr Körper kannte instinktiv jede Bewegung. In perfektem Einklang tanzten sie leichtfüßig durch den leeren Saal. Damon lachte sie an, seine dunklen Augen funkelten vor Vergnügen. Sie fühlte sich so schön, so losgelöst und bereit für alles. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal soviel Spaß gehabt hatte. Doch nach und nach schwand Damons Lächeln, und der Tanz wurde langsamer. Schließlich stand Elena unbeweglich in seiner Umarmung. Sein Blick war nicht länger fröhlich, sondern dunkel und voll von heißem Verlangen. Sie sah ihn ruhig und ohne jede Angst an. Zum erstenmal merkte sie, daß sie wirklich träumte. Ihre Glieder wurden schwer, und ein leichter Schwindel erfaßte sie. Der Saal um sie herum verschwamm. Sie konnte nur seine Augen sehen. Damons Blick schläferte sie mehr und mehr ein. Sie ließ zu, daß sich ihre Lider halb schlossen und ihr Kopf zurückfiel. Sie seufzte tief. Jetzt konnte sie seinen Blick auf ihren Lippen und auf ihrer Kehle spüren. Sie lächelte und schloß die Augen ganz. Er hielt sie fest und verhinderte, daß sie zu Boden sank. Sie fühlte seine Lippen auf ihrem Hals. Sie brannten heiß, als hätte er Fieber. Dann kam der Schmerz, wie die Stiche zweier Nadeln. Doch er ging schnell vorbei, und sie genoß entspannt, wie Damon ihr Blut trank. Dieses wunderbare Gefühl kannte sie bereits. Sie schwebte wie auf einem Bett aus goldenem Licht. Eine süße Mattigkeit erfüllte sie. Sie war so schlaff, daß ihr jede Bewegung zuviel war. Doch sie wollte sich sowieso nicht bewegen, wozu auch, wenn alles so schön war? Ihre Finger lagen auf seinem Haar und drückten seinen Kopf an ihren Hals. Lässig spielte sie mit den weichen, dunklen Strähnen. Sein Haar war wie Seide, warm und lebendig unter ihrem Griff. Als sie die Augen ein wenig öffnete, sah sie, daß das Kerzenlicht einen Regenbogen darauf malte. Rot, blau und gelb, wie... wie im Gefieder... Plötzlich war alles vorbei. Der Schmerz an Elenas Hals war mit einemmal so groß, als würde ihr die Seele aus dem Körper gerissen. Sie stieß Damon von sich, kratzte und versuchte, ihn abzuwehren. Schreie gellten ihr in den Ohren. Damon bekämpfte sie, aber es war gar nicht Damon. Es war eine Krähe. Ihre riesigen Schwingen peitschten durch die Luft und bedrohten sie. Ihre Augen waren jetzt weit auf. Sie war wach und schrie. Der Ballsaal war verschwunden, sie befand sich in dem dunklen Schlafzimmer. Aber der Alptraum war ihr gefolgt. Selbst, als sie nach dem Lichtschalter griff, war er da. Flügel schlugen ihr ins Gesicht, und ein scharfer Schnabel hackte nach ihr. Elena wehrte sich und hob eine Hand schützend vor die Augen. Sie schrie immer noch. Es gab kein Entrinnen. Der hektische Flügelschlag klang, als würden tausend Spielkarten gleichzeitig gemischt.
Die Tür flog auf, und Elena hörte aufgeregte Stimmen. Der warme, schwere Körper der Krähe traf sie, und
sie schrie wieder auf. Dann riß sie jemand vom Bett. Bonnies Vater schützte sie mit seinem Körper. Er hatte
einen Besen und schlug damit nach dem riesigen Vogel.
Bonnie war in der Tür stehengeblieben. Elena rannte zu ihr und warf sich ihr in die Arme. Bonnies Vater
rief etwas, und dann hörte man, wie das Fenster heftig zugeschlagen wurde.
„Das Viech ist draußen.“ Mr. McCullough atmete schwer.
In Bademäntel gehüllt, waren Mary und Mrs. McCullough gerade erst auf dem Flur erschienen. „Du bist
verletzt“, sagte Mrs. McCullough erstaunt zu Elena. „Der schreckliche Vogel hat nach dir gehackt.“
„Ist schon okay.“ Elena wischte sich einen Blutstropfen vom Gesicht. Sie war so erschrocken, daß ihre Knie
jeden Moment nachzugeben drohten.
„Wie ist die Krähe überhaupt reingekommen?“ wunderte sich Bonnie.
Mr. McCullough untersuchte das Fenster. „Du hättest es nicht offenlassen dürfen“, meinte er. „Warum, um
alles in der Welt, hast du die Sicherheitsriegel abgeschraubt?“
„Das habe ich nicht getan“, erwiderte Elena hektisch.
„Es stand weit auf, als ich hereinkam“, erklärte Bonnies Vater. „Wer sollte es geöffnet haben, wenn nicht
du?“
Elena unterdrückte ihren Protest. Zögernd ging sie zum Fenster. Er hatte recht. Die Riegel waren
aufgeschraubt worden. Und das konnte man nur von innen machen.
„Vielleicht bist du im Schlaf umhergewandelt.“ Bonnie führte Elena vom Fenster weg, während Mr.
McCullough die Riegel wieder anbrachte. „Wir waschen dich besser erst mal.“
Schlafwandeln. Plötzlich fiel Elena der ganze Traum wieder ein. Der Spiegelgang, der Ballsaal und Damon.
Der Tanz mit Damon. Sie machte sich aus Bonnies Griff los.
„Das mach ich schon selbst.“ Sie hörte, wie ihre Stimme, der Panik nah, zitterte. „Es geht schon.“ Sie floh
ins Badezimmer, lehnte sich mit dem Rücken gegen die geschlossene Tür und versuchte, zu Atem zu
kommen.
Am meisten hatte sie jetzt Angst davor, sich selbst zu sehen. Schließlich näherte sie sich langsam dem
Spiegel über einem der Waschbecken. Sie zitterte, als sie allmählich ihr Bild auftauchen sah. Zentimeter um
Zentimeter kroch sie vorwärts, bis sie sich ganz betrachten konnte.
Ihr Spiegelbild starrte sie an. Sie war geisterhaft blaß, unter den Augen lagen violette Schatten, und ihr Blick
war ängstlich und gehetzt. Blutspuren beschmierten ihr Gesicht.
Vorsichtig drehte sie leicht den Kopf und hob das Haar hoch. Fast hätte sie laut geschrien, als sie entdeckte,
was sich darunter befand.
Zwei kleine Wunden, frisch und offen, hoben sich blutigrot von ihrem weißen Hals ab.
9. KAPITEL „Ich weiß, daß ich es bereuen werde. Aber ich muß es dich trotzdem fragen.“ Matt richtete seine müden, rotgeränderten Augen von der Straße weg auf seinen Beifahrer. „Kannst du mir verraten, warum wir diese speziellen, halbtropischen Pflanzen, die außerdem total schwer zu finden waren, so unbedingt für Elena brauchen?“ Stefan warf einen Blick auf den Rücksitz, auf das Ergebnis ihrer langen Suche durch dorniges Gestrüpp und scharfes mannshohes Gras. Die Pflänzchen mit ihren grünen Stengeln und kleinen Blättern sahen wie gewöhnliches Unkraut aus. Die vertrockneten Reste der Blüten waren kaum noch zu sehen, und niemand hätte behaupten können, daß die ganze Blume sehr dekorativ war. „Okay. Wie wär's damit? Sie sind gut gegen müde Augen“, erklärte er nach kurzem Nachdenken. „Oder vielleicht auch als Kräutertee?“ „Willst du mir das im Ernst weismachen?“ „Nein.“ „Gut. Sonst hätte ich dich auch eiskalt k. o. geschlagen.“ Ohne Matt anzusehen, lächelte Stefan. Ein neues Gefühl war in ihm erwacht. Etwas, das er seit fast fünf Jahrzehnten außer bei Elena bei niemandem mehr gespürt hatte. Er fühlte sich akzeptiert. Jemand brachte ihm Wärme und Freundschaft entgegen. Matt vertraute Stefan, ohne die Wahrheit über ihn zu kennen. Und
er glaubte ihm. Stefan war nicht sicher, ob er das verdiente, aber er konnte nicht leugnen, was es für ihn bedeutete. Es machte ihn fast wieder zu einem richtigen Menschen. Elena starrte ihr Spiegelbild an. Es war kein Traum gewesen. Zumindest nicht ganz. Die Wunden in ihrem Hals bewiesen es. Und jetzt, wo sie sie gesehen hatte, fühlte sie auch die damit verbundene leichte Benommenheit und die Mattigkeit ihrer Glieder. Es war ihre eigene Schuld gewesen. Sie hatte sich zu sehr darauf konzentriert, Bonnie und Meredith zu warnen, keinen Fremden ins Haus zu lassen. Und darüber hatte sie vergessen, daß sie selbst Damon bereits in Bonnies Haus eingeladen hatte. Es war in der Nacht geschehen, in der sie in Bonnies Eßzimmer um Mitternacht bei diesem dummen Spiel den Tisch gedeckt und gerufen haute: ,Komm herein!’ Diese Einladung galt für immer. Damon konnte jederzeit zurückkommen, sogar jetzt. Besonders jetzt, wo sie schwach war und leicht durch Hypnose dazu gebracht werden konnte, den Riegel wieder zu öffnen, um ihn zu ihr hereinzulassen. Elena stolperte aus dem Badezimmer an Bonnie vorbei ins Gästezimmer. Sie griff nach ihrer Tasche und packte wahllos ihre Sachen zusammen. „Elena, du kannst nicht nach Hause gehen!“ „Hier kann ich auch nicht bleiben.“ Sie suchte nach ihren Schuhen, entdeckte sie beim Bett und ging darauf zu. Plötzlich hielt sie inne. Auf dem zerknüllen Leinen des Betts lag eine einzelne schwarze Feder. Sie war sehr groß, mit einem dicken, wächsern aussehenden Kiel. Es hatte fast etwas Obszönes an sich, wie sie sich da dunkel von dem unschuldigen, weißen Lacken abhob. Elena wurde übel. Sie wandte sich ab und rang nach Atem. „Ist schon gut“, beruhigte Bonnie sie. „Wenn dich das alles so mitnimmt, werde ich Dad bitten, dich nach Hause zu fahren.“ „Du mußt mitkommen.“ Elena war plötzlich aufgegangen, daß Bonnie in diesem Haus genauso wenig sicher war wie sie selbst. Dir oder denen, die du liebst... Damons Drohung fiel ihr wieder ein. Sie drehte sich um und packte Bonnie am Arm. „Du mußt, Bonnie. Ich brauche dich.“ Sie bekam ihren Willen. Die McCulloughs hielten sie für hysterisch, zu überempfindlich und einem Nervenzusammenbruch nahe. Doch schließlich gaben sie nach. Mr. McCullough fuhr sie und Bonnie zu Elena nach Hause, wo die beiden Mädchen wie Einbrecher ins Haus schlichen, um niemanden zu wecken. Selbst hier konnte Elena nicht schlafen. Sie lag neben Bonnie, die leise atmete, starrte aus ihrem Schlafzimmerfenster und wartete. Draußen rieben die Zweige der alten Quitte leicht quietschend gegen das Glas, sonst rührte sich nichts. Dann hörte sie das Auto. Das Keuchen von Matts altem Motor hätte sie überall erkannt. Beunruhigt ging sie ans Fenster und sah hinaus in den neuen, grauen Morgen. Dann lief sie nach unten und öffnete die Tür. „Stefan!“ Sie war noch nie in ihrem Leben so froh gewesen, jemanden zu sehen. Sie warf sich ihm in die Arme, bevor er die Wagentür hinter sich schließen konnte. Die Heftigkeit ihrer Umarmung ließ ihn leicht schwanken, und sie spürte seine Überraschung. Normalerweise zeigte sie ihre Gefühle in der Öffentlichkeit nicht so heftig. „He“, sagte er und drückte sie sanft an sich. „Ich freu mich ja auch riesig, aber zerdrück die Blumen nicht.“ „Blumen?“ Sie zog sich ein Stückchen zurück, um zu sehen, was er da trug. Dann erst schaute sie ihm ins Gesicht und hin zu Matt, der gerade an der anderen Seite ausstieg. Stefan war blaß und wirkte angespannt. Matts Gesicht war vor Müdigkeit aufgedunsen, und seine Augen waren rotgerändert. „Kommt besser rein“, meinte sie schließlich verwirrt. „Ihr beide seht ja schrecklich aus.“ „Das ist Eisenkraut“, erklärte Stefan einige Zeit später. Er und Elena saßen am Küchentisch. Durch die offene Tür konnten sie Matt auf dem Wohnzimmersofa ausgestreckt liegen sehen. Er schnarchte leicht. Nachdem er ein riesiges Frühstück mit Eiern und Speck verdrückt hatte, hatte er sich gleich dorthin verzogen. Tante Judith, Bonnie und Margaret schliefen oben noch friedlich. Trotzdem sprach Stefan leise: „Kannst du dich daran erinnern, was ich dir darüber erzählt habe?“ „Ja. Es soll den Verstand klar halten, sollte jemand versuchen, die geheimen Kräfte gegen mich anzuwenden.“ Elena war stolz darauf, wie ruhig ihre Stimme klang. „Stimmt. Und das genau wird Damon versuchen. Er kann seine Kräfte sogar aus der Entfernung wirken lassen, und es macht keinen Unterschied, ob du nun schläfst oder wach bist.“
Tränen traten in Elenas Augen. Sie sah nach unten, um sie zu verbergen, und betrachtete die langen, grünen
Stengel und die vertrockneten Reste der winzigen lila Blüten an ihren Enden. „Auch im Schlaf?“ Ihre
Stimme bebte leicht.
„Ja. Er kann dich dazu bringen, aus dem Haus zu kommen oder ihn hineinzulassen. Doch das Eisenkraut
sollte das verhindern. „Stefan klang müde, aber zufrieden.
Oh, Stefan, wenn du nur wüßtest, dachte Elena. Das Geschenk war eine Nacht zu spät gekommen. Trotz
aller Bemühungen konnte sie nicht verhindern, daß eine Träne auf die langen, grünen Blätter fiel.
„Elena!“ rief er erstaunt. „Was ist los? Erzähl es mir.“
Er versuchte, ihr ins Gesicht zu sehen. Doch sie senkte den Kopf und preßte ihn an seine Schulter. Erlegte
seine Arme um sie. „Erzähl es mir“, wiederholte er sanft.
Das war der entscheidende Augenblick. Wenn sie es ihm jemals sagen wollte, mußte es jetzt geschehen. Ihr
Hals brannte und fühlte sich geschwollen an. Sie wollte nichts lieber, als alles mit einem Schlag loswerden.
Aber sie konnte nicht. Egal, was geschieht. Ich werde nicht zulassen, daß sie meinetwegen kämpfen, dachte
sie.
„Es ist nur... Ich habe mir Sorgen um dich gemacht“, stieß sie schließlich hervor. „Ich wußte nicht, wo du
hingegangen warst, und wann du zurückkommst.“
„Ich hätte es dir sagen müssen. Aber ist das wirklich alles? Gibt es nichts, was dich sonst noch aufregt?“
„Nein.“ Jetzt mußte sie Bonnie noch schwören lassen, nichts von der Krähe zu verraten. Warum führte eine
Lüge unweigerlich zu einer nächsten? „Was wollen wir mit dem Eisenkraut machen?“ fragte sie und setzte
sich zurück.
„Das werde ich dir heute abend zeigen. Wenn ich das Öl aus den Samen gepreßt habe, kannst du deine Haut
damit einreiben oder es als Badezusatz benutzen. Und du kannst die getrockneten Blätter in ein Säckchen
füllen und mit dir tragen oder in der Nacht unter dein Kopfkissen legen.“
„Ich gebe besser auch Bonnie und Meredith ein paar. Sie werden den Schutz brauchen.“
Stefan nickte. „Für den Moment...“ Er brach einen Stengel ab und legte ihn in ihre Hand. „... nimm erst mal
das mit zur Schule. Ich gehe zurück in die Pension, um das Öl vorzubereiten.“ Er schwieg einen Augenblick.
„Elena...“
„Ja?“
„Wenn ich mir etwas davon versprechen würde, würde ich die Stadt verlassen. Ich würde Damon von hier
fortlocken, damit du in Sicherheit vor ihm bist. Aber ich glaube, er würde mir nicht folgen. Nicht mehr. Er
würde hierbleiben - deinetwegen.“
„Komm nie mehr auf eine solche Idee“, sagte sie eindringlich. „Laß mich nie mehr allein, hörst du? Das ist
das einzige, was ich nicht ertragen könnte, Stefan. Versprich mir, daß du das nicht tust. Versprich es mir!“
„Ich werde dich nicht mit ihm allein lassen“, erwiderte Stefan, was nicht ganz dasselbe war. Aber es hatte
keinen Zweck, ihn weiter zu drängen.
Statt dessen half sie ihm, Matt zu wecken, und verabschiedete sich von beiden. Mit einem getrockneten
Zweiglein Eisenkraut in der Hand ging sie in ihr Zimmer, um sich für die Schule fertigzumachen.
Bonnie gähnte während des ganzen Frühstücks, und sie wachte erst richtig auf, als sie draußen waren und
ihnen auf dem Schulweg der frische Wind ins Gesicht blies. Der Tag versprach, sehr kalt zu werden.
„Ich hatte letzte Nacht einen verrückten Traum“, begann Bonnie.
Elenas Herz krampfte sich zusammen. Sie hatte bereits heimlich einen Zweig Eisenkraut zwischen Bonnies
Schulsachen versteckt, ganz unten auf dem Boden der Tasche, wo Bonnie ihn nicht finden würde. Aber
wenn Damon Bonnie bereits letzte Nacht erwischt hatte...
„Wovon handelte er?“ fragte sie und machte sich innerlich auf das Schlimmste gefaßt.
„Es ging um dich. Ich sah dich unter einem Baum stehen. Der Wind blies heftig. Aus irgendeinem Grund
hatte ich Angst vor dir, und ich wollte nicht näher kommen. Du sahst... so anders aus. Sehr bleich, und deine
Haut schimmerte fast. Und dann flog eine Krähe aus dem Baum hinunter. Du hast sie mitten in der Luft
gepackt. Deine Bewegungen waren so schnell, es war unglaublich. Dann hast du mich ganz merkwürdig
angesehen. Du hast gelächelt, aber ich wäre am liebsten vor dir geflohen. Langsam hast du der Krähe den
Hals umgedreht, bis sie tot war.“
Elena hatte mit wachsendem Entsetzen zugehört. „Das war ja ein schrecklicher Traum.“
„Nicht wahr?“ erwiderte Bonnie gelassen. „Ich frage mich, was er zu bedeuten hat. Krähen bedeuten der
Legende nach ein ganz schlechtes Omen. Sie kündigen einen Todesfall an.“
„Wahrscheinlich hast du gespürt, wie erschrocken ich über die Krähe in meinem Zimmer war, und das in
dem Traum verarbeitet.“
„Kann sein“, sagte Bonnie ruhig. „Da gibt es nur eine winzige Kleinigkeit. Ich habe das alles geträumt,
bevor du uns mit deinen Schreien geweckt hast.“
Um Mittag hing ein weiteres Stück violettes Papier am Schwarzen Brett. Auf diesem stand nur: „Schaut mal
unter: ,Ganz persönlich' nach.“
„Wieso: ,Ganz persönlich'?“ wunderte Bonnie sich.
In diesem Moment kam Meredith. Sie hielt eine Ausgabe der Schülerzeitung in der Hand und hatte die
Antwort. „Habt ihr das schon gelesen?“
Es war völlig anonym unter der Rubrik „Persönliches“ veröffentlicht.
Ich kann den Gedanken nicht ertragen, ihn zu verlieren. Aber er ist so unglücklich über etwas, und wenn er mir nicht sagen will, was es ist, wenn er kein Vertrauen in mich hat, sehe ich keine Hoffnung für uns. Als Elena das las, spürte sie, wie ihre Müdigkeit schlagartig wich. Oh, wie sie den haßte, der ihr das antat!
Sie stellte sich alle möglichen grausamen Todesarten für ihn vor, bis ihr plötzlich ein merkwürdiger
Gedanke kam. Sie sah vor ihrem geistigen Auge, wie sie nach dem Haar des Diebes griff, seinen Kopf
zurückriß und die Zähne in seine ungeschützte Kehle senkte. Es war eine beunruhigende Vorstellung, doch
einen Moment lang schien sie fast Wirklichkeit zu sein.
Plötzlich wurde ihr bewußt, daß Meredith und Bonnie sie anstarrten.
„Nun?“ fragte sie leicht unbehaglich.
„Ich hab mir schon gedacht, daß du nicht zugehört hast“, seufzte Bonnie. „Ich sagte gerade, das Ganze sieht
mir immer noch nicht nach Da..., nach dem Werk des Killers aus. Ein Mörder würde sich doch nicht mit
solchem Kleinkram abgeben.“
„Obwohl ich ihr nur ungern zustimme, finde ich, sie hat recht“, erklärte Meredith. „Das Ganze riecht eher
nach jemandem, der persönlich mit dir ein Hühnchen zu rupfen hat und der möchte, daß du richtig leidest.“
Speichel sammelte sich in Elenas Mund. Sie schluckte. „Und es muß jemand sein, der sich in der Schule
auskennt. Die Anzeigen für die Rubriken der Schülerzeitung werden im Unterricht ausgefüllt.“
„Die Täter müssen gewußt haben, daß du ein Tagebuch führst, und haben es absichtlich gestohlen. Vielleicht
waren sie in einer deiner Klassen, an dem Tag, an dem du es mit in die Schule gebracht hast. Erinnerst du
dich? Damals hat Tanner dich fast erwischt“, überlegte Bonnie.
„Es war Miß Halpern. Und sie hat sogar etwas über Stefan laut vorgelesen. Das war kurze Zeit, nachdem
Stefan und ich beschlossen hatten, zusammenzubleiben. Warte mal eine Minute, Bonnie. An dem Abend in
eurem Haus, als das Tagebuch gestohlen wurde, wie lange wart ihr zwei da aus dem Wohnzimmer weg?“
„Nur ein paar Minuten. Yangtze hatte aufgehört zu bellen. Ich ging zur Tür, um ihn hereinzulassen, und...“
Bonnie preßte die Lippen zusammen und zuckte mit den Schultern.
„Also mußte der Dieb euer Haus kennen“, warf Meredith schnell ein. „Sonst hätte er oder sie es nicht
geschafft, einzudringen, das Tagebuch zu stehlen und wieder rauszulaufen, ohne von uns erwischt zu
werden. Okay, wir suchen nach jemandem, der hinterlistig und grausam ist, in eine deiner Klassen geht und
Bonnies Haus kennt. Jemanden, der persönlich etwas gegen dich hat und alles tun würde, um es dir
heimzuzahlen... Oh, nein.“
Die drei starrten sich an.
„Das ist es“, flüsterte Bonnie. „Das muß es sein.“
„Wir waren so blöd. Wir hätten es gleich ahnen müssen“, erklärte Meredith wütend.
Der Zorn, den Elena vorhin gespürt hatte, war nichts gegen die maßlose Wut, die sie jetzt erfüllte.
„Caroline!“ sagte sie und biß die Zähne so fest zusammen, daß es schmerzte.
Caroline. Elena hatte große Lust, diese falsche Schlange auf der Stelle zu töten. Und sie wäre auch gleich
losgerannt, hätten Meredith und Bonnie sie nicht festgehalten.
„Nach der Schule!“ sagte Meredith fest. „Wenn wir sie uns an einem etwas ruhigeren Ort vornehmen
können. Warte noch so lange, Elena.“
Aber als sie zur Cafeteria gingen, bemerkte Elena, wie Carolines schlanke Gestalt einen Flur hinunter
verschwand. Ihr fiel etwas ein, das Stefan ihr früher erzählt hatte. Caroline hatte ihn in den Pausen in das
verlassene Photolabor gelockt. Unter dem Vorwand, endlich einmal ungestört reden zu können.
„Ihr zwei geht schon vor. Ich hab was vergessen“, sagte sie, als Meredith und Bonnie ihre Tabletts beladen
hatten. Ohne auf die Proteste der Freundinnen zu achten, lief sie schnell hinaus und folgte Caroline.
Die Tür zum Photolabor war unverschlossen. Instinktiv drehte Elena den Türknopf vorsichtig herum und
schlich leise herein, statt sofort zum Angriff überzugehen, wie sie es eigentlich geplant hatte. Steckte
Caroline hier drin? Wenn ja, was machte sie allein im Dunkeln?
Das Klassenzimmer schien zunächst verlassen zu sein.
Dann hörte Elena leise Stimmen aus einer Nische im Hintergrund, und sie entdeckte, daß die Tür zur
Dunkelkammer einen Spaltbreit offenstand.
Vorsichtig näherte sie sich, bis sie dicht davor stand. Das Gemurmel war jetzt deutlich zu verstehen.
„Wie können wir sichergehen, daß man sie auswählen wird?“ Das war Caroline.
„Mein Vater ist im Vorstand der Schule. Mach dir darüber keine Gedanken.“ Und das war ohne Zweifel
Tyler Smallwood. Sein Vater war Anwalt und in jedem Vorstand vertreten, den es in Fell's Church gab.
„Außerdem, wer sollte es wohl sonst machen? Die Darstellerin des ,Gründergeists von Fell's Church' muß
nicht nur Köpfchen haben, sondern auch nach was aussehen.“
„Und ich bin wohl zu dumm dazu?“
„Hab ich das gesagt? Wenn du im weißen Kleid als Königin der Festparade am Gründertag glänzen willst,
meinetwegen. Aber wenn du möchtest, daß Stefan Salvatore mit Beweisen aus dem Tagebuch seiner eigenen
Freundin aus der Stadt gejagt wird...“
„Aber warum so lange warten?“
Tyler klang ungeduldig. „Weil dadurch auch die Feier zum Gründungstag allen gründlich vermiest wird. Es
stinkt mir schon lange, daß die Fells nach all der Zeit immer noch als Gründer von Fell's Church gefeiert
werden. Die Smallwoods haben sich schließlich als erste hier niedergelassen.“
„Ist doch völlig egal, wer dieses blöde Nest gegründet hat. Ich möchte nur, daß Elena vor der ganzen Schule
gründlich blamiert wird.“
„Und Salvatore auch.“ Der Haß und die Bosheit, die in Tylers Stimme lagen, verursachten bei Elena eine
Gänsehaut. „Er wird von Glück sagen können, wenn er am Schluß nicht am nächsten Baum hängt. Du bist
ganz sicher, daß die Beweise da sind?“
„Wie oft muß ich dir das noch sagen? Als erstes steht drin, daß sie am zweiten September ihr Haarband auf
dem Friedhof verloren hat. Weiter heißt es, daß Stefan es an genau dem Tag aufgehoben und behalten hat.
Die Wickery-Brücke liegt direkt neben dem Friedhof. Das bedeutet, daß sich Stefan am zweiten September
dort aufgehalten hat, und zwar an dem Abend, an dem der alte Mann angegriffen wurde. Jeder weiß bereits,
daß er bei den Angriffen auf Tanner und Vickie seine Hand im Spiel hatte. Was willst du mehr?“
„Vor Gericht würde das Beweismaterial nie standhalten. Vielleicht sollte ich mir Zeugen suchen. Man
könnte die alte Mrs. Flowers fragen, zu welcher Zeit er in jener Nacht nach Hause gekommen ist“, überlegte
Tyler.
„Wen interessiert das schon? Die meisten halten ihn sowieso für schuldig. lm Tagebuch steht etwas von
einem großen Geheimnis, das er vor allen verbirgt. Die Leute werden schon verstehen, was gemeint ist.“
„Hast du das Buch gut versteckt?“
„Nein, Tyler. Es liegt offen herum. Für wie blöd hältst du mich eigentlich?“
„Für blöd genug, um Elena Notizen zu schicken, die sie auf unsere Spur lenken könnten.“ Er raschelte mit
etwas, das sich wie eine Zeitung anhörte. „Schau dir das an. Es ist unglaublich. Und es muß sofort aufhören.
Was ist, wenn sie uns auf die Schliche kommt?“
„Was soll sie groß machen? Die Polizei benachrichtigen?“
„Ich will trotzdem, daß du damit aufhörst. Warte bis zum Gründungstag. Dann wirst du sehen, wie die
Eisprinzessin schmilzt.“
„Und ich kann Stefan Lebewohl sagen. Tyler... sie werden ihm doch nichts antun, oder?“
„Wen interessiert das schon?“ äffte er ihren früheren Tonfall nach. „Das mußt du mir und meinen Freunden
überlassen, Caroline. Spiel du nur deine Rolle, okay?“
Carolines Stimme wurde dunkel und verführerisch. „Komm, überrede mich, Baby.“ Nach einer kurzen
Pause lachte Tyler selbstgefällig.
Man hörte Bewegungen, dann ein Rascheln und Seufzer. Elena drehte sich um und verließ den Raum so leise, wie sie gekommen war. Sie bog in den nächsten Flur ein, lehnte sich gegen die Schließfächer und versuchte, in Ruhe nachzudenken. Es war fast zuviel, um alles zu verarbeiten. Caroline, die einmal ihre beste Freundin gewesen war, hatte sie verraten und wollte sie vor der ganzen Schule bloßstellen. Tyler, der sich stets mehr als lautstarker Macho hervorgetan hatte, statt wirklich gefährlich zu sein, plante jetzt, Stefan aus der Stadt zu vertreiben oder sogar zu töten. Und das Schlimmste war, sie benutzten Elenas eigenes Tagebuch dazu. Jetzt verstand sie den Anfang ihres Traumes von letzter Nacht. Sie hatte in der Nacht, bevor Stefan vermißt wurde, einen ähnlichen Traum gehabt. Beide Male hatte er sie mit ärgerlichen, anklagenden Blicken angesehen, hatte ihr ein Buch vor die Füße geworfen und war davongestürmt. Nicht irgendein Buch. Ihr Tagebuch. Welches Beweise enthielt, die Stefan zum Verhängnis werden konnten. Drei Menschen waren in Fell's Church angegriffen worden. Und alle drei Male war Stefan in der Nähe gewesen. Was würden die Stadtbevölkerung und die Polizei wohl daraus schließen? Es gab keinen Weg, die Wahrheit zu sagen. Wie würde das wohl in den Ohren der anderen klingen: „Stefan ist unschuldig. Sein Bruder haßt ihn und weiß, wie sehr Stefan den Gedanken an Leid und Tod verabscheut. Er ist Stefan gefolgt und hat Menschen angegriffen, damit Stefan glaubt, er sei es selbst gewesen, und am Ende im Wahnsinn endet. Sein Bruder ist irgendwo in der Stadt. Sucht auf dem Friedhof oder in den Wäldern. Haltet aber nicht nur nach einem gutaussehenden, jungen Mann Ausschau. Denn es könnte sein, daß er sich gerade in eine Krähe verwandelt hat. Übrigens, ehe ich es vergesse, er ist ein Vampir.“ Sie konnte es ja selbst kaum glauben. Es war zu verrückt. Ein leichter Schmerz an ihrem Hals erinnerte sie wieder daran, wie ernst die ganze Sache tatsächlich war. Sie fühlte sich heute so komisch, fast, als wäre sie krank. Und das lag nicht nur an der ganzen Aufregung und daran, daß sie wenig geschlafen hatte. Ihr war leicht schwindlig. Manchmal schien der Boden unter ihren Füßen nachzugeben, um im nächsten Moment elastisch zurückzufedern. Alles sah nach den Anzeichen einer Grippe aus. Doch Elena war sicher, daß die Ursache für ihre Mattigkeit eine andere sein mußte. Es war Damons Schuld. Alles war Damons Schuld. Nur mit dem Tagebuch hatte er nichts zu tun. Wenn sie doch nur nichts über Stefan darin geschrieben hätte und es nicht mit in die Schule genommen hätte! Wenn sie es nur nicht in Bonnies Wohnzimmer hätte liegenlassen. Wenn... wenn... wenn... Im Augenblick zählte nur eins. Elena mußte das Tagebuch unbedingt wiederhaben, um Carolines und Tylers gefährlichem Plan zuvorzukommen. 10. KAPITEL Es läutete. Elena blieb keine Zeit mehr, zur Cafeteria zu gehen und Bonnie und Meredith alles zu erzählen.
Sie lief in die nächste Unterrichtsstunde, vorbei an den feindseligen Blicken und abgewandten Gesichtern,
die in den letzten Tagen schon zur Gewohnheit für sie geworden waren.
Im Geschichtsunterricht fiel es Elena sehr schwer, Caroline nicht anzustarren und ihr zu verraten, daß sie es
wußte. Alaric fragte nach Matt und Stefan, die schon den zweiten Tag in Folge fehlten. Elena zuckte nur mit
den Schultern und fühlte sich hilflos und ausgeliefert. Sie traute diesem Mann mit seinem jungenhaften
Lächeln, den haselnußbraunen Augen und der unersättlichen Neugier nach Tanners Todesursache nicht über
den Weg. Und Bonnie, die Alaric nur seelenvoll anschmachtete, war auch keine Hilfe.
Nach der Stunde fing sie einen Gesprächsfetzen von Sue Carsons Unterhaltung auf: „... er hat
Semesterferien. Auf welche Uni er geht, hab ich vergessen...“
Elena hing das rücksichtsvolle Schweigen zum Hals heraus. Sie fuhr herum und mischte sich unaufgefordert
in die Unterhaltung ein.
„Wenn ich du wäre“, sagte sie zu Sue, „würde ich mich von Damon fernhalten. Ich meine es ernst.“
Überraschtes, verlegenes Gelächter erklang. Sue war eine der wenigen gewesen, die Elena nicht geschnitten
hatte. Jetzt schien ihr das leid zu tun.
„Weshalb?“ fragte Sues Gesprächspartnerin zögernd. „Weil du auch ein Auge auf ihn geworfen hast?
Oder?“
Elenas eigenes Lachen klang hart. „Weil er gefährlich ist“, erklärte sie mit Nachdruck. „Und ich mache
keine Witze.“
Die beiden starrten sie nur an. Elena ersparte ihnen weitere Peinlichkeiten, indem sie sich auf dem Absatz
umdrehte und ging. Sie zerrte Bonnie aus dem schnell wachsenden Kreis von Alarics Anbeterinnen, die sich
nach dem Unterricht um ihn scharten, und schleppte sie mit zu Meredith' Schließfach.
„Wo gehen wir hin? Ich dachte, wir wollten Caroline zur Rede stellen.“
„Nicht mehr nötig“, erwiderte Elena knapp. „Warte, bis wir zu Hause sind. Dann erzähle ich dir, warum.“
„Ich kann's nicht glauben“, staunte Bonnie eine Stunde später. „Ich meine, doch, ich glaub's natürlich. Aber
es ist unfaßbar. Selbst bei Caroline.“
„Der Plan ist auf Tylers Mist gewachsen“, sagte Elena düster. „Soviel zu deiner Theorie, daß sich Männer
nicht für Tagebücher und solchen Kram interessieren.“
„Eigentlich sollten wir ihm dankbar sein“, warf Meredith ein. „Denn nur durch ihn haben wir zumindest Zeit
bis zum Gründertag, um etwas zu unternehmen. Warum soll die ganze Sache ausgerechnet dann steigen,
Elena?“
„Tyler hat etwas gegen die Fells.“
„Aber die sind doch tot“, wandte Bonnie ein.
„Das scheint Tyler nichts auszumachen. Ich kann mich erinnern, daß er auf dem Friedhof am Grab der Fells
etwas Ähnliches erzählt hat. Er glaubt, sie haben seinen Vorfahren den rechtmäßigen Platz als Gründer von
Fell's Church gestohlen.“
„Ist etwas in dem Tagebuch, das Stefan ernsthaft schaden könnte, Elena?“ fragte Meredith ernst. „Außer der
Sache mit dem alten Mann?“
„Reicht das nicht?“ Elenas Herz begann unter Meredith' ruhigem Blick heftiger zu klopfen. Warum fragte
sie das?
„Das genügt, um Stefan aus der Stadt zu jagen, wie sie es vorhaben“, stimmte Bonnie zu.
„Und es ist Grund genug, daß wir Caroline das Tagebuch wieder abjagen müssen“, fügte Elena hinzu.
„Bleibt nur die Frage, wie?“
„Caroline hat Tyler gesagt, daß sie es irgendwo sicher versteckt hat. Wahrscheinlich in ihrem Haus.“
Meredith kaute nachdenklich auf den Lippen. „Sie hat nur einen Bruder, der die achte Klasse besucht. Und
ihre Mutter arbeitet nicht, geht aber oft einkaufen. Haben die immer noch das Dienstmädchen?“
„Warum?“ wollte Bonnie wissen.
„Nun, wir wollen doch nicht überrascht werden, wenn wir in das Haus einbrechen.“
„Wenn wir was?“ Bonnies Stimme überschlug sich fast. „Du tickst wohl nicht mehr richtig.“
„Was sollen wir denn machen? Däumchen drehen bis zum Gründungstag und zulassen, daß Caroline vor der
ganzen Stadt aus Elenas Tagebuch vorliest? Sie hat es aus deinem Haus gestohlen. Wir werden es uns
einfach zurückholen“, erklärte Meredith mit aufreizender Ruhe.
„Man wird uns schnappen. Wir werden von der Schule fliegen. Wenn wir nicht sogar im Gefängnis landen.“
Bonnie wandte sich hilfesuchend an Elena. „Sprich du mit ihr.“
„Also...“ Wenn Elena ehrlich war, verursachte die Vorstellung auch bei ihr ein flaues Gefühl. Von der
Schule zu fliegen oder im Gefängnis zu landen, kam ihr dabei halb so schlimm vor. Aber die Schande, auf
frischer Tat ertappt zu werden... Elena sah Mrs. Forbes' hochmütiges Gesicht direkt vor sich. Dann
verwandelte es sich in Carolines spöttische, selbstgefällige Miene, während ihre Mutter anklagend mit dem
Finger auf Elena zeigte.
Außerdem kam es ihr wie eine totale Verletzung der Privatsphäre vor, in ein Haus einzudringen und in
fremden Sachen zu wühlen. Sie haßte die Vorstellung, daß ihr so etwas passieren könnte.
Aber es war in gewisser Weise ja schon geschehen. Caroline hatte sich auf diebische Weise bei Bonnie
eingeschlichen, das Tagebuch gestohlen und hielt nun Elenas ganz private Gedanken und Gefühle in den
Händen.
„Tun wir's“, sagte sie leise. „Aber seien wir vorsichtig dabei.“
„Wollen wir es uns nicht noch einmal überlegen?“ fragte Bonnie ängstlich und schaute von Meredith'
entschlossener Miene zu Elena.
„Da gibt es nichts zu überlegen. Du kommst mit.“ Meredith duldete keinen Widerspruch. „Du hast es
versprochen“, fügte sie hinzu, als Bonnie von neuem den Mund öffnen wollte. Sie hielt ihren Zeigefinger
hoch.
„Der Blutschwur diente doch nur dazu, Elena zu helfen, Stefan einzufangen“, protestierte Bonnie.
„Denk mal nach“, erinnerte Meredith sie. „Du hast geschworen, alles zu tun, was Elena in bezug auf Stefan
verlangt. Es gab weder ein Zeitlimit noch sonst irgendeine Einschränkung.“
Bonnie schwieg verdutzt. Sie sah zu Elena hinüber, die trotz allem beinahe lachen mußte. „Das stimmt“,
erwiderte diese ernst. „Und du hast selbst behauptet: ,Mit Blut schwören bedeutet, daß man zu seinem Eid
stehen muß, egal, was auch geschieht.’“
Bonnie streckte trotzig das Kinn vor. „O weh“, sagte sie bitter. „Jetzt bin ich für den Rest meines Lebens
dazu verdonnert, alles zu tun, was Elena von mir verlangt. Na, toll!“
„Es ist das letzte, worum ich dich je bitten werde“, erwiderte Elena ernst. „Und ich verspreche, nein, ich
schwöre...“
„Nicht!“ unterbrach Meredith sie schnell. „Nicht, Elena. Es könnte dir leid tun.“
„Beschäftigst du dich jetzt auch schon mit der Wahrsagerei?“ Elena war eigentlich nicht zum Scherzen
zumute. Sie kam zum Thema zurück. „Wie stellen wir es also am besten an, uns für etwa eine Stunde
Carolines Hausschlüssel auszuborgen?“
Samstag, 9. November Liebes Tagebuch, es tut mir leid, daß es so lange gedauert hat. In letzter Zeit bin ich zu beschäftigt oder zu traurig gewesen manchmal sogar beides - um etwas niederzuschreiben. Außerdem, nach allem, was passiert ist, fürchte ich mich fast davor, ein Tagebuch zu führen. Aber ich brauche jemanden, dem ich mich rückhaltlos anvertrauen kann. Und im Moment gibt es niemanden, vor dem ich kein Geheimnis habe. Bonnie und Meredith dürfen die Wahrheit über Stefan nicht erfahren. Stefan soll nichts von Damon und mir wissen. Tante Judith muß über alles völlig im unklaren gelassen werden. Bonnie und Meredith kennen das Problem mit Caroline und meinem Tagebuch. Stefan nicht. Stefan hingegen weiß, daß ich jeden Tag das Eisenkraut benutze. Bonnie und Meredith haben davon keine Ahnung, obwohl ich beiden auch etwas davon gegeben habe. Ein Gutes hat es. Es scheint zu wirken. Ich bin nicht mehr im Schlaf umhergewandelt seit jener verhängnisvollen Nacht. Aber es wäre gelogen zu behaupten, daß ich nicht von Damon träume. Er ist in all meinen Alpträumen. Mein Leben besteht im Moment aus lauter Lügen, und, wie gesagt, ich brauche jemand, mit dem ich völlig ehrlich sein kann. Ich werde das Tagebuch unter einem losen Dielenbrett im Schrank verstecken, so daß es niemand findet, auch wenn ich eines Tages tot umfallen sollte und das Zimmer ganz ausgeräumt wird. Vielleicht werden hier Margarets Enkel einmal spielen und das Versteck entdecken. Aber bis dahin wird es bestimmt niemandem gelingen. Das Tagebuch ist mein letztes Geheimnis. Warum denke ich an Sterben und Tod? Das ist doch Bonnies Tick. Sie ist diejenige, die glaubt, es wäre so romantisch. Ich weiß es besser. Es war nicht romantisch, als Mom und Dad ums Leben kamen, sondern einfach nur schrecklich. Ich möchte gern lange leben, Stefan heiraten und glücklich werden. Und es gibt keinen Grund, warum ich das nicht kann, wenn einmal alle Probleme hinter uns liegen. Natürlich gibt es Zeiten, da packt mich die Angst, und ich beginne zu zweifeln. Es gibt Kleinigkeiten, die sollten mich kaltlassen, aber sie stören mich. Zum Beispiel, daß Stefan immer noch Katherines Ring an der Kette um den Hals trägt, obwohl er doch jetzt nur noch mich liebt. Und daß er nie ausspricht: ‚Ich liebe dich.’ Dabei weiß ich doch, daß es stimmt. Ist auch egal. Alles wird in Ordnung kommen. Ich glaube ganz fest daran. Und dann werden wir zusammen glücklich sein. Es gibt keinen Grund, warum es nicht so sein sollte. Keinen Grund... keinen Grund... Elena hörte auf zu schreiben und versuchte, die Sätze zu lesen. Doch sie verschwammen vor ihren Augen.
Sie schloß das Buch, bevor eine verräterische Träne auf die frische Tinte fallen konnte. Dann ging sie zum
Schrank, löste ein Bodenbrett mit ihrer Nagelfeile und versteckte das Tagebuch darunter.
Elena hatte die Nagelfeile eine Woche später in der Tasche, als sie, Bonnie und Meredith vor dem
Hintereingang zu Carolines Haus standen.
„Schnell!“ zischte Bonnie ängstlich und schaute sich um, als würde sie jeden Moment erwarten, daß jemand
sie erwischte. „Mach schon, Meredith!“
„Geschafft!“ Meredith drehte den Schlüssel, und das Schloß öffnete sich. „Wir sind drin!“
„Bist du sicher, daß sie nicht da sind? Elena, was ist, wenn die Familie früher zurückkommt? Warum haben
wir die ganze Aktion nicht tagsüber gestartet?“
„Komm jetzt endlich, Bonnie. Wir haben das alles schön hundertmal durchgekaut. Tagsüber ist das
Dienstmädchen da. Und die Familie wird nicht früher zurückkommen, es sei denn, es wird einem von ihnen
beim vornehmen Abendessen im ,Chez Louis’ schlecht“, drängte Elena.
„Und das würde niemand ausgerechnet an Mr. Forbes' Geburtstag wagen“, beruhigte Meredith Bonnie. „Wir
sind vollkommen sicher.“
„Wenn sie schon genug Geld für so ein teures Restaurant haben, hätten sie auch ruhig ein paar Lampen im
Haus anlassen können.“ Bonnie fühlte sich gar nicht sicher.
Im stillen stimmte Elena ihr zu. Es war total unheimlich, im Dunkeln durch ein fremdes Haus zu irren. Ihr
Herz klopfte zum Zerspringen, während sie die Treppe hochgingen. Ihre Hand, die die kleine Taschenlampe
hielt, war ganz naß. Aber trotz dieser körperlichen Angstreaktionen reagierte ihr Verstand klar.
„Das Tagebuch muß in ihrem Schlafzimmer sein“, überlegte sie.
Carolines Fenster ging zur Straße hinaus, daher mußten sie noch vorsichtiger sein, sich nicht durch einen
Lichtschein zu verraten. Elena schwenkte den dünnen Strahl der Taschenlampe mit sinkendem Mut hin und
her. Den Plan zu fassen, ein Zimmer mit allen Schränken und Schubladen gründlich zu untersuchen, war
eine Sache. Aber alles sah ganz anders aus, wenn man tatsächlich dort stand, umgeben von scheinbar
tausend Plätzen, an denen man etwas verstecken konnte.
Die beiden anderen Mädchen waren ebenfalls unschlüssig stehengeblieben.
„Vielleicht sollten wir einfach wieder nach Hause gehen“, sagte Bonnie leise. Diesmal widersprach
Meredith nicht.
„Wir müssen es zumindest versuchen.“ Elena merkte selbst, wie dünn und hohl ihre Stimme klang. Sie
öffnete eine Schublade. Die Taschenlampe beleuchtete einen Stapel Spitzenunterwäsche. Eine kurze
Untersuchung ergab, daß sich kein Büchlein darunter befand. Elena ordnete die Wäsche wieder und schloß
die Schublade. Dann atmete sie hörbar aus.
„Es kann doch nicht so schwer sein“, sagte sie. „Wir müssen das Zimmer unter uns aufteilen, und dann
nimmt sich jede von uns einen Winkel gründlich vor.“
Sie selbst begann im Schrank. Als erstes stocherte sie mit der Nagelfeile in den Bodenbrettern herum. Aber
Boden und Wände waren fest. Unter Carolines Kleidern fand sie mehrere Sachen, die sie dem Mädchen im
letzten Jahr geliehen hatte.
Elena hatte große Lust, sie einfach wieder mitzunehmen, aber das ging natürlich nicht. Auch die
Durchsuchung von Carolines Schuhen und Handtaschen ergab nichts. Elena zog sogar einen Stuhl heran, um
besser an das oberste Regal des Schranks zu kommen. Ohne Ergebnis.
Meredith saß auf dem Boden und knöpfte sich die Stofftierchen vor, die mit anderen Kindheitserinnerungen
in einer Kiste gesteckt hatten. Sie ließ ihre langen Finger darüber gleiten und suchte nach Schlitzen in dem
Material. Bei einem flauschigen Pudel hielt sie plötzlich inne.
„Den hab ich ihr geschenkt“, flüsterte sie. „Ich glaube, zu ihrem zehnten Geburtstag. Ich dachte, sie hätte ihn
längst weggeworfen.“
Elena konnte ihre Augen nicht sehen. Meredith' Taschenlampe war auf den Pudel gerichtet. Aber sie wußte,
was die Freundin fühlte.
„Ich hab versucht, mich mit ihr zu versöhnen“, sagte sie leise. „Ehrlich, Meredith. Bei der Spukhaus-Party.
Aber sie hat mir so gut wie klargemacht, daß sie mir nie verzeihen wird, daß ich ihr Stefan gestohlen habe.
Ich wünschte auch, die Dinge wären anders. Aber sie will nicht nachgeben.“
„Also herrscht jetzt Krieg.“
„Ja“, erwiderte Elena nüchtern und endgültig. Sie beobachtete, wie Meredith den Pudel weglegte und das
nächste Tierchen nahm. Dann wandte sie sich wieder ihrer eigenen Suche zu.
Aber sie hatte mit der Kommode genauso wenig Glück wie mit dem Schrank. Von Minute zu Minute wurde
sie nervöser und fürchtete, jeden Moment das Auto der Forbes' vor dem Haus zu hören.
„Es ist zwecklos“, seufzte Meredith schließlich, während sie mit der Hand unter Carolines Matratze fuhr.
„Sie muß es verteufelt gut versteckt haben. Halt... was ist das? Da steckt was in der Ecke.“
Bonnie und Elena hielten inne und sahen sie aus den entgegengesetzten Ecken des Zimmers wie gebannt an.
„Ich hab's! Elena! Hier ist ein Tagebuch!“
Elena war so erleichtert, daß ihre Knie schwach wurden. Endlich konnte sie wiederfrei atmen. Sie hatte es doch gleich gewußt. Stefan konnte nichts wirklich Schlimmes passieren. Das Leben durfte einfach nicht so grausam sein. Nicht zu Elena Gilbert. Aber dann sagte Meredith verwundert: „Okay, es ist ein Tagebuch. Aber es ist grün, nicht blau. Kinder, wir haben das falsche erwischt.“ „Was?“ Elena entriß ihr das Büchlein und beleuchtete es von allen Seiten, als versuche sie, das helle Grün des Einbands in ein leuchtendes Dunkelblau zu verwandeln. Dieses Tagebuch glich ihrem zwar, aber es war es nicht. „Das gehört Caroline“, sagte sie schließlich und wollte es nicht glauben. Bonnie und Meredith traten nah heran. Sie alle betrachteten erst das Bändchen und tauschten dann einen hilflosen Blick. „Wir könnten etwas daraus erfahren“, überlegte Elena zögernd. „Das wäre nur fair“, stimmte Meredith zu. Aber es war Bonnie, die das Tagebuch schließlich in die Hand nahm und es öffnete. Elena schaute über Bonnies Schulter auf Carolines geschwungene Schrift, die so anders war als die großen Blockbuchstaben auf den violetten Papierfetzen. Zunächst schweifte ihr Blick nur hin und her, bis ihr ein Name ins Auge fiel: Elena. „Wartet mal. Was bedeutet das?“ Bonnie, die als einzige in der Lage war, mehr als nur ein oder zwei Worte zu erkennen, bewegte einen Moment lautlos die Lippen. Dann machte sie ein verächtliches Geräusch. „Hört euch das an“, meinte sie und las laut vor: „Elena ist die selbstsüchtigste Person, die ich je kennengelernt habe. Jeder hält sie für unwahrscheinlich cool, doch im Grunde ist das nur Kälte. Es macht mich krank mitzuerleben, wie alle versuchen, sich an sie ranzuschmeißen, dabei sind ihr die anderen doch total egal. Für sie zählt nur eine Person: nämlich sie selbst.“ „Ausgerechnet Caroline muß so etwas sagen!“ Aber Elena spürte trotzdem, wie sie rot wurde. Praktisch dasselbe hatte Matt nämlich zu ihr gesagt, als sie versucht hatte, Stefan zunächst gegen seinen Willen zu erobern. „Lies weiter. Da steht noch mehr.“ Meredith stieß Bonnie aufgeregt an, die hörbar gekränkt fortfuhr. „Bonnie ist in den letzten Tagen mindestens genauso schlimm. Immer versucht sie, sich wichtig zu machen. Seit neuestem behauptet sie, ein Medium zu sein, damit alle auf sie aufmerksam werden. Wenn sie wirklich telepathische Kräfte hätte, dann hätte sie längst gemerkt, daß Elena sie nur benutzt.“ Es entstand eine bleierne Pause. Dann sagte Elena: „Ist das alles?“ „Nein. Da ist noch was über Meredith: Meredith rührt keinen Finger, um der ganzen Sache ein Ende zu machen. Eigentlich tut Meredith überhaupt nie etwas. Sie beobachtet nur. Es scheint, als ob sie nicht von sich aus handeln könnte. Sie reagiert nur auf Dinge. Außerdem habe ich mitbekommen, wie meine Eltern über ihre Familie geredet haben - kein Wunder, daß sie sie nie erwähnt.“ Bonnie hob den Kopf. „Was soll das denn heißen?“ Meredith hatte sich nicht bewegt. Elena konnte in dem gedämpften Licht nur ihren Hals und ihr Kinn sehen. Aber Meredith' Stimme war ruhig und gefaßt. „Ist egal. Such weiter, Bonnie. Wir brauchen Informationen über Elenas Tagebuch.“ „Versuch's um den achtzehnten Oktober rum. Da ist es gestohlen worden.“ Elena stellte alle anderen Fragen erst einmal zurück. Sie würde später mit Meredith darüber sprechen. Es stand weder etwas unter dem achtzehnten Oktober noch unter dem Wochenende danach. In den folgenden Wochen gab es überhaupt nur wenig Eintragungen, und keine erwähnte Elenas Tagebuch. „Nun, das war's dann wohl.“ Meredith setzte sich zurück. „Das Buch ist wertlos. Es sei denn, wir wollen sie damit erpressen. Ihr wißt schon, gibst du mir meins, geb’ ich dir deins.“ Die Vorstellung war verlockend. Aber Bonnie entdeckte den wunden Punkt. „Es steht nichts über Caroline selbst drin. Nur lauter Beschwerden über andere. Meistens über uns. Ich wette, daß Caroline sich freuen würde, wenn wir das vor der ganzen Schule laut vorlesen. Es wäre ein gefundenes Fressen für sie.“ „Was sollen wir also damit machen?“ „Legt es zurück“, erklärte Elena müde. Sie ließ den Lichtstrahl noch einmal durch das Zimmer wandern, das ihr jetzt leicht verändert vorkam. „Wir werden eben so tun müssen, als ob wir nicht wissen, daß sie mein Tagebuch hat, und auf eine neue Chance hoffen.“
„Gut“, sagte Bonnie, blätterte jedoch weiter durch das kleine Buch und gab dabei manchmal ein verächtliches Schnauben oder Zischen von sich. „Hört euch das an!“ rief sie plötzlich laut. „Wir haben keine Zeit“, drängte Elena. Sie wollte noch etwas hinzufügen, doch Meredith unterbrach sie. „Ein Auto!“ Sie brauchten nur eine Sekunde, um sich klar zu werden, daß ein Wagen in die Auffahrt vor dem Haus einbog. Bonnie riß Augen und Mund weit auf und blieb wie erstarrt vor dem Bett knien. „Macht schon! Macht!“ Elena entriß ihr das Tagebuch. „Taschenlampen aus und hinten raus!“ Sofort setzten sie sich in Bewegung. Meredith schleppte Bonnie mit. Elena fiel auf die Knie und hob Carolines Matratze hoch. Mit einer Hand mühte sie sich ab, das Tagebuch zwischen die schwere Matratze und den sperrigen Sprungfederrahmen zu schieben. Mit Hilfe der Fingerspitzen drückte sie es so weit wie möglich nach hinten und achtete nicht darauf, daß die spitzen Sprungfedern ihre Hand zerkratzten. Dann zog sie den Arm zurück und die Bettdecke gerade. Während sie hinauslief, warf sie einen hektischen Blick durchs Zimmer. Wenn sie nun etwas übersehen hatten... Egal, es blieb keine Zeit mehr, noch aufzuräumen. Sie huschte leise die Treppe hinunter und hörte auf der Mitte der Stufen den Schlüssel in der Haustür. Was nun folgte, glich einer grausamen Schnitzeljagd. Elena wußte, daß die Forbes von ihrer Anwesenheit keine Ahnung hatten, doch sie schienen unbewußt geradezu wild entschlossen, sie aufzuspüren. Elena floh den Weg zurück, den sie gekommen war, als das Licht anging und Stimmen sich der Treppe näherten. Sie rannte vor ihnen davon in das letzte Zimmer auf dem Flur. Es war das Elternschlafzimmer. Die Familie folgte ihr, wie magnetisch angezogen. Jetzt hörte Elena Geräusche vor der Tür. Sie wandte sich verzweifelt zur angrenzenden Badezimmertür, um von dort wieder auf den Flur zu gelangen. Im letzten Moment sah sie, wie Licht darunter hervorschimmerte. Ihr Fluchtweg war abgeschnitten. Sie saß in der Falle. Jeden Moment konnten Carolines Eltern vom Flur aus oder vom Badezimmer hereinkommen. Elenas Blick fiel auf die großen Fenstertüren, die auf den Balkon hinausführten, und sie traf eine spontane Entscheidung. Sie öffnete eine der Türen, sprang hinaus und zog sie vorsichtig hinter sich zu. Die Luft draußen war kalt, und ihr Atem bildete weiße Wölkchen. Im Zimmer ging das Licht an. Sie kauerte sich weiter an die Wand, um nicht in den Lichtschein zu geraten. Dann folgte das Geräusch, das sie am meisten gefürchtet hatte: Das laute Klicken eines Schlosses, gefolgt vom Aufbauschen der weißen Gardinen nach drinnen. Die großen Balkontüren waren wieder geöffnet worden. Elena sah sich hektisch um. Es war zu hoch, um einfach hinunterzuspringen. Klettern war ebenso aussichtslos. Blieb nur das Dach. Aber auch das war kaum zu schaffen. Trotzdem biß sie die Zähne zusammen und versuchte es. Sie stand auf dem Balkongeländer und tastete mit der Hand nach einem Halt, als hinter den durchsichtigen, weißen Gardinen ein Schatten erschien. Eine Hand teilte sie, eine Gestalt trat heraus, dann spürte Elena, wie ihr Handgelenk gepackt wurde und sie mit einem Schwung nach oben gezogen wurde. Automatisch stieß sie sich heftig mit den Füßen ab und kroch einen Moment später auf die Schindeln des Dachs. Hier hielt sie erst einmal inne, um sich zu beruhigen und wieder zu Atem zu kommen. Sie blickte sich dankbar nach ihrem Retter um - und erstarrte. 11. KAPITEL „Gestatten, daß ich mich vorstelle? Salvatore. Das ist italienisch und bedeutet: Retter.“ Er lachte, und seine
weißen Zähne blitzten in der Dunkelheit.
Elena sah nach unten. Das überhängende Dach versperrte die Sicht auf den Balkon, aber sie konnte von dort
Geräusche hören. Doch niemand schien sie zu verfolgen, und es gab keinerlei Anzeichen, daß die Worte
ihres Begleiters gehört worden waren. Eine Minute später wurden die Balkontüren wieder geschlossen.
„Ich hätte eher auf Smith getippt“, erwiderte sie spitz und spähte weiter nach unten.
Damon lachte. Es klang erheiternd und ansteckend. Ohne die Bitterkeit, die immer hinter Stefans
Fröhlichkeit lauerte. Das Lachen erinnerte Elena an einen leuchtenden Regenbogen im Gefieder einer Krähe.
Trotzdem war sie auf der Hut. Egal, wie charmant er auch zu sein schien, Damon war fast unvorstellbar
gefährlich. Sein geschmeidiger, durchtrainierter Körper war zehnmal stärker als der eines Menschen.
Seine leicht verschleierten, dunklen Augen konnten selbst in der schwärzesten Nacht perfekt sehen. Die Hand mit den langen Fingern, die sie auf das Dach gezogen hatte, besaß unglaublich schnelle Reflexe. Doch am beunruhigsten war sein glasklarer Verstand. Der Verstand eines Killers. Mit den scharfen Instinkten eines Raubtiers. Sie konnte es fühlen. Er unterschied sich von den Menschen. Schon so lange lebte er vom Jagen und Töten, daß er alles andere vergessen hatte. Und er genoß es. Er kämpfte nicht gegen seine Natur an wie Stefan. Damon besaß keine Moral und kein Gewissen. Und Elena steckte hier mitten in der Nacht mit ihm fest. Sie hockte sich auf die Fersen, bereit, jederzeit zu reagieren. Eigentlich hätte sie ihm böse sein sollen, nach dem, was er ihr in dem Traum angetan hatte. Doch es hatte keinen Sinn, es ihm zu zeigen. Er wußte es ohnehin und hätte sie nur ausgelacht. Elena betrachtete ihn aufmerksam und schweigend. Sie wartete auf seinen nächsten Schachzug. Aber er bewegte sich nicht. Seine Hände, die blitzschnell zustoßen konnten wie gereizte Schlangen, lagen bewegungslos auf seinen Knien. Und so wie jetzt hatte er sie schon einmal angesehen. Das erste Mal, als sie sich getroffen hatten. Damals war der verhaltene Respekt in seinem Blick noch mit Überraschung gepaart gewesen. Jetzt nicht mehr. „Du wirst mich doch nicht etwa anschreien? Oder in Ohnmacht fallen?“ sagte er nur. Elena beobachtete ihn immer noch. Er war soviel stärker und schneller als sie. Sie mußte sich überlegen, wie sie zum Rand des Daches gelangen konnte, ohne daß er sie erwischte. Das Risiko, daß sie in der Hektik den Balkon verfehlte und metertief in den Garten fiel, mußte sie eingehen. „Ich werde nicht ohnmächtig“, erklärte sie knapp. „Und warum sollte ich dich anschreien? Wir haben ein Spiel gespielt. Ich war in jener Nacht dumm, und deshalb habe ich verloren. Du hast mich auf dem Friedhof vor den Folgen gewarnt.“ Damon holte kurz Luft und blickte zur Seite. „Ich werde dich wohl oder übel zu meiner Königin der Schatten machen müssen“, sagte er und fügte, eher zu sich selbst, hinzu: „Ich hatte viele Gefährtinnen. Mädchen, so jung wie du, und Frauen, die zu den großen Schönheiten Europas zählten. Aber du bist diejenige, die ich an meiner Seite will. Wir werden herrschen und uns nehmen, was immer wir wollen. Die schwächeren Seelen werden uns fürchten und verehren. Wäre das so schlecht?“ „Du vergißt, ich bin eine der schwächeren Seelen“, antwortete Elena mit Nachdruck. „Du und ich, wir sind Feinde, Damon. Wir können nie etwas anderes sein.“ „Bist du da so sicher?“ Er sah sie an, und sie konnte spüren, wie die Macht seines Verstandes ihre Sinne streifte, wie eine Liebkosung seiner geschmeidigen Finger. Aber der Schwindel, das Gefühl der Schwäche und des Nachgebens blieb aus. An diesem Nachmittag hatte sie wieder wie immer in den letzten Tagen, ein ausgiebiges, heißes Bad mit getrocknetem Eisenkraut darin genommen. In Damons Augen blitzte es auf. Er hatte verstanden. Aber er ertrug seine Niederlage mit Charme. „Was machst du eigentlich hier?“ fragte er wie nebenbei. Es war komisch, doch sie fühlte keine Notwendigkeit, ihn anzulügen. „Caroline hat etwas gestohlen, das mir gehört. Ein Tagebuch. Ich wollte es mir zurückholen.“ Ein neuer Ausdruck trat in seine Augen. „Um damit, ohne Zweifel, irgendwie meinen unwürdigen Bruder zu schützen“, antwortete er verärgert. „Stefan hat nichts damit zu tun!“ „Ach, nein?“ Elena hatte Angst, daß er mehr verstand, als sie ihn wissen lassen wollte. „Komisch“, fuhr Damon fort. „Er scheint aber auch in jeden Ärger verwickelt zu sein. Stefan schafft sich die Probleme geradezu. Wenn er endlich mal von der Bildfläche verschwinden würde...“ Elena blieb ganz ruhig. „Solltest du Stefan auch nur das geringste antun, werde ich dafür sorgen, daß es dir leid tut. Ich werde einen Weg finden, daß du dir wünschst, du hättest es nicht getan, Damon. Und ich meine, was ich sage!“ „Verstehe. Also werde ich mich in Zukunft noch ein bißchen intensiver mit dir beschäftigen müssen, findest du nicht auch, Elena?“ Elena schwieg. Sie hatte sich selbst in eine Ecke manövriert, hatte es zugelassen, daß er wieder sein tödliches Spiel mit ihr spielte. Sie sah zur Seite.
„Am Ende wirst du mein sein“, flüsterte Damon. In seiner Stimme lagen weder Spott noch Bosheit. Er
stellte lediglich eine Tatsache fest. Elena versuchte, das Zittern zu verbergen, das sie überlief, aber sie
wußte, daß er es trotzdem sah.
„Gut“, meinte er. „Du besitzt noch gesunden Menschenverstand. Es ist nur recht und billig, daß du Angst
vor mir hast. Ich bin das gefährlichste Lebewesen, dem du jemals in deinem Leben begegnen wirst. Aber im
Moment habe ich dir lediglich ein Geschäft vorzuschlagen.“
„Ein Geschäft?“
„Genau. Du kamst her, um das Tagebuch wiederzuholen. Aber du hast es nicht bekommen.“ Er zeigte auf
ihre leeren Hände. „Du hast versagt, stimmt's?“ Als Elena nicht antwortete, fuhr er fort. „Und da du meinen
Bruder nicht mit in die Sache reinziehen willst, kann er dir auch nicht helfen. Aber ich kann es. Und ich
werde es.“
„Du?“
„Natürlich zu einem Preis.“
Elena starrte ihn an. Das Blut stieg ihr heiß in die Wangen. Als sie schließlich sprach, war ihre Stimme nur
ein Flüstern.
„Zu welchem... Preis?“
Damon lächelte. „Ich wünsche mir ein paar Minuten deiner Zeit, Elena. Ein paar Tropfen deines Blutes.
Sagen wir, eine Stunde, die du mit mir allein verbringst.“
„Du...“ Elena fehlten die Worte. Alles, was ihr einfiel, war viel zu mild.
„Am Ende werde ich mein Ziel so oder so erreichen“, erklärte er nüchtern. „Wenn du ehrlich bist, mußt du
das auch dir selbst gegenüber zugeben. Das letzte Mal mit uns beiden wird nicht das einzige Mal bleiben.
Warum akzeptierst du das nicht einfach?“ Sein Tonfall wurde warm und lockend. „Erinnere dich...“
„Lieber schneide ich mir die Kehle durch“, unterbrach sie ihn hart.
„Eine verlockende Vorstellung. Aber ich kann dir dasselbe Resultat auf viel angenehmere Weise
verschaffen.“
Damon lachte sie aus. Und das war zuviel.
„Du bist widerlich, weißt du das?“ schrie sie ihn an. „Du machst mich krank.“ Sie zitterte am ganzen Körper
und konnte nicht mehr atmen. „Ich würde lieber sterben als dir nachzugeben. Eher würde ich...“
Elena war sich nicht sicher, was sie dazu trieb. Wenn sie mit Damon zusammen war, reagierte sie rein
gefühlsmäßig. In diesem Moment war sie bereit, alles zu riskieren, nur um ihn nicht wieder gewinnen zu
lassen. Eine Hälfte ihres Verstandes registrierte, daß er sich entspannt zurücklehnte und die Wendung
genoß, die sein Spiel nahm. Die andere rechnete sich aus, wie weit das überhängende Dach über den Balkon
reichte.
„Eher würde ich... das machen!“ Sie warf sich zur Seite.
Elena hatte es richtig eingeschätzt Sie hatte ihn kalt erwischt, und er konnte sich nicht schnell genug
bewegen, um sie aufzuhalten. Sie sprang ins Leere und merkte zu ihrem Entsetzen, daß der Balkon weiter
zurücklag, als sie gedacht hatte. Sie würde ihn verfehlen.
Aber sie hatte nicht mit Damon gerechnet. Seine Hand schoß nach vorn, nicht schnell genug um sie auf dem
Dach festzuhalten, aber um zu verhindern, daß sie weiter fiel. Ihr Gewicht schien ihm nicht das geringste
auszumachen. Reflexartig griff Elena nach dem Rand des Dachs und versuchte, ein Knie hochzuziehen.
Damons Stimme war voller Zorn. „Du kleine Idiotin! Wenn du es so eilig hast mit dem Sterben, stelle ich
dich lieber persönlich dem Tod vor.“
„Laß mich los!“ stieß Elena zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. Sie war sicher, daß jeden
Moment jemand auf den Balkon treten mußte. „Laß mich los.“
„Hier und jetzt?“
Elena sah in seine unergründlichen, schwarzen Augen und wußte, daß er es ernst meinte. Wenn sie ja sagte,
würde er sie in die Tiefe fallen lassen.
„Es wäre ein schneller Weg, alles zu beenden, nicht wahr?“ keuchte sie. Ihr Herz klopfte laut vor Angst,
aber sie weigerte sich, es ihn wissen zu lassen.
„Aber welche Verschwendung.“ Mit einer schwungvollen Bewegung zog er sie in Sicherheit - und in seine
Umarmung. Elena fand sich plötzlich eng an seinen geschmeidigen, kraftvollen Körper gepreßt. Jede Sicht
wurde ihr genommen. Seine Arme umschlangen sie fest. Dann fühlte sie, wie sich seine harten Muskeln
anspannten wie die einer Raubkatze, und Damon zog sie mit sich ins Leere.
Elena fiel. Sie konnte nichts anderes tun, als sich an ihn zu klammern. Dann landete er weich und fing den
Aufprall mühelos ab.
Sie hatte das gleiche schon einmal mit Stefan erlebt. Aber Stefan hatte sie hinterher nicht so festgehalten. So
intim und nah. Ihre Lippen berührten sich fast.
„Denk über meinen Vorschlag nach.“ Damons Mund strich über ihr Haar.
Elena konnte sich weder bewegen noch den Blick abwenden. Diesmal hatte es nichts mit Damons
übernatürlichen Kräften zu tun. Es lag ganz einfach an der sinnlichen, beinahe magischen Anziehungskraft,
die zwischen ihnen beiden bestand. Leugnen war zwecklos, er hatte es sicher bereits gemerkt. Ihr Körper
reagierte heftig auf seinen. Sie konnte Damons Atem auf ihren Lippen spüren.
„Ich brauche dich für gar nichts“, stieß sie hervor.
Jetzt wird er mich küssen, dachte sie halbbetäubt und hatte keine Kraft, sich gegen ihn zu wehren. Aber es
kam anders. Über ihnen wurde eine der Balkontüren geöffnet und eine ärgerliche Stimme erklang: „Hallo!
Ist da jemand? Was ist da los?“
„Diesmal habe ich dir noch einen Gefallen getan“, flüsterte Damon und hielt sie weiter in den Armen.
„Nächstes Mal werde ich mir die Belohnung abholen.“
Elena konnte den Kopf nicht abwenden. Wenn er sie jetzt geküßt hätte, hätte sie es geschehen lassen. Aber
plötzlich war sie aus seiner Umarmung befreit, sein Gesicht verschwamm. Es schien, als würde die
Dunkelheit ihn wieder verschlucken. Dann peitschten große Schwingen durch die Luft, und eine riesige
Krähe flog davon.
Ein Buch oder ein Schuh wurde vom Balkon hinterhergeworfen und verfehlte den Vogel meterweit.
„Verflixte Brut!“ schimpfte Mr. Forbes von oben. „Sie müssen auf dem Dach nisten.“
Zitternd, die Arme um den Körper geschlungen, verbarg Elena sich in der Dunkelheit, bis sich die Balkontür
schloß, und er wieder nach drinnen verschwand.
Sie fand Meredith und Bonnie beim Gartentor versteckt. „Wo bist du so lange geblieben?“ flüsterte Bonnie.
„Wir dachten schon, sie hätten dich erwischt.“
„Das hätten sie auch fast. Ich mußte abwarten, bis die Luft wieder rein ist.“ Elena war daran gewöhnt, was
Damon betraf, zu lügen. „Gehen wir nach Hause“, flüsterte sie. „Hier können wir doch nichts mehr tun.“
Als sie sich vor Elenas Tür verabschiedeten, sagte Meredith: „Es sind nur noch zwei Wochen bis zum
Gründertag.“
„Ich weiß.“ Einen Moment lang kam ihr Damons Vorschlag in den Sinn. Aber sie schüttelte den Kopf, um
den Gedanken zu vertreiben. „Ich werde mir etwas ausdenken“, sagte sie statt dessen.
Bis zum nächsten Tag in der Schule war Elena jedoch noch nichts eingefallen. Das einzig Positive war, daß
Caroline von der Durchsuchung ihres Zimmers offenbar nichts gemerkt hatte. Aber das war auch alles.
Am Morgen gab es eine Versammlung, in der bekanntgegeben wurde, daß der Schulausschuß Elena dazu
ausgewählt hatte, den ,Gründergeist von Fell's Church' darzustellen. Während der ganzen Rede des
Direktors lächelte Caroline triumphierend und spöttisch.
Elena versuchte, es zu übersehen. Sie tat auch ihr Bestes, die spitzen Bemerkungen zu überhören, die sie
nachher überall verfolgten. Das war nicht leicht. Es gab Tage, da hätte sie am liebsten um sich geschlagen
und laut geschrien. Aber es gelang ihr immer noch, sich zusammenzureißen.
An jenem Nachmittag wartete Elena in der Schule auf dem Flur, daß ihr Klassenraum frei wurde. Da kamen
Tyler Smallwood und Dick Carter auf sie zu. Seit Tyler wieder zur Schule zurückgekommen war, hatte er
nicht ein einziges Wort mit ihr gesprochen. Während der Ankündigung des Direktors hatte er so böse
gelächelt wie Caroline.
Als er jetzt Elena alleine stehen sah, stieß er Dick Carter mit dem Ellbogen an. „Was haben wir denn da?“
fragte er. „Ein Mauerblümchen?“
Stefan, wo bist du? dachte Elena. Dabei kannte sie die Antwort. Er saß auf der anderen Seite des
Schulgebäudes im Matheunterricht.
Dick öffnete den Mund, um eine blöde Bemerkung zu machen, doch plötzlich änderte sich sein
Gesichtsausdruck. Er schaute an Elena vorbei den Flur hinunter. Elena drehte sich um und sah Vickie.
Vickie und Dick waren vor dem Schulball miteinander gegangen. Elena nahm an, daß sie immer noch ein
Pärchen waren. Aber Dick machte einen unsicheren Eindruck, als wüßte er nicht, wie er sich dem Mädchen
gegenüber verhalten sollte.
Vickies Verhalten war merkwürdig. Sie ging, als würden ihre Füße den Boden nicht berühren. Ihre Pupillen
waren stark erweitert, der Blick abwesend.
„Hallo“, sagte Dick verlegen und trat ihr in den Weg. Ohne ihn anzusehen, ging Vickie an ihm vorbei auf
Tyler zu. Was dann geschah, beobachtete Elena mit wachsender Unruhe. Es hätte lustig sein können, war es
jedoch nicht. Tyler sah verwirrt aus. Vickie legte ihm eine Hand auf die Brust. Er lächelte gequält. Vickie
ließ die Hand unter seine Jacke gleiten. Das Lächeln schwand. Vickie ließ ihre zweite Hand der ersten
folgen. Tyler sah hilfesuchend zu Dick.
„He, Vickie. Laß es gut sein“, bat Dick hastig, machte jedoch keine Anstalten, sich dem Mädchen zu nähern.
Vickie schob mit den Händen Tylers Jacke von seinen Schultern. Er versuchte, sie betont gleichgültig und
ohne seine Bücher loszulassen wieder überzuziehen. Es klappte nicht. Vickies Finger krochen unter sein
Hemd.
„Aufhören! He, Dick, tu was!“ Tyler hatte sich zurückgezogen, bis er mit dem Rücken gegen die Wand
stand.
„Komm, Vickie. Laß das. „Aber Dick blieb in sicherer Entfernung. Tyler warf ihm einen wütenden Blick zu
und versuchte, Vickie wegzustoßen.
Ein merkwürdiges Geräusch ertönte. Zunächst ganz leise, dann immer lauter. Ein Knurren, unheimlich und
drohend.
Schauder überliefen Elena. Tyler hatte die Augen ungläubig weit aufgerissen. Schon bald erkannte Elena,
weshalb. Das Geräusch kam von Vickie.
Dann passierte alles auf einmal. Tyler fand sich auf dem Boden wieder, und Vickies zubeißende Zähne
waren nur Zentimeter von seiner Kehle entfernt. Elena vergaß allen Streit. Sie versuchte, Dick zu helfen,
Vickie von Tyler wegzuziehen. Tyler schrie vor Angst. Die Tür zum Klassenzimmer wurde aufgerissen.
Alaric rief etwas.
„Verletzt sie nicht. Seid vorsichtig! Sie bekommt einen epileptischen Anfall! Wir müssen sie hinlegen!“
Vickie versuchte wieder zuzubeißen, als er mit anpacken wollte. Das zierliche Mädchen war plötzlich
stärker als alle zusammen. Die anderen verloren die Kontrolle über sie. Sie würden es nicht länger schaffen,
sie festzuhalten. Elena war enorm erleichtert, als sie hinter sich eine vertraute Stimme hörte.
„Vickie, beruhige dich. Es ist alles in Ordnung. Entspann dich jetzt.“
Stefan hatte Vickies Arm gepackt und redete beruhigend auf sie ein. Jetzt wagte Elena ihren Griff zu
lockern. Zunächst schien es, als würde Stefans Plan gelingen. Vickies verkrampfte Finger lösten sich, und
man konnte sie von Tyler wegheben. Während Stefan mit ihr sprach, wurde ihr Körper schlaff, und sie
schloß die Augen.
„Das ist gut. Du bist jetzt ganz müde. Du darfst schlafen.“
Aber mit einemmal war der Bann, den Stefan über sie hatte, gebrochen. Vickie riß die Augen weit auf. Ihr
Blick war haßerfüllt. Sie fauchte Stefan an und begann mit frischer Kraft weiterzukämpfen.
Fünf oder sechs Mann wurden schließlich gebraucht, um sie festzuhalten, während die Polizei benachrichtigt
wurde. Elena blieb, wo sie war. Sie redete mit Vickie und schrie sie manchmal an, bis die Polizei kam. Es
half alles nichts.
Dann trat sie zurück und bemerkte zum erstenmal die neugierige Menge, die sich um sie gesammelt hatte.
Bonnie stand in der ersten Reihe, den Mund vor Staunen weit aufgerissen, genau wie Caroline.
„Was um alles in der Welt ist denn da passiert?“ fragte Bonnie, während die Polizeibeamten Vickie
wegtrugen.
Elena rang leicht nach Atem und strich sich eine lose Haarsträhne aus den Augen. „Sie ist ausgeflippt und
hat versucht, Tyler auszuziehen.“
„Na, dazu muß man allerdings auch verrückt sein“, meinte Bonnie achselzuckend und lächelte Caroline über
die Schulter spöttisch zu.
Elenas Knie waren weich wie Gummi, und ihre Hände zitterten. Sie fühlte, wie ein Arm um sie gelegt
wurde, und lehnte sich dankbar an Stefan. Dann sah sie zu ihm hoch.
„Epilepsie?“ fragte sie mit ungläubigem Spott.
Er blickte den Flur hinunter Vickie nach. Alaric Saltzman schrie immer noch irgendwelche Anweisungen
und ging anscheinend mit ihr. Die Gruppe verschwand um eine Ecke.
„Ich glaube, die Klasse wurde soeben entlassen“, sagte Stefan. „Gehen wir.“
Schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, gingen sie zur Pension. Elena runzelte die Stirn.
Sie warf Stefan Blicke zu, sprach jedoch erst, als sie allein in seinem Zimmer waren.
„Stefan, was soll das alles? Was ist mit Vickie los?“
„Das habe ich mich auch schon gefragt. Es gibt nur eine mögliche Erklärung. Sie wird immer noch
angegriffen.“
„Du meinst, Damon...? Oh, mein Gott! Ich hätte ihr von dem Eisenkraut geben sollen. Ich hätte erkennen
müssen...“
„Das hätte auch nicht geholfen. Glaub mir.“ Elena hatte sich zur Tür gewandt, als wollte sie sofort zu
Vickie, doch er zog sie sanft zurück. „Einige Menschen sind leichter zu beeinflussen als andere, Elena.
Vickies Wille war nie sehr stark. Jetzt gehört er Damon.“
Langsam setzte Elena sich. „Und es gibt nichts, was wir tun können? Wird sie wie... du und Damon
werden?“
„Das kommt darauf an.“ Sein Tonfall war düster. „Es liegt nicht nur daran, wieviel Blut sie verliert. Sie
braucht sein Blut in ihren Adern, um die Verwandlung vollständig zu machen. Sonst wird sie wie Mr.
Tanner enden. Ausgesaugt, nutzlos und - tot.“
Elena holte tief Luft. Da gab es noch etwas anderes, was sie ihn schon lange hatte fragen wollen. „Als du
mit Vickie gesprochen hast, dachte ich zuerst, es würde klappen. Du hast deine geheimen Kräfte bei ihr
angewandt, stimmt's?“
„Ja.“
„Aber dann ist sie wieder ausgeflippt. Was ich meine...
Stefan, du bist doch wieder in Ordnung? Deine Kräfte sind zurückgekehrt?“
Er antwortete nicht. Aber das reichte ihr. „Warum hast du mir nichts erzählt? Was ist los?“ Sie ging um ihn
herum und kniete sich vor ihn, so daß er sie ansehen mußte.
„Ich brauche eine Weile, um mich vollständig zu erholen, das ist alles. Mach dir keine Sorgen deswegen.“
„Aber ich mache mir Sorgen! Gibt es etwas, was wir tun können?“
„Nein“, sagte er. Aber er senkte den Blick.
Elena verstand. „Oh“, flüsterte sie und setzte sich zurück. Dann griff sie wieder nach ihm, versuchte, seine
Hände zu packen. „Stefan, hör mir zu...“
„Elena, nein. Verstehst du denn nicht? Es ist gefährlich für beide von uns, aber besonders für dich. Du
könntest dabei sterben, es könnte sogar noch Schlimmeres geschehen.“
„Nur, wenn du die Kontrolle über dich verlierst. Und das wirst du nicht. Küß mich.“
„Nein!“ Sein Tonfall war hart. Etwas versöhnlicher fügte er hinzu: „Ich werde heute sofort nach Anbruch
der Dunkelheit auf die Jagd gehen.“
„Ist das dasselbe?“ fragte sie und kannte die Antwort. Nur menschliches Blut verlieh die geheimen Kräfte.
„Stefan, bitte. Siehst du denn nicht, was ich tun möchte? Möchtest du es nicht auch?“
„Das ist nicht fair.“ Sein Blick war gequält. „Das weißt du genau, Elena. Du weißt, wie sehr...“ Die Hände
zu Fäusten geballt, wandte er sich ab.
„Warum dann nicht, Stefan? Ich brauche...“ Sie konnte den Satz nicht beenden. Konnte ihm nicht erklären,
was sie fühlte. Sie sehnte sich nach dem Zusammensein mit ihm, nach seiner Nähe. Sie mußte wieder daran
erinnert werden, wie es mit ihm war, um die Erinnerung an den Tanz in ihrem Traum und an Damons
Umarmung wegzuwischen. „Ich brauche das Gefühl, dir wieder so nah zu sein wie sonst niemandem“,
flüsterte sie.
Stefan hatte den Blick immer noch abgewandt und schüttelte den Kopf.
„Nun gut.“ Elena fühlte, wie sie Trauer und Angst überfielen, als sie sich geschlagen geben mußte. Am
meisten fürchtete sie für Stefan, der ohne seine geheimen Kräfte so verwundbar war, daß die Bürger von
Fell's Church ihn verletzen konnten. Aber ein wenig Angst hatte sie auch um sich selbst.
12. KAPITEL Die Stimme sprach Elena an, als sie nach einer Dose Preiselbeersauce im Supermarktregal griff.
„Schon Preiselbeeren?“
Elena sah auf. „Hallo, Matt. Ja. kante Judith veranstaltet am Sonntag vor dem Erntedankfest gern die
Generalprobe. Das weißt du doch. Sie glaubt, wenn sie übt, kann beim Festessen nichts mehr schiefgehen.“
„Wie zum Beispiel, daß einem erst eine Viertelstunde vor dem Essen einfällt, daß man die Preiselbeersauce
vergessen hat?“
„Eine Viertelstunde?“ Elena schaute auf die Uhr. „Eher fünf Minuten vorher.“ Matt lachte. Elena gefiel das.
Es war ein Geräusch, das sie schon viel zu lange nicht mehr gehört hatte. Sie stellte sich an der Kasse an.
Doch als sie bezahlt hatte, zögerte sie und blickte zurück.
Matt stand am Zeitungsstand und war anscheinend sehr vertieft. Etwas an seinen gesenkten Schultern
veranlaßte Elena, zu ihm zu gehen.
Sie stieß mit dem Finger gegen die Zeitschrift, die er in den Händen hielt. „Und was ißt du heute mittag?“
Als er unschlüssig zum Ausgang schaute, fügte sie hinzu: „Bonnie wird auch dort sein. Sonst nur die
Familie. Und Robert, Tante Judiths Verlobter, natürlich. Er müßte inzwischen angekommen sein.“ Sie
wollte damit sagen, daß Stefan nicht kam. Elena war sich immer noch nicht sicher, wie die Dinge zwischen
Matt und Stefan eigentlich standen. Zumindest redeten sie inzwischen wieder miteinander.
„Ach, ich mach mir selbst was. Mom fühlt sich nicht so gut.“ Dann fuhr er fort, wie um das Thema zu
wechseln. „Wo ist denn Meredith?“
„Bei ihrer Familie. Sie besuchen Verwandte oder so was.“ Elena antwortete ausweichend, weil Meredith
selbst nichts Genaues gesagt hatte. Sie redete selten über ihre Familie. „Was hältst du also davon? Möchtest
du Tante Judiths Kochkunst nicht mal wieder genießen?“
„Um der alten Zeiten willen?“
„Um der alten Freundschaft willen“, betonte Elena, nachdem sie einen kurzen Moment gezögert hatte, und
lächelte ihn an.
Matt blinzelte kurz und schaute weg. „Wie könnte ich eine solche Einladung ausschlagen“, erwiderte er mit
merkwürdig belegter Stimme. Aber als er die Zeitschrift weglegte und ihr folgte, lächelte auch er.
Bonnie begrüßte ihn fröhlich. Tante Judith schien ebenfalls erfreut, Matt wieder in ihrer Küche begrüßen zu
können.
„Das Essen ist fast fertig“, verkündete sie und nahm Elena den Einkaufsbeutel ab. „Robert ist vor ein paar
Minuten gekommen. Warum geht ihr nicht schon mal ins Eßzimmer? Und, Elena, nimm noch einen Stuhl
mit. Mit Matt sind wir sieben.“
„Du hast dich verzählt, wir sind sechs, Tante Judith“, berichtigte Elena sie belustigt. „Du und Robert,
Margaret und ich, Matt und Bonnie.“
„Ja, Liebes. Aber Robert hat auch einen Gast mitgebracht. Sie haben bereits Platz genommen.“
Elena hörte die Worte, während sie durch die Tür ins Eßzimmer trat. Doch sie brauchte einen Moment, um
sie zu verstehen. Trotzdem wußte sie es. Irgendwie wußte sie, was sie erwartete.
Robert stand da, eine Flasche Wein in der Hand, und spielte den zufriedenen Gastgeber. Am Tisch saß
Damon.
Elena merkte, daß sie abrupt stehengeblieben war. Bonnie rannte von hinten in sie rein. Elena mußte ihre
Beine zwingen, ihr wieder zu gehorchen. Ihr Verstand spielte nicht mit. Er war wie betäubt.
„Ah, Elena.“ Robert streckte die Hand aus. „Das ist Elena, das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe“,
sagte er zu Damon. „Elena, das ist Damon...“
„Smith“, ergänzte Damon.
„Oh, ja. Er geht auf meine alte Uni. Ich habe ihn zufällig getroffen. Da er sich heute ein wenig einsam
fühlte, habe ich ihn kurzerhand zu uns eingeladen. Damon, das sind ein paar Freunde von Elena, Matt und
Bonnie.“
„Hallo“, sagte Matt. Bonnie starrte erst Damon wortlos an, dann Elena.
Elena versuchte verzweifelt, sich unter Kontrolle zu bringen. Sie wußte nicht, ob sie schreien, aus dem
Zimmer laufen oder das Glas Wein, das Robert eingoß, Damon ins Gesicht schleudern sollte Im Moment
war sie zu zornig, um Angst zu haben.
Matt holte einen Stuhl aus dem Wohnzimmer. Elena wunderte sich, daß er Damons Anwesenheit so einfach
hinnahm. Dann fiel ihr ein, daß er nicht auf Alarics Party gewesen war. Er konnte nicht wissen, was
zwischen Stefan und „dem Besucher von der Uni“ vorgefallen war.
Bonnie dagegen war der Panik nahe. Sie schaute Elena immer noch fragend an. Damon war aufgestanden
und hielt ihr den Stuhl hin.
Bevor Elena etwas antworten konnte, erklang Margarets dünnes Stimmchen von der Tür her. „Willst du
mein Kätzchen sehen, Matt? Tante Judith sagt, ich darf es behalten. Ich werde es Schneeball nennen.“
Elena drehte sich um und hatte eine Eingebung.
„Sie ist süß.“ Matt beugte sich hinunter und streichelte das kleine, weiße Fellknäuel in Margarets Armen. Er
war überrascht, als Elena ihm das Kätzchen praktisch unter der Nase entriß.
„Komm, Margaret. Zeigen wir dein Kätzchen mal Roberts neuem Freund“, sagte sie und stieß das Tier
Damon praktisch ins Gesicht.
Die Hölle brach los. Schneeball schwoll zur doppelten Größe an, als sich ihr Fell sträubte. Sie machte ein
zischendes Geräusch, wie Wasser, das auf eine heiße Ofenplatte fällt. Dann verwandelte sie sich in ein
fauchendes, spuckendes Ungeheuer, das nach Elena kratzte, nach Damon mit den Krallen ausschlug und die
Wand hochging, bevor es aus dem Zimmer raste.
Einen kurzen Moment hatte Elena die Genugtuung, daß sich Damons schwarze Augen wie unter Schock ein
wenig weiter öffneten als gewöhnlich. Dann senkten sich seine Lider und verbargen seinen Blick. Elena
wandte sich den anderen im Zimmer zu.
Margaret öffnete den Mund, um einen Schrei loszulassen. Robert versuchte, das zu verhindern, indem er sie
mit sich schleppte, um nach der Katze zu suchen. Bonnie stand völlig verzweifelt mit dem Rücken platt an
die Wand gepreßt.
„Ich glaube, du hast kein Händchen für Tiere“, sagte Elena zu Damon und setzte sich an den Tisch. Sie
nickte Bonnie zu, die sich zögernd von der Wand löste und schnell Platz nahm, bevor Damon ihren Stuhl
berühren konnte. Ihr Blick folgte ihm, als er sich selber setzte.
Nach ein paar Minuten kehrte Robert mit der verheulten Margaret zurück und blickte Elena streng an. Matt
zog sich schweigend einen Stuhl heran. Seine hochgezogenen Augenbrauen sprachen Bände.
Als Tante Judith hinzukam und das Essen begann, schaute Elena den Tisch rauf und runter. Ein heller
Schleier schien über allem zu liegen. Ein Gefühl der Unwirklichkeit überkam sie. Wie eine Szene aus einem
Werbefilm, dachte sie. Eine stinknormale, amerikanische Familie beim Truthahnessen.
Da hätten wir zunächst die leicht aufgeregte, altjüngferliche Tante, die sich Sorgen macht, ob die Erbsen zu
matschig sind und die Brötchen vielleicht zu dunkel. Dann den gutgelaunten zukünftigen Onkel der Familie,
eine hellblonde Nichte im Teenageralter und ihre flachshaarige kleine Schwester. Ferner einen blauäugigen,
sympathischen Jungen von nebenan, eine temperamentvolle Freundin und einen toll aussehenden Vampir,
der gerade die Röstkartoffeln weiterreicht. Wie gesagt, ein ganz normaler, amerikanischer Haushalt.
Bonnie verbrachte die erste Hälfte des Essens damit, Elena wortlos mit den Augen zu signalisieren: ,Was
soll ich tun?’
Als Elena nur zurückfunkte ,nichts’, ergab sie sich in ihr Schicksal und begann zu essen.
Elena hatte selbst keine Ahnung, was sie unternehmen sollte. Es war für sie demütigend und beleidigend, so
in der Falle zu sitzen. Und Damon wußte das genau. Tante Judith und Robert waren seinem Charme völlig
ausgeliefert. Er machte Komplimente über das Essen und redete mit Robert über dessen alte Uni. Selbst
Margaret lächelte ihn jetzt an, und bald würde auch Bonnie kapitulieren.
„Fell's Church feiert nächste Woche seinen Gründungstag“, erzählte Tante Judith ihm gerade. Ihre dünnen
Wangen waren vor Aufregung rosig überhaucht. „Es wäre sehr nett, wenn Sie zu unserem Fest kommen
könnten.“
„Gern“, erwiderte Damon warm.
Tante Judith schien sich zu freuen. „In diesem Jahr spielt Elena dabei eine wichtige Rolle. Sie wurde
auserwählt, den Gründungsgeist von Fell's Church zu verkörpern.“
„Sie müssen sehr stolz auf sie sein“, erwiderte Damon.
„Oh, das sind wir alle“, erklärte Tante Judith. „Und Sie werden versuchen zu kommen?“
Elena, die gerade wütend viel zuviel Butter auf ihr Brötchen strich, unterbrach sie: „Ich habe Neuigkeiten
von Vicki. Erinnerst du dich? Das ist das Mädchen, das angegriffen wurde.“ Sie schaute bedeutungsvoll auf
Damon.
Es entstand eine kurze Stille. Dann sagte Damon: „Tut mir leid, aber ich kenne sie nicht.“
„Aber sicher doch. Sie ist ungefähr so groß wie ich, hat braune Augen, hellbraunes Haar ... ist auch egal.
Jedenfalls geht es ihr schlechter.“
„Die Arme“, meinte Tante Judith bedauernd.
„Ja. Die Ärzte haben keine Erklärung dafür. Ihr Zustand verschlechtert sich zusehends, als ob sie immer
noch angegriffen würde.“ Elena sah Damon unverwandt an, während sie sprach, aber er zeigte nur höfliches
Interesse. „Nimm doch noch etwas von der köstlichen Truthahnfüllung.“ Sie hielt ihm die Schüssel hin.
„Nein, danke. Aber ich werde mich hiervon bedienen.“ Er hielt einen Löffel voll Preiselbeersauce in den
Kerzenschein, so daß das Licht hindurchschien. „Eine aufreizende Farbe, findest du nicht?“
Bonnie hatte wie die anderen auf die Kerze geschaut, als Damon seine Show abzog. Aber Elena fiel auf, daß
sie als einzige den Blick nicht wieder senkte. Sie blickte weiter in die tanzende Flamme, und langsam wurde
ihr Gesichtsausdruck leer.
Oh. nein, dachte Elena, während eine böse Vorahnung sie beschlich. Sie hatte diesen Blick schon einmal
erlebt und versuchte, Bonnie abzulenken. Doch die Freundin sah nur noch die Flamme der Kerze.
„...und die Kleinen werden ein Spiel über die Geschichte unseres Ortes aufführen“, sagte Tante Judith
gerade zu Damon. „Aber die Schlußzeremonie bleibt den älteren Schülern vorbehalten. Elena, wie viele
Oberstufenschüler werden in diesem Jahr kleine Vorträge halten?“
„Nur drei.“ Elena mußte sich umdrehen, um ihr zu antworten. Während sie in das lächelnde Gesicht der
Tante blickte, hörte sie die Stimme.
„Tod.“
Tante Judith reagierte erschrocken. Robert, der die Gabel gerade zum Mund führen wollte, hielt damit auf
halbem Weg inne. Und Elena sehnte verzweifelt und wider jede Hoffnung Meredith herbei.
„Tod“, sagte die Stimme wieder. „Der Tod ist in diesem Haus.“
Elena sah sich in der Runde um und merkte, daß es keinen gab, der ihr half. Wie auf einer Photographie
eingefroren, starrten alle bewegungslos Bonnie an.
Bonnie selbst starrte weiter in die Flamme. Ihr Gesicht war völlig ausdruckslos, die Augen waren weit
aufgerissen. Jetzt richtete sie ihren leeren Blick auf Elena. „Dein Tod“, fuhr die unheimliche Stimme fort.
„Auf dich wartet der Tod, Elena. Es ist...“
Bonnie schien zu ersticken. Dann fiel sie mit einem Ruck nach vorn und landete beinahe mit dem Gesicht
auf ihrem Teller.
Einen Moment herrschte noch Starre, dann bewegten sich alle gleichzeitig. Robert sprang auf, packte
Bonnie an der Schulter und hob sie hoch. Ihre Haut hatte eine bläulichweiße Färbung, ihre Lider waren
geschlossen. Tante Judith flatterte um sie herum und wischte ihr das Gesicht mit einer feuchten Serviette ab.
Damon beobachtete die Szene gedankenvoll mit halbgeschlossenen Augen.
„Sie wird sicher gleich wieder in Ordnung kommen“, erklärte Robert schließlich sichtbar erleichtert. „Ich
glaube, es war nur eine kleine Ohnmacht. Vielleicht eine Art hysterischer Anfall.“
Aber Elena konnte erst wieder richtig atmen, als Bonnie die Augen wie verschlafen öffnete und fragte,
warum sie sie alle anstarrten.
Das Essen war damit endgültig beendet. Robert bestand darauf, daß Bonnie sofort nach Hause gebracht
wurde. In dem ganzen Aufbruchstumult, der folgte, fand Elena Zeit, Damon ein Wort zuzuflüstern: „Raus!“
Er hob die Augenbrauen. „Was?“
„Ich sagte, raus! Jetzt. Mach, daß du wegkommst, oder ich erzähle ihnen, daß du ein Mörder bist.“
Er sah sie beleidigt an. „Findest du nicht, daß man einen Gast mit etwas mehr Rücksicht behandeln sollte?“
Jedoch ein Blick in ihr entschlossenes Gesicht genügte, und er zuckte lächelnd mit den Achseln.
„Danke für die nette Einladung zum Essen“, sagte er Tante Judith, die an ihm vorbei eine Decke zum Auto
trug. „Ich hoffe, ich kann mich eines Tages dafür revanchieren.“ Zu Elena fügte er hinzu: „Wir sehen uns
noch.“
Nun, das war deutlich genug, dachte Elena, während Robert mit einem ernsten Matt und einer schläfrigen
Bonnie im Auto wegfuhr. Tante Judith telefonierte mit Mrs. McCullough.
„Ich kann mir nicht erklären, was die Mädchen haben“, seufzte sie. „Erst Vickie, jetzt Bonnie... und Elena
war in letzter Zeit auch nicht mehr sie selbst...“
Während Tante Judith redete und Margaret ihr vermißtes Kätzchen suchte, lief Elena unruhig auf und ab.
Sie mußte unbedingt Stefan anrufen. Das war das wichtigste. Sie machte sich keine Sorgen um Bonnie. Die
anderen Male, wo ihr das passiert war, hatte es ihr auch keinen bleibenden Schaden zugefügt. Und Damon
würde heute nacht Besseres vorhaben, als ihre Freunde zu belästigen.
Er würde herkommen, um den Lohn für seine geleistete Gefälligkeit zu kassieren. Elena wußte genau, daß
seine letzten Worte so gemeint gewesen waren. Und das bedeutete, sie mußte Stefan alles beichten, denn sie
brauchte ihn heute nacht. Sie brauchte seinen Schutz.
Doch was konnte Stefan überhaupt tun? Trotz all ihrer Bitten und Einwände hatte er sich geweigert, letzte
Woche ihr Blut zu trinken. Er hatte darauf bestanden, daß seine übernatürlichen Kräfte auch so
zurückkehren würden. Aber Elena wußte, daß er noch sehr verletzlich war. Selbst wenn Stefan hier wäre,
was könnte er ausrichten, um Damon aufzuhalten? Konnte er überhaupt etwas tun, ohne selbst getötet zu
werden?
Bonnies Haus bot keine Zuflucht. Und Meredith war verreist. Es gab niemanden, der ihr helfen, niemanden,
dem sie vertrauen konnte. Aber der Gedanke, hier allein zu warten und zu wissen, daß Damon kommen
würde, war ihr unerträglich.
Sie hörte, wie Tante Judith den Hörer auflegte. Automatisch ging sie in Richtung Küche, Stefans
Telefonnummer im Kopf. Dann hielt sie inne, drehte sich langsam um und warf einen Blick in das
Wohnzimmer, das sie gerade verlassen hatte. Ihr Schlafzimmer lag genau darüber. Es waren die beiden
einzigen Räume des ursprünglichen Hauses, die den Brand während des Bürgerkrieges überstanden hatten.
Das restliche Haus war neu erbaut worden.
Während Elena den vertrauten Raum mit seiner alten Einrichtung musterte, hatte sie plötzlich eine Idee.
Mit wild klopfendem Herzen rannte sie zur Treppe.
„Tante Judith!“
Die Tante hielt mitten auf den Stufen inne.
„Tante Judith, sag mir eins. Ist Damon auch im Wohnzimmer gewesen?“
„Wie bitte?“ fragte die Tante verwirrt.
„Hat Robert Damon mit ins Wohnzimmer genommen? Bitte denk nach, Tante Judith! Ich muß es wissen.“
„Wieso? Nein, ich glaube nicht. Eigentlich bin ich ganz sicher. Sie kamen rein und sind gleich ins Eßzimmer
gegangen. Elena, warum um alles in der Welt...?“ Die letzten Worte gingen unter, als Elena sie stürmisch
umarmte und an sich drückte.
„Tut mir leid, Tante Judith. Ich bin nur so glücklich“, sagte sie. Lächelnd ging sie die Stufen hinunter.
„Nun, ich bin froh, daß wenigstens eine zufrieden ist, so wie das Essen gelaufen ist. Obwohl sich dieser
nette Bursche, dieser Damon, offenbar gut unterhalten hat. Weißt du, Elena, er schien sehr von dir
eingenommen zu sein, trotz deines Verhaltens ihm gegenüber.“
Elena drehte sich zu ihr um. „So?“
„Also, ich finde, du solltest ihm wenigstens eine Chance geben. Ich fand ihn sehr nett. Das ist einjunger
Mann, den ich gern öfter in deiner Begleitung sehen würde.“
Elena würgte einen Moment, dann gelang es ihr, das hysterische Lachen zu unterdrücken, das in ihr aufstieg.
Ihre Tante schlug allen Ernstes vor, daß sie Stefan gegen Damon eintauschen sollte... weil Damon mehr
Sicherheit bot. Ein anständiger, junger Mann, wie er ihrer Tante gefiel. „Tante Judith“, begann sie etwas
atemlos, aber dann sah sie ein, daß es zwecklos war. Sie schüttelte stumm den Kopf, warf entmutigt die
Hände hoch und sah wortlos zu, wie ihre Tante die Treppe hinaufging.
Normalerweise schlief Elena bei geschlossener Tür. Aber heute nacht ließ sie sie offen und starrte im Bett
liegend auf den dunklen Flur. Abwechselnd blickte sie hin und wieder auf die Leuchtziffern der Uhr auf
ihrem Nachttisch.
Es bestand nicht die geringste Gefahr, daß sie einschlief. Während die Minuten dahinkrochen, wünschte sie
fast den Schlaf herbei. Die Zeit verging quälend langsam. Elf Uhr... halb zwölf... Mitternacht. Ein Uhr...
halb zwei... zwei.
Um zehn Minuten nach zwei hörte sie ein Geräusch.
Immer noch im Bett liegend lauschte sie auf das leise Rascheln, das von unten heraufdrang. Sie hatte geahnt,
daß er einen Weg finden würde, hineinzukommen. Wenn Damon sich einmal etwas vorgenommen hatte,
konnte ihn kein Schloß aussperren.
Die Musik aus dem Traum in jener Nacht bei Bonnie klang leise in ihrem Ohr. Eine Handvoll silberheller,
einfacher Noten. Sie weckte merkwürdige Gefühle in ihr. Fast wie in Trance oder im Traum gefangen, stand
sie auf und trat auf die Schwelle.
Der Flur war dunkel, aber ihre Augen hatten lange genug Zeit gehabt, sich daran zu gewöhnen. Sie konnte erkennen, wie eine schwarze Gestalt die Treppe hochkam. Als sie die oberste Stufe erreicht hatte, sah Elena das unwiderstehliche, tödliche Lächeln. Sie wartete ernst, bis er sie erreicht hatte und ihr dicht gegenüberstand. lm Haus war es totenstill. Gegenüber schlief Margaret, am anderen Ende des Flurs Tante Judith, ohne zu ahnen, was vor ihrer Tür passierte. Damon schwieg. Aber seine brennenden, dunklen Augen musterten intensiv das lange weiße Nachthemd mit dem hohen Kragen, das sie trug. Elena hatte es ausgewählt, weil es von all ihren Nachthemden am wenigsten sexy war, doch Damon schien es sehr zu gefallen. Sie zwang sich, unter seinem Blick ruhig stehenzubleiben. Ihr Mund war trocken, und ihr Herz klopfte dumpf. Jetzt war es soweit. Noch eine Minute, und sie würde es wissen. Ohne ein Wort oder eine Geste der Einladung zog sie sich von der Schwelle in ihr Zimmer zurück. Sie sah das freudige Aufflackern in seinen Augen. Dann folgte er ihr... und blieb abrupt stehen. Damon hielt verwirrt vor der Tür inne. Er versuchte vergebens, einen Schritt nach vorn zu machen. Sein Blick war erst überrascht, dann verwirrt und schließlich ärgerlich. Er musterte die Decke und die Schwelle. Als er merkte, was los war, fauchte er wütend und entblößte die Zähne. Elena war in ihrem Zimmer in Sicherheit und lachte leise. Es hatte geklappt. „Mein Zimmer und das Wohnzimmer unten sind alles, was von dem ursprünglichen Haus übriggeblieben ist“, erklärte sie ihm. „Und das macht es zu einem anderen Ort. Natürlich bist du nicht hierher eingeladen worden. Und das wird auch nie geschehen.“ Damons Brust hob und senkte sich vor Zorn. Seine Nasenflügel blähten sich, sein Blick war wild. Elena konnte seine maßlose Wut fast körperlich spüren. Er machte den Eindruck, als wollte er die Wände zu ihrem Zimmer mit bloßen Händen einreißen. Triumph und Erleichterung ließen Elena leichtsinnig werden. „Du gehst jetzt besser. Hier gibt es nichts für dich zu holen.“ Eine Minute länger brannte sich sein Blick in ihre Augen, dann wandte er sich ab. Aber er ging nicht zur Treppe, um das Haus wieder zu verlassen, sondern machte einen Schritt über den Flur und legte die Hand auf den Türknopf zu Margarets Zimmer. Elena lief nach vorn, ehe sie sich bewußt war, was sie tat. Sie blieb mitten in der Tür stehen und griff Halt suchend nach dem Rahmen. Ihr Atem kam in harten Stößen. Damons Kopf fuhr herum. Er lächelte sie lässig und grausam an. Während er den Knopf langsam drehte, blieb sein Blick auf Elena gerichtet. „Du hast die Wahl“, sagte er. Elena war wie erstarrt. In ihr breitete sich eine eisige Kälte aus. Margaret war noch ein Baby. Er konnte das nicht ernst meinen. Niemand konnte ein solches Monster sein und einem vierjährigen Mädchen weh tun. Aber es lag keinerlei Sanftheit oder Mitleid in Damons Gesicht. Er war ein Jäger, ein Killer, und die Schwachen waren seine Beute. Sie erinnerte sich an das schreckliche, tierähnliche Fauchen, das seine hübschen Gesichtszüge entstellt hatte, und wußte, daß sie ihm Margaret niemals ausliefern konnte. Danach schien alles wie in Zeitlupe zu geschehen. Sie sah Damons Hand auf dem Türknopf, sah seine mitleidlosen Augen, trat über die Schwelle und verließ den einzigen Platz, an dem sie sich sicher fühlen konnte. Der Tod ist im Haus, hatte Bonnie gesagt. Und jetzt traf Elena den Tod aus freien Stücken. Sie beugte den Kopf, um die hilflosen Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen traten. Es war alles vorbei. Damon hatte das grausame Spiel endgültig gewonnen. Sie sah nicht hin, als er zu ihr trat. Aber sie fühlte, wie sich die Luft um sie herum bewegte, und begann zu zittern. Dann wurde sie von endloser, weicher Dunkelheit eingehüllt wie von den riesigen Schwingen einer Krähe und langsam auf ihr Bett niedergelegt. 13. KAPITEL Elena erwachte und öffnete die schweren Lider. Zwischen den Ritzen der Vorhänge drang Licht herein. Es fiel ihr schwer, sich zu bewegen, also blieb sie liegen und dachte darüber nach, was letzte Nacht geschehen war.
Damon! Damon war zu ihr gekommen und hatte Margaret bedroht. Und deshalb hatte Elena sich ihm ausgeliefert. Er hatte gewonnen. Aber warum hatte er es nicht zu Ende gebracht? Elena hob träge die Hand und tastete nach ihrem Hals. Sie wußte bereits, was sie vorfinden würde. Ja. da waren sie: die beiden kleinen Wunden, die leicht schmerzten, als ihre Finger sie berührten. Und doch war sie immer noch am Leben. Kurz bevor er seine Drohung wahr machen konnte, hatte er innegehalten. Warum? Die Erinnerungen an die letzten Stunden - wirr und verschwommen. Nur Bruchstücke waren klar. Damons Augen, die ihren ganzen Horizont füllten. Der scharfe Stich in ihren Nacken. Und später, Damon, wie er sein Hemd öffnete. Damons Blut, das aus einem kleinen Schnitt in seinem Hals quoll. Er hatte sie gezwungen, sein Blut zu trinken. Wenn „gezwungen“ überhaupt das richtige Wort war. Sie konnte sich nicht erinnern, sich gewehrt oder Abscheu empfunden zu haben. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie es selbst gewollt. Aber sie war weder tot noch ernsthaft geschwächt. Er hatte sie nicht in einen Vampir verwandelt. Und das konnte sie nicht verstehen. Er besitzt keinerlei Moral und kein Gewissen, dachte sie. Also war es sicherlich nicht Mitleid gewesen, was ihn aufgehalten hatte. Wahrscheinlich wollte er das Spiel nur verlängern, wollte sie noch mehr leiden lassen, bevor er sie tötete. Vielleicht wollte er sie auch in ein Geschöpf verwandeln, wie Vickie es geworden war. Mit einem Fuß im Schattenreich und mit dem anderen noch im Licht. Und auf diese Art langsam wahnsinnig werdend. Eins war sicher: Elena durfte sich nicht einreden, daß er aus Nachsicht gehandelt hatte. Damon war zu einer solchen Regung nicht fähig. Und außer zu sich selbst, konnte er auch keinerlei Liebe zu jemandem empfinden. Elena stieß die Decken zur Seite und kroch aus dem. Bett. Sie hörte Tante Judith auf dem Flur. Es war Montagmorgen, und sie mußte sich für die Schule fertigmachen. 27. November (Mittwoch)
Liebes Tagebuch,
es hat keinen Zweck, daß ich so tue, als hätte ich keine Angst. Mir ist furchtbar elend zumute. Morgen ist
Erntedankfest und zwei Tage später das Gründerfest. Und ich habe immer noch nicht herausgefunden, wie
wir Tyler und Caroline aufhalten können.
Ich bin mit meinem Latein am Ende. Wenn es mir nicht gelingt, Caroline mein Tagebuch abzunehmen, wird
sie vor allen daraus vorlesen. Die perfekte Gelegenheit dazu hat sie. Sie ist nämlich eine der drei
Oberstufenschüler, die während der Schlußzeremonie Gedichte vortragen werden. Ausgewählt vom
Schulkomitee, in dem Tylers Vater sitzt, möchte ich hinzufügen. Ich frage mich, was er von der ganzen Sache
halten wird, wenn der schöne Gründertag ins Wasser fällt.
Aber was für einen Unterschied macht das schon? Mir muß bald ein Plan einfallen, sonst sind wir verloren.
Und Stefan wird fort sein. Aus der Stadt gejagt von den braven Bürgern von Fell’s Church. Oder sogar tot,
wenn es ihm nicht gelingt, seine übernatürlichen Kräfte zurückzugewinnen. Wenn er stirbt, werde ich auch
sterben. So einfach ist das.
Das heißt, ich muß einen Weg finden, das Tagebuch zurückzubekommen. Es muß mir einfach gelingen!
Aber wie?
Ich weiß, worauf du wartest, liebes Tagebuch. Es gibt eine Lösung - Damon. Ich muß nur zustimmen, seinen
Preis zu zahlen.
Doch du verstehst vielleicht nicht, wie sehr mir das angst macht. Nicht nur, weil ich mich vor Damon
fürchte, sondern mehr noch vor dem, was passieren wird, wenn er und ich wieder zusammenkommen.
Ich habe Angst, was dann aus mir werden wird - und aus mir und Stefan.
Ich kann nicht länger darüber reden. Es regt mich zu sehr auf. Ich fühle mich so verwirrt, verlassen und
einsam. Es gibt niemanden, an den ich mich wenden oder mit dem ich reden könnte. Niemanden, der mich
verstehen würde... Was soll ich nur tun?
Donnerstag, 28. November, (11 Uhr 30)
Liebes Tagebuch, heute sehe ich einiges klarer. Sicher kommt das daher, weil ich eine Entscheidung
getroffen habe.
Ich werde Stefan die ganze Geschichte erzählen.
Das ist alles, was ich noch tun kann. Am Samstag ist der Gründertag, und mir ist kein Plan eingefallen.
Doch Stefan weiß vielleicht Rat, wenn er erfährt, wie verzweifelt die Situation ist. Ich werde morgen zu
seiner Pension gehen und ihm alles beichten, wie ich es schon längst hätte tun sollen.
Rückhaltlos alles. Auch die Sache mit Damon.
Ich weiß nicht, wie er reagieren wird, und mir fällt dabei sein Gesichtsausdruck in meinen Träumen ein.
Soviel Bitterkeit und Ärger lag darin. Seine Liebe zu mir schien verschwunden zu sein. Wenn er mich
morgen so ansieht...
Oh, ich habe solche Angst. Mein Magen brennt. Ich konnte das Erntedankfestmahl kaum anrühren - und bin
furchtbar nervös und zappelig. So als würde sich mein Körper jeden Moment in tausend winzige Teile
auflösen. An Schlaf ist heute nacht überhaupt nicht zu denken.
Bitte, bitte laß Stefan für alles Verständnis haben. Bitte, mach, daß er mir vergibt.
Das Lustigste an der Sache ist, daß ich für ihn ein besserer Mensch werden wollte. Ich wollte seine Liebe
wert sein. Stefan hat feste Vorstellungen von Ehre und davon, was richtig und falsch ist. Und jetzt? Wenn er
herausfindet, daß ich ihn angelogen habe? Was wird er von mir denken? Wird er mir glauben, daß ich ihn
nur schützen wollte? Wird er mir jemals wieder vertrauen können?
Morgen werde ich es wissen. Ich wünschte, es wäre schon alles vorbei. Ich habe keine Ahnung, wie ich es
bis dahin aushalten soll.
Elena schlich aus dem Haus, ohne Tante Judith zu sägen, wohin sie ging. Sie hatte keine Lust mehr zu lügen, wollte sich aber auch nicht Tante Judiths Vorhaltungen anhören müssen, wenn diese erfuhr, daß sie zu Stefan wollte. Seit Damon Gast im Haus gewesen war, hatte Judith von ihm geschwärmt und mehr oder weniger deutliche Anspielungen in jedem Gespräch untergebracht. Robert war genauso schlimm. Manchmal kam es Elena so vor, als würde er die Tante noch anstacheln. Müde klingelte sie an der Pension. Wo steckte Mrs. Flowers nur in letzter Zeit? Als die Tür schließlich geöffnet wurde, stand Stefan selbst dahinter. Er hatte seine Lederjacke an, den Kragen hochgeschlagen. „Ich dachte, wir könnten einen Spaziergang machen“, schlug er vor. „Nein.“ Elena blieb fest. Da ihr kein echtes Lächeln gelang, versuchte sie es nicht weiter. „Gehen wir nach oben, okay? Wir müssen reden.“ Er sah sie einen Moment überrascht an. Irgend etwas mußte er in ihrem Gesicht gelesen haben, denn sein Ausdruck wurde ernst. Er holte tief Luft und nickte. Ohne ein Wort drehte er sich um und stieg die Stufen voraus in sein Zimmer. Die Koffer, Truhen und Bücher waren natürlich längst wieder an Ort und Stelle. Doch Elena sah alles mit ganz neuen Augen. Unwillkürlich fiel ihr die Nacht ein, in der sie zum erstenmal hier gewesen war. Damals hatte Stefan sie davor bewahrt, von Tyler vergewaltigt zu werden. Ihr Blick streifte über die Dinge auf der Kommode: die florentinischen Goldmünzen aus dem fünfzehnten Jahrhundert, den Dolch mit dem Elfenbeingriff, den kleinen Eisenkasten mit dem eingehängten Deckel. Sie hatte damals versucht, den Deckel zu öffnen, und Stefan hatte ihn wieder zugeschlagen. Elena drehte sich um. Stefan stand beim Fenster. Sein Körper hob sich gegen den grauen, trüben Himmel ab. Jeden Tag war es kalt und neblig gewesen. Heute bildete keine Ausnahme. Stefans Miene spiegelte das Wetter wider. „Nun?“ fragte er ruhig. „Worüber müssen wir reden?“ Jetzt hätte Elena noch zurückgekonnt. Doch sie griff nach dem Kästchen und öffnete es. Darin lag ein Stückchen mattschimmernde, aprikotfarbene Seide. Ihr Haarband. Es erinnerte sie an den Sommer, an Tage, die jetzt unendlich fern zu sein schienen. Sie nahm es in die Hand und hielt es Stefan hin. „Darüber“, sagte sie. Er hatte einen Schritt nach vorn gemacht, als sie das Kästchen berührt hatte, aber jetzt war er überrascht und verwundert. „Darüber?“ „Ja. Denn ich wußte, daß es dort ist, Stefan. Ich habe es schon vor langer Zeit gefunden, an einem Tag, an dem du das Zimmer für ein paar Minuten verlassen hattest. Keine Ahnung, warum ich unbedingt nachsehen
mußte, was sich dort verbarg, aber ich konnte es nicht lassen. So habe ich das Band gefunden, Und dann...“ Sie hielt inne und wappnete sich. „Dann habe ich darüber in meinem Tagebuch geschrieben.“ Stefan wurde immer verwirrter. Er schien etwas anderes erwartet zu haben. Elena suchte nach den richtigen Worten. „Ich habe darüber geschrieben, weil ich es für einen Beweis hielt, daß du mich schon lange magst. Genug magst, um das Band aufzuheben und zu behalten. Ich hätte niemals gedacht, daß es einmal als Indiz für etwas anderes dienen könnte.“ Dann brach es plötzlich aus ihr heraus. Sie erzählte ihm, daß sie das Tagebuch zu Bonnies Haus mitgenommen hatte und wie es dort gestohlen wurde. Von den Nachrichten, die sie bekommen hatte, und wie sie herausgefunden hatte, daß sie von Caroline waren. Dann wandte sie sich ab, zog die Seide immer wieder durch ihre nervösen Finger und berichtete ihm von Tylers und Carolines Plan. Am Ende versagte ihr fast die Stimme. „Ich habe seither solche Angst“, flüsterte sie, den Blick immer noch auf das Haarband gerichtet. „Angst, daß du böse auf mich bist. Angst, vor dem, was sie tun wollen. Entsetzliche Angst. Ich habe versucht, das Tagebuch zurückzuholen, Stefan. Ich bin sogar in Carolines Haus eingebrochen. Sie hat es zu gut versteckt. Ich habe mir den Kopf zerbrochen, doch mir fällt nichts ein, wie ich sie davon abhalten könnte, daraus vorzulesen.“ Schließlich hob sie den Kopf. „Es tut mir so leid.“ „Das sollte es auch!“ sagte er mit einer Heftigkeit, die sie erschreckte. Sie fühlte, wie sie blaß wurde. Aber Stefan sprach bereits weiter. „Es sollte dir verdammt leid tun, daß du das alles vor mir verheimlicht hast, wo ich dir hätte helfen können. Elena, warum hast du es mir nicht vorher gesagt?“ „Weil alles meine Schuld war. Und ich hatte einen Traum...“ Sie versuchte zu beschreiben, wie er in diesen Träumen ausgesehen hatte, die Bitterkeit, die Anklage in seinem Blick. „Ich wäre gestorben, wenn du mich wirklich auf diese Art angesehen hättest“, schloß sie traurig. Aber Stefan blickte sie mit einer Mischung aus Erleichterung und Erstaunen an. „Also, das ist es“, sagte er fast flüsternd. „Das hat dich so bedrückt.“ Elena öffnete den Mund, doch erfuhr fort. „Ich wußte, daß etwas nicht stimmte und daß du etwas vor mir zurückhältst. Aber ich glaubte...“ Er schüttelte den Kopf und lächelte leicht. „Es ist jetzt egal. Ich wollte nicht in dich dringen, wollte dich nicht einmal danach fragen. Und die ganze Zeit hast du dir den Kopf darüber zerbrochen, wie du mich beschützen kannst.“ Elena klebte die Zunge am Gaumen. Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Es gibt noch mehr, dachte sie traurig. Aber ein Blick in seine leuchtenden Augen und sein freudiges Gesicht genügte ihr, um zu wissen, daß sie es ihm jetzt nicht sagen konnte. „Als du eben unbedingt mit mir reden wolltest, habe ich gedacht, du hättest deine Meinung über mich geändert“, erklärte er nüchtern. „Ich hätte es dir nicht übelgenommen. Aber statt dessen...“ Er schüttelte wieder den Kopf. „Elena“, sagte er, und dann lag sie in seinen Armen. Es fühlte sich so gut und richtig an. Elena war sich bisher nicht richtig darüber klargeworden, wie verfahren ihre Beziehung zueinander geworden war. Doch jetzt war wieder alles in Ordnung. Sie empfand das, was sie in jener wunderbaren Nacht erlebt hatte, als Stefan sie zum erstenmal umarmt hatte. Liebe und Hingabe überwältigten sie fast. Sie war wieder zu Hause, dort, wo sie hingehörte. Wo sie für alle Ewigkeit hingehören würde. Alles andere war vergessen. Wie am Anfang merkte Elena, daß sie fast Stefans Gedanken lesen konnte. Sie waren miteinander verbunden, einer war ein Teil des anderen. Ihre Herzen schlugen im gleichen Rhythmus. Es fehlte nur noch eins, um alles vollkommen zu machen. Elena wußte es. Sie warf ihr Haar zurück und griff nach hinten, um es von ihrem Hals wegzuziehen. Und diesmal protestierte Stefan nicht. Die Gefühle, die von ihm ausgingen, signalisierten ihr seine volle Zustimmung und eine tiefe Leidenschaft. Liebe, Freude und Jubel erfüllten sie und steigerten sich noch, als sie erkannte, daß diese Empfindungen von Stefan kamen. Einen Moment lang sah sie sich durch seine Augen, spürte, wie sehr er sie liebte. Es hätte ihr angst machen können, hätte sie nicht dieselben tiefen Gefühle für ihn gehabt. Elena fühlte keinen Schmerz, als seine Zähne in ihren Hals drangen. Und es fiel ihr nicht auf, daß sie ihm unwillkürlich die unberührte Seite dargeboten hatte - obwohl die kleinen Wunden, die Damon hinterlassen hatte, bereits wieder geheilt waren. Sie klammerte sich an ihn, als er versuchte, ihren Kopf zu heben. Aber er bestand darauf, und schließlich gab sie nach. Sie immer noch in den Armen haltend, tastete er auf der Kommode nach dem Dolch und ließ mit einer schnellen Handbewegung sein eigenes Blut fließen.
Als Elenas Knie nachzugeben drohten, ließ er sie sanft aufs Bett gleiten. Und dann umarmten sie einander.
Zeit und Raum existierten nicht mehr. Es gab für Elena nur noch Stefan.
„Ich liebe dich“, flüsterte er.
Zuerst registrierte Elena in ihrer süßen Benommenheit die Worte einfach. Dann ging ihr auf, was er gesagt
hatte.
Er liebte sie! Sie hatte es die ganze Zeit gewußt, doch er hatte es noch nie laut ausgesprochen.
„Ich liebe dich auch, Stefan“, flüsterte sie zurück und war überrascht, als er etwas von ihr abrückte. Doch
dann sah sie, was er vorhatte. Er griff unter seinen Pullover und zog die Kette heraus, die er um seinen Hals
getragen hatte, seit sie ihn kannte. An der Kette hing ein wunderschön gearbeiteter Goldring mit einem
Lapislazulistein.
Katherines Ring. Elena beobachtete, wie er die Kette aufmachte und den zierlichen Ring davon löste.
„Als Katherine starb, dachte ich, ich könnte niemals jemand anderen lieben. Obwohl ich wußte, daß es ihr
Wunsch gewesen wäre, war ich sicher, daß es nie passieren würde. Aber ich habe mich geirrt.“
Stefan zögerte einen Moment und fuhr fort. „Ich habe den Ring aufbewahrt, weil er für mich Katherine
verkörperte. So konnte ich sie immer in meinem Herzen bewahren. Doch jetzt möchte ich, daß er zum
Symbol für etwas anderes wird.“ Wieder zögerte er und schien fast Angst zu haben, ihrem Blick zu
begegnen. „Wenn man bedenkt, wie die Dinge sind, habe ich kein Recht, das zu fragen. Aber, Elena...“ Er
kämpfte ein paar Minuten, dann sah er ihr stumm in die Augen.
Elena konnte nicht sprechen. Sie konnte nicht einmal atmen. Und Stefan mißverstand ihr Schweigen. Die
Hoffnung in seinem Blick erstarb, und er wandte sich ab.
„Du hast recht.“ Er seufzte. „Es ist unmöglich. Die Schwierigkeiten sind zu groß - meinetwegen. Wegen
dem, was ich bin. Niemand sollte sich an jemanden wie mich binden. Ich hätte es nicht einmal vorschlagen
sollen...“
„Stefan!“ unterbrach Elena ihn. „Stefan, sei bitte einen Moment still...“
„... also vergiß, daß ich etwas gesagt habe...“
„Stefan!“ befahl sie ihm. „Stefan, sieh mich an!“
Zögernd gehorchte er ihr und wandte sich um. Er schaute ihr in die Augen, und der bittere Selbsthaß machte
einem neuen Ausdruck Platz, der ihr wieder den Atem nahm. Langsam nahm er die Hand, die sie ihm
hinstreckte. Beide sahen gebannt zu, wie er ihr den Ring an den Finger steckte.
