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Autor Robert A. Salvatore, geboren 1959 in Massachusetts, ist der international erfolgreiche Autor der Saga um die Vergessenen Welten und der Dunkelelf-Saga. R. A. Salvatore lebt mit seiner Frau Diane und ihren drei Kindern in Massachusetts. R. A. Salvatore im Goldmann Verlag Die Vergessenen Welten: Der gesprungene Kristall (24549) • Die verschlungenen Pfade (24550) • Die silbernen Ströme (24551) • Das Tal der Dunkelheit (24552) • Der magische Stein (24553) • Der ewige Traum (24554) Die Saga vom Dunkelelf: Der dritte Sohn (24562) • Im Reich der Spinne (24564) • Der Wächter im Dunkel (24565) • Im Zeichen des Panthers (24566) • In Acht und Bann (24567) • Der Hüter des Waldes (24568) Das Vermächtnis (24663) • Nacht ohne Sterne (24664) • Brüder des Dunkels (24706) Die Drachenwelt-Saga: Der Speer des Kriegers (24652) • Der Dolch des Drachen (24653) Die Rückkehr des Drachenjägers (24654) Das Lied von Deneir: Das Elixier der Wünsche (24703) • Die Schatten von Shilmista (24704) • Die Masken der Nacht (24705) Weitere Bände in Vorbereitung.
Fantasy R.A.Salvatore
Das Elixier der Wünsche DAS LIED VON DENEIR 1
Aus dem Amerikanischen von Imke Broderson
Scanned by: Santana7777
GOLDMANN VERLAG
Prolog Aballister Bonaduce betrachtete das schimmernde Bild in seinem Spiegel forschend. Vor ihm erstreckten sich endlose Berge aus Eis und Schneeverwehungen - die lebensfeindlichste Landschaft der Welt. Ihm blieb nur noch, den Schritt durch den Spiegel zu tun und den Großen Gletscher zu betreten. »Kommst du, Druzil?« rief der Zauberer das Teufelchen. Druzil flatterte mit den ledrigen Flügeln, als ob er sich das noch einmal genau überlegen müsste. »Ich bin kein großer Freund der Kälte«, sagte er. Offensichtlich hatte er keine Lust, an dieser Expedition teilzunehmen. »Ich auch nicht«, erwiderte Aballister und steckte einen verzauberten Ring an, der ihn vor der tödlichen Kälte schützen sollte. »Aber nur auf dem Großen Gletscher wächst der Yote.« Aballister sah wieder zum Spiegel hin. Nur noch ein letztes Hindernis stand zwischen dem Zauberer und der Vollendung seiner Aufgabe. Die verschneite Region war jetzt still, obwohl dunkle Wolken drohend darüberhingen und das Nahen eines Sturmes verhießen, der ihre Jagd womöglich um viele Tage verzö gern würde. »Es geht nicht anders«, fuhr Aballister fort, redete jedoch mehr mit sich selbst als mit dem Teufelchen. Seine Stimme wurde leiser, als er in Erinnerungen versank, Erinnerungen an den Wendepunkt seines Lebens, damals vor über zwanzig Jahren, in der Zeit der Unruhen. Schon damals war er mächtig gewesen, jedoch ohne Ziel. Der Avatar der Göttin Talona hatte ihm den Weg gewiesen. Aballisters Grinsen wurde zu einem offenen Lachen, als er sich wieder zu Druzil umdrehte, dem Teufelchen, das ihm die beste Methode verraten hatte, der Herrin des Giftes zu dienen. »Komm, lieber Druzil«, sagte Aballister. »Du hast mir das Rezept für den Chaosfluch gebracht. Jetzt musst du auch mitkommen und mir helfen, die letzte Zutat zu finden.« Als das Teufe lchen das Wort Chaosfluch hörte, richtete es sich auf und breitete die Flügel aus. Diesmal versuchte es keine Ausflüchte. Ein nachlässiger Flügelschlag trug es auf Aballisters Schulter, und gemeinsam schritten sie durch den magischen Spiegel in den eisigen Wind. ¤¤¤ Ein gebücktes, behaartes Wesen - einem Menschenaffen nicht unähnlich - grunzte und knurrte und warf seinen primitiven Speer, obwohl Aballister und Druzil weit außer Reichweite waren. Dennoch heulte das Geschöpf triumphierend auf, als stellte dieser Wurf einen symbolischen Sieg dar, und eilte zurück zu seinen zottigen weißen Artgenossen. »Sieht nicht so aus, als wollten sie verhandeln«, stellte Druzil fest, der auf Aballisters Schulter von einem Klauenfuß auf den anderen trat. Der Zauberer verstand die Aufregung seines Vertrauten. Druzil war ein Wesen von den Unteren Ebenen, ein Wesen des Chaos, und er wollte unbedingt sehen, wie sein Zaubermeister mit den frechen Dummköpfen umsprang einfach als ein weiteres Vergnügen an diesem lang erwarteten Siegestag »Es sind Taer«, erklärte Aballister, »wilde Geschöpfe. Du hast ganz recht. Sie werden nicht verhandeln.« Die Augen des Zauberers blitzten plötzlich auf, und Druzil hüpfte wieder und schlug die Hände zusammen. »Sie wissen nicht, welche Macht hier wartet!« schrie Aballister zornig. Innerhalb weniger Sekunden spulten sich all die furchtbaren Anstrengungen von zwei langen, harten Jahren noch einmal vor dem geistigen Auge des Zauberers ab. Hundert Mann waren auf der Suche nach den ausgefallenen Zutaten für den Chaosfluch gestorben; hundert Mann hatten ihr Leben gegeben, um Talona zu erfreuen. Auch Aballister war nicht unbeschadet daraus hervorgegangen. Er war davon besessen, den Fluch zu vollenden. Der Fluch war zur treibenden Kraft in seinem Leben geworden, und Aballister war mit jedem Schritt gealtert, hatte sich jedesmal die Haare büschelweise ausgerissen, wenn der Fluch ihm zu entgleiten schien. Jetzt war er nahe dran, so nah, dass er den dunklen Fleck Yote schon sehen konnte, gleich hinter der Erhebung mit den Taerhöhlen. So nah, aber diese verdammten Idioten standen ihm im Weg! Aballisters Worte hatten die Taer aufgeschreckt. Sie grollten und tänzelten im Schatten des zerklüfteten Berges und schubsten sich dabei gegenseitig herum. Anscheinend versuchten sie, einen Anführer für ihren Angriff auszuwählen. »Schnell, tu etwas«, drängte Druzil. Aballister blickte zu ihm auf und hätte beinahe gelacht. »Sie werden angreifen«, erklärte Druzil, der Mühe hatte, halbwegs ruhig zu bleiben. »Und, was schlimmer ist, diese Kälte lässt meine Flügel ganz steif werden.« Aballister nickte. Das Teufelchen hatte recht. Jede Verzögerung konnte ihn teuer zu stehen kommen, besonders, wenn die dunklen Wolken zu einem blendenden Blizzard losbrechen würden, der sowohl den Yote als auch den schimmernden Durchgang zurück zu Aballisters bequemem Zimmer verdecken würde. Der Zauberer zog ein Kügelchen aus Fledermausdung und Schwefel hervor, zerdrückte es in der Faust und zeigte mit einem Finger auf die Gruppe der Taer. Sein Gesang wurde vom Berghang zurückgeworfen und echote über das leere Gletschereis, und das Wissen, dass diese dummen Geschöpfe keine Ahnung hatten, was auf sie zukam, ließ ihn höhnisch lächeln. Sekunden bevor sein Spruch sich entlud, hatte Aballister noch einen grausamen Gedanken und hob den Zeigefinger ein wenig an. Der Feuerball explodierte über den Köpfen der überraschten Taer und schmolz Teile des Gletschers. Riesige Eisblöcke stürzten herab, und ein Wasserschwall verschluckte alle Wesen, die nicht zerschmettert wurden. Eine Reihe Überlebender stolperte in einem Morast aus Eis und Wasser herum, doch sie waren zu verblüfft und überwältigt, um sich davonzumachen, als der Teich schnell wieder gefror.
Ein einziges armseliges Wesen schaffte es, sich zu befreien, doch Druzil hüpfte von Aballisters Schulter und schoß auf den Taer hinab. Als das Teufelchen an dem stolpernden Geschöpf vorbeikam, stach es mit dem klauenbewehrten Ende seines Schwanzes zu, und Aballister applaudierte herzlich. Der Taer griff sich an die verletzte Schulter, sah dem davonfliegenden Teufelchen verdutzt nach und fiel tot aufs Eis. »Was ist mit dem Rest?« fragte Druzil, als er wieder auf der Schulter des Zauberers landete. Aballister schaute zu den Taer hinüber. Die meisten waren tot, aber einige kämpften noch vergeblich gegen den immer festeren Griff des Eises. »Überlass sie ihrem langsamen Tod«, erwiderte er und lachte abermals. Druzil sah ihn ungläubig an. »Das wäre der Herrin des Giftes aber gar nicht recht«, sagte das Teufelchen, während es mit einer Hand seinen heimtückischen Schwanz hin und herschwang. »Na schön«, gab Aballister zurück, obwohl ihm klar war, dass sein Gefährte mehr an seinem eigenen Spaß als an der Freude Talonas interessiert war. Dennoch war Druzils Überlegung gerechtfertigt; Gift war immer die angemessene Methode, Talonas Werk zu vollenden. »Geh und bring es zu Ende«, wies Aballister das Teufelchen an. »Ich hole den Yote.« Kurz darauf pflückte Aballister den letzten graubraunen Pilz von seinem abgelegenen Platz auf dem Gletscher und steckte ihn in seine Tasche. Er rief nach Druzil, der mit dem letzten wimmernden Taer spielte, indem er seinen Schwanz um den verzweifelt hin- und herzuckenden Kopf des entsetzten Wesens peitschen ließ. Nur dieser Teil des Taer ragte noch aus der Eisfalle. »Genug«, sagte Aballister mit Nachdruck. Druzil seufzte und sah den nahenden Zauberer betrübt an. Aballister verzog keine Miene. »Genug«, sagte er erneut. Druzil beugte sich vor und küsste den Taer auf die Nase. Das Wesen hörte auf zu jammern und starrte ihn verblüfft an, doch Druzil zuckte nur die Schultern und trieb dem Taer seinen Giftstachel genau ins verheulte Auge. Bereitwillig nahm das Teufelchen wieder seinen Platz auf Aballisters Schulter ein. Aballister ließ ihn die Tasche mit dem Yote halten, um ihn daran zu erinnern, dass hinter der schimmernden Tür wichtigere Dinge auf sie warteten.
Das Schoßtier des weißen Eichhörnchens Der Druide in der grünen Robe stieß eine Reihe Schnalzlaute aus, doch das weiße Eichhörnchen, das hoch über den drei Männern auf einem Ast der mächtigen Eiche saß, schien überhaupt nicht zu reagieren. »Oh, anscheinend hast du deine Kräfte verloren«, bemerkte einer seiner Begleiter, ein bärtiger Waldpriester mit freundlichem Gesicht und dichtem, blonden Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel. »Kannst du es etwa besser als ich?« fragte der grüngewandete Druide verstimmt. »Ich fürchte, an dem ist nicht nur das Fell außergewöhnlich.« Die beiden anderen lachten über den Versuch ihres Kameraden, seinen Fehlschlag zu erklären. »Ich versichere dir«, sagte der dritte aus der Gruppe, der höchstrangige Initiierte, »die Farbe des Eichhörnchens ist ungewöhnlich, aber mit den Tieren zu sprechen ist eine unserer einfachsten Übungen. Bestimmt -« »Bei allem Respekt«, unterbrach ihn der frustrierte Druide. »Ich habe ja mit dem Tier Kontakt aufgenommen. Es will nur nicht antworten. Versuch es doch selbst, bitteschön.« »Ein Eichhörnchen, das nicht reden will?« fragte der zweite glucksend. »Die gehören doch nun wirklich zu den geschwätzigsten -« »Nicht dieses«, bemerkte eine Stimme aus dem Hintergrund. Als die drei Druiden sich umdrehten, sahen sie einen Priester die breite Straße vor dem efeuüberwucherten Gebäude entlangkommen. Aus seinen Schritten sprach die Energie der Jugend. Er war von durchschnittlicher Größe und Gestalt, höchstens etwas muskulöser als andere, hatte graue Augen und reichlich braune Locken, die unter der breiten Krempe seines Huts wippten. Seine helle Tunika und die hellen Hosen wiesen ihn als Priester des Deneir aus, eines der Götter der Gastgeber in der Erhebenden Bibliothek. Anders als die meisten aus seinem Orden trug dieser junge Mann jedoch auch einen hübschen hellblauen Seidenumhang und einen gleichermaßen blauen Hut mit breiter Krempe, rotem Band und einer Feder an der rechten Seite. Am Hutband steckte ein Amulett aus Gold und Porzellan, das eine brennende Kerze über einem Auge zeigte das Symbol von Deneir. »Dieses Eichhörnchen kann tatsächlich ziemlich wortkarg sein«, fuhr der junge Priester fort. Die verblüfften Mienen der Druiden amüsierten ihn, und er beschloss, sie noch mehr in Erstaunen zu versetzen. »Glückauf, Arcite, Newander und Cleo. Ich gratuliere Euch, Cleo, zum Aufstieg zur Stufe eines Initiierten.« »Woher kennt Ihr uns?« fragte Arcite. »Wir haben uns noch nicht in der Bibliothek gemeldet und haben niemandem von unserem Kommen erzählt.« Er tauschte einen misstrauischen Blick mit Newander, dem blonden Priester, und eine Stimme wurde streng. »Haben Eure Oberen auf magische Weise nach uns Ausschau gehalten und uns beobachtet?«
»Nein, nein, nichts dergleichen«, erwiderte der junge Mann sogleich, denn er wusste, wie sehr die geheimnistuerischen Druiden solche Manöver hassten. »Ich erinnere mich an Euch drei von Eurem letzten Besuch in der Bibliothek.« »Unverschämt!« warf Cleo ein. »Das ist vierzehn Jahre her. Da wart Ihr doch noch ... « »Ein Junge«, antwortete der junge Priester. »Das war ich auch, nämlich sieben Jahre alt. Ihr wart damals zu viert, wenn ich mich recht erinnere. Eine ältere Dame von großer Macht war noch dabei. Ich glaube, sie hieß Shannon.« »Unglaublich«, murmelte Arcite. »Ihr habt recht, junger Priester.« Wieder tauschten die Druiden besorgte Blicke aus, weil sie einen Trick vermuteten. Druiden hatten wenig für jene übrig, die nicht ihrem Orden angehörten. Sie kamen nur selten in die Erhebende Bibliothek, die hoch im schwer zugänglichen Schneeflockengebirge lag, und ausschließlich, wenn sie von einer besonders interessanten Entdeckung gehört hatten - einem seltenen Buch über Kräuter oder Tiere, einem neuen Rezept für Heilmittel oder Wachstumstränke für ihre Gärten. Alle drei wandten sich schroff von dem jungen Priester ab, doch dann fiel Newander etwas ein. Er fuhr herum und sah den Mann an, der sich jetzt bequem auf seinen schönen Wanderstab stützte, dessen silberner Handgriff meisterhaft zu einem Widderkopf geformt war. »Cadderly?« fragte Newander mit zunehmend breiterem Grinsen. Auch Arcite erkannte nun den jungen Mann und erinnerte sich an die ungewöhnliche Geschichte eines höchst ungewöhnlichen Kindes. Cadderly war noch vor seinem fünften Geburtstag in die Bibliothek gekommen, um dort zu leben, obwohl selten Kinder unter zehn Jahren aufgenommen wurden. Seine Mutter war einige Monate zuvor gestorben, und sein Vater, der zu sehr in eigene Studien vertieft war, hatte das Kind vernachlässigt. Thobicus, der Abt der Erhebenden Bibliothek, hatte von dem vielversprechenden Jungen gehört und ihn großzügig aufgenommen. »Cadderly«, echote Arcite. »Seid Ihr es wirklich?« »Zu Diensten«, erwiderte Cadderly, der sich tief verneigte, »und Glückauf. Ich fühle mich geehrt, dass Ihr Euch meiner entsinnt, guter Newander und ehrenwerter Arcite.« Auch Cleos Miene hellte sich jetzt auf, als er den Priester erkannte. »Ja, Ihr wart nur ein Junge«, sagte Newander, »ein übermäßig neugieriger kleiner Junge, wenn ich mich recht erinnere!« »Vergebt mir.« Wieder verbeugte Cadderly sich. »Man erhält nicht oft Gelegenheit, sich mit einer Abordnung Druiden zu unterhalten!« »Nur wenige legen Wert darauf«, stellte Arcite fest, »aber Ihr ... gehört zu den wenigen, wie es scheint.« Cadderly nickte, doch dann verschwand sein Lächeln. »Ich hoffe doch, dass Shannon nichts zugestoßen ist«, sagte er besorgt. Die Druidin war bei jener lange zurückliegenden Begegnung nett zu ihm gewesen. Sie hatte ihm nützliche Pflanzen und wohlschmeckende Wurzeln gezeigt und vor seinen Augen Blumen erblühen lassen. Zu Cadderlys Erstaunen hatte sich Shannon in einen anmutigen Schwan verwandelt und war hoch in den Morgenhimmel hinaufgeflogen - eine Fähigkeit, die nur die mächtigsten Druiden besaßen. Cadderly hatte sich so sehr gewünscht, mitfliegen zu können - an diese Sehnsucht konnte er sich lebhaft erinnern -, aber die Druidin hatte nicht die Macht gehabt, auch ihn zu verwandeln. »Nichts Schlimmes«, erwiderte Arcite. »Sie ist vor einigen Jahren friedlich gestorben.« Cadderly nickte. Er wollte schon sein Beileid aussprechen, doch ihm fiel noch rechtzeitig ein, dass Druiden den Tod weder fürchteten noch beklagten. Sie sahen darin das natürliche Ende des Lebens und ein ziemlich unwichtiges Ereignis im Gesamtplan der universellen Ordnung. »Kennt Ihr dieses Eichhörnchen?« Cleo war immer noch darauf aus, seinen Ruf zu retten. »Percival«, erwiderte Cadderly, »ein Freund von mir.« »Ein Schoßtier?« fragte Newander, dessen kluge Augen sich argwöhnisch verengten. Druiden lehnten Menschen ab, die Schoßtiere hielten. Cadderly lachte schallend. »Ich fürchte, es ist eher umgekehrt«, gab er ehrlich zu. »Percival duldet mein Streicheln manchmal - und nimmt mein Futter - ziemlich eifrig -, aber da ich ein größeres Interesse an ihm habe, als er an mir, ist er derjenige, der über das Wann und Wo entscheidet.« Die Druiden stimmten in sein Lachen ein. »Ein wahrlich außergewöhnliches Exemplar«, stellte Arcite fest, um dann Percival mit einigen Schnalzern und Zirplauten zu gratulieren. »Wunderbar«, kam Cadderlys sarkastischer Kommentar, »ermutigt ihn noch.« Die Druiden lachten noch lauter, und Percival, der alles von seinem hohen Ast aus mitansah, warf Cadderly einen hochmütigen Blick zu. »Also, komm schon runter und sag Guten Tag! « rief Cadderly. Mit seinem Wanderstab schlug er gegen den niedrigsten Ast des Baumes. »Sei wenigstens höflich.« Percival blickte nicht von der Eichel auf, an der er nagte. »Er versteht es nicht, fürchte ich«, sagte Cleo. »Vielleicht, wenn ich übersetze ... « »Er versteht«, beharrte Cadderly, »so gut wie Ihr oder ich. Er ist einfach stur, und das kann ich beweisen!« Er sah wieder zu dem Eichhörnchen hoch. »Wenn du mal Zeit hast, Percival«, sagte er lauernd, »ich hätte da noch einen Teller mit Cacasanüssen und Butter für dich in meinem Zimmer ... « Noch ehe er den Satz zu Ende gebracht hatte, sauste das Eichhörnchen schon einen Ast entlang, hüpfte auf den nächsten und dann zum nächsten Baum an der Straße. In Sekundenschnelle war es an einer Regenrinne am Dach der Bibliothek angelangt, und ohne auch nur langsamer zu werden über einen Pfad aus dichtem Efeu gehuscht und durch ein offenes Fenster im zweiten Stock an der Nordseite des großen Gebäudes verschwunden. »Percival hat eine große Schwäche für Cacasanüsse mit Butter«, bemerkte Cadderly, als das Gelächter der Druiden verklungen war.
»Ein wahrlich außergewöhnliches Exemplar!« wiederholte Arcite. »Und Ihr, Cadderly - es tut gut zu sehen, dass Ihr bei Euren Büchern geblieben seid. Vor vierzehn Jahren hatten Eure Lehrer eine hohe Meinung von Euch, aber ich hatte keine Ahnung, dass Euer Gedächtnis so scharf ist - oder dass wir Druiden vielleicht einen so s tarken und erfreulichen Eindruck hinterlassen haben.« »Das ist es«, erwiderte Cadderly ruhig, »und das habt Ihr! Ich bin froh, dass Ihr zurückgekehrt seid - wegen der kürzlich entdeckten Abhandlung über Waldmoose, nehme ich an. Ich habe sie noch nicht gesehen. Die Großmeister haben sie weggeschlossen, bis jemand kommt, der sich mit solchen Sachen besser auskennt und ihren Wert einschätzen kann. Ihr seht, eine Gruppe Druiden kommt nicht völlig unerwartet, auch wenn wir nicht wussten, wie viele kom men würden oder wann.« Die drei Druiden nickten. Sie bewunderten das efeubewachsene Steingebäude. Die Erhebende Bibliothek stand seit sechshundert Jahren, und in all dieser Zeit waren ihre Türen nur den Anhängern des Bösen verschlossen geblieben. Das Gebäude war riesig, eine Stadt für sich, wie es im rauhen, schwer zugänglichen Schneeflockengebirge auch nötig war. Der Durchmesser betrug über vierhundert Fuß, die Höhe der vier oberirdischen Stockwerke insgesamt die Hälfte davon. Gutbesetzt und gut versorgt - Gerüchte sprachen von meilenweiten unterirdischen Vorratstunneln und Katakomben -, hatte sie Orkangriffen, felsenschleudernden Riesen und den härtesten Gebirgswintern widerstanden und die Jahrhunderte unbeschadet überlebt. Der Bestand der Bibliothek an Büchern, Pergamenten und seltenen Gegenständen war beachtlich. Er füllte fast das gesamte Erdgeschoss - die eigentliche Bibliothek - und viele kleinere Studierzimmer im ersten Stock und enthielt unzählige einzigartige, uralte Werke. Die Erhebende Bibliothek war zwar kleiner als die großen Bibliotheken der Welt wie die kostbaren Sammlungen von Silbermond im Norden und die Kunstmuseen von Calimport im Süden, doch sie war vom mittleren Westen und von Cormyr aus gut zu erreichen und ließ jeden ein, der lernen wollte, solange er sein Wissen nicht für üble Zwecke nutzen wollte. Darüber hinaus beherbergte das Gebäude weitere wichtige Forschungsbereiche, unter anderem Alchimistenküchen und Kräuterläden, und das atemberaubende Bergpanorama und die gepflegten Gärten wirkten sich inspirierend auf die Suchenden aus. Die Erhebende Bibliothek war nicht nur als Lagerplatz für alte Bücher gedacht; sie war ein Ort, wo Poesie vorgetragen wurde, wo man malte und Skulpturen schuf, ein Ort, wo man tiefschürfende, oft nicht zu beantwortende Fragen diskutieren konnte - insgesamt ein gebührender Tribut an Deneir und Oghma, die verbündeten Götter des Wissens, der Literatur und der Kunst. »Die Abhandlung ist umfangreich, hat man mir gesagt«, meinte Arcite. »Es wird viel Zeit kosten, sie genau zu prüfen. Ich hoffe doch, dass Kost und Unterkunft nicht unerschwinglich sind. Wir sind Männer, die über wenig materielle Mittel verfügen.« »Abt Thobicus wird Euch kostenlos aufnehmen, vermute ich«, antwortete Cadderly. »Eure Dienste in dies er Sache sind unschätzbar.« Er zwinkerte Arcite zu. »Wenn nicht, wendet Euch an mich. Ich habe kürzlich einem Zauberer aus dieser Gegend ein Zauberbuch neu geschrieben, das er bei einem Feuer eingebüßt hat. Der Mann war großzügig. Immerhin bin ich der Verfasser des ursprünglichen Buchs, und der Zauberer- vergesslich, wie wohl die meisten von ihnen - hatte nie eine Kopie anfertigen lassen.« »Das Werk war einmalig?« fragte Cleo kopfschüttelnd, weil er kaum glauben konnte, dass ein Zauberer mit seinem wertvollsten Besitz so nachlässig umgehen konnte. »Das war es«, bestätigte Cadderly und tippte sich an die Schläfe, »nur hier gab es noch eine Kopie.« »Ihr konntet Euch an die Feinheiten so genau erinnern, dass Ihr es aus dem Gedächtnis neu geschrieben habt?« fragte Cleo bass erstaunt. Cadderly zuckte die Schultern. »Ihr seid wirklich bemerkenswert, mein lieber Cadderly«, stellte Arcite fest. »Ein wahrlich außergewöhnliches Exemplar?« fragte der junge Priester hoffnungsvoll, worauf ihm alle drei ein breites Lächeln schenkten. »Allerdings!« sagte Arcite. »Schaut doch in den nächsten Tagen mal bei uns herein.« Da bekannt war, wieviel Wert Druiden auf ihre Zurückgezogenheit legten, begriff Cadderly sofort, was für ein großes Kompliment ihm da gemacht worden war. Er verneigte sich tief, und die Druiden taten es ihm nach. Dann verabschiedeten sie sich und gingen zur Bibliothek hinauf. Cadderly sah ihnen nach. Dann blickte er zu seinem offenen Fenster hoch. Percival saß auf dem Fensterbrett und leckte sich hingebungs voll die Reste seiner Cacasanuß-Butter-Mahlzeit von den Pfötchen. ¤¤¤ Ein winziger Tropfen löste sich vom Ende des gebogenen Röhrchens und traf auf ein vollgesogenes Tuch, das in ein kleines Becherglas hing. Cadderly schüttelte den Kopf und legte eine Hand an den Hahn, der den Zufluss regelte. »Nimm die Hand da weg!« rief der entsetzte Alchimist, der am anderen Ende des Zimmers auf einer Werkbank gesessen hatte. Er sprang auf und stürmte zu dem übermäßig neugierigen jungen Priester hinüber. »Es ist schrecklich langsam«, stellte Cadderly fest. »Das muss es auch sein«, erklärte Vicero Belago wohl zum hundertsten Mal. »Du bist kein Dummkopf, Cadderly. Du weißt doch genau, dass du nicht ungeduldig sein darfst. Das hier ist Wuchtöl! Eine äußerst flüchtige Substanz. Stärkeres 1 Tropfen könnte in einem Raum wie diesem, der voller instabiler Tränke steckt, eine Katastrophe auslösen!«
Cadderly seufzte und nahm die Schelte demütig hin. »Wieviel hast du für mich?« fragte er, während er in eine der vielen Taschen an seinem Gürtel langte und eine winzige Phiole herauszog. »Du bist so furchtbar ungeduldig«, schimpfte Belago, aber Cadderly wusste, dass er nicht ernstlich verärgert war. Cadderly war einer von Belagos Hauptkunden und hatte oftmals wichtige Übersetzungen uralter alchimistischer Texte abgeliefert. »Nur das, was in dem Glas ist, fürchte ich. Ich musste auf ein paar Zutaten warten - Fingernägel von Hügelriesen und zerstoßenes Ochsenhorn.« Cadderly hob vorsichtig das durchnässte Tuch und hielt den Becher schräg. Er enthielt nur wenige Tropfen, gerade genug für eine einzige seiner winzigen Phiolen. »Macht sechs«, sagte er, während er die Flüssigkeit mit Hilfe des Tuchs in das Gläschen bugsierte. »Noch vierundvierzig.« »Bist du sicher, dass du so viele willst?« fragte Belago nicht zum ersten Mal. »Fünfzig«, bestätigte Cadderly. »Aber der Preis ...« »Ist es wert!« lachte Cadderly, als er das Gläschen sicher wegsteckte und schwungvoll den Laden verließ. Seine Laune wurde nicht getrübt, als er den Gang zum Südflügel des zweiten Stocks entlanglief und an den Zimmern von Histra, einer derzeit hier untergebrachten Priesterin der Liebesgöttin Sune, vorbeikam. »Lieber Cadderly«, grüßte ihn die Priesterin, die zwanzig Jahre älter war als er, aber dennoch sehr verführerisch. Sie trug ein dunkelrotes Gewand, das vorne tief und an den Seiten hoch ausgeschnitten war und viel von ihrer kurvenreichen Figur enthüllte. Cadderly musste sich sehr zusammenreißen, um mit dem Blick bei ihren Augen zu bleiben. »Kommt doch herein«, schnurrte Histra. Sie packte Cadderly vorn an seiner Tunika und zog ihn in den Raum; dann schloss sie demonstrativ die Tür. Es gelang dem jungen Priester, den Blick gerade lange genug von Histra abzuwenden, um das hell leuchtende Ding zu sehen, das unter einer dicken Decke hervorstrahlte. »Ist es fertig?« fragte Cadderly, und seine Stimme überschlug sich. Peinlich berührt hüstelte er. Histra strich ihm sanft mit dem Finger über den Arm und lächelte angesichts seines unwillkürlichen Erschauerns. »Der Zauber ist gesprochen«, erwiderte sie. »Jetzt fehlt nur noch die Bezahlung.« »Zweihundert ... Goldstücke«, stammelte Cadderly, »wie vereinbart.« Er griff nach einem Beutel, aber Histras Hand hinderte ihn daran. »Es war ein schwieriger Spruch«, sagte sie, »eine Abweichung vom Üblichen.« Sie zögerte und lächelte verlockend. »Aber ich habe eine solche Schwäche für Abweichungen. Für Euch könnte der Preis niedriger ausfallen, wisst Ihr.« Cadderly zweifelte nicht daran, dass man sein Schlucken bis in den Gang hören konnte. Er war ein disziplinierter Gelehrter und nur zu einem bestimmten Zweck hier. Er hatte viel Arbeit vor sich, aber Histra war unbestreitbar verführerisch und ihr zartes Parfüm überwältigend. Cadderly ermahnte sich weiterzuatmen. »Wir könnten die Bezahlung auch ganz vergessen«, bot Histra an, deren Finger inzwischen Cadderlys Ohrmuschel nachzeichneten. Der junge Gelehrte fragte sich, ob er gleich umkippen würde. Schließlich jedoch brachte der Gedanke an eine aufgebrachte Danica, die Histra mühelos niederrang, Cadderly wieder zu sich. Danicas Zimmer war nicht weit, nur ein paar Türen den Gang hinunter auf der anderen Seite. Nachdrücklich nahm er Histras Hand von seinem Ohr, händigte ihr das Gold aus und hob das eingehüllte, glänzende Ding auf. Allen praktischen Erwägungen zum Trotz befürchtete er jedoch - als er um zweihundert Goldstücke ärmer aus dem ; Raum trat -, dass sein Gesicht ebenso glühte wie die Scheibe, die Histra für ihn besprochen hatte. Cadderly hatte anderes zu tun - das hatte er stets -, aber da er keinen Verdacht erregen wollte, indem er mit einem unheimlich glühenden Beutel durch die Bibliothek streifte, hielt er direkt auf den Nordflügel und sein eigenes Zimmer zu. Als er eintrat, saß Percival immer noch auf dem Fensterbrett, wo er die späte Morgensonne genoss. »Ich hab sie!« sagte Cadderly aufgeregt und holte die Scheibe heraus. Sofort wurde der Raum hell, als läge er in vollem Sonnenlicht, und das erschrockene Eichhörnchen schoss in den Schatten unter Cadderlys Bett. Der junge Mann nahm sich nicht die Zeit, Percival zu beruhigen. Er stürmte zu seinem Schreibtisch und zog aus der überfüllten Kramschublade an der Seite ein Rohr von einem Fuß Länge und zwei Fingerbreit Durchmesser hervor. Mit leichtem Drehen entfernte er den Deckel vom hinteren Ende, wodurch ein Schlitz zum Vorschein kam, der gerade groß genug für die Scheibe war. Eifrig legte er die Scheibe ein und setzte den Deckel wieder auf, und nun war das Licht verdeckt. »Ich weiß, dass du da unten bist«, neckte Cadderly und zog die Metallkappe vom vorderen Ende des Rohrs ab, wodurch ein gezielter Lichtstrahl freigesetzt wurde. Percival gefiel das überhaupt nicht. Er schoss unter dem Bett hin und her, und der lachende Cadderly, der sich freute, endlich einmal die Oberhand über das vernaschte Eichhörnchen gewonnen zu haben, folgte ihm geschickt mit dem Lichtstrahl. Es ging noch ein Weilchen so weiter, bis Percival schließlich unter dem Bett hervorschoss und aus dem offenen Fenster sprang. Eine Sekunde später jedoch war er zurück, um Cadderly noch ein paar wenig schmei chelhafte Bemerkungen zuzukeckern. Immer noch lachend verschloss der junge Priester sein neues Spielzeug und hängte es an seinen Gürtel. Dann ging er zum Schrank. Die meisten Bibliothekspriester hatten in ihren Schränken reichlich Roben zum Wechseln, um sich dem beständigen Zustrom fremder Gelehrter immer von der besten Seite zu zeigen. In Cadderlys Schrank jedoch nahmen die eng gepackten Kleider nur wenig Platz ein. Den Boden bedeckten Stapel von Notizen und noch größere Stapel der verschiedensten Erfindungen, und an der Stange hingen maßgefertigte Ledergürtel und Riemen für alle
möglichen Zwecke. An der Innenseite einer Tür hing auch ein großer Spiegel, eine Extravaganz, die die mageren Börsen der meisten anderen Priester in der Bibliothek, besonders der jüngeren, weit überstiegen hätte. Cadderly nahm einen breiten Bandelier heraus und ging zum Bett. Der lederne Schultergurt enthielt fünfzig Spezialpfeile, und mit der Phiole aus dem Alchimistenladen wollte Cadderly jetzt den sechsten davon vollenden. Die Pfeile waren klein und dünn und, abgesehen von den silbernen Spitzen, aus Eisen. In der Mitte befand sich jeweils ein Hohlraum, der genau der Größe der Phiolen entsprach. Cadderly bebte, als er das Gläschen vorsichtig in den Pfeil schob. Mit Wuchtöl sollte man wirklich nicht spaßen. Cadderly atmete auf, als die flüchtige Flüssigkeit sicher aufbewahrt war. Er legte sich den Schultergurt um, weil er im Spiegel sehen wollte, wie er passte. Das tat er jedesmal, wenn er einen neuen Pfeil vollendet hatte, doch ein lautes Klopfen an der Tür ließ ihm gerade noch Zeit, den Gurt wieder wegzupacken, bevor Großmeister Avery Schell, ein beleibter, rotgesichtiger Mann, hereinstürmte. »Was sind das für Rechnungen?« rief der Priester, der einen Haufen Pergamente vor Cadderly schwenkte. Er begann, sie zu entrollen und warf sie auf den Boden, nachdem er die Absender gelesen hatte. »Sattler, Silberschmied, Waffenschmied... Du verplemperst dein Gold!« Hinter Averys Schulter bemerkte Cadderly das breite Grinsen von Kierkan Rufo und wusste, woher der Großmeister seine Informationen und den Brennstoff für seinen Zorn hatte. Rufo, ein hagerer, hochgewachsener Mann, war nur ein Jahr älter als Cadderly, und obwohl sie Freunde waren, rivalisierten die beiden grundsätzlich um ihren Aufstieg durch die Ränge ihres Ordens - und auch in anderen Bereichen, wenn man die begierigen Blicke bedachte, die Rufo Danica unter Cadderlys Augen zugeworfen hatte. Einander in Schwierigkeiten zu bringen war für beide zum Sport geworden ein höchst lästiger Sport, wenn man die Großmeister, vor allem den geplagten Avery, fragte. »Das Geld ist gut angelegt, Großmeister«, setzte Cadderly zaghaft an, denn ihm war durchaus bewusst, dass seine und Averys Auslegungen von »gut angelegt« sich gewaltig unterschieden. »Zum Erwerb von Wissen.« »Zum Erwerb von Spielzeug«, bemerkte Rufo höhnisch von der Schwelle aus, und Cadderly nahm die zufriedene Miene seines Konkurrenten wahr. Zu Rufos großem Missfallen war Cadderly für seine Arbeit an dem verlorenen Zauberbuch vom Großmeister in den höchsten Tönen gelobt worden, und nun gefiel es Rufo offensichtlich, seinem Rivalen eins auszuwischen. »Du bist viel zu leichtsinnig, als dass du über solche Summen frei verfügen solltest!« brüllte Avery. »Dir fehlt die nötige Weisheit.« »Ich habe nur einen Teil der Bezahlung behalten«, erinnerte ihn Cadderly, »und den habe ich im Einklang mit Deneirs -« »Nein!« unterbrach Avery. »Versteck dich nicht hinter einem Namen, den du offensichtlich nicht verstehst. Deneir. Was weißt du von Deneir, kleiner Erfinder? Du lebst seit frühester Jugend in der Erhebenden Bibliothek, aber du zeigst kaum Verständnis für unsere Lehren und Gebote! Geh doch nach Süden, nach Lantan, mit deinem Spielzeug, wenn dir das gefällt, und spiel mit den Priestern des Gond! « »Das verstehe ich nicht.« »Allerdings nicht«, erwiderte Avery in fast schon resigniertem Ton. Er hielt einen Moment inne, und Cadderly erkannte, dass er seine Worte sehr sorgfältig wählte. »Wir sind ein Zentrum des Lernens«, begann der Großmeister. »Es gibt nur we nig Beschränkungen für die, die zu uns kommen wollen - selbst Gondanhänger wagen sich über unsere Schwelle. Du hast sie gesehen, aber hast du auch bemerkt, dass sie nie herzlich empfangen wurden?« Cadderly dachte kurz nach, dann nickte er. Tatsächlich konnte er sich deutlich erinnern, dass Avery bei jedem Besuch der Gondpriester Wert darauf gelegt hatte, ihnen nicht begegnen zu müssen. »Du hast recht, aber ich verstehe es nicht«, antwortete Cadderly. »Ich hätte angenommen, dass die Priester von Deneir und Gond, die sich beide dem Wissen widmen, einander schätzen.« Avery schüttelte langsam, aber sehr nachdrücklich den Kopf. »Hier irrst du«, sagte er. »Wir setzen vor jedes Wissen eine Bedingung, der die Gondanhänger nicht folgen.« Er hielt inne und schüttelte wieder den Kopf, eine einfache Geste, die Cadderly tiefer traf als jede Schimpftirade, die Avery je auf ihn losgelassen hatte. »Warum bist du hier?« fragte Avery ruhig mit beherrschter Stimme. »Hast du dir je diese Frage gestellt? Du enttäuschst mich, Junge. Du bist vielleicht der intelligenteste Mensch, den ich je gesehen habe - und ich kenne eine ganze Menge Gelehrte -, aber deine Impulse und Gefühle sind die eines Kindes. Ich wusste, es würde so sein. Als Thobicus sagte, wir würden dich aufnehmen ...« Avery brach abrupt ab, als ob er es sich anders überlegt hätte, und schloss mit einem Seufzer. Cadderly hatte die Erfahrung gemacht, dass der Großmeister immer kurz vor dem Thema der Moral haltmachte, kurz vor dem Predigen, als erwarte er, dass man eigene Schlüsse daraus zog. Er war also nicht überrascht, als Avery gleich darauf das Thema wechselte. »Was ist mit deinen Pflichten, während du hier sitzt und nach Wissen suchst?« fragte der Großmeister. »Hast du heute morgen daran gedacht, die Kerzen in den Studierzimmern anzuzünden?« Cadderly zuckte zusammen. Er wusste, er hatte etwas vergessen. »Ich glaube kaum«, sagte Avery. »Du bist ein wertvolles Mitglied unseres Ordens, Cadderly, und unbestreitbar ein begabter Gelehrter und Schreiber, aber ich warne dich, dein Benehmen ist bei weitem nicht akzeptabel.« Averys Gesicht lief dunkelrot an, als Cadderly seinem Blick standhielt, da er immer noch nicht recht wusste, was der Großmeister nun eigentlich von ihm wollte.
An das Schimpfen war er beinahe schon gewohnt. Avery kam immer angerannt, um Rufos Anklagen nachzugehen. Cadderly fand das nicht allzu schlimm. Trotz seiner aufbrausenden Art war Avery gewiss nachsichtiger als manch anderer ältere Großmeister. Avery drehte sich plötzlich um, wodurch er Rufo fast umgerannt hätte, und stürmte den Gang entlang, den ungelenken Kerl im Schlepptau. Cadderly zuckte die Schultern und versuchte, den ganzen Zwischenfall als einen weiteren von Averys überflüssigen Ausbrüchen zu verdrängen. Er machte sich keine großen Gedanken; schließlich brachten seine Schreibkünste riesige Geldsummen ein, die er zu gleichen Teilen mit der Bibliothek teilte. Zugegeben, er war kein besonders pflichtbewusster Verehrer Deneirs. Er war nachlässig, was die Rituale anging, und das brachte ihn oft in Schwierigkeiten. Aber er wusste auch, dass die meisten Großmeister begriffen, dass seine Versäumnisse nicht auf mangelndem Respekt vor dem Orden beruhten, sondern einfach darauf, dass er so eifrig lernte und erfand, zwei hochangesehene Tätigkeiten - und profitabel für die Bibliothek, deren Unterhaltung viel Geld verschlang. Cadderly fand, dass die Priester des Deneir - wie es in den meisten Religionen war - bei kleinen Entgleisungen auch mal ein Auge zudrücken könnten, besonders, wenn man den um so größeren Gewinn bedachte. »Oh, Rufo«, rief er nun, mit einem Griff zu seinem Gürtel. Rufo spähte um den Pfosten der offenen Tür. Seine kleinen, schwarzen Augen funkelten vor höhnischer Siegerfreude. »Ja?« gurrte er. »Diesmal hast du gewonnen.« Rufos Grinsen wurde breiter. Cadderly ließ ihm einen Lichtstrahl ins Gesicht blitzen, und der verblüffte Rufo sprang erschrocken zurück und stieß an die gegenüberliegende Wand. »Halt die Augen offen«, sagte Cadderly mit entwaffnendem Lächeln. »Das nächste Mal bin ich am Zug.« Er zwinkerte, aber Rufo, der die ziemlich ungefährliche Natur von Cadderlys neuster Erfindung erkannt hatte, grinste nur höhnisch zurück, strich sich das verfilzte schwarze Haar aus dem Gesicht und lief davon. Seine schweren schwarzen Stiefel klangen auf dem gefliesten Boden so laut wie ein beschlagenes Pferd auf Kopfsteinpflaster. ¤¤¤ Die drei Druiden hatten ein Zimmer in einer abgelegenen Ecke des vierten Stocks erhalten, weitab vom geschäftigen Treiben der Bibliothek, ganz wie Arcite gewünscht hatte. Da sie nicht viel bei sich trugen, waren sie schnell eingerichtet, und Arcite schlug vor, dass sie sich sofort mit dem neu entdeckten Buch über Moose beschäftigen sollten. »Ich bleibe hier«, erklärte Newander. »Es war ein langer Weg, und ich bin wirklich müde. Ich wäre euch keine Hilfe, wenn mir die Augen zufallen.« »Wie du willst«, entgegnete Arcite. »Wir werden nicht allzu lange fortbleiben. Vielleicht kannst du hinuntergehen und weiterlesen, wenn wir fertig sind.« Nachdem seine Freunde gegangen waren, trat Newander an das Fenster und blickte auf das majestätische Schneeflockengebirge hinaus. Er war erst einmal in der Erhebenden Bibliothek gewesen, damals bei seiner ersten Begegnung mit Cadderly. Newander war jung gewesen, ungefähr so alt wie Cadderly jetzt, und die Bibliothek mit den vielen Menschen, den Ausstellungsstücken und den handgeschriebenen Büchern hatte ihn tief bewegt. Zuvor hatte er nur die stillen Wälder gekannt, wo die Tiere herrschten und es nur wenige Menschen gab. Damals hatte Newander seine Berufung in Frage gestellt. Die Wälder zog er vor, soviel wusste er, aber er hatte nicht leugnen können, wie sehr ihn die Zivilisation reizte, wie neugierig er auf Fortschritte in der Architektur und im Wissen war. Newander war dennoch Druide geblieben, ein Diener des Eichenvaters Silvanus, und war mit seinen Studien gut vorangekommen. Er war fest davon überzeugt, dass die natürliche Ordnung das Allerwichtigste war, und dennoch ... Newander war nicht ohne Sorge in die Erhebende Bibliothek zurückgekehrt. Er blickte zu den majestätischen Bergen hinaus und wünschte, er wäre dort draußen, wo die Welt einfach und sicher war.
Talonas Sendbote Aus einiger Entfernung sah der felsige Sporn am Nordostrand des Schneeflockengebirges recht unauffällig aus. Verstreut lagen Felsbrocken auf den geröllbedeckten Hängen. Aber ebenso könnte ein Unwissender einen Vielfraß für harmlos halten. Diese besondere Bergspitze, die keineswegs natürlichen Ursprungs war, beherbergte Burg Trinitatis, die als Berg getarnte Festung einer bösen Bruderschaft, die nur auf Machtzuwachs aus war. Wehe dem Wanderer, den der Zufall in die Nähe ihrer Felsen und Mauern führte! »Wird es gehen?« flüsterte Aballister nervös, während er zögernd das kostbare Pergament entrollte. Selbstverständ lich vertraute er dem Rezept - Talona hatte ihm dazu ver holfen -, aber als nun nach soviel Schmerz und Mühe der Sieg zum Greifen nahe schien, konnte er eine gewisse Sorge nicht verhehlen. Er blickte von der Spruchrolle auf und durch ein kleines Fenster nach draußen. Im Osten der Fe stung lagen flach und dunkel die Leuchtenden Ebenen, und die untergehende Sonne entzündete Spiegelfeuer auf den schneebedeckten Gipfeln des Schneeflockengebirges im Westen.
Das kleine Teufelchen faltete die ledrigen Flügel und verschränkte darüber die Arme. Ungeduldig tappte es mit einem Klauenfuß. »Quiesta bene tellemara«, murmelte es in sich hinein. »Was war das?« Aballister drehte sich abrupt um und zog eine dünne Braue hoch. »Hast du etwas gesagt, Druzil?« »Es wird gehen, habe ich gesagt. Es wird gehen«, log der kleine Teufel. »Zweifelst du etwa an Talona, der Herrin? Zweifelst du etwa an ihrer Weisheit, die uns zusammengeführt hat?« Aballister knurrte argwöhnisch und nahm die unterschwellige Beleidigung als unangenehme, aber unvermeidliche Folge dessen hin, dass er einen so klugen und bösartigen Vertrauten hatte. Der Zauberer wusste, dass Druzils Übersetzung nicht einmal annähernd zutreffend war, und dass >quiesta bene tellemara< keinesfalls als Kompliment gemeint war. Er zweifelte jedoch nicht daran, dass Druzil den mächtigen Trank sehr hoch einschätzte, und das beunruhigte ihn mehr als alles andere. Wenn es stimmte, was Druzil über den Chaosfluch erzählt hatte, würden Aballister und seine bösen Mitstreiter bald mehr Macht ausüben, als sich selbst der ehrgeizige Zauberer je erhofft hatte. Seit vielen Jahren strebte Burg Trinitatis die Unterwerfung des Schneeflockengebirges, des Elfenwaldes von Shilmista und der Menschensiedlung Carradoon an . Jetzt, mit dem Chaosfluch, würden sie endlich damit beginnen können. Aballister schaute zu dem goldenen Kohlebecken, das neben dem Fenster auf einem Dreifuß stand und in dem immer ein Feuer brannte. Es war sein Tor zu den Unteren Ebenen, dasselbe Tor, das ihm Druzil zugeführt hatte. Der Zauberer erinnerte sich lebhaft an jene Zeit. Der Avatar der Göttin Talona hatte ihn angewiesen, seine Zauberkräfte zu nutzen und ihm Druzils Namen anvertraut, damit das Teufelchen ihm ein wahrhaft köstliches Rezept für absolutes Chaos verraten würde. Damals hatte Aballister nicht geahnt, dass der teure Plan des Teufelchen zwei Jahre sorgfältiger, kostspieliger Vorbereitung in Anspruch nehmen, ihn an die Grenzen seines Durchhaltevermögens bringen und so viele andere vernichten würde. Aber der Chaosfluch war es wert. Aballister hatte die Beschaffung der Komponenten als sein persönliches Opfer für Talona gesehen, seine große Lebensaufgabe und sein Geschenk an die Göttin, das ihn über ihre Priester erheben würde. Das interplanare Tor war jetzt geschlossen. Aballister hatte Pulver, die es so leicht öffnen und schließen konnten, wie man einen Türknauf drehte. Die Pulver lagen in kleinen, sorgfältig markierten Beuteln auf einem Tisch daneben, immer abwechselnd eines zum Öffnen und eines zum Schließen. Außer Aballister wusste nur Druzil von ihnen, und das Teufelchen hatte nie gegen die Anweisungen des Zauberers verstoßen und mit dem Tor gespielt. Druzil konnte frech sein und war oft eine furchtbare Nervensäge, aber wenn es um Wichtiges ging, hatte er sich als ausreichend zuverlässig erwiesen. Aballister sah sich weiter um und entdeckte sein Abbild in einem Spiegel auf der anderen Seite des Raums. Einst war er ein ansehnlicher Mann mit forschenden Augen und einem offenen Lächeln gewesen. Die Veränderung war unübersehbar. Inzwischen war er ausgelaugt, denn all die Experimente mit schwarzer Magie, die Verehrung einer anspruchsvollen Göttin und die Kontrolle über chaotische Wesen wie Druzil hatten ihren Tribut gefordert. Vor vielen Jahren hatte der Zauberer alles aufgegeben - Familie und Freunde und alles, was ihm einst lieb und teuer gewesen war -, denn es hatte ihn nach Wissen und Macht gedürstet, und diese Besessenheit hatte sich noch vervielfacht, als er Talona begegnet war. Mehr als einmal jedoch hatte sich Aballister seitdem gefragt, ob diese Opfer wirklich nötig gewesen waren. Druzil bot ihm das Ziel seiner lebenslangen Suche - mehr Macht, als er sich je hätte vorstellen können -, aber die Wirklichkeit hatte Aballisters Erwartungen noch nicht erfüllt. In diesem Augenblick seines erbärmlichen Lebens erschien ihm die Macht so hohl wie sein eigenes Gesicht. »Aber diese Zutaten!« fuhr er fort, denn er versuchte, ja, hoffte womöglich sogar, eine Schwäche in den Angaben des Teufelchens zu entdecken. »Augen vom Erdkoloß? Druidenblut? Und was hat das für einen Sinn, Tentakel der Tentakelkatze?« »Chaosfluch«, entgegnete Druzil, als ob dieses Wort allein alle Zweifel zerstreuen könnte. »Es ist ein mächtiger Trank, den du brauen willst, Herr.« Druzils zähnefletschendes Lächeln ließ Aballister einen Schauer des Abscheus über den Rücken laufen. Er hatte sich in Gesellschaft des grausamen Teufelchens noch nie besonders wohl gefühlt.
»Del quiniera cas ciem -pa«, sagte Druzil durch seine langen, spitzen Zähne. »Ein wirklich mächtiger Trank!« übersetzte er falsch. In Wahrheit hatte er gesagt: »Selbst unter Berücksichtigung deiner beschränkten Fähigkeiten«, aber das brauchte Aballister nicht zu wissen. »Ja«, murmelte der Zauberer wieder und tippte mit einem seiner knochigen Finger an die Spitze seiner gekrümmten Nase. »Ich muss mir wirklich die Zeit nehmen, deine Sprache zu lernen, mein lieber Druzil.« »Ja«, echote Druzil und wackelte mit seinen überlangen Ohren. »Iye quiesta pas e t llemara«, sagte er, was bedeutete: »Wenn du nicht so dumm wärst.« Druzil verfiel in eine tiefe Verbeugung, um seine Täuschungen zu überspielen, doch diese Geste überzeugte Aballister nur noch mehr davon, dass das Teufelchen sich über ihn lustig machte. »Diese Zutaten waren sehr kostspielig«, kam Aballister wieder zum Thema. »Und die Zubereitung ist nicht korrekt«, ergänzte Druzil mit offenem Sarkasmus. »Und, Herr, wir könnten noch hundert weitere Probleme finden, wenn wir lange genug suchten, aber der Gewinn, denk doch! Der Gewinn! Deine Bruderschaft ist nicht sehr stark, wirklich nicht. Sie wird nicht überleben, behaupte ich! Nicht ohne das göttliche Gebräu.« »Göttlich?« überlegte Aballister. »Nenn es ruhig so«, erwiderte Druzil. »Da Talona dich zu ihm geführt hat, um ihre Pläne voranzutreiben, ist es das vielleicht wirklich. Und es wird Eindruck auf Barjin und seine armseligen Priester machen. Sie werden unterwürfiger und aufmerksamer sein, wenn sie begreifen, dass sie eine wahre Verbindung zu Talona herstellen, eine Macht an sich, die sie anbeten können, und ihre Ergebenheit wird dabei helfen, Ragnor, das Orkgesicht, und seine viehischen Krieger in Schach zu halten.« Aballister lachte laut, als er an die drei Kleriker dachte, den zweiten Orden des bösen Triumvirats, wie sie knien und einen Zaubertrank anbeten würden. »Nenne ihn Tuanta Miancay, den Tödlichen Schrecken«, schlug Druzil vor. Seine Stimme triefte vor Hohn. »Das wird Barjin gefallen.« Druzil dachte noch einen Moment nach, dann fügte er hinzu: »Nein, nicht den Tödlichen Schrecken. Tuanta Quiro Miancay, den Ultimativen Schrecken.« Aballister lachte schallend, doch es war eine Spur Unsicherheit dabei. »Ultimativer Schrecken« war ein Titel, der den höchsten und ergebensten Priestern der Talona vorbe-. halten war. Selbst Barjin, der Führer der Kleriker in Burg Trinitatis, hatte diese Ehre noch nicht erreicht, sondern wurde nur als Allerschwächendste Heiligkeit angesehen. Dass der Chaosfluch einen höheren Titel innehaben würde als der arrogante Kleriker, würde diesen sehr treffen, und Aballister würde seinen Spaß daran haben. Barjin und seine Anhänger waren erst seit einem Jahr in der Burg. Heimatlos, gebrochen und ohne einen persönlichen Gott war der Priester den ganzen Weg von Damara hierher gereist, nachdem ein neuer Orden von Paladinen seine tückische Gottheit in die Unteren Ebenen zurückverbannt hatte. Wie Aballister behauptete Barjin, den Avatar der Talona gesehen zu haben. Angeblich hatte sie ihm den Weg nach Burg Trinitatis gewiesen. Barjins Tatendrang und Fähigkeiten waren beträchtlich, und seine Gefolgsleute hatten unschätzbare Reichtümer mitgeschleppt. Bei ihrem Eintreffen hatte das herrschende Triumvirat, insbesondere Aballister, sie zunächst mit offenen Armen willkommen geheißen und es wunderbar gefunden, dass Talona eine so starke Union geschaffen hatte, eine Einheit, die die Burg stärken und die Mittel stellen würde, um Druzils Rezept zu vollenden. Nun, einige Monate später, hegte Aballister allmählich Vorbehalte gegenüber der Union, besonders aber gegenüber dem Priester. Barjin war ein charismatischer Mensch, der in diesem Orden, der sich Krankheit und Gift verschrieben hatte, manchmal schief angesehen wurde. Viele Priester der Talona fügten sich Wunden zu, die sichtbare Narben hinterließen, oder bedeckten ihre Haut mit grotesken Tätowierungen. Barjin hatte nichts dergleichen getan, hatte seiner neuen Göttin nichts geopfert, doch wegen seines Reichtums und. seiner geradezu unheimlichen Überzeugungskraft war er schnell zum Anführer der Kleriker aufgestiegen. Aballister hatte den Aufstieg zugelassen, da er glaubte, es sei Talonas Wille, und hatte sich ungewöhnliche Mühe gegeben, ein gutes Verhältnis zu Barjin herzustellen - im nachhinein war er sich seiner Entscheidung nicht mehr so sicher. Allerdings brauchte er Barjins Unterstützung, um Burg Trinitatis zusammenzuhalten, und Barjins Reichtum, um die weitere Vorbereitung des Chaosfluches zu bezahlen. »Ich muss mich darum kümmern, dass unsere Zutaten zu dem göttlichen Trank zusammengebraut werden«, sagte der Zauberer nun. »Aber wenn wir einmal Zeit und Ruhe finden, Druzil, würde ich gern etwas von dieser markigen Sprache lernen, mit der du so oft um dich wirfst.« »Wie du wünschst, Meister«, erwiderte das Teufelchen und verbeugte sich, als Aballister den kleinen Raum verließ und hinter sich die Tür zumachte. Die nächsten Worte sprach Druzil in seiner eigenen Sprache, der Sprache der Unteren Ebenen, weil er fürchtete, Aballister werde an der Tür lauschen. »Quiesta bene tellemara, Abal lister!« Dann konnte er sich jedoch nicht beherrschen und flüsterte: »Aber du bist zu dumm.« Einfach nur, um die Worte in beiden Sprachen zu hören. Trotz aller Beleidigungen, die er seinem Herrn so beiläufig an den Kopf warf, schätzte Druzil den Zauberer. Für einen Menschen war Aballister unbändig intelligent und außerdem der Mächtigste seines Dreierordens, und nach Druzils Einschätzung bildeten diese drei Zauberer wiederum das stärkste Bein des Triumvirats. Aballister würde den verfluchenden Trank vollenden und für seine Ausbreitung sorgen, und dafür würde Druzil, der diesem Tag seit Jahrzehnten entgegenfieberte, ihm unendlich dankbar sein. Druzil war schlauer als die meisten Ungeheuer des Abgrunds, und als er vor einem Jahrhundert in einem geheimnisvollen Manuskript auf das alte Rezept gestoßen war, hatte er es klugerweise vor seinem damaligen Herrn, einem anderen Menschen, versteckt gehalten. Jener Zauberer
hatte weder über die Möglichkeiten noch über die Weisheit verfügt, den Plan durchzuführen und das Chaos angemessen zu verbreiten, doch Aballister besaß beides. ¤¤¤ Aballister verspürte eine Mischung aus Hoffen und Bangen, als er gebannt auf den rötlichen Glanz starrte, der von der klaren Flasche ausging. Es war der erste Test für den Chaosfluch, und alle Erwartungen des Zauberers wurden von dem Gedanken an die immensen Kosten gedämpft, die diese geringe Menge verursacht hatte. »Nur noch eine Zutat«, flüsterte der kleine Teufel, der keinen der Zweifel seines Meisters teilte, besorgt. »Gib den Yote dazu, dann können wir den Rauch aufsteigen lassen.« »Es wird nicht getrunken?« fragte Aballister. Druzil erblaßte sichtbar. »Nein, Meister, bloß das nicht«, keuchte er. »Die Folgen sind zu schlimm. Zu schlimm!« Aballister musterte das Teufelchen forschend. In den zwei Jahren, seit Druzil bei ihm war, hatte er ihn noch nie so erschüttert gesehen. Der Zauberer ging zu einem Schrank und holte eine zweite Flasche heraus, die kleiner war als die durchsichtige, die den Trank enthielt. Dafür war sie mit zahllosen, komplizierten Runen geschmückt. Als Aballister den Stöpsel heraus zog, drang ein beständiger Rauchfaden heraus. »Sie raucht ununterbrochen«, erklärte der Zauberer. »Ein kleiner magischer ... « »Ich weiß«, unterbrach Druzil. »Und habe bereits herausgefunden, dass die Flasche genau zu unserem Trank paßt.« Aballister wollte fragen, woher Druzil das denn wissen wollte, woher Druzil überhaupt von seiner permanent rauchenden Flasche wusste, aber er behielt seine Fragen für sich, weil ihm einfiel, dass das bösartige Teufelchen Kontakte zu anderen Ebenen hatte, was vieles erklären konnte. »Kannst du noch mehr davon machen?« fragte Druzil und zeigte auf die wundersame Flasche. Aballister biß angesichts dieser neuen Ausgabe die Zähne zusammen, so dass schon sein Gesichtsausdruck die Frage beantwortete. »Der Chaosfluch wird am besten durch Nebel verbreitet, und durch ihre magischen Eigenschaften wird die Flasche ihn jahrelang weiter verteilen, aber ihre Reichweite ist begrenzt«, erläuterte Druzil. »Es wird ein weiteres Gefäß nötig sein, wenn wir das Rauschmittel richtig verbreiten wollen.« »Rauschmittel?« bellte Aballister, der kurz vor einem Wutausbruch stand. Druzil schlug kräftig mit seinen ledrigen Flügeln, um auf die andere Seite des Raums zu flüchten - auch wenn diese Entfernung für den mächtigen Zauberer kaum einen Unterschied machte. »Rauschmittel?« wiederholte Aballister. »Mein lieber Druzil, willst du etwa behaupten, dass wir Unsummen Gold ausgegeben haben, dass ich Barjin und diesen erbärmlichen Priestern um den Bart gegangen bin, nur um einen Krug Elfenwein zu mischen?« »Bene tellemara«, erwiderte das Teufelchen verbittert. »Du begreifst immer noch nicht, was wir geschaffen haben? Elfenwein?« »Etwa Zwergenschnaps?« fauchte Aballister sarkastisch. Er nahm seinen Stab und kam drohend einen Schritt näher. »Du begreifst nicht, was geschehen wird, wenn er losgelassen wird«, meinte Druzil spöttisch. »Dann sag es mir.« Druzil schlug die Flügel vors Gesicht und dann wieder hinter sich, eine Bewegung, die deutlich zeigte, wie frustriert er war. »Es dringt in die Herzen unserer Opfer«, erklärte er, »und läßt ihre Wünsche übermächtig werden. Einfache Impulse werden zu göttlichen Befehlen. Jeder wird anders betroffen sein, und die Wirkung wird bei keinem gleich lang anhalten. Das reine Chaos! Wer betroffen ist, wird ...« Aballister gebot ihm mit erhobener Hand Einhalt, denn er brauchte keine weiteren Erläuterungen. »Ich habe dir Macht gegeben, die deine kühnsten Hoffnungen übersteigt!« knurrte das Teufelchen. »Hast du Talonas Versprechen vergessen?« »Der Avatar hat mir nur nahegelegt, dich zu rufen«, hielt Aballister dagegen, »und angedeutet, dass du etwas Wertvolles besitzen könntest.« »Du begreifst nicht das Geringste von den Möglichkeiten des Chaosfluchs«, antwortete Druzil. »Du wirst alle Rassen hier beherrschen können, wenn erst ihre Selbstbeherrschung zerstört ist. Chaos ist etwas Wunderbares, sterblicher Meister, eine Kraft der Zerstörung und der Eroberung, die schlimmste Krankheit, der Ultimative Schrecken. Wer das Chaos lenkt und sich seinem verhängnisvollen Zugriff entzieht, hat die Macht!« Aballister wandte sich ab. Er mußte Druzil glauben, doch er fürchtete sich davor. Er hatte so viel in dieses unbekannte Rezept investiert. »Du mußt lernen«, sagte der kleine Teufel, als er erkannte, wie wenig Aballister beeindruckt war. »Wenn wir Erfolg haben wollen, mußt du glauben.« Er faltete die Flügel einen Augenblick über dem Kopf zusammen, um in Gedanken zu verharren. »Dieser junge Kämpfer, der eingebildete?« fragte er plötzlich. »Haverly«, antwortete Aballister. »Er hält sich für besser als Ragnor«, sagte Druzil, und ein verschlagenes, zähnefletschendes Lächeln breitete sich über sein Gesicht aus. »Er wünscht Ragnors Tod, damit er Hauptmann der Kämpfer wird.«
Aballister hatte keine Einwände. Schon mehrfach hatte der junge Haverly diesen Wunsch geäußert, wenn er betrunken war, auch wenn er den Ogrillon noch nie offen angegriffen hatte. Nicht einmal der arrogante Haverly war dazu dumm genug. »Ruf ihn her«, bettelte Druzil. »Soll er unseren Test vollenden. Sag ihm, dass dieser Trank seine Stellung im Triumvirat stärken kann. Sag ihm, dass er ihn stärker machen wird als Ragnor.« Aballister stand ein Weilchen still da, um seine Möglichkeiten zu überdenken. Barjin hatte ernsthafte, Zweifel an dem ganzen Projekt geäußert. Er hatte Aballisters Materialsuche erst unterstützt, nachdem dieser vor einem Dutzend Zeugen gelobt hatte, dass er jedes Kupferstück zurückzahlen werde, wenn der Priester von den Ergebnissen nicht begeistert wäre. Auf seiner Flucht aus dem Königreich Damara im Norden hatte Barjin viel verloren: Sein Ansehen, seine Armee und viele wertvolle, mächtige Gegenstände, von denen einige sogar magisch gewesen waren. Allein sein verbliebener Reichtum hatte ihm dazu verholfen, einen Teil seiner früheren Macht wiederzugewinnen. Während nun die Wochen unter wachsenden Ausgaben und ohne meßbare Resultate verstrichen, wurde Barjin zunehmend ungeduldiger. »Ich werde Haverly sofort holen«, erwiderte Aballister mit plötzlicher Begeisterung. Weder der Zauberer noch Barjin liebten Ragnor, den sie für zu gefährlich hielten, um ihm zu vertrauen, oder Haverly, den sie einfach zu blöde fanden, und jeder Schaden, den der Test bei beiden anrichtete, würde helfen, Barjins Zweifel zu besänftigen. Außerdem erhoffte sich Aballister von dem Spektakel eine gewisse Zerstreuung. ¤¤¤ Druzil saß reglos auf Aballisters großem Schreibtisch und beobachtete die Vorgänge im Raum mit großem Interesse. Das Teufelchen hätte gern eine wichtigere Rolle bei diesem Teil des Tests übernommen, aber nur die anderen Zauberer wußten von seiner Stellung als Aballisters Vertrautem, und dass es überhaupt existierte. Die Kämpfer des Triumvirats, selbst die Kleriker, hielten Druzil nur für eine scheußliche Statue, denn bei den wenigen Gelegenheiten, zu denen sie Aballisters private Gemächer betreten hatten, hatte der kleine Teufel absolut starr auf dem Tisch gehockt. »Beugt Euch tief über das Glas, wenn Ihr den letzten Tropfen dazugebt«, gebot Aballister Haverly, sah sich jedoch fragend nach Druzil um. Das Teufelchen nickte kaum merklich und blies erwartungsvoll die Nüstern auf. »So ist es richtig«, sagte Aballister. »Tief einatmen beim Gießen.« Haverly richtete sich auf und warf dem Zauberer einen mißtrauischen Blick zu - bisher hatte ihm Aballister nur wenig Freundschaft entgegengebracht. »Ich habe große Pläne«, sagte er drohend, »und dazu gehört nicht, dass ich in einen Molch oder ein anderes komisches Tier verwandelt werde.« »Ihr zweifelt?« brüllte der Zauberer scheinbar aufgebracht. »Dann geht! Jeder kann das Brauen vollenden. Ich dachte, dass jemand von Eurem Ehrgeiz ... « »Genug«, unterbrach Haverly. Aballister wusste, dass er das Richtige gesagt hatte. Haverlys Argwohn war seinem Hunger nach Macht nicht gewachsen. »Ich werde Euch vertrauen, Zauberer, obwohl Ihr mir nie einen Grund dazu gegeben habt«, erklärte Haverly jetzt. »Ich habe Euch auch nie Grund gegeben, mir nicht zu vertrauen«, erinnerte ihn Aballister. Haverly starrte den Zauberer noch länger an, ohne dass seine Miene freundlicher wurde, dann bückte er sich tief über das Glas und gab die letzten Tropfen hinein. Sobald die Flüssigkeiten aufeinandertrafen, stieß das rotglühende Elixier eine rote Rauchwolke aus, die genau in Haverlys Gesicht schoß. Der Kämpfer fuhr zurück. Seine Hand zuckte zum Schwert. »Was habt Ihr mir angetan?« rief er. »Angetan?«« wiederholte Aballister unschuldsvoll. »Nichts. Der Rauch war doch harmlos, wenn auch ein bißchen überraschend.« Haverly überzeugte sich umständlich, dass ihm nichts Übles geschehen war. Dann nickte er dem Zauberer zu. »Was geschieht jetzt?« fragte er scharf. »Wo ist die Macht, die Ihr mir versprochen habt?« »Beizeiten, lieber Haverly, beizeiten«, erwiderte Aballister. »Das Brauen des Elixiers ist nur der erste Schritt.« »Wie lange?« fragte der ungeduldige Kämpfer. »Ich hätte auch Ragnor an Eurer Stelle rufen können«, erinnerte ihn Aballister spitz. Haverlys Verwandlung bei der Erwähnung Ragnors trieb den Zauberer mehrere Schritte zurück. Die Augen des jungen Kämpfers weiteten sich grotesk; er biß sich so fest auf die Lippe, dass ihm Blut übers Kinn tropfte. »Ragnor!« knurrte er mit gefletschten Zähnen. »Ragnor, der Betrüger! Ragnor, der Hochstapler! Den hättet Ihr nicht gerufen, denn ich bin der Bessere!« »Natürlich seid Ihr das, lieber Haverly«, gurrte der Zauberer in dem Versuch, den Mann mit dem irren Blick zu beruhigen, denn er erkannte, dass Haverly kurz vorm Explodieren stand. »Darum habe ich auch... « Aballister brachte seinen Satz nicht mehr zu Ende, denn der Recke murmelte etwas in sich hinein, zog sein Schwert und stürmte aus dem Raum, wobei er beinahe die Tür eingetreten hätte. Aballister starrte ihm mit ungläubigem Zwinkern hinterher. »Rauschmittel?« kam die sarkastische Nachfrage von der anderen Seite des Zimmers. Aballister antwortete dem Teufelchen gar nicht erst, sondern rannte los. weil er das bevorstehende Spektakel nicht versäumen wollte, und traf bald auf seine zwei Kollegen, die ebenfalls durch die Gänge eilten. »Es ist Haverly, der junge Kämpfer«, sagte Dorigen, die einzige Za uberin der Burg. Aballisters böses Lächeln ließ sie und ihren Begleiter wie angewurzelt stehenbleiben.
