TERRA ASTRA 138
Das Delta-Schiff von Frank Reichardt
In Ngon’chylla wurde der Große Gong geschlagen. Die Stadttore wu...
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TERRA ASTRA 138
Das Delta-Schiff von Frank Reichardt
In Ngon’chylla wurde der Große Gong geschlagen. Die Stadttore wurden geschlossen. Wer jetzt noch in dem Dschungel vor den Bronzetoren weilte, mußte selbst sehen, wie er die Nacht im Bereich der Saurier, Dolchtiger, Säbelzahnvögel und fleischfressenden Pflanzen überlebte. Sanvor IV war eine Urzeitwelt, von den Acht Städten abgesehen. Als die Doppelsonne über dem roten Blättergewirr des Dschungels versank, kreiste ein Säbelzahnvogel über der Stadt. Die geflügelte Bestie stürzte herab, als sie den blinkenden Helm eines der Wächter sah. Hundert Doppelarmspannen über der Mauer, den würfelförmigen Häusern, Kuppelbauten und Hütten kreischte der Vogel schrill auf, als sei er in ein ihm feindliches Medium eingetreten, das ihm Qualen bereitete. Taumelnd strebte er dem nahen Dschungel zu. Wenige Doppelarmspannen über der Mauerkrone, jetzt schon fast außerhalb der Stadt, beschrieb der Säbelzahnvogel eine parabolische Kurve und krachte mit dem häßlichen Kopf gegen eins der bronzenen Tore. Die zweite Hälfte der Doppelsonne ging unter; Nacht fiel über Sanvor IV. Der junge Mann, auf einem Hügel im roten Meer des Dschungels stehend, hatte die Szene mit angesehen. Er wußte, daß nichts und niemand die Wächter bewegen konnte, jetzt noch einmal die Tore zu öffnen. Das hieß, daß er die Nacht im Dschungel verbringen mußte. Gann, so hieß der junge Mann, trug einen glänzenden Brustharnisch und eisenverstärktes Lederzeug um die Hüften. Seine muskulö-1-
sen Beine waren nackt, an den Füßen hatte er Schnürsandalen. Sein braunes Haar fiel bis auf die Schultern; sein sonnverbranntes Gesicht war markant. Gann trug ein Kurzschwert an der Seite und einen Bogen über der linken Schulter, einen Köcher mit Pfeilen über dem Rücken. Zudem hatte er in einem Kunststoffhalfter am Waffengürtel einen langläufigen Nadler, dessen Magazin dreitausend Explosivprojektile faßte. Gann hörte das Röhren brünstiger Saurier aus dem roten Dschungel. Es war ihm klar, daß er nur eine Chance hatte, am Leben zu bleiben: Er mußte in den Todesbezirk, jenes Gebiet, das sogar die Saurier mieden, die sonst keinen Gegner fürchteten! Der nächtliche Dschungel erwachte. All die Räuber, die tagsüber schliefen, gingen auf Jagd und Nahrungssuche. Gann lief über eine Lichtung mit hüfthohem Pflanzenbewuchs, fand mehr instinktiv in der Dunkelheit den Pfad, von dem er wußte, daß er ihn in anderthalb Stunden pausenlosen Dauer lauf es zu den Grenzen der Todeszone führen würde. Gann lief in einem leichten, lockeren Trab. Durch Lücken in dem Laubdach der Dschungelriesen sah er den Himmel mit seinen Sternkonstellationen. Sanvor IV war der vierte Planet eines Sonnensystems im Orionnebel. Die stärksten Zusammenballungen der interstellaren Materie ließen sich mit bloßem Auge durch die Atmosphäre erkennen. Sanvor IV hatte 1,3-fache Erdgravitation, drehte sich in achtundzwanzig Stunden zu je fünfzig Minuten um die eigene Achse und umkreiste in 680 Tagen einmal die Doppelsonne. Das waren die Daten, nach denen Gann lebte und sich orientierte. Er kannte es nicht anders, denn er hatte, seit er bewußt denken konnte, auf Sanvor IV gelebt. Vor langer Zeit, wenige Generationen nach der Herkunft der Urväter vom Himmel, war eine andere Zeitrechnung in Gebrauch gewesen, doch die war lange schon vergessen. Vor sich hörte Gann ein Krachen und Bersten. Er preßte sich eng an einen Baumstamm, verschmolz mit seinem Schatten. Ganns scharfe Augen konnten die Dunkelheit durchdringen. Der junge Mann hörte, -2-
wie Bäume zur Seite gebogen wurden, wie Äste brachen. Dann walzte ein unförmiger Körper über den Pfad. Vier Doppelarmspannen hoch und fast ebenso breit, langgestreckt, mit achtzig Beinpaaren. Es war eine Walzenraupe, eines jener unersättlichen Untiere, die selbst Saurier angriffen. Die Walzenraupe mußte hinter einer Beute her sein, denn sie verhielt nicht, um mit ihren scharfen Hörmembranen auf jedes Geräusch in ihrer Umgebung zu lauschen. Die Bestie hätte normalerweise sicherlich Ganns Herzschlag gehört und wäre über ihn hergefallen. Der Gesichtssinn der Untiere war schlecht, ein Geruchssinn nicht vorhanden. Dafür aber war das Gehör ausgezeichnet. Als das Krachen der durch den Urwald brechenden Walzenraupe in der Ferne verstummte, eilte Gann weiter. Er lief eine Stunde. Der Schweiß brach ihm aus unter dem Brustharnisch, lief über seinen muskelbepackten Körper. Doch es war dieser Brustharnisch, der Ganns Leben rettete. Ein zwei Männerfäuste dicker Kopf schnellte vor ihm aus dem Blättergewirr, ehe er reagieren konnte. Scharfe Zähne krachten gegen die Panzerplatte, konnten sie aber nicht durchdringen. Die Hornschlange stieß ein giftiges Zischen aus. Gann sprang zurück. Ein zweites Mal konnte ihn die Hornschlange nicht überraschen. Er wich geschmeidig zur Seite, als der Hammerkopf wieder vorstieß, schlug mit dem Schwert zu und trennte den Kopf mit einem Streich vom Rumpf. Gann eilte weiter. Er wußte, daß er nicht lange an einer Stelle bleiben durfte, wenn er am Leben bleiben wollte. Der Boden begann unter seinen Füßen zu schwanken. Der Pfad führte über trügerisches Sumpfgebiet. Gann lief schneller. Sein Atem ging stoßweise. Sein Herz hämmerte. Er hörte ein Rascheln im Schachtelhalmgras, aber er konnte auf dem unsicheren Boden nicht stehenbleiben. Er hetzte vorwärts. Im letzten Augenblick erst vernahm er das Pfeifen der Lederhautflügel des im Sturzflug niederstoßenden Säbelzahnvogels. Im Laufen sah er über die Schulter und erblickte den keilförmigen Schatten über -3-
sich. Gann ließ sich fallen und machte eine Rolle über den schwankenden Untergrund. Nur in Bewegung bleiben! Er öffnete das geschlossene Halfter des Nadlers, während der Säbelzahnvogel über ihn hinwegzischte, zog die Waffe hervor. Gann kam auf die Beine, eilte weiter. Er stellte Dauerfeuer ein. Als der Säbelzahnvogel wieder niederstieß, ließ er sich fallen und jagte eine Garbe Explosivprojektile in den über ihn dahinsausenden Urzeitvogel. Der stürzte tot ins Schachtelhalmgras. Gann hatte keine Zeit, sich über seinen Sieg zu freuen. Er mußte weiter, mußte die Halbinsel im Morast und damit die Todeszone erreichen. Er behielt den Nadler in der Hand. Es raschelte im Schilf. Gann wußte, daß dort etwas ihm den Weg abschneiden wollte, und er rannte, so schnell er konnte. Wenige Armspannen vor dem Angreifer kam er gerade noch vorbei. Hinter ihm teilte sich das schulterhohe, scharfkantige Gras, und ein breiter Echsenkopf mit doppelten Zahnreihen schaute hervor. Die Bestie züngelte hinter Gann her, machte sich an die Verfolgung. Gann rannte um sein Leben. Er erreichte die Urwaldriesen der Halbinsel und tauchte in ihren Schatten. Doch die Echse blieb hinter ihm. Gann sah den gezackten Rückenkamm. Er wollte in Deckung gehen, den Nadler in Anschlag bringen und einige Projektile in den Echsenrachen jagen, da hörte er Baumstämme krachen. Er lauschte. Kein Zweifel, da kam ein riesiger Saurier auf die Halbinsel, ein Untier, das die Sumpfechse mit einem einzigen Biß zermalmen konnte. Gann sah den hochaufgerichteten Körper gegen den hellen Himmel, die verkümmerten Vorderbeine und den großen Kopf mit den langen Zähnen. Dieses Ungetüm konnte kein Nadler fällen, und so blieb Gann nur die Flucht. Er rannte in östlicher Richtung zwischen den Bäumen hindurch. Der Saurier und die Sumpfechse waren auf seiner Spur. Etwas warnte Gann, weiterzulaufen, denn hier begann die geheim-
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nisvolle Todeszone, doch der junge Mann hatte keine andere Wahl, er mußte in diesen Bezirk eindringen. Hinter Gann verhallte schließlich das Krachen der Bäume, Büsche und Äste. Der Flüchtende blieb stehen und versuchte sich zu orientieren. Plötzlich rauschte etwas in seinem Gehirn, leise zunächst, dann anschwellend, und schließlich hallte eine Stimme in ihm wider: „Hier Robot-Positron Delta Eins. Hier Robot-Positron Delta Eins. Identifizieren Sie sich. Geben Sie Erkennungsmeldung und Kode.“ Gann stand wie angewachsen. Er sah sich um, aber da war niemand, nichts. Er blieb an der Stelle, fast eine Stunde lang. Erst dann hörte er wieder die geheimnisvollen Worte in seinem Innern. Die gleichen Worte, die gleiche Stimme, seelenlos, ohne Modulation. Erst nach Mitternacht wagte Gann sich weiter vor. Er schlich zwischen den mächtigen Baumriesen hindurch und näherte sich dem Zentrum der Todeszone. Er stieg über armdicke Lianen und Schlingpflanzen, lief zwischen gigantischen Farnen hindurch. Tierisches Leben, das ihm gefährlich werden konnte, gab es hier nicht. Fast hätte Gann die doppelfaustgroßen Blüten auf dem Boden übersehen, deren Ring anzeigte, daß sich dort eine Caraya befand, eine fleischfressende Pflanze, die einen Mann verzehren konnte. Gann umging den Ring der weißen Blüten. Wieder hörte er jene modulationslose Stimme: „Hier Robot-Positron Delta Eins. Erste und letzte Warnung. Bei weiterem Vordringen ohne Identifikation und Kode erfolgt Blasterkanonenbeschuß.“ Mit all diesen Begriffen wußte Gann nichts anzufangen. Er kannte nicht einmal die richtige Bezeichnung für seinen Nadler. Es war ihm aber klar, daß ein Beschuß nichts Angenehmes sein konnte. Deshalb zog er sich zurück. Am Rande der Todeszone konnte er in Sicherheit den Morgen abwarten. Bei Tageslicht wollte er nach Ngon’chylla zurückkehren. Gann streckte sich unter einem Baum aus. Er konnte lange nicht einschlafen. Zu viele Gedanken gingen ihm im Kopf herum. Wer war -5-
er, er, das Monstrum Gann, der Ausgestoßene von Ngon’chylla» der Adoptivsohn des Bettlerkönigs Rahman Tak, dessen Äußeres für alle Sanvorer eine stete Quelle des Schreckens und Widerwillens bedeutete? Was hatte es mit der Todeszone auf sich, und woher kam jene Stimme in seinem Gehirn? In regelmäßigen Abständen von weniger als einer Stunde schreckte die Stimme Gann aus seinem Dämmerschlaf. Immer waren es die gleichen, für Gann unverständlichen Worte: „Hier Robot-Positron Delta Eins. Hier Robot-Positron Delta Eins. Identifizieren Sie sich. Geben Sie Erkennungsmeldung und Kode.“ * Im ersten Morgenlicht verließ Gann die Todeszone. Diesmal ließ er sich mehr Zeit. Tagsüber schliefen die meisten Untiere, und er brauchte sie nicht zu fürchten. Mehr als zwei Stunden später stand er wieder auf dem Hügel, von dem aus er am Tag zuvor das Schließen der Bronzetore beobachtet hatte. Drei Tore gab es an der Westfront der Zwei-Millionen-Einwohner-Stadt. Gann beobachtete, wie aus den mittleren Tor ein Zug von Jägern und Sammlern kam. Er lief vom Hügel zu der Höhle, in der seine Ausrüstung versteckt lag. Zwischen den Wurzeln eines Urwaldriesen hatte er seinen roten, weiten Umhang, den Grabstock und den Flechtkorb mit Wurzeln und Knollen, die er schon am Tag zuvor gesammelt hatte, verborgen. Gann schnallte den Nadler unter der Achsel fest, wo er unter dem Umhang nicht so leicht entdeckt werden konnte. Dann ging er in dem roten Gestrüpp in Deckung. Mit seinem roten Umhang fiel er kaum auf. Die Jäger und Sammler zogen vorbei. Es waren zweihundert. Zu seiner Erleichterung sah Gann, daß sie nur von zwanzig sanvorischen Häschern des Gouverneurs begleitet wurden, nicht von den großen, metallenen Kämpfern, die als unbesiegbar galten.
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Als sie alle vorbei waren, wartete Gann geduldig drei Stunden. Er hatte Warten gelernt, denn viele Männer waren vor seinen Augen durch Übereile gestorben. Chon, Trychto, Snark und drei andere des Freiheitsbundes, die ihn auf seinen Streifzügen in den Katakomben, im Tempelbezirk und im Dschungel begleitet hatten. Die anderen Freiheitsbündler redeten zwar mehr als je zuvor, doch keiner wagte es mehr, mit Gann loszugehen. Nach Ablauf der selbstgesetzten Frist pirschte sich Gann an den Ring der Sammler heran. Die Häscher unterhielten sich miteinander. Sie paßten nie besonders auf. Es war schon oft vorgekommen, daß ein Dolchtiger oder ein Säbelzahnvogel über einen Jäger oder Sammler hergefallen war, oder daß einer der Sanvorer auf eine im Unterholz schlafende Walzenraupe, eine Echse oder gar einen Saurier stieß. Bis die Häscher dann hinzukamen, war es meist zu spät. Sie bekümmerte das nicht, solange nicht einem der ihren etwas zustieß. Wozu auch, Sanvorer gab es genug in Ngon’chylla und den anderen Städten. Gann trat aus seiner Deckung, ging auf eine Gruppe von zehn Häschern zu. Drei von ihnen rissen die Nadler hoch. Gann zeigte ihnen beschwichtigend die leeren Handflächen. Er grinste. Er wußte, daß offener Widerspruch oder Trotz die Häscher reizte, und besonders Gann konnte es sich nicht erlauben, einen Häscher herauszufordern. So spielte er die Rolle des plumpen, wenig intelligenten Burschen, wenn es auch manchmal in ihm kochte, weil er zur Zielscheibe roher Spaße wurde. Für die Häscher war Gann ein Monstrum, ein primitiver Kraftprotz. „Das ist Gann“, sagte einer der Häscher. Sie steckten die Nadler weg, die Waffen, die außer ihnen laut Gesetz kein Sanvorer tragen durfte. Hätten sie von Ganns Nadler gewußt – es wäre auf der Stelle sein Tod gewesen. „He, Gann, bist du schon wieder fertig mit deinem Soll?“ Gann zeigte ihm den Korb mit den Wurzeln und Knollen. In seiner Nähe gruben Männer und Frauen den üppigen Boden um, suchten und wühlten. Die Zwei-Millionen-Stadt brauchte eine Menge Nah-7-
rung, nicht alles konnte angebaut oder .gezüchtet werden. Deshalb mußten Tag für Tag Jäger- und Sammlerkommandos hinaus in den mörderischen Dschungel. Der Häscher in seiner blauen Robe mit dem silbernen Brustharnisch und dem schwarzen Helmbusch war einen Kopf kleiner als Gann. Seine Haut war – wie die Haut aller Sanvorer – fast schwarz, so daß Ganns sonnverbrannte Haut dagegen hell wirkte. Der Häscher war wesentlich breiter als Gann, dessen braunes Haar ebenfalls eine Rarität darstellte. Das Haar der Häscher, der Jäger und Sammler war tief schwarz und lockig, nicht glatt wie das von Gann. Zudem gab es auf dem Planeten zwar Männer und Frauen mit lohgelben, grünen, schwarzen und sogar rötlichen Augen, aber niemand hatte blaue Augen wie Gann. Ja, er war anders, ein Monstrum. Ein zweiter Häscher sah in Ganns Korb. „Das Monstrum findet immer die besten Sachen, und das in der kürzesten Zeit“, knurrte er. „He, Bleichhaut, kannst du Schwämme und Wurzeln riechen wie ein Schwein?“ Gann grinste freundlich weiter. Er schlug sich mit der Faust auf die Brustplatte des Harnischs, daß es dröhnte. „Ich bin sehr stark und sehr klug“, sagte er absichtlich prahlerisch. „Ich kenne die besten Stellen für die Eßgewächse.“ „Laß Gann in Ruhe“, sagte ein dritter Häscher, „er ist in Ordnung. Ich setze bei jedem Kampf in der Arena auf ihn, und ich habe manchen Shannak an ihm verdient. Halte dich wacker bei den nächsten Spielen, Gann. Ich werde wieder auf dich setzen.“ „Ich werde sehr gut kämpfen“, sagte Gann. Der Häscher boxte ihn freundschaftlich gegen den Arm. Doch der zweite, der Bösartige, war noch nicht zufrieden. „Mit welcher Gruppe bist du aus der Stadt gekommen, Bleichhaut?“ fragte er lauernd. „In unserem Zug habe ich dich nicht gesehen.“ „Ich kam mit dem Zug aus dem Osttor“, antwortete Gann. „Aber hier an der Sammelstelle eures Zuges kenne ich bessere Fundstellen.“ -8-
Der Häscher wollte aufbrausen, doch der dritte, der auf Gann wetten wollte, mischte sich ein. „Laß ihn in Ruhe! Was kümmert es uns, wo er seine Eßgewächse sammelt. Vergiß nur nicht, dich am richtigen Tor zurückzumelden. Komm, Toruk, gib ihm das grüne Band.“ Toruk wollte nicht, aber der Wettbegeisterte sagte: „Mach keinen Ärger! Gann muß trainieren, seinen Körper abhärten und seine Reflexe verbessern, denn die Spiele fangen in drei Dekaden an. Halte ihn nicht auf mit deiner Pedanterie, ja?“ Zu Gann gewandt, sagte er: „Du bist der beste Kämpfer, den ich in der Arena je sah. Wie alt bist du jetzt?“ „Elf Sanvorjahre.“ „Das ist sehr jung. Wenn du fünf weitere Sanvorjahre und die Zeit der Spiele in der Arena überlebst, dann wirst du der größte aller Gladiatoren sein. Größer noch als Tarras Shan.“ „Ein Monstrum als König der Gladiatoren“, sagte der Häscher, der Gann feindlich gesinnt war, abfällig. „Ich hoffe, daß er beim nächsten Kampf in Stücke gehackt wird. – Los, verschwinde mit deinen Eßgewachsen, damit ich dich nicht mehr zu sehen brauche, du Mißgestalt!“ Der Häscher gab Gann eine grüne Armbinde. „Vielen Dank, edle Herren“, sagte Gann, während er sich entfernte. „Einen schönen Tag wünsche ich euch noch allen, edle Herren.“ „Hau ab!“ Die Häscher kümmerten sich nicht weiter um Gann. Er band die grüne Armbinde um den Oberarm. Ohne die grüne Binde durfte kein Jäger oder Sammler nach Ngon’chylla zurückkehren. Wer mehrmals sein Soll nicht zusammenbrachte, der wurde einfach draußengelassen. Eine Nacht vor der Stadt hatte noch keiner überlebt, den Gann kannte. Nur ihm selbst war das gelungen, und nur mit viel Glück. Gann legte keinen Wert darauf, die Nacht im Dschungel zu wiederholen. Er ging den Weg entlang zur Stadtmauer und weiter bis zum Osttor. Als er auf die zehn Wächter zuging, sah er Rahmya aus dem -9-
Dschungel kommen, den Korb über der Schulter. Gann ließ die Wächter, Häscher mit blauen Umhängen wie die Begleiter der Jagdund Sammelkommandos, in seinen Korb sehen und gab die grüne Armbinde ab. Einer der Wächter griff in den Korb, nahm eine rötliche Pilzknolle heraus und biß hinein. „Geh zur Sammelstelle“, sagte er zu Gann. Zum Glück hatte Gann genügend gesammelt, so daß er nicht auf das Gewicht der Pilzknolle angewiesen war. Er ging zur Waage. Er war der erste Sammler, der in die Stadt zurückgekommen war. Gann sah, daß die drei Männer an der Waage mit einem gelbgekleideten Priester sprachen. Gann blieb im Hintergrund, hielt den Blick zu Boden gesenkt. Die Doppelsonne brannte heiß vom Himmel; er schwitzte. Der Priester war klein, alt und fett. Sein krauses, schwarzes Haar lichtete sich stark. Er trug einen Nadler am Gürtel, und- als Abzeichen seiner Würde – einen armlangen, weißen Stock. Der Stock diente auch einem praktischen Zweck: Er teilte Elektroschocks aus, die einen Mann schreiend zu Boden gehen ließen. Der Priester hatte sein Gespräch mit den Männern an der Waage beendet. Er wandte sich Gann zu. „He, du, komm her!“ Der große, junge Mann stellte sich vor den Priester, der ihm nicht einmal bis zu den Schultern reichte. Der fette, kleine Angehörige der Oberschicht sah zu Gann empor. „Was für ein häßliches Geschöpf bist du denn?“ fragte der Priester überrascht. „Ich wußte gar nicht, daß es Wesen wie dich in Ngon’chylla gibt.“ „Ich bin ein Monstrum, hoher Herr“, erwiderte Gann ruhig. „Meines Wissens bin ich der einzige meiner Art in der Stadt. Wie es sich in den anderen Städten verhält, kann ich nicht sagen.“ „Habe ich dich danach gefragt?“ fuhr ihn der Priester scharf an. „Zu welcher Kaste gehörst du?“
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„Ich bin Paria, hoher Herr. Ein Adoptivsohn des Bettlerkönigs. Während der Spiele bin ich Arenakämpfer.“ „Ah, jetzt weiß ich, wer du bist“, sagte der Priester eifrig. „Jenes Monstrum, das im Vorjahr den Gladiator Gorth schon in den Vorkämpfen besiegte und alle Durchgänge, selbst die gegen die Bestien, siegreich überstand. – Glaubst du, daß du dieses Jahr wieder so erfolgreich bist?“ „Ich weiß es nicht, hoher Herr.“ „Wir werden sehen. Nimm den Doppelkorb dort und trag ihn mir in den Tempelbezirk. Ein Priester des Göttlichen Gouverneurs schleppt keine Lasten wie ein gemeiner Bürger. Los, komm!“ Der Priester gab den Männern an der Waage einen Wink, daß sie Ganns Tagesausbeute nicht nachzuwiegen brauchten. Gann stellte den Korb auf die Wage. Aus dem Depot war ein mit Tragriemen verbundener Doppelkorb geholt worden, der erlesene Shamund Shikalwurzeln enthielt, ferner poröse Steinschwämme und schwarze Baumwucherer, Delikatessen, wie sie sich nur die Reichsten und Vornehmsten leisten konnten. Gann nahm den Korb über die Schulter und folgte dem kleinen, gelbgekleideten Priester des Göttlichen Gouverneurs der hunderteins Namen. Auf den engen Straßen von Ngon’chylla herrschten Lärm und Gedränge. Zweirädrige, plumpe Karren, von blaufelligen Trams mit gezirkelten Hörnern gezogen, rumpelten dahin, mit Baumaterial, Stoffen, Eßwaren aller Art und Handelswaren beladen. Die Einwohner der aus allen Nähten platzenden Zwei-Millionen-Stadt drängten und stießen sich im Straßengewimmel. Nur zwei Gruppen von Sanvorern wurde bereitwillig Platz gemacht: den gelbgekleideten Priestern und den Parias mit ihren leuchtend roten Umhängen. Die Parias transportierten Abfälle zu den Müllplätzen und verrichteten andere niedere Arbeiten. Viele von ihnen waren Bettler. Die Häuser der Stadt, aus grauem, porösem Lavagestein gemauert, waren zumeist drei- bis vierstöckig. Sie hatten flache Dächer mit - 11 -
Mauerbrüstungen, kleine, lukenartige Fenster, um der Hitze den Eintritt zu verwehren, Balkons mit kunstvollen Säulengeländern und aus Stein gehauene Köpfe über den Türen. Der kleine Priester schritt würdevoll durch den Lärm und das Gedränge. Zu den beiden Seiten der Straße hatten Händler ihre Stände aufgeschlagen und priesen lautstark ihre Waren an. Gräßlich entstellte und verstümmelte Bettler hielten den Vorübergehenden ihre flachen Bronzeschalen hin. Alle schrien, jammerten, feilschten, brüllten, schimpften, keiften und redeten durcheinander. Vor dem Priester bildete sich eine Gasse. Als ein breitschultriger Tramstreiber nicht schnell genug aus dem Weg sprang, legte er die Hand an den weißen Stock. Der Mann floh zur Seite, warf sich mit dem Gesicht auf die Erde und entschuldigte sich wieder und wieder. Der Priester begnügte sich damit, ihm einen derben Tritt zu versetzen. Am Rande des Tempelbezirks ließen der Trubel und das Gedränge nach und auch der Geruch nach Schweiß und faulenden Abfällen. Hier gab es gepflasterte Straßen, schattige Alleen. In langgestreckten Hallen befanden sich nicht nur gelagerte Güter, sondern auch Maschinen, von denen kein Sanvorer sich eine Vorstellung machen konnte. Gann war einer der wenigen Kühnen, die in nächtlichen Streif zügen die Geheimnisse des Tempelbezirks auszukundschaften versucht hatten. Er erinnerte sich genau, daß er oft in flachen Maschinenhallen, aus einem festen, ihm unbekannten Material erbaut, gestanden und staunend die langen Reihen der Maschinenanlagen und die vielen Lichter auf den Kontroll- und Schaltpulten gemustert hatte. In den Maschinenhallen hing ein starker Ozongeruch in der Luft. Aggregate summten. Dann gab es im Tempelbezirk noch innerhalb umzäunter Areale Maschinen- und Kraftanlagen, allesamt gut gegen Sicht von oben getarnt. Gann war einmal durch einen unterirdischen Tunnel in eines dieser Areale vorgedrungen. Er hatte gesehen, wie blaue Funken von metallenen Spindeln über Kondensatoren, wie sie - 12 -
