Es lebe der Weltuntergang! Jerry Cornelius, der Streuner mit der Heldenpose, Rächer aller Plattfüßler, Kämpfer gegen Sc...
379 downloads
1133 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Es lebe der Weltuntergang! Jerry Cornelius, der Streuner mit der Heldenpose, Rächer aller Plattfüßler, Kämpfer gegen Schmutz und Schönheit, hat in sich selbst seinen Meister gefunden. Er kann die Kräfte nicht mehr bremsen, die er geweckt hat. Das Chaos, das er schuf, droht ihn zu verschlingen. Die Stadt verfällt, die Revolutionen schleppen sich müde dahin - und die Temperatur sinkt. Ein letztes Mal spielt das Weltorchester auf. Es lebe der Totentanz der Gegenwart - der Entropie-Tango! Außerdem enthält dieses Buch eine Rarität für Moorcock- und Cornelius-Fans: ZU FERNEN SONNEN - eine Space Opera, in der Hauptrolle: Jerry Cornelius!
Michael Moorcock Entropie-Tango und Zu fernen Sonnen mit Jerry Cornelius
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction-Bestseller Band 22051 Mit Illustrationen von Romain Slocombe Songtexte von Michael Moorcock
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!! scanned and corrected by gabriel
»Entropie-Tango« © Copyright 1981 by Michael Moorcock All right reserved Deutsche Lizenzausgabe 1982 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach Originaltitel: THE ENTROPY TANGO Ins Deutsche übertragen von: Michael Kubiak »Zu fernen Sonnen« © Copyright 1975 by Michael Moorcock All rights reserved Deutsche Lizenzausgabe 1982 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach Originaltitel: THE DISTANT SUNS Ins Deutsche übertragen von: Bernd Seligmann
Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Printed in Western Germany ISBN 3-404-22051-X
Inhalt I
Entropie-Tango 1.
2.
3.
4.
5.
II
Introduktion Kapitel 1 Nur einen einzigen Tag lang: Zwei mächtige Kaiserreiche prallen aufeinander
7 9
15
Durchführung (a) Kapitel 2 Die Kassandra-Halbinsel
35
Durchführung (b) Kapitel 3 Revolutionen
67
Wiederholung Kapitel 4 Das Minstrel Girl
119
Coda Kapitel 5 Harlekins Klagelied
143
Zu fernen Sonnen
Nachwort
41
71
125
147 169 285
Michael Moorcock
Entropie-Tango Deutsche Übersetzung von Michael Kubiak
1. Introduktion
Entropy Tango My pulse rate stood at zero When I first saw my Pierrot My temperature rose to ninety-nine When I beheld my Columbine Sigh, sigh, sigh … For love that’s oft denied Cry, cry, cry … My lips remain unsatisfied I’m yearning so for my own Pierrot As we dance the Entropy Tango! I’ll weep, weep, weep Till he sweeps me off my feet My heart will beat, beat, beat, And my body lose its heat Oh, life no longer seems so sweet Since that sad Pierrot became my beau And taught me the Entropy Tango So flow, flow, flow … As the rains turn into snow And it’s slow, slow, slow … As the colours lose their glow,.. The Winds of Limbo no longer blow For cold Columbine and her pale Pierrot As we dance the Entropy Tango!
- 11 -
At the Time Centre Calling in and calling out Crawling through the chronosphere Will all members please report To their own centuries Where they will receive instructions As to ho to progress This is an emergency signal To all chrononauts and Members of the Time Guild Mrs Persson calls a conference Code-name Pierrot-code-name Harlequin Come in please-this is Columbine Come in please, this is Columbine Come in please, this is Columbine Come in please, this is Columbine Come in please, this is Columbine Columbine calling, Calling Calling out …
- 12 -
The Birthplace of Harlequin In this ancient time-fouled city discredited gods do brood On all the imagined insults which down the aeons they’ve received It is a place of graves and here dreams are destroyed Dreams are brought from all the corners of the world To be crushed or ripped or melted down Into a healthy cynicism Here are tricksters born And fools divested of enchantment This is where Pierrot is killed And from his flesh Harlequin created To race across the world, laughing at nothing, Laughing at everything Laughing at his pain, Laughing at the tired gods who bore him Here in this city, this city of shades, This city of irony bereft of imagination This city of suppression This city of pragmatism Where the jesters weep And the tricksters scheme Parading in motley Too afraid to scream. Too wary to acknowledge love Unless love’s made a game. A game which they can win. Here, in this city of swaggering fantasticos, of calculated gallantry Was Harlequin the Trickster born, to go about the world, to win To attract; to display an easy cleverness; to lie and to deceive To show what shallow things are dreams, and promises impossible to keep And should he meet with frankness, unashamed honesty Back to this city Harlequin may flee To be replenished, armed afresh by his weary masters, The gorgeous gods of disharmony …
- 13 -
1 Zu sehen ist hier Greta Garbo in der entscheidenden Szene aus »Königin Christina«, nachdem sie auf den Thron verzichtet hat und mit ihrem verstorbenen Geliebten davonsegelt … eine der eindringlichsten Darstellungen ihrer Karriere in einer Geschichte und an einem Schauplatz, welche in ihrer Melancholie und ihrem Reiz den darstellerischen Fähigkeiten der Garbo vollauf gerecht wurden. Shots from Famous Films, Nr. 19, herausgegeben von Gallagher Ltd., c. 1937
»Ich züchte immer noch und kaufe ein wenig dazu, doch in letzter Zeit töte ich nur selten.« Einen pinkfarbenen Gin in seiner schlanken Hand balancierend, ließ Major Nye sich in den hellblauen Plüsch sinken und zog eine Fotografie aus seiner Brusttasche. Hinter ihm befand sich ein großes Panoramafenster. Er wandte sich um, um durch die Wolken auf eine Landschaft zu blicken, die durchaus Transkarpathien sein konnte. In der Lounge des Luftschiffs hielten sich nur vier Personen auf, von denen zwei sich in keiner ihm bekannten Sprache unterhielten, so daß er sorgsam darauf bedacht war, Mrs. Persson in seiner Nähe festzuhalten. Als sie herantrat, sagte er: »Was halten Sie von diesem Pärchen?« Es war zu heiß. Una Persson bedauerte es, sich für ihr AranRollkragenkleid entschieden zu haben, und zupfte ein wenig am Kragen herum, so daß ihre Perlen leise klickten. »Ukrainer.« Sie lachte zu den beiden hinüber. Sie waren sehr schüchtern. »Wahrscheinlich haben sie auch Russen.« »Russki.« Die Frau antwortete mit einem Eifer, der ihren untersetzten Ehemann empfindlich zu stören schien. »Da.« Sie trug eine zusammengewürfelte Nationaltracht (Bluse und Stiefel; ein braunes Kleid in ziemlich strengem Schnitt, wie man ihn östlich von Warschau bevorzugte). Er war ziemlich bunt gekleidet: ein kurzer roter Überrock aus Leder, eine Tweedhose und zweifarbige Schuhe. »Dann sind es Anarchisten.« Major Nye beäugte das Paar neugierig, ehe er sein Ginglas leerte. »Glauben Sie, daß Sie durchhalten werden?« - 17 -
Una war belustigt. Wahrscheinlich handelte es sich bei den beiden um reiche Emigranten. »Wie sieht denn die Alternative aus? Bolschewismus?« »Wär nicht schlecht.« Major Nye spürte nun ebenfalls die Hitze. Er strich den linken Ärmel seines Uniformrocks glatt. »Jagen Sie, Mrs. Persson? Überhaupt, meine ich?« »Nicht ernsthaft.« Una zunickend, dabei leicht verlegen, stellten die Ukrainer ihre leeren Gläser auf die Bartheke. Sie bedachten den Steward mit einem gedämpften »Dasvedanya« und stiegen über die Eichentreppe zum Hauptdeck hinauf. »Noch eine halbe Stunde, und wir sind in Prag.« Major Nye wurde trübsinnig. Er hatte sich gefreut, an Bord eine Bekannte getroffen zu haben. »Wartet jemand auf Sie? Vom Konsulat?« »Kennen Sie Prag?« »Ich war seit dem Krieg nicht mehr dort.« Major Nye lächelte wie ein gewiefter Verschwörer. »Ich steige in Dublin um und fliege von dort weiter nach Toronto.« Er war von Hongkong gekommen, mit einem Bradshaw unterm Arm, und war von Schiff zu Schiff umgestiegen, da er die Empress of Canada mit ihrem wöchentlichen Expreßflug verpaßt hatte. Indem er diesen Flug über China und die Russische Republik gewählt hatte, konnte er tatsächlich einige Stunden einsparen, da die Empress auf einer Roten Route unterwegs war, die in den frühen Jahren des Jahrhunderts von seetüchtigen Schiffen festgelegt worden war. Nun, vierzig Jahre später, gingen große britische Luftschiffe in Aerodromen vor Anker, die auf den Grundstücken früherer Kohle-Ladeplätzen erbaut waren. Aber das Luftschiff Lady Charlotte Lever gehörte zur E&A-Linie, die sich weniger um nationales Prestige scherte als um den internationalen Wettbewerb. Zehn Jahre vorher, also 1938 erbaut, war sie einer der ersten sogenannten »ChinaKlipper«, beförderte 31 000 Tonnen Nutzlast und schaffte immerhin 200 Stundenmeilen mit dem Wind im Rücken. Sie landete nur in zwei britischen Häfen und schaffte eine Rundreise von Nagasaki über Seoul, Peking, Samarkand, Tiflis, Kiew, Prag, Brüssel und Liverpool nach Dublin in sechs Tagen; damit war sie eine ernsthafte Konkurrenz für die russischen, deutschen und amerikanischen Linien, die vorher diese Strecken beherrscht hatten. Major Nye fühlte sich in dem Schiff irgendwie unsicher. Er hätte die Reise in einem älteren und damit stabileren Schiff vorgezogen. Mrs. Persson saß ihm auf der Couch gegenüber. - 18 -
»Ich habe auf ein paar Tage Urlaub gehofft.« Major Nye reichte ihr die Fotografie. Sie zeigte ein älteres graues Lebewesen, das von einer lächelnden rundlichen jungen Frau aus seinem Stall geführt wurde. »Das ist mein Pferd, Rhodes. Und daneben meine Tochter Elizabeth. Sie leitet den Stall zur Zeit. In der Nähe von Rye. Ein bedauernswerter alter Knabe. Er liegt im Sterben. Ich wollte bei ihm sein.« Sie war zutiefst berührt. Sie gab ihm die Fotografie zurück. »Ein schönes Tier.« »Er war’s.« Major Nye streichelte seinen weißen Schnurrbart mit der Spitze eines nikotinbraunen Fingers. »Tempus fugit, nicht wahr? Und immer erwischt es die besten aus unserer Mitte.« Seine blassen Augen starrten angestrengt nach draußen, als kämpfte er gegen Tränen an. Una erhob sich. »Ich fürchte, ich muß Sie jetzt verlassen. Mein Gepäck, Sie verstehen.« »Natürlich.« Er erhob sich ebenfalls und nahm Haltung an. »Bestimmt laufen wir uns noch mal über den Weg. So ist es eben im Dienst. Heute hier und morgen dort.« »Oder umgekehrt.« Una reichte ihm die Hand. Sie strich sich die kurzen walußbraunen Haare aus dem Gesicht. »Viel Glück in Kanada.« »Ach, das ist nichts Ernstes, ich bin sicher.« Als sie gegangen war, stellte er fest, daß er immer noch die Fotografie seines Pferdes Rhodes in der Hand hielt. Er schob sie wieder in die Brusttasche, die er sorgfältig zuknöpfte. Zwischen leeren Stühlen dahinschlendernd, das Glas in der Hand, strich er seinen Rock glatt und betrachtete sich am blassen Barmann vorbei im Spiegel. Als er sein Glas auf falschem Schildpatt absetzte, durchlief das Schiff ein typisches Zittern, welches normalerweise auf heftigen Gegenwind hinwies, und das Glas schlug klirrend gegen eine Chromstange, ehe Major Nyes knochige Finger sich darum schließen konnten. Die Lounge verfinsterte sich. Sie segelten durch dichte Wolkenberge, und die Sonne und das Land waren völlig verhüllt. Der Steward bereitete einen frischen Drink. »Es dauert nicht mehr lange. Sir, dann landen wir.«
- 19 -
2 Estonia erlangte seine Unabhängigkeit im Jahr 1918. Die Farben der auffälligen Landesflagge, einer horizontalen Trikolore: Blau für den Himmel, gegenseitiges Vertrauen und Treue; schwarz für die fruchtbare Erde und die finstere Vergangenheit des Landes; weiß für den Winter, die Hoffnung auf die Zukunft … National Flags and Arms, Nr. 16, herausgegeben von John Player and Sons, c. 1937
»Ist das möglicherweise trotz allem das Goldene Zeitalter?« Una wandte sich vom Fenster im ersten Stock und der trüben Netting Hill Street ab. Sie war vor kaum drei Stunden in England angekommen und war sofort hierher gekommen in der Hoffnung, ihre Geliebte Catherine zu treffen, jedoch war nur Catherines Mutter anwesend. »Ich könnt’ ’ne Portion davon jut vertrag’n«, meinte Mrs. Cornelius und wischte sich den Schweiß von der Stirn, »natürlich nur, wenn was übrich iss.« Sie lachte und sah auf die Uhr. »Sovereigns.« Im Radio berichtete ein Sprecher kurz von einem Chaos in den Außenbezirken von Toronto, doch Mrs. Cornelius streckte einen fetten Arm aus und drehte am Knopf und fand schließlich Ted Heath und seine Band, die gerade den Titel Little Man You’ve Had A Busy Day zur Hälfte durchgespielt hatten. »Dass iss was altes.« Sie versank in nostalgischer Stimmung. »Wann iss’n das noch mal rausgekommen? Vor vier Jahr’n? Fünf? Macht einen richtich nachdenklich.« Sie kehrte zu ihrem schrecklichen Sessel zurück und ließ sich hineinsinken, wobei Illustrierten- und Zeitungsstapel sich hoben und um sie herum zu Boden glitten und raschelten, als tauchte sie in irgendein verseuchtes Meer ein. »War’n Se wieder in Übersee, was, Liebes?« »Hier und da«, erwiderte Una ausweichend. Sie empfand zugleich ein gewisses Grauen wie auch eine ausgesprochene Zuneigung zu Catherines Mutter. Die Frau schien sich in einem Zustand altersloser Hinfälligkeit zu halten und war damit vollkommen eins mit der von ihr bevorzugten Umgebung. Die Farbe in ihrem Gesicht mochte am selben Tag oder auch schon vor zehn Jahren aufgetragen worden sein
- 20 -
und blätterte in ebenso großen Flocken ab wie die Farbe auf den Holzmöbeln. »Waren Sie in diesem Jahr schon in Urlaub, Mrs. C.?« »Nich’ der Rede wert. Wir war’n in ’Astings, der Körnel un’ ich, zu Ostern. War ganz schön beschissen.« Sie erzählte von ihrem Freund, dem »ollen Polacken«, der in der Portobello Road einen Laden für Gebrauchtkleidung betrieb. »War’n de janze Zeit auf’m verdammten Pier. Wenn wer nich’ inner Kneipe hingen.« Sie führte ihre Teetasse an die Lippen. »Der Olle war wie’n Toter. Aber ich hab’ mein’ Spaß gehabt.« »Das ist ja die Hauptsache.« Sich gegen das Abtropfregal lehnend, las Una im Manchester Guardian, den sie in Croydon gekauft hatte. Makhnos »Aufständigenarmee«, die vorwiegend aus ukrainischen Siedlern, Indianern, Métis (die aus ihrem Siedlungsland vertrieben worden waren) und einigen versprengten Schotten und Franzosen bestand, hatte die Kontrolle über das ländliche Ontario an sich gerissen. Die größeren Städte, Ottawa und Toronto eingeschlossen, befanden sich immer noch in Händen der R.C.M.P. Irgendwie trat man auf der Stelle, da Makhnos Armee ausschließlich auf Verteidigung ausgerichtet war und ausschließlich auf Angriffe reagierte, während die Mounties nicht bereit waren, eine Aktion zu beginnen, die auf Blutvergießen hinauslief. Una fand das spaßig: Da stand Anarchismus in einem klassischen Dilemma dem Liberalismus gegenüber. Doch in London war man verärgert, was auch der Grund dafür war, daß man sie aus Prag herbeordert hatte. Die Tür öffnete sich. Catherine kam vom Treppenabsatz hereingestürmt. »Oh!« Sie freute sich. Sie wischte sich den Regen aus dem Gesicht und zog an dem Kopfschal, um ihre blonden Locken zu entblößen. »Wieviel Zeit hast du?« »Ich muß morgen schon wieder weg.« Und nach einigem Zögern umarmten sie sich.
- 21 -
3 Die »Reiter der Prärie«, von den Lesern der Literatur des wilden Nordwestens oft heorisierend »Mounties« genannt, wurden 1873 mit der Absicht gegründet, die Einhaltung der Gesetze auch in dünner besiedelten Gebieten des Dominiums zu gewährleisten. Die Rekrutierungsmaßnahmen begannen im Jahr 1874, und schon sehr früh in der Geschichte der Truppe festigten sie durch ihren Mut und ihre Integrität die Ordnung und die Beachtung der Gesetze im Indianer-Territorium. Auch wenn die Aufgaben nicht mehr so schillernd und abenteuerlich sind, so bestehen die Aktivitäten dennoch aus Bestrafung für Gesetzesübertretungen und Durchsetzung der Staatsgesetze in Kanada. Soldiers of the King, Nr. 21, herausgegeben von Godfrey Phillips Ltd., c. 1937
Als Una dort eintraf, hatte Toronto bereits kapituliert, und Makhnos Leute waren überall, verteilten die typischen anarchistischen Schriften und informierten die Bürger über ihre vielen Rechte. Verwirrenderweise trugen eine große Anzahl Makhnowiks rote Uniformröcke, die sie sich von entwaffneten Mounties geliehen hatten, und einige hatten sogar die gesamte Uniform angezogen, wenngleich mit gewissen Modifikationen. Una ging schnurstracks in das Stadtbüro der Canadian Pacific Airship Company, wo Major Nye dafür verantwortlich war, denen Genehmigungen auszustellen, die sich entschlossen hatten, die Stadt zu verlassen. In dem Gebäude war es erstaunlich ruhig, obwohl lange Schlangen von Männern und Frauen im. mittleren Alter davor standen. In der Lobby sorgten sanftmütige Mounties geduldig für Ordnung und saßen hinter Schreibtischen, die kurz zuvor noch von CPAC-Angestellen besetzt gewesen waren. Una wurde sofort in Major Nyes Büro geleitet. Es war in jenem klaren Stil eingerichtet, der von den meisten kanadischen Managern bevorzugt wird, während geschmackvolle Landschaftsdarstellungen in gleichmäßigen Abständen an den Wänden hingen. Durch das große Fenster konnte man auf die Lake Shore Avenue und den Hafen dahinter blicken, wo andere Flüchtlinge in Boote und Schiffe gepfercht wurden, welche sie zu Not-Immigrationszentren in - 22 -
Wilson auf der amerikanischen Seite brachten. Die Vereinigten Staaten hatten sich widerstrebend bereit erklärt, vorübergehende Lager einzurichten, doch schon jetzt, wie Una wußte, hatten sie das unabhängige Ottawa und Britannien gedrängt, Kriegsschiffe in die Provinzen zu schicken, um die »illegale anarchistische Regierung«, wie sie es stets zu nennen pflegten, schnellstens zu stürzen. Makhno und seine Aufständischen repräsentierten offensichtlich das Interesse der Öffentlichkeit, und da die Mounties bisher noch keinen Versuch unternommen hatten, die Städte mit Waffengewalt (oder Anweisungen aus London, wo man sich sträubte, mit Makhno zu verhandeln) zu verteidigen, gab es keinen triftigen Grund, sowohl Truppen wie auch fliegende Kanonenboote zu entsenden. Die Idee von einem Commonwealth, wo alle freie und kooperationsbereite Partner sind, mußte auf jeden Fall aufrecht erhalten werden, dachte man in London.
»Ich meine, Britannien war schon immer der Wächter über die liberale Demokratie gewesen«, sagte Major Nye, nachdem er ihr einen Stuhl angeboten und Kaffee bestellt hatte. »Wir können nicht bei den Methoden der Russen oder Franzosen Zuflucht suchen, oder? Oder auch nur den Amerikanern etwas abschauen. Wir müssen ein Exempel statuieren, ein Beispiel geben. Seit dreißig Jahren hat es im gesamten Empire kein Waffengeklirr mehr gegeben. Alle Meinungsverschiedenheiten und Differenzen wurden mit Hilfe von Diskussionen, Nachgiebigkeit und gesundem Menschenverstand gelöst. Ich sehe keinen Grund, was sie jetzt mit dem Anarchismus wollen, oder Sie etwa? Ich meine, der Unterschied zu früher ist so grundsätzlich, so einschneidend!« - 23 -
»Sie sehen«, meinte Una, »in unserer Demokratie den letzten Überlebensversuch des Kapitals. In einer Verkleidung, getarnt, wenn Sie wollen.« »Es wird immer entgegengesetzte Interessen geben.« Er blieb verwirrt. »Außerdem gibt es schon seit Jahren auch sozialistische Regierungen!« »Makhnos Sozialismus ist etwas extremer.« Una nahm dem Mädchen, das hereingekommen war, die Kaffeetasse mit einem Lächeln des Dankes ab. »Ich nehme an, die wollen mich hier, damit ich mit dem kleinen Vater verhandle.« »Nicht viele von unseren Leuten hatten schon mal mit ihm zu tun.« Major Nye wendete seine Aufmerksamkeit wieder den Menschenschlangen auf den Kais zu. »Sie kennen ihn gut, nicht wahr?« Una trat neben ihn. »Wir schauen immer irgendwo aus dem Fenster, Sie und ich, nicht wahr?« Er hatte ihr nicht zugehört. »Das kommt davon, daß man Quebec die Autonomie geschenkt hat«, murmelte er. »Kanada ist eben nicht Indien.«
- 24 -
4 Drummond. Motto »Eile mit Weile«. Abzeichen: Wilder Thymian. Vorfahr soll Maurice, ein Ungar, gewesen sein, der Edgar Atheling nach Schottland begleitet hat und von Malcolm III die Ländereien von Drymen erhielt. Dieser patriotische Clan kämpfte mit ausgesprochener Tapferkeit bei Bannockburn. Highland Clans, Nr. 3, herausgegeben von John Player and Sons. c. 1920
Halb Toronto schien nun verlassen zu sein. Ähnlich benannt wie Ontarios Städte und Dörfer aufgrund ihrer nostalgischen Assoziationen an Britannien, waren die stillen Straßen der Vororte mit ihren mächtigen schattigen Bäumen und den gepflegten Rasenflächen nahezu vollständig von den Aufständischen übernommen worden, für die die Bezüge – Albion Road, Uxbridge Avenue, Balantrae Drive – völlig bedeutungslos waren. Verschiedentlich hatten besonders selbstbewußte Métis und Indianer, die in ihrer Heimat richtige Häuser bewohnten, Wigwams in den Parks aufgeschlagen und hielten dort mit Ortsansässigen lange Beratungen ab. Den freundlichen Bewohnern fiel es schwer, sich denen nicht in die Arme zu werfen, die sie nunmehr mit freundlicher Abneigung beobachteten. Die Mehrheit der Einwohner von Toronto, die zurückgeblieben waren, zählten zu denselben Nationalisten, die die Provinzregierung gewählt hatten, welche so kurzfristig ihre Hoffnungen enttäuscht hatte. Als Reaktion darauf hatte die ländliche Bevölkerung den alternden Anarchisten zu ihrem Sprecher erklärt. Der hemdsärmelige Fahrer des Rolls wies auf ein großes aus Holzbalken errichtetes Haus am Ende der Straße und sagte auf Ukrainisch: »Batko Makhno Hauptquartier. Sehen Sie.« Eine schwarze Fahne war an einem Schornstein befestigt worden und flatterte deutlich sichtbar über den Wipfeln der Pappeln und Birken. Una genoß diesen friedvollen Anblick, der dem Traum eines Utopia ihrer Heimat durchaus nahe kam. Makhno lehnte an einem der Vordachpfeiler auf der Veranda, als Una über das bizarre Muster des Pflasters auf ihn zu schritt. Er war - 25 -
grauer und hagerer als damals, als sie ihn in den dreißiger Jahren während seiner erfolgreichen Feldzüge gegen die Russische Republik zum letztenmal gesehen hatte, jedoch zeigten seine Augen immer noch diesen wachsamen, leicht spöttischen Ausdruck. Er trug eine flotte Astrachanmütze, einen Dragonerrock in Blau und Gold, eine zivile Reithose und weiche ukrainische Stiefel. Eher als eine Konzession an seine Vergangenheit besaß er auch zwei große automatische Pistolen sowie einen Säbel. Obwohl er seine TB vollkommen ausgeheilt hatte, zeigte sein Gesicht immer noch die leichte Röte, die normalerweise eine Nebenerscheinung dieser Krankheit ist. Er brach in lautes Gelächter aus, als sie sich umarmten. »Wir haben es wieder mal geschafft. Nur war es diesmal weitaus einfacher.« »Deshalb bin ich hergekommen, um mit dir zu reden«, sagte Una. Sie betraten das kühle Innere des Hauses, das mit wollenen Teppichen mit indianischen Mustern ausgelegt war und dessen Einrichtung im wesentlichen aus polierten Holzwänden und niedrigen Möbeln in matten Farben bestand. Ein wohlgenährtes kanadisches Mädchen mit glatter Haut, die noch etwas Bräune vertragen konnte, um wirklich ansprechend auszusehen, erhob sich. »Hi! Ich bin Nestors neue Frau.« »Meine einundzwanzigste«, erklärte Makhno. Er legte einen Arm um ihre geraden Schultern. »Dies«, meinte er mit einem Blick auf Una, »ist meine älteste Freundin und intimste Feindin.« »Wir haben schon von Ihnen gehört, Miss Persson«, meinte das Mädchen, »sogar in Toronto.« Mit einem leicht einstudiert wirkenden Ausdruck der Sorglosigkeit ließ Makhno sich in einen beigefarbenen Sessel am aus Granit grob zubehauenen Kamin fallen. »Bist du gekommen, um mit mir zu verhandeln, Una?« »In gewisser Weise. Dir ist sicherlich klar, daß du die Amerikaner ganz schön in Unruhe versetzt hast.« »Klar doch. Ist das denn so schwierig? Und dazu noch die Russen. Ich denke an unseren Alaska-Coup.« »Genau den meine ich. Zwei Luftschiffe. Aber London steht dafür ganz schön unter Druck.« »Man hat uns bereits vollkommene Autonomie zugesichert. Unter denselben Bedingungen wie Montreal. Alle sind glücklich und zufrieden.« »Die Russen behaupten, daß indem sie dich anerkennen, Kanada den Alaska-Vertrag gebrochen hat. Daher sind sie der Meinung, daß sie von ihren Verpflichtungen zurücktreten können. Die Vereinigten - 26 -
Staaten würden darin einen ersten Schritt von seiten der Russen sehen, sich weitere Gebiete Nordamerikas einzuverleiben.« Makhno lachte. »Worauf willst du hinaus? Etwa auf einen zweiten großen Krieg?« »Du weißt doch, daß es gewisse Spannungen gibt.« »Aber niemand würde wegen einer so geringen Sache gleich schweres Geschütz auffahren.« »Man sieht darin einen deutlichen Einfluß der Anarchie. Erst die Ukraine. Dann Andalusien/Argentinien, Kwan Tung. Du weißt doch, daß hier die Leidenschaften aufeinander treffen. Vielleicht wenn du anfangs deine Programme etwas modifizieren könntest, der ganzen Angelegenheit einen gewissen ›liberalen‹ Touch geben …« Das Mädchen ergriff das Wort, lächelte beschwörend und redete mit einer verlegenen Leidenschaft, als sie sich bemühte, Una auf einen Gesichtspunkt aufmerksam zu machen, der nur ihr fremd zu sein schien. »Sie sollten einsehen, Miss Persson, daß dieser ›Liberalismus‹ nichts anderes ist als die Einstellung, die die Menschen den Tieren gegenüber pflegen, die sie sich als Nahrungslieferanten halten. Ihre Liebe ist die Liebe der Massen, die sie für die Lämmer empfinden, welche sie eines Tages schlachten werden! Der Impuls als solcher bleibt autoritativ verfügt, ganz gleich, wie diese Autorität auftritt und als was sie sich ausgibt. Bolschewiken oder Kapitalisten – sie sind identisch.« Das Telefon klingelte. Makhno ging an den Apparat. Er lauschte, und sein Lachen wurde immer breiter, während sich ein trauriger Ausdruck in seine Augen schlich. Er zuckte die Achseln und legte den Hörer auf die Gabel zurück. »Da haben wir es, Mrs. Persson. Britische Schiffe sind über Winnipeg gesichtet worden. Eine große Flotte. Offensichtlich auf dem Weg hierher. Das ist der Endspurt. Ganz eindeutig. Ist das meine Schuld, deiner Meinung nach? Bin ich in die Falle getappt, vor der ich dich immer gewarnt habe? Der Unglücksfall namens ›Geschichte‹. Der Mythos der ›folgerichtigen Entwicklung‹?« »Was wirst du tun?« »Ich werde um jeden Preis jegliches Blutvergießen vermeiden. Ich werde die Armee anhalten, nicht in den Städten zu kämpfen, wo vielleicht unschuldige Bürger verletzt werden könnten. Wir werden auf dem freien Lande kämpfen müssen.« Er seufzte. »Wohin wir auch ursprünglich gehören.« »Aber wirst du die Revolution weitertreiben?« »Wenn die Leute dies wünschen. Wenn nicht, dann mache ich mich aus dem Staub. Und das geschähe nicht zum ersten Mal.« - 27 -
Das blasse Mädchen war verwirrt. Sie hockte in der Mitte des Raums auf den Fersen und hielt sich die Haare von den Ohren weg. »Oh mein Gott. Dies ist Kanada! Wir haben uns zu weit vorgewagt!« Una war weitaus härter als Makhno. »Euer Problem fing an, als die Mounties ihr Motto von Mantien Le Droit in Mea virtute me involvo änderten.« Makhno mischte sich in die Diskussion. »Wenn es doch nur Omnia vincit amor, et nos cedamus amori geheißen hätte.« Er betrachtete die Blondine voller Bedauern. »Es wird schön sein, endlich mal wieder auf dem Rücken eines Pferdes zu sitzen. Ich hasse Maschinen.« »Das ist wohl deine einzige Schwäche, fürchte ich«, sagte Una. Das Schweigen wurde unsicher.
- 28 -
5 Krönung Williams IV und der Königin Adelaide Die Krönung Williams IV fand am 8. September 1831 statt und wurde mit weitaus weniger Aufwand und Prunk als üblich vorgenommen und zwar vorwiegend aus wirtschaftlichen Gründen. Die Krone der Königin war mit Diamanten besetzt, welche aus ihrem eigenen Besitz stammten und ihr a nschließend zurückgegeben wurden, da sie darauf bestand, daß keine unnötigen Ausgaben getätigt werden. The Coronation Series, Nr. 31, herausgegeben von W. D. & H. O. Wills, c. 1936
Es schien, als gäbe es in England keinen Trost. Beim Tee im Dachgarten bei Derry and Toms (»ihrem« Stammplatz) berichtete Catherine Una von ihrer Verlobung mit Mr. Koutroubousis, dem Schiffseigner. »Letzte Woche erhielt er den positiven Bescheid hinsichtlich seiner Naturalisation, und er stellte mir die Frage aller Fragen.« »Du liebst ihn doch gar nicht.« Una war düsterer Stimmung. »Ich liebe das, was er darstellt.« »Sklaverei!« »Freiheit. Ich werde nicht allein im Mittelpunkt seines Interesses stehen.« Die Sonne schien auf Besteck aus falschem Silber, auf rustikales Porzellan, auf harte Plätzchen und Teegebäck. Jenseits davon, in kleinen künstlichen Teichen, marschierten prachtvolle rosafarbene Flamingos vor einem Hintergrund aus Buchsbaum und Liguster auf und ab. »Und außerdem«, fuhr Catherine fort, »brauche ich die Sicherheit.« »Ich gebe meine Arbeit im Dienst auf.« »Ich glaube, das solltest du auch.« Sie begriff, daß ihr der Hintersinn dieser Bemerkung entgangen war, und schmolz dahin. »Du weißt doch, wie innig ich dich liebe.« »Ich gehe zurück ins alte Gewerbe«, sagte Una. Catherine legte eine Hand auf Unas Hand. »Du wärest auch dann sehr viel unterwegs, Liebes. Dafür können wir uns aber weiterhin heimlich treffen – und werden eine wunderbare Zeit miteinander - 29 -
verbringen. Du hast ja schon mehr männliche Freunde als ich. Dieser Anarchist war einer davon, nicht wahr?« Es stimmte. Una zog ihre Hand fort, um ihre Tasche zu öffnen.
»Ich bin tatsächlich davon überzeugt, daß Männer in nahezu jeder Hinsicht überlegen sind«, sagte Catherine. Sie lächelte. »Natürlich sind wir in einem Bereich nach wie vor überlegen – wir können sie manipulieren, ohne daß sie es merken. Aber hast du nicht auch manchmal den innigen Wunsch, dich einem Mann hinzugeben? Zu denken, daß du, wenn nötig, sogar für ihn sterben würdest? Oh, Una, es gibt nichts Wunderbareres, als sich selbst aufzuopfern.« »Jesus Christus«, murmelte Una erbost. »Er hat es schon wieder geschafft.«
- 30 -
6 Augenfalter (Epinephele ianira). Diese Schmetterlingsart ist die in Britannien am weitesten verbreitete. Überall auf den britischen Inseln ist sie anzutreffen, und zwar sogar hoch oben im Norden auf den Orkneys. Auf jeder Wiese, Landstraße, in jedem Wald und auf den Hochflächen ist er von Mitte Juni bis Mitte Oktober zu beobachten. Der Augenfalter ist einer der wenigen Schmetterlinge, denen man unabhängig vom Wetter ständig begegnen kann. Er fliegt an stürmischen, regnerischen Tagen ebenso wie zur größten Mittagshitze. Nachts schläft er im Laubwerk der Bäume oder auf niedrigen Pflanzen. Die Lebensdauer der Raupe dieser Schmetterlingsart beträgt circa 250 Tage. Die Flügelspannweite beläuft sich auf circa 5 cm. British Butterflies, Nr. 15, herausgegeben von W. D. & H. O. Wills, c. 1935
Genau eine Woche nach ihrer Zusammenkunft mit Makhno, am Sonntag, dem 27. Juni 1948 nahm Una Persson Major Nyes Einladung an. Mit der Eisenbahn fuhr sie nach Rye und gelangte mit einem Taxi vom Bahnhof zu dem im jakobinischen Stil erbauten Haus, dessen Ziergärten nahezu vollständig in Obst und Gemüsebeete umgewa ndelt worden waren und dessen Ställe nunmehr als geschäftliches Unternehmen von Elizabeth Nye, einer der beiden Töchter des Majors, geleitet wurden. Sein Sohn besuchte zur Zeit die Schule. Seine Frau war für drei oder vier Jahre auf ihre Zimmer verbannt worden. Es war ein sehr heißer Tag. Sommerblumen, zu dichten Büscheln arrangiert und zum Verkauf bestimmt, verströmten einen schweren Duft, der Una mit einer leichten Euphorie erfüllte und ihr zugleich wehmütige Erinnerungen an Makhnos Sturz bescherte. Elizabeth unternahm mit einer Gruppe Kinder eine Wanderung. Major Nye, in einer abgetragenen Tweedjacke, einem fadenscheinigen Pullover, einer Hose aus Englischleder und alten Wellingtons, stand vor einem Stall, über dessen Tür der Name »Rhodes« eingraviert war. Er fütterte ein altes, graues Pferd mit Grasbüscheln aus einem Eimer, der vor seinen Füßen stand. Das Pferd hatte tränende, blutunterlaufene Augen, und seine Nüstern waren mit getrocknetem Schleim verkrustet. Das Tier
- 31 -
legte die Ohren zurück, als Una sich näherte, und veranlaßte Major Nye, sich umzudrehen.
»Mrs. Persson! Wunderbar! Das ist Rhodes.« Der Geruch aus dem Stall war streng und ließ an Krankheit denken. Una, die für Pferde nicht sonderlich viel übrig hatte, streckte eine Hand aus, um den Kopf des Tieres zu streicheln, jedoch wich es zurück und verhinderte eine Berührung. »Ich fürchte, es ist ein speziell auf einen einzigen Menschen dressiertes Pferd. Ich bin ja so froh, daß die kanadische Affäre vorüber ist. Haben Sie etwas von Ihrem Freund Makhno gehört?« Einem Gefühl des Selbstmitleids viel näher, als ihr lieb war, erwiderte Una: »Er hat sich dorthin zurückgezogen, wo der Southern in den Yellow Dog mündet.« »Wie?« »Auf dem Weg nach Südamerika, hörte ich.« - 32 -
»Das ist für ihn die beste Gegend. Dort gibt es genug Raum für politische Experimente, nicht wahr?« »So sieht es aber die Öffentlichkeit nicht.« »Wenigstens vermied er einen richtig großen Krieg. Sehen Sie, ich erinnere mich noch gut an den letzten. 1910 hielt ich mich in Genf auf. Ich war gerade achtzehn Jahre alt.« Er lächelte und tätschelte Rhodes’ Nüstern. »Wir wollen keinen weiteren mehr, nicht wahr?« »Vielleicht ist der Preis des Friedens zu sehr in die Höhe geschnellt?« »Der Frieden ist niemals zu teuer, meine Liebe. Ich sage das als Soldat.« Er reichte ihr den Eimer. »Rhodes kann nicht mehr richtig grasen. Er ist ein bißchen wacklig auf den Beinen. Kommen Sie und helfen Sie mir, dort drüben auf der Wiese das Gras zu rupfen.« Er bückte sich und nahm einen durchweichten Telegraph von einem Stapel neben der Stalltür. »Hier, legen Sie sich das unter die Knie. Haben Sie irgendwelche alten Kleider mit?« »Nein, eigentlich nicht.« »Naja, wir werden für Sie schon was Passendes finden. Bleiben Sie eine oder zwei Wochen?« »Wenn das möglich ist, dann zwei.« »Mir ist das nur recht.« Er kicherte verhalten. Ihr wurde in diesem Moment bewußt, daß sie ihn noch nie zuvor richtig glücklich gesehen hatte. »Man hat Ihnen aber einen langen Urlaub gewährt, nicht wahr? Sie haben es auch verdient. Makhno hätte sich doch nie jemand anderem ergeben.« »Schon möglich.« Una hatte keine Lust, über dieses Thema weitere Worte zu verlieren. »Aber ich mache hier keine Ferien. Von Urlaub kann keine Rede sein. Ich habe gekündigt. Ich will wieder zurück zur Bühne. Die Diplomatie bin ich ein für allemal satt. Dieses Geschäft ist so deprimierend. Vielleicht versuche ich auch mein Glück beim Film.« »Tapferes Mädchen«, zollte Major Nye ihr sein väterliches Lob. »Sie haben schon zuviel geopfert.« Für einen Moment lehnte sie sich innerlich gegen diesen Ton auf, war ihr seine Zustimmung doch zuwider. Dann ging sie hinüber zu einem Rasenstück, das nahezu vollständig abgerupft war, und fing an, an den Grashalmen zu zupfen. Major Nye kam zu ihr. Er ging schwerfällig in die Knie. Ein reißendes Geräusch ertönte, als auch er anfing, das Gras abzusammeln. »Alle sagen, ich hätte ihn erschießen lassen sollen. Aber so etwas kann - 33 -
ich nicht, wissen Sie? Ich liebe ihn. Elizabeth«, er gestattete sich ein Lächeln väterlichen Stolzes, »meint, er würde noch mein Tod sein.« Der Schatten eines Luftschiffes auf dem Flug nach Croydon hinüber zum Kontinent, glitt eilig über sie hinweg. Sie hörten das ferne Dröhnen der Motoren. »Das ist der Anfang vom Ende«, murmelte Major Nye. »Das ist es immer«, sagte Una.
- 34 -
2. DurchFührung (a)
Pierrot on the Moon They didn’t tell me That breathing was so difficult. It can’t say I think much Of the scenery I wish I was back in my home again — They’ve left me behind … It seemed a good idea at the time Just me – Harlequin and Columbine —But they slipped off soon And here I am Stranded on the bloody moon … Next time things will be different And I’ll know the score I’ll bring at least an oxygen tent And a good deal more besides Bacon, eggs and bread And a telescope … And I’ll buy returns as well There’s no bloody ticket office Or a gentleman’s lavatory Or a deck chair to be had And every time I take a step – I bounce …
- 37 -
The said it’d be just like Brighton beach Dodgems and roundabouts Candy floss and sticks of rock Though not so many crowds Try and get a donkey ride That’s all I’ve got to say …
Harlequin’s Techniques of Courtship If I let her see my love Will she also see my pain And flee from it As I would flee? And if I pulled my domino From my eyes Would she then know How much of Pierrot’s Left in Harlequin? And if I told her of my yearning Would her body Cease to burn for me Instead would she give me Only sympathy And mistress turn to wife? And if I swore eternal love In anything but A tone of insincerity Would I alert her To involvement Turn her thoughts Away from lust?
- 38 -
And if I wept upon her breast And spoke of fears Of ghosts and death Would she withdraw Her favours from me Choosing silly Pierrot For a husband And shunning me? No, I can only speak of bright lies Offer only flattery Tell her that there are no others But let her think that many follow That I may be gone tomorrow Insecurity is all she wants From me. Madam, I present myself: Sir Harlequin — I bring you Sin …
Columbine Confused On the banks of Time’s river Two lovers await me As the flood takes me by They reach out their hands Pierrot and Harlequin Weeping they greet me The stream bears me onward Future and Past …
Which shall I choose? Oh, I am confused.., Often amused and Constantly torn … Down the long centuries - 39 -
They have pursued me Courted and cursed me For what I am Gravity holds me In sweet indecision Between Sun and Moon To each I’m attracted Pierrot and Harlequin Loser and Trickster Laughing they beckon As the years flood away Future and past Future and past Future and past Future and past As the years flood away As the years flood away As they years flood away Future and past …
- 40 -
1 In which his torment often was so great, That like a Lyon he would cry and rare, And rend his flesh, and his owne synewes eat. His owne deare Vna hearing euermore His ruefull shriekes and gronings, often tore Her guiltless garments, and her golden heare, For pitty of his paine and anguish sore; Yet all with patience wisely shi did beare; For well she wist, his crime could else be neuer deare. Spenser, The Fairie Queene, 1. x. 28.
Una betrachtete ihre Puderdose. Sie war aus Silber und mit einer wunderschönen Emaillearbeit von Brule versehen; es war eines seiner letzten Stücke. »Una.« Sie schüttelte den Kopf. Sie wies sein Geständnis zurück. Seine Augen waren die nackte Qual. »Una.« Ohne sie benutzt zu haben, steckte sie die Puderdose wieder in ihre Lederhandtasche. Seine Stimme weckte in ihr das Bild von einem düsteren, unbewegten Meer. Sie atmete tief ein. Makhno hatte weitergemacht. Es war notwendig gewesen. Sein Erfolg – so wenig davon er auch erwarten mochte – hing ab von der Schnelligkeit seiner Strategien. An diesem Punkt gab es lediglich eine Niederlage. »Una.« Er lag im Schatten auf einer Strohmatte. Durch das Scheunentor drang die scharfe Luft des Winters in New Hampshire herein. Sie konnte über der tief verschneiten, geschwungenen Landschaft die Konturen eines holländischen Bauernhauses erkennen, das schwarz gegen den nahezu weißen Himmel abstach: die einzeln stehenden Birken, die Kiefern. Sie konnte die gedämpften Laute der Arbeit auf dem Lande ausmachen. Schon in wenigen Augenblicken würde die Dämmerung heraufziehen. Nicht mehr lange, und man würde ihn
- 43 -
entdecken. Mit erstarrendem Gesicht zwang Una sich, ihren ExKameraden anzuschauen. Er war ihr einst so mächtig erschienen. »Una.« Der Ruf erinnerte sie an einen sterbenden Albatros, den sie einmal Anfang der vierziger Jahre auf den Midway-Inseln beobachtet hatte. Eine seiner Hände bewegte sich kaum merklich. Um sie aufzuhalten? Um zu bitten? Sie sah an seinem Kopf vorbei, betrachtete das unbenutzte Geschirr, die verrosteten Utensilien: Erinnerungsstücke an schönere, einfachere Zeiten. Sie glättete die Seide ihres Rockes und schwang die Handtasche an ihrem Lederriemen hin und her; dann schob sie den Riemen sorgfältig auf die Schulter. Sie kämpfte gegen ihren ganz individuellen Fluch an, gegen sinnlosen Altruismus. Aber war es ein Fluch oder nur ihr ständiges Dilemma? »Una. Sie werden mich umbringen.« »Nein, Jerry.« Wahrscheinlich würde man ihn bis nach den Vorwa hlen internieren. Sie war schon fast geneigt, ihm Mut zuzusprechen, als glücklicherweise am Himmel ein Schrei ertönte und eine Schneewächte vom Dach der Scheune nach unten rauschte, als eine Concorde der Piraten vorüberjagte, verfolgt von wütenden Freedom Fighters. Es war so kalt, und wie er trug auch sie keine angemessene Kleidung. »Montreal«, sagte sie. »Versuch, nach Montreal durchzukommen. Ich melde mich dort bei dir.« Sie trat in hochhackigen, schwarzen Pumps in den Schnee hinaus. Sie erschauerte. Es war dumm gewesen, dem alten Kamov zu vertrauen.
- 44 -
2 »I’m ready when you are, Senor …«
Bob Dylan
»Wir beginnen mit Vieldeutigkeiten und bemühen uns anschließend, sie mit der Logik der Kunst anzugleichen und zu klären«, sagte Prinz Lobkowitz. »Dennoch fangen diese Burschen oft mit einer simplen Idee an und suchen dann die Vieldeutigkeit, indem sie mit Verschleierungstaktik arbeiten. Aber das funktioniert nicht so richtig.« Er warf ein Blatt Konzeptpapier neben dem Klavier auf den Boden und erhob sich. »Ich mache dafür die Akademiker verantwortlich.« Irgend etwas rumorte unter ihm. »Nun«, sagte sie, »es ist einfach.« Sie lehnte sich auf dem Klavierhocker zurück, drehte sich und blickte in den noch halb fertigen Zuschauerraum. Durch die Löcher in den Planen, die die durchlöcherte Glaskuppel bedeckten, konnte sie den Nachthimmel sehen; schon wieder ein zerstörter Publizistentraum. Lobkowitz, in Abendkleidung, schlurfte vor, groß und hager und sah noch schlechter aus als sonst. Sein Versuch, auf Einladung der provisorischen Regierung der Vereinigten Staaten ein Kabinett zusammenzustellen, war fehlgeschlagen, wie er es auch prophezeit hatte. Als Folge hatten er und Una ihre Jobs verloren. Sie war erleichtert, er trauerte den alten Zeiten nach. Die Zusammenkunft, die beim Licht der Kerzen und Öllampen am frühen Abend stattgefunden hatte, entwickelte sich schon bald zu einer regelrechten Begräbnisfeier. Dann waren nach und nach die würdigen alten Herren verschwunden. Bis auf einige wenige waren alle Lampen erloschen. Es war eine Schande, daß die Feuchtigkeit die Wandgemälde angegriffen hatte, von Mozart bis Messiaen, die man auf den hastig errichteten Mauern erkennen konnte. Sie mochte die Eigenarten des Gregg’schen Malstils mit seinen gedeckten Farben und den weichen Konturen. Vor allem liebte sie das Porträt Schönbergs, wie er im Pierrot Lunaire im Jahr 1912 in Berlin auf der Bühne steht. Nun waren nur noch die erhobenen Hände des Komponisten zu sehen, als dirigierte er eine unsichtbare Menge, indem er hier ein paar Zwischenrufe dämpfte, dort den - 45 -
Einsatz für ein Applauscrescendo gab. Una wünschte, sie könnte ihr plötzliches Wohlbefinden ausdrücken und erklären. Sie drehte sich wieder um, lachte Lobkowitz an, der schulterzuckend mit einem Grinsen antwortete. »Ach ja.« »Wir suchen so krampfhaft nach derartigen intensiven Erlebnissen und Erfahrungen. Und wenn es soweit ist, dann weichen wir sofort davor zurück.« »Liegt es vielleicht daran, daß wir Angst haben?«
- 46 -
3 ›There are jewels in the crown of England’s Glory; And every jewel shines a thousand ways Frankie Howerd and Noel Coward and Garden Gnomes Frankie Vaughan and Kenneth Home and Sherlock Holmes Monty and Biggies and Old King Cole, in the pink or on the dole Oliver Twist and Long John Silver, Captain Cook and Nellie Dean Enid Blyton, Gilbert Harding, Malcolm Sargeant, Graham Greene Gra-ham Gree-ne!‹ Max Wall
Widerstrebend nahm sie die Ak-47 auf, als Petrov ihr Taschen voller Munition über den Tisch zuschob. »Sie paßt zu Ihnen«, sagte er. »Sie ist doch elegant, nicht wahr?« Er zündete sich einen Danemann-Zigarillo an. »Sie kennen das Gewehr?« »Oh ja.« Sie überprüfte das Schloß. »Ich hatte gehofft, ich würde es nie wiedersehen.« Der Qualm des Zigarillos verursachte ihr Übelkeit. »Dort ist auch die M-60 …« Er wies auf das Gestell. »Nein, nein.« Sie befestigte die Taschen an den Gurten ihrer leichten Tarnjacke. Sie wäre froh gewesen, wenn sie sich in dieser Kluft nicht so ausgesprochen wohl gefühlt hätte. Es war verdächtig. Eine weitere Rauchwolke trieb ihr ins Gesicht. Sie wandte sich ab. »Haben Sie sonst alles Notwendige?« wollte er wissen. »Genügend Moskito-Öl?« »Es reicht. Ist Ihnen das nicht aufgefallen?« Sie strich mit einem Finger über ihren fettigen Handrücken. Er stand auf. »Una.« »Oh nein, das tun Sie nicht«, wehrte sie ab. Die Verwundeten zu betreuen, gehörte nicht mehr zu ihren Obliegenheiten. »Ich denke nur an Sie.« Er ließ sich wieder nieder, starrte an ihr vorbei auf das Buschland jenseits der Grenze. Sein Gesicht hellte sich auf, als er den Arm ausstreckte. »Sehen Sie. Geier.«
- 47 -
Sie wandte sich nicht um. Er grinste. »Die gehören jetzt zu den geschützten Tierarten.« Sorgfältig schloß sie die Fliegentür hinter sich, blieb auf der Veranda stehen und hielt Ausschau nach einer Fahrmöglichkeit. Sie war bereits eine halbe Stunde zu spät. Una fragte sich, ob etwas passiert war. Wenn ja, dann mußte sie sich auf eine lange Wartezeit einstellen, während sie per Funk in Kinshasa um weitere Instruktionen baten. Sie blickte auf ihre Uhr, ohne sie abzulesen. Afrika hatte sie nie sonderlich gemocht. Irgendwie hatte man dort trotz unterschiedlicher Voraussetzungen Europa stets als Modell betrachtet. Genau wie die Amerikaner. Und da war sie nun, Britannia Encyclopaedia, eigens zurückgekehrt, um endgültig um die Entscheidung zu kämpfen. »Dann könnense nur lachen, wa’, Miss?« sagte der schwarze Cockney-Corporal und hielt die Wasserflasche hoch, in die jemand zwei kleine Löcher geschossen hatte. Seine schweren Stiefel ließen die Ve- 48 -
randa erbeben, als er vorbeiging und in Petrovs Büro verschwand, um sich einen Befehl zu holen. Sie ließ sich in den Segeltuchstuhl fallen und stellte das Gewehr zwischen ihre Füße. Sie streckte sich. Der Corporal kam wieder heraus. »Hamse vielleicht diesen Captain Cornelius irgendwo gesehen, Miss?« fragte er, um sich die Zeit zu vertreiben. »Der war hier, ehe es richtich losging.« Sie lachte. »So macht er das immer.«
- 49 -
4 In the event of a Sonic Attack, follow these rules:
Hawkwind
Als der Fluß sich verbreiterte, wurde sie wachsam, legte den Sicherungsflügel um, hockte sich vor den Motorkasten und beobachtete den Dschungel. Besondere Aufmerksamkeit schenkte sie den dichteren Buschgruppen an beiden Ufern. Kurz darauf hatte sie auch schon die Decksaufbauten und die Brücke eines alten Dampfers entdeckt, der vor zwei Jahren hier überfallen worden war. Die Little Madam hatte Schlagseite bekommen und lag nunmehr fast ganz auf der Seite; sie war verrostet und von Schlingpflanzen überwuchert. Als Una den Blick über das Wrack wandern ließ, tauchte in einem Bullauge ein kleines Krokodil auf und wand sich ins Wasser. Die Little Madam war das letzte Schiff seiner Art gewesen. Sie hatte eine Ladung Missionare wieder zur Küste bringen wollen, als eine Handvoll Eriträer, die sich verirrt hatten und sich auf der Flucht befanden, das Schiff irrtümlich für einen Militärtransporter hielten und ihre restliche Munition auf dieses unerwa rtete Ziel verschossen. Im Dschungel herrschte eine grauenvolle Stille, als wäre jeder Vogel und jedes Insekt getötet worden. Allerdings war das Blätterwerk üppiger denn je und von einem satteren Grün. Sie näherten sich einer Biegung. Ein Streifen schmutzigen Spülwassers trieb wirbelnd auf sie zu und passierte sie auf beiden Seiten des sich stromauf kämpfenden Bootes. Am Bug sprang Shakey Mo Collier, von einem gleichgültigen Makhno beobachtet, der mindestens zwanzig Dosen einheimischen Bieres getrunken hatte, auf und ab und schleuderte handgeschnitzte hölzerne Götzenfiguren in die Brühe. »Leckt mich! Leckt mich!« Er zog die Figuren aus einem mächtigen Sack, der fast so groß war wie er selbst. Er hatte gerade erfahren, daß seine Beute wertlos war, da das Touristengeschäft völlig eingeschlafen war. Der Dschungel am rechten Ufer hörte plötzlich auf und wurde von einem grauen, terrassenartig angelegten Komplex der Proteinfabrik - 50 -
der Durango Industries abgelöst. Una bemühte sich, die süße Luft nicht einzuatmen, als sie vorbei stampften. Ganz in der Nähe befanden sich die weißen Gebäude des Hospitals, kenntlich an ihren roten Kreuzen. Sie sahen eher aus wie Empfangsgebäude für die Fabrik. Es hätte sich bei diesem Komplex ebensogut um einen der heruntergekommeneren Vororte von Los Angeles handeln können, in dem überall krank erscheinende, hohe Palmen gediehen. Arbeiter auf den Dächern und in den Gerüsten machten eine kurze Pause und beobachteten neugierig das Schiff. Collier winkte den Leuten zu, verlor aber bald jegliches Interesse, als niemand zurückwinkte. »Blöde Penner.« Er schleuderte das letzte Götzenbild in Richtung der Fabrik. Makhno war eingeschlafen. Una war erleichtert. Wenn er schlief, dann bestand wenigstens nicht die Gefahr, daß er sich auf die Sitzpolster übergab. Sie starrten bereits vor jeder Art von Dreck und Schmier. Mo schlenderte durch das Boot zu ihr herüber. Er zündete sich eine Papyrossi an, die er einem gefallenen Feind aus der Tasche geangelt hatte. »Es wird doch keinen Ärger geben, oder?« »Unwa hrscheinlich.« Sie wischte sich die Stirn ab. »Das Schlimmste haben wir hinter uns. Es scheint, als würden wir diese Lieferung heil durchbekommen.« »Ich achte verdammt noch mal darauf, daß ich beim nächsten Mal sofort meinen Bonus bekomme«, knurrte Mo. »Und zwar in Gold.« Er tätschelte seine Gürteltasche. Er beulte sich aus. Unter der Lederklappe drangen ein paar blonde Haare hervor. Una begeisterte sich immer noch an Mos Fähigkeit, sich die Ideale und Ziele seines jeweiligen Arbeitgebers zueigen zu machen. Vor einem Tag oder auch schon früher hatte sie ihn einmal danach gefragt. Er hatte erwidert: »Ich genieße es eben besonders, loyal zu sein.« Er hatte sich sein hohes Ansehen wirklich verdient. Er hatte sich sogar seine russischen Skalps selbst erkämpft (und gab sie natürlich als rhodesische Trophäen aus). Trotz seiner wirklich schlimmen Angewohnheiten freute Una sich über seine Gesellschaft, und sie bedauerte es jetzt schon, daß sie sich trennen mußten, doch wenn sie die Ladung unbehelligt abgeliefert hatten, war ihre Mission beendet. Sie war froh, daß die Reise verhältnismäßig schnell vonstatten gegangen war. Kein Desinfektionsmittel oder Parfüm konnte den Gestank des Schiffs vertreiben. Es war das letzte Mal, so schwor sie sich, daß sie einen von Cornelius’ Jobs über- 51 -
nahm. Er hatte diesen hier nur übernommen, um nicht sein Gesicht zu verlieren, um seinen Ruf aufrechtzuerhalten, daß er besonders tollkühn war, ein Ruf übrigens, dem er in keinster Weise gerecht wurde.
Collier konnte die Ladung weiter bis nach Dubrownik begleiten und von dort aus mit einem Flugzeug nach Hause zurückkehren, wenn er dazu Lust hatte. Sie würde sich wohl im Hafen umschauen. Ihr reichte es.
- 52 -
5 »Isn’t it delicious? There’s a red sun in the sky! Every time we see it rise, another city dies …« The Deep Fix
»Natürlich erinnere ich mich an die alten, sorglosen Zeiten«, sagte Miss Brunner und lächelte zu der Kristallkugel hinauf, die sich an der Decke mitten in Lionel Himmlers Blue Spot Club drehte. »Damals war er viel geselliger.« Sie schien damit anzudeuten, daß er so gewesen war, ehe er Una kennengelernt hatte. An der Frau in ihrem strengen Aufzug war auf den ersten Blick nichts Attraktives; ihre unbeholfene, fast gedankenverlorene Art sich zu bewegen; doch Una verspürte eine starke Begierde in sich, mit dieser Frau zusammenzusein, wahrscheinlich weil sie spürte, daß sie für Miss Brunner nichts übrig hatte, sie bestimmt nicht sympathisch fand. Sie versuchte, diese Begierde zu unterdrücken; sie hatte recht genaue Vorstellungen von den Konsequenzen, die sich aus einer solchen, wenn auch nur kurzen Affäre ergaben. »Als er immer noch ein Idealist war«, fuhr Miss Brunner fort. »Waren wir das nicht alle einmal?« »Ich bin es immer noch«, sagte Una. »Das ist reichlich dumm, oder?« Sie war über sich selbst schockiert. Die letzte Bemerkung paßte gar nicht zu ihr. Sie bewunderte Miss Brunners Fähigkeit, sie zu provozieren. Miss Brunner schenkte ihr ein Lächeln, das ebensogut aus Zuneigung wie auch aus Triumph geboren sein konnte. »Wenn Sie eine so alte Kriegerin wären wie ich, meine Liebe, hätten Sie für solche Dinge keine Zeit.« Sie gab dem jüdischen Kellner mit dem griesgrämigen Gesicht ein Zeichen. Als er herankam, drückte sie ihm eine Geldmünze in die Hand. »Bartoks Streichquartett Nr. 1«, sagte sie. Sie schaute ihm nach, wie er zur Musikbox schlurfte. Nun war es an ihr, Verlegenheit zu zeigen. »Ich ergehe mich wieder in trübsinnigen Gedanken. Sie waren in den alten Zeiten ja noch gar nicht im Geschäft.« »Es kommt darauf an, wie Sie das meinen«, sagte Una. »Jedenfalls hätten unsere Pfade sich nicht gekreuzt.«
- 53 -
»Nein.« Una versuchte sich darüber klarzuwerden, wie diese Frau trotz all ihrer Wunden noch immer in der Lage sein konnte, ihre Funktion zu erfüllen. Miss Brunner trank ihr B&B. Aus dem Pelzkragen ihrer Jacke stieg der Geruch nach künstlichen Hyazinthen auf. »Es ist gut zu wissen, daß jemand da ist, der für ihn einspringt.« »Ich springe nicht richtig ein«, widersprach Una. »Ich denke, Sie gehen da von falschen Voraussetzungen aus.« »Zumindest hat man es im Time Centre so dargestellt.« »Auchinek?« »Nein, dieser andere. Alvarez.« »Er arbeitete nur mit Cornelius gerne zusammen.« »Das stimmt.« »Natürlich sind Sie weitaus mehr unterwegs als wir anderen, nicht wahr?« fuhr Miss Brunner fort. »Ich nehme an, das entspricht den Tatsachen.« »Ich beneide Sie um Ihre Ungebundenheit. Ich fürchte, in bin sehr altmodisch.« Una amüsierte sich über diese Serie von Schuldbekenntnissen. »Oh nein«, widersprach sie. »Eine fürchterliche Reaktionärin, nicht wahr?« »Überhaupt nicht.« »Ich komme eben aus einer völlig anderen Schule.« Miss Brunner gab ein lautes Schnalzen von sich. »Es ist lediglich eine Frage der unterschiedlichen Temperamente«, meinte Una. »Nun, jeder von uns sieht das, wonach er auf der Suche ist. Vor allem in einem Mann. Das ist es wohl, was man sieht, wenn man sagt, man kennt jemanden, nicht wahr?« Der Kellner kehrte zurück, als die zerkratzte Schallplatte abgespielt wurde. »Ich hasse Bartok.« Miss Brunner schlug die Speisekarte auf. »Ich finde ihn irgendwie leer, hohl. Vivaldi liebe ich aufrichtig, aber die Auswahl hier ist doch ziemlich begrenzt.« Sie funkelte den Kellner wütend an. »Ich fange mit den moules an.« »Sie sind auf dänische Art zubereitet«, erklärte der Kellner. »Sehr schön. Und dann einen Hasenrücken.« »Ich möchte nur ein Omelett.« Una machte gar nicht erst den Versuch, die Speisekarte bei der schlechten Beleuchtung zu lesen. »Und Mineralwasser.« »Ein einfaches Omelett? Und eine Flasche Perrier?« - 54 -
»Ja, genau das.« »Jedenfalls«, sagte Miss Brunner, als sie dem Kellner die Karte zurückgab, »ist Collier mit der letzten Ladung durchgekommen. Womit Afrika und Südamerika erledigt wären.«
»Das ist wirklich eine Erleichterung.« »Für Sie ganz bestimmt. Ich kehre morgen nach Schweden zurück. Ich wohne jetzt dort.« »Ja.« »Sie kennen Schweden?« »Ja, ja.« »Kiruna?« »Ja.« »Dort ist es so friedlich.« Una konnte sich nicht dazu überwinden, derartig verzweifelte Behauptungen zu bestätigen. Infolgedessen erregte Miss Brunner sich - 55 -
mehr und mehr und suchte nach einer anderen Waffe. »Er war niemals geradeheraus«, meinte sie schließlich. »Das war es, was ich an ihm nicht leiden konnte.« »Nun, es gibt eben Menschen, die es lieben, eine Atmosphäre der Vieldeutigkeit, der Unsicherheit um sich zu verbreiten, mit der ihre Umwelt sich dann auseinandersetzen muß.« Una hoffte, daß diese Erwiderung nicht allzu direkt ausgefallen wäre. »Ich glaube, ich kann Ihnen nicht ganz folgen, meine Liebe.« Miss Brunner hatte nur zu gut verstanden. Una fuhr mit erhöhter Vorsicht fort. »Während andere natürlich versuchen, etwas aus der Vieldeutigkeit herauszuziehen, die sie in ihrer Umgebung spüren. Wie ich schon sagte, ist es eine Frage des Temperaments.« »Es ist doch sonnenklar, welche Art von Temperament Ihrer Zustimmung sicher sein kann.« Una lächelte. »Ja.« »Um auf mich zurückzukommen – ich will nichts als ein ruhiges Leben. Mit Cornelius war dies nicht möglich. Er hat alles durcheinander gebracht.« »Ich hab’ ihn wahrscheinlich nicht so gut gekannt wie Sie.« »Nur sehr wenige Leute waren mit ihm derart vertraut.« Miss Brunners Muscheln wurden serviert. Sie beugte sich mit wütendem Gesicht über die Schüssel.
