Das Buch der Stille Ein Roman von Lawrence Watt-Evans
Vierter Roman des Zyklus >Die Herren von Dûs<
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Das Buch der Stille Ein Roman von Lawrence Watt-Evans
Vierter Roman des Zyklus >Die Herren von Dûs<
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Kapitel 1 Die letzte Karawane war zehn Tage zuvor aufgebrochen, und bis zur Ankunft der nächsten würden mindestens vierzehn Tage ins Land gehen. Skelleths Marktplatz lag ruhig und fast leer im blassen Sonnenlicht des frühen Frühlings. Keine Händler oder Bauern störten seine Stille, nur ein paar Müßiggänger und ge mächlich einherschlendernde Passanten waren zu sehen. Die Tür des Hauses, das der neue Baron sich auf der Ostseite des Platzes hatte errichten lassen, war geschlossen, was bedeutete, dass seine Bewohner ungestört bleiben wollten. Garth, einer der beiden Übermänner, die noch in Skelleth verblieben waren, saß im Gast hof des Königs und starrte durch das Fenster auf den verlassenen Marktplatz, dessen friste Atmosphäre nicht dazu angetan war, ihn von seiner eigenen trübseligen Stimmung und seinen düsteren Grübeleien abzulenken. Keine neuen Nachrichten waren aus der Nordwüste zu ihm ge drungen, seit die letzten Schneeflocken geschmolzen waren. Er hatte weder etwas von seiner Familie gehört, noch wusste er, wie seine letzte Petition an den Stadtrat von Ordunin aufgenommen worden war, in dem er um die Aufhebung seiner Verbannung aus der Nordwüste nachgesucht hatte. Und so hing er denn immer noch als Verbannter seines Heimatlandes — als Gestrandeter gleichsam — in Skelleth herum, in Ermangelung irgendeines besseren Aufenthaltsortes. Nun war Skelleth, von seinem Standpunkt aus gesehen, zwar nicht gerade der angenehmste Aufenthaltsort, den er sich hätte vorstellen können, aber unter gewissen Gesichtspunkten hatte er doch seine Vorteile: Erstens war er die seiner Heimatstadt Or dunin am nächsten liegende menschliche Siedlung, weshalb seine
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Familie ihn hier leichter besuchen konnte als irgendwo anders und seine Petitionen und Eingaben an den Stadtrat schneller be fördert werden konnten. Zweitens stand er in gutem Einvernehmen mit den Oberherren. Saram, der Baron von Skelleth, war schon vor seiner Ernennung zum Baron sein engster Freund von allen Menschenwesen ge wesen (soweit man den Terminus »Freund« auf eine Beziehung zwischen zwei sich eigentlich doch recht wesensfremden Gattungen anwenden konnte). Die Baronin Frima war das einzige andere Menschenwesen, zu dem er ebensolche »freundschaftli chen« Beziehungen unterhielt. Garth selbst hatte sie seinerzeit nach Skelleth mitgebracht, nachdem er sie in ihrer Heimatstadt Dûsarra vor einem grausamen Opfertod auf einem Altar gerettet hatte. Er war es auch gewesen, der Frima mit ihrem jetzigen Ge mahl, dem Baron von Skelleth, bekannt gemacht hatte. Ferner war da der Schatzmeister und Handelsminister von Skelleth, der frühere Meisterhändler Galt von Ordunin, der einzige andere Übermann in Skelleth. Garth hatte ihn einst aus der Nordwüste nach Skelleth mitgebracht, damit er ihm bei der Eröff nung von Handelsbeziehungen zwischen Ordunin und Skelleth mit fachmännischem Rat zur Seite stände. Dieser Handel, dessent wegen Garth überhaupt erst von seiner Heimat ausgezogen war, hatte sich inzwischen prächtig entwickelt, und das, obwohl Galt Garths Schicksal als Ausgestoßener teilte. Drittens: Obgleich die Einheimischen Garth im allgemeinen we der mochten, noch ihm sonderlich trauten, hatten sie sich an seine Anwesenheit gewöhnt und akzeptierten ihn. Die Bewohner anderer Menschenstädte wären wahrscheinlich nicht so tolerant gewesen; zwar waren dreihundert Jahre vergangen, seit die Rassenkriege zwischen Menschen und Übermenschen mehr oder weniger eingeschlummert waren, aber Hass, das wusste Garth,
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konnte auch dann noch lange fortleben, wenn seine eigentliche Ursache schon längst in Vergessenheit geraten war. Und viertens war Skelleth – zumindest im Moment noch – im Frieden, womit es, was die jüngste Entwicklung in der Welt betraf, fast schon eine rühmliche Ausnahme war. Auch wenn die Nach richten aus dem Süden, Osten und Westen verworren und biswei len widersprüchlich waren, wusste Garth sehr wohl, dass der größte Teil der Welt im Krieg lag. Niemand, die erammanischen Barone eingeschlossen, schien einen klaren Überblick darüber zu haben, auf welcher Seite welcher Baron in welchem der zahlrei chen Scharmützel, Konflikte und Querelen zu welchem Zeitpunkt stand; doch hatte, wie man hörte, diese Ungewissheit sie keines wegs davon abgehalten, kräftig selbst mitzumischen. Die größeren – wenn man so will: höherrangigen – Kriege, lieferten den wohl feilen Vorwand zum Wiederentfachen alter Grenzstreitigkeiten oder einfach nur zum Plündern und Brandschatzen. Der Bürger krieg in Eramma, der knapp drei Jahre zuvor ausgebrochen war, als der Baron von Sland sich gegen den Hohen König in Kholis empört und ihn einen falschen König und üblen Usurpator ge schimpft hatte, war zu einem apathischen, von dumpfer Gehässig keit geprägten unkooperativen Nebeneinander abgestumpft, nachdem Sland in einer langen schmutzigen Schlacht in die Knie gezwungen worden war. Der Krieg zwischen Eramma und Orûn, den der opportunistische König von Orûn entfacht hatte in der Hoffnung, aus Erammas scheinbarer Schwäche Nutzen ziehen zu können, schien in einem blutigen Patt längs einer Front irgendwo im Südosten von Skelleth festgefahren zu sein. Obwohl der König als Rechtfertigung einen alten Grenzzwist wieder ausgegraben hatte, stieß dieser Krieg bei der Bevölkerung auf wenig Gegen liebe und hatte solche Unzufriedenheit entstehen lassen, dass auch dort ein Bürgerkrieg auszubrechen drohte, wenn man den Ge rüchten glaubte. -6-
Vage Berichte von Kriegshandlungen kamen auch aus dem Wes ten, wo das Reich Nekutta lag, wobei niemand so genau zu wissen schien, wer eigentlich gegen wen kämpfte. Gar nichts erfuhr man hingegen in Skelleth aus Mara, Amag, Tadumuri, Yesh oder den anderen Ländern des tiefen Südens. Ein weiterer Grund für Garth, in Skelleth zu bleiben, war eine Folgeerscheinung der Tatsache, dass Skelleth im Frieden war und sich unter Saram in einer weit besseren Verfassung befand, als es unter seinem Vorgänger jemals der Fall gewesen war: der Un terbrechung des größten Teiles der Welthandelsrouten durch Krieg und Verheerung hatte es Skelleth zu verdanken – gerade weil es so abgelegen und wertlos war, dass es zu einem blühenden Handelszentrum aufgestiegen war. Kein Eroberer, der bei klarem Verstand war, hätte sich mit so einem öden, tristen Kaff abgege ben, das weitab von allen traditionellen Karawanenstraßen lag; das gab Saram und seinem zusammengewürfelten Kabinett die Freiheit, ungehindert und beherzt unorthodoxe Handelswege zu beschreiten. Ausdrücklich ermutigt durch ihren Oberherrn, trieben die Händler von Skelleth unparteiisch und unvoreinge nommen Handel mit den Menschen von Eramma, den Über menschen der Nordwüste und der gemischtrassigen Gesellschaft der Yprischen Küste. Mit keinem weiteren Aktivposten als Frie den, Bereitschaft zum Handel und einer halbwegs passablen Lage hatte die Stadt es geschafft, zum ersten Mal seit Menschen und Übermenschengedenken einen gewissen Wohlstand zu erlangen. Aber sie war auch, fand Garth, langweilig geworden – vielleicht gerade deshalb, weil es so friedlich in ihr zuging. Von den anderen schien indes keiner dieses Gefühl zu teilen. Galt war zu sehr damit beschäftigt, zu kaufen und zu verkaufen, neue Wege und neue Methoden zu planen, Preise zu kalkulieren und Tarife festzusetzen, um sich zu langweilen. Er war weit rei
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cher geworden als irgendein Übermann seit den Rassenkriegen; trotzdem schien ihn nichts anderes zu interessieren als zu expan dieren, die Schatztruhen Skelleths zu füllen und seinen eigenen Reichtum zu mehren. Saram schien sich damit zufriedenzugeben, seine neu erworbene Stellung als Baron auszukosten und die Arbeit den anderen zu überlassen. Er nahm das Eintreffen jeder Gesandtschaft und jeder Karawane zum Anlass, üppige Bankette abzuhalten und sich in feinstes Pelzwerk zu hüllen — Übermannarbeit, aus Ordunin importiert —, und wurde zusehends fülliger; von seiner einstigen durchtrainierten Kampffigur, die er gehabt hatte, als er noch als Leutnant der Garde unter dem letzten Erbbaron gedient hatte, war nicht mehr viel übriggeblieben. Frima schien die Leibesfülle ihres Ehegesponses offenbar nichts auszumachen; sie war buchstäblich mit nichts in Skelleth ange kommen; selbst die Kleider, die sie angehabt hatte, waren eine Leihgabe von Garth gewesen. Sie war in Dûsarra keine Person von Bedeutung gewesen, die Tochter eines einfachen Kesselflickers, die die Nachtgöttin Tema verehrte und entführt worden war von dem rivalisierenden Kult der Sai, der Göttin des Schmerzes. Garth hatte sie gerettet und gegen ihren Willen nach Skelleth mitgenom men; Dûsarra, die bei weitem größte Stadt von Nekutta, war im Zuge ihrer Flucht von Feuer und einer fürchterlichen Seuche verheert worden. In Skelleth angekommen, hatte Garth keine Lust gehabt, sich weiter um das Mädchen zu kümmern, und es in die Obhut Sarams gegeben. Die beiden hatten sich ineinander verliebt und bald darauf geheiratet, und so war das Kesselflickertöch terlein aus Dûsarra Baronin von Skelleth geworden. Sie schien Sa ram, der sie aufgenommen hatte, weit dankbarer zu sein als Garth, der ihr das Leben gerettet hatte. Und wenn sie Garth auch immer noch als einen guten Freund behandelte, so war es für sie jetzt doch das wichtigste im Leben, Saram zu gefallen und ihren noch -8-
jungen Wohlstand in vollen Zügen zu genießen. Trotz einiger Ent täuschungen — ihr bisher einziges Kind, ein Sohn, war tot auf die Welt gekommen — war sie glücklich. Sie fand ihr neues Leben alles andere als fade oder langweilig. Ob die anderen Menschenwesen des Dorfes sich vielleicht auch langweilten, interessierte Garth nicht; er ignorierte sie vollkom men, was auf Gegenseitigkeit beruhte: Sie gingen ihm, wenn möglich, aus dem Weg. Sie konnten nicht vergessen, dass er es war, der den alten Baron getötet hatte und mit einer Kompanie Übermännern das Dorf in Schutt und Asche gelegt hatte. Sei nerzeit waren viele Männer, Frauen und Kinder ums Leben ge kommen. Alle Gardisten des Barons waren gefallen — mit Aus nahme Sarams, der schon früher in Ungnade gefallen und aus der Garde ausgestoßen worden war, weil er sich bei einer früheren Gelegenheit geweigert hatte, Garth zu töten. Und er hatte es eher dieser Eliminierung aller anderen Kandidaten als irgendeiner besonderen Qualifikation zu verdanken, dass er zum neuen Baron von Skelleth ernannt worden war. Galt hingegen hatte das Volk von Skelleth allmählich akzeptiert, und seine Mitwirkung an dem Massaker, bei dem er ohnehin keine tragende Rolle gespielt hatte, war ihm von den meisten ver ziehen worden. Sein kaufmännisches Geschick, durch das er dem Dorf nach seinem Wiederaufbau überhaupt erst zum Wohlstand verholfen hatte, hatte ihm sogar den Ruf und das Ansehen eines Helden eingebracht. Garth hingegen blieb ein — wenn auch ge duldeter — Außenseiter. Anfangs hatte es noch weitere Übermänner gegeben, die sich da für entschieden hatten, in Skelleth zu bleiben, nachdem es zerstört worden war, und einige waren sogar noch nach dem Wiederauf bau dageblieben, aber im Verlauf der darauffolgenden Monate war das Übermannkontingent Skelleths immer kleiner geworden.
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Ein paar waren nach Hause in die Nordwüste zurückgekehrt und begnadigt worden — den beiden mutmaßlichen Verantwort lichen für den Angriff auf Skelleth, Garth und Galt, hatte der Stadtrat indes die Begnadigung hartnäckig verweigert. Weitere Übermänner waren zur Yprischen Küste losgezogen und nicht zu rückgekehrt. Einer war als Sondergesandter an den Hof des Ho hen Königs in Kholis geschickt worden, den Skelleths Regierung noch immer als den rechtmäßigen Herrn über ganz Eramma aner kannte. Eine kurze Zeit lang hatte die Idee zur Diskussion gestanden, die Übermänner als Kerntrupp einer neu zu schaffenden Garde zu verwenden, aber das Ganze war wieder im Sande verlaufen; zur Zeit besaß Skelleth überhaupt kein Militär, wenn man einmal von der Handvoll Kriegstiere absah, die die Übermänner mitgebracht hatten. Die großen Tiere wurden jetzt von einem — ganz aus Men schenwesen bestehenden — Spezialkontingent aus dem Stab des Barons versorgt. Soweit Garth wusste, war dies das erste Mal in der Geschichte, dass Kriegstiere unter der Obhut von Menschen wesen waren. Er hatte hin und wieder erwogen zu fordern, dass man ihn mit der Pflege der Tiere betraute, weil Menschenwesen, wie er fand, nicht für eine solche Aufgabe geeignet waren, aber es war bei der Erwägung geblieben. Er hatte befürchtet, abgewiesen zu werden, so wie es ihm jedesmal ergangen war, wenn er sich für irgendeine Aufgabe gemeldet hatte. Und die Schmach, nicht einmal als Tier pfleger für geeignet befunden zu werden, wäre zuviel für seinen ohnehin arg angeknacksten Stolz gewesen; deshalb hatte er es vorgezogen, lieber nicht zu fragen. Die Aversion gegen seine Anwesenheit, die die Dorfbewohner an den Tag legten, störte ihn nicht weiter; er hatte sich daran ge wöhnt, konnte die Gründe dafür verstehen, und überdies machte
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er sich ohnehin nicht viel aus der Meinung der meisten Menschen wesen. Was an seinem Selbstwertgefühl nagte, waren ganz andere Angelegenheiten. Seine drei Frauen waren nacheinander nach Skelleth gekommen, um ihn zu besuchen, nachdem der Stadtrat von Ordunin den Hausarrest seiner Hauptfrau Kyrith aufgehoben hatte, der ihr wegen ihrer Teilnahme an der Eroberung und Zerstörung Skelleths auferlegt worden war. Alle drei waren sie gekommen, und alle drei hatten sich geweigert, ihr Heim in Ordunin auf zugeben, um zu ihm nach Skelleth zu ziehen. Seine Kinder hatten ihn ebenfalls besucht, im Gefolge von Handelskarawanen, aber er hatte sich nicht einmal die Mühe ge macht, sie zu fragen, ob sie bei ihm bleiben wollten; sie waren alt genug, um für sich selbst aufzukommen und sich ihr eigenes Heim aufzubauen, ohne dass er ihnen dreinredete. Übermenschen hatten zwar nicht die starke Familienbindung, die die Menschenwesen in der Regel hatten, aber die einhellige Weigerung seiner drei Frauen, bei ihm zu bleiben, und die Tatsa che, dass nicht eines seiner fünf Kinder ihn gefragt hatte, ob es sich nicht bei ihm in Skelleth niederlassen könne, hatte ihn zutiefst getroffen. Der Stadtrat hatte alle seine Petitionen abgewiesen, so dass ihm auch die Möglichkeit verwehrt geblieben war, zu seinen drei Frauen nach Ordunin zu ziehen. Die Ratsherren hatten sich in Wahrheit nicht einmal die Zeit genommen, über seine Bittschriften überhaupt zu debattieren; sie waren viel zu sehr damit beschäf tigt, sich mit den menschlichen Piraten auseinanderzusetzen, die in zunehmendem Maße ihre Küsten unsicher machten, als dass sie Zeit gehabt hätten, über das Für und Wider einer Begnadigung eines lästigen Renegatenprinzen zu diskutieren. Garth hatte ver sucht, sie mit dem Argument umzustimmen, er habe bereits frü
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her erfolgreich gegen die Piraten gekämpft und könne sich daher bei der Bekämpfung dieser Landplage äußerst nützlich machen, seine Begnadigung sei also durchaus im öffentlichen Interesse; aber der Stadtrat war nicht darauf eingegangen. Angefangen schiefzulaufen hatten die Dinge, als er das soge nannte Schwert des Bheleu in Dûsarra gefunden hatte. Bis dahin war auf sein Wort Verlass gewesen, und seine Handlungen waren seine eigenen gewesen — aber schon in dem Moment, als er des Schwertes zum ersten Mal ansichtig geworden war, hatte er die Kontrolle über sich verloren. Er hatte es vom Altar des Bheleu ge nommen, des Gottes der Zerstörung, ohne dies bewusst zu wollen, und danach war er immer wieder von seltsamen Anfällen heimgesucht worden, in deren Verlauf er sich wie ein blutrüns tiges Monstrum aufgeführt hatte. Allmählich war ihm jedoch be wusst geworden, dass hinter diesen Bewusstseinstrübungen ir gendeine äußere Macht steckte, die von ihm Besitz ergriffen hatte und dazu das Schwert als Verbindungsleitung benutzte. Aber auch dieses Wissen hatte ihm nicht helfen können, sich von der Fremdkontrolle zu befreien. Und als die fremde Macht an Einfluss und Deutlichkeit immer mehr zugenommen hatte, war schließlich der Punkt gekommen, da sie sich ihm erklärt hatte: Sie sei, so hatte sie behauptet, Bheleu höchstselbst; sie sei gekommen, die Herrschaft des Gottes über das heraufdämmernde Vierzehnte Zeitalter, das Zeitalter der Zer störung, zu sichern, und zwar durch ihn, Garth, als die auserko rene sterbliche Hülle des Gottes. Garth hatte sich dagegen gesträubt, dem Gott — wenn es denn wirklich ein Gott war — als Hülle und Werkzeug zu dienen. Sein Sträuben hatte wenig gefruchtet; der Gott hatte ihn auch gegen seinen Willen beherrscht, und es war ihm nicht gelungen, sich des Schwertes zu entledigen.
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Unter dem Bann des Schwertes stehend, hatte Garth den Vor gänger Sarams getötet und einen großen Teil Skelleths verwüstet. In den darauffolgenden Tagen, während derer ihm die Natur des Schwertes und seine scheinbar grenzenlose magische Kraft immer deutlicher bewusst geworden waren, war im gleichen Maße das Vertrauen seiner Gefährten in ihn geschwunden. Das war zu der Zeit gewesen, als Skelleths neue Regierung Gestalt angenommen hatte, und Garth war von allen leitenden Funktionen unter Hinweis auf seinen augenfälligen Wahn ausge schlossen worden. Er hatte sich nicht mit Entschiedenheit dagegen verwahrt, da er sich über sein unberechenbares, irres Verhalten selbst im klaren gewesen war und ihn zu jener Zeit fürwahr Wichtigeres beschäftigte als die Politik eines abgelegenen Kaffes, nämlich die Frage, wie er sich von der Kontrolle, die das Schwert über ihn ausübte, befreien konnte. Das Schwert war eine prachtvolle Waffe — ein riesiges, beidhän dig zu führendes Breitschwert mit einem riesigen roten Edelstein in seinem Knauf. Es war scheinbar unzerstörbar: Es schnitt durch Stein oder Metall wie durch Käse und herrschte sogar über die Elemente; es konnte Stürme und Gewitter ganz nach Belieben her beizitieren oder abflauen lassen und sogar die Erde selbst zum Erbeben bringen. Es konnte erglühen und in Flammen auflodern, ohne selbst von ihnen verzehrt zu werden. Hätte es nicht unter der furchtbaren Ägide Bheleus gestanden, der es als Werkzeug mutwilliger Zerstörung benutzte, Garth wäre stolz gewesen, zum Träger einer solch herrlichen Waffe auserkoren worden zu sein. So, wie die Dinge jedoch lagen, war sein ganzes Trachten darauf gerichtet gewesen, das Ding wieder loszuwerden — und schließ lich war ihm dies auch geglückt. Er hatte das Schwert nicht mehr, war frei von ihm und seiner unheilvollen Macht. Das Schwert allein war für seinen Wahn verantwortlich gewesen, und nun, da
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er es nicht mehr hatte, war er wieder ganz der alte Garth; doch ob gleich diese Episode seines Lebens nun schon lange zurücklag und er wieder so normal und vertrauenswürdig war wie eh und je, verwehrte man ihm immer noch jegliche Mitwirkung am öf fentlichen Leben Skelleths, aus Angst, er könne vielleicht doch wieder zum rasenden Berserker werden. Diese Ächtung setzte ihm schwer zu. Was seinen Stolz und sein Selbstwertgefühl jedoch am empfind lichsten traf, war eine persönliche Angelegenheit, eine, die eng zu sammenhing mit der bösen Macht des Schwertes des Bheleu und mit seiner Befreiung von dieser Macht. Die Stimme des angebli chen Gottes der Zerstörung hatte ihm gesagt, er, Garth, sei einzig zu dem Zweck geboren worden, ihm, Bheleu, zu dienen und sei nen Wünschen zu willfahren; und in der Tat war nur er allein im stande gewesen, das Schwert zu benützen, und allein hatte er es trotz aller erdenklichen Mühen nicht geschafft, seiner Macht zu widerstehen. Er hatte sich nicht allein von der Waffe befreit. Gleich am Nordrand seines Marktplatzes hatte Skelleth eine alte Taverne, die den Namen Gasthof des Königs trug, und in dieser Taverne wohnte ein alter Mann, der sich »Der Vergessene König« nannte. Und es war die Gegenwart dieses Individuums, die mehr als alles andere Skelleth zu einem Zentrum wichtiger Ereignisse machte. Garth war sich nicht ganz schlüssig, ob er — unterm Strich — die Anwesenheit des Königs als gut oder als schlecht ansehen sollte. Er war ursprünglich nach Skelleth gekommen, um eben diesen König aufzusuchen; ein Orakel hatte ihm gesagt, nur der Vergessene König könne ihm den ewigen Ruhm verschaffen, den er zu jener Zeit erringen zu müssen glaubte. Nachdem er von -14-
diesem Irrglauben gründlich geheilt worden war, war er ein zwei tes Mal nach Skelleth zurückgekehrt, weil der Vergessene König ihn auf die Möglichkeit einer Handelsbeziehung zwischen Skelleth und der Nordwüste hingewiesen hatte. Er war auf Geheiß des geheimnisvollen alten Mannes nach Dûsarra gegangen und hatte neben Frima, der jetzigen Baronin, auch das Schwert des Bheleu sowie das Wissen um die Möglichkeit der Eröffnung von Handelsbeziehungen mit der Yprischen Küste von dort mitge bracht. Seit er das erste Mal von Ordunin aufgebrochen war, schienen sein Leben und der Einfluss, den er auf Skelleth hatte, untrennbar mit dem alten Mann verknüpft. In Dûsarra hatte er einiges über die Geschichte des alten Mannes erfahren; er war offenbar der einzige wahre Hohepriester des Gottes des Todes, der Auserwählte des Gottes-Dessen-NamenMan-Nicht-Ausspricht – so wie Garth der Auserkorene des Bheleu war. Als solcher konnte der König nicht sterben; er lebte bereits seit mehreren Zeitaltern und wünschte sich nun nichts sehnlicher als den Tod, der ihm jedoch versagt blieb. In Verfolgung dieses ihm so teuren Zieles hatte der Vergessene König Garth auf mehrere Missionen losgeschickt. Sein Bestreben war es offenbar, irgendeine große Selbstvernichtungsmagie zu in szenieren; aufgrund einiger mehr oder weniger verschwommener Hinweise und Schlussfolgerungen hatte Garth sich die Theorie zu sammengezimmert, dass der alte Mann hoffte, den Todesgott selbst in der Welt der Sterblichen zu manifestieren, um so vielleicht den Handel, den er vor langer Zeit mit dem Gott ge schlossen hatte, rückgängig machen zu können. Das Problem dabei war, dass dieser magische Akt – ganz gleich, ob Garth seine Natur nun korrekt interpretiert hatte oder nicht – nicht nur den Tod des Königs, sondern auch den vieler Unschuldiger nach sich ziehen würde; das hatte der König selber zugegeben. Und da
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Garth sich nicht mitschuldig an unnötigem Blutvergießen machen wollte, hatte er sich geweigert, dem König weiter zu dienen. Doch dann hatte das Schwert des Bheleu Besitz von ihm ergrif fen, und er hatte keine andere Macht gefunden, die ihn davon befreien konnte, als die Macht des geheimnisumwobenen alten Mannes. Von allen Herren von Dûs, den dunklen Göttern, war allein der Gott des Todes mächtiger als der Gott der Zerstörung, und so vermochte nur der Erwählte des Letzten Gottes – nämlich der Vergessene König, kraft seines Status vielleicht der mächtigste Zauberer, der je gelebt hatte – das Band zwischen Bheleu und dessen Erwählten zu zerreißen. Deshalb war Garth nur der Ausweg geblieben, sich wieder bei dem Vergessenen König zu verdingen. Er hatte ihm schwören müssen, ihm den letzten Gegenstand zu beschaffen, den er zur Durchführung seines Zaubers brauchte: ein Objekt von ungeheu rer Zauberkraft, genannt das Buch der Stille. Garth hatte diesen Eid geschworen, obwohl er wusste, dass er nicht die Absicht hatte, ihn zu halten, und das verdrängte Bewusstsein, ein Eidesbrecher zu sein, ein ehrloser Lump – wenn auch noch nicht in praxi, son dern nur in Gedanken , nagte seither an seinem Selbstwertgefühl. Wie ein Verletzter, der ständig, aus einem inneren Zwang her aus, vielleicht auch aus Faszination an seinem eigenen Schmerz, an einer offenen Wunde herumtastet, fand sich Garth immer wieder zwanghaft in den Gasthof des Königs getrieben, wo er stundenlang brütend saß und den Vergessenen König beobachte te. Als er seinen Eid geschworen hatte, hatte der König ihm ge sagt, er könne sich frei bewegen und tun und lassen, was er wolle, solange er sich nur in gewissen Abständen bei ihm sehen lasse. Der alte Mann hatte ihm noch nicht gesagt, wo das Buch der Stille zu finden war; er hätte es irgendwo liegen lassen, Jahrhunderte zuvor, und versuche sich zu erinnern, wo. Sobald es ihm wieder
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einfiele, würde er Garth losschicken, dass er es hole. Bis das der Fall sei, könne Garth tun, was ihm beliebe. Da es jedoch nichts zu tun gab, war er in Skelleth geblieben, heu te ziellos durch die Straßen und Gassen streifend, morgen dumpf brütend irgendwo herumsitzend und in die Gegend starrend, so wie er jetzt im Gasthof des Königs saß und trübsinnig zum Fenster hinaus auf den still daliegenden Marktplatz starrte. Der Vergessene König war auch da; er saß wie immer an seinem Ecktisch. Seine Anwesenheit zu fast jeder Zeit, in der die Taverne geöffnet war, war etwas so Selbstverständliches, dass die Dorfbe wohner ihn gar nicht mehr als einen Gast im eigentlichen Sinn empfanden, sondern fast schon als zum Inventar gehörig, wie die dunkle Wandtäfelung und die schweren Eichenholztische. Tag für Tag saß der alte Mann unbeweglich und schweigend in der Ecke unter der Treppe, eingehüllt in seinen zerlumpten gelben Um hang, das Gesicht unter der zerfetzten Kapuze verborgen. Wie er es schon hundertmal zuvor getan hatte, wandte Garth den Blick vom Fenster und vom Marktplatz ab und starrte statt dessen auf den uralten geheimnisumwitterten Mann. Der König ließ sich nicht anmerken, ob er den prüfenden Blick des Übermanns überhaupt wahrnahm, aber Garth zweifelte nicht daran, dass er wusste, dass er beobachtet wurde. Ein halbes Dutzend normale Menschenwesen hielten sich in der Taverne auf, und sie alle hatten mit Sicherheit Garths Anwesen heit bemerkt. Die meisten hatten auch mitbekommen, dass er den Blick vom Fenster abgewandt hatte. Übermänner waren nicht zu übersehen: Garths Größe, von anderen Körpermerkmalen einmal ganz abgesehen, hob ihn schon auf den ersten flüchtigen Blick von gewöhnlichen Menschenwesen ab; er war fast sieben Fuß groß und dabei so mit Muskeln bepackt, dass er beinahe gedrungen wirkte. Er ließ den Stuhl, auf dem er saß, geradezu winzig er -17-
scheinen und stand auch zu den sonstigen Einrichtungsgegen ständen des Schankraums in einem seltsamen Missverhältnis, ob wohl er, gemessen am Standard seiner Art, kaum mehr als Durch schnitt war, was seine Körpergröße betraf. Seine Augen waren groß und rot, die Regenbogenhäute, die ir gendwie überdimensioniert wirkten, hatten die Farbe von hellem Blut, wohingegen seine Pupillen genauso rund und schwarz waren wie die eines gewöhnlichen Menschen. Anders als bei Men schenaugen fehlte jedoch das Weiß; die Augen bestanden nur aus schwarzer Pupille und roter Iris. Sein Haupthaar war glatt, von einem vollkommen glanzlosen tiefen Schwarz, und sehr dicht; es ging ihm bis zu den Schultern, keinen Zoll weiter, obwohl er es nie hatte schneiden lassen. Schütterer schwarzer Pelz bedeckte seinen gesamten Körper bis auf Hände, Füße und Gesicht. Die Hautpartien, die nicht von Haa ren oder Fell bedeckt waren, waren von lederartiger Beschaffen heit und dunkelbraun, anders als bei jeder anderen Art, die je exis tiert hatte, und gewiss anders als bei jedem Menschenwesen. Sein Gesicht war so bartlos wie das einer Frau; Übermänner hatten keine Gesichtsbehaarung. Sein Pelz hörte kurz unterhalb des Kinnes auf. Seine Wangen waren, an menschlichem Standard gemessen, für einen Übermann aber vollkommen normal, ein gefallen. Anstelle einer Nase hatte er zwei eng beieinander liegende schlitzförmige Nüstern. In den Augen von Menschen wesen wies ein gesunder Übermannkopf eine frappierende, etwas beunruhigende Ähnlichkeit mit einem Totenschädel auf: die ein gefallenen Wangen, die fehlende Nase, die großen roten Augen, die hohe Stirn und das Fehlen jeglicher Gesichtsbehaarung trugen dazu bei. Auch Garths Hände waren anders als die von Menschen. An stelle eines einzigen Daumens auf einer Seite besaßen seine Hände
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jeweils zwei davon, und zwar den ersten und den fünften Finger, die so ausgebildet waren, dass sie einander gegenüberstanden und wie eine Zange funktionierten. Dies ermöglichte einem Über menschen die Durchführung kompliziertester Handgriffe und Manöver. Unter diesen Umständen überraschte es nicht, dass die Men schen in der Regel Furcht vor Übermenschen empfanden, so wie sie vor allem Furcht empfanden, was ihnen unheimlich und fremd erschien. Und so war es auch nicht weiter verwunderlich, dass die anderen Gäste im Gasthof des Königs gelegentlich einen verstoh lenen Blick in Garths Richtung warfen, um sich zu vergewissern, ob er auch ruhig dasaß. Garth fürchteten sie – was Wunder – am meisten von allen Übermännern; sie hatten stets die heimliche Angst im Hinterkopf, dass er wieder einen seiner schrecklichen Anfälle von Raserei bekam, an die sie sich noch lebhaft erinnern konnten. Deshalb verstummten auch sofort alle Gespräche, als er seinen Blick vom Fenster abwandte und quer durch den Schankraum auf die gelbgekleidete Gestalt am Ecktisch starrte. Alle Blicke richte ten sich auf ihn; jeder befürchtete, der Blick des Übermannes könne auf ihn fallen. Garth stand auf, und die Spannung wuchs; selbst das Rascheln von Kleidern und das Knarren von Stühlen verstummten. Toten stille herrschte in der Taverne des Königs. Der Blick des Übermannes wanderte von dem alten Mann zu den großen Bierfässern, die die Westseite des Raumes ausfüllten. Sein Krug war leer; er nahm ihn vom Tisch, bahnte sich einen Weg zwischen den Tischen und Stühlen hindurch zu einem der Fässer und zapfte sich ein frisches Bier. Der Wirt, ein beleibter gemütli cher Mann von mittlerem Alter, der dabei stand, nahm die
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angebotene Münze mit einem stummen Nicken entgegen und ließ sie mit einer geübten Bewegung in seiner Weste verschwinden. Garth schlürfte die Blume herunter, dann ließ er seinen Blick zu rück zum Tisch des Vergessenen Königs schweifen, wo er erneut haften blieb. Ohne so recht zu wissen, warum, schlenderte er zu dem Tisch hinüber. Dort angekommen, stellte er seinen Krug auf der Tischplatte ab und setzte sich dem König gegenüber, wie er es in den vergangenen drei Jahren so oft getan hatte. »Sei gegrüßt, o König«, sagte er höflich. Der alte Mann erwiderte nichts. Garth musterte ihn, wie er es so oft getan hatte. Und wie so oft, registrierte er, dass die Augen des Alten unsichtbar blieben, ver borgen im Schatten seiner ausgefransten gelben Kapuze. Soweit er wusste, hatte niemand je die Augen des Vergessenen Königs zu sehen bekommen. Ein schütterer weißer Bart hing von dem kno chigen Kinn bis hinunter auf die gelb umhüllte Brust. Die Hände, welke knochige Dinger, die eher denen einer Mumie als denen eines lebendigen Menschenwesens ähnelten, lagen bewegungslos auf der Tischplatte. Die ausgefransten Fetzen des Gewandes hüll ten den Rest des Körpers ein, so dass man von seiner Erscheinung nicht viel mehr mit‘ Sicherheit sagen konnte, als dass er dünn und für einen Mann von solch hohem Alter erstaunlich groß war, wenn auch bei weitem nicht so groß wie ein Übermann. Und wie so oft zuvor fragte sich Garth, warum der alte Mann Lumpen trug und warum es immer gelbe Lumpen waren. Garth hatte andere von ihm als dem König in Gelb sprechen hören, was darauf hindeutete, dass es sich kaum um eine vorübergehende oder neuere Angewohnheit handelte, aber ebenfalls nichts über die Gründe aussagte. Der alte Mann, soviel wusste Garth mit Si cherheit, hatte Geld und Macht; dennoch verbrachte er seine Tage -20-
in dieser alten Taverne und war stets in Lumpen gekleidet. Als Garth seinerzeit ausgezogen war, um ewigen Ruhm zu erlangen, hatten ihm die Weisen Frauen von Ordunin diese gelben Lumpen als sicheres Erkennungsmerkmal des Vergessenen Königs ge nannt. Garth hatte schon vor langer Zeit das Interesse an der Jagd nach unsterblichem Ruhm verloren, welches ihn ursprünglich zu dem König geführt hatte; der Preis war zu hoch gewesen, und die Er folgsaussichten waren zu vage. Er hatte kein einziges Ziel mehr, das er bewusst verfolgte. Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, dann musste er zugeben, dass er nicht einmal mehr wusste, was er sich eigentlich noch vom Leben versprach. Das einzige, was er wusste: dass er nach Hause wollte; dass er den Respekt seiner Art genossen wiedergewinnen und dass er das Stigma loswerden wollte, unberechenbar und anfällig für Ausbrüche von berser kerhafter Raserei zu sein. Was er indes sehr wohl wusste: dass er nichts von dem alten Mann wollte, es sei denn, von seinem Schwur entbunden zu werden. Die Gaben des Königs und die Geschäfte mit ihm schienen immer mit irgendwelchen unliebsamen Fallstricken und Fußangeln verquickt zu sein; seine Verhandlungen mit ihm waren stets voll von Unausgesprochenem und Angedeutetem gewesen. Und trotzdem fand er sich in letzter Zeit immer häufiger an diesem dunklen Ecktisch sitzend. Er redete sich ein, dass das, was ihn immer wieder dort hinzog, eine natürliche Neugier war, das Rätsel, das den alten Mann um gab, zu lösen — das und der Mangel an sinnvollerer Beschäfti gung. Er hatte keine Familie, keine Freunde und nichts, womit er seine Zeit sinnvoll hätte ausfüllen können; warum sollte er sich da nicht für solch ein Geheimnis interessieren? Er konnte mit dem al
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ten Mann reden, ohne sich für dessen Pläne und Ränke ein spannen zu lassen. Wäre Garth jemals der Gedanke gekommen, dass er den König vielleicht nur deshalb aufsuchte, weil er der einzige in Skelleth war, der absolut keine Angst vor ihm oder vor dem Schwert des Bheleu hatte, hätte er diesen Gedanken sofort als absurd abgetan und weit von sich gewiesen. Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Krug, stellte ihn auf den Tisch zurück und sagte: »Ich sagte, sei gegrüßt.« Der König machte eine leichte Handbewegung, wie als wolle er dem Übermann kundtun, er solle wieder verschwinden. Garth war nicht gewillt, sich so leicht abspeisen zu lassen. Er wusste einiges über den Hintergrund des Königs und hatte eine gewisse Vorstellung von seiner ungeheuren Macht, aber Angst hatte er nicht vor ihm. Es gab nur wenig, was Garth angst machen konnte; er gestattete sich solche Schwächen wie unnötige Angst einfach nicht. Er quittierte die Geste des Greises mit einem Achsel zucken und nahm einen weiteren Schluck. Der König saß unbeweglich da und beobachtete ihn aus seinen verborgenen Augen. Garth leerte seinen Krug mit wenigen tiefen Zügen, winkte dem Wirt, ihm ein neues Bier zu bringen, und starrte zurück. Der König war alt, älter als jedes andere Lebewesen auf der Welt. Er lebte seit mindestens tausend Jahren, vielleicht sogar seit mehreren tausend. Er war in Skelleth, seit die Stadt vor drei hundert Jahren gegründet worden war. Er konnte nicht auf natür liche Weise sterben. Unter diesen Umständen war es nicht verwunderlich, dass sein Benehmen etwas sonderlich war. Aus den bruchstückhaften Informationen, die er aus den wenigen Andeutungen, die der König gemacht hatte, hatte ge
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winnen können, hatte Garth sich folgende Geschichte zu sammengereimt: Irgendwann in grauer Vorzeit hatte der König einen Handel mit dem Gott-Dessen-Namen-Man-Nicht-Aus spricht abgeschlossen, dem Tod persönlich. Zu jener Zeit war der König noch ein wirklicher Monarch gewesen, nicht nur dem Namen nach, der Hexer-König des längst vergangenen und vergessenen Reiches Carcosa. Er hatte nach Unsterblichkeit ge strebt und sich für den Preis ewigen Lebens verpflichtet, dem Letzten Gott als Hoherpriester zu dienen. Irgendwann hatte er diesen Handel bereut und seinem Amte als Hoherpriester entsagt — jedoch nur, um die bittere Erkenntnis zu machen, dass ihm der Tod versagt war. Weder Feuer noch Schwert konnten ihm etwas anhaben; selbst der Blick des Basilisken, der alles zu Stein werden ließ, war bei ihm ohne Wirkung geblieben. Er verfügte immer noch über immenses Wissen und magische Kraft, die alles in den Schatten stellte, was es seit dem Fall und Untergang Carcosas je auf Erden gegeben hatte, aber dieses Wissen und diese Macht nutzten ihm nichts, denn sie konnten ihm nicht das eine verschaf fen, nach dem er sich so sehr sehnte — den Tod. Eine große Magie jedoch gab es, mit deren Hilfe er seinen Tod herbeiführen konnte, einen mächtigen Zauber, zu dessen Durch führung er indes das Schwert des Bheleu und das Buch der Stille benötigte. Das Schwert hatte er, nicht aber das Buch. Garth hatte geschworen, er werde ihm das Buch bringen, um von dem Schwert loszukommen, aber er hatte nicht die Absicht, sich an sei nen Eid zu halten. Was ihn betraf, so war die Sache damit eigentlich beendet — bis auf eine Kleinigkeit: Der König hatte ihn noch nicht aufgefordert, sein Versprechen in die Tat umzusetzen; noch war er also nicht meineidig geworden. Er konnte immer noch den Anschein von Ehre aufrechterhalten — einen Anschein, von dem ihm klar war,
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dass er falsch war —, solange ihn der König nicht aufforderte, das Buch zu holen. Der König hatte diese Forderung nur deshalb noch nicht an ihn gerichtet, weil er sich nicht erinnern konnte, wo er das Buch meh rere Jahrhunderte zuvor zurückgelassen hatte. Garth hoffte, dass diese Gedächtnislücke möglichst noch lange blieb, am besten für immer; dann würde er nie in die Situation kommen, sein Wort brechen zu müssen. Gleichzeitig aber wünschte er sich, dass die Angelegenheit end lich ein Ende fand, selbst wenn dies bedeutete, dass er wortbrü chig werden musste; das war ihm immer noch lieber, als ständig mit der nervenzerreibenden Frage leben zu müssen, ob es ihm ein fiele oder nicht. Sein Eid schwebte über ihm wie ein Damokles schwert. Er lehnte sich zurück, seinem Stuhl einen knarrenden Protest gegen sein gewaltiges Gewicht entlockend, und fragte: »Hast du dich inzwischen erinnert, o König?« Seine Stimme war ausdrucks los, denn Übermänner zeigten ihre Gefühle auf andere Weise als Menschen. Die Mischung aus Bitterkeit über seinen falschen Eid und Vorfreude auf die Nachricht seines endgültigen Platzens, die ihn zu der Frage verleitet hatte, war so gut versteckt, dass sie Garth kaum selbst bewusst wurde. Der König schwieg; sein Kopf neigte sich kaum wahrnehmbar zur Seite und wieder zurück. »Du musst mir schon sagen, wo es ist, alter Mann, sonst kann ich es dir nicht holen.« Der König schwieg immer noch. Gart spürte, wie Zorn in ihm hochwallte. »Sprich, alter Mann!« sagte er, und seine Stimme hatte einen et was schärferen Klang angenommen. Der König gab keine Antwort. Garths Ärger wuchs.
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»Ist dir die Zunge im Mund zusammengeschrumpft, du thron loser König? Versuchst du, die Leichen nachzuahmen, denen du so ähnelst, wenn es dir schon versagt ist, eine richtige zu werden? Oder hast du nun auch der Sprache entsagt, um deinem üblen schwarzen Gott um so besser dienen zu können?« Er schrie nicht; seine Stimme hatte einen ruhigen, vollkommen gefühllosen Klang, ein Alarmzeichen bei seiner Art. Der König bewegte sich leicht und schien einen leichten Seufzer von sich zu geben, schwieg sich aber weiter aus. Garth holte Luft für eine weitere Frage, wurde aber durch das Erscheinen des Wirts abgelenkt, der ihm einen neuen Krug Bier brachte. Der Übermann riss ihm den Krug förmlich aus der Hand, trank ihn mit zwei, drei tiefen Zügen bis zur Hälfte leer und blaffte dann den Mann an: »Verschwinde!« Der Wirt riskierte einen verstohlenen Blick auf Garths unheilvoll rote Augen und das unmenschliche Gesicht und entfernte sich hastig, wobei er überlegte, ob es nicht vielleicht sicherer sei, wenn er das nächste Bier des Übermannes mit ein wenig Wasser ver dünnte. Er kannte die Alarmzeichen, die einen Tobsuchtsanfall des Übermannes ankündigten; Grobheit gegenüber Dienstboten, so wie ihn, war ein solches Alarmzeichen. Er hatte kein Verlangen danach, sich mit einem betrunkenen, tobenden Übermann anzu legen — aber ein Übermann, der merkte, dass er betrogen wurde, war genauso schlimm. Er warf einen Blick auf Garths kettenhemd gepanzerten breiten Rücken und entschied, zumindest für den Moment, dass sein guter Ruf als ehrlicher Gastwirt es wert war, gewahrt zu bleiben. Er konnte nur hoffen, dass der alte Mann den Übermann irgendwie beschwichtigte. Garth war nicht in der Stimmung, sich beschwichtigen zu lassen. Als der Wirt außer Hörweite war, fragte er: »Warum sagst du nichts? Liegt es vielleicht daran, dass es mir nicht gebührt, dich
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anzusprechen, du König eines längst untergegangenen Reiches, Monarch mit Gedächtnisschwund, Herrscher eines Königreiches, das keiner kennt? Ist der Prinz von Ordunin, ein Lehnsherr der Übermenschen der Nordwüste, nur würdig, deine Grillen zu er tragen und sinnlose Botengänge zu erledigen, nicht aber, dich anzusprechen? lässt sich der Meister der Asche und des Elends, der sich in zerfranste Lumpen hüllt und in einem dunklen muf figen Kämmerlein in einer alten Spelunke haust, nicht dazu herab, dem verstoßenen Mörder, dem in Ungnade gefallenen Berserker zu antworten? Will der König des Todes nicht geruhen, dem Bau ern der Zerstörung eine Antwort auf seine Frage zu geben?« Seine Stimme war ganz ruhig, so glatt wie eine Wasserpfütze auf schwarzem Eis und bedrohlicher in seiner Zurückhaltung als jedes Brüllen, als er sagte: »Antworte mir, alter Mann!« Der alte Mann antwortete. »Garth«, sprach er mit einer Stimme, die klang wie berstendes Eis, »warum belästigst du mich? Du weißt doch, dass ich lieber schweige, als Worte für leeres Ge schwätz zu verschwenden.« Der Klang der Stimme des Königs ließ Garths Zorn für einen Moment regelrecht erstarren; es war ein Klang, der mit nichts ver gleichbar war, trocken und spröde und hart, so unangenehm für das Ohr, dass es sich fast weigerte, ihn aufzunehmen. Er gewann jedoch schnell seine Fassung wieder und versetzte: »Ist alles, was ich sage, leeres Geschwätz? Habe ich nicht das Recht, eine Ant wort zu erhalten, wenn ich eine höfliche Frage stelle?« »Höflich war das wohl kaum«, wandte der König ein. »Gleich wohl will ich dir antworten. Nein, mir ist noch nicht eingefallen, wo ich das Buch der Stille in jenen alten Zeiten zurückgelassen habe, da ich es zum letzten Mal in der Hand hielt.« »Also muss ich weiter hier herumlungern und warten?«
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»Garth«, erwiderte der alte Mann, »du langweilst dich; die Untä tigkeit macht dir zu schaffen. Du bist ein Krieger, ein Wesen des Kampfes und der Tat, nicht dazu geeignet, in einem friedlichen Dorf herumzuhocken. Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass es dir freisteht, Skelleth zu verlassen, und dass dein Eid dich nicht hier bindet, solange du in gewissen Abständen hierher zurück kehrst, um zu erfahren, ob es mir eingefallen ist oder nicht, wo sich das Buch befindet. Warum suchst du dir nicht eine Beschäfti gung, die dich ausfüllt, statt deine Zeit in diesem Dorf zu vergeu den und mich beim Nachdenken zu stören?« Eine so lange Rede war ungewöhnlich für den König, und das wusste Garth sehr wohl. Ihm wurde klar, dass er den alten Mann ernsthaft verärgert hatte — eine Erkenntnis, die seinen eigenen Zorn jedoch nicht ver rauchen ließ. »Und welche Aufgabe soll ich mir bitte sehr suchen? Wohin soll ich gehen? In der Nordwüste bin ich unerwünscht und kann also meiner Heimat nicht gegen die Piratenplage helfen, von der sie heimgesucht wird. Welche anderen Aufgaben erwarten mich? Ich habe keine große Lust, ziellos umherzustreifen, schon gar nicht in einer Welt, in der Kriege und Schlachten wüten, die mich nichts angehen. Ich habe keinen Grund, mich auf die Seite irgendeines Menschenkönigs oder Menschenbarons zu schlagen und auch nicht das leiseste Bedürfnis, zu meiner eigenen Belustigung zu tö ten, und deshalb werde ich mich auch nicht in diese Kriege ein mischen. Ich bin nirgends außerhalb Skelleths erwünscht. Ich habe Mormoreth gesehen und es zurückgelassen in den Händen von Menschen, deren Kameraden ich in Notwehr tötete; glaubst du, man wird mich dort mit offenen Armen empfangen? Ich habe Dûsarra besucht und es brennend und von der Seuche heimge sucht zurückgelassen; jeder einzelne Bürger dort sieht in mir sei nen Todfeind. Die anderen Länder und Städte des Südens sind
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mir unbekannt; ich weiß nur, dass Übermänner dort unerwünsch te Fremde sind. Wo soll ich also hingehen?« »Wie wäre es mit der Yprischen Küste?« »Und was sollte ich dort anderes tun, als mir eine neue Taverne zu suchen, in der ich herumhocken, Bier trinken und mir die Zeit totschlagen kann? Ich bin kein Händler, das ist mir mittlerweile klar; ich habe keine Lust, neue Märkte zu erschließen und neue Handelsbeziehungen zu knüpfen.« »Glaubst du, dass das alles ist, was man dort tun kann?« »Was soll es sonst dort schon geben? Bauernhöfe und Dörfer, Märkte und Menschen und Übermenschen. Die Karawanen haben uns doch berichtet, was es dort gibt, und nichts von dem inter essiert mich. Außerdem sind schon andere vor mir dort gewesen; was sollte ich dort entdecken können, das sie noch nicht entdeckt hätten?« »Musst du denn unbedingt immer der erste sein, so wie du der erste warst, der auf die Idee kam, nach Skelleth zu kommen und Handel zu treiben?« »Ja; trotz allem, was mir das eingebracht hat. Welchen Sinn hat es, etwas zu tun, was bereits vorher getan worden ist?« »Ich glaube, Garth, du bist verbittert über die Undankbarkeit derer, die von dem Handel, den du geschaffen hast, profitiert haben.« »Vielleicht bin ich das, alter Mann; na und? Ändert sich irgend etwas für einen von uns beiden, dadurch dass ich von denen ver achtet werde, die ich wohlhabend gemacht habe? Oder dass meine alten Gefährten mir keinerlei Mitwirkung zugestehen in dem Dorf, das ich ihnen geschenkt habe? Sie gehen uns nichts an. Ich habe geschworen, dir bei deinem Todeszauber zu helfen, König;
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das ist das einzige, was für uns beide zählt. Ich warte darauf, dass du mir sagst, wie ich meinen Schwur einlösen kann.« »Ich habe dir gesagt, dass es mir noch nicht eingefallen ist.« »Dann muss ich warten, bis es dir einfällt.« »Und mich weiter mit wütenden Fragen behelligen?« »Wenn mir danach ist, ja.« Der König antwortete nicht sofort; während der Redepause trank Garth den Rest seines Bieres aus und beschloss, kein neues mehr zu bestellen. »Garth, ich möchte, dass du mich in Frieden lässt«, sagte der alte Mann schließlich, »damit ich klarer denken kann und mich leich ter an das erinnern kann, an was ich mich erinnern möchte.« Der Übermann zuckte die Achseln. »Mich schert wenig, was du möchtest, alter Mann. Ich habe nicht geschworen, auf jede deiner Schrullen Rücksicht zu nehmen, sondern nur, dir dein Buch zu be schaffen und dich bei deinem Zauber zu unterstützen.« »Du langweilst dich. Wie wäre es, wenn ich dir eine Aufgabe gäbe, die niemandem schaden kann, aber vielen unschuldigen Menschen großen Nutzen brächte?« Garth starrte auf den Grund seines leeren Bierkruges, dann schaute er auf und starrte über den Tisch in die Schatten, die das Gesicht des alten Mannes verhüllten. »Was für eine Art von Aufgabe?« »Einen Drachen zu töten, der das Tal von Orgûl verwüstet hat.« Garth überlegte. Sein Zorn verrauchte langsam, aber sein Geist war leicht vom Alkohol umnebelt. »Einen Drachen?« Der alte Mann nickte — einmal. Garth dachte über den Vorschlag nach. Er langweilte sich, lang weilte sich schrecklich. Das Nichtstun bekam ihm nicht, machte ihn reizbar und aufbrausend. Es würde ihm zweifellos gut tun, wieder zu reisen, neue Länder und Städte kennenzulernen, jede -29-
Nacht an einem anderen Ort zu verbringen. Es würde ihm gut tun, endlich einmal aus Skelleth herauszukommen, fort von dem Ort, der für ihn mit so vielen unangenehmen Erinnerungen ver bunden war. Es würde ihm gut tun, etwas Nützliches zu voll bringen; und dass das Töten eines Drachens etwas Nützliches war, daran bestand kein Zweifel. Er hatte zwar noch nie einen Drachen gesehen, aber er kannte die Geschichten und Legenden, die sich um diese Fabelwesen rankten. Und alle stimmten dahingehend überein, dass Drachen riesengroß, gefährlich und ungeheuer zer störungswütig waren. Er selbst hatte in der Vergangenheit oft genug zerstört; hier fand er vielleicht eine Gelegenheit, ein wenig davon wiedergutzumachen, indem er eine Bedrohung zerstörte, die schlimmer war, als er es je gewesen war. In gewisser Weise konnte es ein erster Schritt sein, sich an Bhe leu zu rächen. Der Gott der Zerstörung hatte ihn als Werkzeug missbraucht, als Marionette seiner Zerstörungswut, und das ver zieh ihm der Übermann nicht. Vielleicht war es ein kleiner Akt der Vergeltung, wenn er eine Kreatur tötete, die man als eines von Bheleus Schoßtieren ansehen konnte. Er nickte. Je länger er über den Vorschlag nachdachte, desto mehr gefiel er ihm. »Ich glaube, das könnte mir zusagen«, sagte er. Der Mund des Vergessenen Königs verzog sich zu einem leisen Lächeln. Weit im Westen, in einem fensterlosen, ganz in Schwarz und Rot ausgeschlagenen Zimmer, starrte ein Mann auf das Bild in seinem Sehglas und lächelte ebenfalls. Das Bild war außergewöhnlich klar und scharf, so scharf, dass er dem Übermann sogar von den Lippen hatte lesen können. Er hatte zwar nur die eine Seite des Gesprächs verfolgen können, aber das hatte genügt, um zu erfah ren, dass Garth zu irgendeiner Mission ausgesandt wurde. Das -30-
lieferte eine ausgezeichnete Gelegenheit, endlich die lange aufge schobenen Maßnahmen in die Wege zu leiten. Nahezu drei Jahre waren inzwischen vergangen, seit der Übermann den Kult des Aghad herausgefordert, den Altar des Gottes geschändet und sei nen Hohenpriester getötet hatte; viel war seither geschehen, aber der Kult hatte noch immer keine Rache geübt. Haggat, der jetzige Hohepriester des Aghad, war ein geduldiger Mann, und er hatte sich Zeit gelassen, Macht zu sammeln und seine Schritte sorgfältig zu planen. Er wollte sicher sein, dass die Rache, die er für den Übermann ersonnen hatte, durch nichts vereitelt wurde. Nun end lich war es soweit. Er setzte das Glas ab, pustete die einzige Kerze aus, die das Ge mach erleuchtete, und ging hinaus, den Befehl zu erteilen, der die wohlvorbereitete Maschinerie in Gang setzen würde.
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Kapitel 2 Garth war sich nicht sicher, an welcher Stelle des bergigen Ge ländes genau er die Grenze zwischen der erammanischen Baronie Sland und dem autonomen Gebiet Orgûl überschritten hatte; wenn es irgendwelche Grenzpfähle oder sonstige Markierungen gab, so hatte er sie in der Dunkelheit übersehen. Kurz nach Sonnenaufgang jedoch kam er auf dem Kamm der letzten Hügel kette an und sah unter sich das weite Tal von Orgûl mit seinen Feldern und grünen Wäldern und Matten liegen und seinen Flüssen und Bächen, die blau und silbern im Lichte der Morgen sonne glänzten. Von den schlimmen Verwüstungen, die er zu se hen erwartet hatte, war keine Spur zu entdecken. Im Gegenteil, dachte er, als er den Blick über die Landschaft schweifen ließ, Orgûl sah bei weitem wohlhabender und friedli cher aus als die Länder, die er auf dem Weg hierher durchquert hatte. Während der ersten drei Tage nach seinem Aufbruch von Skelleth war er gemächlich über flaches matschbraunes Land geritten, ganz offen bei Tag, und in den wenigen Gasthöfen und Tavernen eingekehrt, die entlang der Straße lagen. Einmal war ihm der Einlass verwehrt worden, ganz einfach aufgrund der Tat sache, dass er ein Übermann war; ansonsten aber hatte er keine ernsteren Unannehmlichkeiten gehabt — bis zum Abend seines dritten Reisetages, als zwischen den schwelenden Ruinen eines Bauernhofes, der das Unglück hatte, genau auf der Grenze zwi schen zwei verfeindeten Baronien zu liegen, ein Soldat mit seiner Armbrust auf ihn geschossen hatte. Der Schuss hatte sein Ziel verfehlt, und der Mann hatte das Hasenpanier ergriffen, als Koros, Garths Kriegstier, seine mörderischen Zähne gebleckt und ein wü
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tendes Knurren von sich gegeben hatte; Garth selbst hatte nicht einmal sein Schwert zücken müssen. Dennoch war ihm klar, dass er nur mit Glück davongekommen war, denn der Pfeil hätte ihn ebenso gut treffen können; er hatte den Mann, der hinter einer zerborstenen Mauer gekauert hatte, überhaupt nicht gesehen. Nach diesem Zwischenfall hatte er es vorgezogen, bei Nacht zu reisen und tagsüber zu schlafen, wo immer er eine günstige Stelle dafür fand. Das Land war, je weiter er nach Süden kam, immer fruchtbarer geworden; obwohl er bei Nacht keine Farben sehen konnte, hatte er jeweils bei Sonnenunter- und Sonnenaufgang üp pige Vegetation gesehen – jedenfalls da, wo die Erde nicht durch Kriege verwüstet und verbrannt war. Jene ausgebrannte Farm, auf der er fast den Tod gefunden hätte, war nicht die einzige geblieben; auf seinem Ritt nach Süden hatte er viele davon gefunden, gewöhnlich in der Nähe der unsichtba ren Grenzlinien zwischen verfeindeten Baronien. Und Höfe waren nicht das einzige, was von der Kriegsfurie heimgesucht worden war: Einmal war er an einem Gasthof vorbeigeritten, der nur noch aus schwelenden Trümmern bestanden hatte, und an einem Galgengerüst direkt daneben hatten drei verwesende Leichen ge baumelt. Auch einige Felder hatte er gesehen, deren Frucht ver brannt worden war. Andere Felder waren nicht durch Feuer verheert worden, sondern durch die Stiefel von Soldaten, die dar übergetrampelt waren, und ein Feld war offensichtlich erst kurz zuvor Schauplatz einer Schlacht gewesen; es war zu einer Schlammwüste zertrampelt und verbrannt, und überall hatten verbogene Kettenglieder von Panzerhemden und blutdurch tränkte Kleiderfetzen herumgelegen. Alles, was irgendwie von Wert war, jede Waffe, jeder Schild, waren fortgeschafft worden, wobei Garth vermutete, dass das eher das Werk von Plünderern denn das der kämpfenden Heere war.
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Viele Höfe, an denen er vorbeigekommen war, hatten leer gestanden, in Panik verlassen vor den anrückenden Soldaten haufen. Bei einigen hatten die Bauersleute hinter ihren verbarrika dierten Türen gekauert, während bei anderen wiederum die Tü ren weit offen gestanden hatten, offensichtlich weil die Bewohner von der klugen Vermutung ausgegangen waren, dass jeder Widerstand gegen die plündernde Soldateska tödlich sein würde. Garth hatte einen weiten Bogen um alle Dörfer, Städte und Burgen gemacht, desgleichen um jeden Bewaffneten, den er rechtzeitig hatte ausmachen können. Unbewaffnete hatten sich ohnehin nach Einbruch der Dunkelheit nicht draußen sehen lassen. Die wenigen Posten und Patrouillen, denen er, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr rechtzeitig hatte ausweichen können, hatten ihn unbehelligt weiterziehen lassen, sobald Koros durch Knurren oder Zähnefletschen zu verstehen gegeben hatte, dass er bereit war, seinen Herrn zu verteidigen. Nur ganz wenige Male hatte Garth sich gezwungen gesehen, seine Klinge zu zücken oder ein paar ernste Worte zu sprechen. Er war froh, dass er keiner größeren Einheit oder einem weiteren Heckenschützen be gegnet war, der etwas gegen Übermänner hatte. Eramma, durch den Bürgerkrieg in einen Todeskampf gestürzt, hatte er nur noch als einen Flickenteppich aus versengten und ver kohlten Feldern gesehen. Diese letzte Etappe seiner Reise war die schlimmste gewesen. Der Krieg hatte damit angefangen, dass der Baron von Sland den Hohen König in Kholis angegriffen hatte, und wenn auch der Hohe König es nie geschafft hatte, seine Autorität voll wieder herzustellen, hatten ihm doch mehrere Barone dabei geholfen si cherzustellen, dass von Sland keine Bedrohung mehr ausgehen würde. Der aufsässige Baron war nach seiner Niederlage auf dem Schlachtfeld gemeuchelt worden, und sein Nachfolger im Amt
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hatte mit seinen erammanischen Nachbarn Frieden geschlossen — obwohl Garth gerüchteweise gehört hatte, der neue Baron habe Appetit auf die Länder jenseits seiner Westgrenze, außerhalb der Grenzen Erammas. Unglücklicherweise war zu dem Zeitpunkt, als dieser Frieden geschlossen wurde, der größte Teil von Sland nur noch eine verbrannte Wüstenei gewesen. Nachdem nunmehr ein Jahr seither vergangen war, zeigte das Land erste Anzeichen von Erholung, hatte aber längst noch nicht wieder den Stand erreicht, den es vor Ausbruch des Krieges gehabt hatte. Garth war froh ge wesen, als er endlich die bewaldeten Hügel erreicht hatte und dem ständigen Anblick verbrannten und verwüsteten Landes ent ronnen war. Der Blick in das weite Tal von Orgûl, dieses herrliche grüne Panorama, das sich ihm da bot, stand zu der zertrampelten Ödnis Slands in einem Kontrast, wie er schlagender kaum sein konnte. Es war schon seltsam: Wo immer er die Gelegenheit gehabt hatte, unterwegs mit Leuten zu sprechen, hatte er diese Gelegen heit wahrgenommen, und diejenigen, die überhaupt je von Orgûl gehört hatten, hatten auch die Geschichten von dem Drachen ge kannt. Das Tal hatten sie als eine verbrannte Wüste geschildert. Selbst die armen, von Hunger und Seuchen geplagten Leute von Sland hatten sich glücklich geschätzt, nicht in Orgûl leben zu müssen, das ihrer Meinung nach noch schlimmer heimgesucht war als ihr eigenes Land. Sie hatten von verbrannten Feldern gesprochen, von menschenleeren, zerstörten Dörfern, von unzäh ligen Toten. Diese Schilderungen stimmten nicht im geringsten überein mit dem, was Garth jetzt mit eigenen Augen vor sich sah. Er überlegte einen Moment lang, ob er vielleicht irgendwo in der Dunkelheit des Waldes eine falsche Biegung genommen haben und im falschen Tal gelandet sein konnte. Die Sonne stand da, wo er sie
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erwartet hatte, und andere Pfade als die, über die er geritten war, hatte er auch nicht bemerkt. Trotzdem beschloss er, sich bei dem ersten, den er traf, zu erkundigen, ob er wirklich im Tal von Orgûl war. Sollte er sich tatsächlich verirrt haben, dann hatte er keine Ahnung, wo er jetzt war oder wie er von hier aus in das wirkliche Orgûl kommen sollte. Ihm blieb einstweilen kaum etwas anderes übrig, als davon auszugehen, dass er sein Ziel erreicht hatte und dass die Geschichten von den Verheerungen, die der Drache angerichtet haben sollte, nichts als haarsträubende Schauermär chen waren. Er fragte sich, ob der Vergessene König vielleicht mehr gewusst hatte, als er gesagt hatte; er konnte nur hoffen, dass er nicht schon wieder in eines der berüchtigten Verwirrspiele des alten Mannes hineingezogen wurde. Mit einem fast unmerklichen Achselzucken setzte er das Kriegs tier in Bewegung. Der Turm eines kleinen Tempels blitzte golden über den Baumwipfeln vor ihm, kaum mehr als zwei oder drei Meilen voraus; er war sicher, dass er dort ein Dorf finden würde und irgend jemanden, den er nach dem Weg fragen konnte. Wenn aber niemand in dem Tempel oder in dem Dorf war, dann konnte er mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass er in Orgûl war und dass der Drache real und fürchterlich war. Der Ritt hinunter ins Tal war angenehm; der Pfad wand sich sanft bergab und schlängelte sich durch ein letztes kleines Wald stück, bevor er in das flache Farmland mündete, und die Sonne, die durch die Baumwipfel fiel, sprenkelte alles mit honigfarbenen Lichttupfern. Überall sangen und zwitscherten Vögel. Ein Reh wanderte über den Pfad, wandte sich um und sprang erschrocken davon, als es das Kriegstier und seinen Reiter erblickte. Zu seiner Linken hörte Garth das Plätschern eines Bächleins, dessen
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Murmeln ihn hinunter ins Tal begleitete. Einmal sah er einen Fal ken weit über den Wipfeln majestätisch seine Kreise ziehen. Es schien ihm fast unvorstellbar, dass in diesem friedlichen grü nen Tal ein schrecklicher Drache sein Unwesen treiben sollte. Dra chen waren nach landläufiger Meinung die schrecklichsten, zer störungswütigsten Kreaturen auf der ganzen Welt, und der Dra che von Orgûl war nach der übereinstimmenden Meinung aller, die er unterwegs befragt hatte, der schlimmste von allen. Irgend etwas stimmte hier nicht, und sein Argwohn, der König könne ihn einmal mehr in die Irre geführt haben, wuchs von Minute zu Mi nute. Aber nachdem er nun schon so weit gekommen war, wollte er auch nicht so einfach wieder umkehren. Der Pfad, dem er folgte, war an dieser Stelle kaum mehr als eine schmale Trampelspur, aber er war kaum zugewachsen; Garth fragte sich, wer ihn wohl so häufig benutzen mochte. Man hatte ihm gesagt, kein Fremder würde sich in das Tal von Orgûl wagen, und er musste daher annehmen, dass die Orgûlianer diesen Pfad selbst benutzten. Dies wiederum ließ darauf schließen, dass sie immer noch geringfügigen Handel mit der Außenwelt trieben, was indes wiederum nicht zu den Geschichten passte, die er ge hört hatte. Das Volk von Orgûl war ihm als ein schrumpfendes Häuflein von Menschenwesen beschrieben worden, das sich stän dig versteckt hielt und in ständiger Furcht vor dem Ungeheuer lebte, das sein Land beherrschte. Wenn dies wirklich das Tal von Orgûl war, dann waren alle diese Geschichten fürchterlich übertrieben. Die genauen Einzelheiten waren jedoch unwesentlich. Er war gekommen, um dem Drachen ein für allemal den Garaus zu ma chen, ganz gleich, wie groß der Schaden war, den er anrichtete. Schon ein einziges unnötiges Todesopfer war Rechtfertigung genug für diese seine Aufgabe.
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Es kam ihm irgendwie merkwürdig vor, dass der Vergessene König tatsächlich zulassen sollte, dass er sein Leben für eine solch menschenfreundliche Tat aufs Spiel setzte — wenn sie denn wirklich so menschenfreundlich war. Es wuchs immer mehr die Gewissheit in ihm, dass der alte Mann damit irgendein weiterge hendes Ziel verfolgte, dass er irgendeinen geheimen, egoistischen Grund dafür hatte, Garth auf eine solche Mission zu schicken. Ein Knurren seines Kriegstiers riss ihn aus seinen Gedanken; er blickte hinunter auf die flach angelegten Ohren des Tieres, dann hob er den Blick und spähte nach vorn auf den Weg. Eine Gestalt tauchte aus dem Wald auf und winkte ihm verzweifelt zu. Wer immer diese Person war, offensichtlich wollte sie, dass Garth anhielt. Garth sprach seinem Reittier leise ein Wort ins Ohr, und Koros blieb stehen, einen oder zwei Schritte vor dem Mann. Der Übermann musterte den Menschen mit strenger Miene von oben herab. Er wusste sehr wohl, dass seine Erscheinung, beson ders wenn er im Sattel von Koros saß, auf Menschenwesen höchst eindrucksvoll, wenn nicht furchterregend wirkte; er machte sich diesen Umstand gelegentlich zunutze. Der Mann zögerte, lugte schüchtern hinauf zu der riesigen dunklen Gestalt des Übermannes. Er hatte von Übermännern ge hört, aber noch nie leibhaftig einen vor sich gesehen. Die Beschreibungen hatten dieses Wesen, das er jetzt hier vor sich auf ragen sah, nicht annähernd getroffen, aber er war sicher, dass es sich um einen Übermann handeln musste, denn die Existenz eines anderen großen humanoiden Zweibeiners war ihm unbekannt. Koros vermochte er überhaupt nicht einzuordnen; er starrte ihn schlicht an, mit großen staunenden Augen.
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Zwei nichtmenschliche Augenpaare starrten zurück, das eine golden und katzenartig, das andere rot wie Blut und bar jeden Weißes, aber ansonsten fast menschlich. Er selbst maß etwas mehr als fünf Fuß und war dünn; den Über mann schätzte er auf fast sieben Fuß, wenn er sich ihn aufgerichtet und auf dem Boden stehend vorstellte. Das tat er freilich nicht, denn er saß auf einem riesigen furchterregenden Geschöpf, das schwarz war wie das Ende einer Höhle in der Nacht und eine ge wisse Ähnlichkeit mit einem seltsam proportionierten lang beinigen Panther hatte. Der Mann hatte noch nie einen Panther von achtzehn Fuß Länge und fünf Fuß Schulterhöhe gesehen; nicht einmal die Gruselmär chen, die er als Kind gehört hatte, hatten je ein solches Untier erwähnt. Das Tier schaute auf ihn herab, und er war nicht ge wohnt, dass Tiere auf ihn herabschauten. Sein Reiter, ein nasen loser, dunkelhäutiger, schwarzhaariger und bartloser Hüne, ragte über ihm auf, als wäre er nicht größer als ein Kleinkind im Krab belalter. Gleichwohl gelang es ihm schließlich, sich so weit zu sammenzureißen, dass er seine Botschaft hinausstammeln konnte. »Kehrt zurück, Herr! Ich flehe Euch an, wagt Euch nicht weiter vor!« Garth starrte ihn für einen Moment prüfend an, ehe er frag te: »Warum nicht?« Noch mehr eingeschüchtert als ohnehin schon durch den dröhnenden Bass des Riesen, brauchte der Mann noch einmal einen Augenblick, um sich zu sammeln, und brachte schließlich heiser heraus: »Der Drache, Herr! Der Drache ist wieder aufgewacht, nachdem er einen Monat geschlafen hat, und er ist sehr hungrig! Ich befürchte, dass dieses Mal das ganze Tal zum Untergang verdammt ist!« Nach einer kurzen Kunstpause, die dazu gedacht war, den dramatischen Effekt zu steigern, fragte Garth: »Dann bin ich also hier in Orgûl?« Der Mann hatte gesagt, der Drache habe einen Monat lang geschlafen; konnte das die Er
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klärung für üppiggrüne Unversehrtheit des Tales sein? Nein, ent schied er, das konnte nicht sein. Er war durch Gebiete von Eramma geritten, die sich selbst nach einem Jahr noch nicht wieder von den Wunden erholt hatten, die ihnen die Kriege ge schlagen hatten; wie sollten dann die noch viel schlimmeren Verheerungen, die ein Drache anrichtete, in nur einem Monat verschwinden können? »Ja, Herr«, bestätigte der Mann, »dies ist das verfluchte Tal von Orgûl, die Heimat des großen Drachen.« »Ich bin gekommen, diese lästige Bestie zu töten«, bemerkte Garth wie beiläufig. »Oh, mein Herr, das vermag niemand! Seine Haut ist wie ein Panzer aus Stahl, seine Zähne sind wie Schwerter, seine Krallen sind wie Sensen! Er fliegt schneller als der schnellste Falke, und die Flammen, die aus seinem Rachen schlagen, sind heißer als je des Schmiedefeuer!« Garth sah, dass der Mann zitterte, aber er vermochte den Grund dafür nicht zu erraten. Er vermutete, dass es aus Furcht vor dem Drachen war – oder vor Koros oder vor ihm, dem Übermann. Vielleicht steckte auch eine ganz andere Gemütsbewegung da hinter. Selbst nachdem er nun drei Jahre unter den Menschen wesen gelebt hatte, verstand er ihre Gefühlswelt noch immer nicht voll und ganz, und er war sich dessen bewusst. »Du glaubst, mir damit angst machen zu können, kleiner Mann«, erwiderte er. »Doch wisse, dass ich Garth bin, Prinz von Ordunin, Herr der Übermänner der Nordwüste. Keine Bestie, und sei sie noch so schrecklich, kann mich bestehen.« Er wusste, dass das geflunkert war; so würde er sich zum Beispiel hüten, sich mit einem hungrigen Kriegstier anzulegen, und auch Drachen konn ten durchaus ein paar Nummern zu groß für ihn sein. Aber schließlich war er ein Krieger, und von einem solchen erwartete -40-
man ein bisschen Prahlerei. Außerdem entbehrte seine Be hauptung nicht einer gewissen Grundlage: Hätte er das Schwert des Bheleu behalten und die Rolle des Werkzeugs des Gottes der Zerstörung akzeptiert, dann hätte er es leicht mit jedem Drachen der Welt aufnehmen können. Aber wie die Dinge nun einmal lagen, hatte er das magische Schwert nicht mehr, sondern bloß ein gewöhnliches Breitschwert aus gutem Stahl; aber auch damit glaubte er es mit dem Drachen aufnehmen zu können. Der Mann ließ indes nicht locker in seinem Bemühen, ihn davon abzubringen: »Bitte, Herr, ich beschwöre Euch, kehrt um! Dieser Drache ist keine gewöhnliche Bestie!« Seine Verzweiflung war echt, und Garth verbarg seine Verwun derung . Warum, fragte er sich, war dieser Bursche so besorgt? Selbst wenn er felsenfest davon überzeugt war, dass der Drache ihn und Koros töten würde, warum regte ihn das so auf? Er hatte seine Pflicht getan und ihn gewarnt, hatte alles versucht, die Kata strophe zu verhindern; warum ging ihm der Gedanke an den Tod eines völlig Fremden, der noch dazu ein Übermann war, so nahe? Nach Garths Erfahrung war es Menschen in der Regel ziemlich gleichgültig, was mit Übermenschen passierte. »Hast du Angst, ich könnte den Drachen noch mehr erzürnen?« fragte er. »Ist das der Grund, warum du mich unbedingt zur Um kehr bringen willst?« »Aber nein, mein Herr! Mir liegt einzig Euer Wohlergehen am Herzen! Schon andere Helden kamen hierher, den Drachen zu tö ten, und sie alle starben unter den Flammen und Klauen der Bes tie.« Garth schüttelte den Kopf. Das Verhalten des Mannes war ihm unbegreiflich. »Tritt zur Seite, kleiner Mann«, sagte er, »auf dass Koros dich nicht zertrete.« Er gab Koros ein Zeichen, sich in Bewe -41-
gung zu setzen, und ritt ungeachtet der Proteste und Warnungen weiter, die der Mann ihm hinterherrief. Wenig später – die Sonne stand immer noch tief im Osten – ritt Garth in das Dorf ein, das sich, wie er vermutet hatte, um den Tempel drängte, dessen Turm er vom Hügel aus gesehen hatte. Der Tempel selbst war ein offener Pavillon, umringt von Säulen, die sein schneckenförmig gewundenes Kegeldach trugen. Seine Vorderfront blickte auf einen kleinen Platz, von dem aus fünf Stra ßen in alle Richtungen abgingen. Jede dieser Straßen war von kleinen, sauberen, strohgedeckten Häuschen gesäumt, und ein et was größeres Gebäude, dem Anschein nach ein Gasthaus, nahm eine Ecke des Platzes ein. Der Platz war mit Steinmosaiken gepflastert, und in seiner Mitte plätscherte ein kleiner Springbrunnen. Als Garths Kriegstier sich dem Mosaikboden näherte, ließ eine sanfte Brise die Minia turglöckchen erklingen, die von der Dachtraufe des Tempels hin gen; ihr leiser feiner Klang vermengte sich mit dem Plätschern des Springbrunnens und dem sanften tappenden Geräusch von wei chen Sohlen. Die Dorfbewohner blieben stehen und starrten Garth entgegen, und das Geräusch der Schritte verstummte schlagartig. Nachdem ein paar Schrecksekunden vergangen waren, drehte sich einer um und rannte zu dem Gasthaus, und binnen Sekunden waren Platz und Straßen wie leergefegt. Garth fand sich allein in der Mitte des Platzes wieder, ohne die geringste Ahnung, welche der fünf Straßen er nehmen sollte. Es war Zeit, entschied er, sich nach dem Weg zu erkundigen. Und eine Mahlzeit für sich und sein Kriegstier zu beschaffen, wäre jetzt auch nicht das Schlechteste, fand er. Koros löschte bereits seinen Durst an dem Springbrunnen, was ihn daran erinnerte, dass auch er sehr durstig war.
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Er saß ab und ging zu dem Springbrunnen, wo er seine Hände mit Wasser füllte, und trank. Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn innehalten; er ließ den Rest des Wassers zurückrinnen und wirbelte herum; seine Hand schnellte instinktiv zum Schwertgriff. Die Tür des Gasthauses hatte sich wieder geöffnet, und mehrere Leute kamen heraus. Ein weißhaariger Mann löste sich aus der Gruppe und trat vor ihn. »Seid gegrüßt, Herr Übermann!« »Sei gegrüßt, Mann.« Dieser Mensch, dachte Garth, hatte im Gegensatz zu dem, den er auf dem Waldweg getroffen hatte, wenigstens den Anstand, ihn höflich zu begrüßen. »Darf ich mir die Frage erlauben, Herr, was Euch in unser be scheidenes Dorf führt?« Seine Art war schon fast schmeichlerisch. »Ich bin gekommen, euren Drachen zu töten, euch von dieser Plage zu befreien«, erwiderte Garth, bemüht, seiner Stimme einen saloppen Klang zu verleihen. Der Weißhaarige zögerte einen Moment lang, dann sagte er: »Mein Herr, haltet uns nicht für undankbar, aber wir legen Euch dringend nahe, umzukehren. Wir möchten nicht erleben, wie ein weiterer großer Mann ... eh, ich meine, ein weiterer großer Krieger wie Ihr sein Leben im Kampf gegen dieses Ungeheuer verliert. Schon zu viele sind elendiglich dabei umgekommen.« »Ich habe nicht die Absicht zu sterben, Mann.« »Glaubt Ihr, auch nur eines der anderen Opfer des Drachen hatte diese Absicht? Bitte, Herr, kehrt um! Ihr könnt nichts für uns tun. Ihr würdet nur Euer Leben wegwerfen.« Allmählich ärgerte Garth dieser offensichtliche Mangel an Ver trauen in seine Tapferkeit. »Mein Leben gehört mir, und ich kann es wegwerfen, wann ich will«, erwiderte er. »Ich bin gekommen, -43-
um gegen euren Drachen zu kämpfen, und ich lasse mich nicht so leicht abwimmeln. Worte schrecken mich nicht.« Der Weißhaarige verneigte sich, zum Zeichen seines Respekts vor Garths Meinung, und sagte dann: »Wir haben nicht die Ab sicht, Euch einen Schrecken einzujagen, Herr, sondern Euch einen Rat zu geben. Es wäre töricht, würfet Ihr Euer Leben im Kampf gegen den Lindwurm fort.« Jetzt wurde es Garth, der sich ohnehin schon beherrschen muss te, wirklich zu bunt. »Ihr seid Toren!« schnaubte er erbost. »Eine solche Chance, endlich von dieser Bedrohung befreit zu werden, so auszuschlagen! Ich bin Garth, Prinz von Ordunin, Herr der Übermänner der Nordwüste, der den Weißen Tod über die schwarze Stadt Dûsarra brachte, der das Schwert eines Gottes stahl, der gegen die Furien des Todes selbst gefochten hat! Ich bin hierhergekommen, um den Drachen zu töten, und ich lasse mich von niemandem von diesem meinem Vorhaben abbringen!« Als er mit seinem Donnerwetter fertig war, merkte er, dass er, ohne es zu wollen, sein Schwert gezückt hatte und damit in der Luft herum fuchtelte. Die kleine Gruppe hatte sich ängstlich aneinandergedrängt und war unwillkürlich ein paar Schritte zurückgewichen, Richtung Gasthaus. Der Weißhaarige wandte sich hilfesuchend zu seinen Gefährten um, und als niemand etwas sagte, zuckte er die Achseln und schwieg. Garth, dessen Zorn jetzt wieder verraucht war, steckte das Schwert zurück in die Scheide und fügte hinzu: »Aber jetzt habe ich erst einmal Hunger. Ich habe schon eine ganze Weile nichts mehr gegessen, und ich möchte dem Tod lieber nicht mit leerem Magen entgegentreten. Ist das Haus, aus dem ihr gekommen seid, ein Gasthof, wo ein Übermann seinen leeren Magen füllen kann?« »Ja«, sagte der Weißhaarige widerstrebend. -44-
Der Gasthof trug den Namen Schwert und Kelch, auch wenn sein Aushängeschild schon Jahre zuvor heruntergefallen und nicht mehr ersetzt worden war. Garth ließ für sein Kriegstier eine Ziege nach draußen bringen, während er selbst sich an einer deftigen Mahlzeit aus Rindsbraten, Möhren und Bier gütlich tat. Während des Essens wurde er umringt von Dorfbewohnern, die schweigend und wachsam jede seiner Bewegungen beobachteten. Standhaft ignorierte er ihre gaffenden, misstrauischen Blicke und ließ es sich angelegen sein, von ihrem Kommen und Gehen keinerlei Notiz zu nehmen. Einmal hielt er mitten in seiner Mahlzeit inne, als er draußen auf dem Platz Schreie von Frauen hörte, aber ein rascher Blick durch die Tür beruhigte ihn gleich wieder. Die Schreie galten den Essge wohnheiten seines Kriegstiers. Koros hatte die Ziege mit einem einzigen blitzschnellen Tatzenhieb getötet und sofort mit Haut, Haar, Hufen und Hörnern verschlungen. Letztere sowie die grö ßeren Knochen spie er jedoch gleich nach Beendigung seiner Mahlzeit wieder aus. Die Dörfler, die zufällig zugegen gewesen waren, hatten angesichts der Schnelligkeit, mit der die Riesenkatze dabei zu Werke ging, vor Entsetzen und Schrecken aufgeschrien. Als Garth zu Ende gegessen hatte, stand er auf, warf eine Gold münze auf den Tisch und ging hinaus auf den Platz. Der Ring aus Dorfbewohnern öffnete sich vor ihm, schloss sich hinter ihm wieder und löste sich zu einem losen Haufen auf, der ihm nach draußen folgte – alle mit Ausnahme des Wirtes. Er hatte nicht da mit gerechnet, dass der Fremde seine Zeche bezahlte, und brauch te einen Moment, um die Münze verschwinden zu lassen, bevor auch er sich nach draußen begab. Ein halbes Dutzend Dorfbewohner schaute mit angewiderter Faszination zu, wie Koros sich das Blut von den Tatzen leckte. Sie
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hielten sich in gebührendem Abstand. Das gefiel Garth; es zeigte, dass sie Respekt vor dem Kriegstier hatten. »Wesen Ziege war das?« fragte er laut. Eine Frau hob zaghaft die Hand. Er warf ihr eine Goldmünze zu; sie fing sie geschickt auf und ließ sie in ihrer Tasche verschwinden. Ein Junge an ihrer Seite flüsterte etwas; sie brachte ihn mit einem scharfen »Psst!« zum Schweigen. Garth sah, wie alle – Männer wie Frauen – gebannt auf ihn, das Kriegstier, das Schwert an seiner Hüfte und die Streitaxt starrten, die an Koros‘ Sattel hing. Er blickte suchend durch die Menge, aber der Weißhaarige war nirgends zu sehen. Er pickte sich aufs Geratewohl einen der Männer heraus und sagte zu ihm: »Ich entnehme eurem Verhal ten, dass Krieger ein seltener Anblick für euch sind und Über männer offenbar ein noch seltenerer.« Der Mann starrte ihn mit offenem Mund an. Er brauchte eine ganze Weile, bis er fähig war zu antworten. »Ja, Herr. Wir sehen selten Krieger hier. Der Drache schreckt sie ab. Und Übermänner sehen wir überhaupt nie.« »Ich hätte gedacht, dass viele hierherkommen, um ihre Kraft und ihr Geschick an dem Drachen zu erproben.« Sein unglücklicher Gesprächspartner wider Willen spähte nach links und nach rechts, sah aber kein Anzeichen dafür, dass einer der anderen gewillt war, die Last zu antworten auf sich zu nehmen. »Nein, Herr«, antwortete er schließlich, »nicht mehr. Vor langer, langer Zeit kamen gelegentlich noch welche, aber der Drache hat sie alle getötet, und nach einer Weile kam niemand mehr. Und es waren nie Übermänner unter ihnen, nur die Männer des Barons von Sland oder umherstreifende Söldner und Abenteurer.«
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»Niemand kam mehr?« fagte Garth und ermutigte ihn fortzufah ren. »Nein, Herr. Schließlich ist keine Belohnung ausgesetzt, gibt es keinen großen Preis zu erringen.« »Nur die vage Aussicht auf Ruhm und Ehre und das Risiko eines schnellen Todes, und all dies ist sicherlich anderswo leichter zu finden.« Garth nickte, dann schwang er sich in den Sattel. »Vergebt mir, Herr«, sagte der Mann, seinen ganzen Mut zu sammennehmend, »aber warum ... eh, warum seid Ihr hierherge kommen? Warum gebt Ihr Euch mit unserem verfluchten, armse ligen Tal ab?« »Euer Tal macht auf mich keinen armseligen Eindruck, Mann. Ich bin aus Langeweile hierhergekommen, Leute von Orgûl, aus reiner Langeweile; ich wurde eines Lebens in Ruhe und Beschau lichkeit überdrüssig und entschloss mich aus einer puren Laune her aus, hierherzukommen und denen zu helfen, die von dem Drachen beherrscht und unterdrückt werden. Ich lebe seit mehr als einem Jahrhundert und habe schon in vielen Ländern Abenteu er bestanden, aber noch nie haben die, denen zu helfen ich gekom men war, sich solche Mühe gegeben, mich wieder loszuwerden.« »Aber, Herr!« protestierte einer. »Uns geht es nur darum, einen weiteren tapferen Helden vor dem sicheren ...« »Genug, Mann!« fuhr Garth ihm dazwischen. »Sagt mir jetzt, welcher Weg mich am ehesten zu diesem scheußlichen Ungeheuer führt!« Widerstrebend zeigte der Mann auf den Weg, der nach Westen führte, und mit einem knappen Kommando, leise in das dreie ckige Ohr des Kriegstiers geflüstert, setzte Garth Koros in Trab.
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Kapitel 3 Der Weg, den er von dem Platz aus nahm, schien durch die Ge schäftsstraße des Dorfes zu führen; die Häuser auf beiden Seiten der Straße beherbergten Läden, hinter deren Butzenscheibenfens tern feine Teppiche und Webwaren lagen, kunstvolle Schnitzerei en oder glänzende Kessel und Töpfe und viele andere Waren. Aus einer Schmiedeesse stieg eine Rauchfahne in den blauen Himmel, aber der Schmied war nicht bei der Arbeit, als der Übermann vor überritt. Obwohl die Leute, denen er begegnete, vor ihm beiseite wichen und den Blick ängstlich zu Boden senkten, genoss er den Ritt. Dieses Dorf, so schien es ihm, hätte ihm schon eher als Wohnsitz zugesagt – wenn er denn schon unter Menschen leben musste – als die Ödnis des Nordens. Skelleth mochte zwar aufblühen, aber es war und blieb trotzdem kalt und grau und dreckig, ein unwirtli ches Nest, das sich auf einer platten, unfruchtbaren Ebene gegen die langen harten Winter duckte; dieses Dorf hingegen war licht und heiter und ging ohne Begrenzung in das saftige Grün über, das es in Form von Wäldern, Feldern, Matten und Auen umgab, anstatt wie Skelleth abrupt an einer unansehnlichen, halb verfallenen Stadtmauer zu enden. Die Sonne schien ihm warm auf den Rücken, die Luft war schwanger vom Duft frischen üppigen Grüns. Garth vermochte kaum zu glauben, dass diese Idylle die Heimat eines so schrecklichen Drachens war. Erneut rätselte er, warum die Orgûlianer so erpicht darauf waren, dass er wieder umkehrte. Während er so dahinritt und seinen Blick schweifen ließ, fragte er sich, ob in diesem wunderschönen Tal wohl jemals Übermänner gewohnt haben mochten, damals, in jenen längst Legende ge
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wordenen Tagen vor den Rassenkriegen, bevor sein Volk in die karge, unfruchtbare Nordwüste getrieben wurde. Jahr hundertelang hatten die Übermenschen der Nordwüste geglaubt, die einzigen zu sein, die jene blutigen Kriege überlebt hatten, bis Garth selbst vor nicht allzu langer Zeit die Entdeckung gemacht hatte, dass es noch andere Übermenschen gab, welche an der Yprischen Küste lebten, in einer Region, die kaum minder trostlos und öde war als die Nordwüste. Konnte es sein, dass vielleicht noch weitere über die Welt verstreut lebten? Vielleicht gar in den Hügel rings um Orgûl? Eine Vorstellung, die Garth gefiel; dieses prächtige Land hätte er gern zur Heimat gehabt, und die Vorstel lung, wie es wäre, wenn dieses schöne Fleckchen Erde nicht ganz an Menschenwesen verschwendet wäre, gefiel ihm. Seine Träumereien fanden ein jähes Ende, als er aus dem Augen winkel eine plötzliche Bewegung in einem der Läden wahrnahm; er wandte den Kopf, um zu sehen, was es war, das seine Aufmerk samkeit erregt hatte. Das letzte Gebäude auf der linken Straßenseite beherbergte ein Geschäft, dessen Fenster voll mit kreisenden, surrenden Spieluh ren und anderen aufziehbaren Spielsachen war. Fasziniert hielt Garth sein Kriegstier an, schwang sich aus dem Sattel und ging zum Schaufenster, um sich die Sachen aus der Nähe anzuschauen. Schließlich, sagte er sich, hatte er es nicht eilig; der Drachen trieb sein Unwesen angeblich schon seit Jahrzehnten, und da kam es auf ein paar Minuten mehr oder weniger auch nicht mehr an. Die Auslage des Ladens enthielt Dutzende von wunderschönen kunstvollen Spielsachen, alle voll mit Zahnrädern und Federn, die verblüffende, entzückende Verrichtungen konnten. Ein ge panzerter Krieger mit Kopf und Händen aus Porzellan schwang in weitausholenden Streichen ein Miniaturschwert, dessen Spitze je desmal um Haaresbreite den vornübergebeugten Rücken eines
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mechanischen Schmiedes verfehlte, der mit einem steinernen Hammer Funken aus einer halbfertigen stählernen Harke schlug; der Kopf des Hammers war offenbar aus Feuerstein – eine kluge Methode, Funken zu erzeugen, die den Funken, die ein echter Schmied bei seiner Arbeit erzeugte, verblüffend ähnelten. Daneben stand ein Spielzeughund, der mit dem Schwanz wedelte und dessen Zunge sich so bewegte, als hechelte er. Neben ihm rührte eine Gipshexe in einem winzigen Kupferkessel. An einer anderen Stelle drehten sich Tänzer im Kreise, vollführten Akroba ten ihre Kunststücke, liefen Tiere hin und her, in einem schmu cken Reigen aus Kupfer und Messing und Silber und Keramik. Ein paar der Geräte waren nicht nach Menschen oder Tieren geformt, sondern Phantasiegebilde mit Zahngetrieben und Zeigern, die sich in verwirrendem Spiel miteinander und gegeneinander be wegten. Noch nie hatte Garth so feine, kunstvolle Maschinen gesehen; Nordländer, ganz gleich, ob die Menschen von Skelleth oder die Übermenschen von Ordunin, hatten weder Zeit noch Sinn für sol che liebenswerten Spielereien. Uhrwerke brauchte man für Schiffe, wo es auf exaktes Navigieren ankam, fanden aber sonst nur selten Verwendung. Garth konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er die schö nen Spielsachen befrachtete; er hoffte, dass ihn keiner dabei beob achtete: Das passte nicht zu dem Erscheinungsbild des grimmigen unmenschlichen Kriegers, das er zur Schau gestellt hatte. Und wenn, dann war es auch nicht so tragisch; Menschen hatten in der Regel große Schwierigkeiten, die Mimik von Übermännern richtig zu interpretieren: die hohlen Wangen, die dünnen Lippen und die nasenlosen schlitzförmigen Nüstern lenkten sie von den grund legenden Ähnlichkeiten ab. Die beiden Arten reagierten anders auf eine ganze Reihe von Situationen und Gefühlen, was die Verwirrung noch vergrößerte. Dem Uneingeweihten wäre Garths -50-
fröhliches Lächeln wahrscheinlich eher wie eine grausige Gri masse vorgekommen, seine Freude an den kunstvollen Spielsa chen und Maschinen wie Ekel oder Abscheu. Das Schaufenster war nicht erleuchtet, und Garths eigener Schatten verdunkelte es zusätzlich; er kniff die Augen zusammen, um auch die Formen zu erkennen, die sich im Hintergrund der Auslage bewegten. Ein Messinghahn krähte und schlug dazu mit den Flügeln, und wieder konnte sich der Übermann ein be wunderndes Staunen nicht verkneifen. »Möchtet Ihr etwas kaufen, mein Herr?« Garth wandte den Kopf in die Richtung, aus der die angenehm klingende Stimme gekommen war, und schaute in das Gesicht eines kleinen weißhaarigen Mannes, der in der Tür des Ladens stand und in das helle Tageslicht blinzelte. Er lächelte freundlich und entblößte sein fast ganz aus Goldzähnen bestehendes Gebiss. Der Übermann starrte den Mann einen Moment lang an, und dann wanderte sein Blick wieder auf das Schaufenster, in dem die Klinge des Kriegers einmal mehr haarscharf den breiten Rücken des Schmieds verfehlte, der nach wie vor seine Funken schlug, während der hechelnde Hund mit wedelndem Schwanz lustig hin und her hüpfte und die Gipshexe mit einem schaurigen Grinsen in ihrem Kupferkessel rührte. »Ich wäre nicht abgeneigt«, sagte Garth schließlich. »Sind die Stücke teuer?« »Oh, nein«, erwiderte der kleine Mann. »Ich brauche nicht viel zum Leben. Ich habe eine Art Rente — ich denke, man könnte es eine Rente nennen. Jedenfalls genug, um zurechtzukommen. Aber es ist so langweilig! Also mache ich diese Spielsachen, aus reinem Zeitvertreib und weil es mir Spaß macht. Den Kindern scheinen sie zu gefallen. Habt Ihr Kinder, mein Herr?«
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»Fünf; zwei davon Söhne. Aber sie sind schon groß, alt genug, um selbst eine Familie zu gründen.« »Also habt Ihr vielleicht sogar schon Enkelkinder?« »Nicht dass ich wüsste; ich bin längere Zeit nicht mehr daheim gewesen.« Er lächelte dabei ein wenig schief. »Schade, schade.« Der alte Mann schüttelte betrübt den Kopf, als wäre es die größte Tragödie seines Lebens, dass dieser stattliche Übermann keine Enkelkinder hatte und schon so lange nicht mehr bei den Seinen gewesen war. Garths Lächeln verlor ein wenig von seiner Bitterkeit; die Art des Mannes gefiel ihm. »Sagtet Ihr, Ihr fändet dieses Dorf langwei lig? Und was ist mit dem Drachen? Bringt er Euch nicht genug Aufregung und Abwechslung?« »Ach, der Drache ...« Der Mann zuckte die Achseln, als wäre der Drache für ihn etwas kaum Bemerkenswertes. »Ich meinte damit, dass das Nichtstun für mich persönlich langweilig war, nicht dass es in meinem Leben nicht schon genügend Aufregung gegeben hätte. Ich halte gern meine Hände in Bewegung, wenn der Drache nicht in der Nähe ist, meine Hände und meinen Geist.« Er streckte seine Hände vor und wackelte mit den Fingern, um zu zeigen, dass sie immer noch flink und beweglich waren. Garth beschloss, dass er diesen Burschen mochte. »Habt Ihr selbst denn Kinder?« fragte er. »Oh, die sind alle schon lange erwachsen, Herr, wie Eure eigenen; sogar meine Enkelkinder sind zum Teil schon verhei ratet.« Er wandte den Blick auf das Schaufenster. »Sagt, welches gefällt Euch am besten?« Garth beugte sich vor und betrachtete mit prüfendem Blick die Kollektion; sein Blick wanderte über Schiffe und Pferde, Ritter und Burgen, Frauen und Spieldosen. Das Uhrwerk des Schwert
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kämpfers war abgelaufen; das Schwert war mitten im Streich in der Luft erstarrt. »Schwer zu sagen«, antwortete Garth. »Ich habe noch nicht alle in Bewegung gesehen. Und ein paar sind so plaziert, dass sie nicht voll zur Geltung kommen in dem dunklen Fenster.« »Dann kommt doch herein, und ich führe Euch die vor, die Euch besonders interessieren.« Der Spielzeugmacher lächelte und machte eine einladende Geste, und Garth folgte ihm ins Innere des Ladens. Drinnen war es ziemlich dunkel, und es roch streng nach Metall und Öl und Kräutern. Ein schmaler Gang führte zwischen zwei großen Tischen hindurch, auf denen die Spielsachen, die man von draußen durch das Fenster sehen konnte, aufgebaut waren. Da hinter befand sich ein Raum mit einem Kamin, einem Ofen, einem Tisch, ein paar Stühlen und einer Werkbank. Letztere war vollge packt mit Zahnrädern, Kupferstücken- und spänen, Meißeln und Scheren und Messern, Pulvern und Pasten, Krügen und Fläsch chen, einer Töpferscheibe und einer pedalgetriebenen Drehbank. Am hinteren Ende des Zimmers stand eine weitere Tür angelehnt. Garth ließ seinen Blick über die Auslagen schweifen; Dutzende von Spielzeugen gab es hier, vielleicht sogar mehr als hundert. Der Spielzeugmacher zog eine Spinne auf, die im Kreis herum tanzte, während der Kochlöffel der bösen Hexe mit einem leisen Knirschen stehenblieb. Es war ein wahres Labyrinth aus Armen, Zeigern, Beinen und Rädern; Gipsköpfe starrten hinter den Wachspapierfenstern hölzerner Phantasieburgen hervor, auf deren Zinnen behelmte Ritter ihre Armbrüste spannten oder ihre blitzenden Minia turschwerter schwangen; ein Burgfräulein mit silbernem Engels haar winkte seinem scheidenden Galan, während es sich mit der anderen Hand eine imaginäre Träne aus dem Auge wischte. Alles -53-
war von solch verblüffender Meisterschaft, von solch liebevoller Detailtreue, dass Garth es schier unmöglich fand, sich für eines der wunderschönen Stücke zu entscheiden. Er ließ den Blick aus giebig umherschweifen, und schließlich ertappte er sich dabei, wie er auf einen glänzenden Gegenstand aus Kupfer starrte, der in der äußersten Ecke eines der beiden Tische stand. »Was ist das?« fragte er und zeigte darauf. Der Gegenstand hob sich von den anderen durch seine glatte gewölbte Oberfläche ab, die nicht, wie die anderen, von schwingenden Armen oder kreisenden Zahnrädern unterbrochen war. Der alte Mann folgte seinem ausgestreckten Arm und holte den fraglichen Gegenstand an das Licht, das durch das Schaufenster hereinfiel. Es war eine kupferne Seemöwe; zwei Augen aus Rauch quarz starrten aus ihrem spitz zulaufenden metallenen Kopf, und ihre Flügel waren so blank poliert, dass man sich darin spiegeln konnte. »Ah, mein Herr«, sagte der alte Mann, »Ihr habt einen ausgezeichneten Geschmack.« »Was kann sie?« fragte Garth. »Nun, was sollte ein Vogel schon anderes können als fliegen?« Er zog einen silbernen Schlüssel aus der Tasche, steckte ihn in eine Öffnung im Rücken des mechanischen Vogels und bedeutete Garth, ihm nach draußen zu folgen. »Ich will es Euch vorführen.« Der Übermann folgte ihm nach draußen und sah zu, wie er das Uhrwerk aufzog. Mit einem leisen Klicken blieb der Schlüssel stehen; der alte Mann zog ihn heraus und warf mit einem stolzen Lächeln die Möwe in die Luft. Garth hob instinktiv die Hand, um sie aufzufangen, um ihre sanft geschwungenen glänzenden Flügel vor Kratzern oder Dellen zu bewahren – aber sie fiel nicht in seine wartenden Hände. Statt dessen öffneten sich ihre metallenen Flügel, schlugen ein, zwei Mal, ganz leicht, mit der flüssigen, spielerischen Anmut einer -54-
lebendigen Seemöwe, und dann schoss sie pfeilschnell davon, um in einem weiten, schwungvollen Bogen emporzugleiten. Sekunden später tauchte sie wieder über ihnen auf und kreiste über ihnen. Garth starrte gebannt nach oben; vor Verblüffung vergaß er, den Mund zuzumachen. Mehrere Minuten lang kreiste die Möwe über ihren Köpfen; ihr metallenes Gefieder glänzte golden in der Morgensonne. Dann und wann machte sie ein paar Flügelschläge, um an Höhe zu ge winnen. Dann, ganz allmählich, glitt sie tiefer und tiefer, bis der Spielzeugmacher schließlich mit einem wehmütigen Lächeln die Hand ausstreckte und sie auffing. Garth hörte ein Klicken und ein letztes leises Surren, und dann war die Möwe wieder still. Garth schaute den Mann mit großer Hochachtung an. »Sie ist wunderschön«, sagte er. »Ich wusste gar nicht, dass man so etwas aus Metall erschaffen kann.« Der Spielzeugmacher senkte verlegen den Blick. »Nun, ehrlich gesagt«, gestand er, »kann man das auch nicht. Es ist ein bisschen Schwindel dabei. Es ist nicht bloß ein Uhrwerk.« »Kein Uhrwerk?« »Nein. Ich benutze Magie.« »Oh«, sagte Garth mit wissender Miene. Er hatte Erfahrungen mit Magie gemacht, mehr, als ihm lieb war. Wenigstens, dachte er, war diese Magie hier harmlos. »Ich habe sie nicht von Anfang an verwendet – zumindest nicht bewusst. Zuerst, als Lehrling, habe ich nur Uhrwerke benutzt, aber schon beim ersten Mal merkte ich, dass ich Maschinen bauen konnte, die kein anderer außer mir verstand – Maschinen, die liefen, obwohl sie eigentlich nicht hätten laufen dürfen. Selbst wenn ich meine Uhrwerke und Spielsachen auf ganz normale und -55-
übliche Weise baute, liefen sie stets viel länger und ruhiger als die der anderen. Ich wurde darin immer besser, bis ich schließlich Dinge baute, die nur mit einem Uhrwerkantrieb schlechterdings gar nicht funktionieren konnten. Ich hatte damals nicht die geringste Ahnung, wie ich das anstellte; es war einfach da, so wie das Atmen oder etwas anderes, das man tut, ohne darüber nach zudenken. Als mir dämmerte, was da vor sich ging, widmete ich mich für eine kurze Zeit dem Studium der Hexerei; doch obgleich mein Lehrer mir echtes Talent bescheinigte, konnte ich mich damit nicht anfreunden. Es schien mir zu gefährlich, zu unsicher. Ich wandte mich wieder meinem angestammten Metier zu, dem Bau en von Uhrwerken und Maschinen, doch weiß ich heute ein wenig mehr über das, was ich tue. Ich arbeite jetzt sogar bewusst mit Zauberformeln, wobei ich sie immer noch mehr selber erfinde, als dass ich mich an die alten Formeln hielte. Wie ich schon sagte, es fliegt mir irgendwie zu. Ein Bursche, der im letzten Jahr hier durchkam, ein Zauberer namens Karag, der auf der Flucht vor dem Baron von Sland war, sagte mir, es sei nichts, dessentwegen ich mir Sorgen zu machen bräuchte. Er sagte, es gäbe eine ganze Reihe von Leuten, die kleine magische Fähigkeiten und Talente besäßen; wahrscheinlich war einer meiner Ahnen aus dem Zwölf ten Zeitalter, als Magie noch weit verbreitet war, eine Art Zaube rer, und ich habe ein wenig von seinem Talent geerbt, ohne es zu wissen.« »Ich wusste nicht, dass so etwas möglich ist«, sagte Garth. »Ich auch nicht, als ich jung war, aber es scheint, dass es tat sächlich auf diese Weise funktioniert. Diese Möwe würde nicht fliegen, wenn jemand anderer sie gebaut hätte. Ich habe anderen Kesselflickern und Handwerkern gezeigt, wie man fliegende Spielsachen baut, und sie haben meine Anweisungen exakt be folgt; dennoch fliegen ihre nicht, sondern fallen einfach herunter.«
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Garth streckte die Hand aus, nahm die Möwe vorsichtig aus der Hand des Spielzeugmachers und studierte sie eingehend von allen Seiten. »Zauberei oder nicht, es ist ein wunderschönes Stück«, sag te er. »Ja, das ist es«, pflichtete ihm der alte Mann bei. »Wollt Ihr es verkaufen?« »Natürlich; ich habe keine Verwendung dafür. Außerdem habe ich genug andere, und ich kann jederzeit ein neues bauen. Möch tet Ihr es haben?« »Ja, ich denke schon; es ist ein prächtiges Stück, ganz gleich, ob mit Uhrwerk oder mit Magie. Was ist Euer Preis?« Der Mann nannte eine Zahl. Garth lehnte höflich ab. Nach kurz em Feilschen jedoch einigten sie sich auf einen für beide annehm baren Preis. »Werdet Ihr die Möwe jetzt mitnehmen?« fragte der Spielzeug macher. »Nein«, antwortete Garth und reichte ihm das glänzende Wunderwerk zurück. »Ich glaube nicht. Ich bin derzeit auf der Su che nach dem Drachen; wenn ich die Möwe mitnehme, dann fürchte ich, dass sie bei dem Kampf entzweigehen könnte. Ich werde auf dem Rückweg hier vorbeikommen und sie zu dem ver einbarten Preis kaufen, wenn Euch das recht ist.« Nach einer Pause fügte er hinzu: »Vorausgesetzt natürlich, dass ich zurück komme; wenn man den Geschichten glaubt, die ich über den Dra chen gehört habe, könnte das ja zweifelhaft sein.« »Der Drache?« Überraschung und Sorge waren deutlich in den Zügen des Mannes zu lesen. »Ihr seid gekommen, um den Dra chen zu töten? O weh! Das ist sehr bedauerlich.« »Ist es das?« fragte Garth, während er sich in den Sattel seines Kriegstiers schwang. »Es könnte sich als sehr bedauerlich für den -57-
Drachen herausstellen; er hat es noch nie mit einem Übermann zu tun gehabt.« »Da habt Ihr recht«, räumte der alte Mann ein. »Dennoch ...« Er verfiel in nachdenkliches Schweigen und verfolgte mit betrübtem Blick, den metallenen Vogel in den Händen haltend, wie Garth auf und davon ritt und in der Ferne verschwand.
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Kapitel 4 Garth ritt eine gute Stunde lang durch friedliche Haine und blü hendes Ackerland; allenthalben machten die Blüten knospenden Früchten und Körnern Platz, und alles deutete darauf hin, dass — vorausgesetzt, es geschah kein Unglück — der Herbst reiche Ernte bringen würde. Immer noch konnte er nirgends Spuren von Verwüstungen oder vom Drachen selbst entdecken. Was er jedoch zu seiner großen Überraschung sah, waren frische Fußspuren, allesamt von Menschen, auf dem Weg, den er entlangritt; die Ab drücke lagen weit auseinander, was darauf hindeutete, dass die, die sie hinterlassen hatten, in großer Eile gewesen sein mussten. Und alle schienen sie nach Westen gerannt zu sein, in die Rich tung, in die auch Garth ritt. Er fragte sich, ob die, von denen die Spuren stammten, wohl vor dem Drachen geflohen sein mochten. Die Dorfbewohner schienen ziemlich sicher gewesen zu sein, dass er wieder wach war und irgendwo im Westen der Stadt sein Un wesen trieb; vielleicht hatten sie ihn gesehen, wie er einige ihrer Landsleute auf dem Weg nach Westen verfolgt hatte. Allerdings waren von dem Drachen keine Fußspuren zu sehen. Garth suchte den Horizont ab. Im Norden und im Osten sah er nichts als Bäume. Im Süden hin gen ein paar Wolken am Himmel über den grünen Feldern. Im Westen erhoben sich die Hügel am Horizont; das Tal war an diesem Ende, seinem nördlichen Ende, ziemlich eng, und er hatte es schon in seiner halben Breite durchquert. Im Südwesten kräuselte sich eine dünne Rauchfahne gegen den Himmel; der blaue Rauch war vor dem Blau des Himmels kaum auszumachen.
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Er hielt Koros an, um besser sehen zu können. Mit zusammenge kniffenen Augen spähte er in die Richtung, in der er die Rauchfahne gesichtet hatte. Während er hinschaute, schien sie di cker zu werden. Drachen, hieß es, spien Feuer. Garth hatte diesen Punkt in den Erzählungen der Leute nie so ganz ernst genommen; Legenden pflegten die Eigenschaft zu haben, mit jedem Weitererzählen neue Details angedichtet zu bekommen. Gleichwohl stimmten alle Schilderungen und Berichte dahingehend überein, dass bei einem großen Teil der Verheerungen, die auf das Konto des Drachen gingen, Feuer die Ursache war. Garth hatte bisher angenommen, dass die Kreaturen möglicherweise irgendeine leicht entflammba re Substanz produzierten, ein Gift vielleicht oder irgendeine Art Dampf. Wenn es nun tatsächlich stimmte, dass sie Flammen ausspien, dann konnte dieser Rauch durchaus von dem Drachen stammen. Natürlich konnte er auch von einer ganz normalen Kochstelle in einem Dorf kommen, oder aus einem Kamin oder dergleichen, aber er konnte nichts entdecken, was auf ein Dorf hingewiesen hätte — weder Türme noch Dächer. Falls es aber doch ein Dorf war, dann konnten ihm die Bewohner vielleicht den Weg zum augenblicklichen Aufenthaltsort des Ungeheuers zeigen. Er deutete auf den Rauch und gab seinem Reittier ein kurzes Kommando. Mit einem leisen Knurren bog Koros vom Weg ab und begann querfeldein auf die jetzt deutlich dicker gewordene Rauchfahne zuzulaufen. Koros‘ normaler Schritt war fast unnatürlich geschmeidig und leise, unvergleichbar angenehmer und bequemer für den Reiter als der jedes anderen Reittieres, auf dem Garth je gesessen hatte; wenn er jedoch rannte, selbst dann, wenn es, wie jetzt, nur mit halber Kraft war, machte er dabei solche Riesensätze, dass Garth -60-
sich fest an sein Geschirr klammern musste, wollte er nicht in ho hem Bogen aus dem Sattel fliegen. Koros‘ gewaltige raumgreifende Sätze fraßen die Distanz buch stäblich auf, trugen den Übermann mit atemberaubender Ge schwindigkeit über Stock und Stein. Äcker und Wiesen flogen nur so vorbei. Tier und Reiter durchquerten einen Obstgarten, dann ein Kiefernwäldchen und gewannen im Nu wieder offenes Wiesenland. Kurz darauf stieg das Gelände unter ihnen an, und jetzt sah Garth, dass der Rauch direkt hinter dem Kamm eines grasbewachsenen Hügels aufstieg. Wenn er geradewegs über den Kamm ritt, dann stand er wo möglich unversehens dem Drachen Auge in Auge gegenüber, ohne die geringste Zeit zu haben, sich auf einen Kampf vorzube reiten; der Lindwurm konnte leicht in einem Hinterhalt lauern. Er rief ein Kommando, und Koros blieb abrupt stehen. Garth sammelte sich und studierte das vor ihm liegende Terrain. Er befand sich auf offenem Grasland; es war unbebaut und offenbar wild. Vor ihm erhob sich eine Art Erdhügel, und der Rauch da hinter stieg in einer einzigen dicken Säule auf. Kein Zweifel, das war nicht die Art von Rauch, die aus einem Kamin stieg oder von einer Kochstelle. Vielleicht verbrannte irgendein Bauer Abfall, oder es fand eine Feuerbestattung statt; jedenfalls hielt Garth Vor sicht für geboten. Jenseits der Anhöhe fiel das Terrain wieder ab zu einem Flussufer; er konnte den Fluss selbst zwar nicht sehen, aber der breite Einschnitt in die Erde, der hinter dem Hügel in beide Rich tungen verlief, konnte nichts anderes als ein Fluss sein. Die nächste Stelle, die Deckung bot, war ein kleines Waldstück, das er eben durchquert hatte; es lag etwa hundert Schritte hinter ihm.
