Atlan - Minizyklus 06 Intrawelt Nr. 06
Das dritte Gesetz von Cathrin Hartmann
Im Jahr 1235 Neuer Galaktischer Zeitrec...
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Atlan - Minizyklus 06 Intrawelt Nr. 06
Das dritte Gesetz von Cathrin Hartmann
Im Jahr 1235 Neuer Galaktischer Zeitrechnung – das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht – befindet sich der relativ unsterbliche Arkonide auf einer verwegenen Mission. Atlan ist in die Intrawelt vorgestoßen, um ein Mittel gegen die unheimlichen Lordrichter zu finden: den Flammenstaub. Nach wie vor bedrohen diese mit ihren Truppen mehrere Galaxien. Gleich zu Beginn seiner Odyssee durch die gigantische Hohlwelt gerät der Arkonide an Peonu, einen Diener der Chaotarchen. Dieser raubt ihm einen Teil der Seele und kettet dadurch ihrer beider Schicksale aneinander. Peonu lässt den Arkoniden ziehen, denn er weiß, dass jener ihm fortan verpflichtet sein wird. Atlan durchreist weiterhin die Intrawelt auf der Suche nach dem Flammenstaub und lernt dabei fremde, exotische Völker kennen. Begleitet wird er mittlerweile von drei Individuen: dem Echsenwesen Jolo, dem vogelartigen ehemaligen Erzählsklaven Tuxit und dem entfernt schneckenähnlichen Geschlechtswechsler Albion. Albion erleidet allerdings einen schweren Anfall – und Atlan erfährt DAS DRITTE GESETZ …
Das dritte Gesetz
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Die Hautpersonen des Romans: Atlan - Der Arkonide erlebt, wie ein Mementa sich Bahn bricht. Albion - Der »Breite Mann« zehrt sich aus. Jolo - Das Echsenwesen vergisst vor Sorge sogar das Essen. Tuxit - Ein alter Vogel betätigt sich als Krankenpfleger.
1. »Haa-lloo, Aat-laan! Träumst du, oder ist das eine interessante neue Form der Meditation?« Sehr zu meiner Verblüffung hatte es Jolo geschafft, mindestens fünf Minuten still zu sein. Nun jedoch riss mich sein nervtötendes Geplapper aus den Erinnerungen an das blutige Ende von Luck dem Proporzen, das ich nur schwer aus meinem Geist verbannen konnte. Unser Abschied von der Parzelle Pregesbau hatte in meinen Augen eher einer Flucht geglichen, und ich war mehr als froh, den Nomaden unbeschadet entkommen zu sein. Zum Glück waren sie nicht alle so wie Luck gewesen – doch mir schwante, dass wir uns mit ihnen noch auf die eine oder andere unangenehme Situation gefasst machen durften. Die Herrschaftsphantasien Lucks waren gewiss nicht mit ihm gestorben. Ich nahm die Stirn von dem dünnen, durchsichtigen Material, das hier im oberen Stock der Gondel panoramaartige Fenster bildete. Wir hatten Pregesbau im Morgengrauen verlassen, und die Zeltstadt der Nomaden war längst im Dunst hinter uns verschwunden. »Keine Meditation«, gab ich zurück und legte die Stirn wieder an das Fenster. Das kühle Material linderte den Eindruck, an einem leichten Fieber zu leiden. »Oha! Wir haben schlechte Laune«, mutmaßte das Echsenwesen. »Und wenn? Wir können froh sein, dass wir den Nomaden mit heiler Haut entkommen sind.« Ich sah in die Schwindel erregende Tiefe, und in einem Anfall von Übelkeit und Selbstmitleid schloss ich die Augen. »Na, na – übertreib mal nicht«, be-
schwichtigte Jolo. »Andererseits … bei dem, was du über ihre heimlichen Umsturzpläne weißt …« Jolo gab ein leises Kicksen von sich. Seufzend öffnete ich die Augen wieder. Es ist allerdings nicht unser zähes Vorankommen, das dir Probleme bereitet, mischte sich mein Extrasinn ein. Es ist deine Verbindung zu Peonu. Sie macht dich anfällig. Unsinn!, wehrte ich ab, jedoch vergeblich. Ich erinnere dich nur an deine schlaflosen Nächte auf GEM-45. Wann hast du eigentlich davor zum letzten Mal befürchtet, den Verstand zu verlieren? Natürlich hatte er Recht. Seit meiner Begegnung mit dem »Seelenhorter« hatte ich mich verändert. Es war, als sei ich nicht mehr vollständig, als fehle ein Teil von meinem Inneren. Manchmal fühlte es sich an wie eine große Leere, dann wieder, als sei ich angefüllt mit Tausenden winziger Dornen, die mich von innen heraus zerrissen. Mit Gewalt zwang ich mich, den Kopf von der Fensterfolie zu nehmen und meine Gedanken auf etwas anderes zu richten. Ich fragte mich, ob die Erbauer der Intrawelt von den Umsturzplänen der Nomaden wussten. Möglich wäre es. Immerhin stellten die Nomaden einen bedeutenden Faktor im Gefüge dieser Welt dar, sorgten für ein rudimentäres Funktionieren sozialer Kontakte und trugen wichtige Nachrichten von Ort zu Ort. Ich begann, in dem engen Obergeschoss der Gondel auf und ab zu gehen. Die Hände hatte ich hinter dem Rücken verschränkt, eine kleine Anlehnung an einige große terranische Geister, die sich in dieser Denkerpose stets gefallen hatten. Andererseits: Um ein Gebilde wie die Intrawelt zu beherrschen, brauchte es doch ein bisschen mehr: technisches Geschick, eine straffe Organisation und vor allem einen ausgefeilten logisti-
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schen Hintergrund. Ich war mir nicht einmal sicher, ob Terraner oder Arkoniden so etwas hinbekommen hätten. Schon andere waren an vergleichbaren Projekten gescheitert, wie ich aus eigener Erfahrung meines über zehntausendjährigen Lebens wusste. Lass uns bei einem der wichtigeren Probleme bleiben, wisperte mein Extrasinn. Wir haben noch immer nicht die leiseste Ahnung, wer die Erbauer dieser Welt waren. »Was du nicht sagst«, murmelte ich halblaut vor mich hin und sah zu, wie Jolo die Treppe nach unten ins Untergeschoss der Gondel hopste. Im nächsten Moment ertönte ein schrilles Kreischen. »Atlan!«, schrie das Echsenwesen. »Schnell! Der Schneckenmann fängt an zu kotzen!«
* Mit wenigen Schritten war ich bei ihm. Und prallte zurück. Albion lag auf der Seite in eine Ecke gedrängt, als versuche er, sich vor irgendetwas zu verkriechen. Seine Fühler bebten in wellenartigen Krampfanfällen; hellgelber Schaum trat aus seinen Geruchsöffnungen und rann ihm über das ganze Gesicht. »Atlan!«, kickste Jolo beinahe panisch. »Hilf ihm! Mach schon!« Er hopste aufgeregt auf und ab wie ein Äffchen, dem man eine Banane vor die Nase hielt. »Du bist gut!«, schnappte ich. »Wie denn?« In diesem Moment hatte der Krampfanfall die zwei Meter langen, kräftigen Arme Albions erreicht. Wie Dreschflegel ruderten sie durch die Luft, krachten gegen die dünne, zum Glück recht stabile Außenwandung der Gondel und beulten sie aus. Etwas knirschte bedenklich, und Jolo stieß einen Laut des Entsetzens aus. Ein brutaler Ruck riss Albion hoch und dann auf den Boden zurück. Die Gondel begann zu schwanken. »Was hat er?« Ich konnte mich nur mühsam auf den Beinen halten, und meine Frage
kam harsch. Ein Geschlechtswechsel steht erst in fünf bis sechs Tagen an, informierte mich der Logiksektor. Das kann es also nicht sein. Wieder durchlief ein Zucken zuerst Albions Fühler, dann seinen Oberkörper und erreichte schließlich die Arme. Ich duckte mich unter einem von ihnen hindurch, entkam nur knapp seinem brutalen Schlag. Jetzt hätte ich gut einen der Maulspindler brauchen können, immerhin hatten sie den tobenden Schneckenmann schon einmal ruhig gestellt. Einer der Arme fegte mir die Beine weg. Ich krachte gegen die Gondelwand und ging zu Boden. Fluchend rappelte ich mich wieder auf, froh, dass es die Maulspindler nach unserer Vorstellung auf GEM-45 vorgezogen hatten, unsere Gondel nicht zu begleiten. Ich wagte nicht, mir vorzustellen, was geschehen würde, wenn sie von Albions neuerlichem Anfall Wind bekämen. Inzwischen zuckte und bebte Albions Körper so stark, dass die Lamellen, auf denen er sich fortbewegte, ein schnarrendes Rasseln erzeugten und der Schaum von seinen Fühlern in großen Flocken durch die Luft flog. Ich hatte keine Zeit, mich zu ekeln. Erneut krachten Albions Arme gegen die Außenwand der Gondel, und diesmal klang das Knirschen bedrohlich. Das hält nicht mehr lange!, warnte mich mein Logiksektor. Ich ging nicht darauf ein. Hastig sah ich mich um. Gab es keine Möglichkeit, dem Schneckenmann zu helfen? »Du musst ihn kühlen!« Ich fuhr herum. Tuxit stand hinter mir. Den alten Erzählsklaven hatte ich völlig vergessen, weil er seit unserem Aufbruch von Pregesbau lethargisch in einer Ecke gehockt hatte, die Beine unter den Körper gezogen, die Halskrause trübe grau verfärbt und die Federn aufgeplustert. »Kühl seine Lamellen und gib ihm Wasser zu trinken«, sagte er jetzt mit dieser Baritonstimme, die mich immer ein wenig an einen Terraner namens Gerbert von Aurillac erinnerte. Im Jahr 995 nach christlicher Zeitrechnung hatte ich
Das dritte Gesetz nicht ganz uneigennützig ein wenig darauf hingearbeitet, dass er einige Jahre später zum Papst ernannt worden war … Ich schob die uralten Erinnerungen fort und nickte schnell. Dann rannte ich zu dem Nassraum, der gemeinsam mit einer Kochnische an einer Seite der Gondel eingebaut worden war. Und stoppte abrupt, wie vor eine Wand geprallt. Der Hahn befand sich zwar in einer für mich gewohnten Höhe, aber es gab kein Becken darunter. Dann sah ich ein herumstehendes Behältnis, das mich vage an eine buddhistische Klangschale erinnerte. Ich füllte es rasch und trug es zu Albion zurück, der sich mittlerweile – zum Glück! – ein wenig beruhigt hatte. Seine Fühler zuckten zwar immer noch, aber seine Arme lagen jetzt einigermaßen ruhig und schlaff an seiner Seite. Ich kniete mich neben den Schneckenmann und benetzte seine bebenden Lamellen mit dem Wasser. Es gab ein leises Geräusch, das wie ein Knistern klang. »Massier seine Fühler!«, wies Tuxit mich an. »Aber sanft!« Ich wandte mich zu ihm um. Der Kamm des ehemaligen Erzählsklaven hing genauso schlaff über seinem Schnabel herunter wie immer, und im Ganzen wirkte Tuxit nicht viel energiegeladener als zuvor. Aber seine Augen glänzten jetzt lebhafter, als sei es eine Erleichterung für ihn, eine Aufgabe zu haben. Vielleicht sollte ich mir ein Beispiel an ihm nehmen, schoss es mir durch das Hirn. Ich schüttelte den Kopf. Für solche Überlegungen war später noch Zeit. Mit einigem Widerwillen näherte ich meine Hände den Fühlern Albions. Sie waren von einer dünnen gelben Schleimschicht überzogen, wie überhaupt alles im Abstand von ein bis zwei Metern rings um den Schneckenmann. Mich eingeschlossen. Albions Fühler waren sehr viel härter, als ich erwartet hatte. Nachdem ich einmal den Schleim von ihnen fortgewischt hatte – in Ermangelung einer besseren Möglichkeit
5 rieb ich ihn einfach an meiner ohnehin schmutzigen Kleidung ab –, wirkten die Fühler fest, sehnig und warm, ganz ähnlich wie der Körper einer terranischen Schlange, nur faltiger. Ich massierte eine Weile. Albion stöhnte leise und schien sich tatsächlich zu beruhigen, sodass ich Gelegenheit hatte, über meinen Gedankenblitz von eben nachzudenken. Eine Aufgabe zu haben! Ich hatte eine Aufgabe, und genau das war mein Problem. Ich wollte den Flammenstaub finden, und dazu schien es mir sinnvoll, zunächst herauszufinden, wer die Erbauer der Intrawelt waren. Aber alles, was ich herausbekam, würde auch Peonu erfahren. Ein Teil von mir wünschte sich nichts sehnlicher, als Peonu zu dienen, der andere, der echte Atlan sträubte sich dagegen. Allerdings vergeblich. Ich seufzte. Es würde das Beste sein, mich noch stärker auf die Aufgabe zu konzentrieren, die ich vor mir hatte. Vielleicht konnte ich auf diese Weise der Leere in mir Herr werden, und wenn nicht – nun, sobald ich diesen verdammten Flammenstaub endlich in meinen Händen hielt, würde ich mich eben auf die Suche nach Peonu machen müssen, um zurückzufordern, was mir gehörte. Eins nach dem anderen, sagte mein Logiksektor. Schau, Albion wacht auf! Tatsächlich hatte das Beben der Fühler und Lamellen des Schneckenmannes merklich nachgelassen. Ein lang gezogenes, kaum hörbares Stöhnen drang aus dem breiten Mund, dann kehrte Leben in die lidlosen Augen zurück. »Was … ich …« Albion richtete sich auf. Ich kam hastig auf die Füße und sprang einen Schritt zurück, um nicht von den massigen Armen niedergeschlagen zu werden. Albion sah mich an. Verwirrung stand in seinem Blick. »Entschuldige … Atlan. Ich …« Wieder stöhnte er, diesmal klang es tief und grollend, als käme das Geräusch aus den tiefsten Tiefen des massigen Körpers, und
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als er weitersprach, hatte sich seine Stimme plötzlich verändert. Sie klang höher, aber nicht wie die von Albia, sondern kindlicher. »O Maras … Maras, bist du es? Ich warte … die Knospung … Maras …« Atlan zögerte. »Was redet er da?« Tuxit schüttelte den Kopf, dass sich sein Gefieder aufplusterte. »Stör ihn nicht, er kann nicht mehr bewusst denken, dieser Driete hier schwimmt mental in den Mementa.« »Mementa?«, wisperte Jolo. »Was soll das sein?« Der Vogelartige hob indigniert den Kopf. »Warte ab und höre zu.«
2. Die Existenz eines Drieten beginnt mit Wahrnehmung und Wissen. Die Existenz eines Drieten ist Wahrnehmung und Wissen. Wahrnehmung und Wissen und Arbeit. Bidon hatte schon früh an diesem Tag gespürt, dass seine Zeit gekommen war, und die Vorfreude hatte sein Herz schneller schlagen lassen. Bereits kurz nach Aufgang der blauen Sonne Ghretaani hatte er sich darangemacht, die Palisaden zu errichten, die ihn in dieser heiligen Stunde vor neugierigen Blicken schützen sollten. Thenaghi, die rote Sonne, hatte den Zenit bereits überschritten, und so folgten sich die beiden Sonnen, deren Licht so unterschiedlich war wie der Urgegensatz, aus dem die drei Götter die Welt erschaffen hatten, in großem Abstand voneinander. Normalerweise nutzte Bidon den Aufgang der zweiten Sonne zu einem kurzen Innehalten. Oftmals philosophierte er dann über die Verschiedenheit der Sonnen, über die Temperatur, die im Licht der roten warm und angenehm war, im alleinigen Schein der blauen jedoch empfindlich sinken konnte. Heute jedoch kümmerten ihn die Sonnen
und ihr Lauf nicht. Heute gab es Wichtigeres zu tun: Seine Knospung stand bevor. Mit einer Mischung aus Erregung und Angst lauschte er in seinen Körper hinein, aber noch spürte er nichts. Es war seine erste Knospung, und wie so oft in den letzten Sonnenumläufen stellte Bidon sich eine Menge Fragen. Fragen, die ihm sein angeborenes Kollektivgedächtnis mit großer Geduld immer und immer wieder beantwortete. Woher weiß ein Driete, dass die Knospung bevorsteht? Er weiß es, wenn die Zeit gekommen ist. Ganz sicher? Ja, ganz sicher. Tut es weh? Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Was, wenn er jetzt darüber nachdachte, im Grunde keine wirkliche Antwort war. Mit breit verzogenem Mund, einer Miene, die seine Zufriedenheit ausdrückte, setzte er das letzte Stück Holz in die letzte der Palisaden. Er war mehr als zufrieden. Er war glücklich. Er verscheuchte Unbehagen und Angst. Alles war gut, wie es war. Die beiden Sonnen waren ungefähr eine halbe Armlänge über den Himmel gewandert. Bidon blickte auf seinen doppelten, zweifarbigen Schatten und wartete. »Wie ich sehe, bist du bereit.« Durch den schmalen Spalt, den Bidon in dem Wall gelassen hatte, streckte sich ein Kopf herein. Breite, fast schluchtenartige Runzeln liefen quer über eine Nase, die schon vor langer Zeit ihre gelblichen Schuppen verloren hatte. »Maras!« Bidon senkte die Fühler als Zeichen seiner Freude und Ehrerbietung. »Ich freue mich, dass du da bist.« Sie hatten ihm Maras geschickt! Gut! Er war der Älteste und Erfahrenste der Drieten. Maras glitt durch die Lücke in der Palisade, ohne ein weiteres Wort zu sagen, wandte sich ab und schloss das Loch. Sie waren jetzt ringsum umgeben von sicherem, massivem Schutz.
