Groll ⋅ Das Digital
MATTHIAS GROLL
DAS DIGITAL Strategien der Neuen Medien
BOER
Copyright der PDF-Ausgabe © 2002 Boer Verlag, München Satz: BK-Verlagsservice, München Umschlag: Boris Aue
Copyright der gedruckten Buchausgabe ISBN 3-914963-88-6 © 1998 Klaus Boer Verlag Satz: Jönsson Satz & Graphik Druck und Bindung: F. Pustet, Regensburg Umschlag: Boris Aue
Inhalt
Log In . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Erweiterung des Körpers
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1. Das Digital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Homo Copy . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der utopische Urknall . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Vom Wissen der Information . . . . . . . . . . . .
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1. 2. 3. 4. 5.
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III. Strategien des Komputierens . . . . . . . . . . . .
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1. 2. 3. 4. 5.
Ins Labyrinth des fraktalen Wissens Die Krise der Schrift . . . . . . Wissen sucht Sinn . . . . . . . . Kommunikaze! . . . . . . . . . Die Entropiefalle . . . . . . . .
Der Imperativ des Sinns Der Homo Ludens . . Das Entziffern der Bilder Information als Kritik . Künstliche Intelligenz .
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1. 2. 3. 4.
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IV. Die Macht der Programme . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Digitale Demokratie . . . . . Der kollektive Individualist . Ideologische Programmierung Jenseits des Körpers . . . . .
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V. Strategien der Wahrnehmung
Inhalt
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1. Multiperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Mutabor! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3. Wahrnehmung ultra . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Log Out . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
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n nur wenigen Jahrzehnten scheinen die Informations- und Kommunikationstechnologien den Buchdruck, das Fernsehen und das Telefon digital neu erfunden zu haben. Die Computerisierung digitalisiert die bislang nur über die herkömmlichen Medien erfahrbare ›analoge‹ Welt und verdoppelt sie zur kommunizierbaren Bildschirmrealität. Wissen und Welt, Kultur und Kommunikation, Politik, Alltag und Konsum gehen zusehends – als Informationen – online. Informationen wollen über Glasfaser und Satellit vermittelt sein, sie wollen sich auf Bildschirmen zeigen und mit ihnen wollen sich die Informationsproduzenten und -vermittler präsentiert wissen. Die ultraschnelle elektronische Datenverarbeitung bricht herein wie eine Naturgewalt. Die realitiy.online-Strategie bringt das Irdische auf neue Weise auf Trab, sie entzündet neue Utopien und setzt altbewährte Gepflogenheiten und vertraute Gesellschaftsentwürfe auf die digitale Bewährungsprobe. Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Instanzen haben das digitale Alphabet zu erlernen und den Status Quo an den neuen Kommunikationsbedingungen zu messen – Wissen wird nun von Dienstleistungsservern, Informationsmaklern und jedem, der am Informierungsspiel teilnehmen will, angeboten. Informationen werden als Rohstoff der sogenannten ›Informationsgesellschaft‹ über den Datenhighway gejagt und im globalen Informationsdorf kommunikativ bearbeitet, um immer aufs neue auf elektronische Weltreise zu gehen: Die Information scheint eine der vielversprechendsten Entdeckungen der letzten Jahrhunderte zu sein. In weltgeschichtlichem Maßstab besehen wurde die Menschwerdung in Sekundenschnelle aus dem Industriezeitalter herauskatapultiert und die Maschinenindustrie auf Informationsproduktion umgerüstet. Daß der Sozialismus dabei an Wirkungskraft verlieren mußte, ist aus informatorischer Sicht kaum erstaunlich, denn längst werden keine ›Proletarier‹ mehr produziert, sondern Informationen. Arbeiter werden abgebaut, Informationen dagegen boomen.
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Es herrscht Goldgräberstimmung. Erste Claims sind abgesteckt, Zugangsbedingungen und kommunikative Rituale regeln die Informationsverteilung, und an den Ausfahrten der Info-Bahnen wartet man gespannt auf die Umwertung der Daten zu Geld – wer zu spät kommt, den bestraft die elektronische Umlaufgeschwindigkeit. Auf den weltweit verteilten Bildschirmen der Terminals treibt das elektronische Gold Information bunteste Blüten. Immer bessere Computer erweitern das digital country und lassen bislang unbekannte Welten entstehen. Marvin Minsky, Chefideologe des Media Lab am MIT, geht so weit zu sagen: »alles, was Sie über Computer ... hören, sollten Sie ignorieren. Denn wir befinden uns noch in der Steinzeit. Wir leben in den tausend Jahren zwischen ›Keiner Technologie‹ und ›Jeder Technologie‹ ... Sie sollten nicht vergessen, daß sie [die Zeitgenossen] ignorante Wilde sind« (in: Brand 1990, 137). Es geht also erst jetzt so richtig los. Rasant geht es voran, volle Kraft voraus in Richtung Computerwelt. Die radikal sich verändernden Produktionsbedingungen legen dem – nun vernetzten – Konkurrenzkampf neue Bedingungen auf und definieren das gesellschaftliche Handeln um: Das multimedial Vermittelte zeichnet sich dadurch aus, wahrgenommen werden zu wollen und über Wahrnehmungseinheiten – Einschaltquoten und Telefoneinheiten – in Bares umgerechnet werden zu können. Nur Informationen, die irgendwo ankommen, um weiterbearbeitet beziehungsweise konsumiert zu werden, erfüllen ihren Informierungsauftrag. Schlimmer als ausgebeutet zu werden, so Dietmar Kamper, sei heute ›Nichtbeachtung‹. Das kostbarste Gut sei ›Aufmerksamkeit und keineswegs mehr politische Freiheit‹ (vgl. 1996, 357). Wer im ›Spiel des Informierens‹ nicht mithalten kann, wer nicht kompetent ist im Datensurf und die ›Freiheit‹ der Informationsproduktion nicht zu nutzen weiß, droht zum passiven Konsumenten der Informationen zu werden, zum Informationsproletarier, der nicht einmal Protest digitalgerecht wird artikulieren können. Vorbei die Zeiten der Technikfeindlichkeit. Die Angst vor dem Big Brother ist der Multimedia-Euphorie gewichen. Der datensicheren Zukunft der globalen Kommunikation zuliebe können die Computer neu genug nicht sein. Nicht mehr verwurzelt, sondern verkabelt setzt der Mensch auf einen immer noch perfekteren kommunikativen Apparatpark, dessen je aktuelle Standards nur Zwischenlösungen einer erst in Zukunft realisierbaren Perfektion sind. Schon
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bei ihrem Erscheinen sind die Programme mit Verfallsdatum versehen, wird deren knappe Halbwertzeit durch nachrückende ›Generationen‹ garantiert. Doch hat man bereits mit den laufenden Standards jede Menge zu tun. Programme sind zu installieren, neue ›Pfade‹ zu entdecken, Daten sind in neue Software ›hinüberzuretten‹ und vor dem Vergessen durch die digitale Zivilisationskrankheit Inkompatibilität zu bewahren. Vor allem aber ist die Vielfalt der kommunikativen Kompetenzen der Apparate erst einzuüben. Jeder neue, beinahe täglich einsetzende Innovationssprung fordert Anpassung. Die an den Computern sitzende Zivilisation scheint sich im Zustand einer kollektiven Lernphase: in der Pubertät zu befinden. Das Defizit des souveränen Umgangs mit den Neuen Medien erkennend, geben Tageszeitungen und Zeitschriften Navigationshilfe in Internet- und Multimedianutzung, und eine Schwemme an Computerzeitschriften und -büchern buchstabiert die Algorithmen des Digitalen trendprägend zurück ins Analoge des Begreifbaren. Doch weniger das Wissen ist im Umgang mit den neuen Medien wesentlich denn der Umgang mit dem Wissen und die Strategien, die Apparate optimal zu nutzen. Noch vor dem Wissen und WissenWollen will das Kommunikationsgeschick geübt sein, denn die Digitalisierung macht das Kulturerbe neu rezipierbar und neu erlebbar, doch vor allem neu kommunizierbar. Konzentrierte sich die Aufklärung auf die Erweiterung des Wissens, so läßt das Digitale die Mobilität dieses Wissens zum weltgesellschaftlichen Happening werden: Aufklärung wird mit Kommunikation identisch, denn nur was elektronisch ›fließt‹, kann – vermittelbar – informieren. Was immer der mobilen Aufklärung dient, ob mündlich, in Schrift- oder Bildform, ob als wissenschaftliche Analyse, als Fernsehprogramm oder als Videospiel, es geht nun in einheitlichem Bitformat auf Informierungsjagd. Der herkömmliche Postweg wird angesichts von Fax, e-mail und Datenkompression so antiquiert wie die Postkutsche. Die auf Festplatten, in Großrechnern und Mikroprozessoren erfolgende Informationsproduktion und -verteilung revolutioniert nicht nur die Produktionsverhältnisse, sondern stellt auch die Informationsaufnahme unter neue Bedingungen. Das Wissen erfährt im mobilen Erregungszustand eine eigentümliche Transformation. Es definiert sich als rechnerisch handhabbare und elektronisch versend-
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bare Information. Auch das körperliche, bislang ›Miteinander Reden‹ genannte Kommunizieren wird mit dem Wissenstransfer transformiert: Es definiert sich nun über die Apparatvernetzung. Sie erobert nach und nach die Informierungskompetenz von Radio und Fernseher, sie will den Gang in Bibliotheken und Museen und noch die Luft zwischen den Gesprächspartnern ersetzen. Die Digitalisierung erobert Natur und Kultur durch ein Medium. Wissen und ›Reden‹ werden gleichermaßen digital codiert und gleichermaßen rechnerisch gehandhabt. War bislang das Mündliche und Schriftliche das dominante Vermittlungsmedium der Bildung, nun erobern elektronisch errechnete Bilder über errechnend sich ›aufbauende‹ Bildschirme den Alltag. Der Kommunikationsphilosoph Vilém Flusser markiert die heutige Zeit deshalb als eine ›Bruchstelle zwischen zwei konkurrierenden Bewußtseinsebenen‹: als ›Übergang des schriftlichen Denkens in mathematisches Denken‹ (vgl. 1988, 123ff). Während das Mündliche und Schriftliche mit der Imaginationskraft des mitdenkenden Lesers spielt, setzt das mathematisch operierende Digitale auf die Darstellbarkeit und Vermittelbarkeit eben dieser Imaginationskraft. Das bislang nur Wißbare wird als Bild sichtbar. Der Bildschirm ist das Rezeptionsforum der elektronischen Systeme. Obwohl Texte nach wie vor lesbar sind, sind sie in ihrer digitalen Version eingebettet ins elektronische, als Bilderfluß sich generierende ›Bilderbuch‹. Die ›Leselogik‹ wird geleitet von Icons und hypertextuellen links, die die Texte zu ›Bildbeschreibungen‹ der schnell rezipierbaren Wahrnehmungselemente degenerieren lassen. Das digital Vermittelte eignet sich denn auch weniger zur langatmigen Kontemplation, sondern ist zur Wahrnehmung verdammt: Anstelle des physischen Raumes entwickelt sich der mathematische Wahrnehmungsraum zum Ort der Erfahrung. Waren Bücher und Bilder bislang materiell, das Digitale zeigt sich virtuell. Es läßt sich realiter nicht anfassen. Ohne die elektronische Kommunikation bräche das gesellschaftliche Alltagsleben bereits heute zusammen. Die weltweit vernetzten Computer übernehmen den kommunikativen Datenaustausch, das Irdische wird – langsam aber sicher – flächendeckend digitalisiert, digitale Sprachen ›sprechen‹ mit jeder Tastenwahl, die man tut, und technologische ›Kulturen‹ und virtuelle ›Ökotope‹ haben die ersten Probephasen bestanden. Dennoch ist das handfest-materielle
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›Draußen‹, sind Kultur und Tradition der Boden, auf dem Technologie gedeiht – und nicht umgekehrt. Noch gelten die Rest-‹Wahrheiten‹ der Moderne, noch sind wir Wesen jenseits der ›Sprache‹ der Apparate, noch können wir Religion und Natur denken, noch gilt die Wertschätzung den komplexen ›sieben Sinn‹. Flusser betont, die Karriere der Apparate sei ›so neu, daß wir sie noch nicht als ein kulturelles, sondern als ein technisches Phänomen erleben‹ (vgl. 1990, 68). Noch ist man erstaunt angesichts der technologischen Schübe, noch ist die Lebenswelt das primäre Handlungsfeld, noch wird die realweltliche Kommunikation im Gegensatz zur apparatischen Kommunikation geschätzt. Doch längst ist der bislang gültige Glaubenssatz, das menschliche Sinnes- und Datenverarbeitungsvermögen sei der Höhepunkt der Evolution, in Frage gestellt: Computer mausern sich nicht nur zum Kulturfaktor, sie bieten auch der menschlichen Geisteskompetenz ordentlich Paroli. Der besagte ›Wilde‹ wird zwar so rasch nicht aufgehen in den digitalen Codes und seine Kultur wird ihm wohl auch in Zukunft eher durch den Magen gehen als durch die Glasfaser. Dennoch hat er längst seine natürliche Umgebung verlassen, um die sogenannte ›Wirklichkeit‹ über Bildschirme und Tastaturen zu erfahren und herzustellen. Daß die Realwelt dabei pathologische Züge annimmt, verwundert nicht. Unter dem Stichwort ›Wertewandel‹ wird der Verlust einiger liebgewonnener Vertrautheiten allseits beklagt: Kulturtragende Rituale und Sitten verlören an Wirkung und Menschen litten realiter an seltsamen Kommunikationsschwierigkeiten. Einerseits steht der Schwund an kulturellem Zusammenhalt in enger Beziehung zu den technisch nachgerüsteten Kommunikationspraktiken, andererseits aber entstehen in den Datenwelten der vernetzen Rechner neue kommunikative Gepflogenheiten und neue ›Traditionen‹. Das soziale und kulturelle Leben formiert sich nun in den Apparaten, es erobert sie. Wohin die virtuelle Reise freilich führt, ist kaum auszumachen. Im luftleeren Raum der Netze versagen sowohl die irdische Orientierung als auch die altbewährten Untersuchungsmethoden. Selbst die Gesellschaftswissenschaften wissen den ›digitalen Putsch‹ kaum einzuordnen, geschweige denn zu betreuen. Schließlich wird er weder an klaren noch an irdischen Fronten ausgetragen, sondern zwischen Unterbewußtsein, Umsatz und Programmoption. Zwar stellen Medientheoretiker, Kommunikationswissenschaftler und
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Kulturkritiker dem elektronischen Realitätsschub analytisch nach, ihre Ergebnisse aber sind so uneindeutig, wie die Kommunikationssysteme unübersichtlich sind. Während ›noch weitgehend die Kategorien zu fehlen scheinen, das Wesen der Veränderungen zu erfassen‹ (vgl. Fiehler 1994, 524), sind die ersten Netznutzer längst in die virtuellen Realitäten entfleucht. Keine ›antidigitale Bewegung‹ tritt an, den virtuellen Gang des Irdischen aufzuhalten. Vielmehr ist jedes ›back to the roots‹ mittlerweile selbst digital codiert. Der drohende ökologische Kollaps wird in Computern simuliert, er wird im Virtuellen ›geprobt‹, um Aufschlüsse über seine realweltlichen Verhinderungsmöglichkeiten zu geben. Wissen und Geschichte gehen ein in die Apparate, um nach mathematischer ›Verdauung‹ hochgerechnete Kompetenz zu ergeben. Der Siegeszug der Datenverarbeitungsmedien scheint das Ziel der Aufklärung, scheint das Ziel selbst der Geschichte zu sein. Verantwortung und sogar politische Entscheidungen, so die Cyberfraktion, würden in Zukunft in Kommunikation mit künstlichen Gedächtnissen getroffen werden, da sie die Komplexität der Weltzusammenhänge weitaus exakter kalkulieren, sprich beurteilen könnten als Menschen. ›Entscheidungsmaschinen‹ sind zwar vermutlich noch sturer als Politiker, jeder Mensch aber bekäme nun die Freiheit, den apparatischen ›Sturheitsgrad‹ mitzubestimmen. Jeder darf sich schließlich verkabeln, sich auf dem Datenhighway austoben und dort Spuren hinterlassen. Die Schlagzeilen vom vollelektronischen Reich, das da komme, überschlagen sich: Der digital highway ist nicht nur ›befahrbar‹, sondern soll unmittelbar im menschlichen Nervensystem – und im Gehirn – enden. Das Gerücht einer Synergie, einer Fusion von Mensch und Apparat macht die Runde. Der Direktanschluß des Menschen an die Apparate zielt ab auf eine neue Entwicklungsstufe der Vermittlung von Welt, Kultur und Wissen. Nicht der Mensch als intellektuelles und wahrnehmungsfähiges Wesen soll informiert werden, sondern – auf direktestem Wege – sein am Zentralnervensystem ›hängender‹ Körper. Ohne den Umweg der wahrnehmenden Informationsaufnahme soll die Datenverarbeitung des Menschen sensorisch auf Vordermann gebracht werden. Programmierer, Gentechniker, Kognitionswissenschaftler, Neurologen, Vertreter der ›Künstlichen Intelligenz‹, Nanologen, Künstler etc. entwickeln dazu neue Schnittstellen zwischen Apparat und Körper. Voller Spannung
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wird der zum Cyborg synergierte Mensch – die Computer-MenschLiaison – verfolgt. Die Digitalisierung wird ein Evolutionsfaktor des Fleisches. Sie entwirft den Menschen als eine Art Virus in der Biographie seiner eigenen Geschichte. Schon die bloße Technik scheint ein Ideal der Emanzipation zu enthalten, so Florian Rötzer (vgl. 1996, 77). Sie verspricht die Befreiung von irdischen und körperlichen Zwängen – doch auch vom Menschen selbst. Die Perfektion der ›Denkwerkzeuge‹ zwingt das Humane umsomehr auf die technologischen Standards, als das ›allzu Menschliche‹ in der Fülle seiner Komplexität kaum je simulierbar sein wird. Es zeichnet sich gerade dadurch aus, unberechenbar zu sein. So gilt das nicht-Perfekte angesichts der reinen Mikroelektronik als redundant. Unter dem apparatischen Innovationsdruck droht es so zu veralten wie die kratzende Schallplatte. Die Emanzipation der Perfektion über Unberechenheit und Fehlbarkeit zu beschleunigen und zu legitimieren, wird Parolen gefolgt, die ›Entwicklungen der Hochtechnologie möglichst affirmativ und radikal nach vorne zu denken und zugleich nervtötenden Naturharmonikern auf den Schlauch zu steigen, deren Zukunftsvorstellungen sich auf die Umwandlung der Erde in ein planetares Radieschenbeet beschränken‹ (vgl. P. Glaser 1991, 205). Die Weichen sind von Natur auf Technik gestellt. Mit der digitalen Herausforderung: der Erschaffung neuer, virtueller Realitäten ist der Mensch nur ein ›Pflänzchen im Beet‹ und das ›allzu Menschliche‹ nur eine Form des MenschlichMöglichen. Je nach Zeitgeist wird das Humanum – einschließlich der irdischen Belange – mit der digitalen Warteschleife konfrontiert oder bleibt außen vor. Unter dem Stichwort ›menschliches Versagen‹ wird dem Menschen Verantwortungsfähigkeit sogar abgesprochen und das bislang gültige Ideal der menschlichen Zurechnungsfähigkeit für unzulänglich erklärt: »Menschen ermüden, altern, werden krank oder sterben, häufig sind sie dumm, unzuverlässig und in ihrem Gedächtnis beschränkt. Darüber hinaus versuchen sie manchmal, ihre eigene innere Logik aufzubauen. Solche Eigenschaften sind bei einem Material untragbar. Jedes Sytem, das Menschenmaterial benutzt, muß sich angemessen dagegen sichern«. (R. Boguslaw in: Volpert 1987, 14). Die ›eigene innere Logik‹, bislang als Geistesvermögen und unübertroffene Fähigkeit des Menschen hochgeschätzt, scheint an Achtung zu verlieren und der Reibungslosigkeit des apparatischen Funktio-
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nierens ein Störfaktor zu sein. Wenn Volpert dem Zitat über die menschliche Inkompetenz freilich anfügt, nach so viel Phantasterei könnten wir uns gleich den Science Fiction-Schriftstellern zuwenden (vgl. ebd.), unterliegt er einem Irrtum: mit den neu entwickelten Technologien sind wir dem Science Fiction näher als dem ›Radieschenbeet‹ des vertraut Irdischen. Noch ›dümpelt‹ der Mensch zwar im kulturellen und lebensweltlichen Biotop dahin, mit einem neuen, gewissermaßen einem ›dritten‹ Bein aber stolpert er schon durch virtuelle Gegenden. Inwieweit dem ›aufrechten Gang‹ des handlungsfähigen Homo Sapiens dort informationstechnologisch ein Bein gestellt wird, ist an die Frage gekoppelt, inwieweit den ›künstlichen Intelligenzen‹ tatsächlich ›Beine gemacht‹ werden kann. Obwohl die in Sieben-Meilen-Stiefeln angetretene Forschung um die ›Künstliche Intelligenz‹ in den letzten Jahren arg ins Straucheln geriet, geht der digitale Ernstfall dank immer erfolgreicherer Simulationen auf Erfolgskurs. Die virtuellen Erlebniswelten führen in die unendlichen Weiten des technischen Universums: in eine ›abenteuerliche Gesellschaft‹ (vgl. Flusser 1990, 7). Deren mentale, erst im Keim ablesbare Verfassung auszuloten, ist das digitale Jenseits elektronischer Kommunikation, das derzeit erste Geburtswehen erlebt, im gedanklichen Selbstversuch auf potentielle Realisierung hin abzuklopfen. Vorschnell verbreitete Utopien sind dabei von abwägbaren Wahrscheinlichkeiten zu trennen, und das ›abenteuerliche‹ Projekt Digitalrealität ist auf seine Humantauglichkeit hin zu prüfen. Eine Reihe von Autoren hat sich dieser Herausforderung gewidmet. Wie kaum ein anderer ergründete Vilém Flusser – er verstarb 1991 – die ›auf uns eindringende Zukunft‹. Visionär wie provozierend multiplizierte er die in der heutigen Computerkultur angelegten Möglichkeiten mit einer ›wahrscheinlich werdenden Zukunft‹ – sein komplexes wie umstrittenes Denken wird auch mit dieser Arbeit nicht ausdiskutiert sein. Die immer realer werdende telematische – durch Telekommunikation automatisierte – Gesellschaft zu ergründen, geht es Flusser, wie er betont, ›nicht darum, ein neues Menschenbild zu entwerfen, sondern einzusehen, in welches Menschenbild wir da gleiten‹ (vgl. 1996, 245), wenn das Virtuelle der Datennetze die vertraute Realität überlagert. Phänomenologisch geht er von Beobachtungen aus und verdichtet sie philosophisch, soziologisch, theoretisch und praktisch, ohne sie in die Enge einer
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Theorie zu treiben. Alles Neue sei zwar stets ›entsetzlich‹, da es das Wohlvertraute angreife, alles Neue sei aber auch eine notwendige Herausforderung (vgl. 1990b, 168): »So neu ist der neue Mensch ... den wir da manchmal bereits beobachten können, daß wir uns fast außerstande sehen, an ihm noch das Menschenantlitz wiederzuerkennen« (ebd.). So intensiv Flusser einen Spiegel auf die Gegenwart richtet, der eine potentielle Zukunft reflektiert, so intensiv sei im Folgendem sein Denken und das Denken einiger seiner Digitalkollegen beleuchtet und kritisch gespiegelt. Eine Grundfrage dabei lautet: was leistet der Mensch, wenn die Apparate so viel mehr leisten? Computer scheinen den kommunikativen Bedürfnissen der Nutzer mit spielerischer Leichtigkeit nicht nur zu entsprechen, sondern bei weitem zu übertreffen. Dabei aber werden Maschinenbedienung und multimediale Interaktion als Kommunikation und als dem menschlichen Sprachaustausch vergleichbare Interaktion vorausgesetzt. Die Kommunikation mit und über Computer gleicht einer Direktkoppelung zwischen den Köpfen der Nutzer und den apparatischen Verschaltungen. Die These einer informationstechnologisch möglichen Aufklärung (Informierung) aber ist noch sowenig gesichert wie die der kommunikativen Anschlußfähigkeit von Mensch und Apparat. Absehbar ist vielmehr, daß ›nicht nur die Kommunikationsverhältnisse umstrukturiert werden, sondern zugleich auch die Vorstellungen und das Bewußtsein davon, was Kommunikation ist‹ (vgl. Fiehler 1994, 524). Welche Herausforderungen also werden an die Rezipienten der Neuen Medien gestellt, wenn das Kommunikationsmedium zum Leitmedium wird? Optimistische Medientheoretiker sind überzeugt, der Mensch werde durch Information und Kommunikation erst ›zu sich kommen‹. Allemal aber ist die ›Telematie‹ auch eine Gratwanderung, deren Gedeih oder Verderb von jenen abhängt, die sie vorantreiben – von den besagten ›Wilden‹ und den Verhältnissen, die sie prägen. Obgleich der Mensch schon immer technologiegeprägt war, und – vom Faustkeil über den Buchdruck bis zur Fabrik – Mensch und Werkzeug sich stets wechselseitig bedingten, eröffnen die Informationstechnologien nun eine neue Runde in der ›Entwicklung des Humanen‹. Das Humane wird neben allen ›allzu menschlichen‹ Eigenschaften neu durchzudeklinieren sein. Im Abhängigkeitsverhältnis des Menschen zum Apparat ›wird der Computer zwar ohne
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den Menschen nichts sein, ohne den Computer aber wird auch der Mensch nichts mehr sein‹ (vgl. Flusser 1996, 143). Wie auch immer die Neuen Medien den Alltag beeinflussen, das Altvertraute steht vor einer harten Probe. So hält Flusser das ›historische Denken‹ für reichlich überholt, er hält es telematisch für unangemessen und durch eine Haltung ersetzt, die er Nachgeschichte nennt. In ihr gelten weder mehr Schriftlichkeit, noch vertraute räumliche oder zeitliche Dimensionen, noch eine auf Linearität und Dialektik fußende Logik. Vielmehr herrscht die raum- und zeitlose Strukturvielfalt einer digitalen Informationswelt, deren Codes die Wirklichkeit filtern und festlegen. Aus dieser Logik heraus nur ist eine Standortbeschreibung der digitalen Realität möglich. Auf welche Pfade die digitale ›Revolution‹ auch führen mag, wie auch immer die Kommunikationsmittel zwischen Stromzufuhr, Kabelsalat und Bildauflösung die Kommunikation fördern oder gefährden, die Debatte, ob und wie das gute alte Fernsehen die menschliche Wahrnehmung beeinflußt, war im Vergleich zur nun anstehenden Debatte eine harmlose Übung. Eine Art »technologischer Urteilskraft«, so Frieder Nake (1994, 544), ist vonnöten, die Debatte führen zu können. Begebe man sich, sie zu erlangen, aufs digitale Glatteis. Eine Annäherung an die mutmaßliche Mentalitätsverschiebung der vernetzten Menschheit zu finden, sei zunächst die Vielschichtigkeit der technologischen Innovationen skizziert. Grundlegende Tendenzen des computerisierten Wandels werden mit den Zielen einiger Multimediaspezialisten konfrontiert und bezüglich ihres Wahrscheinlich Werdens destilliert (Kap. I). Die digitalen Strategien fördern neue Wahrnehmungs- und Kommunikationsbedingungen, die das Medium der Schrift provozieren und weiterentwickeln. Doch welchen Einfluß hat eine ›computergestützte Phantasie‹ auf die Imagination des Rezipienten? Durch den Computer definieren sich Kultur und Kommunikation technologisch, und angesichts der Karriere der Information geraten Wissen und Sinn in digitale ›Schutzhaft‹: Die Umlaufgeschwindigkeit der Informationen und die Strukturalität der Datenvermittlung bestimmen die Aussagekraft der Informationen und führen zu neuen Zwängen der Rezeption und der Wissensproduktion (Kap. II). Das Neue ist auch informationstechnologisch der Antriebsmotor des kulturellen Wandels. Zwischen Mangelware und Überschuß
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wird der Information der Status der Weltveränderung zugeschrieben. Sie gibt Denk- und Handlungsanweisungen, doch stellt, von ›Künstlichen Intelligenzen‹ gestützt, das historische Selbstverständnis des Sinns auf die Probe: Die technologischen Bedingungen der Informationsproduktion offenbaren ein Mißverhältnis zwischen komplexem Denken und apparatischer Sinnvermittlung (Kap. III). Wissen, Politik, Kunst, Alltag und Konsum, das Gesamt des gesellschaftlichen Lebens wird dem Sog des Digitalen überantwortet. Die Datenverarbeitung verwischt dabei die Grenzen zwischen Jenseits und Diesseits von Handeln und Wissen – sie zieht noch den Körper in ihren Bann und stellt die Herrschaftsfrage neu (Kap. IV). Wandelt sich das gesellschaftliche und mediale Selbstverständnis durch die Neuen Medien so subversiv wie rasant, so hat vor allem die Wahrnehmung einen qualitativen Ruck zu wagen: Die digitale Zivilisationsoffensive fordert eine Steigerung der Wahrnehmungskompetenz (Kap. V). e-mail:
[email protected]
I. Die Erweiterung des Körpers
ie Alten hatten gut reden. Damals konnte tatsächlich alles auf der Welt in Zentimetern, Stunden, Dollar (oder den damaligen Äquivalenten dieser Maßeinheiten) gemessen werden« (Flusser 1990b, 40). Die unmittelbare Lebenswelt war in überblickbaren beziehungsweise greifbaren Größen erfahrbar: der Mensch war das Maß aller Dinge. Noch ehe aber das Maß das Weltbild prägte, war das Maßlose, das ›Unermeßliche‹ weltbildrelevant. Die Welt war metaphysisch erklärt worden und das ›Maßlose‹ schlechthin – Gott – konnte angebetet werden. Am Unerklärbaren entwickelten sich Wahrnehmungsrealitäten und Weltbilder. Die Dinge wurden ›magisch aufgeladen‹, die Dinge selbst wurden informiert, indem ihnen Bedeutung zugeschrieben wurde. Sternkonstellationen, das Wetter, die Ernte etc. ließen Mythen zum Kitt der Gesellschaften werden. Dem aufgeklärten Zeitgenossen ist eine mythische Lebensweise kaum mehr nachvollziehbar. Er betrachtet sie als ein Er-finden, denn er orientiert sich an Ge-fundenem, an Fakten, die – stets neu – zu entdecken sind. Er mißt, vermißt die Welt, klassifiziert und ordnet ein. Er ›informiert nicht die Dinge‹, die ›Dinge‹ sollen vielmehr umgekehrt ›den Menschen informieren‹, sie sollen sein Wissen erweitern und Erkenntnis bringen. – »Wenn jemand zu uns sagt, Allah sei groß, dann müßten wir ihn fragen, wie groß er denn sei ... Wir müssen ... messen« (Flusser 1990b, 40). Und wir tun es auf die Gefahr hin, verbindliche Weltbilder, Religion und Werte ›wegzumessen‹, sie wegzuerklären und zu verlieren. Da Gott nicht meßbar ist, ist er nicht wert, angebetet zu werden. Das Messen hat sich zu einem ausgefeilten Instrument objektiver Weltabbildung entwickelt. Meßtechnologien überblicken noch das kleinste Maß der Dinge und informieren noch über den Millionen Jahre zurückliegenden Lauf der Dinge. Man weiß um Nanosekunden und Lichtjahre und um die den Sinnen unzugänglichen Bereiche der mikro- und makroskopischen Prozesse. Apparate informieren über die Gültigkeit von Naturgesetzen, sie veranschaulichen Genund Gehirnstrukturen, zeigen den Aufbau von Molekülen, fördern ›chaotische Fraktale‹ zu Tage, kreieren künstliche Modelle und Si-
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mulationen des Realen etc., kurz: sie dringen in die Tiefe der Materie ein und erweitern unser lebensweltliches Selbstverständnis um die nicht wahrnehmbaren Dimensionen der Realität. Mit den Technologien hat der Mensch den Maßstab Mensch überholt. Sie bewirken eine prothesenhafte »Extension der menschlichen Sinne ... ins Millionenfache« (Weibel 1989, 106). Der Mensch ist nun auch im Nichtmehr-Wahrnehmbaren ›zuhause‹. Ein ›einfacher‹, technologiefreier Blick kann das Nicht-Wahrnehmbare nicht wahrnehmen: Weder ist den Augen zu trauen, noch den Ohren oder den anderen Sinnesorganen. Die unmittelbar lebensweltliche Erfahrung ist so inkompetent wie die metaphysische Deutung. Die ›Dinge‹ informieren jedoch keineswegs nur den Menschen. In ›millionenhafter Intensivierung‹ informieren sie vielmehr zunächst die Informationsverarbeitungsapparate, die die Informationen verarbeiten, um sie wahrnehmungsgerecht zu präsentieren. Die ›terra incognito‹ den menschlichen Sinnen wahrnehmbar zu machen, wurden, so Flusser, »Apparate erfunden ... die für uns das Unfaßbare fassen, das Unsichtbare imaginieren, das Unbegreifliche konzipieren können« (1990, 18). Ohne die Wahrnehmungstechnologien, die das ›maßlos Immaterielle‹ ins gemessen Wahrnehmbare überführen, wäre die heutige Weltwahrnehmung amputiert. Wenn denn also einst der Mythos über die Welt gestülpt und das Maßlose angebetet wurde, so werden heute Apparate, Sensoren, Satelliten und Mikrochips installiert und können der Horizonterweiterung wegen verehrt werden. Die Apparate aber messen das Unbegreifliche und Unanschaubare nicht nur, auch simulieren sie die verborgenen Wesenheiten der Dinge und Phänomene und machen sie offen-sichtlich. Simulationen aber zeigen nicht die Realität des sinnlich Unzugänglichen selbst, sie zeigen seine Simuliertheit. Simulationen sind mit dem Selbst, das sie simulieren, nicht identisch, sie sind ihm nur ›selbstidentisch‹ und damit ›selbstähnlich‹. Die Simulation ist ein Zwitter aus Authentizität und Hypothese – sie ist hypoauthentisch. Der unüberschätzbare Vorteil der Simulation liegt darin, durch unterschiedlich gesetzte Parameter verschiedene Zustände des Simulierten testen und mit unterschiedlichen ›möglichen‹ Realitäten spielen zu können. Die ›Ecken und Kanten‹ der sogenannten Realität werden variierbar und manipulierbar, denn der Digitalisierung wohnt die nahezu grenzenlose Freiheit inne, Informationen selbst-
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identisch zu erweitern und zu ändern. Nach dem Vorbild der Realität entstehen virtuell mögliche Realitäten: Hat man also einst Weltbilder ›weggemessen‹, so kann heute die Welt selbst wegsimuliert und ›weginformiert‹ werden, indem neue, beliebige Weltbilder simulatorisch als virtuelle Welten entstehen. Virtuelle Dinge er-findend zu informieren, scheint der neomythische Auftrag zu sein.
1. Das Digital Vom Mythos zum Computer war es ein weiter Weg. Er führte vom Erzählen zur Erzählung, vom Zählen zur Zahl. Mittlerweile sind Mensch und Welt gut abgezählt, vermessen, abgebildet, analysiert, kartographiert und geröngt, kurzum: erkannt. ›Wo Gegenstand war, ist Information geworden‹ (vgl. Agentur Bilwet 1993, 24). Der Mensch ist dank der ihm zugänglichen Fülle an Informationen umfassend aufgeklärt und der Auftrag Aufklärung scheint weitgehend erfüllt zu sein. Doch schon tut sich Neues auf: Aufklärung geht heute oneline. Aufklärung 2000 ist der Auftrag, alles in einem Medium zu speichern, alles darin zu vermitteln und nichts zu vergessen. Alles bislang unterschiedlich Vermittelbare, sei es Text, Bild, Vortrag, Kunst oder Statistik, fand eine neue Basis der Vermittlung. Eine neue Sprache wurde ge-funden, das Sichtbare wie das den Sinnen nicht Sichtbare den Sinnen auf neue Weise vorzuführen. Die Sprache – der Binäre Code – besteht aus 0 und 1 und ist so einfach wie multifunktional. Auf Ja-Nein-Unterscheidungen bauend, läßt er all die digitalen ›Zauberformeln‹, sprich Algorithmen, kreieren, die es erlauben, all das Gemessene und Ge-fundene und alle bislang getrennt voneinander operierenden ›Sprachen‹ als Einheit zu handhaben: Die ›erfaßte‹ Realität läßt sich mit Haut und Haaren in das universelle Alphabet einscannen. Sie wird festplattenkompatibel, anklickbar und käuflich. Das über Satelliten und Glasfaser verbreitete und über Internet, Datendienste und CD-ROMs abrufbare Wissen wuchert multibunt an Millionen Bildschirmen. Erdumspannend eine sensorisch-mediale Membran formend, gehen Mensch, Wissen und Kultur dank Satellitenübertragung buchstäblich in die Luft, beziehungsweise versinken dank Glasfaser in Grund und Boden. Die Zentrifugalkraft der Neuen Medien sprengt alle irdischen Grenzen und gewährt neue
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Informations- und Kommunikationsbedingungen.1 Paul Virilio zufolge ist die ›ideale Sphäre nicht mehr die des Erdballs ist, sondern die einer virtuellen Sphäre, die anschwillt und sich in alle Richtungen aufbläht‹ (vgl. 1992, 144): Das numerisch über Computer Vermittelbare hat »die alten globalen Grenzen ins unendliche Universum, ins Unendliche des Unsichtbaren erweitert« (Weibel 1989, 87). Der Mensch hat ein »unendliches immaterielles Territorium« betreten (ders. ebd. 90). Längst hat sich die Gewißheit etabliert, daß die Welt größer und anders ist als sie im Resonanzbereich unserer Sinnesorgane erscheint. Schon »im Zeitalter der Maschinenbeschleunigung«, so Peter Weibel, »wurde die Idee des Unendlichen menschlich meßbar« (1987, 54). Das neue, das digitale ›Kampfgebiet‹ aber hat weder mehr territorialen Raum noch irdische Zeit, es hat den n-dimensionalen Raum der Vernetzung und Programmierung und die Eigenzeit der den Apparaten innewohnenden mathematisch festgelegten Kausalitäten. Es ist die eine Welt der internationalen, auf mathematischer Genauigkeit und globaler Interaktion fußenden Börse des Vermittelbaren: Das Digital ist die ›terrestrische Erweiterung‹ des Denkens und Handelns in der virtuellen Sphäre der Rechner. Seit die Mikrowie Makrowelten in den menschlichen Horizont dringen, seit die unendlichen Stellen hinter dem Komma und die Zahlen zwischen den Zahlen für wichtig erachtet werden, seit sich alle Bezugsgrößen hinsichtlich des ›alten Territoriums‹ relativieren und das ›alte Territorium‹ digitalisiert wird, ist dem Menschen nicht mehr nur der natürliche Boden ›Heimat‹, sondern auch der Kosmos der digitalen world wide virtuality. Unmittelbar jenseits der Tastaturen der Apparate, im ›Diesseits‹ der Apparate ›beginnt‹ das Digital. Vom Diesseits des Nutzers aus betrachtet sind die an den Menschen gekoppelten Apparate eine 1 Weibel vergleicht den Umbruch der Weltwahrnehmung durch ein globales, einheitliches Netz mit einer Situation im Mittelalter, als Städte noch Stadtmauern und Befestigungsanlagen hatten. Als dann eine Waffentechnik entwickelt wurde, die auch eine besondere Reichweite hatte, als Kanonenkugeln über Stadtmauern fliegen konnten, seien auch soziale Organisationsformen verschwunden. »Die kampffähige Kanone hat historische Dimensionen des Territoriums obsolet gemacht und neues Terrain erobert« (vgl. 1989, 82). In Analogie dazu drohten heute Satellit und Glasfaser den Nationalstaat zu zerstören und die Normalität des sozialen Zusammenseins auf die Probe zu stellen (vgl. ebd.).
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Verlängerung seiner Sinnesorgane. Das Digital freilich ist dem Nutzer nur zwischengeschaltet. »Der Bildschirm ist die Membran, die sich zwischen den Menschen und die Technik schiebt, eine Schnittstelle zwischen Maschinenprogramm und Bewußtsein« (Preikschat 1987, 65). Die technischen Prothesen sind, wie schon das Fernsehen bezüglich der sogenannten Wirklichkeit, den Sinnen vorgeschoben. Sie stehen zwischen Mensch und Welt. Mikroskope, Sensoren, Sonden und Kameras nehmen einerseits wahr, Computer nehmen Informationen ›zu sich‹ und verarbeiten sie, um andererseits – qua Bildschirm – Output an die menschliche Realität zu geben: Computer sind einerseits Wahrnehmungstechnologien, die das Nichtwahrnehmbare – einschließlich des Wahrnehmbaren – aufnehmen, andererseits Informationstechnologien, die das ›neue Territorium‹ den menschlichen Sinnen vorführen, es in den menschlichen Biorhythmus übersetzen. Einerseits also interpretieren die messenden Technologien die Natur auf neue Weise, andererseits vermittelt das Digital die gemessene Natur auf ebenso neue Weise. Wir können zwar weder Vitamine, Protonen und Spiralnebel aus eigener Sinneserfahrung kennen, dennoch sind sie uns so bekannt wie Nanometer, Lichtjahre und die komplizierten Vorgänge an der Börse. Digital ist alles zeigbar. Ob Zukunftsszenarien, Gehaltskonten oder Einschaltquoten, Fakten werden bildhaft hochgerechnet zu Statistik, kosmischer Staub schlägt sich als Grafik nieder und komplexe Vorgänge werden in der Simulation verständlich.1 Für die Vermittlung halten die Apparate Schnittstellen: Interfaces bereit. Interfaces sind die Eingangspforten ins Immaterielle der black box, sie machen die Tasten der Computer zum Surfbrett durch die Datenfluten. Bemerkenswert an Interfaces ist, verschiedenste Realitätsebenen aneinander koppeln zu können. Interfaces sind die Vermittler des prothesenhaften Anschlusses zwischen normalerweise inkompatiblen Wahrnehmungsbereichen. Computer sind demzufolge multifunktionale Interfaces. Waren Prothesen bislang Brillen, Linsen, Beinersatz, künstliche Zähne, Silikon, Herzschrittmacher und Hörimplatate, nun entführen Wahrnehmungsadapter ins multi1 Statistiken lassen sich beispielsweise als Wiese darstellen, deren wucherndes Gras und blühende Blumen verschiedene Zahlenunterschiede und Gewichtungen symbolisieren. Eine derartige Darstellung veranschaulicht komplexe Vorgänge, die in der Statistik selbst nur mühsam herauszulesen wären.
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wahrnehmbare Spektakel. Seine optimalste Rezeptionsweise ist die der Virtuellen Realität, des ›Cyberspace‹, der durch Interfaceoptimierung möglichst alle menschlichen Sinnesorgane anzusprechen trachtet.1 Im Virtuellen ist alles neu, alles anders. Da die ›Erfahrungswelten‹ der Virtuellen Realität dank optimalen Sinnesanschlusses sinnlich überzeugen, gelten sie als real – ohne freilich ›wirklich‹ sein zu müssen. Wenn durch Interfaceoptimierung des Zentralnervensystems sogar Gerüche digital vermittelt werden sollen (vgl. Brand 1990, 56), haben die Sinne eine Gleichschaltung an die Digitalvermittlung zu leisten: Sowenig den Augen hinsichtlich des realiter ›Nichtwahrnehmbaren‹ zu trauen ist, bezüglich der ›Erscheinungen‹ des Digitals ist den Augen und zusehends auch den Ohren und den anderen Sinnesorganen absolut zu trauen, da es die Interfaces immer besser verstehen, den Menschen als ›Gesamtkunstwerk‹ anzusprechen. Die digital vermittelte Wahrnehmung überzeugt und verführt die sieben Sinne. Das Digital ist eine Informationskultur, der einerseits die Realwelt einverleibt wird, das andererseits im Virtuellen weiterentwickelt werden kann. Mit der Digitalisierung wird alles zur Modelliermasse, zu Plastellin – jede beliebige Mitteilung, jedes Geräusch und jedes Bild läßt sich im Medium des Computers zu allem möglichen umwandeln. Nicht nur werden Töne visualisiert und Bilder hörbar gemacht, alle bislang gültigen Maße sind gesprengt. Millionen an 1 Zwar präsentiert sich der ›Cyberspace‹ – der Begriff ›Cyber‹ entstammt dem griechischen Wort für Navigationskunst (Kybernetike) – (noch) als luxuriöser ›letzter Schrei‹, doch zeichnet sich ab, daß ihm eine die Wahrnehmung revolutionierende Zukunft beschieden sein wird: Er erlaubt dem Nutzer, nicht nur wahrzunehmen, sondern sprichwörtlich im Bilde zu sein, also unmittelbar in die dreidimensionale Simulation, in ›Digitalbilder‹ einzutauchen. Simulationen von allem, mathematische Formeln, genetische und molekulare Strukturen werden ›greifbar‹, noch ungebaute Gebäude begehbar und ›Reisen‹ in rechnerisch erstellte Geschichtsepochen möglich. Der Vorteil der Virtuellen Realität liegt in der Unmittelbarkeit der Vermittlung. Auf Körperbewegungen und Blickrichtungen des Cybernauten wird in Echtzeit reagiert, wodurch der unzweifelhafte Eindruck entsteht, das Wahrgenommene sei wahr, sei real. In der Virtuellen Realtität ist alles live. – Angesichts der Tatsache, daß die physische Welt räumliche Anwesenheit bedeutet, die Virtuelle Welt dagegen die zeitliche Nähe mit Raumkoordinaten gleichschließt, kann bereits das Telefon als eine der ersten Erfahrungen des Cyberspace gelten. Es sprengt bereits die Kategorie Anwesend / Nichtanwesend durch Universalgegenwart im Medium selbst.
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Farbschattierungen lassen sich einem Orginal beimischen, und per Knopfduck lassen sich alle Darstellungen verfremden, verändern und verfälschen: Das Digital ist der Verantwortung nach Authentizität enthoben. Nicht einmal die Naturgesetze sind im Virtuellen verbindlich, da das Digital die Option des ›alles ist möglich‹ verwirklicht. Selbst die Schwerkraft ist durch entsprechende Sinnesmanipulation in veränderter Form erlebbar. Die Virtuelle Realität und mit ihr das Digital kommt damit der Entdeckung eines neuen Kontinents gleich, in dem die Evolution neu geprobt werden kann und neue Welten entworfen werden können. Nach der Eroberung des neuen Territoriums steht eine ›Kolonialisierung der virtuellen Welten‹ an (vgl. Schröder 1991, 127) – je ›abenteuerlicher‹ die Erscheinungen, desto verkaufsträchtiger die Programme. Hans Moravec zufolge übertrifft das Digital die Vielfalt allen irdischen Lebens um ein Vielfaches: »Wir bewundern die Vielgestaltigkeit des Lebens in der irdischen Biosphäre mit ihren Tieren und Pflanzen, wo es in jeder Ritze und Spalte chemisch aktive Bakterien gibt, aber die Vielgestaltigkeit und Abstufung der postbiologischen Welt wird astronomisch größer sein« (1996, 107). Wenn die digitale Wüste erst zu leben beginnt, war wahrscheinlich ›Kolumbus der letzte Mensch gewesen, der so viel brauchbares und herrenloses Terrain vor Augen hatte‹ (vgl. Barlow, 1991, 257). Die Kolonialisierung der virtuellen Welten aber erzeugt nicht nur schöne, neue Erlebniswelten, mit ihr ist auch eine Kolonisation des Menschen selbst verbunden: Die Realitäten, die sich über Bildschirme verbreiten und ›leibhaftig‹ erlebt werden, halten als künstliche Realität Einzug ins Bewußtsein. Im Digital ist dann die ›reale‹ Realität – um im Windows-Jargon zu sprechen – »nur ein Fenster mehr« – und, wie Sherry Turkle anmerkt, womöglich »nicht mein bestes Fenster« (1996, 126). Darüberhinaus wird der Körper durch die Interfaces – und sei es nur durch Bildschirme – elektronisch sensualisiert, wodurch ›die Beschränkungen unseres Heimatkörpers überschritten‹ werden (vgl. Moravec 1996, 111). Je intensiver die Apparate dem Körper auf den Leib rücken, desto mehr verwirklicht sich deren ›Wirklichkeit‹ in ihm. Hatte die Kulturkritik das Fernsehen als ›Bewußtseinsindustrie‹ entlarvt, die Wirklichkeitsindustrie des Digitals überbietet das Bewußtsein durch die Tatsache, daß es nun um reine Wahrnehmung geht. Nicht das ›datenverarbeitende Denken‹ wird angesprochen,
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sondern, weit mehr als beim Fernsehen, die Sinne selbst. Multimedia ist Video ultra. Was wahrgenommen wird, muß nicht erst entziffert werden, sondern ist als solches bereits genußfertig. Die Frage nach Wahrheit wird damit irrelevant. Wesentlich ist die Frage nach dem optimalen Interface.
2. Der Homo Copy Noch freilich gleicht der digitale Kontinent einem frühevolutionären Tümpel. Die Virtuelle Realität ist wackelig und steril, der Aufwand mit Datenhelm und -handschuh kompliziert, teuer und frißt jede Menge Speicherplatz, und das Internet plagt chronischer Datenstau. Zwar mag die authentische Rundumsimulation der Stubenfliege bereits geglückt sein, die Simulationen des Menschen aber flimmern erst in Stummfilmqualität, und der umfassende Direktanschluß zwischen Mensch und Apparat ist nach wie vor Zukunftsmusik. Nicholas Negroponte hält den heutigen Standard der Technik für allzu mensch-inkompatibel. Er bedauert, daß sich ›der Computer ständig in einem fremden Land – dem unsrigen – befindet‹ (vgl. 1995, 179). Er besitze ›weniger Persönlichkeit als eine Barbiepuppe‹ (vgl. ebd. 264) und während ein Hund den Menschen am Gang erkennt, weiß ein Computer noch nicht einmal, daß es ›Herrchen‹ gibt (vgl. 114). Zeit also, den Apparaten Hören und Sehen beizubringen. Die Subjektwerdung der Apparate scheint zwingend zu sein. Sie sollen zu geselligen intellektuellen Partnern des Menschen werden. Wenn Negroponte bislang ›kein Expertensystem gefunden hat, das vorgibt, ein Experte in Bezug auf seinen Benutzer zu sein‹ (vgl. in: Brand 1990, 61), so ist verständlich, daß er einen Prototypen entwickeln ließ: einen elektronischen Freund. Er sitzt wie eine Spinne im digitalen Netz und wertet die (Welt)-Informationen besitzergerecht aus. Er lernt den Benutzer im Laufe der Zeit kennen und berücksichtigt auf seiner Informationsjagd dessen persönliche Wünsche und Leidenschaften. In der persönlichen Zeitung1 macht die 1 Das Programm ›NewsPeek‹ ist Experte, ist »eine selektive, halbautomatische elektronische Zeitung, die von ihrem Leser zu Hause publiziert wird und die ihren Leser wiedererkennt. Sein Material besorgt sich NewsPeek bei Agenturen, Datendiensten und Computernetzen wie Dow Jones ... und aus Fernsehnachrichten«
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Absage eines Freundes die Schlagzeile, der elektronische Freund organisiert meinen Terminkalender, er ortet Sonderangebote, programmiert meinen Videorecorder nach meinem Geschmack und ›wenn sich ihr Flug am frühen Morgen verspätet, dann wird ihr Wecker etwas später klingeln und der Taxidienst unterrichtet, und zwar in Absprache mit der Verkehrsvorhersage‹ (vgl. Negroponte 1995, 258). Selbstständig selektiert das digitale Trüffelschwein Informationen und erleichtert dem gestreßten Erdenbürger das Handeln im Datendickicht. Die Informationsmedien setzen einerseits auf die apparatische Reduktion der Informationsfluten, gehen aber andererseits vom Informationsdefizit des Menschen aus: Das ›erzähl mir mehr darüber‹ als wichtiger Bestandteil von Multimedia (vgl. Negroponte 1995, 89f) setzt auf den nicht enden wollenden Heißhunger nach selektierten Informationen. ›Erzähl mir mehr darüber‹ aber ist nicht nur eine Option des Nutzers: zunächst haben die Apparate zu fragen, wer der Nutzer denn überhaupt ist. Sie müssen ihn kennenlernen, wollen sie nutzerfreundlich sein. Da ›ein Interface-Assistent ohne gesunden Menschenverstand seinem Benutzer nur auf die Nerven gehen würde‹ (vgl. ebd. 195), sollte er meine Hobbies kennen, er sollte wissen, wann meine Tante Geburtstag hat, er sollte über meine Vorlieben Bescheid wissen, sollte unliebsame Besucher an der ›digitalen Türe‹ abblitzen lassen können, er sollte meinen Psychosen beistehen und ›auch mal auf einen Witz lachen können‹ (vgl. Brand 1990, 239). Der individuelle Menschenverstand also muß der InteraktionsZofe nahegebracht werden. Um die Ego-Vermittlung nicht als therapieartige Dauerbeschäftigung pflegen zu müssen, wäre seitens der Apparate ein gewisses Grundwissen in Allgemeinmenschlichkeit wünschenswert. Noch ehe die ›Individualisierung der Rechner‹ voll(vgl. Brand 1990, 60). »Die ... wichtigste Rubrik auf der ersten Seite von NewsPeek aber lautet ›Mail‹ (‹Post‹) ... die persönliche Mailbox des Benutzers ... (für) Meldungen, die nur für mich bestimmt sind« (ebd. 61). Unabhängig von der täglich für mich in einem Exemplar gedruckten Zeitung werde ich über den Computer auch weitere Artikel zu einem angesprochenen Thema ordern können. Negroponte merkt an: »Wenn der Fußboden im Schneideraum des Filmemachers, die Notizen des Reporters, die herausgeschnittenen Passagen aus einem Musikstück, die Rohund Langfassungen eines Artikels einem interessierten Publikum erst einmal zugänglich werden, dann lassen sich mit Sicherheit auch die verkaufen« (69f).
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zogen werden kann, ist folglich eine Art menschlicher Gesamtnenner in Software zu betten: Die Apparate sind mit menschlichen Daten zu füttern. Alles nur erdenkliche Wissen über Mensch und Welt im Allgemeinen und über das Individuelle im Besonderen ist zu virtualisieren – und wird virtualisiert. Die optimale Übereinkunft zwischen ›System Mensch‹ und Apparatsystem ist umso wichtiger, als ja auch die Virtuelle Realität ›bewohnbar‹ werden soll. Die Apparate sind auf die Erkenntnisse der Neurophysiologie, der Verhaltensforschung, der Ökologie, der Erziehungswissenschaft, der Genforschung etc. angewiesen. In der Tat entwickeln sich die Forschungen um das sinnlich Erfahrbare und die Technologien, die mit der menschlichen Reproduktion zu tun haben, rasant. Die Stoffwechselfachleute richten ihr ganzes Augenmerk auf das Unsichtbare des Datenverarbeitungswesens Mensch. Der Mensch wird datiert, genetisch decodiert, Gehirnströme werden gemessen, kurz: er ist ›angezapft‹ und geht analysiert ein ins Digital. Die Apparate werden zu psychologisierenden Verdauungsorganen, denen der Mensch die Summe aller Daten ist, die über ihn erfaßt wurden. Der Transfer des Bewußtseins in den Computer war bereits die Vision Marshall McLuhans: »Mit dem Aufkommen der Elektrotechnik schuf der Mensch ein naturgetreues Modell seines eigenen Zentralnervensystems, das er erweiterte und nach außen verlegte« (1968, 52). Die Simulation seiner selbst, des Allgemeinen wie Individuellen, codiert ihn zu Dateien des virtuellen Hyperkortex. Dort, im global brain ist er ›abrufbar‹ und kann sich als Gattung betrachten. Gleich einem Spiegel seiner Genese kann er ›mit sich selbst‹ interagieren. Derart selbstreflexiv, wurde ›Aufklärung zur Durchleuchtungsoffensive‹ (vgl. Sloterdijk 1989, 217), zur aggressiven Lichtmetaphysik (vgl. ebd.). In der Black Box der Apparate ist der simulierte Mensch eine abstrakte Reinkarnation seiner selbst, ein abstraktes Double. Wie das Double sprichwörtlich laufen lernt, beobachtete Brand: »George« ist »ein Bündel von Computerwissen (der unterschiedlichsten Wissensarten eigentlich) darüber, wie Menschen sich bewegen. Sein Oberschenkelknochen weiß, daß er mit dem Hüftknochen verbunden ist, und er weiß, welche Bewegungen am Gelenk möglich sind. Seine Beine wissen etwas über ›Standbein‹ und ›Spielbein‹ beim Gehen und wie man sich einem unebenen Terrain anpaßt« (Brand 1990, 145). »Sie können mir nicht erklären, wie es kommt, daß sie gehen können, denn Sie wissen es nicht. All das wird automatisch
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gehandhabt« (Zeltzer in: Brand ebd. 148).1 Jede potentielle Muskelanspannung soll sich nun auch im Digital entwickeln. Die ›Wiederholung‹ der Schöpfung im Computer macht Simulationen flexibel handhabbar und mutationsfreudig, und ermöglicht wissenschaftliche Rückschlüsse auf den Menschen ›da draußen‹. Das Nervensystem an den Computer anzuschließen, beziehungsweise in den Computer zu ›überspielen‹ ist eine der Herausforderungen der Gegenwart. Im Zentrum der Reflexion, so Kamper, stehe nicht mehr das ›vernuftbegabte Tier‹, sondern eine ›selbstreflexive Maschine‹. »Anstelle der Grenze zum Tier scheint neuerdings der Übergang zur Maschine das hauptsächliche Problem geworden zu sein« (vgl. 1990b, 142). Die Computer-Mensch-Schnittstellen überbieten die Naturbedingungen und füllen die Lebenswelt in Echtzeit mit Lebens- und Individualitätsimitaten. Noch leistet der ›Wilde‹ zwar weit mehr als alle Computer zusammengenommen, aber »seit uns die Neurophysiologie belehrt, daß unsere Wahrnehmungen in der Größenordnung der Atomkernteilchen vor sich gehen, siedeln wir immer häufiger dorthin über« (Flusser 1990b, 43). Das heißt nicht nur, daß der Mensch als Analyse Eingang ins Digital findet und sich dort als Durchschnitt seiner selbst begutachten kann, das menschliche Summa Summarum wird im Virtuellen auch eine ganze Reihe individualkompatibler ›Digitalkumpel‹ entstehen lassen. Die allgemeinmenschliche wie individuelle Informationen aufsaugenden, informationstechnologischen Egel erstellen eine Matrix, deren Profile persönlichkeitstauglich und maßgeschneidert auf den Einzelnen passen – Interaktionspartner sollen industrialisierbar werden. Als ›künstliche Virtualitäten‹ werden sie vorgeben können, ›echt‹ zu sein. Die ersten Simulationen von Filmgrößen und Persönlichkeiten der Zeitgeschichte mögen noch klapprig und plump daherkommen, real und nichtreal beziehungsweise ex-real und ex-nichtreal aber werden immer ununterscheidbarer. Je mehr die Weltgeschichte digitalisiert ist, desto bunter lebt sie in den Datenräumen auf. Informationsgesellschaft bedeutet also nicht nur, daß Menschen informiert werden, sondern zuvörderst die Informierung der Apparate selbst. Die Informationstechnologien sind dahingehend pro1 »›Kann George auch müde werden?‹ soll ein Student gefragt haben. Dazu Zeltzer: ›Noch nicht. Aber er kann humpeln« (vgl. ebd.).
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grammiert, informiert zu werden: Die Prothesen, dank derer der Mensch das Immaterielle erlebt, sind vor allem auf ihn selbst gerichtet .1 Prothesen dienen nicht nur der menschlichen Wahrnehmung, sie sind auch Verlängerungen der Apparate. Die Apparate bedürfen der Prothese Mensch als Input-Lieferant, da erst deren Informierung die rückwirkend individuelle Informationsvermittlung garantiert. Da alles Wissen über den Menschen wünschenswert ist, geht die Entwicklung des Double, des ›Homo Copy‹ Hand in Hand mit der wahrnehmungsstrategischen Apparatverbesserung. Dem ›Funktionalismus des Kognitiven‹ gehorchend werden Mensch und Welt zur ›dynamischen Informationsstruktur‹ (vgl. Rötzer 1995b, 57). Das kognitive System der menschlichen Informationsaufnahme, -verarbeitung und -erzeugung soll ›aus der biologischen Hardware gelöst und als Software beschrieben werden, die auch auf einer anderen Hardware laufen kann‹ (vgl. ebd. 59). Der Mensch selbst soll industrialisierbar werden, er soll – ›beam me up, Scotty‹ – versendet und letztendlich reproduziert werden können. Damit wird der Mensch zur datenschutzfreien Zone, denn erst der ›gläserne Mensch‹ findet in den Apparaten ein optimales Gegenüber – auch auf die Gefahr hin, daß der freundliche Apparat ein Spion ist und persönliche Daten beispielsweise an Werbeagenturen weiterleitet. Da die Marktwirtschaft auch in Zukunft ein entscheidender Dynamo für die Entwicklung der Neuen Medien sein dürfte, werden meine Leidenschaften und Geschmäcker zielgerichtete Werbung geradezu revolutionieren: Sie wird mit zunehmender Körpernähe der Interfaces Konsumwünsche sogar im Nervensystem selbst aktivieren können. Ohnehin längst industrialisiert, entspringen Wünsche und Bedürfnisse längst kaum mehr dem Innersten der Seelen. Auch das Allzu-Menschliche: Individualität und Selbstbe1 »Wir wollen«, so dokumentiert David Zeltzer das Entwicklungsziel am Media Lab, »die Animation gleichermaßen zu einem Medium für die Hochflüge der Phantasie und der Simulation der uns umgebenden Realität machen. Deswegen lernen wir erst einmal gehen, später lernen wir dann, wie wir aus Wachs und Federn Flügel bauen und fliegen können. Irgendwann werden wir dann eine Bibliothek aller [menschlichen] Bewegungen besitzen. ... Wir [die Menschen] haben all das gelernt, als wir uns am Laufstall den Kopf gestoßen haben. Nun müssen wir dieses Wissen in die Maschine hineinkriegen. Animationsforschung heißt: alle Grundlagen noch einmal lernen ... Wir stoßen mit unseren Köpfen an die Laufstallstäbe einer neuen Ebene von Verständnis« (in: Brand 1990, 146).
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stimmung aber sind gegen Programmierung nicht gefeit. Der informationstechnologisch abgeschröpfte, gläserne Mensch wird zum Medium, das befragt werden kann, in welchem Verhältnis seine ›Individualität‹ zu Werbeprodukten und Informations‹paketen‹ stehen möchte. Er kann sich Individualitätsprofile downloaden. Einige menschliche Grundbedürfnisse und Grundeigenschaften sollten genügen, Individualität selbstähnlich zu inszenieren. Tatsächliche Individualität aber, die mehr ist als ein Nenner ihrer selbst, dürfte sich als störende und überflüssige Redundanz erweisen. Der reibungslosen Apparatkommunikation muß sie geradezu einer Psychose gleichkommen. Erst eine Individualität, die auf stimulierende Biorhythmen-Inputs einzugehen vermag, ist digitaltauglich. ›Was Mensch sein heißt‹, so Friedrich Kittler, bestimmten ›keine Attribute, sondern technische Standards. Jede Psychologie oder Anthropologie buchstabiert nur nach, welche Funktionen der allgemeinen Datenverarbeitung jeweils von Maschinen geschaltet sind‹ (vgl. 1993, 61). So scheint »der Mensch die Apparate zu informieren, um sich von ihnen programmieren zu lassen« (vgl. Flusser 1990, 64). Die Zivilisation scheint einen Stand erreicht zu haben, in dem Verhalten nicht individuell ausgelebt wird, sondern Untersuchungen dient, die den Menschen auf das Untersuchungsniveau zwingen. Verhaltensanalyse und -kontrolle dominieren dabei die Handlungen, in denen sich Verhalten auszuleben pflegte. Wenn das Erfaßte in kopierter Form auch ein kopiertes, stereotypes Verhalten nach sich zieht, findet eine Art Verhaltensproduktion statt. Was also meint ›Informationsgesellschaft‹, wen oder was informiert sie, wenn nicht die Apparate? Bald, so Negroponte, »werden alle Gegenstände aktiv digital sein« (1995, 253). Die Nutzer würden mit allen Gegenständen in ein Informierungsverhältnis treten können. Teetassen und Bücher im Haus werden sagen, wo sie sich gerade befinden (vgl. ebd.), dem Morgentoast läßt sich der Börsenschlußwert der Lieblingsaktie einbrennen (vgl. 259), »und wenn der intelligente Wagen der Zukunft gestohlen wird, kann er Sie anrufen und Ihnen genau verraten, wo er sich befindet« (264). In der Welt der intelligenten Dinge1 werden sich neue Wecker die Gebrauchsanwei1 Die werbewirksamen Herausforderungen gehen sogar den Fragen nach, ob die Konsumenten nicht ›mit ihrem Herd in einen ›Dialog‹ treten wollen‹ oder ob sich die ›Kaffeemaschine schon meine Genußtemperatur merken‹ kann. Auch Turn-
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sung selbst aus den Netzen laden und, mit dem digitalen Freund kommunizierend, eine ›vernünftige‹ Weckordnung vorschlagen. Und: »Sie werden erleben, daß Ihr linker Manschettenknopf mit dem rechten über Satellit kommuniziert« (Negroponte in: Brand 1990, 23). Was immer Manschettenknöpfe sich zu sagen haben mögen, es zeichnet ab, daß Dinge autonom kommunizieren werden. Es dürfte kaum einen Gegenstand geben, in den nicht ein Chip eingebaut werden kann, um ihn ›intelligent‹ zu machen. Die privaten Haushalte sind längst High-Tech-Parks. In jedem besseren Staubsauger oder Bügeleisen sitzen bereits elektronische Freunde – freilich mit niedrig-Intelligenz. Die ›klugen‹ Waschmaschinen, Videorekorder, Anrufbeantworter, Spielzeuge, Heizungsanlagen, Sicherheitstechniken etc. werden im Intelligenten Haus miteinander vernetzt und ergeben ein ›Haus der Kommunikation‹. Der vernetzte Hausrat regelt die hausinterne Interaktion und führt den Haushalt. Allein Küchen werden mehr und mehr technische Hochsicherheitszonen. Nachdem den Apparaten also ›viel erzählt‹ worden war, scheinen sie das Kommunikationsmonopol, die Informierungs- und die Handlungskompetenz übernehmen zu können.1 Angesichts der apparatischen Perfektion tut sich freilich der Verdacht auf, der Hausbewohner würde durch Individualität und Sonderwünsche die Reibungslosigkeit der häuslichen Kommunikation durchaus behindern. Er befände sich dann seinerseits in einem ›fremden Land‹. »Ja selbstverständlich, er stört«, so Flusser auf die Frage, ob die Tendenz des intelligenten Gebäudes dahin gehe, daß es den schuhe leisten Kommunikation längst jenseits des menschlichen Urteils- und Erfahrungsvermögens. Sie informieren den Konsumenten in hochgerüsteter Form rechtzeitig über ihren Grad der Verbrauchtheit, indem ein eingebauter Schrittzähler die Anzahl der Bodenberührungen mit der durchschnittlichen Schrittlänge zur Kilometeranzeige multipliziert. Sobald der Schuh nach Meinung der Hersteller ausgelaufen ist, leuchtet am Schuh ein Lämpchen auf. – Noch klüger freilich wäre es, nicht den Konsumenten zu informieren, sondern den Hersteller selbst: die Bestellung neuer Schuhe könnte automatisch – und bei Kindern eine halbe Nummer größer und mit dem neuesten Logo versehen – erfolgen. 1 Ob das ›intelligente Haus‹ freilich noch auf die Bitte ›erzähl mir mehr darüber‹ des Bewohners einzugehen bereit sein wird, wird abhängig sein vom Speicherplatz – früher Zeit genannt. Doch: Sollten sich – umgekehrt – die ›Dinge mal langweilen‹, kann man ihnen aus dem menschlichen Leben erzählen und den Hausfrieden stärken. – Da die vernetzten Dinge aber reichlich mit Faktenwissen aufwarten, wird es schwer sein, sie nicht zu langweilen.