- 56 -
6 »Their snakeskin suits packed with Detroit muscle …« Bruce Springsteen
Es war eine wahre Erlösung, in den Wagen zu steigen und Ives Erste Sinfonie in den Kassettenrekorder zu schieben. Es lag nicht daran, daß sie etwas gegen den Bartok gehabt hätte, jedoch waren Himmlers alte Aufnahmen immer zu baßlastig und abgenutzt und zerkratzt, so daß alles einfach schrecklich klang. Natürlich empfand Himmler sogar das als ein Zugeständnis. Als er den Nachtclub eröffnet hatte, hatte es nichts anderes gegeben als Phönix Schallplatten – ein Label, das ausschließlich Hitler-Reden und nationalsozialistisches Liedgut veröffentlichte. Gegründet wurde es von Arnold Meese, der Mosely einen »koscheren Faschisten« genannt hatte. Diese Beschreibung traf viel eher auf Himmler zu, der im Jahr 1944 seinen alten Namen Gutzmann abgelegt und seinen neuen angenommen hatte. Es war erstaunlich, dachte sie, während die Musik einsetzte, wie sehr sie sich für Amerika zu erwärmen begann, nachdem das Land sie zurückgewiesen hatte. Sie rollte durch ein völlig ausgeweidetes Soho, ihr Körper im Einklang mit der Musik, die aus den Quadro-Lautsprechern in dem AMC Rambler Station Wagen dröhnten, den sie seit kurzem lenkte. Sie war bisher mit Autos ohne Automatik nie sonderlich glücklich gewesen, und obwohl dieser Wagen schon aufregendere Tage gesehen hatte, lieferte er ein sicheres Environment in einer Welt, welche sie, zur Zeit, aufgrund des in ihr herrschenden Chaos vorzog. Die Alternativen zum Chaos waren recht zweifelhaft. Da die Lautstärke so weit wie irgend möglich aufgedreht war, war es unmöglich, entweder den Motor, die Klimaanlage oder den übrigen Straßenlärm zu hören. Dies und ihre schalldichte Wohnung halfen ihr, sich völlig für sich zu halten. Und auch im Augenblick hatte sie keine Zeit für Zivilisten oder Verluste. Die verlassenen Stripschuppen und Spielbanken hinter sich lassend, näherte sie sich dem Hyde Park, als der zweite Satz begann. Es war schwer zu glauben, daß dies die Komposition eines Siebzehnjährigen war. Sie sehnte sich nach ihrer verlorenen Jugend. - 57 -
Ihre Hände studierend, die lässig auf dem Lenkrad vor ihr ruhten, wäre sie beinahe in ein Rudel Hunde gerauscht, die vor ihr gerade die Straße überquerten. Die Hunde waren der Grund dafür, daß man zur Zeit nur sicher war, wenn man den Park durchfuhr. Promenadenmischungen, Windhunde, Schäferhunde, Chow-Chows und Pudel rannten hintereinander her, schnappten nach Nacken und Beinen ihrer Gefährten und verschwanden im Unterholz. Sie verließ den Park und bog in die Bayswater Road ein, fuhr am Notting Hill Gate vorbei, passierte die Ruinen der Apartment Häuser an der Kensington Park Road, gelangte nach Ladbroke Grove, bog nach rechts ab und erreichte schließlich den Blenheim Crescent und blieb vor einem heruntergekommenen Terrassenhaus stehen, das sie ebenso fürchtete, obwohl mindestens eine Person darin lebte, die sie aufrichtig liebte. Sie stieg aus dem Wagen und schloß ihn sorgfältig ab, dann steckte sie die Schlüssel in die Tasche ihres langen schwarzen Trenchcoats. Sie schlug den Kragen hoch, stieg die brüchigen Stufen hinauf, fand die richtige Schelle und drückte auf den zugehörigen Knopf. Sie lehnte sich gegen die Tür und beobachtete den Co-op-Milchmann mit seinem Lieferwagen, der langsam auf der anderen Straßenseite vorbeirollte und Waren anlieferte. Una betätigte erneut die Klingel, wußte sie doch, daß jemand da sein mußte. Es war schon fast sieben Uhr. Wieder erfolgte keine Antwort. Der Milchmann näherte sich nun auf der anderen Straßenseite. Una drückte ein drittes Mal auf den Knopf. Der Milchmann kam mit fünf Flaschen im Arm die Treppe hoch. Er stellte die Flaschen vor ihr ab. »Sie sind zu früh dran«, meinte er. »Zu wem wollen Sie?« »Cornelius«, erwiderte sie. Er lachte und schüttelte den Kopf, als er sich entfernte. Una fand sein Verhalten verwirrend seltsam und wäre ihm wahrscheinlich sogar gefolgt, um ihn auszuquetschen, hätte sie in diesem Moment nicht auf der anderen Seite der Tür eine vorsichtige Bewegung wahrgenommen. Sie wich zurück und verbarg sich hinter einer zerbrochenen Säule der Vorhalle. Die Tür knarrte. Sie öffnete sich einen Spalt. Eine rote Hand tastete nach der Milch. »Guten Morgen«, sagte Una. Die Hand wurde zurückgezogen, aber die Tür nicht geschlossen. »Mrs. Cornelius?« »Iss nich da«, erwiderte eine unverwechselbare Stimme. »Hauense ab!« »Ich bin’s, Una Persson!« - 58 -
Die Tür wurde nun aufgerissen, und da stand Mrs. Cornelius, Lokkenwickler auf dem Kopf, eingehüllt in einen wollenen Bademantel und mit verquollenen Augen blinzelnd. »Ha!« rief sie aus. »Dachte, Sie wär’n der verdammte Milchmann gewesen.« Nun wußte Una, warum sie gelacht hatte. Deshalb hatte niemand auf die Klingel geantwortet – die Kombination aus Flaschenklappern und Türklingeln hatte Mrs. Cornelius automatisch in Deckung geschickt. »Was woll’nse?« »Eigentlich bin ich auf der Suche nach Catherine.« »Sie iss gar nich hier.« Mrs. Cornelius gab nach. »Na schön, Liebes, kommse rein.« Sie nahm zwei Flaschen von der Treppe, schaute sich einmal hastig um, ließ Una ein und schloß die Tür. Una folgte Mrs. Cornelius, stieg über Treppen, die noch Spuren zerbröckelnden Linoleums aufwiesen, und gelangte auf einen Absatz mit einer halboffenen Tür. Sie betrat ein Zimmer voller unangeneh- 59 -
mer Gerüche – Kohl, Lavendelwasser, Bier, Zigarettenrauch. Es war sofort offensichtlich, daß Catherine erst vor kurzem hier gewesen war, da die Wohnung sich in einem saubereren Zustand befand als sonst. Die Stapel alter Wochenmagazine waren säuberlich neben der Anrichte aufgeschichtet, welches, obwohl mit Mrs. Cornelius’ bizarren Souvenirs beladen, der Flaschen, Konservendosen und leeren Pappkartons ermangelte, die Mrs. Cornelius sich dort ansammeln ließ, wenn ihre Tochter nicht anwesend war. Mrs. Cornelius segelte auf einen Gasherd in einer Nische zu, nahm den zerbeulten Kessel mit und füllte ihn am Wasserkran über dem Spülstein. Una konnte bis zu Mrs. Cornelius kleinem, düsteren Schlafzimmer durchblicken. Dort hing eine wuchtige Garderobe, und die Wände waren mit Fotografien bedeckt, von denen viele aus Magazinen und Zeitungen ausgeschnitten worden waren. Die andere Tür war verschlossen. Es war die Tür zu Catherines Zimmer. »Sie iss noch nich’ auf, die faule Kuh«, sagte Mrs. Cornelius. »Tasse Tee?« Sie entspannte sich und wurde richtig freundlich. Von den Freunden ihrer Tochter war Una eine von den wenigen, die Mrs. Cornelius wirklich mochte. Das hielt Una aber nicht davon ab, die Frau zu fürchten wie nichts sonst auf der Welt. »Danke.« Una haßte das, was auf sie zukam. Mrs. Cornelius schlurfte zur Tür zum Zimmer ihrer Tochter und hämmerte dagegen. »Wach endlich auf! Hier iss jemand für dich!« »Was?« Es war Catherine. Mrs. Cornelius lachte. »Da muß schon ’ne Bombe hochgehn, damit du aufstehss!« Plötzlich roch die ganze Wohnung nach Rosenwasser. Es war wundervoll, ein richtiges Wunder. »Scheiße«, schimpfte Mrs. Cornelius und sammelte die Scherben der heruntergefallenen Flasche auf.
- 60 -
7 »In the heart of the city, where the alligators roam, I’m a little lost lamb. Ain’t got no place to go.,.« Nick Lowe
Sie fand Lobkowitz dort, wo sie ihn zum letztenmal gesehen hatte, im zerstörten Zuschauerraum. Aus dem Lautsprecher einer leistungsschwachen Tannoy-Box drangen die vertrauten letzten Takte der Browning Ouverture. Dann trat Stille ein. »Browning war ein prosaischer Wagner, und das gilt auch für Ives«, sagte der Prinz, als er seinen Angelanzug aus Tweed abstaubte. »Sie waren bei Cornelius. Ist er wieder zurück?« »Mit einem Gefühl der Rache. Wenn auch nicht mehr so ausgeprägt und entschlossen.« »Etwas, das ich wiedererkenne.« »Sie kennen ja seine Neigungen …« »Ich bin gar nicht überrascht, obwohl ich annahm, er gäbe auf.« Prinz Lobkowitz schien diese Unterhaltung zu ermüden. Er lehnte sich gegen das demolierte Klavier. »Insofern besteht kaum eine Gefahr. Er schläft lediglich.« »Dann hatte ich recht, meinen Instinkten zu folgen?« »Immer, Una.« »Sie sind so schwierig umzusetzen und zu rationalisieren.« »Wir vergeuden soviel Zeit, schnelle Lösungen zu finden und Schlüsse zu ziehen, wo sie doch gewöhnlich am Wege liegen und wir das nicht wissen.« Sie amüsierte sich. »Die Stimme der Erfahrung!« »Ich hoffe es.« »Egal, geht es ihm besser?« »Ja, es geht ihm besser. Das übliche Fieber. Wir alle leiden darunter.« Sie war nicht sicher, ob das auch auf sie zutraf, dennoch meinte sie: »Ich war nie sonderlich gut, wenn es darum ging, schnelle Entscheidungen zu treffen.« »Vielleicht hattest du mehr zu verlieren als andere.« - 61 -
Sie zuckte die Achseln. »Nun ja«, fuhr er gedankenverloren fort, »hast du seine Botschaft erhalten?« »Sie war unmißverständlich.«
»Du brauchtest seine Forderungen ja nicht zu erfüllen. Er war dankbar, als er davon hörte.« »Da waren auch noch andere Leute involviert. Es war nicht sein Ego, weswegen ich mir Sorgen machte. Er war dumm, sich um die Präsidentschaft zu bewerben. Und dann noch in dieser Zeit! Er wa r niemals das, was man einen überzeugten Republikaner nennen könnte, oder auch einen Demokraten, wie man es heutzutage allgemein versteht.« »Sicher, dennoch war es nicht genau das, was er versucht hat?« Sie nickte. »Ich bin froh, daß Amerika zwei ordentliche Kastanien aus dem Feuer geholt hat.« »Man kann nicht behaupten, daß. sie das nicht verdient hätten. Aber ich habe auch bei George Washington sentimentale Anwandlungen. Chile, Brasilien, Argentinien – deren schlimmstes Verbrechen war eine Art naiver Selbstgefälligkeit. Zugegebenermaßen führt eine solche Haltung auf lange Sicht zu Exzessen von Brutalität.« Lobkowitz gähnte. »Ich habe noch nie soviel Dschungel in Flammen aufgehen sehen. Und ganze Berge. Die reinste Apokalypse. Ich wünschte, du wärest dabei gewesen.« »Ich mußte doch nach England zurück.«
- 62 -
»Ich weiß.« Er fühlte mit ihr. Er legte eine weiße Hand auf ihre Schulter. »Bleibst du jetzt eine Weile hier? In Neu-England? Du hast doch in den Appalachen eine Absteige, nicht wahr?« »Sogar zwei, an beiden Enden. In einer Behausung lebt jedoch ein Untermieter. Der muß schon seit vierzig oder gar mehr Jahren dort hocken. Es wäre interessant einmal festzustellen, wie es ihm geht. So sehr bin ich auch nicht gealtert, natürlich nicht oberflächlich betrachtet.« Er schüttelte den Kopf. »Du kannst manchmal sehr vage sein. Eine weibliche Eigenschaft, was?« »Ist sie das?« Sie bückte sich, um ihm die Hand zu küssen. »Hast du die Landkarte? Ich sollte lieber gehen.«
- 63 -
8 »Du siehst immer noch krank aus.« Sie bemühte sich, jeden Unterton von Sympathie zu unterdrücken. Sie zwang ihren Mund in Falten des Mißfallens. »Sie behandeln dich nicht besonders gut. Aber dennoch bin ich aufrichtig dankbar. Es hat mich wenigstens aus dem Krieg herausgehalten. Ich hab’ stets darüber nachgedacht, wie ich es wohl schaffen könnte.« »Du warst doch sicher, ihn beenden zu können. Erinnerst du dich?« Er wurde richtig schüchtern. »O ja. Darum nochmal danke.« All sein früherer Charme war wieder da, und es fiel ihr schwer, sich nicht für ihn zu erwärmen, wie sie sich schon vor langer Zeit für ihn erwärmt hatte. Einstweilen war da keine Spur mehr von seinem alten Selbstmitleid, und er legte wieder seinen früheren Stil an den Tag. Er spielte mit dem Kragen seines schwarzen Reisemantels und schlug ihn hoch, so daß die Revers sein fahles Gesicht einrahmten. »Es ist ziemlich kalt für den Frühling.« »Die Langzeitvorhersagen prophezeien eine neue Eiszeit.« »Das ist stets ein psychologisch schlechtes Zeichen. Und die Computer?« »Die meinen, daß wir alle in einem oder zwei Jahren tot sind.« Er grinste. »Oft folgt auf eine Periode hektischer Aktivität ein Zustand akuter Depression. Weißt du – in ein paar Monaten meldet der Wetterbericht herrliche Sommerzeiten, genügend Regen für das Getreide auf den Äckern, milde Winter, und die Computer werden ein Goldenes Zeitalter errechnen.« Er legte einen Arm um ihre Schultern. Es war schrecklich, wie schnell ihre Entscheidungen hinfällig wurden. Ihr innerer Widerstreit dauerte keine Sekunde. »Bleib bei mir, Baby«, versprach er, »und für uns werden die goldenen Zeiten nie vorüber gehen.« »Davon hast du aber beim letzten Mal, als wir uns sahen, kein Sterbenswörtchen gesagt«, erinnerte sie ihn. »Irgendwann leiden wir alle einmal unter Depressionen.« Damit befreite er sich von dem Wesen, das er einst gewesen war. Wahrscheinlich erinnerte er sich noch nicht einmal daran. Sie fing an zu erkennen, daß seine Haltung wohl die allergesündeste war. - 64 -
Sie zwängte sich in den Fahrersitz des Rambler. Er saß neben ihr und betrachtete sie voller Wohlgefallen, als sie den großen Wagen startete. »Es ist schon eine Erleichterung, daß das Benzin wieder billig geworden ist. Wohin fahren wir? Nach Concord?« »Ja. Zuerst.« Als sie den Motor anließ, wurde auch das Band weitertransportiert, das sie kurz vorher noch gehört hatte. Er streckte die Hand aus, um es aus dem Gerät zu nehmen. »Genug von diesem klassischen Zeugs«, kommentierte er seine Handlungsweise. »Laß uns etwas Romantisches, Munteres hören.« Er durchwühlte den Kasten mit den Kassetten, der auf dem Sitz zwischen ihnen stand. »Das hätten wir.« Er schob die Holiday Symphony in den Kassettenschlitz. »Schon viel besser.« Er lehnte sich zurück, als sie den Wagen über die durchlöcherte Landstraße zum leeren Highway hinüber lenkte. »Das mag ich doch so an dir, Una. Du weißt wenigstens, dir die Zeit zu vertreiben und jede Situation zu genießen.«
- 65 -
3. Durchführung (b)
Pierrot’s Song of Positive Thinking I’m glad I’m not dead I’m glad I’m not dead I’m glad I’m not dead I’m glad I’m not dead I’m glad I’m not dead I’m glad I’m not dead I’m glad I’m not dead I’m glad I’m not
The Nature of the Catastrophe Can anyone suggest an explanation Can anyone please suggest an explanation Can anyone suggest an explanation
Through the Megaflow (Waltz) Oh, Columbine I’m lost in Time, There ain’t a sign Of ho-o-ome … Where is – where is – My lovely Columbine? She took a trip On an old time ship There was a slip And now she’s lost Alone …
- 69 -
She could be In Nine O Three Or Twenty Million and Six She told me That she’d be free But now she’s lost her fix … Oh, Columbine Sweet love of mine I missed you so On the megaflow Where is – where is – My lovely Columbine? She said we’d meet In a place so neat Say June of Fifty Seven, But catastrophe She could not beat So maybe she’s in Heaven.. Where is – where is – My lovely Columbine? Where is – where is – My lovely Columbine?
- 70 -
1 Mit Kellogg’s immer vorn Barnie stapelt Backsteine so schnell, wie andere Leute reden, und läßt niemals einen hinfallen. »Denn das ist ganz einfach eine Frage von Ursache und Wirkung. Iss ja klar, seine bessere Hälfte weiß, daß mindestens ein Viertel der Energie, die ein Mann täglich verbraucht, um acht Uhr mit den morgendlichen Kalorien* eingenommen werden muß.« Deshalb serviert sie ihm Kellogg’s Cornflakes für seinen Energie- und Wärmehaushalt. Eine Mahlzeit muß nicht unbedingt angewärmt sein, um einen zu erwärmen. Der Mensch bezieht seinen Treibstoff aus den energiespendenden Lebensmitteln (vorwiegend Kohlenhydrate), die im Körper verbrannt werden. Kellogg’s Cornflakes sind besonders reich an Kohlenhydraten – deshalb spenden sie Energie und sorgen im Körper für Wärme. * Kalorien sind Wärmeeinheiten, mit welchen die Energiemenge gemessen wird, die von verschiedenen Lebensmitteln freigesetzt werden. WERBESEITE: Picture Post, 1. März 1952
»Diese armen Teufel«, sagte Colonel Pyat, »sie können in einer Welt der Einbildung und Phantasie nicht überleben. Sie fürchten sich vor ihr. Sie lehnen sie ab als vulgär, oder zu grellfarbig oder – was? Und dann bieten sie uns ihre Stacheldrahtsprache an, die abgenutzten Metaphern, die sie als –« er grinste bösartig, »Poesie verkaufen.« »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, Colonel, würde ich mich auf die brennenderen Probleme konzentrieren.« Nestor Makhno verlagerte sein Gewicht, so gut er es vermochte. Wenigstens bewegte der Lastwagen sich jetzt leidlich rhythmisch vorwärts, und das Schwanken war auszuhalten. Sie mußten sich auf einem der vielen Autobahnteilstücke befinden, welche noch vor dem Krieg nach Böhmen hineingebaut worden waren. Die Männer waren auf je ein Rad eines mächtigen, altmodischen 120 mm Infanteriegeschützes geschnallt worden. »Ich bin in keinster Weise davon beeindruckt, daß Sie plötzlich die romantische Agonie entdeckt haben.«
- 73 -
»Vor allem wo es doch unser Geld war, welches Ihnen diese Erkenntnis erst ermöglicht hat.« In der Ecke, nicht weit von der einzigen Stelle, wo die Plane lose genug war, um frische Luft und den Lichtschein von den Scheinwerfern vereinzelt vorbeifahrender Autos hereinzulassen, blickte Una von den Stricken hoch, mit denen ihre Hände gefesselt waren. Sie hatte versucht, sie durchzunagen, jedoch wurde ihr Mund immer wieder unerträglich trocken. Sie spielte auf das Kokain an, das Colonel Pyat von dem Geld gekauft hatte, welches er für eventuelle Bestechungen vorgesehen hatte, falls sie Böhmen schnellstens verlassen mußten. In Passau an der Donau hatten sie mit anderen Passagieren die Züge gewechselt, als einige Milizsoldaten sie aufhielten. Zu diesem Zeitpunkt war Colonel Pyat weitaus euphorischer gewesen als im Augenblick. Er hatte die Soldaten als Kameraden angesprochen und an ihren Freiheitssinn appelliert. Konsequenterweise waren er und die anderen durchsucht worden, und man hatte ihre Waffen gefunden. Nun befanden sie sich auf dem - 74 -
Weg zurück nach Prag. Una wußte, daß es eine ganze Reihe von Möglichkeiten gab, sich mit der neuen Regierung zu arrangieren und wieder freizukommen, jedoch machte sie sich große Sorgen, daß irgend jemand ihren Namen mit dem von Lobkowitz in Verbindung brachte, der am folgenden Tag mit der Kansas City Whirlwind eintreffen mußte, nachdem man ihn wieder einmal aus seinem Exil in Amerika geholt hatte. Lobkowitz’ seltsame Mixtur aus AnarchoSyndikalismus und Despotismus übte auf sämtliche Fraktionen im Slawischen Grenzkrieg einen großen Reiz aus. Alle waren der derzeitigen Zustände überdrüssig und lehnten jegliche Autorität ab, was sie auch in all ihren Aktionen zum Ausdruck brachten. Mit einem kleinen Quentchen Glück würden die Tschechen und Slowaken und Polen und Galizier und Weißrussen und der Rest im Beispiel der Ukraine etwas Gutes, Exemplarisches sehen. Denn der ukrainische Anarchismus hatte dem Land Stabilität, relativen Wohlstand und Sicherheit vor Angriffen von draußen beschert und hatte, seit Istanbul von der sogenannten zyprischen Selbstmordflotte aus Luftschiffen vor fünf Jahren geschleift worden war, Kiew und Odessa in die vitalsten Kulturzentren Europas und des Mittleren Ostens verwandelt. Sie drehte ihr Gesicht in den Luftstrom und befeuchtete ihre Lippen. Sie hatte den Strick zur Hälfte zerfasert und beglückwünschte sich dafür, daß ihre Häscher derartige Weiblichkeitsverächter waren, daß sie ihr die Hände ziemlich locker gefesselt hatten. Makhno und Pyat waren weitaus raffinierter gebunden. Wenn sie all ihre Kraft einsetzte, wäre sie wahrscheinlich schon jetzt in der Lage, den Strick zu zerreißen. Doch sie fuhr fort, daran herumzunagen. Unterdessen scheuerte Nestor Makhno völlig nutzlos herum und suchte nach einer hinreichend scharfen Kante an dem Geschütz, während Colonel Pyat seine Stimme immer mehr erhob, als er seinem Unmut Ausdruck verlieh und einen geradezu kosmischen Ekel über ihr Schicksal ausdrückte und mindestens ebenso kosmische Lösungen ihrer Probleme anbot und sich dadurch selbst Trost spendete. Una fühlte mit ihm. Die verkniffenen, sorgenvollen und dummen Gesichter der örtlichen Verwaltung, welche sie angegrinst und nach Prag zurückgeschickt hatten, waren ihr immer noch im Gedächtnis. Es gab wohl nichts deprimierenderes als eben jene Gesichter: Männer und Frauen, die aufgrund von Unterdrückung und Angst einem revolutionären Zweck dienten, den sie nicht begreifen konnten. Sie hatte so viele von ihnen gesehen. Und immer noch verursachte ihr Anblick ihr Depressionen. Aus irgendeinem Grund trieben sie sich vorwiegend in der Nähe von Bahnhöfen herum. Vielleicht vermittel- 75 -
ten die Schienen und die Fahrpläne weniger Unsicherheit und Zweideutigkeit als die übrige Welt. Soweit sie sich erinnern konnte, waren auch Armbanduhren für sie sehr wichtig. Und fest zugeknöpfte Mäntel. Es war interessant festzustellen, daß in den frühen wilden und begeisterten Tagen der Revolution das übliche charakteristische Kostüm aus einem weiten offenen Mantel, einem verwegen sitzenden Hut und einer ausgestreckten Hand bestand; später erkannte man die Anführer an säuberlich zugeknöpften Uniformen, militärisch korrekt sitzenden Mützen und vorschriftsmäßiger Grußtechnik, und nur die Kosaken hatten wie zur Zeit des Zaren die Erlaubnis, sich gewisse Freiheiten herauszunehmen und damit die Gnade der Nichtverantwortung zu verkünden. Die neuen Zaren in Muskovia pflegten den lässig-bourgeoisen Stil deutscher Geschäftsleute in mittleren Jahren und auf Urlaub: Kaschmirpullover, sorgfältig gebügelte graue Hosen, Sportsakkos und klassische geschnittene Bruyerepfeifen. Wie Una glaubte, war es wohl genau das, von dem sie meinten, daß die Leute darauf scharf waren – nämlich die mittelständische Monarchie, den Lehnstuhl-Imperialismus. Sie fürchtete solche Leute ebenso wie sie die Polizei-Kaste fürchtete, über die Pyat schimpfend herzog. »Sie zerstören so viel im Namen der Sicherheit. Sie vernichten die, welche ihrer Art seit Jahrtausenden das Überleben ermöglichen. Ohne uns würden sie aussterben!« fuhr Pyat fort. Makhno amüsierte sich. »Uns? Eure zaporosjischen Kosaken waren nicht gerade die liberalsten und friedfertigsten Leute.« »Für die Kosaken war die Freiheit das höchste und wertvollste Gut!« Pyat hatte durch seine Fehler und Irrtümer schon vor längerer Zeit enthüllt, daß er überhaupt keine kosakische Vergangenheit hatte, sondern wahrscheinlich in den Slums von Minsk als Sohn halbjüdischer Eltern zur Welt gekommen war. Er war in der Uniform eines zaprosjischen Kosaken aus der Ukraine geflohen und hatte aus dieser Maskerade für einige Zeit seine Vorteile gezogen. Doch Makhno machte sich einen Spaß daraus, so zu tun, als glaubte er die Lüge. »Und waren bereit und gewillt, jedes jüdische Baby umzubringen, um ihre Freiheit zu verteidigen!« Der Anarchist lachte. »Machen Sie den Kosaken deswegen keinen Vorwurf!« entgegnete Pyat hitzig. »Es war allein die Schuld der polnischen Landbesitzer, die den Juden russisches Land verpachteten. Viele Juden sehen das genauso.« »Sie meinen, daß die Juden den Polen die Schuld daran gaben, daß sie über die Ukrainer herfielen?« Makhno streckte die Arme. »Mein Gott!« - 76 -
»Sie sind ebenso antisemitisch eingestellt wie der ganze Rest.« Pyat redete wieder mit der verhaltenen Stimme, derer er sich jedesmal befleißigte, wenn über Juden geredet wurde. Er hielt dies für besonders eindringlich. Manchmal reizte und verärgerte dieser Ton einen weniger klarsichtigen Zuhörer. Allerdings weckte er Makhnos Sympathie. Der Ukrainer tat sein bestes, das Thema zu wechseln, um gegen seine Versuchung anzugehen, Pyat zu hänseln. »Ich könnte jetzt einen Drink gebrauchen«, sagte er. »Das können Sie doch immer.« Pyat mißbilligte Makhnos Gewohnheiten.
Una gefiel Makhnos Selbstkontrolle, als er der Versuchung widerstand, die fünfundzwanzig Gramm Kokain zu erwähnen, die die Miliz gefunden hatte, als sie Pyat durchsucht hatte. Die Soldaten hatten seine Erklärung akzeptiert, daß es sich bei dem Zeug um Kopfschmerzenpulver handelte, und hatten es sorgfältig gesammelt und - 77 -
beiseite gelegt, zweifellos, um es selbst zu konsumieren. Makhno und Una hatten dieses Auf und Ab der Ereignisse amüsiert verfolgt, doch nach einer Weile, kurz nachdem man sie auf dem Lastwagen gefesselt hatte, hatte Pyat zu weinen begonnen. Er hatte immer noch fünf Gramm im Kragen seines englischen Hemdes versteckt: genau unter seiner Nase, aber im Augenblick völlig unerreichbar. »Wenigstens sind die Kosaken keine Feiglinge!« kehrte Pyat grimmig zum Ausgangspunkt der Diskussion zurück. »Nein«, sagte Makhno. »Sie suchen sich die höchstmögliche Autorität und kämpfen dafür bis zur Selbstaufgabe.« Im Grunde teilte er zum wesentlichen Teil Pyats romantische Vorstellungen, soweit es die Kosaken betraf. Eine Reihe von Renegaten hatte mit ihm bei Jekaterinburg und an anderen Orten gekämpft, wenngleich mindestens die Hälfte seiner Offiziere sich aus jüdischen Intellektuellen rekrutierte, die in ihm einen Taktiker von nahezu übernatürlichen Fähigkeiten erkannt hatten. Nur weil Makhno gegen Grigorieffs Pogrome war, hatte der Anarchist ihn erschossen, während die nationalistischen Gefolgsleute tatenlos zuschauten. Kurz danach hatte er behutsam die Nationalarmee aufgelöst, weil sie für ihn nicht mehr von Nutzen war, denn sie hatte »unmenschliche Verhaltens- und Denkweisen angenommen«. Das war an jenem Tag geschehen, bevor er das schwarze Banner gegen die vereinigten Streitkräfte aus Trotzkis Roten und Krasnoffs Don-Kosakischen Weißen vorangetragen hatte, als die Anarchistenarmee, im Verhältnis von vier zu eins unterlegen, den Feind so weit über die Ufer des Pripjet und des Donez gelockt hatte, daß seitdem weder die Roten noch die Weißen jemals einen weiteren Angriff gegen das ukrainische Herzland Kernland in Erwägung gezogen hatten. Mittlerweile, das heißt heute, war Makhno in Kiew Persona non grata. Sein Gespür für Geschichte verlieh ihm eine ironische Perspektive der Situation. Er hatte nichts sonst erwartet. Während der vergangenen fünfundzwanzig Jahre hatte er seine Energien in den Dienst von einigen erfolgreichen Revolutionen und ein Dutzend Fehlschläge gesteckt, wie zum Beispiel die Reinfälle in Kanada, Yukatan und Somalia. Eigentlich hatte er lediglich Una eine Freude machen wollen, während einem seiner dreimonatigen Abenteuer, die ihn in Paris aufgesucht hatte, indem er sich für die Unterstützung der böhmischen Anarcho-Kommunisten einsetzte, die erst eine Woche zuvor Prag unter seiner Führung bezwungen hatten. Jedoch war die gesamte Armee in klassischer Manier von autoritären Sozialisten verraten worden. Bolschewiken hatten alle Anarchisten in einem Hinterhalt in den Karpaten ganz in der Nähe des Veretski Passes - 78 -
niedergemacht. Es blieb nichts anderes übrig, als zu versuchen, sich mit dem Rest der leichten Waffen in Sicherheit zu bringen, Ungarn zu durchqueren und Zuflucht in Wien zu suchen. Doch die Bolschewisten hatten irgendwie irgendwo eine Luftflotte gefunden sowie sieben Luftkreuzer, die den Rest der Armee zu Klump geschossen hatten. Etwa fünfzig Überlebende hatten sich abgespaltet, um die österreichische Grenze zu überqueren, doch Una, Pyat und Makhno waren erkannt und zurückgeschickt worden, um den Zug über Brno nach Passau zu nehmen, wo die Bolschewisten, die kurzzeitig alles unter Kontrolle hatten, sie geschnappt hatten. Una wußte, daß ihre Rückkehr nach Prag als Gefangene irgend jemand in Verlegenheit bringen würde, daher gab es eine Chance, daß man sie »verlor« – erschoß oder ganz einfach gehen ließ. Es war eine Chance fifty-fifty. Und wenn Lobkowitz die Gelegenheit bekam, sie zu retten, würde es ihn verwirren und ihn in eine schwierige Lage bringen, wenn er den Anschein erweckte, sie zu unterstützen. Endlich hatte Una sich befreit. Lobkowitz kannte Makhno oder Pyat kaum, und so waren deren Chancen günstiger als ihre eigenen. Als Alleinreisende würde sie beweglicher und konnte somit eher auf eine Flucht hoffen. Sie erhob sich. Sie sprach etwas unsicher, als sie das Verdeck zurückschlug und darauf wartete, daß der Wagen seine Fahrt verlangsamte und stehenblieb. »Das nenne ich Glück!« Sie hakte den Kassettenrekorder von ihrem Gürtel los. Sie überprüfte die Batterien. Es war immer noch erstaunlich, daß die Miliz ihr die ungewöhnlich aussehende Maschine tatsächlich gelassen hatte. Vielleicht glaubte man, es handele sich dabei um eine Plastikbombe. Sie schaltete weiter. Richard Hell sang You Gotta Lose. »Es ist eine Qual, wenn es nicht so laut ist«, sagte sie. Aber sie versäumte es, die Lautstärke noch etwas höher zu drehen. Es diente seinem Zweck und erstickte Pyats Proteste und bewirkte, daß der Lastwagen immer langsamer rollte. Sie schlüpfte durch den Vorhang. Zeit für eine neue Rolle, dachte sie.
- 79 -
2 Kitty-Kola: Eine Richtigstellung Unsere Aufmerksamkeit wurde auf einen Artikel in der Ausgabe vom 29. Dezember Ihres Blattes gelenkt, der den Titel trug: Sudan im Aufruhr. In diesem Artikel ist auch die Rede von »Ägyptens plagiatorischem KittyKola«. Wir möchten nun darauf hinweisen, daß Kitty-Kola in keinerlei Beziehung zu Ägypten steht. »Kitty-Kola« ist ein ganz spezielles alkoholfreies Getränk, das von unserer Gesellschaft vertrieben wird. Darüber hinaus werden Lizenzen zur Herstellung und Abfüllung an Firmen vergeben, nachdem sie bestimmte Bedingungen erfüllen. Die Kitty-Kola Co. Ltd. in London gehört zu einer anderen englischen Firma, welche nunmehr seit über hundert Jahren existiert, und es besteht in keiner Hinsicht irgendeine Verbindung mit Ägypten. »Kitty-Kola« ist ein Getränk, das in England entwickelt wurde und auf dem Weltmarkt zunehmend Verbreitung findet. Ziel der Anstrengungen des Exports und unserer Firma ist es, die Anteile am Markt in Übersee zu halten, auf dem wir seit vielen Jahren traditionell vertreten sind. LESERBRIEF: Picture Post, 1. März 1952
Laut Unas Zeitung war es das Jahr 1952, und laut Nick Löwe schrieb man das Jahr 1976. Er sang in ihrem tragbaren Vidor-Radio Heart of the City, als sie dessen Klappe öffnete und in ihren Deckstuhl sank, der so aufgestellt war, daß sie Bognors zweifelhaften Ozean betrachten konnte. Jerry, jener ewige Geist vergangener Ferien an der See, humpelte über die Felsplatten zu ihr herüber, sein sehniger Körper hellrot und sich pellend und die seltsame Hose im Begriff, über seine Hüften herabzurutschen. »Teufel! Heiß genug für dich?« Una schob sich die Sonnenbrille auf die Stirn. »An den englischen Stranden verbrennt man nicht so schlimm. Jedenfalls nicht im Mai.« »Ich hab keinen Sonnenbrand!« Er war beleidigt. »Ich werde braun. Was soll dieser Lärm?« Er nickte zum Vidor-Radio hin. Sie schaltete es ab. »Die Zukunft. Möchtest du mir nicht ein Eis besorgen? Welche Geschmacksrichtungen gibt es denn?« Sie kramte in ihrer Strandtasche nach dem Portemonnaie.
- 80 -
»Geschmacksrichtungen? Vielleicht gibt es Erdbeere. Aber bestimmt gibt es wieder nur Vanille.« »Die Zeitung hatte recht.« »Häh?« »Bring mir eine Waffel, ja?« Er war froh, gehen zu dürfen. Kurz darauf kehrte er mit zwei harten Klötzen Eiskrem zurück, die mit Waffelplätzchen bedeckt waren. Sparprogramme, dachte sie, konnten einem doch ziemlich zusetzen. Sie wünschte, sie wäre wieder auf dem Balkan, wo das Leben wenigstens interessant war. Sie schaute nach links und nach rechts auf Deckstühle und britische Schwimmer. Dies war Jerrys Alptraum und nicht ihr eigener. Er kniete neben ihr, leckte an seinem Eis und starrte angestrengt aufs Meer hinaus. »Nun«, sagte sie. »Was ist nun? Du hast das Treffen arrangiert, vergiß das nicht.« »Ach ja.« Er sah jünger und schwächlicher aus, als würde die Zeit mit ihm rückwärts laufen und ihn dabei mehr und mehr auszehren. »Meine Mammi meinte, ich sollte der Heimwehr beitreten.« »Du willst also, daß ich dich aus dem häuslichen Durcheinander heraushole? Oder willst du zum Militär?« »Ich hänge hier fest, Una. Ich hab’ meine alte Energie verloren. Ich glaube, du begreifst nicht …« »Ich kann den Megafluß nicht aufhalten.« Das Wort war ihm nur vage vertraut. »Seit Mammi starb, ist es so.« »Deine Mutter lebt noch. Ich sah sie in der Nähe des Eingangs zum Pier.« »Das ist es ja, was nicht stimmt.« »Retrogressive Tendenzen, was?« Sie schüttelte den Kopf. »Die hattest du schon immer. Aber du bist noch nie zuvor so weit zurückgegangen – und nicht auf diesem Kurs. Weißt du überhaupt, daß es hier niemals einen Zweiten Weltkrieg gegeben hat?« Er reagierte ungläubig. »Warum dann diese verdammten Rationierungen? Diese Sparmaßnahmen?« »Wir haben den Generalstreik nicht richtig überwunden. Bei unserer Wirtschaft liegt nicht allzuviel im argen. Sie unterstützt das Empire. Dies ist eine Art Strafe für die arbeitenden Klassen.« »Nein!« »Es gibt Pros und Cons«, verriet sie ihm. »Irre!« Er war beeindruckt. »Was kannst du tun, um mich dort herauszuholen?« - 81 -
»Ich glaube kaum, daß du die mentale Kraft hast, das zu schaffen«, sagte sie. »Du bist nicht einmal mehr eine treibende Kraft für das Chaos. Du bist zum Opfer geworden, Jerry. Einmal …« Er grinste affektiert. Das brachte sie zum Lachen. »Ich tue mein Bestes. Ist dein Kumpan Collier in der Nähe?« »Nein, in London. Seine Mammi und sein Daddy fahren dieses Jahr nirgendwo hin.« Sie schloß die Klappe des Vidor und befestigte die Haken und stopfte es zurück in ihre Tasche. Sie holte einen seltsamen Baedeker hervor und wendete sich den Fahrplänen auf dem Rückumschlag zu.
- 82 -
3 Werden die Franzosen durchhalten? Es besteht daher die ernste Gefahr, daß die Franzosen, die jedes Jahr Offiziere in der Größenordnung etwa eines vollständigen Jahrgangs an St. CyrAbsolventen und 5000 Jungen aus allen Gegenden Frankreichs verlieren, die ihrer Meinung nach von ihren Verbündeten, den Briten und den Amerikanern im Stich gelassen wurden, die nach ihrer Auffassung von einer wiedererstarkten Wehrmacht bedroht werden, sich aus Indo-China zurückziehen könnten und ihre kampferprobten Divisionen nach Hause zurückholen und sie am Rhein aufmarschieren lassen. Wenn dies geschieht, dann wird Korea wie eine Manöverübung erscheinen, und Malaye ist ein simpler PfadfinderAuftrag. Indo-China, so ließ de Lattre gegenüber den Amerikanern verlauten, ist ebenso wichtig wie die Schlacht von Bulge im Jahr 1944. Wenn IndoChina fällt, dürfte der Kommunismus sich schon nach wenigen Monaten am Suezkanal und in Australien festsetzen. Die Goldsucher wehren sich vielleicht, aber wie steht es mit Farouk? ARTIKEL: Picture Post, 1. März 1952
Es muß eine Alternative geben, dachte Una, zum Discofieber auf der einen und dem Rotarmee Ensemble auf der anderen Seite. Sie fuhr den Leichenwagen so schnell sie konnte; am West London Krematorium vorbei und um die Ecke nach Ladbroke Grove. Hinter ihr knurrte und fiepte etwas in dem rohen Sarg. Jerry reiste nie besonders angenehm, sogar als sie versuchte, ihm durch die frühen siebziger und bis in die Mitte der Dekade zu helfen, wo, da ja der Gleichheitsgrundsatz herrschte, er sich etwas ausruhen konnte. Höchstwahrscheinlich, dachte sie, würde er sich gegen die Tatsache wehren, daß der Leichenwagen lediglich ein umgebauter Austin Princess und kein Daimler war, wie er es sich gewünscht hatte. Wenn er jedoch in dieser Richtung weitermachte, würde sie alle Versprechen brechen und ihn irgendwo auf dem Land begraben müssen. Irgendwo in der Nähe von Godalming, dachte sie wütend. Doch sie konnte sich zu einem solchen Schritt nicht entschließen.
- 83 -
Oder im Meer, dachte sie. Und nicht zum ersten Mal. Sie tastete auf dem Beifahrersitz nach ihrem halbgegessenen Apfel. Es gibt nichts schwierigeres, überlegte sie, als sie einen Zug der Radikalen Sozialarbeiter überholte, für einen phantasiebegabten Menschen, sich einen phantasiearmen Menschen vorzustellen. Infolgedessen schrieb der Paranoiker jedes machiavellistische Motiv den langweiligsten, ideenlosesten Menschen zu. Diejenigen, die zu subtiler Bosheit völlig unfähig waren, wurden meistens eben damit in Verbindung gebracht. Die Zeitschöpfer mußten so etwas sehr frühzeitig erfahren. Zu oft wurde man von der Metaphysik eingeholt, und dann war man verloren. Es glich sehr stark einem Drogenerlebnis, vermutete sie. Jedoch war dies eher Jerrys Gebiet als das ihre. Sie würde ihn danach fragen müssen, sobald er aufwachte. Sie fuhr an der U-Bahnstation in Ladbroke Grove vorbei, passierte das Kensington Palace Hotel auf der einen und das Elgin auf der anderen Seite, ließ die Neubauten auf dem Gelände des Konvents der - 84 -
Armen Klarissen hinter sich, fuhr am Blenheim Crescent vorbei, wo Jerrys Mutter gewohnt hatte, und parkte an der Ecke dicht vor dem Elgin Crescent. Aus dem Haus gegenüber kam Shakey Mo Collier und drei seiner alterslosen Freunde in schwarzem Leder, Stiefeln, Silbernieten und Straßenkluft, Mitglieder der Popband Motörhead. Der Anführer, seine Miene ein strahlendes Bild verallgemeinerten guten Willens hinter Spiegelgläsern, war Lemmy. Er schob sich die Haare hinter die Ohren und zündete sich eine Zigarette an. »Verdammte Hölle«, sagte er. »Ist es das nun? Ist es das?« »Das liegt ganz bei Ihnen.« Una ertappte sich dabei, daß sie sich für den Musiker erwärmte. Er erinnerte sie an Jerry. »Ist das Loch fertig?« Mo unterbrach den Dialog. »Ich hab’s selbst gegraben. Sind Sie sicher, daß er – Sie wissen schon – nicht querschießen wird?« »Das kann er nicht«, erwiderte Una. »Oder etwa doch?«
- 85 -
4 Linienschiffe zum Mars Wir haben selbst erlebt, wie kurzsichtig jene speziellen Propheten waren. Soll sich denn all das wirklich wiederholen, wenn wir irgendwann im Laufe der nächsten fünfzig Jahre mit der Erforschung des Weltraums beginnen? Die meisten Wissenschaftler, die sich ernsthaft mit der »Astronautik« beschäftigt haben, stimmen darin überein, daß wir irgendwann in der Lage sein werden, Raumschiffe zu bauen, doch wahrscheinlich sind sich nur wenige darüber im klaren, daß diese Schiffe nicht nur von wissenschaftlich em Wert sind. Wir werden in der Lage sein, kleine Expeditionen zum Mond und zu den Planeten zu schicken, und zwar unter hohem Kostenaufwand – doch was den großräumigen Raumflug und die Kolonisierung der Planeten angeht, so gehören diese Ideen strikt in den Bereich der »Science fiction«. Das behaupten die Pessimisten – und wir gedenken sie zu ignorieren. Es mag hundert Jahre dauern, ja, es mögen auch tausend Jahre sein – doch am Ende wird der Mensch seinen Handel in den Weltraum verlagern, wie er ihn früher mit in die Luft genommen hat. Die Linienschiffe der Zukunft werden auf ihrem Rückweg vom Mars oder der Venus unsere Erde mit den neuen Welten verbinden, die jetzt darauf warten, daß eines Menschen Fuß sie zum ersten Mal betritt. ARTHUR C. CLARKE: Picture Post, 1. März 1952
»Jede Zukunft, in der wir leben, ist jemandes Vergangenheit«, sagte Una, während sie und Catherine die Picknickutensilien auspackten. »Gott, wie ich mich nach der unbekümmerten Gegenwart sehne. Als man noch ein Kind war. Kannst du dich daran noch erinnern?« »Du denn? Ich hab’ eine ganze Menge anderer Erinnerungen. So passiert es einem nun mal.« Una nickte und schickte sich an, das kleine Glas Belugakaviar zu öffnen, das sie mitgenommen hatten, während Catherine Ryvitascheiben mit Butter bestrich. Sie hatten ihre orangefarbenen Mobyletten am Tor zu diesem kumbrischen Feld abgestellt und hatten sich in dem hohen Gras einen gemütlichen Platz am Fluß gesucht. Über ihnen breitete eine Weide ihr Geäst aus. Links von ihnen befand sich eine kleine Steinbrücke, dicht mit Moos und Blumen überwuchert - 86 -
und selten benutzt. Hinter ihnen erstreckten sich sanft rollende, vielfarbige sommerliche Berge, deren Konturen und Gebäude sich seit dem 17. Jahrhundert nicht verändert hatten. Die Frauen atmeten die würzige Luft tief ein und verjagten Mücken und Wespen. Wie es in diesem Teil Englands oft der Fall ist, war der Sommer schon sehr früh angebrochen und würde nur kurz dauern. Sie machten das beste daraus. Es war eine der wenigen Gegenden der Welt, in denen sie beide sich rundum wohlfühlen konnten. Fünfzig Meilen entfernt an der Küste, schienen die mächtigen Kernreaktoren ihre Sicherheit zu bewachen, so zeitlos wie der Rest der Landschaft. Una, so gewöhnt an Unbeständigkeit, plastische Ausblicke, alle Arten physischer und sozialer Permutationen, fand sich unfähig, sich irgendwelche radikalen Veränderungen für diese Welt vorzustellen. Man hatte eine sechsspurige Fahrstraße hindurch gebaut, und dies hatte die Welt nur vergrößert, eine Dimension hinzugefügt. Sie lächelte vor sich hin. Dasselbe hatte sie schon mal über die Niederungen von Sussex gedacht, ohne zu erkennen, daß sie sich eben dort gerade aufhielt. War es vielleicht nicht nur ein Gemütszustand, der einer Landschaft eine tiefe Ruhe zuordnete? War es die einzige Linderung, die sich einer verletzten romantischen Phantasie bot? Sie hatte schon immer Berge und Hügel den Tälern und Ebenen vorgezogen. Wenn sie sich im Flachland aufhielt, verspürte sie stets den Drang, jemandes Vieh zu treiben, vor irgendwelchem Vieh davonzulaufen. »Das lineare Denken ist in einer Weise unvermeidlich, die mich manchmal schwermütig macht«, meinte Catherine. »Erinnerst du dich noch an die Zeit in Bombay? Oder wo immer sonst? Die Zukunft. Nein, Bombay kann es nicht gewesen sein, oder? Angkor Wat? Anuradhapura? Eine jener alten Städte. Sie hatten eine großartige Zukunft geschaffen, und dann hat diese sie im Stich gelassen. Ist es das, was geschah? Irgendeine Divergenz? Wohin sind sie verschwunden? All diese mysteriösen Monumente verstreut über die ganze Welt. Monumente einer literarischen Gesinnung.« »Und die Literaturbewußten hingegen glauben, daß Besucher aus dem Weltraum das alles erbaut haben.« Una amüsierte sich. »Das ist die reinste Ironie.« »Das begreifen die nie.« Catherine schlug die Bluse zurück und bot ihre Brüste der Sonne dar. »Ah. Das ist schon besser. Die einzige Invasion aus dem Raum, die mich interessiert, ist die, welche mich hübsch und braun macht.«
- 87 -
»Das ist eine sehr platte Form von Pragmatismus«, sagte Una. Sie raffte ihren Sommerrock hoch und tauchte ihre Füße ins Wasser. »Aber das ist auch verständlich. Schließlich machen wir Urlaub.« »Wobei mir etwas einfällt. Wie geht es Jerry?« Una wünschte, daß Catherine dieses Thema nicht angeschnitten hätte. »Der liegt flach.« »Auf Eis gelegt, was? Das ändert alles.« Una hatte vergessen, wie wenig Catherine betroffen sein konnte, wenn es um Jerry ging. Catherine hielt Jerry tatsächlich für unsterblich. Mit den Füßen immer noch im Wasser, drehte sie sich in der Hüfte und preßte ihre Lippen auf Catherines Brustwarze. Catherine streichelte Unas Haare. »Du mußt es schrecklich satt haben, Jerrys Rolle zu spielen«, meinte sie mitfühlend. Una drehte sich auf den Rücken. »Sollen wir uns hier ein Häuschen kaufen? Eine Oase der Zuflucht?« »So etwas gibt es nicht, Geliebte. Wenn man so etwas erst mal besitzt, dann ist es keine Zuflucht mehr. Das weißt du ebensogut wie ich.« Catherine griff nach der Hand ihrer Freundin. »Entschuldige, wenn ich dich verletzt habe. Ich wollte nicht …« »Du begreifst nicht«, unterbrach Una sie. »Muß man das denn? Ich kann dem Verstehen nicht allzuviel Glauben schenken. Ich glaube jedoch an Zuneigung und Bequemlichkeit. Und auch an Enthusiasmus. Was ist schon Verständnis? Es ist eine Art der Übersetzung. Und man verliert immer etwas, wenn man übersetzt. Oder nicht?« »Aber du hast doch eine vage Vorstellung, was ich gerade durchmache.« »Irgendwie schon«, sagte Catherine. Sie lachte. »Nein.« Sehr zu Unas Erleichterung erwiderte diese das Lachen.
- 88 -
5 »Wenn ich doch nur Denis hieße« Beim Cricket zweimal hundert Läufe zu schaffen, einen Grenzposten in Mexiko zu besetzen, eine Raumflotte zum Mars zu führen – dies sind Spiele, die jeder Junge in jedem Alter gerne spielt. Und es ist nur natürlich und richtig, daß es so ist und sein soll. Geschichten von Sport und Abenteuer und Spannung regen die Phantasie eines Jungen an; sie helfen ihm, die Welt auf unbekümmerte und lebhafte Art und Weise zu sehen; sie erweitern seinen Horizont und bescheren ihm die richtigen Ideale. Dennoch – und das sollte man nicht verleugnen – ist die Sehnsucht eines Jungen nach Abenteuer und Spannung oft die Ursache für tiefe und begründete Sorge. Abenteuerlust kann sich in Gewalt verwandeln, Spannung und Begeisterung kann zu Grausamkeit umschlagen und zwar dank einer Reihe von schlechten Einflüssen. Und an dieser Stelle muß man billige, zweitklassige Comic-strips zur Verantwortung ziehen. Sie verfälschen und verzerren das Empfinden eines Jungen für die wahren Werte und verhelfen ihm zu einer falschen Beurteilung des Lebens; unter ihrem Einfluß kommt er sich vor wie ein Held, ein Supermann; jemand, der vor der Verantwortung flieht und seine Zuflucht in seinen Phantasien sucht. Es ist und bleibt das vorrangige Bestreben von EAGLE, all das zu ändern; und (um das berühmte Zitat abzuwandeln) dafür zu sorgen, daß »der Teufel nicht alle spannenden Comics hat«. Hier wird keine Gewalt gepredigt, keine doppelbödige Moral, keine billige Sensationssucht. Kein Supermann wird hier idolisiert. Denn EAGLE wird von einem Kirchenmann bearbeitet und veröffentlicht; und in den Geschichten über die Erforschung des Weltraums, den aufregenden Comic-strips und den Artikeln über Sport, den farbigen Betrachtungen der Wissenschaft, der Natur und der Welt ist die christliche Philosophie der Ehrlichkeit und der Selbstlosigkeit verarbeitet. Und in EAGLE werden diese Ideen so vorgestellt, daß jeder Junge sie begreifen und ihnen nacheifern kann. ANZEIGE: Picture Post, 1. März 1952
Major Nye saß auf einem Hocker vor seinem Stall und knurrte, als seine Tochter Elizabeth hellrot anlief und an seinem linken Gummistiefel zerrte. »Das tut mir leid«, sagte er. Una und Catherine meinten im Chor: »Kann ich behilflich sein?« - 89 -
»Es geht schon«, erwiderte Elizabeth. »Verfluchte Galoschen, Mistdinger. Sorry, Dad.« Sie zwinkerte ihren Freundinnen zu. »Er mag es nicht, wenn ich fluche.« »Das sollte ich eigentlich nicht«, sagte er. »Ich fluche selbst oft genug.« Er erhob sich und stand in seinen dünnen Socken da. »Was halten Sie jetzt von dem Fleckchen?« Voller Zufriedenheit betrachtete er seinen Gemüsegarten. »Wir sind nahezu Selbstversorger, müssen Sie wissen. Außer bei Tabak. Aber der wäre für Sie ohnehin nicht gerade das richtige, oder? Wenn die Revolution ausbricht, dann wird es uns ganz gut gehen.« Una erinnerte sich an tausend Verhungerte und seufzte. »Sind Sie okay, Mrs. P.?« Er legte eine Hand auf ihren Arm. »Sind Sie über einen Stein gestolpert? Setz den Kessel auf, Liz, sei ein gutes Mädchen. Wir werden Tee trinken.« Elizabeth zuckte gleichmütig die Achseln. »Komm mit und hilf mir, Cathy.« Una und Major Nye standen allein im Garten. Von einem Fenster im oberen Stockwerk starrte ein vergessenes Gesicht mit einem bemitleidenswerten und unvollständigen Wissen auf sie herab. »Ich wollte mich vollkommen zurückziehen«, berichtete der Major. »Doch nun, mit den Kindern am Bein, die erzogen werden müssen, und der Frau des Arztes und im Angesicht der Tatsache, daß der Wert der Pension von Jahr zu Jahr sinkt …« »Wir sind die einzigen, denen Prinz Lobkowitz Vertrauen schenkt«, sagte Una. »Wenn Sie Makhno aus dem Gefängnis in Australien herausholen könnten, würde uns das schon sehr nützen. Die Anklage war frisiert, nicht wahr?« »So weit würde ich gar nicht gehen. Aber ich habe mir die Akten angeschaut. Eine ganze Menge offenbar auf der Hand liegender Beweise. Wir könnten den Fall wiederaufnehmen.« »Und ihn freilassen.« »Das denke ich.« Major Nye ließ sich wieder auf dem Hocker nieder und schlüpfte mit seinen Füßen in Stoffpantoffeln. Er nahm seinen Stiefel vom Boden hoch und fing an, ihn gegen die nächste Treppenstufe zu schlagen. »Ich hab’ ein paar Radieschen für Sie zurückbehalten.« »Wunderschön. Die Konferenz findet im September statt. In Triest.« »Für Triest ist das die beste Jahreszeit.« Er begann damit, sich eine Zigarette zu drehen. »Ich könnte mir vorstellen, daß die Jugoslawen damit recht zufrieden sind. Dann haben sie keine so weite Anreise.« - 90 -
»Dabei spielen die keine besonders wichtige Rolle. Ebenso wie die Ukraine haben sie sich mehr oder weniger neutral verhalten. Lobkowitz hofft auf einen pan-slawischen Friedensvertrag, der die russischen Staaten mit einschließt.« »Die haben sich doch bisher immer im Hintergrund gehalten, nicht wahr?« »Das ist nicht das Wesentliche. Auch wenn er nicht gerade geliebt wird, so genießt Makhno in der Ukraine immer noch ein hohes Ansehen. Er war nie der geborene Politiker.« »Das ist offensichtlich. Einfach verrückt, in Queensland eine anarchistische Bewegung zu organisieren!« Major Nye zündete heftig paffend seine Zigarette an. »So etwas nenne ich geradezu DonQuichottisch, Mrs. P. Oder?«
»Nun, auf jeden Fall beweist das einen ungebrochenen Optimismus.« - 91 -
»Ich hab’ mir sagen lassen, daß Makhno mit Ihnen doch nicht so ganz zufrieden war.« Major Nye blickte zum Haus zurück, doch das Gesicht war verschwunden. »Doch nicht Makhno. Sie meinen wohl Pyat.« »Wissen Sie eigentlich, welchen Spitznamen ich ihm verpaßt habe?« »Nein.« »Squash.« »Das schwedische Zeugs?« »Was? Nein, nichts zum Essen. Ich dachte eher an das Spiel. Das mit den Schlägern und den Fünfern. Blicken Sie durch? Warum benutzt er immer eine Zahl, wenn er sich meldet? Ist das vielleicht ein alter Code-Name? Diese Russen ändern ihre Namen, wie und wann es ihnen paßt, als wäre es nichts.« »Ich hab’ keine Ahnung, wie er richtig heißt.« Una lächelte. »Eigentlich seltsam, daß mich das nie interessiert hat. Colonel Fünf. Fünf was?« »Fünf Leben«, schlug er vor, »mindestens.« »In seinem Fall wohl eher fünf Lügen. Natürlich ist er kein Colonel. Ich glaube sogar, daß er nie in einem Krieg gedient hat. Zumindest nicht als Freiwilliger. Er stammt aus Kiew. Ist Ingenieur oder sowas. Geboren wurde er in Minsk. Seine Familie – seine Mutter jedenfalls, zog nach Tsaritsin, wo er seine Kindheit verbrachte. Später tauchten die beiden dann in Kiew auf. Ich vermute, dort ist er auch mit Makhno zusammengekommen.« »Ein seltsames Paar.« »Er mag Makhno überhaupt nicht. Dennoch hält er sich stets in seiner Nähe auf. Bekanntheit ist eben auch eine Form von Sicherheit und Schutz.« »Dann ist Makhno Ihnen also immer noch freundlich gesonnen.« »Wie immer. Das heißt allerdings nicht, daß er auch auf mich hört. Und ich habe dieses Mal nicht vor, Sie zu vertreten, Major. Früher hab’ ich das mal gemacht, und zwar aus ganz persönlichen Gründen.« »Ach ja. Nein. Ich möchte nur, daß Sie ihn informieren. Ich bin überzeugt, daß er Lobkowitz unterstützen wird. Schließlich sind beide Anarchisten.« »Lobkowitz ist Pazifist. Makhno nicht.« »Ich nehme an, es war ziemlich dumm von mir, die beiden auf diese Art in einen Topf zu schmeißen.« Vom Haus rief Elizabeth herüber, daß der Tee fertig sei. Major Nye geleitete Una an den leeren Ställen vorbei zum Seiteneingang. »Sie - 92 -
müssen mal im Juni herkommen. Das ist die schönste Jahreszeit, um unser Anwesen zu besichtigen.« »Vielleicht ist es eine Art Diminutiv«, meinte sie. »Von fünfzig- Pyatdyaset.« »Warum fünfzig?« »Kein besonderer Grund. Ich hatte nur so eine Assoziation. Ich spiele mit meinen Gedanken herum, denke laut. Mozart-Sonaten. Gott, ich hasse die fünfziger.« »Die haben Sie bald hinter sich.« Sie kamen in die Küche. »Sehen Sie mich. Ich hänge schon Gott weiß wie lange darin fest. Für mich die reinste Pionierzeit, Jahre im Grenzland. Für Sie sind diese Jahre lediglich eine magere Zeit. Die man möglichst schnell hinter sich bringt und dann vergißt. Mich haben sie fertig gemacht, Mrs. Persson.« Er schickte sich an, die Tür zum Wohnzimmer zu öffnen. »Ich versichere Ihnen, daß ich sie ebenso wenig liebe wie Sie.« Zum ersten Mal wurde ihr das Ausmaß seiner Würde und Anständigkeit bewußt. Es waren diese alten Männer, die sie am meisten verehrte. Sie hatten soviel erleiden müssen und hatten dennoch ihren Glauben nicht verloren. Sie waren in vieler Hinsicht tapferer als Makhno. Und wahrscheinlich auch attraktiver. Von der altertümlichen Couch aus stierte Bischof Beesley sie an. »Ich glaube, unseren Vikar haben Sie noch nicht kennengelernt«, ließ Mrs. Nye sich aus ihrem Rollstuhl vernehmen.
- 93 -
6 S. Afrika auf der Suche nach Fußeisen Offensichtlich als Reaktion auf das im vergangenen Monat von der Regierung der Vereinigten Staaten verhängte Ausfuhrverbot für »Folterwerkzeuge« erbittet die Südafrikanische Polizei Angebote für die Lieferung von 200 Fußeisen. Die genaue Spezifikation dessen, was die Polizeiorgane benötigen, sind beim Staatlichen Beschaffungsamt in Pretoria einzusehen. So sollen die Fußeisen mit der Inschrift »SAP« – Süd-Afrikanische Polizei – versehen sein und mit jeweils zwei Schlüsseln geliefert werden. Wie aus den Ausschreibungsbedingungen hervorgeht, wird besonderer Wert auf ein »100prozentig sicheres System« gelegt. Daily Telegraph, 20. Juli 1978
»Die Franzosen können ebensowenig etwas für ihren Klassizismus wie die Italiener ihren Sinn für Romantik unter Kontrolle halten können. Man betrachte doch nur diese miesen französischen HorrorComics. Die Sex-Magazine. Oder man schaue sich nur mal Le Drugstore an! Genauso sieht es auch mit der Politik aus. Immer wieder müssen sie sich ein klassisches, eindeutiges Anliegen zu eigen machen. Also werden sie zu Marxisten.« In den Luxembourg’schen Gärten war der Herbst angebrochen, und wie jedes Jahr war dies die einzige Zeit, in der dort so etwas wie Atmosphäre herrschte. Einige wenige welke Blätter verschandelten die sorgfältig gepflegten Wege oder lagen wohl oder übel auf dem Kies herum. Makhno straffte seinen Rücken, um an Körpergröße zu gewinnen, dennoch blieb er deutlich kleiner als Una. An seiner anderen Seite war seine Freundin Maxime dafür Unas Diminutiv. Sie trug ihren Kamelhaarmantel, als sei dieser eine Uniform. Ihr kleines, scharfgeschnittenes Gesicht blickte unter einer herausfordernd orangefarbenen »Punk«-Frisur hervor zu Una auf. Sie schenkte Una genau dieselbe Aufmerksamkeit wie Makhno. Und sie sagte nichts. Gelegentlich zündete sie sich eine Zigarette mit einem altmodischen polnischen Benzinfeuerzeug und energischen, sparsamen Gesten an. Rauchte auch Una eine Zigarette, dann zündete Maxime auch diese an. Makhno rauchte PapyrossiZigaretten, die er einer Schachtel entnahm, welche mit den Darstel- 94 -
lungen Ilja Moromjets und anderer legendärer Helden Kiews verziert war. Es handelte sich um eine im Handel befindliche russische Marke namens Vogatyr, die in Moskau hergestellt wurde. Makhno war nunmehr vollständig ergraut, und sein Gesicht, wenn auch durch seine Trinkgewohnheiten leicht mitgenommen, war immer noch freundlich und attraktiv. Immer noch legte er seine sardonische Art an den Tag, den selben Eindruck von unerschütterlicher Integrität. Er zählte nahezu siebzig Jahre und befand sich wieder in Paris im Exil. Er hatte seine Rolle als böhmischer Diplomat als unvereinbar mit seinen Idealen empfunden, wie er erklärte. Diese Ideale waren ihm sowohl zu physischer wie auch geistiger Gewohnheit geworden, so daß allein schon seine Anwesenheit bei Konferenzen die Teilnehmer verwirrte und beunruhigte. Er trug eine altmodische Norfolk-Jacke, Knickerbocker und seine liebsten englischen Reitstiefel, die er sich während irgendeines südamerikanischen Krieges organisiert hatte. Er hielt das Röhrchen seiner russischen Zigarette schräg nach oben und von seiner Hand abgewinkelt. Der Rauch, der in milchigen Schwaden durch die saubere Luft trieb und verwehte, vermittelte Una zugleich ein Gefühl der Nostalgie und der Bedrücktheit. Ihre Romanzen mit den verschiedenen slawischen Revolutionen waren zu leidvoll gewesen. Es war ein Jahrhundert des Feuers und der Kämpfe gewesen, und sie würde voller Nostalgie darauf zurückblicken, falls die Erinnerung überhaupt in ihr wach blieb. »Reiner, klassischer Marxismus«, murmelte Makhno. »Nicht der von der rohen, vulgären russischen Art. Ein Marxismus, der natürlich den Chinesen viel näher steht, zu denen die Franzosen eine ganz besondere Affinität haben. Und die haben mich zu einem Helden erklärt?« Er schnippte die Zigarette fort. »Fast haben sie mich soweit eingewickelt, daß ich mich tatsächlich für einen Marxisten hielt. Armer alter Kropotkin. Er war einfach nicht verrückt genug, nicht wahr?« »Du entwickelst dich zum Rassisten«, stellte Una fest. »Ich bin Ukrainer. Alle Ukrainer sind Rassisten. Der Rassismus ist eine durchaus honorige Form von Logik, die der Psychologie als nützliche Art des Rationalisierens von Vorurteilen vorausging.« Bischof Beesley, in Gamaschen und Priesterrock, und Miss Brunner, in strengem St. Laurent-Tweed, näherten sich ihnen zwischen den strammen Pariser Bäumen. Die Co-Konspiratoren gingen Arm in Arm. Sie winkten, als sie Makhno und seine Begleitung entdeckten. »Hi«, grüßte der Bischof, der wahrscheinlich nicht so richtig wußte, wo er sich befand. »Wie geht’s?« - 95 -
Maxime richtete langsam ihre Blicke auf ihn. Dann betrachtete sie Miss Brunner. Es schien, als nähme sie die Existenz der beiden Spaziergänger in sich auf. Miss Brunner erwiderte den Blick voller Unbehagen und zeigte dann einen Ausdruck der Neugier. Sie lächelte Maxime an. »Hallo, meine Liebe. Sie kenne ich noch nicht, oder etwa doch?« Maxime warf Makhno einen auffordernden Blick zu. »Dies ist Maxime«, stellte dieser vor. »Wir sind verheiratet.« »Oh, da gratuliere ich.« Bischof Beesley streckte dem Mädchen, das zurückwich, eine fette Hand entgegen. Er betrachtete seine Hand, entdeckte auf dem rosigen Fleisch vielleicht ein oder zwei Schokoladenflecken und lutschte sie ab, ehe er ein rot-weiß gepunktetes Taschentuch aus der Tasche seines Rockes zog und die Hand sorgfältig abwischte. Unterdessen schien Miss Brunner sich zwischen Makhno und Una geschoben zu haben und hüllte sie alle in eine Wolke Guerlaine oder eines ähnlichen Parfüms. »Liebster Nestor!« »Wie bitte?« Makhno hüstelte. »Sind Sie etwa Gesandte der deutschen Seite?« »Ganz bestimmt nicht. Wir sind Touristen.« »Und hängen fest«, fügte der Bischof hinzu, »ebenso wie Sie.« »Wir hängen hier nicht fest.« Makhno grinste. »Wir sind Kommunarden, wir alle.« »Blendend«, sagte Miss Brunner. »Genau das hatten wir die ganze Zeit gehofft.« Sie biß sich auf die Unterlippe und beobachtete ein Rudel preußischer Starfighter, die unter ohrenbetäubendem Röhren und Heulen durch die dunstige Morgenluft jagten. »Bomber?« »Man beobachtet uns nur. Wir leben in einer unabhängigen Stadt. Im Grunde befinden wir uns nicht einmal im Belagerungszustand. Technisch gibt es keine deutsche Blockade.« Una beobachtete Miss Brunner, die ihre Handtasche unter den Arm klemmte, und blickte dann zu Bischof Beesley, der eine zierliche Browning aus seiner Tasche zog und damit auf Makhno zielte. Miss Brunner zauberte ihren alten .45er Smith and Wesson aus der Handtasche. Nestor Makhno suchte nach seinem Zigarettenetui und bot seiner Begleitung eine Vogatyr an. »Soll das ein Attentat sein?«
- 96 -
»Ein Akt der Gerechtigkeit«, korrigierte Miss Brunner. Die Szene brach, und Una, Makhno und eine stirnrunzelnde Maxime standen auf einer Hügelkuppe und sahen auf eine weiße Landstraße hinab, die sich durch die ockerfarbene ukrainische Steppe wand. Häuser waren nicht zu sehen. Hinter ihnen knabberten drei kriegsmäßig aufgezäumte Pferde von dem Gras. Makhno verstaute den Feldstecher wieder in seinem Etui. »Wir sollten lieber zur Bahnstation aufbrechen«, riet er. »Für einen Ritt ist es viel zu weit.« Sie bestiegen ihre Pferde, doch kaum hatten die Tiere sich in Bewegung gesetzt, zerfloß die Szene und verwandelte sich in eine in hellen Flammen stehende Stadt. Nationalistische Banditen plünderten die Häuser. Es war die Zeit des Rückzugs aus Minsk. Makhno zog seinen Revolver und schoß in die Luft. »Halt!« Er wandte sich in seinem Sattel um und erschoß einen Plünderer in Armeemantel und Matrosenmütze. Der Mann fing an zu husten und suchte zwischen den Messern, Säbeln und Patronengürteln, mit denen er sich behängt hatte, nach seiner eigenen Waffe. Er fiel auf die Knie und kippte zur Sei- 97 -
te, ehe er sich durch seine Beute hindurchgewühlt und festgestellt hatte, daß sein Pistolenhalfter nach hinten gerutscht war.