Das dritte Gesetz Als sich der alte Driete wieder Bidon zuwandte, sah der, wie ein kurzer Ausdruck der Sorge in dessen großen Augen aufflammte. Sofort war die Angst wieder da. »Was hast du?« Bidon spürte, wie sein Herz zwei Schläge lang mit doppelter Wucht gegen seine Außenhaut hämmerte. Maras kam neben ihn, und während er alles mit wachsender Zufriedenheit musterte, sagte er leise: »Nichts, was dich beunruhigen müsste. Nur eine seltsame Ankunft.« »Ein neuer Werber?« Bidon spürte jetzt, dass sich etwas in seinem Leib veränderte. Eine Stelle an seiner Seite, dort, wo der lamellenbesetzte Hinterleib in den Vorderleib überging, verdickte sich. Es war ein Gefühl, als hätten sich seine inneren Organe plötzlich darangemacht, ihre Position zu verändern und sich alle an einer einzigen Stelle zu konzentrieren. Es tat eigentlich nicht weh, aber es drückte ein bisschen. »Ja«, beantwortete Maras seine Frage und hielt dabei den Blick auf Bidons Seite geheftet. »Ein neuer Werber. Aber ein komischer. Er kommt von keinem der uns bisher bekannten Völker, er spricht Linka mit einem seltsamen Akzent.« Linka war die Hochsprache, die ein Großteil der Völker Dwingeloos verstehen konnte. »Und er scheint es vorzuziehen, seine Identität nicht preiszugeben.« »Wie das?« Bidon suchte sich eine bequeme Position. »Nun, er hat sich mit Dutzenden Masken umgeben und zeigt uns wechselnde Gesichter. Keiner hat eine Ahnung, welches davon das richtige ist.« »Aber er hat doch bestimmt gesagt, woher er kommt?« Ohne die Augen zu schließen, ließ Bidon einige Erinnerungen an die Werber an sich vorbeiziehen. Er hatte sie von Atoir geerbt, einem Vorfahren, der schon seit Hunderten von Umläufen um Ghretaani tot war, und er war stolz darauf, denn es waren die Erinnerungen des ersten Drieten, der
7 überhaupt ihre Welt verlassen hatte. In seiner Erinnerung verschmolz sein eigener Körper mit dem Atoirs, und so sah er sich selbst auf dem Hügel stehen, das Licht Thenaghis im Gesicht … Etwas näherte sich aus dem grellen Gleißen, und Atoir senkte den Kopf ein wenig, um nicht zu erblinden. Drieten-Augen hatten keine Lider, und so konnte er sich nicht gegen die grelle Strahlung schützen, indem er sie zusammenkniff. Ein Dröhnen wurde laut, ein riesiger Vogel schwebte aus dem Himmel auf den Boden der Senke nieder, die sich vor Atoirs Körper erstreckte. Als der Vogel gelandet war, erkannte Atoir, dass er nicht lebendig war, sondern aus glänzendem Metall … Bidon wusste aus Atoirs Erinnerungen, dass diese Raumschiffe schon ein paarmal auf Makharas gelandet waren und dass die Bewohner sich offenbar sehr für die Bauwerke der Drieten interessierten … Der stählerne Vogel öffnete seinen Leib und spie kleinere Wesen aus, die sich mit hektischen Bewegungen näherten. Atoir bedauerte die armen Dinger wegen ihrer Hast, denn sie konnten nicht anders als sich so schnell bewegen: Sie hatten nur zwei Beine, und jeden Augenblick drohten sie umzufallen. Dicht vor ihm blieben sie stehen und zeigten auf die Spindel, die Atoir gerade bearbeitete. »Was ist das?« Ihre Sprache klang, als hätten sie scharfkantige Steine in der Kehle, aber Atoir konnte sie gut verstehen, denn sie sprachen Linka. »Eine Spindel.« Atoir sah auf das dünne, in sich gedrehte Ding in seinen beiden unteren Händen. »Wozu dient sie?« Das Wesen fuhr eine zusätzliche Extremität aus und berührte die Spindel vorsichtig. »Sie ist aus Stein!« »Zur Zierde.« Atoir wies auf die dem Raumschiff gegenüberliegende Seite des Hügels … Manchmal musste Bidon den Atem anhalten, wenn ihm seine Erinnerung zeigte, wie Makharas vor so vielen Jahren ausgesehen hatte. So anders als heute … Dort stand sein Haus. Eine ganz ähnliche Spindel war bereits fertig und auf einem Sims ange-
8 bracht. Wenn die zweite Spindel fertig war, würde Atoir sie daneben stellen und über ihnen einen Sims anbringen, der sein Haus verschönern sollte. Das fremde Wesen sah auf das Haus und dann auf die Spindel. »Wie machst du das?« »Was?« Atoir senkte einen Fühler und tippte mit der Zungenspitze dagegen. »Wie schaffst du es, solch feine Strukturen aus Stein herzustellen?« »Ich tue es.« Das Wesen sah nachdenklich aus. Die Extremität war wieder eingefahren, aber jetzt kamen zwei andere aus seinem Leib hervor und begannen mit einer Art Ritual. In schnellem Rhythmus trommelten beide auf das, was Atoir für den Kopf des Wesens hielt. Vielleicht konnte es auf diese Weise besser denken, dachte der Driete. »Der Stein verrät mir, wie ich ihn bearbeiten muss«, erklärte er dann. »Ich mache es nur so, wie der Stein es will.« »Und das funktioniert offenbar mit allen Materialien deines Planeten«, sagte das Wesen. Atoir machte eine bestätigende Geste mit den Fühlern, aber das Wesen schien ihn nicht zu verstehen, denn es wartete offensichtlich noch auf eine Antwort. »Ja«, sagte er darum schnell. »Manche von uns bauen mit Holz, einige sogar mit …« »Schon gut!«, unterbrach das Wesen. »Ich habe es gesehen. Dein Volk ist gut im Konstruieren. Wir sind über eure Bauwerke geflogen und waren überrascht von ihrer schlichten Eleganz.« Atoir fragte sich, was der Fremde von ihm wollte. »Wir machen es so, wie das Material es verlangt. Das hat mit Eleganz nichts zu tun.« Der Fremde gab ein Geräusch von sich, das Atoir nicht einordnen konnte. Er beschloss, es für ein Lachen zu halten. »Glaubst du, du kannst es auch mit Materialien, die nicht von deiner Welt sind?« Atoir sah das Wesen an. »Keine Ahnung. Ich habe es noch nie ausprobiert.« Das Drücken in Bidons Seite wurde ein
Cathrin Hartmann bisschen stärker und holte ihn aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart. Er blickte in Maras' Gesicht und erkannte, dass der Ältere seine geistige Reise in den Mementa bemerkt und respektiert hatte. »Hat er«, beantwortete er jetzt Bidons Frage, die seinem Gefühl nach schier unendlich lange zurücklag. »Zumindest indirekt. Wo warst du eben?« »In der Zeit von Atoir. Mir fiel auf einmal sein erster Kontakt mit den Werbern ein.« Maras wiegte sich hin und her. »Es waren Angehörige des Volkes der Alcui. Sie wurden als Erste auf die Fähigkeiten der Drieten aufmerksam und nahmen Atoir mit sich.« »Er hat für sie gebaut, nicht wahr?« »Einen Palast für ihren Gottherrscher, ja. Oder sagen wir, er hat ihn entworfen, nachdem er sich angesehen hat, aus welchem Material man ihn haben wollte.« Maras gluckste. »Es heißt, die Alcui waren mehr als zufrieden mit dem Ergebnis.« Bidon hatte nie so recht begriffen, warum die Völker von Dwingeloo danach in Scharen gekommen waren, um die Drieten in ihre Dienste zu nehmen, warum sie nicht einfach selbst taten, was die Drieten in ihrem Auftrag erledigten. Es hatte lange gedauert, bis er begriffen hatte, dass die Fähigkeit der Drieten, aus jedem Material das Bestmögliche herauszuholen und damit pure Schönheit zu konstruieren, einzigartig war. Ein Krampf erfasste seine verdickte Seite und zwang ihn, sich von den wunderbaren Fähigkeiten seines Volkes loszureißen. Er wartete, bis der Schmerz verging, dann fragte er Maras: »Indirekt, hast du gesagt. Was meinst du damit?« »Er redet in einem fort von friedlicher Koexistenz mehrerer Völker.« Maras verzog den Mund, sodass seine brüchigen, gelblichen Zahnschneiden sichtbar wurden. »Und von einer unglaublichen Aufgabe, die den Fähigkeiten eines genialen Volkes wie der Drieten gerecht werden wird.« Die Art und Weise, wie er die Worte des Werbers wiedergab, ließ keinen Zweifel daran, was Maras davon hielt. Dennoch: Er wirkte jetzt auf
Das dritte Gesetz eine Weise beunruhigt, die Bidon an ihm zuvor noch nie erlebt hatte. »Was denkst du?«, fragte der jüngere Driete. Maras antwortete nicht sofort, sondern wartete zwei der Krampfwellen ab, die jetzt von Bidons Seite bis auf seinen Rücken hinausstrahlten. »Auf die anderen hat der Werber einen geradezu unheimlichen Einfluss. Ich habe gesehen, wie er mit Voghur sprach, und der wäre danach dem Werber ohne weitere Worte bis ans Ende der Galaxis gefolgt.« Etwas drückte jetzt von innen gegen Bidons feste Haut und beulte sie aus. Seltsamerweise empfand er trotz der vielen Krämpfe noch immer kein Unbehagen. Fasziniert beobachtete er, wie sich die Beule an seiner Seite weiter vergrößerte. »Meinst du, Voghur wird ihm folgen? Er hat genügend Erfahrung gesammelt, um Makharas verlassen zu dürfen und anderen zu dienen.« »Er würde es wohl. Aber die Werber wollen nicht nur einen Einzelnen, sie wollen unser halbes Volk.« Bidon richtete sich auf, ungeachtet der Tatsache, dass er dadurch seine Knospe zusammenquetschte. Ein scharfer Schmerz fuhr durch seine Seite, und Maras griff zu und drückte ihn wieder in die alte Position. »Du musst aufpassen!«, mahnte er. »Die Knospe ist in diesem Stadium sehr anfällig.« Mit einem tiefen Atemzug entspannte sich Bidon wieder. Der Schmerz rollte noch einen Augenblick durch seinen Körper, dann verging er. Der Driete sah den ältesten der Elter an. Immerhin, dachte er, wusste er jetzt, warum Maras so sorgenvoll aussah. Bisher war es noch nie vorgekommen, dass die Werber mehr als drei oder vier, in Ausnahmefällen vielleicht einmal zehn Drieten mitgenommen hatten. Aber das halbe Volk? An die eine Million Drieten? »Was beim Lichte Thenaghis und Ghretaanis haben die vor?«, murmelte er. Er blickte Maras an, der jetzt einen stumpfen Blick hatte. »Und woher, sagtest du nochmal, kommen sie?«
9 »Ich sagte gar nichts. Wir vermuten es nur, aufgrund der Rede, die der Werber gehalten hat. Wir glauben, dass er von dieser gigantischen Hohlkugel kommt. Erinnerst du dich? Voghur hat sie auf seiner letzten Reise gesehen.« Diesmal hatte Bidon keine Gelegenheit, auf die Worte des Älteren zu reagieren, denn in seinem Inneren geschah etwas Merkwürdiges. Er spürte einen feinen, ziehenden Kopfschmerz, der unter seiner Schädeldecke begann, sich wie ein Netz über sein gesamtes Gehirn ausbreitete und sich hinten im Nacken zu einem Knoten konzentrierte, dessen Kraft ihm die Fühler schwach werden ließ. Für einen kurzen Moment saß der Schmerz heiß und grell in seinem Genick, dann schien er abwärts zu rasen, durch seinen Leib nach unten bis zur Knospe. Und als sie erreicht war, verging er so schnell, wie er entstanden war. Bidon keuchte. »Was war das denn?« »Das war der unangenehmste Teil der Geburt des Jünglings, dessen Elter du sein wirst. Dein Geist hat sich geteilt und ist auf ihn übergegangen.« Ein wildes Gefühl von Triumph und heller Freude durchrann Bidon und ließ sein Herz rasen. »Dann ist er jetzt lebendig?« »Ja. Das ist er. Er hat dein Wissen übernommen, und bald wird er bereit sein, deinen Körper zu verlassen. Aber ein wenig werden wir noch warten müssen. Für ihn war der Transfer noch um einiges schmerzhafter als für dich. Gib ihm Zeit, sich zu erholen, bevor er sich von dir löst.« Bidon nickte, obwohl es ihm schwer fiel, sich zu gedulden. Er würde Elter sein, er! Er würde einen Sprössling haben, einen Jüngling, verbesserte er sich, dem er zeigen konnte, wie man baute, wie er das Wissen, das er besaß, zum Wohle von anderen und zum Ruhme Makharas' einsetzen konnte. Mit Mühe nur konzentrierte er sich wieder auf ihr Gespräch und das, was er von dieser Hohlkugel wusste. Sie war vor ungezählten Jahren inmitten der Sternwolke Alteit fixiert worden. Nie-
10 mand wusste, warum. Niemand wusste, von wem. Es gingen Gerüchte, dass ihre Oberfläche schillerte wie der ölhaltige Belag, mit dem manche Drieten ihre Bauwerke verschönerten. »Voghur ist nicht der Einzige, der die Hohlkugel gesehen hat. Caletan ist vor kurzem von seinem Dienst bei einem Volk im Randsektor von Alteit zurückgekommen«, sagte Maras. »Er hat den Ältesten erzählt, dass die Geschichten stimmen. Sie ist von einer Art Membran umgeben und schillert. Aber Caletan hat noch mehr gesehen: Offenbar gibt es im Inneren eine starke Lichtquelle. Von vielen Stellen aus kann man sie durch die Membran hindurch sehen. Nur sehr wenige Flecken, hat er gesagt, bleiben dunkel.« Bidon horchte in sich, aber die Knospe regte sich noch nicht. »Ziehen denn die Ältesten das Angebot des Werbers in Betracht?« Ein leises Lachen schüttelte den alten Körper Maras', und seine ungezählten Falten wackelten dabei. »Um eine solche Entscheidung zu treffen, muss der Hohe Rat einberufen werden.« Ihm war anzumerken, wie zufrieden er mit dieser Tatsache war, und Bidon brauchte einen Augenblick, bis er begriff, warum. Ganz offensichtlich war Maras von dem Vorhaben der Werber wenig angetan, und ihm konnte es demzufolge nur recht sein, dass der Hohe Rat für eine Entscheidung zuständig war. Dieser Rat, eine Versammlung der Ältesten aus allen elf Teilen Makharas', kam nur alle siebzehn Jahre zusammen. Drieten waren von Natur aus extrem einzelgängerische Wesen. Bis auf wenige Ausnahmen zogen sie es vor, nicht in Kontakt mit ihresgleichen zu kommen. Treffen des Hohen Rates wurden darum von langer Hand vorbereitet und galten als extrem heikel. Noch nie, das wusste Bidon, hatte man eine Ratssitzung vorgezogen. Stets waren die vorgeschriebenen siebzehn Jahre vergangen, und genau das schien der Grund für Maras' Zufriedenheit zu sein.
Cathrin Hartmann Das letzte Ratstreffen war gerade ein Jahr her.
* Die Knospe ließ für Bidons Geschmack viel zu lange auf sich warten. Er redete noch ein wenig mit Maras über den geheimnisvollen Werber, über die schillernde Hohlkugel und die vielen Gerüchte, die über sie kursierten. Schließlich gingen sie zu anderen Themen über, von denen sie allerdings nicht viele hatten, weil Drieten sich wenig für ihre Nachbarn interessierten. Und dann endlich war es so weit. Mit einem leichten Kitzeln erwachte die Knospe an Bidons Seite zum Leben. Es fühlte sich an, als krabbele ein Sheton-Wurm unter seinen Schuppen herum, dachte Bidon und verbannte gleich darauf diese Assoziation aus seinem Kopf. Wie kam er nur dazu, seine heiß ersehnte erste Knospe, seinen Jüngling, mit diesem ekelhaften Ungeziefer zu vergleichen? Er blickte an sich hinab. Der Jüngling war jetzt eindeutig als Driete zu erkennen, wie eine verkleinerte Ausgabe seiner selbst klebte er an Bidons Seite, die großen Augen noch blind und glasig, aber sonst mit allem ausgestattet, was ein richtiger Driete brauchte. Bidon platzte fast vor Stolz. Wie gut, dachte er, dass die Beziehung zwischen Elter und Jüngling eine der wenigen Ausnahmen war, bei denen Drieten Gesellschaft ertragen konnten. Er würde die Zeit, die ihm mit seinem Sprössling gegeben war, in vollen Zügen genießen! Dann begann sich eine Einschnürung zu bilden. Die Verbindung zu seinem Jüngling wurde dünner und dünner, bis sie nur noch ein dünnes, fadenscheiniges Ding war, das schließlich mit einem leisen »Plopp« zerriss. Der Jüngling kullerte auf das weiche Lager, das Bidon ihm bereitet hatte. Maras hob ihn auf und präsentierte ihn Bidon. »Dein erster Spross«, sagte er, und seine großen Augen strahlten freudig dabei.
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»Du musst ihm einen Namen geben.« Seit fast einem Jahr hatte Bidon sich diesen Moment ausgemalt. Nun wollte ihm die Zunge vor Aufregung am Gaumen kleben, aber er schaffte es, den Namen zu krächzen. »Kietai. Er soll Kietai heißen.« Maras legte den Sprössling neben Bidon auf das Lager. »Kietai. Dann ist alles gut.« Aber es war nicht alles gut. Bidon richtete sich auf und sah an sich hinab. Sein Blick traf sich mit dem Maras' genau auf jener Stelle seines Körpers, der soeben Kietai entsprungen war. Maras' Mund klappte auf. »Das kann nicht sein!«, murmelte er. Er wich ein Stück zurück, und das zeigte Bidon mehr als alles andere, dass hier etwas überhaupt nicht stimmte. »Noch nie«, flüsterte Maras, »hat ein Driete mehr als einen Sprössling zur selben Zeit bekommen!« Sein massiger Körper drängte gegen die Palisade, als müsse er eine fürchterliche Katastrophe fliehen. Bidon sah ihn aus weit aufgerissenen Augen an, dann zog es seinen Blick wie magnetisiert wieder zu seiner eigenen Seite. Dort hatte sich eine zweite Beule gebildet …
3. Albions Blick wurde unstet, und seine Erzählung brach ab. Ich bemerkte, dass ich mir in der Zwischenzeit einen Hocker herangezogen und mich darauf niedergelassen hatte. Mein Oberkörper war vorgelehnt, und die Schultern waren so angespannt, dass sie schmerzten. Ich blinzelte Tränen der Erregung aus meinen Augen. Scheint, als spreche er von der Intrawelt, meinte mein Logiksektor, und die ihm eigene Leidenschaftslosigkeit stand in so krassem Gegensatz zu meinen eigenen Gefühlen, dass ich aufsprang und die Hände zu Fäusten ballte. »Du musst weitermassieren!«, mahnte mich Tuxit, und tatsächlich: Die Fühler des
Schneckenmannes hatten wieder begonnen zu beben. Zwar war der gelbe Schaum jetzt gänzlich verschwunden, aber schon begannen auch die Lamellen wieder zu vibrieren. Rasch massierte ich weiter. »Was war das eben?«, fragte ich den Riesenvogel. »Klang irgendwie wie eine Kollektiverinnerung.« Albion murmelte einige Worte, die ich nicht verstand. »Genau darum handelt es sich bei den Mementa.« Tuxit trat neben mich. Seine Flügelarme hingen seitlich an seinem Körper herab, und es sah aus, als ließe er die Schultern hängen. »Irgendein Schock muss seine Seele tief in die Mementa hineingerissen und diese Rückkopplung ausgelöst haben. Die Mementa der Drieten müssen normalerweise aktiviert werden. Durch Lektionen oder Gespräche oder auch durch andere äußere Einflüsse.« Ich musterte den ehemaligen Erzählsklaven. »Du weißt eine ganze Menge über die Bewohner der Intrawelt. Was gibt es noch, das wir wissen sollten? Verschweigst du uns etwas?« Tuxit senkte den Kopf. »Nichts.« Und er wandte sich ohne ein weiteres Wort um, zog sich in seine Ecke zurück und legte den Kopf eng an seinen Körper. In Ermangelung der Möglichkeit, eine Kuhle zu scharren, rutschte er einfach ein paarmal hin und her und schien dann in sich selbst zu versinken. »Es geht weiter!« Jolo lenkte meine Aufmerksamkeit zurück auf den Drieten, und ich wandte mich Albion erneut zu. Dessen Augen hatten wieder ein wenig mehr Glanz angenommen, und mit derselben Stimme wie zuvor fuhr er in seiner Erzählung fort.
* »Kietai! So warte doch!« Kietai blieb mit einem leisen Seufzen stehen und wartete, bis der Nichtling zu ihm aufgeschlossen hatte. Wenn er ihn doch nur in Ruhe lassen würde! »Danke.« Als der Nichtling neben ihm
12 zum Stehen kam, keuchte er von der Anstrengung, hinter ihm herzulaufen. Kietai musste sich zwingen, nicht angeekelt das Gesicht zu verziehen. »Was willst du?« Kietais Stimme klang kalt. Er musterte sein Gegenüber und fand zum wiederholten Male die Meinung der anderen bestätigt: Der Kerl sah beinahe genauso aus wie er selbst! Die gleiche Augenfarbe, die gleiche, leicht nach außen gebogene Form der Fühler. Die gleichen cremefarbenen Schuppen mit der ungewöhnlichen Form. Während sie bei den meisten anderen Drieten rundlich oder oval waren, hatten seine – und auch die des Nichtlings – eine kleine Delle, die sie ein wenig wie Blätter aussehen ließen. »Ich …« Der Nichtling holte noch einmal tief Luft. Es klang wie ein Ächzen. »Ich dachte, ich kann dir helfen …« Ein böses Schnauben blähte Kietais Lippen. Eher würde er das Tertium Makharas' brechen und sich auf der Stelle von einem der umliegenden Gebäude stürzen, als diesen Kerl an seinem Bauwerk mithelfen zu lassen. »Ach, kleiner Nichtling, du hast doch bestimmt deine eigene Aufgabe von meinem Elter bekommen«, sagte er unschuldig. Er wusste genau, dass dem nicht so war. Bidon, ihr Elter, hatte Kietai einen Auftrag gegeben, aber dem Nichtling nicht. »Hat er nicht, und das weißt du! Und nenn mich nicht immer so! Ich heiße Onagi, und Bidon ist auch mein Elter!« Der Nichtling senkte die Fühler, und Kietai fühlte etwas durch seinen Panzer aus Verachtung brechen, was er nicht erklären konnte. Sein Herz verlangsamte sich ein wenig, ein deutliches Zeichen dafür, dass er Trauer empfand. Konnte es sein, dass ihm der Nichtling Leid tat? Er verdrängte das Gefühl. »Onagi!«, sagte er. »Was für ein Name! Hast du eigentlich eine Erlaubnis dafür, dir einen Namen zu geben? Ich meine, du bist eine Zweitknospe, ein wertloser Spross! Du brauchst keinen Namen.« »Ich bin ein vollwertiger Spross, genauso
Cathrin Hartmann wie du!« Onagis Gesicht blähte sich ein wenig auf, ein deutlich sichtbares Zeichen dafür, dass er begann, wütend zu werden. »Ich habe die Mementa unseres Elters, genau wie du!« Einer von Kietais sechs Armen zuckte vor und krallte sich in einer Hautfalte an dessen Brust. »Nenn ihn nicht so!«, zischte er. »Bidon ist mein Elter, nicht unser. Du bist nur ein Nichtling! Ein Nichts! Ein NichtDriete.« Er ließ Onagi los und machte eine wegwerfende Geste. »Such dir etwas aus«, fügte er mit großzügigem Tonfall hinzu. Onagi murmelte etwas Unverständliches. Es kümmerte Kietai nicht. Er war auf dem Weg zum Sonnenplatz seines Dorfes, denn es hieß, es sei wieder einmal einer dieser seltsamen Werber angekommen, deren erster zufällig genau am Tag seiner Geburt auf Makharas gelandet war vielleicht lag es an dieser zeitlichen Übereinstimmung, dass die Werber Kietai mehr faszinierten als alles andere. Er war jetzt sieben Jahre alt, und viermal waren in dieser Zeit Drieten von Angehörigen anderer Völker abgeholt worden. Allein sechsmal allerdings hatten sich die geheimnisvollen und vielgesichtigen Werber blicken lassen und ihr Angebot wiederholt. Immer, das hatte sich Kietai von seinem Elter erzählen lassen, hatten sich einige Drieten begeistert bereit erklärt, den Werbern zu folgen, aber diese hatten stets mit der Begründung abgelehnt, sie würden die Drieten nur mitnehmen, wenn sie mindestens die Hälfte des gesamten Volkes bekämen. Kietai lachte leise. Wie dumm sie waren! Wussten sie denn nicht, dass dafür die Zustimmung des Hohen Rates nötig war? Er sah sich um. Zu seiner Erleichterung war der Nichtling zurückgeblieben und starrte ihm nur mit finsterem Blick nach. Kietai schüttelte sich. Dass ausgerechnet er mit einem solchen widernatürlichen Anhängsel geschlagen war! Zum Glück ließ sein Elter ihn nicht spüren, dass er durch Onagis Geburt irgendwie selbst abartig geworden war. Im Gegenteil: Bidon behandelte Kietai mit einer Aufmerksamkeit und Zu-
Das dritte Gesetz neigung, dass es Kietai manchmal schon unangenehm war. Er mühte sich redlich, möglichst viele der ererbten Kollektiverinnerungen in Kietais Geist zu aktivieren. Er redete viel mit seinem Sprössling und sorgte auch dafür, dass er mit möglichst vielen anderen Erwachsenen in Kontakt kam. Sorgfältigst achtete Bidon außerdem darauf, dass er Kietai in all den Übungen anleitete, die nötig waren, um das ererbte theoretische Drietenwissen in praktische Fertigkeit zu verwandeln. Nur ein gut angeleiteter Driete, das wusste Kietai genau, würde später ein guter Baumeister werden, dessen Produkte den allerhöchsten Ansprüchen genügten, sodass er einen der Werber auf sich aufmerksam machen und Makharas letztendlich verlassen konnte. Aber obwohl Bidon alles tat, um Kietai wie einen normalen Jüngling zu behandeln, sah Kietai in seinem Blick doch manchmal Zweifel. Zweifel darüber, ob ihm nicht etwas fehlte. Etwas, das stattdessen Onagi erhalten hatte, sodass jeder der beiden für sich unvollständig war … Kietai schüttelte sich und schob diese unangenehmen, finsteren Gedanken zur Seite. Er würde Bidon schon zeigen, dass er ein besonderer Driete war! Um sich abzulenken, ließ er den Blick an dem Gebäude hochwandern, in dessen Schatten er dahinging. Es war ein Meisterwerk der Baukunst, so hoch, dass es sich seinen Blicken in den Wolken entzog. »Es gefällt dir, nicht wahr?« Eine heisere, knarzige Stimme erklang so dicht bei ihm, dass er erschrocken zur Seite glitt. »Maras!«, japste er. »Ich habe dich gar nicht kommen hören.« Der inzwischen uralte Driete bewegte sich in letzter Zeit völlig lautlos, und manchmal fragte sich Kietai, was er damit bezweckte. »Entschuldige. Ich wollte dich nicht ängstigen.« »Ich ängstige mich nicht!« Maras lächelte matt. »Natürlich nicht. Jünglinge ängstigen sich nie.« War da Spott in seiner Stimme? Kietai
13 lauschte den Worten nach, aber er konnte keinen Spott entdecken. Warum nur hatte er dennoch das Gefühl, dass Maras ihn nicht ernst nahm? Er würde heute Abend beim Untergang der roten Sonne seinen Elter danach fragen müssen. Kietai senkte die Fühler. »Ich habe deine Frage nicht beantwortet. Ja, es gefällt mir gut.« Er zeigte mit zweien seiner Arme auf das Bauwerk. »Ich frage mich, wie es möglich war, es zu errichten. Ich meine, es ist so hoch!« Maras nickte ein-, zweimal mit seinen Fühlern. »Das ist es. Und das macht seine Besonderheit aus, denn Aram, sein Baumeister, hat es geschafft, mehrere Drieten zu vereinigen, um es zu bauen.« »Aber ich dachte, das sei unmöglich! Drieten sind …« »Einzelgänger, ja.« Maras wandte den Kopf und sah zurück. Kietai tat es ihm gleich, halb in der Erwartung, Onagi dort noch immer stehen zu sehen. Aber der Nichtling war fort. Maras heftete den Blick auf Kietai. »Das sind sie auch. Einzelgänger. Aber es gibt drei Gelegenheiten, Kietai, in denen sie ihren Wunsch, allein zu sein, unterdrücken können. Kennst du die drei Gelegenheiten der Zusammenkunft?« »Nur zwei. Bei der ersten Knospung eines Drieten ist ein Älterer dabei. Und die Gegenwart eines Jünglings können alle Drieten ertragen. Die dritte kenne ich nicht, fürchte ich.« »Nun, du siehst den Grund vor dir: Es ist der Bau eines besonderen Kunstwerks.« Maras sah an dem Gebäude hoch. »Die anderen Völker dieser Galaxis nennen uns die Ästhetiker, wusstest du das?« Kietai lauschte in sich. Dieses Wissen hatte sein Elter noch nicht aktiviert. »Nein.« »Es bedeutet, dass alles, was wir beginnen, am Ende schön ist, weil wir in der Lage sind, das Äußerste aus jedem Material zu holen, das wir benutzen. Niemand kennt den Grund dafür, weshalb andere Völker dies nicht vermögen, aber es ist so: Wenn wir Makharas verlassen, um für andere zu bau-
14 en, dann ist das Werk am Ende in deren Augen das schönste, das sie jemals gesehen haben. Das funktioniert bei allen Völkern Dwingeloos, Kietai, und es ist eines der großen Mysterien unseres Volkes. Baue ein Werkzeug für einen Togronen, und es wird das schönste Werkzeug, das er jemals in den Klauen gehalten hat. Bau eine Höhle für einen Degarier, und jeder seiner Fehdegefährten wird ihn dafür töten wollen. Weil das so ist, wurde es zum Primum Makharas'. Kannst du es mir darlegen?« Maras war bekannt dafür, dass er von Thema zu Thema sprang, wenn er einem Jüngling Wissen aktivierte, und so sparte es sich Kietai, den Älteren darauf hinzuweisen, dass er ihm zwar die dritte Gelegenheit des Zusammenseins genannt, sie ihm bisher aber noch nicht erklärt hatte. »Du sollst bauen und nicht zerstören«, nannte er das Primum Makharas'. Maras nickte zufrieden. »Genau. Und es gibt einen Zusatz, den Hernon, der Älteste, vor vielen Jahrhunderten geschrieben hat. Er lautet: Du sollst bauen und nicht zerstören. Und was du baust, das baue schön.« »Dann ist dieser … dieser Hernon vielleicht der Entdecker unserer besonderen Gabe?« Zu seiner Überraschung hob Maras unschlüssig die oberen beiden seiner sechs Arme. »Möglich. Niemand weiß es. Übrigens habe ich so eine Ahnung.« Kietai wappnete sich. Vor ungefähr zwei Jahren hatte Maras damit begonnen, düstere Ahnungen zu haben. Bidon hatte es seinem fortgeschrittenen Alter zugeschrieben und war nicht näher darauf eingegangen, was angesichts der Tatsache, dass Maras nur Jünglinge mit seinen Visionen plagte, nicht weiter verwunderlich war. Zu Kietais Überraschung jedoch ließ der Älteste jetzt keine Vision folgen, sondern kehrte zu seinem Ursprungsthema zurück. »Drei Gelegenheiten der Zusammenkunft. Die Knospung, die Unterweisung und der Bau. Ja, Kietai, auch der einzelgängerischste Driete kann seinen Wunsch nach Abgeschie-
Cathrin Hartmann denheit unterdrücken, wenn es darum geht, ein Meisterwerk zu schaffen. Und wenn er einen Baumeister hat, der in der Lage ist, ihn für die Arbeit zu begeistern. Die Baumeister, die das schaffen, bringen solche Kunstwerke wie dieses Gebäude hier hervor, und sie sind die Größten der Großen.« Kietai wandte den Kopf ab, weil die blaue Sonne durch eine der filigranen Verstrebungen des Bauwerkes hindurch direkt in seine Augen fiel und ihn blendete. »Drei«, murmelte er. »Was meinst du?« »Drei«, wiederholte Kietai. »Ich überlege gerade, warum immer drei. Ich meine, es gibt drei Gelegenheiten der Zusammenkunft, drei Gesetze Makharas'. Warum immer drei? Es ist ein gänzlich unschöne Zahl. Unsymmetrisch und nicht teilbar durch die edle Zwei.« »Nun, ein Driete hat drei Armpaare. Es wird der Legende nach in vielen tausend Jahren einmal drei Sonnen am Himmel geben. Aus drei Göttern erschuf sich der Eine selbst, dem wir huldigen. Die Drei mag nicht symmetrisch sein, aber sie ist eine vollkommene Zahl. Da wir gerade dabei sind: Das Primum Makharas' hast du mir schon genannt, aber wie lauten das Sekundum und das Tertium?« »Sekundum Makhara'. Du sollst deinem Nächsten nicht schaden.« »Gut. Auch dazu hat Hernon einen Zusatz geschrieben, aber ich nenne ihn dir später.« »Und Tertium Makharas': Du sollst nicht ohne Nachkommen sterben.« »Genau. Hernon schreibt …« Maras unterbrach sich. Sein Blick huschte über Kietais Kopf hinweg, und einige der Falten in seinem Gesicht begannen zu zucken. Rasch sah Kietai sich um, aber noch immer war der Schatten des Gebäudes leer. »In einer meiner Visionen habe ich einen Jüngling gesehen«, redete Maras weiter, »der dazu verdammt war, jedes einzelne der Drei zu brechen.« Er seufzte. »Leider konnte ich sein Gesicht nicht erkennen.« Kietai sank das Herz. Obwohl die meisten
Das dritte Gesetz
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der Visionen des Alten Hirngespinste waren, verspürte er einen Anflug von Angst vor dieser einen. Noch einmal sah er sich um, fühlte die Leere in seinem Rücken. Irgendwie wusste er, dass Onagi noch da war. Und irgendwie wusste er auch, dass Maras einen von ihnen beiden meinte.