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Nutzer vor die Tür setze (vgl. 1996, 127).1 – Versehen mit einem ›elektronischen Halsband‹ freilich dürfte er kaum verloren gehen.
3. Der utopische Urknall Längst führt der Zeitgenosse ein Doppelleben. Er bewegt sich einerseits in körperlicher und kultureller Weltlichkeit und andererseits in der kommunikativen Sphäre der Neuen Medien. Doch bereits die herkömmlichen Medien »arbeiten ... mit an einer ›zweiten Natur‹ des Menschen, welche die erste mit all ihren Nöten hat vergessen lassen« (Kamper 1991, 96). Die sogenannte Realität wird durch die mediale Verdoppelung zum Ausnahmezustand. Was die Wahrnehmung realiter sieht, sieht sie aber erst im Computer einschließlich dem Abwesenden und Immateriellen, das sie nie sehen konnte. Realweltliche Wahrnehmung wird insofern inkompetent, als erst der Netzanschluß die grenzüberschreitende Durchdringung wahrnehmen läßt. Das Digital schiebt sich als Bedingung der Weltwahrnehmung in den Horizont des Wahrnehmenden: »Im Diskurs über den Computer«, so Weibel, »in der Klage über den Verlust des Denkens und des Menschlichen wird eigentlich ein Diskurs über die Realität geführt, nämlich über den Verlust eines historischen Territoriums« (1989, 107). Die Absage Weibels an die altvertraute Welt ist so konsequent wie radikal: »Technik befreit von der Tyrannei des hic et nunc, vom Terror der Natur« (1991, 226). Hat die Natur die Menschheit über Jahrtausende hinweg mit Irdischem, mit Unbegreifbarkeit und Stechmücken geplagt, so ist nun Schluß damit. Im Virtuellen ist alles sauber, kalkuliert und körperlos. Das Hier und Jetzt ist ein Überall und Nirgends. Doch nicht nur die Natur, auch das – natürliche – Menschengehirn scheint nicht mehr auf der Höhe der Zeit zu sein, denn den Rechenkapazitäten der Apparate unterliegt es bei weitem. Der Mensch scheint als Träger der Informationen nicht mehr auszurei1 Der Ausweg Flussers ist: »Wenn ein Gebäude beginnt, rundum intelligent zu sein, muß man anfangen, Sand im Getriebe zu sein, man muß die Gebäude wieder blöder machen. Ganz, ganz reiche Leute können sich dann ein völlig unintelligenes Gebäude leisten, in dem man selber kocht, das eigene Holz hackt und kein Telefon hat« (1996, 128).
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chen, sein Gehirn hat gewissermaßen Rost angesetzt, denn es entwickelt sich offensichtlich nicht weiter. Den Apparaten zu entsprechen, müßte man das Gehirn künstlich pushen. Da aber Bit-Infusionen an der Verarbeitungsweise der Synapsen scheitern, ist die Entwicklung biotechnischer brainchips naheliegend. In diesen Interfaces haben die Bit-Informationen Einfluß auf die meatware, ›als ob sie unsere genetischen Mängel kompensieren würden‹ (vgl. Stelarc 1995, 73). Gerne würde man den Computer direkt ins Gehirn verpflanzen – es scheint »Gehirnchirurgie ... eine geringfügige Unannehmlichkeit zu sein, wenn man dadurch die Fähigkeit gewinnen würde, sich an alles zu erinnern« (Barlow 1991, 262). Ist die totale Erinnerung das nächste Ziel der Evolution? Wenn die Informationsgesamtheit unmittelbar dem Nervensystem zugänglich wäre, würde der Mensch geradezu identisch mit der virtuellen Welt werden.1 Den Apparaten ist die ›totale Erinnerung‹ als Voraussetzung ihrer Kompetenz in die Wiege gelegt. Doch nicht genug, Cyberspacestrategen erwarten die Entwicklung von Intelligenz auch in den Mikrochips selbst: »Wenn die Komplexität des zugrundeliegenden Substrats [der Software] hoch genug ist, sehe ich keinen Grund, warum Bewußtsein nicht auch in Silizium, anstatt nur in Kohlenstoff, einziehen wird« (Schröder 1991, 133). Auch am Media Lab wartet man gespannt, ›was passiert, wenn man es schafft, Computerprozesse auf sich selbst reagieren zu lassen‹ (vgl. Brand 1990, 244). Es wird davon ausgegangen, daß die Maschinen im Umgang mit ihrer eigenen Komplexität so gut werden, daß sie beginnen, sich mit ihrer eigenen Komplexität zu befassen. »Dabei werden Maschinen entstehen, die sich weiterentwickeln« (ebd.). Das Gehirn also scheint sich nicht länger nur im menschlichen Kopf aufhalten zu müssen. Da weder menschliche Vernunft noch Intelligenz auszureichen scheinen, beispielsweise die ökologischen Probleme der Erde zu lösen, wären ›künstliche Intelligenzen‹ geradezu zwingend. Sie sollten äußerst kompetent sein, da ihnen alle irdischen Informationen echtzeitflexibel zur Verfügung stehen.2 1 Der Wunsch nach ›Allwissenheit‹ aber widerspricht der menschlichen Konstitution grundsätzlich. Sie zeichnet sich gerade dadurch aus, aus dem komplexen Allwissen selektieren und auch Vergessen zu können. Würde man sich an alles erinnern, wäre man Autist und könnte in der Informationstotalität kaum mehr Relevanzen setzen. 2 Negroponte sieht bereits die ›digitale Weltharmonie‹ (vgl. 1995, 279). Der ›ewige
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Wer also glaubt, es gäbe keine Utopien mehr, darf sich getäuscht sehen. Die Telematie als Utopie rein technischer Art geht davon aus, daß »die Technik erschafft beziehungsweise nur vollendet, was die Natur nicht zustande beziehungsweise nicht zu Ende bringen kann« (Weibel 1991, 224). »Durch die Leistungen der Maschine«, so Weibel mit W. Sombart, »werden die Leistungen des Menschen über das natürliche Ausmaß seiner Organe hinausgehoben« (1989, 95f). Weibel bestreitet, daß im neuen Territorium »das menschliche Gesicht im Ozean der Telekommunikation verschwinden wird. Gerade im Gegenteil, das menschliche Gesicht wird erst dann sein eigentliches Profil erreichen. Es wäre nämlich wirklich absurd ... anzunehmen, daß wir mit den historisch erreichten Grenzen des Territoriums bereits wüßten, was ein Territorium, ein menschliches Territorium sein kann« (ebd. 107). Erst der Digitalanschluß scheint ›die Menschwerdung zu beschleunigen‹ (vgl. Lévy 1997, 12). Weibel geht – erneut mit Sombart – so weit zu sagen, »in qualitativer und vor allem in quantitativer Hinsicht steigert die Maschine das menschliche Können über das individuell erreichbare Maximum von Vollkommenheit hinaus« (1989, 96). Der Mensch sei eine Art ›Prothesengott‹ geworden und »ferne Zeiten werden ... die Gottähnlichkeit noch weiter steigern« (vgl. ders. mit S. Freud ebd. 97). Allzu göttlich sind die Attribute, die dem Neuen zugeschrieben werden. Gott scheint gepfuscht zu haben. Er scheint vergessen zu haben, dem Menschen einen Computer auf die Schultern zu setzen. Glaubte man bislang den Menschen als Gipfel der Evolution, nun herrscht der Glaube an die Wunder der Technogenese. Angesichts der Verlautbarungen um Allwissenheit, Allgegenwart und Echtzeit – halleluja! – wird suggeriert, die Menschheit sei zurück bis zu Adam und Eva taub, stumm und dumm und ohne Verkabelung lebensunfähig gewesen. Die ›Cyberspacianer‹, so Rötzer, ›glauben sich an der Spitze des Zeitgeistes zu befinden und, wie einst die Kommunisten, die Macht der Geschichte hinter sich zu haben‹ (vgl. 1996, 77). Der Mythos eines in naher Zukunft einzulösenden informatorischen und Friede‹ scheint unmittelbar bevorzustehen, denn, das ›intelligente und hilfreiche‹ Internet ansprechend, empfiehlt er: »Die dreißig Millionen Mitglieder des amerikanischen Rentnerverbandes ... stellen eine kollektive Erfahrungsquelle dar, die bislang noch nicht angezapft worden ist. Würde man diese enorme Quelle an Erfahrung und Weisheit den jungen Menschen zugänglich machen, dann wäre der Generationskonflikt mit wenigen Tastaturbefehlen gelöst« (vgl. ebd. 247).
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kommunikativen Heils wird zur Utopie neofuturistischer Allmachtsphantasien. So perfekt die Prothesen auch sein mögen, die ›Künstlichen Intelligenzen‹ des Digitals liegen weit hinter dem menschlich komplexen Denkvermögen zurück. Denken ist im Digital Datenverarbeitung und Entscheidungen erfolgen durch kybernetisches Rechnen. Die Algebra verwandelt die Komplexität von Mensch, Welt, Kultur, Wissen und Natur in das kalkulierbare Maß der Abzählbarkeit. Mensch, Welt, Kultur, Wissen und Natur werden zu abstrakten Durchschnittswerten ihrer selbst. Was lebensweltlich zu komplex ist und die Speicher- und Datenverarbeitungskapazitäten übersteigt, wird nicht Eingang in die Digitalrealität finden. Es wird ignoriert werden und der menschlichen Kopie nicht als Parameter zur Verfügung stehen. Weibel freilich bringt diese Situation wiederum auf einen anschaulichen Nenner: »Wenn die Landschaft immer grauer wird, muß sich in der Natur der Schmetterling, um zu überleben, anpassen, indem er grau wird« (1989b, 74). Da Buntheit, Widersprüchlichkeit, Individualität und Metaphysisches, kurz: Komplexes nur schwer einholbar ist, ist es einerseits auch nicht vermittelbar und wird zum Digitaltabu, andererseits wird die Buntheit mittels der vorhandenen Informationen als Komplexitätsersatz simuliert.1 Trotz multimedialer Sinneserweiterung also ist das Digital keineswegs human-, denk-, und komplexitätskompatibel. Auch mit Prothesenanschluß wird das natürliche Ausmaß der Körper nicht automatisch digitalidentisch, sondern bleibt überaus körpergebunden. Auch weder Beinprothesen noch Kontaktlinsen noch Hörgeräte werden zum Körper. Sie sind Ersatzteile, Hilfsmittel und Werkzeuge und werden durchaus als Behinderung empfunden. Ein Interface zeichnet sich gerade dadurch aus, zwischen unterschiedlichen Seins1 Wenn Marilyn Monroe derzeit erste virtuelle Gehversuche im Viruellen macht und dabei aussieht, als hätte sie einen Besenstil im Kreuz, mag man sich beruhigen, denn ›sie wird schon noch werden‹. Man kennt ihre Grundwerte, man weiß, wie sie sprach und wird ihr ihre Mythen im Virtuellen schon noch zuflüstern. Authentisch aber wird sie kaum wiederherstellbar sein, da gewisse IQ-Messungen nicht mehr erstellt werden können. Doch kommt es dem Virtuellen weniger auf naturgetreue Simulationen an. Das ob oder nicht der Naturauthentizität weicht dem hohen Auflösungsgrad der Darstellung: Marilyn wird nicht authentisch werden, als beliebig variierbare Barbiepuppe dafür aber – mit individuell bestimmbarer Oberweite – perfekt werden. Sie wird, gut programmiert, kaum auf die Idee kommen, Selbstmord zu begehen.
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bereichen zu vermitteln, ohne mit der ›anderen Seite‹ identisch werden zu müssen. Selbst wenn die Virtuelle Realität virtuelle Reisen ermöglicht, werden die ›Leistungen des Menschen‹ keineswegs auf technische Weise ›über das natürliche Ausmaß seiner Organe hinausgehoben‹. Die Sinnesorgane werden vielmehr genutzt, um durch einen gewaltigen Schub an Aufmerksamkeit Datenräume erlebbar zu machen. Man kann Bildschirme und das Virtuelle wahrnehmen – wie auch Bücher und Bäume. Selbst eine Beeinflussung des Zentralnervensystems setzt das Nervensystem als autonomes Zielobjekt voraus. ›Vollkommenheit‹ ist folglich nur eine Erweiterung der Wahrnehmung dank Interface-Optimierung. Weibel selbst betont den quantitativen Charakter des ›erreichbaren Maximums‹ (s. o.). Das Apparatische übertrifft die Sinnesqualitäten quantitativ, das Qualitative dagegen leisten weiterhin die Sinnesorgane. Zwar spielen die Multimedien auf der Tastatur der Sinne, das wahre Multimedium aber bleibt der menschliche Sinnesapparat selbst. Ohne gottähnlich und menschlich-komplex zu sein, fordern die Neuen Medien die Sinne dennoch weit intensiver als das Fernsehen. Die Sinnesorgane und mit ihnen das Denken geraten in eine taktile Zwickmühle: Die Digitaltechniken wirken näher an der Netzhaut und dringen tiefer in den Körper ein als die herkömmlichen Medien. Die Interfaces und Bildschirme fesseln unmittelbar. Sie verkürzen die Reaktionszeiten der Informationsaufnahme und erfordern eine Steigerung der Wahrnehmung unter apparatischen Bedingungen. Die raffiniert installierten technischen Sinnesadapter überlisten und verführen die Sinnesorgane im Frontalangriff. Sie fordern sie heraus und zwingen sie auf die ›grauen‹, mathematischen Kausalitäten: »Die auf Vermittlung gebaute künstliche Welt«, so Kamper, »erhebt Anspruch auf eine andere Unendlichkeit« (1996, 356). Sie entspricht nicht der lebensweltlich unendlichen Komplexität, sondern der Unendlichkeit der Datenverarbeitung. In der Synergie haben sich die qualitativ komplexen Sinne auf die quantitativ kaum bearbeitbare Rechen- und Speicherleistung der Apparate einzuspielen. Obwohl das Digital auf Quantitäten setzt und das komplex und qualitativ Menschliche außen vor läßt, hat der heutige Zeitgenosse dem rasant sich ereignenden Wandel umso eifriger zu folgen, als das in den digitalen Reißwolf geladene Wissen nur in seiner Digitalversion optimal wahrnehmbar ist. Information nicht als Wissen, Sinn
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nicht als Weisheitsschub, sondern Daten als Gestaltungsmasse werden zum Testfall der Wahrnehmung. Die virtuell entstehenden möglichen Realitäten sind optimal nur über Bildschirme oder andere Prothesen vermittelbar: Die biologische Evolution wurde postbiologisch von der technologischen Evolution übertroffen. Im Digital wird die bislang natürliche Evolution aufgrund reiner Information in rein analytischer und operabler Form technologisch weitergespielt und ist als solche weit mutationsfreudiger als in der irdischen Realversion. Die Algo-Rhythmik legt sowohl die Wahrnehmungsgrundlagen als auch die Entwicklungsbedingungen fest. Das Summa Summarum des bislang geistig Denkbaren kreiert Hand in Hand mit dem Immateriellen des Nicht-Sichtbaren Wirklichkeiten, die der Betrachter unter digitalen Bedingungen anzunehmen hat, will er die eingescannte und mutierte Welt überhaupt wahrnehmen, ernst nehmen und beurteilen können. Den Neuen Medien ist umso weniger zu entkommen als die intellektuelle ›Gleichschaltung‹ mit der ›anderen Unendlichkeit‹ eine ›andere‹ Wahrnehmung abverlangt als realiter. Da die Apparate nicht ›denken‹, sondern rechnen, ist ihnen die rein menschliche Wahrnehmung unvollkommen. In der Tat also – um im Evolutionsbild Weibels zu bleiben – muß sich der Betrachter, ›wenn die Landschaft immer digitaler wird, um zu überleben, anpassen, indem er selbst digital wird‹. Das virtuell Unendliche konkurriert erfolgreich mit dem Denken und der Komplexität der Lebenswelt, da es der ontologisch anderen: der technologischen Qualität folgt. – Anstatt aber die ohnehin stattfindende informationstechnologische Aufrüstung utopisch zu überhöhen, stünden Visionen einer Schärfung der Sinne an. Um tatsächlich ›zu überleben‹, will das Komplexe noch im Digitalen eingelöst sein. Dem Orginal des Homo Copy ist eine eigentümliche Art der Selbstreflektion nahezulegen: Da auch seine DNS gen- und informationstechnologisch simuliert wird, bedeutet »menschlich zu sein ... nicht mehr, in ein genetisches Gedächtnis eingetaucht zu sein, sondern in einem elektronischen Feld von maschinellen Netzwerken rekonfiguriert zu werden: Im Reich des Bildes« (Stelarc 1995, 81). Das Rückgrad des Denkens nimmt jenseits des Fleisches Gestalt an, womit das menschliche Zentralnervensystem zu einer Art Steißbein der ›anderen Unendlichkeit‹ zu verkümmern droht. Erst im Digital kann sich das Nervensystem, der Änderbarkeit der Algorithmen
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folgend, frei von Naturbedingungen weiterentwickeln und die Realwelt hinter sich lassen. Sei der optimal vernetzte Cyborg, der ›Cybernetic Organism‹ nun ein durch Roboterprothesen geklonter Mensch, eine dem Nervensystem eingeflößte Datensammlung oder eine Verzauberung der Sinne, er bleibt medienblind, solange er die Transformationen nicht selbstwahrnehmend durchschaut. Wenn die technologischen ›Designerdrogen die Synapsen im menschlichen Hauptprozessor stimulieren‹ und die ›innere Bildwechselfrequenz‹ auf Turbo bringen (vgl. Agentur Bilwet 1993, 40), so hat der Betrachter die Beschleunigung der inneren Geschwindigkeit umso intensiver zu transzendieren. Die ›Weltbewegung, die die Ausführung unseres Entwurfs von ihr werden soll‹, analysiert Peter Sloterdijk als ›kinetische Utopie‹ (vgl. 1989, 23). In ihr wird die Kopie zum Vorbild des Orginals. Der Entwurf ziele nicht darauf ab, Geschichte zu machen, sondern Natur (vgl. ebd.). Die digitalen Kopiervorgänge wollen weniger dokumentieren denn die grundlegende Umfunktionierung des Wissens in Ontologie. Eine das menschliche Selbstverständnis kippende Tatsache wird dabei zur grundlegenden Weichenstellung: ›Im Universum ist die Information, nicht das organische Leben wichtig‹ (vgl. Dotzler 1996, 161). Das organische Leben ist nur die Folge der genetischen Informationen. Abstrakte Informationen sind wesentlicher als deren ›fleischliche Inkarnation‹ und weder der Körper als Resultat seiner genetischen Codierung, noch Sinn als schöngeistige Informationsredundanz sind entscheidend. Die Utopie der reinen Informationen, die reine Information als Formel dessen, was sie lebensweltlich ist, verschwistert sich mit dem evolutionären Weltgeist – und hat im Digital das Hausrecht: Gene als Essenz des Menschen, Kultureme als Generalnenner der Kulturen, Gleichungen als Übersetzung der Naturgesetze, Aktome als Handlungsschemata, Phoneme als Grundlage der Linguistik etc. (vgl. Flusser 1991b, 152) sind der Baukasten der virtuellen Schöpfung. Mensch und Lebenswelt sichern dem Digital als eine Art Bypass nur die Informationszufuhr. Problemlos und für das Irdische ungefährlich lassen sich Mutationen im Digital durch Informationsgenetik erstellen, womit die Evolution im Digital fortgeschrittener wird als in der Natur. Der Natur stehen die gentechnischen Innovationen ›auf weitem Felde‹ erst noch bevor. Ebenso sind Kultur, Wissen, Sprache, kurz: die Lebenswelt in digitaler Form wandlungsfreudiger als realiter. Die
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›sozialen Systeme‹ werden durch die Interfaces auf Distanz gehalten. So sehr sich Kommunikation bereits vom lebensweltlichen ›Miteinander Reden‹ emanzipiert hat, so schwindet im Virtuellen auch die Normalität des real life. Stattdessen können die ›reinen‹ Informationen im Digital neu gegeneinander losgelassen werden. – Stelarc behauptet immerhin, »Anzeichen einer fremden Intelligenz können auch von diesem Planeten kommen« (1995, 76). Im Digital also steht die Weiterführung der – technologisierten – Evolution bevor, nicht in natürlichen Biotopen. Anstatt den Verlust der überholten, alten Welt zu bedauern, empfiehlt Weibel, die Veränderung des Realen im Digital ›als neue menschliche Souveränität und Stärke zu empfinden‹ (vgl. 1989, 110). Sie sollte jedoch weder einem Simsalabim des Simulakrum aufsitzen, noch im technologischen Blindflug erfolgen, sondern als hellwache Wahrnehmungsreflektion. Angesichts der Digitalcodierung von Genmasse und Wissen ist paradoxerweise Digitalanschluß nötig, die Souveränität sowohl zum Einsatz zu bringen als auch zu lenken. Einem nur organischen Dasein droht der ›Ausnahmezustand der Sinne‹ (vgl. Reck 1994, 88). Erst digital gedopt ›sieht‹ man richtig. Andernfalls vegetiert der ›herkömmliche Mensch‹ wahrnehmungstaktisch dahin und gleicht einem Tier, das ja nicht einmal fernsehen kann.
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enn sich die Realität denn also heute zur software verdoppelt, so endete sie bislang im Buch. Seit Jahrhunderten werden das Weltgeschehen und das Wissen vorwiegend schriftlich codiert. – Und davor? Vor der Erfindung der Schrift wurden Informationen mündlich an den Nächsten und an nachfolgende Generationen weitergegeben – eine einerseits sehr vergängliche Methode der Übermittlung und Bewahrung von Wissen, ein andererseits aber sehr kommunikativer Akt. Vorschriftlich war Wissen in der lebendigen Gemeinschaft verankert und »wenn ein alter Mensch starb, brannte eine ganze Bibliothek ab« (Lévy 1996, 8). Erst nachdem die Sprache in Schriftzeichen gesetzt wurde, war man vor dem Vergessen gefeit. Die Tontafeln der Sumerer eröffneten das Informationszeitalter und die Schrift wurde zum Heimvorteil gegenüber Artgenossen und anderen Kulturen. Schriftzeichen garantierten Worte, die bleiben, und das mündliche, unmittelbare Miteinander-Reden, die »Vulgärsprache« (Kittler 1993, 153) konnte erstmals in den Hintergrund treten. Verglichen mit der ursprünglichsten Form der Informationsweitergabe durch genetische Vererbung liegt der Vorteil der Schrift darin, selbsterschaffene und kulturelle Informationen speichern und weiterzugeben zu können. Nicht der menschliche Generationssprung ist in der Buchstabenhelix der Moment der Weitergabe, Gedankengut läßt sich vielmehr jederzeit ›einschreiben‹. Schriftlich Fixiertes führte aus der ›Unmündigkeit des genetischen Codes‹ heraus. Es konnte das Denken unsterblich machen. Die Schrift erlaubte, Wissen in Büchern zu sammeln und in Bibliotheken aufzubewahren. Wesentliche kulturelle Fakten und Stationen der Entwicklung des Menschen sind überliefert. Gäbe es keine Bibliotheken, wäre die Menschheit quasi ohne Gedächtnis. Sie hätte nur ihre lebensweltliche Erinnerung und könnte über ihre Herkunft nur mystisch spekulieren: »Die Bibliothek« – Flusser nennt sie ›das übermenschliche Gedächtnis‹, »ist ein himmlischer Ort ... in welchem ewige, unveränderliche Informationen ... nach den Regeln der Logik aufbewahrt werden. Dieser himmlische Speicher
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ist unsere ... Heimat« (vgl. Flusser 1989, 47) – ›Papier ist unsere Heimat, ohne Papier wären wir nicht mehr richtig da‹ (ders. 1992, 86). In den Speicher ›greifend‹, vermag sich der Mensch seines geistigen Erbes zu versichern, sich am Tradierten zu definieren und sich durch Neukombinationen von Fakten in neuem Licht zu sehen. Durch die vor etwa dreitausendfünfhundert Jahren entwickelten schriftlichen Codes erfuhr der Mensch eine radikale Veränderung des Denkens und Handelns. Nach und nach verließ er zugunsten schriftlicher Rationalität und Faktizität den Kosmos der Mythen, wodurch geschichtliches Zeitbewußtsein erst entstehen konnte: »Erst mit dem Aufschreiben ist das historische Bewußtsein auf Touren gekommen« (Flusser 1992, 22), wohingegen sich davor ›alles nur ereignet‹ hat (vgl. ebd. 12).1 Schreiben prägte fortan das Denken des Abendlandes, und entgegen postmoderner Verlautbarungen bezüglich eines ›Posthistoire‹ haben wir auch heute »das geschichtliche Bewußtsein nicht etwa hinter uns, sondern es ist unser Bewußtsein« (ders. 1990b, 167f). Bibliotheken und Archive, jene ad acta gelegten Tat- und Wissensbestände, sind eine »über denMenschen schwebende ... Transzendenz« (ders. 1989, 46). Diese Transzendenz wird gegenwärtig kräftig geschüttelt. Sie wird umcodiert. Die Buchstaben werden nicht mehr in Druckerschwärze getaucht, sondern in Zahlen. Man ›liefert die Geschichte heute an die Apparate aus und überliefert ihnen‹ – wie vordem den Bibliotheken – ›allen Sinn‹ (vgl. Flusser 1992, 123). Die digitalisierten ›Bücher‹ werden in Dateien verwaltet, sie lassen sich auf neue Weise verbreiten und präsentieren das Sagbare in neuer und anderer Qualität. ›Immer gieriger‹ scheinen die digitalen Gedächtnisse ›die Geschichte in sich aufzusaugen‹ (vgl. ebd.). »Nie zuvor«, so Flusser, »ist der Fortschritt der Geschichte so atemlos gewesen wie seit der Erfindung der ... Apparate ... Immer deutlicher geschieht alles Geschehen mit dem Ziel, ›aufgenommen‹ zu werden.« (ebd.). Flussers Fazit: »Der Apparat ist das Ziel der Geschichte« (1990b, 118). Das 1 »Im 8. oder 7. Jahrhundert vor Christus«, war »die Zeit ... in der überall die Menschen aus dem magischen in ein anderes Denken ausgebrochen sind« (Flusser 1988, 122): »Mit der Erfindung der Schrift entsteht eine neue Bewußtseinsebene, die einen Schritt weiter zurücklegt als die Imagination, eine die Imagination kritisierende, disziplinierende, lineare, aufklärerische Ebene. Darin ist der Keim der ganzen westlichen Kultur enthalten, darin ist der Keim für Wissenschaft und Technik enthalten« (ebd. 125).
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boomende Wissen und die irdisch sich überschlagenden Ereignisse drängen durch das mediale Nadelör, um gespeichert zu werden. Als gäbe es nicht genug des Vermittelbaren, erzeugen die Medien sendefähige Fakten sogar selbst. – Das virtuelle Terrain will schließlich bevölkert sein: mit dem gedoubeltem Homo Copy, seinem Wissen und der bekannten, simulierten und phantastisch erweiterten Welt. Angesichts der neuen Speicher- und Vermittlungsverhältnisse scheint die Schrift weder mehr der Komplexität des ›Sagbaren‹ noch der Mobilität des Wissens gerecht zu werden. Die immensen Mengen der zur Verfügung stehenden Daten sprengen die Buchstabenlogik: Die Lichtgeschwindigkeit markiert nun den medialen Einsatzort der Wissensvermittlung. Sie verwandelt Texte – anklickbar, änderbar und von Icons umgeben – binärcodiert zum Bild. Nicht mehr derjenige ist auf der Höhe der Zeit, der in aller Ruhe zum Buch greift und Worte imaginiert, sondern der, der es versteht, diese Bilder zu ›lesen‹ und handzuhaben. Nicht in Denk-Formen erfolgt die Informierung, sondern in Wahrnehmungs-Formen. Informationen in Bildern und Hypertexten zu orten, raubt selbst der Sprache die Kraft der Worte. Das Geschick, mit Verzeichnissen und links umzugehen und zur rechten Zeit Daten zu aktivieren, steht noch vor den Inhalten, die gesucht und bearbeitet werden. Die Strukturen der Sinnlagerungen dominieren den Sinn und das Verstehen der Strukturen emanzipiert sich von den Inhalten, die sie strukturieren. War das Buch das erste Interface, das von der Umwelt ablenkte, so ist ein Datensurf die Emanzipation von den Buchstaben, vom buchstabierbarem Sinn und vom Anspruch der Aufklärung. Sinn ist der Informationszirkulation des menschlichen ›Reservegedächtnisses‹ nurmehr ein Hintergundrauschen. Nicht Wissen ist gefragt, um ›Tiefgang zu erhalten‹, vielmehr ist die Frage wesentlich, wieviel Gigabyte Aufklärung dazu nötig sind. 1. Ins Labyrinth des fraktalen Wissens Überblick über das gesamte Wissen der Menschheit zu erhalten, ist gänzlich unmöglich. Doch auch die im ›himmlischen Speicher‹ der Bibliotheken gelagerten Informationen zu überblicken, ist alles andere als einfach. Zu groß ist die Menge der angehäuften Informationen. Eine Auswahl zu treffen ist zwingend, denn bereits die Sekun-
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därliteratur nimmt die Sicht auf das Primäre. Bibliotheken platzen aus allen Nähten, und Recherche ist nur die Annäherung an ein Wissen, das quasi nur die Bibliotheken beziehungsweise andere Datenträger ›wissen‹. Bibliotheken sind Irrgärten, in denen man den ›Sinn vor lauter Informationen nicht mehr sieht‹: Wir wissen viel heutzutage, soviel sogar, daß wir gar nicht mehr wissen, was wir alles wissen. Zwischen Wissen, Wissenwollen und Nichtwissen gerät der aufklärerische Impetus in die Irritation und »unser Wissen über unsere Ignoranz wächst schneller als unser naturbeherrschendes Wissen« (Reck 1994, 87). – Selbst das Erzählen von Geschichten ist keine einfache Übung mehr, denn jede Geschichte erstickt an der Wucherung ihrer Varianten. Wenn sich nun aber das Wissen der Menschheit tatsächlich alle fünf Jahre verdoppeln sollte, platzten nicht nur Bibliotheken, sondern auch Festplatten, CD-ROMs und Datennetze aus allen Nähten. So sehr der aufklärerische Auftrag, Wissen zu vermehren und zu verbreiten, den Überblick über das Wissen verlieren ließ, so schwierig ist es heute, zu sagen, was Allgemeinwissen überhaupt sein soll. Allgemeinwissen scheint nur in Kulturen eindeutig definierbar zu sein, in denen Überblick in klar abgesteckten Grenzen von Wahrheit, Weltbild und Wertekosmos herrscht. In Zeiten der Unübersichtlichkeit und Beliebigkeit dagegen lassen sich Informationen kaum an einen Sinn-Status-Quo anbinden. Das Gewitter der medial vermittelten, je aktuellen Informationen behindert die Sicht auf das vormedial noch in der Lebenskultur fest verankerte Wissen. Selbst aktuelle Informationen verlieren ihre ursprüngliche Dimensionalität und Vieldimensionalität. Zwar werden wir »in Kumpane des Globus und des Universums verwandelt«, wie Günther Anders zu Beginn des Fernsehzeitalters feststellte, von ›Einsfühlung‹ aber könne keine Rede sein (vgl. 1985, 119). Vermittelte Informationen geben zwar vor, den Weltenlauf authentisch zu spiegeln, blenden aber aus Gründen der Übertragungs- und Zeitengpässe notwendigerweise andere, an sie gebundene Informationen aus und vermitteln dementsprechend nur einen Teil der zu vermitteln beabsichtigten Informationsdichte. Das Defizit der umfassenden Vermittlung wett zu machen, werden die Übertragungszeiten paradoxerweise nicht dazu genutzt, einen Informationskomplex zu thematisieren, sondern möglichst viele Themen möglichst gleichzeitig. Angesichts der Informationsfülle ist das Allgemeinwissen nur ein
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ideeller Überbau über die labyrinthisch wirkenden Aktualitäten. Das Bekannte – die Geschichte und das Aktuelle – wird täglich bedroht vom Noch-Nicht-Bekannten – dem erst morgen Aktualisierten. Sowohl das Bekannte als auch das erst morgen Neue aber ist umfangreicher als die je aktuelle Informationslage. Das Gestern konkurriert mit dem stets im ›Jetzt‹ aktuell werdenden Morgen um Vergegenwärtigung. Der Griff in die Bibliothek kämpft an gegen den Nährboden der noch nicht eingetretenen Informationen. Das Zukünftige, das Vergessene wie das Unbekannte will sich im Hier und Heute der Aktualität treffen und fordert seitens des Rezipienten eine Offenheit, die alle Zeitlichkeiten umfaßt, aber von Zeitnot geplagt ist. Diese Offenheit wird in einem Maße strapaziert, in dem selbst das Bekannte dem ›Noch-Nicht‹ übereignet zu werden droht. Noch ehe sich das aktuelle Wissen entfaltet und ›setzt‹, wird es von neuen Informationen ›angegriffen‹ und ins Nicht-Wissen – dem NichtMehr-Wissen-Müssen – verbannt: Der Aktualitätsdruck klassifiziert sogar aktuelle Informationen als prähistorisch, um dem Nachschub des Neuen den Weg zu ebnen. Abgeschoben in Bibliotheken und Datenspeicher verschwistert sich das Bekannte mit dem unbekannten Vorrat an Sinnverwirklichung. Wenn dadurch nichts konkret oder wahr ist, hat es das aktuelle Wissens (und Meinen) umso schwieriger, sich in den Kulturhorizont einzufügen. ›Verwirklichtes Kulturvolumen‹ droht die Anbindung an seine Sinndimension und sein Sinnvolumen zu verlieren und zu beliebigem Einerlei zu werden. Geschichte als Labyrinth, Allgemeinwissen als labyrinthische Wissensallgegenwart ohne Allgemeinkonsens, und Aufklärung als labyrinthisches Aufflackern von Wissen und Alltagsgeschehen entziehen sich der Verbindlichkeit. »Die zeitgenössische Revolution ist die der Ungewißheit, der Unschärfe«, so Jean Baudrillard über das Informationsdefizit trotz -überangebot (1992, 51). Wenn sich im medialen Informationsbombardement aus dem ›himmlischen Speicher‹ jeder sein Quäntchen Wahrheit herauspicken kann und muß, drohen, da kaum verbindliche Anleitungen zur Rezeption geboten werden, sowohl Wissen als auch Weltbild beliebig zu werden. Baudrillard hält den ›Zustand metastasenhafter Auswüchse‹ für geradezu krankhaft (vgl. ebd. 38ff).1 Nicht die Erklärbarkeit und Vermit1 Baudrillard weiter: »Wir leben in einer Überflußgesellschaft, wo alles weiterwächst, ohne an seinen eigenen Zielen gemessen werden zu können. Der Auswuchs
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telbarkeit von Wissen sind das Defizit der Informationswahrnehmung, sondern die Tatsache, daß Erklärungen ›metastasenhaft‹ Erklärungen erklären, die Erklärungen erklären, die Erklärungen erklären, dabei aber keine übergeordnete, die Erklärung abrundend erklärende Erklärungen miterklären. »Aus der Gesamtperspektive, von der Seite des Sinns her betrachtet, ist die Welt ziemlich enttäuschend« (Baudrillard ebd. 179). Sie ist metastasenhaft unüberblickbar. Demgegenüber scheine »jede Unterscheidung von Gut und Böse ... strikt nur im winzig kleinen Randbereich unseres rationalen Modells gültig« zu sein (ebd. 120): »Im Detail ... ist sie immer vollkommen einleuchtend« (179), da sie sich als Teil genügt und nicht Anspruch nach Gesamtzusammenhängen erhebt. Da Wissen heute fragmentiert rezipiert wird, da, wie Baudrillard sagt, »die Transzendenz ... in Tausende von Fragmenten zerbrochen« ist (1989, 113), bleibt nur, das Detail als eine Art Mikrosinn zu totalisieren, ohne einen Anspruch nach Allgemeingültigkeit und Sinnüberblick aufrechterhalten zu müssen. Jenseits von wahr oder falsch, von gut oder böse ist das Detail ein dummy der Gesamtperspektive. Jeder muß nach seiner eigenen Fasson im Teilhaften glücklich werden. Die ›Flucht‹ ins Detail freilich ist nicht nur als Kulturkrankheit interpretierbar, sondern auch als Gesundungsprozeß der Rezipienten zu werten: Das Detail, an das man sich klammert, das man hegt und in der Nische des Kleingeistes wie ein Kleinod pflegt, schützt vor den Informationsfluten, die ohnehin mehr verwirren denn klären. Detailversessenheit ist eine Rettung in die Sichtverengung des Individualhorizonts. Sie ist ein Gegengift wider das ›Kulentwickelt sich unkontrollierbar, ohne Rücksicht auf seine eigentliche Bestimmung und seine Auswirkungen ... Das führt zu einer ungeheueren Verstopfung der Systeme ... Verblüffend ist die Fettleibigkeit aller gegenwärtigen Systeme ... der Information-, Kommunikations-, Gedächtnis-, Speicher-, Produktions- und Destruktionseinrichtungen, die dermaßen übervoll sind, daß sie von vornherein zu nichts mehr taugen« (1992, 38ff). So sind die Datenmengen, die beispielsweise Satelliten liefern, so gigantisch, daß sie nur zu einem geringen Prozentsatz genutzt werden können. Ein einziger Satellit funkt täglich so viele Information auf die Erde, wie eine Bibliothek mit ein paar tausend Bänden enthält. Da sie in ihrem ganzen Umfang nicht täglich ausgewertet werden können, bleibt nur, sie zu archivieren, um sich ihnen zu späterer Zeit zu widmen. Die Schwierigkeiten, vorhandene Daten zu nutzen, vergleicht Postman als Gefahr für das ›Immunsystem der Informationssysteme‹: Sie seien gegen die Informationsfülle nicht mehr intakt (vgl. 1992, 72).
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tur-AIDS‹, das Neil Postman als »Anti-Information Defekt Syndrom« buchstabiert (vgl. 1992, 72). Wer sich im Detailhaften wohlfühlt, dem ist die gute alte, so aufgebläht und utopisch entworfene, doch nach der Sinnexplosion implodierte ›Wahrheit ein Vorurteil der Nervenschwachen‹ (vgl. Sloterdijk 1987, 39). Läßt sich seit den Verlautbarungen der Postmoderne ohnehin auch mit nur einer Gehirnhälfte gut leben, so sind Ganzheitlichkeit und Wahrheit umsomehr Kategorien einer am Absolutheitsanspruch gescheiterten Epoche. So feiert heute die wahrnehmungsstrategische Selbstbezüglichkeit, verbunden mit industrialisierten Do-it-yourself-Vorschlägen der Weltbildgenese Karriere. Diesen durch die informatorischen Durchblutungsbeschwerden katalysierten Umschwung der Realitätswahrnehmung und -konstruktion zu analysieren, kursiert ein neuer Begriff auf dem ›Markt der Erkenntnis‹, ein Begriff, den es offensichtlich brauchte, um der heutigen Realität gerecht zu werden: der Begriff der Fraktalität. Er entstammt dem Felde der Mathematik und der Physik und bezieht sich auf die von Benoit Mandelbrot in einen Computer eingegebene mathematische Formel, die eine ›Wolke aus vielen Punkten‹ ergibt: die nach ihm benannte Mandelbrotmenge. Das Ergebnis der Formel immer wieder in die gleiche Formel eingegeben, läßt weitere Mandelbrotmengen entstehen, die Mandelbrotmengen enthalten, die Mandelbrotmengen enthalten – ein Prozeß, der sich unendlich fortsetzen läßt. Die jeweiligen Mengen sind in sich chaotisch verschlungene Strukturen, die der ›Ordnung der Unordnung‹, dem Chaos folgen. Sie gleichen, obwohl sie je neu sind, stets der Ausgangsmenge. Sie sind sich selbstähnlich, selbstidentisch: fraktal. Fraktal ist die ›Falle‹, die zuschnappt, wenn über den eigenen Tellerrand nicht mehr geblickt wird, wenn selbstreferentiell ins Detail gegangen wird, ohne auf das ›Ganze‹, von dem ausgegangen war, zurückzudeuten. Informationen sind fraktal, wenn sie immer noch detaillierter ausfallen, sich nur ›mit sich selbst beschäftigen‹, sich mit sich selbst begnügen und nicht mehr auf den Zusammenhang ›deuten‹, den zu beschreiben sie trachteten. Der fraktale Zustand kann bedrohliche Ausmaße annehmen, denn »Information ist gefährlich, wenn es keinen Platz für sie gibt, wenn keine Theorie da ist, auf die sie sich stützt, kein Muster, in das sie sich fügt, kurz, wenn es keinen übergeordneten Zweck gibt, dem sie dient« (Postman 1992, 72f):
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wenn sie zirkuliert, ohne den Grund ihrer Informierung zu benennen. Derart das ›Mandelbroteinmaleins‹ der Wahrheit durchdekliniert, verwirrt Information und hat keinen Realitätsbezug mehr. Zeit und Muse wären vonnöten, das komplexe Woher und Weshalb der Informationen zu erfahren. Stattdessen laufen die Informationsapparate in immer rasanterem Tempo und nähren in den Rezipienten die paradoxe Hoffnung, der Fraktalität »durch mehr Information und Kommunikation zu entgehen ... wobei wir die Unschärferelation nur verstärken« (Baudrillard 1992, 51). Eine »Flucht nach vorn« nennt Baudrillard diese Bewegung (ebd.), und Sloterdijk kommentiert »was die geschichtliche Bewegung aus dem Ruder laufen läßt, ist die Art der geschichtemachenden Bewegung selbst« (1989, 29): Unter dem Druck der Aktualität scheint sich das Erzeugen von Informationen verselbstständigt zu haben. Die Folge: »Kommunikation und Überinformation bedrohen die gesamten menschlichen Abwehrkräfte ... Der geistige Raum der Urteilskraft ist durch nichts mehr geschützt« (Baudrillard 1992, 86). Die Situation ist allzu paradox: Der Mensch steht in der Unübersichtlichkeit der ihn umgebenden, potentiell zu aktualisierenden Wissenskultur ›frei‹ – man kann in der historischen Bedeutung ›vogelfrei‹ sagen – und hilflos ›wartend‹ vor dem ›totalen Zuviel‹ der Wissensmöglichkeiten, wodurch er gar nicht weiß, wie und wo er sich zuerst informieren und identifizieren soll – aber potentiell mehr weiß, als er weiß. Andererseits aber übersteigt bereits das aktualisierte Wissen sein Fassungsvermögen, wodurch das potentielle NochNicht des Wissens umsomehr Mühe hat, sich zu aktualisieren. Der Rezipient schwimmt hilflos in der Totalität der bereits im Überfluß vorhandenen und nur unterschwellig wirkenden Symbole und Wissensfragmente, wodurch er weniger weiß, als er weiß. Das heißt, einerseits ist ›genug nie genug‹, andererseits aber ›ist das, was ist, schon zuviel‹. In dieser doppelten Informationsohnmacht kann der ›himmlische Ort‹ so wenig wahrgenommen werden wie das bereits Aktualisierte. Das Dilemma wird informationstechnologisch alles andere als entschärft, denn mit der Devise ›zuviel ist nicht genug‹ bewirken die Bibliotheken, Datenspeicher und Wissensmöglichkeiten umsomehr einen Rezeptions-Black-Out. Wurde Geschichte, so fragt Sloterdijk, ›nicht zu einer Sache, die Mühe hat, ihren Rang im Wirklichen zu behaupten‹ (vgl. 1987, 24)? Es sei »nicht ausgemacht, ob wir das historisch Zurückliegende noch
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ohne weiteres als ›eigene Geschichte‹ ansehen können, die uns Vermächtnisse, Bindungen und Zukunftschancen ausgehändigt hätte« (ebd.). Hält Sloterdijk den Menschen ›der belanglos gewordenen Vergangenheit enterbt‹ (vgl. ebd.), so betont Niklas Luhmann, »wir können nur sicher sein, daß wir nicht sicher sein können« (1992, 136). Uns hülfen »auch die ins Transzendente weisenden Kulissen nicht mehr, und erst recht nicht die Poesie, das heißt: das Vertrauen aufs Wort, auf die Sprache, auf fixierbaren Sinn« (ebd.). Die fraktale Rezeption von Wissen und Geschichte scheint in der ›gehirnerschütternden Dialektik von Sprachnot und Zeichenexplosion‹ (vgl. Sloterdijk 1987, 70) jeden Restsinn zu blockieren. Die Dauerinformierung durch Informationstrümmer hält den Automatismus der Fraktalisierung selbstreferentiell in Gang. Dabei sind die Informationen nur das Öl im Getriebe der Aktualitätsschleife. Am ›ewig währenden Tag der Aktualität‹ (vgl. Agentur Bilwet 1993, 137) kann alles gleichermaßen interessant sein, denn Informationen haben ununterscheidbar denselben Informationswert. Da die Bereitschaft, in alles involviert zu werden, groß ist, machen sogar völlig uninteressante Botschaften Karriere. Jedes noch so kleingeistige Fraktal läßt sich zum Absoluten hochstilisieren – selbst Fehldrucke beim Kopieren können als informative Bereicherungen gelten: In der Ideologie der Aktualität ist jede noch nicht bekannte, wie auch immer geartete Information heilig, noch ehe sie sich zeigt. Sloterdijk interpretiert diesen Selbstlauf der Informierung als ›unstillbaren Hunger nach Zukunft‹ (vgl. 1989, 329). ›Die Noch-NichtStruktur mobilisiert das Leben mit unerfüllten Aufträgen‹ (vgl. ebd.). Im Vollzug ihres Bekanntwerdens aber wird die Information bereits mit Desinteresse gestraft. »Alles, was jetzt ist, wird latent vernichtet, indem es an dem gemessen wird, was erst kommen müßte ... das Schon-Eingetretene wird vom Noch-Nicht-Erfüllten getilgt« (ebd.). Ohne den Anspruch zu erfüllen, eine ›Sinngesellschaft‹ zu sein, setzt die Informationsgesellschaft auf Informationstransfusionen. Die Sucht nach Informationen scheint der Zentralantrieb des Zivilisationsprozesses selbst zu sein. Dabei kommen die Neuen Medien wie gerufen. Dennoch ist zweifelhaft, ob sie als einer der wenigen Wirtschaftszweige boomen, weil tatsächlich Informationsbedarf besteht. Sie stehen vielmehr unter Verdacht, den Bedarf umgekehrt erst künstlich anzuheizen und dadurch die Rezeptionsbedingungen ad
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absurdum zu führen. Neil Postman hält die Informierungsstrategien für allzu überholt. Nicholas Negroponte und Bill Gates, die die These des Informationsdefizits massenwirksam verbreiten, sind ihm ›Reaktionäre in dem Sinn, daß sie immer noch an einem Problem des 19. Jahrhunderts arbeiten, das bereits gelöst ist‹. Das Problem sei »längst nicht mehr der Mangel an Informationen, sondern die Überfülle« (vgl. 1996). Die wesentliche Herausforderung für das 21. Jahrhundert sieht Postman in der Frage »wie werden wir die Informationen wieder los, bevor sie uns verrückt machen« (ebd.)? – Ein derartiges Entsorgungsproblem der Informationsgesellschaft aber wirft seinerseits Probleme auf: Mit den verschwindenden Informationen verschwände auch ihr fraktaler Restsinn. Woran also sollte sich das Denken halten, wovon sollte es sich nähren, wenn nicht an wie auch immer geartete Informationen? Was wäre wesentlicher und verbindlicher als deren Sinn?
2. Die Krise der Schrift Früher war freilich alles ganz anders: »Vor der Erfindung des Alphabets war die gesprochene Sprache ... Trägerin der ›Mythen‹, also der Modelle des Erlebens, Erkennens und Verhaltens der Gesellschaft« (Flusser 1992, 62). Einerseits interpretierte das mündlich vermittelte Denken die Welt magisch, andererseits prägten die Mythen sowohl das Denken als auch die Kommunikation. Erst die Schrift entzauberte den rituellen Kosmos, sie emanzipierte das Denken und die Kommunikation von der lebensweltlichen Unmittelbarkeit und überführte den Mythos nach und nach in die Dialektik der Aufklärung. Von magischen Weltbildern befreit, sollten Informationen als Wissen zu Überblick über die weltlichen Vorgänge und über ein ›lebenslanges Lernen‹ zu so etwas wie Weisheit führen. Doch so idealistisch die Vorsätze waren, die kollektiv sich verbreitende Weisheit steht immernoch aus. Obwohl Bücher Wissen und Weisheit präsentieren, konnte sowohl Wissen als auch Weisheit in ihnen ad acta gelegt und gewissermaßen entsorgt werden. Nicht den Glauben oder die Weisheit präferiert die Schrift, sondern den Fakt. Zwar spielen Bücher mit der Imaginationskraft des Lesers, die Schrift aber ist nie mit dem Mythos, den sie erklärt, identisch. Ebensowenig kommt eine Bildbeschreibung dem be-
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schriebenen Bild gleich. Waren vor dem Zeitalter der Schrift Mythen bildhaft wirksam und Bilder mythisch beladen, so verbirgt die Schrift sowohl Bild als auch Mythos zwischen Buchstaben und Zeilen. Waren Bilder und Mythen einst weltbildprägend, so leistet die Schrift ein Be-Schreiben der Bilder und Mythen, ein »›Erklären‹ der Bilder« in der Buchstabenlogik (vgl. Flusser 1990, 12). Die vordem unmittelbar ansichtigen Bilder und unmittelbar wirkenden Weltbilder wurden gewissermaßen in der Schrift versteckt, denn es geht ihr »um ein Übersetzen ... aus Vorstellungen in Begriffe ... aus Kontexten in Texte« (ders. 1992, 18). Schriftlich geprüfte Magie aber raubt sowohl der Magie die Lebenskraft als auch dem Bild die Einbildungskraft. Das Weltbild geriet vom Bild zur Buchstabenaneinanderreihung: »Die erste wesentliche Abstraktion heißt Schrift« (Kamper 1996b, 151). Sie sei eine ›Substitution des anwesenden Gottes‹ gewesen und habe nun »verlangt, den Büchern zu glauben, statt die Körper zu berühren« (vgl. ebd.). Als ein Fraktal des Bildes scheint die Schrift verantwortlich zu sein für das Mißverhältnis der Lebensunmittelbarkeit zu seiner Aufzeichnung. Während Magie und magiebeladene Bilder in unmittelbarer Imagination wirkten, der ›das Ganze des Sinns‹ Bedingung war, ist im Buch ›das Ganze des Sinn‹ über Buchstaben imaginativ erst herzustellen – und gewissermaßen nachzuplappern. Es ist zweierlei, ob man ›im Bilde‹ ist und ›Bildung‹ lebt oder sie sich lesend erst anzueignen hat. Das lineare Erklären bildhafter Vieldeutigkeit ist Flusser denn auch Indiz einer epochenentscheidenden Bruchstelle. Das ›textuelle Denken‹ habe das ›bildliche Denken‹ überholt, wodurch es schwer geworden sei, sich noch ›ein Bild von der Welt‹ zu machen (vgl. 1988, 125). Während Bild und Mythos reich an Imaginationsdichte und geradezu eins mit dem Imaginären waren, führte die beschreibende Schrift zur Versachlichung und Rationalisierung des Denkens und geradewegs zur Fraktalisierung des Sinns. Die Entwicklung der Schrift scheint einen evolutionären Umweg zu markieren. Flusser ortet eine ›Krise des bildlich Vorstellbaren‹. Sie »resultiert aus dem Autonomwerden der Rationalität von der Imagination. Das ist eine der Wurzeln unserer Krise, denn eine erklärte, aber unvorstellbare Welt ist nicht befriedigend ... In dem Moment, in dem die Aussagen der Wissenschaft unvorstellbar werden, also in der Mitte des 19. Jahrhunderts, und in dem die Wissenschaftler von denen
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sagen, die sich unter ihren Aussagen irgend etwas bildlich vorstellen wollen, diese Aussagen nicht verstanden zu haben, also in dem Moment, in dem die Bilder vollkommen wegerklärt sind und die Aufklärung siegt, entsteht eine Krise« (1988, 125). In dem Moment also, in dem die Bilder zu Erklärungen wurden, konnten sie in ihrer ursprünglichen Dimensionalität nicht mehr bildhaft vorstellbar sein. McLuhan bedauert ein ähnliches Mißverhältnis zwischen Schrift und Rationalität: »›Rational‹ bedeutet ... schon lange ›uniform, kontinuierlich, seriell‹. Mit anderen Worten, wir haben Vernunft mit Schriftkundigsein, und Rationalismus mit einer einzelnen Technik verwechselt« (1968, 22).1 Den Prozeß der Entbilderung beschreibt Flusser sehr bildhaft: »Wer Inschriften schreibt, ist ein reißender Tiger: Er zerfetzt Bilder. Inschriften sind zerfetzte, zerrissene Bildkadaver, es sind Bilder, die dem mörderischen Reißzahn des Schreibens zu Opfern wurden ... Der schreibende Reißzahn ... zerreißt unsere Vorstellungen von der Welt ... Darum ist im Grunde jede Schrift entsetzlich« (1992, 17). Die Entbilderung zu beheben, bedürfe es neuer Strategien. Neue Bilder braucht das Land: Computer bieten sich an, die ›wegerklärte Welt‹ wieder bildhaft in Erscheinung treten zu lassen. Im Multimedialen ist der Text nur eine Darstellungsform des Bildes. Neben ›Textbildern‹ sind Bilder, Bildtexte, und beliebigste Mischformen und mediale Verweise möglich – ein ›klick‹ und selbst Begriffe 1 Doch Flusser geht noch weiter, indem er die Schrift buchstäblich beim Wort nimmt. Wenn Texte ›bildlos‹ sind, vermögen auch Begriffe nicht mehr zu sagen, was sie sagen wollen: Es »kollern die Begriffe auseinander ... übrig bleiben dimensionslose Punktelemente, die weder faßbar, noch vorstellbar, noch begreifbar sind« (1990, 13). Begriffe sind weit weniger sichtbar als die Dinge, die sie bezeichnen, Begriffe also haben als Text im Gegensatz zum sprachlichen Gebrauch eine doppelte Hürde zu nehmen, imaginationsreich beladen zu werden. Zwar werden Begriffe immer auch bildhaft imaginiert, sie verließen aber durch ihre zunehmende Abstrahierung die Abbildfunktion zur äußeren Welt und ›beschreiben‹ einen eigenen Kosmos, den des schriftlich Gespeicherten. Zwar ›meinen‹ Begriffe auch nach wie vor klipp und klar, was sie bezeichnen sollen, der lineare Begriffsapparat aber wurde insofern autark, als im Zuge der Aufklärung eine Metawirklichkeit entstand, die jenseits der unmittelbaren Lebenswirklichkeit Relevanzen setzt: »Der Diskurs der Wissenschaft hat ein symbolisches Universum zum Gegenstand, und zwar ein Universum, das aus Symbolen besteht, deren Bedeutungsvektoren nach innen zeigen (statt auf die konkrete Lebenswelt draußen) ... Das Wissen, das uns die Wissenschaft bietet, bezieht sich nicht auf unsere Lebenswelt, sondern auf eben dieses unerlebbare Universum« (Flusser 1990b, 81f).
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erscheinen als Bild, das sich, den Begriff zeigend, bewegt und sogar ›von ihm‹ spricht. Die Worte eines Textes werden zum Spielball einer bildlich operierenden Phantasie, die Begriffe neu kombiniert und hyperbildtextuell neue Verweisungszusammenhänge erstellt. Die Seiten eines Buches werden zum Bilderbogen und die Vormachtstellung des ›Lesens in Zeilen‹ weicht der bildlich vielschichtigen Wahrnehmung. Computerbilder bilden in magischer Deutlichkeit ab, was bislang mühsam erlesen werden mußte. Nach der Sprache und der Schrift scheinen nun Computersprachen die Verantworung des ›Sagbaren‹, Lesbaren und Zeigbaren zu übernehmen. Die Vorstellungskraft scheint unmittelbar in den Bildschirm einzukehren. Angesichts der Bilderkompetenz gerät nicht nur die Schrift, sondern auch die Sprache in eine Legitimationskrise. Die redundante Vieldeutigkeit der Sprache wird übertroffen durch die exakte, gegen unendlich tendierende Verweisungslogik der Digitalbilder. Ohnehin aber, so Flusser, könne man die Welt nicht erzählen, dafür aber zählen (vgl. 1996, 173). Eine Erzählung verhält sich zur Welt wie die Metaphysik zum Kalkül. Erst das kalkulierte Messen und Zählen spiegelt die faktische Welt wieder. Zahlen und Maße nun sind überaus digitaltauglich. Zahlen sind die Grundbausteine des Digitals, sie codieren die ›gezählte‹ Welt zum unmittelbar ansichtigen Bild. Simulationen zeigen unmittelbar das, was bislang nur imaginiert werden konnte. Die Zahl ist die Essenz des technischen Bildes: »In allen Apparaten ... gewinnt das Zahlendenken Oberhand über das lineare, historische Denken« des Schriftlichen (Flusser 1992b, 29). Flusser sieht, »daß, je mehr wir auf dem Weg zur Aufklärung und logischen Erklärungen vordrangen, die Zahlen immer mehr Bedeutung gewonnen haben« (1988, 126). Wissenschaftliche Texte seien seit langem nicht mehr alphabetisch, sondern, den Weg in Richtung digitaler Codes einschlagend, ›alphanumerisch, um immer numerischer und weniger alphabetisch zu werden‹ (vgl. ders. 1992, 122). Nicht Informationen, die sich in schriftlicher oder mündlicher Fraktalimagination verfranzen, also werden die sogenannte Informationsgesellschaft entscheiden, sondern Zahlen, die auf Bildschirmen zu Bildern werden und die Informationen bildlich in Szene setzen. Buchverfilmungen waren erst der bescheidene und umständliche Anfang dieses Prozesses, denn die digitalen Bilder setzen nicht nur Geschichten und Geschichte in Szene, sondern auch das lebensweltliche Enviroment und die Ergebnisse der Geistesarbeit. Virtuell wird
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die Welt zum Bild, und die komplexe Architektur der Rechner erlaubt sogar, bildlich ›um die Ecke zu denken‹. Die Folge ist, daß »nicht nur die Literatur, sondern auch die Algebra, die symbolische Logik, kurz jede alphabetische Notation den Rechencodes Platz machen muß, denn keine solche Notation kann die Informationen übermitteln, die wir benötigen« (Flusser 1991, 236). Wir benötigen Zahlen, weil das Digital nicht anders als in Zahlen operieren kann. Will die bislang schriftlich gespeicherte Geschichte im Digital ›mitmischen‹, ist sie zu digitalisieren. Wenn die »mathematisch zugängliche Wirklichkeit die wahre Wirklichkeit« darstellt (Weibel 1989, 87f) – da erst sie auch das Nichtsichtbare sichtbar macht – ist absehbar, daß der »Kampf zwischen sinnlicher Wahrnehmung und mathematischer Wahrnehmung« (ebd.) zugunsten des Zahlendenkens ausfallen wird. Die gemeinsame Schnittstelle von Apparat und Mensch ist die Mathematik. Sie sprengt noch die Taktik der Schrift, da sie deren Imaginationspotentiale in aller Offen-Sichtlichkeit potenziert.1 Trotz aller vorgehaltener Rationallastigkeit der Schrift aber ist zu fragen, ob sie Bilder tatsächlich ›wegerklärt‹? Wenn ja, dann müssen es Bilder sein, die erklärbar sind. Handelt es sich bei der Schrift um ein ›Zerfasern der Bildflächen zu Zeilen, also um ein Abstrahieren der Höhe aus den Bildflächen, ein Reduzieren der Bilder auf die Eindimensionalität der Zeile‹ (vgl. Flusser 1990, 12), so ist der Vorgang ein Abtasten konkreter Bildflächen durch eine Art Rasterfahndung schriftlicher Rationalität. Doch sind Bilder, Fotografien oder gar Mythen je erklärbar und funktionalisierbar? Ob im Museum oder als Ethnologie, die Hermeneutik war stets ein hilfloses Bemühen, die bildliche und mystische Vieldeutigkeit auf den Punkt zu bringen und sie gebührend ad acta zu legen: Sowohl Mythen als auch Bilder übersteigen eine abstrakte Erfassung. Sie lassen sich zwar beschreiben, jede Schrift aber bleibt weit hinter dem zurück, was sie beschrieb. Keine Bildbeschreibung kann den Museumsbesuch er-
1 Ob auf Scheckkarte, ob als Steuer- oder Abonnentennummer, ob in der Lotterie oder beim Einkauf, die Lebenswelt wird längst von den binären Zahlen geprägt. Jede Gurke wurde dem ›Zahlendenken‹ der Computer angepaßt. Die Magie der Zahlen verspricht, im Virtuellen aus Gurken sogar Tomaten machen zu können, und »Zahlen werden ... Töne sichtbar und Bilder hörbar machen« (Flusser 1992, 30).
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setzen, keine ethnologische Studie der studierten Ethnie gerecht werden. Einerseits also versagt die Schrift zwar in ihrem Bemühen, die Welt in der Buchstabenlogik authentisch abbilden zu können, andererseits aber ist die Schrift dem Bild überaus überlegen: Sie nährt sich von Bildern, die imaginiert werden. »Dichter«, so räumt Flusser ein, »sind unsere Wahrnehmungsorgane« (1992, 66). Die Schrift bedarf einer Wahrnehmung, die sich beim Leser imaginativ über Vorstellungen, Bilder und Empfindungen entfaltet. So abstrakt Texte sein mögen, die Schrift leistet bei weitem mehr als lineare Aneinanderreihungen von Erklärungen. Jeder Satz einer Schrift ist konnotativ so reichhaltig wie ein Bild, da er unterschiedlichste Bilder hervorrufen kann. Nicht einmal die Schrift ist somit erklärbar und umsoweniger ist sie ›entbildert‹. Sie bewirkt nicht ein ›Wegerklären von Bildern‹, sondern führt direkt zum Bild – man sieht Bilder im Text, als sei der Text gar nicht da. Nicht nur Poesie ist unbeschreibbar und übersteigt das faktisch Erklärbare und Meßbare, auch wissenschaftliche Schriften bedürfen der Imagination, um verstanden zu werden. Die Imagination freilich liegt auf der Seite des Lesenden, nicht in der Schriftlichkeit selbst.Der Leser haucht den Buchstaben den Sinn erst ein, indem er im freien Lauf seiner Gedanken einen Bogen ins geistige Auge des Autors spannt. Die Schrift ist dabei so konnotationsreich wie das Mündliche. Ein geschriebener Satz sagt soviel ›zwischen den Zeilen‹ wie ein mündlicher ›zwischen den Gesten‹. Die Schrift ist so bilderreich wie Mythen und Bilder. Schreiben und Lesen sind überaus magische Akte, denn sie setzen imaginierbare Potentiale frei. Nicht also die Schrift raubt der Vorstellungskraft die Imagination, sondern der nicht auf Imagination bedachte Leser. Die Schrift ist an der Stelle festgefahren, an der ihr Reichtum konnotativ nicht mehr eingelöst wird: Die ›Krise der Schrift‹ resultiert nicht aus dem Umstand, daß die Schrift Bilder erklärt – geschweige denn ›wegerklärt‹ -, sondern durch den Umgang mit ihr. Genauer gesagt: nicht die Schrift verweigert ihren Bilderreichtum, sondern das fraktal infizierte Imaginationsvermögen. Die Schrift geriet unter die Räder der Fast-food-Rezeption. Sie erzwingt ein funktionelles, reibungsloses und möglichst imaginationsbefreites Lesen. Die Schrift ›verspielt‹ ihren konnotativen Reichtum und ihren poetischen Anspruch, wenn sie sich – rationallastig – durch Nachrichten-, Erklärungs- und Gebrauchsanwei-
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sungsniveau auszeichnet. Das Paradigma des unpoetischen Lesens ›beraubt‹ die Schrift ihres imaginationsreichen Impetus. Auch Ratgeber müssen zwar imaginiert werden, ihr Imaginationsniveau aber gleicht eher dem eines Lottoscheins als dem eines Goethe: »Unsere Literatur ... verlangt nicht nach Bedachtsamkeit und Kontemplation. Sie ist dokumentarisch, sie will unterrichten und belehren. Nicht Weise will unsere Literatur, sie will Doktoren« (Flusser 1992, 20). Die Schrift versagt in ihrer Aufgabe, bildreich zu sein, indem sie die vordem imaginierbaren Bilder funktionalisiert, entwertet und ›unlesbar‹ macht. Es ist alles andere als erstaunlich, daß die Entbilderung in der Ära des Computers akut wird, denn vor allem im Digital wird der Bilderreichtum der Schrift zum Imaginationsproblem. Wenn die Sinninhalte der Schrift als Informationen gehandhabt und hypertextuell gehandelt werden, entbildert sich das Schriftliche durch den flexiblen Automatisierungsprozeß, es wird zerhackstückt und fraktalisiert. Wenn Hypertexte durch links in alle Welt die ihnen zugrundeliegenden Texte sprichwörtlich sprengen, sprengen sie auch die konnotative Dichte der ihnen innewohnenden, zu entzündenden Imagination. Informationen sind im Digital zu Bitpaketen verpackbare Abstrakta. Sie abstrahieren, rationalisieren und funktionalisieren nicht nur das Wissen, sondern auch Erfahrung und Bildung. Die Schrift des Digitals entspringt der reinen, konkreten und konnotationslosen Information. Informationen haben sich der Redundanzen zu entledigen, die lebensweltlich noch ins Bad der Imagination getaucht waren. Informationen haben eindeutig, konkret und flexibel handhabbar zu sein, sie sind seitens des Digitals eine Datenansammlung ohne metaphysischen Zusatz. Derart von Sachzwängen erdrückt wird Poesie so unpoetisch wie ein Lexikon über Poesie. Die mediale Botschaft, so Pierre Lévy, ziele bei den Empfängern auf das Minimum ihres Interpretationsvermögens, sie »kann sich nicht des spezifischen Kontextes des Rezipienten bedienen. Sie negiert dessen Einzigartigkeit« (1996, 12). So »totalisieren die Medien alles auf dem kleinsten gemeinsamen kognitiven Nenner« (ebd.).1 Diese Tendenz ist für Hartmut Winkler 1 Auch der Berichterstattungs-Journalismus verzichtet auf den denkenden und imaginierenden Leser, indem er sich mit dem ›kleinsten gemeinsamen kognitiven Nenner‹ der Aufzählungen und Aneinanderreihungen von Ereignissen begnügt.