»Der Trank ist vollendet?« fragte Dorigen hoffnungsvoll. Ihre braunen Augen glitzerten, und sie strich ihre langen schwarzen Haare zurück. »Chaosfluch«, bestätigte Aballister, dann setzte er sich an die Spitze der Gruppe. Bei ihrer Ankunft im großen Speisesaal der Burg hatte der Kampf bereits begonnen. Mehrere Tische waren umgeworfen, und hundert überraschte Männer und Orks, selbst ein paar Riesen, standen an den Wänden und sahen erstaunt zu. Ragnor und Haverly standen einander mit gezo genen Schwertern in der Mitte des Raumes gegenüber. »Die Kämpfer werden einen neuen Dritten in ihrem obersten Rat brauchen«, stellte Dorigen fest. »Zweifellos wird einer der beiden heute fallen, so dass nur noch zwei übrig sind.« »Ragnor!« verkündete Haverly laut. »Heute übernehme ich meinen Platz als Anführer der Kämpfer!« Der andere Krieger, ein eindrucksvoller Ogrillon, hatte Oger und Orks unter seinen Vorfahren und trug die Narben von tausend Kämpfen. Er schien wenig beeindruckt. »Heute übernimmst du deinen Platz bei deinen Ahnen«, schimpfte er. Haverly griff an, doch sein dummer, offener Vorstoß brachte ihm eine so tiefe Wunde in der Schulter ein, dass es ihm fast den Arm abriß. Aber er war so in Kampfeswut, dass er nicht einmal das Gesicht verzog, ja, er bemerkte weder Wunde noch Schmerz. Trotz seiner Verblüffung, dass die gefährliche Wunde seinen Gegner nicht verlangsamt hatte, gelang es Ragnor, Haverlys Schwert abzuwehren und auf den Mann einzudringen. Mit seiner freien Hand fing er Haverlys Schwertarm ab und versuchte, seine eigene Waffe zum Schlag zu erheben. Ein Raunen ging durch die Menge, als es Haverly irgendwie schaffte, seinen brutal zerrissenen Arm zu heben und Ragnors Schlag abzufangen. Haverly war fast so groß wie Ragnor, aber um viele Pfunde leichter und nicht annähernd so stark. Dennoch - und trotz seiner gräßlichen Wunde - hielt er Ragnor lange in Schach. »Du bist stärker, als du aussiehst«, gab Ragnor leicht beeindruckt zu, wirkte aber unbesorgt. Bei den wenigen Gelegenheiten, in denen seine unglaubliche Stärke ihm nicht weiter geholfen hatte, hatte der Ogrillon immer einen geschickten Ausweg gefunden. Er drückte einen getarnten Knopf an seinem Schwertknauf, und eine zweite Klinge, ein langer, schmaler Dolch, tauchte auf. Er stand senkrecht vom Schwertknauf ab und zeigte genau auf Haverlys unbehelmten Kopf. Haverly war viel zu beschäftigt, um das mitzubekommen. »Ragnor!« schrie er hysterisch, mit verzerrtem Gesicht. Er rammte seinem Gegner die Stirn ins Gesicht und brach dem Ogrillon dadurch die Nase. Aber Ragnor gelang es, den Schmerz auszublenden und sich auf die tödliche Attacke zu konzentrieren. Haverlys Kopf zuckte ein weiteres Mal vor. Als Ragnor sein eigenes Blut schmeckte, wand er wild seinen Schwertarm los und riß ihn nach unten, wobei sich der Dolch tief in Haverlys Schädel bohrte. In diesem Augenblick betraten die drei Priester des regierenden Triumvirats unter der Führung von Barjin den Saal, und man sah ihnen an, dass sie über den Zweikampf nicht erfreut waren. »Was hat das zu bedeuten?« herrschte Barjin Aballister an, denn er wusste sofort, dass der Zauberer hier seine Finger im Spiel hatte. »Das sollten doch wohl eher die Kämpfer erklären«, erwiderte Aballister achselzuckend. Als der Priester dazu ansetzte, in den immer noch andauernden Kampf einzugreifen, beugte sich Aballister jedoch vor und flüsterte ihm ins Ohr: »Der Chaosfluch.« Sofort hellte Barjins Miene sich auf, und er sah der blutigen Schlacht plötzlich mit Entzücken zu. ¤¤¤ Ragnor konnte kaum glauben, dass Haverly sich immer noch rührte. Ragnors fußlanger Dolch war bis zum Knauf voller Blut, aber sein Gegner wich störrisch zurück und schlug um sich, wollte sich von der Klinge befreien. Ragnor ließ von ihm ab, weil er glaubte, Haverly liege in Todeszuckungen. Doch zum Erstaunen der Zuschauer Barjins Luftholen war am lautesten zu hören - kippte Haverly nicht um. »Ragnor!« knurrte er kaum verständlich und spuckte bei jeder Silbe reichlich Blut. Blut strömte auch aus der Kopfwunde und nahm einem Auge die Sicht, aber Haverly erhob wiederum das Schwert und stolperte los. Der erschütterte Ragnor schlug als erster zu, nutzte Haverlys Teilblindheit und hackte auf den bereits verletzten Arm des Gegners ein. Der Wucht des Schlages trennte den Arm dicht unter der Schulter vollends ab und warf Haverly mehrere Fuß zur Seite. »Ragnor!« spuckte Haverly erneut, obwohl er kaum noch das Gleichgewicht halten konnte. Wieder griff er an, und wieder trieb Ragnor ihn zurück, wobei er diesmal durch Haverlys ungedeckte Rippen in Herz und Lunge stach. Haverlys Schreie wurden zu unverständlichem Keuchen, aber er ließ nicht nach. Ragnor stürmte verzweifelt los, um ihm zu begegnen, und umklammerte ihn so fest, dass beide Langschwerter nutzlos waren. Haverly konnte sich gegen Ragnors freie Hand, die jetzt einen Dolch hielt, nicht zur Wehr setzen. Wieder und wieder grub sich die Waffe grausam in seinen Rücken. Dennoch vergingen noch viele Minuten, bis Haverly schließlich tot zu Boden sackte. »Ein eindrucksvoller Gegner«, bemerkte ein kühner Ork, der herantrat, um die Leiche zu betrachten. Ragnor, der mit Blut bedeckt war und an seine eigene gebrochene Nase dachte, war nicht in der Stimmung, ein Lob auf Haverly zu hören. »Ein sturer Trottel!« berichtigte er und schlug dem Ork mit einem Streich den Kopf ab. Barjin nickte Aballister zu. »Talona ist sehr angetan. Vielleicht ist Euer Chaosfluch doch noch sein Gold wert.«
»Chaosfluch?« erwiderte Aballister, als ob ihm ein Gedanke gekommen wäre. »Das ist kein passender Titel für einen so mächtigen Sendboten der Talona. Tuanta Miancay vielleicht ... nein, Tuanta Quiro Miancay.« Einer von Barjins Begleitern, der die Sprache und die Bedeutung des Titels verstand, holte hörbar Luft. Seine Gefährten starrten ihn an, worauf er übersetzte: »Der Ultimative Schrecken!« Barjin durchschaute sofort, was Aballister getan hatte. Der Zauberer hatte die wichtigste Rolle bei der Erschaffung des Tranks gespielt, und nun hatte er ihn mit wenigen Worten über Barjin platziert. Schon nickten die anderen beiden Kleriker, fanatische Anhänger Talonas, eifrig. »Tuanta Quiro Miancay«, wiederholte der in die Enge getriebene Barjin mit gezwungenem Lächeln. »Ja, das wäre angemess en.«
Danica Der beleibte Ringer rieb sich mit der fetten Hand seinen neuesten Bluterguß und versuchte, die lauter werdenden Spötteleien seiner Kollegen zu überhören. »Ich war zu siegessicher«, sagte er zu der jungen Frau, »da ich dreimal so schwer bin und Ihr ein Mädchen seid.« Danica strich sich die Haare aus den mandelförmigen braunen Augen und versuchte, sich ein Lächeln zu verbeißen. Sie wollte den stolzen Kleriker, einen Jünger Oghmas, nicht blamieren. Sie wusste, wie lächerlich seine Sprüche waren. Er hatte voller Inbrunst gekämpft, doch das hatte ihm nichts geholfen. Danica sah aus wie ein schwächliches Ding - knapp fünf Fuß groß, mit einer ungezähmten, rotblonden Lockenmähne bis über die Schultern und einem Lächeln, das einem Paladin das Herz stehlen konnte. Wer genauer hinschaute, konnte jedoch mehr als ihr mädchenhaftes Äußeres entdecken. Jahre der Meditation und der Übung hatten Danicas Reflexe und Muskeln so trainiert, wie es im Kampf von Vorteil war, was die Kleriker des Oghma, die sich gern nach dem Vorbild ihres Gottes als großartige Ringer sahen, einer nach dem anderen schmerzhaft entdeckten. Jedesmal, wenn Danica in der weitläufigen Erhebenden Bibliothek Informationen brauchte, wurden ihr diese nur gegen einen Ringkampf erteilt. Für eine einzige Schriftrolle, die ein längst verstorbener Meister niedergeschrieben hatte, sah sich Danica jetzt ihrem letzten Gegner gegenüber, einem schwitzenden, stinkenden Koloß. Der fette Kerl strich seine schwarz-goldene Weste glatt, senkte seinen runden Kopf und griff an. Danica wartete, bis er genau vor ihr war, so dass es den Zuschauern so vorkam, als würde sie unter Fleischbergen begraben. Im letzten Augenblick tauchte sie mit dem Kopf voran unter den vorschnellenden Arm des Mannes, hielt seine Hand fest und trat einfach zur Seite, als er vorbeistürmte. Ein kaum merkliches Drehen ihres Handgelenks ließ ihn stocksteif stehenbleiben, und ehe er überhaupt begriff, was geschehen war, trat Danica ihm in beide Knie kehlen, wodurch er zu Boden sank. Als der Dicke in die Knie ging, blieb sein rückwärts verdrehter Arm in Danicas verblüffend starkem Griff. Mitleidiges Stöhnen und spöttisches Lachen ertönte aus den Reihen der Umstehenden. »Ostecke!« schrie der Dicke. »Dritte Reihe, drittes Brett von oben, in einer Silberröhre!« »Besten Dank«, sagte Danica und ließ ihn los. Mit strah lendem, unschuldigem Lächeln sah sie sich um. »Wenn ich wieder einmal etwas wissen möchte, könnt Ihr ja zu zweit gegen mich antreten.« Die Oghmapriester, die befürchteten, dass ihr Gott ihnen grollte, wandten sich beschämt ab. Danica wollte dem besiegten Mann die Hand reichen, doch der lehnte stolz ab. Mühsam kam er auf die Beine, wobei er vor lauter Atemnot fast wieder umgekippt wäre. Dann eilte er den anderen nach. Resigniert schüttelte Danica den Kopf und holte von einer nahen Bank ihre zwei Dolche zurück. Sie nahm sich kurz Zeit, sie anzusehen, wie sie es immer tat, bevor sie sie wieder in die Scheiden an ihren Stiefeln schob. Einer hatte einen goldenen Griff, der wie ein Tigerkopf geformt war, während der andere einen silbernen Griff besaß, der das Bild eines Drachens trug. Beide verfügten über durchsichtige Kristallklingen und hatten durch einen Zauberspruch perfekte Ausgewogenheit und die Stärke von Stahl erhalten. Sie" waren ein sehr wertvolles, hochgeschätztes Geschenk von Danicas Meister, einem Mann, den die junge Frau sehr vermißte. Sie hatte bei Meister Turkel gelebt, seit ihre Eltern . gestorben waren, und der weise alte Mann war alles, was ihr an Familie geblieben war. Danica dachte an ihn, als sie jetzt die Waffen wieder einsteckte, und schwor sich zum hunderttausendsten Mal, ihn zu besuchen, sobald sie ihre Studien beendet hatte. Danica Maupoissant war inmitten des Treibens des Marktplatzes von Westtor aufgewachsen, fünfhundert Meilen nordöstlich von der Erhebenden Bibliothek, genau an der Meerenge zwischen dem Drachensee und der See des Sternenregens. Ihr Vater Pavel hatte im Ruf gestanden, der beste Wagenmacher jener Gegend zu sein. Wie so viele Bewohner von Westtor hatte er sich durch einen störrischen, heftigen Sinn für Unabhängigkeit und nicht geringen Stolz ausgezeichnet. Sie hatten ein Leben voller einfacher Freuden und bedingungsloser Liebe geführt. Mit zwölf Jahren hatte Danica ihre Eltern verlassen, um bei dem alten, weißbärtigen Töpfer Turkel Bastan in die Lehre zu gehen. Erst Monate später sollte sie begreifen, aus welchen Gründen ihre Eltern sie fortgeschickt hatten: Sie hatten vorhergesehen, was geschehen würde. Ein Jahr lang war Danica überall in der Stadt unterwegs gewesen, hatte ihre Zeit damit verbracht, ihre vielfältigen Pflichten bei Meister Turkel zu erfüllen und die seltenen Gelegenheiten wahrzunehmen, zu denen sie nach Hause kam. Dann konnte sie plötzlich nirgends mehr hin. Der Überfall war im Dunkel der Nacht geschehen, und mit den
Mördern waren auch Danicas Eltern verschwunden, das Haus, in dem sie aufgewachsen war, und die Werkstatt, in der ihr Vater sich sein Leben lang abgerackert hatte. Meister Turkel zeigte kaum Gefühle, als er Danica die schreckliche Nachricht überbrachte, doch später hörte ihn das junge Mädchen in der Abgeschlossenheit seines kleinen Zimmers weinen. Erst da hatte Danica erkannt, dass Turkel und ihre Eltern ihre Lehrzeit gezielt arrangiert hatten. Sie hatte alles für Zufall gehalten und befürchtet, dass ihre Eltern sie womöglich einfach aus Bequemlichkeit abgeschoben hatten. Sie wußte, dass Turkel aus dem Land Tabot stammte, einer Bergregion weit im Osten, aus der einige Vorfahren ihrer Mutter gekommen waren, und sie fragte sich, ob Turkel wohl ein entfernter Verwandter sei. Jedenfalls nahm Danicas Lehrzeit bei ihrem Meister bald einen anderen Charakter an. Er half ihr durch die Zeit der Trauer und begann dann mit dem eigentlichen Unterricht, der wenig mit Töpfern zu tun hatte. Turkel war ein tabotanischer Mönch, ein Schüler von Großmeister Penpahg D'Ahn, dessen Religion mentale Disziplin mit körperlichem Training verband, um Harmonie der Seele zu erreichen. Danica schätzte Turkel auf mindestens achtzig, doch er bewegte sich mit der Geschmeidigkeit einer Wildkatze, und seine bloßen Hände hatten die Wirkung von Eisenwaffen. Seine Demonstrationen erstaunten Danica nicht nur, sie faszinierten sie. Der stille, bescheidene Turkel war der friedlichste und zufriedenste Mensch, den Danica je kennengelernt hatte, doch unter dieser äußeren Hülle steckte ein kampfbereiter Tiger, der in Zeiten der Not zu brüllen begann. Und so wuchs auch der Tiger in Danica. Sie lernte und übte, nichts anderes zählte mehr für sie. Sie benutzte die Arbeit wie eine Litanei gegen ihre Erinnerungen, eine Blockade gegen den Schmerz, den sie einfach nicht akzeptieren konnte. Turkel verstand das, wie Danica später erkannt hatte, und er achtete sorgfältig darauf, wann er ihr mehr vom Schicksal ihrer Eltern erzählen konnte. Die Händler und Handwerker von Westtor waren neben - oder wegen - ihrer ausgesprochenen Unabhängigkeit oft erbitterte Widersacher, und Pavel war dieser Facette des Stadtlebens nicht entgangen. Es gab einige andere Wagenmacher - deren Namen Turkel Danica nicht verraten wollte -, die auf Pavels dauerhaften Erfolg neidisch waren. Wiederholt waren sie zu Pavel gekommen und hatten ihm mit schlimmen Folgen gedroht, wenn er seine Aufträge nicht mit ihnen teilen würde. »Wenn sie als Freunde und Kollegen gekommen wären, hätte Pavel den Reichtum geteilt«, hatte Turkel gesagt, als wären er und Danicas Vater viel mehr gewesen als die oberflächlichen Bekannten, als die sie sich öffentlich ausgaben. »Aber dein Vater war ein stolzer Mann.. Er wollte keiner Drohung nachgeben, ganz gleich, welche tatsächliche Ge fahr dahintersteckte.« Danica hatte Turkel nie gedrängt, die Namen der Männer preiszugeben, die ihre Eltern getötet hatten - beziehungsweise die gefürchteten Nachtmasken angeheuert hatten, die üblicherweise in Westtor das Morden übernahmen -, und sie wußte bis heute nicht, wer dahintergesteckt hatte. Sie vertraute darauf, dass ihr Meister es ihr verraten würde, sobald er meinte, sie sei auf dieses Wissen vorbereitet, um Rache zunehmen, wenn das ihre Wahl war, oder sobald er glaubte, dass, sie bereit sei, die Vergangenheit ruhen zu lassen und sich der Zukunft zu widmen. Turkel hatte immer angedeutet, dass die letztere Entscheidung ihm lieber wäre. Das Bild ihres betagten Meisters stand klar vor Danicas Augen, als sie die herrlichen Dolche in Händen hielt. »Du bist über mich hinausgewachsen«, hatte er gesagt, und in seiner Stimme hatte kein Bedauern, sondern nur Stolz gelegen. »Deine Fähigkeiten übersteigen meine auf vielen Gebieten.« Danica erinnerte sich lebhaft daran, dass sie geglaubt hatte, die Zeit der Enthüllungen wäre gekommen, dass Turkel ihr die Namen der Verschwörer sagen würde, die ihre Eltern getötet hatten und sie anweisen würde, auszuziehen und Rache zu üben. Turkel hatte jedoch anderes im Sinn. »Es gibt nur noch einen Meister, der dich lehren kann«, hatte er gesagt, und sobald er die Erhebende Bibliothek erwähnte, hatte Danica gewußt, was kommen würde. Die Bibliothek barg viele von Großmeister Penpahg D'Ahns sel tenen, kostbaren Schriften. Der alte Mann wollte, dass sie direkt aus den Aufzeichnungen des lange toten Großmeisters lernte. Damals hatte Turkel ihr die beiden wunderbaren Dolche geschenkt. So hatte sie Westtor verlassen, obwohl sie fast noch ein Kind war, um an ihrer Zukunft zu arbeiten und neue Ebenen der Selbstbeherrschung zu erreichen. Wieder einmal hatte Meister Turkel ihr seine Liebe und seinen Respekt gezeigt, indem er ihre Bedürfnisse über seine offensichtliche Verzweiflung bei ihrer Abreise stellte. Danica glaubte, dass sie in ihrem ersten Jahr an der Bibliothek viel erreicht hatte, sowohl was ihre Studien als auch was Menschenkenntnis und Kenntnis der Welt betraf, die ihr plötzlich so überaus groß vorkam. Sie war sich der Ironie bewußt, ihre Welterfahrung ausgerechnet an einem Ort fast klösterlicher Abgeschiedenheit zu gewinnen, aber sie konnte nicht bestreiten, dass ihre Ansichten in dem Jahr, das sie in der Bibliothek verbracht hatte, beachtlich gereift waren. Zuvor hatte der Wunsch nach Rache sie getrieben, jetzt schienen Westtor und die gedungenen Mörder weit entfernt. Und es hatten sich so viele andere, positivere Möglichkeiten für sie ergeben. Danica verdrängte die dunklen Erinnerungen. Sie dachte noch einmal an das ruhige Lächeln ihres Vaters, die Mandelaugen ihrer Mutter und die vielen Runzeln in Meister Turkels weisem, alten Gesicht. Dann lösten sich auch diese erfreulichen Bilder auf und wichen Gedanken an die vielen Pflichten, die Danicas Kunst mit sich brachte. Die Bibliothek selbst war ein gewaltiger Raum, der von unzähligen gebogenen Pfeilern getragen wurde, die einen um so mehr verwirrten, weil jeder mit Tausenden von ablenkenden Flachreliefs bedeckt war. Minutenlang mußte Danica sich konzentrieren, um festzustellen, welches die Ostecke war. Als sie schließlich dort ankam und an einem schmalen, voll beladenen Regal vorbeikam, wurde sie bereits erwartet. Cadderly konnte sein Lächeln nicht verbergen. Das konnte er nie, wenn er Danica ansah - seit ihrer ersten Begegnung. Er wußte, dass sie aus Westtor stammte, das ein paar hundert Meilen nordöstlich lag. Schon das machte
sie in seinen Augen welterfahren, und es gab noch so vieles mehr an ihr, das seine Phantasie anregte. Obwohl Danicas Mimik und Gewohnheiten deutlich westlich waren und sich nicht besonders vom Durchschnitt in den zentralen Reichen unterschieden, verriet die Form ihrer Augen, dass sie Vorfahren aus dem fernen, exotischen Osten hatte. Cadderly fragte sich oft, was ihn an Danica eigentlich als erstes angezogen hatte. Ihre Mandelaugen waren ihm abenteuerlich erschienen, und er war ein Mann, der dringend Abenteuer brauchte. Er hatte schon seinen einundzwanzigsten Geburtstag hinter sich und das Gelände der Erhebenden Bibliothek erst wenige Dutzend Male verlassen. Und bei diesen Gelegenheiten war er immer in Begleitung von mindestens einem Großmeister, zumeist Averly, und zahlreichen anderen Priestern gewesen. Manchmal fühlte sich Cadderly um jede echte Erfahrung zutiefst betrogen. Für ihn waren Abenteuer und Kampf nur Ereignisse, von denen man las. Noch nie hatte er auch nur einen lebenden Ork oder irgendein Monster gesehen. Dann kam Danica mit all ihren verführerischen Verheißungen. »Du hast ganz schön lange gebraucht«, bemerkte Cadderly hinterhältig. »Ich bin erst ein Jahr in der Bibliothek«, gab Danica zurück, »aber du lebst hier seit deinem fünften Geburtstag.« »Selbst damals hatte ich die Bibliothek nach einer Woche begriffen«, versicherte ihr Cadderly mit einem Fingerschnipsen. Er hielt mit ihr Schritt, als sie schnurstracks au f die Ecke zueilte. Danica warf ihm einen Blick zu und behielt dann ihre sarkastische Antwort für sich, da sie nicht sicher war, ob der erstaunliche Cadderly sie aufzog oder nicht. »Du kämpfst also jetzt im Schwergewicht?« fragte Cadderly. »Muß ich mir Sorgen machen?« Danica blieb unvermittelt stehen, zog Cadderlys Kopf zu sich herunter und küßte ihn liebevoll. Dann wich sie um wenige Zoll zurück. Der Blick ihrer aufregenden, exotischen Mandelaugen bohrte sich in ihn hinein. Cadderly dankte Deneir im stillen, dass weder er noch Danica einem zölibatären Orden angehörten, aber wie bei jedem ihrer Küsse machte der Kontakt beide nervös. »Kämpfen regt dich auf«, bemerkte Cadderly etwas spröde, wodurch die Romantik verpuffte und die Spannung wich. »Jetzt bin ich wirklich besorgt.« Danica stieß ihn zurück, ohne jedoch seine Tunika loszu lassen. »Du solltest aufpassen, weißt du«, fuhr Cadderly mit plötzlichem Ernst fort. »Wenn einer der Großmeister dich beim Ringen erwischt ... « »Diese eingebildeten jungen Märchenonkel lassen mir kaum eine Wahl«, entgegnete Danica, zauste ihr Haar zurecht und strich es sich aus dem Gesicht. Ihr letzter Gegner hatte sie kaum ins Schwitzen gebracht. »Selbst in hundert Jahren würde ich in diesem Labyrinth, das ihr eine Bibliothek nennt, nicht einmal die Hälfte von dem finden, was ich brauche.« Sie verdrehte die Augen, um die enorme Ausdehnung des säulengestützten Raums zu betonen. »Kein Problem«, versicherte ihr Cadderly. »Ich hatte die Bibliothek ... « »Schon mit fünf begriffen!« brachte Danica seinen Satz zu Ende und zog ihn wieder an sich. Diesmal fand Cadderly, dass ihre Zuwendung weiteren Nutzen nach sich ziehen konnte. Vorsichtig schob er sich auf Danicas rechte Seite - er schrieb mit links, und das letzte Mal, als er seinen Versuch mit der linken Hand angegangen war, hatte er danach tagelang nicht arbeiten können. Cadderly war seit Monaten schon hingerissen von Danicas sogenannter »Bebender Hand«, die er für die wirkungsvollste nichttödliche Angriffsform hielt, die er je kennengelernt hatte. Er hatte Danica angebettelt, sie ihn zu lehren, doch die erfahrene Kämpferin hütete die Geheimnisse ihrer Kunst sorgfältig. Sie hatte Cadderly erklärt, dass ihre Kampftechniken nur einen kleinen Teil ihrer Religion ausmachten, die ebensosehr den Geist wie den Körper schulte. Sie konnte anderen nicht gestatten, einfach nur Techniken zu kopieren, ohne zuvor die mentale Vorbereitung zu durchlaufen und die philosophischen Gedanken zu begreifen, die damit einhergingen. Mitten im Kuß schob Cadderly seine Hand über Danicas Bauch, gleich unter ihrem kurzen Hemd. Wie immer war der junge Priester über die Bewegungen ihrer festen Bauchmuskeln erstaunt. Gleich darauf ließ Cadderly seine Hand langsam aufwärts wandern. Danicas Reaktion erfolgte nur zu prompt. Einen Finger vorgestreckt, zuckte ihre Hand über Cadderlys Brust und grub sich in seine Schulter. Cadderlys Hand unter dem Hemd hielt sofort inne und baumelte gleich darauf betäubt an seiner Seite. Er verzog das Gesicht, als aus dem brennenden Schmerz eine allgemeine Taubheit wurde, die seinen ganzen Arm erfaßte. »Du bist so ... «, stammelte Danica, »ein ... ein Kindskopf!« Zuerst hielt Cadderly ihren Ärger nur für die zu erwartende Reaktion auf seinen kühnen Vorstoß, doch dann verblüffte ihn Danica wirklich. »Kannst du deine Experimente denn nie lassen?« »Sie weiß Bescheid! « murmelte der entsetzte Cadderly in sich hinein, als Danica davonstürmte. Da er ihre Reaktion erwartet hatte, hatte er sie aus dem Augenwinkel genau beobachtet und glaubte nun, genau zu wissen, welche Stelle Danicas Finger getroffen hatte. Bis dahin hatte er seinen Versuch trotz des anhaltenden Schmerzes als erfolgreich betrachtet. Aber jetzt wußte Danica Bescheid! Der junge Gelehrte blieb einen Augenblick stehen, um zu überlegen, was das für Folgen haben würde. Dann hörte er zu seiner Erleichterung Danicas leises Lachen gleich hinter dem nächsten Bücherregal. Er machte einen Schritt auf sie zu, um die Dinge wieder ins Lot zu bringen, aber Danica fuhr herum, sobald er die Ecke umrundet hatte, und hatte schon drohend den Finger erhoben. »Der Schlag wird auch an deinem Kopf funktionieren«, warnte die junge Frau, deren hellbraune Augen geradezu blitzten. Cadderly zweifelte keinen Moment daran und wollte ganz gewiß nicht, dass Danica ihre Worte wahr machte. Es erstaunte ihn immer wieder, dass Danica, die höchstens halb so viel wog wie er, ihn so leicht besiegen konnte. Er betrachtete sie mit ehrlicher Bewunderung, ja sogar mit Neid, denn er wünschte sich sehnlichst, selbst über Danicas
Zielstrebigkeit, ihre Hingabe und ihre Leidenschaft für ihre Studien zu verfügen. Während Cadderly fleißig, aber zerstreut durchs Leben lief, war Danicas Sicht der Welt ausgesprochen zielgerichtet, denn sie basierte auf einer strengen, philosophischen Religion, die in den westlichen Reichen weitgehend unbekannt war. Auch die Leidenschaft hatte den Zauber verstärkt, den Danica auf Cadderly ausübte. Er wollte ihr Herz und ihren Geist öffnen und in beides hineinsehen, weil er wußte, dass er nur dort die Antworten auf das fand, was in seinem Leben fehlte. Danica verkörperte seine Träume und seine Hoffnungen. Er versuchte nicht einmal, sich zu erinnern, wie unendlich leer sein Leben gewesen war, ehe er ihr begegnet war. Langsam wich er zurück, hob die Hände und streckte sie ihr offen entgegen, um zu signalisieren, dass er an keinen weiteren Vorführungen teilhaben wollte. »Stehenbleiben!« befahl Danica so scharf, wie es ihre melodische Stimme erlaubte. »Hast du mir nichts zu sagen?« Cadderly dachte einen Moment nach, weil er nicht wußte, worauf sie hinauswollte. »Ich liebe dich?« Danica nickte und lächelte entwaffnend. Dann ließ sie die Hand sinken. Cadderlys graue Augen gaben ihr Lächeln zehnfach zurück, und er machte einen Schritt auf sie zu. Der gefährliche Finger schoß wieder hoch und wand sich in der Luft, so dass er einer höllischen Viper ähnelte. Cadderly schüttelte den Kopf und eilte davon, wobei er nur kurz stehenblieb, um ein Stück Pergament mitzunehmen und die Spitze der Schreibfeder, die stets in seinem Hutband steckte, in ein offenes Tintenfaß zu stecken. Er hatte die Bebende Hand genau beobachtet und wollte das Bild aufzeichnen, solange es ihm noch frisch vor Augen stand. Diesmal klang Danicas Lachen nicht so leise.
Lobgesang Sie lobpreisen ihn!« rief Druzil erstaunt. Er war unsicher, ob das jetzt gut war oder nicht. Die religiösen Fanatiker von Burg Trinitatis hatten den Trank ins Herz geschlossen; selbst die weniger gläubigen wie Ragnor und - Aballisters Einschätzung nach - Barjin, waren von dem Strom der Inbrunst mitgerissen worden. »Wenn auch nicht besonders gut, fürchte ich.« Das Teufelchen schlug seine Flügel über beide Ohren, um das Geräusch zu dämpfen. Auch Aballister hatte wenig Freude an dem disharmonischen Geheul, das mit einer Hingabe ausgestoßen wurde, die weder vor Wänden noch vor Türen haltmachte, doch er ertrug den Gesang der Kleriker leichter als sein unruhiges Teufelchen. Seit dem Kampf im Speisesaal vor vier Wochen hatte Barjin das Projekt gewaltsam an sich gerissen und den Chor der Gesänge an den Ultimativen Schrecken dirigiert. »Barjin hat das Geld«, erinnerte Druzil den Zauberer, als ob er seine Gedanken gelesen hätte. Aballister stimmte grimmig nickend zu. »Ich fürchte, meine Beleidigung ist auf mich selbst zurückgefallen«, erklärte er, während er langsam ans Fenster trat und auf die Leuchtende Ebene hinausschaute. »Als ich dem Chaosfluch den Namen >Ultimativer Schrecken< gab, wollte ich Barjin erniedrigen, seine Position untergraben, aber er hat den Sturm überstanden und seinem drängenden Stolz besser widerstanden, als ich erwartet hätte. Alle Anhänger glauben, dass er Talona und dem Chaosfluch zutiefst ergeben ist.« Aballister seufzte. Einerseits war er enttäuscht, dass seine Intrige Barjin nicht geschadet hatte, zumindest nicht äußerlich, andererseits jedoch bereitete der Oberpriester Burg Trinitatis eindeutig auf die kommenden Prüfungen vor und diente damit Talonas Zielen - ob aus Hingabe oder nicht. »Wenn die Gläubigen davon ausgehen, dass unsere Mixtur einfach nur ein magisches Gebräu ist, werden sie nicht so leicht ihr Leben für die Sache geben, ganz gleich, wie mächtig der Chaosfluch ist«, überlegte Aballister. »Nur die Religion kann die Massen derart auf die Beine bringen.« »Du glaubst nicht, dass das Elixier ein Sendbote Talonas ist?« fragte Druzil, obwohl er die Antwort bereits kannte. »Ich kenne den Unterschied zwischen einem magischen Trank und einem lebenden Schildträger«, erwiderte Aballister trocken. »Das Elixier wird der Herrin des Giftes tatsächlich dienlich sein, deshalb ist dieser Titel durchaus passend.« »Barjin hat alle Streitkräfte von Burg Trinitatis hinter sich«, antwortete Druzil mit unheilverkündender Stimme. »Nicht einmal Ragnor wagt es, sich gegen ihn aufzulehnen.« »Warum sollte er das auch - oder irgend jemand anders?« gab Aballister zurück. »Der Chaosfluch wird bald konkret eingesetzt werden, und dabei hat Barjin eine Hauptrolle gespielt.« »Um welchen Preis?« fuhr das Teufelchen auf. »Ich habe das Rezept für den Chaosfluch dir gegeben, meinem Meister, nicht dem Priester. Aber es ist der Priester, der bestimmt, was mit ihm geschieht, der dich und die anderen Zauberer benutzt, wie es in seine Pläne paßt.« »Wir sind eine Bruderschaft und haben Treue geschworen.« »Ihr seid ein Haufen Schurken«, warf Druzil ihm vor. »Sei nicht zu vorschnell mit der- Hoffnung, dass es hier so etwas wie Ehre gibt. Wenn Ragnor dich nicht fürchten würde und keinen Vorteil darin sähe, dich zu behalten, würde er dich niedermetzeln. Barjin«, Druzil verdrehte seine vorstehenden Augen, »Barjin interessiert nichts anderes als Barjin. Wo sind seine Narben? Seine Tätowierungen? Er hat weder seinen Titel noch die Führung der Priester verdient. Er fällt nur vor der Göttin auf die Knie, weil dann die anderen seine Heiligkeit preisen. Das hat nichts mit Religion zu tun -« »Genug, lieber Druzil«, versuchte der Zauberer, seinen Vertrauten zu beruhigen. »Willst du etwa abstreiten, dass Barjin den Chaosfluch kontrolliert?« schimpfte Druzil. »Glaubst du etwa, Barjin würde dir gegenüber loyal sein, wenn er dich nicht bräuchte?«
Der Zauberer verließ das kleine Fenster und ließ sich auf seinem Holzstuhl nieder. Er konnte diese Argumente nicht widerlegen. Aber selbst wenn er eingestand, dass er sich verrechnet hatte, konnte er jetzt nicht viel machen, um den Lauf der Dinge aufzuhalten. Barjin hatte das Elixier und das Geld, und wenn Aballister die Kontrolle über den Trank wiedergewinnen wollte, würde er sich womöglich auf einen Krieg im Triumvirat einlassen müssen. Aballister und seine Mitzauberer waren mächtig, aber sie waren nur zu dritt. Während Barjin die unzähligen Soldaten in Burg Trinitatis in den religiösen Wahn trieb, waren die Zauberer in der Festung ein wenig ins Abseits geraten. »Sie haben neue Rituale und Bedingungen erfunden«, fuhr das Teufelchen voller Abscheu fort. »Wußtest du, dass Barjin Schutzzeichen auf der Flasche angebracht hat, damit sie nur von einem Unschuldigen geöffnet werden kann?« »Die üblichen Priesterspielchen«, entgegnete Aballister ungerührt, denn er wollte Druzils Bedenken zerstreuen. »Er begreift nicht, welche Macht er in der Hand hat«, regte Druzil sich auf. »Der Chaosfluch braucht die >üblichen Priesterspielchen< nicht.« Aballister zuckte die Schultern, aber auch er war mit Barjins Entscheidung bezüglich dieser Zeichen nicht einverstanden gewesen. Barjin fand, dass es dem Sendboten der chaotischen Göttin gut anstand, wenn ein Unschuldiger als unbeabsichtigter Übermittler dienen würde, doch Aballister befürchtete, dass der Kleriker damit einfach nur weitere Bedingungen für einen ohnehin schon komplizierten Vorgang schuf. »Barjin quiesta pas tellemara«, murmelte Druzil. Aballister kniff die Augen zusammen. Er hatte diesen offenkundig wenig schmeichelhaften Satz in den letzten paar Wochen in vielerlei Zusammenhängen gehört, zumeist auf sich selbst gemünzt. Er behielt seinen Verdacht jedoch für sich, weil er erkannte, dass viele von Druzils Beschwerden nicht von der Hand zu weisen waren. »Vielleicht wird es Zeit, dass der Ultimative Schrecken auszieht und Talonas Willen jenseits dieses Steinhaufens vollzieht«, sagte Aballister. »Vielleicht haben wir zuviel Zeit mit der Vorbereitung verbracht.« »Barjins Macht ist viel zu gefestigt«, warnte Druzil. »Unterschätze ihn nicht.« Aballister nickte. Dann stand er auf. »Unterschätze du nicht«, sagte er zu dem Teufelchen, »den Vorteil, der darin liegt, wenn man die Leute überzeugt, dass ihr Handeln einem höheren Zweck dient, dass die Entscheidungen ihrer Führung durch eine höhere Autorität beeinflußt werden.« Der Zauberer öffnete die schwere Tür, und seine letzten Worte gingen in dem schauerlichen Gesang unter. Es sangen mehr als Barjins Handvoll Kleriker. Der Lobgesang wurde von hundert brüllenden Stimmen getragen, deren inbrünstiges Drängen von den Steinmauern widerhallte. Aballister schüttelte ungläubig den Kopf, als er hinaustrat. Druzil konnte nicht bestreiten, dass Barjin die Truppen wirkungsvoll auf die vor ihnen liegenden Aufgaben vorbereitete, aber das Teufelchen hatte immer noch Vorbehalte, was den Ultimativen Schrecken und alle Verwicklungen, die aus diesem Titel entstanden, anging. Auch wenn der Zauberer es vorerst ignorieren mochte, das Teufelchen wußte, dass Aballister es nicht leicht haben würde, wenn er einfach mit der Flasche losziehen wollte. »Mehr wie der hier«, sagte Cadderly zu Ivan Felsenschulter, einem breitschultrigen Zwerg mit gelbem Bart, der so lang herunterhing, dass sein Besitzer darüber stolpern konnte, wenn er nicht auf seine Schritte achtgab. Die zwei befanden sich hinter Cadderlys Bett - Cadderly kniete, Ivan stand - und betrachteten einen Wandbehang, der den legendären Krieg darstellte, in dem die Elfenrasse sich in oberirdische Elfen und Drow gespalten hatte. Obwohl der Teppich nur halb ausgerollt war, bedeckte das riesige Webstück trotzdem das Bett. »Es sieht richtig aus, aber der Schaft könnte für meine Pfeile etwas eng sein.« Ivan zog einen kleinen Stock heraus, der in regelmäßigen Abständen eingekerbt war, und nahm an verschiedenen Stellen der Armbrust Maß, auf die Cadderly gezeigt hatte, danach an dem Arm des Dunkelelfen, der sie in der Abbil dung hielt. »Sie passen«, verkündete er selbstsicher. Er sah hinüber zu seinem Bruder Pikel, der sich mit einigen Modellen von Cadderly beschäftigte. »Hast du den Bogen?« Da Pikel in sein Spiel vertieft war, hörte er seinen Bruder nicht einmal. Er war einige Jahre älter als Ivan, aber ganz s icher nicht der ernsthaftere. Die beiden waren ungefähr gleich groß, auch wenn Pikel etwas kräftiger gebaut war, was durch die lockeren, schleifenden Roben, die er trug, übermäßig betont wurde. Sein Bart war diese Woche grün, denn er hatte ihn zu Ehren der Druidenbesucher gefärbt. Piken mochte Druiden - sein Bruder verdrehte dazu nur die Augen und lief rot an. Es war nicht üblich, dass ein Zwerg sich gut mit Waldbewohnern verstand, aber Pikel war gewiß kein gewöhnlicher Zwerg. Anstatt seinen Bart offen bis zu den Zehen wachsen zu lassen, wie es Ivan tat, teilte er ihn in der Mitte und zog ihn über seine riesigen Ohren zurück. Dann flocht er ihn mit seinen Haaren zusammen zu einem Zopf, der ihm über den Rücken hing. In Ivans Augen sah das einfach lächerlich aus, aber Pikel, der Koch der Bibliothek, fand es praktisch, weil sein Bart so nicht in der Suppe schwamm. Außerdem trug Pikel im Ge gensatz zum Rest seiner Rasse keine Stiefel, sondern Sandalen - ein Geschenk der Druiden -, und sein langer Bart hätte sonst seine wackelnden, knorrigen Zehen gekitzelt. »Ei, ei«, kicherte er jetzt, als er die Modelle umstellte. Eines hatte eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit der Erhebenden Bibliothek, ein quadratisches, gedrungenes, vierstöckiges Gebäude mit mehreren Reihen winziger Fenster. Ein anderes Modell war eine einzelne Mauer wie die der Bibliothek, die auf gewaltigen, von dicken Blöcken getragenen Bögen stand. Es war das dritte und höchste Modell, das Pikel faszinierte. Auch dieses stellte eine Wand dar, die jedoch mit nichts zu vergleichen war, das der Zwerg - der im Bau nicht unerfahren war - je gesehen hatte. Das Modell ragte dem vier Fuß großen Pikel bis zum Bauch und war nicht annähernd so dick und massiv wie die andere, kürzere Mauer. Schlank und anmutig erhoben sich zwei Strukturen: die Mauer und ein Stützpfeiler, die durch zwei Brücken verbunden waren, die eine auf halber Höhe, die andere ganz oben. Pikel drückte fest auf das Modell, doch obwohl es so fragil erschien, gab es unter seiner beträchtlichen Kraft nicht nach. »Ei, ei!« quietschte der entzückte Zwerg.
»Die Armbrust?« fragte Ivan, der jetzt hinter Pikel stand. Pikel fummelte in den vielen Taschen seiner Kochschürze herum und reichte ihm schließlich einen kleinen Holzkoffer. Dann quiekte er Cadderly zu, zeigte auf die ungewöhnliche Mauer und sah ihn fragend an. »Ach, das habe ich vor ein paar Monaten ausprobiert«, erklärte Cadderly. Er versuchte, ungerührt zu klingen, doch in seiner Stimme lag deutlich eine gewisse Aufregung. Über allem, was in letzter Zeit vorgefallen war, hatte er die Modelle fast vergessen, obwohl der neue Entwurf äußerst vielversprechend ausgesehen hatte. Die Erhebende Bibliothek war ganz und gar kein gewöhnliches Gebäude. Ausgefeilte Skulpturen, deren Effekt der Efeu noch betonte, bedeckten ihre Mauern, und die komplizierte Kanalisation wurde von Gargylen bewacht, die sicher zu den wundersamsten der Welt zählten. Die besten Köpfe der Gegend hatten diesen Ort entworfen und gebaut, aber immer, wenn Cadderly die Bibliothek betrachtete, sah er nur ihre Grenzen. Trotz aller Details war die Bibliothek quadratisch und gedrungen, die Fenster waren klein und unscheinbar. »Eine Idee zum Ausbau der Bibliothek«, erklärte er Pikel. Er griff nach einer Decke und schob sie unter das Modell. Dann faltete er ihre Seiten so, dass sie dem rauhen Gebirge der Umgebung entsprachen. Ivan schüttelte den Kopf und marschierte zum Bett zurück, denn er wußte, dass Cadderly und Pikel ihre unverständlichen Gespräche stundenlang fortsetzen konnten. »Vor Jahrhunderten, als die Bibliothek erbaut wurde«, begann Cadderly, »hatte sich niemand vorgestellt, dass sie je so groß werden würde. Die Gründer wollten einen abgeschiedenen Ort, wo sie in Ruhe studieren konnten, darum wählten sie die hohen Pässe des Schneeflockengebirges. Ein Großteil des Nord- und Ostflügels wurde viel später hinzugefügt, ebenso der zweite und dritte Stock, aber wir haben einfach keinen Platz mehr. Nach vorn und nach bei den Seiten fällt der Boden zu steil ab, als dass der weitere Ausbau ohne Stützen möglich wäre, und hinter uns, im Westen, ist das Gestein zu hart, als dass man es richtig abräumen könnte.« »Ach?« murmelte Pikel, der sich da nicht so sicher war. Die Brüder Felsenschulter stammten aus den unzugänglichen Galenas, einem Gebirgszug hoch im Norden hinter Vaasa, wo der Boden immer gefroren war und die Steine zu den härtesten der Welt zählten. Aber nicht zu hart für einen entschlossenen Zwerg! Pikel behielt seine Gedanken jedoch für sich, um Cadderlys Schwung nicht zu bremsen. »Ich finde, wir sollten nach oben ausweichen«, meinte Cadderly gelassen. »Ein viertes und vielleicht fünftes Stockwerk draufsetzen.« »Das hält doch nie«, grummelte Ivan vom Bett aus. Er war alles andere als begeistert und wollte lieber die Sache mit der Armbrust zu Ende bringen. »Ha!« sagte Cadderly und reckte den Finger. Seine Miene zeigte Ivan, dass er genau das gesagt hatte, worauf der junge Mann aus war. Cadderly liebte Skeptiker, wenn es um seine Erfindungen ging. »Der Außenpfeiler!« verkündete der junge Priester und wies mit ausgestreckten Händen auf die seltsame, zweiteilige Mauer. »Ei, ei!« stimmte Pikel zu, der die Stärke der Mauer bereits überprüft hatte. »Das ist doch was für Feen«, raunzte der zweifelnde Ivan. »Sieh's dir an, Ivan«, sagte Cadderly ehrfürchtig. »Für die Feen, allerdings, wenn man die Leichtigkeit betrachtet. Aber unterschätze nicht die Stärke des Modells. Die Brücken nehmen die Spannung, so dass die Wände ohne viel Mauern weit mehr halten können, als man vielleicht glaubt. Damit hat man unerhörte Möglichkeiten für die Fenstergestaltung.« »Klar, von oben«, erwiderte der Zwerg schroff, »aber wie sieht's aus, wenn ein Riese das von der Seite rammt? Und was ist mit dem Wind? Hier oben gibt es starke Wirbel, und die werden noch stärker, wenn du höher baust!« Cadderly betrachtete seinen Luftpfeiler lange. Immer wenn er das Modell ansah, war er voller Hoffnung. Er fand, dass eine Bibliothek ein Ort der Erleuchtung sein sollte, innerlich wie äußerlich. Der Blick aus der Erhebenden Bibliothek auf Wald und Berge war eindrucksvoll, dennoch war sie ein dunkles Gebäude mit dicken Steinmauern. Die Architektur von damals hatte starke Steinfundamente gebraucht und keine großen Fenster gestattet. In der Welt der Erhebenden Bibliothek war Sonnenlicht etwas, das man draußen genießen mußte. »Wer lernt, sollte nicht bei Kerzenlicht blinzeln müssen, wenn er mittags seine Bücher liest«, argumentierte Cadderly. »Die besten Waffen der Welt wurden von meinen Vorfahren in tiefen Höhlen geschmiedet«, gab Ivan zurück. »War ja nur so eine Idee«, murmelte Cadderly verteidigend, schloß sich jedoch Ivans Meinung an, dass sie sich wieder der Armbrust widmen sollten. Der junge Mann zweifelte nicht an den Möglichkeiten, die in seinem Entwurf steckten, aber er sah ein, dass es ihm schwerfallen würde, einen Zwerg, der hundert Jahre in engen Tunneln gelebt hatte, vom Wert des Sonnenlichts zu überzeugen. Der stets einfühlsame Pikel legte Cadderly eine Hand an die Schulter. »Jetzt zur Armbrust«, verkündete Ivan und öffnete den Holzkoffer. Vorsichtig hob der Zwerg eine kleine, fast fertige Armbrust heraus, die wunderbar gebaut war und dem Gerät ähnelte, das auf dem Wandbehang abgebildet war. »Arbeit macht mich durstig!« »Das Pergament ist schon fast übersetzt«, versicherte Cadderly, der die Anspielung auf das alte Zwergenmetrezept, das er im Austausch gegen die Armbrust versprochen hatte, gut verstand. Cadderly hatte das Rezept zwar schon vor vielen Wochen übersetzt, aber er hielt es zurück, weil er wußte, dass Ivan schneller fertig werden würde, wenn er die Belohnung noch vor der Nase hatte. »Prima, Junge! « Ivan schmatzte genüßlich. »Du bekommst die Armbrust in einer Woche, aber ich brauche das Bild, um sie zu vollenden. Hast du eine kleinere Abbildung?« Cadderly schüttelte den Kopf. »Nur diesen Wandbehang.« »Soll ich etwa mit einem gestohlenen Wandteppich unter dem Arm durch die Gänge laufen?« fuhr Ivan auf. »Geliehen«, stellte Cadderly richtig.
»Mit dem Segen von Großmeisterin Pertelope?« fragte Ivan sarkastisch. »Ui, ui«, fügte Pikel hinzu. »Sie wird ihn gar nicht vermissen«, entgegnete Cadderly wenig überzeugend. »Und wenn doch, dann sage ich ihr, dass ich ihn brauchte, um ein paar Stellen in dem Drowbuch zu klären, das ich gerade übersetze.« »Von den Drow versteht Pertelope mehr als du«, erinnerte ihn Ivan. »Schließlich hat sie dir das Buch gegeben! « »Ui, ui«, sagte Pikel wieder. »Der Met ist schwärzer als die Mitternacht«, sagte Cadderly gelassen, »so steht es in dem Rezept. Er würde einen ausgewachsenen Baum umwerfen, wenn man nur einen Krug davon an seine Wurzeln gießt.« »Nimm du das andere Ende«, sagte Ivan zu Pikel. Pikel zog .seine pilzförmige Kochmütze über den Wust grüner Haare, so dass seine Ohren noch weiter hervorstaken. Dann half er Ivan, den Wandbehang fest aufzurollen. Gemeinsam schulterten die Zwerge den Teppich, während Cadderly die Tür einen Spalt breit öffnete und sich vergewisserte, dass der Gang leer war. Cadderly blickte über die Schulter zum abnehmenden Winkel des Sonnenscheins, der durch sein Fenster fiel. Der Zimmerboden war in regelmäßigen Abständen markiert, um morgens als Uhr zu dienen. »Ein paar Minuten vor Mittag«, sagte er zu den Zwergen. »Bruder Chaunticleer wird bald die Mittagshymne anstimmen. Alle Priester der Bi bliothek sollen daran teilnehmen, und gewöhnlich gehen auch die meisten anderen. Die Luft müßte rein sein.« Ivan warf Cadderly einen mürrischen Blick zu. »Ts-ts«, machte Pikel, schüttelte den bärtigen Kopf und hob mahnend den Finger. »Ich gehe ja schon!« knurrte Cadderly. »Es merkt doch keiner, wenn ich ein klein wenig zu spät komme.« Da begann die Melodie, die Bruder Chaunticleers perfekter Sopran sanft durch die Korridore der alten Bibliothek trug. jeden Mittag stieg Chaunticleer an seinen Platz auf dem Podium des großen Saals der Bibliothek, um zwei Lieder zu singen, die Legende von Deneir und die von Oghma. Viele Gelehrte kamen in die Bibliothek, um zu forschen, aber andere kamen auch, um den namhaften Chaunticleer zu hören. Er sang ohne Begleitung, doch er konnte den großen Saal und die Räume dahinter mit seiner erstaunlichen, vier Oktaven umfassenden Stimme derart erfüllen, dass Zuhörer ihn oft ansehen mußten, nur um sich zu vergewissern, dass kein Chor hinter ihm stand. Heute war Oghmas Lied das erste, und gedeckt von diesem energiegeladenen, anschwellenden Lobgesang stolperten die Brüder Felsenschulter zwei geschwungene Treppen hinunter und durch ein Dutzend zu enger Türen zu ihren Räumen neben der Bibliotheksküche. Cadderly betrat den großen Saal etwa zur gleichen Zeit, indem er leise durch die hohe, eichene Doppeltür schlüpfte und seitlich hinter einen dicken Stützbogen trat. »Luftpfeiler«, murmelte er unwillkürlich in sich hinein und schüttelte angesichts der massigen Säule frustriert den Kopf. Dann nahm er wahr, dass sein Kommen nicht unbemerkt geblieben war. Aus dem Schatten des nächsten Bogens lächelte ihn Kierkan Rufo an. Cadderly wußte, dass der ränkeschmiedende Rufo auf ihn gewartet hatte, um Großmeister Averys Zorn neu zu nähren, und er wußte, dass Avery seine Nachlässigkeit nicht entschuldigen würde. Cadderly gab sich gleichgültig, da er Rufo den Triumph nicht gönnen wollte. Er wandte demonstrativ den Blick ab und zog seine Spindelscheiben heraus, eine archaische Waffe der alten Halblingstämme aus Südlluiren. Das Gerät bestand aus zwei runden Bergkristallscheiben von jeweils einem Fingerbreit Dicke und einer Fingerlänge Durchmesser, die in der Mitte durch eine kleine Stange verbunden waren, um welche eine Schnur gewickelt war. Cadderly hatte die Waffe in einem geheimnisvollen Buch entdeckt und noch etwas verbessert, indem er als Verbindung eine Metallstange mit einem kleinen Loch benutzte, durch das die Schnur gezogen und angeknotet werden konnte, statt dass man sie nur festband. Cadderly schob seinen Finger durch die Schlinge am losen Ende der Schnur. Mit einem Ruck aus dem Handgelenk ließ er die Spindelscheiben die ganze Länge der Schnur hinunterlaufen und dann mit einem Fingerzucken in seine Hand zurückrollen. Aus dem Augenwinkel riskierte er einen Blick. Als er wußte, dass Rufo aufmerksam zuschaute, ließ er die Scheiben wieder herunterlaufen, schlang die Schnur schnell um die Finger seiner freien Hand zu einem Dreieck und hielt die immer noch rotierenden Scheiben in der Mitte, wo er sie wie ein Baby vor und zurück wiegte. Rufo hatte sich vorgelehnt, um das faszinierende Spiel zu beobachten, und Cadderly ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen. Mit der wiegenden Hand ließ er die Schnur los, rollte die Spindelscheiben schneller auf, als das Auge erfassen kann und ließ sie genau auf seinen Rivalen zuschnellen. Die Schnur brachte die Waffe wieder in Cadderlys Hand, bevor sie Rufo auch nur halbwegs erreicht hatte, doch der erschrockene Mann wich zurück, geriet ins Stolpern und verlor das Gleichgewicht. Cadderly gratulierte sich zu seiner Zeitwahl, denn Rufos geräuschvoller Sturz fiel mitten in die dramatischste Pause von Bruder Chaunticleers Lied. »Schschsch!« wurde von überallher gezischt, und Cadderly hielt sich dabei nicht zurück. Es sah so aus, als würde Großmeister Avery an diesem Abend zwei Studenten bestrafen müssen.
Kenne deine Verbündeten Das Verhandlungszimmer in Burg Trinitatis unterschied sich deutlich von dem großen, geschmückten Saal der Erhebenden Bibliothek. Seine Decke war niedrig und die Tür einfach, verriegelt und schwer bewacht. Ein einzelner dreieckiger Tisch mit drei Stühlen auf jeder Seite - für die Zauberer, die Kämpfer und die Kleriker - beherrschte den Raum. Den Raum absuchen, schlug Druzil Aballister auf telepathischem Weg vor. Durch die telepathische Verbindung konnte das Teufelchen praktisch mit Aballisters Augen sehen. Der Zauberer erfüllte Druzils Wunsch und sah sich um, schaute zuerst Ragnor und die anderen beiden Kämpfer an, dann Barjin und seinen Mitkleriker. Abrupt brach Druzil die mentale Verbindung ab und lachte zischend, denn er wußte, dass er Aballister völlig verwirrt zurückgelassen hatte. Er fühlte, wie der Zauberer versuchte, die Verbindung wieder aufzunehmen, hörte Aballisters Gedanken rufen. Aber Aballister konnte den Kontakt nicht erzwingen. Das Teufelchen übte diese mentale Form der Verständigung schon Jahrzehnte länger aus, als Aballister alt war, und nur es entschied, wann und wo es mit dem Zauberer in Verbindung trat. Vorläufig hatte Druzil keinen Grund, den Kontakt fortzusetzen. Er hatte alles gesehen, was er zu sehen brauchte. Barjin war im Verhandlungssaal und würde dort eine Weile beschäftigt sein. Druzil versenkte sich in sein Magiezentrum, seine Essenz aus der anderen Welt, die ihm erlaubte, die physischen Grenzen zu überschreiten, welche die Wesen seines Gastplaneten einschränkten. Wenige Sekunden später begann Druzil zu verschwinden, war erst durchsichtig, dann ganz weg. Dann flatterte er durch die Gänge zu einem Flügel von Burg Trinitatis, in den er ansonsten nur selten kam. Es war natürlich ein riskantes Unterfangen, aber wenn der Chaosfluch in den Händen des Priesters blieb, mußte Druzil mehr über diesen erfahren. Druzil wußte, dass Barjins Tür verschlossen und mehrfach gegen Eindringlinge geschützt sein würde, aber das hielt er für das kleinere Problem, da eine von Barjins Leibwachen in Habachtstellung davor im Gang stand. Druzil drang gerade so lange in die Gedanken des Mannes ein, um eine Eingebung, eine magische Bitte, zu formulieren. »Jemand ist in Barjins Zimmer«, lautete dieser stille Wink. Nervös blickte sich der Wächter um, als suche er den, der gerufen hatte. Er starrte Barjins Tür lange an - wobei er mitten durch das unsichtbare Teufelchen hindurchsah -, fummelte dann hastig mit ein paar 'Schlüsseln herum, sprach ein Kommando, damit die Schutzrunen nicht explodierten, und trat ein. Druzil hauchte lautlos dasselbe Kommando und huschte hinterher. Nachdem der Wächter das augenscheinlich leere Zimmer einige Minuten durchsucht hatte, schüttelte er den Kopf, ging hinaus und schloß hinter sich die Tür ab. Druzil grinste höhnisch. Manche Menschen waren wirklich leicht zu lenken. Das Teufelchen hatte jedoch weder Zeit noch Lust, in Selbstgefälligkeit zu schwelgen, denn schließlich standen ihm jetzt alle Geheimnisse des mysteriösen Barjin offen. Für jemanden von derart hohem Status war der Raum ziemlich gewöhnlich. Ein großes Himmelbett mit einem Nachttisch daneben nahm fast die gesamte Wand gegenüber der Tür ein. Druzil rieb sich eifrig die Hände, als er auf den Tisch zulief. Auf dem Tisch lag gleich neben der Lampe ein schwarz gebundenes Buch und daneben mehrere Schreibfedern und ein Tintenfaß. »Wie zuvorkommend von dir, ein Tagebuch zu führen«, krächzte der kleine Teufel, als er das Buch vorsichtig aufschlug. Er las die ersten Einträge von vor zwei Jahren durch. Es waren größtenteils Klagen und Aufzählungen von Barjins Taten in den Königreichen Vaasa, Damara und Narfell im Norden. Druzils schon vorher beträchtlicher Respekt vor dem Priester wuchs, während er die Worte verschlang. Barjin hatte einst eine Armee geführt und einem mächtigen Herrn gedient - er sagte nichts Direktes über den Mann, falls es einer gewesen war -, aber nicht als Kleriker, sondern als Zauberer! Druzil hielt kurz inne, um diese Entdeckung zu verdauen. Dann zischte er und las weiter. Obwohl Barjin außergewöhnlich fähig gewesen war, gab er zu, nicht der mächtigste Zauberer im Dienste seines Herrn gewesen zu sein wieder nur eine vage Anspielung auf diese geheimnisvolle Person, die Druzil den Eindruck vermittelte, dass Barjin sich selbst Jahre später offenbar noch fürchtete, den Namen seines Herrn laut auszusprechen oder deutlich niederzuschreiben. Barjin war zu noch größerem Ruhm gekommen, als die Armee von religiösem Eifer erfaßt worden war und sein Meister offenbar gottgleiche Züge angenommen hatte. Druzil konnte ein Kichern nicht unterdrücken, denn die Parallelen zwischen dem Aufstieg des Priesters und der Verwandlung des Chaosfluchs in den direkten Sendboten der Göttin waren frappierend. Barjin war Priester geworden und hatte eine Armee angeführt, um auf Wunsch seines bösen Meisters das ganze Nordland zu erobern. Ihre Pläne waren jedoch durchkreuzt worden, weil sich in Damara ein Orden Paladine erhob Druzil zischte laut, als er dieses verfluchte Wort las - und eine eigene Armee aufstellte. Barjins Herr und die meisten seiner Bundesgenossen wurden besiegt, aber Barjin war immerhin mit dem Leben und einem Teil der Schätze entkommen, die die Armee zusammengetragen hatte. Barjin war mit nur wenigen Lakaien nach Süden geflohen, nachdem sein angeblicher Gott ins Jenseits befördert worden war und seine priesterlichen Kräfte stark abgenommen hatten. Über diese Enthüllung dachte Druzil eine Weile nach, denn Barjin erwähnte in diesem Tagebuch nirgends die Begegnung mit Talonas Avatar, von der er gesprochen hatte.
Es ging mit einem Bericht weiter, wie Barjin sich dem Triumvirat auf Burg Trinitatis angeschlossen hatte - wieder ohne jede Erwähnung des Avatars. Druzil lachte angesichts von Barjins Opportunismus höhnisch auf. Schon vor einem Jahr, als er als armseliger Flüchtling eingetroffen war, hatte Barjin die Würdenträger von Burg Trinitatis an der Nase herumgeführt, ihren Fanatismus gegen sie ausgespielt. Nach nur einem Monat in der Burg war Barjin zum dritten Rang in der priesterlichen Hierarchie aufgestiegen, und nach wenigen weiteren Wochen hatte er unwidersprochen als Talonas Hauptstatthalter das Kommando übernom men. Als Druzil rasch weiterblätterte, fiel ihm auf, dass Barjin tatsächlich so wenig über seine neue Göttin nachdachte, dass er ihr nur seltene, flüchtige Einträge in seinem Tagebuch widmete. Aballister hatte recht: Barjin war ein Heuchler, was jedoch kaum eine Rolle spielte. Wieder mußte Druzil angesichts dieser Ironie, dieses echten Chaos, höhnisch lachen. Den Rest von Barjins Geschichte kannte Druzil aus eigener Anschauung. Leider bot das Tagebuch keine weiteren Enthüllungen mehr, doch der kleine Teufel war nicht enttäuscht, als er das Buch schloß. Es gab noch so viel anderes, was er untersuchen mußte. Barjins neue Kleider, eine spitz zulaufende Kappe und kostspielige purpurfarbene Roben, auf denen in Rot die neuen Insignien des Triumvirats aufgestickt waren, hingen neben dem Bett. Als Abwandlung von Talonas Symbol, den drei Tränen innerhalb eines Dreiecks, zeigte dies einen Dreizack, dessen drei Zinken jeweils eine Flasche in Form einer Träne trugen, so wie die Flasche, die den Chaosfluch enthielt. Barjin persönlich hatte dieses Symbol entwickelt, und nur Ragnor hatte etwas Widerstand geleistet. »Du willst also tatsächlich das Wort deines Gottes verbreiten«, murmelte Druzil etwas später, als er Barjins. Schlafrolle, das gefaltete Zelt und den gepackten Rucksack unter dem Bett entdeckte. Er griff nach den Sachen, sprang jedoch unvermittelt zurück, weil er dort etwas gespürt hatte. Er fühlte den Ansatz zu einem telepathischen Kontakt, aber nicht von Aballister. Begierig griff das Teufelchen unter das Bett und zog die Sachen heraus. Sofort erkannte es, dass die Telepathie von Barjins magischem Streitkolben ausging. »Kreischende Maid«, erwiderte Druzil auf die telepathische Vorstellung der Waffe und untersuchte den kostbaren Gegenstand. Sein Obsidiankopf zeigte ein hübsches, junges Mädchen, das seltsam unverdächtig und ansprechend aussah. Druzil durchschaute dieses absurde Äußere sofort. Er wußte, dies war keine Waffe aus der Welt der Materie, sondern eine, die im Abgrund, in den Neun Höllen, im Tartarus oder in einer der sonstigen Unteren Ebenen geschmiedet worden war. Offensichtlich war sie wahrnehmungsfähig und hungrig. Stärker als alles andere spürte Druzil ihren Hunger, ihre Blutgier. In freudigem Erstaunen sah er zu, wie der Streitkolben diesen Aspekt verstärkte, indem er seinen Obsidiankopf zu einem boshaften Gesicht verzog und ein Maul mit Reißzähnen weit aufriß. Druzil klatschte mit den Pfoten und lächelte höhnisch. Sein Respekt vor Barjin steigerte sich immer mehr, denn jeder Sterbliche, der eine solche Waffe führen konnte, mußte wahrhaft mächtig sein. In der Burg wurde hin und wieder kritisiert, dass Barjin den vergifteten Dolch - die übliche Waffe der Talonakleriker - nicht liebte, aber nachdem Druzil diesen Streitkolben aus der Nähe betrachtet und seine schreckliche Macht gespürt hatte, stimmte er der Wahl des Priesters zu. In dem zusammengelegten Zelt fand Druzil ein Kohlebecken und einen Dreifuß, der fast so fein gearbeitet und mit so vielen Runen bedeckt war wie Aballisters. »Auch du ein Schwarzmagier, Barjin«, flüsterte das Teufelchen und fragte sich, was das für die Zukunft bedeuten mochte. Schon stellte Druzil sich vor, wie es wäre, wenn er damals nicht zu Aballister, sondern zu Barjin gerufen worden wäre. Der dicke Rucksack enthielt weitere wundersame Dinge. Druzil fand eine tiefe, über und über mit Edelsteinen besetzte Schale aus gehämmertem Platin, die eines Königs würdig gewesen wäre. Vorsichtig stellte er sie auf den Boden und griff erneut in den Sack. Er war so aufgeregt wie ein hungriger Ork, der seinen Arm in ein Rattenloch streckt. Er zog etwas Schweres, Festes heraus, das faustgroß und in ein schwarzes Tuch eingehüllt war. Was es auch immer sein mochte, es ging eindeutig magische Energie davon aus, so dass Druzil vorsichtshalber nur eine Ecke des Tuches anhob, um hineinzuspähen. Er entdeckte einen riesigen schwarzen Saphir, den er als Nekromantenstein erkannte und schnell wieder in das schützende Tuch einwickelte. Wenn solch ein Stein enthüllt wurde, konnte er einen Ruf nach den Toten aussenden und dadurch Geister, Ghule oder sonstige untote Monster herbeirufen. Ähnliche magische Eigenschaften besaß die kleine Keramikflasche, die Druzil als nächstes inspizierte. Er entkorkte sie, schnüffelte und nieste, als ihm Asche in die breite Nase stieg. »Asche?« flüsterte das Teufelchen neugierig, als es hineinspähte. Unter dem schwarzen Tuch pulsierte der Nekromantenstein, und Druzil begriff. »Lange toter Geist«, murmelte er und verschloß die Flasche schnell wieder. Anschließend wickelte er alles sorgfältig wieder ein und legte es genauso zurück, wie er es vorgefunden hatte. Durch seine Unsichtbarkeit konnte er sich sicher fühlen, also sprang er auf das bequeme Bett und machte es sich gemütlich, um über das nachzudenken, was er in Erfahrung gebracht hatte. Dieser Barjin war ein vielseitig begabter Mensch - Priester, Zauberer, General, versuchte sich in Schwarzer Magie, Nekromantie und wer weiß, was noch allem. »Ja, ein Mensch mit vielen Möglichkeiten«, entschied Druzil. Jetzt hatte er ein besseres Gefühl, was Barjins Engagement für den Chaosfluch anging. Er nahm kurz telepathischen Kontakt mit Aballister auf, um sich zu vergewissern, dass die Sitzung noch im Gang war, dann gratulierte er sich zu seiner Schläue und faltete die dicklichen Pfoten hinter dem Kopf. Bald schlief er tief und fest. ¤¤¤
»Wir haben nur die eine geeignete Flasche«, sagte Aballister als Vorsitzender der Zauberer. »Dauerhaft rauchende Gegenstände sind schwer herzustellen, denn man braucht dazu seltene Edelsteine und Metalle, und wir alle wissen, wie teuer es war, auch nur eine kleine Menge des Elixiers herzustellen.« Er spürte Barjins Blick auf sich, als er die Kosten erwähnte. »Sprecht vom Ultimativen Schrecken nicht als Elixier«, wies ihn der Führer der Kleriker an. »Vielleicht war er einst ein magischer Trank, jetzt aber ist er weit mehr als das.« »Tuanta Quiro Miancay«, sangen die beiden anderen Priester - häßliche Männer, deren Haut fast überall mit unschönen Tätowierungen bedeckt war. Aballister erwiderte Barjins Blick. Angesichts dieser Heuchelei hätte er am liebsten geschrien und die anderen Kleriker wachgerüttelt, damit sie sich gegen Barjin stellten, aber er unterdrückte seinen Ausbruch klugerweise. Er wußte, dass jede Anklage gegen Barjin den gegenteiligen Effekt haben und ihn selbst zur Zielscheibe der Gläubigen machen würde. Druzil hatte Barjin richtig eingeschätzt, das mußte der Zauberer zugeben. Sein Konkurrent hatte seinen Einfluß tatsächlich noch gefestigt. »Das Brauen des Ultimativen Schreckens«, räumte Aballister ein, »hat unsere Rücklagen geplündert. Wenn wir noch einmal von vorne anfangen, um mehr zu erschaffen, und noch eine weitere Flasche kaufen müssen, könnte das leicht unsere Grenzen Überschreiten.« »Wozu brauchen wir diese blöden Flaschen?« unterbrach Ragnor. »Wenn das Zeug ein Gott ist, wie Ihr behauptet, dann ...« Barjin hatte die Antwort schnell parat. »Der Ultimative Schrecken ist ein Sendbote von Talona«, erklärte der Priester ruhig. »Er selbst ist kein Gott, aber er wird uns helfen, Talonas Wünsche auszuführen.« Ragnors Augen verengten sich gefährlich. Ganz offensichtlich war der launische Ogrillon jetzt mit seiner Geduld am Ende. »Alle Eure Gefolgsleute lieben Tuanta Quiro Miancay«, erinnerte Barjin Ragnor, »sie lieben ihn von ganzem Herzen.« Ragnor lehnte sich zurück, denn ihm wurde klar, welche Drohung darin versteckt war. Aballister musterte Barjin neugierig, denn es beeindruckte ihn sehr, wie leicht der Priester den Ogrillon in die Schranken verwiesen hatte. Barjin war groß, stark und beeindruckend, aber körperlich war er Ragnor weit unterlegen. Für den mächtigen Kämpfer zählte ausschließlich die Körperkraft; normalerweise behandelte Ragnor die Kleriker und Zauberer mit weniger Respekt als die geringsten seiner Soldaten. Barjin jedoch schien eine Ausnahme zu sein. Besonders in letzter Zeit hatte Ragnor ihm nicht mehr offen widersprochen. Aballister war darüber zwar überrascht, aber es beunruhigte ihn nicht. Er wußte, dass Barjins Kräfte weit über seine körperlichen Fähigkeiten hinausgingen. Barjin konnte bezaubern und hypnotisieren, und er war ein achtsamer Stratege. Erst wenige Wochen zuvor war eine Verschwörung innerhalb des Triumvirats aufgeflogen. Der einzige Gefangene hatte Ragnors Verhör widerstanden - um den Preis unglaublicher Schmerzen und mehrerer Zehen-, doch Barjin hatte den gepeinigten Mann innerhalb einer Stunde zum Reden gebracht. Bereitwillig hatte er alles ausgespuckt, was er über seine Mitverschwörer wußte. Es wurde gemunkelt, der Gefolterte habe Barjin tatsächlich für einen Verbündeten gehalten, bis der Priester ihm irgendwann beiläufig den Schädel einschlug. Aballister zweifelte diese Gerüchte nicht an und war nicht überrascht. Das war typisch für Barjin, und nur wenige konnten dem hypnotischen Charisma des Priesters widerstehen. Aballister wußte nicht viel von Barjins früherer Gottheit, die in den Einöden von Vaasa untergegangen war, aber das, was er bisher von dem geflüchteten Priester an Bannsprüchen miterlebt hatte, ging über das hinaus, was Kleriker normalerweise leisteten. Wieder suchte Aballister die Antwort bei den Gerüchten, denn es hieß, dass Barjin sich nicht nur mit klerikaler Magie, sondern auch mit Zauberei beschäftigte. Barjin redete immer noch ehrfürchtig über das Elixier, als Aballister seine Aufmerksamkeit wieder der Sitzung zuwendete. Die Worte des Priesters hatten die anderen Kleriker und Ragnors zwei Mitstreiter in Bann gezogen. Aballi ster schüttelte den Kopf und wagte nicht zu unterbrechen. Wieder bedachte er, welchen Verlauf sein Leben genommen hatte, wie der Avatar ihn zu Druzil geführt und Druzil das Rezept geliefert hatte. Dann hatte der Avatar Barjin nach Burg Trinitatis geführt. Das war der Teil des Rätsels, der nicht zu Aballisters Überlegungen paßte. Er hatte den Priester nun ein Jahr lang beobachtet und war immer noch überzeugt, dass Barjin kein wahrer Jünger Talonas war, aber wieder erinnerte er sich selbst daran, dass sein Gegner - ob der Göttin ergeben oder nicht - die Sache vorantrieb und dass sie aufgrund seines Goldes und seines Einflusses womöglich bald die ganze Region im Namen Talonas einnehmen würden. Aballister stieß einen tiefen Seufzer aus. So paradox ging es im Chaos eben zu. »Aballister?« fragte Barjin. Der Zauberer räusperte sich nervös und blickte sich um. Er stellte fest, dass er einiges vom Gespräch verpaßt hatte. »Ragnor fragte nach der Notwendigkeit der Flaschen«, erklärte Barjin höflich. »Die Flaschen, ja«, stotterte Aballister. »Das Elix ... der Ultimative Schrecken wirkt mit und ohne sie. Es genügen winzige Mengen, damit der Chaosfluch wirkt, aber dann nur für kurze Zeit. Mit den immerrauchenden Flaschen wird die göttliche Substanz gleichmäßig abgegeben. Wir haben nur wenige Tropfen erzeugt, aber ich glaube, die Flüssigkeit reicht aus, um die immerrauchende Flasche monatelang in Gang zu halten, vielleicht sogar jahrelang, wenn die Mischung in der Flasche richtig ist.« Barjin sah sich um. Die anderen Kleriker nickten ihm zu. »Wir haben beschlossen, dass Talonas Sendbote bereit ist«, erklärte er. »Ihr habt ... «, stammelte die Zauberin Dorigen ungläubig.
Aballister starrte Barjin durchdringend an. Er hatte vorgehabt, bei dieser Zusammenkunft die Führung zu übernehmen und exakt das vorzuschlagen, was der Priester im Sinn hatte. Wieder war ihm Barjin einen Schritt voraus, hatte ihm den Wind aus den Segeln genommen. »Wir sind die Vertreter Talonas«, reagierte Barjin kühl auf Dorigens Ausbruch. Seine Gefährten nickten dümmlich. Aballister krallte sich so fest an die Armlehnen seines Stuhls, dass er fast ein Stück herausgebrochen hätte. »Die Göttin hat zu uns gesprochen, hat uns ihre Wünsche enthüllt«, fuhr Barjin selbstgefällig fort. »Unser Feldzug wird bald beginnen!« Der aufgeregte Ragnor schlug zustimmend mit der Faust auf den Tisch. Jetzt sprach der Priester eine Sprache, die der Ogrillonkrieger verstand. »Wer soll Eurer Meinung nach die Flasche tragen?« fragte Ragnor ohne Umschweife. »Ich werde sie tragen«, warf Aballister rasch ein. Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, merkte er, wie verzweifelt er klang - ein letzter Versuch, seine Machtposition zu retten. Barjin warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Schließlich bin ich Talonas Avatar begegnet«, beharrte Aballister, »und ich habe das Rezept für den Ultimativen Schrecken entdeckt.« »Dafür danken wir Euch«, bemerkte der Priester herablassend. Aballister wollte Einspruch erheben, sank aber in seinen Stuhl zurück, als ihm eine magische Botschaft ins Ohr geflüstert wurde. Stell dich in dieser Sache nicht gegen mich, Zauberer, warnte Barjin ihn lautlos. Aballister wußte, dass dies der entscheidende Moment war. Wenn er jetzt nachgab, würde er seine Stellung in Burg Trinitatis womöglich nie wieder retten können, aber wenn er sich gegen Barjin auflehnte, gegen den religiösen Eifer, den der Priester geweckt hatte, würde er den Orden mit Sicherheit spalten und sich wahrscheinlich auf der Seite der Minderheit wiederfinden. »Ihr seid ein Bein des herrschenden Triumvirats«, wagte Aballister einzuwenden. »Ihr dürft den Ultimativen Schrecken nicht für Euch allein beanspruchen.« Ragnor sah die Dinge etwas anders. »Laßt ihn den Priestern«, forderte der Ogrillon. Aballisters Überraschung ließ nach, sobald er erkannte, dass der brutale Kämpfer, der der Magie nicht traute, einfach erleichtert war, dass nicht er die Flasche tragen mußte. »Einverstanden«, warf Barjin rasch ein. Aballister wollte wieder etwas sagen, aber Dorigen legte ihm eine Hand auf den Arm und bat ihn mit einem Blick, es gut sein zu lassen. »Wolltet Ihr noch etwas anmerken, lieber Zauberer?« fragte Barjin. Aballister schüttelte den Kopf und sackte noch tiefer in seinen Stuhl und zugleich in tiefste Verzweiflung. »Dann wäre das geregelt«, sagte Barjin. »Der Ultimative Schrecken wird sich auf unsere Feinde herabsenken, getragen von meinen beiden Stellvertretern.« Er nickte den Priestern zu seiner Rechten und zu seiner Linken zu. »Nein!« platzte Aballister heraus, denn nun sah er einen Weg, etwas aus diesem Desaster zu retten. Alle Blicke wandten sich ihm zu; er bemerkte, dass Ragnor eine Hand an den Schwertgriff legte. »Eure Stellvertreter?« fuhr er in ungläubigem Ton fort. »Wirklich?« Aballister stand auf und breitete die Arme aus. »Geht es nicht um den direkten Sendboten unserer Göttin?« tönte er salbungsvoll. »Geht es nicht um den Beginn unserer kühnsten Träume? Nein, nur Barjin kann etwas so Wertvolles tragen. Nur Barjin kann die Herrschaft des Chaos wahrhaft beginnen lassen.« Die. gesamte Versammlung wandte sich dem Priester zu, während Aballister sich wieder setzte, denn er glaubte, seinen schlauen Gegenspieler zuletzt doch noch ausgetrickst zu haben. Wenn er Barjin eine Weile aus Burg Trinitatis verbannte, würde er seine Stellung als wichtigster Wortführer der Bruderschaft wieder festigen können. Erstaunlicherweise hatte der Priester keine Einwände. »Ich nehme ihn«, sagte er. Er blickte die anderen - überraschten - Kleriker an und fügte hinzu: »Und ich gehe allein.« »Den ganzen Spaß für dich?« beschwerte sich Ragnor. »Nur die erste Schlacht des Krieges«, antwortete Barjin. »Meine Krieger drängen auf eine Schlacht«, betonte Ragnor. »Sie dürsten nach Blut!« »Sie werden bekommen, soviel sie trinken können, und noch mehr«, fauchte Barjin. »Aber erst ziehe ich los und schwäche unsere Feinde. Wenn ich zurückkehre, kann Ragnor den zweiten Angriff anführen.« Das schien den . Ogrillon zufriedenzustellen, und jetzt verstand Aballister Barjins Rettungsversuch. Wenn er allein ging, würde der Priester nicht nur die anderen Kleriker zurücklassen, um ein Auge auf alles zu haben, sondern auch Ragnor und dessen Soldaten. Angestachelt von den verbliebenen Klerikern würde der von Grund auf macht gierige Ogrillon nicht zulassen, dass Aballister und die Zauberer wieder fest Fuß faßten. »Wo wollt Ihr ihn einsetzen?« fragte Aballister. »Und wann?« »Es müssen noch Vorbereitungen getroffen werden, bevor ich gehe«, antwortete Barjin, »Dinge, die nur ein Priester verstehen kann. Was den Ort angeht, so solltet Ihr Euch darum keine Gedanken machen.« »Aber -«, setzte Aballister an, nur um scharf unterbrochen zu werden. »Das wird allein Talona mir verraten«, knurrte Barjin in endgültigem Ton. Aballister funkelte ihn wütend an, antwortete jedoch nicht. Barjin war als Gegner schwer zu fassen; jedesmal, wenn Aballister ihn in die Ecke trieb, berief er sich auf seine Göttin, als ob das alles beantworten würde. »Dann ist es beschlossen«, fuhr Barjin fort, als kein Widerspruch mehr kam. »Die Versammlung ist beendet.« ¤¤¤
»Ach, verschwinde«, murrte Druzil sowohl hörbar als auch telepathisch. Aballister suchte ihn, wollte in seine Gedanken eindringen. Druzil lächelte über seine Überlegenheit, die den Zauberer aussperren konnte, und wälzte sich faul auf die andere Seite. Dann erst wurde ihm klar, was Aballisters Ruf bedeuten konnte. Abrupt setzte das Teufelchen sich auf und kontaktierte Aballister gerade lange genug, um zu erfahren, dass der Zauberer in sein eigenes Zimmer zurückgekehrt war. Druzil hatte nicht vorgehabt, so lange zu schlafen, sondern hatte vor Ende der Versammlung weit weg sein wollen. Er hielt ganz still, als die Tür aufging und Barjin den Raum betrat. Wäre der Priester aufmerksamer gewesen, hätte er die Gegenwart eines Unsichtbaren vielleicht bemerkt. Barjins Gedanken waren jedoch bei anderen Dingen. Er stürmte, auf sein Bett zu, und Druzil zuckte zusammen, weil er glaubte, Barjin wollte ihn angreifen. Der aber ließ sich auf die Knie nieder und griff eifrig nach seinem Gepäck und dem verzauberten Streitkolben. »Du und ich«, sagte Barjin und erhob die magische Waffe, »wir werden das Wort der Göttin verbreiten und die Belohnungen des Chaos ernten. Es ist viel zu lange her, dass du Menschenblut schlürfen konntest, meine Kleine, viel zu lange.« Der Streitkolben konnte natürlich keine hörbare Antwort geben, aber Druzil glaubte zu sehen, wie sich ein Lächeln über das geschnitzte Mädchengesicht zog. »Und du«, sprach Barjin in den Rucksack - zu der aschegefüllten Keramikflasche, soweit Druzil das feststellen konnte. »Prinz Khalif. Ob für dich wohl die Zeit gekommen ist, wieder auf Erden zu wandeln?« Der Priester klappte den Rucksack auf und brach in ein so schallendes, überschwängliches Gelächter aus, dass Druzil fast mit eingestimmt hätte. Das Teufelchen erinnerte sich schnell, dass es mit Barjin bisher offiziell nicht verbündet war und dass dieser gewiß ein gefährlicher Feind sein würde. Zum Glück für Druzil hatte Barjin in seiner Hast nicht die Tür hinter sich geschlossen. Im Schutz von Barjins Gelächter kroch das Teufelchen vom Bett und schlüpfte durch die Tür, ohne beim Überqueren der Schwelle zu vergessen, das Paßwort für die Schutzrune zu sprechen. ¤¤¤ Barjin verließ Burg Trinitatis fünf Tage später, mit der immerrauchenden Flasche im Gepäck. Er reiste mit einer kleinen Eskorte von Ragnors Kämpfern, die ihn jedoch nur bis zu der Menschensiedlung Carradoon am Impresksee am Südostrand des Schneeflockengebirges begleiten sollten. Von da an würde er allein weiterziehen, zu einem Ziel, das er und seine Mitwisser den anderen Anführern von Burg Trinitatis immer noch nicht enthüllen wollten. In der Festung warteten Aballister und die Zauberer so ruhig wie möglich, denn sie vertrauten darauf, dass ihre Zeit noch kommen würde. Ragnors Heer jedoch hatte weniger Geduld. Der Ogrillon wollte den Kampf, wollte am liebsten sofort losschlagen. Allerdings war Ragnor nicht dumm. Er wußte, dass sein kleines Heer, das nur aus wenigen Hundertschaften bestand, solange er die benachbarten Stämme von Goblinoiden nicht mitreißen konnte, es nicht leicht haben würde, den See, die Berge und den Wald zu erobern. Dennoch und trotz aller Vernunft war Ragnor hungrig. Seit seinem allerersten Tag in Burg Trinitatis vor fast fünf Jahren hatte der Ogrillon Rache an den Elfen von Shilmista gelobt, die seinen Stamm besiegt und ihn und die anderen Flüchtlinge weit aus dem Wald vertrieben hatten. Jeder Bewohner von Burg Trinitatis, vom ei nfachsten Soldaten über die Zauberer bis zu den Priestern, hatte oft von dem Tag gesprochen, an dem sie sich aus ihren getarnten Löchern erheben und die Region überfluten würden. Jetzt hielt alles den Atem an, weil sie Barjins Rückkehr erwarteten - zur Bestätigung, dass der Feldzug begonnen hatte.
Wasser und Staub Die vermummte Gestalt kam langsam auf Danica zu. Da sie sie für einen Mönch irgendeiner obskuren, exzentrischen Sekte hielt - und solche Mönche waren gewöhnlich feindselig und gefährlich, da sie darauf aus waren, ihre Kampfkünste jedem anderen zu beweisen, dem sie begegneten -, sammelte sie den Stapel Pergamente ein, an dem sie gearbeitet hatte, und ging rasch zu einem anderen Tisch. Die große Gestalt, die ihre Kapuze tief heruntergezogen hatte, um ihr Gesicht zu verbergen, kam ihr nach. Dabei verursachten ihre Füße undefinierbare, schleifende Geräusche auf dem Steinboden. Danica schaute sich um. Es war spät. Der Lesesaal im ersten Stock über der Bibliothek war fast leer, und Danica ents chied, dass es auch für sie Zeit war, sich hinzulegen. Sie merkte, dass sie müde war, und fragte sich, ob sie sich schon Dinge einbildete. Langsam und drohend kam die Gestalt näher. Danica fragte sich, ob es sich überhaupt um einen Mönch handelte. Welche Schrecken mochten sich unter dieser heruntergezogenen Kapuze verbergen? Wieder sammelte sie ihre Pergamente zusammen und hielt kühn auf den Hauptgang zu, obwohl sie dabei genau an der Gestalt vorbeigehen mußte. Eine Hand schoß vor und packte sie an der Schulter. Danica unterdrückte einen Aufschrei und fuhr zu der dunklen Kapuze herum, wobei ihr viele Schriftrollen herunterfielen. Als sie sich jedoch wieder gefaßt hatte, stellte sie fest, dass
es kein Skelett war, das sie mit eisiger, untoter Hand festhielt. Es war eine warme, sanfte Menschenhand mit Tintenspuren an den Fingernägeln. Die Hand eines Schreibers. »Keine Angst!« wisperte das Gespenst. Danica kannte die Stimme zu gut, als dass sie sich von der Maske noch hätte täuschen lassen. Stirnrunzelnd verschränkte sie die Arme vor der Brust. Da er begriff, dass der Scherz vorüber war, nahm Cadderly die Hand von Danicas Schulter und zog rasch die Kapuze zurück. »Sei gegrüßt«, sagte er und lächelte die junge Frau fröhlich an, als hoffte er, dass sein Frohs inn ansteckend sein würde. »Ich dachte mir, dass ich dich hier finden würde.« Danicas Schweigen versprach keine herzliche Begrüßung. »Gefällt dir meine Verkleidung?« fragte Cadderly. »Sie mußte überzeugend sein, damit ich an Averys Spionen vorbeikomme. Sie sind überall, und Rufo lauert mir jetzt noch mehr auf, obwohl er genauso bestraft wurde wie ich.« »Ihr habt es beide verdient!« gab Danica schnippisch zurück. »Nach eurem Benehmen im großen Saal.« »Darum putzen wir jetzt«, gab Cadderly mit resigniertem Schulterzucken zu. »Überall, jeden Tag. Das waren zwei lange Wochen, und es folgen noch zwei längere.« »Und noch mehr, wenn Großmeister Avery dich hier erwischt«, warnte Danica. Cadderly schüttelte den Kopf. »Ich habe die Küche geputzt«, erklärte er. »Ivan und Pikel haben mich hinausgeworfen. >Das hier ist meine Küche, Jungchen! («, gab er in seiner besten Zwergenstimme zum besten, stemmte die Fäuste in die Seiten und plusterte sich auf. » >Wenn hier mal geputzt wird, dann mach' ich das selbst! Ich brauch' kein ... < « Danica erinnerte ihn, wo er war, um ihn zum Schweigen zu bringen, und zog ihn beiseite, hinter ein paar schützende Bücherregale. »Das war Ivan«, sagte Cadderly. »Pikel hat nicht viel gesagt. Also wird die Küche von den Zwergen geputzt, wenn überhaupt, obwohl Putzen keine schlechte Idee wäre. Eine Stunde da drin, und mir ist der Appetit für die nächste Zeit vergangen!« »Das darf dich aber nicht von deiner Arbeit abhalten«, protestierte Danica. »Ich arbeite doch«, gab Cadderly zurück. Er zog die Vorderseite seines schweren, wollenen Mantels hoch und hob einen Fuß. Die Sandale daran war zur Hälfte Schuh, zur Hälfte Schrubberbürste. »Jeder meiner Schritte macht die Bibliothek etwas sauberer.« Gegen diesen unendlichen Strom eigenwilliger Logik kam Danica nicht an. In Wirklichkeit war sie froh, dass Cadderly zu ihr gekommen war. In den letzten zwei Wochen hatte sie nicht viel von ihm gesehen und festgestellt, dass er ihr fehlte. Außerdem hatte sie gerade Probleme damit, einige wichtige Pergamente zu entziffern, und Cadderly war genau derjenige, der ihr helfen konnte. »Könntest du mal einen Blick darauf werfen?« fragte sie, während sie ihre heruntergefallenen Schriftrollen aufsammelte. »Meister Penpahg D'Ahn?« erwiderte Cadderly wenig überrascht. Er wußte, dass Danica vor über einem Jahr in die Erhebende Bibliothek gekommen war, um die gesammelten Schriften von Penpahg D'Ahn von Ashanath durchzuarbeiten, dem mönchischen Großmeister, der vor fünfhundert Jahren gestorben war. Danicas Orden war klein und hielt sich sehr bedeckt, aber wer die Kampftechniken und Konzentrationsübungen des Großmeisters erlernte, richtete aus ganzem Herzen sein Leben nach dieser Philosophie aus. Cadderly hatte nur einen Bruchteil von Danicas Notizen gesehen, aber das wenige hatte ihn gefesselt, und Danicas Kampfkunst konnte er keinesfalls bezweifeln. Mehr als die Hälfte der stolzen Kleriker des Oghma hatten sich bereits blaue Flecken geholt, seit die feurige junge Frau in der Bibliothek weilte. »Ich bin mir nicht ganz sicher, was diese Interpretation angeht«, erklärte Danica, die ein Pergament auf dem Tisch ausbreitete. Cadderly trat neben sie und betrachtete die Schriftrolle. Sie begann mit einem Bild gekreuzter Fäuste, das anzeigte, dass es um eine Kampftechnik ging, aber dann folgte ein einzelnes, offenes Auge, das für eine Konzentrationstechnik stand. Cadderly las weiter. »Gigel Nugel«, sagte er laut und dachte einen Moment darüber nach. »Eisenschädel. Das Manöver heißt Eisenschädel.« Danica schlug mit der Faust auf den Tisch. »Genau wie ich dachte!« Cadderly scheute beinahe vor der Frage zurück: »Was ist das?« Danica hielt das Pergament vor die Tischleuchte, wodurch eine kleine, fast zu übersehende Zeichnung in der unteren Ecke besser hervortrat. Cadderly schaute genauer hin. Es sah aus wie ein Männerkopf mit einem dicken Stein darauf. »Soll das Penpahg D'Ahn darstellen?« fragte er. Danica nickte. »Dann wissen wir jetzt, wie er gestorben ist«, kicherte Cadderly frech. Danica riß ihm das Pergament weg, ohne seinen Humor zu würdigen. Manchmal überschritt Cadderly mit seiner Respektlosigkeit die Grenzen ihrer beachtlichen Toleranz. »Tut mir leid«, entschuldigte sich Cadderly mit einer Verbeugung. »Penpahg D'Ahn war wirklich ein erstaunlicher Mensch, aber willst du behaupten, dass er mit seinem Kopf einen Stein durchstoßen konnte?« »Es ist eine Prüfung der Selbstdisziplin«, erwiderte Danica mit wachsender Erregung in der Stimme. »Wie alle Lehren von Großmeister Penpahg D'Ahn. Der Großmeister hat seinen Körper und sein ganzes Selbst beherrscht.« »Ich bin sicher, du würdest sogar meinen Namen vergessen, wenn Meister Penpahg D'Ahn aus dem Grab steigen würde«, sagte Cadderly betrübt.
»Wessen Namen vergessen?« fragte Danica abwesend. Cadderly warf ihr einen finsteren Blick zu, lächelte aber, als sie lächelte, denn ihrem Charme konnte er nicht widerstehen. Plötzlich wurde er jedoch wieder ernst und wandte sich abermals dem Pergament zu. »Versprich mir, dass du nicht versuchst, dir mit einem Stein den Kopf einzuschlagen«, sagte er. Danica verschränkte die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief, um Cadderly mit dieser Geste aufzufordern, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. »Danica«, sagte Cadderly fest. Anstelle einer Antwort streckte sie einen Finger aus und stützte ihn auf den Tisch. Ihre Gedanken wandten sich nach innen, um vollständige Konzentration zu erreichen. Sie hob sich selbst über diesen einen, ausgestreckten Zeigefinger hoch, indem sie in der Taille einknickte und ihre Beine auf gleiche Höhe mit der Tischplatte brachte. In dieser Stellung verharrte sie eine Zeitlang und freute sich über Cadderlys Staunen. »Die Kräfte des Körpers übersteigen unser Begreifen und unsere Erwartungen«, bemerkte sie schließlich, setzte sich auf den Tisch und wedelte mit dem Finger, um Cadderly zu beweisen, dass er keinen Schaden genommen hatte. »Großmeister Penpahg D'Ahn hat sie verstanden und gelernt, sie so zu lenken, wie es seinen Bedürfnissen entsprach. Ich werde nicht heute Abend, auch nicht morgen oder übermorgen, anfangen, den Eisenschädel auszuprobieren, soviel kann ich dir versprechen. Du mußt begreifen, dass Eisenschädel im Verhältnis zu dem, was ich hier lernen wollte, nur eine kleine Prüfung ist.« »Körperspannung«, murmelte Cadderly mit offenkundiger Abneigung. Danica strahlte ihn an. »Denk doch bloß!« sagte sie. »Der Großmeister konnte sein Herz anhalten, seine Atmung aussetzen lassen.« »Es gibt Priester, die dasselbe können«, erinnerte sie Cadderly, »und auch Zauberer. Ich habe den Spruch in dem Buch gesehen, das ich neu geschrieben habe ... « »Das hier ist kein Zauberspruch«, gab Danica zurück. »Zauberer und Priester rufen Kräfte außerhalb ihres Körpers und Geistes an. Aber überleg mal, welche Selbstbeherrschung dazu gehört, das zu tun, was Großmeister Penpahg D'Ahn vermochte. Er konnte jederzeit seinen Herzschlag anhalten, indem er nur auf sein eigenes Verständnis der körperlichen Vorgänge zurückgriff. Gerade du solltest das zu schätzen wissen.« »Das tue ich auch«, erwiderte Cadderly ernst. Sein Gesicht wurde weicher, während er Danica sanft mit dem Handrücken über die zarte Wange strich. »Aber du machst mir angst, Danica. Du verläßt dich auf Schriften, die ein halbes Jahrtausend alt sind, bei Techniken, die tragisch ausgehen könnten. Ich erinnere mich ungern an mein Leben, bevor wir uns kannten, und ich möchte nicht daran denken, wie es ohne dich sein würde.« »Ich kann nicht ändern, wer ich bin«, antwortete Danica ruhig, aber ohne einzulenken, »und werde auch nicht die Ziele aufgeben, die ich in meinem Leben gesetzt habe.« Cadderly dachte einige Zeit über ihre Worte nach. Er wog sie gegenüber seinen eigenen Gefühlen ab. Er respektierte alles an Danica, und es war vor allem ihr Feuer, ihre Bereitschaft, jede Herausforderung anzunehmen, was er besonders an ihr liebte. Sie zu zähmen, das Feuer zu löschen - das wußte Cadderly -, wäre der sichere Tod dieser Danica, seiner Danica, schneller als jede von Penpahg D'Ahns scheinbar unmöglichen Prüfungen es je vermochte. »Ich kann mich nicht ändern«, sagte Danica noch einmal. Cadderlys Antwort kam direkt aus seinem Herzen: »Das würde ich auch nicht wollen.« ¤¤¤ Barjin wußte, dass er weder durch Fenster noch durch Türen in das efeuumrankte Gebäude eindringen konnte. Die Erhebende Bibliothek stand jedem Wissensdurstigen aller guten und neutralen Sekten offen, doch zum Schutz vor denen, die nicht willkommen waren - die sich wie Barjin der Verbreitung von Chaos und Elend verschrieben hatten -, waren über jedem bekannten Zugang Schutzrunen angebracht. Aber die Erhebende Bibliothek war ein altes Bauwerk, und Barjin wußte, dass alte Bauwerke gewöhnlich Geheimnisse bargen, die selbst ihren gegenwärtigen Bewohnern unbekannt sein konnten. Der Priester hielt die rot leuchtende Flasche vor seine Augen. -»Wir sind am Ziel«, sagte er, als könnte die Flasche ihn hören, »von dem aus ich meine Position als Herrscher über Burg Trinitatis sichern werde. Und als Herrscher über die ganze Region, sobald unser Feldzug beendet ist.« Am liebsten wäre er jetzt sofort in das Gebäude eingedrungen, hätte seinen Unschuldigen gefunden und die Ereignisse ins Rollen gebracht. Er glaubte wirklich nicht, dass das Elixier ein Sendbote Talonas war, aber schließlich betrachtete Barjin auch sich selbst nicht als Sendboten Talonas, obwohl er sich ihrem Orden angeschlossen hatte. Er hatte die Göttin aus praktischen Gründen akzeptiert, zum gegenseitigen Nutzen, und er wußte, dass die Herrin des Giftes zufrieden sein würde, solange seine Handlungen ihre tückischen Pläne vorantrieben. Den Rest des grauen, regnerischen Spätfrühlingstages verbrachte der Priester im Schatten der Bäume, die die breite Straße säumten. Er hörte das Mittagslied, dann sah er viele Priester und Gelehrte allein oder in Gruppen zu ei nem nachmittäglichen Spaziergang herauskommen. Er ergriff ein paar Vorsichtsmaßnahmen, indem er einfache Zauber sprach, die ihm helfen sollten, mit seiner Umgebung zu verschmelzen und unentdeckt zu bleiben. Er lauschte den Unterhaltungen der vorbeiziehenden Gruppen und fragte sich belustigt, wie deren Worte sich verändern würden, wenn er erst mitten unter ihnen den Ultimativen Schrecken entfesselt hatte.
