Ian weiß nicht, weshalb er verhaftet wird. Wie in Kafkas »Prozeß« bei Josef K., tauchen die Vollstrecker einer anonymen...
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Ian weiß nicht, weshalb er verhaftet wird. Wie in Kafkas »Prozeß« bei Josef K., tauchen die Vollstrecker einer anonymen Staatsgewalt eines Tages in seiner Wohnung auf, um ihn, ohne Angabe von Gründen, abzuführen. Er wird aus einer Gruppe von Freunden herausgerissen, darunter Adam und Catherine, mit denen er in einer komplizierten menage-à-trois verbunden ist und die beide, wie sich später herausstellen wird, an Ians Verhaftung nicht unbeteiligt gewesen sind. Man verschleppt ihn in das Lager Null, Vollzugsanstalt eines namenlosen Landes unter Militärherrschaft. Auf dem Weg dorthin begleitet ihn der gleichaltrige Wachsoldat Andrei, und es gelingt Ian, diesen für sich zu gewinnen und mit einer Botschaft zu Catherine zu schicken. Ein zweiter Verrat ist vorprogrammiert, denn Andrei nimmt jetzt lans Platz bei der Geliebten ein... Das Lager Null erweist sich als ein Ort des Todes, wo gesichtslose Wachmannschaften ihre Opfer wie Schlachtvieh zum Schafott führen. In der Nacht, in der Ian getötet werden soll, gelingt ihm jedoch die Flucht, und es beginnt eine Odyssee der Einsamkeit und der Verfolgung, die ihn zum Eremiten macht und durch unbewohnte Landstriche führt, vorbei an fernen Dörfern, deren Menschen er meiden muß,
Éric Jourdan
Das Brot der Liebe Roman Aus dem Französischen von Bettina Wiengarn
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaumahme Jourdan, Éric: Das Brot der Liebe: Roman / Éric Jourdan. Aus dem Franz. von Bettina Wiengarn. – Hamburg: Kellner, 1993 Einheitssacht.: Charite ‹dt.› ISBN 3-927623-29-6
Die Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel »Charite«, © Editions du Seuil, 1991 © Copyright der deutschen Ausgabe by Kellner GmbH & Co Verlag KG, Hamburg Alle Rechte vorbehalten 1.-3. Tausend, April 1993 Umschlaggestaltung: Britta Lembke, Hamburg Satz: Die Letter, Neustadt/Weinstraße Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck ISBN 9-927623-29-6
Darum wendet Euch lieber an Euch als an Eure Götter oder Götzen. Bringt aus Euch heraus, was in Euch steckt, bringt's zu Tage, bringt Euch zur Offenbarung. Max Stirner
1. Das Brot wurde zur Obsession. Er hätte alles gesagt, egal was, wenn man ihm ein Stück hingehalten hätte. Aber er hatte ja auch so schon alles gesagt: daß er nichts glaube, daß er den Mann niemals gesehen habe. Man ließ ihn schließlich auf einer gelben Holzbank zurück, im Korridor. Alles andere war grau: die Wände, die Leute in Uniformen – anders konnte man das, was sie anhatten, nicht nennen –, die vorbeigingen, und selbst die durch die Türen dringenden Geräusche, so als würden sie deren Farbe annehmen. Warum Brot? überlegte er. Vermutlich, weil der Mann hinter dem Tisch davon gesprochen hatte wie von einer kostbaren Lieferung – das waren seine eigenen Worte –, mit einem Auflachen, das sich dreckig auf dem ausdruckslosen Gesicht des namenlosen Sekretärs widerspiegelte, der Papiere zum Unterschreiben brachte. Die beiden dort hätte er gern mit den Köpfen aneinandergeschlagen. Draußen ging ein roter, glühender Herbstnachmittag zu Ende, die purpurfarbene Sonne stand in den flammenden Bäumen, doch von diesem Zimmer aus sah man nichts; das fleckige Rollo war fast ganz heruntergezogen, und der Schatten des Fensterkreuzes zeichnete sich darauf ab. Das Wort BROT hatte ihn daran erinnert, daß er seit dem Morgen des Vortags nichts mehr zu sich genommen hatte, und da er vor den Seminaren nur eine Tasse Tee hinuntergoß, hatte er Hunger. Normalerweise aß er kein Brot, es war, wie er damals sagte – damals war gestern –, nicht sein Stil; Brot war gleichbedeutend mit dem einfachen Volk, mit dem Bürgertum, es war alles mögliche, aber nichts für einen freien Studenten, der sich auf englische Art ernährte. 9
Auf der Bank begann er an seine Junggesellenwohnung zu denken. Was konnten sie dort gefunden haben? In rasender Geschwindigkeit defilierten die Schränke an seinem inneren Auge vorbei. Wahrscheinlich hatten sie den Telegrammentwurf an den Bürgermeister der Stadt K. in den Händen: »Lieber Pierre, herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, möge Champagner dich überfluten...«, die Briefe seines Großvaters, des Generals und altersschwachen Helden, die Liebesbriefe von Mädchen aller Art, braunen und blonden, wahren und falschen, die aber alle jener Jeunesse dorée angehörten, für die außerhalb ihrer Wünsche und Launen nichts zählt. Seine Gedanken gingen in alle Richtungen, und er mußte sie gewaltsam auf die gegenwärtige Situation zurücklenken. Die Ungeduld nagelte ihn auf diese Bank, doch unter seiner Haut brodelte sie, denn sie zwang ihn ruhig zu bleiben, wie damals, als Adam ihm die Zügel seiner Jagdhunde zuwarf und er sie mit solcher Kraft zurückhielt, daß sie ihm die Hand verdrehten. »Laß sie doch laufen«, sagte der Junge, »du schnürst ihnen den Geruchssinn ab, du erwürgst sie, meine armen Babys«, aber die gebändigten Hunde rührten sich nicht mehr von der Stelle. »Du hast sie verhext, wie du's mit allen machst.