Zwei gepanzerte Wagen rollten durch den Rauch und die Menge. An der Fahnenstange des ersten Fahrzeugs flatterte ein grüner Wimpel. Die Straße war ein Schlammsee. Der Lärm der explodierenden Granaten und der aufgeregten Menschen vermischte sich zu einem einzigen verzweifelten Schrei. Una wollte ihr Pferd herumreißen, als tiefe Stille eintrat und die Pferde durch knietiefen Schnee trotteten. Una fröstelte. Der Bruch hatte sie vor Miss Brunner und Bischof Beesley bewahrt, hätte sie aber auch in eine Stasis stürzen können. In diesem unberührten Schnee würden sie in kurzer Zeit erfrieren. Das würde auch das Ende des Zyklus der vielfältigen Konsequenzen bedeuten. Sie verspürte die vertraute Lethargie und bereitete sich auf das Schicksal vor, das früher oder später alle Zeitabenteurer ereilt. »Hüüaah!« - 98 -
Es war Jerry, der ein Hundegespann lenkte, ein leichenförmiges Bündel vor sich auf dem Schlitten. Er war in einen weißen Pelz gehüllt und sah überaus reizend aus. »Will jemand mitfahren?« Makhno schob frische Patronen in seinen Revolver. »Wohin sind Sie unterwegs?« »Ist das so wichtig?« Una saß ab und stapfte durch den Schnee auf den Schlitten zu, welcher sich in ein kleines Boot verwandelte, in dem Jerry und Catherine, gekleidet wie Strand-Pierrots, mit zwei Ruderpaaren hantierten und sich gleichzeitig zu der Seite hinausbeugten, wo Una bis zur Hüfte im Wasser stand und zu ihnen zu gelangen versuchte. Una selbst trug das Kostüm eines Harlekin, und ihr Sichtfeld wurde durch die Maske stark eingeengt. Sie verspürte ein seltsames, melancholisches Lustgefühl. »Schnell«, trieb Catherine sie an. »Noch ist es Zeit, Una. Schnell.« Doch Una ließ sie verrinnen. Sie wußte es. Erinnerungen zerfaserten. Die Identität versagte. Sie trug immer noch ihr HarlekinArrangement, als sie den gelben Strand irgendeiner Insel im Indischen Ozean hinaufstolperte und schluchzend um eine Ruhepause flehte. Verzweifelt Trost suchend.
- 99 -
7 Computer errechnen mögliche Selbstmorde voraus Computer können Selbstmordversuche weitaus zuverlässiger voraussagen als menschliche Therapeuten, da sie keine Hemmungen haben, ungewöhnliche Fragen in aller Offenheit zu stellen. Zumindest war dies das Ergebnis einer Reihe von Experimenten zweier Psychiater an der Medizinischen Fakultät der Universität von Wisconsin. Als einige hundert unter Depressionen leidende Patienten von einem Computer befragt wurden … wurden drei Selbstmordversuche genau vorhergesagt. Die beiden Ärzte hatten überhaupt keinen Selbstversuch für möglich gehalten … Im ersten Teil der Befragung gewann der Computer das Vertrauen der Befragten mit aufmunternden Bemerkungen wie: »So wie du mit der Tastatur umgehen, müssen Sie ein ausgefuchster Profi sein.« Dann wurde die Interviewatmosphäre offener mit Fragen wie: »Wie hoch beurteilen Sie die Wahrscheinlichkeit, von heute an in genau einem Monat Ihr Leben durch einen Selbstmord zu verlieren?« Daily Telegraph, 20. Juli 1978
»Wer sind diese neuen Amerikaner denn, die aus der Tautologie einen Ersatz für die Literatur geschaffen haben? Die die Vorurteile der Eingeborenen übernehmen und sie verfeinern und sie gleichbedeutend neben Emerson und Paine rangieren lassen? Wer sind diese Quatschköpfe, die stets ein Bibelwort zur rechten Zeit im Mund führen? Die sich in allen Bereichen der Terminologie der EncounterGruppe bedienen?« Professor Hira hielt ein Brett vors Fenster und wollte nach dem Hammer greifen. Una reichte ihm das Werkzeug. »Was?« »Darüber weiß ich ganz bestimmt nichts, Liebling. Ich lese so gut wie überhaupt nicht.« »Muß man das? Du solltest etwas praktischeres tragen.« »Ich mag Satin. Der Stoff ist angenehm kühl. Meinst du, die Dacoits greifen an, ehe Hilfe kommt?« Sie zupfte ihren pinkfarbenen Träger zurecht.
- 100 -
Er kratzte sich am Haaransatz genau an der Linie, wie sein Turban mit der Stirn in Berührung kam. »Wir können kein Risiko eingehen. Es gibt nichts schlimmeres als einen indochinesischen Piraten. Wenn sie landen sollten, mußt du dich natürlich sofort erschießen.« Sie wandte sich um und schaute wieder aufs Meer hinaus. Die Segel der Dschunken schienen nicht nähergekommen zu sein, und der Qualm der weißen Dampfjacht, welche die Dschunkenflotte anzuführen schien, war, wenn überhaupt etwas, dem Horizont scheinbar näher gerückt. Der kleine Brahmane schlug einen unfachmännischen Nagel in das Brett und tastete sich dann vorsichtig die Leiter hinunter. Die größte Siedlung von Rowe Island lag unter ihnen: eine Ansammlung von Stein- und Stuckbauwerken, welche die Grubenmanager, ihre Angestellten und ein paar Kaufleute beherbergt hatten, die es als lohnend angesehen hatten, hier Geschäfte und Hotels zu errichten. Professor Hiras Behausung hatte früher einmal als Kontrollzentrale des Luftschiffhafens gedient. Der stählerne, dreieckige Mast stand immer - 101 -
noch, jedoch hatte seit Jahren, nachdem sich nämlich der Phosphatabbau als unrentabel erwiesen hatte, kein Luftschiff mehr dort festgemacht. Die Malayen und die chinesischen Arbeiter waren als erste abgezogen. Die Minenbesitzer hatten danach den halbherzigen Versuch unternommen, die Siedlung in Ferienwohnungen oder einen Kurort umzuwandeln, jedoch war die Insel zu weit vom restlichen Teil der Welt entfernt, um mehr als nur ein paar wenige Leute anzulocken, die wirklich eine Ruhestätte fern jeglicher Zivilisation suchten. Nun war die Insel ein Stützpunkt für die Angehörigen der Gilde, da sie fern aller Schiffahrtsrouten lag. Das einzige Hotel wurde von Olmeijer betrieben, jenem fetten Holländer, der es aus irgendeinem Grund für angemessen hielt, den Leuten aus der Gilde zu dienen, jedoch hatte Olmeijer seine jährliche Reise nach Sarawak angetreten, um dort eine seiner zahlreichen Familien zu besuchen, und würde erst in mindestens zwei Wochen wieder auftauchen. Hira und Una waren zur Zeit seine einzigen Gäste. »Für die gibt es hier doch überhaupt nichts zu holen.« Hira starrte mit zusammengekniffenen Augen aufs Meer hinaus. »Sind sie etwa hinter uns her?« »Was könnten sie von uns schon wollen?« »Es könnten Linienboote sein, die unsere Basis vernichten sollen. Das wäre nicht das erste Mal. Erinnerst du dich noch, was damals, 1900, im Zentrum passierte?« »Das war eine der schönsten und ältesten Basen. Diesen Fehler haben wir danach nie mehr gemacht. Das Zentrum wurde ins Paläozoikum verlegt. Oder war es das Devon?« »Frag mich nicht. Es gibt verschiedene Bezeichnungen für die Zeitzyklen. Aber die sind ebenso vage wie die euren.« Er vernahm ein vertrautes Husten vom Himmel und sah hoch, um auf die Silhouette einer cremefarbenen Dornier Do X zu zeigen, die über einen Wolkenberg glitt und schwerfällig auf die Insel zuschwenkte. »Wir wissen alle, wer das dort ist.« »Ich wünschte, er hätte ein verflucht besseres Flugzeug.« »Dies wird aber seinem Sinn für Geschichte gerecht.« Das mächtige weiße Flugboot sank tiefer, wobei nur die Hälfte aller Maschinen gleichzeitig lief. Das Ungetüm machte einen verkommenen und kaum benutzten Eindruck. »Ich denke«, sagte Una und raffte ihr langes Kleid hoch, »wir sollten zusehen, daß wir vor den Piraten unten am Hafen sind.« Ihr war nicht entgangen, daß die Yacht ihre Geschwindigkeit erhöht hatte. In der Ferne hörte sie ein dumpfes Dröhnen. »Sie verfügen über eine Bo- 102 -
fors-Kanone. Sie schießen auf das Flugzeug.« Es war unmöglich festzustellen, ob das Flugzeug getroffen wurde. Von einer Position nahe dem Schwanzleitwerk begann eine Browning M 1917-A1 zu feuern. Die Dschunken erwiderten das Feuer mit jeglicher Art leichter Waffen, doch grundsätzlich, wenn Una ihren Ohren trauen konnte, mit nahezu nutzlosen Ingram M10s.
»Wenigstens sind die etwas moderner«, sagte Una. Sie hatten die heruntergekommenen Randbezirke der Ansiedlung erreicht und rannten über stellenweise herausgerissenes Pflaster auf den Hafen zu. »Aber zumindest können wir uns einer Sache ganz sicher sein. Wir befinden uns in einer Art Falte oder so. Vielleicht sogar in einer Schleife.« »Das ist aber besser, als eingefroren zu werden«, meinte der Brahmane. Unas Erinnerung wurde wieder vage. Wenigstens wußte sie immer noch genug um zu begreifen, daß es Dinge wie Paradoxe nicht gab und daß Doppeldeutigkeiten existierten und das menschliche Leben bereicherten; daß Zeit eine Vorstellung war und nichts sonst; und daß man sie weder herausfordern noch überwinden konnte, sondern nur erleben. Natürlich war der Tod, wenn er sich ankündigte, eine Realität. Sie sah nervös zur Yacht hinüber, über der anscheinend eine Fahne der Hudson Bay Company flatterte. Ohne Schwierigkeiten konnte sie die Banditen an Deck ausmachen. Sie zielten mit den Bofors auf den Hafen selbst. Auf der Brücke glaubte sie den Glanz der Mitra des Bischofs erkennen zu können.
- 103 -
Abwechselnd heulend und knatternd flog die DoX über ihnen eine weite Schleife, wobei sie mit den Tragflächen wackelte, schwenkte genau über, der Yacht herum und landete auf dem öligen Wasser des Hafens, dabei auf den mächtigen Schwimmern auf den Wellen gefährlich auf und nieder tanzend. Die Motoren liefen unregelmäßig, als eine Gestalt aus der Kabine kletterte und sich auf dem Schwimmer aufrichtete und ihnen Zeichen gab. »Wir werden wohl schwimmen müssen«, sagte Professor Hira und streifte seinen wundervollen Seidenmantel ab. »Scheißkerl«, sagte Una. Sie schälte sich aus ihrem pinkfarbenen seidenen Abendkleid und stolzierte mit nichts anderem bekleidet als mit ihrem Kamisol ins Wasser. Shakey Mo Collier half ihr dabei, ins Flugboot zu klettern. Seine langen Haare fielen ihm ins gelbe, pickelige Gesicht. Aus einem Mundwinkel ragte ein schwarzer burmesischer Zigarillo hervor. Er. trug eine Sonnenbrille mit verspiegelten Gläsern, wodurch er Ähnlichkeit mit einem Insekt bekam. Kostümiert war er als Kapitän Frakass, wenngleich das Kostüm so schmuddelig und zerschlissen war, daß man es kaum erkennen konnte. »Wir waren unterwegs nach Australien«, erklärte er, »als wir Ihren Ruf auffingen. Ist das dort die Teddy Bear, die auf uns schießt?« »Sie muß es sein«, sagte Una. »Das letzte Mal war ich anläßlich eines Kammerkonzerts an Bord des Schiffs. Erinnern Sie sich noch?« Triefend bestieg sie die Kabine. Frank und Jerry, beide mit identischen Flugkombinationen bekleidet, saßen hinter den Kontrolltafeln. »Erinnern?« wiederholte Mo und streckte Professor Hira eine Hand entgegen. »Ich hatte ja noch nicht einmal ein paar Augenblicke Zeit, mich umzuziehen, oder?« Frank schaute sich zu ihr um und leckte seine von Chemikalien geröteten Lippen. »Cor! Ich zuerst«, sagte er bewundernd. Jerrys Stimme klang gedämpft. »Keine Zeit.« Ein automatischer Arm streckte sich zum Gashebel hin. »Bringen wir sie hoch.« Die Flak hatte nun zu feuern begonnen, und Wasser schäumte auf, und Granaten schlugen in ihrer nächsten Nähe im Wasser ein. Das Flugzeug hüpfte, schwang herum und mußte wieder auf geraden Kurs gebracht werden. Dann starteten sie, wobei der Lärm der unzureichenden Motoren das Knattern des geradezu manischen Gewehrfeuers, dessen Ursprung auf den Booten der Piratenflotten zu suchen war, vollkommen übertönte. Jetzt kehrten sie erst recht in die politische Arena zurück. - 104 -
8 Sechsmal lebenslänglich für Bomben legenden Abtreibungsgegner Ein »hervorragender« Student der Naturwissenschaften, der Attentate mit Brandbomben auf Mitbürger verübte, deren positive Einstellung zur Abtreibung ihn »anwiderte«, wurde sechsmal zu lebenslänglicher Haft verurteilt, als gestern im Old Bailey gegen ihn verhandelt wurde. (Er) »stellte tödliche und raffiniert konstruierte Bomben (her), die Gott sei Dank niemanden töteten«, meinte der Stadtrichter von London, Mr. James Miskin Q. C. »Er handelte nach der Auffassung, daß jene, welche die Abtreibung befürworten, sich versündigen und einem Irrtum unterliegen. Hinsichtlich des Schicksals seiner potentiellen Opfer hat er keine Betroffenheit oder Reue gezeigt …« In einem Arbeitsraum in seinem Heim fand die Polizei »reichlich Material zur Herstellung von Bomben« sowie ein Tagebuch, in welches er seine Verbrechen eingetragen hatte. Er schrieb darin von seinem inneren Drang, »die Nation vom Bösen zu befreien« und von seiner »edlen Mission«, gegen die Abtreibung zu kämpfen. Über die Bombe, die für Mrs. Lord vorgesehen war, sagte er: »Die raffinierte Konstruktion dieser Bombe machte mich stolz und befriedigte mich zutiefst … Ich bin der festen Überzeugung, daß etwas gegen die Abtreibung unternommen werden muß. Diese Praxis widert mich an, und ich beschloß, gegen die zu Feld zu ziehen, die den straffreien Mord unschuldiger Kinder propagieren.« Daily Telegraph, 20. Juli 1978
»Die ganze Rundfahrt kostet nur 16 Pfund«, sagte Una, während sie hinter Catherine her ins Heck der Daimler Limousine stieg. »Heutzutage ist das nicht viel teurer als eine Taxifahrt.« Sie lächelte den Chauffeur an, der seinen Kopf gedreht hatte und sie beide neugierig betrachtete. Sie glättete ihr Chiffonkleid. »Zu Derry und Toms«, bat sie, »in der Kensington High Street. Kennen Sie das Kaufhaus?« »Nun …« Er zuckte die Achseln. »Ich weiß, was Sie meinen.« Er fuhr an und lenkte den Wagen um eine Ecke in die Campden Hill Road. »Ist das Ihr Fahrtziel? Ich meine, wollen Sie nirgendwo sonst hin?«
- 105 -
»Und zurück«, fügte Una an, »nachdem wir dort einige Einkäufe erledigt und eine Tasse Tee getrunken haben. Ist heute nicht ein schöner Tag?« »Wunderschön«, pflichtete der Chauffeur ihr bei. »Ich bin so froh, wieder zurück zu sein.« Una kicherte und strahlte Catherine an. »So viel ist passiert!« »Meinst du, ich hätte mich verändert?« »Irgendwie schon.« »Ich habe alles an den Nagel gehängt, habe alles aufgegeben. Ich hab’ mich entschlossen, wieder viel femininer zu sein.« »Dazu entschließt du dich doch immer«, entgegnete Catherine. Sie musterte nüchtern ihre eigene blonde Frisur in dem kleinen Spiegel, den sie zur Verfügung hatte. Ihr Make-up war zeitgemäß extravagant: es unterstrich ihre Naivität ebenso erfolgreich wie es sie als eine Lowry erscheinen ließ, jedoch mit weitaus mehr Leidenschaft im Blut. Sie preßte die roten Lippen zusammen. »Und gewöhnlich stets zum falschen Zeitpunkt.« Unas Begeisterung verflüchtigte sich. Sie schlug die Beine übereinander. »Das ist doch der einzige Fluchtweg, den sie einem offenhalten.« »Sie lassen ihn offen, weil sie wollen, daß du ihn auch einschlägst.« »Na schön. Dann will ich eben in diese Richtung.« »Sehr schön.« Catherine pflichtete ihr bereitwillig bei und frustrierte ihre Freundin Una. »Nun, was könnte ich denn sonst tun? Ich brauche Ruhe, eine Pause.« »Du solltest dir einen anderen Weg suchen, Liebes. Oder einen anderen Kerl.« »Dieser Major Nye ist doch sehr nett.« »Er ist mit dieser alten Schachtel verheiratet. Und dann ist da noch Elizabeth. Ich meine, sie wird ganz schön sauer sein, wenn sie wüßte, was los ist. Du kannst nicht mit Vätern und Töchtern herummachen, ohne daß man dir auf die Zehen tritt.« Catherine lachte heiser. »Verdammte Hölle!« »Das ist doch überhaupt nichts.« Una war verletzt. Sie bereute es, den Ausflug vorgeschlagen zu haben. Der Daimler gelangte an die Kensington High Street und bog nach links ab. »Ich muß Ideale und Sex miteinander verbinden, das ist mein Problem.« »Aber nur, weil du so puritanisch eingestellt bist.« Una nickte. - 106 -
»Das ist es doch«, mischte der Chauffeur sich ein. »Nicht wahr?« »Gott helfe uns!« Una war entsetzt, als sie das Kaufhaus anstarrte. »Ich hatte gedacht, ich sei in Sicherheit!«
»Es hat schon vor einigen Jahren Besitzer und Aussehen gewechselt. Erst gehörte es zur Biba-Kette, und jetzt sieht es so aus.« Catherine war voller Mitgefühl. »Ich dachte, du hättest es gewußt. Ich hatte angenommen, du wolltest dir einen Scherz erlauben.« »Wie gelangt man in den Dachgarten?« »Dort kann man nicht mehr hin, soviel ich weiß. Er ist in privater Hand.« »Heute bekommt man dort alles«, sagte der Chauffeur. Una starrte weiterhin schweigend das blasse Grün, das verblichene Gold der Fassade von Marks and Spencers an.
- 107 -
9 Sieben Stücke Rotwild – zwei Hirsche und fünf Hirschkühe – das diesjährige Jubiläumsgeschenk der Queen an die kanadische Provinz Nova Scotia – wurden heute in einem Flugzeug von Heathrow aus auf die weite Reise geschickt. Daily Telegraph, 20. Juli 1978
Unter der grauen Westway Hochstraße, im Dämmerlicht des halb zerstörten People’s Theatre durch den Drahtverhau in den Regen starrend, saß Jerry Cornelius, ein niedergeschlagener weißleinener Pierrot. Er umarmte seinen kalten, hageren Körper. Er wimmerte halblaut, als aus einem anderen Torbogen, weiter nach Westen, das Kichern und Keuchen seiner aufgekratzten Mutter herüberdrang, die gemeinsam mit Bischof Beesley in irgendeinem Winkel einen nachmittäglichen Gin einnahm. Er wußte, daß Una hinter ihm auf der Bühne stand. Sie schnüffelte. Die Eisenbahnliegen, die man als Sitze benutzt hatte, waren in Brand gesteckt und teilweise verbrannt worden. Das Theater war nutzlos, verdreckt, unglaublich. Das PierrotKostüm war naß, als hätte Jerry versucht, durch den Regen nach Hause zu laufen, nur um kurz darauf wieder schnell umgekehrt zu sein. An diesem Sonntag hätten sie alle hier ihren Auftritt haben müssen, und zwar in einer Version der Rolle, die vor nahezu einem Jahrhundert von Sarah Bernhardt berühmt gemacht worden war, als Pierrot Mort. Jerrys weißes Make-up erinnerte in seiner brüchigen Unregelmäßigkeit an Salzkristalle, die sich plötzlich verflüssigt hatten. Es ließ ihn grenzenlos alt aussehen, als er sich schließlich umwandte und sie aus rötlichen Augen anstarrte. »Hast du dein Kostüm mitgebracht?« »Ich hab’s bei deiner Mutter gelassen. Cathy ist dort.« »Ich weiß. Sie wollte nicht kommen.« »Das hat sie gesagt.« »Sie meinte, es wäre die Mühe nicht wert. Es wurde aber nirgendwo etwas von einer Absetzung bekanntgegeben. Zumindest meine ich, nichts derartiges gehört oder gesehen zu haben. Sind wir nun Krieger oder nicht?« - 108 -
»Landsknechte.« Una hielt ihm einladend eine Packung Black Cats hin, als sie sich ihm näherte. »Irgendwie schon.« »Welchen Sinn soll es denn haben, ein Stück aufzuführen, das den Geist des Theaters beschwören soll, wenn man selbst nichts tut, um in diesem Geist zu leben.« Er nahm eine Zigarette. »Willst du denn die Aufführung tatsächlich durchziehen?« »Nur sechs Leute erschienen und verschwanden gleich wieder, als sie sahen, was los ist. Verdammte Vandalen. Wer war das?« »Ich denke, es war eine rivalisierende Theatertruppe«, erwiderte sie. »Soviel habe ich zumindest gehört. Marxisten. Sie sind sehr daran interessiert, die Leute auf die richtige Art zu erreichen und anzusprechen.« »Verfluchte Kommunisten. Die sind noch schlimmer als die Vertreter der Kirche.« »Genau, so sagt man.« »Und damit hat man verdammt nochmal recht!« »Warum können die uns nicht in Ruhe lassen?« »Das liegt nicht in ihrer Natur.« »Zur Hölle mit der ganzen Blase.« »Es hat keinen Sinn, zu grübeln und zu schimpfen, Jerry. Nicht wenn man ein Landsknecht, ein Soldat ist.« »Ich werde mich nicht gerade durch besondere Tapferkeit auszeichnen. Das ist stets ungesund. Dann ist es schon besser, wenn ich meinem Ärger Luft mache.« Sie ließ sich am demolierten Klavier nieder und schlug einen Akkord an. Der Klang war urweltlich, beängstigend. Sie konnten ihn nicht zum Verstummen bringen. Er hallte durch den Betonbogen; wanderte durch die Nischen und Winkel bis zum Ende der Hochstraße in Ladbroke Grove. Er vermischte sich mit dem Lärm der Autos über ihnen, dem Rasseln der Metropolitan Line im Süden; es klang nach einer Synkopierung der Ewigkeit. Jerrys Gesicht hellte sich auf. Una schüttelte das Klavier. Doch der Ton drang weiterhin daraus hervor. »Das ist toll«, sagte Jerry. »Die reinste Kakophonie!« »Nein, das ist es nicht. Hör doch.« »Ich will aber nicht hören.« »Alles mischt sich hinein.« »Das kennen wir doch schon zu Genüge.«
- 109 -
»Das ist die Musik der geraden Linien, nicht der Kugeln, Sphären. Wie die Strickerei. Wie ein gigantisches Fadenspiel. Kannst du das alles hören, Una?« »Ich höre nichts als einen furchtbaren Lärm.« Er seufzte. »Vielleicht hast du sogar recht. Wir haben eben sehr viel Einbildungskraft. Und die läßt einen oft genug im Stich. Jeder hat am Ende eine andere Erklärung für eine Sache.« »Kannst du denn eine universelle nennen?« »Musik.« »Wie bitte?« »Ach nichts.« Der Geruch feuchten Kohls störte Una. »Sollen wir nicht verschwinden und im Mountain Grill eine Tasse Kaffee trinken? Wir sind während des Weges von Dächern geschützt. Viel nasser würdest du nicht.« »Wenn du willst.« Er hatte aufgehört, sich aufzuregen und zu schimpfen, und hatte sich beruhigt. Er erhob sich sofort und folgte ihr durch eine Lücke im Zaun, um die Ecke und in die Portobello Road. Die Fenster des Mountain Grill waren von innen beschlagen. Im Innern schaute die übliche Gästeschar den Neuankömmlingen entgegen. Jeweils entlang der Wände stand je eine Reihe Tische. Jede Reihe bestand aus fünf Tischen. Am hinteren Ende des Cafés befand sich die Theke mit der Kasse. Hinter der Theke lag die Küche. In der Küche hielten sich der zypriotische Inhaber, seine Frau und sein Vater auf. Sie bereiteten das Essen zu. Ein kleiner Junge und ein kleines Mädchen, die Kinder des Inhabers, servierten es. Ein Geruch von kochenden Kartoffeln lag in der Luft. Er überlagerte alle anderen Gerüche. Am hintersten Tisch in der linken Reihe saßen Miss Brunner, Bischof Beesley, Karen von Krupp, Frank Cornelius. Am nächsten Tisch saßen Shakey Mo Collier, Nestor Makhno, Maxime und Mrs. Cornelius. Den dritten Tisch besetzten Major Nye, Elizabeth Nye, Pip Nye und Captain Nye. Am vierten Tisch hatten William Randolph Hearst, Orson Welles, Alfred Bester und Zenith der Albino Platz genommen, sie alle in festlicher Abendkleidung. Der fünfte Tisch war noch frei, und Jerry und Una nahmen daran Platz und betrachteten die Anwesenden. Rechts von Una (ihr Rücken wies zum beschlagenen Fenster) waren die Tische wie folgt besetzt: Tisch eins: Nik Turner, Dave Brock, DikMik, Del Dettmar Tisch zwei: Simon King, Bob Calvert, Lemmy, Martin Griffin Tisch drei: Peter Pavli, Adrian Shaw, Michael Moorcock, Simon House - 110 -
Tisch vier: Steve Gilmore, Douglas Smith, Wayne Bardell, Graham Charnock Tisch fünf: Phil Taylor, Eddy Clarke, Catherine Cornelius, Harvey Bainbridge »Heute nachmittag ist es aber verdammt voll«, stellte Jerry fest. »Ein Wunder, daß es überhaupt noch freie Stühle gibt.« »Die sind für abwesende Freunde reserviert.« »Was ist das hier? Eine geschlossene Gesellschaft?« »Wir warten nur auf eine Transportmöglichkeit.« Jerry fing an, ein beruhigendes Mitleid zu verspüren. »Du solltest lieber zusehen, daß du etwas in den Magen bekommst«, riet Una ihm.
- 111 -
10 Grafensohn »zahlte 70 Pfund für Kinder-Sex« Der Sohn eines Vikomte, der seit einigen Jahren seine Phantasie mit KinderPornographie anheizte, sagte gestern vor dem Schwurgericht von Manch ester aus, er habe einer Mutter 70 Pfund bezahlt, in deren Wohnung ihm dann ihre Tochter als Prostituierte angeboten worden sei. Er trat als Belastungszeuge in einer Verhandlung gegen eine Mutter dreier Kinder auf, die beschuldigt wird, eine ihrer Töchter dazu angehalten zu haben, mit ihm einen unzüchtigen Akt zu vollziehen. Sie plädierte auf unschuldig in allen drei Fällen – Ermutigung zu einer unzüchtigen Handlung mit einer Minderjährigen unter 16, einer unzüchtigen Handlung zwischen zwei Männern und einer Minderjährigen unter 13 sowie einer unzüchtigen Handlung zwischen einem Mann und einer Minderjährigen unter 20. Er behauptete, aufs tiefste bestürzt und entsetzt gewesen zu sein, feststellen zu müssen, daß er tatsächlich nach minderjährigen Prostituierten suchte und an einen Punkt gelangt war, wo er tatsächlich mit solchen Mädchen zusammentraf und mit einem Kind unter zehn Jahren intim wurde … Er hatte eine beachtliche Menge »Kinder-Pornos« im Laufe der Jahre zusammengetragen, und »in meinem Bewußtsein hatte sich in dieser Richtung eine fixe Idee festgesetzt, gegen die ich mich zur damaligen Zeit jedoch noch nicht wehrte. Das ist auch der Grund, warum ich mein Vorhaben damals durchgeführt habe.« Daily Telegraph, 20. Juli 1978
Sie trugen immer noch ihre Uniformen, als sie das winzige Theater verließen und in den Laderaum des Ford Transit stiegen. Una kroch nach vorn zum Fahrersitz und zog ihre Harlekin-Maskierung aus. Jerry und Catherine legten sich auf die Matratze, während Catherine eine Thermosflasche aufschraubte. Una startete den Wagen und setzte ihn rückwärts in die mitternächtliche Straße. Noch während Catherine ihr den Plastikbecher mit süßem Tee reichte, sagte Una Harrogate Adieu und fuhr auf der A65 in nördlicher Richtung. »Nie wieder«, sagte sie. »Sie waren schrecklich.« Jerry hielt seinen eigenen Becher hin und ließ ihn vollgießen. »Was hatten sie erwartet.« »Ein Showballett«, sagte Una. »Ich wußte es.« - 112 -
»Es gibt kein Publikum mehr für die traditionelle Commedia dell’Arte«, meinte Catherine trübsinnig und tupfte sich einige Teeflecken von ihrem Kostüm. »Und Harrogate ist der Ort, wo die Leute sich zur Ruhe setzen. Sie lassen sich von ihrer nostalgischen Sehnsucht in die Badeorte locken. Und genau das haben sie erwartet. Und deshalb sind sie auch wieder gegangen, weißt du. Sie waren eben enttäuscht, diese alten Leute. Wir sind selbst schuld an unserem Mißerfolg.« »Alte Knacker«, schimpfte Jerry. »Die können sich ihr Harrogate sonstwohin stecken. Wohin jetzt?« Er erinnerte sich. »Kendal?« »Wir sind für die Stadthalle gebucht, aber ich weiß nicht, ob wir weitermachen sollen.« Una reichte den Becher nach hinten. »London war ganz okay, weil die Leute dort mittlerweile für solche Sachen zu haben sind. Doch in dieser Gegend sind wir unserer Zeit weit voraus.« »Das ist nicht schlimm.« Catherine machte ihrem Unmut Luft. »Ich bin obersauer und mache daraus keinen Hehl. Ich wollte diesen prätentiösen Mist sowieso nie. Ich dachte, es wäre genau so, wie die alten Leute es erwartet hatten – ein paar Songs und ein bißchen Showballett und sowas.« Sie ließ sich gehen. »Es gibt auch Songs und Tanznummern.« Una war bedrückt. Schließlich war sie es gewesen, die sie zu diesem Abenteuer überredet hatte. »Nicht die richtigen.« Catherine drehte sich auf den Rücken und versuchte, ihren Kopf bequem auf ihren Koffer zu betten. »Das ist schlimmer als im Repertoiretheater.« »Das macht das Repertoiretheater aus.« Jerry, der weitaus weniger Theatererfahrung hatte, fand gerade das Herumreisen besonders romantisch. »Aber wir sind keine Schmiere. Das ist – Gott weiß was!« Catherine schniefte und schloß die Augen. »So hat es mit der Schmiere angefangen.« »Das kann man in dieser Form nicht behaupten.« Sie schlug wieder die Augen auf. »Hat jemand mal ’ne Zigarette für mich?« Jerry wühlte in seiner Tasche herum und fand ein Blechetui. »Nur diese beschissenen russischen.« »Das reicht schon.« Sie zündete eine Papyrossi an. »Mir schmecken sie.« Sie schien sich wohlzufühlen und ihre Macht zu testen. Sie wußte, daß ihre beiden Gefährten sie zu hofieren versuchten. Sie spielte ihre Rolle weiter. »Können wir die ganze Angelegenheit beim nächsten Mal nicht ein bißchen aufpeppen? Mit ein paar moderneren - 113 -
Nummern – oder wenigstens irgendwelchem nostalgischen Zeugs – schubbi-du-du – ihr wißt schon. Das ist ja schon wieder so alt, daß niemand mehr nostalgische Gefühle bekommt!« »Genau dort liegt der Hase im Pfeffer. Dies ist eine echte Wiederentdeckung dramatischer Ideen, die seit mindestens zweihundert Jahren mißbraucht wurden. Nun, einhundert Jahre – wenn man Debureau und Les Funambules mitzählt –« »Und das tue ich«, unterbrach Catherine und legte plötzlich eine unerwartete Aggressivität an den Tag. »Wir sind schon die richtige Truppe«, sagte Jerry unglücklich. »Schließlich machen wir keinen Rock and Roll. Wir spielen Leonard Merrick.« »Wen?« fragten die Frauen. Er grinste zufrieden. Er fing an, sein Make-up zu entfernen. Er schien der einzige zu sein, dem die Situation gefiel. Sie gelangten in die Dales und rollten über die dunkle, verlassene Straße auf Cumbrien zu. Irgendwo hinter Ilkley hörten sie für ein paar Sekunden das Geräusch einer Banning. Dann verstummte sie. Jerry schlief. Catherine zwängte sich auf den Beifahrersitz und reichte Una eine von den russischen Zigaretten ihres Bruders, die sie bereits angezündet hatte. »War das ein Gefecht?« »Hier in der Nähe hält sich eine ganze Armee auf. Aber ich denke, wir brauchen uns keine Sorgen zu machen. Sobald Kirby hinter uns liegt, versuche ich, den Weg zur alten Straße zu finden. Wir müssen uns eine sichere Gegend suchen.« Catherine nickte. »Gute Idee.« Sie begann vor sich hin zu dösen. Sie wurde von der Morgendämmerung geweckt und öffnete die Augen, um eine verwirrte, rotäugige Una anzuschauen, die in ihrer roten, grünen, blauen und goldenen Kluft schrecklich blaß aussah. »Was ist los?« »Ich kann die verdammte Straße nicht finden. Ich hab’ mir schon die Augen ausgeguckt. Sie ist nicht etwa gesperrt. Nein, ich kann sie ganz einfach nicht finden.« Sie waren auf der Autostraße unterwegs. »Aber wir sind doch bereits darauf«, sagte Catherine. »Dort drüben ist sie. Und dort.« »Wir fahren die ganze Zeit herum. Aber ich komme nicht hin. Ich hab’ keine Ahnung, woran das liegt.« »Wohin fahren wir?« »Wohin schon?« stellte Una eine Gegenfrage. »Zum Lake District.« - 114 -
Sie hatten Grasmere erreicht und den Wagen auf dem verlassenen Parkplatz neben Dove Cottage abgestellt, ehe Jerry erwachte, aus dem Rückfenster des Transit sah, graue Steine erkannte und blaß wurde. »Oh nein!« »Mach’ mir keine Vorwürfe«, wehrte Una sich. »Alle Straßen führen zu Wordsworth.« »Wie bitte?« »So scheint es jedenfalls.« »Ich hasse diesen verdammten Ort.«
»Warum kehrst du denn immer wieder dorthin zurück«, meinte Catherine bissig. »Und genau das tust du doch, nicht wahr?« »Nicht freiwillig. Ich dachte – wollten wir nicht nach Kendal? Wir sind dran vorbeigefahren.«
- 115 -
»Tatsächlich, vorbeigefahren«, bestätigte Una. Sie war verärgert. »Wir können nicht zurück und wir wollen hier nicht bleiben. Wohin also?« Catherine machte einen Vorschlag. »Keswick ist besser als dies hier.« »Ja«, meinte Jerry. »Keswick.« »Warum nicht Schottland?« Una lehnte sich auf das Lenkrad und betrachtete die Ruinen des Prince Charles Hotels am See. »Wenigstens ist es ein freies Land. Und im Frieden.« »Im großen und ganzen friedlich. Hält sich dein alter Freund dort auf? Der Anarchist?« »In Schottland treiben sich mittlerweile eine ganze Menge Anarchisten herum«, sagte Una. »Du weißt genau, wen ich meine.« »Makhno müßte noch dort sein. Ich würde ihn gerne aufsuchen. Er macht jedenfalls weiter. Ich glaube, er geht jetzt auf die achtzig zu.« »Das kann man sich kaum vorstellen, nicht wahr?« wunderte Catherine sich. Je älter die Typen wurden, desto mehr reizten sie sie. Aus dem See tauchte ein seltsames tauchfähiges Fahrzeug auf. Es verharrte ruckend am Ufer. Sein runder Turm drehte sich, als beobachtete er sie. Eine .50er Browning M2 richtete sich auf sie aus. Una startete den altersschwachen Motor. »Wenn wir uns beeilen, können wir die alte Blechbüchse abhängen.« »Dann nichts wie los«, riet Jerry. Er wickelte ihr einziges Gewehr aus und drehte das Seitenfenster nach unten, während er Catherine in den Laderaum zurückstieß. Die schwere .45er Thompson vermittelte ihm ein völlig falsches Gefühl der Sicherheit. Der Transit machte einen Satz, und Jerry schickte einen Feuerstoß in Richtung des Tauchfahrzeugs, womit er es mehr erschreckte, als ihm Schaden zufügte. Die Browning erwiderte das Feuer nicht. Erst als sie sich um die zweihundert Yards auf der Straße nach Schottland entfernt waren, fing die Kanone an zu husten, doch es war offensichtlich, daß die Mannschaft – irgendwelche Renegaten – die Munition für den Verteidigungsfall aufbewahrte, als sie bei einem Angriff zu vergeuden. Jerry betrachtete die zerstörte Romantik ringsum. Der Ort war Schauplatz von fünf oder sechs größeren Schlachten zwischen Black Watch-Divisionen, die versuchten, sich neues Territorium zu erkämpfen, da man sie aus Schottland verjagt hatte, und örtlichen cumbrischen Banditen, die diese Invasion nicht duldeten, um so mehr als die - 116 -
Angehörigen der Black Watch außer ihren Waffen nichts zum Plündern bei sich führten. Am Nachmittag hatten sie die Grenze unter Beobachtung eines kleinen schwarzen Späherschiffs überquert, das bis auf wenige Fuß über ihren Köpfen herabgeschwebt war, um sie zu inspizieren, und dann wieder eilig aufgestiegen war als Zeichen, daß sie unbehelligt ihre Fahrt fortsetzen durften. Gegen Abend, nach einer Pause und einer Mahlzeit, konnten sie vor sich den ersehnten Zufluchtsort erkennen, als Glasgows solide Türme im Dunst sichtbar wurden. »Werden wir dort bleiben?« wollte Catherine von Una wissen. Una schüttelte den Kopf. »Nicht allzu lange. Weißt du, der Krieg ist endlos. Jemand muß weitermachen.« »Jetzt klingst du wieder so wie früher, wie die alte Una«, meinte Catherine erfreut. »Nun, wenigstens wie eine der verschiedenen alten Unas«, gab Una zu. Jerry rollte sich auf eine Seite und fing an zu schnarchen.
- 117 -
4. Wiederholung
Every Gun Plays Its Own Tune The Bishop and Mitzi Were on the rampage She full of lust He full of rage Looking for victims They hoped to convert Stopped in the fifties And there found a cert … They got me again They got me again Oh, shit, they got me again I was holed out in ’fifty And having some fun When I heard Mitzi coming Caught the sound of her gun Bang-bang-bang Here come the gang Bang-bang-bang-bang-bang! The Bishop and Mitzi They found him at last Stuck in a time-slip On his way to the past He cried out for mercy But they only laughed As they took him in To remind him of sin … The got me again etc. Pierrot, poor Pierrot Must become Harlequin Learn about sin
- 121 -
Drugs, whisky and gin Such a bad convert That’s the thing about him He’ll forget all his Lessons in time … They got me again etc. Bang-bang-bang etc.
Pierrot in the Roof Garden I’ve climbed so high I can’t climb higher I’ve reached the top And have to stop Sitting on the steeple Like a silly little fairy Goodbye Tom and Goodbye Derry Goodbye sahib, hello effendi Elba’s bust and I’m so trendy Marx and Spencer’s fails to send me I’ve a hole in my trousers And a boil on my nose But they won’t catch me With my teeth round a rose My time’s run out I’m a senile ghost Run-down loony Who never signed up Music box They can’t wind up You should see What I had lined up It was sweet
- 122 -
And it was tasty Lost the lot By being too hasty I don’t care I’ve reached the limit You can keep the world There’s nothing in it I’ll just sit here And eat my spinach Waiting for The thing to finish Up above the moon Is shining As I squat here Quietly whining For Columbine I still am pining My reel is spinning But I can’t get The line in So I think I’ll just Crawl under this bush.
Columbine’s Carol Sing for joy, we’ve met in time Harlequin and Columbine Praise the jolly myth of Yule May good cheer forever rule Fire doth blaze and snow doth fall Peace on Earth for One and All Holly shines and Ivy glows Bunting from the roof-tops flows.
- 123 -
Sing for joy, we’ve met in time Harlequin and Columbine. In the bell-tower Pierrot kneels Surrounded by the merry peels Now they’re singing ding-dong-dell Send the sinners down to hell Snow doth fall and fire doth blaze Numbering poor Pierrot’s days Down the bell-rope he descends Knowing he must face his end Out into the graveyard white Pierrot must embrace the night. Sing for joy, we’ve met in time Harlequin and Columbine Sing for joy, we’ve met in time Harlequin and Columbine Surrounded by a Christmas throng Pierrot sings a silent song (Goodbye me and goodbye time Goodbye lovely Columbine) Falling snow and blazing fire This is Pierrot’s funeral pyre Gone is laughter, gone is light Pierrot must embrace the night. Sing for joy, we’ve met in time Harlequin and Columbine Sing for joy, we’ve met in time Harlequin and Columbine …
- 124 -
1 Wer hat die Höflichkeit im Straßenverkehr zu Grabe getragen? ISIS gewährleistet kreiselstabilisierte Zielgenauigkeit für Luft-Luft-Kanonen sowie LuftBoden-Kanonen, -Raketen und -Bomben … Das Modell D-282 ist zusätzlich in der Lage, bei Luft-Boden-Angriffen Berechnungen der Windgeschwindigkeit vorzunehmen und zu berücksichtigen. Einzigartig ist die Fähigkeit dieses Systems, Kursänderungen auszugleichen, womit die Zeitspanne bis zum Auffassen und Anvisieren des Ziels um 50% verkürzt wird. Außerdem verfügt das einlinsige System über ein ständig in Bereitschaft befindliches Fadenkreuz. ISIS ist zudem in mit Laserstrahl arbeitende Entfernungsmesser und andere Navigationssysteme integrierbar. Ferranti
»Die nukleare Verschmelzung wird uns unser Geburtsrecht zurückgeben. Indem sie unsere Städte zu den sanfteren Konturen unserer früheren Gebirge zusammenschmilzt; unsere Höhlen, unsere Zufluchtsstätten wiederherstellt und uns die wunderschönen Landschaften der Welt vor dem großen Knall wiedergibt.« Jerry Cornelius schritt vorsichtig über die riesige vergrößerte Fotografie der drei ermordeten Killer, die den Boden des Studios bedeckte. Es war eine Schwarz-weiß-Fotografie. Er war ein Geist. Sie war überrascht, daß sie ihn noch immer sehen konnte. »Wenn du das doch nur garantieren könntest«, erwiderte sie. In einer Ecke des Studios fröstelte Una neben einem der altmodischen Scheinwerfer. Sie streckte ihre Handflächen der Wärme entgegen. Sie trug einen Soldatenmantel, eine mit Pailletten besetzte Hose. Er hingegen trug einen großzügigen schwarzen Pelzmantel, eine Art Tschako, Stiefel, als hoffte er, daß diese etwas solidere Kleidung ihn lange genug zusammenhielt, um das tun zu können, weswegen er hierhergekommen war. Geschmeidig, mit all jener selbstbewußten Grazie, die von seinem alten Selbst noch geblieben war, verharrte er neben einem Behälter mit Entwicklerflüssigkeit. Er schlug den Mantel zurück und schob seinen Nadler in das schwere Halfter an seiner Hüfte. Die Umrisse des Halfters störten die ansonsten perfekte Symmetrie
- 127 -
unter dem Pelz. »Staubige Landstraßen«, murmelte er voller Nostalgie. Ihre Schultern sackten herab. »Warum nicht?« Wollte er sie als nächstes Opfer? Links von ihr hing ein rechteckiges Bild eines Kindes an der Wand; ein nacktes blondes Mädchen etwa zehn Jahre alt. Er wies nickend auf das Bild. »Wir bringen sie in diese Welt, und dann sterben sie.« Sie schaute ihn überrascht an. »Sterben.« Er kam näher. »Liebe kann heutzutage nirgendwo mehr gefunden werden, außer in den Ruinen.« Seine Hände streckten sich ihr entgegen. »Noch sind wir nicht soweit«, sagte sie. Seine Hände sanken herab. Als wolle sie sich entschuldigen, meinte sie: »Ich kann meinen Glauben an die Erbsünde nicht verleugnen. Das heißt, ich gehe davon aus, daß die, die die Sünde in sich tragen, den Rest der Menschheit infizieren.« »Was würde man ohne sie tun?« Er schien eingeschnappt zu sein. »Sie? Ich habe den Verdacht, ich rede über mich selbst.« »Warum nicht.« Es war die zwölfte Nacht, und er war, wie er ihr verraten hatte, unterwegs zum Jägerball. In dem Paket, das er an der Tür liegengelassen hatte, als er eintrat, um sie zu retten, hatte er ein Geweih. Durch das Glasdach beobachtete sie, wie der Himmel sich abkühlte, gelb und schließlich schwarz wurde. Sie dachte an Sex und seufzte. Sie seufzte erneut, bedauernd. Sie konnte erkennen, wie sein Körper unter seinen Kleidern zitterte. Sie waren Welten auseinander. (Das Gesicht des Mädchens kam näher. Er sah, wie die Augen sich verengten und der Mund sich verzog. Sie begann zu weinen. Er wich zurück, hob die Hände in einer Geste der Verteidigung und schüttelte den Kopf. Die Musik setzte ein, und der Tanz begann. Let the good times roll.)
- 128 -
2 Wo ist der Killer, der Rothaarige haßt? Die Royal Airforce nimmt zur Zeit Untersuchungen vor, die darauf abzielen, die Hawk außer als Ausbildungsflugzeug auch als Waffensystem im gefechtsmäßigen Einsatz zu verwenden. Vize-Marschall Gilbert, Stellvertretender Chef der fliegenden Truppe, meinte zu Interavia: »Wir wissen wohl, daß. die Hawk für bestimmte Einsätze geeignet ist und nicht nur als Trainer, und wir betreiben Studien, um auszuloten, in welchem Umfang sie den Anforderungen der Kriegstechnik der achtziger Jahre gerecht wird.« Zu den Aufgaben, die die Hawk u. U. übernehmen könnte, gehören der Bodenangriff, die Selbstverteidigung und die Luftverteidigung. Eine kompakte, leicht zu manövrierende Maschine wie die Hawk wäre im Falle eines Durchbruchs im zentralen Einflußbereich der NATO sicherlich ein Gewinn. Sie würde besonders wirkungsvoll gegen Fahrzeuge und leicht gepanzerte Einheiten eingesetzt werden können, welche die von massierter Unterstützung der Luftwaffe gestützten vorderen Linien überwunden hätten. Interavia
»Wir tun, was wir tun. Wir sind, was wir sind.« Maxime blickte auf, als sie das hörte. Ihr Gesichtsausdruck verriet amüsierte Ironie. »Ihre Stimme hat sich verändert. Sie klingt tiefer. Fast schon negroid, was?« »Ach seien Sie doch still.« Una befreite sich aus dem zerknautschten Bettuch und rollte sich auf die Seite des mächtigen Louis-XIV.-Bettes. Sie erreichte die Kante, rollte sich herab, kroch dann durch die Zotteln des Schafsfellteppichs zur Spiegelwand, um ihr elendes junges Gesicht zu betrachten. Sie streckte ihre wunde rote Zunge heraus und inspizierte den winzigen Riß an der Spitze. Nackt wandte sie sich um und lehnte sich mit überkreuz geschlagenen Beinen gegen den Spiegel und blickte quer durch den Raum zu Maxime hinüber, die, ihr leicht asiatisches Gesicht in einem Stirnrunzeln erstarrt, eine Zigarette rauchte und sich die schütteren Haare in die Stirn strich. Jenseits der schweren gelben Samtvorhänge brach die Morgendämmerung an. »Scheiße!« fluchte Una.
- 129 -
»Sterben«, seufzte Maxime. Sie reckte ihre muskulösen Arme. »Ist die Welt an diesem Morgen noch da?« Una stand auf und tappte vor Kälte gebückt gehend zur Tür. »Gewöhnlich habe ich alles genossen. Ich mochte es überaus gerne.«
Maximes verkniffener Mund lächelte. »Zuerst geht die Romantik den Bach hinunter, dann die Liebe, schließlich die Lust. Die Unschuldigen! Die Gangster!« Als die Tür zufiel, sprang Maxime aus dem Bett und rannte zu dem Stuhl hinüber, auf den sie am Abend vorher ihre Partykleidung geworfen hatte. Una beobachtete sie durch das Schlüsselloch und verspürte in ihrer Schoßregion ein leichtes Kitzeln. Sie war dabei, eine gewisse Angst vor anderen Menschen zu entwickeln. Heutzutage konnte sie sich ausschließlich nur einer Sache hingeben. Sie wußte, daß es eine ge-
- 130 -
wisse Schwäche war, jedoch war die Geschichte, zumindest gegenwärtig, nicht auf ihrer Seite.
- 131 -
3 Kann zu viel Sex zum Mord führen? Einer der bedeutendsten potentiellen Märkte während der nächsten zehn Jahre wird sich für das Unterschall-Ausbildungs/Bodenangriffs-Flugzeug auftun. Während die Schätzungen je nach Quelle stark differieren, ergibt sich eine vertretbare Nachfrage im Bereich von ca. 6000 Flugzeugen für Länder außerhalb der Vereinigten Staaten und des Ostblocks. Interavia
»Es ist der verwirrte Geist, der überall Ordnung aufspürt.« Prinz Lobkowitz hielt sie in seinen grauen Armen und betrachtete ihren Kopf durch zarte, vergehende Irissen, während er ihr übers Haar strich. »Das schizoide Gehirn sucht verzweifelt nach Systemen, das paranoide Gehirn entwickelt Muster aus den unwahrscheinlichsten Quellen. Das vom Wahnsinn gesteuerte Auge sucht sich nur das, was es sehen möchte – Beweise für politische Schachzüge, Beweise für interstellare Besuche, moralische Verderbtheit in sämtlichen Gesellschaften. Die Beweise werden uns nicht direkt geliefert, weißt du, und können nicht so erkannt werden, wie wir einen Text lesen. Das Geheimnis liegt darin, keine besondere Auswahl zu treffen.« »Und dabei verrückt zu werden«, sagte Una. »Nein, nein, nein. Und zu lernen, die Welt in all ihren Ausdrucksformen zu lieben.« »Sogar den Krebs?« »Liebe und Krebs vertragen sich kaum. Doch man kann sagen, daß das, was wir Krebs nennen, ein Recht auf Existenz hat.« »Wir würden alle sterben«, sagte sie. Sie löste sich aus seiner Umarmung. »Unsinn. Wir würden Wunderheilungen erleben.« Ihre Reaktion verletzte ihn. Er schickte sich an, die Ärmel wieder herunterzustreifen und schaute sich dabei in dem verlassenen Operationssaal um in der Hoffnung, daß sie seine Tränen nicht bemerkte. Sie trat einen oder zwei Schritte auf ihn zu. Sein Körper war steifer als zuvor, und seine Stimme klang überkontrolliert. »Sehen wir uns heute abend, Una?« - 132 -
»Nein«, erwiderte sie. »Ich kann nicht kommen.« Der Raum erbebte. Irgendwo fand eine Explosion statt. Die erste nach langer Zeit. Ein Tablett mit chirurgischen Instrumenten stürzte klirrend zu Boden. Er hob seine Jacke vom fadenscheinigen Teppich hoch und bewahrte gleichzeitig eine schwankende spanische Wand vor dem Umfallen. Sie saß auf der Kante einer mit Kunstleder bezogenen Untersuchungspritsche und kämmte ihre Haare. »Was ist mit der Kunst?« fragte sie. »Die ordnet doch die Dinge, nicht wahr? So gut es geht.« »Bestenfalls leugnet sie nicht die übrigen Beweise.« Er knöpfte sein Jackett zu und fand seinen Homburg, der hinter den Schreibtisch des Arztes gerollt war. Das Skelett des Arztes saß sauber und schlaff, den Schädel gegen die Nackenstütze gebettet, auf dem Sessel, ein weiteres Stück analytischer Ausrüstung. »Dann bleibst du also hier?« »Ich sagte, ich treffe einen Freund.« »Cornelius?« Sie errötete. »Nein. Seine Schwester.« »Aha.« Er atmete vernehmbar ein und ging zur Tür. »Die Welt ist ein Irrenhaus.« »So siehst nur du es«, meinte Una. Dann bedauerte sie ihre Ironie. Sie wollte ihn wirklich nicht verletzen.
- 133 -
4 Stimmt es, daß das Geheimnis der ASW Menschen in Götter verwandelt hat und einem vorführen kann, wie man alles steuert und alles, was man sich je gewünscht hat, innerhalb von Sekunden erhalten kann … wie Reichtümer, luxuriöse Besitztümer, Macht über andere und sogar ein längeres Leben? Mittels eines Handelsabkommens über 180 Millionen Pfund hat der Iran sich für die »verbesserte« Version des Luftverteidigungssystems Rapier entschieden, welches aus dem Waffenträger FMC M584 entwickelt wurde. Der Iran besitzt bereits die Standard-Version des Rapier-Systems. Interavia
Una und Catherine hatten keinerlei Munition mehr, als sie zum IBMGebäude gelangten. Es beunruhigte sie, daß das Gebäude überhaupt nicht verteidigt worden war, und sie witterten einen Hinterhalt. Sie wanderten niedergeschlagen über den Campus, doch es schien, als hätten die Studenten sich allesamt in den großen Hörsaal zurückgezogen. Die beiden Frauen tauchten in den niedrigen aus Beton gegossenen Eingang, rannten durch den Gang und stürmten in den Computer-Raum. Die Maschine füllte an allen vier Seiten jeglichen Raum aus. Doch sie war tot. Keine ihrer Kontrollampen flackerte, kein Licht schimmerte, und ihre Magnetbandspulen drehten sich nicht mehr. »Wir sind am Ende«, sagte Catherine. Sie schleuderte ihren Karabiner mit dem Kolben gegen eine schlachtschiffgraue Instrumententafel. Die Waffe federte zurück, so daß Catherine ausweichen mußte. Das Gewehr klapperte über den Boden. »Dieses Scheißding kontrolliert überhaupt nichts mehr. Der Strom ist weg.« »Ich frag’ mich nur, wie Maxime behaupten konnte, dies sei die Operationszentrale.« Una zündete sich eine dünne braune Zigarette an. »Weil sie die Vorstellung nicht ertragen konnte, sie wäre in irgendeiner Weise für sich selbst verantwortlich«, sagte Catherine hitzig. Sie ordnete eine blonde Locke. »Was für ein Umstand. Was für eine Zeitverschwendung!«
- 134 -
»Das ist das Unangenehme bei Computern«, sagte Una. »Sie bringen die Dinge durcheinander.« »Und ersparen denen Probleme, die sie eigentlich verdient hätten«, meinte Catherine. Sie bückte sich schwerfällig, um ihre M16 aufzuheben. »Komm weiter. Mal sehen, ob wir draußen irgendwelche Munition finden können.« »Warte«, bat Una. Sie breitete die Arme aus und schaute ihre Freundin an. »Auf einmal fühle ich mich so einsam, du nicht auch?« Catherine schüttelte den Kopf, kam aber dennoch zu Una. »Nicht hier«, sagte sie.
- 135 -
5 Wird ihr Job als nächster gestrichen? Die Bewaffnung der F-16 von General Dynamics besteht aus einer innen montierten M61a1 Vulcan 20mm-Kdnone, die hinter dem Cockpit und den Fahrwerkschächten installiert ist. Zusätzliche Munition kann an neun weiteren Stellen außenbords untergebracht werden: unter dem zentralen Treibstoff tank, unter den Tragflächen und jeweils am Tragflächenende. Außerdem ist die Maschine mit einem Pave Penny Laser-Zielsuchgerät ausgestattet … Der mögliche Bedarf auf dem Weltmarkt wird mit 4800 Stück angegeben; vorsichtige Schätzungen gehen von 1500 Exemplaren aus. Basismodell ist die F-16, welche die F-104 abgelöst hat. General Evans hat verlauten lassen, daß es einen potentiellen Markt für etwa 2000 Maschinen dieses Typs geben dürfte. (Fast 2500 F-104s wurden gebaut, und über 2200 wurden exportiert.) Interavia
Catherine schien sich ganz gut eingerichtet zu haben, so daß Una sie in Kiew zurückließ und den Nachtzug nach Warschau nahm. Von Warschau fuhr sie weiter nach Dubrovnik, ein großer Umweg, aber wohl doch die sicherste Route (wenn sie sich auf ihren Instinkt verlassen konnte). Überall waren umfangreichere Bewegungen von Menschen und Kriegsmaterial im Gange, und sie schritt die Gangway der S.S. Kao An mit einem Gefühl der Erleichterung hinauf. Am nächsten Morgen waren sie unter Dampf und hielten auf die weniger bevölkerte Umgebung von Darwin und Sandakan zu. Kaum schwammen sie in der See von Timor, als das Schiff von einem südkoreanischen Kanonenboot angehalten wurde und Una und eine Gruppe anderer Passagiere in Richtung Westen abgeschoben wurden. In ihren Pässen trugen sie Vermerke, die ihnen verboten, jemals den 30. Breitengrad sowie den 40. Längengrad zu überschreiten. Wohin man blickte, schien sich die Paranoia breit zu machen. Una hatte versucht, sich mit einem der koreanischen Offiziere friedlich zu verständigen, um herauszufinden, worüber sie erzürnt waren. Der Mann hatte sie leicht auf den Mund geschlagen und sich geweigert, englisch zu sprechen; er stellte fest, daß es ihm Spaß machte, sie zu schlagen, - 136 -
und hatte sie erneut mißhandelt, bis sein Kommandant dies unterband, jedoch nicht aus einem menschlichen Motiv heraus, sondern nur, um, wie Una es interpretierte, nicht das Gesicht zu verlieren.
Bei ihrer Ankunft in London, das man »gesäubert« hatte, wurde sie zum Gegenstand einer Untersuchung, bei der ihre Aktivitäten während der vergangenen drei Jahre überprüft wurden. Da sie mehr und mehr unter Amnesie litt, fiel es ihr schwer, alle Fragen zu beantworten, doch da sie wußte, daß man mit jeglicher Art von Information zufrieden war, solange sie mit den Vermutungen übereinstimmte, die man bereits angestellt hatte, erfand sie für sich eine Lebensgeschichte, welche nicht nur von der Gegenseite akzeptiert wurde, sondern auch ihr selbst gefiel. Sie bedauerte, daß sie nur erfunden war. Prinz Lobkowitz, der als Minister der Kontrollbehörden eingesetzt war, erfuhr, daß sie sich in England aufhielt, und schickte ihr eine Einladung, ihr beim Dinner Gesellschaft zu leisten, doch sie hatte zu viel Angst, diese Einladung anzunehmen. Sie zog sich in die Baumwollzone zurück und ließ sich in der Nähe von Box Hill nieder, wo eines Abends das Telefon klingelte. Da sie nie den Antrag gestellt hatte, an das Telefonnetz angeschlossen zu werden, sah sie darin ein Zeichen höherer Gewalt, kehrte nach London und in das Kloster der Armen Klarissen in Ladbroke Grove zurück, wo eine Zelle für einen solchen Notfall bereitgehalten wurde. Jedoch war sie davon überzeugt, daß sie nicht die Flucht ergreifen würde. Ihre Liebhaber zogen den Ring um sie immer enger. Verzweifelt suchte sie nach einem Ideal, einem Ziel, doch nichts bot sich ihr an. Sie wehrte sich dagegen, das, was sie suchte, in einem Individuum zu finden. Sie wollte, wie sie beteuerte, etwas größeres. Sie - 137 -
bedauerte, daß ihr Geist sich weigerte, weitere Beweise für ihre Suche zu produzieren. Irgendwann, um nicht wieder den bekannten Gefahren ausgesetzt zu sein, gab sie sich in die Obhut der Nonnen, die sie seit ihrer Ankunft angebettelt hatten, ihr zu helfen.
- 138 -
6 Die seltsame Geschichte von der halbnackten Studentin und dem spukenden Monster Finanzielle Restriktionen drängen die westliche Luftfahrtforschung in die eine Richtung, während die Nationen des Ostblocks durch den Einfluß der Sowjetunion eine andere Richtung einschlagen. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß die neuesten sowjetischen Luftfahrzeuge einen technischen Entwicklungsstand aufweisen, der vor nur wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Während der fünfziger und sechziger Jahre mußte bis auf spezialisierte Waffensysteme (Aufklärung und U-BootAbwehr) alles Kriegsgerät so einfach und robust wie möglich konstruiert und in möglichst hohen Stückzahlen zu bauen sein. Die MiG-21 wurde zum Beispiel von westlichen Militärstrategen als »Wegwerf-Flugzeug« bezeichnet, kaum mehr als ein von einem Piloten gelenktes Geschoß. Interavia
Irgend etwas geschah in der unteren rückwärtigen Sektion ihrer linken Hirnhälfte. Erinnerungen an die Kindheit verschleierten die tieferen Beweggründe. Sie versuchte, die Assoziation zu interpretieren. Ein Hoffnungsschimmer. Einige weitere Zellen fingen an abzusterben. Sie rückte die teuren Koss-Kopfhörer etwas bequemer zurecht und lauschte der Musik mit verzweifelter Konzentration. Humor? Liebe? Eine Empfindung des Bedauerns? Des Verlustes? Erneut erschienen die Bilder demolierter Straßen und verwilderter Parks und schoben sich dazwischen. Wenn sie vielleicht das Gleichgewicht um ein weniges veränderte? Sie tastete nach dem Kontrollknopf, strich darüber, drehte daran. Ihr Gesicht schmerzte, als sie ihre Augen noch fester zusammenkniff. All ihre Helden und Heldinnen waren tot. Die, die sie kennengelernt hatte, hatten sich als unwürdig erweisen, das zu erhalten, was sie ihnen hätte geben können. … I swear the moon turned to fire red. The night I was born … Sie konzentrierte sich auf den entsprechenden Bereich der Cortex. Drogen konnten eine schreckliche Verwirrung hervorrufen, vor allem wenn sie unter dem Vorzeichen psychiatrischer Forschung verab-
- 139 -
reicht wurden. Das Gehirn tastete das Gehirn ab, tastete das Gehirn ab.
Konnte man nicht auch Gehirnbereiche ebenso wecken, wie man Teile seines Körpers sensibilisierte? Sie war jetzt mitten drin. Sie schlüpfte heraus. Das Gefühl der Sehnsucht, der Suche wurde immer schmerzhafter. Wieder drin. Raus. Sie steigerte die Lautstärke. Drin. Eine Frage der Proteine. Sie wurden hergestellt. Aber wären es die richtigen? Das Tempo der Trommelschläge steigerte sich. Drin. Die Erinnerungen der Kindheit verschwammen. Nun war sie sicher, daß irgend etwas dahinter lag. Tiefer. Auf jeden Fall hatte sie die Zellen isoliert. Die Musik verstummte. Sie schrie. - 140 -
7 Die Frage ohne Antwort Das Raketensystem RBS70 verfügt über eine extreme Mobilität und Breitenwirkung und kann innerhalb kürzester Zeit gegen mit hoher Geschwindigkeit und in der niedrigsten möglichen Höhe operierende Flugzeuge eingesetzt werden. Erst vor kurzem hat die schwedische Armee für 500 Millionen Schwedische Kronen das RBS70 Raketensystem bestellt. Erste Lieferungen, vorwiegend Ausbildungsgerät, werden im Jahr 1976 erfolgen. Weitere Teile folgen 1977. Auch bei Bofors blickt man in die Zukunft und denkt an die Entwicklung einer für den Nachteinsatz geeigneten Version mit elektrooptischen Sensoren zur Zielsuche. Zur Zeit ist die Wirksamkeit der Waffe von der Fähigkeit der Bedienungsmannschaft abhängig, das Ziel mit bloßem Auge zu erkennen. Das mit einem Laserstrahl arbeitende Zielsuchgerät ist unter sämtlichen Bedingungen einsetzbar, in denen das Ziel aufgefaßt werden kann. Interavia
Innerhalb des Schädels befand sich das Universum im Krieg. Maxime und Catherine, Jerry und Lobkowitz umstanden das weiße Krankenhausbett und starrten auf das Gesicht voller Tragik. »Sie suchte Liebe«, sagte Maxime. »Ich habe sie geliebt«, meinte Jerry mit einem Anflug von Verschlagenheit. »Ich auch«, fügte seine Schwester hinzu. »Wir alle haben sie geliebt«, sagte Lobkowitz. »Sie war das Leben. Sie war die Freiheit. Sie war die Hoffnung.« »Sie war die Zukunft«, fügte Jerry hinzu. »Verschmelzung und Spaltung, die schimmernden, rollenden Obsidiangefilde der Nachkriegslandschaft.« Er seufzte. »Aber begreift doch, sie versuchte, uns zu lieben«, fuhr Lobkowitz fort. »Sie wollte das, was wir in ihr sahen – sie suchte in uns nach den selben Dingen und konnte sie nicht finden. Dies ist ein gutes Krankenhaus. Man tut, was man kann.« Maxime nickte. »Unsere Leute sind auf solche Beschwerden spezialisiert. Tout cela vous honore/Lord Pierrot, mais encore?« - 141 -
Jerry funkelte seine Rivalin etwas erbost an. »Sie dachte, sie hätte es so oft selbst erfahren«, sagte Catherine, »aber sie war stets enttäuscht. Und dennoch, trotz aller Widrigkeiten, fuhr sie fort, die Liebe zu suchen.« »Sie liebte alles.« Maxime zuckte die Achseln. »Alles.« »Zum Ende hin wurden die Daten ziemlich wirr.« Lobkowitz war traurig. »Ich hätte es vereinfachen können«, schmollte Jerry. »Nur hat niemand mich gelassen.« Dann lachte er spontan. »Zu viel!« Und für einen Moment zitterten die Elektroden, die aus Unas Schädel herausragten, im Einklang mit den Lauten aus ihrem Mund.
- 142 -
5. Coda
Harlequin Transformed 3/4 (A sort of carousel tune) Destroyed by a comedy I did not devise I’ve reached the limit of my changes Repeating tricks solely for my eyes Now, at last, my legend ages And reveals the structure of my lies … And my body alters as I watch Black mask fades My skin is pale The colour leaves my costume And I’m no longer Harlequin I am defeated from within 4/4 Say goodbye to Harlequin Poor Pierrot now replaces him … 3/4 By a legend I sustained Sardonic gaze and vicious brain By mythology I maintained The posture that I feigned Inevitably my pose dissolved Entropy has left me cold And Harlequin is slain – Again … 4/4 (rep. tune Every Gun) Drip, drip, drip, drip Here come’s the rain (Plink, plink, plink, plink – plucked on violin) Abrupt End.
