KNAUR SCIENCE FICTION FANTASY Herausgeber Werner Fuchs »Das eherne Schwert« ist der erste Band einer neuen Fantasy-Seri...
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KNAUR SCIENCE FICTION FANTASY Herausgeber Werner Fuchs »Das eherne Schwert« ist der erste Band einer neuen Fantasy-Serie, die in Aventurien, der Welt des FantasyRollenspiels DAS SCHWARZE AUGE, spielt. Die Romane dieser Serie haben keinen Fortsetzungscharakter. Doch sie haben eine Gemeinsamkeit – Aventurien, dessen Völker, Geographie, soziale Gegebenheiten usw. sie auf spannende und abenteuerliche Weise vorstellen. Diese Romane sind daher nicht nur für den Fantasy -Leser gedacht, sondern ebenso für den Rollenspieler, der mehr über die phantastische Welt Aventurien erfahren möchte. Andreas Brandhorst wurde 1956 im Kreis MindenLübbecke geboren und begann Ende der siebziger Jahre Science-Fiction-Romane zu schreiben. Er war Expose- und Romanautor der Serie »Die Terranauten« und übersetzte u.a. Autoren wie Dickson, Silverberg, Hogan und Randall. Zu seinen bekanntesten Titeln zählen die Science-FantasyRomane »Schatten des Ichs« und »Der Netzparasit«.
Originalausgabe © Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München 1985 Umschlaggestaltung Franz Wöllzenmüller Umschlagillustration Tom Kidd Satz C. H. Becksche Buchdruckerei, Nordlingen Druck und Bindung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany • 01.08.1985 ISBN 3-426-05826-X 1. Auflage
ISBN 3-426-05826-X
880
Andreas Brandhorst
Das eherne Schwert Fantasy-Roman
Knaur®
Ein Novize: »Meister, wie gelangt ein Dieb zu großen Ehren?« Und der Meister: »Ein Dieb muß wie ein Schatten sein, ein dunkler Schemen in der Nacht, ebensowenig festzuhalten wie der Rauch eines Feuers. Ein Dieb raubt, aber niemals bestiehlt er einen Armen. Ein guter Dieb ist klug, denn er weiß, wann Phex ihm seinen Segen schenkt, und er versteht es, die Omen richtig zu deuten und sich nur dann in das Festungshaus eines reichen Bürgers zu schleichen, wenn die Zeichen günstig sind. Schlechte und wenig begabte Diebe werden gefaßt. ] ene aber, die Wagnisse richtig beurteilen und abwägen können, erklimmen die Ruhmesleiter der Gilde. Oftmals ist das Leben eines Diebs kurz. Sieh mich an, Schüler: Ich bin alt. Und das bedeutet Ehre.«
1. IM TURM DER HEXEN Das junge Mädchen war schön – wie alle Hexen, zumindest diejenigen, die ihr Gesicht noch nicht hinter einem Reifeschleier verbargen. »Du mußt jetzt gehen«, sagte Shaila. »Ich weiß.« In Callehains vom Wein und dem Duft exotischer Rauschkräuter umnebelten Verstand entwickelte sich die dumpfe Erkenntnis, daß es höchste Zeit war. Er streifte die Decke von den Schultern und verließ das Bett. Die Kerze in dem gußeisernen Halter an der Wand war heruntergebrannt, und ihr flackernder Schein ließ unstete Schatten über die Mauern tanzen. Er schwankte an das Fenster und malte mit dem Zeigefinger das Muster seines Meisters in den feuchten Niederschlag, der sich auf dem Glas gebildet hatte. In Al'anfa glänzten noch die Lichter der Nacht, aber am 5
östlichen Horizont glühte bereits der erste Schein des neuen Tages. Seines Tages. Irgendwo in den Gewölben der Gesindebastion pochte der dumpfe Schlag einer Trommel. Callehain zog sich rasch an. Die morgendliche Kühle war wie eine bittere Erinnerung. »Rasch, Callehain.« Shaila war aufgestanden und reichte ihm Hemd und Jacke. Callehain musterte die junge Hexe, während er sich das rauhe Leinen überstreifte. Eine zierliche, anmutige Gestalt, ein ovales Gesicht mit großen Augen, deren Pupillen wie kostbare Juwelen strahlten. Ein Mund mit vollen Lippen, auf denen noch die süßen Schatten vieler Küsse klebten. Es war eine herrliche Nacht gewesen. Für sie beide. An der Tür legte Shaila ihm die Hand auf die Schulter. »Wir werden uns nicht Wiedersehen.« »Shaila, ich...« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Du darfst nicht zurückkehren. Einmal hattest du Glück. Aber die Spione der Hexenkönigin sind überall, und ein zweites Mal entgehst du ihren wachsamen Blicken nicht.« Callehain schwankte und verfluchte den Wein, den er im Verlaufe der Nacht im Übermaß genossen hatte. Er brauchte einen klaren Kopf. Gerade jetzt. »Du hast recht. Heute ist der wichtigste Tag meines Lebens. Während der Weihe erhalte ich meine Meisteraufgabe, und wenn ich sie erfüllt habe und in die Gesindebastion zurückkehre...« »Bin ich bereits eine Hexe und trage einen Reifeschleier wie alle anderen.« Shaila lächelte, doch für den Hauch eines Augenblicks verfinsterte sich ihr Gesicht. »Wenn du es dann wagen solltest, die Gewölbe der Diebe zu verlassen und zu mir zu kommen, muß ich dich verraten. Du weißt, was dann geschieht.« Callehain stöhnte leise, als sich in den milchigen Schwaden der vom Wein verursachten Benommen heit ein diffuses Erinnerungsbild formte: Patreg, ein junger Novize wie er, ein 6
Freund, der in der Nacht vor der Weihe – gemäß der Tradition der jungen Diebe in den unteren Gewölben – ebenfalls in den Hexenturm vorgedrungen war, um seine letzte Lehrnacht bei einer der Schülerinnen Cherinnes zu verbringen. Er war entdeckt – oder verraten – worden, und die Hexenkönigin hatte ihn daraufhin mit einem strafenden Bann belegt und ihn in eine blinde Katze verwandelt, die nach einigen Tagen verendet war. Die Kerze flackerte ein letztes Mal und erlosch dann. In dem grauen Zwielicht war Shaila ein Schatten, der Wärme und Zärtlichkeit versprach. Das junge Mädchen öffnete den Verschluß seiner Halskette und reichte ihm das Schmuckstück. »Nimm das«, flüsterte Shaila. Wieder hallte der Schlag der Trommel dumpf durch die Gänge und Korridore der Feste und kündete von dem Beginn eines neuen Tages. Callehain fühlte, wie sich das Mädchen kurz an ihn schmiegte. »Diese Kette wird dich an mich erinnern. Und vielleicht... vielleicht kann sie dir einmal von Nutzen sein, wenn du dich in einer Lage befindest, in der du Hilfe brauchst. Die Glieder bestehen aus Zwergengold, und das Medaillon...« Ihre Hände schlossen sich sanft um seine tastenden Finger. »Nein, öffne es jetzt nicht. Der Zauber wirkt nur ein einziges Mal, du solltest ihn nicht vergeuden. Geh jetzt. Bald kommt die Hexenkönigin.« Callehain schlüpfte durch die Tür. Es war warm in dem dunklen Gang, wärmer als in Shailas Zimmer, denn durch ein kleines Fenster fiel die bereits halb über den Horizont gestiegene Sonne herein. Der junge Dieb erschrak. Es war später, als er gedacht hatte, und der Weg bis hinab in die unteren Gewölbe der Gesindebastion war noch weit. Callehain schlich an der Wand entlang, bis er die Abzweigung erreichte. Rechts führten die steinernen Stufen einer schmalen Treppe in die Höhe, hinauf zu den Zinnen des Hexenturms. Dort oben befanden sich die Gemächer Cherinnes, ihrer Töchter und Zofen. »Medwyn?« Nichts. Keine Antwort. 7
Callehain schob sich in eine kleine Wandnische, wartete und fluchte. Hatte er schon zuviel Zeit verloren? Befand sich Medwyn bereits auf dem Rückweg? Es wurde jetzt rasch heller und wärmer, und die letzten Spuren des Niederschlags auf den Fenstern verdunsteten. Stimmen flüsterten durch den Gang: das Lachen junger Hexen, die darauf warteten, zur Morgenandacht gerufen zu werden und den Göttinnen Hesinde und Rajha ihre Ehre zu erweisen, das Knurren von Dienern, die Kräuteraltare trugen und aufstellten, das Kichern von Zofen und, von weiter unten, der schrille Schrei eines Quäleropfers. Callehain wartete und versuchte, die Nebel der Benommen heit aufzulösen. Spät. Viel zu spät. Als er es nicht länger aushielt und den Entschluß faßte, nicht mehr auf Medwy n zu warten und sich allein auf den Rückweg zu machen, vernahm er das Geräusch leiser, unsicherer Schritte. Callehain erstarrte und wagte nicht mehr zu atmen. Jemand kam die Treppe herunter, aus der Richtung des Hexensanktuariums. »Calle... Callehain?« lallte eine Stimme. »Bei den Zwölfgöttern!« Callehain sprang lautlos vor und packte den anderen Novizen an den schmalen Schultern. »Wo bist du so lange gewesen? Es ist Tag, und Cherinne...« »Hach, Scherinne.« Medwyn winkte ab, taumelte und mußte sich an der Wand festhalten. In dem durch das nahe Fenster einfallende Licht des neuen Tages konnte Callehain sehen, daß die Augen des Novizen gerötet und die Pupillen geweitet waren. Nein, kein Wein. Irgendeine Kräuterdroge. Und zuviel davon. Callehain sah sich rasch um. Sie waren allein. Nirgends rührte sich etwas. Noch nicht. »Komm jetzt.« Callehain zerrte die kleine Gestalt seines Freundes hinter sich her. Medwy ns Blick war nach innen gerichtet, und ein verträumter Ausdruck zeigte sich in seinem Gesicht. »Hach«, lallte er laut, »was für eine Nacht! Warum kann nicht jeden Tag Diebesweihe sein, hm, Callehain? Schade, 8
daß ich Merha nicht Wiedersehen werde. Du hättest schie sehen schollen. Ein Mädchen wie... wie...« Callehain blieb ruckartig stehen. »Wen?« »Ihre Haut ist wie Milch und Seide, ja, wie Milch und Seide...« »Merha? Sagtest du: Merha?« Callehain starrte seinen Freund entsetzt an. »Ho, sie wird mich beschtimmt nischt vergeschen, da bin ich gansch schicher.« Medwyn stolperte, hielt sich an der Wand fest und lachte. »Sie hat versäumt, mir ein Abschiedsgeschenk zu geben. Also... haha... habe ich mir selbst einsch genommen ...« Schritte schlurften über die steinernen Stufen der Treppe. Callehain hielt Medwyn den Mund zu und zog seinen Freund mit sich durch den Gang. Normalerweise verstanden sich Diebe darauf, lautlos zu schleichen, aber Medwyn schien überhaupt nicht zu begreifen, welche Gefahr ihnen drohte, sollten sie entdeckt werden: Seine betäubte Seele befand sich noch immer bei Merha. Ausgerechnet Merha... Einige Dutzend Meter weiter verbreiterte sich der Korridor. An den Wänden des Hauptgangs hingen kunstvoll geknüpfte Teppiche. Die Scheiben der Fenster bestanden aus Buntglas, und das Licht der Sonne malte ein Regenbogenmuster auf den Boden. Die Kerzen in den schmiedeeisernen Haltern waren bereits von Dienern gelöscht worden. Callehain orientierte sich rasch, und kurz darauf fand er den Zugang zum Kriechschacht. Es knirschte, als er den großen Stein hervorhebelte. Kühle wehte ihm aus der dunklen Öffnung entgegen. »Du verdammter Narr!« keuchte er Medwyn zu, als er den Stein zu Boden ließ. »Merha ist die erste Tochter Cherinnes. Was glaubst du, wie die Hexenkönigin reagieren wird, wenn sie erfährt, daß ihre Lieblingstochter in der Phexnacht von einem Novizen der Diebesgilde besucht wurde?« 9
»Hach, Mer... Merha hatte gegen meinen Beschuch nischts einschuwenden...« Callehain schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht. Es klatschte laut, und er zuckte unwillkürlich zusammen. »Narr. Narr!« Er dachte an Patreg, und trotz der Wärme lief es ihm kalt über den Rücken. »Sie wird uns jagen, Medwyn. Cherinne haßt uns. Bisher hat sie die Autonomie unserer Gilde respektiert, aber jetzt...« »Ich werde der beste Meisterdieb, den es je gab!« Medwyn warf den Kopf in den Nacken, doch diese plötzliche Bewegung ließ ihn erneut taumeln. Callehain mußte ihn festhalten. »Ich bin zu Höherem geboren, als nur reiche Bürger und Sklavenhändler Al'anfas zu bestehlen. Ho, der Hohepriester Dharag wird meinen Namen noch verfluchen und eine hohe Belohnung auf meinen Kopf aussetzen. Die Gilde wird meinen Namen an erster Stelle im goldenen Buch der Ehre verzeichnen, ja, ganz oben... schiehst du diesen Ring? Merha erhielt ihn von Cherinne selbst, ja, und ich habe ihn ihr gestohlen, ohne daß sie etwas merkte, ja, so war es, ich bin schon ein Meister ohne die Weihe...« Eine Kostbarkeit aus Platin war es, und die besten Juweliere Charypsos hatten sie geformt. In der Einfassung glänzte eine rubinene Träne. »Wirf ihn fort. Wirf den Ring fort!« Für einige Augenblicke erwachte der kleine Medwyn aus seiner Träumerei. »Wegwerfen? Den Ring?« »Bei den Zwölfgöttern!« entfuhr es Callehain verzweifelt. »Wenn das Schmuckstück von Cherinne stammt, handelt es sich dabei um ein an sie gebundenes magisches Artefakt. Und das bedeutet, daß die Hexenkönigin jederzeit weiß, wo es sich befindet. Wenn sie von deinem Besuch bei Merha erfährt und ihr das Fehlen des Ringes au ffällt, braucht sie nur eine Beschwörung zu murmeln, und schon weiß sie, wo sie uns finden kann...« In Medwyns grauen Augen glitzerte ein Hauch von Furcht. Vergeblich versuchte er, sich den Ring vom Finger zu 10
streifen. »Er... er sitzt fest, Cal. Er rührt sich nicht von der Stelle. Es ist, als...« Der heulende Klang eines Signalhorns schrillte durch den Korridor, und eine dröhnende Stimme rief: »Diebe! Diebe sind in den Hexenturm eingedrungen! Fangt sie! Bringt sie zur Königin!« Callehain packte Medwyn, hob ihn an und schob ihn in die dunkle Öffnung des Kriechschachtes hinein. Anschließend hangelte er sich selbst in die Höhe. Er nahm sich nicht die Zeit, den Zugang wieder mit dem Stein zu verschließen. Cherinne wußte ohnehin, wo sie sich aufhielten und welchen Fluchtweg sie wählten. »Schneller, Medwyn, schneller!« Er richtete ein stummes Gebet an Phex, den Gott der Diebe, und Medwyn keuchte und schnaufte, während er durch die Dunkelheit kroch. Das Signalhorn ertönte noch einige Male und blieb dann stumm. Stille schloß sich an – eine Stille, die die von Aldahad geschulten Sinne Callehains sensibilisierte. Nach einer knappen Viertellänge* erreichten sie einen in die Tiefe führenden Schacht. Diffuses Licht fiel von oben herein. Medwyn rutschte zur Seite, blieb an der feuchtkalten Mauer liegen und übergab sich zitternd. Callehain kroch an ihm vorbei, griff nach den vom Rost schon halb zerfressenen eisernen Sprossen und blickte nach oben. Eine halbe Länge mochte sie von den obersten Zinnen des Hexenturms trennen. Der junge Novize sah einen hellblauen Fleck. Das Licht des neuen Tages tropfte über mit Schimmel und Moos bedeckte Wände. In den Mauerfugen krochen kleine Springer hin und her, ihre Facettenaugen schienen von innen heraus zu glühen und den Dieb spöttisch zu mustern. Weit hinter ihnen funkelte ein blasser Glanz im Dunkel des Kriechganges.
* Eine Länge entspricht fünfhundert Metern. Diese Maßeinheit ist insbesondere im Süden Aventuriens gebräuchlich, östlich des Regengebirges und südlich der Hohen Eternen.
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»Sie kommen«, flüsterte Callehain. »Bei Phex, sie kommen, um uns zu holen.« Er dachte an eine blinde Katze, die nach einigen Tagen einer unheilbaren Krankheit erlag. »Los, Medwyn. Wenn wir den Hexenturm nicht schnellstens verlassen, findet die Weihe ohne uns statt.« »Die Weihe... ohne mich, den Meister aller Meisterdiebe, dessen Namen im goldenen Buch der Ehre...« Callehain fluchte. Medwyn kletterte in die Tiefe, gefolgt von Callehain. Weit über ihnen glänzten die magischen Lichter der Hexenkönigin, die Cherinnes Diebesjägern den Weg wiesen. Die eisernen Sprossen ächzten und knarrten, Staub rieselte in die Tiefe. Hier und dort fiel Callehains Blick auf die bleichen Knochen vor Jahrhunderten und Jahrtausenden gestorbener Frevler, die einst vom Turmherrn an die Wände dieses Schachtes gekettes wurden und hier verdurstet waren. Callehain war sicher, daß ihm und Medwyn ein noch qualvollerer Tod bevorstand, wenn es der Hexenkönigin gelang, sie in ihre Gewalt zu bekommen. Sie hatten den Grund des Schachtes fast erreicht, als ein Klebnetz dicht an Callehain vorbeifiel, sich entfaltete und nach einem Körper suchte, um den es sich spannen konnte. Medwyn stieß einen dumpfen Schrei aus, als sich das magische Gespinst blitzschnell um seinen rechten Arm wickelte und mit einigen Ausläufern nach seiner Hüfte tastete. Callehain hangelte sich rasch weiter in die Tiefe, zog das Messer und durchschnitt die Fäden. Oben knurrten die Diebesjäger. »Sie wollen uns lebend«, flüsterte Callehain seinem Gefährten zu, der nun allmählich zu begreifen begann, in welcher Lage sie sich befanden. »Aber wenn sie damit keinen Erfolg haben...« Er stieß Medwyn vorwärts, der nach wie vor vergeblich versuchte, sich den Platinring Merhas vom Finger zu streifen. Die rubinene Träne schimmerte nun von innen heraus, und in diesem gespenstischen Glanz wirkte das Gesicht Medwyns wie eine bleiche Fratze. Sie liefen durch ein hohes Gewölbe. Die Wärme des tropischen Tages drang nicht bis in diese 12
Tiefen des Hexenturms vor, und an den Wänden sickerte eiskaltes Brackwasser entlang. Ratten beobachteten sie wachsam und hungrig aus ihren schwarzen Knopfaugen und ergriffen fiepend die Flucht, wenn ihnen die beiden Diebe zu nahe kamen. Als sie die aus verwitterten Holzbohlen bestehende Tür erreichten, machte Callehain eine niederschmetternde Feststellung: Der Durchgang war versperrt. Der Riegel ließ sich nicht einen Fingerbreit bewegen. »Hier kommen wir nicht weiter.« Er sah sich rasch um. Am Ende des halbdunklen Gewölbes zweigten mehrere Gänge ab. Er versuchte, sich die Worte Aldahads ins Gedächtnis zurückzurufen, mit denen der Meister den Novizen die innere Struktur der Gesindebastion erklärt hatte. Aber die letzten Reste des Weinrausches hatten sich noch immer nicht ganz verflüchtigt, deshalb entsann er sich nur an Gesprächsfetzen, zwischen denen er keinen Zusammenhang herstellen konnte. »Hörst du das?« krächzte Medwyn. Stiefel kratzten über die eisernen Sprossen. In der Nähe flackerten magische Lichter. Und in der Ferne, irgendwo jenseits der kalten, dicken Mauern des Hexenturms, flüsterte die Stimme einer Frau: Ihr wißt, daß ich keine Diebe in meinem Turm dulde. Ihr habt mein Gebot gebrochen und noch mehr als das: Ihr habt zwei junge Schülerinnen mit den Freuden des Fleisches vertraut gemacht und damit die magische Reinheit zweier Hexenseelen beschmutzt. Seid verdammt! Seid verflucht dafür, meine erste Tochter angerührt zu haben! Medwyn begann am ganzen Leib zu beben. »Isch... isch glaube, wir müschen n-nach linksch.« Callehain packte ihn am Arm und zerrte ihn mit sich. Während sie durch den Gang liefen, tauchten rechts und links die Konturen alter Truhen und anderer Möbelstücke auf, und hier und dort drohten die finsteren Schatten von rabenartigen Visarskulpturen. Callehain dachte an Phex und hoffte, daß Visar, der Gott des Todes, in der Gesindebastion seine Macht eingebüßt hatte. Runenzeichen bedeckten die Wände. Dann 13
sprangen sie über die Asche eines Beschwörungsfeuers hinweg, daß vor tausend Jahren gebrannt haben mochte. In der Ferne hallten die zielstrebigen Schritte der Diebesjäger, und offenbar schlossen die Diener Cherinnes zu ihnen auf. Callehain dachte kurz an das Medaillon, das er von Shaila erhalten hatte, aber aus irgendeinem Grund schreckte er davor zurück, es jetzt zu öffnen und den Zauber zu verwenden, der ihn nach den Worten des jungen Mädchens aus einer Notlage zu helfen vermochte. Noch befanden sie sich im Hex enturm, und hier gebot die Königin über alle magischen Artefakte – vielleicht auch über die Kette. Voraus wurde es heller, und nach einer weiteren Viertellänge kamen sie an den ersten Fackeln vorbei. Der Ruß der Flammen hatte schwarze Muster an Wände und Decke gemalt, man konnte nur noch Fragmente der einzelnen sich darunter verbergenden Mosaikszenen erkennen. Callehain und Medwyn eilten durch Räume und Zimmer. Sie stießen auch auf einige Zofen, die bei ihrem Anblick die Augen weit aufrissen und gellende Schreie von sich gaben. Feuer brannten in steinernen Kaminen, aber ihre Wärme wurde rasch von den kalten Mauern aufgesogen. »Wo sind wir?« Callehain verharrte, als sie in eine weitere Kammer gelangten – eine, die prunkvoll eingerichtet war: Ein dicker Flaumteppich bedeckte den Boden. Tische, Stühle und Schrank waren aus dem Holz der Jahrhunderteichen gefertigt, die nur auf den höchsten Gipfeln Altimonts wuchsen. Mit Edelsteinen besetzte Gehänge aus Gold und Silber waren an aus der Wand ragenden Schlangenköpfen – dem Sy mbol Hesindes – befestigt. In einer Kohlenpfanne glühten Aschereste. Medwyn torkelte auf einen Vorhang zu und zog ihn beiseite. In dem mit Marmorplatten ausgelegten Nebenraum stapelten sich mehr Kostbarkeiten, als Callehain selbst in den Schatzkammern der reichen Handelsherren Al'anfas gesehen hatte. »Ohhhh!« machte Medwyn und begann gleich damit, sich die Taschen seiner Leinenjacke mit Diamanten und schwarzen Juwelen aus dem Perlenmeer südöstlich von Maraskan vollzustopfen. Callehain packte den kleinen Novizen am 14
Kragen und zerrte ihn zurück. »Eine... eine scholche Gelegenheit bekommen wir nie wieder«, klagte Medwy n mit weinerlicher Stimme. »Ach, Cal, vielleicht gibt uns Aldahad bei der Weihe nicht einmal eine Meisteraufgabe, wenn wir mit einem scholchen Schatz zurückkehren. Und dann bekommt mein Name endlich den Platz, der ihm gebührt: in der ersten Zeile des goldenen ...« »Buches der Diebesehre.« Callehain vollführte eine Geste der Verzweiflung. »Du mußt völlig übergeschnappt sein.« Sie verließen die Hesindekammer, in der die Hexen der Gesindebastion die Gaben der Bitt- und Fragesteller lagerten, die im kältesten Monat des Jahres kamen, um hier Antwort auf ihre Fragen zu finden. Dumpfer Trommelschlag hallte durch die Gewölbe des Hexenturms. Irgendwo nicht allzu weit entfernt begann eine magische Bö zu heulen, und Kerzen- und Fackellichter verneigten sich flackernd vor dem Wind. Mit suchenden Armen tastete die Bö durch die Gänge und steinernen Tunnel, während jenseits der Mauern die Sonne höherkletterte und eine helle, strahlende Wärmeglocke über die Stadt an der Regenbucht stülpte. Callehain und Medwyn liefen weiter, und der Fluch Cherinnes folgte ihnen. Sie sprangen über breite Wehrspalten, die vor Äonen angelegt worden waren, um die zentralen Bereiche des Hexenturms vor Eindringlingen von außen zu schützen. Mit angehaltenem Atem schlichen sie sich an den steinernen Wächtern vor den Priesterkammern vorbei, und die opalenen Augen in den granitenen Körpern begannen zu gleißen und zu glänzen, als sie die Schatten der beiden Diebe erkannten. Knirschend hoben sich Arme, aber bevor die Finger aus Stein zugreifen konnten, waren Callehain und Medwyn schon verschwunden. Die magische Bö holte sie ein und umkreischte sie. Sie stemmten sich ihr entgegen, kamen nun aber wesentlich langsamer voran. In einer Ruhekammer – sie hatten jetzt fast die Basis des Hexenturms erreicht, und hier war die Sonne nur mehr eine Erinnerung an Licht und Wärme – trafen sie auf einen blinden Hexenbediensteten. Das Gesicht des Mannes war zernarbt. Man hatte ihm die Augenlider zugenäht, so daß er nicht in das Antlitz einer geweihten Hexe 15
sehen konnte, wenn sie sich zur Ruhe begab und vorher ihren Reifeschleier ablegte, der ihre Züge verhüllte. »Wer...« »Freunde«, flüsterte Callehain. »Wir sind Freunde.« »Hach«, lallte Medwyn. »Der größte Dieb bin ich, der beste und geschickteste der ganzen Gilde. Man wird meinen Namen noch in tausend Jahren loben...« Der Bedienstete war zwar blind, nicht aber gebrechlich. Blitzartig zog er einen Dolch unter seiner Jacke hervor und stürzte sich auf Medwy n. Der Gefährte Callehains schrie auf, als die scharfe Klinge über seinen linken Unterarm kratzte. Er verlor den Halt und stürzte zu Boden. Ihr könnt nicht entkommen! rief die Stimme der Hexenkönigin. Ergebt euch eurem Schicksal. Callehain versetzte dem Blinden mit der Handkante einen wohlgezielten Schlag an den Hals, der Mann gab einen unartikulierten Laut von sich und sank neben dem zitternden Medwyn zu Boden. Der Dolch entglitt seinen kraftlos gewordenen Händen. »Verdammter Ring!« kreischte Medwyn und zerrte an dem Schmuckstück, das er Merha gestohlen hatte. »Hätte ich dich doch nie berührt.« »Jetzt ist es zu spät.« Callehain half seinem Freund wieder auf die Beine, und sie setzten die Flucht fort. Die magische Bö hatte ihre Kraft verausgabt. Plötzlich herrschte eine sonderbare Stille. Es war, als hielte der ganze Hexenturm den Atem an, und Callehain fühlte einen warmen Hauch in Höhe des Herzens, dort, wo das Medaillon auf seiner Brust ruhte. »Der Ausgang!« rief Medwyn. Seine grauen Augen leuchteten. »Dort ist er!« Sie standen vor einer schweren Eisentür mit einem Schlangenknauf. Das unstete Licht einer Talgfackel spiegelte sich auf dem Metall wider. Callehain sah sich mißtrauisch um. Bis auf den dumpfen Trommelschlag blieb alles still. Medwyn stemmte das Tor auf. »Auf was wartescht du noch? Vertrau mir, Cal. Diesch ischt der richtige Weg, gansch 16
schicher.« »Irgend etwas stimmt nicht.« Callehain runzelte die Stirn und atmete leise. Es war zwar kalt, fast so kalt wie in den untersten Gewölben der Gesindebastion, aber die lange Flucht hatte ihn erhitzt, und Schweiß perlte auf der Stirn des jungen Diebs. »Ach Quatsch. Komm endlich. Sonst beginnt die Weihe noch ohne uns.« Mit diesen Worten trat Medwyn in den finsteren Gang – und verschwand von einem Augenblick zu m anderen.
Callehain starrte in die Dunkelheit des Tunnels, aber in der Schwärze konnte er nichts erkennen. »Medwyn?« Er erhielt keine Antwort. Langsam wagte er sich bis zur Tür vor, zögerte und streckte den Arm aus. Die Hand verschwand in der Finsternis. Und wie aus weiter Ferne vernahm er eine schrille Stimme. »Bei Phex! Cal, hilf mir, so hilf mir doch...« »Bleib stehen, Dieb!« Die zweite Stimme war so kalt wie das Eis der Raschtulsgletscher. Callehain drehte sich langsam um. Sein Blick fiel auf eine in ein schneeweißes Gewand gekleidete Frau. Das Gesicht war hinter einem Reifeschleier verborgen, aber der junge Novize wußte trotzdem, wen er vor sich hatte: Dies war Cherinne, die Hexenkönigin. Hinter ihr duckten sich die in Kettenhemden gekleideten Diebesjäger. Dolche, Messer und Kurzschwerter trugen sie, und einige schwangen Klebnetze, bereit zum Wurf. Cherinne hob einen Arm, und Callehain sah erst jetzt die Kugel, die in der Hand der Hexenkönigin ruhte. Sie ähnelte einem Schwarzen Auge, so wie es von den Gildenmagiern benutzt wurde, aber es hieß, die Hexen seien in der Kunst bewandert, diese ihre magischen Artefakte aus den schwarzen Perlen zu schleifen, die östlich von Jilaskan von Tauchern geerntet wurden. Viele Juweliere hatten versucht, den Hexen nachzueifern, aber keinem von ihnen war es gelungen, die 17
Kostbarkeiten zu magischer Aktivität anzuregen, das verstanden nur die Hesindepriesterinnen. Und natürlich die Hexen von Al'anfa. Im Innern der schwarzen Perle sah Callehain einen Ring aus Platin, und in der Einfassung schimmerte eine rubinene Träne. »Dies ist dein Ende, Dieb und Frevler«, sagte Cherinne leise. »Ich habe Merha nicht angerührt. Ich war es nicht. Ich habe ihr den Ring nicht gestohlen.« Ein blasser Funken löste sich von Cherinnes Fingerspitze, und als er Callehain an der Stirn berührte, verspürte der Dieb eine bleierne Schwere, die sich auf seine Schultern senkte. Die Knie begannen zu zittern, und es schien eine ganze Ewigkeit zu dauern, bis er die Drehung um die eigene Achse beendet hatte, einen Schritt vortrat und sich in die Schwärze fallen ließ, von der Medwyn verschluckt worden war.
»Callehain? Bist du das, Callehain?« Die Stimme war wie ein Windhauch, der die Nebelschwaden der Müdigkeit zerfaserte. Der junge Dieb fühlte etwas Festes und doch Nachgebendes unter sich und stemmte sich langsam und vorsichtig in die Höhe. Um ihn herum war alles schwarz – schwärzer noch als eine Sternenund mondlose Nacht. »Ja. Ja, ich...« Eine Hand berührte ihn im Gesicht, und warmer Atem streifte seine Wange. »Bei Pheksch, wie kommen wir hier nur wieder rausch... ?« »Der richtige Weg, nicht wahr?« »Pah! Auch ein ruhmreicher Meisterdieb kann sich einmal irren. « Callehain stöhnte. Die beiden Gefährten hakten sich ein und wanderten durch die Finsternis. Der Boden zu ihren Füßen knirschte und knisterte, und irgendwo tropfte Wasser: Plop, plop, plop. 18
Beschwörungsnacht, dachte Callehain benommen. Ist das die Strafe Cherinnes? Hat sie uns dazu verdammt, durch diese lichtlose Schwärze zu irren, bis wir verdursten oder in irgendeinen Abgrund stürzen? Aber noch immer spürte er einen warmen Hauch auf seiner Brust, und diese Stimme, die er nicht verstand, gab ihm Zuversicht. »Nach rechts«, sagte er. »Wir müssen nach rechts, Medwyn.« »B-bist du gansch s-schicher?« »Ja.« Sie wanderten durch die Finsternis. Callehain horchte in sich hinein und ließ sich von einem warmen Raunen und Wispern leiten. Mehrmals tastete er nach dem Medaillon, aber nach wie vor wagte er es nicht, das Schmuckstück zu öffnen. Irgendwann – die Müdigkeit war inzwischen wie ein Magnet, der beständig versuchte, ihn an den in der Schwärze verborgenen Boden zu pressen – wurde es schlagartig hell um sie herum. Direkt vor ihnen lagen die runden Öffnungen der Tunnel, die hinabführten in die tiefsten Gewölbe der Gesindebastion, in jenen Bereich, der allein den Dieben vorbehalten war. An die letzten Längen des Weges konnte sich Callehain später nicht mehr genau erinnern. Er konzentrierte sich allein darauf, die Augen offenzuhalten und einen Fuß vor den anderen zu setzen, und irgendwann fühlte er, wie kräftige Hände nach seinen Armen griffen. Kurz darauf spürte er unter sich eine weiche Matratze. Er schlief sofort ein. In seinen Träumen sah er einen Schatten, der ihm und Medwyn folgte, eine schemenhafte Gestalt, die mit dem Mauerwerk zu verschmelzen schien, wenn er den Blick auf sie richtete. Verhüllte Gesichter blickten ihn an, und manche lachten und verspotteten ihn, während andere Lippen flüsterten: »Er weiß nichts. Er ahnt nichts. Er ist nur ein junger Novize, ein Dieb aus der niedersten Gilde der Gesinde.« Dann wurde alles von einer Decke des Vergessens verhüllt. 19
Manchmal verzweigt sich der Weg des Lebens, und es fehlen Schilder an der Gabelung. Hab Vertrauen. Und entscheide dich nicht immer für den leichtesten Pfad, denn oftmals ist er es, an dessen Ende Unheil droht. Au s d e m Buc h d er Träume , da s g eschr ieben wu rde, als Lo t seine tausend Tr änen vergoß .
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2. DIEBESWEIHE UND MEISTERAUFGABE Callehain konnte sich nicht daran erinnern, daß es in der Gildenhalle jemals so warm und hell gewesen war. Hunderte von Fackeln brannten in den verzierten Halterungen an den Wänden, und in Dutzenden von Kohlenpfannen, die von marmornen Fuchsskulpturen getragen wurden, glühte heiße Asche. Hier und dort stieg Rauch auf, wenn einer der Meister Duftstaub in die Flammen warf. Auf einem Podium standen die in schwarze und mit purpurnen Stickereien geschmückten Ritualgewänder gekleideten Novizen, die im Phexmonat des vergangenen Jahres ihre Lehre begonnen hatten, und sie sangen ein hallendes Lobeslied auf die Meister. Callehain und Medwyn wurden in Begleitung von zehn anderen Novizen der Gilde in den Saal geführt. Sie trugen bereits die Kleidung von Gesellen: enge Hosen aus lohfarbenem Walleder, ein graues Hemd aus Leinen, von dessen Säumen kleine Rochenzähne baumelten, eine leichte Überjacke aus Halbseide und einen Gürtel, dessen einzelne Flechtfäden aus den Därmen im Regengebirge erlegter Mantas bestand. Schlichte Kleidung war es, die nur das Sternensymbol der Gesindebastion aufwies. Wenn sich die Diebe nach der Weihe in die Stadt begaben, so zeigte dieses Sy mbol nur, daß sie aus der Bastion stammten, aber kein Bürger konnte feststellen, ob er es mit Meuchlern, Quälern oder Betrügern zu tun hatte. Vor einem zweiten und größeren Podium wurde den Novizen bedeutet stehenzubleiben, und Medwyn flüsterte Callehain zu: »Vier Jahre bin ich schon bei Aldahad in der Lehre, und in jedem Phexmonat wurden Diebe zu Gesellen geweiht. Nie aber war die Zeremonie so feierlich. Weißt du, was los ist?« Callehain schüttelte nur stumm d en Kopf. Er hielt den Kopf gesenkt, so wie es das Ritual verlangte, und selbst aus den Augenwinkeln konnte er nicht viel erkennen. Er hörte, wie 21
sich die anderen Novizen flüsternd unterhielten, und er entnahm den Gesprächsfetzen, daß ihre Begleiter ebenfalls in höchstem Maße erstaunt waren. Der Gesang des Chors wurde nach und nach leiser. Callehain vernahm ein Rascheln, als die Würdenträger der Gilde auf das Podium traten. Zum wiederholten Mal verfluchte er den Wein und die Rauschkräuter, die er in der vergangenen Nacht mit Shaila genossen hatte. Er hatte das Gefühl, als sei sein Schädel auf die doppelte Größe angewachsen, und seine Gedanken mußten sich durch zähe Nebelfluten zwängen, bevor sie Form annahmen. Trotz der in der Gildenhalle herrschenden Wärme fröstelte er, und irgendwo tief in seinem Innern regte sich der Schatten einer düsteren Vorahnung. Die Chorsänger verstummten, und einige Augenblicke lang herrschte Stille. Dann ertönte die volle Stimme Aldahads, des ältesten Meisters der Gilde: »Gruß euch, Meister, und Gruß auch an euch, ihr Gesellen und Novizen. Ein freudiger Anlaß hat uns hier zusammengeführt, denn heute ist der Tag der Diebesweihe.« »Hört, hört«, murmelten die anderen Meister. »Zwölf Schüler sind es, die mit dem heutigen Tag die Lehre unseres Gesindes beenden, zu Gesellen werden und eine Aufgabe erhalten, die sie zu Meistern machen kann – wenn es ihnen gelingt, sie zu erfüllen.« Ein dumpfer Trommelschlag, und beinah wäre Callehain erschrocken zusammengezuckt. Er widerstand der Versuchung, vor der Nennung seines Namens aufzublicken, und er horchte verwundert in sich hinein: Das düstere Gefühl verstärkte sich; aus dem Schatten wurde ein fester Körper mit deutlichen Konturen, und ein lippenloser Mund flüsterte unhörbare Worte. Während Callehain jener Stimme an der Grundfeste seines Ichs lauschte, fuhr Meister Aldahad damit fort, die einzelnen Phasen der Diebeslehre zu schildern. Er beschrieb die philosophischen Unterweisungen, die einen jungen Charakter formen sollten, wies immer wieder auf den ehernen Grundsatz der Gilde hin, nachdem nur das Bestehlen von Reichen und 22
Mächtigen moralisch angemessen war, und er verdammte jene Begierden, die einige junge Gesellen in den vergangenen Jahren dazu angetrieben hatten, ihr Augenmerk in erster Linie auf Gelegenheiten persönlicher Bereicherung zu richten. Er erzählte, auf welche Weise man die Körper der Novizen an Kälte, Entbehrungen und Schmerzen gewöhnt hatte und wie es gelungen war, die Muskelreflexe zu verbessern. Er lobte die besonderen Vorzüge jedes einzelnen Novizen, der an diesem Tag geweiht wurde – und Callehain runzelte überrascht die Stirn, als sowohl sein Name als auch der Medwyns keine Erwähnung fanden. In einer nahen Kohlenpfanne glühte inzwischen neue Kohle, die einer der jüngeren Meister auf die noch glimmende Asche gelegt hatte. Als das Gildeneisen heiß genug war, rief Aldahad erneut die Namen der Novizen aus. Diesmal traten die Betreffenden vor und hoben den Kopf. Sanfte Lautenmelodien erklangen, und die Musikanten sangen das alte Lied vom Traurigen Dieb, der in Gareth in einen Kerker geworfen wurde, weil er in die Schatzkammer des Königs des Neuen Reiches eingedrungen war, um ihn zu bestehlen und die Kostbarkeiten an die Armen zu verteilen, die sich unter den Geißeln der Steuereintreiber duckten. Tangarad war sein Name, und auf ihn berief sich die Gilde Al'anfas und wahrte sein Andenken auch noch nach tausend Jahren. Während dieses Liedes zischte es leise, wenn sich der heiße Kopf des Gildeneisens den Novizen in einem ganz bestimmten Bereich an der Hüfte in die Haut brannte. Callehain hörte, wie eins der drei Mädchen, die heute an der Weihe teilnahmen, vor Schmerz nach Luft schnappte, aber die junge Diebin preßte noch rechtzeitig die Lippen aufeinander, bevor ihrer Kehle ein Aufschrei entweichen konnte. Er wartete darauf, daß er ebenfalls an die Reihe kam, aber wieder blieben Medwyn und er ausgespart. Die anderen zehn Novizen erhielten von Aldahad ihre Meisteraufgaben, dankten den Würdenträgern des Gesindes und verließen den Saal. In der nachfolgenden Stille tönten die Worte Aldahads wie ein Donnerschlag, als er rief: »Ein frohes Ereignis ist die Diebesweihe zu Ehren von Phex, unserem Einzigen Gott, aber am strahlenden Himmel 23
dieses Tages schwebt auch eine düstere Wolke, denn wir haben zwei Gildenfrevler unter uns. Callehain und Medwyn – blickt auf!« Die Vorahnung war jetzt zu einem Kloß geworden, der im Halse Callehains anschwoll und ihm das Atmen zur Qual machte. Langsam hob er den Kopf, und es fiel ihm nicht leicht, seine Verblüffung zu verbergen, als er die Gestalten auf dem Podium sah. Aldahad stand ganz vorn, gehüllt in die farbenprächtige und mit Quarzen und Amethy sten geschmückte Zeremonientunika. Der Meister war hochgewachsen und hager, sein Gesicht hohlwangig und zerfurcht. Viele Winter und Sommer hatte Aldahad gesehen, und Hunderte von Novizen waren von ihm in der Kunst des Stehlens unterwiesen worden. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und hatten viel von ihrem einstigen Glanz eingebüßt. Kristallstaub glänzte in seinem grauen Bart. Neben ihm standen einige andere Meister des Gesindes, jüngere Männer, die Callehain weniger gut kannte als Aldahad. Aber sie waren es nicht, die ihn – und auch Medwyn, der neben ihm leise zu stöhnen begann – so erstaunten. Zur Ausbildung gehörte auch das Studium der Gildengeschichte, soweit sie in den alten Büchern festgehalten war, und er konnte sich nicht entsinnen, von einer Diebesweihe gelesen zu haben, an der auch Repräsentanten der anderen in der Gesindebastion vertretenen Gilden und Clans teilgenommen hatten. Diesmal aber waren sie anwesend, die Oberhäupter der Halsabschneider und Betrüger, der Fälscher und Meuchler, der Wegelagerer und Meuterer, der Stecher und Quäler und auch der anderen, kleineren Gesindegesellschaften, die seit Jahrhunderten in der Alten Bastion von Al'anfa ihren Nachwuchs ausbildeten und ihre jeweiligen Philosophien verkündeten. »Cal, hast du gesehen?« flüsterte Medwyn erschrocken. »Es sind auch drei Hexen dabei...« Callehain nickte kaum merklich. Die schneeweißen Gewänder der Hexen fielen inmitten der viel dunkleren Kleidung der anderen Gildenvertreter sofort auf. Helle Augen musterten die beiden Diebe durch den dichten Vorhang der Reifeschleier. 24
»Ihr habt es gewagt, in der Nacht vor der Weihe die Gewölbe der Diebesgilde zu verlassen, obwohl ihr wußtet, daß euch das untersagt ist. Während eurer Ausbildung dürft ihr euch nur in Begleitung eines Meisters außerhalb der Gesindekammern bewegen.« Irgendein vages Erinnerungsbild begann sich in Callehain zu formen. Er entsann sich der Schwarzen Kammer im Hexenturm, an die Magische Nacht, in der sie fast die Orientierung verloren hätten, wäre nicht das Medaillon gewesen. Das Medaillon... Auch jetzt verspürte der junge Novize wieder ein sonderbares Prickeln, das von dem auf seiner Brust ruhenden Zwergengold ausging. Es war, als versuchte eine Stimme zu ihm zu sprechen – eine Stimme, die er nicht verstehen konnte. Plötzlich entsann er sich, daß er während ihrer Flucht zurück in die Gewölbe der Diebe auch noch etwas anderes gesehen hatte, einen Schemen, der ihnen folgte, eine Gestalt ohne Gesicht und deutliche Konturen. Ein Spion vielleicht? Ein Spion der Hexenkönigin? Aber was hatte das für einen Sinn? Cherinne wußte, wer in ihren Turm vorgedrungen war. Sie hatte Callehain gesehen, sogar zu ihm gesprochen. Und die Identität Medwyns war ihr sicher ebenfalls kein Geheimnis. Callehains Blick glitt über die Gesichter und Masken der anderen Gesindevertreter. Den Meuchlern und Quälern in ihren blutroten Foltergewändern war deutlich anzusehen, wie sehr sie den Aufenthalt in den untersten Gewölben der Gesindebastion verabscheuten. Die Fälscher und Stecher erweckten einen eher gelangweilten Eindruck, und die Meuterer, Wegelagerer und all die anderen Clanoberhäupter schienen dem Geschehen mit einem gewissen Maß Schadenfreude zu folgen. Callehains Aufmerksamkeit richtete sich auf Aldahad, und in den trüben Augen des alten Meisters erkannte der Novize auch eine Spur Verständnis und Mitgefühl. »Und noch mehr als das«, fuhr Aldahad fort. »Ihr seid in den Turm der Hexen vorgedrungen, und das ist eine 25
Verletzung der Gesinderegeln. Ich muß euch strafen, Novizen. So sieht es die Übereinkunft der Gilden und Clans vor.« Einige Augenblicke lang herrschte Stille, und Callehains Gedanken rasten. Fast fünf Jahre lang hatte er auf diesen Tag gewartet, und jetzt... »W-was hat das alles zu bedeuten?« flüsterte Medwyn an seiner Seite, und Callehain dachte: Narr. Es ist deine Schuld, verdammt! Merha. Ausgerechnet Merha! Aldahad holte tief Luft. »Ihr werdet nicht das Brandmal der Gesellen erhalten. Der von euch begangene Frevel beweist, daß ihr noch nicht reif genug seid, um in den Stand eines Gesellen erhoben zu werden. Für ein weiteres Jahr sollt ihr Novizen bleiben, und im nächsten Phexmonat...« »Nein!« Eine der drei Hexen trat vor und blieb neben Aldahad stehen. Ihr Reifeschleier war wie eine Wolke aus feinem weißen Rauch, und dahinter funkelten zornige Augen. »Bei den Zwölfgöttern!« hauchte Callehain. »Medwyn, das ist Cherinne.« »Das reicht nicht aus«, erklangen in der angespannten Stille die Worte der Hexenkönigin. »Diese beiden Diebe dort haben reine Hexenseelen mit Sinnesfreuden befleckt. Diese Untat verlangt eine wesentlich härtere Strafe.« Und wie das Zischen einer Schlange: »Einer von ihnen verbrachte die Nacht bei Merha, meiner ersten Tochter.« Einige Quäler verzogen die narbigen Gesichter, und die jüngeren Meister neigten die Köpfe nach rechts und links und raunten sich etwas zu. »Ich verstehe deinen Zorn«, sagte Aldahad schwer, »aber ich muß dich daran erinnern, daß die Bestrafung von Dieben allein mir obliegt, dem Oberhaupt dieses Gesindes.« Cherinne warf den Kopf in den Nacken. Für den Bruchteil eines Augenblicks wurden unter ihrem Schleier volle Lippen und gerötete Wangen erkennbar. »In jedem Phexmonat schleichen sich deine Diebe in meine Domäne, Aldahad. Sie 26
stören die Reifeandacht meiner Schülerinnen, und manchen rauben sie gar die Gabe, die sie zu Hexen macht. Dieser Frevel muß endlich aufhören.« Blasse Irrlichter lösten sich von ihren Fingerkuppen, schwebten funkenstiebend empor und formten sich zu einem brennenden magischen Sy mbol. Der Wärmehauch des Medaillons verstärkte sich. »Diesmal sind deine Novizen zu weit gegangen. Diesmal verlange ich Genugtuung. Die Gildenübereinkunft wurde nach dem letzten Gesindekrieg getroffen, Aldahad. Sie wurde wiederholt gebrochen, nicht von mir, sondern von deinen Schülern, Meister der Diebe. Wenn diese beiden Novizen nicht die Strafe erhalten, die ich fordere, so bin ich zu einer neuen Konfrontation bereit. Ich werde Gilburian zu Hilfe rufen, jenen magischen Bruder, der in den Diensten Dharags steht. Und anschließend, Aldahad, hast du es mit der ganzen Macht Visars und seiner Boron-Priester zu tun.« Die Fackelflammen knisterten und flackerten, als bei der Erwähnung des Namens des Todesgottes plötzlich eine kalte Bö durch den Gildensaal fauchte. Fette schwarze Rauchschwaden stiegen von den Kohlepfannen auf. Die Vertreter der anderen Clans waren jetzt sichtlich unruhig und nervös geworden, und in ihren Mienen spiegelte sich große Besorgnis wider.*
* Der letzte Gesindekrieg fand während des »Krieges der Magier« s t a t t , i m J a h r e 5 9 4 d e r Z e i t r e c h n u ng d e s A l t e n R e i c h e s ( i m J a h r e 3 9 9 der in Gareth [Neues Reich] gebräuchlichen Zeitrechnung). Er löschte die Gilden der Vergifter und Ehrbaren Vierteiler völlig aus. Die Halsabschneider und Folterer verloren den Großteil ihres bis dahin nicht unbeträchtlichen Einflusses. Die einzelnen in Mengbilla gelegenen Clanhäuser wurden zerstört, und nur Rudimente der Gildentraditionen blieben übrig. Im Jahre 761 AR (232 NR) wurde der Pakt von Al'anfa geschlossen. Seitdem haben alle Gesinde ihre Hauptniederlassung in der S t a d t a n d e r R e g e n b u c h t . D i e H e x en a b e r g e n i e ß e n d e n b e s o n d e r e n Schutz der Boron-Priester, denn obzwar der Paria Gilburian in den Diensten des Hohenpriesters Dharag steht, sind dann und wann doch noch andere magische Dienste erforderlich, um die Macht der Boron abzusichern.
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Medwyn wandte sich ruckartig um und stürzte in Richtung Ausgang. Cherinne hob beide Arme und rief: »Deine Flucht wird nun zu Ende sein, und du sollst erstarren zu...« »Nein, Cherinne.« Eine dritte Gestalt trat vor, ein Mann, der fast so alt war wie Aldahad. Seine hellen Augen glänzten kummervoll. Die Hexenkönigin wirbelte herum. »Turmherr, das ist eine Auseinandersetzung, die allein die Hexen und Diebe angeht, den Rahm und den Abschaum.« »Und doch«, erwiderte der Mann in dem schlichten Gewand, »hast du eben mit einem Gesindekrieg gedroht, der sicher alle Gilden betrifft. Nein, Cherinne, das ist keine Lösung.« Callehain wandte kurz den Kopf zur Seite. Medwyn war zu Boden gesunken und rang nach Luft. Der Bann der Hexenkönigin hatte nur einen Teil seiner Wirkung entfalten können. »Welche Strafe verlangst du?« fragte Aldahad leise. »Den Tod!« Medwyn stöhnte, und Callehain erblaßte. Der Turmherr trat auf Cherinne und das Oberhaupt der Diebesgilde zu. »Ich schlage einen Kompromiß vor«, sagte er, und der Rest seiner Worte verlor sich in dem Rauschen, das jäh in Callehains Ohren dröhnte. Alle seine Träume lösten sich auf wie Rauch, der vom Wind zerfasert wurde, und er begriff jetzt, daß es weitaus schlimmer stand, als er zuvor geglaubt hatte. Verbitterung stieg in ihm empor. Und er wartete. Nach einer Zeitspanne, die ihm wie tausend Ewigkeiten erschien, wandte sich Aldahad wieder den beiden Novizen zu. Seine Augen blickten traurig und melancholisch. »Ich erkläre eure Ausbildung hiermit als beendet. Ihr erhaltet nicht das Brandmal der Gilde. Ihr werdet aus unserer Gemeinschaft ausgestoßen, und es ist allen Novizen, Gesellen und Meistern ausdrücklich verboten, euch Unterstützung und Hilfe irgendeiner Art zu gewähren. Parias sollt ihr sein, von allen 28
anderen Dieben gemieden.« Aldahad holte tief Luft. »Nur eine einzige Möglichkeit habt ihr, eure Schuld zu sühnen und den Stand von Gesellen zu erlangen.« Er sah Cherinne an, und die Hexenkönigin fuhr spöttisch fort: »Findet die Stadt der Verlorenen Seelen und stehlt den Seelenstein, der von Fuldigor, dem letzten Drachen, gehütet wird.« »Aber...« Medwyn schnappte nach Luft. »Das... das ist doch nur eine Legende. Niemand weiß, wo diese Stadt liegt und ob es sie überhaupt gibt. Wie sollen wir sie finden?« »Fragt doch das Orakel von Tschintai«, erwiderte Cherinne höhnisch. Und im Anschluß an diese Worte wandte sie sich um und verließ den Raum. Callehain fröstelte. Ihm war plötzlich eiskalt.