« Adam sah ihn an und lachte. Es gab Fotos: aber bitte, welche Mädchen mit nackten Brüsten hatten die Militärpolizei je in Schrecken versetzt? Denn es konnte nur die Militärpolizei sein, da er vor kurzem – in aller Freundlichkeit – einen militärischen Grad und einen Posten von einigen Monaten in einem Ministerium zurückgewiesen hatte. Mit zweiundzwanzig Jahren konnte man es sich wohl leisten, seine Studien frei fortzusetzen und Frivolitäten dieser Art auf später zu verschieben. Der Großvater war bisher ein überaus nützlicher Schutzschirm gewesen, aber es war deutlich, daß sie irgend etwas wollten. Ihm Angst machen? Verschiedenste Möglichkeiten jagten in raschen Bildern durch sein Bewußtsein. Ein Witz? Er hätte nicht länger als einen Tag gedauert. Auch nicht die Eifersucht eines Mädchens, und welche 10
Familie hätte in Machenschaften solcher Tragweite eingewilligt? Eine Warnung. Warum? Um seine Sorglosigkeit ins Wanken zu bringen? Aber er tat doch alles, um seine Ruhe zu haben, er schickte die notwendigen Telegramme, in denen er alle möglichen Leute beglückwünschte, mit ihren Trauerfällen weinte und sich über die Geburten und Erfolge in den Familien freute. Was also? Mit dem Schatten, der nach und nach in den Korridor drang, kam auch das Mysterium immer näher. Die Stunden vergingen, er war auf der Bank vergessen worden, und da niemand mehr aus den Büros heraustrat, streckte er sich achtlos darauf aus. Sofort öffnete sich eine Tür, und ein grauer Mann brüllte etwas. Er hatte kaum Zeit sich aufzurichten, als er schon zu Boden geworfen wurde. Zwei Männer trugen die Bank fort, und er blieb allein im leeren Korridor zurück. Er hatte keine Angst, aber das Wort BROT geisterte erneut in seinem Kopf herum. Dies war gewöhnlich die blaue Stunde, die Stunde der glänzenden Augen und des Champagners, den man trank, um für den ganzen Abend in Form zu sein. Er erinnerte sich daran, was er einige Tage zuvor gesagt hatte: »Die Gewohnheiten sind Idioten«, und die ganze Gruppe hatte das Glas erhoben »auf die geliebten Idioten von Ian«. Die Gruppe! Es genügte ein Zwischenfall wie der von gestern – zwei Männer, die einen vor dem Universitätsportal inmitten aller Freunde anrufen –, und schon zerbarst sie wie in den Wäldern gefällte Bäume, deren Form plötzlich nicht mehr existiert. Ian? Wer ist Ian? Nein, nicht einmal »Wer ist«, sondern »Wer war Ian?« »André, erinnerst du dich etwa? – Nein, und du, Adam, mit deinen weichen Pelzmänteln und all deinen Hunden? Ian – vielleicht hieß früher einmal eines deiner Tiere so, die du am meisten mochtest.« Früher, das war gestern morgen. »Und du, Catherine, du, Catherine der Träume und Catherine der Nacht? – Ich kenne diesen Jungen nicht...« Die Schatten des Korridors wurden länger, krochen auf Ians Füße zu, und in seinem Kopf entfernten sich die Schatten der Freunde wie in einem Zug die von der Geschwindigkeit abgeflachte Landschaft. Würden sie ihn die ganze Nacht in dem Flur überwachen? Keine seiner Fragen war beantwortet worden; ihre übrigens genausowenig. Vielleicht hätte er das Spiel besser spielen müssen, aber 11
ihre Fragen waren zu simpel und an ein Rätsel gebunden, das er nicht erriet. Etwas an den Tatsachen vorbei zu antworten schien eine gute Lösung und wurde nach kurzer Zeit leicht. »Hast du diesen Mann gesehen?« Die Farben des Fotos waren schlecht, und Ian rätselte, warum er das Gesicht nicht kannte, während das Haus im Hintergrund ihn an jemand anderen erinnerte. »Ich achte nur auf Frauen. Die Männer sind zwar da, aber ich sehe sie nicht. Sie sind Dekor, ein Punkt, mehr nicht.« »Gehst du jeden Tag ins Café Schubert?« »Entweder ich gehe, oder ich gehe nicht. Wie Sie, nicht wahr?« »Dein Café Schubert ist ein Treffpunkt, weißt du davon?« Es war eine in der Schwebe gehaltene Frage, fast schon eine Feststellung. »Café Schubert! Für mich ist es das Café Catherine. Im Augenblick ist das der Ort, wo wir uns treffen. Ich gehe hin, wo sie hingeht. Wenn Sie solchen Wert auf das Café Schubert legen, gut, dann einigen wir uns eben auf das Café Schubert.« Sie hatten ihn geduzt, sobald sie die Oberhand hatten, im Wagen. Die Fragen richteten sich nicht im geringsten nach seinen Antworten. Eine Glühbirne wurde langsam schwächer, ihre Strahlung nahm ab, als würde das Stromnetz kaputtgehen, dann, als sie kaum noch stärker war als eine Nachtlampe, flackerte das Licht nicht mehr. Es gab nur eine Birne für den gesamten Flur, vor der Tür, hinter der man ihn am Nachmittag zum sechsten oder siebten oder achten Mal verhört hatte. Die Fragen wurden niemals abgewandelt, als würden sie ihm jedes Mal zum ersten Mal gestellt. Es waren sechs, und alle sechs kamen stets in derselben Reihenfolge, jedes Mal, wenn man ihn vor den grauen Tisch stieß. »Hast du diesen Mann gesehen? Gehst du jeden Tag ins Café Schubert? Dein Café Schubert ist ein Treffpunkt, weißt du davon? Hast du dieses Semester mit Bedacht Physikseminare belegt? Warst du letzte Montagnacht zu Hause? Weißt du, was dieser Mann tut?«