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kennzeichnend für die ›Mediengeschichte überhaupt‹: Medien hätten stets versucht, »auf das Problem der Arbitrarität eine technische Antwort zu finden« (vgl. 1997, 214). Die Medien stünden mit »Grauen vor der Tatsache, daß Texte grundsätzlich auslegbar sind und ihr hermeneutischer Gehalt eben nie ›manifest‹« ist (ders. ebd. 50). Auch das Neue Medium, so Winkler, verspräche, dies ›Grauen zu eliminieren‹ und den hermeneutischen Gehalt in eine Schrumpfform zu pressen, die ›einer Deutung nicht mehr bedarf‹ (vgl. ebd.) Zwar ist Text auch im Digital Text, dessen Bilderreichtum erlesen werden kann, sowenig das Abschreiben von Texten aber mit Leseund Imaginationsvermögen zu tun haben muß, sowenig zieht die Textdigitalisierung die Imagination automatisch nach sich. Wahrnehmung ist noch keinesfalls Lesen. Doch der Apparatnutzer liest ohnehin weniger Texte, sondern nimmt Hypertexte wahr. Alles je zu einem Thema Gespeicherte läßt sich ›hyperlesen‹: Recherche, Kombination und flexible Reaktion sind der Poesieersatz des Digitals. Der dadurch abverlangte, apparatgebundene ›Lesevorgang‹ folgt der Logik der Algorithmen und links, um über die verästelten Textbilder Überblick zu erhalten. Da sich der Überblick aber stets konkret im Bild auftut, ist er der konnotationsoffenen Imagination nicht vergleichbar. Der link ist eine funktionale Imaginationssimulation. Als Verlängerung des ›Lesens zwischen den Zeilen‹ wäre die ›Poesie des Digitals‹ ein ›Lesen zwischen den Zahlenzeilen und Pixels‹. Doch gibt es zwischen den Pixels außer der Algorithmik ihrer selbst keine konnotierbaren Sinnzusammenhänge. Obwohl die Apparate Wissen, Bilder und auch Poesie konkret und sogar in unendlichen Verästelungen zeigen, obwohl ›Künstliche Intelligenzen‹ und ›elektronische Freunde‹ bei der Wissens- und Bildaufbearbeitung zur Seite stehen, kommen deren funktionale Operationen einer Imagination nicht gleich. Die das Funktionale übertreffenden, menschlich imaginierbaren Potentiale sind den innerdigitalen Verschaltungen nicht einzugeben und folglich auch nicht ›herauslesbar‹. So mag das Apparatische einerseits regelrecht eifersüchtig sein auf die menschlichen Einbildungskräfte, andererseits aber ›nützt‹ eine erzählte oder imaginierte Welt im Digital nichts, denn die Erzählung entfaltet sich im imaginativen Bereich der konnotationsoffenen Ungenauigkeit. Die Imagination geistert nur durch Köpfe und würde ihrer Unberechenkeit wegen im Digital virale Störungen verursachen. Die Imagination kann nicht zum
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konkreten Abbild werden. Erzählungen bewirken vielschichtige Bilder im Kopf, nicht aber Bilder, die eindeutig und direkt ansichtig sind. Sie übersteigen die Faktizität, entziehen sich der ›anderen Unendlichkeit‹ der digitalen Logik und haben im Digital aus Gründen der Nichterfaßbarkeit Hausverbot.1 Der ›Kampf zwischen sinnlicher und mathematischer Wahrnehmung‹ (vgl. Weibel 1989, 87f – s.o.) scheint in der Tat entschieden zu sein, denn technische Bilder gehen auf Erfolgskurs. In der Synergie zwischen Mensch und Apparat boomt die Magie der Bilder durch unmittelbaren Sinnesanschluß. Nicht in den Köpfen entstehen sie, sie sind schon auf dem Bildschirm, noch ehe imaginiert werden muß. Das Digital als Gehirnersatz bietet Phantasie freihaus, ohne die Kraft der Imagination, die es vorgibt zu simulieren, bemühen zu müssen: Der Nutzer ist von der Mühe des Imaginierens befreit. Die Bilder bedürfen in der Echtzeitvermittlung nicht mehr der musischen Fähigkeit einer poetisch vielschichtigen Entzifferung seitens der Vorstellungskraft. Muse darf musealisieren. Da sich die ›Transzendenz‹, die ehedem der schriftlich codierten ›Heimat‹ entsprang, nun als technisches Bild manifestiert, werden die Dimensionen der Imagination selbst obsolet. Die Textschwemme des Digitalen raubt den Texten die narrative Energie, und die Bildschwemme raubt den Bildern die unerklärbare Vieldeutigkeit. Hat der rationale Umgang mit der Schrift also die Bilder ›wegerklärt‹ und den Text zum Fraktal des ehedem unmittelbar und magisch wirkenden Bildes werden lassen, so ist das technische Bild ein Fraktal der Imagination. Wenn deshalb schriftlich Gespeichertes und folglich ›geschichtliches Bewußtsein‹ nicht mehr imaginiert wird, ist es nicht mehr unser Bewußtsein. Es liegt vielmehr hinter uns, womit den postmodernen Verlautbarungen bezüglich des ›Posthistoire‹ doch recht zu geben ist.
1 Angesichts des digitalen Imperativs, Fakten als konkretes Bild und Bilder als konkrete Fakten zu bieten, gleicht die Methode des Imaginierens der Onanie.
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3. Wissen sucht Sinn Weder können die Apparate der menschlichen Schriftwahrnehmung noch kann der Mensch der Digitalvermittlung gerecht werden. Das geradezu paradoxe Verhältnis von Informationsangebot und -vermittlung entspricht einem Mißverhältnis von Informationsspeicherung und -rezeption. Die Informationsvermittlung, die selbst nie weiß, was sie vermittelt, scheint trotz der Interfaces den Sinn außen vor zu lassen. »Der Cyberspace«, so Lévy, »bedeutet keineswegs, daß jetzt alles zugänglich sei, sondern vielmehr, daß das Ganze endgültig außer Reichweite ist« (1996, 8). Die Wissensvermittlung freilich stand schon immer in einem Spannungsverhältnis zwischen Welt und Mensch. Welt und Mensch waren einander nie identisch, sondern durch Wahrnehmung und Erfahung immer nur in einer spezifischen Beziehung aufeinander abgestimmt. Virilio weist darauf hin, daß »in den vergangenen Jahrhunderten die verfügbaren Kenntnisse zwar weniger umfassend waren, die Erkenntnisse damals paradoxerweise aber auf Totalität aus waren« (1990, 169).1 Was gewußt wurde, war wahr. Ob magisch, religiös oder feudal geprägt, die persönlich überblickbare, medienarme Umwelt war der Wissenslieferant für eine Wissensgewißheit, die weder fraktalisiert noch durch Gegengutachten bezweifelt wurde: »Es gab eine Zeit, da half die Information den Menschen dabei, dringende Probleme ihres Lebens zu lösen, indem sie ihr Wissen von ihrer physischen und gesellschaftlichen Umwelt erweiterte. Es trifft zu, daß im Mittelalter Informationsknappheit herrschte, aber gerade ihre Knappheit machte die Information wichtig und nutzbar« (Postman 1992b, 62). Heute dagegen habe ›die Information für den gewöhnlichen Menschen keinerlei Beziehung mehr zur Lösung von Problemen‹ (vgl. ebd.). Einst mußte man auf den Rest der Zitate, die man gar nicht kennen konnte, nicht auch noch verweisen. Die Brillen des Ego genügten. Heute dagegen ist dem Ego nicht mehr zu trauen. Heute sind die Neuen Medien die ›Brillen‹, denen getraut werden muß. Sie katapultieren das Wissen in eine neue Umlaufbahn. Der informationstechnologische Höhepunkt des ›Zeitalter des Wissens‹ 1 ‹Als im 18. Jahrhundert Enzyklopädien erstellt wurden, war die Gesamtheit des Wissens noch weitgehend beherrschbar. Das Wissen war noch totalisierbar. Dieses Projekt muß heute aufgegeben werden‹ (vgl. Lévy 1996, 8).
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(vgl. Lévy 1997, 17) erstellt die ›Infrastruktur des Wissens als kartographischen Raum‹ (vgl. ebd. 34), dessen Navigationsbedingungen die herkömmliche Informationsaufnahme in Bedrängnis bringt. Angesichts des ›Take Off numerischer Zeichen ist das Alphabet nur ein Vorspiel‹ (vgl. Kittler 1993, 154). Die Schrift liegt dem Digitalen so weit zurück wie dereinst das Mündliche der Schrift. Die Kluft zwischen Mensch und Wissen freilich war schon durch das Buch medienbedingt. Sowohl Bibliotheken – als Urahn der Informationstechnologien – als auch Computer bewahren das Wissen jenseits der lebensweltlichen Unmittelbarkeit. Für beide gilt gleichermaßen: »Auf der einen Seite schwebt die Bibliothek ... auf der anderen Seite steht die Welt der Phänomene« (Flusser 1989, 48) – die Lebenswelt. Bereits das Schriftliche trennte das Wissen von der Unmittelbarkeit des Erzählens, Kommunizierens und Erfahrens. Wissensanhäufung war fortan der Erfahrung vorgeschaltet und das Textliche hatte die Probe zu bestehen, gelesen zu werden, ehe sein codiertes Wissen bildlich imaginiert werden konnte. Indem kommunizierte Extrakte durch die Schrift aufbewahrbar und unabhängig von den lebenden Interaktionsteilnehmern abrufbar werden, aber erreichen sie zeitunabhängig auch Nichtanwesende und ›entlasten vom unmittelbaren Druck der Interaktion‹ (vgl. Luhmann 1988, 128): »Schrift und Buchdruck ... sind ... kommunikativere Formen der Kommunikation, und sie veranlassen damit Reaktion von Kommunikation auf Kommunikation in einem sehr viel spezifischerem Sinne, als dies in der Form mündlicher Wechselrede möglich ist« (ebd. 224). Das in den ›Warteschleifen‹ der Speicher bis zu seinem Abruf ruhende Wissen kann jederzeit der Kommunikation dienen und in spezifischen Kontexten zu weit aufregenderen Erkenntnissen führen als durch ›Gespräche vor Ort‹. Einerseits also kann die Interaktion vertagt werden, andererseits aber droht dies Ausweichmanöver zu späterer Zeit zu Informationsstau1 zu führen: Schon der »Buchdruck multipliziert das Schriftgut so stark, daß eine 1 In die Bibliotheken und Speicher können Informationen endlos gestapelt werden – man kann oder könnte sich ja später alles genauer zu Gemüte führen. Das Seiende wird möglichst schnell als Geschichte abgehakt, weil ja so viel Neues wartet. Damit aber wird es immer schwieriger, sich am Vergangenen zu messen. Es besteht die Gefahr des Orientierungsverlusts, wonach dem Menschen die Gewißheit verloren zu gehen droht, daß es ›eine über ihn hinausreichende Welt gibt‹ (vgl. Baudrillard 1989, 113).
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mündliche Interaktion aller an Kommunikation Beteiligten wirksam und sichtbar ausgeschlossen wird« (Luhmann 1996, 33f). Die herkömmlichen Medien intensivieren diese Kommunikationshürden, indem sie Informationen en masse verbreiten, jedoch keinen kommunikativen Raum zur Verfügung stellen. Erst die Datennetze scheinen der ›kommunikativeren Form der Kommunikation‹ gerecht zu werden, da sie zu Interaktion und zu Direktkommunikation einladen. Internetdialoge sind Direktkommunikation, der die Informationen in geradezu verflüssigtem, elektronisch fließendem Zustand zur Verfügung stehen. Während Bücher erst zu lesen sind, kann auf die Bilder in Echtzeit reagiert werden, wodurch der Informationsstau verringert zu werden scheint. Neu hinzukommendes Wissen intensiviert in den Datennetzen den kommunikativen Austausch und hebt die Kommunikation auf ein emergenteres Niveau. Allein durch die ›kommunikativere Form der Kommunikation‹ aber ist eine inhaltsvolle Kommunikation noch keineswegs garantiert. Informationen, die verschickt werden, sind so uninformativ wie Bücher, die verschickt werden. Erst das Lesen und Rezipieren der Informationen setzt die kommunikativen Potentiale frei: Die Informationen müssen nach wie vor imaginiert werden. Erst durch menschliche Anteilnahme ist Kommunikation ›kommunikativer‹ gestaltbar und das emergente Niveau zu erreichen. Ebenso wollen Bilder imaginiert werden. Sofern sie ›etwas zu sagen haben‹ und ihre Botschaft nicht mit dem Medium identisch sein soll, bedarf es der ›Kunst des Sehens‹. Dies Geschick ist bei virtuellen Bildern umsomehr gefordert, als sie die Imagination freihaus bieten. Demzufolge wäre die Wahrnehmung nur eine Durchgangsstation der Bilder. Sie würden – quasi offenen Mundes – nur wahrgenommen, ohne aber etwas bewirken zu müssen. Angesichts der Informationsdichte der Neuen Bilder hat die Wahrnehmung umso emergenter und intensiver zu reagieren. Text und Bild also sind zwar zweierlei, beide Medien aber bedürfen – auch bei Digitalvermittlung – der Imagination. Beide Medien aber halten die Imagination unterschiedlich in Schach – die Schrift in den Buchstaben, die Neuen Medien in Bits und Pixels. Um die kommunikativen Kompetenzen von Mensch, Buch und Apparat erkennen und vergleichen zu können, ist die Unterscheidung der zwischenmenschlichen Kommunikation von der Kommunikation
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des Menschen mit den ›transzendenten Speichern‹ – den Bibliotheken und Computern – wesentlich. Eine weitere Unterscheidung hebt sich von der apparatinternen Kommunikation ab. In der ›Welt der Phänomene‹, der Lebenswelt agiert der Mensch als ein Informationen komplex verarbeitendes Wesen. Intuition, Erfahrung, Emotion und Lernen befähigen ihn, in der ihrerseits komplexen Lebenswelt zurechtzukommen. Auf den ersten Blick scheint der Umfang der aufbewahrten und gespeicherten Informationen einen Komplexitätsgrad erreicht zu haben, der die menschlich komplexe Wahrnehmungsweise weit überfordert. Sie scheinen der Definition Luhmanns für Komplexität gerecht zu werden: »Bei Zunahme der Zahl der Elemente ... stößt man sehr rasch an eine Schwelle, von der ab es nicht mehr möglich ist, jedes Element zu jedem anderen in Beziehung zu setzen« (1988, 46). Derartige Komplexität bedingende Unüberblickbarkeit ist dem Menschen bezüglich seiner Lebenswelt selbstverständlich: die ›Umwelt‹ – im Sinne Luhmanns ein Sinnvolumen – ist stets ›größer‹ als das je aktivierte Wissen. Die Welt war noch nie überschaubar. Die Lebenswelt und die komplexe neurophysiologische Verarbeitungsweise des Menschen sind bezüglich ihres Komplexitätsniveaus ›kompatibel‹, da sich der Mensch trotz des Komplexitätsüberschusses der ›Umwelt‹ in ihr komplex zurechtfinden kann. Definiert man Komplexität als eine Dichte, die nie durchschaubar ist, als ›Maß für Unbestimmbarkeit oder für Mangel an Information‹ (vgl. Luhmann 1988, 50), so wird deutlich, daß das schriftlich Gespeicherte in seiner Fülle zwar unüberschaubar ist, doch wurde es von Menschen geschrieben und bleibt – theoretisch – auch rückwirkend nachvollziehbar. So unüberblickbar, schwer verständlich und imaginationsoffen Schriftwissen auch sein mag, die Komplexität wohnt nicht den Buchstaben inne, sondern entzündet sich erst durch die Rezeption, indem das Wissen die menschliche Erfahrung nährt und beispielsweise hermeneutische Probleme heraufbeschwört. Nicht bereits die Buchstaben und Worte entzünden Komplexität, sondern die in ihnen schlummernden Bilder. Das Lesen ist der komplexe Akt, nicht bereits die Speicherung. Das Lesen hebt das Gelesene in den komplexen Zustand des Lebensweltlichen. Dort agiert »Sinn ... in der Form eines Überschusses von Verweisungen auf weitere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns« (Luhmannn 1988, 93). »Sinn ist ... Wiedergabe von Komplexität« (ebd. 95), er
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fördert ein »kombinatorisches Bewußtsein« (134), das das Komplexe komplex bearbeitet. Zweifelsohne steigerte die Buchkultur das menschlich komplexe Imaginationsvermögen. Nicht nur Gedichte, auch wissenschaftliche Texte bedürfen guter Geistesübung und trainieren das Denken in Vieldeutigkeit und Vielschichtigkeit.1 Auch die Datenverarbeitungsapparate werden die menschliche Datenverarbeitungsweise steigern. Dies bedeutet aber weder, daß die Informationstechnologien selbst komplex arbeiten, noch daß die Kapazitätssteigerung des Speicherns komplex genannt werden kann. Die digitalen Speicher sind schließlich menschlich installiert, programmiert und informiert, und damit ebenfalls – so kompliziert ihr Aufbau auch scheinen mag – durchschaubar. So viel Wissen auch gespeichert ist, die Speicherung selbst ist nicht komplex. Erst die komplexe Wahrnehmung entzündet die ›Poesie‹ des Digitals. Das ›Geschick‹ der Neuen Technologien liegt zwar in der Speicherkapazität und der Kombinatorik von Daten, nur menschlich aber ist ein Erfahren des Sinns möglich. Zwar übertreffen Computer das menschliche ›Geschick des Merkens‹ um das Vielfache, deren Datenverarbeitung aber ist alles andere als Denken. ›Wir können uns zwar ein Buch vorstellen, das ein paar Zentimeter dick ist, aber keines, das ein paar Kilometer dick ist‹. »Wir haben kein Gefühl für solche Quantitäten«, sie übersteigen das menschliche Fassungsvermögen, so Negroponte über die Dimensionen der Datenverarbeitung (vgl. in: Brand 1990, 97). Die Informationstechnologien also vermitteln primär Quantität. Von Qualität ist nicht die Rede.2 Sie vermitteln ›kilometerdick‹ Informationen und vermögen Komplexität (Qualität) zwar in Simulationen hochzurechnen, das Hochrechnen selbst aber ist nicht komplex, sondern kalkuliert, programmiert und folglich überblickbar: Wird die digitale Datenverarbeitungsweise komplex genannt, liegt eine Verwechslung von Fülle mit Komplexität vor. Die Verarbeitung erscheint nur komplex. 1 Die Kompliziertheit wissenschaftlicher Texte darf nicht mit Komplexität verwechselt werden, denn Kompliziertheit ist entschlüsselbar, Komplexität dagegen birgt immer ›Reste‹, die den Erklärungsbemühungen entgehen. 2 Die analogen Medien vermitteln ebenfalls ›kilometerdick‹ Informationsfluten, zeigen aber nicht komplex die Vielfalt der Anschauungen eines Themas – mit dem Anspruch, seiner Komplexität nahezukommen -, sondern die Vielfalt – beziehungsweise die ›Einfalt‹ – vieler Themen möglichst gleichzeitig.
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Während Texte den Sinn in Buchstaben pressen, ihn in Kapitel verteilen und in Bibliotheken ordnen, preßt die Datenverarbeitung das Digitalisierte in Bits und Pixels, ordnet sie nach algorithmischen Regeln, verteilt sie in Dateien und vertreibt sie auf den Netzen. Die Sinnverteilung des Digitals ist millionenfach komplizierter als die des Buches. Doch so komplex die Strukturen der Datenkombinatorik auch erscheinen, sie bleiben rückwirkend entschlüsselbar und sind damit ebenfalls nicht komplex. Struktur ist zwar auch eine Grundlage lebensweltlicher Komplexität,1 im Falle der Informationstechnologien aber erfüllt sie ›nur‹ die Funktion der Organisation des Vermittelbaren. Struktur stellt Netzwerkverbindungen und Anwenderhilfen, um die Informationsfülle beisammenzuhalten, zu speichern und zu leiten. »Jede Kommunikation in und mit Massenmedien bleibt gebunden an die Schemata, die dafür zur Verfügung stehen« (Luhmann 1996, 207), wohingegen die lebensweltlichen Strukturen der Sinnvermittlung strukturüberschreitende Potenziale freisetzen: Die Informationstechnologien überfordern den Menschen zwar hinsichtlich des Rechenvolumens und der strukturellen Exaktheit, unterfordern ihn aber qualitativ, da sie – unpoetisch – das Denken und Imaginieren weder leisten noch mitliefern. Bezüglich des ›Merkens‹ übertreffen sie den Menschen, bezüglich einer komplexen Verarbeitung dagegen unterliegen sie ihm. Lebensweltlich verweist Struktur über Kommunikation auf Sinn, technologisch verweist Struktur fraktal auf sich selbst. Der Mensch ist ein auf Komplexität (Qualität), nicht ein auf Vielheit (quantitative Strukturbandbreite und Informationsflut) konditioniertes Wesen, weshalb ihm die Monokultur der auf ›reine Struktur‹ sich stützenden Apparate nicht gerecht werden kann. Irrtümlicherweise wird das menschliche Erinnern dem funktionalen Abrufen von Daten gleichgesetzt. Apparatisches Datenabrufen aber ist eine »›sprecherlose‹ Kommunikation« (Fiehler 1994, 526). 1 »Information setzt ... Struktur voraus, ist aber selbst keine Struktur, sondern nur das Ereignis, das den Strukturgebrauch aktualisiert« (Luhmann 1988, 102). Informationen seien auf Kategorisierung angewiesen, die die Kommunikation vorstrukturieren (vgl. ders. 1996, 38). Dank der Struktur also wird Information lebensweltlich eingeordnet und verarbeitet, doch ist Struktur nicht identisch mit dem Sinn, denn sie transportiert. Ein ›Versagen der Einordnung‹ korrespondiert für Luhmann mit ›Sinnlosigkeit‹ (vgl. 1988, 109). Sie setzt beispielsweise dann ein, wenn der Sinn fraktalisiert.
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Menschliche Kommunikation dagegen ist mehr als Datenabfragen, denn das Gedächtnis konnotiert das Erinnerte in die jeweilige aktuelle Situation, und erinnerte »Konstruktion verändert permanent, was sie konstruiert«(vgl. Reck 1994, 96f).1 Es stimmt, daß Computer sich alles merken können. Das Wissen aber tut noch keine Wirkung, solange es nicht an die lebensweltliche Sinnkomplexität zurückgebunden wird. Auch Schüler werden dem Stoff, den sie – analog oder über Computer – zu lernen haben, nicht gerecht, indem sie ihn nur auswendig lernen, sondern erst, wenn er sie als Kategorie Erfahrung ›ergriffen‹ hat. Da in der Datenkommunikation ›alle Datenflüsse (Informationen, Ereignisse) das Nadelör des Symbolischen der Buchstaben und Zahlen durchwandern‹, folge, so Rudolf Maresch, »die Emanzipation der Zahlen und Buchstaben von semantischen Zusammenhängen« (vgl. 1996, 18ff). Die Verwertbarkeit des Sinns entbindet ihn der Imagination. ›Die gesprochene Sprache bleibt von vornherein außer Betracht, wenn nur zählt, was schaltbar ist‹ (vgl. Kittler 1993, 182) – und mit ihr der Sinn. »Das uralte Monopol der Alltagssprachen, ihre eigene Metasprache zu sein«, so Kittler, sei »zusammengebrochen und einer neuen Hierarchie der Programmiersprachen gewichen« (ebd. 228). Da »sich die gesamte Wirklichkeit auf die Seite des Zeichens geschlagen hat« (Lévy 1997, 171), scheint das »Basistheorem vom Menschen als Herrn der Sprache zweifelhaft« geworden zu sein (Kittler 1993, 150).2 Doch auch das schriftlich Codierte kann nicht mehr viel ›sagen‹, wenn es das Niedrigkomplexitätsniveau der Medienvermittlung imitiert. So aufgeklärt sich das Schriftdenken auch wähnt, sein Wissen folgt dann nicht dem Weitblick komplexen Denkens, sondern der fraktalen Innenschau nur aufzähl- und verschaltbaren, aber nicht unmittelbar wirkenden Wissens. ›Das Denken spielt dann im Ver1 Erinnerte Konstruktion konnotiert das Erinnerte als Transformationsbewegung: »Das Erinnerte ... wird für ein bestimmtes Präsentisches als Eröffnung von Zukunft in der Gegenwart selbst konstruiert« (Reck 1994, 85). Das Digitalvermittelte aber ist ›gerade nicht Ausdruck des Präsentischen‹, sondern bestätigt über die ›Elimination von Alternativen‹ die ›Kontinuität des Alten‹ (vgl. ebd. 89) 2 Edeltraut Bülow legt denn auch nahe, dem in der Europäischen Menschenrechtskonventioen festgelegten Recht auf Informations- und Meinungsfreiheit und dem Recht auf Muttersprache das ›Recht auf natürliche Kommunikation‹ hinzuzufügen (1994, 565).
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hältnis zum Gedachten so gut wie keine Rolle mehr‹ (vgl. Sloterdijk 1989, 79). Zieht das Lesen eines Buches eine imaginierende Kraftanstrengung nach sich und gilt die Schrift als ein ›Schatz des Geistes‹, so wird die Lage bezüglich der ›digitalen Schätze‹ kompliziert, da die Bedeutung an die Programmierbarkeit, Darstellbarkeit und Vermittelbarkeit delegiert wird. Gelten Kommunikation und Informierung als rein technische Vorgänge, wird das Denken arbeitslos. Erst das menschliche Denken vermag die Buchstaben und Zahlen ins Semantische zurückzuholen. »Information«, so warnt Frieder Nake, »hat keinen Dingcharakter, kann deswegen nicht abgefüllt und übermittelt werden, geistert dennoch in dieser Form durch die Diskussion« (1994, 543). Information werde vielmehr hergestellt und verstanden, »indem wir uns in unserer Umwelt bewegen und verhalten. Sie kann nicht von uns abgenommen, gespeichert, übertragen und manipuliert werden« (sich auf Varela berufend, ebd.). Wird sie dennoch abgenommen und gespeichert, hat sie der Rezipient mit seinem komplexen Vermögen umso kraftaufwendiger zum Leben zu erwecken, sie kommunikativ und imaginativ in seinem sozialen Prozeß zu aktivieren. Für sich gesehen dagegen verbleibt der technologische Datenabruf in der ›Totalität des nur Wißbaren‹, ohne Reflexionen mitzuliefern. Sosehr die Medien zur produktiven Erinnerung notwendig und wichtig sind, von sich allein kann weder medial noch multimedial vermitteltes Wissen zu dem führen, was noch Goethe mit (komplexer) Weisheit hätte verbinden können – der Begriff bereits klingt antiquiert. Vor dem Medienzeitalter war das Wissen an Erfahrung gebunden, heute aber ist das Medienwissen eine Informationsansammlung, die einer Erfahrungsdichte nicht vergleichbar ist .1 Das 1 »Information ist eine Aktion, die Zeit beansprucht«, so John Perry Barlow. Sie ist »kein Zustand, der physikalischen Raum beansprucht wie Waren. Information ist der Schlag, nicht der Ball, der Tanz, nicht der Tänzer« (1995, 89). Information also ist größer als das rein Informelle der Vermittlung, denn Information kann im lebensweltlichen Selbstständnis damit rechnen, in ein bereits vorhandenes Sinnvolumen eingebettet zu werden. – Doch schon die Praxis wissenschaftlicher Theorien räumt die lebensweltliche ›Lebendigkeit‹ und die unmittelbare Erfahrung aus. Kamper kritisiert, daß Theorie kaum an der Erfahrung scheitern könne (vgl. 1990, 249). Die Erfahrung – ›der Schlag, nicht der Ball, der Tanz, nicht der Tänzer‹ – ist kein legitimes Kriterium, Theorien zu kritisieren, da sie nicht in der theorietauglichen Logik zu fassen und – wie Gott – nicht meßbar ist.
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Wissen – heute als Information gehandelt – hat als Jetzt-Zeit-Berieselung vor allem konsumierbar zu sein, denn Wissen vertiefende Informationen und Bildung sind den Kommunikationssystemen ein allzu zeitraubender Aktionismus. Informationen sollen sogar möglichst schnell vergessen werden, damit neue Info-Kost nachgereicht werden kann. »Informationen dürfen nicht zu sehr beunruhigen« (Sontheimer 1996, 223): ›Tagelanges Nachdenken ist für Medien wirtschaftlich unsinnig‹ (vgl. ebd.) und allzu lange Reflexionen blockieren die Netzkommunikation und bestrafen den ›Denker‹ mit dem Bildschirmschoner und hohen Telefonrechnungen. Bildung ist den Informierungsstrategien eine äußerst umständliche Art der Informierung – ›Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kalkül dominieren prudentia‹ (vgl. Luhmann 1988, 528). Einst also ging man vom Menschen aus, der – auch über Bibliotheken – komplex wahrnahm, heute geht man vom Wissen aus, das, gesammelt, fraktal und nichtkomplex nur zur Verfügung steht. Daß freilich schon Goethe Schwierigkeiten mit der Dialektik von Wissen und Erfahrung hatte, gesteht er durch sein »habe nun, ach ...« (vgl. 1984, 13). Bereits seine Bibliothek drohte das Wissen der Struktur – der Lagerung – auszuliefern. Bereits Goethe sah die Schwierigkeit, es komplex in die Dimension der Erfahrung ›zurückzuerobern‹. Die Schrift als Erfahrungsersatz eröffnete den Anfang der Erfahrungsreduktion, sie war die ›erste Dekontextualisierung der Sprache‹ (vgl. Lévy 1997, 170) und entmündigte in ihrer Weiterentwicklung zur Enzyklopädie noch das komplex zu imaginierende Buch. Die Bibliotheken und Enzyklopädien erlaubten, Wissen allgemein, strukturell und linear zu ordnen. Zwar hat sich in der Bildungsexpansion der Aufklärung der Anspruch durchgesetzt, alles wissen zu müssen, die komplexe Einordnung des Wissens aber wurde peripher. Über das als Wissensquerschnitt verankerte Allgemeinwissen verkam Bildung zu meßbaren Informationseinheiten und letztendlich zu Instant-Bildung, die nicht komplex sein will, sondern strukturell zu konsumieren und zu merken ist.1 Allgemeinwissen ist vermittelbar, schon tausendmal 1 »Die Ohren des Volkes sind mit Bildung vollgestopft«, urteilt Bolz (1990, 12) – »was man bisher Bildung genannt hat, war ein Narkotikum« (ebd. 26). Die Tatsache, daß sich das Wissen vom Menschen abkoppelte und jenseits seiner unmittelbaren Erfahrung ein fraktales Dasein fristet, legt die Vermutung nahe, daß auch Werte
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abgeschrieben, eingeordnet, abstrakt und ›entbildert‹, jedenfalls fern von Unmittelbarkeit und komplexer Dichte. Es muß nichts mit dem Menschen und seiner Erfahrung zu tun haben. Schon das Allgemeinwissen also führte in die Sackgasse der Fraktalität. – Die geradezu olympiadische Disziplin der Rateshows zeigt beispielhaft, daß unzusammenhängendes, fraktales Allgemeinwissen – fraktal abgefragt und mit Punktgewinn belohnt – nichts will. Das mediale Bildungsgemetzel dokumentiert weniger Sinn denn Speicherbarkeit (Merkbarkeit). Den Wandel von komplexer hin zu struktureller Einordnung setzt heute die Computerisierung fort. »Während die Welt ... komplex und verwirrend [ist], überwältigend vielfältig und in immerwährendem Fluß, behaupten die Rechner in all dem eine Insel der Ordnung zu sein« (Winkler 1997, 223). Das künstliche Schaffen von Ordnung geht mit Simplifizierung einher. Die informationstechnologische Revolution läßt Informationen nicht als Erfahrungskomplexität auf die Menschheit los, sondern als Abruffunktion. Als Hypertext werden Informationen multimedial mit anderen Informationen kombinierbar. Hypertexte fordern Orientierung nicht in Sinnkomplexität, sondern in Organisationsstrukturen: die Strukturrezeption dominiert die Sinnrezeption. Wenn aber »nur noch Informationsmedien einen Zusammenhang von Erfahrungen bilden, dann sind sie ... von ihrer internen ... Logik nicht mehr zu unterscheiden« (Reck 1994, 88). Weniger die Information selbst, sondern die Organisation des Abrufens und Kombinierens steht dann im Zentrum des Rezeption. Der Wert von Informationen über Informationen ist dann größer als der Wert der Information selbst. Die Informationsinformationen und die Strukturlagerung werden zur primären Rezeptionsbedingung und der Sinn gerät unter die Räder seiner (die zehn Gebote), die in Bibliotheken festgehalten sind, an lebensweltlicher Relevanz verlieren. Werte (und ein unmittelbar allumfassendes Weltbild) kamen ins Straucheln, als die Bücher abgelegt wurden, als die Bibliothek Bibliothek wurde: Die Verbindung zwischen Information und Lebenswelt wurde nach und nach gekappt. »Information ist heute eine Ware, die man kaufen und verkaufen kann ... wie ein Kleidungsstück ... Die Information ist zu einer Art Abfall geworden. Sie trifft uns wahllos, richtet sich an niemand Bestimmten und hat sich von jeglicher Nützlichkeit gelöst ... weil wir kein zureichendes Bewußtsein davon entwickeln, was sinnvoll und bedeutsam ist« (Postman 1992b, 62). Das Wissen hat sich von der lebensweltlichen Unmittelbarkeit gelöst.
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Organisiertheit. Nicht die Schrift also, sondern die strukturbefangene Rezeptionsweise bewirkt eine nicht-komplexe ›Entbilderung‹. Hartmut von Hentig betont, daß ›die im Computer angelegten Strukturen auf die Benutzer zurückwirken‹: »Das Bedenklichste, was uns der Computer antut, ist ... die Vorstellung, die wir uns unter seinem Einfluß von ›Wissen‹ machen. Es wird daraus endgültig eine beliebig anhäufbare Sache. Darum auch kann man ›Wissen‹ mit ›Information‹ gleichsetzen – und es quantifizieren« (vgl. 1993). Das Wissen habe die Erfahrung und die Tatsache, daß etwas verstanden werden müßte, hinter sich gelassen. »Wissen ... hat fortan nichts mehr mit Qualität zu tun ... Das Computerwissen ... wird darum die Neigung des Menschen, aus dem Denken ins Wissen zu fliehen, gewaltig steigern« (ebd.). Das Wissen gibt als Information den Anschluß ans komplexe Denken auf.1 Im historischen Bildungssinn hat das Wissen einen schweren Stand. Die nicht-komplexe Strukturalität der Digitalspeicherung und -vermittlung schlägt sich nieder als erfahrungsjenseitige Versachlichung. Ihr ist Wahrnehmung Input, Entscheidung Reflex, Erinnerung Time Code und Geschichte Schnittfolge. »Seitdem sich die ›Bilder‹ als das Sinnliche ausgeben«, so Kamper, »fällt der harte Kern der Dinge aus« (1990, 32f). Er wird zum fraktalen fact seiner selbst, und die niedrigkomplexe Sinneswahrnehmung glaubt die Erfahrung des Gehens im Sitzen tun zu können. Wer aber derart davon ausgeht, die Weisheit nun mühelos mit dem digitalen Löffel fressen zu können, ohne den Sinnesapparat auf Komplexität zu stellen, dürfte komplex-los vor dem Modem enden und sich dann womöglich fragen, weshalb er informiert sein soll, wo er doch Erfahren haben wollte. Das Wissen zur Erfahrung zurückzubiegen, sind die Informationen alleine nicht dienlich. So erkennt Flusser als der Weisheit 1 Heinz von Foerster sieht das Erziehungsbemühen daringehend gerichtet, »unsere Kinder zu trivialisieren«. Wie ›in einer nicht-trivialen Maschine (Turingmaschine) der Output durch den Input und den internen Zustand der Maschine bestimmt wird‹ intendiere das Erziehungssystem, ›all jene ärgerlichen inneren Zustände ausschalten, die Unberechenbarkeit und Kreativität ermöglichen‹. Es lehre nicht, komplexe Fragen zu stellen (vgl. 1993, 170f). Doch europäische Kultusminister haben mittlerweise erkannt, daß »es ›nicht länger möglich oder wünschbar sein wird, enzyklopädisches Wissen zu vermitteln«. Der Bildungsschwerpunkt müsse sich vielmehr zur Fähigkeit hin verlagern, ›Informationen auszuwählen‹ (vgl. Degler 1993, 102): Der Strukturlogik scheint eine – auf neue Weise – wissenstranszendierende Rolle zuzufallen.
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des Wissens letzter Schluß denn auch zynisch, »das Wissen ist ein absurdes Wissen ... Auf alles Wissen ... müssen wir verzichten. Das ist es, was wir wissen« (1990b, 81f).
4. Kommunikaze! Da das Wissen in den Apparaten als Information zirkuliert, dem erst menschlich Leben ›eingehaucht‹ werden kann, ist zu fragen, welchen Einfluß das Wissen in der Symbiose von Mensch und Apparat auf die Kommunikation hat. Was bedeutet Kommunikation, wenn Apparate »zu geselligen intellektuellen Partnern des Menschen werden« (vgl. Brand 1990, 188), wenn aber strukturelles Wissen den komplexen Sinn gefangenhält? Zwischenmenschliche Kommunikation ist weder identisch mit apparatimmanenter Kommunikation noch mit jener zwischen Mensch und Apparat. Grundlage der apparatimmanenten Kommunikation sind die 0-1-binären Codes. Sie behandeln das menschliche ›Reden‹ simulatorisch als Kommunikation und setzen technische Kenntnisse zur Handhabung voraus, die in der natürlichen Kommunikation überflüssig sind. Kommunikation ›fließt‹ als eine Art Informations‹strom‹, der erst zu ›knacken‹ ist, soll sich das Kommunizierte menschlich komplex entfalten. Erst wenn die Codes in Stimme, Schrift oder Bild decodiert sind, können die kommunizierten Informationen imaginiert werden – und Antworten erfolgen. Erst dann ist das Menschengehirn gefordert. ‹Gesellig‹ aber gelten Apparate schon, wenn ein output erfolgt. Es zählt informationstechnologisch zu Kommunikation, wenn Staubsauger piepsen, wenn Kaffeemaschinen ›die Kanne ist voll‹ signalisieren und wenn Geldautomaten Buchungsbelege ausdrucken. Derartiger Output ist das Ergebnis struktureller Justierung. Wenn die Kommunikation aber apparatimmanenten Befehlen genügt, ist das Klingeln des Telefons sogar informativer als das danach geführte (redundante) Gespräch, die Warnung eines Textverarbeitungsprogramm vor drohendem Programmabsturz ist dann informativer als der abstürzende Text, und das Sprechen eines Roboters ist informativer als das Ausgesprochene selbst. Kennzeichnend für die sogenannte ›Informationsgesellschaft‹ ist die Tatsache, daß Informationen kybernetisch verarbeitet werden.
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Apparatische Kommunikation ist reiner Datentransport. Er definiert Kommunikation dadurch, daß ’etwas fließt’. Jenseits der kybernetischen Befehle – vom Menschen aus gesehen diesseits – aber gibt es derartige Kommunikation nicht. Menschliches Reden übersteigt das Funktionale des Kommunikationsbegriffs und der danach benannten Kommunikation. »Kommunikation kommt nur zustande, wenn jemand sieht, hört, liest – und so weit versteht, daß eine weitere Kommunikation anschließen könnte. Das Mitteilungshandeln allein ist ... noch keine Kommunikation« (Luhmann 1996, 14). Menschliches Reden ist konnotativ vielschichtig und potentiell paradox, es ist mehr als Input-Output-Reaktion. Kommunikation als Transport aufzufassen hat folglich nichts mit menschlicher Kommunikation zu tun, denn das Moment des Fließens ist technologisch wichtiger als das, was fließt. Meßbare Werte dominieren dann einen Sinn, der nicht gemessen werden kann. Luhmann rät denn auch, »auf die Vorstellung zu verzichten, Informationen könnten, wie kleine Partikelchen, von System zu System transportiert werden; sie seien gleichsam unabhängig vom Benutzer vorhanden« (1996 39). Kommunikation übersteigt die funktionale Ebene des 0-1-Binären. Dank der Neuen Technologien aber nimmt apparatische Kommunikation insofern zu, als der Mensch daran gar nicht mehr beteiligt sein muß. ›Intelligente Häuser‹ führen den Haushalt zusehends in Eigenregie, Videorecorder und Anrufbeantworter setzen auf ›Herrchens‹ Abwesenheit, Datenbanken und über digitale Leitsysteme vernetzte Autos kommunizieren bereits autonom, und das internationale Bankwesen, der Konsummarkt und militärische Überwachungsprogramme wären ohne data flow gar nicht mehr existent. Kommunikation wird dem menschlich-apparatischen Kommunikationsprozeß irrelevant, wenn die Dinge selbst miteinander kommunizieren. Deren ›Geselligkeit‹ aber betrifft nur die Tatsache, daß ein Output erfolgt, nicht der Sinngehalt des Vermittelten – selbst wenn sie Wissen austauschen sollten. Damit wird ›das Bewußtsein davon, was Kommunikation überhaupt ist, neu definiert‹ (vgl. Fiehler 1994, 524f). Die Anschlußbedingungen der Apparate legen fest, was Kommunikation ist. Wenn aber ›hinter den Programmen immer weniger menschliche Absicht erkennbar‹ ist (vgl. Flusser 1990b, 141), ›ist die zentrale Stellung des Codes die eigentliche Definition der Macht‹ (vgl. Baudrillard 1978, 22). Sie verbietet sich jedes ›Reden‹, denn ›zu optimaler
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Kommunikation kommt es erst, wenn der Inhalt getilgt ist‹ (vgl. ders. 1992, 59). Das Digital macht aus dem Rezipienten einen Rezeptomat für die ›unbefleckte, pure Empfängnis‹ des Informationsstroms (vgl. Reiss 1995, 89). Auch in der interaktiven Kommunikation zählt weniger, mit wem man redet oder worüber man spricht, sondern die Kommunikation an sich. – »Warum«, so fragt Baudrillard, »miteinander sprechen, wo es so einfach ist zu kommunizieren?« (1992, 63). Information ist, was widerstandslos durchs Gehirn gleitet, ohne Spuren auf der innerhirnlichen Festplatte zu hinterlassen. »Nichts zu sagen zu haben, um besser zu kommunizieren« (ebd. 58) ist die Bedingung der reibungslosen Digitalkommunikation, denn ›die Realität der Massenmedien besteht aus ihren eigenen Operationen: aus der apparatinternen Kommunikation‹ (vgl. Luhmann 1996, 12f). Baudrillard zufolge »darf [es] keine Aktion geben außer derjenigen, die aus einer Interaktion hervorgeht ... Die Operation ist im Gegensatz zur Aktion dadurch gekennzeichnet, daß sie zwangsläufig in ihrem Ablauf gesteuert wird – sonst kommuniziert es nicht. Es spricht, aber es kommuniziert nicht. Die Kommunikation ist operabel oder sie ist keine. Die Information ist operabel oder sie ist keine« (1992, 55f). Die Neuen Medien also reproduzieren ihre eigenen Operationen als Sinnplacebo. Apparatische Informierung hat folglich nichts mit menschlich komplexer Kommunikation zu tun. Der Output der Apparate ist, menschlich gesehen, keine Kommunikation, da er sich – im Sinne Luhmanns – in einem anderen System, dem des Digitals abspielt. Luhmann trifft die ›für die neuerdings aufkommende, durch die Erfindung der Computer stimulierte Tendenz‹ wichtige Unterscheidung, »›schief‹ liegt der Versuch ... den Maschinenbegriff auf der Ebene der allgemeinen Systemtheorie zu verwenden« (vgl. 1988, 17)1 – den menschlich kommunikativen Prozeß also mit technologischer Vermittlung gleichzusetzen. Die technologischen Strategien 1 Soziale Systeme entwickelten sich nur bei »hinreichender Gleichartigkeit der Elemente«, so Luhmann: »Es kann ... keine Systemeinheit von mechanischen und bewußten, von chemischen und sinnhaft-kommunikativen Operationen geben. Es gibt Maschinen, chemische Systeme, lebende Systeme, bewußte Systeme, sinnhaftkommunikative (soziale) Systeme; aber es gibt keine all dies zusammenfassenden Systemeinheiten« (1988, 67). Apparate gehören folglich nicht der ›Umwelt‹ sozialer Systeme an, sondern sind ›nur‹ Träger von Botschaften, die – sozial – erst aktiviert werden müssen, um ›Umweltbedingung‹ zu werden.
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können den lebensweltlichen ›sozialen Systemen‹ kommunikativ nicht genügen: Gilt die menschliche Kommunikation dennoch als dem apparatischen Austausch vergleichbar, wird Funktionalität und Struktur mit Komplexität verwechselt. Das menschliche Reden, das fälschlicherweise Kommunikation genannt wird, wird dann umsomehr korrumpiert, als aus der ›Sicht der Apparate‹ gilt: »wer ohne Kommunikation zu genießen vorgibt, ist ein Tier« (Baudrillard 1992, 56). Menschliche ›Kommunikation‹ ist – technisch besehen – etwas zutiefst ›Unmenschliches‹, denn sie widerspricht der Logik des Digitals. Wer nur jenseits der Vernetzung agiert, gilt als inkompetent, und wer nicht Anteil am Netzleben nimmt, ist den Netz‹bewohnern‹ inexistent. Da menschliche Kommunikation den Apparaten inkompatibel ist, wird bei der Netzkommunikation erwartet, auf das menschlich Komplexe zu verzichten. Erst wer der Niedrigkomplexität entgegenkommt, kann als Kommunikationspilot, der Informationsgeschosse abfeuert, zum Helden der Digitalwelt werden. Die Befürchtung, daß das Wissen heute nichts mehr nützt, weil es kommunikativ nicht in Erfahrung mündet und der Niedrigkomplexität geopfert wird, bedeutet aber nicht, daß es informationstechnologisch wertlos ist. Ganz im Gegenteil: Die Pointe des Digitals ist, daß der Homo Copy gerade laufen lernt. Er nährt sich von allen zur Verfügung stehenden Informationsfraktalen. All die in die Rechner gestürzten Wissensfragmente entwickeln im digitalen Technotop ein elektronisches ›Eigenleben‹. Die Informationstechnologien behandeln die Informationen wie die Gene der DNS und die unterschiedlichsten Wissenschaften bemühen sich, die Informationen zu klonen. Da aber die simulierten Gene noch lange nicht zum Denken führen, wird auch der Homo Copy nur eine Informationsansammlung sein, die kaum über den Tellerrand ihrer Strukturen hinaus wird reflektieren können. Der menschlich komplexe, ›nichteinholbare Rest‹, der den Menschen zum Menschen macht, wird dem Homo Copy kaum einzuhauchen sein, da sich das Unberechenbare der Zählbarkeit und Meßbarkeit verweigert. Die Apparate verbleiben strukturell berechenbare Verschaltung und damit unterhalb der menschlichen Komplexitätsschwelle, selbst wenn ihre Strukturen umfassender und komplizierter werden. Allein auf Niedrigkomplexitätsniveau werden sie zusehends perfekter. Der Mensch dagegen
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ist unkalkulierbarer und komplexer ›Individualist‹ und sein Gehirn Berechenbarkeit übersteigende Komplexität – sofern er sich dieser evolutionär entwickelten Vorteile weiterhin bedient.
5. Die Entropiefalle Sosehr die Medienvermittlung das Vermittelte dominiert, die Klage, die Fernseh-‹Bewußtseinsindustrie‹ sei monströs, weil es ›ihr nie aufs Produktive ankommt, sondern immer nur auf dessen Vermittlung‹ (vgl. Enzensberger 1964, 8f) mag dennoch irritieren. Schließlich wird allzu fleißig produziert. Die Kreativität in Film- und Fernsehproduktionen boomt, die Medienästhetik nimmt die digitale Herausforderung an, Computerkunst erobert die Museen und via Internet kann heute jede Idee die Welt erobern. Der Kreativitätsschub scheint mit den technologischen Möglichkeiten zu wachsen. Die Frage aber ist, ob sich das kreativ Produzierte tatsächlich an das Bewußtsein der Zuschauer beziehungsweise der Nutzer richtet. Wird etwas produziert, gesagt und gezeigt, um die Sinnkomplexität des Aktuellen und die des Rezipienten zu steigern oder will es als eine nur neue Variante des schon Bekannten nur gesendet werden? Die Gretchenfrage schwankt zwischen Sinn und Vermittlung, zwischen Komplexität und Struktur. Ist das Produzierte tatsächlich kreativ, oder ist die Botschaft die Vermittlung selbst, in der sich der Sinn als Einschaltquotenbeschleuniger genügt? Letzteres ließe – sogar ans Bewußtsein adressiert – fraktal ›alles‹ sagen, ohne etwas zu sagen. Philosophie, Musik, Kunst und Literatur – die kreativen Potentiale – wurden laut Enzensberger unter Schutzhaft gestellt und in Reservate gesperrt, in denen sie fern des massenmedialen Weltdorfs ein abseitiges Dasein fristen (vgl. ebd.). Kunst wurde »aus dem täglichen Leben in Museen verbannt« (Flusser 1988, 131). Dort, im Jenseits des medialen Konsens kann sie die Lebenswelt der Rezipienten weder erreichen noch bereichern. Über Philosophie, Musik, Kunst und Literatur wird medial berichtet wie über exotisches Gemüse, das umständlicher Zubereitung bedarf. Da die Zubereitung nicht allzu ausgefallen sein sollte, werden dem Rezipienten einfache Wahrnehmungsrezepte vorgeschlagen. Das Besondere soll, gebro-
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chen über das Allgemeine, als Verlängerung des Bekannten keine Verdauungsprobleme bereiten. Selbst aber wenn beispielsweise Kunstwerke online gehen und rasch, unmittelbar und hochaufgelöst zur Verfügung stehen, ist nicht garantiert, daß sie der (zeitaufwendig) komplexen Anschauung dienen und einen Museumsbesuch ersetzen können. Die ›Schutzhaft‹ kann durchaus auch in der Speicherung und der Digitalvermittlung liegen, denn die Form der kommunizierten Kunst bestimmt die Kunstrezeption – jede Nachricht erhält (die Nachricht einfärbend) als Konnotation, wie und über welchen Kanal sie kommt. Zwar erlaubt die interaktive Vernetzung, daß die Rezipienten nun freie Wahl haben und selbst entscheiden können, womit sie konfrontiert werden wollen, dieser seinerseits nun produktive Prozess der Komplexitätskonstruktion aber ist abhängig sowohl von den Strukturbedingungen der Netze als auch vom Komplexitätsniveau, das die Rezipienten antreibt. Die in den ›Packungsbeilagen‹ der Neuen Medien verheißene Gesundung vor dem angeblich ›mageren Niveau‹ der analogen Medienvermittlung erfolgt keineswegs automatisch. Wo aber, wenn überhaupt, ›weht‹ das Rezeptionsbewußtsein im Allgemeinen, will es sich im Besonderen entfalten – und wo und wie kann das Besondere das Allgemeine beeinflussen? Was überhaupt erwartet der Rezipient von den Medien? Und was hat er von den interaktiven Medien zu erwarten? Was der Rezipient im Besonderen will, ist angesichts der Norm des Allgemeinen nicht leicht auszumachen. In den Untersuchungen über das Medienverhalten wird den Befindlichkeiten der Individuen nicht individuell nachgegangen, vielmehr werden deren ›Fingerbewegungen‹ auf Fernbedienung und ›Maus‹ verallgemeinernd gemessen: Die Einschaltquote bricht den Einzelnen als Publikum über den gemeinsamen Nenner seiner ›Blickeinheiten‹. Die Einschaltquote – und auch die Umfrage – mißt nach dem Börsenprinzip der Statistik, das nur Reiz-Reaktionswerte erfaßt. Quoten simulieren die Sinnkomplexität und ersetzen Befindlichkeiten durch Graphiken. So wenig das durch Geld in Gang gehaltene Wirtschaftssystem selbst erfährt, was Bedürfnisse wirklich sind, obwohl es Bedürfnisse befriedigt (vgl. Luhmann 1992, 39), so wenig ›erfahren‹ die durch Informationen in Gang gehaltenen Informationsmedien von den Bedürfnissen der Rezipienten, obwohl sie ebenfalls Bedürfnisse befriedigen. Beide Systeme folgen dem Prinzip der Selbstreferenz. Die
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Bedürfnisse liegen – in Schutzhaft – außerhalb der Systeme. Was Zuschauer also jenseits des abrufbaren Angebots wollen, entzieht sich der verallgemeinernden Ermittlung. Neben der Ermittlung des Besonderen ist auch das Allgemeine ein blinder Fleck der Medienwahrnehmung. Information ist den Medien strukturell sammelbares Wissen im Kontext ihrer Eigenerweiterung. Sammlung und Vermittlung von Wissen aber sind keineswegs schon Kultur, Wissen ist nicht Sinn und die Fernbedienung garantiert noch keine Bewußtseinsbereicherung. Die Medien verteilen Informationen, Wissen und Sinn als fraktal handzuhabende Pakete, die erst komplex ›auszupacken‹ und an Bedürfnis, Erfahrung und Erinnerung zu binden sind. Die Rezipienten scheinen Bäume erkennen zu müssen, die man in Streichhölzer zerlegt hat, beziehungsweise Streichhölzer, die als Baum daherkommen: Das fraktal Vermittelte – beispielsweise Allgemeinwissen – ist über die Strukturen, denen die Inhalte nur als Anhang folgen, ins Komplexe zu übersetzen. Da zunächst aber die Vermittlungslogik dominiert, sieht der Rezipient zunächst den Wald vor lauter Bäumen nicht. Enthebt er aber den Sinn nicht über die Struktur, so surft er niedrigkomplex nur über Programmoptionen. Er nimmt dann gewissermaßen die Schemata von Programmzeitschriften wahr, nicht aber die Programminhalte. Eine derart fraktalisierte Wahrnehmung schließt das Besondere mit dem Allgemeinen kurz und entledigt sich des Sinns. Das Niveau der Wahrnehmung wird dann mit der Einschaltquote selbst identisch. Wer keinen gefestigten Sinnhintergrund bei der Informationsrezeption bereithält, wird in den Fluten der Informationen hoffnungslos stranden.1 Potentiell kann freilich jeder den Rosenkranz der aktuellen Informierung herunterbeten, jeder erfährt mehr oder we1 Auch Nachrichtensender senden die Informationsfraktale ohne sinnhaften Zusammenhang, sondern weitgehend ’zufällig’ und nur in Abhängigkeit von der Aktualität. Es scheint uns einerseits zu beschäftigen, was uns gar nicht interessiert, andererseits ›retten‹ uns die themenspezifischen Aktualitätsschleifen nur vorübergehend vor der Beliebigkeit. Sollte jenseits des aktuellen Konsens etwas interessieren, müßte man auf die Thematisierung warten beziehungsweise gezielt in den Datenspeichern wühlen. Abgesehen von ›Schnäppchen‹ wird vor allem der fündig, der mit klaren Absichten kam. Ohne Suchoption sind die Reisen ins Reich des Wissens Reisen in die Sinnlosigkeit. Die Komplexität der Mediennutzer also will zwar eingelöst sein, nicht die Medien selbst aber forcieren dieses Vermögen.