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Er hatte, wie er schnell überschlug, vier Möglichkeiten: Er konn te direkt über den Hügelkamm reiten, er konnte ihn in nordwestli cher Richtung umrunden, er konnte ihn in südwestlicher Richtung umrunden, oder er konnte sich in das Wäldchen zurückziehen. Er warf einen prüfenden Blick auf das Geschirr seines Kriegs tieres, um sicherzugehen, dass es sich nicht bei dem wilden Ritt von vorhin gelockert hatte, und überlegte. Zu bleiben, wo er war, schien die schlechteste aller Lösungen; frei und ungedeckt, wie er war, bot er ein ideales Angriffsziel. Ritt er geradeaus weiter, dann konnte er womöglich eine böse Überraschung erleben. Zog er sich zurück, dann würde der Drache ihm vielleicht entwischen – vor ausgesetzt, er war überhaupt hinter dem Hügel. Er entschloss sich, den direkten Weg über den Hügel zu nehmen; das Risiko musste er eingehen. Wenn er nach Nord westen auswich, dann würde ihm die Sonne in die Augen scheinen und ihn blenden, sobald er hinter dem Hügel wieder nach Süden schwenkte. Umrundete er den Hügel auf der anderen Seite, dann würde sein Schatten ihn möglicherweise verraten, und der Drache – falls er dort lauerte – war gewarnt. Er hatte sich gerade zu dem Entschluss durchgerungen, langsam und vorsichtig über den Hügel zu reiten, als Koros ein Knurren ausstieß, das Garth als einen Ausdruck von Überraschung erkann te. Er blickte auf und sah einen riesenhaften rotgoldenen Drachen mit mächtigen fledermausartigen Schwingen, der geradewegs auf ihn zugeflogen kam. Er hatte sich vollkommen lautlos genähert; kein Rauschen seiner mächtigen Schwingen, kein Angriffsschrei hatten den Übermann gewarnt; erst jetzt vernahm er ein leises Zischen, das offenbar vor her im Rascheln des Grases untergegangen war. Die Kreatur war mindestens hundert Fuß lang. Sie hatte einen anmutig geschwungenen langen Schweif und einen schlangen -62-
artigen gebogenen Hals. Ihre Flügelspannweite war noch größer als ihre Körperlänge; Garth schätzte sie auf gut fünfzig Ar meslängen, wenn nicht gar sechzig oder mehr. Ihr gesamter Leib war mit glitzernden Schuppen bedeckt, die wie Goldmünzen in der Sonne blitzten. Der Kopf des Ungeheuers war ein wahres Schreckensgebilde; seine weit aufgerissenen Kiefer waren schwarz und beide mit langen gebogenen Zähnen bewehrt, die aussahen wie anein andergereihte Dolche. Die mit riesigen Lidern versehenen großen Augen waren oval und von facettenartiger Oberfläche; sie waren rot wie die Garths, besaßen aber weder Weiß noch Pupille. Aus den aufgeblähten Nüstern des Untiers quoll Rauch, der sich wie eine Schleppe hinter ihm herzog. Nun, da Garth die Bestie in voller Lebensgröße vor sich sah, kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, dass es ihm vielleicht doch nicht gelingen würde, sie zu besiegen. Sie war weit größer, als er erwartet hatte; zudem besaß sie den unschätzbaren Vorteil, fliegen zu können, und war überdies auch noch gepanzert. Und wenn er bisher geglaubt hatte, das mit dem Feuerspeien sei ein Ammen märchen, so sah er sich jetzt eines Besseren belehrt. Jetzt konnte er verstehen, warum die Dorfbewohner dieses Untier für unbesieg bar hielten: Es bewegte sich mit selbstsicherer, geschmeidiger Gra zie und lautloser Kraft, ein wahrhaft ehrfurchteinflößender An blick, wie es da durch die Lüfte glitt, golden funkelnd, eine mächtige Rauchfahne in seinem Schlepptau. Garth zückte sein Schwert und wartete auf den Angriff. Der Drache schoss über ihn hinweg, außer Reichweite seines Schwertes, und hüllte ihn in eine Wolke schwarzen Rauchs; er un terdrückte den Hustenreiz und blinzelte verzweifelt, um klar se hen zu können. Das Zischen wurde lauter, schwoll zu einem Or kan und ebbte wieder ab, als das Ungeheuer sich von ihm entfern
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te. Der Rauch stank entsetzlich; er war ölig und widerwärtig, und der Geruch brannte ihm in den Nüstern wie Feuer. Als er wieder klar sehen konnte, schaute er nach oben; der Dra che vollführte eine Schleife am östlichen Himmel und kam zu rückgeflogen. Er hatte ihn noch gar nicht richtig angegriffen, wurde ihm klar, sondern ihn lediglich mit Qualm umhüllt, vermutlich um ihm die Sicht zu nehmen und ihm Angst einzu jagen. Er sah ihm entgegen, mit ruhigem, unbeweglichem Gesicht. Er würde bald merken, dass man einem Übermann, und erst recht einem, der Garth von Ordunin hieß, so leicht keine Angst einjagen konnte. Er gab Koros ein Zeichen, sich zu drehen, so dass er dem nächs ten Angriff des Drachen entgegenblicken konnte, dann richtete er sich in den Steigbügeln auf und schwenkte sein Schwert. Einen Moment später stieß die Bestie erneut auf ihn herab. Sein Streich kam ein wenig zu schräg, und die Klinge schramm te mit einem hässlichen Kratzgeräusch über eine der großen gebo genen Krallen und glitt ab. Wieder machte die Bestie keinen direk ten Versuch, ihn zu treffen, sondern schoss lediglich über ihn hin weg, ihn erneut in eine dichte Wolke stinkenden Rauches einhül lend. Er wendete erneut sein Kriegstier, als die Bestie über ihn hinweg war und sah, wie sie gleich darauf in weitem Bogen wendete und wieder auf ihn zugeflogen kam. Sie riss ihr riesiges Maul noch weiter auf, und jetzt brüllte sie ohrenbetäubend und spie dabei eine gewaltige Wolke aus Rauch und Feuer aus. Garth sah die gelben Flammen und den schwarzen Rauch aus dem Schlund des Monstrums schlagen und entschied, dass er besser daran täte, sich zurückzuziehen, zumindest vorüberge hend. Das Ding hatte offenbar bis jetzt nur mit ihm gespielt; es -64-
hätte ihn mit Leichtigkeit schon bei seinem ersten Anflug rösten können wie eine Bratwurst, wenn es gewollt hätte. Er fragte sich, warum es ihn bis jetzt verschont hatte. Vielleicht hatte es keinen Hunger und wollte ihn lediglich verjagen wie ein lästiges Insekt. Oder es war doch hungrig und wollte sich seine Mahlzeit nicht verschmoren: Wahrscheinlich bevorzugte es seine Nahrung roh, nicht gebraten. Koros erwiderte das Brüllen des Drachen und stellte sich ihm entgegen; zumindest das Kriegstier war nach wie vor bereit zum Kampf. Garth verwarf den Gedanken an Rückzug; er war gekom men, das Ding zu töten, und er würde es niemals töten, indem er vor ihm davonlief. Die Kreatur setzte zum Sturzflug an und stieß erneut auf ihn herab, einen markerschütternden, grauenhaften Schrei aus stoßend, der wie der Schrei eines wahnsinnigen Dämonen klang; noch nie hatte Garth einen solchen Schrei gehört. Sie fegte über ihn hinweg, nur wenige Zoll über seinem Kopf, den er instinktiv eingezogen hatte. Er stieß seine Waffe mit aller Kraft empor. Sie glitt klirrend von den Vorderbeinen des Monstrums ab, ohne auch nur den geringsten Kratzer zu hinterlassen. Garth bezweifelte, dass der Drache den Streich durch seinen Schuppenpanzer über haupt wahrgenommen hatte. Das Monstrum flog erneut eine Schleife und stieß wieder auf ihn herab, diesmal sogar noch niedriger als beim letzten Angriff; Garth lehnte sich im Sattel zur Seite, um den mörderischen Krallen auszuweichen, und stieß erneut mit aller Kraft zu. Die Schwertspitze schrammte funkenschlagend über den Bauch der Kreatur, prallte dann mit metallischem Klirren von einem ihrer Hinterbeine ab und wurde zur Seite geschlagen, mit solcher Wucht, dass Garth Mühe hatte, die Waffe festzuhalten. Und
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immer noch gab es kein Anzeichen, dass der Drache irgend etwas gespürt hatte. Garth wusste, wenn er bei seinem nächsten Angriff noch tiefer flog, dann konnte er sich nicht mehr unter ihm wegducken, wenn er blieb, wo er war. Als der Drache brüllend seine Wendeschleife zog, stieß er Koros den Absatz in die Flanke und schrie ein Kom mando. Das verdutzte Kriegstier jagte vorwärts und unterlief den herab stoßenden Drachen. Diesmal spie das Monstrum eine Stichflamme aus, die das Gras just an der Stelle versengte, an der das Kriegstier eben noch gestanden hatte, und Garth beglückwünschte sich zu seiner Entscheidung, dem Angriff auszuweichen. Er schaute genau zu, als die Kreatur erneut wendete; ihr Flug war ruhig und gleitend, aber ihre Fähigkeit zu raschen Manövern schien begrenzt, da sie aufgrund ihrer Körpergröße keine allzu großen Schräglagen riskieren konnte, ohne Gefahr zu laufen, das Gleichgewicht zu verlieren. Ihre Flugstabilität war weit geringer als die eines normalen Vogels. Wenn es ihm gelang, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, würde sie abstürzen. Aber jetzt war keine Zeit mehr für solcherlei Gedankenspielereien, denn schon nahte die Bestie erneut im Sturzflug. Geistesgegenwärtig ließ er Koros zur Seite springen. Sein Manöver geriet ein wenig zu kurz, oder vielleicht hatte der Drache es auch vorausgeahnt, jedenfalls spürte er, wie der sengende Atem der Bestie über seinen Rücken strich. Koros brüllte vor Schmerz auf; die Flamme hatte ihm den Schwanz versengt. Garth tätschelte seinem Kriegstier beruhigend den Hals, wäh rend er die Situation überdachte. Die traditionelle Methode, einen Drachen zu töten, bestand – zumindest, wenn man den Legenden Glauben schenkte – darin, dass man einen wunden Punkt in seiner Panzerung ausfindig machte und dort sein Schwert hineinstieß.
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Bisher hatte er jedoch keinen solchen wunden Punkt bei der Bestie entdecken können; allerdings war er auch vor lauter Ducken und Ausweichen noch nicht dazu gekommen, ihn genauer zu stu dieren. Gleichwohl schien ihm der Panzer dieses Monstrums auf fast unnatürliche Weise vollkommen — unzählige Reihen goldener Schuppen in makellos gleichmäßiger Anordnung. Zu seiner Verblüffung startete der Drache keinen neuen Angriff; statt dessen begann er in einiger Entfernung zu kreisen. Es schien fast so, als warte er auf etwas, als warte er ab, ob der Übermann noch immer zum Kampf bereit war. Garth zog erneut einen Rück zug in Erwägung, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Beim Herabstoßen bewegte sich der Drache mit der Geschwindig keit eines fallenden Steines, und er würde ihn womöglich von hin ten erwischen, bevor er den schützenden Wald erreichen konnte. Vielleicht, so überlegte er, wollte ihn der Drache genau zu einem solch tollkühnen Manöver verleiten. Während er den Drachen bei seinem Kreisen beobachtete, kam ihm eine Idee. Das Ding war riesengroß, und als es sich wieder einmal von ihm entfernte, konnte er einen Blick auf seinen breiten glatten Rücken erhaschen, der so groß und solide war wie ein Schiffsdeck. Wenn er es irgendwie schaffte, dort hinaufzukom men, dann konnte er nach Belieben mit seinem Schwert auf ihn einhacken; mit seiner begrenzten Manövrierfähigkeit würde es dem Drachen kaum gelingen, ihn wieder abzuschütteln. Eine ähnliche Technik hatte er schon einmal angewendet, und zwar bei dem großen Wurm, der unter der Stadt Dûsarra hauste – allerdings war jenes Monstrum nicht mit einem Panzer bewehrt gewesen und hatte auch nicht fliegen und Flammen speien können. Die Schwierigkeit lag darin, auf das Ding zu kommen, aber auch das war nicht unbedingt unmöglich. Er blickte hinunter auf den
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schwarzglänzenden Rücken seines Kriegstiers, sah das ge schmeidige Spiel der Schultermuskeln, das Koros‘ Bewegungen begleitete. Er hatte das Kriegstier schon auf niedrige Dächer springen und mit einem Satz über Menschenansammlungen hin wegfliegen sehen. Warum sollte ihm da nicht auch ein Sprung auf den breiten Rücken eines fliegenden Drachen glücken können? Natürlich, die Frage war, ob er selbst dieses Kunststück mitzu vollbringen vermochte, aber wenn nicht, nun, dann war es auch nicht weiter schlimm; mehr als einen schmerzhaften Fall riskierte er dabei auch nicht. Das war er bereit, in Kauf zu nehmen. Der Drache konnte ihn ebenso leicht töten, wenn er den Versuch nicht unternahm. Der Drache kreiste noch immer in ruhigem, gleitendem Flug über dem Erdhügel; Garth lenkte Koros herum und gab das Kom mando zum Losstürmen. Das Kriegstier brüllte so laut, dass Garths Ohren klingelten, und begann in langen Sätzen den Hügel hinaufzustürmen. Als der Drache dies sah, schwenkte er auf sie zu und stieß brüllend und schnaubend und feuerspeiend auf sie herab. Mit ungeheurer Geschwindigkeit bewegten sich Drache und Kriegstier mit Reiter aufeinander zu. Garth schätzte sorgfältig die Entfernung ab, und als er den richtigen Moment für gekommen erachtete, befahl er Koros zu springen. Und Koros sprang; mit weit aufgerissenem Maul und gespreiz ten Krallen, vor Kampfeslust brüllend, schwang er sich in die Lüf te. Garth fühlte sich wie von einer mächtigen Woge emporge tragen; die Bewegung war so übergangslos und fließend, dass er kaum merkte, wie Koros sich vom Boden abstieß. Als der Drache vor ihm auftauchte, einer glänzenden kupfernen Wand gleich, schnellte er selbst aus dem Sattel hoch, um den Hals des Mons trums zu packen. -68-
Er prallte hart gegen die goldglänzende Flanke der Bestie und suchte verzweifelt Halt; seine Fingernägel gruben sich in die Ritzen zwischen den sich überlappenden Schuppen, und er stram pelte wie wild mit den Füßen, um nicht abzurutschen. Sein treues Kriegstier, durch seinen eigenen Sprung aus der Bahn gebracht, krachte mit voller Wucht gegen die Brust des Dra chen und wurde zurückgeschleudert; es heulte vor Schmerz und Wut auf, als seine Fänge und Krallen wirkungslos an dem glän zenden Panzer abglitten. Voller Sorge sah Garth, wie das Kriegstier fiel. Als Koros jedoch katzengleich auf allen vieren landete und sofort wieder aufstand, offenbar unverletzt, atmete der Übermann auf und konzentrierte sich wieder ganz auf seine eigene, äußerst prekäre Lage. Er hing, nur mit Finger und Fußspitzen Halt findend, an der Schulter der Bestie; der Wind beutelte ihn und zerrte an ihm mit ungestümer Kraft, während der Drache durch die Lüfte raste. Un ter Aufbietung all seiner übermenschlichen Kraft schaffte er es schließlich, sich auf den Rücken des Drachen zu ziehen. Als er das Gefühl hatte, einen einigermaßen sicheren Stand ge funden zu haben, begann er die Bestie einer eingehenden Inspekti on zu unterziehen. Er war überrascht, als er feststellte, dass die Schuppen offenbar tatsächlich aus Metall waren. Der Drache schien nach irgend etwas zu suchen; er flog über dem Erdhügel und der darunter liegenden Wiese hin und her. Of fenbar wusste er nichts von dem Übermann auf seinem Rücken. Er konnte durch seinen Panzer hindurch nichts fühlen und glaubte wahrscheinlich, dass Garth zusammen mit dem Kriegstier hinun tergestürzt war. Garth lächelte, strich sich eine schwarze Haarlocke aus der Stirn, die ihm der Wind ins Auge geweht hatte, und zog seinen Dolch. Sein Schwert hatte er bei dem Sprung fallen gelassen, als er -69-
verzweifelt nach Halt auf der glatten Außenhaut der Bestie ge sucht hatte, aber seine Axt war noch immer an ihrem Platz in der Schlaufe auf seinem Rücken, und die Dolchscheide saß fest an sei nem Gürtel. Er kniete sich hin und begann, mit der Dolchspitze die Schuppen auf dem Nacken des Ungeheuers loszubrechen. Sie lösten sich relativ leicht und fielen klimpernd über den Rücken und die Flügel der Bestie nach unten. Zu Garths Überra schung zeigte der Drache keinerlei Reaktion. Er beugte sich über die Stelle, an der er die Schuppen losgebrochen hatte, und sah sie sich aus der Nähe an. Unter dem Schuppenpanzer befand sich eine dünne Schicht aus feinem Drahtgeflecht, und durch die Maschen konnte Garth un deutlich Myriaden von Zahnrädern, Ketten, Wellen und Federn erkennen. Für einen Moment saß er wie erstarrt da und verdaute diese wahrhaft sensationelle Entdeckung. Dann traf er rasch eine Ent scheidung; töten konnte er dieses Ding offensichtlich nicht, und zerstören wollte er ein solches Wunderwerk auch nicht. Also nahm er eine bequeme Sitzposition ein und harrte der Dinge, die da kommen würden. Nun, da er nicht mehr in unmittelbarer Gefahr schwebte, genoss er es regelrecht, auf dem breiten Metallrücken des Drachen durch die Lüfte zu gleiten. Er war noch nie in seinem Leben geflogen, und der Anblick, der sich ihm aus dieser luftigen Höhe bot, war in der Tat atemberaubend schön. Der Flug war nicht von langer Dauer; nach ein paar weiteren Schleifen über Hügel und Wiese flog der Drache in einem langge zogenen Bogen zurück über das Flussufer und schwebte in sanf tem Sinkflug in die klaffende Öffnung einer Höhle am Ostufer des Flusses, direkt am Fuß des Hügels. Durch Senkrechtstellen seiner Flügel bremste er seine Fluggeschwindigkeit gleichmäßig ab. -70-
Im Innern der Höhle faltete er seine Flügel ein und landete mit einer kaum spürbaren Erschütterung auf dem Boden. Binnen einer Sekunde erstarrte er zu totaler Bewegungslosigkeit. Aller An schein von Leben war aus ihm gewichen, und er war nur mehr ein seelenloses Ding aus Metall. Garth blickte sich um und sah, dass die Höhle das gesamte Inne re des Hügels einnahm. Und jetzt erkannte er auch, dass es keine natürliche Höhle war: Steinerne Stützbögen hielten die Decke, und in Nischen ringsum brannten Öllampen. Drei junge Männer standen auf einer Seite des Gewölbes; sie hatten den blinden Pas sagier auf dem Rücken des Drachen noch nicht bemerkt. Der Rauch, der noch immer aus den Nüstern der Kreatur ström te, wurde plötzlich dicker, und ein lautes Zischen kam aus dem Bauch der Maschine; der Rauch hörte abrupt auf, und zurück blieb eine rasch dünner werdende Wolke, die langsam zur rußge schwärzten Decke des Gewölbes hinaufstieg und sich verzog. Garth lehnte sich über die Schulter des Drachen und sah, wie eine Tür in seinem Bauch aufging – gerade noch sichtbar für ihn hinter der tonnenförmigen Wölbung des Rumpfes – und drei Männer herausgekrochen kamen. Einen Moment später folgten zwei weitere, und schließlich noch zwei. Garth zog mit der rechten Hand die Axt aus ihrer Schlaufe auf seinem Rücken, behielt den gezückten Dolch in der Linken und sprang mit einem Satz hinunter auf den Höhlenboden. Er landete direkt vor den sieben, die aus dem Bauch des Drachen gestiegen waren; die anderen drei Männer standen rechts von ihm. Bedingt durch das trübe Licht, das in der Höhle herrschte, hatte er sich ein wenig in der Entfernung verschätzt, und der Sprung geriet ein wenig länger als geplant, aber er schaffte es gerade noch, sich abzufangen und vor einem Sturz zu bewahren; jedoch nahm
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dieser Patzer seinem Auftritt einiges von der dramatischen Wirkung, die er sich davon versprochen hatte. Die Männer erstarrten und glotzten ihn verdattert an. Er starrte zurück. Nach einem Moment bestürzten Schweigens schnarrte Garth: »Es war also alles nur ein Schwindel?« Die Gesichter der Männer waren mit einer öligen Rußschicht überzogen, aber Garth glaubte einen von denen wiederzuer kennen, die ihn am Morgen in dem Gasthof beim Essen beobach tet hatten. Dieser Mann war es auch, der antwortete. »Nein, nein«, stotterte er, »ich meine, nicht von Anfang an. Es gab einmal einen echten Drachen, ehrlich.« »Aber er ist gestorben«, sagte ein anderer. »Wir haben ihm vergiftete Schafe zu fressen gegeben«, fügte ein dritter hinzu. »Es war wirklich ganz einfach. Mein Großvater hat mir alles darüber erzählt.« »Und da habt ihr also einen neuen gebaut, damit niemand erführe, dass er tot war. Warum?« Die Männer schauten sich an; Garth war klar, dass sie sich vor ihm fürchteten. Keiner wollte der erste sein, der eine Antwort gab, die ihm vielleicht Missfallen konnte. »Warum?« wiederholte Garth in etwas schärferem Ton und schwang seine Axt. Plötzlich plapperten alle gleichzeitig los; offenbar waren sie alle im selben Moment zu dem Schluss gekommen, dass Nichtant worten womöglich noch gefährlicher war, als unangenehme Wahrheiten auszusprechen. »Um Fremde abzuschrecken und mögliche Eroberer fernzuhalten«, antwortete schließlich einer für alle.
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Garth ließ seine Waffen sinken; plötzlich war alles klar. Orgûl war ein friedliches Tal; alle Krieger, die es einst zur Verteidigung seiner Grenzen gehabt haben mochte, mussten im Kampf gegen den Drachen gefallen sein. Gleichzeitig war es umgeben von hab süchtigen Kriegsherren, die es liebend gern in ein Schlachtfeld verwandelt hätten – der Baron von Sland zum Beispiel wäre zweifellos nichts willkommener gewesen als ein schutzloses Er oberungsziel, welches nicht zum Königreich Eramma gehörte und mithin auch nicht den Kapitulationsbedingungen unterlag, denen sein Vorgänger sich hatte unterwerfen müssen. Solange der ge fürchtete Drache jedoch lebte, hatte niemand einen Angriff ge wagt; die Schauergeschichten, in denen dem Drachen sogar die Fähigkeit angedichtet worden war, es ohne weiteres mit einer ganzen Armee aufnehmen zu können, hatten mögliche Eindringlinge ferngehalten. Die Orgûlianer hatten nicht die Absicht verfolgt, irgend je mandem einen Schaden zuzufügen, sondern lediglich, ihr Tal und ihre Heime zu schützen. Sie hatten Garth mit ihrem Spielzeug nicht getötet, auch nicht, als sie die Chance dazu gehabt hatten. Sie hätten ihn mit Leichtigkeit in ein Häufchen Asche verwandeln können, aber sie hatten es nicht getan. Er konnte ihnen ihren Wunsch, sich zu verteidigen und eine mögliche Bedrohung abzu wenden, nicht verübeln. Es war in der Tat eindrucksvoll, dieses Ding, das sie sich da ge baut hatten — und offensichtlich auch notwendig. Legenden allein hätten Abenteurer nicht ewig abgeschreckt, aber der Anblick eines fliegenden Ungetüms, das brüllte und Feuer und Rauch ausstieß, schreckte jeden ab — außer einen ausgemachten Verrückten wie Garth von Ordunin. Er schaute auf die große Maschine und fragte: »Wie funktioniert sie?« Die Veränderung in den Gesichtern der Männer hätte auf
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fallender nicht sein können, als die Spannung plötzlich von ihnen wich. »Oh, sie ist höchst kompliziert!« rief ein junger Mann, der kaum dem Knabenalter entwachsen war. »Kommt und werft einen Blick hinein! Dort unten seht Ihr einen Ofen für die Flammen und den Rauch; er wird von einem Mann bedient. Ferner sitzt an jedem Flügel einer, und ein vierter gibt ihnen genaue Anweisungen. Ich kontrolliere den Schwanz, und Deg hier bedient die Klauen, und schließlich sitzt noch einer im Hals. Es ist alles höchst knifflig und bis ins feinste ausgeklügelt, und alles funktioniert mechanisch, mit Uhrwerkantrieb. Wir brauchen zehn Leute und einen ganzen Tag, um es aufzuziehen.« Garth quittierte die Ausführungen des Jungen mit beifälligem Nicken, und hier und da erschien ein zö gerndes Lächeln auf den Gesichtern der Menschenwesen. »Wer hat sie erbaut?« fragte er, obwohl er die Antwort schon zu wissen glaubte. »Nun, der alte Petter, der Spielzeugmacher, hat das meiste ge macht; er hat den größten Teil der Maschine entworfen und ge baut. Der Schmied hat das Gerippe gebaut, und der Kesselflicker und drei Lehrlinge haben die Schuppen gemacht. Die Augen stammen von Gerrith, dem Juwelier, und ansonsten hat das ganze Dorf nach Kräften mitgeholfen. Jedes Dorf in Orgûl steuert Kohlen für den Ofen bei ...« Ein anderer unterbrach ihn, indem er mit banger Miene fragte: »Ihr werdet es doch niemandem verraten, nicht wahr? Es ist das einzige, was den Baron von Sland fernhält!« Garths Grinsen verschwand. »Ich müsste es eigentlich dem alten Mann erzählen, der mich hierhergeschickt hat – aber nein, das ist nicht nötig; ich kann ihm wahrheitsgemäß berichten, dass der Drache tot ist. Ich werde keinem anderen irgend etwas sagen, und was den alten Mann angeht, so braucht ihr euch keine Sorgen zu
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machen; er spricht wenig und wird Stillschweigen hierüber be wahren.« »Dann ist es gut«, sagte jemand. Die Erleichterung in den rußge schwärzten Gesichtern war nicht zu übersehen. »Möchtet Ihr einmal hineinsteigen?« fragte ihn der junge Mann. Garth nickte. »Gern, aber allzu lange kann ich nicht bleiben; ich muss mein Kriegstier finden und seine Wunden versorgen.« »Ich glaube nicht, dass es viel abbekommen hat«, ließ sich einer aus der Besatzung des Drachen vernehmen. Ein Brüllen vom Höhleneingang bestätigte seine Vermutung; Koros hatte wenig Mühe gehabt, den Drachen aufzuspüren. Einen Moment später kam er leise in die Höhle stolziert, um seinen Herrn zu begrüßen. Garth tätschelte ihm zum Gruß den Hals, ermahnte ihn, sich zu benehmen, dann folgte er dem Jungen in den Bauch des Drachen, um die Funktionsweise der großen Maschine zu studieren.
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Kapitel 5 Garth verbrachte die Nacht im Schwert und Kelch, aber der Gasthof verfügte über keinen für Koros geeigneten Stall, und so musste das Kriegstier auf dem Platz nächtigen. Es bestand keine Gefahr, dass irgend jemand versuchen würde, das Kriegstier oder Garths Habe, die es auf seinem Rücken trug, zu stehlen; Koros wusste sehr wohl, wer sein Herr war, und würde niemals ohne Garths Erlaubnis mit einem Fremden gehen oder irgend jemand anderem als dern Übermann erlauben, sich an den Vorräten, die es bei sich trug, zu schaffen zu machen. Und niemand, der seine fünf Sinne beisammen hatte, würde es wagen, sich mit einem Kriegstier anzulegen; es würde seinen sicheren Tod bedeuten. Der Übermann stand spät auf, eine gute Stunde nach Sonnen aufgang, und ließ sich viel Zeit mit den Vorbereitungen für seine Abreise. Für den Weg bis zur Grenze von Eramma würde er nur wenige Stunden brauchen, und von dort aus würde er, wie schon auf dem Hinweg, bei Nacht reiten. Nachdem er gepackt, ein kräftiges Frühstück zu sich genommen und Koros versorgt hatte, schwang er sich in den Sattel. Doch be vor Koros den zweiten Schritt getan hatte, änderte Garth seinen Plan und lenkte das Kriegstier nach Westen statt nach Nordosten. Er hatte keinen Grund, sich zu beeilen; es gab keine dringenden Pflichten, die seiner harrten, und es gab niemanden, der seiner Rückkehr nach Skelleth entgegenfieberte. Es schadete nichts, wenn er noch ein wenig bei dem Spielzeugmacher vorbeischaute; schließlich hatte er ja auch noch einen Kauf zu tätigen. Koros erhob keinen Protest; er schlenderte gelassen die Straße nach Westen hinunter und hielt gehorsam vor der Tür des letzten Geschäfts.
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Die Tür war verschlossen, und die Vorhänge vor dem Schaufenster waren zugezogen. Garth sah keine Spur von dem al ten Mann. Er saß ab und klopfte zweimal leicht an die Tür. Ein gedämpftes »Ich komme schon« drang an sein Ohr, und gleich darauf erschien der Spielzeugmacher und blinzelte in das helle Sonnenlicht. Er starrte an dem Übermann hoch. »Ach, Ihr seid es«, sagte er mit einem unsicheren Lächeln. »Seid gegrüßt«, sagte Garth. »Ich hoffe, ich habe Euch nicht ge weckt.« »Was? Oh, nein; ich saß gerade beim Frühstück. Hatte noch keine Zeit, den Laden aufzumachen.« Er blinzelte wieder und sag te dann mit besorgt klingender Stimme: »Ich hörte von Eurem Kampf mit dem Drachen. Ich hoffe, Ihr habt ihn nicht allzu sehr beschädigt; ich bin nicht sicher, ob ich einen größeren Schaden be heben könnte. Es ist nämlich größtenteils Magie, müsst Ihr wissen, und Magie ist eine heikle Sache. Ich bin kein Hexer; gewöhnlich weiß ich nicht, wie das, was ich mache, eigentlich funktioniert. Ich baue es einfach, und es funktioniert — oder auch nicht, manch mal. Habt Ihr ihn arg beschädigt?« »Nein«, beruhigte ihn Garth. »Ich habe ein paar Schuppen von seinem Rücken abgebrochen, und sein Bauch hat vielleicht ein paar Schrammen abbekommen. Das hat, glaube ich, meinem Schwert mehr weh getan als dem Drachen — vielleicht ist die Klinge aber auch dadurch stumpf geworden, dass sie mir hinun terfiel.« Er hatte die Waffe aufgelesen, bevor er ins Dorf zurückge kehrt war; sie war zum Glück nicht verbogen, aber ein Teil der Schneide war auf einer Seite ruiniert. »Und was ist mit Euch selbst? Habt Ihr Euch weh getan?« »Nein; nur mein Kriegstier hat sich leider den Schwanz versengt, und hier und da scheint es ein paar Prellungen davonge tragen zu haben.« -77-
»Oh, das tut mir wirklich leid!« Der Mann starrte an dem Über mann vorbei auf das Kriegstier, und sein Gesicht drückte echtes Mitgefühl aus. Garth fand es an der Zeit, zur Sache zu kommen. »Ich bin wegen der Möwe gekommen«, sagte er. »Oh, natürlich!« rief der Spielzeugmacher aus. »Einen Moment!« Er verschwand in seinem Laden und erschien ein paar Sekunden später mit dem Metallvogel in der Hand. Garth nahm ihn ent gegen, bezahlte ihm den vereinbarten Preis von sechs Silbermün zen und legte die Möwe vorsichtig auf den Sattel seines Kriegs tiers. »Wartet noch! Ihr braucht den Schlüssel zum Aufziehen«, er innerte ihn der alte Mann. Garth wandte sich um und hielt die Hand auf; der Spielzeugma cher legte ihm den silbernen Schlüssel hinein, und er schloss die Hand wieder. »Danke«, sagte er, während er ihn in seinen Beutel steckte. »Passt gut auf sie auf«, sagte der alte Mann. »Sie ist eines meiner feineren Stücke.« »Das ist sie in der Tat«, pflichtete ihm Garth bei und betrachtete die glänzende Spielzeugmöwe. »Aber nicht Euer feinstes«, fügte er mit einem Grinsen und einem vielsagenden Blick nach Westen hinzu. Der Spielzeugmacher lächelte. »Nein, nicht mein feinstes, aber das ist auch unverkäuflich.« Er sah Garth zu, wie dieser sich in den Sattel schwang, den Kupfervogel vorsichtig zwischen seine Beine legte und seinem Kriegstier leise ein Kommando ins Ohr sprach.
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Koros wendete und trabte zurück durch das Dorf, und auf leisen Pfoten trug er sich und seinen Herrn rasch nach Norden und aus dem Tal von Orgûl hinaus. Dieser ruhige, geschmeidige Gang schien fast mühelos, und das Kriegstier konnte ihn stundenlang, vielleicht sogar tagelang, hal ten; Garth war immer wieder aufs neue von der unglaublichen Kraft und Zähigkeit des Tieres beeindruckt. Sie brauchten den Rest des Tages und die darauffolgende Nacht, um den Nordrand der Baronie von Sland zu erreichen; sie beweg ten sich entlang des Vorgebirges östlich der Berge, die Erammas Westgrenze bildeten. Garth schlug sein Lager auf einem Berggrat auf, von dem aus sein Blick auf den trostlosen Schauplatz einer noch nicht allzu lange zurückliegenden Schlacht fiel. Sein kurzer Aufenthalt in Orgûl hatte ihn in eine milde Hoch stimmung versetzt. Er hatte kein Ungeheuer bekämpft und getö tet, sondern statt dessen festgestellt, dass seine eigentliche Auf gabe, nämlich, Leute von einer Bedrohung zu befreien, schon lange vorher von den Bedrohten selbst erfolgreich erledigt worden war. Das war eine ermutigende Erfahrung; nur selten in seinem langen Leben hatte er Beweise für menschliche Tüchtigkeit erlebt. Selbst bei seiner eigenen Rasse hatte er häufig das Gefühl, dass der durchschnittliche Sterbliche kaum mehr Ehrgeiz oder Verstand hatte als ein niedriges Tier. Zu viele Leute waren lieber bereit, unter verschiedenen Formen der Unterdrückung zu leiden, als die notwendigen Anstrengungen zur Verbesserung ihres Loses auf sich zu nehmen. Nicht einer von den Übermännern der Nordwüste hatte in den drei Jahrhunderten relativen Friedens, die auf die Rassenkriege gefolgt waren, auch nur den Versuch unternommen, über den Landweg nach Süden zu gelangen; man hatte ihnen weisgemacht, die Grenze zu Eramma würde Tag und Nacht von wilden
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menschlichen Kriegern bewacht, und sie hatten diesen Unsinn ge glaubt, bis Garth selbst aus ganz privaten Gründen die Reise nach Skelleth unternommen und festgestellt hatte, in welch erbar mungswürdigem Zustand sich die Verteidigungsanlagen der Menschenwesen befanden. Kein Übermann hatte sich die Mühe gemacht, andere Länder zu erforschen, bis er, Garth, im Auftrag des Vergessenen Königs nach Nekutta geritten war und erfahren hatte, dass es noch andere Übermenschen auf der Welt gab, die an der Yprischen Küste leb ten. Und keiner hatte den Versuch unternommen, Handelsbezie hungen zu anderen Ländern zu knüpfen; auch hier hatte Garth auf eigene Faust handeln müssen. Und wie sah es bei den Menschenwesen aus? Die Leute von Skelleth hatten ohne großes Murren das Willkürregiment eines geisteskranken Barons hingenommen, sein bizarres Verhalten und seine willkürlichen, irgendwelchen verrückten Launen ent springenden Todesurteile klaglos über sich ergehen lassen, und es musste erst Garth kommen, um sie von dieser Plage zu befreien. Und in der nekuttanischen Stadt Dûsarra hatte das Volk keinerlei Protest gegen die Herrschaft der Kulte der dunklen Götter erhoben und sich in keiner Weise gegen die Entführungen und Menschenopfer der schlimmsten unter diesen Kulten zur Wehr gesetzt. In Orgûl dagegen hatten gewöhnliche Bauern das geschafft, was großen Helden nicht gelungen war; mit einer einfachen List hatten sie den Drachen zur Strecke gebracht. Und kleine, einfache Hand werker, biedere Dorfbewohner, hatten mit großer Erfindungsgabe einen künstlichen Ersatz gebaut, um andere Raubtiere — menschliche, aber um keinen Deut weniger gefährliche — von ih rem Territorium fernzuhalten. Das stimmte Garth hoffnungsvoll und froh.
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Auch mit sich selbst war er mehr als zufrieden. Zum ersten Mal kehrte er von einer Mission in Menschenland zurück, ohne ein einziges Menschenwesen getötet zu haben, und dennoch in dem Bewusstsein, sein Ziel erreicht zu haben — wenn auch auf ganz andere Weise, als er geahnt hatte. Er war, so war es ihm gekündet worden, das auserwählte Werk zeug des Bheleu, dazu verdammt, als Symbol des Vierzehnten Zeitalters, des Zeitalters der Zerstörung, zu fungieren. Bisher hatte es so geschienen, als wäre er in der Tat dazu bestimmt, Chaos und Verderben zu verbreiten, wohin auch immer er ging; er hatte die Zerstörung Skelleths auf dem Gewissen, war verantwortlich für das Wüten des Weißen Todes in Dûsarra, für den Tod des Hexers, der die Stadt Mormoreth regiert hatte, und trug, wie er vermutete, ein gerüttelt Maß an Mitschuld an dem Zusammenbruch des Königreiches Eramma. Auf dieser Reise jedoch hatte er weder etwas zerstört, noch ir gend jemanden getötet — mit Ausnahme von ein paar Ziegen vielleicht, und die auch nur, um seinem Kriegstier etwas zu fressen zu verschaffen. Dies hob seine Stimmung zu sehr, dass nicht einmal die Schlachtfelder und die Heerhaufen, denen er auf seinem Weg nach Norden begegnete, sein Wohlgefühl beeinträchtigen konnten. Er ritt weiter die Hügel entlang und an Sland vorbei, bis die Türme von Ur-Dormulk in Sicht kamen, woraufhin er nach Osten abbog und einen Bogen um die Stadt machte. Bis hierher war er nachts geritten, aber ab hier war das Land unwirtlich und dünn besiedelt, keine Gegend, um die man Kriege führte. Außerdem waren jen seits von Ur-Dormulk Übermänner kein unbekannter Anblick mehr; die yprischen Karawanen hatten diese Gegend während der letzten drei Jahre mehrfach durchquert, und die Menschen hatten
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sich an ihren Anblick gewöhnt. Jedenfalls würde ihn niemand allein wegen seiner Rasse attackieren. Er konnte daher, wenn er wollte, tagsüber reisen und die Straße nach Skelleth offen benutzen. Seine Gewohnheiten jedoch mit einem Schlag umzustellen, war ,nicht sonderlich zweckdienlich; er dehnte daher jede Etappe so weit wie möglich aus und ritt weiter bis in den tiefen Morgen hin ein, bis er vor Müdigkeit fast aus dem Sattel fiel, schlief dann bis zum Sonnenuntergang, bis er von selbst aufwachte, voll ausge schlafen und erholt. Er blieb indes auf der Hauptstraße; die Ebenen waren noch immer matschig von der Schneeschmelze und den Frühlingsregen. Als er schließlich aus der Ferne Skelleth erblickte, war es Mittag, aber er war seit Mitternacht geritten, so dass es für ihn ge wissermaßen später Nachmittag war und somit Schlafenszeit. Er hatte am Morgen des Vortags eine Ziege für Koros gekauft und selbst ebenfalls gut gegessen, in einem kleinen Bauernhof, an dem er unterwegs vorbeigekommen war; seitdem hatte er freilich nichts mehr zu sich genommen, bis auf eine Handvoll Trocken obst und Pökelfleisch, und sein Proviant begann knapp zu werden. Er war müde und hungrig und freute sich auf ein kaltes Bier und eine warme Mahlzeit im Gasthof des Königs und danach auf sein weiches Bett in dem Haus, das er sich aus Schutt und Trümmern am Rande der Stadt gebaut hatte. Die Aussicht auf die baldige Erfüllung dieser Wünsche ließ im Verein mit seiner allgemein guten Laune ein Lächeln auf sein Gesicht treten. Er blickte hinunter auf die mechanische Möwe, die er vor sich auf dem Sattel trug; er hatte sie nicht zu seinen anderen Sachen getan, aus Furcht, sie könnte durch die beim Reiten ent stehende Erschütterung einen Kratzer oder eine Delle davon tragen. Sie glänzte golden in dem fahlen, trüben Licht, das durch
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die dichte Wolkendecke am Himmel sickerte. Während seines ganzen Rittes seit Orgûl hatte er Glück mit dem Wetter gehabt, aber er hatte irgendwie gespürt, dass das nicht von langer Dauer sein würde; und richtig, es sah ganz danach aus, als würde es noch vor Einbruch der Nacht Regen geben. Als er von dem metallenen Vogel aufblickte, bemerkte er, dass etwas oder jemand vor der Stadtmauer stand, gleich neben der Straße, auf der er ritt. Sein Lächeln verschwand. Das letzte Mal, als er auf genau dieser Straße in das Dorf geritten war, hatte auch je mand vor dem Tor gewartet, ein Übermann namens Thord; er hatte dort Posten gestanden, als Teil einer albernen, völlig hirn losen Belagerung, die Garths Hauptfrau Kyrith organisiert hatte, und es war eben jene Belagerung gewesen, die schließlich zu der Zerstörung Skelleths geführt hatte. Garth mochte nicht gern an diese unrühmliche Geschichte erinnert werden. Er fragte sich, wen oder was er da sah; die Entfernung war noch so groß, als dass er Genaueres hätte erkennen können. Er hoffte nur, dass es nicht der Vorbote von neuem Unheil war. Das Ding war ungefähr so groß wie ein Übermann, schätzte Garth, oder wie ein ungewöhnlich hoch aufgeschossener Mensch, aber irgend etwas an seiner Haltung ließ ihn stutzen. Er ließ Koros seinen Schritt ein wenig beschleunigen. Als er ein Stück näher herangekommen war, sah er, dass es in der Tat ein Übermann war, oder zumindest etwas, das große Ähnlichkeit mit einem Übermann hatte. Jetzt erkannte er auch, warum ihn die Haltung stutzig gemacht hatte: Die Gestalt war mit dem Oberkörper vornübergebeugt, und irgend etwas ragte aus ih rem Rücken. Ein paar weitere lange Schritte seines Kriegstieres, und er ent deckte, dass der Übermann — wenn es tatsächlich einer war — an einem Pfahl oder einer Stange hing, offenbar leblos. -83-
Garth war verwirrt; er konnte sich beim besten Willen nicht er klären, was das zu bedeuten hatte, was für ein Übermann das sein konnte, und wieso er da hing. Die Sache gefiel ihm immer weniger. Die Gestalt schien vollkommen leblos, und Garth fragte sich, ob es vielleicht ein Abbild von ihm selbst war, das irgend einer, der ihn hasste, dort hingehängt hatte, einer der Dorfbe wohner vielleicht, der ihm niemals verziehen hatte, dass er bei der Zerstörung Skelleths die führende Rolle gespielt hatte. Die andere Möglichkeit, dass es der Leichnam eines echten Übermannes war, von irgend jemandem dort als eine Art War nung aufgehängt, war noch weit weniger erbaulich. Jetzt konnte er die ersten Details ausmachen. Schwarzes glattes Haar hing über dem Gesicht der Gestalt und verdeckte es; die Hände waren hinter dem Rumpf verborgen: Vermutlich waren sie an den Pfahl oder aneinander gebunden. Die Gestalt hing so, dass sie mit der Vorderseite genau auf ihn zeigte. Ein blauer Kittel be deckte den Oberkörper, und braune Reithosen aus Leder umhüll ten die Beine; die Stiefel waren mit Matsch vollgespritzt. Die Gestalt hatte etwas beängstigend Vertrautes an sich. Die Möglichkeit, dass es sich nur um eine Puppe handelte, wurde mit jedem Schritt unwahrscheinlicher und verschwand, lange bevor er die Leiche erreichte. Das Gefühl, dass es sich um eine vertraute Person handelte, wuchs, und mit ihm wuchs Garths Beunruhigung. Als er Koros anhielt, war er bereits in höchster Sorge, war er doch überzeugt, dass es sich um die Leiche einer Person handelte, die er sehr gut kannte. Er stieg ab, und als er sich der Leiche zuwandte, fiel ihm zum ersten Mal auf, dass es die einer weiblichen Person war. Über frauen unterschieden sich äußerlich nicht so stark von Über männern wie Menschenfrauen von ihren männlichen Artge -84-
nossen; sie waren gleich groß, und beide Geschlechter waren gleich flachbrüstig, wenngleich Übermänner in der Regel zu brei teren Schultern und schmaleren Hüften neigten als Überfrauen. Das Hauptunterscheidungsmerkmal zwischen Übermännern und Überfrauen war der Geruch. Jetzt, da er das Geschlecht der Leiche erkannt hatte, war ihm so fort ihre Identität klar; er rannte zu ihr hin, immer noch verzweifelt hoffend, dass er sich irrte, und hob den schlaff herun terhängenden Kopf hoch. Er hatte sich nicht geirrt. Es war Kyrith. Ihre roten Augen starr ten ihn leer an, und ihre lederartige braune Haut war kalt und klamm; kein Zweifel, sie war tot. Er war so entsetzt, so schockiert, dass er im ersten Moment die Male auf ihrer Stirn gar nicht bewusst wahrnahm. Wie alle Ange hörigen ihrer Spezies hatte sie eine breite hohe Stirn, über die sich die Haut straff spannte; jetzt aber war ihre Stirn mit getrocknetem Blut verschmiert, und Spuren geronnenen Blutes zogen sich auch über Wangen und Hals. Als Garth in der Lage war, seinen Blick von ihren toten Augen loszureißen, sah er das Blut und folgte den getrockneten Rinnsa len zu ihrer Quelle. Ihre Stirn war voller Schnittwunden, aber er sah sofort, dass es keine zufälligen waren; er erkannte nicht sogleich das Muster, da das Blut es verwischt hatte und der Schock ihn in seiner Wahrneh mungsfähigkeit beeinträchtigt hatte. Doch als er länger hinsah, er kannte er die Natur der Male. Auf der rechten Seite ihrer Stirn war ein waagerechter, leicht geschwungener Schnitt, von dessem lin ken Rand ein zweiter Schnitt diagonal nach oben verlief; von dessen Spitze aus wiederum zog sich ein langer diagonaler Schnitt nach rechts unten. Das Ganze ergab die Rune für A. Direkt daneben die bogenförmig verlaufende Linie mit dem Häkchen -85-
war unschwer als ein G zu erkennen. Es folgte ein H, dann ein weiteres A, und schließlich die senkrechte Linie mit den zwei auf einander zulaufenden Diagonalen, die für ein D stand. Die Schnitte verliefen nicht ganz gerade und sauber — Runen zeichne te man normalerweise mit Tinte auf Papier und ritzte sie nicht mit einer Dolchspitze in Fleisch. AGHAD Garth kannte diesen Namen nur allzu gut. Menschenwesen fluchten bisweilen mit diesem Namen und benutzten ihn manch mal spaßeshalber als Schimpfwort für Lügner oder treulose Ehegesponse, aber Garth wusste, dass mit diesem Namen beileibe nicht zu spaßen war. Es war der Name des Gottes des Hasses und des Verrats, und den Kult dieses Gottes hatte er herausgefordert und zutiefst gekränkt, als er seinerzeit in Dûsarra seinen Tempel ausgeraubt und seinen Hohenpriester getötet hatte. Der Kult, der sich durch besondere Grausamkeit auszeichnete, hatte geschworen, sich an dem Übermann zu rächen, aber Garth hatte danach so viele Dinge erlebt, dass er dies längst vergessen hatte. Er hatte geglaubt, die Macht der Kultisten sei auf ihre weit im Westen gelegene Stadt beschränkt, und deshalb ihre Dro hungen als typisch menschliche Prahlerei abgetan. Ein fataler Irrtum, wie er nun sah. Seine euphorische Stimmung war wie weggeblasen. An ihre Stelle war eine kalte, grimmige Entschlossenheit getreten; er würde den Aghad-Kult vernichten, und wenn er ein geeignetes Mittel fand, würde er den dreckigen Gott selbst töten. Garth war ein Eidbrecher, also tat er keinen gesprochenen Schwur, aber sein wortloser Eid war deshalb nicht weniger ernst gemeint. Langsam wich der Schock von ihm und machte kalter Wut Platz. Er begann, den Leichnam seiner Frau zu untersuchen.
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Eine Kordel war um ihren Hals geschlungen und an dem Pfahl befestigt. Ihre Hände waren hinter dem Pfahl mit Draht zu sammengeschnürt, so fest, dass ihre Haut an den Stellen, an denen der Draht verlief, aufgeplatzt war. Eine dritte Fessel aus gefloch tenem Goldband spannte sich über ihre Brust, lief unter den Achseln hindurch und war über ihrem Kopf an einem langen di cken Eisennagel befestigt, der von hinten in den Pfahl getrieben war; dieses Band war es, das den größten Teil ihres Gewichts trug und sie aufrecht hielt. Garth zückte seinen Dolch und durchtrennte das Goldband mit einem einzigen kräftigen Schnitt; dann fing er den Körper mit dem linken Arm auf, als er nach vorn sackte. Ein zweiter Schnitt durchtrennte die Kordel um ihren Hals; dabei fiel ein kleiner Beu tel, den er bis jetzt noch nicht bemerkt hatte, zu Boden. Er ignorierte den Beutel zunächst einmal. Mit dem linken Arm und dem Oberkörper seine tote Frau haltend, versuchte er, den Draht an ihren Handgelenken mit dem Messer zu durchtrennen. Der Draht indes widerstand seinen Bemühungen; obgleich er auf den ersten Blick nach billigem Eisendraht aussah, schnitt er Ker ben in die Klinge seines Messers, als er die Spitze unter ihm hin durchzuzwängen versuchte. Auch konnte er kein loses Ende ent decken, an dem er die Schlinge hätte aufknoten können. Er ließ den Körper vorsichtig in eine sitzende Stellung hinun tergleiten, so dass die Hände auf dem Boden hinter dem Pfahl zu liegen kamen, und überlegte. Die Jünger des Aghad hatten, wie er sich erinnern konnte, eine perverse Freude daran, ihre Opfer in Rage zu bringen. Auch liebten sie es, ihre Opfer zu verstümmeln. Wahrscheinlich hatten sie es darauf angelegt, Garth mit irgend einem Trick zu erzürnen und zu reizen, bis er schließlich die Ge duld verlieren und Kyrith die Hände abtrennen würde, um sie von dem Pfahl freizubekommen.
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Er war sicher, dass der Draht auf irgendeine Weise verhext war. Es hatte also keinen Zweck, sich damit herumzuplagen – aber er verspürte auch nicht den geringsten Wunsch, den Aghaditen den Gefallen zu tun, seine Frau zu verstümmeln. Das Problem ließ sich auch auf andere Weise lösen. Er holte sei ne Streitaxt vom Sattel seines Kriegstiers und hackte mit einigen wenigen Schlägen den fußdicken Pfahl direkt über Kyriths Kopf ab. Nachdem er den Nagel, der das Goldband gehalten hatte, her ausgezogen hatte, konnte er sie leicht über den Stumpf des Pfahls hinüberheben. Nun war sie frei. Sein Blick fiel auf den Beutel. Er legte den Körper ganz behut sam auf den Boden und hob den Beutel auf. Er öffnete ihn und zog eine Pergamentrolle heraus. Er hatte von Zaubersprüchen gehört, die durch Runen wirkten, von Botschaften, die das arglose Opfer, das sie las, dem Willen des Schreibers gefügig machten, aber er hielt es nicht für sehr wahr scheinlich, dass dieses Pergament etwas dieser Art war. Er vermu tete vielmehr, dass es eine Drohung oder eine Schmähung ent hielt, oder auch beides; er hatte die Aghaditen als üble Kreaturen in Erinnerung, als perverse Bestien von der Sorte, die sich nicht mit bloßem Mord zufrieden gab und der es auch nicht reichte, ihre Visitenkarte in Form einer eingeritzten Botschaft auf der Stirn des Gemordeten zu hinterlassen. Er entrollte das Pergament und las: »Für Garth von Skelleth, den einstigen Prinzen von Ordunin: Die gerechte Rache Aghads hat begonnen, und du wirst tausendfach für die Frechheiten büßen, die du dir gegen unseren Gott und unseren Kult herausgenom men hast. Für die Entweihung des heiligen Tempels des Aghad und für den Mord an seinem auserwählten Hohenpriester wirst du mit allem bezahlen, was dir teuer ist. Alle, die dir nahe stehen, werden eines schrecklichen Todes sterben. Deine Söhne werden
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langsam und vor deinen eigenen Augen zu Tode gequält werden. Was du geschaffen und erbaut hast, wird zerstört werden. Was du bekämpft hast, wird erhöht und gestärkt werden. Was du besitzest, wird dir genommen werden. Und während deine Pein immer größer wird, sei dir stets bewusst, dass Aghad sich daran weidet, und dass seine Jünger ob deiner Schmerzen frohlocken.« Die Botschaft war ohne Unterschrift. Garth knüllte das Pergament in seiner Faust zusammen und steckte es in einen Beutel an seinem Gürtel. Bevor er seine Hand aus dem Beutel zurückziehen konnte, spürte er eine plötzliche Wärme, und der Geruch von Rauch drang in seine schlitzförmigen Nüstern. Verblüfft zog er seine Hand heraus und entleerte den Beutel auf den Boden. Von der Pergamentrolle war nichts übrig geblieben als ein Häuf chen Asche. Er schnaubte. Wenn der unzerstörbare Draht noch nicht Beweis genug gewesen war, so beseitigte diese kleine Demonstration je den Zweifel, dass der Kult magische Kräfte gegen ihn einsetzte. Er schaute auf, sah sich rasch nach allen Seiten um, entdeckte aber nichts Auffälliges. Er hatte es schon mehr als einmal mit Magie zu tun gehabt und wusste, dass sie eine reale, bisweilen tödliche Macht war; er würde sich ungeheuer vorsehen müssen. Vielleicht, ging es ihm plötzlich durch den Kopf, wurde er sogar jetzt, in diesem Augenblick, beobachtet, und er konnte sich nicht länger zurückhalten: »Euer Gott wird euch nicht retten, Ab schaum«, sagte er mit fast tonloser Stimme. »Euer Kult wird sterben bis auf den letzten Mann oder die letzte Frau. Die Stirn meines Weibes trägt eure Todesgarantie.« Er hob die Axt auf, und in einem jähen Ausbruch von Zorn zerspaltete er den Stumpf des Pfahles mit einem Schlag bis auf den Boden.
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In seinem inneren Gemach in Dûsarra beobachtete Haggat den Übermann und gestattete sich ein leises vergnügtes Kichern. Die Dinge liefen fast genauso, wie er sie geplant hatte – auch wenn die Sache mit den Drähten ein wenig enttäuschend ausgegangen war. Er konnte trotzdem zufrieden sein. Die gestohlenen Zauberdinge funktionierten perfekt. Es sah so aus, als sollte sich das lange Warten gelohnt haben.
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Kapitel 6 Als sein Wutausbruch vorüber war, brachte Garth die Axt zu rück an ihren Platz auf dem Sattel des Kriegstiers. Dann ließ er sei nen Blick über die verstreut herumliegenden Splitter und Späne des Pfahls wandern und sammelte alles auf, was irgendwie von Wert sein konnte. Sobald er damit fertig war, hob er Kyriths Kör per vom Boden auf und befahl Koros, ihm zu folgen. Seine tote Frau auf den Armen tragend, marschierte er in das Dorf. Die Art und Weise, Gefühle auszudrücken, war bei Menschen und Übermenschen unterschiedlich. Übermenschen zeigten Kum mer oder Wut nicht in ihrer Miene, sondern trugen bei solchen Anlässen im Gegenteil einen Gesichtsausdruck zur Schau, den man bei einem Menschen als einen Ausdruck absoluten Desinter esses gedeutet hätte. Dies war nicht etwa das Ergebnis eines Trainings in Stoizismus oder irgendeines anderen kulturellen Einflusses, sondern beruhte auf einem Unterschied in der gene tischen Struktur. Ein Übermann, der nach außen hin gelangweilt erschien, konnte durchaus innerlich vor Wut kochen. Am Südwesttor war ein menschlicher Wachtposten aufgestellt — kein gelernter Soldat, sondern ein Freiwilliger,.dessen Aufgabe weniger darin bestand, Eindringlinge abzuwehren, als ankom menden Karawanen vorauszueilen und Galt und die Händler der Stadt zu benachrichtigen. Der Mann, dem an diesem Tag diese Aufgabe zugewiesen war, trug eine Armbrust und ein Kurz schwert — mehr oder weniger aus symbolischen Gründen. Er hatte Garth nicht nahen hören, weil er gerade im Schutz der verfallenen Stadtmauer ein Nickerchen hielt.
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Er hatte sich zwar im Schlaf kurz hin und her bewegt, als Garths Axt den Pfahl gespalten hatte, aber erst Garths nahende Schritte hatten ihn aus seinem Schlummer hochfahren lassen. Verdutzt sprang er auf, die Hand am Schwertgriff, und öffnete den Mund, um den Ankömmling anzurufen. Garths Gesicht war ruhig und ausdruckslos, aber hätte der Wachtposten auch nur ein Wort gesagt, dann hätte Garth ihn mit Wonne auf der Stelle getötet, wahrscheinlich mit bloßen Händen. Er war absolut nicht in der Stimmung, mit Fremden zu palavern, schon gar nicht mit Menschenwesen; der Kult des Aghad bestand zum überwiegenden Teil aus Menschenwesen. Nur wenige Über menschen interessierten sich für so ätherische Dinge wie Religion. Nur die Tatsache, dass der Wachtposten sowohl Garth als auch Kyrith sofort erkannte, rettete ihm das Leben; er war so schockiert von dem Anblick der Leiche, dass er keinen Ton herausbrachte, und als er einigermaßen seine Fassung wiedererlangt hatte, sagte ihm ein einziger Blick in Garths blutrote Augen, dass es besser für ihn sei, wenn er den Mund hielte. Er trat respektvoll beiseite und ließ den Übermann und das reiterlose Kriegstier unbehelligt passieren. Als sie ein Stück des Weges hinaufgegangen waren, überlegte er, wie er sich verhalten sollte. Eigentlich hätte er jetzt vorauslaufen und ihre Ankunft im Dorf melden müssen; Garth jedoch wohnte in Skelleth, so unwillkommen seine Anwesenheit einem Teil der Dorfbewohner auch sein mochte. Außerdem hatte der Übermann nicht so ausgesehen, als lege er Wert auf ein Begrüßungskomitee. Daher beschloss er – und ein kurzer Blick auf den gepanzerten Rücken des Übermanns bestärkte ihn in diesem Entschluss, es lieber auf einen Rüffel wegen Verletzung seiner Pflichten ankom men zu lassen, als sich den Zorn des Übermannes einzuhandeln. Er blieb, wo er war. -92-
Die Außenbezirke Skelleths bestanden zum größten Teil aus un bewohnten Ruinen, Erinnerung an das lange Siechtum der Stadt; nur der zentrale Bereich rings um den Marktplatz war bewohnt. So kam es, dass Garth ein ganzes Stück durch leere Straßen ging, durch Schutthaufen und Trümmer, ehe er wieder von Menschen augen gesichtet wurde. Wie der Posten am Tor erkannten ihn auch die Dorfbewohner sofort, die ihn kommen sahen. Die Erinnerung an die Zerstörung Skelleths und der Anblick des Kriegstieres an seinen Fersen ließ sie ehrfurchtsvoll beiseite treten und ihm kommentarlos Platz ma chen. Ihre traditionelle Angst vor Übermännern hatte sich im Verlaufe der drei Jahre friedlichen Handels zwar weitgehend verflüchtigt, aber Garths Ruf als unberechenbarer Berserker, der Anblick der Leiche auf seinen Armen und die Gegenwart des Kriegstieres reichten aus, um selbst die Kecksten unter ihnen aus dem Weg spritzen zu lassen. Er erreichte unbehelligt den Marktplatz, ohne auch nur ein Wort gesprochen zu haben. Dort angekommen, legte er Kyriths Leiche vorsichtig auf den Boden, dann wandte er sich dem neuerbauten Haus an der Ostseite des Platzes zu und brüllte: »Saram!« Sofort flogen Fenster auf, und Gesichter spähten heraus. Saram war nicht darunter, aber Garth erkannte eines, das in einem Fens ter im Obergeschoss des Hauses erschien. Er zeigte auf das Mäd chen und schrie: »He, du da! Sag Saram, er soll auf der Stelle nach draußen kommen!« Das Mädchen – es war Sarams Haushälterin – verschwand sofort vom Fenster. Kurz darauf öffnete sich die Haustür, und eine der Buchhalte rinnen des Barons steckte den Kopf heraus. »Mein Herr Saram hat im Moment zu tun, Herr Garth!« rief sie. »Was kann ich für Euch tun?« -93-
Garths Hand zuckte zum Schwertgriff. Dann erwiderte er, ganz langsam und klar und ohne zu schreien: »Du wirst Herrn Saram ausrichten, wenn er nicht hier draußen ist, bis ich bis zwanzig ge zählt habe, dann wird er den Sonnenuntergang nicht mehr erleben — und sein stinkendes Dorf den Sonnenaufgang des morgigen Tages.« Das geschäftsmäßig-freundliche Lächeln verschwand augen blicklich vom Gesicht der Buchhalterin und machte einem entsetz ten Staunen Platz. Sofort verschwand sie nach drinnen; die Tür ließ sie offenstehen. Garth machte sich gar nicht erst die Mühe zu zählen; wie er erwartet hatte, erschien Saram nach wenigen Sekunden auf der Türschwelle, ein Mundtuch in der Hand. Der Baron von Skelleth schaute sich nicht erst lange um, sondern starrte direkt auf den Übermann. »Was ist, Garth?« fragte er; eine Spur von Verärgerung schwang in seiner Stimme mit. Garths Antwort war tonlos und von tödlicher Schärfe. »Komm her, Mensch!« Saram leistete der Aufforderung widerspruchslos Folge; er kannte Garth gut genug, um zu wissen, dass es besser war, wenn er gehorchte. Auf halbem Wege gewahrte er plötzlich Kyriths Leiche am Boden und blieb wie angewurzelt stehen. Nach einem kurzen Moment des Zögerns ging er weiter und hielt wenige Schritte vor dem Übermann an, den Blick entsetzt auf die Leiche geheftet. »Was ist passiert?« »Das will ich von dir wissen, Mann, oder ich brenne diese Stadt bis auf die Grundmauern nieder. Wie konnte es dazu kommen?« »Ich weiß es nicht, Garth, das schwöre ich dir bei allen Göttern! Sie kam vor zwei Tagen in die Stadt und suchte nach dir; sie sagte, du hättest eine dringende Nachricht an sie gesandt, sie solle so schnell wie möglich nach Skelleth kommen. Wir sagten ihr, das -94-
müsse ein Irrtum sein, du seist schon seit mehreren Tagen fort; und das war das letzte, was wir von ihr sahen — bis jetzt. Ich dachte, sie wäre wieder nach Norden zurückgereist, nach Hause.« »Du hast sie also vor zwei Tagen das letzte Mal lebend gesehen.« »Ja, ungefähr; warte — es war am späten Nachmittag vorges tern.« »Sie ist aber erst seit höchstens ein paar Stunden tot, Saram. Wo war sie in der Zwischenzeit?« »Das weiß ich nicht, ich schwöre es dir.« Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen Moment, dann schaute der Baron wieder auf die Leiche. Garth streckte die Hände aus und packte den Baron bei seinem reichbestickten Kragen. »Was weißt du über den Aghad-Kult?« fragte er mit schneidender Stimme. Verblüfft schaute Saram zu ihm auf. »Aghad-Kult?« echote er mit fragendem Blick. »Den gibt es doch gar nicht mehr, oder? Ich habe noch nie gehört, dass irgend jemand außerhalb Dûsarras ihn oder irgendeinen anderen der dunklen Götter verehrt hat; und Dûsarra ist doch vom Weißen Tod heimgesucht worden.« »Sieh dir ihre Stirn an, Mensch!« Garth ließ Sarams Kragen los und packte ihn statt dessen bei seinem sauber getrimmten Nackenhaar und zog seinen Kopf so weit hinunter, bis er ganz dicht über Kyriths Gesicht war. Dann fügte er, während der Baron hinschaute, hinzu: »Und eine Nachricht war auch noch dabei, eine magische, die sich selbst vernichtete, sobald ich sie gelesen hatte. Der Kult des Aghad existiert noch immer, und seine Anhänger haben mein Weib getötet.« »Ich weiß nicht das geringste über diesen Kult«, beharrte Saram, nachdem Garth ihn losgelassen hatte. »Vielleicht ist es irgendein
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anderer Feind von dir, der damit versucht, die Schuld jemand anderem in die Schuhe zu schieben.« »Was für ein Feind sollte das sein?« »Wie soll ich das wissen? Vielleicht ist es dieser Magierbund, der vor drei Jahren versucht hat, dich zu töten.« »Warum sollten sie Kyrith umbringen? Wieso sollten sie mich nicht direkt angreifen? Ich genieße nicht mehr den Schutz des Schwertes des Bheleu; das dürften die Zauberer wissen. Wenn sie sich an mir rächen wollten, würden sie mich schlicht töten, und zwar in einem direkten Angriff, so wie sie mich damals auch di rekt angegriffen haben. Nein, Saram, hier handelt es sich um Grausamkeit um ihrer selbst willen; dies ist das Werk schlechter Menschen, einfach so einen Unschuldigen zu töten, bloß um mich zu treffen. Es muss das Werk eines der Kulte sein, die ich erzürnt habe. Die Anhänger Bheleus sind allesamt tot; der Priester des Todes ist ein harmloser alter Mann. Und dem Kult der P‘hul habe ich nichts getan. Bleiben vier übrig: Tema, Andhur Regvos, Sai und Aghad. Nur Aghad arbeitet mit Lug und Trug; wäre einer der anderen Kulte für den Tod Kyriths verantwortlich, dann hätte er sich offen zu seiner Tat bekannt. Für die Jünger des Aghad wäre es geradezu ein Verstoß gegen die Regeln ihres Kults, nicht zu lügen und den Verdacht nicht auf andere zu lenken, aber von den anderen Kulten käme keiner überhaupt auf den Gedanken, den Verdacht auf den Aghad-Kult zu lenken. Diese Tat trägt die Handschrift der Aghaditen; jemand anderes kommt überhaupt nicht in Frage, da bin ich mir absolut sicher.« »Was willst du dann von mir?« fragte Saram vorwurfsvoll. »Ich bin kein Aghadit.« »Du bist der Baron von Skelleth. Was immer in dieser Stadt und auf dem umliegenden Territorium geschieht, du bist dafür verant wortlich.« -96-
»Ich lasse mir nicht die Schuld an diesem Mord anhängen, Garth.« »Du hast immerhin auch zugelassen, dass der Kult des Aghad in deinem Herrschaftsbereich sein Unwesen treibt.« »Das habe ich nicht! Ich sagte dir doch, ich dachte, der Kult sei längst ausgelöscht.« »Der Kult ist, wie du siehst, nicht ausgelöscht, Saram, aber wenn dir dein Leben lieb ist, dann wirst du alles in deiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass er bald ausgelöscht ist.« »Natürlich werde ich das! Glaubst du, ich will, dass noch mehr Morde geschehen? Glaubst du, ich bedaure diesen Mord hier nicht ebenso wie du? Kyrith war meine Freundin, Garth, so wie du mein Freund bist. Was man dir antut, das tut man auch mir an. Ich wünschte, ich könnte das, was geschehen ist, ungeschehen ma chen, aber ich ein Sterblicher wie du; ich kann die Zeit nicht zu rückdrehen.« Garth erwiderte darauf nichts; die Wortwahl von Sarams Verteidigung erinnerte ihn daran, dass er sich noch um andere Dinge zu kümmern hatte. Wie Saram gesagt hatte, er war auch nur ein normaler Sterblicher und konnte Kyrith ebenso wenig wieder zum Leben erwecken wie er, Garth; aber es gab eine Per son in Skelleth, die mehr war als ein gewöhnlicher Sterblicher. Der Vergessene König war der Auserwählte des Todesgottes; er lebte seit Jahrhunderten, vielleicht sogar seit Jahrtausenden und besaß Macht und Fähigkeiten, die die eines gewöhnlichen Priesters oder Hexers weit überstiegen. Aber er war auch ein verräterischer alter Ränkeschmied. Garth sagte das Saram nicht, aber er argwöhnte, dass, wenn es irgendwo auf der Welt irgend jemanden außer den Aghaditen gab, der mit dem Tod von Kyrith in Zusammenhang stehen konnte, dann war es der Vergessene König. Seine Rolle dabei – wenn er denn damit -97-
zu tun hatte – konnte sich auf die des indirekten Anstifters und Ermunterers beschränken, genauso gut konnte er aber auch das ganze Komplott selbst geschmiedet und durchgeführt haben, um es dann den Aghaditen in die Schuhe zu schieben. Zuzutrauen war ihm das jederzeit. Natürlich konnte der alte Mann mit der ganzen Angelegenheit nicht das geringste zu tun haben, aber da für hätte Garth seine Hand nicht ins Feuer gelegt; der Vergessene König hatte in Garths Leben schon zu oft eine zwielichtige Rolle gespielt, als dass er die Möglichkeit seiner Komplizenschaft ausge schlossen hätte. Der alte Mann war es gewesen, der ihm den Vor schlag gemacht hatte, nach Orgûl zu ziehen und den Drachen zu töten; damit hatte er sich ausreichend Zeit verschafft, um seinen teuflischen Plan ungestört in die Tat umzusetzen. Vielleicht hatte der alte Mann den scheußlichen Mord auch aus einem perversen, eigennützigen Motiv geplant; vielleicht wollte er Garth damit zu irgendeiner Tat anstacheln, die der Übermann un ter normalen Umständen vermieden hätte. Genauso wahrscheinlich aber war es, dass der Aghad-Kult die Gelegenheit, die Garths Abwesenheit bot, beim Schopf ergriffen hatte, und dass der alte Mann überhaupt nichts damit zu tun hatte. All dies war Garth durch den Kopf gegangen, als er Kyriths Lei che durch das Dorf zum Marktplatz getragen hatte; die Möglich keit, dass der König in diese Sache verwickelt war, hatte sich ihm sofort aufgedrängt, sobald er nach dem ersten Schock wieder einen klaren Gedanken hatte fassen können. Er hatte sich fest vorgenommen, hier nachzuhaken, aber es war ihm zunächst einmal vordringlicher erschienen, im Dorf soviel wie möglich über die Umstände von Kyriths plötzlichem Auftau chen und ihrem Tod in Erfahrung zu bringen. Der Vergessene König mit seiner Abneigung, den Mund aufzumachen, wäre ihm
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dabei keine große Hilfe gewesen. Auch hatte Garth keine Zeit ver lieren wollen, Saram von dem Mord in Kenntnis zu setzen – sofern der Baron nicht schon davon wusste – und ihn auf die Umtriebe des Aghad-Kult in seinem Herrschaftsgebiet aufmerksam zu ma chen. Das hatte er nun getan; jetzt konnte er sich den Vergessenen König vornehmen. Sarams Worte hatten ihn auch auf eine Möglichkeit gebracht, an die er vorher gar nicht gedacht hatte. Der König, der kein norma ler Sterblicher war, stand unbestreitbar in Verbindung mit dem Gott-Dessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht; wenn es irgend je manden auf der Welt gab, der Kyrith vielleicht wieder zum Leben erwecken konnte, dann war es er. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf wandte Garth sich um, ließ Kyriths Leiche auf dem festgestampften Lehmboden des Markt platzes liegen, und marschierte zum Gasthof des Königs. »Pass auf, dass sich niemand an ihr zu schaffen macht«, rief er dem Ba ron über die Schulter zu, »und sieh zu, dass der Aghad-Kult aus Skelleth verjagt wird!« Saram starrte ihm mit offenem Mund nach, völlig verdutzt über diesen plötzlichen Sinneswandel. Erst scheuchte er ihn, Saram, Ba ron von Skelleth, vom Mittagstisch auf, packte ihn beim Kragen und überschüttete ihn mit Vorwürfen und Drohungen, bis er glaubte, sein letztes Stündlein habe geschlagen, und dann brach er die Unterhaltung plötzlich mittendrin ab und ging einfach weg. Auch Koros schien über das Verhalten seines Herrn überrascht zu sein; er gab einen tiefen fragenden Knurrlaut von sich, den der da vonmarschierende Übermann mit einem Befehl beantwortete, der soviel bedeutete wie »Bleib stehen und pass auf!« Saram schaute das Kriegstier an, bemerkte den glänzenden Metallvogel auf sei nem Sattel und war noch verwirrter als vorher. Was war das denn
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für ein Ding? Er schaute auf Garth, dann wieder auf Kyriths Leichnam und beschloss, erst einmal zu bleiben, wo er war, bis er dies alles in seinem Kopf verarbeitet und eingeordnet hatte. Garth marschierte über die Holzplanken, die das Loch bedeck ten, an dem einst das Haus des alten Barons gestanden hatte, überquerte den schmalen Streifen, der einst eine durch das Haus des Barons vom Marktplatz abgeschnittene Seitengasse gewesen war, und ging durch die offene Tür des Gasthauses. Die Taverne sah so aus wie immer; nichts deutete darauf hin, dass irgend etwas nicht so war, wie es sein sollte. Die schweren abgewetzten Tische standen da, wo sie immer standen, die großen messingbeschlagenen Fässer säumten noch immer die nach Wes ten hin liegende Wand des Schankraums, und der riesige steiner ne Kamin nahm wie eh und je den größten Teil der Ostwand ein. An der hinteren Wand war die Treppe zum Obergeschoss, und darunter, in der Ecke, stand der Tisch des Vergessenen Königs. Alles war sauber und ordentlich, mit dem matten weichen Schimmer behaftet, der nur das Ergebnis jahrhundertelanger Ab nutzung und Pflege sein konnte. Der Wirt stand bei einem seiner Fässer, einen Krug und einen Lappen in den Händen; zwei Gäste unterhielten sich beim Wein. Der Vergessene König saß regungslos an seinem angestammten Platz in der Ecke unter der Treppe. Garth marschierte quer durch den Schankraum. Er nahm sich gar nicht erst die Zeit, sich hinzusetzen, sondern stellte sich vor den Tisch und fragte: »Was hast du damit zu tun?« »Nichts«, krächzte der alte Mann. »Ist das alles, was du mir dazu zu sagen hast? Soll ich dir das so einfach abnehmen?« »Ich schwöre dir bei meinem Herzen und bei allen Göttern, beim wahren Namen des Gottes-Dessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht, -100-
dass ich nichts mit dem Mord an deinem Weib zu tun habe.« Ir gendein Teil von Garths Kopf wusste, dass der alte Mann dies in der Tat ernst meinte, sonst hätte er nicht so schnell und so aus führlich geantwortet; aber in seinem Zorn wollte er das nicht wahrhaben. »Und welchen Wert hat dein Schwur? Wie kann er dich binden? Der Tod hat keinen Schrecken für dich, alter Mann; in dieser Hinsicht hast du nichts zu verlieren – im Gegenteil. Auch brauchst du dich nicht um deine Ehre zu scheren; was brauchst du Ehre und Vertrauen, der du über unvorstellbare Macht verfügst und keinen anderen Wunsch mehr hast als den zu sterben? Dem Dienst an deinem Gott hast du entsagt; kann ich wissen, ob sein Name dich immer noch bindet?« »Sicher kannst du nicht sein, in der Tat. Schenk meinem Wort Glauben — oder lass es, ganz wie du willst.« Die schaurige Stimme des alten Mannes war so leblos wie immer. Garth war keineswegs so ruhig und gelassen; mit einem wort losen Brüllen sprang er vor und packte den Alten mit seiner riesigen Pranke bei der Gurgel. »Du elender verlogener Halunke!« schrie er. »Du Monstrum! Du wagst es, mich in meinem Schmerz auch noch zu verspotten?« In seiner unbändigen Wut scherte er sich wenig um Gerechtigkeit und Genauigkeit und ignorierte die Tatsache, dass, wenn überhaupt jemand Spott und Häme ge braucht hatte, er es gewesen war und nicht der König. Er drückte zu. Seine Hand wurde plötzlich schlaff und gefühllos und fiel mit einem dumpfen Schlag auf die Tischplatte. »Verzeihung, Garth. Ich habe vor langer Zeit schon einmal eine Weile mit einem gebrochenen Genick gelebt, und ich habe nicht den Wunsch, diese Erfahrung noch einmal zu machen.«
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Garth starrte hinunter auf seine Hand. Mit einem stechenden Schmerz kam das Gefühl wieder. Er hatte sich mehrere Knöchel an der eichenen Tischplatte aufgeschlagen. Der Schmerz klang rasch ab, aber er bewirkte, dass Garth zur Besinnung kam und seine Vernunft wieder die Oberhand ge winnen ließ. Der Vorfall hatte ihm klar demonstriert, dass der König Macht hatte. Garth konnte ihm nichts anhaben, aber er konnte sich seine Macht vielleicht zunutze machen. Nach einem Moment des Zögerns ging er um den Tisch herum und nahm gegenüber vom König Platz. »Ich bin es, der dich um Verzeihung bitten muss, o König«, sag te er ruhig. »Vergib mir; ich habe meinen Kummer mit mir durch gehen lassen. Ich bin nicht gekommen, um dich herauszufordern, sondern um dich um einen Gefallen zu bitten. Ich kenne die Gren zen deiner Macht nicht, o König; vielleicht bitte ich dich um etwas Unmögliches. Trotzdem, ich will es probieren. Kannst du Kyrith wieder lebendig machen?« Der König zögerte lange, ehe er langsam einmal den Kopf hin und her bewegte. »Nein, Garth; tut mir leid.« »Ist es nicht möglich?« »Ich kann es nicht.« »Warum nicht? Du bist der Hohepriester des Todes; hast du keine Macht über ihn?« »Du bittest mich um nichts Geringeres, als das Werk des Gottes ungeschehen zu machen. Konntest du mit dem Schwert des Bhe leu Dinge erschaffen oder wiederherstellen, was du mit ihm zer stört hast?« Garth musste zugeben, dass er dies nicht vermocht hätte; war doch das Wesen der Macht des Schwertes das Zerstören. Aber so schnell wollte er sich nicht geschlagen geben. »Und was ist mit
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deinen eigenen Zauberformeln? Du warst doch einmal ein mächtiger Zauberer aus eigenem Recht, nicht wahr? Kanntest du keinen Zauber, der Tote wieder zum Leben erwecken konnte?« »Wenn ich jemals einen solchen Zauber gekannt habe, dann habe ich ihn seit Jahrhunderten vergessen.« »Gibt es keinen Talisman, der dazu dienen könnte? Bheleu hat sein Schwert, und der Gott des Todes hat sein Buch; hat der Gott des Lebens kein Totem?« »Die Totems der Herren von Eîr verloren ihre Wirkung in der Mitte der Zeit, im Achten Zeitalter, als sich die Waage zum ersten Mal zu ihren Ungunsten zu neigen begann. Sie besitzen keine Macht mehr – so sie überhaupt noch existieren.« »Gibt es keinen Weg, dass die Waage sich wieder zur anderen Seite neigt?« Der alte Mann zuckte fast unmerklich die Achseln. »Es könnte einen solchen Weg geben; wenn, dann steht er im Buch der Stille. Letzteres ist nicht das Totem des Gottes-Dessen-NamenMan-Nicht-Ausspricht, sondern das des Dagha, des Gottes der Zeit, Schöpfer von Dûs und Eîr gleichermaßen.« Er hielt jäh inne, wie als hätte er noch mehr sagen wollen, sich dann aber im letzten Moment eines Besseren besonnen. Garth, der gespannt zugehört hatte, bemerkte dieses abrupte In nehalten, aber er vermochte es nicht zu deuten. Er ignorierte es daher und beschränkte sich darauf, über die Worte nachzudenken, die ihm vorausgegangen waren. Er war davon ausgegangen, dass das Buch der Stille das Totem des Gottes-Dessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht war; schließlich hatte der Vergessene König drei Jahre zuvor offensichtlich erwartet, dass er es auf dem Altar des Letzten Gottes finden würde, so wie er das Schwert des Bheleu auf dem Altar des Bhe leu, den Stein der Tema auf dem Altar der Tema und den Stein des Andhur Regvos auf dem Altar des Andhur Regvos gefunden -103-
hatte. Überdies brauchte der König das Buch für seinen großen letzten Zauber, und Garth war sich ziemlich sicher, dass dieser Zauber zum Ziel hatte, den Gott des Todes in die Welt der Sterbli chen zu holen. Auch das schien auf eine Verbindung zum Letzten Gott hinzudeuten. Garth wusste relativ wenig von der Theologie der Menschenwesen, und das meiste von dem wenigen, was er wusste, hatte er während seines Aufenthaltes in Dûsarra erfahren, aber er hatte den entschiedenen Eindruck, dass Dagha wenig Um gang mit Sterblichen hatte. Er hatte noch nie etwas von einem Dagha-Kult gehört, noch von einem Tempel, der diesem Gott geweiht war. Warum sollte dann ein so mächtiger Talisman mit dieser obskuren Gottheit in Ver bindung stehen? Es ergab keinen Sinn. Er kam zu dem Schluss, dass der König ihn anlog, in der Hoffnung, Garth werde eher geneigt sein, seinen Schwur zu halten und das Buch der Stille zu holen, wenn er sich davon die Wiedererweckung seines toten Weibes erhoffen konnte. Wenn er dem König dieses faule Betrugsmanöver nachweisen konnte, dann konnte er seine Verhandlungsposition gegenüber dem alten Mann vielleicht entscheidend verbessern. Er hatte für diese Schlussfolgerung kaum mehr als ein paar Se kunden gebraucht; die Gesprächspause war kaum als solche zu er kennen gewesen. »Sieh an«, sagte er. »Was ist denn dann das To tem des Todesgottes? Du hast es doch sicher, als sein Hoherpries ter und auserwähltes Werkzeug.« »Ich ließ es in Hastur zurück, in meiner Kapelle.« Die Stimme des Königs war noch leiser als gewöhnlich, ein kaum vernehmba res, knirschendes und kratzendes Flüstern. Er schien Garth nicht anzuschauen, obgleich Garth das nur spürte, aber nicht sehen konnte, da die Augen des Alten so unsichtbar blieben wie immer. »Hastur?« -104-
»Hastur, die Hauptstadt von Carcosa.« »Wo war dieser Ort? Die Kapelle ist doch gewiss schon längst nicht mehr existent; ich habe noch nie etwas von Hastur gehört, und Carcosa ist schon vor Jahrhunderten in Vergessenheit ge raten. Du bist der einzige, der sich noch daran erinnert.« »Die Barbaren nahmen die Stadt ein, und sie wurde zu Hasturdar-Mallek, Hastur-von-den-Barbaren, aber sie hätten sie nicht zerstören können, selbst wenn sie gewollt hätten. Also begruben sie sie, und auf dem alten Hastur errichteten sie Hastur-darMallek.« Die Stimme des Alten schien auf einmal auf eine selt same Weise lebendig. »Ich habe noch nie etwas von Hastur-dar-Mallek gehört, o König.« »Das war vor langer, langer Zeit, noch bevor die Übermänner erschaffen wurden; der Name wurde zu Ur-Dormulk verball hornt.« »Ur-Dormulk? Das war deine Hauptstadt?« Garth war sehr erstaunt. Er hatte den Vergessenen König ein- oder zweimal von seinem längst untergegangenen Reich Carcosa sprechen hören, aber er hatte den Geschichten keine Beachtung geschenkt. Er hatte nie bezweifelt, dass der alte Mann einstmals ein wirklicher König gewesen war, doch hatte er niemals ernsthaft angenommen, dass dieses verschwundene Königreich irgendeine Beziehung zu der Welt, wie sie jetzt war, der Welt des Vierzehnten Zeitalters, haben könnte. Und jetzt erfuhr er plötzlich, dass Ur-Dormulk, die älteste und unabhängigste von Erammas Städten und Skelleths Handelspart ner, die er auf seinen Reisen nach Dûsarra und Orgûl von weitem gesehen hatte, die einstige Hauptstadt des Vergessenen Königs war. Diese Enthüllung stellte eine neue und deutlichere Ver bindung zwischen seinem eigenen Zeitalter und der verschwom -105-
menen Vergangenheit des alten Mannes her. Irgendwie hatte Garth sie immer als zwei völlig verschiedene Welten gesehen, die nichts miteinander verband außer gewisse magische Objekte und der König selbst; er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es tatsächlich ein und dieselbe Welt war, getrennt nur durch die Zeit. Für ein paar Minuten herrschte Schweigen, während Garth diese Neuigkeit verdaute. Dann schob er diese Gedanken beiseite; sie waren jetzt nicht wichtig. »Du hast mir noch nicht gesagt, was es war, das du in deiner Ka pelle zurückgelassen hast.« #»Ich ließ beides dort zurück, die Bleiche Maske und das Buch der Stille, und ich versiegelte die Kammer mit dem Gelben Zei chen. Ich wusste, dass die Eindringlinge es nicht schaffen würden, daran vorbeizukommen, und dass sie – sollten sie es wider Erwarten doch schaffen – weder mit der Maske noch mit dem Buch etwas würden anfangen können; dennoch stellte ich der Form halber einen Wachtposten auf. Ich legte damals noch großen Wert auf Form und auf meinen Ruf als großer Zauberer.« »Dann ist es dir also wieder eingefallen? Das Buch der Stille be findet sich also in der Kapelle? Welch ein glücklicher Zufall, dass du dich gerade jetzt wieder daran erinnerst!« Garth bemühte sich gar nicht erst, den Hohn aus seiner Stimme herauszuhalten; er war absolut sicher, dass es kein Zufall war, dass der König just in dem Moment sein Gedächtnis wiederfand, als er Garth angedeutet hatte, dass ihm das Buch der Stille vielleicht von Nutzen sein könnte. Der alte Mann schien Garths Bemerkung gar nicht wahr zunehmen; er schien ganz versunken in seine Erinnerungen. Je denfalls gab er dem Übermann keine Antwort.
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»Meinst du, ich sollte das Buch sofort holen, auf dass Kyrith vielleicht wiedererweckt werden kann?« Garths Ton war noch immer leicht sarkastisch, aber es schwang auch Hoffnung in ihm mit. Der Vergessene König fuhr ruckartig hoch, und der zerfranste Rand seiner Kapuze flog hoch. »Nein!« »Nein?« Garths Verblüffung war echt. »Deine Frau ist tot, Garth«, sagte der alte Mann, »und ich wüsste nicht, wie sie dir wiedergegeben werden könnte. Selbst wenn sich die kosmische Waage wieder zur anderen Seite neigen sollte und das Totem des Lebensgottes gefunden und von seinem rechtmä ßigen Herrn benutzt würde (denn ich versichere dir: Wir, die wir der Zerstörung und dem Tode verpflichtet sind, könnten es nie mals berühren), bezweifle ich, dass es die Leiche in etwas Besseres als ein halbverfaultes Stück Gemüse verwandeln könnte. Es ist schon zuviel Zeit verstrichen.« »Ist also Zeit der springende Punkt? Könnte mit Hilfe des Bu ches der Stille nicht auch der Gott der Zeit dazu gezwungen werden, das, was geschehen ist, wieder ungeschehen zu machen?« »Nein. Ich glaube nicht, dass das Buch kostbaren Platz für etwas derartig Gewöhnliches verschwendet.« »Das Zurückdrehen der Zeit, die Wiedererweckung vom Tod, so etwas nennst du gewöhnlich? Wieso ist dir dann plötzlich ein gefallen, wo es liegt? Was kann es mir dann jetzt nützen?« »Hinter meinem plötzlichen Erinnern steckt keine Arglist, Garth; was mir die Erinnerung wiederbrachte, war deine Erwähnung des Totems des Todesgottes, der Bleichen Maske. Ich hatte das Buch von Dûsarra mitgebracht, damit ich meine beiden großen ma gischen Schätze zusammen an einem sicheren Ort aufbewahren konnte.«
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»Und du hast drei Jahre gebraucht, um dich an eine so simple Einzelheit zu erinnern?« »Drei Jahre, sagst du? Drei Jahrhunderte, ja drei Jahrtausende hatte ich nicht mehr daran gedacht. Vielleicht sollte ich es nicht; auch wenn ich die Maske derzeit nicht direkt handhabe, hat mich keine größere Macht von meinem Herrn befreit, so wie ich dich von Bheleu befreit habe. Das Zeitalter des Todes ist noch nicht ge kommen, aber der Tod herrscht in jedem Zeitalter.« Dies war eine weitere Neuigkeit für Garth, die er erst einmal verarbeiten musste. Ihm war noch nie der Gedanke gekommen, dass der Vergessene König ja selbst ein Opfer der Machenschaften und Ränke der Göt ter sein konnte; die Tatsache, dass er unsterblich war, hatte derlei Erwägungen gar nicht erst in ihm aufkommen lassen. Er war immer davon ausgegangen, dass der alte Mann keinen Kontakt mehr mit den Göttern gehabt hatte, seit er aus den Diensten des Gottes-Dessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht ausgeschieden war, dass er keinen Umgang mehr mit jemandem hatte, der mächtiger war als er selbst. Der Gedanke, dass sein Patron noch immer Einfluss auf ihn hatte, dass er ihn vielleicht gegen seinen Willen in irgendeinen göttlichen Plan einbezog, war äußerst beunruhigend. Überhaupt wurde ihm die ganze Unterhaltung allmählich unbe haglich; sie glitt ihm langsam aus der Hand. Er war in der Absicht gekommen, ein paar simple Fragen zu stellen und ein paar simple Antworten zu erhalten. Er hatte lediglich wissen wollen, welche Rolle der König beim Tod seiner Frau gespielt hatte und ob es eine Möglichkeit gab, sie wieder ins Leben zurückzuholen. Er hatte keine Einzelheiten aus dem Leben des Königs oder irgend etwas über das Buch der Stille erfahren wollen, das ihn an seinen falschen Eid erinnern würde. Der König war gesprächiger als je mals zuvor in den drei Jahren, die Garth ihn kannte, aber alles, was er sagte, drehte sich um seine eigenen Probleme und nicht um die Garths. -108-
In einer Mischung aus Zorn und Verzweiflung erklärte Garth: »Das interessiert mich alles nicht. Beantworte mir meine Fragen.« Der König schwieg. »Kennst du irgendeinen Weg, ganz gleich wie phantastisch oder schwierig er auch sein mag, wie Kyrith wieder zum Leben erweckt werden könnte?« »Nein.« Die Antwort war kurz, knapp und unmissverständlich. »Besteht die Möglichkeit – wie vage auch immer –, dass es vielleicht einen Weg gibt, der dir nicht bekannt ist?« bohrte Garth hartnäckig weiter, entschlossen, erst dann aufzugeben, wenn wirklich alle Möglichkeiten erschöpft waren. Und wieder war die Antwort ein klares »Nein«. Damit schien es endgültig besiegelt; Garth fiel beim besten Willen keine neue Formulierung mehr ein. Möglich, dass der alte Mann log, aber wenn es so war, hatte er keine Möglichkeit, ihm die Wahrheit zu entlocken. »Und du hast wirklich nichts mit ihrem Tod zu tun?« »Nein. Ich pflege zu meinem Wort zu stehen.« Der Nachsatz versetzte Garth einen Stich, und er fragte sich, ob der alte Mann vielleicht wusste, dass er nicht beabsichtigte, sein Wort zu halten. Er brauchte ein paar Sekunden, um sich klarzu machen, dass der König überhaupt keine Veranlassung gehabt hatte, seinen Schwur zu erwähnen, denn der König verlor nicht gern unnötige Worte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als daraus den Schluss zu ziehen, dass er sehr wohl wusste, dass der Über mann einen falschen Schwur geleistet hatte, als er sich einver standen erklärt hatte, das Buch der Stille zu holen, und dass er ihn mit seinem Nachsatz auf so taktvolle Weise wie möglich darauf hatte hinweisen wollen.
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Aus welchem Grund er das indes tun sollte, war ihm nicht klar. Vielleicht, überlegte er, wollte der König ihn damit beschämen und an seine Pflicht ermahnen, ohne ihn in die Enge zu treiben. Garth lehnte sich zurück, so dass sein Stuhl unter seinem Gewicht knarrte und ächzte, und dachte schweigend hierüber nach. Im fernen Dûsarra entschied unterdessen Haggat nach einem Blick durch sein Sehglas, dass dies eine ideale Gelegenheit für den als nächstes geplanten Schritt war. Er gab seiner wartenden Akolytin ein Zeichen, worauf sie sofort loseilte, um einem Priester, der eigens für die Durchführung des kommenden Schritts ausge bildet worden war, Bescheid zu geben, dass es Zeit zum Anfangen sei. Einen Augenblick später, im Gasthof des Königs in Skelleth, fla ckerte etwas plötzlich am Rande von Garths Sichtfeld auf. Er fuhr verdutzt herum, die Hand blitzschnell am Griff seines Dolches, da der Tisch ihn daran hinderte, sein Schwert zu zücken. Das Aufblitzen war nicht, wie er im ersten Moment geglaubt hatte, das Spiegeln des Kaminfeuers auf dem Metall einer Rüstung oder einer Klinge. Hinter ihm war niemand. Das Aufleuchten war von etwas gekommen, das er nicht identifizieren konnte, von einem verschwommenen roten Licht, das mitten in der Luft hing und schwach glomm. Es schwebte vor ihm in Augenhöhe, vielleicht einen Fuß breit und anderthalb Fuß hoch, ein roter Farbfleck, der sich verschwommen gegen den dunklen Hintergrund des Schankraums abhob. Hier waren offenbar magische Kräfte am Werk. Er behielt die Hand an seinem Dolch, obwohl ihm klar war, dass gewöhnliche Waffen gegen diese Erscheinung — was immer sie war — macht los waren. Verschiedene Möglichkeiten für die Herkunft des Dings schossen ihm durch den Kopf. Es konnte eine Manifestation -110-
Bheleus sein, der gekommen war, ihn für sich zurückzugewinnen, mit oder ohne Schwert. Es konnte eine Sendung von jenem Zaube rerrat sein, der vor drei Jahren versucht hatte, ihn zu töten, da er in ihm eine Bedrohung für den Frieden Erammas gesehen hatte. Es konnte irgendeine Teufelei sein, die der Vergessene König er sonnen hatte, aus irgendwelchen Gründen, die nur ihm bekannt waren; ebenso gut konnte es aber auch ein erneuter »Gruß« vom Aghad-Kult sein, als ein Teil seines Rachefeldzugs gegen den Übermann. Er hatte sich, dachte er grimmig, schon entschieden zu viele Feinde in seinem Leben geschaffen, und zu viele von ihnen besa ßen übernatürliche Kräfte. Die Erscheinung veränderte sich, während er hinschaute; sie wirbelte und dehnte sich und zog sich zusammen, nicht wie Rauch oder Flüssigkeit, sondern als wäre sie aus fließendem Licht. Jetzt schwoll sie an, und in ihrem Innern tauchten Schatten auf. Rot war Bheleus Lieblingsfarbe, aber sein Rot war das helle Rot von Feuer oder frischem Blut; dieses Ding je doch war von einem dunkleren, bräunlicheren Ton, vergleichbar mit der Farbe von ge ronnenem Blut. Des Königs Farbe war Gelb, man nannte ihn deshalb sogar mancherorts den »König in Gelb«, aber natürlich konnte er auch jede andere Farbe benutzen; die Zauberer des Rates hatten seinerzeit Zauber in verschiedenen Farben verwendet. Er konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass dieses Ding hier von den Aghaditen stammte; dieses ungesunde, un ansehnliche Rot passte einfach zu ihnen und zu ihrem widerlichen Gott. Während ihm dies noch durch den Kopf ging, löste sich das Ge bilde plötzlich zu einem Bild auf. Es war ein Gesicht, ein menschli ches Gesicht, aber verzerrt zu einer höhnischen Grimasse; unter der Oberlippe ragten sichelförmig gebogene Fangzähne hervor.
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Garth starrte verdutzt; er wusste, er hatte dieses Gesicht oder eines, das ihm sehr ähnelte, irgendwo schon einmal gesehen. Er blickte sich um; der Vergessene König schenkte der Manifes tation nicht die geringste Beachtung, er schien überhaupt voll kommen abwesend. Aber der Wirt starrte entsetzt auf das verzerr te Gesicht. Die anderen Gäste waren gegangen. Garth drehte sich wieder um; die Erscheinung war noch immer da, sie hing reglos in der Luft, als warte sie auf etwas. »Was bist du? Warum bist du hier?« fragte Garth mit schneidender Stimme. »Sprich, Vision, und erkläre dich!« Das Gesicht verzog sich zu einem Grinsen und erwiderte: »Sei gegrüßt, Garth. Es freut mich zu sehen, dass es dir so gut geht, dass du einen trinken und die Zeit mit diesem betrügerischen Tattergreis verbringen kannst.« Die Stimme war ein tiefes grollendes Brummen, tiefer als die Stimme eines Menschenwesens und gar nicht leicht zu verstehen: Sie sprach mit einem völlig fremden Akzent, den Garth irgendwo schon einmal gehört hatte. »Wer bist du?« wiederholte er. »Erkennst du mich nicht? Hast du mein Bild nicht mehr in Er innerung?« »Du kommst mir irgendwie bekannt vor, aber ich weiß nicht, wo ich dich hinstecken soll.« »Oh, ein so kurzes Gedächtnis, und das bei einem Übermann! Es ist kaum drei Jahre her, dass du in mein Haus eingedrungen bist und meinen Altar zerstört hast.« »Aghad!« Schlagartig fiel Garth wieder ein, wo er dieses Gesicht gesehen hatte: auf den kleinen geschnitzten Figuren, die auf dem Markt von Dûsarra feilgeboten wurden. Das erklärte auch den Ak zent; es war der von Dûsarra. »Du erinnerst dich tatsächlich! Ich fühle mich geschmeichelt!« -112-
»Du abartige, dreckige Kreatur!« spie Garth zwischen den Zäh nen hervor. Er zog die Möglichkeit, dass es sich hier möglicher weise um den Gott selbst handelte, gar nicht ernsthaft in Erwä gung; er war ziemlich sicher, dass er es wieder mit irgendeiner üb len Gaunerei der Kultisten zu tun hatte. Er erhob sich von seinem Stuhl, damit der Tisch ihm nicht im Weg stand, und zog sein Schwert. »Ich hatte schon befürchtet, du wärest gar nicht erfreut von meinem bescheidenen Versuch, dir den Gefallen zu vergelten, den du mir getan hast, aber ich vermute, du warst deiner Metze schon seit Jahren überdrüssig. Möchtest du mir nicht dafür danken, dass ich dich von ihr befreit habe?« Die Erscheinung grinste ihn teuf lisch an. Garths Schwert schnellte hoch und sauste wie ein Blitz herunter durch das Bild. Die Klinge schnitt einen schmalen Schwaden durch die ätherische Substanz des Dings, aber der Sprecher schien davon unbeirrt. Schlimmer noch, er schien Garths Streich über haupt nicht wahrgenommen zu haben. Garth war klar gewesen, dass er die Erscheinung nicht töten konnte, aber er hatte sich ins geheim doch eine Art magischer Rückkopplung erhofft. »Wie ich sehe, hast du dir noch nicht die Mühe gemacht, sie zu beerdigen; oder hattest du die Absicht, sie deinem Kriegstier zum Fraß vorzuwerfen? Wenn ja, kannst du es getrost tun; wir haben kein Gift bei ihr verwendet; dein Kriegstier wird also keine Magenschmerzen von ihr bekommen. Überhaupt haben wir nichts getan, was ihren Tod allzu sehr hätte beschleunigen können. Sie hat erfreulich lange gebraucht, bis sie tot war. Möchtest du gern wissen, wer der nächste auf unserer Liste ist?« Garth stieß einen wuterstickten Kehllaut aus und hieb erneut nach der Erscheinung, den Streich diesmal waagrecht führend. Die Klinge glitt widerstandslos durch die wabernde Substanz, die
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zwar jetzt geviertelt in der Luft hing, aber immer noch nicht die geringste Wirkung zeigte. »Rate doch einmal, Übermann!« dröhnte die Stimme hohn triefend. »Ist es eines von deinen anderen Weibern? Oder eines deiner Kinder? Oder deine Vettern vielleicht, oder dein Onkel? Deine Freunde im Stadtrat von Ordunin? Vielleicht wird der nächste ja gar kein Übermensch sein; vielleicht töten wir einen deiner Freunde hier in Skelleth. Wie wäre es zum Beispiel mit dem alten Mann? Vielleicht nehmen wir auch deinen be trügerischen Freund, den Schwindler Galt. Willst du nicht raten, Übermann? Oder willst du einfach warten und sehen, wer es ist?« Wieder hackte Garth nach dem Ding – mit dem gleichen Erfolg wie vorher, nur dass jetzt sechs Teile in der Luft hingen. Das Gesicht war nicht mehr klar erkennbar; die Ränder der einzelnen Segmente waren verwischt, was die Erscheinung noch grimassen hafter wirken ließ. Sie verzerrte sich zu einem höhnischen Grinsen und löste sich völlig in Luft auf, begleitet von langsam verklingendem Hohnge lächter. Garth starrte ihr einen Moment lang nach, dann sah er sich mit suchendem Blick im Schankraum um, vermochte aber keine Anzeichen weiterer übernatürlicher Erscheinungen zu entdecken. Das blanke Schwert noch immer in der Hand haltend, rief er: »Hört mir gut zu, aghaditischer Abschaum! Ich habe euch mehr als satt, elendes Rattenpack. Ihr schuldet mir ein Leben für den Tod meines Weibes und hundert weitere für die Art, wie ihr sie umgebracht habt. Ich schwöre euch, ich werde euch finden und vernichten, wo immer ihr euch auch verkriecht. Ich werde nach Dûsarra zurückkehren, euren Tempel zerschmettern und seine Trümmer zu Staub zermalmen. Eure lächerliche Magie wird euch nichts nützen; euer stinkender Kadaver von einem Gott wird euch
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nicht retten. Das schwöre ich euch, bei allem, was mir lieb und teuer ist!« Es kam keine Antwort; seine Worte verhallten in der Stille der fast leeren Taverne.
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Kapitel 7 Nach einem langen Moment gespannten, wachsamen Verhar rens gestand Garth sich schließlich ein, dass er im Augenblick nichts weiter tun konnte. Er steckte sein Schwert zurück in die Scheide, massierte sich die aufgeschlagenen Knöchel der rechten Hand und setzte sich wieder hin. Die Worte der Erscheinung nagten in ihm, besonders die Be merkungen über sein Versäumnis, den Leichnam seines Weibes zu bestatten. Aber schließlich brachte man einen Leichnam nicht in eine Kneipe, und außerdem hatte er gehofft, dass der Vergessene König sie vielleicht wiedererwecken könnte; das war ihm wichtiger erschienen, als sich um eine angemessene Ruhestätte für seine Frau zu kümmern. Er spähte zu dem Vergessenen König hinüber. Der alte Mann pflegte nie wegzugehen; er konnte also immer noch wiederkom men, wenn er sich entscheiden sollte, weiter mit ihm reden zu wollen. Wortlos stand er auf und marschierte zur Tür hinaus. Der König sagte nichts und machte auch keine Anstalten, ihn zurück zuhalten. Auf dem Markt hatte sich inzwischen eine Menge eingefunden, die sich um den Leichnam Kyriths drängte. Garth war groß genug, um über ihre Köpfe schauen zu können; er sah, dass sie re spektvollen Abstand zu dem Leichnam hielten. Ein junger Bur sche war auf den Sockel der Statue gestiegen, die neben dem Zentrum des Marktplatzes stand, um besser sehen zu können. Die Statue war einst der Körper eines jungen Diebes gewesen, der auf Befehl des früheren Barons von Skelleth vom Blick eines Ba silisken versteinert worden war.
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Die Anwesenheit der Gaffer verdross Garth; es geziemte sich nicht, dass diese Angehörigen einer niederen Spezies sich um Ky riths Überreste drängelten wie ein Wolfsrudel um den Kadaver eines Kriegstiers. »Verschwindet!« brüllte er. »Geht nach Hause, alle miteinander!« Erschrocken wandten sich die Gesichter der Dorfbewohner zu ihm um, aber niemand machte Anstalten zu verschwinden. Erst als er sich aufs Geratewohl zwei Frauen herausgriff und sie un sanft bei den Schultern packte und aus dem Ring der Gaffenden zerrte, kam Bewegung in die Menge, und einzelne wichen ängst lich zurück, als sie sahen, wie sich die beiden Frauen mit schmerz verzerrtem Gesicht die Schulter rieben. »Verschwindet!« wiederholte Garth. Er zog sein Schwert, um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen, und die Leute ver zogen sich in ihre Häuser oder in die angrenzenden Straßen. Wenig später befanden sich nur noch er und Saram auf dem Marktplatz. Gleich daneben stand Koros; die Kupfermöwe schimmerte matt auf seinem Sattel. Saram musterte Garth, darauf wartend, dass er etwas sagte. Der Übermann starrte einige Sekunden versonnen auf den Leichnam seiner Frau. Allmählich begriff er, dass sie wirklich tot war, für immer und ewig verloren. Sie war immer seine engste Vertrauensperson in Ordunin gewesen, viel mehr als seine beiden anderen Frauen; er bereute jetzt, dass er während der letzten Jahre nur noch so wenig Zeit mit ihr verbracht hatte. Er musste Ordunin von ihrem Tod benachrichtigen. Sie hatte Verwandte dort, nicht nur ihre Schwester und Mit-Frau Myrith, oder ihre andere Mit-Frau Lurith, sondern auch zwei Brüder so wie mehrere Neffen und Nichten. Und soweit er wusste, war auch ihre Mutter noch am Leben. Kyrith war die einzige von seinen Frauen, die ihm keine Kinder geschenkt hatte; Garth hatte das frü -117-
her bedauert, aber jetzt schien es ihm irgendwie beinahe tröstlich. So würden weniger Leute über ihren Tod bekümmert sein. Die Übermenschen der Nordwüste hatten keinen großen Hang zu prunkvollen Zeremonien und kannten auch keine Begräbnisse nach der Art der Menschenwesen; da die meisten von ihnen nicht an irgendeine Form von Weiterleben nach dem Tode glaubten, bestand für sie auch keinerlei religiöse Notwendigkeit für der artige Rituale. Es war vielmehr Brauch bei ihnen, die Beseitigung der Leiche mit der Aufteilung des Besitzes zu verbinden, sei es durch das Verlesen eines Testaments oder durch einen Rechtss pruch. Der Körper selbst wurde gewöhnlich im Ozean versenkt oder, in binnenländischen Gebieten, ohne großes feierliches Drumherum vergraben, sobald die Entscheidung über die Auftei lung des Erbes verkündet und die Identität des Verstorbenen und die Umstände seines Ablebens zweifelsfrei geklärt waren. Ein solches Verfahren wäre hier jedoch unpassend, entschied Garth. Den Leichnam nach Ordunin zu überführen, wäre schwie rig und unangenehm, und die Leute von Ordunin fänden es un rentabel und exzentrisch, wenn nicht verrückt. Und die Verlesung des Testaments in Skelleth abzuhalten, käme allen Betroffenen gleichermaßen bizarr vor, da bis auf ihn keiner ihrer Erben anwesend war und es auch sehr unwahrscheinlich war, dass einer von ihnen zu der Verlesung erscheinen würde; und auf die religi ösen und sentimentalen Menschenwesen würde es wahrscheinlich sehr gefühllos und pietätlos wirken. Es gab allerdings einen Präzedenzfall für die Trennung der Ze remonie von der Bestattung: Übermänner, die auf See starben, wurden kurzerhand über Bord geworfen, und das Erbschaftsritual wurde später an Land durchgeführt. Wenn ein Übermensch auf fremdem Territorium starb, überlegte Garth, musste die Prozedur demnach nach ähnlichem Muster ablaufen. Er würde den Leich
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nam in Skelleth bestatten lassen, und Kyriths Familienmitglieder würden die Erbschaftszeremonie in Ordunin abhalten, in Abwesenheit sowohl seiner, Garths, Person als auch der Leiche. Um das Ansehen und die Würde seiner Spezies bei den Men schenwesen zu wahren, erschien es ihm jedoch angeraten, irgend eine Art von Zeremonie abzuhalten, wenn auch vielleicht nicht ge rade eine richtige Begräbniszeremonie mit allem Pomp. Er würde sich also irgend etwas ausdenken müssen. Im Moment jedoch gab es keinen Grund zur Eile. Er wusste, dass die Menschenwesen mindestens zwei oder drei Tage warte ten, bevor sie ihre Toten begruben oder verbrannten. Diese Zeit spanne wollte er voll dazu nutzen, um nachzudenken, wie er Ky riths Andenken am besten ehren konnte. Er rief sich in Erinne rung, was er von den Sitten und Gebräuchen der Menschen gehört hatte, und brach das Schweigen, indem er sagte: »Sie muss feier lich aufgebahrt werden.« Saram hatte die ganze Zeit auf eine solche Andeutung Garths gewartet. »Ich lasse sofort eine Bahre herrichten, in meinem Audi enzzimmer«, beeilte er sich zu sagen. Garth nickte, und der Baron eilte zu seinem Haus. Dort angekommen, rief Saram die erstbesten Höflinge, die ihm über den Weg liefen, zu sich und schickte sie los, eine Bahre und feine Tücher zu besorgen. Er war sich darüber im klaren, dass es seinem Ansehen als Auto ritätsperson nicht gerade zuträglich war, wenn er Botengänge für den Übermann ausführte, aber das kümmerte ihn im Moment nicht sehr. Garth war in gewisser Weise sein Freund, und er hatte gerade einen schweren Schicksalsschlag hinnehmen müssen; unter diesen Umständen musste man ihm kleine Verstöße gegen die Etikette nachsehen. Es machte ihm daher nicht viel aus, wenn er herumkommandiert wurde. Er wusste, dass er sich um keinen -119-
Deut höflicher oder diplomatischer verhalten würde, wenn seine eigene Frau gerade ermordet worden wäre. Der pure Gedanke an Frimas Tod machte ihn für einen Moment schaudern; er schüttelte ihn ab und begann zu überlegen, was er tun konnte, um den AghadKult aus Skelleth zu vertreiben. Auf dem Marktplatz kniete Garth vor Kyriths Leichnam. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, woran sie letztendlich gestorben war; die Wunden auf ihrer Stirn und an ihren Handge lenken waren sicher nicht die Todesursache. Er tastete ihre Kehle ab; er fühlte zwar einige Schwellungen und Hautabschürfungen, aber erdrosselt war sie nicht worden, soviel stand fest. Er tastete hierauf ihre Brust ab; einige Rippen waren gebrochen. Plötzlich hielt er inne, zog seine Hand zurück und trat einen Schritt von ihrer Leiche zurück. Er hatte entschieden, dass es besser für seinen Seelenfrieden war, wenn er nicht wusste, was die Aghaditen ihr alles angetan hatten; es reichte ihm, zu wissen, dass sie tot war und dass sie für ihren Tod verantwortlich waren. Die Wunden auf ihrer Stirn mussten zugedeckt sein, überlegte er, wenn sie im Haus des Barons aufgebahrt lag, für jedermann sichtbar. Vorher würde er ihr das Blut von der Stirn abwischen müssen. Wenn er die Überreste seines Weibes schon menschlichen Ritualen unterwarf, dann würde er alles tun, was in seinen Kräf ten stand, um dafür Sorge zu tragen, dass die Zeremonie in einem würdigen Rahmen stattfand. Koros knurrte, und ein Schatten tauchte in Garths Augenwinkel auf. Er blickte auf und sah einen Menschen in einer weiten schwe ren Robe; das Gesicht war hinter einer tief heruntergezogenen Ka puze verborgen. Die Gestalt stand direkt neben ihm. Der Über mann vermochte nicht zu erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war.
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Die Leute von Skelleth trugen gewöhnlich keine Roben oder Umhänge; die Dûsarraner taten das jedoch, und diese Robe hatte die Farbe von geronnenem Blut. Garths Hand zuckte zum Schwertgriff. »Was willst du hier, Mensch?« fragte er die Gestalt. »Sei gegrüßt, Garth«, erwiderte sie. Ihre Stimme war männlich, entschied Garth, und hatte den gutturalen Akzent Dûsarras. Der spöttische Ton, in dem der Mann ihn begrüßt hatte, gefiel ihm nicht. »Ich überbringe dir eine Botschaft«, fuhr der Mann fort. »Was für eine Botschaft, und von wem?« Der Übermann schloss seine Hand um den Schwertgriff. »Wir haben soeben deinen Schwur vernommen und deine Ankündigung, uns in Dûsarra zu besuchen.« Garth zog sein Schwert, griff aber noch nicht an; er musste auf der Hut sein, dies roch förmlich nach einer Falle. »Du bist uns selbstverständlich jederzeit herzlich willkommen. Es würde uns ein Vergnügen sein, dich bei uns zu Gast zu haben; bei deinem letzten Besuch bist du so überstürzt abgereist! Diesmal musst du unbedingt zum Abendessen bleiben.« Garth konnte kein Anzeichen irgendeiner verborgenen Gefahr bemerken; trotzdem stand der Aghadit ruhig und gelassen da und gab seelenruhig seine Dreistigkeiten von sich, das blanke Schwert des Übermannes vollkommen ignorierend. Er trug wahrscheinlich einen Panzer, mutmaßte Garth. Er glaub te, ein gefüttertes Wams und ein Kettenhemd würden ihn schon ausreichend schützen. Und die Robe trug er, damit man den Helm und die Handschuhe nicht sehen konnte. »Wir haben jedoch eine kleine Bitte«, fuhr der Aghadit fort und zeigte mit ausgestrecktem, bloßem Finger auf Kyriths Leichnam. »Du bringst das Fleisch mit.« -121-
Mit einem unartikulierten Brüllen schwang Garth das Schwert und ließ es auf den Aghaditen niedersausen. In dem Moment jedoch, als die Klinge die Robe berührte, zer barst sie mit einem lauten Knall und unter einer gewaltigen roten Stichflamme in tausend Stücke. Verdutzt starrte Garth auf den schwelenden Stumpf, den er in der Hand hielt. Der Aghadit lachte laut auf, aber selbst in seinem Zustand äußerster Wut vermochte Garth die Nervosität, die in diesem Lachen mitschwang, her auszuhören, dieses Gezwungene, Angestrengte. Der Mann war sich seiner nicht so sicher, wie er den Übermann glauben machen wollte. Garth warf den nutzlosen Schwertstumpf beiseite und ging mit bloßen Händen auf den Aghaditen los. Eine dünne Fahne aus rotem Rauch wirbelte zwischen ihnen auf, aus dem Nichts kommend; Garth ignorierte sie, während der Mann hastig zurückwich. Er rannte noch nicht, fuhr lediglich zu rück, um Garths Händen auszuweichen. Garth wusste, dass er den Mann kriegen konnte; kein Mensch vermochte einem Übermann davonzulaufen. Er grinste und drang weiter auf den Aghaditen ein, der seinerseits immer weiter zurückwich. Der rote Rauch wurde dichter und dehnte sich aus, begann den Aghaditen einzuhüllen und zu spät erinnerte sich Garth, dass er einen ganz ähnlichen Rauch vor gar nicht allzu langer Zeit schon einmal gesehen hatte. Mit einem wütenden Knurren sprang er vor; jetzt galt es, keine Zeit mehr zu verlieren. Seine Finger be kamen den Saum der roten Robe zu fassen – und der Stoff löste sich zwischen ihnen in Luft auf. Der Aghadit war verschwunden. Wutentbrannt wirbelte Garth herum, nach weiteren Feinden Ausschau haltend, und stieß einen gellenden Schrei der Wut und des Entsetzens aus – Kyriths Leichnam verschwand soeben in einer roten Rauchwolke. -122-
Er stürzte vorwärts, aber in der Sekunde, die er brauchte, um bis zu der Stelle zu gelangen, an der der Leichnam lag, hatte dieser sich ebenso in Luft aufgelöst wie zuvor der Aghadit oder die Ag had-Fratze, die im Gasthof des Königs zu ihm gesprochen hatte. Taumelnd kam er in der Mitte des Marktplatzes zum Stehen und starrte mit wildem Blick um sich. Mehrere Dörfler standen in kleinen Gruppen zusammengedrängt in den angrenzenden Stra ßen und beobachteten ihn, leise miteinander tuschelnd. Garth wurde bewusst, dass sie den ganzen Vorfall mitbekommen hatten, seine Demütigung, das Verschwinden von Kyriths Leichnam. Sie hatten einfach dagestanden und gegafft; keiner von ihnen hatte auch nur einen Finger gerührt, um ihm zu Hilfe zu kommen. Aber warum hätten sie das auch tun sollen? Dachte er. Er war ein Fremder, einer, der nicht von ihrer Art war, im Gegensatz zu dem Aghaditen. Nun, dachte er in einem Anflug von bitterer Ironie, wenigstens hatten sie dem Aghaditen nicht auch noch Bei fall geklatscht. »Lasst mich in Ruhe!« fauchte er. »Verschwindet!« Ein paar der Gaffer gehorchten; der Großteil von ihnen blieb jedoch stehen. Garth warf ihnen einen drohenden Blick zu, was noch ein paar weitere veranlasste, sich zu trollen; einige jedoch erwiderten trot zig seinen Blick und wichen keinen Zoll von der Stelle. Da er im Moment keine praktische Alternative sah, beschloss er, sie schlicht zu ignorieren. Er wandte sich um und bückte sich, um den abgebrochenen Schwertstumpf aufzuheben. In dem Moment kam Saram aus der Tür seines Hauses gerannt. Der ganze Vorfall hatte kaum mehr als eine Minute gedauert, und der Baron hatte im ersten Moment gar nicht gemerkt, dass der Lärm draußen vor seinem Haus irgendeinen ernsteren Grund hatte. »Was ist passiert?« rief er. »Schweig!« fuhr Garth ihn an. -123-
Auch Frimas Kopf erschien jetzt hinter der Tür, aber sie sagte nichts. Saram blieb stehen, ließ seinen Blick suchend über den Marktplatz schweifen und richtete ihn dann auf die Stelle, an der Kyriths Leichnam gelegen hatte. Dann schaute er fragend auf Garth, verkniff sich jedoch weise, dem Übermann Fragen zu stellen. Garth stand da und starrte wütend auf den Schwertstumpf. Ir gendwie mussten die Aghaditen sich in den Besitz einer mächtigen Magie gebracht haben. Zwar hatten sie zweifelsohne auch schon seinerzeit, bei ihrer ersten Begegnung in Dûsarra, über gewisse magische Vorrichtungen oder Methoden verfügt, aber er hatte damals den klaren Eindruck gewonnen, dass ihre Fähigkei ten kaum über das Niveau von Taschenspielertricks hinausge gangen waren. Jetzt aber schienen sie echte Schwarzkunst anzu wenden. Der rote Rauch, der Leute verschwinden lassen konnte, war auch schon von jenem Zaubererrat benutzt worden, gegen den er gekämpft hatte, aber noch nie zuvor von den Priestern Ag hads. Auch der Schutzzauber, der sein Schwert hatte zerspringen lassen, war etwas, das neu in ihrem Repertoire zu sein schien, und dasselbe galt auch für das in der Luft schwebende Gesicht, das in der Taverne zu ihm gesprochen hatte. Ihm war bewusst, dass gewöhnliche Waffen gegen Magie machtlos waren. Den Zaubererrat hatte er nur mit dem Schwert des Bheleu besiegen können, und ohne dieses Schwert wäre er wahrscheinlich auch gegen den Hohenpriester des Aghad un terlegen gewesen, den er damals in Dûsarra getötet hatte. Er hatte das Schwert des Bheleu dem Vergessenen König gege ben, um sich von seiner zerstörerischen Macht zu befreien, aber jetzt, entschied er, war die Zeit gekommen, es sich wieder zurück zuholen. Mit seiner Hilfe würde er den Kult ausmerzen, und dann würde er es dem König zurückgeben. Ihm war klar, dass Bheleu
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alles daransetzen würde, um seine Macht über ihn wiederherzu stellen, dass er versuchen würde, Garths Körper und Geist in Besitz zu nehmen, aber er traute sich zu, dem widerstehen zu können und Bheleus zerstörerische Kraft nach seinem Willen len ken zu können, wenigstens so lange, bis er sein Werk vollendet und das Aghaditenpack mit Stumpf und Stiel ausgerottet hatte. Die Aghaditen hatten den Auserwählten des Gottes der Zerstö rung erzürnt, und folglich würden sie vernichtet werden. Garth war jedes Mittel recht, um dieses Ziel zu erreichen. Wie es aussah, brauchte er nun keine Zeit mehr damit zu vergeuden, sich um die Vorbereitungen für Kyriths Bestattung zu kümmern; er marschierte quer über den Marktplatz und in den Gasthof des Königs. Saram, Frima und mehrere andere Leute schauten ihm nach. Als er durch die Tür der Taverne verschwunden war, gingen die meis ten von ihnen ihrer Wege; Frima und Saram aber folgten ihm. Der Vergessene König saß noch immer in exakt derselben Haltung wie vorher an seinem Ecktisch. Der Übermann ging durch den leeren Schankraum und setzte sich ebenfalls wieder hin, so als hätte er nie seinen Platz verlassen. Saram und Frima nahmen einen Tisch weiter Platz, hielten sich jedoch zurück und taten nichts, um Garths Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Einen Moment lang herrschte absolute Stille im Raum. Garth wusste, dass die beiden Menschen hinter ihm saßen, aber er hatte keine Lust, in irgendeiner Form von ihrer Anwesenheit Notiz zu nehmen. Der König nahm von überhaupt nichts Notiz; er saß da und starrte wie immer auf den Tisch, den Blick scheinbar starr auf den kleinen Fehler etwa in der Mitte der Tischplatte geheftet. Der Baron und die Baronin schauten gespannt zu, gar nicht erst versu chend, ihre Sorge um Garth zu verbergen; sie schauten, sagten aber nichts.