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Es waren zwei, die ihn abwechselnd verhörten. Man ließ ihn ins Büro holen, und mal saß der eine, mal der andere hinter dem Tisch, allein mit ihm, aber beide betonten bestimmte Silben in den einzelnen Fragen auf dieselbe Art: »du, dich, dein,...« Beinah hätte er ihnen gesagt: »Schaltet den Roboter ab«, aber jedes Auge, das ihn ansah, war ein menschliches Auge, und das Büro und die wenigen Papiere, die unter ihren Händen eine unwandelbare Ordnung behielten, alles lebte in diesem Blick. Kein Gefühl war darin sichtbar, weder Feindseligkeit noch Interesse, noch Neid, aber das Ganze, ja, das war es, das Ganze versuchte ihn in einen blauen Abgrund zu ziehen – denn dieses eine hatten die beiden gemeinsam, blaue Augen –, um darin die Wahrheit zu ertränken. In der Brust wurde ihm plötzlich kalt. Es ist der Hunger, dachte er. Ich bin schon länger als einen Tag in dieser Falle. So ergeht es auch den Tieren im Wald, sie fallen, ohne zu wissen, wie ihnen geschieht, und bleiben zuweilen gefangen wegen nichts, vergessen bis zum Tod, nur weil sie glücklich diesen Pfad auf ihrem Lebensweg entlanggingen und dort versteckt eine Schlinge oder Eisenfalle lauerte. Unaufhörlich wirbelten Fragen in seinem Kopf herum: Wer wird mich das nächste Mal verhören, werden sie es leid sein, dieselben Fragen zu stellen, warum bewegen sich die Wörter mit verschiedenem Tonfall, und was bedeuten sie eine Stunde später? Wozu all diese Fragen? Was für ein Spiel treiben sie? Was ist der verborgene Sinn der Wörter, falls sie einen haben? Und was sind überhaupt die Wörter? Man muß sie anhalten, dachte er, sonst werden die in einen bestimmten Sinn gebrachten Buchstaben mich irgendwann einholen, und ich will hier raus. War es nicht eine seltsame Taktik: seit seiner Verhaftung hatte man ihn nicht angerührt, nur mit Worten. War dies die Art von Folter, die man ihm vorbehielt? Was würde man mit ihm machen?
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2. Das dunkelgrün gestrichene Universitätsportal diente als Treffpunkt; hier versammelten sich die Studenten vor den Seminaren, hier gingen sie morgens hinein und hinaus, immer in einer gewissen Eile, sich wiederzusehen, endlos über alles zu diskutieren, über Geschichte und über die Liebe, und hier warteten sie den letzten Moment ab, um gemeinsam die Treppen hinaufzustürzen. So drang zu jeder Stunde ein fröhlicher Lärm bis auf die Straße hinunter. Ian kam immer zu Fuß. Er näherte sich einer kleinen Gruppe, und als, wenige Meter von ihm entfernt, André den Arm hob: »Ian, komm schnell!«, sprachen zwei junge Männer seinen Namen aus. Sie hatten sich zwischen ihn und die anderen gestellt, um ihn zu isolieren, und Ian begriff augenblicklich, daß seine Freunde nur ihren Rücken sehen konnten. Alle waren still geworden. Sie haben breite Rücken, dachte er zuerst, dann wurde die Stille betäubend, wie nach einer Explosion. Sein Name füllte jetzt seine Ohren. »Ian... Folge uns«, und sein Blut begann ihnen zu folgen, noch bevor sie sich bewegt hatten. Die Sonne, die noch einen Moment vorher mit den roten Blättern getanzt hatte, war in Lachen erstarrt wie Butterflecken auf dem Boden. Zwischen den Personen dieser Szene zeichnete der Schatten der Bäume das komplizierte Netz eines Nervengeflechts. Konnte die Welt mit einem Schlag aufhören zu leben, bloß weil ein Angstschauer die Gesten der anderen um einen herum einfror? Ohne Furcht zu verspüren vor dem, was da kommen mochte, witterte Ian Gefahr, und in der Tiefe seiner Adern fühlte sein Leben sich bedroht. »Folge uns.« Genausogut hätten sie sagen können: »Immer. Niemals«, während sie ihm die Wagentür zeigten. 14
Sie berührten ihn nicht, doch als sie auf ihn zukamen, zwangen sie ihn unmerklich, zurückzuweichen. Alle Freunde mußten es sehen, aber keiner machte eine Bewegung. Ian wurde auf den Rücksitz gestoßen, in die Mitte, auch dies sahen Andre, Catherine und die anderen. Er hatte gesehen, daß sie verständnislos zuschauten und daß sie ihn gleich verstoßen würden, weil sie ihn von jetzt an nicht mehr gekannt haben durften. Eine Verhaftung beinhaltete vom ersten Augenblick an einen Schnitt; alles, was man für die anderen gewesen war, bedeutete nicht mehr viel, eine Inschrift in einer toten Sprache auf einer verfallenen Stele wäre leichter entzifferbar gewesen. Die beiden Männer versanken in den Polstern und behandelten ihn jetzt ohne Rücksicht. Derjenige, der der jüngere zu sein schien – doch konnten beide höchstens dreißig sein –, tastete seine Jacke ab und pfiff zwischen den Zähnen. »Wohin fahren wir?« Ian wollte nicht aussprechen: »Wohin bringen Sie mich?« Der zweite begann zu lachen, und sie antworteten nicht. Der junge Mann wollte die Frage noch einmal stellen, doch riet ihm der Druck der Körper an jeder Schulterseite zu schweigen. Auf den Boulevard der Universität folgte eine Allee, dann bog der Wagen in eine Straße ein, die aus der Stadt hinausführte.