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niger dasselbe, denn die Medien verbreiten mehr oder weniger dasselbe Wissen. Informationen werden möglichst gleichverteilt, sie werden als Nachricht so lange wiederholt, bis sie auch im ›letzten Haushalt‹ ankamen und – eventuell komplex – verstanden wurden. Die Informationen verteilen sich relativ gleichmäßig im gesellschaftlichen Raum. Ohne ›Gehirnschaden‹ unter den Rezipienten nach sich zu ziehen, zirkulieren sie geisterhaft durch die Gesellschaft und verflüchtigen sich nach dem Aktualitätsschub ins ›Off‹ des Gespeichertseins. Nach ihrem Bekanntwerden können sie dem Verfall preisgeben werden. Die herkömmlichen Medien muntern nicht dazu auf, auf die Informationen zu reagieren, über sie nachzudenken, auf sie zu antworten und aus den Neuigkeiten selbst Informatives schlußzufolgern. Es genügt zu sagen ›so ist es und also weiß ich Bescheid‹. Weiterführende Reaktionen sind nicht beabsichtigt, denn man soll informiert sein: Die Medien wollen die Informationen an die Rezipienten loswerden. Der Rezipient ist eine Art Müllsack des Weltgeschehens, der am Ende der informatorischen Nahrungskette steht. Nach ihm stürzt die info ins Nichts der Geschichte. Sie kann gespeichert beziehungsweise vergessen werden. Doch nichts wird vergessen, alles wird gespeichert und kann durch die Informationszirkulation künstlich ›am Leben‹ erhalten werden. Aus den Speichern heraus kann und soll man immer aufs Neue informiert werden. Nach veralteter Aktualität können Informationen als Geschichte an neue Aktualitäten geknüpft werden, und das Aktuelle kann an der Geschichte geprüft werden. Doch wiederum – dem klassischen Informierungsmodell folgend -, bleibt der Rezipient nur Rezipient. Er ist, gleichwohl er beispielsweise Leserbriefe schreiben darf, dazu verdammt, zu hören und zu sehen, wie die Aktualität im Spiegel der Geschichte sich spiegelt – und umgekehrt. Er ist zur Wahrnehmung verdammt und von Reaktionen, die unmittelbar den Informationsstand verändern, ausgeschlossen. Die Aktualität einschließlich der aktuell gewordenen, gespiegelten Geschichte gerät, sobald informiert wurde, erneut ins ›Off‹ des Desinteresses. Das ›Märchen von der Wahrheit‹ als Neuauflage des ›Märchens von der gestrigen Wahrheit‹ wird immer neu erzählt, ohne Anteilnahme herauszufordern. Die Informationsindustrie nährt sich von den Massen gespeicherter Informationen: Geschichte, Zeitdokumente, Spielfilme, Serien
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und sogar Nachrichten (die Jahrzehnte alte ›Tagesschau‹) werden immer aufs neue wiederholt. Das kulturelle Gedächtnis pflegt Tradition, indem es sich selbst reproduziert und immer aufs neue gleichmäßig verteilt wird. Die sogenannte Öffentlichkeit wird mit ›längst bekannten‹ Informationen fraktal ›geflutet‹. – Anlaß dazu geben Gedenktage, Geburtstage, Katastrophen, der Verweis auf ›Altbewährtes‹ etc.: Das mediale ›Gedächtnis‹, so höhnt Stelarc, ›führt zur Nachäffung‹ (vgl. 1995, 74). Die Wahrnehmung droht nach und nach eingeschläfert zu werden, wenn das Alte endlos wiederkehrt und beispielsweise einst revolutionäre Musik auf das Dudelfunkniveau hinaufgeschrumpft wird. Das Gespeicherte liegt dann weit hinter dem aktuellen Komplexitätsstand der Rezipienten zurück. Obwohl Geschichtsaufbearbeitung zu neuen Erkenntnissen führt, kreisen die Endloswiederholungen in einer Art künstlichen ›Aktualitätsschleife‹, in der der Sinn nurmehr die Fußnote seiner Zirkulation ist. Flusser klassifiziert diese Zirkulation schon bekannten Wissens als Kitsch: Kitsch ist »als ein recycling des Abfalls zurück in die Kultur anzusehen« (1985, 53). Dieser Prozeß folgt dem Bedürfnis, nichts vergessen zu wollen. ›Im Abfall sollen wir glücklich werden‹ (vgl. ebd. 60). Der Kitsch sei uns im ›Universum der Gemütlichkeit‹ (vgl. Anders 1985, 125) »eine Methode ... gemütlich zu sterben« (Flusser ebd. 61). Die Aufnahme alter, längst bekannter Informationen nennt Flusser ein »Vergnügen am Kotsaugen« (1990b, 130). Das der Informationsvermittlung folgende Versiegen der Informationen in ›Gleichverteilung‹ aber scheint kein hausgemachtes Problem der Informierungsstrategien zu sein, sondern einer universellen Gesetzmäßigkeit zu folgen: dem sogenannten ›Satz der Entropie‹. Der ›Zweite Hauptsatz der Thermodynamik‹ umreißt den Zustand der Ausdifferenziertheit der Materie bei gleichbleibendem Energieniveau. Er verdeutlicht das Gefälle von Information zu ›Entinformatisierung‹ und macht das Mißverhältnis von Komplexität zu Struktur transparent. Der Entropiesatz illustriert die Diskrepanz von Wissen zu Bewußtsein und erklärt die ontologische Kluft zwischen Informationszufuhr und Kommunikationsgeschick. Die Entropie ist ein Maß für die Unordnung und für die Gleichverteilung von Partikeln in einem geschlossenen System. In der unbelebten Welt herrscht bezüglich der Materie die natürliche Tendenz, daß sie sich auf einen Zustand immer größerer Unordnung
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hinbewegt. Der Entropiesatz besagt, daß die Gesamtenergie beispielsweise bei gleichmäßiger Durchmischung zweier Gase nie abnehmen kann, die Unordnung der im Raum gleichmäßig verteilten Gase aber zunimmt. Dieser ohne weitere Energiezufuhr irreversible Prozeß bedeutet steigende Entropie. Anders gesagt: Obgleich die Menge der Energie in einem geschlossenen System grundsätzlich erhalten bleibt, sagt das noch nichts über ihre Verfügbarkeit. Wärme fließt immer nur in eine Richtung – vom wärmeren zum kälteren Körper, nie umgekehrt, so daß im geschlossenen System Weltall irgendwann alle Vorgänge im sogenannten ›Wärmetod‹ auf Niedrigtemperaturniveau zum Stillstand kommen müssen. ›Das Naturgeschehen hat eine unumkehrbare Richtung. Es führt aus Zuständen und Strukturen einer aus Ungleichverteilung resultierenden Ordnung in eine Unordnung der Gleichverteilung. In der unauflöslichen Vermischung von allem mit allem lösen sich alle Unterschiede auf‹ (vgl. Guggenberger 1991). Bezüglich des Informierungskosmos vermag die Entropie die Tendenz zu kommentieren, daß alle noch so hochgradig aktuellen Informationen an Aktualität verlieren, daß der Zustand einer aus Ungleichverteilung resultierenden Ordnung (der Prozeß der Informierung) in eine Unordnung der Gleichverteilung (das Informiertsein) mündet, woraufhin die Informationen ein Dasein der Nichtbeachtung fristen. Entropie besagt, daß Kommunikation ›sprachlos‹ wird, sofern das Besprochene keine weitere informatorische ›Energiezufuhr‹ erhält. Entropie besagt, daß die Komplexität der Tendenz unterliegt, sich in Vereinfachung zu verflüchtigen. Das Allgemeine ist demzufolge entropischer als das Besondere, der Standard ist entropischer als die Innovation, Statistik ist entropischer als Feldforschung, Recycling ist entropischer als Kreativität, Wissen ist entropischer als Bildung, Tradition ist entropischer als Revolution, und Kulturenzyklopädien sind entropischer als Kultur: Die ›Unordnung der Gleichverteilung‹ umschreibt die natürliche Tendenz der Vergänglichkeit. »Die meisten ... Informationen sind in Vergessenheit geraten. Nicht nur Dokumente zerfallen in Asche und Gebäude in Ruinen, sondern die meisten der uns vorangegangenen Kulturen haben kaum Spuren hinterlassen« (Flusser 1989, 43). Informationstheoretisch meint Entropie: »das Universum, als geschlossenes System betrachtet, neigt dazu, Informationen zu verlieren« (ders. 1988, 123). Auch
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in der Natur sind Informationen, die genetisch weitergegeben werden, der Entropie preisgegeben, da die Evolution keine Garantie geben kann, daß Zellen nicht absterben und Tierarten nicht aussterben. Entropie ist überall zu finden: Aktualität thematisierende Filme werden zu ›Klassikern‹, Künstler produzieren nach kurzen Erfolgsschüben oftmals nur noch ›Mist‹, Hits werden zu ›Oldies‹, Moden ›out‹, Aktuelles langweilt nach Bekanntwerden und selbst das Fernsehen ist ja angeblich nicht mehr ganz auf der Höhe der Zeit. Wider die Tendenz der Entropie freilich wirkt die Evolution selbst: Die Natur überwindet die Entropie, indem sie neue Informationen als (zufällige) Mutationen zuläßt. Die Biomasse ›spielt‹ durch fehlerhaftes Kopieren mit den in ihr gelagerten Informationen, wodurch eine neue Informationslage entsteht. Sie steigert den Komplexitätsgrad der Biomasse und bringt den Informationshaushalt auf eine emergentere Ebene. Die Gegentendenz der Entropie also ist die Information, die »Antwort auf den ›Wärmetod‹ ... ist: ›informieren‹« (Flusser 1990, 19). Die Information ist das Neue, das noch nicht Dagewesene, das bis dato Unwahrscheinliche. Eine Information definiert sich als ein »Unterschied, der einen Unterschied macht« (Bateson 1985, 408), indem Unwahrscheinliches wahrscheinlich wird und den Wissens- und Aktualitätsstandard ändert. – Je unwahrscheinlicher eine Information ist, desto informativer, desto negativ entropischer, negentropischer ist sie. Der Mensch nun hat im Gegensatz zur Natur die Gabe, jenseits der genetischen Speicher nicht nur kulturelle Informationen zu speichern und zu ändern, sondern jederzeit Neues zu kreieren. Er »unterscheidet sich von den übrigen Lebewesen durch die Tatsache, daß er erworbene Informationen speichert und weitergibt. Das widerspricht der Biologie, die sagt, daß nur genetische Informationen weitergegeben werden« (Flusser 1988, 123). Der Mensch ist damit ein »Wesen, das gegen die sture Tendenz des Universums zur Desinformation engagiert ist« (ders. 1990, 19). Er ist das einzig existierende Wesen, das absichtlich Informationen herstellen kann, das lernen und dadurch neues Wissen transformieren kann – Lernzuwachs steht in negentropischer Analogie zur natürlichen Weiterentwicklung durch Mutation. Auch die Neukombination von Altbekanntem kann zu neuen Informationen führen. »Wir ... helfen uns mit der hochselektiven Aufwertung bestimmter Arten von Altsein zu Oldtimern, Klassikern, Antiquitäten, zu denen wir dann wieder
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neue Informationen, Preise, Interpretationen erzeugen können« (Luhmann 1996, 46). Aus Alt mach Neu ist eine Devise der Negentropie. Der Errungenschaft der Informationsproduktion kommt zugute, daß die erworbenen und neuerschaffenen Informationen in einem kulturellen Gedächtnis, in Bibliotheken und Datenspeichern aufbewahrt werden können. Die Speicher gewähren ›kommunikativere Formen der Kommunikation‹, sie treten an gegen die natürliche Tendenz des Vergessens, denn Informationen können immer aufs neue in die Aktualitätsszenarien eingehen. Den Speichern steht – den genetischen Grundlagen vergleichbar – geradezu autonomer Charakter zu: »Nicht sie [die Bibliothek] diente dem Menschen in seinem Engagement, erworbene Informationen vor der Entropie zu bewahren, sondern im Gegenteil diente der Mensch ihr, um in ihr vor der Entropie (vor dem Tod) bewahrt zu werden« (Flusser 1989, 46). Ohne Speicherung können alte Informationen nicht zu neuen mutieren. Die Speicher also sind subjekthafte Träger der Informationen, sie sind für die Kultur so wesentlich wie die Gene für den Erhalt des Lebens. Wider die Entropie werden ›immer dauerhaftere Unterlagen für Informationen hergestellt‹ (vgl. Flusser 1985, 53). Da immer neue Informationen in die Speicher eingehen und neue wie alte sich ändern, ist das Digital der ideale ›Ort‹ der Informationsevolution. Die Speicher sind Spiegel der Existenz des Menschen und seiner Kultur, die Speicherung macht Informationen nahezu unsterblich, doch erst die digitale Speicherung eröffnet der Mutationsfreude noch kaum denkbare Tore. Mit den neuen, digitalen Strategien der Informationsherstellung scheint nicht nur die Entropie überwindbar zu sein, auch die Natur, die zusehends flächendeckend simuliert wird, wird zu einem Teil des Digitals und findet ihr Pendant im Virtuellen. Die biologische ökoware erobert – mutationsbereit – die apparatische software. Allein die Digitalspeicherung freilich überwindet die entropische Tendenz noch keineswegs automatisch. Ganz im Gegenteil, Speicherung bedeutet auch Vergessen (vgl. Flusser 1992, 131): Solange Daten nur gehäuft, aber nicht genutzt werden, machen sie keinen Unterschied. Ungenutzte Daten gibt es genau besehen gar nicht. Unabgerufenes Wissen ist totes Wissen, ist geistlose Buchstaben- beziehungsweise Bitansammlung. Erst der Griff in die Speicher setzt
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Informationen frei, erst die Rezeption aktiviert ihren Sinn und eröffnet die Möglichkeit, neue Informationen herzustellen. Während die Natur die informative Weiterentwicklung durch die Fortpflanzung löst und die damit verbundene Möglichkeit von Mutationen dem Zufall überläßt, ist es in der Informationswelt notwendig, Wissen, soll es neue Wirkung tun, kommunikativ am Leben zu erhalten. Der kommunikative Eisprung kann jederzeit erfolgen. Optimale Gelegenheit dazu bieten die interaktiven Wissensreservate der Neuen Medien. Deren Kommunikationsmöglichkeiten sind grenzenlos und ebenso grenzenlos sind die Möglichkeiten neu entstehender Informationen. Die bislang gängige Praxis der Informierung ist demgegenüber alles andere als kommunikativ: Die herkömmliche mediale Informationsverteilung ist kein Austausch, sondern folgt einer Einbahnstraße, die in einer Sackgasse beim Rezipienten endet. Zeitung, Radio und Fernsehen erlauben keine unmittelbare Gegenrede. Nur über Umwege geht Gegenrede in die Informationen verteilenden Speicher ein: Recherche sammelt, Statistik und Einschaltquote erfaßt Neues aus dem Bereich der Lebenswelt, um es – meßbar gemacht – medial an sie zurückzuspiegeln. Damit reiht sich das Neue ein in die bereits gespeicherte Datensammlung. Erst zeitversetzt, nach ›mediengerechter‹, selektierender Aufarbeitung und abhängig von der Einschaltquote wird ›gebündelt‹ gesendet: erst nach der Speicherung des Neuen. Weitere Reaktionen auf das Neue benötigen dann einen weiteren Umweg, den der Leserpost oder der Wahl. Sie ›wirken‹ aber erst, wenn die entscheidenden Informationen durch die Zirkulation bereits unter Entropie- und Kitschverdacht gerieten. Gegenrede müßte unmittelbar kommunikativ erfolgen, wollte sie negentropisch gegen die Gleichverteilung angehen. Erst die interaktiven Medien garantieren Echtzeitreaktionen. Die Kritik Flussers an der gegenwärtigen Medienstruktur ist hart wie eindeutig: Der Mensch funktioniere in Funktion der Apparate, er unterliege dem »Apparat-Totalitarismus« der ausstrahlenden Sender, deren ›kosmisches Metaprogramm‹ die Massenkultur diktiere (vgl. 1990, 64f). Bereits Günther Anders sprach am Beispiel des Radios hinsichtlich der Informationsvermittlung von einer ›amputierten Beziehung‹ dergestalt, »daß dem Hörer zwar die Welt, er ihr dagegen nicht vernehmbar ist« (vgl. 1985, 130). Noch Brecht hatte in seiner ›Radiotheorie‹ gehofft, mittels des Radios gesellschaftlichen
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Austausch zu ermöglichen(vgl. 1967, 129f).1 Doch auch ihn mußten die medialen Realbedingungen enttäuschen. Seit Brecht gingen Jahrzehnte ins Land, Jahrzehnte der Medienkritik, die von Benjamin über Adorno, Anders und Enzensberger bis hin zu postmodernen Kritikern das ›Totalitäre‹ der Medienverschaltung anprangerte. Seitdem läßt sich mit Flusser sagen: »Die Sender beherrschen uns ... weil sie uns bedienen« (1990, 61). Die technologischen Verschaltungen der Informationskanäle sind einseitig, sie sind einweggerichtet. Radio, Zeitung und Fernsehen, die ›Ausstrahlenden‹ hätten Sender und Empfänger zugleich – das sei besorgniserregend, da der Empfänger als passiver Rezipient keine Sender hat: »Das ist ein faschistischer Schaltplan, es geht um Gleichschaltung, Verantwortungslosigkeit, weil ich [als Rezipient] ja nicht antworten kann« (vgl. Flusser 1990c, 213). »Wenn, wie gegenwärtig, die dialogischen Fäden von den Sendern, wie Regierungen oder kommerziellen Instituten, eingeführt werden, müssen sie, trotz ihrer dialogischen Funktion, im Dienste der Sender bleiben« (ders. 1990, 56). Die Sender haben die Macht, den gesellschaftlichen Konsens zu lenken, zu bündeln »wie ein Magnet um sich herum Eisenspäne strukturiert« (ebd. 53). Obwohl die Zahl der Zeitungsmagazine und Fernsehprogramme zunimmt, beherrschen nur wenige Magnaten (Verlage und Agenturen) den Markt. Sie verfügen weitgehend über dieselben Informationen (sie werten sie nur unterschiedlich), da sie mit weitgehend denselben Methoden recherchieren: Die Medien beherrschen uns nicht nur, weil sie uns bedienen, sondern weil sie uns mehr oder weniger – entsprechend der Tendenz zunehmender Fusionen – mit denselben Informationen bedienen. Alle Rezipienten verfügen weitgehend über die gleichen Informationen: »Wir fühlen uns einsam, weil wir alle die gleichen Informationen besitzen, dieses aber nicht 1 Brecht etwas ausführlicher: »Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheueres Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müßte demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren. Deshalb sind alle Bestrebungen des Rundfunks, öffentlichen Angelegenheiten auch wirklich den Charakter der Öffentlichkeit zu verleihen, absolut positiv« (1967, 129).
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mit anderen austauschen können, um daraus neue zu erzeugen« (Flusser 1990b, 90). Nur privater Austausch ist möglich, nicht aber der kommunikative mit den Informationsverteilern. »Der Verkehr zwischen Bild und Mensch«, so die Generaldiagnose Flussers an der informationstechnologisch einseitigen Verschaltung, »weist der Entropie, dem Tod entgegen« (1990, 52), der Tendenz, daß Substanz vergänglich ist, daß Information zwangsläufig dem Vergessen preisgegeben ist. Anstatt kommunikative Plätze (Foren) bereitzustellen, um dort Neues zu schaffen, blockiert das Altbekannte in altbekannten Bahnen die Szene, indem es immer aufs neue ›so tut‹, als sei es neu. Selbst das Aktuelle wird immer aufs neue aufgekocht. Derartiger Kitsch aber bewirkt nur, »die Wirkung der Entropie zu verzögern. Dadurch verzögert sich der Abfluß aus dem Abfall zurück zur Natur, und der Abfluß beginnt, die Szene zu überfluten (Umweltverschmutzung)« (1985, 53f). – »›Recycling‹«, so auch Bernd Guggenberger, »ist nichts anderes als der Griff nach der Entropiebremse, der allerdings den ... Zug der Entropievermehrung nie zum Stillstand bringen kann« (1991): Die ›Verzögerung‹ potenziert die Entropie sogar, da das Altbekannte das potentiell Neue blockiert. Flussers Urteil ist hart wie eindeutig: »Die Massenkultur, der überhandnehmende Kitsch, der Verfall der Gesellschaft in Langeweile, in Entropie, sind Folgen der falschen Schaltung. Und dadurch wird die eigentliche Funktion der Gesellschaft (des ›Geistes‹) umgestülpt: Statt Unwahrscheinliches, Abenteuerliches herzustellen, ist die gegenwärtige Gesellschaft daran, die in sie hineingefütterten Informationen zu erschöpfen. Es ist eine dumme Gesellschaft« (1990, 78).1 – Da die einseitige Medienvermittlung die Lebenswelt beherrscht und »ein kosmisches leeres Gerede und Geplapper« erzeugt (ebd. 73), befürchtet Flusser, »bald wird es nichts mehr geben, worüber wir miteinander sprechen könnten« (ebd.). Die Gesell1 Flusser weiter: »Die Leute wollen von den Bildern zerstreut werden, um sich nicht, wie dies bei einem tatsächlichen Dialog der Fall ist, sammeln, versammeln zu müssen. Sie sind froh, dies nicht mehr tun zu müssen ... Die gegenwärtige Streuung der Gesellschaft ist vom allgemeinen Willen zum Glücklichwerden getragen: Wir sind auf dem Weg zur glücklichen Gesellschaft, das Schlaraffenland ist um die Ecke ... Es ist ein Glück, das sowohl intellektuell als auch moralisch und ästhetisch auf dem Niveau der Kinderstube steht ... Jeder ist zugleich Mund, der an den Bildern saugt, und After, der das Gesaugte unverdaut an die Bilder zurückgibt« (1990, 56f).
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schaft genügt sich darin, rückwärtsgewandt Informationen wiederzukäuen und auch mit ›neuen‹ Informationen nur alte Schemata zu bestätigen. Ganz anderes versprechen die interaktiven Medien. Sie überwinden die herkömmlichen Medien, indem sie in kommunikativer Echtzeit neue Informationen entstehen lassen. Auch das Digital aber, in dem die klugen Nutzer sowohl die Informationsstrukturen auf Trab halten, als auch Sinninnovation pflegen, ist vor Entropie nicht gefeit. Die dialogischen Verschaltungen allein beugen der Verkitschungsgefahr noch keineswegs vor. Das Problem der Entropie verlagert sich nun vielmehr in die Netzkommunikation und verschärft sich insofern radikal, als es nun um die digitalen Bedingungen potenziert wird: Die Informationsprozesse werden immens beschleunigt, die Halbwertzeiten der Information dagegen verkürzt. Zwar ist es nun ein Kinderspiel, negativ entropische Informationen herzustellen, die Entropie aber schlägt umso heftiger zu, je weniger die neuen ›Unterschiede zu weiteren Unterschieden‹ führen und das Kommunizierte wachgehalten wird. Waren bislang Kulturen hochgradig entropiegefährdet, die beispielsweise Tradition nicht weiterentwickeln ließen oder sich gegen Reformen stemmten (beispielsweise die DDR), so liegt die heutige Gefahr im kommunikativen Versagen trotz kommunikativer Hyperaktivität potentiell kommunizierbarer Informationen. Nicht der Mangel an Informationen wirkt heute entropisch, sondern die Überproduktion von Informationen, die trotz Turbokommunikation nicht mehr die ›Unterschiede machen‹ kann, die sie vorhat zu tun. Die Informierung droht dann elektronische Tabula rasa zu machen und im rasenden Stillstand zu enden. Die emergente Grundlage der negentropischen Kommunikationsherausforderung sind heute weniger Texte, sondern extrem informationsbeladene Bilder. Informationsbilder liefern den Sinnhintergrund des Austauschs, sie zwingen – im Gegensatz zum Text – den Rezipienten zu einem neuen Umgang mit der ›Realität‹ und provozieren Reaktionen im Pixelbereich. Die »Freßlust der technischen Bilder [ist] riesig ... Einmal ins Bild gesetzt, ist alles gegenwärtig ... Damit verwandeln die Bilder die Vergangenheit rückgreifend in gegenwärtige Programme ... während die Vergangenheit zur bloßen Bildfunktion zusammenschrumpft« (Flusser 1990, 50f). Rasant werden sämtliche zur Verfügung stehende Informationen aufgesogen und in die Jetztzeit aktueller Bildlichkeit gesetzt. Wissen und
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Bilder werden immer schneller recyclet, um als Rohstoff Neues zu schaffen. Die Strategie des Datenrecycling will die ›Informationen als Dünger für neue Ereignisse und Phänomene kompostieren‹ (vgl. Agentur Bilwet 1993, 70). Dabei wird die Vergangenheit nicht als Sinn in der Zeit der Chronologie gehandelt, sondern als Strukturkomponente der in Echtzeit operierenden Nullzeit. Die Informierung läuft turbo und ereignet sich als Kampf gegen die Zeit, in dem die Inhalte des Vermittelten entropisch über Bord zu gehen drohen.1 Die Informationstechnologien arbeiten in Lichtgeschwindigkeit, womit – dem Sport vergleichbar – die Reaktionszeit der Rezipienten sogar im Bereich der Nanosekunden Punktsiege zu erzielen hat. Derart beschleunigt aber hat jede Information Mühe, ›zu sich zu kommen‹ und ihren Sinn zu entfalten: Geschichte ist einerseits eine nahezu unerschöpfliche Quelle immer weiterer Sinnproduktion, andererseits ist »Geschichte ... daran, zu versiegen, und zwar gerade weil sich die Bilder von ihr nähren, weil sie wie Parasiten auf der Geschichtslinie sitzen« (Flusser 1990, 52). Kamper, dem das 2o. Jahrhundert ein ›Wiederholungsjahrhundert‹ ist (vgl. 1993, 82), hält die Medien für eine »Zeit-Maschine ... die Bilder verschluckt, statt sie weiterhin zum Vorschein zu bringen« (1991b, 143). ›Zum Vorschein bringen‹ bedeutete, sie kommunikativ auf der Ebene des Sinns zu bearbeiten. Obwohl dies interaktiv möglich ist, werden durch die Option der zeitlichen Unmittelbarkeit die neuen Informationen und Bilder geschluckt, noch ehe sie kommunikativ wirken. Nicht erst die Aktualitätssucht der Rezipienten, sondern schon die Apparate selbst zwingen die optimale Rezeptionszeit gegen Null. Die Geschichte scheint sich auf der Zeitlinie zu ›rächen‹. Sie verstopft auch im Digital die Systeme, bereitet Verdauungsstörungen und hindert die auf Geschichtstreue und Authentizität genormte Öffentlichkeit umsomehr, offen für Neues zu sein, als das präsentierte Neue allzu rasch recyclet und hochgradig aufgekochter Schnee 1 »Die Zeit ... zwingt ... dazu, Sinn und Information zu unterscheiden, obwohl alle Sinnreproduktion über Information läuft« (Luhmann 1988, 103). Denn Sinn wird der Information erst durch Entscheidungen in der Zeit abgerungen. Die Koppelung an die Informationstechnologien aber erschweren diesen Schritt, da sich das Kurzschließen an die Fülle der Information jenseits menschlicher Zeitlichkeit ereignet. Lebensweltlich erfolgt die Einfügung von Unwahrscheinlichem nach der gegebenen Ordnung des Sinns in einer Ordnung der Zeit – nicht über eine Struktur, die Informationen vor allem speichert und weiterleitet.
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von Gestern wird: »Die Informationsgesellschaft lebt ... in ihrer eigenen Vergangenheit. Sie kann ... gar nicht Gegenwart werden« (vgl. Reck 1994, 90). Sie verwaltet die Historie und frisiert sie durch Aktuelles auf – und umgekehrt, doch die neue Mischung verfällt ihrerseits der Entropie. Auch die Telematik, so Reck, sei von Lähmung bedroht. Sie präferiere ›nicht das Neue, sondern den Terror der Ahnen und die Alpdrücke einer universalen Ordnung der Welt‹ (vgl. ebd.). Selbst wenn sich die Telematik – informationssüchtig – das Neue einverleibt, wird es nur in bekannte Strukturen eingereiht. Die andere Seite der Aktualitätsmedaille aber ist, daß die Informationsgesellschaft auch in ihrer Zukunft lebt und deshalb ebensowenig Gegenwart werden kann. Wenn einerseits zwar »niemand wissen kann, was morgen gilt«, das Morgige aber andererseits als permanente Aktualitätsflut das Gewesene und Seiende vom Tisch räumt und die Gegenwart elektrisiert, »wirkt es fast wie ein Geschenk, daß wenigstens das Vergangene vorüber ist« (Sloterdijk 1989, 271). Da aber auch zukünftige Geschehnisse recyclet und nach der Aktualisierung im Geschichtsdepot landen werden, ist das Zukunftige potentiell schon ›abgetrieben‹, noch ehe es als Gerücht in der Unterhaltungsküche des Aktuellen für informierende Verwirrung sorgen konnte. Das Aktuelle verbreitet Entropie auch an Orten und bei Ereignissen, die – zeitlich – noch vor der Feuersbrunst des Aktuellen liegen. Das Zukünftige überspringt gewissermaßen die Gegenwart, noch ehe es sich verwirklicht – hat dann aber Gelegenheit, als Vergangenheit den Angriff auf die Gegenwart zu tun. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheinen gleichwertige Pole der Option Aktualität zu sein. Sie werden von der einen Zeit des Echtzeit-Aktuellen dominiert. Sloterdijk analysiert den Lauf der hereinbrechenden ›Weltzeit‹ als eine »Phase, die keine Phase mehr sein will, sondern ein unbefristetes Kontinuum« (vgl. 1989, 300).1 Die Eigenzeit der ununterscheidbar Informationen verarbeitenden Apparate schaltet alle Zeitbezüge kurz und überantwortet sie dem »kinetischen Karfreitag, an dem die Hoffnung auf Erlösung durch Beschleunigung zugrunde geht« (ebd. 43). Das Kontinuum folgt dem Rauschen der Informationen. Sie werden dem Reißwolf der Kommunikation geopfert. Informationen können einerseits – im 1 Sloterdijk merkt an, die Vorstellung, daß ›alles in einem großen Knall endet, sei um nichts erschreckender als die, daß alles für immer so weiterginge‹ (ebd.).
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Zeitalter des Ablachens – alle beglücken, doch das ›Glück‹ besteht auch andererseits darin, alles konstruktiv zerreden zu können. In Entropia, dem Reich der Zerstörung, kann keine Information entkommen. So mutationsfreudig sich das Digital auch gibt, die kommunikative Revolution wird zum Multiplikator der interaktiven Wiederholungsstrukturen. Ihren Zeitbedingungen folgend hat, so Sloterdijk, ›die Gegenwart nur noch sich selbst vor sich‹ (vgl. ebd. 291). Durch das kommunikative Feedback zwischen Apparat und Nutzer entsteht ein Teufelskreis einerseits durch den Zwang, die Apparate mit Neuem zu füttern, andererseits durch die »Sensationslüsternheit der Empfänger. Es müssen immer neue Bilder her, weil alle Bilder längst dazu neigen, langweilig zu werden« (Flusser 1990, 52). Die neuen Bilder aber verfallen ebenfalls und umso schneller dem entropischen Kreislauf, je schneller sie sich verwirklichen. So ist die negentropische Tendenz der Mutation als eine Art Perpetuum Mobile ein paradoxes Metaprogramm. Es ›entsteht eine gewaltige Flut von Programmen, deren Funktion darin besteht, Empfänger in die Funktionen von vorangegangenen Programmen zu programmieren‹ (vgl. ebd. 64). Die gegenwärtig gewordenen Programme sind immer aufs neue durch Neues zu ändern, um deren Empfänger neu zu programmieren, die wiederum aufs neue Unterschiede einführen, um Programm und Empfängerprogrammierung voranzutreiben. Die je durch Programmierung entstehende, entropische Unfreiheit bewirkende Selbstprogrammierung ist immer aufs neue programmatisch zu durchbrechen. Der Zwang, endlos steigende Mutationsraten herzustellen, ist die Strafe für den Sisyphus der Neuigkeitssucht. Muß es aber zum Problem der Entropie kommen, nur weil Information ›langweilig‹ wird, sobald sie bekannt ist? Ist der Verfall des Neuen nicht womöglich eine Folge der Tatsache, daß man auf neue Informationen hin abgerichtet – programmiert – ist? Der Verdacht tut sich auf, daß Entropie erst medial zum Problem wird, da sich die Unsterblichkeit der digitalen Informationen dank und trotz Speicherung als Paradox erweist. Information wird sinnlos, wenn sie im Augenblick ihres Bekanntwerden entropisch wird und ›verfällt‹. Wenn jedes Reden entropisch infiziert wäre, muß es geradezu überflüssig sein, überhaupt reden und informieren zu wollen – eine fatale Situation, da Kommunikation konstitutiv für menschliche Gemeinschaft ist. Auch Luhmann
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meint: »Man muß ... zunächst erwarten, daß Kommunikation überhaupt nicht vorkommt ... man müßte ... Entropie erwarten, aber das Gegenteil trifft zu« (1988, 218): Das ›gegen die Entropie engagierte Wesen Mensch‹ (vgl. Flusser 1990, 19) zeichnet sich gerade dadurch aus, evolutionär Chancen für aussichtsreiche Kommunikation nutzen zu können. Es ist das ›Phänomen der Selektion‹ (von Unwahrscheinlichkeiten), das der lebensweltlichen Komplexität – der ›Umwelt‹ – zunächst Informationen entnimmt (und Unwahrscheinlichkeiten wahrscheinlich macht), diese aber, nachdem sie kommunikativ (kulturell) ›verdaut‹ wurden, dem Verfall preisgibt – um offen für weitere Selektionen (Informationen) zu sein‹ (vgl. Luhmann 1988, 218ff). Informationen haben lebensweltlich nicht den Anspruch, gesammelt zu werden, sondern den, kreativ neue Informationen zu katalysieren. Der Umgang mit ihnen dominiert deren Hortung. Menschlich darf vergessen werden, Informationen dürfen als überholt erachtet werden, Abfall darf verderben, der Tod ist Normalität. Demgegenüber bedeutet Reck »die härteste Drohung der telematischen Informationsgesellschaft .... daß in ihr kulturloses Vergessen hergestellt, eine Kultur des Vergessens aber verhindert wird« (1994, 90).1 Informationstechnologisch werden Informationen nicht komplex selektiert, sie bereichern die Digitalkultur nicht als Sinnzuwachs, sondern als Bitzusatz. Informationen werden ›unsterblich‹ gemacht, wobei die ihnen innewohnenden Sinnunterschiede in der nichtkomplexen Fülle nicht berücksichtigt werden (können) und das Neue weder im Digital noch in der Lebenswelt entscheidende Unterschiede tut: Technologisch ist Entropie aufgrund von Fülle ein 1 Mit der Speicherung ist im Digital auch das Gegenteil des Speicherns: das Löschen wesentlich. Löschen heißt Auslöschen, Vernichten, noch ehe die Entropie zum Zuge kommen kann. Menschliches ›Vergessen‹ aber ist demgegenüber unvergleichbar komplexer. Vergessen ist notwendig, um der Eigenkomplexität, die die zu ›löschenden‹ Informationen bearbeitet hat, Platz für neue Informationen zu schaffen. Ohne Vergessen würde dem Menschen das Gehirn platzen, ja »ohne Vergessen ist kein Leben möglich« (Reck 1994, 89f). »Vergessen ist im Erinnern sozusagen als Rückspiegel ... eingebaut« (ebd. 102). Reck erinnert daran, daß »technisches Vergessen ... nur ein Löschen« und ein nicht mit dem menschlichen Vergessen vergleichbares Phänomen ist (vgl. 90). »Wenn der Vorgang des Vergessens vergißt, daß überhaupt vergessen worden ist, wenn die Form der Wiederholung nicht mehr als ausdrücklich in der Gegenwart aufscheint, dann wird die Rede von Erinnerung gegenstandslos« (ebd.).
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Problem, lebensweltlich dagegen ist Entropie aufgrund flexibler, an Komplexität gebundener Selektion eine Selbstverständlichkeit. Der Mensch verarbeitet Informationen, wohingegen Apparate nur mit ihnen haushalten. Daß die Entropie dabei Verfalls- beziehungsweise Erhaltungsprobleme bereitet, ist ein dem Speicherzwang zwangsläufig folgender Nebeneffekt.1 Ein Blick auf den lebensweltlichen Umgang mit Information veranschaulicht das Dilemma. Neue Informationen (bis dato Unwahrscheinliches) bewirken komplex sich verändernden Sinn im Kontext der ›Kultur‹ (des bis dato aktualisierten Sinns). Das heißt, (komplexer) Sinn kann (über Werte, Moral und Weltbild) ›kulturell‹ beibehalten werden – trotz entropischen Neuigkeitsverlusts der Information selbst. »Eine Information, die sinngemäß wiederholt wird, ist keine Information mehr. Sie behält in der Wiederholung ihren Sinn, verliert aber ihren Informationswert« (Luhmann 1988, 102): Sinn ist Garant von Kultur, nicht Information. Obwohl die Kultur der permanenten Erneuerung und Neuaufnahme von Sinn bedarf, kann sie sich auf ein je gefestigtes Sinnvolumen stützen. Kultur und Tradition selbst kennen kein Entropieproblem der Information, da sie Sinnsysteme sind, denen der entropische Verfall von Information notwendig ist, um (evolutionär) Platz für neue Informationen zu schaffen, um das Alte am Neuen zu messen und durch neuen Sinn kulturellen Wandel vorantreiben zu können. Die Informationstechnologien dagegen bewirken umsoweniger Sinnsymbiosen, je mehr die Informationswerte den Sinn dominieren, ihn gewissermaßen gefangenhalten. Das Problem der Entropie potenziert sich im Digital insofern radikal, als – komplexer – Sinn nicht vermittelbar ist. Wenn die Informationstechnologien durch Speicher- und Wiederholungszwang in die entropische Kitschfalle geraten, ist das, könnte man salopp sagen, ihr Problem. Da die Apparate aber an die menschliche Lebenswelt gekoppelt sind, ist lebensweltlich ebenfalls Kitsch zu befürchten2: ›Es gibt keine Offen1 Hätte die Natur alle Erbinformationen beibehalten, wäre auf Erden der Teufel los: Saurier und sämtliche ausgestorbenen Tiere würden den Planeten bevölkern. Vor eben diesem Problem aber steht das Digital: Alle Informationen wollen zur Geltung kommen. Eine evolutionäre, komplexe und Emergenz bewirkende Aussonderung der Informationen aber kann es selbst nicht leisten. 2 Dasselbe gilt auch umgekehrt. Wenn in der Lebenswelt im Sinne von Kitsch nur ›geplappert‹ und ›geredet‹ wird, wird es im Digital kaum besser kommen. Auch
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barung, die betrifft‹ (vgl. Kamper 1990, 57), wenn die Lebenswelt mit den Informationswerten infiziert ist. Über die Ausklammerung des Sinns wird sie der Entropie ausgeliefert. Die Kultur (als kommunikative Gemeinschaft) hat dann einen entropischen Zustand erreicht, der die eigene Sinnkomplexität nicht mehr kontrollieren kann und unfähig wird, neue Unwahrscheinlichkeiten sinnvoll einzubauen. Kultur und Tradition sind damit selbst Kitsch geworden. Obwohl Kultur und Tradition sich nicht dadurch definieren, neue Informationen herzustellen – sondern alte zu pflegen -, sind sie alles andere als entropisch. Erst sinn-los gewordene Kulturen drohen zu verfallen – Kulturen, die unter Legitimationszwang geraten und ihre Inhalte begründen müssen.1 Bekannte Informationen sind im Gegensatz zu den Medien nicht langweilig, sie sind vielmehr – umgekehrt – Kultur. Auf dem Bekannten aufbauend garantieren sie, daß weitere sinnhafte Informationen überhaupt hergestellt werden können. Kultur ist nicht zwingend eine Innovationsbremse. Wenn dagegen ›Patriotismus als Kitsch‹ klassifiziert wird – da ›das Gewöhnliche als hübsch empfunden wird, wohingegen das Ungewöhnliche als schrecklich betrachtet wird‹ (vgl. Flusser 1990b, 105) – wird das Vertraute (Patriotismus und Kultur) gegen das Dogma des Neuen ausgespielt: Kultur und Tradition haben jederzeit auf Neues zu reagieren, wollen sie weiterbestehen. Ohne Bekanntes aber, gewissermaßen im luftleeren Raum, wüßten neue Informationen nicht, worin sie sich einbetten sollten. Sie könnten keine Sinnanbindung finden. Ohne sinnrelevante Lebenswelt und aktualisierte Vergangenheit gibt es keine gesellschaftlichen Verbindlichkeiten. Lebensweltlich bedürfen Informationen der Kultur, der sie entsprungen sind. Patriotismus (und Kultur) ist nur dann Kitsch, wenn, wie Flusser einräumt, ›das Gewöhnliche nicht wahrgenommen‹ wird »die Info-Ära«, warnt Christian Lutz, drohe ›ein Zeitalter der Einweginformationen‹ zu werden – mit ›passiven, auf reines Konsumentendasein reduzierten, jeglicher Mitgestaltungschancen entartenden und in ihrer privaten Lebensgestaltung auf den Scheinpluralismus zwischen Coca-Cola und Pepsi-Cola beschränkten, programmierbaren Objektmenschen‹« (in: Degler 1993, 104f). 1 Rituale beispielsweise zeichnen sich gerade dadurch aus, daß ihr Sinn nicht benannt werden muß, daß sie aber dennoch funktionieren. Rituale sind entropische Informationen, die trotz des Zustands der Vergessenheit ihrer Wichtigkeit wirken. Während Rituale ›unbefragt‹ ausgeführt werden, stehen Informationen, noch ehe sie sich als Ritual verdichten, unter Beweispflicht. Ihre Kulturtauglichkeit ist kulturell erst zu prüfen.
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(vgl. ebd.), wenn es der komplexen Reaktivierung von Sinn nicht mehr dienen kann. Unverbindliche Beliebigkeit freilich droht im Reich der elektronischen Erfassung. Wenn beim ›Leben im Digital‹ der Unterschied zwischen strukturellem Wissen und komplexem Sinn ignoriert wird und Informationen nur als Informationswerte kursieren, können sie nicht viel ausrichten, denn sie stiften keinen Sinn. – Der ans Digital gekoppelte Netznutzer also kann froh sein, daß er auch noch die Lebenswelt bewohnt. In ihr jedoch sollte er die postmodern ausgerufene Vergangenheitsverdrossenheit in eine Speicherverdossenheit ummünzen. Denn das ›hübsch Gewöhnliche‹ des Bekannten gerät erst dann unter Entropieverdacht, wenn es als recyclete, gespeicherte Verwertungsmasse entwertet ist und im Umfeld der Informationsverschmutzung mit dem ›schrecklichen Sinn‹ des Neuen umsoweniger anzufangen weiß. Sinn ist bedrohlich und wird im Digital durch das Dauerdrücken der Speicher-Taste geschickt gelöscht. Das SinnNeue bedroht die liebgewonnenen Strukturgewohnheiten, die nun in der Tradition des Digitals verteidigt werden. – Zwar herrscht paradoxerweise Neuigkeitssucht vor, das Neue aber soll keinesfalls revolutionäre Struktur- und Sinnveränderungen bewirken. Es soll nicht Sinn erweitern, sondern als Sinnwert eine ›Verlängerung des Alten‹ sein. Das ›gegen die Entropie engagierte Wesen Mensch‹ erwartet fatalerweise von jeder Information Errettung aus dem Zustand der geistigen Medienverwirrung und der entropischen Langeweile. Die Informationsproduktion aber entlarvt sich als Verzweiflungstat, sofern sie durch das ›Abfeuern neuer Daten in alle Richtungen‹ die Orientierungslosigkeit nur steigert – Information bewirkt Deformation. So ist zweifelhaft, ob tatsächlich der Mensch das ›gegen die Entropie engagierte Wesen‹ ist. Wenn im Universum tatsächlich ›die Information wichtig ist und nicht das organische Leben‹ (vgl. Dotzler 1996, 161), dürfte die Informierung durch den Menschen kaum weltbewegend sein: Zwar werden – wichtigtuerisch – in Massen Informationen produziert, erst das ›Jüngste Gericht‹ der Digitalauswertung aber wird zeigen, welche Informationen die kulturelle DNS bereichern werden. Der gesellschaftliche Wandel liegt nicht in menschlichen Händen, sondern in den überzeitlichen Händen des evolutionären Werdens selbst. Die informatorische Entwicklung erst zeigt, welche Informationen die Entropie überdauern werden: Nicht
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der Mensch, sondern die Natur ist die ›gegen die Entropie engagierte Instanz‹. Der Mensch gibt zwar verzweifelt Mutationsvorschläge, doch steht deren universelle Patentierung noch aus. Die Natur, die Technokultur oder eine wie auch immer zu benennende Instanz hat den informatorischen Sondermüll zu selektieren und die Essenzen der ›universell wesentlichen Informationen‹ zu destillieren. Dabei dürfte ohne Sinn entweder alles sinnlos bleiben, oder das Prinzip der Sinnlosigkeit hat sich auf neue Weise emergent zu bewähren.
III. Die Strategie des Komputierens
er Kampf wider die Entropie ist medienbedingt und wird heute am Computer ausgetragen. Hypertext, Internet, Videospiel, Simulation und die Strategien virtueller Teleaktionen sind negentropische Angebote, die ›langweilig‹ werdenden medialen Wahrnehmungsgewohnheiten multimedial zu übertrumpfen. Die herkömmlichen Medien fusionieren dabei zum Computermedium und deren unterschiedliche Darstellungsformen treffen sich am Bildschirm wieder: im Bild. Das Bild feiert die Renaissance des ›Wegerklärten‹, des Erklärten und des Immateriellen. Die fraktalen Trümmer, geschichtliche Zusammenhänge, multiperspektiv rezipierbare Erlebnisse sowie natürliche Vorgänge, menschliches Verhalten und biologische Vorgänge, die der Vorstellbarkeit unvorstellbar sind, werden im elektronischen Bild gleichermaßen darstellbar: ›Das digitale Bild ist die am weitesten entwickelte Form der Information‹ (vgl. Virilio 1992, 25). Was das Bild zusammenhält, sind einerseits dichtgeraffte Punkte, andererseits zu Informationen zerlegte Zusammenhänge. Die durch die Vielzahl an Informationen generierten – und individuell steuerbaren – Hyper-Bilder nehmen geradezu lebendige Form an, da sie durch einen Fluß immer neuer Informationen immer neue Facetten annehmen können. Alles scheint gleichermaßen in die digitale Logik übersetzbar und am Bildschirm darstellbar und bearbeitbar zu sein. Schon den Fortschritt des 18. und 19. Jahrhunderts führt Flusser darauf zurück, daß es »möglich geworden ist, alle Prozesse in Differenzialgleichungen auszudrücken. Alle Prozesse sind jetzt kalkulierbar« (vgl. 1988, 125f). »Nicht nur für die Physik zerfallen sie [die Phänomene] in Partikel, sondern für der Biologie ... in Gene, in der Neurophysiologie in punktartige Reize, in der Linguistik in Phoneme, in der Ethnologie in Kultureme oder in der Psychologie in Aktome« (1991b, 152). Bei den Computern nun habe sich herausgestellt, »daß das kalkulatorische Denken die Welt nicht nur in Partikel zersetzen (analysieren), sondern diese auch wieder zusammensetzen (synthetisieren) kann« (ebd. 154). Es läßt sich »das sogenannte Leben ... nicht nur in Partikel, in Gene, analysieren, sondern die Gene können
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dank der Gentechnologie auch wieder zu neuen Informationen zusammengesetzt werden« (ebd. 154f). Flusser wendet sich gegen den Einspruch, daß es die »nicht automatisierbaren Verhaltensweisen sind, welche die Würde des Menschen ausmachen ... Das ist ein Irrtum. Alle Verhaltensweisen, wie auch immer, sind programmierbar und automatisierbar. Man muß sie nur in Verhaltenselemente, in Aktome zerlegen und dann wieder zurückkomputieren«. (1992, 54). Die Komputation ist der Vorgang, abstrakes Wissen aufgrund quasigenetischer Grundlagen quasiauthentisch zu simulieren und bildhaft zu komponieren. Dabei werden Mensch und Welt simulatorisch nicht einfach nur kopiert und die Dinge werden nicht nur virtuell nachgebaut, vielmehr hat der Komputator die Freiheit, beliebigste virtuelle Erscheinungen zu erzeugen. Gemäß der Alchemie des algorithmischen ›Mandelbroteinmaleins‹ entstehen nicht nur Simulationen und ›rückbebilderte‹ Bilder und Bildwelten, sondern auch negentropisch beliebig mutierte neue Formen. An der Informationsfront werden die Fraktalität des Denkens, des Verhaltens und Wissens algorithmisch zur multirezeptiven Synthese aufbearbeitet. Nicht zum Abbild, sondern zum Neubild führt die Komputation. »Von der ursprünglich ›ausgedehnten Sache‹ ist keine Rede mehr, sondern von nach Feldern strukturierten Teilchenschwärmen« (Flusser 1991b, 152). Im Rauschen des Bildschirms nehmen ›Teilchenschwärme‹ – Pixels – Gestalt an: »Die technischen Bilder sind Ausdruck des Versuchs, die Punktelemente um uns herum und in unserem Bewußtsein auf Oberflächen [des Bildschirms] zu raffen, um die zwischen ihnen klaffenden Intervalle zu stopfen; des Versuchs, Elemente wie Photonen oder Elektronen einerseits und Informationsbits andererseits in Bilder zu setzen«. Es gehe darum, die Teilchenschwärme, »die Punktelemente zu raffen, um sie wieder konkret (begreiflich, vorstellbar, behandelbar) zu machen« (ders. 1990, 17). ›Raffen‹ ist die Verbildlichung von Phänomenen in extrem hoher und dichter Auflösungskapazität. Elemente und Begriffe zu verbinden, also die fraktalen Stadien der Begriffe und Sachverhalte zu hypertextualisieren, führt zur Gesamtschau all ihrer Aspekte. Mathematisch geraffte Bilder leisten nicht nur eine perfekte Bildauflösung – vor allem werden die ›unvorstellbar gewordenen Bilder‹, die zu dimensionslosen, begrifflichen Punkten ›auseinandergekollert‹ waren (vgl. ebd.), auf neue Weise sichtbar.
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Erst die Sichtbarkeit scheint die Dinge in ihrer Existenz zu legitimieren. Die Verbildlichung durch die Neuen Medien geht davon aus, daß »Technik ... in der Lage sein wird, die Punktelemente ebenso dicht zu streuen, wie dies bei den Dingen der uns gegebenen Welt der Fall ist« (Flusser 1991b, 147). Das Hologramm rafft die Objekte extrem dicht, und die Virtuelle Realität ist die konsequenteste Form einer Raffung, denn sie besteht ›aus Punktelementen komputierten, eingebildeten Flächen‹ (vgl. ders. 1990, 31), die auch das Dreidimensionale des Hologramms bewältigen. Punkte und Intervalle sind realitätsecht simuliert und treten lebensecht in Erscheinung. Geraffte Bilder boomen. Sie scheinen sogar dem Denken auf die Spur zu kommen, denn als Hypertext und -bild simulieren sie weitverästelte, sich überlagernde Sinnfraktale. Sie zeigen unmittelbar das, was die Vorstellungskraft bislang imaginierte: Die »im Gehirn ... komputierten Bilder nennt man Vorstellungen. Die Apparate simulieren diese Gehirnfunktion. Was wir auf ihren Schirmen sehen, sind simulierte Vorstellungen« (ders. 1992, 128f). Zwar sind sie, wie Flusser einräumt, eine »Karikatur des Denkens« (ebd. 129) – da komplexe Vorstellungen nicht einholbar sind -, doch einerseits genügen die simulierten Varianten der strukturellen Ebene des Digitals, andererseits überbieten sie die Fraktalzustände durch die hyperdichte Gesamtschau. Man mag einwenden, die auseinandergekollerten Punktelemente zusammenzusetzen, bedürfe es keiner Computer, sondern so etwas wie der menschlichen Einbildungskraft. Doch wie Wim Wenders in ›Bis ans Ende der Welt‹ zeigt, soll die Einbildungskraft gerade auf der immateriellen Ebene der Computer Einzug halten. Ohnehin verwalten Computer das Immaterielle, wozu dem Menschen die Organe fehlen. Erst gekoppelt an elektronisch imaginierende Freunde, scheint die redundante, rein menschliche Imagination einbildende Potentiale freizusetzen, von der die Vorstellungskraft bislang nur träumen konnte. Angesichts der menschlichen Komplexität ist es zwar zweifelhaft, daß alle menschlichen Verhaltensweisen ›zerlegt‹ werden können, doch jede neu gelungene Zerlegung und jede Komputation bedeutet einen Fortschritt weiterer Programmkalkulierbarkeit und weiterer Komputationsmöglichkeiten. Was dann dennoch nicht ins Programm ›paßt‹ oder keinen Platz findet, existiert freilich auch als Komputationsgrundlage nicht. All das menschlich gar nicht Wahr-
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nehmbare, das Immaterielle, dagegen ist kalkulierbar, noch ehe es menschlich imaginiert werden kann. Das durch die mathematisch operierenden, messenden, zählenden und programmierenden Prothesen zutage geförderte Wissen mag – im Universum der Informationen – sogar informativer sein als die ›menschlichen Regungen‹ oder die wie auch immer kalkulierbare menschliche Würde. Umso mehr ist der Mensch auf Wahrnehmungsprothesen angewiesen. Die technischen Bilder platzen geradezu vor Informationen. Als Pixelansammlung oder Hypertext sind sie weit dichter an Information als gemalte Bilder oder als irdisch Sichtbares, denn sie entstehen punktuell durch reine Information. Mit dem Digital umzugehen genügen denn auch weder lineare Erklärungen noch die menschlichen Sinne. Die Apparate verwirklichen gewissermaßen die Relativitätstheorie, indem sie einen Sprung zwischen Raum und Zeit, zwischen Darstellungsdichte und Wahrnehmbarkeit provozieren. Ihre ›Logik‹ sprengt die des Sinnesvermögens. Die Bilder aber werden nicht nur angeklickt und angesehen, in der Regel werden sie zunächst über den Datenhighway gejagt. Als solche werden Bilder zur Grundlage der Kommunikation. Sie unterminieren die Funktion von Schrift und Sprache. »Für das Zusehen«, so Flusser, »sind Schriften nicht die geeigneten Codes. Bilder sind dafür besser geeignet« (1992, 23). Schrift und Sprache können die Informationsdichte der Bilder nicht fassen. Sie werden der Darstellungsdichte des Digitals nicht gerecht. Das Bild dagegen ist die ›dritte Dimension des Textes‹ (vgl. Preikschat 1987, 45). Flusser nennt den Prozeß der Re-Visualisierung des Wissens und der unvorstellbaren Abstrakta eine »Abstraktionen dritten Grades ... Die technischen Bilder ... abstrahieren aus Texten, die aus traditionellen Bildern abstrahieren, welche ihrerseits aus der konkreten Welt abstrahieren« (1992b, 13). Erst die technischen Bilder würden wieder mit der Welt identisch, indem sie sie auf der quasimolekularen Ebene der Partikel – der Pixels und Bits – erstellen. »Wir sind eben daran«, so Flusser, »uns auf Bildermachen und Bilderbetrachten zu konzentrieren. Wir sind eben daran, ins ›Universum der technischen Bilder‹ zu übersiedeln« (vgl. 1992, 23).
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1. Der Imperativ des Sinns Obgleich die technischen Bilder ›Hirngespinste‹ im Virtuellen sind (vgl. Flusser 1990, 30), werden sie, so Flusser, »den Handlungen als Vorbilder dienen« (ebd. 14), denn geraffte Bilder machen Beziehungen sichtbar. Sie setzen Wahrnehmbares und Wissenswertes bildhaft in Szene zueinander. Raffen ist eine Art Innenschau der Black Box der Speicher, deren Vielfalt an Informationen strukturell gebündelt sichtbar wird. Dabei sind die Verbindungen wichtig, nicht der Sinn des Dargestellten. Noch vor dem Sinn sind die Sinnstrukturen relevant, die den Sinn zusammenhalten. Diese Sichtbarmachung von Verbindungen – eine Art globalen Sehens aller Wissensfraktale – lädt ein zum ›Handeln in Beziehungsfeldern‹ (vgl. ebd. 9), zu einer Art ›vernetzter Wahrnehmung‹. »Obwohl sie [die Bilder] nur die Oberflächen von Gegenständen zeigen, erlauben sie doch, vorher ungeahnte Zusammenhänge zwischen den Gegenständen zu sehen. Bilder zeigen nicht Sachen, sie zeigen Sachverhalte« (14): Bilderdialoge sind deshalb ihrer Informationsdichte wegen »unendlich reicher ... als es die linearen, ›historischen‹ Dialoge je sein konnten« (72). Sie sind inter-aktivierte, verdichtete Megainformationen, die Berge an Informationen gleichzeitig zeigen. Bilddialoge gleichen der kommunikativen Übergabe eines ›kilometerdicken‹ bemalten, betexteten, hörenden und collagierten Informationsknäuels. Sie forcieren reichhaltige Konnotationsmöglichkeiten und öffnen ein weites Feld an Reaktionen. Während Baudrillard die Gesellschaft am Bild erblinden sieht, hält sie Flusser für flexibel und anpassungsfähig genug, mit den Bildern zu wachsen. Analysiert Baudrillard Zirkulation und Fraktalität als Neurose der Mediengesellschaft, so nutzt sie Flusser als Chance und Weg. Wie Baudrillard sieht zwar auch er das ›Ende des Subjekts‹, er sieht es aber durch etwas neues ersetzt: durch das sogenannte Projekt. Das Projekt erstellt kreativ Bilder. »Wir sind nicht mehr Subjekte, die der Welt unterworfen sind, sondern Projekte auf die Welt« (1988, 127). Im Gegensatz zum Subjekt handelt das Projekt projizierend im Bereich des virtuellen, zu raffenden Punktekosmos. Dabei entstehen konkrete Bilder: »Wir gehen von der totalen Abstraktion zurück in die Konkretion. Anstatt zu abstrahieren, konkretisieren wir. Ich glaube nicht, daß man diesen Umbruch, den wir jetzt erleben, radikaler fassen kann, als, so wie ich
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eben sagte: Wir hören auf, Subjekte zu sein. Die Welt ist uns nicht mehr ein Gegenstand, gegen den wir stoßen, die Welt ist uns jetzt eine Unterlage, ein Schirm, ein Feld von Möglichkeiten, auf das wir Sinn projizieren. Wir neigen uns nicht mehr über die Welt, um sie zu entziffern, sondern wir entwerfen im Gegenteil auf die Welt unsere eigene Bedeutung« (ebd.). Information, diese entropiegefährdete, verderbliche Ware, schließlich will verändert werden. Nicht mehr ›Erforschen‹ steht im Zentrum des Interesses, sondern Entwerfen. Das Digital fordert ›sinngebende, imperative Botschaften‹ (vgl. ders. 1990, 44). Die komputierende Lebenseinstellung eines ›Erfinde dich selbst‹ freilich ist eine längst gängige Strategie. Ob mit dem Zeitgeist oder wider ihn, aus einem Baukasten bunter Versatzstücke werden auch diesseits des Digitals Identitäten ausgewählt und neue Identitäten kreiert. »Individualisierung«, so Ulrich Beck, »meint ... die Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen durch andere, in denen die einzelnen ihre Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenflickschustern« (1993, 150). Beck sieht »das Individuum als Akteur, Konstrukteur, Jongleur und Inszenator« (ebd. 151). Die Frage scheint nicht mehr zu sein, was oder wer ich bin, sondern was oder wer ich alles sein kann. Die Möglichkeiten des ›Zusammenflickschusterns‹, die Beck noch in der Lebenswelt ortet, aber finden im Interaktiven der elektronischen Kommunikation erst ihre grenzenlose Entfaltung. Vom Spiel mit Pseudonymen bis hin zu ›gender hopping‹ – der Inszenierung, ›das andere Geschlecht‹ zu sein -, sich als virtuelles Monster zu gebärden oder als Star aufzutreten: das Virtuelle virtualisiert die bislang relativ monolithisch festgelegte Identität zur Hyperidentität. Im Virtuellen darf munter drauflosgedacht, drauflosgehandelt und drauflos‹identitätiert‹ werden. Das ›gegen die Entropie engagierte Wesen Mensch‹ greift in die Zirkulation der Informationen ein und stellt aus den Informationsfraktalen Unwahrscheinlichkeiten her: Informationen, die negentropisch Unterschiede bewirken. Die komputierende Bildherstellung schließt vergangene (gespeicherte) und aktuelle Information zu neuer Information kurz, ›bildet‹ sie auf den Bildschirmen ›ein‹ und ›spielt dadurch mit allen Theorien‹ (vgl. Flusser 1990, 107). Der Imperativ der Bilderproduktion fordert dazu auf, als Realitätseffekt beliebig Sinn zu produzieren, wie auch immer gearteten, »konkreten Sinn« (ebd. 34). Dieser Sinn ist ein Flackern der Individualität an die
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Wände des elektronischen Lagerfeuers. Er folgt nicht dem Anspruch nach Authentizität und ist auch nicht an die lebensweltliche Komplexität gebunden. Der Benjamin‹sche Diskurs um Orginal und Authentizität erledigt sich damit umsomehr, als die Welt nicht mehr erkannt werden soll, sondern im luftleeren und bodenlosen Raum des Digitals beliebig designed wird: Es »befreien uns die Tasten vom Zwang, die Welt zu verändern, sie zu überblicken und sie zu erklären, und sie befreien uns für die Aufgabe, der Welt und dem Leben darin einen Sinn zu verleihen« (Flusser ebd. 27f) – besser einen beliebig neuen, als – entropisch – keinen.1 Allzu neu freilich ist diese Strategie wiederum keineswegs: Schon die herkömmlichen Medien komputieren in Serien, in Unterhaltungssendungen, Spielfilmen und Sensationsmeldungen beliebig neue Stories. Historien- und Bibelverfilmungen machen aus Geschichte komputierte Kulissenrevuen. Jeder Gag in einer Show, jede Nachrichtenente, ja jede Filmszene ist eine Komputation. Unabhängig vom Inhalt ist das Gütesiegel ›neu‹ die Triebkraft des Kreativen: Das ›Do-it-yourself-Medium‹ soll die ›Kreativitätsideologie im neuen Medium retten‹ (vgl. Agentur Bilwet 1993, 115). Das Gegebene, das, was ist, scheint langweilig zu sein, wohingegen interessant ist, was sein könnte. Dem Prinzip des Fortschritts und dem negentropischen Steigerungszwang folgend ›halten die Massenmedien die Gesellschaft wach‹ (vgl. Luhmann 1996, 47). Sie wird »im On gehalten« (vgl. Reiss 1995, 66) und ›reizt sich selbst zu ständiger Innovation‹ (vgl. Luhmann 1996, 141).2 Luhmann zufolge ist die ›Unwahrscheinlichkeit längst Institution geworden‹ (vgl. ebd. 78), und Sloterdijk sieht in der permanenten Innovation eine ›Mobilmachung der Welt und der Weltbilder, bis an den Punkt, auf dem alles möglich wird‹ (1987, 63). Die Netznutzer haben kräftig mitzuhelfen in der Bildproduktion – sie werden zum Informationsarbeiter. Immerhin kommt ihnen das Kreieren neuer Welten selbst zugute: es könnte andernfalls langweilig werden im Cyberspace. 1 Das Komputieren will das Jenseits der Norm. Das Individualisierungskomplott des Komputativen ist eine Freifahrt für mutationsfreudige Draufgänger. Ihnen gilt die Devise: je verrückter, desto cleverer – die Psychologen werden angesichts der Ausdehnung des Individualverständnisses arg in Bedrängnis geraten. 2 »Wenn man ständig auf Überraschungen gefaßt sein muß«, merkt Luhmann an, »mag es ein Trost sein, daß man morgen mehr wissen wird« (1996, 46).
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Wissen und Geschichte führt in der digitalen Variante der Komputation aber umsoweniger zu Erkenntnissen, sondern zur ›Erheiterung des Blicks‹, als Wissen und Geschichte primär Futter für das algorithmische Kanonenfeuer ist, das – nun interaktiv – die Sinne betört. Dazu Flusser etwas ausführlicher: »Nehmen wir an, die gesamte Weltliteratur sei bereits digital umcodiert, in künstliche Gedächtnisse gelagert und in ihrer ursprünglichen alphabetischen Form ausgelöscht worden. Der künftige ›Leser‹ sitzt vor dem Schirm, um die gelagerten Informationen abzurufen. Es geht nicht mehr um ein passives Auflesen (Aufklauben) von Informationsbrokken entlang einer vorgeschriebenen Zeile. Es geht vielmehr um ein aktives Knüpfen von Querverbindungen zwischen den verfügbaren Informationselementen. Es ist der ›Leser‹ selbst, der aus den gelagerten Informationselementen die von ihm beabsichtigte Information überhaupt erst herstellt. Bei dieser Informationsproduktion verfügt der ›Leser‹ über verschiedene Knüpfmethoden, die ihm von der künstlichen Intelligenz vorgeschlagen werden (gegenwärtig ›Menüs‹ genannte Abrufmethoden), aber er kann auch seine eigenen Kriterien dabei zur Anwendung bringen. Und sicherlich ist in Zukunft eine ganze Wissenschaft zu erwarten (Anfänge macht die ›Dokumentationswissenschaft‹), die sich mit den Kriterien der Abberufung und dem Knüpfen von Informationsbits beschäftigt ... Nach unseren gegenwärtigen Les- und Denkart steht etwa ›Aristoteles‹ vor ›Newton‹. Dem künftigen ›Leser‹ hingegen stehen ›Aristoteles‹ und ›Newton‹ ... gleichzeitig zur Verfügung. Er kann daher beide Systeme zugleich abrufen, und zwar so, daß sie sich überdecken und gegenseitig stören. Im System ›Newton‹ wird zum Beispiel die ›Trägheit‹ gegen das ›Motiv‹ im System ›Aristoteles‹ anstoßen, und das Prinzip ›Gerechtigkeit‹ im System des Aristoteles‹ wird gegen die Kausalketten im System Newtons stoßen. Der ›Leser‹ wird die beiden überlagerten Systeme so manipulieren können, daß Zwischenstadien entstehen, worauf das System des Aristoteles ebenso aus dem Newtons emportauchen kann wie das Newtonsche System aus dem des Aristoteles. Der ›Leser‹ wird zwar aus den ihm verfügbaren Daten erfahren, daß tatsächlich das Newtonsche System jünger ist als das des Aristoteles, aber er wird die ›Geschichte‹ ebensogut umdrehen können« (1992, 135). Die Ergebnisse der Komputationen erscheinen mit allen Veränderungen und Verästelungen bildlich, textlich oder graphisch, jeden-
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falls konkret und sichtbar auf den Bildschirmen. Die Unterschiede der Unwahrscheinlichkeiten verschiedener Zwitterwelten sind dabei an keine höhere Dialektik gebunden, sondern an kybernetische Gewichtungen, die das Digital individuell, kollektiv oder automatisch neu ordnen. Dabei gilt: »Freiheit ist der Überschuß der Zahl von Parametern (Elementen) über die Zahl von Relationen (Regeln), die man braucht, das System zu determinieren« (Moles 1973, 106). Die Freiheit, mit Paramentern zu komputieren, ist bei Abraham Moles die Permutation – ein Synonym zur Komputation. Sie ist »ein fundamentaler Instinkt des rationalen Denkens« (ebd. 104), eines ›Denkens‹, das über die Neuordnung eines Symbolhaushaltes Sinnersatz fabriziert. Der negentropische ›Instinkt‹ des Komputierens spielt nicht nur mit Parametern, auch die Regeln selbst sind frei komputierbar. Es sind gerade die Regeln, deren Komputationen auf der Ebene des Programms zu Unwahrscheinlichkeiten führen. Und die Freiheit, auch die Regeln zu komputieren, ist so grenzenlos, wie die ›Verneinung der Welt, nämlich all dessen, was der Fall ist‹, grenzenlos sein darf (vgl. Flusser 1990b, 192). Was immer der Fall ist, emanzipiert sich unter dem Fallbeil seiner Bearbeitung von dem, was es war. Wenn die Welt nicht mehr erforscht, sondern umgekehrt auf sie Bedeutung projiziert wird, dürfte die Welt freilich nicht mehr allzu interessant sein. Ebenso verliert Geschichte an Bedeutung. Da das Gewesene als Fraktalraffung über die Apparate aktivierbar wird, spielt auch jede vordem wichtige Zeitbezogenheit keine Rolle mehr. ›Projekte‹ lassen das geschichtliche Territorium und die zeitlichen Dimensionen der Lebenswelt hinter sich: »Wir können die Gegenwart nicht mehr durch die Vergangenheit erklären, denn die Gegenwart ist unser Ausgangspunkt. Für uns ist die Gegenwart nicht mehr zur Vergangenheit offen; sie ist auf die Zukunft hin geöffnet ... Wir können nicht mehr durch Entwicklungskurven, Statistiken und futurologische Voraussagen die Vergangenheit in die Zukunft projizieren ... sondern wir selbst entwerfen uns« (Flusser 1991, 272). Anstatt einer Identitätssuche im Historischen und anstatt – intellektuell – den ›Leichnam der Geschichte zu obduzieren‹ (vgl. Baudrillard 1990b, 46), gilt die Losung, aus der fraktalen Zeitlosigkeit der digitalen Speicher heraus Identitäten als Bild und Bilder als Identität zu kreieren. Dabei ist es einerlei, ob das Komputierte ein Resultat von Informationen aus der Vergangenheit (Feedback) oder
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von Unwahrscheinlichkeiten der aktuell werdenden Zukunft (Feedforward) ist. Vergangenheit und Zukunft werden gleichermaßen verwertet. In einer Art schöpferischen Nihilismus nehmen die Apparate die Zukunft vorweg – und sei es als Abfallproblem.1 Weder die Logik des Sinns noch die Struktur der Zeit bestimmen das Sein, sondern der Fluß des Werdens in Zeitlosigkeit. Dabei denkt das Denken nicht mehr, es rationalisiert vielmehr das Denkbare und Zeigbare im komputativen Spiel des Darstellbaren. – Zurecht prognostiziert Flusser denn auch ein ›Ende des Grübelns‹ (vgl. 1991, 272).
2. Der Homo Ludens Das Individuum der Zukunft scheint dazu verurteilt, Kultur zu produzieren – Kultur weder als Vergangenheits- noch als Zukunftssicherung, sondern als Ekstasetechnik einer Dauergegenwart. Derartige Kultur will nicht Sinn, sondern Sinnsurfing. Die ›weite Welt der Tastatur‹ erlaubt, das vorhandene Universum in eine Reihe möglicher Welten zu verwandeln, also »Annäherungen an eine Realität zu unternehmen, die zum ersten Mal die Markierungen ›selbstgemacht‹ verdient« (Kamper 1991, 99). Es scheint darum zu gehen, die »wiedererkennbaren Dinge so wiederzugeben, daß sie absolut fremd erscheinen« (Agentur Bildet 1993, 31). Alles, was war, steht Kopf und die Geschichte kann beliebig umgeschrieben werden, weil sie immer anders komputiert werden kann. Alles, was möglich ist, ist wahr. Es darf endlich – die Postmoderne noch übertreffend – ohne Netz argumentiert werden. Ohnehin haben Simulakren – für Flusser – ›dieselbe ontologische Würde wie die Welt‹ (vgl. 1988, 127), da sie die Sinnesorgane in einer der ›Wirklichkeit‹ äquivalenten Qualität überzeugen. – Die Komputation gibt den Startschuß ins Zeitalter des ›Spielens‹ (vgl. ders. 1989, 50), in dem der Mensch zum homo ludens wird (vgl. ders. 1992b, 25). Der ›homo ludens‹ spielt auch und vor allem, »um die Spielregeln zu ändern« (Flusser 1990b). Auf der digitalen Spielwiese gilt die Herausforderung, »die Evolution noch einmal rekapitulieren« zu lassen (J. Wiesner in: Brand 1990, 165) und neu zu mischen. Die 1 Ein Berliner Radiosender verbreitet bereits ›Nachrichten der kommenden Woche‹.
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technischen Möglichkeiten folgen einem neuen »Auftrag: Schaffen Sie ›Leben‹«, so lautet der Imperativ am Media Lab, »lassen Sie Kinder realistische Lebewesen erfinden und diese anschließend in ganzheitlichen computerisierten Ökosystemen aussetzen – lassen Sie sie etwas über die Schöpfung des Universums lernen, indem sie selbst eins erschaffen« (Brand 1990, 130).1 Es ist kein Scherz, wenn Flusser auf die Frage, wer der künftige Disney sein wird, antwortet, »er wird, unter anderem, Molekularbiologe sein« (1990b, 206): Das Komputieren wird alle genmanipulierten Tomaten in den Schatten stellen, denn in der Simulation werden weder Tomatenklone noch komputierte Monster (irdischen) Schaden anrichten können. Die Gentechnologie macht, ehe sie geklonte und mutierte Schafe auf die Weide schickt, zunächst im Stillen des Virtuellen Furore, da es das optimale Testfeld ist. Das anything goes (der Postmoderne) scheint Raum und Zeit historischer Faktizität zu verlassen und sich im Virtuellen zum imperativen anything may go zu transformieren. Bezüglich der Geschichte, die spielerisch ganz neu ›verdaut‹ werden kann, gilt ein ›anything may have been gone‹, das, gekoppelt ans ›anything may go‹, neue Informationsrealitäten aktiviert. Wenn wahr und falsch keine Kriterien mehr sind, dürfen Zitate falsch gesetzt und Gegebenheiten falsch datiert werden. Der ›Denkunfall‹ wird geadelt. Weder wissenschaftlich-objektiv noch historisch korrekt setzt die apparatisch ›neue Einbildungskraft‹ (vgl. Flusser 1992, 28) an, sondern gemäß des Imperativs der Spielwiese. Komputierte Bilder sind vernetzte Gesamtkunstwerke, an denen der Faktor der Neuigkeit den der Authentizität überwiegt. Im Virtuellen, in dem die Bilder ›spielen‹, sind sie ›nicht reproduktiv, sondern produktiv‹ (vgl. ders. 1990, 39). Ihr Anspruch ist nicht, Geschichte nachzuzeichnen, sondern Geschichte, die virtuell zum Schauspiel wurde, neu zu dichten: 1 ‹Künstliche Welten‹ entstehen am Media Lab auf unterschiedliche Weise. In ›Künstlicher Ökologie‹ entwickelt man »intelligente und autonome Charaktere«. Man schickt zum Beispiel Bugs Bunny und King Kong in den Wald, und ›sie spielen einen Cartoon, der sich aus ihren Persönlichkeiten ergibt‹ (vgl. Brand 1990, 130) – Persönlichkeiten, die beliebig festgelegt werden können, die sich aber auch selbst entwickeln. Eichhörnchen werden simuliert, »die sich erinnern, wo sie ihre Nüsse verscharrt haben« (vgl. ebd. 132) oder ein »Zeichentrickfisch ... der einen anderen vollkommen selbstständig verfolgte, auffraß und sich anschließend mit einem zufriedenen Grinsen in seine Höhle zurückzog« (130).