Der Mensch aber, der Barjin bald auffiel, war weder Priester noch Gelehrter. Der zerzauste, grauhaarige Mann mit dem schmutzigen, stoppeligen Gesicht und der von vielen Jahren in der Sonne gebräunten, zerfurchten Haut war Mullivy, der Hausmeister, der wie seit vier Jahrzehnten seinen Pflichten nachkam. Ohne auf den Nieselregen zu achten, fegte er die Straße und die Treppen zur Vordertür. Barjins verschlagenes Grinsen wurde breiter. Wenn es einen geheimen Zugang zur Erhebenden Bibliothek gab, würde dieser alte Mann ihn kennen. ¤¤¤ Bei Sonnenuntergang waren die Wolken aufgerissen, und eine wunderschöne, scharlachrote Färbung überzog die Berge im Westen. Mullivy jedoch nahm sie kaum war, denn er hatte schon zu viele Sonnenuntergänge gesehen, um noch beeindruckt zu sein. Er streckte seine schmerzenden alten Knochen und ging gemächlich zu dem kleinen Arbeitsschuppen an der Seite des riesigen Hauptgebäudes der Bibliothek. »Du wirst auch schon alt«, sagte der Hausmeister zu dem Schuppen, als die Tür sich laut quietschend öffnete. Er griff hinein, um seinen Besen abzustellen, hielt dann aber plötzlich inne, denn eine Macht, die er nicht verstand, ließ ihn wie angewurzelt erstarren. Eine Hand griff um ihn herum, um seinem störrischen Griff den Besen zu entwinden. Mullivys Bewußtsein schrie eine Warnung nach der anderen, aber er schaffte es einfach nicht zu reagieren, konnte nicht schreien oder herumfahren, um die Person anzusehen, der die unerwartete Hand gehörte. Dann wurde er in den Schuppen gestoßen, fiel der Länge nach hin, ohne den Fall auch nur mit dem Arm abstützen zu können, und die Tür schloß sich hinter ihm. Er wußte, er war nicht allein. ¤¤¤ »Du wirst es verraten«, versprach die hinterhältige Stimme aus der Dunkelheit. Mullivy hing an den Handgelenken, schon seit mehreren Stunden. Der Raum war stockdunkel, aber der Hausmeister spürte das schreckliche Wesen nur allzu nah. »Ich könnte dich töten und deinen Leichnam fragen«, sagte Barjin mit höhnischem Lachen. »Tote Menschen reden, das versichere ich dir, und sie lügen nicht.« »Es gibt keinen anderen Zugang«, sagte Mullivy vielleicht zum hundertsten Mal. Barjin wußte, dass der alte Mann log. Zu Beginn des Verhörs hatte der Priester Sprüche gesprochen, die Wahrheit von Lüge unterschieden, und Mullivy hatte bei diesem Test kläglich versagt. Barjin griff zu und legte sanft die Hand auf den Bauch des Hausmeisters. »Nein! Nein!« bettelte dieser, während er zuckend versuchte, sich diesem Griff zu entziehen. Barjin hielt fest und begann, leise zu singen. Bald fühlte sich Mullivys Inneres an, als stünde es in Flammen. Sein Bauch litt Qualen, die kein Mensch ertragen konnte. Hoffnungslose, hilflose Entsetzensschreie stiegen aus seinem gepeinigten Körper auf. »Schrei nur«, schalt Barjin. »Über dem ganzen Schuppen liegt ein Stillespruch, alter Narr. Du wirst keinen von denen stören, die in der Bibliothek schlummern. Aber was bedeutet dir schon ihr Schlaf?« Barjins Stimme füllte sich bei dieser leisen Frage mit scheinbarem Mitleid. Langsam ließ er los und strich sanft über Mullivys verwundeten Bauch. Mullivy hörte auf, schreiend herumzuzucken, obwohl der Schmerz durch den unheilvollen Zauber noch anhielt. »Für die bist du unwichtig«, schnurrte Barjin, dessen Einflüsterung magisch verstärkt wurde. »Die Priester halten sich für etwas Besseres. Sie erlauben dir, für sie zu fegen und die Regenrinnen zu reinigen, aber kümmert sie dein Schmerz? Du leidest hier draußen fürchterlich, aber kommt einer von ihnen dir zur Hilfe?« Mullivys heftiges Atmen wurde allmählich ruhiger. »Und trotzdem verteidigst du sie so hartnäckig«, schnurrte Barjin, der wußte, dass seine Folter den Hausmeister allmählich mürbe machte. »Sie würden dich nicht einmal verteidigen, und trotzdem willst du mir nicht dein Geheimnis verraten, selbst wenn es dich das Leben kostet.« Schon bei vollem Bewußtsein war Mullivy nicht der Klügste. Sein bester Freund war oft eine Flasche gestohlener Wein, und jetzt, in diesem von den Qualen verursachten gedanklichen Aufruhr, klangen die Worte des unsichtbaren Angreifers wie die reine Wahrheit. Warum sollte er dem Mann nicht sein Geheimnis verraten, den feuchten, unterirdischen Tunnel voller Moos und Spinnen, der zum untersten Stock des Bibliothekskomplexes führte, den alten, unbenutzten Katakomben unter dem Weinkeller und den oberen Kellern? Plötzlich wurde - ganz nach Barjins Plan Mullivys Bild von dem unsichtbaren Angreifer freundlicher. In seiner Verzweiflung brauchte der Haus meister den Glauben, dass sein Folterer tatsächlich sein Verbündeter sein konnte. »Ihr verratet es ihnen aber nicht?« fragte Mullivy. »Sie sind die letzten, die es erfahren werden«, versprach Barjin hoffnungsvoll. »Und Ih r laßt mich weiter an den Wein?« Überrascht trat Barjin einen Schritt zurück. Jetzt verstand er das anfängliche Zögern des alten Mannes. Der Geheimgang des Hausmeisters führte durch den Weinkeller, ein Vorrat, von dem der Alte sich nicht so leicht zu trennen vermochte. »Guter Mann«, schnurrte Barjin, »du kannst soviel Wein haben, wie du willst - und viel mehr, so viel mehr.«
¤¤¤ Sie hatten kaum den Tunnel betreten, als Mullivy, der die Fackel trug, sich umdrehte und sie drohend gegen Barjin schwenkte. Barjin lachte spöttisch, aber Mullivys Stimme blieb fest. »Ich habe Euch den Weg gezeigt«, erklärte der Hausmeister. »Jetzt gehe ich.« »Nein«, erklärte Barjin schlicht. Ein Schulterzucken ließ den Reisemantel des Priesters zu Boden gleiten, so dass er in all seiner Pracht zu sehen war. Er trug seine neuen Gewänder, die purpurfarbenen Seidenroben mit dem Dreizack, auf dem die drei roten Flaschen steckten. An seinem Gürtel steckte der seltsame Streitkolben mit dem Kopf eines jungen Mädchens. »Jetzt hast du dich mir angeschlossen«, erklärte Barjin. »Du kommst nie wieder hier raus.« Mullivys Reaktion entsprang dem Entsetzen. Er schlug Barjin die brennende Fackel auf die Schulter und versuchte, sich vorbeizudrängen, doch der Priester hatte sich gut vor bereitet, ehe er dem Hausmeister die Fackel übergeben hatte. Die Flammen berührten Barjin nicht, versengten nicht einmal seine prächtigen Kleider, denn sie wurden von einem Schutzzauber abgefangen. Mullivy versuchte es auf andere Art, indem er die Fackel wie eine Keule schwang, aber Barjins Kleider waren durch einen Schutzzauber so hart wie eine metallene Plattenrüstung, so dass die hölzerne Fackel von der Schulter abprallte, ohne dass der Priester auch nur zusammenzuckte. »Komm schon, lieber Mullivy«, redete Barjin ihm zu, ohne beleidigt zu sein. »Du willst mich doch nicht zum Feind.« Mullivy wich zurück und hätte beinahe die Fackel fallenlassen. Er brauchte einen langen Augenblick, um seinen Schrecken zu überwinden, um überhaupt wieder Luft zu bekommen. »Geh weiter«, gebot ihm Barjin. »Du kennst den Tunnel und die Wege dahinter. Zeig sie mir.« Barjin gefielen die Katakomben - verstaubt und einsam und mit den Gebeinen längst verstorbener Priester angefüllt, manche einbalsamiert, andere nur spinnwebenbedeckte Skelette. Er würde für sie Verwendung finden. Mullivy führte ihn überall herum, zeigte ihm auch die wacklige Treppe, die zum Weinkeller der Bibliothek führte, und einen mittelgroßen Raum, der in der ursprünglichen Bibliothek einst als Studierzimmer gedient hatte. Diesen Raum hielt Barjin für einen ausgezeichneten Platz, um seinen ruchlosen Altar dort aufzustellen. Zuerst aber mußte er genau feststellen, wie nützlich der Hausmeister weiterhin sein konnte. Sie zündeten mehrere Fackeln an und steckten sie in Halterungen an der Wand. Dann führte Barjin Mullivy zu einem alten Tisch, einem der vielen Möbelstücke in dem Raum, und zog sein kostbares Gepäck hervor. Die Flasche war in Burg Trinitatis gut geschützt worden. Nur Diener der Talona oder jemand mit reinem Herzen konnte sie berühren; nur der letztere konnte sie öffnen. Wie Aballister wußte Barjin, dass dies ein Hindernis war, aber im Gegensatz zu dem Zauberer fand der Priester es angemessen. Was konnte ironischer sein, als dass ein Mensch reinen Herzens den Chaosfluch entfesselte? »Öffne sie, ich bitte dich«, sagte Barjin. Der Hausmeister betrachtete die Flasche einen Moment lang und sah den Priester neugierig an. Barjin kannte Mullivys schwachen Punkt. »Es ist Ambrosia«, log der Priester. »Der Trunk der Gö tter. Ein Schluck davon, und jeder Wein wird dir für immer zehnmal so süß erscheinen, denn die Wirkung von Ambrosia läßt niemals nach. Trink, ich bitte dich. Du hast dir deine Belohnung wirklich verdient.« Mullivy leckte sich eifrig die Lippen, warf einen letzten Blick auf Barjin und griff nach der schimmernden Flasche. Ein Energieschlag durchschoß ihn, als er sie berührte, schwärzte seine Finger und schleuderte ihn quer durch den Raum gegen eine Wand. Barjin ging hinüber und schob Mullivy einen Arm unter die Schulter, um ihn wieder aufzurichten. »Dachte ich mir doch«, murmelte der Priester in sich hinein. Mullivy, der von dem Schlag immer noch zuckte und dessen Haare von der verbliebenen Spannung wild knisterten, brachte keinen Ton heraus. »Keine Angst«, versicherte ihm Barjin. »Du kannst mir auf andere Weise dienen.« Da bemerkte Mullivy, dass der Priester den Streitkolben mit dem Mädchenkopf in der anderen Hand hielt. Mullivy wich an die Wand zurück und hob abwehrend die Arme, aber die waren kaum ein Schutz gegen Barjins schaurige Waffe. Der unschuldig aussehende Kopf schwang auf den armen Hausmeister herunter und verformte sich dabei. Das Bild auf der Waffe wurde kantig und böse, als die Kreischende Maid ihren Mund weit aufriß und ihre langen, gifttriefenden Fangzähne zeigte. Hungrig biß sie durch Mullivys Unterarmknochen und grub sich weiter, bis sie die Brust des Mannes zermalmen konnte. Qualvolle Augenblicke lang zuckte der Hausmeister wild, dann sank er an der Wand herunter und starb. Barjin, der noch viele Vorbereitungen zu treffen hatte, achtete nicht mehr auf ihn. ¤¤¤ Aballister lehnte sich zurück und löste seine Konzentration von dem magischen Spiegel, ohne jedoch den Kontakt ganz abzubrechen. Er hatte Barjin gefunden und die Umgebung des Priesters erkannt: die Erhebende Bibliothek. Aballister fuhr sich mit den Händen durch sein schütteres Haar und überlegte, was dies zu bedeuten hatte. Er fand die Neuigkeiten höchst beunruhigend. Der Zauberer hegte gemischte Gefühle gegenüber der Bibliothek, Gefühle, die er im Moment nicht näher untersuchen wollte. Einst hatte er selbst dort studiert, vor vielen Jahren, aber seine Neugier auf die Bewohner der Unteren Ebenen hatte diesen Aufenthalt beendet. Die gastgebenden Priester fanden es bedauerlich, dass jemand von
Aballisters Talent hinauskomplimentiert werden mußte, aber sie hatten Bedenken gehabt, ob dieser Student zwischen Gut und Böse unterscheiden konnte, zwischen ordentlichem Studieren und gefährlichen Versuchen. Der Rausschmiß hatte Aballisters Beziehung zur Bibliothek jedoch nicht beendet. Andere Ereignisse in den folgenden Jahren hatten die zwiespältigen Gefühle des Zauberers bezüglich dieses Ortes noch genährt. Jetzt, nachdem grundsätzlich beschlossen war, die ganze Gegend zu besetzen, hätte Aballister es bei weitem vorgezogen, die Bibliothek bis zuletzt aufzusparen und den Angriff höchstpersönlich zu leiten. Er hätte nie gedacht, dass Barjin so kühn sein würde, den ersten Schlag an diesem Ort zu führen. Er hatte geglaubt, der Priester würde nach Shilmista ziehen oder einen wichtigen Ort in Carradoon wählen. »Und?« kam die Frage von der anderen Seite des Zimmers. »Er ist in der Erhebenden Bibliothek«, antwortete Aballister finster. »Der Priester hat beschlossen, den Kampf gleich bei unseren mächtigsten Feinden zu beginnen.« Aballister sah Druzils Antwort so genau voraus, dass er in das »Bene tellemara« des Teufelchens einstimmen konnte. »Such ihn«, verlangte Druzil. »Was denkt er?« Aballister warf dem Teufelchen einen neugierigen Blick zu, aber falls er vorgehabt hatte, Druzil zu tadeln, vergaß er das gleich wieder, weil er sich der Forderung nur anschließen konnte. Er beugte sich wieder zu dem großen Spiegel und suchte genauer, drang in die Gewölbe der Bibliothek, durch die Tunnel voller Spinnweben und bis in den Raum vor, wo Barjin seinen Altar aufgestellt hatte. Barjin sah sich einen Augenblick nervös um, erkannte dann jedoch offenbar den Urheber der mentalen Verbindung. »Glückauf, Aballister«, grüßte er den Zauberer ungerührt. »Ihr geht ein großes Risiko ein«, bemerkte Aballister. »Zweifelt Ihr an der Macht von Tuanta Quiro Miancay?« fragte Barjin. »Dem Sendboten Talonas?« Aballister hatte nicht vor, diese unlösbare Debatte wieder aufzunehmen. Bevor er antworten konnte, trat eine andere Gestalt ins Bild. Sie war bleich und blickte starr geradeaus. Ein gebrochener Arm hing grotesk herunter, Blut bedeckte die linke Seite der Brust. »Mein erster Soldat«, erläuterte Barjin, der Mullivys Körper zu sich heranzog. »Und hundert weitere erwarten meinen Ruf.« Aballister erkannte den »Soldaten« als belebten Leichnam, ein Zombie. Da er wußte, dass Barjin in Katakomben steckte, die zweifellos voller Grabstätten waren, brauchte der Zauberer nicht zu fragen, wo der Priester seine Armee finden wollte. Plötzlich wirkte Barjins Entscheidung, die Bibliothek anzugreifen, nicht mehr so verrückt. Aballister mußte sich fragen, wie mächtig sein verbündeter Rivale tatsächlich war. Wieder überfluteten ihn widersprüchliche Gefühle bezüglich der Erhebenden Bibliothek. Am liebsten hätte er Barjin auf der Stelle von dort verjagt, aber natürlich hatte er nicht die Macht, diese Forderung durchzusetzen. »Unterschätzt mich nicht«, sagte Barjin, als ob er die Gedanken des Zauberers gelesen hätte. »Wenn die Bibliothek erst besiegt ist, können wir alles andere überrennen. Jetzt verschwindet hier. Ich habe wichtige Pflichten, die ein einfacher Zauberer nicht versteht.« Aballister wollte gegen Barjins abwertenden Tonfall protestieren, aber wieder wußte er, dass seine Worte kein echtes Gewicht haben würden. Auf der Stelle brach er den Kontakt ab und sackte auf seinen Stuhl zurück. Erinnerungen stiegen in ihm auf. »Bene tellemara«, sagte Druzil wieder. Aballister sah zu dem Teufelchen hinüber. »Barjin könnte uns viel früher zum Sieg verhelfen, als wir erwartet haben«, sagte er, doch in seiner Stimme lag wenig Begeisterung. »Es ist ein unnötiges Risiko«, fauchte Druzil zurück. »Da Ragnors Truppen bereitstehen, hätte Barjin ein besseres Ziel finden können. Er hätte zu den Elfen gehen und den Fluch dort auslösen können - Ragnor haßt sie zutiefst und will sie zuerst angreifen. Wenn wir erst den Wald von Shilmista haben, können wir nach Süden um die Berge ziehen und die Priester von der Außenwelt abschneiden, bevor sie überhaupt merken, dass ihr Land in Gefahr ist.« Aballister widersprach nicht und fragte sich wieder, ob es klug gewesen war, Barjin so leicht die Kontrolle über das Elixier zu überlassen. Er hatte jede Handlung, jeden Fehlschlag gerechtfertigt, aber insgeheim wußte er, dass seine Feigheit ihn betrogen hatte. »Ich muß zu ihm«, stellte Druzil unerwartet fest. Aballister dachte über dieses Ansinnen nach, aber dann beschloß er, keinen Einspruch zu erheben. Wenn er Druzil losschickte, ging er ein Risiko ein, das wußte er, aber ihm war auch klar, dass er jetzt vielleicht nicht in einer so unangenehmen Lage wäre, wenn er bei seinen früheren Begegnungen mit Barjin mehr Mut gezeigt hätte. »Dorigen hat mir erzählt, dass Barjin ein verzaubertes . Kohlebecken dabei hat«, sagte der Zauberer, der aufstand und nach seinem Stab griff. »In schwarzer Magie ist sie am besten. Sie wird es erfahren, wenn Barjin ein Tor zu den Unteren Ebenen öffnet, um Verbündete zu suchen. Wenn Dorigen sein Tor bestätigt, werde ich hier ein Tor öffnen. Deine Reise wird kurz sein. Barjin wird nicht erkennen, dass du von mir geschickt wurdest. Er wird glauben, dass er dich direkt herbeigerufen hat, und dass er es ist, der dich beherrscht.« Druzil schlug die fledermausähnlichen Flügel um sich und hielt klugerweise den Mund, bis Aballister den Raum verlassen hatte. »Von dir geschickt?« raunzte er dann die geschlossene Tür an. Aballister hatte noch viel zu lernen.
Sonnenschein und Finsternis Newander fühlte sich sofort gestärkt, als er aus der Vordertür des Gebäudes in die Morgensonne trat. Er hatte gerade seinen Anteil an der Übersetzung des alten Buches über Moose beendet, hatte stundenlang von Mauern umschlossen über seinen Studien gehockt. Trotz seines zwiespältigen Verhältnisses zur Zivilisation wußte Newander ganz genau, dass er den freien Himmel jedem Dach vorzog. Eigentlich sollte er sich jetzt in der kleinen Schlafkammer ausruhen, solange Cleo an dem Buch arbeitete und Arcite die täglichen Druidenrituale vollzog. Newander verstieß selten gegen Arcites Anordnungen, aber diese Übertretung konnte er rechtfertigen. Er entspannte sich auf Bergpfaden viel besser als in jedem Zimmer, ganz gleich, wie bequem das Bett war. Der Druide entdeckte Percival, der an der baumgesäum ten Straße durch die Zweige hüpfte. »Kommst du herunter und sprichst mit mir, Weißer?« rief er. Das Eichhörnchen sah in Newanders Richtung und dann zu einem anderen Baum zurück. Als Newander dem Blick des Tiers folgte, entdeckte er ein zweites Eichhörnchen, ein unauffälliges, graues Weibchen, das ganz still saß und ihn beobachtete. »Bitte vielmals um Entschuldigung«, fiepte Newander Percival zu. »Ich wußte nicht, dass du sozusagen verlobt bist.« Er verbeugte sich lächelnd und setzte seinen Weg über die Bergstraße fort. Percival schnatterte dem verschwindenden Druiden noch etwas nach, bevor er zu seiner Gefährtin zurücksprang. Der Morgen ging in den Nachmittag über, und immer noch wanderte der Druide weit entfernt von der Erhebenden Bibliothek umher. Vor einiger Zeit war er von der Hauptstraße abgewichen und über einen Wildpfad tiefer in die Natur eingedrungen. Hier war er daheim und in Frieden, und er vertraute darauf, dass kein Raubtier sich gegen ihn erheben würde. Wolken sammelten sich über fernen Bergen und versprachen ein weiteres Frühlingsgewitter. Wie die Tiere fürchtete der Druide das Wetter nicht. Er konnte in einem Regenguß herumspazieren und ihn als Bad empfinden, konnte schneebedeckte Pfade entlangschlittern und ein Spiel darin sehen. Allerdings erinnerten die wachsenden Sturmwol ken den Druiden daran, dass er in der Bibliothek noch Pflichten hatte und dass Arcite und Cleo bald bemerken würden, dass er verschwunden war. »Nur noch ein bißchen weiter«, versprach er sich. Etwas später wollte er wirklich umkehren, nahm jedoch einen Adler wahr, der hoch oben auf dem warmen Aufwind kreiste. Der Adler entdeckte auch ihn und schoß mit wütendem Schrei auf ihn herunter. Zuerst glaubte Newander, der Vogel wollte ihn angreifen, aber dann verstand er genug von dem aufgeregten Gekreische, um zu wissen, dass der Vogel ihn als Freund erkannt hatte. »Was bedrückt dich?« fragte Newander. Er war ziemlich geübt im Verstehen von Vogelrufen, aber der Adler war so aufgeregt und sprach so schnell, dass Newander nur eine deutliche Warnung vor Gefahr mitbekam. »Zeig es mir«, erwiderte der Druide und pfiff und krächzte, um sicherzugehen, dass der Adler ihn verstand. Der große Vogel brauste los und schraubte sich hoch in die Luft, damit Newander ihn nicht aus den Augen verlor, während er immer weiter in die Berge hineingeführt wurde. Als Newander auf einen hohen, baumlosen Grat hinaus trat, zerrte der Wind heftig an seinem grünen Mantel, und jetzt erkannte der Druide den Grund für die Aufregung des Adlers. Auf der anderen Seite einer tiefen Schlucht kletterten drei schmutziggraue, affenartige Kreaturen eine hohe, unzugängliche Klippe hoch, indem sie sich mit ihren Greifschwänzen und den vier klauenbesetzten Pfoten noch an den feinsten Vorsprüngen und Ritzen festklammerten. Auf einem flachen Absatz dicht unter der Spitze der Klippe lag ein großer Haufen Zweige und Äste, ein Adlerhorst. Newander konnte sich denken, was in dem Nest war. Der wütende Adler stieß wiederholt auf die Eindringlinge herab, aber die Monster spuckten ihn nur an, wenn er hilflos vorbeirauschte, oder schlugen mit ihren eindrucksvollen Tatzen nach ihm. Newander erkannte die Kreaturen als Su-Monster, aber er wußte nichts Genaues über sie und hatte auch noch nie zuvor welche gesehen. Es war allgemein bekannt, dass sie tückisch und blutrünstig waren, aber die Druiden hatten ihnen gegenüber noch keinen offiziellen Standpunkt. Waren sie intelligente und böse oder nur hervorragend angepaßte, gefürchtete Raubtiere? Tiere oder Monster? Vielen hätte der Unterschied wenig ausgemacht, aber für einen Druiden betraf diese Frage die Grundüberzeugungen seiner Religion. Wenn die Su -Monster Tiere waren, trafen Begriffe wie »böse« nicht auf sie zu, und Newander konnte dem armen Adler nicht beistehen. Aber als er das eifrige Klettern der Kreaturen beobachtete, bei dem ihnen der Geifer aus dem zähnestarrenden Maul triefte, wußte Newander, dass er etwas unternehmen mußte. Er stieß ei nige der bekanntesten natürlichen Warnschreie aus. Die Su-Monster hielten abrupt inne und sahen zu ihm herüber. Offenbar bemerkten sie ihn erst jetzt. Sie brüllten, spuckten und schüttelten drohend die Pfoten. Dann kletterten sie weiter. Newander rief erneut. Die Su-Monster ignorierten ihn. »Führe mich, Silvanus«, bat Newander und schloß die Augen. Er wußte, dass die größten Druiden seines Ordens über diese seltenen, aber alptraumhaften Kreaturen Rat gehalten hatten, und dass sie zu keinem endgültigen Schluß gekommen waren. Darum war es im Orden üblich, obwohl es keinen entsprechenden Beschluß gab, dass man sich bei Su-Monster erst einmischte, wenn man direkt bedroht wurde. In seinem Herzen jedoch wußte Newander, dass die Szene vor ihm widernatürlich war.
Wieder rief er Silvanus an, den Eichenvater, und zu seinem grenzenlosen Erstaunen hatte er das Gefühl, eine Antwort zu erhalten. Er blickte auf die nächste Gewitterwolke, schätzte die Entfernung ab, dann schaute er zu den SuMonstern zurück. »Halt!« schrie er. »Geht nicht weiter! « Die Su-Monster drehten sich sofort um, vielleicht, weil das Drängen, der Nachdruck in der Druidenstimme sie erschreckt hatte. Eines fand einen losen Stein und schleuderte ihn in Newanders Richtung, aber die Schlucht war nicht nur tief, sondern auch breit, und das Geschoß fiel harmlos hinunter. »Ich warne euch noch einmal«, schrie der Druide, der ganz gewiß keinen Kampf wollte. »Ich habe keinen Streit mit euch, aber ihr werdet nicht zu dem Horst gelangen.« Wieder spuckten die Monster nur und fuchtelten wild in Richtung des Horsts. »Verschwindet hier!« rief Newander. Die Antwort war weiteres Spucken. Dann drehten die drei sich um und machten sich wieder an den Aufstieg. Newander hatte genug gesehen. Die Su-Monster waren zu nah am Horst, als dass er noch mehr Zeit mit Warnungen vergeuden konnte. Er schloß die Augen, umfaßte das heilige Symbol mit dem Eichenblatt, das an einer Lederschnur um seinen Hals hing, und rief das Gewitter herbei. Die Su-Monster achteten nicht auf ihn, sondern waren ganz auf das Nest voller Eier nur noch wenige Fuß über ihnen konzentriert. Druiden sehen sich als die Hüte r der Natur und der natürlichen Ordnung. Im Gegensatz zu Zauberern und Priestern vieler anderer Sekten betrachten die Druiden sich als die Hirtenhunde der Welt. Die Kräfte, die sie einsetzen, gelten ihnen mehr als Hilferuf an die Natur denn als Beweis ihrer eigenen, inneren Kraft. So war es auch, als Newander die schwere, schwarze Wolke anrief, um ihren Zorn zu lenken. Der Donnerschlag erschütterte die Berge in vielen Meilen Umkreis, ließ den überraschten Adler blind davontaumeln und warf Newander beinahe um. Als er wieder sehen konnte, erkannte er, dass die Klippe leer war, der Horst in Sicherheit. Von den Su-Monstern war nichts mehr zu sehen. Die einzigen Hinweise darauf, dass sie hier gewesen waren, waren ein langgezogener Blutfleck an der Felswand und ein kleines Pelzbüschel, ein abgetrennter Schwanz vielleicht, der auf einem kleinen Absatz brannte. Der Adler flog glücklich kreischend zu seinem Nest und schoß dann herunter, um dem Druiden zu danken. »Gern geschehen«, versicherte Newander dem Vogel. Der Dank des Adlers half ihm, mit seiner zerstörerischen Tat zurechtzukommen. Wie die meisten Druiden war Newander ein sanfter Mensch, dem immer unbehaglich war, wenn es ans Kämpfen ging. Dass die Wolke seinem Ruf gefolgt war, einer Macht, die seiner Überzeugung nach von Silvanus stammte, überzeugte ihn darüber hinaus, richtig gehandelt zu haben. Die Su -Monster waren wohl wirklich Monster und keine natürlichen Raubtiere. Die nächsten Rufe des Adlers sah Newander als Einladung in den Horst des Vogels an. Das hätte dem Druiden gefallen, doch die Wand gegenüber war ein zu schwieriges Hindernis, da die Nacht schnell hereinbrach. »Ein andermal«, erwiderte er. Der Adler krächzte weiteren Dank und erklärte dann, dass noch viele Vorbereitungen für die erwartete Brut nötig seien. Er verabschiedete sich von dem Druiden und flog davon. Newander sah dem Vogel mit tiefem Bedauern nach. Er wünschte, er wäre in seine Religion schon tiefer eingeweiht. Druiden von höherem Rang wie Arcite und Cleo konnten sich in ein Tier verwandeln. Wäre Newander so erfahren gewesen wie seine Begleiter, hätte er einfach seine leichten Roben abgelegt und sich in einen Adler verwandelt, um sich auf dem hohen, schmalen Absatz zu seinem Freund zu gesellen. Was noch verlockender war - als Adler hätte Newander diese majestätischen Berge aus einer ganz anderen Sicht erforschen können, der Wind wäre über seine Flügel geweht und seine Augen wären so scharf gewesen, dass sie noch aus einer Meile Höhe das Huschen einer Feldmaus entdeckt hätten. Er schüttelte den Kopf und damit auch sein Bedauern darüber ab, was nicht sein konnte. Es war ein schöner Tag, ein reinigender Regen stand kurz bevor, ringsumher blühten junge Blumen und zwitscherten die Vögel, ein kühler Wind trug frische Luft heran, klares, kaltes Bergquellwasser wartete hinter jeder Biegung - alles, was der Druide liebte. Er zog seine Robe aus und steckte sie unter einen dicken Busch. Dann setzte er sich im Schneidersitz auf einen hohen, freien Platz und erwartete den Regen. Es war ein richtiger Wolkenbruch, und Newander empfand das Prasseln auf den Steinen als das süßeste aller Lieder der Natur. Rechtzeitig vor einem wundervollen Sonnenuntergang, dessen Scharlachrot zu Rosa verblaßte und jeden Winkel der turmhohen Berggipfel im Westen erfüllte, war der Sturm vorüber. »Ich fürchte, ich komme spät zurück«, sagte sich Newander. Resigniert zuckte er die Schultern und konnte sich ein spitzbübisches Lächeln nicht verkneifen. »Die Bibliothek ist morgen immer noch da«, sagte er sich, zog sich wieder an, suchte sich ein bequemes Plätzchen und richtete sich für die Nacht ein. ¤¤¤ Barjin hängte die Schale des Kohlebeckens in den Dreifuß und füllte sie mit einer besonderen Mischung aus Holzspänen und Weihrauchblöcken. Allerdings zündete er noch kein Feuer an, denn er war sich nicht sicher, wie lange er für die Suche nach einem passenden Auslöser für den Chaosfluch brauchen würde. Die Bewohner der Unteren Ebenen konnten mächtige Verbündete sein, aber sie waren gewöhnlich von der anstrengenden Sorte und erforderten mehr Zeit und Energie von ihrem Herrn, als Barjin momentan zu geben hatte.
Auch seinen Nekromantenstein ließ der Priester deshalb lieber noch eingewickelt. Wie die Wesen von den Unteren Ebenen konnten auch manche Untote schwer zu beherrschen sein, und wie das Tor, das mit dem verzauberten Kohlebecken geöffnet wurde, konnte auch der Nekromantenstein alle möglichen Ungeheuer herbeirufen von den einfachsten, gedankenlosen Skeletten und Zombies bis zu hinterlistigen Geistern. Aber trotz all seiner Glyphen und Schutzrunen verließ Barjin den Altarraum und die kostbare Flasche nur ungern, solange nichts Intelligenteres und Mächtigeres als Mullivy Wache stand. Er brauchte einen Verbündeten, und er wußte, wo er ihn finden würde. »Khalif«, murmelte er und nahm ein Keramikgefäß zur Hand. Seit Jahren trug er es bei sich, schon vor seinen Tagen in Vaasa und bevor er sich Talona zugewandt hatte. Er hatte die Urne mit der Asche in uralten Ruinen gefunden, als er noch Lehrling bei einem inzwischen lange verstorbenen Zauberer war. Als Lehrling hätte Barjin eigentlich keine Entdeckung für sich behalten dürfen, aber schließlich hatte er sich immer nur nach seinen eigenen Regeln gerichtet. Heimlich hatte er die irdene Urne, die mit der Asche von Prinz Khalif gefüllt war, dem dabeiliegenden Pergament zufolge einem Adligen einer uralten Zivilisation, jahrelang aufbewahrt. Erst nachdem er angefangen hatte, klerikale Magie zu erlernen, hatte Barjin den möglichen Wert eines solchen Fundes richtig einschätzen können. Jetzt verstand er, was er mit der Asche tun konnte. Er brauchte nur noch einen geeigneten Wirt. Er führte Mullivy in den Gang hinter der Tür zum Altarraum. Der breite Gang war von Nischen gesäumt, den Grabstätten der höchstrangigen Gründer der Erhebenden Bibliothek. Im Gegensatz zu den anderen Grabgewölben, die Barjin hier unten gesehen hatte, handelte es sich hierbei nicht um offene Pritschen, sondern um aufwendig gearbeitete Behälter, juwelenbesetzte, extravagante Sarkophage. Als Barjin Mullivy anwies, den vordersten Sarkophag zu öffnen, konnte er nur hoffen, dass die damaligen Bewohner auch am Inhalt der Särge nicht gespart hatten und ihre Toten einbalsamiert hatten. Trotz all seiner Stärke konnte Mullivy den ersten Sarkophag nicht öffnen, denn Schloß und Angeln waren eingerostet. Mit dem zweiten hatte der Zombie mehr Glück; sein Deckel gab unter Mullivys Druck einfach nach. Sobald die Tür aufging, schoß ein langes Tentakel auf Mullivy los, dann ein zweites und ein drittes. Sie richteten keinen echten Schaden an, aber Barjin war froh, dass nicht er, sondern der Zombie den De ckel geöffnet hatte. Der Sarkophag enthielt einen Aaskriecher, ein scheußliches, wurmartiges Untier mit acht Tentakeln, die ein lähmendes Gift absondern konnten. Dem untoten Mullivy machte ein solcher Angriff nichts aus, und abgesehen von den Tentakeln war der Aaskriecher praktisch wehrlos. »Töte ihn!« befahl Barjin. Mullivy trat furchtlos vor und schlug mit seinem intakten Arm auf das Tier ein. Der Aaskriecher war nur noch ein lebloser Klumpen auf dem Boden des Kastens, als der Zombie schließlich zurückwich. »Der reicht nicht«, murmelte Barjin, nachdem er die leere Hülle in dem Sarkophag untersucht hatte. In seiner Stimme lag jedoch keine Enttäuschung, denn der Körper, den der Aaskriecher zerstört hatte, war sorgfältig in dickes Leinen gewickelt gewesen, ein sicheres Zeichen dafür, dass die alten Gelehrten ihn einbalsamiert hatten. Barjin fand auch ein kleines Loch an der Rückseite des Sarkophags, aus dem er zu Recht schloß, dass der Aaskriecher dort eingedrungen war, sich monatelang, vielleicht sogar jahrelang, von der Leiche ernährt hatte, bis er zu groß gewesen war, um wieder herauszukriechen. Eifrig zerrte Barjin Mullivy weiter, denn er suchte einen Sarkophag ohne Löcher. Und da aller guten Dinge drei sind, gelang es den beiden schließlich mit Hilfe der Kreischenden Maid, die Schlösser des nächsten Sarkophags aufzubrechen. Darin lag, in Leinen gewickelt, eine gut erhaltene Leiche - genau der Wirt, den Barjin brauchte. Er wies Mullivy an, die Leiche vorsichtig in den Altarraum zu tragen - er selbst wollte das heikle Ding nicht berühren -, und dann die Sarkophage so umzustellen, dass dieser hier der Tür zum Altarraum am nächsten war. Hinter dem Zombie schloß Barjin die Tür, denn er wollte nicht von Mullivys Lärm abgelenkt werden. Er holte sein Spruchbuch hervor, schlug das Kapitel über Nekromantie auf und holte den Nekromantenstein heraus, weil er hoffte, dass dessen Kräfte ihm dabei helfen könnten, Prinz Khalifs Geist zurückzurufen. Über eine Stunde dauerten die Gesänge des Priesters an, und die ganze Zeit ließ er Aschebröckchen auf die eingewickelte Leiche fallen. Als die Urne leer war, zerbrach sie der Priester und rieb sie an dem Leinen des Leichnams sauber. Khalifs Geist war in der gesamten Asche enthalten; wenn auch nur das kleinste bißchen fehlte, konnte das katastrophale Folgen haben. Jetzt lenkte der Nekromantenstein den Priester ab, denn er begann, ein unheimliches, schwarz-purpurnes Licht auszusenden. Barjin blickte zu der Mumie zurück und entdeckte ein rotes Glühen. Zwei Lichtpunkte tauchten hinter den Leinenbinden auf, die man um das Gesicht des Leichnams gewickelt hatte. Barjin griff nach einem sauberen Tuch und zog vorsichtig das Leinen fort. Überrascht wich er zurück. Die Mumie erhob sich vor ihm. Sie starrte den Priester zutiefst haßerfüllt an. Ihre Augen glühten wie hellrote Punkte. Barjin wußte, dass Mumien wie fast alle Ungeheuer aus der Unterwelt - alles Lebendige haßten. Und im Augenblick war der Priester einfach etwas Lebendiges. »Zurück, Khalif!« befahl Barjin so entschieden wie möglich. Die Mumie trat einen weiteren steifen Schritt vor. »Zurück, sage ich!« fauchte Barjin, dessen Furcht entschlossenem Ärger wich. »Ich war es, der deinen Geist zurückgeholt hat, und hier in meinem Dienst wirst du bleiben, bis ich, Barjin, dich wieder der ewigen Ruhe übergebe!« Er fand seine Worte geradezu armselig, aber die Mumie reagierte, indem sie wieder zurücktrat. »Umdrehen!« rief Barjin, und die Mumie gehorchte.
Ein Lächeln zog über das Gesicht des Priesters. Er hatte schon viele Male mit den Bewohnern der Unteren Ebenen zu tun gehabt und einfache Untote wie Mullivy geschaffen, aber dies hier war ein neuer, weiterer Schritt. Er hatte einen mächtigen Geist gerufen, ihn aus dem Grab gerissen und unter seine Kontrolle gebracht. Barjin ging zur Tür. »Komm rein, Mullivy«, befahl er hämisch. »Komm und lern deinen neuen Bruder kennen.«
Der Unschuldige Pikel schüttelte den wuschligen Kopf und fuhr fort, mit seinem enormen Holzlöffel den Kesselinhalt umzurühren. Cadderly dachte über Ivans s chlechte Nachrichten nach. »Kannst du die Armbrust zu Ende bringen?« fragte er den Zwerg. »Das kann ich«, erwiderte Ivan. »Aber ich finde, du solltest dir lieber ein paar Gedanken um dich selbst machen, Jungchen. Die Großmeisterin war nicht gerade erfreut, ihren Wandbehang in meiner Küche zu finden, vor allem nicht, als sie sah, dass Pikel Soße auf eine Ecke gespritzt hatte.« Cadderly zuckte zusammen. Großmeisterin Pertelope war eine tolerante Frau, besonders gegenüber ihm und seinen Erfindungen, aber ihre Kunstsammlung schätzte sie über alles. Der Wandteppich vom Elfenkrieg gehörte zu ihren Lieblingsstücken. »Tut mir leid, wenn ich euch beide in Schwierigkeiten gebracht habe«, sagte Cadderly bedauernd, obwohl seine ehrliche Reue ihn nicht davon abhielt, den Finger in die Schüssel mit dem Kuchenteig zu stecken. »Ich hatte nicht gedacht ...« Ivan fegte seine Bedenken beiseite. »Kein Problem«, grunzte der Zwerg. »Wir haben einfach dir die ganze Schuld gegeben.« »Mach du nur die Armbrust fertig«, meinte Cadderly mit halbherzigem Grinsen. »Ich gehe zu Großmeisterin Pertelope und bring das in Ordnung.« »Vielleicht kommt Großmeisterin Pertelope zu dir«, erklang eine Frauenstimme hinter ihnen. Cadderly drehte sich langsam um und zog den Kopf noch tiefer ein, als er sah, dass Großmeister Avery neben Pertelope stand. »Also hast du deine Missetaten bis zum Diebstahl gesteigert«, stellte Avery fest. »Ich fürchte, deine Zeit in der Bibliothek neigt sich dem Ende zu, Bruder Cadderly, obwohl dieses unglückselige Ende nicht völlig unerwartet kommt, wenn man deine Herk -« »Du wirst erklären müssen, was dich dazu getrieben hat«, unterbrach Pertelope Avery mit einem finsteren Blick. »Ich kann mir allerdings kaum vorstellen, dass du mehr als faule Ausreden zustande bringst.« »Ich hatte ... «, stotterte Cadderly. »Ich wollte ... « »Genug!« befahl Avery, der sowohl Cadderly als auch die Großmeisterin anblitzte. »Du kannst Großmeisterin Pertelope später erklären, was mit ihrem Wandbehang geschehen sollte. Zunächst einmal erklärst du mir, warum du hier bist. Hast du nichts zu tun? Ich dachte, ich hätte dir genug Arbeit gegeben, um dich zu beschäftigen, aber wenn ich mich geirrt habe, läßt sich das sofort ändern!« »Ich arbeite doch«, widersprach Cadderly. »Ich wollte bloß die Küche überprüfen, um sicherzugehen, dass ich beim Putzen nichts vergessen habe.« Als er sich umsah, wurde ihm allerdings klar, wie lächerlich seine Behauptung klingen mußte. Ivan und Pikel hatten es nie mit der Sauberkeit gehabt. Die Hälfte des Fußbodens war mit einer dicken Mehlschicht bedeckt, die andere mit den verschiedensten Kräutern und Soßen. Schimmelüberzogene Schüsseln, manche leer, andere noch halbvoll mit den Resten der letzten Woche, wieder andere mit noch älteren Es sensresten, standen auf jedem freien Platz, Regal oder Tisch. Avery verzog wütend das Gesicht. »Dann überprüfe, ob die Arbeit ordentlich verrichtet wurde, Bruder Cadderly«, säuselte er boshaft. »Danach hilfst du Bruder Rufo bei der Inventur im Weinkeller. Du wirst noch hören, wie Abt Thobicus auf deine neuerlichen Überschreitungen reagiert.« Avery drehte sich um und stolzierte davon. Pertelope folgte ihm jedoch nicht gleich. »Ich weiß, dass du vorhattest, den Wandbehang zurückzubringen«, sagte die würdevolle alte Frau. »Darf ich erfahren, warum du es überhaupt für nötig hieltst, ihn dir anzueignen? Du hättest doch fragen können.« »Wir brauchten ihn nur ein paar Tage«, erwiderte Cadderly. Er sah Ivan an und zeigte auf die Schublade, worauf der Zwerg die fast fertige Armbrust herauszog. »Hierfür.« Pertelopes braune Augen glänzten bei dem Anblick. Sie kam herüber und nahm dem Zwerg vorsichtig die kleine Waffe ab. »Hinreißend«, murmelte sie, denn die Nachbildung zog sie wirklich in Bann. »Danke sehr«, antwortete Ivan stolz. »Ei, ei!« fügte Pikel triumphierend hinzu. »Ich hätte sie dir gezeigt«, erklärte Cadderly, »aber ich dachte, die Überraschung wäre noch gelungener, wenn sie ganz fertig ist.« Pertelope bedachte Cadderly mit einem warmen Lächeln. »Könnt ihr sie ohne den Wandbehang zu Ende bringen?« Cadderly nickte. »Dann möchte ich sie sehen, wenn sie fertig ist.« Dann schlug sie wieder einen mahnenden Tonfall an: »Du hättest nach dem Teppich fragen müssen.« Leiser fügte sie allerdings hinzu: »Keine Sorge wegen Großmeister Avery. Er regt sich leicht auf, aber er vergißt auch schnell. Er mag dich, egal wie er sich aufplustert. Und jetzt kümmere dich um deine Pflichten.«
¤¤¤ Barjin kroch von Faß zu Faß, während er den linkischen Mann beobachtete, der Weinflaschen ordnete. Der böse Priester hatte gehofft, sein Opfer, den Überträger des Chaosfluchs, hier im Keller zu finden, aber er war dennoch entzückt, schon auf seinem allerersten Ausflug über die wacklige Treppe diesen Mann hier bei der Arbeit zu sehen. Die Tür zu den tieferen Gewölben war geschickt getarnt - zweifellos von dem durstigen Hausmeister. Sie lag in einer vollgestopften, hinteren Ecke des gewaltigen Weinkellers. Die Priester der Bibliothek hatten das Portal wahrscheinlich längst vergessen, so dass Barjin sich problemlos hereinschleichen konnte. Das Entzücken des Priesters verringerte sich beträchtlich, als er nah genug herankam, um einige Erkenntniszauber zu sprechen. Beim Hausmeister hatten dieselben Sprüche ein unklares Ergebnis erbracht - Barjin hatte nicht mit Sicherheit gewußt, ob der alte Kerl es schaffen würde, bis die Schutzglyphen ihn dann von der Flasche zurückgeworfen hatten. Bei Kierkan Rufo hingegen waren die Ergebnisse eindeutiger. Dieser Mann war kein Unschuldsengel und würde mit der magischen Flasche nicht mehr Glück haben als der Hausmeister. »Heuchler«, grummelte Barjin in sich hinein. Er zog sich in den Schatten zurück und überlegte, ob er den linkischen Mann anders einsetzen konnte. Sicher kamen nicht allzuoft Besucher in den Weinkeller. Barjin konnte nicht zulassen, dass irgend jemand vorbeikam, ohne dass er einen Nutzen daraus zog. Darüber dachte er immer noch nach, als unerwartet ein zweiter Priester die Treppe heruntergehüpft kam. Barjin sah neugierig zu, wie der lächelnde junge Mann mit den Locken unter dem breitkrempigen Hut sich zu dem steifen Priester gesellte. Seine Erkenntniszauber hingen noch in der Luft, und als Barjin sich auf den Neuankömmling konzentrierte, wich seine Neugier dem Entzücken. Das war sein Auslöser. Er sah noch etwas länger zu - lange genug, um festzustellen, dass eine gewisse Spannung zwischen den beiden herrschte -, dann schlich er zu der verborgenen Tür zurück. Er wußte, dass seine nächsten Schritte wichtig waren und darum genau geplant werden mußten. ¤¤¤ »Wollen wir zusammenarbeiten?« bot Cadderly in übertrieben vergnügtem Ton an. Kierkan Rufo sah ihn finster an. »Hast du schon wieder irgendwelche Hinterhältigkeiten vor?« fragte er. »Neue Spielzeuge, um auf meine Kosten anzugeben?« »Willst du behaupten, du hattest es nicht verdient?« fragte Cadderly. »Du hast doch angefangen, indem du Großmeister Avery in mein Zimmer geführt hast.« »Ach, der arme, schlaue Schreiber«, war die sarkastische Erwiderung. Cadderly wollte sich wehren, hielt aber den Mund. Er hatte Mitleid mit Rufo, der wirklich ein pflichtbewusster Priester war. Cadderly wußte, dass die Großmeister Rufo nach Cadderlys Erfolg mit dem Zauberbuch übergangen hatten. Die Wunde war zu frisch, um sie jetzt zu heilen, das wußte er. Weder er noch Rufo verspürten den Wunsch nach Zusammenarbeit. Rufo erklärte ihm sein System für die Inventur, damit ihre Listen zueinanderpaßten. Cadderly sah verschiedene Verbesserungsmöglichkeiten, zog es aber vor zu schweigen. »Verstanden?« fragte Rufo, als er ihm eine Zähltafel gab. Cadderly nickte. »Ein gutes System.« Rufo winkte unwirsch ab. Dann setzte er seine Inventur fort und schritt dabei langsam die langen Reihen dunkler Fässer ab. In einer entfernten Ecke fiel ihm ein Lichtblitz auf, aber er war fast so schnell vorbei, wie er aufgetaucht war. Rufo legte den Kopf schief, nahm seine Fackel und ging hinüber. Die Wand vor ihm stand voller Fässer, aber an der Seite bemerkte er eine Öffnung. »Ist da jemand?« fragte Rufo etwas nervös. Mit der Fackel vorweg spähte er in die Öffnung und sah das uralte Portal. »Was ist denn?« kam eine Stimme von hinten. Rufo zuckte vor Schreck zusammen, ließ seine Fackel fallen und warf ein Faß um, als er vor der Flamme zurücksprang. Es war ihm kein Trost, als er sich nach Ende des Krachens umdrehte und in Cadderlys grinsendes Gesicht blickte. »Da ist eine Tür«, antwortete er gereizt. Cadderly hob die Fackel auf und spähte in die Ecke. »Und wohin mag die führen?« fragte er rein rhetorisch. »Das geht uns nichts an«, erklärte Rufo fest. »Doch, natürlich«, gab Cadderly zurück. »Sie gehört zur Bibliothek, und die Bibliothek geht uns etwas an.« »Wir müssen es einem Großmeister sagen und ihn entscheiden lassen, wie man am besten vorgehen soll«, schlug Rufo vor. »Jetzt gib mir die Fackel wieder.« Cadderly ignorierte ihn und ging auf die kleine Holztür zu. Sie war leicht zu öffnen. Dahinter führte eine Treppe nach unten, und Cadderly war abermals angenehm überrascht. »Du bringst uns immer tiefer in Schwierigkeiten!« beschwerte sich Rufo hinter seinem Rücken. »Willst du denn putzen und zählen, bis du hundert Jahre bist?« »In die tiefsten Gewölbe?« sagte Cadderly aufgeregt, ohne die Warnung zu beachten. Er sah zu Rufo zurück, wobei sein Gesicht neben der Fackel hell leuchtete.
Der nervöse Rufo wich vor der unheimlich beleuchteten Gestalt zurück. Er schien die Erregung seines Gefährten nicht zu begreifen. »Die tiefsten Gewölbe«, wiederholte Cadderly bedeutungsvoll. »Als die Bibliothek einst gebaut wurde, war der größte Teil unterirdisch. Damals war das Schneeflockengebirge unsicherer als heute, und die Gründer glaubten, dass ein unterirdischer Komplex leichter zu verteidigen sei. Die untersten Katakomben wurden verlassen, nachdem die Berge befriedet und das Gebäude erweitert worden waren, und irgen dwann glaubte man, alle Zugänge seien versiegelt.« Er blickte zurück zu der Treppe. Er fand sie aufregend. »Anscheinend war das nicht der Fall.« »Dann müssen wir einem Großmeister Bescheid sagen«, wiederholte Rufo nervös. »Es ist nicht unsere Sache, verborgene Gänge zu untersuchen.« Cadderly warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Wir sagen es ihnen ja«, versprach er, während er den Kopf bereits in die staubige Öffnung steckte. »Zur rechten Zeit.« ¤¤¤ Barjin beobachtete die beiden Männer in nervöser Erwartung. Seine Hand umklammerte den grausamen Streitkolben, der ihm Sicherheit gab. Der Priester wußte, dass er mit dem magischen Licht, das die Position des Portals angezeigt hatte, ein ziemliches Risiko eingegangen war. Wenn die beiden Männer sich dafür entschieden hätten, ihre Vorgesetzten zu holen, hätte Barjin sie daran hindern müssen - gewaltsam. Aber Geduld war nie seine Stärke gewesen; des halb war er schließlich gleich in die Erhebende Bibliothek gezogen. Sein Plan war nicht ungefährlich, aber der mögliche Gewinn unübersehbar. Wenn die beiden sich dazu entschlossen, auf Entdeckungsreise zu gehen, wäre Barjin der Erfüllung seiner Träume einen Riesenschritt näher. Hinter der Barriere aus Weinfässern waren sie nicht mehr zu sehen, so dass Barjin näher heranschlich. »Die Treppe ist ziemlich stabil, wenn auch alt«, hörte er Cadderly rufen, »und sie führt ganz tief hinunter.« Ziemlich skeptisch, ja ängstlich, wich der ungelenke Priester langsam aus der Ecke zurück. »Der Großmeister«, murmelte er leise und wollte nach oben laufen. Barjin trat ihm in den Weg. Ehe Rufo auch nur schreien konnte, senkte sich der Zauberspruch des Priesters über ihn. Rufos Blick wurde von dunklen Augen gebannt, von hypnotischem Starren festgehalten. Solange er noch Zauberei studiert hatte, hatten Einflüsterungen immer zu Barjins Stärken gezählt. Dass er sich Talona unterstellt hatte, hatte diese Begabung nicht gemindert obwohl die Kleriker der Herrin des Giftes normalerweise in solcher Magie nicht geschult waren. Kierkan Rufo war kein schwieriger Gegner. Und Barjins magisch verstärkte Vorschläge liefen den geheimsten Wünschen des gefesselten Rufo nicht zuwider. ¤¤¤ Cadderly kroch langsam auf die offene Tür zu, ohne den Blick von der verlockenden Dunkelheit jenseits der geringen Reichweite seines Fackellichts zu wenden. Welche Wunder mochten dort unten in den ältesten Räumen der Erhebenden Bibliothek auf ihn warten? Welche längst vergessenen Geheimnisse der Gründer und ersten Gelehrten? »Wir sollten weiterforschen - wir werden tagelang hier unten beschäftigt sein«, sagte Cadderly, der sich nach vorne lehnte und die Treppe hinunterblickte. »Keiner muß etwas erfah ren, bis wir uns entscheiden, es zu erzählen.« Trotz seiner überwältigenden Neugier hatte Cadderly seine Sinne noch soweit im Griff, dass er merkte, dass er verraten war, als er einen Stiefel an seinem verlängerten Rückgrat spürte. Er griff nach dem wackligen Geländer, aber das Holz brach unter seiner Hand. Es gelang ihm noch, einen Blick nach hinten zu werfen. Rufo hockte in der niedrigen Tür. Auf seinem dunklen, hohlen Gesicht lag ein eigenartig emotionsloser Ausdruck. Cadderlys Fackel fiel herunter, und er kullerte die Stufen herunter ins Dunkel, bis er heftig auf den Steinboden plumpste. Die ganze Welt versank in Schwarz. Dass sich die Tür über ihm schloß, hörte er nicht mehr. An diesem Abend ging Kierkan Rufo vom Weinkeller direkt in sein Zimmer. Er wollte niemandem begegnen und keine Fragen beantworten. Was geschehen war, lag wie hinter einem Nebel. Er erinnerte sich unklar, was er Cadderly angetan hatte, ohne jedoch genau zu wissen, ob es die Wahrheit war oder ein Traum. Er erinnerte sich auch daran, die versteckte Tür geschlossen und verborgen zu haben. Aber es gehörte noch etwas - oder jemand - zu diesem Bild, im Augenwinkel, im Schatten, gerade außer Reichweite von Rufos Bewußtsein. Sooft er es auch versuchte, der arme Rufo konnte sich einfach nicht mehr an Barjin erinnern, denn so hatte es der teuflische Priester gewollt. Im Hinterkopf hatte Rufo jedoch das Gefühl, heute Abend einen Freund gefunden zu haben, jemanden, der seine Frustration verstand und seine Ansicht teilte, dass Cadderly ein Unwürdiger war.
Barjins Welt Cadderly erwachte in absoluter Finsternis; er konnte nicht die Hand vor Augen sehen. Seine anderen Sinne aber verrieten ihm viel. Er roch den dicken Staub und fühlte die klebrigen Spinnweben, die überall herumhingen. »Rufo!« rief er, aber in der toten Luft drang seine Stimme nirgendwohin, sondern erinnerte ihn nur daran, dass er allein in der Dunkelheit war. Er kam auf die Knie und stellte fest, dass ihm ein Dutzend Stellen weh taten, besonders eine Kopfseite. Seine Tunika war klebrig wie von geronnenem Blut. Die Fackel lag neben ihm, aber als er danach tastete, stellte Cadderly fest, dass sie schon vor vielen Stunden erloschen war. Er schnippte mit den Fingern, um dann an seinen Gürtel zugreifen. Einen Augenblick später zog er die Kappe von einer Röhre, und ein Lichtstrahl durchschnitt die Dunkelheit. Selbst Cadderly kam dieses Licht wie ein Eindringling vor, denn diese Gänge hatten jahrhundertelang nur Dunkelheit gekannt. Ein Dutzend kleiner Tiere huschte aus dem Blickfeld, aus dem Licht heraus. Um so besser, dachte Cadderly. Besser, als wenn sie ihm in der Dunkelheit auflauerten, bis er vorbeikam. Er öffnete das Lichtrohr weiter und erforschte seine unmittelbare Umgebung. Besonders konzentrierte er sich auf die zerbrochene Treppe hinter sich. Oben, in der Nähe der geschlossenen Tür, waren noch einige Stufen ganz, aber die meisten Bretter lagen um ihn herum, da sie wohl bei seinem schweren Fall zerbrochen waren. Das würde kein leichter Rückweg werden, sagte er sich und stellte den Strahl enger, um größere Entfernungen auszuleuchten. Er befand sich in einem Korridor, einem von vielen, die sich kreuzten und zu einem wabenartigen Irrgarten miteinander verwoben, wie aus den vielen Gängen zu schließen war, die an beiden Seiten abgingen. Die Stützbögen ähnelten denen oben in der Bibliothek, doch da es sich um ältere Architektur handelte, waren sie noch gedrungener und wirkten um so niedriger, weil sie von Staubschichten, Spinnweben und den Spuren von Krabbeltieren bedeckt waren. Als Cadderly Zeit fand, sich selbst zu untersuchen, sah er, dass seine Tunika wie erwartet von seinem eigenen Blut verkrustet war. Er bemerkte ein zerbrochenes Brett neben sich, das gefährlich zersplittert war und dunkle Flecken aufwies. Zögernd knö pfte der junge Priester die Tunika auf und zog sie beiseite, denn er erwartete eine häßliche Wunde. Was er statt dessen entdeckte, waren Schorf und ein Bluterguß. Obwohl pflichtbewußtere Priester des Deneir schon in Cadderlys Alter geübte Heiler waren, hatte er sich kaum mit der Heilkunst beschäftigt. Aus den Flecken an dem zer splitterten Brett konnte er jedoch schließen, dass seine Wunde tief gewesen war, und schon dem verkrusteten Hemd war zu entnehmen, dass er eine ganze Menge Blut verloren hatte. Die Wunde war jedoch zweifellos am Heilen, und auch wenn sie ernst gewesen sein mochte, jetzt war sie es nicht mehr. »Rufo?« rief Cadderly wieder. Er fragte sich, ob sein Kamerad ihm nachgeklettert war und ihn geheilt hatte. Es kam keine Antwort, kein Geräusch aus dem staubigen Gang. »Wenn nicht Rufo, wer dann?« fragte Cadderly sich leise. Dann zuckte er die Schultern; dieses Rätsel war nicht zu lösen. Er reckte sich, um die letzten Schmerzen zu überwinden, und schaute sich den Rest seiner Umgebung an. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, genug von der Treppe wiederaufzubauen, um bis zur Tür zu gelangen. Er legte das Lichtrohr auf den Boden und steckte ein paar Bretter zusammen, stellte aber bald fest, dass das Holz zu verrottet war. Nach kurzer Zeit gab er den Gedanken auf, durch den Weinkeller zurückzukehren. Das alte, vergammelte Holz würde sein Gewicht niemals tragen, selbst wenn er einen Weg fand, es wieder zusammenzustecken. »Es könnte schlimmer sein«, flüsterte er hörbar, nahm sein Lichtrohr und holte die Spindelscheiben aus einem Beutel. Dann atmete er tief durch und machte sich auf - ein Weg war so gut wie der andere. Krabbeltiere schossen am Rand des Lichtstrahls in dunkle Löcher. Ein Schauer lief Cadderly über den Rücken, als er sich wieder vorstellte, wie diese Reise im Dunkeln verlaufen wäre. Die Mauern der meisten Gänge waren aus Ziegeln, die unter dem tonnenschweren Gewicht der Bibliothek an vielen Stellen geborsten waren. Die Reliefs waren verwittert, die Rillen der Künstlermeißel vom Staub der Jahrhunderte erfüllt, die Feinheiten der Skulpturen von kunstvollen Spinnennetzen überzogen. Cadderly hörte Wasser tropfen, ein dumpfes, totes Blupp -Blupp. »Der Herzschlag der Katakomben«, murmelte er finster, und der Gedanke tröstete ihn kein bißchen. Viele Minuten wanderte er umher, um irgendein logisches Schema zur Erforschung der Tunnelanlage aufzustellen. Obwohl die ursprünglichen Erbauer der Bibliothek recht systematisch vorgegangen waren, waren der anfängliche Zweck und der Verlauf der verschiedenen Tunnel in späteren Jahrzehnten häufig verändert worden, um sich den wandelnden Bedürfnissen des Gebäudes darüber anzupassen. Jedesmal, wenn Cadderly glaubte, eine Ahnung zu haben, wo er sein könnte, belehrte ihn die nächste Ecke des Gegenteils. Er ging einen niedrigen, breiten Gang entlang, wobei er darauf achtete, sich von den verrottenden Kisten an den Wänden fernzuhalten. Wenn man hier Vorräte aufbewahrt hatte, überlegte er, dann könnte es in der Nähe ei nen Ausgang geben, vielleicht einen Tunnel, der groß genug war für Wagen. Der Korridor endete an einem weiten Bogen, der sich in zwei kleinere Bögen links und rechts auffächerte. Diese waren so dicht mit Spinnweben verhangen, dass Cadderly eine Planke von den Kisten abreißen mußte, um sich einen Weg hindurchzubahnen. Die Gänge hinter dem gewölbten Teil waren ebenfalls aus Stein gemauert, aber nur halb so breit wie der Gang, aus dem er gerade gekommen war. Sein Instinkt schickte ihn nach links, aber das war nur eine Vermutung, denn in den gewunden en Passagen hatte Cadderly kaum eine Ahnung, wo er sich befand. Zügig lief er weiter, folgte vertrauensvoll dem schmalen Lichtstrahl und versuchte, das Gequieke der Ratten und die eingebildeten Gefahren neben und hinter sich zu ignorieren. Seine Ängste waren jedoch hartnäckig, so dass jeder
Schritt ihn mehr Anstrengung kostete. Er leuchtete von einer Seite zur anderen und sah, dass die Wände dieses Gangs von dunklen Nischen gesäumt waren. Sofort stellte er sich vor, dass darin Monster lauerten. Langsam drehte er sich um, richtete sein Licht darauf und stellte fest, dass er - indem er sich einzig auf seinen schmalen Pfad konzentriert hatte - bereits an einigen dieser Alkoven vorbeigekommen war. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, denn nun wurde ihm der Zweck dieser Nischen klar, noch ehe er genauer hineingespäht hatte. Cadderly wich zurück. Das ferne Blupp-Blupp, der Herzschlag der Katakomben, ging stetig weiter, aber der junge Forscher verpaßte ein paar Schläge, denn sein Lichtstrahl fiel auf ein sitzendes Skelett nur wenige Fuß neben ihm. Das war tatsächlich makaber. Wo man einst vielleicht Vorratskisten aufbewahrt hatte, war jetzt nur Nahrung für Aasfresser zu finden. Cadderly hatte die Krypta betreten, in der die ersten Gelehrten der Erhebenden Bibl iothek beigesetzt waren. Reglos und teilnahmslos saß das Skelett in seinem zerfetzten Umhang da, die Handknochen im Schoß gekreuzt. Nur noch die Spinnweben, die sich aus allen Winkeln des kleinen Alkovens darüber gelegt hatten, schienen es aufrecht zu h alten. Cadderly unterdrückte sein wachsendes Entsetzen, indem er sich daran erinnerte, dass es sich hier um natürliche Überreste handelte, die Gebeine gutherziger, gelehrter Menschen, und dass auch er eines Tages dem Skelett ähneln würde, das jetzt vor ihm saß. Er blickte zurück und zählte hinter sich vier Alkoven auf jeder Seite des Korridors. Sollte er umkehren? Störrisch verwarf er all seine Ängste als irrational und konzentrierte sich wieder auf seinen Weg. Er hielt das Licht in die Gangmitte, weil er in keinen Alkoven mehr blicken wollte, um seine Entschlossenheit nicht weiter auf die Probe zu stellen. Aber seine Augen wanderten unvermeidlich immer wieder zur Seite. Es kam ihm so vor, als würden die Skelettschädel sich langsam mitdrehen, wenn er vorbeikam. Manche Ängste waren nicht so leicht zu besiegen. Ein Rascheln links hinter ihm ließ Cadderly herumfahren. Er hielt die Spindelscheiben bereit. Seine Abwehrreflexe ließen die Waffe zucken, noch ehe sein Geist den Urheber des Geräuschs ausmachen konnte: eine kleine Ratte, die durch einen wackligen Schädel kroch. Der Nager flüchtete in die Spinnweben und die Dunkelheit, als die Scheiben mit voller Wucht auf der Stirn des Schädels landeten. Der Schädel fiel herunter, prallte von der Rückwand des Alkovens ab, rollte an seinem einstigen Besitzer herab und blieb klappernd zwischen den Beinen des sitzenden Skeletts liegen. Cadderly lachte erleichtert auf, lachte über seine eigene Feigheit. Dann nahm die staubige Stille den alten Gang wieder in Besitz, und Cadderly entspannte sich ... bis das Skelett zwischen seine Beine griff und seinen heruntergefallenen Kopf aufhob. Cadderly taumelte rückwärts an die gegenüberliegende Wand - und spürte prompt einen knochigen Griff an seinem Ellbogen. Er riß sich los , schlug mit den Spindelscheiben auf diesen neuen Gegner los und wollte davonrennen, ohne darauf zu warten, welchen Schaden seine Waffe angerichtet hatte. Als sein Licht jedoch herumschwang, erkannte er, dass die Skelette, an denen er vorbeigekommen war, sich erhoben und im Korridor versammelt hatten. Jetzt kamen sie näher, die Gesichter zu lippenlosem Grinsen verzerrt, die Arme ausgestreckt, als ob sie Cadderly ganz in ihr dunkles Reich ziehen wollten. Nur ein Weg stand ihm offen, und den rannte er entlang, so schnell er nur konnte, versuchte, den Blick nach vorn zu richten und das Geklapper von immer mehr Skeletten zu überhören, die sich aus jedem Alkoven erhoben, an dem er vorbeikam. Er konnte nur hoffen, dass keine Riesenspinnen in der Nähe waren, als er mitten durch einen anderen, dick verwobenen Bogen lief, Spinnweben in den Mund bekam und sie angeekelt ausspuckte. Mehr als einmal stolperte er und fiel hin, aber jedesmal kam er wieder auf die Beine, um blindlings weiterzustürmen, ohne zu wissen wohin. Er wußte nur, was er hinter sich lassen mußte. Mehr Gänge. Mehr Krypten. Das Klappern hinter ihm schwoll an, und wieder hörte er erschreckend deutlich das Blupp-Blupp der Wassertropfen, den Herzschlag der Katakomben. Er durchbrach einen weiteren spinnwebenbespannten Bogen, dann noch einen, bis er an eine Stelle kam, wo drei Wege sich trafen. Er wandte sich nach links, doch in jenem Gang hatten sich bereits die Skelette erhoben, um ihm den Weg zu versperren. Also rannte er nach rechts, zu entsetzt, um ein System zu erkennen, zu abgelenkt, um zu bemerken, dass er getrieben wurde. Er kam an einen weiteren, niedrigen Bogen. Ihm fiel auf, dass hier die Spinnweben fehlten, aber er hatte keine Zeit, stehenzubleiben und nachzudenken, was das bedeuten mochte. Er stand in einem weiteren, höheren Gang, einer Art Halle, und sah, dass in den Alkoven hier keine von Lumpen verhüllten Skelette, sondern Sarkophage standen, die außerordentlich detailliert, mit kostbaren Metallen überzogen und mit Edelsteinen verziert waren. Cadderly nahm nur kurz Notiz von ihnen, denn unten am Ende des langen Gangs sah er Licht - kein Tageslicht, das er mit offenen Armen willkommen geheißen hätte, aber immerhin Licht, das durch die Ritzen und losen Angeln einer alten Tür fiel. Das Kla ppern schwoll an, dröhnte überall um ihn her. Ein unheimlicher, roter Nebel erhob sich um Cadderlys Füße, folgte seinen Schritten und verlieh der Szene eine traumartige, phantastische Atmosphäre. Alptraum und Wirklichkeit rangen in seinen sich überschlagenden Gedanken, Vernunft kämpfte gegen Furcht. Die Lösung all dieser Probleme lag im Licht, soviel wußte Cadderly. Der junge Gelehrte taumelte weiter. Seine Füße bewegten sich schleppend, als ob der Nebel schwer auf ihnen lastete. Er zog die Schultern hoch und wollte die Tür einfach ram men, um schneller ins Licht zu gelangen.
Die Tür öffnete sich quietschend, noch bevor er dagegenprallen konnte. Er stolperte weiter und sank drinnen auf dem sauberen Boden auf die Knie. Dann ging die Tür von selbst wieder zu und sperrte den roten Nebel und das makabre Geklapper in der Dunkelheit aus. Cadderly verharrte einen langen Moment ganz still. Verwirrt versuchte er, sein rasendes Herz zu beruhigen. Einen Augenblick später stand er zitternd auf, um sich den Raum anzusehen. Er hatte kaum mitbekommen, dass die Tür hinter ihm zugegangen war. Die Sauberkeit dieses Raums, die sich vom restlichen Gewölbe so unterschied, war erstaunlich. Er erkannte, dass er in einem einstigen Studierzimmer stand, denn es ähnelte in Gestaltung und Möblierung jenen Studierzimmern, die in der eigentlichen Bibliothek immer noch benutzt wurden. Mehrere kleine Schränke, Arbeitstische und freistehende, von beiden Seiten zugängliche Bücherregale standen in regelmäßigen Abständen. An der rechten Wand ruhte ein Kohlebecken auf einem Dreifuß. Zwei brennende Fackeln hingen in Halterungen, und auch an den Wänden waren Bücherregale angebracht, in denen aber nur noch einzelne, vergilbte Pergamente und die eine oder andere kleine Skulptur, die einst vielleicht Bücher gestützt hatte, herumlagen. Cadderlys Blick kehrte zu dem Kohlebecken zurück, das hier so vollkommen fehl am Platze wirkte. Aber schließlich blieb sein Auge an dem Aufbau in der Mitte hängen. Dort hing eine purpur- und scharlachrote Decke von einem langen, schmalen Tisch herunter. Auf dem Tisch stand eine Art Untersatz, auf welchem eine klare Flasche lag, die mit einem großen Korken verschlossen und mit einer rotglühenden Substanz gefüllt war. Vor der Flasche befand sich eine silbrige Schal e, vielleicht aus Platin, wunderschön gearbeitet und mit seltsamen Runen bedeckt. Der blaue Nebel, der den Boden bedeckte und Cadderlys Beine umwaberte, überraschte oder erschreckte den jungen Mann kaum. Das ganze Abenteuer kam ihm irgendwie eigentümlich unecht vor. Seine Vernunft sagte ihm, dass er hellwach war, aber der dumpfe Schmerz an der Seite seines Kopfes ließ ihn überlegen, wie schlimm er sich wirklich den Kopf gestoßen hatte. Dennoch war Cadderly jetzt eher interessiert als ängstlich, darum zwang er sich mit großer An strengung auf die Beine und machte einen vorsichtigen Schritt auf den Tisch in der Mitte zu. In die Decke waren Zeichen eingewebt, Dreizacke mit drei Flaschen auf den Spitzen. Ihm fiel auf, dass die Flaschen des Musters der echten auf dem Tisch ähnelten. Cadderly hatte eigentlich geglaubt, die meisten heiligen Symbole und Bündniswappen der mittleren Welt zu kennen, aber das hier war ihm völlig fremd. Er wünschte, er hätte ein paar Sprüche vorbereitet, die ihm mehr über den komischen Altar verraten könnten, falls es ein Altar war. Aber dann mußte er über diesen Gedanken lächeln. Er bereitete selten überhaupt irgendwelche Sprüche vor, und selbst wenn er sich die Zeit dazu nahm, waren seine Bemühungen in klerikaler Magie nicht unbedingt von Erfolg gekrönt. Cadderly war mehr Forscher als Priester, und er sah sein Gelübde gegenüber Deneir mehr als Übereinstimmung der Einstellung und der Prioritäten an, weniger als Versprechen der Ergebenheit. Als er sich dem Tisch näherte, sah er, dass die silbrige Schale mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war - wahrscheinlich Wasser, obwohl er es vorsichtshalber nicht wagte, den Finger hineinzutunken. Da ihn die leuchtende Flasche dahinter mehr interessierte, wollte Cadderly die Schale eigentlich gar nicht beachten, aber plötzlich fiel ihm das Spiegelbild der Flasche in der eigenartigen, runenbedeckten Schale auf und ließ ihn aus irgendeinem Grund nicht mehr los. Cadderly fühlte sich zu diesem Bild hingezogen. Er ging direkt zu der Schale und bückte sich, bis sein Gesicht fast die Flüssigkeit berührte. Dann rollten kleine, runde Wellen kreisförmig von der Mitte zum Rand, als wäre ein winziger Stein in die Schale gefallen. Anstatt Cadderlys Konzentration auf das Bild zu brechen, verstärkte das Spiel des Wassers sie nur noch. Das Licht tanzte über die winzigen Wellen, und das Bild der Flasche wurde länger und verzerrte sich zu den Seiten hin. Irgendwie wußte Cadderly, dass das Wasser angenehm warm war. Er wollte in die Schale eintauchen, um alle Geräusche der Welt in der Stille des Wassers zum Schweigen zu bringen und nur noch die Wärme zu spüren. Dennoch blieb das lockend schwankende Bild, das seine Gedanken gefangennahm. Cadderly sah von der Schale zu der Flasche hin. Irgendwo tief im Inneren wußte er, dass etwas nicht stimmte, dass er den seltsam tröstlichen Gefühlen widerstehen müßte. Unbelebte Dinge durften keine Vorschläge machen. Öffne die Flasche, erklang ein Ruf in seinem Kopf. Er erkannte die beruhigende Stimme nicht, doch sie versprach nur Freude. Öffne die Flasche. Bevor ihm klar war, was er tat, hatte Cadderly die Flasche in den Händen. Er hatte keine Ahnung, was sie wirklich war oder wie und weshalb dieser unbekannte Altar hierhergekommen war. Etwas hier war gefährlich, das spürte Cadderly, aber er konnte es einfach nicht greifen. Die Wellen in der silbrigen Schale waren zu berückend. Öffne die Flasche, kam die lautlose Einflüsterung ein drittes Mal. Cadderly konnte sich nicht entscheiden, ob er widerstehen sollte oder nicht, und diese Unentschlossenheit schwächte seine Vorsätze. Der Korkverschluß saß fest, aber nicht allzu fest, und kam mit einem lauten Plopp heraus. Dieses Plopp durchstieß die rauchumwölkte Verwirrung im Gehirn des jungen Gelehrten, drang wie ein Trompetenruf der Wirklichkeit in seinen Kopf, um ihn vor dem Risiko zu warnen, das er einging, doch es war zu spät. Roter Rauch strömte aus der Flasche, umfing Cadderly und breitete sich im ganzen Raum aus. Sofort erkannte Cadderly seinen Fehler und wollte den Korken wieder zu rückstecken, aber von hinten aus einem Schrank hatte ihn ein ungesehener Feind beobachtet und schritt bereits ein. »Halt!« kam ein unwiderstehliches Kommando von der Seite her. Cadderly hatte den Korken schon fast wieder in der Flasche, als seine Hände innehielten. Immer noch stieg Rauch auf. Cadderly konnte nichts tun, konnte sich überhaupt nicht mehr rühren, nicht einmal seine Augen abwenden. Sein ganzer Körper wurde eigenartig taub und kitzelte im Griff der Magie. Gleich darauf sah er eine Hand von hinten
kommen, spürte aber nicht einmal mehr, wie ihm die Flasche entwunden wurde. Dann wurde er gewaltsam zu einem Mann umgedreht, den er nicht kannte. Der Mann gestikulierte und sang, obwohl Cadderly die Worte nicht hören konnte. Er erkannte, dass die Bewegungen eine Art Zauberei waren, und wußte, dass er in Lebensgefahr schwebte. Sein Geist kämpfte gegen die Lähmung, die ihn überfallen hatte. Vergeblich. Cadderly merkte, wie seine Lider schwer wurden. Plötzlich kehrte das Gefühl in seine Glieder zurück, aber die ganze Welt um ihn herum wurde dunkel, und er sah sich fallen, endlos fallen. ¤¤¤ »Komm, Hausmeister«, rief Barjin. Aus demselben Schrank; in dem Barjin sich versteckt hatte, trat Mullivys bleicher Leichnam. Barjin nahm sich etwas Zeit, sein neuestes Opfer zu begutachten. Cadderlys Lichtrohr und die Spindelscheiben sowie ein Dutze nd anderer, interessanter Dinge machten den Priester neugierig, aber er verwarf schnell den Gedanken, etwas an sich zu nehmen. Er hatte auf diesen Mann denselben Vergessensspruch gelegt wie auf den großen, ungelenken Kerl oben im Weinkeller. Barjin wußte, dass dieser hier - im Gegensatz zu dem anderen - stark an Geist und Willen war und unbewußt gegen den Spruch ankämpfen würde. Wenn ihm etwas fehlte, würde das womöglich seinem Kampf um die blockierten Teile seines Gedächtnisses helfen, und für den Pries ter, der allein einer wahren Armee von Feinden gegenüberstand, konnte das katastrophale Folgen haben. Barjin legte eine Hand an seinen hungrigen Streitkolben. Vielleicht sollte er den Mann jetzt gleich töten und seiner Armee von Untoten hinzufügen, damit er in Zukunft keine Schwierigkeiten mehr machen konnte. Aber der Priester verwarf die Idee so schnell, wie sie ihm gekommen war. Seiner Göttin, einer Gottheit des Chaos, würde es nicht gefal len, wenn er auf diese köstliche Ironie verzichtete. Der Mann hatte als Auslöser des Fluchs gedient; sollte er doch sehen, welche Zerstörung seine Hände gebracht hatten! »Trag ihn«, wies Barjin seinen Zombie an. Mit seinem steifen Arm hob Mullivy Cadderly mühelos vom Boden auf. »Und nimm die alte Leiter mit«, fügte Barjin hinzu. »Wir müssen wieder hoch in den Weinkeller. Wir haben noch viel zu tun, bevor es hell wird.« Barjin rieb sich begeistert die Hände. Der wichtigste Bestandteil des Rituals war leicht vonstatten gegangen; jetzt mußte er nur noch ein paar kleinere Zeremonien vollziehen, um den Fluch zu vollenden und den Ultimativen Schrecken gezielt auf die Erhebende Bibliothek loszulassen.