4. Kurz nach Kietais Geburt hatte Bidon für sich und seinen Sprössling ein neues Heim gebaut. Aus hellen Steinen hatte er es errichtet, die die Wärme der roten Sonne speicherten, jedoch die härtere, kurzwelligere Strahlung der blauen zurückwiesen. An sonnigen Tagen war es im Inneren angenehm kühl, und in kalten Nächten blieb es wohlig warm. Kietai liebte das Haus wegen seiner Perfektion. Rund war es, einfach und schlicht rund, was in seinen noch ungeschulten Augen die Urform alles Schönen war. Er war noch längst nicht so weit, die Schönheit in allen Werken der Drieten zu erkennen, auch wenn er wusste, dass sie da war. Um sie jedoch begreifen zu können, würde er noch sehr viel mehr Lektionen seines Elters und der anderen Drieten über sich ergehen lassen müssen. An diesem Abend war es Zeit für eine neue. Obwohl Kietai sich auf die Stunde mit seinem Elter freute und die Erwartung neuer Erinnerungen in ihm kribbelte, konnte er seine Gedanken nur schwer von Onagi losreißen. Anders als sonst reagierte Bidon ungeduldig auf die Nachdenklichkeit seines Sprösslings, und auf einmal bemerkte der Jüngling die Aufregung seines Elters. »Du hast etwas«, stellte er fest. Er sah zu, wie Bidon mit allen sechs Armen auf ein Feuer einfächelte und es zur Produktion von dichtem grauem Qualm brachte. Die Luft im Inneren des Hauses war mit Blicken kaum noch zu durchdringen. Der Elter wackelte mit den Fühlern und deutete auf ein recht kleines Loch im Boden,
das bis heute noch nicht da gewesen war. »Gleich ist es so weit, aber bevor ich dir etwas zeigen möchte, erzähle mir, was du über unsere Welt weißt.« Es war eines der Gespräche, die gleichzeitig Unterricht, Erzählstunde und dennoch so vieles mehr waren. Kietai lauschte in sich hinein, suchte in den Mementa nach jenen Erinnerungen, die sein Elter meinte. Bisher kannte er sie nicht, obwohl er sie in sich trug. Um sich ihrer jedoch bewusst zu werden, brauchte es diese aktivierenden Gespräche. Oder eine Anleitung. Oder ein anderes Ereignis, das das schlummernde Wissen freisetzte. Für einen Augenblick war nichts als Leere dort, wo Kietai die Erinnerungen vermutete. Er verharrte regungslos, und dann urplötzlich waren sie da. Bilder, Töne, Gerüche, vor langer Zeit gesehen, gehört oder gerochen von seinen Vorfahren. Jetzt klangen sie in seinem Innersten auf, als habe er selbst sie erlebt, farbig und vieltönend, gleichzeitig grell und matt, so intensiv, dass sie kaum auszuhalten waren, oder fern und verweht wie die Erinnerung an einen bösen Traum kurz nach dem Aufwachen. »Erzähl mir von der Entstehung unserer Welt!«, forderte Bidon seinen Jüngling auf. »Ich sehe es in deinen Augen, dass du die Erinnerungen kennst.« Kietai wiegte sich sachte hin und her, während er die plötzlich vertrauten Worte nachsprach: »Makharas ist der Name unserer Welt, die uns nährt und schützt. Doch das hat sie nicht immer getan, denn vor unzähligen Generationen war Makharas nicht mehr als ein eisiger, unwirtlicher Mond, der in viel zu großer Entfernung um die ferne blaue Ghretaani kreiste. Dann jedoch kam die Veränderung, wie sich alles irgendwann ändert und wandelt …« Die Geschichte, die in den Mementa der Drieten seit Generationen ruhte, die sie stets bei den selten stattfindenden Treffen laut vortrugen und abends an den Lagerfeuern der Versammlung erzählten, war blumig und wortreich, und Kietai kannte jedes einzelne
16 Wort. Ohne ein einziges Mal zu zögern, erzählte er sie bis zu ihrem Ende. Thenaghi, einst rote Irrläufer-Sonne, durch eine kosmische Katastrophe oder eine göttliche Vorsehung auf ihre Reise geschickt, geriet ins Schwerefeld des Ghretaani-Systems und lieferte sich mit der blauen Sonne ein Ringen der Kräfte: Die beiden Sonnen begannen einen komplizierten gravitationalen Tanz und schlugen auch Makharas in ihre Schlingen aus Schwerkraft. Unter dem Licht Thenaghis taute das Eis, und der Planet erwachte aus seinem Dämmerschlaf. Die Drieten erwachten mit ihm. Die Drieten. Das Haupt der Entwicklung. Die Vollkommenheit der Evolution. Mit einem Seufzer der Erleichterung und fast ein bisschen heiser sprach Kietai die letzten Sätze der Geschichte: »Und weil Vollkommenes Vollkommenes schafft, begannen die Drieten, die unregelmäßige Oberfläche ihrer Welt zu bearbeiten. Sie trugen Berge ab und füllten Senken auf, um die perfekte Form zu schaffen. Eine Kugel. Und sie waren erfolgreich. Unter ihren Händen wurde Makharas zu der perfekten Welt, und alles war gut.« Die Stille, die dieser Erzählung folgte, dröhnte in Kietais Ohren. Inzwischen war der Qualm des Feuers so dicht, dass er kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Ein leichter Luftzug wehte zur Tür des Hauses herein und ließ die dichten Nebel tanzen. Kietai sah den Blick seines Elters auf sich ruhen. »Sehr gut. Aber die Vorfahren beließen es nicht bei dieser vollkommenen Kugel, nicht wahr?« Wieder brauchte Kietai eine Weile, bis sich die Leere in seinem Gehirn mit dem Wissen füllte wie eine Schale, in die Wasser tropfte. Die Bilder, die er nun sah, waren anders als die ersten, weniger fern und matt, schneller irgendwie. Kietai sah sich auf die Oberfläche Makharas' zustürzen. Sein Körper zuckte zusammen, wie er es manchmal tat, kurz bevor der Schlaf ihn übermannte. »Du fällst nicht«, hörte er Bidons ferne Stimme. »Es fühlt sich nur so an. In Wirk-
Cathrin Hartmann lichkeit ist es ein Schiff, in dem du dich Makharas näherst.« Und Kietai wusste plötzlich, wessen Erinnerung er sah: Sie gehörte einem Elter, der schon vor vielen Umläufen um die blaue Sonne gestorben war. Er hatte einige Zeit auf dem Planeten eines fernen Volkes verbracht, um dort nach deren Wünschen zu bauen, und als er zurückgekehrt war auf seine Heimatwelt, hatte er es sich nicht nehmen lassen, während des Anflugs einen Blick auf die Monitoren des Schiffes zu werfen. Er hatte Makharas von außen gesehen, wie es nur wenigen Drieten vergönnt war, und seine Erinnerung war wie ein kostbares Geschenk ins Kollektivgedächtnis seiner Nachfahren eingegangen. Kietai sah, was sein Ahn gesehen hatte. Makharas glich aus dem All einem leuchtenden blauen Ball, einer bunten Glaskugel ähnlich, in deren Innerstem sich ein filigranes weißes Gebilde befand. Wie durchbrochene Spitze, zu einem lockeren Ball geknäult und umgeben von dem Schutzschild aus atembarer Luft – so wirkte die Welt der Drieten aus dem All. Ein Schmuckstück, das leuchtete und schimmerte, sobald es sich vor dem dunklen Hintergrund des Weltraums bewegte. Schob sich hingegen Thenaghi hinter Makharas, dann brachen deren Lichtstrahlen zu Hunderten durch das feine Flechtwerk, spielten wie Sonnenlicht im Laub von frisch begrünten Bäumen, brachen sich an Ecken und Kanten, irisierend und wunderschön. Kietai riss sich nur mit Mühe aus dieser Erinnerung. »Was hat das zu bedeuten? Ich verstehe nicht, was ich sehe.« Bidon nickte sachte. »Warte … noch einen winzigen Moment. Jetzt!« Er wies auf das Loch in der Erde und begann, eine einfache Melodie zu summen. »Steinerne Welt, Ursprung des Lebens, zerbrechliche Welt«, sang er. »Ursprung, des Lebens, schöne Welt. – Sieh hin, Kietai.« Und dann tat sich etwas. Kietai hielt den Atem an. Ein einzelner, rötlicher Sonnenstrahl
Das dritte Gesetz brach aus dem kleinen Loch im Boden des Hauses, zuerst als nadelfeiner Strich, dann immer breiter werdend, bis er den Durchmesser des Loches hatte. Ein gerader, schimmernder Balken aus Licht in der rauchgeschwängerten Luft. Bidon jubelte. »Es hat funktioniert!« Kietai spürte seinen Triumph, seine Freude, und er freute sich mit seinem Elter, auch wenn er noch immer nicht verstand, was hier geschah. Seit wann kamen Sonnenstrahlen aus der Erde? »Es ist eines der schwersten Bauvorhaben, das Drieten jemals in Angriff genommen haben«, erklärte Bidon. »Wie hast du das gemacht?« Kietai konnte den Blick nicht von der Lichtsäule nehmen. »Um das zu verstehen, muss ich dir erst erklären, was du eben in deiner Erinnerung gesehen hast. Als die Drieten Makharas zu einer perfekten Kugel geformt hatten, hatten sie nicht bedacht, dass dies der Körper ist, der die geringste Oberfläche besitzt. Makharas war nur ein winziger Planet, verglichen mit den beiden Sonnen. Es gab bald nicht mehr genug Platz für alle. Du weißt, es ist nötig, genügend Abstand zwischen uns zu lassen, und Makharas erwies sich als zu klein für unser wachsendes Volk. Aber es gab eine Lösung. Die Drieten begannen, ihre Häuser in die Höhe zu bauen. Lange Zeit dauerte es, bis sie genügend Wissen hatten, um die Gesetze von Statik und Schwerkraft zu begreifen, aber danach wuchsen ihre Werke immer höher und immer Schwindel erregender in den Himmel, denn der Stein, mit dem sie bauten, der Stein, aus dem Makharas besteht, gehorchte ihnen. Das Material, das sie zum Bau brauchten, holten sie aus den Tiefen der Erde, und irgendwann kam einer von ihnen auf die Idee, die entstandenen Hohlräume zu nutzen. So wurde Makharas von seiner Oberfläche aus nach oben und unten erweitert, so lange …« »… bis es einem durchlöcherten Ball glich!«, rief Kietai aus, der plötzlich begriffen hatte, was er eben in seiner Erinnerung
17 gesehen hatte. Bidon sah ihn nachsichtig an. »Nicht durchlöchert, Kietai. Das ist respektlos. Filigran. Makharas wurde zu einem filigranen Kunstwerk, in dessen Zentrum noch immer die Hitze schlummert, die uns am Leben erhält.« »Und du hast einen neuen Tunnel gebaut?« Kietai wies auf das Loch. Die Lichtsäule wurde bereits wieder dünner, weil die Sonne auf der gegenüberliegenden Seite Makharas' weitergewandert war. »Einen, der mit dem Höhlensystem im Inneren verbunden ist. Darum fällt das Licht der Sonne durch den Boden hindurch! Das ist wunderbar!« »Ja, nicht? Nur wenigen Drieten ist dieses Kunststück bisher gelungen.« Bidon klang stolz. »Wunderbar!«, ertönte eine leise Stimme und ließ die Freude, die Kietai und sein Elter empfanden, in sich zusammenfallen. »Wirklich wunderbar!« Umgeben von den tanzenden Qualmschwaden und dadurch einem Schatten ähnlicher als einem Lebewesen, stand Onagi in der Tür des Hauses. Bidon zischte leise. Kietais Zunge wurde schwer vor plötzlicher Beklommenheit. »Du kannst dir deinen Hohn sparen!« Bidon ging auf Onagi zu, der ein winziges Stück zurückwich, sich dann aber mit vieren seiner Arme an der Tür festklammerte, als müsse er sich Halt verschaffen. »Dass du keinen Sinn für die Schönheit des Augenblicks hast, war klar!« Onagi blickte seinen Elter an, und etwas Eisiges stand in seinem Blick. Kietai war froh, dass nicht er es war, der sich in dessen Fokus befand. »Es war nicht höhnisch gemeint«, sagte Onagi, noch immer mit leiser Stimme. »Es ist wirklich schön.« »Woher willst du das wissen?« Jetzt war Bidon dicht bei seinem zweiten Sprössling. Kietai sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten.
18 Onagi wich nicht zurück. »Du bist nichts!« Bidon schrie jetzt. »Du wagst es, hier in mein Haus zu kommen, in meins und das meines Jünglings? Du, du Nichts, du … du …« Er wischte sich seine Worte selbst vom Gesicht. »Du hast keine Ahnung!« Onagi stand regungslos. »Nein«, gab er zurück. »Ich habe keine Ahnung. Weil du dich weigerst, mein Wissen zu aktivieren. Ebenso wie alle anderen. Warum meidet ihr mich? Warum?« Mit der letzten Frage war seine Stimme kaum noch zu verstehen gewesen. Bidons Hände fuhren durch die Luft. »Verschwinde endlich!«, flüsterte er. Onagi ließ den Türrahmen los. Seine Fühler nickten sachtes Verstehen. »Natürlich. Sofort. Aber ich bin gekommen, um euch etwas zu berichten. Maras hat eine neue Vision gehabt.« »Ach ja?« Plötzlich konnte sich Kietai nicht mehr gegen die Kälte wehren, die Maras' Visionen in seinem Innersten auslösten. Er kam ein Stück näher. Bidon brachte ihn mit einem bösen Blick zum Innehalten, und so hörte er aus sicherer Entfernung, was Onagi seinem Elter jetzt fast hasserfüllt ins Gesicht spuckte: »Es wird eine Katastrophe geben! Einer der Drieten wird Makharas zerstören, und es wird bald geschehen.« Kietais Fühler wurden starr vor Entsetzen. Zu unglaublich war diese Anschuldigung, zu schrecklich der Gedanke, sie könnte wahr werden. »Ja«, schnappte er und ignorierte die unausgesprochene Warnung seines Elters. Mit wenigen Bewegungen seiner Lamellen kam er näher. »Und wahrscheinlich wirst das du sein, du Missgeburt!« Er spürte, wie ihn etwas an der Brust berührte, und als er an sich hinabsah, erkannte er, dass es ein Arm Bidons war, der ihn davon abhielt, sich auf Onagi zu werfen. Bidon sah seinen zweiten Sprössling an. Es dauerte einen langen, unerträglichen Moment, bis er die Stimme wiederfand. »Es ist
Cathrin Hartmann besser, du gehst jetzt«, murmelte er. Onagis Fühler knickten ein. »Du hast wohl Recht.« Er wandte sich auf der Stelle um und war im nächsten Augenblick fort. Kietai starrte auf die leere Tür. Dann zwang er die zusammengepressten Zahnschneiden auseinander und sah auf das Loch im Boden. Der Sonnenstrahl war verschwunden.
5. An dieser Stelle verstummte Albion zum zweiten Mal. Obwohl ihn das Reden zusätzlich schwächte und seine Anfälle zu verstärken schien, sah es so aus, als könne er nicht aufhören. Ich schluckte, denn diesen Zustand kannte ich gut. Konzentrier dich!, mahnte mein Extrasinn. Er kollabiert gleich wieder! Trotz meiner Massage verschlechterte sich Albions Zustand plötzlich schlagartig. Seine Haut, die vorher bereits faltig gewesen war, wirkte papieren. Ein leises, ploppendes Geräusch ließ mich aufhorchen. Was war das? »Er explodiert!«, rief Jolo. Er hatte sich im Laufe der Erzählung Albions neben mich gestohlen und sah mit weit aufgerissenen Augen zu, wie ich die zuckenden Fühler massierte. Ab und an zappelte er mit Armen oder Beinen, schlug die saugnapfbewehrten Hände zusammen, was ein schmatzendes Geräusch gab, oder zerrte einfach nur an dem Bund seiner schlackernden Hose herum. Ein weiteres »Plopp« ertönte, und Jolo deutete in höchster Erregung auf den Schneckenmann. »Er explodiert! Er explodiert! Seht doch!« An einer Stelle dicht unter dem Kopf hatte Albions Haut ihr Aussehen verändert. Eine Warze ungefähr von der Größe meiner geballten Faust war erschienen, pulsierend wie eine Art Drüse. Es sah aus, als bewege sich etwas unter ihrer Oberfläche. Ich kämpfte Ekel nieder. Und dann, mit einem Zischen, brach die
Das dritte Gesetz Warze auf, und etwas sprühte heraus. In einem Anfall von Panik wich ich zur Seite, erleichtert, dass ich nicht getroffen wurde. Es ist nur Wasser!, informierte mich mein Extrasinn. Es war tatsächlich nur Wasser. Jetzt ploppten auch an anderen Stellen von Albions Körper Warzen auf, pulsierten einen Augenblick und explodierten dann in einem ähnlichen Zischen. Innerhalb von Sekunden wurde die Haut des Schneckenmannes grau, der normalerweise so pralle Körper warf Falten. »Er dehydriert!«, sagte ich, den Kopf zu Tuxit gewandt, als könne das fremde Wesen mit dem unheimlichen Wissen mir sagen, was zu tun war. Alles, was ich jedoch erntete, war dumpf brütendes Schweigen, während Jolo damit fortfuhr, aufgeregt neben mir herumzuzappeln. »Hilf ihm doch!«, jammerte er. »Du musst etwas tun!« Ich brachte ihn mit einem strafenden Blick zum Schweigen, und er zog schuldbewusst den Kopf zwischen die Schultern. Ausnahmsweise verzichtete er darauf, mich mit seiner gummiartigen Mimik beeinflussen zu wollen. Es kostete ihn sichtlich Mühe, sein Zappeln einzustellen, und ich sah seine Hände unruhig zucken. Sachte beugte ich mich über Albion. »Kannst du mich hören?«, fragte ich. Die Warzen hatten, nachdem sie einmal aufgebrochen waren, damit begonnen, beständig Wasser abzusondern. Es rann in breiten Bächen zu Boden, wo sich jetzt schon eine größer werdende Pfütze gebildet hatte. »Ja.« Die Stimme des Schneckenmannes klang überraschend kräftig, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sich auch das ändern würde. »Was geschieht mit dir?« Ich überwand meinen Ekel und legte eine Hand auf einen von Albions Armen. Auch hier waren jetzt Warzen erschienen und aufgebrochen. »Ich weiß es nicht.« Wie in Panik wandte Albion die Augen nach rechts und links. Ich
19 hatte das Gefühl, es fiel ihm schwer, mich zu fixieren. Kein gutes Zeichen. »Das ist mir noch nie passiert.« »Aber es ist keine neue Geschlechtswandlung, oder?« »Nein!« »Vielleicht kann ich dir helfen, wenn ich mehr über dich erfahre«, mutmaßte ich. »Erzähl weiter!« Albion stöhnte leise. Seine Fühler zuckten nur schwach. »Erzählen … was denn? … Oh … bleib … bleib bei mir …« Mittlerweile war meine Wasserschale beinahe leer. »Jolo! Hol rasch frisches Wasser!« Jolo grunzte zustimmend, nahm die Schüssel und verschwand in dem Nassraum. »Bleib … bei mir … Bidon …«, wisperte Albion.
* Fast ein ganzes Jahr nachdem Onagi auf so kaltherzige Weise aus dem Haus seines Elters vertrieben worden war, hatte er sein Ziel erreicht. Zufrieden hockte er auf den Überresten eines alten Raban-Tempels, dessen Trümmern sich noch kein Driete angenommen hatte, um daraus etwas Neues zu bauen, und besah sich das Instrument, das er in den Händen hielt. Matt schimmerte Thenaghis Licht auf der metallenen Oberfläche, und als Onagi es vor eines seiner Augen hielt, um Ghretaani damit zu betrachten, entsprang ein leises, wunderschönes Singen dem Instrument. Wärme und Licht der Sonne wurden gespeichert, sodass das Gerät ein sachtes, schimmerndes Leuchten von sich gab, als er es schließlich wieder senkte. Onagi warf den Kopf so weit nach hinten, wie er konnte, um die Wärme der beiden Sonnen zu genießen. Er war erfolgreich gewesen; endlich hatte er jemanden gefunden, der ihm half, sein Wissen zu aktivieren. Ein leises, heiseres Lachen drang durch seine Kehle nach oben, und er öffnete und schloss die Finger seiner beiden unteren
20 Hände, die noch immer ein wenig schmerzten. Endlich! In Gedanken rekapitulierte er, was er von dem Elter erfahren hatte: Da sich Makharas um die rote Sonne Thenaghi bewegt, während diese wiederum um Ghretaani kreist, besitzt unsere Welt eine andere Zeiteinteilung als die meisten anderen Völker Dwingeloos, weil deren Welten sich nur um eine Sonne drehen. Der Elter war ein Reisender gewesen – er hatte Makharas bereits einmal verlassen, was die Informationen, die er in Onagi aktiviert hatte, doppelt wertvoll machte. Ausgangspunkt der Berechnungen ist die Eigenrotation Makharas', die als Tag bezeichnet wird. Ein Tag ist der Zeitraum, der zwischen einem Aufgang Thenaghis und ihrem nächsten Aufgang vergeht, gemessen am Äquator. Da Makharas' Polachse fast vollständig senkrecht auf der Ekliptik steht, gibt es auf unserer Welt keine Jahreszeiten und somit keine Notwendigkeit, einen Tag anders als durch den Sonnenaufgang zu definieren. Durch die Kreisbewegung der roten Sonne um die blaue kommt es vor, dass die Thenaghi-Nächte auf Makharas nicht dunkel sind. Es gibt Nächte, in denen sich das schwache Licht Ghretaanis wie ein Schleier über das Land legt und alles in einen fahlen, kühlen Schein taucht. Tagsüber entstehen die unterschiedlichsten Varianten. Stehen rote und blaue Sonne dicht beieinander, so überstrahlt das Licht der roten das der blauen fast vollständig. Sind sie jedoch mehr als zehn Grad voneinander entfernt, dann stehen sie beide deutlich sichtbar und farblich sehr unterschiedlich voneinander am Himmel und werfen seltsam bunte, zweifache Schatten. Ist Ghretaani tagsüber gar nicht zu sehen, hat das Licht Thenaghis einen rubinroten, warmen Schimmer, der Raban-Licht genannt wird. Nur wenn es leuchtet, kann man das schwache Pulsieren Thenaghis erkennen, in dem sich ihr Leuchten abschwächt und aufbläht, als atme im Inneren der Sonne ein unbekanntes Riesen-
Cathrin Hartmann wesen. Der Rhythmus dieses Pulsierens dient dazu, einen Tag in kleinere Einheiten zu gliedern, die Raban-Einheiten. Ein Tag hat 12,738 Raban-Einheiten, was dazu führt, dass sich Tagesrhythmus und der Rhythmus der Einheiten gegeneinander verschieben. Ein Umlauf Makharas' um Thenaghi gilt als ein Jahr, und er dauert etwas mehr als 269 Tage. An der Tatsache, dass diese Zahl in den Augen der Drieten als völlig unästhetisch gilt, da sie weder durch die vollkommene Zwei noch durch irgendeine der anderen Zahlen außer Eins geteilt werden kann, haben sich Generationen von DrietAstronomen die Köpfe verrenkt. Für Schaltjahre haben die Drieten wegen der fehlenden Jahreszeiten keinerlei Bedarf, sodass der Zeitabschnitt, den ein Sonnenumlauf länger als 269 Tage dauerte, geflissentlich ignoriert wird. Es gibt einige Theologen, die darüber spekulieren, ob eine Möglichkeit existiere, durch Divisionen und Multiplikationen der 269 mit dem überzähligen Rest einen Beweis für die Existenz eines Schöpfers zu finden, aber sie werden von den meisten anderen Bewohnern Makharas' als Spinner abgetan … Onagi riss sich selbst aus seinen Gedanken. Jemand kam. Hastig schaufelte Onagi ein paar weitere Trümmerstücke auf den Berg, den er bereits angehäuft hatte. Ein schmaler grauer Fühler verschwand unter dem staubigen Gestein. »He! Was machst du da?« Kietai war heran, bevor Onagis klopfendes Herz sich wieder beruhigt hatte. Neugierig starrte er auf den Trümmerhaufen, und Onagi sah ein Flackern in seinen großen Augen. Er interpretierte es als Befriedigung darüber, dass er, Onagi, wieder einmal erfolglos mit seinen Bauten gewesen war. »Zusammengebrochen?« Irgendwie klang die Stimme Kietais nicht so hämisch wie sonst, aber Onagi konnte sich nicht erklären, warum das so war. Manchmal hatte Kietai solche Anwandlungen, als spüre er auch dieses Band, das sie
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miteinander verband und das Onagi tagtäglich schmerzlich wahrnahm. Aber meistens war Kietai nach solchen Anflügen von Freundlichkeit hinterher doppelt so kühl und abweisend zu ihm, sodass Onagi vor langer Zeit schon gelernt hatte, dass es besser war, nicht auf diese Anzeichen zu warten. »Nein. Ich habe gar nicht daran gebaut. Ich habe hieran gebaut.« Onagi zeigte Kietai das Instrument, und der keuchte erstaunt auf. Die Sonnenstrahlen brachen sich rot und blau in der glänzenden Oberfläche und ließen sternförmige Reflexe über ihrer beider Gesichter tanzen. »Das ist wundervoll!« Kietai griff nach dem Instrument. »Was ist es?« »Ein Sonnensänger.« Onagi bleckte die Zahnschneiden. »Halt es in die Strahlen Ghretaanis!« Kietai tat es, das Instrument lud sich mit Licht und Wärme auf, und das leise Singen ertönte. »Schön. Wie hast du das geschafft?« Ein wenig Bewunderung klang in Kietais Frage mit, etwas mehr Neid und sehr viel mehr Misstrauen. Sein Blick wanderte zum zweiten Mal zu dem Trümmerhaufen. Der Sonnensänger in seiner Hand schimmerte. »Aber ist auch egal. Ich bin auf dem Weg zum Sonnenplatz. Es soll wieder einmal einer dieser Werber angekommen sein. Willst du mit?« Onagi spürte, wie etwas in ihm zerbarst und zu einem Gefühl von kaum abzuhaltender Intensität wurde. Kietai hatte ihn gefragt, ob er mit ihm mitgehen wollte! Fühlte sich so Freude an? »Gerne!«, hörte er sich sagen, und er klang bei weitem nicht so gleichgültig, wie er es vorgehabt hatte.