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Geschichte zu machen. Geschichte derart umzuschreiben aber hat zur Konsequenz, daß sie anders wird: anders war. Geschichte wird zur Epidemie ihrer möglichen Varianten.1 Die Wirklichkeitshacker zerhackstücken in den technischen Wiederaufbereitungsanlagen einerseits die Geschichte, doch bemühen sie sich andererseits, »unsere Erlebnisse abenteuerlich zu erweitern« (Flusser 1992, 29): »›Einbilden‹ soll ... jene Fähigkeit bedeuten, aus dem durch Abstraktion in Punktelemente zerfallenen Universum ins Konkrete zurückzuschreiten« (ders. 1990, 32). Es geht darum, »völlig Abstraktes ins konkret Erlebbare zu heben« (1992, 29) – ins virtuell Erlebbare einer ›abenteuerlichen Gesellschaft‹ (vgl. ders. 1990, 7). In ihr »entnimmt [der Leser] dem Gelesenen nicht mehr einen Sinn, sondern er ist es, der dem Gelesenen einen Sinn gibt« (ders. 1992, 76), indem er bestimmt, was interessant und damit ›wahr‹ ist. Die Leselogik eines Buches wird multimedial übertroffen und durch anklickbare Möglichkeitsfelder ersetzt, die individuell ›gefüllt‹ werden können. Die Komputatoren bemühen sich, auch die selbstreferentielle Rückkoppelung der Apparate zu durchbrechen. Während sich die Bilder von der in die Apparate ›verfütterten‹ Geschichte ›nähren‹, programmieren die Komputatoren Apparat wie Geschichte um, um sich ihrerseits von ihnen ›nähren‹ zu können und weiterhin die Freiheit zu behalten, weiterkomputieren zu können. Die Lebenseinstellung des ›Telenauten‹ ist damit umgepolt: »Nichts mehr zeigt auf uns zu. Wir sind es von nun an, die auf die Welt Bedeutungen projizieren. Und die technischen Bilder sind solche Projektionen. Gleichgültig, ob es sich um Fotos, um Filme, um Videos oder um Computerbilder handelt, sie haben die gleiche Bedeutung: dem Absurden einen Sinn zu geben« (vgl. Flusser 1990, 41). »Bedeutung und Wirklichkeit eines Wissens«, so auch Lévy, »bemessen sich nicht 1 Das auf die Vergangenheit gerichtete ›anything may go‹ läßt dann sogar den Zweifel zu, daß die Gattung Mensch (homo) von einer einzigen Art (homo sapiens) vertreten ist. Flusser & Louis Bec ›entdeckten‹ bei einem derartigen Unternehmen ein der Entwicklungsstufe des Menschen ebenbürtiges Tiefseewesen, den ›Vampyroteuthis infernalis‹ (vgl. Flusser & Bec 1987). Mit dieser Umformung der Evolution zeigen sie nicht nur die Möglichkeit, daß alles anders hätte kommen können, sie zeigen auch, daß Wahrheit und Realität so zufällige Erscheinungsformen sind wie die Geschichte und daß selbst die ›Vampyroteuthis-Realität‹ einiges über den Homo Sapiens zu sagen vermag.
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mehr an der Erhabenheit seines Ursprungs, sondern nur noch daran, welche Prägnanz ihm die Menschen ... verleihen und auf welche Weise sie es verkörpern und in die Praxis umsetzen« (1997, 108). Die Bilder wollen nichts sagen und nichts dokumentieren. Sie sind reine Erscheinung. ›Grübeln‹ ist Zeitverschwendung, Komputieren dagegen eine produktive Sinnattacke. Der mit Lust und Kreativität bildergestaltende Homo Ludens scheint nahe Verwandtschaft zum Künstler zu haben. Künstler schöpfen ebenfalls aus dem Unwahrscheinlichen des Nicht-Existenten Wahrscheinlichkeiten. Und sie transformieren das Informative ebenfalls ins imaginär Fiktive. Kreativität scheint mit der Komputation in den Bereich der Bildschirme einzuziehen. »In der Industriegesellschaft«, so bedauert Flusser, »befindet sich das schöpferische Tun in einer Krise« (1991, 79). Mit dem ›Wegerklären‹ des Bildes sei auch die Kunst ins Abseits geraten. »Die Kreativität, also das Schaffen neuer Formen, ging viel disziplinierter und schneller auf dem Gebiet der Wissenschaften und Technik vor sich als auf dem der sogenannten Kunst ... Abgeschnitten von der Erkenntnis ... wurde ... die Kunst mit einer benjaminischen Aura versehen und aus dem täglichen Leben in Museen verbannt ... Wenn man das kreative Potential des Menschen betrachten will, ist es besser, ein ganz ordinäres Auto anzuschauen, als die größten Kunstwerke der Neuzeit« (1988, 131). Die Krise der Kunst zu überwinden und eine ›Gesellschaft von Künstlern‹ entstehen zu lassen (vgl. Flusser 1990, 72), wirbt unter dem Stichwort ›Evolution der Heuristik‹ auch Moles für die ›Kreationsmaschine‹. Sie sei ›der neue dynamische Mythos‹ (vgl. 1973, 47) und lade dazu ein, kreativ die Tasten zu drücken.1 Welcher Art diese Kunst sein wird, verrät Moles ebenfalls: Der Künstler verwende 1 »Der Einfluß des Computers auf die Künste«, so auch die Zuversicht am Media Lab, »wird den Künstler in uns allen zum Vorschein bringen ... Wir werden ein Comeback des Sonntagsmalers erleben« (Negroponte in: Brand 1990, 116). – Weibel kritisiert an der ›herkömmlichen‹ Kunst, ihre Funktion »war der Versuch, die Illusion des Bürgertums auf ewig zu verlängern« (1989b, 63) und das ›Original‹ hält er für »die metaphysische Verkleidungen des bürgerlichen Besitzdenkens« (ebd. 61). ›Original‹ nun wird in der mit Computern Bilder produzierenden und reproduzierenden Gesellschaft ein historischer Begriff sein: Kunst ist schlichtweg alles, was dem entropischen Zustand entgegenwirkt: »Es ist der modernen Kunst gelungen, das Sujet zu zerstören, das Überbleibsel einer scheinheilig semantischen Epoche« (Moles 1973, 110).
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»seine schöpferische Imagination mehr auf den Reichtum der Variationen als auf die Angleichung an irgendeine Realität, von der sich die moderne Sensibilität immer mehr befreit ... Es gibt keine Kornfelder mehr, keine Äcker und Kanäle, nackte Frauen oder Pferde; es gibt Wahrnehmungselemente, Linien, Geraden und Dreiecke, Farbflecke, Formen, und es gibt eine Ordnung, sie zu kombinieren« (1973, 110). Nicht nur geometrische Formen lassen sich aus den Wahrnehmungselementen formen, es entstehen auch digital geklonte Kornfelder, nackte Frauen und naturidentische Kubismen. Moles zufolge haben ›die Menschen des 20. Jahrhunderts das analytische Geheimnis zur Beherrschung des Komplexen entdeckt: die Computer schöpfen mühelos die Vielfalt der Kombinationen aus‹ (vgl. ebd. 133). Allzu simpel freilich sind diese Neudefinierungen der Kunst: Kombinationszuordnungen müssen mit Komplexität so wenig gemein haben wie Computer-Malprogramme mit Kunst. Moles übersieht, daß Kunst Kombinatorik, und daß Komplexität Struktur übersteigt.1 Die Freiheit des Komputierens ist dennoch schier grenzenlos, denn dem künstlerischen Herstellen von Unterschieden dient das gesamte digitalisierte und gespeicherte Wissen. Alles kann gegeneinander ›losgelassen‹ werden, womit es sämtliche Gesellschaftssysteme überlagert und beeinflußt: »Jetzt können wir das lenken, wir können fraktale Ineinandergriffe zwischen Kunst und Wissenschaft oder zwischen Kunst und Technik herstellen. Wir können sie komplementär und dialektisch machen und damit spielen. Dabei entsteht nicht nur eine Synthese, sondern eine ganze Reihe von Synthesen, die wir um uns herum erwachen sehen« (Flusser 1988, 130). Die Synthesen freilich laufen nicht über Sinn. Nicht der Ursprung der Informationen ist relevant, sondern das bildliche Ergebnis der Komputation. Wenn Information bislang Unterschiede durch das Herstellen von Unwahrscheinlichkeiten machte, so machen nun Informationen Unterschiede, deren Unterschiede nicht über Sinn laufen, 1 Lev Manovich weist darauf hin, daß ›die gesamte klassische und um so mehr die moderne Kunst bereits ›interaktiv‹ [war], da sie einen Zusschauer voraussetzte, der fehlende Informationen ergänzte und seine Augen oder seinen ganzen Körper bewegen mußte‹: »Die Interaktive Computerkunst versteht ›Interaktion‹ wörtlich, indem sie diese auf Kosten der psychischen Interaktion mit einer rein physikalischen Interaktion zwischen einem Benutzer und einem Kunstwerk (das Drücken eines Knopfes) gleichsetzt« (vgl. 1997, 125f).
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sondern über die strukturelle Anordnung der Informationseinheiten und Wahrnehmungselemente. Nicht nur aber die Kunst, sondern auch jede Information wird dann mit Komputation identisch. Wenn der Unterschied das Kriterium sowohl der Komputation als auch der Negentropie ist, kann jede Information gleichermaßen die Welt verändern. Die Unterscheidungen zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Technik und Ästhetik, zwischen ›E‹ und ›U‹ und zwischen Sinn und Unsinn entfallen durch die digitale Fusion der medialen Darstellungsweisen. Die ›Freiheit‹ des Komputierens bewirkt sogar, daß »Kunst und Wissenschaft ... als ›politische Disziplinen‹ angesehen werden müssen« (Flusser 1989, 54): Da in den Bildern gehandelt wird und Bilder die bilderkonsumierende Gesellschaft ändern, ist jedes Handeln politisch und jede Politik komputierendes Handeln. Auch der Politik droht das Komputationsspektakel, sobald sie sich im Bild verwirklicht und sich über die Netze artikuliert. Weit mehr als in den herkömmlichen Medien wird Politik den Gesetzen der Neuen Medien unterworfen sein. Da die Reinform der Telematie verspricht, daß jeder Nutzer Komputationsgewalt habe und die Programme präge, die rückwirkend über die Netze die Nutzer prägen, scheint auch das Monopol der Politik zu kippen.1 Das ›anything may go‹ des Komputierens, dem die Gedanken frei sind, macht das Digital zum gigantischen Versuchslabor auch politischer Ideen. Die schier grenzenlose ›Freiheit‹ komputativ entstehender Gedanken‹ scheint in eine Art geistlose Ursuppe getaucht zu sein, die im Zufallsprinzip das gedankliche ›Leben‹ entstehen läßt. In der Tat beschreibt Flusser den Zufall spielenden Komputator als optimalen Spielgefährten. Er sieht ihn auf der Entwicklungsstufe eines schreibenden Affens. An der Scheibmaschine sitzend kann der Affe, ahnungslos, ›frei‹ und ›dumm‹, wie er ist, beliebigste Komputationen ausführen, indem er beliebig Tasten drückt: Der »Schimpanse ist der ›freieste‹ Schreiber« (vgl. 1990, 25). Nachdem also der Zufall in der 1 Blickt man freilich ins Internet, das reichlich mit Blödsinn vollgestopft ist, so sind im politischen Kommunikationsdigital nicht minder niveaulose Komputationen zu erwarten. Doch wird man so selbstverständlich damit leben und umgehen müssen, wie man heute mit der nicht nur niveauvollen Presselandschaft umzugehen weiß.
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Industriegesellschaft tabuisiert und möglichst auszuschalten war, wird er im Akt des Komputierens zu einem entscheidenden Parameter der Informationsproduktion. Die Chaostaste wird zum aleatorischen Sinnstifter. »Zum Beispiel kann ich ein ›katholisch-freudianisch-marxistisches‹ Modell aufstellen und dabei selbstredend auch eigene Informationselemente einbauen ... Statt Kolumbus lasse ich Amerika von Platon entdecken ... ich kann ... alles Gegenwärtige ... in die Zukunft projizieren und so auch diese gegenwärtig machen« (Flusser 1990, 107). Computer sollen »Auschwitz ins 30. Jahrhundert verlegen ... die Kathedrale von Reims mit dem Lincoln Center zusammenmischen ... oder ... die von Jesus verwendeten Gleichnisse in Bilder übersetzen und sie mit Bachschen Kantaten zur Deckung bringen« (ebd. 108). Wie schwer der Wahrheitsanspruch realweltlicher Gegebenheiten aufrechtzuerhalten ist, illustriert Moles anhand eines Experiments, in dem Computerprogramme neue ›Mondrianbilder‹ aufgrund der Eingabe von Mondrianoriginalen kreierten: Ein Testpublikum hatte die ›Remakes‹ etwa genauso gut (oder sogar besser) empfunden. Dasselbe widerfuhr Tschaikowsky und Brahms. Wenn nun »die ›Remakes‹ etwa genauso gut (oder sogar besser) wären als das Original, so hieße das, daß [Mondrian,] Tschaikowsky oder Brahms bei der Erforschung ihres Möglichkeitsfeldes auf dem vielverzweigten Pfad nicht die beste Richtung gewählt hätten. Als Möglichkeit existierte ein besseres ›Erstes Klavierkonzert‹, als das, welches Tschaikowsky tatsächlich niedergeschrieben hat: wir würden einen großen Fehler machen, übersähen wir diese reiche Quelle künstlicher Möglichkeiten« (vgl. Moles 1973, 87f). Derartige Möglichkeiten haben sich von der sogenannten Wirklichkeit und der Geschichte so weit entfernt wie vordem nur Mythos und Magie. Es soll vom Bild des Bildschirms weder auf die sogenannte Realität noch auf Geschichte rückgeprüft werden müssen:1 Die von Flusser vorgeschlagenen Je1 Die Lebensbedingungen sind damit reichlich neu. Das alte, entropisch gewordene ›Territorium mit Wahrhaftigkeitsanspruch‹ wird von Neuem abgelöst. Sprach Günther Anders von unserem Ehrgeiz, die Natur zu vergewaltigen, so widerfährt nun der ›alten Dame Geschichte‹ dasselbe: Wir seien »von einem geradezu sportlichen Ehrgeiz befeuert, die Natur zu überlisten: von dem Ehrgeiz, es ihr zu ›zeigen‹, ihr nachzuweisen, daß ihr ihre metaphysische Herumfaulenzerei letztendlich doch nichts nutze« (Anders 1985, 185).
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sus-Bach-Zwitter sowie die Moles‹schen Tschaikowsky-Mutanten machen die Authentizität von Jesus, Bach und Tschaikowsky überflüssig. Hochgerechnet wie Mandelbrots Gleichung, sollen sie einzig immer Neues bringen. Damit aber wird jede Darstellung beliebig und banal, wird Auschwitz zum Disneyland. Nicht Aufklärung ist das Ziel der Apparatkommunikation, sondern Bildproduktion. Dabei ist »nicht das im technischen Bild Gezeigte [die Botschaft], sondern das technische Bild selbst ist die Botschaft« (Flusser 1990, 44). Weder die Welt noch deren Belange ›deuten‹ auf Erklärungen (zwecks Problemlösung), sondern umgekehrt deutet das Virtuelle auf die Welt. Als Bild ist es die Welt. Zwar zwingen die Apparate zu ›sinngebenden, imperativen Botschaften‹, doch fällt der Bildinhalt mit dem Bild selbst zusammen. Irdische Probleme sind damit irrelevant, denn Problem ist gleich Bild – wie ja auch Sinn gleich Information ist. Flusser weist darauf hin, es sei »eine Gesellschaftstruktur entstanden, in der sich die Menschen nicht mehr um Probleme, sondern um die technischen Bilder gruppieren ... Nicht mehr Menschen, sondern technische Bilder stehen jetzt im Zentrum, und dementsprechend sind es die Beziehungen zwischen dem technischen Bild und den Menschen, nach denen die Gesellschaft zu klassifizieren ist« (ebd. 45). – Ich kann die Bilder elektronisch versenden und mich darüber unterhalten, wie die Entwürfe gefallen, ob sie beispielsweise schön sind. Was sie zeigen aber ist zweitrangig. Damit zeigt sich umso deutlicher, daß die ›Informationsgesellschaft‹ nicht mit Informationsinhalten ›dealt‹, sondern mit Bitanhäufungen, die zwar bildhaft sind, deren Sinn und Inhalte aber weder mehr Sinn machen noch zur ›Welt‹ zurückführen (müssen). Erst die elektronischen Bilder gewährleisten universelle Darstellbarkeit. Den Umbruch in seinen breitenwirksamen Dimensionen zu beschreiben, scheinen – computare, computantis – noch die Begriffe zu fehlen, sofern Begriffe – und nicht Bilder – überhaupt fähig sind, zu zeigen. Pixels und Bits lassen sich nur schwer ins Schriftliche übersetzen. Während das Bild zum Vermittlungsorgan zu avancieren scheint, scheint die kommunikative Kompetenz der Schrift umsomehr an Überzeugungskraft zu verlieren. Da die Apparate so viel mehr zeigen als Wort und Schrift, ringt die Sprache vergebens nach Worten. – Beim schriftlich aufgeklärten Zeitgenossen freilich dürfte die Behauptung Flussers, »mit den neuen Computercodes sind wir wieder illiterat geworden« (1992, 51), Panik hervorrufen.
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Alles andere als beunruhigt sieht Flusser der Verdrängung der Schrift entgegen: »Die neuen Schriftstücke (die Computerprogramme) sind für die meisten von uns in jenes Geheimnis gebadet, welches alphabetische Schriften vor der Erfindung des Buchdrucks umhüllte« (1992, 51f). War einst »das geschichtliche Bewußtsein gegen das magische gerichtet«, indem ›die zirkuläre Zeit der Magie in die lineare der Geschichte umcodiert wurde‹ (vgl. 1992b, 10), so »wurden die technischen Bilder erfunden: um die Texte wieder vorstellbar zu machen, sie magisch aufzuladen – um die Krise der Geschichte zu überwinden« (ebd. 12). Die Geschichte hatte ihren Höhepunkt in der Aufklärung gefunden, die die Welt zu erklären versuchte, über das Erklären aber nicht hinauskam. Das technische Bild nun überwinde sowohl Buchstaben als auch Vernunft und übernehme nachgeschichtlich die vor-alphabetische Funktion der magischen Bilder, wodurch »das westliche, historische, typisierende Denken ... archaisch« wird (vgl. Flusser 1992, 50). Das Denken also fällt zurück in die unbeschreibbare, dafür unmittelbar erlebbare Mystik des reinen Bildes. Sinn wird weder mehr ›grübelnd‹ oder poetisch vertieft, noch wissenschaftlich ge-funden, sondern wieder er-funden: »Die linearen Texte haben im Dasein des Menschen nur eine vorübergehende Rolle gespielt, die ›Geschichte‹ war nur ein Zwischenspiel, und wir«, so Flusser, »sind gegenwärtig dabei, in die ›normale‹ Lebensform zurückzukehren ... ins Imaginäre, Magische und Mystische« (1990, 9) – in eine Metaphysik der Steckdose.
3. Das Entziffern der Bilder Nachdem Sinn fraktalisierte und Vorstellbarkeit durch Darstellbarkeit ersetzt wurde, nachdem – bereits im Fernsehzeitalter – das Interesse an der Welt zugunsten des Bildes aufgegeben wurde, tauchen Sinn und Vorstellbarkeit im technischen Bild in hybrider, nicht authentischer, aber in sinnlich weit eindringlicherer Form wieder auf. Das Komputierte und Geraffte ist die Summe der Sinnfraktale auf einer weit intensiveren Informierungsebene als jener der herkömmlichen Bilder – der Ölgemälde, der analogen Fotografien oder der Fernsehbilder.
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Die digitalen Produktionsverhältnisse aber lassen die Bilder weit schwerer wahrnehmen als deren analoge Vorgänger. Waren schon traditionelle Bilder äußerst vielschichtig, konnotativ extrem offen und forderten sie qua Abstand eine komplexe Imagination, so sind die technischen Bilder extrem informationsbeladen und zwingen dazu, durch taktile Nähe körperlich und in sinnestaktischer Gleichzeitigkeit geradezu erlitten zu werden. Die Bilder sind weder in Worte zu fassen noch zu imaginieren, denn ihr Sinn ist die unmittelbare Bildlichkeit selbst. Sie mag zwar Worten entsprungen sein, Worten, die, ›zerbrochen in tausend Fragmente‹, als Bruchsammlung eingescannt und ins Bild hochgerechnet wurden. Doch während ich Texte linear in der Zeit, und traditionelle Bilder in Zeit und Raum imaginiere, liefern die technologischen Bilder die Imagination jenseits von Zeit und Raum unmittelbar freihaus und kappen die lineare Verarbeitung. Als die intensivste Form der Information sind die Bilder bereits das, was das Sehen erkennen soll. Sie nehmen den komplexen Akt der Rezeption vorweg. Die Bilder entsteigen zwar den digitalen Codes weit konkreter – ja punktgenau – als in Büchern beschriebene Gestalten, gerade das Konkrete aber ist ihr Nachteil. Noch ehe der Blick ihnen nachstellt, zeigen sie sich bereits konkret. Ihnen genügt die reine Wahrnehmung – eine Wahrnehmung, die die komplexe Verarbeitung des Wahrgenommenen übertölpelt. Die digitalen Bilder sind extrem informationsreich (sie liefern ›kilometerdicke‹ Quantität), die schriftlichen Codes dagegen sind extrem konnotationsreich (sie liefern imaginierbare Qualität). Bücher liefern Sinndichte, die es nur gibt, weil es den Menschen gibt, der schreibt beziehungsweise liest. Sogar Negroponte gesteht: »Interaktive Medien lassen der Phantasie kaum noch Spielraum. Wie bei einem Hollywoodfilm wird auch bei einer multimedialen Erzählung der Verlauf der Handlung so genau dargestellt und ausformuliert, daß dem geistigen Auge fast nichts mehr zu tun bleibt. Im Gegensatz dazu löst das geschriebene Wort Bilder aus und ruft Metaphern hervor, die ihre Bedeutung zum großen Teil aus der Phantasie und den Erfahrungen des Lesers erhalten. Wenn Sie einen Roman lesen, stammt ein großer Teil der Farben, Geräusche und Bewegungen von Ihnen« (1995, 15). Die Apparate dagegen kreieren zwar ›konkrete‹ Fatamorganen, doch sind sie so flüchtig wie Träume, weil sie so konkret und sinnesnah daherkommen. Im Virtuellen verbleibt die Wahrnehmung
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auf der Ebene der Vermittlungsstruktur. Diese Eingeschränktheit kann auch wahrnehmungsstrategisch kaum durchbrochen werden, da der Anschluß in Echtzeit alle Sinnesorgane ›in Atem hält‹. Gelesenes dagegen strengt zwar das Auge an, fordert aber das Gehirn auf, Vorstellungen (Bilder) zu entwerfen und vor dem geistigen Auge Gestalten zum Entspringen zu bringen. Wie sehr demgegenüber das Virtuelle die menschliche Verarbeitungskomplexität unterfordert, zeigt die Tatsache, daß man beispielsweise einem Hund die Erlebniswelten des Virtuellen zugänglich machen kann. Lesen dagegen kann er nicht. Als Imaginationsersatz sind die Bilder ein Trommelfeuer auf die Sinne. Gesehen werden der Informationsfülle wegen nicht mehr Informationen, sondern Informationsballungen. Diese Ballung zu durchschauen, scheint im Gegensatz zu den analogen Bildern eine emergentere, informationsintensivere Wahrnehmung gefordert zu sein. Wider die Zeitnot des Betrachtens und wider den Frontalangriff der puren Sichtbarkeit, scheint das Komplexe in den Wahrnehmungsprozeß einziehen zu müssen, denn ein einfacher Blick kann nicht sehen, was er sehen soll. Er wird von den Bildern überrumpelt. Komplexität, die sich seitens der Schrift als Imagination entfaltet, scheint nun in die Bildentzifferung investiert werden zu müssen. Die Komplexität aber hat weder logisch noch seitens des Bewußtseins einzusetzen, sondern bezüglich der Wahrnehmung selbst. Die Geisteskraft hat die Sinne zu okkupieren, ohne ›Geist‹ entfachen zu wollen, sie hat die Sinne bezüglich der Strukturalitäten ›sehend‹ zu machen. Die Sinne sind als Röntgengeräte zu schärfen. Nachgeschichtlich ist die Informierung eine magische Beschwörung durch das Bild. Der Komputator zaubert algorithmisch Bilder, die die Konsumenten magisch in Bann halten. Die Magie des Bildes wirkt als Sinnesverführung, die nicht den Umweg über Denkprozesse geht, sondern geradewegs ins Auge zielt. Sie ist die konsequente Steigerung von Rationalität und Objektivität, da das Gemessene, Erfaßte und Komputierte dicht gerafft und in komprimierter Form – als Effekt – wirkt. Sowenig aber magiegeprägte Kulturen frei von ihren Mythen leben können, sowenig ist auch der heutige Zeitgenosse frei von den Bildern, die seine Welt bedeuten. Da aber ein Ignorieren der Bildstrukturen die Bildontologie nicht freigibt, scheint ihnen nur ein intensiverer Blick gerecht zu werden. So wenig Mythen seitens der Rituale selbst verstanden werden können, sondern
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seitens ihres Entstehens, sowenig kann das techno-magische Weltbild im Bild selbst, sondern nur in seinem strukturbedingten Aufbau verstanden werden. Der Bild-Werdung, der Dynamik des Erscheinens der Bilder ist nachzuspüren. Erst ein Durchschauen der ›fließenden‹ Transformationslogik der Bilder entlarvt deren magische Kraft. Wenn ›der Mensch den Apparaten vorschreibt, was ihm die Apparate vorgeschrieben haben und damit in Funktion der Apparate funktioniert‹ (vgl. Flusser 1990, 64), wenn also zunächst die Apparate programmiert werden, die Programme dann aber den Menschen programmieren, ist eben dieses Hörigkeitsverhältnis transparent zu machen: »Die Apparate funktionieren ... als Selbstzweck, eben ›automatisch‹ ... Diese sture, absichtslose, funktionale Automatizität gilt es zum Gegenstand der Kritik zu machen« (ders. 1992b, 67). Es drohe ›Robotisierung‹ (ders. vgl. 1992, 70), wenn man den Teufelskreis von Wahrnehmung und Hörigkeit ignoriere.1 »Solange wir 1 Dazu Flusser etwas ausführlicher: »Die neuen, robotisierten Gesten sind bereits allerorts zu beobachten: an Bankschaltern, in Ämtern, in Fabriken, in Supermärkten, im Sport, beim Tanz. Bei genauerer Analyse ist die gleiche Stakkatostruktur auch im Denken, etwa in wissenschaftlichen Texten, in der Poesie, in der musikalischen Komposition, in der Architektur, in politischen Programmen zu erkennen. Entsprechend ist es die Aufgabe der gegenwärtigen Kulturkritik, diese Umstrukturierung des Erlebens, Erkennens, Wertens und Handelns in ein Mosaik von klaren und distinkten Elementen aus jedem einzelnen Kulturphänomen herauszuanalysieren. Unter einer derartigen Kulturkritik wird sich die Erfindung der Fotografie als jener Zeitpunkt erweisen, von dem ab alle Kulturphänomene beginnen, die lineare Struktur des Gleichen durch die Stakkatostruktur des programmierten Kombinierens zu ersetzen; also nicht, eine mechanische Struktur anzunehmen, wie dies nach der Industrierevolution der Fall war, sondern eine kybernetische Struktur, wie sie in den Apparaten programmiert ist. Unter einer derartigen Kulturkritik wird sich die Kamera als Ahne alle jener Apparate erweisen, welche daran sind, alle unsere Lebensaspekte, von der äußeren Geste bis in das Innerste des Denkens, Fühlens und Wollens zu robotisieren« (1992b, 64f). Die Entlarvung dieser Rückkoppelung des Apparatischen auf das Verhalten illustriert Flusser am Beispiel der Fotografie. »Der Fotograf hat Macht über die Betrachter seiner Fotografien, er programmiert ihr Verhalten; und der Apparat hat Macht über den Fotografen, er programmiert seine Gesten« (ebd. 29). Der ›Fotoapparat als Prototyp der so bestimmend gewordenen Apparate‹ (vgl. 20) zwingt deshalb zu einer Doppelfrage: »Inwieweit ist es dem Fotografen gelungen, das Apparatprogramm seiner Absicht zu unterwerfen ... und umgekehrt: Inwieweit ist es dem Apparat gelungen, die Absicht des Fotografen zugunsten des Apparatprogramms umzuleiten, und dank welcher Methode?« (43). »Solange dies nicht gelingt, bleiben die Fotografien unentziffert und erscheinen als Abbilder von Sachverhalten in der Welt dort draußen, so als hätten sie sich ›von
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über eine ... Kritik [der Bilder] nicht verfügen, bleiben wir, was die technischen Bilder betrifft, Analphabeten« (ders. 1992b, 15). Da die Bilder Wahrnehmungsoffensiven sind, heißt Verstehen zunächst, die Bilder neu zu Sehen: apparatimmanent zu Sehen. Denn wir könnten das »Leben nur meistern, wenn wir die Spielregeln so gut beherrschen, daß wir sie ändern können« (1990b, 125). – Vor allem der Komputator will schließlich kompetent Bilder erzeugen. Auf den ersten Blick scheint es zwar, als müßten die Bilder »gar nicht entziffert werden, da sich ihre Bedeutung scheinbar automatisch auf ihrer Oberfläche abbildet – ähnlich Fingerabdrücken« (Flusser 1992b, 13). »Technische Bilder ... geben vor, daß man sie nicht erst entziffern müsse« (ders. 1990b, 117). Wie die Bilder aber auf den Bildschirm kommen, bleibt dann ihr Geheimnis. Diese »Kritiklosigkeit den technischen Bildern gegenüber muß sich als gefährlich herausstellen in einer Lage, wo die technischen Bilder daran sind, die Texte zu verdrängen« (ders. 1992b, 14). Noch ehe Kritik – und die Kompetenz, weiterzukomputieren – auf der Höhe der Zeit ist, ist also die Logik zu entlarven, die zum Bild geführt hat: Kritik ist durch eine Wahrnehmung einzulösen, die nicht den Inhalten, sondern den Strukturen folgt. Die Prozesse der Bildauflösung und das Zustandekommen der Bilder haben ins Zentrum des Interesses zu rücken. Es geht darum, »die technischen Bilder, die uns programmieren, zu entziffern. Dies kann nicht gelingen, wenn man auf dem historischen Bewußtseinsniveau verharrt, denn die technischen Bilder stehen ›dahinter‹. Man muß versuchen, das nachgeschichtliche Bewußtseinsniveau zu erklimmen« (ders. 1990b, 118f). Der nachgeschichtliche Blick fragt nicht, ob die Bilder wahr oder falsch sind, sondern ›wie das Programm, in dem sie entstanden, funktioniert‹ (vgl. ebd. 125). Es gilt, ›die Struktur des Apparats aufzudecken – nur dann ist zu hoffen, die Apparate in den Griff zu bekommen‹ (vgl. ebd. 119). Kann der Zeitungsleser, Radiohörer oder Fernsehzuschauer ideologisch gefärbte Einseitigkeiten und Absichten in der Vermittlungsprogrammatik erkennen, so hat der Digitalnutzer die Programmatik der Bildentstehung zu entschlüsseln. Daselbst‹ auf einer Fläche abgebildet. Derart unkritisch gesehen, erfüllen sie ihre Aufgabe vorzüglich: das Verhalten der Gesellschaft magisch im Interesse der Apparate zu programmieren« (44). Es gilt also, »wer schreiben kann, der kann auch lesen. Aber wer knipsen kann, muß nicht auch unbedingt Fotos entziffern können« (52).
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bei ist über den Output der Bilder und Erscheinungen die ›Black Box‹ zu untersuchen. Die Intensivierung des Blickes will die zu Punktelementen zerfallenen und bildlich gerafften und komponierten Informationsverdichtungen in der Logik ihres Entstehens fassen. Ein derartiges ›Studium der gängigen Spielregeln‹ nennt Kamper ein ›Rückwärtsbuchstabieren der Zauberformeln‹ (vgl. 1986, 54). Doch kann vom Bild aus Licht ins Dunkel der Black Box gebracht werden? Kann ich Einzelinformationen (Punktelemente) überhaupt ausmachen in all der Punktenge eines einzigen Bildes?1 Um in den Bildern geraffte Unterschiede, Strukturen und Programme ausfindig zu machen, ist die gesamte Informationsladung danach abzusuchen. Der Entzifferer aber scheint etwas erkennen zu wollen, was er nicht erkennen kann, denn Programme und Strukturen zeigen sich nicht auf den Bildoberflächen, sie sind vielmehr in der Black Box verborgen. Das Bemühen des Entzifferns gleicht dem Versuch, in einem Ölgemälde noch den Pinsel des Malers sehen zu wollen. So liegt es nahe, sich den Bildern über die Programmebene selbst anzunähern. Denn ›wenn ich technische Bilder einbilde‹, so Flusser, ›bilde ich aus dem Innern des Apparats her‹. »Die Einbildner stehen nicht über den Apparaten wie die Schreibmaschinenschreiber über den Maschinen, sondern sie stehen mitten in ihnen, sie sind mit ihnen und von ihnen verschlungen« (vgl. Flusser 1990, 33) – ein Fachmann erkennt sofort, welche Bedeutung die Farben einer Tomographie der Erde auf Satellitenaufnahmen haben, und jeder Bildhersteller sieht noch im Bild die von ihm gesetzten Algorithmen leuchten. Der unbedarfte Bildanalytiker also, will er die Bilder verstehen, hat der Arbeit des Programmierers nachzuspüren, indem er den ›Sprung in der Black Box‹ tut. Da ein guter Programmierer (er setzt Algorithmen neu) ein guter Komputator ist (er nutzt die Algorithmen für Sinnprojekte), ist ein guter Komputator auch ein guter Entzifferer (er durchschaut das Spiel) – und umgekehrt. Programmierer sind die Künstler an der 1 Bezüglich eines einzigen Bildes scheint ein Wahrnehmungsvermögen vonnöten, wie es David Bowie im Film ›Der Mann, der vom Himmel fiel‹ gelang, in dem er zwanzig Fernsehgeräte gleichzeitig wahrnahm: Im Extremfall der Wahrnehmung werden sogar noch im Rauschen – des Fernsehers nach Sendeschluß – Informationsfraktale auszumachen sein – gewissermaßen als Erinnerung an alle je gezeigten Filme, denn jeder der flackernden Punkte kann eine potentielle Information symbolisieren.
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digitalen Basis, denn ohne sie ließe sich nichts komputieren. Erst das Aufzeigen der von ihnen gesetzten Strukturlogik also scheint den Weg freizulegen, der zur ›Genetik der Bildgenese‹ führt. Die Programmebene aber sollte mit Bildwahrnehmung nicht zusammenfallen, denn sie erforderte einen Betrachter, der zugleich Programmierer ist. Einerseits kann der die Programme durchschauende Entzifferer zwar in die Tiefe der Bilder eindringen, andererseits aber tut sich der Verdacht auf, daß die Bilder nur von Fachleuten verstanden werden können: daß die Telematie nur für Programmierer einsichtig ist. Der Entzifferer also mag als Programmanalysator erfahren, wie die Bilder entstanden sind und wie es ›dem Apparat gelungen ist, die Absicht des Komputators zugunsten des Apparatprogramms umzuleiten‹. Was aber bleibt dem Entzifferer zu tun: Er wird mit dem eigentümlichen Paradox konfrontiert, daß das Entziffern nichts anderes als Erkenntnis ist. Wer der Bildwerdung nachspürt, geht aufklärerisch vor. ›Erkenntnis‹ aber sollte dem ›nachgeschichtlichen Bewußtseinsniveau‹ kaum genügen können. Will der Entzifferer verstehen, was die Bilder bedeuten, folgt er dem Linearen, er bleibt der Logik des Schriftlichen verhaftet und überträgt sie in die binäre Sprache. Er grübelt algorithmisch und imaginiert die Bildwerdung strukturell. Ein derartiges Verstehen und Erklären droht das Gesamtkunstwerk Bild analytisch zu zerstören, es erneut ›wegzuerklären‹. Durch die Bildanalyse entgeht der Entzifferer zwar – Abstand beziehungsweise Einblick gewinnend – der Wahrnehmungsoffensive, doch steht er mit dem Strukturen reflektierenden Wissen in der Digitalontologie recht hilflos da, denn das komplexe Meta seiner Erkenntnis wird er rückwirkend kaum in Digitallogik umsetzen können. Während der kritische Zeitungsleser Leserbriefe, Artikel oder Bücher schreibt – und dennoch den Gesetzen des Publikationsmarkts folgt, wird auch der Entzifferer, nachdem er die Programme aufklärerisch durchschaut hat, nichts anderes tun können als weiterzukomputieren – und folglich den Programmen treu bleiben. Er mag die Programme zwar transzendiert haben, auf der Programmebene aber wird er nur weiterprogrammieren können. Das Entziffern ist damit zwar als ein Entlarven der Programme wichtig, auf der Seite der Handlung aber ist der gegebenen Programmlogik zu folgen. Der Entzifferer wird weiterhin nur Programme programmieren, die rückwirkend Rezipienten – und ihn selbst – programmieren.
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4. Information als Kritik Es gibt laut Luhmann »nicht im gleichen Sinne wie beim Widerspruch des Wortes gegen das Wort einen Widerspruch des Bildes gegen das Bild« (1996, 80). Bildkompatibler Widerspruch müßte selbst ein Bild sein, wollte er der Dimension Bild gerecht werden. Er wäre eine Gegenkomputation – doch bliebe eine Komputation. Gibt es also einen Widerspruch gegen das Bild an sich? Ein derartiger Widerspruch müßte das Bild bildtranszendent und frontal treffen. Da seine Bausteine aber auf Informationen angewiesen wären, führte er ebenfalls nur zur Komputation. Das Bild scheint selbstidentisch nur weiterkomputiert werden zu können. Auch ein Widerspruch des Wortes gegen das Bild handelt im Digital mit Komputationen bedingenden Informationen. Der ›wortfähige‹ Sinn entstammt zudem der ›anderen Ontologie‹ des ›historischen Selbstverständnisses‹, er liegt weit hinter der Informationsdichte eines Bildes zurück. Erst in sinnabstrahiertem Zustand, erst als Information wird er digitaltauglich. Doch Informationen können wiederum keinen grundsätzlichen Widerspruch gegen das Bild auffahren – er würde als neue Komputation ebenfalls nur affirmativ der Bildlichkeit entsprechen. Welchen ›Sinn‹ haben dann aber die Informationen, die ›größer‹ sind als deren Darstellbarkeit und Vermittelbarkeit und die die Bilder als Bilder beeinflussen oder angreifen wollen? Gibt es im Reich der Kommunikation ein Handeln jenseits der Einbildungszwänge? Der Verdacht liegt nahe, daß die Information die Krankheit ist, die sie bekämpfen will. »Wo alle Menschen Kritiker sind, sind sie zugleich ... Kritiker aller anderen« (Flusser 1990, 103), so lautet die demokratische Verheißung der Telematie. In den Hypertexten der Kommunikationsnetze ist jeder zur freien Meinungsäußerung geladen. Da Informationen Unterschiede bewirken, müßte die Kritik eine überaus edle Form der Informationen sein: sie schafft gewaltig Unterschied. Kritik ist hochwertige Information. Sie greift durch Unterschiede die vorangegangenen Informations-, Netz- und Bildzustände an und ändert sie negativ entropisch. Doch bezüglich der strukturellen Verarbeitungsweise unterscheidet sich die Kritik im Digital weder von der Information noch von der Komputation. Sie bewirken gleichermaßen nur Unterschiede: Komputation und Information sind Kritik – und umgekehrt.
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Mit Moles wird deutlich, wie sich die Kritik zur Komputation verhält: »Die Definition des Schönen ergibt sich aus einer Statistik über das Schöne. Das ist eine Art von Antwort, die die Ästhetiker bisher kaum in Betracht gezogen haben; die Idee des Maßes verträgt sich nicht mit der Idee der Transzendenz, die die Philosophen vertreten« (1973, 95). Ebenso wird die Kritik dank des Maßes und der Codes in Strukturen gebettet und – neutralisiert – in eine Statistik über die Kritik übersetzt. Kritik wird strukturell erfaßt, da sie anders nicht handhabbar ist. Eine Statistik über die Kritik aber ist sowenig Kritik, wie eine Statistik über das Schöne schön sein kann. Beides wird als Informationswert nur verteilt und mit Netz- und Bildzuständen gemischt. Kritik ist, wie jede Information, nur Futter der fraktalen Informationsmetamorphosen. Die Kritik also erlebt eine Metamorphose. In der Lebenswelt war sie noch eingebettet in menschliche, also komplexe Begreifbarkeit. Kritische Informationen konnten Horizonte erweitern. Kritik konnte sogar verletzen. Zwar kann Kritik auch im Digital gelesen werden und betroffen machen, im Verschiebebahnhof Digital selbst aber hat sie ihre imaginierende Wirkung verloren, denn Information ist dort ihrer Wertigkeiten überlassen. Sie ist eine sich selbstreferentielle, an andere Informationen nur anschließbare Informationseinheit, die nur Unterschiede nach sich zieht. Sie ist sammelbar, speicherbar und komputierbar, als Bit-Sammlung aber kann sie die eigene Reduziertheit nicht übertreffen. – Virtuell wie sie ist, kann Kritik zudem unvergleichbar leicht ignoriert werden. Lebensweltlich ist Kritik komplex gebunden an Sinn, ans Fleisch, das verwundbar ist. Im Digital aber überwindet sie den Status ihrer meßbaren Wertigkeit nicht. Zwar ist jede Komputation Kritik – und umgekehrt, sie ist es aber nur, weil die Definition der Information (Kritik) nicht dem Unterschied zwischen Sinn und Informationswert folgt. Kritik hat im Digital nichts zu tun mit ihrer Schlagkraft, denn nicht Sinn ist wichtig, sondern die fraktalen Wertigkeiten und apparatinternen Verbindungen der Strukturbedingungen. Was lebensweltlich als kritischer Sinnunterschied auszumachen war, wird als Wertunterschied nur in die Selbstsensorik der Informationsverarbeitung eingestrickt. Winkler spricht davon, die Inhalte würden »in die Technik hinein ›vergessen‹« (1997, 361). Für lebende ›Systeme‹ gilt: »Ein System, das sich zwingt, seine Zustände laufend zu verändern, [ist] genötigt, seiner Umwelt Infor-
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mationen zu entnehmen« (Luhmann 1988, 80). Den in sich geschlossenen Netzen aber fehlt die nötige Eigendynamik, sich – an einer ›Umwelt‹ reibend – zu wandeln. Während lebensweltlich »ein hinreichend stabiles System aus instabilen Elementen« durch die Komplexität garantiert ist (vgl. ebd. 78), sind die Netze nicht flexibel genug, Instabilitäten selbst zu erzeugen beziehungsweise wahrzunehmen. Sie bedürfen des Interfaces Mensch. Auf sich alleine gestellt verfällt das Digital augenblicklich der Entropie, da es selbst (nichtkomplex) keine Unwahrscheinlichkeiten schöpfen kann. Es bedarf des Interfacekontakts zur menschlichen ›Umwelt‹: Es ist auf die menschliche Komplexität angewiesen. Der Tasten drückende Affe Mensch ist also bei Laune zu halten, weiterhin neue Informationen bereitzustellen. Die Programme, die ihn nähren werden, sind zu füttern. Jede neu gesetzte Komputation und jede Kritik bewirkt Unterschiede, die auf sich selbst verweisen, nicht aber auf die Komplexität, der sie entsprangen. Flusser erkennt deshalb zu Recht, »von einer Kritik ist ... im herkömmlichen Sinn des Wortes in Zukunft nicht mehr zu sprechen ... Was wir befürchten ... ist der Untergang ... des kritischen Entzifferns. Wir befürchten, daß in Zukunft alle Botschaften, insbesondere die Wahrnehmungs- und Erlebnismodelle, unkritisch hingenommen werden, daß die informatorische Revolution die Menschen in unkritisch permutierende Empfänger von Botschaften, also in Roboter verwandeln könnte« (1992, 70). Da Kritik denselben Kriterien wie Information und Komputation unterliegt und nur ihr Informationswert zählt, werden kritische Informationen durch ihre Bildwerdung sinnlos. Sie sind ihrer kritischen Schlagkraft beraubt. Umgekehrt aber wird auch der Rezipient selbst durch ›entwertete‹, genauer gesagt: durch in die Struktursysteme ›eingewerteten‹ Informationen, ent-kritisiert. Wenn die Programme rückwirkend die Programmierer und Nutzer programmieren, werden sie selbst in die kritikneutrale Strukturlogik einorientiert. Wenn Luhmann fragt, »ob es überhaupt noch gesellschaftliche Positionen gibt, von denen aus Wissen repräsentativ vertreten und mit entsprechender Autorität kommuniziert werden kann« (1992, 171), so scheint die ›Autorität der Kritik‹ auch lebensweltlich der informatorischen Einebnung zu weichen. Flusser gesteht, es »verwandelt sich für die Empfänger ... in Entropie, was als negative Entropie in die Apparate programmiert war« (1990, 20). Gegen diese ›Robotrisierung‹ hülfe nur, weiter
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Informationen zu produzieren und kritisch weiterzukomputieren – doch um den Preis, den paradoxen Teufelskreis der entropischen Zirkulation nur weiter zu steigern: Die Kritik wird unter dem entropischen Zwang der Verwertung kritikuntauglich. Kritik kann zwar gelesen werden, doch ihre Wirkung wird nur kommunikativ verwaltet werden können. Kritik wird zur Komplizin der digitalen Zuwachsraten. Die entropische Gleichverteilung des kritischen Wissens ist freilich kaum bemerkbar, da die Ablenkung durch – auch kritische – Daueraktualitäten kollektive Erregung erzeugt. Obwohl Wissen vielseitig und kritisch kombinierbar ist, täuscht die Erregung darüber hinweg, daß das Angebot beliebig und niedrigkomplex bleibt. Für Luhmann ist »für einen Beobachter ... ein System entropisch, wenn eine Information über ein Element keinerlei Rückschlüsse auf andere zuläßt. Das System ist für sich selbst entropisch, wenn ... jedes mögliche Nächstelement gleichwahrscheinlich ist ... und ... zum Zufall wird« (1988, 79f). Beides trifft für die an die Apparate gebundene Menschheit zu: Kritische Informationen sind im Digital zwar beliebig anschließbar, die gleichwahrscheinliche und nicht-komplexe Beliebigkeit der Möglichkeiten aber kappt – fraktalisierend – die sinnbeladenen Rückschlüsse. Der ›freieste‹ Komputator, der besagte ›Affe‹ nutzt den blinden Zufall als optimale Komputationsgrundlage nicht des Sinns wegen, sondern zur einschaltquotenartigen Steigerung der Erregungsraten. So wird der Prozeß der Entropie auf einer intensiveren Beschleunigungsebene potenziert, auf der auch jeder Kritik die Luft ausgehen muß: Alles ist gleichermaßen Kritik, alles gleichermaßen Information, alles verfällt gleichermaßen rasch der Entropie, alles verzichtet gleichermaßen auf komplexe Wirkung.1 Flusser bestätigt den Teufelskreis als undurchbrechbar, als Macht, die, sich selbstreferentiell erhaltend, wirkt – mit Funktionär ist der Komputator gemeint: »Die Funktionäre schreiben den Bildern vor, was sie dem Empfänger vorzuschreiben haben. Die Apparate schreiben den Funktionären vor, wie sie die Bilder vorzuschreiben haben. Und andere Apparate schreiben diesen Apparaten vor, was sie den 1 In diesem Dilemma ist – mit Luhmann gesagt – ›weniger als je zuvor zu erwarten, daß die Natur physikalisch oder daß das Sein metaphysikalisch hilft‹ (vgl. 1992, 211) – die komplexe Natur ist vielmehr simulatorisch in die Inkompetenz getrieben, und die Metaphysik steht unter der ›Schutzhaft‹ ihrer Nicht-Meßbarkeit.
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Funktionären vorzuschreiben haben. Durch all diese scheinbare und sich selbst verschlingende Hierarchie von Vorschriften hindurch ist die allgemeine entropische Tendenz zu einem kosmischen Metaprogramm ersichtlich, und niemand und nichts außer dieser sturen Eigendynamik steht ›dahinter‹« (1990, 65). Die informationserzeugende Interaktion also erweist sich insofern als Etikettenschwindel, als die Apparate nur das ermöglichen, was in ihnen strukturell vorgesehen ist. Auch Luhmann analysiert diese ›Universalzuständigkeit für die eigene Funktion‹ der Massenmedien: Das System könne »nur das tun, was intern nach Struktur und historischer Lage des Systems anschlußfähig ist«. Es könne sich »um alles kümmern, was für die eigene Kommunikation thematisierbar ist« (vgl. 1996, 50): »Das Identifizierte wird in ein Schema überführt, bezeichnet und dadurch bestätigt« (ebd. 74). Dieser Selektion liege ein »Zusammenhang von Kondensierung, Konfirmierung, Generalisierung und Schematisierung zugrunde, der sich in der Außenwelt, über die kommuniziert wird, so nicht findet«. ›Sinnkondensate‹ entstünden als »›Eigenwerte‹ des Systems«, die »nicht darauf angewiesen [sind], daß die Umwelt sie bestätigt« (vgl. 74f). Was immer also in der Lebenswelt sagbar war und Wirkung zeigen konnte, wird im Digital automatisiert und entropisiert. Das digitale System selbst ist die Entropiefalle. Da sich keine Information und keine Kritik als Sinnvirus auszubreiten vermag, ist das Digital selbst als ein – Informationen fressender – Virus zu klassifizieren. Die Strukturbedingungen der Apparate lassen sich weder wegkomputieren noch wegprogrammieren: Kritisch komputierte Verneinung fußt auf der Diskursstruktur des Netzes. Information (und Kritik) hat sich in ihren Gesamtzustand einzupassen – andernfalls ließe sie sich nicht lagern und die Lageralgorithmik (die Diskursstruktur) muß erst geschaffen (komputiert) werden, um die Kritik ›einzufangen‹. Das heißt, ›die Apparate assimilieren automatisch die Befreiungsversuche, informative Bilder herzustellen‹ (vgl. Flusser 1992b, 68) – Bilder, die die Ontologie der Digitalspeicherung übertreffen. Mehr noch: ›informative Bilder sind im Programm gar nicht vorgesehen‹ (vgl. ebd. 63). Komputationen sind a priori eine Funktion des Programms, sie sind als Möglichkeit strukturell und potentiell stets schon vorgegeben. Innerhalb der Digitallogik führt der Komputator nur das aus, was die Apparate strukturell zustandebringen – ohnehin zustandebrin-
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gen. Die Hoffnung, man werde bei Computerspielen eine Welt entdecken, die von den Programmierern gar nicht angelegt war, ist so absurd wie die Erwartung, Information und Kritik als strukturübertreffende Kräfte einsetzen zu können: An einer digital ›wertfrei gewordenen Welt‹, so Flusser, ›gibt es nichts zu kritisieren‹ (vgl. 1992, 73). – Kritik im historischen Sinn scheint nur möglich durch ein, wie Sloterdijk es nennt, ›Sichausklinken aus dem Beschleunigungsprozeß‹ (vgl. 1989, 70) der digitalen Allroundverwertung. Je besser die Informationstechnologien laufen, desto entropischer und informationsloser die Informationen. Flusser erkennt zu Recht, »ein Vorteil der künstlichen Intelligenzen ist, daß sie problemlos vergessen können« (1992, 131). Die Speichertaste ist bereits eine tilt-Taste des Sinns. Damit verkehren die Informationstechnologien den Begriff der Information in sein Gegenteil, denn die Information macht Unterschiede nur auf der Ebene eines sich verändernden Bankkontos. Sie kann verrechnet werden und ändert Zustände, sie bereichert Datenbanken, doch agiert fern jeder kommunikativen Praxis. Seit die entropische Seuche die Informationen zu verschlukken begann, noch ehe sie zur Geltung kommen, läßt sich mit allem immer weniger sagen: Information ist, was keinen Unterschied mehr macht.
5. Künstliche Intelligenz Daß ›Künstliche Intelligenz‹ mit im Spiel sein sollte, um Komputationen optimal und rasch zustande zu bringen, ist naheliegend. Nicht nur der Komputator, auch der Computer sollte über Katholizismus Bescheid wissen, über Freud, über Ackerbau und Elvis, wenn er beim Komputieren in diesen Bereichen helfen soll. Doch Wissen ist ihm problemlos einzugeben. ›Wissende Apparate‹ aber intelligent zu nennen, ist eine Frage der Definition. Man kann sie bereits für intelligent halten, wenn sie mit Wissen jonglieren und den TuringTest bestehen.1 Ohne nun festlegen zu wollen, wann eine Maschine intelligent zu nennen ist, ist absehbar, daß der Fortschitt auf dem 1 Beim sogenannten Turing-Test wird eine Maschine als intelligent eingeschätzt, wenn sie in einem Blindtest als Mensch durchgeht, wenn beispielsweise ein Telefonanrufer nicht merkt, daß er mit einem Computer spricht (vgl. Penrose 1991, 6ff).
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Gebiet der Künstlichen Intelligenz den definitorischen Grenzwert stetig erhöhen wird, denn ein immer perfekterer Grad an Kombinatorik wird das Digital zusehends operabler machen. Der Mensch, der User, will schließlich nicht erst Algorithmen zusammenbasteln müssen, er will die durch sie möglichen Virtualitäten nutzen, er will synergetisch Komputationen erleben. Flusser geht davon aus, »im telematischen Dialog werden menschliche mit künstlichen Intelligenzen derart gekoppelt werden, daß es sinnlos werden wird, in den so erzeugten Informationen zwischen menschlichen und künstlichen Faktoren unterscheiden zu wollen« (1990, 97). Ohnehin »können künstliche Intelligenzen schneller kalkulieren und komputieren. Schreitet die Technik in dieser Richtung voran (und das tut sie), dann werden in absehbarer Zukunft die automatischen Kritiker die menschlichen nicht nur ersetzen, sondern sie werden auch tiefere Einblicke als diese haben« (ebd. 101) – mathematisch-kalkulatorische zwar, doch übertreffen sie hinsichtlich der Informationsdichte den menschlichen Horizont. »Unter günstigen Voraussetzungen«, so jubeln die Cybernauten, komme es schließlich »zur Entwicklung von intelligentem Leben, das als Bitwolke in den Schaltkreisen des Computers Diskurse führt« (Schröder 1991, 132). Von ›algorithmischer Ursuppe‹ ist die Rede und von ›genetic programming‹ (vgl. ebd.). In ›neuronalen Netzwerken‹ wird die Evolution des Denkens längst virtuell simuliert. Als falteten wir unsere Hirnrinde noch einmal oder erfänden das Rückenmark neu (vgl. Brand 1990, 165), das Netz der Zukunft soll lebendig sein: »Es benötigt keine Programme im herkömmlichen Sinn, sondern lernt aus Erfahrungen, ähnlich wie der Mensch das von Kindheit an tut« (Leckebusch 1990, 42). Besteht das Gehirn aus Nervenzellen, den Neuronen, die, über Synapsen miteinander verbunden, ihren Zustand gegenseitig durch Informationsaustausch beeinflussen, so gibt es in einem neuronalen Netzwerk für die jeweilige Aufgabe ebenfalls nur Verbindungen, die gemeinsam arbeiten. Es wird kein Programm geschrieben, und die Informationen verteilen sich mehr oder weniger selbstständig überall im Netz. ›Die Architektur und die Trainingsmethoden bestimmen, wie das Netzwerk arbeiten muß. Das Programm besteht aus dem Gesamtzustand des Netzes, sein Aufbau entscheidet über sein Verhalten, denn im Erfahrungstraining wird nach jedem Beispiel eine Veränderung im Netz vorgenommen‹ (vgl. ebd.). »Man spricht
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von wetware [nassen Computern] im Gegensatz zu hardware und software, weil diese Computer in Nährsuppen getaucht sind, also sozusagen lebendige Sachen sind« (Flusser 1988, 129). Zweifelsohne ist ›mit dem neuronalen Netz ein Konzept in den Blickpunkt gerückt, das den Computer und die Art, ihn zu programmieren, von Grund auf revolutionieren könnte‹ (Leckebusch 1990, 44). Um es kurz zu sagen: »man baut eine Allzweckmaschine, steckt Ausbildung rein und bekommt Verhalten raus« (T. Knight in: ebd.). Maschinen würden sich als wetware mit ihrer eigenen Komplexität befassen, sich selbst weiterentwickeln können und dem Menschen als ›synergetische Freunde‹ Dienste erweisen können. Ziel der Forschung ist, das Materielle wie Immaterielle dank der Prothesen möglichst digitalwahrnehmbar zu machen, Ziel der Netze ist, dies Wissen möglichst flexibel in selbstständiges Verhalten umzusetzen, und Ziel der Informationstechnologien ist, das virtuell Kopierte und die autonomen Lebensformen den menschlichen Sinnen zugänglich zu machen. So schwer die Simulationen der lebensweltlichen Komplexitätslastigkeit gerecht werden können, die Künstliche Intelligenz hat bereits Massen an Informationen zur Verfügung, die virtuell umsetzbar sind. Die Künstliche Intelligenz scheint, wie Günther Anders über die Medien urteilte, »die ganze Welt als Ganze verarbeiten, verwandeln, ›fertig machen‹« zu wollen, um sie, so ja die Vorstellung der Cyberpunks, »›zu sich zu bringen‹ ... in die Hochöfen, Fabriken ... Radio- und Fernsehstationen« (Anders 1985, 186). Und heute eben bildhaft gerafft in den Cyberspace. Die Aufklärung scheint in der Simulation alles Irdischen zu gipfeln, da alles, was gewußt wird, informationstechnologisch ›intelligenter‹ macht. Obwohl das Maschinelle und das Menschliche mittlerweile engstens miteinander verbunden ist, sind menschliche Eigenheiten: die äußerst komplexe Gehirnkompetenz, Empfindung, Erwartung, Absicht, Erfahrung etc. in den Apparaten äußerst unterbesetzt. Wozu aber eine ›Verschmelzung künstlicher und menschlicher Intelligenzen zu einer Einheit‹ (vgl. Flusser 1990, 97) auch immer führen soll, unterliegt nicht nur den Kompatibilitätsbedingungen und der technologischen Aufrüstung, sondern ist vor allem eine definitorische Entscheidung: Flusser zufolge werde man »die unangenehme Wahl haben, entweder die künstlichen Intelligenzen zu humanisieren oder die menschlichen zu apparatisieren« (ebd.).
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Die Künstliche Intelligenz zu humanisieren hieße, die Apparatfunktionen komplex zu machen. Weder aber durch Wissenszufuhr noch durch Strukturverbesserung dürfte eine ›Humanisierung der Apparate‹ erreichbar sein, da sich Komplexität und Struktur zueinander verhalten wie Wasser und Öl und die menschliche Komplexität selbst dem Menschen uneinsichtig ist. Roger Penrose weist darauf hin, »wenn wir einen noch so umfassenden Formalismus zu besitzen glauben, wird es stets einige Aussagen geben, die seinem Netz entgehen« (1991, 105), das heißt, das Komplexe ist und bleibt größer als das Faßbare und Berechenbare. ›Daß ein völlig bewußtloser Automat seine Zeit darauf verschwendet, ein Buch schreiben zu wollen, ist kaum vorstellbar‹ (vgl. ebd. 399). »Etwas geht nicht auf in der symbolischen Ordnung« so Kamper. »Der Rest ... das was übrig bleibt, wenn alles aufgeschrieben worden ist« (vgl. Kamper 1986, 155) läßt sich nicht funktionalisieren. So perfekt das simulierte Double sich im Virtuellen geben mag, es wird nur aus bekannter Fülle an Informationen heraus entstanden sein können, nicht aufgrund authentischer Humankomplexität. Die virtuellen Erscheinungen entstehen aufgrund der »Simulation einer geschlossenen Einheit, die weder auf den komplexen Gegenstand paßt, der erkannt werden soll, noch demjenigen, der erkennen will, irgendeinen Platz in sich einräumen kann« (Kamper 1990b, 142). Nicht einmal ›das Gesetz des Regenwurms führt zum Regenwurm‹ (vgl. Penrose 1991, Vorwort XIX). Und der Mensch wird im mensch-gedoubelten Turing-Test kaum ein gleichwertiges Gegenüber finden. Das Digitale zirkuliert als ein kollektives, selbstidentisches Selbstgespräch, der Mensch aber »ist nicht partout ein Selbst, das im Identischen des Verstehens mit sich selbst vermittelt wäre. Vielmehr gibt es eine Differenz, die nicht getilgt werden kann ... Es bleiben Reste, die nicht aufgehen« (Kamper 1990b, 142). Die Differenz ist die Komplexität selbst. Während Moles die ›Idee des Programms‹ als ›ein Algorithmus des Geistes‹ erscheint (vgl. 1973, 95), gibt Penrose zu bedenken: »man sucht oft mühselig nach Algorithmen, wenn man Mathematik treibt, aber das Suchen selbst scheint keine algorithmische Prozedur zu sein« (vgl. 1991, 403). Penrose bezweifelt die Möglichkeit der Entwicklung von Algorithmen, »mit denen wir ... Urteile über die Gültigkeit anderer Algorithmen fällen können« (vgl. ebd.). Da »die geringste Mutation ... einen Algorithmus höchstwahrscheinlich völ-
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lig unbrauchbar machen« würde (404), sprächen Algorithmen gegen die Methode der natürlichen Evolution: beim Gehirn sei ›eine wesentliche nicht-algorithmische Komponente im Spiel‹ (394). Die algorithmische Verarbeitungsweise selbst sperrt sich gegen die Möglichkeit, (simulatorisch) komplex zu werden. Das Komplexe ist nicht einholbar. Da mögen Apparate immer ›klüger‹ werden, es mögen Spielzeugschildkröten zur Steckdose laufen, ehe ihre Batterie leer ist, es mögen psychologische Beratungsprogramme Krisen bewältigen helfen, oder der Haushaltsroboter wissen, daß er die Suppe nicht mit der Hand umrühren soll, weil sie sonst nach Maschinenöl schmeckt – tatsächlich komplexes learning by doing wird ihnen, so vielversprechend ›parallele Verarbeitungsweisen‹ auch klingen, nur schwer möglich sein: Der Roboter wird die Suppe kaum selbst essen und das Maschinenöl schmecken können. Selbst wenn man ihm sagt, sie schmecke nach Maschinenöl, selbst wenn Maschinen dank neuronaler Netze selbstständig lernen können und der menschlichen Einbildungskraft immer besser nachgeeifert wird, hat die Zunahme an Wissen nichts mit Intelligenz, geschweige denn mit Bewußtsein oder der menschlich vergleichbaren Komplexität zu tun. Man mag den Computer die Bibel oder die Menschenrechtskonventionen auswendiglernen und sie mit der Straßenverkehrsordnung komputieren lassen, aber »der Computer denkt ... nicht ... Was ›denkt‹ ... ist der Mensch plus Computer plus Umgebung« (Bateson 1985, 620). Weder ein ›Human-Algorithmus‹ noch Komplexitäts-Algorithmen sind absehbar. Wie einst das Perpetuum Mobile ist heute die ›humanistische Weltformel‹ Wunschtraum einiger Forscher der Künstlichen Intelligenz. Apparate zu humanisieren ist nicht mehr als gutgemeinte Absicht.1 Die ›menschliche Intelligenz zu apparatisieren‹ scheint als Gegenstrategie ebenfalls unmöglich, denn der Mensch denkt weder in Zahlen noch in Bits. Trotz Interfaceoptimierung ist der Mensch dazu verdammt, Körper zu bleiben. In einer anderen Hinsicht dagegen 1 Das Tier- und Menschenhirn, so Adrian, werde davon in Anspruch genommen, sich in der Umwelt zu bewegen. Die menschliche Intelligenz sei ›unglücklicherweise vollgestopft mit ablenkenden Gefühlen wie Angst, Sexualität, Vergnügen, Eifersucht etc.. Doch Automatendeppen glauben, daß sie es bei ihrer Arbeit mit prothesenähnlichen elektronischen, beziehungsweise technischen Hilfsgeräten mit Verlängerungen des menschlichen Hirns zu tun haben‹ (vgl. 1990, 349f).