Das Rätsel Danica konnte schon an der Miene des Großmeisters und aus der Tatsache, dass Kierkan Rufo hinter Avery herschlurfte, erkennen, dass Cadderly wieder etwas falsch gemacht hatte. Sie schob das Buch zurück, in dem sie gelesen hatte, und verschränkte die Arme. Avery, der den Gästen der Bibliothek gegenüber normalerweise höflich war, kam ohne Umschweife zur Sache. »Wo ist er?« »Er?« erwiderte Danica. Sie wußte sehr wohl, wen der Großmeister meinte, aber der Ton paßte ihr nicht. »Du weißt ...«, fing Averly polternd an, doch dann wurde ihm Danicas Beanstandung klar, und er riß sich zusammen. Er errötete sogar. »Verzeihung, Lady Danica«, entschuldigte er sich betreten. »Ich hatte nur gedacht ... Ich meine, Ihr und ...« Er stampfte mit dem Fuß auf und erklärte: »Dieser Cadderly macht mich einfach verrückt!« Danica nahm die Entschuldigung mit einem grinsenden Nicken hin, denn sie verstand Averys Gefühle. Sie konnte sie gut nachvollziehen. Cadderly war ein leicht ablenkbarer Freidenker, und wie die meisten offiziellen Religionsgemeinschaften bestand der Orden des Deneir auf strenge Disziplin. Es fiel Danica nicht schwer, sich einige von den vielen Malen ins Gedächtnis zu rufen, an denen sie wie verabredet auf Cadderly gewartet hatte, bis sie irgendwann aufgegeben hatte und allein in ihr Zimmer zurückgekehrt war, wobei sie unterwegs den Tag verfluchte, an dem sie sein jungenhaftes Lächeln und seine neugierigen Augen zum ersten Mal gesehen hatte. Trotz all ihrer Frustration aber konnte die junge Frau nicht leugnen, dass ihr Herz einen Sprung machte, wann immer sie Cadderly ansah. Ihr Lächeln wurde nur noch breiter, wenn sie j etzt an ihn dachte, und flog so dem vor Wut brodelnden Avery entgegen. Als Danica endlich wieder in der Gegenwart war und über Averys Schulter blickte, verging ihr jedoch das Lachen. Da stand nämlich Kierkan Rufo, der sich wie immer etwas zur Seite neigte, aber statt des üblichen hämischen Ausdrucks, den er sonst aufsetzte, wenn er seinem Rivalen eins auswischte, Besorgnis zur Schau trug. Danica starrte den Mann durchdringend an. Ihre unbewußte Grimasse verriet die wahren Gefühle, die sie ihm gegenüber hegte. Sie wußte, dass er Cadderlys Freund war - sozusagen - und redete vor Cadderly nie schlecht von ihm, aber insgeheim traute sie dem Mann nicht über den Weg. Ganz und gar nicht. Seit Danicas erstem Tag in der Erhebenden Bibliothek, seit ihrer ersten Begegnung, hatte Rufo viele Male versucht, sich Danica zu nähern. Sie war jung und hübsch und erlebte eine solche Situation nicht zum ersten Mal, aber Rufo
hatte ihr Angst eingejagt. Als sie ihn höflich abgewiesen hatte, war der große Mann nur vor ihr stehengeblieben, hatte den Kopf schief gelegt und sie minutenlang mit eben dieser eisigen, starren Miene angesehen. Danica wußte nicht genau, warum sie Rufo damals zurückgewiesen hatte, aber sie nahm an, dass es an seinen dunklen, tiefliegenden Augen lag. Sie funkelten mit derselben Intelligenz wie Cadderlys, aber wo Cadderlys Augen forschten, waren Rufos berechnend. Cadderlys Augen glitzerten fröhlich, als wären sie auf der Suche nach Antworten auf die unzähligen Geheimnisse der Welt. Auch Rufo sammelte Inform ationen, aber er war - soweit Danica das beurteilen konnte - nur auf seinen Vorteil aus. Rufo hatte Danica nie aus den Augen verloren, nicht einmal, nachdem ihre aufkeimende Beziehung zu Cadderly in der Bibliothek allgemein bekannt geworden war. Noch immer kam er oft auf sie zu, und immer noch schickte sie ihn fort, aber manchmal sah sie aus dem Au genwinkel, wie er auf der anderen Seite des Raumes saß. Dann starrte er sie an, als wäre sie ein Buch, das seiner Unterhaltung diente. »Wißt Ihr, wo er ist?« fragte Avery sie etwas beherrschter. »Wer?« meinte Danica, die die Frage kaum wahrgenommen hatte. »Cadderly!« schrie der aufgebrachte Großmeister. Danica sah ihn an, denn der plötzliche Ausbruch überraschte sie. »Cadderly«, wiederholte Avery, der seine Ha ltung wiederfand. »Wißt Ihr, wo Cadderly zu finden ist?« Danica überlegte gründlich und betrachtete dabei Rufos Gesicht. Sie fragte sich, ob sie beunruhigt sein sollte. Soweit sie wußte, war Avery derjenige, der Cadderly seine Arbeit zuwies. »Ich habe ihn heute morgen noch nicht gesehen«, antwortete sie ehrlich. »Ich dachte, Ihr hättet ihm Arbeit zugewiesen - im Weinkeller, wie die beiden Zwergenbrüder sagten.« Avery nickte. »Das dachte ich auch, aber anscheinend hat unser lieber Cadderly schon genug von der Arbeit. Er hat sich heute morgen nicht wie vorgesehen bei mir gemeldet und war auch nicht in seinem Zimmer, als ich ihn suchte.« »Ist er heute überhaupt schon in seinem Zimmer gewesen?« fragte Danica. Wieder merkte sie, wie ihr Blick zu Kierkan Rufo glitt, denn sie fürchtete um Cadderly und erriet instinktiv, dass Rufo beteiligt sein müsse, wenn ihm etwas zugestoßen war. Rufos Reaktion konnte ihren Verdacht nicht zerstreuen. Er zwinkerte - eines der wenigen Male, die Danica ihn je hatte zwinkern sehen - und versuchte mit aller Kraft, gleichmütig zu wirken, als er die Augen abwendete. »Das kann ich nicht sagen«, entgegnete Avery, und auch er sah Rufo ratsuchend an. Der linkische Mann zuckte nur die Schultern. »Ich habe ihn im Weinkeller zurückgelassen«, sagte er. »Ich hatte viel früher angefangen, dort zu arbeiten, deshalb fand ich es angemessen, auch früher zu gehen.« Noch ehe Avery vorschlagen konnte, den Keller zu durchsuchen, war Danica an ihm vorbeigestürmt und schon unterwegs. ¤¤¤ Die Dunkelheit und das Gewicht. Das waren die zwei Dinge, die Cadderly als erstes deutlich wurden. Die Dunkelheit und das Gewicht. Und der Schmerz. Er wußte nicht, wo er war, oder wie er an diesen dunklen Ort gekommen war, oder warum er sich nicht bewegen konnte. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Steinboden, und etwas lag auf ihm. Immer wieder versuchte er zu rufen, bekam aber nicht genug Luft dazu. Bilder von wandelnden Skeletten und dicken Spinnweben blitzten in seinen Gedanken auf, als er so dalag, aber sie hatten keine echte Bedeutung und keinen festen Platz in seinem Gedächtnis. Irgendwo - im Traum? - hatte er sie gesehen, aber ob jener Ort etwas mit diesem Ort hier zu tun hatte, war ihm nicht klar. Dann sah er flackernden Fackelschein in weiter Ferne, der jedoch näher kam, und als die Schatten hohe, offene Regale enthüllten, erkannte er endlich seine Umgebung. »Der Weinkeller«, grunzte Cadderly, obwohl die Anstrengung ihm Schmerzen bereitete. »Rufo?« Alles war wie im Nebel. Er erinnerte sich daran, wie er von der Küche heruntergekommen war, um Rufo bei der Inventur zu helfen. Er erinnerte sich auch daran, wie er angefangen hatte zu arbeiten, aber das war alles. Hinterher war offensichtlich etwas geschehen, aber Cadderly konnte sich nicht daran erinnern und wußte auch nicht, wie er in seine gegenwärtige Lage gekommen war. »Cadderly?« kam ein Ruf. Danicas Stimme. Nicht eine, sondern drei Fackeln waren in den großen Weinkeller eingedrungen. »Hier! « keuchte Cadderly mit aller Kraft, doch sein Hauchen blieb unhörbar. Die Fackeln fächerten in verschiedene Richtungen aus, verschwanden aus Cadderlys Blickwinkel und flackerten dann wieder in regelmäßigen Abständen hinter den offenen Regalen voller Flaschen auf. Jetzt riefen alle drei nach ihm - Cadderly erkannte Avery, Rufo und Danica. »Hier!« keuchte er, so oft er konnte. Doch der Keller war groß und von Dutzenden hoher Weinregale unterteilt, so dass es viele Minuten dauerte, bis der Ruf vernommen wurde. Kierkan Rufo entdeckte ihn. Der große Mann wirkte gespenstischer denn je, als Cadderly in die Schatten aufblickte, die über Rufos kantige Züge huschten. Rufo machte einen überraschten Eindruck, dann blickte er sich um, als ob er nicht recht wüßte, wie er reagieren sollte. »Könntest du ... «, setzte Cadderly an. Er hielt inne, um Luft zu holen. »Bitte, hol ... mich ... nimm das von mir runter.« Immer noch zögerte Rufo, schaute abwechselnd verwirrt und besorgt drein. »Hierher«, rief er schließlich. »Ich habe ihn gefunden.«
Cadderly bemerkte wenig Erleichterung in Rufos Tonfall. Rufo legte seine Fackel hin und begann, die Fässer abzuräumen, die Cadderly am Boden hielten. Als Cadderly einen Blick über die Schulter wagte, sah er, wie sein Retter ein schweres Faß über ihn neigte, und einen Moment lang fürchtete er, Rufo werde es ihm auf den Kopf kippen, aber dann kam Danica angerannt und half, es wegzuschieben. Alle Fässer waren abgeräumt, bevor Großmeister Avery überhaupt hinzugekommen war, und Cadderly wollte bereits aufstehen. Danica hielt ihn fest. »Nicht bewegen!« befahl sie mit fester Stimme. Ihre Miene war ernst, der Blick der braunen Mandelaugen durchdringend und kompromißlos. »Nicht, bevor ich deine Verletzungen untersucht habe.« »Es geht mir gut«, setzte Cadderly an, doch er wußte, dass seine Worte auf taube Ohren stoßen würden. Danica hatte sich geängstigt und war nicht in der Stimmung für Diskussionen. Halbherzig unternahm Cadderly noch einen Ver such, aber diesmal hielt Danicas starke Hand ihn auf, indem sie auf einen besonders empfindlichen Bereich seines Nackens drückte. »Ich kann dich vom Zappeln abhalten«, versprach Danica, und Cadderly zweifelte nicht daran. Er legte das Gesicht wieder auf die verschränkten Arme und ergab sich. »Wie ist das passiert?« wollte der kurzatmige, rotgesichtige Avery wissen, als er sich schnaufend zu ihnen gesellte. »Als ich ging, hat er Flaschen gezählt«, erklärte Rufo nervös. Cadderly verzog verwirrt das Gesicht, als er wieder versuchte, sich in seinen unklaren Erinnerungen zurechtzufinden. Er hatte das unangenehme Gefühl, dass Rufo von ihm eine Art Anklage erwartete, und er fragte sich, welchen Anteil sein Freund an seiner Lage haben mochte. Das Gefühl von etwas Hartem - einem Stiefel? - an seinem Rücken entglitt ihm zu schnell, um einen Sinn zu ergeben. »Ich weiß es nicht«, antwortete Cadderly ehrlich. »Ich kann mich einfach nicht erinnern. Ich habe gezählt ... «Dann brach er ab und schüttelte frustriert den Kopf. Cadderlys Leben beruhte auf Wissen; er haßte unlogische Rätsel. »Und du bist weggelaufen«, brachte Avery den Satz zu Ende. »Du bist auf Entdeckungsreise gegangen, anstatt zu arbeiten.« »Die Wunden sind nicht so ernst«, warf Danica ein. Cadderly wußte, dass sie die wachsende Erregung des Großmeisters absichtlich abgewiegelt hatte, und lächelte die junge Frau dankbar an, als sie ihm auf die Beine half. Es fühlte sich gut an, wieder zu stehen, obwohl er sich minutenlang haltsuchend auf Danica stützen mußte. Irgendwie paßte Averys Unterstellung nicht zu Cadderlys Erinnerungen - wo immer die auch sein mochten. Er glaubte nicht, dass er einfach »weggelaufen« war und sich in Schwierigkeiten gebracht hatte. »Nein«, widersprach er. »Nein, so war es nicht. Hier war etwas.« Er sah Danica an, dann Rufo. »Ein Licht?« Der Klang dieses Wortes löste eine weitere Erinnerung aus. »Die Tür!« rief er plötzlich. Wenn das Fackellicht stärker gewesen wäre, hätten alle bemerkt, wie Kierkan Rufos Gesicht totenbleich wurde. »Die Tür«, sagte Cadderly noch einmal. »Hinter der Wand mit den Fässern.« »Was für eine Tür?« wollte Avery wissen. Cadderly dachte einen Augenblick nach, fand aber keine Antwort. Seine beträchtliche Willenskraft kämpfte unbewußt gegen Barjins Spruch, der sein Gedächtnis blockierte, aber er konnte sich nur an die Tür erinnern, einfach eine Tür, irgendwo. Und wohin dieses Portal geführt haben mochte, konnte Cadderly nur raten. Er entschloß sich, es sofort herauszufinden. Die Tür war verschwunden. Cadderly stand lange da und starrte die staubigen Ziegel in der festen Wand an. »Was für eine Tür?« fragte der ungeduldige Großmeister wieder. »Sie war hier«, beharrte Cadderly so überzeugend wie nur möglich. Er ging näher an die Wand und betastete sie. Auch das war vergeblich. »Ich erinnere mich...«, wollte er protestieren. Er fühlte einen Arm unter seine Schulter gleiten. »Du hast eine Kopfverletzung«, sagte Danica sanft. »Verwirrung ist nach einem solchen Schlag nicht ungewöhnlich - und hält auch nicht lange an«, fügte sie schnell hinzu, um ihn zu trösten. »Nein, nein«, protestierte Cadderly, aber er ließ zu, dass Danica ihn wegführte. »Was für eine Tür?« fragte der aufgebrachte Avery ein drittes Mal. »Er hat sich den Kopf verletzt«, warf Danica ein. »Ich dachte ... «, setzte Cadderly an. »Es muß ein Traum gewesen sein« - er sah Avery in die Augen -, »aber was für ein seltsamer Traum!« Rufo stieß einen hörbaren Seufzer aus. »Er ist nicht so schwer verletzt?« fragte der große Mann peinlich berührt, als er die neugierigen Mienen der anderen sah. »Nicht so schwer«, erwiderte Danica, deren Tonfall ihren Verdacht verriet. Cadderly bemerkte es kaum, denn er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich zu erinnern. »Was kann hier drunter sein?« fragte er, ohne nachzudenken. »Das geht dich nichts an«, antwortete Avery scharf. Skelette wanderten wieder durch Cadderlys Unterbewußtsein. »Eine Krypta?« fragte er. »Das geht dich nichts an!« antwortete Avery streng. »Ich bin deine Neugier langsam leid, Bruder.« Auch Cadderly war verärgert, denn er konnte es nicht leiden, Rätsel im Kopf zu haben. Averys Blick war unnachgiebig, aber Cadderly war viel zu durcheinander, um sich davon abschrecken zulassen. »Schsch!« zischte er sarkastisch und legte einen Finger an seine Lippen. »Du willst doch wohl nicht, dass Deneir dich hört, der uns gebietet, nach Wissen zu streben.«
Averys Gesicht wurde so rot, dass Cadderly beinahe erwartete, es platzen zu sehen. »Geh zu den Heilern«, knurrte der Großmeister, »danach kommst du zu mir. Ich habe jede Menge Arbeit für dich.« Er fuhr herum und stürmte davon - mit Rufo im Schlepptau, der sich auf dem Weg zur Treppe allerdings immer wieder umsah. Danica stupste Cadderly kräftig an, was seinen gequetschten Rippen weh tat. »Du weißt nie, wann du den Mund halten mußt«, schalt sie. »Wenn du weiter so mit Großmeister Avery sprichst, werden wi r nie mehr Gelegenheit finden, uns zu sehen!« In einer Hand die Fackel, den anderen Arm um Cadderly gelegt, zog sie ihren Freund unsanft zur Treppe. Cadderly sah auf sie herunter, weil er glaubte, sich entschuldigen zu müssen, doch dabei entdeckte er, dass Danica sich das Lachen verkniff und stellte fest, dass sein Sarkas mus ihr eigentlich gar nicht mißfallen hatte. ¤¤¤ Barjin beobachtete den stetigen Strom rötlichen Rauchs, der aus der offenen Flasche emporstieg und durch die Ritzen in der Decke drang, um sich einen Weg zur Bibliothek zu suchen. Der Priester mußte immer noch verschiedene Zeremonien durchführen, um das Ritual zu vollenden. So hatte man es auf Burg Trinitatis vereinbart, aber jetzt ging es nur noch um Äußerlichkeiten. Der Ultimative Schrecken war entfesselt, der Chaosfluch auf dem Weg. Hier würde es länger dauern als bei Haverly in Burg Trinitatis, bis das Ergebnis sichtbar würde, soviel wußte Barjin. Aballister zufolge hatte Haverly eine konzentrierte Dosis direkt ins Gesicht bekommen. Die Herstellung des Elixiers war viel zu teuer, um diese Wirkung bei einem Feind nach dem anderen zu provozieren, darum war die Mischung in der immerrauchenden Flasche kräftig verdünnt worden. Die Priester hier würden das Elixier allmählich in sich aufnehmen, jede Stunde würde sie dem Verhängnis näher bringen. Barjin glaubte jedoch fest an die Macht des Elixiers un d an die Macht seiner Göttin - besonders, wenn er als ihr Sendbote diente. »Mal sehen, wie diese frommen Esel sich benehmen, wenn ihre wahren Gefühle herauskommen«, lachte er Mullivy höhnisch zu. Der Zombie reagierte natürlich nicht. Er stand einfach ganz still da, ohne sich zu regen. Barjin warf ihm einen wütenden Blick zu und konzentrierte sich wieder auf die immerrauchende Flasche. »Die nächsten Tage sind die gefährlichsten«, flüsterte er in sich hinein. »Danach werden die Priester nicht mehr fähig sein, sich mir zu widersetzen.« Böse grinsend sah er sich zu Mullivy um. »Wir werden bereit sein«, versicherte er dem Hausmeister. Er hatte bereits Dutzende von Skeletten belebt und Mullivys Leiche mit weiteren Zaubern belegt, um sie zu stärken. Und dann war da natürlich noch Khalif, Barjins kostbarster Soldat, der in dem Sarkophag gleich vor der Tür zum Altarraum Barjins Befehle erwartete. Barjin wollte seiner wachsenden Armee neue, noch schrecklichere Monster hinzufügen. Zunächst würde er den Nekromantenstein enthüllen und sehen, welche untoten Verbündeten dieser herbeiführen würde. Dann würde er, Aballisters Rat zufolge, ein Tor zu einer der Unteren Ebenen öffnen und kleinere Monster herbeirufen, die ihm in seinem wachsenden Netzwerk als Ratgeber und Spione dienen sollten. »Sollen die dummen Priester ruhig herunterkommen«, sagte er und zog ein altes Buch über Hexerei und Nekromantie aus den Falten seiner Robe. »Sollen sie den Schrecken kennenlernen, der sie heimgesucht hat!«
Ungereimtheiten Cadderly saß am offenen Fenster, blickte in die Dämmerung und fütterte Percival mit Cacasanuß-Butterkeksen. Heute morgen machten die Leuchtenden Ebenen ihrem Namen alle Ehre, denn das taufeuchte Gras fing das Licht der Morgensonne ein und warf es in schillerndem Tanz zum Himmel zurück. Die Sonne stieg höher, und die helle Linie zog sich die Ausläufer des Schneeflockengebirges hinauf. Düstere Flecken, die Täler, übersäten das Gebiet, und im Süden, aus dem Tal des Impresk, der in den großen See im Osten mündete, erhob sich leichter Nebel. »Autsch!« schrie Cadderly und zog die Hand weg. Percival war etwas zu gierig gewesen und hatte durch den Keks in Cadderlys Handfläche gebissen. Cadderly kniff die Wunde mit Daumen und Zeigefinger zu, um die Blutung zu stillen. Percival, der die restlichen Cacasanüsse von seinen Pfo ten schleckte, schien Cadderlys Ärger kaum zu bemerken. »Ist wohl meine eigene Schuld«, gab der junge Mann zu. »Ich kann nicht erwarten, dass du dich vernünftig benimmst, wenn es Cacasanüsse und Butter gibt.« Percivals Schwanz zuckte aufgeregt, aber das war das einzige Zeichen, dass das Eichhörnchen überhaupt zuhörte. Cadderly wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Außenwelt zu. Das Tageslicht hatte die Bibliothek erreicht, und obwohl Cadderly angesichts des neuen Lichts blinzeln mußte, fühlte es sich auf seinem Gesicht wunderbar warm an. »Das wird wieder ein schöner Tag«, bemerkte er, aber noch während er das sagte, fiel ihm ein, dass er ihn wahrscheinlich wieder im dunklen, langweiligen Weinkeller verbringen mußte. Oder in einem anderen Loch, das Großmeister Avery für ihn fand. »Vielleicht kann ich ihn heute dazu überreden, dass ich den Garten pflege«, sagte Cadderly zu dem Eichhörnchen. »Ich könnte dem alten Mullivy helfen.« Bei der Erwähnung des Ha usmeisters keckerte Percival aufgeregt.
»Ich weiß«, ging Cadderly tröstend auf ihn ein. »Du magst Mullivy nicht.« Cadderly zuckte lächelnd die Schultern, denn ihm fiel ein, wie der krumme, alte Hausmeister einmal schimpfend mit einem Rechen dem Baum gedroht hatte, auf dem Percival mit anderen Eichhörnchen saß. Mullivy hatte sich über die unzähligen Eichelschalen auf seinem frisch geharkten Boden aufgeregt. »Bitte sehr, Percival«, sagte Cadderly und kippte die restlichen Krümel auf das Fensterbrett. »Ich habe noch viel zu tun, bevor Avery mich erwischt.« Er ließ Percival auf dem Fensterbrett zurück, wo das Eichhörnchen genüßlich wei terfraß, sich die Pfoten leckte und das warme Tageslicht genoß. Offenbar hatte es das Unbehagen, das es bei der Erwähnung von Mullivys Namen befallen hatte, schon wieder vergessen. ¤¤¤ »Du bist meschugge!« kreischte Ivan. »Du kannst nicht zu ihnen gehören!« »Hei jo!« gab Pikel entrüstet zurück. »Glaubst du denn, dass die dich nehmen?« brüllte Ivan. »Sag's ihm, Jungchen!« rief er Cadderly zu, der gerade die Küche betreten hatte. »Sag dem Dummkopf, dass Zwerge keine Druiden werden können!« »Du willst Druide werden?« fragte Cadderly neugierig. »Ei, ei!« piepste Pikel glücklich. »Hei jo!« Ivan hatte genug gehört. Er wuchtete eine Bratpfanne hoch - wobei die halbgebratenen Eier zu Boden rutschten und schlug damit nach seinem Bruder. Pikel war nicht schnell genug, um dem Schlag auszuweichen, schaffte es aber, sich vorzubeugen, wodurch er den Schlag mit dem Kopf abfing und keinen ernsthaften Schaden davontrug. Immer noch schäumend griff Ivan nach einer weiteren Pfanne, aber Cadderly hielt ihn am Arm fest. »Warte!« flehte er. Ivan hielt einen Moment inne, begann sogar zu pfeifen, um das Ausmaß seiner Geduld zu zeigen, dann schrie er: »Lange genug!« und stieß Cadderly zu Boden. Der Zwerg riß die Pfanne hoch und griff an, aber sein Bruder, der sich jetzt gleichermaßen bewaffnet hatte, war bereit. Cadderly hatte in vielen Heldengeschichten gelesen, wie es klang, wenn Eisen auf Eisen traf, aber er hätte nie gedacht, dieses Geräusch einmal von zwei wildgewordenen Zwergen mit Bratpfannen zu hören. Ivan landete den ersten Treffer, einen häßlichen Hieb auf Pikels Unterarm. Pikel grunzte und wehrte sich, indem er seine Pfanne senkrecht auf Ivans Kopf knallen ließ. Ivan wich einen Schritt zurück, damit seine Augen zu kreisen aufhörten. Neben sich sah er einen Tisch voller Geschirr und hatte eine plötzliche Eingebung, zweifellos durch den Kopftreffer. Pikel erwiderte sein Lächeln. »Töpfe?« fragte Ivan. Pikel nickte eifrig, und beide rannten zum Tisch, um einen zu finden, der richtig paßte. Überall flog Essen durch die Luft, gefolgt von Töpfen, die sich als zu klein oder zu groß erwiesen hatten. Dann standen sich Ivan und Pikel wieder gegenüber, schwenkten ihre erprobten Pfannen und hatten die Suppentöpfe des Vorabends auf dem Kopf. Cadderly sah all dem maßlos erstaunt zu, weil er nicht recht wußte, wie er dieses Verhalten einordnen sollte. Zeitweise wirkte es komisch, aber dass die Striemen und Blutergüsse auf Armen und Gesichtern der Zwerge immer mehr wurden, war weniger lustig. Cadderly hatte die Brüder auch früher streiten sehen und erwartete mittlerweile gewiß die seltsamsten Dinge von Zwergen, aber das hier war zu verrückt, selbst für Ivan und Pikel. »Aufhören! « schrie Cadderly sie an. Pikels Antwort kam in Form eines geschleuderten Hackmessers, das knapp an Cadderlys Kopf vorbeiflog und sich einen Fingerbreit in die Eichentür neben ihm eingrub. Ungläubig starrte der junge Mann das tödliche Gerät an. Er zitterte immer noch vor Schreck, und er wußte, dass etwas hier schrecklich falsch war - und schrecklich gefährlich. Aber er gab nicht auf, sondern verlieh seinen Bemühungen nur eine neue Richtung. »Ich weiß eine bessere Art zu kämpfen!« schrie er, während er vorsichtig auf die Zwerge zuging. »Hä?« fragte Pikel. »Bessere Art?« fügte Ivan hinzu. »Zu kämpfen?« Ivan schien bereits überzeugt (denn es sah so aus, als würde sein Bruder die Kochgeschirrschlacht gewinnen), aber Pikel nutzte Ivans Zögern nur, um ihm noch schlimmer zuzusetzen. Seine Pfanne summte, als sie in weitem Bogen durch die Luft sauste, um auf Ivans Ellbogen herunterzuschmettern und den gelbbärtigen Zwerg aus dem Gleichgewicht zu bringen. Pikel erkannte klar seinen Vorteil. Wieder hob er die Pfanne. »Druiden kämpfen nicht mit Metallwaffen!« schrie Cadderly. »Ei«, sagte Pikel und hielt mitten im Schwung inne. Die Brüder sahen sich an, zuckten die Schultern und warfen Töpfe und Pfannen auf den Boden. Cadderly mußte sich schnell etwas einfallen lassen. Er fegte einen Teil des langen Tis ches leer. »Setz dich hierhin«, wies er Ivan an, während er einen Stuhl heranzog. »Und du hier drüben«, sagte er zu Pikel, wobei er auf einen zweiten Stuhl gegenüber von Ivan zeigte. »Stützt die rechten Ellbogen auf den Tisch«, erläuterte Cadderly. »Armdrücken?« fluchte Ivan ungläubig. »Her mit meiner Pfanne!« »Nein!« schimpfte Cadderly. »Nein. Das hier ist besser, eine echte Kraftprobe.« »Pah!« schnaubte Ivan. »Ich mach' ihn fertig!« »Oh?« sagte Pikel.
Sie faßten sich grob an den Händen und begannen zu drücken, noch ehe Cadderly ein Zeichen geben oder sie auch nur ausrichten konnte. Er warf ihnen noch einen kurzen Blick zu, weil er am liebsten gesehen hätte, wie die Sache ausging. Aber die Brüder waren einander ebenbürtig, und ihr Kampf konnte eine Weile dauern. Cadderly hörte andere Priester draußen vor der offenen Küchentür vorbeihuschen, denn es war Zeit zum Mittagsgesang. Trotz des Notfalls konnte er bei der Pflichtzeremonie einfach nicht schon wieder fehlen. Ersah noch einmal zu, weil er sichergehen wollte, dass die Zwerge wirklich beschäftigt waren, dann schüttelte er verwirrt den Kopf und lief davon. Er kannte Ivan und Pikel über zehn Jahre, seit seiner Kindheit, und hatte nie gesehen, dass sie die Fäuste gegeneinander erhoben hätten. Als wäre das nicht schon schlimm genug, bewies das Hackmesser, das immer noch in der Tür zitterte, offenkundig, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war. ¤¤¤ Bruder Chaunticleers Stimme erfüllte den großen Saal wie immer mit glasklaren Tönen und die versammelten Priester und Gelehrten mit wahrer Freude, aber die aufmerksamsten der Zuhörer, einschließlich Cadderly, sahen sich fragend um, ob ihre Nachbarn nichts bemerkten. Etwas schien in Chaunticleers Darbietung zu fehlen. Die Melodie war makellos, die Worte richtig, aber das Lied wirkte nicht so tragend wie sonst. Chaunticleer bemerkte nichts davon. Er sang wie immer, dieselben Lieder, die er seit Jahren am Mittag sang. Diesmal jedoch, und das war noch nie geschehen, war Chaunticleer tatsächlich abgelenkt. Seine Gedanken schweiften zu den Flüssen am Fuß der Berge, die noch vom Schmelzwasser angeschwollen und voller Forellen und silberner Barsche waren. Es hatte immer geheißen, bei Bruder Chaunticleer käme das Fischen gleich nach dem Singen. Jetzt erfuhr der Priester, dass die zur Schau getragene Reihenfolge seiner Wünsche vielleicht nicht ganz richtig war. Dann geschah es. Bruder Chaunticleer vergaß den Text. Verdattert stand er auf dem Podium im großen Saal, während Bilder von fließendem Wasser und springenden Fischen noch mehr zu seiner Verwirrung beitrugen und das Lied noch weiter aus seinen Gedanken verdrängten. Rundherum wurde geflüstert, ungläubig sackten Kinnladen nach unten. Abt Thobicus, der nie die Ruhe verlor, trat auf das Podium. »Fahr einfach fort, Bruder Chaunticleer«, wies er ihn leise an. Chaunticleer konnte nicht fortfahren. Das Lied von Deneir war nichts gegen das fröhliche Platschen springender Forellen. Das Geflüster wurde zu gedämpftem Gekicher. Abt Thobicus wartete noch einen Augenblick, dann flüsterte er Großmeister Avery etwas ins Ohr, und dieser, der offenbar noch mehr erschüttert war als sein Vorgesetzter, schloß die Versammlung. Er drehte sich wieder um, weil er Chaunticleer befragen wollte, doch der singende Priester war bereits verschwunden. Er rannte nach seinem Haken und der Schnur. ¤¤¤ Cadderly nutzte das Durcheinander im großen Saal, um Averys wachsamem Auge zu entwischen. Er hatte einen langweiligen Morgen mit Bodenwischen verbracht, war jetzt jedoch damit fertig und hatte frei - jedenfalls, bis Avery sehen würde, dass er untätig war, und ihm neue Aufgaben zuwies. Avery war im Moment damit beschäftigt herauszufinden, was in Bruder Chaunticleer gefahren war. Wenn Cadderly die Tragweite von Chaunticleers Fehlverhalten richtig einschätzte, würde der Großmeister eine Weile mit ihm beschäftigt sein. Chaunticleer galt als einer der frömmsten Priester im Orden des Deneir, und seine erste Pflicht, seine allerwichtigste Aufgabe, war der Lobgesang am Mittag. Auch Cadderly machte sich Gedanken über die Ereignisse bei der Zeremonie, besonders nach seinem vorherigen Erlebnis mit den Zwergen. Aber noch mehr als Chaunticleers Au ssetzer beim Singen beunruhigte es ihn, dass Danica nicht im Saal gewesen war. Sie gehörte weder der Sekte des Oghma noch der des Deneir an und mußte daher nicht teilnehmen, aber sie verpaßte das Ritual selten und sagte Cadderly dann stets vorher Bescheid. Und noch schlimmer war, dass auch Kierkan Rufo fehlte. Da sich die eigentliche Bibliothek im Erdgeschoß befand, nicht weit vom großen Saal, beschloß Cadderly, dort mit seiner Suche zu beginnen. Eilig sprang er los und sputete sich noch mehr, weil sein Verdacht wuchs. Ein Stöhnen aus einem Seitengang ließ ihn abrupt stehenbleiben. Cadderly spähte um die Ecke. Dort kam Kierkan Rufo die Treppe herunter, wobei er sich schwerfällig an der Wand abstützte. Er schien sich kaum mehr aufrecht halten zu können. Sein Gesicht war blutüberströmt, und bei jedem Schritt wäre er fast gestürzt. »Was ist denn passiert?« fragte Cadderly, der herbeilief, um dem Mann zu helfen. Ein irres Licht trat in Rufos Augen. Er schlug Cadderlys ausgestreckte Hände weg, doch diese Geste kostete ihn das Gleichgewicht, und er kullerte die letzten paar Stufen herunter. Die Art, wie er fiel, erklärte für Cadderly manches. Rufo hatte seinen Sturz mit einem Arm abfangen wollen, demselben Arm, mit dem er nach Cadderly geschlagen hatte, aber sein anderer Arm baumelte taub herunter. »Wo ist sie?« schrie Cadderly, der plötzlich große Angst bekam. Er packte Rufo am Kragen und zog ihn trotz seiner Proteste hoch, um sich die Gesichtsverletzungen aus der Nähe zu betrachten. Rufos offenbar gebrochene Nase
blutete, ein Auge war fast zugeschwollen und violett, und so wie er zuckte, als Cadderly ihn aufrichtete, hatte er vermutlich auch noch andere Verletzungen, am Bauch oder etwas tiefer. »Wo ist sie?« fragte Cadderly wieder. Rufo biß die Zähne zusammen und wandte den Blick ab. Cadderly widerstand dem Bedürfnis zuzuschlagen. In seiner Freundschaft mit Rufo hatte immer eine gewisse Spannung geherrscht, eine Art Rivalität, die sich mit Danicas Ankunft in der Bibliothek nur noch verstärkt hatte. Cadderly, der normalerweise bei Danica und den Großmeistern besser dastand, war klar, dass er Rufo oft vor den Kopf gestoßen hatte, aber noch nie hatte der große Mann ihm gegenüber offene Feindschaft gezeigt. »Wenn du Danica etwas angetan hast, werde ich zurückkommen«, warnte Cadderly, obwohl er das höchst unwahrscheinlich fand. »Und ich werde dich finden.« Er ließ Rufos feuchte Tunika los und rannte die Treppe hoch. Rufos Blut führte ihn in den Südflügel des zweiten Stocks, zu den Gästezimmern der Bibliothek. Trotz seiner Eile ließ Cadderly von der Fährte ab, als er sich Histras Raum näherte, denn er hörte Schreie darin. Zuerst glaubte Cadderly die Priesterin der Sune in Gefahr, doch als er zur Türklinke griff, erkannte er, dass die Laute keine Schmerzensschreie waren. Zu besorgt, um peinlich berührt zu sein, lief er weiter. Die Blutspur führte zu Danicas Tür, wie er befürchtet hatte. Er klopfte laut an und rief: »Danica?« Als er keine Antwort bekam, hämmerte er drängender. »Bist du da drin?« Immer noch keine Reaktion. Cadderly zog den Kopf ein und stürmte ungehindert durch die unverschlossene Tür hinein. Danica saß absolut reglos in der Mitte des kleinen Zimmers auf dem dicken Teppich, den sie zum Üben benutzte. Sie hielt die offenen Hände in Meditationshaltung vor sich und gab kein Zeichen, dass sie bemerkt hatte, dass jemand den Raum betreten hatte. Ihre Konzentration richtete sich nach vorn auf einen dicken Steinblock, der von zwei Sägeböcken gehalten wurde. »Danica?« fragte Cadderly wieder. »Geht es dir gut?« Zögernd ging er zu ihr. Danica wandte den Kopf und sah ihn mit starrem Blick an. »Natürlich«, sagte sie. »Warum auch nicht?« Ihre rotblonden Locken waren schweißnaß und die Hände von geronnenem Blut besudelt. »Ich habe gerade Kierkan Rufo getroffen«, m einte Cadderly. »Ich auch«, erwiderte Danica ruhig. »Was ist ihm zugestoßen?« »Er hat versucht, seine Hände hinzulegen, wo sie nicht hingehören«, sagte Danica beiläufig, während sie sich wieder dem Steinblock zuwandte. »Ich habe ihn davon abgehalten.« Für Cadderly ergab das keinen Sinn. Rufo hatte ihr oft lüsterne Blicke zugeworfen, aber er war nie dumm genug gewesen, sich ihr ernsthaft zu nähern. »Rufo hat dich angegriffen?« fragte er. Danica lachte hysterisch. Auch das irritierte den jungen Priester. »Er hat versucht, mich anzufassen, habe ich gesagt.« Cadderly kratzte sich am Kopf und sah sich im Zimmer um, weil er endlich wissen wollte, was geschehen war. Er konnte sich immer noch nicht vorstellen, dass Rufo sich Danica einfach so genähert hatte, aber noch erstaunlicher war Danicas Reaktion. Sie war eine beherrschte, disziplinierte Kämpferin. Cadderly hätte nie eine solche Überreaktion erwartet wie die Schläge, die sie Rufo anscheinend verpaßt hatte. »Du hast ihn schwer verletzt«, sagte Cadderly, der eine Erklärung brauchte. »Er wird sich erholen.« Mehr entgegnete Danica nicht. Cadderly packte sie am Arm und wollte sie zu sich umdrehen. Danica war zu schnell. Ihr Arm zuckte zurück und wieder vor, wodurch sie sich seinem Griff entwand, dann landete ihre Hand auf Cadderlys Daumen und bog ihn zurück, was ihn fast in die Knie zwang. Ihr anschließender wütender Blick hätte schon genügt, ihn zurückzutreiben, und Cadderly fürchtete ernsthaft, sie werde ihm den Finger brechen. Dann wurde Danicas Blick sanfter, als hätte sie jetzt erst erkannt, wer neben ihr stand. Sie ließ Cadderlys Daumen los und griff statt dessen nach seinem Kopf, den sie zu sich zog. »Oh, Cadderly!« rief sie unter Küssen. »Habe ich dir weh getan?« Cadderly stieß sie auf Armeslänge zurück und starrte sie lange an. Abgesehen von Rufos Blut an den Händen und einem seltsamen, drängenden Blick in den Augen kam sie ihm ganz gesund vor. »Hast du Wein getrunken?« fragte Cadderly. »Natürlich nicht«, erwiderte Danica überrascht. »Du weißt doch, dass ich nur ein Glas ... « Ihre Stimme brach ab, als der harte Blick wiederkehrte. »Zweifelst du an meinem Gelübde?« fragte sie scharf. Cadderlys Gesicht legte sich in verwirrte Falten. »Laß mich los.« Sie meinte es ernst, und als der verblüffte Cadderly nicht sofort reagierte, wurde sie nachdrücklicher. Sie und Cadderly standen nur zwei Fuß auseinander, aber Danica zog geschmeidig den Fuß hoch und wedelte Cadderly damit drohend vor dem Gesicht herum. Cadderly wich zurück. »Was ist denn los mit dir?« wollte er wissen. Danicas Gesicht wurde wieder weicher. »Du hast Rufo schlimm verprügelt«, sagte Cadderly. »Wenn er sich dir unziemlich genähert hat -« »Er hat mich unterbrochen! « schnitt Danica ihm das Wort ab. »Er...« Sie sah den Steinblock an, dann Cadderly. Ihre Miene war wieder finster. »Und jetzt unterbrichst du mich.«
Weise ging Cadderly rückwärts. »Ich gehe ja schon«, versprach er, während er den Block musterte, »wenn du mir sagst, was ich unterbreche.« »Ich bin eine wahre Schülerin von Großmeister Penpahg D'Ahn!« schrie Danica, als ob das die Antwort auf alles wäre. »Natürlich bist du das«, sagte Cadderly. Seine Zustimmung beruhigte Danica. »Die Zeit für Gigel Nugel ist gekommen«, sagte sie. »Eisenschädel. Aber meine Konzentration darf nicht gestört werden.« Cadderly betrachtete den dicken Stein einen Moment lang - er war weitaus größer als der in der Zeichnung von Penpahg D'Ahn -, dann sah er in Danicas hübsches Gesicht und versuchte erfolglos, diese Nachricht zu verdauen. »Du willst' diesen Block da mit dem Kopf zerbrechen?« »Ich bin eine wahre Schülerin«, wiederholte Danica. Cadderly wurde fast schwindelig. »Tu das nicht«, bat er und streckte die Arme nach ihr aus. Als er erkannte, wie sie reagieren wollte, wich er wieder zurück und verlegte sich aufs Argumentieren. »Noch nicht«, bettelte er. »Das ist ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der Bibliothek. Abt Thobicus muß informiert werden. Wir könnten es in aller Öffentlichkeit durchführen.« »Das ist nur meine Sache«, entgegnete Danica. »Es ist kein Schauspiel für ungläubige Zuschauer.« »Ungläubige?« flüsterte Cadderly und wußte im selben Moment, dass dieses Etikett auf ihn paßte, aber nicht nur, weil sein Glaube anders war als Danicas. Er mußte sich beeilen. »Aber«, fiel ihm ein, »das Ereignis muß doch sicher ordentlich bezeugt und aufgeschrieben werden.« Danica sah ihn neugierig an. »Für zukünftige Schüler?« erklärte Cadderly. »Wer wird in hundert Jahren kommen, um von Großmeister Penpahg D'Ahn zu lernen? Würde dieser Jünger nicht auch von den Praktiken und Erfolgen der Großmeisterin Danica profitieren? Du kannst mit dieser Leistung nicht selbstsüchtig umgehen. Das wäre doch sicher nicht im Sinne der Lehren von Penpahg D'Ahn.« Danica sann über seine Worte nach. »Das wäre selbstsüchtig«, gab s ie zu. Selbst ihre Zustimmung steigerte Cadderlys Ängste, dass hier etwas überhaupt nicht stimmte. Danica hatte ein scharfes Denkvermögen und war noch nie so leicht zu manipulieren gewesen. »Ich warte, bis du die nötigen Vorbereitungen getroffen hast«, sagte sie, »aber nicht lange! Die Zeit des Eisenschädels ist gekommen. Ich weiß, dass es so ist. Ich bin eine wahre Schülerin von Großmeister Penpahg D'Ahn.« Cadderly wußte nicht, was er tun sollte. Er spürte, dass Danica sofort weitermachen würde, wenn er sie jetzt verließ. Als er sich umsah, fiel sein Blick schließlich auf Danicas Bett. »Etwas Ruhe würde dir gut tun«, schlug er vor. Danica sah zum Bett hin, dann zu Cadderly zurück. Ein durchtriebener Ausdruck schlich sich auf ihr Gesicht. »Ich weiß etwas Besseres als Ruhe«, schnurrte sie und kam erheblich näher. Das Drängen in ihrem unerwarteten Kuß ließ Cadderlys Knie weich werden und versprach ihm viele wundervolle Dinge. Nein. Er erinnerte sich daran, dass mit Danica etwas nicht stimmte, dass anscheinend mit seiner ganzen Umgebung etwas nicht stimmte. »Ich muß fort«, sagte er, als er sich losmachte. »Zu Abt Thobicus, wegen der Vorbereitungen. Du ruhst dich jetzt aus. Sicher wirst du deine Kraft brauchen.« Widerstrebend ließ Danica ihn gehen, denn sie war wirklich zwischen Pflichtgefühl und Begierde heftig hin- und hergerissen. ¤¤¤ Cadderly taumelte zurück ins Erdgeschoß. Die Gänge waren beunruhigend still und leer, so dass er unsicher wurde, wohin er sich wenden sollte. Er hatte nur wenige gute Freunde in der Bibliothek - zu Kierkan Rufo wollte er mit diesem Problem nicht kommen, und er wollte sich auch von den Schlaf- und Arbeitszimmern des Abts und der Großmeister fernhalten, weil er eine Begegnung mit Avery fürchtete. Schließlich ging er in die Küche zurück, wo er Pikel und Ivan vorfand, die vor Erschöpfung beinahe zusammenbrachen, aber immer noch stur auf dem Tisch ihre Kraft maßen. Cadderly wußte, dass die Zwerge Dickköpfe waren, aber seit dem Beginn ihrer Kraftprobe war über eine Stunde verstrichen. Als er mit ungläubigem Kopfschütteln näher kam, sah er, wie dickköpfig die Gebrüder Felsenschulter tatsächlich waren. Bläuliche Flecken von geplatzten Venen zogen sich über ihre Arme, und ihre Körper zitterten unter der Daueranstrengung heftig, aber ihre Blicke ließen nicht voneinander ab. »Ich krieg' dich!« keuchte Ivan. Pikel knurrte zurück und strengte sich mehr an. »Hört auf!« verlangte Cadderly. Beide Zwerge blickten vom Tisch auf. Erst jetzt bemerkten sie, dass jemand die Küche betreten hatte. »Ich kann ihn schaffen«, versicherte Ivan Cadderly. »Warum streitet ihr euch?« fragte Cadderly, der vermutete, dass die Zwerge sich nicht mehr erinnerten. »Du warst doch dabei«, erwiderte Ivan. »Du hast selbst gesehen, dass er angefangen hat.« »Oh?« piepste Pikel sarkastisch dazwischen. »Womit angefangen?« fragte Cadderly. »Mit dem Streit!« knurrte der verärgerte Ivan.
»Wie?« Ivan fiel nichts mehr ein. Er sah Pikel an, der nur die Schultern zuckte. »Warum streitet ihr dann?« fragte Cadderly wieder, ohne eine Antwort zu erhalten. Beide Zwerge gaben gleichzeitig nach und sahen sich über den Tisch hinweg an. »Brüderchen!« schrie Ivan plötzlich und sprang über den Tisch. Pikel fing ihn aus der Luft auf, und ihre Umarmungen fielen fast so fest aus wie zuvor das Armdrücken. Glücklich drehte sich Ivan zu Cadderly um. »Er ist mein Brüderchen!« erklärte der Zwerg. Cadderly bemühte sich zu lächeln. Er hielt es für das Beste, die Zwerge abzulenken, so wie er Danica abgelenkt hatte. »Es ist bald Zeit fürs Abendessen«, brauchte er nur zu sagen. »Abendessen?« bellte Ivan. »Ei, ei!« fügte Pikel hinzu, und schon schossen sie los, wirbelten wie kleine bärtige Tornados durch die Gegend und brachten in Windeseile die Küche soweit in Ordnung, dass sie das Abendessen vorbereiten konnten. Cadderly wartete noch ein paar Minuten, um sicherzugehen, dass sie nicht wieder anfangen würden zu kämpfen, dann schlüpfte er hinaus und lief zurück zu Danica. Er fand sie friedlich schlafend in ihrem Zimmer vor, breitete ihre Decken über s ie und ging dann zu dem Stein, um festzustellen, ob er ihn irgendwie entfernen könnte. »Wie um alles in der Welt hast du den hier heraufgekriegt?« fragte er, als er den schweren Block anstarrte. Man brauchte mindestens zwei starke Männer, um ihn zu bewegen, und selbst dann - selbst zu dritt - war die Treppe nicht leicht zu überwinden. Vorläufig beschloß Cadderly, den Stein einfach von den Sägeböcken zu stoßen, damit er auf dem Boden lag. Dann konnte Danica keinen weiteren Versuch zum Eisenschädel starten. Er ging zum Bett zurück und nahm die dicksten Decken. Diese knotete er zusammen, schlang sie um den Block und warf dann beide Enden über einen Dachsparren des niedrigen Zimmers. Er ergriff die herunterbaumelnden Enden und zog sich selbst ein Stück daran hoch. Dann trat er gegen den Block. Die Sägeböcke neigten sich und kippten, der Dachsparren knarrte unmutig, aber Cadderlys Gegengewicht ließ den Stein in den Decken ganz langsam absinken. Mit den Beinen der Sägeböcke als Hebel gelang es ihm, die Decken unter dem Stein hervorzuziehen. Dann deckte er Danica wieder zu und rannte davon. Seine Gedanken suchten fieberhaft nach einer logischen Erklärung für die unlogischen Ereignisse des Tages. ¤¤¤ Es war eine hinreißende Eiche, ein wirklich herrlicher Baum, dessen ausladende Äste Newander zärtlich streichelte, als er höher kletterte. Der Blick von den obersten Ästen war berauschend - vor Entzücken liefen dem Druiden Schauer über den Rücken. Als er sich allerdings umdrehte, um die Berge im Südwesten zu betrachten, verschwand Newanders Lächeln. Dort lag die Erhebende Bibliothek, ein kaum sichtbarer, viereckiger Block in weiter Ferne. Newander hatte nicht so weit gehen wollen, denn obwohl sein Orden viel persönliche Freiheit gestattete, wußte er, dass Arcite nicht beglückt sein würde. Ein Vogel flatterte herbei und landete dicht neben dem Kopf des Druiden. »Ich sollte umkehren«, sagte Newander zu ihm, obwohl er lieber hier in der Wildnis geblieben wäre, fernab von den Verlockungen der Zivilisation. Widerstrebend begann er mit dem Abstieg. Als die ferne Bibliothek außer Sicht war, wäre er fast in die entgegengesetzte Richtung gelaufen. Er tat es jedoch nicht. Grummelnd machte er sich auf den Rückweg, zurück zu seinen Pflichten, und schalt sich dabei wegen seiner Ängste und Schwächen. ¤¤¤ Cadderly wollte sich nur kurz hinlegen und ausruhen, als er in sein Zimmer zurückkam. Der Nachmittag war erst halb verstrichen, aber es war bereits ein anstrengender Tag gewesen. Bald schnarchte der junge Priester laut. Aber nicht friedlich. Aus den Tiefen seiner Träume kamen wandelnde Tote, Skelette und scheußliche Ghule, die mit scharfen Knochenhänden und faulenden Fingern nach ihm griffen. Als er hochschreckte, war es stockfinster. Kalte Schweißbäche rannen ihm übers Gesicht, und seine Decken waren feucht und klamm. Er hörte ein Geräusch neben dem Bett. Beim Hinlegen hatte er sich nicht entkleidet, so dass er nun herumtastete, um Spindelscheiben und Lichtrohr zu finden. Da war etwas, ganz in der Nähe. Die Verschlußkappe sprang auf, und das Licht strömte heraus. Cadderly hätte fast aus reiner Panik mit den Spindelscheiben zugeschlagen, aber es gelang ihm, den Angriff zu bremsen, als er den weißen Pelz eines Freundes erkannte. Genauso erschrocken wie Cadderly rannte Percival qu er durchs Zimmer, brachte alles durcheinander und schoß dann unters Bett. Einen Augenblick später kam das Eichhörnchen zögernd an Cadderlys Füße und kletterte langsam hinauf, um sich in seine Achselhöhle zu kuscheln. Cadderly war froh über die Gesellschaft. Er verschloß sein Licht, hielt es aber weiter fest und war bald wieder eingeschlafen.
Die wandelnden Toten erwarteten ihn.
Zeit zum Handeln Barjin will das Tor öffnen«, berichtete Dorigen Aballister. »Meine Informanten auf den Unteren Ebenen spüren, dass ein Portal entsteht.« »Wie lange?« fragte der Zauberer finster. Aballister war froh, dass Druzil bald in Barjins Nähe sein würde, um ein Auge auf den gefährlichen Mann zu haben, doch er war nicht glücklich darüber, dass der Priester so schnell so weit gekommen war. Wenn Barjin ein Tor öffnen wollte, war wahrscheinlich alles andere bereits nach Plan verlaufen. Dorigen zuckte die Schultern. »Eine oder zwei Stunden«, erwiderte sie. »Ich weiß schließlich nicht, welche Rituale er verwenden wird.« Sie wa rf einen Blick zu Druzil, der gemütlich auf Aballisters Tisch hockte und ungerührt wirkte, obwohl beide Zauberer ihm das nicht abnahmen. »Hältst du es wirklich für notwendig, das Teufelchen loszuschicken?« »Vertraust du Barjin eher?« antwortete Aballister. »Talona hätte ihm nicht gestattet, das Elixier zunehmen, wenn er unserer Sache nicht treu ergeben wäre«, entgegnete Dorigen. »Glaub nur nicht, dass die Göttin so direkt an unserer Sache interessiert ist«, warnte Aballister, erhob sich von seinem Eichenstuhl und begann, nervös auf und ab zu gehen. »Die Zeit der Unruhen ist vorbei, und es hat sich viel verändert. Talonas Avatar war froh, mich unter ihren dunklen Mantel zu holen, aber ich bin nicht ihr einziges Projekt, und ich glaube auch nicht, dass ich ihr wichtigstes bin. Sie hat mich zu Druzil geführt, und der hat den Chaosfluch geliefert. Sein Schicksal liegt jetzt in meinen ... in unseren Händen.« »Aber wenn Barjin kein Priester der Talona wäre ... «, wandte Dorigen zögernd ein und ließ ihren Kollegen die Warnung selbst beenden. Aballister betrachtete Dorigen einen langen Moment. Er war überrascht, dass sie Barjin ebenso fürchtete wie er. Sie war eine Frau mittleren Alters, dünn und abgehärmt, mit wachsamen Augen und einem bereits ergrauenden schwarzen Haarwust, den sie niemals kämmte. »Vielleicht ist er' ja ein Priester der Talona«, erwiderte Aballister. »Ich glaube das durchaus.« Aballister hatte die verschiedenen Möglichkeiten in den letzten paar Tagen unzählige Male durchgespielt. »Das sollte dich allerdings nicht trösten. Wenn Barjin mir einen vergifteten Dolch ins Herz stieße, wäre Talona nicht erfreut, aber sie würde auch keine Rache üben. Das ist der Preis, wenn man einer Göttin wie der unseren dient.« Dorigen überlegte eine Weile, dann nickte sie zustimmend. »Wir rivalisieren mit den Priestern um Macht«, fuhr Aballister fort. »So war es seit Bestehen von Burg Trinitatis, und dieser Kampf ist seit Barjins Ankunft schärfer geworden. Barjin hat mir das Elixier abnehmen können. Ich gebe zu, ich habe versagt, denn ich habe nicht mit seiner List gerechnet, aber ich gebe mich nicht geschlagen. Das verspreche ich dir. Jetzt geh zurück in dein Zimmer und unterhalte dich mit deinen Spionen. Sag mir sofort Bescheid, wenn sich an Barjins Tor etwas ändert.« Aballister sah zu seinem magischen Spiegel und überlegte, ob er in Barjins Altarraum blicken sollte, um sich selbst zu überzeugen. Er entschied sich jedoch dagegen, denn er wußte, dass Barjin seinen Blick leicht bemerken und den Urheber erkennen konnte. Aballister wollte ihn nicht wissen lassen, wie besorgt er war. Er wollte nicht, dass der Priester verstand, welch großen Vorteil er in ihrem Wettkampf errungen hatte. Der Zauberer sah über seine Schulter und nickte Druzil zu. »Der Priester ist sehr mutig«, stellte der kleine Teufel fest. »Ein Tor direkt unter so vielen magisch bewanderten Feinden zu öffnen. Bene tellemara. Wenn die Priester aus der Bibliothek das Tor entdecken ... « »Es kam nicht unerwartet«, verteidigte sich Aballister. »Wir wußten, dass Barjin das entsprechende Material mitgenommen hat.« »Wenn er jetzt das Tor öffnet«, warf Druzil ein, »dann hat der Fluch vielleicht schon begonnen!« Bei dieser Vorstellung rieb sich das Teufelchen eifrig die ledrigen Hände. »Oder Barjins Lage is t bedenklich«, hielt Aballister rasch dagegen. Druzil verbarg seine Aufregung klugerweise. »Wir müssen das Becken vorbereiten«, sagte Aballister, »und zwar schnell. Wir müssen bereit sein, ehe Barjin mit seinem Ruf beginnt.« Er ging zu seinem eigenen, lodernden Becken und nahm den Beutel direkt daneben zur Hand, um nachzuprüfen, ob das Pulver darin wirklich blau war. »Ich werde dir zwei Pulver geben«, erklärte der Zauberer. »Mit dem einen schließt du Barjins Tor hinter dir, wenn du bei ihm bist, mit dem anderen öffnest du es wieder, damit du zu mir zurückkehren kannst.« »Damit stellst du sicher, dass ich sein einziger Fang bin?« fragte Druzil, der neugierig sein Hundegesicht schief legte. »Ich habe nicht so viel Vertrauen in Barjins Kräfte wie er selbst«, erwiderte Aballister. »Wenn er zu viele Wesen von den Unteren Ebenen ruft, selbst wenn es nur kleinere sind, wird er sich anstrengen müssen, sie alle zu beherrschen. Zweifellos bringt er auch Untote dazu, ihm zu dienen. Eine solche Armee könnte ihm über den Kopf wachsen, falls die Priester der Erhebenden Bibliothek zurückschlagen. Ich fürchte, Barjin greift zu hoch. Es könnte alles einstürzen.« »Du fürchtest?«' fragte Druzil verschlagen. »Oder hoffst?«
Aballisters tiefliegende Augen verengten sich gefährlich. »Sieh die Sache mal von einem anderen Standpunkt aus, mein lieber Druzil«, schnurrte er. »Von deinem nämlich. Möchtest du Konkurrenten aus deiner schmutzigen Heimat an Barjins Seite vorfinden? Könnte dich nicht ein anderes Teufelchen oder vielleicht ein Mephit erkennen und wissen, dass du mir gedient hast?« Der Zauberer genoß, wie seinem Gegenüber plötzlich die Mundwinkel erschlafften. »Dann würde Barjin dich als meinen Spion erkennen«, fuhr Aballister fort. »Wenn du Glück hast, bannt er dich bloß.« Druzil sah zu Aballisters Becken hin und nickte zustimmend. »Du gehst durch, sobald Barjin sein Tor öffnet«, wies Aballister ihn an, während er das blaue Pulver in das lodernde Becken warf. Die Flammen schlugen höher und nahmen ein ganzes Spektrum an Farben an. Druzil ging an dem Zauberer vorbei, nahm die beiden winzigen Taschen und schlang sie über die Vorderklauen seines Flügels. »Du schließt Barjins Tor, sobald du aus den Flammen trittst«, fuhr Aballister fort. »Er wird die plötzliche Farbveränderung seines Feuers nicht verstehen. Er wird glauben, das käme von deinem Eintritt.« Wieder nickte Druzil, um dann -begierig, von Aballister wegzukommen, und noch begieriger, genau zu sehen, was sich in der Bibliothek abspielte - in das Becken zu springen. Er verschwand. »Aballisters Pläne dienen allen«, murmelte Druzil einige Minuten später in sich hinein, als er in der schwarzen Leere am Rand der Materiellen Ebene trieb und nur darauf wartete, dass Barjin sein Tor öffnete. Das Teufelchen bemerkte auch, dass etwas anderes - Eifersucht und Angst - die Handlungen des Zauberers beeinflußte. Barjin hatte bisher keine Schwäche gezeigt, und Aballister wußte genausogut wie Druzil, dass ein Tor zu den Unteren Ebenen den Erfolg des Priesters nicht ernsthaft beeinträchtigen konnte. Dennoch war Druzil mehr als glücklich, als er die magischen Pulver ansah, die Aballister ihm gegeben hatte. Barjins Kühnheit und Selbstvertrauen hatten das Teufelchen tief beeindruckt. Die bisherigen Siege des Priesters, in Burg Trinitatis über Aballister und wahrscheinlich auch in den Gewölben der Bibliothek, waren nicht leicht beiseite zu schieben. Während Aballister um seine Position fürchtete, sorgte sich Druzil nur um den Chaosfluch, dessen Rezept er schon so lange hatte ausprobieren wollen. Was den Chaosfluch betraf, hatte Barjin volle Aufmerksamkeit verdient. ¤¤¤ Die grausige Klauenhand griff nach Cadderlys Herz. Er warf sich wild zur Seite und schlug vergeblich um sich. Als er auf dem Boden aufprallte, wachte er auf und brauchte Minuten, um sich zu orientieren. Es war Morgen, und unter den hellen Sonnenstrahlen verblaßten die Alpträume bald. Cadderly versuchte, sie festzuhalten, um zu erkennen, ob sie eine verborgene Bedeutung hatten, aber dem Tageslicht konnten sie nicht trotzen. Mit resigniertem Schulterzucken konzentrierte er sich wieder auf den Vortag und ging die Ereignisse durch, die vor seinem Päuschen geschehen waren. Päuschen! Wieviel Zeit war vergangen, fragte er sich entsetzt. Er blickte auf seine Meßstriche am Boden. Fünfzehn Stunden? Percival saß auf Cadderlys Tisch direkt unter dem Fenster und knabberte zufrieden an einer Eichel, war jedoch anscheinend zwischendurch ein Weilchen fortgewesen. Neben ihm lagen die leeren Schalen von einem Dutzend Vorspeisen. Cadderly setzte sich und versuchte wieder, seine unklaren, verblassenden Träume zu fassen, weil er in ihnen einen Hinweis auf das Durcheinander suchte, das so plötzlich in sein Leben getreten war. Sein Lichtrohr stand offen und leuchtete schwach. Es lag unter dem dicken Knäuel von Bettdecken. »Hier ist etwas«, meinte Cadderly zu Percival, während er geistesabwesend nach dem Rohr griff und es verschloß. »Etwas, das ich noch nicht verstehe.« In der Stimme des jungen Mannes lag mehr Verwirrung als Entschlossenheit. Gestern schien sehr lange her zu sein, und er fragte sich ernsthaft, wo seine Erinnerungen endeten und die Träume begannen. Wie ungewöhnlich waren die gestrigen Ereignisse nun wirklich gewesen? Wieviel davon war nur auf seine Angst zurückzuführen? Danica konnte wirklich halsstarrig sein, erinnerte er sich, und wer konnte schon vorhersagen, wie Zwerge reagieren? Unbewußt rieb sich Cadderly den dicken Bluterguß seitlich an seinem Kopf. Im Tageslicht, das in den Raum fiel, sah es aus, als wäre alles wie immer, was bewirkte, dass Cadderly seine Ängste beinahe kindisch vorkamen. Einen Augenblick ergriff eine neue, viel realere Angst von ihm Besitz. Es klopfte an der Tür, und eine wohlbekannte Stimme rief: »Cadderly? Cadderly, Junge, bist du da?« Großmeister Avery. Percival schob sich eine Eichel in die Backe und hüpfte aus dem Fenster. Cadderly war noch nicht einmal aufgestanden, da stand der Großmeister schon im Zimmer. »Cadderly!« rief Avery und rannte zu ihm hin. »Alles in Ordnung, mein Junge?« »Ja, natürlich«, erwiderte Cadderly zögernd. Er entzog sich Averys ausgestreckten Händen. »Ich bin nur aus dem Bett gefallen.« Averys Besorgnis wurde nicht geringer. »Das ist schrecklich!« schrie der Großmeister. »Das können wir nicht zulassen, oh, nein! « Averys Blicke schossen hektisch hin und her, dann schnippte er mit den Fingern und lächelte breit. »Wir holen die Zwerge, die sollen ein Schutzgitter bauen. Ja, das ist es! Wir können nicht zulassen, dass du aus dem Bett fällst und dich verletzt. Du bist ein viel zu wertvolles Mitglied des Ordens, als dass wir eine solche Tragödie riskieren könnten!«
Der junge Gelehrte sah ihn fassungslos an, denn er war unsicher, ob das Sarkasmus oder seltsame Realität war. »Es ist doch nichts passiert«, erinnerte er Avery zögernd. »Oh, ja«, plusterte der Großmeister sich auf, »das sagst du jetzt. So ein feiner Kerl! Nie um deine eigene Sicherheit besorgt!« Averys überschäumendes Klopfen auf den Rücken tat Cadderly mehr weh als der Sturz. »Bist du gekommen, um mir meine Pflichten mitzuteilen?« fragte Cadderly, um schnell das Thema zu wechseln. Irgendwie mochte er Avery lieber, wenn er ihn anbrüllt. Dann konnte er ihn wenigstens einschätzen. »Pflichten?« fragte Avery, der ernstlich verwirrt schien. »Nun, ich glaube nicht, dass du heute welche hast. Aber wenn doch, dann vergiß sie. Wir können es uns nicht leisten, dass jemand von deiner Begabung sich mit niederen Aufgaben abgibt. Tu, was dir wichtig ist. Du weißt besser als jeder andere, wo du von größtem Nutzen bist.« Cadderly glaubte ihm kein Wort. »Warum bist du dann hier?« fragte er. »Brauche ich einen Grund, um nach meinem begabtesten Akolythen zu sehen?« antwortete Avery und klopfte Cadderly nochmals grob auf die Schulter. »Nein, keinen Grund. Ich bin nur gekommen, um guten Morgen zu sagen, und das sage ich jetzt: Guten Morgen!« Er wollte gehen, blieb aber plötzlich noch einmal stehen, fuhr herum und schloß Cadderly fest in die Arme. »Einen wunderschönen guten Morgen!« Dann schob er Cadderly auf Armeslänge von sich, sah ihn verschleierten Blickes an und sagte: »Ich wußte schon, dass du ein feiner Junge werden würdest, als ich dich das erste Mal sah.« Der junge Mann erwartete, dass der Großmeister abrupt das Thema wechseln würde, wie er es immer tat, wenn er auf Cadderlys erste Zeit in der Erhebenden Bibliothek zu sprechen kam, doch Avery schwatzte weiter. »Wir haben befürchtet, du würdest wie dein Vater werden - ein intelligenter Mann, genau wie du! Aber er hatte keine Anleitung, weißt du.« Averys Lachen kam mitten aus dem Bauch. »Ich nannte ihn immer einen Gondanhänger!« brüllte er und schlug Cadderly auf die Schulter. Cadderly wußte nicht, was daran so komisch sein sollte, aber er war wirklich begierig darauf, etwas über seinen Vater zu erfahren. In der Bibliothek wurde dieses Them a immer gemieden, und daher hatte er sich nie so recht getraut, ernsthaft zu fragen. »Und das war er auch wirklich«, fuhr Avery fort, der nun ernst und ruhig wurde. »Oder schlimmer, fürchte ich. Er konnte nicht hierbleiben, weißt du. Wir konnten ihm nicht gestatten, unser Wissen zu nehmen und es für zerstöreri sche Zwecke einzusetzen.« »Wo ist er hingegangen?« fragte Cadderly. »Das weiß ich nicht. Es ist zwanzig Jahre her!« erwiderte Avery. »Wir haben ihn danach nur einmal gesehen, an dem Tag, als er mit s einem Sohn zu Abt Thobicus kam. Verstehst du jetzt, mein Junge, warum ich immer hinter dir her bin, warum ich fürchte, dass dein Weg in die Irre gehen könnte?« . Cadderly versuchte nicht einmal, ein Wort dazu herauszubringen, auch wenn er gern mehr erfahren hätte, solange der Großmeister so gesprächiger Laune war. Schnell erinnerte er sich, dass ein solches Verhalten für Avery höchst ungewöhnlich war. Es lieferte ihm eine weitere Bestätigung, dass etwas nicht stimmte. »Nun, gut«, sagte der Großmeister. Er riß Cadderly noch einmal in seine Arme, dann stieß er den jungen Mann weg und eilte rasch zur Tür. »Verschwende nicht zuviel von diesem herrlichen Tag!« brüllte er schon draußen auf dem Flur. Percival kam zum Fenster zurück, um eine weitere Eichel zu knabbern. »Frag mich nicht«, warnte Cadderly das Eichhörnchen, aber wenn das Tier überhaupt eine Frage hatte, zeigte es nichts davon. »Soviel zum Thema Träume«, bemerkte Cadderly grimmig. Nach Averys Ausbruch hatte er keinerlei Zweifel mehr an seinen eigenen Erinnerungen. Rasch zog er sich an. Er mußte nach Ivan und Pikel sehen, um sich zu vergewissern, dass sie nicht wieder kämpften, und nach Kierkan Rufo, um sich zu überzeugen, dass der Mann nichts gegen Danica im Schilde führte. Auf dem Flur war es verdächtig ruhig, obwohl der Morgen schon fortgeschritten war. Cadderly wollte zur Küche gehen, änderte jedoch plötzlich die Richtung, als er an die Wendeltreppe kam. Die einzige Veränderung des Alltags, das einzig Ungewöhnliche in der Bibliothek vor dieser unerklärlichen Verrücktheit, war die Ankunft der Druiden gewesen. Man hatte sie im dritten Stock untergebracht. Normalerweise war dieses Stockwerk für die Novizen der beiden Orden, die Dienerschaft und die Lagerhaltung reserviert, aber die Druiden hatten ausdrücklich ein Quartier abseits der anderen Gelehrten gewünscht. Nicht ohne Hemmungen, weil er die drei, die so auf ihre Abgeschlossenheit bedacht waren, nicht stören wollte, ging Cadderly die Treppe hinauf, anstatt hinunter. Er glaubte eigentlich nicht, dass Arcite, Newander und Cleo die Ursache der Probleme waren, aber sie waren weise und erfahren und hatten vielleicht eine Idee, was vor sich ging. Das erste Zeichen, das Cadderly zeigte, dass auch hier oben nicht alles in Ordnung war, war ein Knurren und ein kratzendes Geräusch. Er stand in einer abgeschiedenen Ecke des Nordflügels vor der Tür zu den Zimmern der Druiden und fragte sich, ob die Waldpriester wohl eine Zeremonie durchführten. Erinnerungen an Danica, Avery und Bruder Chaunticleer spornten ihn an. Er klopfte leise. Keine Antwort. Cadderly drehte am Türknopf und öffnete die Tür einen Spalt. Der Raum war ein Chaos, das Werk eines offensichtlich aufgeregten Braunbären. Das Tier saß auf dem Bett, das unter seinem großen Gewicht zusammengebrochen war, und riß jetzt vergnügt ein Daunenkissen auf. Davor kroch langsam eine Riesenschildkröte über den Boden.
Der Bär schien ihn nicht zu beachten, darum öffnete Cadderly die Tür mutig etwas weiter. Auf dem Fensterbrett saß Newander, der verzweifelt auf die weiten Berge hinausblickte. Die blonden Haare hingen ihm wirr auf die Schultern. »Arcite und Cleo«, bemerkte der Druide abwesend. »Arcite ist der Bär.« »Ein Ritual?« fragte Cadderly. Er erinnerte sich, wie die Druidin Shannon vor Jahren vor seinen Augen solche Verwandlungen vorgenommen hatte. Die Fähigkeit zur Ge staltwandlung war bei den mächtigeren Druiden üblich. Dass er sie tatsächlich erneut mitansehen konnte, erstaunte ihn dennoch. Newander zuckte ratlos die Schultern. Er sah Cadderly traurig an. Cadderly wollte zu ihm gehen, aber Arcite, der Bär, hatte offensichtlich etwas dagegen. Er richtete sich hoch auf und stieß ein Grollen aus, das Cadderly zurückweichen ließ. »Haltet Euch von ihm fern«, mahnte Newander. »Ich bin mir nicht sicher, was er vorhat.« »Habt Ihr ihn gefragt?« »Er antwortet nicht«, entgegnete Newander. »Wie könnt Ihr dann sicher sein, dass es wirklich Arcite ist?« fragte Cadderly. Shannon hatte erklärt, dass die druidische Gestaltwandlung rein körperlich war und die Waldpriester dabei ihre geistigen Fähigkeiten behielten. Verwandelte Druiden konnten sogar ganz normal sprechen. »Er war es«, erwiderte Newander, »und ist es. Ich erkenne das Tier. Vielleicht ist es jetzt sogar der wahrste Arcite, den es je gab.« Cadderly glaubte zu verstehen, was der Druide meinte. »Dann ist die Schildkröte Cleo?« fragte er. »Oder ist Cleo in Wahrheit die Schildkröte?« »Ja«, antwortete Newander. »Beides, soweit ich das feststellen kann.« »Warum ist Newander noch Newander?« fuhr Cadderly fort, der die Quelle der Verzweiflung seines Gegenübers erriet. Er sah, dass seine Frage den Druiden in seiner Menschengestalt zutiefst verletzte, und glaubte daraufhin, die Antwort zu kennen. Rasch und aufgeregt verbeugte er sich und schloß hinter sich die Tür. Er wollte davongehen, änderte dann jedoch seine Meinung und rannte lieber. Newander lehnte sich ans Fensterbrett und sah seine Tiergefährten an. Etwas war hier in seiner Abwesenheit geschehen, auch wenn er noch nicht sicher sein konnte, ob es etwas Gutes oder etwas Böses war. Newander hatte Angst um seine Freunde, aber er beneidete sie auch. Hatten sie ein Geheimnis entdeckt, während er fort war, eine Methode, durch die sie ganz in die natürliche Ordnung eingehen konnten? Er hatte Arcite schon früher in Bärengestalt gesehen und erkannte den Druiden ohne Frage, aber nie war es so gewesen wie jetzt. Dieser Bär widerstand jedem Kommunikationsversuch Newanders. Arcite war ganz und gar Bär, Körper und Geist. Das gleiche galt für Cleo, die Schildkröte. Newander blieb ein Mensch, der jetzt in einem Haus voller verführerischer Zivilisation allein war. Er hoffte, dass seine Freunde bald zurückkehren würden, denn er hatte Angst, ohne ihre Führung vom Weg abzukommen. Newander sah wieder aus dem Fenster, zu den majestätischen Bergen und der Welt hinaus, die er so liebte. Doch trotz all seiner Liebe wußte er immer noch nicht, wo sein Platz war. ¤¤¤ Als er in der Küche ankam, stellte Cadderly fest, dass die Zwerge wieder angefangen hatten zu kämpfen. Töpfe, Pfannen und Küchenmesser flogen durch die Gegend, zerschlugen Keramikgeschirr, klirrten gegeneinander und schlugen Löcher in die Wände. »Ivan!« schrie Cadderly, und der Klang seiner verzweifelten Stimme ließ den Tumult sofort abbrechen. Ivan sah Cadderly verständnislos an. Von der anderen Seite der Küche fügte Pikel hinzu: »Ei.« »Warum kämpft ihr denn schon wieder?« fragte Cadderly. »Seine Schuld!« knurrte Ivan. »Er hat meine Suppe verhunzt. Hat Wurzeln und Blätter und Gras und so Zeugs reingetan. Sagt, so ist es bei den Druiden. Pah! Ein Druidenzwerg!« »Pikel, reiß dich zusammen«, wies Cadderly den Freund zurecht. »Jetzt ist nicht die Zeit, dich einem Druidenorden anzuschließen.« Pikels große, runde Augen verengten sich gefährlich. »Die Druiden sind nicht in der Stimmung für Besucher«, erklärte Cadderly. »Nicht einmal für zukünftige Druiden. Ich komme gerade von ihnen.« Cadderly schüttelte den Kopf. »Irgend etwas ist hier grundverkehrt«, sagte er zu Ivan. »Seht euch beide an, ihr streitet. In all den Jahren, die ich euch kenne, habt ihr das nie getan.« »Mein blöder Bruder hat auch noch nie behauptet, dass er ein Druide ist!« hielt Ivan dagegen. »Hei jo«, fügte Pikel trotzig hinzu. »Allerdings«, sagte Cadderly mit einem neugierigen Blick auf Pikel. »Aber seht euch nur in der Küche um. Glaubt ihr nicht, dass das ein bißchen übertrieben ist?« Tränen liefen Ivan und Pikel über die Wangen, als sie sich die Zeit nahmen, sich in ihrem Reich umzusehen. Jeder Topf stand auf dem Kopf, das Gewürzregal war gründlich zertrümmert, alle Gewürze dahin, ihr Ofen - Pikels eigene Konstruktion- so stark beschädigt, dass er nicht mehr zu reparieren war. Cadderly war froh, dass sein Appell angekommen war, aber die Zwergentränen ließen ihn wieder ungläubig den Kopf schütteln. »Alle sind verrückt geworden«, sagte er. »Die Druiden sind oben in ihrem Zimmer und tun so, als
wären sie Tiere. Großmeister Avery benimmt sich, als wäre ich sein Liebling. Selbst Danica spinnt. Gestern hat sie Rufo fast zum Krüppel geschlagen, und sie will unbedingt diese Eisenschädelübung machen.« »Das würde den Block erklären«, bemerkte Ivan. »Du weißt davon?« fragte Cadderly. »Haben wir ges tern hochgeschafft«, erklärte Ivan. »Ein dickes, schweres Ding! Heute morgen war deine Kleine hier, weil sie ihn wieder auf die Sägeböcke haben wollte.« »Ihr habt doch nicht etwa ...« »Doch, natürlich«, erwiderte Ivan und plusterte seine faßförmige Brust auf. »Wer sonst hätte das Ding ...« Der Zwerg brach abrupt ab. Cadderly war bereits verschwunden. Erneuter Lärm aus Histras Zimmer verfolgte Cadderly, als er zum zweiten Stock zurückrannte. Die Schreie der Sunepriesterin hatten inzwischen eine primitive Dringlichkeit angenommen, die Cadderly wirklich Angst einjagte und jeden Schritt zu Danicas Raum hin viel langsamer, traumschwerer werden ließen. Ohne erst anzuklopfen, stürmte er in Danicas Zimmer. Insgeheim wußte er bereits, was er vorfinden würde. Danica lag mitten im Raum auf dem Rücken. Der dicke Stein war nicht zersprungen, aber ihre Stöße hatten die Sägeböcke einige Fuß zurückgeschoben. Wie auch Danica, war der Block an mehreren Stellen blutverschmiert, ein Zeichen dafür, dass die Mönchsadeptin ihn wiederholt getroffen hatte, selbst nachdem sie sich den Kopf aufgeschlagen hatte. »Danica«, flüsterte Cadderly. Er streichelte ihr Gesicht, das unter der geschwollenen, geschundenen Stirn immer noch zart war. Danica rührte sich kaum, schaffte es aber immerhin, Cadderly einen Arm um die Schulter zu schlingen. Eins ihrer Mandelaugen klappte auf, aber Cadderly glaubte nicht, dass sie etwas wahrnahm. »Was habt Ihr ihr angetan?« kam ein Schrei vom Eingang. Cadderly drehte sich um. Newander stand mit erhobenem Stab in der Tür und sah ihn wütend an. »Ich habe gar nichts gemacht«, gab Cadderly zurück. »Das hat Danica sich selber angetan. Mit diesem Stein hier.« Er zeigte auf den blutigen Block, und der Druide nahm den Stab herunter. »Was ist hier los?« wollte Cadderly wissen. »Mit Euren Freunden, mit Danica? Mit allen, Newander? Irgend etwas stimmt nicht! « Newander schüttelte hilflos den Kopf. »Dieser Ort ist verflucht«, stimmte er zu und senkte den Blick. »Ich spüre es seit meiner Rückkehr.« »Es?« fragte Cadderly. »Eine Perversion«, versuchte der Druide zu erklären, obwohl er über die Worte stolperte, als verstünde er selbst seine Ängste noch nicht so recht. »Etwas außerhalb der natürlichen Ordnung, etwas ... « »Ja«, stimmte Cadderly zu. »Etwas ist nicht so, wie es sein sollte.« »Dieser Ort ist verflucht«, sagte Newander. »Wir müssen herausfinden, wie er verflucht wurde«, überlegte Cadderly, »und warum.« »Nicht wir«, berichtigte Newander. »Ich bin zu nichts nutze, guter Junge. Ihr müßt Eure eigenen Antworten finden.« Cadderly war nicht einmal mehr überrascht über die unerwartete, untypische Antwort. Er erhob auch keine Einwände. Sanft hob er Danica auf und trug sie zu ihrem Bett, wo Newander sich neben sie setzte. »Ihre Wunden sind nicht gefährlich«, erklärte der Druide nach kurzer Untersuchung. »Ich habe ein paar Heilkräuter.« Er griff zu einem Beutel an seinem Gürtel. Cadderly hielt sein Handgelenk fest. »Was ist los?« fragte er wieder leise. »Sind alle Priester verrückt geworden?« Newander zog die Hand weg und schniefte. »Eure Priester sind mir egal«, sagte er. »Ich fürchte um meinen eigenen Orden und um mich selbst!« »Arcite und Cleo«, bemerkte Cadderly finster. »Könnt Ihr ihnen helfen?« »Ihnen helfen?« entgegnete Newander. »Sie brauchen gewiß keine Hilfe. Sondern ich. Sie gehören zum Orden. Ihre Herzen sind bei den Tieren. Armer Newander, sag' ich nur. Er hat seine Stimme gefunden, und die ist kein Bellen, kein Knurren, noch nicht einmal das Kreischen eines Vogels!« Cadderlys Gesicht verzog sich bei diesen absurden Worten. Der Druide betrachtete sich als Versager, weil er sich nicht in ein Tier verwandelt hatte und nicht über den Boden kroch! »Newander, der Druide«, fuhr der Mann voller Selbstmitleid fort. »Gewiß nicht, sag' ich nur. Noch nicht einmal m einer Meinung nach.« Cadderly hatte das sichere Gefühl, dass ihnen die Zeit davonlief. Heute morgen war er voller Hoffnung erwacht, aber die Lage hatte sich eindeutig nicht gebessert. Er sah sich Newander genauer an. Der Druide betrachtete sich als Versager, aber Cadderlys Beobachtung nach war er noch der vernünftigste Mensch in der Bibliothek. Cadderly brauchte jetzt dringend Hilfe. »Dann seid Newander, der Heiler«, sagte er. »Kümmert Euch um Danica - versprecht es mir.« Newander nickte. »Macht sie gesund, und laßt sie nicht an diesen Block zurück!« Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, kippte er den Stein von den Böcken, ohne sich um den Krach oder den Schaden am Boden zu kümmern. »Laßt sie nichts tun«, fuhr Cadderly eindringlich fort. »Wollt Ihr einem Versager vertrauen?« fragte der armselige Newander. Cadderly zögerte nicht. »Selbstmitleid steht Euch nicht«, schalt er. Er packte den Druiden grob an dessen grünem Kragen. »Danica ist für mich der wichtigste Mensch der Welt«, sagte er ernst, »aber ich habe einiges zu erledigen, obwohl ich fürchte, dass ich noch nicht begreife, was das ist. Newander kümmert sich um Danica - denn es gibt niemand anderen dafür - auf sein Wort und mit meinem Vertrauen.«
Newander nickte ernsthaft und steckte wieder die Hand in seinen Beutel. Cadderly lief rasch zur Tür, wo er stehenblieb und sich nach dem Druiden umsah. Ihm war nicht recht wohl dabei, Danica zurückzulassen, selbst mit Newander, dem er trotz seiner Selbstzweifel vertraute. Aber dann unterdrückte er seinen Beschützerinstinkt. Wenn er Danica wirklich helfen wollte, allen in der Bibliothek helfen wollte, dann mußte er herausfinden, was vor sich ging, die Quelle der Infektion finden, die anscheinend über diesen Ort gekommen war, und nicht nur die Symptome behandeln. Jetzt kam es auf ihn an, beschloß er. Er nickte Newander zu und eilte in sein eigenes Zimmer zurück.