Er paßte, als sei er für sie gemacht. Das Gold glänzte im Licht, und der Stein strahlte in einem tiefen Blau,
wie ein klarer See, der von unberührtem Schnee umgeben ist.
„Wir müssen es noch ein Weilchen geheimhalten“, flüsterte Elena und hörte das Zittern in ihrer Stimme.
„Tante Judith wird einen Anfall bekommen, wenn sie erfährt, daß ich mich schon vor Schulabschluß verlobt
habe. Aber ich werde im nächsten Sommer achtzehn, und dann kann sie uns nicht mehr aufhalten.“
„Elena, bist du auch sicher, daß du das willst? Mit mir zu leben, wird nicht einfach sein. Ich werde immer
anders sein als du, egal, wie sehr ich mich auch bemühe. Wenn du jemals deine Meinung ändern solltest...“
„Solange du mich liebst, wird das niemals geschehen.“
Stefan zog sie in die Arme, und wieder erfüllte sie Friede und eine große Ruhe. Doch eine Befürchtung ließ
sie nicht los.
„Stefan, was wird morgen? Wenn Caroline und Tyler ihren Plan ausführen, wird alles andere unwichtig.“
„Dann müssen wir dafür sorgen, daß sie nicht dazu kommen. Mit Bonnies und Meredith's Hilfe werde ich
sicher einen Weg finden, das Tagebuch von Caroline zurückzubekommen. Selbst, wenn es mir nicht gelingt,
werde ich nicht fliehen. Ich werde dich nicht allein lassen, Elena. Ich werde bleiben und kämpfen.“
„Sie werden dich fertigmachen, Stefan. Und das könnte ich nicht ertragen.“
„Und ich könnte es nicht ertragen, dich zurückzulassen. Damit wäre die Sache erledigt. Überlaß mir den
Rest. Mir wird schon eine Lösung einfallen. Und falls nicht... egal, was passiert, ich bleibe bei dir. Wir
gehören zusammen.“
„Wir gehören zusammen“, wiederholte Elena und legte den Kopf an seine Schulter. Sie war glücklich, eine
Weile nicht mehr denken zu müssen und nur sie selbst zu sein.
29. November, Freitag Liebes Tagebuch, es ist spät, aber ich konnte nicht schlafen. Ich scheine nicht mehr so viel Schlaf wie früher zu brauchen.
Morgen ist der Schicksalstag.
Wir haben heute abend mit Bonnie und Meredith gesprochen. Stefans Plan ist ganz einfach. Egal, wo
Caroline das Tagebuch versteckt hat, morgen muß sie es herausholen und mitbringen. Unsere Vorträge sind
als letztes an der Reihe. Vorher muß sie an der Parade und an den anderen Dingen teilnehmen. Während
dieser Zeit muß sie das Tagebuch irgendwo unterbringen. Also werden wir sie genau beobachten, von der
Minute an, in der sie das Haus verläßt, bis sie auf die Bühne tritt. Wir müßten also sehen, wo sie es
hinsteckt. Da sie keine Ahnung hat, daß wir sie verdächtigen, wird sie sich nicht besonders in acht nehmen.
Und dann werden wir zuschlagen.
Der Grund, warum der Plan einfach klappen muß, liegt darin, daß wir allein Kostümen auftreten werden.
Unsere Bibliothekarin, Mrs. Grimesby, wird uns helfen, die Kleider aus dem neunzehnten Jahrhundert vor
der Parade anzuziehen. Wir dürfen nichts tragen, was nicht ein Teil des Kostüms ist. Keine Handtaschen,
keine Beutel. Keine Tagebücher! Caroline muß es also irgendwann ablegen.
Wir werden uns bei ihrer Bewachung abwechseln. Bonnie wird sich vor ihrem Haus postieren und
aufpassen, was Caroline bei sich hat wenn sie es verläßt. Ich bin an der Reihe, wenn wir uns bei Mrs.
Grimesby umziehen. Während der Parade werden Stefan und Meredith in ihre Wohnung eindringen oder in
das Auto der Forbes', je nachdem wie die Situation es erfordert, und zuschlagen.
Was soll da noch schiefgehen? Jetzt geht es mir schon viel besser. Es hat richtig gutgetan, das Problem mit
Stefan zu teilen. ich habe meine Lektion gelernt. Niemals werde ich in Zukunft etwas vor ihm verheimlichen.
Morgen werde ich meinen Ring tragen. Sollte Mrs. Grimesby mich fragen, werde ich ihr sagen, daß er älter
als das neunzehnte Jahrhundert ist und aus der italienischen Renaissance stammt. Ich freue mich schon auf
ihr Gesicht.
Ich versuche jetzt besser, ein wenig zu schlafen. Hoffentlich träume ich nicht.
14. KAPITEL Bonnie zitterte, während sie draußen vor dem großen, viktorianischen Haus wartete. An diesem Morgen war
die Luft frostig und kalt. Obwohl es schon fast acht Uhr war, zeigte sich die Sonne noch nicht richtig. Die
dicken, grauen und weißen Wolken am Himmel zauberten ein merkwürdiges Zwielicht.
Bonnie hatte begonnen, mit den Füßen zu stampfen und sich die Hände zu reiben, als die Haustür endlich
aufging. Schnell versteckte sie sich hinter einer kleinen Hecke und beobachtete, wie die Familie zum Auto
ging. Mr. Forbes trug nur eine Videokamera, Mrs. Forbes ihre Handtasche und einen Klappstuhl, Daniel
Forbes, Carolines jüngerer Bruder, einen zweiten Klappstuhl. Und Caroline selbst...
Bonnie lehnte sich nach vorn und atmete erleichtert auf. Caroline hatte Jeans und einen dicken Pullover
angezogen. In der Hand hielt sie eine Art weißen Beutel. Er war nicht groß, bot aber Platz genug für ein
kleines Tagebuch.
Vor lauter Begeisterung wurde Bonnie ganz warm. Sie wartete hinter ihrem Busch, bis das Auto fort war.
Dann lief sie zur Ecke Thrush Street und Hawthorne Drive.
„Da ist sie, Tante Judith! An der Ecke.“
Das Auto hielt langsam an, und Bonnie schlüpfte auf den Rücksitz zu Elena.
„Sie hat einen weißen Beutel dabei“, flüsterte sie Elena ins Ohr, während Tante Judith wieder anfuhr.
Prickelnde Erregung durchfuhr Elena, und sie drückte Bonnies Hand. „Prima“, sagte sie leise. „Jetzt werden
wir sehen, ob sie ihn mit zu Mrs. Grimesby bringt. Wenn nicht, mußt du Meredith Bescheid sagen, daß er im
Auto ist.“
Bonnie nickte zustimmend und erwiderte Elenas Händedruck.
Sie kamen gerade rechtzeitig bei Mrs. Grimesby an, um zu sehen, daß Caroline hineinging und den weißen
Beutel am Arm trug. Elena und Bonnie tauschten einen Blick. Jetzt lag es an Elena herauszufinden, wo
Caroline den Beutel im Haus zurückließ.
„Ich werde auch gleich hier aussteigen, Miß Gilbert“, sagte Bonnie, als Elena aus dem Auto sprang. Sie
würde draußen mit Meredith warten, bis Elena ihnen Bescheid gab, wo der Beutel war. Das wichtigste blieb,
daß Caroline keinen Verdacht schöpfen durfte.
Mrs. Grimesby, die Bibliothekarin von Fell's Church, öffnete die Tür. Ihr Heim glich selbst einer Bibliothek.
Überall gab es Regale, und die Bücher stapelten sich sogar auf dem Boden. Sie war außerdem
verantwortlich für die historischen Museumsstücke von Fell's Church, darunter auch für die Kleider, die zum Teil noch aus den Gründungstagen der Stadt stammten. Jetzt war das alte Haus von jungen Stimmen erfüllt, und die Zimmer waren voll mit halbbekleideten Schülerinnen. Mrs. Grimesby war immer schon für den Kostümumzug verantwortlich gewesen. Elena wollte sie gerade darum bitten, ins gleiche Umkleidezimmer wie Caroline zu kommen, da führte Mrs. Grimesby sie schon hinein. Caroline stand in ihrer sexy Unterwäsche da und warf Elena einen Blick zu, der ganz lässig wirken sollte. Doch Elena spürte die kaum verhüllte Schadenfreude dahinter und konzentrierte sich ganz auf das Kleiderbündel, das Mrs. Grimesby gerade vom Bett nahm. „Die sind für dich, Elena. Unsere besten Stücke. Alles an ihnen ist noch original, sogar die Bänder. Wir glauben, daß dieses Kleid Honoria Fell gehört hat.“ „Es ist wunderschön“, sagte Elena, während Mrs. Grimesby die Falten des dünnen, weißen Materials ausschüttelte. „Woraus besteht es?“ „Musselin, Seide und Gaze. Da es heute ziemlich kalt ist, kannst du die Samtjacke drüberziehen.“ Die Bibliothekarin deutete auf das rosenholzfarbene Kleidungsstück, das über einem Stuhl lag. Elena warf Caroline einen heimlichen Blick zu, während sie begann, sich umzuziehen. Ja, da war der Beutel. Er lag zu Carolines Füßen. Sie überlegte, ob sie danach greifen sollte, doch Mrs. Grimesby befand sich immer noch im Raum. Das Musselinkleid war ganz einfach geschnitten. Das fließende Material wurde hoch unter dem Busen von einem hellrosa Gürtel gehalten. Die leicht gepufften, ellbogenlangen Ärmel waren mit Bändern von gleicher Farbe zusammengebunden. Die Mode im frühen neunzehnten Jahrhundert war lose genug gearbeitet, um auch einem Mädchen des zwanzigsten Jahrhunderts zu passen. Zumindest, wenn es schlank war. Elena lächelte, als Mrs. Grimesby ihr den Spiegel hinhielt. „Hat das wirklich Honoria Fell gehört?“ fragte sie und dachte an die Marmorstatue dieser Frau auf dem Grab in der Kirchenruine. „Der Überlieferung nach ja“, antwortete Mrs. Grimesby. „Sie hat es in ihrem Tagebuch erwähnt, deshalb können wir ziemlich sicher sein.“ „Sie hat ein Tagebuch geführt?“ Elena war überrascht. „Oh, ja. Ich bewahre es in einem Bücherfach im Wohnzimmer auf und kann es dir gern später auf dem Weg nach draußen zeigen. Wie steht's nun mit dem Jäckchen? Was ist denn das?“ Etwas Violettes war auf den Boden geflattert, als Elena die Jacke hochgenommen hatte. Sie konnte fühlen, wie sie erstarrte. Bevor Mrs. Grimesby einen Blick darauf werfen konnte, hob sie den Papierschnipsel schnell auf. Nur ein Satz. Sie konnte sich daran erinnern, ihn am 4. September geschrieben zu haben, ihrem ersten Schultag. Der einzige Unterschied bestand darin, daß sie ihn hinterher wieder durchgestrichen hatte, was jetzt nicht der Fall war. Die Buchstaben hoben sich groß und kräftig von ihrem Hintergrund ab. Etwas Schreckliches wird heute passieren. Elena konnte sich kaum zurückhalten. Am liebsten wäre sie zu Caroline gerannt und hätte ihr den Papierfetzen ins Gesicht geschmissen. Doch das hätte alles verdorben. Sie zwang sich, ruhig zu bleiben, während sie die Notiz in den Händen zerknüllte und in den Papierkorb warf. „Ach, das war nichts weiter.“ Sie drehte sich wieder zu Mrs. Grimesby um. Caroline sagte nichts, doch Elena konnte den triumphierenden Blick ihrer grünen Augen auf sich spüren. Warte nur ab, dachte sie. Warte, bis ich mein Tagebuch zurückhabe. Ich werde es verbrennen, und dann werden du und ich mal ein Wörtchen miteinander reden. Zu Mrs. Grimesby meinte sie nur: „Ich bin fertig.“ „Ich auch“, meldete sich Caroline gespielt bescheiden. Elena betrachtete das andere Mädchen kühl und unbeteiligt. Carolines hellgrünes Kleid mit den langen grünen und weißen Schärpen war nicht annähernd so schön wie ihr eigenes. „Gut. Ihr Mädchen geht schon einmal vor und wartet auf eure Fahrzeuge. Oh, und Caroline, vergiß dein Täschchen nicht.“ „Keine Sorge.“ Caroline lächelte und griff nach dem Beutel zu ihren Füßen. Zum Glück konnte sie Elenas Gesicht nicht sehen, denn für einen Moment ließ Elena die Maske fallen. Wie betäubt sah sie zu, wie Caroline den Beutel an ihre Taille band.
Ihre Verwunderung entging Mrs. Grimesby nicht. „Das ist ein Ridikül, der Vorgänger unserer modernen
Handtasche“, erklärte sie freundlich. „Die Damen benutzten sie, um ihre Handschuhe und Fächer darin
aufzubewahren. Caroline hat es sich schon vor ein paar Tagen geholt, um ein paar lose Perlenstränge daran
zu reparieren... Das war sehr aufmerksam von ihr.“
„Sicher“, stieß Elena gepreßt hervor. Sie mußte raus hier, sonst würde jeden Moment etwas Schreckliches
passieren. Sie hatte große Lust zu schreien, Caroline niederzuschlagen oder zu explodieren. „Ich brauche
frische Luft“, erklärte sie und rannte aus dem Zimmer nach draußen.
Bonnie und Meredith warteten in Meredith' Auto. Elenas Herz klopfte heftig, als sie hinging und sich ins
Fenster lehnte. „Sie hat uns reingelegt“, sagte sie leise. „Der Beutel gehört zu ihrem Kostüm, und sie wird
ihn den ganzen Tag bei sich tragen.“
Bonnie und Meredith starrten erst sie und dann einander an.
„Aber.. was sollen wir jetzt tun?“, fragte Bonnie schließlich.
„Ich weiß es nicht.“ Mit entsetzlicher Klarheit dämmerte Elena schließlich die Ausweglosigkeit der Lage.
„Ich weiß es einfach nicht!“
„Wir können sie trotzdem beobachten. Vielleicht legt sie den Beutel beim Essen ab oder so...“ Doch
Meredith's Stimme klang wenig überzeugend. Sie alle kennen die Wahrheit, dachte Elena. Und die bedeutet,
daß es hoffnungslos ist. Sie hatten verloren.
Bonnie schaute in den Rückspiegel und drehte sich auf dem Sitz um. „Da kommt dein Gefährt.“
Elena sah hin. Zwei weiße Pferde zogen eine neu aufgemachte kleine Kutsche die Straße hinunter.
Cêpepapier war durch die Speichen der Räder geschlungen, Farne dekorierten die Sitze, und ein großes
Banner auf der Seite verkündete: „Der Gründergeist von Fell's Church“.
Elena blieb nur noch Zeit für eine verzweifelte Botschaft: „Beobachtet sie. Und wenn sie je einen Moment
allein sein sollte...“ Dann mußte sie gehen.
Aber den ganzen schrecklichen Morgen lang war Caroline keinen Moment allein. Immer war sie von einer
Menge Zuschauer umringt.
Für Elena bedeutete die Parade die reinste Folter. Sie saß in der Kutsche neben dem Bürgermeister und
seiner Frau und versuchte, normal auszusehen und freundlich zu lächeln. Doch die düstere Drohung lastete
wie ein Mühlstein auf ihrer Brust.
Irgendwo vor ihr, zwischen den marschierenden Bands, den festlichen Umzugsteilnehmern und anderen
offenen Fahrzeugen, war Caroline. Elena hatte vergessen nachzusehen, auf welchem Wagenzug sie mitfuhr.
Es war auch ohne Bedeutung. Egal, wo Caroline sich befand, die halbe Stadt konnte sie sehen.
Das Essen, das dem Umzug folgte, fand in der Cafeteria der Schule statt. Elena saß bei Bürgermeister
Dawley und seiner Frau, Caroline gleich am Nebentisch. Elena konnte ihr glänzendes, kastanienbraunes
Haar von hinten sehen. An ihrer Seite war Tyler Smallwood und lehnte sich immer wieder besitzergreifend
über sie.
Elena hatte den perfekten Platz, um Zeugin des kleinen Dramas zu werden, das sich während des Essens
abspielte. Ihr Herz klopfte heftig, als sie Stefan entdeckte, der wie zufällig an Carolines Tisch vorbeiging.
Er sprach Caroline an. Elena vergaß sogar, zum Schein mit dem unberührten Essen auf ihrem Teller zu
spielen. Was als nächstes passierte, ließ ihre Hoffnung sinken.
Caroline warf ihr Haar zurück, antwortete ihm kurz und wandte sich wieder ihrem Essen zu. Tyler, hochrot
im Gesicht, sprang auf und machte eine ärgerliche Geste. Er setzte sich erst wieder, als Stefan sich zum
Gehen wandte.
Stefan sah Elena an. Ihre Blicke verständigten sich wortlos.
Es gab also nichts, was er tun konnte. Selbst, wenn seine übernatürlichen Kräftezurückgekehrt sein sollten,
würde Tyler ihn von Caroline fernhalten. Der Mühlstein auf Elenas Brust wurde so schwer, daß er ihr fast
den Atem nahm.
Danach saß sie einfach da und ließ die Ereignisse wie betäubt an sich vorüberziehen, bis jemand sie anstieß
und ihr sagte, daß es Zeit wurde, hinter die Bühne zu gehen.
Bürgermeister Dawley hielt eine geschwollene Rede, Matt bekam eine Auszeichnung als „Sportler des
Jahres“ und blickte Elena besorgt an, als er auf die Bühne trat, um sie entgegenzunehmen.
Elena beobachtete alles wie ein Besucher von einem anderen Stern. Verzweiflung und die Gewißheit, daß
die Sache verloren war, machten sie blind und taub für alles andere. Seit letzter Nacht hatte sie sich
schwindlig und schwach gefühlt, fast, als würde sie eine Grippe bekommen. Sie konnte nicht mehr denken.
Ihr Verstand, normalerweise voller Pläne und Überlegungen, war wie leergefegt. Und sie war an einem Punkt angelangt, wo es ihr egal war. Elena hatte einfach keine Kraft mehr, weiterzukämpfen. Schließlich kam der Höhepunkt. Unter donnerndem Applaus trat Elena mit John Clifford auf die Bühne, der den „Geist der Unabhängigkeit“ verkörperte. An seiner anderen Seite stand Caroline. Wie unbeteiligt stellte Elena fest, daß Caroline sehr gut aussah. Ihr Kopf war leicht zurückgeworfen, die Augen strahlten, und ihre Wangen waren leicht gerötet. John war als erster an der Reihe. Er richtete seine Brille, dann das Mikrophon, bevor er aus einem schweren, braunen Buch vorlas. Während des ganzen Vortrags stahl Caroline ihm die Show. Sie lächelte das Publikum an, warf ihr Haar zurück, spielte mit dem Beutel, der an ihrer Taille hing. Ihre Finger streichelten ihn liebevoll. Elena ertappte sich dabei, daß sie die kleine Handtasche wie betäubt anstarrte, als wollte sie sich jede einzelne Perle einprägen. John verneigte sich und nahm wieder seinen Platz neben Elena ein. Caroline straffte die Schultern und schritt graziös wie ein Mannequin nach vorn. Diesmal mischten sich bewundernde Pfiffe in den Applaus. Aber Caroline lächelte nicht. Auf ihrer Miene lag ein beinahe tragischer Ausdruck. Mit einem untrüglichen Sinn für den richtigen Zeitpunkt wartete sie, bis es völlig still war, bevor sie sprach. „Ich wollte heute eigentlich ein Gedicht vortragen“, sagte sie in das erwartungsvolle Schweigen hinein. „Aber ich habe mich anders entschlossen. Warum hieraus vorlesen...?“ Sie hielt einen Gedichtband aus dem neunzehnten Jahrhundert hoch „...wenn es etwas gibt, was viel wichtiger ist. Es steht in einem Buch, das ich gefunden habe.“ Das du gestohlen hast, dachte Elena. Ihr Blick glitt suchend durch die Menge, bis sie Stefan fand. Er stand im Hintergrund. Rechts und links hatten sich Bonnie und Meredith wie Beschützer postiert. Dann fiel Elena noch etwas anderes auf. Tyler, Dick und ein paar andere Jungs befanden sich nur ein paar Meter hinter ihnen. Die Typen waren schon älter. Es waren fünf, und sie sahen aus wie brutale Schläger. Flieh, dachte Elena und suchte wieder Stefans Blick. Sie wollte ihn zwingen, sie zu verstehen. Flieh, Stefan, bevor es passiert. Geh jetzt. Ganz sacht, kaum sichtbar schüttelte er den Kopf. Caroline ließ die Fingerspitzen in ihren Beutel gleiten, als könnte sie es kaum abwarten. „Was ich vorlesen werde, handelt von der Gegenwart unserer Stadt, nicht von Ereignissen, die vor hundert oder zweihundert Jahren geschehen sind“, sagte sie. ihre Stimme hob sich vor Aufregung und zitterte leicht. „Es ist jetzt wichtig, denn es betrifft jemanden, der mitten unter uns lebt. In diesem Moment ist er sogar hier in diesem Raum.“ Tyler muß ihr die Rede geschrieben haben, dachte Elena. Letzten Monat bei den schrecklichen Ereignissen der „Spukhaus-Party“ hatte er bereits sein Talent für das Dramatische bewiesen. Oh, Stefan, ich habe solche Angst.. Solche Angst... Ihre Gedanken überschlugen sich, als Caroline ihre Hand ganz in den Beutel senkte. „Ich glaube, Sie werden verstehen, was ich meine, wenn Sie die Worte hören.“ Caroline zog mit einer raschen Handbewegung ein in Samt gebundenes Büchlein aus dem Perlenbeutel und hielt es dramatisch hoch. „Dies wird eine Menge von dem erklären, was in der letzten Zeit in Fell's Church geschehen ist.“ Ihr Atem kam in leichten, schnellen Stößen. Sie schaute triumphierend von dem gebannten Publikum zu dem Buch in ihrer Hand. Elena hatte fast das Bewußtsein verloren, als Caroline das Tagebuch hervorgezogen hatte. Blitzende Funken tanzten vor ihren Augen. In ihren Ohren rauschte es, und sie hatte das Gefühl, jede Sekunde umzukippen. Dann fiel ihr etwas auf. Mit ihrem Sehvermögen mußte etwas nicht stimmen. Die Scheinwerfer und die Blitzlichter hatten sie sicher geblendet. Noch immer waren ihre Knie weich wie Butter und drohten, jede Minute nachzugeben. Da war es kaum verwunderlich, daß sie auch nicht mehr richtig sehen konnte. Das Buch in Carolines Hand war grün, nicht blau. Ich bin dabei, verrückt zu werden... oder das ist ein Traum... vielleicht ein Effekt des Lichts. Aber dieser Ausdruck auf Carolines Gesicht! Caroline starrte auf das in Samt gebundene Bändchen. Ihr Mund bewegte sich lautlos. Sie schien das Publikum total vergessen zu haben. Immer wieder drehte sie das Tagebuch in ihren Händen hin und her und betrachtete es von allen Seiten. Ihre Bewegungen wurden hektisch. Sie wühlte mit einer Hand in dem
Perlenbeutel, als hoffte sie, dort noch etwas anderes zu finden. Dann blickte sie sich wild auf der Bühne um,
auf der Suche nach etwas, das zu Boden gefallen sein könnte.
Leises Murmeln breitete sich unter den Zuschauern aus. Man wurde ungeduldig. Bürgermeister Dawley und
die Schuldirektoren sahen sich stirnrunzelnd an.
Als Caroline trotz aller Bemühungen nichts fand, starrte sie wieder das kleine Buch an. Sie riß es auf und
schaute hinein, als bestünde ihre letzte Hoffnung darin, daß sich nur der Einband geändert hatte, der Inhalt
jedoch trotz allem von Elena stammte.
Dann blickte sie langsam hoch in die vollbesetzte Cafeteria. Es war wieder ganz still geworden. Alle Augen
waren auf das Mädchen in dem hellgrünen Kleid gerichtet. Caroline stieß einen unverständlichen Laut aus,
wirbelte herum und rannte von der Bühne. Sie schlug nach Elena, als sie an ihr vorbeikam. Ihr Gesicht war
von wilder Wut verzerrt.
Ganz langsam, wie in Trance bückte Elena sich und hob den Gegenstand auf, mit dem Caroline nach ihr
geschlagen hatte.
Carolines Tagebuch.
Um Elena herum herrschte panisches Treiben. Leute liefen Caroline nach. Und im Publikum wurde heftig
diskutiert.
Elena schaute auf Stefan. Er schien wie von einer schweren Last erlöst und wild vor Freude. Aber in seine
Erleichterung mischte sich die gleiche Verwirrung, die Elena selbst fühlte. Bonnie und Meredith schien es
ebenso zu ergehen. Als Stefans Blick ihren kreuzte, überkam Elena eine grenzenlose Erleichterung. Doch
vor allem erfüllte sie ein großes Erstaunen, das fast an Ehrfurcht grenzte.
Es war ein Wunder geschehen. Wider alle Hoffnung waren sie gerettet worden.
Und dann entdeckte sie einen zweiten dunklen Schopf in der Menge. .
Damon lehnte... nein, besser, lungerte... an der nördlichen Wand der Cafeteria. Seine Lippen waren zu einem
kleinen Lächeln verzogen, und sein Blick begegnete ihrem mit kühner Frechheit.
Bürgermeister Dawley tauchte neben Elena auf und drängte sie nach vorn. Er versuchte, die Menge zu
beruhigen und die Ordnung wiederherzustellen. Ohne Erfolg. Elena las ihren Vortrag mit abwesender
Stimme einem eifrig schwätzenden Publikum vor, das ihr nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte.
Auch für sie selbst hatten die Worte keinerlei Bedeutung. Andauernd schaute sie zu Damon hin.
Es gab vereinzelten Applaus, als sie fertig war, und der Bürgermeister verkündete die Veranstaltungspunkte
für den Nachmittag. Dann war alles vorbei, und Elena war frei.
Ohne zu wissen, wohin sie ging, verließ sie die Bühne. Wie magisch angezogen, folgte sie Damon, der
durch eine Seitentür getreten war.
Die Luft auf dem Hof erschien ihr nach der vollgestopften Cafeteria erfrischend kühl. Am Himmel wirbelten
silberne Wolken. Damon wartete auf sie.
Ihre Schritte wurden langsamer, aber sie blieb nicht stehen. Sie ging weiter, bis sie nah bei ihm stand. Ihre
Augen musterten sein Gesicht.
Nach einer langen Pause sagte sie schließlich nur ein Wort: „Warum?“
„Ich dachte, du wärst mehr daran interessiert, wie ich es geschafft habe?“ Er öffnete vielsagend seine Jacke.
„Ich habe heute morgen eine Einladung zum Frühstück erhalten, nachdem ich mich letzte Woche bemüht
habe, die Bekanntschaft zu knüpfen.“
„Aber warum?“
Damon zuckte mit den Achseln. Einen Moment lang huschte so etwas wie Verwirrung über seine
feingeschnittenen Züge. Es erschien Elena, als wüßte er die Antwort selbst nicht oder wollte es zumindest
nicht zugeben.
„Laß das meine Sorge sein“, erklärte er kurz.
„Damit gebe ich mich nicht zufrieden.“ Prickelnde Spannung baute sich zwischen ihnen auf, so tief und
überwältigend, daß Elena Angst bekam. „Verrate mir den wahren Grund“, flüsterte sie.
Ein gefährliches Funkeln trat in Damons Augen. „Dränge mich nicht zu sehr, Elena.“
Sie trat so nah an ihn heran, daß sie ihn fast berühren konnte, und sah zu ihm auf. „Ich glaube, du brauchst
es, daß man dich ein wenig drängt.“
Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt. In diesem Moment meldete sich hinter
ihnen eine Stimme.
„Also haben Sie es doch noch geschafft! Ich bin ja so froh!“
Es war Tante Judith. Elena fühlte sich, als würde sie von einer fremden Welt in die Gegenwart
zurückgerissen. Sie blinzelte verwirrt, trat einen Schritt zurück und atmete tief aus. Ihr war gar nicht
aufgefallen, daß sie die Luft angehalten hatte.
„Dann haben Sie Elenas Vortrag mitbekommen“, fuhr Tante Judith glücklich fort. „Du hast das wunderbar
gemacht, Elena. Aber ich weiß nicht, was in Caroline gefahren ist. Die Mädchen in dieser Stadt benehmen
sich in letzter Zeit wie verhext.“
„Vielleicht sind es nur die Nerven“, bot Damon als Erklärung an. Sein Gesicht war heiter und entspannt.
Elena hatte große Lust zu kichern. Im selben Moment wurde ihr bewußt, wie unpassend das war. Es war
verständlich, daß sie Damon dankbar war, weil er sie gerettet hatte. Aber ohne ihn wäre das Problem gar
nicht erst aufgetreten: Immerhin hatte Damon all die Verbrechen begangen, die Caroline Stefan anhängen
wollte.
„Und wo ist Stefan?“ sprach sie ihren nächsten Gedanken laut aus. Sie entdeckte Bonnie und Meredith auf
dem Hof. Sie waren allein.
Tante Judith hielt mit ihrem Mißfallen nicht hinter dem Berg.
„Ich hab ihn nicht gesehen“, sagte sie kurz. Dann lächelte sie glücklich. „Mir kommt da gerade eine
wunderbare Idee. Warum begleiten Sie uns nicht zum Essen, Damon? Vielleicht könnten Sie und Elena
später...“
„Hör auf!“ fuhr Elena Damon an. Seine Miene drückte nur höfliches Unverständnis aus.
„Wie bitte?“ Tante Judith konnte kaum glauben, was sie da von ihrer Nichte zu hören bekam.
„Hör auf!“ wiederholte Elena. „Du weißt genau, was ich meine. Hör sofort damit auf!“
15. KAPITEL „Elena, du bist sehr unhöflich!“ Tante Judith wurde nur selten ärgerlich, aber jetzt war es der Fall. „Du benimmst dich wie ein kleines Kind!“ „Tante Judith, du verstehst nicht...!“ „Oh, doch! Dein Verhalten erinnert mich sehr an die Art, wie du Damon behandelt hast, als er bei uns zum Essen eingeladen war. Findest du nicht, daß ein Gast ein wenig mehr Rücksichtnahme verdient?“ Elena hätte vor Frust am liebsten geschrien. „Du weißt nicht einmal, wovon du redest“, begann sie ungeduldig. Das war alles zuviel. Zu hören, wie Damons Worte über Tante Judiths Lippen kamen... Sie konnte es keine Sekunde länger ertragen. „Elena.“ Tante Judiths schmale Wangen färbten sich rot. „Ich bin entsetzt. Und ich muß es jetzt einmal aussprechen. Dieses kindische Benehmen hat erst angefangen, seit du mit diesem Jungen zusammen bist.“ „Ach so, das ist es. Dieser Junge“, betonte Elena und funkelte Damon böse an, der betont zurückhaltend neben ihnen stand, und die Szene beobachtete. „Ja, dieser Junge!“ antwortete Tante Judith heftig. „Seit du dich in ihn verliebt hast, bist du ein völlig anderer Mensch geworden. Rücksichtslos, voller Geheimnisse uns gegenüber und widerborstig! Er hatte von Anfang an einen schlechten Einfluß, und ich werde das nicht länger dulden!“ „Ach, wirklich?“ Elena sprach sowohl zu Damon wie auch zu Tante Judith. Sie blickte zwischen beiden hin und her. Alle Gefühle, die sie die letzten Wochen, ja Monate unterdrückt hatte, seit sie Stefan kannte, ließen sich nicht länger zurückhalten. Sie merkte, daß sie zitterte. „Nun, das tut mir leid für dich, denn du wirst es dulden müssen. Ich werde Stefan niemals aufgeben, für niemanden! Und am allerwenigsten für dich!“ Das letzte war an Damon gerichtet, doch Tante Judith holte empört Luft. „Elena, es reicht!“ warf Robert drohend ein. Er war mit Margaret hinzugekommen. Seine Miene war finster. „Wenn das der Tonfall ist, zu dem dich dieser... dieser Kerl uns gegenüber aufstachelt...“ „Er ist nicht ,dieser Kerl’!“ Elena trat einen Schritt zurück, damit sie alle im Blickfeld hatte. Sie wußte, daß sie Aufsehen erregte, die Menge im Hof schaute inzwischen gebannt zu. Aber das war ihr egal. Sie hatte zu lange ihre Gefühle unter Verschluß gehalten, hatte alle Angst, Sorge und Wut tief in sich verborgen. Die Sorge um Stefan, der Terror, dem Damon sie ausgesetzt hatte, die ganze Scham und die Demütigungen, die sie in der Schule hatte ertragen müssen, alles hatte sie in sich hineingefressen. Doch jetzt brach es wie ein gewaltiger, glühender Lavastrom aus ihr heraus.
Ihr Herz klopfte wie wild, in ihren Ohren rauschte es. Sie kannte nur noch ein Ziel, es denen heimzuzahlen, die da vor ihr standen, es ihnen einmal gründlich zu zeigen. „Er ist nicht ,dieser Kerl’“, wiederholte sie. Ihr Blick war eiskalt. „Sein Name ist Stefan. Er bedeutet mir alles auf der Welt. Und, wenn's euch interessiert, wir sind verlobt!“ „Das ist doch lächerlich!“ tobte Robert. Seine Reaktion brachte das Faß zum Überlaufen. „So?“ Elena hielt ihre Hand hoch und zeigte den Ring. „Wir werden heiraten.“ „Gar nichts wirst du tun!“ begann Robert. Alle waren plötzlich wie aus dem Häuschen. Damon griff nach ihrer Hand, starrte auf den Ring, drehte sich abrupt um und ging weg. Jeder seiner Schritte drückte unverhohlene, nur mühsam unterdrückte Wut aus. Robert schnappte wortlos nach Luft. Tante Judith war außer sich. „Elena, ich verbiete dir...!“ „Du bist nicht meine Mutter!“ schrie Elena. Tränen traten ihr in die Augen. Sie wollte weg, wollte allein sein oder mit jemandem zusammensein, den sie aufrichtig liebte. „Wenn Stefan nach mir fragen sollte, sagt ihm, daß ich in seiner Pension bin!“ fügte sie hinzu und bahnte sich einen Weg durch die gebannten Zuschauer. Halb erwartete sie, daß Bonnie oder Meredith ihr folgen würden, und war froh, daß sie es nicht taten. Der Parkplatz stand voller Autos, doch nur wenige Menschen waren unterwegs. Die meisten Familien wollten sich noch die Nachmittagsveranstaltungen ansehen. Eine vertraute Gestalt schloß gerade die Tür eines alten, verbeulten Fords auf. „Matt! Fährst du weg?“ Elena traf eine spontane Entscheidung. Es war zu kalt, zu Fuß zur Pension zu laufen. „Was? Nein, ich muß Trainer Lyman helfen, die Tische aufzustellen. Ich wollte nur schnell das hier wegpacken.“ Er warf die kleine Trophäe, die er als „Sportler des Jahres“ bekommen hatte, achtlos auf den Rücksitz. „He, alles okay?“ Erstaunt musterte er sie. „Ja... das heißt, nein. Mir wird's aber gleich besser gehen, wenn ich hier rauskomme. Hör mal, kann ich mir dein Auto leihen? Nur für ganz kurz?“ „Nun... Klar, aber... Schau, es ist besser, wenn ich dich fahre. Ich sage Trainer Lyman nur schnell Bescheid.“ „Nein! Ich muß jetzt allein sein. Bitte stell keine Fragen.“ Sie riß ihm fast die Schlüssel aus der Hand. „Ich bring dir das Auto so schnell wie möglich zurück, das verspreche ich. Oder Stefan macht es. Wenn du ihn siehst, sag ihm bitte, daß ich in der Pension bin. Danke für alles.“ Ohne auf seinen Protest zu achten, knallte sie die Tür zu, ließ den Motor an und fuhr mit knirschender Gangschaltung an. Matt konnte nichts anderes tun, als ihr mit offenem Mund nachzustarren. Elena fuhr vom Parkplatz hinunter, ohne etwas richtig zu sehen oder zu hören. Tränen liefen ihr Über die Wangen. Ihre Gefühle waren in wildem Aufruhr. Sie und Stefan würden weglaufen... Sie würden es allen zeigen. Nie wieder würde sie einen Fuß nach Fell's Church setzen. Dann würde es Tante Judith leid tun. Robert würde einsehen, wie sehr er sich geirrt hatte. Aber Elena würde ihnen niemals vergeben. Niemals! Nichts und niemandem würde sie auch nur eine Träne nachweinen. Ganz sicher nicht der alten Robert E. Lee High School, wo man in einem Tag vom beliebtesten Mädchen zur Außenseiterin werden konnte, nur weil man den falschen Jungen liebte. Sie brauchte auch keine Familie, keine Freunde... Elena fuhr langsamer die gewundene Auffahrt zur Pension hoch und merkte, daß ihre Gedanken sich allmählich beruhigten. Ihren Freunden konnte sie unmöglich böse sein. Bonnie, Meredith und Matt hatten ihr nichts getan. Matt war in Ordnung. Tatsache war, daß sie ihn selber zwar nicht brauchte, aber sein Auto um so mehr. Gegen ihren Willen entfuhr Elena ein gequältes Kichern. Armer Matt. Alle liehen sich immer wieder seine alte Rostlaube aus. Er mußte sie und Stefan inzwischen für verrückt halten. Das Kichern brachte sie wieder kurz zum Weinen. Sie hielt an, wischte die Tränen ab und schüttelte den Kopf. Warum hatte alles so kommen müssen? Was für ein Tag! Eigentlich hätte sie mit den anderen den Sieg über Caroline feiern sollen. Statt dessen saß sie weinend und allein in Matts Auto.
Caroline hatte sich ganz schön lächerlich gemacht. Elenas Körper zitterte, abwechselnd von hysterischem
Schluchzen und Lachen geschüttelt. Oh, dieser Ausdruck in Carolines Gesicht! Absolut reif für den Oscar!
Jemand hätte das auf Video aufnehmen müssen.
Allmählich hörten Schluchzen und Lachen auf. Elena wurde mit einemmal unendlich müde. Sie lehnte sich
mit der Stirn gegen das Steuer und versuchte, eine Weile an gar nichts zu denken. Schließlich stieg sie aus.
Sie würde hineingehen und auf Stefan warten. Dann würden beide zurückgehen und die Sache ausbügeln,
die sie angerichtet hatte. Das wird eine Menge Arbeit kosten, dachte sie erschöpft. Arme Tante Judith. Elena
hatte sie vor der ganzen Schule angeschrien.
Warum war sie eigentlich so ausgerastet? .Jetzt konnte sie es kaum verstehen. Doch ihre Stimmung geriet
wieder gefährlich ins Schwanken, als sie merkte, daß die Pension abgeschlossen war und niemand auf ihr
Klingeln antwortete.
Oh, das ist ja toll! dachte sie. Tränen brannten erneut in ihren Augen. Mrs. Flowers war ebenfalls unterwegs,
um an den Feierlichkeiten zum Gründertag teilzunehmen. Und jetzt hatte Elena die Wahl, sich ins Auto zu
setzen oder in dem Windsturm hier draußen stehenzubleiben...
Zum erstenmal fiel ihr das Wetter auf. Als sie sich umsah, bekam sie Angst. Der Tag hatte wolkig und kalt
angefangen, doch jetzt lag dichter Nebel über dem Boden, der aus den umliegenden Feldern aufgestiegen zu
sein schien. Die Wolken trieben nicht mehr locker dahin, sondern wurden wütend über den Himmel
gepeitscht.
Der Wind fuhr aggressiv durch die Äste der Eichen, riß die noch verbliebenen Blätter ab und sandte sie in
Schauern zu Boden. Das Geräusch wurde stetig lauter und steigerte sich zum Heulen.
Und da war noch etwas anderes. Etwas, das nicht nur vom Wind kam, sondern aus der Luft, aus der ganzen
Atmosphäre. Es war erdrückend, bedrohlich und von ungeheurem Ausmaß. Eine Kraft, die sich sammelte,
näher kam, sie einschloß.
Elena wirbelte zu den alten Eichen herum, die hinter dem Haus standen. Ging man durch sie hindurch, kam
man zum Fluß und zum Friedhof.
Etwas... war da draußen. Etwas unaussprechlich Böses.
„Nein“, flüsterte Elena. Sie konnte es nicht sehen, aber fühlen. Wie ein großer Schemen erhob es sich vor ihr
und löschte den Himmel aus. Sie spürte das Entsetzen, den Haß, die wilde Wut.
Gier nach Blut. Stefan hatte das Wort benutzt, doch sie hatte es nicht verstanden. Jetzt fühlte sie, wie sich
diese Gier auf sie richtete.
„Nein!“
Höher und höher erhob sich die unheimliche Macht vor ihr. Sie konnte immer noch nichts erkennen, aber es
schien, als würden sich riesige Schwingen entfalten und den Himmel zu beiden Seiten berühren. Das
Fremde besaß eine Kraft, die über jede Vorstellung ging... und es wollte töten...
„Nein!“ Elena rannte zum Auto, als der erste Angriff kam. Hektisch griff sie nach der Tür und suchte nach
den Schlüsseln. Der Wind heulte, schrie und zerrte an ihrem Haar. Eissplitter wurden ihr in die Augen
geschleudert und nahmen ihr die Sicht. Endlich drehte sich der Schlüssel im Schloß, und sie riß die Tür auf.
In Sicherheit! Sie knallte die Tür hinter sich zu und verriegelte sie von innen.
Der Wind steigerte sich zum Orkan. Das Auto begann, hin und herzu schwanken.
„Hör auf! Damon! Hör auf!“ Ihre Stimme verlor sich in dem dröhnenden Chaos. Elena stützte die Hände auf
dem Armaturenbrett ab, als wollte sie den Wagen im Gleichgewicht halten. Doch er wurde noch heftiger
durchgeschüttelt. Eis prasselte von außen dagegen.
Dann sah sie etwas. Das Heckfenster beschlug, doch sie konnte noch einen Schemen dahinter erkennen. Er
glich einem großen Vogel aus Nebel oder Schnee. Seine Gestalt war verschwommen. Elena konnte nur die
riesigen Schwingen deutlich sehen... und wußte, daß er es auf sie abgesehen hatte.
Schnell, den Zündschlüssel hineinstecken. Schnell! Jetzt den Motor anlassen! Ihr Verstand schrie ihr die
Befehle zu. Der alte Ford keuchte, und die quietschenden Reifen übertönten sogar den Wind, als sie anfuhr.
Die Gestalt folgte. Im Rückspiegel wurde sie größer und größer.
In die Stadt! Zu Stefan! Schnell, schnell! Aber als Elena nach links in die Old Creek Road einbog,
blockierten die Räder. In diesem Moment zerriß ein greller Blitz den Himmel.
Wenn sie nicht sowieso schon heftig gebremst hätte, wäre der Baum direkt auf sie draufgefallen. So
verfehlte er mit der ganzen Wucht seines Aufpralls, der das Auto wie ein Erdbeben erschütterte, den Kühler
nur um wenige Zentimeter. Der mächtige Stamm des Baums und seine vielen Äste versperren jetzt
unüberwindbar den Weg zur Stadt.
Elena war gefangen, ihr einziger Heimweg blockiert. Sie war allein, es gab kein Entkommen vor der
schrecklichen Macht...
Macht! Das war es; das war der Schlüssel. „Je stärker deine Kräfte sind, desto mehr binden dich die Gesetze
der Dunkelheit.“
Fließendes Wasser!
Elena legte den Rückwärtsgang ein. Sie wendete und gab Gas. Der weiße Schemen drehte sich, ballte sich
zusammen und stürzte hinab. Er verfehlte sie so knapp wie der Baumstamm, und dann raste sie die Old
Creek Road hinunter mitten ins Herz des Sturms.
Sie wurde immer noch verfolgt. Elena hatte nur einen Gedanken. Sie mußte fließendes Wasser überqueren,
um das Ding da hinter sich zu lassen.
Blitze zuckten über den Himmel. Sie sah, wie andere Bäume umstürzten, doch sie wich ihnen aus. Jetzt
konnte es nicht mehr weit sein. Der Fluß war auf der linken Seite durch den niederpeitschenden Eisregen
bereits zu erkennen. Und dann sah sie die Brücke.
Sie hatte es geschafft! Schnee flog auf die Windschutzscheibe, doch beim nächsten Streich der
Scheibenwischer erkannte sie die schwarzen Wasser flüchtig wieder. Das war es! Die Einbiegung mußte
hier sein!
Das Auto rutschte auf die Brücke. Elena fühlte, wie die Räder auf den glitschigen Planken durchdrehten.
Verzweifelt versuchte sie das seitliche Weggleiten abzufangen, aber sie konnte nicht richtig sehen, und es
war nicht genug Platz...
Und dann brach sie durch das Geländer.
Elena hörte Schreie, doch sie schienen nichts mit ihr zu tun zu haben. Der Fluß brandete um sie herum auf,
und dann gab es nur noch Chaos und Schmerz. Ein Fenster wurde von den herumwirbelnden Holztrümmern
zerschmettert, dann ein zweites. Dunkle Wogen, in denen scharfe Glassplitter schwammen, hüllten Elena
ein. Sie war gefangen, konnte nichts mehr sehen, nicht entkommen.
Sie konnte nicht atmen. Sie war in diesem Hexenkessel verloren, und es gab keinen Sauerstoff. Sie mußte
atmen. Sie mußte hier raus...
„Stefan, hilf mir!“ schrie sie.
Doch kein Geräusch kam aus ihrem Mund. Statt dessen drang Eiswasser in ihre Lungen. Sie kämpfte
dagegen an, aber es war zu stark für sie. Ihre Bewegungen wurden wilder, unkontrollierter, und hörten
schließlich ganz auf.
Danach war alles still.
Bonnie und Meredith streiften über das Gebiet hinter der Schule. Sie hatten gesehen, wie Stefan Tyler und
seinen neuen Freunden gefolgt war, und wollte ihnen schon nach, als das Theater mit Elena angefangen
hatte. Dann hatte Matt ihnen erzählt, daß Elena weggefahren war. Also hatten sie wieder nach Stefan
gesucht, aber niemand war draußen zu sehen. Es gab hier auch keine Gebäude außer der alten Quonset-
Hütte.
„Und jetzt kommt auch noch ein Sturm auf!“ stöhnte Meredith. „Hör dir diesen Wind an! Sicher wird es
bald regnen.“
„Oder schneien.“ Bonnie zitterte. „Wo sind die bloß hin?“
„Ist mir egal. Ich will mich jetzt unterstellen. Da fängt's schon an!“ Meredith keuchte, als der erste eiskalte
Regenguß sie traf. Sie und Bonnie rannten zum nächsten Unterstand - der Quonset-Hütte.
Und dort fanden sie Stefan. Die Tür stand halb offen. Als Bonnie einen Blick hineinwarf, zuckte sie zurück.
„Tyler ist total verrückt geworden“, zischte sie Meredith warnend zu. „Paß auf!“
Zwischen Stefan und der Tür hatten sich die Schläger im Halbkreis aufgebaut. Caroline stand in einer Ecke.
„Er muß es haben! Er hat es irgendwie gestohlen. Ich weiß es genau!“ keifte sie.
„Was hat er?“ fragte Meredith laut. Alle Köpfe drehten sich zu ihr um.
Caroline verzog wütend das Gesicht, als sie die beiden sah. Tyler brüllte: „Raus hier! Mischt euch nicht
ein.“
Meredith achtete nicht auf ihn. „Stefan, ich muß mit dir sprechen.“
„In einer Minute. Was soll ich denn gestohlen haben?“ Stefans ganze Konzentration galt Tyler.
„Ich werde es Bonnie und Meredith erklären. Gleich, nachdem ich mit dir fertig bin.“ Tyler ballte die Hand
zur Faust und trat vor. „Du bist Geschichte, Salvatore.“
Die Schläger kicherten.
Bonnie öffnete den Mund, um zu sagen: „Laßt uns von hier verschwinden.“ Aber statt dessen entfuhr ihr:
„Die Brücke!“
Alle starrten sie verblüfft an.
„Wie bitte?“ fragte Stefan.
„Die Brücke“, wiederholte Bonnie, ohne es eigentlich sagen zu wollen. Ihre Augen waren erschrocken weit
aufgerissen. Sie konnte die Worte aus ihrem Mund hören, hatte jedoch keine Kontrolle über sie. Und dann
hatte sie plötzlich ihre eigene Stimme zurück. „Die Brücke, o mein Gott, die Brücke. Dort ist Elena! Stefan,
wir müssen sie retten! Schnell!“
„Bonnie, bist du sicher?“
„.Ja... dort ist sie hin. Sie ertrinkt! Schnell!“ Dunkelheit hüllte Bonnie ein. Aber sie durfte jetzt nicht
ohnmächtig werden. Sie mußten zu Elena.
Stefan und Meredith zögerten einen Moment. Dann schob Stefan den Schlägertrupp einfach zur Seite.
Gemeinsam mit Meredith rannte er zum Parkplatz und zog Bonnie hinter sich her. Tyler wollte ihnen nach,
blieb jedoch stehen, als die volle Macht des Winds ihn traf.
„Warum sollte sie in so einem Sturm nach draußen gehen?“ schrie Stefan, als sie in Meredith' Auto
sprangen.
„Sie war völlig außer sich. Matt hat erzählt, daß sie mit seinem Wagen losgefahren ist.“ Meredith startete
voll durch und fuhr mit gefährlich hoher Geschwindigkeit los. „Sie sagte, sie wollte zu deiner Pension.“
„Nein, sie ist bei der Brücke! Schneller, Meredith! Oh, nein, wir werden zu spät kommen!“ Tränen liefen
Bonnies Wangen hinunter.
Meredith trat aufs Gas. Der Wagen schlingerte im Wind. Auf der eisigen Fahrbahn fanden die Räder nur
schwer Halt. Es war wie ein schrecklicher Alptraum, aus dem es kein Erwachen gab. Während der ganzen
Fahrt schluchzte Bonnie und klammerte sich an die Lehne des Vordersitzes.
Nur Stefans scharfer, rechtzeitiger Warnung war es zu verdanken, daß Meredith nicht gegen den
umgestürzten Baum fuhr. Sie stiegen aus und wurden sofort von dem eiskalten Wind umpeitscht.
„Der ist zu groß, um ihn zu bewegen. Wir müssen zu Fuß weiter!“ schrie Stefan gegen das Sturmgetöse an.
Natürlich ist der zu groß, dachte Bonnie, während sie bereits durch die Äste kletterte. Es handelte sich
schließlich um eine vollausgewachsene Eiche. Als sie auf der anderen Seite war, griff der Wind sie wieder
so unbarmherzig an, daß sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte.
Innerhalb von Minuten war sie völlig betäubt. Die Straße schien sich endlos hinzuziehen. Sie versuchten zu
laufen, doch der Sturm ließ es nicht zu. Sie konnten kaum etwas sehen. Ohne Stefan wären sie längst über
die Böschung in den Fluß gefallen. Bonnie schwankte wie betrunken hin und her. Sie war nahe daran
kraftlos zu Boden zu sinken, als sie Stefan vor sich rufen hörte.
Meredith hatte den Arm um sie gelegt und verstärkte jetzt den Griff. Gemeinsam liefen sie gegen den Wind
an. Aber als sie sich der Brücke näherten, sahen sie etwas, das sie abrupt zum Stehen brachte.
„Oh, mein Gott... Elena!“ schrie Bonnie. Die Wickery-Brücke war fast völlig zerstört. Das Geländer war an
einer Seite verschwunden, und die Planken waren wie von der Hand eines Riesen zerschmettert. Unten
schäumten dunkle Wellen über den Trümmern. Und tief unten im Wasser, erkennbar an den wie durch ein
Wunder noch brennenden Scheinwerfern, war Matts Auto.
Meredith schrie ebenfalls. Aber ihre Sorge galt Stefan. „Nein, du kannst nicht da runter!“
Er warf nicht einmal einen Blick zurück, sprang vom Ufer, und dann war sein Kopf in den tobenden
Wassern verschwunden.
Später konnte sich Bonnie nur vage an die folgende Stunde erinnern. Endlos schien sie in dem heulenden
Sturm auf Stefan gewartet zu haben. Eine Zeitlang hatte sie gar nicht reagieren können, als endlich seine
gebeugte Gestalt aus dem Fluß kroch. Keine Enttäuschung, nur große und unendliche Trauer erfüllte sie, als
sie das schlaffe Ding sah, das Stefan vorsichtig auf die Böschung legte.
Und sie erinnerte sich an Stefans Gesicht.
Daran, wie er ausgesehen hatte, als er noch etwas für Elena tun wollte. Aber es war ja gar nicht Elena, die
dort lag. Es war nur eine Wachspuppe mit Elenas Gesichtszügen. Sie war nie lebendig gewesen und jetzt
erst recht nicht. Bonnie fand es dumm, das Ding so zu drücken und drehen, zu versuchen, das Wasser aus
seinen Lungen zu pumpen und so weiter. Wachspuppen atmeten doch nicht.
Sie erinnerte sich an Stefans Gesicht, als er schließlich aufgab. Als Meredith mit ihm rang und ihn anschrie.
Sie sagte etwas von über einer Stunde ohne Sauerstoff und von Gehirnschaden. Bonnie hörte die Worte,
ohne sie zu verstehen. Sie fand es komisch, daß Meredith und Stefan sich anschrien und gleichzeitig beide
weinten.
Danach hörte Stefan auf zu weinen. Er saß nur da und hielt die Elena-Puppe. Meredith schrie ihn weiter an,
aber er hörte ihr nicht zu. Saß einfach da. Und Bonnie würde seinen Gesichtsausdruck ihr Leben lang nicht
vergessen.
Doch dann durchzuckte sie eine Vorahnung und brachte sie mit einem Schlag ins Leben zurück. Sie
klammerte sich an Meredith und sah sich nach der Ursache um. Etwas Böses... etwas Schreckliches nahte.
War fast da.
Stefan schien es ebenfalls zu spüren. Er erstarrte und wurde aufmerksam, wie ein Wolf, der eine Witterung
aufnimmt.
„Was ist?“ schrie Meredith über den Sturm. „Was ist los mit dir?“
„Ihr müßt von hier weg!“ Stefan stand auf und hielt immer noch die schlaffe Gestalt in seinen Armen. „Weg
von hier!“
„Was soll das heißen? Wir können dich nicht allein lassen...“
„Doch! Flieht! Bonnie, kümmere dich um Meredith!“
Niemand hatte Bonnie bisher gebeten, sich um einen anderen zu kümmern. Sonst war es immer umgekehrt
gewesen. Aber jetzt griff sie Meredith beim Arm und begann, sie mit sich zu ziehen. Stefan hatte recht. Es
gab nichts, was sie für Elena tun konnten, und wenn sie blieben, würde das, was Elena getötet hatte, auch sie
beide erwischen.
„Stefan!“ schrie Meredith, während sie wider Willen weggezogen wurde.
„Ich werde sie unter die Bäume legen. Unter die Weiden, nicht die Eichen“, rief er ihnen nach.
Warum sagt er uns das jetzt? überlegte Bonnie irgendwo in ihrem Unterbewußtsein, wohin die Angst noch
nicht gelangt war.
Die Antwort war einfach, und sie kam ihr sofort. Weil er nicht mehr da sein würde, um es ihnen später zu
sagen.
16. KAPITEL Vor langer Zeit, in den dunklen Straßen von Florenz, halb verhungert, zu Tode erschrocken und erschöpft,
hatte Stefan einen Schwur getan. Eigentlich mehrere Schwüre. Sie betrafen die finstere Kraft, die er in sich
wachsen spürte, und sein Verhalten gegenüber den schwachen, tölpelhaften und doch menschlichen
Geschöpfen um ihn herum.
Jetzt würde er alle Schwüre brechen.
Er küßte Elenas kalte Stirn und legte sie unter einen Weidenbaum. Später, wenn alles vorbei war und er
noch die Kraft hatte, würde er wiederkommen, um mit ihr vereint zu sein.
Wie er vermutet hatte, war die unheimliche Macht über Bonnie und Meredith hinweggefegt und ihm gefolgt.
Doch sie hatte sich zurückgezogen und lauerte jetzt in den Schatten.
Er würde sie nicht zu lange warten lassen.
Durch Elenas Gewicht nicht mehr behindert, rannte er geschmeidig wie ein Raubtier die leere Straße
entlang. Der peitschende Eisregen und der heulende Wind störten ihn nicht. Seine Jagdinstinkte
durchdrangen mühelos das Chaos, das das Wetter anrichtete.
Er richtete seine ganzen Sinne darauf, das Wild aufzuspüren, das er brauchte. Jetzt nicht an Elena denken!
Erst später, wenn alles vorüber war.
Tyler und seine Freunde befanden sich immer noch in der Quonset-Hütte. Sie wußten nicht, wie ihnen
geschah, als plötzlich ein Fenster splitternd zerbrach und der Sturm hineinblies.
Stefan wollte töten, als er Tyler beim Hals packte und seine Zähne hineinsenkte. Das war einer seiner
Schwüre gewesen, niemals zu töten, und er wollte ihn brechen.
Aber einer der Schläger kam ihm in die Quere, bevor er seinen Vorsatz wahrmachen konnte. Der Typ
versuchte nicht, seinen angegriffenen Anführer zu verteidigen, sondern wollte nur abhauen. Es war sein
Pech, daß ihn der Fluchtweg an Stefan vorbeiführte. Stefan warf ihn zu Boden und griff ihn an.
Das frische Blut schenkte ihm neue Kraft, erwärmte ihn, rann durch seine Adern wie Feuer. Es schürte sein
Verlangen nach mehr.
Macht. Leben. Sie besaßen, was er brauchte. Er fühlte, wie seine Kraft nach langer Zeit endlich zurückkam.
Einen nach dem anderen schlug er die zu Boden, die ihn eigentlich hatten töten wollen, und stillte seinen
Hunger. Er war beim letzten angekommen, als er Caroline in der Ecke kauern sah.
Ihr Gesicht war furchtverzerrt, ihr weißer Mund formte lautlose Worte. Stefan packte sie bei der grünen
Schärpe ihres Kleides und zog sie auf die Füße. Sie stöhnte. Ihre Augen rollten, bis man nur noch das Weiße
darin sah. Er packte ihr langes, kastanienbraunes Haar, riß es zurück, bis der weißschimmernde Hals freilag,
und machte sich bereit, zuzustoßen. Caroline schrie auf und wurde ohnmächtig.
Er ließ sie fallen. Sein Hunger war sowieso gesättigt. Er hatte sich noch nie so stark gefühlt, so erfüllt von
Kraft.
Jetzt war er bereit für Damon.
Auf demselben Weg, wie er gekommen war, verließ er die Quonset-Hütte. Doch diesmal nicht in
menschlicher Gestalt. Ein prächtiger Jagdfalke flog aus dem Fenster und stieg zum Himmel hoch.
Die neue Form war wunderbar. Stark... und grausam. Sein Blick war schärfer als je zuvor. Er streifte über
die Eichen und suchte nach einer bestimmten Lichtung.
Er fand sie. Der Wind versuchte, ihn abzudrängen, aber der Falke stieß dennoch mit einem durchdringenden
Kampfschrei nach unten. Damon, der in menschlicher Gestalt dort stand, hob die Arme schützend vors
Gesicht, als der Vogel angriff.
Stefan riß blutige Fetzen Haut aus seinen Armen und hörte, wie Damon vor Wut und Schmerz aufschrie.
Ich bin nicht mehr dein schwacher, kleiner Bruder. Stefan schickte diesen Gedanken mit Wucht zu Damon.
Und diesmal will ich dein Blut.
Er fühlte Damons Haß, doch die Stimme in seinem Kopf klang spöttisch. So, das ist also der Dank dafür,
daß ich dich und deine Verlobte gerettet habe?
Stefan breitete die Schwingen aus und stieß erneut hinab. Er kannte nur noch ein Ziel. Töten. Er zielte auf
Damons Augen, und der Stock, den Damon aufgehoben hatte, fuhr peitschend an seinem neuen Körper
vorbei. Die Krallen des Falken bohrten sich in Damons Wange, und sein Blut floß. Gut.
Du hättest mich nicht am Leben lassen sollen, teilte er Damon mit. Du hättest uns beide zusammen töten
sollen.
Diesen Fehler korrigiere ich nur zu gern! Damon war zunächst überrumpelt worden, doch jetzt konnte
Stefan spüren, wie er Kraft sammelte, sich wappnete und bereit machte. Aber erst verrate mir einmal, wen
ich denn dieses Mal getötet haben soll.
Der Verstand des Falken konnte den Tumult der Gefühle nicht verarbeiten, den diese ironische Frage
hervorrief. Kreischend warf er sich wieder auf Damon, doch diesmal traf der schwere Stock sein Ziel.
Verletzt, mit einem hängenden Flügel ließ der Falke sich hinter Damons Rücken zu Boden fallen.
Stefan veränderte seine Gestalt sofort. Den Schmerz des gebrochenen Arms spürte er kaum. Bevor Damon
sich umdrehen konnte, packte er ihn. Die Finger seiner unverletzten Hand bohrten sich in den Hals des
Bruders und rissen ihn zu sich herum.
Als Stefan sprach, klang es fast wie ein sanftes Flüstern.
„Elena“, war die Antwort. Dann stürzte er sich auf Damons Kehle.
Es war dunkel, sehr kalt, und jemand war verletzt. Er brauchte Hilfe.
Aber sie war so entsetzlich müde.
Elenas Lider flatterten, öffneten sich, und die Dunkelheit verschwand. Was die Kälte betraf... sie fror
entsetzlich. Kein Wunder, denn ihr Körper war mit einer dünnen Eisschicht bedeckt.
Tief in ihrem Innersten wußte sie, daß es mehr als nur das war.
Was war geschehen? Sie war zu Hause gewesen und hatte geschlafen... Nein, heute war der Gründertag. Sie
hatte in der Cafeteria der Schule auf der Bühne gestanden.
Und jemand hatte sich lächerlich gemacht.
Es war zuviel, sie konnte nicht denken. Körperlose Gesichter erschienen vor ihrem geistigen Auge,
Satzfetzen klangen in ihren Ohren. Sie war total verwirrt.
Und so müde.
Besser weiterschlafen. Das Eis störte im Grunde nicht weiter. Sie wollte sich wieder hinlegen, da kamen die
Schreie zurück.
Sie hörte sie. Nicht mit ihren Ohren, sondern in ihrem Kopf. Schreie aus Wut, Schreie aus Schmerz. Jemand
war sehr unglücklich.
Elena saß ganz still und versuchte, Klarheit zu bekommen.
Am Rand ihres Blickfelds registrierte sie eine Bewegung. Ein Eichhörnchen. Sie konnte es riechen. Das war
merkwürdig, denn sie hatte noch nie den Geruch eines Eichhörnchens wahrgenommen. Es starrte sie mit
schwarzen Augen an, dann kletterte es rasch die Weide hoch. Elena fiel erst auf, daß sie nach dem Tierchen
gegriffen hatte, als sich die Finger ihrer leeren Hand in die Erde bohrten.
Unmöglich! Was wollte sie überhaupt mit einem Eichhörnchen? Sie dachte eine Minute darüber nach, dann
legte sie sich erschöpft zurück.
Die Schreie hielten an.
Sie versuchte, sich die Ohren zuzuhalten, aber nichts konnte sie zum Verstummen bringen. .Jemand war
verletzt, unglücklich und kämpfte um sein Leben. Das war die Lösung. Ein Kampf war im Gange.
Gut. Sie hatte es herausgefunden. Jetzt konnte sie schlafen.
Doch es klappte nicht. Die Schreie lockten sie, zogen sie an.
Sie fühlte einen unwiderstehlichen Drang, ihnen zu ihrer Quelle zu folgen.
Dann konnte sie endlich schlafen. Nachdem sie... ihn gesehen hatte.
Oh, ja. Alles kam zurück. Sie erinnerte sich an ihn. Er war derjenige, der sie verstand, der sie liebte. Mit ihm
wollte sie für immer zusammensein.
Sein Gesicht erhob sich als einziges klar aus dem Nebel, der in ihrem Kopf herrschte. Sie betrachtete es
liebevoll. Für ihn würde sie aufstehen und durch den entsetzlichen Eisregen wandern, bis sie zur richtigen
Lichtung kam. Bis sie ihn gefunden hatte und endlich mit ihm zusammen war.
Schon der bloße Gedanke daran erwärmte sie. In ihm brannte ein Feuer, das nur wenige erkennen konnten.
Sie jedoch sah es. Denn es glich dem Feuer, das in ihr selbst loderte.
Er schien im Moment in großen Schwierigkeiten zu sein. Das Kampfgetöse wurde lauter. Sie war nahe
genug, um es sowohl mit den Ohren wie auch im Kopf zu hören.
Dort, hinter der riesigen, uralten Eiche. Daher kam der Lärm. Er war dort, mit seinen schwarzen,
unergründlichen Augen und seinem geheimnisvollen Lächeln. Und er brauchte ihre Hilfe. Er würde sie
bekommen.
Elena schüttelte die Eiskristalle aus ihrem Haar und trat auf die Lichtung im Wald.
- ENDE DES ZWEITEN TEILS -
3. Teil : Der Zorn
1. KAPITEL Elena trat auf die Lichtung.
Unter ihren Füßen froren der Schlamm und die matschigen Blätter des abgefallenen Herbstlaubs zu Eis. Die Dämmerung war angebrochen. Obwohl der Sturm sich langsam legte, wurde es im Wald immer kälter. Elena spürte den eisigen Frost nicht. Auch die Dunkelheit machte ihr nichts aus. Ihre Pupillen waren weit geöffnet und fingen noch kleinste Spuren von Licht ein, die für das menschliche Auge schon nicht mehr wahrnehmbar waren. Sie konnte die beiden kämpfenden Männer unter der großen Eiche klar erkennen. Einer von ihnen hatte dickes, schwarzes Haar, das der Wind zu wilden Locken aufwühlte. Er war ein wenig größer als der andere. Obwohl Elena sein Gesicht nicht sehen konnte, wußte sie, daß seine Augen grün waren. Das Haar des anderen war ebenfalls schwarz, aber fein und glatt wie der Pelz eines Tieres. Sein geschmeidiger Körper verharrte in einer kauernden Haltung, wie ein Raubtier bereit zum Angriff. Seine Augen waren schwarz. Elena beobachtete beide einige Minuten bewegungslos. Sie hatte vergessen, warum sie gekommen war, warum sie das Echo des Kampflärms hergelockt hatte. Wieder vernahm sie in ihrem Kopf fast ohrenbetäubend die lautlosen Schreie von Wut, Haß und Schmerz, die von den Gegnern ausgingen. Kein Zweifel, es tobte ein Kampf auf Leben und Tod. Wer wird wohl gewinnen? dachte sie. Beide waren verwundet und bluteten. Der linke Arm des Größeren hing in einem unnatürlichen Winkel hinunter. Trotzdem hatte er seinen Gegner gerade gegen den knorrigen Stamm der Eiche geworfen. Sein Zorn war so stark, daß Elena ihn nicht nur hören, sondern auch fühlen und schmecken konnte. Sie wußte, daß die Wut ihm diese ungeheure Kraft verlieh. Und jetzt fiel ihr wieder ein, warum sie gekommen war. Wie hatte sie es vergessen können? Er war verletzt. Sein Wille hatte sie herbefohlen und sie mit Schockwellen von Wut und Schmerz überflutet. Sie war gekommen, um ihm zu helfen, weil sie zu ihm gehörte. Die beiden Gestalten lagen jetzt auf dem eisigen Boden und bekämpften sich wie Wölfe. Schnell und leise trat Elena zu ihnen. Der mit dem lockigen Haar und den grünen Augen - Stefan -, flüsterte eine innere Stimme ihr zu, war oben. Seine Finger krallten sich in die Kehle des anderen. Zorn übermannte Elena. Sie griff zwischen die beiden, um die würgende Hand zu packen und die Finger zu lösen. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß sie zu schwach dazu sein könnte. Sie war stark genug, so einfach war es. Sie setzte ihr ganzes Gewicht ein und riß ihren Feind von seinem Gegner fort. Um sicherzugehen, schlug sie hart auf seinen verwundeten Arm und warf ihn flach mit dem Gesicht nach unten in das matschige, eisige Laub. Dann begann sie ihn von hinten zu würgen. Ihr Überfall hatte ihn überrascht, aber er gab sich noch lange nicht geschlagen. Er schlug zurück, seine gesunde Hand suchte nach ihrer Kehle, und sein Daumen bohrte sich in ihren Hals. Elena schnappte unwillkürlich mit den Zähnen nach der Hand. Ihr Verstand konnte es nicht begreifen, aber ihr Körper wußte, was zu tun war. Ihre Zähne waren eine Waffe. Sie durchbohrten das Fleisch und brachten es zum Bluten. Aber er war stärker als sie. Mit einer raschen Bewegung befreite er sich aus ihrem Griff und warf sie zu Boden. Dann war er über ihr. Sein Gesicht war wutverzerrt. Sie fauchte ihn an und stach mit den Fingernägeln nach seinen Augen. Er schlug ihre Hand einfach weg. Er würde sie töten. Sogar verwundet war er der Stärkere. Aus seinem Mund ragten scharfe Zähne hervor, die bereits rot befleckt waren. Wie eine Kobra war er bereit, zuzustoßen. Dann hielt er plötzlich inne, und sein Gesicht veränderte sich. Elena sah, wie die grünen Augen sich weiteten. Die Pupillen, die zu kleinen Löchern zusammengezogen gewesen waren, sprangen auf. Er starrte sie an, als würde er sie zum ersten Mal richtig sehen. Warum dieser Blick? Warum brachte er es nicht einfach zu Ende? Aber jetzt löste sich der eiserne Griff von ihrer Schulter. Die wutverzerrte Maske verschwand und wandelte sich in Verwirrung und ungläubiges Staunen. Er setzte sich zurück, half ihr, sich aufzurichten, und sah dabei die ganze Zeit in ihr Gesicht. „Elena“, flüsterte er. Seine Stimme klang gebrochen. „Elena, du bist es.“ Ist das mein Name? dachte sie. Elena? Es war im Grunde egal. Sie warf einen Blick auf die alte Eiche. Er war immer noch dort. Stand keuchend zwischen den aufgeworfenen Wurzeln und stützte sich mit einer Hand am Stamm ab. Er blickte sie mit seinen unergründlichen schwarzen Augen ernst an.
Mach dir keine Sorgen, dachte sie. Ich werde mit dem hier schon fertig. Der ist dumm. Sie warf sich
fauchend auf den grünäugigen Fremden.
„Elena!“ schrie er, als sie ihn erneut zu. Boden werfen wollte. Seine gesunde Hand griff nach ihr, wollte sie
aufhalten. „Ich bin's, Stefan! Elena, sieh mich an!“
Das tat sie. Doch alles, was sie interessierte, war der entblößte Fleck an seinem Hals. Sie fauchte wieder,
zog die Unterlippe zurück und zeigte ihm ihre Zähne.
Er erstarrte.
Sie fühlte, wie das Entsetzen durch seinen Körper fuhr, sah, wie sein Blick sich wandelte. Sein Gesicht
wurde weiß, als hätte ihn jemand in den Magen geboxt. Er schüttelte leicht den Kopf und senkte ihn.
„Nein“, flüsterte er. „Nein.“
Er schien es zu sich selbst zu sagen, als ob er nicht erwarten würde, daß sie ihn hörte. Sanft streckte er eine
Hand nach ihrer Wange aus, und sie biß danach.
„Oh, Elena“, flüsterte er wieder.
Die letzten Spuren von Wut, von wilder Gier nach Blut waren aus seinem Gesicht verschwunden. Sein Blick
war wie betäubt, leidend und voller Trauer.
Und damit wurde er verwundbar. Elena nutzte die Gunst des Augenblicks und stürzte sich auf die freie
Stelle seines Halses. Er hob den Arm, um sie abzuwehren, ließ ihn jedoch wieder sinken.
Er sah sie einen Moment lang an, der Schmerz in seinem Blick wurde unsagbar groß. Dann gab er einfach
auf. Er hörte völlig auf zu kämpfen.
Sie fühlte, wie es passierte. Wie jeder Widerstand seinen Körper verließ. Er legte sich auf den gefrorenen
Boden und blickte an ihr vorbei in den wolkenverhangenen Himmel.
Mach ein Ende, hörte sie seine müde Stimme in ihrem Kopf.
Elena zögerte kurz. Etwas in seinen Augen rief Erinnerungen in ihr wach. Sie standen gemeinsam im
Mondlicht... saßen in einer Dachkammer... Aber die Fetzen waren zu schwach. Sie konnte sie nicht
festhalten, und die Anstrengung ließ sie schwindlig werden.
Der hier mußte sterben. Dieser grünäugige Fremde mit dem Namen Stefan. Denn er hatte ihn verletzt, den
anderen, der von Elenas Geburt an als ihr Partner bestimmt war. Niemand durfte ihm etwas antun und
überleben.
Sie schlug ihre Zähne in Stefans Hals und biß tief zu.
Sofort fiel ihr auf, daß sie es nicht richtig machte. Sie hatte weder eine Arterie noch eine Vene getroffen und
wurde wütend über ihre eigene Unfähigkeit. Es fühlte sich gut an, zu beißen. Doch es wollte kein Blut
kommen. Frustriert hob sie den Kopf und versuchte es erneut. Sie spürte, wie sein Körper vor Schmerz
zusammenzuckte.
Viel besser. Diesmal hatte sie eine Vene gefunden, aber sie hatte nicht tief genug gebissen. Ein kleiner
Kratzer, nein, das genügte ihr nicht.
Elena fühlte, wie ihr Feind erschauderte, als sie ihr Werk fortsetzte. Bohrend und reißend trieb sie ihre
Zähne in seinen Hals und merkte, wie das Fleisch nachgab, als sie plötzlich von hinten gepackt und
hochgehoben wurde.
Elena fauchte, ohne sich von Stefans Hals zu lösen. Doch der Griff war fest und bestimmend. Ein Arm wand
sich um ihre Taille, Finger packten ihr Haar. Sie wehrte sich und klammerte sich mit Zähnen und
Fingernägeln an ihr Opfer.
Laß ihn los! Laß ihn! Die Stimme war scharf und befehlend wie ein eisiger Windstoß. Elena erkannte sie und hörte auf, gegen die
Hände anzukämpfen, die sie wegziehen wollten. Während der andere sie auf den Boden legte und sie zu ihm
aufblickte, fiel ihr ein Name ein. Damon. Sein Name war Damon. Sie sah ihn mürrisch an, war böse auf ihn,
weil er sie am Töten gehindert hatte, aber dennoch gehorsam.
Stefan setzte sich auf. Sein Hals war rot von Blut, das über sein Hemd lief. Elena leckte sich die Lippen. Sie
spürte plötzlich einen entsetzlichen Hunger.
„Hattest du nicht behauptet, sie sei tot?“ fragte Damon laut. Er sah Stefan an, der noch bleicher war als
zuvor, soweit das überhaupt möglich war. Sein weißes Gesicht war von entsetzlicher Hoffnungslosigkeit
erfüllt.
„Schau sie dir an“, war alles, was er erwiderte.
Eine Hand legte sich unter Elenas Kinn und hob ihr Gesicht. Sie blickte offen in Damons verengte, dunkle Augen. Seine langen, geschmeidigen Finger berührten ihre Lippen, tasteten zwischen ihnen. Instinktiv versuchte Elena zu beißen, aber nicht sehr fest. Damon fand die scharfe Krümmung eines Eckzahns, und Elena knabberte sanft wie ein Kätzchen an seiner Fingerspitze.
Damons Gesicht war völlig ausdruckslos, sein Blick hart.
„Weißt du, wo wir sind?“ fragte er sie.
Elena blickte sich um. Bäume. „Im Wald?“ erwiderte sie vorsichtig und sah wieder zu ihm.
„Und wer ist das?“
Ihre Augen folgten seinem ausgestreckten Finger. „Stefan“, antwortete sie ohne jedes Gefühl. „Dein Bruder.“
„Und wer bin ich? Weißt du, wer ich bin?“
Sie lächelte ihn an und zeigte ihre spitzen Zähne. „Natürlich. Du bist Damon, und ich liebe dich.“
2. KAPITEL Stefans Stimme war beherrscht, aber voller Wut. „Das wolltest du doch, nicht wahr, Damon? Und jetzt hast
du es erreicht. Du hast sie in eine von uns verwandelt. Es war dir nicht genug, sie nur zu töten.“
Damon blickte nicht zu ihm hin. Er musterte Elena, immer noch neben ihr kniend und ihr Kinn haltend.
„Das ist das dritte Mal, daß du das behauptest, und ich bin es allmählich leid“, sagte er leise. Obwohl seine
Kleidung zerrauft war und er von der Anstrengung des Kampfes leicht nach Atem rang, hatte er die
Situation und sich selbst unter Kontrolle. „Elena, habe ich dich getötet?“
„Natürlich nicht“, erwiderte sie und schlang ihre Finger um seine freie Hand. Sie wurde ungeduldig. Wovon
redeten sie? Niemand war getötet worden.
„Ich hätte dich niemals für einen Lügner gehalten.“ Die Bitterkeit in Stefans Stimme war unverändert.
„Alles andere, ja. Aber das nicht. Ich habe nie erlebt, daß du dich hinter Ausflüchten versteckst.“
„Noch eine Minute, und ich verliere die Beherrschung“, drohte Damon.
„Was könntest du mir denn wohl noch antun?“ entgegnete Stefan. „Mich töten? Sei barmherzig. Los,
mach's. Es wäre eine Erlösung für mich.“
„Barmherzigkeit? Dieses Wort kenne ich schon seit einem Jahrhundert nicht mehr“, spottete Damon. Er ließ
endlich Elenas Kinn los. „Denk an den heutigen Tag. Woran erinnerst du dich?“ fragte er sie.
Elenas Stimme klang müde wie die eines Kindes, das eine verhaßte Lektion aufsagt. „Heute waren die
Festlichkeiten zum Gründungstag.“ Sie schmiegte ihre Fingerfester um seine Hand. So weit kam sie allein,
doch es war nicht genug. Frustriert versuchte sie, sich mehr ins Gedächtnis zurückzurufen.
„Da war jemand in der Cafeteria... Caroline.“ Erfreut, daß sie etwas gefunden hatte, bot sie ihm den Namen
an. „Sie wollte vor allen aus meinem Tagebuch vorlesen, und das war schlimm, weil...“ Elena verlor den
Faden. „Ich weiß nicht mehr, warum. Aber wir haben sie überlistet.“ Sie lächelte Damon warm und
verschwörerisch an.
„Oh, ,wir'. Das haben wir tatsächlich?“
„Ja. Du hast es ihr gestohlen. Du hast es für mich getan.“ Die Finger ihrer freien Hand krochen unter seine
Jacke und suchten nach dem kleinen Buch. „Weil du mich liebst.“ Sie fand es und fuhr leicht kratzend mit
den Nägeln darüber. „Das stimmt doch, oder?“
Ein leises, klagendes Geräusch kam von der Mitte der Lichtung. Elena sah hin. Stefan hatte den Kopf
abgewandt.
„Was ist dann geschehen, Elena?“ drang Damon weiter in sie.
„Danach? Tante Judith und ich haben gestritten.“ Elena dachte einen Moment darüber nach und zuckte mit
den Achseln. „Über... irgendwas. Ich wurde wütend. Sie ist nicht meine Mutter. Sie kann mir nicht
vorschreiben, was ich tun soll.“
„Ich glaube nicht, daß das in Zukunft noch ein Problem sein wird“, erwiderte Damon trocken. „Weiter.“
Elena seufzte schwer. „Dann habe ich mir Matts Auto geliehen. Matt.“ Sie wiederholte den Namen
nachdenklich und fuhr sich mit der Zunge über die scharfen Zähne. Vor ihrem geistigen Auge tauchte ein
gutaussehender Junge mit blondem Haar und breiten Schultern auf. „Matt?“
„Und wo bist du mit Matts Auto hingefahren?“
„Zur Wickery-Brücke“, antwortete Stefan für sie und drehte sich zu ihnen um. Sein Blick war verzweifelt.
„Nein, zur Pension“, verbesserte Elena ihn gereizt. „Ich wollte warten auf... Mm, ich hab's vergessen. Jedenfalls war ich dort. Dann... dann hat das Unwetter angefangen. Wind, Regen, all das. Mir gefiel das nicht. Ich bin wieder eingestiegen. Aber etwas hat mich verfolgt.“ „Jemand hat dich verfolgt.“ Stefan sah Damon scharf an. „Etwas“, beharrte Elena. Sie hatte genug von seinen Unterbrechungen. „Gehen wir irgendwohin, wo wir allein sein können“, sagte sie zu Damon, richtete sich auf die Knie auf und lehnte sich nach vorn, bis ihr Gesicht ganz nah an seinem war. Gleich. Was für ein ‚Ding’ hat dich verfolgt?“ Sie setzte sich aufgebracht zurück. „Weiß ich doch nicht! So etwas habe ich noch nie gesehen. Es war nicht wie du oder Stefan. Es war...“ Bilder tauchten vor ihr auf. Nebel, der über dem Boden wirbelte. Der heulende Wind. Eine riesige Gestalt, die aussah wie aus weißen Dunstschleiern geschaffen. Die sie verfolgte, wie eine vom Stumm gepeitschte Wolke. „Vielleicht gehörte das alles zu dem Unwetter“, überlegte sie. „Aber ich hatte das Gefühl, es wollte mich verletzen. Ich konnte jedoch fliehen.“ Sie spielte mit dem Reißverschluß von Damons Lederjacke, lächelte ihn an und schenkte ihm einen verführerischen Blick durch ihre langen Wimpern. Zum ersten Mal zeigte sich eine Regung auf Damons Gesicht. Seine Lippen verzerrten sich. „Du konntest also fliehen?“ „Ja. Daran erinnere ich mich... jemand... hatte mir etwas von fließendem Wasser erzählt. Böse Dinge können es nicht überqueren. Deshalb bin ich in Richtung Drowning Creek zur Brücke gefahren. Und dann...“ Sie zögerte und versuchte, sich in der erneut aufsteigenden Verwirrung an etwas Konkretes zu erinnern. Wasser. Ja, da war Wasser gewesen. Und jemand hatte geschrien. Aber sonst war alles leer. „Und ich habe es überquert“, schloß sie schließlich lebhaft. „Muß ja sein, denn ich bin hier. Das war alles. Können wir jetzt gehen?“ Damon schwieg. „Das Auto liegt noch unten im Fluß“, sagte Stefan. Die beiden Brüder sahen sich an wie zwei Erwachsene, die sich über den Kopf eines kleinen Kindes hinweg unterhalten. Ihre Feindschaft war im Augenblick vergessen. Elena wurde sauer. Sie öffnete den Mund, aber Stefan fuhr fort: „Bonnie, Meredith und ich haben sie gefunden. Ich bin getaucht und habe sie hochgeholt, doch da war sie schon...“ War ich was? Elena runzelte die Stirn. Damon verzog spöttisch die Lippen. „Und du hast sie einfach aufgegeben? Ausgerechnet du hättest doch vermuten müssen, was geschehen könnte. Oder war dir diese Vorstellung so sehr zuwider, daß du sie nicht einmal ins Auge fassen wolltest? Wäre es dir lieber gewesen, wenn sie tatsächlich gestorben wäre?“ „Sie hatte keinen Puls, hat nicht mehr geatmet!“ fuhr Stefan ihn wütend an. „Und sie hatte nicht genug Blut bekommen, um die Umwandlung durchzumachen!“ Sein Blick verhärtete sich. „Jedenfalls nicht von mir!“ Elena öffnete wieder den Mund, doch Damon legte ihr zwei Finger auf die Lippen, um sie zum Schweigen zu bringen. „Das ist jetzt das Problem - oder bist du zu blind, um es zu erkennen? Du hast mir geraten, sie anzusehen. Sieh sie dir selbst einmal an! Sie hat einen Schock, ist total von Sinnen. Oh, ja, sogar ich muß das zugeben.“ Er hielt einen Moment inne und lächelte. „Das ist die normale Verwirrung so kurz nach der Umwandlung. Sie braucht Blut, menschliches Blut, oder ihr Körper wird keine Kraft haben, das Werk zu beenden. Und sie wird sterben.“ Von wegen verwirrt, dachte Elena beleidigt. „Mir geht es gut“, sagte sie und leckte an Damons Fingern, die immer noch ihren Mund bedeckten. „Ich bin zwar ein bißchen müde, aber das ist alles. Ich wollte gerade schlafen, als ich euch beide kämpfen hörte, und kam, um dir zu helfen, Damon. Und dann hast du noch nicht einmal zugelassen, daß ich ihn töte“, schloß sie angewidert. „Ja, warum hast du sie daran gehindert?“ Stefan starrte Damon eindringlich an. Jede Kameradschaft von seiner Seite aus war wieder verschwunden. „So wäre es doch das einfachste gewesen.“ Damon erwiderte seinen Blick, und mit einem Schlag kam auch seine Feindschaft zurück. Sein Atem ging schnell und leicht. „Vielleicht mag ich die Dinge nicht einfach“, zischte er. Dann schien er sich wieder unter Kontrolle zu haben. Die Lippen spöttisch verzogen, fügte er hinzu: „Wir wollen es einmal so ausdrücken, lieber Bruder. Wenn jemand das Vergnügen haben sollte, dich zu töten, dann werde ich es sein. Und niemand anders. Ich habe vor, diese Aufgabe persönlich zu übernehmen. Und ich werde sie sehr, sehr gut machen, das verspreche ich dir.“ „Daß du das kannst, hast du uns ja bereits bewiesen“, sagte Stefan leise, als würde jedes Wort ihn anwidern.
„Aber unsere Kleine hier“, Damon sah Elena mit blitzenden Augen an, „habe ich nicht getötet. Warum sollte
ich auch? Ich hätte sie doch jederzeit zu meinem Geschöpf machen können.“
„Vielleicht, weil du sie zu verlieren drohtest, weil sie sich gerade mit einem anderen verlobt hatte, den sie
heiraten wollte?“
Damon hob Elenas Hand. Ihre Finger waren immer noch um seine geschlungen. Am Ringfinger glitzerte der
Goldring mit dem dunkelblauen Stein. Elena betrachtete ihn stirnrunzelnd und erinnerte sich flüchtig, ihn
vorher schon einmal gesehen zu haben. Dann zuckte sie mit den Schultern und lehnte sich müde an Damon.
„Nun.“ Damon sah zu ihr hinunter. „Das scheint mir kein Problem mehr darzustellen, nicht wahr?“ Er
schenkte Stefan ein böses Lächeln. „Aber das werden wir genau herausfinden, wenn sie wieder sie selbst ist.
Wir können sie fragen, wen von uns beiden sie wählen will. Einverstanden?“
Stefan schüttelte den Kopf. „Wie kannst du so etwas auch nur vorschlagen? Nach allem, was passiert ist
mit...“ Seine Stimme verklang.
„Mit Katherine? Gut, ich spreche es laut aus, wenn du es nicht über dich bringst. Katherine hat eine dumme
Entscheidung getroffen, und sie hat den Preis dafür gezahlt. Elena ist anders. Sie weiß, was sie will. Es ist
völlig egal, ob du meiner Meinung bist oder nicht“, fügte er hinzu und überging Stefans Protest. „Tatsache
ist, daß sie im Moment sehr schwach ist und Blut braucht. Ich werde dafür sorgen, daß sie es bekommt, und
dann werde ich den finden, der ihr das angetan hat. Du kannst mir dabei helfen oder nicht. Mach, was du
willst.“
Er stand auf und zog Elena mit sich. „Gehen wir.“
Elena kam bereitwillig mit. Sie freute sich, ihre Glieder wieder bewegen zu können. Der Wald bei Nacht
war so interessant. Vorher war ihr das nie aufgefallen.
Traurig und gespenstisch drangen die Schreie der Eulen durch das Dickicht der Bäume, und raschelnd
flohen die Mäuse am Boden vor ihnen. An manchen Stellen war die Luft kälter, da der Frost sich zuerst in
den Niederungen und Vertiefungen festsetzte. Elena bereitete es keine Mühe, lautlos neben Damon über das
Laub zu schreiten. Sie mußte nur aufpassen, wo sie hintrat. Ob Stefan ihnen folgte, war ihr egal.
Sie erkannte die Stelle, an der sie den Wald verließen, denn sie war heute schon früher am Tag einmal da
gewesen. Jetzt herrschte dort ein hektisches Treiben. Rote und blaue Lichter flackerten von den
Autodächern, und Scheinwerfer beleuchteten die dunklen Gestalten der Menschen.
Elena betrachtete die Gesichter neugierig. Einige kamen ihr bekannt vor. Eine Frau, zum Beispiel, mit
dünnen, verhärmten Zügen und angsterfüllten Augen - Tante Judith? Und der große Mann neben ihr -Tante
Judiths Verlobter, Robert?
Es müßte noch jemand bei ihnen sein, dachte Elena. Ein Kind, dessen Haare so blond waren wie ihre
eigenen. Aber so sehr sie sich auch bemühte, der Name fiel ihr nicht ein.
An die beiden Mädchen jedoch, die, die Arme trostsuchend umeinander geschlungen, in einem Kreis von
Polizeibeamten standen, an die erinnerte sie sich. Die Kleine mit dem roten Haar, die weinte, war Bonnie.
Und die Größere mit der langen, dunklen Mähne, Meredith.
„Aber sie ist nicht im Wasser“, sagte Bonnie gerade zu einem Mann in Uniform. Ihre Stimme zitterte. Sie
war am Ende ihrer Beherrschung. „Wir haben gesehen, wie Stefan sie herausgeholt hat. Das habe ich Ihnen
wieder und wieder erklärt.“
„Und Sie haben ihn hier mit ihr allein gelassen?“
„Wir hatten keine andere Wahl. Der Sturm wurde immer schlimmer, und etwas näherte sich...“
„Das ist jetzt auch egal“, unterbrach Meredith. Sie schien nur ein wenig ruhiger als Bonnie. „Stefan sagte,
wenn... wenn er sie allein lassen müßte, würde er sie unter eine Weide legen.“
„Und wo ist dieser Stefan jetzt?“ fragte ein weiterer Beamter scharf.
„Wir wissen es nicht. Wir sind zurückgelaufen, um Hilfe zu holen. Wahrscheinlich ist er uns gefolgt. Aber
was mit... mit Elena...“ Bonnie wandte sich ab und verbarg ihr Gesicht an Merediths Schulter.
Sie sind traurig meinetwegen, dachte Elena. Wie dumm von ihnen. Ich kann alles aufklären. Sie wollte auf
die Lichter zugehen, doch Damon zog sie zurück. Verletzt sah sie ihn an.
„Nicht so. Such dir die aus, die du willst, und ich hole sie dir“, sagte er.
„Wozu aussuchen?“
„Für deine Nahrung, Elena. Du bist jetzt eine Jägerin. Das ist dein Wild.“
Elena strich mit der Zunge zweifelnd über einen scharfen Eckzahn. Nichts da draußen sah für sie nach
Nahrung aus. Aber weil Damon es gesagt hatte, protestierte sie nicht. „Wie du meinst“, erwiderte sie
gehorsam.
Damon warf den Kopf zurück und betrachtete die Szene kritisch wie ein Experte, der ein berühmtes
Gemälde beurteilt. „Nun, wie wäre es mit ein paar netten Sanitätern?“
„Nein“, meldete sich eine Stimme hinter ihnen.
Damon blickte flüchtig über die Schulter auf Stefan. „Warum nicht?“
„Es hat genug Überfälle gegeben. Kann sein, daß sie menschliches Blut braucht. Aber sie wird nicht dafür
jagen müssen.“ Stefans Miene war verschlossen und ernst, doch gleichzeitig unnachgiebig.
„Gibt es einen anderen Weg?“ fragte Damon spöttisch.
„Das weißt du genau. Wir müssen jemanden finden, der freiwillig bereit ist oder dazu gebracht werden kann.
Jemand, der es für Elena tun würde und stark genug ist, es geistig zu verkraften.“
„Und du kennst so einen Ausbund an Tugend?“
„Bring sie in die Schule. Wir treffen uns dort“, erklärte Stefan kurz und verschwand.
Sie verließen den Ort. Während sie sich von dem hektischen Treiben entfernten, fiel Elena etwas
Merkwürdiges auf. Mitten im Fluß, von den Scheinwerfern angestrahlt, lag ein Auto. Bis auf die vordere
Stoßstange, die aus dem Wasser herausragte, war es völlig in den Fluten versunken.
Was für ein verrückter Platz, ein Auto zu parken, dachte sie und folgte Damon zurück in den Wald.
Stefans Gefühle kehrten langsam zurück.
Es schmerzte. Er hatte geglaubt, den Schmerz und damit jedes Gefühl längst überwunden zu haben. Als er
Elenas leblosen Körper aus dem Wasser gezogen hatte, hatte er gedacht, jenseits aller Qualen zu sein, denn
nichts würde den brutalen Schock dieses Augenblicks jemals übertreffen können.
Er hatte sich geirrt.
Stefan blieb stehen, stützte sich mit seiner gesunden Hand an einem Baumstamm ab, senkte den Kopf und
atmete tief ein. Als sich der rote Nebel vor seinen Augen verzogen hatte und er wieder richtig sehen konnte,
ging er weiter. Doch das schreckliche Brennen in seiner Brust hielt unvermindert an. Hör auf, an sie zu
denken, ermahnte er sich und wußte gleichzeitig, daß es sinnlos war.
Aber sie war nicht richtig tot. Zählte das denn gar nicht? Er hatte gedacht, nie mehr ihre Stimme zu hören,
nie mehr ihre Berührung zu spüren...
Und jetzt, wenn sie die Hand nach ihm ausstreckte, wollte sie ihn töten!
Er blieb wieder stehen, krümmte sich zusammen. Sein Magen revoltierte.
Elena in diesem Zustand... Das war eine größere Folter für ihn, als sie kalt und leblos daliegen zu sehen.
Vielleicht hatte Damon ihn deswegen am Leben gelassen. Vielleicht war das seine Rache.
Und vielleicht sollte er gerade jetzt das tun, was er sich vorgenommen hatte, nachdem er Damon getötet
hätte. Nämlich warten, bis die Morgendämmerung kam, und den Ring abziehen, der ihn vor der Sonne
bewahrte. Dann wollte er sich der feurigen Umarmung ihrer Strahlen aussetzen, bis sie das Fleisch von
seinen Knochen gebrannt hatte und der Schmerz für immer vorbei war.
Aber er würde es nicht tun. Solange Elena auf dieser Welt war, würde er sie niemals verlassen. Selbst, wenn
sie ihn haßte und jagte. Er würde alles tun, um sie zu schützen.
Stefan machte einen Umweg in seine Pension. Er mußte sich erst säubern, bevor er sich unter die Menschen
wagen konnte. In seinem Zimmer wusch er das Blut von Gesicht und Hals und untersuchte seinen Arm. Der
Heilungsprozeß hatte bereits begonnen. Mit etwas Konzentration konnte er ihn noch weiter beschleunigen.
Seine übernatürlichen Kräfte verbrauchten sich rasch. Der Kampf mit seinem Bruder hatte ihn bereits
geschwächt. Aber das hier war zu wichtig. Nicht wegen des Schmerzes, den spürte er kaum. Sondern für
Elena.
Damon und Elena warteten vor der Schule. Stefan konnte die Ungeduld seines Bruders fühlen und die neue,
fremde Wildheit, die von Elena ausging.
„Ich hoffe, du weißt, was du tust“, meinte Damon trocken.
Stefan schwieg. In der Aula herrschte Aufregung. Menschen, die sich eigentlich auf dem Ball zum
Gründungstag hatten amüsieren wollen und dem Sturm zum Trotz geblieben waren, liefen unruhig herum
oder standen in kleinen Gruppen zusammen und diskutierten. Stefan schaute durch die offene Tür und
versuchte, die Aura einer bestimmten Person aufzufangen.
Er fand sie. Ein blonder Kopf war über einen Tisch in der Ecke gebeugt. Matt. Matt richtete sich auf und sah sich verwirrt um. Stefan zwang ihn durch seine Willenskraft, nach draußen zu
kommen. Du brauchst frische Luft. Er flößte diesen Gedanken Matt ein. Du willst unbedingt einen Moment
vor die Tür gehen.
Zu Damon, der unsichtbar gerade außerhalb des Lichtkreises stand, bedeutete er: Bring sie in die Schule. Ins
Photolabor. Sie weiß, wo das ist. Zeigt euch nicht, bis ich es euch sage.
Dann zog er sich zurück und wartete auf Matt.
Matt kam. Er starrte mit traurigem Gesicht auf den mondlosen Himmel. Als Stefan ihn ansprach, zuckte er
heftig zusammen. „Stefan! Du bist hier!“ Verzweiflung, Hoffnung und Entsetzen wechselten sich auf seinen
Zügen ab. Er lief zu ihm hinüber. „Haben sie... sie zurückgebracht? Gibt es etwas Neues?“
„Was hast du bisher erfahren?“
Matt starrte ihn einen Moment an, bevor er antwortete. „Bonnie und Meredith kamen her und berichteten,
daß Elena mit meinem Auto von der Wickery-Brücke gestürzt sei. Daß sie...“ Er hielt inne und schluckte.
„Stefan, das ist nicht wahr, bitte!“ Seine Augen flehten ihn an.
Stefan wandte den Blick ab.
„Oh, mein Gott“, sagte Matt mit gebrochener Stimme. Er kehrte Stefan den Rücken zu und preßte die
Handrücken auf die Augen. „Ich kann es nicht glauben, ich kann nicht. Das darf einfach nicht wahr sein.“
„Matt...“ Stefan berührte seine Schulter.
„Tut mir leid“, erwiderte Matt heiser. „Es muß die Hölle für dich sein, und ich mache alles noch
schlimmer.“
Mehr, als du ahnst, dachte Stefan. Er ließ seine Hand fallen. Zunächst hatte er vorgehabt, Matt mit seinen
übernatürlichen Kräften zu beeinflussen. Aber das war ihm jetzt unmöglich.
Also gab es nur noch eins, ihm die Wahrheit zu sagen. Wenn er alles wußte, sollte er seine eigene Wahl
treffen.
„Wenn du jetzt, in diesem Moment, etwas für Elena tun könntest, würdest du es tun?“ fragte er.
Matt war zu sehr in seinem Schmerz gefangen, um darüber nachzudenken, daß die Frage zu diesem
Zeitpunkt eigentlich völlig idiotisch war. „Alles“, antwortete er und rieb sich mit dem Ärmel über die
Augen. „Ich würde alles für sie tun.“ Er schaute Stefan fast herausfordernd an. Sein Atem kam in
unregelmäßigen, schnellen Stößen.
Herzlichen Glückwunsch, Matt, dachte Stefan müde und traurig. Du hast soeben eine Reise ins Herz der
Finsternis gewonnen.
„Komm mit“, sagte er laut. „Ich möchte dir etwas zeigen.“
3. KAPITEL Elena und Damon warteten in der Dunkelkammer. Stefan konnte ihre Anwesenheit in dem kleinen Raum
spüren, als er die Tür zum Photolabor aufstieß und Matt hineinführte.
„Die Türen sollten eigentlich verschlossen sein“, wunderte sich Matt, während Stefan das Licht einschaltete.
„Das waren sie auch.“ Stefan wußte nicht, wie er den Freund auf das Kommende vorbereiten sollte. Er hatte
seine wahre Natur noch nie freiwillig einem Menschen enthüllt.
Schweigend blieb er stehen, bis Matt sich umdrehte und ihn ansah. Während sich der Augenblick endlos
hinzuziehen schien, beobachtete er, wie Matts Gesichtsausdruck sich langsam von stumpfer Trauer in
Unbehaglichkeit wandelte.
„Ich verstehe nicht“, sagte er unsicher.
„Ich weiß.“ Stefan schaute ihn weiter an und ließ dabei absichtlich die Barrieren fallen, die seine
übernatürlichen Kräfte vor den Menschen verbargen. Er beobachtete, wie sich Angst auf Matts Gesicht
ausbreitete. Matt blinzelte und schüttelte den Kopf. Sein Atem ging schneller.
„Was...?“ fragte er mit heiserer Stimme.
„Es gibt sicher ein paar Dinge an mir, über die du dich schon gewundert hast“, fuhr Stefan fort. „Zum
Beispiel, warum ich bei starkem Licht eine Sonnenbrille trage. Warum ich nichts esse. Warum meine
Reflexe so schnell sind.“
Matt stand jetzt mit dem Rücken zur Dunkelkammer. Seine Kehle arbeitete heftig, als wollte er versuchen zu schlucken. Stefan konnte mit den Instinkten eines Jägers spüren, daß sein Herz wie das eines gefangenen Tieres hektisch schlug. „Nein“, brachte Matt hervor. „Aber du mußt darüber nachgedacht haben, mußt dich gefragt haben, warum ich mich so von den anderen unterscheide.“ „Nein. Das heißt... es ist mir egal. Ich halte mich aus Dingen heraus, die mich nichts angehen.“ Matt wollte zur Tür. Sein Blick ging kaum merklich in diese Richtung. „Nicht, Matt. Ich möchte dich nicht verletzen, kann aber nicht zulassen, daß du jetzt gehst.“ Stefan fühlte aus dem Versteck Elenas kaum verhüllte Not. Warte, bedeutete er ihr auf telepathischem Weg. Matt gab jeden Gedanken an Flucht auf. „Wenn du mir angst machen wolltest, ist dir das gelungen“, erklärte er leise. „Was willst du?“ Komm, gab Stefan Elena zu verstehen. Zu Matt sagte er: „Dreh dich um.“ Matt tat es und unterdrückte einen Schrei. Elena stand da. Aber es war nicht die Elena von diesem Nachmittag, als Matt sie zum letzten Mal gesehen hatte. Jetzt schauten ihre Füße nackt unter dem Saum des langen Kleides hervor. Die dünnen Falten des weißen Musselins, die an ihrem Körper klebten, waren mit Eiskristallen übersät. Sie funkelten im Licht. Von ihrer Haut, immer schon weiß und zart, ging ein frostiger Schimmer aus. Und über ihrem hellblonden Haar schien ein silbriger Glanz zu liegen. Aber der wahre Unterschied war in ihrem Gesicht zu erkennen. Diese tiefblauen Augen unter den schweren Lider blickten schläfrig und doch unnatürlich wach. Um ihre Lippen spielte ein Ausdruck sinnlicher Vorfreude, gepaart mit wildem Hunger. Sie war schöner, als sie es je in ihrem Leben gewesen war, doch diese Schönheit war furchteinflößend. Matt starrte sie wie gebannt an. „Matt“, sagte Elena erfreut. Sie zog seinen Namen in die Länge und lächelte dabei. Stefan hörte, wie Matt ungläubig tief Atem holte und fast schluchzend die Luft wieder ausstieß, während er gleichzeitig vor ihr zurückwich. Es ist alles gut. Stefan schickte ihm diesen Gedanken mit der ganzen Macht seiner telepathischen Kräfte. Als Matt die Botschaft erreichte, traf es ihn wie ein Schock. Er fuhr zu Stefan herum, die Augen vor Schreck weit aufgerissen. „Jetzt weißt du also Bescheid“, fügte Stefan laut hinzu. Aus Matts Gesichtsausdruck war zu erkennen, daß er darauf gar keinen Wert legte. Stefan konnte sehen, daß er sich weigerte, alles zu glauben. Jetzt trat Damon hinter Elena hervor. Er ging auf die rechte Seite und steigerte mit seiner Anwesenheit noch die Spannung im Raum. Matt war umzingelt. Die drei Vampire näherten sich ihm langsam, unmenschlich schön und gleichzeitig bedrohlich. Stefan konnte Matts Angst riechen. Es war die hilflose Furcht eines Hasen vor dem Fuchs oder einer Maus vor der Eule. Und Matt hatte allen Grund dazu. Sie waren die Jäger, er war der Gejagte. ihre Aufgabe bestand darin, jemanden wie ihn zu töten. Und gerade in diesem Moment waren die Selbsterhaltungstriebe dabei, außer Kontrolle zu geraten. Matt wollte fliehen, und das löste in Stefan eine bestimmte Reaktion aus. Wenn das Wild fortrannte, wurde es vom Jäger verfolgt. So einfach war das. Alle drei Jäger waren bis aufs äußerste gespannt. Stefan fühlte, daß er nicht die Verantwortung für die Folgen tragen konnte, wenn Matt jetzt die Nerven verlor. Wir wollen dir nichts tun, versicherte er ihm auf telepathischem Weg. Elena braucht dich, und was sie von dir will, wird dir keinen dauerhaften Schaden zufügen. Es muß nicht einmal weh tun, Matt. Aber Matts Muskeln waren immer noch angespannt und zur Flucht bereit. Stefan. merkte, daß sie begannen, ihn unwillkürlich einzukesseln, bereit, jeden Fluchtweg abzuschneiden. Du hast gesagt, du würdest alles für Elena tun, erinnerte er Matt verzweifelt und sah, wie dieser endlich seine Wahl traf. Matt atmete tief aus. Seine Anspannung wich. „Du hast recht. Das habe ich gesagt“, flüsterte er. Kaum merkbar wappnete er sich, bevor er fortfuhr. „Was genau braucht sie?“ Elena lehnte sich nach vorn und legte einen Finger auf Matts Hals. Mit der Spitze fuhr sie seine Arterie entlang.
„Nicht die“, griff Stefan schnell ein. „Du willst ihn doch nicht töten. Sag's ihr, Damon.“
„Versuch es da oder da.“ Damon hielt Matts Kinn hoch und zeigte auf die Stellen. Er war so stark, daß Matt
sich nicht aus seinem Griff befreien konnte. Stefan fühlte, wie wieder Panik in ihm aufstieg.
Vertrau mir, Matt, vermittelte er ihm und stellte sich hinter ihn. Aber es muß deine eigene Entscheidung
sein, fügte er von plötzlichem Mitgefühl gepackt hinzu. Du kannst sie immer noch ändern.
Matt zögerte. Dann sagte er mit zusammengepreßten Zähnen: „Nein. Ich will helfen. Ich möchte dir helfen,
Elena.“
„Matt“, flüsterte sie zärtlich und richtete den Blick ihrer tiefblauen Augen auf ihn. Dann schaute sie hinunter
auf seinen Hals, und ihre Lippen öffneten sich hungrig. „Matt.“ Sie lächelte wieder und schlug schnell wie
ein Jagdfalke zu.
Stefan legte ihm die flache Hand auf den Rücken, um ihn zu stützen. In dem Moment, als ihre Zähne seine
Haut durchbohrten, wollte Matt zurückzucken. Kämpfe nicht dagegen an. Das verursacht dir Schmerzen,
riet Stefan ihm schnell.
Während Matt versuchte, sich zu entspannen, kam unerwartete Hilfe von Elena. Sie strahlte die warme
Glückseligkeit eines Wolfsjungen aus, das gefüttert wird. Diesmal war ihr der Biß sofort richtig gelungen.
Sie empfand unschuldigen Stolz und wachsende Zufriedenheit, als ihr quälender Hunger langsam nachließ.
Und Zuneigung zu Matt, wie Stefan mit plötzlicher Eifersucht feststellen mußte. Sie haßte Matt nicht, weil
er keine Bedrohung für Damon darstellte. Elena mochte Matt.
Stefan ließ sie soviel trinken wie nötig, dann griff er ein. Das reicht, Elena. Du möchtest ihn doch nicht
verletzen. Aber er, Damon und ein reichlich benommener Matt mußten ihre ganzen Kräfte aufwenden, um
sie loszureißen.
„Sie braucht jetzt Ruhe“, erklärte Damon. „Ich werde sie irgendwohin bringen, wo sie in Sicherheit ist.“ Er
fragte Stefan nicht, sondern teilte es ihm lediglich mit.
Während sie gingen, fügte er, telepathisch und nur für Stefan hörbar, hinzu: Ich habe die Art nicht
vergessen, wie du mich angegriffen hast, Bruder. Darüber werden wir uns später noch unterhalten.
Stefan sah ihnen nach. Er hatte bemerkt, wie Elenas Blick auf Damon gerichtet war und wie sie ihm
widerspruchslos folgte. Aber wenigstens war sie jetzt außer Gefahr. Matts Blut hatte ihr die Kraft gegeben,
die sie brauchte. Das war alles, an das Stefan sich klammern konnte. Und er redete sich ein, daß es auch
alles war, was zählte.
Er wandte sich Matt zu. Dieser hatte sich auf einen der Plastikstühle sinken lassen und starrte vor sich hin.
Dann traf sein Blick auf Stefan, und beide betrachteten einander ernst.
„Nun“, begann Matt. „Jetzt weiß ich also Bescheid.“ Er schüttelte den Kopf und drehte ihn ein wenig zur
Seite. „Aber ich kann es immer noch nicht glauben“, flüsterte er, preßte seine Finger vorsichtig auf den Hals
und zuckte leicht zusammen. „Bis auf das, natürlich.“ Dann runzelte er die Stirn. „Dieser Typ... Damon.
Wer ist das?“
„Mein älterer Bruder“, erwiderte Stefan nüchtern. „Woher kennst du seinen Namen?“
„Er war letzte Woche bei Elena zu Hause. Das Kätzchen hat ihn angegriffen.“ Matt hielt inne und erinnerte
sich plötzlich noch an etwas anderes. „Und Bonnie hatte wieder so einen komischen Anfall.“
„Sie hatte eine telepathische Eingebung? Was hat sie gesagt?“
„Sie sagte... sie sagte, der Tod wäre im Haus.“
Stefan schaute zu der Tür, durch die Damon und Elena verschwunden waren. „Sie hatte recht.“
„Stefan, was geht hier vor?“ Matts Stimme klang fast flehend. „Ich verstehe das Ganze noch nicht. Was ist
mit Elena geschehen? Wird sie für immer so bleiben? Gibt es nichts, was wir für sie tun können?“
„Wie bleiben?“ fragte Stefan hart. „Verwirrt? Ein Vampir?“
Matt sah zur Seite. „Beides.“
„Was das erste angeht, kann es sein, daß sie jetzt, wo sie richtig gesättigt ist, wieder klarer im Kopf wird.
Jedenfalls hält Damon das für möglich. Und was das andere angeht, da gibt es nur eins, was du tun kannst,
um ihren Zustand zu ändern.“
Während Hoffnung in Matts Augen aufflackerte, fuhr Stefan brutal fort: „Du kannst einen hölzernen Pflock
nehmen und ihn ihr durchs Herz stoßen. Dann wird sie kein Vampir mehr sein. Sondern nur tot.“
Matt stand auf und ging zum Fenster.
„Du würdest sie allerdings nicht richtig töten können, denn sie ist bereits gestorben. Sie ist im Fluß
ertrunken. Aber da sie genug Blut von mir bekommen hatte...“ Er hielt inne, bis seine Stimme nicht mehr
schwankte. „...und, wie es scheint, auch von meinem Bruder, hat sie eine Umwandlung durchgemacht, statt
zu sterben. Sie ist aufgewacht und war ein Jäger, wie wir. Und das wird sie von jetzt an auch bleiben.“
Den Rücken ihm immer noch zugewandt, antwortete Matt. „Ich wußte immer, daß irgend etwas
Merkwürdiges an dir ist, Stefan. Ich habe geglaubt, das kommt daher, weil du aus einem anderen Land
stammst.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber tief in mir drin wußte ich, daß es mehr als nur das ist. Und doch
habe ich mir eingeredet, daß ich dir trotz allem vertrauen kann, und habe es immer wieder getan.“
„Zum Beispiel, als du mit mir das Eisenkraut gesucht hast.“
„Ja.“ Nach kurzem Zögern fügte Matt hinzu: „Kannst du mir jetzt wenigstens verraten, wozu es gut war?“
„Um Elena zu schützen. Ich wollte Damon von ihr fernhalten. Aber offenbar war das gar nicht in ihrem
Sinne.“ Er konnte die Bitterkeit nicht aus seiner Stimme verdrängen.
Matt drehte sich um. „Verurteile sie nicht, bevor du nicht alles weißt, Stefan. Diese eine Sache habe ich
gelernt.“
Stefan war überrascht. Er schenkte ihm ein kleines, freudloses Lächeln. Als Elenas Exfreunde waren beide
jetzt in derselben Lage. Er fragte sich, ob er so anständig wie Matt sein konnte und die Niederlage wie ein
Gentleman wegstecken würde.
Er zweifelte daran.
Von weit her drangen Stimmen an ihn heran. Sie waren unhörbar für menschliche Ohren, und Stefan achtete
fast nicht darauf. Bis die Worte in sein Bewußtsein drangen.
Dann fiel ihm wieder ein, was er erst vor ein paar Stunden getan hatte. Bis zu diesem Moment hatte er Tyler
Smallwood und dessen Schläger total vergessen.
Jetzt kam die Erinnerung zurück. Entsetzen und Scham schnürten ihm die Kehle zu. Er war vor Trauer über
Elenas Tod wie von Sinnen gewesen, und sein Verstand hatte unter dem übergroßen Druck ausgesetzt. Aber
das war keine Entschuldigung für das, was er angerichtet hatte. Waren sie alle tot? Hatte er, der vor so
langer Zeit geschworen hatte, nie jemanden zu töten, heute sechs Menschen umgebracht?
„Stefan, warte. Wo willst du hin?“ Als keine Antwort kam, folgte Matt ihm halb rennend, um mit ihm
mitzuhalten, aus dem Schulgebäude hinaus auf die Aschenbahn. Am anderen Ende des Sportfeldes stand
Mr. Shelby bei der Quonset-Hütte.
Das Gesicht des Hausmeisters war grau und von Entsetzen gezeichnet. Er versuchte zu rufen, doch nur ein
heiseres Krächzen kam aus seiner Kehle. Stefan drängte sich an ihm vorbei in die Hütte.
Drinnen sah es aus wie in einer Szene aus einem Horrorfilm. Inmitten von Glasscherben und zersplittertem
Holz von dem eingeschlagenen Fenster lagen die Opfer. Boden und Wände waren mit eingetrockneten,
rostbraunen Blutflecken bespritzt. Ein Blick auf die Körper enthüllte den Grund. An den Hälsen der Opfer
befanden sich tiefe, purpurrote Wunden. Nur Caroline schien unverletzt. Aber ihr Blick war starr und leer.
Matt rang hinter Stefan nach Luft. „Stefan! Elena, sie hat doch nicht...?“
„Sei ruhig“, antwortete Stefan angespannt. Er warf einen Blick auf Mr. Shelby, doch der Hausmeister lehnte
erschöpft an seinem Karren mit Besen und Putzzeug. Glas knirschte unter Stefans Schritten, als er zu Tyler
hinging und sich neben ihn kniete.
Er war nicht tot. Stefan wurde fast schwindlig vor Erleichterung. Tylers Brust bewegte sich leicht. Als
Stefan seinen Kopf anhob, öffnete er völlig benommen ein wenig die Augen.
Du wirst dich an nichts erinnern, befahl ihm Stefan telepathisch. Im gleichen Moment fragte er sich, warum
er sich überhaupt die Mühe machte. Er sollte Fell's Church den Rücken kehren und nie mehr
zurückkommen.
Aber das würde er nicht tun. Nicht, solange Elena hier war.
Auch den anderen Bewußtlosen teilte er das gleiche mit: Ihr werdet nicht mehr wissen, wer euch angegriffen
hat. Der ganze Nachmittag wird wie ausgelöscht sein.
Während er das tat, fühlte er, wie seine übernatürlichen Kräfte langsam schwächer wurden. Bald würde er
wieder völlig ausgebrannt sein.
Draußen hatte Mr. Shelby endlich seine Stimme wiedergefunden und schrie um Hilfe. Müde ließ Stefan
Tylers Kopf zurück auf den Boden gleiten und drehte sich um.
Matts Lippen waren weiß, seine Nasenflügel blähten sich, als hätte er etwas Abstoßendes gerochen. Sein
Blick war der eines Fremden. „Elena hat das nicht getan“, flüsterte er entsetzt. „Du warst es.“
Sei still! Stefan raste an ihm vorbei in die kalte Nacht hinaus und wollte möglichst großen Abstand legen zwischen sich und diesen Raum. Dankbar fühlte er die eisige Luft auf seiner heißen Haut. Eilige Schritte aus der Richtung der Cafeteria sagten ihm, daß man die Schreie des Hausmeisters gehört hatte. „Du warst es, nicht wahr?“ Matt war Stefan auf das Sportfeld gefolgt. Es war ihm deutlich anzumerken, daß er sich bemühte, alles zu verstehen. Stefan drehte sich zu ihm um. „Ja, ich habe das getan!“ fuhr er ihn an. Er starrte Matt lange und böse an, gab sich keine Mühe, die bedrohliche Wut in seinen Zügen zu verbergen. „Ich habe es dir gesagt, Matt. Wir sind Jäger. Wir töten. Ihr seid die Schafe, wir sind die Wölfe. Und Tyler hatte sein Schicksal herausgefordert, seit dem ersten Tag, an dem ich nach Fell's Church gekommen bin.“ „Eine ordentliche Tracht Prügel hatte er verdient. Die hast du ihm ja auch verpaßt. Aber... das?“ Matt sah ihm ohne jede Angst geradewegs in die Augen. Er hatte Mut, das mußte Stefan ihm lassen. „Tut es dir nicht einmal leid? Hast du kein schlechtes Gewissen?“ „Warum?“ Stefans Stimme war kalt und leer. „Tut es dir leid, wenn du ein saftiges Steak ißt? Hast du Mitleid mit der Kuh?“ Er sah Matts trauriges Unverständnis, blieb aber hart. Es war besser, wenn Matt sich in Zukunft von ihm fernhielt. Sonst konnte es geschehen, daß er so endete wie die Jungen in der QuonsetHütte. „Ich bin, was ich bin, Matt. Und wenn du damit nicht fertig wirst, geh mir in Zukunft lieber aus dem Weg.“ Matt blickte ihn noch einen Moment länger an. Die Ungläubigkeit auf seinem Gesicht machte langsam bitterer Ernüchterung Platz. Sein Kinn verkrampfte sich. Dann drehte er sich ohne ein Wort abrupt um und ging davon. Elena stand auf dem Friedhof. Damon hatte ihr eingeschärft, da zu warten, bis er zurückkam. Trotzdem hatte sie keine Lust, still sitzen zu bleiben. Sie war müde, aber nicht richtig schläfrig. Das neue Blut in ihren Adern wirkte wie ein Adrenalinstoß. Sie hatte große Lust, auf Entdeckungsreise zu gehen. Der Friedhof war voller Leben, obwohl kein menschliches Wesen in Sichtweite war. Ein Fuchs schnürte durch die Schatten am Fluß entlang. Kleine Nagetiere gruben quiekend und raschelnd Tunnel unter dem langen Gras um die Grabsteine. Eine Eule flog fast lautlos zu der Kirchenruine und ließ sich mit einem unheimlichen Schrei auf dem Glockenturm nieder. Elena stand auf und folgte ihr. Das war viel besser, als sich wie eine Maus im Gras zu verbergen. Sie schaute sich interessiert in der Ruine um und nutzte ihre neu geschärften Sinne, um alles zu untersuchen. Das Dach war fast völlig eingestürzt. Nur noch drei der Wände standen. Aber der Glockenturm ragte wie ein einsames Mahnmal aus dem Geröll. An einer Seite befand sich das Grab von Thomas und Honoria Fell. Es glich einem großen Steinkasten oder Sarg. Elena betrachtete aufmerksam die beiden weißen Marmorgesichter der Statuen auf dem Deckel. Sie lagen dort in friedlicher Ruhe, die Augen geschlossen, die Hände auf der Brust gefaltet. Thomas Fell sah ernst aus und ein wenig streng, Honoria hingegen nur traurig. Flüchtig dachte Elena an ihre eigenen Eltern, die Seite an Seite auf dem neuen Teil des Friedhofs ruhten. Ich werde nach Hause gehen. Ja, das werde ich tun, dachte sie. Gerade hatte sie sich wieder an zu Hause erinnert. Sie konnte es sich jetzt alles genau vorstellen: ihr hübsches Schlafzimmer mit den blauen Vorhängen, den Kirschholzmöbeln und dem kleinen Kamin. Und etwas Wichtiges befand sich unter den Dielenbrettern im Schrank. Ihre Schritte trugen sie instinktiv zur Maple Street. Das Haus war sehr alt. Es besaß einen großen Vorgarten und Vorderfenster, die bis zum Boden reichten. Roberts Auto stand in der Einfahrt. Elena starrte auf die Haustür und hielt inne. Es gab einen Grund, weshalb man sie nicht sehen sollte. Obwohl sie sich im Moment nicht erinnern konnte, worin er bestand. Sie zögerte und kletterte dann geschickt den Quittenbaum hinauf zu ihrem Schlafzimmerfenster. Aber sie konnte nicht hinein, ohne bemerkt zu werden. Eine Frau saß auf dem Bett, hielt Elenas roten Seidenkimono auf ihrem Schoß und starrte darauf hinunter. Tante Judith. Robert stand beim Schrank und redete mit ihr. Elena merkte, daß sie seine Stimme selbst durch die Glasscheibe hören konnte. „...werden morgen wieder hinausgehen“, sagte er gerade. „Wenn es nicht stürmt. Man wird jeden Zentimeter des Waldes durchsuchen. Sie werden sie finden, Judith. Du wirst schon sehen.“ Tante Judith schwieg, und er
fuhr fort. Seine Stimme klang verzweifelter. „Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, egal, was die
Mädchen sagen...“
„Es hat keinen Zweck, Bob.“ Tante Judith hatte endlich den Kopf gehoben. Ihre Augen waren rot gerändert,
aber trocken. „Es hat keinen Zweck.“
„Meinst du den Suchtrupp? Ich werde nicht zulassen, daß du so redest.“ Er ging zu ihr.
„Nein, es ist nicht nur das... Obwohl ich in meinem Herzen weiß, daß wir sie nicht mehr lebendig finden
werden. Ich meine... alles. Uns. Was heute passiert ist, war unsere Schuld...“
„Das ist nicht wahr! Es war ein schrecklicher Unfall.“
„Ja, aber durch uns ist er geschehen. Wenn wir nicht so hart zu ihr gewesen wären, wäre sie niemals allein
losgefahren und in den Sturm geraten. Nein, Bob, versuche nicht, mich zum Schweigen zu bringen. Ich
möchte, daß du mir zuhörst.
Tante Judith holte tief Luft und fuhr fort. „Dabei geht es nicht nur um heute. Elena hatte schon lange
Probleme, eigentlich seit die Schule wieder angefangen hat. Aber ich habe die Signale einfach übersehen.
Weil ich zu sehr mit mir - mit uns - beschäftigt war, um ihr genug Aufmerksamkeit zu schenken. Und jetzt,
wo sie... nicht mehr bei uns ist... möchte ich nicht, daß dasselbe mit Margaret passiert.“
„Was willst du damit sagen?“
„Ich kann dich nicht heiraten. Jedenfalls nicht so schnell, wie wir geplant hatten. Vielleicht auch nie.“ Ohne
ihn anzusehen, sprach sie leise weiter. „Margaret hat schon zuviel verloren. Ich möchte nicht, daß sie das
Gefühl bekommt, auch mich zu verlieren.“
„Sie wird dich nicht verlieren, sondern im Gegenteil einen neuen Freund gewinnen. Denn ich werde viel
öfter bei euch sein. Du weißt, wieviel sie mir bedeutet.“
„Es tut mir leid, Bob. Aber ich sehe das anders.
„Das kann nicht dein Ernst sein! Nach all der Zeit, die ich hier verbracht habe, nach allem, was ich getan
habe...“
Tante Judiths Stimme war müde, aber unbeirrt. „Es ist mein Ernst.“
Von ihrem Sitz draußen auf der Fensterbank betrachtete Elena Robert neugierig. Eine Ader pochte auf seiner
Stirn, und sein Gesicht war ganz rot geworden.
„Morgen wirst du anders darüber denken“, sagte er.
„Nein, bestimmt nicht.“
„Du meinst das nicht so...“
„Doch. Und gib dir keine Mühe, mich vom Gegenteil zu überzeugen, es wird dir nicht gelingen.“
Einen Moment lang sah Robert sich frustriert um, dann verdüsterte sich sein Blick. Als er sprach, war seine
Stimme nüchtern und kalt. „Verstehe. Wenn das dein letztes Wort ist, gehe ich jetzt wohl besser.“
„Bob.“ Tante Judith schien damit nicht gerechnet zu haben und drehte sich erschrocken um. Robert war
bereits aus der Tür. Sie stand auf, unsicher, ob sie ihm nicht doch folgen sollte. Ihre Finger kneteten den
roten Stoff, den sie hielt. „Bob!“ rief sie drängender und wollte den Kimono auf Elenas Bett legen, bevor sie
ihrem Verlobten nachlief.
Aber als sie sich umgedreht hatte, holte sie erschrocken Luft und blieb wie erstarrt stehen. Ihre Hand flog zu
ihrem Mund. Fassungslos starrte sie Elena durch die silbern glänzende Fensterscheibe an. Einen langen
Moment sahen die beiden sich in die Augen, ohne sich zu bewegen. Dann ließ Tante Judith die Hand fallen
und schrie auf.
4. KAPITEL Etwas riß Elena aus dem Baum. Sie schrie aus Protest auf, als sie stürzte, zunächst geschmeidig wie eine
Katze auf den Füßen landete und dann doch schmerzhaft auf die Knie fiel.
Sie fuhr zurück, die Finger zu Klauen gekrümmt, um den anzugreifen, der das gewagt hatte. Damon schlug
ihre Hand einfach weg.
„Warum hast du mich so runtergezerrt?“, fragte sie wütend.
„Warum bist du nicht dort geblieben, wo du solltest?“ fuhr er sie an.
Sie starrten sich an, beide gleich wütend. Dann wurde Elena abgelenkt. Das Schreien ging oben weiter, das
Fenster wurde heftig aufgerissen. Damon drängte sie gegen die Hauswand, von wo aus sie nicht von oben
gesehen werden konnten.
„Machen wir, daß wir von dem Lärm hier wegkommen“, meinte er gelangweilt und schaute hoch. Ohne auf
eine Antwort zu warten, packte er sie am Arm. Elena wehrte sich.
„Ich muß da rein!“
„Das geht nicht.“ Er schenkte ihr ein spöttisches Lächeln. „Und ich meine es wörtlich. Du bist nicht
eingeladen worden.“
Einen Moment war Elena überrascht und ließ zu, daß er sie ein paar Schritte fortzog. Dann blieb sie wieder
stehen.