von den Priestern und Adepten genannt wurden, auf einen schwarzen Ball übergeleitet wurden, der sie aufsog. Nach einiger Zeit verschwand der schwarze Ball, ein anderer erschien an seiner Stelle. Gann hatte bei seiner Exkursion weder einen Priester, noch einen kahlgeschorenen Adepten oder einen der metallenen Kämpfer, die nur dem Göttlichen Gouverneur gehorchten, in der .Energieanlage angetroffen. Viele der Häuser im Tempelbezirk bestanden aus Metallen, die es in der Stadt nicht gab, und aus unbekannten Kunststoffen. Es wurde gemunkelt, daß manche der Gebäude, insbesondere die im Zentrum des Tempelbezirks, in uralter Zeit von den vom Himmel kommenden Vorfahren der Sanvorer errichtet worden waren. Gann glaubte diese Abstammungslehre nicht, er glaubte auch nicht an die Gottheit des Gouverneurs. Die ganz unten und die ganz oben glauben selten an die Götter der Masse. Der Priester blieb vor einem hohen Gebäude im Zentrum stehen. Es war eines der höchsten Gebäude von Ngon’chylla, ein fünfzigstöckiger Wohnsilo aus Eternitbeton. Diesen weißen, keinen Erosionserscheinungen unterworfenen Stoff gab es außerhalb des Tempelbezirks nicht. Gann konnte einen Blick auf den Tempelpalast des Gouverneurs werfen, einen Gebäudekomplex, den eine Halbkugel überragte, die im Licht der Doppelsonnen blitzte und flimmerte. Gann sah ein halbes Dutzend metallener Kämpfer vor einem spitz zulaufenden Metallbogen, der vor dem Gebäudekomplex anscheinend auf freiem Terrain in der flimmernden Luft errichtet war. Einmal, bei einem Aufstand während einer Hungersnot nach einer überlang andauernden Regenzeit, hatte Gann einen metallenen Kämpfer im Einsatz gesehen. Er benutzte keine Waffe, doch wo er sich einen Weg durch die Menge gebahnt hatte, blieb eine Gasse von Toten und Verletzten zurück. „Was stehst du da und glotzt?“ fuhr der Priester Gann an. „Schaff die Körbe ins Haus. Ich stelle dir einen Passierschein aus, und du scherst dich wieder weg.“ - 13 -
Gann folgte dem Priester ins Haus. Der ging auf eine Tür zu, drückte einen Knopf. Nach einer Weile glitten die Türflügel auseinander. Der Priester und Gann traten in eine metallene, unmöblierte Kabine. Wieder drückte der Priester einen Knopf. Gann hätte nicht sagen können, ob die Kabine sich bewegt hatte. Doch als eine Sekunde später die Tür wieder auf glitt, standen sie vor einem Flur, statt vor der Halle, die sie verlassen hatten. Der Priester bedeutete Gann, ihm zu folgen. Von dem langen Gang zweigten viele Türen ab. Der Priester trat vor eine, drückte seinen Daumen auf eine rot markierte, handtellergroße Fläche. Die Tür öffnete sich. Gann sah einen luxuriös eingerichteten Raum. Der Zweck vieler Einrichtungsgegenstände, so zum Beispiel der einer dunklen, in die Wand eingelassenen Scheibe mit mehreren Knöpfen darunter, war Gann fremd. Es gab zwei übereinander befindliche Bettstellen in dem Raum und eine breite Liege. Auf der oberen Bettstelle lag ein schlafender Mann. Er erwachte, als er die Eintretenden hörte, und blinzelte sie schläfrig an. „Ich habe ein paar von den besseren Wurzeln und Schwämmen“, sagte der Priester, mit dem Gann gekommen war. „Es ist nicht zum Aushalten. Um alles muß man sich selber kümmern. Möchte wissen, wer unsere Rationen aussucht. Die Vegetar-Nahrung ist manchmal völlig ungenießbar.“ „Da hast du recht“, grunzte der Mann auf dem Bett. „Wer ist das denn?“ „Ein Sammler. Ein Monstrum. Wo hast du die Passierscheine hingelegt?“ „Dort in die Schublade.“ Beim Eintritt in den Raum hatte Gann sich tief verneigt. Er schwieg, da keiner das Wort an ihn richtete. Er sah sich um. So lebten also die Priester, die höchste Kaste von Sanvor IV, die Auserwählten. Gemessen am Lebensstandard der übrigen Bevölkerung, die in bedrückender Enge in der ursprünglich für fünfhun-
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derttausend Einwohner vorgesehenen Stadt vegetierte, lebten die Priester im Luxus. Auf einen Wink des Priesters stellte Gann die Körbe in die Ecke. Der kleine, gelbgekleidete Priester zog eine quadratische Folie aus der Schublade, fragte Gann nach seinem Namen und schrieb ihn mit einem Stift darauf. Dann drückte er seinen Siegelring auf die Folie. Damit war der Passierschein ausgefertigt. Wie Gann wußte, holten die Priester sich öfter Frauen und Mädchen in ihre Unterkünfte. Diese brauchten später einen Passierschein, um den Tempelbezirk wieder verlassen zu können. Gann schob den Passierschein in die Tasche an der Innenseite des Umhangs. Da leuchtete die dunkle, in die Wand eingelassene Scheibe auf, wurde hell. Das Symbol des Gouverneurs, die blaue Spirale, erschien, diesmal als dreidimensionale Projektion einer spiralenförmig verlaufenden Schraubenlinie. Eine melodische Stimme sagte: „Alle Priester und Adepten der Klassen A, B und C müssen sich in einer halben Sanvorstunde zu einem Arbeitseinsatz an ihren Plätzen einfinden. Eine Landung und die Deportierung von fünftausend Sanvorern sind geplant. Die Durchsage wird in fünf Sanvorminuten nochmals wiederholt. Ende.“ Ein Glockenspiel, gleichfalls ein Kennzeichen des Gouverneurs, folgte den Worten. Die flache, konvexe Scheibe wurde wieder dunkel. „Schon wieder“, stöhnte der auf dem Bett liegende Mann. „In der letzten Dekade zwei Deportationen, jetzt wieder. Wenn das so weitergeht, können wir uns gleich als Aufseher in den Bergwerken anmelden. Viel mehr ist dort auch nicht zu tun.“ „Sie sollten viel mehr deportieren“, sagte der gelbgekleidete Priester. „Man kann nicht mehr in die Stadt gehen, ohne daß einem das Volk auf den Zehen herumtrampelt. Die Deportationen und die Sterblichkeitsrate in den Bergwerken genügen bei weitem nicht, um die Geburtenziffer auszugleichen. Die Gemeinen vermehren sich wie die Wühler.“
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„Dazu tragen wir auch unser Teil bei“, sagte der Mann auf dem Bett. Er bemerkte, daß Gann noch immer im Zimmer war. „Los, zurück in die Stadt“, herrschte er ihn an. „Geh die Treppe hinunter und halte dich nicht im Tempelbezirk auf, sonst schicke ich dir einen Robotwächter auf den Hals.“ Gann verneigte sich tief und ging. Am Ende des langen Ganges fand er die Treppe und stieg 42 Stockwerke tief hinab. Er verließ das Haus und ging geradewegs und ohne sich aufzuhalten in die Stadt zurück, wie es ihm befohlen worden war. Gann wollte den Tempelbezirk so schnell wie möglich verlassen. Nicht auszudenken, wenn eine Kontrolle den Nadler bei ihm fand! Die Durchsage, die Gann im Zimmer der beiden Priester gehört hatte, ging ihm im Kopf herum. Er war davon überzeugt, daß in dieser Nacht fünftausend Einwohner von Ngon’chylla spurlos verschwinden würden, wie schon so oft zuvor. Niemand wußte, was mit diesen Leuten geschah. Sie verschwanden bei Nacht, man sah und hörte nichts mehr von ihnen, als hätte es sie nie gegeben. Das und die mörderischen Bedingungen, unter denen im Untertagebau im Bereich der Stadt und außerhalb Metalle und Mineralien abgebaut wurden, waren die Hauptgründe, weshalb Gann gegen den Gouverneur und seine Herrschaft rebellierte. * Anderthalb Sanvorstunden später stand Gann vor dem baufälligen Rundbau, der ihm als Unterkunft diente. Er sah Rahmya am Brunnen im Hof. Für eine Sanvorerin war sie sehr groß und schlank. Ihr tiefschwarzes Haar fiel in Wellen über ihre Schultern, die Augen in dem dunklen Gesicht waren leuchtend grün. Wie alle sanvorischen Frauen und Mädchen trug Rahmya ein faltenreiches Gewand, das die rechte Brust freiließ. Bei den anderen Bettlern, die den Rundbau bewohnten, war Gann nicht beliebt. Er war das Monstrum, der Außenseiter. Wer mit ihm zu - 16 -
tun hätte, hieß es, würde früher oder später üble Schwierigkeiten bekommen. Hätte Rahman Tak, der Bettlerkönig, nicht die Hand über seinen Adoptivsohn gehalten, Gann wäre längst davongejagt oder hinterrücks erschlagen worden. Gann trat zu Rahmya. Sie lächelte ihn an, ihn, den Verachteten, Verabscheuten. Wie immer, spürte Gann ein Gefühl der Wehmut. Rahmya mochte ihn, mehr nicht. Nie hätte sie geduldet, daß er sich ihr näherte. Gann aber liebte sie, denn sie war das einzige weibliche Wesen, das keinen offenen Widerwillen ihm gegenüber zeigte. „Laß mich die Wassereimer ins Haus tragen“, sagte Gann, „sie sind zu schwer für dich.“ „Wo warst du die ganze Nacht?“ fragte Rahmya. „Rahman Tak hat auf dich gewartet. Warst du wieder in den Katakomben oder im Tempelbezirk?“ Sie hätte Gann nicht geglaubt, wenn er ihr erzählt hätte, wo er gewesen war und was er erlebt hatte. Deshalb antwortete er nur vage: „Ich war unterwegs.“ Schon früh hatte Gann gelernt, daß er keinem zuviel erzählen durfte, vor allem nicht die Wahrheit. Er fragte sich oft, welche Frau ein Monstrum wie ihn geboren hatte. Gann hatte seine Mutter nicht gekannt. Rahman Tak antwortete auf alle Fragen nur ausweichend, sie sei bei seiner Geburt gestorben. Über ihre Herkunft und ihre Person ließ er sich nicht aus. Gann trug die ledernen Wassereimer, die aus gegerbter Tramhaut bestanden, in den Rundbau. Rahman Tak hatte zwei Räume des Erdgeschosses und einen Kellerraum für sich und .seine beiden Adoptivkinder, Gann und Rahmya. Bei den beengten Wohnverhältnissen der Bettler, die sich zu fünft und zu sechst in einem Raum drängten, war das ein wahrhaft königlicher Luxus. Der König der Bettler reichte Gann nur zwei Handbreit über die Gürtellinie. Er hatte nur ein Auge, war beleibt und fast kahlköpfig, eine Seltenheit bei einem Sanvorer. Rahman Tak war so falsch, verschlagen und hinterhältig, wie ein durch Intrigen regierendes Oberhaupt der Bettlerzunft es sein mußte, aber auch von einer loyalen - 17 -
Liebe gegenüber Gann erfüllt. Seine Zuneigung – väterlicher Art – zu Rahmya kannte keine Grenzen. „Da bist du also wieder, Taugenichts“, sagte er, als Gann die Wassereimer in den engen, düsteren Raum mit den drei Lagerstätten schleppte. „Hast dich wieder herumgetrieben, die Häscher und die metallenen Kämpfer auf deine Spur gezogen, eh? Oder warst du gar bei diesen sogenannten Verschwörern, obwohl ich es dir verbot?“ Rahmya trat ein, machte sich an dem gemauerten Kochherd zu schaffen. „Ich war nicht bei den Verschwörern“, erwiderte Gann ruhig. „Doch nicht, weil du es mir verboten hast, Rahman. Ich bin alt genug, um mir nichts mehr verbieten zu lassen.“ „Narr! Du glaubst wohl, seit dir dieses Haarzeug im Gesicht wächst, das du jeden zweiten Tag mit dem Messer abschaben mußt, um nicht noch ungeheuerlicher zu wirken, brauchst du dir nichts mehr sagen zu lassen? Du wirst den armen, alten Rahman Tak, der dir Waisenkind Mutter und Vater zugleich war, noch ins Unglück bringen.“ Der fette Sanvorer richtete sein eines Auge zur rußgeschwärzten Decke, breitete die kurzen Arme aus. „Oh, Gouverneur und alle anderen Götter, womit habe ich einen solchen Adoptivsohn verdient? Rahmya ist die Freude meines Alters, mein Augenstern, wenn sie sich auch nicht entschließen kann, endlich einen Mann zu nehmen, obwohl viele einen hohen Brautpreis entrichten wollen“ – an dieser Stelle seufzte der Alte vernehmlich —, „aber er, er bringt mich noch ins Grab! Nicht genug, daß man ihn nicht betteln schicken kann, weil die Leute vor ihm davonlaufen, statt ihm Almosen zu geben; nicht genug, daß er von der Adeptenschule davonlief, weil die Zucht ihm zu streng war; mit Gewalt tut er alles, was der Gouverneur und die Götter verboten haben, um den armen, alten Rahman Tak ins Verderben zu stürzen.“ Gann kannte den Sermon. Er wußte auch, daß der „arme, alte Rahman Tak“ einer der reichsten Männer der Stadt war, daß ihm außer der Wohnung im Rundbau noch ein Luxusquartier im Bezirk der - 18 -
Reichen von Ngon’chylla mit Harem und Dienstboten zur Verfügung stand. Rahman Tak lebte nur weiter unter den Bettlern als ihr König, weil er die damit verbundene Macht und das Ränkespiel nicht missen wollte. Rahman Tak war lieber ein König unter den Bettlern und Ausgestoßenen als ein Unbedeutender unter den Reichen. Gann hörte sich die lange Klagerede des Alten daher ohne besondere Bewegung an. Nach einer Weile hatte Rahman Tak genug von seinem theatralischen Auftritt. Als Rahmya das Essen auf den Tisch brachte, einen würzigen, scharfschmeckenden, mit eßbaren Wurzeln, Schwämmen und sogar Fleisch versetzten Brei, vergaß Rahman Tak seine Empörung vollends. Mit einem breiten Löffel schaufelte er das Essen in den Mund, laut schmatzend. Nach dem Essen, als Rahmya das Geschirr abwusch, bebte plötzlich der Boden. Es waren nur sanfte Erdstöße, kein Grund zur Besorgnis. Durch das Wirken des Gouverneurs war Ngon’chylla stets von heftigen Erdstößen verschont geblieben. Was sich in der Stadt als sanftes Beben bemerkbar machte, entwurzelte im Dschungel Urwaldriesen, ließ breite Erdspalten aufklaffen, aus denen glutflüssige Lava quoll. Saurier und andere Urwelttiere rannten in panischer Furcht durcheinander, vergaßen für die Zeit des Erdbebens die Jagd und die naturgegebenen Feindschaften. Gann stand auf und blickte aus dem Fenster. In der Ferne sah er einen Rauchpilz und roten Feuerschein. Ein dumpfes Grollen ertönte. Dort draußen erfolgte wieder einer der zahlreichen Vulkanausbrüche. In der Nähe der Stadt gab es nur erloschene und stillgelegte Vulkane, was der Tätigkeit der metallenen Kämpfer zuzuschreiben war. Als die Doppelsonne sank – die kleinere Sonnenkugel hatte ein Fünftel der Größe der größeren und umkreiste diese, um sich selbst rotierend –, verließ Rahman Tak den Rundbau. Er murmelte etwas von „Geschäften, die einem armen, alten Mann die Nachtruhe rauben“, vor sich hin, doch Gann wußte, daß er sein Luxusquartier im Bezirk der Reichen aufsuchte. Dort würde er sich von seinen Dienern und Haremsweibern verwöhnen lassen. - 19 -
Gann begleitete Rahmya auf ihrem abendlichen Spaziergang. Im Slumbezirk war es auch für die Adoptivtochter des Bettlerkönigs gefährlich, sich nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straßen zwischen den verwahrlosten Rund- und Kuppelbauten, Hütten, Baracken und Ruinenhäusern zu wagen. Gann fürchtete niemanden, nur den Anblick seines mißgestalteten Gesichts im Spiegel, das ihm jede intime Beziehung zu Rahmya verbot. „Taneel und seine ganze Familie haben den Ruf gehört“, sagte Rahmya, während sie und der große Mann durch die von einem nächtlichen Leben erfüllten Straßen gingen. „Yoko aus dem unteren Block und noch drei andere, die ich kenne. Kannte“, verbesserte sie sich gleich darauf, denn sie würde keinen von ihnen wiedersehen. Gann dachte wieder an die Worte des Priesters, an die angekündigte Deportation. Niemand wußte genau, was der „Ruf“ war. Wer ihn hörte, ging zum Tempelbezirk und ward nicht mehr gesehen. Jeder fürchtete, den Ruf zu hören. Vor Guthors Taverne trat Anslag dem Mann und dem Mädchen in den Weg. Anslag war ein ehrgeiziger, junger Mann aus der Zunft der Diebe und Räuber, der Kronprinz des Zunftkönigs. Zudem gehörte er wie Gann zu den Verschwörern gegen den Gouverneur, und er hatte sich mehr als einmal erboten, den Brautpreis für Rahmya zu entrichten. Seine Augen verengten sich, als er sie in Ganns Begleitung sah. „Die Schöne und das Ungeheuer“, sagte er mit bösem Spott. „Rahmya steht unter meinem Schutz, du brauchst sie nicht zu bewachen, Gann. Niemand aus den unehrlichen Zünften wird es wagen, ihr ein Haar zu krümmen.“ „Vielleicht schütze ich sie vor dir“, erwiderte Gann. Aus der Taverne drang das Grölen der Zecher. Der Schein der Fakkeln in den bronzenen Haltern fiel durch die mit dünner Rohhaut bespannten Fensterluken. Schatten bewegten sich auf den erleuchteten Fenstervierecken.
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Aus den Augenwinkeln sah Gann zwei Männer im Schatten der Hausmauer. Er legte die Rechte auf den Griff des Kurzschwerts, das er als Arenakämpfer tragen durfte. Den Nadler hatte er abgelegt, doch auch ohne den fürchtete er keinen Gegner. „Wir treffen uns um Mitternacht wie vereinbart“, sagte Anslag. „Du kannst gehen, Gann, ich werde mich um Rahmya kümmern.“ „Wenn, dann soll sie mich selbst wegschicken“, antwortete Gann trotzig. Rahmyas Blick glitt von einem zum anderen. „Begleitet mich beide“, sagte sie nach einer kleinen Weile diplomatisch. Sie ging zwischen den beiden ungleichen Männern. Nur wenige Worte fielen. Jeder sah im anderen den Rivalen, den Gegner. Gann dachte wieder einmal an Rahman Taks Worte: „Wo drei Verschwörer zusammen sind, ist einer ein Träumer, einer ein Schwätzer und einer ein Spion des Gouverneurs.“ Anslag traute er alles zu. Er haßte den Kronprinzen der Diebes- und Räuberzunft, weil er in seinem Äußeren genau dem sanvorischen Schönheitsideal entsprach, wie Gann davon abwich. Anslag hatte eine breite, knorrige Gestalt, ein dunkles, kantiges Gesicht. Zudem trug er die schwarze Robe der obersten Unterkaste, war kein Paria wie Gann, den nur sein Einsatz als Jäger und Sammler im Dschungel vor den verhaßten Arbeitskommandos bewahrte. Anslag hatte auf dieser Welt alle Vorteile für sich. Nach einer Weile begann er mit Rahmya zu plaudern. Gann blieb einsilbig. Als sie zurückgingen, lud Anslag Rahmya und Gann zu einem Becher Wein in die Taverne ein. Gann widerstrebte es, mit seinem Widersacher zu trinken, doch Rahmya wollte sich das Treiben in der Taverne ansehen, und Gann mochte ihr dieses Vergnügen nicht verderben. Sie betraten die von Stimmengewirr erfüllte Taverne. Männer saßen an den Tischen, ließen den achteckigen Würfel rollen oder redeten und tranken nur. Leichtgeschürzte Frauen, die wesentlich mehr zeig- 21 -
ten als die traditionell freie Brust, schenkten Wein aus großen Tonkrügen in die Bronzebecher. Einige Frauen, Dirnen und Hetären der niedersten Klasse, saßen unter den Zechenden. Auf Guthors Wink räumte sein stummer Schankknecht den runden Tisch in der Ecke für die Neuankömmlinge. Ein Betrunkener flog hinaus, sein Kumpan suchte sich einen anderen Platz. Während er den kühlen Wein trank, waren Ganns Gedanken im Dschungel, in der Todeszone. Die Stimme in seinem Gehirn und das Bruchteile eines Augenblicks aufzuckende Licht, das einen Saurier vernichten konnte – waren das Kräfte, die der Macht des Gouverneurs unterstanden wie die Maschinen- und Energieerzeugungsanlagen und die anderen technischen Apparaturen der verbotenen Wissenschaften im Tempelbezirk, oder hatten die Dinge in der Todeszone mit dem Gouverneur nichts zu tun? Auf seinen nächtlichen Streifzügen in den Katakomben und im Tempelbezirk hatte Gann vieles gesehen, von dem sich der normale Sanvorer keinen Begriff machen konnte, doch so etwas wie in der Todeszone hatte er nie erlebt. Anslag bestellte für sich und Rahmya einen zweiten Becher. Gann lehnte ab. Er trank nie viel. Ein Außenseiter konnte es sich nicht erlauben, in berauschte Träume zu versinken. Am Nebentisch maßen zwei Männer ihre Kräfte im Armdrücken. Ihre Gesichter verzerrten sich vor Anstrengung. In der Mitte der Tischplatte waren zu beiden Seiten der Männer je zwei Dolche eingerammt, die ein zur Mitte hin offenes V bildeten. Der Unterlegene mußte sich den Arm an den scharfen Schneiden der Dolche verletzen. Für Augenblicke war es still in der Taverne, bis auf das Keuchen der beiden Männer. Während alle gebannt zusahen, traten drei Häscher in die Taverne. Gann, der immer Wachsame, registrierte ihr Eintreten. Er bemerkte, daß auch Anslag sie beobachtete. Anslag sah dem vordersten Häscher in die Augen, schaute dann auf Gann.
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Die drei Häscher kamen auf Gann zu. Die beiden Männer am Nebentisch unterbrachen ihren primitiven Wettkampf. Alle sahen die drei Häscher an. Sie hielten keine Waffen in der Hand. Sie vertrauten auf die Furcht der Einwohner von Ngon’chylla vor der Macht des Gouverneurs. Vor dem runden Tisch, an dem Gann, Rahmya und Anslag saßen, blieben die Häscher stehen. „Du bist der Paria Gann, das Monstrum von Arenakämpfer“, sagte der Anführer zu dem großen Mann. Seine blaue Robe wies die golden eingestickten Insignien eines Scharführers auf. Sein schwarzer Helmbusch war größer als der der anderen. „Komm, du bist verhaftet.“ „Weshalb?“ fragte Gann. „Schmutziger Paria, du wagst es, den Befehl eines Häschers in Frage zu stellen!“ rief der Scharführer. Er wollte Gann ins Gesicht schlagen, doch der fing seinen zuschlagenden Arm ab und verdrehte ihn. Mit einem Schmerzensschrei ging der Scharführer in die Knie. Gann sprang auf, daß die Sitzbank umstürzte, riß den Scharführer wie einen Schild vor sich. Mit dem linken Unterarm umklammerte er seine Kehle, mit der Rechten zog er ihm den Nadler aus dem geöffneten Halfter, entsicherte die gefährliche Waffe. Die beiden anderen Häscher hatten gezögert, einzugreifen, da sie offenen Widerstand von Seiten eines Parias für unmöglich hielten. Als sie in die winzige Öffnung des Nadlers blickten, war es zu spät. Sie hoben die leeren Hände in Schulterhöhe. Gann sah sich um. Anslag hatte sich schützend vor Rahmya gestellt. Ganns Blick traf auf den des Verräters. Anslag senkte die Augen zuerst. Er war waffenlos. Zudem konnte eine Zeit kommen, in der Rahmya seinen Schutz bitter nötig hatte. Deshalb schonte Gann den Mann mit dem schwarzen Umhang und dem ledernen Brustpanzer.
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Er zog den Scharführer auf den Hinterausgang zu. An der Tür angelangt, öffnete er diese, stieß sie mit dem Fuß auf. Er gab dem Scharführer einen Stoß, daß er seinen Leuten entgegentaumelte. Gann sprang aus der Tür in den dunklen Hinterhof. Sofort erklang das hohle Klappern einer Trommelechse, die als Wächter im Hof gehalten wurde. Gann kümmerte sich nicht um das Tier. Er flankte über eine niedrige Mauer, lief durch das Gewirr der Hütten und Bauten. Er kannte die Slums wie kaum ein zweiter. Hinter sich hörte Gann Rufe, Stimmen. Im Schein des Sternenlichts und dem Schimmern der interstellaren Materieballungen erreichte Gann auf Umwegen den Rundbau, der Rahman Taks Wohnung war. Im Schatten eines Stechpalmenbaumes, dessen Krone aus nach allen Seiten auseinanderstrebenden spitzen und scharfrandigen Blättern bestand, verharrte Gann. Er war mißtrauisch, denn für seinen Geschmack war es zu ruhig. Nichts regte sich. Gann wartete. Nach einer Weile sah er vier Häscher aus dem Rundbau kommen. Er hörte ihre Stimmen, die der leichte Nachtwind ihm zutrug. „Nicht zu glauben“, sagte einer der Häscher, „der Bursche hat ein ganzes Arsenal in seiner Wohnung. Drei Nadler, Magazine dutzendweise, Maschinenersatzteile, Detektorspulen und alles mögliche, ein wahres Sammelsurium.“ „Der war mehr als einmal in den Katakomben und im Tempelbezirk“, hörte Gann eine andere Stimme. „Er ist sicher der gefährlichste der Verschwörer.“ Einer der Häscher nahm ein kleines Kästchen von seinem Gürtel und sprach hinein. Gann hörte eine Stimme aus dem Kästchen, konnte sie aber nicht verstehen. „Er kann uns nicht entgehen“, sagte der Häscher. „Wir werden einen Robot auf ihn ansetzen, wenn das Monstrum auf die Individualortung nicht anspricht.“
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Die Stimmen der Häscher entfernten sich. Gann überlegte, was er tun sollte. Rahmya war in Sicherheit, denn Anslag hielt schützend seine Hand über sie. Doch Rahman Tak, in dessen Wohnräumen die Dinge gefunden worden waren, die von Exkursionen in verbotene Gebiete kündeten, befand sich in großer Gefahr. Gann mußte ihn warnen. Er nahm Schleichwege, die kein Häscher kannte. Mehr als die Häscher fürchtete er Anslags Diebe und Räuber, die sicher schon Jagd auf ihn machten. Aber sie wußten nicht, wo sich Rahman Taks Luxusquartier im Bezirk der Reichen befand, hatten also keine Ahnung, wohin Gann sich wenden würde. Über der Erde und unter der Erde, in Katakomben- und Kloakengängen, näherte sich Gann seinem Ziel. Wenig später stand Gann vor einem prächtigen Haus, das ein kleiner Park mit rotblättrigen Büschen und Bäumen umgab. Ein Wächter mit Schild, Schwert und Speer patrouillierte vor dem Tor der Mauer, die den Besitz umschloß. Gann verharrte im Schatten, bis der Posten ihm den Rücken zudrehte, sprang dann an der Mauer hoch, zog sich empor und ließ sich auf der anderen Seite in den Park hinab. Er pirschte durchs Gebüsch. Das prächtige weiße Haus mit dem von Säulen getragenen Vordach lag im bleichen Licht der Nacht. Mehrere Fensterluken von Rahman Taks Palastvilla waren erleuchtet. Gann hörte Zimbelklang und Frauenstimmen. Sie sangen, lachten und scherzten. Gann trat durch die Hintertür. Er hielt die Hand am Griff des von dem Scharführer der Häscher erbeuteten Nadlers. Gann trat vor die Tür, hinter der der Lärm und das Stimmengewirr erklangen, und stieß sie auf. Rahman Tak saß auf seidenem Polster in der Mitte seiner sechs Haremsweiber. Alle starrten sie Gann entsetzt an. Sie wirkten verängstigt, ihre Münder waren geschlossen. Trotzdem hörte Gann mit unverminderter Lautstärke ein fröhliches Kreischen, Lachen und Singen.