* Sie hörten den Werber mit lauter Stimme sprechen, und vor ihren inneren Augen entstand die Welt, die er beschrieb, in den schillerndsten Farben. Ihre Seelen sehnten sich danach, mit ihm zu gehen, Makharas hinter sich zu lassen, um mitzuhelfen am
Aufbau dieser neuen Welt … Auf dem Rückweg lachte Kietai leise vor sich hin. »Was hast du?« Vorsichtig spähte Onagi in Kietais Gesicht. Es hatte sich gelohnt, den Sonnensänger an sich zu bringen. Seit Kietai ihn gesehen hatte, hatte er kein einziges böses Wort mehr fallen lassen, und langsam entspannte sich Onagi. Auf dem Rückweg waren sie an dem Trümmerhügel vorbeigekommen, aber Kietai hatte ihn mit keinem einzigen Blick gewürdigt. »Nichts. Nur die Vorstellung, diese riesige Welt bauen zu dürfen, aus dem Nichts! Stell dir das einmal vor. Wie hat der Werber sie noch einmal genannt?« »Intrawelt.« Das Wort schmeckte seltsam auf Onagis Zunge. »Wie auch immer. Komm, wir zeigen Maras deinen Sonnensänger.« Kietai griff nach dem Instrument, das Onagi sich über einen Arm gehängt hatte. Onagi zuckte zurück, und Kietai lachte. »Keine Angst, ich gebe es nicht als das meine aus. Komm mit, wir wollen doch mal sehen, ob sich Maras' Meinung über dich nicht ändern lässt.« Ein wenig misstrauisch wegen der plötzlichen Freundlichkeit folgte Onagi Kietai.
* In der folgenden Nacht lag Kietai schlaflos auf seinem Lager und starrte mit zuckenden Fühlern in die hellblaue Düsternis. Irgendwo in der Nähe knackte ein Feuer, und der Geruch von grünem Rauch, dem Verbrennungsprodukt von Chigat, stieg Kietai in die Riechorgane. Er verbarg die Fühler unter einem Arm; er konnte es nicht leiden, wenn einer der Drieten aus Unachtsamkeit sein Feuer dort entfachte, wo Chigat wuchs. Es erschien ihm frevelhaft, das Grundnahrungsmittel aller Bewohner Makharas' zu verbrennen, auch wenn es beinahe überall vorkam und sogar die Wände und Decken der tiefsten Höhlen und Stollen mit seiner feinen grünen Schicht bedeckte, wenn es
22 nicht abgeerntet wurde. Lange jedoch dachte er nicht über die Verschwendung nach, denn seine Gedanken kehrten zu Onagi zurück. Maras war derartig begeistert von dem Sonnensänger gewesen, dass er Onagi beinahe in die Reihen der Drieten aufgenommen hätte. Erst im letzten Moment war ihm aufgegangen, dass Onagi ein Nichtling war, jemand, den es nicht geben durfte. Dennoch war der Blick seiner Augen freundlicher gewesen, als er Onagi verabschiedet hatte. Und was das Allerschlimmste war: Der Alte hatte ihm, Kietai, einen Arm auf den Kopf gelegt, seine Fühler gestreichelt und ihm mit elterlicher Gutmütigkeit geraten, endlich auch ein solches Kunstwerk zu vollbringen. Fast wäre Kietai an seinem Wissen erstickt, und nur mit Mühe hatte er sich beherrschen können, dem Ältesten ins Gesicht zu schreien: »Siehst du nicht, was hier geschieht? Bist du zu alt, es zu begreifen, wenn eines der drei Gesetze gebrochen wurde?« Aber er hatte seine Zahnschneiden zusammengepresst. Er hatte die Worte in seinem Mund gefangen wie sich windende, eklige Sheton-Würmer, bis er das Gefühl gehabt hatte, an ihnen zu ersticken. An ihnen und an seinem Hass auf Onagi. Mit einem Ruck richtete sich Kietai auf. Er würde sich Maras' Achtung zurückholen! Sein Blick fiel auf seinen schlafenden Elter. Bidons Brust hob und senkte sich regelmäßig, und zwei seiner Arme zuckten sachte, als greife er im Schlaf nach den Sternen. Kietai zischte probehalber, aber Bidon rührte sich nicht. Da erhob sich Kietai von seinem Lager, schlich sich an dem seines Elters vorbei und nach draußen. Der Geruch von grünem Rauch war fast vollständig vergangen. Die namenlose Sonne hing nur noch einen Fingerbreit über dem Horizont und zeichnete alles mit langen, dürren Schatten aus. Irgendwo in der Nähe schrie ein Lenifer seinen lang gezogenen, wispernden Ruf. Kietai umrundete das Haus und blieb vor
Cathrin Hartmann dem Eingang zu Bidons Höhle stehen, der nicht mehr war als ein kreisrundes Loch im dunklen Boden. Unschlüssig blickte Kietai zur blauen Sonne. Wenn sie auch noch unter den Horizont sank, würde es nicht nur eisig kalt werden, sondern dazu auch noch so dunkel, dass er sein Vorhaben nicht würde durchführen können. Er brauchte eine Lampe. Ein wildes Zucken erfasste seine Fühler, als ihm eine Idee kam. Der Sonnensänger! Er würde sein gespeichertes Licht in der Finsternis der Höhle abgeben. Es wäre passend, Onagis Werkzeug dafür zu benutzen, den Nichtling wieder dorthin zu befördern, wo er hingehörte. Kietai ließ seinen Blick über das Dorf wandern. Außer seinem Elter wohnten noch zwei Dutzend andere Drieten hier, sorgfältig hatten sie ihre Häuser so weit voneinander entfernt, wie es eben ging, ohne dadurch in die Reichweite der anderen Ansiedlungen zu kommen. Über kurz oder lang, dachte Kietai, würde Makharas zu eng werden. Der Kern ihrer Welt war fast vollständig ausgehöhlt, das gewonnene Material in den letzten Jahren zu den Schwindel erregendsten Türmen verbaut worden, die man sich vorstellen konnte. Und dennoch kamen sich die Drieten immer näher. Vielleicht war es gar keine schlechte Idee, die Hälfte des Volkes mit dem Werber mitzuschicken … Aber heute Nacht war nicht die Zeit, sich um Überbevölkerung zu sorgen. Heute Nacht gab es Wichtigeres zu tun. Onagis Hütte stand ganz am Rand des Dorfes, so weit abseits, wie es die verschachtelten Bauten und die tiefen Gräben Makharas' zuließen. Leise schlich Kietai durch das Dorf hin zu dem Nichtling. Die Hütte war nicht viel mehr als eine lose Ansammlung von Felsbrocken, locker aufeinander geschichtet und oben mit einem Schlussstein versehen. Kietai widerstand der Versuchung, ihn herauszuziehen und zuzusehen, wie sich Onagi unter dem Trümmerberg hervorwinden musste. Diese Vorstellung gebar andere, weniger an-
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genehme, die Kietai rasch von sich schob. Vorsichtig schaute er durch eines der Fenster. Onagi lag auf seinem Lager und schlief. Und der Sonnensänger? Sein bläuliches Leuchten kam aus einer Kiste im Hintergrund. Sehr gut! Kietai umrundete die Hütte, bis er deren Eingang gefunden hatte. Ein schlichter Vorhang ersetzte die Tür. Er raschelte leise, als Kietai ihn zur Seite schob. Onagi schnarchte. Dann murmelte er irgendetwas. Kietai schlich an ihm vorbei und griff nach der Kiste. Sie öffnete sich beinahe lautlos. Hast doch ein bisschen was gelernt, was?, dachte Kietai spöttisch. Seine unteren beiden Hände griffen nach dem Sonnensänger, während die oberen beiden den Kistendeckel hielten und schließlich wieder an seinen alten Platz sinken ließen. Im nächsten Moment war Kietai wieder draußen in der blauen Dunkelheit.
6. Um diese Zeit war es in der Höhle stockfinster, doch der Sonnensänger verbreitete einen zwar kühlen, aber ausreichend hellen Schein, damit Kietai sein Vorhaben durchführen konnte. Vor ihm stand die Säule. Ein Schaudern durchlief Kietais Fühler, und vorsichtig näherte er sie dem noch rauen, unbearbeiteten Stein. Er roch noch nach Bidons Werkzeugen, ein wenig nach Eisen und dem Staub der wasserklaren Steine, die zu nichts nütze waren, außer um damit Gestein zu bearbeiten. Schneiden konnte man mit ihnen und schleifen, und genau das hatte Kietai nun vor. Er wandte sich suchend um, bis er die Kiste gefunden hatte, in der Bidon sein Werkzeug aufbewahrte, entnahm ihr einen Schleifer und machte sich daran, die noch hässliche Oberfläche der Säule zu polieren. Er
würde derjenige sein, von dem es später heißen würde, er hätte die eine, die tragende Säule von Bidons Höhle mit dem schönsten, schimmernden Glanz versehen, den sich ein Driete nur vorstellen konnte. Keiner würde danach noch von Onagis Sonnensänger reden. Kietai würde der Sieger sein, genau wie es sich gehörte. Er spitzte die Lippen und zog sie in die Breite, während er arbeitete. Die Säule jedoch sträubte sich. An wenigen Stellen nur gelang es Kietai, dem Gestein einen überirdischen Glanz abzuringen, und bald schmerzten seine Arme von der Anstrengung des Schleifens. Ärgerlich hielt er inne. Er hatte schon eine Hand zur Faust erhoben, um dem widerspenstigen Gestein einen wütenden Hieb zu versetzen, als ihm die Worte seines Elters einfielen. Es gibt Gestein, das zum Schleifen taugt, und es gibt solches, das niemals schimmern und glänzen wird. Es eignet sich dafür hervorragend, gestaltet zu werden. Die feinsten Türme Makharas' sind aus diesem zweiten Gestein gemacht, und es heißt, dass derjenige, der es zu beherrschen vermag, zu den Größten der Drieten gezählt wird. Du musst auf die Stimme des Gesteins hören, Kietai! Kietai ließ den Schleifer einfach fallen. Er legte den Kopf schief und überkreuzte die Fühler. Eine Verzierung, murmelte etwas in seinem Geist. Eine der schönsten Verzierungen, die die Drieten jemals gesehen haben … Und er griff zu Hammer und Meißel, um sich ans Werk zu machen.
* Das Schönste, was Kietai sich vorstellen konnte, waren die haarfeinen, vielfach ineinander gedrehten und verschlungenen Ranken des Chigat, und genau diese Formen ließ er aus dem Gestein der Säule erstehen. Er arbeitete mit äußerster Behutsamkeit, meißelte größere Brocken weg und kratzte die vielfältigsten Formen mit der Spitze seines eigenen Messers ins Gestein. Das leise Geräusch, das
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dabei entstand, klang wie Musik in seinen Ohren. Irgendwann ging über der Erde die rote Sonne auf und warf einen düsteren Schein durch die Höhlenöffnung. Kietai ließ sich nicht ablenken. Bis plötzlich ein leises Knirschen ertönte. Er ließ den Spatel sinken und lauschte. Es knirschte in der Säule. Er wich zurück. Eine seiner Lamellen schrammte über den Schleifer. Es knirschte in der Decke. Kietai wich noch ein wenig weiter zurück und starrte auf den Boden vor sich, wo sich jetzt eine breite Blutspur gebildet hatte. Er verspürte keinen Schmerz. Mit hervorquellenden Augen ruckte sein Kopf hoch. Und dann brach die Höhlendecke ein.
* Ein leichter Ruck fuhr durch die Gondel und ließ Albion verstummen. Ich sah auf. In den letzten Minuten hatte ich der Erzählung mit geschlossenen Augen gelauscht, und die Erregung, die mich immer fester in den Griff nahm, trieb mir Tränen in die Augen. Ich blinzelte sie fort und reckte mich ein Stück, um aus einem der bullaugenartigen Fenster zu sehen, die hier im unteren Teil der Gondel einen Ausblick gestatteten. Wir waren irgendwo angekommen. »Eine weitere Gondelstation, würde ich sagen«, behauptete Jolo. Die Gondelstation, die wir erreicht hatten, unterschied sich in nichts von GEM-45. Sie war eine flache Scheibe, der sich von allen Seiten die Gondelseile näherten. Auch hier gab es, vor dem Licht der Sonne fast unsichtbar, einen einzelnen Strang, der steil in die Höhe führte. Wir befanden uns also auf einer Flachstation. Ein Begrüßungskomitee aus drei Maulspindlern trat uns entgegen, und ich registrierte erleichtert, dass diesmal keiner von ihnen eine ähnlich gefährliche weiße Waffe
trug wie auf GEM-45. Die Begrüßung war freundlich, aber geschäftsmäßig. Offenbar hatten wir inzwischen den Status einer normalen Reisegruppe erlangt. »Willkommen, Reisende, auf der Flachstation ZER-77. Man folgt mir bitte.« Die Stimme des Maulspindlers schnarrte. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er Schnupfen hatte. Vielleicht war er aber auch einfach nur schlecht gelaunt. Wie auch immer, er behandelte uns zuvorkommend, und mehr erwartete ich gar nicht. »Wir haben noch einen Reisenden in der Gondel«, sagte ich. »Er benötigt ein Transportmedium.« »Kein Problem. Man wartet einen Moment.« Einer der beiden bisher stummen Maulspindler drehte sich um, verschwand hinter einem aufragenden Gebäude und kam gleich darauf mit einer Art Wagen zurück. Vier offenbar luftgefüllte Räder trugen eine schlichte Plattform aus Metall. Das Ganze sah aus wie eine alte terranische medizinische Trage, nur dass man der hier die Reifen überdimensional aufgepumpt hatte. »Man lädt den Reisenden auf.« Der Maulspindler schob mir die Rolltrage vor den Bauch. Ich zog eine Augenbraue in die Höhe. »Danke für deine Zuvorkommenheit.« Während ich die Trage ins Innere der Gondel schob, überlegte ich, wie ich es schaffen sollte, Albions nicht eben leichten Körper auf das Ding zu heben. Zwar hatte der Schneckenmann durch die Dehydrierung einen Teil seines Gewichtes verloren, aber er war noch immer ein schwergewichtiger, wabbeliger Geselle. Ich hatte Glück. Albion war so weit bei Bewusstsein, dass er mir helfen konnte. Er hievte seinen Oberkörper selbst auf die Trage, und ich musste nur bei seinem schneckenartigen Hinterleib nachhelfen. »Geht es … Albion?« »Ja. Ich danke dir.« Ich sah Tränen in die großen Augen des Drieten treten und beschloss, sie zu ignorie-
Das dritte Gesetz ren. Auf keinen Fall würde ich es jetzt und hier auf einen Heulanfall ankommen lassen. Schnell schob ich die Trage aus der Gondel. Der Maulspindler musterte Albion, aber seinen Reaktionen war keinerlei Schrecken oder Entsetzen anzumerken. Wahrscheinlich dachte er, Wesen von Albions Volk mussten warzig und eingefallen aussehen und sich von ihren zweibeinigen, weißhaarigen Dienern in der Gegend herumschieben lassen. Wir wurden durch ein paar Gänge geführt. Wie auf GEM-45 war auch auf ZER77 der Boden mit einer Art Linoleum belegt, aber hier quietschten meine Schuhe nicht so laut. »Euer Quartier!« Der Maulspindler schob eine Tür auf und wich zur Seite, sodass wir eintreten konnten. Die Räumlichkeiten dahinter unterschieden sich in nichts von denen auf GEM-45, und ich half Albion, es sich auf einer Liege bequem zu machen. »Unser Freund hier ist in einer etwas prekären gesundheitlichen Situation«, erklärte Tuxit unserem Begleiter. »Wir brauchen eine Menge Wasser für ihn.« »Man benutzt, was vorhanden ist.« Der Maulspindler deutete auf einen Waschraum und verschwand dann. Tuxit kam zu der Liege, begutachtete meine Bemühungen, es Albion so bequem wie möglich zu machen, und nickte dann zufrieden. Ich überlegte, ob es sinnvoll wäre, ihn um weitere Informationen zu bitten. Offenbar wusste er sehr viel mehr über Drieten, als er bisher zugegeben hatte. Und offenbar war er auch sehr viel besorgter um den Schneckenmann, als ich bisher angenommen hatte. Seine großen, dunklen Augen blickten jedenfalls recht sorgenvoll. Aber bevor ich zu einem Entschluss kommen konnte, zog er sich wieder in eine Ecke zurück, hockte sich hin und schloss diesmal sogar die Augen. Ich unterdrückte ein Seufzen. Jolo hatte es übernommen, die gesamte Zimmerflucht des Quartiers nach Essbarem abzusuchen, und war dabei auf die Nahrungsspender gestoßen, die er von GEM-45 kannte.
25 Wenigstens er ist zufrieden, dachte ich mürrisch. Vergiss nicht, dass du nicht in seinen Kopf schauen kannst, gab mein Extrasinn kryptisch zurück, und ich entschied, dass ich nicht die geringste Lust hatte, ihn zu fragen, wie er das gemeint hatte. Da ich von Tuxit keine weiteren Informationen darüber zu bekommen schien, wie ich Albion helfen konnte, überlegte ich, ob es sinnvoll wäre, mich ein bisschen umzuschauen. Der Schneckenmann hatte offenbar gerade eine stabile Phase. Der Wasserfluss aus den Warzen hatte ein wenig nachgelassen, und es sah aus, als sei der Verfall der Haut parallel dazu zu einem Stillstand gekommen. Albion lag halb auf der Seite da und blickte ausdruckslos vor sich hin. »Kann ich dich für eine Weile alleine lassen?«, fragte ich ihn dennoch sicherheitshalber. »Ich will versuchen, Informationen zu bekommen, was mit dir los ist.« Albion drehte mir den Kopf zu. Es war eine langsame, schwerfällige Bewegung. »Ja. Aber bleib nicht zu lange weg.« Ich versprach es und machte mich auf den Weg.