„Aber ich brauche mein Tagebuch!“
„Was?“
„Es ist im Schrank, unter den Dielenbrettern. Ich brauche es! Ohne mein Tagebuch kann ich nicht schlafen.“
Elena wußte selbst nicht, warum sie solche Umstände deswegen machte, aber es schien sehr wichtig zu sein.
Damon war aufgebracht. Dann hellten sich seine Züge auf.
„Hier“, sagte er ruhig mit einem Glitzern in den Augen. Er zog etwas aus seiner Jackentasche. „Nimm's.“
Elena betrachtete zweifelnd, was er ihr da anbot.
„Das ist doch dein Tagebuch, nicht wahr?“
„Ja, aber mein altes. Ich will mein neues.“
„Das wird den gleichen Zweck erfüllen müssen, denn ein anderes kriegst du nicht. Komm jetzt, bevor sie die
ganze Nachbarschaft aufwecken.“ Seine Stimme war wieder kalt und befehlend.
Elena betrachtete das Büchlein in seiner Hand. Es war klein, mit einem blauen Samteinband und einem
Messingschloß. Nicht gerade neu, aber es kam ihr bekannt vor. Sie beschloß, daß es annehmbar war.
Und ließ zu, daß Damon sie in die Nacht hinausführte.
Elena fragte nicht, wohin sie gingen. Es war ihr egal. Aber sie erkannte das Haus in der Magnolia Avenue.
Dort wohnte Alaric Saltzman.
Er selbst öffnete die Tür und bat Damon und Elena hinein. Der Geschichtslehrer machte jedoch einen
merkwürdigen Eindruck und schien die beiden gar nicht richtig wahrzunehmen. Sein Blick war glasig, und
er bewegte sich wie ein Roboter.
Elena leckte sich unwillkürlich die Lippen.
„Nein, nicht ihn“, befahl Damon kurz. „Aber in seinem Haus wirst du sicher sein. Ich habe hier schon früher
geschlafen. Da hinauf.“ Er führte sie über eine Treppe zu einem Speicher. Dort befand sich ein kleines
Fenster, das mit einem Laden verschlossen war. Der muffige Raum war vollgestellt mit allen möglichen
Sachen: Schlitten, Skiern, einer Hängematte. Am anderen Ende lag eine alte Matratze auf dem Boden.
„Am Morgen wird er nicht einmal mehr wissen, daß du da bist. Leg dich hin.“ Elena gehorchte und nahm
eine Position ein, die ihr ganz natürlich erschien. Sie legte sich auf den Rücken und faltete die Hände über
ihrem Tagebuch, das sie an ihre Brust preßte.
Damon zog ein Stück Wachstuch über sie und bedeckte ihre nackten Füße.
„Schlaf jetzt, Elena“, flüsterte er.
Er beugte sich über sie, und einen Moment dachte sie, er würde... etwas tun. Ihre Gedanken verschwammen.
Seine nachtschwarzen Augen waren alles, was sie noch wahrnahm. Dann zog er sich zurück, und sie konnte
wieder atmen. Die Dämmerung, die auf dem Speicher herrschte, lullte sie ein. Ihre Lider schlossen sich, und
sie begann zu schlafen.
Elena erwachte langsam. Stück für Stück sammelte sie Informationen darüber, wo sie war. So wie es aussah,
war sie auf einem fremden Speicher. Was machte sie hier?
Ratten oder Mäuse raschelten irgendwo unter den mit Wachstuch bedeckten Gegenständen. Doch die
Geräusche störten sie nicht. Schwaches Licht drang am Rand durch die geschlossenen Fensterläden. Elena
stieß ihre provisorische Decke weg und ging auf Entdeckungsreise.
Der Speicher gehörte mit Sicherheit niemandem, den sie kannte. Sie kam sich vor wie von einer langen
Krankheit genesen. Welcher Tag war wohl heute?
Von unten drangen Stimmen herauf. Etwas riet ihr, sich still zu verhalten und vorsichtig zu sein. Sie hatte
Angst davor, Lärm zu machen. Lautlos öffnete sie die Speichertür und schlich vorsichtig zum
Treppenabsatz. Von hier aus konnte sie in das Wohnzimmer sehen. Sie erkannte den Raum. Auf dem
kleinen Sofa hatte sie bei Alaric Saltzmans Party gesessen. Sie befand sich im Haus der Ramseys.
Und Alaric Saltzman war dort unten. Sie sah genau auf seinen dunkelblonden Kopf hinab. Seine Stimme verwirrte sie. Nach einem kurzen Moment wußte sie, daß es daher kam, weil er nicht so geistlos und albern wie sonst vor der Klasse klang. Und er redete auch keinen Psychokram. Er sprach kalt und präzise zu zwei anderen Männern. „Sie könnte überall sein. Praktisch sogar direkt unter unserer Nase. Draußen vor der Stadt ist es jedoch wahrscheinlicher. Vielleicht im Wald.“ „Warum gerade dort?“ fragte einer der Männer. Elena erkannte auch diese Stimme und den kahlen Kopf. Es war Mr. Newcastle, der Direktor der High School. „Die ersten beiden Opfer wurden nahe beim Wald gefunden“, erinnerte der andere Mann. Ist das Dr. Feinberg? überlegte Elena. Was macht der bei Alaric? Und was mache ich überhaupt hier? „Nein, es ist mehr als nur das“, fuhr Alaric gerade fort. Die anderen Männer hörten ihm mit Respekt zu, ja sogar mit Hochachtung: „Der Wald hat noch eine größere Bedeutung. Es könnte sein, daß sie dort einen Bau haben. Eine Zuflucht, in der sie sich verbergen können, wenn sie entdeckt werden. Sollte es dieses Versteck tatsächlich geben, werde ich es finden.“ „Sind Sie sicher?“ fragte Dr. Feinberg. „Ja“, erwiderte Alaric kurz. „Und Sie glauben, da hält Elena sich auf?“ wollte der Direktorwissen. „Aber wird sie auch dort bleiben? Oder in die Stadt zurückkommen?“ „Das weiß ich nicht.“ Alaric ging ein paar Schritte im Zimmer umher, nahm ein Buch vom Tisch auf und fuhr wie abwesend mit den Daumen darüber. „Ein Weg, es herauszufinden, ist, ihre Freundinnen zu beobachten. Bonnie McCullough und dieses dunkelhaarige Mädchen, Meredith. Die Chancen stehen gut, daß sie die ersten sein werden, die sie sehen. So läuft es normalerweise ab.“ „Und wenn wir ihre Spur gefunden haben?“ fragte Dr. Feinberg. „Überlassen Sie alles Weitere mir“, sagte Alaric leise und hart. Er schloß das Buch und ließ es mit einem Knall auf den Tisch fallen. Der Direktor blickte auf seine Uhr. „Ich muß weg. Der Trauergottesdienst findet um zehn statt. Ich nehme doch an, daß Sie beide dort sein werden?“ Er hielt auf seinem Weg zur Tür inne und warf einen zweifelnden Blick zurück. „Alaric, ich hoffe, Sie werden mit der Situation fertig. Als ich Sie herholte, standen die Dinge noch nicht so schlimm. Jetzt frage ich mich...“ „Ich werde mit der Situation fertig, Brian. Wie ich schon sagte, überlassen Sie alles ruhig mir. Möchten Sie lieber die Robert-E.-Lee-High-School in allen Schlagzeilen wiederfinden? Und zwar nicht nur als Schauplatz einer Tragödie, sondern als ,Die Schule, in der es spukt’? Die Schule, in der die Untoten umhergehen? Ist das die Art von Publicity, die Ihnen vorschwebt?“ Mr. Newcastle zögerte, dann nickte er, immer noch unglücklich. „Gut, Alaric. Aber erledigen Sie Ihren Job sauber und schnell. Wir sehen uns in der Kirche.“ Er ging, und Mr. Feinberg folgte ihm. Alaric blieb noch eine Zeit im Zimmer stehen und starrte vor sich hin. Dann nickte er und verließ das Haus ebenfalls. Elena ging leise die Stufen hoch. Was sollte das alles? Sie war total verwirrt, als schwebte sie losgelöst in Zeit und Raum. Sie mußte unbedingt erfahren, welcher Tag heute war, warum sie hier war und solche Angst hatte. Warum spürte sie instinktiv, daß unter keinen Umständen jemand sie sehen oder bemerken durfte? Sie blickte sich auf dem Speicher um. Nichts gab ihr den kleinsten Hinweis. Wo sie gelegen hatte, befanden sich nur die Matratze, das Wachstuch... und ein kleines, blaues Buch. Ihr Tagebuch! Begierig griff sie danach, öffnete es und überflog die Eintragungen. Sie hörten am siebzehnten Oktober auf, waren also keine Hilfe, um das heutige Datum zu erfahren. Aber während sie die Sätze betrachtete, formten sich Bilder vor ihrem geistigen Auge und reihten sich zu Erinnerungen auf wie Perlen auf einer Schnur. Fasziniert setzte sie sich auf die Matratze. Sie blätterte zum Anfang zurück und begann, über das Leben der Elena Gilbert zu lesen. Als sie fertig war, war ihr ganz schwach vor Furcht und Entsetzen. Grelle Funken tanzten vor ihren Augen. In diesen Seiten lag soviel Schmerz. So viele Pläne, so viele Geheimnisse, soviel Not. Es war die Geschichte eines Mädchens, das sich in seiner eigenen Heimatstadt, in seiner eigenen Familie verloren fühlte. Das nach... etwas suchte, etwas, das es nie ganz erreichen konnte. Aber nicht das verursachte den stechenden
Schmerz in Elenas Brust, der ihr alle Kraft raubte. Es war nicht das, was ihr das Gefühl vermittelte, ins Unendliche zu fallen, obwohl sie reglos auf der Matratze saß. Ihre Panik kam daher, weil sie sich erinnerte. Alles war jetzt wieder da. Die Brücke, das tosende Wasser. Der unbeschreibliche Terror, als die Luft ihre Lungen verließ und es nur noch Flüssigkeit zu atmen gab. Der entsetzliche Schmerz. Und der letzte Moment, als der Schmerz aufhörte, als alles aufhörte... Oh, Stefan, ich hatte solche Angst, dachte sie. Und dieselbe Angst erfüllte sie jetzt. Wie hatte sie sich im Wald zu Stefan so benehmen können? Wie hatte sie ihn vergessen können, wo er doch alles für sie bedeutete? Was hatte sie so handeln lassen? Im Grunde wußte sie es. Niemand ertrank und stand dann einfach auf und war wieder lebendig, als wäre nichts gewesen. Langsam erhob sie sich und ging zu dem verschlossenen Fenster. Das durch den verschlossenen Laden verdunkelte Glas wirkte wie ein Spiegel. Er zeigte ihr nicht das Bild, das sie in ihrem Traum gesehen hatte. Darin war sie einen Flur voller Spiegel entlanggelaufen, die ein eigenes Leben zu haben schienen. In diesem Gesicht war nichts verschlagen oder grausam. Die Züge waren so wie sonst und doch anders. Ein bleicher Schimmer lag auf ihrer Haut, und unter ihren Augen befanden sich tiefe, purpurrote Schatten. Elena berührte mit den Fingerspitzen ihren Hals. Erst an der einen, dann an der anderen Seite. Dort hatten Stefan und Damon jeder ihr Blut genommen. War es wirklich oft genug geschehen, und hatte sie genug von ihrem Blut im Austausch bekommen? Es mußte wohl so gewesen sein. Und jetzt, für den Rest ihres Lebens, besser, für den Rest ihres Daseins, würde sie sich ernähren müssen, wie Stefan es tat. Sie würde... Elena sank auf die Knie und preßte ihre Stirn gegen die kahle Holzwand. Ich kann das nicht, dachte sie. Oh, bitte, ich kann nicht, kann nicht. Sie war noch nie sehr religiös gewesen. Aber aus ihrem Innersten stieg die Angst übermächtig auf, und instinktiv schrie sie mit jeder Faser ihres Seins um Hilfe. Oh, bitte, bitte hilf mir, flehte sie. Sie bat nicht um eine besondere Sache. Dazu war sie zu verwirrt. Nur: oh, bitte hilf mir. Bitte! Nach einer Weile stand sie auf. Ihr Gesicht war immer noch bleich, aber auf unheimliche Art wunderschön. Wie feines Porzellan, das von innen her beleuchtet wird. Ihre Augen waren umschattet, aber es lag eine neue Entschlossenheit darin. Sie mußte Stefan finden. Wenn es Hilfe für sie gab, würde er es wissen. Und wenn nicht... nun, dann brauchte sie ihn um so mehr. Sie wollte nirgendwo anders sein als an seiner Seite. Als sie hinausging, schloß Elena die Tür zum Speicher sorgfältig hinter sich. Alaric Saltzman durfte ihr Versteck nicht entdecken. An der Wand entdeckte sie einen Kalender. Die Tage bis zum vierten Dezember waren durchgestrichen. Vier Tage seit letztem Samstag. Sie hatte vier ganze Tage geschlafen. Sie trat durch die Haustür und zuckte zusammen, als sie das Tageslicht traf. Es schmerzte. Obwohl der Himmel verhangen war und es nach Regen oder Schnee aussah, taten ihre Augen weh. Sie mußte sich zwingen, die Sicherheit des Hauses zu verlassen. Panik überfiel sie. Sie hielt sich dicht an Zäune und Bäume und versuchte, mit den Schatten zu verschmelzen. Fast kam sie sich selbst wie ein Schatten vor... oder wie ein Geist in Honoria Fells langem weißen Kleid. Jeder, der sie sah, würde sich zu Tode erschrecken. Aber alle ihre Vorsicht war unnötig. Niemand befand sich auf der Straße. Die ganze Stadt lag verlassen da. Die Häuser schienen leer, die Geschäfte waren geschlossen. Hier und da sah sie ein paar parkende Autos. Doch auch in ihnen befand sich keine Menschenseele. Und dann fiel ihr Blick plötzlich auf eine Silhouette, die sich weiß und hoch gegen die schwarzen Wolken abhob. Elena blieb abrupt stehen. Ihre Beine zitterten, als sie sich zwang, an das Gebäude heranzugehen. Sie kannte diese Kirche schon ihr ganzes Leben lang und hatte das Kreuz an der Wand bereits tausendmal gesehen. Jetzt näherte sie sich ihm, als wäre es ein Tier in einem Käfig, das jeden Moment ausbrechen und sie beißen könnte. Sie preßte eine Hand auf die Steinwand und ließ sie langsam zu dem eingeritzten Symbol gleiten.
Als ihre ausgestreckten Fingerspitzen den Balken des Kreuzes berührten, füllten sich ihre Augen, und ihre Kehle schmerzte. Sie tastete weiter, bis ihre Hand schließlich das ganze Bild bedeckte. Dann lehnte sie sich gegen die Wand und ließ den Tränen freien Lauf. Ich bin nicht böse, dachte sie. Ich habe Dinge getan, die ich nicht hätte tun sollen. Ich habe zuviel an mich selbst gedacht. Nie habe ich Bonnie und Meredith für alles gedankt, was sie für mich getan haben. Ich hätte mehr mit Margaret spielen und netter zu Tante Judith sein sollen. Aber ich bin nicht böse. Ich bin nicht verdammt. Als ihr Blick wieder klar wurde, schaute sie zu dem Gebäude hoch. Mr. Newcastle hatte eine Kirche erwähnt. Hatte er diese gemeint? Sie mied die Vorderfront und den Haupteingang. Es gab eine Seitentür, die zum Chor führte. Lautlos ging sie die Stufen hoch und sah von der Empore hinunter. Jetzt konnte Elena erkennen, warum die Straßen so verlassen gewesen waren. Jeder aus Fell's Church schien hier zu sein. Alle Bänke waren gefüllt, und der hintere Teil der Kirche war voller Menschen, die keinen Sitzplatz mehr bekommen hatten. In den ersten Reihen erkannte Elena jedes Gesicht. Es waren Klassenkameraden, Nachbarn und Freunde von Tante Judith. Tante Judith selbst war auch da. Sie trug dasselbe schwarze Kleid wie zu der Beerdigung von Elenas Eltern. Oh, mein Gott, dachte Elena. Ihre Finger umklammerten das Geländer. Bisher war sie zu beschäftigt mit Schauen gewesen, um richtig hinzuhören, aber jetzt drangen die Worte von Pfarrer Bethea an ihr Ohr. „...wollen wir unsere Erinnerungen an dieses außergewöhnliche Mädchen miteinander teilen“, sagte er gerade und trat zur Seite. Elena beobachtete das Kommende mit dem unwirklichen Gefühl, einem Theaterstück zuzusehen. Sie war überhaupt nicht beteiligt an dem, was da unten auf der Bühne ablief. Sie war nur ein Zuschauer. Und doch ging es dort nur um eins. Um ihr Leben. Mr. Carson, Sues Vater, sprach als erster über sie. Die Carsons hatten sie schon von Geburt an gekannt, und er redete von den Tagen, an denen sie und Sue im Sommer im Garten gespielt hatten. Er erzählte, was für eine schöne und gebildete junge Frau aus ihr geworden war. Dann versagte ihm die Stimme. Er mußte aufhören und die Brille absetzen. Sue war die nächste. Seit der Grundschule waren beide Mädchen nicht mehr so eng befreundet gewesen. Aber sie hatten sich trotzdem gut verstanden. Sue war eine der wenigen gewesen, die auf Elenas Seite gestanden hatten, nachdem Stefan verdächtigt worden war, Mr. Tanner ermordet zu haben. Jetzt weinte Sue, als hätte sie eine Schwester verloren. „Viele haben sich nach der Halloween-Party nicht sehr nett zu Elena verhalten“, begann sie und wischte sich die Augen. „Ich weiß, wie weh ihr das getan hat. Aber Elena war so stark. Sie hat sich nie geändert, nur um die Erwartungen der anderen zu erfüllen. Ich habe sie dafür respektiert... Und so werden wir sie immer in Erinnerung behalten...“ Ihre Stimme schwankte, sie konnte nicht weiterreden. Die Klassenkameradinnen weinten und hielten sich an den Händen. Selbst die, die am gemeinsten zu Elena gewesen waren und sie gehaßt hatten. Plötzlich war sie die beste Freundin von allen gewesen. Auch ein paar der Jungs schämten sich ihrer Tränen nicht. Schockiert drängte sich Elena näher an das Geländer. Sie konnte den Blick nicht abwenden, obwohl es das Schrecklichste war, was sie je miterlebt hatte. Als Meredith sich erhob, erstarrte Elena. Sie wußte nicht, ob sie das ertragen konnte. Die Freundin war eine der wenigen, die nicht weinten. Doch der traurige, ernste Ausdruck auf ihrem Gesicht erinnerte Elena an die Statue von Honoria Fell auf ihrem Grab. „Wenn ich mich an Elena erinnere, denke ich an die schönen Zeiten, die wir miteinander hatten.“ Meredith sprach ruhig und beherrscht wie immer. „Sie hatte immer die tollsten Ideen und konnte auch den langweiligsten Dingen noch Spaß abgewinnen. Ich habe ihr das nie gesagt, und heute wünschte ich mir, ich hätte es getan. Ich wünschte mir, ich könnte nur noch einmal mit ihr reden. Und wenn Elena mich jetzt hören könnte...“ Meredith sah sich in der Kirche um und holte tief Luft, anscheinend, um die Fassung nicht zu verlieren. „..wenn sie mich jetzt hören könnte, dann würde ich ihr sagen, wieviel die schönen Zeiten mir bedeutet haben und wie sehr ich sie mir zurückwünsche. Wie zum Beispiel die Donnerstagabende, an denen wir gewöhnlich in ihrem Zimmer saßen und für die Diskussionsrunde in der Schule übten. Ich wünsche mir von
ganzem Herzen, wir könnten das nur noch ein einziges Mal tun.“ Meredith holte erneut tief Luft und schüttelte den Kopf. „Aber ich weiß, es ist unmöglich, und das tut sehr weh.“ Wovon redest du? fragte sich Elena. Ihre Trauer wich Verwirrtheit. Wir haben für die Diskussionsrunde immer mittwochs abends geübt, nicht donnerstags. Und in deinem Zimmer, nicht in meinem. Spaß hatten wir auch keinen. Meistens haben wir es schnell abgebrochen, weil wir es beide so gehaßt haben... Plötzlich, während sie das ruhige, gefaßte Gesicht von Meredith beobachtete, begann Elenas Herz wie wild zu klopfen. Meredith schickte ihr eine Botschaft. Eine Botschaft, die nur Elena verstehen konnte! Das hieß, Meredith rechnete damit, daß Elena sie hören konnte. Meredith wußte Bescheid. Hatte Stefan ihr etwas gesagt? Elenas Blick glitt über die Reihen der Trauernden. Zum ersten Mal fiel ihr auf, daß Stefan nicht unter ihnen war. Matt fehlte ebenfalls. Nein, es war unwahrscheinlich, daß Stefan Meredith eingeweiht hatte oder daß sie dann diesen Weg gewählt hätte, um ihr etwas mitzuteilen. Dann fiel Elena wieder ein, wie Meredith sie in der Nacht angesehen hatte, nachdem sie Stefan aus dem Brunnen befreit hatten. Damals hatte Elena gebeten, sie und Stefan allein zu lassen. Sie erinnerte sich, wie die dunklen Augen der Freundin ihr Gesicht in den letzten Monaten mehr als einmal forschend betrachtet hatten und wie Meredith bei jeder ungewöhnlichen Bitte Elenas immer nachdenklicher und stiller geworden war. Meredith hatte etwas geahnt. Elena fragte sich, wieviel sie sich zusammengereimt hatte. Bonnie trat jetzt nach vorn. Sie weinte heftig. Das war überraschend. Wenn Meredith Bescheid wußte, warum hatte sie Bonnie nicht eingeweiht? Vielleicht hatte Meredith nur einen Verdacht, den sie mit Bonnie nicht teilen wollte, weil er sich als falsch erweisen könnte. Bonnies Rede war so gefühlsbeladen, wie die von Meredith ruhig gewesen war. Ihre Stimme brach andauernd, und sie mußte sich ständig die Tränen abwischen. Schließlich ging Pfarrer Bethea zu ihr und gab ihr ein Taschentuch. „Danke.“ Bonnie strich damit über ihre nassen Wangen. Sie sah zur Decke hoch. Entweder, um die Fassung wiederzuerlangen, oder weil sie einen Moment nachdenken wollte. Während sie das tat, bemerkte Elena etwas, was niemand der anderen sehen konnte. Bonnies Gesicht wurde schneeweiß und völlig ausdruckslos. Sie machte nicht den Eindruck, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen, aber ihr Zustand war nur zu bekannt. Eine Gänsehaut überlief Elena. Nicht hier! Um Himmels willen. Nicht ausgerechnet hier! Aber es geschah bereits. Bonnie hatte das Kinn gesenkt. Sie schaute wieder die Gemeinde an. Aber diesmal schien sie niemanden zu sehen, und die Stimme, die aus ihrem Mund kam, war nicht ihre eigene. „Niemand ist das, was er zu sein scheint. Erinnert euch daran. Niemand ist das, was er zu sein scheint.“ Dann stand sie völlig reglos da und starrte mit leerem Blick vor sich hin. Die Leute begannen unruhig zu werden und sahen einander an. Besorgtes Gemurmel erklang. „Denkt immer daran. Niemand... ist das, was er zu sein scheint...“ Bonnie schwankte plötzlich. Pfarrer Bethea rannte zu ihr, während ein anderer Mann von der Seite zu Hilfe eilte. Der zweite Mann hatte einen kahlen Kopf, der jetzt schweißbedeckt war... Mr. Newcastle. Elena erkannte ihn. Und aus dem Hintergrund der Kirche lief Alaric Saltzman heran. Er erreichte Bonnie gerade, als sie ohnmächtig wurde. In diesem Moment hörte Elena auf der Treppe Schritte hinter sich. 5. KAPITEL Dr. Feinberg! dachte Elena entsetzt und versuchte, sich umzudrehen, um etwas sehen zu können und sich
dabei gleichzeitig im Schatten zu verbergen. Aber es war nicht das schmale Gesicht des Doktors mit der
Adlernase, auf das ihr Blick fiel. Es war ein Gesicht mit feingeschnittenen Zügen, wie die auf den alten,
römischen Münzen oder Medaillons, und mit grünen, traurigen Augen. Die Zeit blieb einen Moment lang
stehen, dann lag Elena in seinen Armen.
„Oh, Stefan, Stefan...“
Sie fühlte, wie sein Körper sich vor Schreck versteifte. Er hielt sie wie mechanisch, ganz leicht, als wäre sie
eine Fremde, die ihn mit jemandem verwechselte.
„Stefan“, flüsterte sie verzweifelt, verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter und versuchte, eine Antwort von
ihm zu bekommen. Sie würde es nicht ertragen, wenn er sie zurückstieß. Wenn er sie jetzt haßte, würde sie
sterben...
Mit einem Stöhnen drängte sie sich noch näher an ihn, versuchte, völlig mit ihm zu verschmelzen, ganz in
ihm aufzugehen. Oh, bitte, dachte sie nur. Bitte, bitte...
„Elena. Elena. Es ist alles gut. Ich halte dich.“ Er redete belangloses Zeug, das sie beruhigen sollte, und
streichelte ihr Haar. Und dann fühlte sie, wie seine Umarmung enger wurde. Er wußte jetzt, wen er in den
Armen hielt. Zum ersten Mal, seit sie an diesem Tag erwacht war, fühlte sie sich sicher. Trotzdem dauerte es
eine ganze Weile, bis sie ihren Griff ein wenig lockern konnte. Sie weinte nicht. Doch ihr Atem ging
stoßweise vor Panik.
Schließlich spürte sie, wie die Welt um sie herum wieder ins Gleichgewicht kam. Aber sie ließ Stefan noch
nicht los. Endlose Minuten stand sie einfach da, mit dem Gesicht an seiner Schulter, und genoß den Trost
und die Sicherheit seiner Nähe.
Dann hob sie den Kopf, um ihm in die Augen zu sehen.
Als ihr Stefan früher am Tag eingefallen war, hatte sie nur daran gedacht, wie er ihr helfen könnte. Sie hatte
ihn bitten, ja, anflehen wollen, sie aus diesem Alptraum zu erretten und sie wieder zu dem zu machen, was
sie früher gewesen war. Aber jetzt, während sie ihn betrachtete, spürte sie eine seltsame, traurige
Ergebenheit in ihr Schicksal.
„Es gibt nichts, was man tun könnte?“ fragte sie sehr leise.
Stefan wich ihr nicht aus. „Nein“, erwiderte er genauso leise.
Elena fühlte sich, als hätte sie eine unsichtbare Grenze überschritten, von der es kein Zurück mehr gab. Als
sie ihre Stimme wiedergefunden hatte, sagte sie: „Es tut mir leid, wie ich mich im Wald dir gegenüber
benommen habe. Ich weiß nicht, warum ich so handelte. Ich kann mich zwar erinnern, was geschehen ist,
aber nicht an den Grund dafür.“
„Dir tut es leid?“ Seine Stimme schwankte. „Elena, nach allem, was ich dir angetan habe, nach allem, was
dir wegen mir passiert ist...?“ Er konnte den Satz nicht beenden. Sie klammerten sich aneinander.
„Nein, wie rührend“, erklang eine Stimme von der Treppe her. „Soll ich für euch eine Geige nachahmen?“
Elenas Friede war mit einem Schlag zerstört. Erneut stieg Angst in ihr auf. Sie hatte Damons hypnotische
Macht und seinen zwingenden, dunklen Blick total vergessen.
„Wie bist du hierher gekommen?“ fragte Stefan.
„Genauso wie du, nehme ich an. Angezogen von dem lodernden Feuer der Verzweiflung, das in unserer
schönen Elena brannte.“ Damon war ernsthaft wütend. Das spürte sie. Nicht nur verärgert oder ungehalten.
Sondern zornig und voller Haß.
Aber er hatte sich ihr gegenüber anständig verhalten, als sie so völlig verwirrt gewesen war. Er hatte sie in
Sicherheit gebracht. Und er hatte sie nicht geküßt, als sie in diesem schrecklich verwundbaren Zustand
gewesen war. Er war... einfach nett gewesen.
„Übrigens, da unten geht etwas vor“, fügte Damon hinzu.
„Ich weiß. Es ist wieder Bonnie.“ Elena ließ Stefan los und trat einen Schritt zurück.
„Das meine ich nicht. Draußen.“
Überrascht folgte Elena ihm zur ersten Biegung der Treppe. Dort gab es ein großes Fenster, von dem aus
man den Parkplatz überblicken konnte. Sie fühlte Stefan hinter sich, während sie hinunterschaute.
Die Menschen waren aus der Kirche gekommen, aber sie standen in einer geschlossenen Reihe am Rand des
Parkplatzes und gingen keinen Schritt weiter. Gegenüber von ihnen, auf dem Parkplatz selbst, hatten sich in
gleicher Anzahl Hunde versammelt.
Sie glichen zwei feindlichen Armeen. Das Befremdende war, daß sich beide Gruppen völlig reglos
verhielten. Die Menschen schienen vor Unsicherheit wie gelähmt, und die Hunde schienen auf etwas zu
warten.
Elena sah zunächst nur die verschiedenen Rassen der Hunde. Dann erkannte sie die einzelnen Tiere.
„Da ist Mr. Grunbaums Boxer und der Schäferhund der Sullivans. Aber was ist mit ihnen los?“
Die Leuten sahen zunehmend ängstlicher aus. Sie standen Schulter an Schulter. Keiner wollte aus der Reihe
treten und näher an die Tiere herangehen.
Dabei taten die Hunde gar nichts. Sie saßen oder standen nur da mit sanft heraushängenden Zungen.
Trotzdem ist es merkwürdig, wie ruhig sie sind, dachte Elena. Jede kleinste Bewegung, wie das kaum
merkliche Zucken von Ohren oder Fell, schien schon übertrieben. Und es gab keine wedelnden Schwänze,
kein Zeichen von Freundlichkeit. Nur... warten.
Robert stand hinten in der Menge. Elena war überrascht, ihn zu sehen, aber im Moment fiel ihr nicht ein,
warum. Dann erinnerte sie sich, daß er nicht in der Kirche gewesen war. Sie beobachtete, wie er sich weiter
von der Gruppe zurückzog, bis er aus Elenas Blickfeld verschwand.
„Chelsea! Chelsea...“
Jemand hatte sich endlich nach vorn gewagt. Es war Douglas Carson, der ältere verheiratete Bruder von Sue.
Er war mit leicht ausgestreckter Hand in das Niemandsland zwischen Hunden und Menschen getreten.
Eine Cockerspanielhündin mit langen Ohren und einem Fell, das wie brauner Satin glänzte, drehte den Kopf.
Ihr kurzer, weißer Schwanz wedelte leicht zögernd, und sie hob ihre braunweiße Schnauze. Aber sie kam
nicht auf den jungen Mann zu.
Doug Carson machte einen weiteren Schritt. „Chelsea... braves Mädchen. Komm her, Chelsea. Komm!“
„Welche Schwingungen empfängst du von den Hunden da unten?“ fragte Damon leise.
Stefan schüttelte den Kopf, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. „Keine“, erwiderte er kurz.
„Ich auch nicht.“ Damons Augen waren verengt. Er hatte den Kopf abschätzend zurückgeworfen. Mit seinen
leicht entblößten Zähnen erinnerte er Elena an einen Wolfshund. „Aber wir müßten etwas spüren. Sie
müßten doch ein paar Gefühle haben, die wir aufnehmen könnten. Aber wenn ich versuche, sie zu enttarnen,
laufe ich wie gegen eine leere, weiße Wand.“
Elena wünschte, sie wüßte, wovon die beiden redeten. „Was heißt hier enttarnen? Das sind doch Tiere.“
„Die äußere Erscheinung kann täuschen. Hast du nichts dazugelernt? „erklärte Damon spöttisch, und Elena
fielen die Regenbogenfarben im Gefieder der Krähe ein, die ihr seit dem ersten Schultag gefolgt war. Wenn
sie genau hinsah, konnte sie dieselben Lichter in Damons seidigem Haar erkennen. „Aber, egal. Auch Tiere
haben Empfindungen. Wenn deine Kräfte stark genug sind, kannst du ihre wahre Natur erkennen.“
Und meine Kräfte sind es nicht, dachte Elena. Sie war überrascht über den kurzen Anflug von Neid, der sie
überfiel. Noch vor ein paar Minuten hatte sie sich an Stefan geklammert, sich verzweifelt gewünscht, alles
Übernatürliche abzuschütteln und wieder sie selbst zu werden. Und jetzt wünschte sie sich mehr von dieser
geheimnisvollen Macht. Damon hatte immer wieder diesen merkwürdigen Einfluß auf sie.
„Kann sein, daß ich nicht weiß, was Chelsea antreibt. Eins ist jedoch klar. Doug sollte nicht näher an sie
herangehen“, sagte sie laut.
Stefan hatte mit zusammengezogenen Augenbrauen angestrengt aus dem Fenster gesehen. Jetzt nickte er
heftig. „Das finde ich auch.“
„Komm, Chelsea. Sei ein braves Mädchen. Komm her.“ Doug Carson hatte die erste Reihe der Hunde fast
erreicht. Alle Augen, die der Menschen und der Hunde, waren auf ihn gerichtet. Jede kleinste Bewegung
hatte aufgehört. Wenn Elena nicht gesehen hätte, wie sich die Flanken einiger Hunde beim Atmen hoben
und senkten, hätte man die ganze Gruppe für eine gigantische Museumsskulptur halten können.
Doug war stehengeblieben. Chelsea beobachtete ihn hinter einem Corgi und einem großen Königspudel.
Doug schnalzte mit der Zunge. Er streckte die Hand aus, zögerte und streckte sie dann weiter aus.
„Nein“, stöhnte Elena. Sie starrte auf die glänzenden Flanken eines Rottweilers. Sie hoben und senkten sich
hektischer. „Stefan, beeinflusse Doug. Hol ihn da raus.“
„Ja.“ Sie konnte sehen, wie er sich bemühte. Dann schüttelte er den Kopf und atmete aus, wie jemand, der
sich vergeblich angestrengt hatte, eine zu schwere Last zu heben. „Es hat keinen Zweck. Ich bin
ausgebrannt. Von hier kann ich nichts erreichen.“
Unten zog Chelsea drohend die Lefzen hoch. Der rotgoldene Airdaleterrier neben ihr erhob sich
geschmeidig, wie von unsichtbaren Schnüren gezogen. Die Muskeln des Rottweilers spannten sich.
Und dann sprangen sie. Elena konnte nicht erkennen, welcher Hund der erste war. Sie schienen sich wie eine
große Flutwelle gemeinsam zu bewegen. Ein halbes Dutzend traf Doug Carson mit genug Wucht, um ihn
umzuwerfen. Er verschwand unter der Masse ihrer Körper.
Die Luft war plötzlich von einem höllischen Lärm erfüllt, von einem Bellen, das die Dachschindeln der
Kirche klirren ließ und Elena schreckliche Kopfschmerzen verursachte, bis hin zu einem tiefen Knurren, das
sie mehr fühlte als hörte. Die Hunde rissen an den Kleidern ihrer Herren und gebärdeten sich wie wild,
während die Menschen aufschrien und versuchten wegzulaufen.
Elena sah Alaric Saltzman am Rand des Parkplatzes. Er war der einzige, der nicht floh. Elena glaubte zu
erkennen, daß sich seine Lippen und Hände bewegten.
Chaos herrschte. Jemand hatte einen Wasserschlauch geholt und hielt ihn mitten in die Hundemeute. Ohne Erfolg. Die Hunde schienen wahnsinnig geworden zu sein. Als Chelsea ihre braunweiße Schnauze vom Körper ihres Besitzers hob, war sie blutbefleckt. Elenas Herz klopfte so heftig, daß sie kaum atmen konnte. „Sie brauchen Hilfe!“ rief sie in dem Moment, in dem Stefan sich schon vom Fenster löste und die Stufen nach unten lief, zwei und drei auf einmal nehmend. Elena war bereits auf halbem Weg hinter ihm her, als ihr zwei Dinge auffielen: Damon folgte ihnen nicht, und sie selbst durfte nicht gesehen werden. Es ging einfach nicht. Die Panik, die ihr Erscheinen auslösen würde, die Furcht und der Haß, wenn einmal alle Fragen beantwortet waren, das war zuviel. Etwas, das stärker war als Mitgefühl, Sympathie oder der Wunsch zu helfen, veranlaßte sie, sich flach gegen die Wand zu pressen. Auch im kühlen, dämmrigen Inneren der Kirche herrschte noch hektische Aktivität. Leute liefen rufend hin und her: Dr. Feinberg, Mr. McCullough, Pfarrer Bethea. Den ruhenden Pol bildete ein Kreis um Bonnie, die auf einer Kirchenbank lag. Meredith, Tante Judith und Mrs. McCullough beugten sich über sie. „Etwas Böses“, stöhnte Bonnie. In diesem Moment hob Tante Judith den Kopf und drehte sich in Elenas Richtung. Elena lief schnell die Stufen hoch und hoffte inständig, daß Tante Judith sie nicht gesehen hatte. Damon stand am Fenster. „Ich kann nicht runter. Die halten mich ja alle für tot.“ „Gut, daß es dir wieder eingefallen ist.“ „Wenn Dr. Feinberg mich untersucht, wird er doch feststellen, daß etwas nicht stimmt. Nicht wahr?“ „Er wird dich zumindest für ein sehr interessantes Forschungsobjekt halten.“ „Dann kann ich nicht gehen. Aber du kannst. Warum tust du nichts?“ Damon schaute weiter aus dem Fenster. Er zog die Augenbrauen hoch. „Warum sollte ich?“ „Warum?“ Elenas Aufregung hatte den Siedepunkt erreicht. Fast hätte sie Damon geschlagen. „Weil sie Hilfe brauchen! Weil du helfen kannst! Interessiert dich denn gar nichts außer dir selbst?“ Damon trug seine undurchdringlichste Maske. Es war der Ausdruck höflichen Fragens, den er aufgesetzt hatte, als er sich in ihr Haus zum Essen einladen ließ. Aber sie wußte, daß er darunter zornig war. Zornig darüber, Stefan und sie so eng zusammen gefunden zu haben. Er reizte sie absichtlich und genoß es. Und sie konnte ihre Reaktion darauf, ihre frustrierte, ohnmächtige Wut, nicht verhindern. Sie stürzte sich auf ihn. Er packte ihre Handgelenke und hielt sie fest. Sein Blick bohrte sich in ihre Augen. Sie war überrascht von dem Geräusch, das über ihre Lippen kam. Es war ein Fauchen, das mehr nach einer Katze als nach einem Menschen klang. Elena erkannte, daß sie ihre Finger zu Klauen gekrümmt hatte. Was mache ich? fragte sie sich. Ich greife ihn an, weil er die Menschen nicht vor den Hunden verteidigen will, die sie angreifen? Was für einen Sinn ergibt das? Sie atmete tief durch, entspannte ihre Hände und befeuchtete sich die Lippen. Als sie einen Schritt zurück machen wollte, ließ er sie los. Einen langen Moment starrten sie einander an. „Ich gehe nach unten“, sagte Elena schließlich leise und drehte sich um. „Nein.“ „Sie brauchen Hilfe.“ „Gut, okay. Verdammt!“ Sie hatte Damons Stimme noch nie so gedrückt oder so wütend gehört. „Ich werde...“ Er brach ab, und Elena, die sich schnell wieder umgedreht hatte, sah, wie er mit der Faust auf das Fenster schlug und die Scheibe zum Klirren brachte. Aber seine Aufmerksamkeit war nach draußen gerichtet und seine Stimme wieder völlig beherrscht, als er trocken sagte: „Hilfe ist bereits gekommen.“ Es war die Feuerwehr. Ihre Schläuche waren viel stärker als der Gartenschlauch, und die kräftigen Wasserstöße trieben die Hunde mit brutaler Gewalt auseinander. Elena sah, wie der Sheriff seine Waffe zog und zielte. Es gab einen Knall, und ein Riesenschnauzer fiel zusammen. Der Sheriff zielte erneut. Danach endete es schnell. Einige der Hunde flohen bereits vor dem Wasser, und beim zweiten Knall der Pistole scherten noch mehr aus der Meute aus und rannten zum Rand des Parkplatzes. Es schien, als habe der Zwang, der sie zum Handeln trieb, sie alle mit einem Schlag verlassen. Elena war total erleichtert, als sie Stefan unverletzt mitten in dem Durcheinander stehen sah. Er hob einen wie betäubt aussehenden Golden Retriever von Doug Carsons Körper. Chelsea machte einen zögernden Schritt auf ihren reglosen Herrn zu und schaute mit gesenktem Kopf und hängendem Schwanz in sein Gesicht.
„Es ist vorbei.“ Damon klang nur mäßig interessiert, aber Elena musterte ihn scharf. Was hatte er vorhin sagen und tun wollen? Er war nicht in der Laune, es ihr zu verraten, aber sie war in der Stimmung, ihn dazu zu drängen. „Damon...“ Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Er erstarrte und wandte sich zu ihr um. „Was?“ Einen Moment sahen sie sich an. Dann hörte man Schritte auf der Treppe. Stefan war zurück. „Stefan... du bist ja doch verletzt“, rief Elena und blinzelte eine Sekunde lang verwirrt. „Ich bin okay.“ Er wischte sich mit dem zerfetzten Hemdsärmel das Blut von der Wange. „Was ist mit Doug?“ „Ich weiß nicht genau. Ihn hat es schlimmer erwischt. Ein paar andere auch. Das war das Merkwürdigste, das ich jemals erlebt habe.“ Elena ging langsam die Treppe zur Chorempore hoch. Sie mußte unbedingt nachdenken. Ihr Herz klopfte wild. Das Merkwürdigste, was Stefan jemals erlebt hatte... das sagte eine Menge. Etwas Merkwürdiges in Fell's Church... Sie erreichte die Wand hinter der letzten Stuhlreihe, stützte sich mit der Hand ab und ließ sich zu Boden gleiten. Die Dinge waren mit einem Mal zugleich verworren und doch entsetzlich klar. Etwas Merkwürdiges in Fell's Church. Am Tag des Gründungsfests hätte sie noch geschworen, daß ihr Fell's Church und seine Bewohner völlig egal waren. Aber jetzt wußte sie es besser. Als sie den Trauergottesdienst gesehen hatte, war ihr der leise Gedanke bereits gekommen, daß sie sich doch etwas aus ihnen machte. Und als die Hunde angegriffen hatten, da hatte sie es ganz genau gewußt. Sie fühlte sich irgendwie verantwortlich für diese Stadt, in einer Art, wie sie es noch nie zuvor gefühlt hatte. Ihre Einsamkeit und Verzweiflung von vorhin traten für den Augenblick in den Hintergrund. Es gab jetzt etwas Wichtigeres als ihre eigenen Probleme. Und daran klammerte sie sich. Denn in Wahrheit wurde sie mit dem, was mit ihr geschehen war, nicht fertig. Nein, sie schaffte es nicht... Nein, nein. Sie hörte den halb erstickten Seufzer, den sie ausstieß, und schaute hoch. Stefan und Damon blickten sie beide von der Brüstung her an. Elena schüttelte leicht den Kopf und fühlte sich, als erwachte sie aus einem Traum. „Elena...?“ Es war Stefan, der sie ansprach, aber Elena redete zu dem anderen. „Damon“, begann sie zitternd. „Wenn ich dich etwas frage, wirst du mir die Wahrheit sagen? Ich bin sicher, daß du mich nicht die Wickery-Brücke hinuntergejagt hast. Was immer es war, es war etwas anderes. Das konnte ich spüren. Aber ich möchte folgendes wissen. Hast du Stefan vor einem Monat in den alten Brunnen der Francher geworfen?“ „In einen Brunnen?“ Damon lehnte sich an die gegenüberliegende Wand. Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt und sah sie mit höflich skeptischer Miene an. „In der Nacht von Halloween, in der Nacht, als Mr. Tanner ermordet wurde. Nachdem du dich Stefan im Wald zum ersten Mal gezeigt hast. Er hat mir erzählt, daß er sich nach eurer Prügelei zum Auto schleppen wollte! Aber etwas hat ihn angegriffen, bevor er es erreichte. Als er aufwachte, war er in dem Brunnen gefangen. Er wäre gestorben, wenn Bonnie uns nicht zu ihm geführt hätte. Ich habe immer angenommen, daß du der Schuldige warst. Aber stimmt das überhaupt?“ Damon verzog die Lippen, als paßte ihm die Eindringlichkeit der Frage nicht. Er schaute mit halbverhangenem, leicht spöttischem Blick von ihr zu Stefan. Der Moment erstreckte sich endlos dahin, bis Elena vor Anspannung die Fingernägel in ihre Handflächen bohrte. Schließlich zuckte Damon mit den Schultern und blickte in die Ferne. „Nein. Ich war es nicht.“ Elena stieß den Atem aus. „Du glaubst ihm doch nicht etwa!“ explodierte Stefan. „Du kannst gar nichts von dem glauben, was er sagt.“ „Warum sollte ich lügen?“ gab Damon zurück. Es gefiel ihm sichtlich, daß Stefan die Beherrschung verloren hatte. „Ich gebe freimütig zu, daß ich Tanner getötet habe. Ich trank sein Blut, bis er ausgetrocknet war wie eine Dörrpflaume. Und ich hätte große Lust, dasselbe mit dir zu machen, Bruder. Aber ein Brunnen? Das ist wohl kaum mein Stil.“ „Ich glaube dir.“ Elena war in Gedanken schon weiter. Sie wandte sich an Stefan. „Fühlst du es nicht? Es gibt noch etwas anderes hier in Fell's Church. Etwas, das vielleicht nicht menschlich ist ... nie menschlich
war. Es hat mich gejagt. Hat das Auto von der Brücke getrieben. Es hat diese Hunde dazu gebracht, die
Leute anzugreifen. Eine schreckliche Macht ist hier, etwas Böses...“ Ihre Stimme verklang. Sie blickte
hinüber ins Innere der Kirche, wo sie Bonnie hatte liegen sehen. „Etwas Böses...“ wiederholte sie leise. Ein
kalter Wind schien in ihr zu wehen. Sie kauerte sich zusammen und fühlte sich verletzlich und allein.
„Wenn du nach etwas Bösem suchst, brauchst du nicht weit zu gehen“, erklärte Stefan hart.
„Stell dich nicht dümmer an als unbedingt nötig“, antwortete Damon ätzend. „Ich habe dir schon vor vier
Tagen gesagt, daß etwas anderes Elena getötet hat. Und ich sagte auch, ich werde das- oder denjenigen
finden und mit ihm abrechnen. Dazu stehe ich.“ Er entfaltete seine Amme und richtete sich auf. „Ihr zwei
könnt ja inzwischen das intime Gespräch fortsetzen, bei dem ich euch eben so unsanft unterbrochen habe.“
„Damon, warte.“ Elena hatte den Schauder nicht unterdrücken können, der sie bei dem Wort „getötet“
überlaufen hatte. Ich kann nicht getötet worden sein, ich bin doch immer noch da, dachte sie voller Panik.
Aber jetzt drängte sie diese Angst beiseite, um mit Damon zu sprechen.
„Was immer dieses Ding auch ist, es ist stark“, warnte sie ihn. „Ich habe es gefühlt, als es hinter mir her war.
Es schien den ganzen Himmel zu füllen. Ich glaube nicht, daß einer von uns allein eine Chance dagegen
hat.“
„Also?“
„Also...“ Elena hatte keine Zeit gehabt, ihr weiteres Handeln zu überlegen. Sie handelte nur aus purem
Instinkt. Und ihr Gefühl riet ihr, Damon nicht einfach so gehen zu lassen. „Also, ich finde, wir drei sollten
zusammenbleiben. Zusammen haben wir eine viel größere Chance, es zu finden und zu vernichten. Und
vielleicht können wir es aufhalten, bevor es noch jemand anderen verletzt oder... tötet.“
„Ehrlich gesagt, meine Liebe, interessieren mich die anderen schrecklich wenig“, erwiderte Damon voller
Charme. Dann schenkte er ihr eins seiner blitzartigen, eiskalten Lächeln. „Aber soll das heißen, daß so deine
Wahl lautet? Erinnere dich, wir haben beschlossen, daß du eine Wahl treffen wirst, wenn du deine fünf
Sinne wieder beieinander hast.“
Elena starrte ihn an. Natürlich war das nicht ihre Wahl, wenn er es im romantischen Sinne meinte. Sie trug
den Ring, den Stefan ihr geschenkt hatte. Sie und Stefan gehörten zusammen.
Aber dann erinnerte sie sich an etwas. Nur kurz, wie an das Aufflackern eines Blitzes. Ihr fiel wieder ein,
wie sie im Wald in Damons Gesicht geschaut und eine solche Erregung, einen solchen Einklang mit ihm
gespürt hatte wie nie zuvor. Als ob er die Flamme, die in ihr brannte, wie niemand sonst verstehen könnte.
Als ob sie zusammen alles tun könnten, was sie wollten. Die Welt erobern oder sie zerstören. Als ob sie
beide besser wären als alle anderen, die jemals gelebt hatten.
Ich muß total verrückt gewesen sein, dachte sie. Aber die Erinnerung wollte nicht weichen.
Und da war noch mehr. Wie Damon sich später in dieser Nacht ihr gegenüber verhalten hatte. Wie er sie
beschützt hatte und wie sanft er zu ihr gewesen war.
Stefan beobachtete sie, und sein Ausdruck hatte sich von Streitlust in bitteren Ärger und Furcht
umgewandelt. Ein Teil von ihr wollte ihn beruhigen. Wollte sich in seine Arme werfen, ihm versichern, daß
sie zu ihm gehörte und daß nichts anderes zählte. Nicht die Stadt, nicht Damon, gar nichts.
Aber das konnte sie nicht tun. Denn ein anderer Teil flüsterte ihr zu, daß die Stadt doch wichtig war. Und
der Rest von ihr war total verwirrt. So entsetzlich verwirrt...
Sie fühlte, wie sie zu zittern begann und nicht aufhören konnte.
Meine Gefühle sind völlig durcheinander, dachte sie und verbarg das Gesicht in den Händen.
6. KAPITEL „Sie hat bereits ihre Wahl getroffen. Du hast es selbst gesehen, als du in die Kirche kamst. Das stimmt doch,
Elena?“ Stefans Stimme war weder selbstsicher noch fordernd, sondern voller verzweifelter Tapferkeit.
„Ich...“ Elena sah hoch. „Stefan, ich liebe dich. Aber du verstehst nicht. Wenn ich überhaupt im Moment
eine Wahl treffen soll, dann ist es die, daß wir alle zusammenbleiben. Nur für jetzt. Verstehst du das?“ Als
sie Stefans reglose, steinerne Miene sah, wandte sie sich an Damon. „Verstehst du es wenigstens?“
„Ich glaube schon.“ Er schenkte ihr ein heimliches, besitzergreifendes Lächeln. „Von Anfang an habe ich
Stefan gesagt, daß es sehr egoistisch von ihm ist, dich nicht teilen zu wollen. Brüder sollten alles
miteinander teilen, nicht wahr?“
„Das meine ich nicht.“
„Nein?“ Damon lächelte wieder.
„Nein“, kam Stefan zu Elenas Frage zurück. „Ich verstehe es nicht. Und ich kann nicht glauben, daß du
ernsthaft bittest, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er ist böse, Elena. Er tötet aus reinem Vergnügen. Er hat
überhaupt kein Gewissen. Fell's Church ist ihm völlig egal. Das hat er selbst gesagt. Er ist ein Monster...“
„Im Moment ist er jedenfalls hilfsbereiter als du.“ Elena griff nach Stefans Hand und suchte einen Weg, zu
ihm durchzudringen. „Stefan, ich brauche dich. Und wir beide brauchen ihn. Kannst du nicht wenigstens
versuchen, das zu akzeptieren?“ Als er nicht antwortete, fügte sie hinzu: „Willst du wirklich in alle Ewigkeit
der Todfeind deines Bruders bleiben?“
„Glaubst du denn im Ernst, daß er etwas anderes will?“
Elena starrte auf ihre ineinander verschlungenen Hände. Sie schwieg kurze Zeit, und als sie sprach, war ihre
Stimme sehr leise. „Er hat mich davon abgehalten, dich zu töten.“
Sie fühlte, wie Zorn in Stefan aufstieg und langsam wieder schwand. Er gab sich geschlagen und senkte den
Kopf. „Das stimmt“, sagte er. „Und wer bin ich schon, daß ich ihn böse nennen darf? Was hat er getan, was
ich nicht auch getan habe?“
Wir müssen reden, dachte Elena. Sie haßte seine Selbstzerfleischung. Aber hier war weder der richtige
Zeitpunkt noch der richtige Ort.
„Dann stimmst du zu?“ fragte sie zögernd. „Stefan, verrate mir, was du denkst.“
„Im Moment nur das eine. Daß du wieder deinen Willen durchsetzt. Aber das war ja schon immer so, nicht
wahr, Elena?“
Elena schaute in seine Augen. Seine Pupillen waren so stark erweitert, daß die Iris nur noch einen schmalen,
grünen Rand bildete. Der Zorn war aus seinem Blick verschwunden. Die Müdigkeit und Bitterkeit waren
jedoch geblieben.
Aber ich tue das doch nicht nur für mich, verteidigte Elena sich im stillen und verdrängte die plötzlich
aufkommenden Zweifel. Ich werde dir das schon beweisen, Stefan, du wirst sehen. Einmal in meinem Leben
mache ich etwas nicht, nur weil es mir in den Kram paßt.
„Dann stimmst du zu?“ fragte sie leise.
„Ja, ich... ich stimme zu.“
„Und ich ebenfalls.“ Damon machte eine übertriebene Geste und nahm Elenas Hand, bevor sie etwas sagen
konnte. „Wir überschlagen uns ja geradezu vor lauter Harmonie.“
Nein, dachte Elena. Aber in diesem Augenblick, im kühlen Zwielicht der Chorempore, fühlte sie, daß es
stimmte. Sie alle drei waren miteinander verbunden, im Einklang und daher stark.
Dann zog Stefan seine Hand weg. In dem Schweigen, das folgte, konnte Elena die Geräusche von draußen
und aus der Kirche unter ihr hören. Immer noch erklang Weinen und hier und da ein scharfes Rufen. Aber
die Hektik war verschwunden, die über allem gelegen hatte.
Sie sah aus dem Fenster. Die Menschen bahnten sich einen Weg über den nassen Parkplatz vorbei an kleinen
Gruppen, die sich um die Verwundeten kümmerten. Dr. Feinberg ging zwischen ihnen hin und her und
leistete Erste Hilfe. Die Opfer sahen aus wie die Überlebenden eines Hurrikans oder Erdbebens.
„Niemand ist das, was er zu sein scheint“, überlegte Elena laut.
„Wie bitte?“
„Das hat Bonnie während des Trauergottesdienstes gesagt. Sie hatte einen weiteren ihrer Anfälle. Ich
glaube, das ist wichtig.“ Sie versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. „In der Stadt gibt es Leute,
die meinen, daß man nach uns suchen sollte. Alaric Saltzman gehört zu ihnen.“
Sie erzählte ihnen kurz, was sie früher am Tag in Alarics Haus gehört hatte. „Er ist nicht der, der er zu sein
scheint. Aber ich weiß nicht genau, was er ist. Ich glaube, wir sollten ihn beobachten. Da ich aus gutem
Grund nicht in der Öffentlichkeit auftauchen darf, müßt ihr zwei das übernehmen. Aber ihr dürft ihn euer
Mißtrauen...“ Sie hielt inne, als Damon schnell die Hand hob.
Vom Ende der Stufen rief eine Stimme: „Stefan? Sind Sie da oben?“ Dann, zu jemand anders gewandt: „Ich
dachte, ich hätte ihn hinaufgehen sehen.“
Es hörte sich nach Mr. Carson an. „Geh“, flüsterte Elena Stefan fast unhörbar zu. „Du mußt dich so normal
wie möglich benehmen, damit du in Fell's Church bleiben kannst. Ich komme schon zurecht.“
„Aber wo willst du hin?“
„Zu Meredith. Ich erkläre dir das später. Jetzt geh.“
Stefan zögerte einen Moment, dann lief er die Stufen runter und rief: „Ich komme schon.“ Auf halbem Weg
blieb er jedoch stehen. „Ich lasse dich nicht bei ihm zurück“, erklärte er stur.
Elena warf verzweifelt die Hände hoch. „Dann geht eben beide. Gerade noch wart ihr einverstanden,
zusammenzuarbeiten. Wollt ihr euer Versprechen etwa zurücknehmen?“ fügte sie an Damon gewandt hinzu,
der ebenfalls aussah, als wollte er keinen Schritt nachgeben.
Er zuckte leicht mit den Schultern. „Okay. Nur noch eins. Bist du hungrig?“
„Ich... nein.“ Elena wurde fast übel, als ihr klar wurde, was er eigentlich fragte. „Nein, überhaupt nicht.“
„Das ist gut. Später wirst du jedoch Hunger bekommen. Denk daran.“
Damon drängte sich an Stefan vorbei, die Treppe hinunter und erntete einen bösen Blick von ihm. Aber
Elena hörte Stefans Stimme in ihrem Kopf, bevor beide Brüder verschwanden. Ich werde nachher zu dir
zurückkommen. Warte auf mich.
Sie wünschte, sie könnte ihm mit ihren eigenen Gedanken antworten. Aber da war noch etwas. Stefans
Stimme war viel schwächer als beim Kampf mit seinem Bruder vor vier Tagen. Wenn sie es sich recht
überlegte, war er vor dem Gründungsfest gar nicht in der Lage gewesen, sich auf telepathischem Weg zu
unterhalten. Als sie beim Fluß erwacht war, war sie so verwirrt gewesen, daß es ihr gar nicht aufgefallen
war. Doch jetzt machte sie sich Gedanken. Was war passiert, daß seine Fähigkeiten wiedergekommen
waren? Und woran lag es, daß seine Stärke wieder nachließ?
Während Elena auf der verlassenen Chorempore saß, unten die Leute die Kirche verließen und der
verhangene Himmel draußen langsam dunkler wurde, hatte sie genug Zeit zu überlegen. Sie dachte an
Stefan, an Damon und fragte sich, ob sie die richtige Wahl getroffen hatte. Sie hatte sich, geschworen, daß
beide niemals wegen ihr kämpfen sollten, aber dieser Schwur war bereits gebrochen. War sie verrückt, wenn
sie versuchte die beiden Brüder zu einem Waffenstillstand zu zwingen, auch wenn er nur vorübergehend
war?
Als es draußen ganz dunkel war, ging sie die Stufen hinunter. Die Kirche war leer und voller Echos. Sie
hatte nicht überlegt, wie sie hinausgelangen konnte. Zum Glück war eine Seitentür nur von innen
verschlossen.
Sie hatte sich nicht vorgestellt, wie gut es tun würde, wieder draußen und in der Dunkelheit zu sein. Im
Gebäude hatte sie sich eingesperrt gefühlt, und das Tageslicht hatte ihren Augen weh getan. Ihre ganzen
Sinne lebten wieder auf. Da sich kein Wind rührte, blieben die Gerüche länger in der Luft. Elena konnte eine
ganze Anzahl nächtlicher Tiere wahrnehmen. Ein Fuchs wühlte irgendwo im Abfall. Braune Ratten krochen
durch das Gebüsch. Motten lockten einander mit ihrem Duft.
Elena merkte, daß es ihr nicht schwerfiel, unentdeckt zu Meredith' Haus zu gelangen. Keiner schien sich auf
die Straße zu trauen. Vor dem hübschen Farmhaus blieb sie stehen und betrachtete es bestürzt. Sie konnte
doch nicht einfach zur Haustür gehen und anklopfen. Rechnete Meredith tatsächlich mit ihrem Erscheinen?
Würde sie dann nicht draußen warten?
Jedenfalls wird Meredith einen ziemlichen Schreck bekommen, wenn sie mich nicht erwartet, überlegte
Elena und musterte den Abstand zum Dach der Veranda. Das Schlafzimmerfenster von Meredith lag darüber
und etwas seitlich. Es war ein wenig außer Reichweite des Daches, aber Elena glaubte, es schaffen zu
können.
Auf das Dach zu kommen, war einfach. Ihre Finger und nackten Zehen fanden genügend Halt zwischen den
Schindeln. Aber sich um die Ecke zu lehnen, um in Meredith' Fenster zu schauen, war sehr schwierig. Elena
mußte gegen das Licht anblinzeln, das aus dem Zimmer drang.
Meredith saß auf dem Rand ihres Bettes. Sie hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und starrte ins Leere.
Hin und wieder fuhr sie sich mit der Hand durch das schwarze Haar. Auf der Uhr auf ihrem Nachttisch war
es Viertel vor sieben.
Elena klopfte leise mit den Fingernägeln gegen die Scheibe.
Meredith fuhr zusammen und schaute in die falsche Richtung, nämlich zur Tür. Sie stand auf und nahm ein
Kissen in die Hand, bereit, sich zu verteidigen. Als die Tür sich nicht öffnete, machte sie vorsichtig ein, zwei
Schritte darauf zu. „Wer ist da?“ fragte sie.
Elena klopfte wieder auf die Scheibe.
Meredith fuhr zum Fenster herum. Ihr Atem ging in schnellen Zügen.
„Laß mich herein“, bat Elena. Sie wußte nicht, ob Meredith sie hören konnte, deswegen bewegte sie noch
einmal deutlich die Lippen. „Öffne das Fenster.“
Meredith sah sich hektisch atmend im Zimmer um, als erwartete sie, daß ihr jemand zu Hilfe kam. Als
niemand erschien, näherte sie sich dem Fenster wie einem gefährlichen Tier. Aber sie öffnete es nicht.
„Laß mich herein“. sagte Elena wieder. Dann fügte sie ungeduldig hinzu: „Wenn du nicht wolltest, daß ich
komme, warum hast du dich dann mit mir verabredet?“
Sie sah, wie Meredith' Schultern sich langsam entspannten. Mit zitternden Fingern öffnete die Freundin das
Fenster und trat einen Schritt zurück.
„Jetzt mußt du mich bitten, hereinzukommen. Sonst kann ich das nicht.“
„Komm...“ Meredith Stimme versagte, und sie mußte neu anfangen. „Komm herein.“
Als Elena sich stöhnend nach innen auf den Fenstersims gehievt hatte und ihre verkrampften Glieder
massierte, fügte Meredith wie benommen hinzu: „Du mußt es sein, Elena. Niemand sonst hat einen solchen
Befehlston drauf.“
„Ich bin's.“ Elena hörte auf, ihre Finger zu bewegen, und sah der Freundin in die Augen. „Ich bin's
tatsächlich, Meredith.“
Meredith nickte und schluckte. Elena hätte nichts lieber getan, als sie zu umarmen. Aber Meredith hatte nie
viel für körperliche Berührungen übrig gehabt, und im Moment zog sie sich gerade langsam zum Bett
zurück und setzte sich wieder.
„Nimm Platz“, sagte sie mit gekünstelt ruhiger Stimme. Elena zog den Schreibtischstuhl heran und nahm
dieselbe Position ein wie vorhin Meredith. Sie stützte die Ellbogen auf die Knie und senkte den Kopf. Dann
sah sie auf. „Woher wußtest du es?“
„Ich...“ Meredith blickte einen Moment vor sich hin. Dann schüttelte sie sich. „Nun, deine Leiche ist
natürlich nicht gefunden worden. Und dann waren da diese Überfälle auf den alten Mann, auf Vickie und
Mr. Tanner. Stefan, nicht zu vergessen, und die Kleinigkeiten, die ich mir zusammengereimt habe, was ihn
betraf. Aber ich wußte es nicht. Nicht sicher. Bis jetzt.“ Am Schluß war ihre Stimme nur noch ein Flüstern.
„Gut kombiniert, Sherlock Holmes.“ Elena versuchte, sich so normal wie möglich zu benehmen. Aber was
war in einer solchen Situation schon normal? Meredith tat so, als könnte sie ihren Anblick kaum ertragen.
Elena fühlte sich einsamer und verlassener als je zuvor in ihrem Leben.
Unten an der Tür läutete es. Elena hörte es, Meredith nicht. „Wen erwartest du?“ fragte sie. „Da ist jemand
an der Tür.“
„Ich habe Bonnie gebeten, um sieben Uhr zu kommen, falls ihre Mutter es erlaubt. Ich schaue mal schnell
nach.“ Meredith schien geradezu übereifrig, aus dem Zimmer zu kommen.
„Warte. Weiß sie Bescheid?“
„Nein... Ach, so. Du meinst, ich soll es ihr schonend beibringen.“ Meredith sah sich wieder unsicher im
Zimmer um. Elena machte die kleine Leselampe beim Bett an.
„Schalte das Licht aus. Es tut meinen Augen sowieso weh“, sagte sie leise. Als Meredith ihre Bitte erfüllt
hatte, war der Raum dämmrig genug, daß Elena sich in den Schatten verbergen konnte.
In einer Ecke wartete sie darauf, daß Meredith zurückkam, und rieb sich die Ellbogen mit der Hand.
Vielleicht war die Idee gar nicht so gut, Bonnie und Meredith mit hineinzuziehen. Wenn die
unerschütterliche Meredith schon mit der Situation nicht fertig wurde, wie würde Bonnie dann erst
reagieren?
Meredith kündigte ihr Eintreffen an, indem sie mehrfach wiederholte: „Schrei nicht. Um Himmels willen,
schrei nicht“, während sie Bonnie über die Schwelle schob.
„Was ist los mit dir? Was machst du da?“ wehrte sich Bonnie. „Laß mich los! Weißt du, was für Klimmzüge
ich machen mußte, damit meine Mutter mich überhaupt gehenließ? Sie will mich nach Roanoke ins
Krankenhaus bringen.“
Meredith stieß die Tür zu. „Nun gut“, sagte sie zu Bonnie. „Du wirst jetzt etwas sehen, was... ein Schock für
dich sein wird. Aber du darfst nicht schreien. Verstehst du mich? Ich lasse dich los, wenn du es mir
versprichst.“
„Es ist zu dunkel, um überhaupt etwas zu erkennen, und du machst mir angst. Was ist los mit dir,
Meredith?“ wiederholte Bonnie. „Gut, ich versprech's. Aber wovon sprichst...?“
„Elena“, erwiderte Meredith kurz. Elena nahm das als Aufforderung und trat vor.
Bonnies Reaktion war anders als erwartet. Sie runzelte die Stirn, lehnte sich nach vorn und starrte in das
dämmrige Licht. Als sie Elenas Gestalt sah, holte sie erschrocken Luft. Doch nach einem Blick in ihr
Gesicht klatschte sie in die Hände und schrie vor Freude auf. „Ich hab's doch geahnt! Alle haben sich geirrt!
Also, die ganzen Experten, du, Meredith, und auch Stefan, ihr dachtet, ihr wißt alles über Ertrinken und so.
Aber ich wußte sofort, daß ihr euch geirrt habt! Oh, Elena, ich habe dich so vermißt. Alle werden sich...“
„Sei ruhig, Bonnie. Sei still!“ drängte Meredith sie. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht schreien! Hör
zu, du kleine Idiotin. Wenn alles mit Elena in Ordnung wäre, warum sollte sie dann mitten in der Nacht hier
sein, ohne daß jemand etwas davon weiß?“
„Aber sie ist okay. Schau sie dir an. Da steht sie! Du bist es doch, Elena?“ Bonnie wollte auf sie zugehen,
aber Meredith hielt sie zurück.
„Ja, ich bin's.“ Elena hatte das merkwürdige Gefühl, in eine surreale Komödie geraten zu sein und ihren
Text nicht zu kennen. Sie wußte nicht, was sie zu Bonnie sagen sollte, die überglücklich aussah.
„Ich bin's. Aber... ich... es ist nicht alles in Ordnung mit mir“, erklärte sie stockend und setzte sich wieder.
Meredith drängte Bonnie aufs Bett.
„Warum tut ihr zwei so geheimnisvoll? Sie ist da, aber da stimmt was nicht mit ihr? Was soll das heißen?“
Elena wußte nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. „Hör mal, Bonnie. Ach, ich hab keine Ahnung, wie ich
dir das beibringen soll. Hat deine Großmutter, die mit den telepathischen Kräften, dir jemals was über
Vampire erzählt?“
Die Stille, die folgte, war so schwer, daß man sie mit einem Messer hätte schneiden können. Minuten
vergingen. Bonnies Augen weiteten sich. Dann glitt ihr Blick zu Meredith.. Nach weiteren Schweigeminuten
bewegte Bonnie sich langsam zur Tür. „Also, Mädels“, sagte sie leise. „Das ist echt zuviel. Wirklich...“
Elena traf eine Entscheidung. „Du kannst dir meine Zähne anschauen.“ Sie zog ihre Oberlippe zurück und
berührte einen Eckzahn mit dem Finger. Sofort fühlte sie, wie er sich verlängerte, spitzer und schärfer
wurde.
Meredith kam herüber, warf einen Blick darauf und schaute schnell wieder fort. „Kapiere. Bonnie, komm
her.“
Alle Freude und jedes Hochgefühl waren aus Bonnies Gesicht gewichen. „Nein. Ich will nicht.“
„Du mußt. Du mußt es glauben, sonst kommen wir nie weiter.“ Meredith packte die widerstrebende Bonnie
und zog sie nach vorn. „Öffne die Augen, du Feigling. Du bist doch diejenige, die auf alles Übernatürliche
so scharf ist.“
„Ich habe meine Meinung geändert“, erklärte Bonnie fast schluchzend. In ihrer Stimme lag echte Hysterie.
„Laß mich in Ruhe, Meredith. Ich will mir das nicht anschauen.“
„Niemand wird dich zwingen“, flüsterte Elena erstaunt. Bestürzung kam in ihr auf, und Tränen traten ihr in
die Augen. „Es war ein schlechter Einfall, Meredith. Ich werde jetzt gehen.“
„Nein. Bitte nicht.“ Bonnie drehte sich so schnell um, wie sie sich abgewandt hatte, und warf sich in Elenas
Arme. „Es tut mir leid, Elena. So leid. Es ist mir egal, was du bist. Ich bin nur froh, daß du wieder da bist. Es
war so schrecklich ohne dich.“ Jetzt schluchzte sie hemmungslos.
Die Tränen, die nicht hatten kommen wollen, als Elena mit Stefan zusammengewesen war, flossen jetzt. Sie
weinte, klammerte sich an Bonnie und fühlte Meredith' Arme um sie beide. Dann weinten sie alle - Meredith
leise, Bonnie laut und Elena tief aus ihrem Herzen. Sie weinte um alles, was mit ihr geschehen war, um
alles, was sie verloren hatte, aus Einsamkeit, aus Furcht und aus Schmerz.
Schließlich fanden sich die drei Mädchen auf dem Fußboden sitzend wieder. Ihre Knie berührten sich wie
damals, wenn sie als Kinder geheime Pläne geschmiedet hatten.
„Du bist so tapfer“, schniefte Bonnie. „Ich verstehe gar nicht, wie du so tapfer sein kannst.“
„Du weißt nicht, wie ich mich innendrin fühle. Ich bin überhaupt nicht tapfer. Aber irgendwie muß ich damit
fertig werden, denn ich habe keine Ahnung, was ich sonst tun könnte.“
„Deine Hände sind nicht kalt.“ Meredith drückte Elenas Finger. „Nur ein bißchen kühl. Ich hätte sie mir
kälter vorgestellt.“ „Stefans Hände sind auch nicht kalt.“ Elena wollte weiterreden, aber Bonnie quietschte
dazwischen: „Stefan!“
Meredith und Elena sahen sie an.
„Überleg doch mal, Bonnie. Man wird nicht von allein zum Vampir. Jemand muß dich dazu machen.“
„Aber du meinst, Stefan...? Du willst sagen, er ist ein...?“ Bonnie brach erstickt ab.
„Ich glaube, es ist an der Zeit, daß du uns die ganze Geschichte erzählst, Elena. Auch die winzigen
Kleinigkeiten, die du das letzte Mal ausgelassen hast, als wir dich um die volle Wahrheit gebeten haben“,
meinte Meredith nüchtern.
Elena nickte. „Du hast recht. Es ist schwierig zu erklären, aber ich werde es versuchen.“ Sie holte tief Luft. „Bonnie, erinnerst du dich an den ersten Schultag nach den Ferien? Da habe ich zum ersten Mal eine deiner Wahrsagungen gehört. Du hast meine Handfläche studiert und gesagt, ich würde einen jungen Mann treffen. Einen dunkelhaarigen Fremden. Und daß er nicht groß sei, es aber einmal gewesen ist. Nun...“ Sie blickte erst zu Bonnie, dann zu Meredith. „... Stefan ist wirklich nicht besonders groß. Aber er war es einmal, im Vergleich zu den anderen Menschen im fünfzehnten Jahrhundert.“ Meredith nickte nur, aber Bonnie schwankte leicht nach hinten und sah geschockt aus. „Du meinst...“ „Ja, er lebte im Italien der Renaissance, und im Durchschnitt waren die Menschen damals kleiner. Und, bevor du ohnmächtig wirst, hier ist noch eine Information, die du wissen solltest. Damon ist sein Bruder.“ Meredith nickte wieder. „So etwas habe ich mir schon gedacht. Aber warum hat Damon behauptet, er sei ein Student?“ „Die beiden verstehen sich nicht besonders gut. Lange Zeit hat Stefan nicht einmal gewußt, daß Damon sich in Fell's Church aufhält.“ Elena hielt inne. Sie kam jetzt zu Stefans persönlicher Geschichte. Zu dem Geheimnis, von dem sie immer gedacht hatte, daß er es selbst erzählen müßte. Aber Meredith hatte recht. Es war Zeit, alles offen darzulegen. „Stefan und Damon haben im Renaissance-Italien dasselbe Mädchen geliebt. Sie kam aus Deutschland, und ihr Name war Katherine. Stefan ist mir am Anfang in der Schule aus dem Weg gegangen, weil ich ihn an sie erinnerte. Sie hatte ebenfalls blondes Haar und blaue Augen. Oh, und das war ihr Ring.“ Sie ließ Meredith' Hand los und zeigte ihnen den exquisit gravierten goldenen Ring mit dem einzelnen Lapislazulistein. „Katherine war ein Vampir. Ein Mann namens Klaus hatte sie in ihrem Dorf in Deutschland dazu gemacht, um sie vor einer tödlichen Krankheit zu retten. Stefan und Damon wußten davon, aber es störte sie nicht. Sie baten sie, zwischen ihnen beiden denjenigen zu wählen, den sie heiraten wollte.“ Elena hielt inne und lächelte. Mr. Tanner hatte recht gehabt. Die Geschichte wiederholte sich immer. Sie konnte nur hoffen, daß ihre nicht endete wie die von Katherine. „Aber sie wählte beide. Sie tauschte mit beiden Blut aus und sagte, sie drei könnten in alle Ewigkeit Gefährten bleiben.“ „Hört sich ganz schön pervers an“, murmelte Bonnie. „Eher gefährlich dumm“, erwiderte Meredith. „Du hast recht“, stimmte Elena ihr zu. „Katherine war lieb, aber nicht sehr klug. Stefan und Damon konnten sich sowieso schon nicht leiden. Durch ihre Entscheidung wurde alles noch schlimmer. Keiner wollte sie mit dem anderen teilen. Katherine lief weinend weg. Am nächsten Tag fanden sie ihren Körper. Vielmehr das, was davon übrig war. Ihr müßt wissen, daß ein Vampir einen Talisman braucht, wie diesen Ring zum Beispiel, um in die Sonne gehen zu können, ohne getötet zu werden. Und Katherine setzte sich ohne ihren Ring der Sonne aus. Sie dachte, wenn sie aus dem Weg sei, würden Stefan und Damon sich versöhnen.“ „Oh, nein, wie roman...“ „Das war es nicht, Bonnie“, unterbrach Elena sie hart. „Es war überhaupt nicht romantisch. Stefan lebt seither mit dieser Schuld, und ich glaube, Damon auch, selbst, wenn man ihn nie dazu bewegen könnte, es zuzugeben. Als unmittelbare Reaktion auf Katherines Tat holten sie ihre Schwerter und brachten einander um. Ja, sie haben einander getötet. Deshalb sind sie zu Vampiren geworden, und deshalb hassen sie sich so sehr. Und ich bin wahrscheinlich verrückt, weil ich sie heute dazu zwingen will, zusammenzuarbeiten.“ 7. KAPITEL „Wobei zusammenarbeiten?“ fragte Meredith.
„Das erkläre ich euch später. Erst möchte ich wissen, was in der Stadt geschehen ist, seit ich...
verschwunden bin“, sagte Elena.
„Nun, es ist eine ziemliche Panik ausgebrochen.“ Meredith hob eine Augenbraue. „Deine Tante Judith hat es
schlimm erwischt. Sie hat phantasiert, daß sie dich gesehen hätte. Nur, daß es keine Einbildung von ihr war,
stimmt's? Ach ja, und sie und Robert haben sich getrennt.“
„Ich weiß“, erklärte Elena ernst. „Und weiter?“
„In der Schule waren alle ziemlich aus dem Häuschen. Ich wollte mit Stefan reden, besonders, da ich schon
vermutete, daß du nicht wirklich tot bist, aber er war nicht im Unterricht. Matt zwar wohl, aber irgendwas
scheint mit ihm nicht in Ordnung zu sein. Er läuft in der Gegend rum wie ein Zombie und will mit
niemandem reden. Um ihn aufzuheitern, wollte ich ihm erklären, daß es eine Chance gibt, daß du vielleicht
nicht für immer weg bist, aber erweigerte sich, zuzuhören. Er benahm sich so völlig anders als sonst. Einen Moment lang dachte ich sogar, jetzt knallt er mir gleich eine.“ „Oh, nein, Matt.“ Etwas Schreckliches regte sich tief in Elenas Gedächtnis, eine Erinnerung, die zu furchtbar war, um ans Licht kommen zu dürfen. Sie konnte im Moment nicht noch mehr ertragen und verdrängte radikal alles, was damit zu tun hatte. Meredith fuhr inzwischen fort. „Es ist natürlich sonnenklar, daß ein paar Leute mißtrauisch sind, was deinen ,Tod' betrifft. Deshalb habe ich auch während des Trauergottesdienstes so verschlüsselt geredet. Ich hatte Angst, wenn ich den richtigen Tag und Ort verrate, würde sich Alaric Saltzman vor dem Haus auf die Lauer legen. Er hat alle möglichen Fragen gestellt, und es war gut, daß Bonnie nichts wußte, was sie ausplaudern konnte.“ „Das ist unfair“, protestierte Bonnie. „Alaric hat nur ein natürliches Interesse, das ist alles. Er will uns helfen, dieses schreckliche Erlebnis zu verarbeiten. Er ist Wassermann...“ „Er ist ein Spion“, unterbrach Elena sie kalt. „Und vielleicht noch mehr. Aber darüber sprechen wir später. Was ist mit Tyler Smallwood? Ich habe ihn im Gottesdienst nicht gesehen.“ Meredith war verwirrt. „Du weißt es also nicht?“ „Ich weiß schließlich nicht alles. Vier Tage lang habe ich auf einem Speicher geschlafen.“ „Nun...“ Meredith hielt befangen inne. „Tyler ist gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. Zusammen mit Dick Carter und diesen vier Schlägern, die mit ihnen beim Gründungsfest zusammen waren. Sie wurden in der Quonset-Hütte überfallen und haben eine Menge Blut verloren.“ „Oh.“ Das Geheimnis, warum Stefans Kräfte in jener Nacht soviel stärker gewesen waren, war somit gelöst. Und auch, warum sie jetzt wieder nachließen. Er hatte vermutlich seither keine Nahrung mehr zu sich genommen. „Wird Stefan verdächtigt, Meredith?“ „Tylers Vater hat versucht, ihm den Überfall anzuhängen, doch die Polizei kriegte den Zeitplan nicht hin. Man weiß, wann Tyler ungefähr angegriffen wurde, denn er wollte sich mit seinem Vater treffen und kam nicht zu der Verabredung. Bonnie und ich können jedoch Stefan ein Alibi für diese Zeit geben. Denn wir hatten ihn gerade mit deiner Leiche beim Fluß zurückgelassen. Er konnte also unter keinen Umständen zurück zur Quonset-Hütte gelangen, um Tyler zu überfallen. Jedenfalls ist es für einen Menschen unmöglich. Und die Polizei geht nicht von etwas Übernatürlichem aus.“ „Verstehe.“ Elena war zumindest darüber erleichtert. „Tyler und seine Gang können den Angreifer nicht identifizieren, weil sie keinerlei Erinnerung mehr an diesen Nachmittag haben“, fügte Meredith hinzu. „Caroline übrigens auch nicht.“ „Caroline war dabei?“ „Ja, aber sie ist nicht gebissen worden. Sie hat nur einen schweren Schock. Trotz allem, was sie getan hat, tut sie mir fast leid.“ Meredith zuckte mit den Schultern. „Sie bietet seither ein Bild des Jammers.“ „Nach der Sache mit den Hunden heute glaube ich nicht, daß noch jemand Stefan verdächtigen wird“, warf Bonnie ein. „Mein Dad sagt, daß ein großer Hund durch das Fenster der Hütte gesprungen sein könnte. Die Wunden an Tylers Hals sehen aus wie Bisse von einem Tier. Viele werden jetzt denken, daß es ein Hund oder eine ganze Meute war.“ „Das ist eine Erklärung, die allen höchst gelegen kommt“, meinte Meredith trocken. „So braucht man sich nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen.“ „Aber das ist doch albern“, erklärte Elena. „Ein solches Verhalten paßt überhaupt nicht zu normalen Hunden. Wundert sich denn keiner, daß die Tiere plötzlich durchdrehen und sich gegen ihre Herren wenden?“ „Viele Leute schauen einfach nur, daß sie sie loswerden. Außerdem sollen Tollwuttests durchgeführt werden. Aber Tollwut ist nicht die Ursache, oder, Elena?“ „Ich glaube das nicht. Stefan und Damon übrigens auch nicht. Und darüber wollte ich mit euch reden.“ Elena erklärte, so deutlich es ging, was sie über die ‚andere Macht’ in Fell's Church dachte. Sie erzählte von der geheimnisvollen Kraft, die sie die Brücke hinuntergejagt hatte, von ihren Ahnungen bei dem rätselhaften Angriff der Hunde und von allem anderen, was sie, Stefan und Damon sich überlegt hatten. Sie endete: „Bonnie hat es heute selbst in der Kirche gesagt: ,etwas Böses'. In Fell's Church hat sich eine abgrundtief böse Macht eingenistet. Niemand hat etwas bemerkt, niemand kennt sie. Selbst du wirst nicht wissen, was du mit deinen Worten gemeint hast, Bonnie.“
Aber Bonnie war längst mit etwas anderem beschäftigt. „Also ist nicht unbedingt Damon für all die
schrecklichen Dinge verantwortlich, die du ihm unterschieben wolltest, Elena. Wie den Tod von Yangtze,
die Verletzungen von Vickie und den Mord an Mr. Tanner. Ich hab dir gleich gesagt, daß niemand, der so
toll aussieht, ein Psychokiller sein kann“, meinte sie triumphierend.
„Bonnie“ Meredith warf einen Blick auf Elena. „Du solltest Damon als möglichen Liebhaber besser ganz
schnell wieder vergessen.“
„Ja“, unterstrich Elena mit Nachdruck. „Er hat Mr. Tanner tatsächlich umgebracht. Und es sieht ganz so aus,
als wäre er für die anderen Überfälle auch verantwortlich. Ich werde ihn danach fragen. Außerdem habe ich
alle Hände voll damit zu tun, selbst mit ihm fertig zu werden. Laß dich besser nicht mit ihm ein, Bonnie.
Hör auf meinen Rat.“
„Okay, ich soll die Finger von Damon lassen; ich soll die Finger von Alaric lassen... Gibt's denn überhaupt
noch Typen, die ich nicht in Ruhe lassen soll? Und in der Zwischenzeit kriegt Elena sie alle. Das ist unfair!“
Bonnie war sehr unzufrieden.
„Das Leben ist nun mal so“, meinte Meredith abgeklärt. „Aber weiter, Elena. Selbst wenn diese ,andere
Macht' existiert, welche Kräfte besitzt sie? Wie sieht sie aus?“
„Ich weiß es nicht. Sie muß sehr stark sein, könnte sich aber tarnen, so daß wir es nicht spüren. Zum
Beispiel als ganz normaler Mensch. Deshalb brauche ich eure Hilfe. Es könnte jeder in Fell's Church sein.
Wie Bonnie schon sagte: ,Niemand ist das, was er zu sein scheint.’“
Bonnie sah verloren aus. „Ich kann mich nicht daran erinnern.“
„Du hast es trotzdem gesagt. ,Niemand ist das, was er zu sein scheint’“, zitierte Elena mit Nachdruck.
„Niemand!“ Sie sah zu Meredith, aber deren dunkle Augen blickten ruhig und distanziert.
„Das macht praktisch jeden zum Verdächtigen, stimmt's?“ sagte sie ungerührt.
„Stimmt. Am besten, wir nehmen einen Notizblock und einen Bleistift und machen eine Liste von den
wichtigsten Leuten. Damon und Stefan haben bereits zugestimmt, zu helfen. Wenn ihr zwei auch noch
mitmacht, haben wir eine noch bessere Chance, dieses böse Wesen zu finden.“ Elena war wieder in ihrem
Element. Pläne schmieden, das war ihre Sache. Der einzige Unterschied zu früher war, daß es jetzt weder
um eine Wohltätigkeitsparty ging noch darum, einen Jungen zu erobern, sondern um viel ernstere Dinge.
Meredith reichte Bonnie Block und Bleistift. Bonnie blickte von ihr zu Elena. „Okay, wer kommt nun auf
unsere Liste?“
„Jeder, bei dem wir einen Grund finden, ihn zu verdächtigen, die ,andere Macht’ zu sein. Jeder, der folgende
Dinge getan haben könnte: Stefan in den Brunnen einsperren, mich jagen und die Hunde auf die Leute
hetzen. Jeder, der uns durch sein ungewöhnliches Verhalten auffällt.“
„Matt, Vickie. Und Robert.“ Bonnie schrieb bereits eifrig.
„Bonnie!“ riefen Elena und Meredith gleichzeitig.
Bonnie sah hoch. „Matt hat sich merkwürdig benommen, genau wie Vickie. Bei der geht das schon seit
Monaten so. Und Robert hat sich während des Gottesdienstes vor der Kirche herumgetrieben, aber er ist
nicht hereingekommen...“
„Mensch, Bonnie. Nun mal im Ernst“, sagte Meredith. „Vickie ist ein Opfer, keine Verdächtige. Und wenn
Matt die böse Macht ist, dann bin ich der Glöckner von Notre Dame. Was Robert betrifft...“
„Okay, okay, ich streiche alle wieder durch“, wehrte Bonnie sauer ab. „Jetzt rück du mal mit deinen
Vorschlägen rüber.“
„Nein“, warf Elena ein. „Warte einen Moment.“ Sie dachte über etwas nach, was sie schon eine Weile
gestört hatte, genauer gesagt, seit... „Seit der Kirche“, erinnerte sie sich laut. „Wißt ihr, ich habe Robert auch
vor der Kirche gesehen, als ich mich auf der Chorempore versteckt habe. Das war kurz bevor die Hunde
angegriffen haben. Er zog sich langsam zurück, als ob er wüßte, was geschehen würde.“
„Aber, Elena...“
„Nein, hör mir zu, Meredith. Und ich habe ihn bei Tante Judith Samstagabend beobachtet. Als sie ihm sagte,
daß sie ihn nicht heiraten würde, da kam so ein Ausdruck in sein Gesicht... Also, ich weiß nicht. Du setzt ihn
besser wieder auf die Liste, Bonnie.“
Nachdem sie einen Moment gezögert hatte, tat Bonnie es. „Wen noch?“ fragte sie nüchtern.
„Ich fürchte, Alaric“, erwiderte Elena. „Tut mir leid, Bonnie. Aber er ist praktisch der Hauptverdächtige.“
Sie erzählte ihnen, was sie am Morgen zwischen Alaric und dem Schuldirektor überhört hatte. „Er ist kein
normaler Lehrer. Man hat ihn aus einem bestimmten Grund hergeholt. Er weiß, daß ich ein Vampir bin, und
sucht nach mir. Heute, als die Hunde angriffen, stand er am Rand des Platzes und machte so komische Handbewegungen. Er ist auf keinen Fall das, was er vorgibt zu sein. Die einzige Frage ist, was ist er? Hörst du mir überhaupt zu, Meredith?“ „Ja. Ich finde, wir sollten auch Mrs. Flowers auf die Liste tun. Erinnert ihr euch daran, wie sie hinter dem Fenster stand, als wir Stefan vom Brunnen zurückbrachten? Warum wollte sie nicht herunterkommen und uns die Tür öffnen? Ihr Verhalten war mehr als merkwürdig. Elena nickte. „Stimmt, und sie hat immer aufgelegt, als ich versuchte, Stefan anzurufen. Sie lebt in ihrem seltsamen Haus wie eine Einsiedlerin. Kann sein, daß sie nur eine verrückte, alte Frau ist, aber schreib ihren Namen trotzdem auf, Bonnie.“ Elena fuhr sich mit der Hand durchs Haar und hob es vom Nacken hoch. Ihr war heiß. Oder, nicht richtig heiß, unbehaglich zumute, so wie jemand, der überhitzt ist. Ihr ganzer Körper schien wie ausgedörrt. „Gut. Morgen vor der Schule gehen wir bei der Pension vorbei“, beschloß Meredith. „Was können wir inzwischen sonst noch tun? Laß uns noch einmal die Liste sehen, Bonnie.“ Bonnie hielt den Block hoch. Elena und Meredith lehnten sich vor und lasen: Matt Honeycutt (durchgestrichen)
Vickie Bennett (durchgestrichen)
Robert Maxwell - Was tat er vor der Kirche, als die Hunde angriffen? Was war in jener Nacht bei Elenas
Tante los?
Alaric Saltzman - Warum stellte er so viele Fragen? Weshalb wurde er nach Fell's Church geholt?
Mrs. Flowers - Warum benimmt sie sich so merkwürdig? Warum hat sie uns in der Nacht, als Stefan verletzt
war, nicht hereingelassen?
„Gut“, meinte Elena. „Wir könnten außerdem herausfinden, wessen Hunde heute vor der Kirche waren. Und du kannst Alaric morgen in der Schule beobachten.“ „Ich werde das machen“, erklärte Bonnie fest. „Und ich werde ihn von jedem Verdacht befreien, darauf könnt ihr Gift nehmen.“ „Okay. Du wirst ihm zugeteilt. Dann kann Meredith sich um Mrs. Flowers kümmern und ich mich um Robert. Was Stefan und Damon angeht, sie können praktisch jeden übernehmen, denn sie können mit ihren übernatürlichen Kräften die Gedanken von jedem erkunden. Die Liste ist natürlich noch lange nicht komplett. Ich werde die beiden bitten, die Stadt nach Hinweisen auf eine andere Macht zu durchforschen oder nach sonstigen merkwürdigen Vorkommnissen. Sie können das vermutlich eher erkennen als ich. Elena setzte sich auf die Fersen zurück und leckte sich die Lippen. Sie war schrecklich durstig. Und ihr fiel etwas auf, von dem sie bisher nie Notiz genommen hatte. Es waren die feinen Adern in Bonnies Handgelenk. Bonnie hielt immer noch den Block hoch, und ihre Haut war so durchsichtig, daß die blauen Verästelungen klar darunter zu sehen waren. Elena wünschte, sie hätte im Biologieunterricht besser aufgepaßt. Wie nannte man doch noch diese Vene, die große, die sich verzweigte wie der Ast eines Baumes... „Elena. Elena!“ Überrascht fuhr Elena hoch und sah sich Meredith' wachsamen Blicken und Bonnies erstauntem Gesichtsausdruck gegenüber. Erst jetzt merkte sie, daß sie über Bonnies Handgelenk kauerte und mit dem Finger über die dickste Vene strich. „Tut mir leid“, murmelte sie und zog sich zurück. Aber sie konnte die Schärfe und Länge ihrer Vorderzähne spüren. Es war ein Gefühl, als würde sie eine Gebißspangetragen. Sogar das Gewicht war schwerer. Sie merkte, daß ihr aufmunterndes Lächeln nicht den gewünschten Erfolg bei Bonnie hatte. Bonnie sah ängstlich aus. Das war albern. Bonnie mußte doch Wissen, daß Elena ihr nie weh tun würde. Und Elena war heute abend gar nicht sehr hungrig. Sie war noch nie ein großer Esser gewesen. Alles was sie brauchte, konnte sie aus dieser winzigen Vene hier im Handgelenk... Elena sprang auf, rannte zum Fenster und lehnte sich hinaus. Die Nachtluft strich kühl über ihre Haut. Ihr war schwindlig, und sie rang nach Atem. Was hatte sie da tun wollen? Sie drehte sich um. Bonnie und Meredith drängten sich nah aneinander. Beide schienen schreckliche Angst zu haben. Elena haßte es, sie in diesen Zustand versetzt zu haben.
„Es tut mir leid“, entschuldigte sie sich. „Ich wollte das nicht, Bonnie. Schau, ich komme nicht näher. Ich hätte essen sollen, bevor ich herkam. Damon hat mich gewarnt, daß ich später Hunger bekommen würde.“ Bonnie schluckte und wurde noch weißer im Gesicht. „Essen?“ „Ja, natürlich“, sagte Elena kurz. Ihre Adern brannten. Also, so fühlte sich das an. Stefan hatte es ihr schon beschrieben, aber sie hatte es nie richtig verstanden. Hatte sich nie klargemacht, was er durchlitt, wenn er dringend Nahrung brauchte. Die Not war schrecklich und kaum zu zügeln. „Was glaubt ihr, wovon ich derzeit lebe? Von Luft?“ verteidigte sie sich. „Ich bin jetzt eine Jägerin, und ich werde mich wohl besser auf die Jagd machen.“ Bonnie und Meredith versuchten, mit dieser Information fertig zu werden. Elena konnte das sehen, aber sie konnte auch die Abscheu in ihren Augen erkennen. Sie konzentrierte sich voll darauf, ihre neuen Sinne zu gebrauchen. Sie öffnete sich der Nacht und suchte nach Damon und Stefan. Das war schwierig, denn keiner der beiden legte seine Gedanken so offen dar wie in jener Nacht, als sie im Wald gekämpft hatten. Aber Elena meinte, einen Hauch von übernatürlicher Macht irgendwo in der Stadt zu spüren. Aber sie war unfähig, Kontakt aufzunehmen. Der Frust machte die Qual in ihren Adern noch größer. Sie hatte gerade beschlossen, ohne die beiden loszuziehen, als ihr mit einem plötzlichen Windstoß die Vorhänge ins Gesicht flogen. Bonnie sprang erschrocken auf und stieß dabei die Leselampe vom Nachttisch. Das Zimmer wurde in Dunkelheit getaucht. Fluchend bemühte Meredith sich, die Lampe schnell wieder zum Leuchten zu bringen. Die Vorhänge flatterten wie wild in dem flackernden Licht, und Bonnie lag ein Schrei auf den Lippen. Als die Birne wieder fest in der Lampe verschraubt war, zeigte ihr Licht Damon, der lässig, aber gleichzeitig mit sehr unsicherem Halt auf der äußeren Fensterbank hockte. Er lächelte eins seiner wildesten Lächeln. „Darf ich?“ fragte er. „Diese Stellung hier ist verdammt unbequem.“ Elena schaute auf Bonnie und Meredith, die sich mit dem Rücken gegen den Schrank preßten und Damon erschreckt und fasziniert zugleich anstarrten. Sie schüttelte in milder Verzweiflung den Kopf. „Und ich dachte, ich wäre die Expertin für dramatische Auftritte“, sagte sie. „Sehr lustig, Damon. Jetzt laß uns gehen.“ „Nicht doch. Wo deine beiden hübschen Freundinnen direkt hier vor unserer Nase stehen?“ Damon lächelte Bonnie und Meredith wieder an. „Außerdem bin ich gerade erst gekommen. Ist nicht eine von euch so höflich und bittet mich herein?“ Bonnies braune Augen, die ihn wie hypnotisiert ansahen, wurden sanfter. Ihre Lippen öffneten sich leicht. Elena erkannte alle Anzeichen, daß sie nahe daran war, völlig seinem Charme zu verfallen. „Nein, das werden sie nicht.“ Sie stellte sich zwischen Damon und die Mädchen. „Hier gibt es nichts für dich zu holen, Damon. Jetzt nicht und nie.“ Als sie die Herausforderung in seinem Blick sah, fügte sie hochmütig hinzu: „Ich werde jetzt jedenfalls gehen. Ich weiß nicht, wie es mit dir ist, aber ich werde jagen.“ Sie wurde bestärkt dadurch, daß sie Stefans Anwesenheit in der Nähe spürte. Wahrscheinlich war er auf dem Dach. Sofort hörte sie in ihrem Kopf seine Antwort: Wir werden jagen, Damon. Du kannst ja die ganze Nacht da hocken bleiben, wenn es dir Spaß macht. Damon gab sich mit Anstand geschlagen. Er warf einen letzten, belustigten Blick auf Bonnie und Meredith und verschwand wie ein Blitz vom Fenster. Bonnie und Meredith machten erschrocken einen Satz nach vorn. Sie hatten offensichtlich Angst, daß er sich zu Tode stürzen könnte. „Dem passiert schon nichts.“ Elena schüttelte wieder den Kopf. „Und macht euch keine Sorgen. Ich werde nicht zulassen, daß er zurückkommt. Morgen zur selben Zeit treffe ich euch wieder. Bis dann.“ „Aber... Elena...“ Meredith hielt inne. „Ich meine... ich wollte dich fragen, ob du dich nicht umziehen willst.“ Elena betrachtete sich. Das Erbstück aus dem neunzehnten Jahrhundert, das sie trug, war verdreckt und zerfetzt, der dünne, weiße Musselinstoff mehreren Stellen eingerissen. Aber es blieb keine Zeit. Sie mußte unbedingt Nahrung zu sich nehmen. „Das muß warten“, erklärte sie hastig. „Bis morgen.“ Damit schoß sie so blitzartig aus dem Fenster wie Damon vor ihr. Das letzte, was sie sah, war, wie Bonnie und Meredith wie betäubt hinter ihr herblickten. Die Landung klappte immer besser. Diesmal schlug sie nicht mit den Knien auf. Stefan war da. Er hüllte sie in etwas Dunkles, Warmes. „Dein Mantel“, sagte Elena erfreut. Einen Moment lächelten sie einander an und erinnerten sich, wie er ihr das erste Mal den Mantel gegeben hatte. Er hatte sie auf dem Friedhof vor Tylers brutalem
Vergewaltigungsversuch gerettet und mit zu sich nach Hause genommen, damit sie sich säubern konnte.
Damals hatte er Angst gehabt, sie zu berühren. Aber, dachte Elena, während sie ihm zärtlich in die Augen
sah, ich habe dafür gesorgt, daß er diese Furcht schnell überwindet.
„Ich dachte, wir wollten jagen“, unterbrach Damon sie.
Elena drehte sich zu ihm um und lächelte ihn an, ohne Stefans Hand loszulassen. „Das tun wir auch. Wo
sollen wir hingehen?“ wollte sie wissen.
„Hier sind jede Menge Häuser. Such dir eins aus.“ Damon machte eine einladende Handbewegung.
„In den Wald“, sagte Stefan nüchtern.
„Gut, in den Wald“, beschloß Elena. „Wir greifen keine Menschen an, und wir töten nicht. So sind die
Spielregeln, nicht wahr, Stefan?“
Er erwiderte den Druck ihrer Finger. „So sind die Spielregeln“, bestätigte er leise.
Damon verzog spöttisch den Mund. „Und wonach suchen wir im Wald? Nach Ratten, Stinktieren oder
Termiten?“ Sein Blick suchte Elena. Er senkte die Stimme. „Komm mit mir, und ich zeige dir, was
wirkliches Jagen bedeutet.“
„Wir können über den Friedhof abkürzen“, schlug Elena vor und achtete nicht auf ihn.
„Auf den Lichtungen findet man die ganze Nacht über Rotwild“, erklärte Stefan ihr. „Aber wir müssen sehr
vorsichtig sein. Sie können fast so gut hören wie wir.“
Also dann, auf ein anderes Mal, hörte Elena Damons Stimme in ihrem Kopf.
8. KAPITEL „Wer? Ach, du bist's.“ Bonnie zuckte zusammen, als sie jemand am Ellbogen berührte. „Du hast mich erschreckt. Ich hab dich gar nicht kommen hören.“ Stefan erkannte, daß er vorsichtiger sein mußte. In den wenigen Tagen, in denen er von der Schule weggewesen war, hatte er sich abgewöhnt, sich wie ein Mensch zu benehmen, und war wieder in die lautlosen, perfekt kontrollierten Bewegungen des Jägers verfallen. „Tut mir leid“, sagte er, während sie nebeneinander den Flur entlanggingen. „Ist schon okay.“ Bonnie machte einen tapferen Versuch, ganz lässig zu klingen. Aber ihre braunen Augen waren weit aufgerissen und ein wenig starr. „Was machst du eigentlich hier? Meredith und ich sind heute morgen an deiner Pension vorbeigegangen, um Mrs. Flowers zu überprüfen, aber niemand hat die Tür geöffnet. Und im Biologieunterricht habe ich dich auch nicht gesehen.“ „Ich bin heute nachmittag zurückgekommen und gehe jetzt wieder zur Schule. Zumindest so lange, bis wir gefunden haben, wonach auch immer wir suchen.“ „Im Klartext heißt das wohl, bis ihr Alaric ausspioniert habt“, stieß Bonnie erregt hervor. „Ich hab Elena gestern ausdrücklich gesagt, sie soll ihn mir überlassen. Huch“, fügte sie hinzu, als ein paar andere Schüler sie unverhohlen anstarrten. Sie verdrehte die Augen. In schweigendem Einverständnis bogen sie und Stefan in einen Seitenflur und kamen zu einem leeren Treppenhaus. Bonnie lehnte sich mit einem erleichterten Stöhnen gegen die Wand. „Ich muß daran denken, daß ich ihren Namen nicht erwähne.“ Sie schlug sich gegen die Stirn. „Aber das ist so schwer. Mom fragte mich heute morgen, wie es mir geht. Fast hätte ich gesagt: ,Prima. Schließlich habe ich Elena gestern abend gesehen.' Ich weiß nicht, wie ihr zwei es geschafft habt, so lange dein... das große Geheimnis für euch zu behalten.“ Trotz allem mußte Stefan lächeln. Bonnie war ein sechs Wochen altes Kätzchen. Voller Charme und ohne Hemmungen. Sie sagte immer, was sie im Augenblick gerade dachte, auch, wenn es dem widersprach, was sie nur einen Moment zuvor gesagt hatte. Alles kam direkt aus ihrem Herzen. „Denk dran, du stehst auf einem verlassenen Flur mit einem, na, du weißt schon“, zog er sie auf. „Oh.“ Ihre Augen weiteten sich wieder. „Aber du würdest doch nicht... Nein!“ fügte sie erleichtert hinzu. „Denn Elena würde dich umbringen... Oh, nein, wieder voll ins Fettnäpfchen.“ Sie schluckte und suchte nach einem anderen, unverfänglicheren Thema. „Also, wie ist es letzte Nacht gelaufen?“ Stefans Miene verdüsterte sich. „Nicht so gut. Keine Sorge, Elena ist okay. Sie ist an einem sicheren Versteck und schläft.“ Bevor er weiter sprechen konnte, vernahm er Schritte am Ende des Flurs. Drei Mädchen aus der Oberstufe kamen näher. Eins von ihnen löste sich aus der Gruppe, als es Stefan und Bonnie sah. Sue Carson war blaß, und ihre Augen waren rotumrändert. Aber sie lächelte die beiden an.
„Wie geht's dir, Sue?“ fragte Bonnie besorgt. „Und wie geht's Doug?“ „Danke, mir geht's gut. Und Doug den Umständen entsprechend auch. Jedenfalls wird er wieder in Ordnung kommen. Stefan, ich muß mit dir reden“, fügte sie hinzu. Ihre Worte überschlugen sich fast. „Ich weiß, Dad hat dir gestern schon dafür gedankt, daß du Doug geholfen hast, aber ich möchte dir auch noch einmal danken. Ich meine... also, die Leute hier in der Stadt waren ziemlich gemein zu dir, und ich war überrascht, daß du dich trotz allem für sie eingesetzt hast. Aber ich bin froh. Mom behauptet, daß du Doug das Leben gerettet hast. Und deshalb wollte ich dir noch einmal danken und sagen, daß mir all das andere leid tut.“ Ihre Stimme zitterte, als sie fertig war. Bonnie schniefte und suchte nach einem Taschentuch. Einen Moment lang sah es ganz danach aus, als würde Stefan sich auf den Stufen mit zwei schluchzenden Mädchen wiederfinden. Bestürzt zerbrach er sich den Kopf, wie er die Situation entschärfen könnte. „Ist schon okay. Was macht Dougs Hündin Chelsea eigentlich?“ „Sie ist im Tierheim. Dort werden die Hunde unter Quarantäne gehalten. Jedenfalls alle, die man einfangen konnte.“ Sue trocknete sich die Augen und richtete sich auf. Stefan entspannte sich, als er sah, daß die Gefahr gebannt war. Befangenes Schweigen entstand. „Hast du schon gehört, was die Schule wegen des Winterballs entschieden hat?“ fragte Bonnie schließlich Sue. „Das Komitee hat sich heute morgen getroffen. Soweit ich weiß, soll er steigen. Jemand hat behauptet, daß man aber Polizeischutz anfordern will. Oh, es läutet. Wir beeilen uns besser, sonst fangen wir uns von Alaric noch eine Strafarbeit ein.“ „Wir kommen in einer Minute nach“, sagte Stefan und fragte wie nebenbei: „Wann ist denn dieser Winterball?“ „Am dreizehnten. An einem Freitagabend.“ Sue stöhnte. „Mein Gott. Freitag, der dreizehnte. Das ist mir noch gar nicht aufgefallen. Aber da fällt mir noch etwas anderes ein, was ich euch noch erzählen wollte. Heute morgen habe ich meine Beteiligung an der Wahl zur ,Schneekönigin' zurückgezogen. Es schien mir das richtige zu sein. Das war's auch schon.“ Sue wandte sich ab und war Sekunden später verschwunden. Stefans Gedanken überschlugen sich. „Bonnie, was genau ist dieser Winterball?“ „Eigentlich ist das eine Weihnachtsparty. Nur haben wir eine Schneekönigin statt eines Weihnachtsmannes. Nach dem, was am Gründungstag und dann gestern mit den Hunden passiert ist, hat man daran gedacht, den Winterball dieses Jahr abzublasen, Jetzt scheint es so, als ob er doch stattfinden soll.“ „An einem Freitag, dem dreizehnten“, sagte Stefan düster. „Ja.“ Bonnies Augen füllten sich wieder mit Furcht. Sie drückte sich gegen die Wand, als wollte sie möglichst klein und unauffällig wirken. „Stefan, schau nicht so. Du machst mir angst. Was ist los? Was glaubst du, kann bei dem Ball passieren?“ „Ich weiß es nicht.“ Aber etwas wird geschehen, dachte Stefan. In Fell's Church hatte keine öffentliche Veranstaltung ohne die Teilnahme der „anderen Macht“ mehr stattgefunden, und diese hier war vermutlich die letzte große Feier in diesem Jahr. Doch es hatte keinen Sinn, jetzt darüber zu reden. „Komm“, sagte er. „Wir sind wirklich schon spät.“ Er hatte recht. Alaric Saltzman stand vor der Tafel, als sie hereinkamen, genau wie an dem Tag, als er zum ersten Mal im Geschichtsunterricht erschienen war. Wenn er überrascht war, Bonnie und Stefan so spät oder überhaupt zu sehen, verbarg er es mühelos und schenkte ihnen eins seiner freundlichsten Lächeln. Also, du bist derjenige, der den Jäger jagt, dachte Stefan, setzte sich und musterte den Mann vor der Klasse. Aber bist du auch mehr als das? Elenas „andere Macht“ vielleicht? Oberflächlich betrachtet schien das fast unmöglich zu sein. Alarics dunkelblondes, für einen Lehrer etwas zu langes Haar, sein jungenhaftes Lächeln, seine fast penetrante Fröhlichkeit, das alles ließ ihn völlig harmlos erscheinen. Aber Stefan war von Anfang an mißtrauisch gewesen, was sich hinter diesem friedfertigen Bild verbergen mochte. Trotzdem war es unwahrscheinlich, daß Alaric hinter der Attacke auf Elena oder dem Zwischenfall mit den Hunden steckte. Keine Verkleidung konnte so perfekt sein. Elena. Stefan ballte unter dem Pult die Faust. Ein bohrender Schmerz durchfuhr seine Brust. Er hatte nicht an sie denken wollen. Die letzten fünf Tage hatte er nur überstanden, weil er sie an den Rand seiner Erinnerungen gedrängt hatte. Aber die Anstrengung, sie auf sichere Entfernung zu halten, hatte ihn unendliche Kraft gekostet. Und jetzt befand er sich an einem Ort, der für ihn schlimmer nicht sein konnte in einem Klassenzimmer, im Unterricht, wobei es ihm völlig egal war, was gelehrt wurde. Hier mußte er zwangsläufig an sie denken.
Er zwang sich, langsam und gleichmäßig zu atmen. Es ging ihr gut, das war das wichtigste. Alles andere war egal. Aber selbst, während er sich das einredete, fühlte er die Eifersucht wie die Schläge einer Peitsche. Denn, wann immer seine Gedanken zu Elena zurückkehrten, mußte er auch an ihn denken. An Damon, dem es freistand, zu kommen und zu gehen, wie er wollte. Der vielleicht sogar jetzt, in dieser Minute, bei Elena war. Kalter Zorn stieg in Stefan auf und mischte sich in den heißen Schmerz in seiner Brust. Er zweifelte immer noch daran, daß es nicht Damon gewesen sein sollte, der ihn blutend und bewußtlos in den verlassenen Brunnenschacht geworfen hatte, damit er dort elend starb. Und er würde Elenas Theorie von einer anderen Macht sehr viel ernster nehmen, wenn er völlig sicher gewesen wäre, daß nicht Damon Elena in den Tod gejagt hatte. Damon war böse, er kannte keine Gnade und keine Skrupel... Aber was hat er getan, was ich nicht auch getan habe? fragte Stefan sich zum hundertsten Mal. Nichts. Außer zu töten. Stefan hatte versucht zu töten. Er hatte Tyler umbringen wollen. Diese Erinnerung löschte seinen Zorn auf Damon, und er schaute statt dessen auf einen Platz hinten in der Klasse. Er war leer. Tyler war zwar am Tag zuvor aus dem Krankenhaus entlassen worden, aber noch nicht wieder in der Schule. Trotzdem bestand keine Gefahr, daß er sich an irgend etwas von jenem schrecklichen Nachmittag erinnern würde. Der unterschwellig eingegebene Befehl, alles zu vergessen, würde seine Wirkung noch eine Weile behalten. Solange nicht jemand in Tylers Unterbewußtsein herumstocherte. Stefan fiel plötzlich auf, daß er Tylers leeres Pult mit verengten Augen nachdenklich anstarrte. Als er wegsah, erhaschte er einen Blick von jemandem, der ihn dabei beobachtet hatte. Matt wandte sich schnell ab und beugte sich über sein Geschichtsbuch. Doch Stefan hatte seinen Ausdruck gesehen. Denk nicht darüber nach. Denk an gar nichts, befahl Stefan sich und versuchte, sich auf Alarics Saltzmans Ausführungen über die englischen Rosenkriege zu konzentrieren. 5. Dezember - ich weiß nicht, wie spät es ist, vermutlich früh am Nachmittag Liebes neues Tagebuch, Damon hat dich heute zu mir zurückgeholt. Stefan wollte nicht, daß ich noch einmal auf Alarics Speicher gehe. Ich benutze Stefans Füllfederhalter. Ich besitze gar nichts mehr. Jedenfalls komme ich nicht an meine Sachen heran, und Tante Judith würde es sicher auffallen, wenn ich mir etwas holen würde. Ich sitze im Moment in einer Scheune hinter der Pension. Ich kann nicht dorthin gehen, wo Menschen wohnen, wenn ich nicht eingeladen werde. Tiere zählen wohl nicht, denn es schlafen ein paar Ratten unter dem Heu, und in den Deckenstreben hockt eine Eule. lm Moment ignorieren wir einander. Ich bemühe mich sehr, nicht völlig hysterisch zu werden. Ich dachte, schreiben würde helfen. Irgendwie ist es etwas Normales, Vertrautes. Außer, daß nichts in meinem Leben mehr normal ist. Damon behauptet, ich würde mich schnell daran gewöhnen, wenn ich mein altes Leben einfach über Bord werfe und das neue mit offenen Armen empfange. Er hält es für unvermeidlich, daß ich so werde wie er. Er sagt, ich bin die geborene Jägerin, und es hätte keinen Sinn, die Dinge nur halb zu tun. Letzte Nacht habe ich Wild gejagt. Einen Hirsch, denn er machte den meisten Lärm. Er schlug mit seinem Geweih gegen die Äste und forderte seine Rivalen heraus. Ich habe sein Blut getrunken. Wenn ich mir dieses Tagebuch durchlese, ist alles, was ich sehe, daß ich immer auf der Suche nach etwas war. Nach einem Platz, an den ich wirklich gehöre. Aber das hier ist es nicht. Dieses neue Leben ist es nicht. Ich habe Angst davor, was aus mir werden wird, wenn ich einmal anfange, mich daran zu gewöhnen. Ich habe solche Angst. Die Eule in der Scheune ist fast ganz weiß. Besonders, wenn sie die Flügel ausbreitet, so daß man die Unterseite sehen kann. Vom Rücken her scheint sie eher golden zu sein. Ein wenig Gold umsäumt auch ihr Gesicht. Jetzt starrt sie mich an, weil ich Geräusche mache und versuche, nicht zu weinen. Es ist komisch, daß ich immer noch weinen kann. Hexen können das doch nicht, oder? Draußen hat es angefangen zu schneien. Ich wickle mich fester in meinen Mantel. Elena steckte das kleine Buch nah an ihren Körper und zog den weichen, dunklen Samt des Mantels bis zum Kinn hoch. In der Scheune herrschte völlige Stille, bis auf das leise Atmen der schlafenden Tiere. Draußen fiel der Schnee ebenso lautlos und umhüllte die Welt mit Schweigen. Elena starrte blicklos hinaus und merkte kaum, wie ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen.
„Könnten Bonnie McCullough und Caroline Forbes bitte nach dem Unterricht noch eine Minute bleiben?“ fragte Alaric, als es zum Stundenschluß läutete. Stefan runzelte die Stirn. Seine Verstimmung vertiefte sich, als er Vickie Bennett vor der offenen Tür zur Geschichtsklasse sah. Ihr Blick war schüchtern und voller Angst. „Ich bin nicht weit weg“, sagte er bedeutungsvoll zu Bonnie, die nickte. Er hob noch warnend die Augenbraue. Bonnie beantwortete diese Geste mit einem tugendhaften Augenaufschlag. Du wirst mich nicht dabei erwischen, etwas zu verraten, bedeutete sie ihm. Stefan ging hinaus und konnte nur hoffen, daß sie diesen Vorsatz halten würde. Vickie Bennett kam gerade herein, als er herausging, und er mußte ihr ausweichen. Dabei trat er Matt in den Weg, der versuchte, so schnell wie möglich über den Flur zu entkommen. Ohne groß nachzudenken, packte Stefan ihn am Arm. „Matt, warte!“ „Laß mich los!“ Matt hob die Faust. Dann schaute er seine Hand überrascht an, als ob er nicht sicher wäre, warum er wütend war. Trotzdem versuchte er sich mit aller Kraft aus Stefans Griff zu befreien. „Ich möchte mit dir reden. Nur eine Minute, okay?“ „Hab keine Zeit.“ Endlich sah Matt ihm in die Augen. Doch sein Blick war leer, wie bei jemandem, der unter einem fremden Zwang steht. Aber Stefan fiel schnell auf, daß es keine geheimnisvolle fremde Macht, sondern Matt selber war, der diesen Zwang ausübte. So reagierte der menschliche Verstand, wenn er mit etwas konfrontiert wurde, was er nicht verarbeiten konnte. Matt hatte es verdrängt, hatte einfach abgeschaltet. „Übrigens, Was da Samstagnacht geschehen ist...“ begann Stefan vorsichtig. „Ich weiß nicht, wovon du redest. Hör mal, ich muß weg.“ Dieses Ableugnen glich einer unüberwindlichen Mauer, hinter der Matt sich verschanzte. Doch Stefan mußte weiter versuchen, zu ihm vorzudringen. „Ich mache dir keinen Vorwurf, daß du sauer bist. An deiner Stelle wäre ich fuchsteufelswild. Und ich weiß, wie es ist, wenn man nicht nachdenken will. Besonders, wenn einen die Gedanken in den Wahnsinn treiben können.“ Matt schüttelte nur den Kopf. Stefan sah sich auf dem Flur um. Sie waren fast allein, und die Verzweiflung ließ ihn ein Risiko eingehen. „Aber vielleicht möchtest du zumindest wissen, daß Elena wach ist und sehr...“ „Elena ist tot!“ schrie Matt und lenkte die Aufmerksamkeit aller auf sich, die vereinzelt an den Schließfächern standen. „Und ich habe gesagt, du sollst mich gehen lassen!“ fügte er hinzu, ohne sich um die Zuschauer zu kümmern. Er stieß Stefan hart zurück. Das kam so unerwartet, daß Stefan gegen die Schließfächer flog und fast auf dem Boden gelandet wäre. Er sah Matt fassungslos an. Aber Matt warf nicht einmal einen Blick zurück, als er den Flur hinunterrannte. Stefan verbrachte den Rest der Zeit damit, nur auf die Wand zu starren. Dort hing ein Poster für den Winterball, und als die Mädchen rauskamen, kannte er jeden Zentimeter davon. Trotz allem, was Caroline versucht hatte, ihm und Elena anzutun, konnte er sie nicht hassen. Ihr kastanienbraunes Haar hatte jeden Glanz verloren, und ihr Gesicht war hager und verkniffen. Wie eine Blüte, die verwelkt ist, dachte Stefan, als er ihr nachsah. „Alles okay?“ fragte er Bonnie. während sie nebeneinander hergingen. „Klar, was sonst? Alaric weiß eben, daß wir drei - Vickie, Caroline und ich - viel durchgemacht haben, und möchte uns im Gegenzug dazu wissen lassen, daß wir seine volle Unterstützung haben.“ Doch selbst ihre glühende Begeisterung für den Geschichtslehrer klang ein wenig gezwungen. „Keine von uns hat ihm jedoch was erzählt. Er will nächste Woche in seinem Haus eine weitere Zusammenkunft veranstalten“, fügte sie fröhlicher hinzu. Toll, dachte Stefan. Normalerweise hätte er dazu etwas gesagt, aber im Moment wurde er abgelenkt. „Da ist Meredith.“ „Sie muß auf uns gewartet haben. Nein, sie geht zum Geschichtsklassenzimmer. Komisch, ich hab mich doch ausdrücklich hier draußen mit ihr verabredet.“ Mehr als komisch, dachte Stefan. Er hatte nur einen kurzen Blick auf Meredith erhascht, bevor sie um die Ecke bog, doch der hatte sich in seinem Gedächtnis eingebrannt. Der Ausdruck auf Meredith' Gesicht war wachsam und berechnend gewesen, ihr Schritt verstohlen. Als ob sie versuchte, etwas zu tun, ohne dabei gesehen zu werden.
„Sie wird in einer Minute wieder hier sein, wenn sie merkt, daß wir schon fort sind“, erklärte Bonnie. Doch
es dauerte fast zehn Minuten, bis Meredith zurückkam, und sie schien total überrascht, daß Stefan und
Bonnie auf sie warteten.
„Tut mir leid, ich bin aufgehalten worden“, entschuldigte sie sich kühl. Stefan mußte wider Willen ihre
Selbstbeherrschung bewundern. Aber er fragte sich auch, was dahintersteckte, und nur Bonnie hatte Lust auf
eine Unterhaltung, als sie drei die Schule verließen.
„Letztes Mal hast du Feuer benutzt“, wunderte sich Elena.
„Das war, weil wir Stefan gesucht haben, also eine bestimmte Person“, erwiderte Bonnie. „Diesmal wollen
wir die Zukunft vorhersagen. Wenn es sich nur um deine persönliche Zukunft handeln würde, würde ich aus
deiner Handfläche lesen. Aber wir versuchen ja, etwas Allgemeines herauszufinden.“
Meredith betrat das Zimmer mit einer Porzellanschüssel, die bis zum Rand mit Wasser gefüllt war. In der
anderen Hand hielt sie eine Kerze. „Hier sind die Sachen“, sagte sie.
„Wasser galt bei den Druiden als heilig“, erklärte Bonnie, während Meredith die Schüssel auf den Boden
stellte und die Mädchen sich im Kreis darum herumsetzten.
„Anscheinend war bei den Druiden so ziemlich alles heilig“, spottete Meredith.
„Shh. Jetzt stecke die Kerze in den Kerzenhalter und zünde sie an. Dann werde ich das geschmolzene Wachs
in das Wasser gießen, und die entstehenden Formen werden mir die Antworten auf eure Fragen verraten.
Meine Großmutter hat geschmolzenes Blei verwendet und ihre Großmutter Silber. Aber Wachs tut es auch.“
Als Meredith die Kerze angezündet hatte, schaute Bonnie zur Seite und holte tief Luft. „Also, von Mal zu
Mal fürchte ich mich mehr davor, diese Sachen zu machen.“
„Niemand zwingt dich dazu, Bonnie“, flüsterte Elena.
„Ich weiß. Aber dieses eine Mal möchte ich es noch. Außerdem machen mir die Rituale keine Angst. Es ist
dieses... Übernommenwerden, das so schrecklich ist. Ich hasse es. Es ist, als ob jemand anderes in meinen
Körper schlüpft.“
Elena runzelte die Stirn und öffnete den Mund. Aber Bonnie redete schon weiter. „Okay, fangen wir an.
Mach das Licht aus, Meredith. Gebt mir eine Minute Zeit, mich einzustimmen, dann stellt eure Fragen.“
In dem Schweigen, das in dem verdunkelten Zimmer herrschte, beobachtete Elena, wie das Kerzenlicht
flackernd über Bonnies gesenkte Wimpern und Meredith' ernstes Gesicht strich. Sie schaute auf ihre eigenen
Hände in ihrem Schoß, die sich bleich von dem schwarzen Pullover und den schwarzen Leggings abhoben,
die Meredith ihr geliehen hatte. Dann blickte sie in die tanzende Flamme.
„Gut“, sagte Bonnie leise und nahm die Kerze.
Elena verschränkte die Finger und drückte sie vor Anspannung fest zusammen, aber sie sprach leise, um die
Stimmung nicht zu stören. „Wer ist die ,andere Macht' hier in Fell's Church?“
Bonnie neigte die Kerze. Heißes Wachs floß wie Wasser in die Schüssel und formte runde Kugeln.
„Das habe ich befürchtet“, murmelte Bonnie. „Keine Antwort, nichts. Versuche eine andere Frage.“
Enttäuscht setzte Elena sich zurück und bohrte die Fingernägel in die Handflächen. Es war Meredith, die
schließlich sprach.
„Können wir diese ,andere Macht' finden, wenn wir nach ihr suchen? Und können wir sie besiegen?“
„Das sind zwei Fragen“, flüsterte Bonnie, während sie die Kerze wieder neigte. Diesmal formte das Wachs
einen Kreis, einen knotigen, weißen Ring.
„Das bedeutet Einheit! Das Symbol für Menschen, die einander die Hand reichen. Es heißt, wir können es
schaffen, wenn wir zusammenhalten.“
Elenas Kopf fuhr hoch. Fast dieselben Worte hatte sie zu Stefan und Damon gesagt. Bonnies Augen
leuchteten vor Aufregung. Die drei Mädchen lächelten sich an.
„Paß auf. Du gießt immer noch“, warnte Meredith.
Bonnie richtete schnell die Kerze auf und schaute wieder in die Schüssel. Das letzte Wachs hatte eine lange,
dünne Linie geformt.
„Das ist ein Schwert“, erklärte sie langsam. „Es bedeutet ein Opfer. Wir können es schaffen, wenn wir
zusammenhalten, aber nicht ohne ein Opfer.
„Was für ein Opfer?“ fragte Elena.
„Keine Ahnung.“ Bonnie sah besorgt aus. „im Moment ist das alles, was ich sagen kann.“ Sie steckte die
Kerze wieder in den Halter.