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3. Unmerklich lastete Müdigkeit auf ihm, doch er zwang sich, aufrecht stehenzubleiben wie ein Wachsoldat. Dann sagte er sich, daß diese heldenhafte Haltung idiotisch sei und er besser daran täte, sich an die Wand anzulehnen. Falls der graue Mann wie ein Springteufel aus seinem Büro schießen sollte, würde man weitersehen. Ian berührte die Wand und fühlte sich niedergleiten; er war auf den Knien, als die Tür sich öffnete. Es gab weder Beschimpfungen noch Gebrüll, der graue Mann kam bis zu ihm, sah ihn an und ging vorbei, gefolgt von zwei Schatten, die Ian nur im Nebel sah. Über ihm brannte die Birne, die Nacht war hereingebrochen, und man ließ ihn in seiner Uniform aus Müdigkeit allein zurück. Er mußte lange geschlafen haben, als ein Fuß seinen Oberschenkel berührte. Während er sich aufrichtete, bemerkte er, daß das Licht blasser war, ein neuer Morgen war angebrochen, dessen Kälte er spürte. Ein Soldat hielt ihm einen warmen Becher hin, und er trank einen salzig schmeckenden Kaffee. Bevor er noch etwas sagen konnte, fand er sich allein im Korridor wieder. Plötzlich sehnte er sich nach Zärtlichkeit. »Catherine«, murmelte er und glaubte sich von den Armen der jungen Frau umfangen wie in einer großen, warmen Liebkosung. Draußen, in einem Hof, fuhren Autos vor, Türen schlugen, in den Kasernenbauten, in denen sich hinter einer Tannenallee die Verwaltungseinrichtungen verbargen, nahmen die grauen Männer erneut Besitz von ihren anonymen Büros. Ein Moment verging; auf das Heulen einer weit entfernten Sirene hin füllte sich der Korridor binnen einer Sekunde, die beiden Männer, die ihn am Vortag verhört hatten, begleiteten einen Herrn in einem hellen Anzug mit 16
Seidentaschentuch und einer Perle in der Krawatte. »Bringt ihn her«, sagte der Mann im Vorübergehen. Zwei Soldaten hoben Ian auf und brachten ihn in ein Büro, das größer war als das des Vortages. Der Mann mit dem Taschentuch hatte sich in einen extra für ihn hereingetragenen Ledersessel gesetzt, die beiden anderen saßen auf Stühlen in den Ecken des Büros. Der Tag bläute das Fenster, doch wuchsen Büsche fast bis an den oberen Rand der Scheiben und verstellten die Sicht. Zum ersten Mal wurde Ian gesiezt. »Was machen Sie hier?« sagte der Mann, doch es war keine Frage, denn mit einem Fingerschnippen schnitt er die erste Silbe des jungen Mannes ab, um ihm zu bedeuten, daß es sich um nichts weiter als die Eingangsfloskel seiner Rede handele und daß er sehr genau wisse, warum Ian verhaftet worden sei. Seine Sprechweise hatte nichts Militärisches, und er gebrauchte eher die Formulierungen eines Anwalts als die eines Polizisten. Aus seinem Vortrag wurde deutlich, daß Ian sich nachts mit einem notorischen Kriminellen getroffen hatte, sich der Universität für heimliche Agitation bediente, daß jedes seiner Worte in Cafes und an anderen öffentlichen Orten, wo er sich manchmal mit Freunden nach Seminarschluß aufhielt, mitgeschrieben worden war. Ian wäre außerstande gewesen, auch nur annähernd so genau anzugeben, womit er seine Zeit verbrachte, wie es diese Parzen hinter ihrem metallgrauen Tisch taten. Was die von dem Pflichtverteidiger kalt heruntergeleierte Rede betraf, so ähnelte sie schlicht und einfach einer von Ian selbst erstellten, gegen ihn selbst gerichteten Anklageschrift. Nebenbei erkannte er die Paradoxien und Verrücktheiten seiner zwanzig Jahre wieder, die jugendlichen Behauptungen, die von selbst in sich zusammenstürzten, und inmitten dieser kostenlosen und amüsanten Provokationen jene kleinen Glückssätze, die plötzlich Stille um sich herum verbreiteten. Alles, was er gesagt hatte, wurde gegen ihn verwendet. Es war Ian mit achtzehn Jahren, mit zwanzig Jahren, der ihm hinter seinem fröhlichen Gesicht die tiefen Revolten zeigte, deren Wörter auf seinen Lippen explodiert waren, Revolten scheinbar ohne Morgen, doch in welche Tiefen hatte er diese Sprengkörper geworfen, in verbotene Fischgründe, und dabei massenhaft tote Fische an die 17
Oberfläche getrieben! Welche Freunde hatten ihn ernst genommen? Die Anklagerede des mit seiner Verteidigung beauftragten Anwalts blieb in allen Punkten vage, reichte aber genau aus, um den Eindruck zu erwecken, daß die vor ihm liegende Akte niederschmetternde Beweise enthielt. Ian gelang es zu fragen: »Bis wann wird man mich hierbehalten?« Der Anwalt sah ihn schief an, als hätte der Junge fremde Wörter benutzt, und antwortete den Männern zu beiden Seiten des Tisches: »Wir haben dem Gesagten nichts hinzuzufügen.« Dann, wie auf einer engen Provinzbühne, erhoben sich die Männer gemeinsam und gingen hinaus. Keiner sagte ein Wort, man ließ ihn allein im Zimmer zurück. Die Tür zum Korridor blieb weit offen, und die Papiere lagen geordnet zwischen ihren blauen Aktendeckeln auf einer Ecke des Tisches; die Zimmerdecke wurde mittlerweile von einem Sonnenstrahl berührt. Einige Sekunden vergingen. Ian setzte sich auf den am nächsten stehenden Stuhl, und nichts geschah. Verkehrt herum las er den auf eine der Akten geschriebenen Namen: IAN... Der Korridor war leer, das gesamte Gebäude schien verlassen, denn außer seinem eigenen Herzschlag hörte er nichts. Er öffnete die erste Akte; mit Füller und auf alle möglichen Arten stand dort geschrieben: »Hast du diesen Mann gesehen?« Es begann mit Großbuchstaben und wurde bis zum unteren Rand der Seite immer kleiner. Auf der folgenden Seite befand sich die zweite ihm gestellte Frage, die wie in einem Spiel immer größer und dann wieder kleiner wurde. Die dritte Frage nahm die dritte Seite ein, und hier wurde das Spiel subtiler, die Frage ging spiralförmig von der Mitte der Seite aus. Die folgenden drei Fragen standen jeweils nur ein einziges Mal in riesigen Lettern da. Mit einem ungeheuren Reichtum an Einzelheiten und nebelhaften Formulierungen erklärten die nächsten Seiten, daß jemand NEIN gesagt habe und man sich deshalb auf die zweite Akte beziehen müsse. Ian hatte genug Muße, alles zu lesen und zu betrachten, aber nichts erklärte irgend etwas, und als er fertig war, begriff er, daß es sich um eine weitere Falle handelte, denn die letzten Seiten waren mit ANTWORTEN überschrieben. Diese lauteten alle gleich: »Ja«. Inzwischen waren Stunden vergangen, er erhob sich, ein leichter 18