Kryptisch Der Tunnel wirbelte feurig, doch das Teufelchen hatte nur einen kurzen Weg. Es waren ohnehin nur Beschwörungsflammen, die ein Wesen wie Druzil mit einem Körper aus einer anderen Welt nicht versengen konnten. Barjin hatte sein interplanares Tor geöffnet, genau wie Dorigen es vorhergesagt hatte, und nun leistete Druzil dem Ruf des Klerikers eilig Folge. Das Verpuffen einer roten Rauchwolke - als Druzil das Pulver ausschüttete, um das Tor hinter sich zu schließen zeigte Barjin, dass sein erster herbeigerufener Verbündeter eingetroffen war. Angestrengt starrte er in die orangefarbenen Flammen im Becken, wo ein groteskes Gesicht Form annahm. Ein fledermausartiger Flügel schob sich aus einer Seite des Beckens, dann ein zweiter, und dann hüpfte Druzil heraus. »Wer hat es gewagt, mich zu rufen?« schnaubte das Teufelchen, das die Rolle eines unbedarften Wesens von den Unteren Ebenen spielte, das von Barjins Beschwörung erfaßt worden war. »Ein Teufelchen?« gab der Priester verächtlich zurück. »Ich habe alle meine Kräfte aufgebracht, um ein simples Teufelchen herbeizurufen?« Druzil legte die Flügel um sich und fauchte, denn Barjins Tonfall paßte ihm gar nicht. Dass der Priester sarkastisches Mißfallen zeigte, gehörte - wie Druzil wußte - zu den Spielregeln des Herbeirufens. Wie das gerufene Wesen durfte auch der Rufer das Ereignis nicht ohne Groll zur Kenntnis nehmen, um seinem Gegenspieler keinen Vorteil zu verschaffen. Schwarze Magie, durch die Wesen von anderen Ebenen angezogen wurden, war ein Duell des Willens, wobei demonstrierte Stärke oft wichtiger war als echte Kraft. Druzil wußte, wie begeistert der Priester war, dass auf seinen ersten Ruf überhaupt eine Antwort gekommen war, und ein schlaues, listiges Teufelchen war kein schlechter Fang. Aber Barjin mußte sich enttäuscht geben, damit Druzil glaubte, sein Beschwörer könnte viel größere und stärkere Geschöpfe beherrschen. Druzil zeigte sich nicht beeindruckt. »Kann ich dann wieder gehen?« fragte er und drehte sich zum Becken. »Halt!« herrschte Barjin ihn an. »Du hast hier gar nichts zu sagen, ich warne dich. Ich habe dich nicht entlassen, und das werde ich auch viele Tage lang nicht tun. Wie heißt du?« »Cueltar qui tellemar gwi«, antwortete Druzil. »Lakai des Dummen?« übersetzte Barjin lachend, auch wenn er die Bedeutung von Druzils Worten nicht genau verstand. »Bestimmt kannst du dir einen besseren Titel verleihen.« Druzil wiegte sich auf seinen Klauenfüßen vor und zurück. Er konnte kaum glauben, dass Barjin die Umgangssprache der Unteren Ebenen verstand. Dieser Priester steckte voller Überraschungen. »Druzil«, antwortete der kleine Teufel schließlich, obwohl er nicht genau begriff, weshalb er seinen wahren Namen preisgegeben hatte. Barjins leises Lachen verriet ihm, dass der Priester ihn möglicherweise mental zu dieser wahrheitsgemäßen Antwort gezwungen hatte. Ja, dachte Druzil wieder, dieser Priester steckte voller Überraschungen. »Druzil«, murmelte Barjin, als ob er den Namen schon früher gehört hatte, was dem Teufelchen gar nicht gefiel. »Willkommen, Druzil«, sagte Barjin ernsthaft, »und freue dich, dass ich dich an meine Seite gerufen habe. Du bist ein Geschöpf des Chaos, und was du bei deinem kurzen Aufenthalt hier miterleben wirst, wird dich nicht enttäuschen.« »Ich habe den Abgrund gesehen«, erinnerte ihn Druzil. »Die Wunder dort kannst du dir nicht vorstellen.« Barjin gestand ihm diese Bemerkung mit einem Nicken zu. Ganz gleich, wie der Ultimative Schrecken die Priester der Erhebenden Bibliothek umschloß, es war natürlich kein Vergleich zum unendlichen, höllischen Chaos des Abgrunds. »Wir sind im Gewölbe einer Festung, die sich der Ordnung und dem Guten verschrieben hat«, erläuterte Barjin. Druzil verzog mißmutig die Knollennase und gab sich von dieser Enthüllung gelangweilt. »Das wird sich ändern«, versicherte ihm Barjin. »Ein Fluch hat diesen Ort befallen, und er wird die guten Priester in die Knie zwingen. Selbst ein Teufelchen, das den Abgrund gesehen hat, sollte sich an diesem Schauspiel erfreuen können.« Das Glitzern in Druzils schwarzen Augen war echt. Genau aus diesem Grund hatte er Aballister ja das Rezept für den Chaosfluch gegeben. Aballister hatte Bedenken, ja, Mißmut über das von Barjin gewählte Ziel und seinen augenscheinlichen Erfolg geäußert, aber Druzil war nicht Aballisters Marionette. Wenn Barjin tatsächlich die Erhebende Bibliothek zu Fall bringen konnte, würde der kleine Teufel seinen Hoffnungen viel näher sein. Er sah sich im Altarraum um, denn Barjins Arbeit - besonders der Aufbau um die kostbare Flasche - beeindruckte ihn. Dann schweifte sein Blick zur Tür, und er war wirklich erstaunt.
Dort stand Barjins jüngster Leibwächter, der von Kopf bis Fuß in ergrauendes Leinen gewickelt war. Ein Teil der Tücher war verrutscht und gab den Blick auf das ausgetrocknete, hohle Gesicht der Mumie preis, Haut auf Knochen mit zahlreichen Löchern, wo die geschickten Einbalsamierungsmethoden der Prüfung der Jahrhunderte nicht standgehalten hatten. »Gefällt er dir?« fragte Barjin. Druzil wußte nicht, was er antworten sollte. Eine Mumie! Mumien zählten zu den mächtigsten Untoten, stark und voller Krankheiten, haßerfüllt auf alles Lebendige und so gut wie unverwundbar. Nur wenige konnten ein solches Ungeheuer beleben, noch weniger würden es wagen, denn sie mußten befürchten, dass sie es nicht beherrschen konnten. »Die Priester und Gelehrten oben werden bald hilflos in ihre eigene Verwirrung verstrickt sein«, erklärte Barjin, »und dann werden sie meine Armee kennenlernen. Sieh ihn dir an, mein neuer Freund«, sagte der Priester, triumphierend, während er zu Khalif hinüberging. Erst wollte er den Arm um das gräßliche Ding legen, doch dann überlegte er es sich offenbar noch einmal und zog ihn vorsichtig zurück. »Ist er nicht schön? Er hat mich so lieb.« Um seine Macht zu demonstrieren, drehte sich Barjin zu der Mumie um und befahl: »Khalif, knie nieder!« Steif sank das Monster auf die Knie. »Ich habe noch weitere Leichen auf Lager, die ebenso vielversprechend sind«, bluffte Barjin. Er hatte keine Asche mehr, und jeder Versuch, eine mumifizierte Leiche ohne solche Hilfe zu erwecken, würde sich als sinnlos erweisen oder nichts Mächtigeres als einen schlichten Zombie erzeugen. Druzils wachsende Bewunderung für Barjin verringerte sich nicht, als der Priester ihn durch die Katakomben führte. Geschickt hatte er explosive Zeichen - feurige und elektrische - an strategisch wichtigen Orten angebracht, und eine wahre Armee belebter Skelette saß ungeduldig in ihren offenen Gräbern und erwartete Barjins Kommandos oder die Umstände, die der Priester ihnen für den Angriff vorgegeben hatte. Druzil brauchte nicht daran erinnert zu werden, dass all diese Vorsichtsmaßnahmen sich leicht als unnötig erweisen konnten. Wenn der Chaosfluch weiterhin oben in der Bibliothek wirkte, war es unwahrscheinlich, dass Feinde nach unten finden und Barjin belästigen würden. »Vorsicht«, murmelte Barjin nach ihrer Rückkehr in den Altarraum, als ob er Druzils Gedanken gelesen hätte. »Ich nehme immer das Schlimmste an, dann bin ich angenehm überrascht, wenn es besser kommt.« Druzil konnte weder seine Zustimmung noch seine Aufregung verbergen. Barjin hatte umsichtig vorgesorgt; er war kein Risiko eingegangen. »Diese Bibliothek wird bald in meinen Händen sein«, versicherte der Priester dem Teufelchen, und Druzil zweifelte nicht an diesen prahlerischen Worten. »Wenn die Erhebende Bibliothek, der eigentliche Eckpfeiler des Im preskgebietes, besiegt ist, wird das ganze Land vom Wald von Shilmista bis zum Impresksee mir zu Füßen liegen.« Druzil gefiel, was er hörte, aber dass Barjin nur von sich und nicht vom Triumvirat sprach, war etwas beunruhigend. Druzil wollte keine offene Fehde zwischen den herrschenden Fraktionen von Burg Trinitatis, aber wenn es soweit kam, mußte das Teufelchen sicher sein, auf der Seite der Sieger zu stehen. Jetzt war Druzil noch froher, dass Aballister entschieden hatte, ihn zu Barjin zu schicken, froh, dass er beide Seiten des aufziehenden Sturmes sehen konnte. »Es ist fast vorbei«, wiederholte Barjin. »Der Fluch greift oben nach den Schwächen der Priester, und die Bibliothek wird bald fallen.« »Woher willst du wissen, was oben geschieht?« fragte Druzil, denn der Rundgang hatte weder Fenster noch Zugänge zur Bibliothek umfaßt. Die einzige Treppe, die Barjin ihm gezeigt hatte, war zerschmettert, und die Tür, zu der sie einst geführt hatte, war kürzlich zugemauert worden. Die einzige Schwäche in Barjins Strategie war offenbar seine Isolation, denn er wußte nicht genau, was oben in der Bibliothek vor sich ging. »Dafür habe ich nur Fingerzeige«, gab Barjin zu. »Hinter der neuen Mauer, die ich dir gezeigt habe, liegt der Weinkeller der Bibliothek. Seit einiger Zeit höre ich, wie Priester hereinkommen und sich selbst bedienen. Sie kippen die edelsten Weine einfach herunter. Ihre Worte und ihre Handlungen sprechen deutlich für das wachsende Chaos, denn dies gehört bestimmt nicht zu den Verhaltensregeln in der disziplinierten Bibliothek. Aber du hast richtig beobachtet, teuflischer Freund. Ich brauche tatsächlich weitere Informationen, was oben geschieht.« »Darum hast du mich gerufen«, sagte Druzil. »Darum habe ich das Tor geöffnet«, stellte Barjin richtig und warf Druzil einen verschlagenen Blick zu . »Ich hatte mir einen mächtigeren Verbündeten erhofft.« Wieder die Fassade des Rufers, dachte der kleine Teufel, aber er zweifelte nicht an Barjins Worten. Da er unbedingt selbst sehen wollte, welche Auswirkungen der Fluch hatte, war Druzil mehr als bereit, Barjin als Spion zu dienen. »Bitte, Herr«, flehte das Teufelchen. »Laß mich gehen und für dich nachsehen. Oh, bitte, bitte!« »Ja, ja«, grinste Barjin herablassend. »Geh nur nach oben. Ich hole solange weitere Verbündete durch das Tor.« »Gibt es noch einen Weg durch den Weinkeller?« fragte das Teufelchen. »Nein«, meinte Barjin, der Mullivy am Arm ergriff. »Mein guter Hausmeister hier hat diese Tür gut verschlos sen. Bring meinen Teufel durch den Westtunnel hinaus«, wies Barjin den Zombie an. »Dann komm zu mir zurück!« Mullivys stinkende, aufgetriebene Leiche schlurfte steifbeinig durch die Tür des Altarraums nach draußen. Druzil, den das abscheuliche Ding nicht im geringsten abstieß, flatterte hinterher und hockte sich auf Mullivys Schulter. »Nimm dich in acht, draußen herrscht Tageslicht«, rief Barjin ihm nach. Zur Antwort kicherte Druzil, flüsterte einen geheimnisvollen Satz und wurde unsichtbar. Barjin lief aufgeregt zum Tor zurück, denn er erhoffte sich weiteres Ruferglück. Ein Teufelchen war ein kostbarer Fang für ein so kleines Tor. Wenn Barjin allerdings die Identität dieses speziellen Teufelchens und seines
Zaubermeisters gekannt hätte, oder gewußt hätte, dass Druzil das Tor nach seinem Eintritt versiegelt hatte, wäre er weniger begeistert gewes en. Über eine Stunde versuchte der Priester verschiedene Zauber der Herbeirufung, rief die Namen jedes einfachen Geschöpfes, das er kannte. Züngelnde Flammen schlugen hoch, aber in ihrem orangefarbenen Glanz erschienen keine Gestalten. Barjin war nicht sonderlich besorgt. Das Becken würde noch viele Tage entzündet bleiben, und der Nekromantenstein, der bisher noch keine Ergebnisse gebracht hatte, sandte weiterhin seinen Ruf nach Untoten aus. Der Priester würde noch reichlich Gelegenheit haben, seine Armee zu verstärken. ¤¤¤ Cadderly durchwanderte die Gänge des Gebäudes. Er war verblüfft über die Leere, die brütende Stille. Viele Priester, ob Besucher oder Gastgeber wie Bruder Chaunticleer, hatten die Bibliothek ohne jede Erklärung verlassen, und viele der Zurückgebliebenen hielten sich offenbar lieber in der Einsamkeit ihrer Zimmer auf. Immerhin fand Cadderly Ivan und Pikel in der Küche vor, wo sie fleißig kochten. »Ist euer Streit vorbei?« fragte Cadderly und griff nach einem Keks. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er fas t einen Tag lang kaum etwas gegessen hatte und dass auch Danica und Newander zweifellos hungrig sein würden. »Streit?« bellte Ivan. »Keine Zeit zum Streiten, Jungchen! Wir kochen seit dem Abend. Sind nicht viele da zum Essen, aber die paar gehen einfach nicht weg.« Ein schreckliches Gefühl der Übelkeit überkam Cadderly. Er lief durch die Küche, um durch die andere Tür zu spähen, die in den großen Speisesaal der Bibliothek führte. Dort waren ein Dutzend Menschen, unter ihnen Großmei ster Avery, die sich maßlos vollstopften. Ein paar lagen schon auf dem Boden, denn sie waren so voll, dass sie sich kaum noch rühren konnten, versuchten aber immer noch, sich weiteres Essen in den gierigen Mund zu stopfen. »Ihr bringt sie um«, bemerkte Cadderly in resigniertem Ton. Der junge Gelehrte hatte allmählich eine Vorstellung davon, was hier geschah. Er dachte an Histra und ihre unendliche Leidenschaft, an Danicas plötzliche Besessenheit von Lektionen, die ihre Ausbildungsstufe überstiegen, an die Druiden Arcite und Cleo, die vor lauter Fanatismus ihre eigentliche Identität verloren hatten. »Sie werden solange essen, wie ihr Essen vor sie hinstellt«, erklärte Cadderly. »Sie werden sich vollstopfen, bis sie sterben.« Ivan und Pikel hörten beide auf umzurühren und starrten den jungen Priester durchdringend an. »Serviert langsamer«, wies Cadderly sie an. Zum ersten Mal bemerkte Cadderly wieder ein gewisses Maß an Verständnis. Beide Zwerge wirkten fast abgestoßen von ihrem Anteil an der Essensorgie. Gleichzeitig wichen sie vo n ihren Töpfen zurück. »Macht langsamer«, bat Cadderly wieder. Ivan nickte ernst. »Ei«, fügte Pikel hinzu. Cadderly schaute die Brüder lange an, bis er das Gefühl hatte, dass sie wieder zurechnungsfähig waren. Er konnte ihnen vertrauen, wie er Newander vertraut hatte. »Ich komme zurück, sobald ich kann«, versprach er. Dann nahm er ein paar Teller, stellte eine Mahlzeit zusammen und ging. Jeder Zuschauer hätte einen deutlichen Unterschied in den Schritten des jungen Gelehrten bemerkt, als dieser die Küche ve rließ. Cadderly war zögernd gekommen, weil er etwas befürchtet hatte, das er nicht verstand. Noch immer verstand er weder den Fluch noch dessen Ursache noch konnte er sich an seine Schrecken in den tiefen Katakomben erinnern, aber ihm wurde immer klarer, dass das Schicksal ihm eine schwere Bürde auferlegt hatte, und dass der Preis seines Erfolgs oder Mißerfolgs wahrhaft erschreckend war. Zu seiner Erleichterung hatte Newander die Lage bei Danica im Griff. Die junge Frau lag immer noch im Bett. Sie war bei Bewußtsein, jedoch bewegungsunfähig, denn der Druide hatte lange Efeuranken durch das Fenster hereingerufen und Danica damit festgebunden. Auch Newander erschien besserer Laune, und sein Gesicht hellte sich weiter auf, als Cadderly ihm den Essensteller reichte. »Das habt Ihr gut gemacht«, bemerkte Cadderly. »Einfache Magie«, antwortete der Druide. »Ihre Wunden waren nicht so schlimm. Was habt Ihr herausgefunden?« Cadderly zuckte die Achseln. »Wenig«, antwortete er. »Was hier schiefläuft, wird stündlich schlimmer. Ich habe allerdings eine Idee, wie ich herauskriegen könnte, was vor sich geht.« Newander blickte auf, denn er erwartete eine Enthüllung. »Ich gehe schlafen.« Das klare Gesicht des Druiden legte sich in verwirrte Falten, aber Cadderlys zuversichtliches Lächeln verbot jede Frage. Newander nahm den Teller und begann zu essen, murmelte jedoch bei jedem Bissen vor sich hin. Cadderly kniete neben Danica nieder. Sie schien kaum bei Bewußtsein, aber es gelang ihr, »Eisenschädel« zu flüstern. »Vergiß den Eisenschädel«, antwortete Cadderly leise. »Du mußt dich ausruhen und gesund werden. Etwas ist hier verkehrt, Danica, mit dir und mit der ganzen Bibliothek. Ich weiß nicht weshalb, aber ich bin scheinbar nicht betroffen.« Er hielt inne, weil er nach Worten suchte. »Ich glaube, ich habe etwas getan«, sagte er. Newander hinter ihm rührte sich verunsichert. »Ich kann es nicht erklären ... Ich verstehe es nicht, aber ich habe so ein Gefühl, einen unklaren Gedanken, dass ich das alles irgendwie ver ursacht habe.«
»Bestimmt ist es nicht Eure Schuld«, sagte Newander. Cadderly drehte sich zu ihm um. »Ich versuche gar nicht, irgendwelche Schuld zuzuweisen«, erwiderte er schlicht, »aber ich glaube, ich habe zu dieser wachsenden Katastrophe beigetragen, wie auch immer. Wenn es so war, muß ich es als Tatsache akzeptieren und weiterforschen, nicht nach der Schuld, sondern nach einer Lösung.« »Wie wollt Ihr denn suchen?« fragte der Druide. Sein Tonfall wurde sarkastisch. »Indem Ihr schlafen geht?« »Schwer zu erklären«, beantwortete Cadderly das Starren des Druiden. »Ich habe geträumt - sehr lebhafte Träume. Ich spüre, dass es eine Verbindung gibt. Ich kann es nicht erklären ... « Newanders Miene wurde sanfter. »Ihr braucht nichts zu erklären«, sagte er ohne weitere Zweifel. »Träume sind manchmal von prophetischer Macht, und wir haben keinen klareren Weg, dem wir folgen können. Also legt Euch zur Ruhe. Ich werde über Euch wachen.« Cadderly küßte Danicas blasse Wange. »Eisenschädel«, flüsterte die Frau. Entschlossener als zuvor zog Cadderly eine Decke in eine Zimmerecke und legte sich hin, nachdem er Tintenfaß, Feder und Pergament neben sich gelegt hatte. Er legte einen Arm über seine Augen und dachte an Skelette und Ghule, um die Alpträume einzuladen. ¤¤¤ Die Skelette warteten auf ihn. Cadderly roch die Fäulnis und den dicken Staub, hörte das Schlurfen fleischloser Füße auf dem harten Stein. Er rannte durch roten Nebel, mit schweren, zu schweren Beinen. Er sah eine Tür am Ende eines langen Gangs, und es fiel Licht durch die Ritzen. Seine Beine waren zu schwer, er würde es nicht bis dort schaffen. Kalte Schweißperlen verklebten Cadderlys Kleider und liefen ihm übers Gesicht. Seine Augen klappten auf, und über ihm stand der Druide. »Was hast du gesehen, Junge?« fragte Newander. Eilig reichte der Druide ihm sein Schreibzeug. Cadderly wollte von der schaurigen Szene erzählen, doch sie verblaßte rasch. Er schnappte sich die Feder und begann zu schreiben und zu zeichnen, um möglichst viele der Bilder einzufangen. Schnell sandte er seine Gedanken in die blasser werdenden Winkel seines Alptraums. Dann war wieder Tag, heller Nachmittag, und der Traum verschwunden. Cadderly erinnerte sich an die Skelette und den staubigen Geruch, aber die Einzelheiten waren unklar und nebelhaft. Er schaute auf das Pergament und war überrascht, was er dort sah, als ob jemand anderes es geschrieben hätte. Oben auf der Rolle standen die Worte: »langsam... roter Nebel ... greifen nach mir ... zu nah!« und darunter war eine Skizze von einem langen Gang, der von Alkoven voller Sarkophage gesäumt war und eine rissige Tür am Ende hatte. »Ich kenne diesen Ort«, setzte Cadderly zögernd an, doch dann brach er abrupt ab. Seine Euphorie und der Gedankenstrang wurden durch Barjins teuflischen, dauerhaften Zauber der Gedächtnisblockade unterbrochen. Bevor Cadderly gegen den plötzlichen Ausfall ankämpfen konnte, ließ ihn ein Schrei von draußen erstarren. Er sah Newander an, der ebenso verstört war. »Das war nicht die Priesterin der Sune«, bemerkte der Druide. Sie rannten durch die Tür auf den Gang. Dort stand ein Priester mit grauer Kappe, der seine Eingeweide in den Händen hielt. Auf seinem Gesicht malte sich ein unheimlicher, fast ekstatischer Gesichtsausdruck. Auch seine Tunika war grau, obwohl sie jetzt größtenteils blutbefleckt war, und mit jeder verstreichenden Sekunde strömte weiteres Blut aus dem offenen Bauch des Mannes. Cadderly und Newander fanden nicht sofort die Kraft, zu ihm zu gehen, und sie wußten, dass es sowieso vergeblich war. In blankem Entsetzen sahen sie zu, wie der Priester mit dem Gesicht voran zu Boden fiel. Um ihn breitete sich ein Blutsee aus.
Bestürzende Antworten Mullivy war kein schneller Marschierer, und Druzil nutzte die Zeit abseits von Barjin, um Kontakt mit seinem Meister aufzunehmen. Er sandte seine Gedanken über die Meilen bis nach Burg Trinitatis aus und fand dort einen Empfänger, der ihn begierig erwartete. Sei gegrüßt, Meister, sagte das Teufelchen. Du hast Barjin gefunden? In den Katakomben, wie du vermutet hast, erwiderte Druzil. Der Narr. Druzil war sich nicht sicher, ob er Aballisters Einschätzung beipflichten sollte, aber das brauchte der Zauberer nicht zu wissen. Er hat weitere Verbündete, teilte das Teufelchen mit. Untote Verbündete, darunter eine Mumie. Druzil lächelte breit, als er Aballisters Reaktion auf diese Neuigkeit spürte. Der Zauberer wollte seine nächsten Gedanken für sich behalten, aber Druzil war tief genug in seinem Geist, um sie dennoch zu »hören«. Ich hätte nie gedacht, dass Barjin so etwas vermag. Seine Worte waren von vielen Gefühlen begleitet, wie Druzil wußte, und Angst war nicht das geringste darunter.
Die mächtige Erhebende Bibliothek ist in Gefahr, fügte Druzil hinzu, nur um den Zauberer zu ärgern. Wenn Barjin Erfolg hat, dann hat der Ultimative Schrecken uns den Weg zu einem großen Sieg geebnet. Ohne die Führung der Kleriker aus der Bibliothek wird die ganze Region fallen. Aballister fragte sich, ob der Preis zu hoch war, stellte Druzil fest. Das Teufelchen beschloß, dass es dem Zauberer für heute genug erzählt hatte. Außerdem konnte es vorn schon das Tageslicht sehen, denn sein Zombieführer näherte sich dem Tunnelende. Es brach die direkte Kommunikation ab, ließ jedoch den Zauberer in seinen Gedanken verweilen und durch seine Augen sehen. Das Teufelchen wollte, dass Aballister den Glanz des Chaosfluchs gut mitbekam. ¤¤¤ Das weiße Eichhörnchen blieb hoch in den Zweigen, weil es nicht verstand, was seine scharfen Sinne ihm verrieten. Mullivy kam zum Ausgang des Erdtunnels, drehte sich dann sofort um und verschwand wieder darin. Ein anderer Geruch, den Percival nicht kannte, blieb. Percival sah nichts, aber wie andere Tiere am unteren Ende der Nahrungskette hatte das Eichhörnchen längst gelernt, nicht nur seinen Augen zu vertrauen. Percival folgte dem Geruch, der sich bewegte, bis zur Al lee. Die Straße war ruhig, wie schon seit zwei Tagen, obwohl die Sonne hell und warm aus dem klarblauen Himmel herabschien. Die Ohren des Eichhörnchens zuckten nervös, als die Tür zur Bibliothek scheinbar von selbst aufging und der seltsame Geruch verschwand. Das Ungewöhnliche daran ließ das Eichhörnchen lange nervös sitzen bleiben, aber die Sonne war warm und die Nüsse und Beeren in Bäumen und Sträuchern reichlich und warteten nur, dass man sie pflückte. Percival blieb selten lange Zeit bei einem Gedanken, und als er einen herrenlosen Stapel Eicheln auf dem Boden herumliegen sah, war er höchst erleichtert, dass der Hausmeister im Tunnel geblieben war, um sich über andere Dinge aufzuregen. ¤¤¤ Druzils Wahrnehmung vom Zustand der Erhebenden Bibliothek unterschied sich grundlegend von Cadderlys. Im Gegensatz zu dem jungen Gelehrten fand das Teufelchen das wachsende, lähmende Chaos einfach herrlich. Einige wenige Priester fand es in den Studierzimmern vor, wo sie reglos vor offenen Büchern saßen, weil ihre Studien sie so in Bann schlugen, dass sie kaum noch ans Luftholen dachten. Druzil verstand den Griff des Chaosfluchs besser als jeder andere. Wenn Barjin mit einem Trupp Skelette hinter sich den Saal betrat, würden diese Priester keinen Widerstand leisten. Wahrscheinlich würden sie ihn nicht einmal bemerken. Das Spektakel im Speisesaal gefiel Druzil am allerbesten. Dort saßen gefräßige Priester auf Stühlen, die sie vom Tisch abgerückt hatten, um ihre schwellenden Bäuche unterzubringen; andere lagen halb bewußtlos auf dem Boden. An einem Ende der Tafel waren drei Priester in einen Kampf auf Leben und Tod um einen letzten Putenschenkel verstrickt. Im ganzen Gebäude hörte man Streitereien, besonders zwischen Priestern unterschiedlicher Bekenntnisse, und häufig wurden ernstere Begegnungen daraus. Die Ungläubigeren oder nicht so Studierwilligen wanderten einfach ganz aus der Bibliothek aus, und kaum jemand versuchte, sie aufzuhalten. Die frömmsten Priester waren so in ihre Rituale vertieft, dass sie nichts anderes zu bemerken schienen. In einem Studierzimmer im ersten Stock fand Druzil einen Haufen Priester des Oghma zu einem großen Ball verknäult vor. Sie hatten solange gerungen, bis sie selbst für die kleinste Bewegung zu erschöpft waren. Als Druzil eine Stunde später aufbrach, um Barjin Bericht zu erstatten, war er sehr zufrieden, dass der Chaosfluch seine Arbeit perfekter ausgeführt hatte, als man hatte vorhersehen können. Er spürte die ersten hartnäckigen Forderungen seines Herrn, als er die Nordseite des Gebäudes umrundete und sich dem Tunnel näherte. Hast du es gesehen? fragte er Aballister gedanklich. Wenn der Zauberer aufgepaßt hatte, mußte er den Zustand der Bibliothek jetzt ebensogut kennen wie Druzil. Der Ultimative Schrecken, bemerkte Aballister etwas säuerlich. Barjin hat uns zu einem großen Sieg verholfen, erinnerte Druzil den ewig skeptischen Zauberer sofort. Aballisters Antwort kam schnell. Die Bibliothek ist noch nicht unterworfen. Erzähl mir nicht von unserem Sieg, bevor Barjin das Gebäude tatsächlich unter Kontrolle hat. Druzil antwortete, indem er den Zauberer mitten im Satz komplett aus seinen Gedanken ausschloß. »Tellemara«, murmelte er in sich hinein. Der Fluch funktionierte. Die paar Dutzend Priester, die noch in der Bibliothek verblieben, würden Barjins untote Truppen nicht bekämpfen können, und ihre Widerstandskraft sank mit jedem verstreichenden Moment. Bald würden viele von ihnen sich wahrscheinlich gegenseitig umbringen, viele andere würden einfach fortgehen. Wieviel Kontrolle verlangte der Zauberer noch, ehe er den Sieg ausrief? Druzil maß Aballisters Warnung keine Bedeutung bei. Barjin würde hier gewinnen, entschied das Teufelchen, und es glaubte auch, dass es vielleicht weiteren Gewinn aus seiner Arbeit für Aballister ziehen konnte, indem es den mächtigen Priester ausspionierte. Seit das magische Elixier zum Sendboten Talonas ausgerufen worden war, hatten sich die Priester auf Burg Trinitatis größeren Einflusses in dem bösen Triumvirat erfreut. Wenn die Erhebende Bibliothek in Barjins Händen lag und Barjin eine starke Armee Untote kontrollierte, würde diese Vorherrschaft nur weiter wachsen.
Aballister war ein akzeptabler »Meister«, wie Meister eben waren, aber Druzil war ein Teufelchen aus dem Reich des Chaos und schuldete niemandem Loyalität als sich selbst. Es war natürlich zu früh für eine definitive Beurteilung, aber der kleine Teufel vermutete allmählich, dass er an Barjins Seite mehr Spaß und mehr Chaos erleben würde als bei Aballister. ¤¤¤ »Tut etwas für ihn!« flehte Cadderly, aber Newander schüttelte nur hilflos den Kopf. »Ilmater!« keuchte der sterbende Priester. »Der ...Schmerz«, stammelte er. »Er ist so wun -« Er erschauerte ein letztes Mal und fiel Cadderly schlaff in die Arme. »Wer kann das gewesen sein?« fragte Cadderly, obwohl er befürchtete, dass er die Antwort bereits kannte. »Ist Ilmater, der Weinende Gott, nicht eine Gottheit, die sich dem Leiden widmet?« fragte der Druide, um Cadderly zu einer klaren Schlußfolgerung zu leiten. Cadderly nickte bedrückt. »Priester des Ilmater geißeln sich häufig selbst, aber das ist eigentlich ein kleineres Ritual ohne ernste Folgen.« »Bisher«, stellte Newander trocken fest. »Kommt schon«, sagte Cadderly, der den toten Priester auf den Boden legte. Es war leicht, der Blutspur zu folgen, und sowohl Cadderly als auch Newander hätten auch gleich erraten können, wohin sie führte. Cadderly klopfte nicht einmal mehr an die leicht geöffnete Tür. Er stieß sie auf, dann drehte er sich um. Er war zu entsetzt, um einzutreten. Mitten auf dem Boden lagen die fünf anderen Priester der Ilmaterdelegation - aufgerissen und blutig. Newander eilte hinein, kehrte jedoch kurz darauf mit grimmigem Kopfschütteln zurück. »Ilmaterpriester lassen es nie so weit kommen«, sagte Cadderly ebenso zu sich wie zu dem Druiden, »und Druiden gehen nie so weit, dass sie durch und durch zu ihrem Lieblingstier werden.« Er sah zu dem Druiden auf. Seine grauen Augen verrieten, dass er seine Worte für wichtig hielt. »Danica war nie so besessen, den Kopf mehrmals gegen einen dicken Stein zu schlagen.« Newander begann, die Logik zu erkennen. »Warum sind wir nicht betroffen?« fragte Cadderly. »Ich fürchte, ich schon«, erwiderte der trübsinnige Druide. Als Cadderly sich Newander näher ansah, verstand er. Der Druide bangte weiterhin nicht um seine zu Tieren gewordenen Freunde, sondern um sich selbst. »Ich bin nicht mit ganzem Herzen bei meinem selbst gewählten Weg«, erklärte der Druide. »Ihr urteilt zuviel«, schalt Cadderly. »Wir wissen, dass etwas schiefläuft«, er winkte zu dem Raum mit den Leichen hin, »furchtbar schief. Ich habe die Priesterin der Sune gehört. Ihr habt diese Priester gesehen und Eure eigenen Druidenbrüder. Aus irgendeinem Grund sind wir beide verschont geblieben - und vielleicht kenne ich noch zwei, die nicht so schlimm betroffen sind -, und das ist kein Grund zum Jammern. Was hier geschehen ist, bedroht die ganze Bibliothek.« »Für Eure Jugend seid Ihr weise«, räumte Newander ein, »aber was sollen wir tun? Meine Druidenbrüder und das Mädchen sind uns gewiß keine Hilfe.« »Wir gehen zu Abt Thobicus«, sagte Cadderly hoffnungsvoll. »Er hat die Bibliothek viele Jahre lang geführt. Vielleicht weiß er, was zu tun ist.« Cadderly mußte nicht aussprechen, dass er hoffte, der alte, weise Abt Thobicus sei nicht ebenfalls dem Fluch zum Opfer gefallen. Der Weg zum ersten Stock hinunter ließ die Vorahnungen der Gefährten nur dunkler werden. Die Gänge waren still und leer, bis am anderen Ende eines angen l Gangs eine Gruppe Trunkenbolde auftauchte. Sobald die Horde Cadderly und Newander sah, stürmte sie auf die beiden zu. Cadderly und der Druide wußten nicht, ob die Männer sie angreifen oder zum Mittrinken nötigen wollten, aber sie hatten nicht die Absicht, es herauszufinden. Newander drehte sich um, nachdem sie um eine Ecke gebogen waren, und sprach einen einfachen Zauberspruch. Die Gruppe kam ihnen eilig nach, aber der Druide hatte einen magischen Fallstrick gelegt, und der betrunkene Haufen konnte sich gegen einen so verstohlenen Angriff nicht wehren. Sie kullerten hilflos übereinander und endeten in einem so wilden Ringkampf miteinander, dass sie vergaßen, dass sie jemanden gejagt hatten. Cadderly setzte große Hoffnungen in die Großmeister - bis er und Newander die großen Doppeltüren am Südende des ersten Stocks durchschritten. Der Bereich war unheim lich ruhig. Niemand war zu sehen. Die Tür zum Zimmer von Abt Thobicus gehörte zu den wenigen, die nicht offenstanden. Cadderly ging langsam darauf zu und klopfte an. Insgeheim wußte er schon, dass er keine Antwort erhalten würde. Abt Thobicus war kein Mann, der sich leicht aufregte. Seine Liebe gehörte der Innenschau. Stundenlang konnte er den Nachthimmel oder nichts Bestimmtes anstarren. Thobicus' Liebe lag in seinem Geist, und als Cadderly und Newander sein Zimmer betraten, fanden sie ihn genau dort. Ganz still saß er hinter seinem großen Eichenschreibtisch. Offensichtlich hatte er sich eine ganze Weile nicht mehr bewegt. Er hatte sich besudelt, und seine Lippen waren trocken wie Pergament, obwohl gleich neben ihm ein voller Wasserbecher stand. Cadderly rief ihn mehrfach, rüttelte ihn kräftig durch, aber der Abt gab kein Zeichen, dass er ihn gehört hatte. Cadderly schüttelte ihn ein letztes Mal, und Thobicus kippte vornüber. Er blieb an Ort und Stelle liegen, als hätte er nichts bemerkt. Newander beugte sich vor, um den Mann zu untersuchen. »Von dem bekommen wir keine Antwort«, erklärte er.
»Wo sollen wir denn sonst noch suchen?« entgegnete Cadderly. »Laßt uns zu dem Mädchen zurückkehren«, sagte der Druide. »Es hilft nichts hierzubleiben, und ich habe Angst um Danica, wenn diese betrunkene Horde durch die Gänge stürmt.« Zu ihrer Erleichterung war von den Betrunkenen nichts zu sehen, als sie den Bereich des Großmeisteriums verließen, und ihr Rückweg durch die stillen, leeren Gänge verlief ereignislos. Ihre Stoßseufzer beim Betreten von Danicas Zimmer wären deutlich weniger tief ausgefallen, wenn einer von ihnen die dunkle Gestalt bemerkt hätte, die im Schatten lauerte und Cadderly zutiefst haßerfüllt beäugte. ¤¤¤ Danica war wach, doch sie zuckte nicht mit den Augenlidern, als die zwei Männer hereinkamen. Newander wollte besorgt zu ihr eilen, weil er dachte, sie sei in denselben katatonischen Zustand verfallen wie der Abt, doch Cadderly bemerkte den Unterschied. »Sie meditiert«, erklärte Cadderly, und noch während er das sagte, begriff er, was Danica vorhatte. »Sie bekämpft das Unbekannte, das sie beherrschen will.« »Woher wollt Ihr das wissen?« wandte Newander ein. Cadderly ließ sich nicht von seiner Meinung abbringen. »Seht sie Euch genau an«, wies er ihn an, »ihre Konzentration. Sie kämpft, sage ich.« Newander hatte nicht die Erfahrung, dieser Behauptung zuzustimmen oder zu widersprechen, also akzeptierte er Cadderlys Logik ohne weitere Einwände. »Ihr habt gesagt, Ihr kennt noch andere, die vielleicht entwischt sind?« fragte er, um zum Tagesgeschäft zurückzukommen. »Die Zwergenköche«, erwiderte Cadderly, »Iwan und Pikel Felsenschulter. Sie haben sich seltsam benommen, das gebe ich zu, aber ich war jedesmal in der Lage, sie wieder zur Vernunft zu bringen.« Newander dachte ein paar Minuten nach und kicherte in sich hinein, als ihm Pikel, der grünbärtige Zwerg einfiel, der unbedingt in den Druidenorden eintreten wollte. Der Gedanke war natürlich absurd, aber Pikel war ein netter Kerl - für einen Zwerg. Newander schnippte mit den Fingern und gestattete sich ein hoffnungsvolles Lächeln, als er in Cadderlys Worten einen Hinweis fand. »Magie«, sagte er mit einem Blick zu Cadderly. »Alle, die es wissen müssen, sag en, dass Zwerge magischen Bezauberungen gegenüber sehr zäh sind. Vielleicht können unsere Köche widerstehen, wo es Menschen nicht gelingt?« Cadderly nickte und blickte zu dem efeuumrankten Bett. »Und Danica wird es auch bald können, das weiß ich«, sagte er. »Aber was ist mit uns? Warum sind wir verschont geblieben?« »Wie ich schon sagte«, erwiderte Newander, »es ist gut möglich, dass ich nicht verschont bin. Ich war gestern den ganzen Tag unterwegs, bin in der Sonne herumgelaufen und habe den Bergwind gespürt. Bei meiner Rückkehr fand ich Arcite und Cleo als Bär und Schildkröte vor, aber seitdem muß ich zugeben, dass auch ich viele Zwänge spüre.« »Aber Ihr habt ihnen widerstanden«, sagte Cadderly. »Vielleicht«, stellte Newander richtig. »Ich bin mir nicht sicher. Mein Herz war jüngst wohl nicht so bei den Tieren wie die Herzen meiner Druidenbrüder.« »Darum zweifelt Ihr an Eurer Berufung«, bemerkte Cadderly. Newander nickte. »Es ist schwierig. Ich wünsche mir so sehr, mich Arcite und Cleo bei ihrer Suche nach der natürlichen Ordnung anzuschließen, aber ich möchte auch ... « »Weiter«, drängte Cadderly, als ob er das Geständnis für lebenswichtig hielte. »Ich möchte etwas über Deneir und die anderen Götter erfahren«, gab Newander zu. »Ich will den Fortschritt s ehen, wie Städte entstehen. Ich will ... «, Newander schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, was ich will! « Cadderlys graue Augen leuchteten auf. »Nicht einmal Euer Innerstes weiß, was sich Euer Innerstes wünscht«, sagte er. »Das ist selten, und das hat Euch gerettet. Das und der Umstand, dass Ihr nicht sehr lange hier wart, nachdem das alles losging.« »Was wißt Ihr denn schon?« fragte Newander scharf, riß sich jedoch schnell wieder zusammen, weil er sich fragte, wieviel Wahrheit in den Worten des jungen Gelehrten lag. Cadderlys Antwort war ein Schulterzucken. »Nur eine Theorie.« »Was ist mit Euch?« fragte Newander. »Warum bleibt Ihr verschont?« Cadderly lachte fast, weil ihm die passende Antwort doch fehlte. »Ich kann es nicht sagen«, gab er ehrlich zu. Wieder sah er zu Danica. »Aber jetzt weiß ich, wie ich es herausfinden könnte.« Newander folgte dem Blick des jungen Mannes zu der meditierenden Frau. »Ihr geht wieder schlafen?« Cadderly zwinkerte ihm vielsagend zu. »Sozusagen.« Newander hatte keine Einwände. Er brauchte sowieso Zeit für sich, um über seine eigene Lage nachzudenken. Er konnte Cadderlys Theorien darüber, warum er nicht von dem betroffen war, was die Bibliothek heimsuchte, nicht akzeptieren, obwohl er hoffte, dass es so einfach war. Newander vermutete, dass etwas anderes vor sich ging, etwas Wunderbares oder Schreckliches - da war er nicht sicher. Trotz all seiner Gedanken aber konnte der Druide sich nicht von dem Bild Arcites und Cleos lösen, wie zufrieden und natürlich sie waren. Und er konnte seine Ängste nicht verdrängen, dass er Silvanus durch seine Unentschiedenheit in einer Zeit drängender Not enttäuscht hatte. ¤¤¤
Lange Zeit saß Cadderly im Schneidersitz da, mit geschlossenen Augen, entspannte Stück für Stück jeden Teil seines Körpers, ließ seine Gedanken ganz in seinen physischen Leib sinken. Er hatte diese Techniken von Danica gelernt - eine der wenigen Einzelheiten, die sie von ihrer Religion preisgegeben hatte - und fand sie sehr nützlich, entspannend und angenehm. Jetzt aber nahm die Meditation eine weit wichtigere Rolle ein. Cadderly öffnete langsam die Augen und schaute sich um. Er sah den Raum, als wäre er nicht wirklich da. Zuerst konzentrierte er sich auf den Steinblock mit den Blutflecken seiner geliebten Danica. Er lag zw ischen den umgeworfenen Sägeböcken. Dann war er verschwunden, ins Schwarze geschoben. Dahinter waren Danicas Schränke, dann waren auch sie weg. Cadderly blickte nach links, zur Tür, wo Newander Wache hielt. Der Druide beobachtete ihn neugierig, aber Cadderly bekam das kaum mit. Einen Moment später waren Druide und Tür schwarze Löcher. Cadderlys schweifender Blick schaltete den Rest des Zimmers aus. Danicas Tisch und ihre Waffen, zwei Kristalldolche, in ihren Stiefelscheiden an der Wand; das Fenster mit dem hellen Licht des späten Vormittags; und zuletzt Danica selbst, die auf ihrem efeuumrankten Bett immer noch tief in ihre eigene Meditation versunken war. »Liebste Danica«, murmelte Cadderly, obwohl nicht einmal er die Worte hörte. Dann war auch sie, ebenso wie alles andere, aus seinen Gedanken verschwunden. Wieder entspannte er sich - die Zehen, die Füße, die Beine; die Finger, die Hände, die Arme - bis er einen vollkommen ruhigen Zustand erreicht hatte. Sein Atem ging leicht und langsam. Seine Augen waren offen. Sein Atem ging leicht und langsam. Seine Augen waren offen, aber sie sahen nichts. Es gab nur stille, ruhige Schwärze. In diesem Zustand konnte Cadderly nicht bewußt denken. Er mußte hoffen, dass die Antworten ihm zuflogen, dass sein Unterbewußtsein ihm einen Fingerzeig geben würde. Er hatte keine Vorstellung von der Zeit, die verstrich, aber die Leere, das einfache, ungestörte Dasein kam ihm lang vor. Die wandelnden Toten waren in der Schwärze an seiner Seite. Anders als in seinen Träumen sah er die Skelette jetzt nicht als Bedrohung, sondern wie ein unbeteiligter Beobachter. Schlurfend begleiteten sie ihn auf seiner geistigen Reise, fielen zurück und ließen ihn in einem Gang allein. Da war die vertraute Tür mit den Ritzen, durch die das Licht fiel, das Bild, mit dem seine Alpträume immer aufgehört hatten. Das Bild verblaßte, als wollte eine unsichtbare Gewalt ihn am Vordringen hindern, eine mentale Barriere, die er jetzt - aus unbekanntem Grund - als Zauberspruch identifizierte. Die Bilder verschwammen für einen Augenblick zu grauem Nebel, dann wurden sie wieder klar, und er war an der Tür, dann durch die Tür hindurch. Der Altarraum! Von Angst und Hoffnung gleichzeitig erfüllt sah Cadderly, wie der Raum dunkler wurde und nur ein einziges, rotglühendes Objekt übrig blieb, eine Flasche, direkt vor ihm. Er sah die Flasche aus der Nähe an und bemerkte, wie seine Hände, seine eigenen Hände, den Verschluß öffneten. Roter Rauch schoß heraus und verdeckte jedes weitere Bild. Cadderly war wieder in Danicas Zimmer. Es war genau das Bild, das er ausgeblendet hatte - selbst Newander verharrte noch in seiner Position an der Tür -, doch nun hing in der Luft ein kaum wahrnehmbarer, rosa Dunst. Cadderly merkte, wie sein Herz schneller schlug, als der Zweck dieses Nebels ihm nur zu klar wurde. Sein Blick fiel auf Danica, die immer noch tief in ihrer eigenen Meditation steckte. Cadderlys Gedanken berührten Danicas und fanden Antwort. Sie kämpfte, wie er vermutet hatte, focht gegen diesen durchdringenden, ros a Dunst an, versuchte, ihren Verstand vor seinem schwächenden Einfluß zu retten. »Kämpfe, Danica!« hörte er sich sagen, und diese Worte brachen seine Trance. Voller Verzweiflung blickte er Newander an. »Ich bin der Grund! « hörte er sich sagen, während er die Hände hob, als wären sie blutbedeckt. »Ich habe sie geöffnet!« Newander lief herbei und kniete sich neben Cadderly, um ihn zu beruhigen. »Geöffnet?« »Die Flasche«, stammelte Cadderly. »Die Flasche! Die rotglühende Flasche. Der Nebel - seht Ihr den Nebel?« Newander sah sich um. Dann schüttelte er den Kopf. »Er ist ... hier«, sagte Cadderly, faßte den Druiden am Arm und zog ihn auf die Füße. »Wir müssen diese Flasche schließen!« »Wo?« fragte der Druide. Cadderly brach plötzlich ab, weil er überlegen mußte. Er erinnerte sich an die Skelette, den staubigen Geruch, die Gänge mit den Alkoven an den Seiten. »Es gab wirklich eine Tür im Weinkeller«, sagte er schließlich. »Eine Tür zu den tiefsten Katakomben,' den Gewölben, die die Bibliothek nicht mehr nutzt.« »Müssen wir dorthin?« fragte Newander. »Nein«, warnte Cadderly, »noch nicht. Die Katakomben sind nicht leer. Wir müssen uns vorbereiten.« Wieder schaute er zu Danica, die er jetzt mit anderen Augen sah, nachdem er ihren geistigen Kampf verstand. »Wird sie an unserer Seite kämpfen?« fragte Newander, der Cadderlys Blick bemerkte. »Danica kämpft jetzt«, versicherte ihm Cadderly, »aber der Nebel umgibt uns alle und ist hartnäckig.« Er warf Newander einen verwirrten Blick zu. »Ich weiß immer noch nicht, warum ich von seiner Wirkung verschont geblieben bin.« »Wenn Ihr tatsächlich der Auslöser wart, wie Ihr glaubt«, erwiderte der Druide, der ausgiebige Erfahrung mit magischen Praktiken hatte, »dann seid Ihr vielleicht allein aus diesem Grund verschont.«
»Was immer auch der Grund sein mag«, sagte er entschlossen, »wir müssen - ich muß - die Flasche schließen.« Minutenlang versuchte er, sich die Hindernisse ins Gedächtnis zu rufen, die vor ihm lagen, und stellte sich noch schrecklichere Monster vor, die vielleicht gleich außerhalb seiner alptraumhaften Visionen lauerten. Cadderly wußte, dass er für seinen Kampf Verbündete brauchte, mächtige Verbündete, die ihm beistanden, damit er überhaupt in den Altarraum zurückgelangen konnte. »Ivan und Pikel«, sagte er zu Newander. »Die Zwerge sind widerstandsfähig, wie Ihr sagt. Sie werden uns helfen.« »Geht zu ihnen«, riet ihm Newander. »Ihr bleibt bei Danica«, erwiderte Cadderly. »Außer mir und den Zwergenbrüdern laßt Ihr niemanden herein.« »Ich kann die Welt durchaus ausschließen«, versicherte ihm Newander. Sobald Cadderly den Gang betreten hatte, hörte er den Druiden leise singen. Danicas Holztür, die von Newanders Zauber plötzlich zum Leben erweckt wurde, verzog und streckte sich, bis sie völlig unbeweglich im Rahmen fes tsaß. Ivan und Pikel waren nicht am Kämpfen, als Cadderly diesmal die Küche betrat, aber sie arbeiteten auch nicht. Still und bedrückt saßen sie einander am großen Küchentisch gegenüber. Sobald er Cadderly bemerkte, reichte Ivan ihm abwesend die Einhänderarmbrust, die er perfekt vollendet hatte. »Kam so über mich«, erklärte der Zwerg, ohne dem hinreißenden Gerät einen zweiten Blick zu schenken. Cadderly war nicht überrascht. Anscheinend wurden derzeit viele Leute in der Erhebenden Bibliothek von Impulsen überwältigt. »Was soll das alles?« fragte Ivan plötzlich. Cadderly verstand nicht. Pikels normalerweise sorgloses Gesicht hatte einen finsteren Ausdruck, als er zur Tür zum Speisesaal zeigte. Zögernd durchquerte Cadderly die Küche, doch als er in den angrenzenden Raum blickte, wurde ihm der Grund für die trübe Stimmung der Zwerge klar. Eine Hälfte der gefräßigen Priester - einschließlich Avery saßen noch am Tisch, konnten sich aber kaum mehr rühren. Die andere Hälfte war noch schlimmer, denn sie lagen in ihrem eigenen Erbrochenen auf dem Boden. Auch ohne hinzugehen, wußte Cadderly, dass einige tot waren, und auch sein Gesicht war aschgrau, als er wieder in die Küche trat. »Also, was soll das alles?« fragte Ivan wieder. Cadderly sah ihn lange durchdringend an, weil er nicht wußte, wie er von der Flasche und seinem eigenen, immer noch unklaren Tun erzählen sollte. Schließlich sagte er nur: »Ich bin nicht sicher, was geschehen ist, aber ich glaube, ich weiß jetzt, was wir dagegen tun können.« Er dachte, seine Ankündigung würde die Zwerge begeistern, aber diese regten sich kaum. »Wollt ihr mir helfen?« fragte Cadderly. »Ich schaffe es nicht allein.« »Was brauchst du?« fragte Ivan ungerührt. »Dich«, antwortete Cadderly, »und deinen Bruder. Der Fluch - es ist ein Fluch - kommt von unterhalb der Keller. Ich muß dort runter, um ihm ein Ende zu setzen, aber ich fürchte, der Ort wird bewacht.« »Bewacht?« bellte Ivan. »Wie kommst du da drauf?« »Vertrau mir einfach, bitte«, erwiderte Cadderly. »Mit Waffen habe ich wenig Übung, aber ich habe euch beide kämpfen sehen und könnte eure starken Arme gebrauchen. Wollt ihr mich begleiten?« Die Zwerge tauschten gelangweilte Blicke aus. Sie zuckten die Schultern. »Lieber würde ich kochen«, stellte Ivan fest. »Hab' mein Abenteurerleben längst hinter mir. Pikel wäre lieber ...« Er hielt inne und sah seinen Bruder forschend an. Pikel setzte ein selbstgefälliges Gesicht auf, griff sich an seinen grünen Bart und wedelte mit einem Ende. »Ein Druide!« kreischte Ivan, der aufsprang und nach einer Pfanne griff. »Du blöder, vogelverliebter, eichenküssender ...!« »Ei, ei!« rief Pikel aus, der sich mit einem Nudelholz bewaffnete. Cadderly ging sofort dazwischen. »Das ist alles Teil des Fluchs!« schrie er. »Seht ihr das nicht? Nur darum s treitet und kämpft ihr!« Beide Zwerge sprangen einen Schritt zurück. Sie senkten ihre Geschirrwaffen. »Ei«, machte Pikel neugierig. »Wenn ihr einen echten Feind bekämpfen wollt«, fing Cadderly an, »dann kommt in mein Zimmer und helft mir packen. Unter den Kellern ist etwas, etwas Gräßliches und Böses. Wenn wir es nicht aufhalten, ist die ganze Bibliothek verloren.« Ivan lehnte sich zur Seite und tauschte um den jungen Gelehrten herum einen Blick mit seinem ebenfalls seitwärts gelehnten Bruder. Gleichzeitig zuckten sie die Schultern und schmissen ihre Kochgeschirrwaffen quer durch die Küche. »Erst gehen wir zu den Vielfraßen«, erklärte Cadderly. »Wir sollten sie vorher versorgen, so gut wir können.« Die Zwerge nickten. »Dann hole ich meine Axt«, beschloß Ivan, »und mein Bruder holt seinen Baum!« »Baum?« wiederholte Cadderly leise hinter dem Rücken der Zwerge. Ein Blick auf Pikels grüngefärbten Bart, der dem Zwerg über den halben Rücken fiel, und seine riesigen, knorrigen, stinkenden Füße, die weit aus den feinen Sandalen hervorstanden, riet ihm, diese Frage doch lieber auf sich beruhen zu lassen.
Blut an seinen Händen Cadderly suchte unter den vielen Lederriemen, die in seinem Schrank hingen, bis er schließlich einen Gürtel mit einer merkwürdig geformten, breiten, flachen Lederscheide an einer Seite fand. Die kleine Armbrust paßte genau hinein - es war sogar ein Plätzchen für die Ladenadel vorgesehen. Cadderly zog die Armbrust gleich wieder heraus. Als nächstes probierte er die Nadel aus, spannte die Armbrust und feuerte mehrmals. Das ging leicht und einfach; es gelang ihm sogar ohne größere Schwierigkeiten, die Waffe so zu halten, dass er sie mit einer Hand spannen konnte. Als nächstes nahm Cadderly den Gurt heraus und schlang ihn sich über die Schulter. Die sechzehn geladenen Bolzen platzierte er an seiner Brust, damit er schnell zugreifen konnte. Bei dem Gedanken, was ein Treffer gegen seine Brust für Schaden anrichten würde, zuckte er zusammen, aber er vertraute darauf, dass die Pfeile und der Gurt ordentlich hergestellt waren. Nach einem Blick in den Spiegel ging es ihm besser, als ob ihm das Tragen seiner jüngsten Erfindung eine gewisse Kontrolle über seine Umgebung verschaffte. Das Lächeln verflog jedoch rasch wieder, als er an die gefährliche Aufgabe dachte, die vor ihm lag. Das war kein Spiel, erinnerte er sich. Schon waren wegen seiner eigenen Handlungen - Menschen gestorben und die ganze Bibliothek bedroht. Cadderly ging durch das Zimmer zu einer verschlossenen, versiegelten Eisenkis te hinter der Tür. Er steckte einen Schlüssel in das Schloß. Dann wartete er einen Moment und rief sich noch einmal sorgfältig die genauen Schritte ins Gedächtnis, die er befolgen mußte, sobald die Kiste offen war. Er hatte diese Handlung häufig geübt, aber er hätte nie gedacht, dass er sie brauchen würde. Sobald der Deckel offenstand, wurde alles um Cadderly in eine Kugel absoluter Finsternis getaucht. Das war für den jungen Gelehrten keine Überraschung - Cadderly hatte Histra ordentlich dafür bezahlt, dass sie diese Umkehrung ihres Lichtspruches in seine Kiste legte. Es war unpraktisch, und Cadderly hatte ungern mit Histra zu tun, aber es war nötig, um eines von Cadderlys kostbarsten Besitztümern zu schützen. In einem alten Buch war Cadderly auf die Formel für das überaus wirksame Schlafgift der Drow gestoßen. Die exotischen Zutaten waren nicht leicht zu beschaffen - insbesondere einen Pilz konnte man nur in tiefen Tunneln, tief unter der Oberfläche des Toril, finden -, und die Vorkehrungen zum Brauen, das der Alchimist Belago ebenfalls tief unter der Erde vorgenommen hatte, waren noch schwieriger zu treffen, aber Cadderly war hartnäckig gewesen. Mit Segen und Rückendeckung von Abt Thobicus hatte er für seine Anstrengungen fünf kleine Giftampullen erhalten. Wenigstens hoffte Cadderly, daß es das Gift war. Man hatte nicht oft Gelegenheit, solche Dinge auszuprobieren. Selbst nach dem anscheinend erfolgreichen Brauen war jedoch eine erschwerende Bedingung geblieben. Es handelte sich um ein Drowgift, das in den eigentümlichen, magischen Verhältnissen hergestellt wurde, die man nur im Unterreich fand, der lichtlosen Welt unter Torils Oberfläche. Es war wohlbekannt, daß Drowgift schon nach kürzestem Kontakt mit dem Sonnenlicht nutzlos wurde. Schon frische Luft konnte das teure Gemisch zerstören, so daß Cadderly einiges unternommen hatte - wie den Dunkelheitszauber -, um seinen Besitz zu schützen. Er schloß die Augen und arbeitete nach Gedächtnis. Zu erst schraubte er den kleinen Behälter in seinem Ring mit der Feder auf, dann nahm er ein Gläschen aus der Kiste und öffnete es vorsichtig. Er goß die klebrige Substanz in den geöffneten Ring, nahm dann den Federdeckel und setzte ihn wieder an seinen Platz. Erleichtert atmete er auf. Wenn er auch nur abgerutscht wäre, hätte er womöglich Zutaten im Wert von tausend Goldstücken und viele Wochen Arbeit vergeudet. Und wenn er auch nur einen Tropfen Gift auf seine Hand gespritzt hätte, und es wäre durch einen winzigen Kratzer in die Haut eingedrungen, hätte er zweifellos gleich darauf laut schnarchend neben der Kiste gelegen. Die Dunkelheit verschwand wieder in der versiegelten Kiste, als Cadderly den Deckel schloß. Inzwischen waren auch Ivan und Pikel zur Stelle und standen kampfbereit und mit grimmigem Gesicht neben ihrem Freund, weil sie die unerwartete Dunkelheit gesehen hatten. »Mal wieder typisch«, grollte Ivan, der seine schwere Zweihänderaxt sinken ließ. Cadderly mußte tief Luft holen, bevor er antworten konnte. Er saß nur da und starrte die Zwergenbrüder an. Beide trugen Kettenhemden, die im Lauf von Jahrzehnten an vielen Stellen angerostet waren. Ivan hatte einen Helm auf, der mit einem Hirschgeweih - einem Achtender - geschmückt war, während auf Pikels Kopf ein Kochtopf saß! Er trug auch immer noch seine offe nen Sandalen. Am erstaunlichsten allerdings war Pikels Waffe. Als er sie anschaute, verstand Cadderly, was Ivan vorhin gemeint hatte. Es war tatsächlich ein »Baum«, der polierte Stamm eines schwarzen, glattrindigen Exemplars, das Cadderly nicht erkannte. Die Keule war volle vier Fuß lang und damit fast so groß wie der Zwerg, hatte am breiten Ende einen Fuß Durchmessser, am schmaleren Griffende knapp einen halben. Lederne Handschlaufen waren in verschiedenen Abständen angenagelt, um beim Schwingen zu helfen, aber dennoch wirkte die Waffe umständlich und klobig. Als hätte er Cadderlys Zweifel gespürt, demonstrierte Pikel seine Schnelligkeit in einer Reihe von Scheinangriffen und Abwehrmanövern. Cadderly nickte beeindruckt. Er war froh, daß nicht er das Ziel von Pikels Attacken sein würde. »Bist du bereit?« fragte Ivan und zupfte sein Kettenhemd zurecht.
»Fast«, antwortete Cadderly. »Nur noch ein paar kleinere Vorbereitungen. Und ich möchte noch nach Danica sehen, bevor wir gehen.« »Wie können wir dir helfen?« wollte Ivan wissen. Cadderly erkannte, wie sehr die Zwerge darauf brannten, sich in den Kampf zu stürzen. Er wußte, daß es viele Jahre her war, seit die Brüder Felsenschulter auf Abenteuer ausgezogen waren, viele Jahre, in denen sie im sicheren Hafen der Erhebenden Bibliothek gekocht hatten. Das war kein schlechtes Leben, wie man es auch betrachtete, aber die Vorstellung von drohenden Gefahren und Abenteuern hatte die Zwerge offensichtlich hingerissen. In ihren dunklen Augen lag ein unbestreitbarer Glanz, und ihre Bewegungen waren aufgeregt und nervös. »Geht zu Belago, dem Alchimisten«, erwiderte Cadderly, der es für das Beste hielt, die Zwerge zu beschäftigen. Er beschrieb den Destillationsapparat und den Trank, den Belago für ihn braute. »Wenn er noch etwas für mich fertiggestellt hat, dann bringt es her.« Die Zwerge waren bereits unterwegs, als Cadderly einfiel, daß er Belago seit dem Zugriff des Fluchs auf die Bibliothek nicht mehr gesehen hatte. Was war dem Alchimisten zugestoßen? Lief immer noch die richtige Mischung für sein Wuchtöl in genau der richtigen Menge durch die Röhrchen? Cadderly verdrängte seine Sorgen mit einem Achselzucken und vertraute darauf, daß Ivan und Pikel selbst einen Kopf zum Denken hatten. Percival saß wieder am Fenste r und piepste aufgeregt. Cadderly ging hinüber, stützte sich aufs Fensterbrett und beugte sein Gesicht dicht zu seinem kleinen Freund hinunter, um aufmerksam zuzuhören. Er verstand Eichhörnchensprache natürlich ebensowenig wie ein Kind seinen Haushund, aber er und Percival hatten eine ziemlich enge gefühlsmäßige Bindung entwickelt, und er wußte genau, daß das Tierchen manche einfachen Worte und Sätze verstand, vor allem, wenn es ums Essen ging. »Ich werde eine Weile fort sein«, sagte Cadderly. Eine so weitreichende Nachricht würde das Eichhörnchen bestimmt nicht verstehen, aber das Reden mit Percival half Cadderly oft, seiner eigenen Verwirrung Herr zu werden. Percival hatte nie eine Antwort für ihn, aber Cadderly fand sie oft in seinen eigenen Worten. Percival saß auf seinen Hinterbeinen, leckte sich die Vorderpfoten und fuhr damit schnell über sein Gesicht. »Etwas Schlimmes ist geschehen«, versuchte Cadderly zu erklären. »Etwas, das ich ausgelöst habe. Jetzt will ich es wieder rückgängig machen.« Sein ernster Ton hatte eine beruhigende Wirkung auf das Nagetier. Percival hörte auf zu lecken und saß ganz still. »Darum werde ich fort sein«, fuhr Cadderly fort, »unten unter der Bibliothek, in tiefen Tunneln, die nicht mehr benutzt werden.« Etwas an seinen Worten hatte das Tier anscheinend tief getroffen. Percival rannte immer im Kreis herum, keckerte und schnalzte, und Cadderly brauchte lange, bis er ihn wieder beruhigen konnte. Er wußte, daß Percival ihm etwas Wichtiges sagen wollte - etwas, das der kleine Nager für wichtig hielt -, aber er hatte keine Zeit für die Raserei des Eichhörnchens. »Keine Bange«, sagte er ebenso zu sich selbst wie zu Percival. »Ich bin bald zurück, und dann wird alles wieder wie früher.« Seine Worte hörten sich hohl an. Nichts würde sein, wie es gewesen war. Selbst wenn er die rauchende Flasche schließen konnte, und wenn diese einfache Tat den Fluch aufhob, würde das weder die Priester des Ilmater noch die toten Vielfraße im Speisesaal zurückbringen. Cadderly schüttelte seine trüben Gedanken ab. Er konnte nicht auf Erfolg hoffen, wenn er seine Suche voller Verzweiflung begann. Wieder spielte das Eichhörnchen verrückt, doch diesmal erkannte Cadderly aus Percivals Blickrichtung, woher die Aufregung rührte. Er sah über die Schulter und erwartete, daß Ivan und Pikel zurückgekehrt waren. Statt dessen sah er Kierkan Rufo und vor allem den Dolch in Rufos Hand. »Was soll das?« fragte Cadderly, doch er brauchte keine Antwort mehr. Rufos linkes Auge war immer noch zugeschwollen, und seine Nase zeigte ebenso zur Wange wie ge radeaus. Die häßlichen Wunden betonten den schieren Haß in seinen kalten, dunklen Augen.
»Wo ist jetzt dein Licht?« höhnte der Mann. »Aber das würde dir auch nicht viel helfen, oder?« Er hinkte sichtlich, kam jedoch unaufhaltsam näher. »Was machst du denn?« fragte Cadderly. »Ist der mächtige Cadderly nicht schlau genug, sich das vorzustellen?« spottete Rufo. »Du willst das nicht wirklich«, sagte Cadderly, so ruhig er konnte. »Denk an die Folgen ... « »Was?« schrie Rufo wild. »Aber natürlich will ich das. Ich will dein Herz in meinen Händen halten. Ich will es deiner lieben Danica bringen und ihr zeigen, wer der Stärkere war.« Cadderly suchte nach einem Ausweg. Er dachte daran, die offensichtliche Schwäche in Rufos Plan zu erwähnen wenn er wirklich Cadderlys Herz zu Danica brachte, würde diese ihn töten -, aber selbst das würde seinen Angreifer kaum aufhalten. Rufo stand ganz unter dem Einfluß des Fluchs, folgte dessen teuflischem Ruf ohne Rücksicht auf die Folgen. Da ihm scheinbar keine Wahl blieb, schob Cadderly widerstrebend einen Finger in die Schlaufe seiner Spindelscheibenschnur und ging in Position. Rufo kam mit vorgestrecktem Dolch auf ihn zu, und Cadderly warf sich seitlich über das Bett, um außer Reichweite des großen Mannes zu kommen. Rufo wich schnell zurück, schneller als Cadderly erwartet hatte, um seinem Gegner den Weg zur Tür abzuschneiden. Er rannte um das Bettende herum und zielte in weitem Bogen auf Cadderlys Bauch. Cadderly wich geschickt nach hinten aus, dann führte er seinen Gegenangriff, indem er die Spindelscheiben über Rufos angreifenden Arm schnellen ließ. Rufos bereits gebrochene Nase knackte unter dem Aufprall, und ein neuer
Blutstrom rann dick über die getrockneten Flecken auf seiner Lippe. Aber Rufo, der von bitterem Haß besessen war, schüttelte den Schmerz ab und griff wieder an. Obwohl der Schlag nicht sehr kräftig gewesen war, hatte er den Rhythmus von Cadderlys Handgelenk etwas gestört. Er bekam die Scheiben zwar zurück, aber jetzt war die Schnur lose aufgewickelt, und er konnte nicht sofort wieder richtig zuschlagen. Rufo schien seine Schwäche zu bemerken. Böse grinsend kam er näher. Percival rettete Cadderly das Leben, indem er Rufo vom Fenster aus mitten ins Gesicht sprang. Rufo wischte das Eichhörnchen einfach ab, schleuderte es quer durch den Raum, aber Percival war nichts Ernstes passiert, und Cadderly hatte die Zeit nicht verschenkt und inzwischen die Spindelscheiben mehrmals senkrecht auf- und abgespult, um die Schnur wieder zu straffen. Rufo schien die zwei Blutfäden, die aus seiner neuesten Wunde - Percivals kleinem Biß in seine Wange - über sein Gesicht liefen, gar nicht zu bemerken. »Ich werde dein Herz in meinen Händen halten«, versprach er wieder. Cadderly führte zwei Scheinangriffe, um Rufo abzulenken, auf die sein Gegner mit matten Vorstößen reagierte, die keinen Schaden anrichten konnten. Schließlich ließ Cadderly die Scheiben zu einem langen, weiten Wurf vorschnellen, der sie bis zum Ende der Schnur abwickelte. Ein Ruck mit dem Handgelenk brachte die Waffe in seine Hände zurück, aber nicht so zackig wie vorher. Rufo schätzte die Geschwindigkeit der Würfe ab und ließ sich Zeit. Wieder flogen die Scheiben. Rufo wich zurück, dann stürzte er sich auf seinen Gegner. Die Finte hatte funktioniert. Während seines Wurfes hatte Cadderly die Schnur bereits verkürzt, so daß die Spindelscheiben viel schneller wieder in seinen Händen lagen, als Rufo annehmen konnte. Er hatte kaum den ersten Schritt gemacht, als die Waffe des jungen Gelehrten bereits wieder vorschoß, diesmal nach unten. Rufo japste vor Schreck und Schmerz und griff nach seiner zertrümmerten Kniescheibe, während ihm fast das Bein wegsackte. Allerdings stand er unter dem Einfluß des Chaosfluchs und war für Schmerz kaum empfänglich. Sein Japsen wurde zum Knurren. Schon stürmte er wieder heran. Cadderly mußte abermals quer über das Bett springen, um der Klinge zu entgehen, doch als er diesmal landete, hatte Kierkan Rufo das Bettende bereits umrundet und stand ihm gegenüber. Cadderly wußte, bei Rufos Zustand konnte ihn nur ein exakter, heftiger Treffer aufhalten. Ein solcher Angriff wäre allerdings riskant gewesen, und Cadderly bezweifelte, daß er bei den Verteidigungsmanövern seines wildgewordenen Gegners überhaupt Chancen für einen Treffer hatte. Sie hielten sich kurz mit Scheinangriffen auf. Rufo grinste. Cadderly fragte sich, ob es nicht besser wäre, aus dem Fenster zu springen. Dann erzitterte plötzlich das ganze Gebäude, als hätte es der Blitz getroffen. Es vibrierte noch sekundenlang nach, und Cadderly verstand sofort, was geschehen war, als er ein einzelnes Wort vom Gang her hörte:
»Ei!« Zögernd blickte Rufo über die Schulter zur offenen Tür hin. Cadderly entschied, diesen plötzlichen Vorteil aller Fairneß zum Trotz zu nutzen, winkelte den Arm an und ließ ihn mit aller Kraft vorschnellen. Rufo drehte sich gerade noch rechtzeitig um, daß ihn die sausenden Scheiben genau zwischen die Augen trafen. Ein überraschter, verdatterter Ausdruck trat auf sein Gesicht. Er begann zu schielen, als wollte er nach der neuesten Verletzung Ausschau halten. Cadderly, der gebannt in Rufos verzerrtes Gesicht starrte, hörte, wie der Dolch auf den Boden fiel. Kurz darauf kippte sein Gegner einfach um. Noch immer reagierte Cadderly nicht. Er stand nur da. Seine Spindelscheiben hingen am Ende der Schnur neben ihm und drehten sich unablässig. Als er schließlich zugriff, um seine Waffe auszuwickeln, drehte sich ihm der Magen um. Die Spindelscheiben waren voller Blut, und an einer klebte auf der dicken, trocknenden, roten Flüssigkeit ein Stück von Rufos Augenbraue. Cadderly sank aufs Bett und ließ die Scheiben auf den Boden fallen. Er fühlte sich verraten - von sich selbst und von seinem Spielzeug. Alle Priester der Bibliothek wurden dazu angehalten, mit einer Waffe zu trainieren, normalerweise einem konventionelleren Gerät wie Stab, Keule oder Streitkolben. Cadderly hatte mit dem Stab angefangen und konnte seinen Spazierstock mit dem Widderkopf im Notfall recht gut handhaben, aber es hatte ihm nie so recht zugesagt, eine Waffe zu tragen. Er lebte in einer gefährlichen Welt, hieß es, aber er hatte den Großteil seines Lebens in den sicheren Mauern der Erhebenden Bibliothek verbracht. Die Großmeister hatten ihm jedoch nicht gestattet, gegen die Regel zu verstoßen. Jeder Priester mußte trainieren. In einer uralten Abhandlung über Halblinge war Cadderly auf die Spindelscheiben gestoßen und hatte rasch seine eigenen entworfen. Manche Großmeister hatten ihn wegen seiner Wahl verhöhnt, hatten die Scheiben mehr Spielzeug als Waffe genannt, aber sie erfüllten alle Anforderungen der Ethik des Deneir. Insbesondere Großmeister Averys Widerspruch hatte Cadderlys Entschlossenheit nur noch verstärkt. Für Cadderly hatten die Spindelscheiben aus stundenlangem , hartem Kampf stundenlanges, fröhliches Spiel gemacht. Er hatte ein Dutzend Tricks, Geschicklichkeitsspiele, die niemandem weh taten, mit seinem neuen Spielzeug gelernt - denn insgeheim hatte auch er es für ein Spielzeug gehalten. Jetzt aber, als sie mit Rufos Blut bedeckt waren, kamen ihm die Spindelscheiben weniger lustig vor. Rufo stöhnte und rührte sich ein wenig. Cadderly war froh, daß sein Gegner am Leben war. Er holte tief Luft und griff nach seinen Scheiben. Entschlossen erinnerte er sich an die schwere Aufgabe, die vor ihm lag. Er würde Mut und ein dickes Fell brauchen, um sie durchzustehen. Percival saß neben ihm auf dem Bett, was Cadderly Trost spendete. Er fuhr mit einem Finger über den weichen Pelz des weißen Eichhörnchens, nickte dann ernst und wickelte seine Waffe wieder auf.
»Tot?« fragte Ivan, der den Raum mit einem schmorenden Pikel auf den Fersen betrat. Percival schoß durchs offene Fenster davon, und Cadderly hätte sich ihm beinahe angeschlossen, als er die Brüder sah. Ivans Geweih, sein Gesicht und der Bart, der wild in alle möglichen Richtungen abstand, waren rußgeschwärzt, und aus einem seiner schweren Stiefel ragten jetzt seine bloßen Zehen wie die von Pikel aus dessen Sandalen. Pikel war nicht viel besser dran. Winzige Keramiksplitter bedeckten sein rußiges Gesicht, sein Grinsen zeigte, daß ein Zahn fehlte, und eine Glasscherbe hatte sich tatsächlich in seinen Eisentopfhelm gebohrt. »Belago war nicht da?« fragte Cadderly nur. Ivan zuckte die Schultern. »Keine Spur von ihm«, antwortete er, »aber mein Brüderchen hat deinen Trank gefunden - das bißchen, das da war.« Er hielt das kleine Auffangbecken hoch. »Wir dachten, du würdest mehr wollen, darum ... « »Habt ihr den Hahn aufgedreht«, brachte Cadderly den Satz zu Ende. »Bumm!« fügte Pikel hinzu. »Tot?« fragte Ivan wieder, und der beiläufige Ton seiner Frage ging Cadderly durch und durch. Beide Zwerge bemerkten das Unbehagen des jungen Gelehrten. Sie sahen einander an und schüttelten die Köpfe. »Du solltest lieber versuchen, Geschmack daran zu finden«, sagte Ivan. »Wenn du auf Abenteuer ausziehen willst, findest du am besten Geschmack an den Dingen, die dir wahrscheinlich zustoßen.« Er ließ den Blick wieder zu Kierkan Rufo wandern. »Oder vor die Füße fallen.« »Ich hatte nie vor, auf Abenteuer auszuziehen«, entgegnete Cadderly säuerlich. »Und ich hatte nie vor, Koch zu werden«, gab Ivan zurück, »aber trotzdem bin ich einer. Du hast gesagt, wir haben zu tun, also an die Arbeit. Tun wir, was zu tun ist, und wer sich uns in den Weg stellen will, tja -« »Er ist nicht tot«, warf Cadderly ein. »Legt ihn aufs Bett und bindet ihn dort fest.« Wieder tauschten Ivan und Pikel Blicke aus, aber diesmal nickten sie zustimmend zu Cadderlys entschlossenem Tonfall. »Ei«, stellte Pikel beeindruckt fest. Cadderly wischte seine Spindelscheiben sauber, griff nach dem Wanderstab mit dem Widderkopf und einem Wasserschlauch und machte sich auf den Weg. Er war erleichtert, daß Danicas Tür immer noch verzogen und verklemmt war, und noch erleichterter, als Newanders ruhige Stimme seinem Klopfen antwortete. »Wie geht es ihr?« fragte Cadderly sofort. »Sie ist immer noch in tiefer Meditation«, berichtete Newander, »aber es scheint ihr ganz gut zu gehen.« Cadderly dachte an seine Vision, in der Danica gegen den teuflischen roten Dunst angekämpft hatte. »Ich kann den Spruch rückgängig machen und Euch einlassen«, bot der Druide an. »Nein«, erwiderte Cadderly, obwohl er Danica wirklich gern noch einmal gesehen hätte. Er fand, Newander sollte seine magischen Energien lieber sparen. »Wenn ich wiederkomme, ist Euer Zauber vielleicht nicht mehr notwendig«, sagte er. »Dann wollt Ihr, daß ich bei Danica bleibe?« »Ich habe die Zwerge bei mir«, erklärte Cadderly. »Die passen besser in unterirdische Tunnel als ein Druide. Bleibt bei ihr, damit sie sicher ist.« Da kamen Ivan und Pikel, und in ihren eifrig glänzenden Augen las Cadderly, daß die Zeit zum Aufbruch gekommen war. Innerlich zerrissen, blickte er noch einige Male zu Danicas Tür zurück, während sie den Flur entlangliefen. Ein Teil von Cadderly wehrte sich immer noch gegen dieses Unternehmen und war der Meinung, er sollte lieber mit seinen bewaffneten Freunden bei Danica sitzenbleiben, bis dieser ganze Alptraum vorbei war. Aber es fiel nicht schwer, Argumente gegen diese irrationale Einstellung zu finden. Um ihn herum starben die Menschen. Wie viele Feinde lauerten noch mordlustig im Schatten? »Lieber Cadderly«, schnurrte eine Stimme, die die Entschlossenheit des jungen Gelehrten nur noch steigerte. Histra stand hinter ihrer Zimmertür, die sie gerade einen Spalt geöffnet hatte, was genügte, um Cadderly und den Zwergen zu verraten, daß sie nichts als ein seidiges, durchsichtiges Neglige trug. »Komm doch herein und setz dich zu mir.« »Ei!« sagte Pikel. »Die wi ll mehr als sitzen, Jungchen«, kicherte Ivan. Cadderly ignorierte alle und rannte einfach an der Tür vorbei. Als er vorbeilief, hörte er die Tür weiter aufgehen und spürte, wie Histra nach ihm griff. »Komm sofort zurück! « kreischte die Priesterin der Sune und sprang auf den Flur hinaus. »Ei!« bemerkte Pikel wieder bewundernd. Histra konzentrierte sich, um ihren möglichen Liebhaber auf magischem Weg zurückzurufen. Aber Pikel betrachtete die Situation pragmatisch, wie hingerissen er auch sein mochte. Er packte die Priesterin mit rußigen Händen und schob sie einfach in ihr Zimmer zurück. »Ei«, meinte er dann ein drittes Mal, als er ins Zimmer trat, um die Tür zu schließen. Ivan, der neben ihm stand, stimmte aus ganzem Herzen zu. Ein Dutzend junger Männer lag völlig ausgepumpt am Boden. »Seid ihr ganz sicher, daß ihr gehen möchtet?« lockte Histra die rußigen Zwerge. Bis die errötenden Brüder Cadderly eingeholt hatten, war dieser bereits im Erdgeschoß, wo er seinen Wasserschlauch in ein Weihwasserbecken im großen Saal tauchte. »Übles Zeug«, flüstere Ivan Pikel zu. »Öle und Wasser. Hab' mal versucht, das zu trinken.« Angeekelt zeigte er seine lange Zunge.