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Schließlich brach Garth das Schweigen, indem er das Wort an den gelb berobten alten Mann richtete. »Sei gegrüßt, o König«, sagte er. Der König erwiderte nichts. »Ich bin gekommen«, fuhr, Garth fort, »um dich zu bitten, dass du mich von dem Schwur entbindest, den ich dir vor drei Jahren geleistet habe. Gib mir das Schwert des Bheleu zurück und entlasse mich aus meiner Verpflichtung, dir zu helfen, und alles ist wieder so, wie es vorher war.« Der alte Mann reagierte nicht; dafür platzte Saram heraus: »Garth, bist du verrückt geworden?« »Schweig, Mensch!« sagte Garth, ohne sich umzuschauen. »Das geht dich nichts an.« »Garth, dieses Teufelsding wird wieder Besitz von dir ergreifen und dich in den Wahnsinn treiben! Es könnte sehr gut sein, dass du Skelleth in deinem Wahn wieder zerstörst, und somit geht es mich sehr wohl etwas an. Ich kann nicht zulassen, dass du das Schwert noch einmal in die Hand bekommst.« »Schweig!« blaffte Garth. »Saram, ich brauche das Schwert, um Rache an Kyriths Mördern nehmen zu können; ihre Magie verleiht ihnen Schutz gegen gewöhnliche Waffen, und einen anderen Gegenzauber besitze ich nicht.« »Ich kann das nicht zulassen«, beharrte Saram. »Nicht in meinem Dorf, nicht, solange ich Baron bin.« Garth drehte sich zu ihm um und erwiderte: »Ich habe nicht die Absicht, mit dem Schwert in Skelleth zu bleiben. Sobald ich alles, was ich hier in diesem Dorf an Aghaditen aufstöbere, abgeschlach tet habe, erde ich nach Dûsarra reiten und ihren Tempel dem Erd boden gleichmachen, so wie ich es geschworen habe. Vielleicht komme ich gar nicht mehr zurück. Und wenn doch, werde ich
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vorher alles versuchen, um das Schwert loszuwerden, um es nicht wieder hierher mitbringen zu müssen. Und sollte ich es doch mit hierherbringen, dann sei versichert, dass ich alles tun werde, was in meinen Kräften steht, um mich seiner Kontrolle zu entziehen. Ich mag dieses Schwert nicht, aber ich brauche seine Kraft. Und nun lass mich bitte in Ruhe.« Saram hatte sich bei seinem Protest halb von seinem Stuhl erhoben, und er wäre auch stehengeblieben und hätte weiter protestiert, wenn nicht Frima ihn an seinem reich bestickten Ärmel wieder energisch zurück auf seinen Stuhl gezerrt hätte. Widerstrebend gab er nach und verzichtete auf eine Er widerung. Garth schaute ihn noch einen Moment lang scharf an, um si cherzustellen, dass er auch wirklich den Mund hielt, dann wandte er sich wieder dem Vergessenen König zu. »Verzeih, o König! Ich bitte dich noch einmal, lass uns unser Abkommen kündigen und gib mir das Schwert des Bheleu zu rück.« Der alte Mann sprach, ohne den Übermann anzublicken. »Nein. Du musst mir das Buch der Stille bringen.« Garth zögerte. Er konnte jetzt nicht mehr so tun, als stünde er zu seinem Schwur, und sich darauf verlassen, dass er das Buch ohne hin nicht würde holen müssen; der König hatte sich vor ein paar Minuten erst erinnert, wo er es zurückgelassen hatte und wo Garth es also finden würde. Garth hatte gehofft, indem er das Schwert zurückerhielte, könne er dem Problem auf elegante Weise aus dem Weg gehen und gleichzeitig seinen Schein von Ehre auf rechterhalten; jetzt sah es ganz so aus, als sei ihm dieser Luxus nicht vergönnt. Nun, da er Zeit hatte, in Ruhe über die Sache nachzudenken, wurde ihm klar, dass es mehr als naiv von ihm gewesen war zu glauben, der König werde ihn von seinem Schwur entbinden. -127-
Welchen Grund hätte er auch dazu haben sollen? Ihn interessierte wenig, ob er das Schwert des Bheleu hatte oder nicht; das einzige, was er wollte, war das Buch der Stille. Nein, korrigierte sich Garth, das stimmte so nicht ganz. Für den großen Zauber, den er plante, brauchte der König sowohl das Buch als auch das Schwert, wenn Garth ihn richtig verstanden hatte. Das machte es noch unwahrscheinlicher, dass er ihn von sei nem Schwur entband. »Dann lass uns meinen Eid für den Moment einmal vergessen«, schlug Garth vor, es auf eine neue Weise probierend. »Ich will dich nicht darum bitten, dass du mich aus meiner Pflicht entlässt, sondern schlicht darum, dass du mir das Schwert überlässt — meinetwegen nur vorübergehend, wenn dir das lieber ist.« »Wenn du deinen Schwur nicht widerrufen willst, wann willst du ihn dann erfüllen? Ich sagte dir bereits, dass ich jetzt weiß, wo das Buch der Stille ist.« Garth hatte Mühe, seinen aufsteigenden Zorn zu unterdrücken; es würde ihm nichts einbringen, wenn er ihn jetzt an dem alten Mann ausließ. Sein Gesicht war vor lauter Wut so schlaff und aus druckslos, dass ein Außenstehender, der dies nicht zu deuten wusste, ihn wahrscheinlich für einen Halbverblödeten gehalten hätte oder für einen Trunkenbold oder für einen, der unter der Wirkung eines narkotisierenden Tranks stand. Er hielt immer noch den albernen Schwertstumpf umklammert; um ein wenig von der unerträglichen Spannung in seinem Körper zu entladen, rammte er ihn mit voller Kraft in die Tischplatte. Die ausgezackte, abgebrochene Kante biss eine tiefe Kerbe in das Eichenholz, aber sie blieb nicht stecken, wie es eine richtige Klinge getan hätte. Statt dessen rutschte sie ab und schlitterte über die Tischplatte, einige Kratzer in das Holz scharrend. Garths Handgelenk knickte um,
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und seine ohnehin schon aufgeschlagenen Knöchel ratschten schmerzhaft über das Holz. Der Schmerz steigerte seine Wut noch, und er verlor die Selbst kontrolle. »Ich habe nicht vor, meinen Schwur zu halten, du hin terhältiger Betrüger!« brüllte er heraus. »Du hast mir mein Einver ständnis abgenötigt, weil du wusstest, dass ich keine andere Wahl hatte. Ich sterbe lieber in Schimpf und Schande, als dir zu helfen!« Hinter sich hörte er Frima ein ersticktes Ächzen ausstoßen und Saram scharf Luft holen. Der König hob den Kopf ein wenig und murmelte: »Dein Wort ist nichts wert? Dein Schwur bedeutet dir nichts?« Sich in die Enge getrieben fühlend, gleichzeitig spürend, dass er einen Fehler begangen hatte, erwiderte Garth, schon ein wenig kleinlaut: »Nein.« »Der Eid, den du vor noch nicht einer Stunde an dieser Stelle ge schworen hast, ist bedeutungslos?« Die Stimme des alten Mannes war wie ein Reibeisen, das an Garths Nerven rieb. Wieder flammte der Zorn in ihm auf, und er schrie: »Das habe ich nicht gesagt! Ich werde den Aghad-Kult vernichten.« »Kann ein Eid bindend sein und ein anderer, von derselben Zunge gesprochen, nichtig?« Garth, vollends in die Enge ge trieben, wusste nichts zu erwidern, und es folgte ein Moment angespannten Schweigens, Saram und Frima wagten nicht, sich einzumischen. »Garth«, sagte schließlich der alte Mann, und seine Stimme klang fast wieder normal, wenngleich ein leiser Unterton von Be kümmertheit — oder war es Sarkasmus? — in ihr mitschwang. »Ich vernehme dies mit Bedauern. Wenn du dich an deinen Eid nicht gebunden fühlst, dann muss ich dir einen neuen Handel vor schlagen. Du willst das Schwert des Bheleu, und damit die
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Anhänger des Gottes des Hasses und die, die schuldig sind am Tode deines Weibes, vernichten zu können. Ich will das Buch der Stille, damit ich einen bestimmten Zauber durchführen kann, bei dem zwangsläufig nicht nur ich, sondern auch viele andere den Tod finden werden. Ich werde dir das Schwert des Bheleu nicht jetzt sofort aushändigen; dennoch können wir beide das bekom men, was wir wollen. Du willst den Tod der Aghaditen. Ich will einen Zauber vollführen, der diesen ihren Tod bewirken wird.« Er hielt inne, und Garth sagte: »Was?« Der König senkte den Kopf wieder und sagte nichts. »Willst du damit sagen, dass dein Zauber den Aghad-Kult ver nichten wird?« Der alte Mann nickte. »Bist du sicher?« Der König zuckte die Achseln. Garth versuchte das soeben Gehörte zu verdauen; es fiel ihm schwer, denn seine immer noch schwelende Wut und seine Verwirrung erlaubten ihm kaum, einen klaren Gedanken zu fassen. Er war noch nie auf die Idee gekommen, dass dieser letzte große Zauber des Königs kontrolliert ablaufen könnte, dass der König vielleicht irgendeinen Einfluss darauf haben könnte, wer sterben würde, wenn er diesen Zauber vollführte. Garth war von der Vermutung ausgegangen, dass durch den Zauber der GottDessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht in die Welt der Sterblichen zitiert werden würde und dass der dergestalt befreite und ent fesselte Todesgott alle diejenigen töten würde, die sich in seiner unmittelbaren Nähe befanden. Vielleicht lag er mit dieser Spekulation vollkommen falsch. Vielleicht würde der Gott eine gewisse Anzahl von Toten als Tribut fordern, es aber dem, der ihn gerufen hatte — dem König
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also —, anheimstellen, selbst zu wählen, wen er opfern wollte, um den Todesgott wieder aus dem Reich der Sterblichen zu ver bannen. Was der König sagte, deutete genau darauf hin. Schließ lich und endlich war es in der Tat ja auch töricht anzunehmen, dass ein Gott räumlichen oder zeitlichen Beschränkungen un terlag; hieß es nicht, dass Götter überall und nirgendwo zur glei chen Zeit waren? Er traute jedoch dem König nicht. Hinzu kam, dass die Lösung, die der König vorschlug, etwas äußerst Unbefriedigendes an sich hatte: Garth wollte die Aghadi ten selbst töten, mit eigener Hand, er wollte mit eigenen Augen ihr Blut fließen und sie elendiglich verrecken sehen. »Ich ...«, begann er und hielt dann inne. »Ich weiß nicht so recht.« »Dann mache ich dir einen anderen Vorschlag: Du bringst mir das Buch der Stille, und ich leihe dir das Schwert des Bheleu. Für immer kann ich es dir freilich nicht überlassen, aber ich bin sicher, du wirst nichts dagegen haben, zu gegebener Zeit wieder von ihm befreit zu werden.« Garth ließ sich diesen Vorschlag durch den Kopf gehen und konnte, zornbenebelt, wie er noch immer war, auf den ersten Blick keinen Haken an ihm erkennen. Er würde das Schwert kriegen und mit ihm den Aghad-Kult auslöschen. Er ließ dabei gedankenlos die Tatsache außer acht, dass er sich damit wieder dem Gott der Zerstörung ausliefern würde; auch kam er gar nicht auf den Gedanken, dass Bheleu sich vielleicht nicht da mit bescheiden würde, nur Aghaditen zu töten. Was er indes sehr wohl bedachte, war die Tatsache, dass er dem Vergessenen König das Buch der Stille beschaffen würde, und nachdem er sich drei Jahre lang den Kopf darüber zermartert hatte, wie er darum herumkommen konnte, widerstrebte es ihm ungemein, so rasch nachzugeben, bloß weil der König jetzt be -131-
hauptete, dass die anderen Opfer seiner Magie die Aghaditen sein würden. Vielleicht sprach der alte Mann ja die Wahrheit; vielleicht würde er, Garth, ja tatsächlich keinem Unschuldigen irgendeinen Schaden zufügen, wenn er ihm das Buch der Stille holte. Auch wenn Garth in der Vergangenheit mehrmals vom König hereinge legt und durch Teilwahrheiten und missverständliche Andeu tungen in die Irre geführt worden war — direkt belogen hatte ihn der alte Mann, zumindest, soweit er wusste, noch nie. Es widerstrebte ihm, eine Entscheidung von solcher Tragweite übers Knie zu brechen, aber er spürte, dass er keine Zeit verlieren durfte, wenn ihm die Mörder seines Weibes nicht entwischen soll ten. Aber andererseits brauchte er ihre Verfolgung erst gar nicht auf zunehmen, wenn er nicht das Schwert des Bheleu hatte. Ohne das Schwert konnte er nichts gegen ihre Magie ausrichten. Wenn er auf das Angebot des Königs einging, würde er, zu mindest zeitweilig, im Besitz entweder des Buches oder des Schwertes sein, und er war sich so gut wie sicher, dass der König beide für seinen letzten großen Zauber brauchte. Wenn bis dahin seine Zweifel an den lauteren Absichten des Königs noch immer nicht zerstreut sein würden, konnte er sich immer noch weigern, entweder das Schwert oder das Buch herauszurücken, je nach dem, welches der beiden Totems er dann gerade in seinem Besitz hatte; schließlich war er in seinem Herzen schon wortbrüchig ge worden und hatte durch einen solchen Verrat keine Ehre mehr zu verlieren. Es würde, dachte er, im Gegenteil nur recht und billig sein, wenn er dem König auf diese Weise seine eigenen Manipu lationen und Betrügereien heimzahlte.
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»Ja«, sagte er schließlich, »ich willige in deinen Vorschlag ein. Sag mir, wo ich das Buch der Stille finden kann, und ich werde es dir bringen.« »Ich ließ es in der königlichen Kapelle meines Palastes in Hastur zurück. Dieser Palast ist jetzt ein Teil der Krypten unter Ur-Dor mulk. Es gibt genug Zeichen und Wegweiser, die dich dorthin führen.« Etwas wie Fröhlichkeit schwang in der Stimme des Königs mit. »Weitere Hinweise willst du mir nicht geben?« »Du brauchst keine.« Garth spürte, wie er plötzlich hellhörig wurde. Und auf einmal wurde ihm bewusst, dass er schon wieder dabei war, sich in die Hände des Vergessenen Königs zu begeben, dass er sich einmal mehr auf einen dieser dubiosen Botengänge für den König einzu lassen anschickte. Bisher hatten solche Botengänge noch jedesmal einen unliebsamen Ausgang genommen. Auch seine jüngste, eben erst abgeschlossene Mission, hatte mit dem Tod seiner Frau Kyrith ein sehr böses Ende gehabt. Ein Gedanke kam ihm, ein seltsamer Gedanke. Bis jetzt war er immer allein losgezogen, und der König war in Skelleth geblieben und hatte dort auf seine Rückkehr gewartet. Garth war gleichsam ein ausführendes Organ gewesen, ein Dienstbote gewissermaßen. Was, wenn der König ihn diesmal begleitete? Die Magie des alten Mannes konnte sie beide vor allen Fährnissen und Schwierigkei ten beschützen, auf die sie möglicherweise stoßen würden; sie würden als gleichberechtigte Partner reisen, und Garth würde nicht, wie immer bisher, die Rolle des Gehilfen, des Dienstboten, einnehmen müssen. »O König«, sagte er, »willst du nicht mit mir mitkommen?« Hinter ihm starrten Saram und Frima ungläubig. Der König schwieg eine Weile, ehe er antwortete: »Nein.« -133-
»Warum nicht?« bohrte Garth nach. »Wieso muss ich immer als dein ausführendes Organ handeln?« »Ich kann mich nicht weit von Skelleth entfernen. Meine Macht ist hier konzentriert.« Der Ton des alten Mannes hatte etwas End gültiges, aber Garth war nicht in der Stimmung, sich so leicht ab speisen zu lassen. »Warum?« fragte er. »Weil du schon so lange hier lebst? Würde dich ein Ortswechsel vielleicht aus der Fassung bringen?« »Nein«, sagte der König, und ein leiser Anklang von Zorn schwang in seiner Stimme mit. »Warum dann? Warum bist du überhaupt nach Skelleth gekom men? Was hat dich hierhin verschlagen? Ich fordere eine Erklä rung!« »Dieser Ort ist zur Zeit das Zentrum der Macht, so wie es einst Hastur war; die Energien der Welt haben sich im Laufe der vergangenen Zeitalter verschoben. Ich hatte, was meinen Wohnort betraf, keine Wahl, nachdem ich einmal das Buch und die Maske aufgegeben hatte, sondern war gezwungen, mich dort niederzu lassen, wo immer das Herz der Macht sein mochte. Hätte ich erst das Buch wieder, ich könnte gehen, wohin ich wollte.« »Aber du hast das Dorf einmal verlassen, seinerzeit, als ich dir das Schwert gab.« »Aber nur für ein paar Meilen, und auch das war schon ein großes Wagnis.« »Was würde denn passieren, wenn du Skelleth verlassen müss test?« »Das geht dich nichts an, Garth.« »Was würde passieren?« beharrte der Übermann. »Begnüge dich mit meiner Versicherung, dass es nicht geht.« »Und wenn ich dich tragen würde?« -134-
Mit deutlich sichtbarem Widerwillen gestand der König: »Ich würde meiner Kraft verlustig gehen, sowohl meiner physischen als auch meiner metaphysischen. Ich hätte nicht mehr Kraft als eine Leiche, und doch wäre ich noch immer am Leben.« »Du meinst, du wärest nicht in der Lage zu zaubern?« »Ich wäre nicht einmal in der Lage zu sprechen oder zu atmen oder mich zu bewegen; ich würde so alt aussehen, wie ich in Wahrheit bin.« Das erklärte natürlich, warum ein so mächtiges Wesen in so einem elenden Grenzkaff wohnte und einen gewöhn lichen Übermann zur Erledigung seiner Angelegenheiten brauch te. Wenn schon aus keinem anderen, dann aus diesem Grund, war Garth bereit, die Erklärung des Königs zu akzeptieren, zumindest für den Augenblick. Er hoffte jedoch immer noch darauf, dass er irgendeine Art von Hilfe erhalten würde. »Dann kannst du mir also keinen Schutz gegen die Magie des Kults geben?« fragte er. »Nein.« »Du könntest mir das Schwert leihen.« Das wäre natürlich ideal; er konnte dann einfach von ihrer Abmachung zurücktreten. Der König ließ sich gar nicht erst zu einer Antwort herbei. Garth wusste (einmal ganz abgesehen von seiner eigenen derzeitigen Vertrauenswürdigkeit): Sobald er außerhalb des Machtbereiches des Königs war, würde nicht mehr er, sondern Bheleu in seinem Körper stecken; kein Eid und keine Macht auf dieser Welt würden in der Lage sein, den Gott gegen seinen Willen nach Skelleth zu rückzubringen, wenn die Macht des Königs tatsächlich auf die un mittelbare Umgebung des Dorfes beschränkt war. »Sie verfügen über mächtige Magie«, versuchte er es ein letztes Mal.
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Der König bewegte sich leicht auf seinem Stuhl, sagte aber nichts. »Das Bild des Gottes zum Beispiel. Was soll ich tun, wenn sie mich mit solchen Erscheinungen attackieren?« »Das war ein simples Botenbild; es hätte noch nicht einmal von selbst das Wort ergreifen können.« »Und der Zauber, der mein Schwert zerschmetterte?« »Ein einfacher Schutzzauber gegen Metall, ansonsten zu nichts weiter tauglich.« »Und der rote Nebel, der den Aghaditen und Kyriths Leichnam verschwinden ließ?« »Ein Teleportationszauber, den sie einem toten Magier abge nommen haben; sie haben nicht mehr viele davon und werden sparsam damit umgehen.« »Aber gewiss haben sie noch andere Zauber in der Hinterhand und werden nicht zögern, sie gegen mich zu benutzen. Kannst du nichts tun, um mich zu schützen?« »Was ist mit dir? Ist aus dem stolzen Übermann plötzlich ein Hasenfuß geworden?« Der König hob den Kopf, und obgleich sei ne Augen noch immer vom Schatten seiner Kapuze verborgen waren, glaubte Garth, ein kurzes Leuchten wahrzunehmen. Die Frühlingswärme schien sich aus dem Schankraum der Taverne zu rückzuziehen und einer klammen Kälte zu weichen. »Ganz gleich, welche Magie sie auch besitzen mögen, haben sie nicht gesagt, du würdest alle die, die dir nahe stehen, sterben sehen, bevor dein eigenes Stündlein schlagen würde? Das heißt doch, dass sie dir nicht sofort etwas tun werden, sondern erst warten wollen, bis sie ihre erste Drohung wahr gemacht haben. Nun geh schon! Hol mir das Buch der Stille und fall mir nicht weiter auf die Nerven, bis du es hast!«
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Von der plötzlichen Kälte des Königs verwirrt, nickte Garth und erhob sich zum Gehen. Saram und Frima standen ebenfalls auf. Der Baron öffnete den Mund, um noch einmal zu versuchen, den Übermann umzustimmen, aber Garth ließ ihn unbeachtet stehen und marschierte hinaus auf den Marktplatz, wo es inzwischen leicht zu nieseln begonnen hatte.
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Kapitel 8 Das Osttor der alten mauerbewehrten Stadt Ur-Dormulk befand sich zwischen zwei massiven Steintürmen, eingefügt in eine Bre sche in dem mächtigen Felsengrat, der die östliche Brustwehr trug; die gewaltigen Flügel des Tores selbst waren aus zwei riesigen Ebenholzplatten geschnitzt, deren Beschläge aus dem schwarzbraunen Leder irgendeines längst ausgestorbenen Unge heuers gefertigt waren. Nirgends auf dem Tor oder auf dem düsteren grauen Mauerwerk war schimmerndes Metall auszuma chen; auch fehlte jeglicher helle Farbton. Die Türme waren, wie Garth sah, vom Fuß bis zu den Zinnen mit spinnenartigen, in den Stein eingemeißelten Runen bedeckt, in einer Sprache, die er noch nie zuvor gehört oder gesehen hatte. Einige der Runen schienen eine merkwürdige Vertrautheit an sich zu haben, die Garth sich nicht erklären konnte; er überlegte, in welcher Sprache sie sein mochten und was sie wohl bedeuteten. Vielleicht lieferten sie eine historische Darstellung der Stadt gründung; vielleicht handelte es sich aber auch um irgendwelche Zauberformeln, möglicherweise um einen Schutzzauber. Eines wusste er jedoch sofort: Es war keine erammanische oder eine dem erammanischen verwandte Sprache. Als Kind war er anderen, älteren Sprachen begegnet, die allesamt längst unterge gangen waren, aber diese seltsame Schriftform ähnelte keiner von jenen. Aber schließlich, sagte er sich, war Ur-Dormulk ja auch unge heuer alt. Es hatte bereits existiert, bevor Eramma ein halbes Jahr tausend zuvor zu einer Nation geworden war. In einer so langen Zeitspanne konnte die Ursprache der Stadt gründer sehr wohl untergegangen sein. -138-
Aber das war jetzt nicht weiter wichtig, sagte er sich. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Ungeachtet der Proteste des Barons und der Baronin und der Argumente, die Galt vorgebracht hatte, nach dem er von der Sache Wind bekommen hatte, war Garth fest ent schlossen, das Buch der Stille zu finden und es nach Skelleth zu bringen. Er hatte noch keine genauen Pläne, was er danach tun würde; fest stand lediglich, dass er seine Rachepläne an den Ag haditen weiter verfolgen würde. Er war sich noch nicht sicher, ob er dem Vergessenen König das Buch geben oder ob er das Schwert des Bheleu nehmen würde, aber er hatte keine Lust gehabt, irgend etwas verlauten zu lassen, das bei irgend jemandem Zweifel an seiner Absicht geweckt hätte, seine Abmachung mit dem König einzuhalten. Saram war in seiner Sorge um ihn so weit gegangen, dass er sich sogar erboten hatte, ihn auf seiner Mission zu begleiten; Frima hatte dagegen protestiert, und Garth hatte ihm die Idee wieder ausreden können. Saram hatte eine Baronie zu regieren und konn te nicht einfach so mir nichts, dir nichts auf Abenteuer losziehen. Garth hingegen hatte keine Verpflichtungen, bis auf seinen Schwur, das Buch der Stille zu holen und das selbstauferlegte Ge lübde, den Kult und den Tempel des Aghad zu vernichten. Und er wollte weder in das eine noch in das andere eine andere Person mit hineinziehen. Als eine Art Kompromiss hatte er einen sowohl von Saram als auch von Galt unterzeichneten Empfehlungsbrief an den Oberherrn von Ur-Dormulk akzeptiert; das war seine einzige Kon zession gewesen, und eine überaus nützliche dazu. Wenn er auf der Suche nach Zeichen und Hinweisen demnächst in der Stadt herumstreifte, würde es ihm erheblich lieber sein, wenn er sich dabei nicht ständig vor irgendwelchen Wächtern oder Haus besitzern rechtfertigen musste.
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Nachdem diese Sache geklärt gewesen war, hatte er nur noch ein paar Reisevorbereitungen treffen müssen: Er hatte sich ein Schwert geborgt und Proviant eingekauft; die Kupfermöwe hatte er in seinem Haus zurückgelassen. Sein Aufenthalt in Skelleth war von so kurzer Dauer gewesen, dass ihm diese neue Reise fast wie eine Fortsetzung seines Ausflugs nach Orgûl vorkam. Nur war seine Stimmung eine ganz andere; dies hier war eine Aufgabe von echter persönlicher Wichtigkeit, nicht vergleichbar mit dem eher nebensächlichen Spaß, der das Drachenabenteuer in Orgûl für ihn gewesen war. Da er vorhatte, sich dem Oberherrn oder einem seiner Vertreter vorzustellen, brauchte er sich beim Betreten der Stadt keine beson dere Vorsicht aufzuerlegen. Dies kam ihm nur recht, denn er sah auf den ersten Blick keine Möglichkeit, die Befestigungsanlagen ungesehen zu überwinden. Anders als Skelleths verfallene Außen mauern waren diese unversehrt und in gutem Zustand, so weit das Auge blicken konnte. Da er keinen anderen Eingang hatte entdecken können, war er geradewegs auf das riesige Tor zugeritten, und nun stand er da vor und starrte zu dem schwarzen Portal und den runenbedeckten Türmen hinauf. Dies war genau die Art von Festung, als die die Legenden der Nordwüste Skelleth dargestellt hatten — bis er, Garth, nach Süden geritten war und entdeckt hatte, wie sehr die Legenden über trieben hatten. Er fragte sich, wieso er nie Geschichten gehört hatte, in denen Ur-Dormulk beschrieben wurde. Aber das war jetzt nicht so wichtig, sagte er sich. Er wich aus, drückte sich vor der Notwendigkeit, sich ankündigen und mit den ihm so wesensfremden Menschenwesen auseinandersetzen zu müssen.
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Er gab sich einen Ruck und rief: »Heda, öffnet das Tor!« Unver züglich erscholl ein Antwortruf, viel lauter, als er erwartet hatte. »Melde den Zweck deines Besuches, Übermann!« Er blickte hoch, konnte aber kein Gesicht über die Brüstung spä hen sehen, und das Echo, das von den Türmen zurückgeworfen wurde, machte es unmöglich, den Ursprung der Stimme zu lo kalisieren. Das, entschied er, war gewiss so beabsichtigt; die Erbauer der Stadt hatten ihre Arbeit gut gemacht. »Ich komme von Skelleth in einer persönlichen Angelegenheit; ich habe überdies einen Brief des Barons von Skelleth bei mir, gerichtet an den Oberherrn von Ur-Dormulk!« »Sitz ab und komm näher!« rief die Stimme. »Lass dein Schwert und die Axt auf dem Sattel!« Garth wurde jetzt klar, dass die Stimme nicht von oben kam, zumindest nicht von sehr weit oben; das bedeutete, dass der Sprecher sich überhaupt nicht auf der Brüstung befand. Der einzige andere Ort, an dem er stecken konn te, war in einem der Türme. Der Übermann schaute sich mit neu erwachtem Interesse die Runen an und bemerkte, wie tief einige der Symbole in das Mauerwerk gemeißelt waren. Irgendwo in diesen geheimnisvollen Zeichen befanden sich Scharten, durch die man vom Innern des Turms nach draußen spähen oder Befehle rufen und vielleicht auch einen Armbrustpfeil abschießen konnte. Es war eine sehr kluge Vorrichtung, dachte er; es war so gut wie unmöglich, von außen unter den unzähligen Linien und Kringeln die eigentlichen Löcher ausfindig zu machen. Er hätte die Runen gern näher in Augenschein genommen, aber im Moment hatte er anderes zu tun. Er schwang sich vom Rücken seines Kriegstiers, überprüfte die Axt, die am Sattel hing, dann löste er das Schwert von seinem Gürtel – er hatte sich dieses Schwert von Galt ausge borgt, da er sich nicht die Zeit hatte nehmen wollen, sich ein neues -141-
schmieden zu lassen (sein eigenes war ja an dem Schutzzauber der Aghaditen zerbrochen) und da ein auf Menschenwesen zuge schnittenes Schwert zu klein für seine Hand gewesen wäre – und befestigte es an einem der Gurte, die den Sattel hielten. Er schaute abwartend auf den näher zu ihm liegenden Turm, die Hand auf dem Griff seines Dolches, der noch in seinem Gürtel steckte. Keine Aufforderung oder Bemerkung kam. Der Dolch wurde offenbar nicht als ernsthafte Bedrohung angesehen. Er zuckte die Achseln, ließ die Hand vom Dolchgriff sinken und schlenderte langsam auf das Tor zu. Mit lautem Gepolter und Geknirsche wurden die Riegel zurück geschoben, und ein Flügel des großen Portals öffnete sich einen Spaltbreit. Ein Wächter mit einem recht seltsam geformten Messinghelm und einem dunkelgrünen Waffenrock steckte den Kopf durch die Öffnung. »Du hast einen Brief?« fragte er. Die Stimme war nicht die, die ihn vom Turm aus gerufen hatte. Garth hielt ihm wortlos das zusammengefaltete Pergament hin. Der Wächter nahm es entgegen, schaute sich das Siegel an und zögerte einen Moment. »Sieht echt aus«, sagte er, nicht an Garth gewandt, sondern an jemanden, der hinter dem Tor stand. Eine Hand erschien, und der Wächter übergab ihr den Brief. Einen kurzen Moment später rief wieder eine andere Stimme: »Lass ihn herein!« Der Wächter trat zurück und winkte Garth her ein. Der Übermann zögerte. »Was ist mit meinen Waffen und meinem Reittier?« »Verzeih, Herr, aber wir ziehen es vor, auf Nummer Sicher zu gehen, bis zweifelsfrei erwiesen ist, dass du auch wirklich der bist, der zu sein du vorgibst. Deine Waffen werden dir ausgehändigt, so du das wünschst, sobald deine Identität bestätigt ist.«
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»Ich wünsche es«, sagte Garth. »Und was ist mit meinem Reittier?« »Ich bedaure, mein Herr, aber Lasttieren ist aus Gründen der Hygiene und der öffentlichen Sicherheit der Zugang in die Stadt verwehrt. Für Gäste und Besucher unterhalten wir einen Stall außerhalb der Stadtmauern.« Garth war darüber alles andere als glücklich. Das unbezwingli che Kriegstier hatte ihm in den Städten der Menschenwesen in der Vergangenheit gute Dienste geleistet, wenn er in Schwierigkeiten geraten war. Dies jedoch war eine friedliche Mission, und er konn te mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass sie friedlich bleiben würde. Selbst wenn die Leute von Ur-Dormulk erfuhren, dass er vorhatte, das Buch der Stille zu holen, war kaum damit zu rech nen, dass sie irgendwelche Einwände dagegen erheben würden; soweit er wusste, konnte niemand außer dem Vergessenen König etwas damit anfangen; für jeden anderen konnte sich schon das Berühren des Buches als tödlich erweisen – wobei in seinem Fall die verhasste Verbindung mit Bheleu zumindest soviel an Schutz gewährleistete, dass er es unbeschadet tragen konnte. Logischer weise konnte niemand etwas dagegen haben, wenn er einen solch gefährlichen Gegenstand aus der Stadt entfernte. Er musste es einfach darauf ankommen lassen und hoffen, dass nichts schief lief und niemand plötzlich irgendwelche Einwände erhob. »Weißt du denn, wie man mit Kriegstieren umgeht?« fragte er den Wächter, die Antwort natürlich schon im voraus wissend. »Nein«, antwortete der Mann erwartungsgemäß. »Ich habe noch nie zuvor eines gesehen.« Garth nickte; nichts anderes hatte er erwartet. Die Kreaturen waren nämlich erst zu einem Zeitpunkt erfunden worden, und zwar von den Übermännern von Kirpa in der Nordwüste, als die Rassenkriege sich bereits dem Ende -143-
zuneigten, zu spät also, als dass sie noch in größerer Zahl in jenem Konflikt hätten eingesetzt werden können. Selbst drei Jahr hunderte nach Kriegsende waren sie noch immer rar und wertvoll und befanden sich fast allesamt in Regierungsbesitz, da sie zu kostbar waren und zu gefährlich, um sie Privatleuten zu über lassen. Garth besaß nur deshalb ein eigenes Kriegstier, weil er da für auf jeglichen weiteren Tribut verzichtet hatte, welchen auf grund eines alten Abkommens die Leute von Kirpa ihm als Prinz von Ordunin schuldig gewesen wären. »Welche Art von Tieren habt ihr gewöhnlich in dem Stall?« frag te er. Der Wächter zuckte die Achseln. »Pferde, nehme ich an, und Ochsen; ich bin kein Stallbursche. Auch Yacker, glaube ich.« Garth warf einen Blick auf Koros, der regungslos auf der Straße stand, die dreieckigen Ohren leicht angelegt, die goldenen Augen halb geschlossen, die drei Zoll langen, in der Mittagssonne matt schimmernden Fangzähne leicht entblößt. Dem Kriegstier würde es nichts ausmachen, eingestallt zu werden, aber es würde auch nichts dagegen haben, im Freien zu bleiben, solange das gute Wetter halten würde, das auf die kurze Regenperiode gefolgt war. Die anderen Tiere im Stall brauchten sich durch seine Anwesen heit nicht beunruhigt zu fühlen; der Geruch eines Kriegstieres war aufgrund seines magischen Ursprungs für die meisten Tiere nicht als der eines Raubtieres zu erkennen, aber viele Tiere wurden allein durch den Anblick eines Kriegstiers nervös, was verständ lich war. Viel wichtiger aber war folgendes: Gesetzt den Fall, aufgrund ir gendwelcher unvorhergesehenen Umstände sähe er sich ge zwungen, aus der Stadt zu fliehen, dann würde er kostbare Zeit damit verschwenden, erst zu dem Stall zu gelangen. Das Kriegs
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tier gleich beim Stadttor bereitstehen zu haben, war ihm weit lieber. »Ich glaube, ich lasse es einfach da, wo es ist«, sagte er. »Wie du willst«, erwiderte der Wächter mit einem Achselzu cken. In dem Moment rief die Stimme, die ihm auf seinen Anruf geantwortet hatte: »Sagtest du, du willst das Untier da lassen, wo es ist?« Ja, das habe er gesagt, rief Garth zurück. »Wäre es nicht besser, wenn du es von der Straße holtest?« Garth sah ein, dass Koros da, wo er im Moment stand, in der Tat ein Verkehrshindernis darstellte. Er rief ein Kommando, und das Kriegstier trabte von der Straße herunter. Dann blieb es wieder stehen. »Ist es so besser?« rief Garth. Ja, so sei es besser, antwortete die Stimme. »Gut. Und wenn einer von euch jetzt so freundlich ist und mir mein Schwert und meine Axt holt, wie ihr es vorgeschlagen habt, dann können wir fortfahren, denke ich. Außerdem würde ich euch bitten, dass ihr meinem Tier eine Ziege oder ein oder zwei Schafe zu fressen gebt; es könnte sein, dass meine Geschäfte mich eine Weile in Anspruch nehmen, und ich kann nicht für sein Wohl verhalten garantieren, wenn es Hunger bekommt. Auch etwas Wasser wäre angebracht. Eure Auslagen werde ich euch selbstver ständlich erstatten.« Der Torwächter nickte. »Ich werde jemanden beauftragen, der sich darum kümmert.« Er schwenkte den Torflügel ein paar Fuß weiter auf, so dass Garth eintreten konnte. Er gelangte in einen kleinen Hof, der von grauen Steinmauern eingefasst war; die Vorderseite des Hofes bildete das große Portal, die Rückseite -145-
bestand aus einem zweiten ähnlichen Tor. Ein halbes Dutzend Männer in grünen Uniformen und Messinghelmen stand auf dem Hof herum; einer von ihnen — seinen Helm zierte ein goldener Federbusch — hielt Garths Empfehlungsschreiben in der Hand. Der Übermann nahm an, dass er der Befehlshaber der Abteilung war, die die Tore bewachte. Als einer der anderen auf die Straße trabte, um Garths Waffen zu holen, rief Garth dem Kriegstier ein Kommando zu, damit es den Mann nicht zerriss, wie es es mit jedem Dieb getan hätte; nor malerweise erlaubte es keinem anderen als Garth, irgend etwas von dem zu berühren, was es bei sich trug. Als der Soldat sowohl das Schwert als auch die Axt an sich genommen hatte — womit er Koros kaum mehr als ein leises, unwilliges Knurren entlockte — und sich auf den Rückweg machte, erlaubte sich Garth, den Offi zier zu fragen: »Behandelt ihr jeden eurer Gäste so?« »Nein, natürlich nicht«, erwiderte der Offizier. »Was verschafft mir dann die Ehre einer solchen Sonderbehand lung?« Der golden Behelmte schaute ihn verdutzt an, so als vermutete er, dass der Übermann nicht ganz richtig im Kopf sei oder vielleicht einen etwas ausgefallenen Humor habe. »Es kommt selten vor, dass gepanzerte Übermänner unange meldet hier auftauchen, die auf einer Riesenkatze reiten und verlangen, mit dem Oberherrn zu sprechen«, sagte er. »Ah.« Garth musste zugeben, dass an dem, was der Offizier sag te, durchaus etwas dran war. »Es ist ein Kriegstier, nur zum Teil eine Katze, obwohl es so aussieht. Siehst du die langen Beine? Und ich habe nicht verlangt, mit dem Oberherrn zu sprechen, sondern lediglich gesagt, dass ich einen Brief für ihn bei mir habe.« »Dann habe ich dich vielleicht missverstanden; möchtest du lieber hier warten, während ich ihm den Brief überbringe?« -146-
Garth überlegte kurz. »Nein«, entschied er nach nur kurzem Zö gern, »ich möchte mit ihm sprechen, wenn ich darf.« Mit dem Staatsoberhaupt direkt zu verhandeln, versprach in aller Regel mehr Erfolg, als sich erst groß mit untergeordneten Leuten herum zuschlagen. »Ich denke, er wird sich auch gern mit dir unterhalten wollen. Wir haben, wie gesagt, nur selten Übermänner hier.« Der Offizier gestattete sich die Andeutung eines Lächelns. Der Soldat, der seine Waffen geholt hatte, war wieder auf den Hof zurückgekehrt, und die anderen Wächter schlossen das Tor. Garth schaute mit beiläufigem Interesse zu; dabei bemerkte er aus dem Augenwinkel, dass der Mann, der seine Waffen trug, bemüht war, sich so fern von dem Besitzer der Waffen zu halten, wie es der relativ kleine Raum zwischen den beiden Toren zuließ. Als das Portal geschlossen und das halbe Dutzend Schlösser und Riegel, mit denen es gesichert wurde, zugesperrt und vorge schoben war, wurden von der Wachmannschaft auf der anderen Seite die Flügel des Innentores geöffnet; zu Garths Überraschung schwenkten sie nach außen, in den kleinen Vorhof, in dem er wartete. Das war unüblich. Der Offizier machte eine Handbewegung, und sogleich fand sich Garth von einer Eskorte eingerahmt: zwei Soldaten vor ihm, je einer neben ihm und zwei weitere hinter ihm. Der Offizier trat an die Spitze der kleinen Gruppe, und der Wächter, der seine Waffen trug, bildete in respektvollem Abstand die Nachhut. Garth war überrascht: Er hatte gar nicht gemerkt, dass sich immerhin acht Menschenwesen auf dem Hof befunden hatten; er fragte sich, ob vielleicht ein paar von ihnen unbemerkt von ihm aus dem Turm hinzugestoßen waren oder ob er sich anfangs vielleicht schlicht verzählt hatte.
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Auf ein Kommando des Offiziers setzte sich die Gruppe in Be wegung; er zeigte sich angepasst und marschierte mit. Sein genau er Status hier war noch nicht klar; vermutlich war das so beab sichtigt. Die Soldaten marschierten mit der Hand an der Waffe, aber die Schwerter steckten in der Scheide, und die zwei, die hin ter ihm gingen, trugen ihre Lanzen geschultert. Er war weder gefesselt noch angekettet, aber entwaffnet. Wenn er als Gefangener betrachtet wurde, dann wurde er mit Höflichkeit, aber nicht gerade mit großer Vorsicht behandelt; sah man in ihm jedoch einen Gast, dann konnte er nicht umhin, die Art, wie man ihn behandelte, als zumindest befremdlich zu emp finden. Er konnte diese Eskorte mit gleichem Recht als Ehrengarde wie als Abführkommando deuten. Diese Unsicherheit, entschied er, widerspiegelte genau die Unsi cherheit der Gardisten; er hatte kein Verbrechen begangen und be hauptete, eine Person von einer gewissen Bedeutung zu sein, aber sie hatten noch keinen Beweis für seine guten Absichten gesehen. Daher befanden sie sich in einer Zwickmühle: Allzu großes Ver trauen ihm gegenüber konnte gefährlich sein, andererseits aber wollten sie ihn auch nicht allzu sehr vor den Kopf stoßen, jeden falls nicht mehr, als es die Vorsicht gebot. Aber das machte ihm nicht viel aus. Hätte er das Schwert des Bheleu auf dieser Reise mit dabei gehabt, hätte er mit Sicherheit Anstoß an dieser Behandlung genommen und womöglich die ganze Wachmannschaft kurzerhand massakriert. Sein erster Blick auf die Stadt Ur-Dormulk lenkte ihn von sol cherlei Reflexionen über Protokollfragen oder Spekulationen über angemessenes Benehmen ab. Er hatte erwartet, dass sich hinter dem Innentor eine Straße aus festgestampftem Lehm befand, ge säumt von Häusern aus Stein, Holz und Putz, so wie er es in anderen menschlichen Siedlungen angetroffen hatte; oder, wenn
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nicht eine Straße, dann vielleicht ein Marktplatz. Skelleth war aus Stein und verputztem Fachwerk gebaut; die Fassaden der Häuser von Mormoreth waren mit weißem Marmor verblendet; Dûsarra war ein Mischmasch aus glänzendem schwarzen Vulkangestein und bescheideneren Materialien. Ur-Dormulk jedoch war aus Granit erbaut, und statt auf einer Straße fand er sich auf der obersten Stufe einer langen Treppe von gut über fünfzig Stufen stehend, von wo aus er auf eine stattliche Ansammlung von Türmen und Burgen blickte. In der Ferne auf ragende kahle Felsspitzen erinnerten ihn daran, dass er sich in den Ausläufern der westlichen Gebirgskette befand. Ihm war von draußen aufgefallen, dass die Wälle auf einem Kamm standen und dass das Tor in den oberen Rand dieses Kam mes eingefügt war, so dass er erwartet hatte, dass die Stadt hinter dem Tor in ein Tal hin abfiel; er hatte jedoch nicht damit gerech net, dass die Neigung so schroff war, dass Stufen nötig waren, oder sich so weit hinzog, dass nur die höchsten Türme der Stadt die Augenhöhe des Betrachters erreichten. Er hatte gewusst, dass es steinerne Türme waren; er hatte sie so gar von weitem sehen können. Er hatte auch gewusst, dass sie alt und verwittert und von seltsamer Form waren, aber dass sie so bi zarr waren, hatte er nicht gedacht. Die Türme waren nicht nur düster und von löchrignarbiger Oberfläche, sondern vom Zahn der Zeit fast zur Formlosigkeit abgenagt: nicht eine einzige scharfe Kante war mehr an ihnen zu sehen. Ob oben abgeflacht oder spitz zulaufend, jedes der hohen Gebäude ähnelte eher einem natürli chen Hügel denn einem von Menschenhand geschaffenen Gebilde — außer, dass sie gut hundert Fuß in die Höhe ragten. Einige waren fast kaum zu unterscheiden von den verwitterten Felsenhö ckern, mit denen die Natur die Stadt geschmückt hatte.
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Letztere kamen Garth fast ein wenig unheimlich vor, wie sie sich so in ihrem nackten Glanz zwischen den Häusern und Türmen der Stadt erhoben, von den Türmen nur darin sich unterscheidend, dass sie größer waren, keine Fenster hatten und von etwas un regelmäßigerer Form waren. Sie schienen eine grobe Linie zu bilden, jenseits derer er nichts von der Stadt sehen konnte; er frag te sich, ob sie einen Teil ihres westlichen Endes bildeten und ob sie in die Befestigungsanlagen eingefügt worden waren, so wie der Bergkamm auf der Ostseite. Eine kühle feuchte Brise blies ihm ins Gesicht, und er blinzelte mit den Augen; doch dann geleiteten die Soldaten ihn die Treppe hinunter, und er war zu sehr damit beschäftigt, auf seine Schritte zu achten, als dass er sich weiter die Stadt anschauen konnte. Die Stufen der Treppe waren stark ausgetreten, abgewetzt und glatt poliert von Tausenden, ja vielleicht Millionen von Füßen; in der Mitte war sie so stark abgetreten, dass sie eher einer Rampe denn einer Treppe ähnelte, so dass seine Bewacher ihn weiter zum Rand hin geleiteten, wo die Stufen, auch wenn sie fast spiegelblank ge wetzt und abgeflacht waren, immer noch so viel an Ecke auf wiesen, dass sie als solche zu erkennen und halbwegs begehbar waren. Als er einigermaßen sicher war, dass er nicht ausrutschen und kopfüber den Rest der Treppe hinunterfallen würde, richtete er seinen Blick wieder von seinen eigenen Füßen auf den Verlauf der Treppe. Sie mündete auf einen breiten Platz, der gepflastert war mit demselben grauen Stein, aus dem die ganze Stadt erbaut zu sein schien, und der so flach war wie die Ebenen von Skelleth. Er war sicher, dass die glatte Oberfläche keines natürlichen Ur sprungs war, so dicht an dem steilen Bergkamm, wie sie war. Er war zuerst auch sicher gewesen, dass es sich bei dem grauen Stein um Granit handelte, eine Gesteinsart, die ihm aus seiner
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Heimat vertraut war, aber langsam begannen ihm Zweifel zu kommen. Granit war ein äußerst harter Stein, schwierig zu be arbeiten, schwer von Gewicht und sehr spröde – und so gut wie unanfällig gegen jede Art von Erosion. Er warf erneut einen Blick auf die Stufen. Es gab in Ordunin, nicht weit von seinem Haus entfernt, eine alte Granitmauer, die gebaut worden war, als er noch jung gewesen war, vor etwas mehr als einem Jahrhundert; ihre Oberkante war noch immer so scharf, dass man sich den Finger daran schneiden konnte. Diese Stufen aber – vorausgesetzt, sie waren ursprünglich über ihre gesamte Breite gleich hoch ge wesen – waren in der Mitte um gut acht Zoll abgetreten. Wenn der Stein, aus dem sie bestanden, tatsächlich Granit war, und wenn nichts anderes als Füße ihn so abgewetzt hatten, dann musste er unvorstellbar alt sein. Der Stein, entschied er, musste etwas anderes sein, irgendeine Substanz, die Granit täuschend ähnelte, aber erheblich weicher war. Vielleicht waren die Stufen aber auch durch herun terlaufendes Regenwasser im Laufe der Zeit so glattgeschmirgelt worden – wogegen jedoch die Breite der abgenutzten Fläche sprach: Wasser suchte sich gewöhnlich die niedrigste Stelle und schnitt eine einzige schmale Kehlung in das Material, nicht einen breiten unregelmäßigen Schwaden. Aber das sollte ihm gleich sein, dachte er. Er erreichte den Fuß der Treppe und sah sich interessiert um. Der Platz, auch er mit demselben, wie Granit aussehenden Stein gepflastert, war ebenso abgetreten wie die Treppe; zolltief in die Oberfläche getretene Pfade zeigten, wo am Markttag die Händler ihre Stände und Buden aufzubauen pflegten, wo der Verkehr am stärksten war und welches die meistfrequentierten Abkürzungen über den Platz waren. Die in verschiedene Richtungen abzweigenden Straßen waren gleichermaßen gepflastert und eben
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und gleichermaßen ausgetreten. Schmale, parallel verlaufende Rillen zeigten, wo Karren über Jahrhunderte entlanggerollt waren, und breitere Furchen verrieten, wo die Fußgänger zu gehen pfleg ten. Rinnsteine waren nirgends zu sehen, ebensowenig nackte Erde, und Garth begriff, warum das Mitbringen von Tieren verbo ten war: Solche Straßen bedurften sorgfältiger Reinhaltung; es gab keine natürliche Drainage, da keine der Straßen in irgendeine Richtung abfiel, und die Abflüsse, die durch die Auskehlungen entstanden waren, würden den Schmutz und das Sielwasser ge radewegs zu jenen Bereichen leiten, in denen der stärkste Verkehr herrschte und die folglich auch die größte Abnutzung aufwiesen, also am tiefsten lagen. Es kam ihm seltsam vor, dass eine Stadt im Vorgebirge so flach war, bis auf den einzelnen Bergkamm und die Felsenkliffe in der Ferne. Das war offensichtlich das Werk von Menschenhand, und dahinter musste ein ungeheurer Aufwand gesteckt haben. Er fragte sich, welchen Nutzen sich die Erbauer der Stadt davon versprochen haben mochten. Er fragte sich auch, jedoch nur eine Sekunde lang, womit die Karren gezogen wurden, von denen die parallel verlaufenden Rillen herrührten, die ihm aufgefallen waren; doch diese Frage wurde sogleich beantwortet durch das Auftauchen eines jungen Mannes, der einen kleinen zweirädrigen Karren hinter sich her zog. Die Gebäude rings um den Platz bestanden allesamt aus dem schon bekannten grauen Stein und waren wie die Türme alt und verwittert. Die meisten von ihnen waren drei oder vier Stockwer ke hoch und so abgenagt vom Zahn der Zeit, dass keinerlei Ecken und Kanten mehr zu sehen waren und sie eher hügelähnlichen Naturgebilden denn von Menschenhand errichteten Häusern gli chen. Jeder Zierat, der einst ihre Fassaden geschmückt haben mochte, war längst von der Witterung abgehobelt; allein ihre Grö
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ße und die Lage von Fenstern und Türen diente noch als Unter scheidungsmerkmal. Er bemerkte hier und da Risse und Spalten in ihren Fassaden, so als wäre etwas aus ihnen herausgebröckelt: Hier hatte sich ein Türoberbalken abgesenkt, dort gähnten ein paar dunkle Löcher über einem Fenster. Er vermutete, dass an den betreffenden Stellen anderes Material als der graue Stein verwendet worden war, das inzwischen vollkommen verwittert war, vermutlich Eisen, das dem Rostfraß erlegen war; wenn dies zutraf, dann musste dies bereits vor sehr langer Zeit geschehen sein, denn jegli che Spuren waren vollkommen weggewaschen. Die Steinwände waren, wie er sehen konnte, von unglaublicher Dicke. Aber das mussten sie auch sein, wenn sie aus einem so witterungsanfälligen Stein bestanden und dennoch fest bleiben sollten. Die gesamte Stadt vermittelte den Eindruck von etwas un beschreiblich Altem, von etwas, das schon so lange stand, dass die Erde es als einen Teil ihrer selbst akzeptiert hatte und nicht mehr als eine vergängliche, auf ihr errichtete Einrichtung empfand. Der Eindruck, den die Leute von Ur-Dormulk machten, stand dazu hingegen in einem verblüffenden Kontrast: Sie trugen farbenfrohe Seidenkleider und reich bestickte Samtgewänder in einer phantastisch anmutenden Vielfalt von Schnitten und Formen. Garth sah nirgends, wohin er auch blickte, gewöhnliche, schlichte Stoffe; selbst die Kluft des niedrigsten Karrenziehers war bunt gefärbt und mit farbigen Fäden verziert. Rot, Grün, Blau, Purpur, wohin er auch schaute — die Straßen waren erfüllt von buntem Farbengewimmel. Es waren indes keine großen Menschenmengen unterwegs, was jedoch nicht hieß, dass die Straßen leer waren; Passanten schlenderten müßig daher, während andere eilig ihren Geschäften -153-
nachgingen. Viele warfen dem Übermann einen neugierigen Blick zu, aber keiner blieb stehen, um zu gaffen, und keiner wagte es, der martialischen Riege allzu nahe auf Tuchfühlung zu kommen. Einer jedoch, eine Gestalt mit tief heruntergezogenem Schlapp hut, wehendem Rock und einem Umhang, der die Farbe getrock neten Blutes hatte, schien ihn eine Idee länger als die anderen anzuschauen, und Garth fühlte sich sofort stark an jenen zau bergeschützten Aghaditen erinnert, gegen den er jüngst in Skelleth vergeblich angestürmt war. Er fragte sich, ob der Kult auch in Ur-Dormulk sein Unwesen trieb, ob er offen als tolerierte Religionsgemeinschaft auftrat oder als im geheimen operierende Untergrundorganisation. Seit jenem Vorfall auf dem Marktplatz, der ihn sein Schwert ge kostet hatte, war er von dem Kult nicht mehr behelligt worden, und sein Zorn hatte daher die Möglichkeit gehabt, sich ein wenig abzukühlen; doch jetzt loderte er schlagartig wieder auf. Er beschloss, dass er diesen Kerl, der ihn da so unverschämt anglotz te, eines Tages mit aufgeschlitztem Bauch vor sich liegen sehen würde. Er wandte den Kopf, um dem Kerl in der roten Robe noch einen Moment lang zu folgen, bis er außer Sicht war, und dabei fiel sein Blick auf das Profil des Gardisten zu seiner Linken. Das erinnerte ihn daran, wo er war, und er kämpfte seinen Zorn nieder. Der Mann brauchte nicht unbedingt ein Aghadit zu sein, sagte er sich; die Farbe seines Umhangs konnte purer Zufall, sein gaffender Blick reine Neugierde sein. Vielleicht, sagte ihm seine Vernunft, handelte es sich in der Tat um einen aghaditischen Agenten, der ausgesandt worden war, ihn zu beobachten oder ihn durch seine (oder ihre, denn er konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob die Gestalt tatsächlich männlichen Geschlechts war) Anwesenheit zu reizen. Wenn es sich tatsächlich
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um einen Agenten handelte, dann hatte er – oder sie – es darauf angelegt, von Garth gesehen zu werden; denn wozu hätte er oder sie sonst die Farbe des Kultes so aufreizend zur Schau gestellt? Dies setzte natürlich voraus, dass der Kult von seiner Reise nach Ur-Dormulk gewusst hatte; die Frage war nur: Wie hatte er das in Erfahrung bringen können? Dazu hätte es entweder magischer Kräfte oder der Anwesenheit von Spionen in Skelleth bedurft und, in letzterem Fall, eines Systems der Nachrichtenübermittlung, das schneller war, als Koros laufen konnte. Natürlich verfügten die Kultisten über magische Kräfte, das wusste er nur allzu gut. Und er wusste auch, dass sie ihre Rache pläne nicht aufgegeben hatten, so ruhig sie sich auch während sei ner Reisevorbereitungen und der Reise selbst verhalten haben mochten. Die Gestalt in Rot war wahrscheinlich tatsächlich ein Aghadit gewesen. Er musste ungeheuer wachsam sein, gerade hier, in einer fremden Stadt. Seine Eskorte führte ihn die breiteste und geradeste der Straßen hinunter, die in westlicher Richtung vom Marktplatz abgingen, und sie waren schon fast am Palast angekommen, bevor Garth be merkte, dass niemand Gelb trug. Jede andere Farbe war vertreten, aber nirgendwo waren Goldbrokat oder gelbe Seide zu sehen, ebenso wenig irgendwelche anderen Gelbtöne wie Ambra, Stroh, Safran oder Chrom. Weiß und Beige hingegen waren hier und da auszumachen, und gelegentlich sah er auch Kupfer oder Orange, aber keinen Farbton, der als Gelb im engeren Sinne betrachtet werden konnte. Das kam ihm in der Tat sehr merkwürdig vor. Er vermutete, dass irgendeine Tradition dahintersteckte, die auf die Zeiten des Königs in Gelb zurückging. Die Eskorte mit dem Übermann in der Mitte erreichte jetzt die Stufen des Palastes, der das Ende der Allee bildete, und mar -155-
schierte ohne Zögern hinauf. Ein großes metallbeschlagenes Tor, das mit den Jahrhunderten schwarz geworden war, versperrte ih nen den Weg; Garth fragte sich, ob die Beschläge vielleicht aus Silber bestanden. Goldene Flecken waren auf dem oberen Teil des Tores zu sehen, offenbar Reste ehemaliger Verzierungen; vielleicht irgendein Symbol, das einst auf dem Tor geprangt hatte und mit der Zeit verblasst war. Das Tor schwang auf, als sie näher kamen, und Garth wurde in eine mit Wandteppichen geschmückte Vorhalle geführt. Zwei Männer und eine Frau in leuchtend roten Roben nahmen sie dort in Empfang. Nachdem zwei der Soldaten das riesige Portal ge schlossen hatten, deutete die Frau auf eine Reihe steinerner Sitz bänke. »Macht es euch bequem«, sagte sie. »Wir werden euch anmelden und euch Bescheid geben, sobald der Prinz euch zu sprechen ge ruht.« Der Offizier nickte seinen Männern zu; die sechs, die den Über mann eingerahmt hatten, suchten sich einen Platz und setzten sich hin. Nach kurzem Zögern folgte Garth ihrem Beispiel, wobei er eine ganze Bank für sich einnahm. Der Waffenträger zog es vor, stehenzubleiben; er schlenderte zur Stirnseite des Raumes hinüber und plauderte dort mit einem der rotgekleideten Männer, jedoch zu leise, als dass Garth ihre Unterhaltung hätte verstehen können. Der Offizier und der andere Rotgekleidete entfernten sich durch den Bogengang am inneren Ende der Halle ins Innere des Pa lastes. Die Frau blieb an der Seite des Bogenganges stehen. Als sie bemerkte, dass Garth ungeduldig umherschaute, sagte sie: »Es kann etwas dauern, mein Herr; darf ich Euch etwas zu essen oder zu trinken anbieten?« Garth schüttelte den Kopf und blieb schweigend sitzen.
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Kapitel 9 Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Zeit stets lang samer zu verstreichen pflegt, wenn man sich langweilt, schätzte Garth, dass er gut eine halbe Stunde in dem Vorzimmer gewartet hatte, bevor der Offizier endlich zurückkam, Garths Empfehlungs schreiben in der Hand und den rotgekleideten Mann im Schlepp tau. Er überreichte dem Übermann den Brief und verkündete: »Folgt mir; drei Gardisten kommen mit. Und nehmt die Waffen mit.« Garth erhob sich. Nach ein paar Sekunden Hin und Her, wer von den Soldaten mitgehen sollte, fanden sich drei bereit. Sie bildeten ein Kreuz, der Übermann in der Mitte, je einer links und rechts von ihm, der dritte hinter ihm, gefolgt von dem Waffenträ ger; der Offizier und der rotgekleidete Höfling gingen voran. Von der Vorhalle aus ging es durch einen langen Säulengang aus schwarzem und weißem Marmor, dessen Boden diamantför mige Ornamente aus schwarzem und weißem Marmor zierten und dessen Wände aus schwarzen, golden marmorierten Marmor platten bestanden, welche regelmäßig unterbrochen waren von Säulen aus weißem Marmor. Ihre Schritte hallten laut auf dem nackten Steinboden wider. Garth war beeindruckt von der Archi tektur. Eine offene, golden am Ende des Ganges leuchtende Tür führte in das Audienzzimmer des Oberherrn, eine riesige Halle ganz in Gold und Rot, in der dichte Schwaden von Weihrauch hingen. An den Seiten standen Soldaten aufgereiht, deren dunkelgrüne Uni formen und Messinghelme identisch waren mit denen von Garths Eskorte. Zwei Dutzend Höflinge standen in lässiger Haltung um den Fuß des Thronpodestes herum; etwa die Hälfte von ihnen -157-
trug das leuchtende Rot des Palastpersonals, während die übrigen genauso bunt gekleidet waren wie das Volk auf der Straße — so gar noch bunter; so trug zum Beispiel eine hochgewachsene rothaarige Frau ein gelbes Gewand unter einer knielangen ärmel losen Weste aus rotem Samt. Sie schien Garth mit einer seltsamen Eindringlichkeit anzustarren, während sie am Arm eines älteren Mannes in Blau hing; auch wenn es nur natürlich war, dass der Übermann im Mittelpunkt des Interesses stand, erschien ihm ihr Blick doch ungewöhnlich intensiv. Der Oberherr selbst war in schwarzglänzenden Samt gekleidet; sein einziger Schmuck war ein mit glitzernden Steinen besetzter goldener Stirnreif. Er saß auf einem gewaltigen Thron aus rotem und goldenem Plüsch, der sich am oberen Ende einer Treppe aus sechs goldenen Stufen über einem drei Fuß hohen, mit roten Teppichen ausgelegten Podest erhob. Er war von mittlerem Alter, massig, aber nicht unbedingt dick, mit bleicher Haut und dunkel braunem Haupthaar, das ihm bis über die Schultern fiel. Er trug einen eigenartigen Ring aus rissigem Holz am Ringfinger der lin ken Hand. Das Gesicht war breit, die Augen waren dunkel. Als Garth sich dem Podest näherte, trat der Offizier nach rechts ab, der Höfling nach links; der Übermann blieb am Fuße der Treppe stehen und machte eine höfliche Verbeugung. Ein leises Murmeln erfüllte den Saal, gefolgt von einem Moment peinlichen Schweigens; Garth vermutete – offenbar zu spät dass irgendeine weitergehende Form der Huldigung üblich war. Ein rotgekleideter Höfling trat vor und verkündete: »Hebe, o Bittsteller, deinen Blick zu Hildarad, dem Siebenten dieses Namens, Prinz von Alar, Fürst Dormulk, Herr und Gebieter der Stadt, Eroberer von Hastur, Höchster in Aldebaran und den Hya den! Und nun sprich, so du es wagst!«
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Garth fragte sich, was wohl Aldebaran und die Hyaden sein mochten und wo wohl Alar sein mochte, während er sagte: »Ich bin Garth, Prinz von Ordunin, Lehnsherr der Übermänner der Nordwüste. Ich komme mit einem Empfehlungsbrief von Saram, dem Baron von Skelleth, um dich, o Prinz, um eine Gunst zu bitten.« Er hätte den Oberherrn beinahe mit »Oberherr« angere det, fing sich aber noch im letzten Moment; der Titel »Prinz« war von höherem Prestige, weshalb es ein Gebot der Höflichkeit war, den Herrn der Stadt damit anzureden. Er hatte keine Ahnung, ob der Oberherr tatsächlich einen rechtmäßigen Anspruch auf diesen Titel hatte; aber er wollte nicht das Risiko eingehen, ihn wo möglich zu beleidigen. Der Oberherr bewegte sich ganz leicht auf seinem Thron und er widerte in normalem Gesprächston: »Ich habe den Brief, den du mitgebracht hast, kurz überflogen. Mein Amtskollege in Skelleth ersucht mich darin, dich als Minister ohne Portefeuille in seinem Kabinett zu betrachten und dich mit dem ganzen Respekt zu be handeln, der auch ihm gebeut. Wenn du wirklich Prinz von Or dunin bist — und das ziehe ich nicht in Zweifel —, dann wäre das wohl eine geringe, unbedeutende Gunst, dir die einem Baron ge bührende Höflichkeit entgegenzubringen, doch die Beziehungen zwischen meiner Domäne und der Baronie Skelleth sind außer ordentlich herzlich, und ich glaube, dass er das dabei im Sinn hatte. Derhalben ermutige ich dich, dein Ersuchen vorzutragen, in der Gewissheit, dass ich dich als einen guten Freund und Ver bündeten betrachte.« »Ich danke dir, o Prinz«, erwiderte Garth. »Ich suche nach einem Buch, einem geheimnisvollen Folianten, welcher bekannt ist als das Buch der Stille. Man sagte mir, es liege in oder unter Ur-Dor mulk, höchstwahrscheinlich an einem Ort, an dem sich früher ein mal die königliche Kapelle eines alten Palastes befand.«
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Er hatte vorgehabt, mit ein paar bedeutungslosen Artigkeiten fortzufahren und dann um Mithilfe beim Finden des Buches zu bitten, aber die Mienen auf den Gesichtern von zweien der Höflinge des Oberherrn ließen ihn innehalten. Die Frau in dem gelben Gewand war ganz blass geworden, ihr Gesicht war so blut leer und weiß wie ein Laken; dem blaugekleideten Mann neben ihr war buchstäblich die Kinnlade hinuntergefallen. Mit weit auf gerissenen Augen, das Gesicht puterrot, starrte er den Übermann an. Der Oberherr, dessen Blick auf Garth und nicht auf die beiden Höflinge gerichtet war, bekam davon nichts mit. »Das Buch der Stille?« fragte er in normalem Gesprächston. »Ein eigentümlicher Name; erwartet man nicht gemeinhin von einem Buch, dass es sei nem Leser etwas sagt? Ich habe noch nie davon gehört; meine Steuereintreiber werden des Grams voll sein, wenn sie erfahren, dass es da noch etwas Wertvolles in den Mauern meiner Stadt gibt, das sie noch nicht für mich aufgestöbert haben.« Er lächelte über seinen Scherz, und Garth lächelte zurück; einige der Höflinge kicherten beflissen. Die beiden, die ganz offensichtlich von dem Buch der Stille ge hört hatten, schafften es, wie Garth sah, die Fassung zu bewahren, während ihr Herr sprach, wenngleich die Frau sichtlich unruhig und noch immer ein wenig blass war. Garth fragte sich, wer die beiden sein mochten. Er war ein wenig enttäuscht darüber, dass der Oberherr offenbar nicht in der Lage war, ihm zu sagen, wo er das Buch finden konnte, aber es sah ganz so aus, als könnten ihm die beiden weiterhelfen. »Ist dieses Buch eine Art Grimoire oder Zauberbuch?« fragte der Oberherr, jetzt wieder in ernstem Ton. »Ich weiß es nicht«, antwortete Garth wahrheitsgetreu. »Ich su che es im Auftrage eines mir bekannten Zauberers, der mir gesagt
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hat, er brauche es zur Durchführung eines bestimmten Zaubers, dessen Gelingen auch mir am Herzen liegt.« Das entsprach so zwar nicht ganz der Wahrheit, aber direkt gelogen war es auch nicht. »Und dieser Zauberer war es, der dir gesagt hat, das Buch be fände sich in Ur-Dormulk?« »Ja«, erwiderte Garth. »Er sagte, es liege in einer alten Kapelle, vielleicht auch in den Ruinen einer solchen.« »Ich weiß von keiner solchen Kapelle, und dieser Palast ist der einzige, der je in dieser Stadt stand, solange sie existiert.« Garth zuckte die Achseln. »Ich habe nur das gesagt, was man mir berich tete.« »Das alles mutet mich sehr seltsam an, und ich fürchte, ich kann dir da nicht sehr weiterhelfen. Könnte ich dir vielleicht in irgend einer anderen Weise behilflich sein?« Ein Hauch von Farbe kehrte in das Gesicht der Frau zurück, wie Garth sah, und der Mann neben ihr hatte sich wieder voll gefangen und tat so, als wäre nichts Ungewöhnliches passiert. Bei den beiden, entschied Garth, würde es sich nachzuhaken lohnen. Er ertappte sich bei dem Ge danken, dass sie ihm irgendwie bekannt vorkamen, verwarf ihn aber sogleich als einen Streich, den ihm seine allzu blühende Phantasie spielte. Aber die beiden liefen ihm nicht weg. Er hatte noch ein anderes Anliegen, das er dem Oberherrn vortragen wollte, und es würde nicht leicht sein, eine zweite Audienz gewährt zu bekommen, trotz des erklärten Wohlwollens, das der Mann ihm gegenüber be kundet hatte. »O Prinz«, begann er, »vergib mir meine Unwissenheit bezüg lich deiner Stadt, aber ist der Kult des Aghad in Ur-Dormulk ak tiv?«
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Der Oberherr schien einen Moment lang verdutzt. »Aghad? Der Dûsarranische Gott des Hasses? Gewiss, es gibt einen Tempel von ihm hier, und er hat, denke ich, wohl auch seinen Stab von Pries tern und eine gewisse Zahl von Anhängern. Wir hier in Ur-Dor mulk sind stolz auf unsere Toleranz in religiösen Dingen; je dermann kann hier frei seinem Glauben frönen, solange er nicht gegen die guten Sitten und die öffentliche Ordnung verstößt. Die dunklen Götter und ihre Anhänger mögen ja abstoßend sein, aber wir gestatten ihnen, ihren Glauben unbehelligt zu praktizieren, so lange sie den Frieden nicht stören. Einer oder zwei sind in der Tat wegen des Darbringens von Menschenopfern aus der Stadt ge wiesen worden, aber bis dato haben sich die Aghaditen im großen und ganzen ordentlich benommen. Warum fragst du?« »Ich habe ein persönliches Interesse am Kult des Aghad, o Prinz. Seine Anhänger haben meine Frau ermordet.« Garths Ton war matt, fast leblos; die Menschenwesen deuteten dies sicher als einen Ausdruck von Kummer und tiefer Trauer, ge wiss aber nicht als ein Zeichen von brodelnder Wut, was es in Wirklichkeit war. Ein paar der Höflinge murmelten ein oder zwei Worte des Mitgefühls. Der Oberherr ließ sich Zeit mit seiner Erwiderung. »Das tut mir leid«, sagte er schließlich. »Warum erwähnst du es? Was möchtest du von mir?« »O Prinz, ich habe geschworen, die zu vernichten, die meine Frau gemordet haben; doch möchte ich dir und deiner Stadt keinesfalls Unannehmlichkeiten bereiten. Der Baron von Skelleth, das Volk von Skelleth und ich würden es als eine sehr große Gunst erachten, wenn du die Anhänger des Aghad aus Ur-Dor mulk vertreiben würdest, so dass sie nicht mehr unter deinem Schutz ständen.« Das schien das Höchste, was er billigerweise fordern konnte. Am liebsten hätte er den Oberherrn gebeten, dass
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er sofort seine Soldaten losschicke, auf dass sie den Tempel in Schutt und Asche legten und die Priester des Aghad nie dermetzelten. »Das widerstrebt mir«, gestand der Oberherr. »Es verstößt gegen die Traditionen der Stadt, eine Glaubensgemeinschaft aus zuweisen, die meinen Untertanen nicht unmittelbar Schaden zugefügt hat.« Er hielt einen Moment inne, dann fuhr er fort: »Ich werde über dein Ersuchen zu Rate gehen; mir ist sehr wohl be wusst, dass es zu unserem Nutzen ist, wenn wir Skelleths Wün sche respektieren, doch ein Ersuchen wie das deinige ist ohne Prä zedenzfall in der Geschichte Ur-Dormulks. Wenn du irgendeine Person identifizieren könntest, die eine unmittelbare Rolle bei der Ermordung deiner Frau gespielt hat, könnte ich diese Person fest nehmen lassen und an Skelleth ausliefern, auf dass sie sich dort vor Gericht verantworte — aber gleich die gesamte Sekte aus weisen! Du verlangst viel, und ich muss sorgfältig abwägen, bevor ich meine Entscheidung fälle.« Garth machte eine höfliche Verbeugung. Er hatte gleichzeitig be fürchtet und erhofft, dass der Oberherr sein Ansinnen abschlägig bescheiden würde. Er plante bereits einen eigenen Ausflug in den Tempel. Vom Vorstand her betrachtet, war ihm klar, dass er sich, wenn er den Tempel auf eigene Faust zerstörte, sowohl den Oberherrn von Ur-Dormulk als auch den Baron von Skelleth zum Feind machen würde, von den diplomatischen Verwicklungen, die ein solcher Akt nach sich ziehen würde, einmal ganz abgese hen. Vom Gefühl her jedoch war die Vorstellung, den verhassten Tempel in Schutt und Asche zu legen, wahrlich sehr reizvoll. »Gibt es sonst noch etwas, das ich für dich tun könnte, Über mann?« »Wenn du gestattest, o Prinz, würde ich mich gern mit einigen deiner Ratgeber bezüglich des möglichen Lageortes des Buches
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der Stille beraten, so es welche unter ihnen gibt, die möglicher weise etwas darüber wissen.« Der Oberherr hob eine Hand und machte eine ausladende Geste. »Ich habe zwei hervorragende Zauberer bei mir; wenn dieses Buch tatsächlich magischer Natur ist, dann könnten sie dir von Hilfe sein.« Er zeigte auf die Frau in Gelb und den Mann in Blau. »Das ist Chalkara von Kholis, Hofhexe des Hohen Königs zu Kho lis, erst jüngst aus den Diensten des Hohen Königs ausgeschieden und hierher gekommen; und das ist Shandiph, der Wanderer, ein Zauberer von Rang und gebürtig aus Ur-Dormulk, der den Weg zurück in die Heimat gefunden hat und an meinen Hof gekom men ist. Und dann ist da noch«, — er wandte sich um und zeigte auf eine alte Frau in dunkelbraunem und burgunderrotem Samt —, »meine Hofarchivarin Silda; sie weiß mehr über diese Stadt als jede andere lebende Person. Sie werden dich in das Rosengemach begleiten, wo du dich in Ruhe mit ihnen unterhalten kannst. Und nun entschuldige mich bitte, denn meine Amtsgeschäfte rufen.« Garth nickte. Er hatte sich gedacht, dass die beiden Zauberer oder Seher waren, und gehofft, dass der Oberherr ihm so ant worten würde, wie er es getan hatte. Nun gab es nur noch eine Angelegenheit, die ihm am Herzen lag. »Ich danke dir für deine Aufmerksamkeit und deine Hilfe, o Prinz! Verzeih, wenn ich dich zum Schluss noch mit einer kleinen Sache behellige; es gibt da noch eine Kleinigkeit ... « »Was ist es denn?« Der Oberherr wurde allmählich ungeduldig und bemühte sich vergeblich, es sich nicht anmerken zu lassen. »Mein Schwert.« Garth zeigte auf den Soldaten, der seine Waffen trug. »Kann ich es zurückbekommen?« »Ja, natürlich.« Der Oberherr hob die Hand, um anzudeuten, dass er nun wirklich nicht länger behelligt zu werden wünschte. »Sobald du den Palast verlässt, bekommst du deine Waffen -164-
wieder.« Er machte eine Geste in die Richtung des Offiziers, der Garth hergeführt hatte. »Du sorgst mir dafür.« »Danke, o Prinz! Möge deine Herrschaft lange und gedeihlich sein«, sagte Garth. Er verneigte sich, trat ein paar Schritte zurück und blickte sich um. Ein rotgekleideter Höfling stand bereit, ihn zu geleiten; be dächtig und ohne eine Miene zu verziehen, lösten sich die drei Ratgeber von ihrem Platz und gesellten sich zu ihnen. Die Gruppe verließ das weihrauchgeschwängerte Audienz zimmer durch eine Seitentür, ging durch einen langen getäfelten Gang und gelangte schließlich in einen kleinen Raum. Die Wände dieses Raumes waren mit rosafarbenem Samt ausge schlagen, und der Fußboden war in einem kunstvollen Muster mit Rosenholz getäfelt; Stühle aus Rosenholz, deren Sitzfläche und Rückenlehne mit rosafarbenem Samt bespannt waren, standen um einen ebenhölzernen Tisch gruppiert, auf dem eine Vase mit frisch geschnittenen weißen Rosen stand. Dies war offensichtlich das Rosengemach, und Garth setzte sich vorsichtig auf einen der Stühle, behutsam prüfend, ob er seinem Gewicht standhielt, bevor er sich ganz sinken ließ. Shandiph setzte sich ihm gegenüber, während Chalkara den Platz zu seiner Rech ten und Silda den zu seiner Linken einnahm, so dass jeder an einer anderen Seite des Tisches saß. Der rotgekleidete Lakei schob die beiden überflüssigen Stühle an die Seite, damit die vier sich ungehindert ausbreiten konnten, und zog sich dann diskret zurück. Während der kurzen verlegenen Stille, die daraufhin eintrat, studierten die vier einander bemüht unauffällig. Garth fiel auf, dass die Archivarin einen eher gelangweilten Eindruck machte, wohingegen die beiden Zauberer sich ganz offensichtlich unbe haglich fühlten. Chalkara kam ihm fast ein wenig verzweifelt vor; -165-
Shandiph, der nervös mit irgendeinem kleinen glänzenden Gegenstand herumfingerte, wirkte auf ihn nur unwesentlich gefasster. Er fragte sich, was sie so aus der Ruhe gebracht haben mochte. Als das Schweigen immer unbehaglicher zu werden schien, brach Garth es schließlich mit der Bemerkung: »Ich habe eure Mienen beobachtet.« Er hatte seinen Blick dabei den beiden Zau berern zugewandt, die Archivarin für den Augenblick außer acht lassend. »Ihr zwei habt vom Buch der Stille gehört.« Die beiden Zauberer schauten sich kurz an, dann richteten sie den Blick wieder auf den Übermann. »Ja, das stimmt; wir haben von dem Buch gehört«, gab Shandiph zu. »Es scheint euch zu widerstreben, darüber zu sprechen«, be merkte der Übermann. Nach einem Moment des Zögerns nickte Shandiph wortlos. »Warum?« fragte Garth. Wieder warfen sich die beiden einen kurzen Blick zu, ehe sie antworteten. »Meinst du, wir sollten es ihm erklären?« fragte Chalkara, an ih ren Kollegen gewandt. Shandiph nickte bedächtig. »Ich fürchte, das müssen wir.« Chal kara wandte sich ab und studierte die Samttapete. »Übernimm du das!« Garth warf einen Blick auf Silda; sie sah verwirrt aus und verstand offensichtlich nicht, worum es ging. Wenn hier irgend eine Verschwörung im Gange war, dann hatte sie jedenfalls nichts damit zu tun. »Zunächst einmal«, begann Shandiph, »wir sind uns schon ein mal begegnet, Garth von Ordunin – vor etwas mehr als zwei Jah ren.« -166-
Garth musterte mit neuerwachtem Interesse die Gesichter der beiden Zauberer; jetzt war klar, warum er das Gefühl gehabt hatte, dass sie ihm irgendwie bekannt vorkamen. Er war schon einer ganzen Anzahl von Zauberern unter verschiedenen Um ständen begegnet, aber er war sich ziemlich sicher, wo er diesen beiden begegnet war. Höchstwahrscheinlich hatten sie zu der Gruppe von fünfzehn oder zwanzig Zauberern gehört, die ihn sei nerzeit, aus dem Nichts auftauchend, in den Hügeln nördlich von Skelleth angegriffen hatten. Das Schwert des Bheleu hatte ihren Angriff zunichte gemacht und fürchterlich zurückgeschlagen: Garth hatte gesehen, wie mehrere von ihnen ihr Leben ausge haucht hatten, bevor der Vergessene König auf den Plan getreten war und dem Kampf ein Ende gemacht hatte, indem er die Zaube rer auf magischem Wege zu ihrem jeweiligen Heim zurückge sandt hatte. Das war die Schlacht gewesen, die ihn dazu getrieben hatte, seinen Meineid zu schwören; er würde diese Schlacht wohl nie in seinem Leben vergessen, aber in dem tosenden, von Blitzen durchzuckten Inferno von Tod und Vernichtung, von Zauber und Gegenzauber, hatte er nicht jedes einzelne Gesicht klar erkennen können. »Ich glaube, ich erinnere mich an den Vorfall«, sagte er. »Das dachte ich mir«, sagte Shandiph. »Ich hoffe, du nimmst es uns nicht übel, dass wir versucht haben, dich zu töten; es schien uns zu jener Zeit die einzige Möglichkeit, unermessliche Zerstö rung abzuwenden.« »Ich habe mich seither immer gefragt, wer ihr wohl sein moch tet, warum ihr ausgerechnet jenen Zeitpunkt für euren Versuch, mich zu töten, gewählt habt und warum ihr nach eurer anfängli chen Niederlage keine weiteren Versuche unternommen habt«, sagte Garth in einem Ton höflicher Neugier.
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Shandiph warf einen Blick auf Chalkara und antwortete dann: »Was deine erste Frage betrifft, wer wir nämlich sind — bezie hungsweise waren —, so ist das jetzt nicht mehr von Belang; unse re Organisation existiert nicht mehr. Die Überlebenden aus jenem Konflikt mit dir wurden in alle Winde verstreut, und die Kriege, die dann folgten, vereitelten alle Versuche, uns wieder zu sammeln. Wir hatten dich angegriffen in der Hoffnung, damit den Ausbruch des Zeitalters der Zerstörung aufhalten zu können, wel ches durch deinen Erwerb des Schwertes des Bheleu angekündigt worden war. Und wir unternahmen nach unserer Niederlage deshalb keinen neuen Versuch, weil es keinen Grund mehr dafür gab; du warst nicht mehr im Besitz des Schwertes, und zudem war offensichtlich, dass das Zeitalter der Zerstörung ohnehin angefangen hatte, ganz gleich, welche Rolle dir auch immer in ihm zugedacht gewesen sein mochte. Eramma wurde durch einen Bürgerkrieg verheert.« Garth nickte, wenngleich er bei sich dachte, dass die Verheerung keine totale gewesen war. »Chalkara und ich flohen hierher, weil wir hofften, dass Ur-Dor mulk, das so lange fast unverändert bestanden hatte, ein sicherer Ort sei. Wir hatten nicht damit gerechnet, dich wiederzusehen. Dein Auftauchen war daher für uns wie ein Schock — erst recht, als du sagtest, du suchtest das Buch der Stille.« »Und das«, sagte Garth, »bringt uns wieder zur ursprünglichen Frage zurück. Was wisst ihr vom Buch der Stille?« »Wenig genug. Was weißt du von ihm? Warum suchst du es?« Garth zuckte die Achseln. »Ich habe mich bereiterklärt, es für einen Bekannten von mir zu holen. Ich nehme an, es ist eine Art Zauberbuch.« Er sah keinen Grund, warum er unnötige Einzelhei ten preisgeben sollte, aber er konnte schlechterdings auch nicht so tun, als wüsste er überhaupt nichts.
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»Wer ist dieser Bekannte?« fragte Chalkara. »Ein Zauberer, wenn man so will«, erwiderte Garth. »Ist es der Zauberer, der dir seinerzeit nach der Schlacht das Schwert des Bheleu abnahm?« bohrte sie weiter. Widerstrebend gab Garth dies zu. Die gelb gewandete Hexe tauschte einen Blick mit ihrem Kollegen aus. Die Archivarin brach ihr langes Schweigen und bemerkte in einem etwas gereizten Ton: »Dürfte ich vielleicht wissen, wovon ihr drei da eigentlich redet? Was war das für eine Schlacht? Wer ist dieser Zauberer, von dem ihr da redet? Und was ist das Schwert des Bheleu?« Shandiph hob beschwichtigend die Hand. »Geduld, Silda! lass uns noch ein wenig reden; ich erkläre dir später alles, sobald ich kann.« Er hielt inne, und die Frau schickte sich mit mürrischer Miene wieder in die Rolle der schweigenden Zuhörerin. Als Shandiph sicher war, dass die Archivarin keinen weiteren Protest anmelden würde, fuhr er fort: »Garth, dieser Zauberer — der, den wir vor zweieinhalb Jahren sahen, ist er der König in Gelb?« Silda gab einen japsenden Laut von sich. »Der König in Gelb?« platzte sie heraus. »Silda!« ermahnte sie Shandiph. »Bitte!« Die Archivarin unterdrückte einen weiteren Ausbruch. Als wieder Ruhe eingekehrt war, wiederholte Shandiph: »Ist er der König in Gelb, Garth?« Der Übermann zuckte die Achseln. »Er ist ein alter Mann, der in Skelleth lebt. Er hat mir gegenüber seinen Namen einmal erwähnt, aber ich habe ihn wieder vergessen; er war schwer auszuspre chen.« -169-
Ein Blick über den Tisch zeigte ihm, dass beide Frauen sich mit Macht beherrschen mussten, ihn nicht anzuschreien. Shandiph seufzte. »Ich wünschte, du wärest ein wenig mehr zur Zusammen arbeit bereit, Garth.« »Tut mir leid, Zauberer, aber ich bin nicht hier, um mich von euch aushorchen zu lassen. Ihr seid hier, um mir meine Fragen zu beantworten, wenn mich nicht alles täuscht. So jedenfalls lautete die Anordnung des Oberherrn.« »Das weiß ich. Entschuldige. Aber diese Sache ist sehr wichtig — und sehr gefährlich.« »Wieso?« »Aufgrund dessen, was das Buch der Stille ist, verdammt noch mal!« »Wenn du mir vielleicht sagen könntest, was es deines Wissens nach ist, würden wir vielleicht beide etwas dabei gewinnen«, versetzte Garth. Dieses Wortgeplänkel, bei der jede Seite versuch te, der anderen Seite soviel wie möglich an Informationen aus der Nase zu ziehen und so wenig wie möglich von ihrem eigenen Wissen preiszugeben, ging ihm allmählich auf die Nerven, aber er war trotzdem nicht gewillt, es zu beenden, indem er alles aus packte, was er wusste. Wenn er das tat, dann würden die Zaube rer keinen Grund mehr haben, ihre eigenen Informationen auf den Tisch zu legen. »Es ist der Tod«, sagte Shandiph leise. »Es ist das Ende von allem.« Ein Gesichtsausdruck, den beide Arten miteinander ge mein hatten, war der der Skepsis, und Garth schaute den Zauberer mit unverhohlener Skepsis an. »Es ist das Totem des Todes«, fuhr Shandiph unbeirrt fort. »Du weißt, dass jeder Gott sein auserwähltes Werkzeug hat — du musst es wissen. Du warst der Auserwählte Bheleus, der, der sein Totem trug, der seine sterbliche Inkarnation war.« Garth nickte unverbindlich. »Sprich weiter!« -170-
»Ich bin kein Theurg, kein Experte im Umgang mit Göttern, aber ein alter Freund von mir war es; er starb in den Hügeln bei Skelleth. Er hatte keinen Schutzzauber, der ihn gegen das Schwert des Bheleu hätte feien können, obwohl er wusste, was es war. Er erklärte es mir, und ich habe seither weiter darüber studiert. Jeder der bedeutenderen Götter hat eine Periode des Aufstiegs, eine Ära, in der sich die Waage der Macht zu seinen Gunsten neigt und in der die Dinge, die ihm Wohlgefallen, in unserem vergänglichen Reich vorherrschen. Jedes dieser Zeitalter hat seinen speziellen Herold, jemanden, der das Totem des dominanten Gottes oder der dominanten Göttin handhabt. Wenn eine Ära zu Ende geht, er weisen die Diener der scheidenden Gottheit dem Vertreter des Herrschers des neuen Zeitalters einen Dienst, als Symbol des Machtwechsels. Wir befinden uns jetzt im Vierzehnten Zeitalter, dem Zeitalter des Bheleu, des Gottes der Zerstörung, wie du selbst ja nur allzu gut weißt; du bist Bheleus auserwählter Stellvertreter, auch wenn es dir geglückt ist, dich mit Hilfe einer Macht, die zu begreifen ich nicht vorspiegeln will, dieser Rolle zu widersetzen. Ich kenne die näheren Umstände nicht, aber gemäß der Theorie muss ein Vertreter der P‘hul dir irgendeinen Dienst erwiesen haben, um symbolisch den Beginn dieser Ära und den Ausklang des Dreizehnten Zeitalters zu kennzeichnen, das von P‘hul, der Göttin des Verfalls, regiert wurde.« Garth nickte. Der Kult der P‘hul hatte in der Tat den Weißen Tod in Dûsarra verbreitet, als er in einem Anfall von Wahn die Zerstörung der Stadt herbeigewünscht hatte. »Nun musst du wissen, dass der König in Gelb der unsterbliche Priester des Gottes-Dessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht ist. Es ist eine sichere Annahme, dass er das auserwählte Werkzeug des Letzten Gottes sein wird, wenn das Zeitalter des Todes kommt. Das bedeutet zweierlei: Er muss das Totem des Gottes des Todes haben, und ein Diener des Bheleu muss ihm einen symbolischen -171-
Dienst erweisen. Siehst du jetzt endlich ein, warum wir nicht zu lassen können, dass du – und gerade du – das Buch der Stille dem König in Gelb überbringst?« Garth blieb skeptisch. »Es sind kaum drei Jahre seit dem Ende des Dreizehnten Zeitalters vergangen; diese kurze Spanne kann man wohl kaum als Zeitalter bezeichnen.« »Es gibt keine Regel, die die Dauer der einzelnen Zeitalter in ir gendeiner Weise beschränkt, weder nach unten noch nach oben. Vielleicht hat deine Weigerung, die dir zugedachte Rolle anzunehmen, so begrüßenswert sie auch sein mag, das Zeitalter des Bheleu abgekürzt.« »Wieso bist du so sicher, dass ich das Buch dem König in Gelb bringen will?« »Ich sah den alten Mann, der das Schwert von dir nahm, Garth, und spürte etwas von seiner Macht. Wer sonst könnte es sein?« Chalkara meldete sich zu Wort. »Du hast kein Vertrauen zu uns, Garth, aber Silda hier hat von dem König gehört; lass sie ihn dir beschreiben, und dann lassen wir dich entscheiden, ob es er ist, dem du dienst.« Garth wusste natürlich selbst, dass der Vergessene König auch unter dem Namen »König in Gelb« be kannt war und dass er natürlich exakt derjenige war, den die Zau berer meinten, aber ihn interessierte, was die Archivarin wusste. Jede neue Information konnte sein eigenes Bild von dem alten Mann vervollständigen und ihm hilfreich für seinen weiteren Um gang mit ihm sein. »Sprich, Archivarin!« forderte er Silda auf. Silda schaute nacheinander jeden der drei an, bevor sie mit pe dantischer Stimme anhub: »Der König in Gelb ist eine sagenhafte Gestalt, die in den meisten alten geschichtlichen Darstellungen von Ur-Dormulk auftaucht. Ich wüsste jedoch von keiner Ver bindung zwischen ihm und irgendeiner Gottheit noch von irgend -172-
einer Verbindung mit einem Buch oder mit Übermännern oder mit irgend etwas anderem, wovon ihr gesprochen habt — außer mit Zerstörung und Tod. Er regierte einst ein Reich von dieser Stadt aus, vor langer, langer Zeit, als sie noch einen anderen Namen trug; Hastur oder — in einer anderen Version — Carcosa. Sein Ursprung oder seine Herkunft sind niemals erklärt worden; in den ältesten Chroniken und in den in noch frühere Zeiten zu rückreichenden Mythen wird seine Präsenz als etwas Konstantes, seit Urgedenken Vorhandenes angesehen. Die Legenden machen zu dieser Gestalt allesamt nur sehr vage Aussagen — viele scheinen vorauszusetzen, dass der Leser ohnehin Bescheid weiß. Klar ist jedoch eines, nämlich: dass er nicht sterben konnte und dass er ein Gegenstand des Schreckens und der Furcht in der ge samten Welt war, wie jene Historiker sie kannten. Wer in sein Gesicht sah und von seinem Blick getroffen wurde, verfiel dem Wahnsinn oder wurde vom Tod ereilt. Obwohl er einstmals ein wirklicher König war — und ein König, vor dem sich Kaiser verneigten —, entsagte er seinem Thron und überließ ihn einem Nachfolger, der die alte Kaiserdynastie gründete, welche von den Gründern des heutigen Ur-Dormulk Jahrhunderte später niedergeworfen wurde; doch es hieß, dass der König einst zurückkehren und seinen rechtmäßigen Platz bean spruchen werde, und wenn das geschähe, würden die Sterne vom Himmel fallen und die Erde zerschmettern. Er verschmähte allen königlichen Putz und wanderte durch die Welt in zerfetzten gelben Lumpen — daher der Name »König in Gelb«. Seine Diener trugen Schwarz. Dies soll der Grund sein, warum die Herren von Ur-Dormulk schwarz gekleidet sind und die Bürger der Stadt alle gelben Farbtöne meiden.« Silda hielt inne und schüttelte den Kopf. Chalkara schaute hin unter auf ihr gelbes Gewand, und Garth dachte mit Unbehagen an seine Gewohnheit, einen schwarzen Panzer zu tragen. -173-
Silda fuhr fort: »Eine solche bloße Aufzählung der mir bekann ten Fakten vermittelt gleichwohl nicht die Essenz von alledem, was ich über seine Person gelesen und gehört habe. Ober der ge samten Geschichte der Stadt, von Zeiten, die so weit zurückliegen, dass wir sie nur erahnen können, bis in das Chaos des Zwölften Zeitalters, hängt der Schatten des Königs wie dräuender Rauch. In jeder Schilderung von tragischen Ereignissen wird er erwähnt, und in den Schilderungen von angenehmeren Zeiten und Bege benheiten taucht er stets in Zusammenhang mit düsteren Vorahnungen auf. In den Kriegen des Zeitalters des Aghad wurde die Stadt zerrissen und gespalten, so dass die Kontinuität verlo renging und die alten Mythen beim Volk in Vergessenheit gerieten. Aber es besteht kein Zweifel darüber, dass bis zu jenem Zeitalter die Geschichten über den König über mehr als zehn tausend Jahre hinweg überliefert worden waren, und das obgleich kein Historiker oder Märchenerzähler es je gewagt hatte, mehr als verschwommene Andeutungen über seine wahre Natur zu Papier zu bringen. Ich hatte gedacht, dass keiner von den jetzt Lebenden jemals etwas von ihm gehört hätte – ausgenommen meine eigene Person; dass er nur in den alten Büchern und Schriftrollen erwähnt wird – Bücher und Schriftrollen, die niemand außer mir in den letzten drei Jahrhunderten gelesen hat. Und euch drei nun von ihm sprechen zu hören, als lebte er heute noch, als hättet ihr ihn gesehen ...« »Ich habe ihn gesehen«, sagte Shandiph. »Er ist seit mehr als tausend Jahren verschwunden!« »Hast du nicht selbst gesagt, er könne nicht sterben?« wandte Chalkara ein. Garth sagte nichts. Er grübelte über das nach, was er soeben ge hört hatte.
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Er hatte, wenn er über das Lebensalter des Vergessenen Königs nachgedacht hatte, in Größenordnungen von Jahrhunderten ge dacht, nicht von Jahrtausenden. dass jemand oder etwas älter als elftausend Jahre alt sein sollte, überstieg sein Vorstellungsvermö gen. Selbst tausend Jahre erschienen ihm fast unvorstellbar. Das war, grob gerechnet, das Siebenfache seines eigenen Alters; elf tausend Jahre wären das Siebenundsiebzigfache! Seine Art selbst existierte ja noch nicht viel länger als tausend Jahre. Zum ersten Mal glaubte er wirklich zu verstehen, warum der König sterben wollte. Das Gewicht so vieler Jahre war gewiss mehr, als ein einzelner Geist zu ertragen vermochte. Er hatte gewusst, dass der König einen schlimmen Ruf hatte bei allen, die überhaupt von ihm wussten; Garth hatte das auf seine Stellung als Hoherpriester des Todes zurückgeführt; aber es sah ganz so aus, als würde mehr dahinterstecken. Warum schwiegen sich die Chroniken der Stadt über das genaue Wesen der von ihm ausgehenden Bedrohung aus? Warum hieß es, dass die Sterne vom Himmel fallen würden, wenn er zurückkehrte? Würde das Abliefern des Buches der Stille beim Vergessenen König wirklich ein Zeitalter des Todes auslösen? Wenn ja, was würde das bedeuten? Das zumindest war eine Frage, die er stellen konnte. »Was würde ein Zeitalter des Todes mit sich bringen?« fragte er. »Nun, den Tod alles Lebenden natürlich«, sagte Shandiph. »So wie das jetzige Zeitalter eine Ära des Krieges und des Chaos und der Verheerung war und das letzte eine Ära der Stagnation und des Verfalls.« »Und was käme danach?« Shandiph zuckte die Achseln. »Wer weiß? Vielleicht wird nichts das Zeitalter des Todes überleben, nicht einmal die Erde oder die Götter selbst. Vielleicht wird auch nur die Menschheit untergehen, -175-
der Rest der Welt aber weiterbestehen und dein Volk wird einen neuen, eigenen Zyklus beginnen. Vielleicht wird der Tod sich auch nur auf gewisse Teile der Welt beschränken, und viele, vielleicht sogar ganze Nationen, werden am Leben bleiben, und die niedrigeren Götter werden die Zeitalter regieren. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ein Zeitalter des Todes etwas ist, das ich nicht erleben möchte.« Garth dachte über die Möglichkeiten nach, die Shandiph ge nannt hatte, besonders über die erste und schrecklichste. Was würde sein, wenn nichts das Zeitalter des Todes überleben würde? Wenn die Welt selbst verschwinden und die Götter sterben würden; würde dann nicht die Zeit selbst aufhören? Das Ende der Zeit wäre dann eine wahrhaftige Realität, nicht bloß eine poetische Redewendung. Mit wachsendem Unbehagen erinnerte er sich, dass — als er mit dem König seinerzeit um ewigen Ruhm geschachert hatte — der König geschworen hatte, Garths Name würde berühmt sein, »so lange es Leben auf der Erde gibt«. Als der König ihm Unsterblich keit in Aussicht gestellt hatte — so jedenfalls hatte er das Angebot aufgefasst —, hatte er gesagt, Garth werde weiterleben »bis ans Ende der Zeit«, wenn er dem König bei seinem Zauber hülfe. Der König hatte ferner gesagt, sein Zauber werde vielen den Tod bringen, eingeschlossen dem gesamten Aghad-Kult. Und — das vielleicht Wichtigste — der Priester des Gottes-Dessen-NamenMan-Nicht-Ausspricht in Dûsarra hatte Garth gesagt, der Vergessene König sei dazu verurteilt, bis ans Ende der Zeit wei terzuleben. Der König trachtete danach, ein Zauberkunststück durchzuführen, das es ihm gestatten würde zu sterben. Alles schien darauf hinzudeuten, dass der König die Absicht hatte, das Ende der Zeit und den Tod von allem herbeizuführen. Und Garths Ruhm »bis ans Ende der Zeit«, den er dem Übermann
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zugesagt hatte, gedachte er nicht etwa herbeizuführen, indem er Garths Leben verlängerte, sondern indem er die Welt und die Zeit selbst auslöschte!
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Kapitel 10 Nach einem Moment des Schweigens, in dem Garth die unge heuerliche Vorstellung in sich aufnahm, dass er möglicherweise Hilfestellung bei der völligen Zerstörung der Welt zu leisten im Begriff war, begann er die möglichen Konsequenzen und Kom plikationen seiner Situation zu durchdenken. Eine Frage drängte sich ihm sofort auf. Es schien logisch, davon auszugehen, dass die Welt nicht untergehen und der König nicht sterben konnte, bis das Ende des Zeitalters des Todes gekommen sein würde. Dennoch hatte der alte Mann zu verstehen gegeben, dass sein Tod die unmittelbare Folge seines Zaubers sein würde. Als Garth geglaubt hatte, die Methode schließe das Herbeirufen des Gottes-Dessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht und den Wider ruf ihrer Übereinkunft in sich ein, hatte er darin keinen Wider spruch gesehen. Er hatte geglaubt, des Königs Angebot, er, Garth, werde als Gegenleistung in den Genuss ewigen Lebens kommen, gründe sich darauf, dass Garth an die Stelle des Königs träte, aber dieser Glaube schien nicht länger gerechtfertigt. Das Angebot war gar kein Angebot ewigen Lebens gewesen. »Wie lange«, fragte er, »glaubt ihr, dass das Zeitalter des Todes dauern wird?« Shandiph zuckte die Achseln. »Ich sagte dir ja, ich bin kein Theurg, und ich bin auch kein Astrologe oder Seher. Ich weiß es nicht. Ich habe Philosophen sagen hören, dass die Länge eines Zeitalters subjektiv ist und sich nicht immer voraussagen oder messen lässt. Es kann sein, dass es eine Million Jahre dauert, bis die Sonne erkaltet und die Ozeane austrocknen, es kann aber auch sein, dass es in Sekundenschnelle vorübergeht und die Welt mit einem Knall verschwindet.« Das war, fand Garth, eine un befriedigende Antwort. »Zauberer«, sagte er, »ich erfuhr von Bhe
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leu in einer Vision, die er sandte, während ich das Schwert hielt und er versuchte, Besitz von mir zu ergreifen, dass seine Herr schaft dreißig Jahre währen würde. Und nun kommst du und re dest so, als könnte es vielleicht schon nach drei Jahren vorüber sein. Wie kann das angehen? Hat sich der Gott vielleicht geirrt? Das passt nicht in mein Bild vom Wesen eines Gottes. Könnte vielleicht meine Weigerung, ihm zu dienen, diese Veränderung bewirkt haben? Ich hatte gedacht, die Zeitalter seien in den Ster nen festgelegt, und die Unsicherheit und die Meinungsverschie denheit unter den Astrologen seien lediglich eine Folge verschie dener Deutungen.« »Ich weiß es nicht«, gestand Shandiph. »Vielleicht lassen die Sterne verschiedene Deutungen zu; vielleicht hat der Gott ge logen. Mein Freund Miloshir sagte mir, Bheleus Herrschaft würde entweder drei Jahre oder dreißig Jahre dauern, aber welche von beiden Möglichkeiten nun die richtige sei, konnte er auch nicht sagen; es ist möglich, dass er es nicht wusste, es ist aber auch möglich, dass es zu jenem Zeitpunkt noch nicht entschieden war. Deine Weigerung kann durchaus das ausschlaggebende Ereignis gewesen sein; vielleicht hast du das Zeitalter der Zerstörung nur abgemildert, um den Ausbruch des Zeitalters des Todes zu beschleunigen.« Garth dachte an die rauchenden Schlachtfelder und die versengten Felder, die er auf seiner Reise durch Eramma gesehen hatte. Wenn das das Szenarium eines »abgemilderten« Zeitalters der Zerstörung war, wie hätte es dann erst ausgesehen, wenn er sich seiner Rolle nicht verweigert hätte? Ein fürwahr nie derschmetternder Gedanke! Aber der Gedanke, dass er durch die Verkürzung und Abmilderung des Zeitalters der Zerstörung den Ausbruch des Zeitalters des Todes um die Zeitspanne einer halb en Generation beschleunigt hatte – oder sogar einer ganzen Gene ration, wenn er die Lebenserwartung von Menschenwesen zu grunde legte, war noch niederschmetternder. Es sah ganz so aus, -179-
als hätte er sich in einer tragischen Situation befunden, in der er nur Tod und Verheerung bringen konnte, ganz gleich, was er tat. Du hast gesagt, meine Handlungen würden so oder so das Zeit alter des Todes einleiten; wie könnte das verhindert werden, wenn das das nächste Zeitalter sein soll? muss es zwangsläufig das Fünfzehnte Zeitalter sein? Kann es nicht das Zwanzigste oder meinetwegen das Hundertste sein?« »Noch einmal, Garth, ich bin kein Theurg. Miloshir drückte sich so aus, dass fünfzehn Zeitalter vonnöten seien, um den gegen wärtigen Zyklus zu vollenden; von diesen fünfzehn Zeitaltern sind – so Miloshir – die ersten sieben den Herren von Eîr geweiht, die letzten sieben den Herren von Dûs, während das Achte Zeit alter eine Ära des Gleichgewichts zwischen Licht und Dunkelheit war. Ob dieses Schema unverrückbar festgelegt ist, vermag ich nicht zu sagen. Wenn es unveränderbar ist, dann wird es ein Fünf zehntes Zeitalter geben, ein Zeitalter des Todes, und es wird un mittelbar nach dem Zeitalter der Zerstörung beginnen.« »Nicht gerade eine verlockende Auswahl: Zerstörung oder Tod.« Shandiph zuckte die Achseln. Chalkara, die die Un terhaltung interessiert verfolgt hatte, meinte: »Ich möchte lieber leben, ganz gleich unter welchen Umständen auch immer, als un tergehen.« »Glaubst du«, fragte Garth, an Shandiph gewandt, »indem ihr mich davon abhaltet, meinen Auftrag auszuführen, könntet ihr dieses Fünfzehnte Zeitalter vielleicht abwenden?« »Wir müssen es jedenfalls versuchen. Vielleicht können wir es für weitere siebenundzwanzig Jahre hinauszögern oder vielleicht bewirken, dass es abgemildert wird, so wie das Zeitalter Bheleus, auf dass vielleicht einige überleben, die sonst nicht überleben würden.«
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Garth lehnte sich zurück und dachte nach. Er war nicht glück lich über diese neue Erkenntnis. Die Möglichkeit, dass die Zaube rer sich dies alles nur ausgedacht hatten, aus welchen Gründen auch immer, war natürlich nicht auszuschließen, aber das schien sehr unwahrscheinlich: Es fügte sich alles nur allzu gut in das, was er selbst schon wusste. Der blaugekleidete Mann hatte das Ende der Welt als nur eine von mehreren Möglichkeiten genannt; wäre es ihm bloß darum gegangen, Garth Furcht einzujagen, dann hätte er sicherlich nicht mehrere Möglichkeiten erwähnt. Nein, es war sein eigenes Wissen über den Vergessenen König, das ihn davon überzeugte, dass die Zauberer die Wahrheit sprachen. Das Vierzehnte Zeitalter war jetzt knapp drei Jahre alt; sein Vor läufer, das Zeitalter der P‘hul, hatte dreihundert Jahre gedauert, und das Zwölfte Zeitalter, das diesem vorausgegangen war, war schon alt gewesen, als die ersten Übermenschen erschaffen wurden; folglich hatte es mindestens siebenhundert Jahre gedau ert. Die Zeitalter schienen also mit jedem Mal kürzer zu werden. Das Fünfzehnte Zeitalter würde vielleicht nur drei Tage oder drei Stunden dauern. Das Ende der Welt und sein eigener Tod standen vielleicht schon kurz bevor. Das setzte freilich voraus, dass das Fünfzehnte Zeitalter tat sächlich beginnen würde, wenn der Vergessene König das Buch der Stille in Empfang nahm. Garth wusste, dass diese Theorie eine schwerwiegende Schwachstelle hatte. »Würde es eure Besorgnis mindern«, fragte er, »wenn ich euch sagte, dass das Buch der Stille nicht das Totem des Gottes-DessenNamen-Man-Nicht-Ausspricht ist?« Shandiph überlegte einen Moment lang, ehe er antwortete: »Eigentlich nicht. Wenn nicht das Buch, was ist es dann? Überdies würde das nichts an der Tatsache ändern, dass du, Bheuleus Erko rener, dem König in Gelb einen Dienst erwiesest, wenn du ihm
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das Buch der Stille brächtest, selbst wenn es das Totem eines anderen Gottes wäre. Miloshir sagte mir, es könne vielleicht sogar das Totem von Dagha selbst sein, dem Gott der Zeit, dem Vater aller höheren Götter. Aber was wäre in dem Fall das Totem des Gottes des Todes? Miloshir meinte, es könnte vielleicht der Ba silisk sein, der unter Mormoreth hauste, aber das ist unwahr scheinlich; denn die Kreatur ist ja tot. Und dem König in Gelb Daghas Totem zu bringen, könnte sich leicht als ebenso verhee rend erweisen, wie als brächtest du ihm sein eigenes, was immer es ist.« Garth musste zugeben, dass dieses Argument nicht ohne Logik war; schließlich hatte ja auch er das Schwert des Bheleu von Bhe leus Altar genommen und es nicht etwa von den Anhängern der P‘hul bekommen. »Dennoch«, sagte er, »das Zeitalter des Todes kann, wenn ich recht verstehe, erst beginnen, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Ich muss dem König einen Dienst erweisen, und – was, wie ich meine, weit wichtiger ist – er muss das Totem seines Gottes in seinen Besitz bringen. Sehe ich das richtig?« Shandiph nickte. »Trotzdem erführe ich gern, woher du weißt, dass das Buch der Stille nicht jenes Totem ist, wo du doch be hauptest, du wüsstest nichts von dem Buch.« »Der König hat es mir gesagt«, antwortete er; fast gleichzeitig wurde ihm bewusst, wie schwach das klang. Trotzdem, er glaubte dem alten Mann. Er wusste, dass der König ein Ränkeschmied war, der es geschickt verstand, mit Halbwahrheiten zu operieren und Lügen anzudeuten, ohne sie wirklich auszusprechen, aber er hatte ihn noch nie eine direkte und eindeutige Lüge sagen hören. Und er hatte eindeutig gesagt, dass das Buch der Stille das Totem Daghas sei, nicht das des Todes.
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Damals war es Garth seltsam vorgekommen, dass er so viele Worte verloren und nicht wie sonst Garth im Dunkeln hatte tappen lassen; aber jetzt, im nachhinein, sah es so aus, als hätte der König einen solchen Moment wie diesen vorausgeahnt, als hätte er gewusst, dass Garth in seiner Absicht, das Buch der Stille zu ho len, schwankend werden würde, weil er glaubte, es sei das Totem des Letzten Gottes. Der Letzte Gott — dieser Name erschien plötzlich treffender denn je, wenn sein Zeitalter das Ende der Welt mit sich bringen sollte. »Du magst vielleicht Grund haben, seinem Wort Glauben zu schenken«, sagte Shandiph, »aber wir nicht. Abgesehen davon, woher willst du wissen, ob er nicht schon längst im Besitz des To tems des Todesgottes ist?« »Er hat es einst besessen, ließ es aber hier in dieser Stadt zurück, zusammen mit dem Buch der Stille.« »Hat er dir das auch gesagt?« »Ja.« Garth erinnerte sich, dass der alte Mann auch gesagt hatte, dass er nicht gänzlich von der Bleichen Maske frei sei, auch wenn er von ihr getrennt sei, aber er unterdrückte den Gedanken. Er wollte dem König das Buch der Stille bringen, damit er es gegen das Schwert des Bheleu eintauschen und alsdann mit dem Schwert die Aghaditen vernichten konnte. Der Gedanke, die Aghaditen zu töten, sie bluten und verenden zu sehen, war so reizvoll und verlockend, dass er für einen Moment darin schwelgte und so Chalkaras nächste Frage zu nächst gar nicht registrierte. »Ich sagte, was ist das Totem des Todes?« wiederholte sie. Garth riß sich aus seinen Träumereien und zuckte die Achseln. »Er nannte es »die Bleiche Maske«.«
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Die beiden Zauberer blickten erst sich an, dann die Archivarin. »Nie gehört«, sagte Chalkara. »Ich auch nicht«, erklärte Shandiph. »Ich bin nicht sicher«, sagte Silda. »Wenn ich mich recht erinne re, ist irgendwo in den Märchen von den gefallenen Monden die Rede davon.« »Das ist auch nicht so wichtig«, sagte Garth. »Ich habe nicht die Absicht, dem König irgend etwas anderes als das Buch der Stille zu bringen. Ihr habt mein Wort.« »Mir wäre lieber, wir hätten dein Wort, dass du dieses Unter nehmen ganz aufgibst«, sagte Shandiph. »Das kann ich nicht. Ich brauche Magie für meine Rache, eine Magie, gegen die der Aghad-Kult kein Gegenmittel hat.« Für einen Augenblick kehrte Schweigen ein. Chalkara war es, die schließlich sagte: »Und dafür brauchst du das Buch der Stille?« »Nein«, antwortete Garth. »Ich will die Unterstützung des Königs, die er mir als Gegenleistung für die Aushändigung des Buches zugesagt hat.« Es war gewiss unklug, wenn er erwähnte, dass er die Absicht hatte, das Schwert des Bheleu wieder an sich zu bringen; die Zauberer würden sich mit Sicherheit genauso energisch dagegen verwahren, wie sie sich gegen seine Absicht verwahrten, das Buch der Stille dem König auszuliefern. Schließ lich hatten sie die unheilvolle zerstörerische Macht des Schwertes am eigenen Leibe gespürt. »Du wärest also tatsächlich bereit, das Leben aller Männer, aller Frauen, aller Kinder, aller Übermänner und Überfrauen, aller Kreaturen, die da auf dieser Erde kreuchen und fleuchen, aufs Spiel zu setzen, um den Mord an deinem Weibe zu rächen?« frag te Shandiph mit ungläubigem Erstaunen.