* Auf ZER-77 herrschte beinahe so viel Andrang wie auf GEM-45. Die Gondelseile sirrten ihr leises Lied, und in einem fort kamen Gondeln an oder fuhren ab, die meisten davon in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Erneut sah ich einen Hyrkt, der einem aufrecht gehenden, pigmentlosen Hirschkäfer glich, und auch zwei der elfenbeinfarbenen Humanoiden von GEM-45 fielen mir auf. Außerdem entdeckte ich einen fast gänzlich durchsichtigen Laird, ein zweibeiniges Wesen mit einer Art Löwenkopf, von dem ich gehört hatte, dass es umso transparenter wurde, je älter es war. Ich marschierte eine Weile durch die Gänge der Station, stellte hier eine Frage, lauschte dort einem Gespräch, um einen
26 Hinweis zu bekommen, wie ich Albion helfen konnte. Alles, was ich erfuhr, war, dass die meisten der anwesenden Reisenden unterwegs nach Pregesbau waren, um an dem Großen Thongning teilzunehmen, dessen Ablauf offenbar durch den gewaltsamen Tod von Luck dem Proporzen nicht wesentlich gestört worden war. Langsam wurde mir die Zeit knapp. Zwischendurch warf ich einen Blick in unser Quartier. Jolo war dabei, die Fühler des Schneckenmannes zu massieren und seine Lamellen mit Wasser zu kühlen, aber ich konnte dem an Verzweiflung grenzenden Ausdruck seines Gesichtes entnehmen, dass er genauso wie ich spürte, dass es mit Albion dem Ende zuging. Oder dass er besonders großen Hunger hatte … »Beeil dich mal!«, rief er mir zu, bevor ich die Tür wieder schließen konnte. »Das geht nicht mehr lange gut.« Ich entschied, dass es das Beste sein würde, einen der Maulspindler zu fragen. Ich hielt einen von ihnen an, als er auf seinen sechs spinnenartigen Beinen am mir vorbeistelzte, und schilderte ihm unser Problem. In seiner auf Gastfreundschaft trainierten Art gab er mir Antwort: »Nun, es sind zu viele Völker, die die Intrawelt bewohnen. Niemand kann sich mit ihnen allen auskennen, und ich fürchte, ich kann dir nicht helfen.« Er schwieg einen Augenblick, schien zu überlegen. »Aber es gibt vielleicht jemanden, der es kann. In Sektor A, Quartier 8. Dort wohnt im Moment ein Galimatide, ich glaube, Tracas ist sein Name.« Er sah mich an, als erwarte er überschwänglichen Dank von mir. Ich runzelte die Stirn. »Du weißt nicht, was die Galimatiden sind, nicht wahr?« Er machte ein Geräusch, das mein Dhedeen mit nachsichtiges Seufzen übersetzte. »Wenn ich ehrlich bin, nein.« »Nun, sie sammeln. Ähnlich wie die Grün-Nomaden, nur mit dem Unterschied, dass sie Wissen sammeln. Ein jeder, der zu ihnen kommt, darf es abrufen.«
Cathrin Hartmann Eine Art Bibliothekar, kommentierte mein Extrasinn. Ich würde fragen, was der Spaß uns wieder kostet. Aber bevor ich das tun konnte, hatte mir der Maulspindler die Antwort schon gegeben: »Sie gehören zu einer Art religiösen Gemeinschaft. Sie nehmen keine Bezahlung, bitten aber darum, ihr Wissen mit neuen Details aufzustocken.« Womit ich ihnen bestens dienen konnte. Ich bedankte mich bei dem Maulspindler und machte mich auf die Suche nach Tracas. Sektor A war nicht ganz einfach zu finden in dem ganzen Gewühle, und schließlich musste ich einen weiteren Maulspindler nach dem Weg fragen. Er führte mich nicht nur in den gewünschten Sektor, sondern auch gleich vor die richtige Tür, die er, ohne anzuklopfen, weit für mich aufstieß. »Tracas ist da, ich habe ihn eben reingehen sehen«, sagte er und verschwand um eine Ecke. Ich trat vorsichtig ein. »Tracas?« Das Quartier sah genauso aus wie das unsere: ein großer Aufenthaltsraum, von dem zwei Türen abzweigten, eine davon in einen Nassraum und eine in ein wandelbares und anpassungsfähiges Schlafzimmer. In der Mitte des großen Raumes stand ein Stuhl, der mich verwundert blinzeln ließ. Auf den ersten Blick sah er aus wie lupenreines, terranisches Louis-seize, aber als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es Unterschiede gab. Offenbar gab es im Inneren der Intrawelt einen Sektor, auf dem die Kunst sich ähnlich wie auf Terra entwickelt hatte. Oder in Dwingeloo, ergänzte ich in Gedanken. Schließlich wusste ich nicht, ob Tracas nicht wie ich selbst von außerhalb gekommen war. »Tracas?«, rief ich noch einmal in die Zimmerflucht und trat an den Stuhl heran, der mitten im Weg stand. Wenn er von außerhalb ist, korrigierte mich mein Extrasinn, hätte er diesen Stuhl nicht mitbringen können. »Ich bin hier.« Ich zuckte zurück. Es war der Stuhl, der
Das dritte Gesetz gesprochen hatte! So viel dazu. Ich biss die Zähne zusammen. »Bei allem, was wir schon erlebt haben, hört es jetzt langsam auf!« So langsam ging mir diese verrückte Welt mitsamt ihren noch verrückteren Bewohnern gehörig auf die Nerven. Plötzlich verlor der Stuhl seine feste Form. Es sah aus, als würden seine Konturen weich, wachsartig, dann begannen sie zu Boden zu tropfen, sich aufzulösen. Am Ende war der Stuhl verschwunden, und auf der Erde lag eine Art Pfütze, grünlich phosphoreszierend und durchlaufen von einem regelmäßigen wellenförmigen Zittern. Inmitten der Pfütze saß, einem begossenen Küken gleich, ein zerzauster, nasser Dhedeen. Ein Gestaltwandler, stellte mein Extrasinn fest. Dass es davon welche in Dwingeloo gibt, wissen wir ja bereits … Ich rührte mich nicht von der Stelle, deutete aber eine kleine Verbeugung an. »Mein Name ist Atlan. Ich bin gekommen, weil ich deine Hilfe brauche.« Ganz kurz schoss mir durch den Kopf, dass ich langsam selbst anfing, verrückt zu werden. Nur weil der Kerl ausgesehen hatte wie ein altfranzösischer Stuhl, begann ich bereits höfische Umgangsformen an den Tag zu legen. »Was musst du wissen?« Tracas zog sich zusammen, wuchs in die Höhe, nahm Konturen an. Und ich schaute in mein eigenes Gesicht. Ein wenig kleiner als ich selbst war der zweite Atlan, der sich plötzlich im Raum befand, und bis auf die inzwischen fast verheilte Wunde auf meiner Stirn, die ich mir beim Kampf gegen die Iotaren zugezogen hatte, war er ein genaues Abbild meiner eigenen Gestalt. Ich versuchte, mich nicht irritieren zu lassen, was gar nicht so einfach war, weil Tracas jede einzelne meiner Bewegungen exakt imitierte. In wenigen Sätzen schilderte ich unser Problem. Es war, als spräche ich mit meinem Spiegelbild. »Drieten«, sagte Tracas. »Ich weiß nicht
27 viel über sie. Sie gehören zu den Urvölkern der Intrawelt, vielleicht darum … Dragon, Dretiner, Drieten.« Es dauerte einen Augenblick, dann schloss mein Spiegelbild die Augen und riss sie gleich darauf wieder auf. Die Farbe seiner Iris änderte sich für einen kurzen Moment, und auch die Konturen schienen vage zu werden, aber dann hatte sich Tracas wieder gefangen. »Was ich weiß, ist Folgendes: In einer entlegenen Parzelle dieser Welt, die den Namen Hüffen trägt, leben derzeit Drieten. Aber diese Information ist nicht gesichert. Ich erhielt sie von einem Suchenden, der nicht besonders … nun ja, sagen wir, Vertrauen erweckend war.« »Hüffen?« Ich beugte mich ein wenig von »Wo ist das?« Mein Spiegelbild tat es mir gleich und begann wieder in seinem geistigen Katalog zu blättern. »Hüb'ha, Hüberber, Hüffen. Ah, ja!« Es fing an, Informationen herunterzuleiern. Mit Hilfe des Gondelsystems, erfuhr ich, würde es mindestens drei Tage dauern, die Parzelle zu erreichen. Nachdem er mich derart mit Wissen gefüttert hatte, verlor Tracas meine Form. Er floss einfach auseinander, bis er wieder eine grün schillernde Pfütze auf dem Boden war, nur, um sich gleich darauf noch weiter auseinander zu ziehen und an der nächstgelegenen Wand hochzuklettern wie eine adhäsive Flüssigkeit. Er änderte die Farbe und sah jetzt hässlich graubraun aus. Wenn man von der kleinen Beule absah, in der der Dhedeen saß, erinnerte er mich irgendwie an eines der Kunstwerke eines terranischen Künstlers aus dem zwanzigsten Jahrhundert. »Waren das alle deine Fragen?« Tracas schob sich noch weiter nach oben, bis er die Decke erreichte. In Erwartung meiner Antwort hielt er kurz inne. »Ja. Ich danke dir.« »Es ist üblich, sich zu revanchieren.« »Wie kann ich das tun?« Ich folgte dem Galimatiden mit dem Blick, misstrauisch jetzt. Er schwebte inzwischen genau über mir.
28 »Indem du mir dein Wissen gibst.« Ein Teil seines Körpers bildete sich zu einem fingerdicken Schlauch aus, der sich auf mich herabsenkte. Pass auf! Gefahr!, signalisierte mein Extrasinn. Es hätte der Warnung nicht bedurft; zu sehr erinnerte mich die Situation an meine Begegnung mit dem Krakenwesen des Asteroiden. Ich wich einen Schritt zurück. »Es wird nicht wehtun!«, versprach mir Tracas. »Ich muss dich nur berühren, um das zu wissen, was du weißt. Du wirst nichts spüren.« Du weißt zu vieles!, warnte der Extrasinn. Natürlich hatte er Recht. Das wäre kein faires Geschäft gewesen – und zudem noch ein höchst gefährliches. Schließlich hatte mein fotografisches Gedächtnis vieles festgehalten, was in den falschen Händen leicht zur Waffe werden konnte. Abgesehen davon wollte ich nicht nochmals jemanden in meinen Kopf einlassen. Noch immer fühlte ich mich regelrecht besudelt durch Peonu … »Hör zu!«, sagte ich. »Mein Wissen könnte möglicherweise gefährlich für dich sein.« »Gefährlich? Wie kann Wissen gefährlich sein?« Meine Gedanken rasten. Was würde einem Wesen wie Tracas als gefährlich vorkommen? »Weil ich etwas weiß, was die Erbauer der Intrawelt geheim halten wollen. Sie jagen mich, und sie werden jeden töten, der das Wissen ebenfalls hat.« Riskant!, schoss es mir im gleichen Moment durch den Kopf. Was, wenn ich damit mein Wissen nur noch begehrenswerter gemacht hatte? Aber es schien zu wirken. Tracas zog beide Auswüchse zurück. »So? Nun, dann will ich einmal eine Ausnahme machen. Wie schade.« Er tropfte von der Decke und landete mit einem lauten Klatschen vor meinen Füßen. Im nächsten Moment war er wieder ein Stuhl, und als ich genauer hinsah, entdeckte ich, kurz bevor der Galimatide nach der Form auch noch die Farbe seiner Oberfläche anpasste, in seinem Inneren den Dhedeen.
Cathrin Hartmann »Aber ich könnte dir etwas berichten«, schlug ich vor. »Neuigkeiten über die Nomaden, allen voran Luck den Proporzen … Ich war dabei, als er den Tod durch seine Artgenossen fand.« »Erzähl.« Der Stuhl bildete einen Auswuchs, ganz ähnlich einem riesigen, menschlichen Ohr.
* Als ich zu den anderen zurückkehrte, waren Jolo und Tuxit in heller Aufregung. Albion hatte wieder angefangen zu zucken. Inzwischen war er allerdings zu schwach, um mit seinen Armen noch großen Schaden anzurichten, sodass wenigstens nicht die Gefahr bestand, auf ZER-77 für ein ähnliches Chaos zu sorgen wie auf GEM-45. »Er macht es nicht richtig!«, rief Tuxit. Er hatte sich zu einem großen Federball aufgeplustert und marschierte aufgeregt in dem Raum auf und ab. Seine Armstummel waren in dem Gewirr seiner ungepflegten Federn kaum zu sehen. Mit zwei schnellen Schritten war ich bei Albion. Ich schubste Jolo zur Seite, kniete mich neben dem Schneckenmann nieder und begann erneut mit meiner Massage. Während Albion am Anfang noch mit einem Stöhnen seine Entspannung signalisiert hatte, reagierte er diesmal kaum noch. Ich biss mir auf die Lippe. Konnte ich denn gar nichts tun? Tuxit fragte, ob ich etwas herausgefunden hatte, und ich berichtete ihm, was ich wusste. »Drei Tage?« Er klang erschrocken. »So lange hält er nicht mehr durch!« »Gibt es nicht so was wie einen Arzt?« Ich verlagerte mein Gewicht ein wenig, weil meine Beine einzuschlafen drohten. Dann hätte Tracas dir das gesagt, antwortete mein Extrasinn. Immer davon ausgehend, dass er nicht einfach ein wichtigtuerischer Spinner ist. Wir können uns nicht sicher sein, ob es in Hüffen wirklich Drieten gibt, vergiss das nicht!
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»Danke für die Hilfe!«, knurrte ich. Albions Fühler zitterten in meinen Händen, und dieses neuerliche Zeichen von Verfall ließ ein starkes Gefühl des Mitleids in meiner Brust aufkeimen. Immerhin: Meine Massage schien ihm gut zu tun, denn jetzt richtete er den Blick auf mich. »Lass mich weitererzählen …«, bat er leise.
7. Rings um ihn war nichts als Staub. Staub und niederprasselnde Steine. Kietai überwand die Erstarrung, die nach ihm gegriffen hatte, als ihm klar geworden war, was geschehen würde, und warf sich vorwärts. Dem Ausgang zu. Die Höhle stürzte ein. BIDONS HÖHLE STÜRZTE EIN! Mehr konnte er nicht denken. Er wich einem niedergehenden Felsbrocken aus, der wie ein riesiger Hammer neben ihm zu Boden donnerte. Splitter trafen ihn am Kopf, im Genick, an den Armen. Er hechtete zur Seite. Diesmal nicht schnell genug. Ein Stein traf ihn am Fühler, ließ Schmerzen wie grelle Blumen aufleuchten. Kietai wimmerte. Das Knirschen verstärkte sich noch. Und dann war er im Freien. Zitternd und mit rollenden Augen sank er neben dem Höhleneingang zu Boden. Seine Arme hatten sich um seinen Oberkörper geklammert, als könne er an sich selbst Halt finden. Aber er war noch nicht in Sicherheit. Lange, fingerdünne Risse liefen von dem Loch aus in alle Richtungen, zackigen Sonnenstrahlen gleich, aber tödlich. Kietai sprang rückwärts. Einer der Risse änderte abrupt seine Richtung, kam auf ihn zu, als wolle er ihn verspotten. Du entkommst nicht, Kietai … Kietai schrie. Jemand war hinter ihm. Arme umfingen ihn, rissen ihn fort von der sich öffnenden Erde, fort von dem Schlund, der sich nun auftat.
»Was hast du getan?« Schrille, entsetzte Worte, die in Kietais Hörorganen kreischten. Bidon. »Die Säule …« Kietai hielt sich an dem Elter fest. »Sie ist zusammengebrochen!« Bidon schob Kietai von sich fort. »Die ganze Höhle wird einstürzen.« Aber es war viel schlimmer als nur das. Das Loch in der Erde erweiterte sich, wurde größer und größer. An seinen Rändern sanken erste Gebäude in sich zusammen, vergrößerten den Druck, der auf dem Höhlensystem lastete mit ihrem Schutt. Risse zogen sich jetzt von dem Zentrum des Unheils ausgehend bis zum Horizont. Etwas zerrte Kietai von seinem Elter fort. Mit lang gezogenem Gebrüll rutschte Bidon in die Tiefe. Kietai streckte alle sechs Arme nach ihm aus. »Nein!« Aber es war zu spät. Sein Schrei hallte in der Tiefe wider. Ein Schleier aus Staub legte sich wie gnädig über den Abgrund, aber er konnte das Bild in Kietais Erinnerung nicht verdecken. Bidon war abgestürzt. Fort. Kietais Herz verlangsamte sich so sehr, dass es wehtat. Dann tauchte plötzlich etwas Großes, Dunkles in Kietais Gesichtsfeld auf. Es traf ihn am Kopf. Dunkelheit fiel über ihn, ein undurchdringliches schwarzes Tuch, das sein Entsetzen einhüllte und den Nachhall von Bidons lang anhaltendem Todesschrei einfach abschnitt.
* Als er wieder erwachte, war da zunächst nichts außer Kopfschmerz. »Geht es wieder?« Die Stimme riss Kietai aus der Benommenheit. Onagi. Er rappelte sich auf. »Was machst du hier?« Etwas stimmte ganz und gar nicht, das spürte sein Körper, aber er zwang sich, den Blick auf den Nichtling geheftet zu halten. Nicht umsehen! Es war eine dringliche War-
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nung seines Unterbewusstseins, und er folgte ihr instinktiv. »Ich würde sagen, das Gleiche wie du. Überleben.« Onagi war verletzt. Lange, blutige Schnitte liefen quer über sein Gesicht und den Oberkörper, wie Krallenspuren eines großen, hungrigen Raubtieres. Der Boden bebte. »Es ist noch nicht vorbei«, sagte Onagi mit ruhiger Stimme. Endlich wagte Kietai es, den Blick von seiner Gestalt zu lösen. Rings um ihn glutete eine rote, flüssige Masse. Lava! Der Zusammenbruch der Säule hatte die filigrane Struktur des Planeten an zumindest einer Stelle durchlöchert bis in den heißen Kern – und nun quoll das Magma empor, fraß sich nach oben durch und verschlang die Welt … »Die Welt wird zerstört werden«, sagte Onagi. Er klang noch immer ruhig. »Und es ist deine Schuld.« »Es war nur eine Säule!« Kietai spürte, wie ihm das Entsetzen die Worte mit Dornen die Kehle hinauftrieb. »Nur eine Säule!« »Eine Säule, die die Stabilität von Bidons Höhle gewährleistet hat. Als die Höhle einstürzte, gab es eine Kettenreaktion. Sie nahm die darunter liegende, Ensins Höhle, gleich mit. Und von dort aus setzte sich das Beben bis in den Kern von Makharas fort. Seit Jahren schon haben die Alten vor genau dieser Katastrophe gewarnt.« Onagi hatte die Stimme nicht erhoben. Er klang irgendwie teilnahmslos, fand Kietai. Als erzähle er nichts weiter als einen sehr alten, längst unwichtig gewordenen Mythos. Und dann kam das Schlimmste. »Und du hast es verschuldet, Kietai. Du hast das Sekundum wahrscheinlich gründlicher gebrochen, als es jemals wieder jemand tun wird.«
* Sie hockten nebeneinander auf einer Scholle, die auf der Lava trieb. Zu ihrem Glück blieb es ihnen erspart, ihr Volk ster-
ben zu sehen, denn sie waren allein. Als sich die Scholle aufzulösen begann, erscholl über ihnen ein dumpfes Dröhnen. Ein Schatten schob sich durch den Staubnebel, eines der Schiffe, mit denen die Werber zu kommen pflegten, schoss es Kietai durch den Kopf. Er wurde angehoben. Schmerz explodierte in seinem Leib, als die Kraft, die ihn in die Höhe zog, an seinem geschundenen Körper zerrte. Der Schatten des Schiffes senkte sich auf ihn nieder, ein grelles, blendendes Licht brach aus seinem stählernen Bauch, in das Kietai eintauchte. Und danach war nichts mehr.
* »Du solltest dir das ansehen, statt die ganze Zeit zu schlafen!« Onagis Stimme summte in Kietais Kopf, und er zwang sich, aus der Benommenheit aufzutauchen. Sie befanden sich in einer Art Saal, dessen Ausmaße größer waren als jede Höhle, die Kietai in seinem Leben bisher besucht hatte. Dutzende, nein Hunderte Drieten lagen auf metallisch glänzenden Lagern oder wanderten zwischen ihnen hin und her. Viele hatten sich zu kleinen Gruppen zusammengetan und tuschelten oder diskutierten über das Geschehene. Alle wirkten erschüttert. Wie gebannt sahen sie durch ein lang gezogenes Fenster, hinter dem sich nachtschwarzer Himmel bis in die Unendlichkeit erstreckte. Kietai klärte seinen von der Benommenheit noch trüben Blick und sah genauer hin. Das Fenster wirkte seltsam, aber das war es nicht, was ihn in seinen Bann zog. Inmitten der Schwärze schwebten ungezählte helle Lichtpunkte, einige gelb leuchtend, aber auch blaue, rote, orangefarbene. Die Sterne, begriff Kietai. Die Sterne, die er in gänzlich sonnenlosen Nächten manchmal beobachtet hatte. Jetzt fiel ihm wieder ein, wo er war: an Bord eines der Werberschiffe. Er hatte Makharas verlassen!
Das dritte Gesetz Makharas! Seine Fühler senkten sich, und der verletzte sandte einen dumpfen Schmerzimpuls unter seine Schädeldecke. »Ist Makharas zerstört?«, fragte er mit sehr leiser Stimme. »Gänzlich.« Eine Hand legte sich auf seinen Rücken. Er sah sich um. Maras stand neben ihm. Eines seiner Augen war blind, und ein Arm fehlte. Irgendjemand hatte den Stumpf sorgfältig verbunden. »Sei froh, dass du es nicht mit ansehen musstest.« Er deutete auf die vielen niedergeschlagenen Drieten. »Viele von ihnen mussten es mit ansehen. Ich danke dem dreigeteilten Schöpfer, dass es dir erspart blieb.« Kietai spürte Onagis Gegenwart. Etwas lag ihm auf der Zunge, ein Geständnis. Ich bin es gewesen! Ein Schrei. Es ist alles meine Schuld! Er sah in Onagis Augen, und plötzlich fand er dort eine Übereinstimmung, eine Gemeinsamkeit, die ihn mit dem Nichtling verband, enger, als jemals zwei Drieten miteinander verbunden gewesen waren. »Ruh dich aus!«, empfahl Maras und ließ die beiden jungen Drieten allein zurück. »Du schweigst, und ich tue es auch«, raunte Onagi. Die anderen ringsherum waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um auf das Gespräch der beiden Jünglinge zu achten. Ein Bild schoss Kietai durch den Kopf. Ein Schutthaufen, unter dem ein grauer Fühler gerade noch eben sichtbar gewesen war. »Du hast eines der Drei gebrochen«, flüsterte er. »Du hast den Sonnensänger nicht selbst gebaut. Ein Driete musste dafür sterben.« »Und du?« Onagis Augen blitzten. »Wenn ich es richtig sehe, hast du zwei der Drei gebrochen! Du hast nicht nur sehr viel mehr Drieten auf dem Gewissen als ich, sondern du hast zerstört, statt aufzubauen. Eine ganze Menge zerstört, würde ich sagen.« Kietai wimmerte, als ihm das ganze Ausmaß seiner Schuld bewusst wurde. Onagi legte eine Hand auf seinen Arm.
31 Seine Haut war warm und trocken, irgendwie tröstlich. Kietai knirschte mit den Zahnschneiden. »Ich schweige«, versprach er. Onagi nickte. »Gut.« Dann schaute er auf. Und produzierte einen hohen, kicksenden Ausruf der Überraschung. Kietai folgte seinem Blick, hin zum Fenster, hinaus in die Schwärze des Weltalls, die zur Hälfte verschwunden war. Statt ihrer füllte ein schillerndes, undurchsichtiges Ding den unteren Teil des Fensters. Ein rundes Ding. Kietai blinzelte. Er hatte sich getäuscht: Das Ding war nicht zur Gänze undurchsichtig. Wenn er genau hinsah, erkannte er ein Leuchten hinter der schillernden Wand. Ein helles Leuchten, einer Sonne gleich, das sich matt durch die Umhüllung abzeichnete. Nur wenige Stellen, erkannte Kietai, waren nicht von diesem Leuchten erfasst, sondern blieben dunkel. Wie Flecken auf einer schimmernden Lampe. Unregelmäßig geformte Flugkörper bewegten sich außerhalb der kugelförmigen Umhüllung an ihr entlang. Mit ihren Dutzenden Auswüchsen und schwenkbaren Armen sahen sie in Kietais Augen hässlich aus. Sie schienen an den dunklen Flecken zu arbeiten. »Robotraumer!«, rief einer der älteren Drieten. »Sie bauen eine Ummantelung für die schimmernde Kugel, seht ihr?« Es waren diese Worte, die in Kietai einiges an Wissen aktivierten. Er wusste plötzlich von Gerüchten, die kursierten. »Die Pfleger«, murmelte er, »es ist ihre Membran.« Der Elter, der von den Robotraumern gesprochen hatte, sah ihn an. »Ja. Es heißt, sie wollen sich in die Abgeschiedenheit dieser riesigen Kugel, hinter die Membran, zurückziehen.« Im Hintergrund der großen Halle, dort, wo sich die Drieten besonders eng drängten, begannen die üblichen Gewohnheiten Oberhand zu gewinnen über das Entsetzen über ihre zerstörte Heimatwelt. Kietai sah, dass einige der Drieten bereits begannen, sich anzuschreien und sogar aufeinander loszuge-
32 hen. »Sie sind nicht für ein Leben auf einem Haufen gemacht«, sagte Maras. Er klang traurig dabei. Fragen wurden laut. Unmutig geäußert zum Teil. »Weiß jemand, wohin sie uns bringen?« »Wo sind wir überhaupt?« Diese Frage kam von jemandem, der offenbar keinerlei eigene oder aktivierte Erinnerung an die Werber hatte, und einige Nahestehende erklärten ihm rasch, woran er war. »Wer sind diese Pfleger?« »Und was ist das für eine komische Membran?« Es gab keine Antworten, und es gab auch keine Zeit, nach ihnen zu suchen, denn ein lauter Aufschrei ließ sie alle wieder ihre Blicke auf das Fenster richten. Neben der kugeligen Hülle war ein Himmelskörper aufgetaucht, unregelmäßig, zerdellt und düster wirkte er, aber bevor Kietai mehr davon sehen konnte, setzten sie bereits zur Landung auf diesem unregelmäßigen Ding an. Ein Teil des Bodens senkte sich. Eine scheppernde, eintönig klingende Stimme ertönte und bat die Drieten auszusteigen. Noch immer benommen von den vergangenen Ereignissen und zum Teil auch einfach froh, der drangvollen Enge im Inneren des Raumschiffes zu entkommen, gehorchten die Drieten. Kietai sog jede Einzelheit in sich auf. Ganz in der Nähe, am Horizont, der scheinbar nur wenige Drietenlängen entfernt lag, erhob sich ein Gebirgszug in die Höhe. Eine Ebene erstreckte sich bis an seine Ausläufer, flach und kahl und absolut leer. Die schillernde Membran hing über ihnen wie ein drohender Schatten, eine unglaublich gigantische Masse, die im nächsten Moment aus dem Himmel auf sie niederstürzen würde. Der Eindruck war beklemmend, und Kietai konzentrierte sich lieber auf seine direkte Umgebung. Ein weiteres Schiff landete dicht neben dem ihren, und auch aus dessen Bauch quollen Drieten. Erleichterung flutete durch Kietais Geist.