Ein Schüler: »Meister, wie ist das Unmögliche zu vollbringen?« Und der Meister: »Nichts ist unmöglich. Mut, Zuversicht, Geschick und Entschlossenheit – das sind die Schlüssel, die alle Tore öffnen, selbst die Türen der am besten geschützten Schatzkammern. Und je schwieriger die Aufgabe, desto größer der Ruhm.« – »Aber Meister, gibt es nicht Grenzen für das Geschick eines Diebes?« Und der Meister: »Fallen werden von Menschen erdacht und konstruiert, und so manche Falle kann sich als ein Weg erweisen, der schließlich zum Ziel führt. Denk daran, Novize: Es ist wichtig, niemals zu verzagen. Denn wer aufgibt, hat verloren, bevor er eine Gelegenheit hatte, sich zu beweisen.«
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3. ABSCHIED UND HOFFNUNGSSCHIMMER Callehain nahm Abschied von der Kammer, in der er einige lange Jahre seines Lebens verbracht hatte. Die aus der steinernen Decke wachsenden Stummel der Tropfsteine waren während seiner Ausbildungszeit zu stummen Freunden geworden. Hier und dort fiel sein melancholischer Blick auf Vorhänge, deren Farben längst verblaßt waren. Ein anderer Novize vor ihm hatte offenbar versucht, einen der uralten Teppiche zu restaurieren, war in diesem Bemühen aber ebenso offensichtlich gescheitert: Der Stoff – vor einigen hundert Jahren von den geschickten Händen der Waldmenschen von Token geknüpft – war zerfranst und schimmelbesetzt. Die Einrichtung der Novizenkammer bestand nur aus einem knarrenden Bett samt Matratze, einem Stuhl, der dringend einer Reparatur bedurfte, und einem Tisch, auf dem sich die rußigen Spuren niedergebrannter Kerzen zeigten. An der einen nur roh behauenen Wand hatte Callehain ein Regal befestigt, und darauf lagen die Objekte, die er während seiner ersten Diebeszüge in Begleitung Aldahads gestohlen hatte: die Pfeife eines Sklavenhändlers, das Weihetuch eines Webers, der von der Arbeit seiner zwei Dutzend Lehrlinge lebte, der kristallene Kelch eines Reeders, dessen Schiffe in jedem Monat einmal aus der Regenbucht segelten und im Bereich der Inseln von Benbukkula weit im Süden reiche Sklavenbeute machten. In Al'anfa ging die Rede, daß jener Reeder aus seinem kristallenen Kelch das Blut der hübschesten Sklavinnen zu trinken pflegte. Callehain wußte natürlich nicht, ob das der Wahrheit entsprach oder es sich dabei nur um Tavernengeschwätz handelte. In jedem Fall aber war er auf dieses Beutestück besonders stolz, auch wenn es keinen allzu großen – materiellen – Wert verkörperte. 30
»Du bist traurig, nicht wahr?« Callehain drehte sich um. Aldahad war unbemerkt ins Zimmer getreten. Seine trüben Augen musterten den einstigen Novizen mitfühlend. »Ja.« »Ich kann dich verstehen.« Aldahad ließ sich ächzend auf die Bettkante sinken. Unschlüssig hielt er die aus rauhem und schmucklosem Leinen gefertigte Pariajacke in den Händen. »Ich weiß, was du sagen willst.« Callehain trat auf ihn zu, und plötzlich empfand er so etwas wie Trotz. »Ich muß die Jacke tragen und darf sie niemals ablegen. Alle sollen sehen, daß ich ein Paria bin.« Tränen des Zorns quollen ihm in die Augen. »Du bist aufgebracht.« »Wundert dich das? Was habe ich schon getan? In der Nacht vor der Weihe schleichen sich die Novizen immer in den Turm der Hexen. Das ist Diebestradition. Medwyn und ich hatten das Pech, entdeckt zu werden. Das ist alles. Wir haben keine so harte Strafe verdient.« Erschrocken hielt er inne. Aldahad war immer gut zu ihm gewesen und in den vergangenen Jahren zu einer Vaterfigur geworden. Außerdem hatten sich Novizen ihren Meistern gegenüber respektvoll zu verhalten. Aber, dachte Callehain verbittert, ich bin ja kein Novize mehr, sondern ein Paria. »Du hast recht«, seufzte Aldahad, und sein Blick kehrte sich nach innen. »Die Strafe ist zu hart.« Er sah auf. »Zieh das an.« Und während er aus der Zeremonientunika schlüpfte und sich die graue Pariajacke überstreifte, sagte Aldahad: »In der Nacht vor der Weihe... nun, auch ich war im Hexenturm, wie alle anderen, und noch heute denke ich gerne an jene Nacht zurück. Ja, du brauchst mich gar nicht so verwundert anzusehen.« Aldahad lachte leise. »Schließlich war ich nicht immer alt, sondern auch einmal ein junger Mann wie du. Es ist verboten – war es schon damals –, aber die Meister sahen und sehen großzügig über die Verletzung dieser Vorschriften 31
hinweg. Oh, im Laufe der Jahre wurden immer wieder Diebe entdeckt oder verraten, und die meisten von ihnen erlitten kein sonderlich angenehmes Schicksal.« »Patreg...« »Patreg ist nur ein Beispiel von vielen, Callehain. Nun, diesmal aber... Ihr habt den besonderen Zorn Cherinnes erweckt.« Er schüttelte den Kopf und schloß kurz die Augen. »Niemals hättet ihr eine der Töchter der Hexenkönigin besuchen und sogar bestehlen dürfen.« »Aber...« »Ja, sie hat den Platinring in der Gildenhalle nicht erwähnt, um sich vor den Oberhäuptern der anderen Gesinde keine Blöße zu geben. Aber der Turmherr und ich wissen Bescheid. Cherinne trug den Vorfall dem Rat der Gilden vor, und daraufhin ließ sich die Sache nicht mehr vertuschen. Ich mußte euch bestrafen. Du hast selbst gehört, mit welchen Konsequenzen sie drohte, Callehain. Es gibt nichts Furchtbareres als einen Gildenkrieg. Stell dir einmal einen Kampf zwischen uns Dieben und den anderen Gesinden vor. Wir hätten es nicht nur mit der Magie der Hexen – und des Parias Gilburian – zu tun, sondern auch mit den Quälern, Meuchlern und all den anderen.« Aldahad ließ die Schultern hängen. In diesen Augenblicken wirkte er wie ein Greis, und Callehain begriff erst jetzt in vollem Ausmaß, wie alt der Meister war. »Nein, mir blieb keine andere Wahl.« Als er erneut aufblickte, lächelte er dünn. »Immerhin habt ihr noch immer die Möglichkeit, zu Gesellen und anschließend zu Meistern zu werden.« »Die Stadt der Verlorenen Seelen. Pah! Nichts weiter als eine Legende. Cherinne hat uns eine Aufgabe gestellt, die unmöglich zu erfüllen ist. Medwyn und ich werden für immer Paria sein.« Aber Aldahad sagte leise: »Vor vielen Jahren, als ich noch auf der Wanderschaft war, habe ich einmal in Perricum im Mittelland einen Trolljäger kennengelernt. Der arme Kerl hatte den Verstand verloren und sprach immer wieder von einer sonderbaren Stadt im Ehernen Schwert und dem 32
Feueratem eines Drachens. Die Bürger Perricums hatten Mitleid mit ihm und gaben ihm Almosen, aber hinter vorgehaltener Hand lachten sie über seine Geschichte.« Der Meister zupfte an seinem grauen Bart. »Das Eherne Schwert... du kennst doch die alten Sagen und Legenden, nach denen sich in jenem Gebirge, dessen höchste Gipfel über zwanzig Längen gen Himmel ragen, irgendwo der letzte der großen Drachen verstecken soll, der Feuerspeier namens Fuldigor. Nein, ich glaube, die Stadt der Verlorenen Seelen ist nicht nur eine Legende. Sie existiert wirklich. Ihr müßt sie nur finden und dort den Stein stehlen, der jene Seelen an sich kettet, die nicht den Weg in den Frieden und die Ruhe im Jenseits gefunden haben.« »Wenn es sie gibt, finden wir sie auch!« Medwyn stand in der offenen Tür. Er hatte die dünnen Arme in die Seiten gestemmt, und eine lange Pariajacke baumelte von seinen schmalen Schultern herab. Einige lange Strähnen seines braunen Haars fielen ihm tief in die Stirn, und in den großen blauen Augen darunter schimmerte wilde Entschlossenheit. »Ich weiß nicht, was die Hexenkönigin vorhat«, sagte Aldahad zögernd, und den fragenden Blick Callehains beantwortete er mit den Worten: »Nicht nur Cherinne hat ihre Spione. Es ist immer gut zu wissen, was in den Kammern und Gewölben der anderen Gesinde vor sich geht. Nun... ich weiß, daß Cherinne den Hexenturm in letzter Zeit wesentlich häufiger als sonst verlassen hat. Einer meiner Zuträger sah, wie sie den Visartempel aufsuchte. Was sie dort machte...« Der alte Meister zuckte mit den Achseln. »Die Aufgabe, die sie euch stellte... ich glaube, sie entwickelte diese Idee nicht aus dem Stegreif...« Bei diesen Worten empfand Callehain ein seltsames Gefühl. Das Medaillon auf seiner Brust wurde von einem Augenblick zum anderen ganz warm, und erneut begann die Stimme in ihm zu flüstern, die er nicht verstehen konnte. »Mir ist das völlig egal!« Medwy n schob das spitze Kinn vor. »Wir werden ihr beweisen, daß wir wahre Meisterdiebe 33
sind. Wir stehlen den verdammten Seelenstein, ha, dann kann sie ihn mit eigenen Augen betrachten. Solcher Ruhm wird auf unseren Schultern lasten, daß wir nur noch gebeugt gehen können, und unsere Namen werden in goldenen Buchstaben im Buch der Diebesehre verzeichnet!« »Sei endlich still, Medwyn«, hauchte Callehain. Und an den schweigenden und nachdenklichen Aldahad gerichtet, fügte er hinzu: »Das Eherne Schwert... ein mächtiges Gebirge soll es sein, eine gewaltige Barriere, die den Ostkontinent von Aventurien trennt. Viele hundert Längen mißt es von Süden nach Norden. Meister... kannst du uns keinen Anhaltspunkt geben, wo in den Bergen die Stadt der Verlorenen Seelen liegt?« Aldahad stand langsam auf. »Nein, Callehain. Aber vielleicht ... ja, vielleicht gibt es eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten.« Er suchte nach den passenden Worten. »Ich bin ein Meister. Ich habe mich an die Gesindegesetze zu halten. Aber so viel kann ich sagen: Im Visartempel von Al'anfa befindet sich ein mächtiges magisches Artefakt: das Schwarze Auge Gilburians. Zwar ist es mit einem Bann an die Mauern der Schloßanlage gebunden, aber die Macht Visars ist größer als die eines jeden menschlichen Magiers, und darum kann der Zauber nicht mit der Kraft wirken, wie es außerhalb des Tempels der Fall wäre. Und wie ihr sicher wißt, zeigt ein Schwarzes Auge Bilder von jedem Ort, den man zu sehen wünscht...« Mit diesen Worten drehte sich Aldahad um und ging.
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4. DAS SCHWARZE AUGE Al'anfa war ein Juwel. Die Häuser der Stadt schmiegten sich an die Hänge der Vorläufer des Regengebirges im Nordosten, und die Dächer und Tempel glitzerten im hellen Sonnenlicht, als bestünden sie aus Gold und kostbaren Edelsteinen. Medwyn blieb stehen, stemmte die dünnen Arme in die schmalen Hüften und seufzte. »Hach, Cal – atme tief durch, und sofort spürst du, wie neues Leben dich erfüllt. Sieh dir diese Stadt an. Sie ist für uns die erste Station auf einem langen Weg der Ehre und des Ruhms. Fort mit Schwermut und Melancholie und Trauer. Zuversicht brauchen wir und eine ordentliche Portion Optimismus.« Medwyn drehte sich um. Die Zinnen und Türme der Gesindebastion erhoben sich auf dem Gipfelplateau eines Hügels, der aus der Küstenebene emporragte. Grau und braun waren die Steine und Mauern, und keine Fahne wehte von den Erkern. Nur die Spuren im Staub des Weges deuteten darauf hin, daß überhaupt jemand in den alten Gemäuern der Feste lebte. Die großen eisernen Tore waren geschlossen. Rechts und links neben der Bastion waren die Ruinen anderer Befestigungsanlagen zu erkennen, und ebenso wie die Häuser, in denen vor Jahrhunderten die Hügelbauern und Soldaten gelebt hatten, waren sie während des Krieges gegen Brabak und H'Rabaat weiter im Süden Aventuriens zerstört worden. Die Trümmer atmeten den Hauch der Vergangenheit und erzählten Geschichten, die heute niemand mehr hören wollte. Aus der Höhe betrachtet schien Al'anfa noch zu schlafen, obgleich sich bereits die Glocke der schwülen Mittagshitze über die Stadt gelegt hatte. Im großen Hafenbecken dümpelten die an den vergangenen Tagen eingelaufenen Schiffe der Handelsherren, und die Männer, die die Fracht entluden – es waren nicht immer nur Sklaven, die von Jilaskan und Altoum und den Südinseln Token, Jltoken und 35
Benbukkula nach Al'anfa gebracht wurden –, waren nur kleine dunkle Punkte vor einem hellen Hintergrund. Die beiden jungen Diebe, die nun aus der Gilde ausgestoßen waren, setzten sich wieder in Bewegung und wanderten über den Pfad, der sich in langen Windungen am Hang des Hügels in die Tiefe wand. Als die Mauern der Gesindebastion nur noch Buckel auf dem Rücken eines Riesen aus Stein, trockener Erde und Staub waren, begegneten sie den ersten Menschen: Kleinbauern waren es, die außerhalb der Stadtgrenzen Al'anfas wohnten, in den Tälern der Vorberge des Regengebirges. Mit einfachen Geräten bestellten sie einen kargen Boden, der nur dann Früchte trug, wenn es während der Zeit der Sommerstürme zu ausreichenden Niederschlägen kam. Ihre Gesichter waren tief gebräunt, runzlig und zerfurcht, und junge Frauen, die kaum meh r als zwanzig Jahre alt waren, wirkten schon fast wie Greisinnen. Die Bauern und ihre Knechte hielten in der Arbeit inne, als sie die jungen Männer über den Weg kommen sahen. Argwöhnische Blicke begleiteten Medwyn und Callehain, während sie auf die Stadt zuhielten. »Ho«, ertönte eine kratzige Stimme aus der Richtung eines steinigen Feldes, »von den beiden droht keine Gefahr. Es sind keine Meuchler, die einen festen Auftrag haben, sondern Parias, die aus der Bastion vertrieben wurden. Seht nur die grauen Jacken...« Callehain preßte die Lippen aufeinander, und auch Medwyn schwieg. Das Bild der Stadt veränderte sich, als sie Al'anfa erreichten. Vom Gipfelplateau aus konnte man den Eindruck gewinnen, als zeichne sich die Stadt durch einen allseitigen Reichtum aus. Doch als sich der staubige Pfad verbreiterte und schließlich zu einer kopfsteingepflasterten Straße wurde, sahen die beiden jungen Diebe, daß Putz von den Wänden der meisten Häuser bröckelte. Fast alle Fensterläden waren geschlossen, und viele Balken und Verschlage hätten dringend einen neuen Anstrich benötigt. Kinder spielten in Schmutzlachen in den Rinnsteinen, und in einigen kleinen Nebengassen lagen alte Männer und Frauen in den Schatten und genossen Weinträume und die tröstenden Visionen von 36
Rauschkräutern, die einen Ausweg boten, wo es eigentlich keinen gab. An Straßengabelungen und Kreuzungen standen die schwarzen Skulpturen Visars, der in Al'anfa als einziger Gott verehrt wurde. »Phex, steh uns bei«, murmelte Medwyn furchtsam. Gleich darauf aber erhellte sich seine Miene wieder. »Hach, nein, wir haben vom Todesgott nichts zu befürchten. Visar blickt mit Verachtung auf die Diebe, und Parias sind die Geringsten unter den Geringen. Nein, bestimmt bemerkt er uns nicht einmal ...« »Jetzt vielleicht noch nicht«, erwiderte Callehain leise. »Aber wenn wir in seinem Tempel umherschleichen... ein Gott ist nicht blind und taub, Medwyn.« »Hach, aber wir sind die besten Diebe, die es jemals gab, Cal. Jawohl, wir sind Schatten, die keine Geräusche verursachen, wenn sie sich bewegen.« »Aber man kann Schatten sehen.« Es ist Wahnsinn, dachte Callehain in aufkeimendem Entsetzen. Heller Wahnsinn. Wir werden entdeckt. Ganz bestimmt. Noch niemandem ist es gelungen, das Schwarze Auge eines Magiers zu stehlen. Irgendein Bann trifft uns und hält uns fest. Dann kommen die Boron-Priester und werfen uns in die Folterkammern. Dort werden wir von den in den Diensten Dharags stehenden Quälern aus der Gesindebastion gepeinigt, und. anschließend vierteilt man uns, verbrennt unsere sterblichen Überreste und verstreut die Asche auf dem Schwarzen Platz Al'anfas. »Glaubst du...«, Medwyn räusperte sich. »Glaubst du, die Quäler würden uns etwas zuleide tun ?« Offenbar gingen Callehains Gefährten ähnliche Gedanken durch den Kopf. »Nichts lieber als das. Sie gäben sich sogar besondere Mühe.« Im Zentrum der Stadt herrschte trotz der Mittagshitze lebhafter Verkehr. Der Basar erstreckte sich über mehrere kleinere und größere Plätze. Schon am frühen Morgen hatten die Händler ihre Stände aufgebaut und priesen nun ihre Waren an. Callehain und Medwyn tauchten in die Menge aus Schaulustigen und Kaufinteressenten ein. Seide aus Sy lla und 37
Charypso, schwarze Perlen von den Küsten Maraskans – Callehain erinnerte sich dabei an das magische Artefakt Cherinnes –, Tücher aus Rashdul, Nevadi-Ketten aus der großen Khomwüste, in der die Sonne so heiß brannte, daß sie einen Reisenden innerhalb weniger Stunden verdursten lassen konnte. Töpfe und Teller aus farbigem Porzellan, Messer und Gabeln aus purem Gold, Wandbehänge, zu deren Fertigung die geschickten Hände der Waldmenschen von Benbukkula Jahrzehnte benötigt hatten. Unglaublicher Reichtum stapelte sich auf den Tischen der Händler, aber Callehain bemerkte auch, daß die Angebote von den Bürgern der Stadt zwar bestaunt wurden, aber nur wenige sich zu entsprechenden Käufen hinreißen ließen. »Hier findet ihr genau die Ware, die ihr immer gesucht habt!« ertönte eine grölende Stimme von einem Podest. Der Mann schwang eine Signalpeitsche, und die hinter ihm an dicke Pflöcke angeketteten Sklaven zuckten bei dem Knall zusammen. Gleißender Sonnenschein fiel auf bloße Haut. »He, ihr Bürger Al'anfas, der reichsten und schönsten aller Städte Aventuriens – wo sind eure Gebote? Seht nur dieses junge Mädchen hier...« Der in ein mit Seidenborten geschmücktes und überaus prächtiges Gewand gekleidete Sklavenhändler schnalzte mit der Zunge, und aus dem pavillonartigen Aufbau neben ihm traten zwei muskulöse und halbnackte Eunuchen. Ihre großen Hände hatten sich um die Oberarme einer zierlichen jungen Frau mit großen, furchtsamen Augen und langem, pechschwarzem Haar geschlossen. Einige Bürger blieben stehen und nickten anerkennend. Irgendwo in der Menge ertönte der Schrei eines Häretikers: »Visar ist der einzige Gott. Ehrt Visar und wendet euch von den Priestern der Zwölfgötter ab, die euch in der Dunkelheit der Nacht auf den falschen Weg führen wollen. Visar ist der einzige Gott...« »Eine Prinzessin aus Tuzan, die Tochter des Absoluten. Ho, sie kann stricken und nähen, waschen und kochen – und noch viel mehr als das.« Medwyn war nun ebenfalls stehengeblieben und flüsterte: »Sie ist schön, fast so schön wie Merha.« 38
»Komm weiter.« Callehain fühlte die spöttischen Blicke einiger Passanten auf sich ruhen und senkte den Kopf. »Hach, ich würde sie kaufen, sofort, aber meine Taschen sind so leer wie der Magen eines Streuners, und außerdem...« »He, ihr da!« Der Sklavenhändler deutete mit der Signalpeitsche auf die beiden jungen Diebe. »Holt eure Münzen hervor!« rief er höhnisch. »Sicher sind eure Lohnbeutel voller als die Börsen der Bürger. Was seid ihr? Meuchler? Quäler? Oder gar zwei junge hübsche Hexen, die sich uns in einer Maske zeigen?« Er lachte grölend. »Doch halt, was sehe ich da? Sind das nicht Pariajacken?« Und in der Menge der Schaulustigen schrillte es: »Jagt sie fort! Ausgestoßene sind es. Jagt sie fort! Jagt sie fort!« Erste Steine flogen. Bald wurde ein regelrechter Hagel daraus. Callehain wurde an der Hüfte getroffen, hob schützend die Arme und lief los, dichtauf gefolgt vom kreischenden Medwyn. Zornige Hände tasteten nach ihnen*. Sie duckten sich darunter hinweg, stießen Männer und Frauen mit raschen Tritten und Seitenhieben aus dem Weg. Durch enge Gassen stürzten sie, und die aufgebrachte Menge folgte ihnen. »Die Jacken!« keuchte Medwyn. »Wir müssen die Jacken ausziehen.«
*Die Gesinde der Alten Feste sind bei den Bürgern Al'anfas verhaßt, da ihre Dienste – gegen ein hohes Entgelt – in erster Linie von den reichen Handelsherren, den Boron-Priestern und dem Despoten Dharag in Anspruch genommen werden. Nicht selten werden Andersdenkende und jene, die gegen die Macht des Hohenpriesters aufbegehren, von den Quälern gefoltert oder von den Meuchlern umgebracht. Die Hexen halten sich an die alte Übereinkunft, die sie mit Gilburian und dem Tempel Visars verbindet. Von den Dieben hingegen ist in Al'anfa wenig bekannt – obwohl einige von ihnen gegen die Ehernen Regeln des mit Dharag geschlossenen Gesindepaktes verstießen und die Dinge, die sie den Reichen stahlen, an Arme weitergaben.
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»Nein. Das dürfen wir nicht. Das weißt du doch.« Bald vergrößerte sich die Entfernung zu den zornigen Bürgern der Stadt. Als die beiden Diebe glaubten, den Verfolgern entkommen zu sein, verharrten sie im Schatten eines Alkovens. Sie befanden sich jetzt im ältesten Teil der Stadt. Hier waren die Mauern der Häuser brüchig und die Fenster mit Staub bedeckt. Hier lebten die Armen Al'anfas, jene, die nicht einmal das Geld hatten, sich an den Ständen des Basars jeden Tag frisches Brot zu kaufen. Kleine Brücken aus verrostendem Eisen und mit Mörtel aneinandergeklebten Steinen verbanden die Dächer, auf denen fleckige, vergilbte Wäsche in der Sonnenhitze trocknete. Callehain wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er hatte das Gefühl, als versenge ihm die heiße Luft die Lungen. »Ich werde es ihnen zeigen«, zischte Medwyn wütend. »Ihnen allen. Paria!« Er zupfte an der grauen Jacke. »Sei verflucht, Cherinne. Ich verdamme dich und alle anderen Hexen. Wir werden die Aufgabe erfüllen, die du uns gestellt hast. Nichts ist zu schwer für mich. Und alle Hindernisse, die du mir in den Weg stellst, können nur die Ehre vergrößern, die ich schließlich erringen werde.« »Komm jetzt.« Als sie ihren Weg fortsetzten, musterte Callehain seinen kleinen Begleiter aufmerksam. Drei Jahre lang waren sie gemeinsam von Aldahad in der Kunst des Stehlens unterwiesen worden, aber manchmal verwandelte sich Medwyn in ein Rätsel, das Callehain nicht zu lösen vermochte. Er wußte, daß Aldahad mehrmals versucht gewesen war, die Ausbildung Medwyns vorzeitig abzubrechen. Er hatte gehört, wie sich der alte Meister mit den jüngeren über Cals Gefährten unterhalten hatte, und während dieses Gesprächs waren nur wenige lobende Worte gefallen. Jähzornig sei er, hatte Aldahad behauptet, jähzornig, wankelmütig und unzuverlässig; ein geschickter Dieb, ja, auch begabt. Aber immer geneigt, die Regeln zu brechen, die Diebesgesetz waren. Callehain und Medwyn hielten sich nun von größeren Menschenansammlungen fern. Sie bewegten sich im Schatten 40
der Mauern, die das Grau ihrer Pariajacken verschluckten, schoben sich in stickige Hauseingänge und versteckten sich, wenn ihnen Passanten entgegenkamen. Die hölzernen Räder kleinerer und größerer Karren, gezogen von Eseln oder gezähmten Hornbullen, rumpelten über das schmutzige Kopfsteinpflaster. Dann und wann vernahmen sie aus einer Seitengasse das Schnauben eines Pferdes. Geißeln knallten, und die Stimmen der Steuereintreiber riefen: »Nein, wir können euch jetzt keinen weiteren Aufschub mehr gewähren. Ihr kennt das Gesetz Dharags. Zwei Taler für Phex, vier für Peraine und zehn für Visar.« »Aber Herr, meine Kinder hungern. Ich kann mir nicht einmal einen Krug mit frischem Wasser kaufen. Woher soll ich das Geld nehmen, das du verlangst?« Und wieder knallten die Geißeln. Schmerzerfüllte Schreie schlossen sich an, die schließlich in ein krächzendes Gurgeln übergingen. Soldaten marschierten durch die Gassen und durchsuchten die Gebäude nach Visarfrevlern, Ketzern, die die Bürger in der Nacht gegen Dharag aufwiegelten, und auch Sklaven, denen die Flucht aus den Käfigen und Pferchen der Händler und Reeder gelungen war. Callehain und Medwyn hielten sich immer abseits. Sie eilten steile Treppen hinauf, zwängten sich an Mauern entlang, die so eng beisammenstanden, daß sie normalerweise nur Katzen und den manchmal von den Küstenklippen bis in die Stad t vordringenden Nachtteufeln Durchschlupf gewährten. Nach und nach näherten sie sich der gewaltigen Steinsäule, die vom großen Visarplatz gen Himmel ragte und auf der vor tausend Jahren von Sklavenheeren der Tempel des Totengottes errichtet worden war. Irgendwo im Innern dieses Tempels befand sich das Schwarze Auge Gilburians, das den jungen Dieben zeigen konnte, wo im Ehernen Schwert sie die Stadt der Verlorenen Seelen suchen mußten. Der Platz hatte einen Durchmesser von zweieinhalb Längen, und auf irgendeine gespenstische Art und Weise gelang es dem schwarzen Marmor, das einfallende Sonnenlicht vollständig in sich aufzusaugen, ohne einen einzigen Reflex zuzulassen. Callehain lehnte sich an 41
die Mauer hinter sich und sah an der Visarsäule empor. Sie bestand ebenfalls aus schwarzem Stein und erschien ihm wie das mächtige Bein eines gewaltigen Titanen, dessen Körpermasse sich jenseits der zarten Wolkenschleier verbarg, die nun über das Blau des Himmels zogen. Er schätzte, daß der Turm fast eine halbe Länge durchmaß. Eine breite Treppe wand sich in einer langen Spirale in die Höhe: der einzige Weg, ans Tor des Tempels ganz oben zu gelangen. »Hach, bei Phex, man wird uns sehen, wenn wir die Treppe hinaufsteigen.« Medwy n zitterte trotz der Hitze. Callehain sah sich um. Am Rande des Schwarzen Platzes erkannte er die Zelte der Stadtgarnison. Er erinnerte sich an die Ausflüge, die er nachts in Begleitung Aldahads unternommen hatte, an die Patrouillen, die durch die Straßen wanderten und nach eingedrungenen Feinden und Rebellen Ausschau hielten. Damals war die Garnison nur ein kleiner Militärstützpunkt gewesen, bestehend aus nicht mehr als hundert Soldaten. Nach seiner vorsichtigen Schätzung mußten sich in dem Lager aus Zelten, Baracken und Pavillons jetzt aber mindestens zweitausend Krieger aufhalten. Ganz in der Nähe ertönten singende Stimmen. Callehain drehte sich rasch um, gab Medwyn ein Zeichen und eilte dann auf einen dunklen Hauseingang zu – ein schwarzes Rechteck, das ihn verschluckte. Medwyn neben ihm atmete schwer. »Hast du eine Idee?« Er war jetzt sonderbar ruhig, so gelassen, wie Callehain ihn oft bei den Diebesprüfungen in der Gesindebastion erlebt hatte. »Die Soldaten werden uns sicher einige unangenehme Fragen stellen, bevor wir Gelegenheit haben, die Treppe hinaufzusteigen. Diese verdammten Jacken!« Callehain gab nicht sofort Antwort. Wieder spürte er den warmen Hauch auf seiner Brust, dort, wo das Medaillon seine Haut berührte, und zum erstenmal konnte er die flüsternde Stimme in seinem Innern verstehen. Zuversicht ist ein Schlüssel, der viele To re öffnet. Hab Vertrauen. »Aldahad?« fragte er überrascht, und der verwunderte Blick Medwyns richtete sich auf ihn. »Aldahad, bist du das?« Aber die Stimme schwieg. »Cal, ist alles in Ordnung mit dir?« 42
Callehain nickte langsam. »Ja. Für einen Augenblick dachte ich... Aber das ist unmöglich.« Er blickte auf den Platz. »Sieh nur.« Der Gesang war inzwischen lauter geworden. Aus einer der breiteren Straßen, die auf den Schwarzen Platz mündeten, kam eine Prozession. Flöten- und Lautenklänge wurden vom lauen Wind davongetragen, während die Männer, Frauen und Kinder auf die Tempelsäule zuhielten. Callehain zögerte keinen Augenblick. »He, Cal, bei Phex: Wo willst du hin?« Aber Callehain bedeutete seinem Gefährten nur, ihm zu folgen. Soweit es möglich war, hielt er sich im Schatten der Häuser am Rande des Platzes, und erst, als ihm keine andere Wahl mehr blieb, betrat er den schwarzen Marmor und schloß rasch zu den letzten Teilnehmern der Prozession auf. Während die Büßer sangen, schwangen sie Ruten oder Gerten und versetzten sich damit schmerzhafte Hiebe auf die nackten Rücken. Blut sickerte aus den Wunden und hatte bei einigen bereits den Leinenstoff der Hosen durchtränkt. Medwyn neigte den Kopf. Als Callehain ihm einen kurzen Blick zuwarf, antwortete sein Gefährte mit einem breiten Grinsen auf die stumme Frage. Er hatte verstanden. Der Marsch über den Platz schien endlos. Die Soldaten einer Patrouille blieben stehen und sahen ihnen nach. Callehain hatte das Gefühl, als klebten ihre argwöhnischen Blicke an seinem Rücken fest. Wir hätten die Nacht abwarten sollen, dachte er. In der Dunkelheit ist alles leichter. Aber dazu war es jetzt zu spät. Sie konnten nicht mehr zurück, ohne von den Soldaten angerufen zu werden. Allmählich kamen sie der Säule näher. Kurz darauf sah Callehain, um was es sich bei den Buckeln an den glatten Wänden des Turms, die ihm schon vom Rande des Platzes aus aufgefallen waren, handelte. Es waren keine Unebenheiten in dem schwarzen Mauerbelag, sondern... Menschen. Medwyn stöhnte leise. Ihre Gesichter waren unter schwarzen Kapuzen verborgen, und die ausgemergelten Körper wiesen viele Wunden auf. Blutkrusten hatten sich gebildet, Insekten umschwirrten die 43
Sterbenden und sogen ihnen die letzten Lebenssäfte aus den Adern. Ganz unten, an der Basis des Turms, ragten Lanzenschäfte in die Höhe, und die mit Widerhaken versehenen Spitzen zielten nach oben. Es ächzte und knarrte, als die mit einer speziellen Flüssigkeit getränkten Seile, mit denen die Männer und Frauen – Callehain konnte sogar die fragilen Leiber einiger Kinder sehen – an die Wand der Säule gebunden waren, sich langsam ausdehnten. Die Feuchtigkeit in den Fasersträngen verdunstete rasch in der glühenden Mittagshitze, und während die Prozession weiter auf die Treppe zuhielt, riß eins der Seile. Ein Mann stürzte in die Tiefe und wurde von den Rituallanzen aufgespießt. Der Gepeinigte gab nicht einen einzigen Laut von sich. »Bei Phex«, ächzte Medwyn leise, und die jähe Furcht in seiner Stimme war unüberhörbar, »das wird uns ebenfalls passieren, ja, bei allen Geistern, die sich Visar Untertan machte: Die Boron-Priester fangen uns und werfen uns den Quälern vor. Wenn sie mit uns fertig sind und uns alle Knochen im Leib gebrochen haben, ja, dann werden wir an den Turm gebunden, auf daß unsere Körper in der Hitze ausdorren, von Insekten zerfressen und anschließend aufgespießt werden. Oh, Cal, hast du die Aschehaufen gesehen ? Es waren viel mehr als beim letztenmal, als ich diesen Platz sah.« Vor dem unteren Treppentor blieben die Teilnehmer der Prozession stehen und sangen: »Visar, wir ehren dich, denn du bist der Einzige und Wahre Gott, neben dem es keine anderen Götter gibt. Wir ehren dich und sehnen den langen Schlaf des Todes herbei.« Zwei in blutrote Trachten gekleidete Boron-Priester traten aus der Andachtskanzel neben dem Tor. »Was ist euer Begehr?« Ein Mann, dessen Rücken nur noch eine einzige klaffende Wunde war, antwortete stolz: »Wir kommen, um im Tempel zu Visar zu beten und ihn anzuflehen, uns als Opfer aufzunehmen. « Er vollführte eine ausladende Geste. »Wir sind bereit, im Tempel zu sterben und unsere Seelen in die 44
Dienste Visars zu stellen. Nein, für uns gibt es keinen Weg mehr zurück. Wir haben Abschied von unseren Familien genommen, und noch bevor die Sonne untergeht, wollen wir eingehen in das Reich des Todes.« Die beiden Boron-Priester berieten sich kurz. »Eine sehr ehrenvolle Absicht«, erwiderte einer von ihnen. Callehain sah an den vor ihm stehenden und noch immer summenden Büßern vorbei. In den Augenhöhlen der beiden Boroni glänzten keine Pupillen, sondern weiße Edelsteine, aber Callehain war davon überzeugt, daß sie ebensogut – wenn nicht besser – sehen konnten wie er. Tiefe Zeremoniennarben hatten sich in Stirn und Wangen gefressen. Am Halse der beiden Priester erkannte der junge Dieb schuppige Visarfreunde. Die Symbionten hatten ihre Hohldorne in die Schlagader gebohrt. Callehain erinnerte sich an eine entsprechende Beschreibung Aldahads: Sie nährten sich vom Blut des Wirtskörpers und sonderten ihrerseits Substanzen ab, die die Boroni zu emotionalen Eunuchen machten, sie ganz auf Visar einschworen und es ihnen ermöglichten, ganz ohne Schlaf auszukommen. Callehain fragte sich, ob auch der Despot und Hohepriester Dharag einen solchen Visarfreund trug. Er bezweifelte es. »Noch ehrenvoller aber ist es«, fügte der zweite BoronPriester hinzu, »wenn ihr euch vor der Visarhingabe aller irdischen Dinge entledigt, als da sind: Ringe, Münzen, wertvolle Skulpturen, Ketten und andere kostbare Schmuckstücke. Reichtum bedeutet nichts im Reiche des Todesgottes.« Es dauerte nicht lange, bis sich vor der Andachtskanzel ein Schatz stapelte. Diejenigen, die ihre wertvolle Habe bereits abgelegt hatten, durchschritten das Tor und warteten auf der Treppe. Die Prozession rückte rasch vor, und Callehain und Medwyn stahlen den Büßern vor ihnen einige aus Gold bestehende Kleinode. Callehain vergewisserte sich, daß die aus Zwergengold gefertigte Kette, die er von Shaila erhalten hatte, unter dem Kragen der grauen Pariajacke verborgen war. Er flüsterte: »Der Ring, Medwyn. Paß auf den Ring auf.« Sein Gefährte zog rasch ein schmutziges Tuch aus der 45
Tasche und wickelte es sich so um Hand und Schulter, daß es nach einer Verbandsschlinge aussah. Die beiden Diebe waren die letzten, die vor die Boroni traten. Mißtrauische Juwelenblicke musterten sie, und Callehain mußte sich dazu zwingen, ihnen standzuhalten. »Ihr seid keine Bürger der Stadt, sondern stammt aus der Gesindebastion«, stellte einer der Priester fest, während der andere die Schmuckstücke musterte, die Callehain und Medwyn ihm bereitwillig aushändigten. »Du hast recht, ehrenwerter Priester«, erwiderte Callehain rasch. »Wir wurden aus der Gilde ausgestoßen, weil wir unseren Meistern die Absicht verkündeten, uns Visar zu opfern und fortan allein dem Gott des Todes zu dienen. Es kam sogar zu einer Auseinandersetzung, bei der mein Gefährte und Gildenbruder verletzt wurde.« Er deutete auf seinen Begleiter, und Medwyn zeigte die Wunde, die ihm der Dolch des Blinden im Turm der Hexen in den Unterarm geschnitten hatte. »Das ist alles?« fragte der andere Boron. »Nur diese wenigen Silbergehänge?« Callehain breitete bedauernd die Arme aus. »Unsere Gilde ist arm, Herr. Mehr haben wir leider nicht.« Er hatte das schreckliche Gefühl, als bohre sich der Blick des Priesters sondierend in sein Innerstes, und die kleinen Kiefer der Visarfreunde mahlten knirschend und kratzten Hautschuppen ab. Panik quoll in Callehain empor, doch noch bevor er sich zu einer Unvorsichtigkeit hinreißen lassen konnte, winkte der Boron. »Geht weiter«, sagte er barsch. Kaum hatten Callehain und Medwyn das Tor passiert, als die Priester sich zu Boden knieten, den vor ihnen liegenden Schatz bestaunten und sich flüsternd unterhielten. Während sie höherstiegen, nahm der Gesang der Büßer kein Ende. Ruten und Gerten klatschten, und Blut tropfte. Weit oben wartete stumm der Tempel des Todesgottes. Irgendwo jenseits der hohen Mauern befand sich das Schwarze Auge Gilburians.
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Trotz der heiß vom Himmel herabbrennenden Sonne herrschte im Innern des Tempels jene Kälte, von der Callehain bereits in der Gesindebastion einen Hauch zu spüren bekommen hatte – als die Hexenkönigin den Namen des Todesgottes erwähnte. Seltsame Stimmen durchwehten die schwarzen Gänge und Korridore, und sooft sich die beiden jungen Diebe auch umblickten: Nicht einmal bekamen sie eine der Gestalten zu Gesicht, die im grauen Zwielicht der Säle und Kammern miteinander zu flüstern schienen. Boron-Priester führten sie schweigend durch dunkle Gänge, und schließlich gelangten sie in einen Saal. Die Decke bestand aus Kristallglas, und die Sonne war hier nur ein milchiger Fleck an einem trüben Himmel mit Schattenwolken. In dem Marmor des Bodens zeigten sich die Rabenmuster Visars. Dampf stieg aus einem großen Badebecken auf. Der Gesang der Büßer verstummte. Ein Boron hob die Arme. »Ihr befindet euch jetzt im äußeren Zirkel. Entkleidet euch und reinigt im Bad eure Wunden. Die Tempeldiener werden euch helfen.« In der gegenüberliegenden Wand öffnete sich eine bis dahin verborgene Tür, und die Diener traten in den Saal. Sie waren nackt und haarlos, und ihre Leiber wiesen keine Geschlechtsmerk male auf. Die Musikanten der Prozession ließen ihre Lauten und Flöten zu Boden sinken und sich von den. flinken Händen der Visarboten die Kleidung von den zerschundenen Leibern streifen. Es brodelte und schäumte im steinernen Becken. Als die ersten Büßer hineintraten, sah Callehain, wie sich ihre Körperbehaarung auflöste. Einige Prozessionsteilnehmer begannen wieder leise zu singen, und ihre verhaltenen Stimmen tönten dumpf von den kalten Wänden wider. »Wenn wir uns ausziehen«, flüsterte Medwyn aufgeregt, »sehen die Boroni meinen Ring und deine Kette.« Callehain nickte nur und gab seinem Gefährten ein Zeichen. Langsam wichen sie von dem Becken zurück und achteten darauf, daß das Gros der Prozession zwischen ihnen und den Priestern blieb. Die beiden Diebe hielten auf einen halbdunklen Nebengang zu, der in die Badehalle mündete. »Nach dem Bad werdet ihr in den inneren Zirkel geführt«, fuhr einer der Boroni mit tönender Stimme fort. Seine Worte 47
klangen so, als erwarteten die Büßer freudige Offenbarungen. »Dort habt ihr Gelegenheit, zu Visar zu beten und ihn darum zu bitten, euer Lebensopfer anzunehmen. Anschließend dürft ihr den Heiligen Saal aufsuchen und dort eingehen in das Schwarze Reich unseres Herrn.« Die nackten Hände eines Visarboten tasteten über die Pariajacke Callehains. Hinter ihm stand einer der Bediensteten und versperrte ihm den Weg in den Nebengang. Die blassen Augen des Boten starrten den Dieb unbewegt an. Medwyn sprang nach vorn, berührte das geschlechtslose Wesen an einer bestimmten Stelle am Hals und drückte zu. Doch zu seinem Erstaunen sank der Visarbote nicht etwa bewußtlos zu Boden, sondern rief mit schriller Eunuchenstimme: »Zwei Büßer widersetzen sich!« »Komm!« Callehain hastete an dem Tempeldiener vorbei, und Medwyn folgte ihm. »Ketzer!« hallte der Schrei der Boron-Priester durch den Saal. »Es sind Ketzer im Tempel...!« Die Finsternis des schmalen Korridors verschluckte die beiden jungen Diebe. Leise eilten sie durch die Dunkelheit. Als das Licht der Badehalle nur noch eine blasse Erinnerung hinter ihnen war, fluchte Medwy n: »Bei Phex und seinem Diebesrat: Jetzt werden die verdammten Boroni überall nach uns suchen. Sie kennen sich in diesem Tempel wesentlich besser aus als wir. Sie werden uns fangen, und dann...« Callehain lächelte schief. »Hast du Angst?« »Angst? Ich, der beste Dieb des Gesindes, dessen Name bald an erster Stelle im goldenen Buch der Ehre verzeichnet sein wird?« Er brach ab und fügte wispernd hinzu: »Ja, Cal. Bei allen Geistern des Schattenreiches: Ich habe Angst.«
In der Folterkammer hielt sich kein Gesindequäler auf. In einem eisernen Trog glühten die Kohlen, mit denen die Brandeisen erhitzt wurden. Es schien der einzige Raum im Innern des Tempels zu sein, in dem es fast so heiß war wie um diese Zeit in den Straßen Al'anfas. Zangen und Brecheisen 48
aus Kupfer hingen an den schwarzen Wänden, und auf dem hölzernen Gerüst in der Mitte der Kammer war ein alter Mann festgebunden. Er trug nur einen schmutzigen Lendenschurz, und seine ganze schmale Brust war eine einzige Brandwunde. Blut tropfte aus den verkochten Augen. »Ich... ich bin kein Ketzer, nein...«, ächzte die brüchige Stimme des Gefolterten. »Bitte... bitte, so glaub mir doch. Ich... ich verehre Visar und habe nie einen Feind des Tempels in meinem... meinem Haus beherbergt.« Medwyn zitterte. »Laß uns rasch von hier verschwinden, Cal. Komm. Der Quäler kann jederzeit zurückkehren, und er ist uns gegenüber an kein Gesindegesetz gebunden. Komm, Cal.« »Warte.« Callehain trat rasch auf die Streckbank zu und nahm ein Messer vom daneben stehenden Tisch. Der alte Mann zuckte zusammen, als er Metall über Metall schaben hörte. »Nein, bitte... nicht wieder, ich... ich gestehe alles... ja, wirklich alles... Bring mich um, ich... ich flehe dich an, bring mich um...« »Ich bin kein Quäler«, sagte Callehain leise, und die Klinge des Messers durchteilte die Stricke, mit denen der alte Mann an die Holzbalken gefesselt war. Der Gefolterte sank langsam zu Boden, und der junge Dieb reichte ihm einen Krug mit warmem Wasser. »Wir...« Er warf Medwyn einen kurzen Blick zu. »Wir hassen die Boron genau wie du, und wir sind auf der Flucht vor ihnen.« Die zitternden Hände des alten Mannes tasteten über das Gesicht Callehains. »Du bist... jung, so jung. Wenn die Quäler dich hier finden...« »Wir müssen weiter, Cal«, drängte Medwyn. »Weißt du vielleicht, wie wir von hier aus in die Gemächer Gilburians gelangen können?« fragte Callehain. Der Gefolterte schwieg, sammelte Speichel und spuckte aus. »Ver... verflucht sei er. Er... er hat sich ganz dem... dem Hohenpriester unterworfen und hofft, mit... mit der Hilfe Visars weitere magische Rätsel zu... zu lösen.« Callehain beugte sich tiefer herab. »Wie gelangen wir in seine Gemächer?« 49
»Ein langer Gang, vorbei an den Knochenkriegern Dharags, die... die Abzweigung links...« Der alte Mann seufzte schwer und starb. Callehain ballte die Fäuste. Er hatte die Meuchler und Quäler des Gesindes schon immer verabscheut, aber nun haßte er sie. »Jetzt kennen wir den Weg«, hauchte Medwyn. »Komm, Cal, wenn der Quäler zurückkehrt und uns hier findet, geht es uns an den Kragen.« Er blickte auf die Leiche des alten Mannes. »Armer Kerl.« Sie verließen die Folterkammer und eilten durch den langen Gang, von dem der Tote mit seinen letzten Worten gesprochen hatte. Vor ihnen war ein heller Schimmer i m grauen Zwielicht zu erkennen. Callehain verlangsamte seinen Schritt und blieb stehen, als er in einen hallenartigen Raum gelangte. Der magische Fünfstern in der Mitte der Kammer strahlte so hell, daß sein Glanz blendete. Callehain schirmte sich die Augen mit der Hand ab und sah den Schemen einer Visarskulptur. Er vernahm ein leises Knirschen, als sich der Kopf des Standbildes bewegte und sich der durchdringende Blick pechschwarzer Augen auf ihn richtete. Er murmelte ein hastiges Stoßgebet und lief los. Etwas Dunkles und Konturloses wischte über seinen rechten Arm. Callehain schrie vor Schmerz auf, verlor den Halt, rutschte über den glatten Boden und stieß mit der Schulter gegen einen steinernen Vorsprung. Als er den Kopf hob, sah er in der Nische direkt vor sich auf die aufragende Gestalt eines Knochenkriegers. Die Kapuze war tief in die Stirn gezogen, und die Zähne lächelten ein fleischloses Grinsen. Knöcherne Hände umklammerten das Heft eines Langschwertes. Noch während Callehain zusah, begannen plötzlich die Finger des Knochenkriegers zu erzittern, und das Schwert hob sich zum tödlichen Schlag. Mit einem Satz war der junge Dieb wieder auf den Beinen , und der Hieb verfehlte ihn. Medwyn hatte bereits das gegenüberliegende Ende des Raumes erreicht und winkte mit beiden Armen. »Schneller, Cal, schneller. Die Knochenkrieger Visars erwachen!« 50
Callehain warf sich durch die offenstehende Tür. Die Hand eines leblosen Soldaten griff ins Leere. Sie liefen und liefen, und nach einigen Dutzend Metern erreichten sie eine Gabelung und entschieden sich für die linke Abzweigung. Sie bewegten sich so leise wie möglich, und doch hatten sie das Gefühl, als müßten die Geräusche ihrer Schritte im ganzen Tempel zu hören sein. Callehain rechnete jeden Augenblick damit, das Pochen einer Signaltrommel zu vernehmen oder vom Fluch Visars getroffen zu werden, aber nichts dergleichen geschah. Es blieb still, nur in der Ferne knirschten leise die Gelenke der Knochenkrieger. Die Soldaten des Todesgottes waren langsamer als die beiden Diebe, und so vergrößerte sich rasch die Entfernung zwischen Callehain, Medwyn und den leblosen Verfolgern. Callehain schauderte, als es wieder kälter wurde. Die Mauern schienen mit der Schwärze des Ganges selbst zusammenzuwachsen, und vor ihnen... irgend etwas bewegte sich dort, etwas Dunkles und Großes. »Cal?« Medwyn holte tief Luft. »Bist du sicher, daß dies der richtige Weg ist?« Die zwergenhafte Gestalt Medwyns war nur ein undeutlicher Schemen neben ihm. »Nein.« In der Ferne knirschten noch immer die Gelenke der Knochenkrieger, und einmal glaubte Callehain auch, eine Stimme vernommen zu haben, die wie ein körperloses Wesen durch die Säle des Tempels wehte. »Wenn es hier doch nur eine Fackel gäbe...« Er trat einige Schritte weiter in die Finsternis – und das Medaillon auf seiner Brust schien plötzlich zu brennen. Mit der einen Hand griff er danach und taumelte zurück. Und sofort wurden Kette und Anhänger wieder kühl. »Cal? Was ist denn los, Cal? So sag doch ein Wort. Kannst du irgend etwas sehen?« »Nein, aber...« Sei auf der Hut, Dieb. Gilburian ist alt, älter noch als Aldahad, fast so alt wie die Mauern dieses Tempels. Er hat große Erfahrung, und er weiß sich und seine Kammer zu schützen. 51
»Hast du das gehört, Medwyn?« »Was denn?« »Diese... diese Stimme.« Callehain schüttelte den Kopf. Nein, sein Gefährte konnte sie nicht hören, denn das sonderbare Flüstern ertönte nur in seinem Innern. »Medwyn?« »Ja?« Zittrig und unsicher. »Gib mir dein Tuch, Medwyn.« Es raschelte in der Dunkelheit. Callehain griff nach dem Stofffetzen, horchte in sich hinein und trat einen Schritt vor. Dann knüllte er das Tuch zusammen und warf es vor sich in den Korridor. Unmittelbar vor den beiden jungen Dieben blitzte es grell auf. Zwei große Flammenhände wuchsen rechts und links aus den Wänden des Korridors, und in dem von ihnen ausgehenden gleißenden Funkeln konnten sie die magischen Sy mbole erkennen, die mit Zauberkreide und Blut auf den Boden und die Decke gezeichnet waren. Die Feuerfinger packten das Tuch und verbrannten es im Bruchteil eines Augenblicks. Weiße Ascheflocken rieselten wie Schnee herab. Die Hände zogen sich wieder in die Wände zurück. »Oh, bei Phex«, stöhnte Medwy n. »Gilburian hat seine Gemächer mit Bannschwellen geschützt. Ich konnte die Sy mbole ganz deutlich erkennen. Hier kommen wir nicht durch, Cal. Nein, niemals. Wir sind dazu verdammt, im Tempel des Todesgottes einen schrecklichen Tod zu sterben, und die Quäler der Folterkammern...« »Sei still!« zischte Callehain. Manchmal konnte er das Gejammere seines Freundes nicht mehr ertragen. Die Knochenkrieger Visars waren inzwischen näher gekommen. Das Knirschen und Ächzen der fleischlosen Gelenke ähnelte dem Knarren der Zahnräder einer Streckbank. Nein, es war ausgeschlossen: Sie konnten nicht mehr umkehren und nach einem anderen Weg suchen; dazu blieb keine Zeit. Mit einer Hand tastete Callehain nach seinem Medaillon, und mit der anderen umfaßte er den dünnen Arm Medwyns. »Wir haben keine andere Wahl«, sagte er. »Halt dich ganz dicht an meiner Seite.« Und viel leiser fügte er hinzu: »Phex, steh uns bei.« 52
Sie schoben sich durch eine Finsternis, die so schwarz war wie das Innere eines erloschenen Vulkans. Medwyn wimmerte und zitterte und hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit jenem tapferen, unerschrockenen und zu allen Wagnissen bereiten Meister, der zu sein – oder zu werden – er immer wieder behauptete. Zwei Schritte, vier, sechs – und nichts geschah. Die Flammenhände des Schutzgeistes Gilburians wuchsen nicht noch einmal aus den Marmorwänden. Obgleich sie Bannschwelle auf Bannschwelle hinter sich brachten, blieb um sie herum alles dunkel. Callehain ließ sich allein von der flüsternden Stimme leiten, die ihren Ursprung im Medaillon Shailas zu haben schien und nur zu ihm sprach. Er reagierte sofort, wenn das Schmuckstück wärmer wu rde, wich nach rechts oder links aus, duckte sich unter einem von der Decke herabhängenden Zirkel hinweg und hielt auf eine Tür zu, deren Konturen sich nach und nach aus der Schwärze vor ihnen schälten. »Hach«, meinte Medwy n nach einer Weile, als er seine alte Selbstsicherheit wiedergefunden hatte, »davon können wir noch unseren Kindern und Enkeln erzählen: Hexenzauber soll verhindern, daß wir zu ehrenhaften Meistern unserer Gilde werden, aber wir schaffen es sogar, die Barrieren eines Magiers zu überwinden. Hach, wir werden mit allen Hindernissen fertig, die sich uns in den Weg stellen, und die Ehre, die wir erringen ... au!« Er stieß mit dem Kopf an ein altes hölzernes Regal neben der Tür und schwieg. Auf dem Brett grinsten die bleichen Kiefer eines Totenschädels. Rasch wich Medwyn einen Schritt zurück. »Das muß sie sein«, flüsterte Callehain und deutete auf die Tür. »Die magische Kammer Gilburians, das Zimmer, in dem er sein Schwarzes Auge aufbewahrt.« Er drückte die Klinke nieder. Die Angeln knarrten leise, als die Tür aufschwang. Callehain zögerte nicht. Er hatte gelernt, sich der Stimme des Medaillons anzuvertrauen, und wenn sie ihn nicht mit einem Wärmehauch warnte, drohte auch keine unmittelbare Gefahr. Medwyn hinter ihm schob rasch den Riegel vor. »Hach«, seufzte er, »jetzt können uns die Knochenkrieger 53
nichts mehr anhaben.« »Es sind Diener Visars«, erwiderte Callehain, während er sich ehrfürchtig umsah. »Und die Macht eines Gottes ist größer als die des besten Magiers.« »Aber die Bannschwellen... die Hände des Flammengeistes ...« Callehain gab keine Antwort. Die Einrichtung der Kammer war schlicht: ein Tisch aus altem und schon halb verwittertem Eichenholz, in dem sich viele Flecken zeigten, einige Stühle, ein marmorner Kamin, in dem nun kein wärmendes Feuer über Holzscheite leckte, hier und dort Regale an den Wänden, geschnitzte und gemeißelte Skulpturen, deren schwarze Augen aus Obsidian stumpf und starr blickten. An der niedrigen Decke hing ein Leuchter aus geschmiedetem Eisen, und in den Haltern steckten die Stummel einiger niedergebrannter Kerzen. In ihrem unsteten Schein entwuchsen den beiden so unterschiedlichen Gestalten der jungen Diebe lange und unförmige Schatten, die wie eigenständige Dämonenwesen über die Wände krochen. Kräuterknollen verströmten einen penetranten Gestank, und Medwyn hatte Mühe, seinen Mageninhalt bei sich zu behalten. »Such du dort drüben«, sagte Callehain und meinte den Bereich der Kammer, in dem sich der Kamin befand. Er trat an den Tisch heran und blätterte kurz in einem alten Buch, dessen Leder brüchig war und an einigen Stellen abblätterte. Einige Seiten waren mit Runenzeichen beschrieben, die nur Magier verstanden; andere enthielten Einträge in einer Sprache, von der Callehain nur wenige Worte entziffern konnte. Das Sy mbol Visars fiel ihm sofort auf: ein schwarzer Rabe mit Augen so rot wie Blut. Er wollte sich schon von dem Buch abwenden und in einer der Truhen an der Wand nach dem Schwarzen Auge des Magiers suchen, als ihm eine bestimmte Stelle auffiel. Auch in diesem Abschnitt konnte er nicht alle Worte entziffern – das Pergament war längst vergilbt und die Tinte so verblaßt, als habe jemand versucht, sie mit Kalk zu löschen –, aber er vermochte die Lücken so auszufüllen, daß der Text einen Sinn ergab. 54
»... schon in der Zeit vor der grauen Weltendämmerung, vor Äonen, als Lot mit Samu stritt und seine tausend Tränen vergoß, aus denen alles Leben entstand, ragten im fernen Norden die Gipfel eines Gebirges auf, das man das Eherne Schwert nennt. Durch die Wolken stoßen sie, und jene Sterblichen, die versuchten, die Barriere zu überwinden, die Rätsel der Welt zu lösen und in die – hm, das muß wohl Östliche Fremde heißen – zu gelangen, ließen in der kalten Einöde ihr Leben. Sei auf der Hut, Wanderer, der du es wagen solltest, die warmen Herde Aventuriens zu verlassen und den Spuren der ersten Kühnen zu folgen: Viele Schrecken hält das Eherne Schwert bereit, und die Augen Fuldigors sehen dich überall. Er ist der letzte der großen Drachen, und er sah, wie sich aus den Tränen Lots Land und Meer, Tiere und Menschen und Ungeheuer formten. Er wacht über die Stadt der Verlorenen Seelen. Wage es nicht, durch jene Straßen zu wandeln, denn es wäre dein sicherer Tod...« Medwyn machte: »Ohhh.« Callehain sah auf. Sein Gefährte hatte eine Truhe geöffnet und starrte aus großen Augen hinein. Einige Augenblicke lang rührte er sich nicht, dann beugte er sich ruckartig nieder und holte Dutzende von magischen Artefakten hervor: kleine Flaschen mit Zauberelixieren, einen magischen Brotbeutel samt Wasserschlauch, mehrere Kraftgürtel, einen Ring – das Kleinod glänzte, als brenne es in einem inneren Feuer –, einen Spiegel, einen langen Schlüssel, Kräuterbündel, aus denen sich Waffenbalsam herstellen ließ, Gifte – die Tinkturen glitzerten verlockend, aber allein der Duft reichte aus, um einen Menschen zu töten –, einen Zauberstab und... »Hier ist es«, hauchte Medwyn. »Das Schwarze Auge Gilburians.« Callehain trat rasch an die Seite seines Gefährten. Das Schwarze Auge ruhte ganz unten in der Truhe. Es war etwa so groß wie der Kopf eines Kindes. Kleine, flackernde Lichtreflexe spiegelten sich auf der nachtdunklen Oberfläche des magischen Obsidians wider. Irgend etwas pochte dumpf gegen die verriegelte Tür. Die beiden Diebe vernahmen ein verhaltenes Knirschen. 55
»Die Knochenkrieger«, sagte Callehain. »Aber... die Bannschwellen... der Flammengeist...« Der Schlag wiederholte sich. Kleine Holzsplitter lösten sich von den Bohlen und sausten davon, während auf der anderen Seite der Tür die Diener Visars damit fortfuhren, mit ihren Schwertern auf die hölzerne Barriere einzuschlagen. Callehain griff rasch in die Kiste hinein, schloß die Hände um das Schwarze Auge und versuchte, es hochzuheben. Es rührte sich nicht von der Stelle. »Oh«, machte Medwyn entsetzt. »Oh... aber Aldahad...« »Vielleicht hat er sich geirrt.« Callehains unruhiger Blick wechselte zwischen Tür und Truhe hin und her. Es wurde jetzt immer kälter im Zimmer Gilburians, und der Atem wehte ihm bereits als eine weiße Fahne von den Lippen. Das Kerzenlicht flackerte unstet. Bumm. Bumm. Medwyn griff nun ebenfalls mit zu, aber selbst mit ihren vereinten Kräften gelang es ihnen nicht, das Schwarze Auge Gilburians aus der Truhe zu heben. Es war durch einen magischen Bann gebunden. »Der Zauberstab!« platzte es aus Medwyn heraus. »Wir könnten es mit dem Zauberstab versuchen.« Er hatte sich die großen Taschen seiner Pariajacke mit den magischen Artefakten Gilburians vollgestopft, deshalb brauchte er eine Weile, bis er den Zauberstab fand und hervorholen konnte. Unter den wuchtigen Schwerthieben der Knochenkrieger erbebte die Tür in den rostigen Angeln. Dann und wann war eine silbrige Klingenspitze zu sehen, die sich durch das Holz bohrte. Die Zeit wurde knapp. »Beeil dich, Medwyn!« zischte Callehain. »Bei Phex und allen Diebesgeistern: Beeil dich!« Der kleine Medwyn hob den Zauberstab, schluckte einige Male und rief dann: »Magische Geister, hört auf den Spruch, den ich euch gebracht, und bewegt das Auge, das schwarz wie die dunkelste Nacht.« Es ächzte in der Decke. Irrlichter tanzten plötzlich über schwarzen Marmor. Flüsternde Stimmen 56
vereinten sich zu einem gespenstischen Gesang. Töpfe und Krüge in den Regalen bewegten sich, und eine eiskalte Bö heulte durch die Kammer und blätterte in dem Buch auf dem Tisch. Die Irrlichter tanzten einen magischen Reigen, wirbelten aufeinander zu und formten sich zu glühenden Augen, die spöttisch auf die beiden Diebe starrten. Das Schwarze Auge rührte sich noch nicht von der Stelle. Medwyn war kreidebleich im Gesicht und holte tief Luft. »O Stab des Zaubers, banne die Kälte und schaffe Feuer, auch wenn es ist mir nicht geheuer.« Der frostige Zorn der Gletscherbö verausgabte von einem Augenblick zum anderen seine Kraft. Der Glanz der Irrlichter verstärkte sich, und Flammen knisterten über die Holzbohlen der Decke. Funken stoben, sanken wie heißer Schnee zu Boden und sengten sich knisternd durch die Pariajacke Callehains und in seine Haut. Die jähe Hitze trieb ihm den Schweiß aus allen Poren. Er stöhnte: »Bist du denn völlig übergeschnappt, Medwy n? Ich will hier nicht verbrennen.« »In... in der Kälte konnte ich mich nicht konzentrieren, und... bei Phex, mach es doch besser, wenn du kannst!« Callehain verzog verzweifelt das Gesicht und griff nach dem Schwarzen Auge in der Truhe. Es ließ sich noch immer nicht bewegen und schien mit dem Boden verwachsen zu sein. »Geist des Feuers«, sagte Medwyn heiser, und er umklammerte den Schaft des Zauberstabs, als sei es eine Waffe, »ich will dich bannen, hebe dich sofort von dannen.« Die über die Bohlen der Decke spülende Flammenwoge verebbte an irgendeinem magischen Strand, aber das Feuer erlosch nicht ganz. Die an dem Holz nagende Glut war zwar durch einen Zauber entstanden, nährte sich nun aber von ganz allein. Bumm, bumm, donnerten die Schwerthiebe der Knochenkrieger. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis es den Dienern Visars gelang, in die Kammer Gilburians vorzudringen. Dicht vor Medwyn begann es zu flimmern. Die Flammen eines neuen magischen Feuers entstanden dort, formten einen glühenden Körper und blickten die Diebe aus lodernden Augen an. Der kleine Dieb taumelte zurück. 57
»Was bist du doch für ein jämmerlicher Magier«, knisterte es. »Du wolltest einen Feuerteufel bannen, ohne ihn vorher beschworen zu haben.« Das Phantom lachte funkenstiebend. »G-geist des F-feuers«, stotterte Medwyn, »ich will d-dich bannen, hebe dich s-sofort...« »Aber nein«, grölte der Feuerteufel. »Dieser Zauber wirkt nicht mehr. Du mußt dir schon einen anderen einfallen lassen.« »B-bewege das Auge, so s-schwarz wie die Nacht, auf daß w-wir gebrauchen können seine M-macht.« Und die Gestalt aus lodernden und leckenden Flammen beugte sich nieder, griff mit einer Feuerhand in die Truhe und holte das Schwarze Auge Gilburians hervor. Es ächzte in der Decke, und Callehain sprang zur Seite. Eine schwere Bohle löste sich aus der Verankerung und stürzte zu Boden. Brennende Splitter segelten davon und entzündeten das Pergament des alten Buches auf dem Tisch. Die Flammen fanden üppige Nahrung. Während der Einband zu Asche wurde, durchwehten Runenzeichen und Buchstaben fremder Sprachen den dicken und ätzenden Rauch. »Bei Phex, es gibt keinen zweiten Ausgang!« rief Medwyn. Auch die Regale brannten nun, und von dem Kräuterstaub in Dutzenden von tönernen Schalen und Krügen stieg beißender, giftiger Dampf auf. Callehain hustete, und durch den Tränenschleier vor seinen Augen warf er einen Blick in Richtung Tür. Handbreite Risse und Spalten waren entstanden, und das flackernde Licht der Glut in der Kammer Gilburians spiegelte sich in den leeren Augenhöhlen der Knochenkrieger wider. Callehain sprang über einen brennenden Stuhl hinweg und taumelte auf Medwyn zu. Sein zwergenhafter Gefährte schob sich das Schwarze Auge gerade in eine Jackentasche. »Kannst du...« Er mußte husten, und der Tränenschleier wurde dichter und dichter. »Kannst du uns von hier fortbringen?« fragte er den Feuerteufel. Die Flammenstimme knisterte und prasselte: »Nichts leichter als das.« Die Glutarme breiteten sich aus und schlossen sich um die beiden jungen Diebe. Noch ehe Callehain eine Möglichkeit hatte, vor der Hitze 58
zurückzuweichen, schloß sich der strahlende Glanz um ihn, und tausend glühende Nadeln stachen ihn. Als es ihm – nach tausend Jahren? – wieder gelang, die Augen zu öffnen, blickte er in die schreckerstarrten Züge einer jungen Frau. Sie wich vor ihm zurück, stolperte, fiel rücklings auf das Kopfsteinpflaster einer Straße Al'anfas und schrie: »Die Teufel! Die Teufel sind in die Stadt zurückgekehrt!*«
* Dieser Ausruf bezieht sich auf die letzten Kämpfe des Gesindekrieges im Jahre 594 AR. Nachdem die Clanhäuser von Mengbilla zerstört worden und von der Stadt nur noch Trümmer Übriggeblieben waren (sie wurde später wiederaufgebaut, errang aber n i e w i e d e r i h r e e i n s t i g e B e d e u t u n g ), z o g e n d i e Ü b e r l e b e n d e n d e r G i l d e n nach Al'anfa. Dort kam es zu einem letzten magischen Gefecht, bei dem die Hexen ein Dutzend Feuerteufel beschworen, deren Flammen einen Teil der Alten Feste und auch einige Gebäude in der Nähe des Visartempels verbrannten.