Schwindel ließ ihn sich am Tisch abstützen, und der Stuhl fiel um. Der Lärm rief niemanden herbei. Nach einer Weile erhob er sich, gelangte zur Tür, doch wurden im Korridor seine Beine erneut schwach, und er fand sich auf Knien wieder, gegen die Wand gestützt. Dann schob ihm jemand die Hand unter die Achsel, um ihm zu helfen. Ian sah ihn an. Einer der beiden Männer, die ihn verhaftet hatten, beugte sich über ihn. »Brot«, sagte Ian. Er wurde in das graue Zimmer zurückgebracht: Das vollständig heruntergelassene Rollo absorbierte die morgendlichen Sonnenstrahlen, und das Zimmer schwamm in einem starken Licht. Ian wurde vor den Tisch gesetzt und hielt plötzlich ein rotes Glas in der Hand. Der Weingeruch erfüllte ihn mit Ekel, doch hatte er keine Zeit, das Glas zurückzustellen; schon wurde ihm der Kopf leicht zurückgebogen, und er war gezwungen zu trinken. Die Vorstellung, sich erbrechen zu müssen, ließ ihn sich zusammenreißen. Er wollte das Bild, das er ihnen zu vermitteln glaubte, nicht beflecken und schluckte seinen Speichel hinunter, um das Brennen des Weines abzumildern. Dann hatte er den Eindruck, daß sich viele Leute im Zimmer befanden, denn dieses begann sich in einer langsamen Erschütterung zu drehen, und die erste Frage kam zu ihm zurück, klar und nackt, wie die Schneide eines Messers. »Brot, bitte«, sagte er mit einer so sanften Stimme, daß die Männer zusammenzuckten, und auch dieses Mal bekamen sie nichts weiter aus ihm heraus.
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4. Über eine Stunde blieb er auf seinem Stuhl sitzen, allein in dem vom Rollo ausstrahlenden Licht, das ihm an den Augenlidern weh tat. Er hätte sich gern Wasser über das Gesicht laufen lassen, dann war das Glas Wein verdaut, und er stand auf. Hinter der Tür versperrten zwei Männer ihm den Durchgang. »Ich will mir das Gesicht waschen«, sagte er. »Um was zu tun?« Der junge Inspektor, der ihm aufgeholfen hatte, sprach ihn zum ersten Mal direkt an. Ian verwarf jede ironische Antwort: »Und auf die Toilette gehen«, sagte er mit jener sanften Stimme, die Unbehagen in der Atmosphäre schuf. Er wurde sich bewußt, daß er mit dieser Stimme sprach, wenn er mit einem Mädchen allein war oder immer dann, wenn er von anderen etwas wollte. »Hast du diesen Mann gesehen?« Man zeigte ihm nichts bei der Frage, doch es war klar, daß sie sich auf das Foto bezog. Es folgte ein Schweigen. Dann hörte Ian sich sanft antworten: »Ja.« Daraufhin führte man ihn zu den Toiletten, die nach Alkali rochen. Er urinierte, hielt sein Gesicht unter warmes Wasser und erbrach sich. Man ließ ihn sich den Mund ausspülen, und er versuchte, sich Stirn und Wangen mit den Fingern zu trocknen; dann brachte man ihn in das Zimmer zurück, mit nassem Hals und Hemd. Erst in diesem Moment hatte er Angst.
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5. Sechsmal antwortete er »ja«, denn das war es, was sie wollten. Es folgte keinerlei Bemerkung. Die Männer erhoben sich und ließen ihn erneut allein auf seinem Stuhl zurück. Die Sonne schien nicht mehr auf das Rollo; es mochte Mittag sein. Einer der Männer kam noch einmal zurück, nahm nachlässig die Akte und legte sie wieder auf den Tisch: »Du kannst noch einen Blick hineinwerfen, alles ist fix und fertig vorbereitet. Am Ende weißt du dann auswendig, was du nach dem Essen unterschreiben wirst.« Ian schwieg. Im Weggehen fügte der Mann hinzu: »Natürlich nur, wenn du essen willst...« Die Mittagspause dauerte unendlich lange. Zuweilen zog Ians Magen sich zusammen, und ein leichter Schweiß säumte seinen Mund. Ich werde einfach alles tun, was sie wollen, ich pfeife auf das, was da drin steht, ich pfeife auf alles! Das ist genau der Punkt, wo sie dich haben wollen, sagte eine innere Stimme. Der Schwachpunkt, dessen sie sich bedienen werden, denn du bist in ihren Händen, um ihnen zu nützen, zum Teufel mit deinem Stolz. Außerhalb von hier hat man dich ausradiert aus der Zahl der... »Nein«, sagte Ian laut, »ich lebe.« Er sprang auf, und das Fenster vor ihm wurde schwarz. Die Angst ist niemals vollständig. Sie setzt sich aus Stücken und Teilen zusammen, wie ein Geduldsspiel. Vorauszusehen, was man sagen muß oder was man gefragt wird, sich an Namen oder Bilder zu erinnern, an Wörter oder Schweigen, sie zu vergessen oder zu erfinden, um sich zu retten, alles, was die kleinen moralischen Schrecken bildet, mischt sich immer mit den körperlichen 21
Ängsten, der Angst, gedemütigt zu werden oder auch nackt zu sein und plötzlich in einen leeren Saal gestoßen zu werden, wo angezogene Männer einen erwarten... Als er wieder zu sich kam, lag Ian lang ausgestreckt auf einer Matratze, und jemand drückte ihm leicht einen feuchten Lappen auf das Gesicht, der ihm in Mund und Nase stach. Vermutlich Essig. Um den Schreibtisch herum diskutierten Männer, der Anwalt war zurückgekommen und wollte augenblicklich die Unterschriften; die anderen erwiderten, daß man ihn nicht mit einem Schlag erschöpfen dürfe und ihm Zeit zugestehen könne, ein Würstchen mit einem Stück Brot hinunterzuschlucken. Ian zwang sich, ruhig zu essen. Zwar waren es nur zwei Tage, während derer er nichts mehr zu sich genommen hatte, aber das lange Stehen und das Eingeschlossensein machten ihn verletzbarer. Als er fertig war, sah er ihnen ins Gesicht, ohne etwas anderes zu fühlen als den Wunsch, so schnell wie möglich Schluß zu machen, endlich zu erfahren, was man ihm vorwarf, warum man ihn achtundvierzig Stunden lang eingesperrt hatte. Ohne zu zögern, unterschrieb er mit einer Art Freude die drei vor ihm liegenden Blätter. Die anderen sahen sich an, peinlich berührt von dem, was sie auf einmal erreicht hatten. »Was wollen Sie jetzt von mir?