Cadderly lächelte. Er hatte Besseres im Sinn, als das heilige Wasser zu trinken. Als der Schlauch voll war, holte er ein schmales Röhrchen heraus, auf dessen einem Ende ein gummiartiger Ball steckte. Er pfropfte es in das offene Ende des Wasserschlauchs. »Das werdet ihr später verstehen«, war alles, was er den neugierigen Zwergen dazu erklärte. Die Brüder Felsenschulter erschraken, als die Gruppe die Küche betrat, die voller Priester steckte. Großmeister Avery leitete die selbsternannten Köche an, doch sie machten keine großen Fortschritte, da jeder einzelne mehr Zeit damit verbrachte, sich Essen in den Mund zu stopfen, als wirklich etwas zu kochen. Alarmierender als diese Freßgier war für Cadderly die Reaktion seiner Begleiter. In beiden schien plötzlich ein heftiger Zwang zu zerren. »Kämpft dagegen an«, bat Cadderly, da er ihre Reaktion dem Fluch zuschrieb. I van und Pikel waren mit ihrer Küche sehr eigen, und beide erfüllte es immer mit tiefer Befriedigung, die hungrigsten Priester der Bibliothek zu deren Zufriedenheit zu bekochen. Jetzt sahen sie sich aufgebracht in ihrem entweihten Reich um. Einen Augenblick befürchtete Cadderly, er müßte allein in die tiefen Katakomben vordringen. Aber diesmal bewahrheitete sich, was Newander über die Widerstandsfähigkeit von Zwergen gegenüber der Magie gesagt hatte, denn die Brüder zuckten angesichts des Orkans, der ihren Bereich heimgesucht hatte, nur unglücklich die Schultern und schoben Cadderly dann weiter zur Tür zum Weinkeller. Die feuchte Treppe war dunkel. Niemand hatte sich um die Fackeln an der Wand gekümmert. Cadderly öffnete sein Lichtrohr und ging ein paar Schritte voran, um dann zu warten, bis die Brüder Fackeln angezündet hatten. Ivan kam als letzter. Er schloß die eisenbeschlagene Tür hinter sich, wobei er sogar darauf achtete, einen Eisenriegel vorzuschieben. »Hinter uns droht ebensoviel Gefahr wie vor uns«, erklärte der Zwerg auf Cadderlys fragenden Blick hin. »Wenn die da drin so durstig werden, wie sie jetzt hungrig sind, dann gibt das nur Ärger!« Cadderly, der ihm nur zustimmen konnte, setzte dazu an weiterzugehen, aber Pikel hielt ihn fest. Er setzt e sich selbst an die Spitze und klopfte mit der schweren Keule an seinen Topfhelm. »Halt dich zwischen uns«, erklärte Ivan. »Wir sind schon öfter solche Wege gegangen!« Seine Zuversicht tröstete Cadderly - im Gegensatz zu dem Lärm, mit dem die Zwerge die Stufen herunterpolterten. Ihre Lichter trafen auf absolute Finsternis, aber alle drei spürten, daß sie nicht allein waren. Neben dem ersten Weinregal fanden sie erste Hinweise, daß jemand anders hier vorbeigekommen war. Glassplitter bedeckten den Boden, und viele Flaschen - Flaschen, die Cadderly erst vor wenigen Tagen gezählt hatte - fehlten. Die Spur führte zu einem weiteren toten Priester. Mit gewaltig aufgetriebenem Bauch lag er zusammengerollt inmitten leerer Flaschen auf dem Boden. Sie hörten es seitlich schlurfen. Cadderly leuchtete mit schmalem Lichtstrahl zwischen die Weinregale. Dort stand ein weiterer Mann, der sich nur noch mühsam auf den Beinen hielt. Er war so betrunken, daß ihm nicht einmal das Licht auffiel, und auch sein Bauch wölbte sich schwappend nach vorn. Trotz seiner Benommenheit hielt er immer noch eine Flasche an die Lippen. Cadderly wollte auf den Betrunkenen zugehen, aber Ivan hielt ihn zurück. »Zeig mir deine Tür«, sagte Ivan zu ihm und nickte Pikel zu. Während Cadderly und Ivan tiefer in den Keller vordrangen, ging Pikel in die andere Richtung. Bald hörte Cadderly einen Rums, ein Stöhnen und eine Flasche, die auf dem Steinboden zerbrach. »Zu seinem eigenen Besten«, erklärte Ivan. Sie kamen an die Fässer, unter denen man Cadderly gefunden hatte, und wieder war der junge Gelehrte frustriert und durcheinander, weil keine Tür zu finden war. Ivan und Pikel schoben alle Fässer weit weg, und zu dritt suchten sie jeden Fingerbreit von Wand und Boden ab. »Die Fässer wurden geschleift«, stellte Ivan fest. Er bückte sich tief, um den Staub - und den fehlenden Staub in den Schleifspuren - zu begutachten. »Ist noch nicht lange her.« Cadderlys gezielter Lichtstrahl machte das Spurenlesen einfacher. »Wie konnte ich das übersehen haben?« sagte der junge Gelehrte aufgeregt. Er beleuchtete wieder die Weinfässer. »Wir - Rufo und ich - sind von da drüben gekommen, also konnte die Tür nicht dort hinten gewesen sein, wo wir die Fässer gefunden haben. Das war eine gezielte Täuschung. Ich hätte es wissen müssen.« »Du hast dir den Schädel angeschlagen«, erinnerte ihn Ivan. »Und es war ein schlauer Trick.« Die Spur führte zu einem weiteren Faß, das direkt an der Wand stand. Noch ehe Ivan es beiseite getreten hatte, wußten die Freunde, daß die geheimnisvolle Tür tatsächlich dahinter liegen würde. Ivan nickte lächelnd, ging schnurstracks auf die Tür zu und zog, aber sie rührte sich nicht. »Abgeschlossen«, grunzte der Zwerg, nachdem er das Schlüsselloch über dem Zugring untersucht hatte. Er sah seinen Bruder an, der eifrig nickte. »Türen öffnen ist Pikels Spezialität«, erklärte Ivan Cadderly, und der verstand, als Pikel seinen Baumstamm wie einen Rammbock senkte und sich vor der Tür aufstellte. »Halt!« rief Cadderly. »Ich habe etwas Besseres.« »Kannst du auch Schlösser knacken?« fragte Ivan. »Oh«, maulte der enttäuschte Pikel. »Sozusagen«, antwortete Cadderly ungerührt, doch statt Drähten und Dietrichen holte er seine Einhänderarmbrust heraus. Cadderly hatte bereits gehofft, er werde seine neuste Erfindung ausprobieren können, und mußte sich anstrengen, nicht zu zittern, als er den Bogen spannte und einen Pfeil einlegte. »Zurück«, warnte er und zielte auf das Schlüsselloch. Die Armbrust klickte, und der Bolzen saß. Durch den Aufprall brach der Pfeil in der Mitte entzwei, setzte das Wuchtöl frei, und die anschließende Explosion hinterließ ein
zerfranstes Loch mit schwarzen Rändern, wo das Schloß gewesen war. Die Tür öffnete sich quietschend ein wenig, hing aber noch lose in den Angeln. »Oh, so was will ich auch!« jubelte Ivan. »Ei, ei!« stimmte Pikel zu. Ihr Triumph dauerte nicht lange, denn hinter der offenen Tür fanden sie nicht den Rest der zerbrochenen Treppe, von der Cadderly gesprochen hatte, sondern eine Ziegelmauer. »Frische Arbeit«, murmelte Ivan nach kurzer Untersuchung. Er warf Cadderly einen frechen Blick zu. »Hast du dafür auch einen Pfeil, Jungchen?« Ivan wartete die Antwort gar nicht erst ab. Er fuhr mit den Händen über die Mauer und drückte an verschiedenen Stellen, als wolle er ihre Stärke prüfen. »Pikel hat den Schlüssel«, erklärte der Zwerg und ging aus dem Weg. Cadderly wollte Einwände erheben, aber Pikel achtete nicht auf ihn. Der Zwerg stieß einen seltsamen Heulton aus und nahm Anlauf wie zu einem Sprung. Seinen Rammbock trug er fest an der Seite. Ziegel und Mörtel flogen nach allen Seiten. Mehrere Explosionen zeigten, daß auf der anderen Seite der Mauer Schutzglyphen angebracht gewesen waren, aber weder die Wand noch der magische Schutz konnten Pikels Sturmangriff verlangsamen. Und ebensowenig konnte Pikel seinen Schwung abbremsen. Wie Cadderly ihnen schon gesagt hatte und wie er sie nochmals hatte warnen wollen, gab es die Treppe hinter dem kleinen Absatz nicht mehr. »Ooooooo!« hörte man Pikel immer leiser werden. Dann kam ein dumpfes Plumps. »Brüderchen! « schrie Ivan, und ehe Cadderly ihn aufhalten konnte, raste auch er durch die Bresche. Seine Fackel flackerte noch kurz in der Staubwolke, dann waren Licht und Zwerg verschwunden. Cadderly zuckte erschauernd zusammen, als er Ivans letzte Worte vernahm: »Ich seh' schon den Bo -!«
Die wandelnden Toten Cadderly seilte sich langsam ab und benutzte dabei eine Technik, die er in einem Manuskript gesehen hatte. Von unten hörte er die Zwergenbrüder schimpfen, daher wußte er, daß sie den Sturz überlebt hatten. Als er im Bereich des Fackelscheins ankam, sah er Pikel im Kreis herumrennen, Ivan auf seinen Fersen, der die letzten Rauchfäden am angesengten Hinterteil seines Bruders ausklopfte. »Ei, ei, ei, ei!« schrie Pikel, der sich auch selbst abklopfte, so gut er es vermochte. »Halt still, du stinkender Eichenküsser!« bellte Ivan unter kräftigen Schlägen. »Ruhe!« warnte Cadderly, als er neben ihnen im Tunnel landete. »Ei«, erwiderte Pikel, der sich ein letztes Mal abrieb. Dann bemerkte der Zwerg die steinernen Mauern und vergaß all seine Schmerzen. Glücklich begann er zu erkunden. »Jemand will uns nicht hier haben«, überlegte Ivan. »Seine Feuerrunen haben meinen Bruder gut erwischt, genau am Allerwertesten!« Cadderly stimmte den Schlußfolgerungen des Zwergs zu und dachte, daß er eigentlich wissen müßte, wer die Runen angebracht hatte. Er hatte doch jemanden in dem Raum mit der Flasche gesehen ... Er konnte sich jedoch nicht mehr erinnern, und jetzt hatte er keine Zeit zum Meditieren, um seinem Verdacht nachzugehen. Wichtiger war, daß keiner der Zwerge ernsten Schaden genommen hatte. Ivans Geweihhelm war durch den Aufprall sogar etwas sauberer geworden. »Wie weit noch bis zu deiner verdammten Buddel?« fragte Ivan. »Glaubst du, wir finden noch mehr magische Sperren?« Bei dieser Bemerkung hellte seine Miene sich auf. »Wenn du das meinst, mußt du nämlich einen Zwerg vorschicken; klar?« Er schlug sich mit der Faust auf den Brustpanzer. »Ein Zwerg steckt so was weg. Ein Zwerg schluckt es und spuckt es auf den zurück, der die Falle gestellt hat! Glaubst du, wir finden den? Den, der die Feuerrune da oben hingemacht hat? Mit dem hätte ich ein Wörtchen zu reden. Hat mein Brüderchen angesengt! Nein, so kommt der mir nicht davon, wenn er mein Brüderchen versengt!« Ivan hatte einen ziemlich glasigen Blick bekommen, und Cadderly merkte, daß der Zwerg sich nur noch schwer im Zaum halten konnte. Weiter drüben war auch Pikel ganz versunken. Auf Händen und Knien schnüffelte er an den Ritzen in der Wand und stieß immer mal wieder ein aufgeregtes »Ei!« aus. Ein Dutzend Spinnen versuchte hektisch, ihren eigenen Netzen zu entkommen, die sich rettungslos in Pikels Bart verfangen hatten. Cadderly ließ seine Spindelscheiben aus Bergkristall vor Ivans Gesicht pen deln und strahlte sie mit seinem Lichtrohr an. Das Geschwätz des Zwergs verebbte, als er mehr und mehr dem hypnotisierenden Tanz des Lichts auf den Facetten der Scheiben verfiel. »Erinnere dich, warum wir hier sind«, mahnte Cadderly. »Konzentriere dich, Ivan Felsenschulter. Wenn wir den Fluch nicht aufheben, ist die gesamte Erhebende Bibliothek verloren.« Cadderly würde nie erfahren, ob seine Worte oder das tanzende Licht auf den Scheiben Ivan bewogen hatten, dem zähen Fluch zu widerstehen, aber immerhin riß der Zwerg die Augen weit auf, als käme er direkt aus einem tiefen Nickerchen, und schüttelte so heftig den Kopf, daß er sich auf seine Doppelaxt stützen mußte, um nicht vornüber zu kippen. »Wo lang, Jungchen?« fragte er, plötzlich wieder hellwach.
»Das klingt schon besser«, stellte Cadderly fest. Er warf einen Blick auf Pikel und fragte sich, ob er bei dem dieselbe Technik anwenden sollte. Aber dann entschied er sich dagegen. Pikel war nicht einmal dann hellwach, wenn er tatsächlich hellwach war. Cadderly betrachtete wieder den Boden, weil er eine Spur seines letzten Aufenthalts hier unten suchte, doch er fand nichts. Er leuchtete beide Seiten des gemauerten Gangs aus, aber beide wirkten gleich und lösten keine Erinnerungen aus. »Hier lang«, entschied er, einfach, um von der Stelle zu kommen, und ging an Ivan vorbei. »Bring deinen Bruder mit.« Cadderly hörte es hinter sich klirren - Axt auf Kochtopf vermutlich -, dann waren Ivan und Pikel hinter ihm. Nach vielen Sackgassen und Rundwegen, die sie zu ihrem Ausgangspunkt zurückführten, kamen sie zu einem alten Vorratskeller mit breiten Gängen, die von verrotteten Kisten gesäumt waren. »Hier war ich«, erklärte Cadderly fest. Daß er die Worte laut sagte, war ein Versuch, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Ivan hockte sich auf den Boden, um Cadderlys Aussage zu überprüfen. Wie in den anderen Gängen war jedoch auch hier keine klare Spur zu erkennen. Cadderly schloß die Augen und versuchte sich vorzu stellen, welchen Weg er vor ein paar Tagen von hier aus genommen hatte. Bilder seiner Wanderung durch die Tunnel überfluteten ihn, Szenen von Skeletten und Gängen mit schauerlichen Alkoven an den Seiten, aber sie fügten sich nicht zu einem logischen Muster. Es gab nichts, wo er ansetzen konnte. Dann hörte er den Herzschlag. Irgendwo in der undurchsichtigen Finsternis tropfte Wasser in stetigem Rhythmus. Dieses Geräusch hatte er schon einmal gehört, soviel wußte er. Es kam aus keiner bestimmten Richtung, und beim ersten Mal hatte Cadderly es nicht als Leitsignal genutzt, aber jetzt konnte es seine Erinnerung führen. Denn obwohl der Rhythmus ganz regelmäßig war, wurde er an manchen Ecken lauter und durchdringender, an anderen leiser. Bei seinem ersten Aufenthalt hier unten hatte Cadderly das Geräusch eher unbewußt wahrgenommen, weil ihn Wichtigeres beschäftigt hatte, aber die Erinnerung war da; er brauchte sich nur noch von seinem Instinkt leiten zu lassen, von der Intuition. Ivan und Pikel fragten nicht; ihnen fiel nichts Besseres ein. Erst als sie an eine Dreifachgabelung kamen, hellte Cadderlys Miene sich deutlich auf - jetzt glaubte er, genau zu wissen, wo es hinging. »Nach links«, verkündete er, und tatsächlich hingen die Spinnweben im linken Bogen weniger dicht als rechts, als wäre jemand vor kurzem hindurchgegangen. Aber bevor er weiterging, wandte sich Cadderly noch einmal seinen Freunden zu, und er sah ausgesprochen verängstigt aus. »Was hast du gesehen?« wollte Ivan wissen und drängelte sich an Cadderly vorbei unter den Bögen hindurch. »Die Skelette«, wollte Cadderly erklären. Pikel sprang neben ihn, und Ivan streckte seine Fackel weit vor, um in die staubige Düsternis zu spähen. »Nix zu sehen!« stellte Ivan kurz darauf fest. Die Begegnung mit den wandelnden Toten blieb ein nebelhafter Alptraum für Cadderly. Er konnte sich nicht genau erinnern, wo er den Skeletten begegnet war und weshalb sie ihm jetzt plötzlich einfielen. »Irgendwie glaube ich, daß sie in der Nähe sind.« Ivan und Pikel entspannten sich sichtlich und wechselten einen bedeutungsvollen Blick. »Na, dann los«, grunzte Ivan und folgte dem hellen Feuer seiner Fackel in den linken Gang. »Die Skelette«, sagte Cadderly wieder, sobald er durch den Bogen trat. Er kannte diesen Ort, einen Gang mit Kisten an den Seiten, breit genug für zehn Mann nebeneinander. Etwas weiter vorn waren die Wände auf beiden Seiten von Alkoven gesäumt. »Fängst du schon wieder damit an?« fragte Ivan. Cadderly schwenkte seinen Lichtstrahl auf die Alkoven. »Da drin.« Die Zwerge nahmen seine Warnung wie eine Einladung auf. Statt das Licht zu dämpfen und weiterzuschleichen, sprangen beide vor und marschierten trotzig in der Gangmitte weiter, bis sie vor dem ersten Alkoven standen. »Ei, ei«, bemerkte Pikel. »Hast recht, Jungchen«, bestätigte Ivan. »Das ist ein Skelett.« Er legte seine Axt an die Schulter, stemmte die andere Hand in die Hüfte und ging direkt auf den Alkoven zu. »Und?« schrie er das Gerippe an. »Willst du weiter da rumsitzen und verfaulen, oder kommst du raus und stellst dich mir in den Weg?« Trotz der Tollkühnheit der Zwerge kam Cadderly nur zögernd hinterher. »Genau, wie du gesagt hast«, meinte Ivan, »aber nicht besonders lebendig, soweit ich sehe.« »Sie haben sich bewegt«, beharrte Cadderly, »und mich gejagt.« Die Brüder lehnten sich zur Seite - allmählich gewöhnten sie sich an diese Geste - und schauten einander um Cadderly herum an. »Ich hab' das nicht geträumt!« fuhr Cadderly sie an, während er einen Schritt zur Seite trat, um ihren Blickwechsel zu unterbrechen. »Seht!« Er wollte das Skelett berühren, hatte dann aber eine bessere Idee und lenkte statt dessen seinen Lichtstrahl in den Alkoven. »Seht ihr die Spinnweben dort? Und die Reste von Spinnweben an den Knochen? Die hingen zusammen, aber jetzt sind sie zerrissen. Entweder hat dieses Skelett seinen Alkoven erst kürzlich verlassen, oder es ist jemand hier unten gewesen und hat die Fäden getrennt, damit es so aussieht, als ob es den Alkoven verlassen hätte.« »Du selbst warst der einzige hier unten«, platzte Ivan heraus. »Glaubst du etwa, ich hätte die Spinnweben durch trennt?« schrie Cadderly. »Ich würde dem Ding bestimmt nicht zu nahe kommen. Warum sollte ich meine Zeit mit so was verschwenden?«
Wieder führten die Zwerge ihr Zurücklehn-und-Guck Manöver durch, aber als Ivan diesmal wieder geradestand, war seine Miene weniger zweifelnd. »Warum sitzen sie dann so still da?« fragte er. »Wenn sie kämpfen wollen, warum ...?« »Weil wir sie nicht angegriffen haben!« unterbrach Cadderly, dessen Erinnerungen deutlicher wurden. »Die Skelette haben sich erst gegen mich gewandt, nachdem ich eins angegriffen hatte.« »Und warum hast du auf einen Haufen Knochen eingeschlagen?« wollte Ivan wissen. »Hab' ich gar nicht«, stotterte Cadderly. »Ich meine... ich dachte, es hätte sich bewegt.« »Aha!« rief Pikel. Ivan führte die Schlußfolgerung seines Bruders näher aus. »Dann hat sich das Skelett bewegt, bevor du draufgeschlagen hast, und du denkst jetzt ganz falsch.« »Nein, es hat sich nicht bewegt!« gab Cadderly hitzig zurück. »Ich dachte, es hätte, aber das war nur eine Ratte oder eine Maus oder so etwas.« Pikel quiekte, zog die Nase kraus und setzte sein bestes Mäusegesicht auf. »Wenn wir sie einfach in Ruhe lassen, lassen sie uns vielleicht vorbei«, überlegte Cadderly. »Der, der sie belebt hat, hat ihnen wahrscheinlich befohlen, sich zu verteidigen.« Ivan dachte kurz darüber nach, dann winkte er seinem Bruder, und Pikel verstand die schweigende Aufforderung. Der grünbärtige Zwerg stieß Cadderly zur Seite, senkte die Keule, und ehe der erschrockene junge Gelehrte eingreifen konnte, rannte er schwungvoll auf den Alkoven zu. Der gewaltige Aufprall machte aus dem Schädel einen Haufen staubiger Splitter, die restlichen Knochen purzelten wild durcheinander. »Der erhebt sich nicht mehr gegen uns«, stellte Ivan befriedigt fest, während er seinem Bruder eine Rippe von der Schulter wischte. Cadderly stand fassungslos und mit heruntergeklapptem Unterkiefer da. »Wir mußten es überprüfen«, beharrte Ivan. »Du willst doch wohl keine wandelnden Skelette hinter uns lassen?« »Ui, ui«, maunzte Pikel. Bei seinem Ruf drehten Cadderly und Ivan sich um. Cadderlys Lichtstrahl beleuchtete den Grund für Pikels Unbehagen. Dieses Skelett würde sich nicht mehr gegen sie erheben, das hatte Ivan richtig erkannt, aber Dutzende andere hatten sich bereits in Bewegung gesetzt. Ivan schlug Cadderly kräftig auf den Rücken. »Gut nachgedacht, Kerlchen!« gratulierte er. »Du hattest recht! Erst ein Angriff weckt sie auf!« »Und das soll gut sein?« fragte Cadderly. Bilder aus seiner Erinnerung bedrängten ihn, besonders daran, wie er_ vor dem ersten Skelett zurückgewichen war, nur um im Griff des nächsten zu landen. Cadderly fuhr herum. Das Skelett von der anderen Seite war schon fast bei ihm. Pikel hatte es auch gesehen. Unerschrocken packte der Zwe rg seine Keule mit beiden Händen und führte einen weiten Rundumschlag aus, der den Knochenmann seitlich am Schädel traf, so daß dieser wegflog und über den Gang kullerte. Die restlichen Knochen standen noch solange bebend da, wie Pikel brauchte, um sie zu zerschlagen. Cadderly sah dem eingeschlagenen Schädel nach, bis die ser in der Finsternis verschwand. Dann schrie er: »Los!« »Los!« wiederholte Ivan, der seine Fackel fallen ließ und gemeinsam mit Pikel den Gang hinunterrannte - genau auf die vorrückende Meute zu. Das war nicht eben, was Cadderly gemeint hatte, aber als ihm klar wurde, daß er keine Möglichkeit hatte, die wildgewordenen Brüder abzulenken, zuckte er die Schultern, holte seine Spindelscheiben heraus und folgte ihnen. Dabei überlegte er erns thaft, welchen Wert Freundschaft hatte, wenn man berücksichtigte, welche Last sie mit sich brachte. Die vordersten Skelette reagierten nicht schnell genug auf die anstürmenden Zwerge. Eines spaltete Ivan mit einem kräftigen Axthieb in der Mitte, aber auf dem Rückweg blieb der hintere Kopf der Doppelaxt im Brustkorb seines nächsten Opfers hängen. Da der Zwerg sich nie besonders um Feinheiten gekümmert hatte, strengte er sich mächtig an, riß seine Waffe mitsamt dem festhängenden Skelett in die Luft und schlug mit dem ganzen Klumpen auf das übernächste Monster ein. Die beiden Skelette waren hoffnungslos ineinander verkeilt, aber Ivans Axt steckte ebenfalls fest. »Brüderchen, ich brauche dich!« schrie Ivan, als ein weiteres Skelett auf ihn zukam und mit schm utzigen, scharfen Fingerknochen nach seinem Gesicht krallte. Pikel hatte sich besser geschlagen, indem er wie ein von einem Berg rollender Felsblock in die ersten Reihen gestürmt war, drei Skelette zertrümmert und die anderen einige Fuß zurückgedrängt hatte. Aber dann drangen die furchtlosen Untoten von allen Seiten auf den Zwerg ein. Pikel faßte seine Keule weit unten, streckte den Arm aus und drehte sich wiederholt schnell im Kreis. Die Skelette waren wie blind, keine denkenden Kämpfer. Mit vorgestreckten Armen kamen sie dumm und furchtlos an, bis Pikels wirbelnde Keule sie niederriß, Finger, Hände und Arme zuerst. Der Zwerg lachte wild, als die Knochen davonflogen, denn er dachte, er könnte ewig so weitermachen. Dann vernahm er den Ruf seines Bruders. Er hörte auf, sich zu drehen, versuchte, die Richtung zu bestimmen und rannte dann los. Leider war ihm schwindelig, er irrte sich in der Richtung, und sobald er aus dem Ring der Angreifer schoß, knallte er mit dem Kopf voran gegen die Ziegelmauer des Gangs. »Oh!« hallte es hohl unter dem Topfhelm heraus. Nur ein einziges Skelett war den Zwergen entschlüpft und näherte sich jetzt Cadderly. Damit wollte der junge Gelehrte selbst fertig werden. Auf den Zehenspitzen tänzelte er herum, wie Danica es ihm beige bracht hatte, und zuckte einige Male warnend mit seinen Spindelscheiben. Das Skelett achtete weder auf sein Getänzel noch auf die harmlosen Würfe, sondern kam direkt auf ihn zu.
Die Spindelscheiben knallten gegen den Schädel des Knochenmanns und rissen den Kopf so herum, daß er nach hinten schaute. Aber das hielt das Skelett nicht auf, und wieder griff Cadderly an; diesmal wollte er den Körper des Wesens zerbrechen. Noch im Wurf erkannte er seinen Fehler. Die Scheiben rutschten in den Brustkorb des Skeletts, wo sie sich verhedderten, als Cadderly sie zurückziehen wollte. Um die Sache noch schlimmer zu machen, zog der plötzliche Ruck am Faden die Schlinge an Cadderlys Finger zusammen, was ihn an das Skelett fesselte. Blindlings schlug das Monster nach ihm. Cadderly tauchte sofort ab, hob seinen Wanderstab und stieß ihn zwischen die Rippen, um auf diese Weise vielleicht seine Spindelscheiben lösen zu können. Aber dann hatte er eine noch bessere Idee: Er nutzte - mit der Rippe als Angelpunkt, die Hebelwirkung des Stabs, und der Ruck eines Schlags nach unten schoß das Rückgrat des Skeletts empor und ließ seinen Kopf nach oben fliegen, bis er an die Decke knallte. Durch den heftigen Ruck brach der Rest des untoten Wesens auseinander. Erleichtert befreite Cadderly seine Waffen aus dem Knochenhaufen, aber dann erstarrte er vor Schreck, als er den Gang hinunterblickte, dorthin, wo Ivans liegende Fackel ihr flackerndes Licht verströmte. Beide Zwerge waren am Boden - der waffenlose Ivan versuchte, sich dem Griff eines Skeletts zu entziehen, und Pikel saß auf der anderen Seite mit dem Topf auf den Schultern, während eine ganze Schar Gerippe auf ihn eindrang. ¤¤¤ Druzil spähte mißtrauisch hinter gefalteten Fledermausflügeln hervor in den dunklen, stillen Altarraum . Das Feuer im Becken war jetzt zu glühenden Kohlen heruntergebrannt - Barjin wollte kein interplanares Tor offenlassen, solange er schlief -, und eine andere Lichtquelle gab es nicht. Das behinderte das Teufelchen, das äonenlang die wabernden, grauen Nebel der Unteren Ebenen durchstreift hatte, aber nur wenig. Alles schien so zu sein, wie es sein sollte. Bahn schlief friedlich, denn er vertraute darauf, daß sein Sieg nahe war. Mullivy und Khalif flankierten starr den Eingang, denn sie durften sich nicht bewegen, bis eine der von Barjin vorgegebenen Bedingungen eingetreten war. Druzil war etwas erleichtert, daß sich bisher nichts getan hatte. Niemand hatte den Raum betreten, die Tür war noch fest zu, und der kleine Teufel spürte weder forschende Zaubereraugen noch einen fernen Ruf von Aballister. Dennoch - irgend etwas konnte nicht stimmen. Etwas - er hatte es zuerst für einen neuen Ruf des lästigen Aballister gehalten-hatte Druzils Nickerchen gestört. Der kleine Teufel zog seine Schwingen fester um sich und begann, den lei sen inneren Stimmen zu lauschen, Schwingungen, die einem Teufelchen ebenso gut dienten wie Augen einem Menschen. Er stellte sich den Bereich außerhalb der geschlossenen Tür vor und durchstreifte im Geiste den Irrgarten der verschlungenen Gänge. Plötzlich klappten die Flügel des Teufelchens auf. Die Skelette waren in Aufruhr! Druzil machte sich unsichtbar, dann trug ein einziger Flügelschlag ihn zwischen Mullivy und die Mumie. Schnell stieß er das Paßwort aus, damit Barjins Glyphen nicht explodierten, als er den Raum verließ. Mal fliegend, mal auf seinen Klauen schleichend, drang er vorsichtig zu den entferntesten Gräbern vor. Schon bestätigte ihm sein Gehör, was er gespürt hatte - es war ein Kampf ausgebrochen. Das Teufelchen hielt inne und überlegte, welche Möglichkeiten es hatte. Die Reaktion der Skelette konnte nur bedeuten, daß jemand in diese Ebene eingedrungen war. Vielleicht waren die Mönche in ihrem fluchtbedingten Stumpfsinn einfach hier heruntergelaufen, betrunkene Pries ter, die von der Streitmacht der Untoten bald erledigt sein würden, aber Druzil durfte die Möglichkeit nicht außer acht lassen, daß jemand ganz gezielt nach der Ursache des Chaos suchte. Er warf einen Blick über die Schulter in die Gänge, die ihn zu Barjin zurückbringen würden. Er war hin- und hergerissen. Wenn er Barjin gedanklich rief, würde er einen persönlichen Kontakt wie zwischen Meister und Vertrautem herstellen, eine Beziehung zu dem Priester aufbauen, die Aballister gewiß nicht gefiele. Wenn der Zauberer in Burg Trinitatis das je herausfand, würde er Druzil womöglich in seine Heimatebene verbannen - ein Schicksal, das das Teufelchen gewiß nicht wünschte, nachdem nun endlich der Chaosfluch auf die Welt losgelassen war. Aber es war Barjin, erinnerte sich Druzil, nicht Aballister, der in diesem Kampf an vorderster Front stand. Barjin, der mächtige Priester, der diesen kühnen, erfolgreichen Schlag gegen den Hort der Ordnung im Bereich des Schneeflockengebirges geführt hatte. Druzil ließ seine Gedanken die Gänge entlangeilen, bis sie im Altarraum und im Kopf des schlafenden Priesters angekommen waren. Barjin war sofort wach und verstand gleich darauf, daß sein Reich in Gefahr war. Wenn sie an den Skeletten vorbeikommen, werde ich sie beschäftigen, versicherte Druzil dem Priester, aber bereite deine Verteidigung vor! ¤¤¤ Ivan wußte, daß er in der Klemme steckte. Eine Hand kratzte über seine Schulter, und alles, was er von seinem Gegenstoß erntete, war ein gespaltener Fingernagel. Der erfahrene Zwerg beschloß, seinen Kopf zu nutzen. Er zog die stämmigen Beine unter sich, und als das angreifende Skelett das nächste Mal nach ihm schlug, sprang er vor. Ivans Helm war mit dem Geweih eines Achtenderhirschs besetzt, eine Trophäe, die Ivan mit einem »Zwergenbogen«, einem Hammer, der für weite Würfe ausbalanciert war, bei einer Wettjagd gegen einen Elfen errungen hatte. Um das Geweih an seinem Helm zu befestigen, hatte der schlaue Zwerg einen alten Lackierertrick
genutzt, zu dem man eine Reihe verschiedener Metalle brauchte. Jetzt betete er nur, daß die Helmzier fest genug sei n würde. Er schoß auf die Brust des Skeletts los, weil er wußte, daß sich sein Gehörn dort wahrscheinlich verfangen würde, dann richtete er sich auf, was das Gerippe über seinen Kopf hob. Er wußte allerdings selbst nicht so genau, ob er durch diesen Schach zug viel gewonnen hatte, denn das Skelett, das nun quer über Ivans Schultern hing, krallte weiter nach ihm. Ivan riß seinen Kopf vor und zurück, doch die scharfen Finger des Skeletts fanden an der Seite seines Halses Halt und brachten ihm einen tiefen Schnitt bei. Weitere Gerippe rückten schon näher. An der Seite des Flurs, in einem Alkoven, fand Ivan die Lösung. Er selbst konnte leicht hineinschlüpfen, aber würde das Skelett hineinpassen, das nach beiden Seiten über ihn hinausragte? Ivan senkte den Kopf und stürmte los, und der Aufprall von Kopf und Beinen des Skeletts auf den Bogen über dem Alkoven bremste seinen Schwung kaum ab. Knochen, Staub und Spinnweben flogen durch die Luft, und beinahe hätte Ivan seinen Helm verloren, als er sich in den Alkoven warf. Gleich darauf kam der Zwerg wieder in den Gang zurück - mit einem halben Brustkorb und reichlich Spinnweben an seinem Geweih. Die unmittelbare Bedrohung hatte er besiegt, doch es blieb immer noch eine ganze Armee von Feinden. Pikel wurde von Cadderly gerettet. Der benommene Zwerg saß an der Mauer, mit einem Klingeln in den Ohren, das noch lange anhalten würde, während die Skelette auf ihn eindrangen. »Druide, Pikel!« schrie Cadderly, der verzweifelt versuchte, seinen Freund in die Wirklichkeit zurückzureißen. »Denk wie ein Druide! Stell dir die Tiere vor! Werde ein Tier!« Pikel hob den Topfhelm vorne hoch und warf Cadderly einen glasigen Blick zu. »Hä?« »Tiere!« schrie Cadderly. »Druiden und Tiere. Ein Tier kann aufspringen und weglaufen! Spring ... Eine Schlange, Pikel. Spring wie eine zusammengerollte Schlange!« Der Topfhelm rutschte wieder über die Zwergenaugen, aber Cadderly wurde nicht enttäuscht, denn er hörte ein Zi schen darunter und bemerkte die leise Bewegung, mit der Pikel seine Arm- und Beinmuskeln anspannte. Ein Dutzend Skelette griff nach ihm. Und die eingerollte Schlange schnappte zu. Pikel kam wie ein Berserker hoch, schlug mit beiden Armen, trat mit beiden Beinen, biß ein Skelett sogar in den Unterarm. Sobald er wieder auf den Beinen war, riß der Zwerg seine Keule hoch und setzte zur schrecklichsten, wildesten Attacke an, die Cadderly je gesehen hatte. Er steckte ein Dutzend Treffer ein, ohne sich darum zu kümmern. Nur ein Gedanke, die Erinnerung an den Hilferuf seines Bruders, beherrschte den Kopf des Möchtegerndruiden. Er sah Ivan aus dem Alkoven kommen und erblickte seine Axt, die noch in den zwei ineinander verkeilten Skeletten feststeckte, die jetzt unsicher auf Ivan zutaumelten. Pikel erwischte sie, lange bevor sie seinen Bruder erreichten. Die Baumstammkeule sauste wieder und wieder abwärts, prügelte auf die Skelette ein, die Ivans Waffe gestohlen hatten. »Das reicht, Brüderchen«, rief Ivan glücklich, als er seine Axt aus dem Haufen Knochen zog. »Schließlich sind noch Gegner auf den Beinen.« Cadderly umrundete die langsamen Skelette, um sich den Zwergen wieder anzuschließen. »Wohin?« keuchte er. »Vorwärts«, erwiderte Ivan ohne Zögern. »Ei, ei!« stimmte Pikel zu. »Bleib einfach zwischen uns«, knurrte Ivan, der einem allzu vorwitzigen Skelett gerade den Schädel einschlug. Während sie weiter vordrangen, verbesserte Cadderly seine Taktik. Er zielte mit den Spindelscheiben nur noch auf die Schädel - weil sie sich so weniger leicht verfangen konnten - und benutzte zusätzlich den Wanders tab, um die herandrängenden Monster abzuwehren. Viel gefährlicher für die Skelette waren die beiden Kämpfer an den Seiten des jungen Gelehrten. Pikel brummte wie ein Bär, bellte wie ein Hund, heulte wie eine Eule und zischte wie eine Schlange, aber alle Geräusche, die aus seinem Mund drangen, änderten nichts an den gleichbleibenden Schmetterschlägen seiner Baumstammkeule. Ivan wütete nicht weniger. Für jeden Hieb, den er austeilte, nahm er einen Treffer hin, aber während die Skelette ihm nur mitunter schmerzhafte Kratzer zufügen konnten, zerschmetterte jeder von Ivans Schlägen einen aus ihren Reihen zu harmlosen, einzeln herumfliegenden Knochen. Die drei arbeiteten sich durch einen Bogen hindurch, um mehrere Ecken und durch einen weiteren Bogen. Bald waren mehr Skelette hinter ihnen als vor ihnen, und der Ab stand wuchs ständig, als sich ihnen immer weniger Widerstand bot. Den Zwergen schien der jetzt ungleiche Kampf zu gefallen, und Cadderly mußte sie die ganze Zeit an ihre eigentliche, wichtigere Mission erinnern, damit sie sich nicht umdrehten, um noch mehr Skelette zu suchen. Schließlich lag diese Gefahr hinter ihnen. Cadderly konnte einen Augenblick lang aufatmen und sich sammeln. Er wußte, daß die Tür, die entscheidende Tür, durch die das Licht fiel, nicht allzuweit entfernt sein konnte, aber die vielen, sich kreuzenden Gänge boten wenig, was seinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen konnte. ¤¤¤ Allein aus der Zahl zerschmetterter Skelette konnte Druzil schließen, daß diese Eindringlinge keine benommenen Opfer des Chaosfluchs waren. Rasch kam er den fliehenden Eindringlingen näher, achtete jedoch trotz seiner Unsichtbarkeit darauf, im sicheren Schutz der Schatten zu bleiben. Ohne Cadderly und die Zwerge aus den Augen zu
lassen, setzte das Teufelchen wieder seine Telepathie ein, um Barjin nochmals zu erreichen. Diesmal bat er den Kleriker gezielt um Hilfe. Llberlaß mir das Kommando über die Skelette, forderte Druzil. Barjin zögerte, denn seine eigene Bosheit gab ihm die Überlegung ein, ob das Teufelchen vielleicht versuchte, die Lage unter seine Kontrolle zu bringen. Verrate mir die Worte oder bereite dich auf starke Gegner vor, warnte Druzil. jetzt kann ich dir gut dienen, Meister, aber nur, wenn du eine weise Wahl triffst. Barjin war aus dem Schlaf geschreckt und hatte sich plötzlich einer Gefahr gegenüber gesehen. Er wollte nicht verlieren, was er Schritt für Schritt erreicht hatte. Noch immer traute er dem Teufelchen nicht - das würde kein kluger Meister jemals tun -, aber mit Druzil würde er notfalls fertig werden. Falls das Teufelchen versuchte, die Skelette gegen seinen Herrn zu führen, konnte er sie außerdem durch reine Willensanstrengung wieder unter seine Kontrolle bringen. Vernichte die Eindringlinge! kam Barjins telepathischer Befehl, gefolgt von einer genauen Aufzählung aller Anweisungen, die seine Skelettarmee verstehen würde. Druzil brauchte keine Ermutigung mehr; die Flasche mit seinem geliebten Chaosfluch zu beschützen, war ihm wichtiger, als es dem Priester je sein konnte. Er merkte sich alle Kommandos für die Skelette ganz genau, und als er dann sah, daß Cadderly und die Zwerge in einem leeren, abgelegenen Gang Pause machten, eilte er zurück, um den Rest der untoten Truppen zu holen. Wenn die Eindringlinge das nächste Mal auf die Skelette stoßen würden, würden sie keiner unorganisierten, ziellosen Meute gegenüberstehen. »Wir werden sie umzingeln und gleichzeitig zuschlagen«, schwor Druzil den Skeletten, obwohl den hirnlosen Monstern diese Worte nichts sagten. »Wir werden die Zwerge und den Menschen in Stücke reißen«, fuhr das Teufelchen immer aufgeregter fort. Einen Moment lang überlegte es, ob man die Skelette wohl gegen Barjin führen konnte. Diesen absurden Einfall verwarf Druzil jedoch sofort wieder. Barjin diente ihm augenblicklich ebensogut wie vorher Aballister. Doch wer wußte schon, was die Zukunft bringen würde?
Danicas Schlacht Sie sah sich in den Krallen ihrer Leidenschaften, die unbändig anwuchsen und dann verflogen, um von anderen drängenden Impulsen abgelöst zu werden. Genauso hatte sich Danica immer die Hölle vorgestellt, einen Zustand, in dem die Disziplin und die strengen Regeln ihrer geliebten Religion von Wogen puren Chaos' hinweggespült wurden. Sie versuchte, sich gegen diese Wellen anzustem men, die Vorstellung vom Eisenschädel zurückzudrängen, die Bedürfnisse, die sie bei Cadderlys Berührung gespürt hatte, und die vielen anderen, aber in ihren ständig wechselnden Gedanken fand sie keinen sicheren Halt. Aber dann stieß sie auf etwas, das nicht einmal der Chaosfluch erreichen konnte. Um im Kampf der Gegenwart zu bestehen, sandte die junge Frau ihre Gedanken in die einfachere Vergangenheit aus. Sie sah ihren Vater Pavel wieder, seine kleine, kräftige Gestalt mit den blonden Haaren, die an den Schläfen weiß wurden. Vor allem sah Danica seine grauen Augen, die das kleine Mädchen immer zärtlich anblickten. Da war auch ihre Mutter, nach der sie benannt war, - bodenständig, dickköpfig und rettungslos in ihren Vater verliebt. Danica war das genaue Abbild jener Frau, nur waren die Haare ihrer Mutter nicht rotblond gewesen, sondern rabenschwarz. Sie war eine zierliche Schönheit wie ihre Tochter, mit den gleichen hellbraunen Mandelaugen, die unschuldig glitzern oder unerschütterliche Entschlossenheit zeigen konnten. Danicas Bilder von ihren Eltern verblaßten und wurden von dem runzligen, weisen Gesicht des geheimnisvollen Meisters Turkel ersetzt. Unzählige Stunden der Meditation in der Sonne auf einem Berg hoch über der schattenspendenden Baumgrenze hatten die Haut des alten Mannes dick und ledrig werden lassen. Er war wirklich ein Mann der Extreme, denn unter seiner scheinbar grenzenlosen Gelassenheit lagen furiose Kampfkünste verborgen. Seine Tollkühnheit in Übungskämpfen hatte Danica oft erschreckt und sie fürchten lassen, daß der Mann sich nicht mehr in der Hand hatte. Aber inzwischen wußte sie es besser. Meister Turkel verlor nie die Beherrschung. Disziplin war das Herzstück seiner - ihrer - Religion, genau die Disziplin, die Danica jetzt benötigte. Sechs Jahre hatte sie neben ihrem verehrten Meister gearbeitet, bis der Tag kam, an dem Turkel ehrlich eingestand, daß er ihr nichts mehr beibringen konnte. Obwohl sie es kaum erwarten konnte, die Schriften von Penpahg D'Ahn selbst zu studieren, war es ein trauriger Tag für Danica gewesen, als sie Westtor verlassen und sich auf den langen Weg zur Erhebenden Bibliothek begeben hatte. Dort war sie Cadderly begegnet. Cadderly! Auf den ersten Blick hatte sie ihn geliebt, schon als er das weiße Eichhörnchen durch die Bäume an der gewundenen Straße zum Haupteingang der Bibliothek gejagt hatte. Cadderly hatte Danica gar nicht bemerkt, bis er kopfüber in ein Klettengebüsch gestürzt war. Dieser erste Eindruck hatte Danica damals ebenso tief getroffen wie heute, während sie um ihre Identität kämpfte. Cadderly war wirklich in einer peinlichen Lage gewesen, aber das plötzliche Aufblitzen in seinen Augen, deren Grau noch klarer war als bei ihrem Vater, und die Art, wie sein Mund ein
bißchen aufklappte und sich dann zu einem betretenen, jungenhaften Lächeln verzog, hatte Danica einen seltsamen, warmen Schauer durch den Körper gejagt. Ihr Werben umeinander war gleichermaßen aufregend wie unvorhersehbar gewesen; Danica wußte nie genau, auf welchen genialen Einfall Cadderly als nächstes kommen würde. Aber unter dieser Unberechenbarkeit verbarg sich ein grundsolides Fundament, auf das sich Danica verlassen konnte. Cadderly bot ihr Freundschaft an, lieh ihr für ihre Sorgen wie für ihre Begeisterung sein Ohr und hatte vor allem Respekt vor ihr und ihren Studien. Niemals wetteiferte er mit Großmeister Penpahg D'Ahn um ihre Zeit. Cadderly? Danica hörte tief in ihrem Geist ein Echo, einen beruhigenden, aber entschiedenen Aufruf von Cadderly, der sie zum »Kämpfen« drängte. Kämpfen? Danica schaute nach innen, auf diese überwältigenden Bedürfnisse und tiefer zu ihrer Quelle - dann sah sie den Ursprung ebenso wie Cadderly. Er lag in ihr, nicht in dem Zimmer um sie herum. Sie sah einen roten Nebel, der ihre Gedanken durchzog, eine nicht greifbare Macht, die ihr einen fremden Willen aufzwang. Es war eine flüchtige Vision, die gleich wieder verschwunden war, aber Danica war schon immer hartnäckig gewesen. Sie rief die Vision mit all ihrer Willenskraft zurück, und diesmal blieb sie dabei. Jetzt hatte sie einen klaren Feind, etwas, gegen das sie ankämpfen konnte. »Kämpfe, Danica«, hatte Cadderly gesagt. Das wußte sie; sie hörte das Echo. Danica lenkte ihre Gedanken gebündelt gegen das Drängen des Nebels. Was ihre Impulse ihr auch eingaben, sie leugnete es, wollte es weder tun noch denken. Wenn ihr Herz ihr sagte, etwas sei richtig, nannte sie ihr Herz einen Lügner. »Eisenschädel«, raunte eine zwingende Stimme in ihr. Danica setzte eine Erinnerung an Schmerz und warmes Blut dagegen, das über ihr Gesicht lief, eine Erinnerung, die ihr zeigte, wie dumm ihr Versuch gewesen war, den Stein zu zertrümmern. ¤¤¤ Es war kein Ruf für die Ohren des Körpers; er brauchte weder Wind noch Luft, um weitergetragen zu werden. Die Energie, die Barjins Nekromantenstein ausstrahlte, rief nur eine bestimmte Gruppe, die Monster der Negativebene. Wenige Meilen vor der Erhebenden Bibliothek, wo einst eine kleine Bergwerksstadt gelegen hatte, wurde ihr Ruf gehört. Eine welke, schmutzige Ghulhand durchstieß den Boden und griff in die Welt der Lebenden. Es folgte noch eine und noch eine in kurzer Entfernung. Bald war die schaurige Ghulmeute, der die geifernden Zungen zwischen den gelben Reißzähnen heraushingen, aus ihren Löchern gekrochen. Tief gebückt, die Fingerknöchel am Boden schleifend, folgten die Ghule dem Ruf des Steins zur Erhebenden Bibliothek. Newander konnte nur vermuten, welche inneren Qualen die junge Frau durchlitt. Danicas Kleider waren schweißnaß, und sie zuckte und stöhnte unter den festen Efeuranken. Zuerst hatte der Druide geglaubt, sie habe Schmerzen, und schnell einen Beruhigungsspruch vorbereitet. Zum Glück jedoch kam ihm dann die Idee, daß Danicas Alpträume selbstgemacht sein könnten, daß sie vielleicht einen Weg gefunden hatte, gegen den Fluch anzugehen, wie Cadderly versprochen hatte. Newander saß neben dem Bett und hatte die Hände sanft, aber fest, auf Danicas Arme gelegt. Er rief sie nicht und tat nichts, was ihre Konzentration stören konnte, beobachtete sie aber genau, weil er fürchtete, sie falsch einzuschätzen. Danica schlug die Augen auf. »Cadderly?« fragte sie. Dann erkannte sie, daß der Mann, der sich über sie beugte, nicht Cadderly war, und merkte auch, daß sie fest angebunden war. Sie spannte die Muskeln und drehte sich so weit, wie die Ranken es zuließen, um ihren Spielraum auszuloten. »Ruhig, Mädchen«, sagte Newander leise, da er ihre wachsende Unruhe bemerkte. »Euer Cadderly war hier, aber er konnte nicht bleiben. Er hat mich damit beauftragt, über Euch zu wachen.« Danica hörte auf, sich zu winden, denn sie erkannte den Dialekt des Mannes. Seinen Namen wußte sie nicht, aber sein Akzent und die Efeuranken verrieten ihr, wen sie vor sich hatte. »Ihr seid einer der Druiden?« fragte sie. »Ich bin Newander«, erwiderte der Druide und neigte den Kopf, »ein Freund Eures Cadderly.« Danica akzeptierte die Worte fraglos und verbrachte einen Augenblick damit, sich neu zu orientieren. Sie war in ihrem eigenen Zimmer, dem Raum, in dem sie seit einem Jahr lebte, aber etwas hier schien völlig fehl am Platze. Es war nicht Newander, auch nicht die Efeuranken. Etwas in diesem Raum, in Danicas persönlichem Zufluchtsort, brannte am Rand ihres Bewußtseins, quälte ihre Seele. Danicas Blick blieb an dem gekippten Steinblock mit dem dunklen Fleck an der Seite hängen. Ihre schmerzende Stirn verriet ihr, daß ihre Träume wahr gewesen waren - der Fleck war ihr eigenes Blut. »Wie konnte ich nur so blöd sein?« stöhnte Danica. »Ihr wart nicht blöd«, versicherte ihr Newander. »Es liegt ein Fluch über diesem Ort, ein Fluch, den Euer Cadderly gerade aufzuheben versucht.« Wieder wußte Danica instinktiv, daß der Druide die Wahrheit sagte. Sie rief sich ihren geistigen Kampf gegen den verführerischen, roten Nebel vor Augen, einen Kampf, den sie vorläufig gewonnen hatte, der jedoch noch längst nicht vorbei war. Selbst in diesem Augenblick wußte Danica, daß der rote Nebel sie weiter angriff.
»Wo ist er?« fragte sie am Rand der Panik. »Er ist nach unten gegangen«, erwiderte Newander, der keinen Grund sah, der gefesselten Frau die Wahrheit vorzuenthalten. »Er sprach von einer rauchenden Flasche ganz unten im Keller.« »Der Rauch«, sagte Danica geheimnisvoll. »Roter Nebel. Er ist überall, Newander.« Der Druide nickte. »Das hat Cadderly auch behauptet. Er war es, der die Flasche geöffnet hat, und er hat vor, sie wieder zu schließen.« »Allein?« »Nein, nein«, versicherte ihr Newander. »Die beiden Zwerge begleiten ihn. Sie waren vom Fluch nicht so betroffen wie der Rest.« »Der Rest?« erschrak Danica. Sie wußte, daß ihre eigene Widerstandskraft gegen solche bewußtseinsverändernden Zauber überdurchschnittlich groß war und fürchtete plötzlich um die anderen Priester. Wenn sie sich dazu hatte hinreißen lassen, ihren Kopf gegen einen Felsblock zu schlagen, welche Tragödien mochten dann weniger disziplinierte Gelehrte befallen haben? »Ja, der Rest«, antwortete Newander grimmig. »Der Fluch liegt über der ganzen Bibliothek. Kaum jemand ist ihm entkommen, außer Eurem Cadderly. Zwerge sind Magie gegenüber zäher als andere, und die Köche schienen ganz guter Dinge zu sein.« Danica konnte kaum begreifen, was sie da hörte. Das letzte, woran sie sich erinnern konnte, war, wie sie Cadderly bewußtlos im Weinkeller unter den Fässern gefunden hatten. Alles danach kam ihr wie ein wirrer Traum vor, flüchtige Bilder irrationaler Augenblicke. Wenn sie sich jetzt mit aller Kraft konzentrierte, fiel ihr Kierkan Rufos Annäherungsversuch ein und wie heftig sie ihn dafür bestraft hatte. Noch lebhafter erinnerte sich Danica an den Stein, die furchtbaren Schmerzen und ihre Weigerung, sich die Vergeblichkeit ihres Versuchs einzugestehen. Sie wagte nicht, sich vorzustellen, wie es in der Bibliothek aussehen mußte, wenn der Druide die Wahrheit sprach, wenn derselbe Fluch auf dem ganzen Ort lag. Statt dessen konzentrierte sie sich auf das, was ihr persönlich wichtig war - auf Cadderly und seine Suche unten im staubigen, gefährlichen Keller. »Wir müssen hinterher und ihm helfen«, beschloß sie, während sie erneut gegen die störrischen Ranken ankämpfte. »Nein«, sagte Newander. »Wir sollen hierbleiben. Das hat Cadderly ausdrücklich gesagt.« »Nein«, erklärte Danica einfach. »Natürlich würde Cadderly so etwas sagen, um mich zu beschützen - und anscheinend habe ich bis vor wenigen Minuten wirklich Schutz gebraucht. Aber Cadderly und die Zwerge brauchen uns vielleicht, und ich bleibe nicht hier unter diesem Efeu liegen, solange er in Gefahr ist.« Newander wollte sie fragen, warum sie den Keller für gefährlich hielt, doch dann fiel ihm Cadderlys schaurige Beschreibung dieses Ortes ein. »Eure Pflanzen sollen mich loslassen, Newander«, bat Danica den Druiden. »Ihr könnt hierbleiben, wenn Ihr wollt, aber ich muß schnellstens zu Cadderly, bevor dieser neblige Fluch sich wieder über mich legt.« Seit Newanders Ankunft in der Bibliothek hatte er von vielen Seiten Geschichten über die bemerkenswerte Danica gehört und zweifelte nicht daran, daß sie für Cadderly eine starke Verbündete sein konnte, wenn sie einen klaren Kopf behielt. Also wischte der Druide seine Bedenken beiseite und pfiff den Efeuranken schrill zu. Sie befolgten seinen Ruf augenblicklich, lösten sich von Danica und dem Bett und zogen sich durch das offene Fenster zurück. Danica streckte ausgiebig Arme und Beine, bevor sie aufzustehen wagte, aber selbst danach schwankte sie noch und mußte sich auf Newander stützen. »Seid Ihr ganz sicher, daß Ihr laufen könnt?« fragte der Druide. »Ihr hattet schwere Kopfverletzungen.« Danica riß sich unsanft aus seinem Griff los und taumelte in die Zimmermitte. Dort begann sie mit einem Übungsprogramm, dessen vertraute Bewegungen ihr zunehmend leichter fielen. Ihre Arme fuhren in perfekter Harmonie durch die Luft und führten sich gegenseitig zur nächsten Figur. Hin und wieder riß sie einen Fuß hoch und beschrieb damit einen hohen Bogen über ihrem Kopf. Newander beobachtete sie zunächst besorgt, doch dann lächelte er und nickte zustimmend, denn die junge Frau hatte ihre Bewegungen wieder ganz unter Kontrolle, Bewegungen, die dem Druiden unendlich schön und geschmei dig vorkamen, fast wie bei einem Tier. »Dann sollten wir aufbrechen«, meinte Newander und griff nach seinem Eichenstab. Als sie den Gang betraten, wurden sie von neuerlichen Geräuschen aus Histras Zimmer begrüßt. Danica warf einen besorgten Blick auf Newander und steuerte auf die Tür zu Histras Zimmer zu. Newander hielt sie an der Schulter fest. »Der Fluch«, erklärte der Druide. »Aber wir müssen ihr helfen«, wollte Danica widersprechen, hielt aber inne, weil ihr allmählich die Bedeutung der Schreie klar wurde. Sie lief dunkelrot an. Trotz der ernsten Lage mußte sie kichern. Newander versuchte, sie schnell den Gang entlangzuschieben, wogegen sie sich nicht wehrte. Und am Ende war sie es, die den Druiden ziehen mußte, als sie schließlich an Histras geschlossener Tür vorbeikamen. Als erstes .gingen sie zu Cadderlys Zimmer, das sie gerade betraten, als Rufo sich von den letzten hartnäckigen Fesseln befreite. Bei diesem Anblick blitzten Danicas Augen auf. Sie erinnerte sich lebhaft daran, wie Rufo sie bedrängt und befummelt hatte., Fast wäre sie von einer Welle des Hasses, die von dem roten Nebel noch verstärkt wurde, überwältigt worden. »Wo ist Cadderly?« fragte sie durch zusammengebissene Zähne.
Newander wußte natürlich nichts von Rufo, aber der Druide erkannte sofort, daß Danica dem linkischen Mann gegenüber wenig freundliche Gefühle hegte. Rufo wand sein Handgelenk los und stand abrupt vom Bett auf. Er wendete die Augen ab, weil er offensichtlich gerade weder Danica noch jemand anderen ansehen wollte. Am liebsten wäre er sofort in sein eigenes, dunkles Zimmer gerannt und dort unters Bett gekrochen. Leider hatte er das Pech, auf dem Weg dorthin an Danica vorbei zu müssen. »Wo ist Cadderly?« fragte die junge Frau nochmals und verstellte Rufo den Weg. Rufo sah sie höhnisch an und holte zu einem Schlag aus, der nie sein Ziel erreichte. Noch ehe Newander eingreifen konnte, hatte Danica Rufos Handgelenk gepackt und seinen Schwung mit einer leichten Drehung abgefangen, so daß der ungelenke Mann auf die Seite fiel. Newander hörte einen dumpfen Schlag, doch er hatte Danicas nächster Bewegung nicht folgen können. Der Druide war sich nicht sicher, wo sie ihren Gegner getroffen hatte, aber so, wie Rufo aufkreischte und auf den Zehen hüpfte, konnte Newander es erraten. »Danica!« rief der Druide, umschlang Danicas Arme und zog sie von dem hopsenden Mann weg. »Danica«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Es ist der Fluch. Denkt Ihr noch an den Fluch? Ihr müßt ihn bekämpfen, Mädchen!« Danica entspannte sich augenblicklich und ließ Rufo vorbei. Der sture Kerl konnte der Versuchung nicht widerstehen, sich dabei umzudrehen und Danica erneut höhnisch ins Gesicht zu lachen. Danicas Fuß traf ihn seitlich am Kopf, so daß er in den Gang hinaustaumelte. »Das war Absicht«, versicherte Danica dem Druiden, ohne gegen seine haltenden Arme anzukämpfen, »Fluch oder nicht!« Der Druide nickte resigniert. Rufo hatte es nicht besser verdient. Newander ließ Danica los, sobald Rufo außer Sichtweite war. »Ein Sturkopf«, bemerkte er. »Allerdings«, sagte Danica. »Er muß Cadderly und den Zwergen in die Quere gekommen sein.« »Habt Ihr die Blutergüsse in seinem Gesicht gesehen?« fragte der Druide. »Scheint, als hätte er bei dem Kampf nicht allzu gut abgeschnitten.« Danica stimmte schweigend zu, weil sie es für das Beste hielt, Newander nicht zu verraten, daß die meisten jener Blutergüsse von ihr stammten. »Also hat Rufo sie nicht aufhalten können«, überlegte sie. »Sie haben es in den Keller geschafft, und wir müssen ihnen rasch folgen.« Der Druide zögerte. »Was ist denn?« »Ich habe Angst um Euch«, gab Newander zu, »und vor Euch. Wie frei seid Ihr von dem Nebel? Weniger als ich dachte, wenn man nach Eurem Gesichtsausdruck bei der Begegnung eben geht.« »Ich gebe zu, daß der Nebel mir trotz all meiner Anstrengungen zusetzt«, erwiderte Danica, »aber Eure Worte haben mir meine Selbstkontrolle wiedergegeben, das versichere ich Euch, selbst gegen Kierkan Rufo. Me in Zwist mit ihm geht über diesen Fluch hinaus. Ich werde nie vergessen, wie er mich angestarrt hat oder was er mir antun wollte.« Ein mißtrauischer Ausdruck trat in Danicas braune Augen, und sie wich vorsichtshalber vor Newander zurück. »Warum ist Newande r, der Druide, nicht davon betroffen? Und was hat Cadderly, das ihn vor dem Einfluß des roten Nebels schützt?« »Was mich betrifft, so weiß ich es nicht«, antwortete Newander sofort. »Euer Cadderly glaubt, daß ich frei bin, weil es in meinem Herzen keine heimlichen Wünsche gibt, und weil ich in die Bibliothek gekommen bin, nachdem der Fluch schon wirkte. Ich wußte, daß etwas hier nicht stimmt, sobald ich zu meinen Freunden kam - vielleicht hat diese Warnung mir gestattet, die Magie abzuwehren.« Danica schien wenig überzeugt. »Ich bin eine disziplinierte Kriegerin«, erwiderte sie, »aber der Fluch hat sich mit Leichtigkeit in meine Gedanken geschlichen, tut es selbst jetzt noch, obwohl ich die Gefahr begreife.« Newander zuckte die Schultern, denn er hatte keine Erklärung. »Das war die Theorie Eures Cadderly, nicht meine«, erinnerte er sie. »Was glaubt Ihr selbst?« Wieder zuckte der Druide die Schultern. »Was Cadderly angeht«, sagte er einen Moment später, »so hat er die Flasche geöffnet und ist vielleicht allein deshalb geschützt. Bei magischen Flüchen spürt der Überbringer des Fluchs die Wirkung häufig nicht.« Danica gefiel eigentlich nichts an Newanders Worten, aber die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme war nicht zu leugnen. Etwas beruhigt lief sie neben dem Mann weiter. Die Küche gehörte immer noch den Vielfraßen. Einige waren jetzt vor lauter Überfressenheit wie gelähmt, aber die anderen wanderten nach wie vor herum und plünderten die gut gefüllten Vorratskammern der Zwerge. Newander und Danica versuchten, sich von ihnen fernzuhalten, als sie auf die Kellertür zustrebten, aber ein fetter Priester zeigte mehr als flüchtiges Interesse an der schönen jungen Frau. »Hier ist noch ein köstlicher Happen übrig«, sabberte er zwischen donnernden Rülpsern. Nachdem er sich die schmierigen Finger an seinen noch schmierigeren Roben abgewischt hatte, kam er direkt auf Danica zu. Er hatte sie fast erreicht, so daß Danica schon glaubte, sie müßte den Mann niederschlagen, als eine fette Hand ihn an der Schulter packte und grob umdrehte. »Halt!« schimpfte Großmeister Avery. »Was glaubst du, was du da machst?« Der Priester beäugte Avery zutiefst verwirrt - und Danica, die hinter ihm stand, war nicht weniger verblüfft. »Danica«, erklärte Avery dem Mann. »Danica und Cadderly! Halt du dich von ihr fern.« Bevor der Mann sich auch nur entschuldigen konnte, bevor Danica versuchen konnte, Avery zu beruhigen, holte der beleibte Großmeister mit
dem anderen Arm aus, der eine stattliche Hammelkeule hielt, und schlug damit zu. Der freche Priester sackte zusammen und rührte sich nicht mehr. »Aber, Großmeister ... «, setzte Danica an. Avery schnitt ihr das Wort ab. »Keine Ursache«, sagte er. »Ich passe nur auf meinen lieben Freund Cadderly auf. Und auf seine Freunde natürlich. Keine Ursache! « Ohne eine Erwiderung abzuwarten, schlenderte er davon, kaute an seiner Hammelkeule und hielt bereits Ausschau nach neuen Regalen, die er plündern konnte. Danica und Newander wollten dem Niedergeschlagenen helfen, aber dieser war schon wieder halbwegs wach. Mit der Hand fuhr er sich über die vom Hammelfleisch getroffene Stelle an seinem Kopf und schnupperte neugierig an seinen Fingern, als er merkte, daß die Feuchtigkeit nicht sein eigenes Blut war. Dann begann er, sie wild abzuschlecken. Die Erleichterung der beiden Verbündeten verflog, sobald sie die schwere, eisenbeschlagene Kellertür verriegelt fanden. Danica mühte sich eine Weile mit dem Riegel ab, aber dann sprach Newander ein paar Worte, die der jungen Frau elfisch vorkamen, und die Tür stöhnte wie zur Antwort. Holzplanken verzogen und lösten sich, bis die ganze Tür schon bei der leisesten Berührung wackelte. Danica konzentrierte sich, dann schlug sie mit der offenen Handfläche zu. Ihr Schlag hätte jeden Mann gefällt, aber die Tür war aus uralter Eiche und sehr dick, so daß der Stoß wenig Wirkung zeigte. Dieses Portal war in den frühesten Tagen der Bibliothek für den Fall eingebaut worden, daß ein Goblinüberfall einmal die äußeren Verteidigungslinien überwand und die Priester sich in die Keller zurückziehen mußten. Eine solche Situation war in der Geschichte der Bibliothek nur zweimal eingetreten, und beide Male hatte die Eichentür die Eindringlinge gestoppt. Weder die Flammen der Goblinfackeln noch das Gewicht ihrer groben Rammböcke waren durchgekommen, und nun war Danica trotz aller Kraft und aller Übung einfach unterlegen. »Scheint, als müßten Cadderly und die Zwerge die Sache ohne uns beenden«, stellte Newander grimmig fest, wobei ein Hauch Erleichterung in seiner Stimme lag. Aber Danica war noch nicht bereit aufzugeben. »Nach draußen«, ordnete sie an und durchquerte schon wieder die Küche. »Vielleicht gibt es ein Fenster oder einen anderen Weg nach unten.« Newander hielt das für unwahrscheinlich, aber Danica hatte ihn nicht um seine Meinung gefragt, geschweige denn seinen Kommentar abgewartet. Widerstrebend zuckte der Druide die Achseln und eilte hinter ihr her. Vor dem Gebäude trennten sie sich, damit Danica die Mauer nach Süden untersuchen konnte, während Newander nach Norden ging. Danica war noch nicht weit gekom men, als sich ein willkommener Freund einstellte. »Percival«, rief sie, erfreut über die Ablenkung, als das weiße Eichhörnchen aufgeregt keckernd direkt über ihr über den Rand des Daches lugte. Danica wußte sofort, daß das Tierchen verstört war, aber sie konnte seinem wilden Gezeter unmöglich folgen. »Ach, Percival!« schimpfte sie laut, was das Geschnatter des Eichhörnchens unterbrach. »Ich verstehe kein Wort.« »Aber ich«, erklärte Newander, der gleich hinter Danica aufgetaucht war. Zu dem Eichhörnchen sagte er: »Fahr fort«, und stieß eine Reihe Quieker und Schnalzer aus. Percival fing sofort wieder an, in einem Tempo, daß Newander sich große Mühe geben mußte, alles mitzubekommen. Der Druide sah Danica an. »Sieht so aus, als hätten wir unseren Zugang gefunden.« Der erste Ort, zu dem Percival sie führte, war der alte Arbeitsschuppen neben der Bibliothek. Sobald sie eintraten, begriffen sie die lärmende Ankündigung des Eichhömchens, denn es hingen noch immer Ketten von der Decke, und der Boden darunter war voller Blutspritzer. »Mullivy?« fragte Danica. Ihre Frage ließ Percival wieder übersprudeln. Die junge Frau wartete geduldig, bis das Eichhörnchen fertig war, dann wandte sie sich wegen der Übersetzung an Newander. »Dieser Mullivy«, fragte der Druide, der sich noch bedrückter umsah, »ist das vielleicht der Hausmeister?« Danica nickte. »Er war jahrzehntelang Hausmeister in der Bibliothek.« »Percival behauptet, ein zweiter Mann habe ihn hierher gebracht«, erklärte der Druide, »danach sind beide zu dem Loch gegangen.« »Dem Loch?« »Tunnel, meint er wohl, soweit ich das feststellen kann«, erklärte Newander. »Das alles kann schon einige Tage her sein. Percival hat nur unklare Vorstellungen von Zeit. Dennoch ist es bemerkenswert, daß das Eichhörnchen sich überhaupt daran erinnern kann. Eichhörnchen sind nicht gerade für ihr Gedächtnis bekannt, wißt Ihr.« Percival hüpfte vom Regal und sauste hinaus, als wäre er wegen der letzten Bemerkung des Druiden beleidigt. Danica und Newander rannten ihm nach. Danica nahm noch schnell ein paar Fackeln mit, die Mullivy praktischerweise in dem Schuppen aufbewahrt hatte. Es kam ihnen fast so vor, als ob Percival absichtlich ein Spiel mit ihnen trieb, während sie versuchten, seinen abrupten Richtungswechseln über das zerklüftete Gelände und durch das unwegsame Unterholz südlich der Bibliothek zu folgen. Nach vielen Finten erwischten sie das Eichhörnchen an einem kleinen Grat. Unter ihnen, unter einem dichtbewachsenen Überhang, öffnete sich tatsächlich ein Tunnel in Richtung auf die Bibliothek. »Der führt vielleicht gar nicht zu den Kellern, die wir suchen«, bemerkte Newander. »Haben wir denn eine andere Wahl?« erinnerte Danica den Druiden, und um ihrer Feststellung mehr Nachdruck zu verleihen, lenkte sie Newanders Blick nach Westen, wo die Sonne bereits hinter den hohen Gipfeln der Schneeflockenberge versank.
Newander nahm ihr eine Fackel ab, murmelte ein paar Worte und erschuf eine Flamme in seiner Handfläche. Das Feuer verbrannte den Druiden nicht, sondern entzündete erst seine Fackel und dann Danicas, ehe Newander es wieder löschte. Nebeneinander drangen sie in den Gang ein. Sie bemerkten, daß tatsächlich Abdrücke im Staub des Tunnelbodens zu sehen waren - Stiefelspuren vielleicht, aber auf eine Art verwischt, die sie sich nicht erklären konnten. Keiner von beiden kam darauf, daß Zombies beim Gehen die Füße nachziehen.
General Druzil Ivan wischte einen Blutfaden vom Hals seines Bruders ab. »Druide?« fragte Ivan, und diesmal lag wenig Sarkasmus in seiner Stimme. Pikels wilder Kampf hatte Ivan offensichtlich beeindruckt, und der Zwerg konnte schließlich nicht wissen, daß zu einem Druiden weit mehr gehört, als während eines Kampfes Tierlaute auszustoßen. »Wär' vielleicht gar nicht so schlecht.« Pikel nickte dankbar. Sein Lächeln unter dem tiefsitzenden Topfhelm wurde breiter. »Wo gehen wir jetzt lang?« fragte Ivan Cadderly, der still an der Wand lehnte. Cadderly schlug die Augen auf. Dieser Gang war ihm fremd, und der Kampf hatte ihn aufgeregt. Selbst die Konzentration auf das tropfende Wasser half ihm kaum, seine Fassung wiederzugewinnen. »Wir sind die meiste Zeit nach Westen gelaufen«, fing er zögernd an. »Wir müssen zurück nach ... « »Norden«, stellte Ivan richtig. Dann flüsterte er Pikel zu: »Hab' noch nie einen Menschen getroffen, der unter der Erde die Richtung bestimmen kann«, worauf beide Zwerge zu kichern begannen. »Wie auch immer«, fuhr Cadderly fort, »wir müssen in die Gegend von vorhin zurück. Vor dem Angriff waren wir unserem Ziel schon nahe. Da bin ich mir sicher.« »Der beste Weg zurück ist der Weg, den wir gekommen sind«, überlegte Ivan. Ui, ui«, murmelte Pikel, der um die Ecke in den Gang hinter ihnen spähte. Cadderly und Ivan überhörten den warnenden Ton nicht, und gleich darauf vernahmen sie selbst die kratzenden und schlurfenden Geräusche nahender Knochenfüße. Ivan und Pikel umklammerten ihre Waffen und nickten eifrig - zu eifrig, wie der junge Gelehrte fand. Cadderly handelte schnell, um das Schlachtfieber in ihren Augen zu ersticken. »Wir gehen andersrum«, befahl er. »Dieser Gang wird einen zweiten Ausgang haben wie alle anderen, und bestimmt führt er zu Tunneln, durch die wir unsere Verfolger umgehen können.« »Du fürchtest einen Kampf?« knurrte Ivan verächtlich. Der plötzlich schroffe Ton des Zwergs alarmierte Cadderly. »Die Flasche«, erinnerte er Ivan. »Das ist unser allerwichtigstes Ziel. Wenn wir die geschlossen haben, kannst du so viele Skelette umbringen, wie du willst.« Die Antwort schien den Zwerg zu besänftigen, aber Cadderly hoffte, daß es keinen weiteren Kampf mehr geben würde, wenn sie erst die Flasche geschlossen und denjenigen besiegt hatten, der hinter dem Fluch steckte. Der Gang ging lange ohne seitliche Abzweigungen und Alkoven weiter. Nur hin und wi eder stießen sie auf verrottete Kisten. Als sie schließlich eine Biegung erreichten, die in ihre alte Marschrichtung zurückführte, wurden sie erneut von dem kratzenden Schlurfen empfangen. Ivan warf Cadderly einen verärgerten Blick zu. »Die anderen sind weit hinter uns«, stellte er fest. »Das muß eine neue Gruppe sein. Jetzt sind sie auf beiden Seiten! Ich habe dir doch gesagt, wir müssen sie bekämpfen, wo wir nur können!« »Umkehren«, sagte Cadderly, der hoffte, daß sein Freund sich geirrt hatte. Ivan gefiel diese Idee überhaupt nicht. »Hinter uns sind noch mehr«, schnaufte er. »Willst du etwa beide Gruppen gleichzeitig bekämpfen?« Cadderly wollte entgegensetzen, daß hinter ihnen vielleicht gar keine Skelette waren, daß diese unsichtbare Gruppe vor ihnen vielleicht dieselbe war, die sie hinter sich gelassen hatten. Doch er sah deutlich, daß er die schmollenden Zwerge nicht überzeugen konnte, darum verschwendete er keine weitere Zeit. »Wir haben Holz«, sagte er. »Laßt uns wenigstens eine Verteidigungsstellung aufbauen.« Gegen diesen Vorschlag hatten die Brüder nichts einzuwenden. Schnell folgten sie Cadderly zu einem Haufen alter Kisten. Einige davon fielen schon bei der ersten Berührung auseinander, weil die Jahrzehnte ihnen zugesetzt hatten, aber bald hatten die Zwerge zwei ziemlich stabile, mannsschulterhohe Reihen aufgebaut, die von einer Wand ausgingen und einen so engen Korridor bildeten, daß nie mehr als ein oder zwei Skelette auf einmal durchkommen konnten. »Bleib du nur hinter mir und meinem Brüderchen«, wies Ivan Cadderly an. »Wir können die wandelnden Knochen besser zertrümmern als du mit dem Spielzeug da!« Inzwischen war das Schlurfen schon ziemlich laut geworden, und Cadderly entdeckte Bewegungen am äußersten Rand seines schmalgestellten Lichtstrahls. Die Skelette kamen jedoch nicht näher. »Haben sie die Spur verloren?« flüsterte Cadderly. Ivan schüttelte den Kopf. »Sie wissen, daß wir hier sind«, beharrte er. »Worauf warten sie dann?« »Ui, ui«, stöhnte Pikel.
»Recht hast du«, bestätigte Ivan seinem Bruder. Er sah zu Cadderly hoch. »Du solltest das Kämpfen uns überlassen«, sagte er. »Denk in Zukunft immer daran. Jetzt warten sie, bis auch die andere Gruppe nahe genug ist.« Cadderly überlegte. Skelette waren keine denkenden Wesen. Wenn Ivans Einschätzung stimmte, dann war jemand oder etwas hier, der den Angriff leitete. Nur wenige Augenblicke später bewiesen schlurfende Geräusche, daß die Zwerge richtig gelegen hatten. Cadderly nickte grimmig. Vielleicht hätte er die Entscheidung zum Kampf seinen erfahreneren Begleitern überlassen sollen. Er nahm seine Stellung hinter den Zwergenbrüdern ein, ohne seine Bedenken zu äußern, daß die Untoten anscheinend organisiert waren. Die Skelette stürmten gleichzeitig los, ein Dutzend von der einen Seite und mindestens ebenso viele von der anderen. Als sie feststellten, daß sie ihre lebendigen Feinde nur durch den schmalen Durchgang erreichen konnten, schlugen sie aufeinander ein, um hineinzukommen. Ein einziger Schlag von Ivans Axt erledigte den ersten, der hereinkam. Mehrere weitere folgten eng nacheinander. Ivan wich zurück und nickte seinem Bruder zu. Pikel senkte die Keule wie einen Rammbock und begann, wie wild auf der Stelle zu rennen, um Schwung zu holen. Cadderly hielt den Zwerg an der Schulter fest, weil er ihre Verteidigungsstellung intakt halten wollte, doch es war Ivan, nicht Pikel, der seine Hand wegschlug. »Taktik, Jungchen, Taktik«, grollte Ivan mit ungläubigem Kopfschütteln. »Ich hab' dir doch gesagt, du sollst das Kämpfen uns überlassen.« Cadderly nickte wieder und zog sich zurück. Pikel sprang los. Er drang in die vorrückenden Gegner ein wie ein Geschoß. In dem durcheinandergewürfelten Knochenhaufen war schwer zu erkennen, wie viele Skelette der Zwerg tatsächlich zerstört hatte. Wichtiger war, dass noch viel mehr übrig waren. Pikel drehte sich schnell um und kam zurückgelaufen, ein Skelett dicht auf den Fersen. »Runter!« schrie Ivan. Pikel warf sich auf den Boden, als Ivans große Axt losschwang, um Pikels Verfolger in kleine Stücke zu hacken. Da schwor sich Cadderly, die Zwerge alle künftigen Kämpfe selbständig ausfechten zu lassen, denn er sah ein, daß seine Freunde von Taktik weit mehr verstanden als er. Wieder drangen die Gerippe auf sie ein, und Ivan und Pikee verwendeten unterschiedliche Angriffsarten, wobei jeder die Finten und Ausfälle seines Bruders aufgriff, um die Feinde leichter zu schlagen. Cadderly sah bewundernd zu. Er glaubte, daß die Brüder noch lange, lange so weitermachen konnten. Dann rückten die Skelette plötzlich nicht mehr weiter vor, sondern sammelten sich vor der Barrikade, um dann systematisch mit dem Abbau der Kisten zu beginnen. »Wann haben die Biester gelernt zu denken?« fragte Ivan ungläubig. »Jemand führt sie an«, erwiderte Cadderly, dessen Lichtstrahl den ganzen Gang nach dem untoten Anführer absuchte. ¤¤¤ Licht konnte Druzil nicht sichtbar machen. Das Teufelchen sah ungeduldig und mit wachsender Besorgnis zu. Wenn man die Skelette in den anderen Gängen mitrechnete, hatten diese drei Abenteurer bereits mehr als die Hälfte der untoten Armee vernichtet. Druzil ging normalerweise kein Risiko ein, wenn seine eigene Sicherheit auf dem Spiel stand, aber dies war keine normale Situation. Wenn man die drei nicht aufhielt, würden sie womöglich in den Altarraum gelangen. Wer konnte abschätzen, welchen Schaden die beiden wilden Zwerge dort anrichten mochten? Aber es war der Mensch, der Druzil die meisten Sorgen bereitete. Seine Augen und die aufmerksame, besonnene Art, mit der er seinen Lichtstrahl bewegte, erinnerten Druzil deutlich an einen anderen mächtigen und gefährlichen Menschen. Druzil hatte gehört, daß Zwerge jeder Art von Magie gegenüber widerstandsfähig waren, selbst bei machtvoller Magie wie dem Chaosfluch, darum konnte er verstehen, wie die beiden hergefunden hatten. Aber dieser Mensch wirkte noch heller und konzentrierter als seine Begleiter. Es konnte nur eine Antwort geben: Dieser Mann war Barjins Unschuldiger gewesen, der die Flasche geöffnet hatte. Barjin hatte Druzil versichert, er habe dem Mann einen Vergessenszauber auferlegt. Hatte der Priester seinen Gegner vielleicht unterschätzt? Diese Möglichkeit ließ Druzils Respekt vor Cadderly nur noch wachsen. Ja, entschied das Teufelchen, der Mensch war die eigentliche Bedrohung. Druzil rieb sich eifrig die Hände und streckte seine Flügel. Es wurde Zeit, dieser Bedrohung ein Ende zu setzen. ¤¤¤ »Wir müssen sie angreifen, bevor sie alles abreißen!« befand Ivan, aber bevor er und Pikel sich, bewegen konnten, gab es ein plötzliches Rauschen in der Luft. »Ei!« schrie Pikel, der das Geräusch sofort als Angriff erkannte. Er packte Cadderly vorne an der Tunika und riß ihn zu Boden. Einen Sekundenbruchteil später jaulte der Zwerg vor Schmerz auf und griff sich an den Hals. Beim Zuschlagen wurde der Angreifer sichtbar, und Cadderly erkannte das Wesen zwar nicht auf Anhieb, sah aber, daß es ein Bewohner der Unteren Ebenen war, eine Art Teufel. Das Biest mit den Fledermausflügeln flog davon. Von seinem spitz zulaufenden Schwanz tropfte Pikels Blut.
»Brüderchen!« schrie Ivan, aber Pikel wirkte nur ein bißchen benommen. Er wehrte Ivans Versuche ab, nach seiner Wunde zu sehen. »Das war ein Teufel«, erklärte Cadderly, der dem Wesen mit seinem Lichtstrahl nachleuchtete. »Sein Stich ist -«, er zögerte, als er die besorgten Brüder sah, »- giftig«, schloß Cadderly sanft. Wie auf Kommando begann Pikel, heftig zu zittern, und sowohl Cadderly als auch Ivan glaubten, er werde einfach umkippen. Zwerge aber sind ein zähes Volk, und Pikel war ein außerordentlich zäher Zwerg. Einen Augenblick später knurrte er laut und riß sich gewaltsam zusammen. Mühsam richtete er sich auf, lächelte seinen Bruder an, hob seine Baumkeule hoch und nickte zu der Schar Skelette hin, die immer noch ihre Verteidigungslinien abbauten. »Dann war er eben vergiftet«, erklärte Ivan, der einen beredten Blick auf Cadderly warf. »Ein Mensch wäre jetzt vielleicht tot.« »Vielen Dank«, sagte Cadderly zu Pikel und hätte noch mehr gesagt, wenn jetzt nicht anderes wichtiger gewesen wäre. Der Teufel hatte ihn im Visier gehabt, stellte er fest, und höchstwahrscheinlich würde er zurückkommen. Cadderly löste einen Riegel an seinem Wanderstab und kippte den Widderkopf an geschickt verborgenen Angeln zurück. Dann zog er die Bodenkappe des Stabs ab und hatte nun statt des Stockes ein Rohr. »Häh?« fragte Pikel, der Ivan aus der Seele sprach. Cadderlys Antwort war nur ein Lächeln. Er fuhr mit seinen Vorbereitungen fort, indem er seinen Federring aufschraubte, den mit dem Schlafgift der Drow, und den Zwergen die winzige Feder zeigte, an deren Ende ein Widerhaken war, der von der gefährlichen, schwarzen Lösung triefte. Augenzwinkernd steckte Cadderly den Pfeil ins Ende seines Wanderstabs, griff dann nach einem herumliegenden Brett und wartete. Das Flattern der Fledermausflügel kehrte gleich darauf zurück, und beide Zwerge hoben abwehrend die Waffen. Cadderly hatte schon damit gerechnet, daß der Teufel wieder unsichtbar sein würde. Er bestimmte die ungefähre Richtung des Angriffs, und als das Flattern näher kam, riß er die Planke hoch. Das wendige Teufelchen wich dem schweren Brett aus, streifte es nur im Vorbeifliegen mit einer Flügelspitze. So hatte der Schlag Druzil keinen echten Schaden zugefügt, doch er kam ihn teuer zu stehen. Mit seinem Wanderstab-Blasrohr an den Lippen registrierte Cadderly das Geräusch des Flügelstreifens, zielte und blies. Ein leiser Aufprall verriet ihm, daß der Pfeil getroffen hatte. »Ei, ei!« quietschte Pikel höhnisch, als das unsichtbare Teufelchen, von einem sehr sichtbaren Pfeil getroffen, über ihre Köpfe flatterte. »Ei, ei!« ¤¤¤ Druzil wußte nicht, ob er sich drehte oder der Gang. Irgendwo weit hinten in seinen träumerischen Gedanken war ihm jedenfalls klar, daß dies kein gutes Zeichen sein konnte. Normalerweise konnten Gifte einem Teufel nichts anhaben, insbesondere auf einer anderen Existenzebene als der seinen. Aber der Pfeil mit den Widerhaken, der Druzil getroffen hatte, war mit Drowschlafgift überzogen gewesen, das zu den wirksamsten Substanzen der Welt gehörte. »Meine Skelette«, flüsterte das Teufelchen, weil es sich erinnerte, daß es irgendwo in einem fernen Kampf gebraucht wurde. Aber eigentlich wollte es nur noch schlafen. Es hätte erst landen sollen. Bevor Druzil recht merkte, daß er noch flog, stieß er schon gegen die Wand und stürzte laut stöhnend zu Boden. Der Aufprall rüttelte ihn wieder ein wenig wach, und dabei fiel ihm ein, daß die Schlacht gar nicht so weit weg war. Er wurde tatsächlich gebraucht ... aber der Gedanke an Schlaf war viel verlockender. Er brachte noch genug Energie auf, aus dem offenen Gang zu verschwinden. Seine Knochen knirschten bei der Verwandlung, die ledrige Haut riß und veränderte sich. Bald war er ein großer, immer noch unsichtbarer Tausendfüßler, der durch eine Ritze schlüpfte und sich vom Schlaf übermannen ließ. ¤¤¤ Als Druzil fiel, brach auch jedwede Organisation der Skelettarmee zusammen. Manche Gerippe liefen ziellos davon, andere fuhren mit dem methodischen Abbau der Kisten fort, obwohl ihre Handlungen nicht mehr zielgerichtet waren. Nur eine Gruppe blieb feindselig und lief mit ausgestreckten Armen durch den engen Gang auf Cadderly und die Zwerge zu. Ivan und Pikel stellten sich ihnen mit gewaltigen Hieben und gezielten Stößen entgegen. Selbst Cadderly gelangen ein paar Treffer. Er stand hinter Pikel, weil er wußte, daß Ivans Geweih seine Spindelscheiben im Zweifelsfall aufhalten würde. Pikel war nur gut vier Fuß groß, dazu ein paar Fingerbreit für den Topfhehr, so daß Cadderly losschlagen konnte, sobald die Keulenschläge des Zwergs es ihm erlaubten. Auf Cadderlys Vorschlag hin arbeiteten sie sich durch den engen Zugang vor und ließen Stapel von Knochen hinter sich. Der Teufel hatte die Skelette gelenkt, erkannte Cadderly, und ohne den Teufel - der gegen die Mauer geknallt war, wie Cadderly gehört hatte - würden die Knochenmänner im Kampf wenig Initiative ergreifen. Nachdem die eine Gruppe Angreifer erledigt war, wendeten Ivan und Pikel sich vorsichtig denen zu, die die Barrikaden abrissen. Die Skelette leisteten keinen Widerstand, sahen nicht einmal von ihrer Arbeit auf, als die Zwerge sie in Stücke schlugen. Auf ähnliche Weise wurden die Gerippe, die einfach in der Gegend herumstanden und kein Zeichen gaben, daß sie sich je bewegt hatten, leichte Beute für die Zwerge. »Das wär's«, verkündete Ivan, d er dem letzten noch stehenden Skelett den Schädel zertrümmerte, »bis auf die, die
weggelaufen sind. Wir können sie einholen!« »Laß sie laufen«, schlug Cadderly vor. Ivan funkelte ihn an. »Wir haben Wichtigeres zu tun«, erwiderte Cadderly, dessen Worte mehr wie ein Vorschlag als wie ein Befehl klangen. Langsam ging er mit den Zwergen zu der Stelle, wo der Teufel aufgeschlagen war, doch sie fanden keine Spur von Druzil, nicht einmal den gefiederten Pfeil. »Wohin gehen wir?« fragte der ungeduldige Ivan. »Den Weg zurück, den wir gekommen sind«, erwiderte Cadderly. »Es wird mir leichter fallen, den Altarraum zu finden, wenn wir in Tunnel zurückkehren, die ich kenne. Jetzt, wo wir die Skelette besiegt haben -« »Ei!« zirpte Pikel plötzlich. Cadderly und Ivan sahen sich besorgt um, weil sie mit einem neuen Angriff rechneten. »Was siehst du?« fragte Ivan, der ins Dunkel starrte. »Ei!« sagte Pikel wieder, und als sein Bruder und Cadderly ihn ansahen, verstanden sie, daß er auf keine äußere Drohung reagierte. Er zitterte wieder. »Ei!« Pikel griff sich an die Brust und fing an herumzuhopsen. »Das Gift!« rief Cadderly Ivan zu. »Die Aufregung der Schlacht hat ihm gestattet, es zu besiegen, aber nur für kurze Zeit!« »Ei!« stimmte Pikel zu, der wie wild an seinem Brustpanzer kratzte, als ob er sein Herz erreichen wollte. Ivan wollte ihn stützen. »Du bist ein Zwerg! « heulte er. »Du kannst nicht vergiftet werden!« Cadderly wußte es besser. In demselben Buch, in dem er das Drowrezept entdeckt hatte, hatte er von vielen weiteren Giften gelesen. Ganz oben auf der Liste der gefährlichsten Gifte, gleich neben dem tödlichen Stich eines Lindwurmschwanzes und dem Biß der gefürchteten, zweiköpfigen Amphisbaenaschlange, waren verschiedene Gifte von Bewohnern der Unteren Ebenen aufgeführt, darunter das vom Schwanzstachel der Teufelchen. Zwerge waren gegen Gifte so widerstandsfähig wie gegen Magie, aber wenn das Teufelchen Pikel richtig getroffen hatte ... »Ei!« schrie Pikel ein letztes Mal. Sein Beben überstieg Ivans verzweifelte Bemühungen, ihn aufrechtzuhalten, und in einem plötzlichen Kraftausbruch schleuderte er seinen Bruder beiseite und stand einen Augenblick da, in dem er nur fassungslos nach vorn starrte. Dann fiel er um, und sowohl Ivan als auch Cadderly wußten, daß er tot war, noch ehe sie zu ihm gelangen konnten.