- 145 -
Pierrot and Columbine’s Song of Reconciliation Divided I love you And united become you Columbine, Columbine We are one at last Rejecting all armour Thus we are conquered Conquered, we vanquish All that we fear Pierrot and Columbine (Harlequin with them) Conquered, we vanquished All that we feared … (This leads into the tune of the Entropy Tango, acting as an introduction for the reprise, which is up-tempo, cheerful …)
The Entropy Tango (Reprise – The Ensemble) For a while at least it’s all right We’re safe from Chaos and Old Night The Cold of Space won’t chill our veins — We have danced the Entropy Tango … So we’ll love, love, love One another like two doves … And we’ll hug, hug, hug We can never have enough … The power of love has won this throw — We have danced the Entropy Tango … And it’s kiss, kiss, kiss Fear and hate we have dismissed And it’s wish, wish, wish … For a better world than this … So say goodbye to pain and woe — And we’ll stop the Entropy Tango … - 146 -
1 Dies ist die persönliche Fahne des Monarchen und ein Symbol des Bandes, das unter einem Monarchen sämtliche britischen Besitzungen auf der ganzen Welt zusammenhält. Die drei goldenen Löwen repräsentieren England, der rote Löwe steht für das unbeugsame Schottland, während die goldene Harfe Irland versinnbildlichen soll – die drei Staaten, aus denen das Empire entstanden ist. Angehörige des königlichen Hofes haben das Recht, königliche Standarten zu führen, Mitglieder der königlichen Familie haben ihre eigenen Standarten. Diese Fahne wird nur gehißt, wenn seine Majestät der König tatsächlich anwesend ist, und darf niemals zu Dekorationszwecken benutzt werden. Aufgrund eines alten Sonderrechts wird in der Royal Navy auf die Gesundheit des Königs stets sitzend getrunken. Flags of the Empire, Nr. 1, herausgegeben von W. D. & H. O. Wills, c. 1924
Nach Sonnenuntergang, wenn die Bettler in Chowringhee sich für die Nacht in den Hauseingängen einrichteten und die Falken und Geier auf den Laternen- und Telegrafenmasten einnickten, sich damit abfindend, daß sie bis zum nächsten Tag warten mußten, um sich ihren Anteil an Tod und Abfall sichern zu können, bestieg Mrs. Persson ihre Rikscha und ließ sich von dem alterslosen Kuli in Turban und Lendenschurz zum Empire bringen, wo sie als Diana Hunt in dem musikalischen Lustspiel Wonderful Woman auftrat. Sie stellte eine unter allerlei spaßigen Verwicklungen in das Jahr 1930 versetzte griechische Göttin dar, die im Verlauf des Stückes auf all ihre göttlichen Fähigkeiten verzichtete, um den Helden zu heiraten und eine Hausfrau zu werden. Una empfand die Rolle als ideal. Es war die Sensation von Kalkutta. Durch die Massen von Radfahrern, Fußgängern, Rikschas; vorbei an Straßenbahnen, Ochsenkarren, Limousinen, Lastwa gen, Taxis, Autobussen, die in der Abenddämmerung dröhnten und ratterten, jagten Una und ihr Kuli, bis sie die marmorne Fassade des Empire (mit ihrem Namen und Leuchtbuchstaben über dem griechisch angehauchten Portal) erreichten und ein wenig später als sonst um die Ecke - 149 -
bogen und am Bühneneingang stehenblieben. Una stieg aus, und die Rikscha entfernte sich (sie entlohnte den Kuli wöchentlich), und sie, in Seide und Chiffon, mit dem Reynoldshut und zugehörigem Schleier auf dem Kopf, betrat forsch das Haus und nickte dabei dem bengalischen Türsteher zu, der ihren Gruß lächelnd erwiderte. Er war einer von den wenigen Eingeborenen, die zur Zeit Arbeit hatten. Zu viele junge Bengalen liebäugelten mit dem Anarchismus und beabsichtigten wahrscheinlich, das Theater zu attackieren. Una gelangte zu ihrer Garderobe und wurde mit einemmal trübsinnig, denn die Tür stand offen und Stimmen drangen heraus. Nur vage konnte sie sich an das Ehepaar erinnern, das auf sie wartete – den fetten Geistlichen mit seinem Hut in der Hand, den dürren Blaustrumpf in fahlem Leinen. Ihre Zofe empfing sie mit einem kaum zu verstehenden englischen Wortschwall. Una lächelte. »Es ist schon gut, Ranee, Bischof Beesley und –?» »Ich bin Miss Brunner. Ich glaube, wir haben uns bei Mrs. Bridgetts Gartenfest kennengelernt. Letzte Woche erst.« »Ach ja. Und ich habe Ihnen Eintrittskarten versprochen!« »Nein«, ergriff Bischof Beesley das Wort. »Wir kommen vom örtlichen Komitee für moralische Aufrüstung.« »Gibt es an dem Stück etwas zu beanstanden? Doch wohl nicht.« »Das Stück ist soweit in Ordnung. Da ist nur eine Szene …« Bischof Beesleys Miene hellte sich auf, als Ranee ihm von Unas Turkish Delights anbot. »Welche denn?« »Im …«, murmelte er mit vollem Mund, »… zweiten Akt. Erste Szene.« »Wo ich meinen ersten Drink nehme?« »Ja.« Miss Brunners Stimme klang hart und anklagend. »Das Publikum liebt diese Szene. Es ist die spaßigste im ganzen Stück.« »Sie ist sehr gut.« Miss Brunner schien leicht verwirrt zu sein. »Aber wir fragten uns, ob Sie uns wohl einen Gefallen tun können. Genau genommen nicht nur uns, sondern allen Bewohnern der Stadt. Überall sonst, da bin ich sicher, wäre das nicht so wichtig – aber unter den Zuschauern sitzen Bengalen und Anglo-Inder und so weiter und natürlich eine Menge Engländer.« »Ja.« »Und wir meinen, die Szene könnte –« Bischof Beesley wischte sich die Zuckerkrümel von den Lippen, »– einige davon verderben.« - 150 -
»Weil ich allmählich beschwipst werde? Ich hätte doch gedacht, es gäbe da eine Moral – nämlich nicht zu trinken.« »So könnte man es sehen«, gab Miss Brunner zu, »aber wenn man dazu Ihr Kostüm betrachtet …«
»Ein bißchen zu dürftig, zu durchsichtig?« »Genau«, sagte Bischof Beesley mit einem Seufzer der Erleichterung. »Und dann die Sprache«, fuhr Miss Brunner fort. »Ich meine – was Sie da sagen.« »Und was sage ich?« »Irgendwas über Verbrechen und Anarchie.« »Ach ja: dieses Glas auf das Verbrechen und das nächste auf die Anarchie! Ich zeige nur offen meine Frustration. Am Ende gelange ich doch wieder auf den richtigen Weg.«
- 151 -
»Das ist nicht gerade der ideale Text im derzeitigen politischen Klima.« »Von Politik habe ich keine Ahnung«, gestand Una ihren Besuchern. Ranee kam mit Tee und Teegeschirr herein. »Eine Tasse Tee?« erkundigte Una sich. »Danke sehr. Selbst Sie, Mrs. Persson«, blieb der Bischof beim Thema, »werden doch wissen, daß jeden Tag mindestens zwei Weiße den Bombenüberfällen zum Opfer fallen. Und das im Namen der anarchistischen Sache.« Sie rollte eine Ausgabe des Englishman auseinander und wies auf die Schlagzeile: ANARCHIE: EINE GEFAHR FÜR DAS EMPIRE. »Weiteres steht im Leitartikel. Und dann sollten Sie die bengalischen Zeitungen lesen. Die sind voll von solchem Zeug.« »Von welchem Zeug?« wollte Una wissen. »Anarchie«, meinte Miss Brunner und führte ihre Tasse zum Mund. »Ich glaube, sie bekommen ihr Material aus Frankreich.« »Aha«, sagte Una. Sie ließ sich vor dem Spiegel nieder und betrachtete ihr Gesicht. Sie zwinkerte sich zu. »Nun, natürlich werde ich stets daran denken. Vielen Dank, daß Sie mich so unmißverständlich auf das Problem aufmerksam gemacht haben.« »Werden Sie Ihren Text abändern? Und Ihr Kostüm?« »Ich werde mir das ganz bestimmt durch den Kopf gehen lassen«, versprach Una.
- 152 -
2 What man that sees the eur-whirling wheele Of Change, the which all mortall things doth sway, But that therby doth find. plainly feele, How MUTABILITY in them doth play Her cruell sports, to many mens decay? Which that to all may better yet appear, I will rehearse that whylome I heard say, How she at first her selfe began to reare, Gainst all the Gods, and th’empire fought from them to beare. Spenser, The Fairie Queene, 7. vi. 1.
Als der Eisenbahnzug Odessa verließ und die Wärme und den Ozean hinter sich ließ, schwankte Una auf den Füßen und versuchte, mit Hilfe des Spiegels über den gegenüberliegenden Sitzen ihr Make-up aufzufrischen. Ihr Lippenstift rutschte ihr aus der Hand und fiel auf grünen Plüsch. Sie sagte: »Verdammt!« und bückte sich, um danach zu suchen, als die Abteiltür sich öffnete und ein Mann mit einer Reisetasche eintrat und seinen Strohhut lüftete. Er trug eine randlose Brille und hatte einen Spitzbart, der nichts von seinem Gesicht verhüllte, keinen besonders charakteristischen Zug hinzufügte und wahrscheinlich nur eine Art Abzeichen war, um der Umwelt klar zu machen, daß sein Träger ein Intellektueller war. Seine lässige Norfolkjacke, die ungebügelte Hose, das grobe Hemd, all das verriet seine von ihm ausgesuchte Rolle, und natürlich sprach er sie nicht auf russisch sondern auf französisch an. »Excusez moi, mademoiselle.« Una hatte ihn sofort erkannt. Es war der alte Metzger persönlich. Unter ihrem starken Make-up konnte er sie nicht erkennen. »Bronstein!« platzte sie lachend heraus. »Sind Sie wieder in Gnade gefallen?« Er entspannte sich und verriet dabei seine tiefe Verlegenheit. »Sie sind es, Kameradin. Herausgeputzt wie eine bourgeoise Hure. Was treiben Sie so? Fahren Sie den ganzen Weg?« »Ich hoffe es. Und Sie? Nach Kiew?«
- 153 -
»Ich steige dort um. Diese Gegend der Welt mag ich nicht sonderlich. Die Leute sind faul. Und zu reich, die ganze Blase.« »Alle?« »So wie ich es sehe. Was haben Sie gemacht?« Er bot ihr eine Sobranie-Zigarette an, die sie dankend annahm, da sie das Goldmundstück zu gern zwischen ihren Lippen spürte. »Ich habe mich ausgeruht, Pause gemacht«, sagte sie. »Ich bin zu müde, Liebling.« »Und warum sind Sie in Rußland?« »Ich bin nicht in Rußland. Ich bin in der Ukraine.« »Haben Sie einen Paß?« Er zog eine Karte aus der Tasche. Er schien auf diesen Unterschied stolz zu sein. »Wie diesen? Es ist ein besonderer Paß. Jedermann muß mir weiterhelfen.« »Sie treten doch jetzt nicht als Anarchist auf!«
- 154 -
»Welchen Unterschied macht das schon. Wir alle sind Sozialisten. Ich in Moskau Kiew repräsentieren und meine Stelle als Chef des Büros wieder einnehmen. Und zwar zur rechten Zeit.« Er öffnete seine Tasche und nahm ein großes Notizbuch heraus. »Ich habe mich bereit erklärt, den südrussischen Fall zu übernehmen.« »Damit brauchen die sich doch gar nicht abzugeben. Sie sind stark … und reich. Das haben Sie selbst gesagt.« Der Zug begann zu beschleunigen. Sie rollten durch die neuen Gartenstädte am Rande Odessas. Das Licht war perfekt. Una starrte aus dem Fenster, zurück auf das dunstige Meer mit all seinen Schiffen und landeinwärts voraus über die grüne Steppenlandschaft. »Sie haben sie an der Nase herumgeführt. Sie brauchen ihre Stärke, um wieder Ihren Job zurückzubekommen! Sie raffinierter alter Bastard.« Trotzki schnüffelte. »Ich habe eine Aufgabe. Ich brauche eine effiziente Energiestation, eine Basis, wenn ich ganz genau sein will.« »Und Stalin?« Trotzki schürzte die Lippen und lächelte. »Wußten Sie das denn nicht? Er ist tot.« »Von Politik habe ich nie etwas verstanden.« Una sah hinaus auf die goldenen Felder und beobachtete Reiter, die auf einer weißen Straße dahinsprengten. Sie veranstalteten mit dem Zug ein Wettrennen und winkten mit ihren Mützen, während sie den Pferden die Sporen gaben. Una wurde an die alten Zeiten, an Makhno und seine Reiter erinnert. Sie winkte zurück. Dann waren sie vorbei. Sie wendete wieder Trotzki ihre Aufmerksamkeit zu. »Das ist es vielleicht, warum ich Sie so unendlich reizvoll finde.« Er beugte sich vor und legte eine vertraute Hand auf ihr Knie. »Wo waren Sie während der letzten fünf Jahre? Diesmal will ich die Wahrheit hören.« Er bemühte sich um einen jovialen Tonfall. »Sie werden es erfahren«, versprach sie. »Aber Sie werden es nicht mögen.« »Tun Sie nicht so geheimnisvoll.« Er lehnte sich zurück und nahm sein Buch auf. Er holte seinen Füllfederhalter aus der Innentasche seiner Jacke. »Das bringt mich in Wut.« »Ich kann nicht anders sein. Ich bin Una. Ich bin die Wahrheit. Klar?« »Sie sind die personifizierte Antithese. Sie haben wieder mit der Schauspielerei angefangen, wie ich sehe.« »Ich hatte es. Aber dann hab ich es wieder aufgegeben. Ich bin unterwegs nach Kiew zu einem Freund.« »Zu Makhno, diesem Rowdy?« - 155 -
»Nein. Das ist ein richtiger Rowdy. Er mag Sie nicht sonderlich.« »Das tun nur wenige«, meinte er selbstzufrieden. »Und wer ist es nun?« »Jerry.« »Cornelius. Bah! Er stellt überhaupt keine Gefahr dar. Außer für sich selbst. Ich nahm an, man hätte ihn liquidiert. Oder er läge im Koma oder so.« »Damit ist er noch nicht an der Reihe.« Er nahm seine Brille ab. Die Geste sollte eine Warnung sein. Er sog heftig an seiner Zigarette, als er sich vorbeugte. »Hören Sie auf, Una!« Er drohte mit dem Finger. Er tat so, als machte er einen Scherz. Una verspürte den vertrauten Schrecken. Sie atmete zischend ein und ergab sich ihrem Schicksal. Das hatte sie gerade noch nötig gehabt.
- 156 -
3 Der Fluß Es geschieht während des Diwali-Festes, wenn die dunkelste Nacht im Oktober von unzähligen Freudenfeuern erhellt wird, von denen jedes ein Leben symbolisiert, das im Kampf zwischen Gut und Böse geopfert wurde, daß das Mädchen, Harriet, sich in einen jungen Captain verliebt, der im Ersten Weltkrieg verwundet wurde und ein lahmes Bein zurückbehalten hat. Da sie keine Schönheit ist, hofft sie, sein Herz zu gewinnen, in dem sie ein Gedicht schreibt über die legendäre Radha, deren Liebe zum Gott Krishna sie zu einer Göttin gemacht hat … In Indien sind alle Flüsse,.. Symbole der Ewigkeit – heilig … ARTIKEL: Picture Post, 1. März 1952
Hinter ihnen sackte die Golden Gate Brücke durch und knarrte und quietschte, als der Sprengstoff sie ausradierte. Der Morgen dämmerte herauf. Überall in San Francisco brannten Feuer, vor allem aber in den Vororten. Vom Hafen aus beschossen die Piratenschiffe weiterhin die Stadt. Sie zogen sich nun zurück. Auf der Brücke des Unterseebootes Seahorse betrachtete Una, das Gesicht vom Rauch geschwärzt, eine Hand auf dem Kolben ihres Revolvers im Holster, ihre Geiseln – nahezu ausschließlich junge Männer und junge Frauen – und rechnete im Kopf ihren Wert aus. Man würde sie gegen Lösegeld anbieten. Die Flotte, die vorwiegend aus einer Mischung von kommerziellen und militärischen U-Booten von überall auf der Welt bestand, war gegen Mitternacht eingelaufen, war in der Bucht aufgetaucht und hatte ihren Angriff vorgetragen. Er hatte die wenigen zur Verteidigung vorgesehenen Schiffe in die Flucht gejagt und war in der Lage gewesen, in der gewonnenen Zeit, die Washington mit einer Reaktion zögerte, die Stadt zu plündern und alles, was irgendwie von Wert war, mitzunehmen, weswegen sie hergekommen waren. Makhno in einem langen Ledermantel und Reithose, eine M60 in der Hand, gesellte sich zu ihr auf die Brücke. Seine Männer hievten Kisten an Bord. »Da ist es, Una. Das ganze Gold von Sacramento.« Sie ärgerte sich etwas über seinen Ton. »Du klingst wie ein Bandit.«
- 157 -
»Jetzt, wo du deinen Spaß gehabt hast, solltest du nicht die große Moralistin spielen. An dir ist irgend etwas Viktorianisches, Una. Du wäscht stets deine Hände in Unschuld. Ich bin ein erfolgreicher Bandit.« Er berührte sanft ihren Arm. Er war sehr alt. Das weiße Haar wurde immer dünner. Seine Bewegungen jedoch glichen denen eines Ballettänzers und imitierten die Jugend aus Training und alter Gewohnheit.
Er ging nach unten, machte einigen Lärm und begrüßte den Polen, Captain Korzeniowski, der mit seinen Erzählungen von Gold und Edelsteinen die Schatzsuche erst richtig angeheizt hatte und der einmal die Dearhorse kommandiert hatte. (»Für Sicherheit und Komfort in schweren Zeiten bringen diese luxuriösen Hotels der Tiefe Sie wohin Sie wollen und zwar in der Verfassung, in der Sie auch ankommen möchten!«)
- 158 -
»In diesen Streit sind keine Unschuldigen verwickelt.« Makhno redete automatisch, und Una fühlte sich ganz mies. Am Ende hatten ihn die Jahre doch härter gemacht. Es war so gut wie unausweichlich gewesen. Sie beugte sich vor und schaute dorthin hinab, wo die Gefangenen immer noch zusahen, wie das Gold in die entsprechenden Ladeluken geschüttet wurde. »Laßt sie abziehen. Gebt ihnen Boote.« Das erzählte sie den Wächtern. Sie würde keine weitere Verantwortung mehr auf sich nehmen. In einem Dinghi, das sich von dem U-Boot löste, saßen Shakey Mo und Jerry und riefen ihr etwas zu. Sie waren schmutzig und jubilierten innerlich. Cornelius war wenigstens betrunken. Bei Mo war es immer sehr schwer festzustellen, in welcher Verfassung er sich befand. »Mrs. P.!« Jerry hob eine Flasche mit einer Prosit-Geste hoch. Er schickte sich an, sich hinzustellen, doch das kleine schaukelnde Boot zwang ihn wieder auf die Sitzbank zurück. »Wenn ihr es seid, dann sind wir zum Abmarsch bereit!« »Lange dauert es nicht mehr«, sagte sie. Sie suchte den Himmel nach der Morgendämmerung ab, doch die Flammen verhüllten ihn. »Das nenne ich effektvolle politische Aktion«, sagte Mo. »Wir brauchen unseren Kurs. Wir hatten die Brücke schon so gut wie sicher, als der verdammte Zerstörer uns erwischte. Hat ein verdammtes dickes Torpedo losgeschickt, nicht wahr?« Sie hatte sie ins Meer springen sehen, kurz bevor der Zerstörer als Revanche aus dem Himmel geblasen wurde. Konnte sie die Schreie aus der Stadt hören? Rauch verstopfte ihre Nasenlöcher, brannte in ihren Augen. Die Vororte standen jetzt in Flammen. Viele Holzhäuser waren in Brand geraten und würzten und versüßten die ansonsten beißende, scharfe Luft. Mo kletterte über die Reling. »Besser als jedes Erdbeben«, sagte er. »Besser als ein Indianerüberfall. Wohin wollen wir überhaupt? Ich nahm an, es wäre Mexiko.« »So abwegig ist das gar nicht«, meinte Una. Mo zwinkerte und machte ein verlegenes Gesicht. »Was hast du denn dieses Mal?« fragte sie. »Nicht viel.« Sein Grinsen war nahezu schwachsinnig. Er griff in eine seiner verschiedenen Taschen und holte eine Münze heraus. »Achtermünzen. Dublonen. Und das …« »Wo um alles in der Welt hast du die her?«
- 159 -
»Aus dem Museum. Ich treffe das Museum immer zuerst. Du kennst mich ja. Ich bin ein unverbesserlicher Romantiker. Ich liebe alte Dinge.« Sie empfand eine tiefe Zuneigung zu ihm. Mehr als sie in diesem Moment für die anderen empfand. »Man nannte dies früher die Barbarenküste«, rechtfertigte er sich nahezu. »War das nicht irgendwo in Afrika?« »Nein«, wehrte sie ab. »Sie denken an die Mondberge.« Er verschwand im gigantischen Rumpf des Linienschiffes. Una sah, daß Jerry einigen der Mädchen beim Einsteigen ins Boot behilflich war, das er aufgegeben hatte. Er erschien genauso harmlos wie sie. Er ging sehr behutsam mit ihnen um. Sie atmete seufzend ein und unterdrückte ihre Tränen. »Alles scheint in Zügellosigkeit zu versinken«, sagte sie. Plötzlich explodierte Fisherman’s Wharf, und sie war geblendet.
- 160 -
4 Rowdytum in Fußballstadien »harmloser Zeitvertreib« Rowdytum bei Fußballveranstaltungen stellt ein harmloses Ventil für Aggressionen dar, welches ebensogut in nackte Gewalt ausarten kann, behauptet ein Psychologe der Universität Oxford in einem Euch, das soeben erschienen ist. Prügeleien zwischen rivalisierenden Zuschauergruppen, wie man sie auf den Tribünen der Fußballstadien oft beobachten kann, sind eher als künstliche Form von Gewalt zu werten und nicht als ernsthafte Streitigkeiten, meint Mr. Peter Marsh vom Institut für experimentelle Psychologie an der Universität Oxford. In »Aggro: die Illusion der Gewalt« rät er den Menschen, zu lernen, wie man mit »Aggro« lebt – Kämpfen zwischen rivalisierenden Banden Jugendlicher bei Fußballspielen, in Tanzhallen und Kneipen – anstatt zu versuchen, die Aggressionen zu unterbinden. »Wenn wir das, was – ich ›Aggro‹ nenne, wirklich ausmerzen wollen, schaffen wir am Ende noch eine viel gefährlichere Erscheinung. Anstelle von sozialer Gewalt haben wir es plötzlich mit nicht-sozialer Gewalt zu tun, die sich in willkürlicher, sinnloser Brutalität ausdrückt … Bemühen wir uns aber, mit Aggro zu leben … erkennen wir sehr bald, daß die Illusion von Gewalt der echten Gewalt, die mißhandelt und sogar tötet, vorzuziehen ist …« Mr. Marsh beurteilt »Aggro« zwischen rivalisierenden Banden als Äquivalent zu Stammesfehden in weniger hochentwickelten Gesellschaften. Daily Telegraph, 20. Juli 1978
Obwohl es im Hospital vollkommen still war, schien es Una, als läge eine Bedrohung in der Luft. Sie versuchte, ihre Augen noch weiter zu verdrehen und ihr Gesichtsfeld zu vergrößern. Das Metallgestellt, das ihren Kopf fixierte (sie hatte sich das Genick gebrochen) gestattete ihr keinerlei Bewegungsfreiheit. Major Nye war immer noch da und hielt ihre Hand. Er schien mit offenen Augen eingedöst zu sein und starrte blicklos auf das gegenüberliegende Bett. Er versuchte, das Gespräch dort fortzusetzen, wo es fünf Minuten vorher abgebrochen war. »Ja«, sagte er. »Es ist das Ungeziefer.« »Ratten?« »Vorwiegend.«
- 161 -
»Modelle, Metaphern – sogar Beispiele, nehme ich an.« Una war froh, daß man die spanische Wand beiseite gestellt hatte und sie wenigstens einen Teil des Saales mit seinen Vorzugsbetten überschauen konnte. Das Krankenhaus wurde von Nonnen geleitet und war privat. Hier gab es kein nennenswertes Ungeziefer. »Ich verstehe, was Sie meinen.« Er lächelte. »Sie haben zuviel Phantasie.« »Ich lebe in einer Welt voller Poetik«, erklärte sie. »Oder genauer gesagt, voller poetischer Bilder. Mir erscheint alles bedeutsam. Alles hat eine bestimmte Bedeutung. Und das ist, was mich stets in Schwierigkeiten bringt. Ich will einfach nicht hören. Ich beobachte nur.« Er tätschelte ihre Hand. Sie hörte gedämpfte Geräusche und glaubte anfangs, sie lausche seiner Hand auf ihrer, doch es waren Schritte. Am Fußende des Bettes erschien Prinz Lobkowitz. »Man hat dich noch nicht verlegt?« »Noch nicht.« Major Nye antwortete an ihrer Stelle. Er stand auf und holte einen Stuhl, den er neben das Bett stellte. »Setzen Sie sich, alter Junge. Sie sehen abgespannt aus.« Lobkowitz’ Rücken war gebeugt. Seine grauen Haare fielen ihm ins Gesicht. Die Haut seines Gesichtes war erschlafft. Una empfand eine tiefe Enttäuschung. Sie wünschte, sie könnte helfen. »Makhno?« fragte sie. »Tot. Die Amerikaner haben ihn am Ende doch geschnappt. Er wurde vor drei Tagen auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. In Oregon, glaube ich.« »Dann haben die Kalifornier ihn aufgegeben?« »Die Kalifornier sind wie die Griechen. Sie reden sich um Kopf und Kragen und versuchen dann, sich wieder herauszureden. Das liegt wohl an der Sonne. Nein, er ist auf irgendeinem Friedhof in Portland begraben worden. Soll ich dir alles erzählen?« »Sinnlos«, erwiderte sie. »Ich hänge hier mindestens ein halbes Jahr fest.« »Ja.« »Wenigstens hat er sich einen Namen gemacht«, meinte Major Nye. »Es gibt wohl niemanden auf der Welt, der noch nicht von Nestor Makhno gehört hat. Auf sechs Kontinenten gilt er als Held und Märtyrer. Und sein Vorbild lebt weiter.« Er versuchte sie zu trösten, doch gleichzeitig erntete er auch Widerspruch. Sie umklammerte sein Handgelenk. »Argen Sie sich nicht«, sagte sie. »Ihre Art von Rationalismus hat schließlich einen Sieg davongetragen, Major.« - 162 -
»Mein Rationalismus ist mir eigentlich immer ziemlich gleichgültig gewesen. In der Isolation sowieso. Ich sehe mich selbst als eine Art ausgleichende Kraft – nicht als ausgesprochen positives Element. Makhno repräsentierte all das, was ich ablehnte. Es war die gleiche Art des Gleichgewichts, die das Empire so lange gestützt hatte – wir alle bewunderten die Bengalen, müssen Sie wissen. Und die Afghanen. Es ist eine schreckliche Form der Vaterlandsliebe, nehme ich an, aber sie hat auch gewisse Vorzüge.«
»Meinen Sie, es gibt so etwas wie einfache Tugenden?« Prinz Lobkowitz’ Akzent war etwas stärker geworden. »Ich würde sagen, daß nur das Laster auf seine Art simpel ist.« Major Nye hatte ihm nicht folgen können. »Sie reden, als wollten Sie die letzten Rituale predigen«, sagte er. »Ich glaube kaum, daß Sie einen guten Seelenhirten abgeben, Prinz.«
- 163 -
»Oh, da bin ich nicht so sicher.« Er bemühte sich um eine gewisse Leichtigkeit und versagte kläglich. »Vor zweihundert Jahren oder so hätte ich die Rolle ausfüllen können, in der Sie sich sehen, Major. Die eines Opportunisten. Hm?« »Kirche und Staat. Die Ideen des Mittelalters hatten etwas für sich. Im Grunde haben wir sie nur verkompliziert, ohne auch nur eine einzige weiterzuentwickeln.« »Soweit würde ich nicht gehen«, warf Una ein. Sie versuchte sich zu bewegen, schaffte es jedoch nicht. Das Metallgestell war stabil und hielt sie fest. »Wir bringen Sie mit dem Luftschiff zur Küste«, sagte Prinz Lobkowitz. »Und dann, wenn du wiederhergestellt bist, vielleicht eine Kreuzfahrt.« »Vielleicht habe ich von Kreuzfahrten die Nase voll.« »Wir werden sehen.« »Wird Ihnen gut tun«, meinte Major Nye mit trübsinniger Lustlosigkeit. »Ich übernehme gern.« Prinz Lobkowitz lächelte seine alte Freundin an. »Sie könnten aber auch etwa s Schlaf vertragen, was?« »Wahrscheinlich ebenso wie Sie.« Major Nye gefiel die Vorstellung. »Allerdings werde ich am Morgen nicht abreisen. Ich halte hier die Stellung.« »Ihr solltet euch beide ausruhen.« Una hoffte, daß man sie nicht beim Wort nahm. Sie hatte schreckliche Angst davor, im Krankenhaus allein gelassen zu werden. Wenigstens einen von ihnen brauchte sie, um getröstet zu werden. »Nun«, meinte Major Nye, »vielleicht haben Sie recht. Wirst du jetzt schlafen, Una?« »Ja, ja, natürlich.« Sie erhoben sich, zwei müde Schatten. »Leb wohl.«
- 164 -
5 Doch wenn er ein trauriges Gesicht im strahlenden Licht entdeckt, das Gesicht eines Mädchens, das an ihren Geliebten denkt, der nicht mehr zu ihren Weihnachtsparties erscheint, das Gesicht einer alten Mutter, deren Kinder in der großen weiten Welt ihren Geschäften nachgehen, kommt Pierrot auf Zehenspitzen zu ihnen, legt ihnen die Hand auf die Schulter und sagt: »Es ist nicht gut, seinen Erinnerungen nachzuhängen. Spiel das Spiel des Lebens. Auch ich habe viel gelitten, doch hört mich an diesem Weihnachtsabend lachen. Kommt, macht euch über mich lustig! Seht, dort ist die kleine Kolumbine, die mich vor dreihundert fahren schon verspottet hat! Gott segne ihr weiches Herz; ich werde ihr heute nacht einen Kuß rauben.« THE SPIRIT OF PIERROT (»Der Geist des Pierrot«) von Phillip Gibbs, The Graphic, 27. November 1911
Die weiße Dampfjacht glitt langsam zwischen den Eisschollen dahin. Dampf wallte vom Deck auf, als sie ihre Hitze der Arktis schenkte. Der blaue Himmel war wie eine Eisblase, die sie einschloß. Es war so, als schwebten sie durch halb flüssige Reste edlen Konfektes unter Glas. Dies war kein Ort, dachte Una, als sie den weißen Pelz fester um sich zog, für die Teddy Bear. Und das war kein Ort für sie. Sie hustete, und weitere Wärme löste sich von ihr, um von dem Kontinent aufgesogen zu werden. Die Jacht stieß gegen einige Schollen, und die Maschinen stoppten für einen Moment, sprangen dann wieder an und schoben das Schiff kraftvoll weiter auf den Pol zu. Von unten drang der Klang eines Klaviers herauf, dünn und brüchig, und der Applaus der Gäste. Sie hatten bereits ihren Truthahn verspeist. Sie hatten ihre Geschenke ausgepackt. Nun fing die Party an. Una wandte sich von der endlosen Eisfläche ab und ging zur schräggestellten Tür, durch welche sie unter Deck gelangte. Das Schiff, obwohl man den Rumpf verstärkt hatte, war eigentlich für Kreuzfahrten in wärmeren Gegenden ausgerüstet. Im Salon hatte sich das Publikum versammelt. »All unsere alten Kameraden«, wie Bischof Beesley es ausgedrückt hatte. Er hatte die Befehlsgewalt über das Schiff abgegeben, nachdem man ihn nur ei- 165 -
nen Nachmittag ohne Süßigkeiten eingeschlossen hatte. Er saß jetzt in der ersten Reihe, einen Teller mit Kuchen und Zuckerwerk auf den Knien. Miss Brunner, die einen Papierhut auf ihren grellroten Haaren trug, saß neben ihm. Sie hielt ein kleines Stück Marzipan zwischen Zeigefinger und Daumen ihrer linken Hand. Die rechte Hand ruhte auf Maxime. Die blonde Tochter des Bischofs, Mitzi, funkelte sie von der anderen Seite ihres korpulenten Daddy aus wütend an. Una legte den Mantel ab und trat als Harlekin hervor. Sie setzte ihre Maske und ihre Mütze auf. Sie verneigte sich und wurde mit Beifall begrüßt. Mrs. Cornelius, die hinter dem Bischof saß, stieß einen bewundernden Pfiff aus. Major Nye begann einen Tango im 4/4-Takt. In seinem Clownskostüm sah er etwas jämmerlich aus. Kolumbine (dargestellt von Catherine) hüpfte auf der kleinen Bühne umher. Hinter ihr, verschmitzt wie immer, stand Pierrot und tat so, als würde er Gitarre spielen. Die Zuschauer klatschten so laut den Takt der Musik mit, daß man den Text der Songs nicht verstehen konnte. Draußen wurden die Eisschollen dicker, und es sah so aus, als würden sie das Schiff schon in Kürze völlig stoppen. Die Dampfwolken, die von den weißen Decks aufstiegen, wurden immer dichter und verhüllten das Boot nahezu vollständig, während die Passagiere mit Leib und Seele an der Show Anteil nahmen. Die Musik fand ein Echo in den fernen Bergen; dem vorzeitlichen Eis. Wenn dies eine Abschiedsvorstellung sein sollte, dann hatte bisher keiner von den Darstellern davon eine Ahnung. Lauter und lauter sangen sie zum rhythmischen Stampfen des Beifalls, der mehr und mehr den Charakter eines gigantischen Herzschlags annahm. Sie sangen so laut sie es vermochten. Sie sangen mit Gusto. Sie sangen für die ganze Welt.
- 166 -
Michael Moorcock
Zu fernen Sonnen Deutsche Übersetzung von Bernd Seligmann
I Endlich war es soweit. Colonel Jerry Cornelius vom UNRaumfahrtkommando betrachtete sie mit einer Mischung aus Liebe und Ehrfurcht. Heute würde er sein Schicksal ein für allemal mit ihr verbinden. Nur der Tod würde sie noch trennen können. Es war der Neujahrstag im Jahre 2021, die Sonne lugte eben über den Horizont hinter der weiten Plattform aus Keramikbeton, die zum Gandhi-Raumfahrtzentrum ein paar Kilometer nördlich von Indiens Hauptstadt Gandhinagar gehörte. Endlich war sie startbereit. Dort stand es, das Produkt von sechzig Jahren intensiver wissenschaftlicher und technischer Arbeit; das Produkt der gemeinsamen Anstrengung aller Nationen der Erde. Niemand hat ihre Geburt verhindern können, dachte Jerry Cornelius, seit jenem Tag im Oktober 1957, als der erste von Menschenhand erbaute Satellit, Sputnik I, in den Orbit geschossen worden war. Sie war unausweichlich seit 1969, als die Stiefel der amerikanischen Astronauten zum ersten Mal den Urzeitstaub des Mondes aufwirbelten. Sie war beschlossene Sache seit der ersten Landung auf dem Mars, 1980, und der ersten russisch-amerikanischen Expedition zur Venus im Jahre 1985. Sie war ein Raumschiff, dem man den Namen Hoffnung der Menschheit gegeben hatte. Sie war ein gigantisches Raumschiff, über fünfhundert Meter lang, größer als der größte Ozeanliner, und sie war für eine Mission gebaut worden, die atemberaubender war als alles, was sich die Menschheit jemals vorgenommen hatte. Kein Trip zum Mond, kein Besuch auf dem Mars, auch nicht eine Reise zum Pluto stand ihnen bevor, nein, sie war dazu entwickelt worden, den Raum außerhalb unseres Sonnensystems zu erforschen. Sie war bereit für die Reise in die grenzenlosen Tiefen des interstellaren Raumes. Milliarden Kilometer sollte sie im schwarzen, kalten, lautlosen Vakuum zurücklegen, bis sie eine andere Sonne erreichen würden, um deren Planeten zu erforschen, einen Stern, der seit jeher den Namen Alpha Centauri trägt. Alpha Centauri. Jerry schaute zum Himmel, an dem die angenehm vertrauten, rosa gefleckten Erdenwolken vorbeizogen. Alpha Centau- 171 -
ri, so fern, daß sogar das Licht, das 300 000 Kilometer in der Sekunde zurücklegt, über vier Jahre braucht, um von dort zur Erde zu gelangen. Und doch ist dieser Stern der direkte Nachbar der Sonne, andere sichtbare Sterne sind Hunderte und Tausende Lichtjahre von der Erde entfernt, und was wir jetzt von ihnen sehen, ist ihr Zustand in ferner Vergangenheit. Selbst Jerry, der seit seiner Kindheit mit Astronomie und Astrophysik vertraut war, konnte das Projekt, zu dem sie heute aufbrechen sollten, in seiner ganzen Größe kaum begreifen. Er starrte durch das Panoramafenster des Kontrollgebäudes verwirrt auf die Maschine, die ihn in wenigen Stunden hinaustragen sollte in unbekannte Räume. Ein besseres Raumschiff hatte es nie gegeben. Es war darauf ausgelegt, mit den widrigsten Umständen fertigwerden zu können, es widerstand enormer Hitze und extremer Kälte, es konnte in verschiedenen Atmosphären und Schwerkraftfeldern operieren. Es war tausendmal getestet und gegengecheckt worden, man hatte es den Temperaturen auf der Venus und dem gefrorenen Methan auf Neptun ausgesetzt, man hatte es in den tiefsten Ozean auf Jupiter versenkt, wo die Gravitation zwanzigmal stärker als auf der Erde ist. Und jetzt würde es in wenigen Stunden tatsächlich startklar sein. Helikopter umschwirrten die Startrampe. Winzige Figuren liefen auf dem Schiff umher, und durch meterdicke Transportrohre wurde der Kernreaktor geladen, der als Energiequelle dienen sollte. Von seiner Galerie aus konnte er das ganze Kontrollzentrum überblicken, in dem es von Technikern wimmelte, die die letzten Checks und Justirungen ausführten. Alle gingen an den verschiedensten Bildschirmen und Meßständen äußerlich ruhig ihrer Arbeit nach, doch man merkte deutlich die Spannung, die über allem lag, jetzt, wo der Start unmittelbar bevorstand. »Und das alles nur, um drei Leute in den Weltraum zu schießen.« Jerry erkannte die weiche, ironische Stimme sofort. Lächelnd drehte er sich um. »Hallo Cathy«, begrüßte er seine Frau. »Haben die Ärzte dich gründlich in die Mangel genommen?« »Ich bin gesund wie ein Fisch im Wasser, von mir aus kann’s losgehen«, antwortete sie munter. »Irgendwelche Komplikationen bis jetzt?« »Nein.« Jerry war sehr nachdenklich. Es stand mehr auf dem Spiel als sein Leben und das Leben seiner Frau und des dritten Besat- 172 -
zungsmitglieds – es ging wahrscheinlich um den Weltfrieden. Nicht umsonst hatte man das Schiff so getauft: Hoffnung der Menschheit. Die Welt stand am Rande des Desasters. Daran hatte auch die jahrzehntelange, unermüdliche Arbeit der Vereinten Nationen nichts ändern können; daran änderte auch nichts, daß dort alle Nationen der Erde vertreten waren, daß es seit dem Ende des zwanzigsten Jahrhunderts keinen Krieg mehr gegeben hatte – die Krise schwelte immer weiter. China war schon auf dem Sprung, die Vereinten Nationen zu verlassen, und in Amerika nahm das Gerede vom »begrenzten Einsatz militärischer Gewalt« gegen die Aufrührer, die Terroristen, die überall auf der Welt die Waffen erhoben, kein Ende mehr. Worum es ging, war klar: Nahrung und Lebensraum. Die Welt war hoffnungslos übervölkert, alle Bemühungen der UN, ihre Versuche, die Geburtenregelung durchzusetzen, Nahrung im Meer zu produzieren, all diese hoffnungsvollen Ansätze hatten zu nichts geführt. Jetzt war es zu spät. Ein großer Teil der Menschheit konnte nicht mehr mit Wohnung und Nahrung versorgt werden. Und die hungrigen Massen rüsteten zum Krieg gegen die Minderheit der Satten und Gesunden, wollten die Stabilität zerstören, um die die Industrienationen so hart gekämpft hatten, sie wollten endlich bekommen, was sie brauchten, und diesmal mit aller Gewalt. Der geringste Funke konnte die Welt in einem kurzen Feuer verbrennen, ein totaler Vernichtungskrieg, der ohne jeden Zweifel das Ende der Menschheit bedeuten würde. Die Vereinten Nationen sahen nur noch einen, letzten Ausweg. Wenn auf der Erde kein Platz mehr war für alle Menschen, dann mußten eben neue Planeten gefunden werden, Planeten in anderen Sonnensystemen, auf denen Menschen leben können. Das war der Zwang, der jetzt schwer auf Jerrys Schultern lastete. Es war seine Aufgabe, diese Planeten zu finden, und zwar so schnell wie möglich, damit bald größere Schiffe gebaut werden konnten, die Kolonisten zu frischen, jungen Planeten bringen sollten, auf denen sie noch alle Schätze der Natur und Platz, viel Platz finden würden, ein neues Leben zu beginnen. Das war die Hoffnung der Menschheit. Eine letzte Hoffnung, und ein verzweifelter Versuch, zu dem es nie hätte kommen müssen. Hätten mehr Menschen auf die Propheten und Warner des zwanzigsten Jahrhunderts gehört, dann wäre diese Situation niemals eingetreten. Hätten die Menschen gelernt, der Wissenschaft zu vertrauen, wären die Politiker wirklich von ihrer Bedeutung überzeugt gewesen, hätten die Menschen doch nur ihren Aberglauben und ihr Unwissen über wissenschaftliche Anbaumetho- 173 -
den, über Geburtenkontrolle, Computer und vollautomatische Fabriken überwunden. Wenn sich wenigstens die Lehrer ernsthaft um die Gewöhnung der Menschen an Technik und Naturwissenschaft bemüht hätten, dann stände die Welt jetzt womöglich nicht am Rande des Untergangs, dann würde die Hoffnung der Menschheit jetzt zu einer ganz gewöhnlichen Forschungsexpedition aufbrechen, und nicht zu dieser Rettungsaktion in letzter Minute. Jerry seufzte. Es ärgerte ihn, daß die Generationen vor ihm die Welt mit ihren irrsinnigen Egoismen in dieses Schlamassel gebracht hatte und ihm jetzt die Last aufluden, der Retter der Menschheit zu sein, jetzt, so es fast zu spät war. Er umarmte seine Frau und küßte sie auf die Stirn. »Jetzt liegt alles in unserer Hand. Ich bete zu Gott, daß wir Glück haben.« Der kleine, untersetzte Mann, der sich ihnen näherte, lachte zynisch. »Sollen sie sich doch gegenseitig ausrotten, Jerry. In ein paar Stunden sind wir draußen – endlich weg, dort wo es sauber, kühl und schön ist. Die ganze verdammte menschliche Rasse kann mir gestohlen bleiben. Hoffentlich jagen sie sich bald alle in die Luft!« Jerry begrüßte Professor Marek, das dritte Mitglied des Teams. »Brüll nur, alter Löwe. Ich weiß doch, daß du unter deinem zernarbten Fell weich wie Butter bist.« Frank Marek fuhr sich aufgeregt durch seinen schwarzen, buschigen Haarschopf. »Aber du mußt zugeben, Jerry, daß es nur gut sein kann, aus diesem vor Kriegsgerede und Unruhe brodelnden Hexenkessel herauszukommen.« »Irgendwie schon«, stimmte Jerry zu. »Doch trotzdem – wir gehören immer noch dazu; es ist fast, als würden wir ein sinkendes Schiff verlassen …« »Nur daß wir das Schiff in der Mitte des größten Ozeans verlassen und in einer Nußschale auf die Suche nach Land gehen«, erinnerte Cathy. »Das ist schon etwas anderes, oder, Jerry?« »Ja.« Seine Armbanduhr hatte zu piepsen begonnen. »Au, Au, das ist das Signal. Jetzt wird’s ernst. Wir müssen uns den Herrschaften von der Presse stellen!« Sie fuhren mit dem Lift zum Presseraum im Erdgeschoß. Hinter ihnen berührte eben das Sonnenlicht die metallene Haut des Raumschiffes und verwandelte sie in gleißendes Gold.
- 174 -
II »Könnten Sie etwas über das ›Gehirn‹ des Schiffes sagen, Professor Marek?« fragte der Vertreter des schwedischen Aftonbladet. »Ist es wahr, daß es selbständig denken kann?« »Das Schiff ist in der Tat, was wir eine ›intelligente, kommunikationsfähige Transporteinheit‹ nennen, ja.« Die Drei saßen tief in den Polstern einer hyperbequemen Couch und waren gänzlich eingekeilt von Reportern, Kameraleuten und Fotografen. »Das heißt, daß es in vielen Reaktionen einem Tier gleicht – es reagiert zum Beispiel instinktiv auf Gefahr. Das eigentliche Hirn ist ein hochentwickelter Computer, der mit einem, wenn Sie so wollen, ›zentralen Nervensystem‹ verknüpft ist, über das er sämtliche Funktionen des Schiffes kontrolliert. Jeder noch so kleine Fehler in einem der Systeme wird unverzüglich korrigiert, das Raumschiff hält sich selbst im Sollzustand. Man könnte es auch so darstellen: Wir reisen im Bauch eines riesigen, raumfliegenden Wales – eines intelligenten Tieres mit übermenschlichen Kräften.« »Und was ist mit den Atomaggregaten?« fragte der Korrespondent der Prawda. »Sind sie wirklich sicher?« »So sicher, wie ein Reaktor nur sein kann«, antwortete der Professor. »Was können Sie über diese neue Antriebsmethode sagen, die es möglich macht, daß Ihre Expedition nur eine Angelegenheit von wenigen Wochen sein wird?« Der Reporter der BBC hielt Jerry ein winziges Mikrophon hin. »Ich dachte, Einstein hätte bewiesen, daß es kein Raumschiff geben kann, das schneller als das Licht ist, Colonel Cornelius.« Jerry lächelte. »Einstein hat sich nicht geirrt, soweit wir wissen. Unser Schiff verfügt über einen sogenannten ›Warp‹, ein Gerät, das ich Ihnen, ohne tief in die Mathematik einzusteigen, kaum erklären kann. Jedenfalls bewirkt es, daß sich der Raum krümmt, sich faltet wie eine Tischdecke, so daß der kürzeste Weg von einer Ecke zur anderen nicht mehr längs der ebenen Fläche verläuft, sondern senkrecht durch die gefaltete Decke.« Jerry mußte lachen, als er die verwirrten Gesichter der Presseleute sah. »Ich sage ja, es ist schwer zu begreifen, doch die Idee ist schon fast hundert Jahre alt – erst vor kurzem ist es den - 175 -
Wissenschaftlern gelungen, sie auch praktisch zu nutzen. Und nun können wir eine Reise, für die wir im linearen Raum mindestens fünf oder sechs Jahre brauchten, auf fünf oder sechs Wochen verkürzen, indem wir uns die Krümmung des Raumes zunutze machen. Wir haben praktisch eine Abkürzung gefunden, die uns überall hin bringen kann.« »Dieses Gerät, dieser Warp, ist doch bestimmt noch nie vollständig getestet worden?« fragte der Interviewer von Radio Peking. ››Die Tests waren so weitgehend wie möglich«, antwortete Cathy, »doch es ist natürlich niemals möglich, einen Prototyp unter allen Bedingungen zu testen, die auf unserer Reise eintreten können.« »Es gibt also noch ein Risiko!« rief der Korrespondent der Times of India. »Das muß man wohl so sehen«, antwortete Cathy. Eine nußbraune Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. »Würden Sie von einer ernsthaften Gefahr reden?« fragte der Reporter vom New York Herald Tribune. »Das können wir Ihnen erst sagen, wenn wir zurückkommen, Gentlemen.« Jerry stand lächelnd auf. »Wenn Sie uns jetzt entschuldigen würden. Ich glaube, es ist Zeit für das letzte Briefing. Wir sehen uns in sechs Monaten, hoffe ich.« Unter tausend aufgeregten Fragen, die den Reportern noch in letzter Sekunde einfielen, bahnten sie sich einen Weg hinaus auf den nackten, weißen Korridor, der zum Briefing-Raum führte. »Puh!« Jerry rieb sich die Stirn. »Was für eine Tortur« »Trotzdem, ich glaube, du hast deine Sache ganz gut gemacht, wenn man bedenkt, wie schwer es ist, einem Laien auch nur oberflächlich klarzumachen, wie eine Maschine wie die Hoffnung der Menschheit funktioniert«, sagte Cathy. »Über den Warp sind sie gar nicht hinweggekommen«, meinte Marek. »Diese Zeitungsleute scheinen wirklich eine Nase dafür zu haben, wo der Hase im Pfeffer liegt. Wenn der Warp Zicken macht, stehen wir wirklich im Regen!« »Das kann unser Ende sein«, nickte Jerry, »doch was viel schlimmer wäre: das Ende der Welt.« Mit ernsten Mienen betraten sie den Briefing-Raum. Feldmarschall Hira wartete schon auf sie, ein großer, eleganter Mann mit verbissenem Gesicht. »So«, sagte er, »jetzt ist es soweit. Ich hoffe, Sie haben Ihren Entschluß nicht geändert.« Jerry grinste. »Würde das irgend etwas ausmachen?« - 176 -
»Gut, ich brauche nicht zu sagen, wie schnell sich die Lage auf der Erde zuspitzt. Die Krise wird täglich schärfer. Sogar die größten Optimisten bei der UN meinen, daß der Ballon innerhalb des nächsten Jahres platzen wird. Wenn Sie nicht wenigstens einen neuen Planeten finden und mit der guten Nachricht zurückkommen, dann gibt es wohl keine Rettung mehr. Wir brauchen Ihren Erfolg, damit die Menschen wieder an etwas anderes denken können als an Krieg und Tod – damit sich ihre Wut in positive Kraft verwandeln kann. Mehr brauche ich nicht zu sagen. – Viel Glück.« Hira schüttelte ihnen schulterklopfend die Hände und führte sie in das nächste Zimmer, wo ihre Ausrüstungen bereitlagen. Als man ihnen in ihre Raumanzüge half, schaute Jerry verstohlen auf die große Uhr an der Wand. Nur noch eine Stunde bis zum Start. Er hatte ein seltsames Gefühl in der Magengegend. Cathy lächelte ihm aufmunternd zu, doch nicht einmal das konnte ihn aus seiner nachdenklichen Stimmung reißen. Vor drei Jahren hatte er sich freiwillig für diese Mission gemeldet – voller Idealismus, er wollte etwas Nützliches für die Menschheit tun, wollte alles dafür auf sich nehmen. Cathy war mit der selben Einstellung zum Team gestoßen – so hatte er sie kennengelernt, sich in sie verliebt und sie nach wenigen Monaten geheiratet – und er wußte, daß auch auf ihr die Verantwortung jetzt schwer lastete. Frank Marek schien ausgesprochen fröhlich zu sein und pfiff sich eins, während der Helfer ihn in seine sperrige Ausrüstung einbaute. Jerry wünschte, er könnte Franks gesunden Zynismus teilen, doch sein Auftrag war ihm inzwischen zu wichtig geworden. Als Biophysiker hatte Cornelius sich früher mit der Ernährungsforschung befaßt, doch diese Arbeit hatte ihn immer mehr frustriert. So war er eines Tages in die Fliegerstaffel der Vereinten Nationen eingetreten, hatte sich dort zum Piloten ausbilden lassen und war jahrelang mit Hilfsflugzeugen in den entlegensten Winkeln der Welt unterwegs. Doch immer noch hatte er sich nicht ausgefüllt gefühlt – stets litt er unter der peinigenden Gewißheit, nicht das Beste aus sich herauszuholen, weder für sich, noch für die Gesellschaft. Schließlich bot sich ihm die Gelegenheit, sich dem Raumfahrtkommando zuteilen zu lassen, und in den folgenden Jahren beteiligte er sich an mehreren, wichtigen Expeditionen zu den Planeten. Er war zufrieden. Doch erst, als er von der Alpha-Centauri-Mission hörte, wußte er, wozu er sich wirklich berufen gefühlt hatte, solange er denken konnte. Das Training war hart, grausam, manchmal fast unerträglich gewesen, doch es hatte den Einsatz gelohnt. Cathy hatte als gelernte Ethnologin eine - 177 -
ähnliche Vergangenheit hinter sich; sie hatte sich für die ökologische Forschung eingesetzt und an mehreren Expeditionen zu Mars, Ganymed und Neptun teilgenommen. Nur Marek stellte so etwas wie eine unbekannte Größe dar. Er war ein brillanter Physiker und hatte das Team geleitet, das als erstes den roten Fleck des Jupiter erforschte; er hatte auch das Geheimnis der Saturnringe gelüftet. Er schien absolut keine Nerven zu besitzen und wußte mit Sicherheit mehr über das Schiff als die anderen, man konnte manchmal den Eindruck haben, daß ihn die Mission eigentlich gar nicht interessierte, doch Jerry hielt das nur für eine Maske, die er der Welt präsentierte. Schließlich war die Ankleideprozedur beendet; sie nahmen ihre schweren Helme unter die Arme und stapften hinaus auf die eigentliche Startrampe. Die Plattform glühte im Licht der Sonne, und das Raumschiff schien einsam in weiter Ferne zu stehen. Die Versorgungsleitungen waren zurückgezogen worden, die Hubschrauber waren verschwunden, ebenso die Techniker. Alles war ruhig, als sie die weite Keramikbetonfläche überquerten, doch Hunderte von Kameraaugen verfolgten sie – vor diesem Laufsteg saß die ganze Welt. Die Welt schaute zu. Und sie wartete. Vom Erfolg dieser Mission hing das Schicksal der Menschheit ab. Jerry schaute noch einmal zurück auf die Gebäude des Raumfahrtzentrums, dann wandte er sich endgültig der mächtigen Metallkonstruktion vor ihm zu, der Hoffnung der Menschheit. Er holte tief Luft, legte seinen Arm um Cathys Schultern und zwinkerte Frank Marek tapfer zu. »Auf gehts«, sagte er, »alles einsteigen. Nächste Haltestelle – der Weltraum!«
III Die Astronauten legten sich auf ihre Beschleunigungsliegen zurück und warteten angespannt auf die letzte Phase des Countdowns. Jerry Cornelius drehte seinen behelmten Kopf und betrachtete seine Umgebung. Bildschirme, Schalter, Knöpfe, Skalen, Anzeigen, Hebel aller Art, all die elektronischen und nukleonischen Systeme, die zur komplexesten Maschine gehörten, die die Menschheit je entwickelt hatte, füllten die - 178 -
Kabine. Wie von Geisterhand wurden Knöpfe gedrückt, Schalter klickten, Lämpchen blinkten, als der Bordcomputer sich selbst durchcheckte. Nur die Schalter ganz links auf dem halbrunden Pult schienen tot zu sein. Sie dienten der Bedienung des Warp, der das Schiff in einen Zustand versetzen sollte, in dem es sich in dem von Wissenschaftlern vage als ›Hyperraum‹ bezeichneten Universum bewegen konnte. Man wußte nichts über diesen Hyperraum, und der Warp war nach menschlichem Ermessen die einzige Fehlerquelle, die das Projekt zum Scheitern bringen konnte. Frank Mareks scharfe Stimme schallte über das Gelände. »Wir sind fertig, meine Herren.« Er sprach zu dem Mann im Kontrollzentrum, dessen Aufgabe es war, den Knopf zu drücken. »Fertigmachen zum letzten Countdown«, kam seine Stimme aus den Helmverstärkern der Astronauten. »Noch dreißig Sekunden.« Jerry fühlte sich plötzlich ganz entspannt. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Alle Entscheidungen würde das Raumschiff treffen – bis sie auf Alpha Centauri ankämen. Alle Spannung in ihm war verschwunden, und er starrte geistesabwesend auf das Kontrollpult. »Noch zwanzig Sekunden.« Cathy rutschte unruhig auf ihrer Liege herum. »Zehn Sekunden. Der Zehnsekunden-Countdown läuft.« Jerry dachte an die Erde. Er dachte an das unerträgliche Gedränge, an den Hunger, an den Krieg, die endgültige Katastrophe. Und trotzdem war er erfüllt von einer warmen Ruhe. »ZEHN.« Die Stimme wurde lauter. Sie schien in seinem Kopf widerzuhallen. »NEUN« – Der Bordcomputer bediente Dutzende der Schalter auf dem Kontrollpult gleichzeitig. »ACHT.« – Auf einem der dreißig Bildschirme oberhalb des Pultes leuchtete grellrot auf – »HAUPTTRIEBWERKE«. »SIEBEN.« Jerry sah, wie sich Frank Mareks Hände an der Beschleunigungsliege festklammerten. »SECHS.« – Aus dem Bauch des Schiffes kam unterdrücktes Grollen. Jerry spürte ein leichtes Zittern. »FÜNF.« – Ein zweiter Bildschirm leuchtete grün auf: »ALL SYSTEMS GO« – »ALL SYSTEMS GO« … »VIER.« – Das Brüllen wurde immer lauter. Das Raumschiff bebte. »DREI.« – Jerry holte tief Luft. – »ZWEI« – In seinem Kopf pfiff und zischte es. – »EINS« – »ZERO«. - 179 -
Es schüttelte wie wild. Jerry wurde tief in die Beschleunigungscouch gedrückt, vor seinen Augen blinkten die Worte »SHIP IN FLIGHT«, sein Helm war voll von aufgeregtem Funkgebabbel, und seine Trommelfelle flatterten vom Gebrüll der freigesetzten Energie. Er atmete ruhig und tief weiter, während der Druck immer stärker wurde und alle Geräusche zu einem lärmenden Brei wurden. Alles drehte sich vor ihm, auf dem Kontrollpunkt konnte er nichts mehr erkennen. Das Schiff beschleunigte jetzt so stark, daß die Trägheitskraft, die ihn auf die Liege drückte, sechsmal stärker war als die Erdschwerkraft. Doch dieses Gefühl kannte er – er war schon vorher im Weltraum unterwegs gewesen. So kannte er auch die entsetzliche Übelkeit, die ihn befiel. Seine Muskeln waren schlaff wie Pudding, jeder Knochen im Leib tat ihm weh, und er wußte, daß es den anderen nicht besser ging. Schließlich fiel er erschöpft in tiefe Bewußtlosigkeit. Als er zu sich kam, war das Behagen, das er spürte, mindestens genauso maßlos wie die Qualen beim Start. Sie hatten die Erdatmosphäre schon verlassen. Die Bildschirmtafel war voller Gesichter, die Gesichter der Techniker am Boden. Er befreite sich aus den Gurten, die an seinem Raumanzug befestigt waren, und trieb in der Schwerelosigkeit. Er nahm seinen Helm ab, der von ihm fortschwebte wie durch Wasser. Er griff danach und angelte ihn zurück, doch durch diese Bewegung hob sein Körper langsam von der Liege ab. »Schiffsorder«, sagte er leise. »Schwerkraft auf halbe Erdstärke.« »Order verstanden», kam die Antwort, und Jerry sank langsam zurück, obwohl er sich immer noch sehr leicht fühlte. Er bewegte sich zu Cathys Couch hinüber. Seine Frau öffnete gerade die Augen. Sie lächelte ihn an und bewegte ihre Lippen, doch Jerry hörte durch ihren Helm nur ein undeutliches Murmeln. Er machte Zeichen, daß er sie nicht verstehen konnte, worauf sie lachend ihren Helm abnahm und ihren braunen Schopf ausschüttelte. »Der Start war nicht schlecht«, sagte sie, »ich habe schon viel schlimmere miterlebt.« »Das Schiff ist eben mit allen Schikanen ausgestattet«, lachte Jerry. Dann wandte er sich Marek zu, der sich gerade auf seiner Liege reckte und an seinem Helm hantierte. »Ich bin froh, daß es vorbei ist«, sagte der Professor schließlich. »Ich hasse diese verdammten Spielanzüge. Ich fühle mich darin wie ein zweijähriges Kind.« Jerry schaute auf die Bildschirme, auf denen Beschleunigungsrate, Position, Treibstoffverbrauch und andere Parameter angezeigt wur- 180 -
den. »Alles scheint planmäßig zu laufen. Mal sehen, wie die alte Erde aussieht.« Er erhob die Stimme ein wenig. »Die Erde auf Bildschirm acht, bitte.« Sofort sah er die Erde als blau-grün-weißen Ball. Sie waren noch nah genug, daß sie die Kontinente und Wolkenformationen erkennen konnten, doch sie entfernten sich in rasender Geschwindigkeit. Jetzt passierten sie die Mondbahn, und ihre Geschwindigkeit wurde immer größer. Zwei Millionen Kilometer von der Sonne entfernt – eine lächerliche Distanz gemessen an den kosmischen Ozeanen, die sie noch zu durchqueren hatten – schossen sie in einer winzigen Titanstahlnadel, die auf der Erde noch so gigantisch ausgesehen hatte, dahin, ein schimmerndes Staubkorn im Universum, in dessen Unendlichkeit es verschwand. Niemand konnte ihnen mehr helfen. Der Raum hatte keine der Eigenschaften der Erde, die den Menschen das Leben dort angenehm machten. Er war eine kalte, unpersönliche Vakuumwüste. Er war kompromißlos und unbezähmbar, gnadenlos; der Raum war grenzenlos und damit vollkommen neutral. Sogar die Sterne schienen zu frieren und drängten sich zu winzigen Haufen zusammen, keiner sollte allein sein. Den Raum kümmerte es nicht, für ihn gab es weder Schlafen noch Wachen, er träumte nicht, er hoffte nicht, er kannte weder Liebe noch Haß, er fühlte nichts und niemanden. Er war einfach nur da. Der Raum war weder groß noch klein, lebte nicht und war nicht tot. Er war nichts als die einfache, wertfreie, mächtige Realität der Aufhebung von Materie und Zeit. Er war das Nichts. Und dort konnte sich die winzige Stahlhülse, die sie umgab, noch so schnell bewegen: Im Nichts gibt es keinen Fortschritt. Die Geschwindigkeit der Hoffnung der Menschheit betrug jetzt 80 000 Kilometer pro Sekunde; die Höchstgeschwindigkeit von 270 000 Kilometern war also noch längst nicht erreicht. Eine solche Geschwindigkeit – knapp unter der Lichtgeschwindigkeit – war nur im absoluten, gleichförmigen Vakuum zu erreichen, im interstellaren Nichts; nur unter solchen Bedingungen waren Menschen in der Lage, diese Art der Bewegung zu überleben. Bald erreichten sie den Asteroidengürtel jenseits der Marsbahn. Manche dieser im Sonnenlicht glänzenden Felsbrocken hatten Durchmesser von über 100 Kilometern, andere wiederum waren nur faustgroß. Früher war es vorgekommen, daß Expeditionsschiffe auf - 181 -
großen Brocken zerschellt oder von kleinen Asteroiden durchlöchert wurden, doch der Hoffnung der Menschheit konnten sie nichts anhaben. Beim geringsten Anzeichen von Gefahr umhüllte sich das ganze Schiff mit einem Schirm aus purer Energie, in dem auch der größte Asteroid verglühen mußte. Jerry Cornelius saß in seinem Kommandantensessel und schaute auf die Bildschirme. Jedesmal, wenn ein Felsbrocken dem Schiff zu nahe kam, gab es einen grellen Blitz, in den der Energieschirm die feindliche Materie verwandelte. Ein faszinierendes Feuerwerk, an dem sich Jerry einige Zeit ergötzte. Alles verlief vollkommen reibungslos, genau wie geplant. Das Schiff hielt sich ohne weiteres menschliches Dazutun auf Kurs und beschleunigte stetig. Es würde noch etwas dauern, bis es das Sonnensystem verlassen würde. Als sie den Asteroidengürtel hinter sich hatten, wagte Jerry einen ersten Blick in die Tiefen des Raumes. »Befehl ans Schiff – Hauptbeobachtungsschirm aktivieren.« Er drehte sich mit seinem Sessel und schaute auf die Wände des großen, runden Kontrollraums, die sich allmählich veränderten, zunächst milchig weiß wurden und nach wenigen Sekunden glasklare Transparenz erreichten. Dort war sie, die schwarze, samtene Unendlichkeit, auf der die Sterne wie winzige Diamanten verstreut lagen. Ihr Licht war hell und ungetrübt, kein Flackern, keine Atmosphäre zwischen ihnen und Jerrys Augen. Verheißungsvolle Ferne, Schimmer der Hoffnung – sollte dort der Frieden zu finden sein, den die Menschheit brauchte? – Jerry runzelte die Stirn. Frieden durch Expansion, durch Kolonisation fremder Welten in den Tiefen der Galaxis? Die Gesetze der Logik versprachen, daß es mit größter Wahrscheinlichkeit Planeten gab, auf denen Leben möglich war – erdähnliche, vielleicht für den Menschen paradiesische Planeten. Obwohl noch kein Mensch solche Planeten gefunden hatte, mußte ihre Existenz als Tatsache akzeptiert werden, wollte man nicht alle Vernunft verleugnen. Doch einen Schritt weiter zu denken, fiel den meisten Menschen äußerst schwer. Was wäre, wenn die bewohnbaren Planeten nicht nur darauf warteten, von Menschen entdeckt zu werden, sondern tatsächlich schon bewohnt wären! Vielleicht von Kreaturen, die ganz anders wären als der Mensch. Wäre dann nicht der Traum von der friedlichen Kolonisation ausgeträumt? Würde sich dann nicht das ganze Unrecht und - 182 -
Elend der Kolonisationskriege, die die Erde in die Situation gebracht hatte, in der sie jetzt war, wiederholen, nur in einem viel größeren Maßstab? Würde dann nicht unweigerlich, aus Gründen, die in der monströsen Natur der Gattung Mensch lagen, ein Zeitalter galaktischer Eroberungs- und Ausbeutungskriege anbrechen, an dessen Ende wieder nur die Verzweiflung stehen würde? Jerry seufzte. Er konnte nur hoffen, daß die Natur den Menschen eine Chance geben würde, sich auf einem unbewohnten, aber bewohnbaren Planeten weiterzuentwickeln und ihre Krankheiten zu vergessen – Grausamkeit, Herrschsucht und Haß. Catherine kam herein und brachte ihm einen Becher Vitaminsaft. »Du siehst deprimiert aus, Jerry. Was ist los, es ist doch nicht das erste Mal, daß du die Sterne siehst.« Er nickte. »Ich habe nur über unsere Mission nachgedacht, Cathy, darüber, was wir vielleicht finden werden. Nichts spricht dagegen, sagen die Wissenschaftler, daß wir auf Welten stoßen könnten, auf denen Geschöpfe wie du und ich leben. Es wäre ohne weiteres möglich.« »Im Universum ist alles möglich, mein Schatz.« Sie lächelte ihn an. »Ich halte es aber kaum für wahrscheinlich, daß wir da draußen auf Menschen stoßen werden.« Frank Marek hatte den Raum betreten. »Was redet ihr da? – Was für eine schreckliche Vorstellung. Ich bin gerade froh, das Gesocks loszusein, und ihr redet solchen Unsinn. Wir können froh sein, wenn wir überhaupt einen Planeten finden, auf dem Leben so eben möglich ist. Wir wissen noch nicht einmal, ob Alpha Centauri überhaupt einen Planeten hat!« In diesem Augenblick passierten sie den Saturn, der große Planet war »unter« ihnen deutlich zu erkennen. Die mächtige, grün-violette Kugel mit ihren strahlend Orangen, gelben und blauen Ringen hing in der schwarzen Leere wie eine überdimensionale Seifenblase. Frank Marek starrte mit gemischten Gefühlen auf den bunten Planeten, als er hinter ihnen verschwand. »Eine seltsame Welt«, sagte er, »fast wäre ich dort gestorben, damals auf meiner dritten Expedition.« Er mußte sich schütteln. Jerry und Cathy sahen ihn verständnisvoll an. Sie wußten, daß Marek dort Großes geleistet hatte; alle, die dabeigewesen waren, sprachen von ihm als einen wahren Helden. Dreißig Mann hatten ihr Leben gelassen, vier Forschungsschiffe waren dieser rauhen Welt zum Opfer gefallen. - 183 -
Jetzt war Saturn nur noch ein schnell kleiner werdender Punkt links unten auf dem Beobachtungsschirm. Jerry fragte sich, wieviele wohl ihr Leben opfern müßten, um die Planeten von Alpha Centauri zu erforschen. Wenn es auch nicht ihre Aufgabe war, irgendwo zu landen – sie konnten alle notwendigen Analysen vom Schiff aus machen – so war es doch noch absolut ungewiß, ob sie ihr Ziel jemals erreichten. Sein Blick fiel auf den äußersten rechten Teil des Kontrollpultes, auf jene Schalter, mit denen sie sich bald ins Ungewisse katapultieren würden. Der Zeitpunkt rückte immer näher. Bald würde der Warp zum Einsatz kommen.