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»Ja«, erwiderte Garth schlicht. Er hielt es nicht für der Mühe wert, darauf hinzuweisen, dass der Aghad-Kult eine Bedrohung für alle war und mit weiteren Morden gedroht hatte oder dass die Vernichtung dieses Kults sowohl ein Akt der Rache als auch ein solcher der Vorbeugung war. Kyriths Tod war Grund genug. Chalkara schaute erst Silda, dann Shandiph an und flüsterte dann letzterem zu: »Er ist wahnsinnig!« Sie hatte nicht bedacht, dass das Gehör von Übermännern viel schärfer war als das von Menschenwesen; Garth hörte ihre Bemerkung, überging sie aber. »Garth«, wandte sich Shandiph mit flehender Miene an den Übermann, »überleg es dir bitte noch einmal. Wir werden dich bei deiner Rache in jeder erdenklichen Weise unterstützen, wenn du nur dem König nicht das Buch oder diese Maske bringst oder ihm auf sonstige Weise zu Diensten bist.« Das war ein verlockendes Angebot, aber so gern Garth davon auch Gebrauch gemacht hätte, er wusste, dass er es ablehnen musste. Diese Zauberer hatten nur wenig wirkliche Macht; vieles von dem, was sie seinerzeit gegen ihn ins Feld geführt hatten, war verloren, entweder durch das Schwert des Bheleu zerstört oder durch den Vergessenen König blockiert. Sie mochten vielleicht gegen einen aghaditischen Zauberer bestehen können, im fairen Wettstreit, einer gegen einen, aber der Kult war weit verbreitet und scherte sich einen Kehricht um Fairness; schlimmer noch: Er erhob das Gegenteil von Fairness, die Gemeinheit, die Hinterlist, die Heimtücke, den Hass, geradezu zum höchsten Gebot seines Handelns. Hinzu kam: Das gesamte Aufgebot an Zauberern, das damals gegen ihn gekämpft hatte (und er konnte mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie in jeder Schlacht ihre gesamte Streit macht aufgeboten hatten), war nicht stärker als zwei Dutzend ge wesen, und davon war mindestens ein Viertel, wenn nicht gar die Hälfte oder mehr gefallen. Das bedeutete, dass weit weniger als
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zwanzig überlebt hatten, während der Kult sicherlich nach Hunderten oder sogar Tausenden zählte. Und was noch wichtiger war: Er hatte einen Eid geschworen. Zweieinhalb Jahre lang hatte das Wissen, einen Meineid geschwo ren zu haben, ihn gequält und geplagt, und erst seine Bereitschaft, diese Reise zu unter nehmen, hatte ihm ein wenig Linderung ge bracht. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich noch einmal mit solchen Gewissensbissen herumzuquälen. Er hatte wenigstens einen Schein von Ehre wiedergewonnen, so fragwürdig und verlogen dieser auch immer sein mochte, und den wollte er be wahren, so lange er konnte. »Nein«, sagte er, »es tut mir leid.« Er erhob sich, bevor sich ir gendwelcher Protest erheben konnte. »Ich kam in dieses Gemach, weil ich hoffte, dass ihr mir bei meiner Suche nach dem Buch der Stille behilflich sein könntet, mir vielleicht mehr von seiner Natur erzählen könntet. Ihr habt mir vieles erzählt, aber es war nicht das, was ich hören wollte. Diese Unterhaltung war sehr aufschluss reich, und ich danke euch dafür, aber trotzdem muss ich meine ursprüngliche Absicht weiter verfolgen. Ich versichere euch je doch, dass ich ebenso wenig wie ihr den Beginn des Zeitalters des Todes erleben möchte und dass ich nicht gewillt bin, seinem Kom men Vorschub zu leisten, wenn ich es irgend vermeiden kann, ohne dabei meinem Schwur untreu zu werden. Es ist verständlich, dass keiner von euch darauf erpicht ist, mich bei meiner Suche nach dem Buch der Stille zu unterstützen, und ich werde euch auch nicht dazu zwingen; ihr verhaltet euch so, wie ihr es für richtig haltet — genau wie ich. Aus diesem Grund glaube ich, dass es keinen Sinn hat, diese Diskussion fortzusetzen.« Er nickte höflich jedem der drei zu, dann machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte zur Tür hinaus.
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Der getäfelte Gang war fast leer. Doch — halb verborgen in einem Türeingang — sah Garth eine rotgekleidete Gestalt stehen. »He, du da!« rief er. »Kannst du mir den Weg nach draußen zeigen?« Im Rosengemach starrten die Zauberer ihm nach und schauten sich dann an. »Wir müssen ihn aufhalten, Shandi«, sagte Chalkara. »Das weiß ich, aber welche Methode würdest du vorschlagen? Ich habe keine Magie mehr, die aus der Ferne töten kann, und einen anderen Weg, ihn aufzuhalten, sehe ich nicht. Und selbst wenn ich einen hätte, könnte es durchaus sein, dass er nicht funktioniert; sicher, er trägt nicht mehr das Schwert, aber er ist immer noch der Erkorene des Bheleu.« »Ist er das wirklich?« fragte Silda. »Ihr zwei und der Übermann wisst anscheinend weit mehr über all diese Dinge als ich.« »Ja, er ist es wirklich. Alles, was wir hier gesagt haben, ist wahr.« Silda schaute zu der Tür, die Garth hinter sich zugezogen hatte. »Wir sollten den Oberherrn in Kenntnis setzen.« »Sie hat recht, Shandi«, pflichtete Chalkara ihr bei. »Garth hat nicht mehr das Schwert des Bheleu; gewöhnliche Soldaten müss ten in der Lage sein, ihn zu töten, falls nötig. Zumindest sollte der Oberherr darauf bestehen, dass er die Stadt verlässt; das würde es schwieriger für ihn machen, das Buch der Stille zu finden, wenn es wirklich hier ist.« Shandiph nickte. »Ich glaube, du hast recht. Wenn wir rasch handeln, können wir es noch schaffen zu verhindern, dass er seine Waffen zurückerhält; auch ein Über mann wird es sich zweimal überlegen, ob er einen Kampf riskiert, wenn er von Soldaten mit gezückten Schwertern umringt ist und mit nichts außer einem Dolch bewaffnet ist.«
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»Wer spricht mit dem Oberherrn?« fragte Chalkara. »Wichtig ist vor allem, dass es bald geschieht, und wir müssen ihm eindringlich klar machen, dass es dringend ist. Wir müssen alle drei zu ihm gehen, und zwar sofort.« Er stand auf, und Chalkara folgte seinem Beispiel. Silda erhob sich ein wenig zögernd und folgte den beiden Zauberern nach draußen. Im Gang angekommen, sahen sie gerade noch, wie der Über mann in einen Seitengang verschwand. Chalkara zögerte. »Sollen wir ihm folgen? Vielleicht nur einer von uns?« »Nein«, sagte Shandiph. »Ich bin sicher, dass der Oberherr ihn beschatten lässt, von jemandem, der nicht so auffällig ist wie wir. Lassen wir ihn erst einmal gehen.« »Aber er wird sich sein Schwert und seine Axt holen«, gab Silda zu bedenken. »Damit wird er vielleicht noch einige Zeit warten, falls er sich entschließt, die Gastfreundschaft des Oberherrn in Anspruch zu nehmen, indem er sich eine Mahlzeit oder einen Trank servieren lässt, und wir sind nicht befugt, ohne ausdrückliche Erlaubnis des Oberherrn die Aushändigung seiner Waffen zu unterbinden. Ihr wisst, dass man uns dreien hier mit Argwohn und Misstrauen be gegnet, wie es nun einmal das Los von Zauberern ist.« »Ich bin aber keine Zauberin«, protestierte Silda. »Du bist eine Gelehrte, was für die meisten so ziemlich dasselbe ist. Du weißt Dinge, die sie nicht wissen. Wenn wir versuchen, ohne die Rückendeckung des Prinzen einzuschreiten, wird man uns wahrscheinlich der Verschwörung und des Verrats be zichtigen. Besser, wir riskieren, dass Garth seine Waffen zurückbe kommt, als dass wir auf eigene Faust handeln.«
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»Etwas anderes bleibt uns ohnehin jetzt nicht mehr übrig«, be merkte Chalkara. »In der Zeit, in der wir hier herumgestanden und palavert haben, ist er längst bei seinen Waffen angekommen.« »Recht hast du«, erwiderte Shandiph. »lasst uns also keine Zeit mehr verlieren.« Er marschierte den Gang hinunter zum Audienz zimmer, die beiden anderen im Schlepptau.
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Kapitel 11 Der Oberherr blickte nur kurz auf, als die Archivarin und die beiden Zauberer in das Audienzzimmer zurückkamen; er nahm an, dass sie ihre Unterhaltung mit dem Übermann beendet hatten und nun zurückgekehrt waren für den Fall, dass ihr Prinz ihre Dienste benötigte. Um so erstaunter war er deshalb, als sie, statt ihren gewohnten Platz einzunehmen, vor ihn traten und mit dem protokollarisch vorgeschriebenen Huldigungsritual um Gehör ba ten. Er hatte gerade mit seinem Schatzmeister geplaudert, während die Türsteher aus der Menge der Wartenden den nächsten Bitt steller auswählten; während der Zeit, die der Übermann und seine drei Ratgeber im Rosengemach verbracht hatten, hatte er einen Eigentumsstreit geschlichtet und das Gnadengesuch eines über führten Diebes abgelehnt und den Mann dem Kerkermeister zum Auspeitschen übergeben. Der Tag war gut verlaufen, und bis auf das Auftauchen des Übermannes aus Skelleth und seine unortho doxen Bitten war er nicht von der normalen Routine abgewichen. Es war jedoch alles andere als normale Routine, wenn plötzlich drei seiner Ratgeber unaufgefordert vor ihm erschienen, während er Hof hielt. Das, sagte er sich, sollte ihnen eigentlich bekannt sein. Wenn sie ein öffentliches Anliegen hatten, dann konnten sie das über den dafür vorgesehenen Dienstweg laufen lassen, und wenn es privater Natur war, dann konnten sie es auf informellem Wege zur Sprache bringen, sobald sein Tagwerk beendet war. Er ließ die drei noch einen Augenblick schmoren, um ihnen Ge legenheit zu geben, seine Verärgerung zu spüren und noch ein wenig nervöser zu werden, dann fragte er in gebieterischem Ton:
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»Warum seid ihr gekommen? Sprecht, wenn ihr irgendeine Ent schuldigung für euer ungebührliches Verhalten habt!« Mit höflich gesenktem Kopf, wie es das Protokoll für einen Bitt steller vorschrieb, erklärte Shandiph: »O Prinz, wir bitten dich um Verzeihung, aber wir haben ein dringendes Anliegen, ein äußerst dringendes sogar, und müssen sofort mit dir sprechen.« Der Oberherr überlegte einen Moment lang. Die Formalitäten und Rituale, die sein Leben bestimmten, dienten einem eindeu tigen Zweck, nämlich dem, ihm die Bearbeitung der fortwährend an ihn gerichteten Bitten, Eingaben und Ersuchen zu erleichtern. Jedes einzelne Anliegen, gleich welcher Art, wurde kategorisiert und durchlief die seiner Kategorie entsprechenden Zeremonien, Fristen und Auswahlkriterien, so dass nur ein winziger Bruchteil aller Eingaben überhaupt zu ihm durchdrang; hatte ein solches Anliegen die höchste Ebene erreicht, dann war es bereits auf sei nen wesentlichen Kern reduziert und so vorformuliert, dass er eine rasche Entscheidung treffen konnte. Den so festgelegten und bewährten Gang der Dinge zu durchbrechen, hieß, einen gefährli chen Präzedenzfall zu schaffen; wenn er zuließ, dass die förmliche Struktur aufgeweicht wurde, setzte er sich der Gefahr aus, künftig von Nebensächlichkeiten überschwemmt zu werden. Nur Aus ländern, bei denen man billigerweise keine Kenntnis von den übli chen Prozeduren voraussetzen konnte, war es gestattet, von den vorgeschriebenen Wegen abzuweichen, aber das auch nur, wenn es sich um eine diplomatische Unumgänglichkeit handelte — wie es bei dem Übermann der Fall gewesen war. Andererseits jedoch stand hier nicht ein einzelnes unbekanntes Individuum vor ihm, sondern drei seiner gelehrtesten und erfah rensten Ratgeber. Er hatte noch nicht genügend Zeit gehabt, um sich mit den beiden Zauberern in den drei Monaten seit ihrer Ankunft richtig vertraut zu machen, aber Chalkara war immerhin
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die Hofhexe des Hohen Königs in Kholis gewesen, trotz ihrer Jugend — wenn sie wirklich so jung war, wie sie aussah, was man bei Zauberern nie mit Bestimmtheit sagen konnte. Und sie wieder um zollte Shandiph höchsten Respekt, so dass auch dieser als Ka pazität auf seinem Gebiete angesehen werden musste — falls es nicht sein hohes Alter war, dem Chalkaras Respekt galt. Der verschwundene Deriam, sein früherer Ratgeber in magischen Angelegenheiten, hatte von Shandiph nur in lobenden Worten gesprochen; die zwei hier sagten, Deriam sei tot, und die Möglich keit einer Fehde unter den Magiern war dem Oberherrn in den Sinn gekommen, aber das schmälerte keineswegs den offensichtli chen Wert des Paares. Die Archivarin Silda hatte Zeit ihres Lebens bei Hofe gelebt und gewirkt, erst unter seinem Vater, später unter ihm; trotzdem wusste der Prinz weniger über sie als über die beiden Zauberer; sie schien keinen großen Wert auf seine Gesell schaft noch auf die irgendeines seiner Freunde oder Berater zu legen. Wann immer er sie um ihren fachmännischen Rat fragte, pflegte sie in langatmige historische Vorträge zu verfallen, die voll waren mit unverständlichen Bezügen und Querverweisen; er nahm an, dass sie ihn mit ihrer Gelehrsamkeit zu beeindrucken trachtete. Er war nicht leicht zu beeindrucken, aber er musste zugeben, dass sie ihr Fach verstand. Die drei, dachte er, mussten wirklich überzeugt sein, dass ihr Anliegen von äußerster Dringlichkeit war, sonst hätten sie nicht so ohne weiteres gegen das Protokoll verstoßen. Trotz des gefährli chen Präzedenzfalles, den er damit schuf, beschloss er, ihnen Ge hör zu schenken. Gleichwohl wollte er das nicht öffentlich tun, ganz gleich, worum es ging. Das würde seiner Aura von Unzugänglichkeit und Unnahbarkeit zu sehr schaden.
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Er musste also ein Zeichen setzen, eines, das allen Anwesenden unmissverständlich klar machte, dass der Oberherr nicht ohne gu ten Grund gestört werden durfte. Er winkte mit dem Arm und deutete mit ausgestrecktem Finger auf die drei Bittsteller: »Wa chen! Führt diese drei dort in den Schwarzen Saal und ruft den Scharfrichter! Ich werde sie anhören, wie ich es der Gerechtigkeit halber tun muss, aber wehe ihnen, wenn sie meine Aufmerksam keit ohne triftigen Grund in Anspruch genommen haben! In dem Fall kann die Strafe keine geringere als der Tod sein!« Das, fand er, sollte ausreichen, um jeden übereifrigen Vater, der Schadenersatz für die verlorene Jungfernschaft seiner Tochter forderte, oder einen Hausbesitzer, der sich über das Hundegebell im Nachbarhaus beklagte, so zu beeindrucken, dass sie es sich zweimal überlegten, ob sie ihren Oberherrn damit behelligten. Er stand auf und schaute zu, wie sechs Gardisten herbeisprangen und die Ratgeber ergriffen. Ein Offizier war gegangen, den Scharf richter zu holen; das war gut. Alsdann bewegte sich der Prinz ge messenen Schrittes in Richtung der schwarzgoldenen Tür; die Gardisten mit den drei Ratgebern in ihrer Mitte folgten ihm in angemessenem Abstand. Ein Lakei öffnete die Tür zum rückwärtigen Gang und eilte dann voraus zu der schwarzen Eisentür des Exekutionsraumes. Der Oberherr betrat den Raum, wartete, bis die Zauberer und die Archivarin hereingeführt wurden, und bedeutete mit einer ge bieterischen Geste dem Lakeien und den Wachen zu verschwinden. Sobald die sieben zur Tür hinaus waren, sah er sich nach einer Sitzgelegenheit um. Der Raum war leer, bis auf das schwarze steinerne Podest in der Mitte und den großen Richtblock aus Ebenholz, der darauf stand. Die Wände und der Fußboden waren aus unverputztem schwarzen Stein; die kuppelförmige Decke
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bestand aus rotem schwarzgeäderten Marmor. Es war ein durch und durch unbehaglicher Ort, befand er, als er sich auf dem Rand des Podestes niederließ. Die drei Ratgeber standen ein wenig linkisch vor ihm, un schlüssig, ob sie sich zu Boden werfen, verbeugen oder einfach so dastehen bleiben sollten. »Nun«, sagte der Oberherr, »was ist es denn, das so dringend ist, dass ihr mich dafür von meinen Regierungsgeschäften abhaltet?« »O Prinz«, stieß Shandiph hervor, »du musst Garth unbedingt daran hindern, das Buch der Stille zu holen!« »Garth? Den Übermann?« Der Oberherr schaute ihn verblüfft an. »Wieso?« »O Prinz«, ergriff Chalkara das Wort, »das Buch der Stille ist vielleicht der tödlichste Gegenstand, der je existiert hat. Es steht mit den höheren Göttern in Verbindung, mit den Göttern des Lebens und des Todes, ja sogar mit Dagha selbst, wie es scheint. Seine geheimnisvolle Macht ist so groß, dass gewöhnliche Zaube rer es nicht benutzen können: Schon ein einziges Wort, welches auf seinen Seiten geschrieben steht, zu sprechen, bedeutet den so fortigen Tod.« Sie hielt inne, um Luft zu schöpfen. »Letzteres scheint es wohl eher zu einem der nutzlosesten aller Gegenstände zu machen«, bemerkte der Oberherr. »Ich fürchte, nicht, o Herr«, wandte Shandiph ein. »Wie Chalka ra gesagt hat, kein gewöhnlicher Zauberer kann es benutzen, aber der, dem Garth von Ordunin dient, ist kein gewöhnlicher Zaube rer. Das Buch wurde erschaffen zum Gebrauch eines einzigen In dividuums, dem unsterblichen Hohepriester des Gottes-DessenNamen-Man-Nicht-Ausspricht. Und an jenen beabsichtigt Garth das Buch zu überbringen.« »Woher weißt du das?«
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»Was meinst du, o Prinz? Welchen Teil von dem, was ich gesagt habe?« »Woher weißt du, wem der Übermann das Buch auszuhändigen gedenkt? Er sagte etwas von einem Zauberer, nicht von einem Priester.« »Chalkara und ich kennen ihn von einer früheren Begegnung her. Wir wissen, dass er in Verbindung steht mit dem König in Gelb, wie der Hohepriester in den alten Zeiten genannt wurde, je doch mit sonst keinem anderen Zauberer. Er hat das bei unserer Unterhaltung vorhin zugegeben. « »Der König in Gelb?« Der Oberherr blickte Silda an. »Wenn ich mich recht erinnere, hast du eine alte Legende erwähnt über ir gend jemanden dieses Namens.« »Ja, mein Prinz.« Der Oberherr sah, dass die Archivarin nicht die Absicht hatte, sich hierüber ausführlicher zu verbreiten, und verfolgte den Punkt daher nicht weiter. »Nun denn, was passiert, wenn der Übermann dieses Buch dem Priester aushändigt? Inwieweit sind wir hier in Ur-Dormulk da von betroffen?« »Wir glauben, dass eine Übergabe des Buches an den Hohepries ter des Todes den Beginn des Fünfzehnten Zeitalters, des Zeitalter des Todes, auslöst«, erklärte Shandiph. »Das befürchtet ihr? Sind die Zeitalter nicht vorherbestimmt und unveränderlich?« Als Shandiph zögerte, antwortete Chalkara für ihn. »Wir wissen es nicht, o Prinz. Es ist möglich, dass sie es nicht sind.« »Wir befinden uns erst im dritten Jahr des Vierzehnten Zeit alters; mir scheint, es ist etwas früh, sich schon über das nächste Zeitalter den Kopf zu zerbrechen.« -195-
»Wir wissen nicht, wie lange das Vierzehnte Zeitalter dauern wird«, sagte Chalkara. Der Oberherr nickte; er hatte den Hofastrologen diese Unge wissheit beklagen hören. »Dennoch«, sagte er, »kann ich nicht glauben, dass es nur so kurz währen soll.« »Wir halten das für sehr gut möglich«, beharrte Chalkara. Der Oberherr stützte sich auf die Arme und musterte die drei Gelehrten. »Ich glaube«, sagte er, »ihr drei habt euch gegenseitig so lange mit den alten Mythen und vagen Vermutungen verrückt gemacht, bis ihr überzeugt wart, dass wir alle in tödlicher Gefahr schweben, während wir in Wirklichkeit von diesem verrückten Übermann nicht mehr bedroht werden als vom Kaiser von Yesh.« Er hob die Hand, um dem zu erwartenden Protest zuvorzukom men. »Darüber hinaus meine ich, dass ihr einige wesentliche Fak ten außer acht lasst.« Er veränderte seine unbequeme Sitzposition, beugte sich wieder vor und hob den Finger. »Erstens: Die Gefahr, die ihr seht, exis tiert wahrscheinlich überhaupt nicht. Zweitens: Falls doch, bedeu tet das noch lange nicht, dass dieser Übermann etwas damit zu tun haben muss. Drittens: Ganz gleich, was er auch sonst noch sein mag, dieser Übermann ist ein Abgesandter des Barons von Skelleth. Ihr mögt vielleicht keine Vorstellung davon haben, wie abhängig wir in diesen unsicheren Zeiten von Skelleth sind. Ihr mögt euch ja vielleicht von meinen glanzvollen Titeln und der Pracht dieses Palastes beeindruckt fühlen, aber ich weiß es besser; ich mag mich vielleicht Prinz nennen und in ganz Eramma unter dem Titel eines Oberherrn bekannt sein, aber die nüchterne, harte Wahrheit ist, dass ich nichts weiter als ein erammanischer Baron bin. Die rangniedrigeren Lehnsherren an meinem Hof, die mir das Anrecht geben, mich Oberherr nennen zu dürfen, besitzen über
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haupt keine Macht; sie sind für mich nicht mehr wert als die Offi ziere meiner Garde — wahrscheinlich sogar noch weniger. Vielleicht war Ur-Dormulk in den alten Zeiten ja wirklich noch eine richtige Nation und eine Macht, mit der man rechnen musste; vielleicht haben Alar und Hastur und jene anderen Länder, auf die ich Anspruch erhebe, ja wirklich existiert; ich weiß es nicht, und es interessiert mich auch nicht. Alles was ich regiere, ist eine ummauerte Stadt, ein paar Seen und Berge und ein großes Stück flachen Landes, das beim besten Willen nicht zu verteidigen ist, sollte einer meiner Nachbarn auf die Idee verfallen, es zu erobern. Einer dieser Nachbarn ist der Baron von Skelleth, und zur Zeit ist er der einzige, der nicht gerade irgendwo Krieg führt, und der einzige, der überhaupt noch Handel treibt. Seit achtzehn Monaten sind keine Karawanen mehr aus Therin oder Kholis zu uns ge kommen; ist euch schon aufgefallen, was frisches Obst auf den Märkten und in den Geschäften heutzutage kostet? Und das, was es noch gibt, stammt ausschließlich aus unserer eigenen Produkti on; ich habe seit über einem Jahr nicht eine einzige Dattel oder Orange mehr gesehen, und wenn es irgendwo in der Stadt welche gäbe, dann wüsste ich das, das schwöre ich euch. Das mag euch vielleicht nicht viel bedeuten, aber wenn wir den Handel mit Skelleth verlören, ihr würdet es spüren. Ich habe keine Ahnung, wo sie die Waren her haben, aber die Wolle und die Felle, die wir von ihnen kriegen, sind besser als alle, die wir je zu Friedenszeiten hatten, der eingesalzene Fisch ist nur halb so teuer wie zu Friedenszeiten, und wir bekommen von ihnen Elfenbein und Gold und Dutzend – ach, was sag ich? hundert andere Sa chen! Von Skelleth, das früher außer Eis und Heu nichts zu bieten hatte! Es war ein Geschenk der Götter, dass der neue Baron uns just zu der Zeit zu beliefern anfing, als die anderen Handelswege abgeschnitten wurden, und ich habe keine Lust, das aufs Spiel zu setzen. Unsere gemeinsame Grenze mit Skelleth im Norden und -197-
Nordosten stellt die Hälfte unserer gesamten Grenze dar, und wenn dieser Saram uns Karawanen aus dem Nichts herbeizaubern kann, dann kann er uns vielleicht auch mit derselben Leichtigkeit Armeen auf den Hals schicken. Und jetzt hat er uns auch noch einen Abgesandten geschickt, noch dazu einen Übermann – wo um alles in der Welt hat der Kerl einen Übermann aufgestöbert? Ich dachte, sie seien längst ausgestorben, trotz der Geschichten, die wir von den Händlern aus Skelleth gehört haben. Ich habe mich geirrt. Und zu allem Überfluss erzählt mir der Torwächter auch noch, der Übermann sei auf einem Untier angeritten gekom men, das zwanzig Fuß lang ist, mit Zähnen so groß wie der Finger eines ausgewachsenen Mannes. Und jetzt kommt ihr daher und verlangt von mir, dass ich mir das Wohlwollen dieses Übermannes verscherze, und mit ihm das des Barons von Skelleth, und alles wegen irgendeiner albernen Legende. Ihr verlangt von mir, dass ich riskiere, unsere einzige verbliebene Handelsroute zu verlieren, die ergiebigste, die ich je gesehen habe. Ihr verlangt von mir, dass ich eine Invasion riskiere, vielleicht noch angeführt von Übermännern auf Untieren, wie die in den Schauermärchen von den Rassenkriegen. Und warum? Weil ihr nicht wollt, dass ein magisches Buch, das keiner lesen kann, zu irgendeinem mysteriösen Zauberer gebracht wird. Und das führt mich zu meinem vierten und wichtigsten Punkt: Wer sagt euch, dass dieser Übermann dieses Buch des Todes, oder wie immer das Ding noch heißt, überhaupt finden wird? Er sagt, es befände sich in der königlichen Kapelle irgendeines Palastes? Welchen Palastes? Der einzige Palast in Ur-Dormulk ist der, in dem wir uns befinden, und ich schwöre euch bei meiner Seele und den Schatten meiner Ahnen, dass es hier keine königliche Kapelle gibt mit einem mystischen Buch darinnen, das keiner lesen kann! Wenn dieses Buch überhaupt existiert, dann muss es irgendwo in
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den Krypten sein. Ist einer von euch jemals in den Krypten ge wesen?« Die drei Ratgeber nickten im Gleichklang, wie schuldbewusste Kinder. »Alle drei also! Dann solltet ihr wissen, dass man in den Krypten nichts finden kann, es sei denn, man weiß genau, wo es liegt! Sie dehnen sich zu einem endlosen Labyrinth, wie ein Knäuel Wür mer. Könnt ihr euch nun denken, was ich tun werde? Ich werde diesen Übermann frei in der Stadt herumwandern lassen, so lange und wo er will, und wenn er sich unbedingt in den Krypten verir ren will, dann werde ich ihm das auch nicht verwehren. Ich werde ihm sogar einen Führer mitgeben, wenn er darum bittet, der ihn in schönen großen Kreisen durch die bekannteren Gänge und Korri dore führt. Und wenn er darauf besteht, kann er sie alle durch streifen. Er kann die Ruinen zwischen den Seen erforschen. Er kann ein paar Aghad-Priester töten, wenn er es nur leise und un auffällig tut, und ich werde nichts dagegen unternehmen. Wenn er das Buch oder irgend etwas anderes von echtem Wert wirklich findet, werde ich es erfahren, das verspreche ich euch. Wenn das passiert — falls — es passiert, dann werde ich mich noch einmal mit euch unterhalten und es ihm vielleicht abnehmen lassen, wenn ihr mich davon überzeugen könnt, dass es wirklich wichtig ist. So, jetzt wisst ihr, was ich tun werde, und ich hoffe, ihr seid nun zufrieden, denn ich werde einen Teufel tun und den Baron von Skelleth vor den Kopf stoßen, wenn ich es nicht wirklich muss, um meiner eigenen Sicherheit und die der Stadt willen. Ist das klar?« Die drei, von dieser langen Rede überwältigt, nickten erneut. »Gut. Wenn ihr euch also nützlich machen wollt, dann wendet eure Magie an, ihr zwei, und helft mit, den Übermann im Auge zu -199-
behalten. Und alle drei überlegt mal, ob ihr nicht vielleicht eine Idee habt, wo dieses Buch sein könnte, falls es existiert, damit wir ihm notfalls zuvorkommen können.« Der Oberherr gab mit einer Handbewegung zu verstehen, dass das Thema damit für ihn be endet war. »Soweit diese Geschichte. Und nun zu eurem unge bührlichen Hereinplatzen in das Audienzzimmer. Wie ihr sicher lich schon erraten habt, werde ich euch nicht hinrichten lassen.« Silda war sichtlich erleichtert; Shandiph und Chalkara, die die Drohung niemals ernstgenommen hatten, waren verblüfft, dass der Oberherr überhaupt noch einmal darauf zurückkam. »Gleichwohl«, fuhr der Prinz fort, »bin ich alles andere als erbaut darüber, dass ihr mich bei der Durchführung meiner Re gierungsgeschäfte gestört habt; deshalb betrachtet euch alle drei bis auf weiteres in den Nordflügel des Palastes verbannt. Ich will euch weder bei mir in der Halle sehen, noch in meinen Privatge mächern, noch in den vorderen Räumen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?« »O Prinz«, begann Shandiph, »ich glaube, du unterschätzest ...« »Schweig!« brüllte der Oberherr. Shandiph gehorchte. »So ist es schon besser. Wenn du das noch einmal tust, Zauberer, dann kannst du dich wieder auf die Wanderschaft begeben; ich werde dich nicht hinrichten lassen, weil das eine törichte Verschwendung wäre, aber ich werde nicht zögern, dich aus der Stadt zu verbannen, wenn du mir mehr Scherereien machst, als du mir wert bist.« Shandiph senkte den Kopf zum Zeichen, dass er begriffen hatte. »Gut.« Der Oberherr stand auf und strich sich sein samtenes Ge wand glatt. »Und jetzt lasst uns an die Arbeit gehen!« Er gab ein Zeichen, und Silda öffnete die Tür.
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Draußen stand, in einem schwarzgelben Kleid und mit einer Ka puze vermummt, der Scharfrichter, die Axt in den Händen hal tend. Im Halbkreis um ihn geschart, standen nervös wirkende Gardisten und Lakeien. Der Prinz breitete theatralisch die Arme aus. »Danke, mein Herr, dass du meinem Ruf gefolgt bist. Ich habe jedoch entschieden, Gnade walten zu lassen; deine Dienste werden nicht benötigt.« Der Henker machte eine tiefe Verbeugung, trat einen Schritt zu rück, um den Soldaten Platz zu machen, die diensteifrig nach vorn hasteten, um ihrem Herrn den Weg freizumachen; dann drehte er sich um und marschierte wortlos davon. Der Oberherr guckte sich einen Offizier aus dem Haufen heraus und rief: »Hauptmann, wenn du diese drei in ihre Quartiere füh ren könntest, wäre ich dir sehr verbunden. Sie sind keine Gefangenen und sollen auch nicht unter Arrest gestellt werden, aber ich glaube, sie würden sich gern ein wenig ausruhen. Sie sind ein wenig erschöpft von der Aufregung. Sorg mir dafür, dass sie ihre Ruhe bekommen; ich muss mich wieder um meine eigenen Geschäfte kümmern.« Der Offizier salutierte so schneidig, dass der karmesinrote Fe derbausch auf seinem Helm wippte; er zog zwei seiner Männer zur Seite, während die anderen eine Ehrengarde um den Oberherrn bildeten und wartete, bis Lakeien, Soldaten und Prinz zurück zum Audienzzimmer marschiert waren. Als sich die schwarzgoldene Tür hinter dem letzten Lakeien geschlossen hatte, bedeutete der Offizier dem ersten seiner beiden Männer, Silda zu begleiten, und dem zweiten, Chalkara zu bewachen, während er selbst Shandiph eskortierte. Nachdem die Eskorte dergestalt ar rangiert war, verneigte er sich höflich und sagte: »Zu deinen Diensten, Herr Zauberer.«
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Shandiph war nicht in der Stimmung, Artigkeiten auszut auschen. »Nun geh schon!« sagte er kurzangebunden. Gemeinsam marschierte die Riege den Gang hinunter, vorbei an der goldenen Tür der Halle und durch das reichverzierte Tor am Ende des Ganges. Silda und ihr Bewacher gingen geradeaus wei ter, den teppichgeschmückten Korridor entlang, während die beiden Zauberer und ihre unerwünschten Begleiter nach rechts abbogen, die vergoldete Treppe hinauf. Die Gemächer der Archi varin lagen auf einer unteren Ebene, in der Nähe der Archive selbst, die sich in einem der oberen Bereiche der Krypten befanden. Die Zauberer hingegen waren einer alten Tradition ge mäß im obersten Stockwerk von einem der Palasttürme unterge bracht — zum Bedauern Shandiphs, der nicht mehr der Aller jüngste und Beweglichste war. Während des langen Weges durch die gesamte Länge des Nord flügels, der ihnen mehrere beschwerliche Treppenanstiege ab forderte, sagten weder Chalkara noch Shandiph ein Wort. Aber sie beachteten sich gegenseitig. Chalkara sah, wie Shandiphs Hände sich mehrmals wie in ohnmächtigem Zorn zur Faust ballten, sah, wie schwer es ihm fiel, seine Worte zurückzuhalten. Shandiph sah Chalkaras nervös hin und her flatternden Blick, ihr bleiches Gesicht, das aussah wie das eines gehetzten Tieres. Als sie an die Wendeltreppe kamen, die in den eigentlichen Turm führte, brach Shandiph sein Schweigen. »Ihr braucht nicht weiter mitzugehen«, sagte er zu den Soldaten. »Warum sollt ihr euch unnötig anstrengen, indem ihr die ganze lange Treppe mit hinaufsteigt?« Der Hauptmann blieb stehen, spähte nach links und nach rechts und nickte. »Nun gut. Der Prinz hat ja gesagt, ihr ständet nicht un ter Arrest, und einen anderen Ausgang aus dem Turm gibt es ohnehin nicht.«
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»Du sagst es«, bestätigte Shandiph. »Vielen Dank für die Be gleitung, Hauptmann, und einen angenehmen Abend noch.« Er machte eine knappe Verbeugung. Der Offizier salutierte, machte aber noch immer keine Anstalten wegzugehen; statt dessen stand er da und schaute den beiden Zauberern nach, als sie die Treppe hinaufstiegen. Als Shandiph einen kurzen Blick zurück warf, bemerkte er mit einer gewissen Belustigung, welche für einen Moment seine Besorgnis wegen des Übermannes überdeckte, dass der junge Gardist an der Seite des Hauptmannes nicht ihm nachschaute, sondern seine ganze Auf merksamkeit auf Chalkara gerichtet hatte. Ohne zu wissen, dass er beobachtet wurde, starrte er mit großen Augen und offenem Mund auf ihr Hinterteil, während sie die Treppe hinanstieg. Shan diph war keinesfalls überrascht: Chalkara war in der Tat eine Augenweide. Er war sicher, dass der junge Mann überlegte, ob an den Geschichten, die man sich so in der Kaserne erzählte, wohl et was dran war, dass nämlich Hexen nicht so waren wie gewöhnli che Frauen. Shandiph widerstand der Versuchung, eine spöttische Be merkung zu machen, und wandte seinen Blick wieder auf die Stufen. Die Geschichten waren natürlich nicht wahr; Chalkara war nicht anders als andere Frauen. Sie waren außer Sicht, bevor sie das erste Stockwerk des Turmes erreichten; ihre eigenen Räume lagen im fünften und höchsten Stockwerk. Shandiph hielt auf dem ersten Absatz einen Moment lang inne, um Atem zu schöpfen, klomm dann aber entschlossen weiter. »Shandi, wir ...«, begann Chalkara auf halbem Wege zum nächs ten Absatz. Er gab ihr ein Zeichen, ruhig zu bleiben, und stieg weiter hinan.
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Auf dem dritten Absatz angekommen, blieb er stehen und lauschte; Chalkara kam einen Moment später und blieb neben ihm stehen. »Ich glaube nicht, dass sie uns jetzt noch hören können«, sagte er im Flüsterton. »Chala, gefällt es dir hier?« »Was?« »Ich meine, gefällt dir Ur-Dormulk? Möchtest du hier bleiben?« »Ich weiß es nicht. Es ist ganz bequem und angenehm, auch wenn es nicht mein Zuhause ist, und wo sollten wir sonst hin?« »Vielleicht nach Sland; soweit ich weiß, herrscht dort jetzt Frie den, und Karag ist schon vor Jahren geflohen. Vielleicht gibt es dort ein Plätzchen für einen Zauberer oder auch zwei.« »Shandi, was redest du da? Warum sollten wir von Ur-Dormulk fortgehen? Wenn das Fünfzehnte Zeitalter beginnt, ist es sowieso egal, wo wir sind.« »Mag sein, aber das ist jetzt nicht das Entscheidende. Ich will wissen, ob du mit mir kommst, wenn ich mich der Anweisung des Oberherrn widersetze und wir beide aus der Stadt gewiesen werden.« »Aber Shandi! Natürlich komme ich mit dir! Wir müssen irgend etwas tun, ganz egal, was er sagt! Der König in Gelb hätte Garth bestimmt nicht hierhergeschickt, wenn er nicht ganz sicher wäre, dass das Buch irgendwo hier ist!« »Wahrscheinlich werden wir um unser Leben rennen müssen. Der Prinz kann es sich durchaus anders überlegen und uns zum Tode verurteilen, wenn wir hierbleiben.« »Ich hätte nichts dagegen, wenn wir fortgingen. Vielleicht soll ten wir so oder so von hier verschwinden, Shandi, selbst wenn er nichts unternimmt. Ich möchte Kholis wiedersehen; die Kämpfe sind noch nicht bis dahin durchgedrungen, jedenfalls noch nicht -204-
bis zum Schloss, und ich bin sicher, dass der Zorn des Königs in zwischen längst verraucht ist. Wenn wir den Übermann nicht auf halten, lebe ich vielleicht gar nicht mehr lange genug, um wieder nach Hause zurückzukehren.« »Sei nicht so pessimistisch, Chala; wir werden ihn aufhalten, je denfalls zunächst einmal. Er ist bloß ein Übermann.« Shandiph glaubte selbst nicht so ganz an das, was er da sagte. Chalkara glaubte es ebenso wenig, aber sie wollte dem alten Zauberer nicht widersprechen. »Was hast du vor?« fragte sie. »Ich bin noch nicht sicher, aber ich habe da eine Idee. Kannst du einen Golem machen?« Chalkara überlegte einen Moment lang, dann schüttelte sie den Kopf. »Nein.« »Und was ist mit Trugbildern?« »Oh, sicher, die kann ich machen, aber sie sind nicht immer zu verlässig. Woran denkst du?« »Ich denke an Möglichkeiten, Garth zu töten. Ich habe keine Zauber mehr, die das können; du?« »Nein. Zumindest glaube ich das nicht.« »Nun, ich werde nicht hergehen und versuchen, ihn persönlich zu töten; er ist gefährlich. Das bedeutet, dass wir jemand anderen schicken müssen, der es für uns tut.« »Sollen wir das wirklich tun, Shandi? Gibt es denn keinen anderen Weg, ihn aufzuhalten?« »Das bezweifle ich. Er ist starrköpfig. Ich bin sicher, dass wir weder den König in Gelb noch das Buch vernichten können; der einzige, den wir töten lassen können, ist Garth.« »Sollen wir uns mit den anderen aus dem Rat in Verbindung setzen?«
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»Warum sollten wir uns diese Mühe machen? Der Rat ist ausein andergebrochen, Chala, das weißt du so gut wie ich. Wir sind nicht mehr an seine Regeln und Vorschriften gebunden. Außerdem wurde seine Auflösung vor drei Jahren mit Mehrheits beschluss ganz offiziell gebilligt.« »Du hast recht. Wir werden ihn töten.« »Wir nicht; die Stadtgarde wird das tun. Wusstest du, dass Se drik Übermänner schon immer gehasst hat? Ich glaube, einer sei ner Vorfahren ist in den Rassenkriegen gefallen.« »Woher weißt du das?« »Ich habe ihn einmal betrunken gemacht; das ist übrigens immer eine gute Methode, wenn du etwas über die Leute erfahren willst, die da, wo du gerade wohnst, das Sagen haben. Ich hoffte her auszubekommen, wer gegen wen intrigierte (in einem Palast wie diesem herrschen immer irgendwelche Intrigen), aber statt dessen musste ich mir eine Tirade über mörderische unmenschliche Ge schöpfe anhören und einen Vortrag über die Feigheit des eram manischen Adels, dass sie es nicht gewagt hat, in die Nordwüste einzumarschieren und das Gewürm auszurotten, über mich erge hen lassen.« »Ich verstehe; er wäre glücklich über jeden Vorwand,einen Übermann zu töten, und wahrscheinlich ist der, der Garth folgt, einer seiner Männer.« Chalkara nickte. »Und wenn er einen Befehl vom Oberherrn höchstselbst erhielte, würde er sich wahrscheinlich nicht einmal die Mühe machen, sich zu fragen, wieso der Prinz plötzlich seine Meinung geändert hat.« »Vom Oberherrn?« Chalkara schaute ihren Freund und Berufs kollegen einen Moment lang verdutzt an; dann begann ihr die Er kenntnis zu dämmern. »Aber ja doch, natürlich! Ein Golem wäre zwar besser, aber ein Trugbild müsste es auch tun, wenn das Licht nicht allzu gut ist.« -206-
»Wollen wir es hoffen«, sagte Shandiph. »Du fängst am besten schon mal an zu packen, Shandi; der Oberherr wird nicht gerade erfreut sein, wenn er es herauskriegen sollte. Ein paar Dinge brauche ich für das Trugbild, alles andere kannst du schon zusammenpacken.« Sie trippelte eilig die beiden letzten Treppen hoch; Shandiph, der immer noch erschöpft war, folgte ihr in etwas bedächtigerem Schritt. Zehn Minuten später war Sedrik, seines Zeichens Kommandeur der Wache und Marschall der Stadt, fürbass erstaunt, plötzlich sei nen Herrn und Meister im Türrahmen des Wachraums auftauchen zu sehen. Die Stimme des Oberherrn klang irgendwie seltsam, hö her als gewohnt und ein wenig verzerrt. Der Korridor war düster, und durch die Fenster des Wachraums fiel zu dieser späten Stunde nicht genügend Licht, um den Türrahmen ausreichend zu erhellen, so dass das schwarze Gewand des Prinzen sich gegen den dunklen Hintergrund so gut wie überhaupt nicht abhob, son dern fast eins war mit dem Schatten. Von der üblichen Gefolg schaft des Prinzen war nichts zu sehen. Dennoch gab es keinen Zweifel, dass er es war, der da zu ihm sprach, und auch der Befehl, den er ihm gab, war klar und unmissverständlich. Sedrik war geradezu entzückt von dem Befehl.
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Kapitel 12 Garth quittierte die Rückgabe seines Schwertes und seiner Axt mit einer tiefen Verbeugung, dann drehte er sich um und mar schierte die Stufen des Palastes hinunter. Als er die gepflasterte Allee erreichte, hielt er inne, unschlüssig, welche Richtung er einschlagen sollte. Er hatte zwei Dinge zu erle digen und noch keine klare Vorstellung, wie und in welcher Rei henfolge er sie in Angriff nehmen sollte. Irgendwo in der Stadt war das Buch der Stille, und er hatte geschworen, es zu finden und nach Skelleth zu bringen. Und irgendwo in der Stadt war auch ein Tempel, der dem Gott Aghad geweiht war, und er war entschlossen, ihn zu zerstören und die Anhänger des Gottes zu tö ten, egal, was der Oberherr dazu sagen würde. Die Suche nach dem Buch, entschied er, während er seine Axt in den Gurt auf seinem Rücken steckte, hatte Vorrang; der Oberherr hatte dagegen keine Einwände erhoben, trotz der Warnung seiner Ratgeber. Die Zauberer würden wahrscheinlich alles daran setzen, ihn umzustimmen, aber bis jetzt hatte Garth jedenfalls noch freie Hand bezüglich des Buches. Bezüglich des Aghad-Kults hingegen hatte der Oberherr sich noch Bedenkzeit ausbedungen; wenn Garth den Tempel jetzt attackierte, würde der Oberherr es ihm vielleicht übel nehmen und versuchen, ihn töten oder aus der Stadt jagen zu lassen. Hatte er jedoch erst das Buch, dann würde es ihm nichts mehr ausmachen, wenn er die Stadt verlassen musste. Daher galt es als erstes, das Buch aufzufinden. Als er dies für sich geklärt hatte und das Schwert auch wieder an seinem Gürtel hing, sah er sich erst einmal in Ruhe um, ob er
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vielleicht irgendeines der Zeichen und Hinweise entdecken konn te, die der Vergessene König ihm versprochen hatte. Die Sonne stand schon ziemlich tief am westlichen Himmel, und der Schatten des oberherrlichen Palastes lag über ihm. Nach Osten hin lag ein großer Teil der Allee noch immer im hellen Sonnen licht; Passanten hasteten in buntem, geschäftigem Strom an den grauen Steinhäusern vorüber. Auf beiden Seiten zweigten Neben straßen in den verschiedensten Winkeln und Breiten ab. Als er sich nach Südwesten wandte, so dass sein Blick auf eine Ecke der Frontseite des Palastes fiel, blies ihm ein kalter, feuchter Wind ins Gesicht. Das war ein ebenso gutes Zeichen wie jedes andere; er schlenderte Richtung Süden und bog um die Ecke. Er bemerkte weder die grüngekleidete Gestalt, die ihm folgte, noch die zwei Gestalten in Rot – die eine im hellen Karmesin des oberherrlichen Hofpersonals, die andere in einem dunkleren, an die Farbe getrockneten Blutes erinnernden Rot – die ihn genau be obachteten, ihm jedoch nicht nachgingen. Er wanderte ziellos dahin, nach weiteren Zeichen Ausschau hal tend, aber bis auf die gelegentlichen feuchtkalten Windstöße fiel ihm nichts auf, was als Hinweis hätte gedeutet werden können. So arbeitete er sich allmählich nach Westen durch; unterwegs fiel ihm auf, dass die Zahl der Leute auf den Straßen und der Lärm der Stadt stetig abnahmen, je weiter er sich von der Allee entfernte, die das Osttor mit dem Palast des Oberherrn verband. Nach einer Weile bog er um eine Ecke und sah vor sich eine große Spalte. Die Stadt schien in einem breiten steingepflasterten Streifen zu enden, der nach Süden und Norden entlang dem Rand eines Tales oder einer Schlucht verlief; von dort, wo er stand, konnte er nicht se hen, was sich in dem Spalt befand, aber er konnte die gegenüber liegende Seite sehen, ein Granitriff, auf dessen Kamm Häuser -209-
standen. Irgend etwas war seltsam an dem Anblick, aber die Nebelschwaden, die aus dem Tal heraufwallten, machten es ihm schwer, Genaueres zu erkennen. Er ging weiter auf den breiten gepflasterten Streifen und be merkte zu seiner Überraschung, dass nirgends auf diesem Streifen Leute zu sehen waren. Diese Promenade war der erste völlig men schenleere Ort, den er seit seiner Ankunft in Ur-Dormulk sah. Er bewegte sich langsam bis zum Rand der Promenade, mit be hutsamen, tastenden Schritten, immer darauf vorbereitet, sich mit einem raschen Rückwärtssprung zu retten, falls der Boden unter ihm nachgeben und wegbröckeln sollte — wenngleich er so fest und solide wirkte wie jeder andere Bereich der Stadt. Als er sich so nahe an den Abgrund herangetastet hatte wie eben möglich, spähte er erneut hinüber auf die andere Seite. Mehr als fünfzig Schritt unter ihm lag die glatte dunkle Oberflä che eines Sees, schwarz, kalt und still; dünne Wolkenbänder wog ten und wallten über ihn hinweg, wie Wellen auf dem Ozean, und Dunst stieg in milchigen wabernden Schwaden von ihm auf. Das, sagte sich Garth, erklärte natürlich, wo die kalten Winde herkamen. Er hob den Blick und ließ ihn über den See schweifen; der Dunst ließ die Sicht verschwimmen, und er vermochte nicht mit Be stimmtheit zu sagen, ob das Riff, das am anderen Ufer aufragte, natürlichen oder künstlichen Ursprungs war. Die Gebäude, die auf ihm standen, Waren, wie er jetzt erkannte, allesamt Ruinen. Sofort kam ihm der Gedanke, dass das Buch der Stille mögli cherweise irgendwo unter jenen Ruinen schlummerte; das würde auch erklären, warum niemand etwas von ihm wusste. Die Sonne war hinter den eingefallenen Türmen verschwunden, was es ihm unmöglich machte, Einzelheiten zu erkennen; gleich wohl war er sich ziemlich sicher, dass jene Türme einst zu einem -210-
Palast oder einer Zitadelle gehört hatten, von der Art, wie der Vergessene König sie bewohnt haben musste. Er spähte ange strengt, aber die Schatten und Nebelschwaden ließen keine besse re Sicht zu. Die Sonne selbst schien von dem Dunstschleier verzerrt: Sie kam ihm fast doppelt so groß vor wie gewöhnlich. Er wandte den Blick ab und blinzelte, dann schaute er hinunter auf das graue Pflaster der Promenade, damit sich seine Augen für einen Moment ausruhen konnten. Dabei fielen ihm zwei Dinge auf. Erstens war hier das Pflaster längst nicht so stark abgenutzt wie das der Straßen im Innern der Stadt. Man konnte meinen, dass eine Seepromenade an heißen Sommertagen Scharen von Müßig gängern und Lustwandlern anzog oder dass sie vielleicht von Fischern benutzt wurde, aber außer ihm selbst war weit und breit niemand zu sehen, und die Steinplatten wiesen kaum Spuren von Abnutzung auf. Das zweite, was ihm auffiel, war ein Geräusch, ein schwaches, tiefes, aus weiter Ferne kommendes Geräusch, das er nicht zu deuten vermochte. Keines dieser zwei Dinge war indes von unmittelbarer Bedeu tung; er blickte wieder auf, wobei er vermied, direkt in die Sonne zu schauen, und ließ seinen Blick an den Ufern des Sees entlanggleiten. Er war lang und schmal, wobei sich entlang seiner einen Seite die Stadt erstreckte, entlang seiner anderen das Riff mit den Ruinen. An beiden Enden der Promenade, auf der er stand, erhoben sich Wände aus natürlichem Fels, die die Straßen nach Osten hin abschnitten und sie zwangen, am See abzubiegen. Garth fiel ein, dass er diese Steinbarrieren von den Palaststufen aus gese hen hatte.
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Ähnliche Felsenkliffe teilten das gegenüberliegende Ufer, doch lagen hinter und zwischen ihnen weitere Ruinen. Das Gebiet, das ihm direkt gegenüberlag, war das größte, aber es gab insgesamt vier mehr oder weniger zusammenhängende Gebäudekomplexe am Westufer, voneinander getrennt durch die Felsmassen und mit dem Rest der Stadt lediglich durch den See verbunden. Die Enden des Sees im Norden und im Süden bestanden aus steil auf ragenden Klippen, auf denen keine Anzeichen von Besiedlung zu entdecken waren. Ob sich anderswo am Ostufer noch Ruinen oder unbewohnte Gebiete befanden, vermochte er nicht zu sehen, da die Felswände an beiden Enden der Promenade ihm die Sicht versperrten. Einstmals, so vermutete er, mussten die einzelnen Enklaven durch Boote miteinander in Verbindung gestanden haben, so dass sie alle Teil einer einzigen großen Stadt gewesen waren. Jetzt aber gab es keine Spuren mehr von Kaianlagen oder Booten zu sehen, sondern nur noch das stille, schwarze, nebelbedeckte Wasser tief unten. Er vermutete, dass im Verlaufe von Jahrhunderten der Wasserspiegel des Sees immer tiefer gesunken war, bis schließlich irgendwann kein Bootsverkehr mehr möglich gewesen war. Vielleicht war der See auch zu seicht für Schiffsverkehr — obwohl er von oben so aussah, als wäre er unermesslich tief. Er lenkte seinen Blick auf die Ruinen, die ihm direkt gegenüber lagen; dabei fiel ihm zum ersten Mal auf, dass der Dunst nicht nur vor, sondern auch hinter ihnen aufzusteigen schien. Er war nicht sicher, ob dies auf die Existenz eines zweiten Sees hindeutete oder ob es sich bloß um eine optische Täuschung handelte. Ein plötzlicher Schreck durchfuhr ihn, als er etwas erspähte, das nur ein nebelbedingtes Trugbild sein konnte: Die Sonne hatte sich in zwei gleichgroße Hälften gespalten, und nun versanken zwei karmesinrote Glutbälle, die aussahen wie schreckliche Augen, hin
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ter den verfallenen Türmen im Dunst des hinteren Sees — wenn es einen solchen denn wirklich gab. Er blinzelte erneut, aber das unheimliche Figment wollte nicht verschwinden, und erst nachdem er eine ganze Weile auf die selt same Erscheinung gestarrt hatte, wurde ihm mit einem Mal be wusst, wie lange er schon in UrDormulk umhergewandert sein musste, wenn die Sonne — oder die Sonnen! — bereits unterging. Er fragte sich, ob diese merkwürdige Vision vielleicht eines der Zeichen war, von denen der Vergessene König gesprochen hatte. Das Geräusch, das ihm vorhin aufgefallen war, drängte sich wieder in seine Wahrnehmung, und er grübelte darüber nach, was es damit auf sich haben mochte. Vielleicht war es auch ein Hin weis irgendeiner Art, sagte er sich. Es schien eher vom anderen Ufer oder von unten zu kommen, denn von der Stadt her. Er beschloss, ihm nachzugehen, wenn das möglich war. Er hatte immer noch nicht die leiseste Idee, was es sein konnte; es war so tief, so tief und langgedehnt, dass er es gerade noch wahrnehmen konnte. Er schlug aufs Geratewohl die Richtung nach Norden ein und schlenderte ein Stück die Uferpromenade entlang, bevor er innehielt und lauschte. Das Geräusch war, so schien es ihm, ein wenig lauter geworden; er ging also in die richtige Richtung. Er marschierte weiter. Am Nordende der Promenade blieb er erneut stehen und lauschte. Und wieder war das Geräusch ein wenig lauter geworden; er schien sich also noch nicht wieder von seinem Ausgangspunkt zu entfernen. Und mehr denn je zuvor hatte er das Gefühl, dass es di rekt aus dem Erdboden unter seinen Füßen kam; es war immer noch kaum hörbar, er spürte es mehr, als dass er es hörte, er emp fand es gleichsam als eine Art langsamen Kriechens. Ein kalter
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Windstoß trieb ihm einen Nebelschwaden entgegen; die Kälte drang ihm bis auf die Haut, obgleich er einen Mantel trug. Das Geräusch — oder die Vibration oder was immer es war — war so langsam wie der Lauf des Universums, langsamer, als ein von Menschen erzeugtes Geräusch je hätte sein können; eine vage böse Vorahnung schlich sich in seine Gedanken, während er lauschte. Von der Stelle, an der er jetzt stand, konnte er weder nach Wes ten noch nach Norden weitergehen, wo ihm das steil aufragende Kliff den Weg versperrte; und wenn er Richtung Süden umkehrte, würde er sich wieder von dem Geräusch entfernen. Es blieb ihm also nur der Weg nach Osten. Vom Nordende der Promenade führten zwei Straßen wieder zurück in die eigentliche Stadt; die eine verlief mehr in nördlicher Richtung, die andere mehr in südli cher. Garth entschloss sich für die erstere, da er hoffte, dass sie ihn zu der Quelle jenes geheimnisvollen Geräusches führen würde. Wenn nicht, sagte er sich, dann würde er eben einen Weg über den See finden müssen. Der Weg, den er gewählt hatte, war eine enge kurvige Straße, die von verschiedenen Gebäuden gesäumt war. Garth stellte fest, dass es sich bei einigen von ihnen um geweihte Stätten handelte, wenngleich ihnen die Kuppeln und Türme fehlten, anhand derer er Tempel zu identifizieren gelernt hatte; er erkannte sie als solche an dem Geruch von Weihrauch und den Gesängen, die aus ihrem Innern drangen. Er fragte sich, ob wohl einer oder gar mehrere von ihnen dem Aghad geweiht waren; der Gedanke allein versetz te ihn in solche Wut, dass seine Hand unwillkürlich an den Griff seines geliehenen Schwertes fuhr. Er sah jedoch keine der dunkelroten Roben, die er mit dem verhassten Kult assoziierte, und auch der Name Aghad stand über keinem Portal geschrieben und war auch aus keinem der Gesänge
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herauszuhören. Allmählich, während er weiterging, entspannte er sich wieder. Im Gegensatz zur Uferpromenade herrschte hier reges Treiben; Scharen von Menschenwesen waren unterwegs und gingen ihren Geschäften nach, in den Tempeln und Geschäften, die an der Stra ße lagen, herrschte reges Kommen und Gehen. Ihre farbenfrohen Gewänder leuchteten entweder hell im Sonnenlicht oder verloren sich in den langen Schatten der untergehenden Sonne, je nachdem, wo sie gerade standen oder gingen; die ersten Laternen wurden bereits angezündet. Niemand behelligte Garth bei seinem Spa ziergang, wenngleich hier und da einer gaffend stehenblieb und es wohl keinen gab, der sich nicht nach ihm umdrehte. Übermänner, das wusste er, waren in Ur-Dormulk ein äußerst seltener Anblick. Die Straße verlief, der Umrisslinie des Felsenkliffs folgend, in einer langgezogenen Kurve nach Norden, von dem nackten Stein des Felsens nur durch die Häuserreihe getrennt, die ihre linke Sei te säumte. Mehrere Gassen und Nebenpfade gingen nach rechts ab, zur linken Seite hin jedoch gab es keine Abzweigung. Wie alle anderen Straßen, die er bisher in Ur-Dormulk gesehen hatte, war auch diese mit grauem Stein gepflastert; und wie bei allen anderen hatten auch hier die Räder unzähliger Karren und die Schuhe von Generationen von Fußgängern ihre Spuren hin terlassen. Von der Hauptspur zweigten mehr oder weniger stark ausgetretene Nebenspuren zu jedem der Tempel, Geschäfte und Wohnhäuser ab. An der Tiefe der Rinnen, die zu den einzelnen Türen führten, ließ sich die jeweilige Beliebtheit des Geschäfts ab lesen. Er blieb stehen, um nach dem Geräusch zu lauschen; er hatte es in dem allgemeinen Lärm verloren. Während er lauschte, fiel ihm auf, dass einer der Tempel, der sich dicht an die Felswand auf der Westseite drängte, überhaupt keinen erkennbaren Pfad hatte, der
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zu ihm führte. Das erregte seine Neugier. Er schaute für einen Moment hin und bemerkte, dass nicht nur niemand Anstalten machte, sich dem Tempel zu nähern, sondern dass einige Leute einen regelrechten Bogen um ihn machten, was sich deutlich er kennbar in dem Schwenk nach außen niederschlug, den die Rinne vor der Tür des Gebäudes machte. Die Abneigung der Leute war demnach nicht jüngeren Ursprungs. Von Neugier getrieben, näherte sich Garth dem gemiedenen Tempel. Von außen vermochte er nichts Angsteinflößendes an dem Gebäude zu entdecken; es hatte eine gedrungene, schlichte Fassade: Hinter einem schmalen, von einer Säulenreihe ge tragenen Vorbau befand sich die schmucklose Vorderfront, die nur eine einzige Tür aufwies, welche offen stand. Über der Fassade erhob sich ein flacher Giebel. Es gab keinerlei Ver zierungen; weder drang Weihrauch aus dem offen stehenden Portal, noch waren irgendwelche Gesänge zu vernehmen. Keine Glocken klangen, keine Vorhänge raschelten; der Tempel schien einsam und menschenleer. Während Garth so dastand und lauschte, hörte er plötzlich das dumpfe Geräusch, dem er nachgegangen war, kaum vernehmbar über dem Geschlurfe und Getrappel der Passanten. Er war schon im Begriff, den Schluss zu ziehen, dass der Tempel vollkommen leer war – vielleicht irgendein Relikt eines geächteten Todeskults oder dergleichen , als ihm plötzlich klar wurde, dass das Ge räusch, jenes tiefe, unendlich langsame Pochen, von nirgendwo anders herkam als aus eben jenem Tempel. Seine roten Augen hefteten sich auf die dunkle Fassade. Er sah nichts, kein Lebenszeichen; es war nichts weiter als ein Gebäude, bestehend aus einer Säulenreihe, einer Wand und einem Dach, eingezwängt zwischen zwei anderen Gebäuden an der kahlen Felswand des Kliffs nistend. Das Geräusch war nach wie vor zu
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hören, und mit jedem Moment, mit jedem langsamen Pochen, ver stärkte sich Garths Überzeugung, dass es nur aus jenem Tempel kommen konnte. Mit einem inneren Achselzucken nahm er die wenigen Schritte bis zum Rande der Straße, die Stufe zum Vorbau hinauf und auf die offene Tür zu. Das Geräusch erschrocken nach Luft japsender Passanten hinter ihm ließ ihn innehalten. Er drehte sich um und sah, dass mehrere Leute stehengeblieben waren und ihn anstarrten. Es war of fensichtlich, dass irgend etwas mit diesem Tempel sein musste, dass allein die Vorstellung, dass jemand ihn betreten wollte, selbst wenn dieser Jemand ein Übermann war, ihnen Angst und Schre cken einjagte. Aberglaube, sagte sich Garth. Er wandte sich wieder der Tür zu und spähte hindurch, in die Düsternis des hinter ihr liegenden Raumes. Das Geräusch war jetzt lauter als je zuvor. Er entschied, dass es vielleicht nicht klug war, einfach so hineinzuplatzen. Er ging rückwärts die Stufe wieder hinunter und trat zurück auf die Straße. Die Leute, die stehengeblieben waren, um ihn anzustarren, standen noch immer da und gafften. Er sah sich suchend um, pickte sich einen Mann heraus, der seinem Aussehen nach einen intelligenten Eindruck machte, und rief: »Ho, du da! Was ist das für ein Gebäude?« Dem Mann widerstrebte es sichtlich zu antworten, aber die hin ter ihm Stehenden schoben ihn nach vorn und bestimmten ihn zu ihrem Sprecher. »Das ist der Tempel des Dhazh«, antwortete er schließlich. »Dhazh? Ich habe noch nie von ihm gehört«, sagte Garth.
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»Sein Kult wurde geächtet, weil er seinem Gott Menschen zum Fraß vorwarf. Es heißt, dass er die Gestalt eines riesigen Ungeheu ers angenommen hat und noch immer im Innern des Tempels haust – schlafend gleichwohl.« »Was ist das für ein Geräusch, das ich dort höre? Es scheint aus diesem Tempel zu kommen.« »Was für ein Geräusch?« Der Mann schien gleichzeitig verängs tigt und echt verblüfft. »Ich habe hier noch nie irgendein außerge wöhnliches Geräusch gehört.« »Ein tiefes pochendes Geräusch; hörst du es nicht?« »Ich kann kein Geräusch aus dem Tempel hören«, beharrte der Mann. »Dann hör genau hin; hört alle genau hin!« Der Übermann hob die Hand, um Ruhe zu erheischen. Die Menge, die sich um ihn geschart hatte, lauschte, und es wurde still auf der Straße, wenngleich aus der weiteren Umge bung immer noch Straßengeräusche zu ihnen drangen. Nach einer Weile rief eine Frau: »Ich kann nicht das geringste hören!« »Ich auch nicht«, ließ sich ein anderer vernehmen, bestätigt von allgemeinem zustimmenden Gemurmel. »Keiner von euch? Kann keiner von euch es hören?« Garth war überrascht; er hatte das Geräusch noch klarer als vorher wahrge nommen. Ihm war klar, dass sein Hörvermögen ausgeprägter war als das von einfachen Menschenwesen – einer von mehreren Vorteilen, die Übermenschen gegenüber Menschen besaßen. Aber das Ge räusch war, wie er fand, laut genug, dass auch Menschenohren es hätten wahrnehmen müssen. Vielleicht war hier Magie im Spiel, und er allein war bestimmt, das Geräusch zu hören, was immer es war. Wenn das der Fall war, dann war es mit an Sicherheit gren -218-
zender Wahrscheinlichkeit eines der Zeichen, von denen der Vergessene König gesprochen hatte. Mit diesem Gedanken im Kopf wandte er sich von der Men schenmenge ab und wieder dem Tempel zu. Darinnen, so hieß es, sollte also ein Ungeheuer schlummern; er prüfte seine Axt, verge wissert sich, dass sie sich beim Herausziehen – sollte sich dies wider Erwarten als notwendig erweisen – nicht festhaken würde, dann zückte er sein Schwert und marschierte geradewegs durch die Tür des verlassenen Tempels. Nur wenige Augenblicke später – die Menge stand noch aufge regt schnatternd auf der Straße, das Auftauchen des Übermannes und sein tollkühnes Verhalten kommentierend und diskutierend – kam Sedrik mit einer kleinen Abteilung ausgewählter Soldaten die Straße heraufmarschiert. Sedrik hatte eine Viertelstunde gebraucht, um seine Leute zu sammenzubekommen; er war nicht so töricht zu versuchen, sich allein mit einem Übermann anzulegen, so sehr ihm der Gedanke, Garth allein zur Strecke zu bringen, auch gefallen hätte. Er hatte Befehl, den Unruhestifter zu töten, und er wusste, dass er sich eines schweren Pflichtversäumnisses schuldig machen würde, wenn er sich auf einen aussichtslosen Zweikampf mit dem Über mann einließ, so sehr ihn ein solcher Zweikampf auch gereizt hät te. Er war dafür verantwortlich, dass der Übermann auch wirklich starb, und dafür brauchte er ein Dutzend Leute, die besten Leute, die er hatte. Die, die er auserkoren hatte, marschierten in Reihe und Glied hinter ihm, bewaffnet mit Schwertern und Speeren; vier trugen zusätzlich Armbrüste, vier andere schwere Schilde, und vier wei tere waren mit Keulen gerüstet. Sedrik selbst trug zusätzlich zu seinem Schwert eine Axt; er hoffte, damit dem Übermann den Kopf abschlagen zu können, wie es einem Verbrecher gebührte.
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Das Bewaffnen hatte weitere Zeit in Anspruch genommen, und dann hatte er noch warten müssen, bis die Spitzel abgelöst wurden und den letzten Standort des Übermannes melden konn ten. Alsdann war er mit seinen Männern zum Ufer des DemheSees marschiert — um, dortselbst angekommen, zu erfahren, dass der Übermann inzwischen weitergezogen war. Er hatte sogleich den eigens für diesen Zweck mitgebrachten Späher ausgesandt und war, sobald dieser ihm den neuesten Standort des Über mannes gemeldet hatte, wieder losmarschiert und hatte sich an Garths Fersen geheftet. Und nun entdeckte er zwar keine Spur von einem Übermann, aber die Menschenmenge auf der Straße sah so aus, als würde sie ihm Auskunft über den Verbleib des Flüchtigen geben können. Sedrik blaffte einen knappen Befehl, worauf seine Männer sofort die Straße abriegelten, um ein Entfleuchen der Menge zu verhindern. Alsdann marschierte er vor und bellte: »Ihr da! Was geht hier vor?« Dabei zeigte er mit dem Schwert auf die ihm am nächsten stehende Person, die einen vertrauenswürdigen Ein druck machte. Zufällig war das derselbe Mann, mit dem auch Garth gesprochen hatte. »Herr«, sagte der Mann, als er den schwarzen Federbusch er kannte, der Sedrik als Marschall auswies, »ein Übermann ist ge kommen und in den Tempel des Dhazh gegangen!« Verblüfft gewahrte Sedrik, dass er vor dem verbotenen Tempel stand. Er mochte den Tempel des Dhazh nicht; auf einen Mann, der in den verwitterten Straßen Ur-Dormulks geboren und auf gewachsen war, wirkte das ganze Gebäude mit seiner unausgetre tenen Stufe geradezu abstoßend und unheimlich. Zudem war er als Marschall der Stadt ein gebildeter Mann und wusste einiges über den Kult selbst, der schon Jahrhunderte zuvor geächtet worden war. Dhazh war ein dämonischer Erdgott gewesen, und
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als solcher hatte er nirgendwo in die geltende erammanische Theologie hineingepasst. Eine zerstörerische männliche Erden gottheit widersprach gleich mehreren grundlegenden Dogmen der Volksreligion. Selbst zu seiner Blütezeit hatte außer ein paar Erbpriestern und ihren unfreiwilligen Opfern kaum jemand je den Tempel aufgesucht, und Sedrik fand, dass der Oberherr, der sei nerzeit die Ächtung des Kults verfügt und seine Priester dem Henker übergeben hatte, damit eine sehr weise Entscheidung ge troffen hatte. Als höchst unappetitlich empfand er auch jenen Mythos vom Herzklopfen des Gottes, ein Geräusch, das – so die Legende – von denen gehört wurde, die der Gott als Diener oder Opfer für sich auserkoren hatte. Um so verblüffter war Sedrik, als der Sprecher der Menge hin zufügte: »Er hat gesagt, er hätte ein Geräusch gehört!« Sedrik schaute auf die schmucklose Fassade des Tempels. Vielleicht bestand irgendein Zusammenhang zwischen der Anwesenheit des Übermanns im Tempel und dem Befehl, ihn zu töten. Vielleicht befürchtete der Oberherr, dass der Übermann den Kult irgendwie zum Leben wiedererweckte. Aber das war nicht seine, Sedriks, Sache; seine Pflicht war es, Befehle zu befolgen, nicht, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, warum sie erteilt worden waren. Er war beauftragt worden, den Übermann zu töten, und der Übermann war im Tempel des Dhazh. Also war es seine Pflicht, in den Tempel zu gehen und den Verbrecher zu stellen. dass ein solches Vorgehen vielleicht neben bei dazu diente, einiges von dem Respekt zu zerstreuen, der dem Gott noch immer entgegengebracht wurde, war ein zusätzlicher Pluspunkt. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr gefiel ihm der Gedanke, in den Tempel einzudringen und ihn zu schänden.
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Dieser abstoßende Kasten hätte sowieso schon längst abgerissen werden sollen, feuerte er sich innerlich weiter an. Die Vorstellung, den Übermann zu töten, war ebenfalls überaus reizvoll; er freute sich schon richtig auf das bevorstehende Ge metzel. »Alsdann, Männer«, rief er, »mir nach!« Er marschierte die Stufe hinauf und in den Tempel. Nach einem Moment des Zögerns folgten ihm seine zwölf Käm pen mehr oder weniger widerstrebend. Zwar wusste jeder einzel ne von ihnen, dass er einer der Besten der Stadt war, ein aner kannter Meister in der Kunst des Tötens, aber die dunklen Legenden, die sich um den Tempel rankten, spukten noch immer in ihren Köpfen herum. Auch der tapferste Krieger stand gegen einen wütenden Gott auf verlorenem Posten. Wäre nur einer von ihnen zurückgeblieben, hätten sich andere ihm vielleicht angeschlossen, aber niemand wollte der erste sein, der sich einen Feigling schimpfen ließ, und so marschierten alle hinter ihrem Anführer her ins Dunkel des verbotenen Tempels.
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Kapitel 13 Das einzige Licht in dem Tempel war das, das durch die offene Tür hereinfiel; die wenigen Lichtgadenfenster waren von schwe ren Vorhängen verdeckt, und die Spießböcke und Lichthalter an Wänden und Säulen enthielten nur geschmolzenes Wachs; sie waren kaum auszumachen unter der dicken Staubschicht und den Spinnweben, die sie einhüllten. Es gab keine Fackeln, keine Weih rauchschwaden, keine monoton ihre Litanei heruntersingenden Priester; es gab überhaupt kein Geräusch außer Garths eigenen Schritten auf dem staubbedeckten Boden und dem tiefen, dumpfen Pochen, dem er folgte. Der Tempel war leer, bis auf zwei steinerne Altäre jeweils an den Seiten der einzigen großen Halle, die den größten Teil des Tempelinnern einnahmen; und überall lag dicker Staub. Keine Teppiche bedeckten den steinernen Fuß boden; keine Wandbehänge zierten den nackten Stein. Garth blieb einen Moment lang stehen, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten; dann ging er weiter in den Raum hinein, das Schwert stoßbereit in der Hand. Er sah keine Spur von einem Ungeheuer und nichts, was das seltsame Geräusch hätte von sich geben können. Er entdeckte eine große, vom Alter geschwärzte Tür am hinteren Ende der Tempelhalle; er drückte sanft dagegen, in der Hoffnung, dass sie unverschlossen war, und sie zerfiel unter seiner Hand zu Staub. Er trat sofort hindurch, das Schwert vor sich haltend und vor sichtig hin und her schwenkend, um sich vorwärtszutasten; ob gleich er den Atem anhielt und immer wieder mit den Augen blin zelte, stach ihm der Staub von der Tür in Augen und Nüstern. Der Raum, in dem er sich jetzt befand, war noch dunkler als die
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Haupthalle, aufgrund des Staubes und der größeren Entfernung vom Hauptportal, aber als er sich mit dem Handrücken den Staub aus den Augen gewischt hatte, konnte er sehen, dass auch dieser Raum leer war. Das Geräusch allerdings war eindeutig lauter hier; er lauschte konzentriert, versuchte den Lärm zu ignorieren, der noch immer von der Straße hereindrang. Die Vibration schwoll an, verebbte dann jäh, und dann erklang ein langgedehnter dumpfer Schlag, fernem rollenden Donner gleich, bevor das Ganze wieder von vorn begann, in stetigem schleppenden Rhythmus, jeder Zyklus Minuten dauernd. Nun, da Garth das Geräusch deutlicher hörte, erkannte er, was es war, oder zumindest, was es zu sein schien. Was er vernahm, war das Pochen eines Herzens — so langsam, so tief, dass er unwillkürlich an den Pulsschlag der Erde selbst denken musste; kein lebendiges Wesen, auch nicht der größte Le viathan, den man sich auszumalen vermochte, konnte einen solch langgezogenen Pulsschlag haben. Während er lauschte, nahmen seine Augen die Details des in neren Heiligtums auf. Er befand sich in einer kleinen leeren Kammer; durch ein vorhangbedecktes Fenster hoch oben in einer Ecke des Raumes sickerte ein wenig Licht herein. Die Kammer war bar jeder Möbel; das einzige, was im Überfluss vorhanden war, war der allgegenwärtige Staub, der den Fußboden bedeckte und um ihn herum schwebte. Auf beiden Seiten des Raumes war jeweils eine offene Tür; was hinter diesen Türen lag, war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Auf den ersten Blick sah Garth keinen Unterschied zwischen den beiden Türen, doch nachdem er eine Weile konzentriert ge lauscht hatte, war er sicher, dass das Pochen auf der linken Seite lauter war. Also ging er durch die linke Tür. -224-
Der Raum hinter der Tür lag in völliger Dunkelheit, und Garth tastete sich vorsichtig vorwärts; trotzdem entging er nur mit knapper Not einem Sturz, als er die oberste Stufe einer nach unten führenden Treppe erreichte. Er hatte seine ganze Konzentration auf Wände, Türen oder Lebewesen vor ihm gerichtet; dem Boden unter seinen Füßen hatte er kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Er erlangte rudernd sein Gleichgewicht wieder und hielt inne, unschlüssig, ob er es wagen sollte, ohne Licht weiterzugehen. Wenn sich tatsächlich ein Ungeheuer in dem Tempel aufhielt, dann war es ihm gegenüber entscheidend im Vorteil, da es an die Dunkelheit gewöhnt war. Ein winziger Lufthauch, der ihm über das Gesicht strich, schreckte ihn aus seinen Überlegungen auf. Das Geräusch kam eindeutig von unten, und es lockte ihn natürlich, seinem Ursprung auf den Grund zu gehen, aber der schwache Luftzug war wirklich merkwürdig. Er brauchte einen Moment, um sich klarzumachen, was so seltsam daran war. Fast aus jeder Höhle schlug einem bisweilen ein kühler feuchter Luftzug entgegen, das war nur normal, und es hätte ihn auch hier nicht weiter verwundert, zumal der See nicht weit war und sein Wasser sicherlich hier und da seinen Weg durch poröse Gesteins schichten fand – aber dieser Luftzug war warm. Er wusste für dieses Phänomen keine Erklärung. Die einzigen ihm bekannten Stellen, an denen unterirdische Gänge oder Höh len warm waren, waren in der Nähe von Vulkanen, und er hatte geglaubt, dass die Berge rings um Ur-Dormulk genauso wenig zu vulkanischer Aktivität neigten wie die yeshitischen Dschungel im fernen Süden zu mittsommerlichen Schneestürmen. Hinzu kam, dass die Luft, die ihm von der Treppe entgegenschlug, feucht und übelriechend war, wie die Luft, die einem Sumpf entstieg.
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Er war entschlossen, diesem faszinierenden Phänomen auf den Grund zu gehen, aber die Dunkelheit schreckte ihn noch immer ab. Zwar trug er Stahl, Feuerstein und Zunder bei sich, in einem Beutel an seinem Gürtel, aber nichts, das gut genug brannte, um ein einigermaßen zuverlässiges Licht zu erzeugen. Ihm fiel ein, dass in den Kerzenhaltern in der Haupthalle ja noch die Wachsreste der heruntergebrannten Kerzen steckten, aber er verwarf den Gedanken sogleich wieder; er hatte noch keine Vor stellung, wie tief er hinabsteigen musste, und er brauchte etwas, das länger brannte als ein heruntergebrannter Kerzenstummel. Gewiss hatten die Priester, die einst diesen Tempel benutzt hatten, irgend etwas gehabt, womit sie die Treppe beleuchtet hatten. Er streckte die Hand aus und tastete erst die eine, dann die andere Wand des Raumes ab. Nach einer Weile stieß seine Hand gegen etwas Metallisches, das bei der Berührung ein leises Klappern von sich gab, und er hörte auch ein leises glucksendes Geräusch. Behutsam steckte er sein Schwert in die Scheide, langte nach oben und befühlte den Gegenstand, den er entdeckt hatte. Es war eine Öllampe, die an einem Haken an der Wand hing. Sie war sogar noch, wie das glucksende Geräusch verriet, teilweise gefüllt. Sie anzuzünden, bereitete keine Schwierigkeiten. Der Docht war immer noch vorhanden, wenn auch abgeschnitten von der Ölzu fuhr durch einen luftdichten Metallverschluss, den er erst ab schrauben musste; auch nachdem er ihn losbekommen und das untere Ende in das Öl getaucht hatte, blieb dieser so trocken, dass er sofort Feuer fing, hell aufloderte und fast ganz wegbrannte, be vor er sich mit Brennstoff vollgesogen hatte. Das Öl war mit den Jahren zäh und dickflüssig geworden, und nach dem ersten kurzen Auflodern brannte die Flamme niedrig und unter großer Qualmentwicklung, kaum höher als der herun -226-
tergebrannte Docht. Aber für seine Zwecke reichte es. Er wunderte sich, dass das Öl auch wenn es luftdicht abgeschlossen gewesen war – nicht schon längst eingetrocknet war, und fragte sich, ob der Tempel vielleicht doch noch nicht so lange leer stand, wie er im ersten Moment angenommen hatte. Das blanke Schwert wieder in der Rechten, die Lampe in der Linken, machte er sich an den Abstieg. Die Treppe war erheblich länger, als Garth zunächst vermutet hatte, und nach ungefähr fünfzehn Fuß machten die anfangs brei ten, kaum abgenutzten Stufen kürzeren, engeren Stufen Platz, die ebenso große Abnutzungserscheinungen aufwiesen wie die Stufen am Stadttor und die, nicht zuletzt wegen ihrer Glätte, nur sehr schwer zu begehen waren. Garth vermutete, dass diese Veränderung der Stufen ein Hin weis dafür war, dass er sich unter der eigentlichen Stadt befand und jetzt in die oberen Bereiche der legendären Krypten vordrang. Als er schließlich, nach langem mühseligen Abstieg am Fuß der Treppe ankam, machte er eine Pause, um Luft zu schöpfen und sich umzusehen; während er dies tat, glaubte er, Geräusche über sich zu hören. Er verwarf den Gedanken als absurd. Er war gerade noch durch den Tempel gegangen und hatte gesehen, dass er voll kommen leer war; wenn er wirklich etwas von oben hörte, dann konnte das nur der Lärm von der Straße sein, der, bedingt durch irgendeine akustische Eigenart des Gebäudes, bis zu ihm herun terdrang. Er befand sich in einem rechteckigen Raum. Er war lang und vergleichsweise schmal; seine Seitenwände wiesen nach oben hin eine starke Neigung nach innen auf und gingen fast übergangslos in die Decke über; auch die Ecken des Raumes waren abgerundet. Der Fußboden war ein seltsames holpriges Sammelsurium aus verschiedenen Steinsorten, und die Decke war sehr niedrig.
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Die Decke und die Wände waren grau, während der Fußboden aufgrund seiner Zusammensetzung verschiedene dunkle Farbtöne aufwies, welche jedoch unter der Staubschicht kaum zu erkennen waren. Das Pochen war lauter denn je. Am hinteren Ende des Raumes befand sich eine Tür; Garth hob seine Lampe und ließ sie kreisen, konnte aber außer der Treppe und der Tür keinen anderen Zugang zu dem Raum entdecken. Er schlenderte hinüber zu der Tür und drückte dagegen, halb damit rechnend, dass sie ebenso zu Staub zerfiel wie die im obe ren Raum. Statt dessen aber schwang sie mit lautem Quietschen auf. Hinter ihr befand sich ein weiterer Raum. Garth trat hindurch, die Lampe in die Höhe haltend. Der Raum war übereinstimmend mit dem ersten, mit dem Unterschied, dass die Wände und die Decke nicht grau, sondern dunkelrot waren. Er befand sich jetzt mindestens dreißig Fuß unterhalb der Stadt und bewegte sich, seit er den Tempel betreten hatte, mehr oder weniger in westliche Richtung. Grob geschätzt, war er etwa hundert Fuß vom Tempeleingang entfernt — was bedeutete, dass er sich jetzt in oder unter den großen Felsenkliffs befinden musste, da der Tempel von der Vorder bis zur Rückseite nicht mehr als sechzig Fuß maß. Das war in der Tat höchst interessant. Er fragte sich, ob es wohl einen Weg unter dem See hindurch gab, einen Verbindungsgang zu den Ruinen auf der anderen Seite. Er ging durch den Raum und gelangte in einen dritten, dessen Wände und Decke mattschwarz waren, während der von einer Staubschicht bedeckte Fußboden mehrfarbig war, wie der des ersten Raumes. Hinter der Tür, die sich am Ende dieses Raumes befand, führte eine weitere Treppe nach unten; er folgte ihr ohne Zögern.
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Sie schien endlos lang. Er war schon einmal in Krypten gewesen, seinerzeit in der Orûnischen Stadt Mormoreth, aber diese Treppe war länger als jede andere, die er je hinunter oder hinaufgestiegen war. Zudem verlief sie gerade, was sie wahrscheinlich noch länger er scheinen ließ; die Treppe in den Krypten von Mormoreth waren größtenteils spiralförmig verlaufen, so dass er sie nie in ihrer vollen Länge hatte übersehen können. Nach einer Weile hatte er das unheimliche, beunruhigende Gefühl, als wolle diese Treppe niemals enden: so hoch er die Lampe auch hielt, ein Ende der Stufen war nicht in Sicht, und auch der hinter ihm liegende Teil der Treppe verlor sich im Dunkel. Doch irgendwann erblickte er im trüben Schein der Lampe das untere Ende der Treppe; er beschleunigte seinen Schritt, soweit die ausgetretenen, blankgewetzten Stufen es zuließen. Die Treppe mündete in einen schmalen Gang, der zu einer wei teren, wieder nach oben gehenden Treppe führte. Garth fragte sich, ob er inmitten der Ruinen auf der anderen Seite des Sees wieder ans Tageslicht kommen würde. Das war jedoch nicht der Fall: die Treppe war nur einen Bruch teil so lang wie die, die er soeben heruntergestiegen war. Kaum hatte er seinen Fuß auf die erste Stufe gesetzt, da sah er auch schon das obere Ende. Einen Augenblick später kam er von einem Raum heraus; er blieb stehen und verschnaufte. Und wieder kam es ihm vor, als höre er Geräusche hinter sich, nur dass diese jetzt fast übertönt wurden von dem langsamen dumpfen Pochen vor ihm; es hatte jetzt, da er seinem Ursprung immer näher kam, einen unheilvollen, drohenden Klang ange nommen. Irgend etwas an ihm machte ihn nervös.
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Er hatte sich bisher noch nicht eingehender mit der Frage befasst, welcher Natur dieses Pochen wohl sein mochte; er hatte kurzerhand entschieden, dass es Herzklopfen war, ohne jedoch darüber nachzudenken, was das bedeutete. Und nun, da er in einem Raum stand, der sich seiner Schätzung nach mehrere hundert Fuß unterhalb der Straßen von Ur-Dormulk befand, machte er sich zum ersten Mal ernsthaft Gedanken darüber, was er wohl finden würde, wenn er weiterging. Konnte es überhaupt ein Ungeheuer mit einem solch großen Herzen geben? Wenn ja, dann hatte er gegen es kaum mehr Chancen als ein Käfer. Wenn schon ein mechanischer Drachen in der Lage gewesen war, ihn, wenn er gewollt hätte, zu töten, wie würde da erst ein Ungeheuer, dessen schieres Herzklopfen auf die Distanz von einer Meile zu hören war, mit ihm umspringen? Andererseits, warum sollte ein solches Monstrum ihn überhaupt wahrnehmen? Angst, aufgefressen zu werden, brauchte er keine zu haben; ein Übermann würde wohl kaum ausreichen, um den Appetit eines derartigen Ungetüms zu erwecken, und notfalls konnte er sich mit Leichtigkeit in irgendeinen Gang oder Raum zurückziehen, in der es ob seiner Größe nicht an ihn herankom men konnte. Die Vorstellung einer solchen Kreatur widersprach indes allen seinen Instinkten, und er entschied, dass es bei weitem wahr scheinlicher war, dass das Geräusch auf künstliche Weise von ir gendeinem versprengten, vergessenen Überrest des geächteten Kults erzeugt wurde, aus Gründen, die nur der Kult selbst kannte. Jedenfalls war er nicht gewillt, an diesem Punkt kehrtzumachen. Er hob die Lampe. Der Raum, in dem er sich befand, war lang, schmal und niedrig, länger als die drei auf der höheren Ebene. Seine Wände waren aus grauem Stein. Auch dieser Raum hatte an seinem hinteren Ende
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eine Tür, doch handelte es sich bei dieser, anders als bei denen der anderen Räume, nicht um eine simple, in einem schlichten hölzer nen Rahmen aufgehängte glattflächige Tür, sondern um eine kunstvoll verzierte, aus verschiedenen erlesenen Hölzern ge schreinerte Konstruktion, die in einem roten, mit goldenem Maß werk verzierten Steinbogen aufgehängt war. Garth näherte sich vorsichtig dieser Tür; in ihrer prunkvollen Gestaltung, die sie so sehr von den anderen unterschied, wirkte sie fast ein wenig bedrohlich. Er blieb stehen, als er sie erreicht hatte, und legte vorsichtig eine Hand auf die hölzerne Füllung. Sie vibrierte unter seinen Fingern im Rhythmus des langsamen Po chens. Zum dritten Mal glaubte er, Geräusche hinter sich zu hören; sie waren nur in den Pausen zwischen den einzelnen Schlägen ver nehmbar und gingen dann unter in dem Pochen, dem er nun schon so weit gefolgt war. Er wandte sich um und schaute zu der Treppe, konnte aber nichts entdecken. Diese Tür gab nicht wie die anderen einem leichten Druck mit der Hand nach, aber der Schnäpper war nicht festgerostet und ließ sich frei bewegen; er hob ihn leicht an und stieß die Tür weit auf. Der Raum, der vor ihm lag, war anders als alle anderen; zwar gingen auch hier die Wände in ähnlicher Weise bogenförmig in die Decke über, aber der Raum war rund, nicht rechteckig wie die anderen. Die Wände waren schwarz, und schwarz war auch der Fußboden; die Steine waren zu einer Spirale angeordnet; die ge nau in die Mitte des Raumes führte. Das eigentlich Besondere des Raumes war jedoch das, was in der Mitte stand: eine Säule aus Horn oder Elfenbein, die aus dem Boden emporragte, gelb angelaufen vom Alter, aber immer noch fast weiß, mit einem Durchmesser von knapp zwanzig Zoll an der Basis, sich zu einem Durchmesser von vielleicht einem Fuß nach -231-
oben verjüngend, am oberen Ende, in einer Höhe von circa drei Fuß über dem Boden, schräg abgeschnitten. Aus der Mitte dieser schrägen Fläche quoll ein einzelner Tropfen einer rötlichschwarzen, schleimig aussehenden Substanz hervor. Eine kreisförmige Rinne zog sich um diese seltsame Säule her um, und Garth sah, dass ein dünnes Rinnsal der schwarzroten Substanz an der Seite der Säule herunterlief und sich in der Rinne zu einer flachen Pfütze sammelte. Wie er sah, gab es außer der bogenförmigen Tür keinen weiteren Zugang zu dem Raum. Er trat vorsichtig ein, Lampe und Schwert hoch haltend. Es gab in dem Raum außer der Säule und ihrer merkwürdigen Absonderung nichts anzuschauen, also studierte er sie. Während er hinschaute, rollte ein dicker schwarzer Tropfen träge vom Zentrum der abgeschrägten Fläche zu ihrem Rand, wo er einen Moment verharrte, bevor er über die Kante fiel und sich mit dem dünnen Rinnsal vereinigte. Seine Loslösung vom Mittelpunkt der Fläche fiel, wie Garth beiläufig registrierte, exakt mit dem Ende eines der langgezogenen Herzschläge zusammen. Ein neuer Tropfen wuchs, während Garth die Wände nach ver steckten Öffnungen absuchte. Als der nächste Herzschlag endete, wandte er sich wieder zu der Säule um und sah, wie der neue Tropfen seinem Vorgänger folgte. Dass der erste Tropfen sich genau zeitgleich mit dem Ende des Pochens gelöst hatte, hatte er dem Zufall zugeschrieben, aber der zweite Tropfen schien darauf hinzudeuten, dass hier offenbar kein Zufall am Werk war. Er spitzte die Ohren, guckte und gelangte rasch zu einem unausweichlichen Schluss: Das Geräusch, dem er gefolgt war, kam von der Basis der geheimnisvollen Säule. Außerdem hing es irgendwie zusammen mit der rötlichschwarzen Flüssigkeit. -232-
Ihm kam der Gedanke, dass vielleicht die Vibration die Ursache dafür war, dass die Tropfen zeitlich synchron mit dem Pochen fielen, und dass ansonsten kein direkter Zusammenhang für diese Synchronität verantwortlich war. Es schien irgendwie nicht ein leuchtend, dass ein so gewaltiges Pochen nichts weiter bewirken sollte, als ein dünnes Rinnsal einer schwärzlichen zähen Flüssig keit durch das Innere einer Säule hochzupumpen. Er ging lang sam um die Säule herum und hielt nach einer geheimen Öffnung oder einem Hebel Ausschau, sorgsam darauf bedacht, nur ja nichts zu berühren. Seine Untersuchung der kleinen metallenen Röhre, die für den Abfluss der überschüssigen Flüssigkeit aus der Rinne sorgte, fand jedoch eine jähe Unterbrechung, als er zum vierten Mal Geräusche hörte, die nichts mit dem Pochen zu tun hatten. Hatte er diese beim ersten, vielleicht auch noch beim zweiten Mal als akustische Täuschung oder als Überreaktion seiner über reizten Nerven abtun können, so war dies spätestens jetzt nicht mehr möglich: er befand sich einfach viel zu weit unter der Stadt, als dass irgendwelche Geräusche von draußen auch nur die geringste Chance gehabt hätten, zu ihm durchzudringen. Einen Moment lang überlegte er, ob es irgendwelches Ungeziefer sein konnte, aber das war ziemlich unwahrscheinlich; es gab wohl kaum ein Ungeziefer, das so laut war, dass es über das mächtige dröhnende Pochen hinweg zu hören gewesen wäre. Er lauschte angestrengt. Kein Zweifel: da war das Geräusch wieder! Es war jetzt näher als vorher. Nun, da er nicht mehr tiefer in die Katakomben vordrang, holte das, was das Geräusch machte – was immer es war –, rasch auf. Nachdem er einige weitere Se kunden gelauscht hatte, glaubte er, dass es das Klirren von Panzern war.
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Er ließ die Lampe fallen, wo er gerade stand; sie flackerte, erlosch aber nicht, als sie auf den Steinboden prallte und umge kippt liegen blieb, noch ein paarmal auf der runden Kante ihres metallenen Ölbehälters hin und her rollend. Das runde Zimmer bot wenig Möglichkeiten zum Verstecken; es gab weder Nischen noch Vorhänge, hinter denen er sich hätte ver bergen können. Der lange Schatten der Säule, der auf der Seite gegenüber der Stelle, an der er die Öllampe hatte fallen lassen, auf die Wand fiel, würde ihm vielleicht eine gewisse Deckung bieten, aber Garth entschied sich für den Platz hinter der Tür. Wer immer sich da näherte, würde wahrscheinlich nicht sofort erkennen, dass der Raum keine weiteren Zugänge hatte. Er würde sich gewiss wundern, wo die Lampe herkam, aber er würde wahrscheinlich nicht auf die Idee kommen, erst einmal hinter der Tür nachzu schauen, bevor er das Zimmer betrat. Natürlich konnte Garth die Lampe löschen, aber der Gedanke, völlig im Dunkeln zu stehen, war nicht gerade angenehm; sollte sich sein Verfolger lieber wundern. Außerdem hatte er keine Zeit mehr, sich einen besseren Plan auszudenken. Die Geräusche kamen näher; in den Pausen zwischen den Schlä gen konnte er Schritte und angestrengtes Schnaufen heraushören. Er presste sich an die Wand hinter der Tür, das Schwert stoßbereit in der Rechten, die Axt ein Stück zur Seite herübergezogen, so dass sie griffbereit war, und wartete.
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Kapitel 14 Die Verfolgung des Übermannes geriet aufgrund der Dunkel heit, die in dem Tempel herrschte, ein wenig beschwerlicher als erwartet. Sedrik war ursprünglich davon ausgegangen, dass er seine Jagdbeute auf der Straße oder in irgendeinem gut beleuchte ten Geschäft stellen würde; deshalb hatte er natürlich nicht daran gedacht, seine Männer mit Laternen auszurüsten. Als klar wurde, dass Garth sich nirgends im Bereich der eigentlichen Tempelhalle versteckt hatte, und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass der Übermann neu in Ur-Dormulk war und mithin wohl kaum Kennt nis von irgendwelchen geheimen Ausgängen haben konnte, blieb Sedrik keine andere Schlussfolgerung als die, dass Garth die Treppe zu den Krypten hinuntergestiegen war. Sedrik hatte seine Befehle und seinen persönlichen Hass, und er brannte darauf, hin unterzusteigen — aber nicht das winzigste Fünkchen eines Lichtes deutete auf die Anwesenheit des Übermannes hin; und er hätte sich doch nicht ohne irgendeine Art von Licht in die Tiefe gewagt! Sedrik musste also annehmen, dass Garth entweder einen be trächtlichen Vorsprung gewonnen hatte oder dass er irgendwo abgebogen, oder durch irgendwelche Türen gegangen war. Ihn in völliger Dunkelheit zu verfolgen, wäre ein an Irrsinn grenzender Leichtsinn gewesen. Also waren Lampen vonnöten, und Sedrik musste mit der Hälfte seiner Abteilung an der Treppe zu den Krypten warten, während die andere Hälfte auf die Straße zurück kehrte, um aus den umliegenden Geschäften Fackeln oder Later nen zu besorgen. Während er wartete, ließ ihm der schwache, übel riechende war me Luftzug, der von unten heraufkam, eine Gänsehaut des Ekels über den Rücken laufen.
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Schließlich waren seine Männer wieder beisammen, jeder mit einer Fackel gewappnet. Lampen oder Laternen hatten sie nicht auftreiben können, dafür aber einen satten Vorrat an Fackeln, wie sie für die Beleuchtung von Tempeln oder Häuserfronten verwendet wurden; die rechtmäßigen Besitzer der Fackeln hatten sich bereit erklärt, sie den Soldaten gegen das Versprechen alsbal diger Entschädigung durch die Regierung zu überlassen. Die Besitzer anderer, komfortablerer Lichtquellen waren nicht so ent gegenkommend gewesen, und die Soldaten hatten keine Lust ge habt, sich groß mit ihnen herumzustreiten. Jeder vierte eine brennende Fackel in der Hand, machten sich Sedrik und seine Mannen an den Abstieg. Sedrik, wegen der Ver zögerung von Ungeduld getrieben und begierig auf den baldigen Kampf, versuchte seine Soldaten zur Eile anzutreiben, mit wenig Erfolg. Die abgewetzten Stufen, der unheimliche Ruf des Tempels und der Krypten und das flackernde, trübe Licht der Fackeln taten das ihre, den Vorwärtsdrang der Soldaten in Grenzen zu halten. Am Fuße der ersten Treppen angekommen, wurden deutliche Seufzer der Erleichterung hörbar; Sedrik schenkte ihnen keine Be achtung, sondern nahm sie zum Anlass, nun, da das Geläuf unter ihren Füßen wieder sicherer war, nur noch um so forscher vor wärtszudrängen. Sie kamen durch den grauen Raum, dann durch den roten und schließlich in den schwarzen; als sie ihn betraten, flüsterte einer der Männer: »Psst! Mir ist, als hörte ich da etwas!« Sedrik befahl ihnen anzuhalten und hob den Arm, um Ruhe zu erheischen. Seine Männer gehorchten, und alles lauschte gebannt. Unsicher schauten sie einander an. »Kannst du es auch hören, Hauptmann?« murmelte einer. Sedrik nickte widerstrebend.
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»Was ist das?« fragte ein anderer. Sedrik zuckte die Achseln. »Es ist der Herzschlag des Gottes«, murmelte einer. »Dhazh?« »Das ist doch nur ein Mythos!« Schließlich sprach Sedrik. »Dieses Geräusch ist kein Mythos; wir alle können es hören. Vielleicht ist es das, was den Mythos von der Existenz des Gottes Dhazh überhaupt erst begründet hat. Ich vermute, dass es ein unterirdischer Wasserfall ist; schließlich be finden wir uns hier ganz in der Nähe des Demhe-Sees, und nie mand weiß, wo sein Grund ist oder woher seine Wasser kommen und wohin sie fließen.« »Ich höre überhaupt nichts«, bekannte ein Soldat am Ende der Riege. »Dann musst du schwerhörig sein, denn das Geräusch ist deut lich zu hören«, versetzte einer seiner Kameraden. »Was immer es ist, Leute«, beendete Sedrik die Diskussion, »es soll uns nicht kümmern, was immer es ist und wo immer es her kommt. Es kann sehr gut von jenseits der Krypten kommen. Ich bezweifle, dass es irgend etwas gibt, was in diese Räume hinein passt, mit dem wir nicht fertig werden können; der Monstergott aus den alten Legenden könnte sich gewiss nicht hier hinein zwängen!« Er deutete auf die niedrige Decke; jemand kicherte, was ihm gefiel. An den Mienen seiner Männer sah er, dass sich Furcht und Zuversicht in etwa die Waage hielten; das war schlechter, als er gehofft hatte, aber besser, als er erwartet hatte. Auch die besten Kämpfer konnten durch Dunkelheit und düstere enge Gänge entmutigt werden. »Wir gehen weiter«, befahl er. »Wir haben einen Übermann zu fangen.« Sie durchquerten in Marschformation das schwarze Zimmer, sechs Reihen zu je zwei Mann, Sedrik ein wenig versetzt
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neben der zweiten Reihe einherschreitend. Vor der Tür am hin teren Ende des Raumes stockte die erste Reihe. Der vorderste Fa ckelträger, der in der zweiten Reihe neben Sedriks Ellenbogen stand, hob die Fackel; ihr Licht fiel auf die obersten Stufen der langen Treppe. »Ich kann das Ende nicht sehen, Hauptmann«, meldete er. Sedrik trat vor und spähte über die Schulter seines Vordermannes. »Und ich kann den Übermann nicht sehen, und wir haben auch keine Stelle gesehen, an der er abgebogen sein könnte. Wir gehen weiter.« Er bemerkte, hütete sich aber, es zu erwähnen, dass das Pochen — der Herzschlag des Gottes — vom Fuße dieser Treppe zu kommen schien. »Wir wissen nicht, was da unten ist!« protestierte ein anderer Soldat. »Der Übermann ist da unten!« sagte Sedrik, nur mit Mühe den Drang bezähmend, seinen Kasernenhofton anzuschlagen. Man konnte nicht wissen, wie weit das Echo tragen würde, und er wollte den Übermann nicht warnen. »Ich sehe keinerlei Zeichen von Gefahr, außer dass einer von euch tollpatschigen Trotteln vielleicht hinfallen und sich an den Stufen den Schädel ein schlagen könnte.« Trotz seiner Wut bereute Sedrik seine Worte so fort; sie würden seine Männer nur noch nervöser machen, was wiederum ihr Vorwärtskommen noch mehr verlangsamen würde. »Wir haben den Befehl vom Oberherrn höchstselbst, diesen un menschlichen Fremdling aufzustöbern und zu töten. Er muss ir gendwo dort unten stecken, und ich habe die feste Absicht, ihn zu finden. Also los jetzt, vorwärts mit euch!« Er zwängte sich an sei nen Vorderleuten vorbei und begann die Treppe hinunterzu steigen, wobei er im stillen dachte, dass er am besten von Anfang an die Führung hätte übernehmen sollen. Zögernd folgten ihm seine Männer. -238-
Angesichts der Länge der Treppe beschlich schließlich sogar ihn, Sedrik, ein mulmiges Gefühl; er hörte, wie seine Männer ängstlich tuschelten, als der hinterste Fackelträger das obere Ende der Treppe aus dem Blick verloren hatte, aber er zwang sich wei terzugehen, fest entschlossen, vor seinen Untergebenen keine Furcht zu zeigen, und redete sich ein, dass er, Sedrik, keiner Gefahr aus dem Weg zu gehen brauchte, der auch ein Übermann nicht aus dem Weg gegangen war. Das rhythmische Pochen war jetzt immer deutlicher zu vernehmen; Sedrik hatte insgeheim ge hofft, dass sie an seiner Quelle vorbeigehen und es irgendwann wieder verlieren würden, aber bis jetzt deutete alles auf das ge naue Gegenteil hin. Er konnte von Glück reden, dachte er bei sich, dass die Treppe gerade noch breit genug war, dass zwei Mann nebeneinander ge hen konnten; wenn seine Männer gezwungen gewesen wären, hin tereinander zu gehen, hätten sie noch mehr Angst gehabt. Endlich erreichten sie den kurzen Gang, und ein hörbares Aufat men ging durch die Gruppe, als sie die hinter dem kurzen Gang nach oben führende Treppe sichtete. Wenig später gelangten sie in den langen grauen Raum am Ende der Treppe. Das Pochen war jetzt so laut, dass es sogar über das Geräusch ihrer schweren Schritte auf dem Steinboden und das Klirren ihrer Waffen und Panzer hinweg zu hören war. Sedrik blieb stehen und hob ru heheischend den Arm; die Männer hielten an. Sedrik war sich nicht absolut sicher, aber er glaubte, irgendwo in der Dunkelheit vor ihm einen winzigen Lichtschimmer gesehen zu haben. Er zeigte auf die vorderste Fackel und machte eine win kende Bewegung. Ihr Träger verstand und reichte sie nach hinten weiter zu den Männern, die am Ende der Schlange standen, noch auf der Treppe. Sie nahmen sie, ließen sich auch die anderen
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durchreichen und hielten sie niedrig, um die Dunkelheit am Ende des Raumes so wenig wie möglich zu beeinträchtigen. Sedrik spähte in die Finsternis, die Augen gegen den Lichtschein von hinten mit den Händen abschirmend, und stellte fest, dass weiter vorn tatsächlich ein winziges Licht flackerte, gleich hinter einer breiten Türschwelle. Das Licht bewegte sich nicht; was immer der Übermann gesucht haben mochte, er schien es gefunden zu haben. Sedrik glaubte nicht, dass er dort angehalten hatte, um sich dort zu verschnaufen: für diesen Zweck hätte sich eher der Fuß der langen Treppe oder das Ende der letzten Treppe angeboten. Es sei denn, dachte der Marschall, hinter jenem Raum befand sich eine weitere Treppe, und der Übermann wollte sich ausruhen, bevor er sie in Angriff nahm. Aber es gab auch noch eine dritte Möglichkeit: Der Übermann hatte möglicherweise mehr als ein Licht mitgebracht und dieses zurückgelassen, als es heruntergebrannt war. Er starrte erneut in die Richtung, um sich zu vergewissern, ob seine Theorie stimmte, und sah, dass es in der Tat heruntergebrannt war, denn sein Schein war noch schwächer als der seiner eigenen drei Fackeln, die mittlerweile fast zu Stümpfen heruntergebrannt waren. »Fackeln auswechseln!« zischelte er. Sein Befehl wurde nach unten weitergegeben, und einen Moment später leuchteten drei neue Fackeln auf; die alten wurden ausgetreten und beiseite geworfen. Die Tür stellte natürlich ein echtes Problem dar, da es keine Möglichkeit gab zu erfahren, was sich hinter ihr befand, ohne sich in Gefahr zu bringen. Und ohne weitere Erkundungen einfach hineinzumarschieren, wäre leichtsinnig, ja geradezu töricht ge wesen. Am liebsten wäre er selbst hineingegangen und hätte nach geschaut, aber das war nicht die Aufgabe eines Führers, das wuss -240-
te er. Wenn er den Kopf durch die Tür steckte und getötet wurde, flöhen seine Männer; wenn ein anderer dasselbe tat, konnte er den Rest der Männer noch immer anfeuern und sie zum Angriff füh ren. Mit einigem Widerstreben winkte er einen seiner Männer nach vorn. »Nalba«, flüsterte Sedrik, »ich will, dass du hineingehst und nachsiehst, was dort hinter der Tür ist.« Er zeigte auf die Tür. »Aber sei vorsichtig; ich will nicht, dass du getötet wirst. Wenn der Übermann da drin ist und du eine Chance hast, dann spring ihn an und ruf um Hilfe; wir stürmen dann sofort hinein. Wenn du das Gefühl hast, dass du nicht an ihn herankommen kannst oder wenn er dich kommen sieht, dann kommst du sofort zurück und gibst mir Bescheid. Wenn er nicht da ist, dann kommst du ebenfalls sofort zurück; tu ja nichts Unüberlegtes!« Sedrik deutete auf die Keule auf dem Rücken des Soldaten. »Benutz sie, wenn du kannst; sie ist schwerer zu parieren als ein Schwert, und Übermänner sind stark. Du kannst ihn damit besser beschäftigen als mit deinem Schwert, selbst wenn du ihn nicht tö ten kannst. Hast du alles gut begriffen?« Nalba nickte schweigend, dann schob er sich vorsichtig an sei nen Kameraden vorbei und schlich langsam vorwärts durch den Raum, im Gehen seine schwere Keule aus ihrem Gurt lösend, da mit er sie in der Hand hatte, wenn er den Türbogen erreichte. Er spähte hindurch und sah die flackernde Lampe auf dem Fuß boden. Alsdann erblickte er die spitz zulaufende Säule, und für einen Moment glaubte er, es sei der Übermann, der sich gerade zum Sprung duckte. Erschrocken wich er zurück; doch als der erwartete Angriff ausblieb, schob er sich wieder vorwärts.
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Dieses Mal sah er die Säule deutlicher und entschied, dass sie keine unmittelbare Bedrohung darstellte. Langsam, Zoll um Zoll, schob er sich in den Raum. Garth stand hinter der Tür und wartete. Nalba blieb kurz vor Rinne stehen, die um die Säule herumlief, und spähte suchend in die Dunkelheit. Er sah nichts — keinen Übermann und keine weitere Tür. Ein kalter Schauer rieselte ihm trotz der feuchten Wärme des Raumes über den Rücken, als ihm der Gedanke kam, dass sich der Übermann, den sie verfolgten, vielleicht mittels Hexerei aus dem Raum entfernt hatte. Sein erster Gedanke war, zurückzurennen und dem Marschall zu melden, dass der Übermann sich in Luft aufgelöst hatte. Aber er riß sich zusammen und versuchte nachzudenken. Es war unbestreitbar, dass — so weit er es sehen konnte — der Raum leer war, bis auf den Staub, die Schatten und die wegge worfene Lampe; aber er konnte nicht den ganzen Raum überbli cken. Sedrik würde von ihm enttäuscht sein, wenn er jetzt um kehrte und sich später herausstellte, dass der Übermann sich hin ter irgendeiner verborgenen Tür in der Wandtäfelung versteckt hielt. Außerdem erkannte er keine unmittelbare Gefahr. Die Keule ausgestreckt vor sich haltend, begann er die Wand abzuschreiten; nach jeweils zwei, drei Schritten blieb er stehen und klopfte vorsichtig mit der Waffe gegen die Wand und spähte umher. Schließlich erreichte er den stockfinsteren Bereich hinter der breiten Tür und hielt inne; jede verborgene Öffnung, die sich in diesem Bereich befand, würde zurück in das lange Zimmer füh ren, aber der Vollständigkeit halber beschloss er, auch diesen Teil der Wand zu überprüfen. Irgend etwas machte ihn nervös; er glaubte, etwas glänzen zu sehen oder etwas atmen zu hören, vielleicht auch beides. Er konnte in dieser totalen Dunkelheit we -242-
der seinen Augen trauen noch seinem Gehör, solange ihm das dumpfe Pochen in den Ohren dröhnte, noch seinen Gedanken in der faulig riechenden, warmen Luft, die in dem Raum herrschte. Wenn der Übermann hinter dieser Tür stünde, sagte sich Nalba, dann wäre er längst hervorgesprungen und hätte ihm die Gurgel aufgeschlitzt. Er stocherte mit seiner Keule in das schwarze Nichts hinter der Tür. Stahl blitzte matt auf, und die Spitze einer Schwertklinge presste sich zwischen sein Kinn und das Kehlstück seines Helmes. »Ein Laut, Mensch, und ich trenne dir den Kopf ab«, flüsterte Garth. Nalba erstarrte, kämpfte einen plötzlichen Schluckreiz nieder und biss sich auf die Zähne, um nicht laut zu schreien. »Leg die Keule nieder, langsam und ruhig!« befahl der Über mann. Nalba versuchte zu gehorchen; er ließ den Kopf der Keule sin ken, vermochte aber nicht, sie rechtzeitig abzufangen, bevor sie den Boden berührte. Mit einem dumpfen, deutlich hörbaren Ge räusch schlug die Metallkugel auf den Steinboden, und der völlig verängstigte Soldat stellte zu seinem Entsetzen fest, dass er nicht weiter hinunterlangen konnte, um den Griff auf den Boden zu legen. Wenn er ihn losließ, würde es Lärm machen; wenn er sich bückte, würde er sich unweigerlich die Kehle aufschneiden. Garth erkannte die Situation und sagte: »Lass sie fallen!« Es war jetzt ohnehin einerlei; das Geräusch, mit dem der Kopf der Keule auf den Boden gekracht war, war unüberhörbar gewesen. Erleichtert ließ Nalba die Keule fallen; sie rollte noch ein Stück über die steinernen Fliesen und blieb dann liegen. Als das geschehen war, starrten die beiden sich gegenseitig an. Garth sah eine dunkle Gestalt in der grünen Uniform und dem -243-
Bronzehelm der Garde von Ur-Dormulk, während Nalba nichts weiter sah als einen hünenhaften Schatten, der ihm ein Schwert gegen die Gurgel presste. Ein paar Zoll der Klinge fingen einen verirrten Lichtschimmer der heruntergefallenen Lampe auf, und der Soldat meinte etwas Rotleuchtendes an der Stelle zu sehen, wo die Augen der Gestalt hätten sein müssen. Vom oberen Ende der Treppe aus hatte Sedrik Nalbas Aktionen verfolgt, so gut er konnte. Er hatte gesehen, wie der Soldat mit sei nem Rundgang begonnen hatte, nach rechts zur Seite verschwun den war, dann wieder für einen kurzen Moment sein Sichtfeld ge kreuzt hatte, als er an dem Teil der Wand vorbeigekommen war, der der Tür gegenüberlag, und alsdann zur anderen Seite hin ver schwunden war. Nalba schien sich viel Zeit für die Durchsuchung der anderen Seite des Raumes zu lassen, dachte Sedrik; dann hörte er das pol ternde Geräusch, mit dem die Keule auf den Steinboden schlug. Irgend etwas stimmte nicht. Sedrik wusste nicht, was, aber eine Möglichkeit drängte sich regelrecht auf: der Übermann hatte sich dort versteckt gehalten und Nalba überrascht und ihm die Kehle so rasch durchgeschnitten, dass der Gardist keine Chance mehr gehabt hatte, um Hilfe zu rufen. Aber das Ungeheuer hatte es nicht mehr geschafft, Nalbas Keule noch rechtzeitig aufzufangen, und das, dachte Sedrik grimmig, sollte sein Verderben sein. Sedrik wusste, dass noch andere Erklärungen möglich waren, aber er war sicher, dass es sich so und nicht anders abgespielt hatte. Er befahl seinen Männern: »Die Waffen zur Hand!« Schwerter glitten aus Scheiden, Schilde wurden gehoben, die Riemen von Keulen wurden um Handgelenke geschlungen, Arm brüste wurden gespannt und geladen – alles so leise wie bei einer Gruppe von zwölf Mann eben möglich. Sedrik schnallte seine Streitaxt ab, wog sie prüfend in der Linken, dann zückte er mit der -244-
Rechten das Schwert. Das dumpfe Pulsieren übertönte einiges von den Geräuschen, die sie trotz aller Vorsicht machten. Trotzdem hörte Garth noch etwas anderes als das Pochen. Er hatte vorgehabt, seinen Gefangenen in aller Muße auszufragen, mit langen Pausen zwischen den einzelnen Fragen, um die Nervo sität des Mannes zu steigern, aber plötzlich wurde ihm bewusst, dass ihm dafür vielleicht gar keine Zeit mehr blieb. »Bist du allein?« fragte er. Nalba stand wie versteinert da und starrte, unfähig zu nicken, zugleich aber auch scheuend, wahrheitsgemäß den Kopf zu schütteln, aus Angst, das hünenhafte Monstrum zu erzürnen. In dem langen Raum flüsterte Sedrik: »Etwas hat Nalba erwi scht; es muss ihn irgendwie überrascht haben. Ich weiß nicht, ob es der Übermann ist, wahrscheinlich aber ist er es. Ich will nicht, dass er uns auch überrascht. Wenn wir alle zugleich dort hinein stürmen, können wir vielleicht ihn überraschen; dann können wir sehen, wo er ist und ihn in fairem Kampf töten. Verstanden?« Die meisten nickten; er übersah die, die es nicht taten. Er wusste, sie würden ihm trotzdem folgen und sich wacker schlagen. »Wir wollen ihn überrumpeln, also kein Gebrüll, bis wir durch die Tür hindurch sind; danach könnt ihr euch meinetwegen die Lunge aus dem Hals schreien, wenn ihr wollt. Wir stürmen hinein und töten ihn, bevor er überhaupt weiß, was geschieht. Klar?« Diesmal nickten fast alle. »Gut. Ich zähle jetzt bis drei, und dann rennen wir los. Eins ...« Garth verstärkte den Druck auf seine Klinge ein wenig, so dass Nalba gezwungen war, den Kopf weiter in den Nacken zu legen. »Du bist also nicht allein. Wie viele seid ihr?« Nalba trat einen Schritt zurück, aber die glänzende Klinge ließ nicht locker. Er -245-
hatte den Kopf jetzt so weit zurückgelegt, dass das Nackenstück seines Helmes sich schmerzhaft in seinen Nacken bohrte. »Wie viele?« insistierte Garth. »Fünf? Zehn?« Nalba schaffte es, den Kopf zu schütteln. Sedrik trat einen Schritt vor, so dass der Rest seiner Leute von der Treppe in den Raum kommen konnte. Dann drehte er sich halb zur Tür, hob das Schwert und sagte: »Zwei.« »Zwanzig?« fragte Garth, und seine Stimme hob sich zu einem leisen Knurren. »Drei!« sagte Sedrik und stürmte vorwärts. Nalba versuchte gerade, noch einen Schritt zurückzuweichen, den Kopf jetzt so weit nach hinten gepresst, dass er den Boden nicht mehr sehen konnte, als einer der langgezogenen dumpfen Schläge endete. In der Stille, die darauf folgte, konnten beide das Klirren von Metall und das Getrappel schwerer Stiefel hören, das sich rasch näherte. In der Hoffnung, dass der Übermann – wenn die hünenhafte Gestalt, die das Schwert gegen seinen Hals presste, tatsächlich ein Übermann war – für einen Moment, aufgeschreckt durch den Lärm, nicht achtgeben würde, griff Nalba nach seinem Schwert und versuchte, zur Seite zu entwischen. Aber Garth war nicht so sehr abgelenkt, dass er seinen Gefangenen vergessen hatte; er sah, wie die Hand zum Gürtel fuhr, auch wenn er nicht klar sehen konnte, dass die Waffe dort hing. Er wusste, dass der Mann als Geisel wertvoll sein konnte, aber er konnte auch gefährlich werden, da Garth keine Zeit hatte, ihn zu fesseln. Der Übermann konnte es sich nicht leisten, seine Aufmerksamkeit zu teilen. Mit einem Gefühl des Bedauerns drückte er zu. Die Klinge schnitt durch die Gurgel des Mannes, durchtrennte die Wirbelsäule und stieß gegen das Nackenstück des Bronzehelmes.