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5. UNTERSCHIEDLICHE STANDPUNKTE »Ich werde Krieg führen, Cherinne«, sagte Dharag. »Krieg gegen wen?« seufzte die Hexenkönigin. Sie drehte sich auf die Seite und sah den Hohenpriester Al'anfas aus großen, jadegrünen Augen an. Im Kamin der Ruhekammer leckten prasselnde Flammen über dicke Holzscheite, und die in kristallenen Schalen schwelenden Aromakräuter verströmten einen betörenden, anregenden Duft. Schatten tanzten über die Wände, und das ständig wechselnde Licht schien den auf den Wandbildern und in den kostbaren Mosaiken dargestellten Hohenpriestern vergangener Zeiten neues, dämonisches Leben einzuhauchen. Dharag streifte die Decke zurück, stand auf und trat nackt wie er war an den Kamin. Vor den Flammen war sein Körper nur eine schmale und halbdunkle Silhouette. »Die in der Stadt stationierten Kontingente der Tempeltruppen haben die notwendige Stärke erreicht. Morgen erhalten die Riegenkommandeure von mir den Einsatzbefehl. Al'anfas Streitmacht wird sich mit dem Söldnerheer vereinen, das auf der Hochebene des Regengebirges wartet. Und dann...« »Ja?« Er drehte sich um. Schweiß glänzte auf Dharags bronzener Haut, und sein schwarzes Haar war wie eine finstere Wolke, die über dem Kopf schwebte. Aus dunklen Augen sah er Cherinne an, aber es fiel der Hexenkönigin nicht schwer, seinem Blick standzuhalten. Sie kannte ihn inzwischen viel zu gut, als daß er ihr noch Angst machen konnte – trotz der Macht, die er verkörperte. »Dann stoßen wir nach Süden vor. Ich selbst führe die Armee an und werde meine Tempelsoldaten mit dem Segen Visars schützen. H'Rabaal und Brabak sind unsere ersten Ziele. Anschließend erobern wir Sy lla und ganz Altoum samt 60
Charypso.« »Und die Söldner?« erklang die samtweiche Stimme Cherinnes. »Widerspricht das nicht deinen Grundsätzen, Dharag? Es sind Ungläubige. Sie verehren nicht allein Visar, sondern die Zwölfgötter mit Praios an erster Stelle. Ist es recht, ihre Dienste gegen Bezahlung in Anspruch zu nehmen?« Der nackte Hohepriester lachte leise, während hinter ihm die Flammen knisterten. »Die Ungläubigen werden sterben und damit in das Reich Visars eingehen. Meine Tempelkrieger aber tragen das Banner des Todesgottes weiter nach Token, Iltoken und Benbukkula. Dort lasse ich neue Visartempel bauen und gründe das Schwarze Reich des Südens.« »Und dann?« Cherinne verbarg ihr Lächeln hinter vorgehaltener Hand. Sie kannte seine Pläne, und sie paßten sehr gut in ihr eigenes Konzept. »Dann... in einigen Monaten... nach Norden. Nach Chorhop und Mengbilla, an der Westküste Aventuriens entlang nach Neetha, Methumis Belhanka, Silas und Arivor.« »Du willst also auch das Liebliche Feld unterwerfen, das Alte Reich?« In einer theatralischen Geste hob Dharag die Arme. »De m Todesgott gebührt die Herrschaft über ganz Aventurien. Du erlebst jetzt den Anfang eines historischen Umbruchs, Cherinne. « Er kehrte ans Bett zurück und blickte auf die Hexenkönigin herab. In seinen dunklen Augen irrlichterte es. Er ist wahnsinnig, dachte Cherinne. Vollkommen übergeschnappt. Er wird Tausenden den Tod bringen, den er so sehr verehrt, und irgendwann schließlich... Seine endgültige Niederlage ist unabwendbar. Er müßte ein Heer aus hunderttausend Soldaten zusammenstellen, um das Alte Reich zu schlagen. Zweitausend Visarfanatiker genügen nicht. »Du wirst siegen«, sagte sie sanft. »Ich bin ganz sicher.« Mit den Fingerkuppen strich sie über die Brust des Mannes, und langsam näherten sich ihre Hände der Lendengegend. Sie sah seine Reaktion – o nein, ein Eunuch wie die von den 61
Visarfreunden emotional verkrüppelten Boron-Priester war er ganz bestimmt nicht –, und er stöhnte leise und legte sich neben sie. »Anschließend helfe ich dir dabei, die anderen Gilden in der Gesindebastion zu schlagen und zur Turmherrin zu werden.« Er küßte sie. Seine Lippen waren so kalt wie das Gletschereis der Hohen Eternen. »Ich brauche deine magische Hilfe und die der anderen Hexen. Gilburian ist alt, und manchmal...« Es pochte an der Tür. »Wer ist dort?« fragte Dharag scharf. »Es tut mir leid, Herr«, ertönte die zittrige, krächzende Stimme Gilburians. »Ich störe dich nur sehr ungern, Hoherpriester, aber... zwei Gildenparias sind in meine Kammer vorgedrungen und...« Der Rest verlor sich in einem unverständlichen Gemurmel. Während sich Dharag umwandte, sich rasch in seinen schwarzen Priestermantel hüllte und auf die Tür zuschritt, dachte Cherinne: Du brauchst mich, Hoherpriester, um ein Gegengewicht zu Gilburian und der göttlichen Macht Visars zu bilden. Aber ich brauche dich nicht – das ist ein kleiner Unterschied, der letztendlich alles entscheiden wird, Dharag. Mit einer fließenden Bewegung erhob sie sich. »Bestimmt sind es die beiden jungen Diebe, von denen ich dir schon erzählte, Dharag. Fast noch Kinder. Ich habe ihnen zur Strafe eine Aufgabe gegeben, die sie nicht erfüllen können. Von Medwyn und Callehain geht keine Gefahr aus, da bin ich ganz sicher. Selbst wenn es ihnen gelungen sein sollte, in die Kammer deines Tempelmagiers vorzudringen.« Dharag öffnete die Tür, und der eintretende Gilburian vernahm die letzten Worte der Hexenkönigin. Er starrte Cherinne finster an, aber sie schenkte ihm nicht die geringste Beachtung, kleidete sich an und verbarg das Gesicht hinter dem blütenweißen Reifeschleier. Unmittelbar darauf verließ sie die Gemächer des Hohenpriesters und machte sich auf den Rückweg in die Gesindebastion. Sie war sehr zufrieden. Die einzelnen Mosaiksteine, die sie in langer und mühevoller Arbeit geschaffen und 62
zurechtgeschliffen hatte, fügten sich nach und nach zu den ersten Szenenbildern eines größeren Ganzen zusammen. »Herr«, krächzte Gilburian, »die beiden Eindringlinge haben meine magische Kammer in Brand gesteckt und sind den Knochenkriegern Visars mit Hilfe eines Feuerteufels entkommen .« Er neigte den Kopf. »Sie haben mir den Zauberstab, das Schwarze Auge und noch andere Artefakte gestohlen.« Dharag vernahm die Worte des Tempelmagiers nur am Rande. Er beobachtete, wie Cherinne sich anzog. Jede ihrer Bewegungen atmete Anmut und Grazie. Das weiße, mit Seidenborten verzierte Gewand verhüllte einen schlanken Körper mit vollen Brüsten, und bei der Erinnerung an die Wärme zwischen ihren Schenkeln prickelte es in seiner Lendengegend. Sie war ein Anker, an dem er sich festhalten konnte, wenn er nicht zu Visar betete und der Stimme des Todesgottes lauschte. Cherinnes volle Lippen schenkten ihm noch ein letztes Lächeln, als sie die Ruhekammer verließ, ohne Gilburian auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Sie haßte den alten Mann, und er haßte sie. Nur die Magie machte sie zu Verbündeten. Nachdem die Hexenkönigin gegangen war, runzelte Dharag die Stirn. Gilburians heisere Stimme ertönte weiterhin, während sich Dharag über das klarzuwerden versuchte, was in ihm geschah. Er kannte die Motive Cherinnes; mehrmals hatten sie darüber gesprochen. Es war ihr Wunsch, Oberhaupt der Gesindebastion zu werden und die anderen Gilden unter ihren magischen Befehl zu zwingen. Aber sie war nicht stark genug. Sie brauchte ihn, um ihren Traum zu verwirklichen. Vielleicht wollte sie sich auch rächen. Rache, dachte Dharag, während Gilburian krächzte und ächzte. Nach so vielen Jahrhunderten ? Konnte und wollte sie sich nicht damit abfinden, daß die Hexen nach dem alten Pakt von Al'anfa ebenfalls in der Gesindebastion untergebracht waren, zusammen mit den Quälern und Meuchlern, den Halsabschneidern, Dieben und Betrügern und all den anderen? Daß sie nicht der magischen Gilde Aventuriens angehörten? Langsam verzog sich sein Gesicht. Er lächelte 63
dünn. »... alles zerstört. Nichts ist von den Flammen verschont geblieben. Ich konnte auch nur einen Teil des Buches retten. Die Unterlagen meiner Studien...« »Komm«, sagte Dharag nur. Gilburian bewegte sich nur langsam, stützte sich immer wieder an den Wänden ab und atmete rasselnd. Der Hohepriester wußte nicht, wie alt der Tempelmagier war. Er hatte schon seinen Amtsvorgängern gedient, und soweit sich Dharag erinnern konnte, hatte er sich nicht verändert. Faltige, runzlige Haut spannte sich an einigen Stellen straff und an anderen wellig über stark hervorspringende Jochbeine. Die grauen Augen lagen so tief in den Höhlen, daß die Lider wie zwei dünne Schleusentore wirkten, die in kurzen Abständen zwei Tunnel verschlossen und sich dann wieder öffneten. Gilburian hatte sich irgendwann einmal an den Visartempel Al'anfas gebunden und ein Abkommen sowohl mit dem damaligen Hohenpriester als auch dem Todesgott selbst getroffen. Dieses Abkommen verpflichtete ihn dazu, sich vollständig der Befehlsgewalt des jeweiligen Visarvertreters in Al'anfa zu unterwerfen. Als Gegenleistung sah der Totengott davon ab, ihn in sein Schwarzes Reich im Jenseits zu berufen. Gilburian diente dem Hohenpriester mit seiner ganzen magischen Macht. Er alterte nicht und durfte sich viele Jahrhunderte lang mit den Rätseln der Magie beschäftigen, die er während seiner Gildenzeit vergeblich zu lösen versucht hatte. Kaum etwas in der Kammer Gilburians war von den Flammen verschont geblieben. Gilburian stolperte hierhin und dorthin, wühlte in der stinkenden Asche, klagte und jammerte. Dharag sah sich neugierig um. Die Knochenkrieger aus dem Saal Visars warteten stumm. Den Eindringlingen war ganz offensichtlich die Flucht gelungen, bevor sie von den Dienern des Todesgottes hatten gestellt werden können. Zwei Diebe, dachte Dharag verwundert. Wirklich nur zwei einfache Diebe? »Wie ist es ihnen gelungen, deine Bannschwellen zu 64
überwinden?« »Das weiß ich nicht, Herr.« Gilburian neigte den Kopf. »Die Barrieren waren so stark, daß sie selbst einen Gildenmagier zurückgehalten hätten. Der entsprechende Bannspruch ist... argh!... nur mir bekannt.« »Glück? Zufall?« »Alles fort oder verbrannt«, wimmerte Gilburian zornig. »Meine jahrzehntelangen Studien... umsonst.« Er fluchte, und aus den Wänden des Ganges hinter ihnen griffen die Hände des Flammengeistes. Als die Finger kein Opfer fanden, um das sie sich schließen konnten, wichen sie wieder in den schwarzen Stein zurück. Es waren keine gewöhnlichen Diebe, ertönte hinter der Stirn des Hohenpriesters die donnernde Stimme des Todesgottes. Einer von ihnen trug ein magisches Medaillon und lauschte ratgehenden Worten. Der Zauber stammt aus dem Hexenturm. »Aus dem Hexenturm«, murmelte Dharag nachdenklich. Ehrerbietig neigte er den Kopf. Ich danke dir, Visar, Einziger und Wahrer Gott. Du erhellst meinen Geist mit Einsicht und lenkst meine Schritte. Ich bin dein gehorsamer Diener, dein Vertreter in Al'anfa, der schönsten aller Städte. Noch heute sollen dir Opfer dargebracht werden. Ich warte. »Deine Soldaten«, atmete Gilburian heiser. »Ohne mein e Zauberutensilien kann ich ihre Rüstungen nicht vor den Lanzen und Pfeilen des Feindes im Süden schützen.« Ein magisches Medaillon aus dem Hexenturm? Dharag dachte an Cherinne und ihre Versicherung, von den beiden Dieben Medwyn und Callehain ginge keine Gefahr aus. Warum hatte sie es für nötig gehalten, ihm gegenüber eine solche Erklärung abzugeben? Nach ihrer Erzählung verabscheute sie die Diebe für das, was sie im Turm der Hexen angestellt hatten. Warum nahm Cherinne sie jetzt in Schutz ? Welches Interesse hatte sie an ihnen? »Die Diebe werden nicht weit kommen«, sagte Dharag scharf, drehte sich um und verließ die Kammer mit langen Schritten. »Al'anfa ist meine Stadt, und außerdem sind sie 65
Parias und damit vogelfrei.« Als er an den noch immer wartenden Knochenkriegern vorbeischritt, flüsterte er: »O nein, Cherinne, ich lasse sie nicht in Ruhe. Das ist es doch, wozu du mich bewegen wolltest, nicht wahr? Ich sollte in der ganzen Angelegenheit nur einen harmlosen Zwischenfall sehen.« Er lachte. »Nein, ich lasse sie verfolgen. Von einem Todesboten. Einem Myr*. Und nach dem Südfeldzug werde ich ein sicher sehr interessantes Gespräch mit den beiden Dieben führen, die du >Kinder< nanntest.« Und in der Kammer jammerte Gilburian wütend: »Mein Schwarzes Auge. Sie haben mein Schwarzes Auge gestohlen.«
* Von den Myr sind in ganz Aventurien Legenden und Sagen bekannt. Es heißt, nach der Schaffung der Welt durch die tausend Tränen Lots seien sie Diener der Schattenlords von Farlon, Fridorn, Eestiva und Paavi gewesen. Als Krieger der Finsternis kämpften sie gegen die selbst in den fernen Norden und die Regionen der an der Bernsteinbucht gelegenen Eis- und Nebelzinnen vordringenden Menschen. In einigen Erzählungen (an dieser Stelle sei besonders das Buch der Hundert Rätsel erwähnt, das in Enqui am Golf von Riva geschrieben wurde) werden die Myr auch als Mahre oder Meerdh bezeichnet – Boten des Unheils und des Todes. Die Gilde der Magier drängte die Myr in das dunkle Schneeland im Norden Aventuriens zurück. Um dem endgültigen Untergang zu entgehen, beugten sich die Mahre dem Willen Visars und gelten seitdem als seine direkten Gesandten.
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Magie ist eine Kraft, die ganz Aventurien durchdringt. Adepten in den Gildenhäusern studieren unter der Anleitung ihrer Meister viele Jahre die alten Bücher, und auch die Meister lernen bis zu ihrem Tod. Du aber, der du dich nicht auskennst mit dem Zauber: Hüte dich vor magischen Objekten, denn du kannst damit eine ganze Stadt dem Untergang preisgeben.
Aus dem Buch der Träume, das geschrieben wurde, als Lot seine tausend Tränen vergoß, und das zu Asche verbrannte im goldenen Al'anfa, in der Stadt der Peitschen, Geißeln und des Todes.
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6. DER MAGISCHE STURM Dem Schrei der Frau folgten andere Rufe. Männer sprangen von hölzernen Karren herunter und ergriffen die Flucht. Fensterläden wurden zugeklappt und verriegelt, und Mütter holten rasch ihre Kinder von den Straßen. Pferde wieherten und scheuten, als sie den Flammengeruch witterten, den der grölend lachende Feuerteufel verströmte. Hornbullen brüllten, liefen durch enge Gassen und trampelten alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte. Innerhalb von wenigen Sekunden verwandelte sich der Basar Al'anfas in ein lärmendes Chaos. Das Kichern des Feuerteufels ging völlig unter in dem Krachen umstürzender Stände, klappernd auf das Kopfsteinpflaster fallender Töpfe und dem lauten Pochen von Hufen. Irgendwo dröhnte der dumpfe Klang einer Signaltrommel, und von der schwarzen Säule, die den Tempel Visars trug und von der die beiden Diebe nun mehr als zwei Längen entfernt waren, schrillte ein Horn. »Zum Hafen!« rief Callehain und lief los. Er sprang über Stapel aus Seidentüchern hinweg und schrie: »Flieht, Bürger von Al'anfa! Denn sonst trifft euch der Fluch des Feuerteufels!« Im hellen Licht der Sonne wirkte der Geist wie ein gleißendes Flirren in der Luft. Er lachte und grölte noch immer und brüllte: »Frei! Ich bin endlich frei!« »Gebunden sollst du sein, bis ans Ende deiner Tage«, keuchte Medwyn und schwang den Zauberstab wie eine Lanze hin und her, »an zwei Diebe aus dem Gesinde, ohne Klage.« Und der Feuerteufel machte »Grrmpf!« Bald lag der Basar hinter ihnen, und das Geräusch ihrer eiligen Schritte hallte in schmalen Gassen mit hohen Hauswänden wider. Der Hitzehauch des von Medwyn beschworenen Geistes war eine andere Art von Schatten, der 68
an Callehains Fersen klebte. »Seht nur, welche Angst sie vor mir haben«, lachte der Feuerteufel und tastete mit seinen Flammenarmen über Fensterläden. Funken stoben, aber die Glut erlosch, bevor sie sich tief genug in das Holz fressen konnte. »Ha, meinen brennenden Atem fürchten sie.« Die Straßen der Stadt waren plötzlich wie leergefegt. Die Bürger Al'anfas hatten in ihren Häusern, Schuppen und Palästen Zuflucht gesucht. Vielleicht spähten sie jetzt durch verborgene Sehschlitze in den dicken Wänden. Callehain und Medwyn liefen und liefen, und der Feuerteufel lachte und grölte. »Weg mit ihm!« schrie Callehain seinem Gefährten zu, der sich einige Schritte hinter ihm hielt. Zorniger Stolz glitzerte in den Augen Medwyns. »Verbanne ihn dorthin zurück, woher du ihn gerufen hast. Er legt noch die ganze Stadt in Schutt und Asche...« Die gleißende Gestalt des Feuerteufels preßte sofort die Arme an den Leib. »O nein, ihr könnt mich doch jetzt nicht zurückschicken in die Finsternis der magischen Dämonenhöhlen. Ich bin nur ein kleiner Feuerteufel, der niemandem etwas zuleide tut. Und ich mag das helle Licht des Tages.« »Du hast meine Befehle zu befolgen«, brachte Medwyn schnaufend hervor. Die Gasse, durch die sie liefen, mündete in eine breite Straße. Offenbar hatte sich die Kunde von der Anwesenheit eines Feuerteufels in der Stadt in Windeseile in ganz Al'anfa ausgebreitet, denn an den Be- und Entladerampen der langen Mole waren keine Hafenarbeiter zu sehen. In den Käfigen auf einem Podest rüttelten Sklaven von den Südinseln an den dicken Gitterstäben. Sie sanken zu Boden und legten die Arme schützend über den Kopf, als die beiden Diebe und der Flammengeist an den Versteigerungsständen vorbeieilten. »Ich bin dein Herr und Meister«, fuhr Medwyn großspurig fort, »und ich bestimme jetzt, was du zu tun und zu lassen hast.« 69
»Ho«, grölte der Feuerteufel, »große Worte für einen Zwerg wie dich.« »Zwerg?« schrillte Medwyn. »Hast du Zwerg gesagt?« Callehain blieb keuchend am Pier stehen und sah sich um. In der leichten Dünung vor ihm dümpelten Dutzende von größeren und kleineren Schiffen. Bunte Fahnen und Wimpel hingen schlaff von den Masten. Die großen Segel waren eingeholt und sahen aus wie fransige weiße Zylinder mit farbigen Tupfern. Jenseits des Hafens erstreckte sich das kobaltblaue Meer bis zum Horizont, und die Sonne ließ glitzernde Lichter auf den Kämmen der kleinen Wellen tanzen. In der Ferne pochte noch immer der Alarmschlag der Signaltrommel, doch das Schrillen des Tempelhorns war nun verstummt. Dafür vernahm Callehain ein rasch näher kommendes Klacken. »Pferde«, flüsterte er, und lauter fügte er hinzu: »Medwy n, die Boron-Priester haben die Garnison alarmiert. Die Tempelsoldaten rücken an.« »Hach, mein Feuerteufel wird bestimmt mit ihnen fertig, nicht wahr?« »Ho«, bestätigte der Geist und holte mit seinen Flammenarmen zu einer umfassenden Geste aus, »ich nehme es mit zehn Gegnern gleichzeitig auf. Ich verbrenne sie, koche ihnen die Augen aus und verwandele sie in Aschehaufen...« »Es sind nicht zehn«, unterbrach ihn Callehain, »sondern zweitausend. Und bestimmt bringen sie Wasser mit.« »Wasser?« Der Feuerteufel duckte sich und sah sich aus seinen lodernden Augen ängstlich um. »Bist du sicher? Ich mag kein Wasser. Ich hasse es. Es ist naß und kalt und erstickt wunderbar heiße Flammen. Zweitausend Soldaten?« »Eher mehr als weniger.« Callehain stemmte die Arme in die Hüften. »Herr«, wandte sich der Feuerteufel an den großäugigen Medwyn, »wenn ich dir einen Rat geben darf: Wir sollten so rasch wie möglich die Flucht ergreifen.« 70
»Pah!« schnaubte der kleine Dieb. »Ich habe einen Zauberstab. Und ein Schwarzes Auge und noch viele andere Dinge mehr. Ich bin jetzt ein Magier. Ich werde mich allein der Tempelarmee stellen und den Ruhm, über sie gesiegt zu haben, ganz allein für mich beanspruchen.« »Sei kein Narr!« zischte Callehain nur. »Komm mit.« Sie liefen am Pier entlang, und in den Straßen und Gassen hinter ihnen wurde das Pochen Tausender von Hufen zu einem bedrohlichen Grollen und Donnern. Callehains Blick glitt über die an der Mole festgemachten Schiffe hinweg, und schließlich entdeckte er eins, das er für geeignet hielt. Er deutete in die entsprechende Richtung und lief schneller. Es war ein Zweimaster von Benbukkula – das Schiff eines reichen Handelsherrn offenbar. Das Ruder war mit Blattgold verziert, und überall schimmerte poliertes Messing. Callehain sprang aufs Deck, gefolgt von Medwyn. Der Feuerteufel schwebte nur zögernd heran und warf immer wieder argwöhnische Blicke auf das am Rumpf des Schiffes entlang gurgelnde Hafenwasser. »Der Anker!« rief Callehain Medwyn zu. »Beeil dich. Die Zeit wird knapp.« Und er griff nach den Seilen des einen Mastes und setzte die Segel. Kein Lüftchen regte sich, und das mit farbenprächtigen Korallensymbolen geschmückte Leinen hing schlaff von den Rahen. Callehain fluchte und ballte die Fäuste. Medwyn eilte herbei und schnaufte. »Ay e, ay e, Käpt'n; der Anker ist gelichtet. Wir können in See stechen.« »Wir haben die Rechnung ohne den Wind gemacht«, stöhnte Callehain. Die ersten Reiter hatten nun die Uferstraße erreicht, gaben ihren Pferden die Sporen und hielten auf das Pier zu. Schwertklingen und Kettenhemden glänzten, und einer der Soldaten rief: »Für Visar und den Hohenpriester Dharag! Tod allen Feinden Al'anfas!« »Tod allen Feinden Al'anfas!« brüllten Hunderte von Kehlen. Der Feuerteufel knurrte und verbarg sich irgendwo hinter den Decksaufbauten. 71
»Der Zauberstab«, Callehain drehte sich ruckartig um die eigene Achse und blickte Medwyn an. »Ruf einen Wind herbei, der die Segel aufbläht und uns aufs offene Meer treibt.« Medwyn schluckte mehrmals, überlegte und sagte dann quälend langsam: »Ich rufe euch, Geister der Wolken, beschert uns einen Wind; denn wir wollen fliehen aus der Stadt, und das geschwind.« Callehain verdrehte die Augen, und der Feuerteufel rief entsetzt: »Nein, nicht doch! Das ist falsch, ganz falsch.« »Sieh nur.« Erstaunt deutete Medwyn in Richtung Horizont. Etwas Dunkles schien dort aus dem Meer zu steigen, ballte sich am Himmel zusammen und wurde zu einer gewaltigen schwarzen Wolkenwand, die rasch auf sie zukam. Als sie sich vor die helle Sonnenscheibe schob, wurde es plötzlich dunkel. Alles geschah innerhalb weniger Augenblicke. Erste dicke Regentropfen fielen. Sie klatschten auf die Decksplanken, und der Feuerteufel kreischte: »Wasser. Ich hasse Wasser. Ich kann es nicht ausstehen. Ich verabscheue es. Nichts gibt es, was ich weniger mag. Oh. Oh! OH! Der Regen – er löscht die Flammen meines Körpers.« Der Feuerteufel kam hinter seinem Versteck hervor, tanzte umher und gab schrille Schreie von sich. Seine lodernde Gestalt schrumpfte im Regen immer mehr in sich zusammen, und bald war seine Stimme nur noch ein Flüstern, das schließlich ganz verklang. Mit dem Regen kam der Wind. Er hauchte und wisperte, und er sang ein Lied, dessen Strophen aus Orkanböen bestanden. Die Wellen des Meeres antworteten. Sie hoben und senkten sich, und jedesmal wuchsen sie höher hinauf und schlugen donnernder und krachender gegen die Mole. Weiße Schaumkronen bildeten sich, und die Fäuste des Windes packten den nassen Flaum und wirbelten ihn hoch empor. Es wurde so dunkel wie in einer mondlosen Nacht. Es heulte und fauchte, und Blitze zuckten und formten grelle Netzwerke am Himmel. In ihrem kurzlebigen Schein war die Streitmacht der Tempelsoldaten 72
zu sehen: Die Pferde scheuten, und einige Krieger waren von den Böen aus dem Sattel gerissen und gegen die Hauswände geschleudert worden. Manch einer hatte sich dabei das Genick gebrochen. Und das alles war nur der Anfang. Über der Regenbucht tobte das schlimmste Unwetter, das Al'anfa jemals erlebt hatte. Callehain hielt sich krampfhaft an den Decksaufbauten fest und ertastete ein Seil, mit dem er sich an einem Mast festband. »Medwyn? Medwyn, du hast einen Orkan beschworen, einen magischen Sturm...« Aber sein Gefährte antwortete ihm nicht. Callehain kniff die Augen zusammen. Der Regen hatte längst seine Kleidung durchweicht. Und er stürzte als eine solche Flut aus den finsteren Wolkenbergen, daß der junge Dieb kaum zwischen ihm und dem Meer zu unterscheiden vermochte. Der Rumpf des Schiffes ächzte und knarrte, und der Bug bohrte die metallene Galionsfigur in sich hoch auftürmende Wellen. Die Brecher spülten schmetternd übers Deck und hieben auf die Aufbauten ein. Holz brach und splitterte, und die einzelnen Fetzen waren wie Geschosse, die die Faust des Sturms davonschleuderte. Die Segel blähten sich auf, und die Masten neigten sich nach vorn. Callehain drehte sich um. Irgendwo innerhalb des dichten, rauschenden Regenschleiers konnte er die Konturen der Stadt erkennen – eine dunkle Wand unmittelbar jenseits der Hafenmole. Die Tempelsäule... ein mahnend erhobener Finger, die Warnung des Todesgottes Visar. »Medwyn? Du mußt den Sturm bannen, Medwyn...« Aber der Zorn des Orkans verausgabte sich nicht. Immer lauter heulte seine Stimme. Das Hauptsegel riß, und die Leinenstreifen peitschten umher. Callehain duckte sich und zurrte das Seil fester an den Mast. Es knallte irgendwo weiter vorn, und das Schlingern des Schiffes verstärkte sich. »Hast du gehört, Medwy n?« schrie Callehain. »Das Ruder ist gebrochen. Du mußt den Sturm bannen, denn sonst...« Die letzten Worte wurden von der schaumigen Flut einer Welle erstickt, die sich von Backbord her über die Planken ergoß. Plötzlich neigte sich das Deck zur Seite, und aus weit aufgerissenen Augen starrte Callehain direkt in den gierigen 73
Schlund des aufgewühlten Ozeans. Dann traf ihn irgend etwas am Kopf. Er sank in sich zusammen und verlor das Bewußtsein.
Heiß brannte die Sonne vom Himmel. Die dunklen Wolkenberge des magischen Sturms waren fortgezogen und hatten sich irgendwann aufgelöst, und die sanfte, aus Südwesten wehende Brise ließ die traurigen Überreste der Segel flattern. Callehain verspürte einen pochenden Schmerz an der Schläfe, und als er mit den Fingern danach tastete, fühlte er geronnenes Blut. Etwas drückte unangenehm hart gegen seine Taille. Er brauchte eine Weile, um sich an das Seil zu erinnern, mit dem er sich während des Sturms an einen Masten festgebunden hatte, dann löste er den Knoten und arbeitete sich unter einem Haufen hölzerner Trümmer hervor. Langsam hob und senkte sich das Deck des Schiffes unter seinen Füßen. »Medwyn?« Keine Antwort. Taumelnd wanderte Callehain an der Reling entlang. Der bugwärtige Mast des Schiffes war aus seiner Decksverankerung gebrochen, und dort klaffte nun ein gezacktes Loch. Der hintere war nur noch ein gesplitterter Stummel. Callehain begriff, daß er viel Glück gehabt hatte. Während seiner Bewußtlosigkeit hätte er durchaus ins Meer geschleudert werden können, und wäre das Seil nicht gewesen... »Medwyn?« Wieder erhielt er keine Antwort. Eine dumpfe Besorgnis regte sich in dem jungen Dieb. Er schritt an Ladeklappen und der Kapitänskajüte vorbei. Das mit Blattgold verzierte Ruder bewegte sich langsam und ruckartig von rechts nach links, im Takt der Dünung. Callehain streckte die Hand aus. Als er das Ruder jäh nach Steuerbord drehte, verspürte er keinen Widerstand. Das Schiff war manövrierunfähig. Er hob den Kopf und sah über die Reling hinweg. Im hellen 74
Sonnenschein glitzerndes Wasser, so weit das Auge reichte. Nirgends konnte er die dunstigen Konturen einer Landmasse erkennen. Er wandte sich ab und stieg ins Unterdeck hinab. Die hölzernen Stufen der Treppe knarrten leise, als sich Callehain ins Halbdunkel schob. Salzwasser gluckerte in dem schmalen Gang, hereingepreßt wahrscheinlich von dem Sturm, den Medwyn beschworen hatte. Hölzerne Teller schwammen darin, Kleidungsfetzen, prächtige Seidenstoffe, die nun aufgequollen waren und sich langsam zersetzten. Kleine Türen und Luken öffneten und schlossen sich von ganz allein, während sich das Schiff langsam von einer Seite zur anderen neigte und von der Meeresströmung fortgetrieben wurde. Irgendwo aus dem heckwärtigen Bereich des Unterdecks vernahm Callehain eine leise, wimmernde Stimme – wie von einem Kleinkind, das zitternd und ängstlich nach seiner Mutter ruft. Er watete rasch durchs Wasser, stieß einige Türen auf und gelangte schließlich in den Trakt, der bei den vorherigen Reisen dieses Schiffes offenbar den Passagieren vorbehalten gewesen war. Er schenkte den im Wasser schwimmenden Dingen keine Beachtung und ließ sich allein vom Klang der dünnen Stimme leiten. In der letzten Kabine fiel sein Blick auf eine kleine und am Boden zusammengekauerte Gestalt. Die Arme waren schützend über den Kopf gelegt, und die schmalen Schultern hoben und senkten sich in unregelmäßigen Abständen. »Hier steckst du also.« Callehain war erleichtert. Die kleine Gestalt hob ruckartig den Kopf. »Cal... Callehain?« »Wen hast du denn erwartet?« »Ich... ich weiß nicht.« Medwyn sah sich ängstlich um. Helles Licht fiel durch die trübe Scheibe eines Bullauges, und die rauschende Stimme des Meeres sang ein ewiges Lied. »Ist er vorbei?« Callehain stemmte die Arme in die Hüften. »Meinst du den Sturm? Ja, er ist abgeflaut. Aber das ist ganz offensichtlich nicht dein Verdienst. Bei Phex, du hast dich also die ganze Zeit über hier unten versteckt, während ich oben auf Deck 75
war, festgebunden an einen Mast. Ich habe nach dir gerufen, immer wieder nach dir gerufen, aber du...« Die Erleichterung wurde von Zorn verdrängt. »Du hättest den Sturm bannen können. Aber du hattest Angst, und...« Medwyn sprang mit einem Satz auf die Beine, preßte die Nase an die Scheibe des Bullauges und sah nach draußen. Erst als er sich mit eigenen Augen davon überzeugt hatte, daß tatsächlich keine schwarzen Wolken mehr am Himmel klebten, hörte er auf zu zittern. »Angst? Wie kannst du so etwas behaupten? Ein Meisterdieb kennt keine Furcht. Nein, niemals! Ich habe mich hierherbegeben, weil... weil...« Er suchte nach einer Erklärung. »Du bist ein Narr, Medwyn, ein verdammter Narr. Erst der Feuerteufel, dann der magische Sturm. Du hättest uns beide umbringen können.« »Niemand ist perfekt«, gab Medwy n zurück. »Immerhin übe ich mich erst seit einem Tag in der Kunst der Magie, und...« »Und das reicht mir völlig.« Callehain streckte die Hand aus. »Gib mir das Schwarze Auge. Und auch den Zauberstab.« Murrend griff Medwyn in die Taschen seiner grauen, völlig durchnäßten Pariajacke. Überrascht erstarrte er für einige Augenblicke, dann stülpte er die Taschen nach außen. »Ich... ich glaube, ich habe die magischen Artefakte des Zauberers verloren...« »O nein!« Callehain verdrehte die Augen. »Wir... wir können sie ja suchen.« Medwyn wirkte plötzlich sehr nervös. »Ja, bestimmt befinden sie sich hier irgendwo auf oder im Schiff. Nein, der Sturm kann sie nicht über Bord geweht haben, da bin ich ganz sicher...« Er eilte aus der Kabine und platschte im Wasser des Korridors umher. Callehain folgte seinem Gefährten mit hängenden Schultern. Mutlosigkeit und Verzweiflung erfaßten ihn. Ihr Leben war mehrmals bedroht gewesen, und sie hatten sich nur deshalb in so große Gefahr begeben, um das Schwarze Auge Gilburians zu stehlen, das ihnen vielleicht zeigen konnte, wo im Ehernen Schwert die Stadt 76
der Verlorenen Seelen lag. Und jetzt... Callehain fluchte ausgiebig und tastete nach dem auf seiner Brust ruhenden Medaillon. Das Zwergengold fühlte sich hart und kühl an. Er verspürte keinen Wärmehauch, und er vernahm auch nicht die sonderbare Flüsterstimme in seinem Innern. Diesmal half ihm das Geschenk Shailas nicht weiter. Ich könnte es öffnen, dachte er, doch dann erinnerte er sich an die mahnenden Worte der jungen Hexe. Der Zauber des Medaillons wirkte nur ein einziges Mal, und vielleicht gerieten sie irgendwann in eine Situation, in der sie die Hilfe des Zwergengoldes dringender brauchten. Während Medwyn plapperte und schwatzte und immer wieder lautstark und wortreich versicherte, das Schwarze Auge sei ganz bestimmt nicht von irgendeiner Welle über Bord gespült worden, durchsuchte Callehain andere Kabinen. All die Gegenstände, die während des Sturms keinen festen Halt gehabt hatten, waren zu Boden geschmettert worden. Er stieß auf die Porzellansplitter kostbarer Vasen, auf seidene Wandbehänge, die nun im Wasser schwammen, und er fand Kommoden, deren seltsam schimmerndes Holz gebrochen war. Das ganze Unterdeck erweckte den Eindruck, als habe hier ein erbitterter Kampf zwischen den Geistern des Meeres und den Dämonen der Orkane getobt. Schließlich gelangte Callehain auch in die Kabine des Kapitäns. Hier herrschte ein ebensolches Durcheinander wie auch in den anderen Unterkünften. Nach einer ersten oberflächlichen Durchsuchung richtete sich das Interesse des jungen Diebs auf eine lederne Kladde, die in einer Ecke auf dem trüben Wasser schaukelte. Er nahm sie zur Hand. In silbernen Buchstaben stand auf dem ledernen Einband geschrieben: »Logbuch des ehrenwerten Kapitäns Halgimmer.« Die Einträge waren mit Tinte geschrieben, und das ätzende Salzwasser hatte bereits viele Worte verwischt. Callehain blätterte vorsichtig und überflog dabei die noch lesbaren Zeilen. »... dichter Dschungel bedeckt die Inseln südlich von Benbukkula. Einige meiner Männer wagten sich in das Dornendickicht, um nach Wasser zu suchen. Sie kehrten nie 77
zurück. Ich schickte einen Suchtrupp aus, mit Schwertern, Dolchen und Geißeln bewaffnet. Es dauerte zwei ganze Tage, bis mein Erster Offizier und die Maate an den Strand zurücktaumelten. Sie berichteten von Fallen im Dschungel, von Speeren und Lanzen, deren Spitzen nach unvorsichtigen Eindringlingen zielten, von Stimmen, die sie vernahmen und deren Worte sie nicht verstehen konnten...« Die Tinte der nächsten Sätze war nur noch ein fransiger und blasser Schatten. Callehain blätterte, und eine dumpfe Unruhe stieg in ihm empor. Er las: »... konnte die zweite Suchgruppe die von meinem Ersten Offizier und den Maaten erwähnte Ruinenstadt nicht entdecken. Nicht einmal die Fallen fanden sie, denen schon mehr als ein Dutzend meiner Männer zum Opfer gefallen war. Dann begann das Fieber...« Und zwei Seiten weiter: »Sie sind tot, alle tot. Bevor mein Erster Offizier starb, murmelte er etwas von einem Fluch, der auf der Insel laste, einem Fluch, der allen Fremden den Tod bringe.« Callehain blätterte rasch weiter. Erst auf den letzten Seiten des Logbuchs fand er weitere Eintragungen. »Nur noch vier von sechzig sind übriggeblieben. Ich spüre eine seltsame Hitze in mir. Manchmal wache ich auf, ohne mich daran erinnern zu können, eingeschlafen zu sein. Ich weiß, daß es mich ebenfalls erwischt hat. Der Bootsmann meint, wir würden heute Abend Al'anfa erreichen. Der Reeder Henrinnen wird nicht sonderlich erfreut sein. Wenn die Boroni dieses Logbuch lesen, werden sie das Schiff mitsamt der Ladung verbrennen. Ja, das scheint mir die einzige Lösung zu sein. Ich weiß es jetzt: Mein Erster hatte recht. Auf jener Insel weit im Süden lastet ein Fluch – ein schwarzer Bann, der nun auch dieses prächtige Schiff mit einschließt. Oh, unsere Reise war erfolgreich. All die Kostbarkeiten jener unbekannten Länder und Inseln südlich von Benbukkula. Unsere Laderäume sind prall gefüllt. Aber es war alles umsonst. Die Boroni werden das Schiff verbrennen, und...« Es folgten einige krakelige Zeichen, die Callehain nicht entziffern konnte, und die letzten vom Wasser aufgeweichten 78
Blätter des Logbuches waren leer. Der junge Dieb ließ die kleine lederne Kladde fallen, als hielte er plötzlich eine glühende Kohle in der Hand. Es platschte, und wie ein kleines Boot schwamm das Buch auf dem trüben Wasser. Die Boron-Priester hatten das Schiff nicht verbrannt. Vielleicht glaubten sie in ihrem Visarwahn, die Macht des Todesgottes könne einen fremden Fluch aufheben. Vielleicht hatte auch der Reeder Henrinnen eingegriffen und das Logbuch so lange versteckt, bis die wertvolle Ladung des Schiffes von ihm in Sicherheit gebracht worden war. Ein schwarzer Bann hatte die Besatzung umgebracht. Und dieser Fluch lastete noch immer auf dem Schiff. Callehain keuchte plötzlich. »Ha, ich hab' es gewußt!« gellte eine schrille, sich überschlagende Stimme. »Hier ist es, das Schwarze Auge Gilburians, oh, und auch der Zauberstab – Phex sei Dank.« »Medwyn?« Callehains Stimme war nur ein heiseres Kratzen. »Hast du nicht gehört, Cal?« Der junge Dieb drehte sich um und verließ die Kabine des Kapitäns. Erst waren seine Schritte langsam und zögernd, aber er wurde immer schneller, bis er schließlich durch den Korridor lief. Wasser spritzte. Medwyn winkte von der Treppe her, die aufs Deck führte, Callehain hastete die Stufen in die Höhe. Die Bedeutung der im Logbuch des Kapitäns niedergeschriebenen Worte verfolgte ihn und schien sich ihm wie eine Schlinge um den Hals zu legen. Hell schien die Sonne, und er blinzelte. Aber die vom Himmel herabgleißende Wärme konnte die Kälte nicht vertreiben, die er plötzlich in sich spürte. Medwyn kniete auf den schmutzigen Decksplanken und starrte auf den schwarzen Obsidian. »Schade, ja, wirklich schade, daß die anderen Artefakte Gilburians verlorengingen, die Elixiere und Kraftgürtel und all die anderen Sachen. Wir hätten sie bestimmt gut gebrauchen können.« Er überlegte kurz, hob den Zauberstab und rief: »Schwarzes Auge, ich befehle dir...« 79
»Hör auf!« Verwundert ließ Medwyn den Stab wieder sinken und starrte seinen Gefährten an. »Was ist denn los mit dir?« »Medwyn...« Callehain suchte nach den passenden Worten. »Dieses Schiff... es ist verflucht...« Mit knappen Worten berichtete er von den Einträgen im Logbuch. »Oh«, machte Medwyn und wurde kalkweiß im Gesicht. »Oh, oh, oh!« Sie sahen sich beide um. Der laue Wind bewegte die Segelfetzen. Gesplitterte Bretter und Verschlage knarrten und ächzten. Sie hatten plötzlich das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, sondern von verborgenen Augen beobachtet zu werden. Medwyn lachte unsicher. »Aber wir sind in einer besseren Lage als der Kapitän«, sagte er rauh. »Wir besitzen diese magischen Artefakte hier. Ich könnte einen Zauber beschwören und den alten Fluch damit bannen.« »Nein!« platzte es entsetzt aus Callehain heraus. »Du würdest es nur noch schlimmer machen.« Er stützte sich auf der Reling ab, und seine Finger ertasteten in der Sonnenhitze ausgetrocknete Algenfladen. Keine Wolke zeigte sich am Himmel, und das Meer war so glatt wie ein Spiegel. Bis zu m Horizont erstreckte sich die Wasserwüste. Kein Land war in Sicht. »Oh«, machte Medwyn, »sieh dir das an, Cal.« Callehain drehte sich um. Medwyn hatte beide Hände um das Schwarze Auge Gilburians geschlossen. Kleine, trübe Lichtflecken wanderten über die glänzende Oberfläche des Obsidians. Rasch kniete er sich neben seinem Gefährten nieder. »Das Eherne Schwert«, murmelte der kleine Dieb. »Zeig uns das Eherne Schwert.« Und plötzlich veränderte sich die Beschaffenheit des Schwarzen Auges. Zuerst überzog es sich mit einem milchigen Schimmer, dann wurde es durchsichtig. Im Innern der Kugel war ein gewaltiges Gebirgsmassiv zu sehen. Die steilen, schneebedeckten Gipfel durchstießen die Wolken und ragten mehr als zwanzig Längen in die Höhe. Der Wind heulte und fauchte an den granitenen Graten entlang 80
und sang in Felskaminen ein wimmerndes Lied. »Und jetzt«, flüsterte Callehain, »die Stadt der Verlorenen Seelen...« Er hatte den auf dem Schiff lastenden Fluch vergessen. Seine Aufmerksamkeit galt jetzt allein den Darstellungen im Innern des Schwarzen Auges. Das Bild wechselte. Ein Tal, langgestreckt, gesäumt von steilen und hoch aufragenden Felswänden. Und ganz tief unten: die Türme und Zinnen einer Stadt, deren Mauern so weiß wie frisch gefallener Schnee waren. Hier schwiegen die Böen des frostigen Windes, und nichts bewegte sich in den Straßen und Gassen der Stadt. »Es gibt sie also«, hauchte Callehain. »Die Stadt der Verlorenen Seelen ist nicht nur eine Legende.« Medwyn sprang mit einem Satz auf die Beine, warf die Arme hoch und tanzte. »Ho, ho!« rief er begeistert. »Wir werden es der Hexenkönigin zeigen! Ja, es gibt die Stadt der Toten, und wir werden ihn finden, den Seelenstein. Wir bringen ihn nach Al'anfa, und wir werden zu Gesellen und Meisterdieben. Unsere Namen... ho, an der ersten Stelle des goldenen Buches der Diebesehre werden sie verzeichnet. Niemals zuvor gelang es Angehörigen der Gilde, einen Magier zu bestehlen und selbst in den Künsten der Zauberei Perfektion zu erlangen. Ho, ho, ich gründe meine eigene Gilde, und den Schülern erzähle ich von meinen Ruhmestaten. Ganz Aventurien soll wissen, daß es einen neuen Meisterdieb und -magier gibt – mich, Medwy n von Al'anfa.« Callehain achtete nicht auf die großspurigen Worte seines Gefährten. Er beobachtete weiterhin das Bild im Schwarzen Auge, das sich nun wieder mit einem trüben Schleier zu überziehen begann. »Wo befindet sich der Seelenstein?« fragte er leise. Aber das magische Artefakt reagierte nicht auf seine Worte. Die weißen Mauern der Totenstadt wichen nach links, und Callehains aufgeregter und neugieriger Blick fiel auf einen mächtigen Gletscher. Spuren waren zu sehen: tiefe Abdrücke 81
im Schnee, lange Kratzer im jahrtausendealten Eis. Die Spuren eines Drachen. »Ho, und wir nehmen es auch mit Fuldigor auf, dem letzten Drachen. Ho, ich schleudere ihm meine magische Macht entgegen, auf daß er in seinem eigenen Feuer verbrenne...!« Das Schwarze Auge wurde dunkel, und es dauerte nur wenige Augenblicke, bis vor den beiden jungen Dieben wieder dunkler Obsidian glänzte. Es knirschte irgendwo im Rumpf des Schiffes, und mit einem jähen Ruck neigte sich das Deck zur Seite. Geistesgegenwärtig griff Callehain nach dem Schwarzen Auge und verhinderte damit, daß es fortrollte und ins Meer fallen konnte. Medwyn schob sich rasch den Zauberstab Gilburians in die Tasche der grauen Pariajacke, die in der Sonnenhitze getrocknet war. Erneut knirschte es, und den Hauch eines Augenblicks später hob sich das Heck des Schiffes empor. Callehain und Medwyn verloren den Halt und rutschten über die schmutzigen Planken in Richtung Bug. Medwyn hielt sich kreischend an Callehains Hose fest, während dieser nach einem Seil griff. Tschock! machte es, und Callehain hatte das Gefühl, ihm würden die Arme aus den Schultergelenken gerissen. Nur langsam sank das Heck des Schiffes in die Tiefe zurück. Es gurgelte und rauschte in den Meeresfluten. »Es ist der Fluch«, flüsterte Callehain. Er stand unsicher auf. »Ja, es muß der Bann sein...« Sie starrten aufs Meer, und während ihre Blicke die Wasseroberfläche absuchten, teilten sich einige Dutzend Meter entfernt die Fluten. Ein riesenhaftes Auge stülpte sich hervor und maß sie mit einem kalten Blick. »Ein Rirgit«, krächzte Medwyn. Gewaltige Muskelflossen bewegten Hunderte von Tonnen Wasser und schoben einen kolossalen Leib auf das Schiff zu. Es krachte donnernd, als es zum Zusammenprall kam, und erneut verloren die beiden Diebe den Halt und stürzten. Planken knickten wie Strohhalme, und von der Treppe her, die ins Unterdeck hinabführte, rauschte und toste es. »Wir 82
haben ein Leck«, sagte Callehain nur. Und Medwyn wimmerte: »Wir sinken. Bei Phex: Und im Meer wartet das hungrige Maul des Rirgit auf uns.«
Manchmal ist das, was wir sehen, nur ein Schein, das Bild einer anderen Realität, die neben unserer Wirklichkeit existiert. Ein Philosoph der Gelehrten Fakultät von Gareth auf die Frage, ob die Welt ein Traum sei oder es sich bei Träumen nur um verzerrte Bilder handele.