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Auf einem Tischchen stand ein Metallkasten, aus dem die Stimmen kamen. „Du Narr“, sagte Rahman Tak krächzend, „jetzt haben sie dich, wie mich auch, und die Verschwörer.“ Gann wollte flüchten. Im Gang leuchteten grelle Scheinwerfer auf. Die Lichtkegel erfaßten den großen Mann mit dem roten Umhang. Ehe er noch den Nadler herausreißen konnte, schoß ein großer, metallglänzender Körper auf Gann zu. Eine Greifklaue umspannte sein Handgelenk. Gann blieb reglos stehen. Er wußte, daß er verloren hatte. Gegen einen metallenen Kämpfer kam er auch mit dem Nadler nicht an. Es wurde Gann klar, daß alles aufgeflogen war und er sich in der Gewalt des Gouverneurs befand. * Charkas war ein Techniker Ersten Grades. Als Sohn armer Eltern hatte er in Tran’hallar die Grundtests bestanden und war in die Adeptenschule aufgenommen worden. Er erfüllte die Voraussetzungen – Gehorsam, schnelle Auffassungsgabe, hohe Intelligenz – und bestand die Vorprüfungen summa cum laude. Daraufhin kam er nach Orth’whyl. In der dortigen Tempelschule studierte er höhere Mathematik und die grundlegenden Ingenieurswissenschaften. Er wandte sich der Fachrichtung Energien zu und machte sein Praktikum als Energie-Ingenieur. Zudem belegte er in seiner Freizeit einige Hypno-Schulungskurse über psychologische Führung, weil ihn das interessierte. Aufgrund seiner guten Leistungen fiel Charkas schon bald dem Achterkomitee auf, das die Acht Städte von Sanvor IV repräsentierte. Nach Rücksprache mit dem Gouverneur wurde er zum Koordinator bestimmt. Er kam nach Ngon’chylla, wo er zusammen mit einem anderen Koordinator für die Überwachung und die Kontrolle der Stadt verantwortlich war. - 26 -
Charkas hielt sich in einem riesenhaften Maschinenraum auf. Hinter ihm erstreckten sich Maschinenanlagen, deren stetes Summen die Halle erfüllte. Zwei große Bildschirme, in je sechzig Planquadrate unterteilt, nahmen die Rückwand des Raumes und einen Tail der Seitenwände ein. Hinter Charkas befand sich ein langgestrecktes, halbhohes Kontrollund Schaltpult, das von einer Wand zur anderen reichte. Sechs Techniker des Ersten und Zweiten Grades waren damit beschäftigt, Charkas Anordnungen auszuführen. Sie hatten eine Unzahl von blinkenden, blitzenden Kontrollämpchen zu beachten, Knöpfe zu drücken und Hebel umzulegen. An den Sichtscheiben von Oszillographen flimmerten gezackte Linien und andere Symbole. „Ich möchte wissen, weshalb er nicht auf die Individualimpulse anspricht“, rief Charkas, der als Zeichen seiner Koordinatorenwürde einen weißen Umhang trug. „Jeder Sanvorer tut dies,“ „Er ist ein Monstrum“, antwortete einer der Techniker. „Bildvergrößerung“, befahl Charkas. Die Szene in Rahman Taks Luxusquartier erschien riesengroß. „Senso-Impuls III“, sagte Charkas. Bei Senso-Impuls III wurden bestimmte Gehirnsektoren mit Ultraschwingungen gereizt, so daß die motorische Kontrolle der Bewegungsorgane ausfiel. Der Körper erstarrte reglos. Rahman Tak und die sechs Frauen auf dem Bild verharrten bewegungslos in der Stellung, die sie gerade eingenommen hatten. Gann, dessen Handgelenke ein Robot der B-Klasse umklammert hielt, betrachtete die Szene. Er drehte den Kopf, sah sich um. Er sprach auf die Ultraschallschwingungen nicht an. „Das ist ein Phänomen“, murmelte Charkas und schlug mit der geballten rechten Faust in die offene linke Handfläche. „Mißgeburt oder nicht, seine Gehirnströme müßten die Rassemerkmale aufweisen. Wie dieses Monstrum uns nur so lange entgehen konnte! – Senso-Impuls III ab“, fügte er hinzu. Rahman Tak und die Frauen erwachten wieder zum Leben. Charkas überlegte nur kurz. - 27 -
„Das Monstrum und der Alte kommen ins Gefängnis“, entschied er dann, „die Frauen werden in ein Aufsichtshaus gebracht. Geben Sie die Anweisungen über Sprechfunk an den Hundertschaftsführer, der für die Aktion verantwortlich ist, Gunnal.“ Ein anderer Techniker als der Angesprochene meldete sich zu Wort. „Laut Ortung Robot XB 1313 trägt das Monstrum eine Waffe der niederen Verbotskategorie, Koordinator“, sagte der Techniker aufgeregt. „Vielleicht einen Nadler.“ Charkas gab ein paar Befehle, die Gunnal weitergab. Auf dem Bildschirm traten drei Häscher an den hilflos im stählernen Griff des Kampfroboters hängenden Gann heran. Einer schlug seinen roten Umhang zur Seite, ein anderer zog den Nadler aus der Halfter unter der Schulter. Charkas pfiff durch die Zähne. „Scheint, als hätten wir da einen guten Fang gemacht. Sind noch andere Waffen oder Gegenstände der verbotenen Kategorien in der Palastvilla?“ „Der Alte trägt ein defektes Mehrzweckarmband als Schmuck“, antwortete der Techniker Gunnal. „Er hat vier Wurfmesser in seiner Kleidung verborgen, wahrscheinlich vergiftet. Nichts mehr von der verbotenen Kategorie, Koordinator.“ „Nehmt ihnen alles weg, dann fort mit ihnen. Sind die anderen Verschwörer in sicherem Gewahrsam?“ „Jawohl“, antwortete der dafür zuständige Techniker, der auf Planquadraten des zweiten Bildschirms die Gefangennahme der Verschwörer im Park, die Gann ursprünglich hatte treffen wollen, beobachtet hatte. „Alle – außer dem Informanten.“ „Gut. Ausgerechnet in dieser Nacht müssen die Burschen uns Ärger machen. Stellt wieder die Verbindung zum Sanvor-Spaceport her. Ist die Zubringerfähre von Ngon’chylla-Port schon gestartet?“ wollte Charkas wissen. „Die letzten fünfhundert gehen gerade an Bord, Koordinator. Start in zehn Sanvorminuten.“ - 28 -
Der riesige Bildschirm, der zuvor Ganns Festnahme und Entwaffnung gezeigt hatte, gab jetzt ein kreisrundes Start- und Landefeld für Raumfahrzeuge inmitten des Dschungels wieder. Jetzt war ein walzenförmiges Transporterraumschiff auf dem Raumhafen gelandet, das vierzigtausend Deportanten aufnehmen konnte und außerdem eine achthundertköpfige Besatzung hatte. Der Walzenraumer stand auf hundert Teleskopstützen. Zudem waren die Gravitationsstabilisatoren eingeschaltet, da sonst der Untergrund das enorme Gewicht nicht hätte halten können. Ein Wulst, in regelmäßigen Abständen mit Kuppeln bestückt, lief um die horizontale Peripherie des Walzenraumers. Jede dieser Kuppeln enthielt eine automatische Blasterkanone, deren superluminale Schaltrelais direkt mit der Bordpositronik gekoppelt waren. Drei Gangways waren ausgefahren. Sechs Zubringerfähren waren bereits rund um den Transporter gelandet. Charkas erkannte ärgerlich, daß die Zubringerfähre von Ngon’chylla unter den beiden letzten sein würde. Die Zubringerfähren waren flache Schwebeplattformen mit durchsichtiger Eternitplexkuppel. Die Deportanten hatten zum großen Teil die Zubringerfähren bereits verlassen. Kampfroboter der A-Klasse standen zwischen den Deportanten. Ihre Waffenarme zeigten zu Boden. Die Kampfroboter waren nur eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme, denn die Deportanten standen unter Hypnoeinfluß. Häscher befanden sich nur in den Zubringerfähren und in den Bereitschaftsräumen des Raumhafens. Wie viele Xcocx an Bord des Walzenraumers waren, und zu welchem Teil die Besatzung sich aus Hilfsvölkern rekrutierte, wußte Charkas nicht. Er glaubte aber nicht, daß mehr als zwanzig Xcocx sich einem so verhältnismäßig unbedeutenden Unternehmen wie der Zwangsrekrutierung von vierzigtausend Sanvorern aus allen acht Städten als Arbeits- und Hilfskräfte widmeten.
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Am Rande des Raumhafens befanden sich die Maschinenhallen und – kuppeln, die Kontrollbauten, die Geschützanlagen, der Hyperfunksender und die Raumorterantennen. Charkas hatte den Spaceport schon mehrmals besucht. Er hatte auch schon zweimal den Planeten Sanvor IV verlassen und an einem Rundflug durch das System der Sanvorsonne teilgenommen, was eine große Auszeichnung bedeutete, die aufgrund besonderer Verdienste nur wenigen Auserwählten des Gouverneurs zuteil wurde. Charkas sah, wie die Zubringerfähre aus Ngon’chylla landete. Er beobachtete, wie fünftausend Deportanten aus seiner Stadt, männlichen und weiblichen Geschlechts, nicht unter neun Sanvorjahren, nicht über fünfzehn, sich in den Transporter einschifften. Es waren Sanyorer wie Charkas selbst. Der Koordinator wußte, daß der Gouverneur, den er noch nie von Angesicht zu Angesicht gesehen hatte, dies alles befahl. Der Gouverneur beherrschte alle Acht Städte. Die Sanvorer lebten und arbeiteten für ihn. Sie roboteten in den Bergwerksstollen, und jede Dekade starben Dutzende von ihnen durch Grubenunglücke. Und in regelmäßigen Abständen ließ der Gouverneur seine Untertanen zu Tausenden mit den Transporterraumschiffen zu unbekannten Zielen außerhalb des Orionnebels verfrachten. Der Koordinator hatte sich seit seiner Jünglingszeit nicht mehr den leisesten Zweifel an der Berechtigung des Systems erlaubt, das solches verlangte. Charkas gehörte zur Oberschicht. Er hatte gute Aussichten, eines Tages ins Achterkomitee aufzusteigen – der höchste Rang, den ein Sanvorer auf seiner Heimatwelt erreichen konnte. Es blieb Charkas, objektiv betrachtet, auch nichts anderes übrig, als dem System und dem Gouverneur gegenüber loyal zu sein. Seine Gehirnströme hatten die gleichen Rassenmerkmale wie die aller anderen Sanvorer. Der Gouverneur oder einer seiner Untergebenen konnte also jederzeit bei Charkas durch Senso-Impulse bestimmte Reflexe erzielen.
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Gezielte Ultraschwingungen übermittelten den Senso-Impuls I, brachten den totalen Ausfall aller Reflexe. Den Tod. Nur einer auf Sanvor IV war gegen die Senso-Impulse immun, die dem Gouverneur eine unbeschränkte Kontrolle garantierten. Gann. Das Monstrum. Charkas überlegte, ob er Ganns Vorhandensein dem Gouverneur melden solle. Er entschied sich dagegen. Mit der Nebensächlichkeit, daß ein Lebewesen auf Sanvor IV nicht die rassetypischen Merkmale der Gehirnströme besaß, wollte der Koordinator den Gouverneur nicht belästigen. Sein wissenschaftlich geschulter, logisch denkender Verstand sagte ihm, daß es sich um eine Laune der Natur handelte, eine Mutation. Der Koordinator würde Gann einem Verhör unterziehen. Wenn das nichts Außerordentliches zutage brachte, wollte er das Monstrum als unwertes Leben beseitigen lassen. Eine Sanvorstunde später sah Charkas auf dem Bildschirm, wie das walzenförmige Transporterraumschiff startete. Die Teleskopstützen waren eingefahren, die Gravitationsstabilisatoren hielten den Transporter zwei Meter über dem Boden in der Luft. Der Startplatz war leer. Grelle Feuerzungen zischten aus den Düsen. Langsam erhob sich der Transporter in die Luft, schien dann plötzlich einen Sprung nach oben zu machen und in den Nachthimmel hinaufzuschießen. Vierzigtausend Sanvorer befanden sich im All, unterwegs zu einem viele Tausende von Lichtjahren entfernten Ziel. * Der Mann rannte auf den Gang zu, der aus der Arena führte. Er rüttelte an den eisernen Gitterstäben. Sein Gesicht war eine Grimasse der Todesangst. Gann und Rahman Tak standen in dem dunklen Gang und konnten ihm nicht helfen. Sechs Häscher mit blauen Um-
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hängen standen hinter ihnen, die weißen Schockstöcke in den Händen. „Gann, hilf mir, hilf mir!“ schrie der Mann in der Arena in Todesnot. „Hilfe! Hilfe!“ Seine verzweifelten Rufe wurden zu einem Gebrüll, als die Dolchechse ihn packte. Einen Augenblick glotzte das tonnenschwere, graugrüne, am ganzen Leib mit Stachelschuppen bedeckte Ungeheuer die Männer in dem Gang an, den Unglücklichen in den Klauen. Dann zermalmte die Dolchechse den Verschwörer, der vom Koordinator unter Billigung des Achterkomitees zum Tod in der Arena verurteilt worden war. Auch Gann und Rahman Tak sollten nach dem Urteilsspruch des Oberpriesters in der weißen Robe in der Arena den Tod finden. Die Dolchechse schleppte den leblosen Körper in die Mitte der Arena, wo sieben weitere Leichen lagen. Die Bestie spreizte die verkümmerten Lederhautflügel und stieß einen mißtönenden Schrei aus. Sie blies Schwefeläther aus dem Maul, der sich an der heißen, vorschnellenden roten Zunge entzündete. Ein Hornsignal kündigte an, daß die beiden nächsten Opfer in die Arena gebracht werden sollten. Das Eisengitter wurde nach oben gezogen. Gann und Rahman Tak hatten nur Kurzschwerter, die ihnen gegen die riesige Echse nicht mehr nutzen würden als Zahnstocher. Rahman Tak feilschte noch jetzt, an der Schwelle des Todes. „Warum laßt ihr nicht den armen, alten Rahman Tak seine Tage in Frieden beenden“, rief der fette Sanvorer den Häschern zu. „Was soll der hilflose Greis denn gegen den Gouverneur ausrichten? Seht, ihr sollt bekommen all mein Vermögen, das ich mir in jahrelanger, harter Arbeit erworben habe. Millionen Shannaks.“ „‘Raus mit euch in die Arena“, sagte der Anführer der Häscher. „Du bist doch Goll“, meinte Rahman Tak, „Goll, der oft die Häuser der verbotenen Freuden besuchte, an denen ich armer, alter Mann geringen Anteil habe. Hab doch ein Herz für den alten Rahman Tak,
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Goll.“ Der Alte kniff die Augen zusammen. „Wie viele verbotene Freuden kannst du dir kaufen von dem Geld, das ich dir gebe, eh?“ „Versuche doch, die Dolchechse zu bestechen“, erwiderte Scharführer Goll mit grimmiger Freude. „Los, ‘raus jetzt, zum letzten Mal, du alter, fetter Wucherer, und du, Monstrum.“ Die Häscher kamen mit den langen Schockstöcken auf die beiden Männer zu. Rahmen Tak spuckte ihnen vor die Füße und trat hinter Gann in die Arena. Gähn sah sich um. Die Dolchechse war zwanzig Doppelarmspannen entfernt in der Mitte der Arena. Die Zuschauer rundum warteten gespannt und schweigend. Ganns Blick schweifte über die Zuschauer. Wo war Rahmya, seine letzte Hoffnung? Hatte sie ihn im Stich gelassen, oder war sie abgehalten worden? Die Dolchechse erblickte die beiden neuen Opfer. Sie spie Feuer. Am anderen Ende der Arena sah Gann eine Bewegung, eine winkende Hand. Rahmya. „Los, komm“, sagte er zu Rahman Tak. „Wozu? Wir können auch hier sterben.“ „Komm, du Narr.“ So zwingend klang Ganns Stimme, daß der Bettlerkönig ihm folgte. Noch verharrte die Dolchechse, doch jeden Augenblick konnte sie auf ihren acht kurzen Beinen losrennen, schnell wie ein Pfeil. Gann und Rahman Tak gingen rückwärts. Die Echse stieß einen Schrei aus. Die Zuschauer brüllten los. Etwas fiel vor Gann in den Sand der Arena! Er packte das Bündel, riß das Tuch weg. Die Echse griff an. Gann entsicherte den Nadler, den Rahmya ihm zugeworfen hatte, wie sie es in jenem letzten, kurzen Gespräch nach dem Verhör Ganns durch den Oberpriester vereinbart hatten, und richtete ihn auf die heranrasende Echse. Er mußte genau treffen. Er legte den Daumen auf den Feuerknopf. Eine Garbe von Explosivprojektilen drang der Echse in den weit ge- 33 -
öffneten Rachen, in eins der beiden faustgroßen Augen. Direkt vor Gann und Rahman Tak brach sie zusammen. Die Zuschauer hatten nicht mitbekommen, was vorging. Augenblicke herrschte Schweigen. Gann und Rahman Tak rannten zu dem Gittertor. Da sprang auf der erhöhten Ehrentribüne der Oberpriester mit dem weißen Umhang auf, Charkas, der Koordinator. Er deutete mit dem Zeigefinger auf die beiden Männer in der Arena, schrie: „Packt sie!“ Gann schoß auf ihn. Er traf genau. Doch um den Koordinator flimmerte die Luft. Die Nadelprojektile detonierten zu kopf großen Glutbällen vor seinem Körper. Der Koordinator blieb unverletzt. Ein ungeheuerlicher Tumult brach los. Gann und der Bettlerkönig hatten inzwischen das Eisengitter erreicht. Gann richtete den Nadler auf die sechs Häscher, die noch gar nicht erfaßt hatten, was vorging, und schrie: „Das Gitter hoch! Oder ihr seid tote Männer!“ Zwei Häscher gehorchten. Gann zog dem Scharführer den Schockstock aus dem Futteral am Gürtel, traf die sechs Häscher mit schnellen Schlägen. Schreiend gingen sie zu Boden, kampfunfähig für die nächste Zeit. Rahman Tak bewaffnete sich in aller Eile mit Nadler und Schockstock. „Ich dachte schon, es wäre vorbei“, keuchte er. „Gute Rahmya! Hoffentlich entkommt sie im Gewühl. – Wir müssen in die Katakomben, Gann, sonst laufen wir den metallenen Kämpfern in die Arme.“ Gann sah eine der verwitterten, mit Eisenbändern beschlagenen Türen und jagte ein paar Explosivnadeln in das Schloß. Dann trat er gegen die Tür. Sie flog auf. Dahinter lag ein dunkler Katakombengang. Gann und der Bettlerkönig drängten sich in den schmalen Gang. Doch bald schon verbreiterte er sich, und von irgendwoher strich ein frischer Luftzug. Durch einen Riß in der gemauerten Decke fiel Tageslicht. Gann sah sich um. „Hier war ich schon einmal“, sagte er. „Höre, Rahman, wir haben nur eine Chance, wenn wir die Stadt verlassen und im Dschungel - 34 -
Zuflucht suchen. Wir sind auch in den Katakomben nicht sicher. Der Gouverneur und die Priester werden alles einsetzen, um uns wieder zu fassen.“ „Im Dschungel sind wir den Bestien ausgeliefert. Selbst wenn wir uns in den unterirdischen Stollen verbergen, finden uns die Erdwühler oder die Panzerraupen“, wandte der Bettlerkönig ein. „Am Rande der Todeszone sind wir sicher, Rahman. Wenn es uns nur gelingt, ein paar Dekaden am Leben zu bleiben, können wir nach Ngon’chylla zurückkehren. Die erste Aufregung wird sich dann gelegt haben. Eine Zwei-Millionen-Stadt hat viele Verstecke.“ Der Bettlerkönig seufzte. „Wir haben keine andere Wahl. Es gibt da noch ein paar Dinge, die du nicht weißt, Gann. Deshalb stimme ich dir zu.“ Die Katakomben stammten aus einer längst vergessenen Zeit. Die Vorfahren der Sanvorer, die, der Sage nach, von den Sternen gekommen sein sollten, hatten fast den gesamten Stadtbezirk unterminiert. Vor vielen Sanvorjahren hatten Sanvorer auch unter der Oberfläche gelebt. Es gab unterirdische Lagerräume und langgestreckte Maschinenhallen. Die Maschinen standen schon viele Generationen still. Zum Teil waren die unterirdischen Gänge eingestürzt. Einige jedoch führten unterhalb der Stadtmauer hinaus, waren jedoch mit Todesfallen gesichert, damit keine Urweltbestie durch die Katakomben in die Stadt eindringen konnte. Einer von Ganns Kameraden war in einer solchen Todesfalle ums Leben gekommen. Gann hatte vor, innerhalb der Stadtmauer die Katakomben zu verlassen und durch eins der Stadttore in den Dschungel zu fliehen. In den Katakomben gab es weder menschliches noch tierisches Leben. Gann orientierte sich in der Dunkelheit mit nachtwandlerischer Sicherheit. Plötzlich hörte er hinter sich einen dumpfen Fall. Rahman Tak stöhnte auf. „Rahman, was ist?“
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Gann eilte zurück. Er wußte nicht, wie lange sie sich schon in den unterirdischen Gängen aufhielten. Sie waren nicht mehr weit von jenem Schacht entfernt, durch den Gann an die Oberfläche hatte kommen wollen. „Ich kann nicht weiter“, sagte Rahman Tak. „Ich kann mich nicht bewegen. Es ist genauso wie in meiner Palastvilla, als die Häscher dich faßten.“ „Hast du Schmerzen?“ „Nein, aber ich kann kein Glied rühren.“ Es war Gann, als höre er ein hohes, feines Summen, doch es bereitete ihm keinerlei Unbehagen oder Schwierigkeiten. „Geh weiter“, stöhnte Rahman Tak. „Du weißt, daß die metallenen Kämpfer der Spur eines Sanvorers oder eines Tieres noch Stunden später folgen können. Geh weiter, damit wenigstens du ihnen entkommst. Geh in die Todeszone, wo du hergekommen bist.“ In der Dunkelheit kniete Gann neben dem am Boden ausgestreckten Rahman Tak nieder. Er umklammerte dessen Hand, preßte sie’ unbewußt, daß der Bettlerkönig schmerzvoll aufstöhnte. „Wie war das, Rahman? Ich bin aus der Todeszone gekommen?“ „Vor elf Sanvorjahren war es“, sagte Rahman Tak. „Ich gehörte zu einem Kommando von Jägern. Wir hatten uns weit in den Dschungel vorgewagt, als wir eine von unseren Pfeilen verletzte Rüsselechse verfolgten. Plötzlich hörten wir ein infernalisches Heulen über uns. Ein rotglühender Körper raste durch die Luft, stürzte ab. Er knickte und entwurzelte Dschungelriesen wie Grashalme. Auf der Halbinsel im Morast krachte er in den Boden. Meine beiden Kameraden und ich wurden neugierig. Wir wollten nachsehen. Es war kein Wächter in Sicht- und Hörweite. So durchquerten wir den Morast. Am Ende der Einsturzschneise sahen wir einen rotglühenden Diskus aus Metall, der sich halb in den Boden gebohrt hatte. – Doch was rede ich, Gann. Du mußt weiter. Sicher sind die metallenen Kämpfer schon auf unserer Spur.“ Um keinen Preis hätte Gann sich weggerührt, nun, da er endlich eine Aufklärung über seine Herkunft erhielt. „Wir haben einen guten Vorsprung, Rahman. Erzähle weiter.“ - 36 -
Rahman Tak versuchte sich zu bewegen, doch ohne Erfolg. Das Reden hingegen machte ihm keine Schwierigkeiten. „Während wir noch schauten, zuckte von dem Metallkörper ein grelles Licht, Bruchteile eines Augenblicks nur. Die Körper meiner beiden Kameraden verschwanden einfach zur Hälfte. Hinter uns klaffte ein tiefer Krater mit geschmolzenen Wänden im Boden. Ich wurde von einem Luftwirbel zu Boden gerissen. Ich blieb in Dekkung, regte mich nicht. Da sah ich, wie sich in dem großen Metallkörper eine Luke öffnete. Eine Frau kam herausgerannt und floh in meine Richtung. Ein Mann trat in die Luke. Er hielt einen länglichen Gegenstand in der Hand, ähnlich einem Nadler. Dünne Lichtstrahlen zuckten aus seiner Hand. Er wollte die Frau töten, doch er traf sie nicht. Dann kehrte er in den Metallkörper zurück. Ich folgte der Frau. Ihr Sinn schien verwirrt. Sie rannte hierhin und dorthin, lief im Kreis. Am Rand des Morastes stürzte sie zu Boden. Ich näherte mich ihr. Es war eine Frau, wie ich noch nie eine gesehen hatte. Ihr Haar war gelb, ihre Haut blasser als deine, Gann, und ihre Augen waren blau. Sie war hochschwanger.“ „Es war meine Mutter?“ „Deine Mutter. Sie stammelte wirre Worte und Silben in einer fremden Sprache. Sie stöhnte und schrie vor Schmerzen. Dort im Dschungel, am Rande des Morastes, bist du zur Welt gekommen, Gann. Deine Mutter starb bei deiner Geburt. Da stand ich nun bei der toten Frau, ein Neugeborenes im Arm. Was sollte ich tun? Waren jene Leute im Metalldiskus Freunde der Priester oder ihre Feinde? Oder waren es Fremde? Ich fürchtete Strafe, weil wir eigenmächtig auf die Halbinsel gegangen waren, statt den Wächtern Meldung zu machen, und weil meine Kameraden ums Leben gekommen waren. Schon damals war ich kein Freund der Priester. Da ich schon immer ein Mann war, der Schwierigkeiten möglichst vermied, beschloß ich, dich in einem Sammlerkorb in die Stadt zu schmuggeln und abzuwarten. Außer uns dreien hatte niemand vom Außenkommando gesehen, wo jener glühende Metallkörper nieder- 37 -