IV Jerry ging mit Cathy in ihre Kabine. Er war froh, daß Frank Marek die erste Wache hatte. Er brauchte den Schlaf, er brauchte den Frieden, den er immer spürte, wenn Cathy in seinen Armen lag. Vor nunmehr neun Stunden waren sie von der Erde aufgebrochen und entfernten sich mit zunehmendem Tempo von ihr. »Angenehme Träume«, wünschte Jerry seiner Frau. Ihr wurden bereits die Augen schwer. »Befehl ans Schiff – Kabinenbeleuchtung bitte löschen.« Es wurde dunkler. »Wenn wir aufwachen, Cathy, wird das Sonnensystem schon weit hinter uns liegen. Ein historischer Augenblick – zum erstenmal dringt ein Mensch über die Umlaufbahn des Pluto hinaus in den Weltraum vor, und wir verschlafen dieses Ereignis.« »Im Moment steht mir der Sinn ausschließlich nach Schlafen und nicht nach irgendwelchen historischen Ereignissen«, murmelte Catherine. Das Bett paßte sich automatisch ihren Körperformen an, und im selben Moment waren sie auch schon eingeschlafen. Aus dem Schlaf geschreckt wurden sie durch ein Bellen aus dem Interkom. »Heh! Liegt Ihr Schlafmützen immer noch in der Falle? Meine Wache ist schon seit fast ’ner halben Stunde vorbei!« Jerry grinste. Noch im Halbschlaf, hatte er anfangs geglaubt, das Schiff selbst hätte mit ihm gesprochen. Dabei war es nur Frank Marek. »Okay, Frank. Reg dich nicht auf. Wir sind schon unterwegs, um dich abzulösen!« - 184 -
Jerry sprang aus dem Bett und trat an eine der glatten Kabinen wände. Mit der Hand strich er über eine bestimmte Stelle und sah zu, wie ein flaches Tablett aus einer Fläche auftauchte, die vorher noch völlig fugenlos erschienen war. Auf dem Tablett standen einige flache Schüsseln, die Tabletten in verschiedenen Farben enthielten. Er schnippte sich eine magentafarbene Tablette in den Mund. Sofort fühlte er sich viel wacher. Die Tablette enthielt sein Frühstück sowie seinen morgendlichen Wachmacher in einem. Er ging an der Wand entlang und strich erneut mit der Hand darüber. Diesmal glitt ein Teil der Wand nach unten und gab den Blick auf eine vollständig eingerichtete Duschkabine frei. Er betrat die Zelle und wusch sich eilig, um gleich darauf für Catherine Platz zu machen. Eine weitere Geste mit der Hand, und aus der Wand sprang ein kleines Päckchen in seine offene Hand. In dem Päckchen befand sich ein Satz frischer Kleidung sowie die kobaltblaue Uniform des Raumkommandos der Vereinigten Staaten. »Ich erwarte dich im Kontrollraum«, sagte er zu Catherine und winkte ihr zu. »Befehl an Schiff – bitte Kabinentür öffnen.« Die Tür glitt lautlos nach oben, und er trat durch die Öffnung und wanderte durch den langen, stählernen Korridor zur Nase des Schiffs, wo sich der Haupt-Kontrollraum des Schiffs befand. Als er eintrat, beugte Frank Marek sich soeben über die kugelförmige Sternenkarte, die die Mitte des Raums einnahm. Diese Karte stellte tatsächlich ein haargenaues, dreidimensionales Modell des Raumsektors dar, den sie auf ihrem Weg zu Alpha Centauri durcheilen mußten. Marek nickte Jerry müde zu. »Entschuldige, daß ich so laut gebrüllt habe, aber ich bin ziemlich fertig, Jerry. Ich brauche dringend etwas Schlaf. Ich bin schon richtig benommen.« »Klar doch, Frank. Entschuldige, daß ich mich verschlafen hab. Und wie kommen wir voran?« »Kursmäßig ganz perfekt. Pluto liegt fünf Stunden hinter uns. Und jetzt ist es dein Job, Jerry, mit der Kiste in den Warp zu gehen. Meinst du, du schaffst es?« »Speziell dafür wurde ich ausgebildet, Frank.« Jerry klopfte dem älteren Mann auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Sollte etwas schiefgehen, wirst du sofort geweckt!« »Aber vielleicht bin ich dann schon tot …« Frank versuchte ein Grinsen, doch er konnte nicht verbergen, daß ihn die Vorstellung, die Einleitung des Warpens allein in Jerrys Hände zu legen, beunruhigte. »Vielleicht sollte ich eine Pille nehmen, die mich wach hält …« - 185 -
»Es ist besser, wenn du dich ausschläfst, Frank. Unter Umständen wirst du schon in Kürze gebraucht – und dann wäre es günstig, wenn du im Vollbesitz deiner Kräfte bist.« »Eigentlich hast du recht, Jerry. Dann bis später.« Frank Marek verließ vor Müdigkeit schwankend den Kontrollraum. Jerry schaute ihm nach, dann verglich er seinen Chronometer mit dem Chronometer an der Wand über seinem Kopf. Noch eine Stunde bis zur Aktivierung des Warps. Catherine gesellte sich zu ihm, und sie gingen noch einmal alle Schritte durch, die sie auf der Erde gelernt und unzählige Male wiederholt hatten. Das Schiff war im Begriff, in einen Sektor vorzudringen, über den überhaupt nichts bekannt war – denn »Hyperraum« war lediglich ein Name, um die Zone zwischen Zeit und Raum zu beschreiben, jenen seltsamen Bereich, der überhaupt kein Recht hat, zu existieren und der von vielen die »Fünfte Dimension« genannt wurde. Die Stunde verging wie im Flug. Viel zu schnell für Jerry und seine Frau, die vollauf damit beschäftigt waren, die notwendigen Vorbereitungen zu treffen. Schließlich war es soweit, den Warp-Vorgang einzuleiten und die Kontrollen zu aktivieren. Jerry legte einen Schalter um und sah zu, wie die Kontrolltafel mit flackernden Lichtern, Simulatoren und Indikatoren zum Leben erwachte. Seine Instruktionen zielten darauf ab, allmählich den Warp-Antrieb zuzuschalten. Arbeitete dieser Antrieb erst einmal mit voller Kraft und war der Warp-Vorgang eingeleitet, gab es kein Zurück. Das Schiff war so programmiert, daß es sicher durch den Hyperraum gelenkt wurde und mit einigem Glück am anderen Ende nicht weit von Alpha Centauri wieder in den Normalraum überging. Allerdings war der Warp bisher noch nicht richtig getestet worden. Es war durchaus möglich, daß sie für alle Ewigkeiten in dieser unheimlichen Zone verschwanden. Ein schrecklicher Tod erwartete sie vielleicht. Ein Tod, den ihre Geister einfach nicht erfassen konnten – vielleicht eine unendliche Kette von verschiedenen Toden an diesem zeitlosen, raumlosen Ort! Jerry atmete tief ein und sah Catherine von der Seite an, während er anfing, die entsprechenden Instruktionen in die Kontrolltafel einzuspeisen. Er wußte, daß dies das letzte Mal sein konnte, daß er Gelegenheit hatte, seine bildschöne junge Frau zu betrachten. Und plötzlich wurde er von bodenlosem Grauen geschüttelt. - 186 -
Sie waren im Begriff, blind ins Unbekannte zu springen – sich an einen Ort vorzuwagen, den noch nie eine lebende Kreatur je zu Gesicht bekommen hatte. Den Schauder des Schreckens so gut wie möglich unterdrückend, betätigte Jerry den letzten Knopf. Nun war das Programm im Computer gespeichert. Es gab kein Zurück.
V Es gab kein Zurück. Jerry beugte sich über die Warp-Kontrollen, wobei sein Gesicht in einem vielfarbigen Lichtmeer der Kontrollampen badete. Neben ihm überprüfte Catherine die üblichen Funktionen und Operationen des Schiffs und las die Koordinaten mit monotoner Stimme laut ab. Sie waren in die Schlucht zwischen den Sternen eingetaucht in das leere, schwarze, quälende Nichts des interstellaren Raums, mit dem Sonnensystem hinter und Alpha Centauri vier Lichtjahre entfernt vor ihnen. Doch es würde keine vier Jahre dauern, bis sie den fernen Stern erreichten, der immer noch der nächste Nachbar Sols war. Entweder waren sie in vier Wochen dort – oder sie kamen niemals hin. Nun übernahm das kybernetische Schiff das Wort. »Vorbereiten auf Warp-Phase eins.« Jerrys Daumen ruhte auf dem entsprechenden Knopf. »Noch sechs Sekunden«, sang das Schiff. »Fünf – vier – drei – zwei – eins – null.« Null. Jerry drückte den Knopf nieder und legte sich auf seiner Kontrollcouch zurück, dabei die Monitorschirme nicht aus den Augen lassend. Nichts geschah. Verwirrt schaute er zu Catherine. Sie saß dort mit weit aufgerissenen Augen. Ihr Gesicht und ihre Hände leuchteten tiefgrün. Auf den Bildschirmen über ihm, die vorher die Schwärze des Weltalls gezeigt hatten, flimmerten flüchtige Farben, formten sich ständig neue, phantastische Figuren. Ein hohes Wimmern erfüllte das Schiff. - 187 -
Jerry fühlte, wie die Übelkeit ihn überwältigen wollte. Er hatte furchtbare Zahnschmerzen und fühlte jeden Knochen in seinem Leib. Von irgendwo kam eine krächzende Stimme: »Fertigmachen für Phase zwei. Countdown – fünf- vier – …« Es war das Schiff. Jerry bemühte sich verzweifelt, sich auf das Kontrollpult vor ihm zu konzentrieren. Er fand den zweiten Schalter. »— drei – zwei – eins – zero.« Er drückte den Knopf. Um ihn war ein Rauschen, als fiele er hilflos durch einen gigantischen Wasserfall. Die Galle stand ihm bis zum Hals, und seine Augen tränten. Von Ferne hörte er ein stetiges Trommeln, zunächst dachte er, das Trommeln der Schiffsaggregate, doch dann merkte er, daß es sein eigenes Herz war. Catherine rief ihm irgend etwas zu. Sie leuchtete jetzt, als badete sie in einem Meer von Brillanten. »Jerry – Jerry – schau dir nur die Monitore an!« Er blinzelte angestrengt auf die Bildschirme. Sie schossen jetzt durch die unbekannten Gefilde des Hyperraums. Sie waren die ersten Menschen, die ihn sahen, und seine Schönheit war erschreckend. Sie schienen einen tiefschwarzen, engen Kanal hinabzutreiben, durch dessen brüchige Wände vielfarbiges Licht in die Finsternis strömte und sie in golden, silbern und bronze schimmernde Körperlichkeit verwandelte; und es gab keinen Stillstand, der Raum veränderte sich ständig, die Farben flackerten auf, verschwanden, flammten erneut in die Finsternis. Das Innere der Hoffnung der Menschheit wurde zum Teil des Chaos, das sich draußen abzuspielen schien. Der Kontrollraum war ein weißes Lichtmeer, die Wände waren durchsichtig, draußen schienen jetzt riesige bunte Billardkugeln vorbeizurollen, Körper, die anders aussahen als irgendwelche Himmelskörper, die Jerry gesehen hatte oder sich vorstellen konnte – keine Planeten oder Asteroiden, ihre Farben waren viel zu kräftig, sie schienen aus sich heraus zu leuchten wie Sonnen und unmittelbar am Schiff vorbeizufliegen, jeweils in kleinen Gruppen. Ergriffen von der Schönheit und erschüttert von den unerwarteten Einblicken war Jerry nicht in der Lage, all die Fragen auch nur zuendezudenken, die ihm im Kopf herumwirbelten. Im fahlen Licht, das jetzt das Raumschiff erfüllte, sah er Cathys Konturen in ständiger Bewegung. Das Wimmern hatte aufgehört, die Wände waren auch nicht mehr durchsichtig. Die bunten Kugeln er- 188 -
schienen jetzt auf dem Beobachtungsschirm, sie schienen jetzt nicht mehr so schnell zu sein. Eine der Kugeln wurde rauchblau dampfend immer größer, bis der ganze Schirm blau glühte. Dann schien das Objekt zu zerplatzen, und das Schiff flog mitten in die Trümmer … »Eine Sonne!« schrie Jerry. »Wir verbrennen!« Das Schiff schien in das Herz eines Sterns zu stürzen, in ein Meer lodernder Flammen, das nukleare Feuer. Die Kommandozentrale, wo sie sich befanden, wurde nicht merklich wärmer, doch Jerry wurde allein vom Anblick dieser Hölle heiß. Brüllendes Gelächter schien das Raumschiff zu erfüllen, dann wurde es plötzlich still. Absolute Stille. Wieder drehte Jerry mühsam seinen Kopf und schaute nach Catherine. Sie saß auf einer Beschleunigungsliege; ihre Lippen bewegten sich lautlos, ihr Blick war stier. Er hatte den Eindruck, daß sie etwas ganz anderes gesehen haben mußte als er. Unter Schmerzen bewegte er sich und berührte ihren Arm, doch sie schien nichts zu merken. Er rief ihren Namen. »C-a-t-h-e-r-i-n-e …!« Er hörte seine Stimme als gedämpftes Murmeln. Sie reagierte nicht. »C-a-t-h-e-r-i-n-e …« Wieder keine Antwort. Dann wurde um ihn herum alles schwarz, und er fühlte sich allein – ganz allein im finsteren unbekannten Raum – ein einsam im Nichts Treibender. Er stürzte, stürzte … Irgendwie hatte er sich vom Schiff getrennt und stürzte ohne jeden Halt, ohne Orientierung in die Unendlichkeit. Er sah nichts, hörte nichts und konnte nicht sprechen. Er fühlte nichts und wußte nicht mehr, ob und wer er war. Ein verzweifelter Schrei entrang sich seiner verzweifelten Seele. Der Schrei blieb stumm, doch plötzlich war er von smaragdgrünem Licht geblendet. Er schüttelte sich konvulsivisch und fand sich im Kontrollraum wieder. Alles war normal, außer den schillernden Farben auf den Bildschirmen. Er schaute auf die Uhr und dann auf Catherine, die schwer atmend vor ihrer Liege auf dem Boden saß. »Wie lang …?« wollte er fragen, denn es kam ihm vor, als sei inzwischen eine Ewigkeit vergangen. Doch die Uhr war gerade eine Minute weitergerückt, seitdem er den Phase-Zwei-Schalter betätigt hatte. Und die dritte Phase – die letzte – lag noch vor ihnen. - 189 -
Cathys Augen waren immer noch vor Grauen weit aufgerissen. »Wir schaffen es nicht, Jerry«, wimmerte sie, »wir schaffen es nicht.« Er knirschte mit den Zähnen. »Es gibt kein Zurück mehr, Cathy, wir müssen in Phase drei gehen, und zwar bald.« »Aber es ist – so schrecklich!« »Hast du etwas anderes erwartet? Schließlich haben wir eine Ebene der Existenz betreten, die außerhalb unseres Universums liegt.« »Wir halten es nicht durch.« »Wir müssen das Risiko eingehen, Liebling. Wir müssen!« Er streichelte ihre Hand, als der Bordcomputer wieder zu sprechen begann. »Fertigmachen – Warp-Phase drei«, kam aus den Lautsprechern. »Nein!« schrie Cathy. Doch Jerry nahm seine Hand von ihrem Arm und konzentrierte sich wieder auf das Schaltbrett. Mit jeder Nervenfaser kämpfte er gegen die Panik an, die ihn zu befallen drohte, jede Zelle seines Bewußtseins wehrte sich gegen den grinsenden Wahnsinn, der nahe daran war, sich aus seinen Fesseln zu befreien. »Fünf – vier – drei – zwei – eins – Zero.« Jerrys zitternde Hand drückte den entscheidenden Knopf. Ein Elektroschock schien seinen Arm hinauf zu jagen, alle Instrumente spielten verrückt, das Schiff schien Purzelbäume zu schlagen. Er fühlte sich, als hätte er seinen Körper verlassen. Catherine tanzte als schillerndes tausendfaltiges Mosaik vor seinen Augen, sein Kopf dröhnte von einem seltsamen, klagenden Ton. Die Luft um ihn herum hatte zu leben begonnen und explodierte in Milliarden bunter Szintillationsfunken. Und dann war er plötzlich ganz ruhig – am Ende des Trips stand der Friede, der dem Grauen, das er erlebt hatte, das ihn noch vor wenigen Sekunden fast umgebracht hätte, ebenbürtig war. Er fühlte sich, als triebe er in einem Boot auf einem ruhigen Fluß durch die schönste Sommerlandschaft langsam dahin. Die Stromschnellen waren überwunden. Er entspannte sich. Eine kühle Hand legte sich auf seine Stirn. Durch goldene Luft lächelte Cathy zu ihm herab. »Cathy …« »Jerry … hörst du die Musik?« Er schüttelte den Kopf. »Sie ist wundervoll – paradiesisch – hörst du sie wirklich nicht?« Er küßte ihre Hand und lächelte friedlich. »Nein, ich würde sie so gern hören. Offensichtlich bewirkt der Warp bei jedem andere Empfindungen …« - 190 -
»Ja, es passiert etwas mit deinem Kopf – es scheint die psychische Reaktion zu sein …« »Das ist auch meine Vermutung – was passiert, ist so ungewöhnlich, daß unsere Sinne versuchen, es in normale Wahrnehmungen zu übersetzen, und dabei vollkommen versagen. Ich glaube auch nicht, daß wir schon wieder in Ordnung sind. Wir …« Das Raumschiff schrie auf. Das goldene Licht setzte Grünspan an. Das Schiff schaukelte und hüpfte, als seien sie auf schlechter Straße. Ein Ton war zu hören wie von einem gigantischen Bronzegong. In der Zentrale wimmelte es jetzt von schrecklichen Ungeheuern – Untieren wie aus irdischen Drachenmärchen, die brüllend, flügelschlagend und mit ihren Schnäbeln klappernd um sie herum sprangen. Jerry hielt Catherine fest in seinen Armen. Sie zitterte und preßte ihr Gesicht gegen seine Brust. »Oh, Jerry, wann wird es nur aufhören – wann wird es endlich aufhören?« Das Schiff holperte über unbeschreibliche Hindernisse hinweg, so daß alle Wände und Stühle zu klappern begannen. Wellen tiefster Kälte und glühender Hitze wechselten sich ab. Und dann war es vorbei. Im Kontrollraum lag alles kreuz und quer, doch ansonsten schien alles normal zu sein. Catherine sah ziemlich mitgenommen aus, doch eigentlich nicht schlecht. Die Farben auf den Bildschirmen waren in friedliche Pastellschattierungen übergegangen, und die Instrumente zeigten an, daß sie sich jetzt im Hyperraum befanden und ihre relative Geschwindigkeit 280 000 Kilometer in der Sekunde betrug. Sie waren also fast so schnell wie das Licht, nur gingen sie den kürzeren Weg. Frank Marek kam herein.«Mein Gott. Ich dachte, der Alptraum würde niemals enden. Das war der Warp, nicht wahr? Das möchte ich nicht jeden Tag machen müssen.« Er kam zum Kontrollpult und begann mit einem Totalcheck. »Was ist los, Frank?« Jerry hatte bemerkt, wie sich die Miene des Physikers verfinsterte. »Einige Instrumente zeigen nur noch Schrott an. Du weißt ja, wie empfindlich unser kybernetisches System ist – jedenfalls stimmt da was nicht. Einen Moment nur – Schiffsorder – bitte ein Bericht über sämtliche Fehler, die aufgetreten sind.« »Fehlfunktion in Kraftwerksteil sechs. Neue Cadmiumladung erfor … for … for … ford-erd. Fehlfunktion in Cybersys … Kurzschluß in Platine Num … m …« - 191 -
Frank schaute die anderen ernst an. »Ihr wißt ja, was das bedeutet, oder? Das Gehirn des Schiffes ist gestört, und von diesem Gehirn sind wir absolut abhängig. Jetzt sind wir mit einem praktisch manövrierunfähigen Raumschiff im Hyperraum verloren – für immer.«
VI Frank Mareks Gesicht war von Angst gekennzeichnet, in seiner Stimme schwang Hysterie. »Ohne den Computer sind wir dazu verdammt, im Raum zu treiben, bis wir sterben!« »Beruhige dich, Frank«, sagte Jerry Cornelius. »Für jeden erdenklichen Notfall sind Maßnahmen geplant, wie du weißt.« »Dies ist aber kein erdenklicher Notfall, du Narr!« schrie Marek. »Die Turbulenzen beim Eintritt in den Hyperraum haben das kybernetische System vollständig aussteigen lassen. Ist das klar genug?« Jerry faßte den verwirrten Mann hart an. »Als erstes müssen wir das Schiff auf Handsteuerung umstellen. Navigieren und Landen ist ohne die geringste Computerhilfe möglich, verstehst du, Frank, es ist möglich.« »Ich weiß, im normalen Raum geht es, doch wir sind jetzt woanders, Jerry.« Catherine stimmte ihm leise zu. »Frank könnte recht haben, das weißt du, Jerry.« Die Unterstützung schien Marek zu beruhigen. »Verstehst du nicht, Jerry? Nur das Schiff kann uns sagen, wann wir den Hyperraum verlassen können, das hat mit normaler Navigation nichts zu tun. Und jetzt können wir uns einfach auf keine Information, die wir noch bekommen werden, mehr verlassen.« Jerry nickte. »Mag sein. Doch bevor wir anfangen, zu spekulieren, sollten wir ein paar ordentliche Tests durchführen. Das kostet Zeit, deshalb müssen wir sofort beginnen. Zunächst müssen wir den Hauptcomputer abkoppeln und das Schiff selbst steuern. Das heißt, daß einer von uns ständig hier sein muß, um das Schiff auf Kurs zu halten, während die anderen ins Schiffshirn kriechen um den Schaden zu beheben.« Marek rieb sich mit seinen fleischigen Händen die Augen. »Es tut mir leid, Jerry. Du hast natürlich recht. Dieser Horror beim Eintauchen in den Hyperraum hat mich total durcheinandergebracht. Ich habe mich benommen wie ein Idiot.« - 192 -
Catherine legte ihren Arm um seine Schultern. »Ach Frank, es hat uns alle ziemlich mitgenommen, glaub mir – komm jetzt, an die Arbeit.« »Ich werde einen Rundgang machen«, sagte Jerry. »Du verstehst sowieso mehr von Computern als ich, Frank.« So ließ er sie allein, damit sie die Rechenanlage abklemmen konnten, und kletterte in seinen Raumanzug. Dann machte er sich auf den Weg durch die Stahlkorridore, vorbei an den Ruhekabinen, bis er die große, rot beschriftete Panzerluke erreichte: HYDROPONISCHER BEREICH. BITTE BEI BETRETEN UND VERLASSEN ALLE DEKONTAMINATIONSMASSNAHMEN DURCHFÜHREN. Jerry drückte den Türöffner und betrat die Dekontaminationsschleuse. Die Luke schloß sich sofort wieder hinter ihm, und er legte den kleinen Hebel um, der den Reinigungsprozeß in Gang setzte. Sein Raumanzug mußte von allem organischen Material, das die empfindliche Balance in diesem Bereich stören konnte, befreit werden. Die rote Lampe vor ihm verlosch; er bekam grünes Licht, er konnte die Schleuse verlassen. Ein weiterer Knopfdruck öffnete die Ausgangstür des Reinigungsraums, und sofort war er von sanftem grünem Licht umgeben. Diese Abteilung des Raumschiffs war eigentlich nichts anderes als ein riesiges Gewächshaus. Auf speziellen Nährböden wuchsen eigens gezüchtete, farnartige Pflanzen, die das Schiff auf natürliche Weise mit Sauerstoff versorgten. Jerry ging langsam durch diesen eigenartigen künstlichen Dschungel – ein Wald, den die Wissenschaft eigens für Raumschiffe erfunden hatte. Jerry ging von Tank zu Tank und prüfte anhand der Instrumente, mit denen jeder versehen war, ob die Nährgemische noch stimmten. Am Ende war er zufrieden, daß der Sprung in den Hyperspace die Sauerstoff- und Nahrungsproduktion nicht gestört hatte. Wenigstens etwas. In der Ausgangsschleuse unterzog er sich der selben Reinigungsprozedur, bevor er über einen anderen kurzen Korridor die nächste Station seines Kontrollgangs erreichte. Auf der Stahltür stand lapidar:
- 193 -
TRIEBWERKE ACHTUNG RADIOAKTIVITÄT Neben den üblichen Vorsichtsmaßnahmen ist vor Betreten der Reaktorhalle Schutzkleidung anzulegen. Neben der Tür stand ein kleiner Schrank, aus dem Jerry eine hauchdünne Schutzhaut nahm. Er streifte den Anzug aus Spezialmaterial über seinen Raumanzug und las die in die Tür integrierten Instrumente ab. Das Strahlungsniveau war nicht gefährlich hoch; er entriegelte die Tür, öffnete sie einen Spalt und zwängte sich etwas unbeholfen in seinen beiden Anzügen hindurch. Die Antriebsreaktoren befanden sich alle in grauen, neutralen Kästen. Den Instrumenten zufolge funktionierten sie zufriedenstellend, wenn sie auch nicht die volle Leistung lieferten. Jerry ging durch die schwach beleuchteten Antriebskammern, und am Ende kam er zum eigentlichen Hauptreaktor, der das Schiff mit Energie versorgte. Obwohl der Reaktor dem modernsten Miniaturisierungsstandart entsprach, türmte sich die Anlage hoch vor ihm auf. Ihre Spitze verschwand in der Dämmerung unter dem Schiffsdach. Schließlich fand Jerry den Fehler. Eine Warnlampe blinkte wie verrückt und zeigte Jerry sofort, wa rum die Triebwerke nicht ihre volle Leistung brachten. Die Cadmiumstäbe, mit denen der Reaktor gesteuert wurde, mußten ersetzt werden; sie waren vollkommen ausgebrannt. Deshalb hatte sich automatisch ein Notsystem eingeschaltet, das den Energieausstoß des Reaktors auf einem ungefährlichen, aber normalerweise zu niedrigen Niveau hielt. Jerry kam gerade rechtzeitig. Er schaltete schnell auf Handbetrieb um und tauschte über Manipulatoren die zerstörten Steuerstäbe gegen neue aus. Eigentlich hätte das Schiff das selbst machen müssen, doch als es gerade dabei war, fiel das Computersystem aus. Als er fertig war und der Reaktor wieder ordnungsgemäß funktionierte, setzte er seinen Inspektionsgang durch die verschiedenen Abteilungen des Schiffes fort. Bei manchen Geräten blieb er stehen und untersuchte sie genauer, doch er fand keinen weiteren nennenswerten Fehler. Es gab aber auch Systeme, zu denen er keinen Zugriff hatte, die er nur vom zentralen Kontrollpult aus überprüfen konnte, - 194 -
ohne etwas ändern zu können. Er machte sich also auf den Rückweg zur Spitze des Raumschiffes.
VII Die drei Menschen an Bord der Hoffnung der Menschheit waren so mit der Lösung von Gleichungen beschäftigt – was der Computer in wenigen Augenblicken geschafft hätte – daß die Tage wie im Flug verstrichen. Marek arbeitete ununterbrochen an dem Gehirn, checkte und recheckte sämtliche Funktionen, bis er soweit war, annehmen zu können, daß der Computer wieder mit voller Kapazität arbeiten konnte. Erst als er sicher war, daß das Kybersystem wieder voll funktionierte, entspannte er sich. Sein Gesicht war zerfurcht von Falten der Sorge und der Konzentration, und seine Augen waren von der pausenlosen Arbeit schwarz unterlaufen. »Ich glaube, er ist wieder okay«, sagte er schließlich. »Noch zwei Tage, dann müssen wir in den dreidimensionalen Raum zurückwa rpen. Wir haben noch einmal Glück gehabt.« Jerry seufzte erleichtert. »Du hast das Unglaubliche geschafft, Frank. Wahrscheinlich hast du unser aller Leben gerettet.« Marek grinste. »Da kannst du recht haben. Ich bin wirklich froh, daß ich es hinter mir habe. Jetzt würde ich vorschlagen, daß wir soviel schlafen wie irgend möglich. Wir müssen frisch sein für die Qualen, die uns beim Backphasing bevorstehen. Ist das nicht eine schreckliche Art zu reisen?« Jerry lachte. »Ich glaube auch nicht, daß ich mich jemals daran gewöhnen werde.« Jetzt wo das Schiff wieder normal arbeitete, konnten sie den Schlaf nachholen, den sie in den letzten Tagen versäumt hatten. Doch die Spannung an Bord der Hoffnung der Menschheit wurde immer stärker, je näher der Zeitpunkt rückte, an dem sie aus dem Hyperraum in den bekannten Weltraum zurückstürzen mußten, um ihr Ziel zu erreichen. Würden sie es schaffen? Würden sie auch dort ankommen, wo sie hinwollten? Schließlich kam der Augenblick. Jetzt sollten all diese Fragen durch die Realität beantwortet werden.
- 195 -
Diesmal saß Frank Marek vor den Warp-Schaltern, während Jerry und Cathy ihn von ihren Liegen aus beobachteten. Das Schiff begann, seine Anweisungen zu sprechen. Frank Marek drückte den Knopf. Sofort setzte der rauschartige Zustand wieder ein. Tausend Halluzinationen kamen und gingen innerhalb weniger Sekunden, als das Schiff in die erste Phase eintrat. In der zweiten Phase hörte Jerry Stimmen, die Stimmen aller Menschen, die er je gekannt hatte. Die Stimmen seiner verstorbenen Großeltern, seines gelähmten Vaters, des Chemikers Bruno Cornelius, die Stimme seiner Schwester, die bei der Katastrophe auf der Mondbasis im Jahre 2018 umgekommen war, und dann hielt er das Grauen nicht mehr aus; jetzt, wo es nicht notwendig war, daß er bei Bewußtsein blieb – den Warp bediente ja Marek – fiel er in Ohnmacht, bevor sie in die dritte und letzte Phase eintraten. Er verlor das Bewußtsein ohne zu wissen, ob er je wieder aufwachen würde. »Schau nur, Jerry, schau!« Das war Cathys Stimme. Jerry öffnete die Augen und dachte zuerst, er sei wieder auf der Erde gelandet, irgendwo auf einer Wiese unter der Sommersonne. Dann sah er, daß er nur den Hauptbeobachtungsschirm vor sich hatte, daß sie wieder im bekannten Universum waren, jedoch in einem Gebiet, das er nie zuvor gesehen hatte. Denn dort draußen glühten drei Sonnen nebeneinander blutig orange – Sterne, die der Erdensonne ganz ähnlich sahen, nur daß sie dicht beieinander standen und ein gigantisches Dreieck bildeten. »Wir haben es also geschafft«, sagte er matt, während er erstaunt die Sterne anstarrte. »Drei Sterne – das ist Alpha Centauri. Ein Dreifachstern!« »Ja, Jerry, wir haben es geschafft«, sagte Catherine, »doch nicht ohne Preis.« »Was meinst du damit?« Catherine deutete in eine entfernte Ecke des Kommandoraums. Jerry schaute in die schattigen Winkel und entdeckte etwas, ein in der Ecke zusammengekauertes Häufchen, irgendein Lebewesen. »Was ist denn das? Wie konnte das an Bord kommen?« »Schau doch mal genau hin, Jerry«, sagte Cathy ärgerlich. Und dann erkannte er das zusammengekauerte, zitternde Etwas. »Mein Gott, es ist Marek – Frank Marek!« Von Mareks aufgesprungenen Lippen kam ein helles Kichern. »Wir haben Alpha Centauri erreicht, Jerry, wir sind angekommen. Ich habe es geschafft, nicht wahr …?« Es war Mareks Stimme, doch es war - 196 -
auch die Stimme eines kleinen, schwachsinnigen Kindes. »Ich habe es geschafft, Jerry …« »Die Strapazen des Warp-Sprungs waren zuviel für sein Gehirn«, flüsterte Cathy. »Ich habe versucht, mich ihm zu nähern. Ich wollte ihm ein Beruhigungsmittel geben, doch er läßt mich nicht an sich heran. Wir müssen es zusammen versuchen. Wenn du ihn nicht festhalten kannst, Jerry, gebe ich ihm eine Ladung aus der Hypogun.« Jerry stand auf und näherte sich Frank vorsichtig. »Faß mich nicht an, Jerry, bitte«, wimmerte Frank. »Du darfst mich nicht berühren, Jerry, du weißt doch, wie ich die Menschen hasse. Ich halte es nicht aus, wenn sie mich berühren.« Jetzt sah Jerry die Pistole in Franks Hand – eine der Waffen, mit denen sie sich gegen unbekannte Gefahren wehren wollten, mit denen sie vielleicht auf den Planeten, die sie zu erforschen hatten, konfrontiert werden würden. Es war eine Laserpistole, die ihn in wenigen Sekunden in ein Aschenhäufchen verwandeln konnte. Jerry blieb stehen und war auf dem Sprung, die Waffe dem wahnsinnigen Professor aus der Hand zu schlagen. Sollte er wirklich alle Gefahren auf dem Weg nach Alpha Centauri heil überstanden haben, um jetzt von einem Verrückten mit einer Pistole über den Haufen geschossen zu werden?
VIII Marek kicherte kindisch, als er die Laserpistole auf Jerry richtete. »Du bist auch nicht besser als die anderen. Die menschliche Rasse ist wie eine Seuche, wie ein bösartiger Virus. Einen Planeten hat sie schon vergiftet – und jetzt versucht sie, die ganze Galaxis zu infizieren – aber ohne mich. Du bist wie Krebs, Jerry – du und deinesgleichen. Und das hier ist die einzige Therapie gegen dich. Ich werde dich verbrennen, ich habe die Medizin in meiner Hand.« Das Schiff eilte den drei Sternen entgegen, denen man den Namen Alpha Centauri gegeben hatte. Im Kontrollraum gab es nur gleißendes Licht oder tiefe Schatten. Cathy stand angespannt vor dem Schaltpult, während Jerry sprungbereit auf den Fußballen wippte und milde auf den raumkranken Marek hinunterschaute.
- 197 -
»Marek – komm doch zu dir. Es sind nur die Halluzinationen des Hyperraums, die dich verwirrt haben. Versuche, zu denken, mein Freund. Lege bitte die Waffe weg.« »Halt’s Maul. Du bist mein Feind, du mit deinen blöden Idealen. Erkennst du immer noch nicht, warum ich überhaupt mitgekommen bin? Ich will endlich allein sein! Haha, vier Lichtjahre zwischen mir und dem Rest der Menschheit, endlich! Ich brauche niemanden mehr!« Plötzlich rief Cathy: »Wir sind zu schnell, viel zu schnell. Seht nur auf die Geschwindigkeitsanzeige!« Marek funkelte sie an. »Was macht es schon aus, wenn …« Dies war der Augenblick. Jerry sprang. Er umklammerte Mareks Handgelenk und versuchte, ihm die Pistole aus der Hand zu schütteln. Ihre Gesichter waren ganz dicht zusammen, er starrte direkt in die Augen des Umnachteten. Mit letzter Kraft zog der Wahnsinnige den Abzug der Laserpistole; ein Strahl konzentrierten Lichts bohrte sich in die Decke des Kontrollraums. In seiner Verzweiflung brach Jerry Marek das Handgelenk. Marek zog eine Grimasse und schaffte es fast, in Jerrys Hals zu beißen, während er mit seinem freien Arm an Jerrys Anzug zerrte. Jerry erwischte den Lauf der Pistole und entrang sie Mareks Griff. Dann sprang er einen Schritt zurück, warf die Waffe Cathy zu, und stürzte sich wieder auf Marek, den er mit einem Handkantenschlag ins Genick zu Boden schickte. Der Unglückliche versuchte, sich noch einmal aufzurichten, doch er schaffte es nicht mehr und brach schließlich mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden zusammen. Die Schiffssirene brüllte. »Druckabfall! Druckabfall! Hüllenschaden in Sektion fünfzehn!« Jerry wollte tief Luft holen, doch es fehlte die Luft. Er stolperte zum Kontrollpult und stammelte: »Schiffsorder – sofort Notabdichtung einleiten …« »Befehl verstanden.« Cathys schlaffe Hand hielt die Laserpistole fest. Der Strahl hatte ein Loch in die Außenhülle des Schiffs gebrannt. Normalerweise hätte das Schiff von selbst mit dem Abdichten beginnen müssen, doch offensichtlich waren Mareks Reparaturarbeiten am Kybersystem nicht ganz so erfolgreich gewesen, wie sie gehofft hatten. Nach wenigen Sekunden verstummte die Sirene. Das Schiffshirn meldete: »Luftdruck normalisiert sich. Außenhülle provisorisch repariert.« - 198 -
Zwischen die beiden Titanschichten, aus denen die Außenhülle bestand, war eine pseudometallische Substanz gepreßt worden, die das Leck notdürftig zuhielt. »Beginne sofort mit der dauerhaften Reparatur der Hülle«, befahl Jerry dem Schiff, während er dankbar die frische Luft einsog, die aus dem Hydroponik-Gewächshaus in die Zentrale gepumpt wurde. Jerry schaltete einen Monitor auf die Außenhülle bei Sektion fünfzehn. Bald sah er den kleinen Reparaturroboter aus seiner Zelle krabbeln und sich zielstrebig der beschädigten Stelle nähern. Seine Blechhaut glänzte im gleißenden Licht der Dreifachsonne. Nach wenigen Minuten hatte der kleine Roboter das Leck erreicht und machte sich mit einer Titanplatte daran, das Loch zu flicken. Jetzt konnte sich Jerry wieder um Marek kümmern, der lang ausgestreckt auf dem Boden lag. »Wir sollten ihn besser irgendwie in Sicherheit bringen, ich meine, damit er uns nicht mehr in Gefahr bringen kann …« Sie zuckte die Schultern. »Ja, aber was sollen wir tun. Sollen wir ihn vielleicht fesseln?« Mit Gewalttätigkeit unter der Besatzung hatte niemand gerechnet, deshalb waren sie in keiner Weise auf das Problem vorbereitet, das Marek jetzt darstellte. »Vergiß nicht, Jerry«, sagte Catherine leise, »wir fliegen immer noch mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf Alpha Centauri zu, wir müssen unbedingt langsamer werden.« Das hatte Jerry in der Aufregung ganz vergessen. Er wußte, daß es gefährlich war, zu schnell abzubremsen, zumal die Hülle des Schiffs schon beschädigt war. Aber es half alles nichts – sie waren der nächsten der drei glühenden Orangen schon gefährlich nahe. »Wir müssen eben so stark abbremsen, wie wir es gerade noch verantworten können«, sagte er, »und gleichzeitig müssen wir den Kurs ein wenig ändern.« Er gab die nötigen Befehle ans Schiff, dann hoben sie zusammen Marek auf und trugen ihn nach hinten in seine Kabine. Cathy deckte sein Bett auf und verabreichte ihm ein starkes Beruhigungsmittel. Mehr konnten sie im Moment nicht für ihn tun, denn sie mußten schnell zurück in die Zentrale, um Geschwindigkeit und Kurs zu kontrollieren. Sie waren immer noch zu schnell. Die mächtige fremde Sonne war auf dem Beobachtungsschirm zu enormer Größe angewachsen; ihr Licht war jetzt so hell, daß sie geblendet wurden. - 199 -
Mit besorgter Miene schaltete Jerry den Schirm ab. »Es ist das Gravitationsfeld des Sterns, das uns in seinen Fängen hält. Wenn uns nicht bald etwas einfällt, wird die Sonne uns fressen und in Sekundenbruchteilen atomisieren!« Cathy überprüfte die Zielkoordinaten. »Ich glaube, wir müssen einfach mit voller Kraft in die entgegengesetzte Richtung fliegen, zurück in den offenen Weltraum. Dieser verdammte Marek. Hätten wir uns nur nicht auf ihn verlassen; er hat uns viel zu nah an Alpha Centauri gewarpt, wir sind an einer ganz anderen Stelle aus dem Hyperraum herausgekommen, als geplant war.« »Es ist aber auch eine Treibstoffrage«, sinnierte Jerry. »Wenn wir uns jetzt aus dem Kraftfeld des Sterns hinauskatapultieren wollen, verbrauchen wir eine Menge Treibstoff, vielleicht mehr als wir entbehren können, wenn wir unsere Mission zuende bringen wollen.« »Vielleicht kommen wir dann nie mehr hier weg«, stimmte Cathy zu. Sie hob den Kopf. »Befehl ans Schiff – alle angrenzenden Raumsektoren abbilden – Einsatz aller Monitore.« »Befehl empfangen.« So schauten sie sich die Gegend an und suchten verzweifelt nach irgend etwas, das auf die Existenz eines Planeten hindeutete – dort könnte das Schiff landen und beliebige Materie in Brennstoff für den Atomreaktor umwandeln, der die Triebwerke mit Energie versorgte. Plötzlich zeigte Cathy auf einen der Bildschirme. »Sieh nur! Da!« Auf einem der Bildschirme war ein Planet aufgetaucht – etwa so groß wie Jupiter. Ein wunderschöner, weißblauer Planet. »Monitor acht auf Hauptschirm«, befahl Jerry dem Bordcomputer. »Kurs auf den Planeten – Kursänderung!« »Order empfangen.« Das Schiff kam dem Befehl sofort nach, und der blaue Planet wurde schnell größer. Er war soviel größer als die Erde, daß die Schwerkraft auf ihm um ein Vielfaches stärker sein mußte als auf der Erde. Wahrscheinlich war die Gravitation so stark, daß Menschen niemals dort leben könnten, selbst wenn alle anderen Bedingungen günstig für den Menschen waren. Aber immerhin – es war ein Planet, und wenn er auch noch so unwirtlich war, so konnten sie immer noch dort landen und die Roboter hinausschicken, um Rohmaterial für den Reaktor zu sammeln. Nun, als sie näherkamen, sahen sie, daß der Planet mehrere Monde besaß; und jeder einzelne dieser Monde war größer als die Erde! - 200 -
Jerry deutete auf einen rötlich schimmernden Mond. »Vielleicht sollten wir es zunächst dort versuchen. Die Gravitation dort dürfte in etwa den Erdverhältnissen entsprechen. Befehl ans Schiff – Mond auf Monitor sieben anfliegen. Landung vorbereiten.« »Befehl empfangen.« Das Schiff änderte den Kurs unmerklich und hielt auf den roten Mond zu. Nach und nach erkannten sie immer mehr Einzelheiten. Die rote Farbe schien zu einer dicken Wolkendecke zu gehören, die den Mond umgab. Bald begann das Schiff erste Analyseergebnisse auszugeben. »Schwerkraft 1,7g. Nur wenige Prozent Sauerstoff in der Atmosphäre. Hauptbestandteil Ammoniakgase. Für Menschen unbewohnbar – ich wiederhole – unbewohnbar.« »Ich habe auch nichts anderes erwartet«, grinste Jerry. Das Schiffsprogramm war eben sehr darauf fixiert, erdähnliche Planeten zu entdecken. »Befehl ans Schiff – Ich wünsche eine vollständige Liste der Gase, die die Mondatmosphäre in Bodennähe enthält.« Das Schiff zählte sämtliche Komponenten der Mondatmosphäre auf. Jerry runzelte die Stirn. »Das sieht fürwahr nicht besonders rosig aus. Es wird eine Ewigkeit dauern, bis wir dort genug Materie, die wir zu Treibstoff verarbeiten können, gesammelt haben werden. Außerdem macht mir die geflickte Außenhülle noch Sorgen.« »Schiff an Commander – Schiff an Commander – kleineres Objekt in Sicht.« Jetzt sahen sie es auf dem Beobachtungsschirm. Es war noch ein Mond da, der den großen roten Mond umkreiste! »Monde über Monde!« jubelte Cathy. »Wir können uns einfach den besten aussuchen!« Der kleine Mond war ungefähr zweidrittel so groß wie die Erde und schien ziemlich schnell um die eigene Achse zu rotieren, während er den Muttermond umkreiste. »Die Wissenschaft hat die Existenz von Monden vorausgesagt, die groß genug sind, daß sie selbst Monde haben können«, sagte Jerry entzückt, »aber ich hätte nie gedacht, so etwas jemals mit eigenen Augen zu sehen!« »Gravitation 0,8g. Atmosphäre im wesentlichen Sauerstoff. Rotationsfrequenz cirka 18 Stunden. Umlaufzeit 9 Monate. Für Menschen bewohnbar – ich wiederhole – bewohnbar!« Sie waren unfähig, zu sprechen – sie starrten sich nur gegenseitig an. - 201 -
Genau das hatten sie gesucht, sich so sehnlichst gewünscht. Eine Welt, auf der Menschen leben könnten, eine neue Welt – sauber und unverbraucht. Ein Planet, auf dem die Menschen des einundzwanzigsten Jahrhunderts mit all ihren wissenschaftlichen und technischen Kenntnissen ganz von vorn anfangen konnten! »Cathy!« flüsterte er schließlich. »Wir haben sie gefunden – die neue Erde. Und es war so einfach, fast ein Zufall!« Er umarmte seine Frau und lachte vor Erleichterung. Alle Anstrengungen der Reise hatten sich nun doch gelohnt. »Schiff an Commander – Treibstoffreserven gefährlich geschrumpft. Landung auf erdähnlichem Trabanten ratsam. Ich wiederhole – Landung auf erdähnlichem Trabanten dringend empfohlen!« Jerry nickte zustimmend. Er legte seinen Arm um Cathys Schultern. »Nun, Cathy, wir sind am Ziel. Bist du bereit?« Sie lächelte nur. »Befehl ans Schiff«, sagte Jerry sanft, »Landung auf erdähnlichem Trabanten vorbereiten.« »Befehl empfangen.« Sie schauten zu, wie die Welt immer näher kam. Die Instrumentenzeiger vollführten wilde Tänze. Die Welt, der sie sich näherten, war nicht hauptsächlich blau und grün wie die Erde, sondern sie reflektierte das rötliche Licht des Mondes, den sie umkreiste. Bald sahen sie Wolken, und unter den Wolken erkannten sie große Festlandgebiete, unterbrochen von kleineren Wasserflächen. Das Land hatte vorwiegend eine gelblich-rote Farbe. Sie schnallten sich auf ihren Liegen fest, während das Schiff langsam in einen Orbit einschwenkte, von dem aus die Besatzung erste, genauere Analysen des Trabanten vornehmen konnte. Das Schiff wurde rapide langsamer, und Jerry fühlte wieder die bekannten Beschleunigungssymptome: Übelkeit, Schmerzen, ein kurzer Blackout, und dann war es vorbei. Das Schiff kreiste jetzt wie ein weiterer Mond um die neue Welt. Jerry erhob sich von seiner Couch und gab den Befehl, das Bild der Oberfläche des Trabanten auf den Beobachtungsschirm zu bringen. Es erschien eine Landschaft mit Hügeln und Tälern, Flüssen und Prärien, Wäldern und Seen. Alles sah ganz anders aus als auf der Erde, irgendwie undefinierbar und fremdartig, obwohl die erkennbaren Strukturen eigentlich erdähnlich waren. Sie umkreisten den Mond sehr schnell, ganze Kontinente tauchten auf und verschwanden wieder unter ihnen. Jerry befahl dem Schiff, - 202 -
noch näher heranzugehen und noch langsamer zu fliegen, damit sie mehr erkennen konnten. Die Region über der sie gerade schwebten, glich dem Matto Grosso auf der Erde, nur die Vegetation war von weitem gesehen eintönig orange. Die Gegend schien ideal für eine Landung zu sein. »Ich glaube, wir werden hier landen«, teilte Jerry seiner Frau mit. »Was meinst du?« »Ja, es sieht hier sehr günstig aus«, stimmte sie zu. »Ich – mein Gott – Schau nur, schnell, Jerry, bevor wir vorbei sind.« Jerry starrte auf den Schirm und traute kaum seinen Augen. Unter ihnen zog eine Stadt vorbei, eine seltsame, antike und doch irgendwie modern wirkende Stadt. Dann waren sie auch schon vorbei. Sie sahen sich an und waren unfähig, die Gedanken in Worte zu fassen, die ihnen beiden durch die Köpfe schossen. Anscheinend war die neue Erde schon bewohnt. Und jetzt war es schon zu spät, die Landung noch rückgängig zu machen. Das Schiff meldete sich. »Fertigmachen zur Landung – Fertigmachen zur Landung!« Jerry ließ das Schiff weitermachen. Er konnte ohnehin nichts mehr hin. Er konnte nur hoffen, daß die Bewohner dieser Welt nicht feindselig waren. Seine Lippen waren trocken, als das mächtige Raumschiff langsam zu der fremdartigen Welt hinabstieg.
IX Die Hoffnung der Menschheit glitt langsam hinab durch die dichter werdende Atmosphäre der Satellitenwelt – eine Welt fast so groß wie die Erde, und trotzdem in den Klauen eines roten Mondes, den sie umkreiste. Orangerote Wolkenfetzen zogen über die Kontinente hinweg, die sich unter ihnen erstreckten, und der Himmel wechselte schnell seine Farbe von schwarz über violett zu anheimelndem Blau. Pfeifend strömte das Gas der Atmosphäre an dem erhitzten Schiffskörper entlang. Jerry leckte sich die trockenen Lippen, während die Triebwerke des fünftausend Tonnen schweren Stahlkolosses sich gegen die Schwerkraft des Trabanten stemmten, um den noch viel zu schnellen Sturz zu bremsen. - 203 -
Jerry war jetzt vollkommen hilflos. Nur das Gehirn des Schiffes konnte die Landeprozedur steuern. Er dachte an das wutverzerrte Gesicht Mareks und an den Schaden, den der Computer während des grauenhaften Trips durch den Hyperraum genommen hatte. Marek hatte ihn repariert, das hatte er jedenfalls behauptet; doch hätte man ihm überhaupt jemals trauen sollen? Nun war Marek selbst das Opfer jener unbeschreiblichen Gewalten geworden, die über das Schiff hergefallen waren. Wie lange hatte wohl schon der Wahnsinn in ihm geflackert, bevor er versuchte, seine beiden Kameraden zu töten?« »Jerry – ist etwas mit dir?« Er blickte hastig auf und schaute in die besorgten Augen seiner Frau, in deren blassem Gesicht sich seine eigenen Sorgen und Ängste zu spiegeln schienen. Er lächelte kurz. »Tut mir leid, Liebling. Die Sache mit Frank hat mich wohl doch mehr mitgenommen, als ich gedacht habe. Es ist eben nicht meine Art, Gewalt anzuwenden.« Die Stimme des Schiffes meldete sich, bevor sie etwas erwidern konnte. »Touchdown in drei Minuten. Sicherheitsnetze anlegen.« Auf Knopfdruck verwandelten sich die Pilotensessel in gut gepolsterte Liegen, die die beiden vor Erschütterungen und Stößen bei der Landung schützen sollten. Ein Netz elastischer Sicherheitsgurte schloß sich um sie wie ein Blütenkelch am Abend. Über Jerrys Kopf breitete sich, die fremde Landschaft aus, während das Schiff mit dem Hinterteil zuerst auf den Landeplatz zuschwebte. Ein Gewirr von Signalen kam von unten, aus dem der Schiffscomputer Informationen über die Beschaffenheit der Luft, des Bodens und der Vegetation entnahm. Es suchte sich selbst einen Platz, wo der Boden fest genug war, das Gewicht der Riesenmaschine zu tragen. Jerrys letzter, flüchtiger Gedanke, bevor sie aufsetzten, war, daß sie zum Glück nicht damit rechneten, unbeobachtet landen zu können; die Einwohner der geheimnisvollen Stadt würden wohl kaum so tief schlafen können, daß sie ihren donnernden Abstieg nicht bemerkten. Und dann waren sie unten. Die Hoffnung der Menschheit zitterte ein letztes Mal, sank noch ein wenig ein und stand schließlich sicher auf festem Boden. Nachdem sich die Triebwerke abgeschaltet hatten, herrschte eine unheimliche Stille, nur durchbrochen vom Knirschen und Knacken des abkühlenden Metalls, vom Klacken unzähliger mechanischer Relais und vom Knistern der brennenden Sträucher, das über die Außenmikrophone zu ihnen drang. Auf den Monitoren war dicker roter - 204 -
Rauch, durchsetzt mit orangenen Sonnenstrahlen, zu sehen, der von dem Feuer kam, das die Triebwerke bei der Landung entfacht hatten. »Commander an Schiff«, sagte Jerry ruhig. »Das Feuer muß gelöscht werden, ich möchte keinen Rauch mehr sehen.« Er wandte sich Cathy zu. »Sollte diese Stadt wirklich bewohnt sein, dann möchte ich derjenige sein, der den ersten Kontakt herstellt. Vielleicht mögen sie keine Fremdlinge, und das Schiff ist auch ohne Rauchzeichen schon auffällig genug.« Cathy befreite sich aus dem Sicherheitsnetz. »Aber Jerry – seit wann bist du so pessimistisch?« Sie erhob sich leichtfüßig von ihrer Liege und setzte sich neben Jerry. »Was sollten sie gegen uns haben? Ein einzelnes Raumschiff kann doch wohl kaum eine ganze Welt bedrohen, das sollte eine Zivilisation, die solche Städte baut, auch wissen.« Jerry stand lachend auf. »Das ist wieder meine alte Cathy! Auf der Erde jagt man sich wegen einer läppischen Linie auf der Landkarte in die Luft! Kannst du dir vorstellen, was die meisten Menschen erst anstellen würden, wenn sie mit fremden Wesen konfrontiert würden? Aber vielleicht hast du recht. Hoffentlich.« Cathy schaute nachdenklich zur Seite. »Ich sollte mich jetzt um Frank kümmern. Das Schlafmittel hat jetzt bestimmt seine Wirkung verloren.« Jerry wollte sie nicht allein gehen lassen. Er folgte ihr zu den Ruhequartieren. Als die Tür zur Seite glitt und sie den kleinen Entspannungsraum betraten, hörte er eine belegte Stimme düster vor sich hin murmeln. Mit einiger Mühe erkannte er, daß es Mareks Stimme war. Und obwohl kein Wort zu verstehen war, war das Grauen in der Stimme unüberhörbar. Cathy lief zu dem Bett, wo Jerry ihn fest angeschnallt hatte, und fühlte mit geübten Griffen seinen Puls, während sie mit der anderen Hand die Temperatur seiner Stirn prüfte. Er sträubte sich unruhig gegen die engen Gurte und stöhnte laut. »Wie geht es ihm?« fragte Jerry. Cathy sprach sehr langsam. »Physisch scheint er ganz in Ordnung zu sein. Sein Puls ist zwar ein bißchen schnell, aber sonst …« Sie hielt inne. »Jerry, was sollen wir nur tun, wenn nach dem Aufwachen sein Geist immer noch verwirrt ist?« Jerry fuhr sich durch sein dichtes blondes Haar. »Weiß der Himmel!« Er blickte in Mareks aufgewühltes Gesicht, beugte sich über ihn und hielt seinen Mund ganz dicht an Mareks Ohr. »Frank, hörst du mich, Frank?« - 205 -
Marek erstarrte. Dann, ganz plötzlich, entspannte sich sein Körper und fügte sich willig der Gewalt der Gurte. Er nahm einen tiefen, pfeifenden Luftzug, und seine Augenlider öffneten sich flatternd. Er sah Jerry direkt in die Augen. Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Lächeln. »Hallo, Jerry, diese dritte Phase war ganz schön happig, nicht wahr? Ich glaube, ich werde alt. Wie nah sind wir jetzt an Alpha Centauri?« Cathy stand hinter dem Kopfende außerhalb von Mareks Blickfeld. Sie warf Jerry einen warnenden Blick zu und formte mit den Lippen das Wort »Amnesie«. »Es war wirklich hart, Frank«, sagte Jerry tief erleichtert. »Gerade als wir den normalen Raum erreichten, muß es dich ganz schön herumgewirbelt haben. Du hast so getobt, daß wir dich schließlich hier festbinden mußten.« Er grinste. »Ich kann es dir beweisen. Hier, schau, da hast du mir einen verpaßt.« Er zeigte ihm den blauen Fleck an seinem Hals. Jetzt bemerkte Marek erst die Haltegurte an seinem Bett. »Alle Teufel, was für eine Situation für einen alten Raumfahrer! Die Geschichte wird mich mein Leben lang verfolgen, wenn der Astronautenclub davon erfährt.« Plötzlich wurde seine Stimme schärfer. »Die Triebwerke stehen ja still. Sind wir in Schwierigkeiten?« »Nein, Frank.« Cathy kam an seine Seite, als Jerry sich daranmachte, ihn loszubinden. »Frank – wir sind gelandet … gelandet auf einer bewohnbaren Welt. Es ist alles da – Luft, Wasser, Pflanzen – und vielleicht gibt es noch mehr erdähnliche Gestirne in diesem System.« »Ein echter Glückstreffer, was? Und das gleich im ersten Versuch», grunzte Marek. Er richtete sich auf, massierte seinen Hals und lockerte seine Beinmuskeln. »Na schön, laßt uns nachsehen, was hier los ist. Ihr wart doch noch nicht draußen, oder?« »Nein.« Cathy schien etwas pikiert zu sein über seine schwache Reaktion auf die sensationelle Neuigkeit, die sie ihm verkündet hatte. »Bisher haben wir nur ein paar Hektar Gras, oder was das auch immer sein mag, verbrannt«, erzählte Jerry. »Die automatische Schaumsprühanlage sollte das Feuer inzwischen gelöscht haben. Bald werden wir klare Sicht haben.« »Doch da ist noch etwas«, redete Cathy weiter. »Wir haben eine Stadt gesehen.« »Eine Stadt? Seid ihr sicher?« Marek schwang sich von seinem Bett, reckte und streckte sich als wollte er sofort aufbrechen. Jerry faßte ihn besorgt beim Arm und wollte ihn beruhigen. Der ältere Mann schüt- 206 -
telte unwillig den Kopf. »Laß nur, es geht mir ganz gut, ich bin nur ein wenig steif, das ist alles.« Gemeinsam gingen sie zurück in die Zentrale und schalteten die Monitore auf die Außenkameras. Verkohlte Erde und schnell in sich zusammenfallender Löschschaum umgaben das Schiff. Der Horizont strahlte orangefarben. Frei und einladend lag das Land unter strahlend blauem Himmel. Jerry warf einen letzten Blick auf die Monitore und sagte kurz: »Nach den Analysen des Schiffscomputers sind Boden und Atmosphäre in Ordnung. Laßt uns also gehen.« Kurze Zeit später stand das Trio, gekleidet in graue Overalls, die für Außenarbeiten gedacht waren, in der Luftschleuse und blinzelte in die fremde Sonne. Die Luft, die in ihre Lungen strömte, hatte noch den bitteren Geschmack verbrannter Pflanzen, doch darunter lag eine reiche Mischung der verschiedensten Düfte. Ein unglaubliches Wonnegefühl durchströmte Jerry und ließ ihn alle Qualen der Reise fast vergessen. Tief unter ihnen holperte ein sechsrädriges Fahrzeug über den verbrannten Boden, ihr Expeditionsauto, das das Schiff auf Jerrys Befehl ausgeladen hatte. Leicht, stark und sehr tragfähig, war es das modernste Produkt einer langen Entwicklung von Fahrzeugen, die zu Beginn des Raumfahrtzeitalters im zwanzigsten Jahrhundert mit den seltsamsten, traktorartigen Vehikeln begonnen hatte. Vor der Luftschleuse hatte sich inzwischen eine Leiter ausgefahren, über die sie den Boden erreichen konnten, wo das Auto jetzt auf sie wartete. Jerry wachte als erster aus der Verzückung auf. »Ohne dich, Frank«, sagte er lächelnd, »würden wir jetzt wahrscheinlich noch im Hyperraum herumirren. Es ist also nur gerecht, wenn du als erster deinen Fuß auf diese Erde setzt.« Marek brummelte irgend etwas Unverständliches. Dann sagte er: »Fällt dir nicht auf, daß wir schrecklich unhöflich zu der Lady hier sind? Ich würde doch sagen: Nach dir, meine Beste.« Das ließ sich Cathy nicht zweimal sagen. Die beiden Männer stiegen hinter ihr die Treppe hinunter. Noch zehn Meter bis zum Boden. Marek stöhnte, und als Jerry zurückblickte, sah er, wie sein älterer Kollege stolperte und stürzte. Nur Jerrys blitzschneller Reflex verhinderte, daß der massige Körper des Wissenschaftlers alle in die Tiefe mitriß. Mit aller Kraft mußte er sich am Geländer festhalten, während an seinem linken Arm Marek besinnungslos frei in der Luft baumelte. Vor Anstrengung entrang sich seiner Kehle ein unfreiwilliger Schrei. Cathy drehte sich um und kam ihm sofort zu Hilfe. Gemeinsam trugen sie den schlaffen Körper zurück ins Schiff. - 207 -
An diesem Tag versuchten sie nicht nochmal, die Hoffnung der Menschheit zu verlassen. Am späten Abend kam Marek wieder zu Bewußtsein, ohne sich an die Szene auf der Treppe erinnern zu können. Nichtsdestotrotz war er einverstanden, als Jerry vorschlug, er solle an Bord bleiben, während die jüngeren Leute eine erste Erkundungstour in die neue Welt unternahmen. Obwohl er einen aufreibenden Tag hinter sich hatte, fand Jerry kaum den Schlaf.
X Drei Kilometer hatten sie sich schon vom Schiff entfernt, und immer noch bot der schimmernde Stahlkoloß, der sich über die mit blaugrünem Gebüsch bewachsene Landschaft erhob, einen eindrucksvollen Anblick. Sie fuhren über dunklen, moosigen Boden, auf dem noch der Morgentau glänzte. Eine kühle Brise spielte in Cathys Haar. Jerry steuerte das Fahrzeug sicher und zügig über die glatte Ebene, die einige Geschwindigkeit zuließ. Sie fuhren mitten durch einen lichten Wald seltsamer knorriger ›Bäume‹, deren Gestalt an antike Säulen aus minoischer Zeit erinnerte; statt Laub trugen sie bunte Federbüschel, und an ihren Wurzeln wuchs violettes, blaues und grünes Unterholz. Die Landschaft, die auf dem Bildschirm so leer ausgesehen hatte, wimmelte in Wirklichkeit von Leben. Schillernde, insektenartige Tiere, so groß wie Feldhasen, umschwirrten sie neugierig. Unter dem wolkengetupften Himmel flogen transparente, zarte Wesen von atemberaubender Größe auf hauchdünnen Flügeln umher. Cathy war ununterbrochen mit Kamera und Rekorder beschäftigt, so daß Jerry sie scherzhaft als interstellare Touristin bezeichnete. Sie versetzte ihm einen Rippenstoß, worauf er sie mit einer Hand unterm Po faßte und hochhob. Mitten im neckischen Gerangel ging es plötzlich abwärts, und Jerry hatte einige Mühe, den Wagen auf dem glatten Boden unter Kontrolle zu bringen. Schließlich brachte er ihn ruckartig zum Stehen. Der Spaß wich augenblicklich dem Schrecken, denn in der Ferne schallte ein Donnern von den Hügeln zurück, das immer lauter und lauter wurde und nur eine einzige Ursache haben konnte.
- 208 -
Cathy war blaß geworden und starrte Jerry an. »Mein Gott, Jerry – das kann nur das Schiff sein!« Jerry hatte schon gewendet und fuhr in rasendem Tempo den Abhang hinauf. Als sie wieder auf der Ebene waren, sahen sie über der Stelle, wo die Hoffnung der Menschheit gelandet war, eine blendende Feuersäule in den Himmel steigen. Der Feuerschweif stieg höher und höher, bis er nur noch als kleiner, leuchtender Punkt unter dem blauen Firmament zu sehen war, nur noch ein Nachbild auf der Netzhaut, und dann – nichts mehr. Ihr Raumschiff war verschwunden. Wie gelähmt blieben sie sitzen, bis wieder vollkommene Ruhe eingekehrt war. »Meinst du, das Schiff hat versagt, Jerry?« Jerry sah sie benommen an. »Vielleicht; der Bordcomputer ist ja nie richtig repariert worden … ach verdammt, Cathy, du weißt so gut wie ich, daß das kein Versehen war. Frank sitzt jetzt wahrscheinlich grinsend vor dem Kontrollpult, wer weiß, welche wahnsinnigen Ideen er noch in seinem kranken Hirn hat!« »Und was nun?« fragte Cathy. Jerry ließ den Motor an und richtete die stumpfe Nase des Autos auf den flimmernden Horizont. »Zur Stadt, Cathy, wohin sonst?« Als der Tag sich dem Ende zuneigte, die Schatten vor ihnen immer länger wurden, hatten sie zum zweiten Mal die Stadt vor sich. Der große rote Muttermond stieg schwer über den Hügeln auf, die die Ebene umgaben. Das dunkelrote Licht das er reflektierte, warf unheimliche Schatten zwischen die seltsame Anhäufung von Türmen und Kuppeln, die vor ihnen lag. Obwohl ihre Expeditionsanzüge geheizt waren, zitterte Cathy. »Es sieht aus wie der Friedhof einer ganzen Welt. Ich würde es vorziehen, hier draußen im Wagen zu übernachten.« »Ganz deiner Meinung«, sagte Jerry. »Wenn man nur irgendein Licht sehen würde, irgendein Lebenszeichen, aber es ist absolut dunkel dort.« Die Stadt schien tatsächlich tot zu sein. Da: Jerry blinzelte, rieb sich die Augen, schaute noch einmal – war da nicht ein schwacher Schimmer …? Er nahm das Fernglas zu Hilfe. Tatsächlich! Jetzt sah er es deutlich: Von den Stadtmauern näherte sich ihnen ein großes, glitzerndes Objekt. Eine Maschine, die aus Metall und Edelsteinen gemacht zu sein schien, trieb durch die purpurne Dämmerung auf sie zu. Sie drehte - 209 -
sich ständig im schwindenden Sonnenlicht und sah von jeder Seite anders aus, so unregelmäßig war ihre facettenhafte Oberfläche. »Himmel! Irgendeine Flugmaschine kommt da auf uns zu!« Jerry holte von hinten das schwere Lasergewehr und befestigte es an der dafür vorgesehenen Halterung am Wagen, so daß er jederzeit feuerbereit war. Die glitzernde Maschine kam immer näher. Jerry erkannte schon, daß sie nicht unbemannt war. Jetzt stand sie vielleicht hundert Meter von ihnen entfernt in der Luft, doch immer noch konnte Jerry nicht genau erkennen, welcher Art das Wesen war, das sie offenbar steuerte. Als er seine Hand auf den Auslöser der Laserkanone legte, merkte er, daß er schwitzte. Sah dieser Flieger aus wie ein Mensch? Es war immer noch schwer zu sagen. Cathy legte eine Hand auf Jerrys Schulter. »Jerry – sollten wir uns nicht irgendwo eine Deckung suchen?« »Keine Sorge, Cathy – die Laserbüchse wird uns vor dem Schlimmsten bewahren. Ich glaube sowieso nicht, daß er angreifen wird. Er ist mindestens so neugierig auf uns wie wir auf ihn.« Das Metall und die Kristalle an der Maschine reflektierten noch den letzten Rest Sonnenlicht. Über ihnen zogen dunkelrote Wolken hinweg. Von irgendwoher kam ein fremder, unmenschlicher Schrei. Nun senkte sich die Flugmaschine langsam auf die Moosfläche vor ihnen und landete schließlich. Jerry und Cathy warteten, was wohl weiter passieren würde; Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Zunächst geschah gar nichts. Dann öffnete sich mit einem Summen eine der vielen Facetten der Maschine. Das Wesen stieg über eine Treppe zu Boden. »Jedenfalls ein Zweibeiner«, sagte Jerry. Die Gestalt war überaus groß, bestimmt über zwei Meter, und äußerst dünn. Mit langen, eleganten Schritten kam sie auf sie zu. Sie schien einen Anzug aus sehr weichem Metall zu tragen, das Gesicht war ganz von einer Maske bedeckt. Jerrys Puls begann zu rasen. Er wischte seine verschwitzten Hände am Overall ab. Fünf Meter vor ihnen blieb das Geschöpf stehen und hob einen seiner dünnen Arme. Aus seinem Helm kam eine tiefe, klangvolle Stimme. »Yoasha, hana, canala …« Jerry schüttelte den Kopf, um zu zeigen, daß er nichts verstand. - 210 -
»Yoasha, hana, canala …!« Die Stimme wurde drängender. Und wieder konnte Jerry nichts anderes tun als versuchen, dem Fremden zu verdeutlichen, daß er ihn nicht verstand. »Yoasha, hana, canala – TEY« Die Gestalt drehte sich um und zeigte auf die fremdartige Flugmaschine. »Er möchte, daß wir einsteigen«, sagte Cathy. »Oh, Jerry, was sollen wir nur tun?« Jerry verstärkte seinen Griff um das Lasergewehr und sagte: »Ich glaube, ich werde einen Kompromiß versuchen.« Wild gestikulierend versuchte er dem Wesen klarzumachen, daß sie ihm im Wagen in die Stadt folgen würden. Der Fremde schien einen Moment nachzudenken, dann war er einverstanden. Er hob wieder einen Arm – anscheinend eine freundliche Geste. »Yoasha kompla.« Er ging zurück zu seiner Maschine, startete und stieg wenige Meter über den Erdboden. Jerry ließ den Motor an und folgte. Inzwischen war es fast vollständig dunkel geworden, doch die Konturen der seltsamen Stadt zeichneten sich immer noch gegen den Horizont ab. Jerry schaltete die Scheinwerfer ein. »Ich hoffe, sie sind freundlich, Jerry.« Catherine schauderte. »Das hoffe ich auch; mein Gott, vielleicht sind sie unser Schicksal. Ohne das Raumschiff sitzen wir für immer hier fest.« »Was meinst du, warum ist Frank wieder gestartet?« »Was weiß ich, er ist vollkommen verwirrt. Vielleicht hat er einfach vergessen, daß wir noch hier sind, vielleicht ist er schon auf dem Rückweg zur Erde …« »Aber er hat doch keinen Treibstoff an Bord genommen, und mit dem kleinen Rest, den wir noch hatten, hat er keine Chance, jemals dort anzukommen. Kein Mensch wird dann je erfahren, was aus uns geworden ist – aus uns und der Hoffnung der Menschheit.« »Früher oder später werden sie ein zweites Schiff schicken«, versuchte Jerry sie zu beruhigen. »Glaubst du das wirklich? Du weißt doch, wie es auf der Erde aussah, bevor wir starteten. Wahrscheinlich ist alles zu spät. Der Krieg, die Vernichtung wird nicht mehr aufzuhalten sein, wenn wir nicht bald zurückkehren und berichten, daß es Planeten gibt, die die Menschen besiedeln können.« Darauf wußte Jerry keine Antwort. Sie hatte recht, es sei denn, ein Wunder geschah. Die Hoffnung der Menschheit war aller Wahrschein- 211 -
lichkeit nach das letzte Raumschiff, das die Erde vor dem großen, endgültigen Kollaps verlassen konnte.