„Uff.“ Meredith atmete heftig aus, während sie aufstand und das Licht wieder anmachte. Elena erhob sich ebenfalls. „Zumindest wissen wir, daß wir es besiegen können“, sagte sie und zog an den Leggings, die zu lang für sie waren. Dabei erhaschte sie einen Blick von sich in Meredith' Spiegel. Mit Elena Gilbert, dem Modevorbild der High School, hatte sie keine Ähnlichkeit mehr. Ganz in Schwarz sah sie bleich und gefährlich aus. Wie ein Schwert in einer Scheide. Ihr Haar fiel wirr auf die Schultern. „In der Schule würden sie mich sicher nicht wiedererkennen“, sagte sie leise und spürte einen scharfen Stich. Komisch, daß sie sich jetzt noch Gedanken um die Schule machte, aber sie tat es. Wahrscheinlich liegt es daran, daß ich nie mehr hingehen kann, vermutete sie. Und daran, daß sie so lange die Trendsetterin dort gewesen war, diejenige, auf die alle geschaut hatten. Sie konnte kaum glauben, daß diese Zeit endgültig und unwiderruflich für sie vorbei war. „Du könntest irgendwo anders hingehen“, schlug Bonnie vor. „Ich meine, wenn das alles hier vorbei ist, könntest du woanders die Schule zu Ende machen. Wo dich keiner kennt. So wie Stefan.“ „Nein, ich glaube nicht.“ Elena war an diesem Abend in einer merkwürdigen Stimmung, nachdem sie den Tag in der Scheune verbracht und den Schnee beobachtet hatte. „Bonnie“, sagte sie plötzlich. „Würdest du noch einmal aus meiner Handfläche lesen? Ich möchte, daß du mir die Zukunft vorhersagst. Meine ganz persönliche Zukunft.“ „Ich weiß nicht, ob ich mich an all das Zeug erinnern kann, das meine Großmutter mir beigebracht hat... aber, okay, ich versuch's“, gab Bonnie schließlich nach. „Ich hoffe nur, daß diesmal keine dunkelhaarigen Fremden auftauchen. Denn davon hast du ja schon mehr als genug.“ Sie kicherte, als sie Elenas ausgestreckte Hand nahm. „Erinnerst du dich, als Caroline fragte, was man mit zweien anstellen kann, was nicht auch mit einem geht? Na, jetzt hast du ja reichlich Gelegenheit, es herauszufinden.“ „Lies nur aus meiner Hand, okay?“ „Gut, also, das ist Ihr Leben...“ Bonnies Geplapper brach ab, bevor es richtig angefangen hatte. Sie starrte auf Elenas Hand. Ihr Gesicht war ängstlich und besorgt. „Sie sollte bis hier unten gehen. Aber sie ist so kurz abgeschnitten...“ Sie und Elena starrten sich einen Moment lang schweigend an, während Elena fühlte, wie eine böse Vorahnung in ihr zur Gewißheit wurde. Dann mischte sich Meredith ein. „Natürlich ist die Lebenslinie kurz. Das zeigt nur, was bereits geschehen ist, nämlich, als Elena ertrank.“ „Natürlich, das muß es sein“, flüsterte Bonnie. Sie ließ Elenas Hand los, und Elena zog sie langsam zurück. „Das ist es, natürlich“, erklärte Bonnie fester. Elena sah wieder in den Spiegel. Das Mädchen, das sie anschaute, war wunderschön. Doch in seinen Augen lag eine traurige Weisheit, die die alte Elena Gilbert nie besessen hatte. Sie merkte, daß Bonnie und Meredith sie beobachteten. „Ja, das ist die Erklärung“, sagte sie leichthin, aber ihr Lächeln erreichte nicht ihre Augen. 9. KAPITEL „Wenigstens bin ich diesmal nicht von einer fremden Macht übernommen worden“, seufzte Bonnie. „Ich bin diesen ganzen übernatürlichen Kram sowieso leid. Mir kommt das Ganze zu den Ohren heraus. Das war das letzte Mal, das schwöre ich euch.“ „Ist schon gut.“ Elena wandte sich vom Spiegel ab. „Reden wir von etwas anderem. Was habt ihr heute herausgefunden?“ „Ich habe mit Alaric gesprochen. Er will nächste Woche wieder ein Treffen veranstalten“, antwortete Bonnie. „Er hat Caroline, Vickie und mich gefragt, ob wir bereit sind, uns hypnotisieren zu lassen, um alles, was geschehen ist, besser verarbeiten zu können. Ich bin sicher, daß er nicht diese „andere Macht“ ist, Elena. Er ist zu nett.“ Elena nickte. Ihr waren schon Zweifel gekommen wegen ihres Verdachts, was Alaric betraf. Nicht weil er nett war, sondern weil sie vier Tage auf seinem Speicher geschlafen hatte. Hätte die „andere Macht“ sie wirklich dort ungestört ruhen lassen? Natürlich, Damon hatte Alaric beeinflußt zu vergessen, daß sie sich dort oben befand. Aber hätte die „andere Macht“ sich Damons Kräften gebeugt? Wäre sie nicht viel stärker als Damon gewesen? Es sei denn, ihre Kräfte sind aufgebraucht, dachte sie plötzlich. So wie Stefans Kräfte nachließen.. Oder diese „andere Macht“ hatte nur so getan, als würde sie Damons Hypnose nachgeben.
„Wir werden ihn trotzdem noch nicht von unserer Liste streichen“, beschloß sie. „Wir müssen vorsichtig sein. Was ist mit Mrs. Flowers? Habt ihr etwas über sie herausgefunden?“ „Kein Glück“, erwiderte Meredith. „Wir sind heute morgen zur Pension gegangen, aber Mrs. Flowers hat nicht aufgemacht. Stefan wollte versuchen, ihr heute nachmittag nachzuspüren.“ „Wenn jemand mich nur dorthin einladen würde, dann könnte ich sie ebenfalls beobachten“, überlegte Elena. „Ich hab das Gefühl, ich bin die einzige, die überhaupt nichts tut. Ich glaube...“ Sie hielt einen Moment inne und überlegte. Dann fuhr sie fort: „Ich werde nach Hause gehen. Zu Tante Judith, meine ich. Vielleicht finde ich Robert irgendwo draußen im Gebüsch versteckt oder so was.“ „Wir kommen mit“, sagte Meredith. „Nein, das mache ich besser allein. Wirklich. Ich habe gelernt, mich sehr unauffällig zu benehmen.“ „Sei bloß vorsichtig. Es schneit draußen immer noch sehr stark.“ Elena nickte, sprang aufs Fensterbrett und ließ sich nach unten fallen. Als Elena sich dem Haus näherte, sah sie, daß gerade ein Auto wegfuhr. Sie verbarg sich im Schatten und wartete. Die Scheinwerfer beleuchteten ein bizarres Winterbild: die schwarze Silhouette des Johannisbrotbaums im Nachbargarten mit einer weißen Eule in seinen kahlen Zweigen. Der Wagen fuhr vorbei, und Elena erkannte ihn. Es war Roberts blauer Ford. Sehr interessant. Sie wollte ihm schon folgen, aber ihr Wunsch, nachzusehen, ob im Haus alles in Ordnung war, erwies sich als stärker. Lautlos umrundete sie das Gebäude und untersuchte die Fenster. Die gelben Leinenvorhänge in der Küche waren zurückgezogen, die Küche hellerleuchtet. Tante Judith schloß gerade die Geschirrspülmaschine. War Robert zum Abendessen dagewesen? Tante Judith ging jetzt zur Eingangsdiele. Elena folgte ihr und umkreiste das Haus erneut. Die Wohnzimmervorhänge standen einen Spalt offen. Vorsichtig spähte sie durch das dicke, wellige Glas der Scheiben. Sie hörte, wie die Haustür geöffnet, geschlossen und abgeschlossen wurde. Dann kam Tante Judith ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Sie machte den Fernseher an und schaltete müßig zwischen den Kanälen hin und her. Elena wünschte sich, sie könnte mehr erkennen als nur das Profil der Tante im flimmernden Licht des Fernsehschirms. Es war merkwürdig, in das Zimmer zu blicken und zu wissen, daß sie zwar hineinschauen, aber nicht hineingehen konnte. Wie lange war es her, seit ihr aufgefallen war, wie hübsch der Raum eigentlich war? Der antike Mahagonischrank mit dem wertvollen Porzellan und den Gläsern, die Tiffany-Lampe auf dem Tischchen neben Tante Judith, die Kissen mit der Petit-Point-Stickerei auf der Couch, das alles schien ihr nun unendlich kostbar. Sie stand draußen, fühlte die sanfte Berührung des Schnees in ihrem Nacken und wünschte sich sehnlichst, nur für kurze Zeit, nur für einen Moment hineinzukönnen. Tante Judith hatte den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Elena preßte die Stirn gegen die Fenster und wandte sich dann langsam ab. Sie kletterte den Quittenbaum vor ihrem Schlafzimmerfenster hoch. Zu ihrer Enttäuschung waren die Vorhänge fest geschlossen. Der Ahorn vor Margarets Fenster war morscher und schwerer zu erklettern. Als sie oben war, hatte sie eine gute Sicht. Die Vorhänge hier waren offen. Margaret schlief. Sie hatte die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Ihr Mund stand offen, und ihr blondes Haar breitete sich wie ein Fächer auf dem Kissen aus. Hallo, Baby. Elena drängte die Tränen zurück. Es war ein so unschuldiges Bild: die Nachttischlampe, das kleine Mädchen im Bett, die Plüschtiere auf den Regalen, die über es zu wachen schienen. Und da kommt auch noch das weiße Kätzchen durch die offene Tür, um die Szene komplett zu machen, dachte Elena. Snowball sprang auf Margarets Bett. Das Kätzchen gähnte, zeigte seine kleine, rosa Zunge und streckte sich, die winzigen Krallen ausfahrend. Dann ging es geschmeidig nach vorn, bis es auf Margarets Brust stand. Etwas bewirkte, daß sich Elena die Haare im Nacken sträubten. Sie wußte nicht, ob es ihr neuer Jagdinstinkt oder nur bloße Vorahnung war. Aber plötzlich hatte sie Angst. Gefahr drohte in diesem Zimmer. Margaret war in Gefahr. Das Kätzchen stand immer noch dort. Sein Schwanz peitschte hin und her. Und auf einmal wußte Elena, woran es sie erinnerte. An die Hunde. Es blickte in der Art, wie Chelsea Doug Carson betrachtet hatte, bevor sie ihn angriff. Oh, nein. Die Stadt hatte die Hunde unter Quarantäne gestellt, aber niemand hatte an die Katzen gedacht!
Elenas Verstand arbeitete auf Hochtouren, ohne daß es ihr viel nutzte. Er zeigte ihr nur Bilder davon, was eine Katze mit ihren spitzen Zähnen und nadelscharfen Krallen auf zarter Haut anrichten konnte. Und Margaret lag da und atmete sanft, ohne sich der Gefahr bewußt zu sein. Snowballs Rückenfell sträubte sich, ihr Schwanz schwoll an wie eine Flaschenbürste. Sie legte die Ohren zurück und öffnete das Maul zu einem lautlosen Fauchen. Ihr Blick war starr auf Margarets Gesicht gerichtet, genauso wie bei Chelsea und Doug Carson. „Nein!“ Elena sah sich verzweifelt nach etwas um, das sie auf das Fenster werfen konnte, nach etwas, das Lärm machte. Sie konnte nicht näher heran. Die äußeren Zweige des Baums würden ihr Gewicht nicht tragen. „Margaret, wach auf!“ Aber der Schnee, der sich wie eine Decke um sie herum ausbreitete, erstickte ihr Rufen. Ein leises, drohendes Zischen erklang aus Snowballs Kehle, während ihr Blick zwischen dem Fenster und Margarets Gesicht hin- und herwanderte. „Margaret, wach auf!“ schrie Elena. In dem Moment, in dem das Kätzchen mit ausgefahrenen Krallen die Pfote zum Angriff hob, warf sie sich gegen die Scheibe. Später konnte sie nicht mehr sagen, wie es ihr gelungen war, sich festzuhalten. Auf dem schmalen Fenstersims war kein Platz zum Knien. Aber ihre Fingernägel krallten sich in das weiche, alte Holz, und mit einer Stiefelspitze fand sie darunter einen Halt. Mit ihrer ganzen Kraft klopfte sie gegen das Fenster und schrie. „Mach, daß du von ihr wegkommst! Margaret, wach auf! Margarets Augen flogen auf, sie fuhr hoch und schleuderte Snowball nach hinten. Die Krallen des Kätzchens verfingen sich in der gehäkelten Bettdecke, als es versuchte, sich aufzurichten. Elena schrie wieder. „Schnell aus dem Bett, Margaret! Öffne das Fenster! Beeil dich!“ Das Gesicht der Vierjährigen war voll schläfriger Überraschung, aber es zeigte keine Angst. Sie stand auf und stolperte zum Fenster, während Elena die Zähne zusammenbiß. „Braves Mädchen... jetzt sage: Komm herein. Schnell, sag es!“ „Komm herein“, wiederholte Margaret brav, blinzelte und trat einen Schritt zurück. Das Kätzchen sprang hinaus, als Elena ins Zimmer fiel. Sie wollte danach greifen, aber es war zu schnell. Einmal draußen, kletterte es blitzartig die Äste des Ahorns hinunter, machte einen Satz in den Schnee und verschwand. Eine kleine Hand zog an Elenas Pullover. „Du bist zurückgekommen!“ Margaret umarmte Elenas Hüften. „Ich habe dich vermißt.“ „Oh, Margaret. Ich habe dich auch vermißt...“ begann Elena und erstarrte. Tante Judiths Stimme klang von der Treppe herauf. „Margaret, bist du wach? Was geht da oben vor?“ Elena hatte nur eine Sekunde, um ihre Entscheidung zu treffen. „Verrate ihr nicht, daß ich hier bin“, flüsterte sie und ließ sich auf die Knie fallen. „Es ist ein Geheimnis, verstehst du? Sag, daß du das Kätzchen rausgelassen hast, aber nicht, daß ich hier bin.“ Die Zeit reichte nicht für mehr. Elena kroch unter das Bett und konnte nur noch beten. Von dort unten sah sie Tante Judiths bestrumpfte Füße ins Zimmer kommen. Sie preßte ihr Gesicht in die Dielenbretter und wagte kaum zu atmen. „Margaret! Was machst du da? Komm sofort zurück ins Bett“, sagte Tante Judith. Dann knarrte das Bett unter Margarets Gewicht, und Elena hörte, wie die Tante Margaret zudeckte. „Deine Hände sind ja eiskalt. Warum, um alles in der Welt, steht das Fenster auf?“ „Ich hab es aufgemacht, und Snowball ist rausgesprungen“, erklärte Margaret. Elena atmete erleichtert auf. „Und jetzt ist der ganze Boden voller Schnee. Ich kann es nicht fassen... Mach das Fenster ja nicht wieder auf, hörst du!“ Tante Judith schloß das Fenster, machte sich noch einmal kurz an Margarets Bettwäsche zu schaffen, dann verließ sie das Zimmer. Elena wand sich unter dem Bett hervor. „Braves Mädchen“, flüsterte sie, während Margaret sich aufsetzte. „Ich bin stolz auf dich. Morgen wirst du Tante Judith sagen, daß du das Kätzchen weggeben willst. Erklär ihr einfach, daß es dir angst macht. Ich weiß, du willst das nicht...“ Sie hob die Hand, um Margarets protestierendes Geheul im Keim zu ersticken. „...aber es muß sein. Denn ich weiß, daß es dir weh tun wird, wenn du es weiter behältst. Und das willst du doch nicht, oder?“
„Nein“, antwortete Margaret mit Tränen in den blauen Augen. „Aber...“
„Und du möchtest doch auch nicht, daß das Kätzchen Tante Judith weh tut, oder? Sag Tante Judith, daß du
kein Kätzchen, keinen Hund, nicht mal einen Vogel haben willst, bis... Na, jedenfalls für eine Weile. Du
darfst ihr nicht verraten, daß du mich gesehen hast. Erkläre ihr, daß du dich fürchtest, nach dem, was mit den
Hunden vor der Kirche passiert ist.“ Es ist besser, einem kleinen Mädchen Alpträume zu verschaffen, als
daß diese Alpträume in seinem Schlafzimmer zur schrecklichen Wirklichkeit werden, dachte Elena grimmig.
„Okay“, erwiderte Margaret traurig.
„Es tut mir leid, Herzchen.“ Elena setzte sich und umarmte sie. „Aber es muß sein.“
„Du bist so kalt.“ Margaret blickte Elena ins Gesicht. „Bist du ein Engel?“
„Uh... nicht direkt.“ Eher das genaue Gegenteil, dachte sie spöttisch.
„Tante Judith hat gesagt, du bist zu Mommy und Daddy gegangen. Hast du sie gesehen?“
„Ich... das ist schwer zu erklären, Margaret. Ich habe sie noch nicht gesehen. Und ich bin auch kein Engel,
aber ich wäre gern dein Schutzengel, einverstanden? Ich werde über dich wachen, auch wenn du mich nicht
sehen kannst. Okay?“
„Gut.“ Margaret spielte mit ihren Fingern. „Heißt das, daß du nicht mehr hier wohnen kannst?“
Elena sah sich in dem pink- und weißfarbenen Schlafzimmer um, blickte auf die Stofftiere auf den Regalen,
auf den kleinen Schreibtisch und das Schaukelpferd in der Ecke, das einmal ihr gehört hatte. „Das heißt es
wohl“, antwortete sie leise.
„Als sie gesagt haben, daß du zu Mommy und Daddy gegangen bist, wollte ich auch dorthin.“
Elena blinzelte hart. „Oh, Schätzchen. Für dich ist noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen, glaub mir.
Und Tante Judith liebt dich so sehr. Sie wäre schrecklich einsam ohne dich.“
Margaret nickte. Ihre Lider senkten sich. Aber als Elena sie sanft niederlegte und die Decke über sie zog,
stellte Margaret ihr noch eine Frage: „Aber... liebst du mich denn nicht?“
„Natürlich! Ich liebe dich sehr... bis eben habe ich gar nicht gewußt, wie sehr. Aber ich komme schon
zurecht, und Tante Judith braucht dich mehr. Und...“ Elena mußte tief Luft holen, um sich zu beruhigen. Als
sie nach unten sah, waren Margarets Augen geschlossen, und ihr Atem ging gleichmäßig. Sie war
eingeschlafen.
Dumm, dumm, dumm, schalt Elena sich, während sie sich einen Weg durch den angehäuften Schnee zur
anderen Seite der Maple-Street bahnte. Sie hatte die Gelegenheit verpaßt, Margaret zu fragen, ob Robert
zum Abendessen dagewesen war. Jetzt war es zu spät.
Robert. Ihre Augen verengten sich plötzlich. Bei der Kirche war er draußen gewesen, und dann hatten die
Hunde verrückt gespielt. Und heute abend war Margarets Kätzchen bösartig geworden. Nur einen kleinen
Augenblick, nachdem Roberts Wagen aus der Einfahrt gefahren war.
Robert wird eine Menge zu erklären haben, dachte sie.
Aber Traurigkeit überfiel sie und lenkte ihre Gedanken ab. Sie kehrten zu dem hellen Haus zurück, das sie
gerade verlassen hatte, zu den Dingen, die sie nie wiedersehen würde. All ihre Kleider, ihr Krimskrams, ihr
Schmuck, was würde Tante Judith damit machen? Ich besitze gar nichts mehr, dachte sie. Ich bin eine
Bettlerin.
Elena? Erleichtert erkannte Elena die telepathische Stimme und den dunklen Schatten am Ende der Straße. Sie eilte
auf Stefan zu, der die Hände aus den Taschen nahm, um ihre Hände zu wärmen.
„Meredith hat mir gesagt, wo du hin wolltest.“
„Ich bin nach Hause gegangen.“ Das war alles, was sie hervorbrachte. Aber als sie sich trostsuchend gegen
ihn lehnte, spürte sie, daß er sie verstand.
„Komm, laß uns einen Ort finden, an dem wir uns setzen können“, begann er und hielt frustriert inne. Alle
Plätze, zu denen sie bisher gegangen waren, waren entweder zu gefährlich oder für Elena jetzt verschlossen.
Die Polizei hatte Stefans Auto immer noch beschlagnahmt.
Schließlich gingen sie zur High School, wo sie sich unter ein Vordach setzten und den herabfallenden
Schnee beobachteten. Elena erzählte ihm, was in Margarets Zimmer vorgefallen war.
„Ich werde Bonnie und Meredith bitten, überall zu verbreiten, daß auch die Katzen angreifen können. Die
Leute sollten das wissen. Und ich glaube, jemand sollte Robert beobachten“, schloß sie.
„Wir werden ihn beschatten“, sagte Stefan, und Elena mußte lächeln.
„Es ist komisch, wie sehr du dich schon der modernen Zeit angepaßt hast“, sagte sie. „Ich habe länger nicht
darüber nachgedacht, aber als du hier ankamst, warst du viel fremdländischer, ja exotischer. Jetzt würde
keiner mehr auf die Idee kommen, daß du nicht schon dein ganzes Leben hier wohnst.
„Wir passen uns schnell an. Wir müssen es“, erwiderte Stefan. „Es gibt immer neue Länder, neue Zeitalter,
neue Situationen. Du wirst es auch schaffen.“
„Werde ich das?“ Elenas Blick blieb auf die glitzernden Schneeflocken gerichtet. „Ich weiß nicht...“
„Du wirst es lernen. Nach und nach. Wenn es etwas Gutes daran gibt... an der Art, wie wir sind... dann ist es
Zeit. Wir haben soviel Zeit, wie wir wollen. Bis in alle Ewigkeit.“
„Vergnügte Gefährten für immer. Hat Katherine das nicht zu dir und Damon gesagt?“ fragte Elena leise.
Sie konnte fühlen, wie Stefan erstarrte und sich innerlich zurückzog. „Sie hat von uns dreien gesprochen. Ich
nicht.“
„Oh, Stefan. Bitte nicht ausgerechnet jetzt. Ich habe keinen Gedanken an Damon verschwendet, nur an die
Ewigkeit. Das macht mir angst. Alles macht mir angst. Manchmal wünsche ich mir nur noch, einzuschlafen
und nie mehr aufzuwachen...“
Im Schutz seiner Umarmung fühlte sie sich sicherer, und sie merkte, daß ihre neugefundenen Sinne in der
Nähe genauso erstaunlich ausgeprägt reagierten wie auf Entfernung. Sie konnte jeden einzelnen Herzschlag
von Stefan hören und das Rauschen des Bluts in seinen Adern. Sie nahm seinen ganz eigenen Geruch wahr,
in den sich der Duft seiner Lederjacke, der des Schnees draußen und der Geruch der Wolle seiner Kleider
mischten.
„Bitte vertrau mir“, flüsterte sie. „Ich weiß, daß du auf Damon böse bist, aber versuche, ihm wenigstens
noch eine Chance zu geben. Ich glaube, es steckt mehr in ihm, als es den Anschein hat. Ich brauche seine
Hilfe, um die ,andere Macht' zu finden. Und das ist alles, was ich von ihm will.“
In diesem Moment war das die reine Wahrheit. Elena wollte heute nacht nichts mit dem Leben des Jägers zu
tun haben. Die Dunkelheit hatte nichts Faszinierendes für sie. Sie wünschte sich, sie könnte zu Hause vor
dem Kaminfeuer sitzen.
Aber es war auch schön, so gehalten zu werden, selbst, wenn sie und Stefan dafür im Schnee sitzen mußten.
Stefans Atem war warm, als er ihren Hals küßte, und sie merkte, daß er sich nicht mehr innerlich von ihr
zurückzog. Und sie fühlte auch keinen Hunger in ihm. Jedenfalls nicht die Art, die sie sonst gespürt hatte,
wenn sie so nah zusammengewesen waren. Jetzt war sie ein Jäger wie er, und sein Verlangen war ein
anderes. Es war mehr das Verlangen nach Nähe als nach Nahrung.
Sie hatten etwas verloren, aber auch etwas gewonnen. Elena verstand Stefan jetzt so wie nie zuvor. Und das
brachte sie noch näher zusammen, bis sich ihre Gedanken berührten, ja fast miteinander verschmolzen, in
tiefer, wortloser Verständigung. So, als ob sie beide völlig eins wären.
„Ich liebe dich“, flüsterte Stefan gegen ihren Nacken, und sie drängte sich enger an ihn. Sie verstand jetzt,
warum er sich so lange gefürchtet hatte, die Worte auszusprechen. Wenn der Gedanke an das Morgen einem
vor Angst fast den Verstand raubt, ist es schwer, ein solches Geständnis zu machen. Weil man den anderen
nicht mit in den Abgrund ziehen will.
Besonders jemandem, den man liebt. Und so ging es jetzt ihr. „Ich liebe dich auch“, zwang sie sich zu sagen
und löste sich von ihm. Ihre friedliche Stimmung war zerstört. „Wirst du Damon mir zuliebe eine Chance
geben? Und versuchen, mit ihm zusammenzuarbeiten?“
„Ich werde mit ihm zusammenarbeiten, aber ich werde ihm nicht trauen. Das kann ich nicht. Ich kenne ihn
zu gut.“
„Ich frage mich manchmal, ob jemand ihn überhaupt richtig kennt. Also gut. Tu, was du kannst. Vielleicht
können wir ihn bitten, morgen Robert zu folgen.“
„Ich habe heute Mrs. Flowers beobachtet.“ Stefans Lippen zuckten belustigt. „Den ganzen Nachmittag und
Abend. Weißt du, was sie gemacht hat?“
„Was?“
„Drei Ladungen Wäsche gewaschen - in einer alten Maschine, die aussah, als würde sie jeden Moment
explodieren. Sie besitzt keinen Wäschetrockner, nur eine wacklige Schleuder. Es steht alles unten im Keller.
Dann ist sie nach draußen gegangen und hat so ungefähr zwei Dutzend Vogelhäuschen mit Futter gefüllt.
Dann wieder zurück in den Keller, um Einmachgläser abzuwischen. Sie verbringt ihre meiste Zeit da unten
und redet mit sich selbst.“
„Nur eine verrückte, alte Frau“, sagte Elena. „Gut. Vielleicht hat Meredith sich geirrt, und sie ist wirklich nichts anderes.“ Sie bemerkte Stefans Reaktion bei Meredith' Namen und fügte hinzu: „Was ist?“ „Nun, Meredith selbst wird auch einiges erklären müssen. Ich habe sie nicht danach gefragt. Ich dachte, das kommt vielleicht besser von dir. Aber sie hatte nach der Schule ein Gespräch mit Alaric Saltzman. Und sie wollte nicht, daß es jemand merkt.“ Elena wurde unruhig. „Und...?“ „Später hat sie deswegen gelogen - oder zumindest ist sie dem Thema ausgewichen. Ich habe versucht, ihre Gedanken zu lesen. Aber meine Kräfte sind fast ausgebrannt. Außerdem hat sie einen starken Willen.“ „Du hattest kein Recht dazu! Stefan, hör mir mal gut zu! Meredith würde nie etwas tun, was uns schaden könnte, oder uns verraten. Was immer sie vor uns verbirgt...“ „Also mußt du zugeben, daß sie etwas verbirgt.“ „Ja“, erwiderte Elena widerstrebend. „Aber es ist nichts, was uns schaden wird, da bin ich sicher. Seit der Grundschule ist Meredith meine beste Freundin...“ Unbewußt sprach Elena nicht zu Ende. Sie dachte an eine andere Freundin aus der Kindheit, an eine, die ihr seit Kindergartentagen sehr nahe gestanden hatte. Und die letzte Woche versucht hatte, Stefan zu vernichten und Elena vor der ganzen Stadt bloßzustellen. An Caroline. Und was hatte in Carolines Tagebuch über Meredith gestanden? Meredith tut nichts. Sie beobachtet nur. Es ist so, als sei sie unfähig zu handeln und könnte nur auf Dinge reagieren. Außerdem habe ich meine Eltern über ihre Familie sprechen hören. Kein Wunder, daß sie sie niemals erwähnt. Elenas Blick wanderte von der schneebedeckten Landschaft zu Stefans abwartendem Gesicht. „Es ist unwichtig“, sagte sie leise. „Ich kenne Meredith, und ich vertraue ihr. Ich vertraue ihr bis zum Ende.“ „Ich hoffe, sie ist es wert, Elena“, erwiderte er. „Ich hoffe es wirklich“, wiederholte er. 10. KAPITEL 12. Dezember, Donnerstagmorgen Liebes Tagebuch, so, was haben wir nun nach einer Woche Arbeit erreicht? Unseren drei Verdächtigen sind wir fast rund um die Uhr die letzten sechs oder sieben Tage gefolgt. Und die Resultate? Robert hat die letzte Woche wie ein normaler Geschäftsmann verbracht. Alaric hat auch nichts für einen Geschichtslehrer Ungewöhnliches getan. Und Mrs. Flowers verbringt die meiste Zeit in ihrem Keller. Etwas Brauchbares haben wir nicht herausgefunden. Stefan erzählte, daß Alaric sich einige Male mit dem Direktor getroffen habe, aber er kam nicht nahe genug heran, um zu hören, was gesprochen wurde. Meredith und Bonnie haben verbreitet, daß auch andere Haustiere außer den Hunden gefährlich sind. Sie mußten sich dabei nicht sehr anstrengen. Es scheint, als ob sich fast jeder in der Stadt sowieso schon am Rand der Hysterie befindet. Es wird laufend von anderen Tierangriffen berichtet, aber es ist schwer festzustellen, welche man ernst nehmen sollte. Ein paar Kinder haben ein Eichhörnchen gezankt, und es hat sie gebissen. Das Kaninchen der Familie Massases hat den jüngsten Sohn gekratzt. Die alte Mrs. Coomber will Kupferkopfschlangen in ihrem Garten gesehen haben, obwohl Schlangen doch Winterschlaf halten. Das einzige, was mir Sorgen macht, ist der Angriff auf den Tierarzt, der die Hunde in Gewahrsam hielt. Er wurde von ihnen gebissen, und die meisten Hunde konnten daraufhin aus ihren Zwingern ausbrechen. Danach sind sie einfach verschwunden. Die Leute spielen die Sache herunter und hoffen, daß sie in den Wäldern verhungern werden. Aber ich bin mir da nicht so sicher. Und es schneit immer noch. Zwar hat es keinen Sturm gegeben, aber es hört auch nicht auf. Ich habe noch nie soviel Schnee gesehen. Stefan macht sich Sorgen wegen des Winterballs morgen abend. Was uns wieder zum Anfang bringt. Was haben wir bisher herausgefunden? Keiner der Verdächtigen war in der Nähe der Familie Massases oder bei Mrs. Coomper oder dem Tierarzt, als die Angriffe stattfanden. Seit wir mit unseren Nachforschungen begonnen haben, sind wir der ‚anderen Macht’ noch kein Stückchen nähergekommen. Alarics kleine Zusammenkunft ist heute abend. Meredith meint, wir sollten hingehen. Ich weiß auch nicht, was wir sonst noch tun könnten.
Damon streckte seine langen Beine aus, blickte sich in der Scheune um und sagte lässig: „Nein, ich halte es
nicht für besonders gefährlich, hinzugehen. Ich sehe allerdings auch nicht, was du damit erreichen willst.“
„Ich auch nicht“, gab Elena zu. „Aber ich habe keine bessere Idee. Du etwa?“
„Was genau meinst du? Eine andere Art, sich die Zeit zu vertreiben? Oh, da gibt es viele Möglichkeiten.
Soll ich dir ein paar nennen?“ Damon lächelte.
Elena brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er fügte sich gutgelaunt. „Ich meine natürlich
nützliche Dinge, die wir zu diesem Zeitpunkt tun könnten. Robert ist aus der Stadt. Mrs. Flowers ist unten...“
„... in ihrem Keller“, beendeten die anderen im Chor den Satz.
„Und wir sitzen hier dumm rum. Hat denn niemand von euch einen Geistesblitz?“
Meredith brach das Schweigen. „Wenn ihr euch Sorgen macht, daß es für Bonnie und mich zu gefährlich
werden könnte, warum kommt ihr dann nicht alle mit zu Alaric? Ihr braucht euch ja nicht zu zeigen.
Versteckt euch auf dem Speicher. Wenn etwas passieren sollte, rufen wir um Hilfe, und ihr seid dann gleich
da.“
„Ich sehe gar nicht ein, warum überhaupt jemand schreien sollte“, erklärte Bonnie. „Da wird schon nichts
passieren.“
„Vielleicht nicht. Aber es ist besser, auf Nummer sicher zu gehen“, beharrte Meredith. „Was meint ihr?“
Elena nickte langsam. „Richtig.“ Sie blickte sich um, ob jemand etwas dagegen hatte, aber Stefan zuckte nur
mit den Achseln, und Damon flüsterte etwas, das Bonnie zum Lachen brachte.
„Okay, dann ist es beschlossen. Gehen wir.“
Als sie aus der Scheune traten, begrüßte sie der unvermeidliche Schnee.
„Bonnie und ich fahren mit meinem Auto“, sagte Meredith. „Was euch drei betrifft...“
„Oh, wir werden unseren eigenen Weg finden, schöne Frau“, erklärte Damon und lächelte sie an. Meredith
nickte völlig unbeeindruckt. Komisch, dachte Elena, als die beiden Mädchen sich entfernten, Meredith
schien immun gegen Damon zu sein. Sein Charme ließ sie völlig kalt.
Sie wollte gerade erwähnen, daß sie hungrig war, als Stefan sich an Damon wandte.
„Bist du bereit, jede Minute, aber auch jede, die ihr dort seid, bei Elena zu bleiben?“ fragte er eindringlich.
„Versuch mich davon abzuhalten“, erklärte Damon fröhlich. Dann wurde er ernst. „Warum?“
„Wenn du es tust, könnt ihr zwei allein rübergehen, und ich komme später nach. Ich hab noch etwas zu
erledigen, aber es wird nicht lange dauern.“
Elena fühlte, wie Wärme in ihr aufstieg. Er versuchte, seinem Bruder zu vertrauen. Sie lächelte Stefan
zustimmend an, als er sie zur Seite zog.
„Was ist los?“
„Ich habe heute eine Nachricht von Caroline bekommen. Sie will mich nach der Schule vor dem Treffen bei
Alaric sehen. Um sich zu entschuldigen.“
Elena lag eine scharfe Bemerkung auf der Zunge, aber sie schluckte sie hinunter. Von dem, was sie gehört
hatte, bot Caroline in diesen Tagen einen schlimmen Anblick. Vielleicht würde es Stefans Gewissen
erleichtern, wenn er mit ihr redete.
„Du brauchst dich jedenfalls nicht zu entschuldigen“, sagte sie. „Alles, was passiert ist, hat sie sich selbst
zuzuschreiben. Glaubst du, daß sie gefährlich werden könnte?“
„Nein. Soviel Kraft habe ich außerdem noch übrig. Caroline ist okay. Ich werde sie treffen, und später
können sie und ich zusammen zu Alaric gehen.“
„Sei vorsichtig!“ rief Elena ihm nach, während er durch den Schnee davonlief.
Der Speicher war so, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Dunkel, staubig und voller geheimnisvoller, mit Wachstüchern bedeckter Gegenstände. Damon, der auf normale Weise durch die Tür eingetreten war, hatte die Läden aufgemacht, um Elena durch das Fenster hereinzulassen. Danach setzten sie sich nebeneinander auf die alte Matratze und lauschten auf die Stimmen, die durch die Röhren nach oben drangen.
„Ich könnte mir eine romantischere Umgebung vorstellen“, murmelte Damon und wischte sich angewidert Spinnweben vom Ärmel. „Bist du sicher, daß du nicht lieber...?“
„Ja“, erwiderte Elena. „Jetzt sei still.“
Es war wie ein Spiel, den Bruchstücken der einzelnen Gespräche zuzuhören, zu versuchen, sie zusammenzufügen und den Stimmen ein Gesicht zuzuordnen.
„Und dann habe ich gesagt, es ist mir egal, wie lange du den Papagei schon hast. Entweder du wirst ihn los,
oder ich gehe mit Mike Feldman zum Winterball. Dann hatte er doch tatsächlich den Nerv zu sagen...“
„...hast du schon gehört? Tanners Grab soll gestern nacht geöffnet worden sein. Echt gruslig...“
„...alle, außer Caroline natürlich, haben ihre Namen zur Wahl der Schneekönigin zurückgezogen. Aber die
war ja immer schon...“
„...tot? Nein, ich schwöre dir, ich habe sie gesehen! Es war kein Traum. Sie trug ein silbernes Kleid. Ihr
langes, blondes Haar wehte...“
Elena blickte Damon mit hochgezogenen Augenbrauen an. Er warf einen bedeutungsvollen Blick auf ihre
einfachen, schwarzen Klamotten und grinste.
„Typisch romantische Verklärung der Tatsachen“, meinte er. „Mir persönlich gefällst du in Schwarz. Ich
finde das sehr sexy.“
„Das sieht dir ähnlich“, gab Elena zurück. Es war komisch, wie wohl sie sich seit kurzem in Damons Nähe
fühlte. Sie blieb ruhig sitzen, ließ die Gespräche an sich vorüberziehen und verlor fast jedes Gefühl für Zeit.
Dann drang eine bekannte Stimme an ihr Ohr. Sie klang sauer und war näher als der Rest.
„Okay, okay, ich gehe ja schon. Mach dir nicht ins Hemd.“
Elena und Damon tauschten einen Blick und standen auf, als sich die Klinke der Speichertür bewegte. Eine
Sekunde später spähte Bonnie um die Ecke.
„Meredith hat gesagt, ich soll raufkommen. Der Himmel weiß, warum. Sie hat Alaric total mit Beschlag
belegt, und die ganze Party stinkt mir sowieso.“
Bonnie ließ sich seufzend auf die Matratze fallen. Nach ein paar Minuten setzte Elena sich neben sie. Sie
wünschte sich, Stefan würde endlich kommen. Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf. Als die Tür sich erneut
öffnete und Meredith hereinkam, sah sie ihre Befürchtungen bestätigt.
„Meredith, was ist los?“
„Nichts. Oder nichts, worüber du dir Sorgen machen müßtest. Wo ist Stefan?“ Meredith' Wangen waren
unnatürlich gerötet, und in ihren Augen lag ein merkwürdiger Ausdruck, als würde sie sich mit Mühe unter
Kontrolle halten.
„Er kommt später...“ begann Elena, aber Damon unterbrach sie.
„Egal, wo er steckt. Wer kommt da die Stufen hoch?“
„Was meinst du damit, wer kommt da die Stufen hoch?“
Bonnie stand rasch auf.
„Bleibt alle ganz ruhig“, sagte Meredith und stellte sich vor das Fenster, als wollte sie es bewachen. Dabei
sieht sie selbst überhaupt nicht ruhig aus, dachte Elena.
„Alles klar“, rief Meredith. Die Tür öffnete sich, und Alaric Saltzman trat ein.
Damon reagierte so blitzartig, daß selbst Elena ihm nicht folgen konnte. Mit einer Bewegung hatte er ihr
Handgelenk gepackt, sie hinter sich gezogen und sich gleichzeitig so gestellt, daß er Alaric direkt
gegenüberstand. Er wartete sprungbereit wie ein gefährlicher schwarzer Panther, jeden Muskel gespannt
zum tödlichen Angriff.
„Oh, nein“, rief Bonnie außer sich. Sie warf sich auf Alaric, der sich bereits stolpernd einen Schritt von
Damon zurückgezogen hatte. Dabei verlor er fast die Balance und tastete hinter sich blind nach der Tür,
während seine andere Hand an seinen Gürtel griff.
„Hört auf! Hört auf!“ schrie Meredith. Elena sah den Umriß unter Alarics Jackett und erkannte eine Pistole.
Wieder konnte sie das, was dann geschah, kaum mit den Augen verfolgen. Damon ließ ihr Handgelenk los
und packte das von Alaric. Plötzlich fand Alaric sich mit verblüfftem Gesichtsausdruck auf dem Fußboden
wieder. Damon stand über ihm und leerte seelenruhig nacheinander die Patronen aus der Pistole.
„Ich hab dir doch gesagt, das ist albern, und daß du sie nicht brauchen wirst“, schimpfte Meredith mit
Alaric. Elena fiel auf, daß sie ihre Freundin bei den Armen gepackt hatte. Sie mußte es getan haben, um zu
verhindern, daß Meredith Damon angriff, aber sie konnte sich nicht daran erinnern.
„Diese Dinger mit den Holzspitzen sind eklig, sie könnten jemanden verletzen“, erklärte Damon mit mildem
Tadel. Er steckte eine Patrone in die Waffe zurück, entsicherte sie und zielte nachdenklich auf den
Geschichtslehrer.
„Hör auf!“ bat Meredith eindringlich. Sie wandte sich an Elena. „Mach, daß er damit aufhört, Elena. Er
richtet nur noch mehr Schaden an. Alaric wird euch nichts tun. Ich verspreche es. Ich habe die ganze Woche
damit verbracht, ihn zu überzeugen, daß ihr ihm nichts antut.“
„Und jetzt ist mein Handgelenk gebrochen. Fürchte ich zumindest“, erklärte Alaric ziemlich gelassen vom
Fußboden aus. Das dunkelblonde Haar fiel ihm in die Augen.
„Das hast du nur dir selbst zuzuschreiben, mein Lieber“, erwiderte Meredith bitter. Bonnie, die besorgt
Alarics Schultern gepackt hatte, sah bei Meredith' vertrautem Tonfall auf, trat einen Schritt zurück und
setzte sich.
„Na, auf die Erklärung bin ich aber gespannt“, meinte sie sauer.
„Bitte vertrau mir“, bat Meredith Elena.
Elena schaute ihr in die dunklen Augen. Sie vertraute Meredith, sie hatte es selbst gesagt. Und die Worte
riefen eine andere Erinnerung in ihr hervor. Sie hörte, wie sie selbst Stefan um Vertrauen gebeten hatte, und
nickte.
„Damon?“ sagte sie. Er warf die Pistole lässig weg, lächelte charmant in die Runde und machte
schulterzuckend allen klar, daß er auf solche künstlichen Hilfsmittel sowieso nicht angewiesen war.
„Wenn ihr mir jetzt bitte mal zuhört, werdet ihr alles schnell verstehen“, ergriff Meredith das Wort.
„Oh, da bin ich sicher“, mummelte Bonnie ätzend.
Elena ging zu Alaric Saltzman. Sie hatte keine Angst vor ihm, doch aus der Art, wie er sie langsam von
Kopf bis Fuß musterte, erkannte sie, daß er sich vor ihr fürchtete.
Sie blieb kurz vor ihm stehen, kniete sich zu ihm auf den Boden und sah ihm ins Gesicht.
„Hallo“, sagte sie.
Er hielt immer noch sein Handgelenk. „Hallo“, erwiderte er und schluckte.
Elena sah zu Meredith und dann wieder zu ihm hin. Ja, er hatte Angst. Und so, wie ihm das Haar in die
Augen fiel, sah er sehr jung aus. Er war vielleicht vier Jahre älter als Elena, höchstens fünf. Aber nicht mehr.
„Wir werden dir nichts tun“, versicherte sie ihm.
„Das habe ich ihm auch schon gesagt“, erklärte Meredith leise. „Und daß du anders bist, egal, was er vorher
erlebt oder welche Geschichten er gehört haben mag. Ich habe ihm das erzählt, was du mir von Stefan
erzählt hast, und wie er all die Jahre gegen seine Natur angekämpft hat. Ich habe versucht, ihm
klarzumachen, was du durchmachst, Elena, und daß du dir dein Schicksal nicht ausgesucht hast.“
Aber warum hast du ihm soviel erzählt? dachte Elena bei sich. Sie wandte sich an Alaric: „Okay, Sie wissen
alles über uns. Aber wir wissen nur, daß Sie kein Geschichtslehrer sind.“
„Er ist ein Jäger“, warf Damon leise und drohend ein. „Ein Vampirjäger.“
„Nein!“ protestierte Alaric. „Jedenfalls nicht in dem Sinne, wie du es meinst.“ Er schien zu einer
Entscheidung zu kommen. Gut. Aus dem, was ich über euch drei weiß...“ Er hielt inne und sah sich in dem
dunklen Raum um, als würde ihm plötzlich etwas auffallen. „Wo ist Stefan?“
„Er kommt noch. Eigentlich sollte er längst hier sein. Er wollte bei der Schule vorbeigehen und Caroline
mitbringen.“ Elena war auf Alarics Reaktion nicht vorbereitet.
„Caroline Forbes?“ sagte er scharf und setzte sich auf. Sein Tonfall war hart und bestimmt, so wie bei dem
Gespräch mit Dr. Feinberg, das sie mitgehört hatte.
„Ja. Sie hat ihm heute eine Nachricht geschickt, daß sie sich bei ihm entschuldigen will oder so etwas. Sie
wollte ihn nach der Schule vor der Party treffen.“
„Er darf da nicht hin. Ihr müßt ihn aufhalten.“ Alaric rappelte sich hektisch hoch und wiederholte
eindringlich: „Ihr müßt ihn aufhalten!“
„Er ist schon weg. Warum? Warum sollte er nicht gehen?“ fragte Elena.
„Weil ich Caroline vor zwei Tagen hypnotisiert habe. Ich habe es vorher schon mit Tyler versucht, aber
ohne Erfolg. Caroline war ein gutes Medium. Sie erinnerte sich ein wenig an das, was in der Quonset-Hütte
geschehen ist. Und sie hat Stefan Salvatore als Täter identifiziert.“
Die schockierte Stille, die folgte, dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann sagte Bonnie: „Aber was
kann Caroline ausrichten? Sie kann ihm doch nichts antun...“
„Verstehst du denn nicht? Wir haben es nicht mehr nur mit Schülern der High School zu tun“, erklärte
Alaric. „Das Ganze hat zu große Ausmaße angenommen. Carolines Vater weiß davon und auch Tylers
Vater. Sie machen sich Sorgen um die Sicherheit der Stadt...“
„Psst! Seid still.“ Elena suchte mit allen Sinnen nach einem Zeichen von Stefans Anwesenheit. Er hat
zugelassen, daß er zu schwach wird, dachte sie. Ein Teil von ihr blieb eiskalt inmitten der Furcht und Panik,
die sie zu überwältigen drohten. Schließlich spürte sie etwas. Es war nur eine winzige Spur, aber sie glaubte,
daß sie von Stefan stammte. Und sie strahlte große Not und Bedrängnis aus.
„Da stimmt was nicht“, bestätigte Damon, und sie erkannte, daß auch er gesucht haben mußte, mit Sinnen,
die viel stärker waren als ihre. „Gehen wir.“
„Laßt uns erst reden. Stürzt euch da nicht Hals über Kopf hinein.“ Aber Alaric hätte genausogut versuchen
können, die Kräfte des Windes mit seinen Worten zu zügeln. Damon war bereits aus dem Fenster, und im
nächsten Moment ließ Elena sich hinunterfallen und landete sicher neben ihm im Schnee. Alarics Stimme
folgte ihnen von oben.
„Wir kommen nach. Wartet dort auf uns. Laßt mich erst mit ihnen sprechen. Ich kann alles regeln...“
Elena hörte ihn kaum. Sie kannte nur noch ein Ziel, einen Gedanken. Nämlich die Leute zu verletzen, die
Stefan bedrohten. Es ist alles schon zu weit gegangen, nun gut, dachte sie. Jetzt werde ich es ihnen zeigen.
Und wenn sie wagen sollten, ihn auch nur anzurühren... Szenen, von dem, was sie seinen Feinden antun
würde, erschienen blitzartig vor ihrem geistigen Auge. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie der plötzliche,
heftige Adrenalinstoß und die Erregung, die sie bei diesen grausigen Bildern empfand, schockiert.
Sie konnte Damons Gedanken neben sich spüren, während sie durch den Schnee rasten. Sie waren wie eine
lodernde Flamme aus rotem Feuer und Wut. Die Wildheit in Elena hieß diese Gefühle willkommen, war
froh, sie so dicht bei sich zu fühlen. Doch dann fiel ihr etwas ein.
„Ich halte dich nur auf“, sagte sie. Selbst das Laufen durch den Tiefschnee hatte sie kaum außer Atem
gebracht, und sie kamen sehr gut voran. Aber nichts auf zwei oder sogar vier Beinen konnte es mit der
Geschwindigkeit von Flügeln aufnehmen. „Geh vor. So schnell du kannst. Ich treffe dich dort.“
Sie blieb nicht stehen, um das plötzliche Verschwimmen seiner Gestalt wahrzunehmen, das Rauschen der
Luft oder die wirbelnde Dunkelheit, die in Flügelschlagen endete. Aber sie sah hoch zu der Krähe, die in den
Himmel schoß, und hörte Damons telepathische Stimme. Viel Glück, sagte sie, und damit wandte sich die
schwarze Gestalt am Himmel in Richtung Schule.
Elena meinte es ehrlich. Sie verdoppelte ihre Geschwindigkeit, ihre Gedanken die ganze Zeit fest auf die
winzige Spur von Stefans Anwesenheit gerichtet.
Stefan lag auf dem Rücken und wünschte, seine Sicht wäre nicht so verschwommen und er wäre klarer bei
Bewußtsein. Das verzerrte Blickfeld kam zum Teil von den Schmerzen und vom herabfallenden Schnee,
aber auch von dem kleinen Blutrinnsal, das aus einer etwa drei Zentimeter großen Wunde auf seinem Kopf
lief.
Zu dumm, daß er sich nicht auf dem Schulgelände gründlich umgesehen hatte. Dann wären ihm die
verdunkelten, parkenden Autos auf der anderen Seite aufgefallen. Der größte Fehler war natürlich gewesen,
überhaupt hierher zu kommen. Und dafür mußte er jetzt bezahlen.
Wenn er nur seine Gedanken genug sammeln könnte, um Hilfe herbeizurufen... aber die Schwäche, die es
diesen Männern erlaubt hatte, ihn zu überwältigen, verhinderte das ebenfalls mit Leichtigkeit. Seit der
Nacht, in der er Tyler angegriffen hatte, hatte er kaum Nahrung zu sich genommen. Irgendwie war das die
Ironie des Schicksals. Sein eigenes schlechtes Gewissen war schuld an der schrecklichen Lage, in der er sich
jetzt befand.
Ich hätte niemals versuchen sollen, meine Natur zu ändern, dachte er. Damon hatte am Ende doch recht.
Alle sind gleich. Alaric, Caroline, alle. Jeder will dich verraten. Ich hätte sie alle jagen und es genießen
sollen.
Er hoffte, daß Damon sich um Elena kümmerte. Sie würde bei ihm in Sicherheit sein. Damon war stark und
rücksichtslos. Er würde sie lehren, zu überleben. Stefan war froh darüber.
Aber etwas in ihm weinte.
Die scharfen Augen der Krähe erspähten die Scheinwerfer, und ihr Blick senkte sich. Aber Damon brauchte
im Grunde keine Bestätigung der Szene, die sich unten abspielte. Er schaltete sich in das kaum
wahrnehmbare Pulsieren ein, aus dem Stefans Lebenskraft noch bestand. Es war so schwach, weil Stefan
keine Kraft mehr besaß und weil er fast aufgegeben hatte.
Wirst du es denn nie lernen, Bruder? Damon schickte ihm seine Gedanken. Ich sollte dich eigentlich dort
liegenlassen. Aber noch während er den Boden mit Blicken absuchte, änderte er seine Gestalt und
verwandelte sich in etwas, das mehr Schaden anrichten würde als eine Krähe.
Der schwarze Wolf sprang mitten in die Männer, die Stefan umrundeten, und warf sich genau auf den, der
einen angespitzten Holzpflock über Stefans Brust hielt. Die Wucht des Aufpralls schleuderte den Mann zehn
Meter weit weg, der Pfahl fiel ins Gras. Damon widerstand mit Mühe dem Drang, dem Mann seine Zähne in den Hals zu bohren. Er drehte sich um und raste zu den anderen, die noch standen. Sein zweiter Ansturm trieb sie auseinander, aber einer von ihnen erreichte den Rand des Lichtkreises und hob etwas an seine Schulter. Ein Gewehr, dachte Damon. Vermutlich geladen mit den gleichen speziellen Patronen wie Alarics Pistole. Es gab keine Möglichkeit für ihn, den Mann am Schuß zu hindern. Der Wolf knurrte und duckte sich trotzdem zum Sprung. Der Mann lächelte überlegen und zuversichtlich. Schnell wie eine Schlange fuhr eine weiße Hand aus der Dunkelheit und schlug das Gewehr fort. Der Mann schaute sich hektisch und verwirrt um. Die Schnauze des Wolfs öffnete sich wie zu einem breiten Grinsen. Elena war eingetroffen. 11. KAPITEL Elena beobachtete, wie Mr. Smallwoods Gewehr ins Gras fiel. Sie genoß den Ausdruck auf seinem Gesicht,
als er herumfuhr, um festzustellen, wer ihm die Waffe entrissen hatte. Und sie spürte Damons warme
Zustimmung aus dem Lichtkreis heraus zu sich dringen, heiß und heftig, wie der Stolz, den ein Wolf beim
ersten Jagdglück seines Jungen empfindet. Aber als sie Stefan auf dem Boden liegen sah, vergaß sie alles
andere. Weißglühender Zorn raubte ihr den Atem. Sie wollte auf ihn zulaufen.
„Bleibt alle stehen! Alle bleiben stehen, wo sie sind!“
Die Menge hörte den Schrei zusammen mit dem Quietschen von Bremsen. Alaric Saltzmans Auto drehte
sich fast um die eigene Achse, als es in den Parkplatz einbog und mit qualmenden Reifen zum Stehen kam.
Alaric sprang heraus.
„Was geht hier vor?“ fragte er voller Autorität und schritt auf die Männer zu.
Bei seinem Rufen hatte sich Elena automatisch in den Schatten zurückgezogen. Jetzt betrachtete sie die
Gesichter der Männer, die sich ihm zuwandten. Neben Mr. Smallwood erkannte sie Mr. Forbes und Mr.
Bennett, Vickies Vater. Die übrigen müssen die Väter der anderen Typen sein, die mit Tyler in der Quonset-
Hütte waren, dachte sie.
Es war einer der Fremden, der die Frage beantwortete. Sein gewollt forscher Tonfall konnte seine Nervosität
nicht verbergen. „Nun, wir waren es leid, länger zu warten, und wollten die Dinge ein wenig
beschleunigen.“
Der Wolf knurrte, ein dumpf grollendes Geräusch, das sich zum drohenden Zähnefletschen steigerte. Alle
Männer zuckten einen Schritt zurück, und auch in Alarics Augen trat unwillkürlich Furcht, als er das Tier
bemerkte.
Es gab noch ein anderes Geräusch, leiser und beständiger, und es kam von der Gestalt, die neben einem der
Autos kauerte. Caroline Forbes wiederholte schluchzend immer wieder: „Sie haben gesagt, sie wollten nur
mit ihm reden. Sie haben mir nicht gesagt, was sie wirklich vorhatten.“
Vorsichtig den Wolf im Blick behaltend, zeigte Alaric auf Caroline. „Und Sie lassen zu, daß sie das mit
ansieht? Ein junges Mädchen? Haben Sie denn keinen blassen Schimmer, welche psychologischen Schäden
das bei ihr anrichten kann?“
„Was ist mit den psychologischen Schäden, wenn ihr die Kehle rausgerissen wird?“ gab Mr. Forbes zurück.
Zustimmende Rufe erklangen.
„Dann kümmern Sie sich besser darum, den richtigen Täter zu schnappen“, erwiderte Alaric trocken.
„Caroline“, fügte er sanfter hinzu und wandte sich an das weinende Mädchen. „Ich möchte, daß du genau
nachdenkst. Wir waren mit deinen Sitzungen noch nicht fertig. Ich weiß, wir hatten aufgehört, als du Stefan
identifiziert hast. Aber bist du ganz sicher, daß er es auch wirklich war? Könnte es nicht jemand gewesen
sein, der ihm ähnlich sah?“
Caroline richtete sich auf, lehnte sich gegen das Auto und hob ihr tränenverschmiertes Gesicht. Sie blickte
zu Stefan, der sich gerade mühsam aufgesetzt hatte, und dann zu Alaric. „Ich...“
„Denk nach, Caroline. Du mußt dir ganz sicher sein. Gibt es jemand anderen, der es hätte sein können.
Jemand wie...“
„Wie der Typ, der sich Damon Smith nennt“, erklang Meredith' feste Stimme. Sie stand hinter Alarics Auto.
„Erinnerst du dich, Caroline? Er kam zu Alarics erster Fete. In mancher Weise ähnelt er Stefan.“
Die Anspannung hielt Elena in ihrem Griff, während Caroline verwirrt vor sich hinstarrte. Dann nickte das
Mädchen langsam. „Ja... das könnte sein, glaube ich. Alles geschah so schnell... aber es könnte sein.“
„Und du bist wirklich nicht sicher, welcher es war?“ wollte Alaric von ihr wissen.
„Nein... nicht absolut sicher.“
„Da“, sagte Alaric. „Ich habe Ihnen gleich gesagt, daß sie mehr Sitzungen braucht, daß wir jetzt noch nichts
Sicheres haben. Sie ist immer noch sehr durcheinander.“ Er ging vorsichtig auf Stefan zu. Elena fiel auf, daß
der Wolf sich mehr in den Schatten zurückgezogen hatte. Sie konnte ihn noch sehen, aber die Männer
vermutlich nicht mehr.
Sein Verschwinden ließ sie wieder aggressiver werden. „Wovon reden Sie? Wer ist dieser Smith? Den hab
ich hier noch nie gesehen.“
„Aber Ihre Tochter Vickie hat ihn vermutlich kennengelernt, Mr. Bennett“, erklärte Alaric. „Das könnte in
meiner nächsten Sitzung mit ihr herauskommen. Wir werden morgen darüber reden. Die Sache kann so
lange warten. Zuerst sollte ich Stefan besser ins Krankenhaus bringen.“ Unruhe kam in die Menge.
„Ja, und während wir warten, kann alles mögliche passieren“, begann Mr. Smallwood. „Jederzeit, überall...“
„Deshalb wollen Sie einfach so das Gesetz in die eigene Hand nehmen?“ Alarics Stimme wurde scharf.
„Egal, ob Sie den richtigen Verdächtigen haben oder nicht? Wo sind denn Ihre Beweise, daß dieser junge
Mann übernatürliche Kräfte besitzt? Wie sehr hat er sich denn gewehrt?“
„Hier läuft irgendwo ein Wolf herum, der sich recht heftig gewehrt hat“, verteidigte sich Mr. Smallwood, rot
im Gesicht. „Vielleicht gehören sie zusammen.“
„Ich sehe keinen Wolf. Ich sah einen Hund. Vielleicht einen von denen, die aus der Quarantäne ausgerissen
sind. Aber was hat das damit zu tun? Meiner Meinung nach haben Sie den falschen Mann.“
Die Männer schwankten, aber in ihren Gesichtern standen noch Zweifel.
Schließlich meldete sich Meredith zu Wort. „Ich glaube, Sie sollten alle wissen, daß es in diesem Gebiet
schon früher Angriffe von Vampiren gegeben hat. Und zwar eine lange Zeit, bevor Stefan herkam. Mein
Großvater war eins der Opfer. Vielleicht haben einige von Ihnen schon davon gehört.“
Sie blickte Caroline an.
Das war das Ende. Elena konnte sehen, wie die Männer unbehagliche Blicke tauschten und sich zu ihren
Autos zurückzogen. Plötzlich schienen es alle sehr eilig zu haben wegzukommen.
Mr. Smallwood wandte sich vor dem Gehen an Alaric. „Okay, verschieben wir die Sache auf morgen,
Saltzman. Aber ich möchte das nächste Mal, wenn mein Sohn hypnotisiert wird, mithören, was er sagt.“
Carolines Vater packte seine Tochter ins Auto und stieg selbst schnell ein, während er vor sich hinmurmelte,
daß alles ein Irrtum war und niemand den Vorfall zu ernst nehmen sollte.
Als der letzte Wagen weggefahren war, lief Elena zu Stefan.
„Bist du okay? Haben sie dich verletzt?“
Er befreite sich aus Alarics stützendem Griff. „Jemand hat mich von hinten niedergeschlagen, während ich
mit Caroline sprach. Mir geht's gut - jetzt.“ Er warf Alaric einen Blick zu. „Danke. Aber, warum?“
„Er ist auf unserer Seite“, erklärte Bonnie und trat heran. „Hab ich euch doch gleich gesagt. Oh, Stefan, bist
du wirklich okay? Ich dachte eben einen Moment lang, ich kippe um. Die haben doch nicht im Ernst
vorgehabt, dir den Pflock... Ich meine, die können doch nicht ernsthaft...“
„Ernsthaft oder nicht. Ich glaube, wir sollten schnell von hier weg“, warf Meredith ein. „Muß Stefan
wirklich ins Krankenhaus?“
„Nein!“ protestierte Stefan, während Elena besorgt die Wunde auf seinem Kopf untersuchte. „Ich brauche
nur Ruhe. Einen Platz, an dem ich mich setzen kann.“
„Ich habe die Schlüssel für die Schule dabei. Gehen wir ins Geschichtsklassenzimmer.“
Bonnie sah sich mißtrauisch in der Dunkelheit um. „Der Wolf auch?“ Und fuhr erschrocken zusammen, als
einer der Schatten sich verdichtete und zu Damon wurde.
„Welcher Wolf?“ fragte er unschuldig. Stefan drehte sich vorsichtig zu ihm um. Der Schmerz ließ ihn kurz
aufstöhnen.
„Danke.“ Seine Stimme klang völlig nüchtern, doch seine Augen blieben mit einem Ausdruck der
Verwunderung auf seinen Bruder gerichtet, während sie in die Schule gingen.
Auf dem Flur zog Elena ihn beiseite. „Stefan, wieso hast du nicht gemerkt, daß sie hinter dir waren? Warum
warst du so schwach?“
Er schüttelte ausweichend den Kopf, und sie fügte hinzu: „Wann hast du zum letzten Mal Nahrung zu dir
genommen, Stefan? Wann? Du findest immer irgendwelche Entschuldigungen, wenn ich in der Nähe bin.
Was versuchst du, dir selbst anzutun?“
„Ich bin okay, Elena“, sagte er. „Wirklich. Ich werde später jagen.“ „Versprichst du es?“ „Ich verspreche es.“ Es fiel Elena in diesem Moment nicht auf, daß sie sich nicht darauf geeinigt hatten, was „später“ heißen sollte. Hinter den anderen her gingen sie den Flur hinunter. Das Klassenzimmer sah nachts anders aus. Es herrschte eine merkwürdige Atmosphäre, als ob die Lichter zu grell wären. Die Tische der Schüler waren alle zurückgesetzt worden und fünf Stühle an Alarics Pult tierangeschoben. Alaric, der gerade damit fertig war, die Möbel zu verrutschen, drängte Stefan in seinen eigenen, gepolsterten Lehrerstuhl. „Okay, setzt euch“, befahl er. Sie sahen ihn nur an. Nach einem Moment ließ Bonnie sich auf einen Stuhl fallen, aber Elena blieb neben Stefan stehen. Damon zog es vor, irgendwo zwischen der Gruppe und der Tür Stellung zu beziehen. Er lehnte sich lässig an die Wand. Meredith legte ein paar Papiere auf die Mitte von Alarics Schreibtisch und hockte sich auf eine Ecke. Alaric hörte auf, den Lehrer zu spielen. „Gut“, sagte er und nahm selbst auf einem der Schülersitze Platz. „Also.“ „Also“, forderte Elena ihn auf. Jeder sah den anderen an. Elena holte ein Stück Mullverband aus dem Erste-Hilfe-Kasten, den sie im Vorbeigehen aus dem Flurschrank genommen hatte, und begann, Stefans Wunde abzutupfen. „Ich glaube, es wird Zeit für eine Erklärung“, sagte sie. „Stimmt. Ja. Nun, ihr habt sicher alle schon erraten, daß ich kein Geschichtslehrer...“ „In den ersten fünf Minuten“, unterbrach Stefan. Seine Stimme war ruhig und gefährlich. Überrascht erkannte Elena, daß der Tonfall sie an Damon erinnerte. „Also, was bist du dann?“ Alaric machte eine entschuldigende Geste und sagte fast schüchtern: „Ein Psychologe. Kein Seelenklempner im üblichen Sinne“, fügte er hastig hinzu, während die anderen Blicke tauschten. „Ich bin Forscher, mit experimenteller Psychologie beschäftigt. An der Duke-Universität. Da, wo die ersten Experimente mit Parapsychologie stattgefunden haben.“ „Diese Sachen, wo man raten sollte, was auf bestimmten Karten steht, ohne sie zu sehen?“ fragte Bonnie. „Nun, es ist schon ein wenig mehr als das, natürlich.“ Er räusperte sich. „Was wollte ich gleich sagen? Ach, ja. Es begann alles vor ein paar Jahren, als ich an einem Referat über solche Phänomene arbeitete. Ich wollte nicht beweisen; daß übernatürliche Kräfte wirklich existieren, sondern nur studieren, welche psychologischen Auswirkungen sie auf die Menschen haben, die damit in irgendeiner Form zu tun haben. Bonnie, hier, wäre ein gutes Fallbeispiel.“ Alarics Stimme wurde dozierend. „Was bedeutet es für sie, geistig und gefühlsmäßig mit diesen Kräften fertig werden zu müssen?“ „Es ist schrecklich!“ unterbrach Bonnie ihn heftig. „Ich will sie nicht mehr. Ich hasse sie!“ „Da habt ihr es“, fuhr Alaric fort. „Ein geradezu klassischer Fall. Nach mehreren Fehlversuchen hörte ich von einer Frau in South Carolina, die behauptete, von einem Vampir gebissen worden zu sein und seither Ereignisse vorauszuträumen. Nachdem ich wirklich überzeugt war, daß der Überfall auf die Frau stattgefunden hatte, suchte ich nach ähnlichen Fällen. Es gab nicht viele, aber doch ein paar Leute, die tatsächlich Vampiren begegnet waren. Ich ließ alle meine anderen Nachforschungen ruhen und konzentrierte mich darauf, die Opfer von Vampiren zu finden und zu untersuchen. Und so wurde ich, wenn ich das sagen darf, der herausragendste Experte auf diesem Gebiet“, schloß Alaric. „Ich habe eine Menge Studien zu diesem Thema veröffentlicht...“ „Aber du hattest nie wirklich mit einem Vampir zu tun“, unterbrach Elena ihn. „Bis jetzt, meine ich. Stimmt das?“ „Nun... ja. Nicht in Fleisch und Blut. Aber ich habe Bücher geschrieben und Artikel...“ Seine Stimme verklang. Elena biß sich auf die Lippe. „Was hast du mit den Hunden gemacht? Bei der Kirche, als du so mit den Händen gewedelt hast?“ „Ach...“ Alaric sah peinlich berührt aus. „Ich habe hier und da ein paar Dinge aufgeschnappt. Das war ein Zauberspruch eines alten Indianers. Er hat mir gezeigt, wie man das Böse abwehrt. Ich dachte, es könnte klappen.“ „Mann, da hast du aber noch viel zu lernen“, meinte Damon ironisch.
„Anscheinend“, antwortete Alaric steif. Dann verzog er das Gesicht. „Das ist mir schon klargeworden, kurz, nachdem ich hergekommen bin. Euer Direktor, Brian Newcastle, hatte von mir gehört. Er wußte von meinen Untersuchungen. Als Tanner ermordet wurde und Dr. Feinberg kein Blut im Körper fand, dafür aber Bißspuren von Zähnen am Hals... nun, da hat man mich angerufen. Ich dachte, das könnte der große Durchbruch für mich sein. Ein Fall, bei dem der Vampir sich noch in der Gegend aufhält. Das einzige Problem bestand darin, daß ich, als ich herkam, schnell merkte, was man von mir erwartete. Nämlich, daß ich mich um den Vampir kümmern sollte. Man wußte nicht, daß ich mich vorher nur mit den Opfern beschäftigt hatte. Und... na ja, dann steckte ich plötzlich bis zum Hals drin. Aber ich hab mein Bestes getan, um ihr Vertrauen zu rechtfertigen...“ „Du hast ihnen was vorgemacht“, beschuldigte Elena ihn. „Das hast du jedenfalls getan, als ich dich in deinem Haus zu ihnen sprechen hörte. Du hast was gefaselt von ,den Bau der Vampire finden' und so weiter. Alles reine Augenwischerei.“ „Nicht ganz“, verteidigte Alaric sich. „Theoretisch bin ich ein Experte. Nur in der Praxis...“ Dann fiel ihm etwas auf. „Was soll das heißen, du hast mich mit ihnen reden hören?“ „Während du draußen in der Prärie nach unserem ,Bau' gesucht hast, hat Elena auf deinem Speicher geschlafen“, informierte Damon ihn trocken. Alaric öffnete den Mund und schloß ihn wieder. „Ich möchte gern wissen, wie Meredith in das ganze Bild paßt“, sagte Stefan, ohne zu lächeln. Meredith, die während der ganzen Zeit nachdenklich auf den Papierberg auf Alarics Schreibtisch gestarrt hatte, blickte hoch. Sie sprach ruhig, ohne Gefühle. „Ihr müßt wissen, ich habe Alaric erkannt. Ich konnte mich zunächst nicht daran erinnern, wo ich ihn zuerst gesehen habe, weil das schon fast drei Jahre her war. Dann fiel es mir ein. Bei Großvater im Krankenhaus. Was ich den Männern vorhin erzählt habe, ist die Wahrheit, Stefan. Mein Großvater ist von einem Vampir angefallen worden.“ Es entstand kurzes Schweigen, dann fuhr Meredith fort: „Es geschah lange, bevor ich geboren wurde. Großvater war nicht schwer verletzt, aber er hat sich nie davon erholt. Er wurde... nun, ähnlich verwirrt wie Vickie, nur viel gewalttätiger. Schließlich war es so schlimm, daß die Familie Angst bekam, er würde sich oder jemand anderem etwas antun. Also brachte man ihn ins Krankenhaus, an einen Ort, wo er in Sicherheit war.“ „Genauer, in ein Irrenhaus“, sagte Elena leise. Sie spürte Mitgefühl für die Freundin. „Oh, Meredith, warum hast du denn nie etwas gesagt? Uns hättest du es doch erzählen können.“ „Ich weiß. Ich hätte... aber ich konnte es nicht über mich bringen. Die Familie hatte es so lange geheimgehalten oder es zumindest versucht. Aus dem, was Caroline in ihr Tagebuch geschrieben hat, geht hervor, daß sie es anscheinend gehört hatte. Der springende Punkt ist, daß niemand Großvaters Vampirgeschichte glaubte. Jeder hielt sie für ein weiteres Hirngespinst von ihm. Selbst ich... bis Stefan kam. Und dann... begann ich zwei und zwei zusammenzuzählen. Aber meinen Vermutungen richtig geglaubt habe ich erst, als du zurückkamst, Elena.“ „Ich bin überrascht, daß du mich nicht haßt“, sagte Elena. „Wie könnte ich das? Ich kenne dich, und ich kenne Stefan. ihr seid nicht böse.“ Meredith warf keinen Blick auf Damon. Es schien, als wäre er für sie gar nicht vorhanden. „Aber ich erinnerte mich daran, Alaric im Krankenhaus gesehen zu haben, wie er mit Großvater sprach. Und ich wußte, daß auch er kein schlechter Mensch war. Ich hatte nur keine Ahnung, wie ich euch alle zusammenbringen konnte, um es zu beweisen.“ „Ich habe dich nicht erkannt“, sagte Alaric. „Kann sein, daß ich dich im Wartezimmer mal gesehen habe, aber du warst damals noch ein Kind mit dürren Beinen. Du hast dich verändert“, fügte er bewundernd hinzu. Bonnie hustete scharf. Elena versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. „Was haben die Männer also da draußen mit ihrem Holzpflock gewollt, wenn du sie nicht dazu angestiftet hast?“ fragte sie Alaric mißtrauisch. „Ich mußte Carolines Eltern natürlich wegen der Hypnose um Erlaubnis fragen. Und ich habe ihnen, gesagt, was dabei herausgekommen ist. Aber wenn du denkst, daß ich irgendwas mit der Sache von heute abend zutun habe, dann irrst du dich. Ich wußte nicht mal davon.“ „Ich habe ihm erzählt, was wir machen. Wie wir nach der ,anderen Macht' suchen“, warf Meredith ein. „Und er will uns helfen.“ „Vielleicht“, verbesserte Alaric vorsichtig. „Falsch“, erklärte Stefan. „Du bist entweder für oder gegen uns. Ich bin dir dankbar für das, was du da draußen getan hast, und daß du mit den Männern geredet hast. Aber Tatsache bleibt, daß eine Menge von
dem Ärger, den wir jetzt haben, erst durch dich angefangen hat. Jetzt mußt du dich entscheiden. Auf welcher Seite bist du? Auf ihrer oder auf unserer?“ Alaric sah sie der Reihe nach an. Er betrachtete Meredith' dunkle, ruhige Augen und Bonnies hochgezogene, fragende Augenbrauen. Sein Blick glitt über Elena, die auf dem Boden kniete, und über Stefans Wunde, die schon verheilte. Und dann wandte er sich um zu Damon, der dunkel und geschmeidig gegen die Wand lehnte, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen. „Ich werde euch helfen“, entschied er schließlich. „He, bessere Studienobjekte bekomme ich nie mehr!“ „Gut“, sagte Elena. „Du bist dabei. Erste Frage: Was wird morgen mit Mr. Smallwood? Was machst du, wenn er möchte, daß du Tyler wieder hypnotisierst?“ „Ich werde ihn hinhalten. Das klappt zwar nicht ewig, aber es wird uns Zeit verschaffen. Ich werde ihm erzählen, daß ich bei den Vorbereitungen für den Ball helfen muß...“ „Warte“, unterbrach Stefan ihn. „Es sollte überhaupt keinen Ball geben. Nicht, wenn es einen Weg gibt, es zu verhindern. Du hast doch einen guten Draht zum Direktor. Du kannst mit dem Schulkomitee reden. Bringe sie dazu, den Winterball abzusagen.“ Alaric sah überrascht aus. „Glaubst du, daß etwas passieren wird?“ „Ja“, erwiderte Stefan fest. „Nicht nur, weil es bei allen anderen Veranstaltungen so war, sondern, weil sich etwas zusammenbraut: Die ganze Woche schon. Ich kann es fühlen.“ „Ich auch“, sagte Elena. Sie hatte es bis zu diesem Moment nicht erkannt, aber die Anspannung, die sie spürte, das Drängen, kam nicht nur aus ihrem Inneren heraus. Es war draußen, überall um sie herum, und lud die Atmosphäre elektrisch auf. „Etwas wird geschehen, Alaric.“ Alaric stieß mit einem leisen Pfeifton die Luft aus. „Ich kann versuchen, sie zu überzeugen. Viel Erfolg verspreche ich mir allerdings nicht. Der Direktor ist total darauf fixiert, alles so normal wie möglich aussehen zu lassen. Und ich kann ihm keine logische Erklärung für eine Absage geben.“ „Streng dich an“, bat ihn Elena. „Das werde ich. In der Zwischenzeit solltest du mal an deinen eigenen Schutz denken. Wenn das, was Meredith mir erzählt hat, stimmt, haben die meisten Überfälle auf dich und auf Menschen, die dir nahestehen, stattgefunden. Dein Freund ist in einen Brunnen geworfen worden, dein Auto wurde gejagt, dein Trauergottesdienst gestört. Ja, sogar deine kleine Schwester bedroht. Wenn es also morgen zu einem erneuten Gewaltausbruch kommt, solltest du lieber außerhalb der Stadt sein.“ Jetzt war Elena an der Reihe, überrascht zu sein. Sie hatte die Überfälle nie unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, aber Alaric hatte recht. Sie hörte, wie Stefan scharf den Atem einzog, und fühlte, wie sich der Griff seiner Finger um ihre Hand verstärkte. „Er hat recht“, sagte Stefan. „Du solltest fortgehen, Elena. Ich kann hierbleiben, bis...“ „Nein. Ich gehe nicht ohne dich. Und“, fuhr Elena langsam fort und spann den Gedanken weiter. „ich gehe nirgendwohin, bis wir die ,andere Macht’ gefunden und aufgehalten haben.“ Sie sah ihn ernst an und sprach schneller. „Oh, Stefan. Merkst du denn nicht, daß niemand sonst eine Chance gegen sie hat? Mr. Smallwood und seine Freunde haben keine Ahnung, was überhaupt vorgeht. Alaric glaubt, er kann sie mit ein paar Handbewegungen bekämpfen. Keiner weiß, womit wir es zu tun haben. Wir sind die einzigen, die helfen können.“ Sie konnte den Widerstand in seinem Blick erkennen. Aber als sie ihm weiter gerade in die Augen sah, merkte sie, wie eins seiner Argumente nach dem anderen wich. Aus dem einfachen Grund, weil sie die Wahrheit sprach und Stefan es haßte zu lügen. „Gut“, stimmte er schließlich langsam zu. „Aber sobald das alles vorbei ist, gehen wir fort. Ich werde nicht zulassen, daß du in einer Stadt bleibst, in der der Lynchmob mit angespitzten Pfählen durch die Gegend läuft.“ „Ja.“ Elena erwiderte den Druck seiner Finger. „Wenn alles vorbei ist, gehen wir fort.“ Stefan wandte sich an Alaric. „Und wenn es keinen Weg gibt, ihnen den Ball morgen auszureden, sollten wir alles genau im Auge behalten. Sollte etwas geschehen, sind wir so vielleicht in der Lage, es zu stoppen, bevor es außer Kontrolle gerät.“ „Das ist eine gute Idee.“ Alarics Laune hob sich. „Wir können uns morgen nach Einbruch der Dunkelheit wieder im Klassenzimmer treffen. Hier verirrt sich niemand her. Wir könnten die ganze Nacht Wache halten.“
Elena warf einen zweifelnden Blick auf Bonnie. „Nun... das würde bedeuten, daß ihr alle den Winterball
versäumt. Die, die hätten gehen können, meine ich.“
Bonnie zuckte mit den Schultern. „Ach, wen kümmert jetzt noch der blöde Ball? Wir haben Wichtigeres zu
tun“, sagte sie verächtlich.
„Richtig“, erwiderte Stefan ernst. „Dann ist es abgemacht.“ Ein scharfer Schmerz durchfuhr ihn. Er ließ den
Kopf sinken und stöhnte.
Elena beugte sich besorgt über ihn. „Du mußt nach Hause und dich ausruhen“, drängte sie ihn. „Alaric,
kannst du uns fahren? Es ist nicht weit.“
Stefan protestierte, daß er genausogut laufen könnte, gab aber am Ende nach. Als sie bei der Pension bereits
ausgestiegen waren, lehnte sich Elena für eine letzte Frage in Alarics Wagenfenster. Sie hatte ihr keine Ruhe
gelassen, seit Alaric ihnen seine Geschichte erzählt hatte.
„Was die Leute angeht, die mit Vampiren zu tun hatten“, begann sie. „Wie waren die psychologischen
Auswirkungen? Sind sie alle verrückt geworden oder hatten Alpträume? Hat niemand es normal
überstanden?“
„Das hängt vom einzelnen ab“, erklärte Alaric. „Und davon, wie viele Begegnungen er mit Vampiren hatte
und welcher Art die wiederum waren. Aber am meisten von der jeweiligen Persönlichkeit und davon, wie
gut der Verstand des Opfers damit fertig wird.“
Elena nickte und schwieg, bis die Lichter von Alarics Auto von der schneeerfüllten Nacht verschluckt
worden waren. Dann wandte sie sich an Stefan.
„Matt.“
12. KAPITEL Stefan sah Elena an. Weiße Schneekristalle lagen auf seinem schwarzen Haar. „Was ist mit Matt?“
„Ich erinnere mich an... etwas. Nur undeutlich. Aber in jener ersten Nacht, als ich nicht ich selbst war... habe
ich Matt da getroffen? Habe ich...?“
Angst und Entsetzen stiegen in ihr hoch und schnürten ihr die Kehle zu. Aber sie brauchte den Satz nicht zu
beenden, und es war auch nicht nötig, daß Stefan antwortete. Sie sah es an seinen Augen.
„Es war der einzige Weg, Elena“, sagte er schließlich. „Ohne menschliches Blut wärst du gestorben. Hättest
du lieber jemanden angegriffen, der sich wehrt, ihn dabei verletzt oder vielleicht sogar getötet? Wäre dir das
lieber gewesen?“
„Nein!“ erwiderte Elena heftig. „Aber mußte es Matt sein? Nein, antworte nicht. Mir fällt auch niemand
anderer ein.“ Sie holte zitternd Luft. „Aber jetzt mache ich mir Sorgen um ihn, Stefan. Seit dieser Nacht
habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ist er okay? Was hat er zu dir gesagt?“
„Nicht viel.“ Stefan wandte den Blick ab. „Im Grunde nur ,Laß mich in Ruhe'. Er streitet außerdem ab, daß
etwas passiert ist, und behauptet, daß du tot bist.“
„Hört sich ganz nach einem der willensschwachen Opfer an, die nicht damit fertig werden“, warf Damon
ein.
„Ach, sei still“, fuhr Elena ihn an. „Du hältst dich da gefälligst raus. Und wo wir gerade bei Opfern sind,
könntest du ruhig mal einen Gedanken an die arme Vickie Bennett verschwenden. Was glaubst du, wie sie
sich zur Zeit fühlt?“
„Es würde mir sehr helfen, wenn ich wüßte, wer diese Vickie Bennett überhaupt ist. Du redest andauernd
von ihr, aber ich habe das Mädchen noch nie getroffen.“
„Doch, hast du! Spiel keine Spielchen mit mir, Damon. Der Friedhof, erinnerst du dich? Die Kirchenruine?
Das Mädchen, das du in seiner Unterwäsche dort hast herumwandern lassen?“
„Tut mir leid, nein. Und ich habe eigentlich ein sehr gutes Gedächtnis für Mädchen, die ich in ihrer
Unterwäsche zurücklasse.“
„Also willst du Stefan wohl wieder die Schuld in die Schuhe schieben“, sagte Elena ironisch.
Zorn flammte in Damons dunklen Augen auf. Er verdeckte ihn schnell mit einem Lächeln. „Vielleicht war
er's ja. Oder du. Mir kann's egal sein. Außer, daß ich die ständigen Anschuldigungen allmählich ein wenig
leid werde. Und jetzt...“
„Warte“, unterbrach Stefan ihn überraschend sanft. „Geh noch nicht. Wir sollten reden...“
„Es tut mir leid, aber ich habe schon eine Verabredung.“ Flügel schlugen, und Stefan und Elena waren
allein.
Elena biß sich auf den Fingerknöchel. „Mist. Ich wollte ihn nicht wütend machen. Nachdem er sich den
ganzen Abend fast zivilisiert benommen hat.“
„Mach dir nichts draus“, tröstete Stefan sie. „Er liebt es, in Wut zu geraten. Was wolltest du über Matt
sagen?“
Elena sah die Müdigkeit in Stefans Gesicht und legte den Arm um ihn. „Laß uns jetzt nicht davon sprechen,
aber morgen sollten wir zu ihm gehen. Um ihm zu erklären...“ Elena hob die andere Hand in einer hilflosen
Geste. Sie wußte nicht, was sie Matt eigentlich sagen wollte, nur daß sie etwas tun mußte.
„Ich glaube“, sagte Stefan langsam, „daß du dich besser statt meiner mit ihm getroffen hättest. Ich habe
versucht, mit ihm zu reden, aber er wollte mir nicht zuhören. Das kann ich verstehen. Vielleicht hast du
mehr Erfolg. Und...“ Er hielt kurz inne und fuhr dann entschlossen fort. „...du solltest allein mit ihm sein. Du
könntest jetzt gleich gehen.“
Elena sah ihn forschend an. „Bist du sicher?“
„Ja.“
„Kommst du denn allein zurecht? Ich sollte bei dir bleiben...“
„Keine Sorge, Elena“, drängte er sie sanft. „Jetzt geh.“
Elena zögerte, dann nickte sie. „Ich werde nicht lange wegbleiben“, versprach sie ihm.
Ohne gesehen zu werden, schlich Elena um das Holzhaus mit der abblätternden Farbe und dem schiefen
Briefkasten mit der Aufschrift „Honeycutt“. Matts Fenster war unverschlossen. Unvorsichtiger Junge,
dachte sie tadelnd. Weißt du denn nicht, was da alles hereinkriechen könnte? Sie öffnete es leise. Aber
weiter konnte sie natürlich nicht gehen. Eine unsichtbare Barriere, die sich anfühlte wie eine weiche Wand
aus fester Luft, blockierte ihren Weg.
„Matt“, flüsterte sie. Im Zimmer war es dunkel, aber sie konnte eine undeutliche Gestalt im Bett erkennen.
Die grünen Leuchtziffern der Uhr sagten ihr, daß es Viertel nach zwölf war. „Matt“, flüsterte sie wieder.
Die Gestalt bewegte sich. „Hmm?“
„Matt, ich will dich nicht erschrecken.“ Sie sprach mit ganz ruhiger, dunkler Stimme und versuchte, ihn
sanft zu wecken, statt ihn brutal aus dem Schlaf zu reißen. „Ich bin's, Elena. Ich möchte mit dir reden. Doch
du mußt mich zuerst hereinbitten. Kannst du das tun?“
„Komm herein.“ Elena war erstaunt, wie wenig überrascht er klang. Erst als sie über die Fensterbank
geklettert war, merkte sie, daß er immer noch schlief.
„Matt, Matt“, flüsterte sie und hatte Angst, zu nahe heranzugehen. Im Zimmer war es stickig und heiß. Die
Heizung lief auf Hochtouren. Sie konnte einen nackten Fuß sehen, der unter dem Deckenberg hervorlugte,
und das blonde Haar auf dem Kopfkissen.
„Matt?“ Vorsichtig lehnte sie sich hinüber und berührte ihn.
Er reagierte. Und wie! Mit einem lauten Keuchen schoß Matt hoch und fuhr herum. Er starrte Elena mit weit
aufgerissenen Augen ungläubig an.
Elena versuchte, ganz klein und unscheinbar zu wirken. Sie zog sich gegen die Wand zurück. „Ich wollte
dich nicht erschrecken. Ich weiß, es ist ein Schock für dich. Aber willst du mit mir reden?“
Er starrte sie nur weiter an. Sein blondes Haar war verschwitzt und durcheinander. Es stand vom Kopf ab
wie nasse Hühnerfedern. Elena konnte den Puls an seinem nackten Hals sehen. Sie hatte Angst, Matt könnte
aufspringen und aus dem Zimmer stürzen.
Dann entspannte er sich. Seine Schultern fielen zusammen, und er schloß langsam die Augen. Er atmete tief,
aber in kurzen Stößen. „Elena.“
„Ja“, flüsterte sie.
„Du bist tot.“
„Nein. Ich bin hier.“
„Tote kommen nicht zurück. Mein Dad ist auch nicht zurückgekommen.“
„Ich bin nicht richtig gestorben. Ich habe nur... eine Verwandlung durchgemacht.“ Matts Augen waren
immer noch abwehrend geschlossen, und Elena fühlte, wie sie kalte Hoffnungslosigkeit überkam. „Aber du
wünschst dir, ich wäre gestorben, nicht wahr? Ich werde jetzt gehen“, sagte sie mit leiser Stimme.
Da verlor Matt die Fassung. Er begann zu weinen.
„Nein. Nicht doch. Bitte, Matt, nicht.“ Sie trat zu ihm, wiegte ihn in ihren Armen und mußte selbst gegen
die Tränen ankämpfen. „Es tut mir leid. Ich hätte gar nicht erst herkommen sollen.“
„Geh nicht weg“, schluchzte er. „Geh nicht weg.“
„Ich bleibe.“ Elena hatte den Kampf verloren, und ihre Tränen fielen in Matts feuchtes Haar. „Ich wollte dir
nicht weh tun, niemals. Niemals, Matt. Alle die Male... all die Dinge, die ich tat... ich wollte dich nie
verletzen. Ehrlich...“ Dann hörte sie auf zu reden und hielt ihn nur.
Nach einer Weile ging sein Atem ruhiger. Er setzte sich zurück und wischte sich das Gesicht mit dem
Bettlaken ab. Sein Blick wich ihr aus. Sein Ausdruck spiegelte nicht nur Verlegenheit, sondern auch
Argwohn wider, so als wollte er sich für etwas wappnen, vor dem er sich fürchtete.
„Okay, du bist hier. Du lebst“, sagte er hart. „Was willst du also?“
Elena war wie vor den Kopf geschlagen.
„Komm schon. Da muß doch was sein. Was ist es?“
Neue Tränen stiegen ihr in die Augen, doch Elena drängte sie zurück. „Das habe ich wohl verdient. Aber
dieses eine Mal will ich absolut nichts, Matt. Ich bin gekommen, um mich zu entschuldigen, um zu sagen,
daß es mir leid tut, wie ich dich benutzt habe. Nicht nur in der einen Nacht, sondern immer. Ich mag dich,
und es macht mir etwas aus, wenn du verletzt bist. Ich dachte, vielleicht könnte ich die Dinge dadurch ein
wenig besser machen.“ Es entstand bedeutungsschweres Schweigen. Schließlich fügte sie hinzu: „Ich werde
wohl jetzt besser gehen.“
„Nein. Warte eine Sekunde.“ Matt rieb sich wieder das Gesicht mit dem Laken. „Es war nur blödes Gerede,
und ich bin ein Idiot...“
„Es war die Wahrheit, und du bist ein echter Freund. Sonst hättest du mich schon vor langer Zeit in die
Wüste geschickt.“
„Nein, ich bin ein blöder Idiot. Ich sollte vor Freude mit dem Kopf gegen die Wand schlagen, weil du nicht
tot bist. In einer Minute werde ich es auch tun. Hör mir zu.“ Er packte ihr Handgelenk, und Elena sah ihn
leicht überrascht an. „Es ist mir egal, ob du die Kreatur aus der Schwarzen Lagune, Godzilla und
Frankensteins Monster in einer Person bist. Ich...“
„Matt.“ Voller Angst legte Elena ihre freie Hand auf seinen Mund.
„Ich weiß, du bist verlobt mit dem Typen in dem schwarzen Umhang. Keine Sorge, ich erinnere mich an
ihn. Ich mag ihn sogar. Obwohl der liebe Himmel weiß, warum.“ Matt holte tief Luft und schien sich zu
beruhigen. „Schau, ich weiß nicht, ob Stefan es dir gesagt hat. Er hat mir jedenfalls eine ganze Menge Zeug
erzählt, daß er schlecht sei, daß er kein bißchen bereut, was er mit Tyler gemacht hat... und, und, und. Weißt
du, wovon ich rede?“
Elena schloß die Augen. „Er hat seit jener Nacht kaum Nahrung zu sich genommen. Einmal hat er gejagt,
glaube ich.
Heute abend wäre er beinahe getötet worden, weil er so schwach ist.“
Matt nickte. „Das ist es also. Ich hätte es wissen müssen.“
„Die Not ist so groß, größer, als du es dir je vorstellen kannst.“ Es fiel Elena auf, daß sie heute noch nichts
zu sich genommen und schon Hunger gehabt hatte, bevor sie zu Alaric gegangen waren. „Tatsache ist, daß
ich mich besser davonmache, Matt. Nur noch eins. Sollte der Ball morgen stattfinden, gehe nicht hin. Es
wird etwas passieren. Wir werden versuchen, alle zu schützen, aber ich weiß nicht, was wir tun können.“
„Wer ist ,wir’?“ fragte Matt scharf.
„Stefan, Damon - ich nehme jedenfalls an, daß Damon noch mit von der Partie ist - und ich. Meredith,
Bonnie und Alaric Saltzman. Stell keine Fragen über Alaric. Das ist eine lange Geschichte.“
„Aber gegen was wollt ihr den Ball schützen?“
„Ach ja, du weißt es ja noch nicht. Auch das ist eine lange Geschichte... Die kürzeste Antwort lautet, vor
dem, was mich getötet hat. Und was die Hunde dazu brachte, die Menschen bei meinem Trauergottesdienst
anzugreifen. Es ist etwas schrecklich Böses, Matt, und es treibt sich schon eine Weile in Fell's Church
herum. Wir müssen es daran hindern, morgen nacht zuzuschlagen.“ Sie versuchte, ruhig zu bleiben. „Tut mir
leid, aber ich muß jetzt wirklich weg.“ Ohne es verhindern zu können, glitt ihr Blick zu der großen, blauen
Vene in seinem Hals.
Als es ihr gelang, die Augen abzuwenden und in sein Gesicht zu sehen, entdeckte sie, wie der Schock
plötzlichem Verständnis Platz machte. „Ist schon gut“, sagte Matt.
Elena war nicht sicher, ob sie richtig gehört hatte. „Bitte?“
„Ich sagte, ist schon in Ordnung. Es hat mich das erste Mal auch nicht umgebracht.“
„Nein, Matt, wirklich. Dafür bin ich nicht gekommen...“
„Ich weiß. Deshalb möchte ich es. Ich möchte dir etwas geben, nach dem du nicht gefragt hast.“ Nach einem
kurzen Moment fügte er hinzu: „Um der alten Freundschaft willen.“
Stefan, dachte Elena. Aber Stefan hatte ihr geraten, zu ihm zu gehen, und zwar allein. Stefan hatte es
gewußt. Und es war okay. Es war sein Geschenk an Matt... und an sie. Aber ich komme zu dir zurück,
Stefan, dachte sie: Als sie sich über ihn beugte, sagte Matt: „Ich werde kommen und euch morgen helfen.
Selbst, wenn ich nicht eingeladen bin.“ Dann berührten ihre Lippen seinen Hals.
Freitag, 13. Dezember Liebes Tagebuch, heute ist die Nacht der Nächte. Ich weiß, das habe ich schon früher geschrieben oder es zumindest gedacht. Aber heute ist die Nacht, in der es zum Höhepunkt kommt. Stefan fühlt es auch. Er kam heute aus der Schule zurück und hat mir erzählt, daß der Ball stattfinden wird. Mr. Newcastle möchte keine Panik auslösen, indem er ihn absagt. Man wird für „Sicherheitskräfte“ sorgen. Das heißt im Klartext wahrscheinlich, die Polizei wird dasein. Und vielleicht Mr. Smallwood und einige seiner Freunde mit Gewehren. Was immer auch passieren wird, ich glaube nicht, daß sie es aufhalten können. Und ich weiß auch nicht, ob wir es können. Es hat den ganzen Tag geschneit. Der Bergpaß ist völlig blockiert. Niemand kann mit dem Auto in die Stadt hinein oder heraus, bis der Schneepflug kommt, und das wird nicht vor morgen sein. Dann ist es zu spät. Die Luft fühlt sich merkwürdig an. Das liegt nicht nur am Schnee. Es scheint, als ob da noch etwas Kälteres ist, das wartet. Noch hält es sich zurück, wie das Meer sich vor einer riesigen Flutwelle zurückzieht. Aber wenn es zuschlägt... Ich habe heute an mein anderes Tagebuch gedacht, das unter den Dielenbrettern in meinem Schlafzimmer schrank liegt. Wenn mir noch etwas gehört, dann dieses Tagebuch. Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, es herauszuholen, aber ich will nicht mehr nach Hause. Ich habe Zweifel, ob ich es selbst ertragen könnte, und ich weiß sicher, daß es über Tante Judiths Kräfte ginge, wenn sie mich sehen würde. Ich bin überrascht, daß überhaupt jemand meiner alten Freunde mit meinem neuen Zustand klarkommt. Meredith, Bonnie - besonders Bonnie. Aber Meredith auch, wenn man bedenkt, was ihre Familie durchgemacht hat. Matt. Eigentlich alle. Sie sind gute und treue Freunde. Es ist komisch, ich habe einmal gedacht, daß ich ohne eine ganze Armee von Freunden und Bewunderern nicht existieren könnte. Jetzt bin ich sehr glücklich mit den dreien. Weil sie wahre Freunde sind. Ich habe vorher nicht erkannt, wieviel sie mir bedeuten. Oder Margaret, oder sogar Tante Judith. Und die Bekannten in der Schule... Ich weiß, vor ein paar Wochen habe ich noch gesagt, daß es mir egal wäre, wenn die ganze Belegschaft und alle Schüler der Robert-E.-Lee-High-School tot umfallen würden. Aber das stimmt nicht. Heute abend werde ich mein Bestes tun, um sie zu schützen. Ich weiß, daß ich von einem Thema zum anderen springe, aber ich spreche eben von Dingen, die wichtig für mich sind. Ich sammle sie sozusagen in meinem Kopf zusammen. Nur für den Fall... Nun, es wird Zeit. Stefan wartet. Ich werde den letzten Satz beenden und aufbrechen. Ich glaube, wir werden gewinnen. Ich hoffe es. Wir werden es versuchen. Der Geschichtsraum war warm und hell erleuchtet. Auf der anderen Seite der Schule, in der Cafeteria, war es noch heller. Die Weihnachtsbeleuchtung und die glitzernden Dekorationen strahlten um die Wette. Aus vorsichtiger Entfernung hatte Elena den Raum gründlich gemustert und die Paare betrachtet, die zum Ball kamen und an den Beamten des Sheriffs an der Tür vorbeigingen. Als sie Damon schweigend hinter sich spürte, hatte sie auf ein Mädchen mit langem, hellbraunem Haar gezeigt. „Vickie Bennett“, erklärte sie. „Wenn du es sagst“, hatte er nur geantwortet. Jetzt sah Elena sich in ihrem behelfsmäßigen Hauptquartier für die Nacht um. Alarics Pult war freigeräumt worden, und er beugte sich über eine grobe Grundrißkarte der Schule. Meredith lehnte neben ihm. Ihr
langes, dunkles Haar streifte seinen Ärmel. Matt und Bonnie hatten sich unter die Ballbesucher draußen auf
dem Parkplatz gemischt. Stefan und Damen durchstreiften abwechselnd das Schulgelände.
„Du bleibst besser drinnen“, hatte Alaric Elena geraten. „Alles, was uns noch fehlt, ist nämlich, daß dich
jemand sieht und dich mit einem angespitzten Holzpflock zu jagen beginnt.“
„Ich bin die ganze Woche in der Stadt herumgewandert“, hatte Elena leicht belustigt gesagt. „Wenn ich
nicht entdeckt werden will, sieht mich auch keiner.“ Aber sie hatte zugestimmt, im
Geschichtsklassenzimmer zu bleiben und bei der Koordination zu helfen.
Die Schule kommt mir vor wie ein Schloß, dachte sie, während sie beobachtete, wie Alaric auf dem Plan die
Stellungen der Polizeibeamten und der anderen Männer eintrug. Und wir verteidigen es. Ich und meine
treuen Ritter.
Auf der großen, runden Uhr vergingen langsam die Minuten. Elena beobachtete die Zeiger, während sie die
Tür öffnete, um Helfer herein- oder wieder hinauszulassen. Sie goß heißen Kaffee ein und hörte sich die
Berichte der Freunde an.
„Auf der Nordseite der Schule ist alles ruhig.“
„Caroline ist gerade zur Schneekönigin gekrönt worden. Welch eine Überraschung!“
„Ein paar Kids haben auf dem Parkplatz Randale gemacht. Der Sheriff hat sie einkassiert.“
Mitternacht kam und ging.
„Vielleicht haben wir uns geirrt“, meinte Stefan ungefähr eine Stunde später. Es war das erste Mal, daß sie
seit Beginn des Abends alle zusammen drinnen waren.
„Oder es passiert irgendwo anders.“ Bonnie leerte einen ihrer Stiefel aus und schaute hinein.
„Es gibt keine Möglichkeit zu erfahren, wo es passieren wird“, erklärte Elena fest. „Aber wir haben uns
bestimmt nicht damit geirrt, daß etwas geschehen wird.“
„Doch, es könnte eine Möglichkeit geben“, sagte Alaric nachdenklich. „Herauszufinden, wo es passiert,
meine ich.“ Als alle fragend die Köpfe hoben, fuhr er fort: „Wir brauchen nur eine Prophezeiung.“
Alle Blicke wandten sich Bonnie zu.
„Oh, nein“, stöhnte Bonnie. „Damit bin ich fertig. Ich hasse es.“
„Es ist eine große Gabe...“ begann Alaric.
„Quatsch, es ist eine große Last. Ihr könnt das nicht verstehen. Die normalen Weissagungen sind schon
schlimm genug. Die meiste Zeit erfahre ich Dinge, die ich gar nicht wissen will. Aber dieses
Übernommenwerden... das ist entsetzlich. Und hinterher erinnere ich mich nicht einmal mehr, was ich
gesagt habe. Fürchterlich.“
„Dieses Übernommenwerden?“ wiederholte Alaric. „Was ist das?“
Bonnie seufzte. „Das, was mir in der Kirche passiert ist“, erklärte sie geduldig. „Ich kann ja auch andere
Prophezeiungen machen, wie zum Beispiel aus Wasser oder Handflächen lesen...“ Sie blickte kurz zu Elena
und dann wieder weg. „... und solche Dinge. Aber dann gibt es auch Zeiten, wenn... jemand... mich
übernimmt und nur als Sprachrohr benutzt. Das ist, als ob ein Fremder in meinem Körper steckt.“
„Wie auf dem Friedhof, als du sagtest, daß dort etwas auf mich wartet“, erinnerte sich Elena. „Oder als du
mich warntest, nicht zur Brücke zu gehen. Oder als du zum Abendessen kamst und prophezeit hast, daß der
Tod, mein Tod, im Haus sei.“ Sie sah sich automatisch zu Damon um, der ihren Blick gleichmütig
erwiderte. Und doch, das war falsch gewesen, dachte sie. Damon hatte nicht ihren Tod verursacht. Was hatte
also diese Prophezeiung bedeutet? Einen flüchtigen Moment lang tauchte etwas in ihrem Gedächtnis auf.
Bevor sie es festhalten konnte, lenkte Meredith sie ab.
„Es ist wie eine andere Stimme, die aus Bonnie spricht“, erklärte sie Alaric. „Sie sieht dann sogar anders
aus. Vielleicht warst du in der Kirche nicht nahe genug dabei, um es zu bemerken.“
„Warum hast du mir nichts davon erzählt?“ Alaric war ganz aus dem Häuschen. „Das könnte wichtig sein.
Dieses... Wesen... was immer es ist, könnte uns die nötigen Informationen geben. Es könnte das Geheimnis
der ‚anderen Macht’ lüften oder uns zumindest einen Hinweis geben, wie wir sie bekämpfen können.“
Bonnie schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist nichts, was ich auf Befehl herbeirufen kann, und es beantwortet
keine Fragen. Es geschieht einfach mit mir. Und ich hasse es.“
„Du meinst, du kannst dir nicht vorstellen, was diese Übernahme bewirken könnte? Gibt es denn nichts, was
vorher schon dazu geführt hat?“
Elena und Meredith, die beide sehr wohl wußten, was diesen Zustand bei Bonnie auslösen konnte, sahen
sich an. Aber es war Bonnies Entscheidung. Es mußte Bonnies Entscheidung sein.
Bonnie, die den Kopf in den Händen hielt, warf durch ihre roten Locken einen Seitenblick auf Elena. Dann
schloß sie die Augen und stöhnte.
„Kerzen“, sagte sie.
„Was?“
„Kerzen! Eine Kerzenflamme könnte es bewirken. Ich bin nicht sicher, versteht ihr. Ich verspreche nichts...“
„Los, jemand durchsucht das Chemielabor“, befahl Alaric.
Es war eine Szene, die an den Tag erinnerte, an dem Alaric zum ersten Mal in die Schule gekommen war.
Damals hatte er die Schüler gebeten, die Stühle im Kreis aufzustellen. Elena musterte jetzt die Runde der
Gesichter, die von unten gespenstisch von der Kerze beleuchtet wurden.
Da war Matt, das Kinn energisch vorgeschoben. Neben ihm Meredith, ihre langen, dunklen Wimpern warfen
Schatten nach oben. Und Alaric, der sich gespannt nach vorn lehnte. Dann Damon. Licht und Schatten
tanzten auf seinem aristokratischen Gesicht. Und Stefan, seine hohen Wangenknochen stachen in Elenas
Augen zu sehr aus den schmalen Wangen hervor. Und schließlich Bonnie, die sogar im goldenen Licht der
Kerze zerbrechlich und bleich wirkte.
Wir sind miteinander verbunden, dachte Elena. Dasselbe Gefühl überkam sie wie damals in der Kirche, als
sie Stefans und Damons Hand genommen hatte. Sie erinnerte sich an einen dünnen weißen Kreis aus Wachs,
der in einer Schüssel mit Wasser schwamm. Wir können es schaffen, wenn wir zusammenhalten.
„Ich werde einfach in die Flamme schauen“, sagte Bonnie mit leicht zitternder Stimme. „Und an nichts
denken. Ich werde versuchen, mich zu öffnen für... es.“ Sie begann, tief zu atmen und starrte in die Kerze.
Und da geschah es wie schon zuvor. Bonnies Gesicht wurde völlig ausdruckslos, ihr Blick leer wie der eines
steinernen Engels auf dem Friedhof.
Sie sagte kein Wort.
In dem Moment fiel Elena auf, daß sie sich nicht darauf geeinigt hatten, was sie fragen wollten. Sie zerbrach
sich den Kopf, eine Frage zu finden, bevor Bonnie den Kontakt verlor. „Wo können wir die ,andere Macht'
finden?“ sagte sie, als Alaric gerade hervorstieß: „Wer bist du?“ Ihre Stimmen mischten sich, die Fragen
überschnitten sich.
Bonnies blicklose Augen schweiften über den Kreis. Dann sagte eine Stimme, die nicht Bonnie gehörte:
„Kommt und seht.“
„Warte eine Minute“, warf Matt ein, wähnend Bonnie, immer noch in Trance, aufstand und zur Tür ging.
„Wo will sie hin?“
Meredith griff nach ihrem Mantel. „Wollen wir ihr nach?“
„Faß sie nicht an“, warnte Alaric und sprang auf, als Bonnie aus der Tür ging.
Elena sah zu Stefan und dann zu Damon. In stillem Einverständnis folgten sie Bonnie den leeren Flur
entlang.
„Wo gehen wir hin? Welche Frage beantwortet sie?“ wollte Matt wissen. Elena konnte nur mit dem Kopf
schütteln. Alaric lief fast, um mit Bonnies schnellen Schritten mitzukommen.
Als sie in den Schnee hinauskamen, wurde sie langsamer, ging zu Elenas Überraschung auf Alarics Auto auf
dem Parkplatz zu und stellte sich daneben.
„Wir passen da nicht alle rein. Ich komme mit Matt nach“, sagte Meredith schnell. Elena fror, sowohl aus
Kälte als aus böser Vorahnung. Als Alaric ihr die Tür aufhielt, stieg sie hinten ins Auto. Stefan und Damon
setzten sich rechts und links neben sie. Bonnie nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Sie blickte starr vor sich
hin und redete nicht. Aber als Alaric vom Parkplatz fuhr, hob sie eine weiße Hand und deutete die Richtung.
Rechts in die Lee Street und dann links zur Arbor Green Street. Geradewegs zu Elenas Haus und dann
wieder rechts. In Richtung der Old Creek Road.
Da ahnte Elena, wo sie hinfuhren.
Sie nahmen die andere Brücke zum Friedhof. Die Brücke, die immer die „neue“ genannt wurde, um sie von
der Wickery-Brücke zu unterscheiden, die es jetzt nicht mehr gab. Sie näherten sich von der Seite des Tores,
die Tyler auch hochgefahren war, als er Elena zur Kirchenruine gebracht hatte.
Alarics Auto hielt genau dort, wo damals Tyler gehalten hatte. Meredith war direkt hinter ihm.
Mit einem schrecklichen Gefühl, alles schon einmal erlebt zu haben, stieg Elena den Pfad zum Hügel hoch
und folgte Bonnie durch das Tor zu der Kirchenruine, deren Glockenturm wie ein mahnender Finger in den
sturmverhangenen Himmel ragte. An dem gähnenden Loch, wo einmal die Tür gewesen war, weigerte sie
sich weiterzugehen.
„Wohin bringst du uns?“ drängte sie. „Hör mir zu! Willst du uns wenigstens sagen, welche Frage du
beantwortest?“
„Kommt und seht.“
Hilflos blickte Elena zu den anderen. Dann trat sie über die Schwelle. Bonnie ging langsam zu dem weißen
Marmorgrab und blieb stehen.
Elena schaute das Grab an und dann in Bonnies geisterhaftes Gesicht. „Oh, nein“, flüsterte sie. „Nicht das.“
„Elena, wovon redest du?“ fragte Meredith.
Leicht schwindlig blickte Elena auf die Marmorgestalten von Thomas und Honoria Fell, die auf dem Deckel
ihres Sarkophages ruhten. „Das Ding hier öffnet sich“, flüsterte sie.
13. KAPITEL „Meinst du, wir sollten... da reinschauen?“ fragte Matt.
„Ich weiß es nicht“, erwiderte Elena unglücklich. Sie wollte jetzt ebensowenig sehen, was sich in dem Grab
befand, wie damals, als Tyler vorgeschlagen hatte, es zu öffnen, um es zu schänden. „Vielleicht kriegen
wir's gar nicht auf“, fügte sie hinzu. „Dick und Tyler ist es nicht gelungen. Der Deckel begann erst zur Seite
zu rutschen, als ich mich dagegen lehnte.“
„Versuch es. Könnte doch sein, daß es eine Art verborgenen Mechanismus gibt“, schlug Alaric vor.
Doch Elena schaffte es nicht.
„Okay“, redete Alaric aufgeregt weiter, „packen wir alle an und versuchen es mit vereinten Kräften. Nun
kommt schon, eins, zwei...“ Von seiner halbgebeugten Position schaute er zu Damon hoch, der
bewegungslos neben dem Grab stand und leicht belustigt aussah.
„Darf ich mal?“ bat Damon lässig, und Alaric trat stirnrunzelnd einen Schritt zurück. Damon und Stefan
griffen je ein Ende des Steindeckels und hoben ihn an.
Der Deckel löste sich und machte ein knirschendes Geräusch, als Damon und Stefan ihn neben dem Grab
auf den Boden gleiten ließen.
Elena konnte es nicht über sich bringen, näher heranzugehen.
Als er in das offene Grab schaute, zeigte sich auf seiner Miene fassungslose Überraschung.
Elena hielt es nicht mehr länger aus. „Nun?“
Er lächelte sie leicht an und sagte mit einem Seitenblick auf Bonnie: „Kommt und seht.“
Elena näherte sich langsam dem Grab und sah hinunter. Dann flog ihr Kopf hoch, und sie betrachtete Stefan
erstaunt. „Was ist das?“
„Keine Ahnung“, erwiderte er und wandte sich an Alaric und Meredith. „Hat einer von euch eine
Taschenlampe? Oder ein Stück Seil?“
Nach einem Blick in den Steinsarg liefen beide zu ihren Autos. Elena blieb, wo sie war, starrte nach unten
und bemühte sich, ihre Nachtsicht voll auszuschöpfen. Sie konnte es immer noch nicht glauben.
Das Grab war kein Grab, sondern ein Eingang.
Jetzt verstand sie, wieso sie den kalten Windstoß gespürt hatte, als es sich unter ihrer Hand in jener Nacht
bewegt hatte. Da unten war eine Art Verlies oder Keller in der Erde. Sie konnte nur eine Wand erkennen,
diejenige, die direkt unter ihr abfiel. Eiserne Ringe waren in die Steine getrieben worden wie eine Art Leiter.
„Hier“, sagte Meredith zu Stefan, als sie zurückkam. „Alaric hat eine Taschenlampe, und da ist meine. Und
da ist das Seil, das Elena in mein Auto gelegt hat, als wir nach dir suchten.“
Der schmale Strahl von Meredith' Taschenlampe durchschnitt die Dunkelheit unten. „Ich kann nicht sehr
weit sehen, aber die Gruft scheint leer zu sein“, erklärte Stefan. „Ich gehe als erster runter.“
„Da runter?“ rief Matt. „Hör mal, bist du sicher, daß wir da runter sollen? Bonnie, was ist?“
Bonnie hatte sich nicht bewegt. Sie stand immer noch mit völlig abwesender Miene da, als würde sie nichts
um sich herum wahrnehmen. Jetzt schwang sie ohne ein Wort ein Bein über den Rand des Grabes, drehte
sich und begann langsam hinabzusteigen.
„Wow!“ staunte Stefan. Er verstaute die Taschenlampe in seiner Jackentasche, legte eine Hand auf das
Unterteil des Grabes und sprang.
Elena blieb keine Zeit, sich an Alarics fassungslosem Gesichtsausdruck zu erfreuen. Sie lehnte sich hinunter
und rief: „Bist du okay?“
„Alles klar.“ Das Licht der Taschenlampe winkte von unten.
„Bonnie wird auch zurechtkommen. Die Eisenringe gehen bis unten. Bring trotzdem besser das Seil mit.“
Elena schaute zu Matt, der am nächsten stand. Seine blauen Augen betrachteten sie mit einer gewissen
Resignation. Dann nickte er. Sie holte tief Luft und legte eine Hand auf das Unterteil des Grabes, wie Stefan
es getan hatte. Eine andere Hand griff plötzlich nach ihrem Handgelenk.
„Mir ist gerade etwas eingefallen“, sagte Meredith ernst. „Was ist, wenn das Wesen, das Bonnie beherrscht,
die ‚andere Macht’ ist?“
„Daran habe ich schon vor längerer Zeit gedacht.“ Elena tätschelte Meredith' Hand, löste sich aus ihrem
Griff und sprang.
Sie richtete sich in Stefans auffangendem Griff auf und sah sich um. „Mein Gott...“
Es war ein merkwürdiger Ort. Die Wände waren mit Steinen verkleidet. Sie waren glatt und sahen beinahe
wie poliert aus. In sie hineingetrieben waren Kerzenhalter aus Eisen. In einigen befanden sich noch die
Überreste von Wachskerzen. Elena konnte das andere Ende des Verlieses nicht erkennen, aber der Schein
der Taschenlampe zeigte ihr in der Nähe ein schmiedeeisernes Gitter, wie es in manchen Kirchen angebracht
war, um den Bereich des Altars abzutrennen.
Bonnie hatte gerade das Ende der eisernen Leiter erreicht. Sie wartete schweigend, während die anderen
herabstiegen. Erst Matt, dann Meredith und zum Schluß Alaric mit der anderen Taschenlampe.
Elena schaute hoch. „Damon?“
Sie konnte deutlich seine Gestalt sehen, die sich schwarz an der Öffnung des Grabes gegen den weniger
dunklen Nachthimmel abhob.
„Was ist?“
„Bist du dabei?“ fragte sie. Nicht „kommst du mit uns?“ Sie wußte, er würde den Unterschied verstehen.
Sie wartete fünf Herzschläge lang in dem Schweigen, das folgte. Sechs, sieben, acht...
Ein heftiger Luftzug entstand, und Damon landete geschmeidig neben ihr. Aber er sah Elena nicht an. Sein
Blick war merkwürdig abwesend, und sie konnte nichts auf seinem Gesicht lesen.
„Es ist eine Krypta“, stellte Alaric erstaunt fest, während das Licht seiner Taschenlampe die Dunkelheit
durchschnitt. „Ein unterirdischer Raum unter einer Kirche, der als Grabstätte benutzt wird. Normalerweise
werden sie unter größeren Kirchen angelegt.“
Bonnie ging geradewegs auf das verzierte Gitter zu, legte ihre schmale, weiße Hand darauf und öffnete es.
Es schwang von ihr fort.
Das ist es, dachte Elena. Ihr Atem stockte. Oh, mein Gott, das ist es. Sie hatte plötzlich das Gefühl, sich
mitten in einem Traum zu befinden. Sie wußte, sie träumte, aber sie konnte weder etwas ändern noch
aufwachen. Ihre Muskeln erstarrten.
Sie konnte die Furcht der anderen riechen, konnte die intensive Anspannung spüren, die von Stefan neben
ihr ausging. Seine Taschenlampe fuhr über Gegenstände hinter Bonnie. Doch zunächst ergaben sie in Elenas
Augen keinen Sinn. Sie sah Kanten, Umrisse, Flächen, und dann sprang etwas in ihr Sichtfeld. Ein
totenweißes Gesicht, das grotesk zu einer Seite hing...
Der Schrei blieb ihr im Hals stecken. Es war nur eine Statue, und ihre Züge kamen Elena bekannt vor. Es
waren dieselben wie auf dem Deckel des Sarkophages oben. Dieses Grab war das Gegenstück zu dem Grab,
durch das sie herabgestiegen waren. Nur, daß dieses hier geschändet worden war. Der Steindeckel war in
zwei Hälften gebrochen und gegen die Wand der Krypta geschleudert worden. Etwas lag auf dem Boden
verstreut, das aussah wie brüchige Elfenbeinstäbchen. Marmorstückchen, versuchte Elena sich verzweifelt
einzureden. Das ist nur Marmor.
Es waren menschliche Knochen, zersplittert und zertreten.
Bonnie drehte sich um, bis sie Elena direkt gegenüberstand.
Dann überlief sie ein Schauder, sie stolperte und stürzte so heftig nach vorn wie eine Marionette, deren
Schnüre man durchgeschnitten hat.
Elena konnte sie gerade noch auffangen und verlor selbst fast den Halt. „Bonnie? Bonnie?“ Die braunen
Augen, die sie mit erweiterten Pupillen verwirrt ansahen, waren wieder Bonnies eigene verängstigte Augen.
„Aber was ist passiert?“ wollte Elena wissen. „Wo ist das Wesen hingegangen?“
„Ich bin hier.“
Über dem geschändeten Grab zeigte sich ein verschwommenes Licht. Nein, kein Licht, dachte Elena. Etwas
Übernatürliches, das für die menschlichen Sinne nicht faßbar war. Es wurde ihr enthüllt, ihrem Verstand
aufgezwungen, von einer Kraft außerhalb dieser Welt.
„Die ,andere Macht’“, flüsterte Elena, und das Blut gefror ihr in den Adern.
„Nein, Elena.“
Die Stimme hatte keinen Klang, genauso wie die Vision kein Licht war. Sie war still wie der Schein der
Sterne und unendlich traurig. Sie erinnerte Elena an etwas.
Mutter? dachte sie voll wilder Hoffnung. Aber es war nicht die Stimme ihrer Mutter. Das Leuchten über
dem Grab schien zu wirbeln und sich zu verdichten. Einen Moment lang erhaschte Elena den Blick auf ein
Gesicht, ein sanftes, trauriges Gesicht. Und dann wußte sie es.
„Ich habe auf dich gewartet“, sagte Honoria Fells Stimme leise. „Hier kann ich endlich in meiner eigenen
Gestalt mit dir sprechen und nicht aus Bonnies Mund. Hör mir zu. Deine Zeit ist knapp bemessen, und die
Gefahr ist riesengroß“, fügte sie hinzu.
Elena fand die Sprache wieder. „Was ist das für ein Raum? Warum hast du uns hierhergebracht?“
„Du hast mich darum gebeten. Vorher konnte ich ihn dir nicht zeigen. Das ist dein Schlachtfeld.“
„Ich verstehe nicht.“
„Die Krypta wurde für mich von den Menschen in Fell's Church errichtet. Ein Ruheplatz für meinen Körper.
Ein geheimer Ort für jemanden, der im Leben über geheime Kräfte verfügt hatte. Wie Bonnie wußte ich
Dinge, die niemand sonst wissen konnte. Und sah auch viele Dinge, die niemand sonst sehen konnte.“
„Sie waren ein Medium“, flüsterte Bonnie heiser.
„Damals nannte man es Hexerei. Aber ich habe meine Kräfte nie dazu genutzt, um Schaden zuzufügen, und
als ich starb, hat man mir dieses Grabmal gebaut, damit mein Mann und ich in Frieden ruhen konnten. Doch
dann, nach so vielen Jahren, wurde unser Friede gestört.“
Das Gespensterlicht leuchtete auf und wurde wieder schwächer. Honorias Gestalt verschwamm. „Eine
andere Macht kam nach Fell's Church, voller Haß und Zerstörung. Sie schändete meine Ruhestätte,
verstreute meine Knochen und richtete ihr Lager ein. Von hier zog sie hinaus, um Böses in meiner Stadt zu
tun. Ich erwachte. Von Anfang an habe ich versucht, dich vor ihr zu warnen, Elena. Sie lebt unter dem
Friedhof, hat auf dich gewartet und dich beobachtet. Manchmal in Gestalt einer Eule...“
Eine Eule. Elenas Gedanken überschlugen sich. Eine Eule, wie die Eule, die sie im Glockenturm der Kirche
gesehen hatte. Wie die Eule in der Scheune. Wie die Eule im schwarzen Johannisbrotbaum bei ihrem Haus.
Weiße Eule... Jagdvogel... Fleischfresser... dachte sie. Und dann erinnerte sie sich an riesige, weiße Flügel,
die den ganzen Horizont auszufüllen schienen. Ein großer Vogel aus Nebel oder Schnee, der sie jagte, voll
Blutdurst und wildem Haß...
„Nein!“ schrie sie, als die Erinnerung sie zu überwältigen drohte.
Sie fühlte Stefans Hände auf ihren Schultern. Seine Finger bohrten sich fast schmerzhaft in ihr Fleisch. Das
brachte sie in die Gegenwart zurück. Honoria Fell sprach immer noch.
„Und dich, Stefan. Sie hat auch dich beobachtet. Sie haßte dich, bevor sie Elena haßte. Sie hat dich gequält
und mit dir gespielt, wie eine Katze mit einer Maus. Sie haßt die, die du liebst. Und ist selbst von vergifteter
Liebe erfüllt.“
Elena schaute unwillkürlich hinter sich. Sie sah Meredith, Alaric und Matt wie erstarrt dastehen. Bonnie und
Stefan waren neben ihr. Aber Damon? Wo war Damon?
„Der Haß dieser bösen Macht ist so groß, daß jeder Tod ihr genügt. Jedes Blut, das vergossen wird, erfüllt
sie mit Freude. Im Augenblick verlassen die Tiere, die sie kontrolliert, den Wald. Sie nähern sich der Stadt,
den Lichtern.“
„Der Winterball!“ rief Meredith.
„Ja. Und dieses Mal werden sie morden, bis das letzte von ihnen tot ist.“
„Wir müssen die Menschen warnen“, sagte Matt. „Jeden auf dem Ball...“
„Ihr werdet nie sicher sein, bis die Macht zerstört ist, die sie in ihrem Bann hält. Das Morden wird
weitergehen. Ihr müßt die Kraft vernichten, die haßt. Deshalb habe ich euch hergebracht.“
Wieder schwankte das Licht. Es schien sich zurückzuziehen. „Ihr habt den Mut, wenn ihr sie finden könnt.
Seid stark. Das ist die einzige Hilfe, die ich euch geben kann.“
„Warte, bitte...“ begann Elena.
Die Stimme fuhr fort, ohne auf sie zu achten. „Bonnie, du hast die Wahl. Deine geheimen Kräfte bedeuten
eine große Verantwortung. Sie sind aber eine Gabe, die wieder von dir genommen werden kann. Möchtest
du sie aufgeben?“
„Ich...“ Bonnie schüttelte verängstigt den Kopf. „Ich weiß es nicht. Ich brauche Zeit...“
„Es ist keine Zeit. Wähle.“ Die Vision wurde immer schwächer, schien in sich zusammenzusinken.
Bonnie suchte mit unsicheren, verwirrten Augen Hilfe bei Elena. „Es ist deine Entscheidung“, flüsterte
Elena. „Du mußt sie selbst treffen.“
Langsam wich die Unsicherheit aus Bonnies Gesicht, und sie nickte. Sie befreite sich aus Elenas stützendem
Griff und trat einen Schritt auf das Licht zu. „Ich behalte sie“, sagte sie heiser. „Irgendwie werde ich schon
damit fertig. Meine Großmutter hat's schließlich auch geschafft.“
Das Licht zitterte leicht, als lachte es leise. „Du hast eine kluge Wahl getroffen. Mögest du deine Talente
weise nutzen. Das ist das letzte Mal, daß ich zu euch spreche.“
„Aber...“
„Ich habe meine Ruhe verdient. Der Kampf gehört jetzt euch.“ Und das Glühen verschwand wie die letzten
Funken eines verlöschenden Feuers.
Als es fort war, konnte Elena den Druck um sie herum spüren. Etwas würde passieren. Eine erdrückende
Kraft kam auf sie zu, hing über ihnen. „Stefan...“
Stefan fühlte es auch, das wußte sie.
„Kommt“, drängte Bonnie mit angsterfüllter Stimme. „Wir müssen hier raus.“
„Wir müssen zum Ball“, keuchte Matt. Sein Gesicht war weiß. „Wir müssen ihnen helfen...“
„Feuer!“ schrie Bonnie plötzlich. „Feuer wird sie nicht töten, aber aufhalten...“
„Habt ihr nicht zugehört? Wir müssen uns der ,anderen Macht' stellen. Und sie ist hier. Direkt hier, in
diesem Moment. Wir können nicht gehen!“ rief Elena. In ihrem Kopf drehte sich alles. Bilder, Erinnerungen
und eine schreckliche Vorahnung. Blutdurst... sie konnte es fühlen...
„Alaric.“ Stefans Stimme hatte einen befehlenden Ton angenommen. „Du gehst zurück. Nimm die anderen
mit. Tut, was ihr könnt. Ich werde bleiben...“
„Wir sollten alle von hier fliehen!“ schrie Alaric. Er mußte so laut werden, um über den ohrenbetäubenden
Lärm um sie herum gehört zu werden.
Seine flackernde Taschenlampe zeigte Elena etwas, das ihr vorher nicht aufgefallen war. In der Wand neben
ihr befand sich ein gähnendes Loch, als ob die Steinverkleidung weggerissen worden war. Und dahinter
erstreckte sich schwarz und endlos ein Gang in die nackte Erde.
Wo führt er wohl hin? fragte sich Elena, aber der Gedanke ging im Tumult ihrer Angst unter. Weiße Eule...
Jagdvogel... Fleischfresser... Krähe... Und plötzlich wußte sie mit erschreckender Klarheit, wovor sie sich
fürchtete.
„Wo ist Damon?“ schrie sie und riß Stefan herum, während sie sich umsah. „Wo ist Damon?“
„Raus hier!“ Bonnies Stimme war schrill vor Angst. Sie warf sich auf das Tor genau in dem Moment, als
das Geräusch wieder die Dunkelheit zerriß.
Es war ein Knurren, aber nicht das eines Hundes. Man konnte es unmöglich damit verwechseln. Es klang
viel tiefer, kräftiger und vibrierender. Es roch nach Dschungel und nach der Blutlust des Jägers. Und es traf
Elena bis ins Mark.
Sie war wie gelähmt.
Das Geräusch ertönte wieder, hungrig und wild, aber irgendwie auch fast ein wenig nachlässig. So
siegesbewußt. Und mit ihm näherten sich schwere Schritte aus dem Tunnel.
Bonnie versuchte zu schreien. Doch nur ein schwaches Pfeifen entrann ihrer Kehle. Aus der Schwärze des
Gangs kam etwas. Eine Gestalt, die sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit bewegte. Elena erkannte das
Grollen jetzt. Es war die Stimme der größten und kräftigsten aller Raubkatzen. Die Augen des Tigers
leuchteten gelb, als er das Ende des Gangs erreichte.
Und dann passierte alles auf einmal.
Elena fühlte, wie Stefan sie nach hinten zu ziehen versuchte, um sie aus dem Weg zu haben. Aber ihre
erstarrten Muskeln machten es ihm fast unmöglich, und sie wußte, daß es zu spät war.
Der Sprung des Tigers war voller Anmut, kraftvolle Muskeln katapultierten ihn in die Luft. Elena sah ihn in
diesem Moment grell und klar wie in einem Blitzlicht. Ihr Verstand registrierte die schlanken, glänzenden
Flanken und das gekrümmte Rückgrat. Aber ihre Stimme schrie wie von selbst.