Cathrin Hartmann Es hatten sehr viel mehr überlebt als nur die wenigen hundert in seinem Schiff! Ob Bidon dabei ist?, schoss es ihm ganz kurz durch den Kopf, bis ihm wieder einfiel, dass sein Elter tot war. »Alles in allem vielleicht zwanzigtausend.« Onagis Stimme war dicht bei ihm, ein leiser, quälender Geist in seinen Hörorganen. »Von wie vielen? Anderthalb, zwei Millionen? Ein Hundertstel, Kietai! Mehr nicht.« Kietai ballte alle sechs Hände zu Fäusten. Der Boden unter seinen Lamellen fühlte sich scharfkantig an, und er spürte plötzlich wieder die Verletzung, die er sich in der zusammenbrechenden Höhle zugezogen hatte. Die Raumschiffe hoben ab, und kaum dass sie den Augen entschwunden waren, war der Himmel voller winziger schwarzer Punkte. Es waren ebenfalls Raumschiffe, erkannte Kietai, nur kleiner als jene, die sie hergebracht hatten. Viel kleiner. Ihre Form schien weitgehend würfelförmig, wenn sich auch unzählige Auswüchse auf den einzelnen Seiten bildeten, Treppen, Absätze, Kanten. Wie ein Lunis-Schwarm fielen die Schiffe aus dem Himmel und landeten zwischen den Drieten. »Bitte zu dritt einsteigen!« Die Stimme klang ähnlich wie die im Schiff. Kietai und auch viele der anderen reagierten vorsichtig. Sie näherten sich den Schiffen, aber offenbar waren sie den unsichtbaren Hintermännern nicht schnell genug, denn nun flammten grünliche Scheinwerfer auf und nahmen jeweils drei Drieten in ihren Lichtkegel. »Bitte einsteigen!«, schnarrte die Stimme erneut. Und auf diese Weise wurden schließlich alle Drieten in Gruppen zu dritt in die kleinen Schiffe verladen. Kietai zögerte. Plötzlich erkannte er, dass keiner von seinem Volk freiwillig hier war, und die Bereitwilligkeit, mit der die anderen den barschen Aufforderungen folgten, erschien ihm auf einmal falsch. Andererseits: Was hatten sie schon für eine Wahl? Makharas existierte nicht mehr. Sie hatten keinen
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anderen Ort, an den sie gehen konnten. Mit hängenden Fühlern war Kietai einer der Letzten, die es wagten, eine Lamelle auf die ausgefahrenen Rampen zu setzen. Maras folgte ihm, die unteren beiden Arme Schutz suchend umeinander geschlungen und den Stumpf darüber wie Halt suchend auf ihnen abgelegt. Kietai war dankbar für die Begleitung des erfahrenen Elters. Weniger dankbar war er für seinen zweiten Begleiter. Es war Onagi.
8. Der Flug war kurz. Das Schiff hob von der Oberfläche des Asteroiden ab und ging in eine lang gezogene Kurve, die Kietais Magen in eine unnatürliche und dadurch unangenehme Position drückte und ihm Übelkeit verursachte. An Bord gab es nur winzige Bullaugen, deren Fläche bald vollständig von dem Schillern ausgefüllt wurde, und so hatte Kietai nur wenig Anhaltspunkte, in welche Richtung sie sich bewegten. Irgendwie vermutete er, dass die Membran näher kam, aber da sie keinerlei Struktur aufwies, war es schwer, das festzustellen. Der Übergang kam mit niederschmetternder Wucht. In einem Augenblick schien die Membran noch weit entfernt, dann flammte es außerhalb der Bullaugen auf, grell leuchtend, blau und rot und gelb. Kietai hatte das Gefühl, als würde sein gesamter Körper in kleine Einzelteile zerrissen und im nächsten Augenblick wieder zusammengefügt. Es war ein Übelkeit erregender, anstrengender Vorgang, der ihn zusammengekauert und mit zitternden Händen zurückließ. Nur mühsam fokussierte er seinen Blick auf Onagi und Maras. Der Alte war bleich, als würde er im nächsten Augenblick sein Leben aushauchen. Onagi schien das Ganze weniger auszumachen, jedenfalls wirkte er gleichmütig. Aber als Kietai genauer hinsah, entdeckte er das unterdrückte Grauen in Onagis Augen, und er wusste, dass der Nichtling kaum an-
ders empfand als er. »Was war das?«, murmelte Kietai. »Offenbar haben wir die Membran durchdrungen.« Maras stand an einem Bullauge und tippte gegen die Scheibe. Kietai ging zu ihm, seine Lamellen bewegten sich unkontrolliert, und es dauerte einen Augenblick, bis er sich so weit gesammelt hatte, dass er über die Schulter des Älteren hinaus ins Weltall schauen konnte. Die Membran war fort. Falsch!, schoss es ihm durch den Kopf. Sie war nur nicht mehr länger vor ihrem Schiff. Er verrenkte sich so weit, dass er durch das winzige Fenster nach hinten schauen konnte, und tatsächlich: Das Schillern befand sich jetzt hinter ihnen. Sie hatten die Membran tatsächlich durchstoßen. Und nichts war geschehen. Kietai seufzte und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Das muss ich in meinem ganzen Leben nicht nochmal durchmachen!«, flüsterte er erstickt. In sich spürte er noch immer dieses scheußliche Gefühl des Auseinandergenommenwerdens. Das Innere der Intrawelt lag nun vor ihnen. »Was meinst du?«, fragte Onagi leise. »Werden wir unseren Elter nochmal wiedersehen?« Kietai hob vier seiner sechs Arme. »Ich weiß es nicht.« Er hatte einfach nicht die Kraft, Onagi von Bidons Absturz zu erzählen. »Schau!« Onagi wies nach draußen. »Das sieht alles nicht besonders freundlich aus, was?« Kietai spähte in die Richtung der Membran. Es war ein seltsamer Anblick: Das Schillern spannte sich, so weit das Auge reichte, und es war, als hätte es die Schwärze des Alls ausgesperrt. Rings um ihr kleines Schiff, das sich noch immer im Verbund mit den anderen vom Asteroiden gestarteten Schiffen befand, war nichts als helles, gelbliches Sonnenlicht. Licht, das die unglaubliche, gähnende Leere im Inneren der Mem-
34 bran nur noch verstärkte. Nichts. Kietai legte die vier erhobenen Arme neben dem Bullauge gegen die kühle Metallwand des Schiffes. Absolut nichts. Sie waren in einem von Licht durchfluteten Gewölbe gefangen. Kietai spürte die Kälte der Wand an seinen Fühlern und lehnte sie Halt suchend dagegen. Waren alle Versprechungen der Werber nichts als Täuschung gewesen? War hier … wirklich nichts und nichts wirklich? Kietais Herz kehrte nur langsam in den normalen, kräftigen Rhythmus zurück, aber plötzlich entdeckten seine Augen etwas. Einer der dunklen Flecken, die sie von außerhalb gesehen hatten, schwebte vorbei. Es war, als schöbe sich eine Linse vor das Bullauge, der Fleck sprang Kietai entgegen, wie durch ein Fernglas vergrößert. »Das ist gar kein Bullauge!«, erkannte Maras. »Es ist ein Bildschirm. Wir sehen, was die Kameras von außen aufzeichnen, und jetzt haben sie offenbar den Fokus geändert. Seht!« Auf der Fläche, die sich nun ihren Augen präsentierte, herrschte hektische Betriebsamkeit. Roboter bewegten sich über die Wölbung, entlang an dicken, metallenen Trägern – wirklich dicken Trägern, dachte Kietai. Einzelne Teile der Konstruktion mussten hundert-, nein tausendfach so dick sein wie die Säule, für deren Zerstörung er verantwortlich war. Kreuzförmig waren sie angeordnet, in perfekten rechten Winkeln schnitten sich Quer- und Längsstreben und bildeten auf diese Weise eine gigantische Hohlraumkonstruktion auf der Innenseite der Membran. An wenigen Stellen war sie mit riesigen Platten bedeckt, aber meistenteils konnte Kietai ungehindert ins Innere des Aufbaus blicken. Das Schiff änderte seine Richtung, und wiederum genau wie ein Lunis-Schwarm stoben die anderen nun in alle Richtungen davon. Rasch waren sie nur noch Punkte im hellen Leuchten der Sonne.
Cathrin Hartmann »Und weg sind sie.« Onagi klang gleichzeitig so verzagt und so erleichtert, dass Kietai ihm einen verwunderten Blick zuwarf. Äußerlich war der Nichtling noch immer unbewegt. »Diese … Intrawelt ist riesig«, ergab sich Maras seinem Staunen. »Wir werden womöglich keinen von ihnen jemals wiedersehen, auch nicht euren Elter.« Kietai horchte in sich hinein. Er war – wie Onagi – noch längst nicht erwachsen, und darum empfand er die Gegenwart anderer Drieten noch nicht als ausschließlich belastend, sondern vielmehr auch als beruhigend und inspirierend. Dennoch konnte er kaum Bedauern darüber empfinden, dass sie nun unfreiwillig in alle Richtungen zerstreut wurden. Vielleicht, dachte er mit vor Trauer langsamer schlagendem Herzen, mussten wir alles verlieren. Ihr Schiff setzte mit einem sanften Ruck auf einem Teil der Hohlkonstruktion auf, die bereits mit Platten abgedeckt worden war. Zischend senkte sich der Boden. »Die Drieten werden gebeten, das Schiff unverzüglich zu verlassen«, befahl eine unpersönliche Stimme, die in Kietais Ohren irgendwie anders klang als die, die sie zum Einsteigen aufgefordert hatte. »Nun dann.« Maras ging voraus. Seine Lamellen kratzten über den rutschfesten Grund der Rampe und verursachten dann ein kaum hörbares Schaben, als er die Stahlplatten betrat. Kietai folgte ihm. Der Boden unter ihm war kalt, unangenehm rutschig und schier endlos. Wie eine wüste, absolut flache Ebene erstreckte sich das Metall in alle Richtungen, so weit Kietai blicken konnte. Den einzigen Anhaltspunkt bildete ihr Schiff, und als sei auch noch das zu viel, zog sich dessen Rampe ins Innere zurück, und das Schiff startete. »Allein!« Noch nie hatte das Wort in Kietais Hörorganen nach Angst geklungen, aber in diesem Augenblick war es so weit. Eine tief greifende, beinahe schmerzhafte Unruhe füllte ihn
Das dritte Gesetz aus, die Leere ringsherum schien auf ihn niederdrücken zu wollen, wollte ihn zermalmen und platt walzen. Kietai hob alle sechs Arme über den Kopf, als könne er sich so vor dem Unvermeidlichen schützen. »Da!« Onagi klang winzig in der hellen Unendlichkeit, doch seine Stimme – die eine Silbe – war der Anker, an den Kietai sich klammern konnte. Er blickte auf und sah, was sein Mitsprössling gemeint hatte. Etwas näherte sich. Zunächst war es nur ein Punkt in der Unendlichkeit, aber dieser Punkt wuchs langsam, nahm Konturen an. Er entpuppte sich als kugelähnliches Wesen mit einem Durchmesser von vielleicht einer halben Armlänge. Sein Körper war mit kurzem, kräftigem Haar besetzt. Als es näher kam, erkannte Kietai, dass es sich auf weit mehr als hundert Armen vorwärts bewegte. Diese Arme waren dreigliedrig und schienen den Kugelkörper von allen Seiten zu umgeben. Das Wesen kam voran, indem es sich von dreien oder vieren, auf denen es gerade ruhte, zu den nächsten voranstieß. Auf diese Weise rollte es auf sie zu. Allerdings »ruckelte« es auch ein wenig; offenbar waren einige seiner Arme steif und unbeweglich, und wenn sie den Boden berührten, stockte seine Bewegung ein wenig, ohne dadurch langsamer zu werden. Und dann war es heran. Es wippte ein wenig, als es vor ihnen anhielt. Zwei der steifen Gliedmaßen ragten schräg vor Kietai in die Höhe, und irgendwie erinnerten sie den Drieten an das wütend aufgerichtete Fühlerpaar, mit dem Bidon ihn manchmal zurechtgewiesen hatte. Er musste sich beherrschen, um nicht ein Stück zurückzuweichen. Die Stimme des Wesens, die irgendwo aus der haarbedeckten Kugel drang, war weder hoch noch tief, sondern von einer Art mürrischen Gleichgültigkeit. Der Körper zitterte ein wenig, als er anfing zu sprechen. »Willkommen in der Intrawelt«, sagte er. »Ich bin Hermeneit, euer Systemberater.«
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* Albions Zunge quoll zwischen den rissig gewordenen Lippen hervor, und es sah aus, als sei er kurz vor dem Verdursten. Ich flößte ihm einige Tropfen Wasser ein, die er gierig schluckte. »Du musst weiterreden!«, beschwor ich ihn, den Blick nachdenklich auf die Schale gerichtet, in der schon wieder nur noch eine kleine Pfütze schwappte. Ganz kurz flammte der Gedanke in mir auf, den Drieten zum Reden zu zwingen, indem ich ihm das Wasser vorenthielt, aber gleich darauf erschrak ich über diese Idee. Ich hatte noch niemals ein anderes Wesen gequält, um an Informationen zu kommen, und ich würde jetzt nicht damit anfangen! Falls Peonu nicht noch mehr Einfluss über dich entwickelt, als er jetzt schon hat!, stellte mein Extrasinn richtig. Ich ließ mich wieder zu Boden sinken. Der Platz in dem Quartier war begrenzt, und so hatte ich es vorgezogen, mich mit dem Rücken gegen eine der Wände zu lehnen. Hier war ich in Albions Nähe, konnte ihn massieren und seine Qualen mit dem Wasser wenigstens ein wenig lindern. Ich lauschte in mich, versuchte herauszufinden, ob das passieren konnte, was mein Extrasinn befürchtete. Ich kam zu keinem Ergebnis. Ich wusste nicht, was passieren würde. Ich wusste nur, dass Peonu mich an der langen Leine hielt – aber nicht, was geschehen würde, beschlösse er, an dieser Leine zu rucken. Ich legte den Kopf gegen die Wand und schloss für einen Moment die Augen. Die ganze Situation erschöpfte mich mehr, als ich mir eingestehen wollte. Meine Hände schmerzten von der Massage, die empfindliche Haut an meinen Fingern war aufgequollen von dem steten Wasserstrom, der noch immer aus Albions Warzen rann. Mein Kopf dröhnte, meine Schultermuskeln protestierten, und zu allem kam diese elende Leere tief in meinem Innersten. Im Moment wollte
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ich nichts weiter als mich in der Ecke zusammenrollen und schlafen. Ich ballte die Hände zu Fäusten und massierte dann weiter in der Hoffnung, Albion damit zum Reden anzuhalten. Möglicherweise stand ich kurz davor, etwas zu erfahren, immerhin schien dieser Hermeneit eine Ahnung zu haben, was hier eigentlich gespielt wurde. Und ich hatte Glück. Albion entzog mir seine Fühler und schmiegte sein breites Gesicht kurz an meine Hände. Es war eine Geste von eigenartiger und gleichzeitig rührender Zärtlichkeit. »Hermeneit«, erklärte er, »gehörte zum Volk der Anstizen. Sie waren vor den Drieten in der Intrawelt, aber sie waren nicht die Ersten.« Bevor ich nachhaken konnte, was er damit meinte, verfiel er wieder in seinen Erzähldrang. Ich konnte nichts tun, außer ihm zuzuhören.
* »Bitte folgt mir!« Erst jetzt fiel Kietai auf, dass Hermeneit Linka sprach, jene Hochsprache, die in Dwingeloo fast alle raumfahrenden Völker beherrschten. Sie marschierten eine Weile über die spiegelnde Oberfläche und kamen dann an eine Kante der Hohlraumabdeckung. Kietai blieb dicht vor dem Abgrund stehen und blickte hinein. An die hundert Armlängen ging es in die Tiefe, und irgendwo dort unten schimmerte die Membran. Eine stählerne Treppe führte von der Oberfläche hinunter in das Innere der Hohlraumkonstruktion. Hier war alles von metallisch glänzender Schlichtheit. Lange und breite Gänge führten in alle Richtungen, kreuzten sich mit anderen, schmaleren. Dutzende von Türen zweigten rechts und links ab, und durch eine von ihnen führte Hermeneit Kietai und seine zwei Gefährten nun. Sie kamen in einen Raum, der ungefähr die Größe von Bidons Höhle hatte. Tische standen herum, blinkende und piepsende In-
strumente, deren Sinn Kietai verborgen blieb. Im hinteren Teil des Raumes waren mehrere Kabinen durch Vorhänge abgetrennt. Auf diese Kabinen wies Hermeneit jetzt. »Ihr seid alle drei ziemlich dreckig. Man hat mir berichtet, dass ihr nur knapp einer Katastrophe auf eurer Heimatwelt entkommen seid. Nun, das sieht man euch an. Es wird das Beste sein, wenn ihr euch erst einmal säubert.« Kietai sah Maras an, und der nickte zustimmend mit den Fühlern. »Das Wasser wird einen Teil der Katastrophe von uns fortwaschen.« Er bewegte sich auf die rechte Kabine zu und verschwand hinter dem Vorhang. Nur sein Hinterteil ragte noch darunter hervor, und Kietai sah es zucken, als das Wasser zu rauschen begann. Auf einmal hatte auch er das Bedürfnis, sich Makharas vom Leib zu waschen. Er nickte Onagi zu und wählte die mittlere Kabine für sich. Das Wasser hatte genau die richtige Temperatur, und die Seife, die bereitgestellt worden war, roch nach Chigat. Kietai versank in einem Strudel von Erinnerungen, bis ein Ruf ihn aufschrecken ließ. »Kietai! Sag mal, schläfst du?« Es war Onagi. »Nein! Ich komme!« Triefend trat er aus der Nasszelle. Hermeneit schien bei ihrem Anblick zufrieden zu sein, denn er winkte sie zu einem der glänzenden Tische. »Es ist notwendig, ein paar Anpassungen an euch vorzunehmen«, sagte er. »Nichts Schlimmes, keine Sorge. Einige Messvorgänge im Wesentlichen und ein paar Impfungen. Ich hoffe, das bereitet euch keine Probleme.« Kurz fragte sich Kietai, was wohl geschehen würde, wenn er diese rhetorische Frage mit »Ja« beantwortete, aber er entschloss sich, es nicht auzuprobieren. Zu fremd und unwirklich kam ihm alles vor, und nach der Zerstörung seiner Heimatwelt fühlte er sich keineswegs in der Lage, den Widerspenstigen zu mimen. Das Beste würde es sein, das Spiel mitzuspielen – zumindest, solange
Das dritte Gesetz auch Maras das tat. Der Alte ließ sich als Erster wiegen und impfen. Sein Mund verzog sich für einen Moment, als Hermeneit ihm etwas gegen den Oberkörper drückte, was aussah wie eine Waffe. Aber bevor Kietai Bedenken äußern konnte, gab es ein leises Zischen, ein gläserner Körper auf dem oberen Teil der »Waffe« entleerte sich, und Hermeneit winkte Maras von dem Behandlungstisch herunter. »Sehr gut. Ich danke dir für deine Kooperation.« Kietai war der Nächste. Die Gliedmaßen, mit denen Hermeneit ihn abtastete, hatten jeweils drei Finger, ungefähr von der gleichen Länge wie seine eigenen, aber weitaus beweglicher. Sie konnten sich wie auf einem Kugelgelenk in jede beliebige Richtung bewegen. Ihre Berührung kitzelte. Die Impfung selbst war weitaus weniger schmerzhaft, als Kietai befürchtet hatte. Den Einschuss der Flüssigkeit merkte er gar nicht, dafür drückte das umliegende Gewebe ein wenig, als er sich anschließend bewegte. Onagi ließ die Prozedur als Letzter über sich ergehen, und Kietai behielt ihn dabei im Auge. Das Gesicht, das sein Mitsprössling zog, hätte ihn zu jedem anderen Zeitpunkt grinsen lassen. Im Moment allerdings war ihm nicht nach Hohn zumute, und kurz fragte er sich, ob er jemals wieder lächeln würde. Nachdem sie derart versorgt worden waren, zeigte Hermeneit ihnen ihr Quartier. Es bestand aus drei nebeneinander liegenden und durch Türen miteinander verbundenen Zimmern. Die Lager waren bequem, als hätte jemand sie eigens an die Bedürfnisse von Drieten angepasst, und auch die Nahrung, die sie bekamen, ähnelte Chigat sehr. Nach einiger Zeit – vier oder fünf der hiesigen Tage, falls man den regelmäßigen Rhythmus, in dem die Beleuchtung in diesem Teil der Hohlkonstruktion an- und ausgeschaltet wurde, als Tage bezeichnen konnte – gewöhnte sich Kietai an sein neues Leben. Er pries den dreifachen Gott, der nicht nur dafür gesorgt hatte, dass Kietai die Kata-
37 strophe von Makharas überlebte, sondern dass er auch noch auf derart elegante Art und Weise verhindert hatte, dass er sich für seinen schrecklichen Fehler verantworten musste. Zwar lastete die Schuld nach wie vor schwer auf seinem Gewissen und brachte ab und zu sein Herz zum Stolpern, aber das Lernpensum, mit dem Hermeneit die drei Drieten eindeckte, war groß genug, um ihn die Erinnerungen in den hinteren Winkel seines Bewusstseins verdrängen zu lassen. Hermeneit war nicht nur ihr Systemberater – worunter sie sich noch immer nichts vorstellen konnten –, sondern auch ihr Lehrer. In Dutzenden von Schulungen bereitete er sie darauf vor, was hier im Inneren der Intrawelt von ihnen erwartet wurde. In einer ihrer Stunden warf er dazu eine Art Bild an die Wand, eine Darstellung der riesigen Kugelschale, deren Inneres aber gar nicht mehr metallen und öde aussah, sondern bewachsen mit Wäldern, Steppen und Mooren. Auf diesem Bild ragten Berge in die Luft, Flüsse durchschnitten Täler, und Wüsten lagen unter glühender Sonne. »Das«, sagte Hermeneit –, und seine meist ausdruckslose Stimme hatte einen weihevollen Klang, »das ist das, was die Pfleger dieser Welt von euch erwarten.« »Wie meinst du das?« Onagi deutete auf das leuchtende Bild. »In ungefähr einer Tagund-Nacht-Dekade werden die ersten Materiallieferungen erwartet«, erläuterte Hermeneit, und Kietai sah, wie Onagi ihn unterbrechen und auf der Beantwortung seiner Frage bestehen wollte. Hermeneit jedoch winkte mit zweien seiner Arme ab, die er selbst Lanken nannte, und seine Lankenfinger verursachten dabei ein scharfes Klicken. »Die Pfleger wissen, dass das Volk der Drieten ein ungewöhnliches Talent besitzt, die Dinge, die sie schaffen, schön zu machen. Ihr sollt das Innere der Intrawelt gestalten. Parzelle für Parzelle sollt ihr dieser Welt ein Gesicht geben, nach eurem Geschmack und eurem eigenen Willen.« »Eine ganze Welt schaffen?« Onagis Ge-
38 sicht wirkte zerrissen von den Gefühlen, die ihn erfüllten. Kietai sah Begeisterung in seinen Zügen, Euphorie, fast so etwas wie Triumph, aber auch Angst und die Befürchtung, diese Aufgabe sei zu groß für sie. Alles in allem genau dieselben Dinge, die Kietai auch empfand. »Aber …«, hob er an, doch Hermeneit brachte ihn mit einem erneuten Schnipsen seiner Lankenfinger zum Schweigen. »Ich weiß, dass das ungeheuerlich klingen muss. Aber ihr werdet nicht allein sein. Mein Volk, die Anstizen, besitzt das nötige technische Wissen, um die Vorstellungen der Drieten umzusetzen. Geht in euch, und ihr werdet erkennen, dass es die Erfüllung eines Traumes ist, der euch hier geboten wird. Eure Welt wurde zerstört, aber dafür erhaltet ihr die Möglichkeit, eine neue zu schaffen, eine weitaus größere, schönere.« »Du redest, als seist du unter dem Einfluss der Werber gefangen«, bemerkte Maras ruhig. Hermeneit rasselte mit einigen seiner Lanken. »Wie? Ja, es stimmt, auch wir Anstizen wurden von den Werbern angeheuert, um hier unsere große Aufgabe zu übernehmen, und ich sage euch: Wir haben es noch keinen Moment bereut, hierher gekommen zu sein.« »Wir sind zu wenige«, gab Maras zu bedenken. »Ich meine, Kietai, Onagi und ich – um eine solche Fläche mit Leben zu erfüllen? Selbst wenn ihr uns alles benötigte Material zur Verfügung stellt: Es wird Jahrhunderte dauern, bis nur die im Moment fertig gestellte Fläche gestaltet ist. Und was ist, wenn die gesamte Kugelschale erbaut ist? Habt ihr überhaupt eine Ahnung, welche Fläche es sein wird?« Hermeneit wirkte seltsam erschrocken von diesen Fragen, die in Kietais Augen durchaus ihre Berechtigung hatten. »Nun«, stammelte der Anstize, »nun, es wird für alles gesorgt werden, ihr werdet sehen. Und seid versichert, den Pflegern ist klar, dass es einige Zeit dauern wird, dieses Werk zu vollenden. Zeit ist nicht das Problem.«