XI Die ersten Gebäude der Stadt standen jetzt direkt vor ihnen. Der erste Eindruck, den sie von Ferne empfunden hatten, verstärkte sich noch. Die Türme waren riesige, ganz und gar asymetrische Gebilde, und unwillkürlich kam ihnen der Gedanke, daß diese Architektur nur den Köpfen von Wahnsinnigen entsprungen sein konnte. Jedes Detail, die Farben und Ornamente wirkten krankhaft und unnatürlich, obwohl sie von großer technischer Fähigkeit und Intelligenz zeugten. »Diese Stadt ist bestimmt kein Menschenwerk – sie ist einfach zu absurd«, murmelte Cathy. Jerry nickte. Die ebenso absurde Kristallmaschine schwebte jetzt durch eine Öffnung in der Mauer. Sie fuhren hinterher. Welche Gerüche, welch absonderliche Atmosphäre! Sie folgten der Maschine durch enge verwinkelte Gassen. Die Türme schienen sich bedrohlich zu ihnen herabzuneigen. Schließlich landete die Maschine; der Pilot stieg aus und bedeutete ihnen, ihm zu folgen. Jerry nahm das Lasergewehr aus seiner Halterung und schulterte es; für Cathy hatte er noch eine Pistole. »Du mußt mit allem rechnen«, sagte er. Die Stadt war nur vom Licht der Sterne beleuchtet. Jerry kletterte aus dem Wagen und betrat den Boden, der sehr an schwarzen Marmor erinnerte. Cathy folgte ihm auf dem Fuß. Das fremde Wesen schritt durch den finsteren Eingang des Turmes, vor dem sie gelandet waren. Jerry holte tief Luft und folgte ihm. Sie gingen durch einen schmalen Gang, dessen Wände schwaches, fluoreszierendes Licht abstrahlten. Dann kamen sie in eine Halle, deren Decke erstaunlich niedrig war, nicht höher als zweieinhalb Meter. »Bäh – dieser Gestank – fürchterlich!« Cathy rümpfte die Nase. »Es riecht ganz schön muffig«, mußte Jerry zugeben. »Seltsam, soviel anscheinend ausgefeilte Technik, und offensichtlich keine vernünftige Kanalisation …« Der Fremde führte sie durch eine Reihe von weiteren Gängen, bis sie die zweite Halle erreichten, in der von irgendwoher Licht auf sehr
- 212 -
abstrakte Wandgemälde fiel, die man, gut oder schlecht, nur als schrecklich bezeichnen konnte. Cathy konnte gar nicht hinschauen. »Irgend etwas ist hier faul, man riecht es regelrecht. Diese Stadt ist nicht nur fremdartig, sie scheint auch nicht mehr im Sinne der Erbauer zu funktionieren.« »Ich weiß, was du meinst.« Jerry studierte die Wandgemälde. »Vielleicht …« »Yoasha chanda!« Die wohlklingende Stimme produzierte dutzendfaches Echo zwischen den Wänden des – Leichenhauses?! »Yoasha chanda!« Sie waren in eine Sackgasse geraten; ihr Führer blieb regungslos stehen, wo er gerade war. Kein Muskel bewegte sich mehr in dem dürren Körper. Unerträgliche Spannung lag in der Luft, als Jerry und Cathy auf weitere Aktionen oder Signale des Fremden warteten. Jerry schaute ungeduldig auf seine Uhr. Eine Viertelstunde verging, und nichts passierte. Schließlich ging Jerry auf die Gestalt zu und sprach sie von hinten an: »Was ist los, welches Spiel spielst du mit uns?« Keine Antwort. Er ging um den Fremden herum und schaute ihm ins Gesicht. »Nun sag schon, wie soll’s weitergehen?« Nicht die geringste Reaktion. Er stand vollkommen still. Jerry streckte die Hand aus, um ihn zu berühren; der Fremde machte keine Anstalten, sich dagegen zu wehren. Er berührte kaltes, totes Metall, eine Welle eisiger Kälte schoß durch seinen ganzen Körper. Er boxte ihm sanft auf die Brust. Er wackelte zwar etwas, zeigte aber ansonsten keine Reaktion. »Ist er – tot, Jerry?« flüsterte Cathy. Jerry war ziemlich ratlos. »Ich bin nicht sicher …« Er faßte den maskierten Kopf an … maskiert? – Die Maske, der Helm war der Kopf dieses Geschöpfs. Jerrys Hand glitt an der Brust des mysteriösen Mannes entlang bis sie ein kleines Schaltbrett berührte, das er mit dem Fingernagel wegklappen konnte. Jetzt hatte er freien Blick auf die bizarren, jedenfalls technischen Eingeweide ihres Führers. »Ein Roboter!« keuchte Cathy. »Wir haben uns von einem Blechmann durch die Gegend lotsen lassen!« Jerry sah sie ernst an. »Das bedeutet, daß uns die Begegnung mit den wahren Einwohnern der Stadt erst noch bevorsteht – wenn sie überhaupt existieren.« »Aber warum ist der Roboter gerade hier stehengeblieben?« - 213 -
»Schwer zu sagen. Vielleicht ist er darauf programmiert, Fremde zu empfangen und hierher zu bringen. Vielleicht sind seine Schöpfer fort oder tot oder was weiß ich; ich nehme an, daß er stur seinem Programm folgt und daß wir eigentlich hier von Menschen – oder irgendwelchen anderen Kreaturen – empfangen werden sollten. Dem Roboter nach zu urteilen müssen sie uns sehr ähnlich sehen – oder gesehen haben.« »Was hat der Roboter damit zu tun?« »Das ist doch sonnenklar – Wesen die nicht auf zwei Beinen laufen, zwei Arme haben und einen Kopf, würden wohl kaum auf die Idee kommen, einen solchen Roboter zu konstruieren. Da gibt es wesentlich zweckmäßigere Möglichkeiten, das mußt du zugeben.« Cathy lächelte. »Du hast natürlich recht. Was sollen wir jetzt machen?« »Wir schauen uns weiter die Gegend an. Die Gelegenheit ist günstig, jetzt, wo die Einwohner nicht da sind – wenn es so ist.« »Warum sollten sie die Stadt einfach verlassen haben?« »Wer kann schon sagen, was in den Köpfen fremder Wesen vorgeht?« »Vielleicht hat sie irgend etwas von hier vertrieben«, dachte Cathy nach, »vielleicht der Gestank oder etwas anderes, furchtbares, das womöglich immer noch hier ist.« »Trotzdem, wir haben keine Wahl, wir sind nun einmal hier und müssen etwas unternehmen. Komm, Cathy.« Sie gingen langsam und vorsichtig durch einen anderen Gang und gelangten schließlich wieder ins Freie, und zwar im Innenhof des Turmes. Auf jeder Seite des Hofes gab es mehrere Türen. In der Mitte stand eine Art Brunnen. Jerry ging näher heran und betrachtete ihn so gut es in der Dunkelheit ging. »Er ist ausgetrocknet, anscheinend schon seit Jahren. Du hattest recht, Cathy, anscheinend ist die Stadt wirklich verlassen, und trotzdem …« Er schaute finster. »Hast du nicht auch das Gefühl, daß es hier Leben gibt? Ich jedenfalls werde es nicht los.« »Ich weiß, was du meinst«, stimmte seine Frau zu. »Uah – dieser Ort hier jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken. Laß uns doch zum Wagen zurückgehen, Jerry.« »Okay.« Sie gingen zurück durch die Korridore, vorbei an dem starren Roboter, durch die Hallen, bis sie schließlich zum Eingang des Turmes, auf die Straße zu ihrem Vehikel kamen. - 214 -
Cathy bemerkte es zuerst: »Das Flugzeug, Jerry – es ist verschwunden!« Tatsächlich. Der fliegende Vielkristall schien sich in Luft aufgelöst zu haben. »Wahrscheinlich ist es automatisch zu seinem Stützpunkt – wo immer der sein mag – zurückgekehrt«, vermutete Jerry. Cathy kletterte zitternd in den Wagen. Ein spitzer Schrei. »Jerry! Dein Fernglas! Irgend jemand hat dein Fernglas mitgehen lassen!« »Och, immer mit der Ruhe …« Jerry blieb abrupt stehen. Hinter ihm war etwas … ein Geräusch, unterdrückte, lebendige Töne. War es möglich: Lachte da jemand? – Er konnte sich nicht täuschen. Er hörte deutlich ein hohes, irres Kichern hinter sich. Er wirbelte herum und entsicherte seine Laserkanone. »Kommt heraus! Wer seid ihr?« Wieder dieses Kichern und Schlürfen. Jerry sah, wie sich im Schatten etwas bewegte und richtete sein Gewehr zum Himmel. Ein Strahl reiner Energie durchschnitt die Luft, als er auf den Auslöser drückte. Im Licht des Laserstrahl konnte er die Gestalten erkennen. Wenn das die Einwohner der Stadt waren, dann hatten sie den Roboter jedenfalls nicht nach ihrem eigenen Vorbild entworfen. Jerry war starr vor Entsetzen. Cathy saß in ihrem Sitz zusammengekauert und starrte sie an, die Leute der Stadt. Panik stieg in ihr auf, doch sie gab sich alle Mühe, sie zu bekämpfen – und zu akzeptieren, was sie sah. Ihr Körperbau war wirklich eindeutig menschlich – so menschlich, daß sie in ihrer elenden Verkrüppelung noch furchterregender aussahen. Jerry stand vor einer im Halbkreis auf dem Boden sitzenden Gruppe grotesker Kreaturen; eine dunkle Masse buckliger Gestalten mit schmutzverkrusteten Gesichtern und trübweißen Augen, die von dem grellen Licht geblendet zu sein schienen. Doch, trotz allem, es waren tatsächlich Menschen, wenn auch die jämmerlichsten Exemplare dieser Gattung, die Jerry je gesehen hatte. Auf den ersten Blick konnte er nicht zwischen männlichen und weiblichen Vertretern unterscheiden, alle waren in Fetzen und Lumpen gehüllt, die von tausend Flicken zusammengehalten zu werden schienen. Um den Hals trugen sie an groben Stricken glitzernde Amulette. Ohne sich umzudrehen sagte er ruhig zu Cathy: »Richte die Taschenlampe auf sie, aber vermeide jede hastige Bewegung.« Der Klang seiner Stimme schien sie zu beruhigen. Sie stand langsam auf und kramte auf der Ladefläche des Expeditionsfahrzeugs. Sie - 215 -
fand schnell die Taschenlampe, schwenkte sie langsam in die dunkle Ecke und knipste sie an. Im selben Augenblick ließ Jerry den Laserauslöser los. Durch den Lichtkegel der Taschenlampe zogen sich silberne Regenfäden. Der traurige Verein stand plötzlich auf und schlurfte in Richtung auf Jerry und den Wagen. »Jerry, bitte – komm in den Wagen!« Der Lichtkegel zitterte im Rhythmus, den Cathys Muskeln vorgaben, und erzeugte tausende tanzende Schatten zwischen den Türmen. »Ruhig, Liebling, entspanne dich.« Jerry lächelte grimmig. »Denke daran, ich habe das Lasergewehr, und keiner dieser armen Teufel scheint bewaffnet zu sein. Ich werde versuchen, mit ihnen zu reden.« Er wollte tief Luft holen, doch der Gestank, der von den näherkommenden Kreaturen in seine Nase strömte, ließ ihn sich eines besseren besinnen. Er ahmte die Worte, die der Roboter benutzt hatte, nach, so gut er konnte, und rief ihnen zu: »Yo asha chanda!« Die Gruppe blieb stehen. Sie begannen, aufgeregt durcheinander zu plappern und vollführten dabei unkoordinierte Handbewegungen, zupften und zerrten an ihren Lumpen. Der Regen nahm zu und floß in kleinen Rinnsalen die Straße hinab. Jerry schaute dem Treiben zu und wußte nicht, ob er Angst haben sollte oder nicht. Wer waren diese Geschöpfe? Hatten sie diese riesige, komplizierte Stadt gebaut, und wenn es so war, was hatte sie zu solchen Monstern gemacht?« Cathy schrie auf. Jerry hielt den Laser in Hüfthöhe und wirbelte herum. Ein Schwärm gebeugter Gestalten, häßlicher als jeder Affe sein konnte, ergoß sich aus dem Nachbarturm auf die Straße. Das Licht der Taschenlampe zitterte wild umher, während Cathy versuchte, die grabschenden Hände abzuwehren. Jerry hechtete in das Fahrzeug; hinter ihm erhob sich ein bedrohliches Gebrüll. »Laß den Motor an!« schrie er. »Ich kümmere mich um die Burschen!« Geifernd und spuckend kamen zwei der Monstren auf ihn zu. Sogar jetzt noch scheute er davor zurück, den Laser einzusetzen; statt dessen schlug er mit Kolben und Lauf der Waffe wild um sich, traf den einen seitlich am Kopf, streckte den anderen mit einem Hieb vor die Brust zu Boden. Er fühlte eine Hand an seinem Fußgelenk und stürzte schmerzhaft auf die Lampe, bevor er sich abrollend den flachhändigen, rudernden Schlägen der Angreifer entziehen konnte. Sie kamen jetzt von allen Seiten und erfüllten die Nacht mit irrsinnigem, tonlosem Heulen. Einer hatte Cathy am Hals zu fassen bekommen und versuchte, sie aus ihrem Sitz zu ziehen, während sie verzweifelt versuchte, den Startknopf zu erreichen. Doch sie schaffte es. Der Wa- 216 -
gen machte einen Satz nach vorn, der Angreifer fiel hart auf die regennasse Straße, und Cathy war frei. Jerry fiel in den Sitz neben ihr, keuchte schwer und rieb sich die Fäuste. Sie fuhren mit rasendem Tempo in eine matte Regenwand, zu beiden Seiten des Wagens spritzten Wasserfontänen hoch. Er drückte einen Knopf, woraufhin die Windschutzscheibe sich zu einem transparenten Dach aus durchsichtigem, festem Plastik vergrößerte. Die Schreie, die sie verfolgten, gingen allmählich im Regentrommeln unter. »Bist du verletzt, Liebling?« fragte Cathy atemlos. »Nur ein paar Kratzer, sonst nichts. Und du?« Plötzlich stand mitten vor ihnen auf der Straße ein hoher, massiver Pfahl. Jerry wollte instinktiv bremsen, doch es riß ihn zur Seite, als Cathy wie wild zu lenken begann und der Wagen ins Schleudern kam. Bei der geringen Gravitation und der nassen Straße war schnelles Manövrieren nicht mehr möglich. Die Scheinwerfer tanzten zwischen schrägen Treppen und irrsinnig schiefwinkligen Bauwerken auf ein weit offenes Tor zu. Sie jagten immer weiter zwischen eisernen Säulen hindurch, bis sie auf einem quadratischen Platz zum Stehen kamen. Cathy sackte in ihrem Sitz zusammen und lächelte matt. »Mir geht es gut, nur: Mehr von diesen Typen würde ich nicht ertragen. Wohin geht’s jetzt?« Jerry lachte kurz. »Ha, woher soll ich das wissen? Rück rüber, Schätzchen, ich gehe ans Steuer. Was wir brauchen, ist ein Ausgang aus diesem Irrenhaus; und auf dem Weg dorthin möchte ich auf keinen Fall noch einmal unseren kleinen Freunden über den Weg laufen. Die Stadt muß doch mehr als ein Tor haben.« Er nahm den Spot und leuchtete die Umgebung ab, doch er konnte die Regenwand auch nicht weiter durchdringen, als es mit den Scheinwerfern möglich war. »Versuch’s einmal mit den Detektoren«, riet Cathy. »Gute Idee, Cathy, hier im offenen Gelände können wir vielleicht etwas damit anfangen.« Jerry fuhr zwei Teleskopantennen am Heck des Wagens aus, dann schaltete er das Radio an. Auf dem Armaturenbrett leuchtete ein Monitor auf und zeigte das durch die Antennenpulse gewonnene, geisterhafte Bild der Umgebung. Irgendwo hoch über ihnen hörten sie es donnern. Das Radio rauschte. Cathy betrachtete in ihrem Taschenspiegel mißmutig ihre wirre Frisur. »Jerry, glaubst du, wir finden in dieser Stadt noch andere Leute – normale, meine ich?« - 217 -
Er fuhr langsam weiter, ständig den Monitor im Auge. »Was willst du, der erste Kontakt war doch sehr herzlich und erfrischend, oder? – Es gibt doch nichts schöneres als die gute alte Verwandtschaft mal wieder zu treffen – und das hier!« Seine Stimme war heiter, doch sie verstand den finsteren Humor dahinter sehr wohl. »Ernsthaft, Cathy, ich sehe keine Chance, hier noch auf intelligentere Wesen zu stoßen. Hast du übrigens die kleinen Dinger gesehen, die die Ungeheuer um den Hals trugen?« »Ja«, sagte sie matt, »ich habe sie mir aber nicht so genau angesehen. Was ist damit?« »Diese ›Amulette‹ sind in Wirklichkeit irgend welche wissenschaftlichen Instrumente, wunderschön verpackt zwar, aber ich irre mich bestimmt nicht.« Tiefe Hoffnungslosigkeit kam über sie, als ihr die Bedeutung seiner Beobachtung dämmerte. »Wir sind verloren, Jerry. Frank hat uns auf einer Welt sitzengelassen, in der die Morlocks hausen!« »Hm!« Jerry sah sie kopfschüttelnd an. »Wer soll hier hausen?« »Morlocks«, wiederholte Cathy. »Kennst du nicht die Geschichte aus dem neunzehnten Jahrhundert – H. G. Wells? – Sie sahen aus wie Affen, wohnten in großen Höhlen und hatten dampfende Maschinen.« »Maschinen – daß ich nicht lache. Die können bestimmt nicht einmal mit einer elektrischen Eisenbahn umgehen. Wären die nicht so blöd gewesen, dann hätten sie uns bestimmt erwischt.« Sie schaute auf den Monitor. »Sieh dir das an!« Der Bildschirm zeigte silhouettenhaft die Umrisse von schraubenähnlichen Türmen, Kuppeln und Portalen. Der Entfernungsmesser zeigte an, daß eine Mauer aus absurder Architektur einen Kilometer vor ihnen lag. Er fuhr etwas schneller. »Es ist immer gut, einen erhöhten Standpunkt einzunehmen, das ist alte Soldatenweisheit. Hinter dem Portal dort scheint es bergauf zu gehen. Von oben finden wir vielleicht einen Ausgang aus der Stadt.« Auf dem Monitor leuchtete ein blaues Rechteck auf, daß Zusehens größer wurde. Dann erzitterte es plötzlich und zerplatzte wie eine Feuerwerksrakete. Das Radio quietschte und jaulte zum Rhythmus einer dumpfen Pauke, die sich wie ein riesiges Herz anhörte.« »Was immer das war, damit möchte ich nicht zusammenstoßen. Es kommt uns genau entgegen. Wie es unsere Detektoren blendet, gefällt mir gar nicht. Besser, du machst die Laserkanone fertig, Cathy.« - 218 -
Er fuhr noch schneller. Das Wasser spritzte nach beiden Seiten weg. Cathy stieg auf die Ladefläche, wo sich der drehbare Turm befand, auf dem ein Teleskop oder ein Gewehr befestigt werden konnte. Sie steckte den Laser geschwind in seine Halterung. Der Regen trommelte auf das Plastikdach und floß in silbrigen Rinnsalen daran herunter, die sich vor der Finsternis abhoben. Das schlanke Rohr der Laserkanone wirkte recht harmlos gegen die Gefahren, die ihnen aus der Nacht drohten. Blaugrüne Blitze flammten durch die tief hängenden Wolken und tauchten das Rechteck vor ihnen in dramatisches Licht. Jerry stockte der Atem, als sich von links ein riesiges Monstrum näherte, das den Regenvorhang wie ein Eisbrecher zu teilen schien. Eine Donnerlawine rollte durch die Wolken über sie hinweg, der Suchscheinwerfer erlosch. Jerry klammerte sich am Lenkrad fest und fuhr in Richtung auf das unsichtbare, ferne Portal. Der Detektor war jetzt total gestört; auf dem Monitor war nur noch Flimmern und Rauschen zu sehen. »Jerry! Da, links!« Er wirbelte den Kopf herum, während der Laser schon feuerte. Vor ihm türmte sich ein Berg von Metall auf, ein brüllender Alptraum aus Rädern und Ketten, von denen der Regen in Wasserfällen herabstürzte. Er holte aus dem Wagen heraus, was möglich war, und wendete schleudernd. Hinter ihm schlug etwas in den Steinboden ein, so daß der Wagen schaukelte wie bei einem Erdbeben. Steinsplitter knallten auf das Plastikdach. Cathy schwenkte die Laserkanone und feuerte ununterbrochen auf der Suche nach einem empfindlichen Punkt in dem finsteren Chaos aus Metall. Ein mit meterlangen Speeren gespickter Arm fegte über das Wagendach hinweg. Jerry duckte sich, Metall kreischte. Der letzte Scheinwerfer fiel aus. Der Wagen machte einen Satz. Von oben kam ein riesiges Stahlmaul und biß sich im Plastikdach des Wagens fest. Die Vorderräder zuerst wurde der Wagen langsam angehoben. Jerry konnte nicht mehr steuern. »Ich kann es nicht aufhalten, Jerry! Der Laser scheint es nicht einmal zu kitzeln!« Cathy hockte bleich hinter dem Laser und jagte einen Strahl nach dem anderen auf das gepanzerte Monstrum. Jerry legte einen Finger auf eine rote Drucktaste und sagte zu Cathy: »Duck dich, ich sprenge das Dach ab.« Sie rollte sich zusammen und hielt sich die Arme über den Kopf. Er drückte die Taste und warf sich mit dem Gesicht gegen die Rückenlehne des Fahrersitzes. Sekundenbruchteile später explodierten die - 219 -
Befestigungsbolzen des Daches, und das Plastik löste sich in Millionen winziger Splitter auf. Die Klaue des Greifarms klappte krachend zusammen, als ihre Beute verschwunden war, und der Wagen landete hart auf dem Boden. Halb ohnmächtig griff Jerry nach dem Lenkrad. Er wußte kaum, was er tat, als er das Fahrzeug in rasendem Tempo nach vorn trieb. Nach ein paar hundert Metern waren sie vollkommen durchnäßt, doch das merkten sie gar nicht. Irgendwo vor ihnen wartete ein rettender Unterschlupf, an nichts anderes konnten sie denken. Im Flackern der Blitze war das Portal schon deutlich zu erkennen. Hinter sich hörten sie ein titanisches Krachen, als ob zwei Welten zusammenstießen. Der Boden wackelte, und sie sahen sich mit großen Augen an. Cathy sagte: »War das wohl die zweite Maschine?« Jerry grinste bösartig. »Das hörte sich an, als wären sie zusammengestoßen.« Sie lachte; das Lachen wurde immer wilder und hysterischer, bis Cathy hemmungslos schluchzte. Sie hatten das Portal erreicht und fuhren zügig eine sanfte Steigung hinauf, die sie in ein von luminiszierenden Fackeln kalt und dämmerig beleuchtetes Gewölbe führte. Verschnörkelte Galerien und Arkaden flogen schemenhaft an ihnen vorbei. Der Lärm von draußen war nicht mehr zu hören, nur das Brummen ihres Motors hallte aus den unermeßlichen Tiefen des Felsendomes zurück. Diese Umgebung war berauschend, sie lullte die beiden gerade genug ein, daß sie dem letzten und entscheidenden Angriff vollkommen unvorbereitet entgegengingen. Sie hielten an. »Es ist wie ein künstlicher Berg«, flüsterte Cathy, die sich wieder etwas erholt hatte. »Wie kann man nur auf die Idee kommen, sich unter einer solchen Masse von Felsen zu verschanzen?« »Das weiß der Himmel.« Auch Jerry sprach sehr leise. »Angst vor der Außenwelt vielleicht. Ich bin kein Psychologe.« Er wollte gerade weiterfahren, als ein Haufen düsterer Figuren aus einem Seitengang wenige Meter neben ihnen auf sie los stürmte. Es blieb keine Zeit, zu entkommen oder den Laser einzusetzen. Sie gingen unter in einem Knäuel aus Armen und Beinen, einem Haufen nach Dreck und Schweiß stinkender Leiber. Jerry kämpfte unter Einsatz der neuesten Nahkampftechniken und mit der Kraft eines Erdenbewohners, der an eine viel höhere Schwerkraft gewöhnt war und deshalb stärkere Muskeln besitzen mußte als die Bewohner dieser leichtgewichtigen Welt. Als er einen Augenblick lang den Kopf hoch- 220 -
bekam, meinte er, den Roboter in einer Ecke stehen zu sehen, der sie in die Stadt geführt hatte, und den Kampf aus sicherer Entfernung beobachten. Das war sein letzter klarer Gedanke. Bunte Lichter tanzten zwischen dem Schattengewühl, die Horde stob auseinander und lag unbeweglich auf dem Boden verstreut. In seinem Kopf jagten sich die Gedanken – er sah eine Straße in London, die er vor vielen Jahren entlang gegangen war … säulenbewehrte Portale … chaotischer Verkehr. Dann war alles dunkel. Krater, Schnee und Schlammlöcher. Cathy und Frank waren da; er sprach mit ihnen, obwohl er irgendwie wußte, daß sie tot waren. Dann verschwamm die Szene vor seinen Augen, er sank in tiefe, schwarze Bewußtlosigkeit. Als er aufwachte, beugte sich ein Mädchen in einer kurzen, silbernen Tunika über ihn. Sie war klein, hübsch und braunäugig. Ihr ernstes Gesicht war von einem blonden Haarschopf umrahmt. Als sich Jerrys Augen endlich vollständig öffneten, lächelte sie und sagte: »Ich heiße Lae Pinu. Und wer bist du?« Jerry starrte sie an. Er war sprachlos. Sie sprach englisch, klares, fließendes Englisch! Er versuchte, sich aufzurichten, doch etwas hielt seinen Kopf nieder. Er faßte auf seine Stirn und fühlte ein kaltes Metallband. Ein neuer Schwächeanfall überwältigte ihn, er fiel zurück in den düsteren Traum von Tod und Untergang.
XII Es gab keine Hoffnung mehr. Die Menschheit war verloren. Die Hoffnung der Menschheit war verloren. Keine Hoffnung mehr … Wie ein Kinderreim wiederholten sich die Gedanken in Jerrys Kopf, während er langsam wieder zu Bewußtsein kam. Als er das Mädchen erblickte, war er für einen Augenblick ganz klar, doch die schrecklichen Traumbilder ließen sich nicht so leicht abschütteln; die kraterzernarbten Straßen Londons, die lebenden Leichen von Cathy und Frank verfolgten ihn weiter. Er faßte sich nochmal an die Stirn; der Metallreif war verschwunden. Er sammelte seine Kräfte, vertrieb die Todesgedanken und richtete sich ruckartig auf. Er saß auf einer Art Podest an einer Seite eines fünfeckigen großen Raumes. Direkt gegenüber führte ein schmaler Gang ins Ungewisse. An den Wänden hingen irgendwelche Instrumente, riesige Skalen mit Symbolen, die ihm nichts sagten. Zwischen den Skalen spendeten - 221 -
luminiszierende Tafeln ein kaltes, bläuliches Licht. In der Mitte des Raumes standen sechs Menschen und beobachteten ihn intensiv. Der erste, ein großer, kräftiger Mann mit langem dunklen Haar, das von grauen Strähnen durchsetzt war, hielt ein mattgläsernes Rohr auf ihn gerichtet. »Bleib sitzen!« befahl er grob. »Sag uns, wer du bist und was du hier suchst.« Einen Moment lang betrachtete Jerry die Gruppe, bevor er antwortete. Es waren vier Männer und zwei Frauen, alle in leichte Blusen und verschiedenfarbige Hosen gekleidet. Sie hatten eine goldfarbene Haut und schwarze Haare, bis auf eine Frau, die blond war. Alles in allem sahen sie, abgesehen von dem mißtrauischen Ausdruck auf ihren Gesichtern, ganz vernünftig aus und stellten gegenüber den anderen Einwohnern der Stadt, die er bisher kennengelernt hatte, eine erhebliche Verbesserung dar. Jerry faßte wieder Mut. »Ich bin Colonel Jerry Cornelius, Commander des Raumschiffes, das vor zwei Tagen auf ihrem Trabanten gelandet ist …« Der große Mann schwenkte bedrohlich das Glasrohr. »Wir verstehen dich nicht. Spreche gefälligst Arvik!« »Was soll ich?« Jerry war ratlos. »Arvik!« brüllte der Sprecher. »Die Lehrmaschine hat es dir beigebracht, während du schliefst. Du mußt schon unsere Sprache sprechen, damit wir dich verstehen können!« Schockiert stellte Jerry fest, daß die Töne, die von den Lippen der Leute kamen, ihm vollkommen fremd waren, die Worte, die sein Gehirn daraus bildete, aber klar und vertraut. Dazu war also der Stirnreif gut gewesen. Ein Sprachlehrgerät! Dann hatte also auch das Mädchen, das ihn begrüßt hatte, als er aufwachte, nicht englisch, sondern Arvik gesprochen. Plötzlich war ihm die fremde Sprache ganz selbstverständlich; sie bemächtigte sich einfach seiner Zunge. Er wiederholte seinen Spruch und fuhr fort: »Wir kommen vom Planeten Erde, aus einem Sonnensystem, das nicht weit von hier ist. Wir sind auf der Suche nach einem Planeten, der dem unseren ähnlich ist. Auf eine Rasse zu stoßen, die uns so gleicht, hatten wir kaum zu hoffen gewagt.« Ein junger Mann in einer gelben Tunika flüsterte aufgeregt mit dem Sprecher der Gruppe. Im Hintergrund sah er Lae Pinu in der Tür stehen. Sie war barfuß und trug immer noch ihr kurzes silbernes Kleid, an das er sich noch gut erinnerte. In ihren großen Augen spiegelte sich eine gewisse Unruhe, und als sich ihre Blicke trafen, zog sie sich zurück. Die anderen flüsterten nervös durcheinander. Schließlich war - 222 -
Jerrys Geduld zu Ende. »Wo ist meine Frau«, fragte er scharf. »Wo ist Cathy? Ist sie in Sicherheit?« Der lange Mann sah ihn kalt an. »Wir haben keine Frau gesehen. Außer dir haben wir niemand gefunden.«
XIII »Fremder!« Jerry schlug grunzend die Augen auf. Sein Kopf brummte. Kalte Übelkeit stieg in ihm hoch. Er biß die Zähne zusammen und zog sich an der Zellenwand hoch. Durch das Gitterfenster in der verriegelten Tür gefiltertes Licht warf traurige Schatten auf den Boden. Hinter den Gitterstäben schimmerten ein Blondschopf und zwei Augen, knapp über der Unterkante des Fensters. Er kroch auf die Tür zu. »Lae Pinu!« krächzte er. »Was habt ihr mit mir vor?« »Sei still«, flüsterte sie, »man darf uns nicht hören.« Sie trat einen Schritt zurück und schaute schnell nach rechts und links, ob die Luft rein war, dann kam sie wieder an das Fenster. »Schnell – nimm das!« Sie reichte ihm zwei Würfel durch die Stäbe, die in eine Metallfolie eingewickelt waren. Er nahm sie an, drehte sie unschlüssig in seinen Händen. »Was ist das?« »Etwas zu essen«, antwortete Lae Pinu und schaute sich wieder ängstlich um. »Sie werden bald wieder zu dir kommen, mein Vater und die anderen. Er nimmt dir deine Geschichte nicht ab. Sie wollen dich vor die Gerichtsmauer stellen, um die Wahrheit herauszufinden.« »Die kennen sie doch schon!« Er klammerte sich verzweifelt an die Gitterstäbe. »Sag mir, hast du irgend etwas von meiner Frau gehört?« »Nein. Mein Vater hat gesagt, daß du allein warst, als wir die Sev Alab, die Bewohner der Unterstadt, mit der Hypnosemaschine zur Räson brachten.« »Wie kann er nur so sicher sein?« sagte Jerry ärgerlich. »In dem Gewimmel und bei dem flackernden Hypnoselicht kann er sie leicht übersehen haben! Vielleicht haben die Sev Alab sie verschleppt, als sie sich zurückzogen!« Lae Pinu schaute sich nervös um. »Ich weiß es nicht …« - 223 -
Er umklammerte ihre Hände, mit denen sie sich am Gitter festhielt. »Lae Pinu, bitte, du mußt uns helfen!« Sie zuckte zurück. »Ich muß gehen. Wenn mein Vater mich hier sieht, wird er mich bestrafen! Erzähle ihm nichts von dem Kuchen!« Ihre Augen waren tränennaß. Er ließ sie sofort los. »Es tut mir leid«, sagte er, »ich werde deinem Vater bestimmt nichts erzählen. Ich sollte dir dankbar sein für alles, was du schon für mich getan hast, anstatt noch mehr zu verlangen.« Lae Pinu sah ihn einen Augenblick wortlos an. Dann huschte sie fort. Jerry lauschte angestrengt, ob schon die Schritte der anderen zu hören waren, doch er hörte nichts. Er lehnte sich wieder gegen die Wand und packte die beiden Würfel aus, die Lae Pinu Kuchen genannt hatte. Die bloße Aussicht, etwas zwischen die Zähne zu bekommen, machte ihn rasend hungrig. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Es schien ihm unfaßbar, daß er noch vor wenigen Wochen mit Cathy und Frank auf dem Gandhi Raumfahrtgelände herumgeschlendert war, daß sie alle voller Hoffnungen und Träume gewesen waren. Das Schicksal der Erde ruhte auf ihren Schultern, so sagten jedenfalls die Fernsehkommentatoren. Jerry grinste säuerlich. Und jetzt saß er hier, der Retter der Welt, eingesperrt in einer Zelle auf einem namenlosen Planeten. Er rief sich die Szene ins Gedächtnis zurück, die sich in dem Raum abgespielt hatte, wo die Sprachlehrmaschine installiert war, wie er die Kontrolle über sich verlor und sich einen Weg durch die Gruppe der Fremden bahnen wollte, um Cathy suchen zu gehen. Der Anführer hatte einen Schalter an dem Glasrohr betätigt und einen solchen Schmerz durch Jerrys Nervenbahnen gejagt, daß er bei der bloßen Erinnerung daran zu schwitzen begann. Danach war er wie gelähmt. Sein Geist hatte sich verfinstert, bis Lae Pinus Stimme ihn geweckt hatte. Die beiden Kuchenstücke rochen schwach nach Kaffee; er probierte vorsichtig und fand den Geschmack ganz passabel. Vielleicht waren die Happen vergiftet oder mit Drogen versetzt, dachte er – er wußte schließlich absolut nicht, was diese Leute im Schilde führten – doch irgendwem mußte er vertrauen, und das Mädchen schien es gut mit ihm zu meinen. Warum half sie ihm überhaupt? Alles Herumrätseln war zwecklos, solange er noch so wenig über sie wußte. Vielleicht war er für sie eine exotische Abwechslung! Stimmen hallten durch den Korridor. Hastig stopfte er sich den letzten Bissen in den Mund, knüllte die Folie zusammen und versteckte - 224 -
sie in einer Spalte im Fußboden. In letzter Minute legte er sich zusammengerollt in eine Ecke der Zelle, während draußen vor der Tür Sandalen, über den Steinboden schlappten. Das Türschloß knirschte, ein schnell breiter werdender Lichtbalken fiel auf ihn. Durch Augenspalten sah er drei Männer in der Tür stehen. Eine Stimme sagte: »Schläft er, oder hat die Neurogun ihn umgebracht?« »Bleibt zurück!« Das Brüllen des Anführers kannte er gut. »Es könnte ein Trick sein. Ich kitzele ihn ein wenig mit der Neurogun, dann werden wir wissen, ob er noch lebt.« Bevor Jerry sich bewegen konnte, brannte ein glühendheißer Schmerz in seiner Brust. Obwohl das noch milde war gegen die Ladung, die er vorher abbekommen hatte, konnte er sich nicht mehr schlafend stellen. Er sprang auf die Füße und hockte den Männern gegenüber, deren Gefangener er war. »Was willst du jetzt schon wieder, du Schwein!« schrie er den Anführer an. Seine Stimme krächzte vor Durst und Wut. Sein Zorn hinderte ihn aber nicht daran, zu bemerken, daß das Trio einen Schritt zurückwich. »Komm heraus!« schnappte der Anführer, die Neurogun im Anschlag. »Es ist Zeit für dich, vor die Mauer der Wahrheit zu treten. Der Gerichtshof der Sev Kalan, des Volkes der Oberstadt, wird schon herausfinden, ob deine Geschichte wahr ist oder nicht. Komm schon!« Jerry gehorchte. Sie nahmen ihn in die Mitte, der blaue Mann mit der Knarre ging hinter ihm. Zwischen mächtigen Steinsäulen fiel in regelmäßigen Abständen fahles Sonnenlicht in den Korridor. Die Wände waren verziert mit unheimlichen Ornamenten, die ihn finster anglotzten. Jerrys Muskeln spannten sich unwillkürlich, als der Korridor sich in eine weite Halle öffnete. Sie gingen eine endlose, breite Treppe hinauf und kamen an eine Wegkreuzung, von der aus es nur in eine Richtung weiterging, die anderen beiden Wege endeten nach wenigen Metern vor massiven Eisentüren. Jerrys Herz klopfte bis zum Hals: Dort stand sein Wagen vor einer reich ornamentierten Säule; die verbeulte Halterung des defekten Suchscheinwerfers schimmerte im Sonnenlicht. Neu aufflammende Hoffnung ließ ihn fast stolpern. Wenn er nur den Wagen erreichen könnte! »Weiter!« murrte die Stimme hinter ihm. Zähneknirschend trottete er weiter. Er hatte keine Chance. Sie gingen durch ein hohes Tor. Plötzlich fand er sich in einer Halle, die so groß war, das die vielen hundert Leute, die dort auf sie warteten, sich darin zu verlieren schienen. Glühende Tafeln beleuchteten die Halle nur in Bodennähe, - 225 -
während die Decke in der Dunkelheit nicht zu sehen war. Jerrys Gedanken verfingen sich sofort in einem Wall aus Kristallen, roten Blechen und schillernden Farben, einer Mauer, die das Ende des Universums zu sein schien. Sie beherrschte eine Seite der Halle und füllte den ganzen Saal mit unfaßbaren, blitzartigen Erleuchtungen. Es brauchte ihm nicht gesagt zu werden, daß dies die Mauer der Wahrheit war. Es war ihm auch sofort klar, daß sie nichts anderes als ein gigantischer Computer war. Ein breiter Gang führte zwischen geschnitzten Bänken zu einer erhöhten Plattform direkt vor der Mauer. Als Jerry diesen Weg beschritt, war er sich bewußt, daß Hunderte von Augenpaaren auf ihm ruhten, alles Geflüster und Geschwätz drehte sich um ihn. Auf den Bänken saßen Männer und Frauen jeden Alters, sogar ein paar Kinder drängten sich in den ersten Reihen. Alle trugen Tuniken, jung und alt ohne Unterschied. Die schillernden Lichtstrahlen, die von der Mauer kamen, prägten die irreale Atmosphäre der Halle. Jerry verdrehte die Augen und suchte eine Treppe, eine Straße, irgendeinen Ausweg aus dieser gigantischen Regenbogenhöhle. Jerry stand jetzt so dicht vor der titanischen Mauer, daß er links und rechts die Enden nicht mehr sehen konnte. Als denkender Berg mit unzähligen blinkenden Lichtleitern, gespickt mit einem konfusen Gewirr von Instrumenten, dräute die Mauer über ihm. Obwohl er vertraut war mit dem technischen Gigantismus des zwanzigsten Jahrhunderts auf der Erde, fiel es ihm schwer, die irrationale Angst zu verdrängen, die ganze Wand könnte zusammenstürzen und ihn unter ihrem unermeßlichen Gewicht vergraben. In der Mitte des Podestes standen zwei samtig schwarze, hüfthohe Quader. Auf Befehl seines Kerkermeisters stellte er sich dazwischen und wandte sein Gesicht der Menge zu. Jerry spürte das wachsame Auge des Computers in seinem Rücken, doch trotzdem fühlte er sich einigermaßen ruhig. Er bemerkte, daß die beiden Quader auf der Oberseite wie Steine in einem Bach ganz unregelmäßig abgeschliffen waren. Der große Mann stand einige Meter von ihm entfernt. Er hielt die Neurogun immer noch auf Jerry gerichtet und begann zu der Versammlung zu sprechen. »Ich spreche im Namen des allmächtigen Richters. Ich, Lae Varka, der Priester der Mauer, habe beschlossen, diesen Fremdling hier dem Urteil des allwissenden Richters zu stellen, um festzustellen, ob er die Wahrheit sagt.« - 226 -
Von der Menge auf den Rängen kam beifälliges Gemurmel. Lae Varka schaute zu dem Schaltpult an der Frontseite der Plattform und runzelte die Stirn. »Wo ist die Dienerin des allmächtigen Richters?« Langsam, fast schüchtern, löste sich Lae Pinu aus dem Publikum und kam die Stufen zum Podest herauf. »Hier bin ich, Vater.« Sie trug jetzt eine dunkelrote Tunika. Sie kniff die Lippen zusammen, ihr Gesicht war leichenblaß. Lae Varka wandte sich wieder Jerry zu. »Gefangener, erzähle jetzt deine Geschichte. Die Dienerin wird deine Worte in die Sprache des gütigen Richters übersetzen. Wenn du fertig bist, wird die Stimme der Mauer das Urteil verkünden. Lege nun deine Hände auf die Steine.« Jerry schaute in die Mündung der Neurogun. Er mußte gehorchen. Plötzlich der Schrei einer Frau. »Tu es nicht, fasse die Steine nicht an! Die Mauer wird dich töten!« Jerry vergaß die Waffe, die auf ihn gerichtet war, und sah Lae Pinu, die mit angstverzerrtem Gesicht vor dem Schaltpult stand. Ihr Vater richtete die Neurogun auf ihren Kopf. »Du hast die Gesetze der Mauer gebrochen! Du hast dein Leben verwirkt!«
XIV Auf der Erde hätte sie sterben müssen. Im Sprung, als Jerry sich auf Lae Varka stürzte, sah er schon, wie sich die Finger des Oberpriesters um den Abzug der Neurogun, die auf den Kopf seiner Tochter gerichtet war, krümmte. Die Szene spielte sich eindeutig außerhalb von Jerrys Reichweite ab, er konnte nur zuschauen. Doch er flog durch die Luft, prallte mit voller Wucht gegen Lae Varka, der noch den kleineren Wächter mit sich umriß. Die Geheimnisse der Gravitation, dachte Jerry, während er versuchte, die Neurogun, die auf dem Boden lag, zu erwischen. Zwanzig Prozent Unterschied zwischen der Schwerkraft auf der Erde und der Schwerkraft auf diesem Gestirn hatten über Leben und Tod entschieden, jedenfalls vorläufig. Ein Fuß näherte sich bedrohlich seinem Kopf; Jerry duckte ab, griff den Fuß und riß den verdutzten Angreifer krachend zu Boden, wo er stöhnend liegenblieb. - 227 -
Nur mit Lae Varka war er noch nicht fertig. Mit wildem Blick und schwer atmend kam er auf Jerry zu getaumelt. Die Waffe in Jerrys rechter Hand schien ihn nicht zu schrecken. Mit zu Krallen gekrümmten Fingern stürzte er sich auf den Erdbewohner; Jerry ging einen Schritt vorwärts, wich nach rechts aus und ließ den wütenden Priester voll in seine linke Faust laufen. Es gab ein furchtbares, fleischiges Krachen. Lae Varka fiel wie von einem Hammer gefällt und Jerrys linke Faust schmerzte leicht. Er richtete die Neurogun auf das Publikum. »Der erste, der sich mir zu nähern versucht, wird dies zu spüren bekommen!« Die Sev Kalan waren schon im Begriff, das Podest zu stürmen, prallten jedoch wie von einer Gummiwand kurz davor wieder zurück. Er konnte den Haß fühlen, der ihm in Wellen entgegenschlug. Er schaute zur Seite, wo das Mädchen mit blutleerem Gesicht verängstigt in die Menge starrte, und stellte traurig fest, daß der Haß sich genauso gegen sie wie gegen ihn richtete. Ohne zu zögern sprach er sie an. »Du kennst dich hier aus – zeig mir, wo es hinausgeht. Beeil dich, Mädchen!« Lae Pinu starrte ihn an. Ihr Kehlkopf hüpfte auf und nieder, doch kein Wort kam über ihre Lippen. Ein kleiner glänzender Gegenstand flog aus dem Wald geballter Fäuste nach vorn und prallte nur wenige Zentimeter neben Lae Pinu gegen das Schaltpult. Es war ein spitzes Messer. Jerry durfte keine Zeit mehr verlieren. Er packte Lae Pinu bei den Schultern und schüttelte ihren kleinen Körper wie eine Puppe. »Sie werden dich umbringen! Lauf, Mädchen, lauf, verdammt nochmal! Ich kann sie nicht länger aufhalten!« Endlich schoß Blut zurück in ihr Gesicht. »Nach links«, sagte sie. »Die Treppe dort drüben führt zu einer Galerie –« Sie brauchte nicht weiterzusprechen. Als sie das Podest verlassen wollten, erhob sich ein unheimliches Zorngebrüll in der Menge. Plötzlich standen vier Männer mit blitzenden Messern vor ihnen. Ohne zu zögern setzte Jerry die Neurogun ein. Der Pöbel teilte sich hinter den zuckend zusammenbrechenden Männern und machte eine Gasse frei. Jerry zog das Mädchen hinter sich her und sprintete die Treppe hinauf. Als sie oben waren, war das Heulen der Menge durch den dicken Steinboden kaum noch zu hören. Lae Pinu übernahm die Führung; Jerry verlor vollkommen die Orientierung in dem Gewirr von endlosen Gängen und staubigen Hallen, die sie keuchend durch- 228 -
liefen. Schließlich blieb Lae Pinu in einem Raum, der noch schmutziger war als die, die er bisher gesehen hatte, stehen. »Hier hinauf!« Sie zeigte auf eine schwarze Öffnung in der Wand, ein Meter breit und zwei Meter hoch, in vielleicht zwei Metern Höhe über dem Boden. Sie erinnerte verteufelt an den Eingang zu einer Gruft. Jerry runzelte die Stirn. »Okay«, sagte er. »Du zuerst.« Sie setzte einen Fuß in seine verschränkten Hände, und Jerry hob sie ächzend hoch. Mit unglaublicher Leichtigkeit schwang sie sich mit ihren nackten, goldenen Beinen zu der Öffnung hinauf und schlüpfte hindurch. Jerry nahm etwas Anlauf und sprang an der Mauer hinauf. Im nächsten Augenblick lag er neben ihr in der feuchten, beklemmenden Finsternis. Sofort zupfte sie ihn am Overall. »Wir können jetzt gehen.« Jerry setzte sich auf. »Nein, Lae Pinu, warte. Ich muß nachdenken. Ich muß meine Frau finden. Gott weiß, wie es ihr ergangen ist. Wenn sie nicht bei deinem Volk ist, dann muß ich in der Unterstadt nach ihr suchen.« Ihre Stimme wurde zu einem Flüstern. »Die Sev Alab nehmen nie ihre Opfer mit. Wenn sie jemanden erwischen, töten sie ihn und lassen die … Überreste liegen, damit wir sie einsammeln können. Wir haben überall an den Wegen zur Unterstadt Hypnosemaschinen und Warnsignale aufgestellt, doch sie werden jedes Jahr frecher.« Er rieb sich mit den Händen durchs Gesicht und ertastete seine immer länger werdenden Bartstoppeln. Plötzlich fühlte er sich erschöpft. Er fror. Bedrückt sagte er zu ihr: »Dann hat sich entweder dein Vater geirrt, als er sagte, Cathy sei nicht bei mir und den hypnotisierten Sev Alab gewesen, oder jemand anders –« Er stockte. Konnte jemand anders sie mitgenommen haben? Der Gedanke weckte in ihm schlafende Erinnerungen. »Lae Pinu«, ein Hoffnungsschimmer ließ die Müdigkeit von ihm abfallen, »als Cathy und ich überfallen wurden, meinte ich noch etwas zu sehen, kurz bevor die Hypnoselampen mich betäubten. Eine sehr große, zweibeinige Gestalt, die sich im Schatten versteckte. Irgendwie sah sie aus wie der Roboter, der uns in die Stadt geführt hat, nachdem wir gelandet waren. Würde der Roboter einem Menschen etwas zuleide tun oder ihn verschleppen?« »Wohin … wohin ist er gegangen?« fragte sie mit der Stimme eines verängstigten Kindes. »Ich habe ihn nur ein oder zwei Sekunden lang gesehen.« Jerry versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, doch ihre Stimme erfüllte ihn - 229 -
mit schlimmen Vorahnungen. »Die Gestalt hat sich nicht von der Stelle gerührt. Könntest du dir denken, wer das war?« »Oh, Jeh-ree!« Zu seiner Verblüffung warf sie sich weinend an seine Brust und versuchte, ihm in unzusammenhängenden, von Schluchzen unterbrochenen Worten irgend etwas zu erzählen; er verstand jedoch kein Wort. So hielt er sie in seinen Armen, ließ den Tränen freien Lauf und wartete ab, bis ihre Gefühle sich wieder beruhigten. Er konnte nur hoffen, daß ihr Weinen die Verfolger nicht auf ihre Fährte locken würde, doch bald sammelte sie sich wieder und löste sich schniefend aus seinen Armen. Jerry zog ein Taschentuch aus einer Innentasche und drückte es ihr in die Hand, die er in der Dunkelheit kaum erkennen konnte. »Hier, nimm das.« Sie tupfte ihr Gesicht ab und sagte leise: »Es tut mir leid.« »Warum?« sagte er. »Nach alldem, was du in der letzten Stunde durchgemacht hast, mußte das einmal sein. Ich würde auch gern ein paar Tränen vergießen, das würde mir bestimmt gut tun.« Er zügelte noch einmal seine Neugier – denn er wollte unbedingt wissen, weswegen sie so erschrocken war – und streichelte zärtlich ihre Schultern. »Bevor du mir sagst, was los ist, wollen wir sehen, daß wir hier herauskommen. Bei Tageslicht sieht vielleicht alles viel besser aus.« Lae Pinu stand auf. »Du bist auch nicht beleidigt, wenn ich dich Jeeree nenne?« Jerry lachte. »Man hat mir schon schlimmere Namen gegeben. Dein Namensgedächtnis ist übrigens ausgezeichnet, junge Frau.« »Ich bin die Dienerin des allmächtigen Richters, die Hüterin seiner Bücher«, sagte Lae Pinu stolz. Nach wenigen Schritten kamen sie zu einem Eisentor am Ende des engen Tunnels. Obwohl es arg verrostet war, schwang es fast lautlos zurück, als das Mädchen es auf stieß. Jetzt betraten sie einen feuchten Kamin, in den von oben graues Licht durch die stehende Luft fiel. Hoch über seinem Kopf sah Jerry den freien Himmel. Lae Pinu führte ihn zu einer rostigen Leiter, die in der Steinwand verankert war. »Der Kamin endet in einem verlassenen Teil der Oberstadt. Ich weiß das von den Büchern.« Jerry klemmte die Neurogun griffbereit unter seinen Gürtel. »Trotzdem, ich gehe lieber auf Nummer Sicher. Bleib ein paar Sprossen hinter mir und halte den Kopf gesenkt, bis ich dir sage, daß die Luft rein ist.« - 230 -
Der Aufstieg verlief ohne Zwischenfall. Jerry und Lae Pinu standen auf einem unübersehbaren, windigen Flachdach und sogen die kühle, frische Luft in tiefen Zügen ein. Die Sonne hatte gerade den Zenit überschritten und schien von Zeit zu Zeit durch dicke rosa Wolken. Kein anderes Lebewesen war zu sehen in dieser bizarren Steinlandschaft, doch Jerry war nicht eher beruhigt, bis er ein Turmzimmer fand, von dem er die gesamte Umgebung weit überblicken konnte. Nun saßen sie zusammen in dem barocken Zimmerchen, und er konnte sich entspannen. Er studierte einen Augenblick ihr ernstes, trauriges Gesicht; dann hielt er die Zeit für reif. »So, Lae Pinu, ich warte. Erzähle mir, was dich so erschreckt hat.« * Die Hoffnung der Menschheit stürzte lautlos durch die unfaßbaren interplanetaren Tiefen; alle Kraftwerke standen still. In irrsinnigem, selbstmörderischem Sturz kreiste sie antriebslos zwischen Perihel und Aphel in einem fremden Sonnensystem. Frank Marek genoß den Sturz. Er lebte, war wohlauf und bester Laune. Er jauchzte und frohlockte. Er war nicht bei Sinnen. Die Gravitation im Raumschiff war abgeschaltet, und er trieb schwerelos durch den verwüsteten Kontrollraum. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf den Beobachtungsschirm und sah den blau-weißen Riesenplaneten schnell unter sich versinken. Er brüllte in den dunklen Schiffsbauch: »Wer ist dein Meister? Wer hat dich erschaffen?« Und das Schiff antwortete mit einer Stimme, die nur einem Wahnsinnigen oder einem Computer gehören konnte: »Marek! Marek! MAREK!« Marek lachte. Er lachte über den Weltraum, über den orangefarbenen Mond, von dem er geflohen war, er lachte über das ganze, beschissene Universum. Und wieder brüllte er den Computer an, der jetzt sein Sklave war: »Was ist die Hoffnung der Menschheit?« Und das Schiff antwortete: »Tod! Der Tod ist die Hoffnung der Menschheit! Tod, Tod, TOD!« Marek war zufrieden. * »Deine ältere Schwester ist also auf dieselbe mysteriöse Weise verschwunden wie Cathy?« - 231 -
Jerry sprach sehr leise. Sie lagen nebeneinander in einem horizontalen Belüftungsschacht. Der Wagen stand direkt unter ihnen. Vor einigen Stunden hatten sie den Turm verlassen, nachdem sie sich einen Plan zurechtgelegt hatten. Sie hatten zu der Kreuzung vor dem Gerichtssaal zurückgefunden und unterwegs ohne Schwierigkeiten Proviant aus den Lagerhäusern der Sev Kalan organisiert. Nun warteten sie, daß es Nacht würde und die Oberstadt schlafen ging. »Sie verschwand vor vier Jahren«, antwortete Lae Pinu. »Mein Vater hatte keine Söhne, so lehrte er seine älteste Tochter die Gesetze und Geheimnisse der Mauer, denn unsere Familie war schon immer für die Bücher des allmächtigen Richters verantwortlich. Lae Mura war der Liebling meines Vaters. Ich mußte an ihre Stelle treten – so will es das Gesetz – doch er behandelte mich, als wäre ich schuld an Lae Muras Verschwinden. Ich hasse ihn«, sagte sie in stiller Inbrunst. »Ich hasse die Mauer und das ganze dumme, grausame Spiel. Manchmal denke ich, unser Volk sei genauso dumpf und verrückt wie die Bestien in der Unterstadt. Hätte ich nicht solche Angst vor den Alanga, dann wäre ich schon längst von hier verschwunden.« Jerry beobachtete eine Gruppe von Sev Kalan, die unter dem Schacht vorbeiging. Als sie außer Sicht waren, sagte er: »Ich weiß sehr wenig über eure Welt, deshalb verstehe ich auch nicht, wieso diese Geschöpfe, die Alanga, die Sev Kalan so in Angst und Schrecken versetzen. Du hast mir erzählt, daß sie in der Stadt ein- und ausgehen können wie sie wollen, und keiner weiß, wie sie hereinkommen. Sie nehmen Leute von deinem Volk als Opfer für irgendeine geheimnisvolle Gottheit, die in euren Büchern ›Levi-Athan‹ genannt wird. Und trotzdem ist die Beschreibung der Alanga nur sehr dürftig – groß, dünn, sie bewegen sich lautlos – na gut. Warum nur habt ihr sie nie in den Bergen aufgestöbert, in denen sie angeblich leben?« Lae Pinu zuckte hilflos mit den Schultern. »Wir glauben, daß wir den Alanga damit nur einen Gefallen tun würden. In der Wildnis würden sie über uns herfallen und uns alle vernichten. Manchmal denke ich, das wäre besser, als so weiterzuleben wie bisher.« Sie hatte sich jetzt unter Kontrolle und konnte ganz ruhig über diese Dinge reden; im Turm war sie noch nahezu hysterisch geworden bei jedem Gedanken an die Alanga, als er sie endlich soweit hatte, überhaupt davon zu reden. Wahrscheinlich war seine Entscheidung richtig, in ihren Vorschlag einzuwilligen und die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Grimmig sagte er: »Ich muß es versuchen. Wenn die Alanga Cathy verschleppt haben – und ich bin fast sicher, - 232 -
daß es so ist – dann muß ich diese Berge Meter für Meter durchkämmen, und wehe dem, der mich daran hindern will!« Als es in den Hallen und Gängen vollständig ruhig war, wickelte er das Seil aus, das sie besorgt hatten, befestigte ein Ende an einer Stange im Luftschacht und ließ das andere Ende vorsichtig zu Boden. Dann hangelte er sich geschwind auf den Korridor hinunter und wa rtete, bis das Mädchen nachgekommen war. Sie schlichen zum Expeditionswagen und kletterten geräuschlos in die Sitze. Der Wagen schien noch so zu sein, wie er ihn verlassen hatte. Jerry ließ den Motor an, der fast unhörbar zu gurgeln begann. Alles schien glatt zu gehen. Er wollte gerade losfahren, als vom Tor des Gerichtssaals ein triumphierender Schrei erscholl. Donnernd fielen schwere Stahltüren ins Schloß, die ihnen alle Fluchtwege versperrten. Lae Pinu kreischte: »Jee-ree! Wir sitzen in der Falle!« Aus dem Gerichtssaal strömten Sev Kalan, Lae Varka an ihrer Spitze. In seiner rechten Hand hielt er das Gegenstück zu Jerrys Neurogun. »Runter, Lae Pinu!« brüllte Jerry. Der Mob näherte sich trampelnd. »Jetzt wird’s ernst!« Sie verzog sich auf den Boden der Kabine, er trat aufs Beschleunigungspedal und ließ den Wagen einen Satz nach vorne machen; dabei hatte er die Hupe auf Dauerton gestellt. Und das blieb nicht ohne Wirkung. Lae Varka machte eine komische Figur, indem er versuchte, gleichzeitig auf sie zu schießen und sich die Ohren zuzuhalten. Hinter ihm drängte sich die verwirrte Menge, wußte nicht mehr, ob vor oder zurück. Lae Pinu lugte aus ihrem Versteck hervor und schrie: »Wohin sollen wir fahren? Sie haben alle Ausgänge versperrt!« »Genau das glaubt dein Vater auch!« Jerry schleuderte den Wagen mit quietschenden Reifen herum und hielt genau auf die große Treppe gegenüber vom Gerichtssaal zu. »Halt dich fest!« Mitten durch das Tollhaus aus drohenden Fäusten und wütendem Geheul bahnte er sich den Weg zu dem Ausgang, den die Sev Kalan nicht nur vergessen hatten, an den sie vielmehr überhaupt nie gedacht hatten. Lae Pinu blickte angstvoll die endlose, steile Treppe hinab, dann verbarg sie ihr Gesicht in den Polstern. Der Wagen sprang über die ersten Stufen hinweg. Noch nie hatte Jerry Geschwindigkeit so direkt erfahren. Die grauen Wände verschwammen zu formlosen Schleiern und flogen an ihnen vorbei. Die sechs Reifen hatten eine elastische, fast lebendige Struktur und schluckten zumindest die schlimmsten Schläge, doch das zitternde Scheinwerferlicht bekam fatale Ähnlichkeit mit dem rhythmischen Flackern der Hypnosemaschine. Teils aus Lust, teils um die Erschütterung zu vermin- 233 -
dern, die ihm fast den Magen umdrehte, fuhr er Schlangenlinien. Als sie von der letzten Stufe hüpften und auf ebener Erde landeten, hatte Jerry einige Mühe, seine Finger vom Lenkrad loszubekommen. Er grinste die zerzauste Lae Pinu an, die benommen auf ihren Sitz zurückrutschte. »Ich hätte dich warnen sollen. Früher in San Francisco bin ich Straßenrennen gefahren.« »Schan Francisco … was ist denn das?« Sie war immer noch außer Atem. Jerry lenkte den Wagen langsam die Galerie entlang, immer auf der Suche nach einem Weg, der weiter abwärts führte. »Ach ja, entschuldige. San Francisco ist eine Stadt auf meinem Heimatplaneten. Ein Teil der Stadt ist auf steile Hänge gebaut. Ich habe dort einige Zeit mit meinem Vater gelebt.« »Gibt es auf deinem Planeten mehr als eine Stadt?« Vor Neugier vergaß sie ihre Angst. »Sind die Städte dort wie Beya-Sev?« Er schwieg einen Augenblick und horchte, ob sie verfolgt wurden. Der Motor schnurrte leise, die Reifen rollten lautlos über den Steinboden. Ansonsten: Stille. Er dachte über ihre Frage nach. »Auf der Erde gibt es viele Städte. Hier wird es doch auch nicht anders sein, oder? Hat Beya-Sev denn gar keinen Kontakt mit anderen Städten?« Sie sah ihn groß an. »Warum sollte es noch mehr Städte geben? Wer sollte dort leben?« »Warum sollte …?« Jerry hätte fast ihre Frage wiederholt, doch es kam ihm ein unangenehmer Verdacht bezüglich des Denkens der Sev Kalan. Ein altes Sprichwort ging ihm durch den Kopf: »Jeder ist verrückt, außer dir und mir – und bei dir bin ich mir auch nicht sicher.« Laut sagte er: »Auf der Erde leben mehrere Milliarden Menschen. Sie leben in Gemeinschaften verschiedener Art und Größe. Es gibt kleine Dörfer, wo nur wenige Menschen zusammenleben, und es gibt riesige Städte mit vielen Millionen Einwohnern. Die wenigsten Städte haben eine scharfe Grenze wie Beya-Sev. Sie erstrecken sich über riesige Gebiete und wachsen ständig.« Ihre Augen glänzten vor Staunen. »Aber … was …« Sie war unfähig, es auszusprechen, was immer sie auch fragen wollte. Sie schüttelte den Kopf und sprach mehr zu sich selbst: »So viele Gesichter …« »Ich weiß«, sagte Jerry, »das Gefühl habe ich oft selber.«
- 234 -
XV Sie hatten die Stadt verlassen. Es war ganz einfach gewesen, er konnte es kaum glauben. Von der Galerie führte eine sanft abschüssige Rampe auf ein flaches Dach. Er hatte keine Lust, sich in der Dunkelheit den Gefahren der Unterstadt auszusetzen, deshalb fuhr er kreuz und quer auf dem Dach herum und versuchte die Stadtmauer zu finden, sobald es hell genug war. Und siehe da: Das Dach endete unmittelbar vor der Mauer, ein Sprung genügte, und sie waren auf der Brustwehr. Danach war es kein Problem mehr, wenn auch mühsam, den Wagen mit Hilfe der eingebauten Motorwinde an der sanft abfallenden Außenseite der Stadtmauer herunterzulassen. Sie befestigten den Anker an einem Abflußrohr, das aus der Mauer ragte, und der Wagen glitt wie eine Schnecke, die an einem seidenen Faden hing, langsam die Wand hinab. Lae Pinu hatte, nach einer kurzen Unterweisung im Gebrauch des Lasergewehrs, nicht mehr zu tun als Schmiere zu stehen und aufzupassen, daß niemand sie überraschte. Es passierte nichts, nur die Geräusche und Gerüche des nächtlichen Beya-Sev waren nicht gerade angenehm. Es wehte ein kalter Morgenwind. Jerry zitterte und schaltete seine Overallheizung ein. Er kramte in den Fächern des Expeditionswagens nach brauchbarer Kleidung für das Mädchen. Sie rieb sich schon die Glieder vor Kälte, und auf ihren Beinen, die unter der kurzen roten Tunika ganz nackt waren, hatte sie Gänsehaut. Blonde Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Sie sah aus wie ein verlorenes, trauriges Kind. – Und genau das war sie ja auch, dachte Jerry. Er verdrängte den lästigen Gedanken. Hier draußen war sie wenigstens vor ihren eigenen Leuten sicher. »Probier das mal an«, sagte er und reichte ihr Cathys Ersatzanzug. Sie kroch unbeholfen in das ungewohnte Gewand. Jerry konnte sich kaum ein Grinsen verkneifen, als er das Ergebnis betrachtete. Unglücklich betrachtete sie die ausgebeulten Ärmel und die Hosenbeine, die ihr viel zu lang waren. Sie zupfte an der nassen Bluse und lächelte: »Danke, jetzt friere ich nicht mehr.« Sie faltete sorgfältig ihre Tunika und legte sie in das Gepäckfach. Sie stieg in den offenen Wagen, Jerry glitt neben sie in den Fahrersitz. »Ist deine Frau sehr schön, Jeeree?« - 235 -
»Ja, sehr schön.« Er sah sie nicht an, sondern spähte den dunklen Horizont ab. Einen Augenblick später wählte er einen freundlicheren Ton und fügte hinzu: »Und sehr groß!« Lae Pinu lächelte müde. Sie blickte starr nach vorne auf die neblige Landschaft, die langsam aus der Nacht auftauchte. Irgendwann flüsterte sie: »Ich hoffe, die Alanga haben ihr nichts getan.« Gott stehe ihnen bei, wenn sie das getan haben, dachte Jerry finster. Seine Finger glitten routiniert über die Armaturen. Der Wagen zog breite, glitzernde Spuren auf dem feuchten, blauen Moos. Plötzlich zeigte sich die Sonne über den Hügeln und überflutete die Nebellandschaft mit orangefarbenem Licht. Die Windschutzscheibe verdunkelte sich automatisch auf ein genau abgestimmtes Maß und wirkte so als Blendschutz. Er schaltete die Scheinwerfer ab. Auf den Zuruf des Mädchens hin schaute er sich um. Beya-Sev glänzte in der Morgensonne. Die Reflexe auf den Dächern der seltsam verschlungenen Türme waren so hell, daß die Umrisse in einem goldenen Feuer verschwammen. Er spürte den fast überwältigenden Drang, umzukehren und das phantastisch böse Chaos nach einer Spur von Cathy zu durchstöbern. Er hatte das Gefühl, sie im Stich zu lassen, nur um einer vagen Spur zu folgen. »Erzähle mir, was du über die Heimat der Alanga weißt«, sagte er abrupt. Widerstrebend löste Lae Pinu ihre Blicke von der schimmernden Stadt. »Es ist so schön«, hauchte sie. »Noch nie habe ich sie so gesehen. Ach, wenn mein Volk nur hier sein könnte, wenn sie sich nur trauen würden!« »Ja«, sagte Jerry. »Sie könnten hier sein. Ich glaube, sie haben sich schon so lange in ihrer Stadt eingeschlossen, daß sie sich schon mehr vor dem offenen Gelände als vor den Alanga fürchten.« »Du hast nicht in Beya-Sev gelebt«, antwortete Lae Pinu mit vorwurfsvoller Stimme. »Du mußtest nicht jeden Abend die Tore verschließen und Wachen an allen Toren aufstellen. Nachdem meine Schwester weg war, hat meine Mutter mich wochenlang nicht aus den Augen gelassen.« »Es gibt viele Städte wie diese auf der Erde.« Die Farben, die Jerry sah, wurden immer intensiver; in der aufsteigenden Sonne gewannen die Konturen an Stärke und Räumlichkeit. »Und es wird noch mehr geben, wenn die Bevölkerung immer weiter wächst. Nun, was sagt eure Chronik über die Alanga.« »Sie kennen geheime Gänge in die Stadt, die bisher noch niemand je gesehen hat. Mein Vater hat Gänge erforscht, die so alt sind, daß nicht - 236 -
einmal die Ältesten der Stadt sich an die Zeit erinnern können, wo sie in Benutzung waren. Ich habe alte Pläne studiert, aber wir haben nichts gefunden. Teile von Beya-Sev sind auf keiner Karte verzeichnet.« »Woher wißt ihr, daß die Alanga in jenen Bergen leben?« Jerry steuerte nach links, sie fuhren vorbei an einem kleinen, nebelverhangenen See. Etwas Rundes, Grünes huschte über das Wasser und ging mit einem dumpfen ›Plopp‹ wieder unter. Seltsames schwarzes Federvieh stieg vom entfernten Ufer auf und flog kreischend in den orangefarbenen Dunst. Lae Pinu schaute ihnen nach und sagte: »Man hat sie von der Oberstadt aus gesehen. Wir haben ein Fernrohr, mit dem unsere Ältesten die Umgebung von Beya-Sev studieren. Als ich jung war, sah ich einmal eine Gruppe von Alanga die Berge herunterkommen. Es war früh am Morgen, genau wie jetzt.« »Wo genau?« fragte Jerry scharf. Sie zeigte nach rechts. »Dort hinten der Berg, der die anderen überragt, mit den rot gestreiften Hängen. Ich konnte sie natürlich nicht genau erkennen, weil das Teleskop sehr alt ist und nicht besonders gut.« Jerry schaute sie an. »Bist du sicher, daß es Alanga waren? Könnte es nicht auch eine Rotte wilder Tiere oder ein Wolkenschatten gewesen sein?« In seiner Frage mußte eine schärfere Spitze gewesen sein, als er beabsichtigt hatte. Ihre Miene verfinsterte sich. Durch kaum geöffnete Lippen zischte sie: »Natürlich waren es Alanga! Ich lüge nicht!« Sie rutschte in die äußerste Ecke ihres Sitzes und drehte ihm den Rücken zu. Jerry kämpfte den starken Drang nieder, sie anzufassen und zu schütteln, bis sie wieder zur Vernunft kam. Er begnügte sich statt dessen damit, auf Englisch über die Landschaft zu schwärmen. Die nächsten zehn Kilometer herrschte Grabesstille zwischen ihnen. Das Signal kam, als sie den breiten trägen Fluß durchquerten, der sich vor den Felsengipfeln durch die Auen schlängelte. Auf dem Armaturenbrett blinkte eine blaue Lampe; gleichzeitig ertönte ein schriller, rhythmischer Pfeifton. Lae Pinu wurde aus ihrer Schmollecke gerissen, als Jerry beschleunigte. Unter den durchdrehenden Rädern des Wagens spritzten die Ufersteine nach allen Seiten. »Was ist passiert, hast du sie gesehen?« fragte sie aufgeregt. »Es ist Cathy! Sie muß ganz in der Nähe sein. Das ist ihr Signal!« Lae Pinu stand auf und knallte gegen die Windschutzscheibe; fast wäre sie herausgefallen, als der Wagen herumwirbelte. »Wo? – Wo ist sie?« Sie rieb sich die Stirn. - 237 -
Er zeigte auf das Armaturenbrett. »Cathy hat einen Miniatursender bei sich. Das hier ist ihr Notsignal. Wenn Sender und Träger getrennt werden, setzt er sich automatisch in Gang. Sie trägt ihn als Ohrring. Er muß ganz in der Nähe sein. Das Signal wird stärker.« Minuten später sprang er aus dem Wagen und befahl Lae Pinu, sitzenzubleiben und die nahe Flußbiegung im Auge zu behalten. Sein Gesicht war sehr blaß, als er zum Ufer hinunterging. Der weiche Schlamm, den er dort vorfand, war aufgewühlt und voller Spuren, die er zwar nicht identifizieren konnte, die aber eindeutig von Tieren stammten. Mit kalten Fingern durchwühlte er den Schlamm und die plattgetretenen Pflanzen; inzwischen war auch das Mädchen ans Ufer gekommen und half ihm bei der Suche, was ihm aber kaum auffiel, so vertieft war er in seine Arbeit. Plötzlich fühlte er etwas Hartes, Metallisches. Er richtete sich auf und hielt das kleine, raffiniert gearbeitete Schmuckstück in der Hand. Es war lehmverschmiert, doch da war noch etwas anderes. Lae Pinu kam näher und tippte den Sender vorsichtig an. Sie sah in Jerrys besorgtes, nachdenkliches Gesicht und flüsterte zaghaft: »Der Schlamm … ist mit Blut vermischt.«
XVI Marek trieb wimmend, schwerelos, im freien Fall durch die verschlungenen Gänge der Hoffnung der Menschheit. Er hatte sich zusammengerollt – die Arme umfaßten die Knie, der Kopf war auf die Brust gesunken – und durchlitt einen unruhigen Schlaf. Getragen von der zirkulierenden Luft im Raumschiff verfolgten ihn kleine Gegenstände durch das Schiff. Aus einer schwebenden Flasche kamen glänzende Flüssigkeitskugeln, die ständig zusammenstießen und sich in immer kleinere Tropfen auflösten. In ihnen als Spiegelbilder gefangen waren Millionen kleiner, verzerrter Mareks, die sich zu einer unheimlichen, langsam durch das Raumschiff tanzenden Prozession formierten. Das Schiff hielt einen schleppenden Monolog. Signale jagten durch das integrierte Netzwerk des elektronischen Nervensystems. Über dem Kontrollpult flackerten die Monitore. Marek öffnete die Augen und ruderte mit Armen und Beinen in der Luft. Er delirierte. Es war Sommer; gleißendes Sonnenlicht auf hellgrauem Asphalt. Staub wirbelte um die sauber in Reih und Glied gepflanzten Bäum- 238 -
chen, legte sich auf die dunkelgrüne Panzerung der im Schatten lauernden Einsatzwagen. Polizisten mit weißen Helmen hingen schwitzend und gelangweilt in den Maschinengewehrtürmen. Marek rannte auf sie zu, schrie ihnen durch seine vertrockneten, aufgesprungenen Lippen Wortfetzen entgegen, die in der glühenden Luft versickerten. Sie hörten ihn nicht. Er schaute die endlose, breite Straße hinunter, die gesäumt war von flimmernden Flächen aus Glas und Beton, riesenhafte Monumente einer gescheiterten Politik. Wie der Asphalt und Beton Wälder und Wiesen unter sich begraben hatte, so waren auch die politischen Konzepte, das eingebildete soziale Gefüge des zwanzigsten Jahrhunderts unter dem übermächtigen Druck der Menschenmassen zusammengebrochen; die Krisen kamen und blieben in so dichter Folge, daß das System sich nie mehr erholen konnte. Doch bald würde alles zu Ende sein. Die Welt würde wieder sauber und leer. Warum hörten sie ihn nicht? Warum konnten sie ihn nicht verstehen? Warum war seine Kehle so trocken? Das Schiff war in Gefahr. Marek hatte dem komplexen Computergehirn ein Programm aufgeprägt, das ins Verderben führen konnte. Bald würde die Hoffnung der Menschheit, diese letzte Anstrengung, zu der irdische Technologie fähig war, durch die erste Phase gewarpt werden, der erste Schritt in einen Raum, in dem die Gesetze der klassischen Wissenschaften nicht galten. Die Wissenschaftler, die den Warp entwickelt und gebaut hatten, hatten alle Phänomene durchgespielt, die im unbekannten Hyperraum auftreten konnten, soweit das ohne empirische Tests möglich war; sie hatten auch darüber nachgedacht, welche Wirkung die Anwesenheit von Materie beim Eintritt in den Hyperraum haben würde, doch gerade in diesem Punkt waren sie über widersprüchliche Spekulationen nicht hinausgekommen. Es gab keine fundierte Theorie darüber, was passieren würde, wenn das Energiefeld des Warps mit solch riesigen Anhäufungen von Materie kollidierte, wie sie in einer Sonne existierten. Die Spekulationen waren jedoch apokalyptisch genug, daß man dem Bordcomputer der Hoffnung der Menschheit mit höchster Priorität eingetrichtert hatte, daß der Einsatz des Warps und die Anwesenheit stellarer Materie unvereinbar waren. Doch auch Marek war ein Computerspezialist. Durch seinen Eingriff hatte die Hoffnung der Menschheit dieses Verbot vergessen. Obwohl sie in unmittelbarer Nähe des kleinen Planeten, der auf dem Beobachtungsschirm leuchtete, durch das All trieb, waren die Vorbereitungen für den Sprung in den Hyperraum in vollem Gange. Das war die existentielle Gefahr, in der das Schiff schwebte. - 239 -
Es gab aber auch Probleme, mit denen es fertigwerden konnte. Dafür hatte es den Schutzschirm, der sich inzwischen eingeschaltet hatte. Er hatte nur selten seine Muttersprache benutzt, seitdem er vor zwanzig Jahren nach Kalifornien übergesiedelt war; seltsam, sie jetzt von allen Seiten zu hören. Die Straße wimmelte von Männern, Frauen und Kindern, alle in der gewöhnlichen, bunten Sommerkleidung. Wie Blumen auf einem Sarg, dachte Marek, während er sich durch die Menge drängelte. Er war wieder zu Hause, zurück auf dem Kontinent, auf dem er seine Jugend verbracht hatte. Er hatte etwas zu verkünden: Freiheit, die wirkliche Freiheit, nicht der Fiebertraum, der in den Köpfen der Revolutionäre brannte, die Asien und Amerika befreien wollten. Er meinte die endgültige Freiheit. Die Bomben waren unterwegs, die Mehrfachsprengköpfe, die elementaren Kräfte, die die Welt reinigen würden, befreien von diesen um sich beißenden Bestien, die sich wie irrsinnig vermehrten und sich Menschen nannten. Er stand auf einem großen Platz, in dessen Mitte sich eine Statue erhob, deren Ausmaße nur von Größenwahn zeugen konnten. Er stand im Getümmel der Spaziergänger, reckte die Arme zum Himmel und verkündete die Neuigkeit. Und er hatte recht. Der Himmel verschwand, wurde aufgefressen von einem Feuersturm, der die Menschen noch blendete, wenn sie die Augen geschlossen hatten. Er war frei, frei … Marek kam schreiend zu sich. Die Bildschirme über ihm flammten auf und verloschen wieder, immer wenn ein Gesteins- oder Metallbrocken den atomaren Schutzschild traf und zerstäubt wurde. Das Schiff durchquerte einen Gürtel, in dem das Rohmaterial für künftige Planeten um die ferne orangefarbene Sonne kreiste. Nichts konnte es vom Kurs abbringen. Er schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen, doch die Uhr log nicht. Phase eins rückte unaufhaltsam näher.