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Der Soldat starb lautlos; Garth befreite sein Schwert und wich in seine dunkle Ecke zurück, die Leiche zu Boden sinken lassend. Der Helm löste sich bei dem Aufprall und kollerte scheppernd über den harten Steinboden. Fast im selben Augenblick ergoß sich ein Strom von Männern mit gezückten Schwertern in den Raum; der erste stolperte über die Lampe; sie schlingerte über den Boden und prallte gegen die Wand. So verdutzt über die große Zahl von Gegnern, wie er war, rea gierte der Übermann dennoch blitzschnell: er wartete nicht, bis sie alle hereingekommen waren und ihn umzingelten, sondern stemmte sich mit dem Rücken gegen die Wand und trat mit aller Kraft gegen die Tür. Sie protestierte mit einem lauten Quietschen gegen diese unsanf te Behandlung, krachte aber mit zufriedenstellender Wucht gegen zwei der Menschenwesen; einer flog der Länge nach zur Seite weg, ins Innere des Raums, der andere wurde zurückgeschmettert und spießte sich am Schwert eines nachdrängenden Kameraden auf. Ein zweiter Tritt ließ die Tür ins Schloss fallen, und Garth stemmte sich sofort dagegen, wohl wissend, dass ein kräftiger Axthieb von der anderen Seite ihn verletzen oder gar töten konn te. Die Leiche Nalbas nicht mitgerechnet, befanden sich jetzt vielleicht sechs oder sieben Mann mit ihm in dem Raum; die Dun kelheit erschwerte ein genaueres Zählen. Einer hielt eine glimmende Fackel. Alle waren bewaffnet. Der, den er mit der Tür getroffen hatte, lag noch immer benommen am Boden; seine Arm brust hatte er fallengelassen, aber seine Hand umklammerte immer noch den Griff seines Schwertes.
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Drei trugen Schwerter und Schilde, einer Keule und Schwert, ein anderer — der mit der Fackel — trug in der anderen Hand eine Keule und am Gürtel ein Schwert, und der letzte — es waren ins gesamt sieben, wie Garth jetzt feststellte — näherte sich ihm mit erhobener Axt. Für Feinheiten blieb Garth keine Zeit; er hob sein Schwert und sprang vor und stieß mit dem Schwert nach dem angreifenden Axtträger. Die Klinge bohrte sich durch die Brust des Mannes und trat auf seinem Rücken wieder heraus. Sedrik hatte die Reichweite des Übermannes unterschätzt, und seine übermenschliche Schnelligkeit lernte er erst kennen, als es bereits zu spät war. Er fühlte, wie sich ihm das Schwert durch die Brust bohrte, und wusste, dass er einen tödlichen Irrtum begangen hatte. Er spürte, wie ihm das Blut aus der Lunge in die Kehle sprudelte, und riss in einer letzten verzweifelten Kraftan strengung die Axt hoch und schwang sie wider den verhassten Übermann. Der rechte Arm, der das Schwert hielt, erschlaffte, und die Waffe fiel mit lautem Klirren zu Boden. Die Axt sauste, getragen vom eigenen Schwung, schräg über Garths Schwertarm und streifte ihn, ohne jedoch großen Schaden anzurichten; dann sackte Sedrik zu Boden und hauchte sein Leben aus. Garth zog sein Schwert aus dem Leib des toten Marschalls und sah sich sogleich zwei weiteren Angreifern gegenüber. Der Mann zur Rechten schwang die Keule, der zur Linken attackierte ihn mit Schwert und Schild. Garth tauchte noch links weg, gerade noch rechtzeitig, um dem Keulenhieb zu entgehen: der stachelbewehrte eiserne Kopf der Waffe krachte gegen die Tür; Splitter stoben, aber die Stachel blieben nicht, wie Garth gehofft hatte, in der hölzernen Füllung stecken.
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Das Ganze ging so schnell vonstatten, dass der Schwertarm, of fenbar überrascht, den Übermann plötzlich so dicht vor sich zu haben, zudem durch den Schild in seiner Bewegungsfreiheit ein geschränkt, die Gelegenheit zum raschen Zustoßen ungenützt verstreichen ließ. Ehe er überhaupt reagieren konnte, war Garth schon um ihn herum. Verblüfft von der Gewandtheit des Über mannes und offenbar dem menschlichen Trugschluss aufgesessen, dass Größe zwangsläufig mit Unbeholfenheit gepaart sein muss, starrte er immer noch auf die Stelle, wo Garth eben noch gestanden hatte, als dieser ihm auch schon die Axt, die er in der Linken hielt, entriss und zum Schlag ausholte. Der Soldat zuckte zurück, und der Hieb verfehlte seinen rechten Arm, schlug ihm aber das Schwert aus der Hand. Die Axt schwang durch und biss mit einem lauten blechernen Dröhnen in den Rand des Schildes. Garth nutzte die Gelegenheit, zog mit der Axt den Schild herun ter und stieß sein Schwert in das Gesicht des Mannes. In dem Moment, als er die Klippe wieder herausriss, sauste die Keule des anderen herab; der Übermann konnte den Hieb im letz ten Moment mit dem Schwert abblocken. Die Parade war zwar erfolgreich, aber Garth konnte sehen, dass sein Schwert – Galts Schwert, nicht seines, fiel ihm ein – arg ramponiert war. Er spürte, wie das Metall sich bedenklich bog, als er die Keule zurückstieß. Er zog seine Axt aus der Schlaufe auf sei nem Rücken, gleichzeitig mit dem linken Knie den Schild beiseite stoßend. Die beiden anderen Schildträger rückten von links gegen ihn vor, wie er aus dem Augenwinkel sehen konnte; als er sich umwandte, zischte ihm ein Armbrustbolzen haarscharf am Gesicht vorbei und prallte hinter ihm gegen die Wand. Der gefallene Armbrustschütze hatte seine Waffe wieder aufgehoben.
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Die Armbrust war im Moment Garths geringste Sorge; der Schütze würde sie erst wieder laden müssen, bevor er sie erneut auf ihn abfeuern konnte, und das Laden einer Armbrust war ein kompliziertes, zeitraubendes Unterfangen, besonders wenn man dabei am Boden lag. Man musste dazu die Waffe aufrecht auf den Boden stellen, mit den Knien festhalten und mit den Füßen das Kreuzstück gegen Wegrutschen sichern. Von außen trommelte jemand gegen die Tür und schrie; auch das überhörte Garth. Drei Männer lagen am Boden, tot oder so gut wie tot, aber noch waren fünf da, die versuchten, ihn zu töten. Ein kleiner Teil seines Geistes, der sich nicht auf den Kampf kon zentrierte, fragte sich, wer diese Männer waren und warum sie ihm gefolgt waren und versuchten, ihn zu töten. Alle trugen die Uniform der Stadtgarde; das beunruhigte ihn. Wenn überhaupt, dann hätte er mit Tempelwächtern oder Priestern gerechnet, aber dieser Trupp schien in offizieller Mission gekommen. Er hoffte nur, dass sie nicht vom Oberherrn gesandt worden waren. Er hatte kein Verlangen danach, sich den Herrn von Ur-Dormulk zum Feind zu machen. Vielleicht, dachte er, war alles nur ein Missverständnis. Die zwei überlebenden Schildträger bewegten sich langsam auf ihn zu, offenbar voll auf den Schutz ihrer schweren Schilde ver trauend, und Garth befand, dass sie einer Kostprobe seiner Kraft bedurften, eine Demonstration, die ihre Sicherheit erschütterte und damit die Bedrohung minderte, die sie darstellte. Er wich nach links aus, weg von der Keule und ihrem Träger. Die Schild träger folgten seiner Bewegung und ließen ihre Schwerter hin und her pendeln, nach einer Lücke suchend; der Mann mit der Keule taumelte vorwärts, vom Schwung seines ins Leere gehenden Keu lenhiebs mitgerissen, und stolperte zurück, um sein Gleichgewicht wiederzuerlangen.
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Das gab Garth Gelegenheit, sich auf die beiden Schildträger zu konzentrieren. Während er sich den einen mit dem Schwert vom Leibe hielt, ließ er seine Axt mit einem weit ausholenden, mit voller Kraft geführten Rückhandstreich auf den anderen nieder sausen. Er musste den Streich schräg ansetzen, um nicht die nied rige Decke zu treffen. Die schwere Waffe traf das Schwert des Mannes mit der Wucht eines Schmiedehammers. Die Klinge zerbrach, als wäre sie aus Glas. Die Spitze flog irgendwo in die Ecke, der Griff entglitt den von dem fürchterlichen Schlag betäubten Fingern das Gardisten. Als hätte das Schwert überhaupt kein Hindernis dargestellt, saus te die Axt weiter und fuhr in den stählernen Schild, als wäre er morsches Holz. Wäre er nicht mit Riemen am Arm des Soldaten befestigt gewesen, hätte ihm die Wucht des Aufpralls auch diese Waffe aus der Hand geschlagen. Entsetzt wich der Mann zurück und riss seinen Schild von der Axt los, womit er Garth die Mühe ersparte, seine festsitzende Waffe selbst aus dem Holz zerren zu müssen. Damit war die rech te Flanke des anderen Schildträgers entblößt. Garth schwang die Axt seitwärts, hinter den Schild. Sie schrammte über Kettengewe be und glitt ab, ohne Schaden angerichtet zu haben. Aber der Gardist war verunsichert. Er hob den Arm, um die Axt abzuwehren, und Garth stieß, sich seine überlegene Reichweite zunutze machend, sein Schwert in die linke Armbeuge des Mannes. Hinter ihm öffnete sich die Tür wieder, und er stieß sie mit einem Fußtritt zu. Damit brachte er sich für einen Moment selbst aus dem Gleichgewicht, so dass er den vorübergehenden Vorteil, den er sich geschaffen hatte, ungenutzt verstreichen lassen musste. Jetzt stürzte sich der Keulenträger wieder auf ihn; Garth wirbelte herum, parierte die Keule mit seiner Axt, blockte das Schwert mit
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seinem Schwert ab und stieß beide mit der schieren Kraft seiner Arme zurück. Als er die Arme des Soldaten so weit nach oben ge bogen hatte, dass der Mann entweder zurückweichen oder nach hinten stürzen musste, riss Garth mit einem Ruck die Axt herunter und drehte sie dabei. Mit einem leisen Schmerzschrei ließ der Gardist die Keule fallen. Während er dies tat, bot jedoch seine ungeschützte linke Flanke den beiden Schildträgern ein willkommenes Angriffsziel; der eine, der noch immer sein Schwert hielt, raffte seinen Mut zusammen und sprang vor. Garth duckte sich, und die Klinge schrammte ihm über den Rücken und ritzte ihn ein bisschen an, drang aber nicht tief ein. Er ließ den linken Arm zurückschwingen und erwischte den Angreifer an der rechten Schulter. Der Mann wich zurück, aus Angst, sein Schwert oder sogar seinen Arm zu verlieren. Das gab Garth Gelegenheit, sich den Keulenschwinger vorzunehmen; mit einer blitzschnellen Finte ließ er dessen Schwertstoß ins Leere gehen und trieb sein eigenes Schwert in die Schulter des Mannes. Der Soldat stöhnte laut auf, als Garth seine Klinge herauszog und Blut hervorquoll; er taumelte zurück und ließ die ihm verbliebene Waffe fallen. Garth steigerte sich mehr und mehr in einen Zustand rasender Wut; als er den jetzt waffenlosen Keulenträger zurücktaumeln sah, verschwendete er keinen Gedanken an Finesse, sondern wirbelte herum, um sich die beiden Schildträger vorzunehmen, die inzwi schen um den anderen Keulenträger verstärkt waren. »Dumm köpfe!« schrie er sie an, zum ersten Mal sein Schweigen brechend. »Unmenschliche Bestie!« schrie irgend jemand zurück. Der Armbrustschütze lag immer noch am Boden, offenbar unfä hig, in den Kampf einzugreifen. Der verwundete Keulen schwinger stand auf den Beinen, war aber waffenlos und schien -252-
sich ebenfalls mit der Rolle des Zuschauers zu begnügen. Der Axt mann, der erste Schildträger und der Späher lagen tot am Boden. Somit hatte er es noch mit drei Kontrahenten zu tun, von denen einer zweifach verwundet war. Das bedeutete, dass er nicht länger auf der Hut zu sein brauchte; es gab niemanden mehr, der sich von hinten an ihn heranschlei chen konnte. Mit einem wütenden, unartikulierten Schrei holte er zu einem gewaltigen Axthieb auf den Schädel eines der beiden Schildträger aus. Der Mann versuchte den Hieb mit seinem ramponierten Schild abzublocken, und sein Arm krachte gegen Garths heruntersausenden Arm. Der Unterarm des Soldaten brach unter der Wucht des Zusammenpralls; Garths Arm wurden eben falls schmerzhaft geprellt, aber die Axt setzte unbeirrt ihren Weg fort und spaltete dem Mann den Schädel. Der Schildträger sackte zu Boden, und Garth stand zwei entsetzt starrenden Kontrahenten gegenüber. Sie hatten jeden Mut verlo ren; sie wichen zurück, nur noch bemüht, ihre Haut zu retten. Der waffenlose Keulenschwinger versuchte, die Tür zu öffnen und zu fliehen. Der Armbrustschütze hatte es endlich geschafft, wieder auf die Beine zu kommen, aber auch er war nur noch daran inter essiert, aus dem Raum zu kommen. Garth setzte den beiden nach. Sie wichen weiter zurück. Dabei stolperte einer über die Rinne, die um die Säule herumlief, und ließ die Fackel fallen. Sie landete mit der brennenden Spitze in der dunklen Flüssigkeit und erlosch mit einem Zischen. Das einzige, was jetzt noch Licht spendete, war das schwache Glimmen der Öl lampe, die noch immer vor der Wand lag. Als Garth einen weiteren Schritt nach vorn machen wollte, blieb sein linker Fuß an irgend etwas hängen; etwas hielt ihn am Fußge lenk fest. Er schaute nach unten.
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Sedrik war noch nicht tot; er hatte sich auf einen Ellenbogen ge stützt, die Axt mit der Hand umklammert haltend, während er mit der anderen Hand Garths Bein festhielt. Blut rann aus seinem geschlossenen Mund. Er versuchte verzweifelt, sich hochzu stemmen; seine Bewegungen waren schwach und unkoordiniert. Garth starrte ihn eine Sekunde lang verblüfft an und entschied, dass er, todwund, wie er war, keine Gefahr darstellte. Er versuch te, seinen Fuß mit einem kräftigen Ruck aus dem Griff des sterbenden Marschalls zu befreien. Aber Sedrik ließ sich nicht abschütteln. Erneut drehte Garth sich zu ihm um und starrte ihn an. Der Keulenträger, dem die Fackel entglitten war, sah seine Chance; er sprang mit einem Satz vor und machte einen wütenden waagrechten Rundschlag. Die stachelbewehrte Kugel krachte gegen Garths Schwert, und die ohnehin schon arg ramponierte Klinge zerbrach. Garth brüllte vor Wut auf und wirbelte herum. Dieses Schwert gehörte nicht ihm! Galt würde sehr ungehalten sein. Er schwang seine Axt und sah, wie sie tief in die Brust des Soldaten fuhr. Es gelang ihm nicht, sie zu befreien. Er versuchte, einen Schritt nach vorn zu machen, um sich besser abstemmen zu können, aber Sedrik klammerte sich noch immer an seinem Bein fest. Außer sich vor Wut, ließ er seine Axt fahren und den sterbenden Solda ten mit der Waffe in der Brust zu Boden sinken; dann warf er den Schwertstumpf beiseite, langte mit beiden Händen hinunter und riss Sedriks Hand von seinem Fußgelenk. Der Mund des Marschalls öffnete sich, und Blut sprudelte her aus. »Ungeheuer«, versuchte er zu sagen; das Wort kam als ein gurgelndes Krächzen heraus. Er versuchte erneut, aufzustehen und seine Axt zu heben.
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Garth sah, dass der Mann im Sterben lag, zu schwach, als dass von ihm noch eine Bedrohung hätte ausgehen können; wütend packte er ihn und schleuderte ihn in die Richtung, in die die über lebenden des Kampfes zurückgewichen waren. Im selben Moment flog die Tür auf, und Licht flutete herein, so dass Garth genau verfolgen konnte, was nun passierte. Sedriks Körper krachte gegen die Säule; dabei flog sein Arm hoch, und die Axt fuhr in die gelblichweiße Substanz, aus der das Ding bestand. Die Schneide drang durch das Röhrchen, aus dem die schwarze Flüssigkeit quoll. Drei große Tropfen spritzten über den stählernen Kopf der Waffe, und das dumpfe Pochen ver stummte. Für ein paar Sekunden geschah nichts weiter; die Kämpfenden, Menschen wie Übermann, die sich in der inneren Kammer oder dem langgestreckten Raum befanden, standen allesamt starr vor Schreck da. »Götter!« ächzte einer. Ein tiefes Grollen ertönte, und das Pochen setzte wieder ein — aber es war nicht mehr das quälende langsame, gedehnte Pochen wie vorher. Dieses neue Geräusch war höher, wenngleich noch immer dröhnend tief; und es war lauter, viel lauter und auch erheblich schneller: ein Schlag dauerte jetzt kaum länger als ein paar Sekunden. Einer der Soldaten in dem langen Raum drehte sich um und rannte davon; Garth hörte, wie andere unschlüssig mit den Füßen scharrten und von einem Bein aufs andere traten. Ein neues Geräusch mischte sich jetzt unter den Lärm, ein lautes Rumpeln; Garth fühlte, wie der Boden unter den Füßen erzitterte. Irgendwo brach etwas mit einem scharfen Krachen auseinander. Der verwundete Keulenträger, den Garth entwaffnet hatte, schrie auf und rannte davon, und andere folgten ihm. -255-
Wieder ertönte das Rumpeln, und gleichzeitig wurde das Po chen immer lauter und schneller, wie als erwachte die Kreatur, die diesen mächtigen Herzschlag besaß, aus dem Schlaf. Der Boden bewegte sich und schien sich dann um mehrere Zoll unter Garths Füßen zu senken; er sah, dass die Säule im Boden versank. Als sie nur noch etwa einen Fuß herausragte, sank sie nicht wei ter, und das Gerumpel endete für einen Moment; das Pochen ging indes mit unverminderter Heftigkeit weiter. Garth hatte das Ge fühl, dass irgend etwas passieren würde. Die verbliebenen Soldaten, die noch in der Lage waren zu flie hen, taten dies jetzt, aber Garth beschloss zu bleiben, wo er war. Er war hierhergekommen, um nach einem magischen Objekt von großer Macht zu suchen, und es war möglich, dass das Beben der Erde und das mächtige Rumpeln und Pochen in irgendeinem Zu sammenhang mit diesem magischen Objekt standen. Zu seinen Füßen lagen drei Leichen; direkt vor ihm lag Sedrik, der noch immer schwach zuckte und ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte. Noch immer hielt er die Axt umklammert. Plötzlich setzte das Rumpeln wieder ein. Mit einem ungeheuren Krachen schoss die Säule empor und zerriss den Fußboden in tausend Stücke. Garth taumelte gegen die Wand. Dann begann die Wand selbst sich zu biegen und zu wölben, bis sie schließlich nachgab, und Garth fiel in schwarze Leere. Um sich herum hörte er das Bersten von Gestein und das peitschende Krachen von aus einanderbrechendem Fels. Heiße stinkende Luft fauchte ihm ins Gesicht. Während er in die Dunkelheit stürzte, erhaschte er einen letzten Blick von einem riesigen Monstrum, das sich vor ihm auf türmte, und dessen abstoßende Fratze gut zwanzig Fuß breit war. Seine tellerrunden goldenen Augen leuchteten aus tief eingesun kenen schwarzen Höhlen, und zwischen ihnen ragte eine riesige hornartige Nase hervor, aus deren abgebrochener Spitze eine
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dunkle Flüssigkeit tropfte. Garth erkannte das Horn wieder; sein oberes Ende war die geheimnisvolle Säule gewesen. Das also war das Ungeheuer, dessen Herzpochen er gefolgt war! Es war erwacht und entfesselt! Ein Steinbrocken krachte gegen seinen Hinterkopf, und dann schwanden ihm die Sinne.
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Kapitel 15 Als Garth erwachte, spürte er die Sonne warm auf dem Gesicht. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Er lag auf dem Rücken auf einem kleinen Geröllhaufen, ein spitzer Stein bohrte sich in seinen rechten Oberschenkel, sein Kopf hing über den Rand von irgend etwas, und seine Körperhaltung war alles andere als bequem. Er hob mit einiger Mühe den Kopf, wobei er die Augen gegen das grelle Sonnenlicht zusammenkniff, und zog das Bein von dem spitzen Stein weg. Er schaffte es mit einiger Anstrengung, sich in eine sitzende Position hochzustemmen. Dann öffnete er vorsichtig die Augen und schaute sich um. Er saß auf einem Stück herausgebrochenen Straßenpflasters – es konnte auch ein Stück von einer umgestürzten Mauer sein, das auf einem Schutthaufen von drei oder vier Fuß Höhe lag. Der Haufen war einer von zahlreichen anderen unterschiedlicher Größe, die verstreut auf einem breiten steinernen Fußboden lagen. Der größ te Teil des Schuttes bestand ebenfalls aus Stein, aber er sah auch Metallstücke, Ziegel, Holzsplitter, Bruchstücke von Möbeln, die zerfetzten Überreste diverser Wandbehänge, Vorhänge – und mindestens einen menschlichen Körper – von einem der Soldaten, gegen die er gekämpft hatte, halb verschüttet unter einem Haufen Schutt. Die Schutthaufen lagen allesamt in einem riesigen Raum verstreut, aber die meisten Wände dieses Raums verloren sich im Schatten, und er vermochte keine Anhaltspunkte zu entdecken, wie dieser Raum beschaffen sein mochte oder wo er sich befand. Nur ein kleiner Ausschnitt der gegenüberliegenden Wand lag im vollen Sonnenlicht, ein kleines Stück, in dessen Mitte sich eine bo genförmig überwölbte Tür befand. Ein gelbes Symbol leuchtete hell auf der schwarzen Tür; es kam Garth irgendwie bekannt vor,
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aber er konnte sich im Moment nicht erinnern, wo es ihm schon einmal begegnet war. Das ungleichmäßige Licht und der Staub, der in dichten Schwa den in der Luft hing, machten es schwierig, die Größe des Raumes zu beurteilen, aber Garth schätzte die Entfernung bis zur gegen überliegenden Wand auf gut fünfzig Fuß. Er drehte sich um, um zu sehen, was sich hinter ihm befand, und stellte fest, dass er nur wenige Fuß von der Wand entfernt lag. Er sah weder Fenster noch Türen und fragte sich, wo das Sonnenlicht herkam. Er blickte nach oben. Der Raum war ungeheuer hoch; es mochten gut hundert Fuß sein. Schlanke Säulen schwangen sich von den Wänden zu einer kunstvollen Kuppelkonstruktion empor, deren Details sich im Schatten und in der luftigen Höhe verloren. Ein großer Teil der Kuppelwölbung war zerstört; fast die Hälfte des Daches war ein gestürzt, und wie Garth jetzt bemerkte, war auch ein großer Teil der Wand hinter ihm verschwunden. Dies war ihm bis jetzt nicht aufgefallen, weil die Wand bis in eine Höhe von zwölf oder fün zehn Fuß unversehrt war, erst darüber war sie eingestürzt. Das erklärte, wo der ganze Schutt herstammte. Dem Einfallswinkel des Sonnenlichts nach zu urteilen, das durch das Loch im Dach hereinflutete, war es etwa um die Mitte des Tages – welchen Tages, vermochte Garth nicht zu sagen. Über all schwebte Staub; die winzigen Partikel glitzerten und leuchte ten in den Strahlen der Sonne. Bestimmt hätte sich dieser Staub schon gelegt, sagte sich Garth, wenn mehr als ein Tag seit dem Einsturz der Kuppel und der Wand verstrichen wäre. Der Übermann überdachte seine Situation. Er hatte keine klare Vorstellung, wo er war; er konnte noch nicht einmal sicher sein, ob er sich noch in Ur-Dormulk befand, aber die Anwesenheit des toten Soldaten legte den Schluss nahe, dass er noch immer an der -259-
Stelle lag, wo er hingestürzt war, als das riesige gehörnte Unge heuer aus der Tiefe durchgebrochen war. Die Vermutung drängte sich auf, dass das riesige Loch in der Kuppel und in der Wand von dem Ungeheuer stammte. Von ihm selbst gab es jedoch keine Spur, bis auf einen schwachen, unangenehmen Geruch; das Ge räusch seines Herzklopfens war verstummt. Es herrschte vollkom mene Stille. Garth hatte das Gefühl, sein eigenes Atmen hören zu können, das Klopfen seines Herzens, ja, sogar das Rieseln des Staubes. Auch die Luft war fast völlig ruhig; kein Wind blies durch die zerbrochenen Säulen der Kuppel. Aber das musste nicht unbedingt heißen, dass er vor dem Unge heuer sicher war; es konnte direkt hinter den Wänden auf der Lauer liegen. Überhaupt: Dort draußen konnte alles mögliche sein. Woher sollte er wissen, ob das Monstrum das einzige seiner Art gewesen war? Und von etwaigen Monstren einmal ganz abgesehen: er konnte mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass, sollte er dort draußen Menschenwesen begegnen, diese ihm bestimmt feindlich gesinnt sein würden. Schließlich war er aus ihm noch unbekann ten Gründen angegriffen worden, und gewiss würden die, die den Kampf überlebt hatten, ihn dafür verantwortlich machen, dass das Ungeheuer aufgewacht war — obwohl Garth sicher war, dass erst der Axthieb gegen das Horn des Ungeheuers dies bewirkt hatte. Allerdings konnte er sich auch nicht von jeglicher Verant wortung freisprechen. Er hatte herumgeschnüffelt, wo er nicht willkommen war, und vielleicht hatte er an etwas gerührt, das man besser in Ruhe gelassen hätte. Er hatte nicht gewusst, was er tat, wie er zugeben musste. Er war offenbar einmal mehr der indi rekte Auslöser von Zerstörung gewesen; es schien, als sei er dazu verdammt, seit er zum ersten Mal das Schwert des Bheleu berührt hatte.
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Aber das war jetzt nicht seine vorrangige Sorge. Er hatte keine Lust, den ganzen Tag auf seinem Schutthaufen sitzenzubleiben. Die Sonne war angenehm warm; das weckte seine Lebensgeister. Er war steif und wund und hatte diverse kleinere Schrammen am ganzen Leib, aber er war ausgeschlafen und hatte vor allem Durst. Es war Zeit, aufzustehen und sich umzusehen. Er reckte und streckte sich, wobei er hoffte, dass dabei nicht einige der Schnitt wunden aufplatzten, die er sich bei dem Kampf und dem Fall zugezogen hatte, und kletterte von dem Schutthaufen herunter. Dann inspizierte er sich eingehend von Kopf bis Fuß; sein Kettenpanzer war an einigen Stellen verbeult und verbogen, und ein paar Glieder waren zerbrochen. Das schwarze Metall wies mehrere braune Flecken auf, aber Garth glaubte nicht, dass sie von seinem eigenen Blut stammten. Auch seine Hosen waren blutbefleckt, aber unversehrt, wenn auch nicht mehr in einem solchen Zustand, dass sie für neu durch gegangen wären. Ein Hosenbein war aus dem Stiefelschaft ge rutscht; er bückte sich und stopfte es wieder hinein. Die Stiefel selbst schienen noch in Ordnung zu sein, aber bei einem verlief ein dünner Riss quer über den Spann; Garth bezweifelte, dass er noch wasserdicht war. Sein Schwert, seine Axt und seinen Helm hatte er verloren, aber sein Gürtel war noch da, und der Dolch steckte noch in der Scheide; so war er wenigstens nicht ganz waffenlos. Er erinnerte sich, dass das Schwert – Galts Schwert – zerbrochen war. Das war bedauerlich. Von seinem Mantel waren nur ein paar Fetzen übriggeblieben; er streifte ihn ab und warf ihn fort. Sein Umhang war verschwunden. Er ließ erneut seinen Blick umherschweifen, aber er sah nichts als Trümmer, Schutt, Staub und Sonnenlicht. -261-
Es gab nirgends eine Spur von Leben, nichts, das als eine Bedro hung hätte angesehen werden können. Er beschloss, eine einge hende Bestandsaufnahme zu machen. Als erstes legte er behutsam seinen Kettenpanzer ab. Das Wams, das er darunter trug, war schmutzig, vollgesogen mit Schweiß und Blut und an mehreren Stellen durchlöchert, ob wohl Gart sich nicht erinnern konnte, gefühlt zu haben, dass ir gend etwas sich hindurchgebohrt hatte. Er schnürte es auf und streifte es vorsichtig ab. Es klebte an mehreren Stellen an seiner Haut und seinem Fell fest, und er musste mehrmals vor Schmerz die Zähne zusammen beißen, ehe er sich ganz von ihm befreit hatte. Er schaute an seinem Oberkörper herunter, hier und da an sei nem schütteren Fell zupfend, wo es sich mit getrocknetem Blut verfilzt hatte. Er entdeckte ein halbes Dutzend Schrammen und Kratzer. Sie waren bereits dabei zu verheilen, wenngleich er mindestens einen beim Ausziehen seines Wamses wieder auf gerissen hatte. Die Prellungen waren zahlreicher; besonders ein Arm tat höllisch weh. Er hatte nichts, womit er seine Wunden reinigen konnte, außer seinen eigenen Speichel; er befeuchtete einen der Fetzen von sei nem Mantel mit dem Mund und tupfte damit die Wunden ab. Er hatte Heilsalben in einem Beutel an seinem Gürtel bei sich gehabt, aber der Beutel war verschwunden. Nur der Dolch steckte noch an seinem Gürtel; der Beutel und seine Börse waren nicht mehr da. Wahrscheinlich hatte irgendein verirrter Schwerthieb die Tragrie men durchgeschnitten; er konnte von Glück reden, dass dabei nicht Schlimmeres passiert war. Obwohl ihm die Sonne beim Aufwachen fast heiß vorgekom men war, wurde ihm jetzt, da nur sein Fell seine Brust und seinen Rücken schützte, allmählich kalt; widerwillig streifte er sich das -262-
steife fleckige Wams wieder über und legte den zerbeulten Ketten panzer an. Alsdann überlegte er seinen nächsten Schritt. Es gab mehrere Dinge, die er erledigen wollte. Er wollte das Buch der Stille finden, den Aghad-Kult zerstören und sehen, was aus dem Ungeheuer geworden war, ob es wütete und tobte oder ob es sich einfach irgendwo hingelegt hatte, um seinen Schlummer fortzusetzen, aus dem es so jäh herausgerissen worden war. Er fühlte sich verantwortlich dafür und hoffte, dass es nicht allzu großen Schaden angerichtet hatte. Er hatte schon genug Unheil und Zerstörung angerichtet, ohne die Hilfe irgendwelcher Mons tren. Überdies war ihm sehr daran gelegen, herauszubringen, weshalb man ihn angegriffen hatte und ob der Oberherr ihm die Gardisten auf den Hals gehetzt hatte. Wenn das der Fall war, dann würde er Vergeltung üben. Er war in friedlicher Mission nach Ur-Dormulk gekommen (in relativ friedlicher jedenfalls, denn die Absicht, sich an den Aghaditen zu rächen, entsprach nicht ganz den landläufigen Vorstellungen von einer friedlichen Mission); der ganze Ärger hatte erst damit angefangen, dass man ihn grundlos und ohne Warnung angegriffen hatte. Und falls das Ungeheuer draußen wütete, würde er wohl auch da irgend etwas unternehmen müssen — wenngleich er sich da vor hüten würde, ein solches Ungetüm ohne Hilfe, vorzugsweise solche magischer Natur, zu attackieren. Aber all das konnte warten, denn seine erste Sorge galt — wie immer — dem Überleben. Er wusste nicht, wo er war; er war hier gestrandet ohne Nahrung und Wasser und ohne anständige Waffen. Das Wichtigste war jetzt erst einmal Wasser. Er hatte den Dolch, und Feinde waren keine in Sicht, also war die Beschaffung von Waffen kein so dringendes Problem, und wenn der Hunger uner -263-
träglich werden sollte, war da ja noch immer die Leiche des Gardisten. Er hoffte allerdings, dass es nicht so weit kommen würde. Er hatte noch nie Menschenfleisch gegessen und verspürte auch nicht den geringsten Wunsch, es zu tun; kein Übermann hatte das, soweit er wusste, jemals getan, auch wenn einige der ge hässigeren Legenden der Menschenwesen solches behaupteten. Die Vorstellung, etwas zu essen, das einmal ein fühlendes, den kendes, ihm trotz aller Unterschiede nahestehendes Wesen ge wesen war, stieß ihn irgendwie ab. Aber wenn er vor die Wahl ge stellt war, entweder das oder Verhungern, dann würde er sich ge wiss nicht für das Verhungern entscheiden. Aber jetzt galt es erst einmal, Wasser zu finden. Wenn er immer noch da war, wo er zu sein glaubte, nämlich in Ur-Dormulk, dann durfte es keine besondere Schwierigkeit sein, an Wasser zu kommen. Schließlich gab es da ja den See. In dem riesigen Raum, in dem er sich befand, konnte er freilich keine Spur von Wasser entdecken. Er musste also einen Weg nach draußen finden. Er blickte zu der eingestürzten Wand und dem riesigen Loch in der Kuppel hinauf. Er konnte, wenn ihm nichts anderes übrig blieb, hoch genug springen, um sich zum unteren Rand des Lo ches hochzuziehen – aber er war sich gar nicht sicher, ob er das wollte. Er wusste nicht, ob ihm das viel weiterhelfen würde. Außerdem – wenn dort draußen wirklich Feinde oder Ungeheuer lauerten, dann würden sie, hatte er das Gefühl, wahrscheinlich ge nau dort auf ihn warten. Die Tür auf der anderen Seite des Raumes sah da schon vielver sprechender aus. Er hatte keine Ahnung, wohin sie führte, aber sie versprach zumindest einen größeren Schutz als der riesige halbof fene Raum. Sie war ein Zeichen von Zivilisation, und wo Zivilisa tion war, da war auch Wasser. -264-
Plötzlich fiel ihm ein, dass er sich weit unterhalb der Ebene der Stadt befinden musste – vorausgesetzt, er war dort aufgewacht, wo er gefallen war. Er hatte sich zum Zeitpunkt seines Falls tief in den Krypten unter und hinter dem Tempel befunden, und er war sicher, dass ihn sein Fall noch tiefer hinuntergetragen hatte. Diese Tür musste folglich zu den Krypten gehören, nicht zur Stadt. Er fragte sich auch, ob er sich unter dem Spiegel des Sees befand; er war eine beträchtliche Distanz nach unten gestiegen, aber der See selbst hatte auch weit unter dem Niveau der Stadt ge legen. Wenn er sich unterhalb des Wasserspiegels befand, dann war es klüger, wenn er sich nach oben orientierte; das Monstrum konnte die Wände durchaus so stark beschädigt haben, dass sich das Wasser jederzeit einen Weg in die Ruinen bahnen konnte, und wenn das geschah, saß er in einer tödlichen Falle. Noch während Garth über diese Möglichkeit nachsann, verwarf er sie auch schon wieder, ohne genau zu wissen warum. Der Wunsch zu erkunden, was sich hinter der Tür befand, war stärker. Er fühlte sich von ihr angezogen, von etwas, das stärker war als simple Neugier. Außerdem, sagte er sich, wenn der Raum wirklich überflutet werden sollte, konnte er immer noch durch die Bresche in der Wand hinausschwimmen – und wenigstens würde er dann nicht verdursten. Vorsichtig begann er sich einen Weg durch die Schutthaufen zu bahnen, vor jedem Schritt sorgfältig prüfend, ob der zerborstene Fußboden seinem Gewicht standhielt; der Gedanke, dass das Monstrum möglicherweise die gesamte Statik der Krypten beein trächtigt hatte, ließ plötzlich erhebliche Skepsis bezüglich der Stabilität des Bodens in ihm wach werden. Er ließ den Blick zur Kuppel und an den Wänden entlang schweifen, um so viel wie möglich über den Ort zu erfahren, an dem er sich befand.
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Die Halle war in etwa quadratisch, mit einer Seitenlänge von un gefähr sechzig Fuß. Die Wände begannen sich in einer Höhe von ungefähr hundert Fuß nach innen zu neigen, und der höchste Punkt der zentralen Kuppel lag noch einmal gut zwanzig Fuß dar über. Die zerborstene Wand schien mit einem Schlag nach außen weggedrückt worden zu sein — zweifellos von dem gehörnten Monstrum. Garth bedauerte das; es war ein weiterer Akt der Zer störung, der auf seine Rechnung ging. Die Architektur war ziemlich ungewöhnlich: oberhalb seiner Augenhöhe gab es keinerlei Ornamentierung außer der Kuppel konstruktion — wenn man diese als Ornamentierung betrachten konnte. Sie war nicht übertrieben kunstvoll. Es gab keine Galerien, keinerlei Anzeichen, dass hier jemals Wandbehänge oder anderer Wandschmuck gehangen hatte. Der Raum war kahl und von küh ler, funktionaler Sachlichkeit, was für einen solch riesigen Raum ziemlich eigenartig schien. Eine Halle von dieser Größe war ge wiss zu Zwecken der prunkvollen Zurschaustellung gebaut worden, dachte er, aber sie wies außer ihrer schieren Größe keinerlei Anzeichen von Gepränge auf. Als er die Mitte des Raumes durchquerte, fiel ihm auf, dass der Boden hier ein wenig wärmer zu sein schien und die Luft schlech ter. Er vermutete, dass es daran lag, dass der Leviathan an dieser Stelle geruht hatte, wahrscheinlich, seit die Stadt existierte. Als er dies dachte, wurde ihm plötzlich klar, warum der Raum so schmucklos war: wahrscheinlich war er einzig zu dem Zweck gebaut worden, die riesige Kreatur zu beherbergen; er war der Kä fig gewesen, in dem das Ungeheuer eingesperrt gewesen war. Nur so ließen sich auch seine gewaltigen Ausmaße erklären. Diese Erkenntnis erzeugte in Garth plötzliches Gefühl von Un behagen. Was, wenn die Kreatur, nachdem sie so lange hier ge haust hatte, diesen Raum als ihr Heim betrachtete? Wie würde sie
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sich gegenüber einem lästigen Ungeziefer – wie zum Beispiel einem Übermann – verhalten, das sie bei ihrer Rückkehr in ihrem Heim entdeckte? Wahrscheinlich, dachte Garth, würde sie ihn zu Mus zerstampfen. Er tastete instinktiv nach seinen Waffen. Sein Schwert und seine Axt waren fort; das einzige, was er hatte, war der Dolch an seinem Gürtel. Aber sich darüber den Kopf zu zerbrechen, war ohnehin müßig: ob mit oder ohne Axt oder Schwert, gegen das Monstrum stünde er so oder so auf verlorenem Posten; es würde wahrscheinlich nicht einmal merken, wenn er ihm das Schwert in den gigan tischen Leib rammte. Menschenwesen konnte er mit dem Dolch bekämpfen, wenn es nicht gar so viele auf einmal waren, aber gegen das Monstrum war er selbst mit den besten gewöhnlichen Waffen chancenlos. Er betrachtete die durchbrochene Wand und fragte sich, was die Kreatur in Ur-Dormulk angerichtet haben mochte und was wohl aus den Bewohnern der Stadt geworden war. Was immer auch geschehen war, es gab nichts, was er daran hät te ändern können. Er trat vor und studierte die Tür. Sie war nicht groß; er würde sich ducken müssen, wenn er hin durchging. Sie bestand aus einem matten schwarzen Material; es war kein Ebenholz, das konnte er sehen, aber es schien Holz zu sein. Das gelbe Symbol, bestehend aus nur einem einzigen Zei chen, das in das Holz hineingeätzt war, glänzte metallisch. Es war kein Gold, dessen war er sich sicher, denn der Farbton war kräf tiger, heller als der von Gold. Es war ein Metall, das er nicht kann te, und auch das Symbol war ihm fremd – und doch irgendwie vertraut. Er hatte das merkwürdige Gefühl, es irgendwo schon einmal gesehen zu haben, und zwar in irgendeinem un angenehmen Zusammenhang. Als er merkte, dass er es fasziniert anstarrte, wandte er sofort den Blick von ihm ab.
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Plötzlich sah er seine Hand auf der Klinke liegen, obgleich er sich nicht erinnern konnte, sie dort hingelegt zu haben. Es war eine sehr seltsame Klinke; sie war aus einem Metall, das wie Silber glänzte, wies aber nicht die geringste Patina auf, obwohl es gewiss Jahrhunderte her war, seit sie zum letzten Mal von der Hand eines Sterblichen berührt worden war. Sie war weder ein simpler Hebel zum Hochziehen noch ein Bolzen, den es herauszuziehen galt, sondern ein Griff, den Garth packte und herunterdrückte, ohne bewusst den Mechanismus studiert zu haben. Er fühlte, wie der Schnäpper zurückglitt, und drückte gegen die Tür; erst verspätet wurde ihm bewusst, dass er jede Vorsicht vermissen ließ. Die Tür ließ sich widerstandslos aufdrücken, ohne das geringste Knarren oder Quietschen. Sie schwang so leicht und lautlos auf, als wären ihre Scharniere eben erst geölt worden. Spät, aber noch rechtzeitig, wurde Garth bewusst, wie unvor sichtig sein Verhalten war, und er hielt auf der Schwelle inne. Ir gend etwas hatte ihn unwiderstehlich dort hingezogen, etwas, das über seine normale Neugier hinausging. Er mochte es nicht, mani puliert zu werden; er versuchte, dem Impuls, einfach hineinzuge hen, zu widerstehen. Vielleicht, flüsterte ein Teil seines Geistes, war dieser zwang hafte Drang eines der Zeichen, von denen der König gesprochen hatte; vielleicht war es die Macht des Buches der Stille, das nur darauf wartete, endlich aus seinem langen Schlummer befreit zu werden, die ihn zu seinem Versteck zog. Was zögerte er also, diesem Drang zu folgen? Schließlich war er hier, um das Buch zu holen. Die Logik dieses Gedankens ließ seine Bedenken schwinden, und er trat vorsichtig, aber entschlossen, in das dunkle Innere des Raumes, der sich hinter der Tür befand. Es war ein kleiner Raum -268-
von etwa zwölf Fuß Breite und zwanzig Fuß Länge; dicke, dunkle Teppiche, die von einer dicken Staubschicht überzogen waren, be deckten den Fußboden; die Wandbehänge waren irgendwann so morsch geworden, dass sie unter ihrem eigenen Gewicht zerfallen waren; nur noch ein paar verblichene Fetzen baumelten von den Stangen, an denen sie einst gehangen hatten. Am hinteren Ende des Raumes hing ein schwarzes steinernes Oval an der Wand, in welches das gleiche goldenschimmernde Zeichen eingeätzt war wie in die Tür. Darunter stand ein kleiner Altar aus fein geschmie detem Gold; zu beiden Seiten des Altars standen große Kandelaber, in denen heruntergebrannte, staub- und spinnwebbe deckte Kerzenstummel steckten. Der Raum war fensterlos; das einzige Licht war das, welches durch die Tür hereinfiel. Garths Schatten bedeckte fast den ganzen Fußboden, und der Altar war in Dunkelheit gehüllt; trotzdem konnte der Übermann etwas matt auf der Oberseite des Altars schimmern sehen. Bemüht, wenigstens einen Schein von Vorsicht zu wahren, und zugleich wie magisch angezogen, ging Garth langsam auf den Altar zu, nach jedem Schritt innehaltend und seine eigenen Wün sche und seinen eigenen Willen gegen die Kraft, die ihn anzog, abwägend — und sich gestattend nachzugeben. Als er den Raum etwa zur Hälfte durchquert hatte, erkannte er, was das Ding auf dem Altar war. Es war eine Maske, von der Grö ße her zum Gesicht eines Menschenwesens passend. Er versuchte zu erkennen, was sie darstellen sollte, aber mit jedem Schritt veränderte sich ihr Aussehen. Zuerst glaubte er, es sei einfach ein menschliches Gesicht mit einem besonders feindseligen Ausdruck; dann schien sie plötzlich ein seltsames bitteres Lächeln zu zeigen; Sekunden später war es nicht mehr das Gesicht eines lebendigen Menschen, sondern das weiße starre Gesicht eines Toten. Ein Schritt weiter, und sie wies plötzlich Spuren fortgeschrittener Verwesung auf: aufgequollen und grimassenhaft verzerrt, mit auf -269-
geplatzten, verfärbten Fleischresten, die in Fetzen um die Mund und Augenpartie hingen; dann verwandelte sie sich in das Gesicht einer Mumie, mit pergamentner runzliger Haut, die sich straff über die Wangenknochen spannte. Schließlich, als er über den Altar gebeugt stand und voll auf die Maske herunterblickte, war sie ein nackter weißer Totenschädel, so geformt, dass sie über das Gesicht eines lebenden Menschen wesens passte. Was immer dieses Ding war, Garth mochte es nicht — und dennoch sah er seine Hand unwillkürlich nach ihm greifen. Er fuhr zurück, und einen Moment lang war ihm, als wäre es über haupt keine Maske, sondern das Gesicht des Vergessenen Königs, mit seinen im Schatten verborgenen Augen, dem schütteren, vom Kinn herunterhängenden Bart und der runzligen welken Haut. Dann war es wieder ein Totenschädel. Eine seltsame Verschwommenheit schien sich über seinen Geist zu legen, nicht unähnlich den Empfindungen, die er manchmal gespürt hatte, wenn er das Schwert des Bheleu in der Hand gehal ten hatte, und er vermutete, dass dieses Ding ähnliche Macht aus strahlte wie das unselige Schwert — wahrscheinlich war dies die Bleiche Maske, das Totem des Todesgottes. Die Abneigung, die diese Erkenntnis eigentlich in ihm hätte her vorrufen müssen, trat nicht ein, und es bedurfte einer verzweifelten Willensanstrengung, die Hand zurückzuziehen und das garstige Ding nicht aufzuheben. Er war nicht der Erwählte des Gottes-Dessen-Namen-ManNicht-Ausspricht; wieso wurde er dann trotzdem von der Maske angezogen? Er fragte sich, ob er sie überhaupt ungestraft berühren konnte; das Schwert des Bheleu ließ sich zum Beispiel nicht von gewöhnlichen Sterblichen anfassen: er selbst war Zeuge gewesen,
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wie Galt sich bei dem Versuch, das Schwert in die Hand zu nehmen, fürchterlich die Hände verbrannt hatte. Vielleicht, dachte er, wusste der Todesgott, dass er nach Skelleth zurückkehren und die Maske dem Vergessenen König übergeben würde. Vielleicht war es aber auch ihm in seiner Eigenschaft als Erwählter des Bheleu gestattet, die Maske zu berühren — denn auch das Buch der Stille konnte er ja, wie ihm der Vergessene König versichert hatte, ungestraft berühren. Oder aber der Todesgott war hungrig und wollte, dass er die Maske berührte und starb. Der Übermann war sicher, dass die leiseste Berührung der Maske tödlich sein konnte, wenn es der Todesgott wollte. Eine plötzliche Aufwallung von Abscheu ergriff ihn; er trat nach dem Altar, um ihn zu zerschmettern und die widerwärtige Maske in den Staub fallen zu sehen. Der Altar wankte, wippte nach hinten, nach vorn und kippte dann seitlich um. Die Maske rutschte herunter und kollerte in den Staub, ganz so, wie er es gewollt hatte, aber er nahm es kaum wahr: er starrte gebannt auf die Stelle, an der der Altar gestanden hatte. Der Fußboden unter dem Altar war aus nackten, sorgfältig an einandergefügten Steinblöcken, und ein Block direkt unter der Mitte des Altars fehlte. In der Lücke, die er hinterließ, lag ein Buch. Der seltsame Drang, von dem Garth sich eben noch gepackt ge fühlt hatte, war nichts im Vergleich zu der ungeheuren Anzie hungskraft, die das Buch auf ihn ausübte: er stürzte sich geradezu darauf und zog es aus seinem Versteck, ohne den geringsten eigenen Willen. Kaum hatten seine Finger es berührt, da spürte er ein elektrisches Prickeln in den Armen, und der ganze Raum schi en schlagartig von einem unheimlichen farbigen Licht erfüllt. Die -271-
Maske war ihm völlig gleichgültig geworden; er hatte sie vollkom men vergessen, als er das Buch der Stille aufhob. Es war wunderbar leicht in seinen Händen, leichter noch als ein Strohhalm. Der Einband war aus einer Art Leder, das auf den ersten Blick schwarz schien, aber sobald er es bewegte, in anderen Farben schimmerte, wie Öl in einer Wasserpfütze. Garth starrte es an, ließ die Hände über den Einband gleiten, und erst als plötzlich Sonnenlicht auf den Einband fiel und ihn in tausend Farben er schillern ließ, wurde ihm bewusst, dass er die Kapelle verlassen hatte. Er zwang sich zum Stehenbleiben. Er hatte Wasser gesucht, nicht das Buch der Stille, und er hatte dieses Ding fast gegen sei nen Willen gefunden. Es hatte ganz den Anschein, als seien die Kammer, die Maske und das Buch die königliche Kapelle, die Blei che Maske und das Buch der Stille — aber konnte er sicher sein, dass sie das wirklich waren? Eine mystische Kraft hatte ihn an diesen Ort gezogen, aber er hatte keine Gewissheit, dass sie das war, was der König mit seinen Zeichen und Hinweisen gemeint hatte. Das Buch, das er in der Hand hielt, besaß zweifelsohne große magische Kraft, sagte sich Garth; aber konnte er wirklich ganz sicher sein, dass es das Buch der Stille war? Er nahm es in eine Hand und schickte sich an, es mit der anderen aufzuschlagen. Eine plötzliche böse Vorahnung erfüllte ihn, und seine Hand zuckte zurück. Er hielt erneut inne. Dieses Ding spielte mit ihm, manipulierte seine Gefühle, machte ihn das tun, was es wollte, nicht, was er wollte. Eine Welle von Zorn brandete in ihm hoch; er streckte die Hand aus und schlug das Buch auf. Als er den Deckel hob, schienen die Zeichen auf der Seite darun ter sich zu winden, und er spürte einen kalten Windhauch, der di rekt aus dem Buch zu kommen schien. -272-
Die Symbole waren genauso fest und unbeweglich wie jede ge wöhnliche Schrift, wenn er sie direkt anschaute; die Zeichen lagen still auf der Seite und bildeten saubere Blöcke, die Wörter waren und Reihen, die Sätze waren. Die Zeichen waren ihm jedoch voll kommen fremd; sie hatten nicht die geringste Ähnlichkeit mit ir gendeiner ihm bekannten Schrift, und er konnte nicht einen einzigen Buchstaben erkennen, geschweige denn ein Wort. Ihren Formen eignete irgendwie etwas Kaltes, Unheilvolles, etwas, das ihn schaudern machte. Er wusste nicht, wie lange er dastand und auf die unverständli chen Runen starrte, mit ihren subtilen Andeutungen von dunkler Macht und schlimmen Wahrheiten; schließlich jedoch riss er sich von ihnen los. Dies gelang ihm nur unter größter Anstrengung; ihm war, als bestünde ein physisches Band zwischen seinen Augen und der Seite, eine ungeheure Kraft, die seinen Blick auf die Symbole zwang. Als es ihm schließlich gelang, sich von ihnen loszureißen, wurde ihm plötzlich bewusst, dass er ging, nicht stand, wie er ge glaubt hatte. Er hatte sich von der Tür fortbewegt und war quer durch die riesige Halle gelaufen, auf eine der dunklen Ecken zu; ein Schreck durchfuhr ihn, als er sah, dass die Sonne ein ganzes Stück weiter nach Westen gewandert war. Ihre Strahlen fielen nicht mehr auf die schwarze Tür; der Lichtfleck war zu einer Ecke — der nordöstlichen, vermutete er — des Raumes weiterge wandert und erhellte jetzt ein Tiefrelief, das vom Alter so verwittert war, dass sein Motiv nicht mehr erkennbar war. Garth war beim Gehen offenbar, ohne es zu merken, der Sonne gefolgt; er stand noch immer im vollen Licht. Erschreckt klappte er das Buch zu. Als er sicher war, dass es fest geschlossen war (zur Vorsicht nahm er es wieder in beide Hände), sah er sich um. Bis auf das
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Licht hatte sich in dem großen Raum nichts verändert. Die Schutt haufen lagen noch immer da wie vorher, und die Bresche in der Wand hatte noch dieselbe Form, wie er sie in Erinnerung hatte. Die Tür zur Kapelle war wieder geschlossen, obwohl er sich nicht entsinnen konnte, sie geschlossen zu haben. Er zweifelte jetzt nicht mehr daran, dass die Kammer hinter ihm die königliche Kapelle des Vergessenen Königs war und das Buch, das er in den Händen hielt, das Buch der Stille war. Die Umstände waren zu eindeutig, als dass es etwas anderes hätte sein können. Ihm fiel ein, dass der König etwas von einem Wächter erwähnt hatte, den er vor die Ka pelle postiert habe; dieser Wächter konnte niemand anderes ge wesen sein als das Ungeheuer, das er und die Gardisten auf geweckt hatten. Diese riesige Halle war um die Kreatur herumge baut worden, um sie an ihrem Posten festzuhalten. Er fragte sich einen Moment lang, wieso das Ungeheuer ausge brochen war, aber dann entsann er sich, dass seine Arbeit getan war und dass es müßig war, weiter herumzuspekulieren; der alte Mann hatte ihn geschickt, das Buch zu holen, und die Kreatur aus ihrer Pflicht entlassen. Der Vergessene König hatte den Lauf der Ereignisse irgendwie vorausgeplant, dessen war Garth sich ganz sicher. Zeichen und Hinweise – in der Tat! Sein Blick fiel auf das Relief in der Nordostecke des Raumes; als er in die Kapelle gegangen war, hatte es noch im Schatten gelegen, seinem Blick entzogen. Er hatte geglaubt, dass alle Wände glatt und kahl seien – wie es bei den meisten ja auch der Fall war. Er studierte die Oberfläche, vermochte aber beim besten Willen nicht zu erraten, was die Szene darstellen sollte; er erkannte zwei Figuren, eine groß und aufrecht stehend, die andere klein und ge bückt; sie standen vor einem einstmals detaillierten Hintergrund, von dem jetzt nur noch ein Gewirr von verwaschenen, unterbro chenen Linien zu sehen war. Die Kanten waren so verwittert, dass
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Garth nicht einmal sagen konnte, ob die Figuren Menschenwesen darstellen sollten, ganz zu schweigen von ihrem Alter oder Ge schlecht. Er vermutete, dass das Relief noch viel älter war als der Rest des Raumes, so verwittert und zerbröckelt, wie es war. An einer Stelle jedoch gab es ein Detail, das sich klar und deut lich heraushob: es war ein Kreis, der tief in den Stein gemeißelt war, und nach dem eine der Figuren die Hand ausstreckte. Neugierig streckte auch Garth die Hand nach dem Kreis aus und stellte fest, dass der Stein im Innern des Kreises beweglich war; er gab auf Druck nach. Verblüfft zog er die Hand zurück, aber nach kurzem Überlegen kam er zu der Überzeugung, dass das Relief eine uralte geheime Tür sein musste und dass die steinerne Scheibe der Drücker war, mit dem der Öffnungsmechanismus betätigt wurde. Er hatte keine Ahnung, welchen Sinn eine solche Tür haben mochte, aber seine Neugier war geweckt, und er beschloss, es auf einen Versuch an kommen zu lassen. Er war nicht besonders wild darauf, in den Trümmern hinter der eingestürzten Wand herumzukraxeln, und er hatte in der Kapelle keine Hintertür gesehen; diese Geheimtür schien in der Tat der einzige andere Ausweg aus der Behausung des Ungeheuers zu sein. Er fragte sich, ob das Buch der Stille oder die Macht, die es lenkte, oder vielleicht der Vergessene König ihn wohl mit Absicht hierhergeführt hatte. Er vermutete, dass die Erbauer der Halle sie mit Absicht so angelegt hatten, dass das Licht der Nachmittags sonne auf diese Tür fallen würde, wenn das Monstrum ausbre chen sollte; er konnte nur vage Mutmaßungen darüber anstellen, welche Fähigkeiten die einstigen Erbauer bezüglich Vorausschau, Planen und Maschinenbau besessen hatten. Es konnte sehr gut sein, dass sie all das, was ihm seit dem Erwachen des Monstrums widerfahren war, vorausgesehen hatten.
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Jedenfalls war er entschlossen, sich diese seine Entdeckung zu nutze zu machen; er streckte die Hand aus und drückte auf den steinernen Knopf. Ein leises Klicken ertönte, und der ganze Wandteil schwang un ter dem Druck seiner Hand auf. Neugierig spähte er in den da hinterliegenden Tunnel.
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Kapitel 16 Weniger simple Vorsicht als vielmehr die Tatsache, dass er Licht brauchte, war verantwortlich für Garths Entschluss, erst einmal in den Raum zurückzugehen und die Schutthaufen nach allem abzu suchen, was irgendwie brauchbar war. Der Gang, den er entdeckt hatte, war nicht mit Lampen oder Fackeln ausgestattet; er war ge zwungen, den Schutt nach etwas Geeignetem zu durchwühlen. Ihm fiel die zerbeulte Öllampe ein, die er in dem runden Zimmer fallen gelassen hatte; vielleicht lag sie noch irgendwo in der Nähe. Folglich begann er seine Suche in der näheren Umgebung des to ten Soldaten, da er davon ausging, dass der Mann nicht sehr weit von der Lampe entfernt gewesen sein konnte, als der Fußboden eingebrochen war, und dass die beiden nicht allzu weit vonein ander getrennt liegen konnten. Erst nach mehrminütiger erfolg loser Suche kam er auf die Idee, die Leiche selbst zu untersuchen. Im Gürtel des toten Gardisten fand er Stahl und Feuerstein und ein Fläschchen mit einer öligen Flüssigkeit. Garth war nicht ganz sicher, um was für eine Substanz es sich handelte, aber nachdem er ein Holzstäbchen hineingetaucht und dieses mit ein paar Fetzen aus seinem Mantel umwickelt hatte, die er zuvor ebenfalls mit der Flüssigkeit getränkt hatte, besaß er eine passable Fackel. Bevor er sich in den Tunnel wagte, nahm er dem Soldaten noch dessen einzige verbliebene Waffe ab, ein Schwert, das für seine Verhältnisse lächerlich kurz, aber immer noch besser als sein Dolch war. Des weiteren sammelte er Stofffetzen, Holzstücke und andere Dinge ein, die sich vielleicht als ganz nützlich erweisen konnten, und wickelte sie in einen Fetzen aus einem Wandbehang, welchen er fest verknotete und sich über die Schulter warf. Das Buch der Stille klemmte er sich unter einen Arm.
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Dergestalt gerüstet, marschierte er in den Tunnel, seine proviso rische Fackel hoch vor sich her tragend. Der Tunnel verlief nicht gerade; er schlängelte sich kurvenreich dahin, schien aber im großen und ganzen einer Hauptrichtung zu folgen – nach Westen oder Südwesten, schätzte Garth. Zu beiden Seiten tauchten in gewissen unregelmäßigen Abständen Türen auf, und gelegentlich zweigten auch Seitengänge ab, aber Garth ignorierte die einen wie die anderen. Er war nicht versessen dar auf, sich in den Krypten zu verirren, und die einfachste Methode, dies zu vermeiden, war der Entschluss, dem Hauptgang zu folgen. Außerdem vermutete er, dass der Fluchtweg aus der Behausung des Monstrums eigens für jemanden wie ihn angelegt worden war, jemanden also, von dem man nicht erwarten konnte, dass er sich in dem Labyrinth der Krypten auskannte. Von einer solchen Person konnte man nicht erwarten, dass sie an jeder Abzweigung oder an jeder Tür die richtige Entscheidung traf, es sei denn, diese Entscheidungen drängten sich geradezu auf – und das hieß, fand Garth, geradeaus weitergehen. Ob seine Theorien richtig waren, oder ob es Zufall war, jeden falls kam er schließlich an eine Treppe, die nach oben führte – just in dem Moment, als seine improvisierte Fackel, die er immer wieder neu befeuchtet und umwickelt hatte, bis ihm sowohl das Öl als auch die Stofffetzen ausgegangen waren, heruntergebrannt war. Er registrierte ihr Auftauchen mit großer Erleichterung; er hatte sich bereits mit dem Gedanken getragen, seinen Wandbe hangfetzen in Streifen zu reißen, und er war nicht sicher, ob diese auch ohne Öl gut genug brennen würden, ganz abgesehen davon, dass er dann ohne sein Bündel dagestanden hätte. Mit frischem Mut machte er sich an den Aufstieg. Er hatte vergessen, wie tief er hinabgestiegen war; seine Fackel flackerte und erlosch, noch bevor er das Ende der Treppe sichtete.
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Vorsichtig, sich ganz auf sein Gefühl verlassend, stieg er in der Dunkelheit weiter. Zum Glück war diese Treppe nicht gar so stark ausgetreten wie die anderen, die er in Ur-Dormulk gesehen hatte, und seine Füße fanden einigermaßen sicheren Halt. Schließlich stieß seine ausgestreckte Hand gegen ein Hindernis; er blieb stehen und tastete es sorgfältig ab. Seine Hand berührte eine Klinke; er zog den Griff hoch und drückte. Sie gab nicht nach. Er verspürte einen kurzen Anflug von Panik, ehe ihm einfiel, dass manche Türen sich auch zur anderen Seite öffnen lassen konnten. Also zog er an der Klinke. Die Tür schwang mit einem dumpfen Knirschen nach innen auf, und Enttäuschung machte sich in Garth breit, als er immer noch ins Dunkel starrte. Es war zwar nicht die totale, absolute Finster nis, die in dem Tunnel und auf der Treppe geherrscht hatte, die er durchquert hatte, aber es war beileibe auch nicht das Tageslicht, das er erhofft hatte. Wie auch immer, ihm blieb keine große Wahl. Er trat durch die Tür. Zu seiner Überraschung fühlte er eine kühle feuchte Brise auf der Wange, und er brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er sich tatsächlich außerhalb der Krypten und auf einer der stein gepflasterten Straßen der Stadt befand. Die Dunkelheit war die Dunkelheit der Nacht; er hatte länger gebraucht, als er gedacht hatte, um seinen Weg durch die unterirdischen Gänge zu finden. Tief hängende Wolken verdunkelten den Mond und die Sterne, aber das diffuse Licht der Stadt reichte aus, um die unmittelbare Umgebung zu erkennen. Die Straße, auf der er sich befand, war ihm unbekannt; es gab weder Laternen noch beleuchtete Fenster, anhand derer er nähere Details hätte erkennen können. Die Gegend war ruhig und an -279-
scheinend völlig menschenleer. Da er nicht wusste, welche Stunde es war, vermochte er nicht zu beurteilen, ob dieser Zustand nor mal und üblich war. Ihm kam der Gedanke, dass er vielleicht in einem der verfallenen Viertel herausgekommen war, aber soweit er sehen konnte, zeigten die Gebäude um ihn herum keinerlei Spuren von Verfall oder Verlassenheit. Die Türen waren allesamt in gutem Zustand und fest verschlossen, bis auf die eine, durch die er ge rade gekommen war und die sich in der Nähe der Ecke eines großen alten Hauses befand. Als er sie anschaute, vermutete er, dass sie sich in geschlossenem Zustand so in das verzierte Mauer werk einfügte, dass man sie für einen Teil der Mauer halten konn te. Er trat hinaus auf die Straße, aus dem Schutz der Mauer her aus, und sah sich um. Ein orangefarbenes Glühen erhellte den Himmel an bestimmten Stellen über den umliegenden Dächern; Garth vermochte nicht zu entscheiden, ob es von der normalen Beleuchtung der Stadt her rührte oder ob es etwas anderes, Unheilvolleres bedeutete. Es war jedenfalls das einzige Zeichen von Leben, das er sehen konnte; die Straße, auf der er sich befand, war dunkel und verlassen, so weit er blicken konnte — was freilich nicht sehr weit war, da sie, wie die meisten Straßen in den Städten der Menschenwesen, keinen geraden, sondern einen gewundenen Verlauf hatte. Geräusche drangen ihm ans Ohr, Geräusche, die er nicht so gleich deuten konnte; er glaubte ein fernes Krachen und Rumoren zu hören, begleitet von etwas, das nach dem Schreien von Men schen klang, unterlegt mit einem dumpfen, tiefen Rumpeln. Er lauschte konzentriert und entschied, dass das Rumpeln und Krachen hauptsächlich aus Nordwesten kam (oder das, was er für Nordwesten hielt), während die Stimmen aus verschiedenen Rich
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tungen kamen. Außerdem schien das Rumpeln näher zu kommen; jedenfalls wurde es immer lauter. Er fragte sich, was da vorgehen mochte. Hing diese unheimliche Atmosphäre von verlassenen Straßen und merkwürdigen Ge räuschen in irgendeiner Weise mit dem Ausbruch des Ungeheuers zusammen? Oder hatte es womöglich etwas mit dem Buch der Stille zu tun? Es kam ihm äußerst verdächtig vor, und obgleich er auf den ersten Blick keine Anzeichen von Zerstörung entdecken konnte, kam ihm der unbehagliche Verdacht, dass er einmal mehr der Auslöser von ausgedehnter Verheerung war. Wenn dies wirklich so war, dann hoffte er nur, dass sich unter den Opfern auch ein paar Aghaditen befanden. Nun, da er wieder an der Oberfläche war und sicher sein konn te, irgendwo Nahrung und Wasser zu finden, erwachte seine Neu gier wieder. Er unterdrückte seinen Durst, klemmte sich das Buch noch ein wenig fester unter den Arm und machte sich auf den Weg nach Norden, dorthin, woher das Rumpeln kam. Während er so dahinmarschierte, wurde ihm bewusst, dass er in der Tat großen Durst und großen Hunger hatte, aber er beschloss, erst einmal weiterzugehen. Er konnte sich jederzeit Nahrung und Wasser beschaffen, indem er in eines der Häuser einbrach, aber er war noch nicht verzweifelt und wollte die Leibesstärkung lieber auf legale Weise erstehen. Wo Geräusche waren, da war auch Leben, und er hoffte, dass er irgend jemanden fände, der ihm zu essen gäbe, wenn er erst an der Quelle des Rumpelns angelangt wäre. Die mögliche Aussicht auf Speise und Trank beflügelte seinen Schritt, so dass er einen Moment brauchte, um zum Stehen zu kommen, als er wenig später um eine Ecke bog und sich einer Szenerie wie aus einem Alptraum gegenübersah.
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Die Stadt vor ihm stand in hellen Flammen. Turmhoch über den brennenden Häusern erhob sich das Monstrum aus den Krypten; es stand aufrecht auf zwei Beinen, einen ganzen Karren angstvoll quiekender Schweine in den riesigen Klauen haltend. Die Zugrie men des Karrens baumelten an der Seite herunter. Während Garth hinschaute, stopfte sich das Ungeheuer die kreischenden Tiere in das riesige Maul und zermalmte sie mitsamt Karren; die zerbro chenen Überreste des Gefährts fielen herunter und landeten mit lautem Krachen irgendwo zwischen den Häusern. Das Horn auf der Nase der Kreatur glänzte rötlichgelb im fla ckernden Licht der Waberlohe; ein dünnes schwarzes Rinnsal tropfte in zähen Fäden an der Seite herunter. Die Augen loderten golden im Feuer der Raserei. Die Haut war runzlig und schwarz, der Körper war von einer Form, wie Garth dergleichen noch nie zuvor gesehen hatte: er war vage humanoid, dergestalt, dass die Bestie aufrecht stand und die vorderen Gliedmaßen zum Greifen benutzte, aber von gedrungener und hässlicher Gestalt, in den Proportionen eher an einen Bullen denn an einen Menschen er innernd – obgleich kein Bulle je auf Hinterbeinen gestanden hatte, die so dick waren wie ein Schlossturm, und kein Bulle hatte solche Klauen – lange flinke Finger, die in furchterregenden gebogenen Krallen endeten. Das Ungetüm war gut hundert Fuß hoch; selbst der riesige Raum, in dem es gehaust hatte, musste es fürchterlich einge zwängt haben, schätzte Garth. Das rumpelnde, grollende Ge räusch, das ihm den Weg gewiesen hatte, kam ohne Zweifel von der Kreatur, wenngleich er nicht sicher war, ob es von seinem Herzen oder seinem Bauch herrührte. Während ihm die Hinterbeine eines Schweines noch zappelnd aus dem Maul hingen, drehte sich das Ungetüm um und bückte sich nach etwas; Garth konnte wegen der Häuser, die ihm die
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Sicht versperrten, nicht sehen, was es war. Das Ungeheuer schien eine gewisse Kraft aufwenden zu müssen: es stemmte sich ein wenig nach hinten, wie ein Mensch, der eine widerspenstige Wurzel ausrupfen will. Ein Krachen, begleitet von lautem Prasseln und Knirschen, erfüllte die Luft, und einen Moment später hielt das Ungetüm das komplette Obergeschoss eines Hauses zwischen den gewaltigen Klauen. Das Mauerwerk hielt noch für einen kurzen Moment zusammen, dann zerbröckelte es und rieselte dem Ungeheuer durch die Klau en wie Sand durch die Finger eines spielenden Kindes; nur ein paar traurige Überreste bliebt zwischen seinen Fingern hängen, ein erbarmungswürdiges Sammelsurium aus Dachziegeln, Schlaf zimmervorhängen und zerbrochenen Möbelstücken. Es warf sie beiseite und bückte sich abermals. Garth hatte genug gesehen. Allein auf sich gestellt, konnte er gegen das Monstrum nicht das geringste ausrichten, soviel war si cher; es bedurfte magischer Kräfte, dieses Ungetüm zu vernichten. Denn dass es vernichtet werden musste, stand außer Zweifel. Er hatte es zwar noch niemanden töten sehen, seit es aus dem Boden hervorgebrochen war, aber es richtete unermesslichen Schaden an, und er konnte wohl kaum daran zweifeln, dass es schon eine ganze Anzahl von Menschen getötet hatte, wenn auch vielleicht unbeabsichtigt, als es sich seinen Weg durch die Stadt gebahnt hatte. Für die Kreatur war er verantwortlich; er hatte sich zu einem Ort vorgewagt, zu dem er nicht hätte gehen dürfen, und er war letztlich schuld daran, dass die Bestie aufgewacht war. Wieder einmal hatte er Zerstörung und Tod über die Menschen gebracht – wie immer, wenn er sich mit dem Vergessenen König eingelassen hatte. Er wusste, was dieses Ungetüm zu vernichten vermochte: Nichts konnte dem Schwert des Bheleu widerstehen. Das würde bestens
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passen, den Zerstörer mit dem Werkzeug des Gottes der Zerstö rung zu töten. Es würde ihn zwar nicht von der Schuld befreien, die er auf sich geladen hatte, indem er die Bestie überhaupt erst entfesselt hatte, aber er würde damit das Schwert des Bheleu end lich einmal in den Dienst einer guten Sache stellen. Und sollte das Schwert des Bheleu aus irgendeinem Grunde versagen, dann konnte der Vergessene König noch immer das Buch der Stille gegen das Monstrum ins Feld führen. Er, Garth, konnte das Buch nicht benutzen; er konnte es nicht lesen. Und das Schwert war nicht in seinem Besitz. Das Schwert und der einzige, der das Buch zu lesen vermochte, waren beide in Skelleth. Alle seine Zweifel, ob es richtig sei, das Buch gegen das Schwert einzutauschen, waren mit einem Schlag zerstoben. Zwar war ihm noch immer alles andere als wohl bei dem Gedanken, dass der König mittels des Buches vielleicht das Fünfzehnte Zeit alter einläuten würde, aber das war bloße Theorie, während die rasende Bestie ein Fakt war. Außerdem war er sicher, dass der Vergessene König für seinen letzten großen Zauber mehr als das Buch der Stille benötigte. Er musste sich unverzüglich nach Skelleth begeben. Sein Ra chefeldzug gegen die Aghaditen konnte warten; dieses Ungetüm stellte im Moment eine weit unmittelbarere Bedrohung für das Leben unschuldiger Menschen dar. Die Zeit, die er für seine Wanderung durch die Krypten aufgewendet hatte oder für seine gemächliche Untersuchung des Gefängnisses der Kreatur oder die er in der kleinen Kapelle des Königs verbracht hatte, erwies sich jetzt im nachhinein als eine fürchterliche Verschwendung; das Monstrum hatte in der Zwischenzeit wahrscheinlich schon Dutzende oder gar Hunderte von Menschen getötet. Sogar die Tatsache, dass er so lange bewusstlos dagelegen hatte, schien ihm jetzt fast unverzeihlich.
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Er fragte sich, wie er so gedankenlos gewesen sein konnte, nicht sofort seine ganze Aufmerksamkeit auf den Verbleib des Mons trums gerichtet zu haben. Selbst dann, als er schon kehrtgemacht hatte und durch eine Seitenstraße in Richtung Osten eilte, schalt er sich noch ob seiner törichten Gedankenlosigkeit. Er kannte die Stadt nicht und wusste auch nicht, an welcher Stelle von ihr er sich befand, aber er wusste, dass das Tor, an dem er Koros zurückgelassen hatte, in der Nähe des östlichsten Punktes der Stadt war; deshalb hielt er sich, wann immer möglich, in östliche Richtung. Schon nach wenigen Schritten kam er durch ein Viertel, in dem die Kreatur offensichtlich schon gehaust hatte; zahlreiche Gebäude waren plattgetrampelt, der Schutt auf dem granitenen Untergrund war regelrecht zu Puler zerstoßen worden. An manchen Stellen waren die Straßen nicht mehr von den ehe mals bebauten Flächen zu unterscheiden. Garth fand es erstaun lich, dass keines der Häuser unter dem Gewicht der Kreatur in die Krypten durchgebrochen war, die sich einem riesigen Maulwurfs bau gleich unter der gesamten Fläche der Stadt erstreckten. Er kam an mehreren Feuern aller Stadien der Ausdehnung vor bei: von ein paar schwelenden, hastig aus dem Fenster ge worfenen Vorhängen bis zu gewaltigen Feuersbrünsten, die ganze Häuserblocks erfasst hatten. Nur selten bekam er Menschen zu Gesicht, und wenn, dann nur in Form eines flüchtigen Blicks, wenn jemand hinter einem Fensterladen verschwand oder um die Ecke eines Hauses floh. Nirgends brannten die üblichen Fackeln oder Laternen, und die Häuser und Geschäfte waren dunkel. Das erleichterte ihn, erzeugte aber zugleich auch ein Gefühl des Unbehagens in ihm; der größte Teil der Bevölkerung war offenbar aus der Stadt geflüchtet, was wahrscheinlich in einer solchen Si tuation das beste war. Aber warum, fragte er sich verwirrt, mach ten die wenigen Versprengten, denen er begegnete, einen Bogen
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um ihn? Glaubten sie, dass er irgend etwas mit dem Monstrum zu tun hatte oder selbst — einfach weil er ein Übermann war — eine Bedrohung für sie darstellte? Schließlich erreichte er den steilen Anstieg, der zum Ostwall der Stadt hinaufführte, aber er merkte rasch, dass er das Tor um ein ganzes Stück verfehlt hatte. Nachdem er die umliegenden Gebäu de, die von den Flammen hell erleuchteten Straßenfluchten und besonders die Brustwehr der Stadtmauer eingehend studiert hatte, kam er zu dem Schluss, dass er nördlich seines Zieles ausgekom men war, und wandte sich nach rechts. Ein Marsch von vier Häuserblöcken weiter nach Süden, der da durch erschwert wurde, dass er sich mehrmals in dem Gewirr von Straßen und Gassen verlief, brachte ihn zu der breiten Allee und der großen Treppe. Bevor er diese in Angriff nahm, blieb er jedoch erst einmal stehen und spähte im Schutz einer Hausecke nach oben. Die Treppe war nicht menschenleer, wie es die Straßen waren. Im Gegenteil: Die gesamte Stadtgarde hatte sich auf ihr einge funden, illuminiert von Hunderten von Fackeln. Etwa die Hälfte von ihnen stand lediglich da und hielt aufmerksam Wacht, wäh rend die anderen kamen und gingen und geschäftig umherliefen. Garth konnte nicht erkennen, was sie taten; ein Teil von ihnen schien damit beschäftigt, Flüchtlinge und Versprengte einzu sammeln und die Treppe hinaufzueskortieren, aber das erklärte nicht das ganze aufgeregte Gewimmel. Es befanden sich noch immer große Scharen von Zivilisten im unmittelbaren Bereich der Treppe; der Übermann sah, wie größere Gruppen unter dem Blick einer Reihe von fackeltragenden Solda ten in ein großes Gebäude strömten und herauskamen. Was immer dort im Gange war, es erfolgte in geordneten Bahnen und unterlag einer funktionierenden Organisation; Garth -286-
sah weder Anzeichen noch Panik noch Leichen auf den Straßen liegen. Das war beruhigend. Es war wichtig, dass auf der Treppe Ordnung herrschte, weil dies die einzige Möglichkeit für ihn war, aus der Stadt herauszu kommen; er würde an dem Aufgebot von Soldaten vorbei müssen, und zwar auf friedliche Weise. An einer aufgeregten, verstörten Menge vorbeizukommen, wäre praktisch unmöglich gewesen. Sie wäre höchstwahrscheinlich allein bei seinem Anblick in Panik ge raten. Nachdem er die Situation dergestalt eingeschätzt hatte, sah er keinen Grund, noch länger zu warten. Er trat aus seiner Deckung heraus und steuerte auf das Tor zu. Wie er es erwartet hatte, bemerkten ihn sofort mehrere Leute, und ein Geschrei erhob sich. »Ein Übermann! Da ist ein Über mann!« Zu seiner Bestürzung blieb es nicht bei diesen eher harmlosen Rufen. Irgend jemand schrie: »Tötet den Übermann! Er ist auch ein Ungeheuer!« Und sofort schlossen sich andere dem Rufer an. Diejenigen, die nicht riefen, plapperten aufgeregt durcheinander, und er war sicher, dass diese Menge sich trotz des äußeren An scheins von Ruhe und Ordnung sehr leicht in einen tobenden Mob verwandeln konnte. Einige der Soldaten hatten ihn ebenfalls bemerkt, und einer, ein Offizier, kam jetzt auf ihn zu. »Heda!« rief Garth. »Wie steht‘s?« »Wer zum Teufel bist du?« erwiderte der Soldat. »Ich bin Garth von Ordunin; ich war Gast eures Oberherrn, aber ich verirrte mich und fand erst jetzt den Weg hierher zurück.« Der Mann blickte ihn skeptisch an. »Was willst du?« fragte er. »Ich will durch das Tor.« -287-
Der Soldat nickte, als hätte er nichts anderes erwartet. »Du wirst warten müssen, bis du an der Reihe bist«, beschied er Garth. Der Übermann unterdrückte den Ärger, den er sofort in sich hochsteigen spürte, und erwiderte in ruhigem Ton: »Ich glaube, es wäre klug, mich unverzüglich passieren zu lassen.« Er wollte nicht arrogant erscheinen oder irgend etwas tun, was den Soldat gegen ihn aufbrachte, aber er war auch nicht gewillt, sich in der Schlange anzustellen; jede Minute, um die sich seine Rückkehr nach Skelleth verzögerte, war eine Minute mehr, in der das Unge heuer wütete. »Du kannst genauso warten wie jeder andere auch, verdammt«, gab der Soldat zurück. Garth wollte schon protestieren, aber eine Stimme aus der Dun kelheit am oberen Ende der Treppe unterbrach ihn. »Habt ihr einen Übermann da unten?« schrie jemand. Verblüfft wandte sich der Gardist um, der Garth angehalten hatte, und starrte nach oben. Gleich darauf wurde die Frage wiederholt. »Ja, wir haben einen Übermann hier!« rief der Offizier zurück. »Ist es der, dem dieses verdammte Vieh hier draußen gehört?« Noch ehe der Offizier die Frage an ihn weitergeben konnte, sagte Garth: »Ja, das ist mein Kriegstier. Ich habe es hier zurückge lassen, weil ich es nicht mit in die Stadt nehmen durfte.« »Er sagte, er wäre der nämliche!« brüllte der Soldat nach oben. »Dann schick ihn her und sag ihm, er soll das verdammte Vieh aus dem Weg schaffen! Es weicht keinen Zoll von der Stelle und behindert die ganze Evakuierung!« Der Offizier wandte sich zu Garth um und schaute ihn mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck an. Der Übermann versuchte
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ein freundliches Lächeln aufzusetzen und verkniff sich die schnip pische Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag. »Geh dort rauf!« raunzte ihn der Soldat an und winkte ihn durch. Garth ließ sich dies nicht zweimal sagen und hastete die ausge tretene Treppe hinauf, mehrere Stufen gleichzeitig auf einmal nehmend. Oben wurde er durchgewunken, und ein anderer Offi zier deutete auf das Kriegstier, das still genau an der Stelle stand, wo Garth es zurückgelassen hatte. Das Problem war, dass die ganze Ostseite des Hanges, von der Mauer bis hinunter zur Ebene, in hellem Fackelschein erstrahlte und vollgepfropft mit Menschen war — bis auf einen großen Kreis von vielleicht zehn Fuß Durchmesser, in dessen Mitte Koros unge rührt stand. Zufällig lag dieser Kreis genau auf dem einzigen be quemen Pfad, der um den Südturm herumführte, und sein nördli cher Rand ragte in die Landstraße hinein. »Kannst du es da wegholen?« fragte ihn jemand. Garth nickte. »Dann tu es bitte.« Garth nickte noch einmal, doch ehe er sich auf den Weg machte, hielt er noch einen Moment inne und sah sich um. Er war über wältigt von der Größe der Menge; er hatte noch nie so viele Indivi duen von irgendeiner Spezies auf einem Haufen gesehen. Zwar hatte er vom Verstand her gewusst, dass Ur-Dormulk zehn, wenn nicht sogar hunderttausend Einwohner hatte, aber das hatte ihn nicht gefühlsmäßig darauf vorbereitet, eine solch ungeheure Menge auf einen Schlag zu sehen, dicht zusammengedrängt bei Nacht im Fackelschein auf einem Hügel stehend, ohne Schutz und mit nicht viel mehr als ein paar kümmerlichen Habseligkeiten auf dem Rücken.
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»Was werdet ihr mit all den vielen Leuten anfangen?« fragte er. »Wie soll ich das wissen?« fragte der Soldat achselzuckend zu rück. »Ich befolge lediglich Befehle. Wenn wir Glück haben, können wir sie vielleicht bei Tagesanbruch wieder in die Stadt lassen.« »Glaubst du?« fragte Garth verblüfft. »Wie soll das gehen? Und was ist mit dem Ungeheuer?« »Soviel ich gehört habe, versuchen die Hofmagier, es in einen der Seen zu treiben – wahrscheinlich in den Demhe, und wenn das nicht klappt, in den Hali. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Körper von solcher Größe schwimmen kann.« »Wie wollen sie das anstellen?« »Woher soll ich das wissen? Ich bin schließlich kein Zauberer. Jedenfalls haben sie es bis jetzt davon abhalten können, Jagd auf die Leute zu machen; also müssen sie es in irgendeiner Weise be einflussen können.« Garth war da weit weniger optimistisch, aber er hütete sich, das zu sagen. Statt dessen fragte er: »Diese Zauberer – meinst du da mit Chalkara von Kholis und eine gewisse Person namens Shan diph?« Des letzteren Beiname war ihm entfallen, falls er ihn über haupt je gehört hatte. »Das könnten die Namen sein, wenn ich mich nicht irre«, er widerte der Soldat. »Die beiden vom Hofe des Prinzen jedenfalls, wie auch immer sie heißen. Sie wollten selbst schon aus der Stadt flüchten, wie ich hörte, als sie den Befehl bekamen, etwas gegen das Ding zu unternehmen.« Er war offensichtlich nicht an solchen Einzelheiten interessiert. »Könntest du jetzt bitte dein Tier da weg schaffen?« »Ja, natürlich«, sagte Garth. Er erwog einen Moment, dem Mann zu sagen, dass er schon bald wieder zurückkehren werde, ausge
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stattet mit einem wirksamen Werkzeug, die Bestie ins Jenseits zu befördern, aber er entschied sich im letzten Moment dagegen. Der Bursche schien nicht viel zu sagen zu haben, und selbst wenn er doch etwas galt – was hätte es gebracht, ihm das zu sagen? Außerdem bestand ja auch die Möglichkeit, dass irgend etwas schiefging: er konnte aufgehalten werden oder irgendwelche Schwierigkeiten mit dem Schwert des Bheleu – oder mit dem Kult des Aghad – bekommen, die seine Rückkehr nach Ur-Dormulk verhinderten. Es ging nicht an, dass er Hoffnungen weckte, die sich am Ende vielleicht nicht erfüllten. Er sagte also nichts, sondern marschierte zu seinem wartenden Kriegstier. Die dichtgedrängte Menge teilte sich schwerfällig vor ihm. Er verstaute seine Habe, einschließlich des Buches der Stille, und zurrte alles sorgfältig fest. Einen Moment später saß er schon im Sattel; er rief den Leuten, die vor ihm standen, eine Warnung zu, und dann gab er Koros das Kommando, sich in Bewegung zu setzen. Diejenigen, die unmittelbar in Koros‘ Weg standen, wichen zur Seite, so schnell sie konnten, aber die Trägheit der sich hinter ih nen drängenden Masse sorgte dafür, dass Garth nur mühsam an Boden gewann, bis die Menge schließlich, etwa hundert Schritte weiter unten, an Dichte abnahm. An dieser Stelle beschleunigte Koros seinen Schritt, und als Reiter und Reittier die Gardistenkette passiert hatten, die den äußeren Rand der Flüchtlingsmenge mar kierte, gab Garth Koros den Befehl zu rennen. Das Kriegstier gehorchte sofort und jagte alsbald mit einer solch irrwitzigen Geschwindigkeit dahin, dass der Fahrtwind Garth die Tränen in die Augen trieb. Er konnte kaum mehr tun, als sich verzweifelt am Geschirr festzuklammern und gelegentlich einen raschen Blick hinter sich zu werfen, um sich zu vergewissern, dass
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das Bündel hinter dem Sattel, in dem sich das Buch der Stille befand, noch da war. So jagte er stundenlang dahin, über Stock und Stein, unterbro chen nur von einer kurzen Rast in einer Taverne am Wege, wo er sich den längst überfälligen Trunk und eine deftige Mahlzeit genehmigte. Genau diese Szene — Garth über den Hals seines Kriegstiers ge beugt mit voller Geschwindigkeit dahinfliegend — war es, die Haggat in seinem Sehglas erblickte, als er endlich Zeit fand, sich diesem seinem Steckenpferd zu widmen. Er war nicht schlecht erstaunt ob dieser unerwarteten Entwicklung der Dinge: Was trieb den Übermann zu solcher Hast? Er hatte sich nicht die Mühe ge macht, die Ereignisse in Ur-Dormulk persönlich zu verfolgen, son dern sich statt dessen auf die Berichte der zahlreichen dort tätigen Agenten des Kults verlassen; ein halbes Dutzend war dort im Ein satz, ausgerüstet mit Nachrichtenübermittlungszaubern, die man ermordeten Magiern gestohlen hatte und die für eine blitzschnelle Kommunikation sorgten – ein erheblicher Fortschritt gegenüber dem alten System der Stafetten und Brieftauben, auf das der Kult vor der Auflösung des Rates der Höchsten vertraut hatte. Aus Ur-Dormulk hatten ihn keine Nachrichten erreicht, was vieles bedeuten konnte; er hatte sich vorgenommen, dem später auf den Grund zu gehen. Im Augenblick aber war Garth in höchster Eile auf dem Rück weg nach Skelleth, und wenn der Kult seinem Ruf gerecht bleiben und dem Übermann seine Macht unmissverständlich ins Bewusst sein einbläuen wollte, dann konnte er nicht umhin, irgendeine Art von Begrüßung zu arrangieren, die der Übermann so schnell nicht vergessen würde. Die Heimkehr Garths (für Haggat war Skelleth Garths Heim: Garth hatte diesbezüglich etwas andere Ansichten) -292-
durfte nicht ohne einen Paukenschlag vonstatten gehen, an den sich der Übermann noch lange erinnern würde. Der Hohepriester hatte dies in seinen Planungen bereits berück sichtigt und sich zwei mögliche unangenehme Überraschungen ausgedacht. Die bessere von beiden war leider auch die kom pliziertere und zeitaufwendigere, und bei dem Tempo, mit dem Garth sich vorwärtsbewegte, reichte die Zeit wahrscheinlich nicht mehr, sie vorzubereiten; also musste er sich mit der anderen be gnügen. Haggat hielt jedoch noch einen Moment lang inne, bevor er das vereinbarte Zeichen gab, und studierte nachdenklich das Bild in der Kristallkugel. Das Kriegstier stellte ein Problem dar. Für die erfolgreiche Durchführung der geplanten Aktion war es unerläss lich, dass seine Leute den Anschein von absoluter Unverwund barkeit erweckten, und die Schutzzauber, mit denen er seine Gruppe ausgestattet hatte, würden gegen eine so mächtige Krea tur wie ein Kriegstier nicht ausreichen. Aber er hatte einen Zauber, der diesen Schutz bewirken würde. Er war eines seiner kostbarsten Besitztümer, erlangt mittels sorg fältigster Planung und beträchtlicher Getriebenheit von dem Zau berer, der ihn sich eingeheimst hatte in jenem mysteriösen Ge wölbe unter Ur-Dormulk, aus dem so viele der vom Kult stibitz ten Zaubermittel stammten. Es war wirklich ein Jammer, dass das Gewölbe verloren war und dass alle Versuche, es wiederzufinden, gescheitert waren; wenn zwanzig Zauberer schon soviel wertvolle Magie daraus zutage gefördert hatten, bloß indem sie sich das, was ihnen zufällig in die Hände gefallen war, in die Taschen gestopft hatten, welch unerhörte Schätze mochten dann erst noch dort liegen? Einer von Haggats Träumen war es, jenes Gewölbe zu finden und seine Schätze zu heben; ein anderer Wunschtraum von ihm
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war, das Schwert des Bheleu in seinen Besitz zu bringen und es zu benützen. Die Erfüllung von nur einem dieser beiden Träume würde ihm, dessen war er sich sicher, die Herrschaft über die ge samte zivilisierte Welt bringen. Er verstand nicht ganz, wieso er keinem dieser beiden Ziele bisher auch nur einen Zoll näher ge kommen war. Weissagungen, die gewöhnlich unfehlbar waren, erfüllten sich nicht; Spitzel verschwanden auf mysteriöse Weise auf Nimmerwiedersehen; kerngesunde Agenten starben an plötz lichem Herzversagen, als sie die Treppe zum Gasthof des Königs hinaufstiegen. Es war offensichtlich, dass irgendeine andere Macht ihn blockierte. Er war entschlossen, sich seine hochfliegenden Pläne nicht länger durchkreuzen zu lassen; wenn er Garth erst be seitigt hatte, würde er den, der für diese Störung verantwortlich war, aufspüren und vernichten. Erst einmal aber würde er sich Garth vornehmen, und zu diesem Zweck wollte er die dafür ausgewählten Agenten mit einem unantastbaren Schutz ausstatten. Er hatte nur einen, den of fenbar einzigen seiner Art auf der Welt: ein simpler Metallstab, der, richtig benutzt, kurzfristig bis zu einem halben Dutzend Men schen gegen jede Verletzung feien konnte. Nachdem er ihn Ha ladar von Mara abgenommen hatte, hatte er vorgehabt, ihn nur zu seinem eigenen persönlichen Gebrauch zu benutzen, aber dies war eine besondere Situation, die besondere Maßnahmen erforderte. Er hatte sich zu dem Entschluss durchgerungen, den Stab den aus erwählten Kultisten zur Verfügung zu stellen. Dieser Stab würde – dessen war er sich sicher – im Verein mit den anderen Zaubermitteln, die ihm zur Verfügung standen, da für sorgen, dass Garth die Begrüßung bekam, die ihm nach Mei nung der Anhänger Aghads gebührte.
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Kapitel 17 Nach langen Stunden schärfsten Tempos verlangsamte Koros seinen Schritt, als er sich den halbverfallenen Mauern Skelleths nä herte. Garth richtete sich aus seiner geduckten Haltung zu einer bequemeren und würdevolleren Sitzstellung auf; so war er in der Lage, im grauen Lichte des Morgens klarer zu erkennen, was ihn am Tor erwartete, und hatte noch ausreichend Zeit, seinen Schre cken und seine Bestürzung zu verbergen. Drei rotgewandete Gestalten saßen in aufreizend lässiger Haltung auf der Mauer, vor sich einen zehn oder zwölf Fuß hohen Pfahl, auf dessen Spitze Kyriths abgetrennter Kopf stak. Am Fuße der Mauer lag zusammengekrümmt in ihrem Blut die Leiche des Mannes, der das Südwesttor bewacht hatte; noch immer troff ihm Blut aus der aufgeschlitzten Kehle. Garth wusste nicht, worüber er mehr entsetzt war: über den sinnlosen Mord an dem Wachtposten oder über die Schändung der Leiche seines Weibes. Schließlich war Kyrith schon tot ge wesen, unempfindlich gegen weitere Erniedrigung. Obwohl sie von seiner eigenen Spezies und seiner eigenen Familie war, widerte ihn die sinnlose Bluttat an dem Mann — aus dem einzigen Grund begangen, weil er im Weg war — fast noch mehr an. Während Garth noch kämpfte, um seinen auflodernden Zorn im Zaum zu halten, bis er besser einschätzen konnte, was ihn erwartete, rief ihm einer der Aghaditen entgegen: »Na, wieder zu rück?« »Wir haben dich sehnsüchtig erwartet«, höhnte ein anderer, der mit ausgeprägtem Dûsarranischen Akzent sprach. »Wir wollten keine andere Person von Wichtigkeit töten, solange du fort warst; -295-
das wäre nicht fair gewesen. Also haben wir uns ein bisschen die Zeit vertrieben.« Er machte eine lässige Handbewegung in Rich tung des toten Wachtpostens. Garth stieß unwillkürlich ein Knurren aus, sowohl wegen der menschenverachtenden Kaltschnäuzigkeit, mit der die Aghaditen bestie den Tod des Wachtpostens als unwichtig abtat, als auch wegen ihrer hohntriefenden Überheblichkeit, und zückte das Schwert, das er dem toten Gardisten in Ur-Dormulk abgenommen hatte. Die Aghaditen lachten spöttisch. Obwohl er vor Wut außer sich war, erinnerte er sich noch gut an das, was geschehen war, als er das letzte Mal mit seinem Schwert auf einen Aghaditen losgegangen war. Er hatte keine Lust, noch ein Schwert zu zerstören, selbst wenn es nur ein so minderwertiges wie dieses war – aber er war nicht sicher, ob der Schutzzauber auch bei anderen Waffen wirksam war. Der König hatte gesagt, es handle sich um einen Schutzzauber gegen Metall. Der Übermann beugte sich im Sattel vor und flüsterte Koros etwas ins Ohr. Das Kriegstier stieß ein ohrenbetäubendes Brüllen aus und schoss vorwärts, mit gebleckten Fängen und gespreizten Krallen. Mit einem gewaltigen Satz stieg es in die Luft und landete auf den drei Aghaditen – und glitt ab, mit rudernden Tatzen nach einem Halt suchend, den es nicht finden konnte. Es war, als säßen die Aghaditen unter einer Glocke aus unzerstörbarem Glas. Offenbar besaßen sie einen Schutzzauber, der gegen mehr als bloß gegen Metall wirkte. Garth verlor das Gleichgewicht und rutschte aus dem Sattel, als das Kriegstier postwendend einen neuen Versuch startete, an die drei Männer in Rot heranzukommen; er landete mit einem hef
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tigen Aufprall im Dreck, für einen Moment seiner Luft beraubt, ansonsten aber unversehrt. Als er wieder zu Luft gekommen war, rappelte er sich auf und sah sich einer wahrhaft bizarren Szene gegenüber: Die drei Ag haditen saßen noch immer da, wo sie vorher gesessen hatten, verzweifelt bemüht, einen Eindruck von Gelassenheit zu ver mitteln, während Koros auf den Hinterbeinen stehend seine riesigen Vordertatzen um einen von ihnen geschlungen hatte und versuchte, ihm den Kopf abzubeißen. Garth konnte hören, wie die mörderischen Fangzähne des Kriegstiers knirschend über eine un sichtbare, undurchdringliche Substanz schabten. Das Kriegstier drehte den Kopf, um besser zupacken zu können, hatte aber nicht mehr Erfolg als vorher. Die beiden anderen Ag haditen trugen ein gespenstisches, überaus gequält wirkendes Lä cheln zu Schau; das auserkorene Opfer des Kriegstiers war vor Angst starr, trotz des magischen Schutzes, und sein Gesichtsaus druck war der von blankem Entsetzen angesichts der drei Zoll langen messerscharfen Krallen, die über seine Gurgel glitten wie Fingernägel über Marmor. Garth genoss es außerordentlich, die Aghaditen so verängstigt zu sehen, auch wenn er sich darüber im klaren war, dass er sie nicht wirklich verletzen konnte. Er griff nicht ein, sondern ließ Ko ros gewähren; ihm war eine Idee gekommen. Er trat vor, das Schwert in der Hand, stieg auf einen Geröllhaufen, beugte sich über den Kopf eines der Aghaditen und hieb mit der Klinge nach dem Holzpfahl. Wie er es erhofft hatte, war der Schutzzauber nicht auf den Pfahl ausgedehnt. Das Holz zersplitterte, und der obere Teil des Pfahls kippte vornüber. Bevor einer der Aghaditen reagieren konnte, war Garth schon bei der Spitze des Pfahls und hob den Kopf seines Weibes auf.
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Die beiden, die nicht von Koros bedrängt wurden, protestierten wütend; Garth überhörte ihr Gegeifer. Er schaute noch ein paar Sekunden zu, wie Koros versuchte, ihrem Spießgesellen den Kopf abzubeißen, und wünschte, sein Kriegstier hätte Erfolg. Es wäre eine mehr als gerechte Vergeltung für die Entweihung von Ky riths Leichnam und den Mord an dem Torwächter gewesen. Er be dauerte es, den Unglückseligen dort liegen lassen zu müssen, aber er wollte sich nicht mit ihm belasten und womöglich Anlass zu unangenehmen Spekulationen in Skelleth bezüglich seines Todes geben. Er bezweifelte, dass die Aghaditen sich die Mühe machen würden, den Leichnam zu schänden; vermutlich kannten sie sich nicht genug mit dem Wesen von Übermenschen aus, um sich überhaupt vorstellen zu können, dass Garth sich Gedanken um den Mann machte. Nur widerstrebend rief er schließlich sein Kriegstier zurück; er befürchtete, dass es in seiner immer größer werdenden Enttäu schung womöglich seine Zähne beschädigte. Die beiden unbehelligt gebliebenen Aghaditen hatten die Köpfe zusammengesteckt und berieten sich; sie unternahmen keinen Versuch, Garth aufzuhalten, als er sein Kriegstier durch das Tor führte. Ihr Spießgeselle war in Ohnmacht gefallen; als Koros von ihm abgelassen hatte, war er zu einem Häufchen zusammenge sackt. Sobald Garth außer Sichtweite der Aghaditen war, hielt er einen Moment lang inne, um den Kopf seines Weibes in den Vorhang fetzen zu wickeln; den Kram, den er in der Halle des Ungeheuers aufgesammelt hatte, warf er kurzerhand auf die Erde und steckte die wenigen Gegenstände, die vielleicht noch von Nutzen sein konnten, in das Bündel hinter dem Sattel des Kriegstiers. Nach dem er sich vergewissert hatte, dass das Buch der Stille noch si cher und fest verstaut war, setzte er seinen Weg fort.
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Er ignorierte die Dörfler, denen er auf den Straßen begegnete, und marschierte über den Marktplatz, ohne nach links oder rechts zu blicken. Im Moment interessierte ihn niemand in Skelleth außer dem Vergessenen König und den Aghaditen. Er hatte vor, sich ein paar Minuten von seiner kostbaren Zeit abzuzweigen, sobald er das Schwert des Bheleu hatte, und die drei Aghaditenhunde zu tö ten, bevor er nach Ur-Dormulk zurückkehrte und sich das Unge heuer vornahm. Diese letzte Begegnung mit dem Kult war unent schieden ausgegangen; die nächste beabsichtigte er siegreich zu bestehen. Er fragte sich, ob Chalkara und Shandiph wirklich eine Chance hatten, die rasende Kreatur in einen der Seen zu treiben, und ob das ausreichen würde, sie zu töten. Um ein solch riesiges Unge tüm zu ertränken, dazu bedurfte es in der Tat schon eines sehr tiefen Sees; er bezweifelte, dass der, den er in Ur-Dormulk gese hen hatte, tief genug war. Es war indes möglich, dass das Monstrum, wenn es schon nicht ertrank, vielleicht nicht mehr aus dem See herausklettern vermochte, so steil, wie die Uferböschung rings um den See war. Wenn das eintraf, dann war Garth sicher, dass die Leute von UrDormulk froh sein würden, wenn es vernichtet wurde; das würde ihnen sicher lieber sein, als mit der ständigen Bedrohung zu leben, dass es irgendwann vielleicht wieder herausfinden würde. Und wenn die Zauberer versagten – und damit rechnete er stark, würde er es natürlich töten müssen, um ein allgemeines Blutbad zu verhindern. Gewöhnliche Soldaten, so erfolgreich sie auch im Verteidigen der Stadt gegen menschliche Invasoren sein mochten, standen gegen eine solche Kreatur jedenfalls auf verlorenem Pos ten. In diesem Zusammenhang fiel ihm ein, dass die Männer, die das Osttor der Stadt bewacht und die Flüchtlinge eingesammelt
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hatten, weder irgendeinen Versuch unternommen hatten, ihn zu töten, noch ihn sonstwie behindert hatten; einmal mehr fragte er sich, wieso die Gruppe, die ihm in die Krypten gefolgt war, das versucht hatte. Ob sie einen geheimen Spezialauftrag gehabt hatten, einen Auftrag, der nur ihnen erteilt worden war und von dem die anderen Truppenteile nichts wussten? Oder hatte ihr Hauptmann auf eigene Faust gehandelt, aus welchen Gründen auch immer? Die Sache kam ihm jedenfalls ziemlich verworren vor, und er beschloss, sich nicht weiter den Kopf darüber zu zerbrechen. Das einzige, was im Moment für ihn zählte, war, das Schwert des Bhe leu zurückzubekommen und sich an den Aghaditen zu rächen und das Monstrum, das er entfesselt hatte, zur Strecke zu bringen. Von diesem Gedanken war er beseelt, als er vor der Tür des Gasthofs des Königs ankam, aber er hielt noch einen kurzen Moment lang inne und überlegte. Das Bündel mit Kyriths Kopf trug er in der Hand, da er beabsichtigte, es mit hineinzunehmen, damit die Aghaditen es nicht noch einmal an sich bringen und ihn weiter damit quälen konnten. Das Buch der Stille jedoch war in einem Bündel auf dem Rücken seines Kriegstiers. Er war mit sich selbst im Widerstreit, ob er es dort lassen sollte oder nicht; der Vergessene König würde es ihm nicht so leicht abnehmen können, wenn er es draußen ließ, während er sich mit dem alten Mann un terhielt. Andererseits aber konnten zufällig Diebe des Weges kom men. Normalerweise war es bei Koros sicher aufgehoben: das Kriegstier wurde so ziemlich mit jeder Bedrohung fertig; aber wenn die Aghaditen mit ihrem Schutzzauber zufällig auf Koros stießen, konnte das Kriegstier dann verhindern, dass sie das Buch in ihren Besitz brachten? Dieses Risiko – so gering es auch war – durfte er nicht eingehen. Er zog das Buch aus dem Bündel und klemmte es sich unter den
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Arm. Dann befahl er Koros, vor der Tür zu warten, und trat in den Gasthof des Königs, wo er sogleich auf den Ecktisch unter der Treppe zusteuerte. Er hatte den Schankraum zur Hälfte durchquert, als ihm auffiel, dass auf dem Tisch, an dem der alte Mann wie gewöhnlich saß, et was lag. Es war das Schwert des Bheleu; es lag quer über dem Tisch, sein Griff zeigte direkt auf ihn. Der riesige Stein in seinem Knauf war nicht tot und schwarz wie beim letzten Mal, als er die Waffe gesehen hatte; er hatte eine leichte Trübung, sein rötlicher dunkler Schimmer schien sich zu verändern, als der Übermann näher kam, wie als ob etwas in ihm brodelte und wallte. Der Anblick des Schwertes ließ ihn innehalten; sein Schritt stock te, und seine Gedanken wurden unklar und verschwommen. Er blieb stehen, immer noch mehrere Schritte von dem Griff der Waffe entfernt, die geradezu auf ihn zu warten schien. Das große Juwel schien jetzt zu flackern; Garth, der wie gebannt dastand und starrte, war nicht ganz sicher, dass sich wirklich et was in ihm bewegte. Er hatte das unbehagliche Gefühl, dass er von der Macht, die in dem Schwert lauerte, beobachtet wurde, und bildete sich ein, die Umrisse eines unheimlichen roten Auges in dem seltsamen Stein leuchten zu sehen. Der Gedanke, das Ding in die Hand zu nehmen, war plötzlich weit weniger verlockend als noch vor wenigen Augenblicken, als er sich an das kranke, fiebrige Glücksgefühl und die dumpfe, schleierartige Gefühllosigkeit erinnerte, die er seinerzeit gespürt hatte, als er die Waffe geführt hatte. Er schickte sich an, einen Schritt zurückzuweichen, hielt dann aber inne, wütend über seine Feigheit. Erzürnt versuchte er zurückzustarren, der feindseligen Macht, die in dem Stein schlummerte, Paroli zu bieten. Nach ein paar Sekunden wütenden Starrens wurde ihm be wusst, dass er wie ein kompletter Narr ausschauen musste, dazu -301-
stehen und einen toten Stein anzustarren, wie er einen Todfeind anstarren würde. Sein Zorn wuchs. Er wusste vage, dass es töricht war, sich so leicht in Wut bringen zu lassen, und das machte ihn nur noch wütender. In seiner Verwirrung und seinem Zorn wischte er alle Bedenken beiseite und beschloss, vorwärts zu gehen und das Schwert einfach an sich zu reißen; damit würde die Sache erledigt sein. Er streckte seine freie Hand nach der Waffe aus. Auch die Hand des Königs bewegte sich; eine winzige, kaum sichtbare Bewegung der knochigen Finger, und sofort wurde der Stein wieder schwarz. Garths Wut verschwand mit einem Schlag, und sein Geist war wieder klar. Er wusste, dass der Zorn und die Verwirrung durch das Schwert verursacht worden waren. Er löste den Blick vom dem jetzt wieder leblos wirkenden Juwel und richtete ihn auf das runzlige Gesicht des alten Mannes. Ihm war klar, dass der König diese kleine Demonstration mit Absicht geplant hatte. Er war anscheinend in der Lage, die Macht des Schwertes mühelos zum Schweigen zu bringen, wann immer und so lange er wollte, und doch hatte er sie auf Garth wirken lassen. Aber auch dabei hatte er sie klein gehalten, hatte den Stein nur schwach aufleuchten lassen; er hatte offenbar nicht gewollt, dass sie den Übermann ganz in ihren Bann schlug. Als Garth dies bewusst wurde, spürte er, wie eine Woge seines eigenen, echten Zorns in ihm hochbrandete. »Warum hast du das getan?« schrie er erbost und trat vor den Tisch des Königs. »Eine kleine Erinnerung«, antwortete der alte Mann mit seiner furchterregenden knarrenden Stimme.
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Garth zögerte. Der Klang der Stimme des Vergessenen Königs brachte ihn immer aus der Fassung; egal wie oft Garth sich inner lich auf das pergamenttrockene schaurige Knarzen vorbereitete, es erwischte ihn jedesmal kalt und jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Erinnerung und Vorstellungskraft waren eben doch et was anderes als die Realität. »Eine Erinnerung woran?« fragte er schließlich in etwas milderem Ton. Eigentlich brauchte Garth die Antwort des alten Mannes gar nicht mehr zu hören. Der König hatte Mittel und Wege, Dinge zu erfahren, ohne sie sehen zu müssen; Garth war sicher, dass der alte Mann gewusst hatte, dass er in den Gasthof des Königs kom men würde, in der Absicht, das Schwert des Bheleu zu holen, und dass er diesen kleinen Zwischenfall inszeniert hatte, um Garth noch einmal eindringlich vor Augen zu führen, was das Schwert seinem Verstand und seinem Gemüt antat. Wie als hätte der alte Mann seinen Gedanken gelesen, ließ er sich gar nicht erst dazu herbei, die Frage zu beantworten; er zuck te lediglich einmal kurz mit den Achseln. Aber warum, fragte sich Garth, sollte der König ihn an die Ge fährlichkeit des Schwerts erinnern wollen? Offenbar wollte er nicht, dass Garth das Schwert wiederbekam; das war die einzige Erklärung, die einen Sinn ergab. Und weshalb sollte er das Schwert behalten wollen? Garth glaubte, die Antwort auf diese Frage zu kennen. Er erinnerte sich, dass der Vergessene König, als er, Garth, seinerzeit mit seiner Beu te aus Dûsarra zurückgekommen war, den größten Teil davon als Tand abgetan hatte – mit Ausnahme des Schwertes; von diesem war er sehr angetan gewesen. Später hatte er sich bereitgefunden, es Garth als Gegenleistung für die Beschaffung des Buches der Stille zurückzugeben, aber nur leihweise, nicht im Sinne eines ech -303-
ten Handels. Die Zauberer in Ur-Dormulk hatten im Zuge der Erläuterung ihrer Theorie, der König trachte danach, das Fünf zehnte Zeitalter herbeizuführen, das Zeitalter des Todes, geäußert, er bedürfe dazu einer Gefälligkeit seitens der Diener des Bheleu. Soweit Garth wusste, war er der einzige lebende Diener des Bhe leu; wären die Dinge ihrem vorhergesehenen Plan gefolgt, dann wäre jetzt er im Besitz des Schwertes. Er glaubte deshalb, dass der alte Mann für seinen finalen Todeszauber, jenen Zauber, von dem Garth glaubte, dass er die Welt vernichten würde, sowohl das Buch der Stille als auch das Schwert des Bheleu benötigte — und vermutlich auch die Bleiche Maske. Es würde ihm wenig nützen, eines der erforderlichen Werkzeuge zu erlangen, wenn er ein anderes dafür abtreten muss te. Deshalb, schloss Garth, versuchte er, ihn dazu zu bringen, dass er ihm das Buch aushändigte, ohne das Schwert dafür bekommen zu wollen. Vielleicht steckte aber auch noch eine ganz andere Überlegung dahinter. Vielleicht hatte der Alte gar nichts dagegen, ihm das Schwert zu geben, befürchtete aber, dass der Übermann, hatte er das Schwert erst wieder in seinem Besitz, seinen Teil der Abma chung brechen und das Buch behalten würde. Schließlich hatte Garth ja offen eingestanden, dass sein Wort nicht viel zählte. In dem Fall verfolgte der König mit seiner Demonstration vermutlich die Absicht, Garth von der Zurücknahme des Schwertes abzu schrecken, so dass der einzige Weg, die durch Magie geschützten Aghaditen oder das Ungeheuer in Ur-Dormulk zu töten, darin bestand, dass der alte Mann das Buch benützte. Es konnte sogar sein, dass es seine Absicht war, Garth so sehr in Rage zu bringen, dass er das Schwert sofort an sich riss. Aber das ergab keinen Sinn, hätte der König die gleiche Wirkung doch si
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cherlich auch dadurch erzielen können, dass er Bheleus Macht einfach freien Lauf ließ, so dass sie von Garth Besitz ergriffe. Wenn diese letzte Möglichkeit zutraf, dann, dachte Garth, würde der alte Mann vielleicht doch noch seinen Willen bekom men, denn Garth war jetzt mehr denn je entschlossen, das Schwert des Bheleu an sich zu nehmen und es gegen die Aghaditen und den Leviathan zu benutzen. Wenn der Vergessene König das Schwert behalten wollte, dann lag es mit Sicherheit im größten In teresse aller Sterblichen, wenn Garth es ihm abnahm. Noch während er diese Schlussfolgerung zog, streckte er die Hand nach dem Griff des Schwertes aus. Die Hand des alten Mannes schnellte mit unglaublicher Ge schwindigkeit vor und packte den Übermann beim Handgelenk. Zu Garths Verblüffung fand er sich außerstande, sich aus des Königs Griff loszureißen oder die Hand auch nur einen Zollbreit von der Stelle zu bewegen. Es war, als wären die knochigen Finger aus solidem Stahl – und einem außerordentlich guten dazu, da sie der gewaltigen Kraft eines Übermannes so mühelos standzuhalten vermochten. Und kalt und trocken, wie sie waren, fühlten sie sich auch nahezu so an, als wären sie aus Metall. »Warum hinderst du mich?« fragte Garth. Er war jetzt sicher, dass der alte Mann ihm das Schwert verweigern wollte, hielt es aber für unklug, diese seine Vermutung zu äußern. »Gib mir das Buch der Stille!« Obwohl Garth die Stimme des Königs erst vor wenigen Augenblicken gehört hatte, traf ihn ihre Eiseskälte erneut wie ein Schock. Garth versuchte, sich mit einem Ruck aus dem eisernen Griff zu befreien; der alte Mann ließ keinerlei Anzeichen erkennen, dass er den Versuch des Übermannes überhaupt wahrnahm. Schließlich, nach mehreren Sekunden vergeblichen Zerrens und Ziehens, gab
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Garth sich resigniert geschlagen. »Dann nimm das Buch, wenn du es unbedingt willst!« brummte er. Der Vergessene König stand auf; die gelben Lappen, die seinen Leib umhüllten, raschelten leise. Er streckte die freie Hand aus, zog den Band unter Garths Achsel hervor und hielt ihn vor sich, ohne dabei jedoch seinen Griff um das Handgelenk des Über mannes zu lockern. »Lass mich los!« bat Garth, bemüht, so viel Würde wie ange sichts seiner peinlichen Lage eben möglich in seine Stimme zu legen. Von einem bloßen Menschenwesen – auch wenn es ein so einzigartiges und mächtiges wie der Vergessene König war — so mühelos festgehalten zu werden, erfüllte ihn mit tiefer Scham. »Ich warne dich, Garth«, sagte der König mit seiner schauerli chen Stimme. »Bheleu ist heimtückisch und mächtig und vermag dich mühelos zu beherrschen, sogar ohne dass du es überhaupt merkst. Aber vergiss nicht, ich kann dich so leicht von seiner Macht befreien, wie du mit dem Auge zwinkern kannst. Du musst einem von uns dienen. Du hast die Wahl, welchem Herrn du dienen willst. Und nun nimm das Schwert, wenn du willst, aber bedenke: Ich überlasse es dir lediglich leihweise.« Der eiserne Griff löste sich, und Garth sah zu, wie der alte Mann sich um wandte, das große schwarze Buch mit beiden Händen haltend, durch den Raum ging und die Treppe nach oben hinaufstieg. Als der Vergessene König in die Dunkelheit am oberen Ende der Treppe eingetaucht war, wandte Garth den Blick auf das Schwert. Es lag unberührt auf dem Tisch; der große Stein war schwarz und tot. War es also das gewesen, was der König mit seinem Verhalten beabsichtigt hatte — Garth deutlich zu machen, dass er nie wieder frei sein würde, solange das Schwert des Bheleu und der König in Gelb existierten? -306-
Wie lange würde des Königs Existenz nun, da er das Buch der Stille in seinem Besitz hatte, noch währen? Er trachtete danach, sich selbst zu vernichten, und brauchte das Buch, um das zu voll bringen. Vielleicht irrte sich Garth, und der König brauchte dazu gar keine anderen Werkzeuge! Vielleicht war der alte Mann just in diesem Moment schon dabei, seinen großen letzten Zauber zu wirken, einen Zauber, der den Kult des Aghad und vielleicht so gar die ganze Welt vernichten würde! Nein, das konnte nicht sein. Der alte Mann hatte es zwar nicht ausdrücklich gesagt, aber ziemlich eindeutig zu verstehen gege ben, dass er noch eine Weile weiterleben würde, noch lange genug jedenfalls, um Garths Dienste noch einmal in Anspruch zu nehmen, überdies war der Übermann sicher, dass entweder das Schwert des Bheleu oder die Bleiche Maske oder beides vonnöten war. Auch andere Dinge waren wahrscheinlich noch vonnöten; er entsann. Sich, dass der König ihn vor nunmehr fast drei Jahren hatte schwören lassen, dass er ihm nicht nur das Buch holen, son dern ihm auch bei seinem letzten großen Zauber Hilfe leisten würde. Garth schüttelte den Kopf und verwarf alle derartigen Speku lationen als nicht unmittelbar relevant. Er hatte wichtigere, dringendere Sorgen. Er hatte den Mord an seinem Weib zu rä chen, Aghaditen zu töten und ein Ungeheuer zu erledigen. Er streckte die Hand aus und packte den Griff des Schwertes; als seine Finger sich um den schwarzen Griff schlossen, loderte der Stein gleißend rot auf und tauchte den Übermann in karmes infarbenes Licht. Wilde Freude und rasende Wut brandeten in ihm auf, und irgendwo glaubte er höhnisches Gelächter zu hören.