gegangen war. Meine Kameraden konnten nicht mehr reden. In Ngon’chylla behielt ich dich bei mir, Gann, Es geschah nichts. Nie wieder hörte ich von dem Metallkörper und von den Männern und Frauen, die darin gewesen sein mögen. Später kehrte ich noch einmal auf die Halbinsel zurück. Ich hörte Stimmen im Kopf, die Unverständliches von mir forderten. Zudem sah ich, wie ein Säbelzahnvogel von dem grellen Licht getroffen wurde. Da wagte ich mich nicht näher. Meldung machen konnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Ich wäre schlimm bestraft worden, weil ich nicht eher gesprochen hatte. So zog ich dich auf wie meinen eigenen Sohn, Gann. Nach dem Fest deiner Mannbarkeit wollte ich dir alles über deine Herkunft sagen und dich selber entscheiden lassen. Doch die Umstände zwingen mich, jetzt schon zu reden.“ Gann kauerte neben dem fetten, alten Sanyorer am Boden. Er begriff, welche Überwindung es Rahman Tak gekostet haben mußte, sich um das hilflose Neugeborene der fremden Frau zu kümmern. Viel einfacher wäre es für ihn gewesen, einfach wegzugehen und die Episode zu vergessen. Ein Paria hatte in Ngon’chylla Schwierigkeiten genug, auch ohne daß er die Aufmerksamkeit der Priester und Häscher erregte. „Wurden keine Fragen nach dem Verbleib deiner Jagdgenossen gestellt?“ wollte Gann wissen. „Ich sagte, sie seien von einem Dolchtiger zerrissen worden.“ Gann erhob sich. Er lud sich den fetten Sanvorer auf den Rücken und lief durch das dunkle Labyrinth. Er erreichte den engen Schacht, der zur Oberfläche führte, und legte Rahman Tak zu Boden, um sich kurze Zeit auszuruhen. Während er neue Kräfte sammelte, beschwor ihn der Bettlerkönig, ihn zurückzulassen. „Nie wirst du mit mir diesen Schacht erklimmen können“, sagte er. Mit seinem Leibgurt und dem Rahman Taks band Gann den schweren Mann an sich fest. Ächzend, Sprosse um Sprosse, kletterte er die Leiter hoch zur Oberfläche. Mehrmals glaubte er, es nicht zu schaffen, - 38 -
doch irgendwie fand er die Kraft und Energie, den schwierigen Aufstieg zu überwinden. In dem Gebüsch neben dem Ausstieg des Schachtes fiel Gann mit Rahman Tak zu Boden. Er war völlig erschöpft. Sein Herz hämmerte und rote Kreise tanzten vor seinen Augen. Zu Ganns Überraschung begann Rahman Tak sich zu bewegen. Er schnallte sich los. Während Gann noch nach Luft rang, kroch der Bettlerkönig bereits durchs Gebüsch. Als er zurückkam, hatte Gann sich aufgesetzt. „Es sind nur vier Wachen am Osttor“, berichtete Rahman Tak. „Mit ein wenig Glück können wir sie überrumpeln.“ Es war höchste Zeit, die Flucht fortzusetzen. Die metallenen Kämpfer mußten schon nahe sein. Die beiden Männer traten aus dem Gebüsch. Die Wächter wandten ihnen den Rücken zu und bemerkten die Fremden erst, als sie nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt waren. „Was wollt ihr?“ fragte einer der Torwächter. Die vier Häscher blickten in die Mündungen zweier Nadler. „Umdrehen“, befahl Gann. Sie gehorchten. „Ihr werdet nicht weit kommen“, sagte einer. „Ergebt euch, sonst ...“ Ganns Schockstock traf ihn, dann die drei anderen. Aufschreiend stürzten sie zu Boden. Gann und der Bettlerkönig liefen durchs Stadttor auf den roten Dschungel zu. Sie überquerten die freie Zone und tauchten in dem dichten, üppigen Gewirr wuchernder Urweltvegetation unter. * Charkas stand im großen Saal vor dem Achterrat. Ihm war alles andere als wohl zumute. Persönlich war nur der Rat Athgol anwesend, die anderen sieben Räte beobachteten Charkas über Bildschirme. Viel - 39 -
schlimmer aber war, daß eine dreidimensionale Projektion der blauen Spirale auf einem achten Bildschirm anzeigte, daß auch der Gouverneur zum Tribunal gehörte. Charkas schwitzte. „Erzählen Sie uns genau, wie es zur Flucht des Bettlerkönigs und dieses ... dieses Monstrums aus der Arena kommen konnte, Koordinator Charkas“, begann Rat Athgol mit falscher Sanftheit. Athgol war ein wuchtiger Mann mit goldener Robe. Seine schmalen Augen schimmerten rötlich. Er war gegen Charkas, denn er wollte seinen Neffen Homar im Achterrat sehen. Charkas mußte geschickt taktieren, sonst nutzte Athgol die Gelegenheit, ihn auszuschalten. In dem großen, aus weißen Steinblöcken errichteten Saal war es kalt. Eine Tribüne teilte die Hälfte des Saales ab. Hinter der Tribüne sahen der Achterrat und der Gouverneur von Bildschirmen auf Charkas herab. Nur Athgol saß hinter dem erhöhten, langgestreckten Tisch. Er konnte die Skalenzeiger und Farblinien verschiedener Maschinenkontrollen überblicken, die in den Tisch eingebaut waren. Hinter Charkas, der auf einem metallenen, schmucklosen, unbequemen Stuhl saß, einen Metallreif um den Kopf, Kontrollbänder um Handgelenke und Brust, befand sich ein Teil des Positronikgehirns des Gouverneurspalasts. Zwei Techniker Zweiten und Dritten Ranges waren mit der Programmierung und der Analyse der Auswertung beschäftigt, die synchron zum Verhör stattfand. Den Schuldspruch – schuldig oder nicht schuldig – würde das Positronikgehirn fällen, das Urteil wurde vom Achterrat und vom Gouverneur festgesetzt. Es war Charkas unmöglich, eine falsche Aussage zu machen, da er während des ganzen Verhörs an einen Lügendetektor angeschlossen war. Die Kontrollbänder registrierten jede seiner Reaktionen. Charkas machte seine Aussage. „Aufgrund einer Denunziation unseres Spitzels Anslag, Angehöriger der obersten Unterkaste, Verbindungsmann zur Zunft der Räuber und Diebe, erfuhren wir, daß eine Verschwörung im Gange war. Wir - 40 -
schlugen zu, als die Verschwörer sich im Park der blauen Steine traf en. Zudem wurden die Wohnungen der Verschwörer durchsucht. In der Wohnung des Gann, Angehöriger der untersten Kaste, der Parias, Adoptivsohn des Anführers der Bettlerzunft, Rahman Tak, fanden wir Waffen und Gegenstände der verbotenen Kategorien. Da Rahman Tak von diesen Dingen gewußt haben mußte, ließen wir auch ihn festsetzen.“ „Soweit erfolgte die Aktion in unser aller Sinn“, hakte Athgol ein. „Sie, Koordinator, waren lediglich der Leiter der Aktion und führten eine vom Gouverneur und dem Achterrat angeordnete Säuberungsaktion durch. Bisher entsprechen Ihre Aussagen der Wahrheit, an Ihrer Handlungsweise ist nichts auszusetzen. Doch jetzt kommen wir zu Ihren Eigenmächtigkeiten, Koordinator Charkas, und ich möchte Sie im Namen des Gouverneurs und des Achterrats bitten, von nun an in der Einzahl zu sprechen. – Für das Fiasko, das Sie angerichtet haben, sind nämlich Sie allein verantwortlich.“ „Ich protestiere gegen diese Unterstellung. Niemand darf mich und meine Handlungsweise verurteilen, bevor nicht die Stellungnahme der Positronik erfolgt ist. – Als Techniker Ersten Grades und Koordinator von Ngon’chylla kenne ich meine Rechte so gut wie meine Pflichten.“ Einer der auf dem Bildschirm sichtbaren Räte winkte ab. „Wir wollen uns hier nicht in Polemik verlieren. Berichten Sie weiter, Koordinator. Die letzte Bemerkung von Ratsherr Athgol wird nicht in den Datenspeicher der Positronik aufgenommen,“ „Die Verschwörer wurden verhört und abgeurteilt“, fuhr Charkas fort. „Was ergaben die Verhöre Ganns und Rahman Taks?“ unterbrach Athgol. „Kamen dabei Besonderheiten zutage, die sich auf die physische und psychische Konstitution der Deliquenten bezogen?“ „Gann wollte eine Revolte entfachen, den Gouverneur und den Achterrat beseitigen. Rahman Tak waren lediglich versteckte Feindseligkeit und passiver Widerstand gegen unser Regime nachzuweisen. - 41 -
Da er aber von den Umtrieben seines Adoptivsohns und den verbotenen Gegenständen gewußt hatte, verurteilte ich ihn gleichfalls zum Tode.“ „Kamen Besonderheiten zutage?“ fragte Athgol noch einmal. Charkas antwortete nicht. „Ist diese Frage so wichtig?“ wollte einer der Räte der anderen Städte wissen, der die Verhandlung per Bildsprech miterlebte. „Es ist die Kernfrage“, antwortete Athgol. „Koordinator Charkas weiß das. Sehen Sie hier die Skala, Ratsherr Tronn. Charkas’ Pulsschlag hat sich deutlich erhöht. Er transpiriert. – Antworten Sie, Koordinator! Wußten Sie zum Zeitpunkt des Verhörs bereits, daß Gann nicht die üblichen sanvorischen Rassenmerkmale der Gehirnströme aufwies und gegen Senso-Impulse immun war?“ „Nun, ich ...“ „Ja oder nein? Antworten Sie!“ „Ja, ich wußte es, aber ich hielt es für unwichtig. Welche Rolle spielt es schon, ob sich unter zwei Millionen Einwohnern dieser Stadt ein Monstrum befindet, das gegen Senso-Impulse immun ist oder nicht?“ „Dazu kommen wir noch. Weiter.“ „Das Urteil wurde vollstreckt. Öffentlich in der Arena. Die ersten acht Verschwörer kamen ums Leben, wurden von einer Dolchechse getötet. Dann traten Gann und Rahman Tak in die Arena.“ Der Koordinator schilderte mit knappen Sätzen, was sich abgespielt hatte. „Ich setzte Kampfroboter der A-Klasse auf die Spur der Flüchtigen und ließ den Sektor, den sie passieren mußten, mit Ultraschall abstrahlen. Übermittelter Senso-Impuls: Nr. III.“ Ratsherr Athgol ließ den Koordinator noch erzählen, wie die Verfolgten durch Ganns Immunität gegenüber den Impulsen hatten entkommen können. „Sie werden sicher im Dschungel ums Leben kommen“, schloß Charkas. „Jenen Helfer, der Gann in der Arena einen Nadler zuwarf, werde ich noch finden.“
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„Es ist die Frage, ob Sie jemals wieder eine Ermittlung oder eine Aktion leiten werden, Koordinator. Sie hielten es nicht für nötig, den Achterrat oder den Gouverneur davon zu informieren, daß es in Ngon’chylla einen Mann gibt, der unserem Kontrollsystem nicht unterworfen ist, der durch die Abnormität seiner Gehirnströme eine Gefahr für uns alle darstellt. Er wird im Dschungel umkommen, sagen Sie. Nun, dann werden wir nie erfahren, wie es zu seiner Abnormität kam. Vielleicht gibt es noch mehr von seiner Sorte. Vielleicht wurde seine Immunität gegen Senso-Impulse durch ein Ereignis hervorgerufen, daß schon morgen weitere Sanvorer betreffen kann. Vielleicht haben wir schon bald mit einer Revolte von Immunen zu rechnen, Koordinator, durch Ihre Schuld!“ Charkas versuchte zwar, den Vorwurf abzuschwächen, doch es gelang ihm nicht. Athgol hatte zu geschickt argumentiert. Nachdem die beiden Techniker der Positronik die Fakten einprogrammiert hatten, erfolgte die Auswertung innerhalb von Tausendstelsekunden. Ein schwarzes Symbol flammte auf dem Bildschirm der Positronik auf. Es bedeutete: Schuldig. Die folgende Beratung war nur kurz. Der Achterrat kam zu einem einstimmigen Urteil. Der Gouverneur bestätigte und billigte es. Athgol hatte das Urteil zu verkünden. Er mußte sich bemühen, sich seinen Triumph nicht anmerken zu lassen. „Koordinator Charkas, Sie sind einer fahrlässigen Verfehlung erster Ordnung für schuldig befunden worden. Ab sofort verlieren Sie Ihr Koordinatorenamt. Sie werden zum einfachen technischen Assistenten zurückgestuft. Für die Dauer eines Sanvorjahres werden Sie als Häscher Strafdienst ableisten und die Jäger- und Sammlerkommandos beschützen, die in den Dschungel gehen. Nach Ablauf dieser Zeit wird der Achterrat Ihre Verwendbarkeit in anderer Position wieder erwägen. – Sie können abtreten, technischer Assistent Charkas.“ Der Mann mit dem weißen Umhang legte die Kontrollreifen ab, erhob sich und ging hinaus. Charkas machte sich nichts vor: Nach - 43 -
dieser Degradierung war er erledigt – und nur, weil es unter zwei Millionen Sanvorern in Ngon’chylla ein Monstrum namens Gann gab. * Wieder sank die Doppelsonne über dem roten Dschungel. Gann und Rahman Tak erreichten die Halbinsel. Sie schritten unter den Urwaldriesen entlang, schlugen sich einen Weg durch die üppig wuchernde Vegetation. „Du mußt allein gehen, wenn wir die Stimmen hören, Gann“, sagte Rahman Tak. „Ich bin sicher, daß du in die innere Zone vordringen kannst. Du bist von der gleichen Art wie die Erbauer des Metallkörpers, sei es nun ein Luftschiff, ein Flugapparat oder was auch immer.“ Gann nickte nur. Er war zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt. Die Schatten der Dämmerung erfüllten den Dschungel. „Hier Robot-Positron Delta Eins. Hier Robot-Positron Delta Eins. Identifizieren Sie sich. Geben Sie Erkunnungsmeldung und Kode.“ „Hier bleibe ich“, flüsterte Rahman Tak. „Gehe allein weiter, Junge. Viel Glück!“ Er klopfte Gann auf die Schulter. Dieser drückte einen Augenblick fest die Hand des Mannes, der ihn aufgezogen und der ihm Schutz gegeben hatte. Er ging weiter. Wieder hörte er die modulationslose Stimme: „Hier Robot-Positron Delta Eins. Erste und letzte Warnung. Bei weiterem Vordringen ohne Identifizierung und Kode erfolgt Blasterkanonenbeschuß.“ „Ich bin Gann“, rief der große Mann mit dem schimmernden Brustharnisch und dem roten Umhang. „Ich gehöre zu euch. Ich komme in Frieden.“ Langsam ging er weiter.
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„Name ist nicht registriert“, hörte Gann wieder die Stimme. „Geben Sie den Kode.“ „Ich bin Gann. Ich gehöre zu euch.“ Es war Gann, als griffe etwas nach seinem Gehirn, als sondiere jemand seine Gedanken, sein Wissen. Es war kein unangenehmes Gefühl, kein Schmerz. Er spürte es einfach. „Kommen Sie“, sagte die Stimme in seinem Gehirn wieder. „Da Ihre Gehirnströme ohne Zweifel terranische Rassemerkmale aufweisen, ist anzunehmen, daß Sie an einer Amnesie oder den Nachwirkungen eines MV-Beschusses leiden. Können Sie das Med-Zentrum selbst aktivieren, oder brauchen Sie Hilfe?“ „Wer seid ihr? Was ist ein Med-Zentrum?“ „Sie sprechen mit der Bordpositronik des Delta-Raumers, Prototyp I. Sie sind psychisch schwer angeschlagen. Kommen Sie ins Raumschiff, Sie werden sofort versorgt.“ Es wurde immer dunkler. Im letzten Tageslicht sah Gann vor sich die silberne Hülle des diskusförmigen Körpers, von dem der Bettlerkönig ihm bereits erzählt hatte. Der Delta-Raumer, wie die Stimme ihn genannt hatte, wies äußerlich keine Beschädigungen auf, obwohl er sich zur Hälfte in den weichen Boden gebohrt hatte. Vor Ganns Augen öffnete sich lautlos eine Luke. Er sah ein helles Licht im Innern des Delta-Raumers. „Treten Sie ein“, sagte die Stimme in seinem Gehirn. „Sie werden sofort versorgt. Das Med-Zentrum ist aktiviert.“ Langsam trat Gann in die Luke. Er zuckte zusammen. Vor ihm, in dem engen, metallglänzenden Gang, lag ein Skelett. Nach einem Augenblick des Zögerns trat er darüber hinweg. Die Stimme in seinem Gehirn dirigierte Gann durch den DeltaRaumer. Schließlich trat er in einen riesigen, kreisrunden Raum. Fünf Skelette in fremdartigen Uniformen lagen am Boden zwischen den Schalensitzen vor dem Hauptkontrollstand der Zentrale. Bisher hatte Gann noch kein lebendes Wesen an Bord gesehen.
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Gehetzt sah er sich um. Eine Tür öffnete sich hinter seinem Rücken. Herum wirbelnd erblickte er zwei große Metallkörper. Sie rollten langsam auf ihn zu. Er wich zurück, bis er mit dem Rücken an die Wand stieß, zog den Nadler. Er entsicherte die Waffe, legte den Daumen auf den Feuerknopf. „Keinen Schritt weiter!“ rief er. Plötzlich schnellte eine der Extremitäten des Metallkörpers links von Gann vor. Er hörte ein leises Zischen. Ein dünner, grünlicher Nebel umfing ihn, und ihm schwanden die Sinne. Er brach zusammen. * „Wer bin ich? Wo bin ich-? Was bin ich?“ Sein Bewußtsein war in Dunkelheit gefangen. Er wollte Wissen, wollte Licht, und so schrie er seine Fragen in die ihn umgebende Schwärze. Von irgendwoher kam die Antwort, projizierte in ihm ein Gedankenbild, eine Stimme oder eine bildliche Wahrnehmung. „Name unbekannt. Aufenthaltsort: Orion-Nebel, Sonnensystem Sanvor, vierter Planet. Welt der Kreidezeit, starker Vulkanismus, Urweltdschungelvegetation. Tierwelt: Saurier und Echsen, Hautflügler. Zusatzanmerkung: Sanvor IV wurde mit 99,5% Wahrscheinlichkeit während der Zweiten Kolonisationswelle besiedelt, Kontakt zur Terranischen Föderation Loyaler Welten ging während der Wirren der Mental-Revolutionen verloren. Identifizierung laut Frage drei: Rasse: Mensch. Geschlecht: männlich. Alter: 21-22 Terrajahre.“ „Was tue ich hier?“ „Sie werden regeneriert. Stellen Sie weitere Fragen, damit wir Ihre Bewußtseins- und Wissenslücken feststellen können. Die Bordpositronik benötigt die Daten für die Speicherbank des Memo-Trainers. Ferner werden Hypno-Schulungen für nötig erachtet.“
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Eine Weile trieb er in der Schwärze. Dann, einer jähen Hoffnung folgend, modulierte er gedanklich die Frage: „Ich bin ein Mensch. Bin ich typisch für die menschliche Rasse, und wie viele von meiner Art gibt es?“ „Sie sind typisch für den männlichen Typus der Terrarasse, von individuellen Abweichungen natürlicher Lebewesen abgesehen. Von Ihrer Art gibt es hundert Milliarden Terramenschen, ferner dreißig Milliarden umweltadaptierte Humanoide. Wollen Sie die genauen Zahlen laut der letzten vorliegenden Volkszählung?“ „Nein. Was ist die Terranische Föderation Loyaler Welten, die Sie erwähnten, und wie lange besteht sie schon?“ „Die Terranische Föderation Loyaler Welten, kurz Föderation genannt, ist ein freiwilliger und demokratischer Zusammenschluß aller von Terramenschen und Humanoiden kolonisierten Intelligenzwelten und der meisten Primitivwelten. Die Föderation wurde vor 867 Jahren von Thomlyn Charayne begründet, dem ersten Föderationspräsidenten.“ Er stürzte in die Unendlichkeit des Kosmos. Er schrie ohne Stimme, brüllte vor Entsetzen, als er sich im Nichts fand. Er nahm leuchtende Gebilde verschiedenerlei Gestalt wahr. Klein und verloren erschienen sie ihm in der Unendlichkeit. Er wußte, daß es Galaxien waren. Er raste auf eine linsenförmige Galaxis zu, mit der Schnelligkeit des Gedankens. Er wußte, ohne daß er je zuvor diese Information erhalten hätte, daß diese Galaxis 160 Milliarden Sonnenmassen umfaßte, daß sie einen Durchmesser von 30000 Parsek und im Zentrum eine Dicke von 5000 Parsek hatte. Er sah helle und dunkle Wolken interstellarer Materie, die beim großen Schöpfungsprozeß vor fünf Milliarden Jahren ungeformt geblieben waren, Sternhaufen und Assoziationen von Sternen. Am Rande dieser Galaxis, die zu einer Gruppe von siebzehn Galaxien gehörte – eine Winzigkeit im Kosmos –, fand er ein Sonnensystem mit neun Planeten. Der dritte Planet war die Heimatwelt des
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Menschengeschlechts, Terra. Ein unbedeutender Planet, 10000 Parsek vom galaktischen Zentrum zur „Westside“ hin entfernt. Die Geschichte der Evolution auf dieser Welt Terra entstand vor seinem inneren Auge. Im Jahre 1957 der Alten Zeitrechnung, A. Z., erfolgte der erste Vorstoß ins All. Dieses Jahr wurde später als Jahr 0 der Neuen Zeitrechnung, N. Z., bezeichnet. Fast tausend Jahre lang war die Lichtgeschwindigkeit eine unüberwindbare Barriere für die Menschheit. Im Jahre 988 N. Z. konstruierte Ivan Darl den ersten Hyperraumantrieb, nachdem die theoretischen Grundlagen, insbesondere von Jon Fhalk, gelegt worden waren. Mit der Konstruktion des ersten Hyperraumantriebs datierte auch die Gründung der Föderation. Die Menschheit expandierte explosionsartig. Überall in der Galaxis tauchten die Hyperraumschiffe der Terraner auf. Die leuchtenden Bilder verschwanden, die Folge von Informationen versiegte. Er befand sich wieder im schwarzen Nichts, er, Geist und Bewußtsein eines Mannes, der seine Identität nicht kannte und den etwas, es, unmerkbar steuerte. Er war verwirrt, suchte die Eindrücke zu sortieren. Er vermischte sein neues Wissen mit alten Erfahrungen und den spärlichen Daten, die er in seinem körperlichen Leben erfahren hatte. „Gibt es noch andere Rassen als die Menschen? Welche sind die wichtigsten? Was sind die Sanvorer?“ „Es gibt in der Galaxis – laut bis jetzt vorliegenden Informationen158 Intelligenzrassen verschiedener Evolutionsstufen. Die menschliche Rasse und drei weitere stehen auf Stufe III; das heißt, sie haben eine Möglichkeit entwickelt, die Lichtgeschwindigkeit zu überschreiten. Eine Intelligenzrasse Stufe II ist bekannt, Intelligenzrassen Stufe I keine. Die übrigen Rassen befinden sich auf niederen Evolutionsstufen bis hinab zur Stufe XXVIII. Die Sanvorer sind umweltadaptierte Humanoide, Evolutionsstufe XVI B, in der 43. Siedlergeneration.“ Sein bisheriges Leben war von Tyrannei und Feindschaft geprägt. Er übertrug die Summe seiner Erfahrungen auf galaktische Verhältnisse und stellte die nächste Frage. - 48 -
„Gibt es Gegner der Föderation und der Menschen?“ „Dreiundzwanzig Jahre nach der Konstruktion des ersten Hyperraumantriebs erfolgte der erste offizielle Kontakt mit den Xcocx, deren Heimatwelt sich 20000 Lichtjahre von Terra entfernt im nördlichen Sektor der galaktischen ,Westside’ befindet. Die Xcocx sind eine intelligente, methanatmende Amphibienrasse. Sie besaßen mehr als vierhundert Terrajahre vor den Menschen den Hyperraumantrieb und verfügten über ein 18000 Lichtjahre umfassendes, lose zusammengefügtes Imperium, das Imperium Xcocx. Mit den Xcocx brachen immer wieder Kriege aus. Bisher konnte keine Seite einen entscheidenden Vorteil für sich verbuchen. In der letzten Zeit ist jedoch von einer Superwaffe der Xcocx die Rede, die dem Imperium Xcocx den entscheidenden Vorteil gegenüber der Föderation geben soll.“ Es war zuviel, was auf ihn einstürmte. Er konnte das neue Wissen so schnell nicht verarbeiten. Und noch immer wußte er nicht, wer er war. Eine Frage bewegte ihn noch, ehe er in den Zustand zurückkehrte, in dem ihm mit Hilfe von Memo-Training und Hypnoschulung Wissen und Ausbildung vermittelt wurde. „Gibt es Xcocx oder Xcocx-Stützpunkte auf Sanvor IV?“ „Nach Auswertung sämtlicher Fakten beträgt die Wahrscheinlichkeit 99,8%.“ Ein stählerner Gong hallte in seinem Bewußtsein wider, löschte jede Wahrnehmung aus. Gann kehrte zurück in die schützenden Barrieren des Tiefschlafs, der seinen Geist vor dem Zusammenbruch durch ein Übermaß von Fakten und Informationen bewahrte. * Er erwachte unter dem Memo-Trainer des Delta-Raumers. Niemand von seiner Rasse hatte ihm je einen Namen gegeben, also beschloß er, den beizubehalten, mit dem ein alter Sanvorer ihn gerufen hatte: Gann. Damit kam auch die Erinnerung an Rahman Tak wieder, den Bettlerkönig, seinen Ziehvater. - 49 -
Gann schwang sich von der flachen Liege, ein großer, braunhaariger Mann mit blauen Augen, der eine leichte, weiße Kunststoffkombination trug. Er befand sich im Med-Zentrum, in einem Nebenraum eine Etage unter der Zentrale des Delta-Raumers. Automatisch repetierte er die wichtigsten ihm bekannten Daten des Raumschiffs. Diskusform, Durchmesser 650 Meter, Höhe im Zentrum 280 Meter. Unterteilt in sechs Etagen. Ausgerüstet mit dem Prototyp der Moment-Hyperraumexitanlage. Zur Zeit der Havarie des DeltaRaumers vor 21 Terrajahren stellte das Raumschiff das beste und modernste der ganzen Föderation dar, die große Hoffnung der Menschen im Galaktischen Krieg gegen die Xcocx. Der Delta-Raumer besaß zwölf überschwere Blasterkanonen und mehrere mindere Waffensysteme. Er war durch einen dreifachen Hyperschutzschirm geschützt und verfügte über einen nahezu perfekten Ortungsschutz. Die Besatzung bestand aus zwei Dutzend Wissenschaftlern. Mehr wurden nicht gebraucht, da der Delta-Raumer vollautomatisiert war und sämtliche Systeme und Anlagen mit der Bordpositronik gekoppelt waren. Gann verließ das Med-Zentrum. Er hatte vier Terrawochen im Schiff zugebracht, zum größten Teil im Tiefschlaf. Während dieser Zeit war durch Hypno-Kurse eine Menge an Wissen in sein Gehirn gepumpt worden. Gann fuhr mit dem Aufzug hinauf in die Zentrale in der Mitte des Schiffes. Er sah Skelette in Uniform am Boden, Blaster und Vibrationsmesser, geschwärzte Schußstellen an den Wänden und einige geborstene Bildschirme. Die Wände der Zentrale waren in Speicherbänke und Maschinenanlagen, in Kraftwerk-, Reaktoren-, Feuerleit- und Systemkontrolle, positronische Steuerung und Hyperschutzschirmaufbau unterteilt. In der Mitte des kreisförmigen Raumes war der runde Leitstand des Kommandeurs, die „Brücke“. An der kreisrunden Decke konnte der Multidim-Raumkompaß aktiviert werden, anhand dessen Daten die