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werden Menschen durchaus apparatisiert: Apparate umgeben uns allerort – Bankomate, elektronisches Kinderspielzeug, Fernbedienung, Kameras, Computer etc., und je mehr sie uns umgeben, desto besser werden sie uns vertraut, desto maschineller, ihren Codes entsprechend reagieren wir auf sie. Der Mensch kommt den Apparaten entgegen, indem er sich möglichst maschinengerecht verhält. Darüberhinaus programmieren ihn die von im selbst programmierten Programme rückwirkend aufgrund des strukturalen Hörigkeitszwangs. Die Kompatibilität also wird erleichtert durch einen goldenen Mittelweg: Wenn in einer Verschmelzung von Mensch und Apparat ›zwischen menschlichen und künstlichen Informationen nicht mehr unterschieden werden‹ soll, hat die Maschine möglichst intelligent und human zu tun, ohne es aber sein zu müssen, und der Mensch hat möglichst auf Intelligenz, auf Bewußtsein, Individualität und komplexes Vermögen zu verzichten, um den Apparaten gerecht zu werden. Diese Symbiose durch Kompromiß will weder eine intelligente Maschine, noch den Menschen als Apparat. Dennoch ist, um die Symbiosekompatibilität zu erhöhen, der Grenzwert des allzu Menschlichen zu senken. Beim Umgang mit den Neuen Medien sind die Sinne zwar einerseits auf neue Weise gefordert, andererseits aber werden sie in ihrer Denk-Verarbeitungs-Komplexität marginalisiert. Der Mensch, will er digitaltauglich sein, muß sich der mathematisch-funktionalen Sprache anpassen. Damit ist auch sein Grenzwert der Komplexität gesenkt. Genügt strukturell meßbare Komplexität, ist sie als Scheinkomplexität operabel genug. Sofern die Informationstechnologien durch Sinnesbeeinflussung Bewußtseinstechnologien sind, fördern sie ein Bewußtsein auf Niedrigkomplexitätsniveau, ein low-levelBewußtsein, das sich als Durchschnitt genügt. Der ›Übergang von einer analytischen zu einer synthetischen Welt‹ (vgl. Moles 1973, 108f) gelingt also nur, wenn sich der Mensch seiner komplexen Fähigkeiten entledigt1 – die Diginauten würden freilich sagen, ›wenn er sie überwindet‹. 1 Würde man beispielsweise nurmehr telefonieren, wären Gesten evolutionär redundant und überflüssig. Die Subjekthaftigkeit der Apparate, die sich zwischen Mensch und Welt schiebt, setzt sich über die irdisch-natürliche und unmittelbare Wahrnehmung hinweg. »Die Linse«, so Flusser, »hat Kleinigkeiten auf der Mond-
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Da ein ›elektronischer Freund‹, sollte er sein ›Herrchen‹ noch so gut kennen, Widerkäuer seiner Echtzeitbedingungen und seines Fraktalwissens bleibt, gilt, sich seinen Grundformeln anzugleichen.1 Auf die Gentechnik anspielend, durchleuchtet Baudrillard eine Mutation, die den Menschen in Bezug auch zur Künstlichen Intelligenz und zum Digital betrifft: Zunächst werde der Mensch (als Gattung) erforscht, das Wissen werde simulatorisch hochgerechnet, wobei man »die genetische Matrix der Identität isolieren, und ... alle differentiellen Peripetien eliminieren [wird] ... die den zufälligen Charme der Individuen ausmachten« (vgl. 1992, 138). Das Indiviuum sei dann nurmehr eine ›krebsartige Metastase seiner Grundformel‹ (vgl. ebd.). Erst wenn das Denken ›von jedem animalischen und metaphysischen Reflex gereinigt‹ ist (vgl. 71), erst ohne ›krankhaft‹-individuelle Zusätze, erst im Allgemeinen, kann der Mensch zum optimalen Prototyp seiner selbst werden und optimaler Partner des elektronischen Freundes sein. Da ›unsere Programme jede Möglichkeit einer Metaphysik ausschließen‹ (vgl. Flusser 1990b, 125), wird der Mensch einerseits zum Mängelwesen, doch andererseits treibt erst sein Mangel den Homo Copy auf niedrigkomplexen Erfolgskurs.2 Das Humane wird durch die Apparate neu dekliniert. Die ›mentalen Prozesse werden durch die Interaktionsbedingungen externalisiert und mit dem Vorgang gleichgesetzt, einem Link zu folgen‹ (vgl. Manovich 1997, 126f). Durch diese ›Objektivierung des menschlichen Denkens‹, so Lev Manovich, »werden wir dazu aufgefordert, vorprogrammierten, objektiv existierenden Assoziationen nachzugehen« (vgl. ebd.). Da sich der Mensch an das Immateoberfläche sichtbar gemacht, so daß es schwierig wurde, die Größe des Mondes zu bewundern« (1990b, 41). Ähnliche Schwierigkeiten bekommt nun der Mensch mit sich selbst: Angesichts der neuen Technologien muß es geradezu illegitim erscheinen, sich selbst (seine komplexen Fähigkeiten) zu bewundern, denn irdische Wahrnehmung entlarvt sich als menschlich-naiv und erweist ihre (objektivierbare) Gültigkeit erst hinsichtlich der Verwertbarkeit durch das Digital. 1 Da der ›elektronische Freund‹ kaum freie Reden schwingen wird, hat auch Herrchen, um kompatibel mit ihm zu bleiben, ihn irritierende Redeeuphorismen zu vermeiden. 2 Künstliche Intelligenz bedeutet, perfekte Darstellbarkeit als Authentizität auszugeben. Tatsächlich aber ist sie nur allgemeinste, selbstidentische Grundformel ihrer selbst. – Im Virtuellen aber ist ein gentechnisch erzeugter Wurm so real wie sein lebensweltliches Orginal. Die Simulation erlaubt, daß der Regenwurm wie immer geartete Intelligenz besitzt und sogar Ping Pong spielen kann.
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rielle heranmachte, an das, wie Flusser sagt, Unmenschliche, gilt: »Der Mensch ist ins Unmenschliche vorgedrungen, das Unmenschliche schlägt auf ihn zurück, und unter diesen Schlägen bricht der Humanismus zusammen ... Humanismus ist der Gegenwart unangemessen« (vgl. Flusser 1990b, 40f),1 da er sich, wie Gott, jeder Meßbarkeit entzieht. Wenn nun aber vom Nutzer die Rede war, der angeblich kompetent die Netze nutzt, war man vom ganzen Menschen ausgegangen, der sich allzu menschlich in den telematischen Dialog einbringen könne. Nun aber, da es scheint, als bewirke der Kompromiß den Verlust seiner komplexen Grundausstattung, liegt die Befürchtung nahe, der vielbeschworene Nutzer werde umsomehr zum Anhängsel der Apparate und sein Rezipientendasein würde sich im Vergleich zum Nutzerstatus allzusehr verschärfen: Wenn sein Bewußtsein nicht gefragt ist und seine Individualität redundant wird, ist es unwahrscheinlich, daß er komplex und kreativ dem negentropischen Imperativ folgen und die ihm abverlangte Verantwortung übernehmen kann, den Homo Copy nach seinem Ebenbild zu entwerfen. Stattdessen wird er die Simulation seiner selbst als bessere – als im informationstechnologischen Sinn perfekte – Mickey Mouse ins neue Jahrtausend entlassen.
1 Die in den virtuellen Welten kreierten Wesen werden beliebig komputiert sein, sie können beliebigste Mutationen erfahren. »Wir sind dabei, ein Monstrum zu gebären«, so Flusser, es entstünde »ein Mutant der in uns selbst abgelegten Information« (1990b, 169). »Er ist uns ›unsympathisch‹, er schwingt in uns fremden Phrasen. Seine Gesten, seine Codes, seine Modelle sind nicht die unsrigen. Er lebt in einer Welt, die wir nicht entziffern können, gleichwohl wir für sie die Verantwortung tragen, denn wir, nicht er, haben sie errichtet ... Das Neue ist entsetzlich, und wir selbst sind das Neue« (ebd. 168f). »Die Ungeheuer«, so Kamper, »die dem Traum der Vernunft entsteigen, gehorchen der Vernunft keineswegs» (1991, 94). – Wie ein Blick in heutige Videoläden bestätigt, aber scheint der gesellschaftliche Bedarf nach Ungeheuern groß zu sein.
IV. Die Macht der Programme
u behaupten, ›alle derzeitigen Computer der Erde seien so komplex wie ein menschliches Gehirn‹ (vgl. Leckebusch 1990, 41) ist reichlich übertrieben, denn das Wissen, das sie speichern, kommunizierbar und komputierbar machen, führt noch keineswegs zum ›Denken‹. Man mag alle Computer miteinander verbinden und auch noch das menschliche Nervensystem an Computer anschließen, die ›elektromagnetisierten Nervensysteme‹ aber werden das Niveau der Niedrigkomplexität der Inputs kaum wettmachen. Nichtsdestotrotz können alle ans Netz geschlossenen Terminals der Nutzer als ein ›Gehirn‹ bezeichnet werden, als »eine aus Black Boxes zusammengesetzte Super-Black-Box« (Flusser 1992b, 65). Dieses ›Gehirn‹ denkt zwar nicht, seine Qualität liegt aber darin, daß es die ihm zur Verfügung stehenden Informationen nach Befehlsmustern prozessiert: »Die Gesellschaft besitzt ein eigenes Gedächtnis, das weit dauerhafter und weit vielseitiger ist als das Gedächtnis irgendeines Einzelwesens, das ihr angehört« (N. Wiener in: Nagula 1991, 198).1 Vorbei die Zeit, in der sich das tradierte Wissen über Bücher, Körperkommunikation und Rituale zeigte, Kultur ist nun auch das, was digital gespeichert ist und sich – kommunizierbar – augenblicklich im digitalen Netz vollzieht. Sowenig das Digital selbst denkt, so vermittelt es doch gesellschaftlich stattfindende Denkprozesse. Der Vermittlung selbst ist das Vermittelte nicht Denken, sondern Datenaustausch. Das ›gesellschaftliche Gehirn‹ stellt nicht den Anspruch nach Selbstreflektion. Stattdessen bilden die über die Big Black Box dialogisierenden Nutzer eine »Gesellschaftsstruktur, die wohl am besten ein ›kosmisches Hirn‹ zu nennen sein müßte« (Flusser 1990, 59). Die Nutzer laben sich an den Denkprozessen, die sie mit anderen eingespeist haben.
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1 Das Digital vergilbt nicht so schnell wie Bücher und es entwickelt Bücher fort zum Hypertext. Konnten bislang Bücher den Leser in Erregung versetzen, nun erregen die Nutzer die Netze, um sich rückwirkend erregen zu lassen, also den (menschlichen) Erregungszustand zu erhöhen, der dann qua Rückkomputation wiederum die ›innerhirnliche‹ Digitalerregung erhöht.
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Wie im menschlichen Gehirn sind die Informationen weitgehend ortlos verteilt und doch weitgehend überall gleichzeitig anwesend. Mit jeder Bitzufuhr wird das ›Gehirn‹ und rückwirkend das Nutzerkollektiv ›klüger‹. Der Sog für die Gedanken und Ideen der Menschheit bietet Raum für eine Utopie, die darauf setzt, das dialogisierende Gehirn werde selbst Geistesblitze entzünden können: Im ›kosmischen Hirn‹, so Timothy Leary, schließen sich »individuelle Intellekte zu einem globalen Gruppenintellekt« zusammen (1991, 276). Der Personal Computer sei dabei, zum ›Interpersonal Computer‹ zu werden (ebd.), und der »Bildschirm ist der Ort, wo das interpersonale, interaktive Bewußtsein des Weltintellekts zum Vorschein kommt« (279). Im globalen Computernetz, das die Gehirne der Nutzer anzapft, soll mein Gehirn, das über die Finger Output an die Terminals gibt, in Echtzeit ein kleiner Teil des seinen sein. Lévy zufolge ist ›die Echtzeit der kollektiven Intelligenz eine Emergenz, die Denk-, Lern- und Arbeitsintensitäten synchronisiert‹ (vgl. 1997, 89). Solange die Apparate daraufhin programmiert sind, Wissen zu erweitern, solange Informationen eingegeben werden und solange an den Netzknoten-Terminals irgendjemand sitzt, der Fragen hat, die irgendjemand irgendwo im Netz beantworten kann, steigt mit steigendem Wissensvolumen auch die Wissenskompetenz der Netze und seiner Nutzer. Das Digital ist ›dankbar‹ um jedes neue Bit, das seinen Netzerregungszusstand erweitert, da es – die Nutzer bereichernd – als Wissenserweiterungsprogramm installiert ist. Jede Bitmutation ist im Nanobereich des Daten‹denkens‹ eine neue Welt – obwohl das Wissen auf der Programmebene selbst nichts ausrichten kann. Auf Niedrigkomplexitätsniveau aber ist die Informationszufuhr in den interaktiven Datenforen mit Lernen im menschlichen Sinne vergleichbar: Der Oberschenkelknochen eines simulierten menschlichen Doubles wird noch viele Fragen haben, ehe er ›gehen‹ kann. Das Digital bietet optimale Voraussetzungen, dem Double auf die Beine zu helfen, da alle Netznutzer mithelfen. Was immer und wie immer das kollektive Gehirn auch ›denken‹ wird, es ist am ›Brüten‹.
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1. Digitale Demokratie Jeder ist mit jedem verbunden, jeder kann mit jedem kommunizieren. Jeder Nutzer wird zum ›Knotenpunkt in einem Netz von dialogisch strömenden Informationen‹ (vgl. Flusser 1990, 78). Der Nutzer durchlebt dabei dieselbe Metamorphose wie die Information, die sich ortlos überall gleichzeitig im Netz verteilt: er hat nirgendwo konkret anwesend zu sein. »Die emportauchende Gesellschaft ... wird sich an keinem Ort und in keiner Zeit mehr befinden, sondern in eingebildeten Flächen« (ebd. 8), sie ereignet sich nicht mehr in der sogenannten äußeren Welt, sondern in Bildverschaltungen und Textverweisen. »Was das ›Ich‹ genannt wird, und was früher ›Geist‹ und ›Seele‹ genannt wurde, wird jetzt als Abstraktion von konkreten Beziehungen erkannt« (Flusser 1990b, 158f).1 Sie verteilen sich über den Erdball und führen in die Fundgruben der kollektiven Chatgremien und simulatorischen Denklaboratorien. Die in der Lebenswelt entfremdete Kommunikation wird in der globalen Interaktion künstlich beatmet. Der ›vernetzende Schaltplan mit reversiblen Kabeln‹ fordert geradezu auf zum Dialog. Im Gegensatz zur einseitigen Medienvermittlung erhalten die Individuen nun ›das Recht, nein zu sagen‹ – sowohl in Form einer entweder/oder-Option, als auch inhaltlich und ausführlich (vgl. Flusser 1990c, 213). Dieser negentropische Drang läßt den so passiven, an Entropie ›erkrankten‹ Rezipienten mutieren. Der heutige, sogenannte ›mündige Bürger‹, der in der einweggerichteten Medienvermittlung nur Wähler und Rezipient ist, hat nun die Chance, als mündiger Nutzer aktiv und individuell die gesellschaftliche Kommunikation zu prägen. Wenn das Schaffen neuer Informationen eine der wesentlichsten gesellschaftlichen Herausforderungen ist, wenn die Mailbox zum zentralen Ort des gesellschaftlichen Austauschs wird, dann bedeutet 1 Durch die ›Netzmaschine‹ kann ich mit der ganzen Welt kommunizieren (sofern sie im Netz ist), und mit den Gesprächspartnern soll es sich so verhalten, »als ob man in die Kneipe an der Ecke geht, komplett mit all den guten alten Bekannten und netten Neuankömmlingen ... Nur muß ich hier nicht mal meinen Mantel anziehen oder womöglich den Computer ausschalten und zur Ecke runtergehen. Ich werfe einfach mein Telecom-Programm an – und schon sind sie da. Es ist ein Ort« (Brand 1990, 47) – ein ortloser, virtueller Ort. Die Ortlosigkeit der Informationen korrespondiert mit der Ortlosigkeit des Benutzers.
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Freiheit, Nutzer sein zu dürfen – und sich das Equipement dazu leisten zu können. Als Nutzer habe ich die Freiheit des Komputierens. Ich kann mit den gespeicherten, bibliothekaren Fraktalen jonglieren und sie anderen im Digital zur Disposition stellen. Veränderungen aber werden nur Sinn machen, wenn sie an irgendeiner Stelle im Netz kommunikativ angenommen werden, wenn jemand im Netz (oder eine ›künstliche Instanz‹ des Netzes) ›bravo‹ ruft. Derartig dialogischer Austausch bewirkt einen endlosen, kollektiven Wandlungs- und Wachstumsprozeß von Wissen und Information: Auch Kommunikation ist dann mit Freiheit gleichzustellen. Flusser begrüßt eine derartige Gesellschaft als »die erste selbstbewußte und daher freie Gesellschaft« (1990, 78). Die Schattenseite seiner Freiheit jedoch ist, daß der Nutzer als Netzknoten, als Input- und Outputstation und angeschlossen durch seinen Terminal für das Ganze mitverantwortlich ist. So winzig er als Netzsynapse auch sein mag, er hat – wie die Neuronen im Gehirn – als Teil des Kommunikationsnetzes für optimale Verhältnisse zu sorgen. Er hat die verantwortungsvolle Aufgabe, gemeinsam mit allen Nutzern dialogisch Meinungen zu bündeln, Bilder zu produzieren und kybernetisch Entscheidungen zu treffen: mehrheitlich, also basisdemokratisch. Das ›intelligente Kollektiv‹, so Lévy, gleiche einer ›Aktiengesellschaft, in die jeder Aktionär als Kapital sein Wissen einbringt‹ (vgl. 1997, 114). Jede Person würde zum ›Botschafter ihrer Ideen‹ (vgl. ebd. 167). – Auch Ulrich Beck propagiert eine vergleichbare ›Selbstorganisation des Politischen‹ (vgl. 1993, 156). Er fordert, eine ›Politik der Gesellschaft anstelle der bislang einseitig gerichteten Politiker-Politik‹ (vgl. ebd. 17): Die ›Renaissance des Politischen‹ liege in der Bedingung, daß die ›Individuen in die Gesellschaft zurückkehren‹ können (vgl. 155).1 – Beck freilich erwartet 1 »Die Großparteien mußten den Konsens nicht schaffen, sie konnten ihn abrufen« (Beck 1993, 220). Dies scheint, wie die ›Politikverdrossenheit‹ zeigt, nicht mehr zu funktionieren. Individuen und Gruppierungen wollen ›mitmischen‹. Es würden im Zuge der fraktalen Unübersichtlichkeit »alle Definitionsleistungen den Individuen selbst zugemutet und auferlegt« (ebd. 39), »die Normalbiographie wird zur Wahl-, zur Bastelbiographie« (ebd. 152). Derartige Synthesen scheinen sich nun auch auf höchster politischer Ebene bündeln zu wollen. Mit Beck ist eine ›Bruchstelle‹ markiert: »In einer sich selbst identifizierenden Risikogesellschaft wird Kritik gleichsam demokratisiert; d.h., es kommt zur wechselseitigen Kritik gesellschaftlicher Teilrationalitäten und Gruppen aneinander. An die Stelle einer kritischen Theorie der Gesellschaft tritt ... eine Theorie gesellschaftlicher Selbstkritik« (54). Stabile In-
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die ›Handlungsgesellschaft‹ (vgl. 162) nicht im Virtuellen des Digitals, sondern im Lebensweltlichen selbst. Die dialogischen Verschaltungen können in der Tat die Grundlage einer ›Politik mit Modem‹ sein. Auch auf die Gefahr hin, daß die Diskursrunden Entscheidungen entropisch in die digitale Endlosschleife hineindiskutieren, haben vernetzte Interessengemeinschaften die Möglichkeit, zentral gesteuerte Entscheidungen direkt und in Echtzeit zu beeinflussern. Die Parteienpolitik freilich steht dem vernetzten Basisaktionismus nicht nur begeistert gegenüber. Der ›informatorischen Revolution‹ aber wird sich die Parteipolitik kaum verschließen können – zumal das Weltgeschehen komplexer, instabiler und flexibler ist als die künstlich aufrechterhaltenen Stabilitäten gesellschaftlicher Institutionen. – So ist es eine primitive, aber wirkungsvolle Vorform aktiver Telebürger, die Kommunikationssysteme von Institutionen mit Informationsbombardements zu blockieren. Flusser sieht die digitale Demokratie bereits durch die strukturelle Vernetzung auf dem Vormarsch: »Die eine [Tendenz] weist hin auf die Zentralisation. Es scheinen sich die Dinge immer mehr bündeln zu wollen, und an diesen Bündeln scheinen sich die Entscheidungszentren ausbilden zu wollen. Aber es gibt eine entgegengesetzte Tendenz, die jünger ist und stärker wird, eine dezentralisierende Tendenz zu einer dialogischen Schaltung, die zu einem Zersplittern der Entscheidungszentren zu Entscheidungsaktomen führt. Das läßt nicht nur die Macht, sondern überhaupt den Begriff des Staates zerfallen ... Sollte sich diese telematische Tendenz bestätigen, dann hätte man nicht mit einem totalitären Programmieren zu rechnen, sondern, im Gegenteil, mit einem in ein Mosaik zerfallenden Dezisionsnetz« (Flusser 1988, 133). Anders gesagt: »Mit Netzwerk ist etwas gedacht, was eben prinzipiell mit Machtansprüchen zwar noch zu tun haben kann, was aber jeden Machtanspruch auf Null zurückführt« (Baecker in: Pool Processing 1990, 128). Regierungen, die bislang um die Macht kämpften, teressengruppen werden dabei »abgelöst durch eine themenzentrierte, an der massenmedialen Öffentlichkeit orientierte, vagabundierende Konfliktbereitschaft. Die Fragestellungen funktionaler Differenzierung werden ersetzt durch die Fragestellungen funktionaler Koordination, Vernetzung, Abstimmung, Synthese etc.« (78). Flusser sieht bereits den Wandel heutiger »Politiker ... zu Dinosauriern. Man wird sie ausstopfen und sodann in Museen bewundern können« (1990b, 196).
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würden, so Lévy, ›zu Wächtern, Garanten, Verwaltern und Ausführenden der kollektiv hergestellten Intelligenz‹ (vgl. 1997, 84). Lévy sieht in der ›Nano-Politik‹ einer Organisation zur Selbstorganisation eine ›Aufwertung des Sozialen‹ (vgl. ebd. 65). Im Pool der Basis hat die Politik zu Entscheidungen anzuregen, denn die Basis wird der Echtzeit-Taktstock des Tuns. »In der Heterarchie ... hat man es mit einem Netzwerk wesentlich höherer Ordnung zu tun« (Baecker 1990, 20) als in der Hierarchie, da Sender und Empfänger gemeinsam entscheiden. Vorbild der Heterarchie ist auch hier das Gehirn, das seine Kompetenzen an viele Instanzen gleichzeitig delegiert. Flusser freilich ist nicht so naiv, zu übersehen, daß die heutigen Rezipienten allzu verantwortungsbewußt gar nicht handeln wollen: »Die Leute wollen von den Bildern zerstreut werden, um sich nicht, wie dies bei einem tatsächlichen Dialog der Fall ist, sammeln und versammeln zu müssen. Sie sind froh, dies nicht mehr tun zu müssen ... Die Leute wollen sich zerstreuen, um bewußtlos, glücklich zu werden« (1990, 56f) – im Kitsch feiern sie Niedrigkomplexität. Demgegenüber handeln verantwortungsvolle Nutzer nicht nur politisch, sondern in ›Bilddialogen‹ über dicht geraffte Bild- und Hypertexte gewissermaßen transpolitisch. Sie fordern auf zur Reaktion. Die Bilder zeigen negativ entropisch Neues in neuen Zusammenhängen und sollen kommunikativ immer weiterentwickelt werden. Der Nutzer schöpft aus dem ›kosmischen Gedächtnis‹, collagiert und gibt das Ergebnis den elektronischen Netzen preis, um Antworten unter den weltweit arbeitenden Netznutzern zu provozieren. Nicht nur Ideen, politisches Engagement, Kunst und Chat bereichern die kollektive Intelligenz, auch Komputationen auf der Programmebene sind diskursentscheidend. Änderungen der algorithmischen Regeln sind sogar negentropische Höhepunkte der Netzdialoge. Sie bewirken – wie Gesetzesänderungen – neue Darstellungsformen und neue Diskussionsgrundlagen: Die Vorreiter eines ›computerisierten Lebens‹ – Flusser nennt sie »die gegenwärtigen Revolutionäre, jene, welche dialogische Fäden quer durch die einschläfernden Diskurse spinnen wollen ... sind Störenfriede. Sie wollen das dämmernde Bewußtsein wecken ... Sie manipulieren die Bilder, damit den Leuten zu dämmern beginnt ... daß sie sie für Dialoge, für Informationsaustausch und für die Erzeugung neuer Informationen verwenden können ... Was ihrer Einbildungskraft vorschwebt, ist eine Gesellschaft, in der die Menschen miteinander durch Bilder
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hindurch dialogisieren ... das heißt: nicht den Unterbau der sogenannten ›Informationsgesellschaft‹, sondern ihre Oberfläche wollen sie verändern« (1990, 57f). Die Bilder der Bildschirme, die in ihrer Taktilität die ›verdaute‹ Welt bedeuten und neu ordnen, werden programmierend gestaltete Politik.1 Bislang ›programmierte‹ die Politik die Mediennutzer, nun programmieren die Nutzer die Medien – und damit sich selbst. ›Nicht programmiert entscheiden, sondern programmierend entscheiden‹ (vgl. Flusser 1990, 130) ist die telematische Devise der politischen Neuorientierung. Im Gegensatz zur Einwegschaltung führe sie ins »dialogische Leben« (Flusser ebd.). ›Macht‹, so betont Flusser, wird das Netz nicht mehr benötigen, denn das dialogische, kybernetische Gespräch ist selbst die Instanz der Entscheidung – je mehr Benutzer des Netzes ›bravo‹ oder ›nein‹ rufen, desto klarer kristallisiert sie sich. ›Echte Demokraten‹ synthetisieren also »eine direkte Demokratie ohne gewählte Vertreter und mit einem sich kybernetisch herstellenden Konsensus« (vgl. 1988, 133). – Zum erstenmal seit dem Beginn der Neuzeit sei Demokratie wieder möglich (vgl. ders. 1990c, 213). Das demokratische Programmieren und die Vision der in die Netze einziehenden kollektiven Intelligenz vergleicht Flusser mit Kammermusik: Er versteht sie »nicht so, wie wir sie in Konzertsälen erleben, sondern wie sie jene erleben, die zusammengekommen sind, um Musik zu treiben ... um anhand von Partituren zu improvisieren. Und daß während des Spiels ein Tonband läuft, anhand dessen künftige Kammermusiker improvisieren werden ... Es gibt bei der Kammermusik keinen Dirigenten, keine Regierung. Wer den Takt angibt, ist jener, der gerade vorübergehend das Wort führt. Trotzdem ist aber gerade bei der Kammermusik die Exaktheit der Regelbefolgung entscheidend. Sie ist kybernetisch ... Jeder spielt für sich selbst, und gerade deshalb mit allen anderen« (1990, 135f). Diese gigantische Informationssinfonie spielt im ewigen und beliebig überspielbaren ›Gedächtnis‹ des Netzes. – Auch Lévy sieht das Vorbild der ›Echtzeit-Demokratie‹ in einem ›improvisierenden, vielstimmigen 1 Wohlgemerkt: ›Störenfriede‹ haben nicht in (entropischen) Talk-Shows mitzumischen, die Bewährungsprobe des ›Handelns‹ liegt vielmehr darin, dialogisch die Regeln der Shows, die Bildauflösung oder die bildliche und textliche Zusammensetzung der Übertragungen zu ändern.
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Chor‹ (vgl. 1997, 78). Politik also gerät zum gesamtgesellschaftlichen ›Happening‹, das Künstler, Wissenschaftler wie jeder andere auch mitgestalten können – ›intersubjektiv‹ kann jeder ›Affe‹ Politik machen. Auch ›künstliche Gedächtnisse‹ seien »aktiv am Dialog beteiligt« (vgl. Flusser 1990, 136). Einseitig gerichtete, ›programmierte Demokratie gegen demokratisches Programmieren‹ einzulösen (vgl. Flusser 1990, 66) wird auch die Funktion der Information verändern. Die Stellung der Information wird umgekehrt, wenn »nicht mehr durchgelassen wird, was informativ ist, sondern informativ ist, was durchgelassen wurde« (ebd. 103), weil es mehrheitlich entschieden wurde. Daß auch heute, zum Beispiel in Zeitungen, ›informativ ist, was durchgelassen wird‹, beruht zwar auf Selektion, ist aber im Vergleich zur telematischen Version zentral gesteuert und einseitig an die Rezipienten gerichtet. Demgegenüber nimmt der Nutzer in der telematischen Reinform einerseits die Auswahl selbst vor, andererseits gibt er Entscheidungen zielgerichtet weiter. Er kann mit anderen Netznutzern gemeinsam Relevanzen festlegen. Das Gemeinsame freilich wird zur Fessel der Freiheit, wenn es zur notwendigen Schnittstelle der Entscheidung wird. Denn nun ist informativ, was mehrheitlich selektiert wird. Entscheidung aber droht dadurch an Einschaltquoten delegiert zu werden. Deren meßbarer Konsens bestimmt über die Richtigkeit und Wichtigkeit der Entscheidung. Der Konsens ist die bittere Notwendigkeit des basisdemokratischen Dialogs. Wenn es aber keine Instanz gibt, die Relevanzen setzt, wenn sowohl niemand als auch jeder Entscheidungen mitträgt, erfolgt die Programmierung zwar kollektiv-demokratisch und kybernetisch, hinderlich am ›sinfonischen Dialog‹ aber ist, daß der KomputationsTicker droht, unentwegt weiter zu laufen und als Endlossinfonie kaum je zum Stillstand zu kommen. Entscheidung würde dann zum Prozeß, der, dem demokratischen Druck gehorchend, auf seinen Konsens ewig wartet. Informationen sind zudem nie konkret, da sie in der Komputation immer anders sein könnten, immer anders sein werden: Es würde dann »Reproduktion zum Dauerproblem« (vgl. Luhmann 1988, 79) und die Entropie würde zur Falle eines endlos auszudiskutierenden Konsens. Noch ehe Entscheidungen fixierbar sind, wäre der Teufelskreis des kybernetischen Selbstlaufs zu durchbrechen. Die kybernetisch fließende Maßeinheit, die in Bitform dem
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Selbstlauf der Apparate als Nahrung dient, hätte auf einen menschlich-komplexen Eingriff von außen zu warten. Alles kann thematisiert und alles kann politisch bedeutsam werden. Die Strukturalität von Lagerung und Dialog aber droht nicht nur den Inhalt einer dialogisierten Information zu entwerten, schon der Demokratieeffekt wirkt neutralisierend: ›Großartige‹ Informationen (Kritik oder Weltbewegendes) werden gleichwertig mit Banalem (Kitsch) gehandhabt – sofern die Nutzer nicht den Konsens finden, das Wertvolle vom Banalen zu trennen. Wenn alles gleichermaßen dialogisiert werden kann und keine Instanz im Netz, sondern eine imaginäre Massenintelligenz befugt ist, zu entscheiden, werden alle Entscheidungen ununterscheidbar und sind akut von Entropie bedroht: »Wenn alles politisch ist, ist nichts mehr politisch« (Baudrillard 1992, 16). Baudrillard zufolge wird dann ›jede Kategorie zu ihrem höchsten Verallgemeinerungsgrad gebracht und verliert so mit einem Mal jede Besonderheit und geht in allen anderen auf‹ (ebd.).1 Der digitale Demokratismus gerät dann in die Strukturfalle der Vernetzungsbedingungen. Auch der Netznutzer droht durch die Strukturbedingungen und den Konsenszwang verallgemeinert zu werden: »Zwar beschwören die neuen Medien in ihren Verlautbarungen immer noch Individuen, ihrer Struktur nach aber wenden sie sich an den Typus« (Bolz 1990, 85). Demzufolge hat der Nutzer auch als Typus zu antworten. Dabei aber werden Individualität und Orginalität, gebrochen über die Meßbarkeit der Bildschirmerfassung, zurechtgestutzt und – zumal im Konsenszwang – außer Kraft gesetzt. Wenn zudem Dialoge mit konsensfähigen künstlichen Scheinintelligenzen beziehungsweise mit simulierten Prototypen des ›gedoubelten‹ Nutzers geführt werden, wird der Nutzer zum Statisten seiner eigenen Entscheidungsraster. Über die Typisierung wird die Einschaltquote zum Univer-
1 Baudrillard sieht das Hindernis der Digitalkommunikation darin, daß ›der Computer keinen anderen hat‹ (vgl. 1992, 145). In der Interaktion sei ›das Subjekt der andere von niemendem, selbst wenn es für alle möglichen Kombinationen, für alle Verbindungen tauglich ist‹ (vgl. ebd. 144): »Der Andere, der Gesprächspartner, ist ... nie wirklich gemeint. Gemeint ist der Bildschirm selbst«, wodurch die ›Andersheit von der Maschine konfisziert‹ werde (vgl. 63). Jeder Unterschied, das ›Andere‹ und alles Individuelle verkümmert dann zu selbstidentischer Ununterscheidbarkeit.
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salcode der Digitalentscheidungen. Sie ersetzt den Konsens, den sie vorgibt zu messen. Während also Flusser befürchtet, angesichts des heute herrschenden medialen ›Geplappers‹ werde es ›bald nichts mehr geben, worüber wir miteinander sprechen könnten‹ (vgl. 1990, 73) und als Gegengift dieser ›Massenkultur auf dem Niveau der Kinderstube‹ (vgl. ebd. 57) in den Neuen Technologien die Gebärmutter einer neuen Gegenöffentlichkeit sieht, scheint mit dem Konsensdruck und der Implosion des Individuellen der Kern der Dialogfähigkeit auszufallen. Abhängig von den technologischen Anschlußzwängen und der Strukturlogik der Netze wird die Freiheit, Nutzer sein zu dürfen, zum Zwang für den, der etwas zu sagen hat: ›Sinnpamphlete‹ werden auch im Digital nicht nur von Werbung überklebt werden und in den Info-fluten untergehen, sie werden vor allem vom Konsens überrollt. So dürfte es wohl auch in Zukunft naheliegender und energiesparender sein, die Tasten des PCs konsensgestreu zu drücken und Dialoge wie bisher – nun unter interaktiver ›Betreuung‹ – abspulen zu lassen, als die Digitalwelt mit (politischem) Eigenengagement herauszufordern. Das Zappen durch Programme findet dann nur seine multimediale Steigerung. Mit den Datenautobahnen, so vermutet Robert Adrian, werde wohl ›alles beim alten bleiben – nur um vieles verbessert‹ (vgl. 1990, 347). Trotz Internet und den seit Jahren prognostizierten revolutionären Umbrüchen laufen die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen und informatorischen Systeme – zwar um ein Vielfaches beschleunigt – weiter wie bisher. Die interaktive Schaltung scheint nur eine nicht minder absurde Steigerung der bislang analogen und einseitig gerichteten Schaltung zu sein. – Die demokratieseligen Digitalutopisten träumen die Radiotheorie Brechts nur zeitgemäß im Spiegel des Bildschirms.1 1 Kommunikativen Austausch erwartete schon Brecht bezüglich des Radios (vgl. 1967, 129f). Und Robert Jungk sah in den achtziger Jahren das Video als Medium gesellschaftlichen Austauschs: Unter dem Motto ›Publikum macht Programm‹ erhoffte er die Möglichkeit eines ›elektronischen Marktplatzes‹ (vgl. 1978, 42): »Auch ›Empfänger‹ dürfen jetzt endlich ›senden‹ und es wird sich zeigen, daß sie erstaunlich viel zu sagen haben« (ebd. 41). Jungk sah die »Videobewegung als unübersehbare Chance, Demokratie von unten her wiederzubeleben und resignierenden oder politisch gleichgültig gewordenen Menschen die Chance echter Teilnahme am Gemeinwesen zu eröffnen« (42). – Weder aber das Radio noch das Video konnte die
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2. Der kollektive Individualist »All dies sind nur Vorahnungen«, so Flusser über das Konzept der Telematie, – »und sie bergen in sich ebensoviel Gefahr wie Hoffnung« (1989, 55). Das kommunizierende Kollektiv lanciert zwischen Komputationszwang und der Freiheit des ›anything may go‹. Zwischen allem, was geschieht, freilich stehen unübersehbar die Apparate. Wider die Behauptung, ›alle Computer zusammengenommen seien so komplex wie das menschliche Gehirn‹ (vgl. Leckebusch 1990, 41), aber hält Flusser »die Kompetenz der Gesellschaft als Ganzes, als ein kollektives Gehirn gesehen, mit aller Wahrscheinlichkeit noch immer [für] größer als die Kompetenz aller Apparate zusammen ... Daher können zwar nicht einzelne Empfänger und Funktionäre, aber die Gesellschaft als Ganzes die Kontrolle über die Apparate übernehmen« (1990, 66). Das ›kosmische Gespräch‹ komplex agierender Nutzer behalte als Kollektivkonsens und -kontrolle Heimvorteil gegenüber den nicht-komplexen Apparatstrukturen. Versagen die Nutzer aber in ihrer verantwortungsvollen Aufgabe der Kommunikationskompetenz, indem sie sich mit Konsumbefriedigung und virtuellen Spielen begnügen und sich in Desinteresse genügen, potenziert sich der entropische Kitsch multimedial, und der vielbeschworene User wird zum Netzschwätzer, der das kollektive Gehirn verblöden läßt. Freiheit, Demokratie und Souveränität werden durch die strukturellen Gegebenheiten der Netze nicht gratis mitgeliefert. Während die herkömmlichen Medien nur einweggerichtet informieren und die Bürger nicht verantwortungsvoll zu engagierter, kommunikativer Verantwortung erziehen, entziehen sich die Neuen Medien der Verantwortung gänzlich: Sie stellen nur die strukturelle Grundlage für Kommunikation und Informierung. Der Nutzer hat sich selbst um seine Informierung zu kümmern, er hat selbst Suchstrategien zu entwickeln und die Taktiken der Einflußnahme selbstverantwortlich einzuüben. Über (politische) Debatten wird er nicht mehr medial und einweggerichtet informiert, denn die neuen Me-
Erwartungen erfüllen: Das Schicksal der ›digitalen Demokratie‹ werden, wie bei ihren Vorgängern auch, die politischen und ökonomischen Rahmenbedinungen und das ›revolutionäre‹ Engagement der Nutzer entscheiden.
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dien selbst sind nun diese Debatten. Die Nutzer haben sich in ihnen einzubinden wie die Politiker heute in Entscheidungsgremien. Wenn also die gesellschaftliche Kommunikation über den Datenhighway läuft und abhängig von dessen Dialogstrukturen wird, besteht die einzige Möglichkeit des Handelns darin, die Netze zu nutzen und deren Inhalte auf Vordermann zu bringen. Der Umgang mit Informationen ist das einzige Handeln, das telematisch Relevanzen setzt. Handlung hat sich virtuell durchzusetzen, ehe sie auf das Irdische zurückwirkt. Der zum Nutzer emanzipierte Rezipient steht in der Pflicht, Meinungen kundzutun, Bilder zu bearbeiten und schöpferisch die Tasten zu drücken. Die Belange des Bürgers werden ans Ersatzbiotop des Digitals delegiert. Obwohl das Informationsmonopol der herkömmlichen Medien überwunden zu sein scheint – und mit ihm die geringe Mitsprache in öffentlichen Angelegenheiten -, werden aber auch die Digitalhighways nur diejenigen Pfade für Information und Kommunikation bieten können, die sie bieten können. Es gibt im Digital keine Kommunikation, die dessen Strukturbedingungen übersteigt. Während die unterschiedlichen einweggerichteten Medien noch unterschiedliche Arten der Reaktion boten (Leserbrief, Hörertelefon etc.), bündelt das Digital alle Informierungsstrategien im einen Weg der Digitalvermittlung. Windows und Word erscheinen Hartmut Winkler insofern als Massenmedien, als sie »Millionen von Nutzern die gleiche ›Welt‹ aufnötigen« (1997, 377). Und Flusser betont: »Jetzt bedeutet das Universum das Programm«, denn »die Apparate ... wissen alles und können alles in einem Universum, das für dieses Wissen und die Können im vorhinein programmiert wurde« (1992b, 62). Die Programme aber können nicht ›größer‹ sein als das Universum, das ihnen als Programm eingeschrieben wurde. Die Netze sind eine geschlossene Veranstaltung. Jenseits ihrer Strukturenge wird nichts erhört werden. Zwar gibt es abertausend links, doch keinen Megalink, der durch einen Hyper-Algorithmus eine dem gesunden Menschengeist entsprechende Reflektion über die Netzstruktur erlaubt. Die Strukturen können nicht im Netz transzendiert werden. Jede Netz- und Demokratiekritik wird – ohne Angriffsfläche finden zu können – nur in der geschlossenen Netzveranstaltung zirkulieren. Kritik ist Information und wird als solche aufgenommen, eingepaßt, doch dadurch neutralisiert. Sie wird verwaltet: »Wer die Apparate
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abschaffen ... will, geht gegen den allgemeinen Konsensus an. Jeder Emanzipationsversuch aus der Herrschaft der Apparate ist ›antidemokratisch‹« (Flusser 1990b, 98) und in den Strukturgegebenheiten eine inexistente Option. Die virtuelle Demokratie wird damit zur Fessel ihrer Freiheit, denn es gibt kein netzreflektives Darüberhinaus des Handelns. Apparatstrukturen legen die demokratischen Strukturen als unumgänglich fest. Ein netzkritischer Nutzer wird vergebens nach einem Schlupfloch aus dem strukturellen Status Quo suchen. Er wird nur endlos weiterkomputieren können. Im Gegensatz zur komplexen Kommunikationskompetenz des Menschen, die sich selbst reflektieren kann, ist die Digitalkommunikation als Kommunikation im Netz nicht transzendierbar. Die kommunikativen Möglichkeiten bestimmen das digitale ›Sein‹. Sie mögen inhaltlich Unendliches bieten, doch brechen sie das Inhaltliche über die Einheitsbrille der Wahrnehmungsbedingungen. Die Gesamtheit der individuellen Äußerungen schrumpft zum Zwangskonsens der Verschaltbarkeit. Der individuelle Input wird den Strukturen überantwortet und das Individuelle über den Kamm des Konsenses geschoren. ›Der eigene Wille‹, so merkt Kamper an, sei ›längst vom allgemeinen Willen enteignet‹ (1990, 71): »Wo der Apparat sich installiert, bleibt nichts mehr übrig als zu funktionieren«, ist auch der telematische Negativhorizont Flussers (1991, 35). »Wir funktionieren ... als Funktionen zahlreicher Apparate« (ders. ebd. 33), »der Mensch funktioniert in Funktionen der Apparate. Er schreibt den Apparaten vor, was ihm die Apparate vorgeschrieben haben« (ders. 1990, 64). Das so groß angelegte Projekt der Telematie aber erweist sich als Scheingefecht, wenn die kommunikativen Potentiale zu Daumenschrauben des Denkens und Handelns werden. Das selbstbezügliche System des Netzes verweist sogar auf eine Tendenz, die jener der ›falschen, einweggerichteten Schaltung‹ in nichts nachsteht. Da es darauf ausgerichtet ist, Unwahrscheinliches wahrscheinlich zu machen, ist Kritik bereits eine ›Funktion des Programms‹, noch ehe sie aktualisiert wird. Ebenso sind demokratisch eingegebene Unterschiede bereits als Möglichkeit des Programms inbegriffen. Individuell Komputiertes ist bereits vor seiner Aktivierung wahrscheinlich, da die Programme auf Unwahrscheinlichkeiten hin programmiert sind. Weshalb dann aber komputieren, wenn das Unwahrscheinliche ohnehin Aussicht auf Wahrscheinlichwerdung hat? Schon der leiseste Tastendruck tritt Lawinen lauernder
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Komputationen, Hochrechnungen und Statistiken, Bilder und Querverbindungen los. Der Automatismus der negentropischen Installation kippt das Unwahrscheinliche einweggerichtet auf die Festplatten. Wenn nur das Neue zählt, aber ohnehin alles Neue möglich ist, ist das Neue zwar einerseits kaum je neu genug. Es kann andererseits aber keine Überraschungen mehr geben, wenn das Programm – auf Überraschung programmiert – nur noch Überraschungen garantiert:1 Dialogische Kommunikation erfüllt auf paradoxe Weise nur die unendlichen Möglichkeiten der mit Komputationen zu füllenden Strukturen. Jede Information, jeder Unterschied, jede Kritik, jede Entscheidung hat Placebowirkung, wenn das Neue ohnehin Programm ist. »Für jeden Ketzer steht eine besondere Uniform zur Verfügung«, so Flusser, »das Programm sieht alle möglichen Abweichung voraus und ›rekupiert‹ sie automatisch. Kurz: automatischer Totalitarismus dank Feedback« (vgl. Flusser 1990b, 110) macht die ›eigenhändig menschliche‹ Komputation im Grunde überflüssig. Können komputierte Revolutionen – tatsächlich klingt bereits der Begriff der Revolution veraltet – ausgeschlossen sein, weil ›jede wie Revolution sich gebärdende Bewegung im Programm enthalten ist‹ (vgl. Flusser 1990b, 141), so ist die ›Revolution‹ eine umso bessere Komputation. Somit ist sogar die Negentropie im Programm enthalten – eine Tatsache, die den politisch-kybernetischen Homo Ludens in die Arbeitslosigkeit schickt. Derartige Abhängigkeiten führen die ›Henne-Ei-Frage‹, ob zuerst die Programmierung und dann der Zwang zu Antwortprogrammierung und zur Komputation war, ins Absurde. Aktuelle Programmierung schlägt unmittelbar um in Hörigkeit und die Hörigkeit fordert ebenso unmittelbar die Weiterprogrammierung. Einerseits also zeigt sich das ›kybernetische Übergehirn‹ als sich selbst erhaltend programmierte, steuernde Instanz, andererseits aber muß sie immer aktuell programmiert werden, um immer neu steuern zu können. Die ›Steuerung‹ ist Flusser keine soziologische Erkenntnis, sondern eine kybernetische Selbstverständlichkeit: »›Programm‹
1 Angesichts des ›Imperativs des Neuen‹ sollte man Medienmüdigkeit erwarten. Da eine ›Neuigkeitsmüdigkeit‹ aber verbunden wäre mit ›Konsummüdigkeit‹, ist das Neue aus rein wirtschaftlichen Gründen eine Notwendigkeit.
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heißt Vorschrift« (1990b, 118). ›Statt Konsens Programm, statt Glaube Funktion‹, so lautet das telematische Paradigma (vgl. ebd. 111). Treffend umreißt auch Baudrillard den Mechanismus programmierter Selbstkontrolle trotz proklamierter Freiheit. Er erachtet polizeiliche und staatsschutzrechtliche Kontrolle als überflüssig, da »die gegenwärtigen Systeme durch Feed-Back und Selbststeuerung in sich selbst diese nun nutzlosen Kontrollmetasysteme integrieren. Sie sind in der Lage, das, was sie negiert, als zusätzliche Variable einzuführen. Sie sind in ihrer Operation selbst die Zensur: es bedarf keines Metasystems. Demnach hören sie nicht auf, totalitär zu sein: sie verwirklichen in gewisser Hinsicht das Ideal dessen, was man einen dezentralisierten Totalitarismus nennen könnte« (1987, 108). ›Ketzer‹ wirken als negentropisch wertvolle Komputatoren. Die Perfektion der kommunikativen Strategien sieht Flusser vor einem »Abgrund ... denn wo alle Kriterien quantifiziert und ›objektiv‹ sind, gibt es nichts mehr, worüber man sich ›metaentscheiden‹ könnte« (1990, 103). Metaentscheidungen, wie sie bislang beispielsweise von politischen Instanzen getroffen wurden, werden, wenn »alle Entscheidungen in Funktion aller übrigen Entscheidungen getroffen« (ebd. 104) werden, durch die kybernetischen Verflochtenheiten Schach matt gesetzt. Die Metaentscheidung ist als ein Paradox des Programms, als Möglichkeit zwar versprochen, de facto aber verwirklicht sie sich nicht, da sie – unter Komputationshaft stehend – nur brav verwaltet werden kann. Sie wird unter Verschluß gehalten, da sie – komplex – die selbstidentische Netzlogik sprengen würde. Ihr komplexer ›Meta‹-Gehalt verrät – wiederum auf paradoxe Weise – die Niedrigkomplexität des Digitals. Während es realiter antiritualistischer Strategien bedarf, eine Tradition zu durchbrechen (vgl. Douglas 1981, 206ff), versagen derartige Mechanismen im Digital, da das ›Anti‹ bereits ein Imperativ des Programms ist. Der Mythos des ewig Neuen, der mit jeder Komputation das Jüngste Gericht verspricht, baut auf einer Tradition des Neuen, des ›Anti‹. Als Tradition mit umgekehrten Vorzeichen ist sie zwar einerseits auf Dauerrevolution geeicht, unter Metaentscheidungen absorbierendem Komputationszwang erfüllt sie aber andererseits nur ihren ›Programmauftrag‹. Obwohl die zu erwartende Metaentscheidung ›aus der Zukunft‹, aus dem Bereich der zu verwirklichenden Unwahrscheinlichkeiten kommen müßte, ist ihre Realwerdung so unwahrscheinlich wie die Wiederkunft Christi.
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Dennoch scheint die absurde Hoffnung zu herrschen, aller angesammelter, ›wegsimulierter‹ und anstehender Sinn würde durch eine Art katalysatorischen Urknalls metatechnisch entzündet und als eine Flut der Weisheit an die Nutzer gegeben werden, um ihn metasprachlich zum Herrn über die Komputationshörigkeit zu machen. Die Unmöglichkeit, den Programmstrukturen mehr abzuverlangen, als sie vermögen, ihnen kollektiv ›Geist einzuhauchen‹ und sie auf ein komplexes Niveau zu führen, zeugt von einem Mißverhältnis zwischen Mensch und Apparat: Will der Nutzer die digitalen Möglichkeiten ausschöpfen, bleibt ihm nur, sich auf deren Strukturen einzulassen und seine eigenen komplexen Fähigkeiten zu reduzieren. Die Kooperation von Mensch und Apparat verkehrt deren Verhältnis zueinander: »Im vorindustriellen Verhältnis steht die Maschine zwischen dem Menschen und der vom Menschen bearbeiteten Welt ... Im vorindustriellen Verhältnis ist der Mensch die Konstante und die Maschine die Variable«. Im industriellen Verhältnis dagegen »ist der Mensch ein Attribut des Apparats ... ist gerade die Maschine die Konstante und der Mensch die Variable« (Flusser 1991, 32). Die Ohnmacht des Nutzers und der Platzverweis für das komplex Humane ist freilich kaum spürbar, denn die Nutzer sind medienblind, solange sie Kommunikation konsumieren, Bilder komputieren, homepages herstellen und neue Programme installieren. Der Blick auf den Bildschirm ermuntert nicht zur kritischen Distanz, da er distanzlos ist. Darüberhinaus sind die Geschehnisse in der Black Box auch für Top-Programmierer kaum mehr nachvollziehbar. Einmal installiert überdauern die Programme auch ihre Schöpfer. Wenn dabei nicht mehr nachvollzogen werden kann, welche Datenmanipulation einst ausgeführt wurde, werden die Netze zum niedrigkomplexen Meta-Medium, und Gesellschaft, Kommunikation und Politik werden zum Anhängsel der installierten Logik: Der Gesellschaft, so Michael Nagula, wird der Platz des Individuums zugewiesen (vgl. 1991, 198), wohingegen das Digital die gesellschaftlich kommunikativen Relevanzen setzt. Dieses Verhältnis scheint sich nachgeschichtlich zu verstärken, denn der Nutzer gerät »in den Dienst der ihm übergeordneten Struktur« (ebd.)
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3. Ideologische Programmierung Im Gegensatz zur Diktatur ist die Demokratie gezwungen, Überzeugungsarbeit zu leisten. Sie bedurfte dazu bislang der herkömmlichen Medien, um ›Entscheidungen als transparent darzustellen‹ (vgl. Preikschat 1987, 59). Die Neuen Medien nun fallen mit der demokratischen Transparenzvermittlung zusammen: Sie sind der pool, in dem die Überzeugungen ausgehandelt werden. Vollzog sich das unmittelbare ›Miteinander Reden‹ vor der Erfindung der Schrift in einem extrem medienarmen Raum, und knüpften es die herkömmlichen Medien an die einseitigen Informierungsstrategien, die unmittelbare Antworten außen vor ließen, so gibt es erst im Digital wieder eine unmittelbare Kommunikation – diesmal im Medium. Das rein körperliche ›Miteinander Reden‹ erscheint angesichts der Digitalkommunikation banal und irrelevant. Obgleich die ›freie Rede‹ in ihm garantiert ist, erfolgt sie nun unter dem Zwang der apparatischen Anschlußbedingungen. Die Neuen Technologien befriedigen also nicht nur moderne Kommunikationsbedürfnisse und sie schaffen nicht nur neue Kommunikationsbedürfnisse, sondern scheinen im Unsichtbaren der Black Boxes auch ›neue Herrschaftsstrukturen‹ aufzubauen (vgl. Bülow 1994, 506). Die ›freie Rede‹ ist im Digital gekoppelt an eine Ideologie der Offenheit. Je ungehinderter der Informationsaustausch, desto besser. Datenschutz ist eine Komputations- und Kommunikationsbremse, denn Information soll sich preisgeben. Sie verläßt die Privatsphäre und wird sogar weltweit transparent. Der Nutzer, gut konditioniert, sich den ›geselligen‹ Apparaten anzuvertrauen und deren Funktionsfähigkeit interaktiv mit seinem Wissen zu optimieren, outet sich im digital chat weit öffentlicher als es bislang überhaupt möglich war. Das globale Dorf will keine Geheimnisse. Doch jeder, der im Digital die Tasten drückt, hinterläßt Spuren. So schwierig es dem Nutzer ist, die Black Boxes der Apparate im Netz zu durchschauen, den Boxes selbst ist es umgekehrt leicht, den Nutzer zu durchschauen. Die Werbetaktik, derzufolge das Digital nichts vergißt, verkehrt sich auf fatale Weise, denn »der Beobachter des Systems wird durch das System selbst beobachtet« (Pichler 1990, 80f). »Telepräsenz heißt auch Teleüberwachung« (Rötzer 1995, 189).1 1 Längst sind in den Netzen digitale ›Agenten‹ auf der Suche nach den Leidenschaf-
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Doch wer überwacht? Zwar sind die Informationen transparent, die sich in den Netzen verteilen, nicht aber die Informierungsstrukturen, die die Daten koordinieren. Da das Netz ein Niemand ist, kann es – theoretisch – dieser Niemand sein, der den Nutzer beobachtet. Das Netz ist ein grenzenlos ortloses ›Es, das kommuniziert‹ (vgl. Baudrillard 1992, 20). Es ist weder ansprechbar noch befragbar. Obwohl alle Nutzer Verantwortung für das Netz tragen, ist, wie heute in Bürokratien, kein Einzelner konkret verantwortlich. Ich kann mich an keine Politiker wenden (um sie beispielsweise zu stürzen), da es telematisch keine mehr gibt. Sich also an eine Hauptinstanz des Netzes, an ein Logistikzentrum des ›Übergehirns‹ zu wenden, ist unmöglich. Damit fällt auch der potentielle Adressat der Macht aus: Das anonyme ›Es‹ scheint geradezu gottgegeben. Wer das ›Meta‹ des Netzes finden will, wer den Weg, den eine Informationen ging, zurückverfolgen will und wer nach dem Sitz einer mutmaßlichen Macht fragt, wird an die ›suche-und-finde‹-Optionen und an die ›Demokratie des Programmierens‹ verwiesen. Die Fragen und Antworten werden zwar kollektiv und automatisch verarbeitet, doch weshalb sie so und nicht anders gesucht und gefunden werden, wird nicht transparent. Es ist sowohl unklar, ›welchen Teil des Netzes die Such-Engines auswerten‹, als auch, ›welche Strategien es gibt, um innerhalb der Engines möglichst gut repräsentiert zu sein‹ (vgl. Winkler 1997, 373). Nur wer die Regeln der Programme durchschaut, findet Einblick in die Gründe ihres Soseins. Derjenige also, der die Regeln festlegt, sitzt am zentralen Hebel: Macht manifestiert sich dort, wo die Informationsverteilung programmiert wird. Wird die Presse heute als die vierte Macht im Staat bezeichnet, so ist im Digital der Programmierer an vorderster Front tätig. Der ›Programmanager‹ scheint sogar an die Stelle des Politikers zu treten, da er den Informationsfluß programmiert und lenkt und damit auch über die im Netz sich vollziehenden Entscheidungen entscheidet. ›Nicht der Besitzer, der Programmierer der Information ist der Mächtige. Neo-Imperialismus‹ nennt Flusser die Gefahr der Informationsokkupaktion durch ›unsichtbare Dritte‹, ten, Parteibüchern oder Fußpilzerkrankungen der Nutzer. Im Auftrag von Informationsdiensten werden detaillierte Kundenprofile erstellt und an Werbeagenturen verkauft. Es ist nicht einmal auszuschließen, daß sogar der digitale ›persönliche Freund‹ oder der Home PC ein ›persönlicher Spion‹ der Wirtschaft ist.
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die hinter den Kulissen die Programme programmieren (vgl. 1992b, 47). ‹Alle Macht den Programmierern‹ scheint ein unausgesprochener telematischer Imperativ zu sein. Vor allem derjenige ist kompetent, der das ›Informationsgewitter‹ nicht nur filtert, sondern die Filterung auf der Programmebene festlegt. Eine ›neue Hierarchie der Programmiersprachen‹ scheint das Alltagssprachliche zu prägen (vgl. Kittler 1993, 228). Kittler weist darauf hin, daß jedes Anwendungsprogramm im Bereich des Mikroprozessorsystems ›elementare Funktionen aus Sicherheitsgründen in Silizium brennt und unzugänglich macht‹ (vgl. ebd. 231). Bloße Voreinstellungen würden als Absolutheiten verkauft und durch Informationssperren unnachvollziehbar gemacht (vgl. 221). Die Software also läßt den Nutzer gar nicht erst an die Programmebene heran (vgl. 208), sie verhindert, daß die Programmierung durchschaubar ist: »Die Macht hat mit ihrem Umzug aus Vorzimmern und Alltagssprachen in den Mikrometerbereich auch die Angriffsflächen verändert« (217), sie bezieht ihre Privilegebenen aus ›stummer Wirksamkeit‹ und als ›Macht, die sich auf ihre Zugangsbedingungen reduzieren läßt‹ (vgl. 215). Derart zum ›Untertan der Software Corporation‹ (vgl. 208) wird der Nutzer zu einem Informationsproletarier, der nicht einmal mehr wissen kann, weshalb er inkompetent ist. Was aber, wenn eine ›Oberschicht‹ von Programmierern auch die Inhalts- und Dialogebene der Programme auf einer Metaebene ideologisch bestimmte? Ideologische Programmierung könnte hierarchisch über der heterarchischen Netzstruktur wirken, sie könnte das gesamte Netz in Mitleidenschaft ziehen, ohne identifizierbar zu sein. Die Visionen um die Netzkultur würden zunichte, gäbe es unsichtbare ideologische Spinnen im Netz. »Sobald eine kleine Gruppe beherrscht, was aus allen hervorgeht«, so Lévy, sei ›der engelhafte Charakter der virtuellen Welt zerstört‹ (vgl. 1997, 112). Die Wette, daß hierarchische Macht obsolet sei, wäre alles andere als gewonnen. Ein derartiges Netz jenseits des Netzes herrschte als eine ›zweite Potenz‹ im Virtuellen, als ein über das Digital verteiltes Logistikzentrum, das dem Virtuellen ›ersten Grades‹ unzugänglich ist. Wenn telematisch gilt, daß »nicht mehr durchgelassen wird, was informativ ist, sondern daß informativ ist, was durchgelassen wurde« (Flusser 1990, 103), reichte bereits die kleinste ideologische Spinne, die dialogische Informierung unbemerkt in eine einweggerichtete umzu-
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biegen – weit intensiver und unbemerkbarer als in den herkömmlichen Medien. Da angeblich alle Netznutzer gemeinsam die Netzinhalte bestimmen, die folglich ein Alles und Niemand sind, mag sich ein ›Dritter‹ ob dieses Glaubens freuen und wider besseren Allgemeinwissens einige ideologische ›Korrekturen‹ vornehmen. Alles Subversive ließe sich programmatisch aussortieren.1 Postman warnt, wir würden ›blind für die ideologische Bedeutung unserer Technologien‹ (vgl. 1992, 104). Im Digital verschwände Macht derart, daß von Macht oder Ideologie gar keine Rede mehr sein müßte, da sie sich, nachdem sie obsolet erklärt wurde, in den Bildern und den Komputationsoptionen selbst nicht zeigen müßte. Kraft der Simulation ließen sich sogar Dialoge simulieren. Nutzern, die an ihnen teilnehmen, würden sie so ›echt‹ erscheinen wie die in sinfonischer Wechselseitigkeit entstehenden Dialoge. Ebenso läßt sich ›gender-hopping‹, das Spiel des Vortäuschens des anderen Geschlechts, industrialisieren. Die ›Freiheit, mit realen Nutzern zu kommunizieren‹, wäre totalitär gekoppelt an die Unmöglichkeit, die ›Unfreiheit‹ durchschauen zu können, daß man es mit Simulationen zu tun hat. Frei sein hieße, wider besseres Wissen an die Telematie als gesellschaftliches Forum zu glauben, glauben zu müssen. – Allein der Turing-Test oder blade runners könnten die Niedrigkomplexität entlarven. Information, gebunden an ideologische Justierung, also ist der Telematie ein Unsicherheitsfaktor höchsten Grades. Unsicherheitsfaktoren höchsten Grades sind aber auch und gerade die gegenwärtigen Formen des Kapitalismus und der Demokratie, da beide auf Machtverhältnissen bauen und ideologische Spinnen legitimieren: Telematie ist im Kapitalismus nicht denkbar, da er die ›freie‹ Bildherstellung unter das Diktat der Bildvermarktung stellt. R. Barbrook & A. Cameron sprechen diesbezüglich von ›rückwärts gerichtetem Futurismus‹. »Anstatt offen gegen das System zu rebellieren, akzeptierten diese High-Tech-Handwerker jetzt, daß individuelle Freiheit 1 Ohnehin ist im Netz nur Realität, was Eingang gefunden hat. Alles andere wird nicht existieren. Sollte aber eine wie auch immer zu lokalisierende kollektive Mehrheit oder Minderheit als Inkognitoinstanz beispielsweise meine Zugangsberechtigungen kappen, gäbe es, da es telematisch keine Konkurrenzmedien mehr gibt, nicht nur keine Instanz, die meinen Protest erhören würde: ich würde inexistent zum drop out gemacht sein. Mehr denn je aber blieben diese Machtmechanismen im Verborgenen, sie verschwänden im incognito der Metaprogrammierung.
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nur unter den Bedingungen des technischen Fortschritts und des ›freien Marktes‹ erreicht werden kann« (vgl. 1996, 61f). Ebenso stehen parteigebundene Interessenverhältnisse einer ›direkten Demokratie‹ im Wege. Parteien sind zwangsläufig daran interessiert, die Netzstrukturen zu ihren Gunsten umzubiegen und programmatisch zu besetzen. Wie also soll die verantwortungsvolle Basisdemokratie im Virtuellen des Netzes funktionieren, wenn sie schon im Hier und Heute nicht klappt? Die Telematie wird gepriesen als ein Geschenk an herrschaftsfreie Wesen. Die Rechnung wird ohne die politische Gemengelage und ohne die Auflagen der Marktwirtschaft: ohne die Gegenwart gemacht. Im Bermudadreieck von Technikgläubigkeit, Kommerz und Ideologie wartet die Telematie auf bessere Zeiten. 4. Jenseits des Körpers Die Virtuelle Realität stellt als digitales Optimum alle bisherigen medialen Wahrnehmungsformen in den Schatten. Sie steigert alle technischen Kommunikationsformen, denn es geht ihr nicht mehr um Informierung, sondern um die Vermittlung unmittelbar wirkender Bildlichkeit. Das Bild sollte möglichst den Direktweg zum Gehirn nehmen und sowohl lästige Datenhandschuhe und Kabelwust als auch Denkanstrengungen vermeiden: Die virtuelle Realität arbeitet an der Überrumpelung, an der Korrumpierung der Sinne. Elektronische Kontaktlinsen und auf die Retina des Auges projizierte Laserstrahlen sollen eine Direktinformationstransfusion gewährleisten. Eine derartige Fernsteuerung des Gehirns mündete freilich in eine ›Industrialisierung des Sehens‹ (vgl. Virilio 1992, 102).1 Das 1 Timothy Leary verspricht sich von einer »Umprogrammierung des menschlichen Gehirns ... ungeahnte Veränderungen im Bewußtsein der Menschen auf der ganzes Welt ... indem sie [die ›Schnittstellendesigner‹] ihnen ein Werkzeug zur Erweiterung der Kraft ihrer Intellekte geben« (1991, 275): Wenn Sinnesprothesen Gehirnfunktionen ›mutieren‹ lassen sollen, ist freilich zu bezweifeln, ob vom gesunden Menschenverstand ausgehendes Komputieren überhaupt noch möglich sein kann. Als ›Anhängsel des Virtuellen‹ wird der Komputator den Weg aus dem Virtuellen zurück ins Reale und zum Handeln nurmehr schwer finden. Die Agentur Bilwet teilt den Cyberspace denn auch in zwei Kategorien ein: als über Monitore erfahrbare Sinneswelt und als Sinneswelt mit Sinnesadaptern. Im ersten Fall würde man sich bewußt, daß die Kraft der distanzierten Medien unsere Abstinenz auf dem Schirm war. Im zweiten, daß der Cyberspace ersten Falls so angenehm war, weil er außerhalb unseres Nervensystems stattfand (vgl. 1993, 27).