XVII »Jeh-ree?« Jerry Cornelius riß seinen Blick los von dem kleinen Sender, den er in der Hand hielt. Lae Pinu sah ihn sorgenvoll an. Sie hatte schon mehrmals versucht, sich bemerkbar zu machen.
- 240 -
»Entschuldige«, sagte er, »du hattest recht, Lae Pinu. Die Alanga, wer immer sie sind, existieren wirklich.« Er drehte den Miniatursender in seiner Hand – wie in der Hoffnung, auf diese Weise noch mehr Informationen aus ihm herauskitzeln zu können. »Wir müssen annehmen, daß Cathy den Ohrring genau hier verloren hat. Laß uns nach weiteren Spuren suchen.« Nach wenigen Minuten fanden sie eine zweite Stelle mit Fußabdrücken. Sie waren kleiner und tiefer als die anderen und stammten offensichtlich von einem Vierbeiner. Obwohl Jerry keine Erfahrung im Spurenlesen hatte, war er instinktiv davon überzeugt, daß dies die Spuren eines Lasttiers waren, das irgend etwas oder irgend jemanden auf dem Rücken trug. Die Spur endete in einem Gewimmel weiterer Abdrücke. Anscheinend hatte sich hier ein Kampf zugetragen; das Lasttier samt Gepäck – oder Reiter – war verschwunden. »Ich sehe jedenfalls keine Fußabdrücke von Zweibeinern«, sagte Lae Pinu hoffnungsvoll. Während sie sprach, trat sie von einem Fuß auf den anderen; offenbar genoß sie das Gefühl, Lehm zwischen den Zehen zu haben. »Ich auch nicht«, sagte Jerry lächelnd. »Vielleicht bedeutet das, daß wir auf der richtigen Spur sind.« Ein blödsinniger Gedanke, der ihn aber trotzdem irgendwie zuversichtlich stimmte. »Komm, Kleines, wir gehen zum Wagen zurück und fahren zu dem Berg, wo du die Alanga gesehen hast. Wisch dir die Füße ab, bevor du einsteigst!« Sie lachte, das erste Mal, daß Jerry sie wirklich lustig sah. Sie war sehr hübsch, dachte er. »Der Schlamm ist schön weich, nicht wahr?« sagte sie, während sie sich mit einer Handvoll Moos die Füße säuberte. Jerry kletterte in den Fahrersitz. »Das nehme ich wohl an«, sagte er, »obwohl es schon ein paar Jahre her ist, daß ich gern im Schlamm gewühlt habe. Ist das heute das erste Mal, daß du mit natürlicher Erde in Berührung kommst?« Lae Pinu nickte. »In der Oberstadt gibt es ein paar kleine Gärten, doch sie sind vertrocknet und verkommen. Meine Mutter hat mir erzählt, daß ihre Mutter einmal in einem Garten richtige Blumen gesehen hat, doch das ist schon sehr lange her.« Er wendete den Wagen und fuhr auf den rot gestreiften Berg zu, den Lae Pinu ihm gezeigt hatte. Es ging leicht bergauf, und sie konnten ordentlich Tempo machen. Die Sonne näherte sich dem Zenit, doch eine kühle Brise von den Bergen brachte angenehme Abkühlung. Je höher sie kamen, desto dichter wurde die Vegetation. Die hohen, schlanken Bäume sahen anders aus als die, welche er unten in - 241 -
der Ebene gesehen hatte. In dichte, fleischige Laubmatten schienen schwarze Früchte eingewebt zu sein. Es war nicht möglich, das Unterholz zu umfahren, und Jerry fühlte sich gar nicht wohl dabei, all die Pflanzen, die sich ihm in den Weg stellten, einfach niederzuwa lzen, denn in seiner Zeit als Ernährungswissenschaftler hatte er gelernt, jede Art von Vegetation als Geschenk der Natur zu betrachten, das man hegen und pflegen mußte. Er dachte an das sinnlose Niederbrennen und Abholzen der Wälder auf der Erde, das letztlich zur Verwüstung ganzer Staaten geführt hatte. Zuerst waren die Bäume gestorben, dann die Tiere und am Ende die Menschen. Er schaute Lae Pinu an. In ihrem verzückten Gesicht las er, daß diese Fahrt wohl das Größte war, was sie je erlebt hatte. Fünfhundert Meter über der Ebene hielten sie auf einem ausgedehnten Felsplateau an, von dem sie gute Sicht sowohl nach oben als auch nach unten hatten. Jerry schwang sich aus dem Wagen und reckte seine Glieder. Er ging zum Rand des Plateaus und spähte hinunter auf die weite Ebene. Im fernen Dunst schimmerte die Stadt wie die Auslage eines Juwelierladens. Das Mädchen kam hinter ihm her, sie traute sich jedoch nicht ganz an den Rand des Abhangs. Jerry beobachtete aufmerksam ihre Reaktion auf das Panorama, das sich ihnen darbot. »Die Stadt ist so klein«, sagte sie leise. »So klein wie der ganze Planet, wenn man ihn aus dem Weltraum betrachtet; so klein wie die Erde«, antwortete er. »Doch die Menschen und ihre Probleme sind so groß wie eh und je.« Einem plötzlichen Impuls folgend fragte er: »Wie nennt ihr eigentlich eure Welt? Das habe ich dich, glaube ich, noch nie gefragt.« »Warum? Beya, glaube ich … ich bin nicht sicher. Hat denn jede Welt ihren Namen?« Wieder war er von ihrer Naivität verwirrt. Er nannte ihr verschiedene Planeten und erzählte ihr, woher ihre Namen stammten, während er im Hinterkopf überlegte, welche Konsequenzen Lae Pinus Antwort haben könnte. Wenn Beya der Name dieser Welt war, war dann Beya-Sev die »Weltstadt«? Und wenn es so war … er brach mitten im Gedanken ab. Er hatte Hunger. Lae Pinu war fasziniert von den bunten Pasten und Flüssigkeiten, die aus den Tiefkühlkammern der Hoffnung der Menschheit stammten. Zuerst wollte sie nicht glauben, daß sie genießbar waren. Jerry nahm ein Stück der nach Kaffee schmeckenden Substanz, die sie aus der Stadt mitgenommen hatten, und fragte ungläubig: »Ist das die einzige Nahrung, die ihr in Beya-Sev kennt?« - 242 -
Sie leckte sich einen Tropfen rosa Eiskrem von ihrer Oberlippe und sagte: »Der allmächtige Richter sagt, daß das alles ist, was wir brauchen. Es war immer da und wird immer da sein. Ohne diese Kuchen wären wir wie die Sev Alab, die Bestien der Unterstadt. Der allmächtige Richter allein weiß, wie man den Kuchen aus Wasser, Luft und Stein herstellt.« Mein Gott, dachte Jerry, welche Vorstellung. Nahrung in unbegrenzter Menge, das wäre genau das, was die Erde jetzt brauchte. Aus eigener Erfahrung als Gefangener wußte er, daß diese seltsame Diät wirklich nahrhaft war. Er nahm sich vor, sie so bald wie möglich genau zu analysieren. Dann brauchte er das Rezept nur noch zur Erde zu bringen, und alle Probleme wären gelöst. Eine witzige Vorstellung. Es wurde Abend, und sie fuhren immer noch den stetig steiler werdenden Hang hinauf, an dessen Ende sie die Alanga zu finden hofften. Das dämmerige Dickicht wechselte sich ab mit rostroten Geröllfeldern, die sich aus höheren Lagen über den Hang ergossen hatten. Jerry überlegte gerade, ob es klug wäre, sich nach einem geeigneten Lagerplatz für die Nacht umzusehen, als ein Krachen im Gehölz sein Herz bis zum Hals pochen ließ. Er schaltete die Scheinwerfer ein. Nur wenige Meter vor ihm stand eine Gruppe zotteliger Kreaturen wie erstarrt im Dickicht und starrte aus großen gelben Augen in das blendende Scheinwerferlicht. Der Anblick währte nicht länger als ein paar Sekunden, dann trollten sich die Kerle auf Beinen und Armen, die bei den größeren Exemplaren mindestens zwei Meter lang waren, ins Unterholz. Klagende, ängstliche Schreie waren das letzte, was er von ihnen hörte. Als Jerrys Puls sich wieder einigermaßen normalisiert hatte, sagte er: »Wenn das deine Freunde, die Alanga waren, dann wird es das Schwierigste sein, sie überhaupt zu erwischen!« »Oh nein, das waren bestimmt keine Alanga. Von Geschöpfen wie diesen habe ich noch nie gehört«, antwortete sie mit ernster Stimme. Nicht weniger ernst sagte er: »Ich glaube, wegen dieser Tierchen brauchen wir uns keine Sorgen zu machen. Trotzdem, sei auf der Hut, und schieße sofort, wenn du jemanden siehst.« Im selben Augenblick, als Jerry ihr die Neurogun übergeben wollte, schien sich der Himmel zu spalten. Lichtkaskaden ergossen sich über die Berge, die Ebene, die ganze sichtbare Welt. Dann war es vorbei. Das Universum war wieder ganz tintiges Schwarz. Stille. Es folgte kein Donner, keine Druckwelle. Sofort kam Jerry der furchtbare Gedanke: Eine Explosion im Weltraum. Er hörte Lae Pinu schreien und - 243 -
sah durch einen Schleier aus Tränen, daß sich irgend etwas um den Wagen bewegte. Sein Körper reagierte instinktiv auf die Gefahr, doch in seinem Bewußtsein war nur noch Platz für einen, niederschmetternden Gedanken – Die Hoffnung der Menschheit war verloren!
XVIII Verloren! – Jerry schüttelte den Kopf wie ein angeschlagener Boxer. Für Verzweiflung war keine Zeit. Als der Himmel sich nach der Explosion wieder verdunkelt hatte und seine Augen normal funktionierten, sah er, daß sie eingekreist waren von springenden, ausschlagenden Schattengestalten. Menschen! Ja, es gab keinen Zweifel, Menschen in Lederhosen und weiten Mänteln, die auf höchst exotischen Reittieren um sie herum ritten. Sie hielten kurze Schwerter hoch, und andere Waffen hingen an ihren Gürteln: Schlingen, Steinäxte und Bögen. Sie saßen auf bizarren, hohen und dünnbeinigen Ungetümen mit zottigen blauen Mähnen und dichtem Fell, das bis fast auf den Boden hing. Bisher war noch keiner der Reiter abgestiegen. Sie schienen einige Mühe zu haben, die vor Angst fast verrückten Tiere zu bändigen. »Die Alanga! Die Alanga!« Lae Pinu zerrte an seinem Ärmel und schrie ihm die Worte direkt ins Ohr. »Du könntest recht haben!« schrie er in dem Durcheinander. Er setzte den Wagen in Bewegung. »Wer immer sie sind, ich möchte lieber aus einiger Entfernung mit ihnen sprechen. Wir wollen machen, daß wir wegkommen, solange sie noch beschäftigt sind.« Vorsichtshalber schaltete er die Alarmsirene und sämtliche Scheinwerfer ein, die noch funktionierten. Die Tiere sprangen ängstlich zur Seite, als er auf eine Lücke im Gehölz zupreschte. Ganz kurz konnte er das hakennasige Gesicht eines Reiters erkennen, der sich mit einer Hand an der Wolle seines Tieres festhielt, während er mit der anderen weit ausholte und zu einem Hieb mit seinem Schwert ansetzte. Jerry duckte sich und rechnete damit, daß sich jeden Augenblick die Klinge in sein Fleisch bohren würde. Tiefhängende Äste krachten gegen die Windschutzscheibe, Holz splitterte, die Reifen pflügten durch loses Gestein, griffen endlich, und in wenigen Sekunden hatten sie
- 244 -
die gespenstische Schwadron hinter sich gelassen. Er hielt nicht an, bevor sie offenes Gelände erreichten. »Jeh-ree … Jeh-ree …« Lae Pinus Nerven flatterten, sie schnappte nach Luft. Zitternd verbarg sie ihr Gesicht an Jerrys Brust. Die beiden Schocks so dicht hintereinander waren zuviel für sie gewesen. Er legte einen Arm um ihre Schultern, und bald hörte sie auf zu zittern. Jerry verlor dabei das Gelände unter ihnen, das von den Scheinwerfern hell erleuchtet war, nicht aus den Augen. Er hörte Stimmen und das Schnauben der Tiere, doch anscheinend konnten sie sich nicht dazu entschließen, die Verfolgung aufzunehmen. Obwohl er die Wärme des Mädchens spürte, fühlte Jerry sich plötzlich sehr einsam. Was machte er eigentlich auf diesem Hügel, eine Horde bewaffneter Räuber hinter sich? Wo war Cathy? Die Hoffnung der Menschheit vernichtet, gestrandet in einer feindlichen Welt – all das wäre zu ertragen, wenn sie nur wieder zusammen wären. Stechender Schmerz durchzuckte ihn, als er an Frank Marek dachte. Etwas Furchtbares muß diesem mutigen, brillanten Wissenschaftler auf dem Trip durch den Hyperraum widerfahren sein. Vielleicht hatte sich sein Zug zur Misanthropie, der sich früher nur in zynischen Witzen über die Träume der Menschen, über die Hoffnung auf Utopia geäußert hatte, in zerstörerischer Weise durchgesetzt, vielleicht hatte sich in dem rauschhaften Überuniversum die Marotte zum Wahn entwickelt, der ihn nicht mehr klar denken ließ. Womöglich waren Jerry und Cathy nur vom Wahnsinn verschont geblieben, weil sie zusammen waren und jeder an den anderen dachte. Er starrte in die Nacht und kämpfte gegen die Müdigkeit an, die seine Augenlider immer schwerer werden ließ. Das Schicksal der Erde hatte ihn nie so wenig interessiert wie jetzt; es erschien ihm abstrakt und unwirklich. Die Wirklichkeit war für ihn Beya und eine große brünette Frau, die er unbedingt finden mußte. * Feldmarschall Hira wußte nicht, wieviel Kummer ihm dadurch erspart blieb, daß das Licht, das bei Alpha Centauri entsteht, vier lange Jahre braucht, bis es die Erde erreicht. Bestimmt hätte er nämlich die selben traurigen Schlüsse wie Colonel Cornelius gezogen, wenn er den gigantischen Blitz gesehen hätte, der sich so deutlich von dem kalten Flimmern unterschied, das gewöhnlich von den fernen Sonnen zur Erde gelangt. Er ging zügig die Promenade hoch über der Betonwüste des Gandhi-Raumfahrtzentrums entlang. Die künstliche Ebene - 245 -
und das karge Land dahinter strahlten im weißen Mondlicht. Die Gluthitze eines Tages in Indien hatte sich gelegt, der kühle Nachtwind spielte in Hiras silbernem Haar. Er hatte seine Hände auf dem Rücken gefaltet und bewunderte wie so oft die kalte Schönheit des Vollmondes. Er bildete sich ein, die winzige, kreuzförmige Silhouette von Luna One erkennen zu können, dem größten Forschungszentrum im Sonnensystem. Und von dort schweifte das Auge seiner Phantasie weiter durch Abermillionen Kilometer zu den drei Sternen, die seine ganze Hoffnung darstellten. Es war ihm so bewußt wie nie zuvor, wie schwer es war, an die Sterne zu glauben. Man konnte von Planet zu Planet springen, von der brodelnden Hölle des Merkur in die eisige Einsamkeit des Pluto, doch die Sterne blieben, was sie waren. Gleichgültig, fern – unerreichbar? Nein, sagte Hira zu sich selbst, das stimmte nicht mehr. Noch ein paar Monate Geduld, und die Sterne gehören uns! Wenn es uns gelingt, die Zivilisation so lange zu erhalten. Am Ende der Promenade öffnete sich eine Tür und glitt lautlos wieder ins Schloß. Ein großer, kräftig gebauter Mann kam aus dem Schatten mit großen, präzisen Schritten auf ihn zu. Hira blieb stehen. Der große Mann salutierte lässig, aber korrekt vor ihm. »Neuigkeiten, Sir.« »Bitte, Major Armstrong.« Hira witterte Ärger und versuchte, im Gesicht des Europäers zu lesen, ob er gute oder schlechte Nachrichten brachte. Auch heute sollte ihm das nicht gelingen. »Unruhe in Sektor Gelb, Sir. Es könnte äußerst unangenehm werden, wenn die Sache sich weiter entwickelt wie bisher. Leutnant Bruckner hat es sich aus der Nähe angeschaut und eine Zelle der Relativitätskirche ausgemacht, die die Sache anheizt. In dem Sektor halten sich hauptsächlich US-Amerikaner auf und ein paar Australasiaten. Eine teuflische Mischung.« Feldmarschall Hira nickte. »Überall, wo die Relativitätskirche ihre Finger drin hat, wird es heiß.« Er ging auf die nächste Tür zu. »Sie haben die Aufnahmen bei sich? Gut. Wir können sie gleich hier abspielen.« In dem schwach beleuchteten Zimmer zog Major Armstrong eine kleine Plastikkassette aus der Hosentasche und steckte sie in einen der Videokonverter, die überall im Gebäude herumstanden. Ein Knopfdruck genügte, und schon erschien auf dem 3 D-Schirm ein bewegtes, farbiges Bild, das eine ferngesteuerte Kamera in einem Minihelikopter eingefangen hatte. Sie betrachteten auf dem Bildschirm die dreidimensionale Lilliputausgabe des Raumfahrtzentrums. Auf - 246 -
einem hohen Zaun, der das Gelände von der braunen Steppe ringsum abgrenzte, blinkten gelbe Signallampen. Rechts und links sahen sie in der Ferne die Lichter der Sektoren rot und grün. Jenseits des Zaunes herrschte ein Chaos aus Zelten, aufblasbaren Plastikhäusern, Wohnwagen, einfach alle möglichen transportablen Behausungen bedeckten die Ebene, so weit das Auge reichte. Ströme bunter Lichter zogen sich auf verschlungenen Bahnen durch das zusammengewürfelte Lager. Major Armstrong tippte mit einem seiner Wurstfinger auf den Bildschirm. »Hier, Sir, das müssen Sie sich in der Vergrößerung ansehen.« Er fummelte an dem Videokonverter herum; die Szenerie rückte blitzartig näher. In der langen Prozession, die vor ihnen vorbeizog, waren jetzt einzelne Gesichter zu erkennen. Hoch über den Köpfen der Menge hingen beleuchtete Plakate an Stromversorgungsmasten. Schweigend las Hira die lapidaren Sprüche. ›Einstein hat sich nicht geirrt!‹ … ›DER HYPERRAUM BEDROHT DAS GLEICHGEWICHT DER SCHÖPFUNG‹ … ›DER HYPERRAUM IST DIE HÖLLE‹ … ›DER WARP IST TEUFELSWERK‹ … Es gab noch viele andere, noch dümmere Sprüche in allen möglichen Sprachen. Aus den Lautsprechern kam eintöniges, unverständliches Gegröle vermischt mit Musik von zahllosen Instrumenten. Schwarze, braune und weiße Gesichter schauten wütend in das Fernsehauge. Lautlose Flüche schrie der tobende Mob dem Minihelikopter entgegen, Flaschen und Steine flogen hoch und fielen zurück in die Menge. Plötzlich ein Blitz. Der Hubschrauber flog in einer engen Wende zurück zum Kontrollzentrum. Der Bildschirm verdunkelte sich. »Dieser Blitz«, sagte Hira, »das war doch eine Laserpistole.« Armstrong blickte ihn ernst an. »Sie haben auch mindestens zwei Gewehre. Für eine Bewegung, die es erst seit einem Jahr gibt, ist die Relativitätskirche erstaunlich gut ausgerüstet, Sir.« Hira schwieg, seine braunen Augen schienen nach innen gerichtet zu sein. Er ging langsam zur Tür. Draußen auf der Promenade sagte er: »Wie viele Menschen haben sich bis jetzt vor dem Zaun versammelt?« »Nach der letzten Zählung zwei Millionen. Davon machen die Einsteinianer nur ein Fünfzigstel aus. Berichte der Luftaufklärung besagen, daß eine weitere Million Menschen im Umkreis von hundert Kilometern steht oder sich auf die Basis zu bewegt.«
- 247 -
»Zwei Millionen …« Hira schüttelte den Kopf. So leise, daß Armstrong ihn kaum verstehen konnte, murmelte er: »Was wollen sie nur? Was erwarten sie von uns? Wie wollen sie hier draußen überleben?« »Viele wollen gar nicht überleben«, antwortete Armstrong düster. »Die ersten, die schon hier waren, als die Hoffnung der Menschheit startete, hungern. Sie nehmen keine Nahrung oder Medikamente an. Sie warten einfach. Militärisch gesehen machen sie mir keine Sorgen. Wirklich bedrohlich sind die Kampfgruppen, die später gekommen sind, die Privatarmeen, wie die Relativitätskirche. Es macht ihnen nichts aus, zu sterben, und am liebsten würden sie die ganze Welt mit in den Tod nehmen. Ich weiß nicht, welche Befriedigung sie daraus ziehen. Aber wir halten sie in Schach, Sir, darauf können sie Gift nehmen. Gottseidank sitzen heutzutage Realisten an der Spitze der Vereinten Nationen.« Hira antwortete nicht. Aus der Ferne schallte das Rattern von Maschinengewehren zu ihnen herüber. Irgendwo hinter dem Zaun gab es eine Explosion, schwarzer Rauch verdunkelte den Mond. Hira sagte scharf: »Major Armstrong, es wird nicht zurückgeschossen! Setzen Sie Betäubungsgas ein, wenn der Zaun durchbrochen wird, stellen Sie Wachen auf, die die Demonstranten wegtragen sollen, bevor sie wieder aufwachen. Ich werde jeden Soldaten, gleich welchen Dienstgrad er hat, vor’s Kriegsgericht bringen, der ohne den ausdrücklichen Befehl von mir das Feuer eröffnet!« Er schaute zu den Sternen, den fernen Sonnen. Die Hoffnung der Menschheit sollte, wenn sie jemals zurückkehrte, auf keinen Fall eine Erde vorfinden, die mit dem Blut verängstigter, irregeleiteter Menschen getränkt ist, dachte er, jedenfalls nicht, solange ich das Kommando habe. Ich glaube, das ist Realismus, Colonel Cornelius. Du und ich, wir sind dieselbe Art Realist. Nur beeile dich, um Himmels willen, beeile dich!
XIX »Die Entfernung ist genau richtig«, sagte Jerry, »wir können uns auch so unterhalten.« Er stand im Wagen, eine Hand ruhte locker auf dem Lasergewehr. Am Rande des Dickichts saß einer der Reiter auf seinem unruhigen Tier; sein Speer lag quer über den Sattel. Zwischen Jerry und dem Beyaner rauchte eine lange, schwarze Furche im Boden.
- 248 -
»Du siehst, welche Wirkung diese Waffe hat. Ich komme in friedlicher Absicht. Ich will niemanden verletzen, doch wer sich mir in den Weg stellt, hat die Konsequenzen zu tragen.« Er sprach langsam und akzentuiert in der Sprache der Sev Kalan. Lae Pinu war erstaunt, daß die Fremden, vor denen sie solche Angst hatte, dieselbe Sprache benutzten wie sie, doch für Jerry war das nur eine Bestätigung bestimmter Theorien, die er inzwischen über diese Welt hatte. Während er auf Antwort wartete, behielt er die Bande, die sich hinter dem Sprecher hielt, genau im Auge, doch auch sie schienen abwarten zu wollen, was bei dem Gespräch herauskam. »Paß auf, Jeh-ree!« Die Warnung war unnötig, Jerry war auf der Hut. Der Beyaner erhob den Speer, beugte sich nach vorn und bohrte die Spitze in den Boden. Dann richtete er sich auf, breitete die Arme aus und zeigte ihm seine leeren Hände. Im Licht der Scheinwerfer wirkte er sehr imposant. Er war größer und kräftiger gebaut als Jerry, hatte einen wallenden Vollbart und einen kahlen Schädel. Der weite Mantel betonte noch seine mächtige Erscheinung. Seine donnernde, tiefe Stimme rollte auf Jerry zu. »Höre, Fremdling, auch wir sind Männer des Friedens. Ich Chailemm, spreche für alle, wenn ich dich willkommen heiße. Doch du mußt wissen, daß in unserer Gemeinschaft kein Platz ist für Maschinen oder für Menschen, die sich ihrer bedienen. Ihr müßt euch davon trennen oder ihr seid verdammt, ob Mann oder Frau.« Er verschränkte seine Arme und blieb ruhig im Sattel sitzen. Er flößte Respekt ein. »Das ist mein Wort – das Wort Chailemms, des Sprechers der Alanga!« »Du darfst ihm nicht vertrauen, Jeh-ree«, sagte Lae Pinu eindringlich. Sie schaute von Jerry zu dem großen, unbewegten Alanga, der ihre abergläubische Angst nicht zerstreuen konnte. »Er versucht dich zu überlisten, er will, daß du die Waffe niederlegst, damit er uns gefangennehmen kann für seinen bösen Gott Levi-Athari!« Ohne sie anzuschauen streichelte er ihre Schulter. »Vielleicht lügt er, vielleicht auch nicht. Jedenfalls ist er ein mutiger Mann, denn er weiß, daß ich ihn jeden Moment mit diesem Laser verbrennen kann.« Seine Stimme wurde grimmiger. »Ich würde ihm gern glauben, doch ich kann mich unmöglich von dem Wagen oder vom Laser trennen, egal was passiert. Die Hoffnung der Menschheit ist verschwunden, doch für Cathy gibt es noch Hoffnung. Und solange ich sie nicht gefunden habe, werde ich bewaffnet bleiben.«
- 249 -
»Fremdling, wie hast du entschieden?« Die grollenden Worte klangen ungeduldig, doch bisher hatte der Mann sich noch nicht von der Stelle bewegt. Wieviel weiß er, fragte sich Jerry, wie radikal ist seine Ablehnung der Technik? Kann ich ihn bluffen, wird er uns gehen lassen? Sein Volk hat bestimmt keine Erklärung für den kosmischen Blitz, der soeben den Himmel erleuchtet hatte. Er ahmte die Geste des Alanga nach, indem er seine Arme weit von sich streckte und die leeren Handflächen zeigte. »Chailemm, Männer der Alanga, ihr wißt, daß ich ein Fremder bin aus einem fernen Land. Was ihr vielleicht nicht wißt: Mein Land liegt in einer fremden Welt, einer Welt, die Beya sehr ähnlich ist, einer Welt mit Namen Erde. Ich heiße Jerry Cornelius, und ich spreche für die Menschen der Erde, die das große Schiff geschaffen haben, das meine Kameraden und mich durch den Weltraum getragen hat. Wir kommen in Frieden, um euch vor einer Gefahr zu warnen, die unsere Völker bedroht. Das erste Vorzeichen dieser Gefahr habt ihr soeben am Himmel gesehen.« Nun kam Unruhe in die wilde Bande hinter dem Sprecher. Einige warfen schnelle, anscheinend ängstliche Blicke in die sternenprangende Dunkelheit über ihnen. Chailemm bewegte nicht einmal den Kopf. »Das Mädchen kommt nicht von jener Welt, von der du gesprochen hast, von der Erde. Sie ist eine Sev Kalan. Wie kommt es, daß ihr zusammen seid, Jericornelius?« Du hast gute Augen, Chailemm, dachte Jerry. Laut sagte er: »Als unser Schiff diese Welt umkreiste, sahen wir die Stadt von oben. Wir waren auf der Suche nach intelligentem Leben, so landeten wir in der Nähe von Beya-Sev, um möglicherweise mit den Einwohnern zu sprechen. Die waren jedoch nicht gerade freundlich zu uns. Catherine, meine Frau, verschwand aus der Stadt, und wäre Lae Pinu nicht so mutig gewesen, wäre ich wahrscheinlich immer noch Gefangener der Sev Kalan, vielleicht wäre ich auch schon tot.« »Du glaubst also, du findest deine Frau hier in den Bergen, Jericornelius? Wie kommst du darauf?« In der Frage schwang ein Unterton mit, den Jerry zwar bemerkte, aber nicht einordnen konnte. Oder gaukelte ihm seine Müdigkeit etwas vor, das es gar nicht gab? Er seufzte. Was sollte das fruchtlose Geplauder, wo Cathy in Gott weiß welcher Gefahr schwebte? Es war doch so einfach: Er brauchte sich nur seinen Weg frei zu schießen, um - 250 -
unbehelligt seiner Wege gehen zu können. Nichts war einfacher als das. Im selben Augenblick bereute er auch schon seine Unentschlossenheit. Mit kaum vernehmbarem Zischen flog eine Schlinge über seinen Kopf, die wie eine Schlange aus der Finsternis hinter ihm gesprungen kam. Ein furchtbarer Ruck riß ihn von den Füßen; schon halb gefesselt fiel er in seinen Sitz. Lae Pinu sprang über ihn und versuchte, den Auslöser des Lasergewehrs zu erreichen. Die dunklen Augen in ihrem blassen Gesicht waren wild aufgerissen. Der Laserstrahl bohrte sich in den Himmel und warf lange Schatten auf den Hang. Tiere brüllten vor Schreck und flohen vor dem blendenden Licht, warfen die Reiter durcheinander. Jerry kämpfte wie toll gegen den Zug der Schlinge, die seine Arme an seinen Körper drückte; Wut und Verzweiflung setzten seine letzten Kraftreserven frei. Lae Pinu bändigte das Gewehr und richtete es bergab. Über Chailemms Kopf gingen Äste in Flammen auf, während er versuchte, sein Reittier zu beruhigen. Er sprang aus dem Sattel und versetzte dem Tier einen kräftigen Klaps, worauf es im Galopp im nahen Gebüsch verschwand. In diesem Augenblick fiel eine zweite Schlinge über die Schultern des Mädchens und zwang sie, zappelnd und weinend neben Jerry in den Sitz zu fallen. Die unsichtbaren Lassowerfer, die sich ihnen unbemerkt genähert hatten, sprangen jetzt in den Wagen und banden die Arme der Unglücklichen hinter dem Rücken zusammen. Lae Pinu kämpfte immer noch mit den Beinen, den Zähnen und mit Worten, bis die Männer auch ihre Fußgelenke zusammenbanden. »Es tut mir leid, Lae Pinu«, sagte Jerry müde, »es tut mir so leid.« Sogar in seinen eigenen Ohren klangen die Worte schwachsinnig – einfach nutzlos. Lae Pinus Wangen glühten noch vom Kampf und glänzten von Tränen, doch sie lächelte. »Es ist nicht deine Schuld, Jeh-ree. Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen.« Chailemm war wieder aufgestiegen und ritt neben den Wagen. Mit einem rätselhaften Ausdruck auf seinem bärtigen Gesicht schaute er auf sie herab. Dann drehte er sich im Sattel und rief den Reitern den Befehl zum Sammeln zu. »Galdonn! Sechral! Kommt her, nehmt die beiden auf eure Schambris. Paßt aber auf – vielleicht mögen die Tiere den Geruch der Fremden nicht!« Der Teil von Jerrys Bewußtsein, der auch in den angespanntesten Situationen noch wach war, registrierte ein neues Wort. Schambri gehörte nicht zu dem Vokabular, das die Sprachmaschine ihm in der - 251 -
Stadt eingetrichtert hatte. Ein weiterer Hinweis, daß die Alanga und die Bewohner der Stadt dieselben kulturellen Wurzeln besitzen? Und trotzdem, wie zum Teufel war es möglich, daß die Bewohner ein und desselben Planeten so dicht nebeneinanderher lebten, die einen in einer Stadt mit riesigen Maschinen, die anderen als wilde Bergjäger, die jede Technik ablehnten? Schnaubend und stampfend näherten sich zwei blaumähnige Schambris. Die Reiter trieben sie mit Stöcken und aufmunternden Worten vorwärts. Der eine sah aus wie eine kleinere Version des Anführers, groß und breitschultrig, das jugendliche Gesicht halb unter einem dichten schwarzen Bart versteckt. Neben ihm ritt ein Mann, der noch mehrere Jahre jünger sein mußte. Ohne jede Scheu glitt sein Blick über den Wagen und seine Insassen. Als die Tiere tänzelnd neben dem Wagen warteten, schaffte es der jüngere Mann irgendwie, sich zwischen den Wagen und den anderen Reiter zu schieben. Vielleicht war es nur Einbildung, Jerry meinte jedenfalls, in den Augen des anderen leichten Unwillen zu entdecken, als er abgedrängt wurde. Die Lassowerfer, die noch im Wagen hockten, schauten unschlüssig von einem zum anderen. Offensichtlich wußten sie nicht, wem sie nun gehorchen sollten, schließlich sagte der jüngere Mann: »Überlaßt den schweren Brocken nur meinem Bruder Galdonn – er hat die breiteren Schultern!« Lae Pinu hatte aufgehört, sich zu wehren und ließ sich wie ein Paket von den Jägern hochheben. Sechral langte hinunter und nahm sie mit einer Leichtigkeit in Empfang, die bei seiner Schlankheit überraschte. Als er in ihr tränenüberströmtes Gesicht unter dem zerzausten Blondschopf sah, sagte er heiter: »Die Sev Kalan sind wirklich verrückt, zu erlauben, daß sich ihre hübschesten Töchter nachts in den Bergen herumtreiben! Oder haben sie sich doch endlich entschlossen, ihre Gruft zu verlassen und an die frische Luft zu gehen?« Sie spuckte ihn an. Lachend setzte er sie vor sich auf den Rücken des Schambri und hielt sie mit einem Arm um die Taille. Dann entfernte er sich langsam vom Wagen und rief seinem Bruder zu: »Sei vorsichtig, Galdonn – erzähle deinem Passagier nur nicht, er hätte ein hübsches Gesicht! Vielleicht spuckt er dann Gift!« Galdonn griff Jerry wie einen Sack und brüllte ihn an: »Halte dich am Fell fest, und versuche ja nicht, abzusteigen, bevor ich es dir sage!« – Wie verschieden die Charaktere doch waren. Chailemms tiefe Stimme übertönte alle anderen Geräusche, die die Bande machte. Sofort war es still. - 252 -
»Es ist Zeit zu verschwinden. Bald wird Harm, die Weiße, über den Hügeln aufgehen, und die Drigg werden ihr Licht für die Jagd nutzen. Wir gehen ihnen besser aus dem Weg, denn sie werden sehr zahlreich sein. Auf geht’s!« Die Schambris fielen in sanften, wiegenden Trab. Jerry drehte sich um und warf einen letzten Blick auf den Wagen, der leer und still mit immer noch leuchtenden Scheinwerfern auf der Wiese zurückblieb. Schon verschwand er hinter tief hängenden Ästen. Sie ritten um eine zackige Felsmauer herum – in die Finsternis.
XX »Im Namen des allmächtigen Richters – Frau! – Sei still!« Lae Varka schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, daß das Geschirr tanzte. Krümel flogen von seinen Lippen. Die kleine blonde Frau am anderen Ende des Tisches schüttelte müde den Kopf. Ihre Antwort kam als leises, monotones Wimmern und klang, als hätte sie dasselbe schon hundertmal vorher gesagt. »Deine Wut ändert nichts an der Wahrheit, teurer Gatte. Unsere jüngste Tochter ist fortgelaufen, du hast sie mit deiner Grausamkeit aus dem Haus getrieben. Jetzt haben wir überhaupt kein Kind mehr. Was soll nur aus uns werden, wenn keiner mehr da ist, die Pflichten der Varka wahrzunehmen? Wir sind nichts mehr … nichts!« Der grobknochige Mann wischte sich zornig die Krümel aus dem Bart. »Glaubst du, das weiß ich nicht – ich, die Stimme des hohen Richters, dessen Vorfahren der Mauer gedient haben, seitdem Beya-Sev existiert? Wenn du mir Söhne geschenkt hättest anstatt …« Das Getrappel von Füßen auf dem Korridor ließ ihn mitten im Satz abbrechen. Es klopfte aufgeregt an der Tür. Die Frau stand auf und schob die bronzegetäfelte Tür zur Seite, um einen dünnen Mann in gelber Tunika und Hose einzulassen. Er nickte ihr zu und ging zu Lae Varka hinüber. »Nun, was gibt es, Lahl Maghra? Sprich, Mann, sprich!« »Chef«, keuchte Lahl Maghra, »mit der Mauer stimmt etwas nicht! Der allmächtige Richter gibt seltsame Zeichen – wir wissen nicht, was er von uns will!«
- 253 -
»Ha!« brüllte Lae Varka. »Die Ältesten murren und maulen, daß sie mit einem Sprecher, dessen Frau nur Mädchen gebärt, nichts anfangen können, doch zu wem kommen sie gerannt, wenn sie nicht mehr weiter wissen?« Die Frau wollte den Mund aufmachen, doch er winkte großspurig ab. »Ruhe, Weib! Das hier ist Männersache. Komm, Lahl Maghra!« Auf dem Korridor wuchs sich die Aufregung des Meßdieners zu blanker Panik aus. An der nächsten Ecke platzte es aus ihm heraus, doch Lae Varka schubste ihn weiter: »Immer mit der Ruhe, warte, bis wir in der Gerichtshalle sind. Ich nehme doch an, daß die Ältesten wenigstens noch Zungen in ihren wackelnden Köpfen haben!« Er mußte sich zusammenreißen, um seine zuversichtliche Fassade aufrechtzuerhalten, als er durch das mächtige Tor den Gerichtssaal betrat und die Situation mit einem Blick erfaßte. Die sechs Ältesten der Sev Kalan saßen vor dem verschlungenen Antlitz des allmächtigen Richters, das sie in giftig gelbem Licht fast zu ertränken schien. Gelb war die Farbe äußerster Gefahr. Alle anderen Signale an der Mauer waren erloschen. Die wenigen Leute, die um diese Zeit noch wach waren, saßen in kleinen, zusammengedrängten Grüppchen in den ersten Bankreihen. Lae Varka sah über ihre betretenen Mienen hinweg und ging ohne Eile den Mittelgang hinauf. Irgendwo im Schatten weinten zwei Frauen. Er sprang die Stufen zum Podium hinauf. »Was gibt’s Neues?« fragte er die Ältesten ohne Umschweife. Nicht zum ersten Mal bemerkte er die Zeichen der Senilität an ihnen, obwohl er nur wenig jünger war als der Jüngste der Sechs. »Dein Ton ist sehr ungebührlich, aber darüber wollen wir hinwegsehen in dieser Situation.« Borud Brah hatte gesprochen, der älteste Bürger der Oberstadt. Die sanfte Zurechtweisung konnte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es ihm gar nicht paßte, so angesprochen zu werden. Er hing kraftlos in seinem Sessel und schaute Lae Varka aus seichten, wässrigen Augen an. »Wir können dir nicht mehr sagen als du selbst sehen kannst. Vor einer knappen Viertelstunde leuchteten die gelben Lampen der Mauer auf. Wir warten darauf, daß du uns sagst, was der allmächtige Richter uns mitteilen will.« Lae Varka nickte. Er setzte sich an das Schaltpult und fing mit der Routinearbeit an, die er nicht mehr gemacht hatte, seit seine Tochter Dienerin der Mauer geworden war. Aus den gigantischen Datenspeichern der Mauer flossen die Informationen in den steinernen Terminal und wurden dort in die Sprache der Sev Kalan übersetzt. Lae - 254 -
Varkas Gesicht verfinsterte sich immer mehr. Plötzlich stand er auf und wandte sich an die schweigende Versammlung. »Verkünde uns die Worte des hohen Richters …« Borud Brahns Stimme war kaum zu verstehen, so leise sprach er. »Er sagt voraus«, verkündete Lae Varka barsch, »daß Beya-Sev in zwei Tagen und zwei Nächten nicht mehr sein wird!«
XXI Die schwarze Bestie verharrte auf dem felsigen Grat und schnupperte die milde Luft. Der große weiße Planet über dem Horizont goß silbernes Licht auf das bürstenartige Fell, das von ihrem fleischigen Hals abstand. Sie warf ihre mit riesigen Fängen bewehrte Schnauze hin und her; zwei feuerrote Augen glühten unter buschigen Brauen über weit geöffneten Nüstern, durch die sie die vielfältigen Düfte einsog, die der verschlungenen Vegetation des Hanges entströmten. Der muskulöse Körper spannte sich an. Unterdrücktes Fauchen drang aus dem halb geöffneten Maul. Wo vorher nur Schatten waren, erschien jetzt plötzlich eine Gruppe schwarzer Gestalten; erst waren es nur zwei, dann zehn, dann über ein Dutzend. Schatten, die zusammenwuchsen und sich auf ein Gebüsch zu bewegten. »Langsam … langsam«, flüsterte Chailemm. Er ritt auf gleicher Höhe mit dem Spurenleser der Alangabande. »Wenn die Drigg heute nacht auf Jagd gehen, dann ist jetzt ihre Zeit. In diesem Licht finden sie genug frische Spuren.« Der vermummte Reiter nickte. »Ja, Chailemm, die Schambris werden schon unruhig.« Er streichelte das dichte Fell am langen Hals seines Tieres. »Auf diese Ohren und auf diese lange Nase kann man sich verlassen.« »Wenn die Drigg auf Jagd sind, verlasse ich mich auf gar nichts.« Chailemm wendete sein Schambri und ritt entlang der Reihe der geduldigen Tiere zurück. Als er eines der doppelt beladenen Schambris erreichte, fragte er ruhig: »Wie geht es, Fremder?« Jerry Cornelius schaute zu ihm hinüber. »Nicht besonders. Was willst du in meiner Lage erwarten.« Er hielt ihm seine gefesselten Hände entgegen und mußte sich schnell wieder am Fell festhalten, um nicht aus dem Sattel zu fallen.
- 255 -
Hinter ihm fluchte Galdonn. Er reckte seinen Kopf über Jerrys breite Schultern und brüllte: »Wie lange soll mein Schambri das Gewicht dieses Kerls noch aushaken? Kann ihn nicht jemand anders übernehmen?« »Eine gute Idee«, sagte Chailemm. Mit leiser, aber gut vernehmbarer Stimme rief er einen Reiter, der in der Nähe war. »Genli! Nimm den Fremdling in deinen Sattel, Galdonns Schambri braucht eine Pause.« Aus der Dunkelheit ganz in der Nähe kam ein schadenfrohes Kichern. »Was ist los, Brüderchen, du bist wohl nicht mit genug Spaß bei der Sache. Schau her, meine Gefangene schläft.« Tatsächlich, Lae Pinu war eingeschlafen. Von Müdigkeit überwältigt ruhte ihr Kopf an Sechrals Brust. Galdonn zog böse die Augenbrauen zusammen, aber er sagte nichts, er war vollkommen damit beschäftigt, Jerry von seinem Schambri auf das von Genli zu hieven. Als er mit dem mühsamen Geschäft fertig war, muffelte er: »Harm sei Dank!« und ritt schnell weiter. Während Genli ihn festhielt, rutschte Jerry sich unbeholfen im Sattel zurecht. Er war nie gern geritten, und die Bewegungen des Schambri waren eckiger als die jeden irdischen Tieres, auf dem er je gesessen hatte. Er hatte gerade die Mähne gefaßt, als es plötzlich vorn im Gestrüpp knackte. Jerry rutschte zur Seite, krallte seine Finger in das Fell des sich aufbäumenden Tieres. Irgendwo in der Nacht stieß der Führer zweimal kurz in sein Hörn. »Die Drigg kommen!« Genlis Stimme klang in Jerrys Ohren lange nach. Ohne Zeit zu verlieren formten die Alanga einen speerbewehrten Keil, an dessen Spitze Chailemm und der Führer standen, beide mit schußbereiten Bögen. Keiner außer Sechral bemerkte, daß Lae Pinu aufgewacht war und verschreckt auf die kriegerische Szene starrte. Erst als sich eine Lichtung vor ihnen öffnete und alles in das weiße Licht von Harm getaucht war, erfaßte sie die Situation vollständig. Sechral drückte sie an sich, als sie instinktiv versuchte, zu fliehen. »Bleib sitzen, Kleines. Überall lauert Gefahr. Sei still und lenke mich nicht von meinen Aufgaben ab.« Er sprach sanft, fast freundlich, aber sein Griff war unmißverständlich. Sie verrenkte ihren Kopf, um ihm ins Gesicht zu sehen. Auf seinem glatten, dunklen Gesicht meinte sie ein Lächeln zu entdecken. Seine blauen Augen schauten sie kurz an, dann richteten sie sich wieder prüfend auf den Berghang. Wieder krachte es im Gebüsch. Stechende Angst durchfuhr sie. Mit einem Krachen brachen die hohen Büsche direkt vor Chailemm auseinander. Riesengestalten schoben sich durchs Gehölz, trampelten - 256 -
alles nieder und wischten gestürzte Stämme zur Seite. Der Führer breitete seine Arme aus und rief: »Halt! Halt! Mahra! Mahra!« »Was ist los?« fragte Jerry und mühte sich, über die Köpfe der Reiter vor ihm zu schauen. Er bekam seine Antwort, noch bevor Genli überhaupt den Mund aufmachen konnte. Eine Gruppe von Kreaturen, die ihm wohlbekannt waren, stürzte auf die Lichtung. Tellergroße gelbe Augen leuchteten ihm aus affenartigen Gesichtern entgegen. Unglaublich lange Arme schaukelten im Rhythmus mit den kürzeren, muskulösen Hinterbeinen. Die Kreaturen fegten laut schreiend über die Lichtung. Einige hatten Kinder an ihren langen Schulterhaaren hängen, die weniger behaart waren und erschreckend menschlich aussahen. Jerry kannte sie. Eine solche Gruppe hatte erst vor wenigen Stunden im Scheinwerferlicht des Wagens gestanden. Niemand versuchte, sie aufzuhalten. »Das sind die Mahra, Fremder, die Bewohner des Waldes«, sagte Genli, der jetzt nicht mehr flüsterte. »Außer in der Zeit, wenn der Nachwuchs kommt, sind sie harmlos. Aber paß auf, denn heute nacht sind die Drigg hinter ihnen her. Halt dich fest!« Etwas Schwarzes kam aus dem Wald. Das Horn erklang laut und schrill. Geschliffene, steinerne Speerspitzen erhoben sich und schimmerten matt. Der Drigg warf einen glühenden, bösen Blick auf die abwartenden Menschen und Tiere, dann schien er sie einfach zu ignorieren. Er hob den Kopf und brüllte den Himmel an, ein Schrei, der in einem Geräusch endete, das an Papierknistern erinnerte. Jerrys Magen zog sich zusammen. Hatte dieses Ungeheuer dort die Spuren hinterlassen, wo Cathy den Fluß durchquert hatte? Am ganzen Körper brach ihm Schweiß aus. Ein zischendes Geräusch, die Schambris kamen in Bewegung. Der Drigg sprang. Plötzlich schien er sich selbst zu vervielfältigen, wurde zur zwölfköpfigen Furie. Die Mahra machten panische, hoffnungslose Fluchtversuche. Jerry sah ein weibliches Exemplar stürzen und sich sofort wieder aufrappeln, doch das Kleine, das sie auf dem Rükken getragen hatte, verlor den Halt an ihrem Fell und rollte hilflos den felsigen Abhang hinunter, direkt vor die Füße von Sechrals Reittier. Sofort stürzte sich ein Drigg darauf und knackte den kleinen Schädel mit seinen gelben Fängen. Lae Pinu schrie auf, als das Schambri sich stampfend und schnaubend umdrehte und dabei das Untier mit einem Fuß am Kopf traf. Mit atemberaubender Schnelligkeit sprang der Drigg zur Seite und richtete seinen Angriff auf Sechral und das Mädchen. Pfeile zischten durch die Luft. Sechral drückte - 257 -
Lae Pinu flach auf den Rücken des Schambri und warf sich über sie. Sie fühlte, wie der Schambri unter den Angriffen des Drigg taumelte und vor Todesangst brüllte. Sie fiel; Sechral hielt sie immer noch fest. »Schneide mich los, verdammt!« schrie Jerry wütend. »Schneide die Fesseln durch!« Hilflos sah er zu, wie die beiden von dem sterbenden Schambri wegrollten und sich der mit Pfeilen gespickte Drigg, dem das Blut aus dem aufgesperrten Rachen tropfte, aufbäumte. Sechral kniete schützend vor dem Mädchen und hielt seinen Speer hoch. Eine riesige Klaue zerschmetterte die Waffe und riß dabei Sechrals Lederanzug in Fetzen. Die schwarze Bestie richtete sich fauchend vor ihm auf. Dann ein furchtbarer Kampfschrei; ein Speer bohrte sich mitten in den runden Kopf des Ungeheuers und heftete Ober- und Unterkiefer zusammen. Galdonn sprang auf die Erde und hielt seine Steinaxt mit beiden Händen. Er sprang um die rudernden Klauen herum, bis er dazu kam, die Axt mit voller Wucht auf dem Schädel der Bestie zu zerschmettern. Ein Krachen; der Drigg schüttelte sich und fiel. »Vielen Dank, Bruder!« Sechral stand schwankend auf. Sein blasses Gesicht glänzte vor Schweiß. Dunkles Blut strömte aus seinem zerfleischten Arm und tropfte auf Lae Pinus silbergrauen Overall. Er reichte ihr seine Hand. Galdonn wartete. Sechral fiel fast hin, kam wieder ins Gleichgewicht, sah mit halb offenen Augen seinen Bruder an, doch schließlich wurden seine Knie weich, er stürzte. Galdonn grinste wie ein Wolf und hob ihn auf, als ob er ein Kind wäre. »Ich nehme ihn auf mein Schambri.« Das war Chailemms Stimme. Galdonn stand vor der blutigen Szenerie und sah direkt in die Augen des Alangaführers. Als Chailemm abstieg, sagte er: »Nein, mein Vater, er reitet mit mir.« »So soll es sein. Du hast dir das Recht verdient.« Chailemm hob seinen Sohn auf und hielt ihn, während Galdonn wieder aufstieg. Dann gab er ihn in seine Obhut. Er wandte sich Lae Pinu zu, die den steifen, blutigen Leichnam des Drigg mit einer Mischung aus Staunen und Entsetzen anstarrte, und sagte: »Jetzt zu dir, Kleine.« Zärtlich und ohne jede sichtbare Anstrengung hob er sie in seinen Sattel. Zum ersten Mal seit vielen Stunden war Jerry entspannt. Er schaute sich um. Wo war die Driggmeute geblieben? Seltsam, sie waren ihrem Artgenossen nicht zu Hilfe gekommen. Am Waldrand lagen zum Teil behaarte Fleischklumpen verstreut. Von den Mahra und ihren Peinigern keine Spur mehr. Eine komische Art von Individualismus, dachte Jerry. Kaum auszudenken, wenn die Drigg sich anders verhalten hätten. - 258 -
Ehe Reiter formierten sich neu und zogen mit Rücksicht auf den Verwundeten langsamer weiter. Als Chailemm vorbeiritt, schenkte Sechral Lae Pinu den Hauch eines Lächelns. Jerry ritt auf der anderen Seite und sah, daß sie weinte. Er beugte sich zu ihr hinüber, so weit er konnte und rief: »Mache dir nicht zuviel Sorgen. Das sind harte Männer. Er wird es überstehen, Lae Pinu!« Sie sah ihn aus verschwommenen Augen an. Schniefend sagte sie: »Ich habe an den kleinen Mahra gedacht.« Harm schaute bleich auf sie herab.