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Positronik vom Extracomputer die für den Hyperraumsprung erforderlichen Daten errechnen ließ. Es war Gann, als hätte er schon Jahre im Delta-Raumer zugebracht. Er kannte das Schiff von der letzten Antriebsdüse über den Antigrav bis zur Hyperfunkantenne. Selbstverständlich blieb Gann nach der vierwöchigen Schulung immer noch vieles verborgen. Doch immerhin war er in der Lage, den Delta-Raumer zu steuern und die einzelnen Systeme zu bedienen. Er aktivierte die Direktübermittlung der Positronik. Seine erste Frage galt Rahman Tak. „Wo ist der Sanvorer, mit dem ich herkam?“ „Während Ihres Aufenthalts im Med-Zentrum konnten Sie nicht gestört werden. Der Sanvorer entfernte sich nach drei Terratagen von der Halbinsel, nachdem er bis zu der zweiten Sicherungszone vorgedrungen war.“ Gann fluchte. „Warum hast du ihn nicht aufgehalten? Er war mein Freund!“ „Es lag keine Anweisung vor.“ Lange Minuten starrte Gann ins Leere. Es war zu spät, Rahman Tak zu folgen. Es käme einem Wunder gleich, wenn er noch am Leben sein sollte. Gann spürte, wie seine Augen feucht wurden. Der fette, alte, verschlagene Sanvorer war der einzige Mann auf dem ganzen Planeten, der ihm je Zuneigung entgegengebracht hatte, auch wenn er es nie deutlich gezeigt hatte. Ganns Trauer minderte die Freude über die Gewißheit, daß er kein Monstrum, sondern ein völlig normaler Mensch war. Die anderen, die Sanvorer, waren Monstren. Umweltadaptierte Humanoide, die ihre Herkunft vergessen hatten und auf die Primitivstufe zurückgefallen waren. Wenige von ihnen, die Priester und die Oberkaste, hatten mit den überlieferten Fragmenten technischen Wissens die übrigen Sanvorer
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unterjocht und beherrscht. Alle acht Städte, die von den ursprünglichen Kolonisten gegründet worden waren. Bis dann vor acht Sanvorjahren der Gouverneur den Planeten übernahm. Der Gouverneur mußte ein Wesen sein, das von einem anderen Planeten stammte, so viel wußte Gann jetzt. Er hatte die Priester und die Oberkaste schnell unterworfen, benutzte sie seither für seine Zwecke. Gann hielt es für sicher, daß der Gouverneur ein Xcocx war, ein Methanatmer. Doch vieles war ihm noch unklar, aber er würde sich Klarheit verschaffen. Gann forderte von der Positronik einen Bericht über die Probereise des Delta-Raumers. Er erhielt alle Daten und erfuhr, welches Drama sich an Bord des Räumers abgespielt hatte. Er hörte den Bericht der Geschehnisse, die vor 21 Jahren jedes Leben an Bord ausgelöscht hatten. „10.4.1834 N. Z.: Zweiter Probesprung mit Prototyp MomentHyperraumexitanlage führte plangemäß in Sektor 1234 XXA, OrionNebel, Orientierungsstern Beteigeuze. Nachforschung nach verlorenen Welten der 2. Expansionswelle fand statt. Bei der Auswertung der von ausgeschickten Spion-Sonden gesammelten Daten stellte sich heraus, daß auf dem vierten Planeten der Sonne San vor Radiosignale registriert worden waren. Laut Anordnung von Kommandant Joma Kayan wurde Sanvorsystem angeflogen. 23.4.1834 N. Z.: Nach Minimalsprung Sternhaufen erreicht, zu dem Sanvorsystem gehört. Weiterer Minimalsprung nötig, um zum Sanvorsystem zu gelangen. 25.4.1834 N. Z.: Walzenförmiger Raumer taucht aus dem Hyperraum auf. Reagiert nicht auf Kontaktversuche. Walzenraumer setzt Waffensystem ähnlich MV-Kanone auf bisher unbekannter Frequenz ein. Schutzsysteme unwirksam. Kommandant befiehlt MomentHyperraumsprung laut bereits vorliegenden Instruktionen. MomentHyperraumsprung durchgeführt, Rematerialisierung aus dem Hyperraum erfolgt 20 Lichtminuten von Sanvorsonne entfernt. Walzenraumer abgeschüttelt, Besatzung jedoch nicht mehr zu retten. Miß- 52 -
glücktes Landemanöver, da Besatzungsmitglied, Hyperraumnavigator Poul Randers, Delta-Raumer zu zerstören sucht.“ Gann unterbrach die Übertragung. „Welche Symptome lagen bei der Besatzung des Delta-Raumers vor?“ wollte er wissen. Sofort antwortete die modulationslose Stimme der Bordpositronik: „Typische Geistesverwirrung nach MV-Beschuß. Durch MolekularVibrationen wurden die in den Gehirnzellen gespeicherten Daten und Fakten total gelöscht oder verändert. Wahnsinn war die Folge. Da die Besatzung des Delta-Raumers sich dem MV-Beschuß schon nach relativ kurzer Zeit entziehen konnte, dauerte es eine Weile, bis ihr Bewußtsein völlig zusammenbrach. Nach der Havarielandung auf Sanvor IV brachte die Besatzung des Delta-Raumers sich gegenseitig um oder beging Selbstmord. Dreiundzwanzig Männer starben; eine Frau konnte das Schiff verlassen. Über ihren Verbleib ist nichts bekannt.“ „Sie ist tot“, sagte Gann. „Ich bin ihr Sohn. Wie erklärst du dir, daß ich geistig gesund bin, obwohl auch ich eine Dosis der MV-Strahlung erhielt?“ Anderthalb Sekunden dauerte es, bis die Antwort kam. „Nach Auswertung aller vorliegenden Daten wird die Erklärung, daß Sie der Sohn Rantal Vorlunns, des Konstrukteurs der MomentHyperraumexitanlage, und der Kosmobiologin Anthara Tarlak sind, als Tatsache akzeptiert. Sie behielten beim MV-Beschuß keine Schäden zurück, da Sie als Ungeborener noch keine bewußten Daten und Fakten hatten, die beeinflußt werden konnten. Ihr Gehirn bot keine Angriffsfläche.“ „Das verstehe ich. Weshalb hast du nicht eingegriffen, als die Besatzung des Delta-Raumers sich auslöschte?“ „Es lag keine Anordnung vor, die mir Entscheidungsgewalt über die Handlungen von Menschen, seien sie nun geistig gesund oder krank, eingeräumt hätte. Die letzte Anordnung von Kommandant Joma Kayan lautete, den Delta-Raumer zu schützen und eine Entdek- 53 -
kung durch Fremdintelligenzen zu verhindern. Die Anordnung wurde exakt erfüllt.“ Gann unterbrach die Kontrollverbindung, mittels derer er die Positronik befragen und ihr Anweisungen geben konnte. Obwohl er das Innere des Schiffes aufgrund der Hypnokurse kannte, machte er jetzt einen Rundgang. Der Delta-Raumer war ein perfektes Produkt terranischer Technik, eine kleine Welt für sich. Gann konnte nicht genug davon bekommen, alles an Bord zu studieren und zu erproben. Die Supertechnik faszinierte ihn. Was ihn jedoch am meisten freute, war, daß er sich als Mitglied der Föderation fühlte. Bald schon, wenn er das Rätsel des sanvorischen Gouverneurs gelöst hatte, würde er in die Föderation zurückkehren. Und nicht mit leeren Händen, sondern mit dem lange vermißten Delta-Raumer! Zunächst jedoch mußte er herausbringen, inwieweit die methanatmenden Xcocx Sanvor IV besetzt hielten und wer der geheimnisvolle Gouverneur war. * Vom Leitstand aus kontrollierte Gann das Schiff. Er trug den schimmernden Zentra-Helm, über den er unmittelbar mit der Positronik in Verbindung stand und der ihm die wichtigsten Daten und Wahrnehmungen direkt ins Gehirn übertrug, so daß er sofort entscheiden und Anordnungen geben konnte. Ganns Hände lagen auf der ringförmigen, ihn umgebenden Armaturenskala der Kontrollanlagen des Leitstands. Nachdem Antigrav und Schutzschirme aktiviert waren, erfolgte der Start. Trotz der unsanften Havarielandung vor 21 Jahren war das Schiff voll funktionsfähig. Langsam erhob es sich in den Luftraum über der Halbinsel. Gann flog mit dem planetarischen Schwebeantrieb, dessen Funktion auf dem Luftkissenprinzip basierte, knapp über den obersten Wipfeln der Urwaldriesen dahin. - 54 -
Zwanzig Kilometer vor Ngon’chylla stoppte er das Schiff. Er wußte, daß er nicht geortet werden konnte und daß eine Krümmung der Lichtwellen den Delta-Raumer für das Auge unsichtbar machte. Er nahm sich Zeit, die Stadt zu studieren und die Daten auszuwerten. Gann erkannte schnell, daß eine auf MV-Basis errichtete Kuppel Ngon’chylla vor Angriffen der Tierwelt aus dem Dschungel oder aus der Luft schützte. Die Molekularvibrationen, auf primitives Leben abgestimmt, bereiteten Sauriern, Säbelzahnvögeln und anderen Urweltkreaturen starke Schmerzen, sobald sie in den Bereich der wellenförmigen, von innerhalb der Energiekuppel über dem Gouverneurspalast abgestrahlten MV-Strahlung gerieten. Befand sich ein Tier längere Zeit innerhalb der MV-Kuppel, wurden seine Lebensfunktionen gelähmt und zerstört. Zu seiner Überraschung entdeckte Gann im Dschungel unweit von Ngon’chylla einen getarnten Flughafen, auf dem sich zwei Transportfähren und ein raumtüchtiger kleiner Kreuzer nichtmenschlicher Konstruktion befanden. Daß es auf Sanvor IV einen Raumhafen gab, wußte Gann bereits. Die Stadt Ngon’chylla war kein Problem für Gann. Nur die Energiekuppel des Gouverneurpalastes konnte er mit den Ortungsgeräten nicht durchdringen. Er wußte aber, daß große Kraftstationen und umfangreiche Anlagen erforderlich waren, um eine Energiekuppel zu erzeugen. Gann überlegte, wog das Für und Wider gegeneinander ab. Er entschied sich für einen raschen Handstreich. „Störsender auf allen Frequenzen“, ordnete er an. Als die Sender ihre Tätigkeit aufgenommen hatten, nahm Gann Kurs auf den Gouverneurspalast. Er merkte schnell, daß die Energiekuppel aus einem Hyper- und einem Sub-Schutzschirm bestand, daß mehrere Reaktoren die Energie für die Schirme, Maschinenanlagen und Geschützstationen lieferten. „Feuerleitstand I: Dreißig Sekunden Dauerfeuer aller Waffensysteme. Blasterkanonen Zentralfeuer auf Hyperfunkanlage“, befahl
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Gann. „Jetzt!“ Die Hölle brach los. „Geballte Feuerkraft auf Hyperfunkanlage!“ Gann sah, wie die bläuliche Energiekuppel an einer Stelle zu flimmern begann. Einen Sekundenbruchteil später drangen Blasterstrahlen in die dort entstandene Lücke. Ein Feuerball flammte auf. Die Hyperfunkanlage des Gouverneurs existierte nicht mehr. „Offensiv- und Defensivanlagen unter Beschuß nehmen. Alle Feuerleitstände.“ Es ging um Sekundenbruchteile. Sofort nach dem ersten Aufzucken eines Blasterstrahls hatte die Ortungsanlage des Gouverneurspalastes diesen zurückverfolgt, den Angreifer ausgemacht und die Daten an die Geschützstationen weitergegeben. Die von Gann vorinstruierte Bordpositronik vollführte ein Ausweich- und Verwirrungsmanöver, die den Antrieb und die Andrucksneutralisatoren bis an die Grenzen der Belastbarkeit beanspruchten. Währenddessen dauerte der von Gann angeordnete Feuerschlag an. Hier fand ein Duell von positronischen Gehirnen mit überlichtschnellen Schaltkreisen statt. Die Positronik des Delta-Raumers gegen die des Gouverneurspalastes. Mehrmals verfehlten die von den Geschützstationen des Palastes abgefeuerten lichtschnellen Blasterstrahlen den Delta-Raumer, der in einem irren Zickzackkurs dahin jagte. Die Blasterkanonen des DeltaRaumers – schwächer zwar, aber immer genau ins Zentrum treffend – vergrößerten die Lücke in der Energiekuppel. Ferngesteuerte Kampfraketen jagten hindurch, fanden ihr Ziel. Im gleichen Moment, als die Kampfraketen die Geschützstationen unter der Kuppel vernichteten, traf einer der von den überschweren Kanonen abgefeuerten Blasterstrahlen den Schutzschirm des DeltaRaumers. Die Andrucksneutralisatoren fielen zeitweise aus, das Schiff wurde durch die Sanvoratmosphäre gewirbelt. Während die Positronik durch Gegensteuern den Raumer wieder unter Kontrolle brachte, lag Gann im Schalensessel und verlor fast das Bewußtsein. - 56 -
Dann hing das Schiff wieder ruhig über der zum Teil zusammengebrochenen Energiekuppel in der Luft. Während des Gegensteuerns hatte der von Gann angeordnete Feuerschlag ausgesetzt. Jetzt flammten noch einmal für die restlichen drei Sekunden die Blasterkanonen auf. „Kraftstationen für Schutzschirm vernichten“, krächzte Gann. „Dann Kontaktaufnahme. Vorerst abwarten.“ Das Gefecht hatte bisher nicht mehr als fünfzig Sekunden gedauert. Eine kurze Zeit für menschliche Begriffe, eine Ewigkeit für die Positronik. „Landen“, befahl Gann. Seine Gehirnimpulse übermittelten der Positronik, daß er die Stelle direkt vor der südlichen Eingangsschleuse der Silberkuppel als Landeplatz auserkoren hatte. Einer der Bildschirme im Raumschiff flammte auf und zeigte das von Entsetzen verzerrte Gesicht eines älteren Sanvorers. „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“ fragte er. „Geben Sie mir Ihren Namen und Ihren Stand“, ließ Gann übermitteln. „Die Fragen stelle ich!“ „Ratsherr Athgol. Mitglied des Achterrats.“ „Ich verlange einen Kontakt mit dem Gouverneur. Ich spreche nicht mit niederen ausführenden Organen.“ Athgol, einer der acht mächtigsten Männer des Planeten, schnappte nach Luft. „Der Gouverneur meldet sich seit dem Angriff nicht mehr“, antwortete er. „Es ist zu befürchten, daß er zu Schaden gekommen ist.“ „Das werde ich gleich feststellen, Rat Athgol. Sie warne ich dringend, irgendeine Aktion zu versuchen. Sollte ein Angriff auf mein Raumschiff erfolgen, werde ich den gesamten Gouverneurspalast vernichten.“ Diese Absicht hatte Gann nicht, denn er wollte den Gouverneur lebend haben, um von ihm die Informationen zu bekommen, die er brauchte. Doch Athgol wußte das nicht. - 57 -
„Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß wir ein Hilfsvolk der Xcocx sind und den Schutz des Imperiums genießen“, sagte er. „Xcocxcah ist weit, ich bin nahe. Eine Offensive, gleich wie geringfügig, und kein Methanatmer wird Sie und alle anderen vor meinem Vergeltungsschlag schützen.“ Athgols Gesicht verschwand. Gann übermittelte der Positronik seine Anweisungen. Er legte eine Kampfkombination an, aktivierte den Sub-Schutzschirm und bewaffnete sich mit Blaster, Vibrationsmesser und mehreren Lichtbomben. Dann forderte er ein Dutzend schwerer Kampfroboter der A-Klasse an. Als Gann den durchsichtigen Kopfhelm mit dem Funkmikrophon schloß, war er von der Umwelt hermetisch abgeschlossen. Die helle Kampfkombination war konsistent bis zu Temperaturen von 1000 Grad Celsius und säurewiderstandsfähig. Selbstverständlich verfügte sie über eine eigene Sauerstoffversorgung. Ein Antigravgerät, mit einem Schraubenrotor gekoppelt, ermöglichte die Fortbewegung durch die Luft oder durchs Wasser. Der Delta-Raumer war direkt vor der gesprungenen Silberkuppel gelandet. Gann verließ das Raumschiff durch die Bodenluke. Zwölf schwere Kampfroboter folgten ihm. Er schwebte durch die Luft auf die Südschleuse zu. Gleichzeitig mit ihm landeten die modernen, flugfähigen Kampfroboter. Die Schleusentür war verschlossen. Auf ein Zeichen Ganns flammte der schwere Blaster eines der Kampfroboter mehrmals kurz auf. Das Kombinationsschloß löste sich in der Hitze des konzentrierten Quantenstrahls auf. Zwei Kampfroboter öffneten das schwere Schleusenschott. Gann trat ein. Er stand mit der Positronik des Raumschiffs in unmittelbarem Kontakt, und er glaubte nicht, daß es jemand wagen würde, durch einen Angriff auf ihn einen Vergeltungsschlag herauszufordern. Als Gann die Schleusenkammer verließ, gelangte er in einen von einer grünlichen Methanatmosphäre erfüllten Gang.
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Damit war es sicher, daß sich in der Kuppel zumindest ein Xcocx befand, ein Angehöriger jener intelligenten, kriegerischen Amphibienrasse, die auch auf dem Festland leben konnte. Gann eilte durch Gänge, Räume und Säle. Er stürmte durch eine Kommandozentrale, deren Bildschirme und Kontrollen das ganze Ausmaß der vom Delta-Raumer angerichteten Zerstörung verrieten. Noch war er auf kein Lebewesen gestoßen. In der mittleren Etage befanden sich Aufenthaltsräume, entsprechend dem Geschmack der Xcocx mit fremdartiger Vegetation und undefinierbaren Gegenständen ausgestattet. Gann ließ einen der Robots ein Zwischenschott öffnen. Ein Schwall flüssigen Chloroforms flutete aus dem darunterliegenden Raum. Gann ließ das Schott sofort wieder schließen. Am Durchgang zur oberen Etage stellten sich ihm acht Kampfroboter der Xcocx’schen A-Klasse entgegen, Kolosse, die er früher einmal als metallene Kämpfer bezeichnet hatte. Gann schickte seine Kampfroboter mit Lichtbomben und Vibrationsmessern vor. Ein kurzer, harter Kampf entbrannte. Dann waren drei von Ganns Kampfrobotern und die acht gegnerischen zerstört. In der oberen Etage, in der wie in der mittleren eine Außentemperatur von 86 Grad Minus herrschte, fand Gann sich zunächst nicht zurecht. „Ein Teil der Kuppel gleitet zur Seite“, hörte Gann die Meldung der Positronik des Delta-Raumers. „Ein Raumkreuzer wird sichtbar. Er ist startbereit.“ „Start verhindern“, befahl Gann. „Bei Gegenwehr kampfunfähig schießen.“ Kampfroboter öffneten ein schweres Zwischenschott. Gann sah unter freiem Himmel den Xcocxkreuzer. Der Raumkreuzer wollte von der Startplattform abheben, doch ein Blasterkanonenschuß aus dem über der geöffneten Kuppel schwebenden Delta-Raumer traf die Antriebsdüsen. Innerhalb des Raumkreuzers erfolgte eine Explosion der von der Hitze des Strahlschusses entzündeten Methanatmosphä-
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re. Für kurze Momente schossen an mehreren Stellen Flammen aus dem Raumkreuzer. Eine der Landestützen des pyramidenförmigen Schiffes brach. Wieder hörte Gann eine Meldung der Positronik des DeltaRaumers. „Arth-Thak, der für Sanvor IV zuständige Xcocx, ergibt sich. Er ist schwer verwundet und bittet darum, sein Dasein in Frieden beenden zu dürfen.“ „Er schuldet mir zuvor einige Informationen“, sagte Gann. „Schicke Med- und Arbeitsrobots auf einer Schwebeplattform. Bereite alles für die Übernahme, die medizinische Versorgung und das Hypnoverhör des Xcocx vor.“ * Arth-Thak hatte innere Verletzungen und Verbrennungen davongetragen und sich schmerzbetäubende Mittel injiziert, bevor Ganns Robots ihn aus seinem Raumkreuzer holten. Er war kaum noch ansprechbar. Es konnte nur noch eine Frage von Minuten sein, bis das Leben den Körper des Methanatmers verließ. Der Xcocx lag unter dem Methanzelt auf der Krankenstation des Delta-Raumers in einem Bad aus Chloroform. Er trug einen Detektorhelm, unter dem er Ganns Fragen beantworten mußte. Der Methanatmer hatte für menschliche Begriffe eine bizarre Gestalt. Er war 1,50 Meter hoch und fast ebenso breit, besaß vierzehn zerbrechlich wirkende Beine mit Schwimmfüßen unter dem wuchtigen Rumpf. Um die Körpermitte herum hatte der Xcocx drei Extremitäten, die in handähnlichen Gliedern mit Schwimmhäuten zwischen den sieben klobigen Fingern endeten. Das Oberteil war von einem zarten, feuchten Haarpelz bedeckt, zwischen dem einige Fühlerfortsätze wuchsen. Der Kopf des Xcocx saß ohne Übergang auf dem Rumpf. Er wirkte fast quadratisch, wies ein großes Fischauge, Kiemenöffnungen und eine Mundöffnung mit Kauknorpeln auf. - 60 -
Außer dem Haupthirn im Kopf hatte der Xcocx noch ein kleineres Rassehirn in der Körpermitte, das seine Lebensfunktionen steuerte. Er konnte in einem Chloroformsee oder -ozean die Flüssigkeit, die sein Lebenselement war, durch eine Ansaugöffnung im Rücken aufnehmen und mit hohem Druck zwischen den vierzehn Beinen wieder ausstoßen. So war es ihm möglich, sich trotz seines plumpen Äußeren mit großer Geschwindigkeit in seinem flüssigen Lebenselement fortzubewegen. Gann mußte sich mit dem Verhör beeilen, sonst starb ihm der Xcocx unter den Händen. „Wie viele Xcocx gibt es auf diesem Planeten?“ fragte er. Durch den Detektorhelm wurde dem Methanatmer die Frage übermittelt. Zugleich zwang ihn ein hypnotisch gesteuertes Schmerzempfinden, das auch die injizierten Mittel nicht ausschalten konnten, sie zu beantworten. „Ich bin der einzige Xcocx auf Sanvor IV“, antwortete Arth-Thak. „Laß mich meine Existenz in Frieden beenden, wie es jedem Intelligenzwesen zusteht, und peinige mich nicht mit deinen Fragen, Terraner. Ich leide trotz der Narkotika unter starken Schmerzen.“ „Du hast einen ganzen Planeten tyrannisiert und vielen Wesen Schmerzen, sogar den Tod, zugefügt, Arth-Thak. Du wirst meine Fragen beantworten. – Wo ist der nächste Stützpunkt der Xcocx?“ Gann erfuhr, daß sich 1300 Lichtjahre entfernt eine Raumfestung der Xcocx befand, ein aus seiner Bahn gerissener und für diesen Zweck ausgebauter Planet. Gann erhielt die Angaben des Raumsektors und die Erklärung, wie er die Koordinaten für den Hyperraumsprung errechnen lassen könne. Anhand einer charakteristischen Sechsergruppe von Blauen Riesensonnen innerhalb einer Dunkelwolke war es nicht schwer, die Sonne zu finden, die der Festungsplanet umkreiste. Die Raumkarten der Xcocx und der Menschen unterschieden sich wenig. Die letzten Angaben des Xcocx waren verworren und kaum noch verständlich. Der Tod griff nach ihm. - 61 -
„Wo ist der nächste Stützpunkt der Terranischen Föderation Loyaler Welten?“ „Es ... gibt keine ... Föderation mehr.“ „Was? Was sagst du da, Arth-Thak? Was ist mit den Menschen?“ „Der Große Krieg ... Die Föderation vernichtet... Die Menschheit zersprengt und fast ausgerottet ... Nur noch wenige Menschen sind am Leben ... Auf Planeten der Xcocx als ...“ „Antworte! Beantworte meine Fragen, hörst du!“ Gann war sich nicht bewußt, daß er schrie. „Was ist mit den Menschen?“ Nur noch wirre Laute und unverständliche Worte drangen aus der Übersetzungsanlage. Der Tod löste Arth-Thaks Bewußtsein aus. Nur einmal noch verstand Gann ein paar Worte. „... keine Menschen mehr ...“ Dann war Stille. * Drei Sanvortage später verließ Gann den Planeten, den er für seine Heimatwelt gehalten hatte. In Ngon’chylla hatte er erfahren, daß Rahrnya und Anslag, der sie zu schützen versucht hatte, von Häschern des Gouverneurs getötet worden waren. Rahman Tak, der Bettlerkönig, war spurlos verschwunden. Gann hatte in allen acht Städten die silberne Kuppel zerstört, die dem Xcocx-Gouverneur als Unterkunft gedient hatte. Ein allgemeiner Aufstand hatte die Herrschaft der Priester und der Oberkaste beendet. Zur Zeit gehörte Sanvor IV den Sanvorern. Es hielt Gann nicht auf der Urzeitwelt. Er war vom höchsten Gipfel der Hoffnung in den tiefsten Abgrund der Verzweiflung gestürzt worden. Er war einsamer als je zuvor. Kurze Zeit hatte er sich für einen strahlenden Helden gehalten, für den Abkömmling einer Rasse, die ein riesiges Sternenreich beherrschte. Die letzten Worte des sterbenden Xcocx hatten diesen Traum zerstört.
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Mit annähernder Lichtgeschwindigkeit verließ Gann das System der Doppelsonne und ihrer sechs Planeten.
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* Siebenhundert Lichtjahre vor dem System der Terrasonne rematerialisierte der Delta-Raumer nach seinem ersten Hypersprung im Normalraum. Zehn Tage hatte die Reise durch den Hyperraum gedauert. Kein irdisches Schiff und auch keines der Xcocx und anderer Intelligenzrassen der Evolutionsstufe III vermochte eine größere Entfernung als 1000 Lichtjahre per Hyperraumsprung zurückzulegen. Eine Ausnahme machten die Kugelraumer der Quoons, einer uralten Rasse der Evolutionsstufe II, die nur noch aus wenigen tausend Mitgliedern bestand. Die Quoons begnügten sich damit, die Struktur und die Gesetze des Universums zu studieren. Sie beherrschten Dimensionen, die die Menschen noch nicht einmal kannten, und sie überwanden selbst die ungeheuren Entfernungen von Millionen von Lichtjahren zwischen den Galaxien. Die Quoons hatten keinerlei Interesse, Macht oder Kontrolle über andere Rassen auszuüben. Ihre Kugelraumer tauchten nur selten und sporadisch auf, behielten grundsätzlich die Distanz des unbeteiligten Beobachters bei, was sie auch sahen. Schon kurze Zeit nach der Rematerialisierung erfolgte der zweite Hyperraumsprung. Der Extracomputer der Bordpositronik errechnete mit Hilfe des Mehrdim-Raumkompasses in der Zentrale die Exitkoordinaten. Sieben weitere Tage später rematerialisierte der DeltaRaumer wenige Lichtminuten vom neunten Planeten Pluto entfernt. Gann flog mit Lichtgeschwindigkeit ins Sonnensystem ein. Er drosselte die Geschwindigkeit und umkreiste den dritten Planeten, die Erde. Nichts war mehr zu sehen von grünem Land, von gelben Wüsten und blauen Meeren und Ozeanen. Auf Terra gab es kein Leben mehr. Der Planet war ein ausgeglühtes Rotationsellipsoid, dessen Oberfläche aus einer erstarrten EisenMagnesium-Verbindung bestand.