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körperliche Organ – nun techniziert – werde dabei, so die Agentur Bilwet, ›innerhalb des Menschen betäubt‹ (vgl. 1993, 233). Mit dem »Untergang des Blicks, des direkten Sehens« (Virilio 1992, 102) wäre der Körper als organisch sich in der Welt bewegender Organismus unter Quarantäne gestellt. Die Neuesten Technologien richten sich primär an die Sinne des Menschen und insbesondere an sein Nervensystem und an das Gehirn, wohingegen der ›Rest‹ des Körpers kaum Interesse erfährt. Der Körper hat in der Telematie einen bedauernswerten Stellenwert: Er ist nur ein »Anhängsel des Gehirns« (Flusser 1990, 124). Flusser betrachtet den Körper als ›Spielverderber‹, als ›ein notwendiges Übel‹ (vgl. ebd.). Er soll sowenig wie möglich beim Komputieren stören. Doch mit den banalen Körperbedürfnissen, die sich in ihm regen, stört er. »Die selbstdenkende Biopumpe«, so die Agentur Bilwet ironisch, dieser »dampfende und wasserlassende Faktor Mensch verursacht schokkierende Effekte im Maschinenpark« (1993, 152). Konsequenterweise gilt für Flusser: »Sobald sich der Körper durch nicht mehr zu reparierende Defekte ins Spiel setzt, hat die Medizin die Aufgabe, ihn möglichst reibungslos abzuschalten«. Denn »wer sich für die Funktion seiner Leber oder seiner Bäckerei interessiert, verliert eine Gelegenheit, Bilder herzustellen ... Sobald sich ein einzelner Knotenpunkt im Netz (ein einzelnes ›Ich‹) eines Leidens bewußt wird, gerät das ganze Netz in Mitleidenschaft ... sobald die Reparatur zu teuer wird ... wird ... Sterben ... eine dialogisch getroffene Entscheidung« (1990, 124f). Das Weltbild der ›emportauchenden Zelebralisierung‹ bewirke, »daß sie uns vom Körperlichen befreit« (ebd. 116), sobald es versagt, homo ludens zu sein. Der Körper wird zum Auslaufmodell, denn die meatware ist der software zu störanfällig. Der Körper wird zum Gerät, das abzuschalten ist, sobald er Informationsstau beziehungsweise Informationsmangel erzeugt. Ein derartiger ›Sieg der Apparate‹, der einerseits das menschliche Gehirn umzuprogrammieren trachtet, um es als Apparatprogramm zu nutzen, der andererseits den Körper zu verschrotten trachtet, geht einher mit einer ›fortschreitenden Verdingung und Versachung‹ des Menschen (Flusser 1990b, 48). Flusser spricht von einer »Vernichtung des Menschen – ohne Vernichtungslager, also authentisch« (ebd. 49). Auch Baudrillard rückt die Situation in eine gewagte Analogie. Er vergleicht »das Ende ... in den Konzentrationslagern,
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und das Ende in totaler und zentrifugaler Expansion der Kommunikation. In beiden Fällen eine Endlösung« (1992, 109f). Flusser ist die ›Endlösung‹ eine Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen selbst, eine Möglichkeit, die der Telematie zwangsläufig innewohnt. Die automatisierte, entkörperlichende Sinnesokkupation muß in ihrer Radikalität nicht einmal wahrnehmbar sein: »Auschwitz war seit Beginn unserer Geschichte als eine der Möglichkeiten, wenn auch als ganz unwahrscheinliche Möglichkeit, in unserer Kultur enthalten. Auschwitz ist schon immer im Programm – einem Programm, das sich im Lauf der Geschichte verwirklicht – der okzidentalen Kultur enthalten gewesen« (1990b, 60). Flusser betont, daß »Auschwitz kein Verbrechen im Sinne eines Regelbruchs war, sondern daß die Regeln unserer Kultur dort konsequent angewandt wurden. Die Nazis errichteten das Vernichtungslager aus reinen Motiven ... Auschwitz war ein perfekter Apparat, der nach den besten Regeln des Westens hergestellt worden war und funktionierte« (ebd. 61). Flusser – selbst Jude, der seine Eltern in den Vernichtungslagern verloren hat und selbst vor den Nazis aus Prag zu flüchten hatte – geht es keineswegs um Verantwortungsentlastung zugunsten einer evolutionären Entwicklung des Faschismus, vielmehr erinnert er an die Mechanismen der telematischen Apparaturen, die das ›Draußen‹, das Körperliche und das Menschliche perfekt zum Verschwinden brächten: »Auschwitz verschiebt sich aus der Vergangenheit in die Zukunft ... Ist doch das Monströse an Auschwitz, daß es nicht etwa ein sich nie wiederholender ›Unfall‹ war, sondern die erste Verwirklichung einer Anlage im Programm des Westens, daß es der erste perfekte Apparat war« (62f). Die »Fähigkeit, alles zu objektivieren ... führte im Verlauf der Geschichte zur Wissenschaft, zur Technik, letzten Endes zu den Apparaten. Die totale Verdinglichung der Juden durch die Nazis ... ist nur die erste der möglichen Verwirklichungen dieser Objektivität« (63). Eine derartige Negativseite der telematischen Utopie liefern die Apparate als Gratisprogramm. Der Selbstlauf der Apparate ist Programm, da ›die Apparate mit dem einzigen Ziel funktionieren, sich selbst zu erhalten und – automatisch – zu verbessern‹ (vgl. ders. 1992b, 67). Wenn dabei nicht das Nervensystem in den elektronischen Bahnen pulst, sondern die Elektronik am Nervensystem, wird der Körper zum Ort technischer Implatate und virtueller Sinnes-
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adapter: zu einer Baustelle des digitalen Plasma. Einerseits also tarnt sich die Technik menschlich, indem sie sich als ›freundlicher Dienstleister‹ ausgibt, andererseits entpuppt sich die vielbeschworene Synergie zwischen Mensch und Apparat als Apparatmonopol. Der Körper droht so redundant zu werden wie die Resterinnerung an die Lebenswelt, die aus Komplexitätsgründen keinen Datenraum findet. Wenn der Körper zur Kopie befreit wird, wenn dabei Weltzeit zur Nullzeit der Digitalzeit und Weltraum zu Zeitraum werden, scheint sich die Ironie Baudrillards zu bewahrheiten, derzufolge – auch eine Endlösung – der entkörperlichte, entzeitlichte, geistentwertete und entweltlichte Diginaut jede irdische Orientierung verliert: ›Das Jahr 2000 findet nicht statt‹, wenn die Netzsurfer zeitlos in den zeitlosen Endlosschleifen zirkulieren (vgl. 1990b, 36ff). Das ›allzu Menschliche‹, Emotionen, das Komplexe und die unmittelbare Weltwahrnehmung werden angesichts der technologischen Perfektion zusehends altmodisch, informationelle Korrektheit dagegen zur niedrigkomplexen Einheitsbrille. Sie ist als ›biotechnologische Manifestation bereits Marktführer der sozialen Privilegien der virtuellen Klasse‹ (vgl. Barbrook & Cameron 1996, 64). Die von der Industrie gesegneten Cybernauten, die sich begeistert bemühen, mit dem Nirvana der Bits eins zu werden, empfehlen dem so bedauernswert analogen Fernsehzuschauer denn auch, ebenfalls den ›Sprung in den Fernseher‹ zu tun, denn unterwegs im Virtuellen wirke die Körperbeseitigung befreiend. Als lästiges Gepäck wird der Körper im ›Off‹ nurmehr mitgeschleppt, er wird zur einer ›verlassenen Station‹ (vgl. Agentur Bilwet 1993, 158).
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as tun nach der Orgie?«, fragt Baudrillard, was tun nach der »Befreiung in allen Bereichen«, nach der »Orgie des Realen, des Rationalen, des Sexuellen, des Kritischen und Antikritischen, des Wachstums und der Wachstumskrise« (1992, 9) – nach der Orgie des Informierens und Nicht-Informierens, nach der Orgie des Simulierens und ›Wegsimulierens‹? Baudrillard sieht den »Zustand aller realisierten Utopien« nicht nur erreicht, sondern weit überboten und derart übers mediale Ziel hinauskatapultiert, daß jede Revolution in der Umlaufbahn der ›Zirkumvolution‹ fraktalisiert (vgl. ebd. 10). Das anything may go scheint Amok zu laufen.1 Mensch, Welt und Wissen machen als mediales Double und als digitale Kopie das ›gute, alte Draußen‹ wirklichkeitsinkompatibel. Bedeutendes jenseits einer Medieninszenierung oder eines Interviews zu sagen, so gesteht ein Filmstar, sei reichlich banal. Medienchat boomt, Mund-zu-Mund-‹Besprechung‹ ohne technologische Interfaces dagegen wird seitens der Digitaleuphoriker geächtet. Denn ›Reden‹ mag schön und gut sein, doch macht es ›Unterschiede‹ nur im vergänglichen Bereich des zwischenmenschlichen ›Miefs‹. Es bereichert meine Tante und Tante Emma, aber nicht die Datenbahnen und die dort stattfindende Kommunikation. Umsomehr aber wohnt dem Reden ›vor Ort‹ ein geradezu subversives Moment inne: Selbst wenn Tante Emmas Digitalkasse vi-
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1 »Heute können wir«, so Baudrillard, »die Befreiung nurmehr simulieren ... während wir in der Wirklichkeit leer durchdrehen ... Das ist der Zustand der Simulation, in dem wir alle Szenarios nurmehr durchspielen können, weil sie bereits stattgefunden haben – real oder virtuell. Das ist der Zustand aller realisierten Utopien, in dem man paradoxerweise weiterleben muß, als ob sie nicht realisiert wären ... Die befreiten Dinge sind der ununterbrochenen Kommunikation und folglich der wachsenden Unbestimmtheit und dem Unschärfeprinzip ausgeliefert ... Kein fatales Verschwinden mehr, sondern fraktale Zersplitterung ... Es gibt keine Revolution mehr, nur Zirkumvolution« (1992, 9f). Es bliebe nur, die Utopie »in grenzenloser Simulation zu hyperrealisieren. Wir leben in einer grenzenlosen Vervielfältigung von Idealen, Phantasmen, Bildern und Träumen, die von nun an hinter uns liegen und die wir dennoch in einer gewissen schicksalshaften Gleichgültigkeit weiterproduzieren müssen« (ebd.).
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V. Strategien der Wahrnehmung
deoüberwacht ist, unterwandert die dortige Kommunikation einschließlich der mit ihr verbundenen Gesten und den allzu komplexen Menschlichkeiten die flächendeckende Bitwerdung. Das altmodische Miteinander Reden ist eine Strategie wider die Digitalisierung, denn die nichtdigitalisierbaren ›Reste‹ bleiben apparatisch unkorrumpierbar: »Etwas geht nicht auf in der symbolischen Ordnung ... Der Rest ... das was übrig bleibt, wenn alles aufgeschrieben worden ist« (vgl. Kamper 1986, 155), läßt sich nicht funktionalisieren. Wider die multimediale Vereinnahmung erhält sich das körperliche Du zu Du einen Freiraum jenseits der elektronischen Abhörgeräte. Angesichts der multimedialen Offensive scheint das Reden zum Luxus zu werden und man ist geneigt, es – mit dem Körperlichen – unter Schutz stellen zu wollen (vgl. Bülow 1994, 565). Darüberhinaus sind auch Fehlbarkeit, Irrtum und Nichtwissen so apparatinkompatibel wie Poesie, Ekstase oder Körperbedürfnisse. Die Struktursprache des Digitals zu überbieten, empfielt Dirk Baecker ›Ironie‹ (vgl. 1990, 27f) , Siegfrid J. Schmidt fordert ›Humor‹ (vgl. 1993, 339), Hans-Martin Schönherr-Mann ›Dichten als Denken‹ (vgl. 1993, 173f) und Flusser weist darauf hin, daß ›die Geste des Liebens nicht im Programm inbegriffen‹ sei, ›sondern aus dem Programm‹ herausführe (vgl. 1991, 98). Zurück zum Fleisch also, zurück zum Denken und zur (Lebens-) Lust? Statt Cyber- und Telefonsex Sex, statt Multi-TV Spaziergänge, statt Homebanking Schlangestehen? Auch Baudrillard hielt noch 1987 das ›Draußen‹ für eine medienfreie Zone, er hielt »die Straße [für] die alternative und subversive Form aller Massenmedien, denn anders als jene [die Medien] ist sie nicht objektivierter Träger von Botschaften ohne Antwort, nicht auf Distanz wirkendes Übertragungsnetz, sondern Freiraum des symbolischen Austauschs der ... sterblichen Rede« (1987, 101). Doch räumt er ein: »wird sie [die Straße] institutionalisiert durch Reproduktion und zum Spektakel durch die Medien, muß sie krepieren« (ebd.). Auch wenn die Medien nicht im öffentlichen Raum selbst installiert sein müssen, aber ist die Straße längst medial institutionalisiert, von Werbung, Bildschirmen und Bildern verstellt und als Raum der sterblichen Rede ›krepiert‹. Die Digitalprogramme hemmen noch das Subversive der Real-Kommunikation, da sie den öffentlichen Raum niedrigkomplex besetzen, indem sie ›Handlungen zu apparatischer Funktion zurechtbiegen‹ (vgl. Flusser 1990b,
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149). Die Medien befestigen das Schweigen der Menge im Öffentlichen wie im Privaten. Jenseits der Apparate zu handeln, führt auf Wege, die zwar die lebensweltliche Haltung retten mögen, an deren Ende letztlich aber doch Bildschirme stehen. Die Apparate laufen weiter, da sie dazu programmiert sind, sie laufen immer schneller und drängen sich immer aggressiver in den menschlichen Horizont, da mag man Sex machen oder im Wald spazierengehen, so oft man will. Noch im Wald laufen die einprogrammierten Filme innerhirnlich weiter. Die Konzentration auf den ›Rest‹ ist legitime Flucht, die Bildschirme aber sind derart ›im Kopf‹, daß sie noch im Schlaf ihre Wirkung tun. Auch eine Bild- und Interaktions-Fastenkur ist nur ein hilfloses Ausweichmanöver. Kein Wunder, daß Baudrillard in seinem ›Requiem für die Medien‹ kurzen Prozeß zu machen vorschlug und zur »Destruktion der Medien« aufrief (1978, 101). Stecker raus und Schluß! Die globale Hirnblutung ließe das Informierungs-EKG zusammenbrechen und sämtliche Netzidentitäten implodieren. Eine Destruktion der Medien befreite die interaktionsneurotisierte Kultur zwar einerseits zugunsten des ›allzu Menschlichen‹, bedeutete aber andererseits den Verlust noch des fraktalen Rest-Bewußtseins. Es bliebe nichts, Wissen würde im Vakuum der Nicht-Information verschwinden und der Nutzer würde zum Kaspar Hauser, der wieder Lesen, Schreiben und Kommunizieren zu erlernen und sich seines humanen Kapitals neu zu besinnen hätte. Doch ist ohnehin niemand bereit, auf den Segen der Apparatwunder zu verzichten. So empfiehlt Baudrillard heute auch Harmloseres: die technologische Perfektion zu stören. Der Datenvirus schütze uns vor der totalen Transparenz der Information. »Dank seiner gehen wir nicht geradewegs bis ans Ende der Information und Kommunikation, denn das wäre der Tod« (vgl. 1992, 79). Er träte ein als Zustand der Perfektion. Jedes System wirke ›durch Selbstvollendung hin auf Selbstzerstörung‹ (vgl. Reck 1994, 88). Selbstvollendung hieße, daß alle ›Reste‹ ins Digital eingeflossen wären – beziehungsweise Eingabestopp herrschte -, daß alles gezeigt werden könnte und die Kommunikation keiner weiteren Informationen bedürfte. Die Entropie würde sich als Idealzustand eingependelt haben. Computerviren also als Widerhaken gegen die reibungslose Kommunikation? ›Katastrophen als Schutz vor der Katastrophe‹ (vgl.
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Baudrillard 1992, 80), als Schutz vor den ›perfekten Vernichtungsapparaten‹? Flusser sieht es ähnlich: »Wenn wir uns für ... die menschliche Würde engagieren wollen, dann müssen wir alles tun, um die Verwirklichung unserer Kulturmöglichkeiten zu verzögern ... Wir können nicht mehr Revolutionäre sein, sondern nur noch Saboteure. Wir können den uns beherrschenden Programmen keine Gegenprogramme entgegensetzen, sondern nur versuchen, Sand in die Apparate zu streuen« (1990b, 142f). Im Falle einer Invasion der Viren aber, »wenn sich alle Strukturen verändern, alle Programme umprogrammieren, dann sind wir, ex definitionem, nicht mehr da, denn wir sind diese ... Strukturen« (ebd. 144). Programme sind ›Heimat‹. Auch Rudolf Maresch fordert »militärische Operationsweisen« (1993, 310) und die »Eskalation der Programme, Datenträger und Informationsträger, bis sich jeglicher Sinn verflüchtigt hat und das ganze System, destabilisiert an seiner eigenen Metastase, implodiert« (ebd. 309). Er will »Redundanzen nicht vermeiden, sondern die Informationssysteme mit ihnen aufheizen. Eigene Schalt- und Regelkreise aufbauen, eigene Codes erfinden und mit den bestehenden verknüpfen, um dadurch das offenkundige mediale Spiel von Simulation, Verführung und Manipulation weiter anheizen und listig überbieten zu können« (ebd.). ›Ironische Algorithmen‹ können für Verwirrung sorgen, und Humor, Dichtung und Dada als Programm vermögen die Datenlogik durcheinanderzubringen. Die Agentur Bilwet probagiert eine ›Guerilla, die mit Semiowaffen reine Zeichen abfeuert (vgl. 1993, 34) und Schönherr-Mann gesteht seine »Vorliebe für Konflikte, für unvollständige Informationen, für diskontinuierliche und katastrophische Entwicklungen« (1993, 180). Komputierten Sinn und Unsinn also mit radikalerem Sinn und Unsinn vergelten (vgl. Maresch 1993, 310), Unsinn als komplexe, den Apparaten unvermittelbare Strategie einsetzen? Im ›Handbuch der Kommunikationsguerilla‹ wird empfohlen, die kulturelle Grammatik subversiv durch Verfremdung und Überidentifizierung zu zersetzen (vgl. Blissett & Brünzels 1997, 46), Falschmeldungen zu streuen (vgl. ebd. 60), herrschende Codes zu destruieren (vgl. 184) und Information in ›Deformation‹ zu verwandeln (vgl. 188). Die Sprache selbst, so auch Baudrillard, müsse sich »infizieren lassen. Sie muß selbst fragmentarisch werden« (1990, 267): »Wir müssen uns im Paradox halten ... Vielleicht muß die Sprache terroristisch, krachför-
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mig und viral zugleich werden. Wenn man von Simulation sprechen will, muß die Sprache selbst simulatorisch werden ... Früher war das einfach Poesie« (ebd.). Doch wer den Slogan der Radikalisierung ausgibt, darf sich nicht wundern, wenn sie apparatisch in Echtzeit zurückschlägt. Die viralen Strategien sind so ehrenswert wie naiv. Sie sind nicht dagegen gefeit, daß die Apparate sie letztendlich antizipieren werden. Als geniale Kopierstrategen werden sie ohne Mühe Unsinn, ›Krach‹, Redundanzen, Dichtung etc. simulieren – dank der Chaosforschung können Redundanzen (Störungen) ohnehin selbstverständliche Bestandteile der Programme sein. Der Digitalcrash läßt umsomehr auf sich warten, je mehr Störungen verarbeitet werden und als ›anti‹ ins Programm integriert werden können. Weder Glasfasersitzblockaden noch Stromzufuhrsaboteure noch Digitalbomben boten dem programmierten Dasein bislang Paroli, und selbst der ›Chaos Computer Club‹ wurde weder zur digitalen R@F noch zum Sprengmeister des Netzes, sondern zum Seelsorger für Zukunftsstrategien. Es scheint kein ›Darüberhinaus‹ der Netze zu geben, solange man sich in ihnen bewegt. Jedes Virus ist nur eine ›bessere‹ Datei und aus Gründen der Resistenzknappheit des Digitals umso willkommener, je spektakulärer es vorübergehend für Kurz-Gau sorgt. Die viralen Attacken werden das Digital kaum aus dem Lot bringen. Das Virus erzwingt seinen Antivirus, so kompliziert und verheerend seine Angriffsstrategien zunächst auch erscheinen. Die Strategie, Sand ins digitale Getriebe zu streuen, ist nur eine Verzögerungstaktik im Kampf gegen die Kommunikationstotale. Sie bewirkt nur eine Verlängerung der entropischen Orgie. Doch »die Strategie der Verzögerung, das hingehaltene Spiel, ist die einzige uns verbliebene Spielart innerhalb der uns programmierenden Apparate« (Flusser 1990b, 143), ein »Aufschubs des Endes« (Kamper 1990b, 143). Letztendlich mündet alles von selbst in die entropische Gleichverteilung der selbstgenügsamen apparatischen Perfektion. Gäbe es keine Informationen, man müßte – spätestens im Zustand der Perfektion – Viren sogar erfinden, Viren, die wie Informationen Unterschiede bewirken: Ein Virus ist eine äußerst wertvolle Information, da es gewaltig für Unterschiede – zunächst für Programmabsturz – sorgt. Viren sind folglich produktiver als Informationen. Das ›Virus ist eine experimentelle Art des Argumentierens‹ (vgl. Agentur Bilwet 1993, 94). Es bewahrt das Digital vor dem Gang zur
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Gesundheitsreform, indem es als Antivirus die Programme stärkt. – Andererseits sind auch Informationen Viren, da sie sich ebenfalls seuchenhaft verbreiten und die Programme in den Datenstau zu stürzen drohen. Radikale Störungen also sind überaus notwendig. Viren, ›Krach‹, Unsinn, Redundanzen, Ironie und Sabotage sind nichts anderes als gelungene Komputationen, und jede Komputation hat virale Qualität. Ohne sie geriete die Kommunikationszirkulation in Todesstarre: Der entropische Selbstlauf der Apparate bedarf der Irritation. Unsinn und Katastrophen bewirken Unterschiede, die rückwirkend im Programm enthalten sein werden. Einerseits verzögern sie die Entropie, andererseits verbessern sie die Apparatfunktionen. Die Radikalisierung durch verbleibende ›Reste‹ freilich scheint ad absurdum geführt werden zu wollen, denn die Informationskultur ist süchtig nach und abhängig von neuen Informationen. Sie endet aber erst im ›Rauschen‹, wenn es weder mehr ›Reste‹ noch menschliche Phantasmen gibt – je mehr der ›Rest‹ noch ins Spiel kommt, desto länger dauert es nur. Die Reaktionen auf das digitale Bombardement reichen von der Suche nach der tilt-Taste bis hin zum ›weiter so‹, vom Analysieren bis hin zum Boykottieren. Doch während sich die Informierungsgrundlagen radikal zuspitzen und sich die technologisch geprägte Lebenswelt mit ihnen ebenso radikal verändert, scheint der Rezipient selbst wie zum Trotz immer der alte bleiben zu wollen. Er verweigert sich der Herausforderung, sich selbst kritisch zu betrachten und beispielsweise die Neuigkeitspsychose zu therapieren. Stur besteht er darauf, alles – einschließlich seiner selbst – im Griff zu haben. Zwar wird die ›Beschleunigung der Realität‹ gerne beklagt, Konsequenzen aber, die eine heilsame Fähigkeit nach sich zögen, mit der Digitalflut auf neue Weise umzugehen, kommen kaum in Betracht: Wenn, wie Wolfgang Preikschat sagt, ›die Bilder wie ein Schlammregen gegen die Frontscheibe unserer Engstirnigkeit platschen‹ (vgl. 1987, 16), ist weder ein Bilderverbot zu verhängen noch die ›Langsamkeit zu entdecken‹, sondern die Engstirnigkeit zu überwinden. Weder in den Apparaten selbst noch durch Flucht vor ihnen wird dem informatorischen und kommunikativen Schlagabtausch begegnet werden können, sondern – ›mutabor!‹- wie bei ›Kalif Storch‹ – nur im Wiederfinden einer den Digitalnutzer verwandelnden Zau-
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berformel: Die Wahrnehmung selbst hat das Geschick zu entdecken, mit den Neuen Technologien auf neue Weise umzugehen. Der Umgang mit der Wahrnehmung ist zu trainieren, denn die Sinne entscheiden, was die Bilder sind. Der Wahrnehmung wohnen die Flexibilitäten inne, den Apparaten gebührend zu reagieren. Da die mediale Attacke primär auf die Sinne zielt, haben die Sinne gewissermaßen die Bilder zu attackieren, ehe sie Wahrnehmungsblackout beziehungsweise unreflektierbares Wahrnehmen erwirken. Zu einer »Konfrontation der Empfängercodes mit denen des Senders« ermunterte 1967 schon Umberto Eco (1987, 154). Als eine ›semiologische Guerilla‹ sah er die Rezipienten in der Verantwortung, ›die Bedeutung der Botschaften umzudrehen‹, sie anders zu lesen und dadurch die Codes zu entstellen (vgl. ebd. 149ff): Die Wahrnehmung selbst hat virale Strategien zu entwickeln. Die zu findende Zauberformel der Wahrnehmung fordert eine Sinnesanstrengung, die die apparatische Strukturfülle auf einer extrem emergenten Ebene überbietet und das menschlich komplexe Wahrnehmungsvermögen (wieder) zur Geltung bringt. Der Umgang mit den Bildern, Hypertexten und virtuellen Räumen freilich will geübt sein. Einige Lockerungsübungen sind nötig: weg von der krampfigen, die Sicht zementierende, linearen Vernunft, weg vom Kampfbegriff Wahrheit, und hin zu einer Haltung, die mit Flusser Nachgeschichte genannt werden kann. In ihr herrscht eine selbstund wahrnehmungskritische Orientierung. Es geht dabei, wie Kamper sagt, ›nicht um Herrschaft, sondern um Leidenschaft‹ (vgl. 1990, 10) – um die Lust, die Bilder wahrnehmungstaktisch Schach matt zu setzen und sinnlich zu transzendieren. Die Sinnesorgane – zuvörderst die Augen – sind fit zu machen für die Medienspiele der hereinbrechenden Zukunft. Wider die Mobilmachung der Bilder, die den Menschen selbst komputieren, pendelt die nachgeschichtliche Haltung körpernah zwischen Bildherstellungszwang und Hörigkeitsboykott.
1. Multiperspektiven Wenn ich sehe – im Lateinischen ›video‹ genannt –, nehme ich wahr, ohne aber bereits erkennen und einordnen zu müssen, was ich sehe. Sehen ist zunächst ein Akt der reinen Wahrnehmung, der die Ur-
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teilsfähigkeit erst folgt. Ich sehe zunächst – wie ein Frosch – bar jeder Intellektualität. Ein ›reines Sehen‹ aber ist menschlich kaum möglich, da jede Wahrnehmung durch Urteile und schon vorhandene ›Bilder im Kopf‹ stets vorstrukturiert ist. Wahrnehmung ist das Produkt eines konstruierten Weltbildes: Erfahrung und Identität sind Vorurteile der Wahrnehmung, sie besetzen den Blick, noch ehe er sich auftut. Diese ›Unfreiheit‹ freilich ist die komplexe Grundlage, überhaupt Erfahrung festigen und das Wahrgenommene verarbeiten zu können. ›Reines Sehen‹ ohne Erfahrung und Konstrukte käme einer dauernden Neugeburt gleich. Das ›reine Sehen‹ aber ist andererseits ein Imperativ der technischen Bilder. Sie dialogisieren nicht mit den ›Bildern im Kopf‹, sondern machen das Imaginierbare schon sichtbar, ehe es imaginiert werden muß. Die Echtzeit übertölpelt den sinnestaktischen Verarbeitungsprozeß. Die technisch vermittelten Bilder transformieren das video ins passive ›ich werde sehend gemacht‹ – besser noch: ich werde besehen, beschallt und sensualisiert. Sie zielen nicht auf Erfahrung, sondern auf Reflex, nicht auf Identität, sondern auf Überraschung. Je unwahrscheinlicher und überraschender die Bilder sind, desto neugeburtlicher ihre Wirkung. Bei niedriger Erfahrungsdichte können sogar entropische Werke Überraschungseffekte erzielen. Erfahrung und Identität sind ihnen störende Vorurteile, denn sie blockieren die Reibungslosigkeit des Echtzeitblicks. Die Nullzeit der Bilder also stellt sich gegen die Eigenzeit des Betrachters. Nicht das Urteilsvermögen hat seinen Blick zu prägen, sondern die Anschlußbedingungen der Interfaces. Sie zwingen dem Nervensystem apparatinterne Rhythmen und Zeittakte auf. Ein ›reines Sehen‹ aber sollte den Neuen Bildern nicht genügen dürfen. Man sieht sie dann zwar – wie ein Frosch -, ungeklärt aber bleiben die Intentionen jenseits ihrer Offen-Sichtlichkeit. Zwar wirken die Bilder durch ihre Unmittelbarkeit wie ein Rausch, die Wirkung selbst aber ist noch keineswegs transzendiert. Der Wahrnehmung scheint der Kraftakt abverlangt zu sein, die Bilder in der Nullzeit ihrer Eigenzeit ins körperlich Imaginäre zu verdoppeln. Um sich in den Räumlichkeiten des Virtuellen zurechtzufinden und die Bilddichte einzuholen, ist die Nullzeit mit körperlicher Eigenzeit zu erobern und das reine Sehen als komplexe Wahrnehmung zu erfahren. Da das reine Sehen in einen passiven Zustand versetzt, ist das Sehen als aktiver Akt in die Bilder einzubringen: Die Beweglich-
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keit der komplexen Beobachtungen zurückzugewinnen, muß aus dem Zuschauer ein Beobachter werden, der auch noch sein eigenes Sehen sieht. So versteht Luhmann die Aufdringlichkeit der Bilder in fruchtbarer Korrespondenz zur Aktivierung der Eigenwahrnehmung, denn »wenn das Individuum durch Technik derart marginalisiert wird, gewinnt es die Distanz, die es möglich macht, das eigene Beobachten zu beobachten ... Individuum im modernen Sinn ist, wer sein eigenes Beobachten beobachten kann« (1992, 22). Erst eine körpernahe Wahrnehmung ist eine Wahrnehmung, die durch Selbstreflektion die Bilder reflektiert. Der Beobachter beobachtet, was die Bilder mit der Beobachtung anstellen.1 Doch einfacher gesagt als getan: Weltbild, Wissen und das technologische Zubehör prägen den Blick derart im voraus, daß die ›Vorurteile der Erfahrung‹ die Selbstwahrnehmung einseitig gewichten und blockieren. Der reinen Wahrnehmung, die zu transzendieren ist, stehen sowohl Wissen als auch Erfahrung im Wege. Nur derjenige nimmt die Bilder in ihrer Tiefendimension wahr, der sich vom konditionierten Wahrnehmungsusus emanzipiert: der ihn ebenfalls transzendiert. Noch ehe der Blick, sich selbst im Auge behaltend, frei für die reine Bildwahrnehmung wird, hat man der vorstrukturierten Wahrnehmungsbedingungen in Selbstwahrnehmung gewahr zu werden. Die Neuen Bilder also stellen die Wahrnehmung in doppelter Hinsicht auf die Probe. Schon das perspektivische Sehen kann zur Falle der Wahrnehmung werden. Die Perspektive ist sogar ein Paradebeispiel der Sichtverengung. Sie steht in Analogie zum Dogma sowohl der rationalen Schrift als auch der logischen Übersichtlichkeit. Die Perspektive ist weder eine gottgegebene noch eine genetisch bedingte Fähigkeit der menschlichen Sinne, vielmehr eine hart erkämpfte Errungenschaft. Richard Sennett analysiert ihre Karriere (als Modell für die Stadtplanung) Ende des 16. Jahrhunderts als Hilfe zur Orientierung: »Die perspektivische Wahrnehmung verwandelt den Gegenstand in ein 1 »Wir können und wir müssen uns auf den Beobachter stützen, auch dann, ja gerade dann, wenn wir die Formen und Strukturen beschreiben wollen, die wir in der Welt ›vorfinden‹« (Baecker 1990, 19). Man müsse, so Heinz von Foerster, »zuerst Wahrnehmen wahrnehmen, um überhaupt von Wahrnehmung zu sprechen« (1989, 31). Die Selbstwahrnehmung fordert, die Bilder zu betrachten und gleichzeitig gewissermaßen in den Spiegel der Eigenwahrnehmung zu blicken, um zu sehen, was sie dort wie spiegeln.
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Produkt der Art und Weise, wie er gesehen wird. Das menschliche Auge als Bezugspunkt verleiht der Perspektive ihren Wert; indem das Auge die Perspektive wechselt, kann es das Aussehen der Welt verändern ... dieses Spielen ... ordnet die sichtbare Welt. Die Welt kann durch die Art, wie man sie betrachtet, zu einem zusammenhängenden Gebilde gemacht werden« (1991, 201). Weibel ortet den Ursprung des perspektivischen Sehens im 15. Jahrhundert. Es sei damals ein neuer, ein ›mathematischer, rationaler und idealer Raumbegriff‹ entstanden (vgl. 1990, 169). Die Perspektive habe den Raum begrenzt und eingeschlossen und – durch einen zentralen Punkt: den Fluchtpunkt – ›eine hierarchische, lineare Verhaltensweise‹ erzwungen (vgl. ebd. 170ff). Der Fluchtpunkt eroberte das Zentrum konstruierter Bilder und erlaubte – entgegen der Wahrnehmung von Tieren und des reinen Sehens – Orientierung und Beobachtungssouveränität. Sennett spricht von einer »Herrschaft über den Raum. So verstanden, hat die Perspektive etwas Besitzergreifendes« (1991, 202). Die Perspektive rationalisierte das Sehen und steigerte die Individualisierung, denn »man wird sich seiner selbst bewußt, indem man perspektivisch sieht ... die Perspektive privilegiert den Blick, nicht den Glauben« (Sennett ebd.). Das perspektivische Bild vollzog den Schritt, vordem dimensionslose, nicht perspektivische (magische) Bilder in individualisierbare Erklärungs- und Sehmuster zu setzen. Die perspektivisch geordnete Wahrnehmung konnte vom Wahrgenommenen Besitz ergreifen, es linear in wahr oder falsch einteilen, es zu Erklärungen fixieren und beispielsweise die Werke von Escher als Trug entlarven.1 Im ›anything may go‹ der technologischen Bilder nun aber herrschen keine Klarheiten mehr, und Eschers Bilder sind ›wahr‹, weil sie als ›hyperbolische Geometrie‹ virtuell erlebbar sind: die Perspektive ist n-dimensional gesprengt. Sie entspricht nicht mehr den überschaubaren Realitäten. Da die Bildwelten – nun wieder magisch – als Wirkung auf die Sinne eindringen, haben sie mehr mit 1 Die Perspektive forcierte durch die Bildlogik die Vieldimensionalität des Räumlichen: »Die Perspektive soll ... auf einer zweidimensionalen Fläche die Illusion einer dreidimensionalen räumlichen Tiefe erwecken« (Weibel 1990, 169). Dank des Fluchtpunktes konnte diese Simulation gelingen. Er konnte auch linear geordnetes ›Lesen‹ und Sehen vorantreiben. Nur ein kleiner Schritt war es dann, dank der perspektivischen ›Logik‹ die Bilder zu ›erklären‹, sie zu ›entbildern‹, also ›wegzuerklären‹.
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Glaube gemein als mit Logik. Die technologisch geforderte ›reine Wahrnehmung‹ fegt damit auch Wissen und Erfahrung hinweg. Die als Wahrnehmungstaktik etablierte Perspektive wird zur Perspektivlosigkeit eines sich selbst erspürenden, selbstwahrnehmenden Betrachters, der sich bemüht, hinter den Bildern seine – ebenfalls perspektivisch offene – Komplexität einzubringen. Individualität ist dabei nicht mehr gebunden an eine selbstgewisse und definierbare Rationalität, sondern an die Erfahrungstaktik, selbstwahrnehmend Orientierung zu finden. Weibel sieht diese Wahrnehmungsturbulenzen bereits angelegt im Perspektivischen selbst, denn obwohl der Fluchtpunkt ein Punkt auf dem Papier war, lag er, genau besehen, »außerhalb der Fläche des Gemäldes selbst und im eigentlichen Sinn sogar im Unendlichen« (1990, 170) – in der Tiefe des Bildes. »Als der im Unendlichen liegende Fluchtpunkt in den Mittelpunkt rückte, wurde auch das Problem der Unendlichkeit ... thematisch sichtbar« (ebd. 173). Für Weibel ist dies Indiz dafür, daß die »Erfindung der Perspektive ... schon ein Ende des natürlichen physikalischen Raumes angedeutet« hat (174). Die ›Implosion der Perspektive‹ sei bereits vorgezeichnet gewesen (vgl. ebd.). »Insofern akzentuiert der Fluchtpunkt der Perspektive auch den Beginn einer Geometrie des Imaginären« (170). Zur ›Abschaffung der Tyrannei der Perspektive‹ hätte dann spätestens der Kubismus geführt (vgl. 171). Er leitete bereits über zu den multiplen Hyperperspektiven der Technokultur. Sie überfordern jede perspektivische Sicht, da der Betrachter gezwungen ist, vieldimensional überall gleichzeitig zu sehen. Er kann sogar unlogisch um die Ecke blicken. Sowohl die Netze als auch die Bilder, die in ihnen kommunizieren, setzen die Perspektive außer Kraft. Die Perspektive ist heute mosaikartig, plural und paradox, sie bewirkt eine Flucht ohne Punkt. War die Perspektive eine Steigerung des vordem ›haltlosen Sehens‹, so bewirkt die »Enthierarchisierung des Blicks« (vgl. Werkbund-Archiv 1988, 45) einen erneuten Mutationssprung der Wahrnehmung. Erneut wird das Sehen haltlos. Es scheint sich in die prä-perspektivische Zeit des 12. Jahrhunderts zurückzuverwandeln, in der das kirchliche Zentrum der Städte in die imaginäre Tiefe führte: es führte ›transperspektivisch‹ zu Gott (vgl. Sennett 1991, 28ff). – Demgegenüber führt das Sehen heute transperspektivisch in den Cyberspace.
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Der Umschwung der Wahrnehmung freilich korrespondiert heute mit der Genese der Relativitäts- und der Quantentheorie, mit den Erkenntnissen der Chaosforschung, und mit den plural-fraktalen Unübersichtlichkeiten der Lebenswelt. Deren digitale Verdoppelung sprengt den perspektivischen Halt umsomehr, als wir »im Unterschied zur zentralperspektivischen Außenposition des Beobachters ... in der elektronischen Welt der Wahrnehmung selbst Teil dessen [sind], was wir betrachten« (Reiss 1995, 92). Für die lineare Logik undurchschaubar ist im Digital jeder Beobachter selbst ein (homepage-) Punkt im Universum der technischen Darstellbarkeit, ebenso jeder Unterschied, jede Information und jeder icon-gebundene Blick. Umsomehr springt der Blick zwischen körperlicher ›Unversehrtheit‹ und digitaler Allround-Anwesenheit. Der Betrachter wird im Boot seiner selbst zum Navigator durchs wellenlose Weltmeer seiner vernetzten Festplatte. Das Digital ist eine Kommunikationsstruktur ohne Hierarchie, ohne Fixpunkt – mit Ausnahme der Provider, der Anbietermonopole und der Geldbeutel, in denen die Netze enden. Da der Betrachter durch das ihm abverlangte reine Sehen in die Bildlichkeit selbst involviert wird – da er selbst ein ›Tropfen im Rauschen des Informationsmeeres‹ wird -, hat er eben diese Vereinnahmung selbstwahrnehmend zu transzendieren. Obwohl die Bilder nur strukturellen Vielschichtigkeiten folgen und sich – nichtkomplex – nicht an die Imagination richten, erzwingen sie einen hyperkomplexen Blick, der sowohl die Strukturalitäten als auch das Nicht-Komplexe wie in einem Durchschuß durchschaut und gewissermaßen röntgt. In der Hierarchie, so Baecker, ›brauchte man nur die Spitze beobachten, um dann Vermutungen darüber anzustellen, wie die Ordnung sich bis in die unteren Ränge fortsetzt‹. In der Heterarchie dagegen habe man es mit einem »Netzwerk wesentlich höherer Ordnung zu tun, in dem Zirkularitäten möglich sind, die zu einem Verhalten führen, das nach den gängigen Erwartungen ... nur als inkonsistent und unvorhersehbar beschrieben werden kann« (vgl. 1990, 20). Das Digital fordert eine Wahrnehmung, die auf einer ›höheren‹ und ›tieferen‹, auf einer emergenteren Ebene mit dem Wahrnehmbaren umgeht als es bislang möglich war. Die Orientierung versagt, solange die in die Bilddichte geflüchtete Vieldimensionalität nicht körpernah transzendiert und selbstwahrnehmend durchschaut wird. Eine an Überblick gewohnte Wahrneh-
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mung ist bezüglich der ›Geometrien des Imaginären‹ inkompetent – und blind. Deren ›zersplitterte Multischichtung‹ sprengt die ›Konstanz und Kontinuität des natürlichen Wahrnehmungsraumes‹ (vgl. Weibel 1989b, 72). Der Multiraum ist nicht der, den man aus der Wahrnehmung kennt, denn die Raffungen zeigen mehr als menschlich wahrnehmbar ist. Der aperspektivische (nicht mehr perspektivische) Raum hat weder mehr ein Zentrum, noch genügt ihm die Statik des gemütlichen Museumsblicks. Escher‹sche Paradoxien überlagern sich in der Videokultur und den hyperlinks als Blicknormalität vielmehr fließend in Verbindungen und Schichten, in Dichte und Schnitten. Die Zirkularitäten verwirren die Wahrnehmung, sie wird selbst fraktal zersplittert und multidimensional. Dieser Emergenz hat die Wahrnehmung, sich selbst wahrnehmend, zu folgen, will sie auf der Höhe der Zeit sein. Fraktalität wird zum Wahrnehmungsprinzip, das sinnestaktisch noch überboten werden will. Eine ›Störung von Wahrnehmungsgewohnheiten‹ hat die Lebenswelt ohnehin längst erobert. Erkenntnis-, Relativitäts- und Quantentheorie haben die einst gut gehütete Kultur diffundieren lassen – alles ist relativierbar, das Wissen ist fraktal ausgehöhlt und die Identitäten ›springen im Quant‹. Auch der Anspruch, eine Frage umfassend zu beantworten, ist absurd: »es gibt nur Perspektiven, die sich ablösen« (vgl. Virilio 1990, 79f). In der Moderne konnte eine Wahrheit noch mit Ausschließlichkeitsanspruch auftreten, und noch das ›Fernsehen erstrebt ein Monopol des Standpunktes‹ (vgl. Preikschat 1987, 88), indem es umfassende und sachliche Runduminformierung vortäuscht. Zwar hat die ›Postmoderne‹ das ›Abrücken von der Monokultur des Sinns und vom Logozentrismus‹ ausgiebig zelebriert (vgl. Welsch 1991, 82), den ›im Plural Lebenden‹ aber hat sie in seiner Orientierungssuche herzlos alleine gelassen. Das Gegenteil des Wahren wurde auf diffuse Weise nur persilscheintauglich. Martin Walser klagt: »Muß einen das ... nicht mißtrauisch machen, daß man selber immer die richtige Meinung hat und die anderen immer die falsche« (1990, 54)? Ohne auf diese wohl typisch menschliche Konstitution analytisch einzugehen, ohne aber auch dem postmodernen ›anything goes‹ zur Freifahrt zu verhelfen, erkennt er, »je genauer ich meine Meinung zum Ausdruck zu bringen versuche, desto genauer produziere ich beim Andersdenkenden die Widerlegung meiner Meinung ... Eine Meinung ist darauf angewiesen, recht zu haben. Sie lebt weniger von ihrem Inhalt als von ihrem Gestus«
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(ebd.). Der Mensch sei ein unheilbar urteilendes Wesen, stellte bereits 1927 Egon Friedell bezüglich der Schwierigkeit, Geschichte auf ihren Nenner zu bringen, fest (1976, Einltg. 6). Und Luhmann hält ›alle regulativen Ideen für Projektionen‹. »Sie gelten nur so, als ob sie gelten würden, und dies, weil dies als Notlösung benötigt wird«: Alle Urteile beruhten auf Kategorisierungen, also auf ›Vor-Urteilen‹ (vgl. 1988, 651). Eine Meinung erzwingt ihre eigene Relativierung, sie hat mehr mit Vorurteil gemein denn mit Urteilsvermögen. Erst eine transzendierte Überhöhung hebt das Gegeneinander der Meinungen gegenseitig auf – die göttliche Sicht gibt keiner mehr recht, sondern ›denkt im Quant‹. Das Digital nun kippt das Gesamt der zur Verfügung stehenden Meinungen – beinahe göttlich – in die meinende Runde der Nutzer. Die Meinungen werden demokratisiert. Hilflos bemüht sich der mit den Mitnutzern gleichverteilte Nutzer um eine Auswahl der gleichverteilten Stellungnahmen und Informationsaspekte. Der aufmerksame Nutzer aber merkt, daß nicht die Meinung das Zentrum des kommunikativen Aktionismus ist: Die Informierung lebt nicht von ihrem Inhalt, sondern von ihrem Gestus. Sie lebt nicht vom Bild, das Inhalte vermittelt, sondern von dessen Komponiertheit und der Ästhetik der meinungsgewichteten links. Die Bilder sind Stimmung1, sie sind ihrerseits transzendierte und komprimierte Meinungsbündelungen und richten sich weniger an den Kopf denn an das Emotions- oder Lustzentrum. Die Effekte kommen als Reizangebote und wollen im Affekt ›verstanden‹ werden. Die gestischen Stimmungen gestisch – als Stimmung – zu erfahren, erst gibt Rückschlüsse auf die meinenden Absichten, die hinter dem komputierten Gesamt des Sinnesgewitters stehen. Erst derjenige erhält Durchblick und wird erhaben über den sinnlichen Meinungskrieg, der die Stimmung der Bilder als Störung der Wahrnehmung im Selbstversuch rückkoppelt und dadurch transzendent reflektiert. Meinung und Information sind nachgeschichtlich Fußnoten ihrer Fraktalität.
1 Stimmung erzielende Wahrnehmung hat Ende des letzten Jahrhunderts bereits Wilhelm von Bode im damaligen Berliner Kaiser Friedrich Museum, dem heutigen Bodemuseum, praktiziert: Nicht nur Kunst stellte er aus, er konfrontierte sie mit alltäglichen Gegenständen aus der je behandelten Epoche und präsentierte dadurch einen die ›Kunst überschreitenden‹ Gesamtblick – die Stimmung einer Epoche.
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Um perspektivisch fixierte Meinung ins Aperspektivische zu wenden, ist nicht der ›topologischen Nahordnung‹ der Bildfraktale zu folgen. Ein Entziffern der logischen Ketten des Sinns verlängert nur die rationale und entropiebehaftete Meinungsbildung. Vielmehr ist der Bildstimmung geradezu traumatisch nachzuspüren: Eine ›Zerstreuung als eigenständige Wahrnehmungsweise‹ (vgl. Welsch 1991, 60) tastet in einer Art spontanen Rasterfahndung das Gesamt des Gebotenen nach essentiellen Gestimmtheiten ab. Erst eine sprunghafte Wahrnehmung ›kippt‹ noch das Monopol der eigenen, ›richtigen‹ Wahrnehmungs‹meinung‹ wahrnehmungstaktisch.1 Der Körper als Resonanzboden des Wahrgenommenen erfährt die Bildstimmung als emotionale Transzendenz, der keine klaren Antworten folgen, sondern gestische Reaktionen. Sie transformieren das Wahrgenommene als eigene Wahrnehmungskomputation, das Wahrnehmen selbst ist die Anwort. Dieser Taktik liegt die Erfahrung zugrunde, daß die Digitalvermittlung ohnehin Emotionen steuert und mit Informierung wenig zu tun hat. Indem sich der Netznutzer des Meinungszwangs entledigt, öffnet er sich einer transzendenten Sicht, die in Eigenarbeit entsteht. Demgegenüber zementiert sich die auf Eindeutigkeit und Rationalität bestehende Identität zur Engstirnigkeit. Identität erscheint so gesehen geradezu asozial, da sie mit sich identisch sein will. Identität hält Kamper für eine ›kriegerische Angelegenheit, die zur Anerkennung Anderer unfähig gemacht wurde‹ (vgl. 1993b, 76). In diesem Sinn wirbt Flusser denn auch für die nachgeschichtliche ›Mutation‹ des Subjekts hin zum ›Projekt‹: »Wir müssen aufhören, uns und die anderen erkennen zu wollen, und versuchen, die anderen anzuerkennen und uns in ihnen wiederzuerkennen. Wir müssen aus der Kapsel des Selbst auszubrechen und uns in die konkrete Intersubjektivität zu entwerfen versuchen. Wir müssen zu Projekten werden« (1990b, 179). Der Identifikationscocktail ›Intersubjektivität‹ hat freilich überaus pathologische Züge. Er ist seinerseits entropiegeplagt, da die 1 »Jede Erfahrung, die sich zur Methode verfestigt«, so Baecker, »muß sich vorhalten lassen, zu verfehlen, was zu markieren wäre. Jede Markierung, die in einem Gegenstand sich festbeißt, verfällt dem Verdacht, andere Erfahrungen auszuschließen« (1990, 26). Diese Erkenntnis aber ist nur postmoderner Glaubenssatz, solange die Erfahrung nicht das perspektivische Wissenwollen überwindet und zu Selbstbeobachtung und Selbstkritik führt.
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Identitäten beliebig sind, da sie sich ihrerseits gleichverteilen und Unterschiede weder konkret zu Tage treten noch relevant werden müssen. Die Wahrnehmung verliert den perspektivisch festen Halt. Die Gefahr fraktaler Identifikationsmodellierung und diffuser Wahrnehmungsmuster korrespondiert mit einer ›Meinungsfreiheit‹, in der jeder – nicht transzendierte – Standpunkt gleichermaßen begrüßt wird, damit aber Unterscheidbarkeiten verliert. Wie im Digital alle Informationen gleichwertig gelagert sind und dadurch entropisch werden, drohen auch plurale Identitäten zu entropischem Einheitsbrei zu verkümmern. Sosehr das Fernsehen zwar das Monopol des Standpunktes zementiert, bereits das Fernsehen bietet eindeutige Perspektiven nur als ideellen Überbau, als Haltung einer diffusen Allgemeingültigkeit. Diese haltlose Haltung verweist bereits auf die ›Stimmung‹, die die aperspektivischen und identitätssprengenden Bildercocktails nach sich ziehen: Das Fernsehen bietet fraktale Identitäten feil, die auf der ebenfalls fraktalen Programmstruktur aufgesäumt sind. Zwar ist Meinung einerseits stets kontret pc, andererseits aber je nach Programm und Party beliebig. Meinung will weder mehr recht haben noch identitätsübergreifende Einordnungen. Schon das Fernsehen also war Wegbereiter der Aperspektivität, denn der harte Kern des Vermittelten fällt aus, und Identität, Sinn und geschichtliche Fakten verlieren ihren Hoheitsanspruch. Die Neuen Medien nun dramatisieren das Spiel mit der Rezeption. Die Aperspektivität stürzt nun multimedial auf den Betrachter ein. Sich aber noch im Status Quo der Bildungsepoche wähnend, befindet sich der Nutzer auf dem Niveau der Niedrigkomplexität und der Identitätsverengung einer allzu simplen Wahrnehmung. Er läuft Gefahr, sich orientierungslos im Aperspektivischen zu verlieren. Umso dringlicher der komplexe Kick des Blicks. Will der homo ludens optimaler Spieler sein, will er die Bildspiele in ihrer Gestimmtheit durchschauen und kompetent im Komputieren werden, hat er sich in Aperspektivität zu trainieren und die wahrnehmungstaktische Selbstbeobachtung einzulösen. Sich zwischen Bildflut, Blickdichte und Sinneinebnung vor Wahnsinn beziehungsweise vor entropischem Siechtum zu schützen, hat er die Wahrnehmung komplex zu verdichten. Wie das Zeitungslesen das kontinuierliche Lesen eines Buches und der Großstadtverkehr die Bewegung des Menschen herausforderte, fordern nun die Multimedien, fordern Zeitraf-
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fer und Zeitlupe, Mausklick, Montage und Hypertext eine neue Flexibilität der Wahrnehmung. Sie sprengt noch die aperspektivische Beliebigkeit und löst im ›harten Kern‹ eines intensiven Blickes die Selbstbeobachtung als leidenschaftliche Analyse ein. Das Komputationsspiel selbst wird dann insofern zweitrangig, als der Zwang, Bilder herzustellen, dem Drang weicht, die Komputationen im Bereich der eigenen Wahrnehmung anzugehen. Noch ehe der Künstler zum virtuellen Pinsel greift, hat er zum ›Künstler des Sehens‹ zu werden. Die antreibende Motivation also ist nicht Kreativität, sondern Wahrnehmung, eine Wahrnehmung, in der die Kreativität eingelöst ist. Sie gründet in einer Intensivierung des Sehens und mündet in eine körpernahe Komplexitätssteigerung der Sinne.
2. Mutabor! Verständlicherweise sträubt sich das Denken, aperspektivische ›Störungen‹ zuzulassen – zu sehr ist es der traditionellen Wahrnehmung verhaftet. Noch dominieren die ›großen Erzählungen‹, die, übersichtlich verpackt und in der Logik des Sag- und Sichtbaren, des Ertragbaren, den Betrachter wahrnehmungstaktisch unterfordern. Der Zuschauer kann die Gemächlichkeit eines Fernsehabends bis Sendeschluß überstehen, ohne physisch Schaden zu nehmen. Selbst Krimis fordern nicht zur Mitarbeit auf, denn der Täter wird ohnehin überführt werden: Fernsehen hat mit Wahrnehmung nichts zu tun. Moles bedauert, daß ›unsere Bildung keine Erziehung zur Kombinatorik, zu ihren Reichtümern und Zufällen umfaßt‹ (vgl. 1973, 131). Obgleich für komplexe Vieldimensionalität mehr als Kombinatorik vonnöten ist, gilt: »Trifft er [der Mensch] auf ein Labyrinth, so will er wieder herauskommen, selbst wenn die (permutationellen) Ereignisse, die sich in den Windungen des Labyrinths ergeben, zu sinnlichen Erlebnissen werden können« (ebd.). Vom Menschen als ein entwicklungsfähiges Wesen ausgehend fragt deshalb Kamper, »warum sollten die Menschen nicht, wenn sie nun schon viele Erfahrungen mit den Bildern machen, auch daraus lernen« (1993b, 80)? Doch in der Tat nehmen wir längst auf eine weit labyrinthisch komplexere Weise wahr als vorangegangene Generationen. Ob Channelhopping, Netsurfing oder Clipconsuming, die ›Prothesen‹
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werden durchaus aktiv genutzt und der Nutzer befreit sich nach und nach von der passiven Rolle des Wahrnehmungsopfers. Er begreift, daß er bezüglich seiner Wahrnehmung selbstverantwortlich ist. Schon die Fernbedienung führt zur Erweiterung des Blicks: Zappen ist einerseits die Notbremse gegen die Informationsflut, andererseits bewirkt es eine Steigerung des wahrnehmungstaktischen Umgangs mit dem Wahrgenommenen. Als Waffe wider die Trägheit und die Logik der Spielfilmerzählungen und Programmstrukturen kreiert es Video selfmade und forciert ein Denken zwischen den Bildern und Filmen. Die heranwachsende Wahrnehmungspraxis ist die des musikalisch schnellen Hip Hop des Blicks. Dem Stakkato der Bilder und Fraktale folgend wird weder rationallastig gedacht noch Wissen erweitert. Das springende Bewußtsein durchstreift die Realität vielmehr nomadisch und intensiv, es nutzt die Aperspektivität als Folie einer aktiven, komplexen Egozentrik – »das völlig aufgeklärte Bewußtsein hat es nicht mehr nötig, ›intelligent‹ zu sein« (Flusser 1992, 77). Stattdessen ist es bereit, sich sinnlich ›vom Wirklichen anstrengen zu lassen‹ (vgl. Sloterdijk 1989, 195), vom ›Wirklichen‹ in den Zwischenbereichen des Jenseits der Bilder. Multimedia fordert, ›sich in die Aufwallung der extremsten Anstrengung hineinzudenken, um deren Grenzen zu ermitteln: Was dem Subjekt keine äußere Kritik sagen kann, erfährt es von den Symptomen der eigenen Überanstrengung‹ (vgl. ebd. 196f). Erst eine gewisse Multi-Mühsal führt im Umgang mit den rasant aufflackernden Bildern zu Gelassenheit und Souveränität. Dem auf Logik und Sinn gestützten Bewußtsein folgt ein ›spielerisches Bewußtsein‹ (vgl. Flusser 1992, 77), ein Bewußtsein, das seitens der Jugendlichen in ihrem Bedürfnis nach Reizanstrengung bereits versiert praktiziert wird. Der sich überlagernde, flexible Umgang mit Ungleichzeitigkeiten ist ihnen selbstverständliche Orientierungstaktik: »Mediensozialisierte Jugendliche entwickeln im Umgang mit Medienangeboten eine Alternative zum herkömmlichen Rezeptionsverhalten«, so Siegfrid J. Schmidt (1993, 316). Dagegen sind »printsozialisierte Jugendliche ... darauf trainiert, alles als Zeichen zu sehen. Für alles gibt es irgendeinen Referenten. In allen Medienangeboten wollen sie eine Art von Kohärenz entdekken. Das versagt natürlich beim Musikvideo, bei Computersimulationen oder bei Computerspielen völlig. Mediensozialisierte Jugendliche ordnen dagegen jedem Medium eine eigene, relativ ge-
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schlossene Wirklichkeit zu. Es gibt eine Fernsehwirklichkeit, eine Hörfunkwirklichkeit, eine Computerwirklichkeit usw. Diese Wirklichkeiten werden offenbar im Denken dieser Kids nicht mehr notwendigerweise miteinander verbunden. Es hat sie auch nicht gestört, wenn dieselbe Information in unterschiedlichen Medien ganz unterschiedlich dargestellt worden ist. Das wurde nicht als kognitiver Konflikt empfunden« (ebd.). Die kids können den pluralen Raumschichten folgen, Information, Meinung und Perspektive darf sich überlagern und widersprechen. Während das Allgemeinwissen als Pflichtübung der Bildungsanstalten jeden spielerischen Umgang mit Informationen verbietet, wählen Jugendliche einfach aus. Sie zappen spielerisch, suchend und fragend durch die Fundgruben des Zugänglichen. Sie gehen anders als Erwachsene mit der Erfahrung um, daß heute Wissen an der Wucherung seiner Varianten erstickt und also unvollkommen bleibt. Sie können sich mit einer ›Geschichte als Labyrinth‹ weit leichter abfinden, da sie die urbanen Weiten des globalen Dorfes selbst labyrinthisch und in emotionaler Eigenstimmung erforschen. In ihrem Bedürfnis nach thrill wollen sie sich von Ereignissen überraschen lassen. Verwirrung ist ihr Wahrnehmungsprinzip. Wahrnehmungstaktisch übertreffen sie dadurch den Bildungsauftrag ›bilde dich durch möglichst viel‹, da sie querfeldein eigene Lichtungen ins Datendickicht schlagen, also individuell ihr Wissen verdichten. ›Wissen‹, so trotzen Schüler, ›muß ich keineswegs alles, da ich doch alles auf Festplatte habe‹. Dort suchen sie interessenabhängig – und keinesfalls nur als Videoten – nach Neuem, nach Spannendem und Erfahrungserweiterndem. Sie lernen dabei vor allem, mit Wissen umzugehen. Statt es immer weiter anzuhäufen, stellen sie seine Handhabung ins Zentrum des Interesses. Sie kommen damit der Erkenntnis entgegen, daß der Umgang mit Wissen heute schwieriger ist, als das Wissen zu erlangen, daß Informationen über das Finden und Einordnen von Informationen wertvoller sein können als die Informationen selbst. Erst der ist souverän, der Wissen flexibel haushalten kann, der im Multiblick geübt ist und das Kombinieren verschiedener Wissensaspekte noch vor das faktische Wissen stellt. Bildung heißt dann ›bilde deine Fähigkeit, das Zuviel des verfügbaren Wissens zu organisieren‹. Der über die prothesenhaften Transmitter vermittelte ›multigeschichtete Medienraum‹ bewirkt beim virtuosen Netznutzer Selbst-
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beobachtung und eine Erweiterung der Erfahrungsfähigkeit.1 Die intensive Wahrnehmung ist mehr als ein ›Tanz des optischen Pluralismus‹. Sie folgt vielmehr einer Struktur hinter den Strukturen: Wie es van Gogh ›nicht wichtig war, eine Hand zu zeichnen, sondern deren Bewegung‹ (vgl. Werkbund Archiv 1988, 84), sieht die flüchtige, doch intensive Wahrnehmung nicht nur die Hand, die gezeigt wird, sondern auch deren Bewegung. Demzufolge ist auch eine ›Information der Schlag, nicht der Ball, der Tanz, nicht der Tänzer‹ (vgl. Barlow 1995, 89). Weniger was die Bilder zeigen, ist von Interesse, sondern der transzendente Zusammenhang sowohl ihres Entstehens als auch ihrer hermeneutisch beliebig interpretierbaren Vieldimensionalität. Im Gegeneinanderprallen der Bilder und Programme wird der Betrachter zum Regisseur seiner Wahrnehmung. Zuschauen allein genügt nicht. Erst die körperliche Hingabe wird der Bilddichte gerecht. Hinter der selbstorganisierten Bildershow des Switchens, Surfens, Clippens und Klickens schimmert dann eine Ontologie des Bildes hindurch, die ohne einen flexiblen Blick unansichtig bliebe. Er korrespondiert mit dem urbanen Vermögen, die Hektik der Großstädte im Lustprinzip zu überleben. Wenn ›Videogramme Phantombilder der beschleunigten Kommunikation‹ sind (vgl. Preikschat 1987, 63), hat die beschleunigte Wahrnehmung den Phantomen nachzustellen. Nicht was kommuniziert wird, sondern das Wie läßt sich zwischen Bild- und Pixelüberlagerung imaginieren. Ob Multimedia, Videokunst, Videoclip oder Videospiel, die Bildmaschinen ›eröffnen einen Zugang zu den Sekundärprozessen der Kommunikation‹ (vgl. ebd.). Gesten, Gerüche und die komplexen kommunikativen Redundanzen, die den Rezipienten abhanden kamen, werden in der Kommunikation mit den Bildern körperlich eingelöst. Wenn Wahrheiten als unaussprechbar klassifiziert werden können, da sie selbst den Horizont der Worte zu übersteigen vermögen, so können die Multibilder der Wahrheit näher sein, da sie vorgeben, alles zu zeigen, doch alles in der Bilddichte und in ihren Potenzialitäten verbergen. Der Betrach1 Schon der Walkman steigert die Sinneserfahrung: Der Walkman ›verwandelt das urbane Gehen in Poesie‹. Man erlebt das Hören und das Gehen in einer Einheit. Durch den Walkman ›wird der Körper geöffnet‹ und in einen Ästhetisierungsprozeß und in eine ›Theatralisierung des Urbanen‹ einbezogen (vgl. Hosokawa 1990, 244ff).