„Damon, nein!“ Erst als der schwarze Wolf aus der Dunkelheit dem Tiger entgegensprang, fiel ihr auf, daß der Tiger weiß war. Der Angriff der großen Katze wurde durch den Wolf abgelenkt, und Elena fühlte, wie Stefan sie zur Seite in Sicherheit zerrte. Ihre Glieder waren plötzlich weich wie Butter, und sie gab voller Schwäche nach, als er sie gegen die Wand drängte. Der Deckel des Grabes lag jetzt zwischen ihr und der fauchenden weißen Gestalt, aber das rettende Gitter befand sich auf der anderen Seite des Kampfplatzes. Elenas Hilflosigkeit kam zum Teil aus Entsetzen, zum Teil aus Erstaunen. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Einen Moment zuvor war sie noch sicher gewesen, daß Damon die ganze Zeit mit ihnen gespielt hatte und daß er in Wahrheit die „andere Macht“ war. Aber die Bosheit und Blutlust, die von dem Tiger ausgingen, waren unverkennbar. Diese Macht hatte sie auf dem Friedhof gejagt und später von der Pension zum Fluß und in den Tod. Diese weiße Macht bekämpfte der Wolf jetzt bis auf den Tod. Es war ein ungleicher Wettkampf. Der schwarze Wolf, so wild und angriffslustig er auch sein mochte, hatte keine Chance. Ein Streich der riesigen Krallen des Tigers rissen seine Schulter auf bis auf die Knochen. Die Fänge der Raubkatze öffneten sich, und sie versuchte, den Hals des Wolfs zwischen die Zähne zu bekommen, um ihn zu brechen. Aber Stefan war da, leuchtete mit der Taschenlampe dem Tiger in die Augen und schleuderte den verwundeten Wolf aus dem Weg. Elena wünschte sich, sie könnte schreien, sie könnte irgend etwas tun, um die Qual in ihrem Inneren herauszulassen. Sie verstand es nicht. Sie verstand überhaupt nichts mehr. Stefan war in Gefahr. Aber sie konnte sich nicht bewegen. „Flieht!“ schrie Stefan den anderen zu. „Jetzt! Schnell!“ Schneller, als es ein Mensch vermochte, wich er der riesigen weißen Pfote aus, die zum tödlichen Schlag ausgeholt hatte, und blendete den Tiger weiter. Meredith war jetzt auf der anderen Seite des Gitters. Matt trug und zog Bonnie halb. Jetzt war Alaric hindurch. Der Tiger sprang, und das Gitter schlug zu. Stefan warf sich auf die Seite und rutschte aus, als er wieder aufstehen wollte. „Wir lassen euch nicht allein...!“ rief Alaric. „Raus!“ rief Stefan erneut. „Geht zum Ball. Tut, was ihr könnt! Raus!“ Der Wolf griff wieder an, trotz der blutenden Wunden auf seinem Kopf und seiner Schulter, wo Muskeln und Sehnen offenlagen. Der Tiger schlug zurück. Die Tiergeräusche erreichten einen solchen Lärmpegel, daß Elena es kaum mehr aushalten konnte. Meredith und die anderen waren weg. Das Licht von Alarics Taschenlampe verglühte in der Dunkelheit. „Stefan!“ schrie sie, als sie sah, daß er sich wieder in den Kampf stürzen wollte. Wenn er starb, würde sie auch sterben. Und wenn es denn sein mußte, wollte sie bei ihm sein. Die Schwäche verließ sie. Sie stolperte auf ihn zu. Schluchzend umarmte sie ihn fest. Sie fühlte seine Arme um sie, als er sie mit seinem Körper vor dem Lärm und der Gewalt des Kampfes schützen wollte. Aber sie war stur, genauso stur wie er. Sie drehte sich, und dann stellten sie sich gemeinsam der blutigen Szene. Der Wolf war am Boden. Er lag auf dem Rücken. Sein Fell war zu dunkel, um das Blut darauf zu erkennen, doch unter ihm hatte sich bereits eine rote Lache gebildet. Die weiße Katze stand über ihm, ihre riesigen Fänge nur Zentimeter von seiner verwundbaren, schwarzen Kehle entfernt. Aber der Todesbiß kam nicht. Statt dessen hob der Tiger den Kopf und sah Elena und Stefan an. Mit merkwürdiger Ruhe bemerkte Elena, wie sie auch die kleinsten Einzelheiten seines Aussehens registrierte. Die Schnurrbarthaare waren glatt und schmal, wie silberne Drähte. Das Fell schneeweiß, von schwachen Mustern durchzogen, glänzend wie unpoliertes Gold. Weiß und Gold, dachte sie und erinnerte sich an die Eule in der Scheune. Und dann überkam sie eine andere Erinnerung... an etwas, das sie gesehen oder gehört hatte. Mit einem mächtigen Pfotenschlag riß die Katze die Taschenlampe aus Stefans Hand. Elena hörte, wie er vor Schmerz aufstöhnte, aber sie konnte in der Dunkelheit nichts mehr erkennen. Wenn es kein Licht gab, war selbst ein Jäger blind. Sie klammerte sich an Stefan und wartete auf den Schmerz des tödlichen Schlags. Plötzlich war ihr schwindlig. Grauer, wirbelnder Nebel füllte ihren Kopf, und sie konnte sich nicht länger an Stefan festhalten. Sie konnte weder denken noch sprechen. Der Boden schien sich unter ihren Füßen zu
öffnen. Schwach erkannte sie, daß telepathische Kräfte riesigen Ausmaßes gegen sie benutzt wurden und
ihren Verstand überwältigten.
Elena spürte, wie Stefans Körper nachgab, zusammensackte und von ihr wegkippte. Sie konnte nicht länger
gegen den Nebel ankämpfen. Sie fiel ins Unendliche und merkte nicht mehr, wie sie am Boden aufschlug.
14. KAPITEL Weiße Eule... Jagdvogel... Jäger... Tiger. Spielt mit dir wie eine Katze mit einer Maus. Wie eine Katze...eine
große Katze... ein Kätzchen. Ein weißes Kätzchen.
Der Tod im Haus.
Und das Kätzchen. Das Kätzchen, das vor Damon geflohen war. Nicht aus Angst, sondern aus Furcht,
entlarvt zu werden. Genauso wie damals, als es auf Margarets Brust gestanden und beim Anblick Elenas
hinter der Fensterscheibe wütend miaut hatte.
Elena stöhnte und wäre fast aus der Bewußtlosigkeit erwacht, aber der graue Nebel zog sie wieder hinab,
bevor sie die Augen öffnen konnte. Ihre Gedanken verwirrten sich erneut.
Vergiftete Liebe.
Stefan, sie haßte dich, bevor sie Elena haßte... Weiß und Gold... etwas Weißes... etwas Weißes unter dem
Baum.
Als sie diesmal darum kämpfte, die Augen offenzuhalten, gelang es ihr. Und noch bevor sie in dem
dämmrigen und flackernden Licht etwas erkennen konnte, wußte sie es. Endlich wußte sie es.
Die Gestalt in dem langen, weißen Kleid drehte sich von der Kerze weg, die sie anzündete, und Elena sah
ein Gesicht, das ihr eigenes hätte sein können. Aber es war leicht verzerrt, zwar bleich und wunderschön,
wie das einer Eisstatue, doch irgendwie falsch. Wie die endlosen Reflexionen, die Elena in ihrem Traum in
dem Spiegelsaal gesehen hatte. Grausam, hungrig und spöttisch.
„Hallo, Katherine“, flüsterte sie.
Katherine lächelte hinterlistig und raubtierhaft. „Aha, du bist gar nicht so dumm, wie ich dachte“, sagte sie.
Ihre Stimme war leicht und süß... silbrig, dachte Elena. Wie ihre Wimpern. Auch auf ihrem Kleid
schimmerten silberne Lichter, wenn sie sich bewegte. Aber ihr Haar war golden, fast so hellgold wie Elenas
eigenes. Ihre Augen glichen denen eines Kätzchens: Sie waren rund und blau wie Edelsteine. Um ihren Hals
trug sie eine Kette mit einem Stein derselben lebhaften Farbe.
Elenas eigener Hals fühlte sich so rauh an, als hätte sie geschrien. Außerdem war er trocken. Als sie den
Kopf langsam zur Seite wandte, tat selbst diese kleine Bewegung weh.
Stefan lag neben ihr. Er war nach vorn gesackt und mit den Armen an die Spitzen des schmiedeeisernen
Gitters gebunden. Sein Kopf war auf die Brust gesunken, doch von dem, was sie erkennen konnte, war sein
Gesicht totenbleich. Seine Kehle war aufgerissen, und das Blut war auf seinen Kragen getropft und
getrocknet.
Elena wandte sich so schnell zu Katherine um, daß sich ihr alles im Kopf drehte. „Warum? Warum hast du
das getan?“
Katherine lächelte und zeigte spitze, weiße Zähne. „Weil ich ihn liebe“, sagte sie mit kindlicher, singender
Stimme. „Liebst du ihn nicht auch?“
Erst da fiel Elena auf, warum sie sich nicht bewegen konnte und ihre Arme so schmerzten. Sie war genauso
gefesselt wie Stefan. Fest und sicher an das Gitter gebunden. Ein schmerzhaftes Drehen zur anderen Seite
zeigte ihr Damon.
Er war in einem weit schlimmeren Zustand als sein Bruder. Seine Jacke und sein Arm darunter waren
aufgerissen. Beim Anblick der Wunde drehte sich Elena der Magen um. Sein Hemd hing in Fetzen herunter,
und sie konnte die schwachen Bewegungen seiner Rippen sehen, wenn er atmete. Nur daran erkannte sie,
daß er noch lebte. Sonst hätte sie ihn für tot gehalten. Blut klebte in seinem Haar und rann in seine ge
schlossenen Augen.
„Welchen magst du lieber?“ fragte Katherine in vertraulichem Tonfall. „Du kannst es mir ruhig sagen.
Welcher von beiden ist der Bessere?“
Elena schaute sie an und empfand Abscheu. „Katherine“, flüsterte sie. „Bitte. Bitte, hör mir zu...“
„Verrate es mir. Komm schon.“ Die juwelenblauen Augen erfüllten Elenas ganzes Blickfeld, als Katherine
sich so nah über sie beugte, daß ihre Lippen fast Elenas Mund berührten. „Ich finde sie beide spaßig. Du
hast doch gern Spaß, Elena?“
Angewidert schloß Elena die Augen und wandte das Gesicht ab.
Katherine trat mit einem hellen Auflachen zurück. „Ich weiß, die Wahl fällt schwer.“ Sie machte eine kleine
Pirouette, und Elena erkannte, daß das, was sie für die Schleppe des Kleides gehalten hatte, in Wirklichkeit
Katherines Haar war. Es fiel wie geschmolzenes Gold ihren Rücken hinunter bis auf den Boden, wo es
hinter ihr herschleifte.
„Es kommt alles auf deinen Geschmack an“, fuhr Katherine fort, machte ein paar graziöse Tanzschritte und
kam vor Damon zum Stehen. Sie sah Elena spitzbübisch an, bevor sie Damon am Haar griff, seinen Kopf
hochriß und ihre Zähne in seinen Hals senkte.
„Nein! Tu das nicht! Verletze ihn nicht noch mehr...“ Elena versuchte, nach vorn zu stürzen, aber sie war zu
fest gebunden. Das Gitter war aus Eisen, in Stein eingelassen, und das Seil war dick. Katherine gab Tierlaute
von sich, bohrte ihre Zähne weiter in das Fleisch, und Damon stöhnte auf, obwohl er bewußtlos war. Sein
Körper zuckte vor Schmerzen.
„Bitte hör auf! Oh, bitte hör auf!“
Katherine hob den Kopf. Blut rann ihr das Kinn hinunter. „Aber ich bin hungrig, und er ist so gut.“ Sie
schlug wieder zu, und Damons Körper krampfte sich erneut zusammen. Elena schrie auf.
Ich war auch so, dachte sie verzweifelt. Am Anfang, in jener ersten Nacht im Wald. ich war auch so. Ich
wollte Stefan genauso verletzen, wollte ihn töten...
Dunkelheit umfing sie, und sie ließ sich dankbar ins Nichts fallen.
Alarics Wagen schleuderte auf einem Stück Eis, als sie die Schule erreichten, und Meredith wäre fast in ihn
hineingefahren. Sie und Matt sprangen aus dem Auto und ließen die Türen offen. Vor ihnen taten Bonnie
und Alaric dasselbe.
„Was ist mit dem Rest der Stadt?“ schrie Meredith, als sie auf die beiden zurannte.
„Nur Elenas Familie - Tante Judith und Margaret.“ Bonnies Stimme war schrill und angsterfüllt, aber ihr
Blick war voller Konzentration. Sie legte den Kopf zurück, als versuchte sie sich an etwas zu erinnern. „Ja.
Sie sind die anderen, hinter denen die Hunde her sein werden. Seht zu, daß sie sich irgendwohin
verschanzen. Vielleicht im Keller. Und dort bleiben.“
„Ich mach das. Ihr drei kümmert euch um das Fest!“ Meredith rannte zurück zu ihrem Auto.
Bonnie drehte sich um und folgte Alaric, so schnell es ging.
Der Ball lag in den letzten Zügen. Alles war kurz vor dem Aufbruch. Viele Paare drängten bereits auf den
Parkplatz. Alaric versuchte sie zu warnen, als er, Bonnie und Matt heranstürmten.
„Alles wieder rein! Alle müssen rein und dann die Türen zu!“ schrie er den Männern des Sheriffs zu.
Aber es blieb keine Zeit. Er erreichte die Cafeteria im gleichen Moment wie die erste lauernde Gestalt aus
der Dunkelheit. Der große Hund sprang einem der Polizisten an die Kehle. Dieser ging zu Boden ohne einen
Laut oder die Chance, seine Waffe zu benutzen.
Ein anderer der Männer war schneller, und ein Schuß ertönte, der in dem zementierten Hof laut widerhallte.
Die Schüler begannen zu schreien und liefen in entgegengesetzter Richtung zum Parkplatz. Alaric rannte
hinter ihnen her und versuchte, sie zurückzuholen.
Andere Tiere kamen aus den Schatten, zwischen den parkenden Autos her, von allen Seiten näherten sie sich
drohend und zähnefletschend. Panik brach aus. Alaric schrie weiter und bemühte sich, die entsetzten Schüler
in das Gebäude zu treiben. Hier draußen waren sie leichte Beute.
Im Hof wandte sich Bonnie an Matt. „Wir brauchen Feuer!“ Matt raste in die Cafeteria und kam mit einer
Schachtel heraus, die halbgefüllt war mit Veranstaltungskalendern. Er warf sie auf den Boden und suchte in
seinen Taschen nach einem Streichholz.
Das Papier fing sofort Feuer und brannte hell. Es bildete eine Insel der Sicherheit. Matt half jetzt dabei, die
Menschen zurück in die Cafeteria zu winken. Bonnie drängte sich hinein und fand drinnen das gleiche
Chaos vor wie draußen.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Selbst schreien war zwecklos. Sie bahnte sich einen Weg zur anderen Seite
des Raums. Caroline war dort. Ohne ihre sommerliche Bräune sah sie blaß aus. Sie trug noch die Krone der
Schneekönigin. Bonnie schleppte sie ans Mikrophon.
„Du bist doch so gut im Reden. Sag ihnen, sie sollen reinkommen und drinnen bleiben! Und die
Dekorationen runterholen. Wir brauchen alles, was brennt. Holzstühle, Zeug aus den Papierkörben, alles.
Mach ihnen klar, daß das unsere einzige Chance ist!“
Als Caroline sie verständnislos und verängstigt ansah, fügte sie hinzu: „Du wolltest die Krone, jetzt hast du
sie. Also, mach was draus!“
Sie wartete nicht ab, ob Caroline gehorchte, und stürzte sich wieder ins Getümmel. Einen Moment später
hörte sie Carolines Stimme erst zögernd, dann drängend aus den Lautsprechern klingen.
Es war totenstill, als Elena wieder die Augen öffnete.
„Elena?“
Bei dem heiseren Flüstern versuchte sie, etwas zu erkennen, und blickte in schmerzerfüllte, grüne Augen.
„Stefan“, sagte sie. Sehnsüchtig lehnte sie sich nach vorn und wünschte, sie könnte sich mehr bewegen. Es
machte zwar keinen Sinn, aber sie fühlte, daß alles halb so schlimm wäre, wenn sie sich in den Armen liegen
könnten.
Ein kindliches Lachen ertönte. Elena wandte sich nicht in seine Richtung, aber Stefan. Sie sah seine
Reaktion, beobachtete, wie sich sein Mienenspiel so rasch änderte, daß man die aufeinanderfolgenden
Gefühle fast nicht erkennen konnte. Tiefer Schock, Unglaube, aufkommende Freude – und dann Entsetzen.
Ein so großes Entsetzen, daß es seine Augen blicklos und trüb werden ließ.
„Katherine“, stammelte er. „Aber das ist unmöglich. Es kann nicht sein. Du bist tot...“
„Stefan...“ begann Elena. Doch er achtete nicht auf sie.
Katherine kicherte hinter vorgehaltener Hand. „Du wachst auch auf“, befahl sie und schaute auf Elenas
andere Seite. Elena fühlte eine Welle von Kraft neben sich aufleben. Nach einem kurzen Moment hob
Damon langsam den Kopf und blinzelte. Dann lächelte er. Es war ein schmerzerfülltes Lächeln, aber man
konnte es deutlich erkennen.
„Unser süßes, weißes Kätzchen“, flüsterte er heiser. „ich hätte es wissen müssen.“
„Und trotzdem hast du es nicht gemerkt, stimmt's?“ erklärte Katherine eifrig wie ein Kind, das ein Spiel
spielt. „Selbst du hast es nicht erraten. Ich habe alle getäuscht.“ Sie lachte wieder. „Es hat soviel Spaß
gemacht, dich zu beobachten, während du Stefan beobachtet hast. Und keiner von euch beiden hatte eine
Ahnung, daß ich da war. Ich habe dich sogar einmal gekratzt!“ Sie krümmte ihre Finger zu Krallen und
ahmte den Pfotenschlag eines Kätzchens nach.
„Bei Elena zu Hause. Ja, ich erinnere mich“, sagte Damon langsam. Er schien weniger ärgerlich, als leicht
belustigt zu sein. „Nun, du bist tatsächlich ein Jäger. Die Dame und der Tiger zugleich.“
„Und ich habe Stefan in den Brunnen geworfen“, prahlte Katherine. „Ich sah euch zwei kämpfen. Es hat mir
gefallen. Ich folgte Stefan zum Waldrand und, schwupps...“ Sie klappte ihre gewölbten Hände zusammen
wie jemand, der eine Motte fängt. Dann öffnete sie sie langsam, schaute hinein, als sei wirklich etwas darin
gefangen, und kicherte wieder. „Ich wollte ihn eigentlich dort behalten, um mit ihm zu spielen“, gestand sie.
Dann schob sie die Unterlippe vor und schaute Elena rachsüchtig an. „Aber du hast ihn mir weggenommen.
Das war gemein, Elena. Das hättest du nicht tun sollen.“
Die schreckliche, naive Verschlagenheit war aus ihrem Gesicht gewichen, und einen Moment erhaschte
Elena den Blick auf eine von tödlichem Haß erfüllte Frau.
„Gierige Mädchen werden bestraft.“ Katherine trat drohend auf sie zu. „Und du bist ein gieriges Mädchen.“
„Katherine!“ Stefan war aus seiner Betäubung erwacht. „Willst du uns nicht erzählen, was du sonst noch
getan hast?“
Abgelenkt ging Katherine einen Schritt zurück. Sie sah erst überrascht aus, dann geschmeichelt.
„Nun, wenn du es wirklich willst.“ Sie ergriff ihre Ellbogen mit den Händen und machte wieder eine
Pirouette. Ihr goldenes Haar streifte über den Boden. „Nein“, entschied sie fröhlich, drehte sich um und
zeigte auf ihre drei Gefangenen. „Ihr müßt raten. Ihr ratet, und ich sage euch, ob es richtig oder falsch ist.
Fangt an!“
„Du hast Vickie angegriffen“, begann Elena vorsichtig. Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren
einschmeichelnd, dabei war sie ihrer Sache jetzt sicher. „Das Mädchen in jener Nacht in der Kirchenruine.“
„Gut! Ja“, rief Katherine entzückt. Sie machte eine weitere katzenhafte Handbewegung mit gekrümmten Fingern. „Schließlich war sie in meiner Kirche“, fügte sie nüchtern hinzu. „Und was sie und dieser Junge da trieben, na! So etwas tut man nicht in einer Kirche. Also habe ich sie gekratzt!“ Katherine zog das Wort in die Länge und führte es mit einer Geste vor, als erzählte sie die Geschichte einem kleinen Kind. „Und... ich habe das Blut aufgeleckt!“ Sie fuhr sich mit ihrer Zunge über die blaßrosa Lippen. Dann deutete sie auf Stefan. „Du bist als nächster dran!“ „Seither ist sie besessen von dir“, erwiderte Stefan. Er spielte nicht, sondern sprach nur eine gräßliche Tatsache aus. „Ja. Aber damit sind wir fertig! Erzähl etwas anderes“, fauchte Katherine verstimmt. Dann spielten ihre Finger flink mit den Knöpfen ihres Kleides, und Elena wurde an Vickie erinnert. wie sie sich vor der vollbesetzten Cafeteria auszog. „Ich habe sie dazu gebracht, dumme Sachen zu machen.“ Katherine lachte. „Es hat Spaß gemacht, mit ihr zu spielen.“ „Warum behauptest du, es sei deine Kirche?“ fragte Damon. Er schien immer noch leicht belustigt, als würde ihm das alles nichts ausmachen. „Was ist mit Honoria Fell?“ „Ach, die alte Hexe!“ spottete Katherine. Sie schaute hinter Elena. Ihr Mund war verzogen, ihre Augen glühten vor Haß. Elena fiel zum ersten Mal auf, daß sie dem Eingang der Krypta mit dem geschändeten Grab gegenübersaßen. Vielleicht würde Honoria ihnen helfen... Aber dann erinnerte sie sich an jene ruhige, immer leiser werdende Stimme. Das ist die einzige Hilfe, die ich euch geben kann... Und sie wußte, daß keine Rettung von dort kommen würde. Als ob sie Elenas Gedanken gelesen hätte, sagte Katherine: „Sie kann gar nichts tun. Sie ist nur noch ein Haufen alter Knochen.“ Die graziösen Hände machten Gesten, als würde Katherine diese Knochen zerbrechen. „Sie kann nur reden. Und oft genug habe ich verhindert, daß du sie hörst.“ Ihre Miene verdüsterte sich wieder, und Elena fühlte kurz Angst in sich aufsteigen. „Du hast Bonnies Hund Yangtze getötet“, fuhr sie fort. Es war ein Schuß ins Blaue, ein Versuch, Katherine abzulenken. Aber es klappte. „Ja! Das war lustig. Ihr kamt alle aus dem Haus gerannt und fingt an zu klagen und zu weinen...“ Katherine spielte die Szene in einer Pantomime nach: der kleine Hund, der vor Bonnies Haus lag, die Mädchen, die hinauseilten und seine Leiche fanden. „Er schmeckte schlecht, aber er war es wert. Ich bin Damon dorthin gefolgt. Er war in Gestalt einer Krähe. Wie oft bin ich ihm nachgeschlichen... Wenn ich gewollt hätte, hätte ich die Krähe schnappen können und...“ Sie machte eine wringende Handbewegung. Bonnies Traum, dachte Elena, während es sie eiskalt überlief. Sie hatte nicht einmal gemerkt, daß sie laut gesprochen hatte, bis sie sah, daß Katherine und Stefan sie anblickten. „Bonnie hat von dir geträumt“, flüsterte sie. „Aber sie dachte, du seist ich. Sie erzählte mir, daß sie mich unter einem Baum stehen sah. Der Wind blies heftig. Und sie hatte Angst vor mir. Sie sagte, ich hätte so anders ausgesehen, bleich, und von meiner Haut ging ein merkwürdiges Leuchten aus. Dann flog eine Krähe vorbei, ich schnappte sie und drehte ihr den Hals um.“ Bittere Galle stieg in Elenas Kehle, und sie mußte schlucken. „Aber das warst du.“ Katherine schien erfreut, als ob Elena damit ihre Taten noch aufwerten würde. „Man träumt oft von mir“, sagte sie stolz. „Deine Tante - sie träumt auch von mir. Ich rede ihr ein, daß es ihre Schuld sei, daß du gestorben bist. Sie glaubt, daß du selbst ihr das erzählst.“ „Oh, Gott...“ „Ich wünschte, du wärst tatsächlich gestorben“, fuhr Katherine fort. Ihr Gesicht war voller Haß. „Du hättest sterben sollen. Schließlich habe ich dich lange genug im Fluß festgehalten. Aber du warst ein solches Flittchen, hast Blut von beiden getrunken, daß du zurückgekommen bist. Was soll's?“ Sie lächelte nachlässig. „So kann ich eben länger mit dir spielen. An jenem Tag habe ich die Beherrschung verloren, weil ich mit ansehen mußte, wie Stefan dir meinen Ring gegeben hat. Meinen Ring!“ Sie wurde lauter. „Den Ring, den ich ihm hinterlassen habe, damit er sich an mich erinnert! Und er schenkt ihn dir! Da wußte ich, daß ich nicht mehr nur mit ihm spielen würde. Ich mußte Stefan vernichten!“ Stefans Blick war leidend und verwirrt. „Aber ich hielt dich für tot“, sagte er. „Du warst tot. Vor fünfhundert .Jahren bist du gestorben, Katherine...“ „Oh, das war das erste Mal, daß ich euch hinters Licht geführt habe.“ Aber es lag jetzt keine Freude mehr in ihrem Tonfall. Sie klang mürrisch. „Ich hatte alles mit Gudren geplant, meiner Dienerin. Ihr zwei wolltet meine Wahl ja nicht akzeptieren“, brach es aus ihr heraus. Sie blickte wütend von Stefan zu Damon. „Ich
wollte, daß wir alle zusammen glücklich werden. Ich liebte euch. Ich liebte euch beide. Aber das war nicht gut genug für euch!“ Katherines Miene hatte sich wieder geändert, und Elena erkannte jetzt das verletzte Kind von vor fünf Jahrhunderten. So also muß Katherine damals ausgesehen haben, dachte sie verwundert. Die großen, blauen Augen füllten sich tatsächlich mit Tränen. „Ich wollte, daß ihr euch endlich wie Brüder liebt“, fuhr Katherine fort. Sie schien leicht verwirrt. „Aber ihr brachtet es nicht fertig. Und ich fühlte mich schrecklich. Ich dachte, wenn ihr mich für tot haltet, würdet ihr euch lieben. Und ich wußte, daß ich sowieso weggehen mußte, bevor Papa einen Verdacht schöpfte, was ich war. So haben Gudren und ich alles in die Wege geleitet.“ Katherine schien völlig in ihre Erinnerungen verloren. „Ich ließ mir einen zweiten Talisman gegen die Sonne machen und gab Gudren meinen Ring. Und sie nahm mein weißes Kleid, mein bestes weißes Kleid und Asche vom Herd. Wir verbrannten Fett, damit die Asche den richtigen Geruch bekam. Dann legte sie alles in die Sonne unter den Baum, wo ihr es finden würdet, zusammen mit meiner Nachricht. Ich war nicht sicher, ob ihr euch täuschen lassen würdet, aber es geschah. Doch dann“, Katherines Gesicht war voller Trauer, „habt ihr alles falsch gemacht. Ihr solltet um mich klagen, weinen und einander trösten. Ich hatte dieses Opfer doch für euch gebracht... Aber statt dessen ranntet ihr los und holtet eure Schwerter. Warum habt ihr das getan?“ Es war ein Aufschrei, der aus vollstem Herzen karr. „Warum habt ihr mein Geschenk nicht angenommen? Ihr habt es mit Füßen getreten! In meiner Nachricht habe ich euch mitgeteilt, daß ich eure Versöhnung wollte. Aber ihr habt nichts begriffen und eure Schwerter geholt. Ihr habt euch gegenseitig getötet! Warum?“ Tränen liefen ihr die Wangen hinunter, und auch Stefans Gesicht war naß. „Wir waren dumm“, sagte er, genauso in der Vergangenheit gefangen wie sie. „Wir haben einander die Schuld an deinem Tod gegeben, und wir waren so dumm... Katherine, hör mir zu. Es war mein Fehler. Ich war derjenige, der Damon angegriffen hat. Und es tut mir leid. Du weißt gar nicht, wie sehr ich es seither bereut habe. Du weißt nicht, wie viele Male ich darüber nachgedacht und mir gewünscht habe, ich könnte etwas tun, um es rückgängig zu machen. Ich hätte alles dafür gegeben. Alles! Ich habe meinen Bruder getötet...“ Seine Stimme versagte, und er weinte hemmungslos. Elena, der vor Kummer fast das Herz brach, wandte sich hilflos an Damon und merkte, daß er sie gar nicht wahrnahm. Der amüsierte Ausdruck war verschwunden und sein Blick mit äußerster Konzentration auf Stefan geheftet. „Katherine, hör mir zu.“ Stefan fand zitternd die Sprache wieder. „Wir haben uns alle genug verletzt. Bitte laß uns jetzt gehen. Oder behalte mich, wenn du es willst, aber laß die anderen frei. Ich bin derjenige, den alle Schuld trifft. Halte mich gefangen, ich werde alles tun, was du willst...“ Katherines blaue Augen waren mit unendlicher Trauer gefüllt. Elena wagte kaum zu atmen, um den Bann nicht zu brechen, unter dem sich das zierliche Mädchen zu Stefan wandte, einen Ausdruck von Verlangen auf dem Gesicht. Doch dann gewann das Eis in ihr wieder Überhand, und die Tränen froren auf ihren Wangen. „Das hättest du dir vor langer Zeit überlegen müssen“, sagte sie. „Damals hätte ich auf dich gehört. Zuerst war ich traurig, daß ihr euch getötet hattet. Ganz allein floh ich zurück nach Hause, in mein altes Dorf nach Deutschland, und ließ sogar Gudren zurück. Aber ich besaß nichts mehr, nicht einmal ein neues Kleid, und ich war hungrig und fror. Ich wäre verhungert, wenn Klaus mich nicht gefunden hätte.“ Klaus. Trotz ihres Entsetzens erinnerte sich Elena an etwas, das Stefan ihr erzählt hatte. Klaus war der Mann gewesen, der Katherine zu einem Vampir gemacht hatte. Der Mann, von dem die Dorfbewohner behauptet hatten, daß er abgrundtief böse war. „Klaus hat mich die Wahrheit gelehrt“, fuhr Katherine fort. „Er zeigte mir, wie die Welt wirklich ist. Du mußt stark sein und dir die Dinge nehmen, die du haben willst. Du darfst nur an dich selbst denken. Und ich bin jetzt die Stärkste von allen. Wollt ihr wissen, wie ich so wurde?“ Sie beantwortete die Frage, ohne auf eine Reaktion zu warten. „Leben. So viele Leben. Von Menschen und Vampiren, und sie sind alle jetzt in mir. Ich habe Klaus nach einem oder zwei Jahrhunderten umgebracht. Er war sogar überrascht. Er hatte nicht erkannt, wieviel ich gelernt hatte. Ich war glücklich, Leben zu nehmen und mich selbst mit ihnen anzufüllen. Aber dann erinnerte ich mich an euch, euch beide, und an das, was ihr getan habt. Wie ihr mein Geschenk behandelt hattet. Und mir war klar, daß ich euch bestrafen mußte. Schließlich fand ich heraus, wie ich es anstellen könnte.
Ich brachte euch beide hierher. Dir habe ich den Gedanken eingeflößt hierherzukommen, Stefan. Ich führte dich zu diesem Ort. Und dann ging ich sicher, daß Damon dir folgen würde. Elena war hier. Ich glaube, sie muß irgendwie mit mir verwandt sein. Sie gleicht mir. Ich wußte, daß du sie sehen und dich schuldig fühlen würdest. Aber du solltest dich nicht in sie verlieben!“ Das Bedauern in ihrer Stimme machte Wut Platz. „Du solltest mich nicht vergessen! Du solltest ihr nicht meinen Ring geben!“ „Katherine...“ Katherines Worte überschlugen sich fast. „Oh, du hast mich so zornig gemacht! Und jetzt werde ich dafür sorgen, daß es dir leid tut! Ich weiß, wen ich am meisten hasse, und das bist du, Stefan! Denn dich habe ich auch am meisten geliebt!“ Sie schien sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, wischte die letzten Tränenspuren von ihren Wangen ab und richtete sich mit übertriebener Würde auf. „Damon hasse ich nicht so sehr“, erklärte sie. „Es könnte sogar sein, daß ich ihn am Leben lasse.“ Ihre Augen verengten sich und weiteten sich wieder, als sie einen Einfall hatte. „Hör zu, Damon“, flüsterte sie verschwörerisch. „Du bist nicht so dumm wie Stefan. Du weißt, wie die Dinge wirklich sind. Ich habe selbst gehört, wie du es gesagt hast. Ich habe die Dinge gesehen, die du getan hast.“ Sie lehnte sich nach vorn. „Ich bin so einsam gewesen, seit Klaus tot ist. Du könntest mir Gesellschaft leisten. Du brauchst nur zu sagen, daß du mich am liebsten magst. Wenn ich sie dann getötet habe, werden wir fortgehen. Du darfst sogar das Mädchen töten, wenn du willst. Was hältst du davon?“ Oh, Gott, dachte Elena, erneut von Abscheu erfüllt. Damons Blick war auf Katherines große, blaue Augen gerichtet. Er schien ihr Gesicht zu durchforschen. Und die leichte Belustigung war in seine Miene zurückgekehrt. Oh, Gott, dachte Elena. Bitte, nicht... Langsam und nachlässig begann Damon zu lächeln. 15. KAPITEL Elena beobachtete Damon mit stummem Entsetzen. Sie kannte dieses hintergründige Lächeln nur zu gut.
Doch während ihr das Herz schwer wurde, stellte ihr der Verstand eine spöttische Frage. Welchen
Unterschied machte es schon? Sie und Stefan würden sowieso sterben, Es war nur vernünftig für Damon,
sich selbst zu retten. Und es war falsch zu erwarten, daß er gegen seine Natur handeln würde.
Sie betrachtete das schöne, launenhafte Gesicht und fühlte Trauer wegen dem, was Damon hätte sein
können.
Katherine erwiderte sein Lächeln erfreut. „Wir werden so glücklich miteinander sein. Wenn sie einmal tot
sind, werde ich dich freilassen. Ich wollte dir nicht weh tun. Nicht wirklich. Ich war nur so zornig.“ Sie
streckte ihre Hand aus und streichelte seine Wange. „Es tut mir leid.“
„Katherine“, sagte er und lächelte immer noch.
„Ja.“ Sie lehnte sich näher heran.
„Ja, Damon?“
„Fahr zur Hölle.“
Elena zuckte vor dem zurück, was als nächstes geschah, noch bevor es einsetzte. Sie fühlte den Ausbruch
wilder Kraft. Bösartiger, ungezügelter Kraft. Sie schrie auf, als Katherine sich verwandelte. Das liebliche
Gesicht verzerrte sich zu etwas, das weder Mensch noch Tier war. Ein rotes Glühen erschien in ihren Augen,
als sie über Damon herfiel und ihre langen Fänge in seine Kehle senkte.
Messerscharfe Klauen fuhren aus ihren Fingernägeln, und sie zerriß damit Damons bereits verwundete
Brust, zerfetzte seine Haut, während das Blut in Strömen floß. Elena schrie und schrie und spürte nur
flüchtig den Schmerz in ihren Armen, während sie gegen die Fesseln ankämpfte. Sie hörte Stefan ebenfalls
schreien, aber über allem den ohrenbetäubenden Klang von Katherines telepathischer Stimme.
Jetzt wird es dir leid tun! Jetzt werde ich dafür sorgen, daß du es bereust! Ich werde dich töten! Ich werde dich töten! Töten! Töten! Schon allein die Worte schmerzten. Sie waren wie Dolche, die sich in Elenas Verstand bohrten. Die unbändige Kraft dahinter lähmte sie und schleuderte sie zurück gegen die Eisenstäbe. Aber es gab kein Entkommen vor ihnen. Das Echo umgab sie von allen Seiten und hämmerte sich in ihren Kopf. Ich töte dich! Töte dich! Töte dich! Elena wurde ohnmächtig.
Meredith kauerte neben Tante Judith in der Abstellkammer, verlagerte ihr Gewicht und versuchte, die Laute
draußen vor der Tür zu deuten. Die Hunde waren in den Keller eingedrungen. Sie war sich nicht sicher, wie,
eigentlich konnten sie nur mit ihren Schnauzen die Kellerfenster zerbrochen haben. Jetzt waren sie vor der
Abstellkammer, aber Meredith konnte nicht erkennen, was sie taten. Es war totenstill.
Margaret, die auf Roberts Schoß saß, wimmerte kurz auf.
„Still“, flüsterte Robert schnell. „Es wird alles wieder gut, Liebling. Alles wird wieder gut.“
Meredith begegnete seinem entschlossenen Blick über Margarets blonden Locken. Und wir hatten dich
schon beinahe zur „anderen Macht“ gestempelt, dachte sie. Aber jetzt war nicht die Zeit, darüber
nachzudenken.
„Wo ist Elena? Elena hat versprochen, daß sie mich beschützen wird“, fragte Margaret mit weit
aufgerissenen, ernsten Augen. „Und daß sie sich immer um mich kümmern wird.“
Tante Judith legte sich entsetzt die Hand auf den Mund.
„Das tut sie auch“, flüsterte Meredith. „Sie hat mich nur als Stellvertreterin geschickt. Das ist die Wahrheit“,
fügte sie heftig hinzu und sah, wie Roberts vorwurfsvoller Blick sich in Verwunderung wandelte.
Draußen hatte die Stille kratzenden und kauenden Geräuschen Platz gemacht. Die Hunde hatten begonnen,
die Tür zu bearbeiten.
Robert drückte Margarets Kopf fester an seine Brust.
Bonnie wußte nicht, wie lange sie schon gearbeitet hatten. Stunden bestimmt. Eher eine Ewigkeit. Die
wilden Hunde waren durch die Küche und durch die alten Holztüren an der Seite eingedrungen. Bisher war
nur ungefähr ein Dutzend an den Barrikaden aus Feuer vorbeigekommen, die vor den Öffnungen errichtet
worden waren. Und die Männer mit den Gewehren hatten sich um die meisten von ihnen gekümmert.
Aber Mr. Smallwood und seine Leute standen jetzt ohne Munition da. Und auch das brennbare Material
drohte zur Neige zu gehen.
Vickie war irgendwann am Abend hysterisch geworden. Sie hatte geschrien und sich den Kopf gehalten, als
hätte sie schreckliche Schmerzen. Schließlich war sie ohnmächtig geworden.
Bonnie ging zu Matt, der über das Feuer hinweg zu der demolierten Tür schaute. Sie wußte, er hielt nicht
nach den Hunden Ausschau, sondern nach etwas, das viel weiter entfernt war. Etwas, das man von hier nicht
erkennen konnte.
„Du mußtest gehen, Matt“, sagte sie. „Es gab nichts, was du noch hättest tun können.“ Er antwortete weder,
noch drehte er sich um.
„Die Morgendämmerung bricht bald an. Vielleicht geben die Hunde dann auf.“ Aber selbst, während sie die
Worte aussprach, glaubte sie nicht daran.
Matt schwieg immer noch. Bonnie berührte seine Schulter. „Stefan ist bei ihr. Stefan ist da.“
Endlich gab Matt eine Regung von sich. Er nickte. „Stefan ist da.“
Wild knurrend brach ein weiterer Schatten aus der Dunkelheit.
Es war viel später, als Elena langsam wieder zu Bewußtsein kam. Sie wußte es, weil sie jetzt sehen konnte.
Graues, kaltes Dämmerlicht fiel von oben durch die Öffnung der Krypta hinein und mischte sich in den
Schein der Handvoll Kerzen, die Katherine vor einiger Zeit angezündet hatte.
Sie konnte Damon erkennen. Er lag auf dem Rücken, seine Fesseln waren genauso wie seine Kleider
zerfetzt. Das Licht war hell genug, - um das volle Ausmaß seiner Verletzungen zu sehen. Elena fragte sich,
ob er überhaupt noch am Leben war. So reglos, wie er dalag, konnte er genausogut tot sein.
Damon? dachte sie. Erst danach fiel ihr auf, daß sie den Namen nicht ausgesprochen hatte. Irgendwie hatte
Katherines Schreien einen Kreis in ihrem Kopf geschlossen oder vielleicht etwas Schlafendes geweckt. Und
Matts Blut hatte zweifellos mitgeholfen und ihr die Stärke gegeben, endlich ihre telepathische Stimme zu
finden.
Sie wandte den Kopf zur anderen Seite. Stefan?
Sein Gesicht war schmerzverzerrt, aber er war voll bei Bewußtsein. Fast zu bewußt. Elena wünschte sich
beinahe, daß er dem, was passierte, so gefühllos wie Damon gegenüberstehen würde.
Elena, erwiderte er.
Wo ist sie? Elena ließ ihre Blicke langsam durch den Raum schweifen.
Stefan schaute zur Öffnung der Krypta. Sie ist vor einer Weile dort hinaufgegangen. Vielleicht, um nachzusehen, was die Hunde machen. Elena hatte geglaubt, das Maß an Furcht und Entsetzen sei für sie voll erreicht, aber das stimmte nicht. Sie
hatte nicht an die anderen gedacht.
Elena, es tut mir leid. Stefans Gesicht sagte, was er mit Worten nicht ausdrücken konnte.
Es ist nicht deine Schuld, Stefan. Du hast ihr das nicht angetan. Sie hat es selbst verursacht. Oder es ist
geschehen, weil sie ist, was sie ist. Was wir sind. Elena erinnerte sich daran, wie sie Stefan im Wald
angegriffen und was sie gefühlt hatte, als sie zu Mr. Smallwood rannte und ihre Rache plante. Ich hätte es
sein können, sagte sie.
Nein! Du hättest nie so werden können.
Elena schwieg. Wenn sie jetzt die Kraft hätte, was würde sie mit Katherine tunt? Besser - was würde sie ihr
nicht antun wollen? Aber sie wußte, es würde Stefan nur aufregen, wenn sie weiter darüber sprach.
Ich dachte, Damon würde uns verraten, sagte sie statt dessen.
Ich auch. Stefan betrachtete seinen Bruder mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck.
Haßt du ihn immer noch?
Stefans Blickverdüsterte sich. Nein, erwiderte er leise. Nein, ich hasse ihn nicht mehr.
Elena nickte. Irgendwie war das sehr wichtig. Dann zuckte sie zusammen. Alle Nerven waren zum
Zerreißen angespannt, als etwas den Eingang zur Krypta verdunkelte. Stefan erstarrte ebenfalls.
Sie kommt, Elena...
Ich liebe dich, Stefan, gestand Elena hoffnungslos, als ein nebelhafter, weißer Schatten herunterwirbelte.
Katherine nahm vor ihnen Gestalt an.
„Ich weiß nicht, wie das passieren konnte“, erklärte sie verstimmt. „Aber du blockierst meinen Tunnel.“ Sie
schaute hinter Elena zu dem Loch in der Wand. „Ich habe ihn benutzt, um zu kommen und zu gehen“, fuhr
sie fort und schien dabei Damons Körper zu ihren Füßen keinerlei Beachtung zu schenken. „Er verläuft
unter dem Fluß. So muß ich fließendes Wasser nicht überqueren. Statt dessen unterlaufe ich es, wenn man so
will.“ Sie schaute von einem zum anderen, als erwarte sie Applaus für den Witz.
Natürlich, dachte Elena. Wie konnte ich nur so dumm sein? Damon ist in Alarics Wagen mit uns über den
Fluß gefahren. Er hat damals fließendes Wasser überquert und sicher schon viele Male zuvor. Er konnte gar
nicht die „andere Macht“ sein.
Komisch, daß ihr jetzt so etwas einfiel, obwohl sie so verängstigt war. Es schien, als würde ein Teil ihres
Verstandes das Schauspiel aus der Entfernung betrachten.
„Ich werde euch jetzt töten“, verkündete Katherine im Plauderton. „Dann werde ich unter dem Fluß zur
Stadt gehen und eure Freunde vernichten. Die Hunde haben es bisher, glaube ich, noch nicht geschafft. Aber
ich werde mich selbst darum kümmern“, fügte sie hinzu.
„Laß Elena frei“, bat Stefan. Seine Stimme klang gedämpft, doch gleichzeitig zwingend.
„Ich habe mich noch nicht entschieden, wie ich es tun werde.“ Katherine achtete nicht auf ihn. „Ich könnte
euch rösten. Das Licht ist jetzt fast hell genug. Und ich habe das hier.“ Sie griff in den Ausschnitt ihres
Kleides. „Eins, zwei, drei“, sagte sie und ließ zwei silberne und einen goldenen Ring auf den Boden fallen.
Ihre Steine waren so blau wie Katherines Augen, blau wie der Edelstein in dem Halsband um ihren Hals.
Elena verdrehte hektisch die Hand und fühlte die Blöße an ihrem Ringfinger. Es stimmte. Sie hätte niemals
geglaubt, wie nackt sie sich ohne den kleinen Metallreif fühlen würde. Er war notwendig für ihr Leben, für
ihr Überleben. Ohne ihn...
„Ohne die werdet ihr sterben“, erklärte Katherine und schob die Ringe nachlässig mit der Fußspitze hin und
her. „Aber ich weiß nicht, ob langsam genug.“ Sie ging fast bis zum anderen Ende der Krypta zurück. Ihr
silbernes Kleid schimmerte im dämmrigen Licht.
Da kam Elena der Einfall.
Sie konnte ihre Hände bewegen. Jedenfalls genug, um die eine mit der anderen zu berühren, und genug, um
zu wissen, daß sie nicht mehr taub waren. Die Fesseln hatten sich gelöst.
Aber Katherine war stark. Unglaublich stark. Und auch schneller als Elena. Selbst wenn Elena sich befreien
konnte, hatte sie nur Zeit für eine blitzartig ausgeführte Tat.
Sie drehte das eine Handgelenk und fühlte, wie die Seile nachgaben.
„Es gibt noch andere Arten“, überlegte Katherine gerade. „Ich könnte euch schneiden und zusehen, wie ihr
blutet. Ich spiele gern den Zuschauer.“
Elena biß die Zähne zusammen und verstärkte den Druck auf das Seil. Ihre Hand war auf qualvolle Art
verdreht, aber sie machte weiter und fühlte, wie die Fessel zur Seite glitt.
„Oder Ratten“, meinte Katherine nachdenklich. „Ratten könnten auch Spaß machen. Ich könnte ihnen
befehlen, wann sie anfangen sollen und wann aufhören.“
Die andere Hand zu befreien, war viel einfacher. Elena versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, was hinter
ihrem Rücken geschah. Sie hätte gern Stefan auf telepathischem Weg gerufen, doch sie wagte es nicht.
Nicht, wenn auch nur die geringste Chance bestand, daß Katherine es hören konnte.
Katherines Hin- und Herlaufen hatte sie geradewegs zu Stefan geführt. „Ich glaube, ich werde mit dir
anfangen“, sagte sie und schob ihr Gesicht nah an ihn heran. „Ich bin wieder hungrig. Und du bist so süß,
Stefan. Ich hatte ganz vergessen, wie süß.“
Auf dem Boden befand sich ein Rechteck aus grauem Licht. Die Morgendämmerung. Es fiel durch die
Öffnung der Krypta herein. Katherine war bereits draußen in diesem Licht gewesen. Aber...
Katherine lächelte plötzlich. Ihre blauen Augen strahlten. „Ich weiß! Ich werde dich fast aussaugen und dich
dann zwingen zuzuschauen, wie ich sie töte. Ich werde gerade genug Kraft in dir übriglassen, daß du sie
sterben siehst, bevor du selbst stirbst. Ist das nicht ein guter Plan?“ Sie klatschte fröhlich in die Hände,
machte wieder eine Pirouette und tanzte davon.
Nur noch einen Schritt, dachte Elena. Sie beobachtete, wie sich Katherine dem Rechteck aus Licht näherte.
Nur noch ein Schritt...
Katherine machte den Schritt. „Das ist es!“ Sie begann, sich zu drehen. „Was für eine gute...“
Jetzt!
Elena riß ihre verkrampften Arme aus den letzten Schlingen der Fessel und stürzte sich auf sie. Es war wie
der Angriff einer verletzten Katze. Ein verzweifelter Sprung, um das Opfer zu erreichen. Nur ein Versuch.
Nur eine Hoffnung.
Sie traf Katherine mit ihrem vollen Gewicht. Der Aufprall schleuderte beide in das Rechteck aus Licht. Sie
fühlte, wie Katherines Kopf auf dem Steinboden aufschlug.
Und spürte einen entsetzlichen Schmerz, als ob ihr eigener Körper in Gift getaucht worden wäre. Es war ein
Gefühl wie das brennende Ausgedörrt sein, das den Hunger begleitet, nur viel stärker. Tausendmal stärker.
Und unerträglich.
„Elena!“ schrie Stefan.
Stefan, dachte sie. Unter ihr sammelte sich die Kraft, als Katherines erstaunter Blick sich auf sie
konzentrierte. Ihr Mund verzog sich voll rasender Wut, die messerscharfen Fangzähne schossen hervor. Sie
waren so lang, daß sie ihr in die Unterlippe schnitten. Das verzerrte Maul öffnete sich zu einem Heulen.
Elena tastete mit ungeschickter Hand nach Katherines Hals. Ihre Finger schlossen sich um das kühle Metall
von Katherines Halsband. Mit all ihrer Kraft riß sie daran und fühlte, wie die Kette nachgab. Sie versuchte,
sie an sich zu nehmen, doch ihre Finger waren zu dick und steif, und Katherine griff wie wild danach. Die
Kette wurde in den Schatten geschleudert.
„Elena!“ schrie Stefan entsetzt.
Sie fühlte sich, als würde ihr Körper mit Licht erfüllt. Als ob sie durchsichtig würde. Nur, daß das Licht
Schmerz bedeutete. Unter ihr schaute Katherines verzerrtes Gesicht direkt in den Winterhimmel. Statt eines
Heulens erklang jetzt ein Schreien, das immer höher wurde.
Elena versuchte wegzurobben, aber ihr fehlte die Kraft. - In Katherines Gesicht erschienen Risse aus Feuer
und verzehrten es. Das Schreien erreichte einen schrecklichen Höhepunkt. Katherines Haar ging in Flammen
auf, ihre Haut wurde schwarz. Elena spürte das Feuer über und unter sich.
Dann packte sie jemand bei den Schultern und riß sie fort. Die Kühle der Schatten war wie Eiswasser.
Jemand drehte sie herum und umarmte sie behutsam.
Sie sah, daß Stefans Arme dort roh und blutig waren, wo sie der Sonne ausgesetzt gewesen waren und er
sich von den Fesseln losgerissen hatte. Sie sah sein Gesicht, das erfüllt war von unermeßlichem Entsetzen
und Leid. Dann verschwamm ihr Blick, und sie sah nichts mehr.
Meredith und Robert, die auf die blutbefleckten Schnauzen der Hunde schlugen, die durch das Loch in der
Tür drängten, hielten verwirrt inne. Die schrecklichen Zähne hatten aufgehört, nach ihnen zu schnappen.
Eine der Schnauzen zuckte und drehte sich weg. Meredith sah, daß die Augen der Hunde benommen und
milchig waren. Die Tiere bewegten sich nicht mehr. Sie blickte zu Robert, der keuchend innehielt.
Aus dem Keller drang kein Geräusch mehr. Alles war still. Aber sie wagten noch nicht, zu hoffen.
Vickies irres Schreien hörte abrupt auf. Der Hund, der seine Zähne in Matts Schenkel gesenkt hatte,
erstarrte. Ein heftiges Zucken überlief ihn, dann gab er Matt frei. Nach Atem ringend, schaute Bonnie hinter
das verlöschende Feuer. Es war gerade hell genug, um Körper anderer Hunde zu erkennen, die draußen
lagen, wo sie hingefallen waren.
Sie und Matt lehnten sich aneinander und sahen sich verwirrt um.
Es hatte endlich aufgehört zu schneien.
Langsam öffnete Elena die Augen.
Alles war klar und ruhig.
Sie war froh, daß das kreischende Schreien vorbei war. Das war schlimm gewesen. Es hatte geschmerzt.
Jetzt tat nichts mehr weh. Sie fühlte sich, als sei ihr Körper wieder mit Licht erfüllt. Aber diesmal war kein
Schmerz dabei. Es war, als ob sie schwebte, sehr hoch und leicht, auf großen Wogen von Luft. Sie fühlte
sich fast, als hätte sie keinen Körper mehr.
Elena lächelte.
Den Kopf zu bewegen, tat nicht weh, obwohl es das leichte, schwebende Gefühl verstärkte. In dem blechen
Rechteck des Lichts auf dem Boden sah sie die rauchenden Überreste eines silbernen Kleides. Katherines
Lüge von vor fünfhundert Jahren war Wirklichkeit geworden.
Das war es also. Elena schaute fort. Sie wünschte jetzt niemandem etwas Böses und wollte keine Zeit auf
Katherine verschwenden. Es gab so viele wichtigere Dinge.
„Stefan“, begann sie, seufzte und lächelte. Oh, das war so schön. So mußte ein Vogel sich fühlen.
„Ich wollte nicht, daß es so endet“, fuhr sie leise und ein wenig bedauernd fort. Seine grünen Augen waren
naß. Sie füllten sich wieder, doch er erwiderte ihr Lächeln.
„Ich weiß“, sagte er. „Ich weiß, Elena.“
Er verstand. Und das war gut, das war wichtig. Es war jetzt leicht, die Dinge zu erkennen, die wirklich
zählten. Und Stefans Verständnis bedeutete ihr mehr als alles andere auf der Welt.
Es schien ihr unendlich lange her zu sein, seit sie ihn richtig betrachtet hatte. Seit sie sich die Zeit
genommen hatte, zu würdigen, wie schön er war, mit seinem dunklen Haar und den Augen, grün wie
Eichenblätter. Aber sie erkannte es jetzt und sah seine Seele durch seine Augen scheinen. Es war es wert,
dachte sie. Ich wollte nicht sterben, ich will es auch jetzt nicht. Aber ich würde es wieder so machen, wenn
ich müßte.
„Ich liebe dich“, flüsterte er und drückte ihre ineinander verschlungenen Hände.
Diese merkwürdige, einschläfernde Leichtigkeit wiegte sie sanft. Sie konnte Stefans Umarmung kaum
spüren.
Eigentlich hatte sie geglaubt, schreckliche Angst haben zu müssen. Aber sie fürchtete sich nicht. Nicht,
solange Stefan bei ihr war.
„Die Menschen auf dem Ball. Sie sind jetzt in Sicherheit, nicht wahr?“ fragte sie.
„Sie sind in Sicherheit“, erwiderte Stefan. „Du hast sie gerettet.“
„Ich habe mich nicht von Bonnie und Meredith verabschiedet. Oder von Tante Judith. Du mußt ihnen sagen,
daß ich sie liebe.“
„Das werde ich“, versprach Stefan.
„Du kannst es ihnen selbst sagen“, keuchte eine andere Stimme. Sie klang heiser und wie aus der Übung.
Damon hatte sich über den Boden an sie herangezogen. Sein Gesicht war verwüstet und blutverkrustet, aber
seine dunklen Augen brannten sich in ihre. „Benutze deinen Willen, Elena. Halte durch. Du hast die Kraft...“
Sie lächelte ihn unsicher an. Sie kannte die Wahrheit. Was jetzt geschah, war nur das Ende von dem, was
vor zwei Wochen begonnen hatte. Sie hatte dreizehn Tage gehabt, um die Dinge in Ordnung zu bringen, sich
bei Matt zu entschuldigen und sich von Margaret zu verabschieden. Und Stefan zu sagen, daß sie ihn liebte.
Doch die Gnadenfrist war nun vorbei.
Trotzdem gab es keinen Grund, Damon zu verletzen. Sie liebte ihn ja auch. „Ich werde es versuchen“,
versprach sie ihm.
„Wir bringen dich nach Hause“, sagte er.
„Aber noch nicht“, wies sie ihn sanft ab. „Warten wir noch ein kleines Weilchen.“
Etwas geschah in seinen unergründlichen, dunklen Augen, und sie sah, wie der Funke der Willenskraft in
ihnen erlosch. Dann erkannte sie, daß Damon es auch wußte.
„Ich habe keine Angst“, versicherte sie ihm. „Nun, vielleicht ein bißchen.“ Benommenheit hatte sie
überfallen. Sie fühlte sich sehr wohl, aber auch so, als würde sie jeden Moment einschlafen. Die Dinge
entglitten ihr.
Sie fühlte einen Schmerz in ihrer Brust. Keine Furcht, sondern Bedauern. Es gab so viel, was sie vermissen
würde, so viele Dinge, die sie gern noch getan hätte.
„Oh“, flüsterte sie. „Wie merkwürdig!“
Die Wände der Krypta schienen zu schmelzen. Sie waren jetzt grau und wolkig, und es gab so etwas wie
einen Eingang dort, wie eine Tür, die sich zu einem unterirdischen Raum öffnet. Nur, daß es ein Eingang zu
einem anderen Licht war.
„Wie wunderschön“, murmelte sie. „Stefan? Ich bin so müde.“
„Du kannst dich jetzt ausruhen“, flüsterte er.
„Du wirst mich nicht verlassen?“
„Nein.“
„Dann werde ich keine Angst haben.“
Etwas glänzte auf Damons Gesicht. Sie beugte sich zu ihm, berührte es und hob verwundert ihre Finger.
„Sei nicht traurig“, tröstete sie ihn und fühlte die kühle Feuchtigkeit auf ihren Fingerspitzen. Doch etwas
machte ihr Sorgen. Wer würde Damon jetzt verstehen? Wer würde dasein, um ihn voranzutreiben, und
versuchen zu sehen, was wirklich in ihm steckte?
„Ihr müßt jetzt füreinander sorgen“, sagte sie, als sie das erkannte. Ein wenig Kraft kam zu ihr zurück, wie
eine Kerzenflamme, die im Windstoß noch einmal aufflackert. „Stefan, willst du es mir versprechen?
Versprechen, daß ihr euch umeinander kümmert?“
„Ich verspreche es. Oh, Elena.“
Wogen von Schläfrigkeit überfielen sie. „Das ist gut, Stefan. Das ist gut.“
Der Eingang rückte näher, so nah, daß sie ihn berühren konnte. Sie fragte sich, ob ihre Eltern irgendwo
dahinter waren.
„Zeit, nach Hause zu gehen“, flüsterte sie.
Und dann verschwanden die Schatten und die Dunkelheit, und es gab nur noch Licht.
Stefan hielt sie, während sich ihre Augen schlossen. Und dann hielt er sie weiter und ließ den Tränen freien
Lauf, die er zurückgehalten hatte. Es war ein anderer Schmerz als damals, als er sie aus dem Fluß gezogen
hatte. Jetzt lag kein Zorn darin, kein Haß, nur Liebe, eine Liebe, die ewig währen würde.
Doch der Schmerz war um so tiefer.
Er schaute auf das Rechteck aus Sonnenlicht, das nur einen oder zwei Schritte von ihm entfernt war. Elena
war in dieses Licht gegangen. Sie hatte ihn hier allein zurückgelassen.
Nicht für lange, dachte er.
Sein Ring lag auf dem Boden. Er warf nicht einmal einen Blick darauf, als er aufstand, seine Augen auf den
Sonnenstrahl gerichtet.
Eine Hand griff nach seinem Arm und zog ihn zurück.
Stefan schaute in das Gesicht seines Bruders.
Damons Augen waren dunkel wie die Nacht, und er hielt Stefans Ring. Während Stefan zusah, unfähig, sich
zu bewegen, steckte er ihm den Ring auf den Finger und ließ ihn los.
„Jetzt“, sagte er und ließ sich mit schmerzverzerrtem Gesicht zurücksinken, „kannst du hingehen, wohin du
willst.“ Er hob den Ring auf, den Stefan Elena gegeben hatte, und hielt ihn ihm ebenfalls hin. „Der gehört
dir auch. Nimm ihn. Nimm ihn und geh.“ Er wandte das Gesicht ab.
Stefan starrte lange Zeit auf den kleinen, goldenen Kreis in seiner Handfläche. Dann schlossen sich seine
Finger darüber, und er schaute zurück zu Damon. Sein Bruder hatte die Augen geschlossen, sein Atem ging
in abgehackten Zügen. Er wirkte erschöpft und schien große Schmerzen zu haben.
Und Stefan hatte Elena ein Versprechen gegeben.
„Komm“, sagte er leise und steckte den Ring in die Tasche. „Gehen wir irgendwohin, wo du dich ausruhen
kannst.“
Er legte den Arm um seinen Bruder, um ihm aufzuhelfen. Und dann hielt er ihn einfach nur in seinen
Armen.
16. KAPITEL
Montag, 16. Dezember Stefan hat mir dies gegeben. Er hat mir ohnehin das meiste aus seinem Zimmer hinterlassen. Erst habe ich gesagt, ich will die Sachen nicht, weil ich nicht wußte, was ich damit tun sollte. Aber jetzt habe ich eine Idee. Die Menschen fangen schon an zu vergessen. Sie erzählen die Einzelheiten falsch und fügen Dinge aus ihrer Phantasie hinzu. Und vor allem erfinden sie tausend Erklärungen. Daß gar nichts Übernatürliches im Spiel war, und daß es für alles eine logische Erklärung gibt. Das ist einfach dumm, aber es gibt keinen Weg, sie davon abzuhalten, besonders die Erwachsenen. Die sind die Schlimmsten. Sie behaupten, die Hunde seien einfach hysterisch geworden oder so etwas. Die Tierärzte haben einen neuen Namen erfunden für eine Art Tollwut, die von Fledermäusen übertragen wird. Meredith kann darüber lachen. Ich find's nur blöd. Die Kids benehmen sich ein bißchen besser. Besonders die, die auf dem Ball waren. Auf einige können wir uns wirklich verlassen. Auf Sue Carson und Vickie, zum Beispiel. Vickie hat sich in den letzten zwei Tagen so sehr verändert, daß es fast an ein Wunder grenzt. Sie ist nicht mehr so wie in den letzten zweieinhalb Monaten, aber auch nicht so wie früher. Da war sie ein richtiges Dummchen und trieb sich mit zwielichtigen Typen herum. Aber jetzt ist sie okay. Selbst Caroline ist inzwischen zu ertragen. Beim ersten Trauergottesdienst hatte sie sich nicht zu Wort gemeldet, aber bei diesem. Sie sagte, daß Elena eigentlich die Ehre der Winterballkönigin gebührt hätte und nicht ihr. Damit hat sie im Grunde zwar nur Sue Carsons Rede wiederholt, aber das war wohl das Beste, was Caroline zustande bringen konnte. Es war eine nette Geste. Elena sah so friedlich aus. Nicht wie eine Wachspuppe, sondern als würde sie schlafen. Ich weiß, das wird bei einer Beerdigung immer behauptet, doch diesmal ist es wirklich wahr. Aber nachher sprachen die Menschen davon, daß sie wie durch ein Wunder vor dem Ertrinken gerettet wor den sei und von solchen Sachen. Und behaupteten, sie sei an einer Embolie oder irgendeiner anderen Krankheit gestorben. Was absurd ist. Und da kam mir der Einfall. Ich werde ihr anderes Tagebuch aus dem Schrank holen. Und ich werde Mrs. Grimesby bitten, beide Tagebücher in der Bibliothek auszustellen. Nicht in einem Glaskasten wie bei Honoria Fell, sondern so, daß jeder sie ausleihen und lesen kann. Weil die Wahrheit drinsteht. Die wahre Geschichte. Und ich möchte nicht, daß jemand sie vergißt. Ich glaube, daß die Kids sich sowieso erinnern werden. Ich sollte auch niederschreiben, was mit dem Rest der Menschen hier geschehen ist. Elena würde es wollen. Tante Judith geht es gut, obwohl sie eine der Erwachsenen ist, die nicht mit der Wahrheit fertig werden. Sie braucht eine logische Erklärung. Sie und Robert werden Weihnachten heiraten. Das wird gut für Margaret sein. Margaret hat die richtige Einstellung. Beim Gottesdienst hat sie mir erklärt, daß sie Elena und ihre Eltern eines Tages wiedersehen wird. Aberjetzt sei es zu früh dazu, weil sie noch viele Dinge hier zu erledigen hat. Ich weiß nicht, woher sie das hat. Für eine Vierjährige ist sie sehr klug. Meredith und Alaric geht es auch gut. Wie könnte es anders sein. Als sie sich an jenem schrecklichen Morgen wiedersahen, nachdem alles sich beruhigt hatte und wir mit dem Aufräumen begonnen hatten, sind sie sich praktisch in die Arme gefallen. Das wird der Beginn einer heißen Lovestory Meredith behauptet zwar, sie wird erst ernsthaft darüber nachdenken, wenn sie achtzehn ist und den Schulabschluß gemacht hat. Typisch, absolut typisch. Alle anderen haben jemanden. Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, eines der Rituale meiner Großmutter auszuprobieren, nur um zu sehen, ob ich überhaupt jemals heiraten werde. Dabei gibt's hier nicht mal einen, den ich überhaupt heiraten wollte. Na ja, Matt vielleicht. Matt ist nett. Aber im Moment hat er nur ein Mädchen im Kopf. Ich weiß nicht, ob sich das jemals ändern wird. Nach dem Gottesdienst heute hat er Tyler die Nase eingeschlagen, weil er etwas Abfälliges über sie gesagt hat. Tyler ist der einzige, der sich nie ändern wird, egal, was geschieht. Er wird immer der hinterlistige, ver schlagene Blödmann bleiben, der er jetzt ist. Stefan konnte Tyler nicht verprügeln, weil er nicht da war. Es gibt noch immer viele in der Stadt, die glauben, daß er Elena getötet hat. Er muß es gewesen sein, behaupten sie, denn sonst war niemand da. Katherines Asche war überall verstreut, als das Rettungsteam in die Krypta eindrang. Stefan sagte, daß sie so leicht in Flammen aufgegangen ist, lag daran, daß sie so alt war. Außerdem meinte er, daß es ihnen
schon beim ersten Mal hätte auffallen müssen. Ein junger Vampir verbrennt nicht so zu Asche. Er stirbt
einfach, wie Elena.
Einige, wie Mr. Smallwood und seine Freunde, würden Damon gern anklagen, wenn sie ihn nur in die
Finger kriegen könnten. Aber das gelingt ihnen nicht. Er war nicht da, als sie das Grab erreichten, weil
Stefan ihm geholfen hatte zu fliehen. Stefan will nicht verraten, wohin. Ich vermute, irgendwo in den Wald.
Vampire müssen sehr schnell heilen, denn heute, als ich Stefan nach dem Gottesdienst traf, erzählte er mir,
daß Damon Fell's Church verlassen hat. Er war darüber nicht glücklich. Ich glaube, Damon hatte ihm
vorher nichts davon gesagt. Jetzt ist die Frage: Was macht Damon? Beißt er weiter unschuldige Mädchen?
Oder ist er bekehrt? Ich würde auf keins von beidem wetten. Damon ist ein komischer Typ.
Aber super! Absolut super!
Stefan will auch nicht sagen, wo er hin will. Ich habe aber einen Verdacht. Damon könnte eine
Überraschung erleben, wenn er hinter sich blickt. Anscheinend hat Elena Stefan das Versprechen
abgenommen, über ihn zu wachen oder so was. Und Stefan nimmt Versprechen sehr, sehr ernst.
Ich wünsche ihm viel Glück. Er wird Elenas letzten Wunsch erfüllen, und das wird ihn glücklich machen. So
glücklich er ohne sie sein kann. Er trägt ihren Ring an einer Kette um den Hals.
Wenn ihr glaubt, daß einiges von dem so klingt, als würde ich mir nichts mehr aus Elena machen, dann zeigt
das nur, wie sehr ihr euch irrt. Meredith und ich haben den ganzen Samstag und fast den ganzen Sonntag
geweint. Und ich war so wütend, daß ich am liebsten um mich geschlagen hätte.
Ein Gedanke ging mir nicht aus dem Kopf: Warum Elena? Warum? Wo es doch so viele andere Menschen
gab, die in dieser Nacht hätten sterben können. Von der ganzen Stadt war sie die einzige.
Natürlich hat sie es getan, um die Stadt zu retten. Aber warum mußte sie ihr Leben geben? Es ist nicht fair.
Oh, jetzt fange ich wieder an zu weinen. Und ich kann nicht erklären, warum. Am liebsten würde ich auf
Honoria Fells Grab hämmern und sie fragen, ob sie's erklären kann. Aber sie würde ja doch nicht mehr mit
mir reden. Ich habe Elena geliebt. Und ich vermisse sie entsetzlich. Die ganze Schule tut das. Wie ein Licht,
das plötzlich erloschen ist. Robert sagte, das hatte ihr Name in Latein bedeutet: „Licht“.
Jetzt wird es immer einen Teil von mir geben, in dem das Licht erloschen ist.
Ich wünschte, ich hätte mich von ihr verabschieden können. Doch Stefan sagt, daß sie mir ihre Liebe
schickt. Ich werde versuchen, das als ein Licht anzusehen, das ich immer bei mir tragen werde.
Ich höre jetzt wohl besser auf zu schreiben. Stefan verläßt die Stadt. Matt, Meredith, Alaric und ich wollen
ihn verabschieden. Ich wollte gar nicht so ausführlich werden, schließlich habe ich nie Tagebuch geführt.
Aber ich möchte, daß die Menschen die Wahrheit über Elena erfahren. Sie war keine Heilige. Sie war nicht
immer lieb, nett, ehrlich und verständnisvoll. Aber sie war stark, hat ihre Freunde geliebt und immer zu
ihnen gestanden. Und am Ende hat sie das Selbstloseste getan, was nur möglich ist.
Meredith sagt, es bedeutet, daß sie das Licht statt der Dunkelheit gewählt hat. Ich möchte, daß alle es
wissen, damit sie sich immer daran erinnern.
So wie ich.
Bonnie McCullough
- ENDE DES DRITTEN TEILS -
4. Teil : Die Rache
1 . KAPITEL „Alles kann wieder so werden wie früher“, versicherte Caroline warm und drückte Bonnies Hand.
Aber das stimmte nicht. Niemals konnte es wieder so werden wie vor Elenas Tod. Bonnie überkam ein
mulmiges Gefühl bei dem Gedanken an das, was Caroline vorhatte. Irgend etwas sagte ihr, daß es eine sehr,
sehr schlechte Idee war.
„Meredith' Geburtstag ist doch schon vorbei“, warf sie ein. „Der war am letzten Samstag.“
„Das weiß ich. Aber sie hatte keine Party. Jedenfalls keine, wie ich sie für Meredith plane. Wir haben die
ganze Nacht Zeit. Meine Eltern kommen erst am Sonntagmorgen zurück. Nun sei kein Spielverderber,
Bonnie. Denk daran, wie überrascht Meredith sein wird.“
Oh, sie wird sehr überrascht sein, dachte Bonnie. So überrascht, daß sie mir hinterher den Hals umdreht.
Laut sagte sie: „Meredith wollte keine Fete. Ihr war nicht nach feiern zumute. Es schien ihr irgendwie...
pietätlos.“
„Genau das ist falsch. Elena würde wollen, daß wir uns amüsieren, das weißt du genau. Sie liebte Parties.
Und sie würde es hassen, uns sechs Monate nach ihrem Tod immer noch wie Trauerklöße herumsitzen zu
sehen.“ Caroline lehnte sich nach vorn. Ihre grünen Katzenaugen blickten ernst und bittend. Sie verstellte
sich nicht. Das war keins von Carolines üblichen bösen kleinen Spielen.
„Ich möchte, daß wir wieder Freundinnen werden“, fuhr sie fort. „Wir haben früher immer unsere
Geburtstage zusammen gefeiert, nur wir vier. Erinnerst du dich? Und weißt du noch, wie die Jungs jedes
Mal mit allen Tricks versucht haben, unsere Parties zu sprengen? Ob sie das wohl dieses Jahr auch machen
werden?“
Bonnie merkte, wie ihr die Kontrolle über die Situation entglitt. Eine ganz, ganz schlechte Idee, dachte sie
wieder. Doch Caroline redete immer weiter. Sie sah verträumt und fast romantisch aus, während sie von der
guten, alten Zeit sprach. Bonnie brachte es nicht übers Herz, ihr zu sagen, daß diese Zeiten nie
wiederkommen würden.
„Aber wir sind nicht mehr zu viert. Eine Party nur zu dritt macht doch keinen Spaß“, protestierte sie
schwach, als es ihr gelang, Carolines Redeschwall zu unterbrechen.
„Ich werde auch Sue Carson einladen. Meredith versteht sich doch mit ihr, oder?“
Bonnie mußte zugeben, daß das stimmte. Im Grunde mochte jeder Sue. Trotzdem, sie mußte Caroline
begreiflich machen, daß sie die Vergangenheit nicht zurückholen konnte. Man konnte nicht Sue als Ersatz
für Elena nehmen und behaupten, damit sei alles in Ordnung.
Wie soll ich es ihr nur erklären? dachte sie verzweifelt. Plötzlich hatte sie die Antwort. „Laden wir doch
Vickie Bennett ein.“
Caroline starrte sie fassungslos an. „Vickie Bennett? Du machst wohl Witze? Ich soll mit dieser Idiotin
einen ganzen Abend verbringen, die vor der vollbesetzten Cafeteria praktisch einen Striptease hingelegt hat?
Nach allem, was passiert ist?“
„Gerade deshalb!“ erwiderte Bonnie fest. „Okay, sie hat nie zu unserer Clique gehört. Aber sie zieht auch
nicht mehr mit den harten Typen rum. Sie wollen sie nicht mehr, und Vickie selbst fürchtet sich zu Tode vor
ihnen. Sie braucht neue Freunde. Wir brauchen Leute. Also?“
Einen Moment machte Caroline einen fast hilflosen Eindruck. Bonnie hatte trotzig das Kinn vorgeschoben,
die Hände in die Hüften gestemmt, und wartete. Schließlich seufzte Caroline. „Gut, du hast gewonnen. Ich
werde sie einladen. Aber du mußt dafür sorgen, daß Meredith am Samstagabend zu mir nach Hause kommt.
Und, Bonnie, kein Sterbenswörtchen! Ich möchte, daß es eine Überraschung für sie wird.“
„Oh, das wird es sicher“, sagte Bonnie bitter. Sie war weder auf Carolines offensichtliche Freude noch auf
die warme Umarmung vorbereitet, die folgte.
„Ich bin froh, daß du die Dinge so siehst wie ich. Es wird uns allen gut tun, mal wieder beisammenzusein.“
Sie versteht nichts, dachte Bonnie leicht benommen, als Caroline wegging. Was soll ich bloß machen, um es
ihr beizubringen? Sie k.o. schlagen?
Dann kam ihr ein weiterer unerfreulicher Gedanke. Oh, Gott. Jetzt muß ich es auch noch Meredith beichten!
Bis zum Abend war Bonnie jedoch zu dem Entschluß gekommen, daß Meredith gar nichts zu wissen
brauchte - Caroline wollte sie sowieso überraschen. Bonnie sollte ihr den Gefallen tun und eine völlig
ahnungslose Meredith bei ihr abliefern. So ersparte sie Meredith, sich vorher zu viele Gedanken zu machen.
Ja, sagte sich Bonnie. Es ist wahrscheinlich sogar das barmherzigste, sie im unklaren zu lassen.
Und wer weiß? schrieb sie Freitagabend in ihr Tagebuch, wäre doch gut möglich, daß ich zu hart zu
Caroline bin und all die Dinge, die sie uns angetan hat, ihr wirklich leid tun. Wie zum Beispiel der Versuch,
Elena vor der ganzen Stadt bloßzustellen und Stefan wegen Mordes ins Gefängnis zu bringen. Vielleicht ist
Caroline seither reifer geworden und hat gelernt, sich auch um andere zu kümmern und nicht mehr nur um sich selbst. Am Ende amüsieren wir uns wirklich auf ihrer Party, und es ist wie früher. Und mich kidnappen vielleicht vor morgen nachmittag fremde Wesen aus dem All, dachte sie, während sie
das Tagebuch schloß. Man konnte immerhin hoffen.
Das Büchlein hatte sie billig im Kaufhaus gekauft. Sein Deckel war mit kleinen Blumen bedruckt. Sie führte
erst seit Elenas Tod ein Tagebuch, aber inzwischen wollte sie es nicht mehr missen. Es war der einzige
Platz, an dem sie alles sagen konnte, was sie wollte, ohne daß man sie mit hochgezogenen Augenbrauen
ansah und ausrief: „Bonnie McCullough!“ oder seufzte: „Aber, Bonnie?“
Ihre Gedanken waren noch bei Elena, als sie das Licht ausmachte und unter die Bettdecke kroch.
Bonnie saß auf einem üppigen, gepflegten Rasen, der in alle Richtungen ins Endlose zu reichen schien. Der
Himmel war makellos blau, die Luft warm und voller Blütenduft. Vögel sangen.
„Ich bin so froh, daß du kommen konntest“, sagte Elena.
„Oh, ja“, antwortete Bonnie. „Ich natürlich auch.“ Sie sah sich um und dann wieder schnell zu Elena.
„Noch Tee?“
Bonnie hielt eine Teetasse in der Hand. Sie war aus feinstem Porzellan und eierschalendünn. „Ja, danke.“
Elena trug ein romantisches, weißes Jugendstilkleid. Es war aus zartem Musselin. Der Stoff schmiegte sich
an ihren Körper und machte deutlich, wie schlank sie war. Sie goß den Tee mit einer eleganten Bewegung
ein, ohne einen Tropfen zu verschütten.
„Eine Maus dazu?“
„Eine WAS?“
„Ich sagte, hättest du gern ein Sandwich zum Tee?“
„Oh, ein Sandwich. Ja. Prima.“ Es bestand aus hauchdünnen Gurkenscheiben mit Mayonnaise auf einem
kleinen, viereckigen Stück Weißbrot, ohne Rinde, natürlich.
Die ganze Szene war unwirklich schön. Wie gemalt von Seurat. Wir sind in Warm Springs, dachte Bonnie.
An unserem alten Picknickplatz. Aber sicher gibt es wichtigere Dinge zu besprechen als diese Szene hier.
„Wer macht dir eigentlich das Haar?“ fragte sie. Elena war nie allein mit ihrer Frisur fertiggeworden.
„Gefällt es dir?“ Elena strich sich mit der Hand über ihre seidige, hellblonde Haarpracht, die im Nacken zu
einem losen Knoten zusammengefaßt war.
„Es ist perfekt.“ Bonnie kam sich vor wie ihre eigene Mutter.
„Das Haar ist sehr wichtig, weißt du“, erwiderte Elena und sah Bonnie eindringlich an. Ihre Augen waren
tiefer blau als der Himmel. Lapislazuliblau. Verlegen fuhr sich Bonnie durch die eigenen widerspenstigen
roten Locken.
„Natürlich ist auch Blut wichtig.“
„Blut? Ja, klar.“ Bonnie hatte keine Ahnung, wovon Elena sprach. Plötzlich hatte sie das Gefühl, auf einem
strafgespannten Seil über einem Fluß voller Krokodile zu balancieren. „Ja, Blut ist auch wichtig“, stimmte
sie schwach zu.
„Noch ein Sandwich?“
„Danke.“ Dieses war mit Käse und Tomaten belegt. Elena nahm sich selbst auch eins und biß geziert hinein.
Bonnie beobachtete sie. Ihre bösen Ahnungen wuchsen von Minute zu Minute, und dann...
Dann sah sie den Schlamm an den Seiten des Sandwichs hervorquellen.
„Was... was ist das?“ Vor lauter Angst hörte sich ihre Stimme ganz schrill an. Zum ersten Mal war der
Traum wirklich ein Traum. Bonnie merkte, daß sie wie gelähmt war. Sie konnte nur keuchend Luft holen
und fassungslos zusehen. Ein dicker Spritzer des dunklen Zeugs fiel aus Elenas Sandwich auf das karierte
Tischtuch. Kein Zweifel, es war Schlamm.
„Elena... Elena, was hat das...“
„Oh, das essen wir hier unten alle.“ Elena lächelte sie mit braun befleckten Zähnen an. Außer, daß es nicht
mehr ihre Stimme war. Sie klang häßlich und verzerrt. Die Stimme eines Mannes. „Und du wirst es auch
tun.“
Die Luft war nicht mehr warm und duftend. Es war heiß und roch ekelerregend süß nach verwestem Fleisch.
Schwarze Löcher bedeckten die Wiese, die ungepflegt und voller Unkraut wer. Das war nicht mehr Warm
Springs. Bonnie befand sich auf dem alten Friedhof. Wieso hatte sie das nicht eher bemerkt? Nur, daß diese
Gräber ganz frisch ausgehoben waren.
„Noch eine Maus?“ fragte Elena und kicherte.
Bonnie betrachtete das halbgegessene Sandwich, das sie noch in der Hand hielt, und schrie auf. An einem
Ende hing ein brauner Schwanz hervor. Sie schleuderte das Brot mit Wucht gegen einen Grabstein, wo es
mit einem feuchten Platsch aufschlug. Dann sprang Bonnie auf. Ihr drehte sich der Magen um. Hektisch rieb
sie ihre Hände an den Jeans ab.
„Du kannst jetzt nicht gehen. Die anderen kommen doch erst.“ Elenas Gesicht begann, sich zu verändern.
Sie hatte bereits ihr Haar verloren, und ihre Haut wurde grau und ledrig wie die einer Mumie. Häßliche
Würmer, Käfer und Insekten krabbelten auf den Tellern mit den Sandwichs herum und wanden sich in der
Erde der frischen Gräber. Bonnie weigerte sich, genauer hinzusehen. Ich verlier noch den Verstand, dachte
sie.
„Du bist nicht Elena!“ schrie sie und floh.
Der Wind blies ihr das Haar ins Gesicht und machte sie blind. Ihr Verfolger war ihr dicht auf den Fersen.
Zur Brücke, das war ihre einzige Chance. Da prallte sie mit jemandem zusammen.
„Ich habe auf dich gewartet“, sagte das Ding in Elenas zerfetztem Kleid, dieses skelettartige, graue Wesen
mit den langen, scharfen Zähnen. „Hör mir zu, Bonnie.“ Es hielt sie mit übernatürlicher Kraft fest.
„Du bist nicht Elena. Du bist nicht Elena!“
„Hör mir zu, Bonnie!“
Das war wieder Elenas richtige Stimme, nicht mehr spöttisch, rauh und häßlich, sondern liebevoll und
gleichzeitig sehr eindringlich. Sie kam von irgendwo hinter Bonnie und wehte durch den Traum wie ein
frischer, kühler Wind. „Bonnie, hör mir schnell zu...“
Alles begann sich aufzulösen. Die knochigen Hände, die Bonnies Arme gepackt hielten, der schreckliche
Friedhof, die stickige, heiße Luft. Einen Moment klang Elena ganz klar, dann plötzlich knisternd und
gestört, wie bei einer schlechten Telefonverbindung .
„...er verdreht die Dinge, verändert sie. Ich bin nicht so stark wie er...“ Bonnie konnte nicht alle Worte
erkennen. „...aber das ist wichtig. Du mußt... sofort finden.“ Die Stimme schwand.
„Elena, ich höre dich nicht mehr!“
„...ein leichter Zauberspruch mit nur zwei Zutaten, die ich dir schon genannt habe...“
„Elena!“
Bonnie schrie immer noch, als sie im Bett hochfuhr.
„Das ist alles, woran ich mich erinnern kann“, schloß Bonnie, als sie mit Meredith zwischen alten
viktorianischen Häusern die Sunflower Street hinunterging.
„Und es war ganz sicher Elena?“
„Ja. Sie versuchte, mir am Schluß etwas mitzuteilen. Aber gerade dieser Teil des Traums ist
verschwommen. Ich habe nur gespürt, daß es wichtig war. Sehr, sehr wichtig.“
„Mäuse-Sandwichs und offene Gräber?“ Meredith hob eine ihrer eleganten Augenbrauen. „Wirfst du da
nicht Stephen King und Lewis Carroll durcheinander?“
Wahrscheinlich hat sie recht, dachte Bonnie. Trotzdem machte der Traum ihr zu schaffen. Den ganzen Tag
schon konnte sie sich auf nichts anderes konzentrieren, und das hatte ihre ursprünglichen Sorgen verdrängt.
Jetzt, wo sie sich mit Meredith Carolines Haus näherte, kamen sie jedoch mit Wucht wieder zurück. Ich
hätte Meredith alles sagen müssen, dachte sie und warf einen beklommenen Blick auf das größere Mädchen.
Ich hätte sie nicht unvorbereitet da hineinlaufen lassen dürfen...
Meredith schaute seufzend zu den erleuchteten Fenstern des alten Queen Anne Hauses hoch. „Brauchst du
diese Ohrringe wirklich heute abend so dringend?“
„Ja.“ Jetzt war es ohnehin zu spät. Was blieb ihr anderes übrig, als das Beste draus zu machen? „Sie werden
dir gefallen, wenn du sie siehst“, fügte sie hinzu und hörte selbst die Mischung aus Hoffnung und
Verzweiflung in ihrer Stimme.
Meredith blieb stehen. Ihre scharfen dunklen Augen musterten neugierig Bonnies Gesicht. Dann klopfte sie
an die Tür. „Ich hoffe nur, Caroline ist heute abend nicht zu Hause. Es könnte sonst sein, daß sie sich an uns
ranhängt.“
„Caroline am Samstagabend zu Hause? Sei nicht albern.“ Bonnie hatte vor Anspannung zu lange den Atem
angehalten. Sie fühlte sich ein wenig wie beschwipst. Ihr helles Lachen klang gezwungen und falsch. „Was
für eine Vorstellung!“ fuhr sie leicht hysterisch fort und konnte gar nicht aufhören, sich darüber zu amüsieren. „Ich glaube, es ist überhaupt niemand zu Hause“, sagte Meredith skeptisch. „Carolinchen war allein zu Haus, die Eltern waren beide aus...“ zitierte Bonnie mit Überschwang. Meredith hatte die Hand auf den Türknopf gelegt. Jetzt hielt sie inne. „Sag mal, Bonnie, hast du einen Sonnenstich?“ fragte sie leise. „Nein.“ Wieder auf den Boden zurückgekehrt, griff Bonnie nach Meredith' Arm und sah sie flehend an. Die Tür öffnete sich wie von selbst. „Oh, Gott, Meredith. Bitte dreh mir nicht den Hals um...“ „Überraschung!“ riefen drei Stimmen. „Lächle“, zischte Bonnie und schob die plötzlich widerspenstige Freundin durch die Tür auf den Hausflur und in ein helles Zimmer voller Musik, Konfetti und Luftschlangen. Sie selbst setzte ihr strahlendstes Lächeln auf. „Töte mich später. Ich verdiene es vermutlich. Aber jetzt - lächle!“ flüsterte sie Meredith mit zusammengepreßten Zähnen ins Ohr. An der Decke hingen bunte Luftballons, und auf dem Tisch lag ein Berg Geschenke. Sogar an Blumen hatte Caroline gedacht. Bonnie fiel jedoch sofort auf, daß die Orchideen in dem großen Gesteck genau zu Carolines hellgrünem Schal paßten. Es war ein Seidenschal von Hermes mit einem Muster aus Weinranken und Blättern. Ich wette, am Ende wird sie sich eine der Orchideen ins Haar stecken, dachte Bonnie. Sue Carsons blaue Augen blickten ein bißchen ängstlich. Ihr Lächeln war besorgt. „Ich hoffe, du hattest für heute abend keine anderen Pläne, Meredith“, sagte sie. „Nichts, das sich nicht verschieben ließe“, erklärte Meredith trocken. Aber sie lächelte Sue warm an, und Bonnie entspannte sich. Sue hatte wie Bonnie, Meredith und Caroline zu Elenas ursprünglicher Clique gehört. Sie war mit Bonnie und Meredith die einzige gewesen, die sich auf Elenas Seite gestellt hatte, als alle anderen gegen sie waren. Bei Elenas Begräbnis hatte Sue gesagt, daß Elena immer die wahre Königin der Robert E. Lee High School bleiben würde, und hatte ihre eigene Nominierung zur Schneekönigin des Winterballs im Gedenken an Elena zurückgezogen. Niemand konnte Sue hassen. Das Schlimmste ist vorbei, dachte Bonnie. „Ich möchte ein Photo von uns hier auf der Couch haben. Mit den Blumen im Vordergrund.“ Caroline übernahm das Kommando. „Würdest du es bitte machen, Vickie?“ Vickie Bennett hatte bisher still und unbeachtet am Rand des Zimmers gestanden. „Ja, sicher“, sagte sie jetzt und strich sich nervös das lange, hellbraune Haar aus der Stirn, während sie eifrig den Photoapparat hochhob. Wie ein Dienstmädchen, dachte Bonnie, dann wurde sie vom Blitzlicht geblendet. Als das Polaroidphoto fertig war, betrachteten es Sue und Caroline lachend und scherzend, während Meredith trocken und höflich blieb. Bonnie fiel etwas auf. Es war ein gutes Photo geworden. Caroline sah toll aus wie immer mit ihren langen, kastanienbraunen Haaren und den hellgrünen Orchideen im Vordergrund. Und da war Meredith mit ihrem ironischen Lächeln und ihrer dunklen Schönheit, die ohne ihr Zutun überall hervorstach. Schließlich Bonnie selbst, einen Kopf kleiner als die Freundinnen, die roten Locken wirr und mit einen dämlichen Ausdruck im Gesicht. Aber das merkwürdige war die andere Person neben ihr auf der Couch. Es war Sue. Natürlich war es Sue. Doch einen Moment lang schienen die blauen Augen jemand anderem zu gehören. Jemandem, der sie flehend ansah und im Begriff war, etwas ganz Wichtiges zu sagen. Bonnie runzelte die Stirn und blinzelte. Das Bild verschwamm vor ihren Augen, und eine Gänsehaut überlief sie. Nein, es war nur Sue auf dem Photo. Ich muß wohl kurz eine Halluzination gehabt haben, dachte Bonnie. Oder sie hatte sich von Carolines Wunsch, alle wieder wie früher zusammenzuholen, so sehr anstecken lassen, daß sie Gespenster sah. „Ich mache das nächste Bild.“ Sie sprang auf. „Setz dich, Vickie. Rück ein bißchen näher heran. Noch näher. Das ist es!“ Jede Bewegung von Vickie war hastig und nervös. Als das Blitzlicht aufzuckte, fuhr sie zusammen wie ein verängstigtes Tier auf der Flucht. Caroline warf kaum einen Blick auf dieses Bild. Sie stand auf und ging statt dessen in die Küche voraus. „Ratet mal, was wir statt eines Kuchens haben werden? ,Eis ganz heiß'! Vanilleeis mit Schokoladensauce und jeder Menge heißen Himbeeren. Kommt, helft mir, die Schokolade zu schmelzen.“ Sue folgte ihr, und nach einem kurzen Zögern auch Vickie.
Der letzte Rest Freundlichkeit wich aus Meredith' Gesicht. Sie wandte sich an Bonnie. „Du hättest mich warnen müssen.“ „Ich weiß.“ Bonnie senkte für eine Minute schuldbewußt den Kopf. Dann schaute sie wieder hoch und grinste frech. „Aber dann hättest du nicht mitgemacht, und wir würden kein Schokoladeneis bekommen.“ „Und das ist die ganze Sache wert?“ „Nun, es hilft“, erwiderte Bonnie und versuchte, vernünftig zu klingen. „Komm schon, es wird bestimmt halb so wild. Caroline gibt sich ehrlich alle Mühe, nett zu sein, und es ist gut für Vickie, daß sie mal aus dem Haus kommt...“ „Ich glaube kaum, daß es so gut für sie ist“, unterbrach Meredith sie gnadenlos. „Sie scheint einem Herzanfall nahe zu sein.“ „Ach, was. Sie ist vermutlich nur nervös.“ Bonnies Meinung nach hatte Vickie auch allen Grund, nervös zu sein. Sie hatte fast den ganzen letzten Herbst in einer Art Trance verbracht und war von einer übernatürlichen Kraft, die sie nicht verstand, langsam in den Wahnsinn getrieben worden. Niemand hatte erwartet, daß sie sich so gut erholen würde. Meredith blickte immer noch düster vor sich hin. „He, tröste dich, es ist ja nicht dein richtiger Geburtstag“, meinte Bonnie. Meredith nahm den Photoapparat und drehte ihn hin und her. Den Blick auf ihre Hände gerichtet, sagte sie nur ein Wort: „Doch.“ „Was!“ Bonnie starrte sie an und hob die Stimme. „Was behauptest du da?“ „Es ist mein richtiger Geburtstag. Caroline muß es von ihrer Mutter erfahren haben. Ihre Mutter und meine waren jahrelang die besten Freundinnen.“ „Meredith, wovon redest du? Dein Geburtstag war letzte Woche. Am dreißigsten Mai.“ „Nein. Er ist heute. Am sechsten Juni. Glaub mir, Bonnie. Das steht in meinem Führerschein und in allen Papieren. Meine Eltern haben begonnen, ihn eine Woche früher zu feiern, weil der sechste Juni ein Datum ist, an das sie nicht gern erinnert werden. An diesem Tag wurde mein Großvater überfallen und später verrückt, als Folge davon.“ Bonnie holte tief Luft. Sie brachte kein Wort hervor. Also fuhr Meredith sanfter fort. „Im Wahn hat er versucht, meine Großmutter zu töten. Und auch mich.“ Meredith legte den Photoapparat vorsichtig genau in die Mitte des Tisches. „Wir sollten jetzt wirklich in die Küche gehen. Ich kann die Schokolade schon riechen.“ Bonnie war immer noch wie gelähmt. Sie erinnerte sich, daß Meredith schon früher über den Vorfall gesprochen hatte, allerdings, ohne ihr die volle Wahrheit zu sagen. Und sie hatte verschwiegen, wann es passiert war. „Überfallen? Du meinst, wie Vickie in der Kirchenruine überfallen wurde?“ stieß Bonnie hervor. Sie brachte das Wort „Vampir“ nicht über die Lippen. Aber sie wußte, daß Meredith sie auch so verstand. „Genau wie Vickie“, bestätigte Meredith. „Komm“, fügte sie noch leiser hinzu. „Sie warten auf uns. Und, Bonnie, ich wollte dich nicht aufregen.“ 2. KAPITEL Sie will mich nicht aufregen. Okay, dann werde ich mich auch nicht aufregen, dachte Bonnie und goß vorsichtig heiße Schokolade über ihren Eisbecher. Obwohl wir seit der ersten Klasse Freundinnen sind, hat sie mir dieses Geheimnis vorher noch nie verraten. Einen kurzen Moment überlief sie eine Gänsehaut, und unwillkürlich drängten sich ihr Worte auf, die sie in die hinterste Ecke ihres Gedächtnisses verbannt hatte: Niemand ist das, was er zu sein scheint. Sie war letztes Jahr gewarnt worden, als die Stimme der verstorbenen Honoria Fell durch sie gesprochen hatte. Ihre Prophezeiung hatte sich als schreckliche Wahrheit herausgestellt. Was nun, wenn es doch noch nicht vorbei war? Bonnie schüttelte entschlossen den Kopf. Sie wollte jetzt nicht darüber nachgrübeln. Schließlich war Partytime! Und ich werde dafür sorgen, daß die Fete ein Erfolg wird und wir uns alle irgendwie vertragen, dachte sie entschlossen. Komisch, es war noch nicht einmal sehr schwierig. Meredith und Vickie redeten am Anfang kaum miteinander. Doch Bonnie gab sich alle Mühe, nett zu dem Mädchen zu sein, und selbst Meredith konnte
den schön eingepackten Geschenken auf dem Tisch nicht lange widerstehen. Als sie das letzte geöffnet hatte, redeten alle durcheinander und lachten. Der Waffenstillstand und die gegenseitige Toleranz hielten an, als sie in Carolines Zimmer hochgingen, um sich ihre Klamotten, die CD-Sammlung und alte Photoalben anzusehen. Schließlich ging es auf Mitternacht zu, und die Mädchen krochen in ihre Schlafsäcke. Dabei unterhielten sie sich weiter. „Wie läuft's denn so mit Alaric?“ fragte Sue Meredith. Alaric Saltzman war Meredith' fester Freund - jedenfalls kam er dem nahe. Er hatte Parapsychologie studiert und war letztes Jahr nach Fell's Church gekommen, als die Vampir-Überfälle begonnen hatten. Obwohl er zunächst ein Feind gewesen war, wurde er zum Verbündeten - und zum Freund. „Er ist in Rußland“, erklärte Meredith. „Die Perestroika macht so etwas jetzt möglich. Alaric stellt Nachforschungen auf seinem Spezialgebiet Parapsychologie an.“ „Was wirst du ihm sagen, wenn er zurückkommt?“ wollte Caroline wissen. Diese Frage hätte Bonnie Meredith gern selbst gestellt. Da Alaric fast vier Jahre älter war, hatte Meredith ihn gebeten, mit Plänen für eine gemeinsame Zukunft zu warten, bis sie selbst ihren Abschluß hatte. Doch jetzt war Meredith achtzehn, auf den Tag genau, und der Schulabschluß war in zwei Wochen. Was würde danach geschehen? „Ich hab mich noch nicht entschieden“, antwortete Meredith. „Alaric möchte, daß ich an der Duke-Universität studiere, und die haben meine Bewerbung auch angenommen. Aber ich bin unschlüssig. Ich muß noch mal in Ruhe darüber nachdenken.“ Bonnie fiel ein Stein vom Herzen. Sie wollte, daß Meredith mit ihr zur Boone-Universität ging, und nicht, daß sie sich verlobte, heiratete oder sonst was. Es war doch dumm, sich so jung schon für einen Typen zu entscheiden. Bonnie selbst war berüchtigt dafür, daß sie es nie lange bei einem Jungen aushielt und den Freund alle paar Wochen wechselte. Sie verliebte sich schnell und kam genauso schnell wieder drüber hinweg. „Ich hab noch keinen gefunden, der es wert ist, treu zu sein“, sagte sie jetzt. Alle schauten schnell zu ihr hin. Das Kinn auf die Fäuste gestützt, fragte Sue: „Nicht einmal Stefan?“ Bonnie hätte es wissen müssen. Das Licht war gedämpft, als einziges Geräusch drang das sanfte Rascheln der Trauerweiden von draußen herein. Bei dieser Stimmung war es unvermeidlich, daß sich das Gespräch über kurz oder lang zu Stefan hinwenden würde - und zu Elena. Stefan Salvatore und Elena Gilbert waren bereits so etwas wie eine Legende in Fell's Church, eine Art moderne Romeo und Julia. Als Stefan neu in den Ort gekommen war, waren alle Mädchen heiß auf ihn gewesen. Und Elena, das schönste, beliebteste und unnahbarste Mädchen der ganzen Schule, hatte ihn ebenfalls gewollt. Erst nachdem es ihr gelungen war, ihn zu bekommen, hatte sie die Gefahr bemerkt. Stefan war nicht das, was er vorgab zu sein. Er verbarg ein Geheimnis, das viel schwärzer war, als man es sich vorstellen konnte. Und er hatte einen Bruder, Damon, der noch geheimnisvoller und gefährlicher war als er selbst. Elena war zwischen die Fronten geraten. Sie liebte Stefan, wurde jedoch gleichzeitig von Damons Wildheit unwiderstehlich angezogen. Am Ende war sie gestorben, um beide zu rächen und ihre Liebe zu sühnen. „Stefan, vielleicht. Wenn man Elena ist“, murmelte Bonnie und gab an diesem Punkt nach. Die Atmosphäre hatte sich geändert. Sie war ganz still und ein wenig traurig. Genau richtig für mitternächtliche Geständnisse. „Ich kann immer noch nicht glauben, daß sie nicht mehr da ist“, sagte Sue leise. Sie schüttelte den Kopf und schloß die Augen. „Sie war so viel lebendiger als alle anderen.“ „Ihre Flamme brannte heller.“ Meredith starrte auf das rosagoldene Muster, das die Lampe an die Decke warf. Ihre Stimme war ruhig, aber eindringlich. Es kam Bonnie so vor, als würden diese Worte Elena besser beschreiben, als sie es je zuvor gehört hatte. „Es gab Zeiten, da habe ich sie gehaßt. Aber ich konnte sie niemals ignorieren“, gab Caroline zu. Ihre grünen Augen verengten sich bei dieser Erinnerung. „Sie war einfach nicht der Typ, den man links liegen läßt.“ „Etwas habe ich aus ihrem Schicksal gelernt“, meinte Sue nachdenklich. „Der Tod kann jeden von uns blitzschnell und unvorbereitet treffen. Man darf sein Leben nicht mit unnützen Dingen vergeuden, weil man nie weiß, wieviel Zeit einem noch bleibt.“
„Sechzig Jahre oder sechzig Minuten“, stimmte Vickie schüchtern zu. „Jede von uns könnte heute nacht
sterben.“
Bonnie wurde immer unruhiger. Sie rutschte hin und her, doch bevor sie etwas sagen konnte, wiederholte
Sue: „Ich kann immer noch nicht fassen, daß sie wirklich tot ist. Manchmal kommt es mir so vor, als sei sie
irgendwo in der Nähe.“
„Oh, mir auch“, stimmte Bonnie abwesend zu. Vor ihrem geistigen Auge sah sie wieder die Szene in Warm
Springs. Und einen Moment lang schien sie wirklicher als Carolines dämmriges Zimmer. „Letzte Nacht
habe ich von ihr geträumt. Ich hatte das Gefühl, daß es tatsächlich Elena war und daß sie versuchte, mir
etwas zu erzählen. Das läßt mich immer noch nicht los“, sagte sie zu Meredith.
Die anderen sahen sie schweigend an. Früher, da hätten sie bei jeder Anspielung auf Bonnies telepathische
Fähigkeiten gelacht, aber jetzt nicht mehr. Ihre Begabung war unbestritten, erstaunlich und ein wenig
furchteinflößend.
„Wirklich?“ stieß Vickie atemlos hervor.
„Was, glaubst du, wollte sie dir denn mitteilen?“ fragte Sue.
„Keine Ahnung. Am Ende versuchte sie fast verzweifelt, mit mir in Kontakt zu bleiben, aber es gelang ihr
nicht.“
Bedrücktes Schweigen folgte ihren Worten. Schließlich sagte Sue zögernd, und ihre Stimme stockte dabei
fast unmerklich: „Meinst du... Meinst du, es würde dir gelingen, noch mal mit ihr Kontakt aufzunehmen?“
Diese Frage hatten sich alle bereits heimlich gestellt. Bonnie sah Meredith an. Vorhin hatte diese den Traum
einfach so abgetan, doch jetzt erwiderte sie Bonnies Blick ernst.
„Ich weiß nicht“, antwortete Bonnie langsam. Die Bilder des Schreckens waren noch zu frisch in ihrem
Gedächtnis. „Eins ist sicher. Ich fürchte mich davor, mich in Trance fallenzulassen und mich dem zu öffnen,
was immer auch da draußen sein mag.“
„Ist das der einzige Weg, mit den Toten Kontakt aufzunehmen? Was ist mit einem Quija-Brett oder so?“
fragte Sue.
„Meine Eltern haben ein Quija-Brett.“ Carolines Stimme klang unnatürlich laut. Plötzlich war die
gedämpfte, leise Stimmung weg, und eine unerklärliche Spannung hing in der Luft. Alle setzten sich gerader
auf und schauten einander erwartungsvoll an. Sogar Vickies verhuschter Ausdruck zeigte ein gewisses
Interesse.
„Ob es wohl klappen würde?“ Meredith wandte sich an Bonnie.
„Sollen wir überhaupt?“ zweifelte Sue laut.
„Trauen wir uns? Das ist in Wirklichkeit die Frage“, gab Meredith zu bedenken. Wieder merkte Bonnie, wie
alle Blicke auf sie gerichtet waren. Sie zögerte einen letzten Moment, dann zuckte sie mit den Schultern.
Prickelnde Erregung breitete sich in ihr aus.
„Warum nicht?“ sagte sie. „Was haben wir groß zu verlieren?“
„Unten an der Treppe ist ein Schrank, Vickie. Das Quija-Brett müßte drin liegen. Auf dem obersten Regel
bei den anderen Spielen“, befahl Caroline. Sie machte sich nicht die Mühe, „bitte“ zu sagen. Bonnie runzelte
die Stirn und öffnete den Mund, aber Vickie war schon zur Tür hinaus.
„Du könntest ruhig etwas freundlicher sein. Was soll das? Willst du hier eine Vorstellung der bösen
Stiefmutter abziehen?“
„Ach, hör auf, Bonnie“, wehrte Caroline ungeduldig ab. „Sie kann froh sein, daß sie überhaupt eingeladen
wurde. Und das weiß sie genau.“
„Und ich dachte, sie wäre nur überwältigt von dem Glamour, den wir alle ausstrahlen“, bemerkte Meredith
trocken.
„Außerdem...“ begann Bonnie, als sie plötzlich unterbrochen wurde. Das Geräusch war dünn und schrill.
Kein Zweifel, ein Schrei. Ihm folgten tiefe Stille und danach eine ganze Reihe von hohen, spitzen Tönen.
Einen Moment waren die Mädchen im Schlafzimmer wie gelähmt. Dann sprangen sie aus ihren
Schlafsäcken und rannten alle hinaus auf den Flur und die Stufen hinunter. Vickie stand vor dem Schrank,
die Arme abwehrend gehoben, als wollte sie ihr Gesicht schützen. Als sie Meredith sah, klammerte sie sich
schreiend an sie.
„Vickie, was ist geschehen?“ fragte Caroline. Sie hörte sich mehr ärgerlich als besorgt an. Die Schachteln
mit den Spielen waren heruntergefallen. Monopoly-Häuschen und Trivial Pursuit Karten lagen überall auf
dem Boden verstreut. „Warum schreist du so?“
„Es hat mich gepackt! Ich streckte die Hand nach dem obersten Regal aus, da packte mich etwas um die
Taille.“
„Von hinten?“
„Nein. Von vorn. Aus dem Schrank heraus.“
Erstaunt blickte Bonnie in den offenen Wandschrank. Wintermäntel hingen dicht bei dicht und bildeten eine
undurchdringliche Schicht. Einige reichten bis zum Boden. Meredith befreite sich sanft aus Vickies
Umklammerung, nahm einen Stockschirm und stocherte zwischen den Mänteln herum.
„Oh, bitte...“ begann Bonnie unwillkürlich, aber der Schirm traf nur auf Stoff und Pelz. Meredith benutzte
ihn, um die Mäntel beiseite zu schieben. Dahinter war nur die nackte Holzwand.
„Siehst du, keiner da!“ sagte sie in leichtem Tonfall. „Aber du weißt doch, wie das mit diesen dicken
Mantelärmeln ist. Ich wette, wenn du dich weit genug zwischen sie lehnst, fühlt sich das an, als würden sich
Arme um dich schließen.“
Vickie trat nach vorn, berührte einen baumelnden Ärmel und sah zu dem Regal hoch. Sie verbarg das
Gesicht in den Händen. Ihr langes, seidiges Haar fiel darüber wie ein Vorhang. Einen schrecklichen Moment
dachte Bonnie, sie würde in Tränen ausbrechen, dann hörte sie das Kichern.
„Oh, und ich habe wirklich gedacht... Nein, bin ich blöd. Wartet, ich räume alles auf.“
„Später“, erklärte Meredith fest. „Gehen wir ins Wohnzimmer.“
Bonnie warf skeptisch einen letzten Blick auf den Schrank.
Sie setzten sich alle um den großen Wohnzimmertisch. Nur wenige Lichter brannten, um die passende
Stimmung zu erzeugen. Bonnie legte ihre Fingerspitzen leicht auf das Stückchen Plastik, auch Planchette
genannt, das zum Spiel gehörte. Sie hatte zwar noch nie ein Quija-Brett benutzt, aber sie wußte, wie man es
machte. Das Plastikdreieck bewegte sich mit der Spitze auf die Buchstaben des Brettes zu und überlieferte
so eine Nachricht. Vorausgesetzt, die Geister waren bereit, Kontakt aufzunehmen.
„Wir müssen es alle berühren“, meinte sie und beobachtete, wie die anderen gehorchten. Meredith' Finger
waren elegant und schlank, die von Sue zierlich mit ovalen Nägeln. Carolines lange Nägel waren leuchtend
pink lackiert, die von Vickie bis aufs Blut abgebissen.
„Jetzt schließt die Augen und konzentriert euch“, sagte Bonnie leise. Angespanntes, leises Aufseufzen war
zu hören, als die Freundinnen wieder gehorchten. Die Stimmung ließ keine kalt.
„Denkt an Elena. Stellt sie euch vor. Wenn sie da draußen ist, wollen wir sie zu uns heranziehen.“
Das große Zimmer war nun völlig still. Hinter der Schwärze ihrer geschlossenen Lider sah Bonnie
hellgoldenes Haar und Augen wie dunkelblaue Edelsteine.
„Komm, Elena“, flüsterte sie. „Sprich mit mir.“
Die Planchette bewegte sich.
Keins der Mädchen konnte das bewirkt haben. Sie alle übten von verschiedenen Punkten Druck aus.
Trotzdem glitt das kleine Dreieck geschmeidig über das Brett. Bonnie hielt die Augen weiter geschlossen.
Als die Bewegung innehielt, sah sie hin. Die Spitze zeigte auf das Wort „ja“.
Vickie stieß ein leises Schluchzen aus.
Bonnie schaute zu den anderen. Caroline atmete hastig, die grünen Augen zu Schlitzen verengt. Meredith
war blaß geworden. Sue hatte als einzige von ihnen die Augen noch fest geschlossen.
Alle erwarteten nun, daß Bonnie wußte, wie es weiterging.
„Konzentriert euch weiter“, sagte sie. Sie fühlte sich überrumpelt von den Geschehnissen und kam sich ein
wenig blöd dabei vor, ins Leere zu sprechen. Aber sie war die Expertin. Sie mußte es tun.
„Bist du es, Elena?“
Das Dreieck beschrieb einen kleinen Kreis und kehrte zum „Ja“ zurück.
Plötzlich begann Bonnies Herz heftig zu klopfen. Sie bekam Angst, ihre Finger würden so sehr zittern, daß
ihr die Planchette entglitt. Das Plastik unter ihren Fingerspitzen fühlte sich jetzt anders an. Es war wie
elektrisiert, als ob eine übernatürliche Macht hindurchfließen würde. Jetzt kam Bonnie sich nicht mehr
dumm vor. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Meredith' Augen glänzten ebenfalls verdächtig.
„Wie können wir überhaupt sicher sein?“ warf Caroline laut und mißtrauisch ein. Sie spürt nichts, dachte
Bonnie. Was das Übernatürliche angeht, ist sie total unterentwickelt.
Das Dreieck schob sich wieder über das Brett. Es berührte die Buchstaben so schnell, daß Meredith kaum
nachkam, die Botschaft auszusprechen. Auch ohne Zeichensetzung war sie ganz deutlich.
CAROLINE STELL DICH NICHT SO AN DU KANNST FROH SEIN DAß ICH ÜBERHAUPT NOCH MIT DIR SPRECHE „Typisch Elena“, kommentierte Meredith trocken. „Es klingt wie sie, aber...“ „Ach, halte den Mund, Caroline“, unterbrach Bonnie sie. „Elena, ich bin ja so froh...“ Ihr Hals war wie zugeschnürt, und sie machte einen neuen Ansatz. BONNIE WIR HABEN KEINE ZEIT HÖR AUF HERUMZUSCHNIEFEN UND KOMM ZUR SACHE Auch das war typisch Elena. Bonnie schniefte ein letztes Mal und machte weiter. „Ich habe letzte Nacht von dir geträumt.“ TEE „Ja.“ Bonnies Herz schlug schneller denn je. „Ich wollte mit dir reden, und dann haben wir den Kontakt verloren.“ BONNIE KEINE TRANCE KEINE TRANCE KEINE TRANCE „Okay.“ Das beantwortete ihre Frage. Sie war erleichtert. SCHLECHTE EINFLÜSSE STÖREN UNSERE UNTERHALTUNG HIER DRAUßEN GIBT ES BÖSE DINGE SEHR BÖSE „Was? Sag mir, Elena. Was ist es?“ KEINE ZEIT Das Plastikteil jagte hektisch von Buchstaben zu Buchstaben, als könnte Elena ihre Ungeduld kaum zügeln. ER IST IM MOMENT BESCHÄFTIGT DESHALB KANN ICH REDEN ABER ES BLEIBT NICHT VIEL ZEIT HÖR ZU WENN WIR FERTIG SIND RENNT SCHNELL AUS DEM HAUS IHR SEID IN GROSSER GEFAHR „Gefahr?“ wiederholte Vickie und machte den Eindruck, als wollte sie gleich aufspringen und wegrennen. WARTET HÖRT ERST ZU DIE GANZE STADT IST IN GEFAHR „Was sollen wir tun?“ fragte Meredith sofort. IHR BRAUCHT HILFE ER IST VIEL MÄCHTIGER ALS ICH IHR MÜßT EINEN ZAUBERSPRUCH AUSSCHICKEN DER JEMANDEN HERHOLT DIE ERSTE ZUTAT DAZU IST H... Ohne Vorwarnung wurde das Dreieck von den Buchstaben weggerissen und raste wie wild auf dem Brett herum. Es deutete völlig sinnlos auf die am Rand aufgemalte Sonne, auf den Mond und das Markenzeichen des Spielherstellers. „Elena!“ Die Planchette jagte zurück zu den Buchstaben. NOCH EINE MAUS NOCH EINE MAUS NOCH EINE MAUS „Was ist passiert?“ Sue hatte die Augen wild aufgerissen. Bonnie bekam Angst. Das Plastikdreieck pulsierte förmlich vor Energie. Vor böser, wilder Energie, wie kochender, schwarzer Teer, der unter ihren Fingerspitzen brannte. Doch sie fühlte auch einen vibrierenden silbernen Faden, Elenas Energie. Sie bekämpfte das Böse. „Festhalten!“ schrie sie verzweifelt. „Zieht eure Hände nicht weg!“ MAUSSCHLAMMTÖTEDICH schrieb das Plastikdreieck wie entfesselt. BLUTBLUTBLUTBLUT... und dann...BONNIE RENN RAUS ER IST DA RENN RENN REDie Planchette zuckte auf, flog unter Bonnies Finger hervor, und ehe sie sie wieder packen konnte, zuerst über das Brett, dann durch die Luft, als hätte sie jemand mit wütender Kraft weggeschleudert. Vickie schrie. Meredith sprang auf. In diesem Moment gingen alle Lichter aus. Das Haus versank in pechschwarzer Finsternis. 3. KAPITEL Vickies Kreischen geriet völlig außer Kontrolle. Bonnie schluckte hart. Panik stieg in ihr auf. „Vickie, um Himmels willen, hör auf! Komm, wir müssen raus hier!“ Meredith mußte schreien, um überhaupt verstanden zu werden. „Es ist dein Haus, Caroline. Wir fassen uns jetzt bei den Händen, und du führst uns zur Vordertür.“ „Okay.“ Caroline machte einen ziemlich gefaßten Eindruck. Das ist der Vorteil, wenn man keine Phantasie besitzt, dachte Bonnie. Man konnte sich einfach nicht vorstellen, welch schreckliche Dinge auf einen zukamen.
Sie fühlte sich besser, als sie Meredith' kühle, schlanke Hand in der ihren spürte. Blind suchte sie mit der
anderen Hand und erwischte Caroline. Carolines lange Fingernägel bohrten sich in ihre Handfläche.
Bonnie konnte überhaupt nichts sehen. Inzwischen hätten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnen
müssen, aber es war so finster, daß nicht einmal die Umrisse der Möbel zu erkennen waren. Caroline
begann, die Mädchen anzuführen. Auch von der Straße fiel kein Licht herein. Der Strom mußte überall
ausgefallen sein. Caroline lief gegen ein Möbelstück und fluchte. Bonnie stieß unweigerlich mit ihr
zusammen.
Am Ende der Schlange wimmerte Vickie leise. „Halte durch, Vickie. Halte durch. Wir schaffen es“, tröstete
Sue sie.
Sie kamen in der Dunkelheit nur langsam voran. Plötzlich fühlte Bonnie Kacheln unter ihren Füßen. „Wir
sind auf dem Flur“, sagte Caroline. „Bleibt einen Moment hier stehen, während ich mich zur Tür taste.“ Ihre
Hand glitt aus Bonnies Griff.
„Caroline... Laß mich nicht los. Wo bist du? Caroline, gib mir deine Hand!“ rief Bonnie und streckte
suchend ihre Hand aus wie eine Blinde.
Plötzlich schlang sich etwas Feuchtes, Großes um ihre Finger. Es war eine Hand. Aber sie gehörte nicht
Caroline.
Bonnie schrie auf.
Vickie folgte ihrem Beispiel und kreischte laut. Die heiße, verschwitzte Pranke riß Bonnie nach vorn und
versuchte, sie von den anderen zu trennen. Bonnie trat um sich und wehrte sich verzweifelt. Ohne Erfolg. Da
spürte sie Meredith' Arme um ihre Taille. Meredith zog Bonnie mit aller Kraft in die andere Richtung.
Bonnie konnte sich mit einem Ruck aus dem Griff des Unbekannten losmachen.
Und dann rannte sie nur noch blindlings fort. Undeutlich registrierte sie, daß Meredith neben ihr war. Sie
merkte gar nicht, daß sie immer noch wie am Spieß schrie, bis sie mit einem Sessel zusammenstieß, der ihre
wilde Flucht fürs erste beendete.
„Ruhig, Bonnie. Ganz ruhig.“ Meredith hatte sie an den Schultern gepackt und schüttelte sie wie eine
Stoffpuppe. Beide waren inzwischen hinter der Rückenlehne des Sessels zu Boden geglitten.
„Etwas hatte mich... es hat mich gepackt, Meredith!“, keuchte Bonnie verzweifelt.
„Ich weiß. Sei leise. Es ist immer noch da“, warnte Meredith sie. Bonnie verbarg das Gesicht an ihrer
Schulter, um weitere Schreie zu unterdrücken. Was war, wenn „es“ hier mit ihnen im Zimmer war?
Die Sekunden schlichen dahin, und um sie herum herrschte tiefe Stille. Egal, wie sehr Bonnie sich
anstrengte, alles, was sie hörte, war ihr eigenes Atmen und das dumpfe Klopfen ihres Herzens.
„Hör zu. Wir sollten versuchen, die Hintertür zu finden. Im Moment sind wir im Wohnzimmer. Wenn ich es
richtig in Erinnerung habe, ist die Küche der nächste Raum dahinter. Auf jeden Fall müssen wir hier raus“,
flüsterte Meredith.
Bonnie wollte gerade schon ergeben nicken, da riß sie plötzlich den Kopf hoch. „Wo ist Vickie?“ fragte sie
heiser.
„Keine Ahnung. Ich mußte ihre Hand loslassen, um dich von diesem Wesen wegzuzerren. Komm, bewegen
wir uns.“
Bonnie hielt sie zurück. „Warum hat sie aufgehört zu schreien?“
Meredith überlief eine Gänsehaut. „Ich weiß es nicht.“
„Oh, nein! Wir können sie nicht zurücklassen, Meredith.“
„Wir müssen!“
„Wir können es nicht! Ich hab Caroline praktisch gezwungen, sie einzuladen. Nur wegen mir ist sie hier.
Wir müssen sie mitnehmen.“
Es gab eine kleine Pause. „Einverstanden. Aber du suchst dir die merkwürdigsten Momente aus, um
Nächstenliebe zu zeigen, Bonnie!“
Eine Tür schlug zu. Die beiden Mädchen zuckten zusammen. Dann hörten sie ein Knarren. Wie Schritte auf
einer Treppe, dachte Bonnie. Kurz darauf hob jemand die Stimme.
„Vickie, wo bist du? Tu's nicht, Vickie! Nein!“
„Das war Sue!“ Bonnie sprang auf. „Es kam von oben.“
„Verdammt! Warum haben wir bloß keine Taschenlampe?“ fluchte Meredith leise.
Bonnie wußte, warum sie sich darüber so aufregte. Es war zu dunkel, um aufs Geratewohl im Haus
herumzurennen. Die ganze Stimmung war furchteinflößend. Die Angst beherrschte sie völlig. Bonnie drohte
in der endlosen Finsternis zu ersticken, wie in einem Grab. Sie brauchte Licht, Licht!
Auf keinen Fall würde sie noch einmal blind in dieser Schwärze herumtasten und so von allen Seiten
verwundbar sein. Nein, das brachte sie nicht fertig. Aber Vickie brauchte dringend ihre Hilfe.
Bonnie entfernte sich mit weichen Knien ein Stückchen vom Sessel weg.
„Komm schon.“ Ihr Atem ging in kurzen, hastigen Stößen. Meredith trat zu ihr, und zusammen gingen sie
zögernd Schritt für Schritt in die Dunkelheit.
Bonnie erwartete jeden Moment, daß die widerliche, schwitzige Pranke wieder nach ihr greifen würde. Ihre
Haut prickelte vor böser Vorahnung, und besonders die Hand, die sie ausgestreckt hatte, um sich den Weg
zu ertasten.
Dann machte sie den Fehler, sich an den Traum zu erinnern.
Sofort überwältigte sie der Gestank nach verwesendem Fleisch. Sie stellte sich vor, durch eine Masse von
Würmern waten zu müssen, und erinnerte sich an Elenas Gesicht, grau und kahl, mit eingeschrumpften
Lippen, die über den gelben, langen Zähnen zurückgezogen waren. Wenn dieses Ding sie packen würde...
Ich kann nicht weiter. Ich kann nicht. Ich kann nicht. Bonnie brach der kalte Schweiß aus. Vickie, tut mir
leid. Aber ich kann nicht weitergehen. Bitte, laß mich hier stehenbleiben.
Den Tränen nah, klammerte sie sich an Meredith. Da kamen von oben die schrecklichsten Laute, die sie je
gehört hatte.
Zuerst ein flehendes Rufen. Das war Sue: „Vickie! Vickie! Nein!“ Dann lautes Krachen, das Splittern von
Glas, als würden hundert Fenster auf einmal zerbrechen. Und über all dem lag ein nicht enden wollender
Schrei, ein Ausdruck entsetzlicher Angst. Todesangst.
Plötzlich... Stille.
„Was war das? Was ist geschehen, Meredith?“
„Etwas Schlimmes.“ Meredith' Stimme klang angespannt und halb erstickt. „Etwas ganz Schlimmes. Laß
mich los, Bonnie. Ich muß nachsehen.“
„Nicht allein. Kommt nicht in Frage“, sagte Bonnie fest.
Sie fanden die Treppe und tasteten sich die Stufen hoch. Oben angekommen, hörte Bonnie ein Geräusch, das
sie erschaudern ließ. Das leise, helle Klirren von fallenden Glassplittern.
Und dann ging das Licht wieder an.
Es geschah zu plötzlich. Bonnie schrie unwillkürlich auf. Als sie sich zu Meredith umdrehte, entfuhr ihr
beinahe ein zweiter Schrei. Meredith' schwarzes, langes Haar war vollkommen verwirrt. Ihre
Wangenknochen traten scharf hervor. Ihr Gesicht war bleich und wirkte wie ausgezehrt vor Angst.
Klirr, klirr...
Im hellen Licht war alles noch schlimmer. Meredith ging zur letzten Tür auf dem Flur. Von dort kam das
Geräusch. Bonnie folgte ihr und wußte mit einem Mal ganz genau, daß sie nicht sehen wollte, was sich in
dem Zimmer befand.
Meredith zog die Tür mit einem Ruck auf. Sie blieb einen Moment wie erstarrt auf der Schwelle stehen,
dann rannte sie ins Zimmer. Bonnie wollte ihr folgen.
„Oh, mein Gott. Komm keinen Schritt weiter, Bonnie!“
Bonnie dachte nicht daran, Meredith' Rat zu folgen. Sie stürzte ins Zimmer und hielt abrupt inne. Auf den
ersten Blick sah es so aus, als wäre die ganze Seite des Hauses verschwunden. Die großen Flügelfenster, die
das Schlafzimmer mit dem Balkon verbanden, schienen explodiert zu sein, als hätte eine Bombe
eingeschlagen. Das Holz war zersplittert, das Glas zertrümmert. Kleine Stücke Glas hingen noch unsicher an
den Resten der Rahmen. Sie klirrten leise, wenn sie hinunterfielen.
Die durchsichtigen, weißen Schlafzimmervorhänge blähten sich in das gähnende Loch. Davor stand Vickie.
Sie hatte beide Hände in die Hüften gestützt und war völlig bewegungslos.
„Vickie? Alles in Ordnung?“ Bonnie war so froh, sie lebendig zu sehen, daß es fast wehtat. „Vickie?“
Vickie drehte sich weder um noch antwortete sie. Bonnie ging vorsichtig um sie herum und schaute ihr ins
Gesicht. Vickie starrte vor sich hin. Ihre Pupillen waren auf Stecknadelgröße zusammengezogen. Sie atmete
mit leise pfeifenden Tönen. Ihre Brust hob und senkte sich hektisch.
„Ich bin die nächste. Ich bin die nächste“, flüsterte sie immer wieder. Aber sie schien nicht zu Bonnie zu
sprechen. Ja, sie schien Bonnie nicht einmal zu sehen.