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Kein Hyperfunksignal, keine Radionachricht wurde empfangen. Die Menschheit schwieg. Auf dem Mond gab es einige riesige neue Krater, die auf keiner Mondkarte verzeichnet waren. Luna-Port, die innerste Raumfestung des Sonnensystems, und die riesigen Mondobservatorien waren verschwunden. Im ganzen Sonnensystem gab es keine Spur menschlichen Lebens mehr, außer einer Erzabbaustation, die verlassen den Jupiter umkreiste. Nun wußte Gann, daß Arth-Thak die Wahrheit gesprochen hatte. Trotzdem suchte er noch einige weitere bedeutende Welten der Föderation auf. Überall bot sich das gleiche Bild. Die Städte, die Raumhäfen und Maschinenanlagen waren zerstört, die Menschen tot oder verschwunden. Es gab keine Föderation mehr. Der Große Krieg hatte sie ausgelöscht. Nicht einmal eine der interstellaren Relaisstationen, die den Hyperfunkverkehr innerhalb des gesamten Bereichs der Föderation ermöglicht hatten, konnte Gann finden. Nachdem er die tiefe Niedergeschlagenheit und Resignation überwunden hatte, erfüllte ihn Haß. Wenn es keine Menschheit mehr gab, dann wollte auch er sterben, doch nicht von eigener Hand, sondern im Kampf. Zuvor aber wollte er den Xcocx soviel Schaden zufügen, wie es nur möglich war. Kein anderer als die Methanatmer konnten die Föderation zerschlagen haben. Keine andere Intelligenzrasse der höchsten Evolutionsstufen hatte sich mit den Menschen und ihren Bündnispartnern, den umweltadaptierten Humanoiden, im Kriegszustand befunden. Gann kehrte in den Orionnebel zurück, wo er seinen Ein-MannKrieg gegen die Xcocx zu beginnen gedachte. Sein erster Angriff galt der Planetenfestung der Xcocx, 1300 Lichtjahre vom Sanvorsystem entfernt, von der ihm Arth-Thak berichtet hatte. Mit aktivierten Schutzschirmen und Ortungsschutz flog Gann in die kosmische Dunkelwolke ein. Er fand die charakteristische Gruppe von Blauen Riesensonnen. Nun war es leicht, Hyperfunksprüche der Xcocx aufzufangen und die - 65 -
Zentralstelle ausfindig zu machen, von der sie kamen oder an die sie gerichtet waren. Gann fand schnell die Planetenfestung, die einen der sechs blauen Riesen im Abstand von zwei Lichtstunden umkreiste. Die Festung der Xcocx war der einzige Planet der intensiv strahlenden blauen Riesensonne. Gann blieb in respektvollem Abstand, da er aufgrund der Masse seines Raumschiffs sicher bereits im Anflug geortet worden wäre. Ein Miniatur-Hyperraumsprung bot ebenfalls keine Lösung, da ein gewisser Sicherheitsabstand zum Schwerefeld des Planeten eingehalten werden mußte und nach der Rematerialisierung immer noch eine Strecke von mehreren hunderttausend Kilometern zurückzulegen war, um in Angriffsposition zu kommen. Es blieb Gann nichts zu tun, als abzuwarten. Mit einem kleinen EinMann-Aufklärer, der sich aufgrund seiner geringeren Masse bis auf weniger als hunderttausend Kilometer an den Festungsplaneten heranwagen konnte, unternahm Gann einige Erkundungsvorstöße. Zum erstenmal wurde er richtig mit den technischen Möglichkeiten der Xcocx konfrontiert. Der Festungsplanet, ursprünglich ein im Raum treibender Irrläufer ohne Leben und Atmosphäre, war von den Xcocx auf seine Umlaufbahn um den Blauen Riesen gebracht worden. Die Xcocx hatten künstlich eine Methanatmosphäre aufgebaut und Chloroformozeane erzeugt, eine ihnen genehme Umwelt geschaffen. Der Planet war zu einer gigantischen Festung ausgebaut worden. Es gab riesige Reparaturwerften, mehrere Raumhäfen, Hyperfunksender und Hunderte von Waffenkuppeln. Eine ganze Flotteneinheit von hundert Schlachtschiffen der Gigant-Klasse und etwa fünfhundert leichten Kreuzern und Raum Jägern war ständig in Bereitschaft. Gann versuchte, die Hyperfunkmeldungen der Xcocx abzuhören, doch es gelang ihm nicht, sie zu dechiffrieren. Auch unter konstantem Einsatz der Positronik des Delta-Raumers konnte Gann den Schlüssel nicht finden, mit dem er den Kode hätte entziffern können. Immer wieder rematerialisierten Flottenverbände Xcocx’scher Pyramidenraumer im Bereich der Blauen Riesensonnen. Die Xcocx mußten irgendwo in einen neuen Galaktischen Krieg verwickelt sein, - 66 -
denn zu jedem Flotten verband gehörte mindestens ein gigantischer Bergungstender mit havarierten Raumern, die nicht mehr mit eigenem Antrieb flugfähig waren. Viele der Schiffe, die auf dem Festungsplaneten landeten, wiesen starke Beschädigungen auf. Ganns Haß auf die Rasse der Methanatmer, die sich nach der Zerschlagung der Föderation sofort an die Unterwerfung der nächsten Intelligenzrasse machte, wuchs noch. Er machte eine Entdeckung, die ihm sehr zustatten kam. Die XcocxRaumer benötigten eine Zeit von zehn Terrastunden, um den Eintritt in den Hyperraum durchzuführen. Sie verfügten also noch nicht über die Moment-Hyperraumexitanlage, was Gann einen großen Vorteil verlieh. Mit dem Erlöschen der Menschheit waren auch ihre Forschungsergebnisse verschollen. Gann verfügte somit über das modernste Raumschiff, das eine Rasse der Evolutionsstufe III je entwickelt hatte. Als er das erkannte, war ihm klar, wie er die Xcocx bekämpfen mußte. In der Folgezeit entwickelte Gann eine interstellare Guerillataktik. Er griff in der Nähe des Festungsplaneten im Normalraum rematerialisierende Flotteneinheiten an, zerschoß im blitzschnellen Vorstoß so viele Xcocx-Raumer, wie er konnte, und entzog sich dem Vergeltungsschlag durch den Moment-Hyperraumexit. Den Methanatmern war das plötzliche Verschwinden des DeltaRaumers ein Rätsel. Es gelang ihnen nie, den Gegner zu packen. Gann entwickelte seine Taktik zur Perfektion und bot der geballten Macht des Imperiums der Xcocx die Stirn. Er überfiel und zerschoß kleinere Raumhäfen, vernichtete HyperfunkRelaisstationen, griff schwächere Flottenverbände an. Ein paarmal wurde der Delta-Raumer bei solchen Gefechten beschädigt, konnte aber immer mit Bordmitteln wieder instandgesetzt werden. In allen Randbezirken des Imperiums der Xcocx tauchte Gann auf. Im Bereich der sechs Blauen Riesensonnen wurde seinetwegen ein kompliziertes System von Massendetektorortern eingerichtet, das - 67 -
jeden aus dem Hyperraum auftauchenden Körper sofort aufgrund seiner Substanz anpeilte. Gegen die Massendetektororter half kein Ortungsschutz. Gann entkam einem massierten Angriff einer ganzen Flotteneinheit in der Nähe des Festungsplaneten im Bereich der Blauen Riesensonnen nur mit knapper Not. Von da an mied er diesen Raumsektor. Doch die Xcocx konnten nicht überall ein so kompliziertes und teures Ortungssystem errichten. Es gab genug Angriffspunkte für Gann. Sechs Terrajahre führte er einen erbitterten Kampf gegen die Xcocx. Überall beunruhigte er die Grenzen des riesigen, sich über einen Bereich von 18000 Lichtjahren mit 35 Milliarden Sonnen erstreckenden Xcocx-Imperiums. Von dieser ungeheuren Anzahl Sonnensysteme wiesen etwa neuntausend Stützpunkte und Kolonisationswelten der Xcocx oder von Abkömmlingen der Xcocx-Rasse auf. Da die Kommunikation im Bereich des Imperiums durch die riesigen Distanzen äußerst schwierig und umständlich war, hatte Gann immer einen guten Vorsprung vor seinen Verfolgern. Die Xcocx hatten eine Sondereinheit zur Verfolgung des Delta-Raumers abgestellt. Wenn Gann irgendwo einen raschen Feuerüberfall wagte, tauchten unweigerlich einige Zeit später im betroffenen Sektor drei Schlachtschiffe der Gigant-Klasse mit zwei Dutzend kleineren Trabanten auf. Die einzigen Spuren aber, die Gann hinterließ, waren Raumschiffwracks, zerstörte Raumhäfen und Stützpunkte, die stark angeschlagen waren. Der Delta-Raumer war ein Phantom, das die Kriegsflotte der Xcocx nicht zerstören konnte. Es war Gann klar, daß seine Aktionen lediglich Nadelstiche waren, schmerzhaft zwar, doch keinesfalls eine ernsthafte Bedrohung für das Imperium Xcocx. Er lebte der Zerstörung und seinem Haß, aber er fand keine Befriedigung. Immer und überall suchte er mit verzweifelter Hoffnung im Herzen nach einer letzten Bastion oder nach versprengten Überresten der Menschheit. Doch er fand nichts, nur tote, zerstörte Welten außerhalb des Machtbereichs der Xcocx, vernichtete
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Raumfestungen und Fragmente von Hyperfunk-Relaisstationen, Flotten und Bergungstendern. Gann stieß auf einige Welten mit humanoiden Bewohnern, die sich sämtlich auf niedrigen Evolutionsstufen befanden. Drei dieser Welten außerhalb des Imperiums Xcocx wurden von den Methanatmern kontrolliert und ausgebeutet, mit ähnlichen Methoden, wie sie Gann von Sanvor IV kannte. Er zerstörte die Stationen und Raumhäfen der Xcocx auf diesen Planeten. Bisher hatte Gann noch nicht in Erfahrung bringen können, mit welcher Rasse sich die Methanatmer bekriegten. Er wußte jedoch, daß der Krieg hauptsächlich im Zentrum der Galaxis ausgetragen wurde und die Gegner der Xcocx aus dem Nordsektor der galaktischen „Eastside“ stammten. Nach sechs langen Jahren der Einsamkeit und einer aus Verzweiflung geborenen, wilden Kampfeswut entschloß sich Gann, mit den Feinden der Xcocx Verbindung zu suchen. Er war nun sicher, daß es keine Stützpunkte der Menschheit und ihrer humanoiden Abkömmlinge höherer Evolutionsstufen mehr gab. Die galaktische „Eastside“ hatte Gann bisher noch nicht aufgesucht. Es war sein erster Vorstoß in diese Richtung, und Gann gedachte, sein Ziel mit etwa vierzig aufeinanderfolgenden Hyperraumsprüngen zu erreichen. * Nach dem fünften Hyperraumsprung befand sich Gann im Bereich des galaktischen Zentrums. Nachdem er aus reiner Gewohnheit versucht hatte, von Menschen stammende Hyperfunksendungen aufzufangen, dabei aber erfolglos blieb, ging er erneut in den Hyperraum. Da kein Instrument etwas anzeigte, war es praktisch unmöglich, auf ein anderes Raumschiff zu stoßen. Um so erstaunter war Gann, als am vierten Tag im Hyperraum – Gann lebte nach der Terra-
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Standardzeit, die überall in der Föderation als Zeiteinteilung gedient hatte – die Bildsprechanlage anschlug. Gann ging auf Empfang. Ein leuchtendes Sonnensymbol im Zentrum zweier gegeneinander stehender Dreiecke erschien. Gann wußte nicht, was das sein konnte. Er wandte sich an die Positronik und fragte an, ob dieses Symbol im Datenspeicher enthalten sei. Die Antwort kam sofort. „Es handelt sich um eine Kontaktaufnahme der Quoon. Da die technischen Möglichkeiten dieser Rasse denen der Terraner absolut überlegen sind, ist ein friedlicher Kontakt auf jeden Fall zu empfehlen. Bitte vermeiden Sie jeden Affront.“ „Schon gut, ich bin keine hirnlose Kampfmaschine, die nichts kann, außer Blasterkanonen abzufeuern“, sagte Gann. In seiner Einsamkeit hatte er sich angewöhnt, mit der Positronik wie mit einem Menschen zu sprechen. Er sendete das Erkennungssymbol der Terranischen Föderation Loyaler Welten. Immer noch stand auf dem Bildschirm das Symbol der Quoon. Geräusche hallten durch Ganns Delta-Raumer. Ein Rucken ging durch das Schiff. Das verwaschene Grau des Hyperraums verschwand von den Bildschirmen. Statt dessen wurden feste Wände aus einem unbekannten, weißen Material sichtbar. „Ortung“, rief Gann. „Wo sind wir? Was umgibt uns?“ Die modulationslose Stimme der Positronik antwortete: „Wir sind in einem würfelförmigen Raum, Durchmesser 1000 Meter, eingeschlossen und werden von Zug- und Magnetstrahlen festgehalten. Das uns umgebende Material ist unidentifizierbar. Eine Molekülanalyse kann nicht erfolgen.“ „Was heißt das? Weshalb nicht? Können die Grundmoleküle des Materials nicht bestimmt werden, da sie unbekannt sind?“ „Nein. Die eigentliche Analyse kann nicht stattfinden. Das bedeutet, daß das uns umgebende Material nicht nur in diesem Raum-ZeitKontinuum existiert.“ - 70 -
„Eine andere Dimension also.“ Gann wandte sich der Bildsprechanlage zu. „Melden Sie sich! Aus welchem Grund haben Sie mich gefangengenommen? Ich verfolge keinerlei feindliche Absichten gegen Sie und verlange eine Aufklärung.“ Keine Antwort. Das Sonnensymbol und die Dreiecke, ineinander verschachtelt, blieben weiter auf dem Bildschirm. Sein hartes Leben hatte Gann nicht zum Zauderer gemacht. Er reagierte wie jeder Mensch, der sich in einer ihm unbekannten Umgebung festgehalten sieht. Er versuchte auszubrechen. „Zum letzten Mal, geben Sie mir eine Erklärung für Ihre Handlungsweise, sonst muß ich diese als feindlich betrachten.“ Wieder keine Reaktion. „Blasterkanone Drei: Dauerfeuer!“ befahl Gann. Am Instrumentenbord leuchtete ein rotes Licht auf. Zeiger tanzten auf Skalen. Über einen der Oszillographen hüpfte eine Zackenlinie. Gann glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Der starke Quantenstrahl der Blasterkanone, dem keine Substanz widerstehen konnte, wurde von der weißen Wand einfach absorbiert. Der Blasterstrahl traf die Wand voll, verschwand einfach darin. „Eine Kampfrakete – ab! Automatische Kanonen: Feuer!“ Nichts geschah. Gann wollte nach ein paar Sekunden den Befehl schon wiederholen, da meldete sich die Positronik: „Kampfraketen können nicht gestartet werden. Feuerimpuls erreicht automatische Kanonen nicht.“ Eine kurze Pause, dann wieder die modulationslose Stimme: „Mein Logiksektor sagt mir, daß Widerstand in diesem Fall zwecklos ist und die Lage nur verschlimmern kann. Sie sollten sich ergeben.“ Gann zuckte die Achseln! Er sah weiter zu, wie der Blasterstrahl, die stärkste ihm bekannte Waffe in der Galaxis, wirkungslos von der weißen Wand absorbiert wurde. „Sie sollten nicht Ihre Kraft zwecklos vergeuden“, sagte eine Stimme in akzentfreiem Sol-Terranisch. „Wir haben Ihr Schiff an Bord unseres Raumers genommen, da wir mit Ihnen bestimmte Pläne ver- 71 -
folgen. Sie befinden sich in einer Dimensionskammer, die Sie aus eigener Kraft nicht verlassen können.“ „Wer sind Sie?“ „Meine Namensbezeichnung würde Ihnen nichts sagen. Nennen Sie mich Alpha. Ich gehöre zu der Rasse, die Sie als Quoon bezeichnen.“ „Zeigen Sie sich mir.“ „Wenn Sie die nutzlose, kraftverschwendende Demonstration Ihres Waffensystems abbrechen, können Sie in einen für Ihre Verhältnisse hergerichteten Aufenthaltsraum an Bord unseres Raumers kommen. Dort werde ich mit Ihnen sprechen.“ Gann überlegte nur kurz. „Gut, ich komme. Können Sie mich von der Druckschleuse meines Raumschiffs abholen lassen?“ „Ja.“ „Feuer einstellen“, sagte Gann. „Ständige Bereitschaft in Alarmstufe Zwei. Wenn ich in drei Terrastunden nicht zurück bin, vernichtest du dich selbst, verstanden?“ „Befehle ausgeführt“, bestätigte die Positronik. „Ihre letzte Frage ist als rhetorisch zu betrachten. Da der Zentra-Helm funktioniert, verstehe ich all Ihre modulierten Willensäußerungen.“ „Maschinentrottel.“ Gann setzte den Zentra-Helm ab. Er wählte eine Kampfkombination, ließ von einem Servo-Robot ein halbes Dutzend Lichtbomben bringen. Zudem trug er die übliche Bewaffnung: Blaster und Vibrationsmesser. „Schleuse öffnen.“ Gann verließ die Zentrale, raste in der Antigrav-Liftkabine zur Schleusenkammer. Bevor er sie betrat, musterte er die Kontrollen. Außerhalb des Schiffes herrschte das Vakuum des Hyperraums. Gann schloß den Helm. Er trat in die Schleusenkammer. Das äußere Schott stand offen. Gann sah sich um. Der große Raum, in dem das Delta-Schiff bewegungslos hing, war von einer von keiner bestimmten Stelle ausgehenden Helligkeit erfüllt. Die Außenhülle des Delta-Raumers, an
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manchen Stellen von Blastertreffern der Gefechte der letzten Jahre geschwärzt, glänzte. Im einen Augenblick stand Gann noch in der Schiffschleuse, im nächsten befand er sich in einem modern eingerichteten Aufenthaltsraum. Er wußte aus Archivfilmbändern des Delta-Raumers, daß die Aufenthaltsräume für Luxuspassagiere an Bord von Transportraumern der Föderation so ausgestattet gewesen waren. Die Schwerkraft betrug genau 1,0 g. Ob wohl die Luft atembar war? „Selbstverständlich“, sagte eine Stimme. „Fühlen Sie sich hier wie zu Hause.“ Gann zuckte zusammen. Die technischen Möglichkeiten der Quoon waren wirklich ungeheuer. Sie besaßen nicht nur Materietransmitter, um ihn von seinem Schiff in diesen Raum zu transportieren, sie konnten auch seine Gedanken lesen. „Gedanken sind in mehreren übergeordneten Dimensionen durchaus greifbare, reale Dinge“, sagte die Stimme wieder. „Erfaßbar und mit einer gewissen Energie ausgestattet.“ Gann drehte sich um. Langsam öffnete er seinen Helm. Die Luft war würzig, die Temperatur angenehm. Der Körper des Quoon war nicht genau wahrzunehmen. Er befand sich in einem hellen Licht, dessen Konturen ständig verschwammen. Der Körper hatte keine sichtbaren Gliedmaßen. Der Kopf, der auf diesem hellen Lichtkörper saß, wurde von zwei großen, runden, goldfarbenen Augen beherrscht, über denen viele verschiedenfarbige Fühler und Sensoren wuchsen. Der Kopf des Quoon war oval und haarlos. Unter den Augen befand sich ein weißer Rüssel, ähnlich dem verkleinerten Rüssel eines terranischen Elefanten, der am Ende eine rudimentäre Greifhand aufwies. Von Gestalt war der Quoon größer als Gann, etwa zwei Meter. Sein Kopf machte ein Drittel des Körpers aus. „Nehmen Sie die Haltung ein, die Ihnen am bequemsten ist“, sagte der Quoon, „setzen Sie sich. Jedem intelligenten Wesen steht eine Aufklärung zu, wenn ein Eingriff in seine Lebenssphäre erfolgt. Diese - 73 -
soll Ihnen nicht vorenthalten werden. Ich bin Alpha. Sie können mich als Kommandanten dieses Raumers ansehen, obwohl wir eigentlich alle in einem gleichberechtigten Kollektiv leben. Doch ich bin der, der für die Führung des Raumers zuständig ist.“ Gann ließ sich in einen weichen Sessel sinken. Jetzt erst nahm er wahr, daß ein angenehmer Duft den Raum erfüllte. Eine leise Melodie war zu hören. Ein Pseudofenster zeigte einen Ausblick auf einen terranischen Wald. Gann sah die grünen Blätter, glaubte förmlich, sie im Wind rauschen zu hören. Jäh griff es ihm ans Herz. Terra! Vorbei! Die Waldszenerie verschwand; statt dessen sah Gann neutralen, strahlendblauen Himmel. „Verzeihen Sie, ich will Sie nicht quälen“, sagte Alpha. „Eine Gedankenlosigkeit.“ Gann konnte keinen Vokalisator bemerken. Trotzdem hörte er Alphas Worte in Terranisch, gesprochen von einer sonoren, vertrauenerweckenden Stimme. Der Quoon stand vor ihm. „Wenn Sie mich nicht quälen wollen Alpha, wenn Sie so um mein Wohl besorgt sind, weshalb lassen Sie mich dann nicht meinen Flug fortsetzen? Ich nehme an, Sie haben mich aus einem bestimmten Grund an Bord geholt“, sagte Gann. „Allerdings. Wir Quoon sind nur wenige Tausend. Die meisten von uns sind des Daseins überdrüssig geworden und haben sich in die Urdimensionen begeben. Wir noch Existierenden aber sind im ganzen Kosmos verstreut, besuchen alle Galaxien und durchreisen die Dimensionen. Wir leben unseren Forschungen, gewinnen immer neue Erkenntnisse. Unsere Lebensspanne wird in Hunderttausenden von Ihren Jahren gemessen. Was für Sie tausend Jahre sind, ist für uns ein Tag.“ „Brauchen Sie mich für Ihre Forschungen, Alpha?“ „Sie sind ungeduldig, wie alle Kurzlebigen. Ihre Zwischenfrage beweist das. Sie werden bald verstehen, Terraner. – Vor hundert Millionen Jahren war unser Volk wie das Ihre, oder das der Xcocx oder ein anderes der Evolutionsstufe III. Damals beherrschten wir Hun- 74 -
derte von Galaxien, durchstreiften viele weitere und waren bestrebt, uns ständig neue einzuverleiben. Auch wir kannten Kämpfe und Kriege, Vernichtung und Zerstörung. Wir waren immer auf der Suche nach Neuem. Erst als unsere Rasse älter wurde, erkannten wir, daß Wissen und Erkenntnis mehr bedeuten als Macht. Im Laufe von vielen Millionen Jahren nahmen wir immer mehr eine Forschungsund Kontrollfunktion ein. Die Vernichtung der Terranischen Föderation Loyaler Welten entging unserer Aufmerksamkeit nicht. Ein Vorgang, wie wir ihn in anderen Galaxien schon viele Male gesehen hatten. Rassen steigen auf im Laufe der Evolution, oder sie gehen unter. Das ist ein Lebensgesetz. Eine Rasse schien in dieser Galaxis die Herrschaft anzutreten. Alles verlief, wie es verlaufen sollte. Dann kamen Sie mit dem Delta-Raumer.“ „Ist das Auftreten eines einzelnen Mannes so wichtig?“ „Alles ist wichtig, der kleinste Vorgang. Der Tod einer Fliege kann die Geschichte eines Imperiums genauso verändern wie der Ausgang einer Raumschlacht. Sie sind nicht in der Wissenschaft der MikroKausalität ausgebildet, und es würde zu lange dauern, Ihnen die ursächlichsten Zusammenhänge zu erläutern. Ich will Ihnen nur ein kurzes Gleichnis aus der terranischen Geschichte geben, die Sie ja gut kennen. – Alexander der Große starb mit 33 Jahren, womit seinen Eroberungszügen und der Expansion seines Reiches ein Ende gesetzt war. Nehmen wir an, der Keim der Krankheit, die ihn tötete, wurde von einer Fliege übertragen. Wäre diese Fliege jetzt gestorben, ehe sie die Krankheit übertrug, der Lauf der menschlichen Geschichte wäre ein anderer gewesen.“ „Hm.“ Gann überlegte. „So wie Sie das sagen, scheinen das Leben eines Menschen und die Entwicklung einer Rasse einzig auf einer Kausalkette von wirren Zufällen zu basieren. Eine Fliege stirbt, und ein Weltreich entsteht. Ein Wurm krümmt sich, und ein Planet verglüht.“ „Sie haben mich falsch verstanden, Terraner. Diese Kausalkette ist nicht zufällig, sondern einer kosmischen Ordnung unterworfen. Jedes - 75 -
Wesen und jede Rasse haben ein Schicksal, das sie erfüllen müssen. Dieses Schicksal wird durch große, kleine und kleinste Ereignisse gesteuert. Diese Ereignisse sind keineswegs zufällig, sondern einer Bestimmung und Planung unterworfen, die wir Wesen der Evolutionsstufe II und auch die beiden Rassen der Evolutionsstufe I, die wir im Universum kennen, nicht ergründen können,“ Die Aura, die von dem Quoon ausging, war keineswegs feindlich. Gann spürte eine überlegene Intelligenz, die von Güte, Verstehen und Logik geprägt wurde. Auch Gann verstand logisch zu denken und Schlußfolgerungen zu ziehen. „Ich könnte also, um bei dem Gleichnis zu bleiben, die Fliege sein, deren Existenz und Handlungsweise so wichtig ist wie der Ausgang einer Raumschlacht, oder wichtiger.“ „Sie haben es genau erfaßt, Terraner. Sie könnten es sein. Sie sind ein Mikro-Katalysator, dessen bloße Gegenwart Reaktionen und Reaktionsfolgen bestimmt. Die Frage ist nun, ob Ihre Existenz und die des Delta-Raumers, Ihr Auftauchen zu diesem Zeitpunkt, ein unbedeutender Zufall ist, der eliminiert werden sollte, oder ob durch die Mikro-Kausalität ein Schicksal darin begründet ist, das zu beeinträchtigen uns nicht zusteht.“ Die Fühler und Sensoren des Quoon spielten und zuckten aufgeregt. Gann sah blaue Mikroentladungen an den Enden einiger Sensoren. Alpha schien verwirrt zu sein. Trotz seiner Lage, die alles andere als rosig war, fühlte Gann sich erheitert. „Eine schwierige Frage“, sagte er und grinste. „Wie wollen Sie sie lösen?“ „Ich weiß es nicht“, antwortete der Quoon. „Das gesamte Kollektiv der siebzehn Gehirne an Bord unseres Raumers ist mit der Frage beschäftigt. Sobald wir eine Lösung haben, werden wir Sie informieren. – Wie wollen Sie die Zwischenzeit zubringen? Möchten Sie ein Pseudoleben in der Blütezeit der Föderation oder in einer anderen Zeit führen? Durch Programmierung können wir die Einflüsse steuern, so - 76 -