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7. EIN BESUCH IN DER NACHT Die breiten und muskulösen Gestalten zweier Poten hielten vor dem Eingang des Handelspalastes Wache. Die Frau verlangsamte ihren Schritt ein wenig und sah sich ein letztes Mal um. In der breiten Straße hinter ihr rührte sich nichts. Aus den nahen Tavernen erklangen die grölenden Stimmen der Betrunkenen. Das milchige Licht der Laternen und Fackeln spiegelte sich auf dem Kopfsteinpflaster wider, und die Häuser waren große Schatten, die rechts und links emporragten. Hier und dort glänzte noch schmutziges Wasser in einer Pfütze – Überbleibsel des Unwetters, das am Tag über Al'anfa hinweggezogen war. Die Sklavenkolonnen hatten Straßen und Gassen von Schlamm und Sand gesäubert, aber für die Handwerker gab es auch an den kommenden Tagen noch viel zu tun: Die Böen des Orkans hatten Dächer abgedeckt und Fenster eingedrückt. Einer der beiden Poten trat der Frau in den Weg und legte die rechte Hand auf das Heft seines Schwertes. Das narbige Gesicht des Kriegers war eine starre Maske, und die schwarzen Augen des Mannes schienen von innen heraus zu erglühen. Henrinnens Hang zum Exotischen, dachte die Frau amüsiert. Es müssen unbedingt Soldaten aus einem fernen Land sein. »Was ist dein Begehr?« Die Stimme klang so, als riebe man zwei rauhe Holzscheite übereinander. Die Frau senkte den Kopf und holte einen Siegelring hervor. »Der Handelsherr erwartet mich.« Die beiden Poten prüften den Ring, reichten ihn der Frau zurück und gaben dann den Weg frei. Einer der beiden Krieger begleitete sie durch einen prächtig angelegten Garten, in dem Rosen von Altoum neben Orchideen von den Zyklopeninseln wuchsen. Wasser gurgelte aus marmornen Speiern, und die purpurnen Kelche von Freßlilien wandten sich um, als die Frau und der Krieger an den Stauden 84
vorbeischritten. Du hast vergessen, sie zu füttern, dachte die Frau. Sie sind hungrig, Henrinnen. Die Tür bestand aus hartem Eibenholz, und Bildhauer hatten sie mit kunstvollen Schnitzereien versehen. Der Soldat klopfte dreimal. Dann trat eine junge Zofe auf die Marmorplatten vor dem Eingang. Die Frau schlug die Kapuze ihres langen, schlichten Gewandes zurück. »Oh«, machte die Zofe. »Du bist es.« Und an den Krieger gerichtet: »Nimm jetzt wieder deinen Posten ein.« Der Pote salutierte und kehrte ans Tor zurück. »Hast du deinen Besuch angekündigt?« fragte die Zofe, während sie die Besucherin durch den breiten Prachtgang des Handelspalastes führte. Dicke, teure Teppiche dämpften das Geräusch ihrer Schritte. An den hohen Wänden hingen Gemälde: Jedes einzelne Bild verkörperte einen Wert, der ausgereicht hätte, um eine Bürgerfamilie von Al'anfa ein Jahr lang zu ernähren. Henrinnen war ein reicher Mann. Mit dem Geld, das ihm die Fahrten seiner Schiffe eingebracht hatten, konnte er sich jeden Wunsch erfüllen. Fast jeden, verbesserte sich die Frau. »Nein«, sagte sie. »Ich bin gekommen, weil ich eine wichtige Nachricht für Henrinnen habe. Eine sehr wichtige.« Einen Augenblick lang musterte die Zofe sie argwöhnisch, und ihr Blick glitt dabei wie mißbilligend über das schlichte, einfache Gewand, das die Frau trug. »Warte hier«, sagte sie und machte Anstalten, sich von der Frau abzuwenden. Sie ging auf eine breite, mit Goldbildnissen versehene Tür zu. Die Frau lächelte nur, hielt sie fest und schob sich dann mit einer fließenden Bewegung an ihr vorbei. »Aber...« »Es dürfte deinen Herrn nicht sonderlich erfreuen, wenn ich ihm sage, daß du mich aufgehalten hast.« Sie lächelte erneut und öffnete die Tür, die in die Privatgemächer des Handelsherrn führte. Die Zofe erblaßte und machte sich eilig davon. Mädchenstimmen lachten und kicherten. Die Frau schritt über einen Teppich, der aussah wie eine Wolke, die durch einen Zauberspruch vom Himmel geholt und an den 85
Boden gebunden worden war. Sie wußte, daß ihn die SeidenSpinner aus dem Nebelwald gewoben hatten. Allein der Transport von den Nebelzinnen fern im Norden bis nach Al'anfa hatte schon ein Vermögen gekostet. Die Einrichtungsgegenstände des Zimmers bestanden aus dem Perlholz der Wälder der Marashan-Kette. Gold, Silber und Platin glänzten im strahlenden Licht der Kronleuchter. Die Frau öffnete die zweite Tür, die nur angelehnt war. Henrinnen lag inmitten eines Berges aus Duftschaum i m marmornen Badebecken. Nackte Mädchen tanzten zur Musik einiger Harfner und Lautenspieler auf dem Rand, und manchmal sprang eins von ihnen zum Handelsherrn ins Wasser. »Es tut mir leid, wenn ich störe«, meinte die Frau ruhig. Henrinnen drehte sich um. »Oh, du bist es. Die schöne Unbekannte.« Er lachte und winkte. »Fort mit euch, ihr Kinder.« Die Mädchen griffen nach ihren Kleidern und verschwanden stumm und enttäuscht durch einen schmalen Seitengang, gefolgt von den Barden. Henrinnen tauchte kurz unter, kam prustend wieder zum Vorschein und stützte sich mit beiden Armen auf dem Rand des Badebeckens ab.. In einem nahen Kamin knisterte die Glut eines Feuers. »Unreife Kinder«, wiederholte die Frau amüsiert und lächelte. »Und doch...« Henrinnen winkte ab. »Ich bin ein hart arbeitender Mann. Deshalb brauche ich manchmal ein wenig Abwechslung und Entspannung.« Er schwang sich über den Rand, während der Blick der Frau an seiner Gestalt herabglitt. »Entspannung?« »Oh«, machte Henrinnen und schlüpfte in einen Seidenmantel. »Ich bin kein Greis. Meine Bedürfnisse sind so normal wie die eines jeden Mannes.« »Nur teurer«, sagte die Frau. »Wesentlich teurer.« »Vielleicht.« Henrinnen zuckte mit den Achseln. »Aber ich kann es mir leisten. Die Mädchen eben... haben sie dir gefallen?« Genießerisch atmete er den Duft eines in einer 86
Goldschale schwelenden Aromakrautes ein. »Sie waren hübsch.« »Hübsch?« Er sah sie verblüfft an. »Es sind die schönsten Sklavinnen, die seit fünf Jahren auf dem Markt von Al'anfa angeboten wurden. Hübsch!« Die Frau musterte ihn. Henrinnen war etwa vierzig Jahre alt und hochgewachsen. Er hatte scharf geschnittene Gesichtszüge, kurzes schwarzes Haar und eine hakenförmige Nase. Er war nicht im eigentlichen Sinne attraktiv, aber er strahlte etwas aus, das schon viele Frauen angezogen hatte. In den letzten Monaten – während des Winterregens – hatte er jedoch ein zu bequemes und luxuriöses Leben geführt und an den Hüften ein wenig Fett angesetzt. Die Frau lächelte auch weiterhin, und ganz vorsichtig ging sie daran, die Maschen des Netzes, in dem Henrinnen gefangen war, ohne etwas davon zu ahnen, enger zu spinnen und entstandene Lücken zu schließen. »Es ist soweit, Henrinnen«, sagte sie. Der Handelsherr drehte sich langsam um und sah sie groß an. Ein seltsames Funkeln stahl sich in seine Augen. Ja, dachte die Frau. Er ist der Richtige. Ich habe es von Anfang an gewußt. Er kann der Versuchung nicht widerstehen. »Wann?« »Morgen früh, Henrinnen. Morgen früh wird Dharag den Tempel Visars verlassen, seine aus zweitausend Soldaten bestehende Streitmacht mit dem im Regengebirge wartenden Söldnerheer vereinen und nach Süden vorstoßen, nach H'Rabaat und Brabak.« »Woher hast du diese Information?« Henrinnen trat auf sie zu, legte die Hände auf ihre Schultern und sah sie an. Sie hielt seinem durchdringenden Blick mühelos stand. »Das ist und bleibt mein Geheimnis.« Sie schlang die Arme um seinen Hals, und ohne daß er es merkte, malten ihre Finger ein unsichtbares magisches Sy mbol auf seinen Rücken. »Vertraust du mir plötzlich nicht mehr? Du konntest dich 87
bisher immer auf meine Hinweise verlassen, das weißt du.« »Ja.« Er dachte nach, und während er überlegte, schob sich ein dünner trüber Hauch vor seine Pupillen. Seine Hände fuhren durch das dichte blonde Haar der Frau, tasteten sich dann herab und krochen über ihre Brüste. Der Blick ihrer blauen Augen hielt ihn gefangen. »Was schlägst du vor, schöne Unbekannte?« Langsam dirigierte sie ihn auf die breite Liege zu. Als sie eng umschlungen auf den weichen Schmiegepolstern lagen und sie an den Oberschenkeln seine Reaktion spürte, hauchte sie ihm ins Ohr: »Es ist der beste Zeitpunkt, Henrinnen. Ohne die Anwesenheit Dharags in der Stadt ist die Macht Visars beschränkt, und die Boron-Priester werden sich nur an die Anweisungen halten, die sie zuvor erhielten. Ich bezweifle, ob Dharag mit einem von dir angeführten Aufstand der Handelsherren Al'anfas rechnet. Sind die Vorbereitungen abgeschlossen?« Er stöhnte leise, während er sie liebte. »Ja, schon lange. Es kann in wenigen Stunden losgehen.« »Warte, bis Dharag fort ist. Dann gehört die Stadt dir, Henrinnen. Dann brauchen keine hohen Steuern und Abgaben mehr an den Tempel entrichtet zu werden. Dann duckt sich Al'anfa nicht mehr unter dem schwarzen Joch Visars.« Die Frau paßte sich seinen Bewegungen an und schlang die Beine um seine Lenden. Lange und ausgiebig liebten sie sich, und die ganze Zeit über wob die Frau die Netzmaschen enger und enger, bis es keinen Durchschlupf mehr gab. Die ganze Nacht blieb sie bei Henrinnen, und erst als die Tempeltrommel dröhnte und sich am östlichen Horizont der erste rote Schimmer des neuen Tages ankündigte, verabschiedete sie sich von dem Handelsherrn, der inzwischen fest dazu entschlossen war, die Abwesenheit Dharags zu nutzen, um sich selbst an die Spitze der Machtpyramide Al'anfas zu stellen. »Wir sehen uns wieder«, sagte die Frau. »Irgendwann.« »Sag mir deinen Namen, schöne Unbekannte.« »Nein.« Sie lächelte. »Noch nicht. Vielleicht bei unserem 88
nächsten Zusammentreffen. Dann, wenn du den Sieg über die Boron-Priester errungen hast.« Und im Anschluß an diese Worte verließ sie den Handelspalast Henrinnens. Draußen war es kühl. Die Frau zog sich wieder die Kapuze über den Kopf, eilte an den Poten vorbei und verschwand in einer Gasse. Sie mußte sich beeilen, denn die Sonne stieg nun bald über den Horizont, und wenn ihre ganze Scheibe am Himmel zu sehen war, durfte sie sich nicht mehr in der Stadt aufhalten. Sie hatte schnell den Stadtrand erreicht und nahm den Weg, der zur Gesindebastion führte. Während in der Ferne die Tempeltrommeln pochten, murmelte die Frau einen leisen Zauberspruch. Ein dunkler Schatten stülpte sich auf ihre blonden Strähnen, und als sich der Schemen verflüchtigte, war ihr Haar schwarz, und das Licht des neuen Tages spiegelte sich in jadegrünen Augen wider. Die Schultern wurden ein wenig schmaler, die Brüste voller, und das schlichte Gewand verwandelte sich in eine Hexentunika samt Reifeschleier. Cherinne lächelte, als sie die Gesindebastion erreichte und durch die Gänge und Korridore des Hexenturms wanderte. Henrinnen war zwar ein reicher Mann, aber auch ein Narr. Vielleicht gelang es ihm tatsächlich, mit Hilfe der anderen Handelsherren die Macht in Al'anfa zu erringen. Aber bestimmt würde Dharag sofort davon erfahren und sich mit seinen zweitausend Tempelsoldaten und den Söldnern unverzüglich auf den Rückweg machen. Und all das Geld Henrinnens reichte nicht aus, um einen Sieg über die Truppen des Hohenpriesters zu kaufen. Eins aber stand fest: Aus der Auseinandersetzung würden sowohl Dharag als auch die Hanse Al'anfas geschwächt hervorgehen, und das waren zwei weitere Mosaiksteine, die Cherinne dem Bild hinzufügen konnte, an dessen Fertigstellung sie arbeitete.
Ein Schüler: »Meister, wie soll sich ein Dieb verhalten, wenn er gefaßt wird?« Und der Meister: »Ein Dieb, der gefaßt wird, ist kein Dieb mehr, sondern ein Todgeweihter. Niemand kann ihn vor Strafe schützen.« Der Schüler: »Aber Meister, 89
Phex ist doch ein mächtiger Gott. Warum läßt er zu, daß ihm geweihte Diebe der Gilde in die Foltergewalt von Ungläubigen geraten?« Und der Meister: »Phex ist ein mächtiger Gott, ja, aber die Wege der Götter sind unerfindlich, und manchmal stellt sich eine Strafe als Balsam heraus.«
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8. DAS ORAKEL VON TSCHINTAI Der Rirgit* beließ es nicht bei diesem einen Leck. Natürlich nicht. Es war ja auch ein verfluchtes Schiff. Er rammte seine gewaltigen Stoßhörner noch drei weitere Male in den hölzernen Leib des Schiffes. Es krachte und toste, und die Planken und Bohlen des Rumpfes knirschten, ächzten und splitterten. Dutzende von Metern lange Tentakel peitschten empor und zerschmetterten die Aufbauten, die vom magischen Sturm verschont geblieben waren. Das Deck hob und senkte sich unter den wuchtigen Schlägen so schnell, daß Medwyn und Callehain kaum eine Gelegenheit hatten, irgendwo Halt zu finden. Der Rumpf nahm nun rasch Wasser auf, und während der Rirgit seine kolossale Körpermasse durch die Fluten wälzte, wuchsen die von diesen Bewegungen erzeugten Wellen immer höher empor und spülten über den Bug. »Die Beiboote!« rief Callehain. »Am Heck!« »Ein verfluchtes Schiff, oh, oh, und der Rirgit ist gekommen, um den Bann zu erfüllen und uns zu verschlingen...«
*Erzählungen über die Rirgit sind im ganzen Süden Aventuriens bekannt. Es heißt, Rondra und Efferd, die Götter des Krieges und des Meeres, hätten sich einst gegen Praios, das Oberhaupt der Zwölfgötter verschworen. Sie zeugten dreizehn Kinder, und Praios strafte sie mit Wahnsinn. Aus den wirren Träumen dieser Kinder entstanden die Rirgit. Viele Kapitäne Al'anfas und der anderen Städte des Südens lassen ihre Schiffe weihen, bevor sie zu einer großen Fahrt aufbrechen, doch manchmal wirkt dieser Bann nicht. Ein Rirgit ist wie eine Urgewalt, und immer wieder fallen Schiffe diesen Riesen des Ozeans zum Opfer.
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Callehain packte seinen Gefährten am Kragen der Pariajacke und zog ihn mit sich. Medwyn wimmerte und kniff die Augen zusammen, wenn ein neuer Brecher über die Reling toste und alles mit sich riß, was keinen festen Halt hatte. Mehrmals verlor Callehain das Gleichgewicht, fiel und rutschte über einen glitschigen Algenteppich. Der Weg zum Heck des Schiffes schien kein Ende zu nehmen. Taue und Seile waren wie Schlangen, die ihre biegsamen Leiber hin und her wanden. Callehain duckte sich unter einigen gesplitterten Rahen hinweg – und vor ihm, in einem hölzernen Gerüst, schaukelte eines der drei Beiboote. »Er wird uns töten«, kreischte Medwyn. »Und niemals gelangen wir in die Stadt der Verlorenen Seelen. Hach, wir sind ebenso verflucht wie dieses Schiff. Nichts kann uns jetzt noch retten. Oh, niemals werden unsere Namen im goldenen Buch der Diebesehre verzeichnet werden...« Callehain gab seinem Gefährten eine Ohrfeige und schrie ihn an: »Hör endlich mit deinem verdammten Gejammere auf, Medwyn. Reiß dich zusammen und hilf mir dabei, das Beiboot zu Wasser zu lassen. Wir müssen uns beeilen, wenn wir nicht in den Strudel geraten wollen.« »Der Rirgit...« »Zur Hölle mit dem Rirgit!« Medwyn zitterte und spähte über die Reling. Der Rirgit war eine gewaltige, rostrote Masse aus Fleisch, Flossenarmen, Tentakeln, Muskeln, Stoßzähnen und – Zorn. Er tauchte, kam wieder an die Oberfläche und stülpte seine Außenlungen über die Wellen. Er fauchte wie ein Steintiger aus der großen Khomwüste und spie das verbrauchte Kiemenwasser hundert Meter hoch. Seine mächtigen Flanken zuckten und schleuderten die Masse seines Körpers nach vorn. Mit der wütenden Kraft von hundert Elefanten schmetterte er gegen die Steuerbordwandung des Schiffes. Das Krachen war wie ein Donnerschlag, der den Untergang der Welt selbst ankündigte. Dann und wann neigte sich einer seiner Augenstiele, und Callehain hatte das Gefühl, innerlich zu erstarren, wenn sich der gräßliche Blick des Ungeheuers auf ihn richtete. Medwyn löste den Knoten zu früh. 92
Das Heck des kleinen Beibootes neigte sich abrupt in die Tiefe, und die in Segeltuch eingepackten Notvorräte lösten sich aus der hölzernen Verankerung. Wasserschläuche fielen ins Meer, gefolgt von Beuteln mit Zwieback und Werkzeugen, die das Überleben von Schiffbrüchigen gewährleisten sollten: Signalflaggen, Kompaß, Seekarten, Öl und Zunder. Der Rirgit tauchte. »Jetzt!« rief Callehain. Er löste den zweiten Knoten am Bug, das Beiboot rutschte ganz aus dem hölzernen Gerüst und klatschte ins Meer. Medwyn hangelte sich zitternd an einem Tau in die Tiefe und kauerte sich in dem kleinen Boot zusammen. Das Schiff hob und senkte sich träge auf den hohen Wellen, und der Bug tauchte immer öfter in die aufgewühlten Fluten. Das Deck neigte sich bereits bedrohlich weit nach Steuerbord, Es konnte nur noch wenige Augenblicke dauern, bevor sich der gierige Schlund des Ozeans endgültig öffnete und das Handelsschiff ganz vereinnahmte. Callehain stürzte, als der Rirgit seine gewaltige Körpermasse ein weiteres Mal gegen den Rumpf schmetterte. Mit dem Kopf prallte er gegen eine gebrochene Rahe, und die alte Schläfenwunde platzte wieder auf. Blut rann ihm über die Wange. Er verlor die Orientierung. Um ihn herum toste und rauschte es, und seine nach Halt suchenden Hände ertasteten nur schäumendes Salzwasser. »Medwyn...« Er fiel. Und während er fiel, lichtete sich kurz der purpurne Schleier vor seinen Augen. Wellenkämme wogten ihm entgegen, und irgendwo in dem türkisfarbenen Wasser bewegte sich der rostrote Riesenkörper des Rirgit. Seine Stoßzähne durchteilten die Fluten und zielten nach dem untergehenden Schiff. Callehain stürzte nur wenige Meter an einem gewaltigen Horn vorbei, das sich in den Heckbereich des Schiffes bohrte. Er wollte Luft holen, schluckte aber nur Wasser und mußte husten. In seinen Schläfen pochte die Trommel eines höhnischen Dämonen, und der Spott selbst beschleunigte den Takt. Etwas Rauhes schabte ihm über die Hüfte. Eine 93
Muskelflosse traf den jungen Dieb, hob ihn einige Meter in die Höhe und schleuderte ihn fort. »Callehain! Hier bin ich, hier...!« Irgendwann ertasteten die erschöpften Hände Callehains nasses Holz. Er hielt sich an der Wandung fest, und Medwyn half ihm dabei, ins Innere des wild auf den Wellen schaukelnden Beibootes zu gelangen. »Du... du blutest ja.« Medwyns Augen weiteten sich vor Schrecken, während Callehain nach Luft rang. »Bei Phex und seinem Diebesrat: Du darfst nicht sterben, Callehain. Nein, nicht jetzt. Du kannst mich doch nicht allein lassen...« Callehain hob langsam den Kopf. »Rudern... Wir müssen rudern und uns rasch von dem Schiff entfernen. Sonst...« Der Rest verlor sich in einem unartikulierten Stöhnen. Medwyn hockte sich auf die Bank, griff nach den beiden Rudern und zog durch. Hinter ihnen grollte es. Das Heck des Handelsschiffes richtete sich steil auf, als der Bug ganz ins Meer eintauchte, und das Wasser brodelte und schäumte, als es das Wrack verschluckte. Die letzten Aufbauten brachen auseinander, und ein großer Strudelwirbel bildete sich. »Rudern«, krächzte Callehain. »Du mußt schneller rudern.« Auf den Strudelwellen formte sich schaumige Gischt, und das kleine Beiboot tanzte auf den Wogen und drehte sich immer schneller. Medwyn zog durch, während hinter ihnen das Schiff dem dunklen Meeresgrund entgegensank. Die Wut des Strudels verausgabte sich, und es dauerte nicht lange, bis die Wasseroberfläche wieder so glatt war wie ein Spiegel. Stille herrschte. Medwyn flüsterte: »Callehain, sieh nur...« Ein großes Rirgitauge beobachtete sie aus einer Entfernung von dreißig Metern. »Cal, wenn er uns angreift... ein einziger Tentakelhieb reicht aus, um das Beiboot zu zerschmettern. Und uns dazu.« »Der... der Zauberstab, Medwyn«, gab Callehain zurück. »Verfluche den Rirgit. Schick ihn zur Hölle. Verbanne ihn ins Reich der ewigen Finsternis. Erfinde irgendeinen magischen 94
Spruch. Aber sorg dafür, daß das Ungeheuer verschwindet.« Zögernd griff Medwyn in seine Tasche und holte den Zauberstab Gilburians hervor. Während sich der Augenstiel wieder ins Meer senkte und Callehain einen rostroten Schatten sah, der auf sie zuglitt, überlegte Medwyn angestrengt. »Bei den Zwölfgöttern, Medwyn: Laß dir etwas einfallen!« »Ich rufe dich, Rirgit, Herr der Meere. Hebe dich hinfort, denn sonst... denn sonst...« »Medwyn!« »Der Zauberspruch... äh... er muß sich reimen...« »Verdammt!« »... denn sonst... denn sonst...« »MEDWYN!« »... denn sonst beschwöre ich die magischen Heere.« Der Rirgit tauchte und verschwand irgendwo in den Tiefen des Ozeans. Das Beiboot des untergegangenen Schiffes schaukelte noch eine Weile auf den Wellen und schwamm dann ruhig auf dem Wasser. Callehain hatte die ganze Zeit die Augen zusammengekniffen. Jetzt hob er langsam den Kopf und sah sich um. Das blaugrüne Meer erstreckte sich so weit das Auge reichte. Nirgends zeigten sich die Konturen einer Insel oder des Festlandes. Sie waren vollkommen allein in einer Wüste, in der es Wasser im Überfluß gab und man dennoch innerhalb kurzer Zeit verdursten mußte. Heiß und unerbittlich brannte die Sonne vom wolkenlosen Himmel. Callehain sank zurück und verlor das Bewußtsein.
»Wenn wir nicht die Heilelixiere verloren hätten...« Medwyn zuckte mit den Achseln. »Du hast sie verloren.« »Eine unglückliche Fügung des Schicksals«, erwiderte der kleine Dieb. »Es hätte dir ebensogut passieren können. Nun, 95
wie dem auch sei: Ich habe schon daran gedacht, einen Genesungszauber zu beschwören, aber...« Callehain kam ruckartig in die Höhe und brachte damit das Beiboot zum Schaukeln. »Bloß nicht!« Er betastete die Wunde an der Schläfe. Inzwischen hatte sich eine neue Blutkruste gebildet, und der Schmerz war nur noch eine dumpfe Erinnerung. »Hach, vertraust du meinen magischen Künsten denn noch immer nicht?« Medwyn seufzte und drehte den Zauberstab in seinen schmalen Händen hin und her. In seinem zerzausten braunen Haar zeigten sich hier und dort einige Algensträhnen. »Hast du schon vergessen, wie ich den Rirgit vertrieb?« Er atmete tief durch und schob die Brust vor. »Hach, von der Wucht meines Banns wurde er getroffen. Er fürchtete sich vor meinem Zauber und ergriff sofort die Flucht.« »Es war der Fluch. Das Ungeheuer zerstörte das Schiff, und damit gab es sich zufrieden.« Medwyn verzog das Gesicht und machte »Pah!«. Callehain ließ sich wieder zurücksinken, beobachtete die zarten Wolkenschleier am Himmel und dachte nach. Ihre Reise stand offenbar unter keinem günstigen Stern. Von einer Gefahr in die andere waren sie geraten, und er fragte sich, ob es den Gildendieben, die nun ihre Meisteraufgabe zu erfüllen versuchten, ebenso erging. War es so schwer, zu einem Gesellen und Meister zu werden? »Ich habe Durst«, sagte Medwyn. »Ich auch.« Das Medaillon Shailas... Callehain griff danach und verspürte keinen Wärmehauch. Es hatte auf dem Handelsschiff Henrinnens nicht reagiert, ebensowenig beim Angriff des Rirgit. Wieder war der junge Dieb versucht, das Schmuckstück zu öffnen – und wieder schreckte er unwillkürlich davor zurück. Der eigentliche Zauber der magischen Gabe wirkte nur ein einziges Mal; er durfte ihn erst dann einsetzen, wenn er sich in einer wirklich ausweglosen Lage befand. »Hörst du mich, Stimme?« fragte er leise. Aber der flüsternde Hauch antwortete nicht. Medwyn 96
starrte ihn groß an. »Cal, bitte... du mußt dich zusammenreißen. Du darfst nicht den Verstand verlieren.« Callehain antwortete nicht und blickte übers Meer. Der helle Glanz der Sonne spiegelte sich wie höhnisch auf den niedrigen Wellen, und manchmal waren dicht unter der Wasseroberfläche die schuppigen, farbigen Körper kleiner Fische zu sehen. Nirgends eine Insel. Nirgends die dunstigen Konturen einer Landmasse. Irgendwann schlief er wieder ein. Am Abend des zweiten Tages, als Medwyn den Durst nicht mehr ertragen konnte, holte der kleine Dieb den Zauberstab hervor und versuchte, Essen und Trinken zu beschwören.
Callehain erwachte, als er ganz in der Nähe eine leise Stimme vernahm. »Bei der Macht des Zauberstabes, gib uns Speis' und Trank am Ende dieses Tages.« Eine kurze Pause schloß sich an, und dann: »Verdammt, verflucht und tausendmal in die Hölle seid ihr magischen Gewalten gewünscht.« Medwyn hustete und unternahm einen weiteren Versuch: »Hört auf meine Stimme, ihr Mächte der Magie; ich befehle euch, zu löschen den Durst und zu stillen den Hunger, und wenn ihr mir nicht gehorcht, dann... dann...« Ihm fiel kein passender Reim ein. Callehain richtete sich stöhnend auf und griff nach dem Zauberstab Medwy ns. Der kleine Dieb wich zurück, und Callehain rutschte übers Holz. Seine Zunge fühlte sich an wie ein aufgequollenes Stück Gummi. »Ich flehe dich an, Medwyn, leg den Zauberstab zur Seite. Du richtest damit nur Unheil an.« »Willst du etwa behaupten, ich wüßte nicht, wie man damit umgeht?« erwiderte Medwyn aufgebracht. »Ich habe uns schon mehrmals gerettet. Ja, wenn ich und meine magischen Künste nicht gewesen wären...« »Und wenn du den Knoten nicht zu früh gelöst hättest...« »Du warst zu langsam!« Callehains Gesicht verzerrte sich wütend. Er kroch auf 97
seinen kleinen Gefährten zu, streckte die Arme aus und machte Anstalten, ihn am Hals zu packen und so lange zuzudrücken, bis er sicher sein konnte, daß Medwyn keinen Laut mehr von sich gab. Aber in seinen Gliedern steckte eine bleierne Schwere, ein Gewicht, das ihn auf den Boden des Beibootes preßte und ihn dort festnagelte. Medwyn lachte schrill. In seinen großen blauen Augen schimmerte eine Spur von Wahnsinn. Es ist der Durst, dachte Callehain. Medwyn schnappt langsam über. Er verstärkte seine Bemühungen, den Zauberstab zu ergreifen, und er hatte die feste Absicht, ihn über Bord zu werfen, falls es ihm g elänge, seinem Gefährten das magische Artefakt zu entreißen. Medwyn sprang auf, setzte über Callehain hinweg und kauerte sich im Heck des Bootes zusammen. Er lachte und kicherte, und das Boot schwankte und zitterte. »Du... du bringst das Boot zum Kentern.« Aber Medwyn achtete nicht auf diese warnenden Worte. Mit einem Ruck stand er wieder auf, zielte mit der Spitze des Zauberstabes auf die Sonne und rief mit sich überschlagender Stimme: »Ich beschwöre euch, des Zaubers Gewalten. Nicht länger eure magischen Rätsel sollt ihr behalten. Zu essen und zu trinken verlangen wir, Und wir warten hier. Auf eure reichliche Gabe, die erfolgen muß Jetzt und sofort, An diesem Ort!« Am Himmel wuchsen zwei zarte Schleier zusammen und verdunkelten sich. Die Wolke senkte sich der Meeresoberfläche entgegen und wurde von einem imaginären Wind auf das Beiboot zugetrieben. Callehain verspürte jähe Kälte, die sich über sie senkte, und mit krächzender Stimme 98
rief er: »Medwyn, du verdammter Narr! Ich drehe dir den Hals um, wenn ich dich erwische...« Er stemmte sich in die Höhe und kroch auf seinen Gefährten zu. Die dunkle Wolke verfinsterte sich unterdessen weiter und formte direkt über ihnen einen dunklen Trichter. Und in diesem Trichter... Callehain hob schützend die Arme über den Kopf. Gegenstände prasselten auf sie nieder: große tönerne Krüge, bis zum Rand gefüllt mit saftigen Weintrauben, kleine Tische, Porzellanschalen mit köstlich duftenden Braten, Flaschen mit Wein und Holundersäften, frische Brotlaibe, tranchiertes Geflügel, Kürbisse, Melonen, gebackene Artischocken und andere Delikatessen.* Es knackte und knirschte. Die schweren Krüge durchschlugen wie von Katapulten abgefeuerte Geschosse die Planken des Bootsrumpfes, so daß Wasser hereingurgelte. Der Platzregen aus Köstlichkeiten ließ nicht nach. Callehain wurde mehrmals getroffen und sah schließlich keinen anderen Ausweg mehr, als sich über Bord ins Meer gleiten zu lassen und mit einigen Schwimmzügen eine sichere Entfernung zwischen sich und den Trichter zu legen. Gluckernd versank das Boot. Und Medwyn rief: »Eine Insel! Ich sehe eine Insel!«
*Später wurde dieses Ereignis im Süden Aventuriens und in einigen Städten des Mittellands als das »Große Verschwinden« bekannt. Bauern kamen des morgens auf ihre Felder und klagten ihren Lehensherren, ihnen sei während der Nacht die Ernte geraubt worden. Köche, die in Schlössern Festmahle vorbereitet hatten, mußten mit ansehen, wie die von ihnen ausgewählten und für den Gaumen ihrer Herrschaft bestimmten Köstlichkeiten sich einfach in Luft auflösten. Die Ernte ganzer Landstriche wurde wie von Geisterhand davongetragen. Ein Fischer von Benbukkula fand einige Jahre später in seinem Netz einen Krug, dessen Wappenbild von dem fast viertausend Längen entfernten Perricum stammte. Menschen und Kobolde, Gnome und Gobblins, Trolle und Zwerge beteten zu den Göttern, denn sie waren fest davon überzeugt, daß es Praios und die Seinen gewesen waren, die dem Boden Aventuriens seine Früchte entnommen und zu einem göttlichen Schmaus verwendet hatten.
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Callehain schwamm an der Regenflut aus Delikatessen vorbei, fand eine Flasche Wein und entkorkte sie. Mit den Beinen trat er Wasser, während er sich die köstlich schmeckende Flüssigkeit durch die Kehle rinnen ließ. »Hach, der mächtigste aller Magier bin ich!« rief Medwyn, der knapp ein Dutzend Meter entfernt war. »Ich habe nicht nur eine Mahlzeit beschworen...« – er biß von einem Bratenstück ab, das auf den Wellen schwamm, und bevor er schluckte, spie er Salzwasser –, »... bei deren Anblick jeder Fürst vor Neid erblassen würde, nein, noch mehr als das: Ich habe auch eine Insel geschaffen, wo es vorher nur Wasser gab...!« Callehain ließ die leere Flasche Wein auf den Wellen tanzen und schwamm auf das nahe Eiland zu. Sonderbar geformte Felsen ragten dunkel aus dem Meer, und irgendwo tief in seinem Innern vernahm er das dumpfe Echo einer warnenden Stimme. Doch der Wein formte eine Nebelwand, die jeden Laut verschluckte, und die Worte des Hauches hinter Callehains Stirn reihten sich nicht zu verständlichen Sätzen aneinander. Er schwamm und schwamm, und Medwyn rief mit vollem Mund: »Hach, so warte doch auf mich. Ich bin kein Delphin, und noch sind mir keine Flossen gewachsen.« Das Wasser wurde seichter, und bald schon spürte Callehain sandigen Boden unter den Füßen. Die dunklen Felsen waren keine Felsen, aber das störte ihn nicht. Er begriff, daß er nicht mehr ertrinken konnte, und nur das war wichtig. Vorsichtig schob er sich an Korallenriffen vorbei, deren harte Kronen aus dem glitzernden Wasser ragten und in der Sonnenhitze verdorrt waren. Blau und rot funkelten die Ranken der Korallen, und das Wasser war wie flüssiges Silber, das sich schäumend um die Bäume aus Kalk ergoß. Callehain wankte lachend über den Strand. Weit hinter ihm schwebte noch immer die dunkle Wolke über der Stelle, an der das Beiboot untergegangen war, und nach wie vor regneten die köstlichsten Delikatessen aus dem sch warzen Trichter. Callehain drehte sich im Kreis und bewegte die Arme wie zwei Dreschflegel. Sein vom Weindunst verschleierter Blick nahm die Konturen seiner Umgebung nur 100
verschwommen wahr. Er wußte nicht, was Wirklichkeit war und was seinen wild wuchernden Phantasien entsprang. Nur in einem Punkt war er sich ganz sicher: Unter seinen Füßen war fester Boden. Lallend ließ er sich in den warmen Sand fallen und schlief auf der Stelle ein. Der warnenden Stimme in seinem Innern schenkte er keine Beachtung.
»Wracks«, hauchte Medwyn und sah sich ehrfürchtig um. »Hunderte müssen es sein.« Callehain nickte nur. Bei den dunklen Formationen, die er zuvor für Felsen gehalten hatte, handelte es sich um die Überbleibsel von Schiffen, die auf die der Insel vorgelagerten Riffe aufgelaufen waren. Manche Rümpfe waren geborsten, andere wiederum erweckten einen nahezu unbeschädigten Eindruck. Bleiche Banner wehten in der lauen Abendbrise, und Masten ragten stumm empor. »Haaallooo!« rief Callehain, aber er erhielt keine Antwort. Die Sonne war eine große scharlachrote Scheibe, deren unterer Rand im Westen bereits das Meer berührte. Der ganze Horizont schien in Flammen zu stehen, und das rote Glühen spiegelte sich auf den Marmorfelsen wider, die jenseits des schmalen, sandigen Küstenstreifens in den Himmel wuchsen. Ganz oben entdeckte Callehain schwarze Buckel auf den Klippen. Eine schmale Treppe führte in die Höhe. Callehain setzte sich in Bewegung. Medwyn sprang vor und hielt ihn am Arm fest. »W-was hast du vor, Cal?« »Nur die Stufen führen hinauf. Ich möchte sehen, was sich jenseits der schwarzen Klippen befindet.« »Ich... ich glaube, w-wir sollten besser hierbleiben.« »Und was tun? Darauf warten, daß uns der Himmel auf den Kopf fällt?« Medwyn sah sich unsicher um. »Die Wracks... Vielleicht finden wir ein Beiboot mit Segeln, einen funktionstüchtigen Kompaß und...« 101
»Auch mit Schiff und Kompaß wäre uns nicht sonderlich geholfen. Wir wissen nicht, wo wir uns befinden, und jede Navigation erfordert einen feststehenden Ausgangspunkt, auf dem die Positionsberechnungen basieren.« »Das Eherne Schwert liegt im Norden.« »Im Norden, ja«, erwiderte Callehain spöttisch. »Irgendwo im Norden.« Mit einem Ruck streifte er Medwyns zitternde Hand ab. »Und jetzt komm endlich.« Die Stufen knirschten leise unter seinen Schritten, und vom Horizont her wuchs das blutrote Glühen und stülpte sich wie eine Glocke über die Insel. Der Wind flüsterte und raunte in kleinen Felsspalten, und im Bereich der Korallenriffe ächzten und knarrten die Wracks: Stimmen aus der Vergangenheit, die ein trauriges Schicksal beklagten. Callehain und Medwyn hatten den ersten Treppenabsatz erreicht, als sie einen leisen Gesang vernahmen. Es war ein melancholisches Lied, und die hellen Stimmen erzählten von der Zeit, als Lot seine tausend Tränen vergoß und Land und Meere schuf. Sie wehklagten und jammerten, und die Melodie war wie ein Netz, in dem sich die Gedanken Callehains zu verfangen begannen. Sei auf der Hut! schrillte es plötzlich in ihm, und diesmal war die Stimme so laut, daß der junge Dieb glaubte, sein Schädel müsse angesichts des Kreischens auseinanderplatzen. Du darfst den Sirenen nicht lauschen. Sie ziehen dich in ihren Bann, und wenn du auch nur wenige Augenblicke lang nachgibst, bist du rettungslos verloren. »Medwyn!« rief er. »Halt dir die Ohren zu. Höre nicht auf den Gesang.« Und mit diesen Worten preßte er sich die Hände auf die Ohren und stieg weiter empor. In Höhe des zweiten Treppenabsatzes klaffte ein breiter Spalt in den schwarzen Klippen. Aus dem Felsenriß grinsten ihn zwei Totenschädel an. Das Leinen der Kleidung war längst zerfallen. Sonne und Salzwind hatten die Farben verblassen lassen, aber Callehain konnte dennoch erkennen, daß die beiden Toten Schiffsuniformen getragen hatten. Die dunkle Ahnung tief in seinem Innern verstärkte sich, als er den Weg fortsetzte. Bald 102
darauf stießen sie auf weitere Skelette, und einige von ihnen waren halb unter Sand- und Staubhaufen begraben. Die Melodie des Sirenengesangs kroch durch die feinen Ritzen zwischen Callehains Fingern. Sie vibrierte ihm auf den Trommelfellen. Sie drang bis zur Grundfeste seines Ichs vor und schürte dort ein Feuer, das ihn innerlich zu verbrennen drohte. Immer länger wurden seine Schritte. Immer rascher eilte er die Stufen der schmalen Treppe in die Höhe – und als er schließlich ganz oben auf den Felsen stand, sah er, wer das Lied des Trauers und der Melancholie sang. Die schwarzen Gestalten der Sirenen entsprangen dem harten Granit. Schlank und zierlich waren sie, und ihre starren Steinaugen blickten aufs Meer, so als erwarteten sie die Ankunft weiterer Schiffe, die sie mit ihrer Melodie auf die Riffe locken konnten, auf daß sie dort zerschellten. Runenzeichen zeigten sich in ihren Felsleibern, und noch während Callehain zusah, wandte eine der Gestalten langsam den Kopf zur Seite und sah ihn an. Er hatte das Gefühl, erstarren zu müssen. Die Wärme des sterbenden Tropentages löste sich jäh auf und machte einer Kälte Platz, die in den Kaminen und Graten des Ehernen Schwerts entsprungen zu sein schien. Der plötzlich von dem auf seiner Brust ruhenden Medaillon ausgehende Hitzehauch wurde vollständig von diesem gespenstischen Frost vereinnahmt, und die Stimme der Kette verlor sich in dem Gesang der Sirenen. Eine schmale Hand schloß sich um Callehains Arm und riß ihn fort. Als der junge Dieb den Blick der schwarzen Gestalt nicht mehr auf sich ruhen spürte, fand die sonderbare Erstarrung ein abruptes Ende, und seine Beine setzten sich von ganz allein in Bewegung. Callehain und Medwyn liefen und liefen, vorbei an alten Tempelruinen und Statuen, deren Marmorfresken vom salzhaltigen Wind zerfressen waren. Sie liefen, bis sie keine Luft mehr bekamen, sich auf einem Graspolster zu Boden ließen und keuchten und schnauften. »Ich habe dir das Leben gerettet!« prahlte Medwyn großspurig. »Vergiß das niemals, Cal – besonders dann nicht, wenn du wieder einmal wütend auf mich bist. Ich war es, der 103
dich dem Bann der Sirenen entriß, ich, Medwyn von Al'anfa, der beste Meisterdieb der Gilde, der auch bewandert ist in der hohen Kunst der Thaumaturgie.« Callehain stöhnte nur. Nach einer kurzen Erholungspause setzten sie den Weg fort. Der Gesang der Sirenen war nunmehr nur noch ein fernes Flüstern, von dem zwar nach wie vor eine seltsame Anziehungskraft ausging, das man aber ignorieren konnte. Sie kamen an weiteren Statuetten vorbei, und die Häuser, auf die sie unterwegs stießen, schienen von ihren Bewohnern schon vor Jahrhunderten aufgegeben worden zu sein. Hier und dort zwischen den von Ranken überwucherten Steinen umgestürzter Mauern sahen sie die bleichen Knochen von Skeletten, und einige der Toten waren offenbar keine Menschen gewesen: In einem großen Schädel sah Callehain drei ellipsoide Augenhöhlen, und Medwyn flüsterte: »Vielleicht waren die Bewohner dieser Insel Zyklopen.« »Zy klopen mit drei Augen?« Callehain schüttelte den Kopf. »Außerdem sind wir nach dem von dir beschworenen magischen Sturm nach Nordosten getrieben worden, und die Zyklopeninseln von Pailos und Hy lailos sind der westlichen Küste Aventuriens vorgelagert und liegen südwestlich des Lieblichen Feldes.« Nach einigen weiteren hundert Metern trafen sie auf das große Rund eines Trichters, der sich in den schwarzen Fels der Insel hineinsenkte. Es glänzten jetzt bereits die ersten Sterne am Himmel, und das blutrote Leuchten am Horizont hatte nachgelassen. Das letzte Licht des Tages funkelte auf einem weiten Eisbogen, der sich breit durch den ganzen Trichter spannte und den Blick auf das verwehrte, was sich am Boden der Schlucht befand. Das Eis entsprang offenbar einer Kaskade, deren Wasser sich auf der gegenüberliegenden Seite des Trichters in die Tiefe ergossen hatte und nach einigen Dutzend Metern aus unerfindlichen Gründen erstarrt war. »Eis«, murmelte Callehain. »Eis auf einer Tropeninsel?« »Laß uns umkehren«, drängte Medwyn und schauderte. »Zurück zu den Sirenen?« Callehain schüttelte den Kopf. 104
»Auf keinen Fall.« Er betrat den steilen Weg, der in die Tiefe führte, vorbei an dem Eisband. Medwyn folgte ihm unschlüssig. Mehrmals mußte sich der junge Dieb an den Felsen links von ihm festhalten, um nicht auszugleiten und zu stürzen. Langsam und vorsichtig wanderte er in die Tiefe, und ständig hielt er nach möglichen Gefahren Ausschau. Nach gut zwanzig Metern befanden sie sich dicht oberhalb des Eisbogens. Von dem erstarrten Wasser ging überraschenderweise kein kalter Hauch aus, und als Callehain die Augen ganz weit öffnete, glaubte er, am Boden der Trichterschlucht flackernde Lichter zu erkennen. »Kannst du das auch sehen, Medwyn?« »Feuer«, antwortete sein Gefährte. »Es müssen Feuer sein, Dutzende, Hunderte.« Zwischen dem Rand des Eisbogens und der Felswand war nur ein schmaler Durchlaß frei, deshalb schoben sich Callehain und Medwyn vorsichtig nacheinander durch den Spalt. Die Dicke der erstarrten Wasserschicht betrug mehrere Meter, und hier und dort wuchsen nadelartige Gebilde aus dem Eis – Spritzer, die ebenfalls von dem sonderbaren Frost erfaßt worden waren. Medwyn hatte recht: Am Boden der Trichterschlucht flackerte der helle Schein einer unübersehbaren Anzahl von Feuern. Kleine Flammen nur waren es, die aus winzigen Rissen und Fugen im ansonsten völlig glatten und nachtschwarzen Fels züngelten. Mehrere Ringe bildeten sie, und im Zentrum stand eine Hütte. Callehains Medaillon strahlte sanfte Wärme aus, aber die Flüsterstimme meldete sich nicht. Während Callehain und Medwy n weiter in die Tiefe schritten, wurde das Rauschen der Kaskade über ihnen leiser und verstummte schließlich ganz. Wie von starken Geisterhänden getragen spannte sich der Eisbogen durch den Trichtergrund, und unten am Boden der Schlucht züngelten stumm die Flammen. Ein schmaler Pfad führte durch die Feuerringe und auf den Eingang des Gebäudes zu. Vor dem ebenfalls aus schwarzem Stein bestehenden Haus 105
blieb Callehain stehen, und Medwyn flüsterte: »Cal, ich könnte uns einen Zauber zu Hilfe rufen – wie den Feuerteufel, der uns aus der Kammer Gilburians forttrug und vor den Knochenkriegern Visars in Sicherheit brachte.« Bei der Erwähnung des Todesgottes flüsterte ein eiskalter Hauch an den Dieben vorbei, verflüchtigte sich jedoch rasch wieder. »Nein«, erwiderte Callehain leise. »Ich habe die Nase voll von deiner Magie. Gib mir den verdammten Zauberstab.« Er drehte sich um und streckte fordernd die Hand aus. »Ich denke ja gar nicht daran«, zischte Medwyn trotzig und wich rasch einen Schritt zurück. »Cal, vielleicht brauchen wir noch einmal die Hilfe der Magie. Ha! Und außerdem habe ich ihn gestohlen, und nicht du. Er ist meine Diebesbeute.« Einige Augenblicke lang war Callehain versucht, sich auf seinen Gefährten zu stürzen und ihm den Hochmut aus dem Leib zu prügeln. Dann siegte sein Verstand über den heißen Zorn, und er wandte sich wieder um und trat auf den Eingang des Hauses zu. Im Innern des Gebäudes stank es entsetzlich. In einem Kamin glühte ein rauchloses Feuer, und in seinem Schein sah Callehain Kräuterknollen, die von der niedrigen Decke herabhingen. Töpfe, Schalen und Krüge reihten sich in schmutzigen, staubigen Regalen aneinander. Hier und dort fiel sein Blick auf große Bilder, gemalt in düsteren Farben und von unbekannten Künstlern. Sie hingen ohne Haken oder erkennbaren Halt an den steinernen Wänden. Ein niedriger Tisch aus breiten, dicken Holzbohlen, in die für Callehain unverständliche Zeichen und Sy mbole eingeschnitzt waren, und mehrere Stühle und Truhen vervollständigten die Einrichtung. In einer Ecke lagen kleine lederne Beutel, und manchmal beulte sich einer von ihnen aus. Der junge Dieb nahm das alles mit einem Blick in sich auf, und seine Aufmerksamkeit richtete sich sofort auf den rechteckigen Behälter, der auf dem Tisch lag. Wie die Wände bestand er aus schwarzem Stein. In dem Granit glänzten und funkelten kostbare Edelsteine und Kristalle, und über die Ränder hingen blutrote Seidenstoffe. Langsam traten Medwyn und Callehain auf diesen Behälter zu, reckten sich auf die 106
Zehenspitzen und sahen hinein. Der Behälter war ein Sarg. Und im Innern des Sarges lag eine mumifizierte Tote.