« fragte er. »Dich verschwinden lassen«, antwortete der Anwalt beinahe freundlich, als wollte er ihm dafür danken, ihnen so schnell geholfen zu haben. Sie glaubten, daß er plötzlich zusammenbrechen würde oder weinen oder versuchen, sie zu erweichen, doch niemand war auf seinen Gewaltausbruch gefaßt. Ian sprang auf: »Darf ich noch ein Wort hinzufügen, ihr Aasgeier! Was seid ihr denn mehr? Larven in euren dreckigen grauen Uniformen, ihr habt Angst, ihr lebt von Abgekratztem, von Denunziationen.« Die Wachen kamen auf ihn zu, doch bevor sie Ian berühren konnten, hielt der Anwalt sie zurück, und alle traten beiseite, als beträfe dies niemanden im Zimmer und der junge Mann spräche in einen leeren Saal. Die Wörter explodierten um ihn herum, doch wurde schnell deutlich, daß er der einzige Verletzte war. 22
Ein Sekretär war eingetreten und überwachte ein Tonbandgerät, während von den Männern um den Tisch herum der eine die Hände gefaltet hatte und die anderen gerade vor sich hin blickten. »Ich verachte euch nicht, ich bedaure euch; für Firlefanz auf der Brust und eine Handvoll Geld verkauft ihr sogar eure Liebesnächte.« Bleib ruhig, sagte er sich, vor allem keine Beleidigungen, sie spielen keine Rolle in dem, was dir geschieht... Doch die Wörter fuhren auf seinen Lippen fort: »Der Dreck eurer Kragen und Unterhosen ist bestimmt sauberer als das, was eure Hände berühren oder was aus euren Mündern kommt. Ihr seid feige Mörder, ihr tötet auf dem Papier und Schluß, ihr habt nicht einmal den Mut, diejenigen hängen zu sehen, die ihr im Namen von Hampelmännern, die euch die Pfote heben lassen, um auf den Hintern der Moral zu schwören, verhaftet. Ihr braucht keinen Spiegel: Ihr müßt euch nur gegenseitig ansehen, alle gleich, stumpf, bürgerlich, uniform, kastriert. Dies ist ein Hinterhalt, aber ich kenne einflußreiche Leute, und ihr werdet mich freilassen und euch entschuldigen, ihr werdet den Boden lecken, denn ihr seid nichts, nicht einmal Staub... nur Schlamm.« Er wurde plötzlich stumm, denn im Grunde wußte er, daß es keinen Zweck hatte, dann hörte er das Klicken der Tonbandspule, als der Sekretär sie anhielt. »Lager Null«, sagte der Anwalt mit tonloser Stimme, und ein Offizier fügte an die Wachen gerichtet hinzu: »Nehmt ihn mit, ins hinterste Zimmer, dort bleibt er bis zum ersten Transport.«
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6. Im Morgengrauen hatte es geschneit, ein erster leichter Schnee, den der Wind wie mit der Hand davontrieb. Der November war noch nicht um, aber schon seit dem 20. kündigte sich der Winter mit Macht an, der Himmel verdunkelte sich mitten am Vormittag, und weicher Schnee begann unaufhörlich zu fallen. Nach einigen Stunden bedeckte das Flockengewirbel die Bäume, die Häuser, die Schatten, die sich auf die Straßen wagten, dann erhob sich plötzlich der Südwind, und die wirbelnden Blumen verwandelten sich in Sprühregen, der Schnee wurde von Tausenden kleinen durchsichtigen Kratern durchlöchert, und die ganze Landschaft erstreckte sich in einer hier und dort mit zweifelhaftem Weiß gesprenkelten Uniform aus Schlamm. Eine feuchte und dunkle Kälte dampfte um die Bäume herum, die nach und nach ihre schwarzen Silhouetten gegen den dreckigen Himmel reckten. Seit fast vier Wochen war Ian in einem Zimmer der Kaserne eingesperrt; auf dem Zementboden hatte man als einzige Möblierung ein Eisenbett und einen Schemel gestellt. Er wurde von der Armee ernährt, gut wie die Soldaten, konnte sich waschen und hatte am ersten Tag, beim Wecken, eine Ledertasche mit Wäsche vorgefunden, die aus seiner Wohnung kam. Die Wäsche war gewaschen, wenn auch schlecht gebügelt. Das Fenster war vergittert und ging auf eine rund um die Uhr überwachte Straße hinaus; er durfte nur in einen abgeschlossenen Hof, obwohl er praktisch niemanden sah außer den beiden Wachen, die ihn zu den Waschräumen oder in den Hof führten. Vergeblich hatte er versucht, mit ihnen zu sprechen, sie schienen ihn nicht zu hören, und wenn ihre Blicke zufällig die seinen kreuzten, glitten sie über ihn hinweg wie über 24
eine Schneefläche. Trotz dieser vergeblichen Versuche sprach er sie jedes Mal erneut an. Während die Schneefälle eine gewisse Dumpfheit mit sich gebracht hatten, wirkte die Kälte belebend und kündigte Veränderungen an. Er hörte, daß ein Abtransport zusammengestellt wurde. Es gab also Gefangene in denselben Gebäuden, in denen auch er gefangengehalten wurde. Bald darauf trat einer der Männer ein, die ihn verhört hatten, und nahm das Duzen des Anfangs wieder auf. »Du fährst heute nacht mit dem normalen Transport, aber du kannst deine Wäsche mitnehmen und bekommst einen Militärparka; man will nicht, daß du in schlechtem Zustand dort eintriffst.« »Für wie lange?« »Wie lange!« Der Mann zeigte sich überrascht. »Solange wie nötig natürlich.« »Bis zum Prozeß?« »Welcher Prozeß?« »Komme ich nicht vor Gericht?« Der Mann zuckte mit den Schultern. »Das ist doch schon längst passiert, Studenten sind doch sonst nicht so blöd.« »Das ist schon passiert... Aber man richtet über mich, ohne mich anzuhören...« »Du hast dich doch neulich lang und breit geäußert.« »Und bin ich verurteilt?« Der Mann machte eine Kopfbewegung. »Zu was?« fragte Ian. »Jetzt reicht's. Sei artig auf der Reise, sehr artig, hörst du mich, die Jungens haben Befehl...« Er unterbrach sich mit einem Lächeln. »Befehl zu was?« »Nun ja...« Er ging zur Tür. »... dich bis zum Bestimmungsort ruhig zu halten. Danach...« Im Leeren wusch er sich die Hände.