Cathrin Hartmann »Diese Pfleger: Wer sind sie eigentlich?« Kietai beobachtete Hermeneit genau, aber diesmal wirkte das kugelförmige Wesen nicht besorgt über die Frage. »Ich habe noch keinen von ihnen zu Gesicht bekommen, aber ich weiß, dass sie existieren. Es heißt, dass sie gierig darauf warten, durch die Parzellen streifen zu können.« »Sie bauen diese riesige Welt doch nicht, um zu lustwandeln!« Onagi stieß ein spöttisches Schnauben aus. »Oh nein!«, rief Hermeneit. »Natürlich nicht! Der wichtigste Grund für den Bau dieser Welt ist natürlich der Flammenstaub.« »Natürlich!« Onagi bleckte die Zahnschneiden. »Ja! Der Flammenstaub, der für alle Zeiten aus dem Standarduniversum entfernt werden muss, wie ihr alle wisst. Oder nicht?« Hermeneit wirbelte herum. Ein dumpfes Dröhnen war zu hören; es erfüllte die Luft mit einer feinen Vibration, die sich auf Kietais Fühler und seinen Brustkorb übertrug. »Das Material!«, schrie Hermeneit voller Begeisterung. »Kommt!« Und er eilte vor ihnen aus dem Raum. Sie kamen gerade noch rechtzeitig an die Oberfläche der Hohlraumkonstruktion, um zu sehen, wie sich ein riesiges Raumschiff auf den spiegelglatten Boden absenkte. Kietai schätzte, es müsse mehr als fünfhundert Drietenlängen messen. Sein Aussehen war seltsam, denn anders als alle anderen Schiffe, die Kietai bisher zu Gesicht bekommen hatte, schien es nicht aus einem einzigen Metall zu bestehen, sondern aus vielen unterschiedlichen Legierungen, von denen einige rötlich schimmerten, einige in kaltem Blau. Ein zylindrischer Auswuchs an der Unterseite warf gar kein Licht zurück, sodass er wirkte wie ein schwarzes Loch in der von der Sonne hell erleuchteten Luft. Im Ganzen, dachte Kietai, sah das Schiff aus, als sei es schnell und behelfsmäßig aus vielen anderen zusammengebaut worden. Bevor sein Ästhetiksinn gegen den Anblick revoltieren konnte, öffnete das Raumschiff ei-
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nige große Luken an seiner Unterseite. Der schwarze Auswuchs wurde einfach mit zur Seite geklappt, und in einer trägen Staubwolke donnerten gigantische Mengen Erde, Steine und Sand herunter. Kietai spürte die Vibrationen der Hohlraumkonstruktion bis hinauf zu seinen Zahnschneiden. In dem metallenen Fußboden öffneten sich Hunderte von Luken, die Kietai bisher noch nie wahrgenommen hatte, obwohl er in den letzten Tagen durchaus den einen oder anderen Spaziergang auf der Oberfläche unternommen hatte. Heraus stürzten kleine Roboter. Sie bewegten sich so schnell, dass Kietai Mühe hatte, sie mit den Blicken zu verfolgen. Nur wenn einer von ihnen stillstand, weil er sich an dem Raumschiff oder der gelieferten Erde zu schaffen machte, war zu erkennen, dass die Roboter den Anstizen frappierend ähnlich sahen. Bevor Kietai oder einer der anderen auch nur den Ansatz machen konnte, eine Frage zu stellen, hatten die Roboter erste Teile des Raumschiffes zerlegt. »Es startet nicht wieder?«, rief Kietai gegen den Lärm an, den die kleinen Gesellen verursachten. Hermeneit schien ihn nicht verstanden zu haben. »Ja!«, schrie er, zitternd vor Begeisterung. »Das ist die erste gewesen. Heute werden noch ungefähr fünftausend weitere Materiallieferungen dieses Umfangs erwartet!«
* »Boah!« Jolo hatte sich vor ungefähr fünf Minuten an meine Seite gedrängt und starrte Albion voller Faszination an. »Das ist ja … ja …« »Gigantisch«, ergänzte ich. Ich nickte vor mich hin, den Blick des kleinen Echsenwesens ignorierend, der mit der üblichen Mischung aus Neugier, Mitleid und Verständnislosigkeit auf mir ruhte. »Es war klar, dass irgendjemand diese Intrawelt erschaffen haben muss. Das alles hier«, ich deutete um mich, »ist künstlicher Art. Aber
diese … Sandkastenspiele. Hm, die sind doch in ihren Dimensionen einfach nicht überschaubar!« Albions Erzählung warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete. Zum Beispiel die, ob es noch Anstizen auf der Intrawelt gab. Oder was mit den Werbern passiert war. Wer die Pfleger waren und ob sie noch immer durch die Parzellen streiften. Was war an diesem Flammenstaub so gefährlich, dass sich ein solcher Aufwand lohnte, nur um ihn vom Normaluniversum abzuschirmen? Wann war die Kenntnis von dieser Substanz – absichtlich oder unabsichtlich – in Vergessenheit geraten? Und vor allen Dingen: Wann war das alles passiert, was Albion erzählte? Über all der Grübelei kam mir eine Idee. »Tuxit?«, fragte ich. Der Riesenvogel hob den Kopf aus seinen Federn und bunkerte mit den Augen. »Ja?« »Weißt du etwas über das Kollektivgedächtnis dieser Drieten? Wie funktioniert es?« »Ich weiß darüber nicht viel.« Tuxit schien eine Weile nachdenken zu müssen. Vielleicht war er aber auch einfach nur zu müde, um zu reden. Ich musterte ihn eindringlich, versuchte herauszufinden, ob er sich genauso erschlagen fühlte wie ich mich. Dann endlich sprach er doch: »Sie vererben ihre Erinnerungen, ihre Mementa, auf ihre Nachfahren. Ein neugeborener Driete weiß theoretisch alles, was sein Elter weiß, aber vieles muss erst durch eine Art Unterricht oder durch ein Gespräch aktiviert werden.« »Ja, das habe ich begriffen. Aber was du sagst, impliziert, dass Albion ein Nachfahre von Kietai ist.« Tuxit nickte. Die Bewegung sah aus, als falle sein Kopf im nächsten Moment einfach von seinem langen Hals. Ich wandte mich an Albion. »Kannst du mir ein paar Fragen beantworten?« »Ich versuche es.« Albion hustete leise. »Wie lange ist das alles her, was du erzählt hast?« »Ungezählte Generationen.«
40 Wunderbar. Ich unterdrückte einen resignierten Fluch. So kam ich nicht weiter. Es sah so aus, als musste ich mehr in die Details gehen. »Du hast in deiner Erzählung kein einziges Mal eine Geschlechtsumwandlung erwähnt. Woran liegt das?« Es war mir erst in diesem Moment bewusst geworden: Obwohl in Albions Geschichte Wochen, vielleicht Monate vergangen waren, hatte sich Kietai kein einziges Mal gewandelt und auch keiner seiner Begleiter. Ein winziges, vielleicht unwichtiges Detail, aber … Möglicherweise ist hier gar nichts unwichtig!, mutmaßte mein Extrasinn. Ich bewegte meine verkrampften Schultern. Albion jedoch hatte entweder auch auf diese Frage keine Antwort, oder aber er war zu matt, um sie zu geben. Er ließ nur den Kopf ein Stück zur Seite sinken, bis er an der Wand zu liegen kam. In seinen Augen flackerte es jetzt. In meinem Hirn kreisten weiterhin Fragen um Fragen. Diese Membran war schon da gewesen, als die Drieten die Intrawelt betraten. Hatten die Pfleger auch sie erschaffen, oder gab es eine weitere Macht jenseits der Pfleger, die Erbauer vielleicht? Woraus bestand die Membran? Und warum konnten die Raumschiffe sie durchfliegen? Albion rutschte ein Stück an der Wand hinunter. Er wirkte jetzt, als sei er geschrumpft, was ich dem immensen Flüssigkeitsverlust zuschrieb. Seine Haut begann, grau zu werden. Mühsam nur richtete er den Blick auf mich. »Hilf mir!«, murmelte er. Ich beugte mich vor. »Wie kann ich das?« »Hilf mir, meine Erzählung abzuschließen. Wenigstens das!« Ich schluckte und goss ihm den letzten Rest Wasser aus der Schale über die spröden Lippen. Die Fühler waren nur noch so dick wie meine kleinen Finger, aber ich massierte vorsichtig weiter. Albion sog Luft in die Lungen. Dann erzählte er seine Geschichte zu Ende.
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* Der Gebirgszug war fast fertig. Kietai schaute auf die schmalen Grate, die tiefen Schluchten und schneebedeckten Hänge. Etwas stimmte noch nicht ganz, eine winzige Unregelmäßigkeit, die den Gesamteindruck störte, das Gebilde unvollkommen aussehen ließ. Mit seinem Messer kratzte Kietai einen zusätzlichen Pass in das Gebirge. Als er aufsah, bebten seine Fühler vor Freude. Die Anstizen hatten seine Entwürfe beinahe hundertprozentig umgesetzt; in Originalgröße ragte das Gebirge vor ihm auf, dessen Modell er vor sich stehen hatte. Der neue Pass fehlte noch, aber er würde den begabten Wesen und ihren unzähligen Maschinen und Robotern keine größeren Schwierigkeiten machen. Kietai seufzte wohlig. Ein Anstizenroboter kletterte behände über einen steil abfallenden Hang und trat dabei einige Geröllbrocken los. Das Geräusch, mit dem die Steine in die Tiefe rollten, klang in Kietais Ohren beinahe wie Musik. Er lachte leise. Dann sah er sich um. In den Monaten, die seit ihrer Ankunft in der Intrawelt vergangen waren, hatte Hermeneit entschieden, dass ihm die Arbeit an dieser Parzelle mit nur drei Drieten zu langsam vonstatten ging. Irgendwann war er für wenige Tage verschwunden, und als er wiederkam, hatte er Verstärkung für Kietai, Onagi und Maras dabei. Vierzehn Drieten, die eigentlich zur Arbeit in einer anderen Parzelle eingeteilt worden waren. Hermeneit verriet nie, wie er es geschafft hatte, diese Wesen abzulösen, aber irgendwie war Kietai froh, dass sie da waren. Ihre zeitweilige so immense räumliche Trennung hatte die Drieten ruhiger werden lassen. Es war einfacher, eine Zeit lang die Nähe der anderen zu ertragen, auch für die Erwachsenen, und sobald sich Spannungen aufbauten, war Hermeneit zur Stelle, trennte die Streitenden und sorgte dafür, dass sie an weit voneinander entfernten Stellen der Parzelle zu tun bekamen. Dennoch
Das dritte Gesetz waren sie seit der Ankunft der vierzehn beinahe so etwas wie eine kleine Gemeinschaft, und Kietai genoss die Tatsache, dass es weitere Erwachsene gab, die sein Wissen aktivieren konnten. Sogar Onagi hatte sich irgendwie in diese Gemeinschaft integriert. Er war noch immer mehr Außenseiter als die anderen, aber dennoch fanden sich hier in der Intrawelt leichter Erwachsene, die ihm halfen, aus schlummernden Mementa aktives Wissen zu machen. Er hatte angefangen, für die mit einem der riesigen Raumschiffe angelieferten Pflanzen passende Landschaften zu kreieren; weite, wellige Ebenen, die er mit ebenfalls angeliefertem blaugrünem Gras einsäte, bis sie aussahen wie kostbare, engmaschig gewebte Teppiche. Sanft zu den bereits fließenden Bächen und Flüssen abfallende Hänge, bestens geeignet für eine Hand voll Baumarten, die es mochten, wenn ihre Wurzeln in regelmäßigen Abständen überflutet wurden, und die ihre unterschiedlich geformten schwimmfähigen Früchte dann mit der Strömung davontragen ließen. Er ließ die Anstizen aus den ungezählten Bäumen Wälder der unterschiedlichsten Art anlegen: lichte, hochstehende Auwälder, deren Boden bedeckt war mit gelblichen, aromatisch duftenden Blüten, verschlungene, zugewucherte Haine, in denen es auch tagsüber düster war und modrig roch, eng stehende, harzig riechende Nadelwälder, unter deren Ästen er handspannendick duftenden Humus verteilen ließ, um die empfindlichen Wurzeln der Bäume zu schützen. Er stimmte sich für diese Arbeit mit Maras ab, denn der Älteste hatte begonnen, sich um die Raumer mit den Tierlieferungen zu kümmern. Die geheimnisvollen Pfleger versorgten die Drieten nicht nur mit allen nötigen mineralischen Materialien und Unmengen von Pflanzen, sondern sie ließen auch vollständige, exakt aufeinander abgestimmte tierische Nahrungsketten herbeischaffen. Kleinste, silbrige Fischchen, die Maras in die kalten Gebirgsbäche setzen ließ und die
41 sich zu seinem Erstaunen nach kaum zwei Wochen in seltsame, vierbeinige Wesen mit den Drieten verblüffend ähnlich sehenden Gesichtern verwandelten. Insekten jeglicher Art, mit sechs, acht, zwölf und sogar Hunderten von Füßen, mit Flügeln aus Haut, Horn oder anderen Materialien. Vögel, Landtiere, Pflanzenfresser und Raubtiere: Es gab kein Wesen, an das nicht gedacht worden war. Am Anfang machte Maras einige Fehler, indem er beispielsweise ein harmlos aussehendes, vogelartiges Wesen mit langem gelbem Schnabel an einem kleinen Weiher aussetzte, an dem er zuvor die gesamte Ladung von faustgroßen, violetten und zerzaust aussehenden Vögelchen angesiedelt hatte. Binnen zwei Tagen hatte der Gelbschnäblige die gesamte Population der Violetten niedergemetzelt, sodass Maras die Anstizen bitten musste, den Weiher auszubaggern, um der unzähligen zerfetzten Kadaver Herr zu werden. Oder er setzte statt eines zwei Pärchen einer sechsbeinigen Pflanzenfresserart in ein zu kleines Steppenterritorium, sodass sich die beiden Böcke bis zum Tod des einen ineinander verbissen. Auch das unheimlichste Erlebnis, das Kietai seit Betreten der Intrawelt hatte, ging auf die Besiedlung der Parzelle zurück, war allerdings nicht Maras' Fehler. Mit einem weiteren Raumschiff, das Millionen von Vögeln brachte, kamen auch sechs merkwürdige, eckig aussehende Eier. Hermeneit kannte die Bedürfnisse jeder einzelnen Tierart, und so wies er Maras an, diese Eier völlig in Ruhe in der Sonne liegen zu lassen. Im Laufe weniger Tage verwandelte sich die Oberfläche der Schale. War sie zu Anfang hellgrau gewesen, wurde sie immer dunkler, bis sie schließlich in einem glänzenden Blauschwarz schimmerte. Maras fragte mehrmals bei dem Systemberater nach, ob das seine Richtigkeit hatte, und er wurde jedes Mal beruhigt. Dann fingen die Eier an, ein leises, aber sehr hohes Kreischen von sich zu geben. Als Kietai es zum ersten Mal hörte, richteten sich die Schuppen auf seinem Rücken vor Widerwillen auf, und
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gleichzeitig wollte sein Herz den Dienst versagen. Auf die anderen Drieten hatte das Geschrei der Eier eine ähnliche Wirkung: Jeder, der es hörte, versank in dumpfe, trübselige Traurigkeit. Hermeneit sorgte dafür, dass das Gelege außerhalb der Hörweite gebracht wurde. Eines Tages dann schlüpften die Wesen. Kietai war der Einzige, der diesen Vorgang mit ansah. In einer Mischung aus Faszination und Ekel stockte ihm der Atem. Die neugeborenen Vögel hatten keine Körper! Es sah aus, als hätte jemand zwei große, weiß gefiederte Flügel einfach aneinander gesetzt, und mit diesen Flügeln erhoben sich die Wesen in die Luft und begannen zu kreisen. Ihr Flügelschlag war bedächtig, fast lauernd, ihr Geschrei erfüllte die Weite des sonnigen Himmels. Kietai hielt sich die Hörorgane mit allen sechs Händen gleichzeitig zu, und trotzdem ging er unter dem Ansturm des hohen Kreischens zu Boden. Zu seinem Glück drehten die Wesen schließlich ab und verschwanden in der unendlichen Weite über der halbfertigen Hohlkonstruktion. Die Drieten sahen sie nie wieder, und Hermeneit grübelte einige Tage lang darüber nach, ob die Pfleger mit der Sendung dieser seltsamen Spezies nicht einen Fehler begangen hatten. Bis auf diese wenigen Zwischenfälle jedoch ging die Gestaltung ihrer Parzelle erfolgreich voran, und nicht nur Kietai war zufrieden und mit der Entwicklung, die sein Leben genommen hatte, sogar mehr als glücklich. Bis schließlich der Schatten der Vergangenheit über ihn fiel.
* Wenige Tage nachdem eine besonders bunt gemischte Lieferung von Blühpflanzen angeliefert worden war, deren Duft noch immer in der Luft schwang, versammelten die siebzehn Drieten sich abends dicht am Rand ihrer Parzelle. Hier, an der Kante des be-
wachsenen Teils ihrer Welt, dort, wo es möglich war, mit einem einzigen Schritt von weicher, duftender Erde auf den harten und kalten Stahl der Unterkonstruktion zu gehen, führte jene Stahltreppe nach unten ins Innere der Hohlkonstruktion, über die Kietai und seine Gefährten an ihrem ersten Tag in der Intrawelt gegangen waren. In ihrer Nähe hatten sie sich ein kleines Dorf aus hölzernen Hütten errichtet, und im Rund dieser Hütten zündeten sie oft ein Feuer an. So auch an diesem Abend. Kietai war der Erste, der seine Arbeit beendet hatte. Er kam zur Feuerstelle, sog den Duft der handlangen, federigen Pflanzen ein, mit denen ein Driete namens Tacin weite Flächen der flachen Ebene bedeckt hatte. Er erinnerte ihn ein wenig an das Chigat, und zum ersten Mal seit längerer Zeit regte sich Heimweh nach Makharas in seiner Brust. Sachte strich er durch die weichen Halme, beugte sie und sah zu, wie sie sich wieder aufrichteten. »Gefällt es dir?«, fragte eine Stimme hinter ihm. Er nickte nur. Tacin kam neben ihn und machte es sich bequem. Das Knacken der Sonne kündigte die Nacht an. Ein leichter Wind kam auf, Zeichen dafür, dass die verschiedenen Landschaften, die im Entstehen begriffen waren, begonnen hatten, Einfluss auf die Atmosphäre zu nehmen. Noch war es nichts als ein Hauch, aber Kietai kehrte den Blick nach innen und versuchte sich vorzustellen, wie es sein mochte, einen richtigen, kräftigen Wind auf dem Leib zu spüren. Auf Makharas hatte es keine Meere gegeben oder Gebirge, weil die Drieten im Laufe ihrer Existenz alles an ihrer Welt gestaltet hatten, bis das filigrane und so zerbrechliche Endprodukt daraus entstanden war. Kietai seufzte. Trotzdem hatte er Heimweh, und ganz tief unten, in einem Winkel seines Bewusstseins, den er gut verschlossen hatte, regte sich auch wieder die Erinnerung an die große Schuld, die er mit sich herumtrug.
Das dritte Gesetz Er seufzte zum zweiten Mal. »Was hast du?« Onagi gesellte sich zu ihm und Tacin. »Nichts. Ich dachte nur gerade daran, was wir noch alles schaffen können.« Onagi nickte mit den Fühlern, als könne er diesen Gedanken gut nachempfinden. Kietai musterte ihn aufmerksam. Wie oft sonnte er sich selbst in der Größe ihrer Aufgabe?, fragte er sich. Und wie oft spürte er deren Last auf sich, als beständigen Druck, der ihn niederpresste und sich klein und nichtig fühlen ließ? In Kietai wuchs der Wunsch, selbst etwas dazu beizutragen, dass Onagis Wissen aktiviert wurde. Er scheute sich jedoch davor, es zuzugeben. Noch nie hatte ein Jüngling versucht, bei einem anderen Wissen zu aktivieren. Es würde besser sein, es nicht auszuprobieren. Er seufzte zum dritten Mal. Tacin begann zu erzählen, was er an diesem Tag alles geschaffen hatte. Kietai hörte ihn von winzigen Rinnsalen reden, die über geschliffene Kiesel sprangen, bis sie sich zu Bächen vereinigten. »Maras hat ganz neu gelieferte Fische hineingesetzt«, sagte der Driete, und Kietai konnte seine Freude fühlen, als sei es seine eigene. »Kleine, goldene Dinger, die aussehen, als hätte ihnen jemand ein Kettenhemd geschmiedet. Wenn sie aus dem Wasser springen, geben sie ein helles Klingen von sich, wie Glockenschläge.« Tacin sah seine beiden Gefährten an. »Und woran habt ihr heute gearbeitet?« Kietai erzählte von dem neuen Modell, das er begonnen hatte. Wieder ein Gebirge, aber nicht schroff und hochragend diesmal, sondern mit freundlichen Rundungen, die er voller Begeisterung beschrieb. »Wenn man dich so reden hört«, lachte Tacin, »könnte man denken, du hast dir das bei den Gnagi-Weibchen abgeschaut, die Maras letzte Woche in den Auwald gesetzt hat.« Kietai schnitt ihm eine Grimasse. Er hatte diese lauten Wesen gesehen, deren Männ-
43 chen sich in einem fort auf die mit blauen Hornplatten gepanzerten Oberschenkel trommelten, während die Weibchen alles daransetzten, sie mit ihren immensen Brüsten zu beeindrucken. »Und wenn schon!« Tacins Lachen verstummte. »Und du?«, fragte er Onagi. »Noch einen Auwald«, war die knappe Antwort. Kietai sah erstaunt auf. Es war das erste Mal, dass er einen der Drieten nicht mit Begeisterung von seiner Arbeit sprechen hörte. Konnte es sein, dass Onagi begonnen hatte, sich bei seinem Werk zu langweilen? Onagi hielt seinem fragenden Blick stand, und es kam Kietai so vor, als tue er es aus Trotz. »Was ist?« »Nichts.« Kietai beschloss, nicht weiter in ihn zu dringen, aber in seinem Innersten machte sich auf einmal ein sehr ungutes Gefühl breit.
* Wiederum zwei Tage später nahm Maras Kietai zur Seite. Es war noch früher Morgen, die Sonne hatte sich gerade erst angeschaltet, und ein leichter Wind kühlte Kietais Haut auf angenehme Weise. »Sag mal«, meinte der Ältere, »weißt du, was mit Onagi los ist?« Kietai wackelte mit den Fühlern. »Nein, wieso?« Er fragte mit argloser Stimme, aber in seiner Kehle machte sich plötzlich ein Stein breit. Er war also nicht der Einzige, der Onagis Veränderung wahrgenommen hatte … »Nur so. Er sieht seit einigen Tagen nicht mehr so aus, als mache ihm seine Arbeit Spaß.« »Er hat sich neulich darüber beklagt, dass er immer nur Bäume pflanzen muss.« Kietai erinnerte sich an den Abend am Lagerfeuer. Seine Worte entsprachen nicht ganz der Wahrheit, begriff er, denn Onagi hatte sich nicht wirklich beklagt. Dass er die Lust an den Bäumen verloren hatte, hatte Kietai allein aufgrund des kurzen Wortwechsels, den
44 sie geführt hatten, geschlossen. Er überlegte, ob es sinnvoll wäre, Maras über diese Einzelheit aufzuklären, aber der Alte redete schon weiter. »Mir scheint, er droht in alte Verhaltensmuster zurückzufallen.« Kietai sah ihn alarmiert an. Das Bild eines grauen Fühlers unter staubigem Geröll flammte vor seinem inneren Auge auf, verschwand jedoch sofort wieder. Wusste Maras davon? Aufmerksam spähte Kietai in Maras' Gesicht, fand aber keinen Funken von Beunruhigung, der über ein normales Maß hinausging. »Was meinst du damit?« Klang Kietais Stimme heiser? Fast kam es ihm so vor. Maras rollte mit den Augen. »Ich weiß es nicht genau. Er hat sich in den letzten Tagen von den anderen abgesondert.« »Vielleicht ist er einfach nur erschöpft.« »Möglich. Aber er hat sich auch früher nicht gerne in Gesellschaft aufgehalten.« Falsch!, durchzuckte es Kietai. Onagi hatte zeit seines Lebens um Gesellschaft und Aufmerksamkeit gebettelt, aber sie nie erhalten. Bis sie in die Intrawelt gekommen waren. War es die Katastrophe von Makharas gewesen, die die anderen Drieten ihre Aversion gegen Onagi hatte vergessen lassen? Oder die Größe ihrer Aufgabe, der sich der Mitjüngling wie alle anderen gestellt hatte? Wie lange hatte er Onagi in Gedanken eigentlich nicht mehr Nichtling genannt? Er sah Maras an, verwundert darüber, wie schnell die Erinnerungen des Alten verblassten. Immerhin war er es gewesen, der mit seinen düsteren Ahnungen und Visionen und seinem Gerede von der Andersartigkeit Onagis wesentlich dazu beigetragen hatte, dass der Jüngling von der Gemeinschaft ausgeschlossen worden war. Das Gedächtnis ist eine seltsame Sache, überlegte Kietai. Es zeigt einem die Vergangenheit genau so, wie man sie haben möchte. Aber dieser Gedanke brachte ihn zu dicht an Dinge, die er lieber nicht denken wollte, also verscheuchte er ihn schnell. »Was wirst du tun?«, fragte er Maras.