XXII »Du lügst! Du lügst!« Borud Brahn war aufgesprungen, sein fetter Körper zitterte vor Wut. Er zeigte mit einem knorrigen Finger auf Lae Varka. »Es ist nur ein Trick, um die Autorität der Ältesten zu vernichten! Beya-Sev wird niemals untergehen! Der allmächtige Richter beschützt uns!« Zustimmende Schreie kamen von einer Gruppe Sev Kalan, die sich in der Halle versammelt hatte. Mehrere standen auf und warfen sich vor dem Podium auf den Boden, wie um der Quelle ihrer Wahrheit näher zu sein. Lae Varka gab sich alle Mühe, seine Stimme zu kontrollieren, doch sein Gesicht zuckte, und seine Hände zitterten. »Alter Mann, du bist ein Narr. Die Katastrophe steht direkt vor dir, doch dein Hirn zu verkalkt, als daß es die Wahrheit akzeptieren kann. Ich bin der Priester der Mauer, und die Mauer lügt nie. Wer etwas anderes behauptet, lehnt sich gegen die Autorität des allmächtigen Richters auf. Wollen die Ältesten sich über den Behüter von Beya-Sev stellen?« »Will Lae Varka sich über den Rat der Ältesten stellen?« schnappte die Fistelstimme eines kleinen Mannes mit scharfer Nase am entfernten Ende des Tisches. »Wissen wir überhaupt, ob deine Interpretation der Worte des allmächtigen Richters richtig ist?« Keuchend forderte Borud Brahn: »Erzähle uns mehr über den Untergang von Beya-Sev, wenn du kannst. Wie wird die Katastrophe genau aussehen?« »Sag es uns!« schrie eine Frau im Saal, und wie auf ein Signal fielen die anderen ein: »Sag es uns! Sag es uns, Stimme der Mauer!«
- 259 -
Lae Varka kümmerte sich nicht um die aufgeregten Alten und nickte zum Publikum. »Die Mauer wird sprechen, wenn der allmächtige Richter es will.« Er setzte sich wieder vor das Schaltpult. Die Zeit verstrich quälend langsam. Die Sev Kalan im Saal und der Ältestenrat saßen angespannt auf ihren Bänken und warteten stumm. Über allem thronte der gelb leuchtende, gigantische, elektronische Apparat, der die Stadt kontrollierte. Unter dem Schaltpult klickte es. Lae Varka schob seinen Stuhl zurück. Für einen Moment blieb er mit gesenktem Kopf sitzen. Als aber in der Halle Unruhe aufkam, stand er auf und trat ein zweites Mal vor die Versammlung. Seine Stimme war nicht mehr scharf und bestimmt, vielmehr klang sie deutlich resigniert. »Älteste und Bürger von Beya-Sev, ich verkünde euch den Spruch des allmächtigen Richters. Ein Objekt immenser Masse nähert sich unserer Welt mit einer Geschwindigkeit, die jenseits der Vorstellungskraft liegt. Dieses Objekt kommt aus Regionen außerhalb der Atmosphäre, wo kein Leben existieren kann. Wenn es in die Atmosphäre eintritt, wird es nach den Worten des allmächtigen Richters einen Wirbelsturm verursachen, der Beya-Sev vernichten wird. Das ist unser Schicksal. Es gibt nichts, wodurch wir es verhindern können.« Die kurze Stille, die folgte, wurde von einer Flut von Schreien überspült. Männer und Frauen strömten aus der Halle, um die Neuigkeit in die schlafende Stadt zu tragen. Borud Brahn stellte sich vor Lae Varka. »Der Fremde, der diese phantastische Geschichte erzählt hat, ist daran schuld! Hat er nicht gesagt, daß er und sein Volk durch den luftleeren Raum fliegen können, gegen alle Vernunft? Du, Lae Varka, warst für ihn verantwortlich. Durch deine Nachlässigkeit konnte er entkommen! Und jetzt müssen wir alle leiden!« Der Mann, dem die Anklage galt, antwortete nicht. Von den entfernten Kammern und Galerien schallte plötzlich ein Getöse, das immer lauter wurde, ein metallisches Donnern wie Hammerschläge, die auf die Tore prasselten, die die Oberstadt von der Finsternis der unteren Regionen abriegelte. * »Was zum Teufel geht da unten vor?« Der Mann von New York Herald Tribune blinzelte in die indische Sonne, seine Worte wurden vom Sturm, den die Rotorblätter eines Hubschraubers entfachten, fortge- 260 -
tragen. Unter ihm fiel der Schatten des großen UN-Helikopters auf eine brodelnde Masse von Menschen. Das Kratzen und Scharren unzähliger Füße, das Geplapper von Millionen Stimmen vermengte sich zu einem einzigen, monotonen Raunen. Der rothaarige Korrespondent des schwedischen Aftonbladet saß am Steuerbordfenster und sagte staunend: »Es sieht aus wie ein Tanz, aber mir ist ziemlich unheimlich dabei.« »Ein Beispiel von Kontamination über Kommunikation.« Der schlaksige Vertreter der London Guardian-Times umgab sich wie üblich mit seinem Flair lässiger Allwissenheit. Er schaute auf den wogenden Brei aus Leibern einen Kilometer vor den elektrischen Zäunen, die das Gandhi-Raumfahrtzentrum umgrenzten. Er fuhr fort: »Der Vier-Uhr-Satellit hat Menschen in Südchina und in Brasilien gezeigt, die von der Dancomanie befallen sind. Unsere Freunde dort unten haben das Programm bestimmt auch gesehen, und weil sie nichts Besseres zu tun haben, machen sie jetzt einfach nach, was sie auf ihren Videos gesehen haben. Das ist unser zwanzigstes Jahrhundert – ein weltumspannendes elektronisches Irrenhaus.« »Der Vier-Uhr-Satellit?« fragte die technische Expertin der Pravda, während sie ein Stäubchen von ihrem weißen Stretchanzug wischte. »Gehen Sie denn nie ins Bett? Und was ist bitte ›Dancomanie‹?« »Auf Frage eins können wir später eingehen. Was ihre zweite Frage angeht, so gibt es historische Parallelen zu dem Spektakel, das wir hier erleben. Europa im Mittelalter zum Beispiel, als die schwarze Pest wütete. Die Seuche tötete Millionen und erschütterte die sozialen Strukturen Europas. Seltsame, barbarische, perverse Kulte entstanden gleich zu Beginn. Ein bemerkenswertes Symptom war der Trieb, sich anzufassen und zu tanzen. Die Leute waren wie von Sinnen, sie tanzten, bis sie vor Erschöpfung starben!« »Immer im Kreis, immer nur im Kreis …!« schrie Aftonbladet. »Tausende und Abertausende! Kennt jemand die heutige SkygridZählung?« »Sieben komma vier Millionen heute morgen um acht«, informierte ihn der Reporter von Herald Tribune. »Bei dieser Zahl hatte der Robokopter drei Zehntel des Perimeters erfaßt. Dann wurde er abgeschossen.« »Sieben Millionen Menschen direkt vor dem Zaun. Und es kommen immer noch mehr!« »Ich glaube kaum, daß die alle tot umfallen werden. Ich habe Angst.« Die Stimme der Pravda klang eher skeptisch als beunruhigt. »Ich auch«, grunzte Herald Tribune. - 261 -
»Vielleicht kann ich Sie auf die Langzeitstudie der Vereinten Nationen verweisen, um Ihre Frage zu beantworten«, fuhr Guardian-Times fort. »Dort finden Sie alles über die psychischen Wirkungen der Überbevölkerung. Der schwarze Tod wurde ausgerottet, meine Freunde, doch der Mensch hat eine weitaus hartnäckigere Seuche an seine Stelle gesetzt – sich selbst! Die neue Plage der Menschheit ist – die Menschheit.« »Hey, hey, wer ist denn das?« Die Unterhaltung wurde durch den Ruf des Reporters des Aftonbladet beendet. Er hatte ein Fernglas vor die Augen gepreßt und zeigte nach unten, wo eine kolossale Kuppel die zusammengewürfelten Zelte und Caravans überragte, eine leuchtende, gelbe Warze. Die Notkathedrale der Relativitätskirche bot einen wirklich imposanten Anblick, nicht zuletzt wegen der militärisch perfekten Maßnahmen, die getroffen worden waren, sie von der schwärmenden Menschenmenge zu isolieren. Doch für die Reporter war sie ein geschätzter Orientierungspunkt bei ihren täglichen Beobachtungsflügen über der phantastischen Demonstration. Etwas anderes hatte Aftonbladet zu dem Schrei veranlaßt. Herald Tribune schaute durch ein zweites Fernglas und pfiff leise. Auf der Holzbühne, die rund um die ganze Kuppel verlief, stand eine hochgewachsene Blondine, die stramm auf die Sechzig zuzugehen schien. Ein glitzernder Kaftan aus golddurchwirkter Wolle betonte ihre statueske Figur. Kopf und Oberkörper waren über und über beladen mit irgendwelchen schimmernden Schmuckstücken, Ketten und Ohrringen und Broschen. Männer und Frauen lauschten ergriffen ihren Worten. »Diese Walküre ist Sophie Gavin«, klärte Herald Tribune die anderen auf, »die Macht hinter dem Thron der Relativitätskirche, und das ist nicht übertrieben!« »Sie ist die Frau von Ehrwürden Gavin, dem Führer der Kirche?« fragte Pravda. »Genau«, fiel Guardian-Times dem anderen ins Wort. »Ihre kleine Schwester, Kate, ist mit dem Chefkonstrukteur der Hoffnung der Menschheit verheiratet. Bei den Familientreffen hätte ich gern Mäuschen gespielt! Ach, ich mag gar nicht länger hinsehen. Hier ist viel zu viel auch relativistisch gesehen viel zu schwere Artillerie auf einem Haufen, sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne. Ich hoffe, Marschall Hiras Geheimdienst hat nicht geschlafen.« »Schluß für heute, Herrschaften.« Die gelangweilte Stimme des Piloten kündigte das Ende des täglichen Beobachtungsfluges an. Der Hubschrauber flog einen weiten Bogen über den Köpfen der in der - 262 -
Sonne bratenden verirrten Gemeinde, über den glitzernden Drahtzaun hinweg, zurück in den sicheren Luftraum über der sterilen Keramikbetonfläche des Raumfahrtzentrums. Hinter ihnen erhob die glitzernde Gestalt auf der Bühne drohend die Faust gegen die Glastürme des Kontrollzentrums. Der Tanz ging weiter.
XXIII Harm ging gerade unter, als die berittene Gruppe den höchsten Bergkamm passierte und in der Ferne das Meer sichtbar wurde. Der Anblick war so überraschend, daß Jerry der Atem stockte. Er dachte zurück an den Augenblick, als sie die Stadt vom Raumschiff aus zum ersten Mal sahen und unter dem orangefarbenen Wolkenmeer einen Küstenstreifen zu erspähen glaubten. Die dunkle, gekräuselte Fläche, die bis zum Horizont reichte und von dem untergehenden Planeten Harm weiße Lichtspitzen reflektierte, schien Teil einer anderen Wirklichkeit zu sein. Kalter Nachtwind blies ihm ins Gesicht und wehte über die Pässe, durch die Täler, raschelte im papierartigen Laub seltsamer, knorriger Bäume. Sechral kam für einen Augenblick zu sich und stöhnte leise. Jerry sah auf den jungen Alanga und dann auf die stolze Gestalt des älteren Bruders. »Geht es ihm besser?« fragte er. Galdonn drehte sich langsam zu ihm um. Sein breites, bärtiges Gesicht ruhte eine Weile auf Jerry, als wollte er so hinter die Motive der Frage kommen. Schließlich sagte er grantig: »Die Wunde ist nicht so tief wie sie aussieht. Er wird bald wieder auf den Beinen sein.« Doch Jerry las etwas anderes in den besorgten Augen Galdonns, mit denen er seinen verletzten Bruder anschaute. Zum Teufel mit dem Mißtrauen, sagte er zu sich selbst, hier stirbt ein Mensch, es muß etwas getan werden. Mit lauter Stimme rief er: »Ich habe Medizin, die seine Wunden schließen kann, wenn ihr mir erlaubt, sie einzusetzen. Wir müssen nur zu meinem Wagen zurück, um sie zu holen.« Galdonns Miene erstarrte. Die Reiter um ihn herum warfen feindselige Blicke auf Jerry. Zu müde und erschöpft, sich um die Folgen zu sorgen, blickte er genauso störrisch zurück; im stillen fluchte er über den abergläubischen Konservatismus der Alanga. Rechts neben sich konnte er Lae Pinus Gesicht in der Dämmerung kaum noch erkennen. Chailemm saß fest in seinem Sattel und schien Jerrys Vorschlag - 263 -
nicht gehört zu haben. Genli, mit dem er das Schambri teilte, flüsterte ihm zu: »Spreche nie von Technik oder Wissenschaft, Fremder. Wenn Harm es will, wird sich der Sohn des Chefs bald erholen.« Die kleine Karawane ritt jetzt in eine enge, schattige Schlucht, aus deren unsichtbaren Tiefen eiskalte Luft zu ihnen herauf schwappte. Jerry steckte seine Zunge zwischen die Zähne, um zu verhindern, daß sie vor Kälte klapperten. Er spürte die unangenehme Gewißheit, daß er die nächsten Tage weder sitzen noch laufen können würde, wenn er diese an allen Knochen und Gelenken zerrende Tortur erst überstanden hätte. Der Drang, die integrierte Heizung seines Overalls einzuschalten, wurde fast unwiderstehlich, doch er war sich bewußt, wie wichtig es war, die Alanga im unklaren zu lassen, welche Möglichkeiten in den Anzügen steckten, die er und das Mädchen trugen, und zitterte standhaft weiter. Bald versperrten ihnen Felsenhänge den Blick zum Meer, und der letzte silberne Reflex von Harm verschwand. Die tiefe Finsternis, die folgte, wurde bald gebrochen von einem roten Schimmer. Es wurde immer heller, je tiefer sie kamen, und auf einmal bekam Jerry den Geruch von brennendem Holz in die Nase. Gleichzeitig erscholl ein Ruf aus der Finsternis. »Wer da?« Chailemm antwortete mit donnernder Stimme. Vor den fernen Feuern zeichnete sich die Silhouette eines Mannes in einem weiten Umhang ab. Er verbeugte sich tief und gab mit einer ehrfürchtigen Geste den Weg frei. Der Boden wurde moosig, und bald waren sie auf dem Grund eines schmalen Tales, durch das träge ein Bach plätscherte. Vor ihnen lag eine Ansammlung von Steinhütten, die von der duftenden Brise ganz in Rauch gehüllt war. Jerry rang seine Müdigkeit nieder und schärfte seine Sinne, um keine Beobachtung auszulassen, und plötzlich durchzuckte ihn nackte, kalte Angst. Aus der Nacht über ihm hatte sich lautlos ein geflügeltes Etwas genähert und huschte in Armeslänge vor ihm vorbei. Er war so erschrocken, daß er zusammenzuckte und seine rechte Schulter unter Genlis Kinn knallte. Der Alanga fluchte böse, während das fliegende Ungeheuer vor ihm flatterte, kreischte und sich auf Chailemms linken Arm setzte. Lae Pinu schrie auf und warf sich so heftig nach hinten, daß nur Chailemms langer, starker Arm sie davor bewahrte, kopfüber aus dem Sattel zu fallen. »Ruhig … ruhig«, murmelte Chailemm. Das Mädchen rückte so weit weg von dem Tier wie es ging, und sah schaudernd zu, wie es kurze, in kleine pfände endende Arme ausstreckte und den Arm des Alanga hinauf auf dessen Schulter krabbelte. Dort blieb es hocken - 264 -
und begann mit dünner, hoher Stimme zu sprechen. Aus der Dunkelheit kamen mehr von den eigenartigen Vögeln, setzten sich auf die Arme anderer Reiter. Nur der, der zu Sechral gehörte, verhielt sich anders. Er kreiste über dem Schambri und dessen Last und stieß schneidende, klagende Schreie aus, die Jefrys Blut in den Adern gerinnen ließ. »Was ist denn das?« fragte er Genli. »Chibba, die Kinder Harms«, antwortete der Alanga und rieb sich sein bärtiges Kinn. »Vor langer Zeit waren sie noch stumm, doch Harm in seiner Weisheit lehrte sie zu sprechen. Jetzt bewachen sie nachts unser Dorf und warnen uns, wenn sich jemand nähert.« Menschen kamen auf dem Dorfplatz beim Feuer zusammen. Einige, die geschlafen hatten, rieben sich die Augen und standen auf, um die Jäger zu begrüßen. Es kam Jerry vor, als sei die ganze erwachsene Bevölkerung – er sah keine Kinder – auf den Beinen, um dabeizusein, wenn die Reiter zurückkamen. Hatten sie damit gerechnet, daß sie einen Gefangenen, einen Fremdling mitbringen würden? Wie lange hatten sie wohl von seiner Existenz gewußt, bevor sie ihn im Gebirge erwischten? Sie ritten auf den Platz. Frauen und schlanke Mädchen mit silbernem Schmuck im Haar kamen, ihre Männer zu begrüßen. Danach richteten sie ihre Augen in offener Neugier auf den blonden Erdenmann und auf Lae Pinu in ihrem grauen Overall. Ein paar alte Frauen waren mit Kochtöpfen beschäftigt und eine Gruppe graubärtiger Greise saß mit eingefallenen, indifferenten Gesichtern vor dem Feuer. Durch die Menge kam eine große Frau mit athletischen, aber vollkommen weiblichen Schritten auf sie zu. Sie blieb vor Chailemm stehen und betrachtete Lae Pinu mit großen, blauen Augen. Der Anführer beugte sich hinunter und faßte ihre Hände. »Myrhial.« Die Begrüßung klang förmlich und respektvoll. Im selben Ton erwiderte die Frau: »Chailemm, mein Gatte.« Ihr gerader Blick ging zu Jerry über, der sich irgendwie gezwungen fühlte, sich so tief zu verbeugen, wie es seine Lage eben erlaubte. Als er sich wieder aufrichtete, schaute sie an ihm vorbei, ihr Gesicht wurde weiß. Als er von Genli gestützt abstieg, ging Galdonn mit dem schlaffen Körper Sechrals auf den Armen an ihm vorbei. Gefolgt von Myrhial und zwei anderen Alanga verschwanden sie in der größten der Steinhütten. Die stumme Versammlung löste sich auf. Jerrys Aufmerksamkeit wurde gefangen von etwas, das sich im Halbschatten bewegte. Sein Herz wollte stehenbleiben. Ein Mädchen mit roten Haaren wandelte zwischen den Feuern. Ihr langes Kleid schleifte über den moosigen Boden. Sie lief wie im - 265 -
Schlaf, schien die Umgebung gar nicht wahrzunehmen. Jerry folgte dem ersten Impuls und rannte zu ihr. »Cathy!« Seine Stimme ließ die Leute aufblicken. »Cathy!« Rutschend, stolpernd rannte er mit gebundenen Händen auf sie zu. Keuchend blieb er vor ihr stehen und schaute in das Gesicht, das er besser kannte als jedes andere im Universum. Die vertrauten grünen Augen sahen ihn verhangen an, offenbar ohne ihn zu erkennen. »Cathy!« schrie er, »mein Gott, was haben sie mit dir gemacht?«
XXIV Panik beherrschte den Gerichtssaal. Alles war in gelbes Licht getaucht, die Ältesten der Stadt saßen bewegungslos auf ihren Bänken, wie gelähmt von der Gefahr, die auf sie zurollte. Die Bürger irrten sinnlos in der Halle umher, wußten nicht ob sie bleiben oder fliehen sollten. Die Luft zitterte von metallischem Krachen und Läuten, betäubender Lärm, der durch die finsteren Gänge hallte, die in der Halle endeten. Mit jedem Hammerschlag wurde die Angst größer. Noch nie in der ganzen bekannten Geschichte von Beya-Sev waren die Tore der Oberstadt so bedrängt worden. Die Leute waren vollkommen ratlos, was in einer solchen Situation zu tun war. Wie von einer riesigen Last niedergedrückt ging Borud Brahn einen schleppenden Schritt auf den schweigenden Lae Varka zu. Wie ein Mann erhoben sich auch die anderen fünf Ältesten. Schaum bedeckte Borud Brahns zitternde Lippen. Seine ausgestreckten Hände krallten sich um Lae Varkas Kehle, unverständliche Laute der Wut sprudelten aus seinem Mund. Der Priester des allmächtigen Richters taumelte unter dem Angriff; er schien immer noch nicht zu begreifen, was vorging. Mißbilligendes Geraune kam von den Leuten im Saal, als sie sahen, in welcher Verfassung ihr Ältestenrat war. »Mörder! Alabs!« Eine kleine blonde Frau rannte schreiend die Stufen zum Podest hinauf. Sie hing sich an den breiten Rücken Borud Brahns und kratzte ihm von hinten durchs Gesicht. Die fünf anderen kamen herbei, und versuchten sie von ihrem Vorsitzenden zu trennen. »Varka, Varka! Sie werden dich umbringen! Kämpfe! Kämpfe!« Sie schrie vor Wut und Angst.
- 266 -
Lae Varka erwachte plötzlich aus seiner Trance. Brüllend klammerte er seine dicken Finger um Borud Brahns Handgelenke und befreite sich aus dem Würgegriff. Der Alte flog nach hinten und stürzte hart mit dem Kopf gegen den Tisch. Ohne Einhalt fuhr Lae Varka mit rudernden, mächtigen Hieben in den aufgeregten Haufen der übrigen Ältesten. Ohne die Anfeuerungsrufe der Frau zu beachten blieb er mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf plötzlich stehen. Vorsichtig näherte sich einer der Fünf dem regungslos auf dem Podium liegenden Borud Brahn. Dann wandte er sich hastig ab; sein mageres Gesicht war gallig grün geworden. »Er ist tot!« Die Worte waren kaum zu verstehen, doch mehr brauchten die Ältesten nicht zu hören. Sie machten einen großen Bogen um den grimmigen Priester und liefen die Treppe hinunter in die verwirrte und verängstigte Menge. Ein Durcheinander von Schreien erhob sich: »Was sollen wir tun? Wie können wir uns gegen die Sev Alab wehren?« Und am lautesten: »Warum sagt der hohe Richter nichts?« Lae Varka schritt zum Rand des Podiums. Seine Stimme übertönte den Lärm und unterbrach für einen Augenblick das ziellose Umherirren der Leute. In angstvoller Faszination blickten sie auf den Mann, der Borud Brahn getötet hatte. »Der allmächtige Richter schweigt, weil er nichts mehr zu sagen hat! Beya-Sev ist dem Untergang geweiht, und alle werden sterben. Geht, macht, was ihr wollt, es gibt keinen mehr, der euch sagt, was zu tun ist. Eure Führer, die Ältesten, sind schwache, müde alte Männer, ohne Hoffnung, ohne Weisheit. Geht!« Ohne die Wirkung seiner Worte abzuwarten, wandte er sich wieder der Mauer zu. Seine Frau legte eine Hand auf seinen Arm, doch er schüttelte sie ab. »Geh mit den anderen. Es hat keinen Sinn, daß du hier bleibst.« Sie sah in sein Gesicht, als sei er ein Fremder. Seine Augen schauten sie durch einen Schleier gelben Nebels wie aus einer anderen Welt an. Er sagte zum zweiten Mal: »Geh, Frau. Rette dich, wenn du kannst. Wenn die Mauern brechen, dann ist kein Bedarf mehr nach einem Priester; dann brauchen wir auch keine Söhne mehr.« Er stieß sie grob zur Treppe. Plötzlich scholl das furchtbare Kreischen berstenden Metalls durch die Gänge, lauter als alle Geräusche, die vorher durch die Tiefen der Stadt gehallt hatten. Ein Mann schrie hysterisch: »Sie sind durchgebrochen!« Die Menge stob auseinander, irrte durch Korridore und Hallen in alle Richtungen durcheinander. Lae Varka blieb allein mit Borud - 267 -
Brahns Leiche zurück. Langsam ging er zurück zu dem Schaltpult und setzte sich auf seinen Stuhl.
XXV Jerrys Blick war tränenverschwommen. Er vergaß die Alanga und wollte nur noch Cathys Gesicht mit seinen gebundenen Händen streicheln. Als er eine Haarsträhne aus ihrer Stirn streifen wollte, berührten seine Finger eine kleine, verkrustete Narbe, die sich rot gegen die weiße Haut abhob. Schmerz durchzuckte ihr ernstes Gesicht, und dann dämmerte langsam, ganz langsam ihr Bewußtsein. Zärtlich streichelte sie seine Hände. »Jer … ry?« Atemlos beobachtete er die Veränderung in ihrem Gesicht, wie in ihren grünen Augen Erinnerungen aufleuchteten und sie aus den Tiefen des Unterbewußtsein in die Welt zurückkehrte. »Jerry!« Lae Pinu stand mitten unter den Jägern und lehnte an Chailemms breiter Brust. Sie sah, wie die beiden sich küßten, und empfand eine Mischung aus Bitterkeit und Freude. Sie fror und fühlte sich sehr klein und einsam. »Jetzt ist sie geheilt.« In der Stimme des Alangasprechers lag eine verblüffende Wärme. Er legte einen seiner mächtigen Arme um Lae Pinus Schultern. »Komm, du brauchst einen Platz am Feuer. Dort gibt es auch etwas zu essen.« Bereitwillig ließ sie sich zu der großen, zentralen Feuerstelle führen, wo dicke Holzscheite in einem aus Steinen geformten Rund glühten. In einem großen Ton topf, der über den leckenden Flammen hing, brodelte eine Brühe. Seltsame, jedenfalls irgendwie appetitliche Düfte stiegen ihr in die Nase; sie ließ sich auf einem Schambrifell nieder und ließ die hypnotisierend flackernden Flammen ihre Ängste einschläfern. Cathy und Jerry gingen vorbei. Lae Pinu schien es, als sei sein Gesicht nicht mehr so schmal, fast mager wie sie es kannte. Die Frau neben ihm war so groß wie die Größten unter den Alangafrauen, ihr Haar schimmerte kupferrot im Feuerschein. Sie kamen näher. Chailemm erhob sich; sein Kopf überragte die Versammlung. Als Jerry Lae Pinu in der Nähe sitzen sah, lächelte er ihr freundlich zu und sag- 268 -
te zu Cathy: »Das ist Lae Pinu, die mich vor dem größten, buntesten und unfreundlichsten Computer gerettet hat, der je gebaut worden ist. Ich werde dir die ganze Geschichte später erzählen.« Das Mädchen verstand die englischen Wörter nicht, wohl aber den warmen Ton in Cathys Begrüßung und antwortete mit einem Lächeln. Ein bißchen Neid konnte sie nicht unterdrücken, als sie die Frau von der Erde mit langen, eleganten Schritten vorbeischreiten sah. Jerry stand vor dem Sprecher und sagte: »Ich glaube, ich bin dir zu großem Dank verpflichtet, ganz gleich wie wir uns getroffen haben. Warum hast du mir nur nicht gesagt, daß Cathy lebt? Du mußt doch erraten haben, daß sie die Frau ist, nach der ich gesucht habe.« »Gefühle offenbaren sich viel mehr durch Taten als durch Worte«, antwortete der Alanga. Er zog ein langes Messer unter seinem Gürtel hervor und zeigte auf Jerrys Hände. »Ich denke, du wirst jetzt keine Schwierigkeiten mehr machen. Ihr seid Fremde, und deine Frau spricht unsere Sprache nicht, deshalb konnten wir nicht sicher sein, ob du uns die Wahrheit sagtest.« Er schnitt Jerrys Fesseln durch. Jerry rieb sich erleichtert die Handgelenke und genoß das Kribbeln, mit dem sich die Adern wieder mit Blut füllten. »Das kann ich dir nicht verdenken«, nickte er. »Sind deine Jäger zufällig auf mich gestoßen, oder habt ihr uns beobachtet, seitdem wir die Stadt verlassen hatten? Und wo habt ihr meine Frau gefunden?« Chailemm lachte. »Zu viele Fragen nach einem langen Ritt und auf leeren Magen! Setzt euch, Jerricornelius und Cathy, dann werden wir essen und uns unterhalten.« Frauen brachten hölzerne Schüsseln voll dampfenden Eintopf und stellten sie vor Chailemm und seinen Gästen auf den Boden. Jerry langte unbedenklich zu, denn er sah, daß Cathy wohlauf war. Lae Pinu starrte jedoch unschlüssig in die seltsame braune Brühe, in der unidentifizierbare Klumpen und zerhackte Blätter und Äste schwammen. Man ißt doch keine Pflanzen! Oder? Sie wußte nicht, was sie davon halten sollte, daß die anderen anscheinend mit großem Appetit aßen. Zögernd nahm sie einen Löffel voll aus einer Schale und probierte vorsichtig einen Tropfen der mysteriösen Suppe, ohne zu merken, daß alle Augen sie beobachteten und gespannt waren, wie ihre Reaktion wohl sein würde. Schließlich schluckte sie die Suppe mutig hinunter und aß bald mit demselben Genuß wie die anderen. Chailemm nahm das Gespräch wieder auf. »Wir haben dich beobachtet seit dem Tag, an dem das Feuerschiff vom Himmel herabgestiegen war. Hätte die Jagd uns nicht so bean- 269 -
sprucht, dann wären wir schon bei euch gewesen, als ihr der Flugmaschine begegnetet, und hätten euch davor bewahrt, in die Stadt gelockt zu werden. Als wir kamen, fanden wir nur noch die Spuren deines Wagens, wir waren zu spät. Wir sahen gerade noch, wie die Maschine in der Stadtmauer verschwand und wußten gleich, was passiert war.« Jerry übersetzte für Cathy. Sie lächelte interessiert. »Pech, daß wir uns so knapp verpaßt haben. Doch was ich unbedingt wissen möchte: Wie habt ihr mich aus der Stadt bringen können? Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was damals geschehen ist, doch ich bin sicher, es müssen Leute von euch gewesen sein. Ich -« »Der Roboter!« rief Jerry aus. »Natürlich, der hat dich herausgeholt!« Er bemerkte ihre Verwirrung und erzählte weiter: »Während der Schlägerei mit den Sev Alab habe ich für einen Augenblick eine lange Gestalt im Schatten eines Korridors stehen sehen. Sie sah aus wie der Roboter, der uns in die Stadt geführt hatte, doch in Wirklichkeit muß es einer deiner Freunde hier gewesen sein.« Als das Gespräch diese Wendung nahm, schien Chailemm innerlich mit sich zu kämpfen. Schließlich sagte er: »Nur die Jäger kennen Wege in die Stadt; ich kann dir nur verraten – der Bach, der durch dieses Tal fließt, wird später zu einem Fluß und verschwindet einen Stundenritt vor der Stadt unter der Erde. Aus diesem Fluß wird Beya-Sev über ein weitverzweigtes Leitungsnetz mit Wasser versorgt. Die Einwohner der Stadt haben schon lange vergessen, woher ihr Wasser kommt, und daß die Leitungen schließlich zur Außenwelt führen.« »Nur die Leute, die die Stadt verlassen haben, erinnern sich noch an diese Wege oder haben sie wiederentdeckt.« Es gab eine längere Pause. Eine gewisse Spannung hatte sich über die Unterhaltung gelegt. Schließlich redete Chailemm mit veränderter Stimme weiter. »Du bist gerissen. Wie ich sehe, hast du keine Zeit verschwendet, während du in Beya-Sev warst. Die Wahrheit ist immer noch eine wirksame Waffe –« Ein Mann in einem dunklen Umhang beugte sich zu Chailemm herunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das Jerry nicht verstand. Der Häuptling nickte, erhob sich und sagte zu seinen drei Gästen: »Ich muß euch für eine Weile allein lassen. Meine Leute werden sich um euch kümmern. Schlaft gut.« - 270 -
Er ging in die Hütte, wo der verletzte Sechral lag. Cathy sah Jerry an. »Was ist passiert? Ich habe genau gemerkt, wie sich die Atmosphäre abkühlte, bevor er wegging.« Jerry zog eine Grimasse. »Ja, Schatz, das war dein Mann, der seinen Finger auf eine anscheinend empfindliche Narbe im Herzen dieses Riesen gelegt hat. Ich habe nur eine Andeutung über die Beziehung zwischen den Alanga und den Stadtmenschen gemacht. Ihre Sprachen unterscheiden sich nur in Nuancen. Jedenfalls sind meine Schlüsse wohl schärfer, als ihm lieb ist. In Zukunft werde ich aufpassen, was ich sage. Jetzt haben sie ihn, glaube ich, hereingerufen, weil Sechral zu Bewußtsein gekommen ist.« »Wo du gerade über Sprachen gesprochen hast: Wie hast du es geschafft, daß du dich nach so kurzer Zeit fließend mit ihnen unterhalten kannst? Und wo hast du dieses hübsche kleine Ding aufgegabelt, das dich anschaut als seist du das Größte seit Neil Armstrong?« »Was soll ich machen, ich bin nun mal eine Vaterfigur für die meisten jungen Mädchen.« Er grinste sie spitzbübisch an und fuhr dann ernsthaft fort: »Im Falle Lae Pinu ist das viel zu wahr, um noch lustig zu sein. Jetzt möchte ich aber gern wissen, wie es dir inzwischen ergangen ist und sehen, wie unsere Situation im Licht deiner Geschichte aussieht.« Sie unterhielten sich angeregt. Jerry dolmetschte zwischen Cathy und Lae Pinu. Die Männer und Frauen der Alanga sprachen nicht viel, waren aber nicht unfreundlich. Danach führten die Frauen Cathy und Jerry in eine saubere, einfach möblierte Hütte, die frei war, und brachten Lae Pinu in einen Raum, den sie mit Genlis Töchtern teilen sollte. Die Feuer auf dem Platz qualmten friedlich. Sie erwachten an einem strahlenden Morgen. Der Himmel bildete eine prächtige, türkisfarbene Kulisse hinter den Hügelketten, die noch vom Morgenregen glitzerten. Sie bekamen Obst zum Frühstück. Danach stiegen sie die in den Steilhang gehauene, gewundene Treppe hinauf, die sie zu dem eindrucksvollsten Objekt führte, das das Tal zu bieten hatte: Eine grob behauene Steinfigur, die wie ein Berg vor ihnen aufragte und einen Mann darstellte, der seine Arme beschwörend zum Himmel erhoben hatte. Jerry beschattete seine Augen mit einer Hand und schaute an dem mächtigen Torso zu einem finsteren Gesicht empor. Er murmelte: »Als wir letzte Nacht ankamen, war es zwar ziemlich dunkel, aber ich muß wirklich im Sattel geschlafen haben, daß ich das übersehen konnte!« - 271 -
»Jerry.« Cathys Stimme war leise aber erregt. »Jerry, schau dir dieses Relief an!« In den grau-grünen Sockel war eine runde Zeichnung eingraviert. Er wollte kaum seinen Augen trauen, seine Finger fuhren immer wieder über die Konturen der Landkarte, die dort abgebildet war. Jerry und Cathy sahen sich sprachlos an, während von unten durch die frische Morgenluft die Gesänge und das Geplapper der Dorfbewohner zu ihnen flog. Nach Minuten des Schweigens sagte Jerry fast flüsternd: »Es ist alles da, jedes Gebirge, jede Halbinsel. Mein Gott, Cathy, es gibt keinen Zweifel, das ist eine exakte Karte von Asien!«
XXVI Spekulationen überschlugen sich in Jerrys Kopf, während er im Schatten der Alanga-Statue stand und blind auf das ferne Grün des Ozeans starrte. Cathy stand neben ihm und betrachtete und betastete das Relief von allen Seiten. Sie konnte es einfach nicht glauben, daß sie auf diesem fremden Gestirn eine Karte von Asien gefunden haben sollten. »Könnte es nicht vielleicht ein Kontinent auf diesem Planeten sein, der dem alten Asien so ähnlich sieht?« fragte sie zaghaft, denn sie kannte die Antwort im voraus. Jerry schüttelte den Kopf. »Nein, Liebling, unmöglich. Wir haben genug von dem Planeten gesehen, als wir im Orbit kreisten. Es gibt hier keine Landmasse, die auch nur im entferntesten so aussieht wie das hier.« Er atmete schwer. »Nein, es gibt eine sehr schöne, einfache Erklärung, mag sie auch verrückter klingen als alles, was wir im Hyperraum gesehen haben –« Der lustige Ruf eines Mädchens schnitt ihm das Wort ab. Er schaute sich um und sah zwei junge Mädchen in grünen Kleidern die Treppe heraufkommen. Die Kleinere der beiden kam ihm irgendwie bekannt vor. »Schau nur, da ist Lae Pinu!« rief Cathy lachend. »Sie scheint die hiesige Mode genauso schnell angenommen zu haben wie ich! Was ruft sie da?«
- 272 -
Ein Sev Kalan-Gruß, der soviel bedeutet wie ›Guten Morgen‹«, antwortete Jerry. »Aber ich glaube, sie hat uns noch mehr zu erzählen.« Lae Pinu raffte ihr Kleid zusammen und rannte ihnen entgegen, so schnell sie konnte. Atemlos keuchte sie: »Cathee, Jehree! Ich habe sie gefunden!« »Nun mal langsam, Kleines – wen hast du gefunden?« Sie streckte eine Hand nach dem Mädchen aus, das hinter ihr stand, und zog sie vor. »Das ist meine Schwester, Lae Mura! Sie ist eine Alanga geworden! Ist das nicht phantastisch?« »Das ist also deine große Schwester, die aus Beya-Sev entführt worden ist?« Jerry betrachtete Lae Muras blondes Haar und ihre großen dunklen Augen. »Ja, wunderschön, die Ähnlichkeit ist unverkennbar. Für ein Mädchen, das einem alles verschlingenden Gott geopfert wurde, sieht sie eigentlich ganz gesund aus!« Lae Mura schaute ihn verwirrt an. Lae Pinu erklärte ihr rasch Jerrys Scherz, während er Cathy informierte. Lae Mura lächelte jetzt und sagte: »Die Legenden, die man uns in Beya-Sev erzählt hat, sind nichts als Märchen, um die Kinder zu erschrecken. Der Gott unseres Volkes ist Harm, der Weiße, der uns alle liebt, und in dem wir alle eins sind. Nur unter Harm ist Leben möglich – die Stadt ist der Tod.« Jerry fühlte sich an Lae Pinus kleine Rede über die Vorzüge der Einheitsnahrung erinnert, von der die Sev Kalan lebten. Cathy sagte leise: »Frage sie nach der Karte. Vielleicht ist sie gesprächiger als Chailemm.« »Gute Idee.« Er zeigte auf das verwitterte Relief. »Lae Mura, kannst du uns vielleicht sagen, was dieses Bild zu bedeuten hat? Kennen die Alanga dieses Land?« Sie sah ihn verständnislos an. »Ich weiß nicht. Um solche Dinge kümmert man sich nicht als Frau. Vielleicht können der Häuptling oder die Weisen des Dorfes euch helfen.« »Ich wußte, daß so etwas kommt. Gar nicht anders zu erwarten in dieser Art von Gemeinschaft«, bemerkte Cathy, nachdem Jerry ihr die Antwort mitgeteilt hatte. »Aber du glaubst doch immer noch, daß das hier Asien ist, oder?« »Ja. So unglaublich es auch klingen mag, noch unwahrscheinlicher wäre, daß zwei unabhängige Evolutionsprozesse Lebewesen hervorbrächten, zwischen denen eine solche Ähnlichkeit besteht wie zwischen uns und diesen Leuten hier. Ich bin überzeugt, daß wir denselben Wurzeln entstammen.« - 273 -
»Aber wie …« In Cathys grünen Augen dämmerte eine Erleuchtung. »Natürlich, die Hindu-Mythologie! Hätte ich nur besser aufgepaßt, als Hira darüber redete. Er war sicher, daß dem Ganzen eine wissenschaftliche Basis zugrundeliegt.« Die Mädchen schrien gleichzeitig auf. Ein Schatten zog wie das Pendel einer gigantischen Uhr schnell von Norden nach Süden am Himmel entlang. Schweigend starrte er nach oben. Über dem Horizont lösten sich die schweren Regenwolken in Nichts auf, als eine riesige Feuermasse die Atmosphäre des kleinen Planeten durchpflügte. Die gleißende Spur brannte noch auf ihren Netzhäuten, während der Ozean explodierte. Dann gab es einen unerträglichen Krach, ein Donnerschlag, der sie in die Knie zwang; ein Krach, der alle normalen Geräusche vergessen machte, das glatte Gegenteil von Stille. Ein riesiges Schwert schien die Fluten zu teilen, die in zwei gischtsprühenden Mauern zum Himmel stiegen. Das Meer bebte regelrecht, die flüssige Struktur des Wassers wurde durch die Gewalt der Druckwelle einfach auseinandergerissen. Der Feuerball ging, hinter sich eine Spur der Verwüstung, vor den Bergen im Norden zu Boden, hatte längst den Donner überholt, den er erzeugt hatte. Jerry schoß Blut aus Nase und Mund. Gerade als er sich aufrappeln wollte, erreichte die Druckwelle die Küste. Der Felsen ächzte und zitterte. Tausende Bäume knickten um wie Spielzeug. Staub und Steine wirbelten durch die Luft, ganze Berghänge rutschten zu Tal. Er hielt sich die Arme vor die Augen und tastete blind nach seiner Frau, die zusammengekauert auf dem Boden lag. Auf halbem Weg zu ihr stieß er mit Lae Pinu zusammen, die sich, unhörbare Schreie auf den Lippen, an seinem Overall festklammerte. Er zog sie hinter sich her zum Sockel der Statue. Zu seiner Erleichterung hob Cathy den Kopf, als sie gegen den zitternden Fels fielen. Sie klammerten sich verzweifelt aneinander und duckten sich, um nicht von dem umherfliegenden Steinregen getroffen zu werden. »Lae Mura … Lae Mura!« hatte Lae Pinu die ganze Zeit geschrien, doch erst jetzt konnte Jerry sie verstehen. Er verfluchte sich selbst, weil er das andere Mädchen in der Aufregung vergessen hatte. Er hob seinen Kopf und bekam sofort den schneidenden Steinhagel ins Gesicht, doch da war sie, nur wenige Meter entfernt kroch sie unendlich langsam über das Plateau. Er stemmte sich gegen den Sockel und war bereit, ihre Hand zu greifen. Doch dann fiel der Himmel auf sie herab, das war es jedenfalls, was seine strapazierten Sinne ihm vorgaukelten. Aus dem Nichts tauchte der Hurrikan auf und verwandelte die Welt in Sekundenbruchteilen in eine Hölle aus Staub und - 274 -
Salzwasser. Blitze leuchteten matt durch den Sturzbach aus Salzregen. Aus Staub wurde Schlamm, der sich träge die Berge hinabwälzte. Ein donnerndes Krachen zerrte an Jerrys Trommelfellen. Er schützte seinen Kopf mit einem Arm und schaute nach oben. Im unheimlichen, grünen Blitzlicht sah er, wie die Statue langsam schwankte, die steinernen Arme wie in einer letzten Beschwörung zum Himmel gerichtet; er konnte nichts tun, als sich zusammenrollen und den Kopf unter den Armen verbergen. Die Statue fiel krachend über den Rand des Plateaus und verschwand im Chaos.
XXVII Die Maschinen hatten die eisernen Tore gesprengt. Die Oberstadt war gefallen. Hinter knirschenden, klappernden Monstren, die einst für den Bau der Stadtmauern gebaut worden waren und diese ungezählte Jahrhunderte lang gepflegt hatten, strömten die hirnlosen Horden der Sev Alab in die Zitadelle, um Tod und Verderben über die Sev Kalan zu bringen. Nur die gewaltige Mauer des allmächtigen Richters erzeugte in ihren umnebelten Köpfen so etwas wie Angst. So zögerten sie noch, das Podest zu betreten, auf dem der einsame Mann stand. Der Mann kümmerte sich nicht um die Eindringlinge. Er hatte noch Fragen an den allmächtigen Richter. Seine dicken Finger glitten über das Schaltpult. ›Allmächtiger Richter, warum hast du unser Volk nicht früher vor dem Feuerschiff des Fremden gewarnt?‹ DIE ZIVILISATION IN BEYA-SEV HAT STAGNIERT. ES SCHIEN INTERESSANT, DIE WIRKUNG NEUER IDEEN UND TECHNOLOGIEN AUF IHRE STRUKTUREN ZU BEOBACHTEN. DIE LEBENSFÄHIGKEIT DES FREMDEN WAR AUCH EIN INTERESSANTES BEOBACHTUNGSOBJEKT. ›Dann ist er also tatsächlich die Ursache für unser Verderben. Doch warum, oh Behüter der Stadt, lieferst du dein Volk den Bestien der Unterstadt zum Fraß aus? ES GIBT KEINEN GRUND, EUCH WEITERHIN ZU BESCHÜTZEN. MEINE AUFGABE IST BEENDET. EREIGNISSE, FÜR DEREN BEWÄLTIGUNG MICH MEINE SCHÖPFER, DEINE VORFAHREN, - 275 -
NICHT KONSTRUIERT HABEN, MACHEN MICH ÜBERFLÜSSIG. BEYA-SEV MUSS STERBEN. DIE ALTE KRANKHEIT SITZT ZU TIEF. ›Welche Krankheit?‹ ES IST KEINE ZEIT MEHR FÜR LANGE ERKLÄRUNGEN. ICH SAGE NUR, DASS IM LUFTLEEREN RAUM AUSSERHALB DIESER WELT KRÄFTE AM WERK SIND, DIE GEGEN DAS LEBEN SIND. Verzweifelt tippte Lae Varka weiter: ›Der luftleere Raum? Allmächtiger Richter, ich verstehe nicht. Was haben die Sev Kalan damit zu tun?‹ HÖRE: DAS SCHIFF DES FREMDEN WAR NICHT DAS ERSTE, DASS AUF BEYA GELANDET IST. Der Tod kam, bevor er die letzten Worte der Mauer begreifen konnte. * Auf einem breiten Felsvorsprung standen Cathy und Jerry neben dem Expeditionswagen und schauten auf die rauchenden Ruinen von Beya-Sev hinab. Das Licht eines neuen Tages schien hoffnungsvoll auf die Berge und die weite Ebene. Manchmal schossen noch weiße Stichflammen aus den Trümmern, gefolgt von gedämpftem Grollen, wenn rief unter der Erde noch eine verborgene Maschine explodierte. Eine Handvoll Alangas standen auf dem Hang über dem Vorsprung und zerrten unablässig an den Zügeln ihrer unruhigen Schambris. Jerry sagte nachdenklich: »Als ich Chailemm kennenlernte, sponn ich ihm eine Geschichte über eine Katastrophe, die unmittelbar bevorstehen sollte, vor, die ich mir aus den Fingern gesogen hatte, um meine und Lae Pinus Haut zu retten. Nun, ich habe recht behalten, und wir sind frei, und trotzdem bin ich nicht gerade stolz darauf, ein Prophet zu sein.« »Rede nicht, als ob es deine Schuld wäre.« Cathy wandte ihren Blick von dem traurigen Spektakel und schaute in sein trauriges Gesicht. »Das Universum ist voll von wandernden Materieklumpen, die irgendwann einmal jeden Planeten treffen können. Die Erde ist davon auch nicht verschont geblieben. Das Alangatal war, wie ich sehe, am Rande des Unwetters, doch Beya-Sev muß mitten auf der Bahn der Zerstörung gewesen sein.« »Aber hatte denn die Kollision mit dem Planetoiden natürliche Ursachen – oder ist vorher etwas passiert, das die Katastrophe ausgelöst hat?« Jerry sprach mit gedämpfter Stimme, als ob die Alanga etwas - 276 -
von dem aufschnappen könnten, obwohl sie Englisch sprachen. »Vielleicht haben sich durch unseren Sprung durch den Hyperraum in diesem Raumsektor Energien angesammelt, die sich irgendwie entladen müssen. Vielleicht haben wir Dinge in Gang gesetzt, von denen wir keine Ahnung haben – und die wir nie wiedergutmachen können.« »Liebling, es ist jetzt viel zu spät, darüber nachzudenken. Wir gehören jetzt in diese Welt, genau wie Chailemm oder Lae Pinu.« Cathy schaute zu der kleinen Gestalt hinüber, die abseits von den anderen stand und auf die Trümmer ihrer Heimat starrte. »Jetzt ist es unsere Pflicht, den Alanga so zu helfen, wie wir es versprochen haben. Die Katastrophe hat ihre alte Abneigung gegen Wissenschaft und Technik gebrochen und zwingt sie nun zu größeren Taten, als sie mit ihrer alten Lebensweise leisten können, und es gibt keinen Zweifel, Jerry, daß ihre Gemeinschaft auf lange Sicht zum Sterben verurteilt war. Denke nur an all die leeren und verfallenen Hütten, die wir gesehen haben, und daran, daß es früher noch ein Alangadorf gab, vielleicht sogar viele, wenn man der Stammessage glauben darf. Und heute ist nur noch diese eine Siedlung übrig.« Er seufzte. »Ich weiß, Cathy, ich weiß. Seit der Katastrophe haben wir von Chailemm mehr über die Alanga erfahren, als wir sonst in einem ganzen Leben gelernt hätten. Besonders die Tatsache, daß sie nach ihrer Flucht aus Beya-Sev gezwungen waren, waghalsige Ausflüge in die Stadt zu unternehmen, um Mädchen zu rauben, weil die Dörfer immer menschenleerer wurden. Sie wurden immer weniger – was ein klares Anzeichen für die Dekadenz der Bevölkerung ist. Dazu kommen noch meine Beobachtungen in Beya-Sev. Doch das alles macht die Sache nicht weniger schlimm.« Chailemms mächtige Stimme schallte über den Hang. Unter den Reitern setzte aufgeregtes Palavern ein. »Das Feuerschiff kommt zurück! Da, Jerricornelius, schau nur, wie es fällt!« »Es stimmt, Jerry, es stimmt!« rief Cathy und zeigte zum nördlichen Himmel. Hoch oben schimmerte ein Lichtpunkt, der ständig größer wurde, während er sich in großem Bogen der gewaltigen Masse des Trabanten näherte. Jerry jubelte und drückte Cathy an sich. Im nächsten Augenblick hatten sie Lae Pinu am Rockzipfel und sprangen in die Sitze ihres Wagens. Sie riefen den Jägern zu, sie sollten folgen, während Jerry den Wagen in Bewegung setzte. Doch nur Chailemm und Genli folgten ihnen. Die anderen blieben als malerische Gruppe auf dem Hügel zurück. - 277 -
Die Hoffnung der Menschheit legte eine tadellose Landung hin und kam in der Nähe des Flusses, der sich vor den Bergen entlang schlängelte, zur Ruhe. Schaum sprühte aus mehreren Düsen und löschte die Feuer, die sich am Fuß der riesigen Metallhülse entwickelt hatten. Die Luftschleuse stand offen, die silbrige Treppe war ausgefahren und schimmerte einladend in der Sonne. Mehr war nicht zu sehen. »Wo ist Frank?« sagte Cathy unruhig. »Jerry, glaubst du, das ist eine Falle?« Jerry kletterte aus dem Wagen. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden!« Er nahm die Neurogun, winkte Cathy zum Abschied und stieg die Leiter hinauf.
XXVIII »Dann hat sich also doch noch eine Kugel des armen Mr. Gavin erbarmt«, sagte der Mann von Guardian-Times hämisch. Herald Tribune sah ihn sauer an und grummelte durch einen Mund voll Toastbrot: »Alles um dieses verdammte Gandhinagar herum passiert um vier Uhr morgens, und Sie sind immer wach und kriegen alles mit!« »Es war erst drei«, bemerkte Pravda und wurde rot wie ihre Lederstiefel. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, hielt Guardian-Times ihr sein Zigarettenetui vor die Nase und flötete: »Lulli zum Frühstück – und Sie werden sich nie mehr besser fühlen!« Sie lächelte schwach über seinen trüben Witz und schüttelte den Kopf. Aftonbladet löffelte seinen Joghurt und fragte: »Glauben Sie, daß irgend etwas dran ist an der Behauptung der Relativisten, das Attentat sei Hiras Werk?« »Kompletter Unsinn!« sagte die Times of India scharf. »Der Marschall ist ein Mann des Friedens. Eine solche Aktion würde er nie unterstützen!« »Vielleicht war es das Beste, den Kopf der Relativitätskirche abzuschlagen, um den Körper zu lahmen«, erwiderte Herald Tribune. »Vielleicht sieht Hira das Leben eines einzigen Mannes als das geringste Opfer an, um den Frieden zu bewahren. Wir wissen alle, daß Gavin der mächtigste Gegner des gesamten Hoffnung der Menschheit- 278 -
Programms ist. Vielleicht war er verrückt, vielleicht auch nicht, aber seine Organisation funktionierte jedenfalls.« »Langsam, langsam«, warf Guardian-Times ein, »noch ist der Tod unseres verehrten Meisters nicht bestätigt. In der Zwischenzeit wird seine treffliche Gattin …« Major Armstrong kam mit grimmigem Gesicht ins Zimmer marschiert. Er trug seine Pistole im Gürtelhalfter. Nach einem angedeuteten Kopfnicken als Begrüßung begann er seine militärisch kurze Rede: »Bis zur Beendigung des gegenwärtigen Notstands sind alle Flüge gestrichen worden, um eine weitere Provokation der Massen zu vermeiden. Es gibt keine Ausnahmen, ich wiederhole, keine Ausnahmen von dieser Regelung. Wer sich diesem Befehl nicht fügt, wird unerbittlich zur Rechenschaft gezogen. Bis auf weiteres stehen Ihnen die bekannten visuellen Kommunikationseinrichtungen zur Verfügung.« Die Fensterscheiben wackelten. Erschreckend dichter, weißer Rauch bedeckte das Startfeld. Major Armstrong drehte sich auf dem Absatz und ging eilig aus dem Zimmer. Die Journalisten stürzten ans Fenster. Kein Wort mehr von Frühstück. * Es war, wie wenn man nach einer langen Reise nach Hause kommt und im Wohnzimmer die Spuren eines Tigers vorfand. Jerry schlich mit schußbereiter Neurogun durch die Gänge der Hoffnung der Menschheit; seine Nerven waren bis zum Zerreißen angespannt. Wo war Frank Marek? Im Geist sah er den untersetzten Wissenschaftler hinter der nächsten Ecke sitzen, die Laserpistole in der Hand. Kein angenehmer Gedanke. Als er zu einem Bildschirm kam und ihn aktivierte, war er überrascht, wie wenig seine Hände zitterten. Der Bildschirm zeigte eine leere Zentrale. Gut. Von dort könnte er über Video das ganze Schiff absuchen. Jerry ging in Richtung auf den Hauptlift, doch auf halbem Weg blieb er stehen. Angenommen, Marek wußte, daß Jerry an Bord war, und wartete nur darauf, ihn im Aufzug festzusetzen, um ihn später nach Belieben einsammeln zu können? Oh nein, sagte er zu sich selbst, ruhig, Junge, wer so denkt, lebt nicht lange. Und trotzdem nahm er nicht den Lift, sondern ging zur Leiter, die sich senkrecht durch das ganze Schiff zog. Dort, wo früher die Stadt gewesen war, loderte ein beständiges, von Zeit zu Zeit von Explosionen angeheiztes Feuer. Das Rumpeln und Donnern unter der Erde verkündete, daß Beya-Sev bald ganz im Bo- 279 -
den verschwinden würde. Cathy schaute von der Stadt zum Schiff und wieder zur Stadt, bis sie die Spannung nicht mehr aushielt. Unter den verwunderten Blicken Lae Pinus suchte und fand sie ihre Laserpistole und steckte sie unter ihren Gürtel. Dann machte sie sich mit einem aufmunternden Lächeln zu dem ängstlichen Mädchen auf den Weg zur Luftschleuse. Sie hatte das Alangakleid gegen einen ihrer Anzüge ausgewechselt und war froh, sich wieder frei bewegen zu können in ihrem weichen, enganliegenden Overall. Chailemm und Genli sahen zu, wie sie wegging, doch was sie auch immer dachten, in ihren Gesichtern zuckte kein Muskel. »Der Computerraum, Cathy, komm herein – du brauchst keine Angst zu haben.« Sie schaute zu dem Lautsprecher direkt über ihr, aus dem ihr Jerrys Stimme entgegendröhnte. Dann fiel ihr ein, daß er sie über die Monitore beim Einsteigen gesehen haben mußte, und entspannte sich wieder. Sie stieg schnell zum oberen Teil des Raumschiffes, wo die Tür zum Computerraum offenstand. Sofort beim Eintreten sah sie Frank Marek. Bei diesem Anblick mußte sich ihre Angst in Mitleid verwa ndeln. »Catherine, liebe Catherine …« Die Stimme war ein dünner Abklatsch seines früher so rauhen Zynikerorgans. Gestützt von Jerry saß er vor der gegenüberliegenden Wand und sah sie mit großen, rauschverzerrten Augen an. Cathys medizinische Ausbildung genügte, um zu sehen, daß sie nicht mehr viel für ihn tun konnten. Sie kniete nieder und ergriff eine seiner zerkratzten, blutigen Hände. Sanft sagte sie: »Sprich jetzt nicht, Frank. Du mußt dich ausruhen. Wir werden dich in deine Kabine bringen und wieder zusammenflicken, okay?« Aus Mareks Kehle drang ein krächzendes Lachen. »Ich kann hier … genausogut sterben … wie im Bett. Ich muß euch … noch erzählen … was … passiert ist.« Sie sah Jerry an. Er nickte fast unmerklich. »Okay, Frank, fang an. Laß dir Zeit.« »Gott sei Dank … weinst du nicht. Ich würde … es nicht aushalten …« Die Stimme erstarb, einen Moment lang verdrehten sich seine Augen, dann: »Ich wollte nicht mehr leben … hab Dinge gesehen … im Hyperraum … ah … ich konnte nicht mehr … bin wieder gestartet … wollte mich in der Nähe … der Sonne … in den Hyperraum werfen … das Schiff vernichten, und mich.« - 280 -
Blut rann aus seinem Mund. Cathy wischte sein Kinn ab und berührte dabei seine eiskalte Haut. »Danke …« Seine freie Hand rieb er ständig an seinem Overall wie besessen auf und ab. »Der Hyperraum … spuckte uns in Phase Eins aus … Störung wegen Anwesenheit … stellarer …« Eine lange Pause. Marek bäumte sich auf und stammelte weiter. »Asteroid auf Kollisionskurs … mit Schiff … Schutzschirm … vernichtete ihn nur zum Teil … zu groß … Schiff mußte entscheiden … Kollision oder Ausweichmanöver. Kursänderung …« Er rang nach Atem. Cathy konnte nicht länger untätig zusehen. Sie öffnete die Medizinbox, die bereitlag. Marek stöhnte: »Zeitverschwendung, Kleines … Schiff wendete … Gravitation abgeschaltet … hab mir den Kopf gestoßen …« Jerry schloß die Augen und stellte es sich vor. Ein Mensch schwebt schwerelos in der Hoffnung der Menschheit, dann plötzlich wie eine Kanonenkugel, haltlos, gegen Stahl und Plastik – er verdrängte die Vision. Marek sprach wieder. »Hat mir die Flöhe aus dem Kopf geschüttelt. Bin hierher gekrochen … die meisten Schaltkreise lahmgelegt … bis auf die für Landung … nötigen … Jerry … paß auf den Computer auf … voll mit verrücktem Zeug, das ich im Hyper … Hyper …« Er war tot. Jerry richtete sich auf. Über dem geschundenen Körper des Physikers sahen sie sich in die Augen. Endlich sagte Jerry: »Es sieht so aus, als hätten wir eine Menge Arbeit vor uns. Fangen wir an.«
XXIX Lae Pinu stand auf dem Hügel und beobachtete, wie der Schatten der Hoffnung der Menschheit auf der dunstigen Ebene länger wurde. Das Licht der sinkenden Sonne verwandelte die Titanhülse in eine lodernde Feuersäule, die sich scharf vor dem dunkelvioletten Himmel abhob. Vor dem Schiff hielten Cathy und Jerry ein letztes Mal inne, bevor sie die ihnen einstmals so fremde Welt verließen. »Seltsam«, sagte Cathy langsam »hier wegzugehen, fällt mir viel schwerer als damals der Schritt, die Erde zu verlassen.« »Mir geht es genauso.« Jerry folgte ihren Blicken zu den Alanga, die sich in der dunstigen Dämmerung versammelt hatten. Eine der Figu- 281 -
ren stand abseits auf dem fernen Hügel. »In den vier Wochen, seitdem der Meteorit herunterkam, haben wir auf eine Weise mit dem Volk von Beya zusammengelebt, wie es auf der Erde einfach nicht mehr möglich ist. Jedenfalls nicht für Leute, die einen Job wie wir machen. So wahr ich hier stehe, wir schulden diesen Leuten mehr, als wir ihnen mit unserer Hilfe geben konnten. Ich werde mich ewig fragen, ob die Hoffnung der Menschheit den Meteoriten erst auf Beya gelenkt hat, oder ob sie die Zerstörung des ganzen Planeten verhindert hat, indem sie einen Teil des Brockens zerstäubte.« »Ja …« Ein Schatten fiel auf Cathys Gesicht. »Wenn meine Beobachtungen stimmen, sind die Alanga und die Sev-Kalan sowieso vom Aussterben bedroht, nicht von außen, sondern eher durch eine Art Krankheit, eine sehr alte Krankheit. Ein Krieg mit unbekannten Waffen irgendwo in den Wüsten Asiens – eine Reise über vier Lichtjahre, in einem Raumschiff, das langsamer war als das Licht … wer weiß, wieviel radioaktive Strahlung sie während dieser Zeit abbekommen haben, Strahlung, die zum langsamen Verfall führt, der sich über Dutzende von Generationen hinziehen kann …« Jerry legte einen Arm um Cathys Schultern. »Komm jetzt, Schatz. Wir wollen gehen, bevor wir es uns anders überlegen!« Eine, die wir hier zurücklassen, ist jedenfalls glücklicher als vorher.« Cathy lächelte. »Bestimmt. Ich habe das Gefühl, daß das nächste Schiff, das Beya erreichen wird, von der frischgebackenen Mrs. Sechral empfangen wird!« Zum letzten Mal winkten sie den fernen Zuschauern zu. Lautlos wurde die Treppe eingefahren, als sie die Luftschleuse betraten. Die Tor schloß sich zischend. Lae Pinu wartete, bis das letzte Flüstern des sich schnell entfernenden Raumschiffes über der Ebene verschwunden und das nukleare Feuer der Antriebsraketen im Sternenmeer untergegangen war. Dann setzte sie sich zitternd zu den anderen Alanga, die sich auf dem Hügel versammelt hatten. * Die Städte standen in Flammen. Im von Bombensplittern angenagten Kontrollzentrum betrachtete Marschall Hira die traurigen Bilder von Tod und Zerstörung, die das Fernsehen brachte. Eine Million Tote in New York, Kalkutta ein Flammenmeer, London ein Schlachtfeld … er blinzelte wütend, als die Bilder und Statistiken vor seinen müden Augen vorbeihuschten. Wie lange war es her, daß er richtig geschla- 282 -
fen hatte? Er wußte es nicht. Das Schicksal der Welt stand auf Messers Schneide. Hoffnungen und Ängste hingen an der Hoffnung der Menschheit. Wenn sie nicht bald zurückkehrte, würde dieser Karneval des Wahnsinns, in den die Erde getaumelt war, geradewegs in die Hölle führen. Er richtete sich auf, als der Ansager erschien: »In einem Bulletin der Relativitätskirche wird festgestellt, daß Mr. Calvin, der vor einigen Wochen von einem unbekannten Attentäter schwer verwundet worden war, immer noch im Koma liegt. Sein Zustand ist nach wie vor ernst, und –« Er schaltete den Kasten ab. Ein neuer Tag hatte begonnen. Er ging hinüber zum Konferenzraum, um mit den anderen Offizieren die Strategie für die nächsten vierundzwanzig Stunden abzusprechen. Mit viel Glück würden sie noch soviel Zeit zur Verfügung haben. Zur gleichen Zeit grunzte sechs Stockwerke tiefer der alerte Mann vom Herald Tribune vor Staunen, als er in seinem Fernglas einen kleinen Helikopter über der gelben Kuppel der Relativitätskirche einschwenken sah. »Schaut euch das an! Kate Bell kommt ihre Schwester Sophie besuchen. Ihr Mann steuert den Helikopter!« »Ja, das ist Alex Bell, ohne Zweifel«, sagte Aftonbladet. »Ich möchte wissen, was er und seine Frau hier wollen!« »Ist doch klar: Er will dabeisein, wenn sein Schiff zurückkommt«, antwortete Guardian Times, der gerade in seinem letzten sauberen Anzug durch die Tür kam. »Habt ihr noch zwei Tassen Kaffee übrig?« * Hinter dem Orbit des Pluto, in der äußersten Finsternis des Sonnensystems, trieb eine Raumstation, deren elektronische Ohren stets in die unendlichen interstellaren Räume lauschten. Sie war nur für eine Aufgabe gebaut worden, sollte nur ein einziges Signal empfangen, das erste, das jemals ein Mensch aus dem interstellaren Raum senden würde. Sie hatte lange gewartet, doch Müdigkeit oder Langeweile kannte sie nicht. Als das Signal schließlich kam, gab sie es planmäßig weiter zu den Welten der Menschen. * »Landung fortsetzen«, sagte Hira. »Das Feld ist frei. Ich wiederhole, das Feld ist frei.« - 283 -
Er konnte nicht mehr aufhören, zu zittern. Er hatte gedacht, daß es nicht mehr schlimmer werden könnte als in der nachrichtenlosen Zeit, in den Wochen, als die Hoffnung der Menschheit zu unbekannten Regionen und fremden Planeten unterwegs war, doch die Zeit, seitdem die unbemannte Station ihre Rückkehr gemeldet hatte, war die reine Hölle. Ohne Kate Bell, die ihre Schwester überzeugt hatte, daß die Relativitätskirche genauso von der Gewalt getroffen würde, die sie hervorrief, wie ihr Mann von der Kugel eines namenlosen Attentäters, wäre das Landefeld jetzt von Leichen übersät. Zitternd stand er auf, um Jerry und Cathy zu begrüßen. Der Gestank war überwältigend. Cathy stand an der Treppe und mußte ihre Nase aus dem Wind nehmen, der den Gestank von zwa nzig Millionen Menschen und deren Exkrementen über das Flugfeld wehte. Jerry schnüffelte. »Manchmal kann ich Franks Meinung von der Menschheit nur unterstützen!« »Armer Frank«, sagte Cathy traurig. »Das erste Opfer des Hyperraums. Mit dem Wissen, das wir auf der Rückreise erworben haben, sollte es möglich sein, die Sache für die künftigen Siedlerschiffe leichter zu machen.« »Das wollen wir hoffen.« Jerry nahm sie bei der Hand. »Da kommen Hira und die Herrschaften von der Presse. Ich bin froh, daß wir ihnen sagen können, daß dort draußen eine neue Erde auf uns wartet, eine saubere Erde.« Zusammen stiegen sie die Treppe hinunter. »Hoffentlich gehen wir mit ihr besser um als mit der alten.« - ENDE -
- 284 -
Nachwort Mit dem ersten Teil des vorliegenden Buches, Entropie-Tango, sind die Jerry Cornelius-Chroniken abgeschlossen. Jerry und seine Gefährten verschwinden im Eis der Urzeit – auf Nimmerwiedersehen? Vielleicht gibt das Eis seine Gefangenen eines Tages wieder frei, wer weiß. Jedenfalls ist der Tango der Entropie zuende getanzt, und die Musiker haben ihre Instrumente eingepackt. Michael Moorcocks Jerry Cornelius-Chroniken stehen in der bunten SF-Landschaft einmalig da, ist es ihm doch in seinem fünfbändigen Epos gelungen, der New Wave der SF ein frühzeitiges Denkmal zu schaffen, dessen Einfluß man sich nur schwer entziehen kann. Wo immer Jerry Cornelius erwähnt wird, schwanken die Reaktionen der Liebhaber des SF-Genres zwischen euphorischer Begeisterung und schärfster Ablehnung. Als Begründung werden alle möglichen Definitionen für die Science Fiction herangezogen, und verblüffenderweise treffen fast alle auf die Chroniken genauso zu wie sie auch daneben liegen. Michael Moorcock schickte Jerry und seine Truppe auf die Suche nach einem modus vivendi zwischen den Prinzipien von Gesetz und Chaos, eine Suche, die letztendlich erfolglos bleibt, da nicht einmal Gesetz und Chaos zuverlässige Richtwerte darstellen, existieren sie doch nirgendwo in reiner Form, sondern in vielfältigen Berechnungen und Variationen. Der Roman Entropie-Tango wurde vier Jahre nach dem letzten Band der ursprünglich als Tetralogie angelegten Jerry Cornelius-Chroniken geschrieben, was als Beweis dafür dienen mag, daß die Geister, die man rief, einen nicht loslassen. Dies wird auch der Leser der Werke Michael Moorcocks bemerken, denn Wesenszüge des Jerry Cornelius sind bei fast allen Protagonisten des Mitbegründers der New Wave der SF nachzuweisen. Sie alle gehören in das Multiversum Moorcocks, mit dem er seine Weltsicht vor- und zur Diskussion stellt. Zu fernen Sonnen, der zweite Teil des Buches, ist ein Roman, der in seiner Urfassung in der Zeitung The Illustrated Weekly of India erschien und später als Romanheft bei Unicom SF in Großbritannien neu aufgelegt wurde. - 285 -
Michael Moorcock selbst weist darauf hin, daß der dort agierende Jerry Cornelius mit seinem Pop-Heroen in keinerlei Beziehung steht, was man ihm glauben muß. Jedoch stellt man bei der Lektüre dieses furiosen Weltraum-Abenteuers zu seiner Verblüffung fest, daß der Astronaut Jerry Cornelius einem seltsam vertraut erscheint. Auch Catherine Cornelius, die treusorgende Mit-Pilotin ihres heldenhaften Mannes, tritt einem als alte Bekannte gegenüber, und ebenso wie der Rolls-RoyceFahrer Jerry will auch der Raumschiffpilot der Welt den Weg zu ihrer Rettung weisen … all dies sicherlich Parallelen, die nicht ganz zufällig sind. Erschienen sind bisher: Miß Brunners letztes Programm (The Final Programme) Bastei-Lübbe-Taschenbuch Science Fiction Bestseller Band 22034 Das Cornelius-Rezept (A Cure of Cancer) Bastei-Lübbe-Taschenbuch Science Fiction Bestseller Band 22036 Ein Mord für England (The English Assassin) Bastei-Lübbe-Taschenbuch Science Fiction Bestseller Band 22039 Das Lachen des Harlekin (The Condition of Muzak) Bastei-Lübbe-Taschenbuch Science Fiction Bestseller Band 22041
- 286 -