Es mußte eine Frau gewesen sein, denn das bleiche und fast farblose Haar war lang und reichte fast bis zu den Hüften herab. In einem schmucklosen Gewand war der Leichnam zur letzten Ruhe gebettet worden. Der linke Arm war lang ausgestreckt, der rechte angewinkelt, und die Finger jener Hand umklammerten ein imaginäres Objekt. Die Augen der Toten waren geschlossen, und die Haut der Leiche wirkte wie faltiges Leder. Medwy n wandte sich ruckartig ab und würgte. »Und jetzt?« stöhnte er. »Was machen wir jetzt?« Callehain schritt in der Kammer umher, öffnete eine Tür und warf einen Blick in den Nebenraum. »Ich verstehe das einfach nicht«, murmelte er. »Vor kurzem muß sich hier noch jemand aufgehalten und um das Feuer im Kamin gekümmert haben.« »Es... es ist kein Feuer.« Medwyn war nahe an das Glühen herangetreten. »Sieh dir das an, Cal. Es sind die schwarzen Steine, die brennen, und es gibt weder Asche noch Rauch.« Medwyn hatte recht. Es handelte sich nicht um ein normales Feuer, und vielleicht war es nicht notwendig, daß ab und zu jemand Kohle – Kohle? – nachlegte. »Ich... ich... Laß uns gehen, Cal. Laß uns rasch von hier verschwinden. « »Hast du Angst?« erwiderte Callehain spöttisch. »Angst vor einer Toten ? Angst vor...« Er unterbrach sich jäh, als er ein leises, kratzendes Geräusch vernahm. Einer der in der Ecke liegenden Beutel bewegte sich, rutschte über den Boden und schwebte dann empor. Über dem Sarg hielt er inne und senkte sich wieder herab. Leder knirschte und knisterte, und plötzlich erstrahlte in dem Sarg ein helles Licht, und eine heisere Stimme sagte: 107
»Manche Leichen sind nur für eine begrenzte Zeit tot und erwachen dann wieder zu neuem Leben.« Medwyn begann am g anzen Leib zu beben und wich zurück, bis er eine feste schwarze Wand in seinem Rücken spürte. Callehain riß die Augen auf. Der helle Glanz verblaßte rasch wieder, und das Rascheln von Seide war zu hören. Ein mumifizierter Kopf schob sich über den Rand des Sarges, gefolgt von einem schmalen Oberkörper. Große weiße Augen öffneten sich und starrten sie trübe an. »Es... es t-tut uns leid, wenn wir deine Ruhe gestört haben«, brachte Callehain stotternd hervor. »W-wir wollten dich nicht wecken.« Die Tote kletterte aus dem Sarg und versperrte den Weg nach draußen. Ihre faltigen Lippen verzogen sich und deuteten ein dünnes Lächeln an. »Ich freue mich über jeden Besuch«, erwiderte die Leiche. »W-wer bist du?« »Ich habe viele Namen, die dir nichts sagen würden, Dieb aus Al'anfa. Man nennt mich das Orakel von Tschintai.« »Das Orakel von Tschintai!*« platzte es aus Medwyn heraus. Und Callehain sagte: »Es gibt dich also wirklich?«
* Das Orakel von Tschintai ist eine Legende der Waldmenschen von Token und Jltoken. Der Ursprung dieser Sage verliert sich in der grauen Vorgeschichte Aventuriens. Die Forscher von der Gelehrten Fakultät Gareths bereisten mehrmals die Inseln des Südens. Bei ihren Expeditionen fanden sie alte und verfallene Tempel, in denen Gottheiten verehrt wurden, die nichts mit den Zwölfgöttern Aventuriens gemein haben. Eine dieser Präsenzen, die offenbar halb dämonischen und halb göttlichen Ursprungs sind, ist das Orakel von Tschintai. Noch heute beten die Waldmenschen der Südinseln zu ihm und erflehen sich seinen Rat. In der Tropenregion Aventuriens findet das Orakel von Tschintai besonders dann Erwähnung, wenn es um Fragen geht, auf die nur die Zwölfgötter eine Antwort wissen. In diesem Sinne ist auch die Bemerkung Cherinnes zu verstehen, als die Hexenkönigin auf die Frage Medwyns, wo denn die Stadt der Verlorenen Seelen zu finden sei, nur spöttisch antwortete: »Fragt doch das Orakel von Tschintai!«
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Die Mumie trat mit ächzenden Schritten auf den Dieb zu und blieb dicht vor ihm stehen. Bei dem von ihr ausgehenden Verwesungsgestank drehte sich Callehain fast der Magen um, und er versuchte, nur durch den Mund zu atmen. Das Orakel lachte schrill, und die weißen und pupillenlosen Augen irrlichterten. »Du kannst mich ja anfassen und dadurch feststellen, ob ich einen Körper habe oder du nur ein Trugbild vor dir siehst.« Callehain schüttelte rasch den Kopf. »Ich... wir...« Er suchte nach den passenden Worten. Warm ruhte das Medaillon auf seiner Brust. »Du könntest uns helfen, Orakel. Wir sind auf diese Insel verschlagen worden, und wir wissen nicht, wo wir uns befinden. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, und...« Er wußte nicht weiter und unterbrach sich hilflos. Medwy n hatte sich an der Wand zusammengekauert und das Gesicht hinter den Händen verborgen. »Ich gebe Auskunft auf insgesamt drei Fragen«, erwiderte das Orakel. »Aber ich verlange auch einen Preis dafür.« Der Modergeruch war unerträglich. »Was für einen Preis?« fragte Callehain mißtrauisch. »Einen, den ihr zahlen könnt.« Das Orakel lachte und entblößte dabei schwarze und braune Zahnstummel. Irgendwo in ihrem Mund bewegte sich etwas, und der junge Dieb dachte an Maden, die langsam einen Leichnam zerfraßen. »Nenne mir die Fragen.« »Grrmpf«, machte Medwyn. Callehain überlegte und sagte: »Wo befinden wir uns?« »Auf einer Insel, die nicht Teil der Welt der Sterblichen ist. Sie liegt in der Dämmerzone zwischen Tag und Nacht, in einem Meeresgebiet nordöstlich von Jilaskan.« Der Verwesungsgestank begann die Gedanken Callehains zu verwirren. Es kostete ihn Mühe, sich zu konzentrieren. »Gibt es eine Möglichkeit, diese Insel wieder zu verlassen?« »Ja, mit dem Rauch der tausend Feuer. Das war deine zweite Frage, Dieb aus Al'anfa. Jetzt bleibt dir nur noch eine, 109
und danach mußt du den von mir verlangten Preis zahlen.« Preis, hallte es hinter der Stirn Callehains. Preis! PREIS! Er überlegte, und während er angestrengt über die Formulierung der letzten Frage nachdachte, ließ Medwyn kurz die Arme sinken und flüsterte: »Wie denn? Wie soll uns der Rauch der draußen brennenden Feuer von hier fortbringen können?« »Ihr braucht ihn nur darum zu bitten«, erwiderte das Orakel sofort, und als es Callehain ansah, verstärkte sich das Glühen in seinen weißen Augen. »Das war die letzte Frage.« »Medwyn!« schrie Callehain. »Du verdammter und dreimal verfluchter Narr!« Die Mumie trat auf Callehain zu und streckte jäh die Arme aus. Die krallenartigen Finger umgriffen seine Schultern. »Der Preis für die Beantwortung dreier Fragen ist – euer Leben!« In Callehains Körper breitete sich eine Kälte aus, die frostiger war als die von Eis. Das Bild vor seinen Augen begann zu verschwimmen. »Aber...« »Ist das etwa ein Preis, den ihr nicht bezahlen könnt?« Der stinkende Atem der Mumie streifte die Wange des jungen Diebs, und er würgte und wand sich hin und her. Aber es gelang ihm nicht, sich aus dem Griff des Orakels zu lösen. Der Blick der weißen Augen bohrte sich bis tief in sein Inneres hinein, sezierte, sondierte, zerrte und vereinnahmte. Callehain starrte auf seine Hände. In der sich glatt über die Knochen spannenden Haut zeigten sich erste Falten und Runzeln, und seine Bräune wurde zu einem milchigen Gelb, in das rote und blaue Adern eingelassen waren. Er verspürte plötzlich eine Schwäche, die ihm Rücken und Knie beugte – eine auf seinen Schultern lastende Bürde, die aus mindestens tausend Lebensjahren bestand. »Medwyn«, krächzte er, und seine Stimme war die eines Greises. »Medwyn, ein Zauber, ein magischer Bann, rasch...« Sein Gefährte heulte und wimmerte und kreischte wie ein verwundetes Tier. Callehain war sich nicht sicher, ob Medwyn seine Worte vernommen hatte. Er versuchte noch immer, sich dem Orakel zu widersetzen, aber die Schwäche 110
breitete sich immer schneller in ihm aus, während die Kraft seines Lebens in den Leib einer wandelnden Toten floß. Die Mumie veränderte sich ständig. Die Gesichtshaut straffte sich. Aus den schwarzen und braunen Stummeln im Mund wurden strahlend weiße und makellose Zähne. Das lange Haar nahm neuen Glanz an und leuchtete wie eine Wolke aus feinen Goldfäden. Unter dem schlichten Totenhemd formten sich zwei volle Brüste, und die Hände, die Callehain an der Schulter festhielten, waren die einer jungen Frau. »Medwyn, Visar soll dich holen, wenn du nicht endlich...« »Grrmpf«, machte es, und dann: »Visar, der dich jetzt ruft mit magischem Bann, Ist ein Meisterdieb und Zauberer von hohem Rang. Es war ein Tor, der dich beschwor Und bat, zu verschonen diesen Seelenfang. Ich bitte dich nun, des Todes Gott, Zu holen in dein Reich das Orakel, flott.« Der Griff der jungen Frau lockerte sich ein wenig, und Callehain nutzte die Gelegenheit sofort aus. Er stieß das Orakel zur Seite, packte Medwyns Hand und taumelte dem Ausgang zu. Hinter ihnen schrie das Orakel. In der Tür drehte sich Callehain noch einmal um. Die junge Frau wurde jetzt wieder zu einer Mumie. Sie sank zu Boden, und die Haare verloren ihren goldenen Glanz und fielen aus. Zahnstummel lösten sich aus verwesendem Fleisch. Es dauerte nur wenige Augenblicke – dann war nur noch Staub von der wandelnden Toten übrig. Callehain wandte den Blick davon ab und starrte auf seine Hände. Die Haut war wieder glatt, und nirgends zeigte sich auch nur der Schatten einer Falte. »Cal, das Eis!« rief Medwyn entsetzt. Es knirschte in dem Eisbogen, der sich weit und breit durch 111
den Trichter spannte. Einzelne Fragmente lösten sich davon ab, stürzten in die Tiefe und zersplitterten auf dem schwarzen Granit. Es tropfte, als das Eis in der schwülen Hitze des frühen Abends zu schmelzen begann, und bald wurde aus dem Sickern ein beständiger Regen, der die Flammen der tausend Feuer zu löschen drohte. Callehain warf die Arme empor. »Ich rufe dich, o Geist der tausend Feuer. Wir bitten dich darum, uns von dieser Insel fortzubringen.« Die Flammen loderten, und hier und dort stiegen erste Rauchfäden in die Höhe, um sich dicht unter dem tauenden Eisbogen zu einer dunstigen Gestalt zu vereinen. Arme und Beine aus pechschwarzem Dunst bildeten sich, und die Augen waren zwei tellerförmige Aussparungen in einem Kopf aus wallendem Qualm. »Bring uns fort von hier!« schrillte die Stimme Med wy ns. »Ja, ganz schnell fort von hier.« Der Rauch der tausend Feuer griff mit zwei dunstigen Armen nach den beiden Dieben, hob sie in die Höhe und setzte sie sich auf den Rücken. Die Wolke glitt durch den breiter werdenden Spalt zwischen Trichterwand und Eis und gewann rasch an Höhe. Weit über dem Fels der Insel nahm der Rauch die Gestalt eines schwarzen Flügelpferds an. Es breitete seine Schwingen aus und segelte hoch empor, den Sternen und der Sichel des Mondes entgegen. »Hurra!« rief Medwyn. »Wir reiten durch die Luft und fliegen wie Vögel, so wie es vor uns noch keinem Menschen gelang.« Und der kleine Dieb sang das Lied vom Wind: »Wenn die Wolken ziehen, und der Himmel geschwind Stülpt sich dunkel über Meer und Land, Dann kommt der Wind Und erhebt seine mächt'ge Böenhand. Er heult und kreischt u nd faucht, der Sturm, Und das Wasser peitscht er zu sprühendem Schaum. 112
Seine Zornesstimme fürchtet selbst der Tatzelwurm, Und er beugt sogar den Ewigen Baum. Aber es dauert nicht lange, und er wird müde und schwach, Und es verebbt seine schwarze Regenflut. Dann werden Blätter und Knospen wieder wach, Und der Mensch bestellt seine Äcker mit neuem Mut. Wir lieben den Wind und verehren ihn sehr, Und wir lieben die Götter, die ihn schufen. Er erzählt uns Geschichten vom Goldenen Meer, Und er hört unsere Stimme, wenn wir ihn rufen.« Der Rauch der tausend Feuer trug sie durch die Nacht, und irgendwann – Callehain hatte geschlafen und wußte nicht, wieviel Zeit verstrichen war – durchstieß das schwarze Schwingenroß die Wolken und hielt auf das Land unter ihnen zu. Zu jener Zeit, als die Schattenlords im Norden Aventuriens herrschten, kroch Finsternis über das Land. Die Thaumaturgen von Gareth, Angbar und Rommilys brachten das Licht zurück. Betet zu den Zwölfgöttern und zündet Lichter an, um die Finsternis der Nacht zu erhellen, auf daß die Schemen aus dem Land der Nebelzinnen niemals zurückkehren können. Ein blinder Weiser, der von sich behauptet, den Feueratem Fuldigors gerochen zu haben und von den Schattenlords gebannt worden zu sein. 113
9. DER VERFOLGER Der Myr hatte die Spur der beiden Diebe verloren. Und das war ein so einmaliger Vorfall, daß er sich noch immer mit der Frage beschäftigte, wie das passieren konnte. Als er Al'anfa verlassen hatte, war die Spur der beiden Gildenparias Medwyn und Callehain ein leuchtendes Band gewesen, das er ganz deutlich vor sich sehen konnte – eine Fährte aus Gefühlen, Wünschen, Hoffnungen, ja, und auch einem Hauch Verzweiflung. Offenbar waren die beiden Diebe in Schwierigkeiten geraten, irgendwo jenseits der östlichen Küste Aventuriens, nach oder gerade durch die Beschwörung des magischen Sturms. Nein, umgekommen waren sie nicht, das hätte der Myr sofort bemerkt. »Du bist nachdenklich, Mahr«, sagte der Fuhrmann. Er starrte den My r aus großen, glänzenden Augen an. »Und du redest zuviel.« Er hob kurz den Kopf. Der Märtyrer* hob die Stange und senkte sie einige Meter weiter vorn in den schmatzenden Morast des Sumpfes. Der Rumpf des flachen Bootes neigte sich nach rechts und links und ächzte über die
* In der Hauptstadt des Neuen Reiches, Gareth, gibt es besondere Schulen, in denen Märtyrer ausgebildet werden. Über die Art der Schulung ist außerhalb dieser Häuser nur wenig bekannt. Es heißt aber, Märtyrer schlössen ein ganz besonderes Bündnis mit dem Tod und Visar, dem Gott der Schwärze. Im Mittelland geht die Rede, Märtyrer könne man nur dann töten, wenn man ihnen einen geweihten Pflock durchs Herz ramme, aber die Weisen von der Gelehrten Fakultät sind der Meinung, es handele sich hierbei um die Verschmelzung zweier L e g e n d e n , d e n n e i n g e w e i h t e r P f l oc k h a b e w ä h r e n d d e s m a g i s c h e n Krieges dazu gedient, die im Yeti-Land ansässigen Vampire und Schneeungeheuer umzubringen. Märtyrer veräußern ihre Dienste gegen bare Münze und sind sogar bereit, für eine Philosophie ihr Leben zu lassen und so den Ruhm ihrer Meister zu vergrößern. Es gab aber auch Märtyrer, die nach der Entgegennahme ihrer Münzen flohen, ohne eine
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Gegenleistung erbracht zu haben.
zähe graue Fläche. Dunstige Nebelschwaden zogen lautlos dahin, bewegt von einem Wind, den der Myr nicht zu spüren vermochte. Auf den wenigen Trockenflächen wuchsen hohe Bäume, von deren langen, ovalen Blättern filigrane Netzgebilde herunterhingen. Hier und dort hatte sich ein Vogel darin verfangen, und daraufhin hatten sich sofort die Außenmägen der Freßweiden heruntergesenkt und mit der Verdauung der Opfer begonnen. In der Ferne, aus der Richtung des Sumpfdorfes, ertönte ein dumpfer Gesang. Irgendwo in dem Morast gluckerte es. Gasblasen stiegen in die Höhe und zerplatzten stinkend. »Du brauchst meine Hilfe«, sagte der Märtyrer. Auf den schorfigen Wangen des Mannes zeigten sich purpurne Brandmale: Lohn für einen Dienst, den er nie geleistet hatte. Er gehörte zu den wenigen, die in ihrer Jugend die Märtyrerschulen in Gareth besucht hatten, nur um in der Lage zu sein, die Reichen und Wohlhabenden zu betrügen. Irgendwann aber war er gefaßt worden. Die Narben in seinem Gesicht waren ein deutliches Zeichen. »Ja«, erwiderte der My r. »Ich brauche deine Hilfe. Und ich bezahle dich dafür.« »Ich frage mich, ob der Preis, den ich dir nannte, wirklich angemessen ist, Mahr. Immerhin gehe ich ein großes Risiko ein. Wir haben ein kleines Gildenhaus in Baburin*. Und du bist einer der Schatten, von denen die alten Legenden berichten. Wüßten die Magier von deiner Anwesenheit, so würden sie dich vernichten – und mich ebenfalls zur Hölle schicken.« Der My r hob die Hand. Irrlichter glommen auf den Fingerkuppen, die auf den in ein schäbiges Wams gekleideten Märtyrer deuteten. »Ich bin ein Bote Visars«, sagte er dumpf. »Ich könnte dir auf der Stelle den Tod bringen.«
* Baburin liegt im Mittelland Aventuriens, am Golf von Perricum, und ist etwa 2500 Längen von Al'anfa entfernt.
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Der Märtyrer wandte sich ab, zog die lange Stange aus dem Morast, senkte sie einige Meter weiter wieder in den Sumpf und stakte das Boot nach vorn. Zähflüssiger Matsch klebte an den Planken, und kleine Sumpffresser bohrten ihre diamantharten Kiefer in das Holz. Es knirschte und knarrte. Der Myr senkte den Kopf wieder und lauschte. Nichts. Stille. Nirgends auch nur ein diffuser Schatten der beiden Diebe. Lebten sie nicht mehr? Waren sie irgendwo in der Region des Perlenmeeres südwestlich von Maraskan umgekommen? Nein. Das war nicht der Grund für das Verschwinden der Schattenspur. Er war nach Norden gezogen, weil er das Ziel der beiden Parias kannte – das Eherne Schwert –, und die ganze Zeit über hatte er jenes leuchtende Band gesehen, das sich nur für seine Augen sichtbar am Himmel entlangspannte. Östlich von Zorgan aber hatte sich dieses Band plötzlich aufgelöst, von einem Augenblick zum anderen. Nein, dachte der Myr, es muß eine andere Erklärung geben. Und er flüsterte: »Ein Tempel, ja, ein Tempel Visars. Dort würde ich Auskunft erhalten...« Der Märtyrer lachte leise und rauh. »Hier in Baburin erstreckt sich die Macht des Todesgottes nicht auch auf die Lebenden. Und es ist nicht Visar, den die Sumpfbewohner verehren, sondern Praios, das Oberhaupt der Zwölfgötter.« »Ich weiß.« Der Mann mit den Brandmalen im Gesicht stakte das Boot nun an den ersten Inseln vorbei. Aus dem Holz der Freßweiden waren sie errichtet worden, und an den dicken Bohlen waren knollenartige Gebilde befestigt, in denen sich Gärgase bildeten, die leichter waren als Luft. Der dadurch entstehende Auftrieb reichte aus, die künstlichen Inseln nicht im gierigen Sumpf versinken zu lassen. Die darauf erbauten Häuser waren schlicht und einfach. Aus einigen Schornsteinen wehten dünne Rauchschleier, die sich mit den gestaltlosen Nebelschwaden vereinten. Die Fensterläden waren geschlossen, und in den schmalen Gassen zwischen den Häusern bewegte sich nichts. Der Märtyrer steuerte das flache Boot auf eine der größeren schwimmenden Inseln zu und 116
legte an. Er schlang ein Seil um einen Pflock und sah sich rasch um. Nichts rührte sich. Dann sprang er auf einen Holzsteg und streckte dem Mahr die Hand entgegen. Er hatte keine Angst vor der dunklen Erscheinung. Märtyrer verloren ihre Furcht schon in den ersten Jahren der Lehrzeit in Gareth. Doch als der Myr die ihm dargebotene Hand berührte und ebenfalls auf den Steg trat, zuckte der Mann zusammen und schnappte deutlich hörbar nach Luft. »Wir sind in Sicherheit«, flüsterte er, und seine Stimme klang jetzt noch heiserer als zuvor. »Diejenigen Bewohner Baburins, die um diese Zeit schon auf den Beinen sind, nehmen sicher an der Golembeschwörung am Rande der Großen Senke teil. Niemand wird uns sehen, Mahr. Du kannst ganz beruhigt sein.« Aber der My r machte sich in dieser Beziehung ohnehin keine Sorgen. Von den Durchschnittsbürgern Baburins ging nicht die geringste Gefahr für ihn aus. Es regte sich nur dann eine dumpfe Beunruhigung tief in seinem Innern, wenn er an das kleine Gildenhaus der Sumpfstadt und die dort lebenden Magier dachte. Die Erinnerung an den alten Krieg war wie eine Wunde, über der sich erst dünner Heilschorf gebildet hatte und die jederzeit wieder aufbrechen konnte. Er fühlte mit jenen My r, die damals von der magischen Gilde aus dem Reich der Schattenlords von Farlon und Frigorn vertrieben worden waren, und entsann sich der vom Zauber und den Beschwörungen verursachten Qual, als seien es seine eigenen Schmerzen gewesen. Er spürte den Fluch der Gilde auf sich ruhen und fürchtete deshalb die Sonne, der er seinen Schemenkörper niemals ungeschützt aussetzen durfte, wollte er nicht zu Staub zerfallen.* * Bei den Bewohnern des Neuen Reiches ist dieser Fluch nur noch aus überlieferten Sagen und Legenden bekannt. Hammaril, der älteste und erfahrenste aller Zauberer, sprach ihn während des magischen Krieges und schleuderte den Bann vom höchsten Gipfel der Salamandersteine gen Norden: Hört meinen Ruf, ihr Schatten und Schemen der Nacht: Größer als die der Schattenlords ist der Gilden Macht. Verbrennen soll euch der helle Himmelsglanz, und nur in der Nacht mögt ihr zelebrieren euren dunklen Tanz – bis sich ergießt der Strom der Zeit an die Ufer der Ewigkeit. Dieses magische Gesetz gilt auch heute noch.
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Über das Eis der Bernsteinbucht waren sie geflohen, die Krieger der Schattenlords, die Unabhängigen Mahre, deren Fürsten damals eine Möglichkeit gesehen hatten, ihre Macht zu vergrößern und ihr Herrsch aftsgebiet zu erweitern. Und nur Visar war ein Anker gewesen, an dem sie sich hatten festhalten können – seine Tempel eine Zufluchtsstätte, die den Mahren Sicherheit verhieß. Flink wie ein Wiesel eilte der Märtyrer durch die schmalen Straßen, hastete über schwankende Stege und führte den Myr auf andere schwimmende Inseln, größere diesmal. Hier gab es breitere Straßen. Auf einigen Plätzen waren Händler und Kaufleute damit beschäftigt, ihre Stände für den täglichen Markt aufzubauen. Diese Orte mieden sie. Sie schoben sich an Hauswänden vorbei, auf deren Holzlatten sich Algen und Schimmelpilze gebildet hatten. Der Myr wandte sich ab, wenn er den hellen Schein einer Fackel sah, deren Flammen den Nebel fraßen, und immer wieder legte er den Kopf in den Nacken. Der feuchtkalte Dunst war wie eine Glocke, die sich über ganz Baburin gestülpt hatte, aber irgendwo jenseits dieser milchigen Graue stieg nun die Sonne über den Horizont, und ihre warmen Strahlen stellten eine Bedrohung für das Schattenleben des Mahrs dar. Von einer hohen Brücke aus fiel der Blick des Myr auf die in der Ferne nur verschwommen zu erkennende Große Senke: ein Loch im Su mpf, das sich seit Jahrhunderten nicht mit Morast und zähem Schlamm auffüllte. An den Rändern der Senke ragten hohe Pfähle aus dem Schlick, und bunte Fahnen hingen schlaff und unbewegt. In Dutzenden von Flachbooten hatten sich Männer, Frauen und Kinder aufgerichtet, denn auf einer großen Plattform erhob sich eine Figur aus Holz und Bast und mit Augen, die aus großen Kohlestücken bestanden. »Wir rufen dich, Geist des Sumpfes!« riefen Hunderte von Kehlen. »Erhöre unser Flehen, Golem, König des Schlicks. Wir sind gekommen, um dich zu ehren und dir ein Opfer darzubringen. « Immer wieder ertönten diese Worte. Als sich der Myr gerade abwenden wollte, sah er am finsteren Grunde der Großen Senke eine Bewegung. In dem stinkenden Morast 118
begann es zu brodeln. Gasfontänen fauchten in die Höhe. Plötzlich bewegten sich die Fahnen und Wimpel an den Pfählen. Sie flatterten in einem Wind, der die dichten Nebelschwaden zerriß und eine Schneise in dem Dunst schuf. Der Myr konnte das Geschehen nun besser beobachten. Zwei gewaltige Arme streckten sich aus der Senke empor. Die Flachboote der Bewohner Baburins begannen wild auf den Morastwellen zu tanzen. Fackeln wurden geworfen, und die Flammen entzündeten die Gestalt aus Holz. Glut knisterte. Funken stoben. Innerhalb weniger Augenblicke stand die ganze Plattform in Flammen. Die borkigen Hände des Sumpfgolems packten die brennende Gestalt und rissen sie mit einem Ruck in die Tiefe. Der Myr wandte sich von diesem Anblick ab und folgte dem Mann mit dem narbigen Gesicht durch verlassene, menschenleere Straßen. Am Rande einer der größten schwimmenden Inseln blieb der Märtyrer vor dem Eingang eines schäbigen Hauses stehen. Breite Schimmelflecken hatten sich auf dem verwitterten Holz gebildet, und große Sumpfspinnen woben unbehelligt ihre giftigen Fangnetze. Einige Meter links von ihnen tauchten die Holzbohlen in den Morast. Gärgase zerteilten in unregelmäßigen Abständen die Oberfläche des Schlicksees und schleuderten graue Spritzer in die Luft. Der Märtyrer stieß die Tür auf. Im Innern des Hauses war es dunkel, und eine steile, schmutzige Treppe führte in die Höhe. »Wir sind da.« Der Myr sah an dem Haus in die Höhe. Die Fensterläden waren geöffnet, aber die Scheiben blieben dunkel. Nirgends flackerte der unstete Schein einer Kerze oder einer Fackel. »Wenn du mich zu hintergehen versuchst«, sagte die Schattengestalt, »werde ich dich töten.« Der Mann mit den narbigen Wangen verzog das Gesicht. »Ich weiß. Ich halte mich an unsere Übereinkunft, Mahr. Ich habe das, was du brauchst: einen magischen Spiegel.« Er kniff die Augen zusammen. »Was suchst du, Mahr? Wen verfolgst du?« »Das braucht dich nicht zu interessieren.« Er deutete auf 119
die Treppe. »Geh du voran.« Der Märtyrer setzte sich in Bewegung. Als die ersten Stufen unter seinen Schritten knarrten, kicherte er leise und sagte rauh: »Du traust mir noch immer nicht, wie?« »Ich traue niemandem. Und besonders mißtrauisch bin ich, wenn ich es mit jemandem zu tun habe, der den Verrat zu seiner Profession gemacht hat.« Er konnte deutlich sehen, wie sich die Schultern des Märtyrers zornig hoben und senkten, aber offenbar hatte der Mann nicht alle Unterweisungen seiner Lehrmeister in Gareth vergessen: Er zähmte seine Wut und versuchte, sich nach außen hin gelassen zu geben. Der Myr beobachtete ihn mit frostigem Interesse. Empfindungen waren ihm weitgehend fremd – bis auf die Ehrfurcht vor Visar, seinem Herrn –, aber er wußte sehr wohl, wie man von äußerlichem Gebaren auf das schloß, was in einem Menschen vor sich ging. So entging ihm die wachsende Anspannung des Märtyrers nicht. Vor einer schmalen Tür blieb der Mann stehen. In seinen großen Augen glitzerte es, als er sagte: »Der magische Spiegel liegt in dieser Kammer.« Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Und jetzt... mein Lohn.« Fordernd streckte er die Hand aus. Der My r öffnete die Tür. Das Zimmer war überraschend groß, und durch ein Fenster fiel trübes Licht herein. Tische, Stühle, eine niedrige schimmelige Decke, Spinnenweben in den Ecken; Staub auf einem Teppich, dessen einstmals helle Farben längst verblaßt waren. Neben einer Kommode lag eine zusammengekrümmte Gestalt in einer Lache aus Erbrochenem. Ein süßlicher, penetranter Gestank ging von diesem Mann aus, dessen Arme und Beine in unregelmäßigen Abständen zuckten. Die Hände griffen nach Dingen, die nur in seinen Rauschphantasien existierten. In einer Schale glommen noch einige Kräuterreste. Dem Myr entging nicht, daß die Anspannung des Märtyrers deutlich zunahm. »Fürchtest du dich vor einem Traumgänger, Mahr?« lachte der Mann. Aber es war ein gekünsteltes Lachen – ein Laut, 120
der ein schrilles Echo warf. Der Myr schritt in den Raum. Doch kaum hatte er die Schwelle übertreten, da rief der Märtyrer hinter ihm: »Jetzt!«
Etwas zischte, und unmittelbar darauf erstrahlte ein helles Gleißen im Zimmer. Der Myr reagierte instinktiv, riß die Arme in die Höhe und hielt sie sich schützend vor die Augen. Jähe Schwäche stieg in ihm empor, und langsam sank er auf die Knie. Es war kein Tageslicht, aber der Glanz reichte aus, um ihm einen Teil seiner Schattenkraft zu rauben. Etwas raschelte. Ein Klebnetz sauste heran und stülpte sich über ihn. Die Maschen zogen sich sofort um den Schemenkörper des Myr zusammen. Der in einer Lache aus Erbrochenem liegende Träumer sprang mit einem Satz auf die Beine, und hinter einem Vorhang rechts von der Tür kamen weitere Männer hervor. Der Mann mit dem narbigen Gesicht tanzte umher, klatschte in die Hände und schrie: »Es hat geklappt. Beim Kaiser von Gareth und all seinen Konkubinen: Es hat geklappt!« »Wo ist das Geld?« knurrte einer seiner Helfer. »Er hat es bei sich. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Ja, ein ganzer Beutel voller Goldmünzen ist es. Wir sind reich. Reich!« Nervöse Hände tasteten über den Schattenleib des My r, griffen in die Taschen seines Umhangs und holten den Beutel, von dem der Märtyrer gesprochen hatte, hervor. Es klirrte leise, als einige Goldmünzen zu Boden fielen. »Ohhhh!« flüsterte es. »Na, habe ich euch zuviel versprochen?« jubelte der Märtyrer. Er riß einem seiner Helfer den Beutel aus der Hand und preßte ihn an sich. »Jeder bekommt seinen Anteil, keine Angst. Aber zuvor...« Er trat an den Myr heran und rammte ihm die Stiefelspitze in die Seite. Der Visarbote kannte keinen Schmerz, und trotz seines geschwächten Zustands konnte er von einem solchen Tritt nicht verletzt werden. Aber er nahm seine Chance sofort wahr: Er stöhnte leise und 121
krümmte sich. Nach und nach gelang es ihm, die Quelle des Gleißens auszumachen: eine Schale, in dem Magnesiumstaub brannte und die Luft im Zimmer mit einem ätzenden, beißenden Gestank durchsetzte. »Hervin und Iberon – ich hoffe, ihr habt im Gildenhaus genug gelernt, um einen Nachtschatten zu bannen und für immer zurückzuschicken ins Reich der ewigen Finsternis.« Der Märtyrer kicherte. Zwei kleinere Gestalten traten auf den My r zu. Er sah Novizentrachten, die auf dem Brustteil und an den Ärmeln magische Sy mbole aufwiesen. Das war eine ganz konkrete Gefahr: Zwar waren die beiden Jungen nur Schüler des Zauberers von Baburin, aber vielleicht reichten ihre magischen Kenntnisse tatsächlich dazu aus, um einen Schatten wie ihn zu vernichten. Während die Novizen neben ihm kleine Decken ausbreiteten und ihre thaumaturgischen Utensilien hervorholten, konzentrierte sich der My r auf den Magnesiumglanz. Das Klebnetz fesselte ihn, aber es gelang ihm, mit den Fingern vorsichtig auf die tönerne Schale zu deuten. »Visar!« rief er. Der Vorhang neben der Tür bewegte sich, als eine jähe, eiskalte Bö durchs Zimmer heulte. Unsichtbare Eishände packten die Schale und schleuderten sie aus dem Fenster. Die Fensterscheibe zerfiel in tausend Splitter. Und die Dunkelheit kehrte ins Zimmer zurück. Irrlichter lösten sich von den Fingerkuppen des My r, tanzten über die Maschen des Klebnetzes und lösten die Fäden auf. Es dauerte nur einen Augenblick, dann war er frei. Er erhob sich langsam. Einer der Helfer des Märtyrers hatte sein Überraschungsmoment überwunden, riß einen langen Dolch hervor und bohrte dem My r die Klinge in den dunklen Leib. Aber das Schattengeschöpf lachte nur, und der Mann riß ängstlich die Augen auf und taumelte zurück. Der Myr griff nach dem Heft des Dolches und zog sich die Waffe aus dem Rücken. Die Wunde schloß sich sofort, und kein Tropfen Blut sickerte daraus hervor. »Bringt ihn um!« schrie der Märty rer und wich an die Wand zurück. »Bringt ihn um, verdammt!« Aber der My r holte aus und schleuderte einen Blitz in 122
Richtung der beiden thaumaturgischen Schüler. Die kalte Glut verbrannte die magischen Novizen auf der Stelle. Nur schwelende Asche blieb von ihnen zurück. Einer der Helfer des Mannes mit dem narbigen Gesicht drehte sich um und stürzte sich aus dem Fenster. Seine schrille Stimme verstummte abrupt, als er in den Sumpf fiel und von dem zähen Schlamm verschluckt wurde. Ein weiterer Blitz, der von der flachen Hand des Myr leckte – und nur der Märtyrer blieb übrig. Der Mann bebte am ganzen Leib und hielt dem auf ihn zutretenden Myr den Beutel mit den Goldmünzen entgegen. »Hier«, zitterte seine Stimme. »N-nimm dein Geld zurück. Ich... ich...« Das Schattengeschöpf berührte den Mann am Nacken, so daß dem Märtyrer die Augen aus den Höhlen traten. Er starb, ohne einen einzigen Laut von sich zu geben. Dann sank seine Leiche zu Boden und verwandelte sich. Der abgewetzte Stoff der Tunika löste sich auf und zerfiel zu Staub. Die Haut des Toten verdunkelte sich, bis sie so schwarz war wie die des My r. Die Züge des erstarrten Gesichts verschwammen. Die Konturen verwischten sich, bis sie zu einem Oval geworden waren, in dem nur noch purpurne und ellipsoide Pupillen glänzten. Anschließend schrumpfte der Leichnam auf die Größe eines Kleinkindes zusammen. »Nimm ihn zu dir, Visar«, flüsterte der My r. »Tausend Qualen soll er erleiden, eine Pein, die niemals ein Ende findet. Das ist meine Bitte, Gott des Todes.« Die Kälte kehrte ins Zimmer zurück – ein Frost, der einen lebenden Menschen innerhalb weniger Augenblicke hätte erstarren lassen. Er umfaßte den kohlschwarzen Leichnam mit Armen aus Eis und trug ihn fort, durch das offene Fenster und über den Sumpf. Von irgendwo gellte die Stimme eines Bürgers von Baburin: »Seht nur: Das ist Dämonenwerk!« Der Myr wußte, daß ihm nicht viel Zeit blieb. Jenseits der Nebelglocke stieg die Sonne nun immer höher über den Horizont, und bald schon würden ihre warmen Strahlen den 123
Dunst auflösen. Wenn das geschah, mußte der Myr einen sicheren Unterschlupf gefunden haben, wo er die Nacht abwarten konnte und nicht befürchten mußte, von den sicher bereits alarmierten Gildenmagiern aufgespürt zu werden. Der magische Spiegel stand in einer Ecke. Eingefaßt war er in gelbes Zwergengold, und die Glasfläche glänzte wie kostbares Silber. Der Myr starrte hinein, und seine Pupillen sahen aus wie zwei große Blutstropfen. »Spiegel«, sagte er leise und mit dumpfer Stimme, »Spiegel, sag mir, wo sich Callehain und Medwyn befinden, zwei Diebe, ausgestoßen aus der Gesindebastion von Al'anfa.« Ein milchiger Schleier schob sich vor das Abbild der beiden purpurnen Augen des Myr, und bald schon schälten sich Konturen aus dem grauen Wogen und Wallen. »Eine weite Reise haben sie hinter sich«, flüsterte der magische Spiegel. »Und noch viele Längen liegen vor ihnen.« Der My r wandte kurz den Kopf. Er vernahm das Geräusch sich nähernder Schritte, und kurz darauf ächzten Treppenstufen, Als er den Blick wieder auf den Spiegel richtete, sah er die Gestalten zweier junger Männer, die durch hohen Schnee stapften und auf die Ruinen eines Gebäudes zuschritten, in dem vor vielen Jahren die Familie eines Bergbauern gewohnt haben mochte. »Sie leiden und frieren und ahnen nichts von der Gefahr, die ihnen droht.« »Wo?« zischte der Myr. »Wo befinden sie sich jetzt?« »Östlich von Ysilia setzte sie der Rauch der tausend Feuer ab, an den westlichen Hängen der Schwarzen Sichel...« Der My r konzentrierte sich auf das Abbild der beiden Diebe, und nach einer Weile – das Knarren der Stufen wurde lauter und lauter – schmeckte er erneut das Aroma einer Fährte: fade und schal, ätzend und beißend an jenen Stellen, wo sich die Spur wieder aufzulösen drohte. »Ein Zauber schützt sie, und...« »Was für ein Zauber?« fragte der Myr rasch. Aber es blieb ihm nun keine Zeit mehr. Er mußte aufbrechen und sich 124
verstecken. Jetzt sofort. »Ein Hexenzauber aus Al'anfa...« Der My r warf die Arme in die Höhe, und der magische Spiegel zersprang. Myriaden Glassplitter segelten davon, und wo sie den Boden oder Einrichtungsgegenstände des Zimmers berührten, stieg Rauch auf. Der Myr vergewisserte sich, daß er die Spur der beiden Gildenparias noch immer vor sich sehen konnte – nicht als ein helles, leuchtendes, sondern nur mehr fahles Band, das an den Rändern ausfranste, dort, wo sich der Hexenzauber vor seine forschenden Blicke schob –, und als sich die Tür öffnete, sprang er in die Wand. Sein Schattenkörper wurde zu feinem Rauch, der in die Poren des Holzes eindrang, unsichtbar für die Augen von Menschen. Durch die Bohlen und Balken verschwand er, stieg anschließend vom Aufwind der Gärgase getragen in die Höhe, vereinte sich mit den Nebelschwaden und verbarg sich im dicken, borkigen Stamm einer Freßweide. Dort wartete er, bis sich am späten Nachmittag über den schwimmenden Inseln von Baburin wieder dichter Nebel bildete und die Sonne hinter dem westlichen Horizont versank. In der Dunkelheit der Nacht verließ er sein Versteck, betete zu Visar und berichtete dem Gott des Todes von dem Hexenzauber, der die beiden Diebe bisher vor Entdeckung geschützt hatte. Anschließend machte er sich auf den Weg. Ohne müde zu werden, lief er durch die Finsternis. Sein Schattenkörper brauchte keine Ruhepause, deshalb war er in der Lage, binnen kurzer Zeit große Entfernungen zurückzulegen. Er lief und lief, und aus dem fahlen Band wurde eine nur für seine Augen sichtbare Straße, die direkt zum Ziel führte. Für einen My r war es nicht weit von Baburin zu den Gipfeln der Schwarzen Sichel. Er spürte auch, daß Medwyn und Callehain im Verlaufe des Tages keine größere Strecke zurückgelegt hatten. Die Distanz zu ihnen verringerte sich. Vielleicht konnte der My r den Auftrag, den er vom Hohenpriester Dharag erhalten hatte, noch im Verlaufe dieser Nacht erfüllen. Spätestens aber am kommenden Abend, nachdem er sich ein weiteres Mal vor dem Tageslicht verborgen hatte. 125
Wir lieben den Krieg, denn wir können nur kämpfen. Ein Krieger Wir hassen den Krieg, denn er tötet unsere Söhne. Eine Mutter
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1O. KRIEG IM SÜDEN – UND EINE ÜBERRASCHUNG Dharag hatte das Lager seiner Streitmacht an den Ufern eines kleinen Sees errichten lassen, der von zwei Flüssen gespeist wurde, die in den dunstigen Höhen des Regengebirges im Norden entsprangen. In Begleitung einiger Boron-Priester stand er auf der Kuppe eines niedrigen Hügels und beobachtete den Vormarsch seiner Armee. Das Söldnerheer, das einige hundert Längen weiter nördlich zu ihnen gestoßen war, trug wie geplant die Hauptlast des Vorstoßes. Aus der Entfernung betrachtet wirkten die Krieger wie kleine, schmutzige Ameisen. Die Söldner, die aus den Kassen des Schwarzen Tempels von Al'anfa bezahlt wurden, hielten keinen Vergleich stand mit den regulären Truppen Visars. Ihre Kleidung war heruntergekommen und ihre Gesichter versteckten sich hinter langen Bärten. Sie stanken wie Goblins und waren nur auf Beute aus. Die Tempelsoldaten hingegen trugen glänzende Rüstungen und Kettenhemden, und die Offiziere, die sie führten, verstanden sich auf Strategie und Taktik. »Wir werden siegen«, sagte einer der Boron-Priester. Dharag nickte. »Daran zweifle ich nicht.« Im Süden ragten die Mammutbäume eine ganze Länge in die Höhe. Ihre Wipfel berührten einige niedrig hängende Wolkenfetzen, und die breiten Stämme sahen aus wie gewaltige Säulen, die das Himmelsgewölbe stützten. Selbst die kleineren Äste dieser Urwaldriesen durchmaßen noch immer mehrere Zehntellängen. H'Rabaal – die erste Station eines langen Siegeszuges. Die Baumstadt... Die Häuser waren inmitten des dichten Geflechts aus Ästen und Zweigen nahezu verborgen, und nur der Fackelschein verriet, wo die Verteidiger H'Rabaals den Angriff der Tempeltruppen erwarteten. Am Vorabend hatten die Späher 127
Dharags berichtet, daß die Frauen, Kinder und alten Männer H'Rabaals über Astpfade tiefer in den Urwald und damit in Sicherheit gebracht worden waren. Eine Söldnerabteilung hatte versucht, die Eskorte des Flüchtlingsstroms zu überwältigen und südlich der Stadt eine zweite Frontlinie zu errichten, doch dieses Unternehmen war gescheitert, und kaum einer der in den Diensten Al'anfas stehenden Krieger hatte überlebt. Erneut erklangen die Kriegshörner. Damit begann der eigentliche Angriff. Grölend stürmten die Söldner auf die ersten Stämme der Mammutbäume zu, während aus der Baumstadt Pfeile auf sie niederregneten. Die meisten Geschosse bohrten sich in hölzerne Schilde oder prallten von metallenen Helmen ab, aber einige trafen auch auf ungeschütztes Fleisch. Dutzende sanken sterbend zu Boden. Lanzen folgten, dann kleine Kugeln, die dicht über dem Bo den auseinanderplatzten und ihren aus My riaden winziger, giftiger Dorne bestehenden Inhalt freigaben. In dem verletzlichen Körper der Söldnerarmee entstanden Lücken, und nur wenigen Kriegern gelang es, die Treppen zu erreichen, deren Stufen in die kolossalen Stämme der Mammutbäume hineingeschnitten worden waren. Diese wenigen fielen den Fallen zum Opfer, die die Verteidiger H'Rabaals dort vorsorglich errichtet hatten: Speere, die plötzlich aus dem Dickicht einer Sy mbiontenpflanze hervorsausten, geschleudert von Katapulten, die durch kleine Schnüre ausgelöst wurden, die fast unsichtbar über die Stufen gespannt waren. Trommeln dröhnten in der Baumstadt, und vor den Häusern in den Wipfeln der Urwaldriesen tanzten jubelnde Verteidiger. Die Söldner traten den Rückzug an. Dharag hob die Hand. Unter Fanfarenklängen setzte sich die Streitmacht der Tempelsoldaten in Bewegung. Wie eine riesige, vielfüßige Schildkröte marschierte die Armee. Die Männer hoben die Schilde, um die von oben herabsausenden Pfeile abzuwehren. Schweres Kriegsgerät wurde von Sklaven gezogen. Die Wurfarme der Katapulte wurden gespannt, und kurz darauf wurden Tonnen brennenden Pechs in die Höhe geschleudert. Die Flammen fanden reichlich Nahrung. Sie züngelten über 128
die Rinde der Mammutbäume und fraßen sich funkenstiebend in uraltes Holz. Sie leckten über die Wehrgänge, hinter denen die Verteidiger Schutz suchten, und verbrannten hölzerne Zinnen zu glühender Asche. Die Krieger H'Rabaals versuchten zu löschen, aber die Flammen sprangen von Haus zu Haus, von Zinne zu Zinne, über Gassen und Straßen hinweg und loderten in den Wipfeln der Bäume. Binnen kurzer Zeit herrschte in H'Rabaal das Chaos. Dharag rief seine Heerführer zu sich. »Wartet, bis die Stadt niedergebrannt und das Feuer tiefer in den Urwald vorgedrungen ist«, sagte er. »Dann sollen die Söldner hinaufsteigen.« »Die Überlebenden«, fragte jemand, »was machen wir mit den Überlebenden?« »Al'anfa hat für Sklaven immer Verwendung.« Kurz darauf, als Dharag wieder allein war und sich den Karten widmete, die die Späher an den Tagen zuvor von der Region südwestlich H'Rabaals angefertigt hatten, kam es zu einem Aufruhr. Die heiseren Stimmen von Männern aus der persönlichen Garde des Hohenpriesters ertönten, und Dharag trat rasch an den Vorhang seines Zeltes und schlug das Tuch beiseite. »Was geht hier vor?« Einer der Gardisten drehte sich um und verneigte sich rasch. »Herr, hier ist ein Mann, der behauptet...« Eine Stimme kreischte, und eine hochgewachsene Gestalt eilte auf den Hohenpriester zu. Die Tunika des Mannes war vollkommen verschmutzt und wies an einigen Stellen Brandspuren auf. Dutzende von Kratzwunden zeigten sich in dem zu einer Fratze entstellten Gesicht. Aus einem Reflex heraus griff Dharag nach seinem Dolch. »Herr«, keuchte der Mann, »ich komme aus Al'anfa und bringe dir eine schlechte Nachricht.« Kräftige Gardistenhände griffen nach ihm, doch die Soldaten ließen den Verletzten sofort wieder los, als Dharag ihnen ein Zeichen gab. »Einen Krug Wein für diesen Mann!« befahl er und führte ihn dann in sein Zelt. Der Verletzte ließ sich schweratmend auf einen hölzernen Stuhl sinken. Kurz 129
darauf eilte ein Diener herein und brachte den Wein. Der Mann trank in langen, gierigen Zügen, und ein trüber Nebel schob sich vor seine Pupillen. »Was ist geschehen?« fragte Dharag leise, und irgendwo in seinem Innern wurde es plötzlich eiskalt. »Herr, der Tempel... die Stadt...« Der Verletzte sah ihn an, und der Hohepriester spürte deutlich, daß das Lebenslicht des Mannes zu flackern begonnen hatte. Er starb, und Dharag betete zu Visar: Laß ihn mir noch für eine Weile – so lange, bis er mir gesagt hat, was in Al'anfa geschehen ist. »Ja?« »Kaum hattest du mit deinen Tempelsoldaten die Stadt verlassen, als es zu einem von den Handelsherren Al'anfas angeführten Aufstand kam. Es... es war ein gut vorbereiteter Handstreich. Die Krieger besetzten alle wichtigen Punkte der Stadt und griffen sogar den Tempel und den Rest der dort stationierten Truppen an. Deine Soldaten fielen im Kampf, Hohenpriester. Nur ich konnte ent... entkommen, ein unwürdiger Diener, der nicht gelernt hat, wie... wie man mit einer Waffe umgeht ...« Er hustete, spuckte Blut und begann am ganzen Leib zu zittern. »Noch verteidigen die Boroni den Tempel, aber die Übermacht der Hanse ist zu groß, und daher ist... ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis den Aufständischen auch die Eroberung des Herzens Al'anfas gelingt.« Die Augen des Mannes weiteten sich, dann sank er vom Stuhl und starb. Dharags Blick ging ins Leere. Draußen, jenseits der Hügel, brannte H'Rabaal. Aber auch weiter im Norden wurde gekämpft und ein Krieg ausgetragen, den der Hohepriester nicht für möglich gehalten hätte. Der Schwarze Tempel Al'anfas – erobert von Ungläubigen? Rasch warf sich Dharag die Priestertunika über die Schultern und verließ sein Zelt. Den vor dem Eingang wartenden Gardisten befahl er, die Leiche des Kuriers aus Al'anfa fortzuschaffen. Dharag hielt auf den Pavillon zu, der unmittelbar am Ufer des Sees errichtet worden war. Die Tempelsoldaten jubelten ihm zu, als sie ihn sahen. »Heil dir, 130
Sieger der Schlacht von H'Rabaal!« »Heil dir, Hoherpriester, Stellvertreter Visars!« Aber Dharag schenkte weder den Rufen noch der im Urwald hinter ihm tobenden Feuersbrunst Beachtung. Er betrat den Pavillon und begab sich in die Schwarze Kammer – den provisorischen Tempel, der außerhalb der Mauern Al'anfas dem Gott des Todes eine Heimstatt bot. Vor dem Altar aus schwarzem Marmor kniete Dharag demütig nieder. »Erhöre mich, Visar, Gott des Todes. Ich bin dein Erster Diener in Aventurien...« Eine Kälte drang ein, die nicht irdischen Ursprungs war. Das Licht der Opferkerzen flackerte, und in der Finsternis vor dem Hohenpriester glühten plötzlich zwei schwefelgelbe Augen. »Ich höre dich, Dharag«, grollte die Stimme Visars. »Allmächtiger und Einziger Gott«, flüsterte der Hohepriester, »Dein Schwarzer Tempel in Al'anfa wird von Ungläubigen angegriffen, und...« »Du mußt sofort aufbrechen, Dharag. Es ist keine Zeit zu verlieren. Schlage den Aufstand nieder.« »Das will ich tun.« Er neigte den Kopf. »Ich habe noch eine andere Botschaft für dich.« Das Glühen der gelben Augen verstärkte sich. »Der My r, den du aussandtest, um die beiden Diebe Medwyn und Callehain zu fangen... Er verlor ihre Spur.« Dharag runzelte die Stirn. »Aber das ist...« »Unmöglich, Hoherpriester?« In der Finsternis vor ihm ertönte ein knurrendes Lachen. »Nicht, wenn Hexenzauber im Spiel ist.« »Hexenzauber?« »Als sich Callehain in der Nacht vor der Diebesweihe in den Turm der Hexen schlich, erhielt er von Shaila, einer Schülerin Cherinnes, ein magisches Medaillon. Dieses thaumaturgische Schmuckstück hat die Spur der beiden Gildenparias verwischt. Aber der Myr konnte die Fährte inzwischen wiederfinden und wird die Diebe bald eingeholt 131
haben.« Im Anschluß an diese Worte verblaßte das Glühen über dem Altar. Dharag erhob sich langsam, als sich auch der kalte Hauch verflüchtigte. Er erinnerte sich... Hexenzauber. Eine dunkle Ahnung regte sich in ihm. Die Handelsherren Al'anfas... sie hatten ihren Aufstand genau zum richtigen Zeitpunkt begonnen. Für eine umfassende Revolte waren intensive Vorbereitungen notwendig. Und außerdem hatte nur eine Person gewußt, wann er, Dharag, beabsichtigte, seinen Heiligen Krieg gegen die Stadtstaaten im Süden Aventuriens zu beginnen. Es war eine Frau, und sie hieß Cherinne. Rasch verließ der Hohepriester den Pavillon und kehrte ins Lager seiner Tempelstreitmacht zurück. Die in H'Rabaal tobenden Flammen leckten inzwischen tiefer im Dschungel über das Holz. Fette schwarze Rauchschwaden stiegen in die Höhe- das Siegesbanner Visars. Ein zweites Mal rief Dharag seine Heerführer zu sich, und diesmal hatte er überraschende Anordnungen für sie. »Wir kehren mit tausend Soldaten nach Al'anfa zurück und schlagen dort den Aufstand der Hanse nieder«, erklärte er den Generälen, die sich daraufhin bedeutsame Blicke zuwarfen. Der Kurier Al'anfas hatte schon von der Rebellion der Handelsherren berichtet, noch bevor er in das Zelt des Hohenpriesters gelangt war. »Und anschließend«, sagte Dharag finster, »ziehen wir in die Gesindebastion. Ich habe allen Grund zu der Annahme, daß Cherinne, die Königin der Hexen, den Aufstand der Hanse angestiftet hat...«
Ein Schüler: »Meister, wie soll sich ein Dieb verhalten, wenn er in den Handelspalast eines Reichen vordringt und dort angekettete Sklaven und gepeitschte Kinder findet?« Und der Meister: »Wir sind Diebe, Novize. Und unsere Gilde lehrt, wie man stiehlt, ohne dabei entdeckt zu werden. Es ist Aufgabe der Philosophen, die Basis für eine bessere Welt zu bilden.« Der Schüler: »Aber Meister, wir Gildendiebe stehlen doch nicht in erster Linie für uns selbst, sondern um mit 132
unserer Beute das Leben der Armen zu erleichtern.« Und der Meister: »Du hast recht, Novize. Und mehr können wir auch nicht tun, um das Mißverhältnis zwischen Armut und Reichtum, zwischen Macht und Unterdrückung zu verändern. Dazu müßte eine neue Gilde geschaffen werden: das Gesinde der Weltverbesserer.«
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11. DIE FESTE VON GORN Die Spuren waren wie zwei lange Schlangenleiber, die sich durch den Schnee wanden. Es war kalt, so kalt, daß Callehain glaubte, ihm könnten jeden Augenblick die Füße im Schnee festfrieren. Sein Atem war eine fransige Fahne, die von seinen Lippen hing und mit der der Wind seinen Schabernack trieb. »Ich kann nicht mehr«, stöhnte Medwyn. Neben dem Stamm einer schneebeladenen Konifere blieben sie stehen. Vor ihnen ragten die Gipfel eines hohen Gebirges auf, und das Eis der Gletscher glänzte im Licht der untergehenden Sonne. Callehain drehte sich langsam i m Kreis. Der Wind – er hörte nie auf zu wehen. Mal war seine Stimme lauter, dann wieder leiser, und die Geschichte, die er erzählte, nahm kein Ende. In seinem Atem konnten die Diebe das schale Aroma der Einsamkeit riechen. Seine frostigen Hände fuhren Medwyn und Callehain in die Haare und hatten auf ihren Augenbrauen bereits eine Schicht Rauhreif gebildet. Medwyn ließ sich müde und erschöpft in den Schnee sinken, und sein Atem war ein rasselndes Kratzen. »Hätte uns der Rauch der tausend Feuer doch direkt bis in die Stadt der Verlorenen Seelen gebracht«, flüsterte er. Callehain nickte langsam und suchte Schutz hinter einigen Kiefern. Für eine Weile zischte der Wind an ihm vorbei. »Wir müssen uns weit im Norden Aventuriens befinden«, sagte er. »Im Monat des Phex herrscht in diesem Land noch der Winter, während im Süden, in Al'anfa und den anderen Städten jenseits der Khom-Wüste, bereits Frühling und Sommer die Kälte verdrängt haben.« Medwyn ließ die Schultern hängen, und feiner Schnee rieselte von dem halb erstarrten Leinen der grauen Pariajacke. Er deutete in Richtung der Gipfel. »Ist das das Eherne Schwert?« 134
»Nein.« Callehain seufzte. Er tastete nach dem Medaillon auf seiner Brust. Es fühlte sich so kalt an wie ein Eiszapfen. Nicht der geringste Wärmehauch ging von dem magischen Schmuckstück aus. Seit sie auf dem Rücken des schwarzen Schwingenrosses geritten waren, hatte er auch nicht mehr die Flüsterstimme in seinem Innern vernommen. Stille herrschte. »Nein«, wiederholte der junge Dieb. »Das Eherne Schwert ist viel mächtiger und gewaltiger, Medwyn. Vielleicht sind dies die Walberge. Oder die Eiszinnen.« Er hörte ein leises Rascheln und drehte sich um. Mit ungelenken Bewegungen kramte Medwyn in den Taschen seiner Jacke und holte die thaumaturgischen Utensilien Gilburians hervor. Auf dem Zauberstab hatte sich eine dünne Eisschicht gebildet, und das Schwarze Auge des Magiers sah aus wie eine kindskopfgroße Kugel aus Kohle. Medwyn hauchte sich in die Hände. »Schwarzes Auge der magischen Macht, zeig uns das Eherne Schwert, selbst in der Nacht.« Aber die Kugel reagierte nicht. Ihre Oberfläche glänzte wie polierter Marmor, aber sie wurde nicht trüb und matt, um ihnen daraufhin Bilder von einem fernen Ort zu offenbaren. »Vielleicht...« Callehain zuckte mit den Achseln. Er empfand eine sonderbare Gleichgültigkeit. »Vielleicht ist es zu kalt.« »Zu kalt für Magie und Zauber?« Medwyn lachte spöttisch. »Nein, es ist nur nicht die richtige Formel. Ich überlege und überlege, aber...« Gequält verzog er das Gesicht. »Ein Feuer... nur ein kleines Feuer. Um Hände und Füße zu wärmen. Danach...« Langsam fielen ihm die Augen zu. »Danach können wir weitergehen.« Callehain packte ihn an den Schultern und zog ihn mit einem Ruck in die Höhe. »Nein, Medwyn. Du darfst jetzt nicht schlafen. Es wäre dein sicherer Tod. Du würdest erfrieren. Wir müssen weiter, eine Höhle finden, eine verlassene Hütte, in der wir sicher sind vor dem Frost der Nacht. Komm, Medwy n.« Der kleine Dieb taumelte einige Schritte, machte kehrt und 135
schob den Zauberstab und das Schwarze Auge wieder in die Taschen. Anschließend setzten sie ihren Weg fort. Es wurde nun rasch dunkel. Die hoch aufragenden Gipfel des Gebirges verdeckten die untergehende Sonne. Von Norden her zogen dunkle Wolken heran und verschluckten den Glanz der ersten Sterne. Irgendwo in der Ferne, in der Einöde aus Schnee und Eis, heulte ein Wolf, und Medwyn begann zu zittern. Callehain wußte, welche Befürchtungen sich jetzt in seinem Gefährten regten. Sie besaßen keine Waffen, und wenn sie von einem Rudel hungriger Wölfe angegriffen wurden, konnten sie sich nicht einmal verteidigen – es sei denn, sie riefen mittels des Zauberstabs irgendeinen magischen Geist zu Hilfe. Während sie durch den Schnee stapften, stülpte sich die Finsternis der Nacht über sie. Einen Hang ging es empor, dann weiter über einen Eispfad, der sich an hohen Felsen entlangwand. Hier und dort auf den windabgewandten Seiten der stummen Steine zeigten sich Runenzeichen im Granit, und Callehain hoffte nur, daß sie jetzt nicht in ein Gebiet vordrangen, auf dem ein alter Fluch lastete. In der Gesindebastion von Al'anfa kursierten viele Erzählungen von Geschehnissen, die sich weit im Norden Aventuriens zugetragen hatten, und die meisten dieser Geschichten handelten von Ungeheuern und dunklen Gefahren. »Ein... ein Haus!« Medwyn blieb abrupt stehen und deutete nach vorn. Unmittelbar darauf erkannte auch Callehain den dunklen Schatten, der aus dem Schnee eines Hangs wuchs. Der nun auflebende Wind zischte und fauchte an altem Mauerwerk entlang und bewegte knarrend unverriegelte Fensterläden. Nirgends flackerte ein Lichtschein. Medwyn taumelte auf das Haus zu, und Callehain folgte ihm. Es begann zu schneien. Erste Flocken schwebten aus den düsteren Wolken, die nun die Gipfel des Gebirges verhüllten, und der Wind packte sie mit seinen Böenarmen, wirbelte sie hoch und schleuderte sie gegen die Felsen. Immer mehr wurden es, und bald formten sie einen weißen Schleier, der sich über das ganze Land legte. Die beiden Diebe senkten den Kopf, stemmten sich gegen den Wind und hielten weiter auf das Haus zu. Es war eine Ruine. 136
Die Fenster wirkten wie leere Augenhöhlen, in denen sich kein Leben mehr regte. Das Dach war vom Wind längst abgedeckt worden und unter Schnee und Eis verschwunden. In einem Anbau mußte irgendwann ein Feuer ausgebrochen sein, denn der hölzerne Dachstuhl war nur mehr eine kohlschwarze und eisverkrustete Erinnerung. Und doch... Für einen Augenblick gewann Callehain den Eindruck, als habe sich im Innern der Ruine etwas bewegt. Medwyn keuchte und schleppte sich mühsam d em Eingang zu. Callehain folgte ihm rasch, ergriff seinen Gefährten an der Schulter und flüsterte: »Medwyn, wir sollten vorsichtig sein. Ich glaube, ich habe eine Gestalt gesehen, die an einem der Fenster vorbeihuschte.« Erneut ertönte in der Ferne das Wolfsheulen, dem im Westen andere Stimmen antworteten. Das Schneetreiben wurde immer dichter. »Mir ist kalt, Cal«, hauchte Medwy n und lehnte sich an den größeren Dieb. »So schrecklich kalt... ich kann meine Beine nicht mehr spüren...« Callehain schlang einen Arm um Medwyns Taille, und gemeinsam schoben sie sich auf die offenstehende Tür der Ruine zu. Die Tür war aus den Angeln gerissen worden, und nur eine einzelne Holzlatte bewegte sich ächzend im Wind – ein Finger, erstarrt in der Kälte der Nacht. Muffiger Geruch wehte ihnen entgegen, als sie das Haus betraten, und der Wind blieb hinter ihnen zurück. Seine nunmehr zornige Stimme fauchte über das alte Mauerwerk und ließ an einigen Stellen Mörtel herabrieseln. Hereingewehter Schnee knirschte unter Callehains Stiefeln, als er seinen Gefährten tiefer in die Ruine hineintrug. Eiszapfen hingen von dem alten, morschen Dachgebälk. Nach einer Weile fand Callehain einen kleinen Nebenraum und ließ den stöhnenden Medwy n zu Boden. Irgend jemand hatte ein großes Leinentuch an einer Bohle befestigt und so ein provisorisches Dach geschaffen, das den größten Teil des Schnees zurückhielt. Er sah sich um: Entweder hatten die einstigen Bewohner dieses Hauses beim Auszug ihr Mobiliar mitgenommen, oder Schränke, Stühle und Kommoden waren später geraubt worden. Er sah nur die dunklen Konturen 137
kalter Steine – und in einer Ecke einen seltsam geformten Haufen. Er trat darauf zu. Und der Haufen sprang mit einem jähen Satz in die Höhe, gab ein gutturales Knurren von sich und hetzte davon.