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Wenige Augenblicke später kam ein Soldat und legte eine doppelt gefütterte Jacke, kurze Stiefel und Socken aus grober Wolle auf das Bett. Ian bemerkte, daß er ihn heimlich ansah mit dem instinktiven Mißtrauen eines Menschen, den man vor einer unvorhersehbaren Gefahr gewarnt hatte. »Ich habe weder jemanden bestohlen noch getötet«, sagte er nachdrücklich, doch der Junge ging ohne zu reagieren hinaus. Auf der grauen Decke erschienen seine Kleidungsstücke gleichzeitig ungewohnt und luxuriös und das Zimmer um das Bett herum doppelt so nackt. Draußen ging schnell der Tag zur Neige, die Lichter der Kaserne wurden neblig hinter den Scheiben, auf denen der vom Dach schmelzende Schnee Streifen hinterließ. Der tiefziehende Himmel nahm einen gelblichen Teint an, vermutlich durch den Reflex der hohen Bogenlampen, die längs der Garagen alle zehn Meter aufgestellt waren und die man auf einmal entzündet hatte. Ein Transport formierte sich, Soldaten wateten im Schlamm, der mit einem obszön saugenden Geräusch an den Sohlen klebte. Durch das Fenster sah Ian eine Schlange von Menschen, die in Lastwagen gestoßen wurden. In gräulichen Stoff gekleidet, zitterten sie in der Kälte, einige trugen nicht einmal Schuhe. Innerhalb kürzester Zeit waren die Lastwagen voll und verschnürt, es gab kein anderes Wort, denn die längs den Planen angebrachten Seile wurden mit einer Sorgfalt festgezurrt und verknotet, als handelte es sich um eine Lieferung kostbarer Güter. Ian dachte: Ein Geschenk des Leidens an das Schicksal. Die Lastwagen trugen die Aufschrift »Gefahr«, und das Wort war in roten Lettern geschrieben. Der Soldat kam in das Zimmer gestürmt. Als er die Kleidung auf dem Bett sah, befahl er Ian, sich schnell anzuziehen, seine Sachen zu nehmen und ihm zu folgen. Er wartete. Ian gehorchte, dann fanden sie sich im Flur inmitten von Soldaten wieder, die am Ende ihres militärischen Arbeitstages in ihre Quartiere zurückkehrten, um sich zu zerstreuen oder auszuruhen. Obwohl der Student ihnen in seinem Aufzug ähnlich sah, richtete niemand das Wort an ihn, denn der Soldat, der ihn führte, schob sie im Vorbeigehen zur Seite. So war er also mitten im Mannschaftsquartier gefangengehalten worden, zugleich abseits und behütet, als hätte man den 26
Sonderbefehl gehabt, ihn zu schonen. Der Soldat führte ihn nicht direkt zum Konvoi, sondern in die letzte Garage. Zwei weitere junge Soldaten öffneten den Schlag eines Lasters, der schmaler und länger war als gewöhnliche Militärwagen, und bedeutete Ian einzusteigen. Im Inneren befanden sich zwei gegenüberliegende Sitze, sonst war alles von oben bis unten voller Eisengestelle wie in einer Bäckerei. Es war ein Brotwagen. Draußen sprachen die drei Soldaten miteinander, ohne sich um Ian zu kümmern. »In der ersten Etappe nimmst du das Steuer«, sagte eine spöttische Stimme. »Nein, ich muß drinnen bleiben, das Tier pflegen.« Er erkannte die wärmere Stimme des Jungen, der ihn bis jetzt bewacht hatte. Die spöttische Stimme hob wieder an: »Du wirst dir einen abfrieren, Sergeant, aber hinten gibt's wenigstens was zu fressen!« »Du brauchst bloß das Schiebefenster zwischen uns aufzulassen.« »Nein, wir haben Befehle. Ihr seid nach hinten gesperrt. Steig ein, ich schließe dich jetzt mit dem Schatz ein.« Sie lachten ein wenig, dann fragte die dritte Stimme: »Bindest du ihn nicht fest?« »Nur die rechte Hand, ich bin bewaffnet. Laßt das Schiebefenster offen, damit wir ein bißchen reden können.« »Kommt nicht in die Tüte. Du kriegst immerhin nach getaner Arbeit zwei Wochen Urlaub.« »Na ja, und du!« »Wir haben vier Tage, um einen draufzumachen, nachdem wir uns auf diesen Scheißstraßen den Arsch aufgerissen haben. Am zweiten Tag hört der Spaß auf. Stimmt doch, Georges, nicht?« »Ja«, sagte der, der Georges hieß. »Du hast die Tour noch nicht gemacht. Wir fahren schon zum dritten Mal. Normalerweise ist hinten niemand.« 27
Der Sergeant stieg ein und sagte zu Ian: »Gib dein rechtes Handgelenk.