Ghule Sie hatten den Ruf des Nekromantensteins vernommen; sie hatten gemerkt, daß die Toten wanderten, und wußten, daß eine Krypta gestört worden war. Jetzt waren sie hungrig - sie waren immer hungrig -, und die Aussicht auf Aas, altes und frisches, ließ sie eilen. Sie liefen tief gebückt, auf Beinen, die einst Menschen gehört hatten, lange Zungen hingen zwischen spitzen Zähnen heraus, schmierige Speichelfäden rannen ihnen über Kinn und Hals. Sie waren hungriger als je zuvor.
Sie kamen die Straße herauf, huschten auf ihrem Weg zu dem großen Gebäude von einem Nachmittagsschatten zum anderen. Vor dem Gebäude machte sich ein Mann, ein großer Mensch in einer langen, grauen Robe, an den Türen zu schaffen. Der Anführer der Ghule näherte sich geduckt. Seine Arme hingen so tief, daß die Knöchel am Boden entlangschleiften, während die Finger aufgeregt zuckten. Dann griff er an. Lange, schmutzige Fingernägel, die scharf und hart wie die Krallen eines wilden Tiers waren, erwischten den nichtsahnenden Priester an der Schulter. Seine gequälten Schreie steigerten den Blutrausch nur. Der Priester versuchte, sich zu wehren, aber das Gift der Ghule lähmte ihn. Er verzog das Gesicht zu einer entsetzten, starren Maske, bis die Meute über ihn herfiel und ihn in Sekundenschnelle in Stücke riß. Einer nach dem anderen ließen die Ghule dann wieder von dem zerfleischten Leichnam ab und näherten sich den großen Türen, die weiteres Futter versprachen. Aber sie scheuten alle zurück und mußten ihre Augen mit erhobenen Armen schützen, denn die Türen waren durch starke Schutzrunen gegen das Eindringen untoter Kreaturen gefeit. Die Ghule wanderten noch einen Moment lang hungrig und enttäuscht umher, bis einer von ihnen wieder den Ruf des Steins vernahm, der im Süden des Gebäudes ertönte. Die Meute eilte ihm nach. ¤¤¤ Es war ein feuchter Ort. Schlammige Pfützen bedeckten den Erdboden, und moosbewachsene Schlingpflanzen voller Krabbeltiere hingen von den Stützbalken, die in gleichmäßigen Abständen angebracht waren. Danica rückte nur langsam vor, hielt die Fackel weit vor sich und hielt sich möglichst von dem heimtückisch aussehenden Moos fern. Newander war weniger besorgt, was die Flechten an ging, denn die waren natürlich gewachsen, ebenso wie die Insekten, die darüberkrabbelten, und sie gehörten einer Welt an, die der Druide verstand. Dennoch wirkte Newander noch ängstlicher als Danica. Wiederholt blieb er stehen und sah sich um, als wollte er etwas orten.
Schließlich ließ sich Danica von seiner Unruhe anstecken. Sie trat neben ihn, um ihn im Fackelschein genauer anzusehen. »Wonach haltet Ihr Ausschau?« fragte sie unverblümt.
»Ich spüre, daß etwas in Unordnung geraten ist.« »In Unordnung?« »Euer Cadderly hat mir von Untoten erzählt, die in der Krypta herumlaufen«, erläuterte Newander. »Jetzt weiß ich, daß er die Wahrheit gesagt hat. Das ist eine entsetzliche Umkehrung der natürlichen Ordnung, ein Sakrileg an der Erde selbst.« Danica konnte verstehen, weshalb ein Druide, dessen ganzes Leben der natürlichen Ordnung galt, die Anwesenheit Untoter als Sakrileg empfand, aber sie war erstaunt, daß Newander sie sogar aus der Entfernung spüren konnte. »Sind die wandelnden Toten hier vorbeigekommen?« fragte sie erstaunt. Newander zuckte die Schultern und sah sich wieder nervös um. »Sie sind ganz in der Nähe«, antwortete er. »Zu nah.« »Woher wollt Ihr das wissen?« drängte Danica. Newander sah sie verwundert und verwirrt an. »Ich ... ich ...« stammelte er. »Ich weiß es einfach.« Plötzlich fuhr er zum Eingang des Tunnels herum, als ob er etwas gehört hätte. Gleich darauf zuckte auch Danica zusammen, als vom Tunneleingang, der jetzt nicht mehr als ein grauer Schatten weit hinten war, ein Schrei zu ihnen drang. Sie erkannte Percivals Stimme, aber das beruhigte sie nicht, denn nun erschienen geduckte Gestalten, deren hungriges Geschlabber . man selbst weit entfernt noch hören konnte. »Lauft, Danica!« schrie Newander und drehte sich um. Danica rührte sich nicht vom Fleck, denn sie fürchtete keinen Feind. Acht mannsgroße Gestalten konnte sie deutlich erkennen, obwohl sie keine Ahnung hatte, ob es sich um Priester aus der Bibliothek oder um Monster handelte. Jedenfalls sah sie keinen Vorteil darin, den Tunnel entlangzustolpern und womöglich einem wartenden Feind in die Arme zu laufen. Außerdem mußte sie an Percival denken. Für das weiße Eichhörnchen würde sie genauso kämpfen wie für jeden anderen Freund. »Es sind Untote«, versuchte der Druide zu erklären, und noch während er dies sagte, drang der verfaulte Gestank der Ghule in ihre Nasen. Der Gestank verriet Newander viel über seine Feinde, und sein Fluchtdrang wuchs noch. Aber es war schon zu spät. »Laßt Euch nicht von ihnen kratzen«, warnte der Druide. »Ihre Berührung läßt Euch das Mark in den Knochen gefrieren.« Danica duckte sich tief, prüfte die Balance ihrer Fackel und richtete all ihre Sinne auf ihre Umgebung. Über ihr flitzte Percival einen Holzbalken entlang; hinter ihr hatte Newander leise zu singen begonnen, um einen Zauber vorzubereiten; vor ihr kam zischend und spuckend die Meute an, die jetzt wegen der lodernden Fackel langsamer vorrückte. Ein Dutzend Sprünge vor Danica kam die Meute zum Stehen. Danica sah ihre gelben, kränklichen Augen, die von einem hungrigen inneren Feuer leuchteten. Sie hörte das Keuchen und sah die langen, spitz zulaufenden Zungen, die wie bei einem Reptil züngelten. Danica duckte sich noch tiefer, weil sie die wachsende Erregung ihrer Angreifer spürte. Gemeinsam griffen die Ghule an, aber es war Newander, der zuerst zuschlug. Als die Ghule unter einem Querbalken durchkamen, wurde das Moos lebendig. Wie die Ranken, die Danica an ihr Bett gefesselt hatten, griffen die Moos stränge nach den vorbeilaufenden Kreaturen. Drei von ihnen wurden vollständig gefesselt, zwei andere zappelten und wehrten sich mit entsetzlicher Wut, weil ihre Knöchel festhingen, aber drei kamen glatt durch. Der Anführer stürzte sich auf Danica, die unerschrocken bereitstand. Bis zum letzten Moment behielt sie ihre wenig bedrohliche Haltung bei, womit sie den Ghul so nahe an sich heran lockte, daß selbst Newander einen Warnruf ausstieß. Aber Danica hatte die Situation vollkommen im Griff. Plötzlich riß sie die Fackel hoch und traf damit den Ghul direkt ins Auge. Das Wesen wich zurück und stieß einen Schrei aus, der Danica einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Sicherheitshalber stieß sie dem Ghul die Fackel noch ins andere Auge, aber dadurch wurde diese Waffe unbrauchbar. Ein zweiter Gegner tauchte neben dem ersten auf. Seine Zunge hing weit heraus, und seine welken Hände griffen nach Danica. Sie wollte nach ihm schlagen, erinnerte sich aber an Newanders Warnung, und wußte, daß ihre eigene Reichweite es nicht mit der der Kreatur aufnehmen konnte. Die junge Frau verfügte allerdings noch über andere Waffen. Abrupt warf sie sich so weit zurück, daß es aussah, als würde sie auf den Boden fallen. Daß sie dennoch ihr Gleichgewicht wahren konnte, überraschte den immer noch angreifenden Ghul und ließ auch Newander hinter ihr erstaunt nach Luft schnappen. Danica fiel nicht. Sie drehte sich auf einem Bein, während das andere Bein vor ihr hochschoß und ihr Fuß den Angreifer direkt unter dem Kinn traf. Der Kiefer des Monsters klappte zu und seine abgebissene Zunge fiel auf den Boden. Rot-grünes Blut und' Schleim flossen ihm aus dem Maul. Danica war noch keineswegs fertig mit ihm. Sie ließ die Fackel fallen und sprang senkrecht hoch, hielt sich an einem Querbalken fest und trat dem Ghul mit einem Fuß ins Gesicht, daß der Geifer spritzte. Dem dritten Ghul erging es nicht besser. Newander streckte ihm die offene Handfläche entgegen und murmelte einige Worte, um einen magischen Feuerball zu erschaffen, ähnlich dem, mit dem er draußen am Eingang die Fackel angezündet hatte. Als der Ghul angehumpelt kam, warf Newander sein Feuergeschoß. Es traf das Ungeheuer vor die Brust, und plötzlich war der Ghul mehr damit beschäftigt, die Flammen auszuschlagen, als den Druiden anzugreifen. Das erste Feuer hatte er fast gelöscht, als ein zweiter Ball angeflogen kam, der ihn an der Schulter traf. Dann kam das dritte Geschoß, das in einen Funkenschauer ze rstob, als es den Ghul ins Gesicht traf. Danica hielt sich weiter am Balken fest und trat ein letztes Mal zu. Sie wußte, daß sie dem Ghul den Hals gebrochen hatte, aber das sterbende Ungeheuer schaffte es, eine Klaue an ihr Bein zu legen. Im Fallen riß sein
schmutziger Nagel eine tiefe Rille in Danicas Schenkel. Entsetzt starrte sie die Wunde an, denn sie spürte schon, wie die Berührung sie lähmen wollte. »Nein!« knurrte sie und nutzte ihr jahrelanges Training, all ihre geistige Disziplin, um dagegen anzukämpfen, um die Kälte aus ihren Knochen zu vertreiben. Sie ließ sich fallen und hob die Fackel auf, wobei sie glücklich feststellte, daß ihr Bein sie noch trug. Jetzt war sie von ihrem Zorn beherrscht - ein Teil von Danicas Kunst hatte mit dem Wissen zu tun, wann sie nachgeben durfte, wann purer Zorn ihre Handlungen führen durfte. Der Ghul mit den verbrannten Augen drehte sich wild um sich selbst, schlug blindlings mit den Klauen, um wenigstens irgend etwas zu treffen; Er riß das Maul zu einem bösartigen, hungrigen Schrei auf. Danica griff mit beiden Händen nach der Fackel, schwang sie hoch und stieß sie dem Ghul in den Schlund. Die Kreatur schlug um sich, traf mehrfach Danicas Arme, aber die wütende Frau ließ nicht von ihm ab. Sie trieb ihm die Fackel noch tiefer in den Hals und drehte sie dabei, bis der Ghul sich nicht mehr rührte. Kaum langsamer geworden, fuhr Danica herum und verpaßte dem Ghul, der mit Newanders Feuer kämpfte, einen linken Haken. Der Schlag ließ das Ungeheuer umkippen und gegen die Tunnelwand sacken. Newander war sofort über ihm, um ihn mit seinem Eichenstab zu erschlagen. Damit war der Kampf jedoch keineswegs vorüber. Fünf Ghule waren noch übrig, drei davon allerdings hilflos in die Moosstränge verstrickt. Die anderen beiden hatten sich befreit und griffen an, ohne ihre toten Gefährten eines Blickes zu würdigen. Danica duckte sich tief, zog ihre Dolche aus den Stiefelscheiden und schlug zu, bevor die Ungeheuer in ihre Nähe gelangen konnten. Für den vorderen sah der heranzischende Do lch wahrscheinlich mehr wie ein Splitter aus, der sich im trüben Fackelschein blitzend drehte. Erst als sich die Waffe bis zum Heft in sein Auge bohrte, begriff das Monster. Es kreischte und wankte zur Seite. Danicas zweiter Wurf folgte mit gleicher Präzision, schoß - wieder bis zum Heft - in die Brust der Kreatur, der Ghul wand sich in Todeszuckungen. Der zweite Angreifer hatte nun freie Bahn auf Danica. Die junge Frau wartete wieder bis zum allerletzten Mo ment, sprang dann zum Balken und schlug mit dem todbringenden Fuß zu. Der kräftige Tritt erwischte den Ghul an der Stirn, hielt ihn auf und ließ seinen Kopf nach hinten kippen. Als der Kopf wieder vorschnellte, traf Danicas Fuß ihn erneut, dann ein drittes und viertes Mal. Der Ghul fiel leblos zur Seite, den Hals in einem seltsamen Winkel verrenkt. Danicas Wut war noch nicht besänftigt. Sie stürmte den Gang entlang und stieß dabei einen langgezogenen Kampfschrei aus. Ihre rechte Hand bildete eine Teilfaust, aus der ihr Zeigefinger und der kleine Finger herausstaken. Der vorderste Ghul in den Moossträngen, auf den Danica es gar nicht abgesehen hatte, schaffte es, mit einem Arm nach der Frau zu schlagen. Danica wich der ungelenken Attacke problemlos aus, rollte sich einfach an dem Angreifer vorbei und kam wenige Fuß vor dem nächsten Ghul zum Stehen. Sie sprang in die Luft und schlug beim Herunterkommen zu. Adlerklaue hieß diese Technik in den Schriften des Großmeisters Penpahg D'Ahn, und Danica führte sie perfekt aus. Als ihre ausgestreckten Finger durch die Augen des Ghuls direkt in sein verfaultes Gehirn drangen, spritzte es auseinander. Danica brauchte einige Zeit, um ihre Hand aus dem zerborstenen Kopf des Ghuls herauszuwinden, aber sie wußte, daß dieser Gegner keine Bedrohung mehr darstellte. Newander war stehengeblieben, als er sah, daß die junge Frau alles unter Kontrolle hatte. Jetzt drehte er sich um, um die heruntergebrannte Fackel zu holen. Als Danica sich endlich befreit hatte, lief sie zu dem Ghul zurück, der nach ihr geschlagen hatte. Ihre Faust traf krachend auf das faulige Fleisch an der Brust des Wesens und brach ihm die Rippen, aber der Ghul, der sich schon vor dem Angriff beinahe befreit hatte, löste sich durch den Stoß endgültig aus dem Moos. Mit einem grauenvollen Schrei kam er hoch und heulte wie ein Besessener. Danicas Wut kam der seinen gleich, so daß sie für jeden Schlag, den sie einsteckte, selbst dreimal zuschlug. Wieder spürte sie die lähmende Kälte einer Ghulberührung, und wieder schob sie sie beiseite. Aber das Blut an ihren Armen war nicht zu übersehen, und Schmerz und Erschöpfung setzten ihr zu. Sie täuschte einen weiteren direkten Angriff vor, um sich dann unter den weit ausholenden Schlägen des Ghuls zu ducken. Ihr Fuß schoß gerade nach vorn, traf den Ghul in die Kniekehle und ließ ihn vornüber zu Boden fallen. Sofort war Danica über ihm. Mit beiden Fäusten holte sie bis über den Kopf aus und ließ sich auf die Knie fallen, um mit diesem Schwung die Gewalt ihres Schlags zu unterstützen. Sie traf den Ghul, der schon wieder aufstehen wollte, am Hinterkopf. Das Wesen bäumte sich noch einmal auf, dann lag es ganz still. Danica wartete nicht ab, ob es sich noch einmal bewegen würde. Sie packte eine Handvoll der struppigen Haare, griff nach unten, um das Kinn in die andere Hand zu nehmen und riß den Kopf gewaltsam herum, bis die toten Augen des Ghuls genau nach hinten starrten. Mit einem Wutschrei kam die junge Frau wieder hoch und näherte sich dem letzten Ungeheuer. Es war vom Moos hochgezogen worden und hing ganz still da, ohne gegen die unzerreißbaren Fesseln anzukämpfen. Danica verpaßte ihm einen Schlag gegen den Kopf, so daß es sich um sich selbst drehte. Als das Gesicht wieder an ihr vorbeikam, drehte sich auch Danica im Kreis und trat dagegen, wodurch die Kreatur sich weiter drehte. Und so ging es weiter Stoß, Tritt, einmal die eine Richtung, dann die andere. »Er ist tot«, wandte Newander ein, aber das hatte wenig Sinn. Er verstand, daß Danica ihre Wut auslassen mußte. Immer noch trat und stieß sie, und immer noch drehte sich der schlaffe Ghul. Schließlich fiel die erschöpfte Kriegerin vor ihrem letzten Opfer auf die Knie und legte ihren Kopf in die blutbeschmierten Hände. ¤¤¤
»Druzil?« Barjin wußte nicht, warum er laut gesprochen hatte; vielleicht hatte er geglaubt, das Geräusch werde ihm helfen, die plötzlich abgerissene telepathische Verbindung mit seinem Vertrauten wieder aufzunehmen. »Druzil?« Es gab keine Antwort, keinen Hinweis, daß das Teufelchen überhaupt noch mit ihm in Verbindung stand. Barjin versuchte nochmals, seine Gedanken durch die äußeren Gänge zu schicken, weil er immer noch auf eine Antwort von Druzil hoffte. Bald jedoch mußte er sich eingestehen, daß seine wachsamen zweiten Augen irgendwie zugeklappt waren. Vielleicht war Druzil getötet worden, oder ein feindlicher Priester hatte ihn auf seine Heimatebene zurückverbannt. Mit diesem unangenehmen Gedanken im Hinterkopf kehrte Barjin an sein heruntergebranntes Becken zurück. Er sprach ein paar Befehle, ließ die Flammen höher schlagen und versuchte, sein eigenartig unproduktives interplanares Tor wieder zu öffnen. Er rief Mephiten und Manen und kleinere Wesen; er rief Druzil, weil er hoffte, das Teufelchen zurückholen zu können, falls es verbannt war. Aber die Flammen knisterten, ohne ein Wesen aus anderen Welten auszuspucken. Barjin wußte natürlich nichts von dem magischen Staub, den Druzil verstreut hatte, um das Tor zu schließen. Der Priester setzte seine Beschwörungen noch eine Weile fort, bis er einsah, daß er womöglich ein ernsthaftes Problem hatte, wenn Druzil wirklich besiegt sein sollte. Noch unangenehmer jedoch war die Vorstellung, daß das Teufel chen an der Spitze der Skelettarmee in den Altarraum zurückkehren würde, um den Priester zu stürzen. Teufelchen waren noch nie für ihre Treue bekannt gewesen. In jedem Fall mußte Barjin sich verteidigen können. Zuerst ging er zu Mullivy, bei dem er lange stehenblieb und überlegte, wie er den Zombie noch weiter stärken konnte. Er hatte Mullivy bereits eine Rüstung verpaßt und seine Kraft durch Magie gesteigert, aber jetzt hatte er etwas Teuflischeres vor. Er zog ein Fläschchen heraus und goß einen Tropfen Quecksilber über den Zombie, wobei er eine Beschwörung anstimmte. Als der Zauber vollendet war, tränkte Barjin Mullivys Kleider mit Öl. Dann wandte er sich seinem mächtigsten Verbündeten zu, der Mumie Khalif. Der Priester konnte wenig tun, um die Kreatur noch weiter zu stärken, darum gab er ihr eine neue Reihe unmißverständlicher Befehle und stellte sie an einer strategisch günstigeren Stelle außerhalb des Altarraums auf. Jetzt blieb Barjin nur noch, sich selbst vorzubereiten. Er legte seine Klerikergewänder an, gab dem Tuch die Stärke einer Ritterrüstung und murmelte noch ein Gebet, um den Schutz weiter zu verstärken. Er nahm die Kreischende Maid, den teuflischen Streitkolben mit dem Frauenkopf, und überprüfte die Runen an der einzigen Tür zum Altarraum. Sollten die Feinde doch kommen - ob ein verräterisches Teufelchen oder eine Schar Priester von oben. Barjin war zuversichtlich, daß die Angreifer bald wünschen würden, sie wären in den Außengängen geblieben. ¤¤¤ Newander wollte Danica trösten, aber Percival kam ihm zuvor. Von einem Querbalken ließ er sich auf die Schulter der Frau fallen. Danicas Lächeln kehrte wieder, als sie das weiße Eichhörnchen sah, das sie an bessere Zeiten erinnerte. »Sie spüren, daß die Toten sich erheben«, erklärte Newander, der auf die Ghule zeigte. »Sie ernähren sich vom Fleisch der Leichen.« Danica warf ihm einen ungläubigen Blick zu. »Selbst wenn sie sie dazu selbst töten müssen«, fuhr Newander fort. »Ghule werden immer von Un toten angezogen, auch wenn ich keine Ahnung habe, wo die da herkommen.« Danica kam unbeholfen auf die Beine. »Was spielt es für eine Rolle, wo sie herkommen?« sagte sie. »Nur daß sie tot sind - und es diesmal bleiben werden. Laßt uns weitergehen. Cadderly und die Zwerge haben weiter hinten vielleicht Probleme.« Newander hielt sie am Arm zurück. »Ihr könnt nicht gehen«, beschwor er sie. Danica funkelte ihn an. »Meine Sprüche sind fast verbraucht«, erklärte der Druide, »aber ich habe ein paar Salben, die Euren Wunden helfen können und einen Spruch, der jedes Gift bekämpfen kann, das Ihr vielleicht in Euch habt.« »Wir haben keine Zeit«, widersprach Danica und riß sich los. »Spart Euch den Giftspruch auf. Meine Wunden sind nicht so schlimm, aber vielleicht b rauchen wir ihn noch, ehe alles vorbei ist.« »Dann gebt mir wenigstens eine Minute, um Eure Wunden zu behandeln«, gab Newander zurück. Er bestand darauf, daß Danicas Kratzer zumindest gesäubert werden mußten. Er holte einen kleinen Beutel hervor. »Vielleicht braucht Ihr mich noch, Lady Danica, aber ich gehe nicht weiter, wenn Ihr mich nicht nach Euren Wunden sehen laßt.« Danica wollte keine Verzögerung, aber sie zweifelte nicht an der Entschlossenheit des Druiden. Also kniete sie sich vor ihn und hielt ihm ihre Unterarme hin. Und selbst sie mußte zugeben, daß die Kratzer sich sofort viel besser anfühlten, nachdem der Druide seine Salben aufgetragen hatte. Wieder brachen sie auf, Newander mit der Fackel und seinem Stab in der Hand, Danica mit ihren Dolchen, die jetzt vom Ghulschleim dunkel waren, und mit dem neusten Gruppenmitglied, Percival, der nervös auf Danicas Schulter kauerte.
Mein Brüderchen Brüderchen!« schluchzte Ivan, über den hingestreckten Pikel gebeugt. »Ach, mein Brüderchen!« Laut weinend wiegte der Zwerg Pikels Kopf in seinen Händen. Cadderly fehlten die Worte, um Ivan zu trösten. Schließlich war der junge Gelehrte fast so überwältigt wie der Zwerg. Pikel war ein guter Freund gewesen, der immer bereitwillig Cadderlys neuestem Einfall gelauscht und immer ein begeistertes »Ei, ei!« übrig gehabt hatte. Cadderly hatte noch nie erlebt, wie weh der Tod eines Freundes tun konnte. Seine Mutter war gestorben, als er noch sehr klein gewesen war, aber daran erinnerte er sich nicht mehr. Er hatte die Priester des Ilmater und die vollgefressenen Toten in der Küche gesehen, aber die waren für ihn nur vage bekannte Gesichter. Jetzt, wenn er den guten Pikel ansah, wußte er nicht, wie er empfinden, was er tun sollte. Es kam ihm vor wie ein makabres Spiel, und zum al lerersten Mal im Leben begriff Cadderly, daß er manche Dinge nicht beeinflussen konnte, daß all seine Vernunft und Intelligenz letzten Endes wenig zählten. »Du hättest ein Druide sein sollen«, sagte Ivan still. »Unter freiem Himmel ging es dir immer besser als unter der Erde.« Er stieß einen lauten Schrei aus und vergrub seinen Kopf an Pikels Brust. Seine Schultern bebten unkontrolliert. Cadderly konnte den Schmerz des Zwergs nachvollziehen, aber dennoch schockierte es ihn, daß Ivan seinen Gefühlen so freien Lauf ließ. Er fragte sich, ob etwas mit ihm nicht stimmte, weil er sich nicht wie Ivan über Pikel warf, oder ob Ivans Liebe zu seinem Bruder Cadderlys Gefühle für den Zwerg so weit überstieg. Cadderly konnte immer noch klar denken; ganz gleich, wie entsetzlich Pikels Tod war - wenn sie nicht weitergingen und die Flasche schlossen, würde vielen anderen ein ähnliches Schicksal bevorstehen. »Wir müssen gehen«, sagte Cadderly leise zu Ivan. »Sei still!« brüllte der Zwerg, immer noch vollkommen außer sich. Er nahm keinen Moment den Blick von seinem Bruder. Diese Reaktion überraschte Cadderly, aber schließlich wußte er nichts von Trauer, wußte nicht, ob es Ivan war, der sich unnatürlich verhielt, oder er selbst. Als der Zwerg ihn schließlich wieder ansah, war sein verzerrtes Gesicht tränennaß. Cadderly glaubte zu wissen, was vor sich ging. »Der Fluch«, murmelte er. Offenbar hatte dieser rote Nebel auch in Ivans echter Trauer Fuß fassen können, einer Schwäche in der ansonsten widerstandsfähigen Konstitution des zähen Zwergs. Cadderly fürchtete, der Fluch werde völlig von Ivan Besitz ergreifen. Das Geheul des Zwergs wurde von Sekunde zu Sekunde lauter; Ivan konnte kaum Luft holen, so sehr weinte er. »Ivan«, sagte Cadderly ruhig, ging hin und legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter. »Wir können nichts mehr für Pikel tun. Komm jetzt. Wir müssen uns um andere Dinge kümmern.« Ivan warf einen wütenden Blick auf Cadderly und schlug dessen Hand beiseite. »Du willst, daß ich ihn zurücklasse?« weinte er. »Mein Brüderchen! Meinen toten Bruder! Nein, ich gehe nicht, ich gehe nie mehr weg. Ich bleibe bei meinem Brüderchen. Ich bleibe hier und wärme mein Pikeldruidchen! « »Er ist tot, Ivan«, sagte Cadderly, der selbst zu schluchzen begann. »Weg. Du kannst seinen Körper nicht warmhalten. Du kannst nichts mehr für ihn tun.« »Halt die Klappe!« brüllte Ivan und griff nach seiner Axt. Cadderly dachte, der Zwerg wollte ihn niederschlagen, weil er ihm für Pikels Tod die Schuld gab, aber Ivan fand nicht einmal die Kraft, die schwere Waffe hochzuheben, sondern taumelte statt dessen wieder zu Pikel zurück. Cadderly erkannte, daß jegliches Verhandeln zwecklos war, aber Ivans Ausbruch brachte ihn auf eine neue Idee. Es gab nur ein Gefühl, das selbst Trauer überstei gen konnte, und Ivan schien nur allzu bereit zu sein, sich davon überwältigen zu lassen. »Du kannst nichts tun«, sagte Cadderly wieder, »außer, es dem heimzuzahlen, der Pikel das angetan hat.« Plötzlich hatte Cadderly Ivans volle Aufmerksamkeit. »Er ist hier unten, Ivan«, drängte Cadderly, obwohl er den Zwerg ungern auf diese Weise lenkte. »Pikels Mörder ist hier unten.« »Das Teufelchen!« brüllte Ivan, der sich wild nach Druzil umschaute. »Nein«, erwiderte Cadderly, »nicht das Teufelchen, sondern sein Meister.« »Das Teufelchen hat meinen Bruder vergiftet!« protestierte Ivan. »Ja, aber sein Meister hat es hergeführt, und den Fluch und all das Böse, das zu Pikels Tod geführt hat«, erklärte Cadderly. Er wußte, daß es gewagt war, solche Schlußfolgerungen zu ziehen, aber wenn es Ivan in Bewegung setzte, war das die Täuschung wert. »Wenn wir den Meister besiegen, werden der Teufel und alles Böse folgen. Den Meister«, sagte Cadderly wieder, »den, der den Fluch gebracht hat.« »Du hast den Fluch gebracht«, fauchte Ivan, der wieder an seiner Zweihänderaxt herumhantierte und Cadderly mißtrauisch ansah. »Nein«, berichtigte Cadderly schnell, als er sah, daß seine geschickte Taktik eine völlig andere Richtung nahm. »Ich habe nur eine unglückselige Rolle bei seinem Ausbruch gespielt, aber ich habe ihn nicht über uns gebracht. Es ist jemand hier unten - es muß jemand dasein -, der den Fluch gebracht und all die Skelette und den Teufel hier unten auf uns gehetzt hat, um deinen Bruder zu töten!«
»Wo ist er?« schrie Ivan, sprang auf und umklammerte die schwere Axt mit beiden Händen. »Wo ist der Mörder meines Brüderchens?« Hektisch sah er sich um, als rechnete er jeden Moment damit, daß neue Feinde auftauchten. »Wir müssen ihn finden«, drängte Cadderly. »Wir können den Weg zurückgehen, den wir gekommen sind, zurück in die Tunnel, die ich kenne.« »Zurück?« Dieser Gedanke schien Ivan nicht zu gefallen. »Nur, bis ich den Weg wiedererkenne, Ivan«, erklärte Cadderly, »dann gehen wir weiter in den Raum mit der verfluchten Flasche, wo wir den Mörder deines Bruders finden werden.« Er konnte nur hoffen, daß seine Worte der Wahrheit entsprachen und daß Ivan sich beruhigen würde, bis sie den Raum gefunden hatten. »Vorwärts!« gellte der Zwerg, riß eine der kaum noch glimmenden Fackeln hoch, schwenkte sie wild umher, um die Flamme wieder anzufachen und stürmte den Weg zurück, den sie gekommen waren. Cadderly überzeugte sich, ob er all seine Sachen hatte, nahm Abschied von Pikel und rannte Ivan nach. Sie waren noch nicht weit gekommen, als sie auf die erste Gruppe Skelette stießen, fünf Gerippe in einem Seitengang. Die desorientierten Skelette, Flüchtlinge aus Druzils Armee, setzten nicht zum Angriff an, aber Ivan wollte sich blind vor Wut auf sie stürzen. »Ivan, nicht«, bettelte Cadderly, als er die Absicht des Zwergs erkannte. »Laß sie in Ruhe. Wir haben wichtigere ...« Ivan hörte ihn nicht mehr. Er stieß ein Brüllen aus und stürmte fauchend auf die Skelette zu. Die vordersten beiden wollten sich dem Angreifer stellen, aber Ivan überrannte sie einfach. Mit einem mächtigen Seitenhieb seiner Axt spaltete er das Gerippe in der Mitte, nutzte dann den Restschwung seiner Waffe und riß sie so heftig von hinten . über den Kopf auf das zweite Skelett, daß dieses zerschmettert wurde. Ivan ließ die Waffe los, die wieder in Knochen feststeckte, und erwischte das dritte Skelett mit dem Hirschgeweih an seinem Helm, hob es vom Boden, schüttelte es kräftig durch und rammte es dann gegen die Wand. Der Angriff schadete dem Skelett, ließ aber auch Ivans H elm verrutschen. Die Klauenfinger des vierten Gerippes entdeckten die Blöße des Zwergs und gruben sich in seinen Nacken. Cadderly kam seinem Freund zu Hilfe und hatte schon seinen Wanderstab gezückt, um auf Ivans neuesten Gegner einzuschlagen. Noch ehe er an Ort und Stelle war, nahm Ivan die Sache jedoch selbst in die Hand. Er griff herum und erwischte das Skelett an seinem knochigen Handgelenk, zog und fuhr herum. Cadderly warf sich zu Boden, sonst hätten ihn die fliegenden Beine und Füße des Skeletts wohl aufgeschlitzt. Ivan wirbelte schneller weiter, holte noch mehr Schwung, rückte dann einen Schritt näher an die Wand und überließ den Ziegeln den Rest. Das Skelett krachte gegen die Mauer und brach entzwei. Ivan hatte nur noch einen einzelnen Knochen in der Hand. In diesem Moment griff das letzte Skelett an, und Ivan, dem ein wenig schwindelig war, bekam eine Klauenhand ins Gesicht. Wieder wollte Cadderly seinem Freund beistehen, aber ein anderes Skelett war wieder aufgestanden und kam näher. Ivans Helm war noch in seine Rippen verstrickt. Ivan rammte seinem Angreifer den Unterarm in die Rippen. Dann trat er es mit stämmigen Beinen zur Wand zurück. Als es wieder vordrängen wollte, blieb Ivan nicht stehen. Er spannte jeden einzelnen Muskel an, schnellte vor und setzte die einzige Waffe ein, die ihm geblieben war: seine Stirn. Er traf das Skelett ins Gesicht, und der Schädel des Wesens zerbrach zwischen der unnachgiebigen Felswand und dem ebenso harten Kopf des Zwergs. Knochensplitter spritzten zur Seite, wurden fast zu Staub zermahlen, und Ivan zog den übel zugerichteten Kopf zurück. Cadderly schlug mit dem Wanderstab auf das verbliebene Monster ein und ließ ihm hin und wieder seine Spindelscheiben ins Gesicht schnellen. Das störrische Wesen kam wieder auf ihn zu, schlug mit knochigen Fingern zu und drängte Cadderly zurück, bis dieser die kalte Wand hinter sich spürte. Eine Knochenhand krallte sich fest in Cadderlys Schulter, die andere schlug nach seinem Gesicht. Er hielt abwehrend die eigene Hand hoch, fand sich jedoch hilflos festgenagelt, weil die Knochenfinger sich tiefer in sein Fleisch gruben. Verzweifelt versuchte er, den Arm des Skeletts unter seinen zu klemmen, ihn zu verdrehen und so den Griff des Gerip pes zu brechen, aber diese Technik war dazu gedacht, Mus keln und Sehnen zu verdrehen und einem Angreifer so viel Schmerz zuzufügen, daß er kampfunfähig wurde. Skelette hatten weder Muskeln noch Sehnen und empfanden keinen Schmerz.
Cadderly legte seine freie Hand auf das Gesicht des Skeletts und versuchte, es wegzudrücken - wofür er mit einem gemeinen Biß ins Handgelenk belohnt wurde. Dann verschwand der Kopf des Gerippes, flog einfach davon. Cadderly verstand erst, als Ivans zweiter Axthieb, ein senkrechter Schlag, das Skelett in zwei Teile zerlegte. Der junge Mann lehnte an der Wand und umklammerte sein blutiges Handgelenk. Aber dann vergaß er seinen eigenen Schmerz, weil seine Wunden im Vergleich mit lvans lächerlich waren. Schädelsplitter waren in die Stirn des Zwergs eingedrungen. Blut strömte ihm übers Gesicht, am Hals herunter und aus zahlreichen Schnitten an seinen knorrigen Händen. Noch entsetzlicher war jedoch, daß die abgebrochene Rippe eines Skeletts dem Zwerg seitlich aus dem Bauch ragte. Cadderly konnte nicht wissen, wie tief der Knochen eingedrungen war, aber die Wunde sah schrecklich aus, und er war höchst erstaunt, daß sein Freund noch stand. Cadderly wollte Ivan stützen, aber der Zwerg stieß ihn grob zurück. »Keine Zeit zum Knuddeln«, knurrte er. »Wo ist der, der mein Brüderchen getötet hat?« »Du brauchst Hilfe«, antwortete Cadderly, den der Zustand seines Freundes erschütterte. »Deine Wunden ...« »Vergiß es«, gab Ivan zurück. »Bring mich zu dem, der mein Brüderchen getötet hat.« »Aber Ivan«, protestierte Cadderly weiter. Er zeigte auf die Rippe des Skeletts. Ivans Augen wurden tatsächlich größer, als er die grausame Wunde bemerkte, aber er zuckte die Schultern, griff nach dem Knochen und zog ihn heraus. Dann warf er ihn weg, als wären ihm die Blutflecken daran nicht einmal auf-
gefallen. Ähnlich ungerührt reagierte er, als er versuchte, seinen Helm wieder aufzusetzen und dabei feststellte, daß die Knochensplitter an seiner Stirn im Weg waren. Er zog die Splitter heraus und rückte den Helm grunzend zurecht. Cadderly konnte nur vermuten, daß der Fluchnebel die Wut seines Freundes so gesteigert hatte, daß Ivan sich den Schmerz einfach nicht mehr eingestand. Er wußte, daß Zwerge ein zähes Völkchen waren, aber das hier war unglaublich. »Du hast gesagt, du bringst mich zu ihm!« brüllte Ivan, und seine Worte klangen für Cadderly wie eine Drohung. »Du hast gesagt, du findest den Weg!« Als eine Art Zugeständnis griff Ivan hoch, riß Cadderlys Mantel herunter und verband damit rasch seine Wunde. Der junge Gelehrte wußte, daß er für alle, Ivan eingeschlossen, nichts Besseres tun konnte, als so schnell wie möglich die rauchende Flasche zu finden und zu schließen. Erst dann würde der aufgebrachte Zwerg erlauben, daß sich jemand um seine Verletzungen kümmerte. Cadderly war sich allerdings nicht so sicher, ob Ivan es bis dahin schaffen würde. Bald kamen sie dorthin zurück, wo sie auf die ersten Untoten gestoßen waren. Jetzt war alles still, totenstill, was Cadderly Gelegenheit gab, Schritt für Schritt seinen früheren Weg nachzuvollziehen. Er glaubte voranzukommen, führte Ivan mehrere Gänge entlang, bis er weit hinten, ganz am Ende seines schmalen Lichtstrahls, eine Bewegung wahrnahm. Auch Ivan hatte sie bemerkt und rannte sofort los, denn seine Trauer um den toten Bruder verwandelte sich wieder in unbezähmbare Kampflust. Cadderly versuchte vergeblich, mit dem Zwerg Schritt zu halten. Er bettelte Ivan an, diesen Feind ziehen zu lassen. Diesmal war es ein einzelnes Skelett, das zunächst ziellos herumwanderte, dann aber genau auf den anstürmenden Zwerg zukam. Jetzt mußte Cadderly eine sehr wichtige Entscheidung treffen. Er hielt den Lichtstrahl in der einen Hand und die geladene Armbrust in der anderen und zielte mit beiden zwischen dem Geweih auf dem Zwergenhelm hindurch auf das Skelettgesicht dahinter. Cadderly hatte diese nach altem Vorbild gefertigte Armbrust nie als Waffe benutzen wollen, am allerwenigsten mit explosiven Pfeilen. Sie war dazu gedacht, verschlossene Türen zu öffnen oder lästige Zweige wegzupusten, die an seinem Fenster kratzten, für unzählige eher friedliche Zwecke. Außerdem mußte er zugeben, daß er die Waffe zum Teil einfach nur aus Spaß am Erfinden entwickelt hatte. Aber vor allem hatte er sich gelobt, weder Pfeile noch Armbrust je zum Angriff zu benutzen und niemals die geballte Gewalt der explosiven Pfeile gegen ein lebendes Ziel einzusetzen. Nun sah es allerdings nicht so aus, als könnte Ivan noch einen weiteren Kampf durchstehen, nicht einmal gegen ein einziges Skelett, und das Gerippe lebte schließlich nicht wirklich. Dennoch verspürte Cadderly heftige Schuldgefühle, als er zielte. Er wußte, daß er gegen den Geist seines Gelübdes verstieß. Er feuerte. Der Bolzen beschrieb einen Bogen über Ivans Kopf und sauste dem angreifenden Skelett ins Gesicht. Der eigentliche Aufschlag war gar nicht so schlimm, aber dann brach der Pfeil auseinander und setzte das Wuchtöl frei. Als sich kurz darauf der Staub verzog, waren Kopf und Hals des Skeletts verschwunden. Die kopflosen Knochen blieben noch einen Augenblick stehen, dann fielen sie klappernd in sich zusammen. Ivan, der nur wenige Schritte entfernt stand, blieb abrupt stehen und starrte erstaunt nach vorn. Sein Mund stand offen, die dunklen Augen hatte er weit aufgerissen. Langsam drehte er sich zu Cadderly um, der nur entschuldigend die Achseln zuckte und dem Blick des Zwergs auswich. »Es mußte sein«, bemerkte Cadderly mehr zu sich selbst als zu Ivan. »Ja, gut gemacht!« lobte Ivan. Er klopfte Cadderly auf den Rücken, obwohl dieser sich nicht gerade wie ein Held vor kam. »Laß uns gehen«, sagte Cadderly leise, während er die Armbrust in ihre breite, flache Scheide zurücksteckte. Dieser Gang führte nur eine kurze Strecke geradeaus und bog dann weiter nach links ab, wo er in einen breiteren Tunnel mündete. Hier füllten stehende Sarkophage die Nischen, was Cadderly bestätigte, daß er den richtigen Weg gewählt hatte. Wenige Schritte weiter, hinter einer leichten Kurve, wußte er es ohne Zweifel. Am Ende des Gangs wartete eine Tür, durch deren Risse Licht fiel. »Da hinten?« wollte Ivan wissen, obwohl er die Antwort schon erraten hatte. Er lief los, bevor Cadderly nicken konnte. Wieder versuchte Cadderly vergeblich, seinen Freund aufzuhalten. Er war nur wenige Schritte hinter Ivan, als der letzte Sarkophag sich öffnete und eine Mumie ihn en den Weg versperrte. Ivan war viel zu wütend, um sich einschüchtern zu lassen, aber Cadderly folgte ihm nicht weiter. Der junge Gelehrte war vor Schreck wie erstarrt, denn schon die Ausstrahlung des mächtigen Untoten war so böse, daß es ihn fast erschlug. Die Skelette waren entsetzlich gewesen, aber neben diesem Monster erschienen sie ihm nur wie leichte Unannehmlichkeiten. »Irrational«, versuchte Cadderly sich zu beschwichtigen. Angst war durchaus angemessen, aber es war lächerlich, sich in einer so wichtigen Situation davon lähmen zu lassen. »Aus dem Weg!« brüllte Ivan, der weiterrannte. Mit seiner Axt schlug er wild drauflos, landete einen Treffer, aber anders als im Kampf gegen die Skelette traf die Waffe diesmal auf festen Widerstand. Die dicken Binden der Mumie fingen viel von der Wucht des Schlags ab, und einige Leinenstücke lösten sich und legten sich um den Axtkopf. Der Mumie machte der Treffer wenig aus. Sie schlug mit dem Arm zu und erwischte Ivan an der Schulter, so daß der Zwerg in den nächsten Alkoven geschleudert wurde. Dort landete er unsanft und wäre fast ohnmächtig geworden, aber er kämpfte sich mühsam wieder auf die Beine. Die Mumie erwartete ihn schon. Ein zweiter Schlag warf den Zwerg auf den Rücken.
Das wäre das Ende von Ivan Felsenschulter gewesen, wenn Cadderly nicht eingegriffen hätte. Sein erster Schlag war beinahe zufällig erfolgt, denn als die Mumie sich auf Ivan stürzen wollte, mußte sie den schmalen Lichtstrahl von Cadderlys Lichtrohr durchqueren. Als Kreatur einer dunklen, lichtlosen Welt war Khalif Helligkeit weder gewöhnt, noch vertrug er sie. Als die Mumie zusammenzuckte und den Arm hob, um den Strahl abzuwehren, gelang es Cadderly, sich ein wenig zusammenzureißen. Er zielte mit dem Lichtstrahl auf das Monster, zwang es von Ivan zurück, während er mit der freien Hand geschickt einen weiteren Pfeil einlegte. Cadderly hatte keine Hemmungen, dieses Monster mit seiner Armbrust zu bekämpfen; die Mumie war einfach zu scheußlich, als daß sich sein Gewissen hätte melden können. Immer noch mit abgeschirmten Augen kam die Mumie auf Cadderly zu. Bei jedem schlurfenden Schritt schlug sie nach dem Lichtstrahl. Der erste Pfeil grub sich tief in die Brust des Ungeheuers, ehe er explodierte, und die Explosion warf es einige Schritte zurück. Vorn und hinten an den Leinenbinden waren Brandspuren, doch falls die Mumie ernsthaften Schaden erlitten hatte, zeigte sie es nicht, denn sie griff wieder an. Hektisch lud Cadderly die Armbrust noch einmal. Zum Glück war seine Erfindung durchdacht und der Hahn leicht zu lösen. Ein zweiter Pfeil gesellte sich zu dem ersten, und wieder wurde die Mumie zurückgeschleudert. Abermals griff sie an, und auch nach Cadderlys drittem Schuß wieder, und jedesmal brachten ihre sturen Schritte sie einen oder zwei Schritte näher an den verzweifelten jungen Mann heran. Der vierte Schuß ging praktisch fehl, denn seine Wucht trieb ihn mitten durch die Mumie, ohne daß das Öl sich entzündete. Cadderlys Gegner wurde kaum langsamer, und der junge Mann drückte die Armbrus t fast direkt gegen die schmutzigen Binden der Mumie, als er zum fünften Mal feuerte. Diesmal war der Pfeil wirkungsvoller, aber wieder verlangsamte er das Monster nur, hielt es aber nicht auf. Cadderly blieb keine Zeit, erneut zu laden. »Komme!« keuchte Ivan, der aus dem Alkoven krabbelte. Cadderly bezweifelte, daß der Zwerg ihm helfen konnte, selbst wenn Ivan das Monster rechtzeitig erreicht hätte. Der junge Gelehrte wußte auch, daß keine seiner normalen Waffen - Spindelscheiben oder Wanderstab - diesem Ungeheuer schaden konnten. Ihm blieb nur noch eine Waffe übrig. Er streckte das Lichtrohr vor sich aus, um die Mumie weiter zu verlangsamen, denn sie mußte wieder ihre Augen abschirmen und sich halb von ihm abwenden. Dann ließ er die Armbrust fallen und griff mit der freien Hand nach dem Wasserschlauch an seiner Seite. Er erwischte das Ende, klemmte sich den Schlauch fest unter den Arm und ließ mit dem Daumen den Verschluß herausschnellen. Mit dem Arm drückte Cadderly einen langsamen, stetigen Strom geweihtes Wasser in das Gesicht seines Angreifers. Das Weihwasser zischte, als es das verzauberte Ungeheuer traf, und zum ersten Mal in diesem Kampf zeigte die Mumie ihre Qual. Sie stieß einen unirdischen, markerschütternden Schrei aus, der Cadderly entsetzte und selbst Ivan aufhielt - zeitweise. Nun rückte die Mumie zwar weiter vor, wich aber dem Mann mit dem Lichtstrahl und dem beißenden Wasser gezielt aus. Bald war sie ganz an Cadderly vorbei und lief weiter den Gang entlang, brüllend vor Schmerz und Enttäuschung und auf alles - Wände, Sarkophage - einschlagend, was ihr im Weg war. Ivan kam an Cadderly vorbeigerannt, denn er brannte darauf, den Kampf wieder aufzunehmen. »Der Mann, der deinen Bruder getötet hat, ist hinter der Tür!« schrie Cadderly, denn diesmal mußte er den Zwerg unbedingt aufhalten. Natürlich konnte er nicht wissen, ob seine Behauptung der Wahrheit entsprach, aber in diesem Augenblick hätte er alles getan, um Ivan zu bremsen. Wie vorherzusehen, drehte Ivan sich um. Er stieß ein Knurren aus und stürmte wieder an Cadderly vorbei, ohne noch einen Gedanken an die fliehende Mumie zu verschwenden. Statt dessen heftete er seinen starren Blick auf die Tür am Ende des Gangs. Cadderly sah die Katastrophe kommen. Er erinnerte sich an die frische Mauer im Weinkeller und die Explosionen, die Pikels Rammversuch gefolgt waren. Er mußte davon ausgehen, daß auch diese Tür durch Magie geschützt war, und er sah, daß sie schwere Eisenbeschläge hatte. Wenn Ivan nicht auf Anhieb durchbrach, sondern im Berei ch der explodierenden Runen steckenblieb ... Cadderly warf sich zu Boden, zog einen Pfeil und langte nach seiner Armbrust. Geschmeidig setzte er sie an, legte den Pfeil ein und fuhr herum. Sein Lichtstrahl zeigte ihm das Ziel. Der Pfeil erreichte die Tür direkt vor Ivan. Er traf das Schloß nicht direkt, explodierte aber so heftig, daß der Riegel gelockert war. Überrascht, aber ohne anhalten zu können, selbst wenn er gewollt hätte, rammte Ivan die Tür.
Ein wohlgezielter Schlag Nein!« hörte sie den Drui den hinter ihrem Rücken sagen, aber das war ein ferner Ruf, als wäre Newanders Stimme nichts weiter als eine Erinnerung aus einer anderen Zeit, von einem anderen Ort. Alles, was für Danica zählte, war die Wand, die jetzt aus Steinen bestand und nicht mehr dem Erdtunnel glich, der sie hierher geführt hatte. Die Wand, die sie schmeichelnd einlud, es ihrem vor Jahrhunderten verstorbenen Idol gleichzutun. Die ferne Stimme meldete sich wieder, aber mit einem Schnalzen und Zetern, das Danica nicht verstehen konnte.
Ein wuscheliger Schwanz fiel über Danicas Augen, um ihreKonzentration auf die Steine zu unterbrechen. Reflexhaft bewegte sie eine Hand, um die Ablenkung wegzuwischen. Percival befolgte die Anweisung des Druiden und biß sie in den Finger. Danica senkte die Schulter und holte zu einem Schlag aus, der das Eichhörnchen umgebracht hätte. Aber dann erkannte sie Percival, und das führte sie aus dem roten Nebel in die Wirklichkeit zurück. »Die Wand«, stammelte sie, »ich wollte ...« »Ist nicht Eure Schuld«, tröstete sie Newander. »Der Fluch hat Euch wieder erwischt. Das scheint ein endloser Kampf zu sein.« Müde und beschämt lehnte sich Danica gegen die Wand. Sie hatte sich so bemüht, dem heimtückischen Nebel zu widerstehen, hatte ihn als das erkannt, was er war, und tief in sich die logische Schlußfolgerung verankert, daß solche selbstzerstörerischen Handlungen unterbleiben mußten. Und dennoch stand sie hier, nahe am Zentrum der Gefahr, und verriet all ihre Hoffnungen nur wegen dieser vom Fluch verstärkten Wünsche. »Gebt nicht Euch die Schuld«, sagte Newander zu ihr. »Ihr kämpft besser gegen den Fluch als jeder der Priester da oben. Ihr seid schon so weit gekommen, allein das ist mehr, als die meisten anderen von sich behaupten können.« »Die Zwerge sind bei Cadderly«, erinnerte ihn Danica. »Danach dürft Ihr Euch nicht beurteilen«, warnte Newander. »Ihr seid keine Zwergenfrau. Das bärtige Volk ist von Natur aus so widerstandsfähig gegen Magie, wie es kein Mensch jemals sein könnte. Bei ihnen ist das keine Frage der Selbstdisziplin, Lady Danica, sondern ihre Körper sind anders als unsere.« Danica erkannte, daß der Druide die Wahrheit sagte, aber das konnte ihre Schuldgefühle kaum mildern. Trotz aller Worte des Druiden empfand Danica den tückischen Nebel als mentale Herausforderung, als Prüfung ihrer Disziplin. »Was ist mit Newander?« fragte sie plötzlich sarkastischer, als sie beabsichtigt hatte. »Fließt auch in Euren Adern Zwergenblut? Ihr seid kein Zwerg. Warum seid Ihr dann nicht betroffen?« Der Druide wich ihrem Blick aus. Jetzt war es an ihm, das Gewicht seiner Schuld zu fühlen. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Aber Ihr müßt mir glauben, daß ich den Fluch bei jedem Schritt deutlich spüre. Cadderly hat gemeint, daß der Nebel eine Person darauf stößt, was in ihrem Herzen ist. Die Gefräßigen fressen sich zu Tode. Die Priester des Leidens schneiden sich aus religiösem Wahn in Stücke. Meine eigenen Druidenbrüder verwandeln sich in Tiere und verlieren in diesem neuen Seinszustand ihr Selbst. Warum ist dann Newander kein Tier?« Danica begriff, daß diese letzte Frage für ihren Gefährten eine Quelle echter Bedrängnis war. Sie hatten schon zuvor darüber gesprochen, aber da hatte Newander wenig über sich selbst gesagt, sondern nur erklärt, warum Cadderly dem Fluch entronnen war. »Ich denke, daß der Fluch in meinem Herzen keinen Angriffspunkt gefunden hat, weil mir meine eigenen Wünsche fremd sind«, fuhr der Druide fort. »Habe ich meine Berufung falsch verstanden? Habe ich versagt?« Tränen rollten Newander über das Gesicht, und er schien am Rand eines Nervenzusammenbruchs zu stehen - für Danica ein deutli ches Zeichen, daß er tatsächlich von dem roten Nebel betroffen war. »Habe ich keine Berufung?« heulte der Druide. Er kauerte sich auf den Boden, vergrub den Kopf in den Händen, und seine Schultern bebten vor Schluchzen. »Ihr irrt Euch«, sagte Danica so nachdrücklich, daß Newander ihr zuhören mußte. »Wenn Ihr versagt hättet, wenn Ihr nicht berufen wärt, warum funktionieren dann Eure Sprüche, das Geschenk Eures Gottes Silvanus? Ihr habt doch den Efeu durch mein Fenster gerufen und das Moos gegen die Ghule geweckt.« Newander riß sich zusammen, denn Danicas Worte fesselten ihn. Er fand die Kraft aufzustehen, und diesmal wandte er sich nicht ab. »Vielleicht ist es die Wahrheit in Eurem Herzen, die Euch hilft, dem Fluch zu trotzen«, überlegte Danica. »Wann habt Ihr seine Wirkung zum ersten Mal gespürt?« Newander erinnerte sich an den Zeitpunkt, als er in die Bibliothek zurückgekehrt war, wo er Arcite und Cleo bereits verwandelt vorgefunden hatte. »Ich habe es schon kurz nach meiner Rückkehr gespürt«, erklärte er. »Ich war draußen in den Bergen gewesen, wo ich einen Adlerhorst beschützt habe.« Newander erinnerte sich deutlich an dieses Erlebnis, an seine eigene Einsicht, was die Su-Monster betraf. »Schon beim Betreten der Bibliothek wußte ich, daß etwas nicht stimmte. Dann ging ich zu meinen Druidenbrüdern, aber, siehe da, sie waren bereits ganz in ihrer Tiergestalt aufgegangen, und ich konnte sie nicht mehr erreichen.« »Da habt Ihr Eure Antwort«, sagte Danica nach kurzem Nachdenken. »Ihr seid ein Hüter der natürlichen Ordnung, und dieser Fluch ist eindeutig eine Perversion dieser Ordnung. Ihr habt gesagt, Ihr könntet die Gegenwart der Untoten fühlen, also vermute ich, daß Ihr ebenso die Gegenwart des Fluchs gespürt habt.« Wie hatte er gewußt, daß die Ghule kamen? Newander wunderte sich. Es gab Sprüche, um solche Untoten zu entdecken, aber er hatte keinen angewandt und dennoch gewußt, daß sie da waren, ebenso wie er gewußt hatte, daß die Su-Monster böse Kreaturen und nicht einfach Raubtiere waren. Die Bedeutung dieser Einsicht überwältigte den Druiden beinahe. »Ihr haltet mich für besser, als ich es verdiene«, sagte er trübsinnig. »Ihr seid ein Hüter der natürlichen Ordnung«, sagte Danica wieder. »Ich glaube nicht, daß Ihr allein diesem Fluch widerstehen konntet, aber Ihr wart nicht allein, seid nicht allein. Ihr habt Eurem Glauben vertraut, und es ist diese klare Überzeugung, die Euch die Kraft zum Widerstand gegeben hat. Arcite und Cleo wurden nicht gewarnt. Der Fluch kam über sie, ehe sie wußten, daß etwas nicht stimmte, aber ihre Niederlage hat Euch gewarnt, und dadurch konntet Ihr Eurer Berufung treu bleiben.« Newander schüttelte den Kopf. Er war nicht überzeugt, konnte kaum glauben, daß er so viel innere Stärke besaß. Gegen Danicas Logik gab es jedoch wenig einzuwenden, und der Druide würde nichts bezweifeln, was Silvanus, den Eichenvater, anging. Vor langer Zeit schon hatte er Silvanus sein Herz geschenkt, und bei ihm war sein Herz
geblieben, trotz aller Neugier, die Newander bezüglich des_ Fortschritts und der Zivilisation hegte. War es möglich, daß er ein so treuer Jünger des Eichenvaters war? War es möglich, daß das, was er als Versagen betrachtet hatte, in Wahrheit von Stärke zeugte? »Wir verlieren Zeit mit Fragen, die wir nicht beantworten können«, sagte er schließlich mit festerer Stimme. »Was auch der Grund ist, unser beider Weg ist frei. « Danica sah besorgt zu der Mauer zurück. »Zumindest vorläufig«, ergänzte sie. »Laßt uns aufbrechen, bevor meine Willenskraft nachläßt.« Danica hielt die Fackel weit vorgestreckt, um die zähen Spinnweben aus dem Weg zu brennen. Keiner der beiden hatte viel Erfahrung mit unterirdischen Gängen oder Katakomben, daher wanderten sie eher ziellos umher und wähl ten die Tunnel reichlich zufällig. Danica dachte immerhin daran, an den Ecken Markierungen einzukratzen, falls sie denselben Weg zurückgehen mußten, aber dennoch befürchtete sie, daß sie und der Druide sich in diesem Labyrinth verirren könnten. Sie fanden Zeichen, daß vor ihnen jemand hier gewesen war - zerrissene Spinnweben, die lose herumhingen, eine umgekippte Kiste in einer Ecke -, aber ob diese von Cadderly stammten, von Ungeheuern wie den Ghulen oder einfach von einem Tier, das sich hier in den Katakomben eingenistet hatte, war nicht zu erkennen. Ihre Fackel war schon heruntergebrannt, als sie einen langen Gang betraten. Mehrere Seitengänge führten von ihm ab, die meisten an der rechten Wand, und Danica und Newander stimmten überein, daß sie diesmal geradeaus und nicht weiter im Kreis laufen würden. An den ersten paar Abzweigungen gingen sie einfach vorbei. Danica leuchtete immer einige Schritt weit hinein, um sich einen raschen Überblick zu verschaffen, wollte aber im Haupttunnel bleiben, bis sie sein Ende erreicht hatten. Aber dann erreichten sie eine weitere Abzweigung, die sie nicht links liegenlassen konnten. Wieder trat Danica zu einer kurzen Überprüfung hinein. »Hier sind sie gewesen!« rief sie aus. Diese Erkenntnis zog sie tiefer in den Tunnel. Die Spuren dort bestätigten Danicas Verdacht. Hier hatte ein Kampf stattgefunden; Dutzende von Knochenhaufen waren über den Boden verstreut, und zahlreiche Schädel, die gewaltsam von ihren Skelettkörpern abgeschlagen worden waren, starrten sie aus blicklosen Augenhöhlen an. Zwei Reihen gestapelter Kisten bildeten weiter hinten eine Verteidigungsstellung. Danica kam zu der Überzeugung, daß sich Cadderly und die Zwerge hier verschanzt gehabt hatten. »Die Knochen bestätigen meine Wahrnehmung von Untoten«, sagte Newander finster, »aber wir können nicht sicher sein, daß es unsere Freunde waren, die sie hier bekämpft haben.« Die Bestätigung kam, noch während er sprach, als Danica ihre Fackel langsam schwenkte, um einen besseren Überblick über das Kampfgebiet zu bekommen. »Pikel!« rief die Frau und rannte zu dem gefallenen Zwerg. Pikel lag still, wie Ivan ihn verlassen hatte, die kräftigen Arme über der Brust gekreuzt, seine Baumstammkeule neben sich. Danica fiel auf die Knie, um den Zwerg zu untersuchen, zweifelte jedoch nicht daran, daß er tot war. Als sie seine Wunden ansah, schüttelte sie den Kopf, denn keine davon sah so ernst aus, daß sie jemanden von Pikels Zähigkeit hätte umbringen können. Newander verstand ihre Verwirrung. Er bückte sich ebenfalls und murmelte ein paar Worte, während er langsam mit der Hand über den Körper strich. »Es ist ein Gift in ihm«, verkündete der Druide grimmig. »Ein wirklich bösartiges Gebräu, das direkt zu seinem Herzen gewandert ist.« Danica nahm Pikels Kopf in beide Hände und hob langsam sein Gesicht an ihres. Er war ein guter Freund gewesen, vielleicht der liebenswerteste Zeitgenosse, den sie je gekannt hatte. Es sah so aus, als wäre er noch nicht lange tot. Seine Lippen waren schon blau, aber es gab noch keine Schwellung, und sein Körper war noch warm. Danica wandte sich an Newander. »Sagtet Ihr nicht, Ihr hättet einen Spruch gegen jedes Gift?« fragte sie. »Das habe ich auch«, antwortete Newander, der ihre Absicht verstand, »aber bei ihm hat das Gift bereits seine Arbeit getan. Mein Spruch kann den Tod des Zwergs nicht rückgängig machen.« »Sagt ihn«, verlangte Danica. Rasch griff sie Pikel mit einem Arm unter den Hals und kippte seinen Kopf nach hinten. »Aber er wird nicht -« »Sagt ihn, Newander!« fuhr Danica ihn an. Der Druide wich einen Schritt zurück, weil er fürchtete, der Nebel hätte wieder von seiner Begleiterin Besitz ergriffen. »Vertraut mir, ich bitte Euch«, fuhr Danica mit sanfterer Stimme fort, denn sie erkannte den Grund für die plötzliche Vorsicht des Druiden. Newander begriff nicht, was Danica im Sinn haben mochte, aber nach allem, was sie gemeinsam durchgestanden hatten, vertraute er ihr tatsächlich. Er nahm sich Zeit, holte dann ein Eichenblatt aus der Tasche und zerkrümelte es über dem Zwerg, während er das passende Lied anstimmte. Danica öffnete Pikels Mantel und schnallte den Brustpanzer seiner schweren Rüstung los. Sie schaute Newander an, um zu erfahren, ob sein Spruch beendet war. »Wenn noch Gift in ihm war, ist es jetzt neutralisiert«, versicherte ihr der Druide. Jetzt war Danica an der Reihe. Sie schloß die Augen und dachte an Großmeister Penpahg D'Ahns wertvollste Schrift, die Notizen über das Anhalten der Körperfunktionen. Penpahg D'Ahn hatte seine Atmung, selbst sein Herz, für Stunden anhalten können. Eines Tages wollte Danica das auch beherrschen. Sie war noch nicht bereit für eine so fortgeschrittene Übung, aber in Penpahg D'Ahns Schriften gab es Hinweise, besonders was das Ende jenes körperlichen Aussetzens betraf, die ihr jetzt vielleicht helfen konnten.
Danica dachte an die Schritte, die erforderlich waren, um das Herz wieder in Gang zu setzen. In den Schriften ging es natürlich darum, wie ein Adept sie an sich selbst durchführen konnte, durch reine Konzentration, aber es mochte eine Möglichkeit geben, sie von außen, durch Krafteinwirkung, nachzuvollziehen. Danica legte Pikel flach auf den Rücken, knöpfte seine Weste auf und zog sein Hemd hoch. Der Zwerg war so behaart, daß sie seine Brust gar nicht richtig sehen konnte, aber die junge Frau blieb hartnäckig, betastete die Rippen und hoffte, daß die Anatomie eines Zwerges sich von der menschlichen nicht grundlegend unterschied. Sie hatte den Punkt gefunden -jedenfalls glaubte sie das. Sie warf Newander einen hilfesuchenden Blick zu, um dann - zur offensichtlichen Überraschung des Druiden - plötzlich herumzufahren und ihre freie Hand fest gegen die Zwergenbrust zu drücken. Sie wartete einen kurzen Augenblick, dann drückte sie wieder zu. Danicas Kräfte stiegen; mit ganzem Herzen arbeitete sie an Pikel, und das ermutigte den nebelhaften Fluch nur, sich wieder einzuschleichen. »Lady Danica!« Newander hielt sie an der Schulter fest. »Ihr solltet mehr Respekt vor den Toten zeigen!« Danicas Arm schoß nach hinten, ins Kniegelenk des Druiden. Ein plötzlicher Ruck, und Newander lag am Boden, dann nahm Danica ihre Arbeit wieder auf, machte wütend weiter. Sie hörte eine Rippe brechen, wollte aber erneut zuschlagen. Diesmal hielt Newander sie fester und zog sie von dem Leichnam weg. Sie rangen einen Augenblick miteinander, doch Danica gewann leicht die Oberhand. Ihre Faust schwebte gefährlich dicht über dem Gesicht des Druiden. »Ei, ei!« Der Ruf ließ sowohl Danica als auch Newander erstarren. »Was habt Ihr getan?« keuchte der Druide. Danica schüttelte überrascht den Kopf und drehte sich langsam um. Da saß Pikel - verletzt und verwirrt, aber höchst lebendig. Er lächelte, als sein Blick auf Danica fiel. Die Frau ließ von Newander ab und riß den Zwerg hoch, um ihn fest in die Arme zu schließen. Newander klopfte beiden herzlich auf die Schultern. »Ein Wunder«, murmelte er. Danica wußte es besser. Sie wußte, daß Pikels Wiederbelebung nach einigen sehr logischen, genau beschriebenen Prinzipien in den Lehren von Großmeister Penpahg D'Ahn abgelaufen war. Dennoch war Danica so erstaunt über ihren Erfolg und so erleichtert, Pikel wieder atmen zu sehen, daß sie keine Antwort herausbrachte. »Was für ein Glück, daß wir dich gefunden haben«, stellte sie schließlich fest. »Ei, ei!« stimmte Pikel eifrig zu. »Nicht nur für dich«, setzte Danica an. Newander warf ihr einen neugierigen Blick zu. »Das ist unser erster Beweis, daß der Tunnel, durch den wir gekommen sind, mit der Tür in Verbindung steht, in die Cadderly eingedrungen is t«, sagte Danica. »Bis wir Pikel gefunden hatten, waren wir verirrt.« »Jetzt wissen wir es«, ergänzte Newander, »und wir wissen auch, daß Cadderly hier war. Vielleicht finden wir jetzt eine bessere Spur, der wir folgen können.« Er bückte sich mit der Fackel, um den Boden abzusuchen, kam aber kurz darauf kopfschüttelnd wieder hoch. »Es ist nur ein winziger Pfad, wenn überhaupt einer«, klagte er. Ein Lächeln glitt über Danicas Gesicht. »Winzig für uns vielleicht«, sagte sie, »aber vielleicht deutlich genug für Percival.« Pikel schaute verdattert drein, aber Newanders Lächeln war noch breiter als das von Danica. Der Druide sprach zu Percival und bat das Eichhörnchen, sie zu Cadderly zu führen. Percival hüpfte herunter, kratzte und schnupperte am Boden und nahm die Spur auf. Newander folgte ihm sofort. Danica half Pikel auf die Beine. Er war immer noch unsicher und reichlich durcheinander, aber dank der wichtigsten Eigenschaften der Zwerge -Zähigkeit und Sturheit-hatte er sich bald wieder im Griff. ¤¤¤ Schlaf war etwas Feines, aber irgendwo tief in seinem Innersten erkannte Druzil, daß er in seiner Ritze in der Wand eines verlassenen Gangs ausgesprochen verwundbar war. Also kroch er schließlich heraus und nahm wieder seine gewohnte Teufelsgestalt an. Irgendwann im Schlaf hatte er die Konzentration eingebüßt, ohne die er nicht unsichtbar sein konnte, und er schaffte es nicht, den in seinem Kopf verbliebenen Nebel weit genug zu durchdringen. Immerhin konnte er wenigstens einen einzigen klaren Gedanken fassen: Er mußte zu Barjin zurück, zurück zu der Sicherheit des magischen Tors, der Verbindung zu Burg Trinitatis. Er wußte, daß kürzlich jemand durch diesen Gang gelaufen war, und da er keine Lust hatte, auf weitere Feinde zu treffen, schlug er einen kurvenrei chen Umweg ein. Kurze Zeit später mußte er sich fest an die Mauer drücken, als die tobsüchtige Mumie vorbeistürmte, die nach allem schlug, was ihr in den Weg geriet. Nun wußte Druzil genau, daß etwas gewaltig schiefgelaufen war. Halb laufend, halb flatternd kehrte der kleine Teufel zum Altarraum zurück. Ja, Barjin würde ihm helfen, und wenn nicht Barjin, dann gewiß Aballister. Mit diesem Gedanken im Kopf sandte das Teufelchen eine matte, schlaftrunkene Nachricht an seinen Meister in der fernen Burg Trinitatis.
Von Angesicht zu Angesicht Ivan traf mit furchtbarer Wucht auf die lose schwingende Tür auf und riß dabei eine der Angeln aus. Cadderlys Furcht war berechtigt gewesen, denn nachdem Ivan die Schwelle überquert hatte, lösten sich mehrere feurige Explosionen in rascher Folge. Wenn die Tür den Angriff des Zwerges aufgehalten oder auch nur verzögert hätte, wäre er geröstet worden. Auch so war Cadderly sich nicht sicher, ob sein Freund überlebt hatte. Ivan rutschte auf dem Bauch in den Raum. An mehreren Stellen stiegen Rauchfäden von seinem Körper auf. Cadderly folgte schnellstens; er konnte nur hoffen, daß keine Runen mehr übrig waren. Sobald er den Raum betrat und in die Helligkeit der zahlreichen Fackeln und des lodernden Beckens blickte, sah der junge Gelehrte, daß sie nicht allein waren. »Bis hierher hast du dich gut gehalten«, sagte Barjin, der in der Mitte des Raums neben dem Altar mit der immerrauchenden Flasche stand, ruhig. Zu beiden Seiten des Priesters säumten Fackeln die Wand, aber das hellere Licht stammte von einem Kohlebecken an der Wand rechts von Cadderly, das dieser ganz richtig als interplanares Tor identifizierte. »Deine Widerstandskraft in Ehren«, fuhr Barjin spöttisch fort, »nur wird sie sich als nutzlos erweisen.« Beim Anblick des Priesters stürzten alle Erinnerungen der Reihe nach wieder auf Cadderly ein. Absurderweise schoß ihm als erstes durch den Kopf, er müsse nach oben gehen und ein ernstes Wörtchen mit Kierkan Rufo reden, dem Mann, der ihn anscheinend vom Weinkeller aus die Treppe hinuntergestoßen hatte. Dann allerdings wurde ihm klar, in welcher Gefahr er sich im Augenblick befand. Sein Blick glitt von Barjin zu dem Mann, der neben ihm stand. »Mullivy?« fragte er, obwohl er an Mullivys Haltung und dem grotesken Knick im Arm des Hausmeisters sah, daß dies nicht der Mann war, den er einst gekannt hatte. Der Tote antwortete nicht. »Ein Freund von dir?« neckte Barjin und legte den Arm um seinen Zombie. »Jetzt ist er auch mein Freund. Ich hätte dich leicht von ihm töten lassen können. Aber, weißt du, ich glaube, ich werde mir diesen Spaß selber gönnen.« Er zog den Streitkolben mit dem Obsidiankopf, der das Gesicht eines schönen, jungen Mädchens trug, aus dem Gürtel. Dann setzte er die spitz zulaufende Kapuze auf, die zu seinem Gewand gehörte. Wie ein Helm saß sie über seinem Kopf, mit Löchern für die Augen. Cadderly hatte schon von ver zauberten Schutzkleidern gehört und wußte nun, daß sein Herausforderer gerüstet war. »Trotz all deiner tapferen Anstrengungen, kleiner Priester, bist du für mich doch kaum mehr als ein lästiges Insekt«, bemerkte Barjin. Er machte einen Schritt auf Cadderly zu, blieb jedoch plötzlich stehen, als Ivan aufsprang. Der Zwerg schüttelte heftig den Kopf, dann schaute er sich erstaunt um. Er sah erst Cadderly an, dann Barjin. »Sag mir, Jungchen«, fragte er und hob seine Doppelaxt, »ist das der Mann, der mein Brüderchen getötet hat?« ¤¤¤ Aballister wischte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Er konnte es kaum mehr ertragen, durch den magische n Spiegel zu sehen, aber er fand auch nicht die Kraft, den Blick abzuwenden. Er hatte Barjins Not gespürt, gleich als er seine Gedanken in den fernen Altarraum schickte, weil er sein Teufelchen nicht mehr erreichen konnte. Aballister fürchtete um Druzil und den Priester, obwohl seine Ängste um und vor Barjin zweischneidig waren. Denn trotz all seiner Zerrissenheit, trotz all seiner Angst vor Barjin und dem Machtzuwachs für seinen Rivalen, glaubte Aballister wirklich, daß Barjin Tuanta Quiro Miancay, dem Ultimativen Schrecken, zum Sieg verhelfen wollte. Dann hatten sich die Feinde gezeigt - der Feind, denn von dem taumelnden Zwerg nahm Aballister kaum Notiz. Es war der junge Priester, der den Zauberer in Bann schlug, der große, aufrechte Junge von vielleicht zwanzig Jahren mit den vertrauten, forschenden Augen. Aballister spürte Barjins wachsende Zuversicht und wußte, daß der böse Priester wieder die Oberhand gewann, daß Barjin und Tuanta Quiro Miancay nicht zu schlagen waren. Und plötzlich kam ihm diese Aussicht unerträglich vor. Lange starrte er den jungen Gelehrten durchdringend an, der so tapfer und dumm in seinen Untergang gelaufen war. ¤¤¤ Cadderly nickte. Ivans Augen blitzten gefährlich, als er wieder den Priester ansah. »Das hättet Ihr nicht tun sollen«, knurrte der Zwerg leise, aber um so drohender. Er hob die Axt hoch und kam immer näher. »Ihr hättet -« Wellen geistiger Energie hielten ihn mitten im Satz und in der Bewegung auf. Barjins Spruch unterbrach die Gedanken des Zwergs und bannte ihn an Ort und Stelle. Ivan kämpfte mit all seiner zwergeneigenen Widerstandskraft dagegen an, aber Barjin war kein einfacher Zauberer, und dies war sein vom Bösen gesegneter Altarraum, wo seine Klerikermacht am stärksten war. Der Zwerg brachte noch ein paar unverständliche Laute heraus, dann hörte er ganz auf zu sprechen und sich zu bewegen. »Ivan?« fragte Cadderly mit zitternder Stimme.
»Sprich ruhig weiter«, höhnte Barjin. »Der Zwerg hört jedes Wort, aber ich kann dir versichern, daß er nicht antworten wird.« Sein anschließendes Gelächter ließ Cadderly einen Schauer über den Rücken laufen. Sie waren so weit gekommen, hatten so viel durchgemacht. Pikel war gestorben, um sie bis hierher zu bringen, und Ivan hatte furchtbare Schläge eingesteckt. Nur, um jetzt zu scheitern. Als Cadderly diesen Priester und den grausigen, gehorsamen Mullivy an seiner Seite vor sich sah, wußte er, daß er unterliegen würde. »Du hast meine Verteidigungslinien durchbrochen; dafür gebührt dir Applaus«, fuhr Barjin fort, »aber wenn du glaubst, du hättest in den leeren, unwichtigen Gängen meine wahre Macht gesehen, dann wirst du bald deinen Irrtum erkennen! Sieh mich an, dummer, junger Priester -«, er wies auf die immerrauchende Flasche, »- und sieh dir den Sendboten Talonas an, den du selbst geweckt hast. Tuanta Quiro Miancay, der Ultimative Schrecken! Du solltest dich gesegnet fühlen, kleiner Priester, denn deine armselige Bibliothek bekommt als erstes die eindrucksvolle Macht des Chaos' zu spüren, das diese Region nun jahrhundertelang regieren wird!« Cadderly hörte die Worte kaum. Seine Aufmerksamkeit lag bei der Flasche und dem Strom rosafarbenen Nebels, der ihr permanent entströmte. Er dachte daran, seine Armbrust zu laden und einen explodierenden Pfeil auf die Flasche abzuschießen, aber er hatte Angst, daß die Zerstörung des Behälters diesen bösen Sendboten, oder was es auch war, komplett freisetzen würde. Dann erkannte er, daß seine Wahl - falls er eine gehabt hatte - längst vertan war. Der Priester kam auf ihn zu, in aller Ruhe. Er hatte den Arm mit dem eigenartigen, schwarzen Streitkolben erhoben, dessen Kopf ein hübsches, junges Mädchen zeigte, ein unschuldiges Gesicht, das auf einer Waffe so völlig fehl am Platze war, ein Gesicht, das Cadderly an Danica erinnerte. ¤¤¤ Aballister dachte nicht lange nach. Er konzentrierte seine Gedanken auf den Zwerg, der stocksteif einige Schritte von dem jungen Mann entfernt stand. Der Zauberer nahm all seine Kräfte zusammen und versuchte, den Spiegel als m agisches Tor für seine Energien zu benutzen. Die Aura des Spiegels, die für solche Zwecke nicht gedacht war, widersetzte sich seinem Versuch. Man konnte in diesem Glas an ferne Orte schauen, mit den erblickten Wesen sprechen, ja selbst Personen transportieren, aber jetzt versuchte Aballister, diese Eigenschaften weiter auszunutzen, nicht nur seine Gedanken oder einen Körper zu schicken, sondern seine magischen Energien in den erstarrten Zwerg fließen zu lassen. Selbst wenn es um einen Menschen gegangen wäre, hätte sich diese Aufgabe als schwierig erwiesen, aber Ivan kämpfte mit typisch zwergischer Sturheit gegen Aballisters Bemühungen an, obwohl er von Barjins Spruch völlig gelähmt war. Aballister biß die Zähne zusammen und konzentrierte sich noch intensiver. Bläuliche Adern traten an seiner Stirn hervor, er fürchtete, der Versuch werde ihn vernichten, aber Barjin war dem jungen Mann jetzt schon so nah - zu nah! - und hatte den furchtbaren Streitkolben hoch erhoben. Aballister legte seine Lippen direkt auf den Spiegel und flüsterte (in der Hoffnung, daß es nur der Zwerg hören würde): »Laß mich ein, du Dummkopf!« ¤¤¤ Barjin hatte ein böses, siegessicheres Lächeln aufgesetzt, und Cadderly gab ihm auch jeden Grund zur Selbstgefälligkeit, denn er zeigte äußerlich keinen Widerstand. Der junge Gelehrte hatte den Widderkopf seines Wanderstabs in einer Hand, aber er hatte ihn noch nicht einmal erhoben. Cadderly hatte sich nämlich für eine andere Verteidigung entschieden, die einzige, die den bedrohlichen Priester wirklich verlangsamen mochte. Er ballte die leere Hand zur Faust und löste sie wieder, spannte die Muskeln, stärkte einen einzigen Finger für den bevorstehenden Schlag. Er hatte ihn bei Danica ein Dutzend Mal gesehen und deutlich gespürt. Barjin war nur noch einen Schritt entfernt. Jetzt bewegte er sich vorsichtiger, denn er fürchtete, Cadderly werde mit seinem Stab auf ihn einschlagen. Cadderly hielt das Ende des Stabs fest am Boden. Barjin trat zur Seite, von der Waffe weg, und schwang den Streitkolben zu einem Scheinangriff. Cadderly wich mit Leichtigkeit aus, obwohl seine Konzentration fast zusammengebrochen wäre, als er sah, wie sich der Kopf des Streitkolbens in das gierige Gesicht eines unirdischen Monsters verwandelte, das hungrig sein Maul mit den Reißzähnen aufriß. Aber der junge Gelehrte hatte seinen Verstand noch genügend beisammen, um den Gegenangriff führen zu können, und da Barjin einen Schlag mit dem Wanderstab erwartete, durchstieß Cadderlys Hand die Abwehr des Priesters. Cadderlys Finger traf Barjins Schulter. Er wußte, daß er den richtigen Punkt erwischt hatte, wie es Danica so oft bei ihm gelungen war. Barjin sah so verdattert aus, daß Cadderly vor Hohn beinahe aufgelacht hätte. »Bebende Hand!« erläuterte er. Aber trotz des eindeutigen Treffers fielen Arm und Streitkolben des Priesters nicht schlaff herunter. Das irritierte wiederum Cadderly, und deshalb reagierte er erst im allerletzten Moment, als der Streitkolben abermals auf ihn zusauste. Der junge Mann wirbelte herum und warf sich zu Boden, aber die Waffe erwischte ihn an der
Schulter. Das böse, verzerrte Gesicht biß tief hinein. Cadderly hatte vorgehabt, durch eine Rolle in einigem Abstand wieder auf die Beine zu kommen, aber der Treffer brachte ihn aus dem Gleichgewicht, so daß er statt dessen gegen einen der vielen Bücherschränke des Raums prallte. Die Wunde selbst war nicht so schlimm, aber die eisigen Wellen der Qual, die Cadderly durchzuckten, waren es gewiß. Er zitterte und bebte, konnte kaum noch denken, sich durch den unklaren Dunst kaum noch konzentrieren. Er wußte, daß er verloren war. Niemals würde er rechtzeitig zu sich kommen können, um den nächsten Angriff des Priesters abzuwehren oder ihm auszuweichen. »- mein Brüderchen nicht töten sollen!« hörte er Ivan seinen Satz beenden. Dann folgte Barjins Schreckensschrei. Ivans Axt traf den Priester in den Rücken, ein Schlag, der jeden Mann gefällt hätte, aber Barjin war geschützt. Seine magischen Kleider fingen das Schlimmste ab; der Priester mußte nicht einmal nach Luft schnappen. Er fuhr herum und antwortete mit seinem Streitkolben. Der kampferprobte Ivan Felsenschulter war bereit. Aus seinem ersten Treffer hatte er erkannt, daß der Priester irgendeine mächtige Rüstung trug. Barjins Schlag ging daneben, und Ivan trat hinter ihn, hakte einen Kopf seiner Axt unter Barjins Schulter und zog mit soviel Kraft, daß der Priester Hals über Kopf zum Altar in der Raummitte kullerte. Ivan ließ den Kopf seiner Waffe sinken und klemmte den Griff zwischen die Beine, damit er sich in die Hände spucken konnte, bevor es weiterging. Der Priester hatte eine tückische Waffe und eine fast undurchdringliche Rüstung, aber der wütende Zwerg zweifelte nicht daran, wie der Kampf enden würde. »Ihr hättet mein Brüderchen nicht töten sollen«, murmelte er ein letztes Ma l. Dann griff er wieder nach der Axt und machte sich auf, sein Werk zu vollenden. Barjin hatte eine andere Vorstellung. Er hatte keine Zeit zu überlegen, wie der Zwerg dem bindenden Spruch entkommen war, und es war auch nicht wirklich wichtig. Er kroch zu der Wand hinter Mullivy. »Töte den Zwerg!« wies er den Zombie an und zog eine brennende Fackel aus der Halterung, mit der er Mullivys Schulter berührte. Die ölgetränkten Kleider des Untoten loderten augenblicklich auf, aber der Schutzzauber versagte nicht. Während die Flammen das Öl und Mullivys Kleider verzehrten, blieb sein Körper weitgehend unversehrt. Ivans Reaktion, als der Zombie sich auf ihn stürzte, hätte Pikel alle Ehre gemacht: »Ei, ei!« Cadderly wollte aufstehen, aber die eisige, schwächende Wirkung der Bißwunde ließ ihn wieder zu Boden sinken. Er versuchte, den Schmerz abzuschütteln, versuchte, sich zu konzentrieren. Er sah Ivan wild um sich schlagen, aber sein Ziel weit verfehlen, während der Zombie ihn immer weiter zurückdrängte, unbeeindruckt von den unsicheren Angriffen des Zwergs. Cadderly hörte, wie der Priester irgendwo hinten am Altar, bei der Fluchflasche, lachte. Falls der brennende Zombie versagte, würde dieser Priester Ivan erwischen, und nach ihm Cadderly, und dann würde dieser Ultimative Schrecken, dieser böse Sendbote einer bösen Göttin, den Sieg über die Erhebende Bibliothek davontragen und alles zerstören, was dem jungen Gelehrten teuer war. »Nein!« brachte Cadderly heraus und versuchte noch verzweifelter, sich zu konzentrieren. Der teuflische Streitkolben hatte seine Arbeit gut gemacht, obwohl der Schlag auf Cadderlys Schulter nur flüchtig gewesen war. Die Waffe hatte ein Eigenleben, eine schauerliche, innere Energie, die aus den tiefsten Löchern der Hölle stammte. Cadderly kämpfte weiter gegen die eisige Lähmung an, versuchte, seine Körperkontrolle seiner geistigen Entschlossenheit anzugleichen, aber sein Körper hörte nicht auf ihn. Er war noch lange nicht soweit. ¤¤¤ Nichts hinderte die drei Gefährten auf ihrem Weg, und Percival schien Cadderlys Spur problemlos folgen zu können. In jedem Gang inspizierten sie vorsichtig die Alkoven, um sicherzugehen, daß keine Monster sie daraus anspringen würden. Pikel wurde mit jedem Schritt standfester, wirkte jedoch abgelenkt und in sich gekehrt. Danica konnte seine trübselige Stimmung verstehen; er war gerade dem Tod begegnet und zurückgekehrt. Als sie ihn aber nach seinen Erfahrungen fragte, antwortete er nur »Ei«, und sagte nichts weiter dazu. Bald gabelte sich der Tunnel. Ohne langes Zögern hüpfte Percival rechts entlang. Nicht weit entfernt hörten sie Kampflärm. Das Eichhörnchen blieb plötzlich stehen und keckerte aufgeregt, aber Pikel, Danica und Newander stürzten bereits auf die Quelle der Kampfgeräusche zu. Der Zwerg war nicht mehr in sich gekehrt, sondern begierig, seinem Bruder zu Hilfe zu eilen, und Danica und der Druide waren nicht weniger entschlossen, ihren Freunden beizustehen. Als sie an die Wand zum Altarraum kamen, hörten sie Ivan etwas über ein »brennendes Stück wandelnder Zunder« knurren und begriffen ihren Irrtum. Die Worte waren klar zu verstehen, aber der Weg war versperrt. Dieser Gang führte nicht zu einer Tür, sondern in eine Sackgasse. Pecival kam zeternd und scheltend angesaust. »Wir haben den falschen Weg genommen, sagt das Eichhörnchen!« erklärte Newander. »Die Spur führt zurück nach links! « Danica nickte. »Dann lauft!« rief sie, und rannte vor dem Druiden her. Beide blieben jedoch abrupt wieder stehen, als sie sahen, daß Pikel ihnen nicht folgte. Der aufgeregte Zwerg lief auf der Stelle, sammelte Kraft und Schwung, bis sein ganzer Körper gewaltig bebte. »Brüderchen!« schrie er dann, senkte den Kopf und seinen Baumstamm und durchbrach die Ziegelmauer.