Erschaudernd wandte Bonnie sich ab. Meredith stand draußen auf dem Balkon. Sie drehte sich um, als Bonnie die Vorhänge beiseite schob, und versuchte, ihr die Sicht zu versperren. „Schau nicht hin. Schau nicht da runter.“ Wohin, da runter? Plötzlich verstand Bonnie. Sie drängte sich an Meredith vorbei. Meredith packte sie am Arm, um sie vom Rand des schwindelerregenden Abgrunds fernzuhalten. Die Brüstung des Balkons war genauso zerschmettert wie die großen Fenster. Bonnie konnte bis auf den Boden des erleuchteten Gartens sehen. Dort lag eine schiefe Gestalt wie eine zerbrochene Puppe, die Glieder verrenkt, den Hals in einem merkwürdigen Winkel gebogen. Blondes Haar war auf dem grünen Rasen ausgebreitet wie ein Fächer. Sue Carlton... „Es tut mir leid, Meredith. Ich glaube nicht, daß sie im Moment in der richtigen Verfassung dazu ist.“ Bonnie hörte die Stimme ihres Vaters an der Haustür, während sie gerade lustlos den Süßstoff in ihrer Tasse Kamillentee umrührte. Sofort legte sie den Löffel hin. Auf keinen Fall hatte sie Lust, noch eine Minute länger in der Küche zu sitzen. Sie mußte raus. „Ich bin gleich wieder zurück, Dad.“ Meredith sah beinahe so schlecht aus wie in der Nacht zuvor. Das Gesicht war spitz, unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Ihr Mund war zu einer dünnen Linie zusammengepreßt. „Wir fahren nur ein bißchen durch die Gegend“, beruhigte Bonnie ihren Vater. „Vielleicht treffen wir ein paar der anderen Kids. Schließlich hast du selbst behauptet, daß keine Gefahr besteht.“ Was sollte er jetzt noch sagen? Mr. McCullough sah auf seine zierliche Tochter hinab. Sie schob ihr trotziges Kinn vor, das sie von ihm geerbt hatte, und erwiderte seinen Blick entschlossen. Er hob die Hände. „Es ist fast vier Uhr. Sei zurück, bevor es dunkel wird.“ „Sie sind sowas von inkonsequent“, sagte Bonnie auf dem Weg zu Meredith' Auto. Kaum eingestiegen, verriegelten die Mädchen die Türen hinter sich. Während Meredith den Gang einschaltete, warf sie Bonnie einen düsteren, zustimmenden Blick zu. „Deine Eltern glauben dir also auch nicht.“ „Oh, sie glauben alles, was ich ihnen erzählt habe. Außer den wichtigen Sachen. Wie können sie nur so dumm sein?“ Meredith lachte kurz. „Du mußt es mal von ihrem Standpunkt aus betrachten. Sie haben eine Leiche, die keinerlei Spuren von Gewaltanwendung aufweist. Die Verletzungen stammen eindeutig von dem Sturz. Der Stromausfall ist leicht durch eine Panne beim Elektrizitätswerk zu erklären. Sie finden uns völlig hysterisch vor. Wir geben Antworten, die sich ziemlich merkwürdig anhören müssen. Wer hat es getan? Ein Monster mit verschwitzten Händen. Woher wissen wir das? Unsere tote Freundin Elena hat es uns durch das QuijaBrett erklärt. Ist es da ein Wunder, daß sie Zweifel haben?“ „Ja. Wenn sie vorher noch nie so etwas mitgemacht hätten.“ Bonnie hieb mit der Faust auf das Armaturenbrett. „Aber sie haben es! Glauben die etwa, wir haben die wilden Hunde erfunden, die die Stadt beim Winterball im letzten Jahr angefallen haben? Glauben sie, Elena ist durch eine Märchengestalt getötet worden?“ „Sie vergessen bereits“, antwortete Meredith leise. „Du hast es selbst vorausgesagt. Der Alltag ist wieder eingekehrt, und jeder in Fell's Church atmet auf. Allen kommt es vor, als seien sie aus einem Alptraum erwacht. Und das letzte, was sie wollen, ist, daß er von neuem beginnt.“ Bonnie schüttelte nur den Kopf. „Sie gehen den einfachsten Weg. Okay, ein paar dumme Mädchen haben sich beim Spiel mit dem QuijaBrett gegenseitig so hochgeschaukelt, daß sie beim Stromausfall total ausflippten und dann wie kopflos durch die Gegend rannten. Eins von ihnen hat solche Angst bekommen und war so verwirrt, daß es sich durch ein geschlossenes Fenster gestürzt hat.“ Die beiden schwiegen, dann fügte Meredith hinzu: „Ich wünschte, Alaric wäre hier.“ Normalerweise hätte Bonnie ihr einen Stoß in die Rippen versetzt und augenzwinkernd gesagt: „Ich auch!“ Alaric war einer coolsten Typen, die sie kannte, auch wenn er schon zweiundzwanzig war. Jetzt drückte sie nur mitfühlend Meredith' Arm. „Kannst du ihn nicht irgendwie erreichen?“ „In Rußland? Ich weiß noch nicht einmal, wo er sich da überhaupt aufhält.“ Bonnie biß sich auf die Lippen. Dann setzte sie sich mit einem Ruck auf. Meredith fuhr gerade die Lee Street entlang. Auf dem Parkplatz der High School hatten sich eine Menge Schüler versammelt.
Die beiden Freundinnen tauschten einen Blick, dann nickte Meredith. „Versuchen können wir's ja“, meinte
sie. „Schauen wir mal, ob sie klüger sind als ihre Eltern.“
Bonnie sah die erstaunten Gesichter, während das Auto langsam in den Parkplatz bog. Als sie ausstiegen,
wichen die anderen zurück und bildeten eine Gasse.
Im Mittelpunkt der Menge stand Caroline. Sie hatte die Arme wie schützend vor der Brust verschränkt und
warf immer wieder verwirrt ihr langes Haar zurück.
„Wir werden nicht mehr in dem Haus übernachten, bis es repariert ist“, erklärte sie gerade und erschauderte
in ihrem weißen Pullover. „Daddy sagt, wir werden uns eine Wohnung in Heron mieten, bis alles vorbei ist.“
„Was für einen Unterschied macht das? Er kann dir auch bis Heron folgen, da bin ich ganz sicher“, warf
Meredith ein.
Caroline drehte sich um, aber sie mied Meredith' Blick. „Wer?“ fragte sie vage.
„Oh, Caroline. Nicht du auch noch!“ Bonnie explodierte fast.
„Ich möchte nur weg von hier“, verteidigte sich Caroline. Sie hob die Augen, und eine Sekunde lang konnte
Bonnie erkennen, wie verängstigt sie war. „Ich halte das nicht mehr aus.“ Wie um ihren Worten Nachdruck
zu verleihen, drehte sie sich um und ging.
„Laß sie, Bonnie. Es hat keinen Zweck“, sagte Meredith.
„Wie kann sie nur!“ Bonnie schäumte vor Wut. Wenn Caroline, die die Wahrheit kannte, sich so verhielt,
was konnten sie dann schon groß von den anderen Kids erwarten?
Die Antwort war unschwer in den Gesichtern ringsum zu erkennen. Alle sahen verschreckt aus, so
verschreckt, als würden sie und Meredith eine ansteckende Krankheit anschleppen.
„Ich habe noch gestern nachmittag mit Sue gesprochen“, sagte Deanne Kennedy, eine enge Freundin von
Sue. Sie stand etwas abseits und machte einen offeneren Eindruck als die anderen. „Sie war so aufgekratzt,
so glücklich. Sie kann nicht tot sein!“ Deanne begann zu schluchzen. Ihr Freund legte den Arm um sie. Ein
paar der anderen Mädchen begannen ebenfalls zu weinen. Die Jungen scharrten verlegen mit den Füßen.
Bonnie fühlte leise Hoffnung aufkeimen. „Und sie ist nicht die letzte, die sterben wird“, fügte sie hinzu.
„Elena hat uns gewarnt, daß die ganze Stadt in Gefahr ist. Elena sagte...“ Ohne es zu wollen, merkte Bonnie,
wie ihre Stimme schwand. Sie sah, wie sich die Blicke abwandten, als sie Elenas Namen erwähnte. Meredith
hatte recht gehabt. Sie hatten alles, was im letzten Winter passiert war, bereits verdrängt. Sie glaubten ihr
nicht mehr.
„Was ist denn los mit euch!“ schrie sie. „Denkt ihr tatsächlich, Sue hätte sich freiwillig vom Balkon
gestürzt?“
„Es geht das Gerücht...“ begann Deannes Freund und zuckte verlegen mit den Schultern. „Also, ihr habt bei
der Polizei ausgesagt, daß Vickie Bennett mit im Zimmer war, stimmt's? Wir wissen alle, daß Vickie nicht
ganz richtig... Ist auch egal. Jetzt ist sie jedenfalls wieder völlig durchgedreht. Und ihr habt Sue rufen hören,
,nein, Vickie, nein!'.“
Bonnie fühlte sich, als hätte man ihr einen Schlag in den Magen versetzt. „Ihr glaubt im Ernst, daß Vickie...?
Sagt mal, spinnt ihr oder was? Hört mir mal gut zu. Jemand hat in diesem Haus meine Hand gepackt. Das
war nicht Vickie. Und Vickie hatte nichts damit zu tun, daß Sue vom Balkon geworfen wurde.“
„Sie ist gar nicht kräftig genug dazu“, erklärte Meredith kühl. „Selbst in dicken Wintersachen wiegt sie
kaum mehr als fünfzig Kilo.“
Jemand in der Menge murmelte etwas davon, daß Irre oft übermenschliche Kräfte entwickeln. „Vickie ist
schon seit längerem ein Fall für den Psychiater.“
„Elena hat uns gesagt, daß es ein Mann ist!“ schrie Bonnie und verlor endgültig ihre Selbstbeherrschung.
Die anderen runzelten die Stirn, einige erschauderten, aber Bonnie hatte sie immer noch nicht überzeugt.
Dann entdeckte sie plötzlich einen Rettungsanker. „Matt! Rede du mit ihnen!“
Matt Honeycutt stand am Rand der Menge. Er hatte die Hände in die Taschen geschoben und den Kopf
gesenkt. Jetzt schaute er hoch. Bonnie sah den Blick in seinen blauen Augen und holte tief Luft. Er war nicht
hart und verschlossen wie bei den anderen, sondern voller Hoffungslosigkeit, was genauso schlimm war.
Matt zuckte mit den Schultern, ohne die Hände aus den Taschen zu nehmen.
„Okay, ich glaube dir“, sagte er. „Welchen Unterschied macht das schon? Es wird doch alles beim alten
bleiben.“
Bonnie war zum ersten Mal in ihrem Leben sprachlos. Gut, seit Elenas Tod war Matt nicht mehr er selbst.
Aber das...
„Jedenfalls glaubt er uns“, warf Meredith schnell ein, um aus diesem Moment Kapital zu schlagen. „Was
müssen wir tun, um den Rest von euch zu überzeugen?“
„He, nimm doch Kontakt zu Elvis auf, Schätzchen“, spottete eine heisere Stimme, die Bonnies Blut sofort in
Wallung brachte. Tyler. Tyler Smallwood. Er trug einen superteuren Iceberg-Pullover und grinste wie ein
Affe.
„Das ist zwar nicht so heiß wie eine Botschaft aus dem Jenseits von unserer toten Ex-Königin der High
School, aber immerhin ein Anfang“, fügte er noch kaugummikauend hinzu.
Matt hatte immer behauptet, daß dieses Grinsen geradezu danach schrie, Tyler eins auf die Nase zu geben.
Aber Matt, der einzige Junge in der Schule, der es mit Tyler aufnehmen konnte, starrte völlig abwesend zu
Boden.
„Halt die Klappe, Tyler“, fuhr Bonnie ihn an. „Du weißt nicht, was in diesem Haus passiert ist.“
„Und du anscheinend auch nicht. Wenn du dich nicht wie ein Feigling im Wohnzimmer verkrochen hättest,
hättest du alles mit eigenen Augen gesehen. Vielleicht würde dir dann jemand glauben.“
Bonnie lag eine scharfe Antwort auf der Zunge. Sie starrte Tyler an, öffnete den Mund, überlegte es sich
aber anders. Tyler wartete. Als sie schwieg, grinste er wieder breit und zeigte sein Raubtiergebiß.
„Also, ich wette, Vickie war's.“ Er blinzelte Dick Carter verschwörerisch zu. Dick war Vickies Exfreund.
„Sie ist 'ne richtige kleine Wildkatze, stimmt's, Dick? Sie könnte es gewesen sein.“ Er wandte sich zum
Gehen und warf noch lässig einen Satz über die Schuster zurück. „Oder dieser Salvatore ist wieder in der
Stadt.“
„Du Widerling!“ schrie Bonnie. Selbst Meredith stimmte ein. Natürlich brach bei der bloßen Erwähnung
von Stefans Namen die Hölle los. Tyler wußte das genau. Alle redeten aufgeregt und alarmiert
durcheinander. Besonders die Mädchen waren völlig aus dem Häuschen.
Das war das Ende der Versammlung. Einige hatten schon vorher verstohlen versucht, sich aus dem Staub zu
machen. Jetzt liefen alle ohne Hemmungen auseinander.
Bonnie schaute ihnen wütend nach.
„Nehmen wir einmal an, sie hätten dir geglaubt. Was sollten sie deiner Meinung nach tun?“ Matt war neben
Bonnie getreten, ohne daß sie es gemerkt hatte.
„Ich weiß es nicht. Jedenfalls irgendwas anderes, statt lammfromm darauf zu warten, das nächste Opfer zu
werden.“ Sie versuchte, in sein Gesicht zu sehen. „Matt? Geht's dir gut?“
„Keine Ahnung. Und dir?“
Bonnie dachte kurz nach. „Nein. Ich meine, eigentlich bin ich überrascht, daß ich es so einigermaßen
wegstecke. Als Elena starb, war ich ein Wrack. Aber ich war nie eng mit Sue befreundet, und außerdem...
Ich weiß nicht.“ Frustriert hieb sie mit der Faust in die Luft. „Ach, es ist einfach alles zuviel.“
„Du bist ganz schön sauer!“
„Ja, das bin ich.“ Plötzlich verstand Bonnie die Gefühle, die sie den ganzen Tag bewegt hatten. „Der Mord
an Sue war nicht nur schlimm, er war eine perverse und böse Tat. Wer immer es getan hat, darf nicht einfach
ungestraft davonkommen. Denn wenn die Welt so wäre, ein Ort, an dem das ohne Strafe geschehen kann...
wenn das die Wahrheit ist...“ Sie konnte den Satz nicht beenden.
„Dann was? Dann willst du hier nicht mehr leben? Und wenn die Welt nun wirklich so ist?“
Matts Blick war entsetzlich verloren und bitter. Bonnie war geschockt. Aber sie riß sich zusammen. „Ich
werde es nicht zulassen. Und du auch nicht.“
Er schaute sie an, als sei sie ein Kind, das darauf besteht, daß es den Weihnachtsmann gibt.
Meredith meldete sich zu Wort. „Wenn wir erwarten, daß die anderen uns ernst nehmen, sollten wir erstmal
bei uns selbst anfangen. Elena hat mit uns Kontakt aufgenommen. Sie wollte, daß wir etwas tun. Also
sollten wir herausfinden, was sie von uns will.“
Matts Gesicht hatte sich bei der Erwähnung von Elenas Namen schmerzlich verzogen. Du armer Kerl, du
liebst sie noch immer, dachte Bonnie. Ob du sie jemals vergessen kannst? Laut sagte sie: „Wirst du uns
helfen, Matt?“
„Ja“, erwiderte er leise. „Aber ich weiß immer noch nicht, was ihr eigentlich vorhabt.“
„Wir wollen dieses Monster stoppen, bevor es noch jemanden tötet“, erklärte Bonnie. Zum ersten Mal wußte
sie genau, daß das ihr Ziel war.
„Allein? Denn ihr seid allein, darüber müßt ihr euch im klaren sein.“
„Wir waren allein“, korrigierte ihn Meredith. „Genau das wollte Elena uns sagen. Sie drängte uns, einen
Zauberspruch auszusprechen, der Hilfe herbeiholt.“
„Ein leichter Spruch mit nur zwei Zutaten.“ Bonnie erinnerte sich an ihren Traum. Sie wurde immer
aufgeregter. „Und sie hat behauptet, daß sie mir die Zutaten bereits genannt hat. Aber das hat sie nicht
getan.“
„Letzte Nacht warnte sie uns, daß böse Einflüsse ihre Mitteilung verzerren würden.“ Meredith überlegte.
„Genau das scheint auch in deinem Traum passiert zu sein. Glaubst du wirklich, daß Elena mit dir Tee
getrunken hat?“
„Ja.“ Bonnie war sich ganz sicher. „Okay, ich weiß, daß wir in Wirklichkeit kein lauschiges
Plauderstündchen in Warm Springs verbracht haben. Aber Elena hat mir diese Botschaft geschickt.
Ungefähr in der Mitte hat jemand anders sich eingemischt und versucht, sie zu vertreiben. Elena hat dagegen
angekämpft. Ganz am Ende ist es ihr für eine Minute gelungen, die Kontrolle zurückzubekommen.“
„Okay. Das bedeutet, wir müssen uns auf den Anfang des Traums konzentrieren, als Elena noch mit dir
geredet hat. Es kann jedoch sein, daß auch diese Botschaft bereits durch die bösen Einflüsse gestört war und
anders rübergekommen ist, als Elena es beabsichtigt hatte. Vielleicht ist es weniger etwas, das sie gesagt,
sondern etwas, das sie getan hat...“
Bonnies Hand flog plötzlich hoch. Sie berührte ihre Locken. „Haar!“ rief sie.
„Was?“
„Haar! Ich hab sie gefragt, wer sie frisiert. Wir haben darüber geredet, und sie hat gesagt ,Das Haar ist sehr
wichtig'. Und, Meredith, als sie uns letzte Nacht versuchte zu sagen, was wir brauchen, war der erste
Buchstaben ein ,H'.“
„Das ist es!“ Meredith' dunkle Augen blitzen vor Aufregung. „Jetzt müssen wir nur noch das andere
herauskriegen.“
„Ich weiß es. Ich weiß es!“ Bonnie lachte vor überströmender Freude. „Sie hat es mir gesagt, direkt,
nachdem wir über das Haar geredet hatten. Ich fand es ein bißchen komisch. ,Blut ist auch wichtig'.“
Meredith schloß die Augen, als sich die Puzzleteilchen zu einem Bild zu formen begannen. „Und gestern
abend lautete eine Botschaft auf dem Quija-Brett ,Blutblutblut’. Ich dachte, sie käme von dem anderen, der
uns bedroht, aber das stimmte wohl nicht.“ Sie öffnete die Augen wieder. „Bonnie, glaubst du, daß wir
damit richtig liegen? Oder müssen wir uns auch mit Schlamm, Mäusen und Tee beschäftigen?“
„Das sind die Zutaten“, sagte Bonnie fest. „Sie ergeben einen Sinn, wenn man jemanden zu sich rufen will.
Ich bin sicher, ich kann das Ritual für diesen Zauber in einem meiner alten, keltischen Zauberbücher finden.
Wir müssen nur noch überlegen, wen wir eigentlich rufen sollen...“ Plötzlich kam ihr ein Gedanke, und ihre
Stimme brach ab.
„Ich habe mich schon gefragt, wann dir dieser Punkt endlich auffällt.“ Matt sprach zum ersten Mal seit
langer Zeit. „Jetzt weißt du, wer es ist, oder?“
4. KAPITEL Meredith warf Matt einen ironischen Blick zu. „Hmm“, sagte sie. „Na, Bonnie, was glaubst du, wen würde Elena wohl in Zeiten der Gefahr rufen?“ Bonnie unterdrückte schuldbewußt ein Grinsen, als sie Matts Ausdruck sah. Es war nicht fair, ihn damit aufzuziehen. „Elena warnte uns, daß der Killer zu stark für uns sei und wir deshalb Hilfe brauchen würden“, erklärte sie Matt. Matt nickte langsam. Bonnie konnte nicht erraten, was er fühlte. Er und Stefan waren einmal die besten Freunde gewesen, selbst noch, als Elena Stefan statt Matt gewählt hatte. Aber das war gewesen, bevor Matt herausgefunden hatte, was Stefan war und zu welchen Gewaltausbrüchen er fähig war. In seiner Wut und Trauer über Elenas Tod hatte Stefan Tyler Smallwood und fünf seiner Kumpane beinahe getötet. Konnte Matt das vergessen? Konnte er den Gedanken ertragen, daß Stefan nach Fell's Church zurückkam? Matt ließ sich nichts anmerken. Meredith redete deshalb weiter. „Also müssen wir alle etwas Blut und ein paar Haare spenden. Ein oder zwei Locken würdest du doch nicht vermissen, oder, Bonnie?“ Bonnie war so abwesend, daß sie die Frage fast überhört hätte. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Es ist nicht unser Blut und Haar, das wir brauchen, sondern das von der Person, die wir rufen sollen.“
„WAS? Aber das ist doch völlig unmöglich. Wenn wir Stefans Blut und seine Haare hätten, bräuchten wir
ihn nicht herzuholen.“
„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht“, gab Bonnie zu. „Bei so einem Zauberspruch besorgt
man sich im allgemeinen die Sachen vorher und benutzt sie dann, wenn man denjenigen zurückrufen will.
Was machen wir jetzt, Meredith? Damit ist die Sache gestorben, fürchte ich.“
Meredith dachte angestrengt nach. „Warum sollte Elena etwas Unmögliches von uns verlangen?“
„Elena hat 'ne Menge unmöglicher Dinge von uns verlangt“, erwiderte Bonnie düster. „Schau mich nicht so
an, Matt. Du weißt es genau. Sie war keine Heilige.“
„Kann sein. Aber das hier ist machbar“, erwiderte Matt knapp. „Ich weiß einen Ort, an dem wir Stefans Blut
finden können. Und wenn wir Glück haben, ein paar Haare dazu. In der Krypta.“
Bonnie zuckte zusammen, aber Meredith nickte nur.
„Natürlich“, sagte sie. „Als Stefan gefesselt war, hat er stark geblutet. Und bei diesem Kampf hat er sicher
auch ein paar Haare verloren. Wenn man da unten alles so gelassen hat...“
„Unwahrscheinlich, daß jemand nach Elenas Tod in der Gruft war“, warf Matt ein. „Die Polizei hat ihre
Untersuchungen gemacht, und das war's. Aber es gibt nur einen Weg, es herauszufinden.“
Ich habe mich geirrt, dachte Bonnie. Ich habe mir Sorgen gemacht, daß Matt es nicht verkraftet, wenn
Stefan zurückkommt. Und jetzt tut er alles, um uns zu helfen, ihn zu holen. „Matt, ich könnte dich küssen“,
stieß sie hervor.
Einen Moment konnte sie das Aufleuchten in seinen Augen nicht deuten. Es war Überraschung, aber noch
etwas mehr. Plötzlich überlegte Bonnie, was er wohl machen würde, wenn sie ihn tatsächlich küßte.
„Wie die Lady wünscht“, erwiderte er schließlich mit einem ironischen Schulterzucken, als ergäbe er sich in
sein Schicksal. Zum ersten Mal an diesem Tag wirkte er etwas fröhlicher.
Meredith jedoch hatte nur ihre Aufgabe im Kopf. „Okay, gehen wir. Wir haben eine Menge zu tun und
wollen doch nicht ausgerechnet in der Krypta von der Dunkelheit überrascht werden, oder?“
Die Gruft befand sich unter der Ruine der alten Kirche, die auf dem Friedhofshügel stand. Es ist früh am
Nachmittag, es bleibt noch lange hell, sagte Bonnie sich immer wieder, während sie den Hügel
hinaufstiegen. Trotzdem überlief sie eine Gänsehaut. Der moderne Friedhof auf der einen Seite war schon
schlimm genug, aber der alte auf der anderen Seite wirkte auch im hellen Sonnenlicht unheimlich. Er war
übersät mit halbverfallenen Grabsteinen, die an die vielen jungen Männer erinnerten, die im amerikanischen
Bürgerkrieg gefallen waren. Man brauchte keine telepathische Begabung zu haben, um ihre Anwesenheit zu
spüren.
„Ruhelose Geister“, murmelte Bonnie.
„Hmm?“ fragte Meredith, als sie über den Trümmerhaufen stieg, der einst eine Wand der
zusammengefallenen Kirche gewesen war. „Schaut, der Deckel zur Gruft ist noch offen. Das ist prima. Wir
hätten es nämlich niemals geschafft, ihn hochzustemmen.“
Bonnie betrachtete nachdenklich die weißen Marmorstatuen, die den Deckel schmückten. Honoria Fell lag
dort neben ihrem Mann, die Hände über der Brust gefaltet. Ihr Ausdruck war sanft und zugleich ein wenig
wehmütig wie immer. Aber Bonnie wußte, daß von dort keine Hilfe mehr kommen würde. Honorias
Pflichten als Beschützerin der Stadt, die sie gegründet hatte, waren erfüllt.
So hat Elena die ganze Verantwortung, dachte Bonnie grimmig und schaute in die rechteckige Öffnung. Der
Eingang zur Krypta. Eisenstiegen führten hinab in die Dunkelheit.
Selbst mit der Hilfe von Meredith' Taschenlampe war es schwierig, in den unterirdischen Raum
hinunterzuklettern. Drinnen war es muffig und still. Die Wände waren mit poliertem Stein verkleidet.
Bonnie erschauderte.
„Da“, sagte Meredith leise.
Matt hatte den Strahl der Taschenlampe auf das Eisengitter gerichtet, das den Vorraum von der eigentlichen
Krypta trennte. Der Boden war an einigen Stellen schwarz von geronnenem Blut. Bonnie wurde schwindlig,
als sie die Pfützen und Rinnsale sah.
„Wir wissen, daß Damon am schlimmsten verletzt war.“ Meredith ging nach vorn. Sie schien ganz ruhig,
doch Bonnie hörte die Angespanntheit in ihrer Stimme. „Also muß er sich auf dieser Seite befunden haben,
wo das meiste Blut ist. Stefan sagte, Elena war in der Mitte. Das bedeutet, Stefan selbst muß... hier gewesen
sein.“ Sie beugte sich hinunter.
„Ich mach's“, sagte Matt rauh. „Du hältst die Taschenlampe.“ Mit einem Plastikmesser aus Meredith' Auto kratzte er an den verkrusteten Steinen. Bonnie schluckte. Sie war froh, daß sie nur Tee im Magen hatte. Von Blut zu reden, war eine Sache. Aber direkt damit konfrontiert zu werden... besonders, wenn es von einem Freund stammte, der gefoltert worden war... Bonnie wandte den Blick ab. Sie betrachtete die Steinwände. Ihre Gedanken schweiften zu Katherine. Beide, Stefan und sein älterer Bruder Damon, hatten sich in Katherine verliebt. Das war im Florenz des fünfzehnten Jahrhunderts geschehen. Aber sie hatten nicht gewußt, daß das schöne Mädchen kein menschliches Wesen mehr war. Ein Vampir in ihrem deutschen Heimatdorf hatte sie verwandelt, um ihr das Leben zu retten, als sie tödlich erkrankt war. Katherine wiederum hatte die beiden Brüder zu Vampiren gemacht. Und dann, erinnerte sich Bonnie, hatte Katherine ihren eigenen Tod vorgetäuscht, damit Damon und Stefan aufhörten, um ihretwillen gegeneinander zu kämpfen. Aber es hatte nicht geklappt. Die Brüder haßten einander noch mehr als zuvor. Und Katherine wiederum haßte die beiden, weil sie unversöhnlich waren. Sie war zu dem Vampir zurückgekehrt, der sie geschaffen hatte. Während die Jahre vergingen, wurde sie so böse wie er. Bis sie schließlich nur noch eins wollte. Nämlich, die Brüder zerstören, die sie einst geliebt hatte. Sie lockte die beiden nach Fell's Church, um sie zu töten. In dieser Gruft war es ihr beinahe gelungen. Elena hatte es verhindert. Und dafür mit dem Leben bezahlt. „Fertig“, sagte Matt. Bonnie blinzelte und kehrte in die Gegenwart zurück. Matt hatte sich aufgerichtet. Er hielt eine Papierserviette in der Hand, auf der Flocken von Stefans getrocknetem Blut lagen. „Jetzt zum Haar.“ Sie streiften mit den Fingern über den Boden, fanden Staub, Teile von Blättern und Dinge, die Bonnie lieber nicht näher betrachten wollte. Zwischen dem Unrat lagen lange Strähnen von hellblondem Haar. Elenas oder Katherines, dachte Bonnie. Die beiden hatten einander sehr geglichen. Und da waren kürzere, gelockte, schwarze Haare. Sie gehörten Stefan. Es war langwierig und mühsam, alles zu durchsuchen und die richtigen Haare in einer anderen Serviette zu sammeln. Matt machte die meiste Arbeit. Am Ende waren sie müde und schmutzig. Das Licht, das durch die rechteckige Öffnung fiel, hatte inzwischen den bläulichen Ton der Abenddämmerung angenommen. Doch Meredith lächelte triumphierend. „Wir haben's geschafft“, sagte sie. „Tyler möchte, daß Stefan zurückkommt. Okay, wir erfüllen ihm seinen Wunsch.“ Und Bonnie, die, noch immer in Gedanken verloren, nur halb abwesend bei der Suche geholfen hatte, erstarrte. Sie hatte über alles mögliche nachgegrübelt, über andere Dinge, die nichts mit Tyler zu tun hatten. Doch bei der Erwähnung seines Namens fiel ihr etwas ein. Etwas, das ihr schon auf dem Parkplatz aufgefallen war, das sie dann aber in der Hitze des Streits wieder vergessen hatte. Meredith' Worte hatten es zurückgeholt. Plötzlich war alles ganz klar. Woher konnte er es wissen? fragte sie sich, und ihr Herz klopfte wie wild. „Bonnie? Was ist los?“ „Meredith“, sagte sie leise. „Hast du der Polizei erzählt, daß wir im Wohnzimmer waren, als alle anderen mit Sue nach oben gegangen sind?“ „Nein. Ich glaube, ich habe nur erwähnt, daß wir unten waren. Warum?“ „Weil ich es auch nicht getan habe. Und Vickie konnte nichts sagen, denn sie ist wieder völlig weggetreten. Sue ist tot. Caroline war zu dieser Zeit schon draußen. Aber Tyler wußte es. Erinnere dich, er sagte, ,wenn du dich nicht im Wohnzimmer wie ein Feigling versteckt hättest, hättest du gesehen, was passiert ist'. Wie konnte er das wissen?“ „Bonnie, wenn du damit behaupten willst, daß Tyler der Mörder ist, vergiß es. Zunächst mal, er ist viel zu dumm, um so eine Sache einzufädeln“, erwiderte Meredith. „Da ist noch etwas, Meredith. Letztes Jahr beim Schulball hat Tyler meine nackte Schulter berührt. Das verfolgt mich heute noch.“ Bonnie erschauderte. „Seine Hand war riesig, heiß und widerlich feucht. Genau wie die Pranke, die mich gestern nacht gepackt hat.“ Aber Meredith schüttelte weiter den Kopf, und selbst Matt schien nicht überzeugt zu sein. „Elena hätte in dem Fall nur ihre Zeit verschwendet, uns zu bitten, Stefan zurückzuholen“, erklärte er. „Mit ein paar wohlgezielten Schlägen kann ich Tyler leicht fertigmachen.“ „Denk doch mal nach, Bonnie“, fügte Meredith hinzu. „Besitzt Tyler etwa die telepathischen Kräfte, ein Quija-Brett zu bewegen oder in deine Träume einzudringen? Hat er sie?“
Er hatte sie natürlich nicht. Was das Übernatürliche anging, war Tyler genauso ein Holzkopf wie Caroline.
Das konnte Bonnie nicht leugnen. Aber sie konnte ihr ungutes Gefühl ebenwenig unterdrücken. Es ergab
einfach keinen Sinn, doch irgendwie wußte sie, daß Tyler letzte Nacht im Haus gewesen war.
„Wir beeilen uns lieber“, drängte Meredith. „Es wird langsam dunkel, und dein Vater wird sonst ganz schön
sauer werden, Bonnie.“
Auf der Heimfahrt schwiegen alle. Tyler ging Bonnie nicht aus dem Kopf. Bei ihr zu Hause schmuggelten
sie die Papierservietten nach oben und begannen, Bonnies Bücher über Druiden und keltische Zauberkunst
zu durchsuchen. Schon bevor sie entdeckt hatte, daß ihre Vorfahren keltische Magier gewesen waren, hatte
Bonnie sich für die Druiden interessiert. In einem ihrer Bücher fand sie das Ritual für den Zauberspruch, der
eine bestimmte Person herbeiholt.
„Wir müssen Kerzen kaufen“, sagte sie. „Und destilliertes Wasser. Am besten, du holst gleich ein paar
Flaschen“, wandte sie sich an Meredith. „Halt, und Kreide, um einen Kreis auf den Fußboden zu malen.
Fehlt noch ein Behälter, in dem wir ein kleines Feuer entzünden können. Aber so etwas kann ich im Haus
finden. Ihr braucht euch nicht zu beeilen. Der Spruch muß um Mitternacht ausgesprochen werden.“
Mitternacht war noch weit entfernt. Meredith kaufte die benötigten Sachen in einem Supermarkt und brachte
sie mit zurück. Sie aßen mit Bonnies Familie zu abend, obwohl keiner von ihnen viel Appetit hatte. Um elf
Uhr hatte Bonnie den Kreis auf den Holzboden ihres Zimmers gemalt, und alle Zutaten lagen auf einer
kleinen Bank innerhalb des Kreises. Punkt zwölf begann sie.
Während Matt und Meredith zusahen, entzündete sie ein kleines Feuer in einer Tonschüssel. Drei Kerzen
brannten hinter der Schüssel. Genau in die Mitte einer der Kerzen hatte sie eine Nadel gesteckt. Dann
entfaltete sie eine der Servietten, schüttete das getrocknete Blut in ein Glas Wasser und rührte sorgfältig um.
Das Wasser färbte sich rotbraun.
Bonnie öffnete die zweite Serviette. Drei Haare warf sie ins Feuer, wo sie knisternd mit fürchterlichem
Gestank verbrannten. Dann tröpfelte sie drei Tropfen des gefärbten Wassers darüber. Das Feuer zischte.
Sie blickte auf die Worte des offenen Buchs und zitierte:
Der Teile sind drei nun eile herbei gerufen von mir wir brauchen dich hier. Sie wiederholte den Spruch dreimal. Dann setzte sie sich auf die Fersen zurück. Das Feuer brannte rauchend
weiter. Die Flammen der Kerzen tanzten.
„Und jetzt?“ fragte Matt.
„Keine Ahnung. Hier steht weiter, daß man warten soll, bis die mittlere Kerze bis zur Nadel
heruntergebrannt ist.“
„Was geschieht dann?“
„Ich fürchte, das erfahren wir erst, wenn es passiert.“
In Florenz brach gerade der Morgen an.
Stefan beobachtete, wie die junge Frau die Treppe hinunterstieg. Sie schwankte leicht und hielt sich am Geländer fest, um das Gleichgewicht zu halten. Ihre Bewegungen waren langsam und vorsichtig, wie die einer Schlafwandlerin.
Plötzlich stolperte sie und packte das Geländer fester. Stefan trat hinter sie und stützte sie am Ellbogen.
„Alles in Ordnung?“
Sie sah ihn mit verschwommenem Blick an. Sie war sehr hübsch und in teuren Kleidern nach dem letzten Modeschrei gekleidet. Ihr langes, kunstvoll verwirrtes Haar war blond. Eine Touristin. Noch bevor sie ein Wort gesprochen hatte, wußte er, daß sie Amerikanerin war.
„Ja... ich glaube schon...“ brachte sie stockend hervor.
„Wie kommen Sie nach Hause? Wo wohnen Sie?“
„In der Via dei Conti, nahe bei der Medici-Kapelle. Ich habe ein Auslandsstipendium bekommen.“
Verdammt! Also keine Touristin, eine Studentin. Das bedeutete, sie würde die Story von dem attraktiven
Italiener, den sie letzte Nacht getroffen hatte, ihren Freundinnen erzählen. Von dem Typen mit den dunklen
Augen schwärmen, der sie zu seiner eleganten Wohnung in der Via Tornabuoni gebracht und ihr ein
wunderbares Abendessen mit köstlichem Wein serviert hatte. Und dann, beim Mondschein, vielleicht in dem
mit Blumen bepflanzten Innenhof, hatte er sich nah zu ihr hin gebeugt, ihr tief in die Augen geschaut...
Stefan wandte den Blick von den zwei roten, punktförmigen Wunden am Hals des Mädchens ab. Er hatte
diese Male schon so oft gesehen - warum besaßen sie immer noch die Macht, ihn aus der Fassung zu
bringen? Doch genau das taten sie: sein Magen drehte sich um, es wurde ihm beinahe übel.
„Wie heißen Sie?“
„Rachael. Mit zwei a.“ Sie buchstabierte es ihm.
„Okay, Rachael. Schau mich jetzt an. Du wirst zurück in deine Pension gehen und dich an nichts von letzter
Nacht erinnern. Du weißt nicht mehr, wohin du gegangen bist oder wen du getroffen hast. Und du hast auch
mich nie gesehen. Wiederhole es.“
„Ich werde mich an nichts von letzter Nacht erinnern“, sagte sie gehorsam und sah Stefan wie hypnotisiert in
die Augen. Stefans geheime Kräfte waren nicht so stark, wie sie es gewesen wären, wenn er menschliches
Blut getrunken hätte, aber für das hier reichten sie. „Ich weiß nicht, wohin ich gegangen bin oder wen ich
getroffen habe. Und ich habe auch dich nie gesehen.“
„Gut. Hast du genug Geld, um zurückzukommen? Hier, das wird reichen.“ Stefan drückte Rachael eine
Handvoll zerknitterter Lire-Scheine in die Hand und führte sie nach draußen.
Als er sie sicher in einem Taxi verstaut hatte, ging er wieder hinein und stürmte direkt in Damons
Schlafzimmer.
Damon hatte es sich nahe beim Fenster bequem gemacht und schälte eine Orange. Er war noch nicht einmal
angezogen und wenig erfreut, Stefan zu sehen.
„Höfliche Leute klopfen an“, sagte er.
„Wo hast du sie getroffen?“ Stefan kam sofort zur Sache. Als Damon ihn verständnislos anstarrte, fügte er
hinzu: „Das Mädchen. Rachael.“
„Hieß sie so? Ich glaube, ich habe sie gar nicht danach gefragt. Bei Gilli. Oder war's vielleicht bei Mario?
Jedenfalls in einer Bar. Warum?“
Stefan unterdrückte mühsam seinen Ärger. „Ihr Name ist nicht das einzige, worum du dich nicht gekümmert
hast. Du hast zum Beispiel auch nicht daran gedacht, sie zu beeinflussen, damit sie dich vergißt. Willst du
eigentlich geschnappt werden, Damon?“
Damon lächelte und spielte mit der Orangenschale. „Mich wird man niemals schnappen, kleiner Bruder.“
„Was willst du denn tun, wenn sie dir auf die Schliche kommen? Wenn das Gerücht umgeht, daß in der Via
Tornabuoni ein blutsaugendes Monster haust? Sie alle töten? Oder warten, bis sie die Tür eintreten, und
dann in der Dunkelheit verschwinden?“
Damon sah ihn herausfordernd an. Er lächelte immer noch. „Warum nicht?“
„Verdammt!“ schrie Stefan. „Jetzt hör mir mal zu, Damon. Das muß aufhören!“
„Ich bin richtig gerührt, wie du dich um meine Sicherheit sorgst.“
„Das ist nicht fair. Ein Mädchen gegen seinen Willen...“
„Das siehst du falsch. Sie war sehr, sehr willig.“
„Hast du ihr denn erzählt, was du in Wirklichkeit tun wirst? Hast du sie denn vor den Folgen gewarnt, die
entstehen können, wenn man mit einem Vampir das Blut austauscht? Vor den Alpträumen, den
schrecklichen Visionen? War sie auch dazu bereit?“ Da Damon offensichtlich nicht antworten wollte, fuhr
Stefan fort: „Du weißt, das geht gegen jede Ehre.“
„Natürlich weiß ich das.“ Damon reckte sich lässig wie ein schwarzer Panther.
„Und es ist dir egal.“ Stefan wandte den Blick ab.
Damon warf gelangweilt die Orange fort. Sein Tonfall war weich und einschmeichelnd. „Kleiner Bruder, die
Welt wimmelt nur so von ,ehrlosen' Menschen. Warum entspannst du dich nicht endlich und kommst auf die
Seite der Sieger? Das macht viel mehr Spaß, glaub mir.“
Stefan fühlte, wie wieder Ärger in ihm aufstieg. „Wie kannst du das sagen? Hast du denn nichts von
Katherine gelernt? Sie hatte die Seite der Sieger gewählt.“
„Katherine ist zu schnell gestorben“, erwiderte Damon. Er lächelte wieder, doch seine Augen waren kalt wie
Eis.
„Und alles, woran du jetzt noch denken kannst, ist Rache.“ Stefan spürte, wie sich ein tonnenschweres
Gewicht auf seine Brust senkte. „Rache und dein eigenes Vergnügen.“
„Was gibt es denn sonst? Vergnügen, das ist doch das einzige, was wirklich Bedeutung hat, kleiner Bruder -
Vergnügen und Macht. Und du bist von Natur aus genauso ein Jäger wie ich. Außerdem habe ich dich nicht
eingeladen, mir nach Florenz zu folgen. Da du es hier so schrecklich findest, warum gehst du nicht einfach
wieder weg?“ fügte er hinzu und zuckte lässig mit den Schultern.
Das Gewicht auf Stefans Brust wurde plötzlich fast unerträglich, aber er wich Damons Blick nicht aus. „Du
weißt genau, warum“, sagte er leise. Und endlich hatte er die Genugtuung, daß Damon die Augen als erster
abwandte.
Stefan hörte noch Elenas Worte. Sie hatte damals bereits im Sterben gelegen. Ihre Stimme war schwach
gewesen, aber klar zu verstehen. „Ihr müßt euch umeinander kümmern, Stefan. Versprich mir, daß ihr euch
umeinander kümmert.“ Er hatte es ihr versprochen, und er würde sein Wort halten. Was immer auch
passierte.
„Du weiß genau, warum ich nicht wegkann“, wiederholte er. „Du kannst so tun, als wäre es dir egal. Du
kannst der ganzen Welt etwas vormachen, aber mir nicht.“ Es wäre anständig gewesen, die Sache an diesem
Punkt auf sich beruhen zu lassen, aber Stefan war nicht in der Stimmung dazu. „Das Mädchen, das du
aufgegabelt hast, diese Rachael“, fuhr er brutal fort, „das Haar war okay, aber ihre Augen hatten die falsche
Farbe. Elenas Augen waren blau.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und wollte Damon allein lassen, damit
er darüber nachdenken konnte. Wenn Damon so etwas überhaupt tat. Doch Stefan kam nicht bis zur Tür.
„Es ist soweit“, rief Meredith, den Blick fest auf die Kerzenflamme und die Nadel gerichtet.
Bonnie holte tief Luft. Etwas öffnete sich vor ihren Augen wie ein silberner Faden, ein silberner Tunnel,
durch den sie Kontakt aufnehmen konnte. Sie raste ihn entlang, ohne eine Möglichkeit, anzuhalten oder die
Geschwindigkeit zu kontrollieren. Oh, mein Gott, dachte sie. Wenn ich nun ankomme, und es ist nicht...
Der Blitz in Stefans Kopf war völlig geräuschlos, ohne Licht und so kräftig wie ein Donnerschlag. Zur
gleichen Zeit fühlte er ein heftiges Ziehen, einen unwiderstehlichen Drang, jemandem zu folgen. Das war
nicht wie Katherines geschicktes, kaum merkbares Unterfangen, ihn in eine bestimmte Richtung zu drängen,
sondern eher wie ein lautloser Schrei. Ein Befehl, dem er sich nicht entziehen konnte.
In dem Blitz spürte er eine Gegenwart, aber er konnte kaum glauben, wer das war.
Bonnie?
Stefan! Du bist es! Es hat funktioniert!
Bonnie, was hast du getan?
Elena hat es mir befohlen. Ehrlich, Stefan, das stimmt. Wir sind in Gefahr, und wir brauchen...
Ende. Die Kommunikation brach zusammen, wurde schwächer und verschwand schließlich ganz. Das
Zimmer vibrierte noch vom Nachhall der mächtigen Kraft, die freigesetzt worden war.
Stefan und Damon starrten einander sprachlos an.
Bonnie atmete erleichtert aus, es war ihr gar nicht aufgefallen, daß sie so lange den Atem angehalten hatte.
Sie öffnete die Augen und konnte sich nicht daran erinnern, sie geschlossen zu haben. Sie lag auf dem
Rücken. Matt und Meredith beugten sich besorgt über sie.
„Was ist passiert? Hat es geklappt?“ fragte Meredith aufgeregt und griff nach Bonnies Arm.
„Ja.“ Bonnie ließ sich von den beiden hochhelfen. „Ich habe mit Stefan gesprochen. Jetzt können wir nur
abwarten, ob er kommt oder nicht.“
„Hast du Elena erwähnt?“ wollte Matt wissen.
„Ja.“
„Dann kommt er.“
5. KAPITEL Montag, der 8. Juni, 11 Uhr 15 Liebes Tagebuch,
Ich kann heute nacht gar nicht schlafen, also werde ich etwas schreiben. Den ganzen Tag habe ich darauf
gewartet, daß etwas passiert. Schließlich soll der ganzen Aufwand für den Zauberspruch auch etwas
bringen.
Aber nichts ist passiert. Ich war den ganzen Tag zu Hause, denn Mom wollte nicht, daß ich zur Schule gehe.
Sie war ganz aus dem Häuschen darüber, daß Matt und Meredith am Sonntag so lange geblieben sind, und
wollte, daß ich mich einmal richtig ausruhe. Doch jedes Mal, wenn ich mich hinlege, sehe ich Sues Gesicht
vor mir.
Sues Vater hat die Trauerrede bei Elenas Beerdigung gehalten. Ich frage mich, wer das für Sue am
Mittwoch machen wird.
Ich muß endlich aufhören, über diese Dinge nachzugrübeln. Ich sollte doch versuchen, etwas zu schlafen.
Wenn ich die Kopfhörer aufsetze und etwas Musik höre, werde ich vielleicht abgelenkt und kann Sue endlich
für eine Weile vergessen.
Bonnie legte das Tagebuch zurück in die Nachttischschublade und holte ihr kleines Radio heraus. Sie
wechselte die Sender und starrte mit schweren Augen an die Decke. Durch das Knistern der
atmosphärischen Störungen hindurch hörte sie die Stimme eines Discjockeys. „Und hier ist ein goldener
Oldie für alle Fans der Fünfziger Jahre: ,Diana' von Paul Anka...“
Bonnie schlief ein.
Das Eiscremesoda, das vor Bonnie stand, war ihre Lieblingssorte: Erdbeer. Die Musicbox spielte „Diana“,
und die Theke war blitzsauber. Aber Elena hätte selbst in den fünfziger Jahren niemals einen solch steifen
Petticoat unter dem Rock getragen.
„Keinen Petticoat“, sagte Bonnie und deutete darauf. Elena sah von ihrer Eiscreme hoch. Ihr blondes,
glänzendes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. „Wer denkt sich so einen Kram
überhaupt aus?“ fügte Bonnie stirnrunzelnd hinzu.
„Du selbst, Dummerchen. Ich bin doch nur zu Besuch.“
„Oh.“ Bonnie zog an ihrem Strohhalm. Träume. Es gab einen Grund, sich vor Träumen zu fürchten, aber er
fiel ihr jetzt beim besten Willen nicht ein.
„Ich kann nicht lange bleiben“, erklärte Elena. „Ich glaube, er weiß bereits, daß ich hier bin. Ich wollte dir
nur sagen...“ Sie runzelte die Stirn.
Bonnie sah sie mitfühlend an. „Kannst du dich nicht mehr erinnern?“ fragte sie. Sie trank noch etwas Soda.
Es schmeckte plötzlich sehr merkwürdig.
„Ich bin zu jung gestorben, Bonnie. Es gab so viel, was ich noch tun sollte, noch erreichen wollte. Und jetzt
muß ich dir helfen.“
„Danke.“
„Das ist nicht einfach, mußt du wissen. Ich habe nicht viel Macht. Es ist sehr schwer, zu dir durchzudringen,
und noch schwerer, alles zusammenzuhalten.“
„Schusammenschu...“, stammelte Bonnie und nickte. Sie fühlte sich merkwürdig beschwipst. Was war in
dem Soda?
„Die Dinge werden oft anders als vorgesehen. Das ist sein Werk, glaube ich. Er bekämpft mich andauernd.
Und er beobachtet dich. Jedesmal, wenn wir versuchen, miteinander zu reden, kommt er.“
„Ja, ja.“ Der Raum drehte sich.
„Bonnie, hörst du mir überhaupt noch zu? Er kann deine Ängste gegen dich benutzen. Auf diese Art dringt
er ein.“
„Ja...“
„Laß ihn nicht herein. Erzähl es allen. Und sag Stefan...“ Elena brach abrupt ab und hob eine Hand zum
Mund. Etwas fiel in ihre Eiscreme.
Ein Zahn.
„Er ist hier.“ Elenas Stimme klang komisch und verzerrt. Bonnie starrte voll Horror auf den Zahn. Er lag
mitten auf der Sahne, direkt neben ein paar Mandelsplittern. „Bonnie, sag Stefan...“
Ein weiterer Zahn fiel hinunter und noch einer. Elena schluchzte. Sie hielt jetzt beide Hände vor den Mund.
Ihr Blick war angsterfüllt und hilflos. „Bonnie, bleib...“
Aber Bonnie stolperte bereits zurück. Alles um sie herum spielte verrückt. Das Soda sprudelte aus dem Glas.
Aber es war gar kein Soda. Es war Blut. Hellrot und schaumig. Wie das Blut, das man im Todeskampf
ausspuckt. Bonnie drehte sich der Magen um.
„Sag Stefan, daß ich ihn liebe.“ Das war das Nuscheln einer alten, zahnlosen Frau, und es endete in
hysterischem Schluchzen. Bonnie war froh, als sie in die Dunkelheit fiel und alles vergessen konnte...
Bonnie knabberte am Ende ihres Filzstifts, den Blick starr auf die Uhr gerichtet. Ihre Gedanken waren beim
Kalender. Noch achteinhalb Tage Schule. Und so, wie es aussah, würde es die reinste Folter werden.
Ein Typ hatte es ihr gerade ins Gesicht gesagt, als er auf der Treppe einen weiten Bogen um sie gemacht
hatte. „He, nichts für ungut, aber man hat den Eindruck, deine Freunde sterben wie die Fliegen.“ Bonnie war
in die Toilette geflohen und hatte geweint.
Alles, was sie jetzt wollte, war, weg von der Schule, weg von den trauerumwölkten Mienen und
anklagenden, oder schlimmer noch, mitleidigen Blicken. Der Direktor hatte eine Rede gehalten, über das
„schreckliche, neue Unglück“ und den „entsetzlichen Verlust“. Bonnie hatte fast körperlich gespürt, wie alle
sie dabei heimlich anstarrten.
Als es zum Unterrichtsende läutete, war sie als erste zur Tür hinaus. Aber statt in die nächste
Unterrichtsstunde ging sie wieder in die Toilette, wo sie bis zum nächsten Läuten wartete. Erst dann, als die
Flure leer waren, traute sie sich hinaus und lief zum Fremdsprachenunterricht. Die Veranstaltungsplakate an
den Wänden würdigte sie keines Blickes. Wie wichtig war schon ein Konzert von Gun's and Roses am Ende
des Jahres, wenn sie bereits alle tot sein konnten, bevor der Monat um war?
Sie stieß fast mit jemandem zusammen, der auf dem Flur stand. Ihr Blick streifte die trendgerechten
Turnschuhe, die engen Jeans, die die Muskeln betonten, und den durchtrainierten Körper. Schmale Hüften,
breite Schultern. Ein Gesicht, das jeden Bildhauer in den Wahnsinn treiben konnte. Hohe Backenknochen,
ein sinnlicher Mund. Dann die dunkle Sonnenbrille, das leicht zerzauste, schwarze Haar... Bonnie starrte mit
offenem Mund.
Oh, mein Gott. Ich hab ganz vergessen, wie toll er ist, dachte sie. Elena, vergib mir, aber ich werde ihn
umarmen.
„Stefan“, flüsterte sie.
Dann kehrte sie mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück und sah sich gehetzt um. Sie waren allein. Sie
griff nach Stefans Arm. „Bist du verrückt, hier aufzutauchen?“
„Ich mußte dich finden. Ich dachte, es ist sehr dringend!“
„Ist es auch, aber...“ Er schien so fehl am Platz zu sein, hier mitten auf dem Schulflur. Wie ein Zebra in
einer Herde Schafe. Bonnie wollte ihn zu einem Besenschrank zerren.
Aber er blieb stehen. Und er war stärker als sie. „Bonnie, du hast gesagt, du hast mit...“
„Du mußt dich verstecken! Ich hole Matt und Meredith her, und dann können wir reden. Wenn jemand dich
sieht, wirst du wahrscheinlich gelyncht. Es hat noch einen Mord gegeben.“
Stefans Miene änderte sich. Er ließ sich von Bonnie zu der Besenkammer führen und wollte noch etwas
sagen, überlegte es sich dann aber anders. „Ich warte“, erwiderte er kurz.
Es dauerte nur ein paar Minuten, Meredith und Matt aus ihren Unterrichtsstunden zu holen. Sie eilten zurück
zum Besenschrank und versuchten, Stefan so unauffällig wie möglich aus der Schule zu schmuggeln, was
nicht ganz einfach war.
Bestimmt hat uns jemand gesehen, dachte Bonnie. Jetzt hängt alles davon ab, wer das war und was für ein
Klatschmaul er ist.
„Wir müssen Stefan an einen sicheren Ort bringen. Auf keinen Fall zu einem von uns nach Hause“, erklärte
Meredith gerade. Sie liefen so schnell wie möglich über den Parkplatz der High School.
„Schön, aber wohin? Wartet mal, was ist mit der Pension...?“ Bonnie brach ab. Vor ihr auf dem Parkplatz
stand ein kleines, schwarzes Auto. Ein italienisches Fabrikat, sehr sportlich und unheimlich chic. Die
Fenster waren dunkel getönt, man konnte nicht hineinsehen. Dann erkannte Bonnie die Plakette mit dem
Hengst hinten am Wagen.
„Oh, nein.“
Stefan blickte kurz auf den Ferrari. „Der gehört Damon.“
Drei Augenpaare blickten ihn geschockt an. „Damon?“ stieß Bonnie ungläubig hervor. Sie hoffte, daß
Stefan damit meinte, er habe sich das Auto von Damon geliehen.
Doch jetzt wurde ein Fenster heruntergelassen. Die drei sahen schwarzes, glattes Haar, das glänzte wie der
Lack des Autos, eine verspiegelte Sonnenbrille und ein charmantes Lächeln, das ebenmäßige, weiße Zähne
zeigte.
„Buon giorno“, sagte Damon. „Wollt ihr mitfahren?“
„Oh, nein“, stöhnte Bonnie. Aber sie wich nicht zurück.
Stefan riß der Geduldsfaden. Er öffnete die Beifahrertür des Ferraris. „Wir fahren jetzt zur Pension. Ihr folgt
uns. Parkt hinter der Scheune, damit niemand euer Auto sieht.“
Meredith mußte Bonnie förmlich von Damons Auto wegzerren. Es war nicht so, daß Bonnie Damon
besonders mochte oder vorhatte, sich noch einmal von ihm küssen zu lassen, wie damals auf Alarics Party.
Sie wußte inzwischen, daß er gefährlich war. Zwar nicht so böse wie Katherine, aber trotzdem schlecht. Er
tötete mutwillig, nur so aus Spaß. Letztes Halloween hatte er den Geschichtslehrer Mr. Tanner während der
Spukhausfete der Schule ermordet. Er konnte jederzeit wieder zuschlagen. Vielleicht kam Bonnie sich, wenn
sie ihn ansah, deshalb immer vor wie eine kleine Maus, die von einer schwarzen Schlange hypnotisiert wird.
In Meredith' Auto wechselten die beiden Freundinnen einen vielsagenden Blick.
„Stefan hätte ihn nicht herbringen sollen“, meinte Meredith.
„Vielleicht ist er einfach mitgekommen“, überlegte Bonnie. Damon war nicht der Typ, der sich irgendwo
hinbringen ließ.
„Warum sollte er? Bestimmt nicht, um uns zu helfen, das ist sicher.“
Matt schwieg. Er schien die angespannte Atmosphäre im Auto nicht einmal zu bemerken. Er starrte nur
gedankenverloren durch die Windschutzscheibe.
Der Himmel bewölkte sich.
„Matt?“
„Laß ihn in Ruhe, Bonnie“, wies Meredith sie zurecht.
Na, prima, dachte Bonnie, während ihre Stimmung auf den Nullpunkt sank. Matt, Stefan und Damon. Alle
drei waren wieder zusammen, und jeder war in Gedanken bei Elena.
Sie parkten hinter der alten Scheune, direkt neben Damons Sportwagen. Als sie eintraten, war Stefan allein.
Er wandte sich um, und Bonnie erkannte, daß er die Sonnenbrille abgenommen hatte. Ein leichter Schauder
überlief sie. Die Härchen auf ihren Armen und in ihrem Nacken stellten sich auf. Stefan war so ganz anders
als alle Jungs, mit denen sie es sonst zu tun hatte. Seine Augen waren tiefgrün, so grün wie die Eichenblätter
im Frühling. Aber jetzt lagen tiefe Schatten unter ihnen.
Einen Moment herrschte Verlegenheit. Die drei standen auf der einen Seite und schauten Stefan schweigend
an. Keiner schien zu wissen, was er sagen sollte.
Dann ging Meredith zu ihm und nahm seine Hand. „Du siehst erschöpft aus“, meinte sie leise.
„Ich kam, so schnell ich konnte.“ Er umarmte sie kurz. Früher hätte er so etwas nie getan, dachte Bonnie. Er
war immer sehr zurückhaltend gewesen.
Sie trat nach vorn und umarmte ihn ebenfalls. Stefans Haut unter dem dünnen T-Shirt war eiskalt. Sie mußte
ein Zittern unterdrücken. Als sie sich wieder von ihm löste, standen Tränen in ihren Augen. Was fühlte sie
jetzt, wo Stefan wieder in Fell's Church war? Erleichterung? Trauer wegen der Erinnerungen, die er
auslöste? Angst? Sie wußte nur, daß sie große Lust hatte zu weinen.
Stefan und Matt betrachteten einander. Jetzt ist es so weit, dachte Bonnie. Es war fast komisch. Beide sahen
gleich müde und verletzt aus, doch beide wollten es nicht zeigen. Egal, was noch geschehen würde, Elena
würde immer zwischen ihnen stehen.
Schließlich streckte Matt die Hand aus, und Stefan schüttelte sie. Beiden traten einen Schritt zurück, froh, es
hinter sich zu haben.
„Wo ist Damon?“ fragte Meredith.
„Er schaut sich ein wenig um. Ich dachte, wir sollten mal ein paar Minuten ohne ihn sein.“
„Ein paar Jahrzehnte wäre besser“, entfuhr es Bonnie, ehe sie sich zurückhalten konnte.
„Wir können ihm nicht trauen, Stefan“, fügte Meredith hinzu.
„Ich glaube, ihr irrt euch. Er kann eine große Hilfe sein, wenn er will“, erwiderte Stefan leise.
„Wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, jemanden zu ermorden“, gab Meredith zurück. „Du hättest ihn
nicht herbringen sollen, Stefan.“
„Aber das hat er doch gar nicht getan.“ Die Stimme erklang hinter Bonnie und beängstigend nahe. Bonnie
fuhr zusammen und suchte instinktiv Schutz bei Matt, der sie beruhigend an den Schultern packte.
Damon lächelte kurz. Auch er hatte seine Sonnenbrille abgenommen, doch seine Augen waren nicht grün. Sie waren schwarz wie ein Nachthimmel ohne Sterne. Er sieht fast noch besser aus als Stefan, dachte Bonnie verwirrt. Sie fand Matts Hand und klammerte sich daran. „So, sie gehört jetzt zu dir, stimmt's?“ fragte Damon Matt lässig. „Nein.“ Aber Matt ließ Bonnie nicht los. „Stefan hat dich also nicht mitgebracht?“ fragte Meredith kalt von der anderen Seite der Scheune her. Im Unterschied zu den anderen hatte Damon anscheinend kaum Einfluß auf sie. Sie schien sich weder vor ihm zu fürchten, noch von ihm beeindruckt zu sein. „Nein.“ Damon schaute immer noch auf Bonnie. Er wendet sich nicht ab wie andere Leute, dachte sie. Er hält den Blick dorthin gerichtet, wo er will. Egal, wer mit ihm spricht. „Du warst es.“ „Ich?“ Bonnie sank ein wenig in sich zusammen, unsicher, wen er eigentlich meinte. „Du. Du hast doch den Zauberspruch ausgesprochen, oder?“ „Den...“ Oh, nein. Ein Bild stieg vor Bonnies geistigem Auge auf. Schwarzes Haar auf einer weißen Serviette. Sie betrachtete Damons Haar. Es war feiner und glatter als das von Stefan, aber ebenso schwarz. Anscheinend hatte Matt bei der Suche einen Fehler gemacht. „Okay, Bonnie. Du hast nach uns geschickt, hier sind wir.“ Stefans Stimme klang ungeduldig. „Was willst du?“ Sie setzten sich auf ein paar Ballen halbverschimmelten Heus. Nur Damon blieb stehen. Stefan lehnte sich mit den Händen auf den Knien nach vorn und schaute Bonnie abwartend an. „Du hast... du hast behauptet, daß Elena mit dir gesprochen hat.“ Es gab eine unmerkliche Pause, bevor er den Namen aussprach. Seine Miene war angespannt. „Ja.“ Bonnie gelang es, ihn anzulächeln. „Ich hatte einen Traum. Einen sehr merkwürdigen Traum...“ Sie erzählte ihm alles darüber, auch das, was danach geschehen war. Die Geschichte dauerte ziemlich lange. Stefan hörte aufmerksam zu. Seine grünen Augen leuchteten jedesmal auf, wenn Elenas Name fiel. Als Bonnie von Carolines Party berichtete und wie sie Sue im Garten gefunden hatten, wich das Blut aus seinem Gesicht, aber er schwieg. „Die Polizei kam und stellte ihren Tod fest, doch das wußten wir bereits“, schloß Bonnie. „Dann haben sie Vickie weggebracht. Die arme Vickie, sie ist total überdreht. Wir dürfen nicht mit ihr reden. Ihre Mutter hängt auf, wenn wir versuchen, sie anzurufen. Einige Leute behaupten sogar, daß Vickie es getan hat, was natürlich völliger Quatsch ist. Aber man glaubt uns nicht, daß Elena zu uns Kontakt aufgenommen hat, also schlägt man auch ihre Warnungen in den Wind.“ „Und Elena sprach von einem ER“, warf Meredith ein. „Mehrfach sogar. Es ist ein Mann - Jemand, der über eine ungeheure telepathische Macht verfügt.“ „Ein Mann hat im Flur meine Hand gepackt“, fügte Bonnie noch hinzu. Sie erzählte Stefan von ihrem Verdacht, was Tyler betraf. Aber Meredith wies darauf hin, daß der Rest der Beschreibung nicht auf Tyler paßte. Er hatte weder die Schlauheit noch die telepathische Begabung, um der zu sein, vor dem Elena sie warnte. „Was ist mit Caroline?“ fragte Stefan. „Könnte sie etwas gesehen haben?“ „Sie war schon draußen“, erwiderte Meredith. „Sie hatte die Tür gefunden und war rausgegangen, während wir anderen noch kopflos durch das Haus rannten. Sie hat zwar die Schreie gehört, hatte jedoch zuviel Angst, um zurückzugehen. Um ehrlich zu sein, ich kann ihr keinen Vorwurf machen.“ „Also ist Vickie die einzige Zeugin.“ „Stimmt. Und Vickie schweigt.“ Bonnie nahm den Faden der Geschichte wieder auf. „Nachdem wir erkennen mußten, daß niemand uns glaubt, haben wir uns an Elenas Botschaft erinnert, was den Zauberspruch betraf. Wir haben uns gedacht, daß du es bist, den wir herholen sollen, denn Elena glaubte, daß du etwas tun könntest, um uns zu helfen. Nun...?“ „Ich kann's versuchen.“ Stefan stand auf, ging ein paar Schritte weg und drehte ihnen den Rücken zu. Ein paar Minuten blieb er schweigend und unbeweglich stehen. Dann wandte er sich um und schaute Bonnie in die Augen. „Bonnie“, sagte er leise, doch sehr eindringlich. „In deinen Träumen hast du direkt mit Elena gesprochen. Glaubst du, das gelingt dir wieder, wenn du dich in Trance fallen läßt?“ Bonnie war ein wenig verängstigt über das, was sie in seinen Augen las. Sie leuchteten hypnotisch grün in seinem weißen Gesicht. Plötzlich konnte sie hinter seine Maske sehen. Dahinter verbarg sich soviel Schmerz, soviel Verlangen - und eine solche Intensität, daß es fast wehtat, ihn anzuschauen.
„Ich könnte... aber, Stefan...“
„Dann tun wir es. Hier und jetzt. Und wir werden sehen, ob du mich mitnehmen kannst.“ Sein Blick wirkte
magnetisch, nicht durch irgendwelche verborgenen Kräfte, sondern allein durch seine Willenskraft. Bonnie
wollte es für ihn tun - in diesem Moment würde sie alles für ihn tun. Aber die Erinnerung an den Traum war
noch zu frisch. Sie konnte diesen Schrecken nicht noch einmal ertragen. Sie konnte es einfach nicht.
„Stefan, es ist zu gefährlich. Ich könnte mich allem öffnen, und davor habe ich Angst. Wenn dieses... dieses
Wesen Macht von mir ergreift, ich weiß nicht, was dann passiert. Ich kann's nicht, Stefan. Bitte!“
Einen Moment lang fürchtete sie, daß er versuchen würde, sie zu zwingen. Sein Mund verhärtete sich, und
seine grünen Augen blitzten. Aber dann erstarb langsam das Feuer in ihnen.
Bonnie fühlte, wie ihr das Herz brach. „Stefan, es tut mir so leid“, flüsterte sie.
„Also müssen wir es allein machen“, sagte er. Die Maske war wieder an ihrem Platz, aber sein Lächeln
wirkte gezwungen, als würde es ihm Schmerzen bereiten. Dann fuhr er fester fort: „Zunächst müssen wir
herausfinden, wer dieser Killer ist und was er hier will. Bisher wissen wir nur, daß das Böse nach Fell's
Church zurückgekehrt ist.“
„Warum?“ Bonnie rang die Hände. „Warum ausgerechnet hierher? Haben wir nicht schon genug
durchgemacht?“
„Das alles scheint ein sehr merkwürdiger Zufall zu sein. Wieso haben gerade wir wieder das Glückslos
gezogen?“ sagte Meredith ironisch.
„Es ist kein Zufall.“ Stefan schien unsicher, wie er fortfahren sollte. „Es gibt ein paar Orte auf der Welt, die
sind... anders. Sie sind aufgeladen mit psychischer Energie, positiv oder negativ. Gut oder Böse. Einige von
ihnen waren immer schon so, wie das Bermuda-Dreieck und Salisbury Plain, der Platz, an dem Stonehenge
errichtet wurde. Andere sind erst so geworden. Besonders, wenn dort viel Blut vergossen wurde.“ Er sah
Bonnie an.
„Ruhelose Geister“, flüsterte sie.
„Ja. Hier hat einmal eine Schlacht getobt, stimmt's?“
„Während des Bürgerkriegs“, erklärte Matt. „Dabei wurde auch die Kirche auf dem Friedhof zerstört. Es gab
ein Gemetzel auf beiden Seiten. Keiner gewann, aber fast jeder, der gekämpft hat, wurde getötet. Die Wälder
sind voller Gräber.“
„Und der Boden wurde mit Blut getränkt. Ein Ort wie dieser zieht das Übernatürliche geradezu an. Er zieht
das Böse an. Deshalb hat Katherine Fell's Church für ihre Rache gewählt. Ich habe es auch gefühlt, als ich
das erste Mal herkam.“
„Und jetzt ist wieder etwas über uns gekommen.“ Meredith war diesmal ganz ernst. „Aber wie sollen wir es
bekämpfen?“
„Wir müssen erst herausfinden, mit wem wir es überhaupt zu tun haben. Ich glaube...“ Bevor Stefan den
Satz beenden konnte, hörten sie ein Knarren, und helles, staubiges Sonnenlicht fiel über die Heuballen. Die
Scheunentür war geöffnet worden.
Alle spannten sich an, bereit aufzuspringen und zu fliehen oder zu kämpfen. Die Gestalt jedoch, die mit
einem Ellbogen die große Tür zur Seite schob, war alles andere als bedrohlich.
Mrs. Flowers, die uralte Inhaberin der Pension, lächelte sie an. Sie trug ein Tablett.
„Vom vielen Reden bekommt man eine durstige Kehle. Ich dachte, ihr Kinder hättet gerne etwas zu trinken,
während ihr euch unterhaltet“, sagte sie mütterlich.
Verwirrte Blicke wurden gewechselt. Woher hatte sie gewußt, daß sie überhaupt da waren? Und wieso war
sie trotzdem so gelassen?
„Bitte schön“, fuhr Mrs. Flowers fort. „Das ist Grapefruitsaft, gepreßt aus Früchten aus meinem Garten.“ Sie
stellte je einen Pappbecher neben Meredith, Matt und Bonnie. „Und hier sind ein paar Ingwerplätzchen.
Ganz frisch gebacken.“ Sie hielt das Tablett hin. Bonnie fiel auf, daß sie Stefan und Damon nichts anbot.
„Ihr zwei könnt später in meinen Keller kommen und von meinem Brombeerschnaps probieren“, sagte sie
zu den beiden. Bonnie war sicher, daß sie ihnen dabei verschwörerisch zugezwinkert hatte.
Stefan holte müde tief Luft. „Hören Sie, Mrs. Flowers...“
„Und dein altes Zimmer ist noch genauso, wie du es verlassen hast. Du kannst es benutzen, wann immer du
willst. Du störst mich kein bißchen.“
Stefan schien sprachlos. „Vielen Dank. Aber...“
„Du kannst ganz beruhigt sein. Von mir wird niemand ein Sterbenswörtchen erfahren. Ich bin keine
Klatschbase. War's nie und werde es nie sein. Wie schmeckt der Saft?“ wandte sie sich plötzlich an Bonnie.
Bonnie nahm schnell einen Schluck. „Sehr gut“, antwortete sie ehrlich.
„Wenn ihr fertig seid, werft die Becher in den Müll. Ich hab's gern ordentlich und aufgeräumt.“ Mrs.
Flowers blickte sich in der Scheune um, schüttelte den Kopf und seufzte. „Es ist eine Schande. So ein
schönes Mädchen.“ Sie blickte Stefan eindringlich mit ihren hellwachen, schwarzen Augen an. „Sieh zu, daß
du es diesmal richtig machst, mein Junge.“ Immer noch kopfschüttelnd, ging sie aus der Scheune.
„Na, so was!“ Bonnie starrte ihr verblüfft nach. Alle anderen sahen sich sprachlos an.
„,So ein schönes Mädchen'. Wen hat sie wohl gemeint?“ brach Meredith schließlich das Schweigen. „Sue
oder Elena?“ Elena hatte tatsächlich im letzten Winter ungefähr eine Woche in der alten Scheune verbracht -
eigentlich ohne Mrs. Flowers' Wissen. „Hast du ihr irgendwas über uns verraten?“ fragte sie Damon.
„Kein Wort.“ Damon schien das Ganze zu amüsieren. „Sie ist eine alte Dame. Ein bißchen wirr im Kopf.“
„Sie ist klüger, als wir alle glauben“, mischte sich Matt ein.
„Wenn ich an die Tage denke, die wir damit vergeudet haben, sie dabei zu beobachten, während sie in ihrem
Keller herumwerkelte... Haltet ihr es für möglich, daß sie von unserer Überwachung wußte?“
„Keine Ahnung“, antwortete Stefan langsam. „Ich bin nur froh, daß sie auf unserer Seite ist. So haben wir
wenigstens einen sicheren Ort, an dem wir bleiben können.“
„Und Grapefruitsaft, vergiß das nicht.“ Matt grinste Stefan an. „Willst du?“ Er hielt ihm seinen tropfenden
Becher hin.
„Du kannst deinen Saft nehmen und ihn dir...“ Aber Stefan lächelte dabei vor sich hin. Einen Moment lang
sah Bonnie die beiden, wie sie vor Elenas Tod gewesen waren. Freundlich, warmherzig und so eng
befreundet wie sie und Meredith. Sie fühlte einen scharfen Stich.
Aber Elena ist nicht tot, dachte sie. Sie ist mehr zugegen denn je. Sie dirigiert alles, was wir sagen und tun.
Stefan war wieder ernst geworden. „Als Mrs. Flowers hereinkam, wollte ich gerade sagen, daß wir am
besten sofort anfangen. Und zwar bei Vickie.“
„Sie wird uns nicht sehen wollen“, warf Meredith sofort ein. „Ihre Eltern halten alles von ihr fern.“
„Dann müssen wir uns an den Eltern vorbeischleichen. Bist du dabei, Damon?“
„Ein Besuch bei einem weiteren schönen Mädchen? Das würde ich mir um nichts in der Welt entgehen
lassen.“
Bonnie wandte sich alarmiert zu Stefan um.
„Keine Sorge. Ich werde auf ihn aufpassen“, versicherte er ihr, als er sie aus der Scheune führte.
Bonnie hoffte es.
6. KAPITEL Vickie wohnte in einem Eckhaus, und sie gingen durch eine Seitenstraße darauf zu. Inzwischen trieben
schwere, violettblaue Wolken am Himmel. Das Licht war trübe, fast wie in einer Unterwasserlandschaft.
„Sieht ganz nach Sturm aus“, meinte Matt.
Bonnie warf einen verstohlenen Blick auf Damon. Weder er noch Stefan liebten helles Licht. Und sie konnte
die telepathische Kraft spüren, die er ausstrahlte. Er lächelte, ohne sie anzusehen, und sagte: „Wie wär's mit
Schnee im Juni?“
Bonnie unterdrückte einen Schauder.
Sie hatte Damon in der Scheune ein- oder zweimal gemustert und gemerkt, daß er der Geschichte ziemlich
unbeeindruckt zuhörte. Im Gegensatz zu Stefan hatte sich sein Gesichtsausdruck weder bei Elenas Namen
noch als sie von Sues Tod erzählte im mindesten verändert. Was hatte er wirklich für Elena empfunden? Er
hatte schon einmal einen Schneesturm heraufbeschworen und sie frierend darin zurückgelassen. Was fühlte
er jetzt? Interessierte es ihn überhaupt, den Mörder zu fangen?
„Das ist Vickies Schlafzimmer“, erklärte Meredith. „Das Fenster da drüben.“
Stefan sah zu Damon. „Wie viele Leute sind im Haus?“
„Zwei. Ein Mann und eine Frau. Die Frau ist betrunken.“
Arme Mrs. Bennett, dachte Bonnie.
„Sie müssen beide schlafen“, sagte Stefan.
Gegen ihren Willen war Bonnie fasziniert von der psychischen Kraft, die jetzt von Damon ausging. Ihre
eigene Begabung war zuvor nie stark genug gewesen, diese Macht ganz zu erfassen. Doch jetzt war sie es.
Sie konnte sie so klar spüren, wie sie das verblassende violette Licht sah und den Duft der Blumen vor
Vickies Fenster roch.
Damon zuckte mit den Schultern. „Sie schlafen.“
Stefan klopfte leise gegen das Fenster.
Es gab keine Antwort, jedenfalls kam es Bonnie so vor. Aber Damon und Stefan sahen einander an.
„Sie ist schon halb in Trance“, erklärte Damon.
„Sie hat Angst. Ich werde es machen. Sie kennt mich“, erwiderte Stefan. Er legte seine Fingerspitzen auf das
Glas. „Vickie. Ich bin's. Stefan Salvatore. Ich bin hier, um dir zu helfen. Komm, laß mich rein.“
Seine Stimme war ruhig. Auf der anderen Seite des Fensters war es totenstill. Doch nach einem Moment
bewegten sich die Vorhänge, und ein Gesicht erschien.
Bonnie stöhnte unwillkürlich auf.
Vickies langes, hellbraunes Haar war total verfilzt, ihre Haut kalkweiß. Tiefe, schwarze Ringe lagen unter
den Augen. Der Blick war starr und glasig. Ihre Lippen trocken und aufgesprungen. Ein grauenhafter
Anblick.
„Sie sieht aus, als wollte sie die verrückte Ophelia im ,Hamlet’ spielen“, flüsterte Meredith. „Alles paßt.
Sogar das Nachthemd.“
„Sie scheint besessen zu sein“, flüsterte Bonnie nervös zurück.
„Vickie, mach das Fenster auf“, sagte Stefan nur.
Wie eine mechanische, aufgezogene Puppe öffnete Vickie das Fenster. „Kann ich reinkommen?“ fragte
Stefan.
Vickies tote Augen streiften die Gruppe draußen. Einen Moment dachte Bonnie, sie würde niemanden
erkennen. Aber dann blinzelte sie und sagte langsam: „Meredith... Bonnie... Stefan? Du bist zurück. Was
machst du hier?“
„Bitte mich herein.“ Stefans Tonfall war hypnotisch.
„Stefan...“ Es gab eine lange Pause. „Komm herein.“
Sie trat zurück, als er eine Hand auf das Fensterbrett legte und ins Zimmer sprang. Matt folgte ihm, dann
Meredith. Bonnie, die einen Mini trug, blieb draußen bei Damon. Sie wünschte, sie hätte heute morgen zur
Schule Jeans angezogen, aber da konnte sie ja noch nicht wissen, was der Tag bringen würde.
„Du solltest nicht hier sein“, sagte Vickie erstaunlich ruhig zu Stefan. „Er wird kommen, um mich zu holen.
Dann erwischt er dich auch.“
Meredith legte einen Arm um sie.
„Wer?“ fragte Stefan kurz.
„Er. Er erscheint in meinen Träumen. Er hat Sue getötet.“ Vickies gleichgültiger Tonfall war
erschreckender, als jede Hysterie es sein konnte.
„Vickie, wir sind gekommen, um dir zu helfen“, erklärte Meredith sanft. „Alles wird jetzt wieder gut. Wir
werden nicht zulassen, daß er dir wehtut. Das verspreche ich dir.“
Vickie drehte sich mit einem Ruck um und starrte sie an. Sie musterte Meredith, als hätte diese sich plötzlich
in ein Wesen aus dem All verwandelt. Dann warf sie den Kopf zurück und lachte.
Es klang schrecklich. Ein heiserer Ausbruch von Freude, der mehr an ein abgehacktes Husten erinnerte.
Vickie hörte nicht auf, bis Meredith sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte.
Schließlich befahl Stefan: „Vickie, laß das.“
Das Lachen endete in Schluchzern. Vickie verbarg das Gesicht in den Händen. Als sie den Kopf wieder hob,
war ihr Blick weniger glasig, aber sehr verängstigt. „Ihr werdet alle sterben, Stefan“, warnte sie und
schüttelte den Kopf. „Niemand kann ihn bekämpfen und überleben.“
„Wir müssen mehr über ihn herausfinden, damit wir ihn überhaupt angreifen können. Wir brauchen deine
Hilfe“, erklärte Stefan eindringlich. „Erzähl mir, wie er aussieht.“
„Ich kann ihn in meinen Träumen nicht erkennen. Er ist nur ein Schatten ohne Gesicht“, flüsterte Vickie und
zog die Schultern hoch.
„Aber in Carolines Haus, was war da?“ drängte Stefan. „Bitte, Vickie, weich nicht aus“, fügte er hinzu, als
das Mädchen sich jäh abwandte. „Ich weiß, daß du Angst hast. Doch das hier ist wichtig, viel wichtiger, als
du vielleicht verstehen kannst. Wir können nichts unternehmen, wenn wir nicht wissen, womit wir es zu tun
haben. Und du bist die einzige, die die Informationen hat, die wir brauchen. Du mußt uns helfen.“
„Ich kann mich nicht erinnern...“
Stefan gab nicht auf. „Ich kann dir das Gedächtnis zurückbringen. Willst du es mich versuchen lassen?“
Sekunden schlichen dahin, dann stieß Vickie einen langen Seufzer aus und sank in sich zusammen. „Tu, was
du willst“, sagte sie gleichmütig. „Mir ist es egal. Es wird doch keinen Unterschied mehr machen.“
„Du bist ein tapferes Mädchen. Jetzt sieh mich an, Vickie. Ich möchte, daß du dich entspannst. Schau mich
an und entspann dich.“ Stefans Stimme senkte sich zu einem beruhigenden Murmeln. Ein paar Minuten ging
das so weiter, dann senkten sich Vickies Augenlider.
„Komm.“ Stefan führte sie zum Bett. Er setzte sich neben sie und sah ihr ins Gesicht. „Vickie, du bist jetzt
ganz ruhig und entspannt. Nichts, woran du dich erinnern wirst, wird dir wehtun“, tröstete er sie. „Jetzt
möchte ich, daß du zurückgehst zur Samstagnacht. Du bist oben im Elternschlafzimmer von Carolines Haus.
Sue Carson ist bei dir und noch jemand. Ich möchte, daß du siehst...“
„Nein!“ Vickie wand sich, als versuchte sie, jemandem zu entkommen. „Nein! Ich kann nicht...“
„Vickie, beruhige dich. Er wird dir nichts tun. Er kann dich nicht sehen, aber du ihn. Höre auf mich.“
Während Stefan sprach, wurde Vickies Wimmern leiser. Aber sie schlug immer noch um sich und wand
sich.
„Du mußt ihn sehen. Hilf uns, ihn zu bekämpfen. Wie sieht er aus?“
„Wie der Teufel!“
Es war fast ein Schrei. Meredith setzte sich an Vickies andere Seite und nahm ihre Hand. Sie schaute aus
dem Fenster zu Bonnie, die mit den Schultern zuckte und mit weit aufgerissenen Augen den Blick erwiderte.
Bonnie hatte keine Ahnung, wovon Vickie sprach.
„Erzähl uns mehr“, fuhr Stefan ruhig fort.
Vickie verzog den Mund. Ihre Nasenflügel blähten sich. Sie preßte die Worte einzeln hervor, als bereiteten
sie ihr große Schmerzen. „Er trägt... einen alten Regenmantel. Der Mantel flattert im Wind um seine Beine.
Er hat den Sturm heraufbeschworen. Sein Haar ist blond. Fast weiß. Es steht von seinem Kopf ab. Seine
Augen sind blau... elektrisch blau.“ Vickie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schluckte hart.
„Blau ist die Farbe des Todes.“
Am Himmel grollte der Donner. Draußen sah Damon kurz hoch und runzelte mit verengten Augen die Stirn.
„Er ist groß. Und er lacht. Lachend greift er nach mir. Aber Sue schreit ,nein, nein!' und versucht, mich
wegzuziehen. Also packt er sie statt dessen. Das Fenster ist zerschmettert, und der Zugang zum Balkon ganz
frei. Sue weint ,nein, bitte nicht'. Und dann beobachte ich ihn... Ich sehe zu, wie er sie über den Balkon...“
Vickie rang nach Atem. Ihre Stimme wurde immer höher und aufgeregter.
„Vickie, es ist alles gut. Du bist in Wirklichkeit nicht dort. Du bist in Sicherheit.“
„Oh, bitte nicht! Sue! Sue! Sue!“
„Vickie, blieb bei mir. Hör zu. Ich brauche noch eine Information. Sieh ihn an. Sag mir, ob er einen blauen
Edelstein trägt...“
Aber Vickie warf den Kopf hin und her und schluchzte mit jedem Moment hysterischer. „Nein, nein! Ich bin
die nächste! Ich bin die nächste!“ Plötzlich sprangen ihre Augen auf, als sie von selbst aus der Trance
erwachte. Ihr Atem ging in kurzen, keuchenden Stößen. Dann fuhr ihr Kopf herum.
Ein Bild an der Wand klapperte.
Dann der bambusgerahmte Spiegel. Parfumfläschchen und Lippenstifte auf der Kommode darunter klirrten
und rollten durcheinander. Mit einem Knallen wie Popcorn, das in der Pfanne röstet, wurden die Ohrringe
von ihrem Gestell geschleudert. Ein Strohhut flog vom Haken und segelte mitten durchs Zimmer. Photos,
die im Rahmen des Spiegel gesteckt hatten, flatterten zu Boden. Kassetten und CDs purzelten klappernd
nacheinander aus dem Regal wie Karten in einem Kartenspiel.
Meredith war aufgesprungen. Matt hatte die Fäuste geballt.
„Mach, daß es aufhört! Mach, daß es aufhört!“ schrie Vickie.
Aber es war noch nicht zu Ende. Matt und Meredith schauten sich fassungslos um, während sich immer
neue Dinge dem wilden Tanz anschlossen. Alles, was beweglich war, rüttelte, schwankte und klapperte.
Gerade so, als läge das Zimmer im Zentrum eines Erdbebens.
„Aufhören, aufhören!“ Vickie hielt sich die Ohren zu.
Über dem Haus erklang ein lauter Donnerschlag. Bonnie fuhr heftig zusammen, als sie den Blitz über den
Himmel zucken sah. Instinktiv suchte sie etwas, an das sie sich klammern konnte. Der Blitz leuchtete grell
auf, und ein Poster an Vickies Wand zerriß. Bonnie unterdrückte einen Schrei und hielt sich noch mehr fest.
So plötzlich, wie es gekommen war, erstarb jedes Geräusch wieder.
Vickies Zimmer war zur Ruhe gekommen. Nur die Fransen der Deckenlampe schwankten noch leicht. Das
Poster hatte sich in zwei unregelmäßige Stücke zusammengerollt. Langsam nahm Vickie die Hände von den
Ohren.
Meredith und Matt sahen sich mit weichen Knien um.
Bonnie schloß die Augen und murmelte etwas, das wie ein Gebet klang. Erst als sie die Lider wieder
öffnete, erkannte sie, woran sie sich festgehalten hatte. Sie fühlte das kühle Leder. Es war Damons Arm.
Trotzdem war er nicht vor ihr zurückgewichen, und er schüttelte sie auch jetzt nicht ab. Er lehnte sich nur
leicht nach vorn und musterte von draußen das Zimmer sorgfältig.
„Schaut auf den Spiegel“, sagte er.
Alle taten es. Bonnie hielt unwillkürlich die Luft an und grub ihre Finger tiefer in seinen Arm. Sie hatte es
noch nicht bemerkt. Es mußte passiert sein, als das Chaos im Zimmer ausgebrochen war.
Die Worte auf dem Glas waren mit Vickies dunkelrotem Lippenstift geschrieben worden.
Gute Nacht, mein Schatz. „Oh Gott“, flüsterte Vickie.
Stefan wandte sich vom Spiegel ab und Vickie zu. Bonnie merkte, daß sein ganzes Auftreten sich verändert
hatte. Er war entspannt, aber gleichzeitig gefaßt. Es schien so, als hätte er eine persönliche Herausforderung
angenommen.
Er nahm etwas aus seiner Hosentasche und entfaltete es. In dem Päckchen lagen Ableger von einer Pflanze
mit langen, grünen Blättern und winzigen lila Blüten.
„Das ist Eisenkraut. Frisches Eisenkraut“, sagte er ruhig. Seine Stimme klang gleichmäßig und eindringlich.
„Ich habe es außerhalb von Florenz gepflückt. Dort blüht es jetzt.“ Er nahm Vickies leblose Hand und
drückte das Päckchen hinein. „Ich möchte, daß du das immer bei dir behältst. Leg es in jedes Zimmer des
Hauses. Versteck es irgendwie in den Kleidern deiner Eltern. Solange du das bei dir trägst, kann er deinen
Verstand nicht übernehmen. Er kann dir angst machen, aber er kann dich zu nichts zwingen. Zum Beispiel,
ihm ein Fenster oder eine Tür aufzumachen. Hör mir jetzt zu, Vickie, denn das ist sehr wichtig.“
Vickie zitterte am ganzen Leib. Ihr Gesicht war angstverzerrt. Stefan nahm ihre beiden Hände und zwang
sie, ihn anzusehen. Er sprach langsam und deutlich.
„Wenn ich recht habe, kann er nicht ins Haus, wenn du ihn nicht einlädst. Rede mit deinen Eltern. Erkläre
ihnen, es sei sehr wichtig, daß sie keinen Fremden ins Haus bitten. Besser noch, ich werde Damon bitten,
ihnen diesen Vorschlag sofort einzugeben.“ Er schaute zu Damon, der leicht mit den Schultern zuckte und
nickte. Damon sah aus, als sei er mit seinen Gedanken ganz woanders. Verlegen nahm Bonnie die Hand von
seinem Arm.
Vickies Kopf war über das Eisenkraut gebeugt. „Er wird es schaffen, irgendwie hereinzukommen“, sagte sie
leise mit entsetzlicher Sicherheit.
„Nein, Vickie. Hör mir zu. Von jetzt an werden wir dich überwachen. Wir werden auf ihn warten.“
„Es hat keinen Zweck. Ihr könnt ihn nicht aufhalten.“ Sie begann gleichzeitig zu lachen und zu weinen.
„Wir werden es jedenfalls versuchen.“ Stefan blickte zu Meredith und Matt, die nickten. „Gut. Von diesem
Moment an wirst du nie mehr allein sein. Einer oder mehrere von uns werden immer vor dem Haus sein und
aufpassen.“
Vickie schüttelte nur den Kopf. Meredith drückte tröstend ihren Arm und zog sich mit Matt auf Stefans
stumme Geste hin zum offenen Fenster zurück.
Stefan trat zu ihnen. Leise sagte er: „Ich möchte sie nicht ohne Schutz lassen, aber ich selbst kann im
Moment unmöglich bleiben. Ich muß noch etwas erledigen, und dabei muß mich eins der Mädchen
begleiten. Auf der anderen Seite möchte ich weder Meredith noch Bonnie hier allein zurücklassen.“ Er
wandte sich an Matt. „Könntest du...?“
„Ich bleibe“, warf Damon ein.
Alle sahen ihn erstaunt an.
„Das ist doch die nächstliegende Lösung, oder?“ Damon schien amüsiert. „Außerdem, was soll einer von
ihnen deiner Meinung nach gegen ihn ausrichten?“
„Sie können mich rufen. Ich kann ihre Gedanken von weit her empfangen.“ Stefan gab nicht nach.
„Nun“, sagte Damon cool. „ich kann dich auch rufen, kleiner Bruder, sollte ich in Schwierigkeiten kommen.
Außerdem langweilt mich dein Detektivspiel sowieso schon. Also kann ich genausogut hierbleiben.“
„Vickie braucht Schutz und keinen, der sie verführt“, erwiderte Stefan kalt.
Damons Lächeln war unwiderstehlich. „Sie verführen?“ Er deutete auf das Mädchen, das mit dem
Eisenkraut auf seinem Schoß leicht hin- und herschwankte. Vom verfilzten Haar bis zu den nackten Füßen
bot Vickie keinen schönen Anblick. „Glaub mir, Bruderherz. Da kann ich jederzeit etwas Besseres finden.“
Einen Moment hatte Bonnie den Eindruck, als habe er ihr bei diesem Satz einen schnellen Blick
zugeworfen. „Du hast immer behauptet, daß du mir so gern einmal vertrauen würdest“, fügte Damon hinzu.
„Jetzt bekommst du die Chance, deine Worte wahr zu machen.“
Die beiden Brüder sahen sich an. Mit jeder Sekunde wurde das Schweigen zwischen ihnen
spannungsgeladener. Jetzt konnte Bonnie die Ähnlichkeit zwischen ihnen erkennen. Das eine Gesicht war
ernst und angespannt, das andere reglos und leicht ironisch. Doch beide waren fast unmenschlich schön.
Stefan atmete tief aus. „Nun gut“, sagte er schließlich leise. Bonnie, Matt und Meredith sahen ihn verblüfft
an, doch er schien es nicht zu merken. Er sprach zu Damon, als wären sie ganz allein. „Du bleibst hier, vor
dem Haus, wo dich niemand sehen kann. Ich werde zurückkommen und dich ablösen, wenn ich meine
Aufgabe erledigt habe.“
Meredith hatte die Augenbrauen erstaunt hochgezogen, aber sie gab keinen Kommentar ab. Matt auch nicht.
Bonnie versuchte, ihre unguten Gefühle zu unterdrücken. Stefan wird schon wissen, was er tut, sagte sie
sich. Hoffentlich.
„Bleibt nicht zu lange weg“, entließ Damon sie.
Und damit blieben die beiden zurück. Damon, im Schatten des Walnußbaums verborgen, und Vickie, die
immer noch auf dem Bett saß und sich hin- und herwiegte.
Im Auto fragte Meredith: „Wohin jetzt?“
„Ich hab da so eine Vermutung. Der will ich nachgehen“, erklärte Stefan kurz.
„Daß der Täter ein Vampir ist?“ fragte Matt vom Rücksitz her, wo er neben Bonnie saß.
Stefan sah ihn scharf an. „Ja.“
„Deshalb hast du Vickie eindringlich verboten, jemanden hereinzubitten“, fügte Meredith hinzu, die auch ihr
Wissen kundtun wollte. Vampire, erinnerte sich Bonnie, können keinen Ort betreten, an dem Menschen
leben, ohne eingeladen zu werden. „Und deshalb wolltest du wissen, ob der Mann einen blauen Stein trug.“
„Ein Amulett gegen das Tageslicht“, erklärte Stefan und hielt seine rechte Hand hoch. Am dritten Finger
befand sich ein Silberring mit einem Lapislazulistein. „Ohne den würden wir im hellen Sonnenschein
sterben. Wenn der Mörder ein Vampir ist, muß er so einen Stein bei sich haben.“ Instinktiv berührte Stefan
kurz etwas unter seinem T-Shirt. Bonnie wußte, was es war.
Elenas Ring. Stefan hatte ihn ihr zunächst geschenkt, nach ihrem Tod aber zurückgenommen und trug ihn
jetzt an einer Kette um den Hals. Damit ein Teil von ihr immer bei ihm war.
Bonnie warf einen Blick auf Matt. Er hatte die Augen geschlossen.
„Wie wollen wir herausfinden, ob es sich wirklich um einen Vampir handelt?“ wollte Meredith wissen.
„Ich weiß nur einen Weg. Es ist nicht gerade angenehm, aber es muß getan werden.“
Bonnies Mut sank. Wenn Stefan bereits Bedenken hatte, würde ihr der Vorschlag schon gar nicht gefallen.
„Also, was ist es?“ fragte sie ohne große Begeisterung.
„Ich muß mir Sues Leiche ansehen.“
Tiefes Schweigen war die Antwort. Sogar Meredith, die normalerweise kaum aus der Fassung zu bringen
war, sah geschockt aus. Matt wandte sich ab und legte die Stirn gegen das kühle Autofenster.
„Du machst doch Spaß, oder?“ Bonnie war entgeistert.
„Ich wünschte, es wäre so.“
„Aber, um Himmels willen, Stefan. Das können wir unmöglich machen. Man wird uns gar nicht lassen. Ich
meine, was sollen wir sagen? ,Entschuldigen Sie, aber wir müssen diese Leiche nach Bißwunden
untersuchen'?“
„Bonnie, halt den Mund!“ entgegnete Meredith scharf.
„Tut mir leid, ich kann nicht anders.“ Entnervt ließ Bonnie sich in den Sitz zurückfallen. „Es ist eine
schreckliche Idee. Und außerdem hat die Polizei die Leiche bereits untersucht. Außer den Spuren des
Sturzes hat man keine Zeichen von Gewaltanwendung gefunden.“
„Die Polizei wußte nicht, worauf sie achten sollte.“ Stefans Tonfall war hart. Er rief Bonnie etwas ins
Gedächtnis zurück, was sie gerne vergaß. Stefan war einer von ihnen. Einer der Jäger. Er hatte schon vorher
Tote gesehen. Und vielleicht sogar selbst getötet.
Er trinkt Blut, dachte Bonnie und erschauderte.
„Was ist, seid ihr noch dabei, oder nicht?“
Bonnie versuchte sich auf dem Rücksitz unsichtbar zu machen. Meredith hielt mit beiden Händen das Steuer
so fest umklammert, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Es war Matt, der sprach. Er wandte sich vom
Fenster ab. „Wir haben wohl keine andere Wahl, stimmt's?“ fragte er müde.
„Sue ist in der Kapelle des Beerdigungsinstituts aufgebahrt. Man kann von sieben bis zehn Uhr zu ihr, um
Abschied von ihr zu nehmen“, fugte Meredith leise hinzu.
„Wir können keine Zeugen brauchen. Also werden wir warten, bis geschlossen ist“, entschied Stefan.
„Das ist das Schrecklichste, das ich jemals tun mußte“, flüsterte Bonnie entmutigt. Die Kapelle war dunkel
und kalt. Stefan hatte das Schloß mit einem dünnen, biegsamen Stück Metall aufgebrochen.
Der Boden der Aufbahrungshalle war mit dicken Teppichen belegt, die Wände mit dunklem Eichenholz
verkleidet. Die ganze Umgebung mußte schon in hellem Licht deprimierend sein. Jetzt im Dunkeln wirkte
sie erstickend und war voller grotesker Schatten. Es schien, als würden sich hinter den vielen großen
Blumengebinden Monster verbergen.
„Ich will nicht hierbleiben“, stöhnte Bonnie.
„Bringen wir's hinter uns, okay?“ stieß Matt mit zusammengepreßten Zähnen hervor.
Als er die Taschenlampe einschaltete, blickte Bonnie überallhin, nur nicht dorthin, worauf ihr Lichtstrahl
gerichtet war. Sie wollte den Sarg nicht sehen, nein. Sie betrachtete eins der Blumengebinde, ein Herz aus
rosa Rosen.
Draußen grollte der Donner wie ein schlafendes Tier.
„Ich mach den Deckel auf... so“, sagte Stefan gerade. Obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, es nicht zu
tun, schaute Bonnie doch hin.
Der Sarg war weiß und innen mit hellrosa Satin ausgeschlagen. Sues blondes Haar hob sich leuchtend davon
ab, wie das Haar einer schlafenden Prinzessin im Märchen. Aber Sue schlief nicht. Sie war zu bleich, zu
still. Wie eine Wachspuppe.
Bonnie schlich sich näher heran. Wie hypnotisiert sah sie in Sues Gesicht.
Deshalb ist es hier drin so kalt, dachte sie standhaft. Damit das Wachs nicht schmilzt. Es half ein wenig.
Stefan berührte den Kragen von Sues hochgeschlossener Bluse. Er öffnete den ersten Knopf.
„Stefan, bitte!“ flüsterte Bonnie aufgebracht.
„Was glaubst du, weshalb wir hier sind?“ antwortete Stefan zischend. Aber seine Finger hielten am zweiten
Knopf inne.
Bonnie wartete eine Minute, dann traf sie eine Entscheidung. „Mach mal Platz.“ Als Stefan sich nicht sofort
bewegte, gab sie ihm einen Schubs. Meredith trat nah zu ihr, und sie formten eine Barriere zwischen Sue
und den Jungen. Die beiden Freundinnen blickten einander verstehend an. Wenn sie Sue wirklich ausziehen
mußten, würden die Jungen hinausgehen müssen.
Bonnie plagte sich mit den winzigen Knöpfen ab, während Meredith die Taschenlampe hielt. Sues Haut
fühlte sich so wächsern und kalt unter ihren Fingerspitzen an, wie sie aussah. Sie faltete die Bluse zurück
und enthüllte einen weißen Spitzenunterrock. Dann zwang sie sich, Sues hellblondes Haar von ihrem Hals
wegzustreichen. Das Haar war steif von Haarspray.
„Keine Löcher“, sagte sie, während sie Sues Hals betrachtete. Sie war stolz, daß ihre Stimme einigermaßen
fest klang.
„Nein.“ Stefan war dicht hinter sie getreten. Er runzelte die Stirn. „Aber etwas anderes. Schaut euch das an.“
Sanft deutete er an Bonnie vorbei auf einen Schnitt. Er war bleich und blutlos wie die Haut drumherum,
doch als feine Linie zu erkennen, die sich vom Schlüsselbein zur Brust zog. Über dem Herzen zeichneten
Stefans lange Finger in der Luft ihre Spur nach. Bonnie erstarrte, bereit, die Hand zurückzuschlagen, sollte
er Sue wirklich anfassen.
„Was ist das?“ fragte Meredith verwirrt.
„Ein Rätsel.“ Seine Stimme klang merkwürdig. „Wenn ich ein solches Mal bei einem Vampir sehen würde,
würde es bedeuten, daß er einem Menschen sein Blut gegeben hat. So wird es gemacht. Die menschlichen
Zähne können unsere Haut nicht durchdringen, deshalb fügen wir uns einen Schnitt zu, wenn wir mit
jemandem Blut austauschen wollen. Aber Sue war kein Vampir.“
„Ganz bestimmt nicht!“ erklärte Bonnie mit Nachdruck. Sie versuchte, das Bild zu vertreiben, das sich ihr
aufdrängte. Elena, die sich über eine Wunde auf Stefans Brust beugte und saugte, trank...
Sie erschauderte und merkte, daß sie unwillkürlich die Augen geschlossen hatte. „Mußt du noch etwas
sehen?“ fragte sie und öffnete sie wieder.
„Nein. Das ist alles.“
Bonnie machte die Knöpfe wieder zu. Sie ordnete Sues Haar. Dann, während Meredith und Stefan den
Deckel wieder auf den Sarg legten, ging sie schnell aus der Aufbahrungshalle zur Tür nach draußen. Dort
blieb sie stehen, die Arme fest um sich geschlungen.
Eine Hand berührte leicht ihren Ellbogen. Es war Matt. „Du bist härter, als es den Anschein hat“, sagte er.
„Na, ja...“ Sie versuchte, lässig mit den Schultern zu zucken.
Und dann weinte sie plötzlich. Weinte heftig.
Matt legte seine Arme um sie. „Ich weiß“, murmelte er. Seine Stimme war so trostlos, wie sie sich fühlte.
„Ihre Frisur war voller Haarspray“, schluchzte sie. „Sue hat nie in ihrem Leben Haarspray benutzt. Es ist
schrecklich.“ Irgendwie schien das das Schlimmste von allem zu sein.
Matt hielt sie einfach fest.
Nach einer Weile wurde Bonnie ruhiger. Sie merkte, daß sie sich fast schmerzhaft fest an Matt geklammerte
hatte, und lockerte ihren Griff. „Ich hab dein ganzes Hemd vollgeheult“, entschuldigte sie sich schniefend.
„Das macht nichts.“
Etwas in seiner Stimme ließ sie einen Schritt zurücktreten. Sie musterte ihn. Er sah genauso aus wie auf dem
Parkplatz der High School. Verloren... und völlig hoffnungslos.
„Matt, was ist los?“ flüsterte sie. „Bitte!“
„Ich habe es dir bereits gesagt“, antwortete er. Er schien in die Ferne zu blicken. „Sue liegt da drinnen, tot.
Sinnlos ermordet. Du hast es auch selbst schon gesagt, Bonnie. Was für eine Welt ist das, die so etwas
geschehen läßt? Die zuläßt, daß ein Mädchen wie Sue aus Spaß umgebracht wird, Babies in Afghanistan
verhungern oder kleine Seehunde lebendig gehäutet werden? Wenn das unsere Welt ist, was zählt dann
überhaupt noch? Es ist doch alles bald vorbei.“ Er hielt inne und schien in die Gegenwart zurückzukehren.
„Verstehst du, wovon ich rede?“
„Ich bin nicht so sicher.“ Bonnie zweifelte daran, ob sie es überhaupt verstehen wollte. Matts Vision war zu
furchteinflößend. Aber ihr Verlangen, ihn zu trösten, diesen verlorenen Blick aus seinen Augen zu
vertreiben, war übermächtig. „Matt, ich..:“
„Wir sind fertig“, verkündete Stefan hinter ihnen.
Als Matt sich nach ihm umsah, schien sich sein hoffnungsloser Blick noch zu vertiefen. „Manchmal denke
ich, wir sind alle fertig.“ Er entfernte sich von Bonnie, erklärte jedoch nicht, was er mit seinem Satz meinte.
„Komm, gehen wir.“
7. KAPITEL Stefan näherte sich dem Eckhaus zögernd. Fast schien er Angst davor zu haben, was er vorfinden könnte.
Halb erwartete er, daß Damon inzwischen seinen Wachposten aufgegeben hatte. Vermutlich war er ein Idiot
gewesen, sich überhaupt auf Damon zu verlassen.
Doch als er den hinteren Garten erreicht hatte, sah er eine kaum wahrnehmbare Bewegung im Schatten des
alten Walnußbaums. Sein Blick, durch das Jagen trainiert und viel schärfer als der eines Menschen,
entdeckte eine dunkle Gestalt, die sich gegen den Stamm lehnte.
„Du hast dir aber Zeit gelassen.“
„Ich mußte die anderen erst sicher nach Hause bringen. Und etwas essen.“
„Tierblut“, sagte Damon verächtlich, und betrachtete den kleinen runden Fleck auf Stefans T-Shirt. „Dem
Geruch nach ein Kaninchen. Das erscheint auch irgendwie passend, stimmt's?“
„Damon... ich habe auch Bonnie und Meredith Eisenkraut gegeben.“
„Eine weise Vorsichtsmaßnahme.“ Damon lächelte spöttisch und zeigte seine spitzen, weißen Zähne.
Der gewohnte Ärger stieg wieder in Stefan auf. Warum mußte Damon immer so schwierig sein? Ein
Gespräch mit ihm war wie ein Trip durch vermintes Land.
„Okay, ich bin jetzt weg“, fuhr Damon fort und schwang seine Lederjacke lässig über die Schulter. „Ich hab
selbst noch was zu erledigen.“ Er warf Stefan ein letztes, unverschämtes Lächeln über die Schultern zu.
„Brauchst meinetwegen nicht aufzubleiben.“
„Damon!“ Er drehte sich noch einmal halb um, schien jedoch nicht zuzuhören. „Das letzte, was wir in dieser
Stadt brauchen können, ist ein Mädchen, das ,Vampir' schreit oder die typischen Anzeichen zeigt. Die Leute
hier haben viel mitgemacht. Sie sind nicht dumm“, warnte ihn Stefan.
„Ich werde daran denken.“ Der Tonfall war ironisch, klang aber fast wie ein Versprechen.
„Und, Damon?“
„Was ist noch?“
„Danke.“
Das war zuviel. Damon fuhr herum. Sein Blick war kalt. Seine Augen waren die eines Fremden. „Erwarte
nichts von mir, kleiner Bruder.“ Seine Stimme klang gefährlich. „Denn du wirst dich jedes Mal irren. Und
glaube nur nicht, daß du mich manipulieren kannst. Diese drei Menschen mögen dir folgen, aber ich nicht.
Ich habe meine eigenen Gründe, warum ich in dieser Stadt bin.“
Er war verschwunden, bevor Stefan antworten konnte. Jeder weitere Satz wäre sowieso zwecklos gewesen.
Damon hörte nie auf etwas, das Stefan sagte. Er nannte ihn ja noch nicht einmal beim Namen. Es war immer
dieses spöttische „kleiner Bruder“.
Und jetzt ist Damon abgehauen, um zu beweisen, wie unzuverlässig ist, dachte Stefan. Wunderbar. Er würde
etwas Schlimmes anstellen, nur um Stefan zu zeigen, wozu er in der Lage war.
Müde lehnte sich Stefan gegen den Walnußbaum und ließ sich daran zu Boden gleiten, um den
Nachthimmel zu betrachten. Er versuchte, über das Problem nachzudenken, über das, was er heute erfahren
hatte. Über die Beschreibung, die Vickie ihm von dem Mörder gegeben hatte. Groß, blond, mit blauen
Augen, dachte er. Das sollte ihn an jemanden erinnern. Jemanden, den er zwar nicht getroffen, von dem er
jedoch gehört hatte...
Es war sinnlos. Er konnte sich nicht auf das Puzzle konzentrieren. Er war zu erschöpft, zu einsam und
brauchte dringend Trost. Und die nackte Wahrheit war, daß es keinen Trost mehr für ihn gab.
Elena, er seufzte innerlich, du hast mich angelogen.
Sie hatte darauf bestanden, es ihm fest versprochen. „Was auch geschieht, Stefan. Ich werde bei dir sein. Sag
mir, daß du mir glaubst.“ Und völlig unter ihrem Bann hatte er hilflos geantwortet: „Oh, Elena. Ich glaube
dir. Was immer auch geschieht, wir werden zusammenbleiben.“
Doch sie hatte ihn verlassen. Zugegeben, nicht aus freien Stücken. Aber was machte das am Ende schon
aus? Sie hatte ihn alleingelassen und war fortgegangen.
Es gab Zeiten, da wollte er nur eins: ihr folgen.
Denk an etwas anderes, egal, an was, schalt er sich. Aber es war zu spät. Einmal losgelassen, umschwirrten
ihn Bilder von Elena. Zu schmerzhaft, um sie zu ertragen, und zu schön, um sie zu verdrängen.
Der erste Kuß... der Schock der schwindelerregenden Süße, als ihr Mund seinen traf. Voller Furcht hatte er
gemerkt, wie seine Schutzbarrieren eine nach der anderen von ihr niedergerissen wurden. All seine
Geheimnisse, seine Widerstände und Tricks, die er anwandte, um andere auf Armeslänge von sich
fernzuhalten. Elena hatte sie alle weggefegt und seine Verletzlichkeit enthüllt.
Seine Seele.
Und am Ende wußte er, daß er genau das gewollt hatte. Er wollte, daß Elena ihn so sah, wie er war. Ohne
die Mauern und Masken, hinter denen er sich sonst immer verbarg. Sie sollte wissen, was er war.
Furchteinflößend? Ja. Als sie sein wahres Ich endlich kennenlernte, als sie ihn überraschte, wie er das Blut
dieses Vogels trank, war er schamerfüllt zurückgewichen. Er war sicher, daß sie sich voller Horror über
seinen blutigen Mund von ihm abwenden würde. Und voller Ekel.
Aber in ihrem Blick hatte er in dieser Nacht nur Verständnis gelesen. Verzeihen. Liebe.
Ihre Liebe hatte ihn geheilt.
Und da wußte er, daß sie sich niemals mehr trennen konnten.
Andere Erinnerungen stiegen auf, und Stefan hielt sie fest, obwohl der Schmerz ihn fast zerriß. Ekstase. Das
Gefühl von Elena, weich und willig in seinen Armen. Ihr Haar, das seine Wange streifte, leicht wie der
Flügel eines Schmetterlings. Die Form ihrer sinnlichen Lippen, ihr Geschmack. Das unglaubliche
Mittemachtsblau ihrer Augen.
Alles verloren. Für immer aus seiner Welt verschwunden.
Aber Bonnie hatte Elena erreicht. Elenas Geist, ihre Seele, mußte irgendwo in der Nähe geblieben sein.
Wenn es jemand konnte, dann sollte es ihm gelingen, sie zu rufen. Er besaß die speziellen Kräfte. Und er
hatte mehr Rechte, sie zu sehen, als sonst jemand.
Er wußte, wie es getan wurde. Schließ deine Augen. Stell dir die Person vor, die du zu dir ziehen willst. Das
war einfach. Er konnte Elena immer noch sehen, riechen, schmecken. Dann rufe sie, laß dein Verlangen tief
in die Leere vordringen. Öffne dich und mache deine Not fühlbar.
Das war noch einfacher. Die Gefahr war ihm egal. Er sammelte all seine Sehnsüchte, seine Schmerzen und
schickte sie suchend aus wie ein Gebet.
Und fühlte... nichts.
Nur die Leere, seine eigene Einsamkeit und das Schweigen.
Seine Kräfte waren anderer Natur als die von Bonnie. Er konnte das einzige Wesen, das er liebte und das
ihm etwas bedeutete, nicht erreichen.
Er hatte sich noch nie in seinem Leben so allein gefühlt.
„Du willst was?“ fragte Bonnie ungläubig.
„Aufzeichnungen über die Geschichte von Fell's Church. Besonders über die Gründer“, antwortete Stefan.
Sie saßen alle in Meredith' Auto, das in unauffälliger Entfernung vor Vickies Haus geparkt war. Es war die
Abenddämmerung des darauffolgenden Tages, und sie waren alle gerade von Sues Beerdigung
zurückgekommen. Alle - außer Stefan.
„Es hat etwas mit Sue zu tun, stimmt's?“ Meredith' intelligente dunkle Augen forderten Stefan heraus. „Du
glaubst, du hast das Geheimnis gelöst.“
„Vielleicht“, gab er zu. Er hatte den ganzen Tag nachgedacht. Die Schmerzen der letzten Nacht hatte er
verdrängt, und jetzt hatte er sich wieder unter Kontrolle. Obwohl er Elena nicht erreichen konnte, mußte er
ihr Vertrauen in ihn rechtfertigen - er konnte tun, was sie von ihm verlangte. Und in der Arbeit, in der
Konzentration fand er Trost. Es lenkte ihn von seinen Gefühlen ab.
„Ich habe eine Vermutung über das, was geschehen sein könnte. Aber es ist ein Schuß ins Blaue, und ich
möchte erst darüber reden, wenn ich ganz sicher bin“, fügte er hinzu.
„Warum?“ wollte Bonnie wissen. Welch ein Kontrast zu Meredith, dachte Stefan. Haare rot wie Feuer und
ein Temperament, das dazu paßte. Das zierliche herzförmige Gesicht und die zarte, weiße Haut täuschten.
Bonnie war klug und einfallsreich - auch, wenn sie gerade erst dabei war, das selbst herauszufinden.
„Wenn ich mich irre, könnte ein Unschuldiger darunter leiden. Hört mal, zu diesem Zeitpunkt ist es wirklich
nur so eine Idee von mir. Aber ich verspreche euch, wenn ich heute abend irgendwelche Beweise finde,
erzähle ich euch sofort alles.“
„Du könntest dich an Mrs. Grimesby wenden“, schlug Meredith vor. „Sie ist die Bibliothekarin der Stadt
und weiß viel über die Ursprünge von Fell's Church.“
„Und außerdem gibt's da ja immer noch Honoria“, warf Bonnie ein. „Sie war schließlich eine der
Gründerinnen.“
Stefan sah sie rasch an. „Ich dachte, Honoria hätte aufgehört, mit dir zu reden?“
„Ich meine ja auch nicht, richtig mit ihr zu sprechen. Sie ist weg. Aus und vorbei“, sagte Bonnie verächtlich.
„Aber ihr Tagebuch ist noch da. Es befindet sich in der Bibliothek direkt bei dem von Elena. Mrs. Grimesby
hat es in einer Vitrine neben der Ausleihtheke ausgestellt.“
Stefan war überrascht. Die Vorstellung, daß Elenas Tagebuch so offen gezeigt wurde, gefiel ihm nicht
sonderlich. Aber Honorias Aufzeichnungen konnten genau das sein, was er suchte. Honoria war nicht nur
eine weise Frau gewesen, sondern auch mit dem Übernatürlichen vertraut. Eine Hexe.
„Die Bibliothek ist jetzt schon geschlossen“, gab Meredith zu bedenken.
„Um so besser“, sagte Stefan. „Keiner wird wissen, für welche Informationen wir uns interessieren. Zwei
von uns können dort einbrechen, und die anderen zwei bleiben hier. Meredith, willst du mit mir kommen?“
„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich lieber hierbleiben. Ich bin müde“, fügte sie zur Erklärung hinzu,
als sie sein Gesicht sah. „So kann ich meine Wache schnell hinter mich bringen und früh nach Hause gehen.
Warum nimmst du nicht Matt mit, und Bonnie bleibt hier bei mir?“
Stefan betrachtete sie immer noch skeptisch. „Gut“, erwiderte er schließlich langsam. „Bist du einverstanden, Matt?“ Matt zuckte nur mit den Schultern. „Okay, das wär's dann. Könnte sein, daß wir ein paar Stunden brauchen. Ihr beide bleibt mit verriegelten Türen im Auto. Das müßte sicher genug sein.“ Wenn er mit seinem Verdacht recht hatte, würde es in nächster Zeit sowieso keine Angriffe mehr geben. Zumindest ein paar Tage lang nicht. Bonnie und Meredith würde also nichts geschehen. Trotzdem wunderte er sich, was hinter Meredith' Verhalten steckte. Einfache Müdigkeit bestimmt nicht, da war er sich ganz sicher. „Wo ist übrigens Damon?“ fragte Bonnie, als Stefan und Matt gerade aussteigen wollten. Stefan fühlte, wie sich sein Magen verkrampfte. „Weiß ich nicht.“ Er hatte schon darauf gewartet, daß jemand ihn das fragen würde. Seit letzter Nacht hatte er seinen Bruder nicht mehr gesehen, und er hatte auch keine Ahnung, was Damon im Moment gerade trieb. „Er wird schon irgendwann wieder auftauchen“, sagte er und schloß Meredith' Beifahrertür. „Und genau davor habe ich die meiste Angst.“ Schweigend gingen Stefan und Matt zur Bibliothek. Sie blieben im Schatten und mieden das helle Licht der Straßenlampen. Stefan konnte es sich nicht leisten, gesehen zu werden. Er war zurückgekommen, um Fell's Church zu helfen, aber er war sicher, daß die Stadt seine Hilfe nicht wollte. Er war wieder ein Fremder hier, ein Eindringling. Sie würden ihn töten, wenn er sich fangen ließ. Das Bibliotheksschloß war leicht zu knacken. Und die Tagebücher befanden sich genau dort, wo Bonnie gesagt hatte. Stefan zwang sich, nicht die Hand nach Elenas Tagebuch auszustrecken. Es enthielt in Elenas eigener Handschrift eine Beschreibung ihrer letzten Tage. Wenn er jetzt daran dachte... Statt dessen konzentrierte er sich auf das in Leder gebundene Büchlein daneben. Die verblichene Tinte auf den vergilbten Seiten war schwer zu lesen, doch nach ein paar Minuten hatten sich seine Augen an die dichtgedrängte, schwierige Handschrift mit ihren kunstvollen Schnörkeln gewöhnt. Es war die Geschichte von Honoria Fell und ihrem Mann. Zusammen mit den Smallwoods und ein paar anderen Familien waren sie an diesen Ort gezogen, in die damals noch unberührte Wildnis. Sie mußten nicht nur die Gefahren der Einsamkeit und des Hungers bestehen, sondern auch der Bedrohung durch wilde Tiere trotzen. Honoria erzählte diese Erlebnisse ihres Überlebenskampfes klar und einfach, ohne in Sentimentalitäten zu verfallen. Und genau auf diesen Seiten fand Stefan, wonach er gesucht hatte. Sein Nacken prickelte, während er die Eintragungen sorgfältig las. Schließlich lehnte er sich zurück und schloß die Augen. Er hatte recht gehabt. Es gab keinen Zweifel mehr. Und das bedeutete, er hatte auch richtiggelegen mit seiner Vermutung über das, was in Fell's Church jetzt geschah. Einen Moment lang überkamen ihn Übelkeit und eine so große Wut, daß er Lust hatte, um sich zu schlagen und jemanden zu verletzen. Sue. Die hübsche Sue, die Elenas Freundin gewesen war, hatte sterben müssen... dafür. Für ein blutiges Ritual, eine Art obszöne Einführung in das Böse. Der Gedanke allein ließ Mordlust in ihm aufsteigen. Doch dann wich der Zorn und machte einer festen Entschlossenheit Platz. Der Entschlossenheit, diese Vorgänge aufzuhalten und alles wieder in Ordnung zu bringen. Ich verspreche es dir, flüsterte er Elena in Gedanken zu. Ich werde es aufhalten. Egal, was es kostet. Er schaute hoch und merkte, daß Matt ihn ansah. Elenas Tagebuch war in Matts Hand. Es hatte sich über seinem Daumen geschlossen. Matts Augen waren dunkelblau wie die Elenas. Zu dunkel, zu aufgewühlt, voller Trauer und Bitterkeit. „Du hast es gefunden“, sagte Matt schlicht. „Und es ist schlimm.“ „Ja.“ „War nicht anders zu erwarten.“ Matt schob Elenas Tagebuch in die Vitrine zurück und stand auf. In seiner Stimme lag fast so etwas wie Befriedigung. Der Tonfall von jemandem, der gerade seine Vermutung bestätigt sieht. „Ich hätte dir die Mühe herzukommen, ersparen können.“ Matt blickte sich in der dunklen Bibliothek um und spielte mit dem Kleingeld in seiner Tasche. Ein flüchtiger Beobachter hätte seine Haltung als ganz entspannt gedeutet, doch Matts Stimme verriet ihn. Sie war heiser vor Streß. „Du denkst an das Furchtbarste, das überhaupt möglich ist, und genau das trifft dann immer ein.“
„Matt...“ Plötzlich überfiel Stefan Besorgnis. Seit seiner Rückkehr nach Fell's Church war er zu beschäftigt
gewesen, um sich Matt richtig anzusehen. Jetzt erkannte er, daß er unverzeihlich dumm gewesen war. Etwas
war falsch, entsetzlich falsch. Matts ganzer Körper stand unter einer riesigen Anspannung, die dicht unter
der Oberfläche lag. Stefan konnte die Qual erkennen, die Verzweiflung.
„Matt, was ist los?“ fragte er leise. Er stand auf und trat zu ihm hin. „Ist es etwas, das ich getan habe?“
„Mir geht's gut.“
„Du zitterst.“ Das stimmte. Kleine Schauder liefen durch seine angespannten Muskeln.
„Ich hab's schon gesagt. Mir geht's gut.“ Matt wandte sich ab, die Schultern wie zur Verteidigung
hochgezogen. „Und, was könntest du mir schon groß antun? Außer, daß du mir die Freundin gestohlen und
dann nicht verhindert hast, daß sie stirbt, meine ich natürlich.“
Der Stich traf Stefan mitten durchs Herz. Wie das Schwert, das ihn vor langer Zeit getötet hatte. Er
versuchte, den Schmerz durch tiefes Atmen zu unterdrücken. Sprechen konnte er nicht.
„Es tut mir leid.“ Matts Stimme war schwer. Als Stefan zu ihm hinsah, merkte er, daß die angespannten
Schultern zusammengesunken waren. „Das war gemein von mir.“
„Es ist die Wahrheit.“ Stefan wartete einen Moment und fügte dann ruhig hinzu: „Aber das ist nicht das
ganze Problem, oder?“
Matt schwieg. Er starrte auf den Boden und schob etwas Unsichtbares mit der Schuhspitze hin und her.
Gerade, als Stefan aufgeben wollte, stellte er eine Frage: „Wie ist die Welt wirklich?“
„Was?“
„Die Welt. Du hast eine Menge davon gesehen, Stefan. Du hast uns anderen vier oder fünf Jahrhunderte
voraus, stimmt's? Also, ist sie im Grunde ein Ort, der es wert ist, gerettet zu werden, oder nur ein Haufen
Scheiße?“
Stefan schloß die Augen. „Oh.“
„Und was ist mit den Menschen? Der menschlichen Rasse? Sind wir schon die Krankheit oder nur die
Symptome dafür? Nimm jemanden wie Elena, zum Beispiel.“ Matts Stimme stockte leicht, dann fuhr er fort.
„Elena starb, um die Stadt für Mädchen wie Sue zu einem sicheren Ort zu machen. Und jetzt ist Sue tot.
Alles beginnt von vorn. Es ist niemals vorbei. Wir können nicht gewinnen. Was lehrt dich das?“
„Matt...“
„Was ich wirklich frage, ist, wo liegt der Sinn? Ist das ganze eine Art Witz, den ich nicht kapiere? Oder nur
ein riesiger, entsetzlicher Fehler? Verstehst du mich?“
„Ja.“ Stefan setzte sich und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. „Wenn du eine Minute den Mund hältst,
werde ich versuchen, dir zu antworten.“
Matt zog einen Stuhl heran und nahm rittlings darauf Platz. „Prima. Mach deine Sache gut.“ Sein Blick war
hart und herausfordernd. Doch dahinter sah Stefan die verwirrte Verletztheit, die ihm solche Qualen
bereitete.
„Ich habe eine Menge Böses gesehen, mehr, als du dir vorstellen kannst, Matt. Es wird immer ein Teil von
mir sein, egal, wie sehr ich dagegen ankämpfe. Manchmal glaube ich, die ganze menschliche Rasse ist böse,
und meine Rasse ist es noch mehr. Und es gibt Zeiten, da halte ich das Böse in beiden Rassen für so
übermächtig, daß es mir egal ist, was mit dem Rest geschieht, der nicht so ist. Im Grunde jedoch weiß ich
nicht mehr als du. Ich kann dir nicht sagen, ob es einen Punkt gibt, an dem sich alles wieder zum Guten
wenden wird.“ Stefan sah gerade in Matts Augen und sprach eindringlich. „Aber ich habe eine Gegenfrage.
Und wenn schon?“
Matt starrte vor sich hin. „Und wenn schon?“
„Ja, genau das.“
„Und wenn schon, was macht es aus, wenn das Universum böse ist? Nichts, was wir tun, kann etwas daran
ändern. Das willst du damit sagen?“ Matts Stimme klang immer ungläubiger.
„Ja, Matt Honeycutt.“ Stefan lehnte sich nach vorn. „Was wirst du tun, wenn all das Schlimme, das du
ausgesprochen hast, wirklich wahr ist? Wirst du aufhören zu kämpfen und mit den Haien schwimmen?“
Matt klammerte sich an die Stuhllehne. „Wovon redest du?“
„Du hast die freie Wahl. Damon behauptet das immer wieder. Du kannst dich auf die Seite der Bösen
stellen. Die Seite der Gewinner. Niemand kann dir einen Vorwurf machen, denn wenn das ganze Universum
so ist, warum solltest du nicht auch so sein?“
„Zum Teufel!“ Matt explodierte. Seine blauen Augen brannten. Er hatte sich halb vom Stuhl erhoben. „Das
ist vielleicht Damons Art! Nur, weil alles hoffnungslos scheint, hat man noch lange nicht das Recht, den
Kampf aufzugeben! Selbst, wenn ich wüßte, daß es keinen Zweck hat, würde ich es immer noch versuchen.
Das ist meine Pflicht, verdammt!“
„Ich weiß.“ Stefan hatte sich zurückgelehnt und lächelte leise. Es war ein müdes Lächeln, aber es zeigte, daß
er Matts Gefühle teilte. Und in diesem Moment konnte er in Matts Gesicht lesen, daß der ihn verstanden
hatte.
„Ich weiß, denn mir geht es genauso“, fuhr Stefan fort. „Es gibt keine Entschuldigung aufzugeben, nur weil
der Kampf bereits verloren scheint. Wir müssen es versuchen oder... uns ausliefern.“
„Ich liefere mich niemandem aus“, stieß Matt zwischen zusammengepreßten Zähnen hervor. Er sah aus, als
hätte er sich das Feuer zurückerobert, das die ganze Zeit in ihm gebrannt hatte. „Nie!“
„Nie ist eine lange Zeit“, sagte Stefan. „Aber, auf Teufel komm raus, ich werde auch nicht dazu bereit sein.
Keine Ahnung, ob ich es schaffe, doch ich werde es versuchen.“
„Mehr kann man nicht tun.“ Matt stand langsam auf. Die schreckliche Anspannung war von ihm gewichen,
und sein Blick war klar und blau, so wie Stefan ihn kannte. „Okay“, sagte er ruhig. „Du hast gefunden,
wonach du gesucht hast, gehen wir also zu den Mädchen zurück.“
Stefan dachte kurz nach und wechselte das Thema. „Matt, wenn ich richtigliege, werden die Mädchen noch
eine ganze Weile in Sicherheit sein. Aber geh du schon mal vor und löse sie bei der Überwachung ab. Ich
möchte noch etwas lesen. Von einem Autor namens Gervase of Tilbury. Er hat Anfang des zwölften
Jahrhunderts gelebt.“
„Das war sogar vor deiner Zeit“, sagte Matt, und Stefan schenkte ihm ein schwaches Lächeln. Einen
Moment sahen sie sich schweigend an.