daß Sie eine kämpferische, erotische, abenteuerliche, künstlerische oder machtorientierte Lebensstruktur haben.“ „Ich mag keine Träume“, sagte Gann nach einer Weile. „Wenn es nicht sehr lange dauert, möchte ich mir Ihr Schiff ansehen, Alpha. Vielleicht können Sie mir auch einige Informationen zukommen lassen, die ich gern hätte.“ „Die Informationen können Sie haben, soweit sie nicht die Kausalkette angehen und soweit sie von Ihnen verarbeitet werden können, ohne Ihre psychische Struktur zu verändern oder gar zu zerstören. – Was die Besichtigung unseres Schiffes angeht, so existiert dieses nicht ausschließlich in Ihrem Raum-Zeit-Kontinuum. Sie sehen vielmehr eine Teilprojektion.“ „Wie lange wird ihr Gehirnkollektiv beschäftigt sein?“ „Bis wir die Möglichkeiten der Kausalkette mit allen Seitenlinien und Verästelungen durchgespielt haben, können tausend, zehntausend oder noch mehr Jahre vergehen. Da wir in dieser Zeit jedoch in einer zeitlosen und organischen Vorgängen nicht unterworfenen Dimension weilen, ist das für Sie ohne Bedeutung und nimmt uns nichts von der Lebensspanne. Nach einer Stunde Terrazeit hören Sie unser Ergebnis. Eine Realprojektion meines Ichs mit allen Fähigkeiten, Informationsdaten und Kompetenzen bleibt bei Ihnen zurück, während ich mich dem Kollektiv der Gehirne anschließe.“ Gann durchstreifte mit der Realprojektion, die sich in nichts von dem richtigen Alpha unterschied, den Raumer der Quoon. Er fragte sich, wie viele Realprojektionen von Alpha und anderen Quoon es wohl geben mochte, wo sie alle weilten und welchen Gesetzen sie unterworfen waren. Die Realprojektion, die Gann einfachheitshalber auch als Alpha bezeichnete, antwortete auf eine diesbezügliche Frage sehr vage. Doch schon aus der vagen Auskunft erkannte Gann, daß dies genau zu ergründen seine Lebensspanne nicht ausreichen würde. Gann und Alpha transmittierten im Schiff. Gann sah fremdartige Kommunikations-, Offensiv- und Defensivsysteme, robotische Anla- 77 -
gen, Pseudogehirne, Androiden und Biomechaniksyntheseformen. Er nahm körperlich nicht faßbare Wesen wahr. Viele Anlagen und ihr Verwendungszweck blieben Gann fremd. Auch die genaue Größe und den Durchmesser des Quoon-Raurners konnte er nicht ermessen. Grob gesprochen hatte der sich in Ganns Raum-Zeit-Kontinuum befindliche Schiffsteil Kugelform und war in würfelförmige Räume unterteilt. Es gab einen Antrieb, dessen Prinzip Gann fremd blieb, Transmitter, Zeitdeformer und Dimensionskraftanlagen, deren Zweck Gann in groben Zügen nur ahnen konnte, deren Prinzip und Wirkungsweise jedoch auf nichts basierte, was er kannte oder hätte verstehen können. Gann begriff jedoch eines: Der Quoon-Raumer selbst war eine Synthese aus Geist, Organismen, Mechaniken, Materie und Energie. Die Besichtigung des Raumers und die daraus resultierenden Fragen und Überlegungen nahmen Gann so gefangen, daß er vergaß, anderen Informationen nachzugehen. Die eine Stunde verging ihm wie im Flug. Aus dem Antriebsraum, in dessen Zentrum sich ein alles absorbierender und deshalb nur als dunkle Masse sichtbarer Würfel befand, wurde Gann in den Aufenthaltsraum zurücktransmittiert, in dem er mit Alpha gesprochen hatte. Er sah sich dem Quoon gegenüber. „Wir sind zu einer Lösung gekommen“, sagte Alpha. Gann vergaß alle Fragen, die ihn beschäftigt hatten. Jetzt ging es um sein eigenes Schicksal. „Zu welcher?“ „Es steht uns nicht zu, in eine Kausalkette einzugreifen und Sie zu eliminieren, zu welchen Schlußfolgerungen wir aufgrund unseres Wissens und unserer logischen Überlegungen auch immer kommen. Da wir andererseits selbst ein Kausalitätsfaktor sein können, ist es auch nicht möglich, Sie einfach Ihren Flug fortsetzen zu lassen. Wir unterziehen Sie daher einer Probe, ohne selbst einzugreifen. Wenn es Ihnen als Prototyp der menschlichen Rasse gelingt, genug logisches Denken, Mut, Entschlußkraft und andere positive Eigenschaften zu - 78 -
beweisen und die Probe zu bestehen, wobei außerdem noch der Zufallsfaktor zu Ihren Gunsten entscheiden muß, werden wir auf die weitere Entwicklung keinen Einfluß mehr nehmen.“ „Wie sieht diese Probe aus, Alpha?“ „Das werden Sie erfahren, Terraner. Meine Realprojektion hat herausgefunden, daß Sie ein mir sympathisches Wesen sind, Terraner Gann Meine besten Wünsche begleiten Sie.“ Alpha fügte etwas hinzu, was Gann nicht verstehen konnte. Die großen goldenen Augen musterten Gann freundlich, die Fühler und Sensoren spielten, der weiße Rüssel winkte ihm zu. Eine Welle fremder Gedanken überschwemmte Ganns Gehirn, Güte Verstehen und Frieden. Im nächsten Augenblick war Alpha verschwunden, die Umwelt existierte nicht mehr. Gann hätte nicht sagen können, wie lange er nichts wahrnahm. Als er seine Sinne wieder gebrauchen konnte, als sein Zeit- und Wahrnehmungsempfinden zurückkehrte, befand er sich in einer völlig fremdartigen Umgebung. * Es war nicht sein Universum, nicht sein Raum-Zeit-Kontinuum und nicht seine Galaxis. Die Sterne am Himmel und seine Umwelt waren ihm fremd. Gann sah sich um. Er befand sich auf einem Plateau am Rand einer steil abfallenden Felswand. Tief unter ihm, etwa tausend Meter, stand der DeltaRaumer an der Felswand. Der Abstieg war zwar schwierig und gefährlich, mußte aber zu schaffen sein. Der Himmel erhellte sich allmählich. Eine rötlich strahlende Sonne – ein roter Riese, den der Planet in weitem Abstand umkreiste – ging im Westen auf. Der Himmel nahm eine rostrote Farbe an. Der Boden, auf dem Gann stand, war gelblich. Ein dichter Teppich von kleinen blauen Pflanzen wuchs fast überall. Zudem gab es noch größere Gewächse, von deren Ästen bläuliche Haarbüschel hingen. - 79 -
Die Schwerkraft betrug etwas über 1 g – fast wie auf Sanvor IV –, die warme Luft roch würzig und fremdartig, reizte aber die Atemwege nicht und zeitigte keine unangenehmen Folgen. Gann entschloß sich, den Kuppelhelm offenzulassen. Er sah Früchte an den Buschund Baumgewächsen mit den bläulichen Haarbüscheln, und er erblickte einen Fluß in einiger Entfernung. Der Planet, auf dem sich Gann befand, war eine Sauerstoffwelt. Ein weißes Tier, etwa von der Größe eines terranischen Fuchses, mit buschig nach oben stehendem Schwanz und spitzem Kopf, trat zwischen den Büschen hervor und schnupperte mißtrauisch in Ganns Richtung. Gann versuchte zunächst, die Positronik des Delta-Raumers über Funk zu erreichen. Er erhielt keine Verbindung. Gann nahm daraufhin einen Gesteinsbrocken und warf ihn hinab in die Ebene. Der Stein fiel, wurde immer kleiner und war schließlich nicht mehr zu sehen. Den Abstieg konnte Gann ebensogut gleich versuchen. Das weiße Tier mit dem buschigen Schwanz kam näher, umstrich Gann. Es musterte ihn prüfend. Gann versuchte, es anzulocken, doch es hielt drei Meter Distanz. Der Mann zuckte die Achseln. Er trat an den Rand der steil abfallenden Felswand. Es gab genug Vorsprünge, Risse und Schrunden, die ihm Halt boten, soweit er sehen konnte. Gann begann den Abstieg. Alle hundert Meter machte er eine Pause. Nach zehn Stunden befand Gann sich knapp über dem Boden der Ebene. Er konnte den diskusförmigen Delta-Raumer genau erkennen, hatte aber keinen Funkkontakt. Als er nur noch drei Meter über dem Boden war, sprang Gann hinab. Er landete federnd – und stand am Rand des Abhangs auf dem Plateau, tausend Meter über der Ebene. Unter sich sah er den DeltaRaumer. Das weiße Tier saß ein paar Meter entfernt auf den Hinterkeulen. Es stieß einen bellenden Laut aus, als es Gann sah. Der schüttelte den Kopf, schloß die Augen und öffnete sie wieder. Er ging ein paar Schritte zurück und trat wieder vor an den Rand. Es - 80 -
gab keinen Zweifel. Er war zehn Stunden lang die Felswand hinuntergeklettert und befand sich jetzt wieder an der Ausgangsstelle! Gann war zu erschöpft, um den Abstieg noch einmal zu versuchen. Er ruhte sich eine Weile aus, an den Stamm eines der Baumgewächse gelehnt. Der Stamm war fleischig, hatte einen Durchmesser von anderthalb Metern und eine graue, poröse Rinde. Das weiße Tier kam wieder in Ganns Nähe. Es fand eine blaue, kirschgroße Frucht, die von dem Baum gefallen war, und fraß sie auf. Gann erhob sich. Er riß eine große Traube der am Baum wachsenden Früchte ab, warf sie dem weißen Tier hin. Es bellte begeistert und stürzte sich darauf. Als es die Traube verzehrt hatte, kam es zutraulich zu Gann, stieß weitere Bellaute aus, sah am Baum hoch. Gann pflückte eine zweite Traube. Er fütterte das Tier. Nach anfänglichem Mißtrauen fraß es ihm aus der Hand. Gann streichelte über seinen Rücken. Das schien ihm zu gefallen. „Ich werde deine Art Eisfuchs nennen“, sagte Gann. „Und dir gebe ich den Namen John. Wie gefällt dir das?“ Das weiße Tier bellte. Es hatte jede Scheu vor Gann verloren. Er wanderte zum Fluß. Der Eisfuchs folgte ihm. Am Fluß sah Gann eine Tierherde grasen, die entfernte Ähnlichkeit mit gelben Pferden aufwies. Sie waren Pflanzenfresser wie der Eisfuchs und kümmerten sich nicht um Gann. Das Wasser des Flusses war klar und kalt. Gann probierte davon. Er konnte keinen Unterschied zu dem Wasser feststellen, daß ihm die Nährautomatik des Delta-Raumers anbot. Der Eisfuchs steckte seine spitze Schnauze in das Wasser und sog es wie durch eine Röhre auf. Bisher hatte Gann auf dieser Welt noch keine Gefahren für sich feststellen können. Er beschloß, die Nacht an Ort und Stelle zu verbringen. Die rötliche Sonne hatte den Zenit bereits weit überschritten, und Gann wollte beim Abstieg nicht von der Dunkelheit überrascht werden. Als die Nacht hereinbrach, erschienen drei Monde am Himmel. Die Temperatur blieb angenehm. Ein leichter Wind strich durch die blau- 81 -
en Haarbüschel der Bäume und erzeugte harmonische, schwingende Töne. Gann wählte für die Baumgewächse die Bezeichnung „Harfenbäume“. Der Eisfuchs fühlte sich in Ganns Nähe wohl. Er schlief neben ihm, zu einer weißen Kugel zusammengerollt, den buschigen Schwanz über den Augen. Irgendwann schlief auch Gann ein. Am Morgen erwachte er hungrig und durstig. Er hatte jedoch immer noch die Hoffnung, bald Zugang zu den Nahrungsmittelvorräten des Delta-Raumers zu haben, und so nahm er weder die Früchte noch das Wasser des Planeten zu sich. Gann war unbewaffnet. Er trug einen leichten Kombinationsanzug, bei dem die sonst übliche eiserne Ration fehlte. Seine Taschen waren leer. „Hoffen wir, daß sich unsere Wege hier trennen“, sagte Gann am Rand des Steilabhangs zu dem Eisfuchs. Er strich ihm über den spitzen Kopf. Dann machte er sich an den Abstieg, diesmal an einer anderen Stelle. Es ging schneller als beim erstenmal, aber das Resultat war das gleiche. Gann kam dem Boden der Ebene immer näher. Er setzte seinen Fuß darauf – und stand oben am Rand des Abhangs, wo John, der Eisfuchs, ihn freudig bellend begrüßte. Gann fluchte in allen Sprachen, die er kannte. Hartnäckig machte er sich sofort wieder an den Abstieg. Es war schon dunkel, als er die letzten Meter überwand. Seine Knie zitterten vor Schwäche, sein Herz hämmerte. Gann sprang die letzten drei Meter – wieder stand er oben am Rande des Abgrunds! Da gab er es auf. Erschöpft und hungrig schleppte er sich zum Fluß. Er nahm einen Mundvoll Wasser und ein paar Früchte zu sich. Als er am nächsten Morgen erwachte und keinerlei unangenehme Folgen feststellen konnte, aß Gann reichlich von den Früchten und trank das klare Wasser des Flusses.
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An diesem Tag versuchte er den Abstieg nicht. Vielmehr wanderte er am Rand des Hochplateaus entlang. Der Eisfuchs folgte Gann wie ein Schatten. Auf dem Hochplateau gab es allerlei Tiere, von denen keines gefährlich war. Das Klima war angenehm, Nahrung gab es genug. Das änderte aber nichts an der Tatsache, daß Gann auf dem Plateau gefangen war. Nach drei Planetentagen hatte er es umwandert und war wieder am Ausgangspunkt angelangt. Mit der ihm eigenen Zähigkeit überquerte Gann nun das Plateau und versuchte den Abstieg auf der anderen Seite. Wieder stand er nach einer mühsamen Klettertour oben auf dem Plateau, wo der Eisfuchs John ihn geduldig erwartet hatte. Gann sah ein, daß er so nicht weiterkam. Er war versucht, auf dem Plateau zu bleiben, denn was erwartete ihn schon, wenn er den Delta-Raumer erreichte? Kampf, Krieg und Haß. Auf dieser paradiesischen Welt konnte Gann in Frieden leben. Aber dazu war er zu rastlos. Ständig überlegte er, wie er in die Ebene gelangen könne. Gann kam zu dem Ergebnis, daß es auf dieser Welt, die er wegen ihrer blauen Gewächse Blue nannte, eine von den Quoon künstlich hervorgerufene oder auch bereits natürlich vorhandene Krümmung des Raum-Zeit-Kontinuums gab, die zwischen Hochplateau und Ebene einen wohl auch in diesem Universum einzigartigen Effekt erzeugte. Vereinfacht dargestellt mußte es so sein, daß zwei Windungen der Raum-Zeit-Spirale sich durch die Krümmung berührten. Dadurch wurde ein Kreislauf erzeugt. Gann bewegte sich innerhalb der RaumZeit-Spirale bis zu einem gewissen Punkt, an dem er wieder zum Ausgangsort zurückversetzt wurde, statt weiterzukommen. Es vergingen nun viele Tage, während derer Gann alle möglichen Experimente anstellte, wie er den Rückkopplungseffekt, wie er es nannte, umgehen konnte. Sich einfach vom Felsen herabstürzen zu lassen, wäre Selbstmord gewesen. - 83 -
Jetzt war es Gann klar, was die Quoon mit ihrer Probe beabsichtigten. Wenn es ihm nicht gelang, aus seinem Raum-Zeit-Gefängnis auszubrechen, blieb er auf Blue isoliert, war somit kein MikroKatalysefaktor mehr im galaktischen Geschehen. So hatten die Quoon ihn ausgeschaltet, ohne sich an seinem Leben oder Geist – durch eine Zwangshypnose zum Beispiel – zu vergreifen. Es war eine Tatsache, daß tote Materie die Ebene erreichte. Von Gann vom Rand des Abhangs hinuntergeworfene Steine kamen nicht zurück. Er nahm nun den Eisfuchs auf einer Kletterpartie mit sich. Er ließ John den letzten Meter auf den Boden hinab. Der Eisfuchs verschwand. Sekunden später stand Gann neben ihm am Rand des Hochplateaus. Gann machte nun einen weiteren Versuch. Er fütterte den Eisfuchs mit Beeren, die bei diesem einen tiefen, ohnmachtsähnlichen Schlaf erzeugten. Dann machte er sich wieder an den Abstieg. Vorsichtig ließ er den schlafenden Eisfuchs auf den Boden. Diesmal stand Gann allein oben auf dem Plateau. Der Eisfuchs befand sich in der Ebene. Dieses Phänomen mußte mit der Zeit zusammenhängen. Das Bewußtsein eines Menschen oder auch eines Tieres zeigt ihm an, daß er oder es Veränderungen unterworfen ist, daß in der Umwelt Vorgänge stattfinden. Geschehen wird wahrgenommen, daraus der Zeitablauf rekonstruiert. Da der Eisfuchs beim letzten Abstieg keinen Zeitablauf wahrgenommen hatte, hatte er sich in der Zeit auch nicht weiterbewegt. Sein Zeitempfinden war auf den Moment fixiert geblieben, als er auf dem Plateau einschlief. Da er – vereinfacht gesehen – auf dem gleichen Punkt der Zeitspirale verharrte, war es ihm möglich, den Rückkopplungseffekt auszuschalten und aus dem Kreis auszubrechen. Ganns Entschluß war schnell gefaßt, sein Plan klar. Sein den Zeitablauf anzeigendes Bewußtsein war das einzige, was ihn ans Plateau kettete. Es war ihm nicht möglich, die Steilwand hinabzuklettern und eine geringe Strecke über dem Boden sein Bewußtsein auszuschalten,
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da er sich durch die Klettertour bis dorthin schon in der Zeit bewegt hatte. Er mußte auf dem Plateau selbst sein Bewußtsein ausschalten. Nur so konnte er aus dem Kreis ausbrechen. Er sah hinab in die Tiefe. Es war eine riskante Sache, die einigen Zufallsfaktoren unterworfen war, wie ihm Alpha gesagt hatte. Doch ein Zögern gab es für Gann nicht. Er trat an den Rand des Hochplateaus. Er nahm einen schweren Stein, wog ihn prüfend in der Hand. Dann führte er einen festen Schlag gegen den eigenen Kopf. Gann spürte, wie seine Knie einknickten. Aber ein Rest seines Bewußtseins war noch vorhanden. Er wollte einen zweiten Schlag führen, doch der Stein entfiel seiner Hand. Ein dunkler Abgrund öffnete sich, und Gann stürzte hinein. Gann kam zu sich, als eine spitze, kalte Schnauze sein Gesicht beschnüffelte. Als er sich aufsetzte, glaubte er, sein Kopf müsse zerspringen. Er mußte eine Zeitlang bewußtlos gewesen sein, denn das Blut aus der Kopfwunde war geronnen. Stöhnend erhob sich Gann, ging zu dem Delta-Raumer. Jetzt bekam er ohne Schwierigkeiten Funkkontakt. Die Schleuse öffnete sich auf seinen Befehl hin. Der Eisfuchs huschte vor ihm in die Schleusenkammer. „Überlege es dir gut“, sagte Gann. „Wenn du bei mir bleiben willst, siehst du deine blauen Harfenbäume nicht wieder.“ Der Eisfuchs bellte freudig. Gann trat in die Schleuse. Die Positronik schickte einen Med-Robot, der seine Kopfwunde verarztete. Ohne Übergang befand sich Gann plötzlich in dem Aufenthaltsraum an Bord des Quoon-Raumers, wo er schon einmal gewesen war. Alpha stand ihm gegenüber. Die goldenen Augen leuchteten, und echte Freude klang aus der Stimme des Quoon. „Ich glaubte schon nicht mehr, daß Sie es schaffen würden, Terraner Gann. Dieses Raum-Zeit-Phänomen auf Blue ist von uns künstlich erzeugt worden, wozu wir uns einiger physikalischer Gegebenheiten dieses Universums und dieser Dimension bedient haben. Ich wußte, daß Sie aufgrund Ihrer Ausbildung und Ihrer Informationen - 85 -
mit einer verschwindend kleinen Wahrscheinlichkeit von 1:100000 zu der Raum-Zeit-Spiralentheorie kommen konnten. Ganz so einfach ist es nicht, doch wir hatten einige Faktoren präpariert, so daß Ihre Schlußfolgerungen in diesem Fall zum richtigen Ergebnis führten. Wir werden Sie nun in Ihr Universum zurückbringen. Vielleicht sind Sie ein Mikro-Kausalitätsfaktor, ein Katalysator, in dem ein Schicksal begründet liegt, Terraner Gann. Auf jeden Fall sind Sie ein mutiges und intelligentes Wesen. Meine besten Wünsche begleiten Sie.“ Der Quoon oder seine Realitätsprojektion verschwand. Gann befand sich an Bord des Delta-Raumers. Er spürte in allen Körperzellen den ziehenden Schmerz der Rematerialisierung in den Normalraum. Er sah sich um. Die vertrauten Sternkonstellationen seiner Heimatgalaxis begrüßten ihn. Er glaubte fast, alles sei ein wirrer Traum im Hyperraum gewesen, da stieß eine spitze Schnauze gegen seine Wade. Ein vertrautes Bellen ertönte. John, der Eisfuchs von Blue, blickte zu Gann auf. * Als Gann in einem Kugelsternhaufen rematerialisierte, waren um ihn herum zwölf walzenförmige Schiffe, die sofort Kurs auf den DeltaRaumer nahmen. Er hatte Gelegenheit, sie eingehend zu studieren. Ihre Länge betrug etwa tausend Meter, ihre Breite fünfhundert. Die Farbe des Materials, aus dem sie bestanden, war schwarz und absorbierte alles Licht. Gann sah die Walzenraumer als dunkle, drohende Schatten gegen die Helligkeit der ihn umgebenden Sterne. Innerhalb eines Raumes von 200 Lichtjahren waren 160000 Sterne konzentriert, zum Großteil Weiße Zwerge und ungeheuer verdichtete Neutronensterne mit einer Masse von 50 und mehr Millionen Tonnen pro Kubikzentimeter. Wie alle Kugel-Sternhaufen war auch dieser sehr alt und nahm an der galaktischen Rotation nicht teil. Die Gann umgebenden Sterne hatten kaum Planeten. - 86 -
Die Walzenraumer nahmen Gann in die Zange. Er versuchte, sie über Bildsprech zu erreichen, erzielte aber keine Reaktion. Er entschloß sich, sich abwartend zu verhalten und keinerlei Feindseligkeit zu zeigen. Plötzlich flammte von einem der Walzenraumer ein Blasterstrahl auf. Gann startete ein Ausweichmanöver. Er wählte einen unberechenbaren Kurs, während er den Eintritt in den Hyperraum vorbereitete. Ein Moment-Hyperraumsprung sollte ihn aus dem unmittelbaren Bereich der Walzenraumer bringen. Verschiedenfarbige Lichter blinkten auf den Kontrollskalen, Zeiger tanzten und zitterten, die Warnautomatik schlug konstant an. Selbst der Eisfuchs schien zu merken, daß etwas Bedrohliches vorging, denn er stellte den buschigen weißen Schwanz auf und zog sich knurrend in eine Ecke zurück. Gann fragte bei der Positronik an, ob die ihn beschießenden Walzenraumer – mittlerweile hatten alle zwölf den Delta-Raumer unter Feuer genommen – bekannt seien. „Es liegen keine Daten vor“, antwortete die modulationslose Stimme der Positronik. „Schiffe dieser Art werden von keiner uns bekannten Rasse verwendet. Nach Größe, Bewaffnung, Schutzsystemen und Antrieb entsprechen die Walzenraumer terranischen überschweren Schlachtschiffen. Sie können mit dem Schiffstyp identisch sein, von dem der Delta-Raumer vor der Havarielandung auf Sanvor IV unter MV-Beschuß genommen wurde, jedoch ist dies eine nicht beweisbare Hypothese.“ „Wollen wir es nicht hoffen“, entgegnete Gann. Er war nicht in diesen Raumsektor gekommen, um mit verwirrten Gehirnfunktionen sein Ende zu finden. Er versuchte noch einmal, einen Kontakt mit den Angreifern zu bekommen, wieder ohne Erfolg. Die Darl-Spulen hatten nun genügend Energie gespeichert. Der Delta-Raumer trat in den Hyperraum ein, das in Alarmbereitschaft versetzte Schiff kam zur Ruhe. Die Warnlichter und Signaltöne fielen - 87 -
weg, die Instrumentenkontrollen zeigten nichts mehr an, und auf den Bildschirmen war nur noch ein verwaschenes Grau zu sehen. Gann entschloß sich, den Kugelsternhaufen ganz zu verlassen. Er ließ vom Extracomputer der Bordpositronik mit Hilfe des MehrdimKompasses die Exitkoordinaten berechnen und rematerialisierte hundert Lichtjahre vom Ort des Gefechts entfernt außerhalb des Kugelsternhaufens. Schon weniger als eine Stunde, nachdem er in den Normalraum eingetreten war, erkannte er, daß er mit einer Massedetektoranlage geortet wurde. Gann fluchte. Schon wollte er wieder einen Hyperraumsprung unternehmen, da zeigte der Schirm des Bildsprechgeräts ein Gann bisher nicht bekanntes schwarzes Symbol, das einen Dunkelstern darstellen sollte, und eine hohe Tonfolge erklang. Gann sendete das Planetensymbol der Terranischen Föderation Loyaler Welten, als deren letzte Flotteneinheit er sich fühlte. Sekunden später erschien der Kopf eines Wesens auf dem Bildschirm, das einer Gann unbekannten Intelligenzrasse der Evolutionsstufe III angehörte, und eine abgehackte Stimme nahm Verbindung mit ihm auf. Vorsichtshalber ließ Gann die Darl-Spulen voll aufgeladen, um jederzeit in den Hyperraum entweichen zu können. Eine Einheit von zwanzig lichtabsorbierenden Walzenraumern, die er nur aufgrund der Ortungsangaben seiner Radarsysteme erkennen konnte, näherte sich Ganns Delta-Raumer bis auf eine Distanz von zwei Lichtminuten. Diesmal wurden keine Feindseligkeiten eröffnet. Vom Bildschirm her blickte Gann ein schwarzer, augenloser Insektenkopf entgegen, der eine entfernte Ähnlichkeit mit dem einer terranischen Ameise hatte. Die Vokalisationsanlage des Delta-Raumers versagte, doch offenbar hatten die Fremdintelligenzen Mittel und Wege gefunden, ihre hohen, zum Teil in den Ultraschallbereich überspielenden Verständigungstöne ins Terranische zu übersetzen. „Hier Sektorenkommandant Xciirth“ – der Name war ein hoher, schriller Pfeiflaut, den zu modifizieren die Übertragungsanlage Mühe