Im Herzen des Druiden Die Wand bestand nur aus Ziegeln und Mörtel und konnte der Wut eines Pikel Felsenschulter nicht stand halten. Inmitten einer Staubwolke und unter herunterpolternden Ziegeln brach der Zwerg in den Altarraum ein und hielt einen Augenblick lang inne, um sich zu orientieren. Weitere Ziegel fielen herunter und prallten mit dumpfem Klirren von seinem Topfhelm ab, aber das schien Pikel nicht zu bemerken. Er suchte nach Ivan, seinem »Brüderchen«, und da brauchte es mehr als ein paar Steine, um ihn abzuschrecken.
Dann entdeckte er Ivan weit links an der eigentlichen Tür des Raumes, wie er vor einem brennenden menschenähnlichen Wesen zurückwich. Da die sengende Hitze ihn zurücktrieb, fielen Iwans Verteidigungsschläge kurz aus. Er war bereits arg in die Enge gedrängt. »Ei, ei!« schrie Pikel und stürmte los, den. topfbedeckten Kopf und die Baumkeule vorgereckt. Danica wollte ihm auf dem Fuß folgen, aber Newander hielt sie zurück. Als sie sich umdrehte, sah sie einen Ausdruck plötzlicher Erleuchtung auf dem Gesicht des Druiden, einen Ausdruck, der sich gleich darauf in Freude verwandelte. »Ihr habt die Wahrheit gesagt, gute Lady«, erklärte Newander. »Es war keine Zwiespältigkeit, sondern mein Sinn für die Ordnung, der mich vor dem Fluchnebel geschützt hat. Jetzt weiß ich, wie ich verschont wurde, warum ich verschont wurde, und dahinter steckt wahrlich eine Macht, die meinen eigenen Willen weit übersteigt.« Danica bemerkte, daß ihr Kampfgefährte sich vollkommen verändert hatte. Newander war nicht mehr vor Verzweiflung gebeugt. Sein Rücken war gerade, sein Antlitz stolz. »Ich höre den Ruf des Silvanus!« erklärte der Druide. »Es ist die Stimme des Eichenvaters, glaubt mir!« Danica war so fasziniert, daß sie gern stehengeblieben wäre, um Newanders Erklärungen zu lauschen, aber die Situation erlaubte es nicht. Sie nickte schnell und entzog sich dem Griff des Druiden, ließ sich nur noch den Bruchteil einer Sekunde Zeit, um den Raum zu überblicken und festzustellen, was nötig war. Ihr Herz rief sie zu Cadderly, der immer noch benommen an der Tür kauerte, aber ihr Kriegerinstinkt sagte ihr, daß nur eines ihrem Liebsten und allen ihren Freunden helfen würde: Sie mußte den eindrucksvollen Priester aufhalten, der am Altar stand. Mit zwei Sprüngen war sie bei Barjin, überschlug sich einmal, falls er einen Spruch oder einen Pfeil auf sie abschoß, kam dann wieder auf die Beine und griff an. Ihre Bewegungen waren so schnell, daß Barjin sie nicht abwehren konnte, und so traf sie ihn mit der Faust fest gegen die Brust. Sprachlos und mit wunder Hand prallte Danica ab, als hätte sie gegen eine Eisenmauer geschlagen. Barjin hatte sich nicht einmal gerührt. Danica war aufmerksam genug, um Barjins erstem An griff auszuweichen und die verzerrte, beißende Bewegung des verzauberten Streitkolbens zu bemerken. Sie sprang auf die rechte Seite des Priesters, weg vom Altar, während sie sich fragte, ob ihre Dolche wohl wirkungsvoller sein mochten. Allem Anschein nach trug der Priester keine Rüstung, aber Danica traute ihrer wunden Hand mehr als ihren Augen. Sie wußte, daß Magie täuschen konnte, und sie verstand bereits, daß sie gegen den Priester vorgehen mußte wie gegen einen Ritter in Rüstung. Barjin schwang seine Kreischende Maid zu einem Angriff, der Danica in Schach halten und ihre Reflexe prüfen sollte. Die junge Frau stellte fest, daß der Priester ihre Schnelligkeit wieder unterschätzt hatte. Gleich nach dem Schlag trat sie vor und landete zwei Treffer auf dem Waffenarm ihres Gegners. Auch dort wehrten d ie magischen Kleider den Schlag ab. Ihr Verständnis für das Ausmaß der Priesterrüstung wuchs. Danica erkannte, daß sie kaum Öffnungen zum Zuschlagen finden würde. Der Priester war von Kopf bis Fuß bedeckt, und wenn Danica genügend Konzentration aufbringen wollte, um die Zauberrobe zu durchdringen, würde sie in den Sekunden davor zu verwundbar sein. Deshalb schlug sie eine andere Taktik ein, mit der sie ihren Gegner seines schrecklichen Streitkolbens entledigen wollte. Sie näherte sich gebückt, als wollte sie einen Schlag gegen Barjins Lendengegend ausführen. Der Priester zog die Kreischende Maid senkrecht nach unten, wie Danica es erwartet hatte. Sie streckte den Unterarm hoch, um den Schlag abzufangen. Als nächstes wollte sie mit der freien Hand das Handgelenk des Priesters ergreifen. Wenn sie mit dieser Hand zog und mit dem Unterarm weiter drückte, würde ihm das den Streitkolben entreißen. Aber während Danica Barjins Schlag von oben richtig vorhergesehen hatte, hatte sie nicht mit der Reaktion seine r bösartigen, hellwachen Waffe gerechnet. Die Kreischende Maid drehte sich und schnappte vergeblich nach dem blockierenden Unterarm, der außer Reichweite war. Dann spie sie zischend einen Frostkegel über Danica. Danica duckte sich, sobald sie die Kälte spürte, aber der Kegel umfaßte ein zu großes Gebiet. Eiseskälte senkte sich über die Kämpferin, so kalt, daß sie ihr die Haut verbrannte, und so böse, daß sie ihren Weg bis in Danicas Herz und Knochen fand. Beim nächsten Atemzug schmerzten ihre Lungen, und sie konnte nur noch zurückweichen und zu der eingebrochenen Wand taumeln. Newander sah durch einen trüben Dunst zu. Weise registrierte er alles, was wichtig war - Barjins wehrhafte Kleidung und besonders den Streitkolben-, aber die Gedanken des Druiden wandten sich jetzt nach innen, folgten, wie er glaubte, dem persönlichen Ruf des Eichenvaters. Der An blick dieses Raums und der fluchbringenden Flasche hatte Newander vieles erklärt. Verschwunden war jetzt seine Angst, daß er, anders als seine verwandelten Druidenbrüder, irgendwie nicht wirklich seiner Berufung folgte. Verschwunden war seine Angst, daß er dem Lockruf des Fluchs nur
durch innere Zerrissenheit entkommen war. Vielleicht war es so gewesen, aber das machte ihm nun nichts mehr aus. Er hatte den Blick fest auf den bösen Priester gerichtet, den, der die Toten geweckt hatte, den, der die Perversion gebracht hatte, und er hörte die Befehle des Gottes der Natur. Er erinnerte sich an die Su -Monster und daran, wie deutlich er das Nahen der Ghule ges pürt hatte. Jetzt kannte Newander seine Aufgabe, die Druiden hatten sich der Erhaltung der natürlichen Ordnung verschrieben, der natürlichen Harmonie, und Newanders Glaube verlangte, daß der böse Priester aufgehalten werden mußte, hier und jetzt. Er ließ seine Gedanken ins Waldland wandern, die Heimat der druidischen Macht. Er fühlte, wie sein Körper sich zu regen begann - zum ersten Mal hatte er diese Ebene druidischer Konzentration erreicht. Obwohl er noch ein wenig Angst hatte, rief er die einströmende Macht begierig herbei, setzte all seine Energie für sie ein. Er spürte einen leichten Schmerz, als seine Knochen knirschten und sich neu zusammensetzten, ein Kitzeln, als Haare aus seinem Körper sprießten. Wie Cleo und Arcite überließ Newander sich seinem Drang, ließ seinen Körper seinen Gedanken folgen. Im Gegensatz zu seinen Gefährten aber tauschte Newander sein Denken nicht gegen die Instinkte des Tiers ein. Sein Verstand änderte sich nicht mit seinem Körper. Er sah die Augen des Priesters größer werden, als er an der zurückweichenden Danica vorbei zum Altar tappte. ¤¤¤ Ivan sah Pikel heranstürmen, aber der Flammenzombie drehte sich nicht um und merkte nichts von dem Angriff. Im letzten Moment wich Ivan aus, bevor sein Bruder die Baumkeule quer über Mullivys Rumpf zog. Brutal drängte Pikel den Zombie gegen die Wand, und auch dann war sein Ansturm nicht zu bremsen; er ignorierte die sengende Hitze und hielt den Zombie an Ort und Stelle fest. Mullivy schwang den unverletzten Arm wild herum, aber er wandte dem Angreifer den Rücken zu und konnte nicht hinter Pikels Keule langen, die ihn festnagelte. Zappelnd und kreischend versuchte er, dem Baumstamm seitlich zu entkommen. Das verhinderte jedoch Ivan durch feste Schläge mit der Axt. Das ging ein Weilchen so weiter, bis sich das Glück gegen die Zwerge wendete. Mullivy wich zur Seite aus; Ivan schlug zu. Seine mächtige Axt grub sich tief in Mullivys Arm, doch dabei schlug eine Flamme in Ivans Richtung zurück, die sofort den Zwergenbart in Brand setzte. Ivan warf sich zu Boden und schlug auf die Flammen ein. Pikel, den das unerwartete Problem seines Bruders ablenkte, ließ in seinem Druck auf die Keule nach. Mullivy entkam und näherte sich Ivan, der am Boden rollte. Dadurch verlor Pikel das Gleichgewicht und stolperte gegen die Wand. Sobald er wieder auf den Beinen stand, erkannte er die mißliche Lage seines Bruders, und wieder ließ ihn dieser Anblick rasend werden. Diesmal hielt Pikel die Keule quer und trieb Mullivy damit vor sich her. Sie drängten durch die offene Tür - draußen glaubte Pikel eine Art Teufelchen mit Fledermausflügeln hocken zu sehen - und landeten kopfüber in einem leeren Bücherregal. Unter ihrem Gewicht brachen die alten Bretter auseinander, so daß Zwerg, Zombie und Zunder einen einzigen, brennenden Haufen bildeten. Die langen, spitzen Zähne gefletscht, griff der Riesenvielfraß, zu dem Newander geworden war, den Priester an. Der Druide hatte eine Überraschung im Sinn, einen Angriff, dem selbst die magische Rüstung seines Gegners wohl nicht widerstehen konnte. Kurz bevor er sein Ziel erreicht hatte, wirbelte Newander plötzlich herum und stieß eine Wolke stinkenden Moschusdufts aus. Der scheußliche Gestank überrollte Barjin, biß ihm in die Augen, durchdrang seine Kleider und überwältigte ihn beinahe. So schnell wie möglich wich er zurück, um japsend und würgend dieser Wolke zu entkommen. Newander folgte ihm voller Wut. Er hakte seine Klauen um die Knie des rückwärts taumelnden Priesters und brachte Bahn zu Fall. Dieser trat zappelnd um sich, aber der Vielfraß war zu schnell und zu stark, um sich leicht abschütteln zu lassen. Wild grub er die Zähne in Barjins Oberschenkel. Noch immer hielten die magischen Kleider den Angriffen stand, aber der Moschusgestank hing wie eine Säure an ihnen, so daß sie bereits an Haltbarkeit einbüßten. Barjin warf sich schreiend herum. Seine Augen brannten so, daß er nichts sehen konnte; angesichts des plötzlichen Angriffs konnte er nicht klar denken. Er fühlte, wie die grausamen Bisse schärfer wurden, und wußte, daß er in Lebensgefahr war. Schon bald würde der Vielfraß die Kleider zerrissen haben, und seine tückischen Zähne würden Barjins nackten Schenkel zerfleischen. Mitfühlend nahm die Kreischende Maid mit Barjin Kontakt auf, beruhigte ihn und ließ ihn durch ihre Augen sehen. Barjin hörte auf zu zappeln und folgte der Führung des Streitkolbens. Newander raste weiter, aber die Kreischende Maid biß zurück. Barjin traf den Vielfraß vielleicht ein Dutzend Mal; jeder Schlag füllte den klaffenden Mund des hungrigen Streitkolbens mit mehr Blut und mehr Pelz. Die Raserei brach ab, aber Barjin schlug weiter zu. ¤¤¤ »Au! Au! Au! Au! Au!« grunzte Pikel, der aus dem brennenden Haufen kullerte. Seine Kleider hatten an verschiedenen Stellen Feuer gefangen, sein Bart sah nicht mehr grün aus, aber der dickhäutige Zwerg hatte bei seinem Zusammenprall mit dem brennenden Zombie keinen echten Schaden davongetragen. So rollte er über den Boden, um die letzten, hartnäckigen Funken zu ersticken.
Ivan lief auf seinen Bruder zu, änderte jedoch plötzlich die Richtung, als er sah, daß auch Mullivy wieder aufstand. Von dem hatte Ivan genug. Er nutzte das Knistern des Feuers, um sich leise zu nähern und stellte sich genau neben den aufstehenden Zombie. Mullivy brannte nicht mehr. Barjins Schutzzauber hatte die Flammen von seinem verrottenden Fleisch abgehalten, und jetzt waren Öl und Kleider, die sein Feuer genährt hatten, verzehrt. Als er aufstand, war sein Ziel immer noch Pi ken. Von dem Zwerg gleich hinter sich nahm er keine Notiz. Ivan fuhr prüfend über die Schneiden seiner Doppelaxt, um festzustellen, welche Seite schärfer war. Achselzuckend - beide schienen gleichermaßen geeignet - schwang er die Axt hoch und schlug sie dem Zombie seitlich in den Hals. Um einen solchen Hieb aufzuhalten, war mehr nötig als das schwache Fleisch eines dünnen Zombiehalses. Ivan lächelte, als der Zombie zur Seite wankte und sein Kopf quer durch die Luft flog. »Ui!« bemerkte Pikel bewundernd. »Mußte ja so enden«, schnaubte Ivan und lächelte seinem totgeglaubten Bruder zu. Ihre Freude dauerte nicht lange. Mullivys Körper stand taub und blind zwische n ihnen und fuchtelte wild mit dem Arm. Ein Schlag traf Pikels Kopf von der Seite und schlug ihm den Helm herunter. »Ui!« quietschte Pikel wieder, wich einen Schritt zurück und schlug mit seiner Keule auf den kopflosen Zombie ein. Er beugte sich zur Seite, um sich wortlos mit seinem Bruder zu verständigen. Sie arbeiteten vereint, zwei Zwerge, die die Taktik des anderen so gut kannten wie ihre eigene. Sie stellten sich auf beide Seiten des Zombies und bewegten sich im selben Tempo im Kreis. Ivan traf Mullivys Schulter und sprang dann zurück. Der Zombie blieb stehen und fuchtelte vergeblich in der Luft herum. Pikel versetzte dem Monster von hinten einen Keulenschlag. Mullivy fuhr herum, um den neuen Angreifer zu treffen, doch Ivan kam hinterher und führte einen Überkopfschlag gegen die Schulter des Zombies aus, der stark genug war, ihm den Arm abzuschlagen. So dauerte es nicht lange - obwohl beide Zwerge den Spaß durchaus noch gern etwas weiter getrieben hätten - bis Mullivys verstümmelte Leiche zu Boden fiel und nicht mehr versuchte aufzustehen.
Immer noch benommen und desorientiert sah Cadderly zu, welche Greuel sich drüben am Altar abspielten. Er wußte, daß Newander wahrscheinlich tot war, und er wußte auch, daß der böse Priester sich als nächstes Danica nähern würde. Er sah seine Liebste vom Boden hochkommen, doch sie zitterte unablässig durch den Kältekegel und keuchte und blinzelte, weil sie sich am Rand von Newanders Moschuswolke befand. Barjins Bein war blutbefleckt, und er hinkte sichtlich, als er sich aus der hartnäckigen Umklammerung des reglosen Vielfraßes löste, aber die Miene des Priesters zeigte nur Wut, und er schwang den Streitkolben mit sicheren, leichten Bewegungen. »Newander«, rief Cadderly, aber ohne jede Hoffnung. Er wünschte sich verzweifelt, daß jemand eingreifen und diesen Wahnsinn beenden möge. Doch er wußte, daß der Druide, dessen Kopf und Rücken eine blutige Masse waren, nicht mehr antworten würde. Dann war Danica an der Reihe. Sie zog ihre Kristalldolche und schleuderte sie schnell nacheinander. Der erste Wurf traf den Priester in die Schulter, doch es lief nur ein dünner Blutfaden herunter. Der zweite hatte noch weniger Erfolg. Er schaffte es, Barjins Kapuze zu durchdringen, aber der Winkel der Kopfbedeckung lenkte ab, und er blieb wirkungslos im Stoff hängen. Barjin rieb sich die Augen, stieg über den Druiden und stürzte sich auf Danica. Sie fiel in eine geduckte Verteidigungshaltung, als wollte sie ihn anspringen, warf sich dann jedoch schnell nach hinten. Cadderly verstand Danicas Reaktion; sie fürchtete einen neuen Hauch des schrecklichen Streitkolbens. Und noch während Cadderly zusah, hob der Priester die Waffe. Cadderly sah, wie Danica immer weiter vor dem vorrückenden Priester zurückwich. Alle Schmerzen, so überwältigend sie eben noch gewesen waren, schienen plötzlich nebensächlich angesichts der Bedrängnis seiner Liebsten. Er schüttelte die Benommenheit ab, übersah die Schwäche seiner Glieder und zwang sich auf die Knie. Dann zog er seine Armbrust und legte einen neuen Pfeil ein. Die durchdringende Kälte ließ ihn fast ohnmächtig werden, doch er biß sich in die Lippe, um dagegen anzukämpfen, denn er kannte den Preis seines Versagens. Er hielt die Armbrust in Barjins Richtung, hatte den bösen Priester im Visier und wußte, daß dessen Kleider den verzauberten Pfeil nicht aufhalten würden. Er zögerte. Eine Stimme in Cadderlys Kopf protestierte lauthals, ein fernes Echo des Schwurs, den er bei seinem Entschluß, die Armbrust und die Pfeile zu bauen, abgelegt hatte. »Nicht als Waffe!« murmelte er in sich hinein, aber dann sah er wieder zu Danica und knurrte trotzig. Einen Augenblick später hätte er fast aufgeschrien, weil er glaubte, sein Zögern sei Danica teuer zu stehen gekommen. Barjin führte mehrere mächtige Hiebe gegen die junge Frau, der es irgendwie gelang, dem bissigen Streitkolben zu entkommen. Cadderly sah einen Ausweg. »Fühl die Kälte«, hörte er Barjin in der Ferne schnarren. Der Priester hielt den grausamen Streitkolben vor sich, der sein Maul weit aufriß. Danica, die trotz ihrer Wunden noch behende war, sprang verzweifelt zur Seite. »Nein!« schrie Cadderly, dessen Pfeil genau zwischen die Reißzähne der Waffe traf.
Es gab einen scharfen Ruck, bei dem Barjin seinen getroffenen Streitkolben kaum halten konnte. Einen unendlichen Moment lang schien überhaupt nichts zu passieren, aber aus dem entsetzten Ausdruck des Priesters konnte Cadderly schließen, daß in Barjins geliebter Waffe tatsächlich etwas vorging. Mit einem Krachen flog der obere Teil des Kopfes der Kreischenden Maid ab. Barjin hielt die zerbrochene Waffe immer noch fest, als könnte er sie nicht loslassen. In allen Farben blitzten Funken auf, als die magische Energie ungezügelt herausschoß und auf den Raum herabregnete. »Ui!« quiekten Pikel und Ivan einstimmig. Die Funken trafen Barjins Kleider, in die sie kleine Löcher ätzten. Der Priester kreischte auf vor Schmerz, als ein Funke durch das Sichtloch seiner Kapuze flog und sein Auge verbrannte. Danica rollte sich weg und schirmte mit dem Arm ihre Augen ab. Der Funkenschauer ging ungebremst weiter. Blaue Funken sprühten genau über Barjins Kopf und trafen die Seite seiner Kapuze, als er sich verzweifelt duckte. Rote Funken stoben in einer plötzlichen, kreisförmigen Explosion heraus, drehten sich, stiegen auf und regneten dann über Danica, Barjin und dem Altar herunter. Ein kleiner Feuerball schoß senkrecht aus dem zerbrochenen Streitkolben hoch und prallte gegen die Decke. Glühende Staubflocken lösten sich, nur um von dem fortgesetzten Funkenregen gefressen zu werden. Auf der anderen Seite des Raums fragte sich Cadderly blinzelnd, ob er versehentlich etwas in Gang gesetzt hatte, was sie alle vernichten würde. Dann war es vorbei. Der Griff der Kreischenden Maid fiel zu Boden und verlosch unter Spucken. Barjin zog ras ch die Kapuze ab und die brennenden Gewänder aus. Sie fielen auseinander, denn der Vielfraßgestank und die Funken hatten sie zerstört. Der Priester verfluchte seine Dummheit, weil er den Spruch zum Schutz vor Feuer auf den Zombie gelegt hatte anstatt auf sich selbst. Hektisch sah er sich um. Cadderly kniete immer noch. Seitlich von ihm standen die siegreichen Zwerge über den scheußlichen Überresten des Zombies. Dann blieb der Blick des Priesters an Danica hängen, die ihm ohne Rüstung und Waffen als leichter Gegner erschien. Die junge Frau war dabei, sich Moschus und Ruß vom Gesicht zu wischen, und sah ihn nicht einmal an. Barjin hatte in seinem Leben viele Fehler begangen, aber keiner war so dumm gewesen wie die Annahme, daß Danica ein leichter Fang sein würde. Er griff nach ihr, um ihr seinen starken Arm um den Hals zu legen und sie dann halb erstickt vor der Brust zu halten. Sein Arm war schon fast an ihrer Schulter, als Danica reagierte. Sie fuhr herum und nutzte ihren Schwung, um den Finger tief in Barjins Schulter zu treiben. »Das habe ich schon versucht!« warnte Cadderly, aber dann schwieg er, denn Barjins Arm fiel schlaff herunter. Verstört blickte der Priester seinen tauben rechten Arm an. Er wollte mit links zuschlagen, aber Danica war einfach zu schnell für ihn. Sie fing seinen Schlag auf halbem Weg ab, hakte die Finger um seine Hand und bog seinen Daumen so gewaltsam zurück, daß Barjins Daumennagel sein Handgelenk berührte - nach einem Knacken der Knochen, das so laut klang wie einer von Pikels Baumkeulentreffern. Und damit war Danica noch lange nicht fertig. Mit einer leichten Drehung legte sie ihre Finger um die Barjins und drückte so fest zu, daß sie dem Priester unerträgliche Schmerzen im ganzen Arm verursachte. Er wollte widerstehen, wollte den Arm mit einem Ruck wegziehen, aber der unablässige Schmerz hielt ihn davon ab, etwas gegen seine Gegnerin zu unternehmen. Selbst wenn sein anderer Arm nicht »tot« gewesen wäre, hätte er nichts tun können. Er gurgelte unverständlich; die Welt verschwamm vor seinen Augen. Danica zog höhnisch die gefangene Hand nach unten, was Barjin in die Knie zwang. Dann ballte sie ihre freie Hand zur Faust und zielte auf Barjins Gesicht. »Danica ... «, hauchte Cadderly entsetzt. »He, du, kriegen wir denn nix mehr ab?« kam ein Murren von der Seite. »Schließlich hat er mein Brüderchen getötet.« Pikel starrte Ivan ungläubig an. »Oh?« »Na ja, er hat versucht, mein Brüderchen zu töten«, stellte Ivan richtig und grinste über beide Ohren. Danica öffnete die Faust. Ihr Ärger wich Trauer und Besorgnis, als sie Cadderly ansah. Sein Anblick ließ sie plötzlich innehalten. Cadderly kniete immer noch. Er starrte Danica an, seine Hände waren in schweigendem Flehen ausgestreckt, und seine grauen Augen richteten sie, ohne es zu wissen. Danica drehte Barjin den Arm um, fuhr mit dem anderen Arm unter seine Schulter und schob ihn zu den Zwergen. Ivan riß ihn grob hoch und warf ihn halb rollend, halb schubsend zu Pikel, wobei er schrie: »Du hast mein Brüderchen getötet!« »Mein Brüderlein!« echote Pikel, der den benommenen Priester herumwirbelte und zu Ivan zurückstieß. Ivan fing ihn auf und schubste ihn abermals von sich. Cadderly erkannte, daß das Spiel der Zwerge leicht außer Kontrolle geraten konnte. Beide waren verletzt und wütend und da die Flasche mit dem Fluch so nah rauchte, konnten Schmerz und Zorn sie zu neuen Gipfeln der Gewalt treiben. »Tötet ihn nicht!« schrie Cadderly sie an. Pikel warf ihm einen ungläubigen Blick zu, und Ivan fing Bann auf, warf den Priester unsanft zu Boden und hielt ihn an den Haaren fest. »Nicht töten?« fragte Ivan. »Was hast du denn sonst mit ihm vor?« »Tötet ihn nicht!« forderte Cadderly wieder. Er nahm an, daß es mehr als die Einwände seines eigenen Gewissens brauchen würde, um die aufgebrachten Zwerge zu überzeugen, deshalb ging er pragmatisch vor. »Wir müssen ihn verhören, damit wir erfahren, ob er Verbündete hat, und wo diese sein könnten.«
»Pah!« brüllte Ivan. »Na und?« Er riß Barjins Kopf so heftig zurück, daß Cadderly schon fürchtete, er hätte dem Priester den Hals gebrochen. »Nicht jetzt, Ivan«, erklärte Cadderly. »Später, in der Bibliothek, wo wir Karten und Schriftstücke haben, die uns beim Verhör helfen können.« »Du hast echt Glück, Mann«, sagte Ivan, der seine Knollennase an Barjins drückte und damit das kleinere Riechorgan des Priesters flach gegen dessen Wange drückte. »Ich würde dich schon zum Reden bringen, ganz bestimmt!« Barjin zweifelte wirklich nicht an Ivans Worten, aber er kam sich nicht besonders glücklich vor, besonders, nachdem Ivan ihn wieder hochgehievt und zu Pikel hingestoßen hatte. Cadderly ging zu Danica und legte ihr einen Arm um die Schulter. Sie stand schweigend da, denn sie schaute den Druiden an, der sein Leben für ihre Sache geopfert hatte. Newanders Knochen knackten immer noch, weil sein Körper im Sterben versuchte, seine ursprüngliche Gestalt anzunehmen. Er schaffte es zur Hälfte. Sein ruhiges, weises Gesicht war wieder zu erkennen, aber dann war die Verwandlung zu Ende. Der Tod hatte ihm die magische Energie geraubt. »Er war ein echter Freund«, flüsterte Cadderly, aber auch diese Worte kamen ihm lau vor. Worte konnten nichts von seiner Trauer ausdrücken, weder um den Druiden noch um die vielen anderen, die durch den Fluch umgekommen waren - den Fluch, den er ausgelöst hatte. Dieser Gedanke lenkte Cadderlys Blick zum Altar und zu der Flasche, die immer noch rauchte, obwohl der Priester, der sie gebracht hatte, besiegt war. »Das ist meine Sache«, stellte er fest und hoffte, daß seine Vermutung richtig war. Er nahm den Pfropfen vom Altar und griff begierig zu. In seinem Kopf überschlugen sich Hunderte von Szenen, in denen er sich ausmalte, was geschehen würde, wenn er die Flasche nicht schließen konnte. Aber es gelang ihm problemlos. Er steckte den Stopfen auf die Flasche und drückte ihn hinein, und der Rauchstrom versiegte. Cadderly fühlte einen Stoß an seiner Schulter und dachte, Danica hätte sich haltsuchend an ihn gelehnt. Er drehte sich um und sah nur noch, wie sie schlaff nach unten sackte. Hinten an der Tür kippten auch die anderen um. Barjin stolperte schwer über Ivan, und einen Augenblick lang rührte sich gar nichts. Nur Barjin stand wieder auf. Er fauchte und fluchte. »Du!« sagte er anklagend. Der böse Priester ergriff Ivans Arm und kam auf Cadderly zu.
Der Ultimative Schrecken Der Schock riß Druzil abrupt aus seinem schläfrigen Zustand. Sie hatten die Flasche geschlossen! Der Chaosfluch, auf dessen Wirken der kleine Teufel jahrzehntelang gewartet hatte, war besiegt! Er spürte noch die neblige Magie in der Luft, aber sie ließ bereits nach. Druzil wollte Gedankenkontakt zu Barjin aufbauen, sah jedoch jede telepathische Verbindung mit dem Priester an einer Wand aus Wut abprallen. Er wollte eigentlich den Altarraum nicht betreten; er hatte gesehen, wie die wildgewordenen Zwerge Barjins Zombie zerhackt hatten und fürchtete einen weiteren Pfeil des jungen Priesters. Aber als er sich umsah, stellte er fest, daß er nirgendwo sonst hinkonnte. Er griff in den kleinen Beutel, den er am Flügel bei sich trug, nahm ihn ab und hielt ihn mit seinen Klauenhänden fest. Er schlich zur Tür. Hinter Mullivys zerhackten Überresten lagen bewußtlos die beiden Zwerge und weiter hinten, am Altar, eine junge Frau. Druzils Überraschung angesichts des unerwarteten Anblicks dauerte so lange an, wie der Teufel überlegen mußte, was sich hier abgespielt hatte. Der plötzliche Schock durch das Ende des Chaosfluchs, das Ende der Magie, die die Gedanken der Anwesenden so intensiv durchdrungen hatte, hatte die Freunde überwältigt. Druzil sah Barjin auf den jungen Priester zugehen - und jetzt wußte das Teufelchen, daß dieser junge Mann der Unschuldige gewesen war, der die Flasche geöffnet hatte. An scheinend hatte er sie nun wieder geschlossen. Der Priester erschien Druzil längst nicht mehr so mächtig. Barjins Gewänder und seine Waffe waren verschwunden, ein Arm baumelte ihm schlaff an der Seite, aber vor allem hatte er es zugelassen, daß die Flasche geschlossen wurde. Da stand sie - machtlos - auf dem Altar. Am liebsten hätte Druzil sie sich geschnappt und wäre damit durch das Feuertor nach Burg Trinitatis verschwunden. Doch diesen Gedanken verwarf das Teufelchen gleich wieder. Dazu mußte er sich nicht nur in Reichweite des jungen Mannes begeben, der ihn schon einmal erwischt hatte, nein, wenn er die Flasche mitnahm und Barjin den Tag irgendwie überlebte, würde sein weiterer Aufenthalt in der Bibliothek sinnlos sein. Nein, beschloß Druzil, augenblicklich war die Flasche diese Risiken nicht wert. Wenn Barjin überlebte, würde der Priester vielleicht einen anderen Auslöser finden, um den Fluch neu anzufachen. Druzil konnte hierher zurückkehren, wenn es soweit war. Das Teufelchen öffnete den kleinen Beutel in seinen Händen und wandte sich dem Becken zu, in dem zum Glück noch Glut loderte. ¤¤¤
Cadderly griff nach einem neuen Pfeil, erkannte aber, daß sein Gegner ihn erreicht haben würde, bevor er laden konnte. Selbst wenn er die Armbrust vorbereiten konnte, zweifelte Cadderly daran, daß er den Mut finden würde, sie gegen einen lebenden Mens chen zu verwenden. Barjin spürte seine Unsicherheit. »Du hättest mich den Zwergen überlassen sollen«, höhnte er. »Nein!« widersprach Cadderly fest. Er ließ die Armbrust sinken und schob einen Finger in seine Tasche, in die Schlaufe seiner Spindelscheiben. »Hast du wirklich gedacht, daß ich reden würde, daß es irgendeinen Sinn hätte, mich am Leben zu lassen?« fragte Barjin. Cadderly schüttelte den Kopf. Barjin hatte nichts begriffen. Cadderly hatte das nur behauptet, damit Ivan und Pikel den Priester nicht töteten. Seine wahren Motive, Barjin am Leben zu lassen, hatten nichts mit Informationen zu tun, sondern mit seinem Bedürfnis, niemanden umzubringen, solange es nicht unumgänglich war. »Wir hatten keinen Grund, Euch zu töten«, sagte er ruhig. »Der Kampf war bereits gewonnen.« »Hast du dir so gedacht«, fauchte Barjin. Er überwand den restlichen Abstand zu Cadderly mit einem Sprung und schwang Ivans Axt so nachdrücklich, wie es seine verletzte Hand erlaubte. Da Cadderly diesen Angriff erwartet hatte, konnte er leicht ausweichen. Er zog die Hand aus der Tasche und ließ die Spindelscheiben auf Barjin losschnellen. Mit einem Rums trafen sie Barjins Brust, doch der mächtige Priester war eher überrascht als verletzt. Er sah Cadderly an oder eher Cadderlys eingezogene Wurfhand -, dann lachte er laut. Fast hätte sich Cadderly auf ihn geworfen, doch er erkannte, daß sein Gegner genau das provozieren wollte. Seine einzige Chance in diesem Kampf war reine Verteidigungshaltung; er mußte dieselbe Taktik anwenden wie gegenüber Kierkan Rufo. Er grinste breit gegen Barjins Gelächter an und versuchte, so zuversichtlich wie möglich zu wirken. Barjin war nicht Kierkan Rufo. Der Priester hatte zahllose Kämpfe mitgemacht, hatte erfahrene Krieger im Zweikampf besiegt und Armeen über die Ebenen von Vaasa geführt. Nach kurzem, prüfenden Blick verriet das siegessichere Lächeln dieses Veteranen, daß er die Grenzen von Cadderlys seltsamer Waffe erkannt hatte, und er wußte ebensogut wie dieser, daß der junge Priester kaum eine Chance hatte. »Du hättest nicht hierher zurückkehren sollen«, sagte Barjin ruhig. »Du hättest die Erhebende Bibliothek ganz verlassen und aufgeben sollen, was verloren war.« Cadderly dachte über die unerwarteten Worte und den noch unerwarteteren, fast resignierten Tonfall nach. »Ich habe gefehlt«, erwiderte er, »als ich zum ersten Mal hier herunter kam. Ich bin nur zurückgekehrt, um den Fehler wieder gutzumachen.« Er blickte zu der Flasche, um seine Aussage zu bekräftigen. »Und das habe ich jetzt getan.« »Hast du das?« spottete Barjin. »Deine Freunde sind tot, kleiner Narr. In der Bibliothek sind alle tot, möchte ich meinen. Als du die Flasche geschlossen hast, hast du deinen Verbündeten mehr geschadet als deinen Feinden.« Cadderly konnte die Worte des Priesters nicht leugnen, aber er glaubte immer noch, daß es richtig gewesen war, die Flasche zu schließen. Er würde einen Weg finden, seine Freunde und all die anderen wiederzubeleben. Vielleicht schliefen sie nur. »Glaubst du wirklich, daß Tuanta Quiro Miancay, der Ultimative Schrecken, sich besiegen läßt, indem man einfach den Korken wieder auf die Flasche steckt?« Barjin grinste breit. »Sieh nur«, sagte er und zeigte zum Altar. »Selbstjetzt noch sucht sich der Sendbote meiner Göttin Talona seinen Weg durch deine armselige Barriere in die Luft zurück, die er für Talona in Besitz genommen hat.« Cadderly hätte den Trick vorhersehen müssen, aber seine Unsicherheit, was die unbekannte Flasche und den Fluch anging, ließ ihn tatsächlich zur Seite schielen. Dennoch war er nicht völlig überrumpelt, als Barjin grollend ausholte und auf ihn eindrang. Cadderly duckte sich unter seinem Hieb weg; dann rollte er zur Seite. Er wollte wieder auf die Beine kommen, aber Barjin war zu schnell. Bevor Cadderly aufstehen konnte, mußte er schon dem nächsten Hieb ausweichen. Der junge Mann wußte, daß er nicht lange so weitermachen konnte, aber vom Boden aus konnte er auch zu keinem wirksamen Gegenangriff ansetzen. Barjin, der schon den Sieg auf seinen geifernden Lippen schmeckte, beherrschte die Doppelaxt perfekt und bereitete jetzt den nächsten Schlag vor. Der Kampf schien entschieden. Cadderly kam es fast wie ein Traum vor, zu sehen, wie sein Gegner die Axt für den tödlichen Schlag hob. Würde er jetzt sterben? Und was sollte dann aus Danica, Ivan und Pikel werden? An der Tür flatterte etwas. Cadderly, der viel zu sehr mit seiner eigenen Lage beschäftigt war, nahm kaum Notiz davon, aber Barjin sah sich um. Cadderly erkannte seine Chance und rollte sich schnellstens weg. Barjin hätte ihn leicht einholen können, aber das unerwartete Auftauchen des vermißten Teufelchens schien dem Priester wichtiger zu sein. »Wo warst du?« wollte der Priester wissen. Seiner Kleider und Waffen beraubt, zerlumpt und zerschlagen, klang er wenig beeindruckend. Druzil würdigte ihn keiner Antwort. Er flatterte zu dem Kohlebecken und hielt nur kurz inne, um Barjins Nekromantenstein aufzuheben. »Leg das zurück!« brüllte Barjin. »Du spielst ein gefährliches Spiel, Teufelchen!« Druzil betrachtete den Stein, dann den Priester, dann bewegte er sich auf das Becken zu. Sein Blick glitt noch einmal zu der geschlossenen Flasche, aber dann besann er sich eines Besseren. Der wütende Barjin oder gar der junge Priester würden ihn bestimmt erschlagen, wenn er in ihre Nähe kam. »Ich passe auf ihn auf«, bot Druzil an, der den Stein hochhielt. »Und die Flasche?« »Du läufst weg und versteckst dich!« warf Barjin ihm in scharfem Ton vor. »Hältst du mich für besiegt?« Druzil zuckte die Schultern, wobei seine Flügel seinen Kopf nahezu verdeckten.
»Bleib und schau, feiges Teufelchen«, prahlte Barjin. »Schau zu, wie ich meinen Sieg sichere und diese armselige Bibliothek erledige.« Druzil dachte einen Moment über das Angebot nach. »Ich ziehe einen sichereren Hafen vor«, erklärte er. »Ich kehre zurück, sobald du alles unter Kontrolle hast.« »Laß den Stein los!« befahl Barjin. Druzils Lächeln verriet dem Priester einiges. Das Teufelchen umklammerte den mächtigen Nekromantenstein nur noch fester und warf sein Pulver in das brennende Becken. Das magische Feuer flammte auf und nahm eine bläuliche Farbe an. Zufrieden trat Druzil durch das wieder geöffnete Tor. »Feigling!« schrie Barjin. »Ich werde siegen. Ich werde Tuanta Quiro Miancay erneut entfesseln, und du, feiges Teufelchen, wirst keinen Anteil mehr daran haben.« Seine Drohungen verloren sich im Knistern der Flammen. Barjin wirbelte zu Cadderly zurück, der jetzt auf der anderen Seite des Altars stand. »Du kannst dich und deine Freunde immer noch retten«, gurrte der Priester mit plötzlicher Freundlichkeit. »Schließ dich mir an. Öffne die Flasche noch einmal. Die Macht, die du erkennen wirst ... « Cadderly durchschaute die Lüge und schnitt dem Priester das Wort ab. »Ihr braucht mich, um sie zu öffnen, weil Ihr es nicht vermögt, denn sie muß von jemandem geöffnet werden, der nicht mit Eurer Göttin verbündet ist«, stellte er fest. Barjins zwingendes Lächeln ließ nicht nach. »Und wenn ich Euch nachgebe, würde mich das nicht mit den Zielen Eurer Göttin verbinden? Würde das nicht der Bedingung zuwiderlaufen?« Cadderly hielt sich für sehr schlau. Er dachte, seine Logik hätte den Priester in die Ecke getrieben. Als Barjin ihn jedoch mit grausam leuchtenden Augen wieder ansah, wußte Cadderly, daß er sich geirrt hatte. »Nicht, wenn du die Flasche aus anderen Gründen öffnest«, sagte Barjin mit einem raschen Blick zu Danica, »vielleicht, um die Frau zu retten.« Der Priester trat einen Schritt zur Seite. In diesem Moment fiel alle Furcht von Cadderly ab. Er sprang hinter dem Altar hervor, um Barjin aufzuhalten. Er mußte ihn um jeden Preis stoppen. Doch dann blieb er plötzlich entsetzt stehen. Ein anderes Wesen hatte den Raum betreten, eines, das Cadderly bereits kannte. Barjin begrüßte seinen Verbündeten erfreut. »Ich dachte, du wärst zerstört«, sagte er zu der angesengten Mumie. Der wildgewordene Khalif, der ganz und gar von Sinnen war, antwortete nicht. »Was tust du?« rief der Priester, als die Mumie auf ihn zutaumelte. Barjin versuchte, das Monster mit der Axt in Schach zu halten, aber die Mumie schlug ihm die Waffe einfach aus der Hand. »Halt!« schrie Barjin. »Du mußt mir gehorchen!« Khalif sah das ganz anders. Ehe Barjin noch etwas sagen konnte, erhielt er einen Schlag gegen den Kopf, der ihn zu der Wand mit dem Becken taumeln ließ. Barjin sah seinen Untergang kommen. Die Mumie war außer Kontrolle geraten; Schmerz und Wut hatten sie irrsinnig gemacht. Sie haßte alles Lebendige, haßte Barjin, der ihre Ruhe gestört hatte. Nach allem, was sowohl Barjin als auch der Mumie geschehen war, galt die Herrschaft des Priesters nicht mehr. Verzweifelt blickte der Priester zu dem Tisch, auf dem der Nekromantenstein gelegen hatte, aber dann erinnerte er sich und verfluchte das verschwundene Teufelchen. Hilfesuchend sah er sich um. Rechts von ihm stand das große, brennende Becken. Das Tor war wieder geöffnet, doch das war kein Ausweg für ein Wesen der materiellen Ebene. Links von Barjin jedoch lag Pikels neue Tür, ein Aus gang zu den Tunneln hinter dem Raum. Er wollte aufstehen, doch ein pochender Schmerz in seinem Kopf ließ ihn wieder in die Knie gehen. Er versuchte zu kriechen, doch bevor er das Loch erreichte, schnitt ihm die Mumie den Weg ab und schleuderte ihn nochmals gegen die Wand. Er hob seinen noch intakten Arm, aber die Hiebe der Mumie wischten ihn beiseite. Cadderly stand wie angewurzelt neben dem Altar. Sein Kopf sagte ihm, daß er etwas unternehmen mußte. Die Angst hatte ihn im Griff, aber schließlich überwand er sie, indem er sich vorstellte, was die Mumie tun würde, wenn sie mit Barjin fertig war. Danica wäre das nächste Ziel. Er nahm seine Armbrust zur Hand und lud, um das Monster von dem Priester abzulenken. Cadderly hatte keine Sympathie für den Mann, und er hegte keine falschen Hoffnungen, daß es zu irgendeinem vernünftigen Kompromiß kommen würde, wenn er Barjin half. Aber obwohl der Priester sein Feind war, konnte er nicht zulassen, daß dieses untote Scheusal ihn umbrachte. Als Cadderly die Armbrust zum Schuß hob, ergab sich ein neues Problem. Das Verschwinden des Teufelchens hatte das interplanare Tor wieder geöffnet, und nun hatte ein Bewohner der Unteren Ebenen den Weg hierher gefunden. In den Flammen erschien ein noch unscharfes, aber riesiges, grausiges Gesicht, das mit jeder Sekunde deutli cher wurde. Cadderly schwenkte die Armbrust instinktiv auf diesen neuen Eindringling, wandte sich dann jedoch wieder der Mumie zu, denn die war das drängendste Problem. Eine neue Brandspur erschien auf dem vergammelten 'Leinen der Mumie; ein neuer Ruck durchfuhr das Monster, aber das greuliche Wesen ließ nicht von Barjin ab. Der Priester schaffte es aufzustehen, wurde aber sofort wieder niedergeschlagen. Eine riesige, schwarze Flügelspitze schob sich aus dem Feuer. Cadderly stockte fast der Atem. Das Wesen, das in den Flammen Gestalt annahm, war riesig, viel größer als das Teufelchen.
Cadderly lud nach und feuerte erneut auf die Mumie. Noch ein Treffer, und jetzt, nachdem Barjin keinen Widerstand mehr leistete, fuhr die Mumie herum. Cadderly fühlte lähmende Angst in sich aufsteigen, aber das verlangsamte seine eingeübten Bewegungen nicht. Er hatte über die Hälfte seiner Pfeile verbraucht und hatte keine Ahnung, ob die restlichen reichen würden, um dieses untote Wesen endgültig zu besiegen; er wußte nicht einmal, ob seine Angriffe dem Monster überhaupt echten Schaden zufügten. Wieder weigerte er sich, sich `von seiner Angst bremsen zu lassen. Wieder sauste ein Pfeil auf die Mumie los. Dieser explodierte nicht, sondern zischte durch ein Loch, das ein früherer Pfeil verursacht hatte, und einfach durch die zer fetzten Leinenbinden hindurch. Cadderly war damit beschäftigt, einen neuen Pfeil einzulegen, aber dann hörte er Barjin stöhnen. Der Pfeil hatte den sitzenden Priester in die Brust getroffen. Die nächste, schier unendliche Sekunde endete mit einem Geräusch, das Cadderly schon befürchtete, denn der Pfeil hatte noch genug Wucht gehabt, um zu brechen und zu explodieren. Die Mumie trat einen Schritt vor, so daß Cadderly den Priester sehen konnte. Barjin lag am Boden, nur Kopf und Schultern lehnten noch an der Wand. Keuchend preßte er die Hände auf das Loch in seiner Brust. Seine Augen blickten ganz starr, obwohl er nichts zu sehen, nichts als seinen eigenen Tod wahrzunehmen schien. Wieder keuchte er, dann quoll ihm ein Blutschwall aus dem Mund, und er lag ganz still. Cadderly dachte nicht einmal mehr nach. Sein Kopf schien sich von seinem Körper zu lösen, um seinem Überlebensinstinkt und seinem wahnwitzigen Zorn Raum zu geben. Er klemmte sich den Wasserschlauch unter den freien Arm, zog den Pfropfen heraus und trieb die Mumie mit einem Strahl von Weihwasser an die Wand zurück. Die Flüssigkeit zischte, als sie das verzauberte Leinen traf, und brannte schwarze Löcher hinein. Die Mumie brüllte auf und wollte sich davor schützen, doch sie konnte den kleinen, schmerzhaften Wasserstrahl nicht aufhalten. In dem Becken war jetzt deutlich ein scheußliches Gesicht zu sehen, das hungrig grinste. Cadderly wollte beide Gegner mit einem einzigen Angriff erledigen. Er gab dem Wasserschlauch einen anderen Winkel, um die Mumie auf die Flammen zuzutreiben, damit sie das Becken vielleicht umwerfen und dadurch das Tor schließen würde. Die Mumie scheute tatsächlich vor dem Strahl zurück, aber obwohl sie das Weihwasser fürchtete, fürchtete sie das offene Feuer um so mehr. So sehr er sich bemühte, Cadderly konnte sie nicht nahe genug an das Tor treiben. Hilflos versuchte Cadderly, den Strahl aufrechtzuerhalten und einen weiteren Pfeil einzulegen. Er zielte mit der Armbrust auf die Mumie, um zwischen deren erhobenen Armen eine tödliche Stelle zu finden. Wo mochte sie am verwundbarsten sein, fragte er sich ratlos. An den Augen? Im Herzen? Der Schlauch war leer. Die Mumie richtete sich auf. »Letzter Schuß«, murmelte Cadderly resigniert. Er wollte schon den Abzug betätigen, doch dann fiel ihm - wie vorhin bei Barjin - eine andere Möglichkeit ein. Als Pikel durch die Wand gestürmt war, hatte er der Statik einen gewaltigen Schaden zugefügt. Das Loch in der Wand war volle vier Fuß breit und sechs Fuß hoch; es reichte fast bis zu den Deckenbalken. Ein Querbalken direkt über dem Loch hing unsicher auf einem angebrochenen Stützbalken. Cadderly schwenkte die Waffe in diese Richtung und feuerte. Der Pfeil traf das Holz an der Verbindung zwischen den beiden Balken, explodierte zu einem kleinen Feuerball und ließ Splitter in alle Richtungen regnen. Der Balken rutschte ab, aber da er am anderen Ende noch festhing, schwang er wie ein Pendel herunter. Die Mumie kam nur einen kurzen Schritt von der Wand weg, bevor der Balken sie traf und zur Seite warf. Sie kippte in das Becken, so daß sie den Dreifuß mit der brennenden Schale im Fallen mitriß. Das abscheuliche Bild des Bewohners einer anderen Welt verschwand in einem riesigen Feuerball. Flammen umfingen die Mumie; gierig verzehrten sie viele Lagen von Stoffbinden. Noch einmal gelang es der Mumie, sich wieder aufzurichten - Cadderly fragte sich entsetzt, ob sie selbst diesen Angriff überstehen würde -, doch dann brach sie zusammen und verbrannte. Ohne das verzauberte Becken war das Tor geschlossen, und jetzt war auch Barjins gefährlichstes Ungeheuer verschwunden. Die Flammen loderten noch einige Male auf, dann verloschen sie und überließen den verrauchten Raum dem fahlen Licht heruntergebrannter Fackeln. Cadderly begriff, daß sein Sieg in Reichweite war, aber er konnte kaum aufatmen. Newander lag tot zu seinen Füßen, andere waren oben gestorben, und was den jungen Gelehrten, der nicht länger unschuldig war, vielleicht am meisten verstörte: Er hatte einen Menschen getötet. Barjin lehnte noch an der Wand. Seine leblosen Augen starrten Cadderly an und bannten den wehrlosen jungen Mann mit ihrem anklagenden Blick. Cadderly ließ den Arm sinken, und die Armbrust fiel zu Boden.
Aus dem Nebel Cadderly hätte diese Augen so gern geschlossen! Er wollte zu dem toten Priester gehen und seinen Kopf wegdrehen, aber er wußte genau, daß er nicht die Kraft hatte, sich Barjin zu nähern. Statt dessen ging er zu Danica, dann schaute er zurück, weil es ihm so vorkam, als ob die Augen des toten Priesters ihm immer noch folgten.
Cadderly fragte sich, ob sie das nun immer tun würden. Erschrocken zuckte er zusammen, als plötzlich eine kleine Gestalt durch die Öffnung neben dem Priester schoß. Dann brachte er ein schwaches Lächeln zustande, denn Percival kletterte an ihm hoch und setzte sich zeternd und keckernd wie immer auf seine Schulter. Cadderly kraulte das Eichhörnchen mit einem Finger zwischen den Ohren ein tröstliches Gefühl -, dann ging er zu seinen Freunden. Danica schien ganz friedlich zu schlafen. Sie war jedoch durch Cadderlys Rufe oder Schütteln nicht zu wecken. Beide Zwerge befanden sich in ähnlichem Zustand. Ihr durchdringendes Schnarchen ergänzte sich zu einer seltsamen, sägenden Harmonie. Besonders Pikel klang irgendwie zufrieden. Cadderly war beunruhigt. Er hatte geglaubt, die Schlacht sei endlich gewonnen - warum konnte er dann seine Freunde nicht wecken? Wie lange würden sie schlafen? Er hatte von Flüchen gehört, die tausendjährigen Schlaf hervorriefen oder solange andauerten, bis schließlich gewisse Bedingungen erfüllt waren. Vielleicht war die Flasche noch nicht besiegt. Er ging zu dem Altar zurück und untersuchte sie. Mit bloßem Auge betrachtet, sah sie jetzt harmlos aus, deshalb versuchte es Cadderly mit einem tieferen Blick. Er führte eine Reihe Entspannungsübungen durch, die ihn in eine halbmeditative Trance brachten. Der Nebel löste sich rasch auf, soviel konnte er feststellen, und es entwich nichts mehr aus dem verschlossenen Behälter. Das ließ Cadderly hoffen. Vielleicht würde der Schlaf andauern, bis der Nebel sich verzo gen hatte. Die Flasche selbst schien jedoch nicht ganz neutralisiert zu sein. Cadderly spürte ein Eigenleben, eine Energie, darin, ein böses Pulsieren, das gebannt, aber nicht zerstört war. Vielleicht war alles nur Einbildung, vielleicht war das, was er für Lebenskraft hielt, nur ein Ausdruck seiner eigenen Ängste. Der böse Priester hatte den Nebel den Ultimativen Schrecken genannt, einen Sendboten der Talona. Cadderly erkannte den Namen der bösen Göttin und den Titel, der normalerweise Talonas höchsten Klerikern zukam. Wenn dieser Nebel tatsächlich irgend etwas Göttliches war, würde ein einfacher Stopfen nicht ausreichen. Cadderly kam aus der Trance und setzte sich hin, um nachzudenken. Anscheinend war es wichtig, die Bezeichnung des bösen Priesters für die Flasche zu akzeptieren und sie nicht nur für weltliche - wenn auch wirkungsvolle - Magie zu halten. »Bekämpfe Götter mit Göttern«, murmelte der junge Gelehrte. Wieder stellte er sich vor den Altar und betrachtete nicht nur die Flasche, sondern die glänzende, edelsteinbesetzte Schale davor. Cadderly fürchtete die Magie, die dieser Gegenstand besitzen mochte, aber er ging das Wagnis ohne Zögern ein, neigte die Schale zur Seite und kippte das Wasser aus, das von den verruchten Händen des Priesters verunreinigt war. Er nahm ein Stück Stoff, ein Stück von Barjins Kleidern, und wischte die Schale gründlich damit aus. Dann fand er draußen im Gang hinter Pikels selbstgemachter Tür Newanders gut gefüllten Wasserschlauch. Cadderly vermied bewußt jeden Blick auf Newander, als er den Raum wieder betrat. Er wollte direkt zum Altar gehen, aber Percival hielt ihn auf. Das Eichhörnchen hockte auf dem toten Druiden, der sich immer noch in halbverwandeltem Zustand befand. »Geh da weg«, schalt Cadderly, aber Percival richtete sich nur höher auf, zirpte aufgeregt und zeigte ihm einen kleinen Gegenstand. »Was hast du denn da?« Percival hielt einen Eichblattanhänger, das heilige Symbol des Silvanus, das an einem dünnen Lederriemen baumelte. »Laß das los!« wollte Cadderly schimpfen, aber dann erkannte er, daß Percival etwas vorhatte. Cadderly bückte sich tief, musterte Percival genauer und suchte im weisen Gesicht des Druiden nach Anleitung. Newanders Miene, so friedlich, so ergeben, hielt ihn gebannt. Percival kreischte in Cadderlys Ohr, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das Eichhörnchen hielt den Anhänger hoch und schien auf den Altar zu zeigen. Auf Cadderlys Gesicht malte sich Verwirrung. »Percival?« fragte er. Das Eichhörnchen hüpfte aufgeregt im Kreis. Dann schüttelte es kurz den Kopf. Cadderly erbleichte. »Newander?« fragte er kaum hörbar. Das Eichhörnchen streckte ihm das heilige Symbol hin. Cadderly erinnerte sich, daß der Tod im Glauben der Druiden nur eine natürliche Folge des Lebens war. Er nahm das Eichblatt entgegen und ging zurück zum Altar. Plötzlich schüttelte sich das Eichhörnchen, dann sprang es auf Cadderlys Schulter. »Newander?« fragte Cadderly wieder. Das Eichhörnchen reagierte nicht. »Percival?« Es stellte die Ohren auf. Cadderly fragte sich, was gerade geschehen war. Instinktiv wußte er, daß Newanders Geist vor seinem Abschied noch Percivals Körper benutzt hatte, um ihm eine Nachricht zu übermitteln, aber sein störrischer Sinn für die Realität erklärte ihm, daß er sich die ganze Geschichte wahrscheinlich nur eingebildet hatte. Wie auch immer, jetzt hielt er das heilige Symbol des Druiden in der Hand und wußte, daß Silvanus ihm helfen würde. Cadderly wünschte sich, er hätte bei seinen gewöhnlichen Pflichten besser aufgepaßt, bei den einfachen Zeremonien, die von den jüngeren Priestern der Erhebenden Bibliothek erwartet wurden. Mit zitternden Händen goß er das Wasser aus Newanders Wasserschlauch in die edelsteinbesetzte Schale und legte - mit einem stummen Gebet an Newanders Gott - das heilige Symbol hinein. Er befand, daß zwei Götter besser waren als einer, um das Böse in Schach zu halten. Außerdem würde Newanders Gott, der für die natürliche Ordnung sorgte, den Fluch vielleicht am wirksamsten bekämpfen können. Er schloß die Augen und sprach die zeremoniellen Worte zur Reinigung von Wasser, wobei er einige Male gewaltig ins Stottern geriet, dank mangelnder Übung.
Dann blieb ihm nur noch die Hoffnung. Er hob die Flasche hoch und tauchte sie langsam in die Schale. Das Wasser wurde kalt und nahm dieselbe rote Farbe an, die in der Flasche herrschte, so daß Cadderly schon befürchtete, er hätte überhaupt nichts Gutes bewirkt. Einen Augenblick später jedoch verschwand die rote Färbung restlos aus Wasser und Flasche. Cadderly sah genau hin. Irgendwie spürte er, daß das Pulsieren vergangen war. Hinter ihm wich Pikels Schnarchen einem fragenden: »Ei, ei?« Cadderly hob vorsichtig die Schale hoch und blickte sich um. Danica und beide Zwerge regten sich, obwohl sie noch nicht ganz bei sich waren. Cadderly ging zu einem kleinen Schrank, stellte die Schale hinein und schloß die Tür, bevor er sich umdrehte. Danica setzte sich stöhnend auf. Mit beiden Händen hielt sie sich den Kopf. »Mein Kopf«, sagte Ivan schleppend. »Mein Kopf.« Eine halbe Stunde später traten sie aus dem Tunnel an der Südseite der großen Bibliothek. Ivan und Pikel schleppten den bereits steifen Newander, und beide Zwerge und Danica klagten über furchtbare Kopfschmerzen. Beglückt stellte Cadderly fest, daß gerade der Morgen dämmerte - ein gutes Zeichen. Der Alptraum war zu Ende. Seine drei Begleiter stöhnten laut und schirmten ihre Augen vor dem Licht ab. Cadderly hätte über sie gelacht, doch als er sich um drehte, ließ ihn der Anblick von Newander seinen Spott vergessen. ¤¤¤ »Ah, hier bist du, Rufo«, sagte Großmeister Avery. Kierkan Rufo lag auf seinem Bett und stöhnte matt, denn ihn schmerzten die vielen Wunden, die er sich in den letzten paar Tagen zugezogen hatte, und das Hämmern in seinem Kopf, das nicht enden wollte. Avery watschelte zu ihm hin, blieb aber einige Male stehen, um zu rülpsen. Auch Avery tat der Kopf weh, aber das war gar nichts im Vergleich zu den Qualen in seinem aufgeblähten Bauch. »Steh schon auf«, sagte der Großmeister und griff nach Rufos schlaffem Handgelenk. »Wo ist Cadderly?« Rufo antwortete nicht, gestattete sich nicht einmal ein Zwinkern. Der Fluch war vorüber, aber Rufo hatte nicht vergessen, was er in den letzten paar Tagen von Cadderly und Danica erlitten hatte. Seine eigenen Handlungen hatte er ebensowenig vergessen, und er fürchtete die Anklagen, die man zweifellos in den kommenden Tagen gegen ihn erheben würde. »Wir haben so viel zu tun«, fuhr Avery fort, »so unglaublich viel. Ich weiß nicht, was unserer Bibliothek widerfahren ist, aber es ist wirklich eine sehr böse Geschichte. Es gab Tote, Rufo, viele Tote, und viele andere wandern verwirrt umher.« Rufo zwang sich nun doch zum Aufsetzen. Sein Gesicht war geschwollen und an vielen Stellen von getrocknetem Blut verkrustet. Knöchel und Handgelenke waren noch wund von den Fesseln der Zwerge. An den Schmerz dachte er in diesem Moment jedoch kaum. Was war mit ihm geschehen? Warum hatte er sich Danica auf diese dumme Art genähert? Wie hatte er Cadderly seine Eifersucht so deutlich in Form offener Feindseligkeit zeigen können? »Cadderly«, flüsterte er lautlos. Er hätte Cadderly beinahe umgebracht. Diese Erinnerung fürchtete er ebensosehr wie die möglichen Folgen. Seine Erinnerungen kamen wie aus einem dunklen Spiegel in seinem Herzen, und Rufo war sich nicht sicher, ob ihm gefiel, was er dort sah. ¤¤¤ »Seit fünf Tagen gab es keine Zwischenfälle mehr«, verkündete Abt Thobicus einige Tage später vor der Versammlung in seinem Audienzsaal. Alle überlebenden Großmeister der Sekten des Oghma und des Deneir waren anwesend, dazu Cadderly, Kierkan Rufo, die Zwerge und die beiden verbliebenen Druiden. Thobicus blätterte einen Stapel Berichte durch, dann erklärte er: »Die Erhebende Bibliothek hat es überstanden.« Alles nickte und freute sich, wenn auch verhalten. Die Zukunft hätte wieder rosig aussehen können, aber die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, besonders das Gemetzel unter der Ilmaterdelegation und der Heldentod des Druiden Newander, waren nicht so leicht zu vergessen. »Dafür müssen wir dir danken«, sagte Thobicus zu Cadderly. »Du und deine Freunde, ihr habt große Tapferkeit und Einfallsreichtum im Kampf gegen die böse Krankheit gezeigt, die über uns gekommen ist.« Kierkan Rufo versetzte Großmeister Avery heimlich einen Stoß. »Ja?« fragte Abt Thobicus. »Ich wurde gebeten, uns alle daran zu erinnern, daß Cad derly trotz seiner Tapferkeit auch eine gewisse Verantwortung für diese Katastrophe trägt«, fing Avery an. Er warf Cadderly einen Blick zu, der verriet, daß er keinen Zorn ge gen ihn hegte.
Der junge Gelehrte war nicht beleidigt. Nachdem er den Großmeister unter dem Einfluß des Fluchs gesehen hatte, glaubte er zu wissen, wie Avery ihm gegenüber wirklich fühlte. Er bedauerte, die Gelegenheit nicht besser genutzt zu haben, um sich über seinen Vater und seine ersten Tage in der Bibliothek zu informieren. Dann schaute er an Avery vorbei zu dem großen, linkischen Mann, der dem Großmeister höhnisch über die Schulter blickte. Cadderly hätte jetzt auflisten können, was Rufo ihm und Danica angetan hatte, aber angesichts der besonderen Umstände war es unwahrscheinlich, daß gegen ihn - oder gegen andere, die unter dem Einfluß des Fluchs gestanden hatten - irgendwelche Maßnahmen ergriffen werden würden. Abgesehen davon war Cadderly, der
immer noch nicht ganz verstand, was der Fluchnebel angerichtet hatte, sich nicht sicher, ob Vorwürfe angebracht waren. Und schließlich hatte er nicht wirklich gesehen, daß Rufo ihn die Treppe ins Gewölbe hinuntergestoßen hatte. Vielleicht war der böse Priester mit ihnen beiden im Weinkeller gewesen. Vielleicht hatte der Priester Rufo ebenso bewegungsunfähig gemacht wie später Ivan, war dann an ihm vorbeigeschlichen und hatte Cadderly geschubst. Cadderly schüttelte den Kopf und hätte fast laut gelacht. Es war wirklich nicht wichtig, fand er. Jetzt war der Zeitpunkt der Vergebung, wo alle verbliebenen Priester zusammenstehen mußten, um die Bibliothek wieder herzurichten. »Findest du etwas lustig?« fragte Abt Thobicus ziemlich streng. Cadderly erinnerte sich an die Anklage, die man gegen ihn erhoben hatte, und stellte fest, daß seine Abschweifung vielleicht nicht ganz angebracht gewesen war. »Wenn ich etwas sagen darf«, warf Arcite ein. Thobicus nickte. »Für das Öffnen der Flasche trifft den Jungen keine Schuld«, sagte der Druide. »Es ist mutig von ihm, diese Tatsache überhaupt zuzugeben. Wir sollten alle bedenken, daß er gegen einen Mann gekämpft hat, der uns beinahe alle besiegt hätte. Ohne Cadderly und ohne meinen Freund und die Götter wäre der Böse stark genug gewesen, den Sieg davonzutragen.« »Das ist wahr«, räumte Abt Thobicus ein, »und wahr ist auch, daß Cadderly teilweise für das verantwortlich ist, was geschehen ist. Darum erkläre ich, daß die Pflichten des jungen Cadderly in dieser Sache noch nicht beendet sind. Wer wäre besser geeignet, alle Werke in unserem Besitz durchzuarbeiten, die solche Flüche betreffen, um mehr über die Herkunft des Priesters und dieses Ultimativen Schreckens herauszufinden, den er als Sendboten Talonas beschrieben hat?« »Ein Studienjahr?« wagte Cadderly zu fragen, obwohl er nicht zum Sprechen aufgerufen war. »Ein Studienjahr«, bestätigte Abt Thobicus. »An dessen Ende du hier Bericht erstatten wirst. Nimm diese Verantwortung nicht auf die leichte Schulter, wie es dir anscheinend mit so vielen deiner Aufgaben passiert.« Er fuhr mit seinen Warnungen fort, aber Cadderly hörte ihn nicht einmal mehr. Er hatte ein Studienjahr bekommen, eine Ehre, die üblicherweise den höchstrangigen Priestern des Deneir vorbehalten war und meist nur den Großmeistern selbst zukam! Als Cadderly Avery und Rufo ansah, wußte er, daß auch sie die Ehre verstanden, mit der er bedacht worden war. Avery versuchte vergeblich, sein breiter werdendes Lächeln zu beherrschen, Rufo noch vergeblicher, seine Enttäuschung zu verbergen. Schließlich stapfte er sogar empört aus dem Audienzzimmer - gegen jede Regel, wofür er mit Sicherheit bestraft werden würde. »Vielen Dank«, sagte Cadderly zu Arcite. »Wir sind es, die dankbar sein sollten«, erinnerte Arcite. »Als der Fluch uns alle befallen hat, waren es Arcite und Cleo, die nicht dagegen kämpfen konnten und besiegt worden wären.« Cadderly mußte kichern. Die Druiden, Danica und die Zwerge, die zu ihnen getreten waren, sahen ihn neugierig an. »Es ist wirklich ironisch«, erklärte Cadderly. »Newander glaubte, er habe versagt, weil es sein Herz nicht danach ver lange, so zu werden wie ihr, durch und durch zum Tier zu werden.« »Newander hat nicht versagt«, betonte Arcite. »Silvanus hat ihn gehalten«, fügte Cleo hinzu. Cadderly nickte und lächelte wieder, denn er erinnerte sich an den tiefen Frieden im Gesicht des toten Druiden. Plötzlich sah er Arcite an und dachte über die Sache mit dem Eichhörnchen nach. Ob die Druiden wohl wußten, ob Newanders scheidender Geist durch Percivals Körper gesprochen hatte? Aber vielleicht sollte man manche Dinge lieber der Phantasie überlassen. »Ich bräuchte deine Armbrust und einen oder zwei Pfeile«, meinte Ivan, nachdem die Druiden sich verabschiedet hatten. »Will mir selbst eine machen!« Cadderly griff prompt nach dem Waffengurt an seiner Hüfte, zuckte dann zurück und schüttelte den Kopf. »Keine mehr«, sagte er ernst. »Es ist eine gute Waffe«, protestierte Ivan. »Zu gut«, erwiderte Cadderly. Vor kurzem hatte er von Schwarzpulver gehört, von Kanonen, die irgendwo auf der Welt riesige Geschosse auf gegnerische Armeen schleuderten. Averys Schelte, Cadderly sollte doch lieber Gond verehren, klang in dem jungen Gelehrten nach. Gerüchten zufolge waren es Gondpriester gewesen, die diese neue, schreckliche Waffe erfunden hatten. Obwohl die Armbrust ihm sehr geholfen hatte, war Cadderly von Gedanken an Nachbauten entsetzt. Ja, im Vergleich zum Feuerball eines Zauberers oder dem Blitz, den ein Druide rufen konnte, war die Macht der Armbrust armselig, aber es war eine Macht, die Unbedarften in die Hände fallen konnte. Krieger, Priester und Magier verbrachten Jahre damit, Geist und Körper zu schulen. Waffen wie Schwarzpulver und die von Cadderly erfundene Armbrust mit den explodierenden Pfeilen umgingen jedes vorherige Opfer, jede Selbstdisziplin. Ivan wollte wieder Einwände erheben, aber Danica hielt ihm einfach den Mund zu. Ivan riß sich los, murmelte ein paar Flüche und ließ die Sache dann auf sich beruhen. Cadderly schaute zu Danica, denn er wußte, daß sie ihn verstand. Aus demselben Grund, aus dem Danica ihm nicht die Bebende Hand zeigte, konnte er seine Erfindung nicht verbreiten lassen. ¤¤¤
Druzil mußte im rauchigen Gestank der Unteren Ebenen sehr lange warten. Er wußte, daß Barjins Tor kurz nach seinem Verschwinden wieder geschlosssen worden war, doch er konnte nicht herausfinden, ob der Priester das mit Absicht getan hatte oder nicht. Hatte Barjin überlebt? Hatte er ein neues Opfer gefunden, um die Flasche mit dem Fluch wieder zu öffnen? Die Fragen nagten an dem Teufelchen. Selbst wenn Barjin keinen Erfolg gehabt, nicht überlebt hatte, selbst wenn die kostbare Flasche zerstört worden war, kannte er jetzt das Potential seines Rezepts. Eines Tages, das schwor er, würde der Chaosfluch wieder über die Welt kommen. »Beeil dich doch, Aballister«, maulte er aufgeregt. Der Zauberer hatte ihn nicht auf die materielle Ebene zurückgerufen. Das konnte das nervöse Teufelchen nicht ignorieren, besonders, da Aballister immer noch das Rezept besaß. Wenn er irgendwie von Druzils mentaler Verbindung zu Barjin erfahren hatte, würde er dem Teufelchen vielleicht nie wieder genug vertrauen, um es zurückzuholen. Druzil wußte nicht, wie viele Tage vergangen waren - die Unteren Ebenen hatten ein anderes Zeitmaß -, aber schließlich hörte er einen fernen Ruf, eine bekannte Stimme. Er sah das Flackern eines feurigen Tors und hörte den Ruf wieder, diesmal fordernder. Schon brauste er durch den interplanaren Tunnel und krabbelte bald darauf aus Aballisters Becken in den bekannten Raum in Burg Trinitatis. »Zu lange«, schnaubte das Teufelchen trotzig, um die Oberhand zu gewinnen. »Warum hast du gewartet?« Aballister sah ihn mißmutig an. »Ich wußte nicht, daß du in die Unteren Ebenen zurückgekehrt warst. Mein Kontakt zu Barjin war abgebrochen.« Druzil stellte die langen, spitzen Ohren auf, als Aballister den Priester erwähnte. Das brachte ein höhnisches Lachen auf die Lippen des Zauberers. Auf der anderen Seite des Zimmers stand der zerbrochene Zauberspiegel. Ein dicker Sprung durchlief ihn der Länge nach. »Was ist passiert?« fragte Druzil, der Aballisters Blick zu dem Spiegel lenkte. »Ich habe seine Kräfte überfordert«, antwortete der Zauberer. »Um Barjin zu helfen.« »Und?« »Barjin ist tot. Er hat kläglich versagt.« Druzil fauchte enttäuscht. Aballister war pragmatischer. »Er war zu tollkühn«, befand er. »Er hätte besser aufpassen müssen, hätte sich ein verwundbareres Ziel aussuchen müssen. Die Erhebende Bibliothek! Das ist die bestgeschützte Festung der Gegend, da wimmelt es vor mächtigen Priestern, die gegen uns vorrücken würden, falls sie von unseren Plänen erfahren! Barjin war ein Narr, hörst du? Ein Narr!« Druzil, ganz der getreue Vertraute, hielt es für besser, nichts dagegen einzuwenden. Außerdem waren Aballisters Feststellungen offensichtlich richtig. »Aber keine Angst, mein geflügelter Freund«, fuhr Aballister ein wenig freundlicher fort. »Das ist nur ein kleiner Rückschlag für unsere Sache.« Druzil fand, daß der Zauberer ein bißchen zu überschwenglich war. Barjin war vielleicht ein Rivale gewesen, aber dennoch auch ein Verbündeter. »Ragnor und seine Truppen marschieren nach Shilmista«, fuhr Aballister fort. »Der Ogrillon wird die Elfen schlagen und südlich um die Berge ziehen. Wir werden das Land eben auf konventionelle Weise erobern.« Druzil gestattete sich ein wenig Zuversicht, obwohl er einem heimtückischen Angriff wie dem Chaosfluch den Vorzug gab. »Aber er war so nah dran, Meister«, jammerte er. »Barjin hatte die Bibliothek in die Knie gezwungen. Er hätte es nur zu Ende bringen müssen, dann wäre der Eckpfeiler jedweden Widerstands, den wir zu befürchten haben, ver schwunden, bevor der Rest des Landes überhaupt von der Gefahr in seiner Mitte erfahren hätte.« Druzil ballte seine Klauenhand. »Der Sieg war zum Greifen nahe!« »Barjins Griff war nicht so stark, wie er gedacht hat«, betonte Aballister scharf. »Vielleicht«, gab Druzil zu. »Aber es war dieser junge Mann, der am Anfang die Flasche geöffnet hat, der zurückkam und ihn besiegte. Barjin hätte ihn einfach umbringen sollen.« Aballister nickte, denn er erinnerte sich an das letzte Bild, das er von Barjins Altarraum gesehen hatte. Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Überraschend fähig, der Kleine«, schimpfte Druzil. »Nicht ganz überraschend«, erwiderte Aballister gleichmütig. »Er ist mein Sohn.«
Epilog Er kauerte zwischen turmhohen Stapeln dicker Bücher und war ganz in seine wichtige Aufgabe vertieft. Die Sicherheit der Erhebenden Bibliothek stand auf dem Spiel, und nur, wenn Cadderly den Ursprung des Chaosfluchs und die Herkunft des mächtigen Priesters entdeckte, würde diese Sicherheit wieder gewährleistet. sein. Der junge Gelehrte wußte, daß das Geschehene weit über die Bibliothek hinaus von Bedeutung sein mochte. Carradoon am See im Osten war keine große, gut befestigte Stadt, und die Elfen in Shilmista waren weder zahlreich noch besonders an dem interessiert, was außerhalb ihrer Grenzen vor sich ging. Wenn das Auftauchen des bösen Priesters nur ein Auftakt für zukünftige Geschehnisse war, brauchten Cadderlys Großmeister dringend Informationen.
Der junge Gelehrte forschte abwechselnd nach bekannten Flüchen und bekannten Symbolen. Er arbeitete sich durch Dutzende von Büchern und alten, vergilbten Schriftrollen, befragte jeden Gelehrten, ob Gastgeber oder Besucher, der sich in diesen Bereichen irgendwie auskannte. Der fremde Priester hatte Talona als seine Göttin angegeben, und das Symbol des Dreizacks ähnelte den Insignien der Herrin des Giftes - ein Dreieck mit Tränen. Aber für welche besondere Verbindung der Dreizack stand, konnte Cadderly nicht herausfinden. Danica sah Cadderly von weitem zu, denn sie wollte seine wichtige Arbeit nicht stören. Sie verstand, wieviel Disziplin er jetzt brauchte. Seine entschlossene Konzentration blendete alles andere, einschließlich ihrer selbst, vorläufig aus. Die junge Frau war unbesorgt. Sobald es die Zeit erlaubte, würden sie und Cadderly ihre Bezi ehung fortsetzen. Für Ivan und Pikel verstrichen die Tage in wundervoller Langeweile. Beide Zwerge waren in den Katakomben schwer verwundet worden, aber beide waren bald auf dem Weg der Besserung. Pikel hielt an seinem Entschluß fest, Druide zu werden, un d nachdem Ivan Newanders Heldentaten mit angesehen hatte, schimpfte er nicht mehr über Pi kels Entscheidung. »Ich glaube nicht, daß ein Zwerg zum Druiden taugt«, raunzte er, wenn ihn jemand danach fragte, »aber das muß mein Brüderchen entscheiden.« So verlief das Leben in der alten, stolzen Bibliothek allmählich wieder in geordneten Bahnen. Der Sommer hielt seinen Einzug, und der Sonnenschein schien alle von dem Alptraum zu erlösen. Wer in diesem Jahr an die Türen der Bibliothek kam, bemerkte oft hoch oben in den Zweigen eines Baums an der Straße ein dickes, weißes Eichhörnchen, das in der Sonne lag und meistens Cacasanüsse mit Butter knabberte.
Dem Elfenprinzen Elbereth kam die Sonne weniger herrlich vor. Eher enttarnte sie ihn, ließ ihn verwundbarer werden. Das war ein seltsames Gefühl für den erfahrenen Krieger, der vier Pfeile abschießen konnte, bevor der erste sein Ziel erreichte, und der mit seinem kunstvoll geschmiedeten Schwert einen wütenden Riesen erschlagen konnte. Es war genau diese Kriegerausbildung, die Elbereth jetzt wachsam werden ließ. Vor einer Woche hatte er einen Trupp Elfen gegen eine kleine Gruppe riesiger, haariger Grottenschrate geführt. Seine Schar hatte den Kampf schnell gewonnen, aber diese Grottenschrate waren kein wilder Haufen gewesen, sondern gut geschult und gut bewaffnet, und jeder hatte einen Handschuh mit dem gleichen Zeichen getragen. Elbereth hatte schon in einigen Kriegen gekämpft. Er erkannte einen Spähtrupp, wenn er einen traf. Der entschlossene Elf führte sein müdes Pferd durch die zerklüfteten Bergpässe. Die unzähligen Glöckchen an dem strahlenden, weißen Hengst klangen in Elbereths Ohren nicht fröhlich, auch die Sonne kam ihm alles andere als warm vor. Die Magie von Shilmista war schon lange nicht mehr so stark wie früher; Elbereths stolzes Volk war nicht mehr so zahlreich. Wenn ein größerer Angriff bevorstand, würde Shilmista schwer zu kämpfen haben. Elbereth hatte den Wald verlassen, um zu erfahren, wer sein Volk bedrohte. Er brachte einen der Handschuhe zu dem einzigen Ort der Region, wo er vielleicht etwas über seine Feinde erfahren konnte: der Erhebenden Bibliothek. Wieder sah er das fremdartige Symbol auf dem Handschuh an: einen Dreizack mit Flaschen. Dann kam am Horizont das efeubewachsene Gebäude der Bibliothek in Sicht.