Callehain war so überrascht, daß er sich einige Augenblicke lang überhaupt nicht rühren konnte. Dann begann er plötzlich am ganzen Leib zu zittern und schlich vorsichtig in die Richtung, in die der Unbekannte verschwunden war. Die zuvor in der Ruine herrschende Stille war nur noch eine Erinnerung. Es kratzte und knirschte in den Nebenräumen, Schatten bewegten sich. Irgendwo blitzte der Funke eines Feuersteins in der Dunkelheit, und kurz darauf knisterten helle Flammen über das Pech einer Fackel. »Medwyn... ?« Callehain wich langsam zurück. Sein Blick fiel auf kleine und gedrungene Körper, die in Lumpenfetzen gehüllt waren. Hornhelme schützten Köpfe, die keinen Menschen gehörten. Die vorspringenden Kiefer machten die Gesichter denen von Affen ähnlich. Spitze Zähne zeigten sich in den Mäulern, und die klauenartigen Hände hielten große Keulen. Goblins. »Huh!« brüllte Callehain und sprang vor. Die Goblins kreischten und ergriffen sofort die Flucht. Einige von ihnen fielen, und ihre nachfolgenden Artgenossen stürmten über sie hinweg. Der Fackelschein verlor sich im Schneetreiben. »Medwyn?« Mit einigen Schritten war Callehain an der Seite seines Gefährten und zog ihn wieder in die Höhe. Medwyn schlug die Augen auf, aber sein trüber Blick ging durch Callehain hindurch. »Medwyn, wir müssen weiter. Wir können nicht hierbleiben, hörst du? Die Goblins sind feige und ängstlich. Aber wenn sie erst begriffen haben, daß sie in der Überzahl und uns weit überlegen sind, kehren sie zurück, und dann geht es uns an den Kragen.« 138
»Gob... lins?« stöhnte Medwyn. »Bei Phex: ja«, erwiderte Callehain. Täuschte er sich, oder hatte er in der Finsternis tatsächlich wieder das unstete Licht der Fackel gesehen? »Ich bin müde... so müde...« »Verdammt, wenn du dich jetzt nicht bewegst, kannst du bald schlafen – für immer und ewig. Wir müssen von hier weg!« Er zog seinen Gefährten mit sich. An kalten Mauern ging es vorbei, und hier und dort knackten abgenagte Knochen unter seinen Schritten. Er hatte sich nicht geirrt: Das Knurren kam wieder näher, und im Schneetreiben bewegten sich geduckte Gestalten. Etwas flog auf ihn zu. Callehain wich gerade noch rechtzeitig zur Seite: Ein kantiger Stein flog an seinem Kopf vorbei und prallte dumpf gegen das Mauerwerk. Er stieß einen zweiten Schrei aus, und wieder wichen die Ungeheuer zurück. Diesmal aber dauerte es nicht annähernd so lange wie beim erstenmal, bis die Goblins ihre Furcht überwanden und sich zu einem Angriff entschlossen. Heulend und grölend stürmten sie auf ihn zu. Callehain ließ den stöhnenden Medwyn zu Boden sinken und griff nach einer im Schnee liegenden Latte. Das Holz war viel zu lang und zu schwer für seine frostklammen Hände, aber es blieb ihm keine Zeit mehr, nach einer geeigneteren Waffe zu suchen. Die Goblins waren heran und holten mit ihren Keulen aus. Callehain brüllte, schwang die Latte, in der noch einige rostige Nägel steckten, und bewegte sich im Kreis. Der erste Aufprall riß ihm die provisorische Lanze beinah aus den Händen. Er packte sie fester und schlug erneut zu. Goblins kreischten und wälzten sich im Schnee. Die erste Angriffswelle verebbte. Callehain wußte, daß er auch mit der Latte nicht die geringste Chance hatte, sich auf Dauer gegen die Goblins zu verteidigen. Er ließ sie fallen, hob Medwyn hoch und ergriff die Flucht. Dann hastete er durch den hohen Schnee, und die Dunkelheit der Nacht verschluckte seine Gestalt. Der Wind wütete und toste um ihn herum und fauchte dem Dieb seinen kalten Zorn ins Gesicht. Schneeflocken umwirbelten ihn, und mehrmals rutschte er auf 139
eisverkrustetem Fels aus. Er kletterte hinauf, den Gipfeln des Gebirges entgegen, vorbei an engen Kaminen, die er mit dem stöhnenden Medwyn nicht erklettern konnte. Immer schmaler wurde der Weg, und links gähnte in der Finsternis ein schier bodenloser Abgrund. Er keuchte und schnaufte, und die frostige Luft stach mit tausend Nadeln in seine Lungen. Schweiß brach ihm aus allen Poren – ein Schweiß, der auf seiner Haut sofort zu glitzernden Eisperlen erstarrte. Hinter ihm knurrten die Goblins. Später vermochte Callehain nicht mehr zu sagen, wie lange er so durch die Nacht geflohen war. Irgendwann fand der Pfad ein jähes Ende, und ein steiler, schneebedeckter Hang schloß sich an. Zitternd blieb der junge Dieb auf einem Felsvorsprung stehen und blickte sich um. Irgendwo hinter ihm flackerte unsteter Fackelschein im Schneetreiben. Die Goblins folgten ihm noch immer, und die Spuren, die er hinterlassen hatte, waren deutlich zu sehen. Eine Keule sauste aus der Dunkelheit heran und erwischte Callehains Schulter. Er verlor den Halt und fiel. Der Schnee war ein weiches Polster, das den Aufprall zwar milderte, aber er bot seinen Händen auch keinen Halt. So rutschte er hinab, während ganz in seiner Nähe ein Schatten über den Hang in die Tiefe sauste: Medwy n. Nach einigen Dutzend Metern stieß er mit dem Kopf gegen einen kleinen Felsen und verlor sofort das Bewußtsein.
Als er wieder zu sich kam, hatte sich alles verändert. Angenehme Wärme umschmiegte ihn. Callehain schlug die Augen auf und sah sich um. Er lag in einem breiten Bett auf einer weichen Matratze, und in einem nahen Kamin prasselte ein Feuer. Auf einer kleinen Kommode standen mehrere Schalen, in denen Kräuter schwelten und einen würzigaromatischen Duft verströmten. Der junge Dieb richtete sich verwundert auf und tastete mit der Hand über den Kopf. Nirgends fühlte er den Schorf einer verheilten Wunde, und selbst die Kruste an seiner Schläfe 140
war verschwunden. Sein Kopf war klar. »Oh, du bist wach«, erklang ganz in seiner Nähe eine Stimme. Callehain zuckte unwillkürlich zusammen und bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen. Er war allein im Zimmer. »Möchtest du etwas zu trinken?« Der auf dem kleinen Schrank neben dem Bett stehende Krug setzte sich plötzlich in Bewegung. Er schwebte empor, hielt auf ein Glas zu und schenkte es mit Wasser voll. »Ohhh«, machte Callehain. Das Glas rutschte auf den Rand der Kommode zu, stürzte aber nicht auf den dicken Teppich, als es darüber hinausglitt. Zielsicher hielt es auf Callehains ausgestreckte Hand zu. Erst jetzt spürte er, welchen Durst er hatte, und trank das Glas in einem Zug leer. »Wo... wo bin ich?« flüsterte er. »In der alten Feste von Gorn, Dieb«, sagte das Feuer im Kamin. , »Du... du weißt, wer ich bin?« »Natürlich«, entgegneten die Flammen. »Du bist Callehain aus Al'anfa, der Stadt des Sklavenhandels und der Drogenträume weit im Süden. Du wurdest aus der Gilde der Ehrenwerten Diebe ausgestoßen.« Callehain ließ sich wieder zurücksinken. »Ich träume«, flüsterte er. »Es gibt kein Feuer, das sprechen kann. Der steile Hang... die Goblins... der Felsen...« Und mit noch leiserer Stimme fügte er hinzu: »Ich bin tot.« »Kann ein Toter Wasser trinken?« fragte der Krug spöttisch. »N-nein«, erwiderte Callehain zögernd. »Und bestimmt weiß er auch nicht, daß er tot ist.« »Hm«, machte der Krug nachdenklich. »Eine sehr philosophische Bemerkung. Wissen Tote, ob sie tot sind? Das scheint mir eine Frage zu sein, die meines Erachtens eine eingehendere Erörterung verdient.« »Medwyn!« platzte es aus Callehain heraus. Er schwang die Beine aus dem Bett und griff nach seiner Kleidung, die ordentlich gefaltet auf einem Stuhl lag. Sie war sogar 141
gewaschen worden. »Wo ist Medwyn?« »Oh«, machte das Feuer, »eine Goblinkeule verletzte deinen Gefährten, und die Heilkräuter des Alten Pagor wirkten bei ihm leider nicht so wie bei dir.« »Ist er... ?« »O nein«, erwiderte der Krug. »Er lebt. Aber er muß noch ruhen. « Während sich Callehain rasch ankleidete, fragte er: »Wer ist der Alte Pagor?« »Der letzte Schattenwächter der Feste von Gorn, Unwissender aus dem Süden«, knarrte das Bett. »Er ist sehr einsam, und bestimmt freut er sich bereits auf ein Gespräch mit dir.« Callehain ging zögernd auf die Tür zu. Noch immer hatte er das Gefühl, in einem Traum gefangen zu sein und nicht erwachen zu können. Er kniff sich in den linken Unterarm und machte: »Au!« »Ein Skeptiker und Zweifler«, spottete das Feuer im Kamin. Und der Krug gurgelte: »Eine junge Seele mit geringen Erfahrungen, aber bereit zu lernen.« Callehain öffnete die Tür und betrat einen breiten Gang. Im Korridor war es merklich kühler als in dem Raum hinter ihm – aber nicht annähernd so kalt wie in der Schneewüste in der Nähe der Ruine. Langsam wanderte er über steinerne Fliesen, die das Bildnis einer magischen Schlacht zeigten: Dämonengeschöpfe auf Pferdeskeletten, Drachen, die aus Wolken herabsausten und die in goldene Rüstungen gekleideten Verteidiger einer riesenhaften Festung mit ihrem Feuerodem versengten. Auf den Zinnen standen Zauberer, deren farbig bestickte Mäntel und Tuniken die Sy mbole der Gilde aufwiesen. Die Mauern und Wände waren hinter dicken Teppichen verborgen. Rüstungen ruhten auf Marmorsockeln. Callehain blieb kurz stehen und betrachtete den Glanz von Silber und Platin. »Gefalle ich dir?« fragte die Rüstung. »Ich... äh...« machte Callehain verlegen. 142
»Ein stolzer und mutiger Krieger von Gorn trug mich einst. Ich bewahrte ihn vor den Schlägen eines Feindes, der von Farlon und Frigorn nach Süden stürmte und die Absicht hatte, ganz Aventurien zu unterwerfen und eine Schwarze Dy nastie zu gründen.« »Sag... sag mir bitte, wie ich zu dem Alten Pagor gelangen kann.« »Du wirst ihn finden.« Callehain ging weiter. Hier und dort öffnete er eine Tür und blickte in prächtig eingerichtete Kammern und Zimmer. Überall war es angenehm warm, und der junge Dieb fühlte sich so sicher wie in den unteren Gewölben der Gesindebastion von Al'anfa. Er öffnete Truhen, in denen Tausende von kostbaren Edelsteinen lagen. Seine Hände tasteten bewundernd über exotische Tücher, die einst Prinzessinnen geschmückt haben mochten. Ungeheure Schätze stapelten sich in der Feste von Gorn, und Callehain war mehrmals versucht, sich die Taschen vollzustopfen. Er schritt Treppen in die Tiefe und wanderte durch weite Gewölbe, an deren Wänden sich farbenprächtige Mosaike zeigten. Er betrachtete die großen Gemälde unbekannter Künstler und sah Szenen einer Vergangenheit, die für ihn nur Legende war. Die Stimmen der Bilder und Tücher, der Fresken, Statuen und Rüstungen begleiteten ihn, und irgendwann gelangte er in einen saalartigen Raum. Große Kronleuchter hingen an der hohen Decke, und Tausende von Kerzen flackerten. In den Kaminen loderten wärmende Flammen über Holzscheite, die sich nie in Asche verwandelten. An einem langen Tisch saß ein alter Mann und sagte: »Ich habe dich bereits erwartet, Callehain. Ich bin Pagor, der letzte Schattenwächter der Feste von Gorn.«
Der Mann war hager, fast dürr, und seine Tunika war viel zu weit. Pagor hatte den Kragen hochgeschlagen, so als reiche ihm die Wärme der fast ein Dutzend Kaminfeuer nicht aus. 143
Pergamentartige Haut spannte sich über spitze Wangenknochen, und die Augen lagen tief in den Höhlen und waren so grau wie der Stahl der Schmiede von Methumis im Lieblichen Feld. An den langen, dünnen Fingern trug Pagor schwere Siegelringe. »Komm, junger Dieb aus Al'anfa.« Pagor lächelte. »Setz dich zu mir. Es ist lange her, daß ich mich über den Besuch eines jungen Mannes freuen konnte.« Er seufzte, und für kurze Zeit schweifte sein Blick in die Ferne. »Die Zeiten haben sich geändert. Einst herrschte in der Feste von Gorn frohes Leben und rege Betriebsamkeit, damals, als ich nicht mehr als ein Knappe war, ein Novize des magischen Gildenhauses von Anchopal. Heute ist es hier still und leer.« Er sah Callehain an. »Komm und setz dich.« Callehain trat langsam näher. Das auf seiner Brust ruhende Medaillon erwärmte sich nicht, aber er war sich jetzt nicht mehr sicher, ob er sich darauf verlassen konnte. Der Alte Pagor war ein Greis, und Greise konnten sich mitunter als recht wunderlich erweisen. Außerdem war Pagor ganz offensichtlich ein Magier. Drohte Gefahr von diesem Mann? Callehain musterte den Schattenwächter und blickte ihm tief in die Augen. »Fürchtest du dich vor mir, Dieb?« Der Alte Pagor lachte leise. »Deine Sorge ist unbegründet. Mir liegt nur etwas an einem Gespräch mit dir. Das ist alles.« Callehain nahm lächelnd Platz. »Du hast sicher Hunger, nicht wahr?« Der junge Dieb nickte, und daraufhin sagte Pagor: »Tisch, ich habe einen Gast mit leerem Magen.« »Zu Diensten, Herr«, erwiderte der Tisch, und aus dem Nichts formten sich Teller und Tassen, Schüsseln und Tabletts, und als Callehain der Duft von gebratenem Fleisch, gebackenen Artischocken, geröstetem Geflügel, süßem Teig und anderer Köstlichkeiten in die Nase stieg, knurrte ihm der Magen, und seine Lippen wurden plötzlich feucht. »Iß nur, iß nur«, forderte ihn der Alte Pagor mit väterlicher Stimme auf. »Ich bin alt, und mein Magen ist so klein wie der eines Vogels. Ein Teller Suppe – und ich bin so satt, daß ich 144
mich kaum noch bewegen kann.« Während Callehain der Aufforderung dankbar nachkam – er wußte gar nicht mehr, wann er die letzte warme Mahlzeit zu sich genommen hatte –, fuhr Pagor fort: »Seit vielen Wintern und Sommern bin ich allein, und so habe ich meine Umgebung mit magischen Seelen belebt: Tische, Stühle, Vasen, Krüge – alles.« Er kicherte leise, doch seine Augen trübten sich. »Es ist schrecklich, sich mit niemandem unterhalten zu können.« Callehain begann allmählich zu verstehen, und mit vollem Mund sagte er: »Medwyn und ich wurden von Goblins verfolgt. Wir stürzten einen Hang in die Tiefe. Ich prallte mit dem Kopf gegen einen Stein. Wie hast du uns gefunden, Pagor? Und die Kopfwunde, die ich bestimmt davongetragen habe...« »Oh.« Der alte Magier winkte ab. »Ein einfaches Heilelixier, das bereits ein Novize unserer Zunft brauen kann – das war nicht weiter schwer.« Er stand abrupt auf, wanderte unruhig umher und trat an eine Wand heran. Als er an einer seidenen Kordel zog, raschelten die bunt bestickten Vorhänge beiseite, und Tageslicht vermischte sich mit dem Kerzenglanz. Callehain wandte kurz den Kopf zur Seite, und sein neugieriger Blick fiel auf Gletscher und Eis, auf Schnee und weiße Berggipfel. »Seit Jahrtausenden sind in dieser Region Goblinstämme ansässig. Die meisten von ihnen hausen in Höhlen, Gruben oder Kavernensy stemen, die die ersten Menschen, die vom Ysli-See hierher vorstießen, anlegten, um während des langen, bitterkalten Winters vor den Lawinen geschützt zu sein. Ich habe auch einige der Felsen in der weißen Einöde dort draußen mit magischen Seelen versehen, so daß ich sofort weiß, wann und wo ein Wanderer durch die Einöde zieht. Oh, aber das ist nur sehr selten der Fall, denn kau m jemand wagt sich in dieses Gebiet vor, und seit dem magischen Krieg sind viele Jahrhunderte vergangen. Die Bewohner Ysilias und der anderen Dörfer und Städte weiter im Süden haben die Feste von Gorn längst vergessen.« »Ysilia«, murmelte Callehain. »Der Ysli-See... Also hatte 145
ich recht. Das Gebirge ist nicht das Eherne Schwert.« Wieder kicherte der alte Mann. »Natürlich nicht. Es ist die Schwarze Sichel, und dahinter erheben sich die Grate der Drachensteine. Bis zum Ehernen Schwert ist es noch weit.« »Du sagtest, seit dem magischen Krieg sind viele Jahrhunderte vergangen und die Feste von Gorn sei inzwischen der Vergessenheit anheimgefallen.« Er zögerte. »Wie alt bist du, Pagor?« »Fast tausend Jahre«, murmelte der Schattenwächter. Und er stöhnte: »Ja, fast tausend Jahre. Ich legte damals einen Eid ab. Ich schwor, erst dann zu sterben, wenn die letzten Schemen, die einst den Schattenlords von Farlorn und Frigorn dienten, endgültig in das schwarze Reich Visars eingegangen sind. Wie du siehst, lebe ich noch. Das bedeutet, daß das Böse noch nicht endgültig besiegt ist. Also harre ich hier aus, der letzte Schattenwächter des magischen Krieges. Ich finde erst dann Ruhe, wenn die Macht der Finsternis gebrochen ist. Doch immer wieder gibt es Verräter, selbst in unserer thaumaturgischen Zunft, und manch ein Magier beschwört in seinem Wahn einen My r oder einen noch gräßlicheren Dämonen, wodurch das Böse wieder ein wenig stärker wird.« Callehain aß weiter. Während sich sein Magen langsam füllte und sich der Bauch über den Gürtel der ledernen Hose vorstülpte, hörte er dem Alten Pagor zu, der nun wieder an den Tisch zurückkehrte und sich setzte. »Es war eine dunkle Zeit damals, und einige Monate lang sah es ganz danach aus, als könnte die Gilde dem Ansturm der schwarzen Horden nicht standhalten.« Callehain nickte. »Ja, ich kenne die Legende.« »Legende, pah!« machte der Alte Pagor. »Nur noch sehr wenige Menschen wissen heute, was damals geschah. Es war eine Zeit unvorstellbarer Schrecken.« Er seufzte. »Schließlich aber wurden die Schattenlords geschlagen, und die Gilde baute diese Bastion, die Feste von Gorn – als ein Bollwerk gegen die Horden der Goblins, Oger und Trolle, die sich mit dem Bösen verbündet hatten, weil sie auf reiche Beute hofften. Von hier aus machten sich die Schattenwächter auf 146
den Weg – auch ich nahm an dem Feldzug teil –, um die letzten dunklen Armeen zu vernichten und die Überlebenden in den Norden zurückzutreiben, in die Grate der Nebel- und Eiszinnen und in das Schneeland, das sich an die Hänge jener Gebirge anschließt. Einige Mahre flohen sogar in die Höhen des Ehernen Schwerts, weil sie hofften, wir Schattenwächter würden uns nicht in die Domänen der Sieben Drachen vorwagen. Sie irrten sich.« Das pergamentene Gesicht Pagors verwandelte sich für wenige Augenblicke in eine Fratze. »Wir fürchteten uns nicht vor den Tatzelwürmern und ihren großen, feuerspeienden Verwandten, denn wir wußten, daß bis auf Fuldigor alle Drachen bereits in grauer Vorzeit ausgestorben waren. Ja, wir verfolgten die Mahre und kletterten dabei auch über die hohen Gletscher des Ehernen Schwerts.« Callehain ließ Messer und Gabel sinken und sah den alten Thaumaturgen groß an. »Fuldigor und das Eherne Schwert«, hauchte er und fügte atemlos hinzu: »Pagor, hast du damals auch die Stadt der Verlorenen Seelen gesehen?« Der Magier lachte heiser. »Das also ist euer Ziel.« Callehain nickte rasch und erzählte, aus welchem Grund Medwyn und er sich auf die lange, gefährliche Reise begeben hatten. »Hexenwerk«, kommentierte Pagor abfällig. »Es hat seinen Grund, warum sie nie in die Gilde der Magier aufgenommen wurden. Hexen kann man nicht trauen, und schon oft hat ihr Zauber dunklen Zwecken gedient.« Und dann: »Ja, ich habe sie gesehen, die Stadt der Verlorenen Seelen. Mit einigen anderen Schattenwächtern stand ich an ihren weißen Mauern, und obgleich das Tor geöffnet war, wagten wir uns nicht in die stillen Straßen und Gassen.« »Warum nicht?« »Ho, eine Stadt des Todes ist es, und jeder Magier, der das Tor durchschreitet, fällt sofort dem Bann Visars zum Opfer. Nur jemand, der nicht die Gabe des Zauberns besitzt, vermag durch die Straßen der Stadt zu wandern.« Er sah den jungen Dieb an. »Höre auf meinen Rat, Callehain: Es hat keinen 147
Sinn, wenn ihr beide eure Reise fortsetzt. Vielleicht gelingt es euch tatsächlich, bis zum Ehernen Schwert zu gelangen und dort sogar die weiße Stadt zu finden und den in ihr verborgenen Seelenstein zu stehlen. Aber du darfst eins nicht vergessen: Fuldigor, der letzte der großen Drachen, gebietet über sie, und seinem Feueratem würdet ihr bestimmt nicht entgehen. Ihr könnt die Aufgabe nicht erfüllen, die die Königin der Hexen in Al'anfa euch stellte.« Callehain ließ enttäuscht den Kopf hängen und flüsterte: »Aber das würde bedeuten, daß wir bis ans Ende unseres Lebens Parias blieben, ausgestoßen aus der Gilde der Ehrenwerten Diebe.« »Ist das nicht immer noch besser, als einen gräßlichen Tod zu sterben – und das auch noch im größten Machtzentrum Visars in Aventurien?« Ein Leben in Schande? Als Vogelfreie? Callehain dachte an die großen Augen Shailas, an das Medaillon, das er von ihr erhalten hatte: ein magisches Artefakt, das ihm in der Stunde größter Not helfen konnte. Das hatte ihm die junge Hexe jedenfalls versichert. Und er dachte auch an den hochmütigen Medwyn, der es gewagt hatte, Merha zu besuchen, die Erste Tochter Cherinnes,. Nur dadurch war der Zorn der Hexenkönigin erweckt worden. Er stand langsam auf. »Wir haben keine andere Wahl«, sagte er dumpf. »Wir müssen unsere Reise fortsetzen und den Seelenstein stehlen. Ein Leben in Schande ist schlimmer als der Tod, Pagor.« Und der alte Schattenwächter erwiderte: »Das sagt sich leicht für jemanden, der jung ist und noch sein ganzes Leben vor sich hat. Ich aber bin alt, und meine Beurteilungsmaßstäbe sind anders als die deinen. Komm, Callehain. Ich führe dich zu Medwy n. «
Medwyn hatte hohes Fieber. Auf seiner Stirn glänzte Schweiß. Er warf den Kopf hin und her und murmelte unverständliche Worte. Callehain musterte ihn besorgt. Die 148
Wangen seines Gefährten waren eingefallen, seine Haut wirkte bleich. »Er stirbt...« hauchte er. »Nein.« Der Alte Pagor schüttelte den Kopf. »Sterben wird er nicht. Er ist sehr geschwächt, aber es besteht keine Lebensgefahr mehr. Das Fieber läßt nur langsam nach, aber in einigen Tagen dürfte er sich wieder erholt haben.« Der Schattenwächter runzelte die Stirn. »Ich verstehe nur nicht, warum die Heilelixiere, die bei dir sofort wirkten, ihm nicht helfen.« Callehain entsann sich plötzlich an das Schiff des Handelsherrn Henrinnen, mit dem sie aus dem Hafen Al'anfas geflohen waren, an die Tagebucheintragungen des Kapitäns, an den alten Fluch. Er berichtete Pagor davon. »Oh«, machte der Magier. »Ein Fluch. Das erklärt vieles.« Er verließ kurz die Kammer und kehrte bald darauf mit Dutzenden von magischen Utensilien zurück. Callehain half ihm dabei, Medwyn aus dem Bett zu heben und auf den Boden zu setzen. Pagor nahm einen Stift magischer Kreide zur Hand und malte ein thaumaturgisches Sechseck. Jede Kante versah er mit einem bestimmten magischen Sy mbol. Als er dieses Werk vollendet hatte, erhob er sich, warf die Arme in die Höhe und murmelte einen Zauberspruch. Callehain hörte die einzelnen Worte, aber er vergaß sie sofort wieder, und eine sonderbare Benommenheit durchwehte seine Gedanken. Als sich der Dunst hinter seiner Stirn wieder auflöste, hatte Medwyn aufgehört zu zittern, und langsam trocknete der Schweiß auf seiner Stirn. Er trug seinen Gefährten wieder ins Bett zurück und deckte ihn zu. Draußen auf dem Gang sagte der Alte Pagor: »Das Fieber hat jetzt ganz nachgelassen, Callehain. Du hattest recht: Es war der Fluch, der auf dem Schiff lastete und von dem ich nichts wissen konnte. Ich habe dich mit einem Zauber versehen, der dich vor der magischen Pest schützt; mach dir also keine Sorgen.« »Danke«, murmelte Callehain. Später, als er wieder in seinem Bett lag und sich langsam die angenehme Schwere des Schlafes auf ihn senkte, sah er 149
vor seinem inneren Auge das Bild, das ihnen das Schwarze Auge Gilburians gezeigt hatte: granitene Gipfel, die eine hohe Wolkendecke durchstießen, Grate und Kamine, die noch nie eines Menschen Auge erblickt hatte – das Eherne Schwert. Und irgendwo in jener mächtigen Barriere, die Aventurien vom Kontinent im Osten trennte, lag die Stadt der Verlorenen Seelen.
Die Feste von Gorn war ein gewaltiges Bollwerk aus stahlgrauem Fels. Die Außenmauer ragte fast eine Zehntellänge in die Höhe, und oben hinter den Zinnen hatten vor vielen Jahrhunderten die Soldaten des Mittellandes gestanden und siedendes Öl auf die Angreifer aus dem Norden geschüttet. Hinter dem Außenwall folgten zwei weitere, ebenso hohe Befestigungsanlagen, zwischen denen sich Brücken aus ächzendem Holz und hartem Stein spannten. Jetzt bewegte sich nichts mehr dort oben, nur der ewige und kalte Wind sang sein spöttisches Lied. Der Alte Pagor geleitete Callehain und Medwyn durch das Tor. Ein schmaler Steg führte über den Festungsgraben, dessen tiefes Wasser in der Winterkälte zugefroren war. Er deutete auf die schneebeladenen Hänge der Schwarzen Sichel. »Gebt auf Lawinen acht«, warnte er die beiden jungen Diebe. »Bald wird Tauwetter einsetzen, und dann ist es in den Bergen besonders gefährlich.« Callehain nickte und zog sich den Pelzmantel, den er von dem Schattenwächter erhalten hatte, enger um die Schultern. »Wir nehmen den Weg, den du uns beschrieben hast, Pagor, den Paß, der nach Baliho westlich der Sichel führt.« »Ja. Das ist zwar ein Umweg, aber so meidet ihr die Drachensteine. Die dort hausenden Goblinstämme sind besonders tückisch.« »Hach«, schnaufte Medwyn und zog einen langen Dolch hervor. Der Alte Pagor hatte sie nicht nur mit warmen Mänteln, sondern auch mit Waffen und Proviant ausgestattet. »Wir nehmen es mit den Ungeheuern auf. Wir...« 150
»Nicht so hitzig, junger Freund«, kicherte Pagor. »Es ist immer klüger, einen Kampf zu vermeiden – selbst dann, wenn man sicher ist, ihn zu gewinnen. Und das trifft auf euch keineswegs zu.« »Du unterschätzt uns, Schattenwächter – ganz besonders mich, den Meisterdieb aus Al'anfa, der sich auch auf die hohe Kunst der Magie versteht.« Er kramte in den Taschen seiner grauen Pariajacke, die er wie Callehain unter dem Pelzmantel trug, und holte den Zauberstab und das Schwarze Auge Gilburians hervor. »Ho, ich beschwöre einen dienstbaren Geist, und so schlagen wir die Goblinhorden in die Flucht. Wir...« Während Medwyn mit seinen Prahlereien fortfuhr, verdüsterte sich Pagors Gesicht. »Ich bitte dich noch einmal, mir diese magischen Artefakte zu überlassen, Medwy n. Die Geheimnisse der Magie bergen viele Gefahren...« »O nein!« Rasch verstaute Medwyn seine Diebesbeute wieder und trat einige Schritte zurück. »Sie gehören jetzt mir, mir allein, und mit der Zeit werde ich alle Rätsel der Zauberei lösen.« »Und wahrscheinlich einen Dämon beschwören, der dich mit Haut und Haaren verschlingt«, flüsterte der Alte Pagor. Aber Medwy n erwies sich einmal mehr als stur und uneinsichtig, selbst als Callehain eingriff und seinen Gefährten ebenfalls zu überreden versuchte. Schließlich gaben sie es auf. Sie stiegen in die Schneesegler, die zwei mit magischen Seelen pseudobelebte Rüstungen aus den Kellergewölben der Feste von Gorn hervorgeholt hatten, und der Alte Pagor erklärte ihnen noch einmal die Funktionsweise der Gefährte. Sie hatten am Vortage bereits an einem Hang geübt, aber Callehain hörte dennoch aufmerksam zu, während sich Medwyn gelangweilt abwandte. »Der untere Hebel – ja, der dort – entfaltet das Segel. Nein, betätigt ihn jetzt noch nicht, denn der Wind würde die Tücher sofort aufblähen. Die großen Kufen, auf denen die Schneesegler dahingleiten, bestehen aus einem speziell 151
beschichteten Eisen und wurden von Curd, dem famosen Schmied aus Perricum, gefertigt. Nach seinen Worten verformen sie sich nicht einmal dann, wenn sie über eisverkrustete Steine kratzen. Die beiden Hebel rechts und links dienen zum Steuern. Wenn ihr anhalten wollt, müßt ihr zunächst das Segel von einem Mast lösen und dann den Anker werfen, der sich dort in der Halterung befindet. « Callehain prägte sich die einzelnen Handgriffe gut ein. Zwar erweckten die beiden Gefährte einen fragilen und unzuverlässigen Eindruck, aber am Vortage war sein Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der Schneesegler gewachsen. Eins jedenfalls stand fest: Damit kamen sie wesentlich schneller voran als zu Fuß. Während seiner Erklärungen wurde der Alte Pagor immer nervöser. Unruhig sah er sich um und suchte mit seinen Blicken die Hänge ab. »Ihr dürft in eurer Wachsamkeit niemals nachlassen«, ermahnte er sie. »Ich spüre etwas... seit Tagen schon. Irgendeine dunkle Präsenz hält sich hier in der Einöde versteckt.« »Ha!« machte Medwy n. »Vor einem einzelnen Goblin brauchen wir uns nicht zu fürchten.« »O nein, es ist kein Goblin.« »Ein Dämon?« flüsterte Callehain. »Vielleicht. Ja, ich bin sogar ziemlich sicher. In der vergangenen Nacht habe ich die magischen Seelen der von mir belebten Steine gerufen, aber sie konnten mir ebenfalls keine Auskunft geben. Ich weiß nur eins: Das Dunkle wartet ganz in der Nähe.« Callehain schauderte, aber es war nicht die Kälte, die ihn zu diesem Frösteln veranlaßte. »Wir passen auf«, versicherte er dem alten Schattenwächter, dann gab er Medwyn ein Zeichen und zog den unteren Hebel zu sich heran. Über ihm klatschte es laut, und zwischen den beiden dünnen Masten des Schneeseglers spannte sich ein weißes Segel. Sofort verfing sich der Wind darin und blähte es auf, und die beiden Gefährte setzten sich in Bewegung. Sie glitten über den schneebedeckten Hang und wurden immer schneller. 152
Hinter ihnen winkte der alte Schattenwächter, und Callehain gab den Gruß zurück. Während er das Gelände beobachtete, nach Goblinspuren Ausschau hielt und den Segler zwischen den Formationen hoch aufragender Felsen hindurchsteuerte, spürte er einen warmen Hauch auf der Brust. Das Medaillon. Plötzlich wußte er, daß die dunkle Präsenz, die der Alte Pagor erwähnt hatte, die ganze Zeit über nur auf sie gewartet hatte.
Hexenzauber ist grau und schmutzig und darf niemals beschworen werden innerhalb der Mauern eines Gildenhauses. Gesetz der Magier
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12. FREMDE IN DER GESINDEBASTION VON AL'ANFA Bei der Einlieferung war die Frau überzeugt gewesen, ihr Aufenthalt in der Gesindebastion sei nur von kurzer Dauer. Inzwischen aber hielt sie sich schon zwei Monate in ihrer Zelle auf, und sie war in eine Art von Apathie verfallen, die Nasgard gut kannte: eine Gleichgültigkeit, eine diffuse Teilnahmslosigkeit, die sich nur wahrend der Essenszeiten mit einem Hoffnungsschimmer erhellte. So würde es auch diesmal sein – mit dem einen Unterschied allerdings, daß sich die Hoffnung der Gefangenen rasch in Entsetzen verwandeln mochte, wenn sie erfuhr, was ihr heute bevorstand. »Ich muß dich sprechen«, sagte Cherinne. Nasgard blickte kurz zur Seite. Die Gestalt der Hexenkönigin überragte ihn um zwei Köpfe. Er sah jadegrüne Augen, die hinter einem schneeweißen Reifeschleier blitzten, und er erwiderte: »Jetzt nicht, Königin der Hexen. Ich habe zu tun.« Seine letzten Worte waren nur ein Knurren, und das Schaudern Cherin-nes entging ihm nicht. Eine typische Reaktion. Menschen, die das Handwerk der Quäler und Meuchler nur vom Hörensagen kannten, fürchteten sich und munkelten von schrecklicher Pein, von einem langsamen Dahinsiechen, von sadistischen Folterungen. Das traf natürlich nur zum Teil zu. * * Die Ausbildung von Quälern und Meuchlern m der Gesindebastion von Al'anfa dauert wesentlich länger als die von Dieben, Stechern, Wegelagerern und Betrügern. Sie üben eine uralte Kunst aus – neben der Magie vielleicht die älteste in ganz Aventurien –, und sie haben keine sadistischen Freuden an ihrer Profession. Sie vollziehen ein überliefertes Ritual und führen nur die Befehle ihres Meisters aus, der wiederum Aufträge aus der Stadt entgegennimmt. Schuldfragen spielen keine Rolle, und darum kann ein Opfer auch nicht auf Gnade oder Mitleid hoffen. In den Folterkammern der Quäler werden die Werkzeuge benutzt, deren Anwendung der Auftraggeber empfiehlt. Der Preis, den
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der Meister verlangt und nach langem Feilschen schließlich erzielt, bestimmt die Länge und das Ausmaß der Pein: ein Taler für zehn Tage Furcht und anschließend die Streckbank; fünf Taler für einen Monat Entsetzen und dann die glühenden Eisen, mit denen das Opfer geblendet wird, nachdem ihm vorher die Fingernägel ausgezogen wurden. Fünfzehn Taler für die gesamte Zeremonie. Das Geld wird zum Teil für die – vorzügliche – Ernährung der Eingelieferten verwendet, und zum anderen für die Ausbildung neuer Novizen und den Unterhalt der Gilde.
»Gedulde dich ein wenig, Hexenkönigin«, murmelte Nasgard, der Meister der Quäler. »Es dauert nicht lange. Bald habe ich Zeit für dich.« Die schwere Eisentür öffnete sich knarrend. Der Blick des Quälers fiel in eine geräumige Zelle, die den luxuriösen Bedürfnissen einer Handelsprinzessin aus Al'anfa entsprechend eingerichtet war: ein dicker Teppich, der die Kälte des nackten Steins schluckte, ein Waschtisch aus rosafarbenem Marmo r, Schränke und Stühle aus poliertem Mahagoni, seidene Bettwäsche, weiche Matratzen, flaumige Decken, ein warmes Kaminfeuer, eine Truhe mit kostbaren Gewändern. Die Frau hatte sich bereits angekleidet. Der Quäler musterte sie kalt. Sie war jung, jung und schön – kaum dreißig Sommer mochte sie erlebt haben. Eine zuvor von einem Novizen eingelassene Zofe kämmte ihr langes, pechschwarzes Haar, das ihr bis zu den Hüften herabreichte. Ein Kelch mit Wein stand auf dem Tisch, und die Gefangene nahm einen kleinen Schluck und lachte leise. »Ich hab' es gewußt«, sagte sie, und ihre Stimme klang so hell und melodisch wie das Läuten ferner Glocken. »Henrinnen hat endlich eingesehen, daß er sich irrte. Ich habe ihn nicht gehörnt. Nein, ganz bestimmt nicht.« »Wie du meinst, Herrin«, stimmte ihr die Zofe flüsternd zu. Sie hatte den Quäler und die Hexenkönigin gesehen, die ihn begleitete. Aber der Gefangenen war offenbar das Knarren der sich öffnenden Tür entgangen. »Bestimmt hat er dem Meister der Quäler einen Brief geschrieben oder ist gar persönlich vorstellig geworden.« Sie hob kurz den Kopf. »Hast du ihn gesehen?« »Nein, Elvira.« 155
Aus den Augenwinkeln sah die Gefangene, daß der Quäler näher kam. Sie drehte sich um, und das verträumte Lächeln in ihrem Gesicht löste sich schlagartig auf. »Ich bin gekommen«, sagte Nasgard, »um dich zu fragen, was die Köche meines Gesindes dir als letzte Mahlzeit zubereiten sollen.« In den großen blauen Augen der jungen Frau zeigte sich Entsetzen. Der Quäler kannte diese Reaktion: Die Gefangene fürchtete sich, aber sie weigerte sich noch immer zu begreifen, daß dies ihr letzter Tag war – der Tag, der ihr die schlimmste Pein bescherte, bevor sie von aller irdischen Qual befreit wurde. So lautete der Auftrag Henrinnens, und Nasgard hatte die feste Absicht, sich daran zu halten, um der Ehre seiner Gilde willen. »Aber... aber...« machte die Handelsprinzessin. »Kleide sie dem Anlaß entsprechend«, wandte sich Nasgard an die Zofe. »Das festlichste Gewand, die schönsten Ringe, die kostbarsten Ketten.« Die Zofe senkte kurz den Kopf, als sie wieder aufblickte, standen Tränen in ihren Augen. »Ja, Herr. Ich habe verstanden.« Zitternd ließ sich Elvira von ihrer Zofe helfen, während Nasgard die Gestalt der Hexenkönigin aus den Augenwinkeln musterte. Das hinter dem Reifeschleier verborgene Gesicht Cherinnes konnte er nur undeutlich erkennen. Aber Nasgard war auch ein alter, erfahrener Meister, der an vielen Gildenversammlungen teilgenommen hatte. Durch seine Arbeit als Quäler wußte er, wie man von Körperhaltung und Gebaren auf das schloß, was in einem Menschen vor sich ging. Cherinne war von Grauen erfüllt. Und bestimmt haßte er sie jetzt. Nasgard lächelte innerlich. Er hielt nicht viel von den Hexen. In Bezug auf seine ganz persönliche Wertskala maß er ihnen einen fast ebenso niedrigen Rang zu wie den Dieben, denen sein ganzer Abscheu galt. Hexen waren hinterhältig und gemein. Sie sagten nicht, was sie dachten oder beabsichtigten. Sie lächelten freundlich und lobten, aber im 156
geheimen entwickelten sie Intrigen und Verschwörungen. Der Meister der Quäler empfand Hochachtung vor den Magiern der Gilde. Er begrüßte es, daß sie es abgelehnt hatten, die Hexen in ihr Gesinde aufzunehmen. Vielleicht, dachte Nasgard plötzlich, habe ich einmal das Glück, eine Hexe als Gefangene zu bekommen. Dann könnte ich die Prinzipien meines Gesindes vergessen und tatsächlich einmal Freude finden an der Ausübung meiner Profession. Mit hängenden Schultern stand die Gefangene vor ihm. »He-rinnen...« sagte sie. »Hat er... hat er seinen Auftrag nicht zurückgezogen?« Nasgard schüttelte den Kopf. »Selbst wenn das der Fall wäre: Wir müßten uns trotzdem an seine ersten Anordnungen halten, denn wir nahmen seine Münzen entgegen. Ich habe dir die Regeln erklärt, Prinzessin: Ein Auftraggeber kann seine Meinung ändern. Aber das befreit uns nicht von der ehrenvollen Pflicht, unserer Arbeit nachzugehen.« »Aber... Du mußt mir glauben, Meister.« Sie flehte jetzt. Sie war jung, und junge Opfer erwiesen sich meistens als schwach. »Ich habe keine Schuld auf mich geladen. Henrinnen irrte sich. Er...« »Du mußt jetzt stark sein«, sagte Nasgard, und irgendwo tief in ihm regte sich ein Hauch von Mitgefühl. »Dein Schicksal ist besiegelt, Elvira. Daran läßt sich jetzt nichts mehr ändern.« Er seufzte. »Deine Essenswünsche.« Die Prinzessin hauchte: »Ich habe keinen Hunger.« »Oh, du solltest essen. Henrinnen hat einen hohen Preis für deine Behandlung bezahlt. Zwei Monate lang ließen wir dir Zeit, um dich innerlich auf diesen Tag vorzubereiten. Und die Folterungen, die nach deiner Mahlzeit beginnen, werden deinen Leib ausmergeln. Du kannst die Qual besser ertragen, wenn du dich vorher gestärkt hast.« Elvira weinte jetzt, und Nasgard ließ sie gewähren. Anschließend nannte sie ihm ihre Wünsche. Teure Delikatessen verlangte sie, und das war ihr gutes Recht. Der Meister der Quäler trat auf den Gang zurück, winkte einige Novizen herbei und trug ihnen auf, die Bestellung an die 157
Köche weiterzugeben. »Nasgard...« flüsterte Cherinne. »Sie ist jung, so jung...« »Das spielt keine Rolle«, erwiderte er scharf und sah zur Hexenkönigin auf. »Ich sage den Opfern, was ihnen bevorsteht. Ich schenke ihnen reinen Wein ein. Wenn sie in die Folterkammern geführt werden, wissen sie, was sie zu erwarten haben. Ihr Hexen aber... ihr wirkt im geheimen. Ihr verflucht Menschen und verdammt sie zu einem langsamen Dahinsiechen, ohne daß sie auch nur eine Ahnung haben, was mit ihnen geschieht. Ihr quält ebenfalls, aber die Pein, die eure Opfer erleiden, kommt aus dem Dunkel des Zwischenreiches. Ihr seid heimtückisch, und manche von euch verzaubern Unschuldige aus lauter Freude am Leid anderer.« Cherinne war unwillkürlich einige Schritte zurückgewichen. »Du... du haßt mich. Du haßt alle Hexen.« »Ja«, gab Nasgard unverblümt zu. »Ich hasse euch, weil ihr falsch seid. Und ich verfluche dich, weil du hierhergekommen bist. Du störst die Zeremonie.« »Es ist Gesindegesetz, vergiß das nicht, Nasgard.« Die Stimme Cherinnes ähnelte jetzt dem Zischen einer Schlange. »Nach den alten Regeln* haben wir Hexen das Recht, uns frei in der ganzen Bastion zu bewegen.« »Ja.« Der Meister der Quäler nickte. »Du hast recht. Und ich respektiere diese alten Regeln. Aber es ist euch Hexen nur dann erlaubt, an den Ritualen der anderen Gilden teilzunehmen, wenn die entsprechenden Meister dies ausdrücklich genehmigen.«
* Während der Zerschlagung der alten Gesinde und der Langen Flucht der Überlebenden aus dem Mittelland (insbesondere aus Gareth, der Hauptstadt des Neuen Reiches) schlossen die Gildenvertreter ein Abkommen. Das stärkste Gesinde war das der Hexen. Die Magier der in ganz Aventurien verbreiteten Gilde der Thaumaturgie lehnten es ab, die Hexen in ihre Reihen aufzunehmen, aber in der Übereinkunft wurden ihnen in der Gesindebastion von Al'anfa der höchste Rang und die größten Rechte zugewiesen.
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Cherinne senkte kurz den Kopf. »Es... es tut mir leid, Nasgard. Es war nicht meine Absicht, deinen Zorn zu erwecken. Ich bitte dich um Entschuldigung. Aber der Anlaß, der mich hierherführte, ist sehr wichtig: für die Hexen ebenso wie für die Quäler, Meuchler und die anderen Gesinde.« Die Gefangene hatte inzwischen ihre Mahlzeit eingenommen und erhob sich zi tternd. Die Novizen wuschen ihr Gesicht und Arme, und die Zofe kämmte erneut ihr Haar. Dann war es soweit. Nasgard trat auf sie zu und schlang eine goldene Kette um ihr linkes Handgelenk. Das andere Ende nahm er fest in die Hand. »Bist du bereit?« fragte er. »Herr, bitte...« Die Handelsprinzessin schluckte und suchte nach den passenden Worten. »Herr, ich... ich bin unschuldig. Ich habe niemandem... niemandem etwas zuleide getan. Es... es ist ein Komplott. Die anderen Frauen Henrinnens... sie sind gegen mich. Sie sind eifersüchtig auf mich, weil der Handelsherr mich bevorzugte, und nun...« Sie weinte. Nasgard führte sie schweigend aus dem Zimmer und durch den Gang. Die Hexenkönigin folgte ihm wie ein Schatten. Sein Zorn auf Cherinne wuchs. Er hatte ihr deutlich gesagt, wie sehr ihm ihre Anwesenheit in den Kammern der Quäler mißfiel, und dennoch machte sie keine Anstalten, in den Hexenturm zurückzukehren. Aber er wagte es andererseits auch nicht, ihr einen direkten Befehl zu geben und sie aus dem Folterbereich fortzuschicken. Die alten Regeln waren in diesem Punkt nicht unbedingt anwendbar, und es lag ihm fern, sich einen Tadel des Turmherrn einzuhandeln oder gar das ganze Gesinde der Hexen gegen sich aufzubringen. Zwar waren sowohl die Quäler und Meuchler – und, in einem eingeschränkten Maße, auch die Vertreter der anderen Gilden – vor dem Zauber der Hexen geschützt, aber man konnte nie wissen, welche Gemeinheiten sich ihre Königin einfallen ließ, um eine Schmähung zu rächen. Aus diesem Grunde kämpfte Nasgard gegen seinen Zorn an. Er musterte sein Opfer mit neuem Mitgefühl. Die Gefangene hatte es nicht verdient, in der Gegenwart einer Hexe gequält zu werden. Cherinne war ein Schandfleck für 159
die Zeremonie, und der Meister hatte die feste Absicht, dies auch in dem großen Folterbuch festzuhalten, auf daß die ihm folgenden Generationen der Quäler und Meuchler gewappnet waren. Die Handelsprinzessin weinte noch immer – leise und wimmernd –, als Nasgard sie in die Folterkammern führte. Dort warteten andere Quäler auf sie. Ihre breiten, muskulösen Körper waren unter langen, weiten Mänteln verborgen. Außerdem hatten sie sich schon die grauen Kapuzen über den Kopf gezogen. Einige Novizen hielten sich im Hintergrund und würden den Ablauf der Peinigungszeremonie beobachten und lernen, wie man mit den Folterinstrumenten umging. Elvira schrie gellend auf, als sie die Brandeisen sah, die bereits auf den glühenden Kohlen lagen und sie am Ende des Rituals blenden würden. »Herr, bitte, ich flehe dich an... verschone mich. Ich bin reich, Herr.« Mit einem Ruck riß sie sich die Diamantkette vom Hals. »Hier, Herr, sieh nur: Diese Kette ist mehr wert als die Münzen, mit denen Henrinnen dich bezahlte. Bitte, Herr...« Sie zog sich auch die Ringe von den Fingern, und Gold und Platin fielen auf den Boden. »Bitte, bitte, Herr, ich habe doch nichts getan... es ist eine Verschwörung, ein gegen mich gerichtetes Komplott...« Aber Nasgard winkte nur, und zwei Quäler traten hinter einer Streckbank hervor und griffen nach den Armen der jungen Frau. Elvira setzte sich zur Wehr, aber die Folterer waren viel stärker als sie. Der Meister der Quäler wandte sich ab und führte Cherinne auf den Gang hinaus. Ein Novize schloß die schwere Tür hinter ihnen, so daß die Schreie der Handelsprinzessin gedämpft wurden. Die Hexenkönigin lehnte sich gegen die Wand, sie zitterte. Offenbar hatte sie große Mühe, ihre Fassung wiederzufinden. »Nun?« fragte Nasgard. »Ich... ich habe nicht gewußt, daß es so schrecklich ist.« »Schrecklich?« fragte Nasgard verwundert. »Was?« »Das Foltern.« Der Meister schüttelte den Kopf, aber er wandte den Blick 160
nicht von der Hexenkönigin ab. »Es ist notwendig, Cherinne. Schrecklich war nur die Reaktion des Opfers. Die Handelsprinzessin hat die zweimonatige Vorbereitungszeit nicht genutzt. Sie hoffte, der Peinigungszeremonie entgehen zu können. Sie setzte auf das Mitleid ihres Herrn, Henrinnen.« Er kniff die Augen zusammen. »Kennst du ihn?« »Wen?« »Henrinnen.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht persönlich. Ich habe von ihm gehört. Ein sehr reicher und recht junger Handelsherr.« Nasgard wußte, daß sie log. Er hatte Hunderte von Aufträgen durchgeführt und während der Folterungen viele Opfer befragt. So hatte er schon in jungen Jahren gelernt, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden. Das Zucken eines Muskels hier, eine Spur von Unsicherheit dort – selbst eine Hexe war nicht dazu in der Lage, ihm etwas vorzumachen. Neugier regte sich in ihm. »Warum bist du zu mir gekommen, Cherinne?« »Um dir einen Vorschlag zu machen.« Das Schaudern der Hexenkönigin fand ein abruptes Ende, und Nasgard spürte, daß jetzt eine Anspannung von der Frau ausging. Wenn ich nur ihr Gesicht sehen könnte, dachte er. Dann wüßte ich sofort, was sie vorhat. »Was für einen Vorschlag?« Hinter der schweren Tür der Folterkammer schrie Elvira, und die Unruhe der Hexenkönigin nahm zu. »Gibt es keinen bequemeren Ort, wo wir uns unterhalten könnten, Meister? Mir ist kalt, und ich...« »Nein.« Eine Zeitlang starrte sie ihn stumm an, und ihre jadegrünen Pupillen glitzerten hinter dem seidenen Weiß des Reifeschleiers. »Der Turmherr ist alt, Nasgard.« »Ich weiß.« 161
»Er braucht bald einen Nachfolger.« Cherinne holte tief Luft und vollführte eine vage Geste. »Wir leben in einer Zeit des Umbruchs, Meister. In Al'anfa ist die Macht des Schwarzen Tempels gebrochen. Der Aufstand der Hanse war erfolgreich, und es wird nicht mehr lange dauern, bis auch die letzten Verteidiger des Tempels getötet sind oder sich ergeben haben. Die alte Übereinkunft wurde vor vielen hundert Jahren mit dem Hohenpriester Al'anfas geschlossen – ich meine den Pakt, der die Unantastbarkeit der Gesindebastion gewährleistet. Jetzt aber hat die Stadt neue Herren, die sich nicht an den Pakt gebunden fühlen. Wir könnten Schwierigkeiten bekommen.« »Ganz sicher sogar.« Nasgard nickte. »Ich habe mit dem Turmherrn gesprochen, Meister. Er ist der Meinung, wir sollten uns ruhig verhalten und abwarten, was in Al'anfa geschieht. Er vertritt die Ansicht, auch die neuen Herren der Stadt würden das alte Abkommen respektieren. Ich zweifle daran.« Sie stieß sich von der Wand ab und trat auf Nasgard zu. Er wich nicht zurück. »Meister«, sagte sie mit eindringlicher Stimme, »wir müssen etwas unternehmen. Jetzt sofort. Sonst kann es bald zu spät sein. Wenn die letzten Tempeltruppen aufgerieben sind, werden die Aufständischen hierherziehen und die Gesindebastion angreifen. Davon bin ich überzeugt. Und können wir uns wirkungsvoll gegen sie verteidigen, wenn der Turmherr entsprechende Vorbereitungen ablehnt?« Langsam begriff Nasgard, in welche Richtung die Worte der Hexenkönigin zielten. »Es geht jetzt um das Überleben aller Gesinde, Nasgard. Der Turmherr muß...abdanken.« Abdanken, dachte der Meister der Quäler. Oh, ich verstehe sehr gut, was du damit meinst, Cherinne. »Und du nimmst seine Stelle ein, Nasgard. Noch sind die Kräfte der Aufständischen gebunden. Sie kämpfen gegen die Verteidiger des Tempels. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, Nasgard. Wenn sich jetzt alle Gilden vereinen, können wir die ganze Stadt erobern, Meister, und dann droht uns nicht 162
mehr die Gefahr einer endgültigen Auslöschung. Stell dir vor: Vielleicht gelingt es uns sogar, die alte Macht der Gesinde wiederherzustellen und die Stellung einzunehmen, die wir vor dem Krieg der Magier innehatten, damals, als die Gilden aus Gareth und dem Neuen Reich vertrieben wurden.« Doch noch bevor Nasgard eine Antwort zu geben vermochte, hallte plötzlich der dumpfe Klang einer Alarmtrommel durch die Gänge der Gesindebastion. Am Ende des Ganges wurde eine Tür aufgerissen, und eine junge, unverschleierte Hexenschülerin eilte auf Cherinne zu und rief: »Sie kommen! Sie kommen!« Cherinne drehte sich abrupt um und folgte der jungen magisehen Novizin. Sie spürte den Blick des Quälers auf sich ruhen, als sie durch den Gang eilte und anschließend eine schmale Ho lztreppe hinaufhastete. Mit sich überschlagender Stimme berichtete Shaila: »Eine große Streitmacht ist es, die aus der Stadt heranzieht. Die Krieger sind in goldene Rüstungen gekleidet.« Cherinne hatte das Gefühl, innerlich erstarren zu müssen. »Die Banner!« platzte es aus ihr heraus. »Hast du die Fahnen gesehen, Shaila?« »Ja.« Das junge Mädchen nickte. »Schwarz wie Pech sind sie – die Banner des Todesgottes Visar.« Das bedeutete, daß die von Cherinne geplante Entwicklung eine überraschende und möglicherweise fatale Wendung genommen hatte. Sie eilte weiter in die Höhe, verließ den Bereich der Quäler und Meuchler und durchquerte die Hallen und Säle der Wegelagerer, Stecher, Betrüger und Fälscher. Verwunderte Blicke folgten ihr, aber sie achtete nicht darauf. Hinter der Stirn der Hexenkönigin wirbelten die Gedanken ungeordnet umher. Schatten huschten über steinerne Wände, als Fackel- und Kerzenschein flackerten. Weite Treppen, endlose Stufen, die sich in die Höhe wanden. Schließlich gelangten Cherinne und Shaila in den Hexenturm zurück. Der dumpfe Schlag der Alarmtrommel hallte noch immer durch die ganze Gesindebastion, und Stimmen raunten in den Flüsterschächten, die die alte Festung wie Adern durchzogen. »... unglaublich. Ein Angriff auf die Gesindebastion... ?« »Gefahr... Gefahr... Gefahr...« 163
»Wir haben nur wenige Waffen... Wie sollen wir uns verteidigen...?« Und aus der schwarzen Öffnung in einer Mauer kratzte es: »Hexenwerk. Alles Hexenwerk.« Heißer Wind umwehte die Zinnen des Hexenturms. »Sieh nur!« rief Shaila und deutete nach Süden. Schwarze Rauchwolken schwebten über der Stadt, und die Tempelsäule sah aus wie ein dicker, gen Himmel zeigender Finger, der auf seiner Kuppe den Tempel Visars balancierte. Am nordwestlichen Stadtrand loderten hohe Flammen und fraßen sich durch die Mauern der großen Handelspaläste. Cherinne dachte an Henrinnen und verzog spöttisch das Gesicht. Der Handelsherr war ein Narr, ein dummer Tor, der ihrem Hexenzauber nur zu bereitwillig erlegen war. Östlich der Gesindebastion teilte sich die heranmarschierende Armee. Ein golden schimmernder Arm aus Hunderten von Kriegern griff nach Nordwesten, während der andere die eiserne Hand direkt nach den alten Mauern ausstreckte. »Sie wollen die Festung ganz einschließen«, sagte Cherinne leise. »Als ob wir die Absicht hätten, zu fliehen...« Die schwarzen Banner Visars wehten in der heißen Brise, die vom Meer her flüsterte. Auf einem Pferd, das so schwarz war wie das Innere eines Schachtes, der direkt bis in die Hölle hinabführte, hockte der Hohepriester Dharag. »Wie?« fragte die Hexenkönigin. »Wie hat er weit im Süden vom Aufstand der Hanse erfahren?« Sie drehte sich kurz zu Shaila um. »Hast du alle meine Anweisungen befolgt, Novizin? Ich habe dir und den anderen Schülerinnen aufgetragen, rund um die Stadt magische Fallen zu errichten, die verhindern sollten, daß ein Kurier Al'anfas nach Süden gelangen und Dharag unterrichten kann.« Shaila nickte hastig. »Ja, Königin, ich habe mich an deine Anweisungen gehalten.« Cherinne fluchte leise. Fanfaren schmetterten, und die Alarmtrommel im Innern der Gesindebastion schwieg. Ein Dutzend Reiter löste sich 164
aus der Masse der Hauptstreitmacht, die direkt auf die alte Festung zuhielt. Vor dem Tor zügelten sie die Pferde. Tempelsoldaten waren es – jene Krieger, die jetzt eigentlich im Süden einen Kampf ausfechten sollten, der schließlich dann, wenn sich der heilige Wahn Dharags auf das Liebliche Feld richtete, in einer vernichtenden Niederlage enden mußte. »Im Namen des Hohenpriesters von Dharag!« rief einer der Soldaten. »Wir verlangen Einlaß in die Bastion der Gesinde!« Aus den Augenwinkeln nahm Cherinne eine Bewegung wahr. Auf einem der kleineren Türme flatterte ein weites Gewand im Wind, und die Hexenkönigin erkannte sogleich den alten Turmherrn. »Das ist gegen die Übereinkunft«, antwortete er. »Zieht euch zurück.« »Wir verlangen Einlaß!« beharrte der Krieger und hob sein Schwert. Die scharfe, breite Klinge glänzte im strahlenden Sonnenschein. »Öffnet das Tor. Oder wir stürmen die Bastion und brennen sie nieder.« »Was hat das zu bedeuten?« fragte Shaila zitternd. Cherinne hatte die dumpfe Ahnung, daß sie es nicht nur mit einem vorübergehenden Problem zu tun hatte, nicht nur mit einer zeitlichen Verzögerung ihres Planes. Dharag würde niemals damit drohen, die Bastion zu vernichten, dachte sie, wenn er nicht Verdacht geschöpft hätte. »Es bedeutet, daß wir sehr, sehr vorsichtig sein müssen.« »Das wagt ihr nicht«, erwiderte der Turmherr. »Ich beschwöre euch: Wenn ihr gewaltsam in die Bastion eindringt und damit die Bestimmungen des alten Abkommens au f drastische Weise verletzt, droht die Gefahr eines neuen Gesindekrieges...« »Ihr habt die alten Regeln bereits gebrochen!« rief ein anderer Krieger. »Die Hexen sind für den Aufstand der Hanse in Al'anfa verantwortlich!« Der Turmherr drehte langsam den Kopf zur Seite und sah Cherinne an, die die Hand hob und mit dem Zeigefinger auf einen der Soldaten zeigte. Der Krieger hob den Bogen, setzte einen Pfeil auf die Sehne und ließ das Geschoß davonsausen. 165
Es machte dumpf Plock!, und die Spitze des Pfeils bohrte sich in die Brust des Turmherrn. Überrascht riß der alte Mann die Augen auf und stürzte von den Zinnen. Sein Körper prallte dicht neben dem Tor auf den Boden. Die Tempelsoldaten galoppierten zur Hauptstreitmacht Dharags zurück. Grölende Stimmen ertönten und riefen Befehle. Die Räder riesiger Rammböcke setzten sich knarrend in Bewegung, und die mit Eisen beschlagenen Rabenköpfe der Rammen zielten auf das Tor der Gesindebastion. Es donnerte dumpf, und die dicken Bohlen erzitterten. »Komm«, sagte Cherinne und wandte sich ab. Sie kletterten ins Innere des Hexenturms zurück. Die anderen Schülerinnen Cherinnes warteten bereits in den Gängen und Kammern. Bedienstete eilten nervös hin und her und suchten Verstecke, die es für sie nicht gab. »Sucht die untere Kammer auf«, wies Cherinne ihre unverschleierten Novizinnen und die anderen Hexen an. »Bildet einen Zirkel und haltet euch bereit. Ich glaube, ich weiß, warum Dharag einen neuen Gesindekrieg riskiert und die alten Regeln bricht.« Sie lächelte dünn hinter der weißen Seide vor ihrem Gesicht, und ihre Augen funkelten spöttisch. Sie fürchtete sich nicht. Sie war in viele magische Geheimnisse eingeweiht, und die Macht Visars, auf die sich Dharag berufen konnte, war nur in Al'anfa besonders groß. »Shaila, du solltest dich verbergen. Ich habe keine Ahnung, wieviel der Hohepriester weiß. Aber eins steht fest: Von dem Medaillon, daß du Callehain gegeben hast, darf er auf keinen Fall etwas erfahren. Sonst...« »Ich verstehe«, erwiderte die Novizin und eilte zusammen mit den anderen Hexen davon. Cherinne trat in die Königinnenkammer und traf ihre Vorbereitungen. Sie öffnete die Klappe eines Flüsterschachtes, und aus weiter Ferne vernahm sie wütende Schreie. Die Gilde der Wegelagerer und Fälscher kämpfte gegen die Eindringlinge. Sie hoffte, daß ihr Gespräch mit Nasgard nicht ohne Wirkung geblieben war. Zwar hatte sie 166
für das Gesinde der Quäler und Meuchler nur Abscheu übrig, aber es war eine mächtige Gilde. Wenn sie sich dem Ansturm der Tempelsoldaten entgegenstellte, wurde Dharag aufgehalten. Und was noch wichtiger war: Den Kampf würden nur wenige Folterer überleben, was die zukünftige Existenz dieses Gesindes auf ein Schattendasein reduzierte. Je schwächer die anderen Gilden, dachte Cherinne, desto stärker die Hexen. Anschließend hockte sich Cherinne in einen magischen Kreis. Die anderen Hexen hatten inzwischen ihre Anweisungen befolgt und in einem entlegenen Gewölbe einen Zirkel gebildet: Cherinne spürte die davon ausgehende thaumaturgische Kraft, die sie jederzeit mit beiden Händen packen und den Angreifern entgegenschleudern konnte. Aber sie hütete sich davor, irgend etwas zu unternehmen, um den anderen Gesinden in ihrem Kampf gegen die Eindringlinge zu helfen. Dharag war bereits mißtrauisch genug, das Risiko eines Angriffs auf die Bastion einzugehen, und jede weitere Aktion von Seiten der Hexen mochte seinen Argwohn nur noch vergrößern. Bisher hatte er Cherinne für seine Verbündete gehalten, und sie plante, diese alte Beziehung zwischen ihnen wiederherzustellen. Aber sie wollte auch gewappnet sein für den Fall, daß sie mit einer neuen Überraschung konfrontiert wurde. »Hesinde«, flüsterte sie und malte mit magischer Kreide im Innern des Kreises ein Schlangensy mbol auf die steinernen Fliesen, »ich rufe dich, Göttin des Zaubers und der Alchimie. Ich erflehe deinen Beistand in einer Stunde der Not. Deine demütige Dienerin ist in Gefahr. Einen Schatz aus kostbaren Edelsteinen und Perlen will ich dir schenken, wenn du meinen Ruf erhörst und mir die Kraft schenkst, die ich brauche.« Der Kopf des Schlangensy mbols bewegte sich. Eine gespaltene Zunge leckte daraus hervor, und zwei dunkle Augenpunkte begannen zu schimmern. Cherinne legte den Kopf weit in den Nacken und breitete die Arme aus. Ein warmer Hauch bewegte den Reifeschleier und strich ihr zärtlich über die Wangen. Unmitelbar darauf spürte sie, wie das magische Potential in ihr anwuchs, wie sich ihr die 167
Bedeutung neuer Formeln offenbarte. Nach einer Zeitspanne, die ihr wie eine halbe Ewigkeit erschien, kroch sie aus dem magischen Kreis heraus, ließ heißes Wasser in das aus rosafarbenem Marmor bestehende Becken fließen, nahm ein Bad und wartete. Es dauerte nicht lange, bis wuchtige Schläge gegen die Tür der Königinnenkammer hämmerten und schließlich der hölzerne Riegel brach. Dharag eilte mit langen Schritten ins Zimmer, gefolgt von einigen Tempelsoldaten – und dem verhaßten Gilburian.