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hatte – „vom Matriarchat III. Ich rufe das fremde Raumschiff. Geben Sie sich zu erkennen!“ „Gann von der Terranischen Föderation Loyaler Welten. Warum habt ihr mich angegriffen? Ich komme in friedlicher Absicht.“ Eine Weile herrschte Schweigen. „Wir Garl befinden uns im .Kriegszustand mit der Aggressorenrasse der Xcocx“, antwortete Xciirth dann. „Die Sektoren des Xircums der Vereinigten Matriarchate werden scharf bewacht. Da die Xcocx sich vieler Finten bedienen, um ins Xircum einzubrechen, hielten wir Sie für einen unserer Gegner. – Haben Sie Kontakt mit den Methanatmern?“ „Ich bin ihr Feind“, entgegnete Gann. „Ich bin auf einem Primitivplaneten aufgewachsen und machte von Kind an mit den Ausbeutungsund Unterdrückermethoden der Xcocx Bekanntschaft. Erst als ich schon erwachsen war, stieß ich auf einen seit zwanzig Terra jähren verschollenen Raumer und wurde von der Positronik aufgrund der eingespeicherten Daten ausgebildet. Seither führe ich Krieg gegen die Xcocx.“ Ganns Worten folgte eine Kakophonie schriller Pfeiflaute. Offenbar verständigte sich Xciirth mit anderen Garl. Es erfolgte keine Übersetzung. Die Konferenz der Garl dauerte mehrere Minuten. Dann wandte sich der Sektorenkommandant wieder an Gann. „Sie sind ein Feind der Xcocx. Konnten Sie in den letzten Terrajahren mit Angehörigen Ihrer Rasse Kontakt aufnehmen?“ „Nein“, antwortete Gann leise. „Der Große Krieg hat die Föderation völlig vernichtet, was den Garl sicher nicht entgangen ist. Ich möchte ein Bündnis mit den Gegnern der Xcocx schließen, um mit allen Mitteln die Methanatmer zu bekämpfen, die meine Rasse vernichtet haben.“ Wieder folgte eine längere Konferenz der Garl. „Sie sind uns als Verbündeter willkommen“, sagte Xciirth endlich. „Wie ist es Ihnen möglich, mit Ihrem Raumer den Hyperraumsprung in so kurzer Zeit auszuführen? Der Sektorenkommandant im Bereich - 89 -
des Kugelsternhaufens“ – wieder folgte eine unverständliche Bezeichnung – „machte Meldung. Er wird exemplarisch bestraft werden, weil er auf Ihre Kontaktversuche nicht reagierte und Ihnen feindlich gegenübertrat.“ „Er tat nur seine Pflicht. Mein Raumschiff, der Delta-Raumer, verfügt über eine Moment-Hyperraumexitanlage, durch die der Eintritt in den Hyperraum diskontinuierlich und kontrollierbar erfolgt. Das Konstruktionsprinzip ist einfach, wenn man die von Rantal Vorlunn ermittelte DeltaFormel kennt. – Die Xcocx verfügen über dieses einfachere und schnellere Prinzip des Hyperraumsprungs nicht. Die Garl ebenfalls nicht?“ „Bisher sind die Wissenschaftler des Xircums nicht auf die DeltaFormel gestoßen“, sagte Xciirth, und es klang trotz der entstellenden Modulation der Übersetzungsanlage irgendwie steif. „Als unser Verbündeter und Mitkämpfer werden Sie uns die Delta-Formel übermitteln?“ „Ja. Allerdings brauche ich noch einige Informationen über Sie und Ihre Rasse. Immerhin kann die Delta-Formel der Faktor sein, der den Krieg zwischen Ihnen und den Xcocx entscheidet. Eine so entscheidende, wichtige wissenschaftliche Erkenntnis wie die Delta-Formel übermittelt man nicht nach einer kurzen Kontaktaufnahme.“ Xciirth konferierte wieder eine Weile mit seinen unsichtbaren Ratgebern. „Das akzeptieren wir“, teilte er dann mit. „Wir laden Sie ein, an Bord eines unserer Schiffe zu kommen, wo wir Ihnen alle gewünschten Daten und Informationen übergeben werden. Seien Sie unser Gast.“ „Ich ziehe es vor, an Bord meines Schiffes zu bleiben.“ Das Prinzip des Mißtrauens war in langen Jahren zu tief in Gann verwurzelt, als daß er es hätte ablegen können. Er fügte noch hinzu: „Die Übermittlung der Delta-Formel erfolgt entweder freiwillig, oder gar nicht. Ich kann von einer Sekunde zur anderen in den Hyperraum gehen, falls ein feindlicher Akt Ihrerseits erfolgt, vergessen Sie das nicht.“ - 90 -
„Ihr Mißtrauen bekümmert uns. Wie ich bereits sagte, wird der Sektionskommandant, der Sie ungerechtfertigt angriff, schwer bestraft werden. Selbstverständlich bleibt es Ihnen überlassen, wo Sie sich aufhalten wollen. Sie werden aber sicher Verständnis dafür haben, daß in diesem Raumsektor eine Flottenkonzentration erfolgt. Ihr Raumschiff und das Konstruktionsprinzip des Hyperraumexits nach der Delta-Formel ist von ungeheurer Wichtigkeit – für uns und für die Xcocx. Wir können nicht riskieren, daß Sie von Xcocx-Raumern angegriffen und möglicherweise vernichtet werden.“ „Die Wahrscheinlichkeit, daß dies hier in diesem Sektor geschehen kann, der durch eine ausgedehnte Massedetektoranlage absolut von Ihnen kontrolliert wird, ist äußerst gering, Sektionskommandant Xciirth.“ „In diesem Fall würde ich nicht einmal ein Risiko von 1000000:1 eingehen. Besser für beide Seiten wäre es, wenn Sie sich weiter in den Bereich unseres Xircums begeben würden. Dort steht die gesamte Macht der Vereinigten Matriarchate hinter Ihnen.“ „Dieser Raumsektor ist sicher genug“, erwiderte Gann nach kurzem Überlegen. „Geben Sie mir Informationen und Aufklärung über die Rasse der Garl, das Xircum der Vereinigten Matriarchate und Ihren Krieg gegen die Xcocx. Auch brauche ich alle Informationen über die Menschen und ihre humanoiden Abkömmlinge, über die Sie verfügen. – Kennen Sie Stützpunkte der ehemaligen Föderation, oder versprengte Reste der Menschheit, die noch existieren?“ Eine letzte, verzweifelte Hoffnung erfüllte Gann. Der Garl erwiderte: „Nein, es gibt keine Menschen mehr. Es sei denn, als Sklaven im Imperium der Xcocx, wo sie unter schwersten Bedingungen zur Arbeit herangezogen oder zu Experimenten verwendet werden.“ *
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Die Ursprungswelt der Garl befand sich in einem Kugelsternhaufen im nördlichen Sektor der galaktischen „Eastside“, 45 000 Lichtjahre von Terra entfernt. Ursprünglich hatte der Kugelsternhaufen, der zu den ältesten in der Galaxis zählte, kein intelligentes Leben entwickelt, von einer Rasse abgesehen, die bereits vor anderthalb Milliarden Jahren erloschen war. Doch dann geriet ein Sonnensystem mit sechs Planeten in den sphärischen Raum des Kugelsternhaufens. Die Sonne und ihre Planeten wurden von einem Neutronenstern eingefangen, um den sie eine unregelmäßige Rotationsbahn beschrieben. Auf dem vierten Planeten der Sonne, einer Welt mit einer Chloratmosphäre, entwickelte sich intelligentes Leben unter Bedingungen, wie sie bei den 160 Milliarden Sonnenmassen der Galaxis wohl kein zweites Mal vorkamen. Der ungeheuer masseverdichtete Neutronenstern absorbierte alles Licht der Sonne, so daß die Garl sich in steter Finsternis entwickelten. Die Wärmestrahlung hingegen wurde vom Neutronenstern, der eine physikalisch außerordentlich seltene Sphäre hatte, reflektiert und ermöglichte das Leben auf der Welt der Garl. Die Garl waren von einer kalten Intelligenz. Ihr vorherrschender Trieb war der der Ausdehnung des Lebensraums. Sie waren geschlechtslos und in Königinnen und Arbeiterinnen unterteilt, wenn man die eigentlich unzutreffende weibliche Bezeichnung wählen will. Die Königinnen, die Matern, sorgten durch regelmäßig erfolgende Zellteilung für die Fortpflanzung und Vermehrung der Rasse. Sie regierten die Arbeiterinnen. Auf eine Million Arbeiterinnen kam jeweils eine Königin. Zwischen den Königinnen waren erbitterte Machtkämpfe im Gange. Die Garl konnten drei Planeten ihres Sonnensystems kolonisieren – die anderen boten aufgrund extremer Verhältnisse keine Lebensbasis –, aber keine interstellare, unterlicht- und lichtschnelle Raumfahrt entwickeln. Der Neutronenstern hielt die Garl gefangen, bis ihre Zivilisation und Technik weit genug fortgeschritten war, um den Hyperraumsprung zu ermöglichen. Erst durch den Hyperraumantrieb war - 92 -
es ihnen möglich, der Gefangenschaft des Neutronensterns zu entfliehen. So kam es, daß sie erst als verhältnismäßig weit fortgeschrittene Rasse in die Galaxis vorstießen. Bald schon trafen die Garl, die ungeheuer expandierten, nachdem die natürliche Wachstumskontrolle der Rasse durch den beschränkten Lebensraum des einen Sonnensystems wegfiel, auf die methanatmenden Amphibienintelligenzen der Xcocx. Es kam zum Intergalaktischen Krieg. Das Kräfteverhältnis neigte sich immer mehr zugunsten der Garl. Das Imperium Xcocx befand sich in der Phase des Niedergangs. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Methanatmer den Chloratmern unterlagen. Die Moment-Hyperraumexitanlage würde den Garl das entscheidende militärische Übergewicht geben, so daß sie die Xcocx innerhalb kürzester Zeit vernichten konnten. Im Besitz der Delta-Formel würden die Garl unschlagbar sein. Sektionskommandant Xciirth bedauerte im Namen der Kooperierenden Matern aller Garlstämme, daß das Auftauchen der Garl auf der galaktischen Bühne zu spät erfolgt war, um die Menschheit vor der Vernichtung durch die Xcocx zu retten. „Wir Garl haben kein Interesse an Sauerstoffplaneten“, beendete Xciirth seine Informationsübermittlung. „Wenn es noch Reste der Menschheit gibt, werden wir mit diesen freundschaftlich kooperieren und ihnen unseren Schutz und unsere volle Unterstützung angedeihen lassen.“ Gann entschloß sich, dem Sektionskommandanten die Delta-Formel zu übermitteln. Vielleicht konnte er die Menschheit nicht mehr retten, doch zumindest konnte er für die Vernichtung der Rasse sorgen, die für ihren Niedergang verantwortlich war. Gann wollte gerade der Positronik den Befehl geben, die Formel und die Konstruktionsdaten und -unterlagen dem Walzenraumer Xciirths zu übermitteln, da riß ihn das Schrillen der Alarmanlage aus seinen Überlegungen.
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* Während der Zeit, in der Gann mit den Garl konferiert hatte, war ein ganzer Tag vergangen. Während dieser Zeit hatten etwa tausend Walzenraumer aller Größen im Normalraum um den Delta-Raumer rematerialisiert, zu Ganns Schutz, wie Xciirth ihm mitteilte. Ein gigantisches Walzenraumschiff mit einer Länge von fünftausend Metern und einem Durchmesser von zweitausend Metern war das Flaggschiff einer der Maternköniginnen der Garlstämme. Die Maternkönigin, die höchste Würdenträgerin und Autorität der Garl, war selbst anwesend, ein Beweis, wie wichtig Gann genommen wurde. Als Ursache des ausgelösten Alarms zeigte die Positronik Gann auf den Bildschirmen vor dem Ring der GarlRaumer im Normalraum rematerialisierende Pyramidenschiffe der Xcocx. Es waren nur zweihundert; Schlachtschiffe der Gigant-Klasse, leichte Kreuzer, Aufklärer und Zerstörer. Obwohl sie den Garl weit unterlegen waren, formierten sie sich zu einem Stoßkeil und griffen sofort an. Im sicheren Schutz der Walzenraumer wurde Gann Zeuge der Raumschlacht. Blasterstrahlen zuckten durch den Raum, Schutzschirme leuchteten in allen Farben auf. Ein Duell der Gehirne und Positroniken tobte. „Seien Sie unbesorgt, wir schützen Sie“, wurde Garl vom Flaggschiff der Maternkönigin übermittelt. Der Stoßkeil der Xcocx-Raumer brach auseinander. Nur drei Schlachtschiffe der Gigant-Klasse gerieten so nahe an den DeltaRaumer heran, daß ihre Blasterstrahlen konzentriert genug waren, um gefährlich werden zu können. Doch es wurde kein Quantenschuß auf Gann abgefeuert. Eines nach dem anderen wurden die drei Gigant-Schiffe der Xcocx zu Atomsonnen. Mit grimmiger Genugtuung sah Gann, wie der Angriff im Feuer der weit überlegenen Garl zusammenbrach. Die verzweifelte Aktion war der letzte Versuch der Xcocx, den Garl das - 94 -
Prinzip des Moment-Hyperraumexits zu entreißen. Doch der Versuch war fehlgeschlagen, nichts mehr konnte Gann daran hindern, die Daten weiterzugeben und damit den Xcocx den Todesstoß zu versetzen. Das zweite Bildsprechgerät schlug an. Gann warf einen Blick darauf und erlebte den größten Schock seines Lebens. Der Bildschirm zeigte das Gesicht einer blonden, terranischen Frau. Ihre Augen sprühten vor Wut. Die ersten Worte, die Gann in seinem ganzen Leben aus dem Mund eines anderen Menschen hörte, waren: „Nehmen Sie mich an Bord, Sie verdammter Narr, damit wir miteinander reden können, bevor Sie alles zunichte machen.“ „Wer sind Sie?“ fragte Gann, als er sich etwas gefaßt hatte. „Und von wo sprechen Sie?“ „Mein Name ist Tara Sann. Was glauben Sie denn, welchen Zweck der Verzweiflungsangriff der zahlenmäßig weit unterlegenen XcocxRaumer hatte? Es sind ein halbes Dutzend spezialgetarnter Beiboote ausgesetzt worden, die zu Ihnen durchdringen sollen, während das Kampf geschehen die Garl beschäftigt und ablenkt. Ich bin die einzige, die es geschafft hat, unter exorbitanten Opfern von Xcocx, Menschen, Hilfsvölkern und Material. Ich muß mit Ihnen reden, sonst ist alles umsonst gewesen.“ „Woher soll ich wissen, daß das kein Trick der Xcocx ist, um mich in letzter Minute doch noch zu vernichten?“ „Ein Beiboot kann Ihnen nicht gefährlich werden. Öffnen Sie die Schleuse, ich komme unbewaffnet an Bord. Sie können mit Ihren Kontroll-Systemen nachprüfen, daß ich unbewaffnet bin. An Bord Ihres Raumers werde ich Ihnen unter dem Lügendetektor Rede und Antwort stehen.“ „Wozu das Ganze? Warum stehen Sie auf Seiten der Methanatmer, die die Föderation zerschlagen haben?“ „Sie sind völlig falsch informiert. Nicht die Xcocx, sondern die Garl haben die Föderation vernichtet und die Menschen und Humanoiden
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nahezu ausgerottet. Die Garl sind der gemeinsame Feind aller anderen intelligenten Rassen.“ „Ortung“, befahl Gann der Positronik. „Wer befindet sich in unserem unmittelbaren Bereich?“ „Ein terranisches Ein-Mann-Beiboot ohne erkennbare Waffensysteme. Wegen seiner geringen Masse kann es von den Kontrollen der Garl nicht geortet werden, solange es sich in unserem Bereich befindet.“ Ein Bildschirmsektor zeigte das spindelförmige Beiboot. Eine Luke öffnete sich, eine in einem Raümanzug steckende Gestalt verließ das Beiboot und kam mit vollem Schub der Rückstoßdüsen auf den DeltaRaumer zu. „Kontrolle“, ordnete Gann an. „Hat die Person irgendwelche Waffen, offen oder verborgen?“ „Nichts feststellbar. Außer dem Raumanzug kann ich nur organische Materie feststellen.“ „Was sagt dein Logiksektor?“ Kurze Stille. „Eine genaue Überprüfung der Fakten ist angebracht. Es ist zu beachten, daß der Delta-Raumer vor der Havarie auf Sanvor IV von einem Walzenraumer mit MV-Strahlen beschossen wurde. Außerdem waren das militärische Potential der terranischen Föderation und des Xcocximperiums nahezu gleich. Eine so vollständige Vernichtung der Föderation innerhalb einiger Zeit durch die Xcocx hat nach den neuen Informationen und Daten keinen hohen Wahrscheinlichkeitsfaktor mehr.“ „Warum wurde mir das nicht früher übermittelt?“ „Bevor die Existenz der Garl bekannt war und ehe die Information der Terranerin eine Überprüfung des Faktenmaterials anregte, wies alles auf die Xcocx als Vernichter der Föderation hin. Andere Informationen lagen nicht vor.“ „Schleuse öffnen. Die Kampfroboter, A-Klasse, sollen sich bereithalten. Falls irgendeine Aggression erfolgt, ist die Frau zu vernichten.
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Sollte eine Übernahme meines Willens oder ein anderer Eingriff erfolgen, gleichfalls vernichten.“ Geistesabwesend streichelte Gann den Eisfuchs. John rieb sich an seiner Hand, das weiße Fell wohlig gesträubt. Die Kontrollen zeigten an, daß die Frau den Delta-Raumer betrat und den Antigravlift zur Zentrale benutzte. Sie hatte den Raumanzug bereits abgelegt, als sie vor Gann trat. Sie trug eine knappsitzende, dunkle Kombination, und ihr blondes Haar fiel über die Schultern. Ihre Backenknochen waren ausgeprägt, ihre Augen blau wie die Ganns. „Ich nehme an, Sie wollen den Lügendetektor benutzen, um meine Angaben zu überprüfen“, sagte sie. „Tun Sie es. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Die Xcocx sind bereit, bis zum letzten Mann zu kämpfen, damit dieses Gespräch stattfinden kann. Das Schicksal der gesamten Galaxis hängt davon ab. – Wie ist Ihr Name, Terraner?“ „Gann.“ Ein Med-Robot setzte Tara Sann die Detektorhaube auf. Er schloß sie an den Teil der Positronik an, der die Funktion des Lügendetektors ausübte, damit die Daten sofort gespeichert und vom Logiksektor ausgewertet werden konnten. „Erzählen Sie mir alles über die Vernichtung der Föderation“, sagte Gann. Immer noch tobte die Raumschlacht zwischen den Garl und den dezimierten Xcocx. Während im All Blästerstrahlen zuckten, Intelligenzen und Positroniken kämpften, Schiffe zu Atomsonnen wurden, hörte Gann die wahre Geschichte von der Vernichtung der Terranischen Föderation Loyaler Welten und der fast völligen Ausrottung der Menschheit. Tara Sann sprach schnell, aber nicht überstürzt, und fast leidenschaftslos, nur manchmal, wie bei der Schilderung der Vernichtung des irdischen Sonnensystems und Terras, zeigte sie eine Bewegung. Der Krieg zwischen den Menschen und den Xcocx sowie den beiderseitigen Hilfsvölkern hatte jahrhundertelang gedauert. Keine Seite errang einen entscheidenden Vorteil. Zur Zeit der Erprobung des - 97 -
Delta-Raumers, des ersten und einzigen Prototyps mit der MomentHyperraumexitanlage, kamen nun die Garl und griffen Menschen und Xcocx gleichermaßen an. Das war im Jahre 1834 Neuer Zeitrechnung. Auch die Besatzung des Delta-Raumers fiel im Orion-Nebel einem der ersten Garlangriffe zum Opfer. Unter dem Druck des massierten, lebensbedrohenden Angriffs von der galaktischen „Eastside“ schlossen Menschen und Xcocx sich zusammen. Doch für die Föderation, die von den Garl-Flotten zu überraschend angegriffen worden war, war es zu spät. Nur wenige Menschen entkamen der Zerstörung. Sie fanden Schutz bei ihren früheren Feinden, den Xcocx. Sie hofften, die chloratmenden Garl zusammen mit den Xcocx doch noch schlagen zu können, um dann wieder – diesmal in friedlicher Koexistenz mit den Xcocx – die Föderation neu zu errichten. Doch die Garl, die ungeheuerlich schnell expandierten und sich vermehrten,- gewannen immer mehr die Oberhand. Ihren Urtrieben zur Ausbreitung der Art und der Unterdrückung allen anderen Lebens folgend, eroberten sie Raumsektor auf Raumsektor. „Weshalb wurden zum Beispiel auf Sanvor IV die umweltadaptierten Humanoiden unterdrückt und von den Xcocx ausgebeutet, wenn es sich so verhält?“ fragte Gann mißtrauisch. „Es war nicht anders möglich“, antwortete Tara Sann. „Der OrionNebel wurde von den Garl sporadisch aufgesucht und kontrolliert. Die Xcocx waren auf die Rohstoffe von Sanvor IV und die sanvorischen Humanoiden als Hilfsvölker angewiesen, konnten den Raumsektor des Orion-Nebels aber nicht ständig schützen, da ein so exponierter Posten aus kosmostrategischen Gründen von vornherein unmöglich war. An Primitivwelten hatten die Garl kein Interesse. Wenn sie aber merkten, daß eine Welt die Xcocx unterstützte, vernichteten sie den ganzen Planeten unbarmherzig. – Es war deshalb nicht zu umgehen, Sanvor IV auf dem Status einer Primitivwelt zu belassen und den Planeten nur im Verborgenen zur Hilfeleistung heranzuzie-
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hen. Das konnte nur durch ein solches System geschehen, wie Sie es erlebten, Gann.“ „Weshalb nahmen die Menschen oder die Xcocx nicht eher Verbindung mit mir auf?“ „Menschen gibt es nur noch wenige. Die Xcocx hielten den DeltaRaumer für eine neue Waffe der Garl. Erst vor kurzer Zeit wurden in alten Positronik-Archiven Informationen entdeckt und ausgewertet, die zu der Schlußfolgerung führten, bei dem geheimnisvollen Schiff, das so schnell im Hyperraum verschwinden konnte, handele es sich um den im Orion-Nebel verschwundenen Prototyp des DeltaRaumers. Aufgrund von Wahrscheinlichkeitsberechnungen und den Ortungen des Sie verfolgenden Geschwaders von Xcocx-Raumern kamen wir zu dem Schluß, daß Sie – durch Ihre unvollständigen Informationen irregeleitet – Kontakt mit den Garl suchten. Diese logisch denkenden Intelligenzen nutzten Ihre Unkenntnis sofort für ihre Zwecke aus. Wir kontrollierten alle Grenzbereiche des Machtbereichs der Garl scharf. Eine unserer Spionsonden übermittelte uns die Information, daß der Delta-Raumer in diesem Raumsektor aufgetaucht war. Daraufhin setzten Menschen und Xcocx alle verfügbaren Mittel ein, um den Garl das den Galaktischen Krieg entscheidende Prinzip des Moment-Hyperraumexits zu entreißen. – Geben Sie uns die Delta-Formel, Gann. Mit dem MomentHyperraumexit können wir die Überlegenheit der Garl mehr als ausgleichen. Mit Delta-Raumern werden wir den Galaktischen Krieg für uns entscheiden; dann gibt es wieder eine Zukunft für die Menschheit.“ Gann war wie erschlagen. Jetzt verstand er alles. Arth-Shak, der Gouverneur von Sanvor IV, war einige Minuten zu früh gestorben, noch ehe er Gann die gewünschten Informationen geben konnte. All die Jahre hatte Gann einen falschen Weg verfolgt. „Wir werden einen Moment-Hyperraumsprung durchführen“, sagte er leise, „und den Garl entkommen. Die Delta-Formel gehört der Menschheit und ihren Verbündeten.“
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„Das wird nicht gehen“, antwortete Tara Sann. „Die Garl haben mit ihrer Flotte um den Delta-Raumer ein Feld aufgebaut, dessen Struktur eine Aktivierung der in den Darl-Spulen gespeicherten Energie verhindert. Es dauerte einige Stunden, ein solches Feld zu errichten, doch die Zeit gaben Sie den Garl ja. Sie sind ein Gefangener der Garl, Gann. Sie können nicht in den Hyperraum entkommen.“ „Soll denn alles umsonst gewesen sein? Ist durch meinen Fehler alles verloren?“ „Eine Möglichkeit gäbe es. Sie müßten durch eine Aktion, die alle Aufmerksamkeit der Garl auf sich zieht, mir die Möglichkeit geben, mit dem Ein-Mann-Beiboot zu den Xcocx zurückzukehren. Schicken Sie außerdem noch alle Kuriersonden, die an Bord sind, mit Programmierung für Xcocx-Schiffe und der Information ab. Bei jedem wie auch immer gearteten Übernahmeversuch der Garl müssen die Kuriersonden sich selbst vernichten. Vielleicht haben wir Glück und die Information kommt durch. – Doch welche Aktion könnte die Garl so fesseln?“ Gann sah eine Möglichkeit. Er wußte zugleich, daß Tara Sanns EinMann-Beiboot nur einer Person ein Entkommen ermöglichte. Nur noch wenige Xcocx-Raumer existierten. Gann mußte schnell handeln, schnell, entschlossen und logisch fundiert, wie bei der Probe der Quoon. Er programmierte die Kuriersonden, übermittelte Tara Sann eine Informationsspule der Bordpositronik mit der Delta-Formel und allen Einzelheiten für die Konstruktion des Moment-Hyperraumexits. Die blonde Frau nahm außerdem den Eisfuchs mit, Ganns einzigen Gefährten in den letzten Jahren. John winselte erbärmlich. Gann sah zu, wie Tara Sann ihr Beiboot erreichte. Er programmierte die Positronik, fünf Sekunden vor dem Zeitpunkt X die Kuriersonden loszujagen. Dann nahm er Verbindung mit den Garl auf. „Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es sicherer für mich ist, mich Ihrer Rasse völlig anzuvertrauen. Ich möchte an Bord des Flaggschiffs der Maternkönigin gehen.“ - 100 -
Während die Garl konferierten, versuchte Gann, in den Hyperraum einzutreten. Der Delta-Raumer blieb im normalen Raum-ZeitKontinuum. Gann erhielt die Erlaubnis, das Flaggschiff anzufliegen. Bevor er in die Zubringerschleuse einflog, wurden die Kuriersonden abgeschickt. Als Gann in der Schleuse war, ließ die Positronik seiner Anweisung folgend die Abschirmung des Reaktors zusammenbrechen. Der Delta-Raumer und das Flaggschiff der Maternkönigin der Garl wurden zu einer Atomsonne, die die Milchstraße überstrahlte. Diese Katastrophe, die größte, die ein Garlgehirn sich vorstellen konnte, ließ die Garl den Kampf abbrechen. Tara Sann und mehrere Kurierraketen erreichten ihr Ziel. * Aus einer übergeordneten Dimension, an keinen Zeitablauf gebunden, beobachtete Alpha, der Mikro-Kausalforscher der Quoonrasse, das Geschehen. Befriedigt stellte er fest, daß die Kausalkette der Menschheit nach diesem Ereignis wieder einen positiven Verlauf nahm.
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