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Kapitel 18 Im ersten Moment war die Woge von Gefühlen zu gewaltig, die über ihn hereinbrach, als dass er noch einen bewussten Gedanken hätte fassen oder überhaupt noch etwas von seiner Umwelt hätte wahrnehmen können. Drei lange Jahre war Bheleu unterdrückt, niedergehalten, von der Kontrolle über seine erkorene sterbliche Hülle abgeschnitten worden; und nun, da er unversehens wieder frei war, schwelgte er voller Wonne in diesem so lange vermissten Gefühl. Das Schwert knisterte vor elektrischer Energie, und eine Aura blutroten Lichts waberte um den Körper des Übermannes. Garth verlor für längere Zeit sein eigenes Bewusstsein. Er fühlte sich abgeschnitten, hilflos treibend in einem gestaltlosen Nirgend wo aus Rot und Schwarz, und er kämpfte verzweifelt, um die Kontrolle über seinen Körper wiederzuerlangen. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die alles verzehrende Mordgier, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Die anfängliche Woge von Ekstase, der gefühlsmäßige Überschwang von Bheleus Erleichterung über sei ne Befreiung, verebbte. Der leidenschaftliche Zorn blieb, aber in seinem verzweifelten Kampf, sich an die Oberfläche seines Be wusstsein zurückzustrampeln, gelang es Garth, ihn zu steuern und zu kanalisieren, ihn umzuleiten gegen die Präsenz, die sich seines Leibes und seines Geistes bemächtigt hatte. »Bheleu!« versuchte er zu rufen. »Hör mich an!« Er wusste, selbst in seinem Zustand äußerster Verwirrung, dass er die Worte nicht artikuliert hatte, dass Lippen und Zunge ihm nicht gehorcht hatten; gleichwohl hörte er, wie seine eigene Stimme, unendlich verstärkt und zu einem grauenerregenden Grollen verzerrt durch die Macht des Gottes, ihm antwortete:
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»Warum rufst du mich, Garth? Du hast das Schwert wieder an dich genommen, aus freien Stücken, und mich aus meiner Gefangenschaft befreit. Nun wirst du mir bei meinem Zerstö rungswerke dienen, wirst endlich das tun, wozu du von Anfang an ausersehen warst. Was bedarf es da noch irgendwelcher Worte?« »Ich möchte dir einen Handel vorschlagen«, schaffte Garth her auszubringen – oder vielmehr: mitzuteilen, denn er wusste, dass seine Sprechwerkzeuge ihm immer noch den Dienst verweigerten. Der Gott antwortete nicht mit Worten; statt dessen fühlte Garth eine Woge der Verachtung über sich hinwegfegen, fühlte, wie sein Bewusstsein wieder in der Dunkelheit versank, und erneut rang er um seine Selbstkontrolle. »Nein, warte! Bheleu, du bist noch nicht frei! Es sind da noch be stimmte Bedingungen zu erfüllen!« »Ich bin frei«, versetzte Bheleu. »Nein!« beharrte Garth. »Du musst meine Bedingungen erfüllen, oder der Vergessene König sperrt dich wieder ein, wie er es schon einmal getan hat!« Es folgte ein Schweigen, das Stunden zu dauern schien, ein zeit loses Warten, währenddessen Garths Bewusstsein im Nichts da hintrieb und Bheleu nachdachte. »Nenne deine Bedingungen!« verlangte Bheleu schließlich. Garth gestattete sich noch nicht, Erleichterung zu empfinden, obwohl er sicher war, dass die Bereitschaft des Gottes, ihm über haupt zuzuhören, bewies, dass dieser Punkt an ihn, Garth, ging. »Ich habe das Schwert aus einem bestimmten Grund zurückge nommen«, erklärte er. »Ich habe Feinde, und ich will sie vernich ten.« Während er dies sagte, verspürte er eine Woge von Hunger, von Verlangen. »Sie haben Mittel, meiner eigenen Kraft zu
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trotzen, deshalb brauche ich das Schwert und die Macht, die mit ihm einhergeht.« »Ich bin diese Macht«, donnerte Bheleu, vor Wut und Blutgier schäumend. »Ich weiß«, antwortete Garth, verzweifelt gegen die überwäl tigende Kraft der Gefühle des Gottes ankämpfend. »Und ich gebe dir die Freiheit, meine Feinde zu vernichten – aber niemand anderen.« »Du willst mich, den Gott der Zerstörung, als Werkzeug für deine Rache benutzen?« Garth fühlte sich vom Zorn des Gottes fast in die Tiefe des Nichts geschmettert, aber er schaffte es irgendwie zu erwidern: »Ich würde alles dafür benutzen, das ich für notwendig hielte. Hattest du nicht den Plan, mich für deine eigenen Zwecke zu benutzen – gegen meinen Willen?« »Ich bin ein Gott, Garth; du hingegen bist ein Nichts.« »Ich bin ein Nichts, das weiß, wie du im Zaum gehalten werden kannst; ich bin der Erwählte eines Gottes. Ist nicht die Freiheit, meine Feinde zu vernichten, besser als überhaupt keine Freiheit?« »Was schlägst du vor?« »Ich schlage vor, dass du mir die Kontrolle über meinen Körper und meinen Geist überlässt; als Gegenleistung lasse ich dir freie Hand, mit meinen Feinden nach deinem Willen umzuspringen. Wenn du dich weigerst, wirst du wieder eingesperrt.« Wieder folgte eine schier unendliche Pause; dann, ganz schlag artig, erlangte Garth sein volles Bewusstsein wieder, wenngleich er sich noch einen Moment lang ein wenig benommen und von unsinniger Wut erfüllt fühlte. Er stand im Gasthof des Königs, in der Hand das Schwert; von seiner Klinge tropfte rotes Feuer. Die Bodendielen waren rings um ihn herum in einem Umkreis von
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einem Schritt braun angekohlt, und quer über den Tisch des Vergessenen Königs war eine Linie in das Holz gebrannt, genau an der Stelle, wo das Schwert gelegen hatte. Bis auf die Hitze des Schwertes und die unheimliche Flamme, die die Klinge umwaberte, konnte er keine Anzeichen von Bheleus Gegenwart entdecken. Seine Gedanken kamen ihm langsam, aber unnatürlich klar vor; ein wildes Glücksgefühl durchpulste ihn bei dem Gedanken, dass er sich gegen den Gott durchgesetzt hatte, und gerechter Zorn erfüllte ihn bei der Vorstellung, dass die Ag haditen irgendwo in Skelleth auf ihn lauerten und nur darauf warteten, von ihm getötet zu werden. Außer ihm war niemand sonst in der Taverne; der Wirt und die Handvoll anderer Gäste hatten sich davongemacht, während er mit Bheleu gestritten hatte. Ihn interessierte nicht, wohin sie ge gangen waren; zweifelsohne, sagte er sich, waren sie vor seiner of fenkundigen Macht geflohen. Er schlenderte zur Tür hinaus und stieg auf sein Kriegstier. Die feurige Aura des Schwertes verblasste allmählich. Mit einem knappen Befehl lenkte der Koros zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren, in der Hoffnung, die drei Aghaditen noch am Südwesttor anzutreffen. Der Vergessene König hatte ihn dar auf hingewiesen, dass die roten Teleportationszauber rar und kostbar waren; daher war anzunehmen, dass das Trio keinen da von vergeuden, sondern statt dessen zu Fuß gehen würde. Als Koros die Südseite des Marktplatzes erreicht hatte, sah die Klinge schon wieder wie ganz gewöhnlicher Stahl aus, wenngleich der schwarze Griff sich noch immer heiß in Garths Hand anfühlte. Er begegnete den drei Männern in den roten Roben auf halbem Wege zum Tor; sie gingen in Richtung Stadtzentrum. Sie sahen ihn fast im gleichen Moment wie er sie; einer wandte sich zur
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Flucht, der zweite zögerte, während der dritte an irgendeinem Gegenstand unter seiner roten Robe herumnestelte. Garth stieß ein schnaubendes Brüllen aus und trieb Koros zum Angriff vorwärts. Der Fummler zog die Hände unter seiner Robe hervor und warf sich keck in die Brust, mit höhnischem Grinsen dem heran sprengenden Übermann entgegensehend. »Ho, Garth!« begann er mit vor Häme triefender Stimme. Dann war Garth über ihm. Mit einem wütenden Zischen und einer Stichflamme fuhr das Schwert des Bheleu durch die unsicht bare Schutzhülle und drang in die Gurgel des Aghaditen. Blut spritzte, und der abgeschlagene Kopf des Mannes rollte vornüber, wackelte ein paarmal grotesk hin und her und fiel dann neben dem zusammensackenden Körper auf die Erde. Weiße Funken sprühten aus der bluttriefenden Klinge, und irgend etwas zischte wie wild. Der Mann, der gezögert hatte, hatte keine Zeit mehr zu rea gieren, als das Schwert in einem gleißenden Bogen durch die Luft sauste und ihn ebenfalls enthauptete, einen Schwall aus Blut und Funken versprühend. Ehe die zweite Leiche zu Boden sinken konnte, wirbelte Garth die Klinge herum, spießte sie auf und hob sie hoch in die Luft. Er war nicht gewillt, beide Aghaditen mit einem so schnellen und sauberen Tod wie einer simplen Enthauptung davonkommen zu lassen. Der dritte Aghadit floh noch immer; Garth sprengte hinter ihm her, die enthauptete Leiche des zweiten neben sich her schleifend. Er gewann schnell an Boden, trotz der hemmenden Last, aber nicht schnell genug; er sah, wie sich um den Kopf des fliehenden Aghaditen rote Rauchwölkchen bildeten, die. Rasch den ganzen Körper umhüllten. Mit einem wütenden Knurren schüttelte Garth -312-
die Leiche von seinem Schwert ab, so dass sie zu Boden plumpste, und trieb sein Kriegstier zu noch größerer Geschwindigkeit an. Es half nichts; der Aghadit verschwand, bevor Garth ihn errei chen konnte. Der Übermann brüllte vor Wut und Enttäuschung laut auf. Der Kerl war ihm entwischt! Haggat stand beim Pentagramm, als der überlebende Agent des Kults in einer Wolke roten Rauchs vor ihm auftauchte; er hatte den Versuch aufgegeben, die Ereignisse in Skelleth weiter zu ver folgen. Das Schwert des Bheleu besaß die Fähigkeit, jeden Fern spähzauber zunichte zu machen, wenn es wollte; Aghads Hoher priester hatte diese Erfahrung bereits vor fast drei Jahren gemacht, und sie hatte ihn seinerzeit ein gutes Sehglas gekostet. Entspre chend hatte er diesmal gar nicht erst den Versuch unternommen, den Übermann weiter zu beobachten, nachdem sich das Bild just in dem Moment, als Garth den Griff des Schwertes berührt hatte, sofort bis zur Unkenntlichkeit verzerrt hatte. Statt dessen hatte er sein Augenmerk auf seine drei Kultisten gerichtet; einer seiner Akolyten hatte dabei mit den letzten seiner kostbaren Teleporta tionszauberkugeln bereitgestanden. Doch selbst dieses Bild war aus seinem Sehglas verschwunden, als der Übermann das Trio attackiert hatte, und Haggats daraus resultierende kurzfristige Verwirrung hatte Garth genügend Zeit gegeben, die zwei zu tö ten, die sich auf den Schutzzauber verlassen hatten. Es war interessant, dachte Haggat, dass der Zauber, den er für todsicher gehalten hatte, dem Schwert des Bheleu nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde standzuhalten vermocht hatte. Das Schwert war offenbar eine großartige Waffe – eine ernste Bedro hung, solange es sich in Garths Händen befand. Er hatte nicht gedacht, dass Garth das Schwert von dem selt samen alten Mann in Lumpen zurücknehmen würde. Das war an -313-
scheinend ein Fehlschluss gewesen, einer, der den Kult schon zwei gute Männer gekostet hatte und der sich vielleicht noch als verheerend erweisen würde. Garth hatte geschworen, nach Dûsarra zurückzukehren und die gesamte Sekte auszurotten; nun, da er das Schwert wieder in sei nem Besitz hatte, standen die Chancen für das Gelingen seines Vorhabens nicht schlecht. Jetzt galt es, den Übermann abzulenken, ihn auf Trab zu halten, ihn nicht zur Ruhe kommen zu lassen, alles Erdenkliche zu tun, was ihn beschäftigte, um Zeit für wirk same Gegenmaßnahmen zu gewinnen. Unverzüglich ließ Haggat seine Berater und Meuchelmörder zu sich kommen. Wenig später scharten sich ein Dutzend Gestalten in roten Roben um ihn. Während sich die Aghaditen um ihren Herrn versammelten, saß Garth auf seinem Kriegstier und ließ das Schwert des Bheleu mit wütendem Gebrüll über seinem Haupt kreisen. Gleißende Schlieren aus weißem Feuer hingen wie Rauch in der Luft, Wellen von ungeheurer Hitze aussendend. In der Ferne rollte Donner, angezogen von der Macht des Schwertes. Der Aghadit musste irgendwo stecken, sagte sich Garth. Der rote Nebel war lediglich ein Teleportationszauber, nicht mehr. Er erschuf weder Leute aus dem Nichts, noch ließ er sie im Nichts verschwinden. Der Aghadit musste irgendwo stecken, als körper liches Wesen; vielleicht war er sogar ganz in der Nähe und lachte sich über seine geglückte Flucht ins Fäustchen. Wo immer er war, Garth würde ihn finden; er würde ihn finden und in Stücke hacken, er würde zusehen, wie er verblutete. Das schwor er sich, und er überhörte die leise innere Stimme, die gegen diese unverhohlene Grausamkeit protestierte.
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Koros war stehengeblieben, als seine Beute sich in Luft aufgelöst hatte; auf ein Kommando seines Reiters machte er jetzt kehrt und schlug die Richtung zum unbewohnten Teil Skelleths ein. Als er an den enthaupteten Leichen vorüberkam, richtete Garth die Klingenspitze auf sie und setzte sie mit der übernatürlichen Flamme der Waffe in Brand. Während er weiterritt, überlegte er sich seinen nächsten Schritt. Sein erster Gedanke war, zum Marktplatz zurückzukehren und dort mit seiner Suche nach dem entfleuchten Aghaditen zu be ginnen; aber das, entschied er, wäre ein Fehler. Der Kerl hielt sich mit größter Wahrscheinlichkeit irgendwo in den Ruinen versteckt, dort, wo niemand war, der sich über mysteriösen roten Rauch oder seltsame Geräusche wunderte. Garth lebte seit nunmehr fast drei Jahren in Skelleth, und von dem Augenblick, da der König ihn von dem Schwert des Bheleu befreit hatte, bis zu dem Tag, an dem er die Leiche seiner Frau Kyrith gefunden hatte, hatte er nie manden gesehen, der die auffällige dunkelrote Robe der Aghadi ten getragen hatte — und plötzlich, aus heiterem Himmel, waren diese drei aufgetaucht. Die Gesichter waren ihm unbekannt; er konnte sich nicht erinnern, einen der drei schon einmal in einem anderen Gewand gesehen zu haben. Deshalb vermutete er, dass sie erst in jüngster Zeit in Skelleth aufgetaucht waren — und da Neulinge, mit Ausnahme solcher, die in Begleitung von Kara wanen kamen, in Skelleth eine solche Seltenheit waren, dass sie sofort zum Stadtgespräch avancierten, war Garth sicher, dass er schon längst von ihnen hätte reden hören, wenn sie offen im unbe wohnten Teil der Stadt lebten. Deshalb lag der Schluss nahe, dass sie irgendwo in den Ruinen im verborgenen gelebt hatten; und wenn er den Überlebenden ir gendwo finden würde, dann dort.
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Irgendwo im Hinterkopf musste er an das Ungeheuer in Ur-Dor mulk denken, aber das war im Moment sehr weit weg und längst nicht so wichtig wie der Aghad-Kult. Außerdem, beschwichtigte er sein Gewissen, war es nicht schlimm, wenn er Ruinen zerstörte: Abgesehen davon, dass er da mit niemandem schadete, war es eine gute Gelegenheit für das Schwert, sich auszutoben, und er stimmte Bheleu damit glücklich. Dieser letzte Gedanke verwirrte und beunruhigte ihn irgendwie; irgend etwas stimmte nicht daran, und vielleicht auch an seinen anderen Entscheidungen nicht. Irgend etwas schien seine Ge danken zu trüben. Er schüttelte unwillig den Kopf und schob diese Gedanken bei seite. Er hatte einen Feind aufzuspüren und zu vernichten; nichts anderes zählte im Moment. Er bog von der Straße ab, die zum Marktplatz führte, und ritt in Richtung der Ruinen, die ringförmig um Skelleths bewohnten Kern lagen. Die Stadt war einst als Grenzfestung gebaut worden, und ihre Häuser bestanden demzufolge größtenteils aus Stein, damit mögliche Belagerer sie nicht so leicht in Brand schießen konnten. Nach dreihundert Jahren der Vernachlässigung waren bei vielen der Häuser die Dächer und Zwischendecken eingestürzt, und einige der Wände waren eingefallen, aber viele waren noch erhal ten. Die Straßen und Gassen in diesen Ruinenvierteln waren ein einziges unwegsames Labyrinth; einige Straßen waren durch Schuttberge blockiert, andere waren noch offen, und alle waren getrennt durch Gebäude in allen Stadien des Verfalls. Garth machte sich nicht die Mühe, sich einen Weg durch dieses Labyrinth zu bahnen; er saß ab und marschierte einfach gerade aus, gefolgt von Koros. Sobald vor ihm ein Hindernis in Form einer Häuserwand oder eines Schutthaufens auftauchte, sprengte er sich mit der magischen Kraft des Schwertes den Weg frei; nur -316-
offene Gruben zwangen ihn hier und da auszuweichen. Und je desmal hielt er dann kurz an und schleuderte Flammen hinein, für den Fall, dass vielleicht irgendwelche Aghaditen sich in ihnen ver steckt hielten. Das Feuer zu entfachen, die Macht des Schwertes zu benutzen, fiel ihm jetzt immer leichter; es ging fast von selbst, völlig mühe los, ohne die geringste Anstrengung: Die lange Freiheits beschränkung, die dem Gott auferlegt worden war, hatte die stetig wachsende Macht, die mit der Festigung des Vierzehnten Zeit alters einher ging, offenbar nicht im geringsten beeinträchtigt. Garth entdeckte rasch, dass dieser ganze riesige Schatz zu seiner uneingeschränkten Verfügung stand und nur darauf wartete, von ihm benutzt zu werden. Als er seinerzeit seine ersten Erfahrungen mit dem Schwert ge macht hatte, war das Zeitalter des Bheleu gerade in seinen Anfängen gewesen. Die Macht des Gottes war noch sprunghaft und unberechenbar gewesen, was sich darin geäußert hatte, dass sie sich manchmal ungebeten manifestiert hatte, um sich jedoch bei anderen Gelegenheiten wiederum erst vermittels großer geis tiger Anstrengung aus der Reserve locken zu lassen. Das war jetzt nicht mehr so. Garth hatte jetzt nahezu unbegrenzte Energie – buchstäblich im kleinen Finger. Eine Stunde lang hatte er sich bereits auf diese Weise seinen Weg durch die Ruinen gesprengt – so sehr aufgehend in dem Glücksgefühl, das ihm das Niederreißen der leeren Häuser berei tete, dass er schon fast vergessen hatte, wonach er eigentlich such te –, als eine rotgekleidete Gestalt auf einer Mauer zu seiner Rech ten auftauchte. Garth bemerkte die Gestalt zuerst gar nicht; er war gerade in das Zerschmettern eines fußdicken Pfeilers vertieft und sah deshalb
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nicht, ob der Mann auf magische Weise erschienen war oder ob er schlicht an der anderen Seite der Mauer hochgeklettert war. »Ho, Garth!« rief der Mann. Verdutzt ließ Garth das Schwert des Bheleu sinken und wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. »Auf diese Weise findest du uns nie!« höhnte der Aghadit. Mit einem wütenden Knurren schwang Garth das Schwert her um und richtete es auf den Rotgewandeten. Nachdem er nun eine Stunde lang ausgiebig geübt hatte, die Macht des Schwertes einzu setzen, hatte er keine Lust mehr, weitere Zeit mit fruchtlosen Ver folgungsjagden zu verschwenden. Ein vergeblicher Versuch reich te ihm. »Wir haben für dich eine kleine Überraschung in der Stadt«, be gann der Mann; ehe er den Satz vollendet hatte, schoss eine ge waltige Stichflamme aus dem Schwert, geradewegs auf ihn zu. So fort hüllte ihn roter Nebel ein, aber zu spät; Garth hörte mit tiefer Zufriedenheit, wie der Aghadit gellend aufschrie, als die Flamme ihn erreichte. Wo immer er wieder materialisierte, er würde es als verkohlte Leiche tun. Im gleichen Augenblick starrte Haggat entsetzt auf die schwe lenden Überreste seines Agenten, die da aus dem Nichts vor ihm auftauchten. Er hatte jetzt fast alle seine Teleportationskristalle aufgebraucht — mit dem Erfolg, dass er seine besten Agenten verloren hatte. Er hatte nicht erwartet, dass der Übermann so schnell reagieren würde. Aber wenigstens suchte Garth noch immer in Skelleth herum und war noch nicht auf dem Weg nach Dûsarra. Das verschaffte dem Kult Zeit, eine wirkungsvolle Gegenstrategie zu ersinnen.
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Das setzte allerdings voraus, dass es überhaupt eine wirksame Strategie gegen das Schwert des Bheleu gab. Haggat war sich da nicht so sicher. Er fragte sich allmählich, ob der Kult nicht vielleicht besser daran getan hätte, auf seine Rache an Garth zu verzichten. Aber für solche Überlegungen war es jetzt zu spät. Vielleicht dachte der Übermann ja, dass er jetzt alle Mörder sei nes Weibes getötet hätte – was in der Tat der Fall war , und ließ es dabei bewenden. Aber irgendwie bezweifelte Haggat das: zum einen, weil Garth geschworen hatte, den Tempel des Kults zu zerstören, zum anderen, weil ihn auf dem Marktplatz von Skelleth noch eine wei tere Überraschung erwartete ... Der Hohepriester fragte sich, ob diese neue Gräueltat nicht vielleicht ein schwerer Fehler gewesen war. Er schaute hinab auf den verkohlten schwarzen Haufen in der Mitte des Pentagramms und hoffte inbrünstig, dass Garth sich mit den drei Kultisten, die er getötet hatte, zufriedengeben würde. Garth gab sich zufrieden, aber nur für einen kurzen Moment, während er sich die dummen Gesichter vorstellte, die die Aghadi ten machen würden, wenn statt ihres lebenden Spießgesellen ein verkohlter Leichnam vor ihnen zu Boden plumpste. Und just dieser Gedanke ließ ihn stutzen. Wenn er den Mann ge tötet hatte, wer hatte dann den Zauber vollendet? Irgend jemand musste es ja getan haben, denn der rote Rauch hatte sich verdich tet und sich dann aufgelöst, den verschmorten Aghaditen mit sich nehmend. In dem Moment, als er verschwand, musste der Mann bereits tot gewesen sein.
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Hatte der Aghadit den Zauber vielleicht im voraus in die Wege geleitet, so dass er ihn gar nicht mehr hatte vollenden, sondern ihm nur noch einen kleinen Anstoß hatte geben müssen? Garth wünschte, er hätte mehr über den Mechanismus dieses Zaubers gewusst. Und ganz gleich, ob der Mann den Zauber nun selbst bewirkt hatte oder nicht: Konnte er sicher sein, dass sich nicht noch mehr Aghaditen in Skelleth herumtrieben? Bis jetzt war er, soweit er wusste, nur den dreien begegnet, die er getötet hatte, aber das musste nicht heißen, dass es nicht noch weitere gab. Die Leiche musste irgendwo angekommen sein, dessen war er sich sicher. Hatte er alle getötet, die unmittelbar an der Ermordung seiner Frau, der Schändung ihrer Leiche und dem Mord an dem Tor wächter beteiligt gewesen waren? Es konnte noch andere geben, die sich irgendwo versteckt hielten. Und vorausgesetzt, es gab noch solche anderen, dann konnte er nicht sicher sein, ob die drei Kyrith überhaupt getötet hatten. Er hatte die feste Absicht, nach Ur-Dormulk zurückzukehren und das Monstrum zu töten und von dort aus nach Dûsarra wei terzureiten und das Hauptquartier des Aghad-Kults zu vernich ten; aber er wollte erst ganz sicher sein, dass der Außenposten des Kults in Skelleth zerschlagen war und er auch wirklich jene getö tet hatte, die an der Ermordung Kyriths beteiligt gewesen waren. Er versuchte nachzudenken, die wenigen Informationen, die er hatte, zu ordnen, in der Hoffnung, vielleicht irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der ihm weiterhelfen würde. Seine Ge danken schienen ihm irgendwie vage und unscharf. Er fragte sich, ob es nicht vielleicht übereilt von ihm gewesen war, den letzten des Trios so rasch zu töten; vielleicht wäre es klüger gewesen, er
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hätte ihn lebend gefangen und erst einmal gründlich ausge quetscht. Die letzten Worte des Mannes hatten irgend etwas von einer Überraschung gesagt – »in der Stadt«, hatte er gesagt. Damit konnte nur der bewohnte Teil Skelleths gemeint sein; und dort wahrscheinlich der Marktplatz. Vielleicht fand er dort den Hinweis, den er suchte. Ihm war vage bewusst, dass die Überraschung wahrscheinlich eine solche von der unangenehmen Art sein würde, aber das schi en ihm jetzt unwichtig. Beflügelt von der verlockenden Aussicht, vielleicht noch weiteren Aghaditen den Garaus machen zu können, machte er kehrt und schlug die Richtung zum Marktplatz ein. Und da es ihm zu zeitraubend erschien, den Windungen und Kurven der Straßen zu folgen, nahm er wieder den kürzesten Weg, jedes Hindernis mit dem Schwert des Bheleu aus dem Weg räumend. Diese Art des Vorankommens machte ihm so viel Spaß, dass er sich richtig zusammenreißen musste, als er die ersten bewohnten Häuser erreichte; er kämpfte seine Blutgier nieder, zwang sich zur Ruhe und folgte nunmehr dem Verlauf der Straßen. Koros ging brav hinter ihm her, offenbar unbeeindruckt von den feurigen Machtdemonstrationen des Schwertes und scheinbar gleichgültig, was die Wahl der Route betraf. Garth war noch ein paar Blöcke vom Marktplatz entfernt, als er das Heulen hörte. Es war ein unheimlicher, grausiger Laut, ein zitternder, hoher, klagender Ton, der immer wieder aufs neue anschwoll. Es hörte sich an wie eine menschliche Stimme, aber etwas an ihr war nicht normal; es sägte an seinen Nerven und bereitete ihm Unbehagen, trotz der Aura von Unbesiegbarkeit, die ihm das Schwert verlieh.
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Wenn es tatsächlich eine menschliche Stimme war, dann musste der Betreffende sich in einem Zustand unbeschreiblicher Gefühls aufwallung befinden. Er hatte Menschenwesen kreischen und brüllen und winseln gehört, aber ein solch herzzerreißendes Heu len hatte er noch nie vernommen. Es war kein gewöhnliches Schreien oder Kreischen; es hatte weder Worte noch Rhythmus noch Pausen: es war ein einziger konstanter Lautstrom. Beunruhigt beschleunigte er seinen Schritt; Koros blieb ihm auf den Fersen. Endlich erreichte er den Marktplatz. Schon, als er um die letzte Ecke bog, sah er die schweigende Menschenmenge, die sich dort versammelt hatte. Er gab Koros ein Zeichen zurückzubleiben und eilte nach vorn. Das Geheul kam von der gegenüberliegenden Sei te des Platzes, von Sarams Haus. Er warf einen raschen Blick über die Schulter, um sich zu verge wissern, dass Koros auch wirklich zurückblieb; er stand in der Straßeneinmündung und blickte nervös hin und her, so als ob das Geheul auch ihn beunruhigen würde. Nachdem Garth ihn einige Sekunden beobachtet hatte und sicher war, dass er sich ruhig verhalten würde, wandte er sich wieder um und spähte über die Köpfe der Menschenmenge. Etwas Dunkles hing im Türrahmen von Sarams Haus; die Schatten und die Entfernung verhinderten, dass er nähere Einzel heiten erkennen konnte, aber er spürte sofort die grausige Gewiss heit, dass das die Überraschung war, von der der Aghadit gespro chen hatte. Die Menge hatte einen Halbkreis um das Ding über der Türschwelle offen gelassen, und wie es schien, kam das Heu len nicht aus dem Haus, sondern aus diesem Halbkreis. Entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, marschierte Garth vorwärts und bahnte sich einen Weg durch die Menge; die Leute machten ihm, sobald sie ihn sahen, bereitwillig Platz, ja es -322-
schien ihm fast, als würden sie ihn vorwärtsdrängen. Er über querte den Platz so rasch, als wäre er leer, und erreichte bald den kleinen Halbkreis. Das schaurige Heulen kam von Frima. Vor der Tür ihres Hauses kniend, den Kopf zurückgeworfen, die Augen geschlossen und den Mund weit aufgerissen, schrie sie ihren unendlichen Schmerz hinaus. Garth hätte nicht geglaubt, dass ein solcher Laut von einer einzigen Frau, noch dazu einer so kleinen Frau wie Frima herrüh ren konnte; er starrte sie mehrere Sekunden lang in hilflosem Erstaunen an, bevor er überhaupt auf die Idee kam, die Ursache ihrer Verzweiflung zu ergründen. Das grausige Ding, das da, an seinen ausgestreckten Armen auf gehängt, im Türrahmen baumelte, war das, was von Saram, dem Baron von Skelleth, übriggeblieben war. Er war an den Handge lenken mit schweren Eisendornen an den Türrahmen genagelt worden. Seine Augäpfel waren herausgerissen, an ihrer Stelle gähnten blutige Höhlen, und Blut lief auch aus seinem offenen Mund, aus dem die Zunge herausgerissen worden war. Seine be stickte Robe war vorn aufgeschnitten worden; aus seiner Brust waren ihm breite Hautstreifen gerissen worden; die so ent standenen Wunden hatten die Form von vier Runen, welche ein Wort ergaben: AGHAD Trauer und Wut erfüllten Garth und vermischten sich mit einem Gefühl von Bestürzung und fassungsloser Hilflosigkeit angesichts solch bestialischer Grausamkeit; er spürte das Bedürfnis, irgend etwas zu tun, irgend etwas, um der unglücklichen Frau zu helfen, die da schreiend vor ihm kniete, irgend etwas, um auf diese neu erliche unerhörte Abscheulichkeit zu reagieren. Eine gewaltige -323-
Woge von Zorn brandete in ihm hoch, und er musste an sich hal ten, um nicht alles vor ihm in ein loderndes Flammenmeer zu tau chen und zu vernichten. »Du da!« rief er und zeigte auf den nächstbesten Mann, der stark genug aussah, um anpacken zu können. »Hol ihn da runter!« Der Mann zögerte. Garth knurrte und hob das Schwert des Bhe leu. »Helft ihm!« befahl er zwei anderen Dörflern. »Ihr Frauen, be reitet eine Lagerstatt für ihn.« Er suchte in der Menge nach Sarams Haushälterin und rief ihr zu: »Hol etwas, womit wir ihn kleiden können!« Die Dörfler bewegten sich für seinen Geschmack nicht schnell genug; er kämpfte den Drang nieder, sie auszulöschen. Frimas durchdringendes Wehklagen zerrte an seinen ohnehin bis zum Zerreißen gespannten Nerven. Schließlich hielt er es einfach nicht mehr aus. Er beugte sich zu ihr hinunter, packte sie grob bei der Schulter und zog sie hoch. Sie sträubte sich, wollte sich wieder auf die Knie sinken lassen. Er hielt sie mit einer Hand hoch und blaffte sie an: »Hör mir zu, Weib!« Ihr Geheul verstummte, als der Übermann sie schüttelte; ihr Kopf fiel nach vorn, und sie schlug die Augen auf. Ihr Blick blieb auf dem verstümmelten Leichnam ihres Mannes haften. Sie sprach kein Wort und weigerte sich, Garth anzuschauen. »Hör mir zu!« wiederholte Garth in etwas milderem Ton. »Dein Mann ist tot; daran kann niemand mehr etwas ändern. Du kannst ihn mit deinem Geheul nicht wieder lebendig machen. Du schadest dir nur selbst, indem du hier kniest und schreist.« Frima hing schlaff in seinem Griff, und ein mitleidiges Murmeln ging durch die Menge. Die Dorfbewohner verfolgten gebannt das Drama, das sich da in ihrer Mitte abspielte.
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»Reiß dich zusammen, Weib! Lass nicht den Abschaum, der dies getan hat, auch noch sehen — und sich daran weiden —, wie weh er dir getan hat!« Frima blickte Garth für einen kurzen Moment in die Augen, dann wandte sie ihren Blick wieder zurück zur Tür. Der Mann, den Garth ausgesucht hatte, versuchte mit einem Messer, das ir gend jemand ihm gegeben hatte, einen der Dorne aus dem Holz des Türpfostens zu lösen. Er bohrte und hantierte an dem Holz rahmen herum, vermied aber peinlich jede Berührung zwischen der Klinge und dem toten Fleisch des Barons. Die Dûsarranerin schluckte und streckte die Beine, um stehen zu können. Garth löste seinen Griff, und sie sank nicht zu Boden. »Der Aghad-Kult hat deinen Mann getötet und seinen Leichnam auf barbarische Weise geschändet; steh aufrecht, damit sie nicht auch noch die Genugtuung haben, auch seine Würde in den Schmutz gezogen zu haben«, flüsterte Garth Frima ins Ohr. Sie nickte. »Du bist die Baronin von Skelleth«, ermahnte Garth sie leise. »Entsprechend musst du dich benehmen.« Wieder nickte Frima, dann fragte sie heiser: »Wo sind sie?« Verdutzt fragte Garth: »Was?« »Wo sind die Bestien, die ihn ermordet haben?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Garth. »Ich habe einen von ihnen erst vor wenigen Momenten getötet, als er kam, um vor mir mit diesem jüngsten Verbrechen zu prahlen, aber es müssen noch andere dabei gewesen sein. Ich habe geschworen, sie alle zu ver nichten, wenn ich sie finde, und die Tempel ihres perversen Gottes mit ihnen.« »Ich komme mit dir«, sagte Frima.
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»Das ist nicht nötig«, sagte Garth. »Sarams Tod wird gerächt werden. Ich habe geschworen, den Kult zu vernichten, für das, was er Kyrith angetan hat, und diese neuerliche Schandtat be stärkt mich nur in meiner Entschlossenheit. Sie werden allesamt bitter dafür bezahlen.« »Ich komme mit dir«, beharrte Frima. »Sie haben meinen Mann getötet.« »Aber du bist noch am Leben, Frima, und du bist immer noch die Baronin von Skelleth. Du hast andere Sorgen und Pflichten.« »Sie sind mir gleich. Sind noch weitere Aghaditen in Skelleth, oder reitest du direkt nach Dûsarra?« Der erste Dorn löste sich aus dem Holz, und der Mann beeilte sich, Sarams heruntergefallenen Körper aufzufangen. Während zwei den Körper hielten, begann ein dritter den anderen Dorn zu lockern. »Ich weiß nicht, wo sie sind«, erwiderte Garth, »aber ich werde sie finden.« »Wir werden sie finden.« Garth wusste sich im Moment keinen Rat, wie er Frima von ih rem Vorhaben abbringen sollte. Er wich ihrem starren, durch dringenden Blick aus, mit dem sie ihn fixierte, und schaute den Männern zu, wie sie den zweiten Dorn herausholten. Als sie es schließlich geschafft hatten, standen sie einen Moment unschlüssig da, den Körper ihres Barons haltend. »Schafft ihn ins Haus!« befahl Garth. »Die Haushälterin wird euch einen Platz zeigen, wo ihr ihn hinlegen könnt.« Zwei der Männer trugen den Leichnam ins Haus, der dritte schloss die Tür hinter ihnen. Um Frimas Blick zu entgehen, schaute Garth sich um; der Marktplatz war noch immer voll von Gaffern. Wut kochte in ihm hoch. -326-
»Geht nach Hause!« rief er. »Hier gibt es nichts mehr zu sehen!« Die Antwort waren gedämpftes Gemurmel und das Scharren von Füßen, aber die Dörfler leisteten seiner Aufforderung nur widerstrebend Folge. »Verschwindet, habe ich gesagt!« brüllte er und hob das Schwert des Bheleu. Die Klinge war weißglühend und knisterte vor elektrischer Energie, und die Menge schmolz schnell dahin. In nerhalb weniger Augenblicke war der Platz leer bis auf den Über mann, die junge Witwe und das Kriegstier, das an der Nordweste cke wartete. Garth sah sich erneut um und überlegte, was er mit Frima anfangen sollte; er hielt es nicht für klug, sie jetzt heimzuschicken, in das Haus, in dem der verstümmelte Leichnam ihres Ehegatten wartete. Er wusste nicht, wie Menschenwesen sich verhielten beim Tode von einem, den sie liebten. »Gibt es irgendwelche Riten, die du jetzt vollführen musst?« fragte er. »Nein«, antwortete Frima. »Bei uns in Dûsarra sind prunkvolle Bestattungsrituale nicht üblich. Wenn die anderen Kulte jemanden töten, wird die Leiche in der Regel nicht gefunden; wir trauern, halten aber keine Zeremonien ab. Die Leute von Skelleth können eine Zeremonie abhalten. Wir haben dafür keine Zeit. Wir müssen los: ihn rächen.« Sie blickte über den Platz und sah Koros, der ge duldig dastand und wartete. Ohne zu zögern, schlüpfte sie unter Garths Arm hindurch und begann mit unsicheren Schritten zu Ko ros hinüberzugehen. Garth folgte ihr. Er hätte sie leicht festhalten können, aber er war nicht sicher, wie sie darauf reagieren würde. Auf halbem Wege geriet sie ins Stolpern; er sprang vor und fing sie auf, bevor sie hinfiel. Sie standen einen Moment lang da, bis sie das Gleichge wicht wiederfand. -327-
»Garth!« rief eine heisere, krächzende Stimme. Garth erkannte diese Stimme sofort. Er drehte sich um und sah zu seiner großen Verblüffung den König in der Tür des Gasthofes stehen; unter seinem Arm klemmte das Buch der Stille. »Es sind keine Anhänger Aghads in Skelleth«, sagte der alte Mann. »Ihre Teleportationszauber wirken auch über große Entfer nungen; sie haben direkt von ihrem Tempel in Dûsarra aus zuge schlagen.« Garth stand mit offenem Mund da, völlig verblüfft über diese unerwartete Rede. Er wusste, dass der König niemals freiwillig ohne Grund mit irgendwelchen Informationen herausrückte. »Dann müssen wir nach Dûsarra reiten«, sagte Frima ruhig. Der Vergessene König nickte, seinen Kopf ganz sachte unter sei ner Kapuze hin und her bewegend. »Warum sagst du uns das?« fragte Garth. »Damit ihr keine Zeit vergeudet.« »Schwörst du beim Gott-Dessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht, dass du die Wahrheit sprichst, um den Preis, dass alle Schwüre, die ich dir geleistet habe, ungültig werden, so du lügst?« Etwas noch Bindenderes fiel Garth beim besten Willen nicht ein; er wuss te, dass der König alles andere als erpicht darauf war, auf die Eide zu verzichten, die Garth ihm geschworen hatte. Er war erstaunt über seine eigene Schlauheit und Geistesgegenwart; in der letzten Zeit war klares und rasches Denken nicht seine Stärke gewesen. »Ich schwöre es«, antwortete der König. Garth schaute auf die Schatten, die die Augen des alten Mannes verbargen, und auf die feste Linie seines Mundes, eine dünne ge rade Furche in der trockenen runzligen Haut über dem schütteren weißen Bart, der von seinem Kinn herabhing. Er schaute auf Frima, die offensichtlich von ihm erwartete, dass er sie auf ihrem -328-
Rachefeldzug begleitete, und auf Koros, der immer noch geduldig harrte, und schließlich auf das Schwert des Bheleu, das von seiner rechten Hand hing und dessen roter Stein schwach glomm. Er konnte sich immer noch nicht erklären, wieso der Vergessene König plötzlich so gesprächig war. Vielleicht, überlegte er, ging es dem alten Mann darum, das Schwert möglichst schnell wieder zu rückzuerhalten, bevor seine Macht über Garth zu groß wurde; folglich musste ihm daran gelegen sein, dass Garth seinen Ra chefeldzug so rasch wie möglich hinter sich brachte. Das lag auch in Garths eigenem Interesse. »Nun gut«, sagte er schließlich. »Dann reite ich also nach Dûsar ra und vernichte dort den Kult. Das habe ich geschworen, und ich werde diesen Schwur einlösen. Aber ich gehe allein.« »Nein!« schrie Frima. »Ich komme mit dir!« »Ich will nicht, dass du in Gefahr gerätst, Frima, und die Reise wird sehr gefährlich sein. Du musst in Skelleth bleiben.« Seine Hauptsorge war, dass das Schwert des Bheleu von ihm Besitz er griff und ihn womöglich dazu brachte, in einem Anfall von Blut rausch Frima zu töten, aber er hatte keine Lust, das zu erklären. Es würde sich zu sehr nach einem Eingeständnis von Schwäche anhören, wenn er die Befürchtung äußerte, sich der Kontrolle über seinen eigenen Körper nicht sicher zu sein. »Ich muss Saram rächen! Es gibt nichts, was mich in Skelleth hält. Außerdem brauchst du einen Führer, der sich ir, Dûsarra auskennt, und einen ortskundigeren als mich findest du nicht. Ich bin dort aufgewachsen.« »Nein«, begann Garth, aber bevor er fortfahren konnte, fiel Frima ihm ins Wort. »Außerdem – glaubst du vielleicht, hier wäre ich sicher? Du hast ja gehört, was der alte Mann gesagt hat: Die Aghaditen können überall zuschlagen, und sie haben soeben noch gehört, wie du ge -329-
sagt hast, du wolltest nicht, dass ich in Gefahr gerate. Ich bin jetzt eine prächtige Zielscheibe für sie. Wenn du mich nicht mitnimmst, dann folge ich dir eben, ob dir das passt oder nicht!« Der Übermann schaute in das Gesicht der Menschenfrau und sah, dass sie es bitter ernst meinte. Ihr Argument, dass sie in Skelleth in Gefahr schwebte, war nicht von der Hand zu weisen, ebenso wenig ihr Argument, dass sie ihm mit ihrer Ortskenntnis von großem Nutzen sein konnte. Sie war in seiner und Koros‘ Ob hut gewiss sicherer aufgehoben als in Skelleth, ganz zu schweigen von der Gefahr, in die sie sich bringen würde, wenn sie versuchte, sich auf eigene Faust nach Nekutta durchzuschlagen. »Also gut«, sagte er. »Wir reisen jedoch über UrDormulk; ich habe dort noch etwas zu erledigen.« Das Monstrum hatte schon zu lange gewartet. Garth hatte ein schlechtes Gewissen, dass er so lange gesäumt hatte. »In Ordnung«, erklärte Frima sich einverstanden. »Wir brauchen Proviant«, sagte Garth, dessen Sinn für das Prak tische sich meldete. »Wir können uns unterwegs etwas zu essen besorgen«, er widerte Frima. »Ich will nicht länger warten.« »Ich werde für euer leibliches Wohl sorgen«, sagte der Vergessene König. Verblüfft schaute Garth ihn an. »Du? Von hier aus?« Der alte Mann neigte den Kopf zur einen Seite, dann zur anderen, in einer so knappen und fließenden Bewegung, dass man es kaum als Kopfschütteln hätte bezeichnen können. »Ich komme mit«, sagte er.
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Kapitel 19 Je weiter sich die kleine Gruppe von Skelleth entfernte, desto mehr wuchs in Garth das Gefühl, dass er sich gegen seinen Willen zum Handeln hatte drängen lassen. Er hatte eigentlich nicht die Absicht gehabt, so überstürzt von Skelleth aufzubrechen. Kaum eine halbe Stunde, nachdem er Sarams Tod entdeckt hatte, war er schon zum Südwesttor hinausgeritten, Frima hinter sich auf dem Sattel, der Vergessene König zu Fuß an seiner Seite. Er versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass jede ge wonnene Minute eine Minute weniger war, in der das Ungeheuer in Ur-Dormulk wüten konnte, und dass er ohnehin schon viel zu viel Zeit mit seinem unsinnigen Zerstören von leeren Ruinen vergeudet hatte. Trotzdem fühlte er sich irgendwie unvorbereitet und gehetzt. Wie er so zurückdachte, konnte er sich nur kopfschüttelnd über seine Bereitwilligkeit wundern, mit der er kostbare Zeit mit dem sinnlosen Niederlegen von Trümmern vertan hatte; dagegen die drängende Eile, die seine beiden Weggefährten an den Tag gelegt hatten! Er hatte den Verdacht, dass das Schwert irgendwie mit sei ner Trödelei zu tun hatte und auch mit seinem heftigen Verlangen, die Aghaditenhunde zu erledigen. Was auch immer der Grund war, er hatte sich töricht verhalten. Hätte er nicht getrödelt, dann hätten die Kultisten sich vielleicht gar nicht die Mühe gemacht, Saram zu töten. Er war sicher, dass Saram noch am Leben gewesen war, als er die beiden ersten Mörder getötet hatte. Hätte er Skelleth darauf sofort verlassen, wären die Aghaditen vielleicht nicht zurückgekehrt, und Saram wäre vielleicht noch gesund und munter, und sein Weib säße jetzt sicher und zufrieden daheim im Sessel und nicht verzweifelt und
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rachedurstig auf dem Rücken eines Kriegstieres. Doch statt sofort umzukehren, hatte er in den Ruinen herumgewütet und Zeit vergeudet und den Aghaditen die Möglichkeit gegeben, einen weiteren abscheulichen Mord zu begehen. Konnte es sein, dass Bheleu ihn absichtlich abgelenkt hatte, um die Sache seiner Brudergottheit zu unterstützen? War es möglich, dass Aghad selbst ihn vielleicht irgendwie beeinflusst hatte? Oder war alles bloß ein Werk des Zufalls? Steckte vielleicht gar der Vergessene König dahinter? Immerhin war er genau im richtigen Moment im Türrahmen erschienen, mit genau der Information, die Garth und Frima veranlassen würde, sich unverzüglich auf den Weg zu machen. Der Übermann warf einen verstohlenen Blick nach links. Die gelbgekleidete Gestalt schritt mit einer Leichtigkeit und Ge schmeidigkeit dahin, die der Koros‘ in nichts nachstand. Das Buch der Stille stak noch immer unter dem rechten Arm des alten Mannes, und Garth erinnerte sich, dass der König ihm gesagt hatte, dass allein das Buch ihn in die Lage versetzen könne, sich frei außerhalb von Skelleth zu bewegen. Nun würde er keinen Übermann mehr brauchen, der Botengänge für ihn verrichtete. Welchen Nutzen konnte der alte Mann aus Sarams Tod ge wonnen haben? Und was das betraf: Was konnten Aghad oder Bheleu vom Tod des Barons haben? Garth wäre auch ohne diesen zusätzlichen Ansporn schon sehr bald nach Dûsarra aufgebro chen, und der König hätte ihn begleiten oder ihm folgen können. Sarams Ermordung hatte seinen Hass auf die Kultisten nur noch gesteigert – sofern das überhaupt noch möglich war – und Frima dazu bewegt, ihm zu folgen, aber das war auch schon alles. Was konnte irgendwer davon haben, dass Sarams Witwe ihn begleite te? Und was änderte es an seinem Entschluss, die Aghaditen zu vernichten, wenn sein Hass noch weiter angestachelt wurde?
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Garth konnte keinen Sinn darin entdecken und sah sich somit zu der Schlussfolgerung genötigt, dass nicht irgendeine Manipulati on seitens des Königs oder Bheleus oder Aghads zur Ermordung des Barons geführt hatte, sondern Zufall. Das bedeutete, dass er selbst indirekt die Schuld am Tode Sarams trug: Hätte er nicht sei ner Laune nachgegeben, in den Ruinen herumzustöbern, dann wäre es wahrscheinlich nicht zu der Bluttat gekommen. Wieder einmal hatte er Tod und Unglück gebracht, und diesmal waren die Leidtragenden — und das Opfer — seine besten Freunde unter den Menschenwesen. Der Aghad-Kult würde bitter dafür bezahlen, und wenn er es ir gend zuwege bringen konnte, dann würden die Götter selbst, Ag had und Bheleu, schwer büßen für all das, was sie ihm angetan hatten. Haggat beobachtete die kleine Gruppe, so gut er konnte, verzweifelt nach einem Weg suchend, wie er sie aufhalten oder wenigstens ablenken konnte. Er vermochte weder das Bild des Übermannes scharf in seinem Sehglas einzufangen noch das des alten Mannes in Gelb; er musste sich mit den Tatzenabdrücken des Kriegstieres oder mit dem Gesicht des Mädchens und den Spiegelungen der Landschaft in ihren Augen begnügen. Und selbst das war nur mit größter Mühe und viel Geduld möglich, denn die Nähe des Schwertes wirkte sich sehr störend auf den Empfang aus. Der Hohepriester hatte damit gerechnet, dass Garth noch tage lang in Skelleth herumsuchen würde; diese Zeit hätte der Kult nutzen können, um falsche Fährten zu legen. Statt dessen aber war der Übermann sofort aufgebrochen, und es bestand kein Zweifel, dass Dûsarra sein Ziel war.
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Haggat verstand nicht, was geschehen war. Irgendetwas durch kreuzte seine Pläne. Er hatte den Verdacht, dass es der mysteriöse alte Mann war. Der Übermann hatte auf dem Markt mit ihm gesprochen und sofort danach beschlossen, unverzüglich von Skelleth aufzubrechen. Wer, fragte sich Haggat, war dieser Mann? Mit dem Glas konnte er ihn immer nur ganz kurz — und dann auch nur sehr verschwommen — einfangen; das meiste, was Haggat von ihm wusste, hatte er durch seine Spitzel erfahren und anhand von Spiegelungen in Fensterscheiben oder in den Augen anderer. Schon einmal war er dem Kult in die Quere gekommen, als er die listenreich herbeigeführte Schlacht zwischen Garth und dem Rat der Höchsten beendet hatte und dem Übermann das Schwert des Bheleu abgenommen hatte, damit gleichzeitig mehreren Ratsmit gliedern das Leben rettend. Das hatte sich indes im nachhinein als sehr nützlich für den Kult erwiesen, indem es Garth verwundbar gemacht und den Anhängern Aghads ermöglicht hatte, mehrere der überlebenden Zauberer aufzuspüren, zu töten und ihrer Zau bermittel zu berauben. Aber jetzt hatte der alte Mann dem Übermann das Schwert zu rückgegeben und schien ihn auf seinem Rachefeldzug gegen die Sekte zu begleiten und zu unterstützen. Das ging zu weit. Alle drei mussten getötet werden. Der Kult konnte sich jetzt keine zeitaufwendigen Planereien mehr leisten, und auch für sol che netten Spielereien wie die Ermordung von Garths Weib oder dem Baron von Skelleth war jetzt keine Muße mehr. Nur vier von jeder Sorte von Transportkristallen waren dem Kult noch verblieben; sie durften nicht verschwendet werden. Zu dem war das Schwert des Bheleu ein wirkungsvoller Schutz gegen jede Art von Angriff — auch gegen solche magischer Natur. -334-
Einen weiteren Fehlschlag konnte Haggat sich nicht leisten. Er warf einen Blick auf das narbenübersäte Gesicht seiner persönli chen Altardienerin; er war sich sehr wohl darüber im klaren, dass sie ihn mit Freuden als Hohepriester ablösen würde, sollte das Prestige des Kults durch ihn Schaden erleiden. Er musste jetzt messerscharf nachdenken. Er erinnerte sich nur allzu gut daran, dass seinerzeit selbst die geballte Zauberkraft des Rates der Höchsten nichts gegen die Kraft des Übermannes und das verfluchte Schwert hatte ausrichten können. Aber eine gewisse Galgenfrist blieb ihm noch: Die Reise von Skelleth nach Dûsarra dauerte mindestens zehn Tage. Vielleicht war es das beste, er nutzte jede Sekunde dieser Zeit zur Vorbe reitung eines Hinterhalts. Er würde das Trio sorgfältig im Auge behalten und seine Route genau verfolgen, aber er würde keinesfalls den Fehler begehen, noch mehr von den rar gewordenen Zaubermitteln aus dem Ma gievorrat des Kults für nutzlose Spielereien zu vergeuden; ebenso wenig würde er sich zu fruchtlosen Attacken hinreißen lassen, die das Schwert des Bheleu mühelos abwehren konnte. Zumindest nicht, solange er nichts Raffinierteres und Wirkungsvolleres er sonnen hatte als eine direkte Attacke. Vielleicht würden die drei in ihrer Wachsamkeit nachlassen, wenn sie sich in Ruhe gelassen wähnten oder — aber das wäre fast zu schön gewesen, um wahr zu sein — zu der Überzeugung ge langen, dass Garth wohl doch alle an den Morden beteiligten Kultisten getötet hatte, und kehrtmachen. Haggat fragte sich abermals, wer wohl der alte Mann sein moch te und wieso er Garth das Schwert zurückgegeben hatte. Als Garth zum ersten Mal von weitem die Mauern von Ur-Dor mulk sichtete, stellte er zu seiner Verwunderung fest, dass sich auf -335-
den Zinnen etwas bewegte. Die Entfernung war zu groß, als dass es sich um patrouillierende Wachtposten hätte handeln können; selbst größere Truppenbewegungen wären auf eine solche Entfer nung kaum so deutlich wahrnehmbar gewesen. Als sie näher kamen, erkannte er, dass das, was er da sah, der riesige Kopf des Ungeheuers war, der über die Befestigungswälle ragte; die Bewegung entstand dadurch, dass es ungeduldig hin und her marschierte. Den Zauberern war es offenbar also nicht ge glückt, es in den See zu treiben. Der Hang unterhalb der Mauer war schwarz von Menschen, wenngleich sie, wie er rasch sah, nicht mehr gar so dichtgedrängt aufeinanderhockten wie noch neulich, als er abgereist war. Überall standen primitive Zelte, bestehend aus Gewändern und Bettlaken, die über provisorische, aus Stöcken und Holzbrettern gezimmerte Gestelle gespannt waren. An den Rändern patrouillierten noch immer Gardisten mit ihren Messinghelmen; weitere Soldaten waren an der Basis der Mauer und in dichter Formation vor dem Tor postiert; ihre Helme glänzten in der Mittagssonne. Die spärli che Grasnarbe auf dem Hang war von den unzähligen Füßen in den Lehm getreten worden. Das riesige Monstrum stapfte hinter der Mauer auf und ab, aber die Leute schienen es kaum noch zu beachten; offenbar hatten sie sich schon an ihre Situation gewöhnt. Das erstaunte Garth. Ebenfalls erstaunte ihn, dass das Ungeheuer hinter der Mauer blieb, obgleich offensichtlich war, dass es aus der Stadt heraus wollte. dass es die Mauer nicht zu durchbrechen vermochte, konn te der Grund nicht sein; schließlich war es ja auch aus seinem Ge fängnis ausgebrochen und hatte die Gebäude der Stadt zerstört, als wären sie Spielzeuge.
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Da fiel ihm der lange Hang auf der anderen Seite des Walles ein. Wahrscheinlich war die Kreatur nicht in der Lage, ihn zu er klimmen. Und dann waren da ja auch noch die beiden Zauberer. Es war ihnen offensichtlich nicht gelungen, den Leviathan in einen der beiden Seen zu treiben, geschweige denn ihn zu vernichten, aber vielleicht waren sie in der Lage, ihn am Ausbrechen aus der Stadt zu hindern. Das wiederum setzte voraus, dass sie bei ihren Versuchen, die Bestie zu besiegen, nicht zerquetscht worden waren. Die Soldaten, die um das provisorische Lager patrouillierten, sichteten die drei bereits, als sie noch ein gutes Stück entfernt waren. Das war kaum überraschend; der auf dem Rücken seines Kriegstieres sitzende Übermann, der auch die höchsten Halme am Wegesrand weit überragte, war in dem flachen Gelände auf eine Entfernung von mindestens tausend Schritten zu sehen. So konn ten die Wachen gar nicht umhin, ihn zu sehen; hätten sie ihn nicht gesehen, dann hätten sie ihre Pflicht als Wachtposten fürwahr grob vernachlässigt. Garth wusste, dass sie ihn gesehen hatten, aber das beunruhigte ihn nicht. Er hatte keinen Grund, sich zu verstecken; er war ge kommen, um den Bewohnern der Stadt einen lebenswichtigen Dienst zu erweisen. Er sah die Soldaten aufgeregt hin und her rennen; offenbar gaben sie die Meldung von seinem Herannahen weiter. Wenig später begann sich eine Gruppe Soldaten auf dem Weg zu formieren, wahrscheinlich, um ihn und seine Gefährten zu begrüßen und — wenn nötig — aufzuhalten. In Übereinstimmung mit seiner Vorstellung von der seiner Stel lung angemessenen Würde tat Garth so, als bemerke er sie nicht, sondern ritt unbeirrt und hocherhobenen Hauptes weiter, bis er nur mehr etwa ein Dutzend Schritte von ihnen entfernt war. Erst -337-
dann ließ er sich herbei, eine sichtbare Reaktion auf die Anwesen heit eines Hindernisses auf seinem Weg zu zeigen, und flüsterte seinem Kriegstier ein Kommando zu. Er wusste zwar, dass Koros mühelos durch die kleine Gruppe hätte hindurchbrechen können, egal ob sie versucht hätte, ihn daran zu hindern, oder nicht, aber das wäre kaum diplomatisch gewesen. Also hieß er das Kriegstier anhalten und starrte mit düsterem Blick auf die kleine Gruppe vor ihm. Er spürte eine plötzliche kleine Anwandlung der vertrauten Mordlust, einen heiß aufwallenden Drang, Koros vorwärtszu treiben und die Soldaten mit dem Schwert des Bheleu niederzu hauen, aber er kämpfte ihn nieder. »Seid gegrüßt«, sagte er statt dessen. Ein Offizier mit einem goldenen Federbusch auf seinem Helm erwiderte: »Sei gegrüßt, Übermann.« »Kann ich passieren?« »Das kommt darauf an. Wie du sehen kannst, ist die Lage in UrDormulk gegenwärtig sehr gespannt.« Der Mann machte eine weit ausholende Armbewegung über Hügel. »Ein Ungeheuer«, sagte er mit einem Armschwenk in Richtung des Befestigungswalls, »hat uns aus unseren Häusern vertrieben. Was führt dich hierher?« »Ich bin gekommen, euch von dieser lästigen Kreatur zu befrei en.« Der Offizier starrte Garth einen Moment lang fassungslos an, dann wandte er sich zu einem seiner Männer und murmelte: »Der Kerl ist von Sinnen.« Der Soldat nickte beipflichtend. Garth wunderte sich einmal mehr darüber, wie unterentwickelt das Hör vermögen der Menschenwesen doch sein musste; er hatte die Be merkung mitbekommen, ohne sich anstrengen zu müssen. Es folgte ein Moment des Schweigens; offenbar überlegte der Offizier, wie er den verrückten Übermann am besten abwimmeln konnte. Schließlich hob er den Blick wieder zu Garth und sagte: -338-
»Verzeih, Übermann, aber ich muss mich erst mit meinen Vorgesetzten beraten.« »Soldat«, meldete sich eine abstoßende, krächzende Stimme. Verblüfft fuhr der Offizier herum; offenbar schien ihm die Anwesenheit des Vergessenen Königs, der neben dem Kriegstier stand, erst jetzt aufzufallen. »Lass uns passieren«, sagte der alte Mann. »Was kann es schaden, wenn der Übermann sich unbedingt selbst zerstören möchte?« Der Offizier starrte ihn eine Sekunde lang an, dann wandte er den Blick ab; offensichtlich bereitete es ihm höchstes Unbehagen, den Vergessenen König anzuschauen. Alsdann sagte er mit einem Achselzucken. »Du hast recht, alter Mann. Also, ihr könnt passieren.« Garth war mindestens genauso verblüfft über die Intervention des Königs, wie es der Soldat gewesen war. Der alte Mann wurde anscheinend zunehmend gesprächiger. Garth fragte sich, ob dies eine Folge des Reisens war, des Verlassens seiner vertrauten Um gebung, oder ob es vielleicht ein Nebeneffekt des Buches der Stille war. Vielleicht hatte die scheinbare Nähe seines langersehnten Zieles ihn aufgeheitert und aus seiner düsteren Schweigsamkeit herausgerissen. Wenn das der Fall war, dann würde er bald ein böses Erwachen erleben, denn Garth hatte nicht die Absicht, dem alten Mann noch weiter behilflich zu sein. Die Soldaten bildeten eine Gasse, und der Offizier gab Garth ein Zeichen, dass sie passieren konnten. Garth gab Koros das Kom mando, sich in Bewegung zu setzen. Er spürte, wie Frima hinter ihm versuchte, eine bequemere Sitzhaltung einzunehmen.
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Auf ein Zeichen des Offiziers hin setzten sich die beiden Gardis tengruppen ebenfalls in Bewegung und eskortierten den Über mann und seine Begleiter zum Stadttor. Dort angekommen, wurden sie in die Obhut eines anderen Offi ziers und seiner Gruppe von zwölf grüngekleideten Gardisten übergeben, welche die Neuankömmlinge durch das Doppeltor zum oberen Ende der großen Freitreppe geleiteten, die hinunter in die Stadt führte. Dort hielt Garth sein Reittier an. Die Soldaten zogen sich eilig zurück und schlossen das Tor hinter sich, Garth und seine Beglei ter allein in der Stadt zurücklassend, von Angesicht zu Angesicht mit dem riesigen Monstrum. Die Kreatur betrachtete die Neuankömmlinge mit lustlosem In teresse. Sie stand etwa hundert Schritte von ihnen entfernt am Fuße des langen Gefälles unterhalb der Mauer, auf der Rückseite eines Häuserblockes, den sie in Grund und Boden getrampelt hatte. Garth ließ seinen Blick über die Stadt schweifen. Was er sah, erfüllte ihn mit Entsetzen. Das Monstrum hatte einen großen Teil der Häuser zerschmettert und niedergetrampelt und die halbe Stadt in ein Trümmerfeld verwandelt. Ein oder zweimal war es durch die Straßen und Keller in die Krypten eingebrochen, große Löcher hinterlassend, die zum Teil mit den Trümmern der Gebäu de angefüllt waren, die ehemals an der betreffenden Stelle gestanden hatten. Ein Dutzend Brände loderte im hellen Tages licht; im Verein mit anderen kleineren Feuern und Schwelbränden sandten sie gut dreißig mehr oder weniger dicke Rauchsäulen himmelwärts. Er war erleichtert, keine Leichen zwischen den Trümmern liegen und keine Aasvögel am Himmel kreisen zu sehen; offenbar hatten die Einwohner von Ur-Dormulk noch ausreichend Zeit zum Flie -340-
hen gehabt. Gleichwohl war das Bild der Verwüstung, das sich seinen Augen bot, niederschmetternd und erschütternd; weniger als eine Woche zuvor hatte er an der gleichen Stelle gestanden und eine intakte und blühende Stadt gesehen, wo jetzt nur noch ein schwelendes Trümmerfeld lag. Was das Ganze noch schlimmer für ihn machte: dass er selbst diese Verheerung verursacht hatte. Wäre er nicht gewesen, würde das Monstrum noch in seinem unterirdischen Verlies schlum mern. Er richtete den Blick wieder auf das Ungeheuer. Es stand noch immer an derselben Stelle und musterte ihn. Er war sich noch unschlüssig, was er als nächstes tun sollte. Er war sicher, dass das Schwert die Kraft besaß, die nötig war, das Monstrum zu töten, aber er hatte noch nicht entschieden, wie er diese Kraft am besten und wirkungsvollsten einsetzen sollte. Vielleicht, überlegte er, war es das beste, wenn er sich der Bestie zu Fuß näherte. Er saß ab, ein wenig linkisch, weil Frima direkt hinter ihm saß. Er überlegte, was er mit der Dûsarranerin anfangen sollte, und entschied, sie dort zurückzulassen, wo sie war: auf dem Rücken von Koros. Das Kriegstier war, abgesehen von ihm selbst, der bes te Schutz, den sie haben konnte. Er blickte zu ihr hinauf; sie saß reglos im Sattel und starrte zu rück, die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Der schnelle, anstrengende Ritt von Skelleth bis hierher hatte ihr arg zugesetzt, dessen war er sicher; sie war offensichtlich er schöpft, aber immer noch voller Entschlossenheit. Sie schwieg. Garth zuckte die Achseln und sah sich um; zu seiner Überra schung sah er, dass der Vergessene König sich von ihnen entfernt hatte. Er fuhr herum und entdeckte den alten Mann zu seiner Ver
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blüffung am Fuße der Treppe; er ging ruhigen Schritts die Allee hinunter, geradewegs in das verwüstete Stadtzentrum. Der Übermann starrte ihm einen Moment lang hinterher, dann wandte er sich wieder ab. Der alte Mann konnte auf sich selbst aufpassen; es war nicht Garths Sache, wenn er sich auf eigene Faust von ihnen trennte. Garth langte in den Harnisch von Koros und zog das Schwert des Bheleu aus seinem Haltegurt an der Flanke des Tieres. Sofort loderte die Klinge grellweiß auf, und der rote Edelstein im Griff der Waffe erstrahlte in karmesinrotem Feuer; Garth fühlte sich von einer Woge über schäumender Kraft durchflutet, von ausgelassenem Enthusiasmus und wilder Angriffslust. Er war auch während der Reise nie vollkommen frei von der Macht des Schwertes gewesen, aber jetzt durchströmte seine Kraft ihn unge hindert. Er warf den Kopf zurück und brüllte vor Lachen. Der König, Sarams Witwe, das Kriegstier, sie alle waren in diesem Moment vergessen; das einzige, was zählte, waren das Schwert, seine ungeheure Macht und das Objekt seiner Angriffslust. Frima beäugte das gleißende Schwert mit Angst; sie war er schöpft von dem Ritt, immer noch benommen von dem Schock über den Tod ihres Gatten und erfüllt von einem Gefühl des Ekels, aber gleichwohl noch wach genug, um die Gefahr zu erkennen, die das Schwert darstellte. Sie rutschte auf dem Sattel nach vorn und beugte sich vor, um Koros sofort befehlen zu können, sie in Sicherheit zu bringen, sollte Garth plötzlich anfangen, Amok zu laufen. Etwa zur gleichen Zeit wurden Chalkara und Shandiph, die auf dem Befestigungswall standen und unter größter Mühe den Zau berbann aufrechterhielten, der die Bestie daran hinderte, den Hang hinaufzusteigen und die Mauer zu durchbrechen, von einem grellweißen Licht aufgeschreckt, das irgendwo ein Stück
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weiter links von ihnen plötzlich aufblitzte. Und während sie sich noch verblüfft anschauten, vernahmen sie ein irres, unmenschli ches Lachen. »Was ist das?« fragte Chalkara. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete Shandiph. »Ich glaube, wir sollten einmal nachschauen.« Chalkara nickte zögernd. Die zwei traten aus dem Pentagramm, das sie in leuchtendem Blau in den Stein der Mauerkrone geätzt hatten, und beugten sich zwi schen zwei Schartenbacken über die Brustwehr. Garth — oder wer immer seinen Körper benutzte — sah sie, schenkte ihnen aber keine Beachtung; das einzige, was ihn inter essierte, war das Monstrum. Frima sah eine Locke von Chalkaras Haar, hielt sie aber für einen militärischen Wimpel, der auf den Zinnen im Wind flatterte. Die Kreatur selbst stand reglos und starrte wie hypnotisch auf den Übermann mit dem lodernden Schwert, der die Treppe her untermarschiert kam, geradewegs auf sie zu. Sie schien die beiden Zauberer gar nicht wahrzunehmen. Als Garth fand, dass er nahe genug heran war (er stand jetzt auf ebener Erde, nicht weit vor der untersten Treppenstufe und vielleicht ein Dutzend Schritte von den gigantischen Füßen des Ungeheuers entfernt), hob er das Schwert, nahm all seinen Willen zusammen und schleuderte einen ungeheuren Flammenstrahl wider die Bestie. Das gleißende Licht der Flamme blendete die beiden Zauberer sekundenlang; sie zogen hastig den Kopf hinter die Zinne zurück und tasteten sich blinzelnd zu ihrem Pentagramm. Auch Frima blinzelte und drehte den Kopf zur Seite, aber sie konnte nicht so leicht in Deckung gehen. Sie war jedoch weiter entfernt und hatte nicht direkt auf das Schwert geschaut; als der
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erste Flammenstoß vorüber war, blickte sie vorsichtig wieder hin, kniff die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen und schaute sich das Spektakel gebannt an. Der erste Flammenstoß traf das Monstrum voll an der Brust und züngelte um sein Kinn herum; das Brüllen der Flammen war so laut, dass die Schmerzensschreie der Bestie — so sie solche aus stieß — davon verschluckt wurden. Frima konnte durch ihre zusammengekniffenen Augen nicht viele Einzelheiten erkennen, aber es kam ihr vor, als würde die Flamme das Fleisch des Monstrums regelrecht wegschmelzen, wie ein Wasserstrahl Schlamm wegspült. Und der Gischt einer sich brechenden Woge gleich spritzten Tropfen flüssigen Feuers mit der Wucht von Geschossen in alle Richtungen, brachten die Luft zum Sieden und erzeugten feurige Wirbelwinde, die an den Glied maßen des Monstrums zerrten. Das Ungeheuer griff sich an die Brust, und der Feuerstrahl spritzte ihm über die Klauen und schmolz binnen Sekunden das Fleisch und die Krallen weg; zurück blieben die bloßen Knochen. Das Monstrum wankte, neigte sich nach vorn, fiel aber nicht; es war, als würde der Feuerstrom, der sich aus dem Schwert ergoß, indem er es vernichtete, es gleichzeitig durch seine schiere Wucht aufrecht halten. Das Lodern in seinen Augen war beim ersten gleißenden Auf blitzen des Schwertes erloschen, buchstäblich verblasst angesichts seiner titanischen Macht, und nun, während Frima schaute, be gannen die gelben Augäpfel der Bestie glasig zu werden. Sie starb, aber sie konnte nicht fallen. Der Feuerstrom verebbte für einen kurzen Augenblick, und Frima sah, dass die Kinnlade der Kreatur vollständig ihres Fleisches entblößt war; weiß leuchtete der blanke Knochen im
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gleißenden farblosen Licht des Schwertes. Es floß weder Blut noch Schleim: die Hitze des Feuers hatte alles sofort weggeätzt. Das Mädchen erschauderte, als es sich vorstellte, welch unvor stellbare Schmerzen die Kreatur fühlen musste, wenn sie von der Art war, dass sie überhaupt Schmerzen empfinden konnte; Frima spürte, wie sich ihr Magen umdrehte. Und dann, endlich, fiel der Leviathan; er fiel nicht eigentlich vorwärts, sondern sank buch stäblich in sich zusammen, einer in der Sonne schmelzenden Wachskerze gleich: der seines Fleisches entblößte Hals knickte nach vorn, und der Kopf rutschte in das Loch, das an der Stelle war, wo sich ehedem die Brust gewölbt hatte. Frima wandte sich würgend und angeekelt ab, während Garth unbeirrt fortfuhr, des Schwertes zerstörerisches Feuer wider die Kreatur zu speien, ihr buchstäblich das Fleisch von den Knochen zu schmelzen, sie im wahrsten Sinne des Wortes zu vernichten. Frima hielt die Augen fest geschlossen und weigerte sich, den Blick zurück zu der Szenerie des Grauens zu wenden. Abge kämpft und erschöpft von dem langen Ritt und den schrecklichen Schicksalsschlägen, die sie getroffen hatten, sank sie nach vorn auf den Hals des Kriegstieres und fiel in einen unruhigen Däm merschlaf. Droben auf dem Wall dauerte es einige Minuten, ehe die beiden Zauberer wieder sehen konnten, aber selbst dann wagten sie es nicht, zu ihrem vorherigen Aussichtspunkt zurückzukehren, aus Furcht, von dem unregelmäßig zuckenden, gleißenden Licht er neut geblendet zu werden. Als auch der letzte Lichtschein erloschen war, pirschte sich Chal kara vorsichtig zu der Bresche; sie gab Shandiph ein Zeichen, zu bleiben, wo er war. Obwohl das Licht aufgehört hatte, wurde sie erneut fast ge blendet, diesmal von Flugstaub: ein feines graues Pulver, das -345-
durch die Luft wehte, zwang sie, das Gesicht abzuwenden und sich die Augen mit dem Zipfel eines Ärmels auszuwischen. Sie betrachtete prüfend die Substanz, die an dem Stoff klebte; es war weiße Asche. Durch dieses Erlebnis vorgewarnt, kniff sie die Lider zu einem schmalen Schlitz zusammen und spähte vorsichtig erneut durch die Bresche zwischen den beiden Schartenbacken. Sie sah keine Spur von dem Ungeheuer. Der Wind legte sich langsam, und die Asche, die er aufgewirbelt hatte, sank zu Boden. Blinzelnd, mit heftig tränenden Augen, spähte Chalkara nach un ten, um zu sehen, was von dem Übermann übrig geblieben war und wohin die Spur des Monstrums führte. Garth war noch immer da, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, aber er stand nicht mehr hoch aufgereckt und mit erhobenem Schwert da, sondern er kniete, sich schwer auf den Griff eines Schwertes stützend, in dem Chalkara im ersten Moment nicht dieselbe Waffe wiedererkannte. Dieses Schwert war schwarz, von dem obsidian artigen Stein in seinem Griff bis zur Mitte seiner Klinge; der Rest der Klinge, von der Mitte bis zur Spitze, stak in einem Schutt haufen, der die Waffe aufrecht hielt. Die Arme des Übermannes hingen schlaff über den Parierstangen, seine Augen waren halb geschlossen, sein Mund war halb offen: er bot ein Bild vollkom mener Erschöpfung. Dort, wo das Monstrum gestanden hatte, war jetzt nur noch eine Wolke wallender Asche zu sehen; Chalkara starrte verblüfft hin. Als die Wolke sich legte, stach etwas Weißes aus ihr hervor, und die Zauberin durchfuhr ein Schreck, als sie erkannte, dass es das Ende eines riesigen Schenkelbeins war. Fasziniert und abgestoßen zugleich beobachtete Chalkara, wie die Wolke vollends zu Boden sank und einen Haufen trockener weißer Gebeine freigab; sie waren offenbar das einzige, was von -346-
dem Leviathan übrig geblieben war, der die Stadt terrorisiert hatte. Die obere Hälfte des Schädels starrte mit leeren Augenhöh len von der Spitze des Haufens in den Nachmittagshimmel; ein paar von den längeren Knochen lehnten gegen ihn. Wie er so dalag, die großen Zähne unter der Asche vergraben, das Horn mit der abgebrochenen Spitze in einem Gewirr von Rippen verhed dert, bot er einen fast mitleiderregenden Anblick. »Shandi!« rief sie. Der ältere Zauberer trat an ihre Seite und starrte hinunter, nicht minder fasziniert als sie. »Ich glaube, wir sollten verschwinden«, sagte sie. Er gab keine Antwort. »Ich glaube, wir sollten auf dem schnellsten Wege aus Ur-Dor mulk verschwinden und uns diesmal von nichts und niemandem aufhalten lassen. Und wir sollten uns fernhalten von jedem Ort, an dem Garth sich möglicherweise aufhalten könnte.« Shandiph nick te und blinzelte sich ein verirrtes Aschenflöckchen aus dem Auge. »Wir können nach Kholis, aber ich glaube, wir sollten besser sehr weit weg gehen – nach Süden vielleicht. Yesh wäre vielleicht nicht das Schlechteste. In Yesh verehren sie andere Götter als hier; vielleicht hat Bheleu dort keine Macht.« »Die Götter sind immer die gleichen, Chala; sie haben nur ande re Namen.« »Wie willst du das wissen? Es wäre doch einen Versuch wert, oder nicht?« »Ja, es ist einen Versuch wert. Du hast recht. Jedenfalls ist es alle mal besser, als hier zu bleiben; ich bin ohnehin schon wieder zu lange an ein und demselben Ort. Es wird Zeit, dass ich mich wieder auf die Wanderschaft begebe.«
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»Es ist Zeit, dass wir beide uns auf Wanderschaft begeben. Ich glaube, ich möchte nicht länger Chalkara von Kholis sein; ich füh le mich mit diesem Namen nicht mehr sicher. Chalkara die Wanderin klingt besser.« Shandiph nickte wieder. Er glaubte nicht, dass sie irgendwo sicher sein würden, aber er behielt das für sich.
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Kapitel 20 Garth hatte nicht gemerkt, dass er das Bewusstsein verloren hatte; dass es so gewesen sein musste, wurde ihm erst klar, als er sah, dass das Licht sich geändert hatte. Es war kurz nach Mittag gewesen, als er das Monstrum angegriffen hatte, die Sonne hatte im Zenit gestanden; und jetzt stand sie im Westen, und die Schatten waren so lang wie die Dinge, die sie warfen. Er hatte gestanden, und jetzt kniete er und stützte sich auf etwas. Das Schwert hatte heiß in seinen Händen geglüht, und jetzt waren sei ne Hände leer, und in den Handflächen spürte er ein leichtes brennendes Prickeln. Die Schmerzen erinnerten ihn an die ver schiedenen Verletzungen, die er bei seinem ersten Besuch in UrDormulk erlitten hatte, und er bemerkte, dass sie verschwunden waren; er hatte vergessen, dass das Schwert des Bheleu neben sei nen zerstörerischen auch heilende Eigenschaften besaß. Er blinzelte und lehnte sich zurück, weg von dem, was ihn ge stützt hatte. Er fühlte sich schwach und ausgelaugt, schaffte es aber, wenn auch nur unter Zusammennahme aller seiner Kräfte, sich aufzurichten. Sobald er stand, begann er sich umzusehen, um sich ein Bild von seiner Situation zu machen. Er hatte sich gegen das Schwert des Bheleu gestützt, das von der ungeheuren Hitze des Feuers geschwärzt war und mit der Spitze in einem Haufen aus Geröll und Asche steckte. Er stand jetzt in einem großen, mit feiner grauer Asche bedeckten Kreis, der sich von der untersten Stufe der Treppe, die hinauf zur Mauer führte, bis hinaus über die Mitte eines ehemaligen Häuserblocks erstreck te, der jetzt dem Erdboden gleichgemacht war. Seine ebene Ober fläche war unterbrochen von drei Dingen: ihm selbst, dem Schutt und Aschehaufen, in dem das Schwert steckte, und einem großen
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Haufen aus Asche und Knochen, der sich direkt vor ihm bis fast zum Rand des Kreises erstreckte. Die Knochen waren unglaublich groß; hätte er das Ungeheuer, von dem sie stammten, nicht vorher gesehen, dann hätte er sie für überdimensionale Attrappen aus Stein oder Gips gehalten. Ein Oberschenkelknochen, der gegen den halb in der Asche vergrabenen Schädel lehnte, war größer als er selbst und so dick wie ein Baumstamm. Was immer sonst sie noch sein mochten, diese Gebeine waren der klare Beweis dafür, dass er die Aufgabe, die er sich selbst ge stellt hatte, erfolgreich durchgeführt hatte. Das Monstrum war vernichtet. Überdies war er vom Schwert des Bheleu befreit, und das ohne Intervention seitens des Vergessenen Königs. Die Vernichtung des Ungeheuers hatte die Kraft des Schwertes endlich erschöpft – wenn auch nur vorübergehend, dessen war er sich sicher. So als wollte das Schwert diese seine Vermutung bestätigen, glaubte er just in diesem Moment ein schwaches Flackern in dem schwarzen Stein wahrzunehmen. Er war sich nicht schlüssig, ob er das Schwert behalten wollte oder nicht; er wich ein paar Schritte zurück, um erst einmal aus seiner unmittelbaren Reichweite zu sein, um sich die Sache in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen. Er hatte nach wie vor die feste Absicht, sich am Aghad-Kult zu rächen, und es war unbestreitbar, dass das Schwert ihm gute Dienste dabei leisten konnte – aber es war ebenso unbestreitbar, dass die Waffe einen nachhaltigen Einfluss auf sein Denken und sein Verhalten hatte, obwohl Bheleu seine Bedingungen akzeptiert hatte. Er vermochte nicht zu sagen, ob der Gott versuchte, ihn zu betrügen oder ob er lediglich schlicht unfähig war, diese Neben wirkungen ganz auszuschalten; wie auch immer: Fest stand, dass -350-
es der Gott der Zerstörung gewesen war, und nicht Garth selbst, der unbedingt in den Ruinen von Skelleth hatte herumstreifen und alles hinwegfegen wollen, während das Monstrum Ur-Dor mulk niedergetrampelt hatte. Er war überzeugt, dass der Gott sein Denken und Handeln dahingehend beeinflusst hatte, und der Ge danke gefiel ihm nicht. Er stand ein paar Schritte abseits des Schutthaufens, am Rande des platten Kreises, starrte auf das rußgeschwärzte Schwert und versuchte zu entscheiden, was er tun sollte. Ein leises Rascheln riss ihn aus seinem Grübeln. Er fuhr herum und sah zu seiner Verblüffung drei Schritte vor ihm auf dem abgetretenen Pflaster der Straße den Vergessenen König stehen. Der zerlumpte gelbe Umhang des alten Mannes flatterte in der feuchten Brise, die von den Seen herüberwehte; er hatte seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Unter dem rechten Arm trug er ein in schwarze Seide eingeschlagenes Bündel. Letzteres erweckte sofort die Neugier des Übermannes. Das Buch der Stille war nicht eingewickelt gewesen, und dieses Ding dort war von unregelmäßiger Form und größer als der saubere Quader, den das Buch allein gebildet hätte. »Was ist das?« fragte er. Der Vergessene König überhörte die Frage und blickte ihn schweigend an. Garth warf einen kurzen Blick auf das Schwert des Bheleu und schaute dann wieder auf das Bündel. »Was trägst du da unter dem Arm?« wiederholte er seine Frage. Er hatte plötzlich den Verdacht zu wissen, was es war, und er spürte einen kalten Kloß der Bestürzung in seinem Hals. »Bist du jetzt endlich fertig mit meinem Schwert?« fragte der alte Mann. Seine schaurige Stimme schien mit dem Wind zu
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verschmelzen, der durch die Trümmer fegte, aber das ließ sie nicht weniger unheimlich klingen. Ohne es zu wollen, stieß Garth hervor: »Nein!« Er hielt inne; der König starrte ihn abwartend aus seinen umschatteten, unsichtba ren Augen an. Garth wandte den Blick ab, ließ ihn über den Knochenhaufen schweifen, über das Schwert des Bheleu, über die verwüstete Stadt und die Treppe, die zur Befestigungsmauer hinaufführte. Er sah nirgends etwas Erfreuliches, Tröstliches, nur Chaos und Zerstö rung. Der Ausbruch des Monstrums wie sein Tod lagen in seiner, Garths, Verantwortung, und das daraus resultierende Chaos erfüllte ihn mit Abscheu und Trauer. Er konnte und wollte nicht zulassen, dass sich dergleichen irgendwo noch einmal wiederhol te, aber er war sich nicht sicher, was er tun musste, um dem vorzubeugen. Die Gefahr, die darin lag, wenn er das Schwert erneut an sich nahm, war offensichtlich; er hatte es einmal mehr am eigenen Leib erfahren. Er hatte in seinen Jahren der Freiheit vergessen, wie es war, von der Macht des Schwertes besessen zu sein; jetzt wusste er, dass es ihm niemals gelingen würde, Bheleus Persönlichkeit vollkommen auszuschalten, solange er sich seiner Kraft bediente, und dass er das Schwert nicht tragen konnte, ohne es auch zu be nützen. Andererseits wollte er nicht, dass der König das Schwert wieder zurückbekam. Er war überzeugt, dass es ein notwendiger Bestandteil des Zaubers war, den der alte Mann plante, eines Zau bers, der, wie er glaubte, das Fünfzehnte Zeitalter einläuten und den Tod über die Welt bringen würde, auch wenn er vielleicht nicht das Ende der Zeit bringen würde. Garth neigte zu der Vermutung, dass der Zauber die Welt selbst zerstören würde. So lange er also dem König das Schwert vorenthielt, verhinderte er
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eine solche Katastrophe — gleichzeitig aber unterwarf er sich da mit dem Zwang, selbst zerstörerische Akte zu begehen, wenn auch von geringerer Tragweite. Er erinnerte sich, dass er selbst erst kürzlich noch seine Skepsis, ob er dem König das Buch der Stille aushändigen sollte, damit beschwichtigt hatte, dass der König ja nicht das Schwert und die Bleiche Maske bekommen und deshalb auch nicht imstande sein würde, das Zeitalter des Todes herbeizuführen – doch nun stak da dieses Bündel unter seinem Arm, und Garth war klar, was es ent hielt. In dem Bündel, dessen war er sicher, war die Bleiche Maske. Der Auserwählte des Gottes des Todes hatte das Totem seines Herrn wieder in seinen Besitz gebracht. Dieser Person das Schwert des Bheleu zu geben, würde bedeu ten, ihr alle Macht und alle Werkzeuge zu geben, die sie zur Durchführung ihres verhängnisvollen Zaubers benötigte. Das war unverantwortlich. Garth streckte den Arm aus, um das Schwert an sich zu nehmen. Er zögerte, hielt mit ausgestrecktem Arm inne. Konnte er ganz sicher sein, dass er das Richtige tat? Er ließ sich leiten von einer Kette von Annahmen und Schlussfolgerungen. Er hatte keinen objektiven Beweis dafür, dass der König wirklich beabsichtigte, die Welt zu zerstören und nur diese drei Gegenstände brauchte, um dieses Ziel zu realisieren. Er rief sich rasch noch einmal alles ins Gedächtnis, was er wuss te. Der König hatte zugegeben, dass sein Zauber vielen den Tod bringen würde. Ferner hatte er sein Interesse am Schwert des Bhe leu bekundet. Garth wusste nicht, ob das Schwert wirklich ein not wendiger Bestandteil des großen finalen Zaubers des Königs war, aber er war sich so gut wie sicher. Er wusste, dass der König der Auserwählte des Gottes-Dessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht -353-
war, der Inkarnation des Todes. Er wusste, dass die Zauberer ge sagt hatten, dass das nächste Zeitalter, das Fünfzehnte, von eben diesem Gott beherrscht werden werde. Er wusste, dass es hieß, der Vergessene König könne nur am Ende der Zeit sterben, und dass der alte Mann gesagt hatte, dass er sterben wolle. Es passte alles trefflich zusammen. Garth konnte immer noch nicht absolut sicher sein, dass seine Vermutungen richtig waren, aber er fällte seine Entscheidung. Eine Ära der Zerstörung, wie sie das Schwert des Bheleu vielleicht bewirken mochte, selbst dann, wenn sie dreißig Jahre währen sollte, war nichts im Vergleich mit der Zerstörung der gesamten Welt und der Auslöschung sämtli chen Lebens. Er packte den Griff des Schwertes. Der Edelstein flammte rot auf, und die Klinge glitt wie von selbst aus dem Schutthaufen, in den sie sich gebohrt hatte. Weißes Licht loderte auf, und der Ruß, der die Klinge geschwärzt hatte, verschwand, einem glänzenden, makellosen Silber Platz machend. Eine Woge von Hitze flutete über den Übermann. Der Vergessene König schaute schweigend zu, und die erste Aufwallung von Hitze und Blutgier verebbte rasch unter seinem kalten Blick. Garth starrte ihn an, das Schwert in der Hand. Er wusste, dass Bheleu einmal mehr der Macht des Königs erlegen war, und ihm wurde schmerzlich klar, dass er das Schwert nur so lange unter Kontrolle hatte, wie er in der Nähe des Königs blieb. Sobald er von dem alten Mann getrennt sein würde, würde Bheleu mühelos wieder Besitz von ihm ergreifen können. Er saß in einer ausweglosen Falle, hilfloser denn je zuvor. Er musste das Schwert behalten, wenn er verhindern wollte, dass der König es in die Hände bekam, und gleichzeitig musste er in des Königs Nähe bleiben, um zu verhindern, dass das Schwert ihn vollständig in seinen Bann schlug. Er wusste nicht, ob er über haupt verhindern konnte, dass der König ihm das Schwert
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kurzerhand abnahm, sollte er sich dazu entschließen, seine eigene ungeheure Macht auszuspielen, die zudem jetzt noch verstärkt wurde durch das Buch der Stille und die Bleiche Maske. Was ihn vielleicht noch mehr niederschmetterte als die Situation selbst, war das Bewusstsein, sie selbst herbeigeführt zu haben. Er hatte sich freiwillig dazu entschieden, nach Dûsarra zu gehen und das Schwert des Bheleu zu holen. Er hatte sich freiwillig dazu ent schieden, nach Ur-Dormulk zu gehen und das Buch der Stille zu holen. Er hatte dem König bereitwillig das Buch gegeben, das es dem alten Mann ermöglicht hatte, sich frei zu bewegen und sich die Bleiche Maske zu beschaffen. Er selbst hatte sich in diese prekäre Situation hineinmanövriert, in diesen gefährlichen Balanceakt zwischen der Macht des Bheleu und der Macht des Königs, die beide entschlossen waren, Verhee rung von unvorstellbarem Ausmaß anzurichten, und einzig Garths Weigerung mitzuwirken, verhinderte die Entfesselung dieser Mächte. Überdies wusste er überhaupt nicht, ob er diese Balance für ewig aufrechterhalten konnte. Als er darüber nachdachte, wurde ihm natürlich rasch klar, dass er das definitiv nicht konnte, wenn nicht Bheleu ihm, seinem auserwählten Werkzeug, ebenfalls Uns terblichkeit verlieh. Diese Möglichkeit war gar nicht so abwegig, da der Gott der Zerstörung ja offensichtlich daran interessiert war, ihn unbesieg bar und unantastbar zu machen, aber andererseits war diese Aus sicht nicht gerade verlockend. Je länger er das Schwert hielt, desto stärker würde Bheleus Kontrolle über ihn werden. Der Gott war hinterhältig. Garth starrte auf die Klinge in seiner Hand und begriff, dass er verdammt war. Er sah keinen Ausweg aus dieser tragischen Verstrickung, und wenn die Theologie der Menschenwesen richtig -355-
war, insoweit als er sie verstand, dann gab es auch keinen Aus weg, keine mögliche Lösung. Sein Ende — und das Ende der Welt — waren vorherbestimmt und konnten allenfalls hinausgezögert werden — und auch nur für so lange, wie er gewillt war, das Schwert des Bheleu zu tragen. Nicht einmal ein Wunder konnte an diesem schrecklichen Umstand etwas ändern, denn Wunder wurden von den Göttern gesandt, und die mächtigsten eben dieser Götter waren die, die ihn in dieser Falle gefangen hielten. Von dem Augenblick an, da er zum ersten Mal die Weisen Frauen von Ordunin auf seiner Suche nach ewigem Ruhm um Rat gefragt hatte, war er auf diese hoffnungslose Situation zugesteuert; und — das wurde ihm jetzt schlagartig klar — die Weisen Frauen hatten das gewusst. Er entsann sich, wie sehr Ao seinerzeit herumge druckst hatte. Gewiss lag der Grund für ihr Widerstreben darin, dass sie gewusst hatte, was am Ende dabei herauskommen würde. Er hatte all dies bisher nicht konsequent durchdacht, hatte es versäumt, die langfristigen Auswirkungen der Ereignisse zu be denken, die ihn umgaben und in die er verwickelt war. Und nun, da er dies zum ersten Mal tat, loderte wilder Zorn in ihm auf. Er machte einen kurzen halbherzigen Versuch, ihn zu unter drücken, wissend, dass es ebenso Bheleus wie sein eigener Zorn war, aber der Versuch scheiterte. Er war zornentbrannt, suchte nach einem Ventil, nach irgend etwas, an dem er diesen Zorn aus lassen konnte. Die Götter hatten ihm dies eingebrockt — Bheleu, Aghad, der Letzte Gott und die anderen Herren von Dûs — aber es gab keine Möglichkeit, seinen Zorn an ihnen selbst zu kühlen. Auch der Vergessene König hatte daran mitgewirkt, ihn in die Netze des Schicksals zu verstricken, ihn und die Welt in die Ver nichtung zu treiben. Seine Wut stieg ins Unermessliche, und er erhob das Schwert und ging langsam auf den alten Mann zu.
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Der König wich keinen Zollbreit zurück, als der Übermann sich ihm näherte, und selbst durch den roten Schleier von Wut hin durch erinnerte sich Garth noch seines früheren Versuches, den al ten Mann mit dem Schwert des Bheleu zu töten. Er war nicht in der Lage gewesen, ihm auch nur ein Haar zu krümmen. Doch in seiner unendlichen Wut vermochte er einfach nicht einzusehen, dass eine Waffe, die ein gigantisches Monstrum in ein Häufchen Asche verwandelt hatte, nicht in der Lage sein sollte, ein hageres, runzliges Menschenwesen zu töten. Er holte aus und hieb mit aller Kraft zu, auf den Hals des alten Mannes zielend. Die Klinge zog einen Schweif aus Funken hinter sich her. Trotz Garths Bemühen, den Streich gerade zu führen, scherte sie plötz lich wie von Geisterhand abgelenkt nach oben aus und fuhr pfeifend über den Kopf des Königs hinweg. Vor Wut und Enttäuschung laut schnaubend holte Garth erneut aus; diesmal ließ er die schwere Klinge senkrecht heruntersausen. Und wieder weigerte sich das Schwert, seiner gewünschten Bahn zu folgen: Die Klinge scherte zur Seite weg und sauste am Körper des Königs vorbei, ohne ihn zu berühren. Garth stieß ein gepeinigtes Knurren aus. »Hör auf, Garth!« murmelte der alte Mann. »Ich bin nicht so leicht zu vernichten wie Dhazh.« Der Übermann ließ das Schwert sinken; seine roten Augen waren vor Wut und Enttäuschung glanzlos und stumpf. Er konnte den König genausowenig töten wie die Götter. Aber vielleicht konnte er wenigstens einen Gott treffen; natür lich nicht direkt, aber in Gestalt seiner Anhänger. Er bemühte sich verzweifelt, klar zu denken, aber sein Geist schien wie von einem Schleier umhüllt. Den Kult des Bheleu hatte er schon ausgelöscht, seinerzeit, als er zum ersten Mal das Schwert an sich gebracht hatte; und der Gott-Dessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht hatte -357-
keine Diener außer dem König und einem oder zwei altersschwa chen Priestern. Der Kult des Aghad aber war noch überaus leben dig und rührig, und mehr als jeder andere hatte er ihn in diese ausweglose Lage getrieben. Er hatte geschworen, sich an den Anhängern dieses Gottes zu rächen, sie zu vernichten. Irgendwo in Ur-Dormulk stand ein Tempel, der dem Aghad geweiht war; er blickte hinaus über die zertrümmerte Stadt. »Wo ist er?« murmelte er, halb zu sich selbst. »Wer?« Die Stimme des Vergessenen Königs war ruhig und ge lassen. »Wo ist der Tempel des Aghad?« »Das Zentrum des Kults ist in Dûsarra.« »Sie haben auch einen Tempel hier in Ur-Dormulk. Wo ist er?« »Er ist unwichtig.« »Wo ist er?« Garths Ton war glatt und gefährlich. Der König brauchte sich kaum vor dem Zorn des Übermannes zu hüten, aber er zog es vor, nicht weiter mit Garth zu streiten. »Ich werde ihn dir zeigen.« Er wandte sich um und ging lang sam die Straße hinunter. Garth folgte ihm durch die Ruinen, durch Viertel, in denen die Häuser relativ unbeschädigt geblieben waren, an rauchenden Gruben vorbei, die einmal Keller oder Krypten gewesen waren, bis der König schließlich vor einem flachen Steingebäude stehen blieb, das sich gegen einen der großen Felsausbisse schmiegte, die über die ganze Stadt verstreut lagen. Der König deutete mit der Hand auf das nichtssagende, unauf fällige Gebäude. »Das ist er?« fragte Garth ungläubig. Der Tempel war vollkom men anders als der, den er in Dûsarra ausgeraubt hatte. Es gab kein metallenes Tor, keinen Hof mit einem vergifteten Brunnen, -358-
keine in die Wände eingeätzten Namen, sondern nur einen schlichten eingeschossigen Klotz aus verwittertem Granit mit ein paar schmalen Fenstern, die schwarz und leer auf die verlassenen Straßen hinausstarrten. Sie flankierten eine schwere hölzerne Tür. Der König nickte schweigend. Wutentbrannt, wie er war, wischte Garth jede Vorsicht beiseite; er marschierte geradewegs zu der Pforte und hieb mit dem Schwert des Bheleu gegen sie. Die schwere Holztür zerbarst mit einem Knall wie ein Donner schlag in tausend Splitter. Garth trat in einen kleinen kahlen Vorraum und spähte in die Dunkelheit. Drei Türen führten von hier aus in die Tiefen des Ge bäudes; er entschied sich auf gut Glück für eine, holte aus und zerschmetterte sie mit dem Schwert. Ein Regen von Holzsplittern prasselte gegen die Wände ringsum. Vor ihm lag ein ganz in Dunkelrot ausgeschlagener kleiner Raum mit einem dicken grauen Teppich. Vor der hinteren Wand stand ein metallener Altar, und auf dem Altar lag die übel zugerichtete Leiche einer Frau. Garth trat näher. Ein Vorhang glitt mit leisem Rascheln vor ihm herunter; mit einem wütenden Knurren zerfetzte Garth ihn mit dem Schwert — gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Altar mitsamt der Leiche im Boden versank. Diese Sorte von mechanischer Gaukelei war ihm sattsam be kannt aus dem Aghad-Tempel in Dûsarra. Und auch der letzte Zweifel, den er noch gehabt haben mochte, wurde zerstreut, als er einen letzten Blick auf die im Boden verschwindende Leiche erhaschte. In die Brust der Frau waren Runen eingeritzt, blutige Runen, vier an der Zahl. Sie lauteten: AGHAD
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Zufrieden, den richtigen Ort gefunden zu haben, hieb Garth mit dem Schwert zu und zertrümmerte den Schließstein, der über den versunkenen Altar und seine grausige Last geglitten war. In ju belndem, hasserfültem Triumph, ohne zu bedenken, dass das Opfer vielleicht Besseres verdient hatte, sandte er eine weiße Stichflamme auf den Altar hinab, der die Leiche im Nu in ein kleines Häufchen weißer Asche verwandelte. Alsdann begann er mit seinem Zerstörungswerk: Zuerst zerschmetterte er die Decke des Raumes, dann das darüber liegende Dach, um sich sodann systematisch durch die Wände und den Boden hindurchzuarbei ten. Als er fertig war, betrachtete er zufrieden sein Werk: Er stand auf dem Grunde einer großen Grube, inmitten eines riesigen Schutthaufens. Kein Stein war mehr auf dem anderen, und kein Stein war ganz geblieben. Er hatte Hunderte von verborgenen Ma schinen und Mechanismen zerstört, ein gutes Dutzend versteckte Leichen, eine Handvoll gefährlicher Bestien sowie ein riesiges Waffenarsenal, bestückt mit Mordgerät aller Art, von Belage rungsmaschinen bis zu endlosen Regalen mit Giften jeder erdenklichen Art. Unter dem einzigen Stockwerk des Tempels befanden sich drei Geschosse mit Kellerräumen und Kerkern, die sich weit über den eigentlichen Tempel hinaus bis unter das Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite erstreckten. Von den Kellern aus führte ein halbes Dutzend Türen in die Krypten, aber er gab sich nicht die Mühe, diese weiter zu erkunden; es reichte ihm, die Türen zu zerschmettern. Selbst in seiner Wut wusste er, dass es keinen Sinn hatte, das gesamte Kryptensystem zu zerstören; wenn er das tat, zerstörte er damit gleichzeitig die Stadt, die zu retten er das Ungeheuer Dhazh getö tet hatte. Er setzte die Grenze an der Stelle, wo die Architektur und die Struktur des Steines sich änderten.
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Nirgends in dem gesamten Gebäude nebst seinen Kellern und Kerkern hatten sich irgendwelche Menschenwesen befunden. Zur selben Zeit musste Haggat in Dûsarra tatenlos mit ansehen, wie der Tempel in Ur-Dormulk in Schutt und Trümmer fiel. Zwar konnte er weder das Schwert noch den Übermann mit seinem Seh glas einfangen, aber es reichte ihm, das Resultat ihres Wirkens zu sehen. Es schmerzte ihn, zusehen zu müssen, wie ein so ein mächtiger Außenposten des Kults, der zweitgrößte überhaupt nach dem Haupttempel in Dûsarra, in solch atemberaubend kurz er Zeit in einen wertlosen Trümmerhaufen verwandelt wurde, aber er wusste, dass er nichts tun konnte, dieser Zerstörung Einhalt zu gebieten. Er konnte lediglich die Kultisten retten, denen der Tempel als Heimstatt und Unterschlupf gedient hatte. Der nächste Schritt des Übermannes würde sein, sich aus der Menge, die draußen vor dem Stadttor wartete, alle Aghaditen herauszuholen und zu töten; das musste er verhindern. Er wandte seine Aufmerksamkeit für einen Moment von seinem Sehglas ab, um seinen Gefolgsleuten zu befehlen, eine Warnung auszusenden. Als Garth aus dem Loch herauskletterte, das er gemacht hatte, fand er den Vergessenen König wartend auf der Straße stehen. »Sind noch irgendwelche Aghaditen in der Stadt?« fragte er den alten Mann. »Nein«, antwortete der König. Garth war froh darüber; der Gedanke, sie einzeln in ihren Schlupflöchern aufzustöbern, hatte ihm gar nicht geschmeckt. Es würde viel leichter und viel befriedigender sein, die ganze Brut auf einmal ins Jenseits zu befördern! Er würde sich, sobald die
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Bürger wieder in die Stadt gelassen wurden, ganz einfach vor das Tor stellen und sie einen nach dem anderen aus der Menge her aussortieren. Er machte sich keine Gedanken darüber, wie er sie erkennen würde; er war sicher, dass er sie erkennen würde. Der alte Mann war offenbar in kooperativer Laune: er hatte ihn zu dem Tempel geführt und seine Frage ohne Zögern beantwortet; vielleicht würde er bereit sein, sie ihm zu zeigen. Aber das konnte er später noch abklären. Sein nächster Schritt würde sein, zum Tor zurückzukehren und die Einwilligung der Behörden einzuholen, dass er die Aghaditen erledigen durfte. Dies schien ihm angesichts der Tatsache, dass er die Stadt von dem Monstrum befreit hatte, eine vergleichsweise kleine Bitte, die ihm schlechterdings nicht abgeschlagen werden konnte. Die Sonne war inzwischen untergegangen, und Garth benutzte für den Rückweg zum Tor das Schwert des Bheleu als Leuchte. Zwar flackerten hier und da immer noch kleinere Feuer, aber in einer Stadt, die hauptsächlich aus Stein gebaut war, erloschen die meisten von ihnen rasch. Frima und Koros warteten noch immer am oberen Ende der Treppe vor dem Tor, an genau der Stelle, wo Garth sie zurückge lassen hatte, nur dass Koros jetzt schlief, während Frima wach war. Aals Folge ihres Schlafes – so unbequem es auch gewesen war, im Sattel zu schlummern – war ihre Erschöpfung wie wegge blasen, und sie brannte darauf, ihren Rachefeldzug gegen die Ag had-Anhänger in Angriff zu nehmen. Sie war erst kurz zuvor aufgewacht, gerädert und mit einem Ge fühl von Übelkeit; nachdem sie sich ihres Mageninhaltes entledigt hatte, war ihr gleich wohler gewesen, und sie hatte gemerkt, dass Garth nicht da war. Sie hatte sich keine ernstlichen Sorgen wegen seiner Abwesenheit gemacht; sie wusste, dass er auf jeden Fall zu rückkehren würde, schon allein wegen Koros, und sie hatte richtig
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geschlussfolgert, dass er sich auf die Suche nach ihren gemein samen Feinden begeben hatte. »Sind Aghaditen in der Stadt?« war ihre erste Frage, als Garth und der Vergessene König die letzten Treppenstufen nahmen. »Nein«, antwortete der Übermann. »Aber ich bin sicher, dass sich eine ganze Anzahl von ihnen in der Menge vor dem Tor be findet. Ich habe gerade ihren Tempel hier in der Stadt zerstört; jetzt müssen wir sie uns aus der Menge herauslesen.« »Das hat sich erledigt«, meldete sich unerwartet der alte Mann zu Wort. »Sie sind geflüchtet.« »Was?« fragte Garth erstaunt. Frima starrte den König schweigend an. »Sie haben sich aus dem Staub gemacht.« »Das können sie nicht!« schnaubte Garth wie ein trotziges Kind. »Ich muss sie töten.« »Sie wurden durch Magie gewarnt und sind geflohen.« »Bist du sicher?« fragte Frima. Der König nickte. »Sie sind wirklich weg? Beschwörst du das?« insistierte das Mädchen. Der König nickte wieder. »Wohin sind sie geflohen?« wollte Garth wissen. Der alte Mann zuckte die Achseln. »Vielleicht nach Dûsarra?« riet Garth. Wieder zuckte der König die Achseln. »Also dann, nach Dûsarra!« rief Garth. Frima nickte zu stimmend. Durch ihre Unterhaltung war Koros wach geworden; auf Geheiß des Übermannes machte das Kriegstier kehrt und folgte seinem Herrn zum Stadttor hinaus in die von Fackeln erhellte Nacht, wo die Leute von Ur-Dormulk darauf warteten, ihre Stadt wieder in Besitz zu nehmen. -363-
Kapitel 21 Garth und seine Gefährten verbrachten die Nacht auf dem Hügel vor dem Stadttor, ungeachtet des um Mitternacht herum einsetzenden Nieselregens. Sorgfältig beäugten sie jedes einzelne Gesicht in der langen Schlange von Männern, Frauen und Kindern, die sich unter den Augen der Garde langsam durch das Tor zurück in die Stadt bewegte. Mehrere Leute berichteten über einstimmend, bei Sonnenuntergang hätten sich plötzlich einige abgesetzt und seien in verschiedenen Richtungen davongegangen; das bestätigte die Behauptung des Vergessenen Königs, dass die Aghaditen gewarnt worden seien. Die Soldaten hatten in aller Regel niemanden daran gehindert, das bewachte Gebiet zu verlassen; das, so sagten sie, sei nicht ihre Aufgabe gewesen. Ihr Befehl hätte gelautet, Gefahren fernzuhalten, und nicht, die eigenen Leute zurückzuhalten, und wenn zwanzig oder vielleicht zwei Dutzend sich dazu entschlossen hätten, mit unbekanntem Ziel loszumarschieren, dann sei es nicht ihre Aufgabe gewesen, sie daran zu hindern. So verärgert Garth auch über das Entrinnen der Aghaditen war, er musste zugeben, dass das einleuchtend war. Er und Frima beobachteten zusammen mit einer großen Anzahl von Gardisten die gesamte Rückführungsoperation, und nirgends konnte Garth die dunkelroten Roben der Anhänger Aghads entde cken. Natürlich war ihm klar, dass die Kultisten sich ohne wei teres verkleidet haben konnten und dass er kein zuverlässiges Mittel hatte, sie in der traurigen Horde aus verdreckten, ramponierten Bürgern zu identifizieren, die sich da müde und trä ge durch das Tor schob. Trotzdem war er überzeugt, dass die meisten (wenn nicht alle) von denen, die als vermisst gemeldet wurden, zu den Anhängern des Kults in Ur-Dormulk gezählt hatten. -364-
Als der Morgen bereits zu grauen begann, wurde ruchbar, dass die beiden Zauberer spurlos verschwunden waren. Garth fragte sich einen Moment lang, ob sie vielleicht auch Aghaditen gewesen waren oder ob sie womöglich von dem Monstrum, das der Vergessene König Dhazh genannt hatte, vertilgt worden waren, oder ob sie schlicht irgendwo verloren gegangen waren. Nach kurzem Überlegen entschied er, dass die Sache ihn nichts anging. Der Oberherr und sein Hofstaat hatten sich an einer strategisch günstigen Stelle des Hügels versammelt und die Oberaufsicht über die Rückführungsoperation übernommen, dergestalt, dass sie den Gardisten Anweisungen gaben und sich die von diesen ge leistete Organisation als mehr oder weniger eigenes Verdienst anrechneten. Diese Tätigkeit nahm sie vollauf in Anspruch, und sie wieselten mit wichtigtuerischer Miene herum, ziemlich fehl am Platze wirkend mit ihren prunkvollen Gewändern im Matsch und Regen. Garth fand, dass solcherlei farbenfroher Putz an jedem Ort außerhalb des Palastes fehl am Platze wirken würde — was wahr scheinlich auch so beabsichtigt war. Trotz des Verschwindens der Zauberer gab es genügend Zeugen und genügend Beweise, um zur Zufriedenheit aller Beteiligten zweifelsfrei zu bestätigen, dass es in der Tat Garth gewesen war, der das Ungeheuer vernichtet hatte. Die Höflinge des Oberherrn gaben sich zumindest den Anschein von Dankbarkeit, verwirrt und nass, wie sie waren, und ihre Befehle ermöglichten es dem Übermann und seinen Gefährten, sich ein kräftiges Frühstück aus Nahrungsvorräten zu bereiten, die von vorausschauenden Flücht lingen aus der Stadt mitgenommen worden waren. Für Koros wurde ein Schaf organisiert und für ihre bevorstehende Reise ih nen einiges an Proviant bereitgestellt — alles auf Kosten der Stadt. Irgend jemand grub sogar aus einer verborgenen Waffenkammer in der Stadtmauer eine Scheide aus, groß genug, um das Schwert
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des Bheleu zu halten, so dass Garth sich die Waffe auf den Rücken binden konnte, statt sie wie bisher blank in der Hand zu tragen. Als es bereits gegen Mittag ging und Garth mehr und mehr überzeugt war, dass es nichts einbringen würde, weiter zuzu schauen, wie die restliche Einwohnerschaft in ihre zerstörte Stadt zurückkehrte, rafften er und seine Gefährten sich auf und machten sich auf den Weg nach Dûsarra. Der Hügel hatte sich mittlerweile von Menschen gelichtet; zu rück blieb ein einziger abfallübersäter Morast, auf dem über Stö cke gespannte Stofffetzen verloren in der warmen Brise flatterten. Garth fand sich abwechselnd ausgleitend und einsinkend auf dem knöcheltiefen Matsch, und als es ihm zu bunt wurde, bestieg er Koros. Das Kriegstier schien den Matsch überhaupt nicht wahr zunehmen, und der Vergessene König schritt genauso leichtfüßig und mühelos dahin wie das Tier. Frima, die es vorgezogen hatte, gar nicht erst aus dem Sattel zu steigen, kauerte hinter dem Über mann. Garth dachte träge einen Moment lang darüber nach, wie lange es wohl dauern würde, bis die Leute von Ur-Dormulk ihre Stadt wieder aufgebaut haben würden. Er bezweifelte, dass auch nur einer von ihnen irgendwelche Erfahrung im Bauen hatte; er hatte in der ganzen Stadt nicht ein Haus gesehen, das jünger als ein paar hundert Jahre sein konnte. Dabei fiel ihm ein, dass es möglicherweise nicht mehr lange von Bedeutung sein würde, ob sie ihre Häuser wiederaufbauten oder nicht. Wenn die Welt unterging, dann würde es ziemlich gleich sein, ob die Bürger von Ur-Dormulk unter freiem Himmel oder unter neuen Dächern starben. Dieser Gedanke brachte seine Aufmerksamkeit wie der auf seine eigene Situation zurück, auf die Aufgabe, die vor ihm lag und auf die Gegenwart und die Natur des Vergessenen Königs. Er warf -366-
einen wütenden Blick auf den alten Mann und wünschte sich, ihm niemals begegnet zu sein. Von Ur-Dormulk aus führte ihre Route nach Südwesten, am Vorgebirge entlang, dann Richtung Westen über einen Gebir gspass in das Land Nekutta, dann durch ein breites Tal, um den Südzipfel einer weiteren Gebirgskette herum, und schließlich durch eine weite Ebene zu den Vorhügeln einer dritten Gebirgs kette, letztere vulkanischen Ursprungs. Dort, an den Hang eines Vulkans geschmiegt, lag die schwarz ummauerte Stadt Dûsarra, in der sich das Zentrum des Aghad-Kults befand. Der Name »Dûsarra« bedeutete soviel wie »Versammlungsstätte der dunklen Götter«, eine fürwahr treffende Beschreibung: jeder der sieben Herren von Dûs, die fast überall sonst auf der Welt ver achtet wurden, hatte einen großen Tempel dort, welcher als Zentrum seines (beziehungsweise ihres – denn unter ihnen waren auch Göttinnen) Kultes diente. In anderen Ländern wurden die Dûs als durch und durch verderbt und böse angesehen, und ihre Verehrung wurde – günstigenfalls – als Verirrung betrachtet, wenngleich sie von den dekadenteren Landesherren, wie zum Bei spiel dem Oberherrn von Ur-Dormulk, toleriert wurde. Dûsarra hingegen war die Hochburg der dunklen Götter; soweit Garth während seines Aufenthaltes dortselbst oder in Diskussionen mit Frima hatte feststellen können, wurden dort keine anderen Götter verehrt, abgesehen von ein paar untergeord neten, den Herren von Dûs zugeordneten Gottheiten wie Bheleus Sohn Koros, Gott des Krieges, oder Temas Dienerin Mei, Göttin des Mondes. Man hätte meinen können, dass eine Gesellschaft, die sich ganz den Göttern des Bösen verschrieben hatte, auch böse und schlecht sein müsse und sich daher in kurzer Frist selbst zerstören müsse, aus der Natur des Bösen selbst heraus. Aber Dûsarra existierte
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schon seit Jahrhunderten, vielleicht sogar seit Jahrtausenden. Garth fragte sich, wie die Dûsarraner das geschafft hatten. Sein voriger Besuch hatte Feuer und Seuche über die Stadt gebracht, und den letzten Berichten nach befand sie sich in einem Zustand des Chaos; gleichwohl war der Kult des Aghad äußerst rührig ge blieben. Auch dafür wusste Garth keine Erklärung. Wie auch immer — er hatte die feste Absicht, ihrem Treiben ein Ende zu machen. Die Reise von Ur-Dormulk nach Dûsarra dauerte jedoch mindestens zehn Tage. Ihm fiel ein, dass die Aghaditen mit ihren Teleportationszau berkugeln diese Entfernung ohne jeden Zeitverlust zu über brücken vermochten und dass der Vergessene König ihre Magie als belanglos und unbedeutend bezeichnet hatte. Hieß das, dass das Schwert des Bheleu oder das Buch der Stille oder die Bleiche Maske oder vielleicht die Magie des Königs selbst die gleiche Wirkung herbeizuführen vermochten? »König«, fragte er ohne Vorrede, »kannst du uns schneller be fördern?« Der alte Mann gab sich nicht einmal die Mühe, zu ihm aufzuschauen; er schüttelte lediglich den Kopf. Mit dieser Antwort wollte Garth sich nicht zufriedengeben. Es war ihm nicht einsichtig, dass sie, die sie über so ungleich viel grö ßere magische Kraft verfügten als die Aghaditen, nicht in der Lage sein sollten, einen Zauber zu vollbringen, den letztere mit ihren relativ schwachen magischen Kräften problemlos zu bewirken vermochten. Er erinnerte sich, dass der König jahrhundertelang in Skelleth eingesperrt gewesen war; konnte es sein, dass der alte Mann vielleicht erst noch einmal etwas von der Welt sehen wollte, die ihm so lange verschlossen gewesen war, bevor er sich daran be gab, sie und sich zu zerstören? Er unternahm zwar keine sichtbare -368-
Anstrengung, die Landschaft zu studieren, sondern marschierte unbeirrt dahin, weder nach links noch nach rechts schauend; aber es war immerhin eine Möglichkeit. Vielleicht waren die magischen Kräfte, die sie besaßen, zu spe zialisiert, zu sehr auf Tod und Zerstörung ausgerichtet. Was immer der Grund sein mochte, Garth bedauerte, dass sie nicht schneller vorankamen; es verschaffte den Kultisten einen un schätzbaren Zeitgewinn, und diesen würden sie mit Sicherheit zu weiteren Schlägen gegen seine Familie und Freunde nutzen. Galt, der in Skelleth war, schwebte in höchster Gefahr, desgleichen My rith und Lurith und seine, Garths, Kinder. Er wusste jedoch keine Möglichkeit, wie er den Vergessenen König dazu zwingen konnte, sie auf magische Weise nach Dûsarra zu expedieren, und so blieb ihm denn nichts weiter übrig, als sich zähneknirschend mit der Situation abzufinden, während Koros geschmeidig dahinglitt, auf die Berge zu. Frima erholte sich langsam von dem Schock über den Tod ihres Gatten. War ihre erste Reaktion wortloser Schmerz gewesen, so hatte sich dieser durch die Worte, die Garth zu ihr auf dem Markt platz gesprochen hatte, nun in kalten, bitteren Hass und eine ste tig wachsende Gier nach Rache verwandelt. Hass und Wut waren jedoch Gefühle, die der stetigen Schürung und Befeuerung durch die Präsenz des sie auslösenden Ereignisses bedurften, wenn sie die Gedanken eines Menschen über eine längere Frist hinweg be herrschen sollten. Wäre sie in Skelleth geblieben, wäre sie ständig an die Bluttat erinnert worden, und zwar durch die schlichte Tat sache, dass Saram nicht mehr da war: durch den leeren Platz neben ihr im Bett, durch den leeren oder vielleicht sogar von je mand anderem eroberten Baronsessel in der Halle, oder auch nur durch den Anblick der alt vertrauten Orte, an denen sie ihn so oft gesehen hatte.