»Du weißt, daß du altes Recht brichst«, sagte Cherinne ruhig und sah den Hohenpriester an. Aus den Augenwinkeln musterte sie auch das pergamentene Gesicht Gilburians. Der uralte Magier kämpfte ganz offensichtlich mit seinem Zorn. Den Kriegern schenkte sie keine Beachtung. Von ihnen ging zumindest derzeit noch keine akute Gefahr aus. »Die Gesindebastion ist unantastbar.« Sie lächelte und erhob sich. Sie spürte die Blicke der Soldaten auf ihrem schlanken, nackten Körper, als sie eine Dienerin herbeiwinkte und sich von ihr abtrocknen ließ. »Sie ist so lange unantastbar, wie sich auch die Gilden an die alte Übereinkunft halten. Die Hexen haben dagegen verstoßen.« »Ich habe deinen Vorwurf schon von den Zinnen des Turms aus gehört«, sagte sie, und ihre Augen blitzten plötzlich. »Er ist einfach unsinnig. Du stürmst in die Bastion, läßt deine Krieger gegen die Vertreter der Gesinde kämpfen und schreckst nicht einmal davor zurück, einfach in meine Kammer einzudringen. Wir sind Verbündete, hast du das vergessen, Dharag? Du brauchst meine magische Hilfe, denn jener alte Mann dort...« – sie nickte kurz in Richtung des zitternden Gilburian – »... ist schwach und nur noch ein Schatten seiner selbst. Was kann er dir jetzt noch nützen, ohne seine magischen Utensilien, ohne Zauberstab, Schwarzes Auge und thaumaturgische Elixiere?« Gilburian knurrte, und Dharag sagte leise: »Genau darüber 168
will ich mit dir sprechen.« Er bewegte die Hand, und die Tempelsoldaten zogen sich in eine Ecke der Kammer zurück. Gilburian aber rührte sich nicht von der Stelle. Dharag trat vor, nahm der Zofe das große Handtuch ab und schickte sie fort. Als er mit dem weichen Stoff über Cherinnes Schultern rieb, flüsterte er: »Du hast mich betrogen, Hexenkönigin. Wir sind keine Verbündeten mehr. Du hast den Aufstand der Hanse angestiftet, und nicht nur das: Eine deiner Hexen gab den beiden jungen Dieben Medwy n und Callehain in deinem Auftrag ein magisches Medaillon. Nur mit diesem Zauber gelang es ihnen, in den Schwarzen Tempel Visars zu gelangen, die thaumaturgischen Fallen Gilburians zu überwinden, in seine Kammer vorzudringen und dort die Dinge zu stehlen, die du eben nanntest, Cherinne. Außerdem sollte das Medaillon eine Verfolgung der beiden Parias unmöglich machen oder zumindest erschweren. Nun, ich kann dir folgendes mitteilen...« Er sah der Hexenkönigin in die Augen, und in seinen dunklen Pupillen glitzerte die Kälte Visars. »Der Myr, den ich ausschickte, um die Diebe zu fangen und zu mir zu bringen, verlor tatsächlich ihre Fährte, fand sie inzwischen aber wieder. Sicher wird es nicht mehr lange dauern, bis die beiden Parias hier in Al'anfa meine Fragen beantworten.« Cherinne erschrak. Wenn es Medwyn und Callehain nicht gelang, bis in die Stadt der Verlorenen Seelen zu gelangen und dort den Stein zu stehlen, den sie so dringend brauchte... »Spekulationen«, erwiderte sie mit samtweicher Stimme, schmiegte sich kurz an den Hohenpriester und formte in ihren Gedanken eine ganz bestimmte Formel. »Vertraust du irgendwelchen Zuträgern mehr als mir, deiner Hexenkönigin?« »Visar«, lächelte Dharag, »ist kein Zuträger, sondern ein Gott. Ich habe nicht den geringsten Grund, an dem Wahrheitsgehalt seiner Botschaften zu zweifeln.« Und Gilburian rief mit sich überschlagender Stimme: »Sie versucht, die Maschen eines magischen Netzes um dich zu weben, Herr.« Er warf die dürren Arme in die Höhe und sprach ein Wort der Macht. Ein Blitz zuckte aus der Decke, 169
irrlichterte über Cherinnes nackte Haut und brachte sie zum Stolpern. »Ich hätte es wissen sollen.« Dharag starrte verächtlich auf sie herab. »Hexen sind heimtückische, verräterische Geschöpfe. Man kann ihnen nicht trauen. Darum seid ihr auch nie in die Gilde aufgenommen worden. Ihr seid Schlangen und damit wahre Dienerinnen Hesindes!« Er packte ihre Arme und zerrte sie in die Höhe. Dumpfe Furcht keimte in der Hexenkönigin. Visar. Das Medaillon, das Callehain von Shaila erhalten hatte, in ihrem Auftrag. Der Todesgott hatte sie verraten! »Hör mich an, Dharag«, hauchte sie. »Ich... ich habe es für dich getan. Meine Spione erfuhren von Aufstandsbestrebungen in der Hanse. Ich wollte dich erst dann informieren, wenn ich ganz sicher sein konnte. Ja, es stimmt, ich habe den Handelsherren tatsächlich Mut gemacht und ihnen auch den Zeitpunkt genannt, an dem dein Feldzug beginnen würde. Aber wie kannst du glauben, ich hätte mich mit der Rebellion gegen dich verschworen?« Ihr Blick huschte zwischen Dharag und Gilburian hin und her. In den fahlen Augen des alten Magiers loderte Haß – ein Haß, der tief in ihr auf ein Echo stieß. »Im Gegenteil: Kurz nach dem Aufstand sandte ich einen Kurier zu dir, um dir von der Rebellion zu berichten. Auf diese Weise konntest du sie mit deinen Truppen niederschlagen, und jetzt ist deine Macht größer als jemals zu vor, denn diejenigen, die dich bislang insgeheim bekämpften, haben ihre Identität offenbart. Wenn du nun deinen heiligen Krieg fortsetzt, brauchst du nicht mehr zu befürchten, daß in Al'anfa Ungläubige den Schwarzen Tempel stürmen.« Ganz vorsichtig tastete sie nach der Kraft des Hexenzirkels. »Sie lügt!« schrie Gilburian und streckte seine Krallenfinger nach ihr aus. »Die verdammte Hex e lügt!« Cherinne schlug zu. Sie rief eine mächtige Formel, und in den Wänden der Königinnenkammer begann es zu knirschen. Feiner Staub rieselte von den Wänden. Der große Rachen eines sich jäh manifestierenden Dämonen öffnete sich, und der stinkende Atem des Ungeheuers ließ selbst Cherinne 170
schwanken. Die Tempelsoldaten warfen ihre Speere und Lanzen, aber die Schäfte der Wurfgeschosse verschwanden nur spurlos im Schattenleib des Dämonen und rissen keine Wunden. Eine gewaltige Pranke holte aus, fegte die Krieger von den Beinen und schmetterte sie gegen die Wand. Mit gebrochenem Genick fielen sie zu Boden. Scharlachrote Augen glühten gierig, und das mit nadelspitzen Zähnen bewehrte Maul des Ungeheuers schnappte nach Gilburian. In dem pergamentenen Gesicht des alten Magiers zeigte sich nicht einmal eine Spur von Angst. Er hob nur die Arme, und Cherinne vernahm eine Formel, die sie bisher nicht gekannt hatte. Plop! machte es, und der Schattenkörper des Dämonen fiel in sich zusammen und verschwand. Ruhig brannten die Flammen von Kerzen und Fackeln. »Ha!« machte Gilburian heiser und triumphierend. »Was weißt du schon von den Geheimnissen der Magie! An der Oberfläche jenes Wissens hast du gekratzt, mehr nicht. Hast du etwa geglaubt, ohne meinen Zauberstab könnte ich es nicht mit der jämmerlichen Thaumaturgie einer Hexe aufnehmen?« Er kicherte irr und deutete mit dem Zeigefinger auf sie. »Nein!« sagte Dharag rasch. Er sah Cherinne an. »Ich weiß, daß du mich betrogen hast, Hexenkönigin. Aber sag mir eins: Warum? Warum diese Verschwörung? Warum der Aufstand der Hanse? Warum das Ausschicken der beiden Diebe?« »Ich hasse dich, Dharag«, flüsterte Cherinne. Und lauter: »Ja, ich habe dich immer gehaßt.« Sie sprang vor, aber die starken Arme des Hohenpriesters waren wie Fesseln, die sie nicht abstreifen konnte. Sie wand sich hin und her, schrie und versuchte, erneut die Kraft des Hexenzirkels anzuzapfen, aber wieder rief Gilburian ein Wort der Macht. Und in einem fernen Gewölbe verloren verschleierte und unverschleierte Frauen das Bewußtsein und sanken in einem tiefen Schlaf zu Boden. »Wenn du nicht reden willst...« Dharag winkte, und eine breite, muskulöse Gestalt trat in die Königinnenkammer. Aus den Augenwinkeln erkannte Cherinne das Zeremoniengewand eines Quälers. Sie drehte sich um. »Zu Diensten, Herr«, sagte Nasgard und neigte den Kopf. 171
Cherinne fiel auf die Knie, als der Hohepriester sie losließ, in eine Tasche seiner Tunika griff und dem Quäler einen Beutel mit klirrenden Münzen zuwarf. »Fünfzig Taler für dich«, sagte er. »Reicht das?« »Es ist mehr als genug«, erwiderte Nasgard zufrieden. »Was für einen Folterdienst willst du damit bezahlen, Herr?« Dharag blickte Cherinne kalt an. »Jeden, den du kennst, Meister. Wende an ihr alle Instrumente und Techniken an, in deren Benutzung deine Zunft bewandert ist. Bring sie zum Sprechen. Ich möchte wissen, welchen Hintergrund ihr Betrug hatte. Danach übergib ihren Leib den Meuchlern. Auf den Zinnen des Hexenturms soll sie sterben.« Nasgard musterte die wimmernde Cherinne kalt. »Das ist ein Auftrag, den ich mit Vergnügen ausführen werde, Herr.«
Ein Schüler: »Meister, wie kann sich ein Dieb vor der Versuchung einer eigenen Bereicherung schützen?« Und der Meister: »Indem er sich daran erinnert, welches Leben er führte, bevor er Aufnahme in das Gesinde fand.«
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13. AUF DEM EIS DES DÄMONENSEES Callehain fuhr schweißgebadet in die Höhe und brauchte eine Weile, bevor er aus der Welt der Träume in die Wirklichkeit zurückfand. Über ihm knisterte es im Strohdach einer kleinen Hütte. Neben ihm lag Medwyn und schnarchte. Durch das Belüftungsloch konnte Callehain sehen, daß sich am östlichen Horizont bereits der rote Schein der aufgehenden Sonne ankündigte. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und versuchte, das düstere Bild aus sich zu verdrängen: eine Schattengestalt, die durch die Schneehölle des Nordens Aventuriens eilte, ein Schemen, der seine Kräfte nicht durch einige Stunden Schlaf erneuern mußte, unerschöpflich, entschlossen, kalt und gnadenlos. »Medwyn?« Der kleine Dieb brummte und machte: »Hä?« »Wach auf, Medwyn!« Callehain rüttelte ihn an der Schulter, schlug die Decke zurück und zog sich rasch an. Und während er in ihrem Proviantbeutel nach einem Kanten Brot suchte, wurde die Ahnung in ihm zur Gewißheit. Das Medaillon auf seiner Brust gab einen lauen Wärmehauch von sich, und obgleich sich die Konturen seines Alptraums allmählich aufzulösen begannen, wurde das Abbild der dunklen Gestalt vor seinem inneren Auge immer deutlicher. »Er verfolgt uns noch immer, Medwyn. Wir müssen sofort aufbrechen.« »Von... von wem sprichst du überhaupt?« fragte Medwyn schläfrig. »Von dem Schatten, der mir schon in der vorletzten Nacht im Traum erschien. Das Geschöpf, dessen Präsenz der Alte Pagor in der Nähe der Festungsmauern von Gorn spürte. Es ist uns jetzt viel näher gekommen.« Medwyn starrte den größeren Dieb aus geweiteten Augen an 173
und verstand endlich. Er sprang auf, stieg in die Hose, streifte sich Jacke und Pelzmantel über die Schultern. Nach einem nicht sonderlich üppigen und hastigen Frühstück verließen sie die Hütte. Direkt vor ihnen erstreckte sich die im Licht des neuen Tages schimmernde Eisfläche eines zugefrorenen Sees, und am Hügelhang westlich davon hatte der Fänger bereits damit begonnen, die Windnetze an den hoch aufragenden Holzpfählen zu spannen. Der Mann nickte, als sie auf ihn zutraten. »Wir danken dir, daß du uns für die Nacht in deiner Hütte untergebracht hast«, sagte Callehain und zog die Gestelle der beiden Schneesegler aus dem Versteck, das sie am Vorabend angelegt hatten. »Ihr könnt gern noch länger bleiben.« Der Mann lachte und hielt kurz in seiner Arbeit inne. »Nur sehr selten kommen Fremde in diese Gegend. Interessante Gespräche erwärmen das Gemüt.« »Nein.« Callehain schüttelte den Kopf und sah sich immer wieder um. Sein Blick fiel auf eine wellige Schneelandschaft. Im Südosten bewegten sich sanft die schneebeladenen Wipfel der Koniferen. Die Luft war kalt, aber nicht zu kalt, und der Wind trug ein würziges Aroma heran. »Wir müssen fort. Wir haben keine Zeit mehr.« Ernst musterte der Fänger die beiden Diebe. Medwyn stellte sich ziemlich ungeschickt an bei der Neumontage seines Seglers und fluchte leise. »Ist es der Schatten, von dem du mir gestern Abend erzählt hast?« Callehain nickte nur, überprüfte die Kufen, den Anker und anschließend das Segel, das er mit einem Hebelzug zwischen den beiden dünnen Masten spannen konnte. Es war alles in Ordnung. Die beiden so fragil wirkenden Gefährte hatten die weite Reise hierher unbeschadet überstanden. »Er verfolgt uns noch immer. Und er kommt rasch näher.« Und er fügte hinzu: »Du solltest dich vorsehen, Fänger. Vielleicht erreicht er noch heute morgen das Ufer des Sees. Und du...« 174
Der Fänger winkte ab. Er war ein Mann in mittleren Jahren, mit langen, bleigrauen Haaren und einem Bart, der fast ebenso weiß glänzte wie der Schnee. In den blauen Augen schimmerten Zuversicht und Optimismus. Eine Weile fuhr er damit fort, das große und engmaschige Windnetz zu spannen. Er hatte ihnen erzählt, wozu es diente. In den frühen Morgenstunden verließen die Fledermäuse ihren frostigen Nachtbau und ließen sich vom Wind treiben. Ein riesenhafter Schwärm sollte es sein, und abgesehen hatten es die hungrigen Tiere auf das warme Blut von Tieren – und sie verschmähten auch das von Menschen nicht. Der Fänger hatte sich bereits entsprechende Schutzkleidung bereitgelegt. Einige der Fledermäuse würden sich in dem hohen, breiten Windnetz verfangen und so zur Beute des Fängers werden. Argut – so hieß der Einsame – behauptete, in dem einige Dutzend Längen im Nordosten gelegenen Dorf Ouvenmas seien die spitzen Saugzähne der Fledermäuse begehrte Handelsware. Er tausche sie gegen Weizenmehl, Kleidung, geschmiedetes Eisen und andere Dinge, die er für sein tägliches Leben brauchte. »Macht euch keine Sorgen um mich«, sagte Argut. »Ich habe keine Angst vor dem Nachtschatten. Ich verstecke mich einfach und warte, bis er weitergezogen ist.« Er drückte Callehain und Medwyn die Hand, und irgendwo in der Ferne war ein leises Zirpen zu vernehmen. »Das sind sie. Die Fledermäuse. Ich muß mich beeilen.« Sein Gesicht verfinsterte sich kurz, als er über die blanke Eisfläche des Sees starrte. Aus irgendeinem rätselhaften Grund hatte sich dort kein Schnee angesammelt, obwohl es auch in der vergangenen Nacht geschneit hatte. »Ihr solltet einen Umweg machen«, sagte der Fänger dumpf. »Die Reise über das Eis des Dämonensees ist sehr gefährlich.« »D-dämonensee?« wiederholte Medwyn schrill. »Wir haben keine andere Wahl«, erwiderte Callehain rasch, und er sah, wie Medwyn zu zittern begann und nach den magischen Utensilien Gilburians tastete. »Nein!« zischte er, und der kleine Dieb verzog das Gesicht 175
und brummte etwas Unverständliches. »Wir würden zuviel Zeit verlieren, wenn wir den See umsegelten. Hab Dank, Argut. Für alles. Ich wünsche dir einen guten Fang.« Er nickte Medwyn zu und zog den unteren Hebel zu sich heran. Zwischen den beiden Masten entfaltete sich klatschend das Segel, und sofort verfing sich der Wind in der dünnen Plane. Knirschend mahlten die eisernen Kufen durch den Schnee. Kurz darauf befanden sie sich bereits auf dem Eis des Dämonensees und sausten nach Norden. Immer größer wurde ihre Geschwindigkeit, und bald konnten sie den hinter ihnen zurückgebliebenen Fänger nur noch als einen kleinen dunklen Punkt auf weißem Grund erkennen. Der Wind heulte an ihnen vorbei und ließ ihre Haare wie fransige Banner wehen. »Dämonensee!« rief Medwyn nach einer Weile. »Ha! Siehst du irgendwo einen Schatten Visars ? Bestimmt wollte uns der Fänger nur Angst machen. Aber wir fürchten uns nicht, erst recht ich nicht, der Meisterdieb aus Al'anfa, der begabteste Magier, der jemals durch Aventurien reiste, der Herr der Stürme und der Meere, der Bezwinger des Orakels von Tschintai...« Während Medwyn noch eine ganze Zeit lang mit seinen hochmütigen Prahlereien fortfuhr, verzog Callehain nur das Gesicht und sah sich immer wieder um. Hier und dort zeigten sich farbige Flecke im glasklaren Eis: die schuppigen Leiber im Frost eingeschlossener Fische. Nichts regte sich. Vorsichtig bewegte er die Steuerhebel. Medwyn legte ruckartig den Kopf in den Nacken und rief: »Hach, wenn ich zurückkehre, wird mein Name mit goldenen Buchstaben in der ersten Zeile des Buches der Diebesehre verzeichnet. Hach, was sage ich: Ein ganz neues Ehrenbuch wird allein für mich geschrieben, für mich, Medwy n aus Al'anfa, der Dutzenden von Gefahren mutig und furchtlos entgegenschritt und sie meisterte, und...« »Paß auf!« Callehain deutete auf einen Felsen, der halb aus dem Eis ragte und auf den der Schneesegler Medwyns geradewegs zuhielt. 176
Der kleine Dieb schien wie aus einer tiefen Trance zu erwachen, als er begriff, daß er sich dem Hindernis näherte. »Hilfe!« schrie Medwyn und zog an den Hebeln. Eine Kufe seines Schneeseglers wandte sich nach rechts, die andere nach links. Es knarrte plötzlich, und Holz splitterte. Um Haaresbreite schoß das Gefährt an dem Felsen vorbei und kam ins Schlingern. Der Segler drehte sich um die eigene Achse, und Medwyn versuchte vergeblich, ihn wieder in eine stabile Lage zu bringen. Callehain warf den Anker und betätigte den Hebel, der das Segel vom einen Mast löste. Hinter ihm ächzte es laut, und Eissplitter jagten winzigen Geschossen gleich durch die Luft. Er zwang den Schneesegler in eine weite Kurve, und aus einiger Entfernung sah er, wie Medwyns Gefährt umstürzte und den kleinen Dieb unter sich begrub. Endlich fraßen sich die Haken des Ankers ganz ins Eis, und Callehains Segler blieb ruckartig stehen. Der junge Paria wurde aus dem Sitz geschleudert und rutschte einige Meter durch die Kälte. Er sprang sofort wieder auf die Beine und eilte auf seinen Gefährten zu, der sich nun stöhnend und fluchend unter den Trümmern seines Seglers hervorarbeitete. Plötzlich begann das Eis um sie herum zu knistern und zu knarren. Kleine Buckel bildeten sich, und es knackte, als sich große Schollen aus der Masse des Eises lösten und in die Höhe stülpten. Wasser sprudelte und gurgelte zwischen den Eisschollen hervor. Fontänen fauchten einige Meter in die Höhe und erstarrten sofort zu bizarren Frostgebilden. Arme und Beine, Hände und Krallen wuchsen aus diesen Säulen und griffen nach Callehain. Mäuler und Rachen bildeten sich, und spitze Zähne aus Eis funkelten im Licht der nun ganz über den Horizont gestiegenen Sonne. »Medwyn!« rief Callehain. »Schnell, Medwy n! Argut hatte recht. Die Dämonen erwachen...!« Er erreichte das Wrack des Seglers, packte Medwyn am Arm und zerrte ihn unter gesplitterten Holzlatten und auseinandergebrochenen Verstrebungen hervor. Es donnerte dumpf, als sich auch die Eisfläche unter ihnen zu bewegen begann. 177
»Oh«, machte Medwyn und sah sich aus angstgeweiteten Augen um. »Oh, OH!« Sie liefen los und sprangen an einer Wasserfontäne vorbei, die links von ihnen in die Höhe fauchte. Einige Spritzer fielen auf Callehains Mantel herab, und sofort entwickelten sich kleine Käfer daraus, die ihre spitzen Kieferzangen in den Pelz bohrten. Der junge Dieb schlug um sich und streifte die kleinen Dämonengeschöpfe ab. Medwyn zielte unterdessen mit seinem Dolch und rammte das scharfe Metall in den Eiskörper eines rasch wachsenden Ungeheuers. Das Messer fror sofort in dem Frostkörper fest und ließ sich nicht mehr herausziehen. Sie rannten weiter, auf Callehains Schneesegler zu. Hinter ihnen folgte die Dämonenhorde. Das Eis rumorte unter dem enormen Gewicht der Angreifer, und Prankenhände griffen nach ihnen. Callehain duckte sich unter einer Eiskralle hinweg, verlor den Halt und fiel. Er rutschte und stieß mit der Schulter gegen die Kufe seines Seglers. Medwyn schwang sich bereits in den Sitz und zerrte heftig an den Hebeln. »Du verdammter Narr!« zischte Callehain. »Hättest du nur besser aufgepaßt, als uns der Alte Pagor die Handhabung der Segler erklärte. Mach Platz. Bei Phex, rück zur Seite!« Callehain zwängte sich neben ihn und befestigte die im Wind flatternde Segelplane am zweiten Mast. Sofort setzte sich das Gefährt wieder in Bewegung. Die große Hand eines Eisdämonen griff nach dem hinteren Aufbau des Seglers und krallte sich ins Holz. Medwyn griff unter ein Tuch, holte eine schwere Streitaxt hervor, die sie von dem Schattenwächter in der Feste von Gorn erhalten hatten – sie war so gewaltig, daß der kleine Dieb unter ihrem Gewicht schwankte und sogar Mühe hatte, sie mit beiden Händen zu halten – und schlug zu. Die breite Klinge bohrte sich knirschend in die Pranke des Ungeheuers und zerschmetterte das Eis. Der Dämo n brüllte, und sein frostiger Atem war eine Windböe, die das Segel aufblähte und die beiden Masten ächzen ließ. Ihre Geschwindigkeit erhöhte sich schlagartig, und sie jagten über den zugefrorenen See. Bald blieb das Knarren hinter ihnen zurück, und kurz darauf erreichten sie das nördliche Ufer und 178
setzten die Fahrt über flaumigen Schnee fort. »Hach, hast du gesehen, wie ich zugeschlagen habe?« platzte es stolz aus Medwyn heraus. »Ho, ich habe dir schon wieder das Leben gerettet, Cal. Hach, was würdest du nur ohne mich machen, den Meisterdieb aus Al'anfa, der auch in der hohen Kunst der Magie bewandert ist und der von nun an den Beinamen Dämonenschreck führt...« Callehain stöhnte leise und rollte mit den Augen. Die Kuppe des Hügels ragte über die schneebeladenen Wipfel der Kiefern und Fichten hinweg. Callehain sah sich immer wieder um, während Medwy n versuchte, sich von dem Schwarzen Auge Gilburians ein Bild zeigen zu lassen. Der Wind war nur eine sanfte Brise und wehte von Südosten. Er ließ die hölzernen Streben des Schneeseglers erzittern, und er erzählte von den einsamen Gipfeln der Walberge, von den zugefrorenen Fluten der Walsach, deren Wasser während des kurzen Sommers wild durch die Tundraebene nordöstlich der Drachensteine spülten. Fast hatte Callehain sogar den Eindruck, das salzige Aroma des Sturmmeeres* zu riechen. »Gehorche dem Gebot meiner magischen Macht«, sagte Medwyn mit bedeutungsschwangerer Stimme, »und zeige mir Bilder, Auge der Nacht.« Eine kurze Pause. Und dann: »Verflucht und verdammt!« * Im Sturmmeer drohen vielfältige Gefahren, die eine Schiffahrt praktisch unmöglich machen. Abenteurer aus Vallusa, Festum und Neersand haben immer wieder versucht, auf dem Seeweg den Ostkontinent zu erreichen, aber da niemand von ihnen zurückkehrte, weiß man nicht, ob ihnen das wirklich gelang. Selbst im Sommer treiben hohe Eisberge und Schollen in den grauen Fluten des Meers der Stürme. Sogar in Küstennähe wurden Handelsschiffe vom Packeis eingeschlossen und zermalmt. Manchmal machen sich im Winter – dann, wenn das Meer völlig zufriert – Gruppen von Schatzsuchern, Entdeckern und verwegenen Alchimisten auf den Weg über das Eis, und es heißt, sie seien dreihundert Längen östlich von Vallusa auf Inseln gestoßen, auf die sich während des magischen Krieges die überlebenden Schattenlords zurückgezogen hätten. Jene, denen die Rückkehr nach Aventurien gelang, erkrankten bald, und in ihrem Fieberwahn berichteten sie von der schrecklichen Macht des Bösen, die auf den von ihnen besuchten Inseln uneingeschränkt herrsche.
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Callehains Blick glitt über die Wipfel der Koniferen, und er kniff die Augen zusammen, als er weit im Westen inmitten des Waldes eine Bewegung erkannt zu haben glaubte. Er wandte den Blick von der entsprechenden Stelle ab und beobachtete sie anschließend nur aus den Augenwinkeln. Er hatte sich nicht getäuscht. Ein Schatten war es, der an den eisverkrusteten Stämmen der Kiefern und Fichten vorbeieilte. Callehain tastete unwillkürlich nach dem aus Zwergengold gefertigten Medaillon auf seiner Brust, und er spürte Wärme. »Medwyn?« »Bei dem magischen Wissen, das ich gewann, ich beschwöre dich mit zwingendem Bann. – Bei Phex, das verdammte Ding verändert sich nicht.« »Wir müssen weiter, Medwyn«, hauchte Callehain. Er ließ den Schatten jetzt nicht mehr aus den Augen. Das dämonische Geschöpf, dessen Präsenz der Alte Pagor in unmittelbarer Nähe der Feste von Gorn gespürt hatte, folgte der Spur des Schneeseglers, und es lief mit einer Geschwindigkeit, die fast der ihres Gefährtes gleichkam. Der junge Dieb schätzte ihren Vorsprung auf rund zehn Stunden. Und das war wenig, viel zuwenig. »Bei den Zwölfgöttern und ihrem Hauch der Ewigkeit, zeig mir die Seelenstadt, denn es wird jetzt langsam Zeit.« Callehain kroch hinter einen Felsen zurück, erhob sich und gab einen spöttischen Laut von sich. »Was für unsinnige Formeln, Medwyn! Glaubst du im Ernst, du könntest damit magische Macht beschwören?« »He!« machte Medwyn. »He, sieh dir das an. Es wird trüb. Das Schwarze Auge wird endlich trüb.« Verwundert schüttelte Callehain den Kopf und trat näher. Medwyn hatte die kindskopfgroße Kugel vor sich in den Schnee gelegt. Deutlich konnten die beiden Diebe die milchigen Leuchtreflexe sehen, die nun über die dunkle Oberfläche des Schwarzen Auges wanderten. Die Gipfel und Grate eines gewaltigen Gebirges zeichneten sich dort ab, und die Szenen wechselten sich rasch ab: einsame Täler, Felsen, 180
verborgen unter ewigem Schnee, Kamine, steil und nicht zu erklettern. Und dann... »Oh«, machte Medwyn. Callehain beugte sich vor. Ein schmaler Pfad führte an den gewaltigen Hängen des Ehernen Schwerts empor, und dort, wo der Weg über gefährliche Gletscher und am Rande tiefer Schluchten vorbeiführte, wurde sein Verlauf von Markierungssteinen gekennzeichnet. Der Pfad verschwand in den Wolken, und jenseits davon setzte er sich fort. »Wer mag den Weg geschaffen haben?« fragte Medwyn leise. Und Callehain antwortete flüsternd: »Vielleicht diejenigen, die die weißen Mauern der Stadt der Verlorenen Seelen errichteten.« Sie starrten auf die plastischen Bilder, die sich im plötzlich transparent gewordenen Innern des Schwarzen Auges abzeichneten. Nun weckte eine sonderbare Felsformation ihre Aufmerksamkeit: ein hoher Berggipfel, dessen schroffer Granit wie ein Adlerkopf geformt war. Dort begann der in die Höhen des Ehernen Schwerts führende Pfad, und er endete... Dieses Tal kannten sie bereits. Sie hatten es in dem Bild gesehen, das ihnen das Schwarze Auge Gilburians noch an Bord des Schiffes gezeigt hatte, mit dem sie aus Al'anfa geflohen waren. Stumm ragten die weißen Mauern der Stadt auf, die das Ziel ihrer Reise darstellte. »Hach«, schnaufte Medwyn, »es ist ganz einfach. Wir brauchen nur den Adlerfelsen zu finden und dann dem Verlauf des Weges zu folgen. Das ist alles.« Im Innern des Schwarzen Auges war nun zu sehen, wie sich ein dunkler Schatten von einem der Gipfel des Ehernen Schwerts herabsenkte und der Stadt der Verlorenen Seelen entgegenfiel. Dicht über den weißen Dächern entfalteten sich zwei gewaltige Schwingen, und der Blick der schwefelgelben Augen des Ungetüms schien sich direkt auf die beiden Diebe zu richten. Medwyn und Callehain wandten sich ruckartig ab, und als sie sich umdrehten, war das magische Artefakt wieder so schwarz wie eine sternenlose Nacht. »Das«, sagte Callehain, »war Fuldigor, der Wächter des 181
Seelensteins und der letzte der großen Drachen.« Medwyn stöhnte leise.
Kurz darauf kletterten sie wieder in den Schneesegler und setzten ihre Reise fort. Durch dichte Wälder ging es, und wenn sie in der Ferne die Hütten und Häuser eines Dorfes sahen, machten sie einen kleinen Umweg und wichen der Ansiedlung aus. Sie wußten nicht, ob es sich bei den Bewohnern jener kleinen Dörfer um Menschen oder dämonische Wesen handelte. Diese Region war einst das Zentrum des Machtbereiches der alten Schattenlords gewesen. Vielleicht hielten sich irgendwo noch Mahre oder gefährliche Ungeheuer auf – Geschöpfe, von denen der Alte Pagor Callehain erzählt hatte und deren Existenz ihn noch heute, viele Jahrhunderte nach dem magischen Krieg, daran hinderte, sich zur letzten Ruhe zu legen. Die beiden jungen Diebe waren müde, aber sie wagten es nicht, eine Ruhepause einzulegen. Der schwarze Verfolger war unerschöpflich, und wenn sie schliefen, schloß er weiter zu ihnen auf. Callehains Medaillon war nun ständig warm und kühlte sich nicht mehr ab. Er hatte gelernt, der Ausstrahlung des Zwergengoldes zu vertrauen und ließ sich beim Steuern des Schneeseglers von der Flüsterstimme in seinem Innern führen. Mit atemberaubender Geschwindigkeit sausten sie an den dicht beieinanderstehenden Bäumen vorbei, jagten über Hügelhänge und durch die Täler zwischen den Vorbergen des Ehernen Schwerts. Als sich im Westen die Sonne dem Horizont entgegenneigte, ragte vor ihnen ein gewaltiges Monument auf – wie eine Wand, die bis zum Himmelsgewölbe reichte und das Ende der Welt markierte. Callehain hielt den Schneesegler an und sagte: »Wir sind da, Medwyn. Das dort ist das Eherne Schwert.«
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Einem Schatten kann man nicht entfliehen. Man muß sich ihm stellen und ihn vernichten, denn nur so wird seine Macht gebrochen. Ein Th au ma turg e w ähr end d es ma g isch en Kr ieges
14. IM SCHWARZEN TEMPEL VON SHARR Der Schwarze Tempel von Sharr war direkt neben einer vier Längen steil in die Höhe ragenden Felswand errichtet worden. Die Hütten des Dorfes der Todesjünger von Bjaldorn* befanden sich in einem nahen Wald und waren auf den ersten Blick überhaupt nicht als solche zu erkennen. Nur derjenige, der wußte, wonach er Ausschau zu halten hatte, erkannte die Schneebuckel in den Wipfeln der Koniferen als menschliche Behausungen.
* Die Todesjünger von Bjaldorn sind eine in der ganzen Region westlich des Ehernen Schwerts gefürchtete Sekte. Die Fürsten der Stadtstaaten von Eestiva, Pavi und Gerasim haben mehrmals die heiligen Stätten dieser Sekte zu zerstören versucht, in denen Visar geehrt wird, aber selbst einer größeren Streitmacht (der »Heilige Krieg von Norbug«) gelang es nicht, die Sekte zu zerschlagen. Die Todesjünger treffen sich in der Nacht und führen ihre Rituale bei Vollmond durch. Manchmal unternehmen sie auch Streifzüge durch die Region, überfallen kleinere, abgelegene Ansiedlungen und verschleppen Männer, Frauen und Kinder, um sie anschließend ihrem Gott zu opfern. Nicht selten aber bringen sie sich zu Ehren Visars auch gegenseitig um. In Bjalborn, wo die Bewegung der Todesjünger ihren Ursprung hatte, geht die Rede, es seien die Geister der von den Magiern vertriebenen Mahre, die in die Jünger eingefahren seien, und in der Wolfsnacht verbarrikadieren die Bewohner ihre Häuser und heuern Söldner an, die auf den Wehrgängen rund um die Stadt Wache halten.
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Die Todesjünger sangen und führten ihren Besucher, den Mahr, in den Tempel. In den schwarzen Kammern und Korridoren spürte der Myr sofort die Kälte seines Herrn, Visar, und pries den Todesgott dafür, seine Schritte in die richtige Richtung gelenkt zu haben. Er war nicht müde. Er konnte noch Tage und Wochen weiterlaufen, ohne auch nur einmal eine Pause einzulegen. Aber das reichte nicht. Die beiden Diebe, die er im Auftrage des Hohenpriesters von Al'anfa verfolgte, verfügten über einen Schneesegler. Deshalb verfluchte der Myr den Schattenwächter von Gorn, der ihnen auf diese Weise geholfen hatte. Die Gildenparias Medwyn und Callehain kamen nun schneller voran als er. Ihr Vorsprung vergrößerte sich. Inzwischen hatten sie sogar schon die Grate des Ehernen Schwerts erreicht, während er sich noch immer in den Vorbergen befand. Es war ihm unmöglich, den Auftrag des irdischen Stellvertreters Visars auszuführen, wenn er keine Möglichkeit fand, zu den Dieben aufzuschließen. Dazu brauchte er die Hilfe des Todesgottes. »Wir sind sehr geehrt, hoher Herr«, versicherte der Oberste der Todesjünger erneut. Er war ein fettleibiger Mann in mittleren Jahren. Auf seinem k ahlgeschorenen Kopf zeigte sich das schwarze Rabensy mbol Visars. »Wir haben nicht zu hoffen gewagt, jemals einen Ersten Diener unseres Einzigen Gottes hier begrüßen zu dürfen.« »Ein weiter Weg liegt hinter mir«, erwiderte der Myr, als ihn die Jünger auf den aus schwarzem Marmor errichteten Altar zuführten, »und meine Reise ist noch nicht zu Ende. Ich verfolge zwei Frevler.« Der Kältehauch intensivierte sich, und der My r spürte die schlafende Präsenz Visars. Direkt neben dem Altar klaffte eine breite Spalte im Boden. Am Grunde des eine Länge tiefen Schachtes glühten geweihte Kohlen. Zwei nackte Todesjünger standen am Rande der Spalte. Ihre Körper waren mit wirren Farbmustern bemalt. Sie sahen auf, als der Oberste in Begleitung des Myr und einiger anderer Sektenanhänger näher trat. Drogennebel verschleierten ihren Blick, und ihre Mienen waren schlaff und so ausdruckslos wie die erstarrten Züge unbeweglicher Masken. 184
»Ein Todesritual zu deinen Ehren, hoher Herr«, verkündete der fettleibige Oberste schnaufend. Ich habe keine Zeit, dachte der Myr. Ich muß zu Visar beten und anschließend meine Reise fortsetzen, um die Diebe einzuholen. Aber laut sagte er: »Ich warte.« Der Oberste keuchte erfreut, trat auf den Altar zu und zündete die Kerzen eines Kronleuchters an. Der flackernde Lichtschein schien sofort von der Dunkelheit im Innern des Tempels verschlungen zu werden und reichte nicht einmal eine Zehntellänge weit. Die Todesjünger bildeten einen weiten Halbkreis und stimmten einen dumpfen, monotonen Gesang an. Die beiden nackten Gestalten am Rande der Spalte begannen sich nach einigen Augenblicken zu bewegen. Sie neigten die Oberkörper von rechts nach links, und ihre Lippen erzeugten Laute, die nur für sie selbst einen Sinn hatten. »Visar!« rief der Oberste schrill. »Ich rufe dich, Gott des Todes.« Tücher raschelten, und eine eiskalte Böe wehte durch den Tempelsaal. »Ich, dein unwürdiger Diener, erflehe deinen Segen. Nimm die beiden Seelen der Jünger, die sich dir nun opfern werden, in wohlwollenden Empfang.« Er winkte. Ein dumpfer Trommelschlag hallte an den schwarzen Mauern entlang und verklang irgendwo in den Korridoren des Tempels. Die beiden nackten Todesjünger hoben die Arme. »Visar!« riefen sie, dann ließen sie sich in den Abgrund stürzen. Während des langen Falls riefen sie noch einige Male den Namen des Todesgottes, und schließlich verstummten sie. Weit unten schlugen sie auf und starben. Die Glut der geweihten Kohle verbrannte die Leichen zu staubiger Asche. »Ich bin sicher«, sagte der Myr, »Visar wird den Seelen die Ehre erweisen, die ihnen zukommt.« Die Todesjünger sangen und sangen, und die monotone Melodie schien kein Ende zu nehmen. Nach einer Weile hob der Myr den Kopf und blickte den Obersten aus seinen roten, pupillenlosen Augen an. Der fettleibige Mann seufzte 185
enttäuscht, hob die Arme und rief: »Verlassen wir nun den Tempelsaal, ihr Jünger Visars. Unser Gast aus dem Zwischenreich ist zu uns gekommen, um zum Gott des Todes zu beten, und solche Gebete sind privat.« Mit gesenkten Köpfen verließen die Jünger den Saal. Als sie gegangen waren, kniete der My r vor dem Altar nieder. »Visar«, flüsterte er, »ich habe einen Auftrag zu erfüllen. Du kennst ihn. Dein Stellvertreter in Al'anfa gab ihn mir. Ich brauche deine Hilfe, Gott des Todes. Die beiden Diebe kommen schneller voran als ich.« Kälte wogte heran und ließ auf dem Altar eine Schicht Rauhreif wachsen. Über dem Kronleuchter glühten zwei Augen. »Ich höre dich, Diener«, ertönte die grollende Stimme Visars. »Und ich werde dir helfen.« Der Myr spürte, wie die Kälte in seinen Schattenleib vordrang, aber er fröstelte nicht. Sein Körper begann sich aufzulösen und in Rauch zu verwandeln. Der Eisatem Visars erfaßte diesen Rauch und formte daraus eine Lanze, die er aus dem Tempel schleuderte, hoch über die Wipfel der Kiefern und Fichten hinweg. Es dauerte nicht lange, und die Vorberge lagen hinter dem Myr. Bald darauf verlangsamte sich sein Flug. Aus dem Rauch wurde wieder der Schattenleib eines Mahr. Direkt neben ihm wuchs ein Markierungsstein aus dem Schnee, der den Rand des Weges kennzeichnete, der in die Höhen des Ehernen Schwerts führte, dorthin, wo sich in einem Tal die weißen Mauern der Stadt der Verlorenen Seelen erhoben. Der My r setzte sich sofort in Bewegung und lief los. Die Spur der beiden Diebe war jetzt wieder ein hell leuchtendes Band, dessen Schimmer er nicht übersehen konnte und das sich wie ein brennendes Fanal durch die Dunkelheit der Nacht erstreckte. Er war den Gildenparias jetzt ganz nahe, und der Abstand verringerte sich weiter.
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STREIFLICHTER – (1) Dharag stand eine halbe Länge vom Tor entfernt auf dem Weg, der zur Gesindebastion führte, und sah an den grauen Mauern empor. Hoch oben auf dem Hexenturm trugen einige Gildenbedienstete den in weiße Tücher gehüllten Leichnam der Hexenkönigin und legten ihn in ein großes, massiges Holzgerüst. Auf sein Zeichen hin wurden Fackeln angezündet, und ihre Flammen leckten gierig über die ölgetränkten Scheite. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die Glut emporloderte und die Leiche Cherinnes verbrannte. Eine Zeitlang sah der Hohepriester schweigend zu. Dann wandte er sich um, und sein Blick glitt über die Krieger der wartenden Streitmacht hinweg und richtete sich auf Al'anfa. Die Feuer in der Stadt waren inzwischen weitgehend gelöscht worden. Nur hier und da stiegen noch einige dünne Rauchsäulen in die Höhe. »Herr?« Einer der Offiziere trat auf ihn zu und sah ihn an. »Deine Befehle, Herr?« Als Dharag nicht antwortete, fügte der Soldat hinzu: »Sollen wir die Gesindebastion zerstören?« Dharag erwachte wie aus einem Traum. »Nein«, sagte er so leise, daß der Offizier Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Nein. Cherinne war es, die mich verriet, nicht der Gildenrat, der nun tagt.« Und er fügte hinzu: »Man kann Hexen nicht trauen. Sie sind heimtückisch und gemein. Wie konnte ich das nur vergessen?« Er straffte seine Gestalt. »Wir wissen jetzt, welche Pläne sie hatte und warum sie die beiden Diebe ausschickte. Aber die Hexenkönigin rechnete nicht mit der Macht Visars.« Er setzte sich in Bewegung und schritt auf sein nachtschwarzes Pferd zu. Der Offizier folgte ihm. »Was ist mit der Hanse?« »Der Aufstand ist vollständig niedergeschlagen, Herr«, versicherte der Soldat. »Henrinnen wurde auf dem Schwarzen 187
Platz hingerichtet, zusammen mit den anderen Rädelsführern. Und was die übrigen Handelsherren angeht, die an der Rebellion teilnahmen: Wir brauchen sie und ihre Schiffe. Wir können nun ganz sicher sein, daß sie nicht noch einmal versuchen, deine Macht in Frage zu stellen und den Tempel Visars zu stürmen. « Dharag schwang sich auf den Rücken seines Rappen und blickte nach Norden. Irgendwo in der Ferne, in einer Region, die selbst im Sommer unter der Geißel des Frostes stöhnte, hofften die von Cherinne ausgeschickten Diebe darauf, die Stadt der Verlorenen Seelen zu finden. »Wahrscheinlich sind sie längst tot«, flüsterte er. »Und wenn sie tatsächlich in die weiße Stadt gelangen sollten, so werden sie sterben, wenn sie den Seelenstein berühren. Nun, wie dem auch sei: Der My r, den ich ausschickte, wird mir Bericht erstatten.« An den Offizier gerichtet fügte er hinzu: »Wir reiten nach Süden. H'Rabaal ist bereits gefallen, aber es gibt noch weitere Städte, über deren Dächern die schwarzen Banner Visars wehen sollen.«
Ein Schüler: »Meister, warum gibt es in ganz Aventurien Häuser und Schulen der Gilde der Magier, aber nur in Al'anfa eine Bastion für die Diebe?« Und der Meister: »Es ist der alte Fluch des Gesindekrieges, der noch immer auf uns lastet. Und solange sich das Wappen der Diebesgilde in den Schatzkammern des Königs von Gareth befindet, dürfen wir nur die Schule in Al'anfa unterhalten und keine andere Gesindestätte begründen.«
Es gibt viele Rätsel in Aventurien, und sosehr sich Alchimisten, Wahrheitsfinder und Thaumaturgen auch bemühen mögen: Einige der Geheimnisse werden nie gelüftet. Mag ierw e ish e it 188
15. DAS EHERNE SCHWERT »Dort ist er!« rief Medwyn. »Der Adlerfelsen.« Der Granitblock ragte steil in die Höhe und verbreiterte sich weit oben zu jener Formation, die ihnen bereits das Schwarze Auge Gilburians gezeigt hatte. Callehain stapfte durch hohen Schnee, schob sich langsam und vorsichtig über einen eisverkrusteten Sims und erkannte einige Zehntellängen voraus den ersten Markierungsstein. »Ich habe ihn gefunden«, sagte er. »Hier beginnt der Weg.« »Hach«, seufzte Medwyn und folgte seinem Gefährten, »hach, wir schaffen es, Cal. Ja, ganz bestimmt. Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten. Oh, die beiden Meisterdiebe aus Al'anfa erfüllen die Aufgabe, die sie von einer Hexe erhielten, und sie erweisen sich dabei als die begabtesten und...« Callehain blieb plötzlich stehen, kniff die Augen zusammen und hob die Hand. Sein Blick glitt über die schneebedeckten Grate und Gletscher hinweg, auf deren Weiß sich nun das erste Licht eines neuen Tages spiegelte. Der östliche Horizont war in blutrotes Licht getaucht, und dieser Schein kroch an den gewaltigen Hängen des Ehernen Schwerts empor und spiegelte sich in My riaden Eiskristallen. Weiter unten schwebten einige diffuse Wolkenschleier und trieben im sanften Wind langsam nach Süden. Der Schneesegler, den sie vor einer Weile zurückgelassen hatten, als das Gelände schwieriger zu werden begann, war vor neugierigen Blicken in einer Höhle geschützt. In unmittelbarer Nähe des Höhlenzugangs bewegte sich etwas. Ein Schatten war es, ein flink über Schnee und Eis hinweghuschender Schatten. Dünne Abdrücke hinterließ er in dem Weiß, und eine schwarze Kutte umflatterte eine fast dürre Gestalt. Die Kapuze war tief in die Stirn gezogen, und unter dem Rand blitzten zwei rote, pupillenlose Augen. 189
Callehains Medaillon glühte und drohte die Brust des Diebs zu versengen. »Bei Phex...« flüsterte er. »Er ist uns jetzt viel näher.« »W-wie weit...« begann Medwyn stotternd und preßte sich dicht an die Wand in seinem Rücken, so als könne er sich in den winzigen Spalten und Fugen des Granits verbergen. »Eine Stunde. Höchstens.« Callehain wandte sich um und schob sich weiter. »Komm.« Kurz darauf erreichten sie den Weg. Rechts und links ragten in unregelmäßigen Abständen die Markierungssteine mit den für die beiden Diebe undeutbaren Runenzeichen aus dem Schnee. Wo es das Gelände erlaubte, liefen sie, aber an anderen Stellen hatten sich Schneewehen angesammelt, und dort kamen sie wesentlich langsamer voran. Der Wind lebte nun auf. Er fauchte und heulte an den Felsen vorbei und stöhnte in den steilen Kaminen. Callehain legte den Kopf in den Nacken und sah empor. Weit oben, dort, wo die mehr als zwanzig Längen hohen Gipfel des Ehernen Schwerts an das Himmelsgewölbe stießen, klebten dunkle Wolken am Firmament, und der Wind kündigte einen Temperatursturz und neuen Schnee an. Dies war eine andere Welt als die der weiten Ebenen und Senken Aventuriens: Nirgends waren Hütten zu sehen, und in den Tälern, durch die sie noch während der Nacht gewandert waren, wohnten nur kleine, weißpelzige Schneeteufel, die rasch die Flucht ergriffen, wenn sich etwas Unbekanntes bewegte. Trotz der Kälte begann Callehain bald zu schwitzen, und immer wieder drehte er sich um und sah zurück. Der Schatten folgte ihnen nach wie vor und schloß weiter zu ihnen auf. Selbst wenn sie liefen, konnten sie den Abstand zu ihm nicht vergrößern.