Cathrin Hartmann »Wir müssen Onagi im Auge behalten.« Kietai schauderte bei der Härte, die aus den Worten des Alten sprach. Wer verfiel hier in alte Verhaltensmuster? Was hatte diese plötzliche Rückbesinnung bewirkt? Kietai versuchte, in Maras' Blick zu lesen, aber es fiel ihm schwer, dem Alten standzuhalten. Dennoch begriff er plötzlich, was geschehen war. »Du hast wieder eine Vision gehabt!«, entfuhr es ihm. Maras legte zwei seiner Hände gegeneinander. »Ja.« »Was hat sie dir gesagt?« Maras fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Erinnerst du dich an diese Ahnung, die ich vor langer Zeit hatte? Dass jemand dazu ausersehen ist, die Drei zu brechen?« Kietai nickte langsam. Er hatte lange nicht mehr daran gedacht, aber er erinnerte sich gut. »Sie kam heute Nacht wieder«, sagte Maras. »Und sie war wesentlich deutlicher als damals.« Was wiederkam, dachte Kietai grimmig, war offensichtlich die Wirrheit des Alters, von der Maras sich nach der Katastrophe für kurze Zeit freigemacht zu haben schien. Er knirschte mit den Zahnschneiden. »Und?« »Es wird einer von euch beiden sein, Kietai, so viel ist jetzt sicher.« Kietai holte tief Luft. »Du beschwerst dich, dass Onagi in alte Verhaltensweisen zurückfällt? Was ist mit dir?« Es erschreckte ihn ein wenig, auf diese Weise mit dem alten Drieten zu sprechen, aber irgendwie kam es ihm auch richtig vor. Maras japste leise. »Wie bitte?« »Wenn du jetzt wieder anfängst, düstere Visionen unter das Volk zu streuen, dann werden sie Onagi rasch wieder zu dem alten Dämon erklären.« »Du meinst, ich bin schuld daran, dass Onagi auf Makharas ein Außenseiter war?« War es so? Kietai lauschte in sich hinein und beantwortete die Frage schließlich mit einem Ja. Wenn Maras nicht von Anfang an die Besonderheit von Onagis Geburt hervorgehoben hätte, wäre es vielleicht nie dazu
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gekommen, dass Onagi sich so anders benahm. Dann wäre es vielleicht auch nie zu der Katastrophe gekommen, führte er den Gedanken fort, denn dann hätte Onagi nicht den Sonnensänger an sich gebracht und ihn, Kietai, damit dazu getrieben, die Säule … Er stöhnte leise auf. Maras hatte sich schon halb umgewandt, um ihn stehen zu lassen, aber jetzt blickte er noch einmal zu ihm zurück. »Was hast du?« »Nichts.« Kietai winkte ab, und Maras ging langsam davon. Mit einem unguten Gefühl sah Kietai ihm nach. Sie hatten einige Zeit in Frieden in der Intrawelt gelebt, dachte er. Genau, wie die Werber es versprochen hatten. Aber irgendwie schienen Hass und Streit mit hereingebracht worden zu sein. Und jetzt hatten sie begonnen zu keimen.
* Das neue, hügelige Gebirge war längst fertig und mit Bäumen bepflanzt, deren Stämme silbern und deren Laub in einem dunklen Kupferton schimmerte, als Hermeneit eines Morgens auf Kietai zugerollt kam und mit seinen Lanken winkte. Etwas war geschehen. Kietai blieb stehen und wartete, bis der Anstize heran war. »Gut, dass ich dich zuerst treffe!« Bisher hatte Kietai an dem haarigen Ball noch keinerlei Sinnesorgane wie Mund oder Nase feststellen können, aber offenbar gab es bei ihm eine ähnliche Form von Atemlosigkeit wie bei vielen anderen Wesen auch. Er klang ein wenig abgehackt, als müsse er erst wieder zu Luft kommen. »Was ist? Gibt es Probleme?« Kietai ließ seinen Blick über eine der abstehenden, künstlichen Lanken wandern. Hinter Hermeneit kletterten zwei Roboter die Stahltreppe herauf und näherten sich. Wie eine Eskorte, dachte Kietai unbehaglich. »Ja. Gibt es. Die Pfleger sind nicht zufrieden mit der Arbeit von einem von euch.«
»Onagi.« »Genau. Du hast es bereits geahnt?« Kietai umfasste seine Fühler mit den beiden oberen Händen und massierte sie langsam. »Möglich. Was macht er falsch? Und woher weißt du, dass die Pfleger nicht zufrieden sind? Ich denke, du kennst sie nicht.« »Sie haben Kontakt mit uns aufgenommen, per Funk, und das ist ein schlechtes Zeichen. Es ist das erste Mal, dass so etwas vorkommt, und ich denke, sie müssen sehr unzufrieden sein, wenn sie sich melden. Bisher haben sie uns in Ruhe unser Werk tun lassen.« »Ja. Aber was macht Onagi falsch?« »Seine Werke sind nicht begeistert.« Kietai überlegte, was Hermeneit damit meinen könnte, aber im Grunde wusste er es schon. Onagi hatte die Lust an der Arbeit verloren, und das sah man seinen Werken an. Die letzten Wälder, die er hatte anlegen lassen, waren riesige Monokulturen von ewig gleichen Arten gewesen, langweilig und anfällig für Krankheiten. »Die Keran-Käfer haben einen ganzen Bergzug kahl gefressen«, sagte Hermeneit. »Onagis Bergzug. Wenn er vernünftig gearbeitet hätte, wäre das nicht passiert.« Kietai nickte vor sich hin. »Und was willst du von mir? Rede mit Onagi selbst.« »Nein. Du hast einen gewissen Einfluss auf ihn. Maras hat mir erzählt, dass du sein Bruder bist.« »Sein was?« Kietai hatte diesen Begriff noch nie gehört. »Das hat Maras bestimmt nicht gesagt.« »Bruder? Nun, nein, hat er nicht. Aber er erzählte mir, dass ihr von demselben Elter abstammt.« »Das stimmt, ja.« »Ich habe euch oft miteinander am Feuer sitzen sehen. Du musst Onagi zur Seite nehmen und ihn bitten, wieder etwas mehr Begeisterung in seine Arbeit zu legen.« Offenbar hatte die Kontaktaufnahme der Pfleger Hermeneit ziemlich nervös gemacht, denn er stupste Kietai jetzt mit zweien seiner Lanken
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Cathrin Hartmann
vor die Brust, als wolle er ihn zu seiner Aufgabe hindrängen. Bis zu diesem Tag hatte er es strikt vermieden, einen der Drieten zu berühren. »Das kann ich nicht.« Kietai dachte an Onagis Reaktion. »Du musst!« »Ich kann es nicht!« Hermeneit kam noch ein Stück näher. Kietai konnte sein nach Metall und statischer Ladung riechendes Fell wahrnehmen. »Du musst. Bitte, Kietai! Du musst!« Seufzend gab Kietai nach. »Na schön. Wann?« »Jetzt gleich!« Hermeneit zeigte zur Treppe zurück, wo Onagi gerade auftauchte. Kietai verdrehte die Augen. »Wenn es unbedingt sein muss!«
* Onagis Fühler zuckten überrascht, als Kietai zu ihm hintrat und ihn bat, ihn sprechen zu dürfen. »So förmlich? Was ist los?« Sein Gesicht wirkte eingefallen, fiel Kietai auf, die Haut um seine Augen war knitterig, als habe er nicht gut geschlafen. Er wirkte mürrisch. »Hermeneit hat mich gebeten, mit dir zu sprechen.« Kietai sah zu, wie der Anstize sich zusammen mit seinen beiden Robotern zurückzog. Irgendwie sah es aus wie eine Flucht, fand er. »Hermeneit.« Onagis Blick folgte ebenfalls dem Anstizen. »Und?« »Ich … Nun … es ist eine dumme Geschichte, Onagi.« Spott erschien in Onagis Augen. »Dumm? Wie meinst du das?« »Hermeneit hat mich gebeten, dir zu sagen, dass die Pfleger mit deiner Arbeit nicht zufrieden sind.« Die Worte kamen aus Kietais Mund wie ausgespuckt. Und sie schienen zwischen ihnen liegen zu bleiben, bis Onagi sich entschließen konnte, sie aufzuheben. Düsternis glitt über sein Gesicht. »Nicht
zufrieden?« Kietai schaffte es nur, zu nicken. Der Stein in seiner Kehle wuchs ein Stück an. »Nicht zufrieden?« »Onagi … ich bin nur …« »Nicht zu-frie-den?« Jetzt schrie Onagi. Kietai zuckte zurück, als ihm Speichel ins Gesicht sprühte. »Ich kann doch nichts dafür!«, piepste er. »Oh nein, du kannst nichts dafür! Der liebe kleine Kietai, er kann nie etwas dafür!« Mit einer Geschwindigkeit, die Kietai niemals für möglich gehalten hätte, sprang Onagi heran und stürzte sich auf ihn. Kietai wurde zu Boden gerissen, seine Lamellen schrammten schmerzhaft über Stein und Metall, als er versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Mit einem hässlichen Krachen schlug sein Ellenbogen auf dem stählernen Boden auf. Das Geräusch ließ seinen Schädel dröhnen. »Kietai kann nichts dafür.« Onagis Gesicht war jetzt dicht vor dem seinen. Sein Gewicht schnürte Kietai den Atem ab. Mit einer Hand nestelte er außerhalb von Kietais Gesichtsfeld herum, und dann hielt er Kietai den Sonnensänger vor die Nase. »Das hier war die einzige Möglichkeit, mit der ich die Achtung der anderen erlangen konnte. Weil du die ganze Zeit dafür gesorgt hast, dass ich dir unterlegen war. Du konntest es nicht ertragen, anders zu sein als die anderen, Kietai. Einen Bruder zu haben, was für eine Schande, da musstest du dir wenigstens selbst beweisen, dass du etwas Besseres bist als ich, nicht wahr?« »Aber das stimmt doch …« »Es stimmt nicht? Es stimmt nicht? Wer hat denn unseren Elter davon abgehalten, mich zu unterrichten? Wer hat mit den anderen Jünglingen gelacht, wenn mir wieder mal ein Werk zusammengebrochen war? Wer, Kietai?« »Ich … Es stimmt, wir haben über dich gelacht, aber ich habe Bidon niemals dazu gebracht, dich zu ignorieren. Das war Maras, Onagi!« Onagi richtete sich ein Stück auf, und so konnte Kietai wieder besser atmen. Er
Das dritte Gesetz keuchte leise. »Natürlich!«, höhnte Onagi. »Die anderen sind schuld. Immer findet der gute Kietai jemanden, der an seiner Stelle schuld sein kann. Wen hast du dir als größten Sündenbock ausgesucht, Kietai, hm? Wen?« Zwei seiner Hände legten sich um Kietais Hals und drückten zu. Kietai lag vor Entsetzen wie erstarrt da. Seine Halsmuskeln waren stark genug, um Onagis Würgen nicht gefährlich werden zu lassen. Der Hass, der aus den Augen seines Mitjünglings – seines Bruders – auf ihn niederbrannte, lähmte ihn. »Ich bin es, oder?«, fuhr Onagi fort. »In deinen Augen ist auch der Untergang Makharas' meine Schuld. Obwohl du es warst, der die Säule zum Einsturz brachte und das Magma einlud, unseren Planeten zu zerstören! Stimmt es?« Die letzten beiden Worte brüllte er so laut, dass Kietai die Ohren schrillten. Er wollte etwas sagen, aber es gelang ihm nicht. Das Gewicht auf seinem Leib wurde schwerer. Zwei weitere Hände krallten sich um seinen Hals, und jetzt wurde die Luft knapp. Onagis Augen glänzten voller Hass und Irrsinn dicht vor Kietais Gesicht, und schon begannen sie zu verschwimmen. Kietai wimmerte auf. Er musste sich wehren, es musste doch jemand sehen, was geschah. Luft, er bekam keine Luft mehr! Ziellos tasteten seine Hände nach Onagis Fingern. Er traf den Sonnensänger. Leises Klirren drang wie durch einen Nebel an sein Gehör. Warum kam niemand und half ihm? Dann endlich bekam er etwas zu fassen. Hart war es und kalt. Seine Finger klammerten sich darum. Sein Geist hüllte sich in trübe Finsternis. Er ruckte hoch. Mit letzter Anstrengung riss er den Arm unter Onagis Leib fort. Nach oben. Ein Kreischen. Dann war der Druck auf seinem Hals fort. Gierig sog Kietai Luft in sich hinein, obwohl sein Hals brannte, als sei sie aus Feuer gemacht. Rote und schwarze Flecken tanzten
47 vor seinen Augen, wirbelten umeinander wie Feuerräder. Sein Brustkorb stand in Flammen, und dennoch richtete er sich nun auf. Plötzlich waren die anderen da. Alle. Maras, Tacin, Hermeneit. Kietai sah weit aufgerissene Augen, vor den Mund geschlagene Hände. »Das Sekundum«, hörte er Maras murmeln, immer und immer wieder. »Das Sekundum!« Langsam drehte Kietai sich um. Onagi lag nur eine Drietenlänge von ihm entfernt. Seine Augen blickten starr und leblos direkt ins Licht der Sonne. In seinem Brustkorb steckte Kietais Messer.
* »Ist es wahr?« Maras' Gesicht schwebte groß und undeutlich vor Kietai. Der junge Driete schüttelte den Kopf, nicht, um die Frage zu verneinen, sondern um die Benommenheit zu vertreiben. »Was ist wahr?« Er klang flach und krächzend. Beim Sprechen fühlte es sich so an, als seien seine Stimmbänder geschwollen. »Was Onagi behauptet hat?« Kietai richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Ernste Blicke lagen auf ihm wie schwere Gewichte. Er erkannte Entsetzen in den Augen der anderen, tiefes, erschüttertes Entsetzen, und er fragte sich, was die anderen dachten. Wenn sie mitbekommen hatten, was geschehen war, dann konnten sie ihn nicht für Onagis Tod verurteilen. Wenn sie mitbekommen hatten … Kietai taumelte. Wenn sie mitbekommen hatten, was geschehen war, dann hatten sie auch verstanden, was Onagi gesagt hatte. Plötzlich begriff er, was Maras mit seiner Frage gemeint hatte. Schlagartig war Kietai eiskalt. Er sah in die Augen des Alten. Er öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Schüttelte den Kopf. Dann, endlich, widerstrebend, nickte er.
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»Du hast Makharas zerstört?« Tacin stand plötzlich neben Kietai. »Und alle getötet.« Maras sah auf Onagi. Dessen Haut bekam langsam die Farbe von hellem Pergament. Die Farbe von Makharas' Gestein, dachte Kietai. Als gehöre er in die Erde ihrer alten Welt gesenkt. Er spürte, wie sein Herzschlag sich verlangsamte. »Was passiert jetzt?«, hauchte er. Maras blickte ihn nicht an. »Zwei der Drei, Kietai! Du sollst bauen, nicht zerstören. Du hast mehr zerstört als jemals ein anderer Driete zuvor. Und du sollst deinem Nächsten kein Leid zufügen. Wie viel Leid hast du verursacht?« Er winkte die anderen Drieten zur Seite. Fort von Kietai. »Wir müssen uns beraten.«
* Er saß in einem der kleineren Räume im Inneren der Hohlkonstruktion. Eine Decke hatten sie ihm gelassen, mehr nicht. Blicklos starrte er an die Wand und versuchte sich auszumalen, was mit ihm geschehen würde. Seine Vergehen konnten nur mit einer einzigen Strafe abgegolten werden, hatte Maras gesagt. Sie hatten ihn zum Tode verurteilt. Kietai ließ sein Leben an seinem inneren Auge vorbeiziehen. Die Erinnerung an seine eigene Geburt hatte er von Bidon geerbt. Dann seine frühe Kindheit und die Angst, die Bidon vor Onagi gehabt hatte. Sie hatte sich irgendwann auf Kietai übertragen und die Bindung überlagert, die er immer in sich gespürt hatte. Um sich nicht dem Neuen, Fremden auszusetzen, hatte er sich Onagi vom Leib gehalten, hatte ihn verspottet und gedemütigt, wo er konnte. Vielleicht war er dadurch mit schuldig geworden am Tod des Drieten, der den Sonnensänger gebaut hatte? Kietai verscheuchte das Bild des grauen Fühlers unter dem Schutthaufen. Wie auch immer: Er war schuld am Ende von Makharas. Aus Überheblichkeit hatte er die Welt der Drieten zerstört, vielleicht auch
aus kindlicher Dummheit. Es war egal. Makharas gab es nicht mehr außer in der Erinnerung. Die Drieten lebten jetzt in der Intrawelt, und der Traum vom friedlichen Zusammenleben, den die Werber in ihre Köpfe gesetzt hatten, war von einem von ihnen zerstört worden. Kietai legte zwei Arme über seine Augen. Von Onagi. Von ihm selbst! Ein Beben lief durch seinen Körper. Onagi hatte das Sekundum gebrochen. Du sollst deinem Nächsten nicht schaden. Und er selbst? Indem er Makharas zerstörte, hatte er ihnen allen geschadet. Und was noch viel schlimmer war: Er hatte damit auch das Primum gebrochen. Du sollst bauen, nicht zerstören. Eine ferne Erinnerung flog Kietai an. Worte wehten durch seinen Geist, die er vor langer Zeit einmal gehört hatte. Maras' Worte. In einer meiner Visionen habe ich einen Jüngling gesehen, der dazu verdammt war, ein jedes einzelne der Drei zu brechen. Er würde nicht derjenige sein, von dem die Prophezeiung sprach. Das Tertium würde er nicht brechen, wenigstens dieser eine Trost blieb ihm noch. Das Beben in seinem Körper wurde stärker. An seiner Seite bildete sich eine Verdickung, und seine inneren Organe schienen sich zu reorganisieren. Es drückte ein bisschen, aber es war dennoch ein gutes Gefühl. Mit hängenden Fühlern sah Kietai an sich hinunter. Es war Zeit.
* Albions Stimme war nur noch ein Krächzen, als er seine Erzählung beendete. »Sie holten ihn nur kurze Zeit später. Sie töteten ihn, wie er Onagi getötet hatte, und Hermeneit stand dabei und bedauerte seinen Tod. Seinen Sprössling fanden sie erst am nächsten Tag. Er hatte ihn in die Decke eingewickelt, Atlan. Und er hatte einen Zettel daneben gelegt. Ahnst du, was darauf stand?« Ich selbst sprach mit heiserer Stimme.
Das dritte Gesetz »Zwei Gesetze habe ich gebrochen, aber das dritte nicht.« »So ähnlich, ja. Kietai war nicht ohne Nachkommen gestorben.« Diese Worte blieben in der Luft hängen wie der Nachhall einer sehr großen Bronzeglocke. Ich spürte, wie meine Kehle sich wieder klärte, aber es dauerte lange. »Ich bin ein Nachfahre Kietais«, hauchte Albion. »Und wie es scheint, bin ich dazu ausersehen, das Tertium zu brechen.« Ich sah seine Augen stumpf werden, sein Kopf sank nach vorne. »Nein!« Mit einem Aufschrei war ich auf den Beinen, bei ihm. Ich packte ihn an den Armen und schüttelte ihn. »Du wirst nicht sterben!« Hierzu reicht deine Kraft nicht aus, wisperte mein Extrasinn. Das hat sie noch nie. »Oh doch!« Ich knirschte mit den Zähnen. »Diesmal wird sie es!« Erneut schüttelte ich Albion. Er war in meinen Händen nicht mehr als eine schlaffe Hülle. Seine Haut fühlte sich an wie altes Pergament. »Albion!« Unter meinen Händen knirschten die Knochen in seinen Armen, aber es war mir egal. »Wach auf!« Noch einmal kehrte ein kleiner Funke Leben in die großen Augen des Schneckenmannes zurück. Sein Blick irrlichterte über die Wand hinter mir, schaffte es aber nicht, mich zu fokussieren. »Lass mich einfach … gehen …« Das letzte Wort kam nur noch als Hauch. »Nein!« Ich schrie ihn jetzt an. »Hör mir zu! Du musst eine Wandlung vornehmen!« »Oh jemine, oh jemine!« Hinter mir hopste Jolo aufgeregt auf und ab. Ich hörte nur sein Gejammere und das Tapsen seiner Füße. Tuxit hatte begonnen, einen sehr leisen, wehmütigen Gesang von sich zu geben. Ich verdrehte die Augen, zwang mich, die beiden aus meinem Bewusstsein auszublenden. »Wenn du dich in Albia verwandelst, Albion, besteht vielleicht noch eine Chance! Sie ist die Stärkere von euch beiden, sie kann …«
49 »Ich … ich kann nicht einfach …« »Oh doch, du kannst. Und du wirst!« Ich zog den Schneckenmann in eine aufrechte Position. »Lass mich …« Albions Stimme verfiel in eine mattere Version des mir bereits bekannten Gejammers. »Ich will … nicht.« Ich presste die Kiefer zusammen, dass mir die Zähne wehtaten. Meine Gedanken rasten. »Du bist mir etwas schuldig, Schneckenmann«, ranzte ich. »Immerhin habe ich dafür gesorgt, dass du mit der Gondel fahren kannst, obwohl du eigentlich schon abgelehnt warst.« Keine Reaktion. Wie nur konnte ich … Und plötzlich hatte ich eine Idee! »Komm, Albion,«, lockte ich. »Lass uns ein kleines Spielchen machen …« »Nein …« »Eine Wette.« Ich legte so viel Überzeugungskraft in meine Stimme, wie mir nur möglich war. »Ich wette, dass du es nicht schaffst, dich hier und jetzt in Albia zu verwandeln.« Zu offensichtlich!, grummelte mein Extrasinn. Aber zu seiner Überraschung richtete der Schneckenmann ein Auge auf mich. »Dein Einsatz?« Ich blickte an mir hinunter. Der Cueromb war das Einzige von Wert, was ich besaß. Ich griff danach. Albion sah es, und plötzlich wurde sein faltiger Körper steif. Ich prallte zurück, jedoch ohne ihn loszulassen, dann erst sah ich, dass ich mich zu Unrecht entsetzt hatte. Albion war nicht tot. Im Gegenteil: Mein Trick schien funktioniert zu haben. Statt starr vor mir zu liegen, wie ich es für einen Augenblick befürchtet hatte, rannen jetzt Wellen über Albions Körper. Er zuckte, als stünde er unter Starkstrom. Und dann, unter meinen Händen, verwandelte sich Albion, der Breite Mann, in Albia, die Hohe Frau. Die Verwandlung ging weitaus weniger brachial vonstatten als umgekehrt, dennoch
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schien auch sie Albion unsägliche Schmerzen zu bereiten. Aber anstatt wie auf GEM45 schrill zu schreien und sich hin und her zu werfen, stöhnte er jetzt nur und schleuderte den Kopf von rechts nach links. Einer seiner Arme hob sich, aber bevor er kraftlos wieder herunterfallen konnte, verlor er seine Form und wurde zu dem dünnen Ärmchen eines weiblichen Drieten. Ich hielt Albion fest, bis es vorbei war. »Lass mich!« Tuxit drängte sich neben mich und schob mich einfach beiseite. Ich fühlte mich wie ein ausgewrungener Waschlappen, sank auf einen Stuhl, den Jolo mir gerade noch rechtzeitig hinschob. Meine Hände zitterten, als ich sie in meine Haare grub und meinen Kopf darin abstützte. »Du hast ihm das Leben gerettet«, sagte Tuxit. Er gab Jolo einen Wink. Der Echsenartige gehorchte ausnahmsweise ohne Palaver, griff nach der Wasserschale und hielt sie an Albias Lippen. »Aber wir wissen nicht, für wie lange.« Die Hohe Frau trank gierig. Ich hob den Kopf und sah zu, wie sich die meisten der wässernden Warzen schlossen. Sieht so aus, Beuteterraner, als hättest du den richtigen Riecher gehabt, murmelte mein Extrasinn. Albia ist wesentlich robu-
ster als Albion, aber über kurz oder lang wird diese seltsame Krankheit auch sie hinraffen. Ich holte so tief Luft, wie ich konnte. Mein Brustkorb schmerzte, überhaupt alles an meinem Körper schien in Flammen zu stehen. Ich straffte mich und drückte mir die Hände ins Kreuz. Es sah so aus, als mussten wir noch eine Weile das Gondelsystem benutzen. Ich stand auf und sah an mir hinunter, dann auf die Tür zur Nasszelle. Vielleicht sollte ich die Gelegenheit nutzen und eine heiße Dusche nehmen. Langsam trat ich vor Albia hin und griff nach dem Cueromb. Sie lächelte mich von unten herauf an. »Lass gut sein.« Sie klang erschöpft, aber kräftiger als noch eben in der Gestalt Albions. Zwei ihrer kleinen Ärmchen reckten sich mir entgegen. »Danke dir!« Ich ergriff ihre Hände und nickte ihr zu. »Auf nach Hüffen«, sagte ich. ENDE
ENDE
Im Hort der Drieten von Uwe Anton Die Geheimnisse um die Intrawelt lüften sich zu ungewöhnlichen Gelegenheiten, und doch bleiben die wichtigsten Fragen nach wie vor unbeantwortet, allen voran die nach dem Flammenstaub. Doch zunächst muss es um die geistige und körperliche Gesundheit des Breiten Mannes und der Hohen Frau gehen. Kann Albia ihr Alter Ego Albion retten, oder wird sie von ihm ebenfalls in den Untergang gerissen werden?