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Hier aber, da sie fern von Skelleth auf dem Rücken eines Kriegs tieres kauerte und, an den Rücken eines Übermanns geschmiegt, durch fremde Länder ritt, tagaus, tagein, immer wieder heimge sucht von einer seltsamen Übelkeit, die kam und ging, verblassten diese Erinnerungen. Der Anblick von Sarams Mördern oder auch nur irgendeine Spur von ihrer Nähe, hätten ihre Rachegelüste wachgehalten, aber die Berge, die sie überquerten, die Täler und Ebenen, durch die sie ritten, waren bar jedweder Spur von Aghad oder seinen Anhängern. Sie kamen an kleinen Bauerngehöften vorbei, an ein samen Steinkotten und anderen menschlichen Behausungen, doch an nichts, was das allmählich erlöschende Feuer ihres Zorns wieder aufs neue hätte entfachen können. Statt dessen sah sie sich mehr und mehr abgelenkt und in Bann geschlagen von neuen Erlebnissen und Erfahrungen. Dies hatte begonnen mit der Tötung des Ungeheuers Dhazh. Dieses Erlebnis war für sie ein regelrechter Gegenschock zu dem grausamen Erlebnis von Sarams Tod gewesen; es war das erste Mal, dass sie, seit sie die verstümmelte Leiche ihres Gatten im Türrahmen hatte hängen sehen, an etwas anderes als an Rache ge dacht hatte. Und nun, da sie hinter dem Übermann kauernd durch die sanfte Hügellandschaft des östlichen Nekutta ritt, war sie zum ersten Mal wieder in der Lage, klar zu denken, waren ihre Gefühle und Gedanken zum ersten Mal seit langem nicht mehr verschüttet un ter einer unerträglichen Last von Schmerz und Zorn. Zum ersten Mal dachte sie darüber nach, was nun, da ihr Mann tot war, aus ihr werden sollte. War sie immer noch Baronin von Skelleth? Sie vermochte es nicht zu sagen. Sie hatte den Titel lediglich kraft ihrer Stellung als Sarams Gemahlin innegehabt, aber da sowohl er als auch sein
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Vorgänger im Amte ohne Erben gestorben waren, konnte es durchaus sein, dass sie hieraus den Rechtsanspruch ableiten konn te, in ihrem eigenen Namen weiterzuregieren. Wäre der Sohn, den sie fast zwei Jahre zuvor tot zur Welt gebracht hatte, lebendig ge wesen, dann wäre jetzt er der neue Baron gewesen, und sie als Ba ronswitwe hätte die Amtsgeschäfte geführt – aber er war nicht lebendig gewesen. Überhaupt gab es von Saram nichts, das wei terlebte: er hatte keine Brüder, keine Schwestern, keine Verwand ten. Selbst seine Freunde waren fast ausnahmslos bei der Zerstö rung und Brandschatzung Skelleths vor drei Jahren umgekom men. Dieser Gedanke, dass nichts fortdauern sollte von dem Mann, den sie geliebt hatte, erschütterte sie aufs neue, und sie bekräftigte ihren Racheschwur. Es war einfach nicht recht, dachte sie, dass ein so feiner Mann so jung und kinderlos sterben musste – dabei fiel ihr zu ihrer Ver wunderung ein, dass sie nicht einmal sein genaues Alter gekannt hatte. Älter als sie war er gewiss gewesen. Und sie konnte auch nicht sicher sein, ob er wirklich kinderlos gewesen war; sie war, wie sie wusste, nicht sein erstes Weib gewesen, wenn auch das einzige, das er je geehelicht hatte. Wie auch immer, er hatte keinen legitimen Erben – und sie hatte kein Kind, mit dem sie sich über ihre Einsamkeit hätte hinweg trösten können. In diesem Zusammenhang fielen ihr plötzlich ihre seltsamen Anfälle von Übelkeit ein, und sie fragte sich, ob sie sich in diesem letzten Punkt nicht vielleicht doch täuschte, aber sie tat diesen Ge danken sofort als bloße Wunschvorstellung ab. Sie wollte sich keinen falschen Hoffnungen hingeben, und ihre Anfälle von Übel keit waren gewiss weit eher auf ihren Kummer oder auf die Stra
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pazen der Reise zurückzuführen denn auf eine beginnende Schwangerschaft. Vielleicht hätte sie besser daran getan, in Skelleth zu bleiben und in Erfahrung zu bringen, ob Saram Kinder hatte, die sie an eigener Kinder Statt hätte aufnehmen und großziehen können. Sie hätte eine solch unschickliche Frage natürlich niemals gestellt, solange Saram am Leben war, aber jetzt kam ihr plötzlich der Gedanke, dass Garth, der Saram schon lange vor ihr gekannt hatte, vielleicht etwas wusste. Sie gab sich einen Ruck und fragte schüchtern: »Garth?« Der Übermann antwortete nicht, schaute aber über die Schulter. »Hatte Saram eine Geliebte, bevor ich ihn kennenlernte?« »Ich weiß es nicht«, antwortete Garth mit einem Achselzucken. »Ich habe jedenfalls nie eine bei ihm gesehen.« Er wandte den Blick wieder nach vorn auf den Pfad und fragte sich verwundert, was in aller Welt Frima darauf gebracht haben mochte, ausgerech net jetzt Fragen über ihren toten Ehegespons zu stellen. Gleich wohl war es für ihn eine fast willkommene Ablenkung von seinen eigenen düsteren, quälenden Gedanken, die ihn nun schon fast zwanghaft immer und immer wieder in dieselbe Sackgasse führten, aus der es scheinbar kein Entrinnen gab. Frima erinnerte sich daran, dass sie nicht völlig einsam und verlassen war; sie hatte Freunde – oder zumindest Bekannte – in Skelleth, und sie war sicher, dass sie sie nicht im Stich lassen würden, wenn sie dorthin zurückkehrte. Sie hatte Garth, der sich bereitgefunden hatte, sie in ihrer Rache zu unterstützen, und der sich, wie es schien, ihr immer noch in gewisser Weise aufgrund zurückliegender Ereignisse verpflichtet fühlte. Und sie hatte nicht zuletzt ihren Vater und ihre Geschwister, obwohl sie nicht sicher sein konnte, ob sie die Seuche überlebt hatten. Sie hatte während der vergangenen drei Jahre nicht viel an sie gedacht, nicht einmal -372-
lange genug, um ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen, dass sie noch lebte und sogar in den Stand einer Baronin von Skelleth aufgestiegen war, aber sie war sicher, wenn sie noch am Leben waren, würden sie sie willkommen heißen. Plötzlich empfand sie tiefe Schuldgefühle ob dieses Versäum nisses; ihr wurde bewusst, dass ihre Angehörigen glauben muss ten, dass sie vor langer Zeit auf dem Altar der Sai gestorben war — falls nicht ihr Vater oder ihr Bruder in der Menge gewesen war, die damals auf dem Marktplatz dabeigewesen war, als Garth den Hohenpriester des Aghad getötet hatte. Sie hätten sie dort gesehen und gewusst, dass sie noch lebte, aber natürlich nicht wissen können, was aus ihr geworden war, nachdem sie aus der Stadt geflüchtet war. Wenn sie andererseits wirklich dort gewesen waren, dann muss ten sie zu den ersten gehört haben, die sich mit dem Weißen Tod angesteckt hatten, einer Seuche, die, wie der Name schon sagte, unweigerlich zum Tod führte. Und wenn die Seuche sie nicht da hingerafft hatte, dann waren sie womöglich ein Opfer der Feuers brunst geworden, die sie, Frima selbst, entfacht hatte. Ihre jüngeren Schwestern waren gewiss zu Hause geblieben, aber das musste keinesfalls bedeuten, dass das Feuer und die Seu che und das von ihnen entfachte Chaos sie verschont hatten. Und angenommen, ihr Vater und ihr Bruder waren umgekommen, wie hätten sie dann überleben sollen? Höchstwahrscheinlich wären sie — wie sie selbst — irgendwann auf irgendeinem Opferaltar ge landet, mit dem Unterschied, dass bei ihnen kein Übermann zur Stelle gewesen wäre, sie zu retten. Sie war plötzlich voller Ungeduld, Dûsarra wiederzusehen. War die Stadt wirklich so schrecklich zerstört, wie es die Geschichten behaupteten? Lebten ihr Vater, ihr Bruder und die beiden Schwestern noch? Was war aus dem Geschäft ihres Vaters ge
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worden? Würde sie irgendeinen von ihren alten Freunden wieder sehen? War der TemaKult noch lebendig und rührig? Sie musste an die Priesterin Shirrayth denken, die versucht hatte, Frima in den alten Mysterien der Göttin zu unterweisen, in der Hoffnung, sie als Akolytin zu gewinnen; was mochte aus ihr geworden sein? Sie musste an die prächtige steinerne Statue der Göttin in der kuppelüberdachten Tempelhalle denken, die sie als Kind ehr furchtsvoll bestaunt und die ihr als Heranwachsender Trost und Zuversicht gespendet hatte, und eine tiefe Sehnsucht sie wieder zusehen, ergriff sie. Irgendwie war sie sicher, dass sie das Chaos heil überstanden hatte; gewiss hatte die Göttin ihr eigenes Stand bild beschützt. Sie erinnerte sich daran, wie ein Priester sie nach dem Tode ihrer Mutter getröstet hatte und wie sie in ihrer Trauer zu Tema gebetet hatte und ihre Gegenwart am nächtlichen Himmel gespürt hatte. Die Gewissheit, dass die Göttin über ihre Anhänger wachte, hatte sie in ihrer Kindheit oft getröstet, doch während ihrer Zeit in Skelleth hatte sie ihre Religion vollkommen vernachlässigt. Sie versuchte das damit zu entschuldigen, dass Tema eine Dûsarranische Gottheit war, die in den fernen Ländern des Ostens nicht gegenwärtig war, aber sie wusste, dass dies ein wohlfeiler Selbstbetrug war. Tema war die Göttin der Nacht, und die Nacht kam überallhin, nicht nur nach Dûsarra. Sie hatte den Glauben ihrer Kindheit sträflich vernachlässigt; sie hatte hauptsächlich bei Tage gewirkt und gewacht, aus Gründen der Bequemlichkeit, da die Leute von Skelleth, anders als ihr eigenes Volk, ausschließlich tagsüber aktiv waren. Sie hatte ihre Bande zur Nacht fahren lassen. Das war nicht recht. Wäre sie standhaft und fest in ihrem Glauben geblieben, dachte Frima, dann hätte Tema sie vielleicht gewarnt oder Saram irgend -374-
wie beschützt oder die Aghaditen aufgehalten — oder wenigstens ihren Schmerz und Kummer gelindert. Vielleicht hatte die Göttin ja über ihre Familie gewacht, und sie würde ihren Vater und ihre Geschwister in der Kesselflickerei finden, verschont von all den Katastrophen, die die Stadt heimge sucht hatten. Sie waren ihrem Glauben gewiss treu geblieben. Nein, sagte sie sich, es war zuviel verlangt zu glauben, dass alle, die Tema anbeteten, vor dem Zorn der anderen Götter bewahrt geblieben waren — denn es waren P‘hul und Bheleu gewesen, die Dûsarras Leiden verursacht hatten, auf Garths Geheiß. Tema war die geringste unter den sieben Herren von Dûs, und es war kaum anzunehmen, dass sie ihren mächtigen Geschwistern Bheleu und P‘hul hatte trotzen können. Wenn P‘huls Seuche oder Bheleus Flammen oder Aghads tückische Machenschaften gegen Frimas Familie gerichtet gewesen waren, dann waren sie gewiss alle zu Tode gekommen. Sie konnte allenfalls hoffen, dass sie Glück ge habt hatten. Es würde nichts nützen, zu Tema zu beten, sie mögen verschont geblieben sein, denn nicht einmal die Götter konnten die Vergangenheit ändern, ausgenommen vielleicht jenes Wesen mit Namen Dagha, welches die Götter selbst erschaffen hatten. Sollte ihre Familie wirklich noch am Leben sein, dann würde sie sie finden, sobald sie in Dûsarra ankamen; bis dahin jedoch war es sinnlos, sich den Kopf über ihr Schicksal zu zerbrechen. Trotzdem drehten sich ihre Gedanken unentwegt um ihre Fa milie. Sie wünschte sich sehnlichst, dass sie am Leben geblieben waren, damit es jemanden gab, zu dem sie gehen konnte, nun, da Saram tot war. Sie sehnte sich nach der Nestwärme ihrer Kindheit zurück, nach der Sicherheit und Geborgenheit, in der sie vor ihrer Entführung gelebt hatte. -375-
Mit diesen Gedanken im Sinn beugte sie sich, als sie in Sichtwei te der zentralen Gebirgskette Nekuttas kamen, nach vorn und fragte Garth: »Glaubst du nicht, wir sollten bei Nacht reiten?« Der Übermann drehte sich zu ihr um und fragte: »Warum?« »Wäre das nicht sicherer?« Der Übermann ließ den Blick über die friedvolle Landschaft aus grünen Weiden, grasendem Vieh und gepflügten Feldern schweifen. Nichts von dem, was er sah, wirkte auch nur im geringsten bedrohlich. Gleichwohl konnte er sich an Geschichten erinnern, die nach Skelleth durchgedrungen waren, in denen von Kriegen und anderen Misshelligkeiten in Nekutta die Rede gewesen war. Bis her hatte er nichts gesehen, was diese Berichte bestätigt hätte; trotzdem, es konnte nichts schaden, wenn man auf der Hut war. Bis jetzt waren sie bei Tag gereist, waren jeweils bis zum späten Abend gewandert und morgens in aller Früh, noch vor Sonnen aufgang, wieder aufgebrochen. Garth hatte nicht die Absicht, ihr Marschtempo zu verringern, aber er sah auch keinen Grund, warum sie ihre Schlafperiode auf den Tag verschieben sollten. Aber wenn er es recht überlegte, war der Gedanke gar nicht so schlecht. »Alter Mann!« rief er, an den König gewandt. »Hast du irgend welche Einwände?« Der Vergessene König schüttelte den Kopf und marschierte unverdrossen weiter, ohne den Blick zu Garth zu wenden. Er hatte nicht die geringste Mühe, mit dem Kriegstier Schritt zu halten. Ein normaler Mensch wäre spätestens nach einem Tag hoffnungslos zurückgefallen, wenn nicht vor Erschöp fung zusammengebrochen, aber der König schritt unbeirrt und schweigend dahin, mit derselben gleitenden Geschmeidigkeit wie Koros: eine weitere Demonstration seiner Andersartigkeit, jedoch
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eine, die Garth gefiel, da sie bedeutete, dass sie schneller vorankamen. »Sehr gut. Heute marschieren wir durch bis zum Morgengrauen.« Frima lächelte froh; sie kehrte zurück zur Nacht, wo sie hingehörte. Eine in Jahren erworbene Gewohnheit lässt sich jedoch nicht so leicht abschütteln, und so kam es, dass sie kurz nach Mitternacht einnickte. Etwa eine halbe Stunde später ließ sie irgend etwas aus dem Schlaf hochschrecken. Verwirrt und schlaftrunken schlug sie die Augen auf und sah, dass Koros stehengeblieben war und regungslos in der Mitte des Weges verharrte. Kein Gasthof war zu sehen, und der Himmel im Osten war immer noch schwarz und sternenübersät. »Was ist los?« fragte sie. »Still!« zischte Garth. »Warum?« flüsterte sie. »Was ist denn passiert?« »Ich sehe vor uns Lagerfeuer, wo eigentlich keine sein dürften«, erwiderte Garth. Frima reckte sich hoch und spähte über die Schulter des Über mannes. Wie er gesagt hatte: Auf dem Hügel vor ihnen waren mehrere Lichter zu sehen. »Könnte es nicht bloß eine Karawane sein?« flüsterte sie. »Möglich wäre es«, sagte Garth, »aber ich glaube es nicht. Sieh doch nur, wie viele Feuer es sind!« Frima spähte in die Dunkelheit und versuchte die flackernden Lichter zu zählen; bevor sie fertig war, rutschte ihr die Hand ab, mit der sie sich aufgestützt hatte, und sie schaffte es gerade noch, sich an Garths Schulter festzuhal ten. Aber sie hatte genug gesehen. »Ich schätze sie auf ungefähr dreißig«, flüsterte der Übermann. »Mindestens. Und wenn wir einmal annehmen, dass auf jedes -377-
zehn Leute kommen, dann bedeutet das, dass hier dreihundert Leute lagern. Und von einer so großen Karawane habe ich noch nie gehört. Mir scheint, wir haben es hier eher mit einem Kriegs haufen zu tun.« »Vielleicht hat die Karawane einige Extrafeuer angezündet, um Banditen abzuschrecken«, sagte Frima. Garth machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. »Was hast du vor?« wollte Frima wissen. »Ich habe mich noch nicht entschieden«, antwortete er. Sein erster spontaner Impuls war gewesen, einen großen Bogen um das Lager zu machen, aber der Gedanke, einen Umweg zu ma chen, selbst wenn es nur ein so kleiner war, passte ihm nicht. Er war versucht, geradewegs hindurchzureiten, so als ob nichts Außergewöhnliches wäre – und wenn irgend jemand in dem Lager versuchen sollte, ihn aufzuhalten, nun, dann würde er eben das Schwert des Bheleu zu schmecken bekommen. Und eigentlich, wenn er es sich so recht überlegte, würde es vielleicht sogar Spaß machen, das Lager zu zerstören, unabhängig davon, ob er behelligt wurde oder nicht; schließlich hatten sich diese Narren dreist und frech in grob verkehrsbehindernder Weise mitten auf der Straße breitgemacht und verdienten es nicht besser. Er schwelgte schon in der Vorfreude, wie er es anstellen würde. Zuerst würde er die Zelte niederbrennen – vorausgesetzt, es gab solche –, und dann würde er sich jeden, der herausgekrochen kam, einzeln vornehmen; jawohl, so würde er es anfangen: Er würde sie einzeln, schön der Reihe nach, stellen und mit dem Schwert auf spießen und mit Genuss zuschauen, wie ihr Blut ... »Garth?« Frima weckte ihn mit besorgt klingender Stimme aus seinen Träumereien.
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Er beschloss, sie zu ignorieren; was konnte das Mädchen schon sagen, das irgendwie von Belang wäre? »Garth, der Stein glüht«, sagte sie. Er hob verwirrt den Blick und sah, dass sie recht hatte. Der rote Lichtschein, den er am äußersten Rand seines Gesichtsfeldes wahrgenommen zu haben glaubte, war weder eine optische Täu schung noch ein Zeichen des heraufziehenden Morgens gewesen, sondern die Glut des Edelsteins im Knauf des Schwertes des Bhe leu. Zweifel und Bedenken keimten in ihm auf; er fegte sie beiseite. Na und, sagte er sich, was tat es schon, wenn der Stein glühte? Er hatte seine Abmachung mit Bheleu getroffen, und der Gott würde nicht wagen, seine Gedanken zu beeinflussen. Sein Verlangen, das Lager zu zerstören, war sein ureigenes, versuchte er sich einzure den. Das Glühen erinnerte ihn lediglich daran, dass das Schwert be reit war und darauf wartete, von ihm benutzt zu werden. Ihm kam der Gedanke, dass er es vielleicht dazu benutzen konnte, sei ne Beute am Fliehen zu hindern. Ein kräftiger Gewittersturm würde die Feuer löschen und die Leute Obdach suchen lassen; das würde es ihnen noch schwieriger machen, seinem Zorn zu ent rinnen. Er langte nach dem Schwertgriff, der über seine Schulter hinausragte. »Garth!« rief Frima mit lauter bebender Stimme. »Schweig still, Weib!« gab Garth knurrend zurück. Seine Hand Schloss sich um den Schwertgriff, und er fühlte sich von einer Woge ungeheurer Kraft durchpulst. »Alter Mann!« wandte sich Frima in ihrer Verzweiflung an den König. »Gebiete ihm Einhalt!« Garth brüllte auf und versuchte, das Schwert zu zücken; Frima presste den Körper gegen seinen
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Rücken und drückte verzweifelt die Scheide nach unten, so dass Garth die Klinge nicht freibekam. Wutentbrannt lehnte sich Garth nach vorn und langte gleichzei tig mit der anderen Hand hinter sich, um die Klinge mit beiden Händen herauszuzerren. »König, so hilf mir doch!« schrie Frima. Schlagartig erlosch die Glut, und der Stein wurde schwarz, schwärzer noch als der Nachthimmel über ihnen. Ebenso schlagartig gab Garth sein Bemühen auf, die Klinge her auszuziehen: Die Hände sanken schlaff herab, und die Klinge glitt in ihre Scheide zurück. Sein unbändiger, sinnloser Zorn war ver schwunden, und mit ihm das Verlangen, die zu vernichten, die ih nen den Weg versperrten. Ihm war plötzlich, als hätte sich ein dumpfer Nebel aus seinem Kopf verzogen, ein Nebel, der bestän dig in ihm gegenwärtig gewesen war, seit er das Schwert des Bhe leu vom Tische des alten Mannes im Gasthof des Königs genom men hatte. Selbst als das Schwert schwarz von Ruß gewesen war und unfähig, ihn direkt zu beherrschen, waren, wie ihm jetzt be wusst wurde, seine Gedanken von ihm vergiftet und getrübt ge wesen. Das vielleicht Erschreckendste an der Waffe war, dass er sich ihres unheilvollen Einflusses auf ihn immer erst dann be wusst wurde, wenn er gebrochen wurde; dass sie ihm suggerierte, dass Bheleus Reaktionen und Gefühle seine eigenen seien. Doch nun war er wieder frei, zumindest für den Moment. »Danke«, sagte er leise. »Bheleu ist heimtückisch; man darf ihm keinen Augenblick ver trauen«, knarrte die schaurige Stimme des alten Mannes aus dem Dunkel. »Er hätte uns hier für nichts und wieder nichts aufgehal ten, und ich wünsche nicht, dergestalt aufgehalten zu werden. Außerdem ziehe ich deine Gesellschaft, so kümmerlich sie auch ist, der seinigen vor.« -380-
»Ich werde dir das Schwert nicht geben!« rief Garth hastig. Er war wachsam, und seine Gedanken hatten noch nicht genügend Zeit gehabt, sich wieder voll und ganz zu ordnen, also machte er seinen Standpunkt lieber direkt klar, um erst gar keine Zweifel aufkommen zu lassen, weder auf seiten des Königs noch bei ihm selbst. Der alte Mann hatte länger geredet als üblich, was nach Garths Erfahrung meistens nichts Gutes verhieß. Diese plötzliche Gesprächigkeit des Königs konnte Teil eines raffinierten Ränke spiels sein, aber auch eine Folge der Erregung des alten Mannes — und alles, was den Vergessenen König aufregte, konnte un angenehm für gewöhnliche Sterbliche sein. »Wie du möchtest«, erwiderte der König. Garths Spannung ließ ein wenig nach. Es konnte ja sein, sagte er sich, dass der alte Mann wirklich die Wahrheit gesprochen hatte und dass seine Motive tatsächlich die waren, die er genannt hatte – aber wieso hatte er sich die Mühe gemacht, sie zu erklären? Frima machte sich überhaupt keine Gedanken darüber. »Bist du wohlauf?« erkundigte sie sich. »Ja«, antwortete Garth, obgleich er sich da beileibe noch nicht völlig sicher war. Unterdessen waren sie ein gutes Stück weitergeritten; in dem Moment, als Garth nach dem Schwert gegriffen hatte, hatte er gleichzeitig Koros wieder angetrieben, und das Kriegstier hatte gehorcht, unbeirrt von den Handlungen seiner Reiter. Der Vergessene König war ebenfalls weitergegangen. Mit leisem Schreck bemerkte Garth, dass sie bereits ganz nahe vor dem ersten Lagerfeuer waren; außerdem hatten sie so laut geschrien, dass es schon an ein Wunder gegrenzt hätte, wenn ihr Nahen nicht be merkt worden wäre. »Wartet!« bat er leise, während er seinem Kriegstier anzuhalten befahl. -381-
Koros blieb stehen. Garth blickte zur Seite, sah aber keine Spur vom gelben Gewand des Königs. Verblüfft drehte er sich um, um nachzuschauen, wo der alte Mann abgeblieben war. Irgend etwas raschelte; er wirbelte herum und blickte auf den Schaft eines Speeres.
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Kapitel 22 »Ein Übermann!« schrie eine ihm unbekannte Stimme ganz dicht in seiner Nähe. Es war, daran zweifelte Garth nicht einen Moment, die Stimme eines Übermannes: sie klang viel tiefer und voller als die eines Menschenwesens. »Wer bist du?« fragte Garth. Er hob langsam den Blick von dem Speer, der auf seinen Hals gerichtet war, und sah, dass er von einer Hand mit zwei Daumen gehalten wurde; das Gesicht dar über war nasenlos und rotäugig. Zwei weitere Gestalten standen dicht dabei, eine von der Größe eines Übermannes, die andere von kleinerem Wuchs; beide hielten ihre Waffen stoßbereit. »Was glaubst du, wer wir sind, Dummkopf?« fragte die kleinere Gestalt mit unverkennbar menschlicher Stimme. »Viel wichtiger ist: Wer bist du, Fremder?« fragte der Übermann mit dem Speer. Garth schätzte rasch seine Lage ab und entschied, dass er noch keine Lust hatte, seine Identität zu offenbaren. »Ich bin ein Reisender auf dem Weg nach Westen. Wieso interessiert euch das?« »Du reitest bei Nacht?« Garth zuckte die Achseln. »Warum nicht? Nachts ist es kühler. Ich will euch nichts, wer immer ihr seid. Wenn es euch lieber ist, reite ich um euer Lager herum. Es macht mir keine Umstände.« »Es kann gut sein, dass du erst einmal für eine Weile überhaupt nirgends hinreitest«, bemerkte der andere Übermann, der bis jetzt noch nichts gesagt hatte. »Wieso nicht? Wer seid ihr?« »Was glaubst du, wer wir sind?« -383-
»Ich habe keine Ahnung«, erwiderte Garth. »Mir war nicht be kannt, dass es in Nekutta Übermänner gibt. Entweder habe ich mich geirrt, oder ihr seid von irgendwo hierhergekommen – aber ich habe keine Ahnung, von wo und warum.« Letzteres war na türlich geflunkert; es bedurfte keiner besonderen Intelligenz, um zu erraten, dass es sich bei dem Lager um das eines Raubzugkom mandos von der Yprischen Küste handelte und dass diese drei ausgesandt worden waren, um den Geräuschen auf dem Wege auf den Grund zu gehen. »Wir wussten auch nicht, dass in Nekutta Übermenschen zu Hause sind; einzig aus diesem Grund bist du überhaupt noch am Leben«, sagte der zweite Übermann. »Du könntest ein Spitzel sein, vielleicht auch ein Einzelgänger, der von irgendeinem Dorf ange heuert worden ist, um uns abzulenken und in die Irre zu führen – aber so etwas ist uns bis dato noch nicht begegnet. Warum sollten Menschenwesen einen Übermann anheuern, wo sie doch wissen, dass bei uns beide Spezies vertreten sind? Du könntest auch ein Späher in den Diensten einer der mit uns rivalisierenden Gruppen sein – nur, dass wir die am weitesten östliche Gruppe sind; wie könnte es also sein, dass du von Osten kommst? Oder bist du vielleicht heimlich in weitem Bogen um uns herumgeritten und auf dem Rückweg unvorsichtig geworden? Sehr unwahrschein lich, das. Deshalb, Fremder, sind wir verblüfft und wollen eine Er klärung von dir hören, bevor wir dir irgendeinen bleibenden Schaden zufügen.« »Und ich will wissen«, warf der Mensch ein, »welches Tier das ist, das du da reitest, und wer die Person ist, die da hinter dir im Sattel kauert.« »Das Tier ist ein Kriegstier«, antwortete Garth, noch un schlüssig, wie viel von der ganzen Wahrheit preiszugeben klug war. »Das Mädchen ist eine Dûsarranerin, die mich als ihren Be
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gleiter angeheuert hat.« Diese Erklärung schien so gut wie jede andere und gewiss glaubwürdiger als die Wahrheit. Er konnte nicht wissen, wie diese Gruppe zum Aghad-Kult stand. »Ah«, sagte der zweite Übermann. »Und wer ist diese Dûsar ranerin? Und wer bist du, dass sie dir so sehr vertraut, dass sie dich als ihren Beschützer anheuert?« »Ihr Name ist Frima, Baronin von Skelleth«, antwortete Garth. Er hoffte, dass der Titel die drei beeindrucke. Seinen eigenen Namen wollte er noch nicht preisgeben; es war nicht auszu schließen, dass sie ihn in irgendeinem Zusammenhang schon ein mal gehört hatten. »Was ihr Vertrauen in mich betrifft, das ist ihre eigene Sache – aber ich bin ihr schon eine ganze Weile bekannt, und mein Wort ist gut.« Er verspürte einen unangenehmen Stich bei dieser letzten Behauptung. »Skelleth?« riefen die Speerträger und der Mensch wie aus einem Munde. »Ich glaube, da haben wir fürwahr einen echten Fang gemacht«, fügte der Übermann hinzu. »Bedenkt, was für eine wertvolle Geisel sie ist, wenn sie wirklich die Baronin ist!« sagte der Mensch mit unüberhörbarem Frohlo cken in der Stimme. Damit hatte Garth ganz und gar nicht gerechnet. Er hatte fest angenommen, dass diesen Ypriern nicht daran gelegen war, die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Skelleth und ihrem Land aufs Spiel zu setzen. »Das würde nicht gut für den Handel sein«, sagte er. »Genau darum geht es uns ja, Dummmkopf!« erklärte der Mensch.
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Der zweite Übermann hob die Hand zum Zeichen, dass der Mensch schweigen solle. »Ich glaube, langsam begreife ich«, sagte er. »Du bist kein Yprier, nicht wahr?« »Du meinst, er ist tatsächlich Nekuttaner?« fragte der Mensch überrascht. »Nein! Schweig endlich still!« Wütend schlug er dem Menschen mit der Hand gegen den Helm. Dann wandte er sich wieder Garth zu: »Bist du aus Eramma?« »Nein«, erwiderte Garth. »Ich komme aus Ordunin, in der Nord wüste.« »Aha. Das erklärt alles.« »Vielleicht euch, aber nicht mir!« erwiderte Garth gereizt. »Nein, natürlich nicht. Komm, ich erkläre es dir.« Er schob sein Schwert in die Scheide zurück und streckte Garth versöhnlich die Hand hin. Zögernd ließ auch der Mensch sein Schwert in die Scheide zu rückgleiten, während der erste Übermann seinen Speer sinken ließ. Auf das Drängen des zweiten Übermannes hin saß Garth ab und führte Koros mit Frima im Sattel in das Lager. Der Vergessene König war nach wie vor wie vom Erdboden verschwunden. Als Garth in den Lichtkreis des ersten Feuers trat, hatte er zum ersten Mal Gelegenheit, die drei genauer in Augenschein zu nehmen. Wie er vermutet hatte, waren sie zweifelsfrei Yprier; sie trugen alle drei die bunt emaillierten Helme und Panzer, wie sie an der Küste üblich waren. Jedoch fielen ihm ein paar geringfügige Details auf, in denen sie sich von den Ypriern unterschieden, die er von Skelleth her kann te: die Motive und Farben auf ihren Panzern waren ein wenig anders, und auch ihr Akzent war nicht ganz der gleiche. -386-
Sobald sie am Feuer angekommen waren, wurde Frima vom Kriegstier gehoben, und sie und Koros wurden höflich, aber be stimmt unter Bewachung gestellt – obwohl Garth sicher war, dass die Yprier die Kraft des Kriegstieres unterschätzten und dass Ko ros jederzeit mühelos würde ausbrechen können, wenn er ihn zu sich rufen sollte. Er selbst wurde sehr zuvorkommend behandelt: Man bot ihm einen Klappstuhl am Feuer an und reichte ihm einen Krug Glüh wein. Misstrauisch, er könne ein Betäubungsmittel enthalten, wies er den Trank zurück, nahm aber den Stuhl dankend an und warte te höflich, bis der andere Übermann ebenfalls Platz genommen hatte. Als beide es sich bequem gemacht hatten, begann der andere mit seiner Erklärung. Einen Teil davon hatte Garth sich bereits selbst zusammengereimt, nachdem ihm die Unterschiede zwischen diesen Ypriern und denen aufgefallen waren, die er in Skelleth gesehen hatte. Die Yprische Küste, so erfuhr er, war keine einheitliche, vereinte Region, die in Frieden mit sich selbst lebte, sondern eher ein Flick enteppich aus zerstrittenen Stammesgebieten, die teilweise von Menschenwesen, teilweise von Übermenschen, in der Mehrzahl aber von gemischten Populationen bewohnt waren. Während der vergangenen ein oder zweihundert Jahre war die Situation relativ stabil gewesen; jeder Stamm hatte sein genau abgestecktes Gebiet, und Grenzverletzungen kamen nur äußerst selten vor. Zwar flammten immer noch hin und wieder kleinere Scharmützel auf, und auch der eine oder andere Raubzug kam vor, aber richtige Kriege gehörten der Vergangenheit an. Die ein zelnen Stämme trieben Handel untereinander und waren zu kom plizierten Netzwerken aus Verbündeten und Handelspartnern verknüpft, um besser an das zu gelangen, was sie benötigten.
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Waren, die an der Küste selbst nicht erhältlich waren, kauften sie vom südwestlichen Stamm, den Dyn-Hugris, die mit Dûsarra Handel trieben und die demzufolge der mächtigste von allen Stämmen waren. Die Dyn-Hugris wurden jedoch ihrerseits wiederum von einem Bündnis aus einem halben Dutzend anderer relativ großer und wohlhabender Stämme im zentralen Teil der Region in Schach gehalten. Alles in allem hatte sich so ein stabiles Gleichgewicht der Macht und eine annehmbare Verteilung des zur Verfügung stehenden Reichtums herausgebildet. Doch dann, ganz plötzlich und fast gleichzeitig, waren zwei Dinge geschehen, die dieses Gleichgewicht zerstört hatten. Dûsarra war von einer Seuche heimgesucht worden, sein Markt und seine Lagerhäuser waren ein Raub der Flammen geworden, und ein großer Teil der Stadt war evakuiert worden. Der Handel war zusammengebrochen. Die Dyn-Hugris hatten über Nacht ihre Machtbasis verloren; ihre Kontrolle über die Handelsstraßen nach Dûsarra war plötzlich keinen roten Heller mehr wert gewesen. Wenig später war im Osten eine Gruppe von Händlern aus Eramma aufgetaucht und hatte sich erboten, mit jedem Handel zu treiben, dem daran gelegen war. Der erste Stamm, dem sie be gegnet waren, war kaum mehr als eine kleine Gruppe von Bandi ten gewesen, der zweite aber waren die Chuleras gewesen, ein großer und ehrgeiziger Stamm, dessen Ehrgeiz bis dahin durch die ungünstige geographische Lage und den Mangel an Boden schätzen im Zaum gehalten worden war. Und nun hatten die Chuleras mit einem Schlag riesige Mengen Gold und konnten Söldner anheuern, Bundesgenossen kaufen und sich allgemein zur Geltung bringen. Sie ließen dabei freilich gänz lich jenes Fingerspitzengefühl vermissen, das die Dyn-Hugris über die Jahrhunderte entwickelt hatten, und waren gerade dabei,
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die sechs Stämme der Allianz aus ihrer angestammten Heimatre gion im Kerngebiet der Küste zu vertreiben. Doch selbst ohne den Nachschub aus Dûsarra waren die DynHugris ein mächtiges Bollwerk, und so hatten die sechs Stämme, statt nach Westen zurückzuweichen, den mühseligen Treck nach Süden über die Berge auf sich genommen und suchten nun nach einer neuen Heimat, neuem Land und neuem Wohlstand. Aus Furcht, ausgestochen zu werden und ins Hintertreffen zu geraten, hatten die Dyn-Hugris über ihre jetzt nutzlos ge wordenen Handelsstraßen Heere nach Süden geworfen. Die alten Bündnisse waren unter diesen neuen Belastungen zu sammengebrochen; jetzt waren die sechs Stämme und die DynHugris allesamt zu erbitterten Rivalen geworden, und jeder raffte soviel von Nekutta an sich, wie er eben kriegen konnte. Es war für sie eine angenehme Überraschung gewesen, dass das Land so gut wie ohne Verteidigung war. So fand die Inbesitznahme in der Regel dergestalt statt, dass eine Abteilung Yprier schlicht einrück te und sich zum neuen Eigentümer des Landes erklärte. Die Be wohner, meistens Bauern, wagten es selten, dagegen zu protes tieren. Die »Eroberung« ging in der Tat so glatt vonstatten, dass die Yprier nervös wurden, überzeugt, dass irgendwo ein Haken an der Sache sein musste, irgendeine schlimme Bedrohung, die ganz plötzlich auftauchen und alles wieder zunichte machen würde. Bisher war jedoch nichts dergleichen passiert – aber Garths plötz liches Auftauchen hatte ihren Argwohn aufs neue geschürt. Das Lager war der am weitesten nach Osten vorgeschobene Außen posten des Heeres der Khofros, des östlichsten der sechs Stämme, der erst gerade um das zentrale Gebirgsmassiv herummarschiert war in der Hoffnung, den gesamten Ostteil Nekuttas für sich in Besitz nehmen zu können. Unter diesen Umständen war das
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plötzliche Auftauchen eines Übermannes aus dem Osten naturge mäß eine unliebsame Überraschung. Garth hörte sich diese Erklärung schweigend an. Er begriff, dass er es – buchstäblich mit einer Hand – geschafft hatte, die Gesell schaft der Yprischen Küste vollkommen auseinanderzusprengen, und dass er damit schuld war an der Besetzung Nekuttas durch dieses halbbarbarische Stammesvolk. Sowohl die Zerstörung Dûsarras als auch die Erhebung der Chuleras waren sein Werk. Einmal mehr hatten Handlungen, die er für nützlich gehalten hatte, zu Chaos, Tod und Zerstörung geführt. Er fragte sich, ob es überhaupt möglich war, dass er irgend etwas Bedeutendes tat, das Bheleu und das Schicksal nicht verdrehen und pervertieren würden. Der Yprier, der mit seiner Geschichte fertig war, fragte: »Ist dieses Mädchen wirklich die Baronin von Skelleth?« Garth hatte auf diese Frage gewartet. »Ich wollte euch beeindru cken«, sagte er. »Ich hatte gedacht, die ganze Yprische Küste triebe Handel mit Skelleth, nicht bloß ein einziger Stamm.« »Ist sie nun die Baronin oder nicht?« beharrte der andere. Garth sah ein, dass sein Gesprächspartner ihm nicht gestatten würde, der Antwort weiter auszuweichen. »Nicht mehr«, sagte er. »Sie war die Baronin; ihr Gemahl wurde kürzlich von seinen Feinden ermordet. Sie hatten keine Kinder, auf die der Titel hätte übergehen können; sie war allein und beschloss, zu ihrer Familie in Dûsarra zurückzukehren, statt in Skelleth zu bleiben und ihr Leben zu riskieren.« Er hoffte, dass sein Gesprächspartner den stillschweigenden Hinweis akzeptieren würde, dass Frima von einer rivalisierenden Partei ins Exil getrieben worden sei. Wenn die Situation an der Yprischen Küste in der Tat so gewesen war, wie der Yprier sie
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dargestellt hatte, dann mussten solche Vorgänge dort an der Tagesordnung gewesen und ihm mithin vertraut gewesen sein. »Ach!« sagte der Yprier. »Eine traurige Geschichte, wenn sie wahr ist.« »Sie ist wahr«, knurrte Garth, den Gekränkten spielend. Und tat sächlich entsprach ja auch das meiste von dem, was er gesagt hatte, der Wahrheit. Es war die Art, wie er es gesagt hatte, die sei nen Zuhörer auf die falsche Fährte lockte, dergestalt, dass er den Eindruck erhielt, es hätte sich bei den Feinden, die Saram ermordet hatten, um Thronrivalen aus Skelleth gehandelt und nicht um Eindringlinge von außerhalb. »Schade; sie hätte so ein gutes Faustpfand für die Verhand lungen mit den Chuleras abgegeben.« Garth zuckte die Achseln. »Es tut mir leid, dass sie für euch ohne Wert ist. Für mich allerdings hat sie einen gewissen Wert: Ich bekomme Geld von ihrer Familie, wenn ich sie wohlbehalten in Dûsarra abliefere.« »Das erscheint mir sehr fraglich. Dûsarra ist in weiten Teilen verwüstet und menschenleer. Und wie in aller Welt ist es über haupt dazu gekommen, dass sich eine Dûsarranerin mit dem Ba ron von Skelleth vermählt hat?« »Die genauen Einzelheiten sind mir nicht bekannt. Ich weiß nur, dass sie vor knapp drei Jahren plötzlich in Skelleth auftauchte. Der tote Baron war ein ziemlicher Abenteurer, musst du wissen; er hat den Titel nicht geerbt, sondern in einer Art Handstreich an sich gerissen. Sein Vorgänger wurde ebenfalls ermordet.« »Du hast mir immer noch nicht deinen Namen gesagt.« »Thord«, sagte Garth. »Thord von Ordunin, Sohn des Dold und der Sherid.« »Ich bin Chorn von den Khofros.« -391-
»Was gedenkst du mit mir zu tun?« »Das habe ich noch nicht entschieden.« »Ich möchte dich darauf hinweisen, dass ich ernsthaften Widerstand leisten werde, wenn du mich nicht sehr bald ziehen lässt. Und vergiss nicht, da ist auch noch mein Kriegstier, welches ungeheure Kraft besitzt und mir bedingungslos ergeben ist. Ich glaube nicht, dass ihr irgend etwas davon habt, wenn ihr mich festhaltet oder tötet. Besser, ihr lasst mich in Frieden ziehen.« »Ein nicht von der Hand zu weisendes Argument. Ich werde es bedenken, wenn ich mich mit unseren Ältesten berate.« Der Yprier erhob sich und machte ein Zeichen mit der Hand. Drei Übermänner traten vor und nahmen Garth unter Bewa chung, während Chorn davonschlenderte und in einem großen Zelt verschwand. Sie machten keinen Versuch, Garth zu entwaff nen; er vermutete, dass sie das große zweihändige Breitschwert als eine zu unhandliche Waffe einschätzten, als dass in dieser Si tuation eine Gefahr von ihm hätte ausgehen können. Sollte er da nach greifen, konnten sie ihn töten, ehe er es auch nur zur Hälfte aus der Scheide herausgezogen hätte – jedenfalls dann, wenn es eine gewöhnliche Waffe gewesen wäre und nicht das Schwert des Bheleu. Garth war froh, dass niemand das Schwert berührte; er war nicht sicher, wie es darauf reagieren würde, selbst wenn seine Macht vom Vergessenen König im Zaum gehalten wurde. Er blieb sitzen und wartete geduldig. Als Chorn schließlich zurückkam, lag ein Lächeln auf seinem Gesicht. Garth wusste es erst zu deuten, als der Yprier den Wa chen bedeutete, sich zurückzuziehen. Sie gehorchten und verschwanden in der Dunkelheit abseits des Feuers.
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Garth erhob sich, während Chorn auch die Wächter Frimas und Koros‘ wegtreten ließ. »Verzeih, dass wir dich festgehalten haben, Thord!« sagte er zu Garth. »Aber du verstehst sicher, dass wir in unserer Lage nicht anders handeln konnten.« Garth nickte. »Du bist frei und kannst gehen, wohin es dir beliebt, und wir hoffen, dass du künftig gut von den Khofros sprechen wirst. Wir hegen keinen Groll gegen irgendein Volk Erammas oder der Nordwüste, ja nicht einmal gegen Dûsarra, und würden friedliche Beziehungen zu ihnen begrüßen. Es tut mir leid, dass wir nicht gastfreundlicher waren, aber im Krieg ist für derlei Nettigkeiten leider nun einmal kein Platz.« »Danke«, sagte Garth, immer noch ein wenig skeptisch. Niemand versuchte, ihn aufzuhalten, als er auf sein Kriegstier stieg und Frima in den Sattel half; niemand versuchte, ihn aufzu halten, als sie quer durch das Lager in Richtung Westen davon ritten. Der Zwangsaufenthalt bei den Ypriern hatte sie etwas mehr als eine Stunde gekostet; trotzdem war Garth nicht sonderlich verärgert. Er wusste, dass es weit schlimmer hätte kommen können. Er war erleichtert darüber, dass die Khofros offensichtlich beschlossen hatten, sich nicht noch mehr Feinde zu schaffen. Er war sich jedoch nicht sicher, ob er sich über das Verschwinden des Vergessenen Königs freuen sollte oder ob er es eher als beunruhigend empfinden sollte; die Frage wurde indes gegenstandslos, als sie die letzten Wachtposten passiert hatten: Kaum waren sie wieder in die Dunkelheit eingetaucht, da mar schierte der alte Mann plötzlich wieder neben ihnen her, als wäre er die ganze Zeit über bei ihnen gewesen – und Garth war gar nicht so sicher, ob er das nicht auch war. Es konnte durchaus zu -393-
den magischen Talenten des alten Mannes gehören, sich unsicht bar machen zu können. Der Übermann entschied indes, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und der König schien auch nicht geneigt, irgend etwas dazu verlauten zu lassen. Frima jedoch war nicht so zurückhaltend. Als sie das Wiederauf tauchen des alten Mannes bemerkte, fragte sie: »Wo hast du ge steckt?« Der Vergessene König gab keine Antwort. Nachdem sie die Frage dreimal wiederholt hatte, mit von Mal zu Mal wachsender Lautstärke, und der König sich nach wie vor be harrlich ausschwieg, gab sie es auf. Statt dessen fragte sie Garth: »Warum haben sie uns nicht getötet?« »Warum sollten sie?« »Wir hätten Spitzel sein können.« »Wir waren aber keine.« »Aber wir hätten welche sein können.« Garth zuckte die Achseln. »Ich meine, sie hätten uns töten sollen.« »Wärst du lieber tot?« fragte Garth höflich. »So habe ich es nicht gemeint – obwohl, eigentlich weiß ich es nicht so recht. Vielleicht sehe ich ja Saram wieder, wenn ich tot bin.« Garth gefiel die Richtung dieses Gedankens nicht. »Sie haben uns deshalb nicht getötet, weil es sich für sie nicht gelohnt hätte. Koros und ich hätten ihnen einen prächtigen Kampf geliefert, und sie hätten eine ganze Menge Leute verloren, bevor sie uns getötet hätten — wenn sie es überhaupt geschafft hätten, Koros zu töten«, sagte er, in der Hoffnung, Frima von ihren Grübeleien über ein Leben nach dem Tode abzubringen. Er glaubte zwar mittlerweile an die Existenz von Göttern oder jedenfalls an übernatürliche -394-
Mächte, aber den menschlichen Aberglauben von einem Leben nach dem Tode vermochte er beim besten Willen nicht zu teilen. Er wollte auf keinen Fall das Risiko eingehen, irgend etwas zu sagen, das Frima in Versuchung führen konnte, Selbstmord zu be gehen, oder das in irgendeiner Weise geeignet war, sie in eine Stimmung von Lebensmüdigkeit zu bringen. »Da hast du wohl recht«, stimmte sie ihm zu. Es trat ein kurzes Schweigen ein, ehe sie fragte: »Wer waren diese Leute?« »Yprier«, erwiderte Garth. »Was haben sie dort gemacht?« Garth erklärte ihr die Situation. Geduldig wiederholte er die Punkte, die sie nicht sofort verstand, und ging auf alle Fragen ein, die sie ihm stellte, und beantwortete sie, so gut er konnte. Als sie schließlich zufrieden mit seiner Erklärung war und über zeugt, dass das Lager nichts mit dem Aghad-Kult zu tun hatte, gab sie Ruhe. Garth warf einen Blick über die Schulter und bemerkte, dass der Himmel sich im Osten langsam aufzuhellen begann. Bald würden sie rasten. Das würde ihnen allen gewiss gut tun. Während er Frimas Fragen beantwortet hatte, hatte er über die jüngsten Ereignisse nachgedacht; ein Punkt seiner Überlegungen war Frima. Sie redete wieder. Garth deutete das als ein Zeichen dafür, dass sie allmählieh über den Schock hinwegkam, und fragte sich, ob sie sich noch grämte. Sie war so gewiss unterhaltsamer, als sie es während ihrer langen Phase des trübsinnigen Schweigens gewesen war. Wäh rend der Nacht zu reisen, wenn die Landschaft in Dunkelheit lag, konnte sehr langweilig sein, wenn die Mitreisenden beharrlich schwiegen. -395-
Er begann nach einer geeigneten Stelle Ausschau zu halten, wo sie Obdach für den Tag finden konnten. Er hatte kein Verlangen danach, während des Schlafes von einer anderen Gruppe der Kho fros oder irgendeinem anderen yprischen Stamm überrascht zu werden. Kurz nach Sonnenaufgang stießen sie auf ein verlassenes, halb abgebranntes Bauernhaus, vor dessen Tür der Kopf des einstma ligen Besitzers auf einen Pfahl gespießt war. Quer über die Wand waren mit Holzkohle die Worte gekritzelt: »So ergeht es allen un seren Feinden. Dieses Land gehört den Khofros.« Frima sträubte sich zunächst, die Ruine zu betreten, aber Garth bestand darauf, trotz der Asche und des Gestanks. Verkohlt oder nicht, es war ein Dach über dem Kopf. Sie schliefen friedlich und ungestört; niemand entdeckte sie. Als Garth am späten Nachmittag aufwachte, fand er den König hell wach auf dem einzigen heil gebliebenen Stuhl am Küchentisch sitzend; er musste über die vertraute Pose in dieser so un passenden Umgebung lächeln. Er sagte jedoch nichts, sondern weckte Frima, und wenig später brachen sie wieder auf. Aus den Ereignissen der vergangenen Nacht klug geworden, vermied Garth fortan tunlichst jede Berührung mit Menschen wesen oder Übermännern: Sie machten einen großen Bogen um je des Lager, das sie sahen, schliefen in Ruinen, Höhlen oder anderen geeigneten Schlupfwinkeln und stahlen sich ihren Provi ant, statt ihn zu kaufen. Sie kamen an mehreren yprischen Lagern verschiedener Größe vorüber, und Garth versuchte, die verschie denen Stämme anhand ihrer Panzer und Helme zu identifizieren; bei einigen gelang ihm dies, bei anderen war er sich nicht sicher. Da sie jeglichen Kontakt vermieden, erfuhren sie nie die Namen der fünf Stämme zwischen den Khofros und den Dyn-Hugris, aber
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Garth war sich ziemlich sicher, dass er Angehörige von mindes tens drei von ihnen sah. Der Edelstein im Knauf des Schwertes blieb zu seiner Erleichte rung während der ganzen Zeit schwarz. Er hatte kein Verlangen danach, Nekutta zu verteidigen, indem er seine Invasoren ver nichtete; schließlich gehörten viele Yprier seiner eigenen Gattung an, während die Nekuttaner ausschließlich Menschenwesen waren. Doch stießen sie nicht nur auf Lager der Invasoren, sondern auch auf solche von zerlumpten, zumeist unbewaffneten Men schenwesen, die zweifellos Flüchtlinge waren. Viele der Insassen dieser Lager trugen das traditionelle Kapuzengewand der Dûsar raner; andere trugen den groben wollenen Kittel des Landvolks. In unregelmäßigen Abständen waren entlang der Straße Kon trollpunkte eingerichtet worden; sie jedesmal in weitem Bogen zu umgehen war umständlich und zeitraubend, so dass Garth schließlich ernsthaft über Frimas Vorschlag nachdachte, die Straße ganz zu verlassen, den Plan aber dann doch wieder verwarf: Er war zwar schon einmal über diese Route nach Dûsarra geritten, aber er war keineswegs sicher, ob er die Stadt nicht verfehlen würde, wenn er von der Hauptstraße abwich. Sie waren nach Garths Schätzung noch ungefähr eine Tagesreise – oder besser, Nachtreise – von Dûsarra entfernt, als sie eines frü hen Nachmittags aus dem Schlaf geweckt wurden. Sie hatten Unterschlupf in einem Obstgarten gefunden, gegen unerwünschte Blicke durch das dichte Laubwerk der Apfelbäume abgeschirmt. Garth rechnete nicht damit, dass jemand sie behel ligen würde, es sei denn der Besitzer des Hains tauchte unvermu tet auf, und ein Bauer stellte keine Bedrohung dar, mit der er nicht leicht fertig werden konnte.
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Es war allerdings kein Bauer, der da höflich hüstelte, um ihn zu wecken. Er wälzte sich auf die Seite, instinktiv nach dem Schwert des Bheleu greifend, und sah vor sich einen Mann stehen. Er war von unbestimmbarem Alter, muskulösem Wuchs und trug eine graue Robe mit Kapuze. Der Mann kam ihm irgendwie bekannt vor, durchfuhr es Garth, während seine Hand sich um den Griff des Schwertes Schloss. »Sei gegrüßt, Garth von Ordunin!« sagte der Mann. »Ich komme in friedlicher Absicht; du wirst das Schwert nicht brauchen.« Die Tatsache, dass der Mann ihn zu kennen schien, überraschte Garth nicht; er war jetzt sicher, dass sie sich schon einmal be gegnet waren, wenn er sich auch nicht erinnern konnte, wo und wann. »Sei gegrüßt, Mann!« sagte er. »Erkennst du mich nicht wieder?« »Nein. « »Ich bin der Seher von Weideth; wir sind uns vor drei Jahren schon einmal begegnet, oder besser gesagt: zweimal.« »Ich entsinne mich nur einer Begegnung«, erwiderte Garth. Er war seinerzeit auf seiner ersten Reise nach Dûsarra von Trug bildern in die Irre geführt worden, die das Werk des Sehers und der Dorfältesten von Weideth gewesen waren. Er erinnerte sich noch sehr deutlich an den Vorfall und sah jetzt, dass der Mann, der da vor ihm stand, zweifelsfrei derselbe war, der sich ihm gegenüber damals als Seher von Weideth vorgestellt hatte. Auf dem Rückweg nach Skelleth hatte er das Dorf Weideth jedoch un behelligt passiert und den Seher auch nicht mehr zu Gesicht be kommen.
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»Ich war einer von den Zauberern, die in den Hügeln nördlich von Skelleth gegen dich gekämpft haben«, klärte ihn der Mann in der grauen Robe auf. »Ach ja!« Garth hatte nicht gewusst, dass der Seher jener Gruppe angehört hatte, zu der auch Shandiph, Chalkara und weitere rund zwanzig Zauberer gehört hatten, deren Namen er nicht kannte. Es waren so viele gewesen, die eine Robe getragen hatten, das traditionelle Gewand der Zauberer, dass ihm der Seher gar nicht aufgefallen war. »Was führt dich hierher?« »Ich bin nicht gekommen, um noch irgend etwas zu bewirken; dazu ist es bereits viel zu spät. Du brauchst also nicht beunruhigt zu sein. Ich wollte dich bloß noch einmal sehen und einen Blick auf jenes Schwert werfen, das soviel Zerstörung gebracht hat und den König in Gelb sehen, solange wir beide noch am Leben sind.« Etwas Trauriges schwang in der Stimme des Sehers mit, und noch etwas, das Garth nicht zu deuten vermochte; Übermänner kannten keine Wehmut. Wie auch immer, der Mann war jedenfalls keine Gefahr. »Hier bin ich«, sagte er, »und da ist das Schwert des Bheleu. Der König ist der alte Mann dort, der in den gelben Lumpen.« »Ich weiß.« Der Seher blickte hinunter auf das Schwert in Garths Hand und bemerkte: »Es ist schwer zu glauben, dass jenes Ding soviel Macht in sich birgt.« Der Übermann zuckte die Achseln. »Und das Buch und die Maske habt ihr auch. Weißt du, wie lange der Zauber dauern wird?« »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte Garth. »Und du, o König, weißt du es?« Der alte Mann hatte die ganze Zeit ruhig dagesessen, ihren Be sucher vollkommen übersehend, aber er antwortete: »Drei Tage.« -399-
»Und ihr habt noch eine Tagesreise vor euch; bleiben insgesamt also noch vier Tage. Wieso kann ich dann meinen Tod nicht voraussehen? Ist meine Gabe so schwach?« Der Vergessene König schwieg. »Du scheinst sehr sicher, dass es dem alten Mann gestattet sein wird, seinen Zauber durchzuführen«, sagte Garth in gereiztem Ton. »Ich bin nicht so erpicht darauf, ihn erfolgreich zu sehen.« Der Seher blickte ihn von der Seite an. »Was willst du daran ändern?« »Ich habe das Schwert des Bheleu – und ich habe die fes te Absicht, es zu behalten.« Der König regte sich, und der Stein im Knauf des Schwertes loderte plötzlich grellrot auf. Eine Woge un bändiger Wut brannte über den Übermann hinweg; er sprang mit einem Satz auf, das weißglühende Schwert wild schwingend. Im selben Moment erlosch die Glut, der Stein wurde wieder schwarz, und der König murmelte: »Wirklich, Garth?« »Es ist die einzige Möglichkeit, dich daran zu hindern, das Zeit alter des Todes über die Welt zu bringen, und ich werde alles dar an setzen, dich daran zu hindern, ganz gleich was es mich kostet.« Die Wut war ebenso schlagartig wieder verraucht, wie sie gekom men war, und sein Kopf war wieder leicht; seine rechte Hand war warm, fast heiß, wo der Griff des Schwertes sie berührte. »Du hast geschworen, mir bei meinem Zauber zu helfen.« Garth wusste im ersten Moment nicht, was er darauf antworten sollte, doch schließlich sagte er: »Ich wusste damals noch nicht, was auf dem Spiel stand.« »Weißt du es denn jetzt?« fragte ihn der Seher mit unver hohlener Neugier. »Weißt du es?« entgegnete Garth. »Zum Teil. Ich habe viel Zeit mit Studieren verbracht, seit wir uns das letzte Mal begegneten, um mehr über die Dinge zu erfah -400-
ren, die da kommen. Mein eigenes Talent, in die Zukunft zu schauen, ist schwach, aber es reichte aus, um mir die Schriften anderer zu erschließen.« »Dann sag mir, Seher, auf was ich mich da eingelassen habe. Was ist das für ein Zauber, den der König zu vollbringen trachtet? Was wird er bewirken? Was wird das Fünfzehnte Zeitalter bringen?« »Das Fünfzehnte Zeitalter ist das Zeitalter des Todes; es wird nicht länger währen als drei Stunden — vielleicht sogar noch weniger — und das Ende der Zeit bringen. Die Götter selbst werden sterben, und der Vergessene König mit ihnen. Herauf beschworen wird es durch die Abhaltung eines Rituals, zu dessen Durchführung die Totems des Todes und der Zerstörung und das Buch selbst erforderlich sind.« »Und das Ergebnis dieses Rituals wird die Zerstörung der Welt sein?« »Das nehme ich an«, sagte der Seher. »Wie sollte irgend etwas existieren können, wenn die Götter tot sind und selbst die Zeit aufgehört hat zu sein?« »Und zur Durchführung des Rituals ist das Schwert des Bheleu vonnöten?« »Ja.« Garth wandte sich zum Vergessenen König um und lächelte. »Ich glaube, dann wird sich das Zeitalter des Todes noch eine Weile gedulden müssen«, sagte er. »Kann irgend jemand, selbst der König in Gelb, der Hohepriester des Todes, das Schwert sei nem auserkorenen Träger gegen dessen Willen abnehmen?« »Du hast gesehen, Garth, wie leicht ich seine Macht unter drücken kann«, sagte der alte Mann.
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»Gewiss, o König, aber es ist etwas anderes, mich zu unter drücken. Ich bin immer noch ein Übermann, während du bloß ein Menschenwesen bist.« »Glaubst du, Bheleu im Zaum zu halten, würde meine Kräfte so erschöpfen, dass sie nicht mehr ausreichten, auch dich zu bän digen?« »Wenn das nicht der Fall wäre, o König, warum hättest du dann während dieser letzten drei Jahre auf eher irdische Methoden ver trauen sollen, wenn es darum ging, mich deinem Willen gefügig zu machen? Warum hast du mich nicht einfach gezwungen, deinen Wünschen zu willfahren? Warum hast du mir gestattet, nach Ordunin zurückzukehren, nachdem ich den Basilisken getö tet hatte? Warum sandtest du mich nicht direkt nach Dûsarra? Ich glaube, dass du, so mächtig du auch bist, es nicht vermagst, mich direkt dazu zu zwingen, gegen meinen eigenen Willen zu handeln. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber ich glaube, dass es so ist. Wenn ich mich geirrt habe, dann habe ich verloren, und die Welt ist zum Untergang verdammt, und du brauchst mir bloß zu befehlen, dir das Schwert zu geben, um mir meinen Irrtum zu be weisen.« Der König antwortete nicht sofort. Schließlich zuckte er die Achseln und sagte: »Ich habe sieben Zeitalter gewartet; ich kann noch weiter ausharren.« Erfreut über dieses offenbare Eingeständnis von Niederlage – denn etwas anderes konnte diese resignative Bemerkung des Königs nicht bedeuten , setzte Garth ein breites Grinsen auf. Er befand sich nach wie vor in der Zwickmühle zwischen dem König und Bheleu, aber er sah jetzt, dass seine Lage vielleicht doch nicht ganz so ausweglos war. Wenn er den König nur lange genug hin hielt und es schaffte, Bheleu einigermaßen in Schach zu halten, so
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dass er ungestört und in Ruhe nachdenken konnte, fand er vielleicht doch noch eine Lösung. Er kam gar nicht auf den Gedanken, sich zu fragen, wieso der König den Gott der Zerstörung noch weiter unterdrücken sollte, nachdem er, Garth, offen seinen Entschluss kundgetan hatte, dem König die Mitarbeit aufzukündigen. Er wandte sich wieder dem Seher zu und sagte triumphierend: »Da, siehst du? Dein Weltuntergang ist erst einmal aufgeschoben.« Der Seher nickte, fragte aber: »Für wie lange?« Verärgert über solche Undankbarkeit, versetzte Garth: »Für so lange, wie ich ihn verhindern kann.« »Und wie lange wird das sein? Wirst du ewig leben? Ich kann deinen Tod nicht vorhersehen, genausowenig wie meinen eigenen, aber meine Sehergabe ist schwach, besonders wenn ich weit von daheim entfernt bin.« »Ich beabsichtige, noch viele, viele Jahre zu leben, Seher, und vielleicht werde ich bis dahin irgendeinen anderen Weg finden, das Ende der Welt zu verhindern.« »Ich kann dir nur alles Gute wünschen, Übermann.« Ein wenig besänftigt, entspannte sich Garth. Er stand schweigend einen Moment da, während der Seher mit traurigen Augen auf ihn, dann auf das Schwert blickte, das er immer noch in der Hand hielt. Als ihm das Schweigen allmählich peinlich wurde, fragte er: »Wie kommt es überhaupt, dass du hier bist und nicht in Weideth? Wenn du uns sehen wolltest, hättest du da nicht ebenso gut in deinem Dorf auf uns warten können? Es liegt an unserem Weg.«
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»Weideth gibt es nicht mehr«, sagte der Seher. »Es wurde vor über einem Jahr von einem Dûsarranischen Heer besetzt und einen Monat später von den anrückenden Ypriern zerstört. Viele von uns konnten in kleinen Gruppen fliehen. Ich bin der einzige Überlebende meiner Gruppe, und ich habe den Kontakt mit den anderen Gruppen verloren. Ich lebe schon eine ganze Weile allein, ein paar Meilen südlich von hier.« Wieder an die chaotischen Verhältnisse in Nekutta erinnert, fühlte sich Garth von einem beklommenen Gefühl beschlichen. »Es tut mir leid, das zu hören«, sagte er. Der Seher sagte nichts. »Möchtest du dich uns nicht anschließen? Du wärst sicherer, als wenn du allein reistest.« »Vielen Dank, aber das möchte ich lieber nicht. Ich könnte es nicht ertragen. Früher oder später würde ich das Schwert in die Hand nehmen oder die Maske anschauen, oder das Buch berüh ren, und ich würde sterben, noch ehe die Welt untergeht. Ich ziehe es vor, die Zeit, die mir noch verbleibt, zu erleben, ohne mich mit solchen Gefahren zu konfrontieren.« »Wie du möchtest«, erwiderte der Übermann. Er blickte dem Se her nach, wie er langsam davonging, bis er seinen Blicken hinter den dicht stehenden Bäumen entschwunden war.
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Kapitel 23 Haggat hatte alles auf das sorgfältigste geplant. Die fähigsten Mörder des Kults und die besten Magier würden systematisch zum Einsatz gebracht werden, je nach den Erfordernissen der je weiligen Situation entweder einzeln nacheinander oder in kleinen, einander ergänzenden Gruppen, bis es einem oder mehreren von ihnen durchzukommen gelänge. Der Übermann sollte ihr erstes und wichtigstes Ziel sein; danach war der alte Mann an der Reihe, und zum Schluss kam das Kriegstier. Das Mädchen war un wichtig; sie würde vielleicht auf einem Opferaltar enden, wie sie es schon einmal getan hatte, nur dass diesmal kein Retter zur Stelle sein würde. Er war sich über die Macht des Schwertes des Bheleu durchaus im klaren, aber er konnte nicht glauben, dass es allmächtig und unverwundbar war. Er hatte die wirksamsten Todeszauber in sei nen Besitz gebracht, derer der Kult hatte habhaft werden können, hatte die fähigsten und erfahrensten Meuchelmörder aufgeboten und jedes Gewässer zwischen Dûsarra und den Ebenen mit den tödlichsten Giften verseucht, die ihm zur Verfügung standen. Er hatte Kriegslisten und Ablenkungsmanöver ersonnen, über Me thoden gebrütet, wie der Übermann von seinem Schwert getrennt werden konnte, hatte sich Listen ausgedacht, wie beide gleichzei tig erledigt werden konnten. Seit fast zwei Wochen hatte er an nichts anderes mehr gedacht. Während der letzten drei Tage hatte er sich nicht einmal mehr die Zeit genommen, durch sein Sehglas zu schauen, abgesehen von einem kurzen allmorgendlichen Blick, um festzustellen, wie weit der Übermann vorangekommen war. Er hatte auf die nächtlichen Opfer verzichtet und alle anderen Ob liegenheiten des Kults vernachlässigt. Er hatte – sofern er sich überhaupt Zeit zum Essen genommen hatte – seine Mahlzeiten -405-
hastig heruntergeschlungen und seine Akolytin nicht einmal ange rührt; obgleich sie sich stets in seiner Nähe aufgehalten hatte, rund um die Uhr damit beschäftigt, seine Befehle und Anweisungen von Zeichensprache oder Niederschrift in gesprochene Worte zu übersetzen, Botschaften zu übermitteln, Botengänge auszuführen und ihm allgemein zu Diensten zu sein. Er hatte ihre Gegenwart kaum beachtet; er war viel zu beschäftigt gewesen, um sich um sie zu kümmern. Aber jetzt war alles bereit. Die Meuchelmörder hatten ihre zuge wiesenen Stellungen bezogen und warteten auf ihren Einsatz. Der Übermann und seine Begleiter hatten das Vorgebirge erreicht und näherten sich auf der Straße. Voll banger Erwartung spähte Hag gat durch sein Sehglas. Da er den Übermann und den alten Mann nicht direkt einfangen konnte, hatte er das Glas auf die Straße vor ihnen gerichtet. Er war so aufgeregt, dass er auf eine seiner gewohnten Vor sichtsmaßnahmen verzichtete und es seiner Akolytin gestattete, bei ihm in seinem schwarzverhangenen Zimmer zu bleiben. Auf den Zehenspitzen stehend, spähte sie über seine Schulter in das Glas. Gemeinsam beobachteten sie gebannt, wie die Vordertatzen des Kriegstieres sich auf und ab bewegten, Schritt um Schritt nä her kommend, auf den Kreuzweg zu. Garth erinnerte sich an den schmalen Hohlweg, der geradewegs nach Weideth hineinführte; er war eine willkommene Abwechs lung von den gleichförmigen Serpentinen, in denen sich der Weg durch das äußere Vorgebirge wand. Er schätzte, dass sie die Tore Dûsarras kurz nach Sonnenaufgang erreichen würden; der Ost himmel hinter ihnen färbte sich bereits rötlich. Als er zum ersten Mal durch diesen Hohlweg geritten war, war Weideth unmittelbar, nachdem er um die letzte Ecke gebogen -406-
war, vor seinen Augen verschwunden; das war das Werk des Se hers und der Dorfältesten gewesen, die gehofft hatten, ihn durch Trugbilder von seinem Weg abzulenken. Nun, da er diesen Weg zum zweiten Mal in dieser Richtung entlangritt, fehlte dergleichen Blendwerk. Nichts kaschierte die Verwüstung, die die kleine Stadt heimgesucht hatte. Da, wo sich einst ein Gasthof und ein Dutzend Häuser um die Wegkreuzung gedrängt hatten, waren jetzt nur noch Aschen haufen und verkohlte Trümmer zu sehen. Steine und Schutt lagen über den Weg und die angrenzenden Berghänge verstreut. Garth erinnerte sich an eine kleine Baumgruppe, die einen der Hänge ge schmückt hatte; nur noch ein paar verkohlte Stümpfe erinnerten an sie. Dichtes Unkraut wucherte dort, wo einst gepflegte kleine Gärten gewesen waren, und hier und dort ragten weiße Knochen aus der rauchigen Schwärze, die das Feuer zurückgelassen hatte, bloß schimmernd im fahlen Licht des Morgengrauens. Es war ein niederschmetternder Anblick, und der Übermann hätte sich am liebsten gewünscht, dass ein neuerliches Trugbild käme und alles verdecke, auf dass seine Erinnerung an das Dorf ungetrübt bliebe. Die knarrende Stimme des Vergessenen Königs riss ihn aus sei nen Gedanken. »Garth«, sagte der alte Mann, »halte dich bereit.« Verblüfft wandte Garth den Blick auf den König, aber er konnte nichts entdecken, was ihm verriet, wofür er sich bereithalten sollte. Der alte Mann schritt so ruhig und gelassen dahin wie immer. Ein roter Lichtschein fiel ihm ins Auge, und er bemerkte, dass der Stein im Knauf des Schwertes zu glimmen begonnen hatte. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn. Er drehte den Kopf, um den Stein
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besser sehen zu können, und wandte dann den Blick wieder zum König. Der alte Mann nickte und ging ruhig weiter. Verwirrt, für den Moment aber auf das übernatürliche Wissen des Vergessenen Königs vertrauend, langte Garth sich über die Schulter, lehnte sich vor, damit Frima keinen Schlag von der Klinge abbekam, zog die Scheide über die Schulter und zückte das Schwert. Der Griff fühlte sich warm und ermutigend in seinen Händen an. »Was ist los?« fragte Frima. »Warum tust du das?« Garth gab keine Antwort; er war zu sehr damit beschäftigt, das herrliche Ge fühl von Kraft und die überwältigende Blutgier zu genießen, die ihn durchströmten, während er das Schwert in den Händen hielt. Der Griff lag ihm satt und heiß in den Händen, hell loderte der Stein, die Klinge schimmerte matt im trüben Licht des heraufdäm mernden Tages. Die verkohlten Ruinen von Weideth beküm merten ihn nicht länger; im Gegenteil, der Anblick hatte geradezu etwas Einladendes an sich, die Spur von Tod und Zerstörung et was Befriedigendes, auch wenn sie das Werk anderer Hände denn seiner waren. Er wusste, es waren Feinde hier, viele Feinde; einige waren hin ter den Schutthaufen versteckt, andere hielten sich mittels ma gischer Kräfte verborgen. Das würde ein herrlicher Spaß werden! Er vernahm ein leises schnappendes Geräusch; er riss das Schwert herum, um den Armbrustbolzen zu parieren, der auf sei nen Kopf zugeflogen kam. Die Klinge zog einen Schauer von gleißenden Funken hinter sich her, und der Bolzen krachte gegen das glänzende Metall und zerbarst in tausend Stücke, die gegen
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die Felsen am Rande des Weges prasselten. Frima schrie laut auf, als ein verirrter Splitter ihr den Arm aufritzte. Garths überbordendes Glücksgefühl verwandelte sich mit einem Schlag in rasende Wut, als er das Blut vom Ärmel des Mädchens herunterrinnen sah; das Schwert loderte auf in einem Blitz grell weißen Feuers, das die bleichen Farben der Landschaft um sie her um buchstäblich mit einem gleißenden Netz aus scharfrandigen Lichtbändern und langen schwarzen Schatten überspannte. »I‘a bheluye!« donnerte der Übermann, während er das Schwert in weitem mächtigen Schwung wieder nach vorn brachte. Wo immer seine Spitze hinzeigte, loderten Flammen empor, breiteten sich wellenförmig aus in rasender Gefräßigkeit, und in ihr wü tendes Tosen und Prasseln mischten sich die Schreie der sterbenden Meuchelmörder des Aghad-Kults. Etwas blitzte karmesinrot auf, und Garth stieß ein schauerliches Lachen aus, als er spürte, wie das Schwert einen Todeszauber zerschmetterte, der gegen ihn gesandt worden war. Steine, von Schleudern abgefeuert, pfiffen ihm am Kopf vorüber oder zer barsten an der Schneide seines Schwertes zu Staub; Pfeile aller Art wurden von der gleißenden Energie der Klinge aus der Bahn ge lenkt oder im Flug zerstört. Farbiger Rauch stieg von einem Dutzend gegen ihn geschleuderter Todeszauber auf, nur um im selben Moment von der schieren Gewalt der übernatürlichen Flammen in alle Winde zerstoben zu werden. Der Übermann machte sich nicht die Mühe, den genauen Standort der einzelnen Angreifer zu lokalisieren, sondern sandte die tödliche Energie gegen alles, was in seinem Sichtfeld lag, ließ alles in Flammen auf gehen, was einem möglichen Angreifer als Deckung dienen konn te. Die Aschenhaufen zerstoben im Wirbelwind der entfesselten Energie, die verkohlten Balken und Trümmer wurden von der Wucht der Feuerstöße des Schwerts zu Pulver zerstampft; die
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Erde selbst bebte, von den Hängen rollten Steinbrocken herab und prasselten auf das zerstörte Dorf hernieder wie ein gigantischer Hagelschauer. Das Licht der Morgendämmerung ging erst unter in dem gleißenden Licht des Schwertes, um dann begraben zu werden unter den schwarzen Wolkenbergen des Gewittersturms, den Garth als nächstes um sich herum entfesselte. Das Feuer des Schwertes vereinte sich mit den Blitzen des Gewitters. Noch lange nachdem die Angriffe gegen ihn aufgehört hatten, ließ Garth die Erde tanzen und schleuderte Blitz um Blitz von elektrischem Feuer gegen alles, was sich in seinem Sichtfeld regte. Als er schließlich seiner Wut zu verrauchen gestattete und den Wolken, sich zu verziehen, stand die Sonne golden leuchtend hoch über dem östlichen Horizont, aber ihre Strahlen fielen nur noch auf schwarze Erde und schwebende Asche. Nichts war ge blieben von Weideth oder den Meuchelmördern, die dort gelauert hatten, als ein paar verstreut herumliegende Knochensplitter, ver bogene Fetzen brandgeschwärzten Metalls und einer dünnen Schicht aus Asche und Ruß. Die Hügel ringsum waren zerborsten und von Rissen durchzogen, der Fels in völlig neue bizarre Formationen gezwungen von der Titanenkraft des Schwertes. Inmitten dieser Stätte der Verwüstung saßen Garth und Frima auf dem Rücken Koros‘; neben ihnen stand, unberührt von dem Inferno, das das Schwert entfesselt hatte, der Vergessene König. Frima hatte die ganze Zeit über die Augen geschlossen und den Kopf gesenkt gehalten; jetzt starrte sie in ungläubigem Entsetzen mit offenem Mund um sich, das Blut übersehend, das aus der Wunde an ihrem Arm rann. Koros knurrte unbehaglich und scheute vor den immer noch rauchenden Aschenhaufen zurück. Selbst Garth schien beeindruckt vom Resultat seines eigenen Handelns. Allein der Vergessene König blieb ungerührt und gelassen.
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In Dûsarra starrte Haggat in ungläubigem Entsetzen auf das letzte Bild, das sein Glas in Form grauer Schatten und Schwaden füllte. Und seine Befürchtung verfestigte sich zu schrecklicher Ge wissheit: Er hatte alles getan, was in seiner Macht stand, um den Übermann zu vernichten – und er war endgültig gescheitert. Es war der letzte Gedanke, den er in seinem Leben haben sollte: Die Akolytin, die die ganze Zeit über hinter ihm gestanden und ihm über die Schulter geblickt hatte, hatte die Wahrheit ebenso er kannt und wusste, dass Haggats Macht gebrochen war. Sie wählte den Punkt sorgfältig, vergewisserte sich, dass der Stich glatt zwi schen seinen Rippen hindurch und genau ins Herz gehen würde. So sehr sie es auch genossen hätte, ihn eines langsamen Todes sterben zu sehen – sie wollte kein Risiko eingehen, wollte sicher sein, dass der Hohepriester keine Chance mehr zu einem Vergeltungsschlag hatte. Lächelnd stieß sie ihm das Messer in den Rücken.
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Kapitel 24 Die Tore von Dûsarra waren verschlossen und verriegelt. Das überraschte Garth ein wenig. Sie stellten indes kein großes Hin dernis dar: der Stein im Knauf des Schwertes glomm noch immer blutrot, und ein einziger Hieb genügte, um die massiven Flügel so heftig nach innen auffliegen zu lassen, dass sie an den Mauern zer barsten und den dahinterliegenden Marktplatz mit verkohlten Splittern, Spänen und Asche übersäten. Garth war abgesessen, um das Schwert gegen das Tor zu schwingen. Er blieb gleich unten und marschierte zu Fuß durch das zerborstene Tor in die Stadt. Koros folgte ihm dichtauf, Frima auf dem Rücken, und den Schluss bildete der Vergessene König, das Buch der Stille und die Bleiche Maske in einem Bündel unter dem Arm. Der Übermann blieb in der Mitte des Platzes stehen, und die anderen schlossen zu ihm auf. Gemeinsam sahen sie sich um. Der Marktplatz war nicht mehr so, wie Garth und Frima ihn in Erinnerung hatten. Als Garth zum ersten Mal nach Dûsarra ge kommen war, war der Platz ringsum von Buden und Ständen ge säumt gewesen, und unzählige Fackeln hatten ihn in helles Licht getaucht. Er war bevölkert gewesen von Menschen in grauen, ro ten und blauen Gewändern, die kauften, verkauften, feilschten oder einfach nur flanierten und die Auslagen betrachteten. Jetzt aber waren die Seiten des Platzes kahle Steinwände, deren schwarze Oberfläche von Qualm und Ruß verschmiert war. Ein großer Teil der Gebäude war vollständig ausgebrannt; verkohlte Balkenstümpfe ragten in die Luft, die Fenster und Türen waren gähnende schwarze Höhlen. Bei einigen Häusern schimmerte das
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Tageslicht durch die Öffnungen, was klar zeigte, dass ihre Dächer zerstört waren. Der Marktplatz war völlig verlassen; überhaupt schien die ganze Stadt wie ausgestorben. Garth vermochte keine Anzeichen von Leben zu entdecken. Das einzige Lebendige weit und breit schien seine eigene kleine Gruppe zu sein. »Was tun wir jetzt?« fragte Frima. Garth überlegte. Sein höchstes Ziel war natürlich der Tempel des Aghad, der an der Straße der Tempel im Nordostteil der Stadt lag. Sie waren jedoch schon eine ganze Weile auf den Beinen: Sie waren am späten Nachmittag des Vortages aufgebrochen, und jetzt war schon früher Vormittag. Was ihn betraf, so fühlte er sich nicht sonderlich müde — im Gegenteil, die Benutzung des Schwertes schien ihn diesmal eher gestärkt und mit frischen Kräf ten versehen denn erschöpft zu haben. Warum das so war, wusste er nicht, aber er fühlte sich frisch und noch immer voller Ta tendrang. Es war jedoch anzunehmen, dass seinen Gefährten nicht nach weiteren Aktivitäten zumute war. Vorausgesetzt, er hatte recht, und sie wollten sich erst einmal ausruhen, dann war guter Rat teuer. Dem Zustand des Markt platzes nach zu schließen war es sehr zweifelhaft, dass der Gast hof der Sieben Sterne, in dem er seinerzeit abgestiegen war, noch für Gäste geöffnet war. »Was schlägst du vor?« fragte er schließlich. Frima starrte über den verlassenen und verwüsteten Marktplatz, den sie selbst vor so langer Zeit in Brand gesteckt hatte, und sagte: »Ich will nach Hause.« Sie war müde und unglücklich, und zu mindest im Moment kreisten ihre Gedanken mehr um ihr eigenes Wohlergehen als um ihre Rache an den Mördern ihres Mannes. Garth missverstand sie. »Wir sind hierhergekommen, um den Kult des Aghad auszulöschen, und wir werden nicht eher nach -413-
Skelleth zurückkehren, bis wir das hinter uns gebracht haben. Willst du diese ganze beschwerliche Reise umsonst gemacht haben?« »Ich meine mit 'nach Hause' nicht Skelleth, Garth, ich meine mein Zuhause!« »Ach so«, sagte der Übermann, sein Missverständnis begreifend. »Wo ist das?« »Wir haben über dem Geschäft meines Vaters gewohnt, in der Straße der Gefallenen Sterne«, antwortete Frima und deutete mit dem Finger nach Nordwesten. Garth nickte. Die Route schien so gut wie jede andere zu sein; das Haus des Mädchens würde ihnen Obdach bieten und ihnen als Ausgangsbasis für ihre Unternehmungen dienen. Er würde sein Vorgehen in Ruhe planen können, anstatt blindlings loszu schlagen. Natürlich würde diese Verzögerung auch den Kultisten Zeit zum Luftholen und zum Stellen neuer Fallen verschaffen; aber seit ihrem Aufbruch von Ur-Dormulk hatten sie auch schon zehn ganze Tage und Nächte zur Verfügung gehabt, und das einzige, was bei ihrer ganzen Planerei herausgekommen war, war der ge scheiterte Hinterhalt in Weideth gewesen. Er bezweifelte, dass sie innerhalb von nur einem Tag irgend etwas Effektiveres als jenen Hinterhalt zustande bringen konnten. Wenn sie eine zweite, ähnli che Aktion versuchten, um so besser — das würde ihm die Chan ce geben, noch mehr von ihnen zu töten. Wenn sie es aber vorzogen, sich zu verstecken, dann kam es auf einen Tag mehr oder weniger auch nicht mehr an, denn sie würden bestimmt schon beträchtliche Zeit für die entsprechenden Vorbereitungen aufgewendet haben. Besser, entschied er, er gewährte ihnen diese Atempause, wäh rend der er, Frima und Koros sich ausruhen und vorbereiten -414-
konnten, als dass er jetzt sofort, am helllichten Tag, zum Tempel marschierte und ihn in Schutt und Asche legte. »Gut«, sagte er, »dann führ uns dorthin!« Frima beugte sich vor und sagte Koros leise ein Wort ins Ohr; sie hatte durch Zuhören den größten Teil der Kommandos gelernt, auf deren Befolgung das Kriegstier abgerichtet war. Koros gab ein leises Knurren von sich und schaute Garth an, der nickte und ihn vorwärtswinkte. Mit einem gedämpften Schnauben setzte er sich in Bewegung und ließ sich von dem Mädchen über den am Geschirr befestigten Führungsgriff lenken. Der Übermann ging neben ihnen her. Nicht so indes der Vergessene König; als das Kriegstier auf die Nordwestecke des Marktes zusteuerte, setzte er sich Richtung Nordosten in Bewegung. Als Garth das bemerkte, drehte er sich um und rief: »Wohin gehst du?« Der König gab keine Antwort. Erzürnt hob Garth das Schwert des Bheleu, das er nach dem Zerschmettern des Stadttores noch nicht wieder in die Scheide zu rückgesteckt hatte, und setzte den Boden unmittelbar vor dem al ten Mann in Flammen. Ohne auch nur für einen winzigen Moment im Schritt zu sto cken; beschrieb der König eine knappe Geste mit der freien Hand. Die Flammen erloschen, wie von einem heftigen Windstoß ausge blasen, und der Edelstein im Knauf des Schwertes färbte sich schwarz. Im selben Moment pfiff etwas am Ohr des Übermanns vorbei. Erschrocken wirbelte er herum, gerade noch rechtzeitig, um den Kopf eines Menschenwesens hinter einem ausgebrannten Fenster verschwinden zu sehen.
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»Warte!« befahl er Koros. Mit dem Schwert in der Hand rannte er zu dem Fenster. Wieder zischte ihm etwas am Ohr vorbei; dies mal sah er, dass es ein Wurfpfeil war, aber er kam aus einer ganz anderen Richtung. Er fuhr herum, konnte aber den Werfer nicht entdecken. Er wusste nicht, was hier vor sich ging, er wusste nur, dass die Wirkungslosigkeit des Schwertzaubers ausgerechnet in diesem Moment äußerst ungelegen kam. Er war daran gewohnt, sich ganz auf das Schwert zu verlassen. »Es tut mir leid, o König«, rief er, wobei er sich hin und her be wegte, um den Angreifern kein Ziel zu bieten, »dass ich dich in meiner Unbesonnenheit erzürnt habe! Ich bitte dich um Verzei hung und ersuche dich reumütig, das Schwert aus deinem Griff zu entlassen.« Er wusste, dass es töricht gewesen war, überhaupt erst zu versuchen, das Schwert wider den alten Mann zu erheben. Sei ne Macht war groß genug, selbst die wildeste Raserei des Schwertes mit Leichtigkeit zu ersticken; er brauchte nur daran zu rückdenken, mit welcher Mühelosigkeit der alte Mann seinerzeit bei der Brandschatzung Skelleths den Gasthof des Königs vor der Feuersbrunst geschützt hatte. Es war dumm von Garth gewesen zu glauben, er könne den alten Mann mit einer simplen überna türlichen Flamme am Weggehen hindern. Abgesehen davon war es wahrscheinlich ein Fehler, ihn ausgerechnet jetzt zu reizen. Garths Reue war vollkommen echt. Was ihn freilich am meisten störte, war die Tatsache, dass er immer besonders dann zu derlei törichtem Verhalten neigte, wenn der Edelstein des Schwertes leuchtete. Ohne sich umzudrehen, unbeirrt weiter in Richtung Nordosten gehend, hob der König die Hand zum Abschied und zum Zeichen, dass er Garths Entschuldigung annahm, und sofort flammte das Juwel wieder blutrot auf.
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Von einer Woge unbändigen Zorns überschwemmt, den Geist von rasender Wut umnebelt, fuhr Garth herum und zerschmetterte die Wand, hinter der sich der erste Angreifer ver steckt hatte, zu Staub. Dahinter kam jedoch lediglich die ausge brannte Hülse eines kleinen Ladens zum Vorschein; der Werfer war entwischt. Auch von dem Werfer des zweiten Pfeils konnte Garth keine Spur entdecken; er schien ebenfalls entkommen zu sein. Immer noch zornentbrannt, aber bemüht, seine Wut niederzu kämpfen und die Kontrolle über sich zu behalten, befahl der Über mann Koros erneut zu warten und rannte dem Vergessenen König hinterher. Einen halben Block weiter, in einer der vom Markt abzweigenden Straßen, holte er den alten Mann ein und fiel neben ihm in Schritt. Als er sich wieder ein wenig gefasst hatte, sagte er: »Ich bitte um Verzeihung für mein schlechtes Benehmen, o König, aber ich empfinde es als befremdend, dass du dich an diesem Punkt von uns trennen willst! Ich frage dich daher mit allem Re spekt: Wohin gehst du, und warum begleitest du uns nicht weiter?« »Ich gehe zum Tempel des Todes«, antwortete der alte Mann, »und bringe das Buch der Stille an seinen richtigen Platz zurück, zur Vorbereitung meines letzten Zaubers. Das war der Zweck meiner Reise nach Dûsarra. Du hast deine eigenen Zwecke zu ver folgen. Verfolge sie also, und überlasse es mir, die meinigen zu verfolgen.« Garth war sich unschlüssig, was er darauf erwidern sollte; er setzte zu einer weiteren Frage an, brach dann aber ab, als er merkte, dass er stehengeblieben war, während der König weiter seines Weges ging. Als er versuchte, ihm zu folgen, musste er fest stellen, dass die Füße ihm den Dienst versagten. Wie angewurzelt -417-
stand er da und musste tatenlos mit ansehen, wie der König die Straße hinaufmarschierte und hinter der nächsten Ecke verschwand. Rote Wut kochte in ihm hoch, aber er wusste, dass er nichts dagegen tun konnte. Also versuchte er seinen sinnlosen Zorn nie derzukämpfen. Aber auch dem König waren die Hände gebunden, beruhigte er sich. Erstens besaß er das Schwert des Bheleu nicht, und zweitens hatte Garth ihm nicht den Dienst geleistet, den zu erbringen er ge schworen hatte, nämlich ihm bei seinem letzten Zauber hilfreich zu sein. Das Fünfzehnte Zeitalter konnte nicht beginnen, solange diese Bedingungen unerfüllt blieben — oder es konnte vielleicht doch beginnen, da der König die Bleiche Maske hatte und Garth die zweite Bedingung, nämlich dem König zu helfen, doch erfüllt hatte, indem er ihm das Buch der Stille beschafft hatte, aber es konnte nicht enden, die Welt konnte nicht vernichtet werden. Sollte der alte Mann doch gehen und seine Zauberformeln spre chen, seine Beschwörungsrituale abhalten; sie würden nichts be wirken ohne das Schwert! So jedenfalls redete Garth es sich ein, doch kaum war sein Zorn halbwegs verraucht, kaum hatte er seine rasende Wut so weit nie dergekämpft, dass der Stein im Knauf des Schwertes nur noch schwach glomm, da begannen schon die ersten Zweifel in ihm zu nagen. Wieso konnte der alte Narr so zuversichtlich sein, wenn seine Magie ohne das Schwert doch wirkungslos war? wusste er vielleicht etwas, das Garth nicht wusste, etwas, das ihm das Schwert in die Hände spielen konnte? Wenn das der Fall war, was konnte er, Garth, dagegen tun? Erst vor wenigen Augenblicken hatte der König ihm einmal mehr sei ne Macht demonstriert, und es stand außer Zweifel, dass er das je derzeit aufs neue tun konnte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als
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den alten Mann gewähren zu lassen und auf die Richtigkeit seiner Hypothese zu vertrauen, dass es dem König aus irgendeinem ver borgenen Grund nicht möglich war, ihm das Schwert gegen sei nen Willen abzunehmen. Mit diesem Gedanken steckte er das Schwert in die Scheide zu rück und machte sich auf den Rückweg zum Marktplatz. Er konn te seine Füße wieder ganz normal bewegen; er hatte keine Mühe, denselben Weg, den er gekommen war, zurückzugehen und sich wieder zu Frima und Koros zu gesellen. Unter Frimas Führung verließen sie den Marktplatz mit dem zerschmetterten Stadttor und bogen in eine der angrenzenden Straßen ein. Sie waren noch nicht ganz hundert Schritte vom Marktplatz entfernt, als sie auf das erste Skelett stießen. Es lag, halb im Dreck vergraben, am Straßenrand; es hatte offensichtlich schon eine ganze Weile dort gelegen und war nach einem Un wetter im Matsch versunken. Nicht ein Fetzen Fleisch war übrig geblieben; der Schädel starrte aus leeren Augenhöhlen zu ihnen hinauf. Frima schauderte zusammen und wandte den Blick ab. Koros nahm überhaupt keine Notiz von ihm. Garth warf einen kurzen Blick darauf und tat es als unwichtig ab. Es handelte sich zweifel los um ein Opfer des Weißen Todes. Natürlich war ein unbeerdigtes Skelett ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass die Stadt weit davon entfernt war, sich von der Katastrophe zu erholen. Völlig tot war Dûsarra nicht, wie der Anschlag des Kultisten auf ihn bewies, aber eine Stadt, die nicht einmal die Kraft hatte, ihre Toten von Straßen zu entfernen, war alles andere als auf dem Weg der Genesung. Sie sahen weitere Skelette auf den Straßen liegen, als sie tiefer in die Stadt vordrangen, jedoch weniger ausgebrannte Gebäude; das Feuer hatte sich offenbar nicht weiter als ein paar Häuserblocks -419-
nach Nordwesten ausgedehnt. Die meisten Häuser und Geschäfte sahen unversehrt aus, machten aber einen verlassenen Eindruck. Einige Türen standen offen; ein paar waren aufgebrochen worden. Hier und da lagen heruntergefallene Dachziegel auf der Straße, und auch Fetzen verrottenden Tuchs und Knochenreste waren vereinzelt zu sehen. Nirgends jedoch waren Menschen; die Toten stille, die über dem Stadtkern lag, hatte etwas Unheimliches und Beunruhigendes an sich. Schließlich erreichten sie die Straße der Gefallenen Sterne und standen wenig später vor dem kleinen Geschäft von Frimas Vater. Die Tür war verschlossen, und die Fenster waren unversehrt, aber Garth war nicht sehr optimistisch, dass sie drinnen jemand Lebenden finden würden. Die steinerne Stufe vor der Haustür war von einer Staubschicht bedeckt; hier war seit langem keine Men schenseele mehr ein oder ausgegangen, soviel stand fest. Außerdem hatten sie keinen lebenden Menschen gesehen, seit sie den Marktplatz verlassen hatten, und Garth hielt es für sehr un wahrscheinlich, dass sie in dieser sterbenden, menschenleeren Stadt ausgerechnet die Handvoll Leute, nach denen sie suchten, in ihrem alten Heim wohnend antreffen würden, so als wäre nichts geschehen. Frima indes scherte sich in diesem Moment wenig um derlei Lo gik. Sie saß hastig ab und rannte erwartungsvoll zur Tür, den Staub auf der Stufe und den Fenstersimsen gar nicht wahr nehmend. Sie klopfte laut an der Tür; niemand antwortete. Sie be tätigte die Klinke. Ein Klicken ertönte, und die Tür schwang auf. Sie trat ein, dicht gefolgt von Garth. Das Innere des Ladens war dunkel, und überall lag Staub; so wohl Frima als auch der Übermann hinterließen deutliche Fußab drücke. Zu beiden Seiten des Raums standen hölzerne Gestelle, an denen Töpfe, Kessel, Schöpfkellen, Kochlöffel und Tiegel aller Art
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und Größe hingen. Dahinter befanden sich Regale, auf denen sau ber aufgereiht Teller und Kannen aus Zinn, kupferne Schüsseln und anderes Geschirr standen. Das Zinn war grau und staubig; das Kupfer war matt angelaufen und hatte an einigen Stellen schon Grünspan angesetzt. Im hinteren Teil des Ladens stand der Arbeitstisch des Kesselflickers, vier Fuß breit und zehn Fuß lang; ein paar Werk zeuge lagen nebeneinander aufgereiht an einer Ecke des Tisches, andere hingen dahinter an der Wand. Metallspäne und fetzen lagen auf dem Tisch und auf dem Fußboden verstreut. Quer über die Mitte des Tisches lagen die Armknochen eines Mannes; zwischen ihnen grinste ein Schädel hervor. Die restlichen Gebeine lagen zu einem Haufen zusammengefallen auf dem Boden hinter dem Tisch. Frima stand wie vom Donner gerührt da; die Augen weit auf gerissen in blankem Entsetzen, starrte sie fassungslos auf das grausige Bild. Ihr Mund war zum Schrei geöffnet; aber sie brachte keinen Laut heraus. Garth stand neben ihr, bereit, sie aufzufangen, aber seine hel fende Hand wurde nicht gebraucht. Das Mädchen schloss die Augen und kämpfte tapfer gegen die Tränen und das Zittern ihres Körpers an, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Der Übermann entschied taktvoll, sie nicht zu fragen, ob sie si cher war, dass es sich bei dem Toten um ihren Vater handelte. Es konnte nur ihr Vater sein; wer anders als der Kesselflicker sollte tot an der Werkbank des Kesselflickers liegen? Er sah keinen Sinn darin, falsche Hoffnungen in ihr zu wecken. Statt dessen sagte er: »Wir sollten oben nachschauen.« Frima nickte, machte ein paar Schritte auf den Vorhang zu, der den hinteren Teil des Gebäudes vom Laden trennte, und blieb stehen. »Schau du nach«, bat sie. »Ich bringe es nicht über mich.« -421-
Garth nickte. Er hatte lange genug unter den Menschenwesen gelebt, um zu wissen, wie sehr sie an ihrem Heim hingen, und um verstehen zu können, dass Frima den Gedanken nicht ertragen konnte, noch weitere Tote in dem vorzufinden, was ihr einmal das Allerheiligste gewesen war. Er hatte keine Ahnung, wie groß ihre Familie gewesen war; vielleicht hatte sie Angst davor, die sterbli chen Überreste ihrer Mutter oder Stiefmutter oder ihrer Geschwis ter zu finden. Vorsichtig schob er den Vorhang beiseite und ging in das Hin terzimmer. Von dort führte eine schmale Stiege ins Obergeschoss. Er stieg hinauf. Überall lag dick der Staub. Spinngewebe hingen in den Ecken von jedem der drei kleinen Betten, die er oben fand. Auf einem kleinen Nachttisch stand eine Metallschüssel, die offen bar vor langer Zeit voll zurückgelassen worden war; ihr Boden war duchgerostet, und wo das Wasser herausgelaufen war, war das Holz des Tisches angeschimmelt. Er fand weder Knochen noch Leichen noch sonstige Spuren ir gendwelcher Hausbewohner. Als er sich vergewissert hatte, dass unter den Betten und in den Schränken keine unangenehme Überraschungen lauerten, kehrte er in den Laden zurück, wo er Frima über den Tisch gebeugt fand, in die Betrachtung des Schädels ihres Vaters versunken. »Gibt es noch andere?« fragte sie. »Nein«, antwortete Garth. »Gut.« »Hattest du noch andere Angehörige?« »Zwei Schwestern und einen Bruder.« »Dann sind sie vielleicht entkommen und leben irgendwo wohlbehalten.« »Glaubst du das wirklich?« -422-
Garth zögerte einen Moment lang, dann log er: »Ja, natürlich.« Frima starrte auf den Schädel. »Bist du sicher, dass er von meinem Vater ist?« »Nein«, sagte Garth. »Wie könnte ich sicher sein? Ich bin ihm ja nie begegnet.« »Ich weiß, aber kannst du es nicht irgendwie feststellen? Ich be trachte ihn schon die ganze Zeit, aber ich bin mir einfach nicht si cher. Er schaut so gar nicht nach meinem Vater aus. Er hat keine Haare, keine Augen; er könnte von jedermann stammen.« »Ich weiß auch nicht mehr als du«, antwortete Garth. »Aber von wem sonst sollte er sein? Wer sonst hätte hier am Arbeitstisch deines Vaters sitzen sollen?« Frima erschauderte und wandte den Blick ab. »Schaff ihn hier raus!« verlangte sie. Garth gehorchte; er nahm den Schädel und mehrere Knochen und trug sie hinaus auf die Straße. Als er zurückkam, fand er Frima weinend in der Ecke zu sammengekauert. Still sammelte er die restlichen Knochen auf und legte sie in eine Ecke zwischen dem Laden und dem Neben haus, wo sie einigermaßen gegen die Witterung geschützt waren. Als er fertig war, ging er nach oben, entfernte den Staub und die Spinngewebe von einem der Betten, probierte es aus und fand es gerade noch brauchbar. Er ging in den Laden zurück, führte das Mädchen nach oben und legte es in das Bett. Sie ließ es bereitwillig geschehen und schlief sofort ein. Garth wachte noch einen Moment lang bei ihr, dann stieg er wieder nach unten, fand hinter dem Haus eine Wasserpumpe und füllte eines der größeren Gefäße aus dem Laden mit Wasser für Koros. Als das erledigt war, legte er sich auf den Fußboden des Ladens zum Schlafen nieder. -423-
Koros stand draußen und hielt Wacht, hin und wieder in einen leichten Dämmerschlaf fallend, aber stets wach genug, um sofort ein warnendes Knurren auszustoßen, falls sich irgend jemand all zu nahe an das Haus heranwagen sollte.
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Kapitel 25 Das Brüllen seines Kriegstiers riss Garth aus dem Schlaf. Benom men sprang er auf und lief zur Tür des Ladens. Er blieb stehen und wartete, das Schwert des Bheleu in der Hand. Das Brüllen wiederholte sich nicht; statt dessen hörte er, wie eine unbekannte Stimme seinen Namen rief. »Garth! Garth von Ordunin! Wir möchten dich sprechen!« Ver blüfft und ohne die Tür zu öffnen, brüllte er zurück: »Wer seid ihr?« »Ich bin Uyrim, ein Priester des Aghad; man hat mich geschickt, um mit dir über einen Waffenstillstand zu verhandeln!« Garth überlegte. Spontan drängte sich ihm der Verdacht auf, dass ir gendein fauler Trick dahintersteckte, ein Versuch, ihn in eine Falle zu locken, aber nach weiterem Nachdenken kam er zu dem Schluss, dass das Angebot vielleicht doch ehrlich gemeint war. Immerhin, auch wenn er schweres Leid durch ihre Hände erlitten hatte, indem er sein Hauptweib und seinen besten Freund unter den Menschenwesen verloren hatte, hatten sie doch ungleich schwereres Leid erdulden müssen. Vielleicht waren sie es leid, ihre Mörder und Agenten einen nach dem anderen durch das Schwert des Bheleu sterben zu sehen; vielleicht hatten sie Angst, ihren Tempel in ein Häufchen Asche verwandelt zu sehen, so wie sie es bei den Trümmern von Weideth erlebt hatten. Er hob die Klinke und zog die Tür einen Zollbreit nach innen auf, um die Verständigung zu erleichtern, aber er ging nicht nach draußen; er hatte kein Verlangen, sich als Zielscheibe für mögliche Heckenschützen zu präsentieren. »Ich höre!« rief er durch den Türspalt.
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»Haggat, der Meuchelmörder auf dich hetzte, der dein Weib morden ließ, der den Baron von Skelleth metzeln ließ, der den Rat der Höchsten auf dich hetzte, ist tot, und die ihn meuchelte, ist die neue Hohepriesterin unserer Sekte. Wir möchten einen neuen Anfang machen. Wir sind bereit, auf unsere rechtmäßige Rache für die Ermordung von Haggats Vorgänger zu verzichten, wenn du dich als Gegenleistung gewillt zeigst, deine eigene Rache als erfüllt zu betrachten mit den Verheerungen, die du bereits in den Reihen unserer Anhänger angerichtet hast. Du hast achtzehn aus gebildete Meuchelmörder getötet und unsere gesamten vierzehn Magier, ganz zu schweigen von den unersetzlichen Verlusten an Zaubermitteln, die wir durch dich erlitten: Unser magisches Arse nal ist so gut wie erschöpft. Du hast unseren Tempel in Ur-Dor mulk zerstört und unseren Einfluss in Skelleth eliminiert. Lass die wenigen von uns, die überlebt haben, in Frieden, und wir lassen dich und die Deinen in Frieden. Schwöre, dass du dieses Angebot annimmst, und wir schwören, dass wir dich fortan in Ruhe und unbehelligt aus Dûsarra ziehen lassen. Weist du das Angebot aber zurück, dann werden wir dich weiterhin bekämpfen mit allen Mit teln, die uns zu Gebote stehen. Wir wissen jetzt, dass wir dich selbst so lange nicht töten können, wie du das Schwert des Bheleu in Händen hältst, aber wir können die töten, die dir nahestehen. Für jedes Mitglied unserer Sekte, das von diesem Augenblick an von deiner Hand stirbt, wird ein Mitglied deiner Familie in Or dunin sein Leben lassen. Das, o Garth, sind unsere Bedingungen.« »Sie lügen«, sagte Frimas Stimme hinter ihm. Garth fuhr erschreckt zusammen; er hatte so gespannt den Worten des Ag haditen gelauscht, dass er sie gar nicht hatte kommen hören. Das Brüllen des Kriegstieres hatte auch sie aus dem Schlaf geweckt, und sie war rechtzeitig heruntergekommen, um den größten Teil dessen, was der Priester gesagt hatte, noch mitzubekommen. »Wie kannst du das wissen?« fragte Garth. -426-
»Weil sie immer lügen«, erwiderte das Mädchen. »Sie lügen dann, wenn es ihren Zwecken dient, und sie sagen die Wahrheit, wenn das ihren Zwecken besser dient. Vielleicht ist das hier der Fall.« »Sie werden ihre Rache nicht aufgeben. Hast du vergessen, dass Aghad der Gott des Hasses ist? Und außerdem«, fügte sie hinzu, und die Züge wurden hart und grimmig, und die Hand fuhr zu der notdürftig verbundenen Wunde am Arm, »werde ich meine Rache nicht aufgeben.« Garth ließ sich dies durch den Kopf gehen. Ihr Argument war einleuchtend. Sie hatte recht, man konnte den Aghaditen nicht über den Weg trauen. Trotzdem konnte das Friedensangebot echt sein; dass er dem Kult schweren Schaden zugefügt hatte, stand außer Frage. Das musste jedoch nicht unbedingt bedeuten, dass er das Angebot annehmen sollte. Wenn der Kult seinen Kurs so plötzlich ändern konnte, konnte er das jederzeit wieder tun, wenn seine Führer demnächst das Gefühl haben sollten, wieder Oberwasser zu haben. Die Tatsache, dass sie ihm jetzt einen Waffenstillstand anboten, legte den Schluss nahe, dass er im Moment die Oberhand hatte – und es lag im Wesen einer Taktik, dass sie jeden Vorteil nutzte. Wenn er jetzt angriff, hatte er die Chance, die gesamte Sek te ein für allemal auszulöschen; wenn er ihr Angebot annahm, verschaffte er ihnen damit die Atempause, die sie brauchten, um ihre Kräfte zu reorganisieren, und versetzte sie dadurch vielleicht in die Lage, ihn erneut – und diesmal erfolgreicher – anzugreifen, weil er sich vielleicht allzu sehr in Sicherheit wiegte. Und einmal ganz abgesehen von seinem eigenen Rachedurst – der Kult war von seiner Natur her nicht nur für ihn, sondern für jeden anderen, der in irgendeiner Form mit ihm zu tun hatte, eine Bedrohung, so lange er existierte.
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Nach des Priesters eigenem Eingeständnis hatte Garth den Einfluss des Kults in Skelleth zunichte gemacht, und er konnte nicht glauben, dass sie jemals irgendwelchen nennenswerten Einfluss in der Nordwüste gehabt hatten — schließlich hatte er noch nie einen Übermann-Aghaditen gesehen, einmal abgesehen von dem Hohenpriester, den er drei Jahre zuvor auf dem Markt platz von Dûsarra getötet hatte, und der war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Yprier gewesen; und hatten sie nicht auch Kyrith erst nach Süden locken müssen, bevor sie sie hatten umbringen können? Wenn er sie jetzt auslöschte, wären sie also nicht mehr in der Lage, ihre Drohung, seine Familie und seine Freunde zu vernichten, in die Tat umzusetzen; ließ er sie hingegen jetzt zur Ruhe kommen, dann konnte es sehr gut sein, dass sie zu einem neuen Vergeltungsschlag ausholten. Die Frage, ob sie den Tod verdient hatten, stellte sich ihm ohne hin nicht einen Moment lang: Diese Leute brüsteten sich damit, dass sie ihr Leben dem Hass und dem Verrat geweiht hatten. Sie hatten Kyrith und Saram auf grausamste Weise abgeschlachtet. Sie hatten ihn, Garth, auf das übelste geschmäht und verunglimpft, hatten alles darangesetzt, ihn zu vernichten. O ja, sie hatten den Tod verdient, und er hatte sich wahrlich das Vergnügen verdient, ihnen diesen zu bringen. Der Gedanke, Aghaditenblut zu vergießen, war angenehm und tröstlich; eine angenehme rote Wärme schien seinen Geist zu durchfluten. Die eigentliche, physische Existenz dieser roten Glut, die in diesem Moment von dem Edelstein im Knauf des Schwertes ausging, nahm er gar nicht wahr. Frima jedoch nahm sie wahr, aber da sie wusste, dass sie sich gegen die Anhänger Aghads richtete, verzichteten sie gern darauf, ihn darauf hinzuweisen.