* Der Roman, den Sie gerade lesen, spielt in Aventurien, der Welt des Schwarzen Auges. Wenn Ihnen die Handlung gefällt, sind Sie sicher neugierig, was Aventurien noch zu bieten hat. Wir können es Ihnen jetzt schon verraten: Abenteuer in Hülle und Fülle, und das beste daran ist, Sie können diese Abenteuer noch unmittelbarer erleben als beim Lesen eines Romans: als spannendes Rollenspiel im Kreise Ihrer Freunde. *
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Der von den Runensteinen markierte Weg führte an einer spitzen Felsnadel vorbei, und vor ihnen lag ein Paß. Rechts und links ragten die Felswände steil in die Höhe und verschwanden schließlich irgendwo im Wolkendunst. Eis glänzte, und weit oben erkannte Callehain eine breite weiße Zunge, von der es dann und wann herunterrieselte, wenn der Wind darüber hinwegstöhnte. Medwyn schnaufte und eilte weiter. Über ihnen ächzte es. Callehain tastete nach dem auf seiner Brust ruhenden Medaillon. Er zögerte kurz, dann setzte er sich wieder in Bewegung und schloß zu seinem Gefährten auf. Als er ihn erreichte, legte er ihm die Hand auf die Schulter und sah sich kurz um. Die Felsspitze hinter ihnen verwehrte ihnen den Blick auf das sie verfolgende Schattenwesen. »Ein Zauber?« fragte Medwyn. »Soll ich...« Callehain schüttelte den Kopf. Seine Augen tränten, und er spürte eine Müdigkeit, die sich wie ein bleiernes Gewicht auf ihn herabsenkte und jede Bewegung zu einer mühevollen Anstrengung machte. Die ganze Nacht über hatte er den Schneesegler gelenkt, jetzt sehnte er sich danach, sich irgendwo an einer windgeschützten Stelle zu Boden sinken zu lassen und die Augen zu schließen. »Nein. Jedenfalls jetzt noch nicht.« Er deutete in die Höhe, und der unstete und nervöse Blick Medwyns richtete sich auf die Zunge aus Eis und Schnee. »Der Schatten wird bald hier sein«, sagte Callehain. »Wenn er durch diesen Paß kommt und sich im richtigen Augenblick jene weiße Masse dort oben löst und herunterstürzt...« Er gab Medwyn einen Stoß, und sie eilten weiter an den Markierungssteinen entlang. Der Wind wurde immer stärker. Er heulte an den Felswänden in die Tiefe, und seine Stimme war frostiger Spott und Hohn. Auf Callehains Stirn gefroren kleine Schweißperlen zu glitzerndem Eis. Irgendwo tief in seinem Innern meldete sich nun wieder die Flüsterstimme, aber er verstand sie nicht. Er hatte nur das dumpfe Gefühl, daß sich eine Entscheidung anzubahnen begann – eine Entscheidung, bei der dem dämonischen Schatten eine ganz bestimmte Rolle zukam. 191
Nach gut einer Länge erreichten sie das Ende des Passes. Der steile Granit rechts und links von ihnen wich nach und nach zurück, und ein steinerner Steg führte über eine Schlucht. Callehain schwindelte, als er in die Tiefe starrte und seine frostklammen Finger irgendwo nach Halt suchten. Neben ihm hauchte Medwyn: »Da ist er, Cal...« Der Schatten glitt wie eine konturlose Rauchwolke um die Felsspitze herum und lief durch den Paß. Er verursachte nicht das geringste Geräusch. Der Wind erhob jäh und laut seine Böenstimme und fauchte den beiden Dieben seinen Spott entgegen. Medwyn duckte sich hinter einen Vorsprung und begann am ganzen Leib zu zittern. Callehain holte tief Luft, formte mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und schrie so laut er konnte. Sein Ruf hallte an den steilen Wänden des Passes wider, und das Ächzen der weit oben am Granit klebenden Schnee- und Eislast verstärkte sich. Kleinere Fragmente lösten sich von der Hauptmasse ab und rieselten in die Tiefe. Der Schatten verharrte kurz und blickte empor. Er begriff sofort die Gefahr, die ihm drohte, und daraufhin setzte er sich rasch wieder in Bewegung und lief noch schneller. Callehain fluchte. »Wir müssen über den Steg!« Medwyn reagierte nicht. Callehain packte seinen Gefährten am Arm und zerrte ihn mit sich. Der Stein der Brücke knirschte unter ihnen, als sie sich vorsichtig darüber hinwegschoben. »Oh«, machte Medwy n, »soll das etwa das Ende des berühmten Meisterdiebs aus Al'anfa sein? Soll ich hinabstürzen und irgendwo in einer schier bodenlosen Tiefe einen gräßlichen Tod finden ?« Er blieb zitternd stehen und fügte leise hinzu: »Cal... bei Phex, Cal: Ich glaube, ich muß dir etwas gestehen.« »Später. Verdammt, komm jetzt endlich!« »Cal... ich, äh, ich bin nicht schwindelfrei!« Callehain rollte mit den Augen, grub beide Hände in den Pelzkragen des Mantels, den sein Gefährte trug, und zog Medwyn ungeachtet seines Stöhnens und Wimmerns weiter. Nicht allzuweit vor 192
ihnen verbreiterte sich der Steg und führte auf einen weiteren Sims, wo sich der markierte Weg fortsetzte. Hinter ihnen krachte und donnerte es. Callehain zuckte unwillkürlich zusammen und verlor auf dem glatten Eis den Halt. Er rutschte und krallte sich irgendwo fest, während seine Beine über dem Abgrund baumelten. Medwyn schrie und flehte alle ihm namentlich bekannten Götter an, sein Leben zu schonen und ihm die Chance einzuräumen, seine Demut ihnen gegenüber zu beweisen. Callehain holte tief Luft und zog sich auf den Steg zurück. In dem Paß hinter ihnen herrschte das Chaos. Tausende von Tonnen Schnee und Eis stürzten in die Tiefe und begruben alles unter sich. Die Lawine ließ den steinernen Steg erzittern, und einige Pfadmarkierungen neigten sich zur Seite, wurden aus ihrer Verankerung gerissen und verschwanden in dem wirbelnden Weiß. Callehain half Medwyn in die Höhe, und sie eilten weiter. Bald darauf hatten sie den Abgrund überquert und lehnten sich auf der anderen Seite der Schlucht erschöpft an die Felswand. »Hach!« jubelte Medwy n. »Der Schatten... er ist unter den Schneemassen begraben. Jetzt droht uns keine Gefahr mehr von ihm. Ho, Dämonenbezwinger sind wir, Cal. Nichts kann uns aufhalten...« »Narr«, flüsterte Callehain fast unhörbar. Und lauter fügte er hinzu: »Wir haben Zeit gewonnen, Medwyn, mehr nicht. Der Schatten ist nicht tot.« »Nicht... tot?« Der kleine Dieb starrte seinen größeren Gefährten ungläubig an. »Nein. Er wird eine Weile brauchen, bis er sich unter den kalten Massen der Lawine hervorgearbeitet hat. Aber danach setzt er die Verfolgung fort – so lange, bis er uns gefunden hat. Er braucht nicht zu ruhen. Seine dämonischen Kräfte sind nahezu unerschöpflich.« Er legte den Kopf in den Nacken, und der kalte Wind fuhr in sein schwarzes Haar. »Wir haben noch einen weiten Weg vor uns«, sagte er leise. 193
Plötzlich spürte er eine sonderbare Leere in sich, die sich mit Mutlosigkeit und Resignation zu füllen begann. »Komm weiter, Medwyn.« Irgend etwas stimmte nicht. Irgend etwas war nicht so, wie es sein sollte. Dieser Eindruck Callehains verstärkte sich, als sie ihren Weg fortsetzten. Er versuchte sich ganz auf die flüsternde Stimme in seinem Innern zu konzentrieren, aber die Worte blieben nach wie vor unverständlich. Den ganzen Tag über wanderten sie durch hohen Schnee, in dem sich keine Spuren zeigten, und immer höher ging es empor. Die Luft wurde dünner, als sie tiefer vordrangen in das einsame Königreich des Windes und der Felsen, die Zeugen der Erschaffung der Welt gewesen waren. Callehain dachte an jene Männer und Frauen, die versucht hatten, das Eherne Schwert zu überqueren und einen Weg in die sagenumwobenen Länder des Ostkontinents zu finden. Dieses gewaltige Gebirge war kein Ort für Menschen. Es bot nur Kalte, frostigen Wind und eine Einsamkeit, die Seelen innerhalb kurzer Zeit zerfraß. Unterwegs blieb Callehain immer wieder stehen und sah sich um, aber nirgends vermochte er die Schattengestalt des Dämonenwesens zu erkennen. Sicher war es dem Schemen inzwischen gelungen, sich aus dem kalten Lawinenberg zu graben und den Paß hinter sich zu lassen, aber offenbar hatten die beiden Diebe nun erneut einen recht großen Vorsprung gewonnen. Als es dunkel zu werden begann und sich das Schneetreiben verstärkte, krochen sie in eine kleine Höhle. Callehain wollte nur eine kurze Ruhepause einlegen, aber kaum schloß er die Augen, schlief er auch schon ein. Und er träumte. Im Morgengrauen stapfte er durch frisch gefallenen Schnee, und das Licht der Laterne in seiner Hand glitzerte unstet über die Eiskristalle. Er blickte sich um, denn er wußte nicht, wo er sich befand, spürte aber dennoch keine Unsicherheit. Das Heft des Schwerts fühlte sich kühl an in seiner linken Hand. Er suchte – aber er wußte nicht genau, wonach. Auf einem nahen Hügel erhoben sich die Mauern einer Bastion, die der Feste von Gorn ähnelte. Callehain schritt darauf zu, und der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln. Doch er kam der Festung nicht näher. Schließlich 194
verharrte er schwer atmend, und hinter ihm sagte eine Stimme: »Du mußt auf der Hut sein, Callehain.« Er drehte sich um. »Pagor...«
Der alte Schattenwächter nickte, und neben ihm knurrte ein kleiner Hund und starrte den Dieb feindselig an. Pagor stützte sich auf einen langen Gehstock und seufzte. »Auf der Hut sein... wovor?« fragte Callehain. Der Alte Pagor lächelte hintergründig. »Manchmal sind Anschein und Wirklichkeit zwei verschiedene Dinge«, sagte er geheimnisvoll. Und er verwandelte sich. Aus dem Gehstock wurde ein Schwert, und der Schädel des alten Schattenwächters wurde zu einem Wolfskopf. Schwarze Augen blickten gierig, und lange Fangzähne blitzten im Licht der nun über den östlichen Horizont steigenden Sonne. Callehain wich unwillkürlich zurück. Die Gestalt – nun halb Mensch, halb Wolf – hob das Schwert und schlug zu. Callehain parierte den Hieb, verlor aber den Halt und stürzte. Die Spitze der Klinge zielte auf seine Kehle, und... Schweißgebadet fuhr Callehain in die Höhe und starrte direkt in Medwyns Gesicht. »Bei Phex, Cal, ich dachte schon...« Er seufzte und vollführte eine bedeutungsvolle, umfassende Geste. »Es gibt keine Menschen in diesen Bergen. Aber vielleicht wohnen hier Geister, und du...« Callehain knöpfte sich den Mantel zu und stand auf. Nur nach und nach gelang es ihm, die düstere Vision des Alptraums aus seinem Bewußtsein zu verdrängen. Sei auf der Hut. Manchmal sind Anschein und Wirklichkeit zwei verschiedene Dinge. »Nein, ich...« Er hustete. »Es ist alles in Ordnung, Medwyn.« Er kroch ins Freie. Ein neuer Tag kündigte sich an. Und das bedeutete, daß sie 195
die ganze Nacht über geschlafen hatten. Zornig blickte er Medwyn an. »Bei Phex: Ich habe dich gebeten, wach zu bleiben und mich zu wecken.« »Ich war müde«, erwiderte Medwyn verlegen. »Du hast in der Nacht geschlafen, als ich den Schneesegler steuerte!« »Zaubern strengt an. Und vergiß nicht, ich habe dir mit meiner magischen Kunst schon mehrfach das Leben gerettet.« Callehain war versucht, sich auf seinen Gefährten zu stürzen und ihm endlich eine schon längst fällige Lektion zu erteilen. Einige Augenblicke lang stand er zitternd und mit zu Fäusten geballten Händen vor dem trotzigen Medwyn, dann senkte er den Kopf, ließ die Schultern hängen und trat auf den Felssims vor der Höhle. Auf dem frischen Schnee sah der Schatten aus wie ein schmutziger Fleck. Während ihrer Ruhezeit war er wieder viel näher gekommen: Der Abstand zu dem dämonischen Wesen betrug jetzt rund zwei Stunden. Medwyn und Callehain machten sich wieder auf den Weg, und am späten Nachmittag erreichten sie das Tal, in dem sich die weißen Mauern der Stadt der Verlorenen Seelen erhoben.
STREIFLICHTER – (2) Gilburian betrat die Kammer, in der sich ein kleinerer Altar befand. Sorgfältig verschloß er die eiserne Tür hinter sich und trat auf den schwarzen Marmor zu. Einige Diener hatten zuvor die in Wandhalterungen steckenden Fackeln angezündet, und ihr zitternder Schein ließ geisterhafte Schatten über die dunklen Wände tanzen. Der alte Magier murmelte eine Formel, die ihm vorübergehend neue Kraft schenkte. Er fühlte sich so müde und ausgelaugt wie schon seit vielen Jahren nicht mehr, und er kannte auch den Grund für seine Erschöpfung. 196
Vor dem Altar, auf dem sich ein rabenköpfiges Abbild Visars erhob, kniete er sich nieder und neigte demütig den Kopf. »Erhöre meine Stimme, Gott des Todes«, murmelte Gilburian heiser und rauh. »Ich bin hierhergekommen, um deinen Segen zu erflehen.« Der durch die Kammer wehende kalte Hauch ließ ihn trotz des dicken Mantels, den er trug, frösteln. Als er den Kopf hob, blickte er in die glühenden Augen des Todesgottes. »Erhabener Visar«, sagte Gilburian, »ich bin dein gehorsamer Diener. Ich bitte dich, mein Leben noch einmal zu verlängern, auf daß ich weitere magische Rätsel lösen, neue Formeln finden und damit deinen Ruhm mehren kann.« Ein leises Knurren ertönte. »Neues Leben, Gilburian? Hast du denn immer noch nicht genug?« Unruhe breitete sich in dem alten Magier aus. »Hundert Jahre nur«, flüsterte er. »Weitere hundert Jahre, Visar. Es gibt noch so viele thaumaturgische Geheimnisse.« »Nach unserem Abkommen«, zischte der Frosthauch des Todesgottes, »bist du in erster Linie dazu verpflichtet, meinem Hohenpriester mit deinen Künsten dienlich zu sein.« Gilburian nickte rasch. »Und so soll es auch bleiben. Ich umwebe die Rüstungen seiner Krieger mit schützendem Zauber, auf daß die Pfeile und Lanzen der ungläubigen Gegner sich nicht hineinbohren können. Ich...« »Aber du hast deinen Zauberstab, das Schwarze Auge und auch die anderen Utensilien deiner Macht eingebüßt«, lautete die kalte Antwort. »Zwei Diebe haben sie dir gestohlen.« »Ich werde sie wiederbekommen.« »Nein. Du hast einen großen Teil deiner Macht verloren, Gilburian, und das bedeutet, daß du deinen Teil unseres Paktes nicht mehr erfüllen kannst.« Plötzlich stieg Angst in dem alten Magier auf – eine Angst, die er längst verloren glaubte. »Herr, ich besitze noch immer die Gabe. Ich bin ein Magier von hohem Rang. Und ich kenne Geheimnisse, die für andere Thaumaturgen nach wie vor ungelöste Rätsel sind. Bitte verschone mich, Herr. Nur 197
hundert Jahre! Und ich verspreche dir...« »Nein.« Es wurde so kalt, daß sich Rauhreif auf dem schwarzen Marmor des Altars bildete, und die glühenden Augen Visars waren wie Tunnel, die in eine andere Welt führten. In die Welt des Todes. Die Fliesen des Bodens begannen von innen heraus zu schimmern und lösten sich auf. Spalten und Risse entstanden und verbreiterten sich rasch. Gilburian erhob sich und wich in Richtung Altar zurück. Der Blick seiner trüben Augen richtete sich plötzlich auf einen tiefen Abgrund. Und der Rand dieser Schlucht kroch auf ihn zu. »Herr, ich flehe dich an...« »Ich rufe dich jetzt zu mir, Gilburian, ins Zwischenreich. Du hast lange genug gelebt, länger als jeder andere Mensch.« »Nein, bitte, Visar, ich...« »Du bist von keinem Nutzen mehr für meinen Hohenpriester. Dharag hat inzwischen ein Bündnis mit der neuen Hexenkönigin geschlossen. Pherina wird fortan deine Stelle einnehmen, Gilburian.« Und Gilburian fauchte: »Hexenzauber!« Und er fügte hinzu: »Aber, Herr: Meine Künste sind mächtiger als die jeder Hexe. Cherinne...« »Cherinnes Seele ist nun bei mir«, donnerte Visar. »Und dich hole ich jetzt ebenfalls.« Gilburian verlor den Halt und stürzte. Unter ihm verflüchtigte sich fester schwarzer Stein, und er fiel... in ein bodenloses Nichts, in dem es immer dunkler und finsterer wurde. Und während er fiel, forderten viele Jahrhunderte ihren Tribut, und sein dürrer Leib zerfiel zu Staub.
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STREIFLICHTER – (3) Murmelnde Stimmen durchwehten den Festsaal der Gesindebastion. Hunderte von Fackeln und Kerzen brannten, und Diener brachten Wein und warme Speisen. Die Vertreter aller Gilden und Clans waren anwesend: Quäler und Meuchler, Halsabschneider und Betrüger, Fälscher und Wegelagerer, Hexen und Stecher, Diebe und noch viele andere. Musikanten spielten leise Lautenmelodien, und Barden sangen mit wehmütigen Stimmen und beschworen die Zeit vor dem Gesindekrieg, als die Gilden noch in ganz Aventurien verbreitet waren und sich nicht nur wie das Gesinde der Diebe auf die Bastion in Al'anfa beschränkten. »Wir brauchen einen neuen Turmherrn!« rief Nasgard. Die anderen Quäler und Meuchler stimmten ihm zu. Die Musikanten legten ihre Instrumente beiseite, und die Diener zogen sich zurück. Nasgard stand auf und hob seinen mit Wein gefüllten Kelch. »Die Intrigen der Hexen hätten uns beinah einen zweiten Gesindekrieg beschert«, sagte der Quälermeister dumpf, und die Blicke der Anwesenden richteten sich auf die Vertreterinnen der Hexengilde. »Nein, Freunde und Gesindekollegen. Haß ist ein unheilvoller Schatten der Vergangenheit. Cherinne ist tot, nun müssen wir unsere Blicke in die Zukunft richten.« »Hört, hört!« ertönte es zustimmend. »Wir brauchen einen neuen Turmherrn«, bekräftigte Nasgard. »Jemanden, der Brücken baut zwischen den einzelnen Gilden. Jemanden, der erfahren genug ist, Frieden zu stiften, Unterschiede zu respektieren und Gerechtigkeit gegenüber allen Gilden zu üben. Es gibt einen solchen Mann. Er befindet sich in unserer Mitte: Aldahad.« Der alte Meister der Diebe hob überrascht den Kopf, und rechts und links von ihm murmelten die Vertreter der anderen Gesinde. Nasgard hob die Arme. »Großes Unrecht widerfuhr seiner Gilde. Dem bösen Hexenzauber Cherinnes fielen zwei 199
junge Diebe zum Opfer, und wir alle waren dabei, als sie verurteilt wurden. Es ist nunmehr an der Zeit, dieses Unrecht wiedergutzumachen. Aldahad soll der neue Turmherr sein!« Stühle knarrten, als die Männer und Frauen aufsprangen, ebenfalls ihre Kelche und Becher erhoben und mit kräftigen Schlucken ihre Zustimmung bekundeten. Aldahad war so überrascht, daß er zunächst kein Wort hervorbringen konnte. Jüngere Meisterdiebe gratulierten ihm und halfen ihm in die Höhe. Die Blicke aller Anwesenden richteten sich auf ihn. »Das... das ist eine große Ehre für mich«, erwiderte er schließlich verlegen. »Ich danke euch. Und ich verspreche, daß ich mich bemühen werde, der großen Verantwortung dieses Amtes gerecht zu werden. Wir alle sind Opfer des letzten Gesindekrieges. Nur dann, wenn wir einig sind, können wir alle Krisen meistern. Es ist verderblich, wenn einige Gesinde auf die Vertreter anderer Gilden herabsehen und sie für minderwertig halten.« »Hört, hört!« Aldahad senkte den Kopf und suchte nach den passenden Worten. »Es ist wahr: Zwei ju ngen Novizen meiner Gilde widerfuhr großes Unrecht. Wir wissen jetzt, warum Cherinne ihre Bestrafung verlangte und ihnen eine Aufgabe gab, die uns allen als unerfüllbar erschien. Die verstorbene Hexenkönigin war von Haß zerfressen – einem Haß auf die ehrenwerte Gilde der Magier, die es bis zum heutigen Tag ablehnt, die Hexen aufzunehmen. Oh, Cherinne war schlau, und sie hatte alles bis ins kleinste Detail geplant. Sie wartete bis zur Nacht vor unserer traditionellen Diebesweihe, denn sie wußte, daß sich in jenen Stunden vor der Erteilung der Meisteraufgabe Schüler und Novizen unseres Clans in ihren Hexenturm schleichen. Sie wählte Callehain, denn er ist – war – mein bester und begabtester Nacheiferer. Sie sorgte dafür, daß Shaila ihm ein magisches Medaillon gab, das einen ganz bestimmten Hexenzauber beinhaltete. Und es gelang ihr auch, den Gesinderat dazu zu bewegen, Callehain und Medwyn mit dem Auftrag zu strafen, in der im Ehernen Schwert gelegenen weißen Stadt den legendären Seelenstein zu stehlen.« 200
Es herrschte jetzt völlige Stille im Festsaal. Aldahad holte tief Luft und fuhr fort: »Cherinne wußte, daß es diese Stadt und den Seelenstein wirklich gibt und es sich dabei nicht nur um eine Legende handelt. Und sie wußte weiterhin, daß nur jemand, der nicht die magische Gabe besitzt, dazu in der Lage ist, durch das Tor in der weißen Mauer zu wandern. Darüber hinaus war sie sicher, daß Callehain und Medwyn versuchen würden, in den Schwarzen Tempel Al'anfas vorzudringen und dort das Schwarze Auge Gilburians zu stehlen.« Der alte Meisterdieb seufzte. »Cherinne war durchtrieben. Nur das Schwarze Auge konnte meinen beiden Schülern den Weg weisen.« Und, ganz leise: »Ich selbst legte ihnen nahe, das Unmögliche zu wagen. Und es gelang ihnen auch.« Er sah wieder auf. »Das Medaillon, das Callehain in Cherinnes Auftrag von Shaila erhielt, versetzte die beiden jungen Diebe in die Lage, an den magischen Fallen Gilburians vorbeizugelangen. Und sie stahlen nicht nur das Schwarze Auge, sondern auch den Zauberstab und andere magische Utensilien. Callehain und Medwyn verließen Al'anfa, und wir wissen nicht, was aus ihnen geworden ist. Unterdessen richtete die Hexenkönigin ihre Aufmerksamkeit auf die anderen Punkte ihres Plans: Sie stiftete den Aufstand der Hanse an, um Dharag abzulenken und zu verhindern, daß er die Macht Visars beschwor, um der beiden Diebe, die in seinen Tempel eindrangen, habhaft zu werden. Das war der große Fehler Cherinnes: Der Hohepriester hatte zu jenem Zeitpunkt schon Verdacht geschöpft und einen Mahr auf den Weg geschickt. Der Aufstand der Hanse bestärkte sein Mißtrauen. Ihr alle wißt, welche Konsequenzen sich daraus ergaben.« Murmelnde Zustimmu ng. »Der Seelenstein...« sagte Aldahad nachdenklich. »Er beinhaltet die Geister der Verstorbenen, die nicht den Weg ins Jenseits fanden. Für einen begabten Thaumaturgen ist er somit der Schlüssel zu einer fast gottgleichen Macht, denn Seelen sind magische Präsenzen. Cherinne hoffte, sich mit Hilfe des Seelensteins an der Gilde der Magier rächen zu können. Sie wollte einen neuen magischen Krieg entfesseln 201
und die Hexen zur beherrschenden Macht in ganz Aventurien machen. Das war ihr Plan. Aber sie brachte damit nur unschuldige Menschen um und fand schließlich selbst den Tod.« Aldahad machte eine kurze Pause und dachte nach. »Wir wissen nicht, ob Callehain und Medwyn noch leben. Ein Todesbote Visars verfolgt sie, ein Myr, und außerdem trägt einer meiner beiden Schüler ein Medaillon, von dem er glaubt, es sei eine magische Gabe, die ihm in einem Notfall helfen könne. Während der Folter hat Cherinne all ihre Geheimnisse preisgegeben. Wir wissen jetzt auch, welchen Zweck das aus Zwergengold gefertigte Medaillon schließlich erfüllen soll: Wenn einer der beiden Diebe den Seelenstein berührt, öffnet es sich, und dann manifestiert sich eine thaumaturgische Präsenz, die Medwyn und Callehain auf der Stelle töten und anschließend den Seelenstein greifen und hierherbringen wird. Shaila versprach Callehain, er solle das Kleinod dann öffnen, wenn er sich in einer ausweglosen Lage befände. Und sicher glaubt er auch, diese Entscheidung frei treffen zu können. Aber das ist nicht der Fall. Das Medaillon wird erst dann aufklappen, wenn meine beiden Schüler die Stadt mit den weißen Mauern erreicht haben und den Seelenstein berühren.« Aldahad sah sich um, und der Blick seiner trüben Augen streifte nachdenkliche Gesichter. »Als neuer Turmherr verspreche ich: Mit meiner ganzen Kraft will ich zu verhindern versuchen, daß jemals wieder Angehörige der in der Gesindebastion von Al'anfa vertretenen Gilden Opfer eines verräterischen Komplotts werden!« Die Männer und Frauen jubelten ihm zu, und die Musikanten spielten helle Lautenakkorde. Das Fest nahm seinen Fortgang, und erst nach Stunden machten sich die ersten Gesindevertreter auf den Rückweg in ihre Kammern und Gewölbe. Kurz darauf verabschiedete sich auch Aldahad, der neue Turmherr. Als er durch leere Gänge und Korridore wanderte und den durch die geöffneten Flüsterschächte wehenden Stimmen 202
lauschte, dachte er an die beiden jungen Diebe, die er auf die Straße des Todes hatte schicken müssen. »Sicher sind sie bereits ums Leben gekommen«, dachte er, als er sein Zimmer betrat und sich ächzend auf einen Stuhl sinken ließ. »Irgendwo in der Wasserwüste des Perlenmeeres. Oder fern im Norden, in einem Tal des Ehernen Schwerts. Und wenn es ihnen tatsächlich gelungen sein sollte, zu überleben und die Stadt der Verlorenen Seelen zu erreichen, so werden sie sterben, wenn einer von ihnen den Stein berührt, den sie für Cherinne stehlen sollten ...« Irgendwann schlief Aldahad ein. Als er nach Stunden wieder erwachte, packte er seine Sachen, verließ die Kammer und bezog das Quartier des Turmherrn.
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Zuversicht ist ein Jungbrunnen, eine Quelle, aus der neue Kraft sprudelt. Hoffnungslosigkeit aber wirkt wie ein Gift, das langsam Körper und Geist zerfrißt. Der Alte Gelehrte aus Punin in seinem Buch der Tausend Wahrheiten
16. IN DER STADT DER VERLORENEN SEELEN Vor den Mauern der weißen Stadt fanden sie Spuren im Schnee: tiefe Abdrücke, die jeweils den zehnten Teil einer Zehntellänge durchmaßen. Callehain bückte sich und betrachtete die Fährte, während Medwyn sich im Kreis drehte und immer wieder murmelte: »Was für eine Stadt! Nie habe ich ebenmäßigere Mauern gesehen, nie eine hellere Pracht!« »Es war der Drache.« »Wie?« Medwyn starrte ihn an. Callehain deutete auf die Spuren im Schnee. »Diese Abdrücke hier... sie stammen von einem Drachen.« »F-fuldigor«, hauchte Medwyn und richtete den Blick gen Himmel. Nur filigrane Wolkenschleier zeigten sich am türkisfarbenen Firmament. Nirgends breiteten sich schuppige Drachenschwingen aus. Über den hohen Hang hinter ihnen eilte die Schattengestalt des Dämonen. Callehain schauderte, als er den Blick auf das Schattenwesen richtete. Rasch drehte er sich um. Vor ihnen klaffte eine breite Lücke in der glatten weißen Außenmauer der Stadt. Eine schmale Gasse schloß sich an. Gefolgt von Medwyn setzte er sich in Bewegung. Dumpf hallte das Geräusch ihrer Schritte von den Wänden wider. Als Callehain 204
durch das Tor trat, verspürte er für einen Sekundenbruchteil einen bohrenden Schmerz im Nacken: die Barriere, die alle magisch begabten Geschöpfe daran hinderte, in die Stadt zu gelangen. Stille herrschte jenseits der Mauer. Die Grabesruhe des Todes. »Ich... ich habe Angst«, flüsterte Medwyn. »Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit«, sagte Callehain. »Der Schatten holt jetzt rasch auf.« Vage Hoffnung glomm in ih m auf. »Vielleicht... vielleicht hindert ihn die magische Barriere am Betreten der Stadt.« Immer rascher schritt Callehain aus, und bald mußte der zwergenhafte Medwyn laufen, um mit dem größeren Dieb Schritt zu halten. Alle Mauern und Wände waren weiß wie Schnee, und selbst das unzerbrochene Glas der Fenster schimmerte in einem hellen Glanz. Die bizarren Muster von Eisblumen hatten sich darauf gebildet. Aber nichts bewegte sich hinter ihnen, und nur der Wind flüsterte und sang sein endloses Lied. Kein Schnee hatte sich auf dem weißen Marmor der Straßen und Gassen angesammelt, und nirgends konnten die beiden Diebe Kratzer in dem Pflaster erkennen. Es war, als sei die Stadt gerade erst errichtet worden. Und doch wußte Callehain, daß sie viele Jahrtausende alt und zu einer Zeit erbaut sein mußte, als es noch keine Menschen in Aventurien gegeben hatte. Medwyn wurde von einem offenen Eingang angelockt und blieb in der Tür stehen. »Callehain, ich... Ohhhhh! Sieh dir das an!« »Nicht!« rief Callehain. »Bleib auf der Straße.« Aber Medwy n achtete nicht auf seine Worte. Er verschwand in dem dunklen Eingang des kleinen Hauses. Einige Augenblicke lang herrschte wieder Stille, dann ertönte ein schriller Schrei. Callehain fluchte, eilte auf das Haus zu und trat ebenfalls ein. Das durch die offene Tür fallende Licht spiegelte sich auf Pokalen aus Gold und Teller aus purem Silber wider, und in der Ecke stand eine Truhe, die bis zum Rand mit funkelnden Edelsteinen gefüllt war. Medwyn stand in der Mitte des Zimmers, preßte sich die Hände auf die 205
Ohren und schrie. Die wispernden Stimmen bahnten sich irgendwie einen Weg in Callehains Bewußtsein, und dort wurde aus dem Flüstern ein akustischer Orkan, dessen Böen an der Innenseite seiner Stirn entlangfauchten. Hilf uns. Errette uns. Erlöse uns. Immer und immer wieder, lauter und lauter. Callehain drehte sich im Kreis, ertastete irgendwann etwas Weiches, krallte die Hände daran fest und wich in Richtung des Lichtscheins zurück. Als er auf die Straße stolperte, wurde das schrille Gellen in seinem Hirn wieder zu einem Wispern, das rasch ganz verstummte. »Das...« Er schnappte nach Luft. »Das waren die an den Seelenstein gebundenen Geister.« »Hast du das Gold gesehen?« Medwyn starrte ihn groß an und schien die Stimmen schon wieder vergessen zu haben. »Und das Silber und die Pracht der Edelsteine? Ich... ich könnte einen Zauber beschwören, der uns schützt, und dann...« Hinter ihnen bewegte sich etwas. Als sich Callehain umdrehte, sah er den dämonischen Schatten. Seine Hoffnung hatte sich nicht erfüllt: Der Schemen eilte durch das Tor, und die magische Barriere hinderte ihn nicht daran, die weiße Stadt zu betreten. Wie ein schwarzer Pfeil sauste er durch die Straßen und Gassen und kam immer näher. Callehain lief los, und Medwyn folgte ihm wimmernd. Er flehte Phex um Hilfe an und verdammte die in dem Haus lagernden Schätze. Sie liefen und liefen, bis ihre Lungen schmerzten und ihnen schwarz vor Augen wurde. Die Luft war dünn in dieser Höhe, und Callehain hatte das schreckliche Gefühl, langsam zu ersticken. Das auf seiner Brust ruhende Medaillon schien nun in Flammen zu stehen. Wenn sie an eine Abzweigung kamen und nicht wußten, welchen Weg sie nehmen sollten, ließ er sich von dem Hitzehauch leiten. Sie liefen immer tiefer in die Stadt hinein. Die Häuser wurden größer, hohe Zinnen und Erker reckten sich den Gipfeln des Ehernen Schwerts entgegen. Schließlich endete die Straße vor den großen Säulen eines recht niedrigen, langgestreckten Gebäudes. 206
Callehain verharrte schnaufend und blickte sich rasch um. Nirgends zweigte eine andere Straße oder Gasse ab. Sie befanden sich in einer Sackgasse, und es blieb nicht mehr die Zeit, umzukehren und nach einem anderen Weg zu suchen. Er stieß Medwy n vorwärts, sprang über die emporführenden Stufen und eilte an den ersten Säulen vorbei. Er zögerte, das saalartige Innere des Gebäudes zu betreten, und erinnerte sich an den Stimmenorkan, der in dem kleineren Haus in ihm entstanden war. Dann gab er sich einen Ruck. Es blieb alles still. Selbst der Wind blieb aus dem großen Saal verbannt. Ihre Gestalten spiegelten sich verzerrt in großen, kristallartigen Gebilden wider. Sie standen dicht an dicht auf der anderen Seite der Halle, vor der weißen Wand. »Das ist er«, hauchte Callehain. »Der Seelenstein.« Zwei Marmorhände wuchsen aus dem Boden und formten eine Schale, in der eine Kristallkugel ruhte, die etwa so groß sein mochte wie das Schwarze Auge Gilburians. Irgend etwas schien sich im Innern dieser Kugel zu bewegen, aber die Entfernung war noch zu groß, als daß Callehain hätte bestimmen können, um was es sich dabei handelte. »Bist du sicher?« fragte Medwyn. Callehain holte sein Medaillon hervor. Es glänzte so hell wie die Sonne im Süden Aventuriens. »Ja«, sagte er. »Ich habe nicht den geringsten Zweifel.« Daraufhin setzte sich Medwyn sofort wieder in Bewegung und machte Anstalten, sich an den ersten Spiegelbildern vorbeizuschieben. Callehain streckte rasch die Hand aus und hielt ihn zurück. »Sei vorsichtig. Ich...« Er schüttelte den Kopf und horchte, aber die Flüsterstimme des magischen Geschenks Shailas blieb nach wie vor unverständlich. »Ich weiß nicht genau, was für eine Gefahr uns von den Spiegeln drohen könnte, aber sieh nicht hinein. Sieh auf keinen Fall hinein!« Vorsichtig traten sie durch die Zwischenräume, denn jedesmal wenn der Pelz ihrer Mäntel über die Kristalle strich, knisterte es leise. Langsam kamen sie den beiden Händen, die 207
den Seelenstein trugen, näher. Hinter ihnen bewegte sich etwas. Callehain drehte sich um und sah den Schatten, der die Halle nun ebenfalls betreten hatte. Unter dem tief in die Stirn gezogenen Rand der Kapuze glühten zwei rote Augenschlitze, und von den Fingerkuppen der Hand, die sich hob und auf ihn deutete, lösten sich blendend helle Funken. Callehain duckte sich, und die Irrlichter sausten über ihn und Medwyn hinweg und stoben über die Marmorwand des Saals. Feine Risse bildeten sich darin, und irgendwo knarrte etwas. »Weiter!« rief Callehain. »Bei Phex: Beweg dich endlich!« Als sie das Spiegellabyrinth fast durchquert und die beiden Hände erreicht hatten, wurde Medwyn von seiner Neugier überwältigt. Er wandte den Kopf zur Seite und sah einen der kristallenen Quader an. Dann stöhnte er leise und erstarrte zu völliger Reglosigkeit. Callehain ergriff ihn an der Schulter und wollte ihn mit sich ziehen, aber Medwyn rührte sich nicht von der Stelle. Plötzlich fühlte sich seine Haut so hart an wie der Granit des Ehernen Schwerts. In dem Kristall vor ih m zeichneten sich seine Züge ab. Aber es war kein bloßes Spiegelbild. Die Muskeln des Gesichts bewegten sich und formten eine Fratze. Dunstiges Wallen wogte aus dem Innern des Quaders heran, und in diesem Nebel formten sich Bilder der Vergangenheit: die Räume der Gesindebastion, die Kälte im Innern des Schwarzen Tempels von Al'anfa, der magische Sturm, das Perlenmeer, das Orakel von Tschintai, der Schattenwächter, die Feste von Gorn. »Medwyn...« Callehain zog und riß, aber sein Gefährte war wie ein unbeweglicher Fels. »Medwyn, der Spiegel... er saugt deine Erinnerungen auf; sein Glanz frißt sich in dich hinein und verschlingt dein Ich!« Medwyn begann zu altern. Furchen bildeten sich in seiner glatten Haut, und der Glanz der großen blauen Augen trübte sich. Erneut versuchte Callehain, seinen Gefährten von dem Spiegel fortzuziehen, aber wieder hatte er keinen Erfolg. Es war, als klebe Medwyn am Boden fest, als seien seine Füße und Beine darin verankert. Dann war der Schatten heran. 208
Callehain spürte eine Berührung an der Schulter, und von der entsprechenden Stelle ergoß sich Eiseskälte in seinen Leib, während das Medaillon, das nun auf dem Pelz seines Mantels hing, noch stärker zu glühen begann. Callehain taumelte zurück und stürzte. Das Bild vor seinen Augen verschleierte sich kurz, und als sich die farbigen Nebelschwaden auflösten, sah er über sich das mund- und nasenlose Gesicht des Schattens. Das dämonische Geschöpf streckte erneut die Hand nach ihm aus. Callehain kroch rasch zurück, bis er mit dem Kopf gegen eine der beiden aus dem weißen Boden ragenden Hände stieß, die den Seelenstein trugen. Er suchte irgendwo nach Halt, aber immer wieder glitt er an dem glatten Stein ab, und verlor rasch jegliches Gefühl in den Fingern. Der Frost des dämonischen Schattens breitete sich in ihm aus, vereinnahmte alle Wärme, die er in sich trug, betäubte die Empfindungen und schläferte die Gedanken ein. »Medwyn!« rief er. »Medwyn, der Zauberstab! Hilf mir!« Aber aus den Augenwinkeln sah Callehain, daß sein Gefährte noch immer in dem Bann des Spiegels gefangen war. Er rührte sich nach wie vor nicht von der Stelle, und es war zumindest fraglich, ob er seine Worte überhaupt verstanden hatte. Callehain konzentrierte sich. Er dachte an die Gesindebastion, an Aldahad, an den Abschied von seinem Lehrmeister. Und irgendwo in einem verborgenen Winkel seines Selbst fand er einen Rest von Kraft. Es gelang ihm, einen Teil der Kälte zu verdrängen und durch die Erinnerung an Wärme zu ersetzen. Er zog sich in die Höhe. Als der Schatten erneut nach ihm griff, duckte er sich, zog den Dolch, den er von dem Alten Pagor erhalten hatte, aus der Gürtelscheide und stieß zu. Die Klinge bohrte sich tief in den schwarzen Leib des Schemen und traf auf keinen spürbaren Widerstand. Als er das Messer wieder hervorzog, schloß sich die Wunde sofort, und nicht ein einziger Tropfen Blut fiel auf den weißen Boden. Die Hand des Schattens griff nun nach der Kette aus Zwergengold, und berührte Callehain an der Schläfe. Schlagartig breitete sich Frost hinter seiner Stirn aus. Callehain knickte in den Knien ein, und wie aus weiter Ferne 209
vernahm er ein leises Knirschen, mit dem die aus Zwergengold gefertigte Kette riß. Er rollte sich herum und kam wieder auf die Beine. Direkt neben ihm wuchs eine der beiden Hände aus dem Boden. Der Seelenstein schimmerte und glänzte. Der Schatten stand nicht allzuweit entfernt und hielt das Medaillon nun in seiner schwarzen Hand. Aus den Augenwinkeln konnte Callehain Medwyn sehen: Der kleinwüchsige Dieb hatte sich inzwischen in einen uralten Greis verwandelt. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis der Seelenspiegel sein ganzes Ich aufgesaugt hatte und nur noch eine leere Hülle hinterließ. Hilf uns. Errette uns. Erlöse uns. Jetzt konnte er ganz deutlich sehen, was sich im kristallenen Innern des Seelensteins bewegte. Gesichter waren es. Hunderte und Tausende von winzigen Gesichtern. Die Augen war weit aufgerissen, die Züge entstellt. Seit Äonen mochten diese Geister darauf warten, befreit zu werden und endlich ihren langen Weg ins Jenseits fortsetzen zu können, um dort, im Reich des Dunkels, ewige Ruhe zu finden. Hilf uns. Errette uns... Callehain spürte auch die Macht, die der Seelenstein verkörperte. Er besaß keine magische Gabe wie ein echter Zauberer, aber tief in seinem Innern fühlte er ein sonderbares Zittern und Beben – ein Vulkan, der kurz vor dem Ausbruch stand und dessen mentale Feuer selbst den Schatten verbrennen konnten, der nun auf Callehain zuschritt. Der junge Dieb zögerte nicht länger. Er hatte nur noch eine einzige Chance, und die nahm er auch wahr. Er sprang vor und ergriff den Seelenstein. Als seine Fingerkuppen den Kristall berührten, veränderte sich alles. Der Schatten blieb wie angewurzelt stehen, als. das Medaillon zu Irrlichtern begann und sich öffnete. Ein helles Licht sprang hervor und verwandelte sich schnell wie ein Blitz in einen großen Rachen, der nach dem dämonischen Schemen schnappte. Der Myr starb lautlos. Und der Zauber aus dem Medaillon wuchs weiter an, zu 210
einer riesenhaften Gestalt, die direkt einem Alptraum entsprungen zu sein schien. Eine Krallenpranke holte aus und schlug nach Callehain. Der Dieb duckte sich rechtzeitig, und die Klauen sausten dicht über seinen Schopf hinweg. Er umfaßte den Seelenstein, hob ihn aus der Fassung und taumelte einen Schritt zurück. Auf dem schwarzen Mantel des Mahr – mehr war von dem Schatten nicht übriggeblieben – rutschte er aus und stürzte. Der Seelenstein entfiel seinen Händen und zersplitterte auf dem Marmorboden. Die Myriaden Fragmente segelten dahin, und das dem Medaillon entwachsende Ungeheuer brüllte ohrenbetäubend und versuchte die Splitter einzufangen. Doch sie lösten sich rasch auf und verwandelten sich in farbige Dunstschlieren. Oh, endlich frei! ertönte es. Und: Wir danken dir, Dieb aus dem Süden, Lange haben wir auf jemanden gewartet, der uns erlöst. ] etzt ist es endlich soweit... Die Decke der Halle wurde transparent, und Medwy n erwachte aus seiner Starre und rief: »Bei Phex: Die Mauern stürzen ein!« Feine Risse bildeten sich in den Seelenspiegeln und zerfielen zu feinem pulvrigen Staub, der in großen Wolken aufwirbelte, als Medwyn mit ungelenken Schritten auf Callehain zuhielt. Sein Gesicht war wieder glatt und faltenlos, und die blauen Augen glänzten wie zuvor. »Was ist denn ge...« Callehain winkte nur und nahm sich nicht die Zeit für eine Erklärung. Er ergriff seinen Gefährten am Arm und ging auf den Ausgang zu. Hinter ihnen brüllte der wütende Hexendämon und versuchte noch immer, die davonschwebenden Seelen wieder einzufangen. Es knarrte und ächzte in den Mauern. Medwyn hatte recht: Die Wände des niedrigen Gebäudes konnten jederzeit einstürzen. Während sie durch den Spiegelstaub hasteten, wurde die Decke vollkommen durchsichtig und löste sich schließlich ganz auf. Die vormals in dem Kristall gefangenen Seelen vereinten sich zu einer in allen Regenbogenfarben leuchtenden Wolke, die aus Tausenden von Augenpaaren 211
bestand. »Sieh nur!« Sie stolperten auf die weiße Straße, und Medwyn deutete gen Himmel. Ein dunkler Punkt fiel aus dem von zarten Wolkenschleiern durchsetzten Blau und breitete große Schwingen aus. »Der Drache! Das muß der Drache Fuldigor sein!« Hinter ihnen krachte und donnerte es, als das Hexenungeheuer die Mauern durchbrach. Es wuchs noch immer und war inzwischen fast so groß wie die höchsten Zinnen der weißen Stadt, Der lehmgelbe, borkige Leib streckte sich, und die Krallenpranken griffen immer wieder nach der davonschwebenden Seelenwolke. Der riesige Rachen öffnete sich weit und ließ mit seinem donnernden Grollen die ganze Stadt erbeben. »Weg hier!« keuchte Callehain und lief los. Und während er lief, sah er den Drachen. Mit weit ausgebreiteten Schwingen sauste Fuldigor heran, und der Blick seiner schwefelgelben Augen streifte kurz die beiden Diebe. Rauch wehte aus seinen Nüstern, und er spie Feuer. Die Flammen hüllten das dem Medaillon entsprungene Ungeheuer ein, und binnen weniger Augenblicke verbrannte es zu stinkender Asche. Der Wind grub seine imaginären Hände in die Überreste des Dämonen und errichtete aus dem Staub eine Glocke, die er über die Stadt stülpte. Callehain und Medwyn liefen, bis ihre Knie vor Erschöpfung nachgaben und sie in weichen Schnee sanken. Die Stadt der Verlorenen Seelen lag nun einige Längen hinter ihnen, und der Drache war ein riesiger Schatten, der über den sich auflösenden Mauern und Wänden Kreise zog. Callehain deutete auf den Zugang einer nahen Höhle. Sie schoben sich durch den Spalt. Die Luft im Innern der Grotte schmeckte muffig und abgestanden, aber hier waren sie wenigstens vor den suchenden Blicken Fuldigors sicher. »Unsere Spuren im Schnee...« schnaufte Medwyn. Callehain deutete nach draußen. Der Wind lebte jetzt wieder auf, und erste Schneeflocken fielen. Es dauerte nicht lange, und eine neue weiße Decke verbarg die Abdrücke, die die beiden Diebe im Schnee hinterlassen hatten. 212
Die Stunden verstrichen. Der Tag wich der Nacht, und Medwyn und Callehain schliefen. Als sie wieder erwachten, war es noch dunkel, aber jenseits der östlichen Gipfel des Ehernen Schwerts glühte bereits das Morgenrot. Die beiden Diebe nahmen eine karge Mahlzeit – ihre Vorräte reichten noch für einige Tage. Anschließend schob sich Callehain durch den schmalen Felsspalt nach draußen. Die Stadt der Verlorenen Seelen existierte nicht mehr. Dort, wo sich noch am Vortage ihre weißen Zinnen erhoben hatten, erstreckte sich jetzt ein Hochplateau, auf dem Wolken und Wind ihre Schneelast abgeladen hatten. Nichts erinnerte mehr an die Mauern aus weißem Marmor, an die Spiegel, die das Ich eines Lebenden vereinnahmten, an Fuldigor, den Wächter des Seelensteins. Callehain sah sich lange um, aber er konnte den Drachen nirgends sehen. Er kroch zurück. »Wir sollten die Nacht abwarten«, sagte er. »Wenn es wieder dunkel geworden ist, verlassen wir die Höhle und machen uns auf den Rückweg.« Medwyn hatte Zauberstab und Schwarzes Auge hervorgeholt und drehte die magischen Utensilien unschlüssig in den Händen. »Auf den Rückweg wohin?« fragte er traurig. »Wir sind noch immer Parias, Cal. Wir haben versagt. Der Seelenstein – er ist zersplittert.« Er lachte bitter, und von seiner Überheblichkeit war nichts mehr zu spüren. »Wenn wir in Al'anfa ankommen und vor Meister Aldahad treten, haben wir nicht den geringsten Beweis dafür, wirklich im Ehernen Schwert gewesen zu sein und die weiße Stadt gefunden zu haben. Er wird uns nicht glauben und wieder fortschicken, und bis an unser Lebensende ...« Er hob die Schultern. »Na gut. Dann verliert die Gilde eben die besten Meisterdiebe, die sie je hatte. Und wenn mein Name nicht mit goldenen Lettern im Buch der Diebesehre verzeichnet wird, dann eben in den Annalen der Thaumaturgie. Denn schließlich bin ich jetzt auch Medwy n der Meistermagier, den man auch den Dämonenschreck nennt. Ich...« Callehain rollte mit den Augen und wandte sich ab. Stunden später, als sich die Sonne dem westlichen Horizont 213
entgegenneigte, brachen sie auf. Sie kehrten den Weg zurück, den sie gekommen waren. Fuldigors Schatten verdunkelte nicht das Licht der Sterne, und allmählich begann Callehain zu glauben, daß der Drache zusammen mit der Stadt der Verlorenen Seelen verschwunden war. Wenn das stimmte, dann war er jetzt wirklich zu einer Legende geworden. Sechs Tage später befanden sie sich bereits wieder in den Vorbergen des Ehernen Schwerts. Den Schneesegler hatten sie unversehrt dort vorgefunden, wo er von ihnen zurückgelassen worden war, und jetzt kamen sie wesentlich schneller voran. »Die Reise, die nun vor uns liegt, ist noch länger als die, die wir bereits hinter uns haben«, sagte Callehain. »Es gibt keinen Rauch der tausend Feuer mehr, der uns über Tausende von Längen trägt. Aber wir schaffen es bis nach Al'anfa. Ja, ganz bestimmt. Wir schaffen es.« Er drehte den Kopf zur Seite, als er keine Antwort erhielt. Medwyn kauerte neben ihm im Sitz des Schneeseglers und schlief. In unregelmäßigen Abständen murmelte er immer wieder etwas vom goldenen Buch der Diebesehre und dem Ruhm, den er als Meistermagier zu erringen gedachte.
STREIFLICHTER – (4) In den zwei Jahren, die seit dem Aufbruch der beiden Diebe aus der Gesindebastion Al'anfas vergangen waren, hatten sich Medwyn und Callehain verändert: Die Züge ihrer Gesichter" waren nicht mehr so weich wie zuvor, und in den Augen glänzten die Erinnerungen an viele Abenteuer, die sie während ihrer Reise erlebt hatten. Ein dichter schwarzer Bart zierte die Wangen und Oberlippe Callehains, und selbst Medwyn wirkte nicht mehr wie ein kleiner und verspielter Junge, sondern wie ein Mann. Turmherr Aldahad hob die Arme, und sogleich verstummte das Stimmengemurmel. Einer der jüngeren Meisterdiebe zog das traditionelle Brandeisen aus dem Feuer, und es gelang 214
Callehain und Medwyn, einen dumpfen Schmerzensschrei zu unterdrücken, als sich das glühende Metall in die Haut an ihren Hüften sengte. »Ich erkläre euch hiermit von aller Schuld frei!« rief Aldahad feierlich. »Ihr seid einer Hexenverschwörung zum Opfer gefallen und habt euch wie wahre und aufrechte Vertreter unserer Gilde verhalten. Ich erhebe euch jetzt in den Stand von Gesellen.« Die anderen Meister, Gesellen und Novizen klatschten und jubelten, und Musikanten spielten ein fröhliches Lied. Callehain stellte überrascht fest, daß auch die anwesenden Repräsentanten der anderen Gesinde Medwyn und ihn mit deutlichem Wohlwollen betrachteten. Quälermeister Nasgard lächelte sogar. Callehain verneigte sich, und als er nach einer Weile wieder den Kopf hob, sagte er: »Wir danken dir, Turmherr Aldahad. Und wir sind nunmehr bereit, voller Ehrfurcht der Gilde gegenüber unsere Meisteraufgabe in Empfang zu nehmen.« Aldahad sah ihn an. Seine trüben Augen leuchteten stolz. »Ihr habt uns viel erzählt von euren Erlebnissen, und ihr behauptet nach wie vor, in der Stadt der Verlorenen Seelen gewesen zu sein. Leider aber konntet ihr uns keine Beweise dafür vorlegen, und das Gildengesetz verlangt, daß in einem solchen Zweifelsfall eine neue Meisteraufgabe gestellt werden muß.« Er holte tief Luft. »Gesellen seid ihr nun, und ich werde euch zu mir gleichberechtigten Meistern erklären, wenn es euch gelungen ist, das alte Wappen der Diebesgilde aus der Schatzkammer des Königs von Gareth zu stehlen...« »Hach!« platzte es aus Medwyn heraus. »Nichts ist zu schwer oder zu schwierig für mich, den besten Dieb Al'anfas, den Meister der magischen Kunst, der auch den Beinamen Dämonenschreck trägt. Oh, wir werden dem König von Gareth zeigen, daß keine noch so umfangreichen Schutz- und Absicherungsmaßnahmen ausreichen, um Diebe wie uns zu schrecken. Wir bringen dir das Wappen, Aldahad, und anschließend werden unsere Namen in der ersten Zeile des goldenen Buches der Diebesehre verzeichnet, auf daß wir 215
ewigen Ruhm gewinnen...« Callehain seufzte nur. Zwei Wochen später verließen sie Al'anfa und machten sich auf den Weg nach Gareth. Doch wie sie es anstellten, das alte Wappen der Diebesgilde aus der Schatzkammer des Königs von Gareth zu stehlen, ist eine andere Geschichte.
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