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ter nun aber hat die Freiheit, als Projekt aus dem Angebot der Wahrheitsmöglichkeiten wahrnehmungstaktisch selbstrelevante Wahrheitsmuster zu destillieren. Multimedia – ohnehin der Videokunst näher als dem Lexikon – erlaubt, aus der Aperspektivität eigene Perspektiven zu filtern und zu entwerfen. Das Projekt – vordem Subjekt genannt – muß dabei keinesweg in der Aperspektivität verloren gehen und einen Schiffbruch der Sinne erleiden. Die Wahrnehmungsgrundlage aber ist nicht mehr der Konsens des Sinns, sondern der Dissens der wahrnehmungsabhängigen Kommunikationsstrategien. Keine reduktive, der Grammatik der Schrift oder der Sprache vergleichbare Semiotik vermag die Multiperspektiven zu entschlüsseln. Auch kommen die Bilder nicht dem Anspruch entgegen, konkrete Antworten zu geben: Sie sind Stimmung, die nur erfahrbar ist, wenn sich das komplexe Wahrnehmungsvermögen öffnet. Als Stimmung ›sagen‹ sie mehr als ein meinender Satz. Vom elektronischen Austausch infiziert, kommunizieren die Individuen nicht über etwas, sie transkommunizieren vielmehr gestisch durch metasprachliche Fraktalraffungen, denen statt Worten Bildverflechtungen zugrunde liegen. Wenn schon Cicero erkannte, ›daß junge Menschen durch sichtbare Veranschaulichungen leichter zu beeinflussen sind als durch abstrakte Argumente‹ (vgl. Gombrich in: Preikschat 1987, 31), ist die Rebellion von Schülern gegen das Wissen abstrakt vermittelnde Schulsystem eine umso gesündere Reaktion ihres Immunsystems: Sie sind auf Bilder hin konditioniert, sie wollen nicht Wissen, sondern wahrnehmend erfahren. Doch Schulen sind alles andere als Sehschulen. Dem Bedürfnis der Schüler nach sinnlicher Reizanstrengung kommen sie nicht entgegen. Stattdessen wird als pathologisch abgetan, was an der Zeit ist: zu lernen, mit Bildern umzugehen. Die Jugendlichen setzen spielerisch nur um, was ihnen bereits das Fernsehen als Anlage mit auf den Weg gab. Das Aperspektivische, das Irrationale und Immaterielle als Lustprinzip im Bereich der Sinne zu leben, ist eine durchaus anstrengende Angelegenheit. Doch Luhmann sieht »die Funktion der Massenmedien in der ständigen Erzeugung und Bearbeitung von Irritation ... und weder in der Vermehrung von Erkenntnis noch in einer Sozialisation oder Erziehung in Richtung auf Konformität mit Normen« (1996, 174). Irritation ist das Neue, ohne das es keine Nachrichten gäbe. Multimedia steigert diese Irritation jenseits des Nach-
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richtenniveaus über die Grenze der Wahrnehmungsfähigkeit hinaus. Diese Grenze selbst ist die Herausforderung der Neuen Medien. Doch schon die analogen »Massenmedien steigern die Irritierbarkeit der Gesellschaft und dadurch ihre Fähigkeit, Informationen zu erarbeiten. Oder genauer: Sie steigern die Komplexität der Sinnzusammenhänge, in denen die Gesellschaft sich der Irritation durch selbstproduzierte Differenzen aussetzt« (Luhmann ebd. 149f). Die differenzbejahende Wahrnehmungsintensivierung ›entziffert‹ die Bilder komplex und imaginär im imaginären Zustand ihrer selbst. Die Wahrnehmung leistet gewissermaßen Quantensprünge ins kaum Wahrnehmbare, ins Unbeschreibbare. Diese komplexe Qualität der Sinnlichkeit geht vom Konkreten hin zum Imaginären, vom Beschreibbaren hin zum Rauschen. Sie zielt auf metasprachliche Zusammenhänge, auf Redundanzen, die individuell verdichtet werden. Eine Schule des Sehens lehrt strukturelles Sehen, metaphorisches Verständnis und hermeneutische Vieldeutigkeit. Nach und nach scheint die mediale Wahrnehmungsrealität kollektiv auf das Bewußtsein und das Handeln abzufärben: ›Kinder verlieren zwar an körperlicher Mobilität, wohingegen ihre Feinmotorik und jene kognitiven Fähigkeiten, die man benötigt, um mit den Schnittstellen zum Cyberspace zurecht zu kommen, besser ausgeprägt sind‹ (vgl. Rötzer 1995, 195). Schon jeder Bericht einer ›Tagesschau‹ aber zwingt zum Umgang mit mehreren Informations-, Zeit-, und Realitätsebenen. Jeder Ebene entspricht ein anderes Codierungsverfahren, ein anderes Decodierungsverhalten, jede Ebene impliziert eine andere Einstellung. ›Das Design der telematischen Information setzt neue Maßstäbe für imaginäre, räumliche und zeitliche Entfernungen. Es verwandelt räumliche Entfernungen und die zeitliche Dauer in Intensitäten‹ (vgl. Preikschat 1987, 170f). Intensität ist an Stimmung gebundene Erfahrung. Sie konfrontiert mit dem strukturellen Aufbau des Vermittelten, noch ehe der Sinn sich auftut. Eine intensive, selbstwahrnehmende Wahrnehmung tastet die Ontologie der Dinge ab, um deren Fraktalzustände in einer selbstersehenen Gesamtschau zu erspüren. Reck ortet diesbezüglich eine »kulturelle Zunahme der Reflexivität« – ›nicht als intellektuelle Reflexion, sondern als verstärkte Selbstbezüglichkeit und Selbstkontrolle‹ (vgl. 1994, 86). Die Wahrnehmung und die wahrgenommenen Strukturen, denen der Sinn nur Transportgut ist, werden kontrolliert. So ist verständlich, daß »die jugendlichen Suchbewe-
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gungen sich nicht mehr auf Utopia richten, sondern ins Reich der Zeichen durchfragen. Jugendliche ... sind ... immer früher Semiotiker und Medienregisseure« (ebd.). Als solche trainieren sie die ›Differenzierung der Wahrnehmung‹ (ebd.), wohingegen die Sinnstrukturen den Wahrnehmungsstrukturen untergeordnet sind. Wie »eine Meinung, die nicht darauf besteht, im Recht zu sein, keine Meinung mehr [ist], sondern eine Erfahrung« (Walser 1990, 54), ist eine vieldeutige und vielschichtige Wahrnehmung eine konnotativ offene Erfahrung, die sich im Flackern der Bilder, im Imaginären des komplexen Selbst verdichtet, ohne sich mit dem Gezeigten zu begnügen. Die Bilder flackern zwar imaginär im ›Jenseits der Augenhöhle‹, doch im Diesseits einer erfahrenden, transzendierenden Wahrnehmung. Bei der Bildeinordnung geht es, wie Preikschat sagt, ›nicht mehr um die Unterscheidungen von Ursachen, von gut und böse, sondern um die Unterscheidungen von Wirkungen‹ (vgl. 1987, 152). Sie zielen auf den Zuschauer als Ganzen und appellieren nicht an die angeblich im Kopf sitzende Vernunft. Der »dramatische Kampf zwischen der Entmündigung der Vernunft und der Entmündigung durch die Vernuft« (ebd. 89f) provoziert eine Vernunft ohne Denken, eine Vernunft der Sinne. Während beim Spielfilm-Fernsehen die Bedeutung nicht im Bild liegt, sondern in der Geschichte, die erzählt wird, ist das multimediale Bild als Bild hochgradig bedeutungsschwanger, ohne die Bedeutungen aber offen-sichtlich freigeben zu müssen. Die informatorische Großwetterlage ist nicht nur durch das Bild einzuholen, sondern auch über die potentiellen links und die Schnittlogik – gewissermaßen über die Blutspuren, die der Sinn hinterließ. Die multimedialen Bilder sind nicht als Ganze wahrnehmbar, sondern nur in Annäherung an ihre Ganzheit. Das Bedeutungsdefizit aber, das den Zuschauer an die Bilder fesselt, will durch ›ganzkörperliche Hingabe‹ und durch Eigenkomplexität geschlossen werden. Der Hacker, der Videogame-Spieler, der Komputator und der Multibildrezipient nimmt mit dem ganzen Körper wahr – auch mit den Fingern, die mit der Maus rangieren. Nicht das Rezipieren ist der Sinn der Wahrnehmung, sondern komplexe Sinngebung. Das Erfahrene wird dabei nicht als Komputation an das Digital gegeben, sondern verbleibt als Bereicherung beim Wahrnehmenden selbst. Wie aber Handeln, wenn Wahrnehmung und Reaktion geradezu traumwandlerisch werden? Die immaterielle Bilddichte und das
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imaginär Metasprachliche der Eigenkomplexität sind gleichermaßen diffus, da sie auf keine klaren Nenner zurückführbar sind. Darüberhinaus sind plurale Identitäten nichts Halbes und nichts Ganzes, sie sind fraktal. Sie decken sich aber mit den strukturellen ›Kleinhorizonten‹ des fraktalen Wissens und der Hyperbilder. Im »Zeitalter der Individuen mit variabler Geometrie« (Baudrillard 1978, 22) werden die Variablen zum Spielball eines Individualisierungsspiels, das nicht auf Ganzheiten zielt, sondern darauf, die Identitäten als Variablen zu durchschauen. »Alle sind ausgerichtet auf ihren jeweiligen Wahn einer Identifikation mit Leitmodellen und bereitgestellten Simulationsmodellen. Alle sind austauschbar – wie diese Modelle selbst« (ebd.). Wenn dem schon so ist, und wenn denn schon ›die Maschine die Konstante und der Mensch die Variable ist‹ (vgl. Flusser 1991, 32), kann die ›oberflächliche‹ Beliebigkeit als eigenständige Lebensweise erst fruchtbar sein, wenn sie, gewissermaßen ironisiert,1 als variabel und traumwandlerisch zur Geltung kommt und die Mechanismen des ›Traums‹ entlarvt und akzeptiert – ohne aber den Traum zu zerstören. Handeln wird nicht vom Sinn dirigiert, sondern von den Essenzen der Stimmungslage. Handlung wird – digitalpoetisch – vom Rausch der Wahrnehmung getrieben, sie wird – fraktal-souverän – zum Affekt der Sinne und zur Entscheidung durch körperliche Anteilnahme. Ihre einheitsstiftende Kraft haben die Bilder ohnehin längst verloren. Die Fraktalität ist anzuerkennen und im Lustprinzip wahrnehmungstaktisch zu steigern, um die Bildsinfonien überhaupt wahrnehmen zu können. Kamper fordert, ›Totalität total zu verabschieden‹ (vgl. 1991, 99): »Verlassen läßt sich ... die geschlossene, fiktive, künstliche Welt nur durch einen zweiten Sündenfall, durch die Annahme einer prinzipiellen Fraktalität des menschlichen Denkens. Fraktalität heißt hier Zerstückelung der Erfahrung schon im Imaginären« (ebd. 98) – auf der Seite der ›bereitgestellten Simulationsmodelle‹ und erst recht auf der der Erfahrung. Die Zerstückelung ist bewußt so weit zu steigern, bis das Denken brach liegt und sich seine Komplexität gewissermaßen als rohes Fleisch zeigt. Dann gilt: »Fraktalität des Denkens heißt Offenheit« (99). Das Denken 1 Umberto Eco versteht Ironie als ›metasprachliches Spiel‹, als ›Maskerade hoch zwei‹, durch die ›das Spiel nicht zu verstehen, doch die Sache ernst zu nehmen ist‹ (vgl. in: Kamper 1986, 45).
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verdichtet sich – nachgeschichtlich – aus sich selbst heraus, als blutende Wunde und ohne den Anspruch, ›Totalität‹, Überblick und Wissen zurückgewinnen zu wollen: Die Vernunft, die bislang auf Sinntransfusion geeicht war, wird umprogrammiert auf Erfahrung und Selbsterzeugung. Sie entwächst dem sich selbst wahrnehmenden Kleinhorizont und übersteigt das Monolithische der Erkenntnis. Sinn ist dieser Wahrnehmungserfahrung und Realitätskonstruktion irrelevant. Er ist ohnehin in den digitalen Schluchten der Sinnallgegenwart verpufft: »Der Streit«, so Kamper, »wird nicht nach dem Muster der exklusiven Vernuft geführt werden, nicht frontal, sondern über die Nebenwege paradoxaler Einsprüche, von denen man nicht einmal weiß, ob sie ernst gemeint sind« (1986, 46). Sich im Paradox zu halten, wird dem Wahrnehmungsgenossen zur ernsten Übung. Weder Aufklärung noch Mythos könne, so Kamper, der ›Verstümmelung des Menschen durch die Maschine‹ entgegentreten (vgl. ebd. 27). Erst die Devise ›keine Angst vor der Paradoxie‹ (vgl. ebd.) durchbricht die mediale Verführung, den ohnehin paradoxen Aufklärungszwang und die mythische Bildhörigkeit. Im Paradox entfaltet sich die Kraft einer Sinneskomplexität, die sowohl der Vielschichtigkeit des Wahrnehmbaren als auch der Eigenkomplexität des Wahrnehmenden gerecht wird: »Differenz-Denken ist zu üben«, rät Kamper, »es verzichtet auf Einheitlichkeit, auch auf eine verkappte; es macht die Vielfalt nicht zum Prinzip, sondern weiß sie als unumgängliches Resultat jeglichen Prinzipdenkens; es ist gelassen bei Paradoxien; vor allem wird es nicht mehr vom Vorwurf des Selbstwiderspruchs angestachelt« (ebd. 44f). Ohnehin haben Paradoxien für die gesellschaftliche Dynamik eine zentrale Funktion. Luhmann zufolge brauchen ›soziale Systeme Widersprüche für die Fortsetzung ihrer Selbstreproduktion, also für ihr Immunsystem‹ (vgl. 1988, 526). Die Offenheit für das Unvereinbare ist eine Taktik, auf neue Situationen überhaupt reagieren zu können. »Paradox werden heißt: Verlust der Bestimmbarkeit, also der Anschlußfähigkeit für weitere Operationen« (ebd. 59). Der Verlust bewirkt eine Orientierungslosigkeit, die den Status Quo zunächst außer Kraft setzt, ihn dann aber unter neuen Bedingungen wieder aufbaut. Das Paradox schlägt dabei in die Kerbe des ›antiritualistischen Pendels‹, das Mary Douglas zufolge in die eine Richtung ausschlagend Rituale abbaut, um dann aber, in die andere Richtung schwingend, Rituale neu zu verdichten (vgl. 1981, 190). –
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Die Kultur ist die »Börse, an der die Optionen für Paradoxieentfaltung gehandelt werden« (Luhmann 1992, 201). Wenn jedoch ein Status Quo die Kultur zementiert und nicht genügend Widersprüche produzieren läßt, um die Kultur fortzuentwickeln beziehungsweise das Zeitgemäße zuzulassen, erweist sich das Gegebene als Handlanger der entropischen Auflösung des Kulturellen selbst.1 Eine Haltung, die das Unvereinbare einschließt, dagegen will nicht Lösungen, sondern Fragestellungen, die auf den ungewissen Weg des Lösens geschickt werden: Jenseits der Entropiefalle will sie sowohl die Wahrnehmung als auch das Wahrnehmbare im komplex Transzendierten. Das ›Anti‹ wird dabei zur strategischen Waffe wider den programmatischen Wiederholungszwang. Luhmann zufolge gibt es »Anreize genug, das Konzept der lösbaren Probleme wieder in das der Widersprüche zurückzuverwandeln« (1988, 519). Die Mobilisierung von Widersprüchen gegen das Gegenwärtige ist grundlegend, will es zukunftsoffen sein. Sie ist gekoppelt an die in sich unvereinbare Strategie, Unwahrscheinlichkeiten auch als deren Gegenteil wahrscheinlich machen zu können: Dem Paradox ist logisch nicht beizukommen, da es unlogisch wirkt. Es blockiert die Logik, doch steigert die ohnehin nicht durchschaubare Komplextität. Paradoxie wirkt damit übervernünftig. Widerspruch und Paradox sprengen sowohl das perspektivische Gefängnis der Wahrheit als auch die festgelegte Strukturbanalität der Digitalvermittlung. »Der Computer«, so Bateson, »stößt niemals wirklich auf eine logische Paradoxie, sondern nur auf die Simulation einer Paradoxie in Ketten von Ursache und Wirkung« (1981, 364) – eine Paradoxie im Programm würde Programmabsturz bewirken. Umsomehr entlarvt sie das Konkrete einer Komputation als Horizontverengung. Die Paradoxie läßt sich informationstechnologisch nicht einfangen, da sie selbst lebensweltlich ungelöst bleibt. Das Paradox also verschwistert sich körpernah mit dem ›Rest‹, der infor1 Luhmann weiter: »Widersprüche gelten gemeinhin als logische Fehler, als Verstöße gegen die Regeln der Logik, die zu vermeiden sind. Erkenntnisse müssen solange umformuliert werden, bis sie keine Widersprüche mehr enthalten. Die Logik ist zur Kontrolle dieses Prozesses erfunden ... worden ... Dem entspricht die Vorstellung, daß die zu erkennende Wirklichkeit als ›widerspruchsfrei‹ vorausgesetzt werden müsse ... Wenn es Gegenstände gibt, die Widersprüche enthalten, werden sie ... aus dem Bereich möglicher Erkenntnisse ausgeschlossen ... Sie kommen ... nicht vor« (1988, 489).
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mationstechnologisch nicht einholbar ist, es aktualisiert ihn auf der Ebene des Dissens, womit das Paradox und der ›Rest‹ die Logik der technologischen Erfaßbarkeit subversiv überbieten. Erst das Unvereinbare setzt den ›Wirklichkeitsnutzer‹ eins mit den Unwahrscheinlichkeiten seiner eigenen wie der lebensweltlichen Komplexität.
3. Wahrnehmung ultra Der ›Sprung aus dem Gewöhnlichen ins Ungewöhnliche‹ freilich will gelernt sein (vgl. Flusser 1990b, 105). Es kann nicht genügen, die Apparate zu verbessern, vielmehr hat sich die Wahrnehmung selbst dem Geschick der Apparate zu stellen, um in deren Perfektion mithalten zu können. Werden im multimedialen Generalangriff die Sinne okkupiert, so haben die Sinne sinnlich zum Gegenschlag auszuholen. »Wer ... kein Scheuklappen-Denken akzeptiert, muß für eine Erweiterung der Wahrnehmung plädieren, solange es noch geht« (Kamper 1986, 53). Verstreicht die dead line, verbleibt der Nutzer auf Niedrigkomplexitätsniveau, ohne dies Dilemma reflektieren zu können. Da ein an altvertrauten Wahrnehmungsbedingungen hängender Rezipient den neuen Bildern zu träge ist, kollidiert eine Erweiterung der Wahrnehmung mit liebgewonnenen Gewohnheiten: »Das normale Bewußtsein ist ... eine Abwehrmaschine ... Innerhalb der Mauern herrscht Angst und draußen vermutet man Chaos« (Kamper ebd.). Das nach Wahrheit und Wissen suchende Ego ist darauf bedacht, in der heilen Welt des Üblichen seinen (post-)modernen Restglauben zu retten. Derart auf geschichtliche Chronologie und Weltabbildung hin konditioniert, aber ist der Bilderoberer im digitalen Posthistoire falsch gerüstet. Die digitale Variante der Welt verlangt der Wahrnehmung eine Herangehensweise ab, die nicht der bislang gültigen Option verfällt, die Bilder auf der gleichen Wirklichkeitsebene wie ihre Bedeutung vermuten zu können (vgl. Flusser 1992b, 13f). Der Betrachter, der davon ausgeht, Komputationen hätten Verwandtschaft zum ›Blick in die Welt‹, irrt. Diese Annahme ›führt den Betrachter dazu, die Bilder nicht als Bilder, sondern als Fenster anzusehen. Er traut ihnen wie seinen eigenen Augen. Und folglich kritisiert er sie auch nicht als Bilder, sondern als Weltanschauungen‹ (vgl. ebd. 14). Die Bilder aber sind ›nur‹ Bilder, sie bieten weder einen Blick ›hinaus‹ noch
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einen Blick in ihre Machart. Sie sind ihr eigenes Universum, selbst wenn sie als abbildkompatibel daherkommen. Noch ehe also die Bilder betrachtet werden können, ist das ›normale‹, auf ›real‹ und ›nichtreal‹ geeichte Bewußtsein neu zu schärfen. Eine ›einfache‹ Wahrnehmung kann nichts wahrnehmen. Sie ist dem Fußgänger vergleichbar, der ein Auto einzuholen versucht. Die wahrnehmungssteigernde Strategie ist nicht als Zeitvertreib zu üben, denn die Lage ist ernst. Zum einen bedarf es des wahrnehmungstaktisch komplexen Ankers, um hinter der Bilderflut die (kriegerischen) Strukturen zu entlarven, die die Sinne verstopfen. Zum anderen ist die Eigenkomplexität des Wahrnehmenden anzukurbeln, um in den Fluten nicht verloren zu gehen. Die Wahrnehmung hat das Simulatorische der Apparate selbst zu simulieren und die Strukturen der Hypertexte als Sinnestaktik zu adaptieren – und nicht über Interfaceanschluß nur zu konsumieren. Eine ›einfache Wahrnehmung‹ unterwirft sich den apparatischen Informierungszwängen: »Einzig ›entrüstete Ordnungen‹ wären in der Lage, den neuen ›faulen Zauber‹ einer Vernichtung von allem, was ist, zu entgehen« (Kamper 1986, 164) – der Vernichtung durch Totalkommunikation. ›Entrüsteten Blickes‹ übertrumpft die Wahrnehmung noch das Denken. ‹Entrüstete Ordnungen‹ nähren sich paradoxal und ›zerstreut‹ aus dem Immateriellen, das komputiert den Bildern entsteigt. Das ›Opfer der Wahrnehmung‹ begegnet dem Wahrnehmbaren in entstellter Form. Ein dem Paradox folgendes ›Denken des Immaterellen‹ (vgl. Kamper 1991, 99) ist gebunden an die menschlich unfaßbare und uneinlösbare Komplexität. Die Strukturbedingungen der Apparate zu überbieten, hat die Wahrnehmung die Mutprobe der Orientierungslosigkeit zu bestehen: die Fraktale der Bildschirme verdichten sich dann wahrnehmungsästhetisch zu so etwas wie Poesie. Sie wohnt nicht schon dem Bildern inne, sondern wird erst durch die Wahrnehmung aktiviert. War bei Texten ein Lesen ›zwischen den Zeilen‹ möglich und seitens poetischer Texte wichtig, so ist nun ein ›Sehen zwischen den Bildfraktalen‹ als neue Art der Poesie zwingend. Da in den elektronischen Werken weder Schein noch Sein, weder wahr noch falsch unterschieden werden können, sind der poetische Blick und das paradoxal Nichtidentische der zwingende Horizont des Blicks. Erst auf der wahrnehmungstaktischen Überholspur wird die be-
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reits im Fernsehzeitalter brüchig gewordene Ansicht verabschiedet, die Bilder wollten mehr zeigen als sich selbst. Sie sind nur Fraktale ihrer Funktionalität. Das Sehenswerte sind weder die Inhalte noch die Bilder selbst, ja nicht einmal das ›Medium als Botschaft‹. Vielmehr gilt es den transzendenten Prozessen nachzustellen, die den Bildern nicht abzulesen sind, die sich dennoch in ihnen verbergen. Sie lassen sich nur einlösen durch einen Betrachter, der das Komplexe in der Kommunikation mit dem Bild entzündet. Nicht rational wollen die Bilder ›entziffert‹ werden, denn das Rationale endet in der endlosen Schleife des Weiterkomputierens. Schon das WissenWollen steht unter Entropieverdacht. Erst die den Bildern innewohnende ›topologische Unschärfe‹ (vgl. Kamper 1986, 111), die Baudrillard als eine Sackgasse der Wahrnehmung interpretiert (vgl. 1992, 51), kann seitens des Wahrnehmenden die Basis sein, den Fraktalzuständen der Bilder Herr zu werden. Die Wahrnehmung selbst hat sich in Fraktalität zu üben. Da die Bilder fraktal flackern, muß der Betrachter gewissermaßen blinzeln. Er hat der Tatsache entgegenzukommen, daß die Bilder Hörigkeit erzwingen, da sie als Wahrnehmungsoffensive die Sinne angreifen, die komplexe, körperliche Datenverarbeitung aber übergehen: Der »Blackout von individuellem Autismus und gesellschaftlicher Automation«, so Kamper, sei nur überwindbar durch die ›Akzeptanz der Fiktionalisierung der Welt‹ (vgl. 1991, 99). Der Schein also scheint nicht zu trügen, sondern zu tragen. Wenn die ›antimediale Bewegung‹ laut Agentur Bilwet ›mit der Frage kämpft, wie sie die Medien ins Spiel bringen kann, ohne selbst Teil von ihnen zu werden‹ (1993, 35), so durchbricht der medienresistente Betrachter die Bildhörigkeit, indem er das Blickabenteuer zwar auf sich nimmt und sich daran bereichert, durch selbstbewußte Eigenkomplexität aber nicht den Bildern verfällt, sondern dem Schein seiner eigenen Welt treu bleibt. Da die Komputationen Fiktionalisierungen sind, hat der Betrachter die Fiktionalisierung als Wahrnehmungsoption zu wählen und übertreibend zu transzendieren, noch ehe das Fiktive in Hörigkeit umschlägt. Dabei will er nicht die ›Welt hinter den Bildern‹ entdecken, sondern sich selbst in den Bildern verwirklichen. Er komputiert das Wahrgenommene seitens der Eigenwahrnehmung selbst und steigert sich in einen fiktionalen Zustand, der die Bildfiktion übertrifft und die ›Reste‹ der eigenen geistigen Sinnesverarbeitung wach hält.
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Während Baudrillard den Betrachter – negativ – einem »imaginären Koma ... verfallen« sieht (1989, 121) und befürchtet, »diese Generationen werden vielleicht nie mehr aufwachen, doch sie wissen es nicht« (1990b, 24f), ortet Flusser in den Bildern – positiv – eine »Freiheit, wie sie Drogen vermitteln« (1990, 118). Die Freiheit freilich will emanzipiert sein über die abhängig machende ›Freiheit‹ der Bilderdrogen: Die Bilder sind tranceartig zu verdichten und poetisch zu durchschauen. Den digitalen Bildertraumata kann nur folgen, wer die Wahrnehmung zwischen Traum und Trauma inszeniert: »Der künftige, auf seiner Tastatur spielende Mensch wird vom Rausch ... ergriffen werden«, er wird zu ›Selbstvergessenheit mitgerissen‹ (vgl. Flusser ebd. 88). Die Frage nur ist, ob er die ›Selbstvergessenheit‹ in Gegenwärtigkeit umzubiegen weiß und noch Herr seiner Wahrnehmung bleibt oder ob er sich von den Bildern dämonisieren läßt. Das Gegengift der Bildvereinnahmung ist die ekstaseartige Wahrnehmungsintensivierung. Diese Geistesanstrengung bezüglich der ›psychedelisch wirkenden Bilder‹ (vgl. ebd. 118) fährt sinnliche Hormonschübe wider die Bildvereinnahmung auf. Nach einer Dosis Videokunst, nach ein paar Stunden Videospiel oder Komputationsanstrengung wird erst derjenige geläutert in die nächste Runde gehen, der die Selbstvergessenheit noch im Wahrnehmungsspiel wahrnimmt. Das Auge wird zum Aktionszentrum des Denkens. Die menschliche Einbildungskraft, die – komplex – größer ist als sie wissen kann, benutzt die Bildschirme, nutzt sie aus, um ihrer eigenen Komplexität gerecht zu werden. Das gesamte ›Universum der technischen Bilder‹ ist auszubeuten, um – jenseits der Verstehbarkeit – ›dahinter‹ die eigene Komplexität einzulösen. Die komplexe Wahrnehmung aktiviert den ›Rest‹, der apparatisch nicht kalkulierbar ist: Lachen, Entsetzen, Ironie etc. machen als subversive Selbstinszenierung den Körper zum Wahrnehmungsprojekt. ›Dichten als Denken‹ ist eine Wahrnehmungsstrategie, die die apparatischen Wahrnehmungsbedingungen übersteigt (vgl. SchönherrMann 1993, 178f). All das angesichts der informationstechnologischen Übermacht unterdrückte typisch Humane – Poesie, Zynismus, Gefühl etc. – kann zur Geltung kommen. Dichtung und Ironie vermögen das Sehen sichtbar zu machen, da sie – komplex – die Wahrnehmung auf sich selbst verweisen. Erst diese körpernahe Verdichtung der Wahrnehmung läßt die maschinelle Kalkulierbarkeit übertreffen. Kamper sieht die Chance »einer von ihren Träumen
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enttäuschten Menschheit, die nun mit dem einzigen konfrontiert ist, das ihr überhaupt nicht paßt: eine radikal menschliche Welt« (1991, 98).1 – Dank komplexer Wahrnehmung fällt der Mensch auf sich selbst zurück. Diese Strategie ist weder Reduktion (denn das Verdichtete bliebe niedrigkomplex) noch lineare Verstehbarkeit (die das Komplexe ebenfalls ›wegerklären‹ würde). Komplexitätsreduktion sei ein Fehler, so Kamper, »denn ein Denken, das einfacher macht, macht alles noch schwieriger. Ich versuche, das umzudrehen, und sage: Je komplexer das Denken, desto einsichtiger, je schwieriger das Denken, desto genauer« (1993b, 74). Komplexes Denken freilich ist gebunden an einen komplexen Blick. Erst der intensive Blick durchbricht die entropische Simplifizierung und die Tatsache, daß die Komplexität in den Zeiten der Entropie der Tendenz unterliegt, sich in Vereinfachung und optischen Entitäten aufzulösen. Wider den trägen Blick löst die Komplexität die Fähigkeit der Erfahrung ein und hebt die Sinneskompetenz in einen emergenten Zustand. Orientiert sich der Beobachter selbstbeobachtend an seiner eigenen Komplexität, erzeugt er ›neuartige, nicht mitvorgesehene Reaktionsmöglichkeiten‹, er produziert ›mehr als nur sich selbst‹ und wird ›hyperkomplex‹ (vgl. Luhmann 1988, 637). Er öffnet sich dem Paradox und vermag seitens der Wahrnehmung Unwahrscheinlichkeiten zu aktivieren: »Erst der Überstieg in labyrinthische, d.h. hyperkomplexe Strukturen würde die Offenheit bringen, die längst fällig ist« (Kamper 1986, 16). Einer komplexen, nachgeschichtlichen Haltung ist das ›Wissen des Digitals‹ äußerst unbefriedigend, denn dem Komplexen sind die reinen Informationen irrelevant und banal. Ohnehin ist die Welt bekannt und dank der Prothesen und Informationsapparate zugäng1 Allzu menschlich umreißt Kamper die Situation: »Angesichts der Zukunft ist jeder so allein wie im Mutterschoß ... Brauchbar auf die Dauer sind nicht so sehr die Theoriefähigkeit und die Kommunikationsfähigkeit, sondern eine Leidensfähigkeit der Intelligenz« (1993b, 83). Mehr noch: »Im Verzicht auf die Macht des Wissenwollens öffnet sich der Bildschirm der Angst« (1986, 149). »Man sollte die Möglichkeit erwägen, durch den Bildschirm der Angst hindurch den Ursprung der Menschheit anders zu beschreiben« (ebd. 66). – »Die Transformation ... besteht ... darin, die Augen zu entwaffnen und den ›Sinn‹ für die Zeichen als Narben zu stärken ... dann müßte im gesamten Austausch der Menschen mit ihresgleichen und mit der Natur, in ihrem Umgang mit der Materie, eine Blöße auftauchen, die tiefe Rückschlüsse ermöglicht« (164f). Die ›Narben‹ erinnern verzerrt an den Sinn, der nun imaginär transzendiert wird.
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lich: dennoch machten sie die Welt – paradox genug – fremd, da sie zwar informieren, die Informationen aber nicht erfahren lassen. Das nachgeschichtliche Wahrnehmen aber erkennt, daß das Digital (wieder) unbekannt ist, daß die multimedialen Disketten sinnlos sind: daß sie ›leer‹ sind, solange sie der Blickintensivierung nicht genügen. Das Digital wird zum ›fremden Land‹, das erst geschickte Blicke erobern und ›bevölkern‹ können.1 Verweigert sich der Wahrnehmende einer komplexen Herangehensweise ans Digital, entropisiert seine Sinneskompetenz und er vegetiert weiterhin ›glücklich‹, aber inkompetent im Kitsch. Wenn es aber darum geht, »nicht den Weg in die Desillusionierung zu beschleunigen, sondern den Aufwand zu vermindern, den es kostet, das neue Medium zu lesen« (Winkler 1997, 217), so bedeutet die ›Verminderung des Aufwands‹ die der Komplexitätssteigerung folgende Gelassenheit einer souveränen Wahrnehmung. ‹Reines‹ Wissen und versachlichte Information bremsen das komplexe Denken und Wahrnehmen. Nicht das Verstehen ist der Kamm, über den die Bilder zu scheren sind, denn das linear gültige »›Paradox des todbringenden Verstehens‹, todbringend auch für den, der versteht« (Kamper 1986, 42), mündet als Sehnsucht nach Allwissenheit über die Explosion des Wissens in die Implosion des Sagbaren. Dieses auf fatale Weise realisierte Paradox der Aufklärung ist folglich durch ein noch größeres Paradox zu ersetzen: »Nie rechtbehalten zu wollen; zu wissen, daß es nur fremde Gedanken gibt; sich im Denken auszusetzen, auch ohne das Ende zu wissen; selbst solche Probleme, die den, der denkt, zu vernichten drohen, nicht auszulassen; mit einem Wort: gegen das Denken zu denken« (Kamper ebd.). Der bislang ›einäugig‹ Wahrnehmende wird zum ›Revolutionär des Sehens‹ erst durch »ein Verstehen ... das sich notfalls selbst durchstreicht« (ebd.). Dann ist Verstehen mehr als Meinung und mehr als rational Sagbares: »Man muß Probleme aufsuchen, die ein Scheitern nach sich ziehen können, denen man nicht gewachsen ist. Nur dann ist man ihnen gewachsen ... Deshalb ist das Ziel nicht mehr der Minimalkonsens, sondern der Dissens als Dissens« (ebd. 55). Erst nach dem ›Scheitern des Denkens, nach dem Absturz des Beobach1 Es gilt: »Von zartem Gemüt ist, wer seine Heimat süß findet, stark dagegen jener, dem jeder Boden Heimat ist, doch nur der ist vollkommen, dem die ganze Welt ein fremdes Land ist« (Tzvetan Todorov in: Kamper 1986, 41).
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ters‹ sei eine Vernuft möglich, die vernimmt (vgl. ders. 1993, 66). Erwin Reiss hält in diesem Sinn die ›Erblindung für ein wünschenswertes Geschick, um aufs neue unsere Augen entdecken zu können‹ (vgl. 1995, 94). Eine gescheiterte Vernunft und eine Überanstrengung der Sinne geht gegen die ›einfache‹ Wahrnehmung vor. Die Bildschirme flackern weiter, das Wissen wächst weiter, doch gilt es nicht, sich deren Strukturtotalität anzupassen, sie zu adaptieren. Kamper will »für eine Zeit nach dem Sturz der Bilder und nach dem Zusammenbruch der Begriffe gerüstet sein, und zwar durch die Wiederholung (sprich: Wieder-Holung) einer ... Einbildungskraft, die es im Bildlosen, Begriffslosen aushält« (1990, 208). Eine Wahrnehmung nach dem ›Absturz des Beobachters‹ ignoriert die Bilder, um – ›frei‹ für deren Ontologie – das Ego zu befreien. Sie ignoriert erst recht die Gelehrigkeit der Schrift, um sich vom Ballast des Wissens zu befreien. Das strukturlose Imaginäre hinter dem Flakkern, im Rauschen, vielmehr ist die Essenz, der die Wahrnehmung in Selbstbeobachtung folgt. Das Rauschen ist das ›ferne Land‹ der Komplexität selbst. Es ist so groß und unbekannt wie die menschliche Sinnesverarbeitung. Alles konkrete: Sinn und Wissen sind ihm redundant. Die ›fremden Gedanken‹, die die Logik des ›einfachen‹ Denkens brechen und den Apparaten kaum zu vermitteln sind, sind wahrnehmungstaktische Waffen wider die Blickvereinnahmung. Mit fremden Gedanken, Unwahrscheinlichkeiten und Widersprüchen bleibt das Denken, wo es hingehört: im Menschen selbst, im paradox Komplexen. Die Orientierung hat Orientierungslosigkeit zur Voraussetzung, denn dem flinken Blick ist die Fülle des Bilderrauschens gleichbedeutend mit ihrer – meditativen – Leere. Die ›bindende Grundorientierung‹ scheint vonnöten, »sich ohne den sicheren Hort irgendeiner Weltanschauung im Medium schier vollendeter Reflexionslosigkeit reflektierend Rechenschaft zu geben über das, was geschieht« (Kamper 1986, 27f). Bodenlosigkeit ist angesichts eines Mediums, das keinen Boden hat, die einzig legitime Strategie, sich der reinen Wahrnehmung zu konfrontieren. Ohne festen Halt und vom Widerspruch angestachelt, erst nehmen die Sinne wahr, was die Bilder ›im Innersten zusammenhält‹, was sie transzendent bedeuten. Im Vakuum reiner Körperlichkeit nehmen die Sinne die Bilder wahr, als hätten sie nie welche gesehen. Der ›unschuldige Blick‹ hat, um die Bilderfluten zu bestehen, gewissermaßen den Zustand vor der Bil-
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derflut zu simulieren – »was ein Denken erforderlich macht, das vor den Mythos zurück- und über die Moderne hinausgeht« (Kamper 1986, 55). Dabei soll weder dem vorschriftlichen Mythos, noch der überfallartigen Attacke der Bilderflut verfallen werden. Die Einbildungskraft reflektiert sich vielmehr im Imaginären des Bildlosen, das mit der Bildfülle identisch ist. Wer über die festgefahrene Moderne hinausgelangen wolle, dürfe nicht einfach eine andere Geschichte erzählen, so Kamper weiter. »Nur wenn die imaginäre Obsession der Geschichte: der geschlossene Raum der einen Geschichte ... verlassen werden kann, gibt es noch Zukunft« (ebd. 66). Die Apparate haben die ›eine Geschichte‹ ohnehin virtuos gesprengt und sie im Urknall der Informationen ins eine Universum der Bilder und Netze katapultiert. Die Wahrnehmung aber hat nicht einfach der Explosion zu folgen und informatorische Raumsonden auszusenden, um die Informationstrümmer wieder zum Puzzle zu fügen. Sie hat die Explosion vielmehr wahrnehmungstaktisch durch eine ›körpernahe Einbildungskraft‹ (vgl. ebd.) selbst zu vollziehen, um zu erspüren, daß die negentropische Expansion des Info-Universums die Entropiefalle der Datenverarbeitung ist, der erst die menschliche Wahrnehmungssouveränität Einhalt gebietet. Geschichtslose Nachgeschichte ist dann der zeitenthobene Ausgangspunkt, die Apparate, die die Geschichte pervertierend verarbeiten, paradoxal zu übertrumpfen. Da apparatisch Zeit Struktur ist, ist nachgeschichtlich einer Chronolgie nicht mehr zu folgen. Geschichte ist apparatisch immer ein Jetzt des Abrufens. Der Zirkulation der Informationen ist deshalb nurmehr simulatorisch in Eigenzeit zu folgen, um mittels der Einbildungskraft ›reflektionslos reflektierend‹ ›hinter‹ die Zirkulation der Imagination zu gelangen und sie im freien Fall der Wahrnehmung zu überdauern. Die Zeitlosigkeit der zirkulierenden Bilder korrespondiert dann mit der ›entrüsteten Ordnung‹ des Blicks. Sie führt aus der entropischen Langeweile heraus, die sich endlos verlängert, solange sie ihres Zeitzwangs nicht enthoben wird. Vorgeblich besetzen die Bilder den Raum und die virtuellen Räume, der komplex Wahrnehmende aber erkennt, daß sie die Zeit besetzen: Sie blockieren den Fluß der Zeit und stoppen die Eigenzeit des Betrachters, indem sie ihn zwingen, Zeit mit Zuschauen zu verschwenden. Nachdem der ›Historizismus‹ in der Digitalvariante ›auch die Zukunft an sich gerissen hat, ist der
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Kreis der Geschichtlichkeit zeitlos geschlossen‹ (vgl. Sloterdijk 1989, 164). Der komplex Wahrnehmende aber entlarvt die Zeitlosigkeit und ersetzt sie nachgeschichtlich körpernah durch Eigenzeit. Kamper »scheint ... die Moderne ... festgefahren an der Stelle, wo es nur noch um Modifikation von Raumkompetenzen geht. Da wo die Zeitsensibilität jetzt einsetzt, da wäre die Moderne nach vorwärts zu verlassen« (1993b, 81). Dabei würden »andere Sinne gelten als das Auge« (ebd.), das versucht, der Linearität der Geschichte hinterherzukommen: »Im Hinhören auf die Zeit wäre ein Punkt eingenommen, wo man sich bewußt in der Zeit bewegt. Das wäre der Inbegriff dessen, was Geistesgegenwart sein kann« (ebd.). »Radikale Diesseitigkeit«, die ›alle Kategorien hinter sich läßt‹ (vgl. Kamper 1986, 69), ist das Pendant zur Nachgeschichte. Sie überholt die Linearität der Logik und die Chronologie der Zeit. In dieser Geistesgegenwart flackert Geschichte nurmehr als ein Rauschen und als ein Möglichkeitsfeld ihrer Interpretation, die individuell gesetzt (komputiert) werden können. In poetischer Verdichtung ist jede Auslegung als individuelles Gedicht möglich. Geschichte und Gegenwart sind interpretationsoffen und übertreffen die geschlossene Veranstaltung einer 15-Minuten-Tagesschau-Terrine oder eines konkret komputierten Bildes – von denen sich das kombinatorische Bewußtsein nichtsdestotrotz nährt. Hinter die – der Explosion des Wissens folgende – Implosion des Sinns zu blicken ist ein Schritt, die Zeitlosigkeit der Zirkulation einzuholen und durch Eigenengagement zu überhöhen. Im sinnüberfüllten wie sinnentleerten Moment der Zeitlosigkeit herrscht die ›Stille‹ des Rauschens, eine ›Stille‹ des Sinns und der Zeit – eine Stille, die dem Vormythischen oder der Stille im Zentrum eines Orkans gleichkommt. Darin ist man sich selbst und seiner Einbildungskraft überlassen: Es geht, wie Flusser sagt, darum, »die Einsamkeit in der Masse durch echte Einsamkeit zu ersetzen, durch eine Einsamkeit, in der die konkrete Wirklichkeit, jenseits der kodifizieren Welt, erlebt wird, die Einsamkeit des Privaten ... in der die Propheten Gott ansichtig wurden« (1990b, 170). Da der Zeit-Gau der Bilder kaum Zeit läßt, die Bilder ›in der Zeit‹ zu imaginieren, ist die eigene, chronologiebehaftete Weltanbindung zu kappen und das vordem Rationale ins Mythische und Instinktive zu schwenken. Eine derart körpernahe und nachgeschichtliche Entdeckung der Wahrnehmung entwertet das Denken nicht, sondern
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bewirkt erst eine Entdeckung auch des Denkens. Eines Denkens aber, das sich vom Nicht-Denken und vom Nicht-Wissen nährt. Statt Erkenntnisse will es eine Erfahrung, die Worte und Fakten übertrifft. Dies Denken kristallisiert sich durch eine Art musikalischer Wahrnehmung, die weniger dem Inhalt einer Rede folgt denn deren ›Klang‹. Ein musikalisches Gespür für die ›Wirklichkeit‹ und deren Vermittlung ersieht im Sinne van Gogh‹s die ›Bewegung‹ hinter der gemalten Hand (vgl. Werkbund Archiv 1988, 84 – s.o.), sie durchschaut die zur Unkenntlichkeit verstümmelten Informationszusammenhänge intuitiv, sie transzendiert die Strukturen hinter den kollektiv erstellten Komputationssinfonien souverän und opfert sich nicht dem Dogma des apparatischen Schwerbehindertseins. Ein musikalisches Vermögen ist im Gefolge paradoxer Wahrnehmung ›übervernünftig‹ und weder linear noch beschreibbar. Logik und Perspektive sind ihr nurmehr starre Parodien ihrer selbst. Wenn in der Synergie zwischen Mensch und Cyberspace ein sinnliches Verhältnis des Digitals zum menschlichen Gehirn erstellt werden soll, so sollte ein wahrnehmungstaktischer Sinnesschub ohne technologischen Anschluß umso erstrebenswerter sein. Die Wahrnehmung ist dann nicht mehr nur an den Bildschirm delegiert, sondern zuvörderst emergent auf sich selbst gerichtet. Sie nutzt die Bildschirme für individualistische Projektionen – als selbstbeobachtendes ›Projekt‹. Das Projekt erleidet das Wahrgenommene körperlich wie eine Verwundung. Es weiß, daß es durch die Digitalvermittlung musikalisch gedopt wurde und transzendiert diesen Zustand ins Körperliche. Der vordem unbeteiligte, rezeptionsabhängige Beobachter wird zum »mitfühlenden Beteiligten« (vgl. von Foerster 1989, 31). Von Foerster stellt die Wahrnehmung vor die Grundsatzentscheidung: »Bin ich vom Universum getrennt, (das heißt, ich sehe wie durch ein Guckloch auf das vor mir sich entfaltende Universum) oder bin ich ein Teil des Universums? (das heißt, wenn immer ich vom Universum spreche, spreche ich auch von mir) ... Es ist ganz erstaunlich, wie sehr sich das Weltbild ... verändert, wenn man die Guckkastenphilosophie des unbeteiligten Beschreibers mit der Einsicht des mitfühlenden Beteiligten vertauscht« (ebd. 30f). Erst der komplex auch noch die Wahrnehmung wahrnehmende Beobachter, der dem Weg folgt, den die Wahrnehmung geht, um wahrzunehmen, ist sowohl wahrnehmungskompetent als auch digitaltauglich. »Verlören wir das Sehen aus den Augen, verfielen wir dem reinen
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Blick« (Reiss 1995, 94). Er führte in die Falle der Bildhörigkeit. Bewirkte also einst die Perspektive eine ›Reflexion des Sehens‹ (vgl. Weibel 1990, 178), so ist die heute anstehende Intensivierung der Wahrnehmung eine reflektierende Erweiterung des Sehens ins paradoxal und hyperkomplex Aperspektivische – und damit eine erneut emergente Reflexion des Sehens auf sich selbst. Die Informationstechnologien wirken in diesem Prozeß als ein Katalysator der Wahrnehmung. Er erzwingt den Sprung ins Nachgeschichtliche, den ›Quantensprung‹ hin zur komplexen Nutzung der Sinne. Flusser zum Trotz ist dabei das Problem der Entropie irrelevant, da (wieder) vergessen werden darf und das Neue nicht heraufbeschworen werden muß. Erfahrung kristallisiert sich, indem die Informationen verarbeitet werden, danach aber vergessen werden dürfen. Vergessen heißt, das Extrakt des Erfahrenen verdaut zu haben. Die Kategorien Speichern beziehungsweise Vergessen sind überholt, wenn sich musikalischer Sinn über eine komplexe Selektion findet, die das Wissen übersteigt, von dem sie sich – nun imaginativ – nährt. Die erwünschte negative Entropie wird sinnestaktisch nicht nur erfüllt, sondern durch die negentropische Eigenkomplexität bei weitem überboten: Die Komplexitätssteigerung wirkt als ›Sprengung des entropischen Zwangs‹ (vgl. Kamper 1990b, 141) und ist eine qualitative Umstrukturierung der Sinnesfähigkeit. Eine Wahrnehmung, der die Kategorien von ›alt‹ und ›neu‹, von ›wahrscheinlich‹ und ›unwahrscheinlich‹ so überholt sind wie die informationstechnologisch längst überholten Kategorien von ›wahr‹ und ›falsch‹, hat es nicht nötig, der Informationsproduktion zu verfallen. Informationen sind ihr pathologisierende Kriegswerkzeuge einer Medienkultur, die darauf abzielt, auf Bildhörigkeit abgerichtete Informationskonsumenten in den Warteschleifen des Immer Neuen auf den Jüngsten Tag ihrer Selbstwerdung zu vertrösten. Kurzum: Die Steigerung der medialen Informationszirkulation durch wahrnehmungstaktischen Widerspruch zu übertrumpfen und akzeptiertes Nichtwissen als Sprungbrett in den Pool des Erfahrens zu nutzen, läßt die ›Existenz im Sinnlosen‹ (vgl. Kamper 1986, 45) zur heilsamen Kur werden. Wenn schon jedes einzelne Bild eine Katastrophe seiner Informationen und ein ›horror vacui‹ des Sinns jenseits des Bewußtseins ist, hat das Bewußtsein, um der Katastrophe gewappnet zu sein, den katastrophischen Zustand komplex zu steigern. Es hat die Katastrophe katastrophal und körpernah zu über-
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bieten. Wollen Botschaften am eigenen Leib erarbeitet, erlebt und erlitten werden, wankt der Blick zwischen sinnestaktischer Alarmbereitschaft und Blackout. Verwirrung ist ihm gesünder als jede eindimensionale Klarheit. – Ohnehin muß sogar Wissen, um sich kontemplativ über fragendes Abwägen ›setzen‹ und verdichten zu können, zunächst verunsichern. Die Sinne wollen schwitzen, die Augen sich verdrehen, und in vorübergehender Ohnmacht wird die offizielle Bildinformierungstotale seitens der Wahrnehmung übertroffen: Der Tritt gegen die Netzhaut gerät zur Therapie wider die Bilder, die ohnehin gegen die Sinne treten. Im Heilungsprozeß – sobald der Schmerz nachläßt – zeigt sich, daß zwischen Wahrnehmung und Bild, zwischen Schein und Sein und zwischen Marketing und Kabelanschluß nicht alles humankompatibel ist. Erst die ›Existenz im Sinnlosen‹ bewirkt Klarheit darüber, daß die Medien Informierung inszenieren, während ›Denken‹ etwas anderes ist als sie vorgeben zu fördern. Erst die tranceartige Selbstintensivierung der Sinne führt durch das Nadelör der Informationshörigkeit. Wer also Besinnung will, hat nicht die Entropie zu verlängern, sondern, paradox genug, den Weg durch die Besinnungslosigkeit zu nehmen. Der medialen Zirkulation zu entgehen, bedarf es, deren Taktik wahrnehmungstaktisch zu überbieten und dem Informations-Gau magisch durch Eigen-Gau zuvorzukommen.
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m Öffentlichen wie im Privaten verstellen Bilder den Blick – Tendenz steigend. War TV bislang nur Opium fürs Volk, nun sind Computer Ecstasy für User. Die hypnotisierende Macht der Neuen Bilder liegt weniger in ihrer Informierungsgewalt, sondern in der Wucht ihres Aufflackerns und in den nicht sichtbaren, einprogrammierten Absichten, die die Nutzer in Echtzeit beglücken. Ob Direktkommunikation, Suche-und-Finde-Optionen oder Videospiele, ob Tele-Sex, Homebanking oder Gender-Hopping, das Digital hält alle auf Trab. Zwischen virtuell erfüllten Utopien und telematischem Science Fiction wird die Gegenwart zum Möglichkeitsfeld des morgigen Jetzt. Die technologischen Implatate sind ein Testfall der Zukunft. Selbst wer weiß, wie die virtuellen Welten zustandekommen und weshalb die Komputationen und Programme so und nicht anders sind, wird, selbst wenn er sie zu seinen Gunsten umprogrammiert, auch weiterhin den Strukturen treu bleiben müssen, die das Digital prägen. Seien die Strukturen ideologisch oder konsumtiv gefärbt, sie bewirken programmierende, imperative ›Hörigkeit‹. Sie zu durchschauen, fordert Flusser zu Recht Bildunterricht (vgl. 1992b, 55). Will der Nutzer Herr der Bilder sein, hat er aber weder das Wissen noch das Wissen-Wollen ins Zentrum seines Strebens zu stellen. Die Bilder wollen weder interpretiert noch analyisiert werden, denn die Wahrnehmungsbedingung des Digitals ist nicht das Geistige, sondern das körperlich Sinnliche. Spielen die Apparate auf der ›Tastatur der Sinne‹, so ist der Unmittelbarkeit dieses Wirkens ›entgegenzuspüren‹. Der Bilderoberer hat sich auf die Wirkung der Bilder einzulassen, er hat das in ihnen Vermittelte körperlich zu erleiden und dadurch komplex zu transzendieren. Es besteht, so ja auch Roman Herzog in seiner ›Berliner Rede‹ vom 27.4.1997, › kein Erkenntnisproblem, sondern ein Umsetzungsproblem‹: Die Wahrnehmungswelten erzwingen eine komplexe Haltung, die der Stimmung, die sie verbreiten, gerecht wird. Die Digitalhermeneutik geht dann in der Tat neu mit dem Erkennen um – sie erobert die Sinne. Erst eine körpernahe
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Wahrnehmung führt aus der Programmhörigkeit heraus und Medienkunde hat folglich – allen anderen Sinnen voran – das Sehen zu trainieren. Dem hype der totalen Völkerverständigung gewachsen zu sein, bedarf es einer Sinnesschärfung, die die menschliche komplexe Datenverarbeitung zu ihrem Recht kommen läßt. Welche Lebensmodelle aber stehen in Aussicht, wenn einerseits Bildschirme zum Interface einer sensuellen Urteilskraft werden und andererseits die bislang gültigen Weltbilder und Verbindlichkeiten der Entropie verfallen? Die den Oberflächen der Bildschirme genügende Realitätsrezeption und das Desinteresse an gesellschaftlichem Engagement wird zwar flächendeckend bedauert, das kulturpessimistische Wehklagen selbst aber wird nicht transzendiert. Selbst die Erosion noch des kriegerischen rechts-links-Denkens jedoch markiert nicht schon Ende der Politik, sie scheint die Politik vielmehr selbst zu transformieren: Ins Apolitische, Aperspektivische, Situative, Emotionale, Egozentrierte und Gruppendynamische. Die politischen Koordinaten scheinen auf dem planet ultra mit digitaler Kultur, mit wahrnehmungsgeleitetem Handeln und global-urbanen Parties zusammenzufallen. Zwischen Dauerapokalyse, Schell-Studie und digitalem Freizeitpark entwickelt sich eine (politische) Gemengelage, für die sich der historische Begriff des Politischen als untauglich zu erweisen beginnt: Das Virtuelle selbst wird zum Labor des Aktionismus und die Komputation zur politischen Strategie. Noch mag sich die explosive Kraft der Komputation erst sammeln, der – auch realweltliche – Überraschungscoup aber wird, dem Gesetz der Unwahrscheinlicheit folgend, kaum eine Verlängerung des Alten sein. Den mutmaßlichen kulturellen und politischen Umorientierungen zu folgen, scheinen statistische Hochrechnungen und auf bewährten Modellen bauende Zukunftsplanungen ungeeignet, denn sie operieren mit dem Bekannten, mit dem schon Wahrscheinlichen. Die sozialen Verhältnisse verändern sich schneller als die soziologischen Modelle. Wenn es folglich in Zeiten der Komplexitätsemergenz ›nicht Aufgabe der Theorie sein kann, Komplexität wegzuerklären‹ (vgl. Winkler 1997, 335), steht die Wissenschaft umsomehr unter Zugzwang: Die Soziologie, so Kamper, ›versucht ihre Realitätskonstrukte zu retten – und sei es um den Preis einer Blockade der Wahrnehmung‹ (vgl. 1986, 12). Beck betrachtet die Soziologie als eine »teure Subventionierung gesellschaftlicher Selbstverständlich-
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keiten« (1993, 273) und Luhmann hält Soziologie und Gesellschaft sogar bereits für »inkompatibel«. Es würde »die Soziologie zur Krankheit der Gesellschaft und die Gesellschaft zur Krankheit der Soziologie« (1988, 505). Flusser schließlich kritisiert, »es ist bezeichnend für die meisten Soziologen und Kulturkritiker, daß sie sich für den Zerfall der hergebrachten Gesellschaftstrukur mehr interessieren als für das Emportauchen der neuen; daß sie mehr auf das Krachen des Eises als auf das emportauchende Unterseeboot achten. Daher sprechen sie von einem Verfall der Gesellschaft, statt von der neuen Gesellschaft zu sprechen. Sie kritisieren die zerfallenden Strukturen, anstatt die neuen zu kritisieren ... Die Erklärung für diese Verblendung der Kritik ist leicht zu finden. Die zerfallenden Gesellschaftsformen sind ›interessanter‹ als die neuen, da sie von Gewohnheit geheiligt sind« (1990, 53). Die Analysen passen zusehends schwerer auf den Gegenstand, den sie untersuchen. So diagnostizieren die Kulturwissenschaften das Tun der Komputatoren eher als Rückenschmerzen verursachend denn als Wahrnehmungsanforderung. Wer aber wissen will, wohin der digitale Wind weht, hat sich auf die Komputationen einzulassen, die rückwirkend das Verhalten prägen. Flusser fordert für die »künftige Soziologie, daß sie den Menschen aus dem Zentrum zum Horizont ihres Blickfelds verschieben muß, und dies gerade, wenn sie an der Erhaltung der menschlichen Freiheit und Würde engagiert ist« (1990, 45): Will man etwas über den Menschen erfahren, sind die Bilder zu untersuchen, die auf die Leinwand des Bewußtseins flakkern. »Die Bedürfnisse, Wünsche, Gefühle und Kenntnisse des Menschen sind vom technischen Bild her zu erklären« (ebd.) – von Spielfilmen, Simulationen, Komputationen, Hypertextbildern etc.. Dem Menschen ist authentischer durch die Bilder auf die Spur zu kommen als durch realweltliche Feldforschung, da sie seine doublehaften und übersteigerten Projektionen sind. Kittler legt denn auch nahe, »Macht nicht mehr wie üblich als eine Funktion der Gesellschaft zu denken, sondern eher umgekehrt die Soziologie von den Chiparchitekturen her aufzubauen« (Kittler 1993, 215). Da Komputationen Unwahrscheinliches wahrscheinlich und damit eine potentielle Zukunft zur Gegenwart machen, hat sich die Gesellschaftsanalyse dieser potentiellen Zukunft zu stellen. Besser noch: Sie muß ihr zuvorkommen. Wenn es nicht genügen soll, die ›Verwirklichung unserer Kulturmöglichkeiten zu verzögern‹ (vgl.
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Flusser 1990b, 142f), sondern darum geht, kompetent zu sein, die sich potentiell verwirklichenden Kulturmöglichkeiten gegebenenfalls zu verhindern, sind die Spielregeln der digitalen Verwirklichungsmaschinerie selbst zu transformieren. Dazu will der auf die Zukunft gerichtete, innovationsversessene Blick einerseits als paranoider Komputationszwang entlarvt sein, andererseits aber transkomputativ eingeholt werden. Die Wahrnehmung auch soziologisch zu intensivieren, heißt, sich auf die Redundanzen, die bislang in den wissenschaftlichen Modellen unberücksichtigt bleiben mußten, zu konzentrieren und sie mit den komputierten Bildredundanzen zu decken: Die Soziologie hat, um die Stimmungslage der Komputatoren zu analysieren, jene Komputationen aufspüren, die wahrscheinlich wahrscheinlich werden. Um gesellschaftliche Tendenzen aufzuspüren, sind dem ›Rauschen‹ der Bilder dank des ›musikalischen Verständnisses‹ einerseits Unwahrscheinlichkeiten zu entnehmen, andererseits sind Unwahrscheinlichkeiten auch selbst zu setzen. Sie lassen sich komputativ verdichten, wonach zu überlegen ist, wie wahrscheinlich die Anlage der Gegenwart für eine Verwirklichung der projizierten Komputation ist. Will die Soziologie, die ohnehin allerorts Unübersichtlichkeit ortet, wissen, was Chaos ist, tut sie gut daran, selbst Chaos – und damit Komplexität – zu erzeugen: um eventuelle ihm anhaftende Strukturen selbstwahrnehmend bearbeiten zu können. Luhmann will die Kommunikation der Soziologie nicht zu Unrecht ›auf den Umweg des Paradoxierens schicken – wie ein Therapeut‹ (vgl. 1996, 214f). Nicht nach Sicherheit und Beweisbarkeit strebt die nachgeschichtliche Methode der Soziologie, sondern nach Flexibilität und Widerspruch. Nicht vom Gegebenen nährt sich die Strategie, sondern vom Unwahrscheinlichen, von Überraschungen. Die Soziologie also muß, ohne die gesellschaftliche ›Weltformel‹ finden zu wollen, selbst komputieren, will sie den ohnehin stattfindenden Komputationsfluten beikommen. Es ist zweierlei, ob ich die Gegenwart durch die Vergangenheit oder durch die in der Gegenwart lauernden Potentiale einer sich entwickelnden Zukunft definiere. Sich für letzteres zu entscheiden, markiert die Bruchstelle zum Nachgeschichtlichen. Während sich die Theorie rühmt, noch in der sogenannten Realität ›seßhaft‹ zu sein, hat die Nachgeschichte die Geschichte, die Zeit, den Sinn und
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die facts längst virtualisiert. Da die soziale Beschleunigung komputativ längst in Richtung Zukunft jagt, entziehen sich die Virtualitätsnutzer noch der irdischen Schwerkraft: Das Digital feiert einen Neustart der Gegenwart unter komputativen Vorzeichen. Nicht mehr rückwärtsgewandt, sondern zukunftsorientiert werden Möglichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten projiziert – wie auch immer gearteter Sinn verstopft die Kanäle. Die Bild- und Sinnfragmente des Datendickichts sind folglich – auch seitens der Soziologie – in ihrer Fraktalität auf ihre Zukunftsträchtigkeit und -tauglichkeit hin zu prüfen und gegebenenfalls wahrscheinlich zu machen beziehungsweise zu vermeiden. Eine die Nachgeschichte transzendierende Soziologie säße im ›Zeitalter der Komputation‹ als Leitwissenschaft am ›Sinfonie-Ticker‹ in der ersten Reihe. Ihr würde die Aufgabe zuteil, den kollektiven Bilderrausch zu betreuen. In der Sicht des Nachgeschichtlers blockiert die Vergangenheit wie ein Granitblock die Weiterentwicklung der Gegenwart, wodurch das zukunftsgerichtete Handeln erlahmt. Die entropisierten Reste menschlich komplexer Eigenheit werden verschüttet, wenn die in der Gegenwart sich auftuenden Horizonte blockiert werden. So scheint die Politikverdrossenheit durch Vergangenheitsverdrossenheit überboten werden zu müssen. Da davon auszugehen ist, daß die aus dem ›Off‹ (des Unwahrscheinlichen beziehungsweise der Zukunft) wahrscheinlich gemachten Bilder extrem zunehmen werden, da darüberhinaus zu hoffen wäre, der ›verlustig gegangene Sinn‹ und der Werteverlust möge – in welcher Form auch immer – wieder zu sich kommen, ergibt sich die Forderung, erstens aktiv wie auch immer gearteten Sinn gegen die gegenwärtig werdende Zukunft zu projizieren, und zweitens das Wahrscheinlichwerden dieser Unwahrscheinlichkeiten bezüglich ihrer Verantwortbarkeit zu prüfen. Diese Taktik des kritischen Komputierens wäre eine ›Soziologie der Nachgeschichte‹. Nichts anderes tut Flusser. Er betreibt nicht-soziologische, Soziologie übertreffende Soziologie. Er entwirft ein komplexes Geflecht möglicher Unwahrscheinlichkeiten und testet deren potentielle Verwirklichung am gegenwärtig ›laufenden Programm‹. Dabei erhebt er nicht den Anspruch nach ›letzten Wahrheiten‹ oder den einer Zukunftvorhersage. Er betont, es »strahlt ... jedes Phänomen unendlich viele Tendenzen aus, es ist eingehüllt in eine Wolke von Zukunft ... Ich habe einige unter diesen Möglichkeiten gewählt und alle anderen
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vernachlässigt, wobei mein Kriterium die Wahrscheinlichkeit war: Die vernachlässigten Möglichkeiten hielt ich für unwahrscheinlich. Aber dieses Kriterium widerspricht all dem, was ich in diesem Essay [‹Ins Universum der technischen Bilder‹ 1990] zu sagen versuchte: daß wir uns nämlich gerade für das Unwahrscheinliche interessieren. Indem dieser Essay voraussagt, widerspricht er seiner eigenen These« (1990, 134): Es ist nichts vorhersehbar, Unwahrscheinlichkeiten sind nur bezüglich ihres wahrscheinlichen Wahrscheinlichwerdens abklopfbar. Eine ›Soziologie der Nachgeschichte‹ also spielt mit Mutmaßungen und hat weder Angst vor Paradoxien noch vor Sinnlosigkeit. Stattdessen versucht sie entscheidende, ›wahrscheinlich gegenwärtig werdende Unwahrscheinlichkeiten‹ auszuleuchten. Flusser führt dies Spiel des Homo Ludens exemplarisch vor. Er entzieht sich durch die ›Lust am Paradox‹ einerseits der Verbindlichkeit, treibt aber andererseits das Denken in eine zeitgemäß komplexe Emergenz: Man darf Flusser nicht ernst nehmen, erst dann nimmt man ihn ernst. Sosehr sich Flusser auf einige Wahrscheinlichkeiten des kulturellen Werdens konzentrierte, andere entscheidende, längst wahrscheinlich gewordene Unwahrscheinlichkeiten freilich ignorierte er rigoros: Die aus den letzten Jahrhunderten stammende, doch nachgeschichtlich erst komputierend zu prüfende Fortschrittsgläubigkeit übernahm er vorbehaltlos. Auch macht er die Rechnung ohne die ideologisch vergiftete und marktwirtschaftlich neurotisierte Gegenwart. Stattdessen benutzt er das zweifelhafte, nur im technischphysikalischen Bereich akute Phänomen der Entropie selbst ideologisch. Mit der Entropie legitimiert er die Notwendigkeit des Komputierens, ohne aber dadurch den entropischen Teufelskreis durchbrechen zu können. Die Telematie ist ein Projekt, das dem Neuen und der Zukunft verzweifelt entgegenjagt, um sie zu ›vergegenwärtigen‹. Der damit verbundene Bruch mit der Geschichte ist zwar einerseits konsequent, da die Sicht auf das Neue frei wird, andererseits aber wäre auch ein genereller Komputations-Stop sowohl eine grundlegende Komputation als auch eine Zukunftsinvestition. Ungeprüft übernimmt Flusser auch die Gleichsetzung der Datenverarbeitungsqualität von Mensch und Apparat. Er ignoriert die Inkompatibilität von Komplexität und Struktur, weshalb er – ebenfalls konsequent – den historischen Menschen in den Sand setzt. Doch Flusser war Provokateur und Störenfried, auch weil er die
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Telematie an ein Ende dachte, an dem der Mensch ein anderer ist. Sosehr Flussers Schriften verführerisches Gift für eine alles andere als ›aufgeklärte‹ Kultur sind, so hält er als Gegengift die Warnung bereit, der Mensch verkümmere zu einem ›Anhängsel der Apparate‹. Die Gleichsetzung von Mensch und Apparat ist unter diesem Gesichtspunkt insofern eine Provokation, als Flusser die ›Synergie‹ von Mensch und Apparat, um die sich eine ganze Heerschar von Forschern bemüht, nur kommentiert. Da Flusser erkennt, daß die Gleichschaltung von Mensch und Apparat als ›Anlage des gegenwärtig laufenden Programms‹ automatisch auch die Nutzer gleichschaltet, fordert er unermüdlich dazu auf, aktiv zu werden und die Tasten der Terminals verantwortungsbewußt zu drücken. – Die »Technik ist gegenwärtig eine zu erste Sache, um Technikern überlassen werden zu können« (1990, 56). Ob der Zeitgenosse überhaupt fähig ist, Verantwortung zu tragen, wird sich erst in der Reife der Nachgeschichte zeigen. Die Verantwortung voranzutreiben freilich gilt: »Der revolutionäre Umbau des gegenwärtigen Schaltplans der technischen Bilder in einen dialogischen, demokratischen setzt voraus, daß diesbezüglich ein allgemeiner Konsenus besteht. Die Leute müssen es wollen« (ebd.). Sogar der zum Nutzer mutierte Rezipient aber begnügt sich mit ›Massenkultur‹, denn die ›Leute wollen von den Bildern zerstreut werden‹ (vgl. 56f) – eine Tatsache, die jedwede Zukunftseuphorie trübt und sogar Flusser zum Pessimisten macht: »Die Menschen werden wahrscheinlich schlechter, aber die Technik wird besser ... Der Mensch verdient kein Vertrauen ... Ich finde den Menschen überhaupt nicht sympathisch« (1996, 222ff). Nicht die Technik also ist das Problem, sondern der Umgang mit ihr.1 Die Telematie ist kein Technologiepark, der im menschenleeren Raum installiert wird. Umso wichtiger sind die Bemühungen, Programm und Lebenswelt, Komplexität und Struktur zu entwirren und die Wahrnehmung als körperliche Aktivität zu ihrem Recht kommen zu lassen. Erst dann wird die Nachgeschichte zu einer 1 Die Schlußworte seines ›Ins Universum der technischen Bilder‹ zeigen, in welcher Verantwortung der Bilder klonende Komputator steht: »Was dieser Essay zu erzählen versucht hat, ist eine Fabel. Er erzählt von einem fabelhaften Universum ... er erzählt davon voller Hoffnung und zugleich mit Furcht und Beben. Denn die Fabel, die er erzählt, ist eine Katastophe, so wie sie daran ist, aus ihrer Schale zu brechen. Und diese Schale sind wir« (Flusser 1990, 139).
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›wahrscheinlichen Zukunft‹, in der es noch Menschen gibt. Mit Kamper wird deutlich, daß eine unreflektiert an die Apparate gebundene Wahrnehmung einerseits mit Blindheit bestraft wird, daß die Wahrnehmung aber andererseits womöglich bereits fortgeschrittener ist, als es ihr Denken weiß: Die Telematie wartet auf bessere Zeiten, sie wartet auf ihr Gewahrwerden unter nachgeschichtlichen Bedingungen. Solange sie aber wahrnehmungstaktisch nur die Verlängerung des Alten feiert und den sinnesakrobatischen Sprung verweigert, gilt Flussers paradoxer Ratschlag: »Eine nicht zu unterschätzende Leistung müssen wir vollbringen, nämlich eine Zukunft zu lieben, die dabei ist, uns aufzufressen. Und zwar ... im vollen Bewußtsein des Aufgefressenwerdens« (1990b, 106).