„Gut. Wir treffen uns bei Vickie.“ Matt wandte sich zur Tür. Dann zögerte er und streckte seine Hand aus.
„Stefan... ich bin froh, daß du zurück bist.“
Stefan packte sie. „Freut mich, das zu hören“, erwiderte er nur. Doch in ihm breitete sich eine Wärme aus,
die den stechenden Schmerz vertrieb. Und ein wenig von der Einsamkeit.
8. KAPITEL Von ihrem Platz aus konnten Meredith und Bonnie gerade noch Vickies Fenster sehen. Es wäre besser
gewesen, näher heranzugehen, doch dann bestand die Gefahr, daß jemand sie entdeckte.
Meredith goß den Rest Kaffee aus der Thermoskanne und trank ihn. Dann gähnte sie. Sofort schaute sie
schuldbewußt zu Bonnie hinüber.
„Hast du letzte Nacht auch so schlecht geschlafen?“ fragte Bonnie.
„Ja. Ich hab keine Ahnung, wieso“, antwortete Meredith.
„Ob die Jungs wohl eine kleine Aussprache haben?“
Meredith warf Bonnie einen schnellen Blick zu und lächelte überrascht. Hast wohl nicht damit gerechnet,
daß ich die Spannung zwischen den beiden auch erkannt habe, dachte Bonnie und grinste verstohlen.
„Hoffentlich“, erwiderte die Freundin jetzt. „Es würde Matt sehr gut tun.“
Bonnie nickte und lehnte sich entspannt in den Sitz zurück. Meredith' Auto war ihr noch nie so bequem
vorgekommen.
Als sie wieder zu Meredith hinsah, schlief diese tief und fest.
Toll, wirklich klasse. Bonnie starrte auf den Kaffeesatz in ihrem Becher und verzog das Gesicht. Sie wagte
nicht, sich tiefer in den Sitz zu kuscheln. Wenn sie beide einschliefen, konnte das fatale Folgen haben. Sie
grub sich die Fingernägel in die Handflächen und starrte auf Vickies erleuchtetes Fenster.
Als die Bilder vor ihren Augen verschwammen und sie begann, alles doppelt zu sehen, wußte sie, daß etwas
geschehen mußte.
Frische Luft. Das würde helfen. Ohne sich zu bemühen, leise zu sein, entriegelte sie die Autotür und öffnete
sie mit einem lauten Klicken. Meredith atmete tief und regelmäßig weiter.
Sie muß wirklich kaputt sein, dachte Bonnie und stieg aus. Vorsichtiger machte sie die Tür hinter sich zu
und drückte vorher das Knöpfchen wieder herunter. Erst da fiel Bonnie ein, daß sie keinen Wagenschlüssel
hatte.
Na, gut, dann mußte sie Meredith eben wecken, wenn sie wieder hinein wollte. Zunächst einmal würde sie nach Vickie sehen. Die war bestimmt wach. Der Himmel war verhangen, doch die Nacht war warm. Hinter Vickies Haus bewegten sich leicht die Blätter der alten Walnußbäume. Grillen sangen, doch ihr monotones Zirpen schien nur der Teil eines größeren Schweigens zu sein. Der Duft von Geißblatt stieg Bonnie in die Nase. Sie klopfte leise mit den Fingernägeln gegen Vickies Fenster und spähte durch einen Spalt der Vorhänge. Keine Antwort. Auf dem Bett konnte sie einen Berg Decken erkennen, aus denen ungekämmtes, braunes Haar hervorlugte. Vickie schlief ebenfalls. Während Bonnie dastand, schien sich die Stille ringsum zu vertiefen. Die Grillen sangen nicht mehr, und auch die Bäume waren ganz reglos. Kein Laut war zu hören. Und doch wußte sie, daß jemand da war. Ich bin nicht allein, dachte sie. Ihr sechster Sinn sagte es ihr mit solcher Deutlichkeit, daß sie eine Gänsehaut bekam. Da.. war... etwas... in der Nähe. Jemand... beobachtete sie. Bonnie drehte sich in Zeitlupe um, voller Angst, ein Geräusch zu machen. Wenn sie sich ganz still verhielt, würde ihr Feind sie vielleicht nicht schnappen, ja, nicht einmal bemerken. Wer immer es auch war. Das Schweigen war bedrohlich geworden. Es summte in ihren Ohren zusammen mit dem wilden Rauschen ihres eigenen Blutes. Unwillkürlich malte sie sich aus, was sich da jede Minute schreiend auf sie stürzen konnte. Ein Monster mit heißen, feuchten Pranken, dachte sie und starrte in die Dunkelheit des Gartens. Schwarz auf grau, schwarz auf schwarz, war alles, was sie erkennen konnte. Jeder Umriß konnte etwas bedeuten, die Schatten schienen sich zu bewegen. Etwas mit heißen, verschwitzen Händen und Armen, die stark genug waren, sie zu erdrücken... Das Knacken eines Zweiges durchzuckte sie laut wie ein Schuß. Sie fuhr herum, Augen und Ohren aufs äußerste geschärft. Doch da waren wieder nur Dunkelheit und Schweigen. Finger berührten sie im Nacken. Bonnie fuhr erneut herum. Ihre Knie wurden weich. Sie war einer Ohnmacht nahe und hatte zuviel Angst zu schreien. Als sie erkannte, wer es war, raubte der Schock ihr alle Sinne, und ihre Muskeln versagten. Wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte, wäre sie zu Boden gesunken, wenn er sie nicht aufgefangen hätte. „Du siehst ja richtig verschreckt aus“, sagte Damon leise. Bonnie schüttelte den Kopf. Sprechen konnte sie nicht, und sie hatte immer noch Angst, ohnmächtig zu werden. Trotzdem versuchte sie, sich von ihm loszumachen. Damon verstärkte seinen Griff nicht, aber er ließ sie auch nicht gehen. Und ihre Gegenwehr war genauso nutzlos wie der Versuch, eine Ziegelmauer mit bloßen Händen einzureißen. Sie gab auf und bemühte sich, ruhiger zu atmen. „Hast du etwa Angst vor mir?“ Damon lächelte sie tadelnd an, als würden sie ein Geheimnis teilen. „Das brauchst du doch nicht.“ Wie war es Elena bloß gelungen, mit seinem teuflischen Charme fertigzuwerden? Aber auch Elena hat es ja gar nicht geschafft, fiel Bonnie wieder ein. Am Ende hatte sie Damon nachgegeben. Damon hatte gewonnen und seinen Willen bekommen. Er ließ einen ihrer Arme los, um ganz leicht den Umriß ihrer Oberlippe nachzuzeichnen. „Ich sollte wohl besser gehen“, flüsterte er. „Und dir nicht länger Angst machen. Willst du das?“ Wie ein Kaninchen vor einer Schlange komme ich mir vor, dachte Bonnie. Genauso muß das Kaninchen sich fühlen. Nur glaube ich nicht, daß er mich töten wird. Aber ich könnte auch ohne sein Zutun sterben, dachte sie. Ihre Beine waren butterweich, sie hatte das Gefühl, jeden Moment in eine endlose, samtschwarze Dunkelheit zu versinken. Wärme und ein prickelndes, süßes Zittern, das ihre Glieder durchfuhr, drohten ih ren Verstand zu vernebeln. Denk an etwas anderes... schnell! Damons unergründliche, schwarze Augen erfüllten nun ihren ganzen Horizont. Sie glaubte, Sterne in ihnen zu sehen. Denk nach! Schnell! Elena würde das nicht gefallen, dachte sie in dem Moment, in dem seine Lippen die ihren berührten. Ja, das war es. Aber das Problem bestand darin, daß sie nicht die Kraft hatte, es auszusprechen. Die Wärme wuchs
und erfüllte mit rasender Schnelligkeit ihren ganzen Körper von den Fingerspitzen bis zu den Fußsohlen. Seine Lippen waren kühl wie Seide, aber alles andere war so wunderbar warm. Sie brauchte sich nicht zu fürchten, sie konnte einfach nachgeben und sich treiben lassen. Ihre Sinne schwanden... „Was, zum Teufel, geht hier vor?“ Die Stimme durchschnitt die Stille und brach den Bann. Bonnie fuhr zusammen und merkte, daß sie den Kopf wieder drehen konnte. Matt stand am Rand des Gartens, die Fäuste geballt. Sein Blick war kalt wie Eis. „Mach, daß du von ihr wegkommst.“ Zu Bonnies Überraschung lockerte sich der Griff um ihre Arme. Sie trat einen Schritt zurück und richtete ein wenig atemlos ihre Bluse. Ihr Verstand arbeitete wieder. „Es ist schon gut“, sagte sie zu Matt. Ihre Stimme klang fast wieder normal. „Ich wollte nur...“ „Geh zurück zum Auto und bleib dort.“ Jetzt warte mal 'ne Minute, dachte Bonnie. Sie war froh, daß Matt gekommen war. Die Unterbrechung war genau zum richtigen Zeitpunkt passiert. Aber er spielte sich ein bißchen zu sehr als beschützender, älterer Bruder auf. „Hör zu, Matt...“ „Geh!“ Er starrte immer noch Damon an. Meredith würde sich nicht so herumschubsen lassen. Und Elena mit Sicherheit auch nicht. Bonnie öffnete den Mund, um ihm zu sagen, daß er sich gefälligst selbst in das Auto setzen konnte, als ihr plötzlich etwas auffiel. Zum ersten Mal seit Monaten sah sie, daß Matt wirklich eine Sache naheging. Das Licht war in seine blauen Augen zurückgekehrt. Vor diesem Ausdruck kalten, gerechtfertigten Ärgers wäre sogar Tyler Smallwood zurückgewichen. Matt war lebendig und voller Energie. Er war wieder er selbst. Bonnie biß sich auf die Lippen. Einen Moment kämpfte sie mit ihrem Stolz. Dann gab sie nach und senkte den Blick. „Danke, daß du mich gerettet hast“, murmelte sie und verließ den Garten. Matt war so wütend, daß er nicht wagte, näher an Damon heranzutreten, aus Angst, ihm einen Kinnhaken zu verpassen. Und die abschreckende Schwärze von Damons Augen sagte ihm, daß das keine gute Idee wäre. Doch Damons Stimme war weich, fast leidenschaftslos. „Mein Durst nach Blut ist nicht nur eine Laune. Du hast gerade etwas unterbrochen, das für mich eine Notwendigkeit bedeutet. Ich tue nur, was ich tun muß.“ Diese nüchterne Unbeteiligtheit war zuviel für Matt. Sie halten uns für ihre Nahrung, erinnerte er sich. Sie sind die Jäger, wir die Beute. Und Damon hatte Bonnie in seinen Klauen gehabt. Bonnie, die keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. Herausfordernd sagte er: „Warum suchst du dir nicht jemanden aus, der's mit dir aufnehmen kann?“ Damon lächelte, und die Luft ringsum wurde kälter. „Wie dich?“ Matz starrte ihn nur an. Er konnte fühlen, wie sich seine Kinnmuskeln verkrampften. Nach einem Moment antwortete er angespannt: „Du kannst es ja versuchen.“ „Ich kann mehr tun als nur das, Matt.“ Damon machte einen einzigen Schritt auf ihn zu, geschmeidig wie ein jagender Panther. Unwillkürlich mußte Matt an Raubkatzen denken, an ihre mächtigen Sprünge und ihre scharfen, reißenden Zähne. Er erinnerte sich daran, wie Tyler im letzten Jahr in der Quonset-Hütte ausgesehen hatte, nachdem Stefan mit ihm fertig gewesen war. Rohes Fleisch. Nur rohes Fleisch und Blut. „Wie war doch gleich der Name eures Geschichtslehrers?“ fragte Damon seidenweich. Er schien sich jetzt zu amüsieren und die Situation zu genießen. „Mr. Tanner nicht wahr? Bei ihm war's mehr als nur ein bloßer Versuch.“ „Du bist ein Mörder!“ Damon nickte, ohne im geringsten beleidigt zu sein. „Natürlich hatte er zuerst mit dem Messer auf mich eingestochen. Man könnte es auch Selbstverteidigung nennen. Ich wollte ihn nicht völlig aussaugen, doch er wurde mir lästig, und da habe ich meine Meinung geändert. Und du wirst mir jetzt ebenfalls lästig, Matt.“ Matt hatte die Knie fest zusammengepreßt, um zu verhindern, daß er weglief. Es war mehr als nur die Geschmeidigkeit des Panthers oder die nachtschwarzen Augen, die hypnotisierend in seine blickten. Damon strahlte etwas aus, das beim menschlichen Verstand Terror verursachte. Eine Bedrohung, die direkt Matts Selbsterhaltungstrieb ansprach. Jede Faser in ihm schrie danach, alles zu tun, um dieser tödlichen Gefahr zu entkommen.
Aber genau das kam nicht in Frage. Im Moment konnte er sich nur verschwommen an das Gespräch mit
Stefan erinnern. Doch eins war ihm klar. Selbst, wenn er hier sterben mußte, er würde nicht fliehen.
„Sei nicht dumm“, sagte Damon, als hätte er jeden von Matts Gedanken gelesen. „Dir ist noch nie mit
Gewalt Blut abgenommen worden, stimmt's? Es tut weh, Matt. Glaub mir, es tut sehr, sehr weh.“
Elena, erinnerte sich Matt. Das erste Mal, als sie sein Blut getrunken hatte, hatte er unheimliche Angst
gehabt, und das war schon schlimm genug gewesen. Aber er hatte es damals aus freien Stücken getan. Wie
würde es wohl sein, wenn man ihn dazu zwang?
Ich werde nicht weglaufen. Ich werde auch den Blick nicht abwenden.
Laut sagte er, den Blick starr auf Damon gerichtet: „Wenn du mich schon töten willst, hörst du besser auf zu
reden und tust es. Denn du kannst mich zwar umbringen, aber zu nichts zwingen.“
„Du bist noch dümmer als mein Bruder“, zischte Damon. Mit zwei weiteren Schritten hatte er ihn erreicht.
Er riß Matts T-Shirt brutal von beiden Schultern herunter. Der Hals war jetzt nackt und schrecklich
verwundbar. „Ich glaube, ich muß dir eine Lektion erteilen.“
Alles um ihn herum schien erstarrt zu sein. Matt konnte seine eigene Angst riechen, aber er war unfähig,
sich zu bewegen. Seine Glieder waren wie gelähmt.
Es macht nichts, dachte er. Er hatte nicht aufgegeben. Und in diesem Bewußtsein würde er sterben.
Damons Zähne glitzerten weiß in der Dunkelheit. Scharf wie Messer. Matt konnte den höllischen Biß schon
spüren, bevor sie seine Haut berührten.
Ich werde auf keinen Fall nachgeben, dachte er und schloß die Augen.
Der Stoß traf ihn völlig unerwartet. Matt verlor das Gleichgewicht und fiel rückwärts zu Boden. Er riß die
Augen wieder auf. Damon hatte ihn losgelassen und weggestoßen.
Ausdruckslos starrte er auf Matt herab. „Ich versuche, es auf eine Art zu sagen, die du verstehst, Matt. Leg
dich nicht noch einmal mit mir an. Ich bin gefährlicher, als du dir jemals vorstellen kannst. Jetzt
verschwinde. Das hier ist meine Wache.“
Schweigend stand Matt auf. Er rieb über die Stellen des T-Shirts, die Damon zerknittert hatte. Und als er
ging, rannte er weder, noch zuckte er vor Damons Blick zurück.
Ich habe gewonnen, dachte er. Ich bin immer noch am Leben, also habe ich gewonnen.
Und am Ende hatte eine Art grimmiger Respekt in Damons schwarzen Augen gelegen.
Bonnie und Meredith saßen im Auto, als er zurückkam. Sie sahen beide besorgt aus.
„Du warst aber lange weg. Bist du okay?“ fragte Bonnie.
Matt wünschte sich, sie würden aufhören, ihn andauernd danach zu fragen. „Alles in Ordnung“, erwiderte er
und fügte mit Nachdruck hinzu: „Ehrlich.“
Nach kurzer Überlegung entschied er, daß da noch etwas war, was er sagen sollte. „Tut mir leid, daß ich
dich vorhin im Garten so angeschrien habe, Bonnie.“
„Ist schon okay“, erwiderte Bonnie kühl. Doch dann taute sie ein wenig auf. „Weißt du, Matt, du siehst
wirklich besser aus. Fast wieder wie früher.“
„Ja?“ Er rieb wieder verlegen über sein zerknittertes T-Shirt und sah sich um. „Nun, es geht doch nichts über
eine kleine Rangelei mit einem Vampir.“
„Was habt ihr gemacht? Habt ihr den Kopf gesenkt und seid aus verschiedenen Richtungen quer durch den
Garten wie zwei wilde Stiere aufeinander zugerannt?“ fragte Meredith.
„So etwas Ähnliches. Damon will übrigens jetzt Vickies Wache übernehmen.“
„Traust du ihm?“ Meredith' Tonfall war nüchtern.
Matt dachte einen Moment nach. „Um die Wahrheit zu sagen, ja. es ist merkwürdig, aber ich glaube nicht,
daß er sie verletzen wird. Und wenn der Killer wirklich auftauchen sollte, wird er eine schöne Überraschung
erleben. Damon brennt darauf zu kämpfen. Wir können genausogut zurück zur Bibliothek und zu Stefan.“
Stefan war von draußen nicht in der Bibliothek zu sehen. Doch als das Auto ein paar Mal langsam daran
vorbeigefahren war, löste er sich aus der Dunkelheit. Er hatte ein dickes Buch bei sich.
„Einbruch und Diebstahl öffentlichen Eigentums“, bemerkte Meredith. „Ich frage mich, wieviel man dafür
heutzutage kriegt.“
„Ich habe es nur geborgt“, sagte Stefan und sah richtig gekränkt aus. „Dazu sind Bibliotheken doch
schließlich da, oder? Und ich habe das, was ich brauche, aus dem Tagebuch kopiert.“
„Das heißt, du hast es gefunden? Du hast's tatsächlich rausgekriegt?“ rief Bonnie aufgeregt. „Schnell, zurück zur Pension.“ Stefan war leicht überrascht, als er hörte, daß Damon aufgetaucht war und sich vor Vickies Haus postiert hatte, aber er gab keinen Kommentar dazu ab. Matt erzählte ihm nicht ausführlich, wie sich Damons Auftritt genau abgespielt hatte, und er merkte, daß auch Bonnie dazu schwieg. „Ich bin jetzt fast sicher über das, was in Fell's Church vorgeht. Und ich habe die Hälfte des Puzzles auf jeden Fall gelöst“, begann Stefan, sobald sie in seinem Zimmer im Dachgeschoß der Pension waren. „Aber es gibt nur einen Weg, es zu beweisen, und nur einen, die andere Hälfte des Puzzles zu lösen. Ich brauche Hilfe, und ich bitte nur schweren Herzens darum.“ Er sah bei diesen Worten Bonnie und Meredith an. Sie tauschten einen Blick und schauten zu Stefan zurück. „Dieser Kerl hat eine Freundin von uns getötet“, erklärte Meredith. „Und eine andere treibt er in den Wahnsinn. Wenn du unsere Hilfe brauchst, bekommst du sie.“ „Egal, was es uns kostet“, fügte Bonnie hinzu. „Es ist etwas Gefährliches, nicht wahr?“ Matt konnte sich nicht zurückhalten. Als ob Bonnie nicht schon genug durchgemacht hatte... „Es ist gefährlich, das möchte ich euch nicht vorenthalten“, erwiderte Stefan ehrlich. „Aber es ist unsere einzige Chance. Die Sache ist ein bißchen kompliziert, also fange ich am besten ganz von vorn an. Wir müssen uns zurückversetzen in die Gründertage von Fell's Church...“ Er redete bis spät in die Nacht. Donnerstag, 11. Juni, sieben Uhr morgens Liebes Tagebuch, ich konnte gestern nacht nichts mehr schreiben, weil ich so spät nach Hause gekommen bin. Mom hat sich wieder schrecklich aufgeregt. Sie würde hysterisch werden, wenn sie wüßte, was ich tatsächlich mache. Ich hänge rum mit Vampiren und plane etwas, bei dem ich mein Leben aufs Spiel setze. Bei dem wir alle unser Leben aufs Spiel setzen. Stefan hat einen Plan, wie wir dem Mörder von Sue eine Falle stellen können. Das erinnert mich an einige von Elenas Plänen... und genau das macht mir angst. Sie hörten sich immer ganz wunderbar an, aber oft gingen sie auch entsetzlich schief. Wir haben darüber geredet, wer den gefährlichsten Job machen soll, und uns für Meredith entschieden. Mir paßt das gut. Schließlich ist sie stärker und athletischer als ich und behält in schwierigen Situationen immer einen kühlen Kopf. Aber es hat mich ein bißchen gestört, wie schnell alle für Meredith gestimmt haben, besonders Matt. Ich bin ja schließlich auch keine totale Versagerin. Ich weiß, ich bin nicht so schlau wie die anderen, nicht so sportlich und erst recht nicht so cool, wenn ich unter Druck gesetzt werde. Aber ich bin auch keine komplette Idiotin. Für etwas bin ich auch gut. Na, ja, macht nichts. Wir werden den Plan nach den Prüfungsfeierlichkeiten durchziehen. Alle sind dabei, außer Damon, der auf Vickie aufpassen muß. Es ist schon komisch, aber inzwischen hat er unser Vertrauen. Sogar meins. Trotz der Sache, die er mir letzte Nacht antun wollte, glaube ich nicht, daß er zuläßt, daß jemand Vickie verletzt. Ich habe nicht mehr von Elena geträumt. Wenn es noch einmal passierte, würde ich sicher schreiend ausflippen. Oder niemals mehr schlafen. Mehr kann ich einfach nicht ertragen. Okay, ich höre jetzt wohl besser auf. Hoffentlich haben wir bis Sonntag das Rätsel gelöst und den Killer gefaßt. Ich vertraue Stefan. Ich hoffe nur, daß ich mich noch erinnern kann, welche Rolle ich zu spielen habe. 9. KAPITEL „... und damit, Ladies und Gentlemen, begrüßen Sie die Schüler der Abschlußklasse von '93.“ Bonnie warf mit allen anderen ihre Kappe in die Luft, die jeder aus der Klasse als Beweis für das Erreichen des Klassenziels bekommen hatte. Wir haben es geschafft, dachte sie. Obwohl noch einige Arbeiten geschrieben werden müssen. Matt, Meredith und ich sind bei der Abschlußfeier. Es hatte im letzten Jahr Zeiten gegeben, da hatte sie ernsthaft daran gezweifelt.
Bonnie hatte geglaubt, daß die Feier wegen Sues Tod düster und lustlos ausfallen würde. Statt dessen herrschte aufgeregte Hektik. Als ob jeder feiern wollte, daß er noch lebte... bevor es zu spät war. Es gab ein regelrechtes Getümmel, als die Eltern heranstürmten und die Abschlußklasse der Robert E. Lee High School nach allen Richtungen auseinanderstob. Alle johlten und waren völlig aus dem Häuschen. Bonnie fing ihre Kappe auf und schaute lächelnd in die Videokamera ihrer Mutter. Benimm dich normal, das ist wichtig, sagte sie sich. Sie hatte Elenas Tante Judith und Robert Maxwell, den Mann, den Judith vor kurzem geheiratet hatte, am Rand der Menge erspäht. Robert hielt Elenas kleine Schwester Margaret an der Hand. Als sie Bonnie entdeckten, lächelten sie tapfer. Aber Bonnie sah sie mit Unbehagen auf sich zukommen. „Oh, Miß Gilbert - ich meine natürlich, Mrs. Maxwell, - das wäre doch nicht nötig gewesen“, sagte sie, als Tante Judith ihr einen kleinen Strauß rosa Rosen gab. Tante Judith lächelte durch die Tränen in ihren Augen. „Das wäre ein ganz spezieller Tag für Elena gewesen“, sagte sie. „Ich möchte, daß es jetzt auch ein ganz besonderer Tag für dich und Meredith wird.“ „Oh, Tante Judith. Ganz impulsiv umarmte Bonnie die ältere Frau. „Es tut mir alles so leid“, flüsterte sie. „Sie wissen, wie sehr.“ „Wir vermissen sie alle“, erwiderte Tante Judith. Dann zog sie sich zurück, lächelte wieder, und die drei gingen ihrer Wege. Bonnie wandte sich mit einem Kloß im Hals von ihnen ab und schaute wieder auf die wild feiernde Menge. Da war Ray Hernandez, der Junge, mit dem sie letztes Jahr zum großen Schulball gegangen war. Er lud alle für diesen Abend zu einer Party bei sich zu Hause ein. Da war auch Tylers Freund, Dick Carter, der sich wie immer zum Narren machte. Tyler lächelte verwegen, während sein Vater ein Photo nach dem anderen von ihm machte. Matt hörte unbeeindruckt einem Talentjäger von der James-Mason-Uni zu, der ihn für sein Footballteam anwerben wollte. Meredith stand daneben. Sie hielt einen Strauß roter Rosen in der Hand und sah nachdenklich aus. Vickie war nicht da. Ihre Eltern hatten sie zu Hause gehalten mit der Begründung, sie sei nicht in der Lage auszugehen. Caroline fehlte ebenfalls. Sie war in ihrer neuen Wohnung in Heron geblieben. Ihre Mutter hatte Bonnie erklärt, daß Caroline mit einer Grippe im Bett liege: Bonnie kannte die Wahrheit. Caroline hatte einfach Angst. Und vielleicht hat sie damit recht, dachte Bonnie und ging auf Meredith zu. Caroline könnte die einzige von ihnen sein, die die nächste Woche lebend überstand. Sieh normal aus, benimm dich normal. Sie hatte Meredith' Gruppe erreicht. Meredith wand die rote Quaste ihrer Kappe um den Stiel ihres Blumenstrauß und drehte ihn nervös mit ihren langen, eleganten Fingern hin und her. Bonnie sah sich schnell um. Gut. Das war der richtige Ort, und jetzt war der richtige Zeitpunkt. „Paß auf, du machst ihn kaputt“, sagte sie laut. Meredith' nachdenklicher, trauriger Blick veränderte sich nicht. Sie starrte weiter auf die Quaste und zupfte daran herum. „Es ist total unfair, daß wir diese Dinger kriegen und Elena nicht. Total unfair!“ beschwerte Meredith sich. „Ich weiß, das ist schrecklich.“ Bonnie achtete darauf, daß sie völlig unbekümmert klang. „Ich wünschte, wir könnten es ändern. Aber wir sind völlig machtlos.“ „Es ist alles verkehrt.“ Meredith fuhr fort, als habe sie Bonnie nicht gehört. „Wir stehen hier im Sonnenschein, feiern, und sie liegt dort unter ihrem Grabstein.“ „Ich weiß, ich weiß“, versuchte Bonnie sie zu beruhigen. „Nun reg dich nicht auf, Meredith. Warum denkst du nicht an etwas anderes? Hör mal, warum gehen wir nach dem Festessen mit den Eltern nicht zu Rays Party? Wir sind zwar nicht eingeladen, aber das macht nichts.“ „Nein!“ erwiderte Meredith überraschend heftig. „Ich will zu keiner Party. Wie kannst du nur überhaupt daran denken? Wie kannst du nur so oberflächlich sein, Bonnie?“ „Nun, irgendwas müssen wir doch tun...“ „Ich sag dir, was ich tun werde. Nach dem Abendessen gehe ich auf den Friedhof. Ich werde die hier auf Elenas Grab legen. Sie ist diejenige, die sie verdient hat.“ Meredith' Knöchel traten weiß hervor, während sie die Kappe in ihrer Hand schüttelte. „Nun spiel nicht verrückt, Meredith. Du kannst da nicht hin. Besonders nicht bei Nacht. Das ist doch der helle Wahnsinn. Matt würde dasselbe sagen.“
„Ich frage Matt aber nicht nach seiner Meinung. Ich frage niemanden. Das ist ganz allein meine Sache.“
„Das kannst du nicht tun. Mensch, Meredith, ich dachte immer, du hättest genug Verstand...“
„Und ich hab immer geglaubt, daß du wenigstens ein bißchen sensibel bist. Aber anscheinend verdrängst du
jeden Gedanken an Elena. Kommt das etwa daher, weil du auf ihren Exfreund scharf bist?“
Bonnie haute ihr eine runter.
Es war ein guter, harter Schlag, hinter dem eine Menge Energie steckte. Meredith holte scharf Luft und legte
ihre Hand auf die gerötete Wange. Alle ringsum starrten sie an.
„Das war's dann wohl, Bonnie McCullough“, sagte Meredith nach einem Moment. Tödliche
Entschlossenheit lag in ihrer Stimme. „Ich werde nie mehr mit dir reden.“ Sie drehte sich auf dem Absatz
um und ging weg.
„Nie ist mir noch viel zu früh!“ schrie Bonnie hinter ihr her.
Alle wandten sich hastig ab, als Bonnie sich umsah. Aber es gab keinen Zweifel daran, daß sie und Meredith
die letzten Minuten im Mittelpunkt des Interesses gestanden hatten. Bonnie biß sich von innen auf die
Wangen, um nicht loszulachen. Sie ging zu Matt, der den Talentsucher abgewimmelt hatte.
„Na, wie war ich?“ flüsterte sie.
„Toll!“
„Meinst du, die Ohrfeige, das war zuviel? Wir hatten das nicht geplant. Ich habe einfach impulsiv gehandelt.
Vielleicht war das zu offensichtlich...“
„Was? Nein, es war alles super, wirklich.“ Matt sah gedankenverloren aus. Aber es lag nicht mehr der
dumpfe, in sich gekehrte Ausdruck auf seinem Gesicht.
„Was ist los? Hast du einen Fehler in unserem Plan entdeckt?“ fragte Bonnie ängstlich.
„Nein, nein. Hör zu, Bonnie. Mir macht da etwas zu schaffen. Du hattest doch Mr. Tanner bei der
Halloween-Party im Spukhaus gefunden, stimmt's?“
Bonnie war überrascht. Unwillkürlich erschauderte sie vor Abscheu. „Nun, ich war die erste, die gemerkt
hat, daß er wirklich tot ist und nicht nur seine Rolle spielt. Wie, um alles in der Welt, kommst du jetzt
gerade darauf?“
„Weil du mir vielleicht eine Frage beantworten kannst. Hätte Mr. Tanner Damon mit dem Opfermesser
verletzen können?“
„Was?“
„Wäre es möglich gewesen?“
„Ich...“ Bonnie blinzelte und runzelte die Stirn. Dann zuckte sie mit den Schultern. „Ich glaube schon.
Erinnerst du dich, die Szene sollte ein Druidenopfer darstellen, und das Messer, das wir benutzt haben, war
echt. Wir wollten erst eine Attrappe nehmen, aber da Mr. Tanner die ganze Zeit genau daneben liegen sollte,
dachten wir, es könnte schon nichts passieren. Tatsächlich...“ Die Falten auf Bonnies Stirn vertieften sich.
„Ich glaube, als ich die Leiche fand, war das Messer an einer anderen Stelle. Aber das hätte ja eins der Kids
getan haben können. Warum willst du das wissen, Matt?“
„Es war nur etwas, was Damon zu mir sagte.“ Matt starrte weiter in die Ferne. „Ich hab mich gefragt, ob es
die Wahrheit sein könnte.“
„Oh.“ Bonnie wartete auf eine weitere Erklärung. Als keine kam, fuhr sie schließlich fort: „Wenn das
geklärt ist, kommst du dann bitte zur Erde zurück? Und könntest du dich vielleicht überwinden, mich in den
Arm zu nehmen? Nur, um zu zeigen, daß du auf meiner Seite stehst und auf keinen Fall heute nacht mit
Meredith bei Elenas Grab auftauchen wirst?“
Matt schnaubte verächtlich, aber der abwesende Blick schwand aus seinen Augen. Einen kurzen Moment
legte er seinen Arm um sie und drückte sie an sich.
Alles schon einmal dagewesen, dachte Meredith, als sie vor dem Eingangstor des Friedhofs stand. Das
Problem war, sie konnte sich nicht erinnern, an welche ihrer vorherigen Erfahrungen auf dem Friedhof sie
diese Nacht erinnerte. Es waren so viele gewesen.
Eigentlich hatte hier alles angefangen. Hier hatte Elena geschworen, nicht zu ruhen, bis Stefan ihr gehörte.
Sie hatte Bonnie und Meredith mit einem Blutschwur dazu gebracht, ihr dabei zu helfen. Mit Blut besiegelt,
wie passend, dachte Meredith jetzt.
Und hier hatte Tyler versucht, Elena nach dem Schulball zu vergewaltigen. Stefan hatte sie gerettet, und das
war der Anfang für beide gewesen. Der Friedhof hatte schon eine Menge gesehen.
Er war sogar Zeuge gewesen, als die ganze Gruppe im letzten Dezember im Gänsemarsch den Hügel zur
Kirchenruine hochmarschiert war, um Katherines Schlupfwinkel zu suchen. Sieben von ihnen waren in die
Gruft hinuntergestiegen: Meredith selbst, Bonnie, Matt, und Elena mit Stefan, Damon und Alaric. Aber nur
sechs waren heil wieder herausgekommen.
Als man Elena hochgeholt hatte, war es, um sie zu begraben.
Dieser Friedhof war der Anfang und das Ende gewesen. Und heute nacht würde es vielleicht ein weiteres
Ende geben.
Meredith stieß seufzend das Tor auf und ging entschlossen los.
Ich wünschte, du wärst hier bei mir, Alaric, dachte sie. Ich könnte deinen Optimismus gebrauchen, deine
Kenntnisse, was das Übernatürliche betrifft; und deine Muskelkraft wäre auch nicht zu verachten.
Elenas Grab lag natürlich auf dem neuen Friedhof, wo das Gras noch gemäht wurde und die Gräber mit
Blumen geschmückt waren. Der Grabstein war sehr schlicht und hatte nur eine kurze Inschrift.
Meredith bückte sich und legte ihren Rosenstrauß davor. Dann fügte sie langsam die schwarzrote Quaste
ihrer Kappe hinzu. Im Dämmerlicht sahen beide Farben gleich aus. Wie getrocknetes Blut. Sie kniete sich
nieder, faltete die Hände – und wartete.
Der Friedhof um sie herum war fast unnatürlich still. In der Dunkelheit sanft schimmernd, erstreckten sich
die Reihen der weißen Grabsteine rechts und links von ihr. Meredith lauschte auf jedes Geräusch.
Und dann hörte sie etwas. Schwere Schritte.
Den Kopf gebeugt, blieb sie ganz ruhig und tat, als hätte sie nichts bemerkt.
Die Schritte kamen jetzt näher heran und gaben sich keine Mühe, leise zu sein.
„Hallo, Meredith.“
Meredith sah sich schnell um. „Oh, du bist's, Tyler. Du hast mich erschreckt. Ich dachte, es wäre... na, ist
auch egal.“
„Ja?“ Tyler grinste breit. „Tut mir leid, daß ich dich enttäuscht habe. Aber hier bin nur ich. Du und ich und
niemand sonst.“
„Was machst du überhaupt auf dem Friedhof, Tyler? Keine heiße Party in Sicht?“
„Dasselbe könnte ich dich fragen.“ Tylers Blick glitt zu dem Grabstein und der Quaste. Sein Gesicht
verdüsterte sich. „Ich glaube, ich kenne die Antwort. Du bist wegen ihr gekommen. ,Elena Gilbert, ein Licht
in der Dunkelheit’“, las er spöttisch vor.
„Das stimmt“, erwiderte Meredith ruhig. „Elena bedeutet ,Licht', mußt du wissen. Und sie war tatsächlich
von Dunkelheit umgeben. Die Dunkelheit hätte sie fast besiegt, doch am Ende hat Elena gewonnen.“
„Vielleicht.“ Tylers Kiefer mahlten, er kniff die Augen zusammen. „Aber weiß du, Meredith, mit der
Dunkelheit, das ist so eine komische Sache. Sie ist tiefer und dichter, als man sich vorstellen kann.“
„Wie heute nacht.“ Meredith schaute zum Himmel. Er war klar und mit winzigen Sternen gesprenkelt.
„Heute nacht ist es sehr dunkel, Tyler. Doch früher oder später wird die Sonne aufgehen.“
„Ja, aber zuerst kommt der Mond.“ Tyler kicherte plötzlich, als läge darin ein Witz, den nur er verstehen
konnte. „He, Meredith. Kennst du schon die Familiengrabstätte der Smallwoods? Komm, ich zeig sie dir. Es
ist nicht weit.“
Genau, wie er sie Elena gezeigt hat, dachte Meredith. Irgendwie genoß sie dieses Wortgefecht, aber sie
verlor trotzdem nie aus den Augen, warum sie hergekommen war. Mit klammen Fingern tastete sie in ihrer
Jackentasche nach dem Eisenkrautzweiglein. „Kann schon sein, Tyler. Aber ich bleibe lieber hier.“
„Bist du wirklich sicher? Ein Friedhof kann ein gefährlicher Ort sein, wenn man ganz allein ist.“
Ruhelose Geister, dachte Meredith. Sie schaute ihn gerade an. „Ich weiß.“
Er grinste schon wieder und zeigte seine kräftigen Zähne. „Außerdem kannst du den Grabstein von hier
sehen, wenn du gute Augen hast. Schau dorthin, zum alten Friedhof. Nun, erkennst du etwas
Rotschimmerndes in der Mitte?“
„Nein.“ Über den Bäumen im Osten hing ein bleicher Schein. Meredith hielt den Blick darauf gerichtet.
„Nun komm schon, Meredith. Du gibst dir gar keine Mühe. Wenn der Mond erst aufgegangen ist, wirst du
es besser sehen.“
„Tyler, ich kann nicht länger meine Zeit hier verschwenden. Ich gehe.“
„Nein, das tust du nicht!“ fuhr er sie an. Und während sich ihre Finger über dem Eisenkraut zur Faust
schlossen, fügte er schmeichlerisch hinzu: „Ich meine natürlich, du kannst doch nicht gehen, bevor ich dir
nicht die Geschichte dieses Grabsteins erzählt habe. Das ist eine tolle Sache. Also, der Stein ist aus rotem
Marmor, als einziger auf dem ganzen Friedhof. Und die Kugel auf seiner Spitze - siehst du sie? - die muß
ungefähr eine Tonne wiegen. Aber sie bewegt sich. Sie dreht sich immer, wenn ein Smallwood sterben muß.
Mein Großvater hat das nicht geglaubt. Er hat genau in die Mitte der Vorderseite einen Kratzer gemacht.
Jeden Monat hat er es überprüft. Dann kam der Tag, an dem der Kratzer sich auf der Rückseite befand. Die
Kugel hatte sich einmal genau um ihre Achse gedreht. Er bemühte sich nach Kräften, sie wieder
umzudrehen. Vergebens. Sie war zu schwer. Und in dieser Nacht ist er in seinem Bett gestorben. Sie haben
ihn unter dem Grabstein begraben.“
„Wahrscheinlich hat er vor Überanstrengung einen Herzinfarkt bekommen“, sagte Meredith leichthin, aber
ihre Handflächen prickelten.
„Du bist schon eine! Immer so cool. Immer beherrscht. Es braucht 'ne Menge, dich zum Schreien zu
bringen, oder?“
„Ich gehe jetzt, Tyler. Ich habe genug.“
Er ließ sie ein paar Schritte gehen, dann sagte er: „In dieser Nacht bei Caroline, da hast du geschrien, nicht?“
Meredith drehte sich um. „Woher weißt du das?“
Tyler verdrehte die Augen. „Ein bißchen Verstand könntest du mir schon zugestehen, okay? Ich weiß viel,
Meredith. Zum Beispiel weiß ich, was in deiner Tasche ist.“
Meredith Finger erstarrten. „Was meinst du damit?“
„Eisenkraut, Meredith. Verbena offinalis. Ich habe einen Freund, der kennt sich mit solchen Dingen aus.“
Tyler starrte sie an, sein Grinsen wurde breiter. Er beobachtete ihr Gesicht, als wäre es seine
Lieblingsfernsehsendung. Wie eine Katze mit einer Maus spielt, holte er zum nächsten Schlag aus. „Und ich
weiß auch, wofür man es benutzt.“ Er sah sich übertrieben nach allen Seiten um und legte einen Finger auf
die Lippen. „Psst, nicht weitersagen. Gegen Vampire“, flüsterte er. Dann legte er den Kopf zurück und
lachte schallend.
Meredith trat noch einen Schritt zurück.
„Du glaubst, das kann dir helfen? Ich werde dir mal ein Geheimnis verraten.“
Meredith schätzte mit ihrem Blick die Entfernung zwischen sich und dem Weg ab. Ihr Gesichtsausdruck
blieb ganz ruhig, doch innerlich zitterte sie heftig. Plötzlich hatte sie Zweifel, ob sie die Sache durchstehen
würde.
„Du wirst nirgendwo hingehen, Baby.“ Tyler machte einen Satz auf sie zu und packte ihr Handgelenk. Seine
Hand war riesig, heiß und verschwitzt. „Du wirst hierbleiben und eine Überraschung erleben.“ Sein Körper
war nun gebeugt, den Kopf vorgereckt. Auf seinen Lippen lag ein lüsternes Grinsen.
„Laß mich los, Tyler. Du tust mir weh!“ Panik durchfuhr Meredith. .Aber Tyler packte nur härter zu und
quetschte ihr Handgelenk unbarmherzig zusammen.
„Es ist ein Geheimnis, Baby. Keiner sonst kennt es.“ Tyler zog sie näher an sich heran. Sein heißer Atem
streifte ihr Gesicht. „Du bist gewappnet gegen Vampire hergekommen. Aber ich bin kein Vampir.“
Meredith' Herz schlug wie wild. „Laß mich gehen!“
„Erst möchte ich, daß du dort hinüberschaust“ Du kannst den Grabstein jetzt sehen“, sagte er und drehte sie
so, daß ihr nichts anderes übrigblieb, als hinzusehen. Und er hatte recht, sie konnte ihn erkennen, ein rotes
Monument mit einerglänzenden Kugel auf der Spitze. Nein... keine Kugel. Der marmorne Ball glich... er
glich...
„Jetzt schau nach Osten. Was siehst du dort, Meredith?“
fuhr Tyler fort. Seine Stimme war heiser vor Aufregung.
Es war der Vollmond. Er war aufgegangen, während Tyler mit ihr geredet hatte, und hing jetzt über dem
Hügel, kreisrund und enorm angeschwollen. Ein riesiger, roter Ball.
Und genauso sah der Grabstein aus. Wie ein Vollmond, der vor Blut triefte.
„Du kamst her, geschützt gegen Vampire“, zischte Tyler hinter ihr. Seine Stimme wurde noch heiserer.
„Aber die Smallwoods sind keine Vampire. Wir sind etwas anderes.“
Und dann heulte er.
Keine menschliche Kehle konnte ein solches Geräusch hervorbringen. Es war nicht die Nachahmung eines
Tieres, es war echt. Ein bösartiges Knurren, das höher und höher wurde. Meredith' Kopf fuhr herum. Sie
starrte Tyler ungläubig an. Was sie sah, war so schrecklich, daß ihr Verstand sich weigerte, es zu erfassen...
Sie schrie.
„Ich hab dir gesagt, es würde eine Überraschung geben. Wie gefällt sie dir?“ stieß Tyler hervor. Er konnte kaum noch sprechen mit dem Tiermaul, zwischen dessen großen, gefährlichen Zähnen die Zunge hervorhing. Sein Gesicht hatte nichts Menschliches mehr. Es besaß jetzt eine Schnauze und kleine, gelbe Augen mit geschlitzten Pupillen. Sein rotblondes Haar bedeckte Gesicht, Hals, Hände, den ganzen Körper. Ein Pelz. Tyler war zum Werwolf geworden. „Du kannst hier oben schreien, soviel du willst, niemand wird dich hören“, fügte er hinzu. Jeder Muskel in Meredith' Körper war erstarrt im verzweifelten Bemühen, Tyler zu entkommen. Es war eine Reflexbewegung, die sie nicht steuern konnte. Sein Atem war heiß und stank wie der eines Tieres. Die Nägel, die er in ihr Handgelenk bohrte, waren abgesplitterte schwarze Krallen. Sie hatte nicht mehr die Kraft zu schreien. „Neben Vampiren gibt es auch andere Geschöpfe, die nach Blut dürsten. Und ich möchte deins kosten. Doch zunächst werden wir zwei ein wenig Spaß haben.“ Obwohl er noch auf zwei Beinen stand, war sein Körper gebeugt und merkwürdig verzerrt. Sie konnte sich nur schwach wehren, als er sie auf den Boden zwang. Meredith war ein kräftiges Mädchen, aber er war viel stärker als sie. Die Muskeln unter seinem Hemd wölbten sich, als er sie festhielt. „Du warst dir immer zu schade für mich, stimmt's? Nun, jetzt wirst du herausfinden, was dir entgangen ist.“ Ich kann nicht mehr atmen. Meredith' Gedanken überschlugen sich. Sein Arm lag quer über ihrer Kehle und schnürte ihr die Luft ab. Graue Schleier stiegen vor ihren Augen auf. Wenn sie jetzt die Besinnung verlor... „Du wirst dir wünschen, du würdest so schnell sterben wie Sue.“ Tylers Gesicht war über ihr, geschwollen und rot wie der Mond. Seine andere Hand hielt mühelos ihre Arme über ihrem Kopf fest. „Kennst du das Märchen von Rotkäppchen und dem bösen Wolf?“ Das Grau wurde zu Schwarz, das gesprenkelt war mit kleinen Blitzen. Wie Sterne, dachte Meredith. Ich sinke in ein Meer von Sternen... „Tyler, nimm deine Hände weg! Laß sie los! Sofort!“ schrie Matt. Tylers siegessicheres Knurren wurde zu einem überraschten Winseln. Sein Arm über Meredith' Hals lockerte sich, und frische Luft strömte in ihre Lungen. Schritte erklangen um sie herum. „Auf diese Gelegenheit habe ich schon lange gewartet.“ Matt packte das rotblonde Haar und riß den Kopf zurück. Dann krachte seine Faust in Tylers neugewachsene Schnauze. Blut flog aus der feuchten Tiernase. Das Geräusch, das Tyler von sich gab, ließ Meredith das Blut in den Adern gefrieren. Er sprang Matt an und drehte sich noch in der Luft mit ausgefahrenen Krallen. Matt wurde von dem Angriff zu Boden geschleudert. Tyler warf sich auf ihn. Du maßt ihm helfen! Schwindlig versuchte Meredith aufzustehen. Sie schaffte es nicht. Ihr ganzer Körper zitterte unkontrolliert. Doch jemand anders riß Tyler von Matt zurück. So leicht, als würde der riesige Kerl nicht mehr wiegen als eine Puppe. „Wie in alten Zeiten, Junge, stimmt's?“ Stefan setzte Tyler auf die Füße und sah ihn herausfordernd an. Tyler überlegte kurz und versuchte dann wegzulaufen. Er war schnell, und bewegte sich geschickt wie ein Tier zwischen den Grabsteinen hin und her. Doch Stefan war schneller und schnitt ihm den Weg ab. „Meredith, bist du verletzt? Meredith?“ Bonnie kniete neben ihr. Meredith nickte - sie konnte immer noch nicht sprechen - und ließ zu, daß Bonnie ihren Kopf sanft anhob. „Ich wußte, wir hätten ihn früher stoppen sollen, ich wußte es.“ Bonnie machte sich Vorwürfe. Stefan schleppte Tyler zurück. „Ich hab immer gewußt, daß du ein Idiot bist“, sagte er und stieß Tyler gegen einen Grabstein. „Aber ich hatte keine Ahnung, daß du derart verblödet bist. Ich dachte, du hättest inzwischen gelernt, keine Mädchen mehr auf Friedhöfen anzufallen. Aber, nein. Und du mußtest natürlich auch damit angeben, was du Sue angetan hast. Das war nicht sehr klug, Tyler.“ Meredith betrachtete die beiden. So unterschiedlich, dachte sie. Obwohl sie beide irgendwie Geschöpfe der Dunkelheit waren. Stefan war bleich, seine grünen Augen blitzten vor Wut und Rachegelüsten, und doch umgab ihn eine Art, Würde, fast Reinheit. Er glich einem strengen Marmorengel. Tyler hingegen war nur ein gefangenes Tier. Er kauerte am Boden und atmete schwer. Seine Brust war mit Blut und Geifer befleckt. Die gelben Augen brannten vor Haß und Angst, und seine Finger bewegten sich, als wollte er mit seinen Krallen jemanden zerreißen. Ein dumpfes Geräusch kam aus seiner Kehle.
„Keine Angst, diesmal werde ich dich nicht verprügeln“, sagte Stefan. „Es sei denn, du versuchst zu fliehen.
Wir werden alle in die Kirchenruine gehen und uns ein wenig unterhalten. Du erzählst doch so gern
Geschichten, Tyler. Nun, ich höre dir gern zu.“
Tyler sprang ihn an, pfeilschnell schoß er vom Boden hoch zu Stefans Kehle. Aber der war auf ihn
vorbereitet. Meredith nahm an, daß Stefan und Matt die nächsten Minuten genossen, ihre angestaute
Angriffslust loszuwerden, doch sie genoß es nicht und schaute daher weg.
Am Ende war Tyler mit einer Nylonschnur gefesselt. Er konnte noch halbwegs gehen oder, zumindest,
schlurfen. Stefan hielt ihn am Hemdrücken fest und schubste ihn unsanft den Weg zur Kirche hoch.
Drinnen stieß Stefan Tyler zu Boden, nah dem offenen Grab. „Jetzt“, begann er, „werden wir zwei uns ein
wenig unterhalten. Und du wirst hilfsbereit sein, Tyler. Sonst wird es dir sehr, sehr leid tun.“
10. KAPITEL Meredith setzte sich auf die kniehohe Mauer der Kirchenruine und massierte ihren schmerzenden Hals. „Du
hast mir gesagt, daß es gefährlich werden wird, Stefan. Aber du hast nicht erwähnt, daß ihr erst eingreift,
wenn er mich schon halb erwürgt hat“, flüsterte sie heiser.
„Tut mir leid. Ich hoffte, daß er noch etwas ausplaudert, besonders, nachdem er zugegeben hat, daß er da
war, als Sue starb. Aber ich hätte nicht so lange warten dürfen.“
„Ich habe überhaupt nichts zugegeben! Du kannst nichts beweisen!“ meldete sich Tyler zu Wort. Das
tierhafte Winseln war noch in seiner Stimme, aber inzwischen hatten sich sein Gesicht und sein Körper in
ihre normale Form zurückverwandelt. Oder zumindest in seine menschliche, dachte Meredith. Die
Schwellungen, Blutergüsse und das getrocknete Blut waren wohl kaum normal.
„Du stehst hier nicht vor Gericht, Tyler“, sagte sie. „Dein Vater kann dir jetzt nicht helfen.“
„Selbst, wenn das ein Gerichtssaal wäre, hätten wir gute Chancen, unseren Fall zu gewinnen“, fügte Stefan
hinzu. „Genug Beweise, um dich wegen Beihilfe zum Mord hinter Gitter zu bringen.“
„Das heißt, wenn nicht jemand vorher Großmutters Teelöffel einschmilzt, um daraus eine silberne Kugel zu
machen“, warf Matt ein.
Tyler sah von einem zum anderen. „Aus mir kriegt ihr nichts raus.“
„Tyler, du bist ein Maulheld“, sagte Bonnie verächtlich.
„Du hast keine Skrupel, ein Mädchen zu Boden zu pressen und es zu bedrohen“, erklärte Matt. „Aber wenn
seine Freunde auftauchen, machst du dir vor Angst fast in die Hose.“
Tyler starrte nur alle wütend an.
„Na, wenn er nicht reden will, dann müssen wir wohl.“ Stefan bückte sich und hob das dicke Buch auf, das
er aus der Bibliothek mitgenommen hatte. Einen Fuß auf den Grabrand gestellt, legte er das Buch auf seine
Knie und öffnete es. In diesem Moment, dachte Meredith, gleicht er auf fast beängstigende Weise Damon.
„Dieses Buch hat Gervase von Tilbury geschrieben, Tyler“, begann er. „Und zwar ungefähr 1210 nach
Christi. Es handelt unter anderem von Werwölfen.“
„Du kannst überhaupt nichts beweisen. Du hast nicht das kleinste Indiz...!“
„Halt den Mund!“ Stefan sah ihn an. „Ich brauche keine Beweise. Ich kann es sehen, sogar jetzt noch. Hast
du vergessen, was ich bin?“ Eine kurze Stille entstand, dann fuhr Stefan fort: „Als ich vor ein paar Tagen
hier ankam, gab es ein Rätsel zu lösen. Ein Mädchen war tot. Aber wer war der Mörder? Und warum hat er
es getan? Alle Hinweise, die ich fand, schienen sich zu widersprechen.
Es war kein normaler Mord, keine Tat, begangen von einem Irren. Ich hatte die Aussage von jemandem,
dem ich vertraue - und außerdem, unabhängig davon, einen Hinweis. Kein einfacher Killer kann ein Quija-
Brett mit Telekinese beeinflussen. Ein normaler Mensch kann nicht bewirken, daß alle Sicherungen in einem
Elektrizitätswerk etwa hundert Kilometer vom Tatort entfernt durchbrennen.
Nein, es mußte sich um jemanden handeln, der eine enorme physische und psychische Kraft besitzt. Das,
was Vickie mir erzählt hatte, hörte sich sehr nach einem Vampir an.
Außer, daß Sue Carson noch ihr Blut besaß. Ein Vampir hätte zumindest etwas davon ausgesaugt. Kein
Vampir kann dieser Versuchung widerstehen, besonders dann nicht, wenn er ein skrupelloser Killer ist. Das
macht ihn high, und genau, um diesen berauschten Zustand zu erreichen, mordet er. Aber der Polizeiarzt
hatte keine Löcher in Sues Venen gefunden, und sie hatte nur ein wenig Blut verloren. Es ergab keinen Sinn.
Und da war noch etwas anderes. Du warst in diesem Haus, Tyler. Du hast den Fehler gemacht, Bonnie anzupacken, und dann hast du dich am nächsten Tag auch noch verplappert und Dinge gesagt, die du nur wissen konntest, wenn du dabei gewesen bist. Also, was hatten wir? Einen erfahrenen Vampir, einen bösartigen Mörder, der seine Kraft loswerden will? Oder ein High-School-Großmaul, das nicht mal zur Toilette findet, ohne über seine eigenen Füße zu stolpern? Die Beweise deuteten in beide Richtungen, und ich konnte mich nicht entscheiden. Dann habe ich mir selbst Sues Leiche angesehen. Und da gab es das größte Geheimnis überhaupt. Einen Schnitt hier.“ Stefans Finger zeichneten einen scharfe Linie vom seinem Schlüsselbein nach unten. „Ein typischer, ritueller Schnitt - der von Vampiren gemacht wird, wenn sie ihr eigenes Blut mit jemandem teilen wollen. Aber Sue war kein Vampir, und sie hat sich mit Sicherheit nicht selbst geschnitten. Jemand hat es ihr angetan, als sie sterbend auf dem Boden lag.“ Meredith schloß die Augen und hörte, wie Bonnie neben ihr hart schluckte. Sie streckte die Hand aus, fand Bonnies Hand und klammerte sich daran fest. Doch sie hörte weiter zu. „Vampire haben es nicht nötig, ihre Opfer so zu schneiden. Sie benutzen ihre Zähne.“ Stefan zog leicht die Oberlippe hoch, um seine eigenen scharfen Zähne zu zeigen. „Aber wenn ein Vampir Blut braucht, das jemand anderer trinken soll, würde er ein Messer nehmen, statt zu beißen. Wenn ein Vampir jemandem den ersten und einzigen Schluck geben will, könnte er so handeln. Und das ließ mich weiter über Blut nachdenken. Blut ist wichtig, wie du weißt. Vampiren gibt es Leben und Macht. Wir brauchen es, um zu überleben. Und es gibt Zeiten, wo die Sucht danach uns fast in den Wahnsinn treibt. Aber es taugt auch für andere Dinge. Zum Beispiel... für Einweihungsrituale. Initiationsriten und Macht. Jetzt, wo ich über diese beiden Dinge nachdachte, brachte ich sie mit dem zusammen, was mir an dir aufgefallen war, Tyler, als ich zum ersten Mal nach Fell's Church gekommen war. Kleine Begebenheiten, auf die ich jedoch gar nicht richtig geachtet hatte. Aber dann fiel mir etwas ein, das Elena mir über eure Familiengeschichte erzählt hatte, und ich beschloß, es in Honoria Fells Tagebuch nachzuprüfen.“ Stefan holte ein Blatt Papier aus den Seiten des Buchs, das er in der Hand hielt. „Und hier ist es. In Honorias eigener Handschrift. Ich habe die Seite kopiert, damit ich sie euch vorlesen kann. Das kleine Familiengeheimnis der Smallwoods - wenn ihr zwischen den Zeilen lesen könnt.“ Er schaute auf das Blatt und begann: 12. November. Kerzen gezogen, Fachs gesponnen.
Roggenmehl und Salz werden knapp, aber wir werden den Winter überstehen. Letzte Nacht gab es Alarm;
Wölfe haben Jacob Smallwood angegriffen, als er aus dem Wald zurückkam. Ich habe die Wunde mit
Heidelbeeren und Weidenrinde behandelt, aber sie ist sehr tief, und ich befürchte das Schlimmste. Nachdem
ich nach Hause gekommen war, habe ich die Runensteine geworfen. Doch ich habe nur Thomas das
Ergebnis erzählt.
„Runensteine zu werfen, bedeutet, in die Zukunft zu sehen. Honoria war das, was wir heute eine Hexe nennen würden“, fügte Stefan hinzu und schaute hoch. „Sie berichtet weiter, daß es Ärger mit Wölfen in verschiedenen anderen Teilen der Siedlung gegeben hat. Es scheint, als ob die Angriffe sich plötzlich vermehrt hätten. Vor allem junge Mädchen waren die Opfer. Sie schreibt, wie sie und ihr Mann sich immer mehr Sorgen machten. Und schließlich dies: 20. Dezember. Wieder ein Wolfsangriff im Gebiet der Smallwoods. Wir hörten die Schreie vor ein paar Minuten, und Thomas meinte, die Zeit sei nun reif. Er hat die Kugeln gestern gegossen. Jetzt hat er sein Gewehr geladen. Wir werden hinübergehen. Wenn wir heil zurückkommen, werde ich weiterschreiben. 21. Dezember. Sind letzte Nacht zu den Smallwoods gegangen. Jacob nicht mehr zu helfen. Wolf getötet. Wir werden Jacob auf dem kleinen Friedhof am Fuße des Hügels begraben. Möge seine Seele Frieden finden. „In der offiziellen Stadtgeschichte von Fell's Church steht, daß Thomas Fell und seine Frau zu den Smallwoods gingen und sahen, daß Jacob Smallwood von einem Wolf angegriffen wurde und dieser Wolf ihn getötet hat“, fuhr Stefan fort. „Daraufhin erschoß Thomas Fell den Wolf. Aber das stimmt nicht. Der
Text sagt in Wirklichkeit, nicht der Wolf tötete Jacob Smallwood, sondern Jacob Smallwood, der Wolf, wurde getötet.“ Stefan schloß das Buch. „Er war ein Werwolf, dein Ururur- , oder was immer, -großvater, Tyler. Ein Werwolf hatte ihn angegriffen und ihn dazu gemacht. Und er hat diesen Fluch seinem Sohn vererbt, der achteinhalb Monate nach seinem Tod geboren wurde. Genau, wie dein Vater ihn dir vererbt hat.“ „Ich wußte immer, daß was an dir nicht stimmt, Tyler“, warf Bonnie ein, und Meredith öffnete endlich wieder die Augen. „Ich konnte nie richtig sagen, was es war. Aber mein sechster Sinn verriet mir, daß du irgendwie unheimlich bist.“ „Wir haben noch Witze darüber gemacht.“ Meredith war immer noch heiser. „Über deine ,tierische’ Anziehungskraft und deine großen Zähne. Wir wußte nur nicht, wie nahe wir an der Wahrheit waren.“ „Hellseherisch Begabte können so etwas spüren“, erklärte Stefan. „In manchen Fällen gelingt es sogar völlig normalen Menschen. Ich hätte es merken müssen, aber ich war zu sehr anderweitig beschäftigt. Trotzdem ist das keine Entschuldigung. Jemand anderes, der unheimliche Mörder, hat es sofort erkannt. Stimmt das nicht, Tyler? Ein Mann, der einen Regenmantel trug, kam zu dir. Er war groß, hatte weißblondes Haar und blaue Augen. Er hat dir einen Handel vorgeschlagen. Im Austausch gegen... gegen etwas wollte er dir zeigen, wie du dein Erbe zurückfordern kannst. Wie du zu einem richtigen Werwolf wirst. Denn, wie Gervase von Tilburg schreibt...“ Stefan klopfte leicht auf das Buch auf seinem Knie, - „..muß ein Werwolf, der nicht selbst gebissen worden ist, sozusagen eingeweiht werden. Das bedeutet, du kannst die Veranlagung zum Werwolf dein ganzes Leben mit dir herumtragen, ohne davon zu wissen, weil sie niemals aktiviert worden ist. Generationen von Smallwoods haben so gelebt und sind gestorben, aber der Fluch hat sie nicht getroffen, weil sie das Geheimnis, ihn zu erwecken, nicht kannten. Aber der Mann in dem Regenmantel kannte es. Er wußte, daß du töten und frisches Blut schmecken mußtest. Danach konntest du dich beim ersten Vollmond verwandeln.“ Stefan sah noch, und Meredith folgte seinem Blick hin zu dem weißen Mond am Himmel. Er war jetzt weiß, rein und klar und nicht länger ein dumpfroter geschwollener Ball. Tyler dämmerte etwas. „Ihr habt mich reingelegt! Ihr habt das geplant!“ schrie er wütend. „Der Kandidat hat hundert Punkte“, sagte Meredith trocken, und Matt fügte hinzu: „Gratuliere.“ „Ich wußte, daß du nicht widerstehen konntest, einem der Mädchen zu folgen, wenn du dachtest, es wäre allein“, erklärte Stefan. „Der Friedhof war für dich der ideale Ort, einen Mord zu begehen. Niemand hätte dich gestört. Und ich wußte auch, daß du vorher mit deinen Taten angeben würdest. Ich hatte gehofft, du hättest Meredith mehr über den anderen Killer erzählt über den Mann, der Sue tatsächlich vom Balkon geworfen hat, der sie geschnitten hat, damit du frisches Blut trinken konntest. Über den Vampir, Tyler. Wer ist er? Wo versteckt er sich?“ Tyler verzog haßerfüllt das Gesicht. „Du glaubst im Ernst, ich verrate dir das? Er ist mein Freund.“ „Das ist er nicht, Tyler. Er benutzt dich nur. Und er ist ein Mörder.“ „Verstrick dich nicht noch tiefer in die Sache, Tyler“, fügte Matt hinzu. „Du bist bereits ein Mittäter. Heute hast du versucht, Meredith zu töten. Sehr bald wirst du nicht mehr zurückkönnen, selbst, wenn du es willst. Sei klug und höre jetzt auf. Sag uns, was wir wissen wollen.“ Tyler entblößte seine Zähne. „Nie! Wie wollt ihr mich dazu zwingen?“ Die anderen tauschten Blicke. Die Atmosphäre hatte sich geändert und war spannungsgeladen, als sie sich wieder Tyler zuwandten. „Du verstehst noch immer nichts, stimmt's?“ sagte Meredith leise. „Tyler, du hast mitgeholfen, Sue zu ermorden. Sie mußte sterben für ein abscheuliches Ritual, damit du dich in das Monster verwandeln konntest, das ich gesehen habe. Du wolltest mich töten und Vickie und Bonnie ebenfalls, da bin ich sicher. Glaubst du, wir haben auch nur einen Funken Mitleid mit dir? Meinst du im Ernst, wir haben dich zu einem netten Plauderstündchen hergebracht?“ Stille entstand. Der verächtliche Ausdruck wich langsam aus Tylers Gesicht. Er sah von einem zu anderen. „Gervase von Tilbury erwähnt hier noch etwas Interessantes“, fuhr Stefan fast vergnügt fort. „Es gibt außer den bereits erwähnten, traditionellen Silberkugeln noch eine andere Heilung für Werwölfe. Hör gut zu.“ Beim Mondschein las er aus dem Buch vor. „,Es wird berichtet und von guten und anerkannten Ärzten bestätigt, daß ein Werwolf, wenn ihm ein Glied abgetrennt wird, seinen ursprünglichen Körper zurückbekommt'. Gervase erzählt weiter die Geschichte von Raimbaud aus der Auvergne, einem Werwolf, der von seinem Fluch geheilt wurde, nachdem ein Schreiner
ihm einen seiner Hinterläufe abgehauen hatte. Natürlich war das bestimmt entsetzlich schmerzhaft, aber
Raimbaud hat dem Schreiner herzlich gedankt, daß dieser ihn für immer von dieser abscheulichen und
verfluchten Gestalt befreit hat. Da Tyler uns nicht mit Informationen helfen will, sollten wir zumindest
sichergehen, daß er nicht weiter herumläuft und mordet. Was meint ihr?“
„Es ist unsere Pflicht, ihn zu heilen“, meldete sich Matt zu Wort.
„Alles, was wir dazu tun müssen, ist, ihn von einem seiner Glieder zu befreien“, stimmte Bonnie zu.
„Da fällt mir auf Anhieb das richtige Teil ein“, stieß Meredith zwischen den Zähnen hervor.
Tyler quollen fast die Augen aus dem Kopf. Unter dem Schmutz und dem verkrustetem Blut war sein
Gesicht ganz weiß geworden. „Ihr blufft! Das nehme ich euch nicht ab!“
„Hol die Axt, Matt“, befahl Stefan. „Meredith, zieh ihm einen Schuh aus.“
Tyler trat um sich, als sie herankam, und zielte auf ihr Gesicht. Matt kam hinzu und nahm seinen Kopf in
den Schwitzkasten. „Mach's dir nicht schwerer, als es ohnehin schon ist, Tyler.“
Der nackte Fuß war groß, seine Sohle so verschwitzt wie Tylers Handflächen. Grobe Haare sprossen auf den
Zehen. Meredith bekam vor Abscheu eine Gänsehaut.
„Okay, bringen wir's hinter uns“, sagte sie.
„Ihr macht doch nur Spaß!“ schrie Tyler und schlug so wild um sich, daß Bonnie kommen und sich auf sein
zweites Bein knien mußte. „Das könnt ihr doch nicht tun! Nein!“
„Haltet ihn still“, fuhr Stefan dazwischen. Zusammen streckten sie Tyler auf dem Boden aus, seinen Kopf
hatte Matt gepackt, die Mädchen hielten die Beine fest. Stefan achtete darauf, daß Tyler alles sehen konnte,
was er tat. Er legte einen dicken Ast auf den Rand des offenen Grabes und hieb ihn mit der Axt mit einem
Schlag durch.
„Scharf genug“, erklärte er kurz. „Meredith, roll sein Hosenbein hoch. Dann schnüre etwas Kordel als
Aderpresse, so fest du kannst, um seinen Knöchel. Sonst verblutet er uns nachher noch.“
„Das könnt ihr nicht tun!“ heulte Tyler. „Neeiinn!“
„Schrei, soviel du willst, Tyler. Hier oben hört dich niemand, stimmt's?“ sagte Stefan.
„Du bist kein bißchen besser als ich! Du bist auch ein Killer!“ schrie Tyler.
„Ich weiß genau, was ich bin“, erklärte Stefan kalt. „Glaub mir, Tyler, ich weiß es. Ist alles bereit? Gut.
Haltet ihn ganz fest. Er wird sich aufbäumen, wenn ich es mache.“
Tylers Schreie näherten sich ihrem Höhepunkt. Matt hielt seinen Kopf so, daß er sehen konnte, wie Stefan
sich hinkniete und die Axt über seinen Knöchel hielt, um die Distanz und die Kraft, die der Schlag brauchen
würde, abzuschätzen.
„Jetzt.“ Stefan hob die Axt hoch über den Kopf.
„Nein! Nein! Ich werde reden. Ich sage euch alles“, kreischte Tyler.
Stefan warf ihm einen Blick zu. „Zu spät.“ Die Axt fiel.
Sie prallte funkenschlagend mit einem lauten Klingen vom Steinboden ab, aber das Geräusch wurde von
Tylers Schreien übertönt. Es dauerte ein paar Minuten, bis Tyler merkte, daß die Schneide seinen Fuß gar
nicht berührt hatte. Erst kurz vor dem Ersticken hielt er inne, um Luft zu holen, und blickte Stefan mit
hervorquellenden Augen an.
„Rede.“ Stefans Stimme war eiskalt und duldete keinen Widerspruch.
Leises Wimmern kam aus Tylers Kehle. „Ich kenne seinen Namen nicht“, keuchte er. „Aber er sieht so aus,
wie du ihn geschildert hast. Und du hast recht; er ist ein Vampir. Und was für einer, Mann! Ich hab gesehen,
wie er einen tonnenschweren Stier bei lebendigem Leib ausgesaugt hat. Er hat mich angelogen“, fügte Tyler
hinzu, und das Winseln kehrte in seine Stimme zurück. „Er hat mir weisgemacht, ich würde stärker als alle
werden. So stark wie er. Er hat behauptet, ich könnte jedes Mädchen haben, das ich wollte. Und auf jede
Art, wie ich es wollte. Der Mistkerl hat gelogen.“
„Er hat also behauptet, du könntest morden und ungestraft davonkommen“, stellte Stefan nüchtern fest.
„Er wollte mir in jener Nacht Caroline verschaffen. Sie schuldete mir noch was, so wie sie mich
sitzengelassen hat. Ich wollte sie auf den Knien betteln sehen, doch irgendwie ist sie aus dem Haus
gekommen. Er hat mir versprochen, ich könnte Caroline und Vickie haben. Er wollte nur Bonnie und Mere
dith.“
„Aber du hast eben versucht, Meredith zu töten.“
„Die Dinge liegen inzwischen anders, du Dummkopf. Er sagte, es wäre in Ordnung.“
„Warum?“ fragte Meredith Stefan leise.
„Vielleicht, weil du deine Schuldigkeit getan hast. Du hast mich hergebracht“, antwortete er. Zu Tyler
gewandt, fuhr er fort: „Okay, Tyler. Beweis uns, daß du mit uns zusammenarbeitest. Verrate uns, wie wir
den Killer schnappen können.“
„Seid ihr verrückt?“ Tyler brach in ein häßliches Gelächter aus. Matt drückte seinen Arm fester auf seine
Kehle. „He, du kannst mich würgen, soviel du willst. Es bleibt dennoch die Wahrheit. Er hat mir gesagt, daß
er einer von den Alten ist, von den Ursprünglichen, was immer das auch bedeutet. Er hat behauptet, schon
seit der Zeit der alten Pharaonen Vampire geschaffen zu haben. Und daß er einen Pakt mit dem Teufel
geschlossen hat. Du kannst ihm einen Stock ins Herz rammen, und es würde nichts bewirken. Man kann ihn
nicht töten.“ Sein Lachen wurde immer unkontrollierter.
„Wo versteckt er sich, Tyler?“ Stefan stieß die Frage aus, wie eine Maschinengewehrsalve. „Jeder Vampir
braucht einen Platz, an dem er schlafen kann. Wo?“
„Er würde mich töten, wenn ich es euch sage. Er würde mich bei lebendigem Leib auffressen. Wenn ich
euch erzählen würde, was er dem armen Stier angetan hat, bevor er ihn getötet hat...“ Tylers Lachen
verwandelte sich in ein Schluchzen.
„Dann hilfst du uns besser, ihn zu zerstören, bevor er dich finden kann, stimmt's? Wo liegt sein, schwacher
Punkt? Wo ist er verwundbar?“
„Mein Gott, der arme Stier...“ Tyler weinte.
„Und was ist mit Sue? Hast du ihretwegen auch nur eine Träne vergossen?“ Stefan hob die Axt wieder auf.
„Ich glaube, du verschwendest bloß unsere Zeit.“
Die Axt wurde gehoben.
„Nein, nein. Ich rede schon. Ich werde euch etwas verraten. Hört zu, es gibt eine Holzart, die kann ihn
verletzen. Nicht töten, aber verletzen. Das hat er zugegeben, aber nicht gesagt, welches Holz es ist! Ich
schwöre euch, es ist die Wahrheit!“
„Das reicht nicht, Tyler“, erklärte Stefan knapp.
„Um Himmels willen... Okay, ich kann euch sagen, wo er heute Nacht hin will. Wenn ihr schnell genug
seid, könnt ihr ihn vielleicht noch aufhalten.“
„Was soll das heißen, Tyler? Los, raus mit der Sprache.“
„Er will zu Vickie, okay? Er sagte, heute nacht würden wir beide eine bekommen. Das hilft euch doch, nicht
wahr? Wenn ihr euch jetzt beeilt, schafft ihr es vielleicht noch.“
Stefan war erstarrt. Meredith fühlte, wie ihr Herz raste. Vickie! Sie hatten gar nicht mehr an einen
möglichen Angriff auf Vickie gedacht.
„Damon bewacht sie. Das stimmt doch. Stefan? Es stimmt doch, oder?“ drängte Matt voller Angst.
„Er sollte es tun“, sagte Stefan langsam. „Ich habe ihn bei der Abenddämmerung dort zurückgelassen. Wenn
etwas passiert wäre, hätte er mich gerufen...“
„Ihr zwei...“, flüsterte Bonnie. Ihr Mund zitterte. Sie hatte die Augen weit aufgerissen. „Wir machen uns am
besten sofort auf den Weg.“
Die anderen starrten sie einen Moment an, dann bewegten sich alle. Die Axt fiel klirrend zu Boden, wo
Stefan sie fallengelassen hatte.
„He, ihr könnt mich doch hier nicht so zurücklassen! Er wird kommen und sich an mir rächen! Kommt
zurück und bindet meine Hände los!“ kreischte Tyler hinter ihnen her. Niemand schenkte ihm auch nur die
geringste Beachtung.
Sie rannten den Pfad hinunter und quetschten sich in Meredith' Auto. Meredith raste los, sie nahm die
Kurven gefährlich knapp und überfuhr Stoppschilder wie nichts. Trotzdem wollte ein Teil von ihr nicht zu
Vickies Haus zurück. Dieser Teil wollte umdrehen und einen anderen Weg nehmen.
Ich bin ganz ruhig. Ich bin schließlich die, die immer ruhig ist, sagte sie sich. Aber das war bloß Fassade.
Meredith wußte nur zu gut, wie gefaßt man aussehen konnte, auch wenn innerlich alles zusammenbrach.
Sie bogen in die Dirch Street ein, und Meredith trat hart auf die Bremse.
„Oh, Gott!“ schrie Bonnie vom Rücksitz her. „Nein, nein!“
„Schnell“, sagte Stefan. „Vielleicht haben wir noch eine Chance.“ Er machte die Tür auf und war draußen,
bevor das Auto richtig angehalten hatte. Aber Bonnie auf dem Rücksitz schluchzte nur.
11 . KAPITEL
Das Auto kam schlingernd hinter einem Polizeiwagen zum Stehen, der quer auf der Straße geparkt war.
Überall gab es Lichter. Lichter, die blau, rot und gelb blinkten. Das Haus der Bennetts war hell erleuchtet.
„Bleib hier“, befahl Matt Bonnie knapp, stieg aus und rannte hinter Stefan her.
„Nein!“ Bonnie wollte ihn packen und zurückziehen. Der übelkeitserregende Schwindel, der sie befallen
hatte, seit Tyler Vickie erwähnt hatte, drohte sie zu überwältigen. Es war zu spät. Sie hatte vom ersten
Moment an gewußt, daß es zu spät war. Matt würde auch ermordet werden.
„Du bleibst im Auto, Bonnie. Verriegle die Türen. Ich gehe zu den Jungs.“ Das war Meredith.
„Nein! Ich hab's satt, mir von jedem erzählen zu lassen, daß ich im Auto bleiben soll!“ protestierte Bonnie
und kämpfte mit dem Sicherheitsgurt. Endlich sprang er auf. Bonnie weinte immer noch. Vor Tränen fast
blind, stolperte sie aus dem Auto und auf Vickies Haus zu. Sie hörte Meredith dicht hinter sich.
Alle Aktivität schien sich auf die Vorderseite zu konzentrieren. Menschen schrien durcheinander, eine Frau
schluchzte herzzerreißend, und aus dem Polizeifunk drangen knisternd Stimmen.
Bonnie und Meredith liefen sofort nach hinten zu Vickies Zimmer. Was war falsch an dieser Szene?
Bonnies Gedanken überschlugen sich. Es war unübersehbar, Vickies Fenster war total offen... aber das war
unmöglich. Der Mittelflügel eines Erkerfensters ließ sich niemals öffnen. Wieso flatterten dann die
Vorhänge heraus wie weiße Hemdzipfel?
Nicht offen, zerschmettert. Glas lag überall auf dem Kiesweg und knirschte unter den Füßen. Einige
Scherben steckten noch wie grinsende Zähne in dein nackten Holzrahmen. In Vickies Haus war
eingebrochen worden.
„Sie hat ihn hereingebeten!“ schrie Bonnie in ohnmächtigem Zorn. „Warum hat sie das getan? Warum?“
„Bleib hier.“ Nervös fuhr sich Meredith mit der Zunge über die trockenen Lippen.
„Hör auf, mir das andauernd zu sagen. Ich kann das ertragen, Meredith. Ich bin total wütend, das ist alles.
Ich hasse ihn!“ Sie griff Meredith' Arm und zog sie nach vorn.
Die gähnende Öffnung kam näher und näher. Die Vorhänge kräuselten sich im Wind. Zwischen ihnen war
genug Platz, um in das Zimmer zu sehen.
Im letzten Moment stieß Meredith Bonnie zur Seite und spähte als erste hinein. Es war zwecklos. Bonnies
telepathische Sinne waren hellwach und erzählten ihr bereits alles über diesen Ort. Er glich einem Krater,
den ein explodierender Meteor im Boden hinterlassen hat, oder dem verbrannten Skelett eines Waldes nach
einem schrecklichen Brand. Die Luft summte noch vom Nachhall übermenschlicher Kraft und entsetzlicher
Gewalt. Dieser Ort war geschändet worden.
Meredith wandte sich blitzschnell vom Fenster ab, krümmte sich zusammen und würgte. Die Fäuste so fest
geballt, daß die Nägel sich tief in die Handflächen preßten, lehnte Bonnie sich nach vorn und schaute hinein.
Als erstes überfiel sie der Gestank. Ein nasser Geruch nach Fleisch und Kupfer. Sie konnte ihn fast
schmecken, und der Geschmack war so, als hätte sie sich irrtümlich auf die Zunge gebissen. Die
Stereoanlage spielte etwas, was sie wegen des Lärms vor dem Haus und dem Rauschen ihres eigenen Blutes
in den Ohren nicht erkennen konnte. Ihre Augen, die sich gerade von der Dunkelheit draußen anzupassen
begannen, sahen rot. Nur rot.
Denn das war die neue Farbe in Vickies Zimmer. Das Hellblau war verschwunden. Rote Tapete, rote
Bettdecken. Rot in großen, makaber fröhlichen Spritzern auf dem Boden. Es war, als ob ein Kind einen
Eimer roter Farbe bekommen und sich damit so richtig ausgetobt hätte.
Der Plattenspieler klickte, und die Nadel schwang zum Anfang der Platte zurück. Mit einem Schock
erkannte Bonnie den Song, als er erneut begann.
„Gute Nacht, mein Schatz.“
„Du Monster“, keuchte Bonnie. Schmerz durchzuckte ihren Magen. Ihre Hand packte das Holz des
Rahmens fester und fester. „Du Monster! Ich hasse dich! Hasse dich!“
Meredith hörte es, richtete sich auf und drehte sich um. Sie strich sich zitternd das Haar zurück, schaffte es,
ein paar Mal tief einzuatmen und so auszusehen, als hätte sie die Situation im Griff. „Du schneidest dir in
die Hand“, sagte sie. „Komm, laß mich mal sehen.“
Bonnie war gar nicht aufgefallen, daß sie sich an zerbrochenem Glas festklammerte. Sie gestattete Meredith,
ihre Hand zu nehmen, doch statt sich untersuchen zu lassen, packte sie Meredith' eigene kalte Hand und
drückte sie fest. Meredith sah schrecklich aus. Ihre dunklen Augen waren trübe, die Lippen blauweiß. Sie
zitterte. Doch sie schaffte es trotzdem, sich um Bonnie zu kümmern.
„Mach schon.“ Bonnie blickte die Freundin eindringlich an. „Weine, Meredith. Schrei, wenn du willst. Aber
laß es irgendwie raus.“
Einen Moment stand Meredith bloß zitternd da, dann schüttelte sie mit dem geisterhaften Versuch eines
Lächelns den Kopf. „Ich kann nicht. Das ist nicht meine Art. Komm, laß mich deine Hand anschauen.“
Bonnie wollte ihr widersprechen, doch da kam Matt um die Ecke. Er fuhr heftig zusammen, als er die beiden
Mädchen dort stehen sah.
„Was macht ihr...?“ begann er. Dann entdeckte er das Fenster.
„Sie ist tot“, erklärte Meredith kurz.
„Ich weiß.“ Matt sah ebenfalls völlig fertig aus. „Sie haben es mir vorne gesagt. Man bringt gerade ihre
Leiche...“ Er hielt inne.
„Wir haben es versaut. Obwohl wir ihr versprochen hatten...“ Auch Meredith konnte den Satz nicht zu Ende
bringen. Es gab nichts mehr zu sagen.
„Aber die Polizei wird uns jetzt glauben müssen.“ Bonnie sah zu Matt, dann zu Meredith, dankbar, daß sie
etwas Gutes an der Sache gefunden hatte. „Sie muß es einfach.“
„Nein“, erwiderte Matt leise. „Das wird sie nicht, Bonnie. Weil die Todesursache Selbstmord lautet.“
„Selbstmord? Haben die das Massaker in dem Zimmer denn nicht gesehen? Das nennen die Selbstmord?“
Bonnie wurde immer lauter.
„Man behauptet, Vickie sei geistig verwirrt gewesen. Und daß sie... daß sie sich eine Schere verschafft hat
und...“
„Oh, mein Gott.“ Meredith wandte sich ab.
„Man hält es für möglich, daß sie sich schuldig fühlte, weil sie Sue getötet hat.“
„Jemand ist in das Haus eingebrochen!“ erklärte Bonnie heftig. „Wenigstens das müssen sie doch zugeben.“
„Nein.“ Meredith' Stimme war erschöpft, als sei sie sehr müde. „Schau dir das Fenster an. Die ganzen
Scherben liegen draußen. Jemand hat es von innen eingeschlagen.“ Und das ist der Rest von dem, was an
diesem Bild nicht stimmt, dachte Bonnie.
„Das hat er vermutlich gemacht, als er raus wollte“, sagte Matt. Die anderen sahen sich schweigend und
niedergeschlagen an.
„Wo ist Stefan?“ fragte Meredith Matt leise. „Ist er vor dem Haus, wo jeder ihn sehen kann?“
„Nein, als wir hörten, daß sie tot ist, rannte er direkt hierher. Ich wollte nach ihm suchen. Er muß hier
irgendwo sein.“
„Psst“, warnte Bonnie. Der Lärm vorne war verstummt, auch das Schluchzen der Frau. In der Stille konnten
sie schwach eine Stimme hinter den schwarzen Walnußbäumen im hinteren Garten hören.
„...während du auf sie aufpassen solltest!“
Bei diesem Tonfall überlief Bonnie eine Gänsehaut. „Das ist er“, sagte Matt. „Und er ist bei Damon.
Kommt!“
Als sie die Bäume erreicht hatten, war Stefans Stimme klarer zu verstehen. Die beiden Brüder standen sich
im Mondlicht kampfeslustig gegenüber.
„Ich habe dir vertraut, Damon. Ich habe dir vertraut!“ sagte Stefan gerade. Bonnie hatte ihn noch nie so
wütend erlebt. Nicht einmal mit Tyler auf dem Friedhof. Aber es war mehr als bloßer Ärger.
„Und du hast es geschehen lassen“, fuhr Stefan fort, ohne einen Blick darauf zu verschwenden, daß Bonnie
und die anderen sich näherten, und ohne Damon eine Chance zur Antwort zu geben. „Warum hast du nichts
getan? Wenn du zu feige warst, ihn zu bekämpfen, hättest du mich zumindest rufen können. Aber du hast
nichts getan!“
Damons Miene war hart und verschlossen. Seine schwarzen Augen glitzerten, und jetzt war seine Haltung
weder lässig noch träge. Er schien so unnachgiebig und starr wie eine Marmorstatue. Er öffnete den Mund,
doch Stefan unterbrach ihn schon wieder.
„Es ist meine eigene Schuld. Ich hätte es besser wissen müssen. Ja, ich wußte es besser. Alle haben es
gewußt, alle haben mich gewarnt, aber ich habe nicht hören wollen.“
„Stefan, warte“, warf Matt ein. „Ich glaube...“
„Ich hätte auf sie hören sollen.“ Stefan war außer sich. Er schien Matt nicht einmal zu bemerken. „Ich hätte
selbst hierbleiben sollen. Ich habe ihr versprochen, daß sie in Sicherheit sein würde... und habe gelogen! Sie
ist diesen entsetzlichen Tod in dem Glauben gestorben, daß ich sie verraten habe!“ Bonnie konnte jetzt an
seinem Gesicht sehen, daß die Schuld wie Säure an ihm fraß. „Wenn ich hiergeblieben wäre...“
„Wärst du jetzt auch tot!“ zischte Damon. „Das ist kein normaler Vampir, mit dem du es hier zu tun hast. Er hätte dich in zwei Stück gebrochen wie einen trockenen Zweig...“ „Und das wäre besser gewesen!“ schrie Stefan. Seine Brust hob und senkte sich heftig. „Ich wäre lieber mit ihr gestorben, statt dabeizustehen und zuzusehen, wie er sie zu Tode quält. Was ist eigentlich passiert, Damon?“ Er hatte sich jetzt wieder im Griff und war ruhig, zu ruhig; die grünen Augen glühten in seinem bleichen Gesicht, und seine Stimme war bösartig und triefte vor Gift, als er weitersprach: „Warst du zu sehr damit beschäftigt, ein anderes Mädchen durch die Büsche zu jagen? Oder hat es einfach dich zu wenig interessiert, um einzugreifen?“ Damon schwieg. Er war genauso bleich wie sein Bruder. Jeder seiner Muskeln war starr und angespannt. Wellen von schwarzer Wut gingen von ihm aus, während er Stefan beobachtete. „Oder vielleicht hat es dir sogar Spaß gemacht.“ Stefan trat einen Schritt vor, so daß er Damon direkt ins Gesicht sehen konnte. „Ja, das wird's wohl gewesen sein. Es hat dir gefallen, mit einem anderen Killer zusammenzusein. War es gut, Damon? Hat er dich zusehen lassen?“ Damons Faust schoß hoch und traf Stefan. Es geschah viel zu schnell für Bonnies Augen. Stefan fiel rücklings mit ausgestreckten Beinen auf den weichen Boden. Meredith schrie etwas, und Matt warf sich vor Damon. Tapfer, dachte Bonnie wie benommen, aber dumm. Die Luft knisterte wie elektrisch aufgeladen. Stefan hob die Hand zum Mund und fand Blut, das schwarz im Mondlicht glänzte. Bonnie eilte an seine Seite und packte seinen Arm. Damon ging wieder auf ihn los. Matt wich aus, ließ sich neben Stefan auf die Knie nieder und setzte sich auf die Fersen zurück. Er hob eine Hand. „Genug! Es reicht!“ rief er. Stefan versuchte, aufzustehen. Bonnie verstärkte ihren Griff. „Nein, Stefan. Nicht!“ bettelte sie. Meredith packte seinen anderen Arm. „Damon, laß ihn in Ruhe! Damon!“ sagte Matt scharf. Wir sind alle total verrückt, uns hier einzumischen, schoß es Bonnie durch den Kopf. Den Kampf zwischen zwei wutentbrannten Vampiren schlichten zu wollen. Sie werden uns eher töten, als aufzuhören. Damon wird Matt wie eine Fliege zerquetschen. Aber Damon hielt inne, als Matt ihm den Weg versperrte. Einen langen Moment schien die Szene wie eingefroren. Niemand rührte sich, alle waren wie erstarrt vor Anspannung. Dann lockerte sich Damons Haltung langsam. Er ließ die Hände sinken und öffnete die Fäuste. Er holte tief Luft. Bonnie merkte, daß sie den Atem angehalten hatte, und atmete erleichtert aus. Damons Gesichtszüge waren kalt. „Gut, du bekommst deinen Willen, Matt“, sagte er eiskalt. „Aber ich bin hier fertig. Ich gehe. Und diesmal, Bruder, werde ich dich töten, wenn du mir folgst. Egal, welches Versprechen dich bindet.“ „Ich werde dir nicht folgen“, erwiderte Stefan. Er saß immer noch auf dem Boden, und seine Stimme klang, als habe er gemahlenes Glas verschluckt. Damon zog seine Lederjacke hoch und glättete sie. Mit einem flüchtigen Blick auf Bonnie wandte er sich zum Gehen. Dann drehte er sich noch einmal um und sprach klar und deutlich, jedes Wort ein Pfeil, der auf Stefan gerichtet war. „Ich habe dich gewarnt“, sagte er. „Vor dem, was ich bin, und davor, welche Seite gewinnen wird. Du hättest auf mich hören sollen, kleiner Bruder. Vielleicht lernst du etwas aus den Ereignissen dieser Nacht.“ „Ich habe bereits gelernt, was mein Vertrauen in dich wert war“, sagte Stefan leise. „Hau ab, Damon. Ich will dich nie wiedersehen. Ohne ein weiteres Wort verschwand Damon in der Dunkelheit. Bonnie ließ Stefans Arm los und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Stefan stand auf und schüttelte sich wie eine Katze, die gegen ihren Willen festgehalten wurde. Er ging mit abgewandtem Gesicht ein wenig von den anderen weg. Dann blieb er reglos stehen. Die Wut schien ihn so schnell verlassen zu haben, wie sie gekommen war. Was sollen wir jetzt sagen? fragte sich Bonnie und sah auf. Was können wir überhaupt sagen? Stefan hatte mit einer Sache recht gehabt. Sie hatten ihn vor Damon gewarnt, aber er hatte nicht auf sie gehört. Er hatte ehrlich geglaubt, seinem Bruder vertrauen zu können. Und dann waren sie alle unvorsichtig geworden und
hatten sich auf Damon verlassen, weil es so bequem war und weil sie seine Hilfe wirklich brauchten. Niemand hatte etwas dagegen gehabt, Damon heute nacht Vickies Wache zu überlassen. Sie waren alle dafür verantwortlich. Doch es war Stefan, der sich wegen dieser Schuld zerreißen würde. Sie wußte, was hinter seinem unbändigen Zorn auf Damon steckte: seine eigene Scham und seine Selbstvorwürfe. Bonnie fragte sich, ob Damon das wußte und ob es ihn überhaupt interessierte. Und sie fragte sich, was wirklich heute nacht passiert war. Jetzt, wo Damon fort war, würden sie es vermutlich nie erfahren. Ist auch egal, dachte sie. Es ist besser, daß er weg ist. Draußen fingen die Geräusche erneut an. Autos wurden auf der Straße gestartet, Sirenen heulten und Türen wurden zugeknallt. In dem kleinen Walnußhain waren sie im Moment sicher, doch sie konnten hier nicht bleiben. Meredith hatte eine Hand gegen die Stirn gepreßt und die Augen geschlossen. Bonnie schaute von ihr zu Stefan und zu den Lichtern von Vickies Haus hinter den Bäumen. Eine Welle totaler Erschöpfung durchlief ihren Körper. All das Adrenalin, das sie den ganzen Abend auf den Beinen gehalten hatte, schien ausgeschöpft. Sie fühlte nicht einmal mehr Wut über Vickies sinnlosen, grausamen Tod. Sie war nur noch niedergeschlagen, krank und sehr, sehr müde. Alles, was sie sich wünschte war, zu Hause ins Bett zu kriechen und die Decken über den Kopf zu ziehen. „Tyler“, sagte sie laut. Als alle anderen sie ansahen, fuhr sie fort: „Wir haben ihn in der Kirchenruine zurückgelassen. Er ist jetzt unsere letzte Hoffnung. Wir müssen ihn dazu bringen, uns zu helfen.“ Das weckte alle auf. Stefan drehte sich schweigend um. Ohne die Blicke der anderen zu erwidern, folgte er ihnen auf die Straße. Die Polizeiautos und der Krankenwagen waren fort. Auf der Fahrt zum Friedhof gab es keinen Zwischenfall. Doch als sie die Kirchenruine erreichten, war Tyler fort. „Wir hatten seine Füße nicht festgebunden“, sagte Matt dumpf und verzog das Gesicht voller Selbstverachtung. „Er muß zu Fuß gegangen sein, denn sein Auto ist immer noch da.“ Oder jemand hat ihn mitgenommen, dachte Bonnie. Meredith setzte sich auf einen Stein der früheren Mauer. Mit einer Hand kniff sie sich in den Nasenrücken. Bonnie sank gegen den zerstörten Glockenturm in sich zusammen. Sie hatten auf der ganzen Linie versagt. Das war kurz und knapp das Resultat dieser Nacht. Sie hatten verloren, und er hatte gewonnen. Alles, was sie heute unternommen hatten, hatte in einer Niederlage geendet. Und Stefan, das konnte Bonnie erkennen, übernahm dafür die volle Verantwortung. Auf der Fahrt zurück zur Pension schaute sie auf Stefans dunklen, gebeugten Kopf. Ein weiterer Gedanke kam ihr. Einer, der in ihr sämtliche Alarmsirenen auslöste. Nachdem Damon fort war, war Stefan jetzt der einzige Schutz, den sie hatten. Und Stefan schien so schwach und erschöpft... Bonnie biß sich auf die Lippen, während Meredith vor der Scheune parkte. Eine Idee begann sich in ihrem Kopf zu formen. Ein Gedanke, der in ihr Unbehagen, ja Furcht auslöste. Der Ferrari stand hinter der Scheune. Anscheinend hatte Damon ihn zurückgelassen. Bonnie fragte sich, wie er aus dieser verlassenen Gegend wegkommen wollte. Dann fielen ihr Flügel ein. Samtweich, doch stark. Schwarze Krähenflügel, die die Farben des Regenbogens in ihren Federn reflektierten. Damon brauchte kein Auto. Sie gingen kurz mit in die Pension, damit Bonnie ihre Eltern anrufen und ihnen sagen konnte, daß sie bei Meredith übernachten würde. Doch nachdem Stefan die Stufen zu seinem Dachgeschoßzimmer hochgeklettert war, hielt Bonnie Matt auf dem Hof fest. „Matt? Kann ich dich um einen Gefallen bitten?“ Er drehte sich um, die blauen Augen erstaunt weit aufgerissen. „Das ist ein Satz, der's in sich hat. Jedesmal, wenn Elena damit kam...“ „Nichts Schlimmes. Ich wollte dich nur bitten, auf Meredith aufzupassen. Damit sie gut nach Hause kommt und so.“ „Aber du fährst doch mit uns?“ Bonnie blickte durch die offene Tür auf die Stufen. „Nein. Ich bleibe noch ein paar Minuten. Stefan kann mich nach Hause bringen. Ich muß mit ihm etwas bereden.“ Matt wurde mißtrauisch. „Und was?“ „Das kann ich dir jetzt nicht sagen. Wirst du mir den Gefallen tun, Matt?“
„Aber... na, gut. Tu, was du willst. Dann bis morgen.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und schien verwirrt und zugleich ziemlich sauer zu sein. Bonnie war ebenfalls verblüfft. Wieso sollte es ihm etwas ausmachen, ob sie mit Stefan sprach? Doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie betrachtete die Stufen, holte tief Luft und stieg hinauf. Die Birne in der Deckenlampe des Dachgeschosses fehlte. Stefan hatte eine Kerze angezündet. Er hatte sich quer über das Bett geworfen, ein Bein lag drauf, das andere baumelte herunter. Seine Augen waren geschlossen. Vielleicht schlief er. Bonnie schlich auf Zehenspitzen zu ihm heran und wappnete sich innerlich. „Stefan?“ Er öffnete die Augen. „Ich dachte, du wärst weg.“ „Die anderen sind fort. Ich bin geblieben.“ Mein Gott, ist er weiß im Gesicht. Impulsiv kam sie gleich zur Sache. „Stefan, ich habe nachgedacht. Jetzt, wo Damon weg ist, stehst du als einziger zwischen uns und dem Killer. Das heißt, du mußt stark sein. So stark es nur möglich ist. Und da ist mir eingefallen, daß du vielleicht... weißt du... vielleicht brauchst du...“ Ihre Stimme versagte. Unbewußt spielte sie mit den Papiertaschentüchern, die als notdürftiger Verband um ihre Handfläche gebunden waren. Ein wenig Blut drang immer noch aus dem Schnitt, den sie sich an den Glassplittern von Vickies Fensterrahmen geholt hatte. Sein Blick folgte ihrem. Dann sah er schnell auf ihr Gesicht. Einen langen Moment herrschte Schweigen. Er schüttelte den Kopf. „Warum? Stefan, ich möchte keinesfalls zu persönlich werden, aber du siehst nicht sehr gut aus. Du wirst niemandem helfen können, wenn du zusammenbrichst. Und... mir macht's nichts aus, wenn du nur ein bißchen trinkst. Ich meine, ich werd's nicht vermissen, stimmt's? Und allzusehr wehtun kann's auch nicht. Und...“ Wieder brach Bonnie ab. Er schaute sie die ganze Zeit an, was sie total ablenkte. „Also, warum, nicht?“ fragte sie schließlich und fühlte sich ein wenig enttäuscht. „Weil“, antwortete er leise, „ich ein Versprechen gegeben habe. Vielleicht nicht mit vielen Worten, aber trotzdem ein Versprechen. Ich werde kein menschliches Blut als Nahrung zu mir nehmen, denn das würde bedeuten, einen Menschen zu benutzen wie Schlachtvieh. Und ich werde auch mit niemandem Blut austauschen, denn das ist Liebe und...“ Diesmal konnte er den Satz nicht beenden. Aber Bonnie verstand. „Es wird niemals jemand anderes für dich geben, oder?“ sagte sie. „Nein. Für mich nicht.“ Stefan war so müde, daß er die Kontrolle verlor und Bonnie hinter seine Maske sehen konnte. Und wieder sah sie dort Schmerz und Verlangen, so groß, daß sie den Blick abwenden mußte. Ein kleiner Schauder von Vorahnung und Entsetzen durchfuhr sie. Früher hatte sie sich gefragt, ob Matt jemals über Elenas Tod hinwegkommen würde. Er hatte es anscheinend geschafft. Aber Stefan... Stefan war anders, erkannte sie, und der Schauder verstärkte sich. Egal, wieviel Zeit verging, egal, was er tat, sein Schmerz würde niemals heilen. Ohne Elena war er nur halb er selbst, nur halb am Leben. Ihr mußte etwas einfallen, sie mußte etwas tun, um dieses schreckliche Gefühl der Angst in ihrem Inneren zu vertreiben. Stefan brauchte Elena. Ohne sie konnte er nicht existieren. Heute abend hatte er bereits begonnen zusammenzubrechen, indem er zwischen gefährlich enggeschnürter Selbstkontrolle und mörderischem Zorn hin- und herschwankte. Wenn er Elena nur für eine Minute treffen und mit ihr reden könnte... Sie war gekommen, um Stefan ein Geschenk anzubieten, das er ablehnte. Aber es gab etwas, das er begehrte, und nur sie hatte die Macht, es ihm zu geben. Ohne ihn anzusehen, fragte Bonnie mit heiserer Stimme: „Möchtest du Elena sehen?“ Tiefes Schweigen kam von seinem Bett. Bonnie saß da und beobachtete, wie die Schatten im Raum an Wänden und Decke tanzten. Schließlich warf sie aus dem Augenwinkel einen Blick auf ihn. Stefan atmete heftig, seine Augen waren geschlossen, und sein Körper war angespannt wie die Sehne eines Bogens. Er versucht die Kraft aufzubringen, um der Versuchung zu widerstehen, dachte Bonnie. Und er verlor. Das konnte sie genau erkennen. Elena war immer eine zu große Versuchung für ihn gewesen. Als sein Blick Bonnie traf, waren seine Augen grimmig und sein Mund zu einer dünnen Linie zusammengepreßt. Seine Haut war nicht mehr weiß, sondern vor Aufregung gerötet. Sein Körper war immer noch zitternd angespannt und jetzt aufgeputscht vor Erwartung. „Du könntest verletzt werden, Bonnie.“ „Ich weiß.“
„Du würdest dich Kräften öffnen, die du nicht mehr unter Kontrolle hast. Ich weiß nicht, ob ich dich vor
ihnen beschützen kann.“
„Das ist mir egal.“
Er griff fest nach ihrer Hand. „Danke, Bonnie“, flüsterte er und sah sie durchdringend an.
Sie fühlte, wie sie rot wurde. „Ist schon gut.“ Mein Gott, war er toll. Diese Augen... noch eine Minute, und
sie würde entweder über ihn herfallen oder in einer Pfütze auf seinem Bett zusammenschmilzen.
Nimm dich zusammen, Bonnie McCullough, schalt sie sich. Stolz auf ihre Selbstaufopferung, löste sie
tugendhaft ihre Hand aus seinem Griff und blickte zur Kerze. „Ich könnte mich in Trance fallenlassen und
versuchen, Elena zu erreichen. Wenn ich Kontakt mit ihr bekommen habe, muß ich dich finden und zu ihr
bringen. Meinst du, das könnte klappen?“
„Könnte sein, wenn ich meinerseits nach dir suche.“ Er wandte seinen intensiven Blick von ihr ab und
konzentrierte sich ganz auf die Flamme der Kerze. „Ich kann deinen Verstand berühren... wenn du bereit
bist, werde ich es fühlen.“
„Gut.“ Die Kerze war weiß, ihre wächsernen Seiten glatt und schimmernd. Die Flamme flackerte auf und
zog sich wieder zurück. Bonnie starrte darauf, bis sie sich in ihr verlor und der Raum um sie herum versank.
Es gab nur noch die Flamme, sie selbst und die Flamme. Sie verschmolz mit ihr. Unerträgliche Helligkeit
umgab sie. Dann trat sie durch das Licht hindurch in die Dunkelheit.
Im Beerdigungsinstitut war es kalt. Bonnie sah sich unbehaglich um, fragte sich, wie sie ausgerechnet
hierhergekommen war, und versuchte, ihre Gedanken zu sammeln. Sie war ganz allein, und aus einem
unerklärlichen Grund störte sie das. Sollte nicht noch jemand hier bei ihr sein? Sie suchte nach jemandem.
Im nächsten Raum brannte ein Licht. Bonnie ging darauf zu, und ihr Herz begann wie wild zu klopfen. Der
Aufbahrungssaal... jetzt war er voller hoher Kerzenständer, in denen weiße Kerzen schimmerten. In ihrer
Mitte stand ein weißer Sarg mit offenem Deckel.
Schritt für Schritt, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, ging Bonnie darauf zu. Sie wollte nicht
hineinsehen, aber sie mußte es tun. Etwas in diesem Sarg wartete auf sie.
Der ganze Raum wirkte im weichen, warmen Licht der Kerzen wie verschwommen. Es war ein Gefühl, wie
auf einer Insel von Licht zu schweben. Aber sie wollte nicht hinsehen...
Wie in Zeitlupe erreichte sie den Sarg und starrte auf den weißen Satinbezug in seinem Inneren. Er war leer.
Dann bemerkte sie eine Bewegung am Rand ihres Sichtfelds und fuhr herum.
Elena.
„Mensch, hast du mich erschreckt“, keuchte Bonnie.
„Ich hatte dir gesagt, daß du nicht hierherkommen darfst“, antwortete Elena. Diesmal war ihr Haar offen.
Weißgolden im Schein der Flammen fiel es auf ihre Schultern und den Rücken hinunter. Sie trug ein dünnes,
weißes Kleid, das im Kerzenlicht sanft leuchtete. Elena sah selbst wie eine Kerze aus, durchsichtig und
strahlend. Ihre Füße waren nackt.
„Ich bin gekommen, um...“ Bonnie war verwirrt. Etwas drohte sie abzulenken. Doch dann nahm sie sich
zusammen. Das hier war ihr Traum, ihre Trance. „Ich bin gekommen, um dir Stefan zu bringen.“
Elena riß die Augen weit auf. Ihr Mund öffnete sich unwillkürlich. Bonnie erkannte den Ausdruck großer
Sehnsucht, fast unwiderstehlichen Verlangens. Kaum eine Viertelstunde zuvor hatte sie ihn auf Stefans
Gesicht gesehen.
„Oh“, flüsterte Elena. Sie schluckte, ihr Blick verschleierte sich. „Oh, Bonnie... aber, das geht nicht.“
„Warum nicht?“
Tränen traten jetzt in Elenas Augen, und ihre Lippen zitterten. „Was wäre, wenn sich die Dinge wieder
veränderten? Wenn er käme und...“ Sie hob die Hand zum Mund, und Bonnie erinnerte sich an den letzten
Traum, in dem Elenas Zähne auf die Eiscreme gefallen waren. Bonnie sah sie erschrocken an und verstand.
„Kannst du es nachfühlen? Ich könnte es nicht ertragen, wenn so etwas passieren würde“, flüsterte Elena.
„Wenn Stefan mich so sehen müßte... Und ich kann die Ereignisse hier nicht kontrollieren, mir fehlt die
Kraft dazu. Bonnie, bitte, laß ihn nicht herkommen. Sag ihm, daß es mir leid tut, sag ihm...“ Sie schloß die
Augen und weinte.
„Gut.“ Bonnie war ebenfalls zum Heulen zumute, doch Elena hatte recht. Sie suchte nach Stefans Verstand,
um es ihm zu erklären und ihm zu helfen, die Enttäuschung zu ertragen. Aber in dem Moment, in dem sie
ihn erreicht hatte, wurde ihr klar, daß sie einen Fehler gemacht hatte.
„Stefan! Nein! Elena sagt...“ Es war zwecklos. Sein Wille war viel stärker als ihrer, und kaum war sie mit ihm in Kontakt getreten, hatte er die Kontrolle übernommen. Stefan hatte den Inhalt von Bonnies Gespräch mit Elena zwar gespürt, aber er ließ ein „Nein“ als Antwort nicht gelten. Bonnie fühlte, wie er näher und näher kam, immer näher zu dem Lichtkreis, den die Kerzenleuchter formten. Sie spürte seine Gegenwart, spürte, wie er Gestalt annahm. Sie drehte sich um und sah ihn: sein dunkles Haar, das angespannte Gesicht und die grünen Augen, kühn wie die eines Falken. Und dann, als sie wußte, daß sie nichts mehr tun konnte, trat sie zurück und ließ die beiden allein. 12. KAPITEL Stefan hörte eine Stimme voller Schmerz flüstern: „Oh, nein.“
Eine Stimme, von der er gedacht hatte, daß er sie niemals wieder hören und doch niemals vergessen würde.
Eine Gänsehaut überlief ihn, und er begann, innerlich zu zittern. Er wandte sich zu der Stimme um. Jetzt gab
es nur noch sie. Sein Verstand war ausgeschaltet. Zu mächtig waren die Gefühle, die plötzlich auf ihn
einstürmten.
Sein Blick war verschwommen und erkannte nur eine flirrende Helligkeit wie von tausend Kerzen. Aber das
machte nichts. Er konnte sie dort fühlen. Dieselbe Gegenwart, die er schon gespürt hatte, als er zum ersten
Mal nach Fell's Church gekommen war. Ein goldenes Licht, voll kühler Schönheit, heißer Leidenschaft und
pulsierendem Leben. Es wollte, daß er zu ihm kam, wollte, daß er alles andere vergaß.
Elena, es war wirklich Elena.
Ihre Gegenwart durchdrang ihn, erfüllte ihn bis in die Fingerspitzen. All seine ausgehungerten Sinne waren
nun auf das weiche Licht gerichtet, suchten nach ihm und brauchten es.
Dann trat sie hervor.
Sie bewegte sich langsam und zögernd, als könnte sie sich kaum dazu überwinden. Stefan war ebenfalls wie
betäubt.
Elena.
Er betrachtete jeden ihrer Züge, als sei es das erste Mal. Das hellgoldene Haar, das ihr Gesicht umrahmte
und auf ihre Schultern fiel wie ein Heiligenschein. Ihre helle, makellose Haut. Der schlanke, geschmeidige
Körper, der ihm jetzt auswich. Elena hob wie abwehrend eine Hand.
„Stefan.“ Das Flüstern war ihre Stimme. Ihre Stimme, die seinen Namen sagte. Aber es lag soviel Schmerz
darin. Er wollte zu ihr laufen, sie halten und ihr versprechen, daß alles wieder gut werden würde. „Stefan,
bitte... ich kann nicht...“
Er konnte jetzt ihre Augen erkennen: Dunkelblau und in diesem Licht mit Gold gefleckt, weit aufgerissen
vor Schmerz und feucht von ungeweinten Tränen. Es riß sein Innerstes entzwei.
„Du willst mich nicht?“ Seine Stimme war trocken wie Wüstensand.
„Ich möchte nicht, daß du mich siehst. Oh, Stefan, er kann alles geschehen machen. Und er wird uns finden.
Er wird hierherkommen...“
Große Erleichterung und fast schmerzhafte Freude durchfluteten ihn. Er achtete kaum auf ihre Worte, und
sie waren auch nicht wichtig. Die Art, wie sie „oh, Stefan“ gesagt hatte, verriet ihm alles, was er wissen
wollte.
Leise trat er zu ihr. Seine Hand griff nach ihrer. Er sah, daß sie abwehrend den Kopf schüttelte, sah, daß sie
heftig atmete. So nahe, strahlte ihre Haut von einem inneren Glanz wie eine Flamme, die durch
durchsichtiges Kerzenwachs scheint. Kleine Tropfen hingen wie Diamanten an ihren Wimpern.
Obwohl sie weiter in stummem Protest den Kopf schüttelte, zog sie die Hand nicht weg. Nicht einmal, als
seine ausgestreckten Finger sie berührten und sich gegen ihre kühlen Fingerspitzen preßten, als befänden sie
sich auf der anderen Seite einer Glasscheibe.
Und in dieser Nähe konnte ihr Blick seinem nicht ausweichen. Sie sahen einander an, ohne die Augen
abzuwenden. Bis sie schließlich ein Ende machte und flüsterte: „Stefan, nein.“
Er konnte nicht mehr klar denken. Das Herz in seiner Brust drohte zu zerspringen. Nichts zählte mehr, nur
noch, daß sie da war und daß sie zusammen waren.
Langsam, ganz langsam legte er seine Hand um ihre, verflocht ihre Finger, so wie es sein sollte. Mit der
anderen Hand hob er ihr Gesicht hoch.
Ihre Augen schlossen sich bei der Berührung, ihre Wange schmiegte sich an ihn. Er fühlte Feuchtigkeit auf seinen Fingern und unterdrückte ein Lachen. Traumtränen, aber sie waren wirklich, sie war wirklich. Elena. Beim bloßen Wegstreichen ihrer Tränen mit seinem Daumen durchzuckte ihn ein süßes Gefühl. Eine Freude, so heftig, daß sie schmerzte. All die frustrierende Zärtlichkeit der letzten sechs Monate, all die Gefühle, die er in seinem Herzen so lange verschlossen gehalten hatte, strömten nun heraus und drohten, sie beide zu überwältigen. Nur eine winzige Bewegung, und er hielt Elena in seinen Armen. Einen Engel, kühl und berauschend vor Leben und Schönheit. Ein Wesen aus Feuer und Luft. Sie zitterte in seiner Umarmung, dann, die Augen noch immer geschlossen, hob sie die Lippen. An diesem Kuß war nichts beherrscht. Er schlug Funken auf Stefans Nerven und löste alles um ihn herum in Nichts auf. Stefan merkte, daß er die Selbstbeherrschung verlor. Diese eiserne Disziplin, an der er so hart gearbeitet hatte, seit er Elena verlor. Alle Knoten in ihm lösten sich, alle Verhärtungen brachen auf, und alle Schleusen wurden geöffnet. Er fühlte seine eigenen Tränen, während er Elena hielt, und versuchte, sie beide zu einem Wesen zu verschmelzen, zu einem Fleisch und einem Geist. So, daß nichts sie jemals wieder trennen konnte. Sie weinten beide, als sie den Kuß beendeten. Elenas schlanke Arme lagen nun um seinen Nacken. Er konnte das Salz ihrer Tränen auf seinen Lippen spüren, und es erfüllte ihn mit Freude. Irgendwie war ihm bewußt, daß es etwas anderes gab, an das er denken sollte. Doch der erste elektrische Kontakt mit ihrer kühlen Haut hatte ihn jeder Vernunft beraubt. Sie standen im Zentrum eines Wirbelsturms aus Feuer, das Universum konnte explodieren, zusammenbrechen oder zu Asche zerfallen. Es war ihm egal. Solange er sie nur beschützen konnte. Aber Elena zitterte. Nicht nur aus dem übermächtigen Gefühl, das ihn schwindlig und trunken machte vor Freude. Nein, vor Angst. Stefan konnte es deutlich spüren. Er wollte sie davor abschirmen, für sie sorgen und alles töten, das es wagte, sie so zu erschrecken. Mit einem Fauchen hob er den Kopf und sah sich um. „Was ist es?“ Er hörte selbst den rauhen, harten Ton des Jägers in seiner Stimme. „Jeder, der versucht, dir etwas anzutun...“ „Nichts kann mich mehr verletzen.“ Sie klammerte sich immer noch an ihn, lehnte sich jedoch zurück, um in sein Gesicht zu sehen. „Ich habe Angst um dich, Stefan. Vor dem, was er dir antun, vor den Bildern, die er dir vorgaukeln könnte...“ Ihre Stimme schwankte. „Oh, Stefan, geh jetzt, bevor er kommt. Er kann dich durch mich finden. Bitte, bitte, geh...“ „Verlang alles andere von mir, und ich werde es tun“, sagte Stefan. Der Killer würde ihn Stück für Stück auseinanderreißen müssen, ehe er sich von Elena trennte. „Stefan, es ist nur ein Traum“, flehte Elena verzweifelt, und neue Tränen flossen ihre Wangen hinunter. „Wir können uns nicht wirklich berühren, nicht wirklich zusammensein. Das ist nicht erlaubt.“ Stefan war es egal. Das alles kam ihm nicht wie ein Traum vor, sondern wie die Wirklichkeit. Und selbst in einem Traum würde er Elena nicht aufgeben, um nichts in der Welt. Keine Macht im Himmel oder auf Erden konnte ihn dazu zwingen... „Falsch, Sportsfreund! Überraschung!“ meldete sich eine neue Stimme spöttisch zu Wort, eine, die Stefan noch nie gehört hatte. Er erkannte sie jedoch instinktiv als die Stimme des Killers. Ein Jäger unter Jägern. Und als er sich umdrehte, fiel ihm wieder ein, was die arme Vickie, die arme, tote Vickie gesagt hatte. Er sieht aus wie der Teufel. Wenn der Teufel attraktiv und blond war. Er trug einen ausgebleichten Regenmantel, wie Vickie ihn beschrieben hatte. Schmutzig und zerrissen. Er hätte ein Penner aus einer Großstadt sein können, wenn er nicht so groß und seine blauen Augen so schneidend klar und durchdringend gewesen wären. Sein Haar war fast weiß, es stand gerade von seinem Kopf ab, als sei es von einem eisigen Windstoß hochgeblasen worden. Sein breites Lächeln verursachte Stefan Übelkeit. „Salvatore, nehme ich an.“ Er machte eine übertriebene Verbeugung. „Und natürlich, die schöne Elena. Die schöne, tote Elena. Kommst du, um ihr Gesellschaft zu leisten, Stefan? Ihr beiden seid wie für einander bestimmt.“ Er sah jung aus, zwar älter als Stefan, aber trotzdem jung. Doch das täuschte.
„Stefan, geh jetzt“, flüsterte Elena. „Er kann mich nicht verletzen, aber du bist anders. Er kann etwas tun, was dich aus dem Traum verfolgen wird.“ Stefan lockerte seine Umarmung nicht. „Bravo!“ Der Mann im Regenmantel applaudierte und sah sich um, als wollte er ein unsichtbares Publikum anfeuern. Dabei schwankte er leicht. Wenn er ein Mensch gewesen wären, hätte Stefan ihn für betrunken gehalten. „Stefan, bitte“, flehte Elena. „Es wäre sehr unhöflich zu gehen, noch bevor wir uns richtig vorgestellt haben“, sagte der Blonde, die Hände lässig in die Taschen seines Regenmantels gesteckt. Er kam einen Schritt näher heran. „Seid ihr nicht neugierig, wer ich bin?“ Elena schüttelte den Kopf, nicht als Einverständnis, sondern besiegt, und ließ ihn an Stefans Schulter sinken. Er legte eine Hand auf ihr Haar. Jeden Teil von ihr wollte er vor diesem Irren schützen. „Ich will es wissen.“ Über Elenas Kopf hinweg sah Stefan dem Blonden gerade in die Augen. „Kann mir gar nicht vorstellen, warum du mich nicht sofort gefragt hast, statt dich an alle möglichen anderen zu wenden“, erwiderte der Mann und kratzte nachdenklich seinen Stoppelbart. „Ich bin der einzige, der es dir sagen kann. Glaub mir, ich bin schon viel in der Welt herumgekommen.“ „Und weiter?“ sagte Stefan unbeeindruckt. „Oh, es gibt mich schon sehr, sehr lange...“ Der Blick des Blonden wurde verträumt, als schaute er über die Jahrhunderte zurück. „Ich habe meine Zähne schon in schöne, weiße Hälse gebohrt, als deine Vorfahren noch damit beschäftigt waren, das Kolosseum zu bauen. Ich habe mit der Armee Alexander des Großen getötet, im Trojanischen Krieg gekämpft. Ich bin alt, Salvatore. Ich bin einer der Ursprünglichen. In meinen frühesten Erinnerungen trage ich eine Bronzeaxt.“ Stefan nickte langsam. Er hatte von den Uralten gehört. Die Vampire flüsterten einander darüber zu, aber keiner aus Stefans Bekanntenkreis hatte schon einmal tatsächlich einen von ihnen getroffen. Jeder Vampir wird von einem anderen Vampir dazu gemacht. Er wird verwandelt durch den Austausch von Blut. Aber irgendwann, in dunkler Vorzeit, waren die Ursprünglichen entstanden, diejenigen, die nicht gemacht worden waren. Niemand wußte, wie sie selbst zu Vampiren geworden waren. Doch ihre Macht war ohne Zweifel unermeßlich, „Ich habe mitgeholfen, das römische Reich zu stürzen“, fuhr der Uralte versonnen fort. „Sie haben uns Barbaren genannt - nichts haben sie verstanden! Krieg, Salvatore! Es gibt nichts Schöneres als den Krieg. Europa war zu der Zeit noch aufregend. Ich habe damals beschlossen, ein wenig auf dem Land zu verweilen und mich zu amüsieren. Komisch, weißt du, die Leute schienen sich in meiner Gegenwart nicht besonders wohl zu fühlen. Sie liefen weg oder hielten Kreuze hoch.“ Er schüttelte den Kopf. „Aber eine Frau kam und bat mich um Hilfe. Sie war Magd im Haushalt eines Grafen, und ihre kleine Herrin war krank. Sterbenskrank, wie sie sagte. Sie wollte, daß ich etwas dagegen unternahm. Und so...“ Das Lächeln kehrte zurück, wurde breiter und breiter, „... tat ich es. Sie war ein hübsches kleines Ding.“ Stefan hatte seinen Körper abgewandt, um Elena vor dem blonden Mann zu schützen, und jetzt drehte er für einen Moment auch den Kopf weg. Er hätte es wissen, es zumindest erraten müssen. Sofort kam alles wieder in sein Gedächtnis zurück. Für Vickies Tod und den von Sue war er verantwortlich. Er hatte die Ereignisse in Gang gesetzt. „Katherine“, seufzte er und hob den Kopf, um den Mann anzusehen. „Du bist der Vampir, der Katherine umgewandelt hat.“ „Um ihr das Leben zu retten“, betonte der Blonde, als würde Stefan eine Lektion nicht kapieren. „Welches dein kleiner Schatz hier ihr wieder genommen hat.“ Ein Name. Stefan suchte in seinem Gedächtnis nach einem Namen. Er wußte, daß Katherine ihn genannt hatte, genauso, wie sie ihm diesen Mann einmal beschrieben hatte. Er konnte Katherines Worte noch in seinen Ohren hören: Ich wachte mitten in der Nacht auf, und ich sah den Mann, den Gudren, meine Magd, hergebracht hatte. Ich hatte solche Angst. Sein Name war Klaus, und er galt unter den Dorfbewohnern als böse und verdorben... „Klaus“, sagte der Blonde sanft, als würde er einer Sache zustimmen. „So hat sie mich jedenfalls genannt. Sie kam zurück zu mir, nachdem ihre beiden kleinen italienischen Jungs sie so enttäuscht hatten. Sie hatte alles für sie getan, hatte sie in Vampire verwandelt, ihnen ewiges Leben geschenkt.
Aber sie waren undankbar gewesen und hatten sie hinausgeschmissen. Sehr merkwürdiges Verhalten.“
„So ist es nicht gewesen“ stieß Stefan zwischen den Zähnen hervor.
„Noch merkwürdiger ist, daß sie nie über den Verlust der beiden hinweggekommen ist, Salvatore.
Besonders die Trennung von dir hat sie nie verschmerzt. Immer hat sie unvorteilhafte Vergleiche zwischen
uns gezogen. Ich versuchte, ihr etwas Vernunft einzuprügeln, vergebens. Vielleicht hätte ich selbst sie töten
sollen, ich weiß nicht. Aber da war ich schon daran gewöhnt, sie um mich zu haben. Sie war nie die klügste
gewesen. Doch sie war hübsch anzusehen, und sie verstand es, Vergnügen zu bereiten. Und ich habe ihr
gezeigt, wie man Spaß am Töten bekommt. Am Ende ist sie ein bißchen verrückt geworden, was soll's?
Schließlich habe ich sie nicht wegen ihres Verstandes bei mir behalten.“
Stefan empfand keinerlei Liebe mehr für Katherine, doch er haßte den Mann, der sie zu dem gemacht hatte,
was sie am Ende geworden war.
„Ich? Ich, Sportsfreund?“ Klaus deutete ungläubig auf seine Brust. „Du hast Katherine zu dem gemacht, was
sie jetzt ist. Oder, besser, deine kleine Freundin war es. Jetzt ist sie nämlich Staub. Futter für die Würmer.
Aber dein Liebling ist gerade außerhalb meiner Reichweite. Pulsierend auf einer höheren Ebene - nennen die
Mystiker es nicht so, Elena? Warum pulsierst du nicht hier, wie der Rest von uns?“
„Wenn ich nur könnte“, flüsterte Elena, hob den Kopf und sah ihn voller Haß an.
„Na, was soll's. Inzwischen habe ich deine Freunde. Nach allem, was ich gehört habe, war Sue ein besonders
süßes Mädchen.“ Er leckte sich die Lippen. „Und Vickie war geradezu köstlich. Zierlich, aber voll
entwickelt. Genau richtig. Aah, sie hatte das sinnliche Bouquet einer Neunzehnjährigen, obwohl sie erst
siebzehn war.“
Stefan wollte einen Satz nach vorn machen, aber Elena hielt ihn zurück. „Nicht, Stefan! Das hier ist sein
Reich, und seine telepathischen Kräfte sind stärker als unsere. Er kontrolliert alles.“
„Genau. Das hier ist mein Reich. Das Reich der Phantasie.“ Klaus grinste wieder sein irres Grinsen. „In dem
deine schlimmsten Alpträume Wirklichkeit werden, ganz kostenlos.“ Er schaute Stefan an. „Möchtest du
nicht wissen, wie dein Schatz heute in Wahrheit aussieht? So ganz ohne... Makeup?“
Elena gab einen leisen Laut von sich, der fast wie ein Stöhnen klang. Stefan drückte sie fester an sich.
„Wie lange ist es her, seit sie gestorben ist? Ungefähr sechs Monate? Weißt du, was mit einem Körper
passiert, wenn er einmal sechs Monate in der Erde gelegen hat?“ Klaus leckte sich wieder die Lippen wie
ein Hund.
Jetzt verstand Stefan. Elena zitterte am ganzen Leib. Sie hatte den Kopf gebeugt und versuchte, sich von ihm
zu entfernen, aber er ließ sie nicht aus seiner Umarmung.
„Ist schon gut“, tröstete er sie. Und sagte zu Klaus gewandt: „Du überschätzt dich. Ich bin kein Mensch, der
bei jedem Schatten erschrickt und beim Anblick von Blut zusammenzuckt. Ich kenne den Tod, Klaus. Er
macht mir keine Angst.“
„Nein, aber erregt er dich nicht?“ Klaus hatte die Stimme gesenkt, sie klang tief und verführerisch. „Sind sie
nicht berauschend, der Gestank, der Verfall, die Säfte des verwesenden Fleischs? Wie ein Trip ganz ohne
Drogen?“
„Stefan, laß mich gehen. Bitte.“ Elena versuchte verzweifelt, ihn mit den Händen wegzustoßen. Die ganze
Zeit hielt sie dabei den Kopf abgewandt, so daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Sie schien den Tränen nah
zu sein. „Bitte!“
„Die einzige Macht, die du hast, ist die Macht der Illusion“, sagte Stefan zu Klaus. Er drückte Elena an sich,
seine Wange an ihr Haar gepreßt. Er konnte die Veränderungen in dem Körper, den er umarmte, spüren. Das
Haar fühlte sich gegen seine Haut hart und struppig an, und Elenas Gestalt schien in sich
zusammenzusinken.
„In bestimmten Bodenarten wird die Haut braun wie Leder“, versicherte Klaus ihm vergnügt.
„Stefan, ich möchte nicht, daß du mich ansiehst...“
Die Augen auf Klaus gerichtet, strich er über das weiße Haar und streichelte ihr Gesicht, ohne auf die
Rauheit unter seinen Fingerspitzen zu achten.
„Aber natürlich verwest das meiste mit der Zeit einfach. Was für ein Ende! Du verlierst alles, Haut, Fleisch,
Muskeln, die inneren Organe - alles kehrt in die Erde zurück...“
Der Körper in Stefans Armen wurde immer weniger. Er schloß fest die Augen und preßte ihn enger an sich.