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»Wer bist du, dass du dich erkeckst, mir Bedingungen zu stellen?« schrie Garth durch den Türspalt. »Du behauptest, du seist ein Priester des Aghad-Kults, und du erzählst mir etwas von einer Hohenpriesterin und von einer Person namens Haggat. Ich kenne nicht einen von euch. Du behauptest, es sei der tote Haggat gewesen, der versucht hätte, mich zu vernichten; welchen Grund sollte ich haben, das zu glauben? Euer Kult hat mir nach dem Leben getrachtet, nicht irgendwelche Individuen, sondern euer Kult als Ganzes, im Namen eures Gottes. Ich fordere nicht dich heraus oder deine Hohepriesterin, oder deinen toten Haggat, wer immer er gewesen sein mag, vorausgesetzt, er hat überhaupt je existiert. Euren Gott selbst fordere ich heraus. Ich speie auf ihn. Ich bezeichne ihn als das, was er ist: stinkender, schmutziger Ab schaum! Er hat sich erdreistet, seinen Bruder und Gebieter Bheleu herauszufordern, den Gott der Zerstörung, und für diese Frechheit muss er büßen!« Ein plötzlicher Gedanke kam ihm, und er rief Koros den Befehl zu, der bedeutete: »Fass zu!« Das Kriegstier stieß als Antwort ein ohrenbetäubendes Brüllen aus. Einen Augenblick später hörte Garth ein knirschendes, knackendes Geräusch, begleitet von menschlichen Todesschreien. Er riss die Tür weit auf und trat hinaus, das weiß lodernde Schwert des Bheleu in der Hand. Das Schreien hörte jäh auf, und er sah Koros in einer Gasse auf der gegenüberliegenden Seite der Straße stehen und genüsslich an den blutigen Überresten eines Mannes mit der roten Robe kauen. Ein paar Schritte daneben lag eine zweite zerschmetterte Leiche. Eine Schleuder hing in der schlaffen Hand, und im schwarzen Staub der Straße war ein halbes Dutzend Pfeile verstreut. Irgend etwas raschelte, und Garth riss das Schwert herum, Feuer und Tod ausspeiend — doch nur, um festzustellen, dass er eine
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fette Ratte geröstet hatte, die von dem Geruch des Blutes ange lockt worden war. Es war unwahrscheinlich, dass die Gruppe, die ausgesandt worden war, einen Waffenstillstand mit ihm aus zuhandeln, le diglich aus zwei Personen bestanden haben sollte; Garth hielt auf merksam nach weiteren Ausschau, konnte aber niemanden entde cken. Wenn es andere gegeben hatte, dann hatten sie es geschafft zu entkommen. Frima kam aus der Tür und stellte sich hinter ihn. In der Hand hielt sie das blanke Schwert ihres Vaters. Hier, in ihrer Heimat stadt, ganz gleich, wie sehr sich diese auch verändert haben moch te, wollte sie sich nicht länger damit begnügen zuzuschauen, wie Garth ihre Feinde für sie tötete. Sie war entschlossen, selbst ein paar von ihnen zu töten, und das Schwert ihres Vaters schien ihr da gerade die rechte Waffe. Sie wünschte, sie hätte daran gedacht, Sarams Klinge mitzunehmen; das wäre noch passender gewesen. Ihr war jedoch bewusst, dass sie keine Schwertkämpferin war, und als sie die Schleuder in der Hand des toten Aghaditen ge wahrte, hob sie sie auf, sammelte die Pfeile ein und steckte sie in den Beutel, den sie nach dem Vorbild Garths und den Bräuchen Dûsarras zum Trotze am Gürtel trug. Als sie damit fertig war, schaute sie sich um und entdeckte zu ihrem Leidwesen keine Feinde, die sie angreifen konnte, nur das Kriegstier, das seine Beute verspeiste, und den Übermann, der, immer noch wachsam Ausschau haltend, neben ihr stand. »Was sollen wir jetzt tun?« fragte sie. »Wir schlagen los«, antwortete Garth ohne Zögern. »Heißt das, wir greifen den Tempel an?« Garth blickte sie an; die roten Augen leuchteten in der Nachmit tagssonne. »Ja.«
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»Gut«, sagte Frima. »Gehen wir.« Garth drehte sich um, ließ den Blick schweifen, dann wandte er sich widerstrebend wieder zu dem Mädchen um und fragte: »Wo entlang?« Dieses Viertel von Dûsarra war ihm fast gänzlich unbe kannt. Frima unterdrückte ein Kichern. Man erlebte es nicht alle Tage, dass ein Übermann, der zudem noch der Auserwählte eines leib haftigen Gottes war, die Tochter eines Kesselflickers nach dem Weg fragen musste. »Dort entlang«, sagte sie, mit dem Finger die Richtung anzeigend. Garth nickte, bedeutete Koros mitzukommen und folgte Frima durch das Labyrinth der Stadt zur Straße der Tempel. In einem dunkelrot ausgeschlagenen Raum unter dem Tempel des Aghad stritt die neue Hohepriesterin mit einigen Führern ih rer Kongregation, die ihre plötzliche Selbsternennung zur Hohen priesterin und ihre neue Politik als mangelhaft und schädlich geißelten. Die Diskussion hatte bisher zu nichts geführt; Haggats ehemalige Akolytin hatte kraft der Tatsache, dass sie die einzige überlebende Person war, die alle Geheimnisse des Kults kannte, einen unanfechtbaren Anspruch auf den Posten, und sie war durch nichts von ihrem Entschluss abzubringen, jeden weiteren Versuch zu unterlassen, den lästigen Übermann zu töten. Ihre Kritiker verfochten mit der gleichen Unnachgiebigkeit ihren Standpunkt, dass die Amtsnachfolge auf die althergebrachte Weise geregelt werden und dass der Kult seine alte Politik der un erbittlichen Vergeltung weiterverfolgen müsse. Durch Mord und Intrige an die Spitze des Kults zu gelangen, war beileibe nichts Unorthodoxes oder gar Anstößiges, und alle stimmten ihr da hingehend zu, dass Haggat für seine Stümperei nichts anderes als den Tod verdient hatte, aber für den Posten eines Hohenpriesters -431-
konnte – so ihre Argumentation – keinesfalls ein einfacher Akolyt in Frage kommen, der keine Grundausbildung in Theologie auf weisen konnte. Sie forderten die Hohepriesterin auf, sofort damit zu beginnen, einen ordentlichen Priester in die internen Geheim nisse des Kults einzuweihen und sodann auf ihren rechtmäßigen Posten als Erste unter den Akolyten zurückzukehren – sie seien auch bereit, ihr als Gegenleistung die baldige Aufnahme in den Priesterstand zu garantieren. Kaum jemand wusste besser als sie, was solche Versprechen von Aghad-Priestern wert waren. Nachdem sie den Posten einer Akolytin des Hohenpriesters erlangt hatte, hatte sie drei Jahre des Manövrierens, Taktierens und Intrigierens gebraucht, um an die Schalthebel der Macht zu gelangen, und sie war nicht gewillt, diese Macht wieder aus den Händen zu geben, bloß um einer Handvoll tattriger Traditionalisten einen Gefallen zu tun. Und just in dem Moment, als sie genau dies mit hohntriefender Stimme sagte, kam ein Bote hereingeplatzt, völlig außer Atem. »Verzeih, o Priesterin, Erkorene Aghads, von der Dunkelheit Gesegnete, Herrin der Treulosigkeit und Tücke, aber ich bringe wichtige Kunde«, stieß er hervor, nach jedem zweiten Wort heftig nach Luft japsend. »Sprich also!« befahl sie. »Garth hat das Friedensangebot ausgeschlagen und sein Kriegs tier auf uns gehetzt. Uyrim und Hezren wurden zerrissen; der Rest von uns konnte entkommen.« »Möge Aghad dich verschlingen!« schrie die Priesterin. »Warum? Wie konnte das geschehen? Was ist schiefgegangen?« »Ich weiß es nicht, o Herrin. Uyrim fand, so schien es mir, genau den richtigen Ton, aber der Übermann ließ sich auf keinen Handel ein. Er sagte, seine Rache gelte nicht Haggat, sondern Aghad selbst.« -432-
»Das ist schiere Torheit! Nicht Aghad tötete seine Frau, sondern Menschen, Menschen, die auf Haggats Geheiß handelten. Haggat war ein Narr, den Übermann offen anzugreifen; das Wesen von Aghads Macht ist Falschheit und Tücke, nicht Magie oder offene, brutale Gewalt.« »Jawohl, Herrin«, beeilte sich der Bote ihr beizupflichten; die versammelten Priester schwiegen, aber die Mienen der meisten von ihnen drückten Zustimmung für die Worte der Priesterin aus. »Hat Uyrim ihn nicht vor Vergeltungsschlägen gewarnt?« »Doch, Herrin, das hat er.« »Er muss wissen, wie schwach wir im Osten sind, dass er sich vor unseren Drohungen nicht fürchtet. Wir werden ihm zeigen müssen, dass wir nicht so schwach sind, wie er glaubt. Er hat noch zwei weitere Weiber; ich will, dass sie so schnell als möglich hergeschafft werden, lebendig und unversehrt.« Sie wandte sich an den einzigen Magier – wenn man ihn überhaupt als solchen be zeichnen konnte , der dem Kult noch geblieben war, einen weibli chen Zauberlehrling, der mit der Aufbewahrung der wenigen dem Kult noch verbliebenen Zaubermittel betraut worden war. »Haben wir irgendein Mittel, sie hierher zu teleportieren?« »Nein, Herrin«, antwortete das Mädchen. »Die letzten Teleportationszauber sind in Weideth verbraucht worden.« »Oh, bei allen dunklen Göttern! Möge Haggats Seele für immer Sais Spielzeug sein! Wissen wir, wo wir mehr von solchen Zauber mitteln finden können?« »Nein, Herrin – das heißt, zumindest ich weiß das nicht.« »Dann müssen wir es eben auf herkömmliche Weise tun und hoffen, dass wir so lange durchhalten können, bis die Überfrauen hierherge schafft sind. Das könnte einen Monat dauern.« Die Hohepriesterin hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, laut zu denken, seit sie von ihrem Herrn frei war. Haggat hatte nicht sprechen können; ihm -433-
war einst, vor langer Zeit, noch bevor er dem Kult beigetreten war, als Strafe dafür, dass er seinen eigenen Herrn ermordet hatte, die Zunge herausgeschnitten worden, und seither hatte er es nicht ertragen, wenn in seiner Nähe gesprochen wurde. Seine Akolytin, die sich ja stets in seiner unmittelbaren Nähe hatte aufhalten müssen, hatte rasch gelernt, den Mund zu halten. Und nun, da er tot war, genoss sie es nach Kräften, dass sie so viel und so lange sprechen konnte, wie sie Lust hatte. Sie wandte sich wieder dem Boten zu. »Hat der Übermann noch immer die Baronin von Skelleth bei sich?« »Ja, Herrin.« »Behandelt er sie gut?« »Eh ... das kann ich nicht sagen, Herrin.« »Er scheint sich zumindest um sie zu kümmern, nicht wahr? Und sie ist nicht durch das magische Schwert geschützt. Und der seltsame alte Mann ist auch nicht mehr bei ihr, um sie zu be schützen. Wir werden uns mit dem begnügen müssen, was wir haben. Sie wird zwar keine so gute Geisel sein, wie Garths Frauen es wären, aber sie wird einstweilen reichen müssen.« Sie hielt einen kurzen Moment lang inne und wollte gerade fortfahren, als ein zweiter Bote hereingestürzt kam und sich ihr zu Füßen warf. »Verzeih, o Hohepriesterin, Erkorene Aghads ...«, begann er. »Sprich, Bote!« unterbrach sie ihn ungeduldig. »Der Übermann ist auf dem Weg zum Tempel, Herrin, mit lo derndem Schwert und dem Kriegstier in seinem Gefolge.« »Bist du sicher?« »O ja, Herrin!« »P‘hul!« fluchte die Hohepriesterin. »Sag es rasch allen anderen! Wir können ihm noch nicht offen entgegentreten.«
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»Was?« protestierte einer der älteren Priester. »Du kannst doch nicht im Ernst den Tempel im Stich lassen wollen!« »Es steht dir frei, hierzubleiben und zu sterben, Sherrend; ich werde mich jedenfalls in den Tunneln verstecken, und jeder, der nur ein Fünkchen Hirn hat, wird das gleiche tun. Nichts und nie mand kann gegen dieses Zauberschwert bestehen. Ich habe mit eigenen Augen durch das Sehglas gesehen, wozu es fähig ist, und unsere wenigen Späher, die durchgekommen sind, haben es euch allen bestätigt. Du hast doch selbst gehört, was es aus unserem Tempel in UrDormulk gemacht hat. Nur ein völlig hirnloser Narr würde hierbleiben und sich ihm entgegenstellen.« Ohne auf die gestammelten Einwände des Priesters weiter einzugehen, erhob sie sich von ihrem Hohepriesterstuhl, stieg von dem Podest, auf dem er stand, herunter, und verkündete: »Rafft alles zusammen, was von Wert ist, und sorgt dafür, dass jeder bewaffnet ist; wir brechen sofort auf. Trotzdem will ich immer noch, dass ein paar Leute sich auf den Weg machen, um diese Überfrauen herzuschaf fen — und dieses Weib, das ihn begleitet.« Die Boten und die Jungzauberin verneigten sich gehorsam; die Priester schnatterten aufgeregt untereinander; ein paar verneigten sich ebenfalls und hasteten davon, andere erhoben lautstark Protest, den die Hohepriesterin jedoch ignorierte. Aber auch bei den Störrischsten obsiegte schließlich der Selbst erhaltungstrieb, und binnen weniger Minuten hatte sich der Raum geleert, und die Aghaditen begaben sich an die Evakuierung ihrer Hochburg. Garth hatte natürlich keine Ahnung von dieser hektischen Be triebsamkeit seiner Erzfeinde. Er erreichte die Straße der Tempel, als die Sonne hinter den Bergen im Westen verschwand und die Tempel in Schatten tauchte. Als der Übermann vor dem Tempel -435-
des Aghad ankam, fiel ein letzter verirrter Sonnenstrahl auf die oberste Spitze des silberfarbenen Tores und ließ sie für einen Moment noch einmal hell aufblitzen. Garth lächelte, und das grell lodernde weiße Licht des Schwertes des Bheleu verjagte die Schatten und übergoss das metallene Tor mit seinem eigenen bleichen Schein. Die Flügel des Tores waren aus zehn Fuß hohen Runen — zwei auf jeder Seite — geformt, welche das Wort AGHAD ergaben; die Oberkante der GH-Rune trug noch immer an der Stelle eine Delle, wo Garth sie drei Jahre zuvor mit dem Schwert getroffen hatte. Die Wände des Tempels waren aus Steinblöcken gebaut, und in je den einzelnen dieser Steinblöcke waren dieselben vier Runen ge meißelt, so dass ihm, wo immer er den Blick hinwandte, der Name seines verhassten Erzfeindes myriadenfach ins Auge sprang. Als er das letzte Mal hier gewesen war, rief er sich in Erinne rung, hatte er kein Mittel gegen die Tricks der Aghaditen gehabt. Sein Schwert war an diesem selben Tor zerbrochen. Doch die Waffe, die er diesmal bei sich trug, war keine geringere als das Schwert des Bheleu, des Gottes der Zerstörung selbst. Er hob die Klinge hoch über den Kopf und ließ sie auf die Oberkante der me tallisch glänzenden Flügel heruntersausen. Sie schnitt durch das Metall, als wäre es Papier; er wusste, er hätte das Tor ebenso gut in tausend Stücke zersprengen können. Aber das war nicht das, was er wollte; er wollte diesen verfluchten Tempel langsam und genüsslich zerstören, Stück für Stück. Er schlug erneut zu und kappte das obere Dreieck des A. Ein dritter Hieb sprengte die Spitze der GH-Rune ab, und ein weiterer durchtrennte das D. Ein weiteres halbes Dutzend Streiche verwandelte das glän zende Tor in einen Haufen verbogener Metallfetzen, und Garth -436-
trat in den Hof. Frima und Koros hieß er draußen auf der Straße warten. Der Säulengang, der sich über drei Seiten des Hofes hinzog, war dunkel, die Fackeln, die an den Säulen staken, waren gelöscht worden; das schwindende Sonnenlicht vermochte die Dunkelheit nicht zu durchdringen. Der Springbrunnen in der Mitte des Hofes plätscherte leise, aber Garth konnte ihn nicht sehen: Er war hinter einer Barriere aus verfaulenden Köpfen verborgen, die wie Ziegel rings um seinen Rand aufgeschichtet waren, fünf Köpfe tief. Keiner von ihnen war jüngeren Ursprungs; die unterste Schicht bestand aus fast blanken Schädeln, und die Köpfe in der obersten Reihe waren bereits stark verwest. Es handelte sich durchweg um Köpfe von Menschenwesen beiderlei Geschlechts, doch als er genau hinschaute, sah er, dass ein Schädel, der ihn aus der untersten Reihe anstarrte, von einem Übermann stammte. Entsetzt und angewidert schwang Garth das Schwert hoch und sandte eine prasselnde karminrote Stichflamme gegen den grausigen Wall. Die Köpfe verschmorten, schrumpften zusammen und zerbröselten schließlich zu Asche, den Blick auf die plät schernde Fontäne des Springbrunnens freigebend. Als Garth diese Stätte zum ersten Mal aufgesucht hatte, war das Wasser des Springbrunnens noch klar und sauber gewesen, wenn auch vergiftet; die Flüssigkeit, die jetzt aus ihm hervorsprudelte, war dickflüssig und rot. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, sie näher zu untersuchen, sondern richtete das Schwert auf den Brunnen und zermalmte Stein und Metall zu Staub; unter der mörderischen Hitze der Flamme verdampfte sofort alle Flüssig keit, die er enthalten hatte. Er hielt inne und überlegte seinen nächsten Schritt. Dabei wurde ihm plötzlich bewusst, dass bis jetzt noch niemand versucht hatte, -437-
ihn an seinem Zerstörungswerk zu hindern; noch keine Stimme hatte ihn aus den Schatten angerufen. Es sah in der Tat ganz so aus, als wäre der Tempel verlassen. Der Gedanke gefiel ihm nicht; war es möglich, dass die Aghaditen ihn hatten kommen sehen und sich aus dem Staub gemacht hatten, unter Preisgabe ihres Allerheiligsten? Er beschloss, keine Zeit mit Spekulationen zu verschwenden, und begann systematisch den Tempel zu zertrümmern. Als erstes zerschnitt er mit einem gebündelten Energiestrahl die Säulen, die die Vorhalle des Tempels trugen; dann zerschmetterte er mit wenigen, gezielten Flammenstößen die dahinterliegenden Wände. Das Mauerwerk zerbarst mit tosendem Krachen, und der Tempel zerbröckelte um ihn herum. Er marschierte vorwärts in den Schutt und zerschmetterte nacheinander alle Mauern und Wände, die noch standen. Draußen auf der Straße vor dem Tempel warteten Koros und Frima und hielten Wacht. Frima war fest entschlossen, ja sie brannte geradezu darauf, jedweden Aghaditen, der aus den Trüm mern hervorkriechen und zu fliehen versuchen sollte, sofort zu tö ten. Koros waren wie immer die Gründe für die Befehle seines Herrn vollkommen gleichgültig; seine Aufgabe war es, ihnen blind zu gehorchen und jeden zu zermalmen, der in seien Nähe kam. Aber es kam niemand. Die Mauern wankten und fielen, große Teile des Daches brachen heraus und donnerten unter Getöse her unter, Steinblöcke zerbröckelten zu Staub, aber niemand kam aus dem Tempel des Aghad. Garths Zorn schwoll immer stärker an, als er Kammer um Kammer freilegte, ohne auf einen einzigen Aghaditen zu stoßen. Wolken ballten sich über ihm am Himmel zusammen, Blitze zuck
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ten hernieder, und die Erde bebte unter den Füßen. Die Grund mauern des Tempels zerbarsten. Garth wütete wie ein Rasender, arbeitete sich, Flamme um Flamme wider das verhasste Bollwerk seiner Feinde speiend, zu den Katakomben unter dem Tempel vor. Er fand Leichen, teils noch frisch, teils alt und verwest, aber keine von ihnen trug die dunkelrote Robe des Kults. Er fand Tiere — Fledermäuse, Schlangen, Raubkatzen und anderes Geschmeiß — und tötete sie; nur Menschen fand er nicht. Er entdeckte Folter und Mordma schinen und verwandelte sie in Schrott, aber er entdeckte keinen von denen, die sie bedient hatten. Schließlich fand er sich, wie schon in Ur-Dormulk, in einer großen Grube stehend, über der sich einst der stolze schwarze Tempel des Aghad erhoben hatte – einer Grube, die leer und tot war wie die in Ur-Dormulk. Seine Feinde waren ihm entwischt. Er hatte ihre heilige Zuflucht zerstört, aber sie waren ihm entkom men. Er brüllte vor Wut und Enttäuschung laut auf und ließ das Schwert des Bheleu über den Kopf kreisen; Donner rollte, und Blitze zuckten durch die Wolken, so als suchten sie sich mit dem Feuerschweif zu vereinen, den das Schwert hinter sich herzog. Rasend vor Wut, brannte er eine qualmende Bresche in die steinerne Wand der Grube, die ihn umgab. Der Boden erzitterte unter seinen Füßen. Schwarzes Geröll brach zur Seite weg und gab den Blick frei auf eine geheime Öffnung in das vulkanische schwarze Muttergestein; die Flamme des Schwertes schnitt durch eine Steinplatte und ent hüllte eine zweite dahinterliegende. Von neuer Erwartung und Vorfreude gepackt, nahm er sich weitere Teile der Grubenwand vor, und als er schließlich an seinen Ausgangspunkt zurückkehrte, hatte er insgesamt dreizehn solcher Öffnungen verschiedenster -439-
Größe freigelegt, von winzigen engen Kriechgängen, die so klein waren, dass ein Menschenwesen sich gerade noch hindurch zwängen konnte, bis zu breiten, geschickt getarnten Stollen. Durch diese geheimen Fluchtwege also waren seine Feinde ent kommen. Er würde sie verfolgen, stellen und vernichten; er muss te nur herausbekommen, durch welchen der Gänge sie geflüchtet waren. Er stieß ein wütendes Schnauben der Enttäuschung aus; es war unmöglich herauszufinden, welche Route sie gewählt hatten. Er richtete das Schwert auf die nächstbeste Öffnung und sandte einen prasselnden Flammenstoß in sie hinein. Das Feuer tauchte den Eingang des Stollens in orangefarbenes Licht, aber er vermochte keinen Hinweis zu entdecken, ob jemand den Tunnel benutzt hatte. Der Boden war vollkommen frei von Staub und wies keinerlei Fußspuren auf. Zornentbrannt ließ er die Flamme tief in den Tunnel hinein züngeln, einer sich windenden Schlange aus lebendigem Feuer gleich. Einen Moment später vernahm er eine gewaltige Explosion, und ein Hagel von Steinbrocken und Holzsplittern prasselte, von ir gendwo weit hinter dem Rand der Grube kommend, auf den Schutt hernieder. Brennende Trümmer trudelten vom Nacht himmel herunter, und er wusste, dass sein feuriger Bote das Ende des Tunnels erreicht hatte. Aber er wusste auch, dass er keine Aghaditen gefunden hatte. »Garth?« rief Frimas Stimme vom Rande der Grube, von der Stelle, an der einst das silberne Tor gestanden hatte. Er antwortete ihr mit einem wortlosen Knurren. »Was ist passiert? Ein Stück weiter die Straße hinunter ist ein Haus in die Luft geflogen; warst du das?«
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»Ja«, antwortete er kurz angebunden. Er versuchte verzweifelt, einen klaren Gedanken zu fassen, zu planen; die rasende Wut in seinem Kopf machte das fast unmöglich. »Hast du irgend je manden aus dem Haus herauskommen sehen?« rief er. »Ich weiß nicht; es könnte sein«, antwortete Frima. »Da waren ein paar Leute auf der Straße, kurz nachdem wir hier angekom men sind.« Garth stieß ein wütendes Schnauben aus. »Das waren Aghadi ten, da bin ich ganz sicher. Sie hatten ein Dutzend Fluchtwege hier unten. Sie können jetzt in jedem beliebigen Viertel der Stadt sein.« Während er dies sagte, wurde ihm klar, dass sie die Stadt sogar verlassen haben konnten. Sie konnten durchaus schon auf dem Wege nach Ordunin sein, um sich an Garths Familie schadlos zu halten. Ganz abgesehen von seinem eigenen Verlangen, sich an ih nen zu rächen, waren die Kultisten eine stete Bedrohung für un schuldige Personen überall, und er war mehr denn je entschlossen, sie allesamt zu vernichten. »Oh«, sagte Frima. »Wir werden sie finden, wo immer sie sich verstecken«, sagte der Übermann und richtete die Flamme des Schwertes gegen eine Seite der Grube, um sich einen Weg hinaus ins Freie zu brennen.
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Kapitel 26 Der nächstliegende Ort, sich zu verstecken, war — darin stimm ten Frima und Garth überein — in einem der Tempel. Jeder von ihnen hatte seine geheimen Eingänge und verborgenen Kammern (so behaupteten zumindest die Legenden); und jeder von ihnen eignete sich zur Festung. Sie beschlossen, als erstes den nächstliegenden zu erkunden; dies war der Tempel der Sai, der Göttin des Schmerzes, Aghads Zwillingsschwester. Garth sprengte das mit stählernen Stacheln bewehrte Tor mit dem Schwert des Bheleu auf, und eingedenk dessen, was mit sei nen Stiefeln passiert war, als er diesen Tempel zuletzt betreten hatte, schmolz er erst einmal den Boden des mit zackigen, zerklüf teten Obsidianbruchstücken gepflasterten Hofes glatt. Alsdann marschierte er in den Tempel, gefolgt von Frima, während Koros draußen wartete. Die Tempelhalle war leer. Garth wollte schon aufgeben und wieder hinausgehen, aber Frima erinnerte sich an ihre einstige, in letzter Sekunde von Garth vereitelte Opferung und wies ihn auf die versteckte Tür hin, durch die sie seinerzeit aus den Kellerge wölben nach oben geschleppt worden war. Garth stimmte ihr zu, dass die Gewölbe einer Erforschung wert waren, eine Entscheidung, welche er im nachhinein, ein paar Stunden später, bereute, nachdem eine ausgedehnte Suche zwar keine Aghaditen zutage gefördert hatte, dafür aber eine ein drucksvolle Ansammlung von Kerkern und Folterwerkzeugen so wie eine Handvoll halbverhungerter, verzweifelter Sai-Anhänger, welche drei Jahre zuvor auf der Flucht vor der um sich greifenden Seuche hier Unterschlupf gesucht hatten. Trotz eines heftigen -442-
Anfalles von Blutgier versagte es sich Garth, sie zu töten, und trieb sie statt dessen hinaus auf die Straße. Sofort schlugen sie die Rich tung zum Marktplatz ein, offenbar mit dem Vorsatz, die Stadt zu verlassen. Als Frima und Garth endlich alle Korridore und Gewölbe unter dem Tempel der Sai durchforstet hatten — die Korridore verliefen sternförmig in alle Himmelsrichtungen und führten bis unter die angrenzenden Häuser —, begann schon der Morgen heraufzu dämmern, und Garth fühlte sich matt und erschöpft. Er hatte einen großen Teil der Energie des Schwertes für die Zerstörung des Aghad-Tempels verausgabt, und die ungeheure Anstrengung, die damit verbunden gewesen war, war nicht spurlos an ihm vor übergegangen. Weder er noch Frima sahen einen Sinn darin, in Frimas altes Heim zurückzukehren; statt dessen brachen sie die Tür eines nahe gelegenen Hauses auf und machten es sich dort bequem. Frima fand in der Speisekammer einen beachtlichen Vorrat an Einge machtem und sogar getrocknetes Pökelfleisch, das noch nicht verdorben war; im Weinschrank fanden sich ein paar Flaschen, deren Inhalt sich noch nicht in Essig verwandelt hatte. Garth kos tete von dem Wein und fand ihn annehmbar. Als sie sich beide satt gegessen hatten, suchten sie sich Betten und legten sich schlafen. Garth schlief nicht sehr gut; das Bett war viel zu klein für ihn. Gegen Mittag gab er es auf und schlief auf dem Boden weiter. Als er aufwachte, war es bereits wieder dunkel. Frima war dabei, ihnen ein Frühstück aus getrocknetem Fleisch zu bereiten. Sie berieten sich, wie sie weiter vorgehen sollten. Garth schlug als nächstes Ziel den Tempel der P‘hul vor; Frima wandte dagegen ein, dass sich kein Aghadit in diese verseuchte Pesthöhle
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trauen würde. Schließlich habe sich von diesem Tempel aus zum ersten Mal der Weiße Tod ausgebreitet. Garth musste zugeben, dass dies ein einleuchtendes Argument war. Sodann schlug er den Tempel des Bheleu vor, verwarf diesen Gedanken jedoch gleich wieder; er war eine Ruine, ohne Dach und mit einem Lehmboden. Dort gab es keine Möglichkeit, sich zu ver stecken. Der letzte Tempel an der Straße der Tempel war der Tempel des Todes. Das, fand Frima, sei gewiss der sicherste Ort für ein Ver steck. Jeder Dûsarraner würde sich dort vor Verfolgern sicher füh len, da niemand es wagen würde, ihn zu betreten und nach ihm zu suchen. Garth fand dieses Argument nicht sonderlich überzeugend: Würden sich, fragte er, die Aghaditen nicht mindestens genau sosehr vor dem Gott-Dessen-Namen-Man-Nicht-Ausspricht fürch ten wie vor ihren Verfolgern? Schließlich, gab er zu bedenken, wussten die Kultisten, dass Garth den Tempel des Todes schon einmal betreten und lebend wieder verlassen hatte, als erster Nicht-Jünger des Letzten Gottes überhaupt. Dieser Logik gab Frima sich schließlich geschlagen. Es blieben also nur noch die beiden Tempel, die in anderen Teilen der Stadt standen – der Tempel der Tema und der des Andhur Regvos. Also machten sie sich auf den Weg zum Tempel des Andhur Regvos, des Gottes der Dunkelheit. Dort angekommen, verschwendete Garth keine Zeit damit, jede Ecke und jeden Winkel zu durchsuchen; er hob das Schwert des Bheleu und legte den kuppelüberdachten Pyramidenbau kurzerhand in Schutt und Asche, wie er es schon mit dem Tempel des Aghad getan hatte.
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Doch wie schon dort fand er auch hier keine Aghaditen in den Trümmern. Das einzige, was zum Vorschein kam, waren die verdorrten Überreste von einem Dutzend Menschenwesen, die allesamt schon vor langer Zeit gestorben sein mussten; Garth vermutete, dass es sich bei ihnen um die blinden Priester des Gottes handelte, die drei Jahre zuvor dem Weißen Tod erlegen waren. Ansonsten fand er nirgends in dem Labyrinth aus Kammern und Tunneln irgend etwas, das in jüngster Zeit noch lebendig gewesen war. So blieb als letzter Tempel der Schrein der Tema. Garth schlug vor, ihm die gleiche Handlung angedeihen zu lassen wie den Tempeln des Aghad und des Andhur Regvos, erntete damit aber heftigsten Protest von seiten Frimas. Nach einigem Hin und Her gab der Übermann schließlich nach. Die Anhänger der Tema hatten ihm im Gegensatz zu denen des Aghad nicht das geringste angetan. Zwar kam ihm diese Verzögerung alles andere als gelegen, da sie den überlebenden Aghaditen die Chance eröffnete, neue Listen zu ersinnen, und ihre Abgesandten, ein gutes Stück Weges weiter nach Ordunin vorwärtszukommen, aber er befand, dass er damit leben konnte. Es war schon weit nach Mitternacht, als er, Koros und Frima, die wieder auf dem Rücken des Kriegstieres Platz genommen hatte, vor den Stufen des Tema-Tempels anlangten. Er half dem Mäd chen absitzen und ging die Stufen zum Portal hinauf, gefolgt von Frima. Zu seiner Überraschung schwang die Tür auf, als er sich näherte. Er trat in den Vorraum und hielt inne. Frima ging an ihm vorbei auf die verborgene Innentür zu, doch bevor sie sie erreicht hatte, sprach eine Stimme: »Warte bitte, Mädchen!« Verdutzt blieb Frima stehen. -445-
Ein weißhaariger Priester in blauer Robe tauchte aus dem Dun kel auf und trat in das weiße Licht des Schwertes, dessen heller Schein ihn blinzeln machte. »Verzeiht«, sagte er, »aber wir sind vorsichtig geworden in diesen unglückseligen Zeiten. Wir können euch erst in das Allerheiligste einlassen, wenn ihr sagt, wer ihr seid, und schwört, dass ihr nicht den Weißen Tod in euch tragt.« »Wir sind von der Seuche nicht befallen«, erwiderte Garth, »das versichere ich dir, guter Mann. Wir suchen die Aghaditen, die vor der Zerstörung ihres Tempels geflohen sind.« »Hier sind keine Aghaditen«, erklärte der Priester geduldig. »Dies ist der Tempel Temas, der Göttin der Nacht.« »Du wirst mir verzeihen, wenn ich darauf bestehe, mich selbst zu vergewissern«, erwiderte Garth. Der Priester zögerte, und der Übermann hob das glühende Schwert hoch; es zog eine Schleppe aus weißen Lichtschlieren hin ter sich her. »Du siehst, ich habe Mittel, mein Begehr mit Gewalt durchzusetzen. Ich wünsche diesen Tempel auf der Stelle zu durchsuchen, und wenn du oder irgendein anderer versuchen sollte, mich daran zu hindern, werde ich mich gezwungen sehen, nicht nur dich oder den Betreffenden zu töten, sondern dieses ganze Gebäude dem Erdboden gleichzumachen, damit meine Feinde mir nicht entkommen.« Der Priester trat einen Schritt zur Seite und sagte widerstrebend: »Wie du willst.« Die Innentür ging auf, und Garth trat in die große kuppelüberdachte Tempelhalle. Es war der erste Ort, den er seit seiner Rückkehr nach Dûsarra sah, der von Leben erfüllt war: Fünfzig bis sechzig zerlumpte Gestalten hatten sich hier häuslich eingerichtet; sie lagen oder sa ßen auf Betten aus zusammengeknäuelten Lumpen und Bündeln, und jeder hatte seine wenigen Habseligkeiten um sich verstreut liegen. Viele von ihnen schauten zu den Neuankömmlingen auf, -446-
dann fiel ihr Blick auf das seltsame lodernde Schwert, das der Übermann in der Hand hielt. Garth ließ den Blick über die bunt zusammengewürfelte Schar schweifen und fragte den Priester: »Wie lange sind diese Leute schon hier? Ist irgendeiner von ihnen während der letzten zwei Tage neu hinzugekommen?« Der Priester schüttelte den Kopf. »Aber nein. Ihr seid die ersten Neuankömmlinge seit über einem halben Jahr.« Der Übermann schwang das große Schwert herum und hielt es vor den Hals des Mannes. »Willst du das beschwören, bei deiner Göttin und bei allen anderen Göttern?« »O ja, mein Herr!« antwortete er hastig, wobei er sich hütete zu nicken, aus Angst, er könne sich dabei den Hals an der Spitze des Schwertes verbrennen oder aufritzen. »Ich schwöre es bei Tema und bei allen Göttern! Diese Leute sind seit Monaten hier.« Garth hatte das Gefühl, dass er dem Manne vertrauen konnte. Er ließ die Waffe sinken und überhörte Frimas lautstarken Protest gegen die Art, wie er mit dem heiligen Mann umsprang. Erneut ließ er den Blick durch die große Halle schweifen; ihm fiel auf, dass ihm die steinerne Statue der Göttin im Licht des Schwertes weniger eindrucksvoll erschien, als er sie in Erinnerung hatte. Sie stand vor der ihm gegenüberliegenden Seite der Halle. Mit ihrem weit ausgebreiteten Umhang, dessen Falten den größ ten Teil der Kuppel auskleideten, war sie immer noch eine impo sante Skulptur, schön und voller Anmut, aber jetzt, bei Licht, konnte er deutlich die Meißelspuren der Steinmetze erkennen, die er damals im Dunkeln nicht gesehen hatte; die ätherische Aus strahlung war ihr abhanden gekommen. Er entdeckte dunkle Flecken an der Wand neben der Tür, fragte aber nicht, woher sie stammten. Er befürchtete, dass sie von sei
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nem damaligen Besuch herrührten, als er, fast an der gleichen Stelle, an der er jetzt stand, einen Priester getötet hatte. Mit Frima im Schlepptau ging er, eskortiert von dem Priester, langsam um den Saal herum und untersuchte sorgfältig jede Stelle, die so aussah, als könne sich hinter ihr eine Nische oder eine Tür verbergen. Von der Halle ging er weiter in die Sakristei, von dort aus schlenderte er ins Refektorium und in den Schlafsaal, und zum Schluss durchsuchte er die Krypten unter dem Tempel. Nirgends fand er jemanden in roter Robe oder jemanden, der nicht dort hingehörte. Alle, die die blaue Robe eines Priesters der Tema trugen, hatten auch die roten Augen und das weiße Haar, das all ihren Dienern eigen war, und er vermochte sich beim bes ten Willen nicht vorzustellen, dass die Aghaditen sich so geschickt verkleidet haben konnten, dass sie als Tema-Priester hätte durch gehen können, es sei denn, sie verfügten über magische Kräfte von einer Art, die ihm völlig unbekannt war. Er verbrachte den Rest der Nacht damit, jede Ecke und jeden Winkel des Tempels zu durchsuchen, bis er schließlich, am frühen Morgen, absolut sicher war, dass nirgendwo in dem großen, weit verzweigten Bauwerk auch nur ein Aghadit lauerte. Nachdem er sich — auf Frimas Drängen — dazu durchgerungen hatte, sich bei den Priestern zu entschuldigen, verließen sie den Tempel wieder. Koros wartete geduldig am Fuß der Treppe, und gemeinsam suchten sie sich ein passendes Haus, wo sie den Tag verbringen konnten. Sie waren beide so müde, dass sie sich nicht mehr dazu aufraffen konnten, nach etwas Essbarem zu suchen, sondern sich sofort hinlegten und einschliefen. Garth wachte kurz vor Sonnenuntergang auf, hungrig wie ein Bär, und musste zu seinem Leidwesen feststellen, dass das Haus, das sie sich zum Schlafen ausgesucht hatten, nichts Essbares barg. -448-
Er begann, die Hintertüren aufzubrechen und in den Nachbar häusern herumzustöbern, und schließlich fand er ein Rad Käse, das noch recht gut erhalten war und ein Fäßchen Bier, das zwar völlig verschalt war, aber noch trinkbar war. Als er mit seinem Fund in das Haus zurückkam, erwartete ihn Frima schon wach und hungrig. Nachdem sie sich gesättigt hatten, fragte er Frima, ob sie irgend welche Vorschläge habe, wie sie weiter vorgehen sollten, nachdem die Durchsuchung der Tempel erfolglos gewesen war. Frima schlug vor, wieder zur Straße der Tempel zurückzugehen und sich noch einmal in den Trümmern des Aghad-Tempels um zusehen; vielleicht würden sie irgendeinen Hinweis finden, der sie auf die Spur der Kultisten brachte. Da Garth auch keine bessere Idee hatte, erklärte er sich einver standen, und als der letzte Streifen Licht am westlichen Horizont verschwand, standen die beiden wieder am Rande der Grube, Ko ros ein paar Schritte hinter ihnen. Sie fanden nichts, was ihnen irgendwie weiterhelfen konnte. Garth hatte bei der Zerstörung des Tempels ganze Arbeit geleistet, und es waren keinerlei Papiere oder Dokumente übrig geblieben, nichts was ihnen irgendeinen Hinweis auf den Verbleib der Ag haditen liefern konnte, außer den Tunneln selbst. Garth durchstö berte ein paar von ihnen, aber sie mündeten allesamt in relativ geringem Umkreis an der Oberfläche, und keiner von ihnen wies irgendwelche verwertbaren Spuren auf. Schließlich stand der Übermann wieder am Rande des Loches, und sein Blick wanderte die Straße der Tempel hinunter, zu der schattigen Leere an ihrem Ende, die den Eingang zum Tempel des Todes einhüllte. Und allmählich begannen ihn Zweifel an seiner eigenen Logik zu beschleichen, nach der er den unterirdischen Tempel des Letzten Gottes als mögliches Versteck ausgeschlossen -449-
hatte. Die Aghaditen waren die Jünger des Hasses, und der Hohe priester, den er getötet hatte, hatte gesagt, dass Selbsthass die wichtigste und grundlegendste aller Voraussetzungen sei, die ein Aghadit mitbringen müsse. Solche Leute konnten sehr wohl bereit sein, sich an einem Ort zu verstecken, den kein Dûsarraner betre ten würde. Außerdem war es durchaus möglich, dass sie, gerade weil sie davon ausgingen, dass jedermann erwarten würde, dass sie sich vor dem Tempel mehr fürchten würden als Garth, eben diesen als Versteck gewählt hatten, in der Gewissheit, dass dies der einzige Ort war, an dem der Übermann sie niemals vermuten würde. Eine solche Denkweise, verwickelt und verdreht, entsprach ex akt den Erfahrungen, die er mit den Anhängern Aghads gemacht hatte, und der Tempeleingang war nur ein kurzes Stück Weges entfernt. Der Gedanke, dass sie sich vielleicht doch dort verkro chen hatten, ließ ihn nicht mehr los, und so begab es sich, dass er wenig später eine ziemlich verblüffte Frima nach Norden führte, die Straße der Tempel hinauf. Ihr Weg führte sie an den Trümmern des Tempels des Bheleu vorbei. Das Skelett der alten Kuppel war verschwunden, aber die ausgezackten Reste der Mauer, die sie einst getragen hatten, waren noch immer vorhanden. Wo einst die Tür gewesen war, klaffte ein gähnendes Loch im Mauerwerk, und ein Häufchen Asche in der Mitte der Tempelhalle war die letzte Spur des brennenden Altars, aus dem Garth einst das Schwert des Bheleu gezogen hatte. Irgendwie kam ihm dieser Aschenhaufen unnatürlich vor; immerhin waren seit damals drei Jahre ins Land gegangen, und eigentlich hätte die Asche längst vom Winde verweht sein müssen.
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Genau an jener Stelle hatte er das Schwert gefunden, fast genau drei Jahre zuvor. Der Gedanke ließ ihn stutzen. Er versuchte den genauen Zeitab stand auszurechnen, aber so präzise vermochte er sich nicht zu er innern. Er wusste ja nicht ein mal genau das jetzige Datum, ge schweige denn das Datum von dem Tag, an dem er das Schwert aus dem brennenden Altar gezogen hatte. Wie auch immer — über den Daumen gepeilt, mit einem Spielraum von vielleicht drei oder vier Tagen, war es genau drei Jahre her, dass er das Schwert des Bheleu zum ersten Mal berührt hatte. Er fragte sich, ob es vielleicht möglich war, dass er das Schwert hierließ, dass er es an die Stelle zurücklegte, wo er es gefunden hatte. Es war zumindest einen Versuch wert. Außerdem konnte es ja sein, dass ein paar der Aghaditen hier Unterschlupf gesucht hatten. Er blieb vor dem Eingang stehen, zu Frimas neuerlicher Verblüffung. »Was ist?« fragte sie. »Was hast du vor?« »Ich möchte einen Blick hineinwerfen«, erwiderte Garth. Frima spähte in die Dunkelheit hinter dem Loch. »Warum?« wollte sie wissen. »Es ist doch ein Tempel, nicht wahr? Hast du nicht selbst gesagt, dass sich die Aghaditen vielleicht in Tempeln versteckt haben?« »Aber doch nicht in diesem!« protestierte sie kopfschüttelnd, ih ren früheren Vorschlag offenbar vergessen habend. Der Übermann hatte keine Lust, sich auf eine Debatte einzu lassen, sondern marschierte einfach in den Tempel hinein, das lo dernde Schwert wie eine Fackel vor sich haltend. Frima und Koros folgten ihm nach, Frima zaudernd, Koros mit der ihm eigenen Ge lassenheit.
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Garth steuerte zielstrebig auf den kleinen grauen Haufen in der Mitte zu; dort angekommen, blieb er stehen. Er beugte sich hinun ter und betrachtete ihn aufmerksam, dann senkte er das Schwert, um in ihm herumzustochern. Eine plötzliche Wärme floss durch den Griff des Schwertes, durch seinen Arm und in seinen Geist, und er stand nicht länger in der unheimlichen Düsternis des zerstörten Tempels, sondern schwebte in einer von rotem Licht durchfluteten Leere. Er erstarrte, wartete gebannt, was als nächstes passieren würde. »Garth«, sagte die Stimme, die seiner eigenen so sehr ähnelte, die Stimme, die er als die jenes Wesens wiedererkannte, das sich Bhe leu nannte. »Warum bist du hierher gekommen?« Garth konnte darauf keine Antwort geben; er wusste es selbst nicht. Er hatte den Tempel aus einem plötzlichen Impuls heraus betreten, von zwei einander widersprechenden Gedanken beseelt — dass er hier vielleicht Aghaditen finden und sie mit dem Schwert töten würde oder dass er sich hier von dem Schwert befreien konnte, ohne die Hilfe des Vergessenen Königs in An spruch nehmen zu müssen. Er war sich nicht sicher, welcher von beiden sein wirklicher Wunsch war. Er hatte seinen Rachefeldzug gegen die Aghaditen fortgesetzt, aber das Ergebnis war immer noch unbefriedigend. Der Anblick eines toten Kultisten oder eines zerstörten Tempels verschaffte ihm kein Glücksgefühl, keine wirkliche Genugtuung. Wahres Glücksgefühl empfand er nur im Moment des Zerstörungsaktes selbst, aber auch das war nur eine flüchtige, fiebrige Leidenschaft, von der er nicht glaubte, dass sie aus ihm selbst heraus kam. Er verspürte noch immer den Drang, den Kult zu vernichten, aber er fand in dieser Zerstörung keinen wirklichen Wert mehr, noch irgendein Gefühl der Erleichterung. Er wollte von dem Schwert frei sein. Trotz seines Handels mit dem Gott wusste er, dass sein Denken und Fühlen vergiftet waren, -452-
dass er zu einem unreinen, irrationalen Wesen geworden war und dass er ein solches Wesen bleiben würde, solange er das Schwert trug. Gleichzeitig aber wollte er die Macht des Schwertes nicht missen, die Fähigkeit zu zerschmettern, was immer sich ihm ent gegenstellte, und er hatte Angst vor dem, was passieren würde, wenn das Schwert in die Hände des einzigen anderen irdischen Wesens fallen sollte, das die Fähigkeit bewiesen hatte, dass es es sicher handhaben konnte: der Vergessene König. Er wusste nicht, was er auf die Frage des Gottes erwidern sollte. »Garth, meine Zeit neigt sich ihrem Ende zu, und du hast mir wäh rend der gesamten Periode, welche eigentlich im Zeichen meiner Herr schaft über die Welt der Sterblichen hätte stehen sollen, meine Freiheit versagt. Du hast es geschafft, mein Zeitalter auf ein Zehntel seiner eigentlichen Länge zu beschneiden. Mir ist nichts geblieben als die letzte Zerstörung, die meiner selbst und meiner göttlichen Geschwister. Wenn du willst, befreie ich dich von dem Schwert und lasse allen Anspruch auf dich fahren; du brauchst die Klinge bloß in die Asche zu stecken und sie dort zurücklassen, und es wird keine kleinen Zerstörungen mehr von deiner Hand geben, sonder nur noch die letzte große Katastrophe, sobald die Zeit für sie gekommen ist. Entscheide dich sofort; eine zweite Chance werde ich dir nicht gewähren. Nimm das Schwert und wirke weiter als mein Sendbote, oder lass es liegen und geh in Freiheit. « Garth bemühte sich verzweifelt, klar zu denken, seine Entschei dung logisch abzuwägen. Einerseits wollte er nichts lieber, als das Schwert loswerden, als alles hinter sich lassen, was ihn in das Kräftespiel übernatürlicher Mächte verwickelte; wenn er weitere Racheakte gegen die Aghaditen plante, konnte er diese immer noch aus eigenen Kräften durchführen. Er war mehr als ein Jahr hundert lang auch ohne göttliche Hilfe zurechtgekommen. Er ließ den Griff des Schwertes los, und es schien bewegungslos in der Leere vor ihm zu schweben.
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Andererseits machte Bheleus Erwähnung einer letzten großen Katastrophe ihm angst. Er versuchte, sich damit zu beruhigen, dass ein Gott in anderen Zeitspannen dachte als ein gewöhnlicher Sterblicher und dass bis zu dieser letzten großen Zerstörung noch Jahrtausende vergehen konnten, aber er konnte sich nicht dazu bringen, das zu glauben. Er wusste, dass irgendwo in der Stadt der Vergessene König dabei war, einen Zauber vorzubereiten, der die Welt vernichten sollte, und er war absolut sicher, dass das Schwert, wenn er es jetzt im Tempel des Bheleu zurückließ, auf ir gendeine Weise seinen Weg zu dem alten Mann finden würde und dass der Zauber dann vollführt werden würde. Das konnte er auf keinen Fall zulassen. »Ich werde das Schwert behalten«, sagte er. Seine Hand schloss sich wieder fest um den Griff der Waffe. Er hatte mit dem Spottgelächter des Gottes gerechnet, aber es blieb völlig still um ihn: Das Lachen blieb aus; das rote Licht ver blasste, und er stand wieder in der Tempelruine. Frima hatte besorgt mit angesehen, wie der Übermann zu dem Aschenhaufen gegangen war, das Schwert hineingesteckt hatte und dann plötzlich erstarrt war. »Was ist los!« rief sie. »Was geht da vor sich?« Aber Garth antwortete nicht; er stand nur da und starrte ins Leere. Sie trat an ihn heran, wedelte mit der Hand vor den Augen, sah aber keine Reaktion bei ihm. Besorgt fischte sie die Schleuder, die sie dem toten Aghaditen abgenommen hatte, aus dem Beutel an ihrem Gürtel. Plötzlich ließ Garth das Schwert los; es schwankte hin und her, blieb aber aufrecht stehen, festgehalten von dem Aschenhaufen. Sein weißer Glanz verblasste zu einem fahlen gelben Flackern, aber Garth rührte sich nicht und sagte auch nichts. Er starrte immer noch mit leerem Blick vor sich hin.
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Irgend etwas bewegte sich seitlich von ihr; sie wirbelte herum und schoss den Pfeil ab. Nicht ein Pfeil, sondern zwei prallten klirrend gegen Steine; ihr eigener hatte die zertrümmerte Wand dicht neben der Stelle ge troffen, an der sie die Bewegung wahrgenommen hatte, ein anderer war dicht an Garths Kopf vorbeigepfiffen und gegen die gegenüberliegende Wand geprallt. »Koros!« schrie sie. »Töte sie!« Das Kriegstier schaute sie an, als läge es im Widerstreit mit sich selbst, ob es jemand anderem als seinem Herrn gehorchen solle oder nicht. Ein zweiter Pfeil, der mit lautem Klirren an Garths Panzer abprallte, gab den Ausschlag zugunsten des ersteren: Mit ohrenbetäubendem Gebrüll stürzte das Kriegstier sich auf den im Dunkeln lauernden Angreifer. Garth stand immer noch völlig regungslos. Frima hatte einen neuen Pfeil in ihre Schleuder gelegt und kauerte geduckt neben dem Übermann, mit weit aufgerissenen Augen um sich spähend. Ein gellender Schrei vermengte sich mit dem Brüllen des Kriegs tieres und erstarb in einem gepressten Gurgeln. Frima konnte nicht sehen, was in der Dunkelheit passierte, aber es war klar, dass Koros seine Beute gefunden hatte. Wieder bewegte sich etwas, und als sie sich umwandte, sah sie eine dunkle Gestalt mit hoch erhobenem Schwert auf sich zukom men. Sie ließ den Pfeil von der Sehne der Schleuder schnellen; die Gestalt taumelte und sackte zu Boden. Im gleichen Moment flammte Licht auf; Garth hielt das Schwert des Bheleu wieder in der Hand, die Klinge loderte wieder hell mit ihrem unnatürlichen weißen Licht. Jetzt begann sich der Über mann auch wieder zu rühren; langsam wandte er sich von dem Aschenhaufen ab. Frima und er starrten mit dem gleichen über raschten Gesichtsausdruck auf den Mann in der roten Robe, der
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neben seinem Schwert auf halbem Wege zwischen der Dûsarrane rin und dem Tempeleingang lag. Er war nicht tot, nur benommen. Garth hob ihn mit einer Hand auf, das gleißende Schwert in der anderen, und herrschte ihn an: »Wo sind die anderen von euch?« Koros kam aus dem Schatten zurück, das Maul von Blut triefend. Der Aghadit starrte entsetzt erst auf das Kriegstier, dann auf das lodernde Schwert und schließlich auf den hünenhaften Übermann, der ihn da mit einer Hand in der Luft zappeln ließ. »Das weiß ich nicht!« heulte er. »Euer Gott ist der Gott des Verrats, Ratte! Verrate deine Spießge sellen!« donnerte Garth. »Das kann ich nicht«, beharrte der Aghadit winselnd. »Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sofort sagen, das schwöre ich dir bei Aghad!« »Du schwörst es, bei Aghad und bei allen Göttern?« »Ja, ich schwöre es!« heulte der Mann heftig nickend. »Ja, ja, ich schwöre es!« Angewidert und von Ekel geschüttelt, warf Garth den Mann von sich; er schlug mit dem Kopf gegen die steinerne Wand des Tem pels und fiel leblos zu Boden. Garth hatte nicht die Absicht gehabt, den Mann zu töten, aber es war nun einmal geschehen, und er empfand kein Bedauern. »Wahrscheinlich schleichen noch mehr von ihnen irgendwo hier herum«, sagte er zu Frima. »Einen hat Koros schon erwischt«, erwiderte das Mädchen. »Andere habe ich nicht gesehen.« »Wir werden sie suchen«, sagte Garth. Und das taten sie; sie suchten sorgfältig und systematisch den gesamten Tempelbereich ab. Als Frima sah, was Koros von dem -456-
Pfeilschleuderer übrig gelassen hatte, wandte sie sich ab und übergab sich. Ihre Suche blieb jedoch erfolglos. Sie fanden weder andere Ag haditen, noch irgendeinen Hinweis, dass solche dagewesen waren. Als Garth sicher war, ging er voraus auf die Straße und setzte seinen Weg zum Tempel des Todes fort. Frima folgte ihm zö gernd, Koros ging neben ihr her. Garth blickte nicht mehr zum Tempel des Bheuleu zurück, aber er stellte sich immer wieder die Frage, ob er richtig daran getan hatte, das Schwert zu behalten. Ihm wurde bewusst, dass dies vielleicht seine letzte Chance ge wesen war, es loszuwerden; doch er widerstand dem Drang, zu rückzulaufen und erneut mit Bheleu zu handeln. Wenn er das Schwert dort ließ, würde der König es kriegen, dessen war er ganz sicher. Und das konnte er nicht zulassen, weder jetzt noch über haupt jemals. Entschlossen stapfte er weiter, das Schwert wie eine Fackel vor sich haltend. Die Stadt war wie ausgestorben; nichts bewegte sich auf der Straße der Tempel, außer ihm selbst und seinen beiden Begleitern. Er fragte sich, ob außer den Aghaditen und den zerlumpten Gestalten im Tempel der Tema überhaupt noch jemand in Dûsarra am Leben war. Als sie am Ende der breiten Allee ankamen, fiel das Licht des Schwertes auf einen schmalen Hohlweg im schwarzen Vulkange stein, der zu einer Höhle führte. Nicht einmal das Licht des Schwertes vermochte die Dunkelheit zu durchdringen, die den Eingang der Höhle umhüllte. Er war nur als eine noch tiefere Tö nung von Schwarz inmitten der Schwärze des ihn um schließenden Vulkangesteins auszumachen. Quer vor dem Eingang lag die Leiche eines Menschen. Das war nicht weiter überraschend in dieser Stadt des Todes, in der man fast an jeder Straßenecke über Skelette stolperte. Diese Leiche aber -457-
war noch frisch; sie war noch nicht in Verwesung übergegangen. Garth konnte nur einen ganz schwachen Geruch von beginnender Fäulnis wahrnehmen; er schätzte, dass der Mann höchstens seit drei Tagen tot war. Es war die Leiche eines sehr alten Mannes; Garth bückte sich, um ihn aus der Nähe zu betrachten — und erkannte ihn wieder. Seine Robe war von einem so reinen Schwarz, dass das Licht des Schwertes buchstäblich von ihm aufgesogen wurde; man konnte den Eindruck haben, als handle es sich um einen zu Materie verdichteten Schatten. Der Körper des Mannes war klein und zerbrechlich; ein Bein war krumm und kürzer als das andere, eine Hand fehlte, das Gesicht war zur Hälfte von einer purpurfarbenen schwammigen Geschwulst überwuchert, und das eine noch vor handene Auge war glasig von grauem Star. Dieses erbarmungswürdige Geschöpf war der Wächter des Tem pels des Todes gewesen. Der Übermann spähte aufmerksam in alle Richtungen, konnte aber keine Spur von irgend etwas entdecken, das den alten Mann getötet haben konnte. Es war sehr gut möglich, dass er an Alters schwäche gestorben war. Selbst die Priester des Todes mussten einmal sterben – mit einer Ausnahme. Garth erinnerte sich, dass der Übermann-Hohepriester des Ag had-Kults, den er später getötet hatte, ihn seinerzeit aus einem Versteck ganz in der Nähe dieser Stelle verhöhnt hatte. Es war gut möglich, dass einer der Tunnel vom Tempel des Aghad irgendwo hier in der Nähe mündete. Er spähte angestrengt auf den schwarzen Fels, konnte aber nichts erkennen. »Was ist ihm zugestoßen?« fragte Frima, auf den schwarzen Leichnam starrend. »Er ist gestorben«, sagte Garth. Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: »Wahrscheinlich an Altersschwäche.« -458-
»Oh!«« sagte Frima und unterdrückte ein Schaudern. Der An blick dieser frischen Leiche nahm sie weit stärker mit als die kaum noch erkennbaren Überreste der vielen Opfer der Seuche. Garths Interesse an der Leiche war erschöpft; zudem war er einigermaßen sicher, dass keine Heckenschützen in der un mittelbaren Umgebung lauerten. »Komm!« drängte er. »Aber das ist der Tempel des Todes!« stieß Frima hervor und rührte sich nicht vom Fleck. »Ich weiß«, sagte Garth. »Da setze ich keinen Fuß hinein«, erklärte Frima kategorisch. »Warum nicht? Du selbst warst es doch, die gesagt hat, dass sich hier vielleicht Aghaditen versteckt halten könnten; fürchtest du dich plötzlich vor ihnen? Hast du beschlossen, auf deine Rache zu verzichten?« »Das ist es nicht!« schrie sie. »Ich fürchte mich vor dem Tod!« »Ich bin ja bei dir und beschütze dich«, versuchte Garth sie zu beruhigen. »Ich war schon einmal hier und bin auch wieder leben dig herausgekommen. Ich habe die Macht Bheleus, um uns zu verteidigen. Aber wenn dir das lieber ist, kannst du auch hier draußen warten, während ich den Tempel erkunde.« Frima schwankte einen Moment lang, sagte aber schließlich: »In Ord nung. Ich bleibe hier, aber du musst Koros bei mir lassen.« Dagegen hatte Garth nichts einzuwenden; er hatte ohnehin nicht vorgehabt, das Kriegstier mit in den Tempel zu nehmen. Er bezweifelte, dass die riesige Kreatur durch den schmalen Eingang passen würde. Er befahl dem Kriegstier, das Mädchen zu bewachen, und dann verschwand er im Dunkel der Höhle.
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Kapitel 27 Der Korridor verlief sanft abschüssig; es gab weder ein Tor noch sonst irgendeine Absperrung. An einer Stelle verengte sich der Korridor jäh. Danach wurde er allmählich wieder breiter und mündete schließlich in einen großen Raum, das Herz des Tempels. War der Gang natürlichen Ursprungs gewesen, so war dieser Raum künstlich geweitet; der Fußboden war eben und glatt, die Wände waren mit Säulen unterteilt und mit kunstvoll gearbeiteten Reliefs verziert, welche sich in Form angedeuteter Strebbögen nach oben hin fortsetzten, den Eindruck einer kuppelförmig ge wölbten Decke erweckend. Der mittlere Teil der Decke bestand je doch aus rohem unbehauenen Stein; darunter, genau in der Mitte der Kammer, stand der Altar, ein mächtiger, aus einem Stalagtiten gehauener Klotz, der die Form eines Lesepults hatte. Auf seiner leicht abgeschrägten Oberfläche stand, mit Nieten fest verankert, ein seltsam geformter hornbewehrter Schädel. Das Schwert war nicht die einzige Lichtquelle, die die Kammer erhellte: Ein trüber roter Lichtschein kam aus der Öffnung eines Tunnels, der auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangs in die Tempelkammer mündete. Die Reliefs und der Altar warfen bizarr anmutende Doppelschatten in diesem unheimlichen Licht. Garth schenkte alldem keine Beachtung. Er hatte erwartet, dass der Tempel leer sein würde; er hatte unter dem Druck anderer Sorgen völlig vergessen, dass der Vergessene König seine Absicht bekundet hatte, hierherzukommen und mit seinem Zauber zu be ginnen. Der Übermann hatte das nicht besonders ernst genom men, da er überzeugt war, dass der König ohne das Schwert des Bheleu ohnehin nichts machen konnte, und war irgendwie davon
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ausgegangen, dass der alte Mann irgendwo in der Stadt lauerte, darauf wartend, dass Garth ihm das Schwert aushändigte. Das war ein Irrtum gewesen. Der Vergessene König stand vor dem Altar, mit dem Rücken zu Garth, in einen unverständlichen, schaurig klingenden Singsang vertieft. Das Buch der Stille lag ge öffnet auf dem Altar, und es war offensichtlich, dass der alte Mann aus ihm las. Der Singsang schien von den steinernen Wänden der Kammer widerzuhallen, was dem ohnehin schon schaurigen Klang seiner Stimme eine geradezu grauenerregende Qualität verlieh. Die Sprache der Zauberformel war Garth vollkommen fremd; sie hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit seiner eigenen Sprache. Sie klang hart und guttural, war durchsetzt mit unharmonischen, zungenbrecherisch anmutenden Vokalkombinationen und zischenden Konsonanten. Die Wörter und Phrasen schienen stets an den falschen Stellen zu enden, liefen scheinbar wider den Rhythmus, der abgehackt und schwer zu durchschauen war, aber den König schien das nicht anzufechten; er sang unbeirrt weiter, in unablässigem Strom sprudelten die misstönenden Klänge aus ihm heraus. Garth beobachtete ihn, unschlüssig, wie er sich verhalten sollte. Einerseits wollte er nicht, dass der König seinen Zauber vollende te, andererseits aber wusste er nicht, ob es klug war, ihn jetzt zu unterbrechen. Der Singsang endete jäh mit einem schrillen schrägen Misston, und ohne jeden Übergang sagte der König: »Sei gegrüßt, Garth.« Er drehte sich nicht einmal um. »Sei gegrüßt, o König!« erwiderte Garth. Es folgte ein Moment totaler Stille, als die letzten Töne verhallt waren.
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»Was tust du da?« brach der Übermann schließlich das Schweigen. »Ich bereite meinen letzten großen Zauber vor«, antwortete der König. Der Übermann trat ein paar Schritte vor, sorgfältig darauf ach tend, dass er dem König nicht zu nahe kam; er wollte ihm nicht durch eigene Unachtsamkeit die Möglichkeit geben, ihm das Schwert zu entreißen. »Wie kannst du das ohne das Schwert des Bheleu?« fragte er. »Das Schwert brauche ich erst im letzten Stadium, am Ende des dritten Tages. Ich kann den Zauber einleiten, aber um ihn zu Ende zu führen, brauche ich sowohl das Schwert als auch deine Hilfe.« Diese Antwort beunruhigte Garth, nicht so sehr wegen ihres In halts, sondern wegen der Freimütigkeit, mit der der König sie gegeben hatte — ein Verhalten, das so ganz und gar nicht der Art des wortkargen alten Mannes entsprach. Irgend etwas an ihm hatte sich verändert; Garth vermutete, dass der Gedanke an die kurz bevorstehende Erfüllung seines so lange gehegten Wunsches ihn aufgewühlt hatte. Er trat noch einen Schritt weiter vor und schaute dem alten Mann ins Gesicht. Was er sah, ließ ihn einen Moment lang stutzen: Irgend etwas stimmte an dem Gesicht nicht. Es schien seltsam zu schimmern und sich während des Hinsehens zu verändern, und es dauerte ein paar Sekunden, bis Garth begriff. Der alte Mann trug die Blei che Maske. Sie hatte sich den Konturen seines Gesichts angepasst, hatte aber ihre glatte, matt schimmernde Oberfläche behalten. Mit Unbehagen erinnerte sich Garth an ihre Fähigkeit, ihr Aussehen auf unerklärliche Weise zu verändern. Der lange schüttere Bart des alten Mannes war im Kinnstück der Maske verschwunden, und die Augenhöhlen waren weniger eingesunken als seine -462-
eigenen — gleichwohl blieben seine Augen unsichtbar, jetzt nicht (wie sonst) von der Kapuze verdeckt, sondern von der Maske. »Auf meine Hilfe wirst du verzichten müssen«, sagte Garth. »Das Schwert magst du mir vielleicht auf irgendeine Weise ab spenstig machen, aber ich schwöre, dass ich dir niemals dabei hel fen werde, die ganze Welt zu zerstören, nur damit du endlich sterben kannst.« »Würdest du die Welt nicht auch so zerstören müssen — damit deine Feinde, die Anhänger Aghads, vernichtet werden?« »Nein.« »Sag das nicht so voreilig, Garth. Denk erst einmal nach, bevor du sprichst. Dein Ziel ist, sie alle zu töten; du hast geschworen, sie zu vernichten. Wie willst du das erreichen, ohne die Welt zu zer stören? Gut, du kannst mit dem Schwert des Bheleu die ganze Stadt Dûsarra in Schutt und Asche legen — aber das kostet Zeit, Zeit, die viele von ihnen dazu nutzen werden, woandershin zu fliehen. Vielleicht haben einige von ihnen das schon getan. Willst du sie durch die ganze Welt verfolgen, jeden einzelnen von ihnen? Glaubst du, du lebst ewig? Bist du bereit, Jahrhunderte deines Lebens für diese Verfolgung zu opfern? Denn es würde Jahr hunderte dauern, bis du sie alle aufgestöbert und getötet hättest. Nein, Garth, auf diese Weise kannst du dein Ziel nie erreichen. Du müsstest schon die ganze Welt in Schutt und Asche legen, jeden einzelnen Ort, an dem sie vielleicht versteckt sein könnten, um ab solut sicher zu sein, dass dir auch wirklich keiner von ihnen durch die Lappen gegangen ist. Aber das könntest du nicht mit dem Schwert des Bheleu, denn so groß seine Macht auch ist, sie ist doch nicht groß genug, um die ganze Welt zu zerstören. Zu sammen aber könnten wir sie allesamt mit einem einzigen Zauber ins Jenseits befördern — und dieser Zauber wartet nur noch dar auf, vollendet zu werden.«
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»Und mit ihnen den Rest der Welt dem Untergang preisgeben — mich eingeschlossen. Nein danke.« »Wäre das wirklich so schrecklich? Ein Wimpernschlag, und alles wäre vorüber. Ist dein Leben denn wirklich so schön, dass du dich so zäh daran klammerst? Ist es nicht ein verlockender Ge danke, einfach loszulassen, sich fallen zu lassen in das Nichts des Todes? Ich sehne mich seit vielen Jahrhunderten nach diesem Frie den; ist der Gedanke dir wirklich so widerwärtig?« »Mein Leben gehört mir, alter Mann, und ob und warum ich daran hänge, ist ausschließlich meine Sache. Ich will weder sterben noch will ich verantwortlich sein für den Tod von Millionen Unschuldigen.« »Unschuldigen? Wer ist schon frei von Schuld, Garth? Die Über männer von Ordunin, die dich als Dank für deine Hilfe verstoßen haben und nicht einmal bereit waren, dein Gnadengesuch auch nur anzuhören? Deine Familie, der du nicht einmal soviel wert warst, dass sie bereit gewesen wäre, um deinetwillen aus einem unwirtlichen Wüstenland fortzuziehen? Oder die Yprier vielleicht, die sich einander bekriegen und ohne Grund in die Länder ihrer Nachbarn eingefallen sind? Oder die Erammaner, die das reichste und fruchtbarste Land dieser dekadenten Welt in das Chaos eines Bürgerkriegs gestürzt haben, die dein Volk in die Wildnis gejagt haben? Die Orûnianer, die versuchten, aus dem inneren Zwist ih rer Nachbarn Nutzen zu ziehen? Die Leute von Skelleth, die dich noch heute, nach drei Jahren, verachten — nach allem, was du für sie getan hast? Die Leute von Ur-Dormulk, die dir Soldaten auf den Hals gehetzt haben, um dich zu töten? Wer von allen diesen ist es wert, dass du auf ihn Rücksicht nimmst? Wer sind die Leute, die es wert sind, dass du ihretwegen auf deine gerechte Rache ver zichtest und ein Leben weiterfristest, das dir zu einer Last ge
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worden ist, nur damit sie noch ein paar Jahre länger in einer Welt des Krieges, der Not und des Hungers leben können?« »Du verstehst es hervorragend, die Wahrheit mit Worten zu ver drehen, alter Mann«, erwiderte Garth, dem Drang widerstehend, nachzugeben, zuzugeben, dass der Vergessene König recht hatte. Er war nicht sicher, ob dieser Drang von ihm selbst kam oder von Bheleu,. oder ob irgendein von dem König oder dem Buch oder der Maske ausgehender Zauberbann ihn verursachte. Was immer es war, es war mächtig, von fast hypnotischer Kraft; sein Blick war starr auf die weißglänzende Bleiche Maske geheftet, und er muss te alle Kraft zusammennehmen, um seinen Widerstand auf rechtzuerhalten. »Und was ist mit Frima?« fragte er, den erstbes ten Namen nennend, der ihm einfiel. »Sie hat nichts getan, wofür sie den Tod verdient hätte. Und es gibt gewiss noch Millionen wie sie.« Der alte Mann gab keine Antwort; statt dessen beugte er den Kopf über das Buch und begann wieder mit seinem Singsang. Plötzlich erinnerte Garth sich wieder, warum er in diesen Tem pel gekommen war, und er fragte laut: »Sind irgendwelche Ag haditen hier, alter Mann?« Er bezweifelte, dass welche da waren. Der Vergessene König würde niemals dulden, dass ihn jemand bei seinem Zauber störte, und Garth wusste, dass er Mittel hatte, sich ungebetene Gäste vom Halse zu schaffen. Der Singsang verstummte, und der König sagte: »Wir sind allein hier, Garth, allein mit unseren Göttern.« Der Übermann, der die Erfahrung gemacht hatte, dass alles, was der König sagte, mit Vorsicht zu genießen war, überlegte, ob es ir gendeine Möglichkeit gab, diese Aussage des Königs so zu deu ten, dass sie das Gegenteil besagte. Aber ihm fiel keine ein; nach kurzem Zögern nickte er und wandte sich zum Gehen.
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Der König hatte wieder mit seinem Singsang angefangen, aber in seinen Gesang mischte sich plötzlich ein anderer Laut, stark verzerrt durch die Echos des Tunnels und durch die Entfernung, aber unverkennbar: das Brüllen eines Kriegstiers. Garth fuhr erschreckt herum und startete auf die schwarze Mündung des Eingangstunnels; dann sprintete er los.
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Kapitel 28 Eine warme Flüssigkeit spritzte ihm ins Gesicht, als er aus der Höhle hervorstürmte. Er blinzelte und hob die freie Hand, um die Augen abzuschirmen. In seinen Ohren gellten die Todesschreie von Menschen und das wütende Brüllen des Kriegstiers. Sein erster Impuls war, mit dem Schwert des Bheleu zuzu schlagen, hinwegzufegen, was immer sich da vor ihm bewegte, aber er beherrschte sich; Koros und Frima waren irgendwo in der Nähe, und er wollte sie nicht gefährden. Der Feuerstrahl des Schwertes machte keinen Unterschied zwischen Freund und Feind. Nach dem ersten Schwall Flüssigkeit traf ihn gleichwohl nichts mehr. Er ließ die Hand sinken und öffnete die Augen. Vor ihm stand Koros mit gebleckten bluttriefenden Fängen. Un ter seinen mächtigen Vorderpranken lagen mehrere zermalmte Leichen; weitere lagen zerschmettert zu beiden Seiten des Hohl wegs. Ringsum lagen Waffen verstreut. Koros‘ Brüllen war zu einem leisen Knurren verebbt. Garth wischte sich über das Gesicht und hob die Hand vor die Augen. Es war Blut, Menschenblut. Es war aus dem Körper des Aghaditen heraus und ihm entgegengespritzt, als Koros ihn zwi schen den mächtigen Kiefern zerquetscht hatte. Doch auch das Kriegstier war nicht unverletzt geblieben. Drei Armbrustpfeile ragten aus einer Schulter heraus, und ein vierter stak in einer seiner Vordertatzen. Quer über das Gesicht verlief ihm eine blutige Schramme, nur knapp unterhalb von einem sei ner großen goldenen Augen.
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Es herrschte keine Gefahr mehr. Es bestand kein Zweifel, dass alle Menschenwesen, die um den Höhleneingang herum lagen, tot waren. Bei diesem Gedanken fiel Garth siedend heiß ein, dass Frima nicht da war. Er ließ den Blick über die blutigen Leichen schweifen, aber seine Dûsarranische Begleiterin befand sich nicht darunter. Im gleichen Moment hörte er Schreie. Sie kamen von irgendwo hinter den Felsen zu seiner Rechten. Auch Koros wandte den Kopf lauschend in die Richtung, offenbar bemüht, die Quelle des Ge räusches auszumachen. Erst in diesem Moment wurde Garth be wusst, dass das, was er hörte, keine Todesschreie waren, sondern die verzweifelten Hilferufe einer Frauenstimme: »Koros! Koros!« Es war eindeutig Frimas Stimme, doch kaum hatte Garth sie er kannt, da erstarb sie jäh. »Frima!« brüllte der Übermann aus Leibeskräften. Es kam keine Antwort; sein Ruf verhallte in den Felsen, und dann trat Toten stille ein. »Frima!« schrie er noch einmal. Die einzige Antwort war ein leises Knurren von Koros. Kein Zweifel: Die Aghaditen hatten es irgendwie geschafft, sie von dem Kriegstier wegzulocken, und dann hatten sie sie getötet. Rasende Wut packte den Übermann, und das Schwert loderte grellweiß auf. Das sollten sie büßen! Sie würden allesamt sterben, jeder einzelne von ihnen, ganz gleich, wo sie sich auch verkrie chen mochten! Sie hatten ein unschuldiges Mädchen gemeuchelt, und sie würden dafür mit dem Leben bezahlen! Die Worte des Vergessenen Königs fielen ihm ein, und das, was er darauf erwidert hatte. Frima war dahingegangen, und mit ihr seine Rücksicht auf die Bewohner der Welt. Die Welt mochte voll
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sein von unschuldigen Opfern, aber wenn er sie nicht vernichtete, dann würden es andere tun. »I‘a bheluye!« schrie er. »Aghad, ich werde dich vernichten!« Er wandte sich um und ging in den Tempel des Todes zurück. Von ihrem gut getarnten, an der Mündung des Tunnels ganz in der Nähe gelegenen Aussichtspunktes aus, sahen die Hoheprieste rin Aghads und zwei ihrer Spießgesellen das magische Schwert des Übermannes auflodern und hörten ihn seinen unermesslichen Zorn hinausschreien. »Ich glaube«, sagte die Hohepriesterin, »wir sollten abwarten, bis er sich einigermaßen wieder beruhigt hat. Wenn wir jetzt ver suchen, mit ihm zu verhandeln, bringt er es fertig, uns alle zu rösten, ehe wir auch nur ein Wort herausgebracht haben; er ist im Augenblick so außer sich, dass er das Mädchen gar nicht wahr nehmen würde. Sobald er wieder zur Besinnung gekommen ist, werden wir ihm unseren Handel vorschlagen.« Ihre Begleiter grunzten zustimmend und spähten nervös umher. Weiter hinten im Tunnel vernahmen sie einen dumpfen Schlag, gefolgt von unterdrücktem Fluchen. »Behandelt sie wie ein rohes Ei!« mahnte die Hohepriesterin. »Sie ist vielleicht unsere einzige Lebensversicherung!« »Ich bitte untertänigst um Verzeihung, Herrin«, antwortete je mand. »Aber sie wehrt sich wie eine wilde Raubkatze. Sie hat schon den Knebel durchgekaut, und wir mussten sie fallen lassen, um ihr einen neuen zu machen. « Die Priesterin wandte den Blick von der Tunnelöffnung ab und starrte hinunter auf die zappelnde Gestalt ihrer Gefangenen, die nur schemenhaft wahrnehmbar war im Licht der einzigen abge blendeten Laterne, die sie sich so nahe an der Tunnelmündung
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anzuzünden getraut hatten. »Ihr könnt ihr meinetwegen weh tun, wenn es nicht anders geht«, sagte sie, »solange ihr sie nur nicht tö tet oder verkrüppelt.« Frima wand sich verzweifelt und versuchte zu schreien; einer der Aghaditen stopfte ihr noch einen Lappen in den Mund, so dass der Schrei nur noch als ein ersticktes Gurgeln zu hören war. Garth hörte Frimas verzweifelten Kampf nicht und hätte den Geräuschen, selbst wenn er sie gehört hätte, auch gar nicht ge nügend Aufmerksamkeit gezollt, um sie als das zu erkennen, was sie waren. Er war überzeugt, dass sie tot war. Wann immer einer von denen, die ihm nahegestanden hatten, in die Hände der Ag haditen gefallen war, hatte er sterben müssen. Kyrith hatte sterben müssen, und Saram hatte sterben müssen; Garth sah keinen Grund zu der Annahme, dass es Frima besser ergangen war. Er rechnete fest damit, ihren verstümmelten Leichnam vor dem Tem pel des Todes vorzufinden, sobald er wieder herauskam – falls er jemals wieder herauskam. Er ging langsam den Tunnel hinunter, das lodernde Schwert vor sich haltend. Die Glut des Schwertes nährte seinen Zorn und schürte ihn ins Unermessliche. Sein rasender Zorn oder besser: Seine Verzweiflung und Wut im Verein mit dem unheilvollen Einfluss Bheleus, hatten jedes bewusste Denken in ihm ausge löscht. Nur noch ein einziger Gedanke beherrschte ihn: Er musste den Kult des Aghad vernichten, egal mit welchen Mitteln und um welchen Preis. Er trat just in dem Moment in die Tempelkammer, als der Singsang des Vergessenen Königs verstummte. »Was muss ich tun, alter Mann?« fragte Garth. »Das wirst du erfahren, wenn es soweit ist«, antwortete der Vergessene König und hub wieder an zu singen.
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Garth war nicht in der Stimmung zu warten, aber er zwang sich, hinter dem König stehenzubleiben und seiner Instruktionen zu harren. gewiss würde der alte Mann ihm ein Zeichen geben oder ihn auf irgendeine sonstige Art wissen lassen, was er zu tun hatte, und er würde es tun; der Zauber würde sich vollenden, und die Welt würde untergehen. Und mit ihr würden seine Feinde untergehen — der Kult des Aghad würde ausgelöscht werden bis auf sein letztes stinkendes Mitglied. Die Stadt Dûsarra, die sein Leben so vergiftet hatte, würde vom Erdboden verschwinden. Die Götter selbst, unter ih nen die Pestbeule Aghad und sein eigener ungeliebter und unge wollter Herr, Bheleu, würden zugrunde gehen. Der Vergessene König würde sein Leben aushauchen, und sein Namenloser Gott würde mit ihm verschwinden. Und er, Garth, würde ebenfalls sterben. Aber was machte das schon! Es gab nichts, was ihn noch auf dieser Welt hielt. Sein Volk hatte ihn verschmäht, Kyrith und Saram und Frima waren tot, und seine Welt war in Chaos und Zerstörung versunken. Der alte Mann würde sich seinen langersehnten Wunsch endlich erfüllen können; sein Leben, das so unendlich lang gewährt hatte, würde enden. Alles würde enden. Alles. Koros würde sterben — und mit ihm der Gott, dessen Namen er trug. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, dass sein Kriegstier sterben würde. Die Sonne würde erlöschen; es würde nichts mehr geben, auf das sie herniederscheinen konnte. Nie wieder würde das Korn im Herbst auf den Feldern wogen, denn es würde keine Felder mehr geben. Und es würde keine Bauern mehr geben, die das Korn im Frühjahr säten und es im Herbst schnitten.
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Aber es würde auch keine Kriege mehr geben, keinen Hass und keinen Tod. Und keine Liebe mehr und kein Leben ... Alles würde vorbei sein, das Gute wie das Böse; es würde keine Welt mehr geben, keine Chance mehr, das, was schlecht war, besser zu machen, denn die Zeit selbst würde stillstehen. Nie wieder würde er den Wind auf seinem Gesicht spüren oder die Sonne auf seinem Rücken, nicht nur weil er tot sein würde und nichts mehr würde fühlen können, sondern weil es keinen Wind und keine Sonne mehr geben würde — nie wieder. Es würden keine Fische mehr im Meer schwimmen, denn es würde kein Meer mehr geben, und keine Vögel mehr durch die Lüfte fliegen. Kein neues Jahr würde auf dieses folgen, kein Herbst auf diesen letzten Sommer; und alles, weil er, Garth von Ordunin, den Göttern die Stirn geboten und — verloren hatte. Er war besiegt worden von Aghad, Bheleu und dem Tod; er hatte sich verfangen und verirrt in der Wut und Verzweiflung, die die dunklen Götter gesandt hatten. Er ließ es mit sich geschehen, dass die Götter ihn manipulierten. Das durfte nicht sein! Die schaurige knarrende Stimme des Vergessenen Königs schnitt ihm durch Mark und Knochen, als sie plötzlich anschwoll und an Schärfe und Höhe zunahm. Und er spürte, wie magische Kraft rings um ihn herum zu brodeln begann. Er wollte einhalten, wollte seine Entscheidung rückgängig ma chen. Er wollte nicht, dass die Welt aufhörte zu sein, er wollte nicht mitwirken an ihrer Zerstörung — aber er vermochte sich nicht von der Stelle zu rühren. Er spürte einen unwiderstehlichen Drang nachzugeben, zu tun, was der alte Mann wollte, und gleich zeitig kämpfte er verzweifelt dagegen an.
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Der Singsang brach jäh ab, und der alte Mann wandte sich zu ihm um. Die Maske glomm düster im roten Licht des Schwertes, wie in Blut gebadet. In einem Akt der Verzweiflung hob Garth das Schwert des Bhe leu und stürzte sich auf den alten Mann, in der wahnwitzigen Hoffnung, den Zauberbann zu brechen, bevor sein Part beginnen würde. Mit aller Kraft stieß er die glühende Klinge wider die Brust des Königs, damit rechnend, dass sie beiseite gelenkt werde und er einen heftigen Rückschlag magischer Kraft erhalten werde, der das Kraftfeld zerbrechen würde, das ihn gefangen hielt. Die Klinge schnitt ohne Widerstand durch den zerbrechlichen Körper des alten Mannes, mit einem Laut, der wie ein leises Seuf zen klang, und trat aus seinem Rücken wieder heraus, mit einem hässlichen Geräusch über den Stein des Altars kratzend. Dickes dunkelrotes Blut quoll aus der Wunde und troff über das schimmernde Metall. Der Vergessene König lächelte, wobei sich die Bleiche Maske sei nen Zügen anpasste, und Garth begriff schlagartig — noch bevor das dumpfe Rumpeln begann —, welches seine Rolle in diesem letzten Ritual gewesen war. Er war von Anfang an dazu bestimmt gewesen, das Schwert des Bheleu in das Herz des Königs in Gelb zu stoßen. Entsetzt starrte er auf die Bleiche Maske. Etwas Unheimliches geschah mit dem Vergessenen König: Sein Blut verflüchtigte sich von dem Schwert, und sein Körper begann durchsichtig zu werden, sich in Luft aufzulösen. Die Maske verschmolz mit dem Fleisch seines Gesichtes, verformte sich; sie legte sich wie eine Haut um den Schädelknochen des alten Mannes und zog sich straff. Der gelbe Umhang des Königs glitt auf, und Garth versuchte zu schreien beim Anblick dessen, was darunter zum Vorschein kam, -473-
aber irgend etwas war mit dem Fluss der Zeit passiert: Er war un fähig, sich normal zu bewegen. Eine Ewigkeit zog an ihm vorüber und durch ihn hindurch, als sein Mund sich öffnete. Der König in Gelb wurde körperlos und schien gleichzeitig zu wachsen und zu schrumpfen, während er sich von Garth in eine unbegreifliche, unmögliche Richtung entfernte. Er war nur noch das verschwommene Zerrbild eines menschlichen Wesens. Der Kopf war ein fleischloser grinsender Schädel, unauflöslich mit der Maske verschmolzen; die Finger waren leuchtende Knochen, sein ganzes Sein war nebelhaft und verschwommen. Und dann war er verschwunden, und Garth stand erstarrt in einem undefinierbaren Etwas aus verzerrter Zeit, auf seinen eigenen Tod wartend. Noch immer hielt er das Schwert des Bheleu mit ausgestreckten Armen vor sich, den Raum aufspießend, den eben noch — oder war es vor einer Ewigkeit? — der Vergessene König ausgefüllt hatte. Und während er dastand und starrte, den Mund noch immer zum Schrei aufgerissen, zerstob die Klinge zu glitzerndem, leuchtendem Staub, und der Stein im Knauf zerbarst in einem Schauer aus funkelnden blutroten Kristallen. Der Griff zerbrö ckelte, und seine Hände waren leer. Er nahm ein tiefes grollendes Rumpeln rings um sich herum wahr. Er fühlte sich in dem Tempel stehen, plötzlich jedes Augen blickes, jedes Vorgangs in seinem Körper bewusst. Er fühlte, wie sein Herz das Blut durch seine Adern pumpte, unendlich lang sam, als liege zwischen jedem Schlag ein ganzes Zeitalter, fühlte, wie seine Muskeln sich kontrahierten, und wartete, dass alles auf hörte, dass er starb.
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Aber es hörte nicht auf. Die Zeit ging weiter, wenn auch unend lich langsam. Er fühlte, wie elektrische Energie um ihn herumwir belte und die Luft knistern ließ. Und dann, mit einem Schlag, war es vorbei — aber er war nicht tot. Er stand in der Höhle, die der Tempel des Todes gewesen war. Sein Mund war zum Schrei geöffnet, aber das Bedürfnis zu schrei en war vorüber. Sein Geist war klar und ruhig. Die Luft war still, und die Kräfte, die sie mit Spannung erfüllt hatten, waren ver schwunden. Das Schwert des Dinges, das sich Gott der Zerstörung genannt hatte, war fort. Der alte Mann, der sich der Vergessene König genannt hatte, war fort. Die seltsame bleiche Maske war fort, und fort war auch das alte Buch, das auf dem Altar gelegen hatte. Nichts war geblieben als eine künstlich ausgeweitete Höhle mit hässlichen, abstoßenden Reliefs an den Wänden. Immer noch war ein dumpfes Rumpeln zu hören. Eine Stimme hinter ihm sprach: »So ist es denn endlich vorüber.«
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Kapitel 29 Garth wirbelte herum, seine Hand fuhr instinktiv zu dem Dolch an seinem Gürtel. In der Tunnelöffnung stand eine alte Frau; sie trug ein schweres Gewand, dessen Farbe nicht auszumachen war in dem trüben ro ten Licht, das die Tempelkammer erhellte — und das, wie Garth jetzt festzustellen glaubte, heller war, als er es in Erinnerung hatte. Er schrieb dies dem verzerrenden Effekt dessen zu, was er soeben durchgemacht hatte. Die Frau lächelte ihn heiter an; sie sah trotz des unheimlichen Lichts völlig harmlos aus, aber Garth konnte ihrem Gesichtsaus druck dennoch nichts Tröstliches abgewinnen. Ihm fiel auf, dass er nicht in der Lage war, ihr Gesicht scharf in den Blick zu bekom men. Ihre Züge schienen ständig zu verschwimmen, während er hinschaute. »Wer bist du?« fragte er. »Ich bin Weida, die Göttin der Weisheit und der Gelehrsamkeit«, antwortete die alte Frau, wobei sie die Arme vor der Brust verschränkte — vielleicht waren sie auch schon verschränkt gewesen; Garth vermochte es nicht zu sagen. Er fragte sich, ob irgend etwas mit seinen Augen nicht stimmte oder ob die seltsamen Ereignisse, die er durchlebt hatte, vielleicht sein Hirn verwirrt hatten. Alles andere sah indes so aus, wie er es in Erinne rung hatte: Die Wände der Kammer schienen so fest und gerade wie eh und je. Das einzige, was verschwommen schien, war die Gestalt der alten Frau. Er entspannte sich ein wenig. Sie mochte vielleicht eine Art von Hexe sein, aber sie war offensichtlich verrückt und wahrscheinlich harmlos. Er vermutete, dass sie eine Überlebende der Seuche war, -476-
die in der Stadt herumgeirrt und dabei aus Zufall in den Tempel geraten war. Die Absurdität ihres Erscheinens empfand er nach dem schrecklichen Erlebnis, das er gerade gehabt hatte, als eine solche Erleichterung, dass er nicht umhin konnte, breit zu lächeln. »Ich bin wirklich Weida«, beharrte die Frau. »Schau.« Sie verschwand. Sein Lächeln verschwand ebenfalls. Dann erschien sie wieder, gleichsam als wüchse sie aus Staub partikeln zusammen. »Ich weiß«, sagte sie. »Das ist ein Trick, den wahrscheinlich jeder einigermaßen gute Zauberer vor ein paar Tagen noch zustande gebracht hätte, aber ehrlich, ich bin wirklich Weida, und ich bin eine der Arkhein, eine der sogenannten nie deren Göttinnen.« »Wenn du eine Göttin bist«, fragte Garth langsam, obwohl er immer noch nicht bereit war, den Gedanken zu akzeptieren, »wieso bist du dann noch am Leben? Sind nicht Bheleu und alle anderen untergegangen? Was sonst könnte es bedeuten, wenn das Schwert des Bheleu zu Staub zerfallen und das Buch der Stille ver schwunden ist?« Und bevor die Frau etwas erwidern konnte, fügte er hinzu: »Und wie kommt es, dass ich noch am Leben bin?« »Wieso sollten wir nicht am Leben sein?« Sie lächelte, und ihr Gesicht leuchtete dabei auf, und einen Augenblick lang war ihm, als sähe er Ao vor sich, eine der Weisen Frauen von Ordunin. Be vor er etwas entgegnen konnte, fuhr sie fort: »Schon gut, schon gut; mach dir nichts draus! Ich weiß, was du denkst — das ist schließlich mein Gebiet. Du dachtest, die ganze Welt würde un tergehen, und alle Götter würden sterben, sobald der König in Gelb sein Ritual vollendet haben würde. Das dachte der König auch. Vielleicht kam er zu der Überzeugung, dass das der Fall sein würde, als ihm zum ersten Mal bewusst wurde, dass er den Tod -477-
dem ewigen Leben vorziehen würde; er konnte den Gedanken, dass irgend etwas nach ihm fortleben würde, nicht ertragen.« Das klang plausibel, aber Garth wandte ein: »Und was ist mit all den Prophezeiungen? Alle stimmten darin überein, dass der Vergessene König bis ans Ende der Zeit leben würde! So lautete das Abkommen, das er mit den Göttern gemacht hatte!« »Dieser Handel war es, der die Orakel und die Propheten täuschte. Der Handel wurde in gewisser Weise auch erfüllt, und der Vergessene König lebte tatsächlich bis ans Ende der Zeit. Das Problem liegt in der genauen Bedeutung dieses Begriffs. Du darfst ihn nicht im Wortsinn verstehen, sondern musst ihn im göttlichen Sinne sehen. »Zeit« steht hier nicht für das gewöhnliche Abstrak tum, wie die Sterblichen es verwenden, sondern es bezeichnet einen Namen, den Namen eines Gottes. Nicht »das Ende der Zeit« ist also gemeint, sondern »das Ende DER ZEIT«. Der König konn te so lange nicht sterben, wie die Götter, die ihm Unsterblichkeit verliehen, noch lebten – und zwar alle drei. Nicht der Todesgott allein war es, der ihm ewiges Leben gab, auch nicht der Tod und das Leben im Verein, sondern der Tod, das Leben und DIE ZEIT – jener Gott, den du als Dagha kanntest. Es war Dagha-ZEIT, wel cher die Herren von Eîr und Dûs schuf, die ihrerseits die Welt er schufen und alles, was in ihr ist – einschließlich mich und, indi rekt, auch dich. Und es war Dagha, der endete, als der König sei nen Zauber vollendete.« Garth setzte sich einen Moment lang mit dieser Neuigkeit aus einander, dann fragte er: »Aber wie kann die Welt existieren, wenn die Zeit nicht mehr existiert? Wie kann ich mich bewegen? Wie können wir miteinander sprechen?« »DIE ZEIT existiert noch; es ist Dagha, der nicht mehr ist. Dagha erschuf die Zeit, aber bedeutet das notwendigerweise, dass die zwei zusammen untergehen müssen? Wenn ein Zimmermann
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stirbt, müssen dann alle Häuser einstürzen, die er gebaut hat? Wir sind mehr als die Träume der Götter; auch wenn sie die Welt er schufen, so hat sie doch eine eigene Existenz. Dagha selbst hat dies missverstanden; er war unfähig, zu begreifen, dass unsere Welt weiterbestehen würde, nachdem die vierzehn Götter, die sie er schufen, zu sein aufgehört hatten. « »Die vierzehn Götter sind also wirklich untergegangen?« »O ja; sie besaßen keine wirklich unabhängige eigene Existenz. Sie waren vielleicht eigentlich nicht so sehr Daghas Träume als vielmehr Teile seiner selbst — Begriffe, die Dagha von sich selbst abgespalten hat. Sie konnten nicht ohne Dagha weiterexistieren; jeder oder jede von ihnen verschmolz mit seinem oder ihrem Gegenpart und kehrte in das Nichts zurück, das sie hervorge bracht hatte.« Garth dachte darüber nach. »Aber wie kommt es dann«, fragte er, »dass du noch existierst, da du doch eine Göttin bist?« Er be gann allmählich der Behauptung der Frau, dass sie eine Göttin sei, Glauben zu schenken; ihr Wissen um das Ende des Königs und die ruhige Sachlichkeit, in der sie ihre Erklärung vortrug, vertrugen sich nicht mit seiner Vorstellung von einer verrückten Hexe. »Mich erschuf Dagha nicht aus dem Nichts, Garth; das taten Leuk und Pria. Dagha, selbstbesessen und in sich selbst abge schlossen, konnte nicht direkt etwas erschaffen, das ein eigenes unabhängiges Leben haben konnte, aber die Fragmente, die er von sich abspaltete und denen er Namen gab, waren nicht so beschränkt, waren sie doch selbst schon unvollkommen und un ausgewogen. Dagha schuf auch nicht die Welt oder Lebewesen wie dich; das taten wiederum die vierzehn Wesenheiten, die Dag ha geschaffen hatte. Wir alle wurden erschaffen von den Herren von Eîr, und Dagha glaubte, dass wir alle vernichtet würden von
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den Herren von Dûs — aber in dem einen Punkt irrte sich Dagha. Sein Herumspielen mit der Schöpfung zerstörte das Gleichge wicht. Ich war jedoch, ehrlich gesagt, nicht sicher, wieviel von un serer kleinen Welt heil durchkäme.« Eine plötzliche kalte Ungewissheit kroch in Garths Gedanken. »Wie viel ist durchgekommen?« Er hatte plötzlich die entsetzli che Vision, außerhalb der Tempelkammer nichts als leeren Raum vorzufinden; womöglich war nichts am Leben geblieben außer ihm und dieser merkwürdigen selbsternannten Göttin. »Oh, fast alles; du brauchst keine Angst zu haben, Garth. Ein paar Sterne mögen vielleicht fehlen, ein paar Dinge im Räderwerk der Welt mögen sich verändert haben, aber im großen und ganzen, Garth, ist alles beim alten geblieben.« »Bist du sicher?« »Aber ja! Ich bin eine Göttin, Garth, noch dazu die Göttin des Wissens. Ich weiß sehr viel. Wir sind nicht allein. Die Welt ist ge blieben, wie sie war; die meisten Leute haben wahrscheinlich überhaupt keine Veränderung wahrgenommen, abgesehen vielleicht von einem kurzen Moment der Benommenheit oder des Schwindels.« »Und du hast gewusst, dass die Welt überleben würde?« »Nun, wie ich bereits sagte, selbst ich war bis zu diesem Moment nicht ganz sicher.« »Wie konntest du wissen, was die anderen, größeren Götter nicht wussten?« »Weil ich bin, was ich bin, Garth, die Göttin der Weisheit. Ich durchschaute die Täuschungen und Halbwahrheiten, die Dagha benutzte, um sich und seine Teilgottheiten zum Narren zu halten. Ich wusste von Anbeginn an, dass er sich zuviel zugemutet hatte mit der Erschaffung unserer Welt, mit der Erschaffung von etwas, -480-
das so fern von ihm selbst war.« Sie lächelte schief, und für einen Moment schien ihr Gesicht fest und normal. »Ich muss jedoch ge stehen, dass ich meine Zweifel hatte. Ich sah den Plan der Zeit, den Dagha aufgestellt hatte, sah, wie sauber und exakt die Welt ihrer festgelegten Bahn folgte, und befürchtete, dass vielleicht doch alles so enden würde, wie Dagha es geplant hatte. Erst als du vor drei Jahren Bheleu die Gefolgschaft verweigertest und da durch das Zeitalter der Zerstörung abkürztest, konnte ich sicher sein, dass das von Dagha festgelegte Schema durchbrochen war. Dieser Akt war es, mehr als jeder andere in all den fünfzehn Zeit altern, der die Welt aus ihrer vorherbestimmten Bahn warf und ihr Fortleben nach dem Verschwinden ihrer Schöpfer sicherstellte. Du hast das gesamte kosmische Gleichgewicht zerstört, Garth, in dem du dem Leben den Vorrang vor dem Tod gabst.« Garth hatte erhebliche Schwierigkeiten, den Ausführungen der Göttin zu folgen. »Aber wieso unterscheidest du dich von den anderen Göttern? Haben alle niederen Götter, wie immer sie nun genannt werden, überlebt?« »Wir werden die Arkhein geheißen, Garth, und ich bin noch nicht sicher, ob wir alle überlebt haben. Einige von uns waren sehr eng mit unseren Schöpfern verbunden; andere, wie zum Beispiel ich, waren unabhängiger. Ich bin nicht an die Zeit gebunden, die Dagha kontrollierte. Die Eîr und die Dûs folgten alle ihrem vor herbestimmten Plan, ohne jede Mitsprache in ihrer eigenen Existenz; jeder von ihnen regierte ein Zeitalter, fest eingebunden in das Schema, das Dagha festgelegt hatte. Die Reihenfolge der Zeitalter wurde festgelegt nach dem Beginn und dem Wesen jedes einzelnen von ihnen. Jedes von ihnen hatte seine Regeln, Symbole und Totems und seine genau festgelegte Dauer; all dies war Teil des hübschen Plans, den Dagha für seine kleinen Schöpfungen
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entworfen hatte. War ein Zyklus zu Ende, dann war auch der zu Ende, der ihn regierte. Die Arkhein aber waren kein Bestandteil dieses großen Plans. Uns stand es frei zu tun, was uns beliebte — zumindest den meisten von uns. Dagha hatte uns nicht erschaffen, kontrollierte uns nicht und hatte keinen Platz für uns in seinem großen Entwurf. Er hatte die Welt nicht geschaffen, und er lenkte sie nicht; bestimmt kennst du so viel von der Theologie, um zu wissen, dass niemand sich die Mühe gab, zu Dagha zu beten, da er nie irgend etwas Gutes getan hat.« »Ja, das wusste ich«, sagte Garth. »Garth, wenn dich das alles so verwirrt, dann zermartere dir nicht den Kopf über das Warum und Wieso. Nimm die Situation einfach so hin, wie sie ist. Die fünfzehn höheren Götter sind tot, aber die Welt besteht fort. Wir alle sind jetzt frei, treiben sozu sagen dahin. Es gibt keine vorherbestimmten Zeitalter mehr — du hast das Fünfzehnte Zeitalter in den drei Minuten überlebt, die die höheren Götter brauchten, um zu sterben. Nichts ist mehr festge legt; nichts ist mehr vorherbestimmt. Du bist nicht länger der Aus erwählte des Bheleu, sondern nur noch ein ganz normaler Über mann. Es gibt keinen Bheleu mehr.« Garth dachte über diese Worte nach, gebannt Weidas ständig sich verändernde Gesichtszüge beobachtend. Das Rumpeln wurde lauter, und er spürte, wie ihm der Boden unter den Füßen bebte. Das rote Licht schien immer heller zu werden. »Was ist das für ein Rumoren?« fragte er. »Es scheint während des Zaubers des Königs angefangen zu haben.« »Das ist der Vulkan. Dûsarra wurde, wie du weißt, auf einem aktiven Vulkan erbaut, und die Priester der sieben dunklen Götter brachten ihn mit einem großen Zauber zum Schweigen. Nun sind die Götter tot, und der Zauber, der sich aus ihrer Macht speiste, verliert seine Wirkung. Höhere Theurgie ist eine sterbende Kunst -482-
— und uns Arkhein hat niemand je groß angerufen. Die meiste Magie nahm die höheren Götter in Anspruch, sei es die Eîr oder die Dûs; und als sie starben, ging ihre ganze Magie mit ihnen. Alle ihre Totems sind während des Fünfzehnten Zeitalters verbrannt; man könnte es das letzte Todesröcheln der fünfzehn Götter nennen. Drei von ihnen hast du selbst verbrennen sehen. Und da die Magie erloschen ist, ist der Vulkan nun seiner Fesseln ledig; er wurde unterdrückt seit der Gründung Dûsarras im Achten Zeit alter, daher vermute ich, dass er jeden Moment ausbrechen wird. Diese Höhle ist einer seiner alten Schlote; sie wird sich wahr scheinlich sehr rasch mit Lava füllen.« Garth wandte sich um und starrte besorgt auf den immer heller werdenden roten Lichtschein. »Würden wir dabei nicht beide um kommen?« fragte er. »Oh, du schon, aber um eine Göttin zu töten, dazu braucht es schon mehr als einen simplen Vulkan.« Der Übermann drehte sich wieder um, wütend und empört — und erleichtert, als er merkte, dass der Zorn, den er spürte, gänz lich sein eigener war, ungetrübt und unverfälscht von Bheleus bösartigem Einfluss. Es war ein sauberer, reiner Zorn, anders als die brodelnde perverse Wut, die die Macht des Gottes so oft erzeugt hatte. »Warum hast du mich nicht eher gewarnt?« fragte er. »Warum sollte ich? Was schert es mich, ob ein Übermann stirbt?« »Wenn es dir so egal ist, was mit mir passiert, warum bist du dann hier? Warum hast du dich dann herabgelassen, mir zu er scheinen und mit mir zu sprechen?« »Ah, ich sehe, du hast mich durchschaut, Garth. Ja, es inter essiert mich, zumindest ein bisschen. Ich wollte das Feuerwerk erleben, das Ende unserer alten Ordnung. Ich wollte mit dem -483-
Sterblichen sprechen, der daran beteiligt war, und ihm gratulieren für die Rolle, die er bei alldem gespielt hat. In erster Linie aber war es die Neugier, die mich hierher trieb; sie ist eine unerlässli che Voraussetzung der Weisheit. Nur wer neugierig ist, lernt. Deshalb bin ich allein hier, als einzige von allen Arkhein. Aber das ist jetzt alles vorbei, und es ist nicht das Amt einer Göttin, einen Sterblichen allzu sehr liebzugewinnen. Schließlich und endlich musst du doch sterben — und habe ich dich nicht doch noch ge warnt?« Garth hörte, wie das Rumpeln lauter wurde, und der steinerne Boden der Tempelkammer wurde von einem heftigen Erdstoß er schüttert. Er warf erneut einen Blick auf den roten Feuerschein, der jetzt wieder schwächer geworden zu sein schien. »Du hast nur noch wenige Minuten, Garth«, sagte die Göttin. »Einen Moment noch«, sagte Garth. »Wenn der Gott des Todes nicht mehr existiert, kann ich dann überhaupt noch sterben?« Er fragte sich, ob die Göttin (vorausgesetzt, sie war tatsächlich eine solche) sich vielleicht auf seine Kosten amüsierte. Konnte es sein, dass er unbeabsichtigt Unsterblichkeit erlangt hatte, nicht nur für sich, sondern für die ganze Welt? »Der alte Gott des Todes, der Gott-Dessen-Namen-Man-NichtAussprach, der ein Herr von Dûs und ein Teil von Dagha war, ist nicht mehr, aber das bedeutet nicht, dass es keinen Tod mehr gibt. Einen Tod muss es immer geben. Wir haben jetzt einen neuen Gott des Todes, einen, den du erschaffen halfst.« »Was?« »O ja, gewiss! Du hast doch den König in Gelb nicht sterben se hen, nicht wahr? Du hast ihn angesehen; er veränderte sich und entrückte deiner Wahrnehmung, aber er starb nicht. Er verschmolz mit der Bleichen Maske, nahm die Macht an, die ihr innewohnte, und wurde der TOD selbst. Du sahst es geschehen.« -484-
Garth erinnerte sich mit Grauen an das, was er unter dem Ge wand des Königs in Gelb gesehen hatte, und wusste, dass Weida — wenn es wirklich Weida war — die Wahrheit sprach. Eine per verse Schadenfreude über kam ihn, und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Dann ist er am Ende gar nicht gestorben? Sein großer Zauber war vergeblich?« »Vergeblich kaum, Garth. Der menschliche Teil von ihm ging unter, und Yhtill von Hastur ist nicht mehr. Der König in Gelb besitzt keine materielle Existenz mehr, aber er existiert dennoch weiter, als Verkörperung der Macht und des Begriffs des Todes.« Ein halbes Dutzend weitere Fragen kamen Garth in den Sinn, als er hierüber nachsann, aber das Rumpeln wurde jetzt immer stär ker, ergänzt durch ein tiefes langsames Mahlen, und der Über mann entschied, dass dieses Thema jetzt erst einmal nebensächlich war. Er wandte sich um und rannte zum Ausgang. Ob Weida zur Seite trat, um ihn vorbeizulassen, oder ob er durch sie hindurchlief, vermochte er nicht zu sagen. Verwirrt stol perte er gegen die Wand des Ganges und blickte zurück. Die Frau – oder das Bild, oder die Göttin, oder was immer es ge wesen war, war verschwunden. Ihre Stimme jedoch war noch da. »Ich glaube, du musst dich sputen, Übermann!« rief sie. Garth wandte den Blick wieder nach vorn und lief weiter. Im Laufen fragte er laut: »Wie kommt es, dass du leibhaftig vor mir in dieser Höhle erschienst? Keiner der anderen Götter, mit denen ich je zu tun hatte, ist mir auf solche Weise erschienen, weder Aghad noch Bheleu. Bheleu konnte nur in Visionen zu mir sprechen.« »Sie waren Dûs, Garth, und nicht mit dieser Welt verbunden, wie wir Arkhein es sind«, sagte die Stimme leise, dicht neben sei nem rechten Ohr.
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»Nun, wenn die Arkhein, wie du sagst, sich – anders als die Eîr und die Dûs – leibhaftig manifestieren können, wie kommt es dann, dass ich davon noch nie gehört habe?« »Die Regeln sind jetzt andere«, antwortete die Stimme. »Wir wurden durch Daghas Regeln eingeschränkt, unterdrückt durch die Macht der höheren Götter, während wir gleichzeitig einen großen Teil unserer Macht aus ihnen schöpften. Doch nun sind die Dinge anders. Alles ist anders. Selbst ich vermag das ganze Aus maß der Veränderungen noch nicht zu überblicken; ich war noch nie zuvor so frei und habe noch keine Zeit gehabt zu erfahren, was diese Freiheit bedeutet.« Ein heftiger Erdstoß lenkte Garth von dem Gespräch ab; er tau melte, fing sich und rannte weiter durch den dunklen Gang, froh, dass es keine Gabelungen gab, wo er sich hätte verlaufen können. Weiter voraus, am Ende des Ganges, gewahrte er einen fahlen grauen Schimmer; er beschleunigte seinen Schritt, und als er näher kam, sah er, dass es das erste blasse Licht der Morgendämmerung war.
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Kapitel 30 Die Aghaditen hatten Frima nicht nur gefesselt und geknebelt, sondern ihr auch die Augen zugebunden, und so konnte sie nicht sehen, was ihren Peinigern widerfuhr. Sie hörte ein tiefes Rum peln, dann ein Krachen, und dann das ohrenbetäubende Brüllen eines wütenden Kriegstiers, gefolgt von gellenden menschlichen Todesschreien. Die Hände, die sie festgehalten hatten, lösten sich von ihr, und sie schlug schwer auf den Boden und stauchte sich den Ellbogen auf dem harten Stein. Sie versuchte zu schreien, aber der Knebel erstickte ihre Stimme. Verzweifelt wand sie sich am Boden in dem Versuch, sich von ihren Fesseln zu befreien. In den kurzen Intervallen zwischen den ohrenbetäubenden Schreien des Kriegstiers und den spitzen gellenden Schreien seiner Opfer hörte sie peitschende Geräusche und das Schaben von Stein gegen Stein. Mindestens einmal vernahm sie ein knirschendes, knackendes Ge räusch, das eindeutig das Geräusch splitternder Knochen war. Et was Warmes, Nasses spritzte ihr über die Beine, die aus ihrem Ge wand herausschauten. Schließlich, als das Brüllen fast über ihr zu sein schien, ver stummten die Schreie. Dann hörte auch das Brüllen auf, und sie vernahm ein hartes, nichtmenschliches Atmen. Etwas Klebriges, Unangenehmes tropf te ihr aufs Gesicht. Sie schaffte es, eine Hand freizubekommen, und dankte Tema und den anderen Göttern, dass sie ihr so kleine zarte Hände ge schenkt hatten. Saram hatte sie mehr als einmal bewundert. Mit einer Mischung aus Hoffnung und Angst streifte sie sich die Binde von den Augen.
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Koros schaute sie an; seine goldenen Augen hatten einen selt samen Glanz in dem fahlen Dämmerlicht, das in den Tunnel si ckerte. Sie sah, dass hinter dem Kriegstier eine breite Bresche in der Tunnelwand klaffte: Koros war es offenbar gelungen, sie auf zuspüren und ihr zu Hilfe zu eilen, und dabei hatte er sich von nichts aufhalten lassen. Dieser Moment des Begreifens schien sich unendlich in die Länge zu dehnen; die Zeit stockte, und sie hatte das Gefühl, eine Ewigkeit in Koros‘ goldene Augen zu starren. Dieses Erlebnis war schrecklicher als alles, was die Aghaditen ihr hätten antun können; das Durchleben dieser dreiminütigen Spanne verzerrter, zerdehnter Zeit war etwas, das völlig außerhalb ihrer Erfahrung und ihres Begriffsvermögens lag, und sie war überzeugt, dass das Universum zum Stillstand gekommen war, dass sie starb oder bereits tot war. Sie konnte an nichts anderes denken als den Tod, einen Tod, der so unendlich anders war als das Leben, wie sie es gekannt hatte. Dann, mit einem Schlag, kehrte die Zeit zu ihrem normalen Fluss zurück. Sie riss sich den Knebel aus dem Mund und schluchzte unendlich erleichtert: »Koros!« Das Kriegstier erwiderte die Begrüßung mit einem Knurren, und erst jetzt sah Frima, dass er über einem ausgeweideten menschlichen Körper stand, und dass die Substanz, die ihr ins Gesicht tropfte, Blut war, das vom Maul des Tieres heruntertroff. »Bring mich hier raus!« schrie sie. Sie wusste immer noch nicht, was geschehen war; sie wusste nur eines: Sie wollte so schnell wie möglich weg von dem zerfetzten Aghaditen, weg von dem Ort dieses letzten grauenvollen Erlebnisses. Koros schien zu verstehen; er ging rückwärts durch die Bresche, die er in die steinerne Wand des Verstecks gerissen hatte, achtlos über die zerfetzten Leichen trampelnd. -488-
Frima beugte sich vor und nestelte an den Schnüren, mit denen ihre Fußgelenke gefesselt waren; nach einigem Zerren gelang es ihr, sie zu lösen. Sie raffte sich mit einiger Mühe auf, rieb sich die schmerzenden Glieder und wankte mit zitternden Knien hinter dem Kriegstier her auf die Straße der Tempel, ins Licht der Morgendämmerung. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass das Rumpeln, das sie gehört hatte, immer noch da war, sogar lauter zu werden schien. Sie hatte geglaubt, dass es von irgendeiner Maschine der Aghaditen her rührte, und ihm keine weitere Beachtung geschenkt, aber jetzt merkte sie, dass es aus der Erde unter ihren Füßen kam und dass der Boden bebte. Das gefiel ihr ganz und gar nicht. Sie war unschlüssig, was sie tun sollte; sie wusste nicht, wo Garth steckte, ob er noch immer im Tempel des Todes war. Sie stand da, spähte unentschlossen hierhin und dorthin und versuch te, irgendeine Entscheidung zu treffen. Sie wollte gerade den Versuch unternehmen, Koros irgendwie dazu zu bringen, seinen Herrn für sie zu suchen, als Garth im Laufschritt aus den Schatten des Höhleneingangs auftauchte. Sie stieß einen Jubelschrei aus, glücklich, ihn lebend und wohlbehal ten zu sehen, und bemerkte, dass er das Schwert des Bheleu nicht bei sich trug. Sie öffnete den Mund, um ihn nach dem Verbleib der Waffe zu fragen, von der Sorge erfüllt, dass es womöglich in falsche Hände geraten war. Garth nahm das gar nicht wahr; er blieb jäh stehen, verblüfft, sie lebend zu sehen, entdeckte Koros und schrie: »Aufgesessen! Rasch!« Verwirrt gehorchte Frima; sie hatte gelernt, sich auf keine De batten einzulassen, wenn Garth ihr in einem so dringenden Ton direkte Anweisungen gab. Mit immer noch ungelenken Bewe gungen kletterte sie auf den Rücken des Kriegstiers. -489-
Einen Wimpernschlag später saß der Übermann hinter ihr und rief ein Kommando in Koros‘ Ohr. Das Kriegstier antwortete mit einem tiefen Knurren, tat einen mächtigen Satz vorwärts und stürmte mit höchster Geschwindigkeit in Richtung Stadttor los. Es schien weder von seinen jüngsten Verletzungen beeinträchtigt noch von den beiden Armbrustpfeilen, die immer noch aus seiner Schulter ragten. Den Pfeil, der in der Tatze gesteckt hatte, hatte Koros sich selbst herausgezogen; er hatte eine eiternde Wunde hinterlassen. Während der folgenden Minuten hatte Frima alle Hände voll da mit zu tun, sich festzuhalten, während Koros mit unvorstellbarer Geschwindigkeit durch die verlassenen Straßen Dûsarras jagte. Das Rumpeln schwoll an und wurde tiefer, und Frima konnte fühlen, wie die Erde bebte, wann immer die Tatzen des Kriegstiers sie länger als einen winzigen Moment berührten. Die Luft war heiß und trocken geworden, und sie war erfüllt von Geräuschen und Vibrationen; schwarzer Staub stieg vom Boden auf und rieselte von den Häusern zu beiden Seiten der Straße. Irgend et was Schreckliches war im Gange, aber sie wusste nicht, was es war. Ein riesiger Spalt tat sich vor ihren Augen in der Straße auf, und ein steinernes Gebäude direkt zu ihrer Linken krachte donnernd in sich zusammen; unbeeindruckt flog Koros mit einem Riesensatz über den Spalt hinweg und jagte weiter. Das Zittern der Erde schi en ihm nicht das geringste auszumachen. Als er die offene Fläche des Marktplatzes gewann, steigerte er seine Geschwindigkeit noch einmal, und Frima musste die Augen zumachen und sich tief über den Hals des Tieres beugen, um nicht vom schieren Fahrtwind heruntergefegt zu werden.
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Und dann stürmten sie durch das zerborstene Stadttor, und Ko ros flog mit Riesensätzen den langen Hang aus uralter schwarzer Lava hinunter. Schließlich, als sie den Hang weit hinter sich gelassen und die Straße gewonnen hatten, die nach Osten in Richtung Weideth führte, beugte sich Garth vor und versetzte Koros einen leichten Klaps auf die Flanke. Das Kriegstier wurde langsamer und fiel in einen hinkenden Schritt. Es atmete schwer und ließ ermattet den Kopf hängen. Selbst seine ungeheure Kraft war nicht unerschöpf lich. Frima richtete sich zu einer sitzenden Position auf und spähte unter Garths Arm hindurch zurück auf ihre Heimatstadt. Eine dicke schwarze Rauchsäule stieg von Dûsarra auf, von der ganzen Stadt, wie als wären die schwarzen Mauern der Rand eines riesigen Schornsteins; ein flackerndes orangefarbenes Licht erhellte den Himmel. Auch aus dem Krater oberhalb der Stadt quoll schwarzer Rauch. Frima sah, wie einer der Tempeltürme wankte und einstürzte. Das Rumpeln war jetzt zu einem wü tenden Tosen angeschwollen, aber es war beruhigend weit ent fernt. Niemand kam aus dem Stadttor. Sie hielt den Blick eine Weile darauf gerichtet, jeden Moment eine fliehende Menschenmenge erwartend, aber nicht eine Menschenseele erschien. Statt dessen sah sie, wie plötzlich die Mauern zu beiden Seiten des Tores zu wanken begannen und nach innen stürzten. Wo sie gestanden hatten, quoll etwas Rotes und Glühendes aus dem Erdboden her vor, und endlich begriff sie, dass der Vulkan zum Leben erwacht war und Dûsarra verschlang. Garth blickte zurück auf die zerfallende schwarze Stadt und die Lava, die sie überrollte und unter sich begrub. »Das dürfte dann wohl das Ende des Aghad-Kults gewesen sein«, sagte er. »Glaubst du, dass sie alle in der Stadt sind?« fragte Frima. -491-
Garth zuckte die Achseln. »Jedenfalls genug von ihnen, dass der Kult sich nie wieder erholen wird. Ihr Gott ist tot, und ihre Tem pel sind zerstört; der eine oder andere mag vielleicht überlebt haben, aber das soll mich nicht weiter kümmern.« Nun, da das Schwert des Bheleu ihn nicht mehr trieb, war er nicht länger von dem Gedanken besessen, den Kult bis auf den letzten Mann auslö schen zu müssen. Er hatte seine Rache. Frima schaute einen Moment verwirrt in das ledrige nasenlose Gesicht des Übermannes, dann wandte sie den Blick wieder auf ihre sterbende Heimatstadt. Sie begriff nicht, wie Garth das meinte, was er da eben von Aghad gesagt hatte; Götter starben nicht, sagte sie sich. Auch ihr Rachedurst war gestillt. Sie war bereit, ein neues Leben anzufangen. Außerdem verstärkte sich in ihr mehr und mehr der Verdacht, dass sie schon bald nicht nur für ihr eigenes Leben Verantwortung würde tragen müssen; inzwischen waren es nicht mehr nur ihre Anfälle von Übelkeit, die darauf hindeuteten, dass sie ein Kind unter dem Herzen trug. Der Gedanke erfüllte sie mit Freude. Sie wandte den Blick von Dûsarra ab und schaute nach Osten, der Morgensonne entgegen.
E N D E
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