Haß auf Klaus brannte in ihm. Eine Illusion, es war alles eine Illusion...
„Stefan...“ Ein trockenes Flüstern, sacht wie ein Fetzen Papier, der über die Straße geweht wird. Es hing eine Minute in der Luft, dann verhallte es, und Stefan hielt nur noch einen Haufen Knochen. „Und schließlich endet es so, in über zweihundert verschiedenen, leicht zusammenzufügenden Teilen. Und alles wird sogar im eigenen, praktischen Behälter geliefert...“ In einer entfernten Ecke des Lichtkreises war ein Knacken zu hören. Der weiße Sarg dort öffnete sich wie von selbst, sein Deckel schwang auf. „Warum erweist du ihr nicht die letzte Ehre, Salvatore? Leg Elena dorthin, wo sie hingehört.“ Stefan war zitternd auf die Knie gefallen und betrachtete die schlanken, weißen Knochen in seiner Hand. Es war alles nur eine Illusion - Klaus kontrollierte Bonnies Trance und zeigte Stefan das, was er ihn sehen lassen wollte. Er hatte Elena nicht wirklich verletzt, doch die heiße Wut in Stefan, entstanden aus Beschützerinstinkt und Liebe, wollte das nicht erkennen. Sorgsam legte Stefan die zerbrechlichen Knochen auf den Boden und berührte sie zärtlich. Dann schaute er zu Klaus auf, den Mund verächtlich verzogen. „Das ist nicht Elena“, schrie er. „Natürlich ist sie es. Ich würde sie überall erkennen.“ Klaus breitete die Hände aus und deklamierte: „Ich kannte einst eine Frau, lieblich und süß. Ihre Knochen waren weiß wie Schnee...“ „Nein!“ Schweiß trat auf Stefans Stirn. Er achtete nicht mehr auf die spöttische Stimme seines Widersachers und konzentrierte sich, die Fäuste geballt. Den Einfluß von Klaus zu bekämpfen, war so harte Arbeit, als würde er eine schwere Steinkugel einen Berg hinaufrollen. Aber dort auf dem Boden begannen die zierlichen Knochen zu zittern, und ein schwaches goldenes Licht umgab sie. „Fetzen und Knochen und ein Büschel Haar... doch der Narr, er nannte seine Lady schön...“ Das Licht schimmerte, tanzte und fügte die Knochen zusammen. Warm und golden hüllte es sie ein, umkleidete sie, als sie sich in die Luft erhoben. Was jetzt dort stand, war eine gesichtslose Gestalt in einem sanften Glanz. Schweiß strömte in Stefans Augen, seine Lunge schien vor Anstrengung zu platzen. „Ton liegt still, doch Blut, es strömt...“ Elenas Haar, lang und von seidigem Gold, fiel über ihre leuchtenden Schultern. Ihre Züge, erst verschwommen, dann klar erkennbar, formten sich auf dem Gesicht. Voller Liebe ließ Stefan jedes Detail wieder erstehen. Dichte Wimpern, eine kleine Nase, Lippen, leicht geöffnet wie Rosenblätter. Weißes Licht umwirbelte den Körper und bildete ein dünnes Gewand. „...und ein Sprung in der Teetasse öffnet einen Weg ins Land der Toten...“ „Nein!“ Schwindel befiel Stefan, als die letzte Welle der Kraft seinem Körper entströmte. Die Brust des schönen Wesens hob sich. Es atmete, und Augen, blau wie ein Lapislazulistein, öffneten sich. Elena lächelte, und Stefan fühlte, wie ihre Liebe ihn traf. „Stefan.“ Sie hielt den Kopf stolz hoch wie eine Königin. „Das“, sagte Stefan würdevoll, „ist Elena. Und nicht die leere Hülle, die sie in der Erde zurückgelassen hat. Das ist Elena, und, was immer du auch tust, nichts kann sie verletzen.“ Er streckte seine Hand aus. Elena nahm sie und trat zu ihm. Als sie sich berührten, durchzuckte Stefan etwas wie einen Stromstoß, dann spürte er, wie ihre Kraft ihn durchdrang und ihm seine Macht zurückgab. Sie standen Seite an Seite und sahen den blonden Mann an. Stefan hatte sich noch nie in seinem Leben so triumphierend gefühlt und noch nie so stark. Klaus starrte sie für vielleicht zwanzig Sekunden an, dann begann er zu rasen. Sein Gesicht verzog sich haßerfüllt. Stefan fühlte, wie Wellen böser Macht gegen ihn schlugen. Gegen ihn und Elena, und er brauchte seine ganze Kraft, um widerstehen zu können. Der Wirbelstumm schwarzer Wut versuchte, sie auseinanderzureißen, er heulte durch den Raum und zerstörte alles auf seinem Weg. Kerzen wurden ausge löscht und flogen durch die Luft, wie von einem Tornado ergriffen. Der Traum um sie herum zerbrach, löste sich auf. Stefan klammerte sich an Elenas andere Hand. Der Wind zauste ihr Haar, peitschte es um ihr Gesicht. „Stefan!“ Sie mußte schreien, um sich verständlich zu machen. Dann hörte er ihre Stimme in seinem Kopf: „Stefan, gib gut acht! Du kannst eins tun, um ihn aufzuhalten. Du brauchst ein Opfer, Stefan... Finde eins seiner Opfer. Nur ein Opfer wird es wissen...“ Der Lärm wurde unerträglich, als ob Zeit und Raum auseinandergerissen würden. Stefan fühlte, wie ihm Elenas Hand entrissen wurde. Verzweifelt schrie er auf und griff wieder nach ihr... und griff ins Leere. Er war bereits ausgehöhlt von den Anstrengungen, Klaus zu bekämpfen, und schaffte es nicht, weiter die Besinnung zu behalten. Die Dunkelheit schleuderte ihn in ihre unendliche Tiefe...
Bonnie hatte alles gesehen.
Es war komisch, aber als sie beiseite getreten war, um Stefan zu Elena zu lassen, schien sie ihre körperliche
Anwesenheit in dem Traum verloren zu haben. Sie war nicht länger einer der Spieler, doch auf der Bühne
ging das Spiel weiter. Sie konnte zusehen, das war alles.
Am Ende hatte sie Angst bekommen. Sie war nicht stark genug, um den Traum zusammenzuhalten. Und das
Ganze war schließlich explodiert, hatte sie aus der Trance geholt und ließ sie in Stefans Zimmer erwachen.
Er lag mit dem Rücken auf dem Boden und sah wie tot aus. So weiß, so still. Aber als Bonnie an ihm zerrte
und versuchte, ihn auf das Bett zu schleppen, hob sich seine Brust, und sie hörte, wie er keuchend Luft holte.
„Stefan? Alles in Ordnung?“
Er schaute sich wild im Zimmer um, als versuchte er, etwas zu finden. „Elena!“ schrie er und hielt abrupt
inne, als sein Gedächtnis wiederkehrte.
Sein Gesicht verzog sich. Einen schrecklichen Moment fürchtete Bonnie, er würde anfangen zu weinen.
Aber er schloß nur die Augen und verbarg das Gesicht in den Händen.
„Stefan?“
„Ich habe sie verloren. Ich war zu schwach.“
„Ich weiß.“ Bonnie betrachtete ihn eine Sekunde, dann nahm sie ihren ganzen Mut zusammen, kniete sich
vor ihn und berührte seine Schultern. „Es tut mir leid.“
Er hob plötzlich den Kopf. Seine grünen Augen waren trocken, die Pupillen jedoch so erweitert, daß sie fast
schwarz wirkten. Seine Nasenflügel waren gebläht, die Lippen von den Zähnen zurückgezogen. „Klaus!“ Er
sprach den Namen aus wie einen Fluch. „Hast du ihn gesehen?“
„.Ja.“ Bonnie zog sich zurück. Sie schluckte. Ihr Magen brannte. „Er ist verrückt, nicht wahr?“
„Ja.“ Stefan stand auf. „Und er muß aufgehalten werden.“
„Aber wie?“ Nachdem sie Klaus beobachtet hatte, fürchtete Bonnie sich noch mehr. Sie hatte entsetzliche
Angst und war mutlos. „Was könnte ihn denn überhaupt aufhalten? Ich habe noch nie in meinem Leben eine
solche Macht gespürt.“
„Aber hast du...?“ Stefan drehte sich zu ihr um. „Bonnie, hast du nicht gehört, was Elena am Ende gesagt
hat?“
„Nein. Was meinst du? Ich konnte gar nichts mehr verstehen in diesem Hurrikan.“
„Bonnie...“ Stefans Blick wurde abwesend. Er überlegte und schien zu sich selbst zu sprechen: „Das heißt,
daß er es vermutlich auch nicht gehört hat. Also hat er keine Ahnung und wird nicht versuchen, uns
abzuhalten.“
„Wovon? Stefan, wovon redest du?“
„Davon, ein Opfer zu finden. Hör gut zu, Bonnie. Elena hat mir erzählt, daß wir ein Opfer finden müssen,
um Klaus' Treiben ein Ende zu bereiten.“
Bonnie war total verwirrt. „Aber... warum?“
„Weil Vampire und ihre Spender, beziehungsweise ihre Beute, kurz den Verstand des anderen lesen können,
während das Blut ausgetauscht wird. Manchmal kann der Spender auf diese Weise Dinge über den Vampir
erfahren. So muß es passiert sein, und Elena weiß davon.“
„Schön und gut, bis auf eine Kleinigkeit“, erwiderte Bonnie ätzend. „Willst du mir mal verraten, wer, um
Himmels willen, einen Angriff von Klaus überlebt haben könnte?“
Sie hatte erwartete, daß Stefan dadurch, entmutigt sein würde, doch er war es nicht. „Ein Vampir“,
antwortete er einfach. „Ein Mensch, den Klaus in einen Vampir verwandelt hat, wäre ein Opfer. Solange sie
Blut ausgetauscht und ihre Gedanken sich berührt haben.“
„Oh. Also... wenn wir einen Vampir finden können, den er gemacht hat... aber wo?“
„Vielleicht in Europa.“ Stefan begann, im Zimmer hin- und herzulaufen. „Klaus hat eine lange Geschichte,
und einige seiner Vampire müssen noch dort sein. Wahrscheinlich muß ich hin und einen suchen.“
Bonnie war total aus dem Häuschen. „Aber, Stefan! Du kannst uns doch nicht alleinlassen! Das darfst du
nicht!“
Stefan blieb eine Weile völlig reglos stehen. Schließlich drehte er sich zu ihr um. „Ich will es auch nicht“,
sagte er leise. „Wir müssen uns zuerst eine andere Lösung einfallen lassen. Vielleicht können wir uns Tyler
noch mal schnappen. Ich werde eine Woche warten, bis nächsten Samstag. Aber dann muß ich fort, Bonnie.
Du weißt das so gut wie ich.“
Ein langes, langes Schweigen entstand zwischen ihnen.
Bonnie kämpfte gegen die Tränen an, wild entschlossen, sich erwachsen und gereift zu verhalten. Sie war kein Baby mehr, und jetzt konnte sie es ein- für allemal beweisen. Sie erwiderte Stefans Blick und nickte langsam. 13. KAPITEL 19. Juni, Freitag, 11 Uhr 45 Liebes Tagebuch, Oh Gott, was sollen wir bloß tun? Das war die längste Woche meines Lebens. Heute ist der letzte Schultag, und morgen verläßt Stefan uns. Er will nach Europa, um einen Vampir zu finden, den Klaus umgewandelt hat. Er sagt, daß er uns nur ungern ohne Schutz zurückläßt. Aber er muß gehen. Wir können Tyler nicht finden. Sein Auto ist vom Friedhof verschwunden, aber er selbst ist in der Schule nicht mehr aufgetaucht. Er hat alle Abschlußarbeiten verpaßt. Nicht, daß der Rest von uns viel besser dran wäre. Ich wünschte, unsere High-School wäre eine von denen, wo die Abschlußklausuren vor der Abschlußfeier erledigt sind. Ich hasse Klaus. Von dem, was ich gesehen habe, schließe ich, daß er so verrückt ist wie Katherine. Nur viel grausamer. Was er Vickie angetan hat... ich kann nicht einmal darüber reden, sonst fange ich wieder an zu weinen. Bei Carolines Party hat er nur mit uns gespielt. Wie eine Katze mit einer Maus spielt. Und so etwas ausgerechnet auch noch an Meredith' Geburtstag zu tun... allerdings glaube ich, daß er das nicht hat wissen können. Obwohl er eine Menge weiß. Er redet nicht wie ein Fremder, nicht so wie Stefan, als er das erste Mal nach Amerika kam, und er kennt sich mit allen amerikanischen Dingen aus, sogar mit den Songs aus den Fünfzigern. Vielleicht ist er schon ganz lange hier... Bonnie hörte auf zu schreiben. Ihre Gedanken überschlugen sich. Die ganze Zeit hatten sie Klaus' Opfer nur
in Europa vermutet. Aber so, wie Klaus redete, war er offensichtlich schon lange in Amerika. Er benahm
sich überhaupt nicht wie ein Ausländer. Und er hatte seine erste Attacke auf Meredith' Geburtstag gelegt...
Bonnie stand auf, griff nach dem Telefon und wählte Meredith' Nummer. Eine verschlafene, männliche
Stimme meldete sich.
„Mr. Sulez, hier ist Bonnie. Kann ich vielleicht Meredith sprechen?“
„Bonnie! Weißt du nicht, wieviel Uhr es ist?“
„Doch.“ Bonnie dachte schnell nach. „Aber... es handelt sich um die Prüfung, die wir heute hatten. Bitte, ich
muß mit ihr sprechen.“
Es entstand eine lange Pause. Dann ertönte ein schwerer Seufzer. „Eine Minute.“
Bonnie trommelte ungeduldig mit den Fingern, während sie wartete. Schließlich hörte sie das Klicken eines
anderen Hörers, der abgehoben wurde.
„Bonnie?“ Das war Meredith' Stimme. „Ist was passiert?“
„Nein. Ich meine...“ Bonnie war sich nur zu gut bewußt, daß die Leitung offen war und Meredith' Vater
nicht eingehängt hatte. Vermutlich hörte er sogar zu. „Es geht um das... um das deutsche Problem, an dem
wir arbeiten. Du erinnerst dich sicher. Weißt du, das, wo wir keine Lösung gefunden haben. Wir suchen ja
immer noch nach der Person, die uns dabei helfen kann. Nun, ich glaube, ich weiß, wer es ist.“
„Im Ernst?“ Bonnie merkte, daß Meredith nach den richtigen Worten suchte. „Also... wer ist es? Müssen wir
dazu Ferngespräche führen?“
„Nein“, erwiderte Bonnie. „Es liegt ganz in der Nähe. Eigentlich befindet sich die Lösung gleich in eurem
Garten und hängt an eurem Stammbaum, um's mal so auszudrücken.“
Das Schweigen dauerte so lange, daß Bonnie sich fragte, ob Meredith überhaupt noch dran war. „Meredith?“
„Ich überlege. Hat die Lösung etwas mit dem Zufallsprinzip zu tun?“
„Falsch.“ Bonnie entspannte sich und lächelte grimmig. Meredith hatte kapiert. „Nichts bleibt dem Zufall
überlassen. Es ist eher so, daß die Geschichte sich wiederholt. Sich freiwillig wiederholt, wenn du weißt,
was ich meine.“
„Ja.“ Meredith hörte sich an, als würde sie sich von einem Schock erholen. Kein Wunder. „Du könntest
recht haben. Aber... diese Person muß erst überredet werden, uns überhaupt zu helfen.“
„Glaubst du, das ist ein Problem?“
„Es könnte eins werden. Manche Menschen werden sehr nervös... vor einer Prüfung. Manchmal verlieren sie
sogar den Verstand.“
Bonnies Mut, sank. Das war etwas, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Was war, wenn er es ihnen nicht
erzählen konnte? Wenn er sich so weit in seine eigene Welt zurückgezogen hatte? „Wir können es
zumindest versuchen.“ Sie bemühte sich, so optimistisch wie möglich zu klingen. „Morgen, okay?“
„Einverstanden. Ich hole dich gegen Mittag ab. Gute Nacht, Bonnie.“
„Schlaf gut, Meredith.“ Bonnie schluckte und fügte noch hinzu: „Es tut mir leid.“
„Macht nichts. Ich glaube, so ist es am besten. Damit die Geschichte sich nicht endlos wiederholt. Bis dann,
Bonnie.“
Bonnie drückte auf die Gabel und beendete das Gespräch. Dann saß sie ein paar Minuten einfach so da, den
Finger auf den Apparat gelegt, und starrte an die Wand. Schließlich legte sie den Hörer auf und nahm wieder
ihr Tagebuch zur Hand. Sie machte einen Absatz hinter dem letzten Wort und fügte einen neuen Satz hinzu.
Wir werden morgen Meredith' Großvater besuchen.
„Ich bin ein Idiot,“, sagte Stefan am nächsten Tag in Meredith' Auto. Sie waren auf dem Weg nach West
Virginia, zu der Anstalt, in der Meredith' Großvater Patient war. Die Fahrt war ziemlich lang.
„Wir waren alle Idioten. Außer Bonnie“, fügte Matt hinzu. Trotz ihrer Nervosität wurde es Bonnie bei
diesen Worten ganz warm.
Aber Meredith schüttelte den Kopf, die Augen auf die Straße gerichtet. „Stefan, du konntest es nicht wissen.
Also hör auf, dir Vorwürfe zu machen. Du hattest keine Ahnung, daß Klaus den Angriff bei Carolines Party
extra genau auf den .Jahrestag der Attacke auf meinen Großvater gelegt hatte. Und es ist weder Matt noch
mir aufgefallen, daß Klaus schon lange in Amerika leben mußte, weil wir ihn weder gesehen noch gehört
haben. Wir haben nur an die Menschen gedacht, die er in Europa angefallen hat. Wirklich, Bonnie war die
einzige, die die Bruchstücke zusammenfügen konnte, weil sie alle Informationen hatte.“
Bonnie streckte ihr die Zunge raus. Meredith sah es im Rückspiegel und zog die Augenbrauen hoch. „Jetzt
werde bloß nicht zu übermütig“, warnte sie.
„Keine Sorge. Bescheidenheit ist eine meiner charmantesten Eigenschaften.“
Matt schnaubte, aber dann sagte er: „Ich finde es trotzdem ziemlich schlau von ihr.“ Wobei es Bonnie
wieder ganz warm ums Herz wurde.
Die Anstalt war ein schrecklicher Ort. Bonnie versuchte mit allen Kräften, den Horror, den sie empfand, zu
unterdrücken. Aber sie wußte, daß Meredith ihre Gefühle spürte. Meredith' starre Haltung war stolz und
verteidigend zugleich, während sie über die Flure voranging. Bonnie, die sie schon so viele Jahre kannte,
konnte die Demütigung unter dem Stolz erkennen. Meredith' Eltern empfanden den Zustand des Großvaters
als eine solche Schande, daß sein Name anderen gegenüber nicht erwähnt werden durfte. Ein Schatten lag
über der ganzen Familie.
Und jetzt zeigte Meredith das Geheimnis zum ersten Mal Fremden. Bonnie fühlte eine Welle von Liebe und
Bewunderung für ihre Freundin. Es war typisch für Meredith, das alles ohne Aufregung mit Würde zu tun
und niemanden sehen zu lassen, was es sie kostete. Aber die Anstalt blieb trotzdem schrecklich.
Sie war nicht schmutzig oder mit tobenden Irren gefüllt. Die Patienten waren sauber und wurden
offensichtlich gut gepflegt. Aber etwas an dem sterilen Krankenhausgeruch und den Gängen, die bevölkert
waren mit reglosen Gestalten in Rollstühlen und mit leeren Augen, trieb Bonnie zur Flucht.
Wie ein Gebäude voller Zombies. Bonnie sah eine alte Frau, ihre rosa Kopfhaut schimmerte durch das
dünne, weiße Haar. Ihr Kopf war neben einer nackten Plastikpuppe auf den Tisch gesunken.
Bonnie streckte hilflos suchend ihre Hand aus und merkte, daß Matt bereits nach ihr griff. Hand in Hand
folgten sie Meredith und klammerten sich so fest aneinander, daß es weh tat.
„Das ist sein Zimmer.“
Drinnen saß ein weiterer Zombie. Dieser hatte weißes Haar, das noch Spuren von Schwarz aufwies, die
Meredith' Haaren glichen. Sein Gesicht war zerknittert und voller Falten, die Augen wäßrig mit roten
Rändern. Sie blickten starr vor sich hin.
„Großvater.“ Meredith kniete sich vor seinen Rollstuhl. „Großvater, ich bin's, Meredith. Ich bin gekommen,
um dich zu besuchen. Ich muß dich etwas sehr Wichtiges fragen.“
In seinen Augen regte sich nichts.
„Manchmal erkennt er uns“, sagte Meredith leise und nüchtern. „Aber die meiste Zeit nicht.“
Der alte Mann starrte weiter vor sich hin.
Stefan ließ sich auf die Fersen nieder. „Laß es mich versuchen.“ Er schaute in das faltenreiche Gesicht und
begann genauso leise und tröstend zu sprechen, wie er es mit Vickie getan hatte.
Aber die trüben, dunklen Augen blinzelten nicht einmal. Sie blickten weiter ausdruckslos in die Ferne. Die
einzige Bewegung war ein leichtes, anhaltendes Zittern in den rheumatischen Händen auf den Lehnen des
Rollstuhls. Egal, was Stefan und Meredith auch versuchten, das war die einzige Reaktion, die sie
hervorlocken konnten.
Schließlich versuchte es Bonnie und benutzte ihre telepathischen Kräfte. Sie konnte etwas in dem alten
Mann spüren, einen Funken Leben, der in dem alten Körper gefangengehalten wurde. Aber sie konnte ihn
nicht erreichen.
„Tut mir leid.“ Sie setzte sich zurück und strich sich das Haar aus der Stirn. „Es hat keinen Zweck. Ich kann
nichts machen.“
„Vielleicht klappt's beim nächste Mal“, tröstete Matt sie, doch Bonnie wußte, daß das nur leere Worte
waren. Stefan würde morgen fortgehen, es würde kein nächstes Mal geben. Dabei war es doch am Anfang
eine so gute Idee gewesen... Die Wärme, die sie vorhin erfüllt hatte, war jetzt zu kalter Asche geworden, ihr
Herz ein Klumpen Blei. Sie wandte sich ab und sah, daß Stefan bereits aus dem Zimmer gehen wollte.
Niedergeschlagen und mit gesenktem Kopf blieb Bonnie ungefähr eine Minute stehen. Es war plötzlich
unendlich schwer, genug Energie zu finden, um einen Fuß vor den anderen zu setzen. Erst als sie Matts
sanften Griff an ihrem Ellbogen fühlte, riß sie sich zusammen. Müde sah sie sich um, ob Meredith ihnen
folgte...
Und schrie auf. Meredith stand mitten im Zimmer, zur Tür gewandt. Die Enttäuschung stand ihr klar im
Gesicht geschrieben. Aber hinter ihr hatte sich die Gestalt im Rollstuhl endlich gerührt. In einer wahren
Explosion von Bewegungen hatte er sich aus seinem Rollstuhl hochgerissen, die alten Augen weit
aufgerissen und den Mund geöffnet. Meredith' Großvater sah aus, als wollte er jemanden anspringen. Er
hatte die Arme ausgestreckt. Seine Lippen formten sich zu einem stummen Heulen. Bonnies Schreie hallten
von den Wänden wider.
Dann passierte alles auf einmal. Stefan kam zurückgelaufen, Meredith fuhr herum, Matt griff nach Bonnie.
Aber der Alte sprang nicht. Er stand da, sie alle überragend, schaute über ihre Köpfe hinweg und schien
etwas zu sehen, das keiner sonst sehen konnte. Endlich kamen Laute aus seinem Mund und formten sich zu
einem langgezogenen Wort.
„Vaaampiiir!“
Pfleger und Krankenschwestern eilten ins Zimmer, drängten Bonnie und die anderen beiseite und
versuchten, den Alten zurückzuhalten. Ihre Rufe mischten sich in den Höllenlärm.
„Vampir! Vampir!“ heulte Meredith' Großvater, als wollte er die ganze Stadt warnen. Bonnie fühlte, wie
Panik in ihr aufstieg. Sah er dabei etwa Stefan an? War es eine Anschuldigung?
„Bitte, Sie müssen jetzt gehen. Es tut mir leid, aber Sie müssen gehen“, wiederholte eine Krankenschwester
andauernd. Sie wurden auf den Flur gedrängt.
Meredith kämpfte, während sie aus dem Zimmer gezerrt wurde. „Großvater...!“
„Vampir!“ Die entsetzliche Stimme hörte nicht auf. Und dann: „Weißes Eschenholz! Vampir! Weißes
Eschenholz...“
Die Tür schlug zu.
Meredith keuchte und kämpfte mit den Tränen. Bonnie hatte ihre Fingernägel in Matts Arm gegraben.
Stefan drehte sich zu ihnen um, die grünen Augen vor Schock weit aufgerissen.
„Ich sagte, Sie müssen jetzt gehen.“ Die überlastete Schwester wurde ungeduldig. Die vier kümmerten sich
jedoch nicht um sie. Sie sahen einander an, während die lähmende Verwirrung langsam wich und sich
Verständnis auf ihren Gesichtern ausbreitete.
„Tyler sagte, es gäbe nur ein Holz, daß ihn verletzen könnte...“ begann Matt.
„Weißes Eschenholz“, ergänzte Stefan.
„Wir müssen herausfinden, wo Klaus sich versteckt“, sagte Stefan auf der Heimfahrt. Er fuhr, denn
Meredith hatte die Wagenschlüssel an der Autotür einfach fallen lassen. „Das ist das erste. Wenn wir jetzt
die Sache überstürzen, könnten wir ihn warnen.“
Seine grünen Augen glänzten in einer merkwürdigen Mischung aus Triumph und grimmiger
Entschlossenheit. Er sprach klar, kurz und schnell. Wir stehen alle mit unseren Nerven auf der Kippe, dachte
Bonnie. Als hätten wir die ganze Nacht Aufputschmittel geschluckt. In einer solchen Stimmung konnte alles
passieren.
Außerdem spürte sie, daß ein gewaltiges Ereignis bevorstand. Heute nacht, dachte sie. Heute nacht wird
alles geschehen. Es schien merkwürdig passend, daß dies der Abend der Sonnenwende war.
„Der Abend von was?“ fragte Matt.
Bonnie war nicht einmal aufgefallen, daß sie laut gesprochen hatte. „Der Abend der Sonnenwende“, erklärte
sie. „Das ist heute abend. Der Tag bevor der Sommersonnenwende.“
„Druidenbrauch, stimmt's?“
„Sie haben es gefeiert“, bestätigte Bonnie. „Es ist ein Tag der Magie, der den Wechsel der Jahreszeit
bestimmt. Und...“ Sie zögerte. „Nun, er ist wie die anderen Festtage, wie Halloween oder die Winterwende.
Ein Tag, an dem die Grenze zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt dünn wird. Wo du Geister
sehen kennst, wie man früher sagte. Und Dinge geschehen...“
„Dinge“, murmelte Stefan, während er in die Hauptstraße von Fell's Church einbog. „Dinge werden
geschehen.“
Keiner von ihnen konnte ahnen, wie schnell.
Mrs. Flowers stand in ihrem Garten. Sie waren sofort zur Pension gefahren, um nach ihr zu suchen. Sie
beschnitt die Rosenbüsche, und der Duft des Sommers umgab sie.
Sie blinzelte und runzelte die Stirn, als die vier jungen Leute sich um sie drängten und sie atemlos fragten,
wo man eine weiße Esche finden konnte.
„Langsam, langsam“, mahnte sie und schaute die vier unter dem Rand ihres Strohhutes an. „Was wollt ihr?
Weißes Eschenholz? Nun, es gibt eine direkt hinter diesen alten Eichen dort. Nun wartet mal eine Minute...“
fügte sie hinzu, als alle davonstürmten.
Stefan säbelte einen Ast mit dem schweren Armeemesser ab, das Matt aus seiner Tasche geholt hatte. Seit
wann trägt er denn so was mit sich rum? fragte sich Bonnie im stillen. Und sie fragte sich auch, was Mrs.
Flowers wohl dachte, als sie sie mit einem langen weißen Ast, den die Jungen zwischen sich auf den
Schultern trugen, zurückkommen sah.
Aber Mrs. Flowers schaute nur, ohne etwas zu sagen. Als sie sich jedoch dem Haus näherten, rief sie hinter
ihnen her: „Ein Päckchen ist für dich abgegeben worden, mein Junge.“
Stefan drehte sich um, den Ast immer noch auf der Schulter. „Für mich?“
„Dein Name stand drauf. Ein Päckchen und ein Brief. Ich habe beides heute nachmittag vor der Tür
gefunden und in dein Zimmer gelegt.“
Bonnie schaute zu Meredith, dann zu Matt und zu Stefan. Sie traf auf mißtrauische und verwirrte Blicke. Die
Spannung wuchs plötzlich ins Unerträgliche. „Von wem kann das sein? Wer weiß überhaupt, daß du hier...“
begann sie, während sie die Stufen zum Dachgeschoß hochstiegen. Und dann hielt sie inne. Vorahnungen
summten in ihrem Kopf herum wie lästige Fliegen. Doch sie verdrängte sie. Nicht jetzt, dachte sie. Nicht
jetzt.
Es bestand jedoch keine Chance, das Päckchen auf Stefans Schreibtisch zu ignorieren. Die Jungen lehnten
den weißen Ast der Esche gegen die Wand und traten heran, um es sich anzusehen. Das Päckchen war lang
und flach, in braunes Packpapier eingewickelt. Darauf lag ein weißer Umschlag.
Auf ihm war in bekannter Handschrift ein Name gekritzelt. Stefan.
Es war die Handschrift von Vickies Spiegel.
Alle starrten das Päckchen an, als sei es ein gefährlicher Skorpion.
„Vorsicht“, warnte Meredith, während Stefan langsam danach griff. Bonnie wußte, was sie meinte. Sie hatte
das Gefühl, das ganze Ding könnte explodieren, giftiges Gas ausströmen oder sich in etwas mit Klauen und
Zähnen verwandeln.
Der Umschlag, den Stefan aufhob, war rechteckig und sehr fest. Das Papier war teuer und von feiner
Prägung. Wie die Einladung eines Prinzen zu einem Ball, dachte Bonnie. Aber trotzdem befanden sich
schmutzige Fingerabdrücke darauf, und die Ränder waren schmierig. Nun, Klaus hatte in dem Traum auch nicht gerade sehr sauber ausgesehen. Stefan betrachtete die Vorder- und Rückseite, dann riß er den Umschlag auf. Er zog ein einzelnes Blatt schweren Büttenpapiers hervor. Die anderen drei drängten sich um ihn und schauten ihm über die Schulter, als er es auffaltete. Matt rief erstaunt: „Was soll das... da steht ja nichts drauf!“ Das Blatt war leer. Auf beiden Seiten. Stefan drehte es hin und her und untersuchte es sorgfältig. Sein Gesicht war angespannt und verschlossen. Alle anderen waren erleichtert und machten abfällige Geräusche. Da hatte sich jemand bloß einen dummen Scherz erlaubt. Meredith hatte nach dem Päckchen gegriffen, das flach genug war, um leer zu erscheinen, als Stefan plötzlich erstarrte und zischend ausatmete. Bonnie schaute schnell hinüber und zuckte zusammen. Meredith' Hand auf dem Päckchen hielt inne, und Matt fluchte. Auf dem leeren Blatt, das Stefan fest zwischen beiden Händen hielt, erschienen Buchstaben. Sie waren schwarz und langgezogen, als ob jeder von ihnen mit einem unsichtbaren Messer eingeritzt würde. Genau in diesem Moment wurde Bonnies böse Vorahnung immer stärker. Stefan,
sollen wir nicht versuchen, dies wie wahre Gentlemen zu bereinigen? Ich habe das Mädchen. Komm nach
Anbruch der Dunkelheit zu dem alten Bauernhof im Wald, und wir werden reden. Nur wir beide. Komm
allein, und ich werde sie gehenlassen. Bringst du jemanden mit, stirbt sie.
Keine Unterschrift. Aber am unteren Rand des Blattes erschienen die Worte: Das ist nur eine Sache zwischen dir und mir. „Welches Mädchen?“ fragte Matt verblüfft und schaute von Bonnie zu Meredith, als ob er sich vergewissern wollte, daß beide noch da waren. „Welches Mädchen?“ Mit scharfen Bewegungen rissen Meredith' lange Finger das Päckchen auf und zogen seinen Inhalt hervor. Es war ein hellgrüner Schal mit einem Muster aus Blättern und Ranken. Bonnie erinnerte sich nur zu gut daran, und Bilder stiegen plötzlich vor ihr auf: Konfetti und Geburtstagsgeschenke, Orchideen und Schokolade. „Caroline“, flüsterte sie und schloß die Augen. Diese letzten beiden Wochen waren so merkwürdig gewesen, so unterschiedlich vom normalen HighSchool-Alltag, daß sie darüber Caroline fast vergessen hatte. Caroline war in eine Wohnung in eine andere Stadt gezogen, um dem Unheil zu entgehen, um in Sicherheit zu sein. Doch Meredith hatte es ihr von Anfang an gesagt: „Er kann dir auch bis nach Heron folgen, da bin ich ganz sicher.“ „Er spielt wieder mit uns“, murmelte Bonnie. „Er hat uns so weit kommen lassen, hat sogar zugelassen, daß wir deinen Großvater besuchen, Meredith, und dann...“ „Er muß es gewußt haben“, stimmte Meredith ihr zu. „Er muß die ganze Zeit gewußt haben, daß wir nach einem Opfer suchen. Und dann hat er uns schachmatt gesetzt. Es sei denn...“ Ihre dunklen Augen leuchteten vor plötzlicher Hoffnung. „Bonnie, hältst du es für möglich, daß Caroline den Schal in der Nacht von der Party verloren hat? Und daß er ihn nur aufgehoben hat?“ „Nein.“ Die Vorahnungen wurden stärker und stärker. Bonnie bemühte sich, sie zu verdrängen. Sie wollte es nicht, wollte es nicht wissen. Aber bei einer Sache war sie ganz sicher: das war kein Bluff. Klaus hatte Caroline. „Was sollen wir nun tun?“ fragte sie leise. „Jedenfalls nicht auf ihn hören“, erwiderte Matt fest. „Versuchen wir, dies wie Gentlemen zu lösen. Er ist Abschaum, kein Gentleman. Das Ganze ist eine Falle.“ „Natürlich ist es eine Falle“, unterbrach ihn Meredith ungeduldig. „Er hat gewartet, bis wir herausgefunden haben, wie wir ihn verletzen können, und jetzt versucht er, uns auseinanderzubringen. Aber das wird nicht klappen.“ Bonnie hatte Stefans Gesicht mit wachsender Sorge betrachtet. Denn während Matt und Meredith erregt miteinander redeten, hatte er leise den Brief zusammengefaltet und ihn zurück in den Umschlag gesteckt. Jetzt stand er da und betrachtete ihn. Seine Miene war unbewegt, als würde ihn das, was um ihn herum vorging, nicht berühren. Und der Blick in seinen grünen Augen machte Bonnie Angst.
„Wir können es schaffen, daß sein Schuß nach hinten losgeht“, sagte Matt gerade. „Stimmt's, Stefan?
Glaubst du das nicht auch?“
„Ich glaube“, erwiderte Stefan, sich auf jedes Wort konzentrierend, „daß ich nach Anbruch der Dunkelheit
allein in den Wald gehen werde.“
Matt nickte und begann sofort, einen Plan zu schmieden. „Okay, du lenkst ihn ab. Währenddessen werden
wir drei...“
„Ihr drei“, fuhr Stefan fort und sah ihn eindringlich an, „werdet nach Hause gehen. Ins Bett.“
Es entstand eine Pause, die Bonnies angespannten Nerven endlos vorkam. Die anderen starrten Stefan
fassungslos an.
Schließlich sagte Meredith in leichtem Tonfall: „Nun, es wird schwer werden, ihn zu schnappen, wenn wir
im Bett liegen. Es sei denn, er ist so freundlich und stattet uns einen Besuch ab.“
Das brach die Spannung. Matt atmete tief aus. „Gut, Stefan, wir verstehen, wie du über die Sache denkst...“
Aber Stefan fiel ihm einfach ins Wort. „Ich meine es ernst, Matt. Todernst. Klaus hat recht, das ist eine
Sache zwischen ihm und mir. Und er will, daß ich allein komme, oder er wird Caroline etwas antun. Also
gehe ich allein. Es ist meine Entscheidung.“
„Das wird deine Beerdigung“, stieß Bonnie fast hysterisch hervor. „Stefan, du bist verrückt! Das kannst du
nicht machen.“
„Wart's ab.“
„Wir werden das nicht zulassen...“
„Glaubst du im Ernst, daß ihr mich aufhalten könntet, selbst, wenn ihr es versucht?“ Er sah sie an.
Ein unbehagliches Schweigen folgte. Während Bonnie seinen Blick erwiderte, kam es ihr so vor, als ob
Stefan sich vor ihren Augen veränderte. Sein Gesicht schien schärfer, seine Haltung anders, als wollte er sie
an die harten durchtrainierten Muskeln des Jägers unter seinen Kleidern erinnern. Plötzlich schien er
abwesend, fremd. Furchteinflößend.
Bonnie schaute fort.
„Seien wir doch vernünftig.“ Matt änderte seine Taktik. „Bleiben wir ganz ruhig und reden darüber...“
„Es gibt nichts zu reden. Ich gehe. Ihr nicht.“
„Du schuldest uns mehr als das“, sagte Meredith, und Bonnie fühlte Dankbarkeit beim Klang ihrer kühlen
Stimme. „Okay, du kannst uns Stück für Stück auseinanderreißen, keine Frage. Das haben wir kapiert. Aber
nach allem, was wir zusammen durchgemacht haben, verdienen wir eine ausführlichere Diskussion, bevor
du davonstürmst.“
„Du hast einmal behauptet, es sei auch der Kampf der Mädchen“, fügte Matt hinzu. „Wann hast du deine
Meinung geändert?“
„Als ich herausgefunden hatte, wer der Killer ist!“ Stefan schrie beinahe. „Nur meinetwegen ist Klaus hier.“
„Nein, das stimmt nicht“, protestierte Bonnie. „Hast du etwa Elena dazu angestiftet, Katherine zu töten?“
„Ich bin schuld, daß Katherine zu Klaus zurückgekehrt ist. So hat alles angefangen. Und ich habe Caroline
mit hineingezogen. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte sie niemals Elena so gehaßt und etwas mit Tyler
angefangen. Ich trage ihr gegenüber eine schwere Verantwortung.“
„Ach, das redest du dir doch bloß ein!“ Auch Bonnie wurde immer hitziger. „Klaus haßt uns alle! Glaubst
du wirklich, er wird dich ungeschoren davonkommen und uns danach einfach in Ruhe lassen?“
„Nein.“ Stefan nahm den Ast, der gegen die Wand lehnte. Er holte Matts Messer aus seiner eigenen Tasche,
begann die Zweige abzuhacken und verwandelte das Holz in einen weißen Speer.
„Na, toll. Du läßt dich also auf ein Duell ein“, sagte Matt wütend. „Merkst du denn nicht, wie dumm das ist?
Du rennst geradewegs in seine Falle.“ Er machte einen Schritt auf Stefan zu. „Du denkst vielleicht, daß wir
drei dich nicht aufhalten können...“
„Nein, Matt.“ Meredith' tiefe, nüchterne Stimme kam vom anderen Ende des Zimmers. „Es hätte keinen
Zweck.“ Stefan sah sie mit einem harten Blick an. Doch sie wandte die Augen nicht ab. Ihr Gesicht war
ruhig und gefaßt. „So, du bist fest entschlossen, Klaus von Angesicht zu Angesicht zu bekämpfen, Stefan.
Gut. Aber bevor du gehst, mußt du dir wirklich sicher sein, daß du überhaupt eine Chance gegen ihn hast.“
Kühl begann sie, den Kragen ihrer Bluse aufzuknöpfen.
Bonnie spürte einen scharfen Stich, obwohl sie dasselbe erst vor einer Woche angeboten hatte. Aber das war
privat geschehen, dachte sie. Dann zuckte sie mit den Schultern. Öffentlich oder privat, was für einen
Unterschied machte es schon?
Sie schaute zu Matt, der sichtlich verwirrt schien. Dann beobachtete sie, wie Matt die Stirn runzelte und sich die störrische Entschlossenheit auf seinem Gesicht ausbreitete, die die Trainer der gegnerischen Footballteams immer das Fürchten lehrte. Seine blauen Augen begegneten ihren, und sie nickte, das Kinn vorgestreckt. Schweigend machte sie den Reißverschluß ihrer Windjacke auf, und Matt zog im selben Moment sein T-Shirt aus. Stefan starrte die drei, die sich in seinem Zimmer mit starren Mienen auszogen, der Reihe nach an, und versuchte, seinen eigenen Schock zu verbergen. Aber er schüttelte den Kopf und hielt den weißen Speer wie eine Waffe vor sich. „Nein.“ „Sei kein Blödmann, Stefan“, fuhr Matt ihn an. Selbst in der Verwirrung dieses schrecklichen Moments hielt Bonnie unbewußt inne, um seine bloße Brust zu bewundern. „Wir sind zu dritt. Du könntest viel nehmen, ohne einen von uns zu verletzen.“ „Ich sagte, nein! Nicht aus Rache und nicht, um Böses mit Bösem zu bekämpfen! Ich dachte, gerade du würdest das verstehen.“ Stefans Blick auf Matt war bitter. „Ich kapiere nur, daß du da draußen sterben wirst!“ schrie Matt. „Er hat recht.“ Bonnie biß sich auf die Lippen. Die Vorahnung brach durch ihre Abwehr. Sie wollte es nicht, doch sie hatte keine Kraft mehr, ihr zu widerstehen. Mit einem Schauder fühlte sie sie hervorbrechen und hörte die Worte in ihrem Kopf. „Niemand kann ihn bekämpfen und überleben“, stieß sie wie unter Schmerzen hervor. „Das hat Vickie gesagt, und sie hatte recht. Ich fühle es, Stefan. Niemand kann ihn bekämpfen und überleben.“ Einen Moment, einen kurzen Moment kam es ihr so vor, als würde er auf sie hören. Doch dann wurde sein Gesicht hart und seine Stimme wieder kalt. „Das ist nicht euer Problem. Laßt mich allein damit fertig werden.“ „Aber wenn es keine Chance gibt zu gewinnen...“ begann nun auch Matt. „Das hat Bonnie nicht gesagt“, erwiderte Stefan kurz. „Doch! Wovon, zum Teufel, redest du eigentlich?“ schrie Matt. Es war schwer, ihn aus der Fassung zu bringen. Aber wenn er einmal die Geduld verlor, dauerte es lange, bis er sich wieder beruhigte. „Stefan, ich habe genug...“ „Und ich auch!“ brüllte Stefan zurück, in einem Tonfall, den Bonnie noch nie von ihm gehört hatte. „Ich habe euch satt! Ich bin es leid, euer ständiges Gezänk, eure Weichheit - und auch deine Vorahnungen, Bonnie! Das ist mein Problem!“ „Ich dachte, wir wären ein Team...“ fuhr Matt ihn an. „Wir sind kein Team. Ihr seid ein Haufen dummer Menschen! Selbst nach allem, was passiert ist, wollt ihr im Grunde nur Sicherheit, Sicherheit und noch mal Sicherheit, ein ganzes Leben lang, bis ihr in eure Gräber hinuntersteigt. Ich bin nicht wie ihr, und ich will es auch nicht sein! Ich habe mich solange mit euch abgegeben, weil ich es mußte. Aber jetzt ist Schluß!“ Er schaute sie der Reihe nach an und betonte jedes Wort. „Ich brauche keinen von euch. Ich möchte euch nicht bei mir haben, und ich will nicht, daß ihr mir folgt. Ihr werdet nur meinen Plan verderben. Jeden, der mir folgt, werde ich töten.“ Und mit einem letzten, vernichtenden Blick packte er den Speer fester, drehte sich um und ging hinaus. 14. KAPITEL „Jetzt ist er total verrückt geworden.“ Matt starrte auf den leeren Eingang, durch den Stefan verschwunden
war.
„Ist er nicht.“ Meredith' Stimme war nüchtern und ruhig, aber es lag auch ein hilfloses Lachen darin. „Hast
du denn nicht kapiert, was er macht, Matt?“ sagte sie, als er sich zu ihr umwandte. „Er schreit uns an, damit
wir ihn hassen. Ist so häßlich wie möglich zu uns, damit wir böse werden und ihn die Sache allein
durchziehen lassen.“ Sie schaute auf die Tür und hob die Augenbrauen. „Obwohl, ,Jeden, der mir folgt,
werde ich töten', das war ein bißchen zu dick aufgetragen.“
Bonnie kicherte mit einem Mal wie wild, ohne es zu wollen. „Ich glaube, den Satz hat er sich von Damon
geborgt. ,Kapiert das endlich! Ich brauche keinen von euch!’“
„Ihr seid ein Haufen dummer Menschen“, fügte Matt hinzu. „Aber ich verstehe das immer noch nicht. Du
hattest vorhin eine Vorahnung, Bonnie, und Stefan geht normalerweise nicht so einfach darüber hinweg.
Wenn es keine Möglichkeit gibt, den Kampf zu gewinnen, was soll dann das Ganze?“
„Bonnie hat nicht gesagt, daß es keine Möglichkeit gibt zu gewinnen, sondern daß es keine gibt, den Kampf
zu überleben. Stimmt's, Bonnie?“ Meredith sah sie an.
Bonnie hörte auf zu kichern. Selbst überrascht, versuchte sie, die Voraussage zu deuten. Doch sie wußte
auch nicht mehr als die Worte, die ihr plötzlich in den Sinn gekommen waren. Niemand kann ihn bekämpfen
und überleben.
„Du glaubst, Stefan denkt...“ Langsam wich die mörderische Wut aus Matts Augen. „Er geht hin und hält
Klaus auf jeden Fall auf, auch wenn es ihn das Leben kostet? Wie ein Opferlamm?“
„Wie Elena“, entgegnete Meredith trocken. „Und vielleicht... damit er mit ihr zusammensein kann.“
„Nein.“ Bonnie schüttelte den Kopf. Sie wußte vielleicht nicht viel über die Prophezeiung, aber eins war ihr
klar. „Das hat er sicher nicht im Sinn. Elena ist einzigartig. Sie ist, was sie jetzt ist, weil sie zu jung
gestorben ist. In ihrem Leben ist so vieles unvollendet geblieben... nun, sie ist ein ganz besonderer Fall.
Aber Stefan ist schon seit fünfhundert Jahren ein Vampir, und er würde mit Sicherheit nicht zu jung sterben.
Es gibt keine Garantie, daß er nach seinem Tod mit Elena zusammentreffen würde. Er könnte an einen
anderen Ort gelangen, oder... einfach verlöschen. Und er weiß das. Ich bin sicher, daß er das weiß. Ich
glaube, er will nur sein Versprechen ihr gegenüber einlösen. Nämlich, Klaus aufzuhalten, egal, zu welchem
Preis.“
„Zumindest will er es versuchen“, sagte Matt leise, und es hörte sich wie ein Zitat an. Er schaute die
Mädchen plötzlich an. „Ich gehe ihm nach.“
„Natürlich“, antwortete Meredith geduldig.
Matt zögerte. „Äh... ich könnte euch beide nicht zufällig überreden, hierzubleiben?“
„Nach deiner feurigen Rede über Teamgeist und so? Keine Chance.“
„Das habe ich befürchtet. Also...“
„Also worauf warten wir noch?“ war Bonnies Schlußwort.
Sie sammelten alles an Waffen zusammen, was sich anbot. Matts Armeemesser, das Stefan fallengelassen
hatte, den Dolch mit dem Elfenbeingriff von Stefans Kommode, ein Fleischmesser aus der Küche.
Draußen war von Mrs. Flowers weit und breit nichts zu sehen. Der Himmel war bereits in helles Lila
getaucht, das sich im Westen in fahles Gelb verwandelte. Das Zwielicht der Mittsommernacht, dachte
Bonnie, und die Härchen auf ihren Armen und im Nacken stellten sich auf.
„Klaus sprach von einem Bauernhof im Wald. Das muß der alte Hof der Franchers sein“, überlegte Matt.
„Wo Katherine Stefan in den verlassenen Brunnen geworfen hat.“
„Das ergibt einen Sinn. Vermutlich benutzt er Katherines Tunnel, um unter dem Fluß hin- und herzugehen.
Es sei denn, die Uralten sind so mächtig, daß sie fließendes Wasser überqueren können, ohne dabei selbst
Schaden zu nehmen.“
Das stimmt, erinnerte Bonnie sich. Böse Wesen können kein fließendes Wasser überqueren, und je
schlechter jemand war, desto schwieriger wurde es. „Aber wir wissen nichts über die Ursprünglichen“, sagte
sie laut.
„Nein, und das bedeutet, daß wir doppelt vorsichtig sein müssen“, gab Matt zu bedenken. „Ich kenne diesen
Wald sehr gut und weiß, welchen Pfad Stefan vermutlich nehmen wird. Wir sollten einen anderen Weg
gehen.“
„Damit Stefan uns nicht entdeckt und umbringt?“
„Damit Klaus uns nicht sieht oder wenigstens nicht alle von uns. Vielleicht haben wir eine Chance, zu
Caroline zu gelangen. Irgendwie müssen wir sie nämlich da rausschaffen. Solange Klaus Stefan damit droht,
ihr etwas anzutun, hat er ihn voll in seiner Gewalt. Und es ist immer besser, im voraus zu planen, statt den
Feind direkt anzuspringen. Klaus wollte sich nach Anbruch der Dunkelheit mit Stefan treffen. Nun, wir
werden vorher da sein.“
Bonnie war tief beeindruckt von seinem Plan. Kein Wunder, daß er Kapitän des Footballteams ist, dachte
sie. Ich wäre schreiend losgestürmt.
Matt wählte einen fast unsichtbaren Weg zwischen den Eichen. Das Unterholz war zu dieser Jahreszeit
besonders dicht. Moose, Gras, blühende Pflanzen und Farne machten das Vorwärtskommen schwer. Bonnie
mußte Matt vertrauen, daß er wußte, wohin er ging, denn sie selbst hatte keine Ahnung. Über ihnen
stimmten die Vögel den letzten Gesang an, bevor sie sich ein Nachtlager suchten.
Es wurde dämmriger. Motten und Nachtfalter flatterten an Bonnies Gesicht vorbei. Nachdem sie durch ein Gebiet voller Giftpilze stolpern mußte, auf denen Schnecken klebten, war sie sehr dankbar, daß sie dieses Mal Jeans angezogen hatte. Schließlich blieb Matt stehen. „Wir kommen näher heran“, flüsterte er. „Es gibt dort eine kleine Anhöhe, von der wir runterschauen können, vielleicht sogar, ohne daß Klaus uns entdeckt. Seid leise.“ Bonnie hatte noch nie so vorsichtig einen Fuß vor den anderen gesetzt. Zum Glück waren die Blätter auf dem Boden feucht und raschelten nicht. Nach ein paar Minuten ließ Matt sich auf den Bauch fallen und deutete an, daß die beiden Mädchen das gleiche machen sollten. Bonnie redete sich mit ihrer ganzen Willenskraft ein, daß ihr die Tausendfüßler und Regenwürmer überhaupt nichts ausmachten, die ihre gleitenden Finger aufstörten, und daß sie die Spinnweben in ihrem Gesicht nicht spürte. Hier ging es um Leben und Tod, und sie war bereit. „Hier“, flüsterte Matt. Seine Stimme war kaum zu verstehen. Bonnie rutschte auf dem Bauch zu ihm hin. Sie schauten hinunter auf das Gehöft der Franchers, oder besser, auf das, was davon übriggeblieben war. Es war schon lange verfallen, und der Wald hatte das Gebiet zurückerobert. Jetzt standen nur noch die Grundmauern, Steine, die von blühendem Unkraut und stacheligen Sträuchern bedeckt waren. Ein hoher Schornstein ragte in den Himmel wie ein einsames Monument. „Das ist sie. Caroline“, zischte Meredith Bonnie ins Ohr. Caroline war eine undeutliche Gestalt, die am Schornstein saß. Ihr hellgrünes Kleid hob sich gegen die immer dunkler werdende Umgebung ab, aber ihr schönes kastanienbraunes Haar sah stumpf und schwarz aus. Etwas Weißes leuchtete quer über ihrem Gesicht. Bonnie erkannte, daß es ein Knebel war, ein Klebestreifen oder eine Bandage. Aus Carolines merkwürdiger Haltung - sie hatte die Arme auf dem Rücken und die Beine gerade vor sich ausgestreckt - schloß Bonnie, daß sie gefesselt war. Arme Caroline, dachte sie und vergab ihr all die häßlichen, kleinlichen und egoistischen Dinge, die sie je getan hatte, und das waren nicht wenige. Aber Bonnie konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als von einem psychopathischen Vampir, der schon zwei Klassenkameradinnen getötet hat, entführt, in den Wald geschleppt, gefesselt und liegengelassen zu werden. Und das Schlimmste ist, während der ganzen Aktion bist du selbst völlig hilflos, und dein Leben hängt von einem anderen Vampir ab, der guten Grund hat, dich zu hassen. Schließlich hatte Caroline am Anfang Stefan für sich gewollt. Sie hatte Elena gehaßt, versucht, sie zu demütigen und die ganze Stadt gegen sie aufzuhetzen, weil die ihr Stefan weggenommen hatte, wie sie glaubte. Stefan war der letzte, der irgendwelche freundlichen Gefühle für Caroline Forbes hegen konnte. „Schaut!“ sagte Matt. „Ist er das? Klaus?“ Bonnie hatte es auch gesehen. Eine flüchtige Bewegung auf der anderen Seite des Schornsteins. Während sie ihre Augen anstrengte, erschien er, sein leichter, heller Regenmantel flatterte geisterhaft um seine Beine. Er sah auf Caroline herab. Sie sank in sich zusammen und versuchte, von ihm wegzukrabbeln. Ihre Fesseln hinderten sie daran. Sein Lachen schnitt so klar durch die stille Luft, daß Bonnie zusammenzuckte. „Das ist er“, flüsterte sie und versteckte sich tiefer im schützenden Fam. „Aber wo ist Stefan? Es ist jetzt fast dunkel.“ „Vielleicht ist er doch noch klug geworden und kommt nicht“, antwortete Matt. „Keine Chance.“ Meredith schaute durch die Farne nach Süden. Bonnie folgte ihrem Blick und schluckte hart. Stefan stand am Rand der Lichtung. Er schien aus dem Nichts gekommen zu sein. Noch nicht einmal Klaus hat seine Ankunft bemerkt, dachte Bonnie. Er stand dort schweigend und machte keine Anstalten, sich oder den weißen Eschenspeer zu verbergen. Etwas in seiner Haltung und in der Art, wie er die Szene überschaute, erinnerte Bonnie wieder daran, daß er im fünfzehnten Jahrhundert ein Aristokrat gewesen war, ein Mitglied des Adels. Er sagte nichts, wartete darauf, daß Klaus ihn entdeckte, und ließ sich zu nichts drängen. Klaus wandte sich nach Süden und erstarrte. Er schien überrascht zu sein, daß Stefan sich so herangeschlichen hatte. Doch dann lachte er und breitete die Arme aus. „Salvatore! Welch ein Zufall. Ich habe gerade an dich gedacht.“ Langsam musterte Stefan Klaus von unten bis oben, von den Zipfeln seines schäbigen Regenmantels bis zu seinem windzerzausten Haar. „Du hast nach mir geschickt, hier bin ich. Laß das Mädchen gehen“, sagte er bloß.
„Habe ich das versprochen?“ Sichtlich verblüfft preßte Klaus beide Hände auf die Brust. Dann schüttelte er
den Kopf und kicherte. „Ich glaube nicht. Laß uns zuerst reden.“
Stefan nickte, als hätte Klaus eine bittere Vermutung bestätigt. Er nahm den Speer von seiner Schulter und
hielt ihn vor sich. Dabei spielte er leicht und geschickt mit dem plumpen, schweren Holz. „Nun, ich höre.“
„Stefan ist cleverer, als es den Anschein hatte“, murmelte Matt mit leisem Respekt in der Stimme. „Und er
scheint auch nicht so wild darauf, ins Gras zu beißen, wie ich gedacht habe“, fügte er hinzu. „Er ist
vorsichtig.“
Klaus deutete auf Caroline, seine Fingerspitzen strichen über ihr kastanienbraunes Haar. „Warum kommst
du nicht her, damit wir nicht so zu schreien brauchen?“ Aber er hat noch nicht gedroht, seine Gefangene zu
verletzen, fiel Bonnie auf.
„Ich kann dich auch so gut verstehen“, erwiderte Stefan.
„Prima“, flüsterte Matt. „Das ist die richtige Taktik, Stefan.“
Bonnie jedoch betrachtete Caroline. Das gefangene Mädchen kämpfte und warf den Kopf wie in Panik oder
voller Schmerzen vor und zurück. Bonnie beschlich ein merkwürdiges Gefühl bei Carolines Bewegungen,
besonders dieses heftige Reißen des Kopfes, als bemühte sie sich, den Himmel zu erreichen. Der Himmel...
Bonnie sah hoch. Es war inzwischen ganz dunkel, und ein schwacher Mond hing über den Bäumen. Deshalb
konnte sie jetzt erkennen, daß Carolines Haar rotbraun war. Das liegt am Mondlicht, dachte sie. Dann fiel
ihr Blick voller Schock auf einen Baum, der hinter Stefan etwas höher stand. Seine Zweige raschelten leise,
obwohl es ganz windstill war. „Matt?“ flüsterte sie aufgeregt.
Stefans Aufmerksamkeit war mit jeder Faser seines Körpers auf Klaus gerichtet. Jedes kleinste Teil seiner
Macht konzentrierte sich auf den Uralten vor ihm. Doch in diesem Baum direkt über ihm...
Alle Gedanken an einen Plan oder daran, Matt um Rat zu fragen, waren wie weggefegt. Bonnie sprang aus
ihrem Versteck hoch und schrie: „Stefan! Über dir! Es ist eine Falle.“
Stefan sprang geschmeidig wie eine Raubkatze zur Seite, genau in dem Moment, als etwas Schweres auf den
Platz hinunterstürzte, an dem er gerade noch gestanden hatte. Das Mondlicht beleuchtete die Szene perfekt.
Bonnie konnte Tylers gefletschte Zähne sehen.
Und das Weiße in Klaus' Augen, als er zu ihr herumfuhr. Einen Moment starrte sie ihn wie gelähmt an, dann
krachte ein Blitz aus dem wolkenlosen, leeren Himmel.
Erst später wurde Bonnie das Furchterregende und Bizarre an diesem Geschehen klar. Der blaugezackte
Blitz fuhr aus dem klaren Himmel genau in die ausgestreckte Handfläche von Klaus. Das nächste, was sie
sah, war so entsetzlich, daß es alles andere auslöschte: Klaus faltete seine Hand über dem Blitz zusammen
und warf ihn auf sie zu.
Stefan schrie, schrie ihr zu, wegzulaufen. Bonnie hörte ihn, während sie wie gelähmt auf das gleißende
Unheil starrte. Dann packte sie jemand und riß sie zur Seite. Mit dem Gestank von Ozon knallte der Blitz
über ihren Kopf hinweg wie eine riesige Peitsche. Sie landete mit dem Gesicht im Moos, griff nach
Meredith' Hand, um ihr für die Rettung zu danken, und mußte feststellen, daß es Matt gewesen war.
„Bleib hier! Bleib hier!“ schrie er und stürmte los.
Diese gehaßten Worte! Sie rissen Bonnie hoch, und sie lief hinter ihm her, bevor ihr bewußt war, was sie tat.
Und dann verwandelte sich die Welt in ein Chaos.
Klaus war wieder zu Stefan herumgewirbelt, der auf Tyler einschlug. Tyler, in seiner Wolfsform, gab
entsetzliche Geräusche von sich, während Stefan ihn zu Boden schleuderte.
Meredith rannte zu Caroline und näherte sich dem Schornstein von hinten, damit Klaus sie nicht bemerkte.
Bonnie sah, wie sie nach Caroline griff, und das Aufblitzen von Stefans silbernem Dolch, während Meredith
die Fesseln um Carolines Handgelenke durchschnitt. Dann, halb zerrend, halb tragend, schleppte Meredith
Caroline hinter den Schornstein, um ihr Werk zu vollenden.
Ein Geräusch, wie Geweihe, die sich verkeilen, ließ Bonnie herumfahren. Klaus griff Stefan mit einem
Stock an - er mußte vorher auf dem Boden gelegen haben und sah so spitz aus wie der von Stefan. Eine
gefährliche Lanze. Aber Klaus und Stefan benutzten ihre Speere nicht dazu, aufeinander einzustechen,
sondern wie Bauernspieße. Robin Hood, dachte Bonnie wie betäubt. Little John und Robin Hood. So sahen
sie aus. Klaus war allerdings viel größer und schwerer als Stefan.
Dann bemerkte sie etwas anders, und ein stummer Schrei entfuhr ihr. Hinter Stefan hatte sich Tyler wieder
aufgerappelt und duckte sich, zum Sprung an Stefans Kehle bereit.
Wie damals auf dem Friedhof. Stefan stand mit dem Rücken zu ihm, und Bonnie konnte ihn nicht rechtzeitig warnen. Aber sie hatte Matt vergessen. Den Kopf voran, Krallen und Zähne des Werwolfs ignorierend, warf er sich in klassischer Footballmanier auf Tyler. Der wurde zur Seite geschleudert, und Matt landete auf ihm. Bonnie war überwältigt. So viel passierte auf einmal. Meredith säbelte durch Carolines Fußfesseln, Matt verprügelte Tyler in einer Art, die ihm auf dem Footballfeld einen Platzverweis eingehandelt hätte, und Stefan wirbelte mit seinem weißen Eschenholzstab, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Klaus lachte wie im Rausch, dieses tödliche Ballett schien ihn überglücklich zu machen, während sie Schläge mit rasender Schnelligkeit und voller Präzision austauschten. Doch Matt schien jetzt in Schwierigkeiten zu kommen. Tyler hatte im Moment Oberhand und fletschte die Zähne. Wild sah Bonnie sich nach einer Waffe um und vergaß ganz das Fleischmesser in ihrer Tasche. Ihr Blick fiel auf einen abgestorbenen Eichenast. Sie nahm ihn und rannte zu Tyler und Matt. Dort angekommen, zögerte sie. Sie wagte nicht, den Stock zu brauchen, aus Angst, versehentlich Matt zu treffen. Er und Tyler wälzten sich mit schwindelerregender Schnelligkeit auf dem Boden hin und her. Dann war Matt wieder oben, er hielt Tylers Kopf fest und sich selbst außer Reichweite seiner Zähne und Krallen. Bonnie sah ihre Chance und zielte. Doch Tyler erkannte, was sie vorhatte. In einem Ausbruch unmenschlicher Kraft zog er die Beine an und schleuderte Matt zurück. Matt prallte mit dem Kopf gegen einen Baumstamm. Das Geräusch dabei würde Bonnie nie vergessen. Wie eine überreife Melone, die platzte. Er glitt an dem Baum zusammen und blieb reglos liegen. Bonnie keuchte erschrocken auf. Sie wollte zu Matt laufen, doch plötzlich stand Tyler vor ihr. Er atmete heftig, mit Blut vermischter Speichel lief aus seinem Mund. Wie im Traum hob Bonnie den Stock, doch sie fühlte, wie er in ihrer Hand zitterte. Matt war so still - atmete er überhaupt noch? Bonnie begann zu schluchzen, während sie Tyler gegenüberstand. Das Ganze war zu lächerlich. Er war doch ein Junge aus ihrer Schule. Ein Junge, mit dem sie letztes Jahr noch auf der Schulfete getanzt hatte. Wie konnte er sie davon abhalten, Matt zu helfen? Warum wollte er sie alle verletzen? Was trieb ihn dazu, so zu handeln? „Tyler... bitte“, begann sie, wollte ihm Vernunft einreden, ihn anflehen... „Ganz allein im dunklen Wald, Rotkäppchen?“ Er grinste hämisch. Seine Stimme klang dick und belegt. In diesem Moment wußte Bonnie, daß dies nicht mehr der Junge war, mit dem sie zur High-School gegangen war. Das hier war schlimmer als jedes Raubtier. „Jemand hätte dich warnen sollen“, fuhr er fort. „Denn, wenn du allein in den Wald gehst, wem könntest du begegnen? Richtig, dem großen, bösen...“ „Blödmann!“ beendete eine Stimme den Satz für ihn, und mit einem Gefühl übermächtiger Dankbarkeit sah Bonnie, wie Meredith neben sie trat. Meredith hielt Stefans silbernen Dolch in der Hand, der im Mondlicht schimmerte. „Silber, Tyler.“ Meredith schwang ihn drohend hin und her. „Ich frage mich, was Silber bei den Gliedern eines Werwolfs anrichtet. Willst du es sehen?“ Das war nicht mehr die kühle, elegante, selbstbeherrschte Meredith. Das hier war Meredith, die Kämpferin. Und obwohl sie lächelte, kochte sie vor Wut. „Ja!“ schrie Bonnie triumphierend. Sie fühlte, wie Kraft sie durchströmte. Plötzlich konnte sie sich wieder bewegen. Sie und Meredith. Gemeinsam waren sie unbesiegbar. Meredith schlich von einer Seite an Tyler heran, Bonnie hielt an der anderen den Stock bereit. Ein Verlangen überfiel sie, das sie noch nie zuvor gespürt hatte. Die Lust, Tyler so hart auf den Kopf zu schlagen, wie sie nur konnte. Und sie spürte, daß sie stärker war als je zuvor. Und Tyler ahnte es. Er wußte, daß sie ihn von beiden Seiten angreifen wollten. Instinktiv machte er einen Rückzieher, wandte sich um, um von ihnen wegzukommen. Sie folgten ihm. Für eine Minute oder zwei verhielten sie sich wie ein kleines Sonnensystem. Tyler drehte sich in der Mitte um seine eigene Achse. Bonnie und Meredith umkreisten ihn und warteten auf eine Chance für ihren Angriff. Eins, zwei, DREI. Ein stummes Signal zuckte von Meredith zu Bonnie. Gerade, als Tyler Meredith ansprang und versuchte, ihr das Messer aus der Hand zu stoßen, schlug Bonnie zu. Sie erinnerte sich an den Rat eines längst entschwundenen Freundes, der versuchte hatte, ihr Baseball beizubringen. Sie stellte sich vor, nicht auf Tyler Kopf, sondern durch ihn hindurch zu schlagen, um etwas auf der anderen Seite zu treffen. Sie legte das ganze Gewicht ihres zierlichen Körpers in den Schlag. Der Aufprall war so heftig, daß ihr die Arme
dabei fast aus den Gelenken gerissen wurden. Der Stock zersplitterte. Tyler kippte um wie ein Boxer, der k.o. ist.
„Ich hab's geschafft! Ja!“ jubelte Bonnie und warf das zerbrochene Ende des Astes in ihrer Hand weg. „Wir
haben es geschafft!“ Ihr Freudenschrei gellte durch die Lichtung. Sie packte den schweren Körper beim
Haar und zog ihn von Meredith runter. Tyler war in der Hitze des Kampfes auf sie gestürzt. „Wir...“
Die Worte blieben Bonnie im Hals stecken. „Meredith!“ schrie sie entsetzt.
„Schon gut“, stieß Meredith unter Schmerzen hervor. Ihre Stimme ist so schwach, dachte Bonnie. Sie kam
sich vor, als hätte ihr jemand einen Kübel Eiswasser über den Kopf gekippt. Tyler hatte Meredith das Bein
bis auf die Knochen aufgerissen. Großen, klaffende Wunden liefen Meredith' Schenkel entlang. Durch die
zerfetzten Jeans und das Blut konnte Bonnie klar das zerrissene Fleisch erkennen.
„Meredith!“ rief sie außer sich. Sie mußten die Freundin zu einem Arzt bringen. Jeder mußte jetzt mit dem
Wahnsinn aufhören, das mußten doch alle verstehen. Sie hatten einen Notfall hier, sie brauchten einen
Krankenwagen... „Meredith“, keuchte sie, den Tränen nahe.
„Binde es mit etwas zusammen.“ Meredith' Gesicht war weiß. Schock. Sie fiel in Schock. Und soviel Blut,
soviel Blut strömte heraus. Oh, Gott, dachte Bonnie. Bitte, hilf mir. Sie sah sich nach einer Kordel um, fand
jedoch nichts.
Etwas fiel neben ihr auf den Boden. Ein zerfranstes Stück Nylonseil, wie das Seil, mit dem sie Tyler in der
Kirchenruine gefesselt hatten. Bonnie sah hoch.
„Kannst du das brauchen?“ fragte Caroline unsicher mit klappernden Zähnen.
Sie trug ihr grünes Kleid, ihr sonst so gepflegtes Haar war wild und struppig, das Gesicht von Schweiß und
Blut verschmiert. Noch während sie sprach, schwankte sie leicht und fiel neben Bonnie auf die Knie.
„Bist du verletzt?“ fragte Bonnie entsetzt.
Caroline schüttelte den Kopf, aber dann beugte sie sich nach vorn und würgte. Bonnie sah die beiden
Wundmale an ihrem Hals. Doch jetzt war keine Zeit, sich um Caroline zu kümmern. Meredith war
wichtiger.
Bonnie band das Seil über Meredith' Wunden zusammen und versuchte sich verzweifelt daran zu erinnern,
was sie im Erste-Hilfe-Kurs gelernt hatte. Eine Aderpresse durfte nicht zu fest sein, sonst bestand die
Gefahr, daß Wundbrand einsetzte. Aber sie mußte das fließende Blut stoppen. Oh, Meredith.
„Bonnie... hilf Stefan“, keuchte Meredith, ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. „Er wird es brauchen...“
Sie sank zurück, ihr Atem flatterte, und ihre Augen drehten sich zum Himmel.
Naß. Alles war naß. Bonnies Hände, ihre Kleider, der Boden. Naß von Meredith' Blut. Und Matt lag unter
dem Baum, immer noch bewußtlos. Sie konnte sie unmöglich verlassen. Besonders nicht, da Tyler ebenfalls
dort lag. Er könnte aufwachen.
Wie benommen drehte sie sich zu Caroline um, die sich zitternd erbrach. Zwecklos, dachte Bonnie. Aber sie
hatte keine andere Wahl.
„Caroline, hör mir gut zu.“ Sie hob den größeren Teil des Astes auf, den sie bei Tyler benutzt hatte und
drückte ihn Caroline in die Hand. „Du bleibst bei Matt und Meredith. Lockere die Aderpresse ungefähr alle
zwanzig Minuten. Und falls Tyler aufwacht, wenn er sich auch nur rührt, schlägst du ihn damit, so hart du
kannst. Hast du das verstanden? Caroline“, fügte sie hinzu. „Das ist deine große Chance zu beweisen, daß du
zu etwas taugst. Daß du nicht völlig nutzlos bist. Okay?“ Sie fing den ausweichenden Blick in den grünen
Augen auf und wiederholte reit Nachdruck: „Okay?“
„Aber was wirst du tun?“
Bonnie sah zur Lichtung.
„Nein, Bonnie.“ Carolines Hand packte sie, und Bonnie bemerkte im Unterbewußtsein die abgesplitterten
Fingernägel und die roten, wunden Stellen von den Fesseln um ihre Handgelenke. „Bleib hier in Sicherheit.
Geh nicht zu ihnen. Du kannst nichts tun...“
Bonnie schüttelte sie ab und ging zur Lichtung, bevor sie den Mut verlor. Tief in ihrem Inneren wußte sie,
daß Caroline recht hatte. Es gab nichts, was sie tun konnte. Doch etwas, das Matt vorhin gesagt hatte, klang
in ihr nach. Es zumindest zu versuchen. Sie mußte es versuchen.
Trotzdem blieb ihr während der nächsten furchtbaren Minuten nichts weiter übrig, als zuzusehen.
Bisher hatten Stefan und Klaus Schläge mit einer solchen Gewalt und Präzision ausgetauscht wie bei einem
schönen, tödlichen Tanz. Es war ein ausgeglichener oder fast ausgeglichener Kampf gewesen.
Jetzt beobachtete sie, wie Stefan Klaus mit seinem weißen Eschenstab in die Knie zwang, ihn immer weiter
nach hinten drängte, wie ein Limbotänzer, der probiert, wie weit er gehen kann. Und Bonnie konnte das
Gesicht von Klaus sehen. Den Mund leicht geöffnet, starrte er Stefan mit einer Mischung aus Überraschung
und Furcht an.
Dann änderte sich alles.
Als Klaus sich so weit nach hinten gebeugt hatte, wie er konnte, als es schien, daß er nah daran war,
zusammenzubrechen und aufzugeben, passierte etwas.
Klaus lächelte.
Und stieß seinerseits zurück.
Bonnie sah, wie Stefans Muskeln sich zusehends verkrampften vor Anstrengung. Aber Klaus grinste wild
und gab nicht nach. Seine Augen waren weit aufgerissen. Langsam, unerbittlich richtete er sich wie ein
böser Schachtelteufel auf. Sein Grinsen wurde immer breiter, bis es schließlich sein Gesicht zu spalten
schien. Wie bei der Cheshire Katze aus Alice im Wunderland.
Eine Katze, dachte Bonnie.
Eine Katze mit einer Maus.
Jetzt war Stefan derjenige, der keuchte und kämpfte. Mit zusammengebissenen Zähnen versuchte er, Klaus
zu widerstehen. Aber Klaus und sein Stock drückten ihn nach hinten, preßten ihn auf den Boden.
Und dabei grinste er die ganze Zeit.
Bis Stefan auf dem Rücken lag, den eigenen Stab von Klaus' Gewicht quer über die Kehle gepreßt. Klaus
sah auf ihn hinunter und strahlte. „Ich habe keine Lust mehr zu spielen, kleiner Bub“, sagte er herablassend
und warf seinen eigenen Stock weg. „Jetzt ist es Zeit zu sterben.“
Er nahm Stefan den Stock so mühelos ab, als würde er ihn einem Kind wegnehmen. Hob ihn mit leichter
Bewegung auf und brach ihn über dem Knie in zwei Stücke, um zu zeigen, wie stark er war, wie stark er
immer gewesen war. Wie grausam hatte er mit Stefan gespielt!
Eine der Hälften des weißen Speers warf er achtlos über die Schulter auf die Lichtung. Die andere hob er
sich für Stefan auf. Er benutzte nicht das scharfe Ende, sondern das zersplitterte, das aus Dutzenden scharfen
Spitzen bestand, und stieß mit einer Wucht zu, die dem Betrachter fast lässig erschien. Doch Stefan schrie.
Klaus tat es wieder und wieder, und jedes Mal schrie Stefan auf.
Bonnie schrie ebenfalls. Lautlos.
Sie hatte Stefan noch nie zuvor so schreien hören. Man brauchte ihr weder zu erzählen, welche Schmerzen
er erleiden mußte. Daß Stefan am Ende sterben würde - wenn auch noch nicht gleich. Klaus hatte jetzt die
Hand hoch gehoben und war bereit, es mit einem letzten Stoß zu Ende zu bringen. Er schaute mit einem
Grinsen voll perverser Freude zum Mond hoch und zeigte deutlich, daß es das war, was ihm Vergnügen
bereitete und ihn berauschte. Folter und Mord.
Klaus wirbelte den zersplitterten Stab hin und her und schickte sich an, mit einem Lächeln ekstatischer
Freude erneut zuzustoßen.
Ein Speer schoß quer über die Lichtung, traf ihn mitten im Rücken und landete dort zitternd wie ein riesiger
Pfeil. Klaus riß die Arme auseinander und ließ den Stock fallen. Das böse Grinsen verschwand aus seinem
Gesicht. Er stand eine Sekunde bewegungslos da und drehte sich dann wie in Zeitlupe um. Der weiße
Eschenstab in seinem Rücken schwankte leicht.
Vor Bonnies Augen tanzten Millionen grauer Pünktchen. Sie konnte nichts erkennen, aber die Stimme war
klar zu verstehen. Sie klang kalt, arrogant und erfüllt von absolutem Selbstvertrauen.
Nur fünf Worte, aber sie änderten alles.
„Hände weg von meinem Bruder!“
15. KAPITEL Klaus schrie. So müssen die Jäger der Urzeit geschrien haben, dachte Bonnie und erschauderte. Die
Säbelzahntiger, zum Beispiel, oder der Mammutbulle. Blut quoll mit dem Schrei aus seinem Mund. Sein
grausam attraktives Gesicht war zu einer wuterfüllten Maske verzogen.
Er tastete mit den Händen hektisch auf den Rücken, versuchte, den weißen Eschenspeer zu packen und
herauszuziehen. Aber er steckte zu tief. Der Wurf war exzellent gewesen.
„Damon“, flüsterte Bonnie.
Er stand am Rand der Lichtung, umrahmt von den Eichen. Während sie zusah, machte er einen Schritt auf Klaus zu und dann noch einen. Geschmeidige, sich heranpirschende Schritte, voll tödlicher Entschlossenheit. Und er war wütend. Bonnie wäre vor ihm davongelaufen, vor dem schrecklichen Ausdruck seiner Züge. Sie hatte noch nie einen solchen Zorn gesehen. „Hände... weg... von meinem Bruder“, zischte er. Sein Blick war fest auf Klaus gerichtet, während er näher herankam. Klaus schrie wieder, doch seine Hände hatten ihr panisches Suchen aufgegeben. Er hob sie hoch. „Du Idiot! Wir brauchen nicht zu kämpfen! Das habe ich dir schon bei ihrem Haus gesagt! Wir können einander ignorieren.“ Damon hatte die Stimme nicht gehoben. „Hände weg von meinem Bruder.“ Bonnie konnte den Anstieg der Macht in ihm spüren. Er fuhr so leise fort, daß sie ihre Ohren anstrengen mußte. „Bevor ich dir das Herz herausreiße.“ „Ich habe es dir gesagt!“ schrie Klaus. Damon beachtete seine Worte gar nicht. Sein ganzes Wesen konzentrierte sich auf Klaus' Kehle, auf seine Brust, auf das darin schlagende Herz, das er ihm herausreißen würde. Trotz des Blutverlusts schien der Blonde noch viel Kraft übrig zu haben. Der Ansturm war plötzlich, voller Gewalt und fast unausweichlich. Bonnie sah, wie er sich mit der Lanze auf Damon warf. Unwillkürlich schloß sie die Augen. Und öffnete sie einen Moment später, als sie das Flattern von Flügeln hörte. Klaus war durch den Platz hindurchgerast, wo Damon gestanden hatte, und eine schwarze Krähe erhob sich in die Luft, nur eine einzelne schwarze Feder fiel sacht zu Boden. Während Bonnie sprachlos zusah, hatte die Wucht von Klaus' Attacke ihn selbst über die Lichtung hinaus in die Dunkelheit davongetragen. Er war verschwunden. Tiefes Schweigen senkte sich über den Wald. Bonnies angsterfüllte Starre lockerte sich allmählich. Langsam ging sie, dann rannte sie auf Stefan zu. Er schien ohnmächtig zu sein. Sie kniete sich neben ihn. Und dann spürte sie, wie eine schreckliche, unnatürliche Ruhe sie überfiel. Wenn sie heute nicht so viele Schockerlebnisse hintereinander erlebt hätte, wäre sie vermutlich schreiend geflohen oder in Hysterie gefallen. Aber so, wie die Dinge standen, war das nur einfach der letzte Schritt, der letzte Schritt in die Unwirklichkeit. In eine Welt, die nicht sein konnte, die es aber trotzdem gab. Denn es war schlimm. Sehr schlimm. So schlimm es nur sein konnte. Sie hatte noch nie solche Verletzungen gesehen. Nicht einmal bei Mr. Tanner, und er war an seinen Wunden gestorben. Der Erste-Hilfe-Kurs war hier nutzlos. Selbst, wenn Stefan auf einer Bahre direkt vor dem OP gelegen hätte, wäre es zu spät gewesen. Entsetzlich ruhig schaute sie hoch, sah Flügel aufflattern und im Mondlicht verschwimmen. Eine Sekunde später stand Damon neben ihr, und es gelang ihr, nüchtern und vernünftig zu sprechen. „Wird es ihm helfen, wenn er Blut bekommt?“ Er schien sie nicht zu hören. Seine Augen waren ganz schwarz, ohne Pupillen. Die kaum gezügelte Gewalt, der entsetzliche Zorn waren verschwunden. Er kniete sich hin und berührte den dunklen Kopf auf dem Boden. „Stefan?“ Bonnie schloß die Augen. Damon hat Angst, dachte sie. Damon hat Angst. Und, mein Gott, ich weiß nicht, was ich tun soll. Es gibt nichts mehr zu tun. Alles ist vorbei, wir haben verloren, und Damon hat Angst um Stefan. Er wird sich nicht um uns kümmern, er hat keine Lösung, und jemand muß doch die Dinge wieder in Ordnung bringen. Ich fürchte mich so. Stefan stirbt, Meredith und Matt sind verletzt, und Klaus wird zurückkommen. Sie öffnete die Augen und sah Damon an. Er war ganz weiß, und sein Gesicht sah in diesem Moment erschreckend jung und verletzlich aus. „Klaus wird zurückkommen“, sagte Bonnie leise. Sie fürchtete sich nicht mehr vor Damon. Das waren nicht mehr der jahrhundertealte Jäger und ein siebzehnjähriges Mädchen, die hier am Rand der Welt saßen. Sie waren nur noch zwei Lebewesen, Damon und Bonnie, die aus all dem das Beste machen mußten. „Ich weiß.“ Damon hielt Stefans Hand. Es schien ihm kein bißchen peinlich zu sein. Bonnie konnte spüren, daß er seine ganze Kraft Stefan einflößte, und auch, daß es nicht genug war. „Würde Blut ihm helfen?“
„Nicht viel. Vielleicht ein wenig.“
„Wir müssen alles versuchen, was ihm hilft.“
Stefan flüsterte: „Nein.“
Bonnie war überrascht. Sie hatte geglaubt, er sei noch bewußtlos. Aber seine Augen waren jetzt offen,
wachsam und von rauchigem Grün. Sie waren das einzig Lebendige an ihm.
„Sei nicht dumm“, sagte Damon hart. Er hatte Stefans Hand so fest gepackt, daß seine Knöchel weiß
hervortraten. „Du bist schwer verwundet.“
„Ich werde mein Versprechen nicht brechen.“ Unbeirrbare Sturheit lag in Stefans Stimme und auf seinen
weißen Zügen. Und als Damon den Mund öffnete, zweifellos, um zu sagen, daß Stefan sein Versprechen auf
keinen Fall halten würde, ob es ihm nun paßte oder nicht, denn sonst würde Damon ihm den Hals brechen,
fügte Stefan hinzu: „Besonders, da es zwecklos ist.“
Im Schweigen, das folgte, kämpfte Bonnie mit der harten Wahrheit seiner Worte. Wo sie sich jetzt befanden,
an diesem schrecklichen Ort, der hinter der realen Welt zu sein schien, waren Vortäuschungen oder falsche
Zuversicht fehl am Platz. Nur die Wahrheit zählte. Und Stefan sprach die Wahrheit.
Er schaute immer noch seinen Bruder an, der diesen Blick erwiderte. Damons ganze Aufmerksamkeit war
jetzt so intensiv auf Stefan gerichtet wie vorher auf Klaus. Als ob das noch helfen würde.
„Ich bin nicht schwer verletzt, ich bin praktisch schon tot“, sagte Stefan brutal, tief in Damons Augen
schauend. Ihr letzter und größter Willenskampf, dachte Bonnie. „Und du mußt Bonnie und die anderen hier
rausbringen.“
„Wir werden dich nicht verlassen“, mischte sie sich jetzt ein. Es war die Wahrheit.
„Ihr müßt!“ Stefan löste den Blick nicht von seinem Bruder. „Damon, du weißt, daß ich recht habe. Klaus
kann jede Minute zurück sein. Wirf dein Leben nicht fort. Wirf ihr Leben nicht fort!“
„Ihre Leben sind mir total egal“, zischte Damon. Wieder die Wahrheit, dachte Bonnie und war
merkwürdigerweise trotzdem nicht beleidigt. Es gab nur ein Leben, das Damon etwas bedeutete, und es war
nicht sein eigenes.
„Doch, du mußt es tun!“ erwiderte Stefan heftig. Er klammerte sich so fest an Damons Hand, als sei es ein
Wettkampf und als könne er Damon auf diese Weise zum Einlenken zwingen. „Elena hatte einen letzten
Wunsch. Nun, hier ist meiner. Du hast die Macht, Damon. Ich möchte, daß du sie nutzt, um ihnen zu
helfen.“
„Stefan...“ flüstere Bonnie hilflos.
„Versprich es mir.“ Von Schmerzen gequält, verzog Stefan das Gesicht.
Lange Sekunden sah Damon ihn nur an. Dann sagte er. „Ich verspreche es.“ Der Satz kam schnell und scharf
wie der Stich eines Dolches. Er ließ Stefans Hand los, stand auf und wandte sich an Bonnie. „Komm.“
„Wir können ihn nicht allein lassen!“
„Doch, wir können.“ Jetzt war Damons Gesicht nicht mehr jung. Und auch nicht mehr verletzlich. „Du und
deine menschlichen Freunde, ihr werdet für immer von hier verschwinden. Ich werde zurückkommen.“
Bonnie schüttelte wie benommen den Kopf. Sie wußte nur eins, sie konnten Stefan nicht so zurücklassen.
„Du kommst jetzt mit!“ Damons Stimme war hart wie Stahl. Er packte ihre Hand. Bonnie blieb an Stefans
Seite sitzen und machte sich auf einen Kampf gefaßt. Dann geschah etwas, das ihren ganzen Streit sinnlos
machte. Ein Knall wie von einer gigantischen Peitsche, ein greller Blitz, und Bonnie war geblendet. Als sie
wieder sehen konnte, traf ihr Blick auf die Flammen, die aus einem neuen schwarzen Loch am Fuße eines
Baumstamms züngelten.
Klaus war zurückgekehrt. Und mit ihm die Blitze.
Bonnie blickte um sich. Selbst die Natur schien erstarrt zu sein. Klaus war das einzige, was sich auf der
Lichtung bewegte. Er wedelte mit dem blutigen, weißen Stab, den er sich aus dem Rücken gezogen hatte,
wie mit einer grausigen Trophäe.
Sein Blitzableiter, dachte Bonnie völlig unsinnig, und dann gab es einen weiteren Knall.
Sie schossen vom leeren Himmel in riesigen, gezackten Bahnen und erleuchteten alles wie die helle
Mittagssonne. Bonnie sah wie gelähmt zu, wie ein Baum nach dem anderen getroffen wurde, jeder ein
wenig näher als der letzte. Flammen wanden sich wie hungrige Schlangen durch die Blätter.
Zwei weitere Bäume zu jeder Seite Bonnies explodierten mit einem Krachen, so laut, daß sie es mehr fühlte
als hörte. Ein schrecklicher Schmerz schoß durch ihr Trommelfell. Damon, dessen Ohren noch
empfindlicher waren, hob die Hände, um sich zu schützen.
Dann schrie er: „Klaus!“ und sprang den Blonden an. Jetzt schlich er nicht mehr, es war die tödliche Attacke
des Vollstreckers.
Der Blitz traf ihn mitten im Sprung.
Bonnie kreischte vor Angst, als sie das Unheil kommen sah, und sprang auf. Eine blaue Stichflamme aus
überhitzten Gasen, der Geruch nach Verbranntem, Damon wurde zu Boden geschleudert, landete auf dem
Gesicht und blieb reglos liegen. Kleine Rauchfahnen stiegen von ihm hoch, genau wie aus den Bäumen.
Stumm vor Entsetzen schaute sie zu Klaus. Er schwankte über die Lichtung und hielt den blutigen Stab wie
einen Golfschläger. Als er an Damon vorbeikam, beugte er sich kurz herunter und lächelte. Ein Schrei blieb
Bonnie in der Kehle stecken, sie bekam keine Luft mehr. Selbst zum Atmen schien der Sauerstoff knapp zu
werden.
„Mit dir werde ich später abrechnen“, sagte Klaus zu dem bewußtlosen Damon. Dann wandte er sich Bonnie
zu.
„Du, du bist jetzt an der Reihe.“
Sie brauchte einen Moment, um zu merken, daß er dabei Stefan und nicht sie anschaute. Seine elektrisch
blauen Augen waren auf Stefans Gesicht gerichtet. Dann schweifte sein Blick zu Stefans blutiger Mitte.
„Ich werde dich bei lebendigem Leib auffressen, Salvatore.“
Bonnie war ganz allein. Die einzige, die noch auf den Füßen stand. Und sie hatte Angst.
Aber sie wußte, was sie tun mußte. Sie ließ sich wieder neben Stefan auf den Boden fallen. Das war's,
dachte sie. Du kniest neben deinem Ritter und siehst dem Tod entgegen.
Sie blickte Klaus an und bewegte ihren Körper so, daß sie Stefan beschützte. Klaus schien sie jetzt zum
ersten Mal richtig wahrzunehmen und runzelte die Stirn, als hätte er eine Spinne in seinem Salat gefunden.
Die Flammen warfen ein oranges Leuchten auf sein Gesicht.
„Aus dem Weg.“
„Nein.“
So beginnt das Ende. Wie das hier, ganz einfach. Nur ein Wort, und du wirst in einer Sommernacht sterben.
„Bonnie, geh“, stieß Stefan schmerzerfüllt hervor. „Flieh, solange du noch kannst.“
„Nein.“ Tut mir leid, Elena, dachte sie. Ich kann ihn nicht retten. Das ist alles, was ich für ihn tun kann.
„Aus dem Weg“, zischte Klaus.
„Nein.“ Sie wollte so lange Widerstand leisten, bis Stefan von allein starb, statt von Klaus' Zähnen zerrissen
zu werden. Es würde nicht viel Unterschied machen, aber mehr hatte sie nicht anzubieten.
„Bonnie...“ flüsterte Stefan.
„Weißt du nicht, wer ich bin, Mädchen? Ich bin mit dem Teufel im Bunde. Wenn du dich bewegst, werde
ich Barmherzigkeit zeigen und dich schnell töten.“
Barmherzigkeit! Bonnie hatte keine Stimme mehr. Sie schüttelte stumm den Kopf.
Klaus warf den Kopf zurück und lachte. Ein bißchen mehr Blut lief seine Mundwinkel hinunter. „Gut. Wie
du willst. Ihr werdet zusammen sterben.“
Sommernacht, dachte Bonnie. Die Sommernachtswende. Wenn die Grenze zwischen den Welten dünn wird.
„Sag brav gute Nacht, mein Schatz.“
Keine Zeit für Trance, keine Zeit für irgend etwas. Nur für den verzweifelten Ruf.
„Elena!“ schrie Bonnie. „Elena! Elena!“
Klaus zuckte zurück. Einen Moment schien es, als habe allein schon der Name genug Macht, um ihn zu
erschrecken. Oder als ob er erwartete, daß etwas auf Bonnies Hilferuf antworten würde. Lauschend blieb er
stehen.
Bonnie hatte ihre ganze telepathische Kraft gesammelt und zusammen mit ihrer verzweifelten Not in den
Schrei gelegt. Doch sie fühlte... nichts.
Nichts störte die Sommernacht, außer dem Knistern der Flammen. Klaus wandte sich zurück zu Bonnie und
Stefan und grinste.
Da sah Bonnie, wie feiner Nebel aus dem Boden stieg.
Nein... es konnte kein Nebel sein. Eher der Rauch vom Feuer der lodernden Bäume. Doch auch Rauch
benahm sich nicht so. Es drehte sich, hob sich in die Luft wie ein winziger Wirbelwind oder ein Staubteufel
und formte sich zu einer Gestalt, die ungefähr die Größe eines Menschen hatte.
Da war eine andere dieser Gestalten, in nur kurzer Entfernung. Dann eine dritte. Das Ganze geschah überall.
Nebel stieg aus dem Boden auf zwischen den Bäumen. Schwaden von Nebel und doch einzeln und erkennbar. Bonnie starrte stumm darauf, sie konnte durch jeden Wirbel hindurchsehen, konnte die Flammen, die Eichen und die Ziegel des Schornsteins erkennen. Klaus hatte aufgehört zu lächeln, er war einen Schritt vorgetreten und beobachtete das Schauspiel ebenfalls. Bonnie wandte sich zu Stefan, unfähig, die Frage auszusprechen. „Ruhelose Geister“, flüsterte er heiser. Seine grünen Augen glühten. „Die Sommernachtswende.“ Und da verstand Bonnie. Sie kamen. Von der anderen Seite des Flusses her, wo der alte Friedhof lag. Aus den Wäldern, in denen unzählige Behelfsgräber gegraben und die Leichen hineingeworfen worden waren, bevor sie verwesten. Die ruhelosen Geister, die Soldaten, die hier während des Bürgerkriegs gekämpft hatten und gestorben waren. Und auch die Zivilisten, die Opfer eines brutalen und sinnlosen Krieges geworden waren. Ihr Ruf nach Hilfe war gehört worden. Sie wirbelten um sie herum. Es waren Hunderte von ihnen. Bonnie konnte jetzt tatsächlich Gesichter erkennen. Die verschwommenen Umrisse füllten sich mit blassen Tönen wie zerlaufende Wasserfarben. Sie sah einen Schimmer blau, ein wenig grau. Die Uniformen beider Armeen. Jetzt waren die ehemaligen Feinde vereint. Hier und da Bärte, lang und dunkel oder weiß und kurz. Eine kleine Gestalt, ein Junge, fast noch ein Kind, mit dunklen' Löchern statt Augen und einer Trommel, die gegen seine Schenkel schlug. „Oh, mein Gott“, flüsterte Bonnie. Es klang wie ein Dankgebet. Nicht, daß sie keine Angst vor ihnen gehabt hätte, sie fürchtete sich entsetzlich. Jeder Alptraum, den sie je über den alten Friedhof gehabt hatte, schien Wirklichkeit geworden zu sein. Wie bei ihrem Traum mit Elena, als Dinge aus den schwarzen Tiefen der Erde gekrochen waren; nur daß diese hier nicht krabbelten, sie flogen, drehten sich und schwebten, bis sie menschliche Gestalt angenommen hatten. Alles, was Bonnie jemals beim Betreten des alten Friedhof empfunden hatte - die Augen, die sie beobachteten, die Macht, die hinter der Stille wartete - stimmte. Der Boden von Fell's Church enthüllte seine blutigen Erinnerungen. Die Geister derer, die hier gestorben waren, wandelten wieder auf der Erde. Und Bonnie konnte ihre Wut spüren. Das machte ihr noch mehr Angst. Aber ein anderes Gefühl wurde langsam in ihr wach, es ließ sie die Luft anhalten und Stefans Hand fester packen. Denn die Geisterarmee hatte einen Führer. Eine Gestalt schwebte vor den anderen, am nächsten dem Platz, wo Klaus stand. Sie war noch nicht deutlich zu erkennen, glühte jedoch von einem inneren, goldenen Schein wie eine Kerzenflamme. Dann verdichtete sie sich vor Bonnies Augen und brannte jede Minute heller, von einem überirdischen Licht erfüllt. Gleißender als jedes Feuer. Klaus wich davor zurück, und Bonnie blinzelte. Ein kurzer Laut erklang hinter ihr. Sie wandte sich zu Stefan um. Er starrte mit weit offenen Augen geradewegs in die Helle. Und lächelte so, als sei er froh, daß sie das letzte war, was er sah. Da war Bonnie ganz sicher. Klaus ließ seinen Stab fallen. Er hatte sich von Stefan und Bonnie weggedreht, um diesem Wesen aus Licht gegenüberzutreten, das über der Lichtung schwebte wie ein Racheengel. Goldenes Haar wurde von einem unsichtbaren Wind zurückgeweht, und Elena sah hinunter auf ihn. „Sie ist gekommen“, flüsterte Bonnie. „Du hast sie gerufen“, murmelte Stefan. Seine Stimme schwand. Er holte mühsam Luft, lächelte jedoch immer noch. Seine Augen waren heiter. „Tritt von ihnen weg.“ Bonnie hörte Elenas Stimme in ihren Ohren wie in ihrem Kopf. Sie klang wie Dutzende von Glocken, die gleichzeitig nah und fern läuten. „Es ist vorbei. Klaus.“ Aber Klaus erholte sich schnell. Bonnie sah, wie er die Schultern straffte. Dabei fiel ihr zum ersten Mal das Loch im Rücken seines hellen Regenmantels auf, wo der weiße Eschenspeer ihn getroffen hatte. Es war dunkelrot verschmiert, und neues Blut floß heraus, als Klaus die Arme ausbreitete. „Denkst du etwa, ich hätte Angst vor dir?“ schrie er. Er wirbelte herum und lachte über die schemenhaften Gestalten. „Glaubt ihr im Ernst, ich würde euch fürchten? Ihr seid tot! Staub im Wind! Ihr könnt mich nicht berühren.“ „Da irrst du dich“, sagte Elena glockenhell.
„Ich bin einer der Uralten! Einer der Ursprünglichen! Jeder weiß, was das heißt!“ Klaus wandte sich wieder
um und sprach sie alle an. Seine unnatürlich blauen Augen erhielten beim Schein des Feuers einen rötlichen
Schein.
„Ich bin niemals gestorben! Ihr seid tot, ihr Geister! Aber ich nicht! Der Tod kann mir nichts anhaben. Ich
bin unbesiegbar!“
Die letzten Worte kamen so laut, daß sie zwischen den Bäumen ein Echo warfen. Unbesiegbar...
unbesiegbar... unbesiegbar. Bonnie hörte es im hungrigen Brüllen des Feuers verschwinden.
Elena wartete, bis das letzte Echo verklungen war. Dann sagte sie einfach: „Nicht ganz.“ Sie sprach zu den
geisterhaften Schemen ringsum. „Er will hier noch mehr Blut vergießen.“
Eine neue Stimme meldete sich zu Wort. Eine hohle Stimme, bei deren Klang Bonnie eine Gänsehaut
überfiel. „Des Mordens ist genug.“ Es kam von einem der Geistersoldaten.
„Mehr als genug.“
„Zeit, dem ein Ende zu machen.“
„Wir können es nicht immer so weitergehen lassen.“ Das war der Junge mit der Trommel.
„Kein Blut soll mehr vergossen werden!“ Mehrere Stimmen nahmen den Ruf sofort auf. „Kein Töten mehr!“
Der Schrei pflanzte sich von einem zum anderen fort, bis er lauter war als das Brüllen des Feuers. „Kein
Morden mehr!“
„Ihr könnt mir nichts antun! Ihr könnt mich nicht töten!“
„Schnappen wir ihn uns!“
Bonnie würde nie erfahren, wer das letzte Kommando gegeben hatte. Aber alle gehorchten. Die
Geisterarmee erhob sich, schloß sich zusammen, wurde wieder zu Nebel, einer dunklen Wand mit hunderten
Händen. Sie brach über Klaus zusammen wie eine Ozeanwelle. Tausend Hände packten ihn, obwohl Klaus
mit allen Kräften kämpfte, mit Armen und Beinen um sich schlug. Es waren zu viele für ihn. In Sekunden
war er eingekeilt, überwältigt und wurde von dem dunklen Nebel verschlungen. Der Tornado wirbelte ihn
mit sich hoch. Seine Schreie waren nur noch schwach zu hören.
„Ihr könnt mich nicht töten! Ich bin unsterblich!“
Der Wirbelwind fegte in die Dunkelheit außerhalb von Bonnies Sichtweite. Seiner Spur folgten eine Horde
der Geister wie der Schweif eines Kometen. Sie verschwanden am dunklen Nachthimmel.
„Wo bringen sie ihn hin?“ Bonnie hatte es nicht laut sagen wollen. Es war ihr nur so herausgerutscht. Aber
Elena hatte sie trotzdem gehört.
„Dorthin, wo er kein Unheil mehr anrichten kann“, sagte sie, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht hielt
Bonnie davon ab, weitere Fragen zu stellen.
Ein heftiges Schnauben und Brüllen war von der anderen Seite der Lichtung her zu hören. Bonnie wandte
sich um und sah Tyler, in seiner schrecklichen halb Tier-, halb Menschengestalt. Er hatte sich aufgerichtet.
Doch Carolines Knüppel war unnötig. Er starrte Elena und die paar verbliebenen Geisterfiguren an und
zitterte.
„Laß nicht zu, daß sie mich auch mitnehmen. Laß es nicht zu!“
Bevor Elena antworten konnte, war er herumgewirbelt. Er betrachtete die brausende Feuerwand einen
Moment, dann warf er sich hinein und rannte in den Wald. Durch die brennenden Bäume hindurch konnte
Bonnie erkennen, wie er zu Boden fiel und versuchte, die Flammen auf seinem Körper zu ersticken,
aufsprang und weiterlief. Doch dann loderte das Feuer wieder auf, und sie konnte ihn nicht mehr sehen.
Aber etwas anderes fiel ihr ein: Meredith und Matt. Meredith lag aufgestützt, den Kopf in Carolines Schoß,
und beobachtete alles. Matt war immer noch bewußtlos. Verletzt, aber nicht so schwer wie Stefan.
„Elena“, machte Bonnie die helle Gestalt auf sich aufmerksam. Und schaute dann einfach auf ihn.
Die Helligkeit kam näher. Stefan blinzelte nicht. Er blickte genau in das Herz des Lichts und lächelte.
„Klaus ist jetzt vernichtet. Dank dir.“
„Es war Bonnie, die uns gerufen hat. Und sie hätte es ohne dich und die anderen nicht am richtigen Ort und
zur richtigen Zeit tun können.“
„Ich habe versucht, mein Versprechen zu halten.“
„Ich weiß, Stefan.“
Bonnie gefiel das Ganze gar nicht. Es klang zu sehr nach Abschied - nach endgültigem Abschied. Ihre
eigenen Worte kamen zu ihr zurück. Er könnte an einen anderen Ort gelangen - oder einfach verlöschen. Sie
wollte, daß Stefan nirgendwo hinging.
„Elena“, sagte sie. „Kannst du nicht... etwas tun? Kannst du ihm nicht helfen?“ Ihre Stimme zitterte. Und Elenas Ausdruck, als sie sich Bonnie zuwandte, so sanft und traurig zugleich, machte sie noch hoffnungsloser. Er erinnerte sie an jemanden, und dann fiel es ihr wieder ein. Honoria Fell's Augen hatten so geschaut, als blickte sie auf all das unabänderliche Unrecht in dieser Welt. All die Ungerechtigkeit, die Dinge, die nie hätten geschehen dürfen und doch geschehen waren. „Ich kann etwas tun“, sagte sie. „Aber ich weiß nicht, ob es die Art von Hilfe ist, die er möchte.“ Sie wandte sich wieder an Stefan. „Stefan, ich kann heilen, was Klaus dir zugefügt hat. Heute nacht habe ich soviel Macht. Aber ich kann nicht rückgängig machen, was Katherine dir angetan hat.“ Bonnies betäubter Verstand hatte eine Weile damit zu tun. Was Katherine ihm angetan hat? Aber Stefan hatte sich schon vor Monaten von Katherines Folter in der Krypta erholt. Dann verstand sie. Katherine hatte Stefan zum Vampir gemacht. „Es ist zu lange her“, flüsterte Stefan Elena zu. „Auch, wenn du es heilen könntest, würde nur ein Häufchen Asche von mir übrigbleiben.“ „Ja.“ Elena lächelte nicht, sondern sah ihn nur fest an. „Willst du meine Hilfe, Stefan?“ „Um weiter auf dieser Welt in den Schatten leben zu müssen?“ Stefans Stimme war kaum hörbar, seine grünen Augen blickten abwesend. Bonnie hatte große Lust, ihn durchzuschütteln. Lebe! sagte sie in Gedanken zu ihm. Sie wagte nicht, das Wort laut auszusprechen, aus Angst, ihn dadurch genau zum Gegenteil zu bewegen. Dann fiel ihr noch etwas anderes ein. „Um es weiter zu versuchen.“ Beide sahen sie an. Sie erwiderte ihre Blicke, das Kinn vorgestreckt, und sah, wie sich ein Lächeln auf Elenas hellen Lippen formte. Elena wandte sich an Stefan, und der Hauch des Lächelns ging auf ihn über. „Ja“, antwortete er darauf leise. „Ich möchte deine Hilfe, Elena.“ Sie beugte sich hinunter und küßte ihn. Bonnie sah, wie Licht von ihr auf Stefan überging, ein funkelnder Fluß, der ihn ganz umhüllte. Es schloß ihn mit einem Schauer von glitzernden Diamanten ein, wie der dunkle Nebel Klaus umrundet hatte, bis Stefans ganzer Körper glühte wie der von Elena. Dann wurde das Leuchten zu einer goldenen Aura, schien in ihn einzudringen und verschwand. Sein Hemd war immer noch zerfetzt, doch das Fleisch darunter war glatt und fest. Bonnie, die Augen vor Staunen weit aufgerissen, konnte nicht anders. Sie mußte ihn anfassen. Die Haut fühlte sich wie jede andere an. Die gräßlichen Wunden waren verschwunden. Sie lachte vor überströmender Freude, dann schaute sie auf und wurde mit einem Schlag ernst. „Elena - da ist noch Meredith.“ Die helle Gestalt war bereits über die Lichtung geschwebt. Meredith hob leicht den Kopf aus Carolines Schoß und sah sie an. „Hallo, Elena.“ Es klang fast normal, nur daß ihre Stimme so schwach war. Elena beugte sich hinunter und küßte sie. Das Leuchten breitete sich wieder aus und umfing Meredith. Als es erlosch, konnte Meredith wieder auf ihren eigenen Füßen stehen. Elena tat das gleiche bei Matt, der erwachte und sich verwirrt umsah. Sie küßte auch Caroline, die aufhörte zu zittern und ihre hängenden Schultern aufrichtete. Dann ging sie zu Damon. Er lag dort, wo er hingefallen war. Die Geister waren an ihm vorbeigezogen und hatten keinerlei Notiz von ihm genommen. Elenas durchsichtig schimmernde Hand strich sanft über sein Haar. Und sie küßte ihn. Als das glitzernde Licht verschwunden war, setzte Damon sich auf und schüttelte heftig den Kopf. Er sah Elena und wurde ganz still. Jede Bewegung sorgsam beherrscht, stand er auf. Er schwieg und beobachtete nur, wie Elena sich wieder Stefan zuwandte. Sein Umriß hob sich gegen das Feuer ab. Bonnie hatte kaum bemerkt, wie sehr der rote Schein gewachsen war, so daß er fast Elenas Gold verschlang. Aber jetzt sah sie es und war alarmiert. „Mein letztes Geschenk an euch“, hauchte Elena, und es begann zu regnen. Kein Sturm mit Blitz und Donner, sondern ein heftiger Schauer, der alles durchnäßte, Bonnie eingeschlossen, und das Feuer löschte. Die Tropfen waren so frisch und kühl, sie schienen die ganzen Schrecken der letzten Stunden wegzuspülen und den Wald zu reinigen von allem, was geschehen war. Bonnie hob mit geschlossenen Augen das Gesicht und hatte große Lust, die Arme auszubreiten und den Regen zu umarmen. Schließlich wurde er weniger, und sie blickte wieder zu Elena.
Elena sah Stefan an, und es lag jetzt kein Lächeln auf ihren Lippen. Die wortlose Trauer war zurückgekehrt.
„Es ist Mitternacht“, sagte sie. „Ich muß gehen.“
Bonnie wußte heim Klang ihrer Stimme sofort, daß sie damit für immer meinte. Elena würde in einen
Bereich entschwinden, wo wie keine Trance und kein Traum mehr erreichen konnte.
Und Stefan wußte es auch. „Nur noch ein paar Minuten“, bat er und griff nach ihr.
„Es tut mir leid...“
„Elena, warte... ich muß dir etwas sagen...“
„Ich kann nicht!“ Zum ersten Mal war der heitere Friede aus dem hellen Gesicht gewichen und hatte
namenloser, herzzerreißender Trauer Platz gemacht. „Stefan, ich kann nicht länger warten. Es tut mir so
leid.“ Etwas schien Elena nach hinten zu ziehen, weg von ihnen in eine andere Dimension, die Bonnie nicht
sehen konnte. Vielleicht war es derselbe Ort, an den Honoria sich zurückgezogen hatte, als ihre Aufgabe be
endet war. Um in Frieden zu ruhen.
Aber Elena war von diesem Zustand weit entfernt. In ihrem Blick lag nur Verzweiflung. Sie wandte die
Augen nicht von Stefan ab, und hilflos griff sie mit einer Hand nach ihm. Doch sie berührten sich nicht. Was
es auch war, das Elena stetig weiter von ihnen weg in seinen Bann zog, es war zu stark.
„Elena - bitte!“ Es war die Stimme, mit der Stefan sie damals gerufen hatte. Als ob sein Herz zerbrechen
würde.
„Stefan!“ schluchzte sie verzweifelt und streckte nun beide Hände aus. Aber ihre Gestalt wurde immer
undeutlicher und schwand. Bonnie fühlte, wie ein Schluchzen auch in ihrer Kehle aufstieg. Das war nicht
fair. Das einzige, was die beiden je gewollt hatten, war doch nur, wieder zusammenzusein. Und jetzt bestand
Elenas Belohnung dafür, daß sie der Stadt geholfen und ihre Pflicht erfüllt hatte, darin, unwiderruflich von
Stefan getrennt zu werden. Es war einfach nicht fair.
„Stefan“, rief Elena wieder, aber ihre Stimme klang wie aus weiter Entfernung. Die Helligkeit glühte nur
noch schwach. Dann mußte Bonnie durch einen Tränenschleier hilflos mit ansehen, wie sie ganz erlosch.
Auf der Lichtung war es wieder still. Die Geister von Fell's Church, die für eine Nacht zurückgekehrt waren,
um zu verhindern, daß noch mehr Blut vergossen wurde, waren verschwunden. Die helle Flamme, die sie
angeführt hatte, war verglüht, ohne eine Spur zu hinterlassen. Selbst der Mond und die Sterne waren jetzt
von dichten Wolken verhangen.
Bonnie wußte, daß die Nässe auf Stefans Gesicht nicht vom Regen herkam, der immer noch sanft rieselte.
Heftig atmend stand er auf der Stelle, an der Elenas Geist zuletzt gesehen wurde. Und all die Sehnsucht und
der Schmerz, die Bonnie schon vorher auf seinem Gesicht gesehen hatte, waren nichts im Vergleich mit
dem, was sie jetzt beobachten mußte.
„Es war nicht fair“, flüsterte sie. Dann schrie sie zum Himmel, egal, wen sie damit meinte: „Es ist nicht
fair.“
Stefan hatte immer hektischer Luft geholt. Jetzt hob er ebenfalls sein Gesicht, aber nicht im Zorn, sondern
von unendlichem Leid erfüllt. Sein Blick durchsuchte die Wolken, als könne er dort ein Zeichen des
goldenen Lichts, ein Aufflackern ihrer hellen Gestalt entdecken. Vergeblich. Bonnie sah, wie ihn ein
Krampf durchfuhr, schlimmer als die Qual, die ihm Klaus' Stock zugefügt hatte. Und der Schrei, den er
ausstieß, war das Entsetzlichste, was Bonnie je gehört hatte.
„Elena!“
Bonnie konnte sich nachher nicht mehr genau erinnern, was in den nächsten Sekunden geschah. Sie hörte
Stefans Schrei, bei dem die Erde unter ihren Füßen zu beben schien. Sie sah, daß Damon zu ihm laufen
wollte. Und dann den Blitz.
Ein Blitz, wie die Blitze von Klaus. Nur war dieser nicht blauweiß. Er war golden.
Und so hell, daß Bonnie glaubte, die Sonne wäre vor ihren Augen explodiert. Alles, was sie nach ein paar
Sekunden erkennen konnte, war ein Wirbelsturm an Farben. Dann sah sie etwas in der Mitte der Lichtung,
nah bei dem Schornstein. Etwas Weißes, geformt wie die Geister, doch etwas, das mehr Körper besaß.
Etwas Kleines, Zusammengekauertes... nein, es mußte etwas anderes sein als das, was ihre Augen ihr
vorgaukeln wollten.
Denn es glich einem schlanken, nackten Mädchen, das auf dem Waldboden zitterte. Einem Mädchen mit
hellblondem Haar.
Elena.
Nicht der leuchtenden Gestalt aus der Geisterwelt oder dem blassen, unmenschlichen Wesen, das Elena, die
Vampirin, gewesen war. Das hier war eine Elena, deren weiße Haut unter dem stetigen Regen rosagefleckt
und mit einer Gänsehaut bedeckt war. Eine Elena, die verwirrt schien, während sie langsam den Kopf hob
und sich umsah, als seien ihr all die vertrauten Dinge auf der Lichtung völlig fremd.
Es ist eine Illusion. Oder sie haben ihr noch ein paar Minuten gewährt, um sich zu verabschieden, redete
Bonnie sich ein. Doch sie konnte ihre eigenen Worte nicht glauben.
„Bonnie?“ fragte eine Stimme unsicher. Eine Stimme, die nicht mehr klang wie Glockengeläut im Wind.
Das hier war die Stimme eines verängstigten jungen Mädchens.
Bonnies Knie gaben nach. Ein wildes Gefühl stieg in ihr auf. Sie versuchte, es zu unterdrücken, und wagte
noch nicht, es genauer zu untersuchen. Sie beobachtete Elena nur.
Diese berührte das Gras vor sich. Zunächst zögernd, dann immer fester, schneller und schneller. Sie hob ein
Blatt mit ungeschickten Fingern auf, legte es wieder hin, betastete die Erde. Hob ein anderes Blatt auf. Griff
sich eine ganze Handvoll, preßte sie an sich, roch ihren Duft, öffnete die Hände, ließ sie zu Boden rieseln.
Sie sah Bonnie an, während die Blätter vom Wind verweht wurden.
Einen Moment knieten beide nur da und sahen sich aus einigen Metern Abstand an. Dann streckte Bonnie
zitternd die Hand aus. Das Gefühl in ihr wuchs und wuchs.
Elena erwiderte ihre Geste. Ihre Finger berührten sich.
Richtige Finger. In einer realen Welt, in der sie sich beide befanden.
Bonnie stieß einen Schrei aus und warf sich auf Elena. Eine Minute streichelte und betastete sie die Freundin
in wilder, ungläubiger Freude. Und es war wirklich Elena! Sie war naß vom Regen, zitterte, und Bonnies
Hände fuhren nicht durch sie hindurch. Kleine Stücke von feuchten Blättern und Erdkrumen hingen in
Elenas Haar.
„Du bist hier“, schluchzte Bonnie. „Ich kann dich anfassen, Elena!“
„Ich kann dich auch anfassen“, erwiderte Elena genauso aufgewühlt. „Ich bin hier.“ Sie griff wieder nach
den Blättern. „Ich kann die Erde berühren!“
„Ich fühl dich.“ Sie hätten ewig so weitergemacht, aber Meredith unterbrach sie. Sie stand mit weißem
Gesicht ein paar Schritte entfernt und beobachtete alles mit großen dunklen Augen. Ein ersticktes Geräusch
entfuhr ihrer Kehle.
„Meredith!“ Elena wandte sich ihr zu und hielt ihr die Blätter hin. Dann breitete sie die Arme aus.
Meredith, die damit fertig geworden war, daß man Elenas Leiche im Fluß gefunden hatte, daß Elena als
Vampirin zu ihrem Fenster gekommen war und daß sie wie ein Engel auf dieser Lichtung erschienen war -
dieselbe Meredith stand jetzt nur zitternd da. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment ohnmächtig werden.
„Meredith! Sie ist es wirklich! Du kannst sie berühren. Schau!“ Bonnie knuddelte Elena wieder voller
Freude wie einen kleinen Hund.
Meredith bewegte sich nicht. „Aber das ist unmöglich“, flüsterte sie.
„Es ist wahr! Siehst du? Es ist wahr.“ Bonnie wurde langsam hysterisch. Sie wußte es, doch das war ihr
egal. Wenn jemand ein Recht hatte, auszuflippen, dann war sie es. „Es ist wahr, es ist wahr“, sang sie.
„Meredith, nun komm endlich.“
Meredith, die Elena die ganze Zeit angestarrt hatte, gab wieder ein erstickendes Geräusch von sich. Dann
warf sie sich in einer Bewegung auf Elena. Sie berührte sie, merkte, daß ihre Finger auf festes Fleisch trafen.
Sie schaute in Elenas Gesicht. Und brach in unkontrollierte Tränen aus. Sie weinte und weinte, den Kopf an
Elenas schmale Schulter gelehnt.
Bonnie streichelte beide voller Glück.
„Findet ihr nicht, daß sie langsam mal was überziehen sollte?“ meldete sich eine Stimme zu Wort. Bonnie
schaute hoch und sah, daß Caroline ihr Kleid auszog. Sie machte das ganz ruhig und stand nachher in ihrer
weißen Spitzenunterwäsche da, als sei es etwas ganz Alltägliches. Keine Phantasie, dachte Bonnie, jedoch
ohne Bosheit. Manchmal war es eben ganz nützlich, wenn man keine Phantasie hatte.
Meredith und Bonnie zogen Elena das Kleid über den Kopf. Sie wirkte darin verloren, naß und irgendwie
fremd, als sei sie es nicht mehr gewohnt, Kleidung zu tragen. Aber jedenfalls bot es einen Schutz gegen das
Wetter.
Dann flüsterte Elena: „Stefan!“
Sie drehte sich um. Er stand dort, mit Damon und Matt, ein wenig von den Mädchen entfernt, und
beobachtete sie nur, als hinge sein Leben davon ab.
Elena stand auf und machte einen wackligen Schritt auf ihn zu, dann noch einen und noch einen. Wie die
kleine Seejungfrau, die lernt, ihre Beine zu benutzen, dachte Bonnie.
Wie erstarrt ließ er sie fast den ganzen Weg gehen, bevor er auf sie zustolperte. Dann stürzten sie
zueinander, fielen zusammen zu Boden. Die Arme umeinandergeschlungen, hielten sie sich so fest wie nur
möglich. Keiner von beiden sprach ein Wort.
Schließlich zog Elena sich ein Stückchen zurück, um Stefan anzusehen. Er nahm ihr Gesicht in beide Hände,
um sie sprachlos zu betrachten. Elena lachte aus purer Freude, öffnete und schloß die Finger und vergrub sie
in Stefans dichten Locken. Dann küßten sie sich.
Bonnie schaute zu, ohne sich zu schämen. Freudentränen liefen über ihre Wangen, und sie lächelte immer
noch. Sie war schmutzig, klatschnaß und noch nie in ihrem Leben so glücklich gewesen. Sie hatte Lust zu
tanzen, zu singen und die verrücktesten Dinge anzustellen.
Einige Zeit später blickte Elena von Stefan weg zu den anderen hin. Ihr Gesicht strahlte fast so hell wie
vorhin, als sie wie ein Engel über die Lichtung geschwebt war. Niemand wird sie jemals wieder
Eisprinzessin nennen, dachte Bonnie.
„Mein Freunde“, sagte Elena. Nur das, aber es war genug. Das und der komische, kleine Schluchzer, den sie
von sich gab, als sie die Hand ausstreckte. In einer Sekunde waren die Freunde bei ihr und versuchten, sie
alle auf einmal in die Arme zu schließen. Sogar Caroline.
„Elena“, sagte Caroline. „Es tut mir leid...“
„Alles vergeben und vergessen.“ Elena umarmte sie so herzlich wie die anderen. Dann griff sie nach einer
kräftigen, braunen Hand und hielt sie kurz an die Wange. „Matt.“ Und er lächelte sie mit seinen blauen
Augen an, in denen Tränen schwammen. Aber nicht aus Schmerz, weil er sie in Stefans Armen sieht, dachte
Bonnie. Matts Gesicht strahlte nur reine Freude aus.
Ein Schatten fiel auf die kleine Gruppe und trat zwischen sie und das Mondlicht. Elena schaute hoch und
streckte wieder ihre Hand aus. „Damon“, sagte sie.
Das klare Leuchten und die Liebe, die in ihrem Gesicht geschrieben standen, waren unwiderstehlich. Doch
Damon trat vor, ohne eine Miene zu verziehen, seine schwarzen Augen waren unergründlich wie immer.
Nichts von dem Sternenglanz, der von Elena ausging, wurde von ihnen zurückgeworfen.
Stefan sah ihn so furchtlos an, wie er in die schmerzliche Helle von Elenas goldener Gestalt geblickt hatte.
Dann, den Blick niemals abwendend, streckte er die Hand aus.
Damon schaute auf die beiden offenen, freudigen Gesichter hinab und auf das stumme Angebot ihrer Hände.
Sie boten ihm Dazugehörigkeit, Wärme, Menschlichkeit an. Nichts davon spiegelte sich in seinem Gesicht
wider, und er selbst war völlig reglos.
„Komm schon, Damon“, sagte Matt leise. Bonnie warf ihm einen erstaunten Blick zu und erkannte, daß
seine blauen Augen jetzt eindringlich auf das Gesicht des Jägers gerichtet waren.
Damon sprach, ohne sich zu bewegen. „Ich bin nicht wie ihr.“
„Du unterscheidest dich gar nicht so sehr, wie du es vielleicht selber gern glauben möchtest“, sagte Matt.
„Schau.“ In seiner Stimme lag eine merkwürdige Herausforderung. „Ich weiß, daß du Mr. Tanner in
Notwehr getötet hast, denn du hast es mir selbst erzählt. Und ich weiß ebenfalls, daß du nicht nach Fell's
Church gekommen bist, weil Bonnies Spruch dich hergeholt hat. Ich selbst habe das Haar ausgesucht, und
ich habe keine Fehler gemacht. Du bist aus freien Stücken gekommen. Du gleichst uns mehr, als du zugeben
willst, Damon. Das einzige, was ich nicht weiß, ist, warum du nicht in Vickies Haus gegangen bist, um ihr
zu helfen.“
Damon entfuhr es, fast automatisch: „Ich konnte nicht! Weil ich nicht hereingebeten worden war!“
Erinnerungen stiegen in Bonnie auf. Sie selbst vor Vickies Haus, Damon stand neben ihr. Stefans Stimme:
Vickie, bitte mich herein! Aber niemand hatte Damon eingeladen.
„Aber wie ist Klaus reingekommen?“ begann sie, ihren eigenen Gedankengang weiterverfolgend.
„Das war sicher Tylers Job“, antwortete Damon. „Solche Dinge hat Tyler getan, um zu lernen, wie er sein
Erbe in sich wecken kann. Und er muß Klaus eingeladen haben, bevor wir überhaupt angefangen haben, das
Haus zu bewachen. Vermutlich sogar schon, bevor Stefan nach Fell's Church kam. Klaus war gut
vorbereitet. In jener Nacht war er in Vickies Haus, und das Mädchen war tot, bevor ich überhaupt richtig
wußte, was geschehen war.“
„Warum hast du Stefan nicht gerufen?“ Es lag keine Anschuldigung in Matts Frage.
„Weil er absolut machtlos gewesen wäre! Ich wußte, mit wem wir es zu tun hatten, sobald ich ihn sah. Ein Ursprünglicher. Stefan wäre getötet worden, und dem Mädchen wäre sowieso nicht mehr zu helfen gewesen.“ Bonnie hörte die unterschwellige Kälte in seiner Stimme, und als Damon sich wieder Stefan und Elena zuwandte, war sein Gesicht hart. Es schien, als hätte er eine Entscheidung getroffen. „Ihr seht, ich bin nicht wie ihr.“ „Das macht nichts.“ Stefan hatte seine Hand immer noch nicht zurückgezogen. Elena ebenfalls nicht. „Damon...“ begann Bonnie. Langsam, fast widerwillig, drehte er sich zu ihr um. Sie hatte an den Moment gedacht, als sie beide neben Stefan gekniet hatten und er so jung ausgesehen hatte. Als sie nur Damon und Bonnie allein am Rand der Welt gewesen waren. Sie glaubte eine Sekunde, Sterne in den schwarzen Augen aufblitzen zu sehen. Und sie konnte etwas in ihm spüren - Gefühle wie Verlangen, Verwirrtheit, Angst und Wut, alle vermischt. Aber dann war es vorbei. Er hatte seine Schilde wieder hochgezogen, und Bonnies telepathischen Kräfte verrieten ihr nichts mehr. Er wandte sich an das Paar auf dem Boden. Dann zog er seine Lederjacke aus, trat hinter Elena und legte sie ihr um die Schultern, ohne Elena zu berühren. „Es ist eine kalte Nacht“, sagte er. Er schaute Stefan einen Moment an, bevor er die Jacke losließ. Dann ging er zurück in die Dunkelheit zwischen den Eichen. Einen Moment später hörte Bonnie das Flattern von Flügeln. Stefan und Elena hatten sich wortlos an die Hand genommen, und Elena hatte ihren Kopf auf Stefans Schulter gelegt. Über ihr blondes Haar hinweg schauten Stefans grüne Augen zu dem Fleck, an dem sein Bruder gerade verschwunden war. Bonnie schüttelte den Kopf. Ein Kloß steckte ihr plötzlich im Hals. Es wurde ein bißchen besser, als jemand ihren Arm berührte und sie zu Matt hochblickte. Selbst klatschnaß und von seinem Kampf mit Tyler mit Moos und Farn beschmutzt, sah er einfach toll aus. Sie lächelte ihn an, und ihre Freude kam zurück. Dieses überschäumende, schwindlig machende Gefühl, wenn sie an alles dachte, was heute nacht passiert war. Meredith und Caroline lächelten ebenfalls. Impulsiv griff Bonnie nach Matts Hand und begann einen übermütigen Tanz mit ihm. Mitten auf der Lichtung wirbelten sie herum und lachten. Sie waren lebendig, sie waren jung, und das war die Nacht der Sommersonnenwende. „Du wolltest uns doch alle wieder zusammenhaben!“ schrie Bonnie Caroline zu und zog das entsetzte Mädchen mit in den wilden Reigen. Meredith, ihre kühle Würde vergessend, kam ebenfalls hinzu. Und lange Zeit hörte man auf der Lichtung nur lautes Jauchzen und fröhliches Lachen. 21. Juni, 7 Uhr 30, Sommersonnenwende
Liebes Tagebuch,
ach, es ist viel zuviel zu erklären, und du würdest es ja doch nicht glauben. Ich gehe ins Bett.
Bonnie
- ENDE –