« Er legte eine Handschelle an und schloß die andere an eines der Eisengestelle. Der Student sagte nichts, die Tür schlug zu, und der Brötchengeruch, der durch die Leinwand kam, die die Gestelle bedeckte, wurde stärker. Im Wagen war es dunkel. Der Sergeant setzte sich Ian gegenüber, und eine Sekunde lang kreuzten sich ihre Blicke. Es reichte, damit Ian sich existieren fühlte, während der Lastwagen die Garage verließ und eine neue Etappe seines Lebens begann. Der Junge setzte sich rittlings auf seinen Sitz, um durch das Schiebefenster sehen zu können, das sie von der Fahrerkabine trennte. Er hätte durch die Scheibe mit seinen Kameraden sprechen können, wenn der Motorenlärm sie nicht abgeschottet hätte. Ian hatte eine kleine Öffnung, eine vergitterte Luke, genau hinter seiner linken Schulter, sein Bewacher hatte eine ebensolche auf seiner Seite, doch war es mit der angebundenen Hand für den Studenten unmöglich, sich umzudrehen. Schon nach kurzer Zeit brannten ihm der ganze Arm und das Handgelenk, und er hätte am liebsten »Binde mich los« gesagt, doch der Sergeant betrachtete die unbewegliche Hand, und da sie gerade erst die Kasernen verlassen hatten, mußte er wohl oder übel durchhalten. Die erste halbe Stunde ging vorüber, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. Es war Nacht, der Konvoi fuhr langsam, mehrere Male bremste der Proviantwagen ab, und er hörte die Flüche der Fahrer vorn. »Wenn ihr das Tier pflegen sollt, müßt ihr ihm dann die Pfote brechen?« fragte Ian plötzlich. Der Sergeant sah ihm diesmal direkt in die Augen. »Ich werde nicht fliehen«, sagte Ian. »Ich bin völlig steif von der Kälte, fessel mir die Fußgelenke, wenn du willst.« Er sprach mit jener schmeichelnden Stimme, die die Menschen stets mitten in die Brust traf. Der Sergeant sah durch das Schiebefenster, aber man hatte sie nicht hören können, und ohne ein Wort band er Ian los. Nach kurzem Zögern steckte er die Handschellen in seine Jacke. Ian sagte: »Ich bin zweiundzwanzig«, doch der Sergeant wandte sein Gesicht ab. Draußen war es vollständig Nacht geworden, 28
durch die Luken sah man nichts, außer von Zeit zu Zeit die Rücklichter eines der Lastwagen vor ihnen, wenn die Straße eine Kurve machte. Die Flocken wirbelten, und je weiter sie sich in Richtung Norden von der Stadt entfernten, desto weißer wurde der Boden; der Schnee war hier nicht geschmolzen und fiel nach und nach schwerer. Sie durchquerten leuchtende Ebenen, ihr Reflex schimmerte bis in den Wagen hinein, und Ian konnte sehen, daß der Sergeant gegen die Müdigkeit kämpfte. Die Brotwand isolierte sie von der Kälte, und die lähmende Gleichförmigkeit der Straße und ihre eigene Wärme ließen die Barrieren zwischen Bewacher und Gefangenem unmerklich zusammenbrechen. Dieselbe Nacht trug sie fort. Einmal öffnete einer der Soldaten das Schiebefenster und reichte eine Thermosflasche mit Kaffee herüber. Ian trank wie die anderen und sagte auch diesmal nicht danke, dann, als das Schiebefenster wieder geschlossen war, im Lichtschein, der um sie herum schwebte, sprach er einen neuen Satz aus: »Ich war Student, verliebt in das Mädchen von...« »Sei still. Ich darf dir nicht zuhören. Ich kann nichts für dich tun. Ich habe nichts gegen dich. Ich tue, was man von mir verlangt. An meiner Stelle würdest du dasselbe tun.« »Verliebt in ein Mädchen«, sprach Ian weiter – und mit einer Art gesprungenem Lachen –: »Es war einmal ein Student...« »Ich muß dich zum Schweigen bringen«, sagte der Sergeant, »und ich will dir nicht weh tun. Wir sind zwei Tage zusammen. Hab Geduld.« Und man sah nur den Schatten seines Gesichts gegen die weiße Luke. »Hab Geduld, kleines Häschen«, sagte Ian, »wir töten dich nicht mit einem Schlag, zuerst schneiden wir dir nur die Pfote ab...« Aber er sprach nicht weiter, denn der Sergeant hatte sich umgedreht, und der Student wußte, daß er mit seinen wenigen Sätzen so weit wie nur irgend möglich gegangen war und daß er die Stille, die Nacht und den Schnee handeln lassen mußte. Einmal bemerkte er, durch das Fenster spähend, daß der Wagen eine Abzweigung nahm, und im Licht eines Scheinwerfers zeigte ein Hinweisschild 29
V. 150 km, K. 143 km, P. 190 km, R. 240 km an; die Städte schienen durch die Ziffern allesamt so fern wie Abstraktionen auf einer Schiefertafel, und Ian stellte sich vor, was sich an menschlicher Wahrheit hinter diesen Namen verbarg: Menschen, die durch den Abend gingen, die Türen und Fenster eines Cafes, die der Asphalt hell reflektierte, nachtblaue Wohnungen, der warme Atem von Schlafenden und die vertrauten Dinge um sie herum, die ihr geheimnisvolles und unbekanntes Leben führten. Der Mensch ist ein von Erinnerungen heimgesuchtes Haus. In diesem Wagen, der eine stumme Landschaft durchfuhr, sah Ian plötzlich das Meer vor sich, letzten Sommer, und der blaue Lärm der Wellen übertönte das gleichförmige Rumpeln des Motors. Catherine kam aus dem Wasser, rosa und nackt, sie badeten zwischen Felsen und einem Pinienwald, der sich bis zum Strand erstreckte. Ruhig kam die junge Frau auf ihn und seine Kameraden zu. Bis dahin gehörte sie niemand Bestimmtem, und in der kleinen Gruppe galt Ian als gleichgültig gegenüber allem, was die körperliche Liebe begleitete, die verschlungenen Pfade der Lust führten ihn nicht in die Irre. »Du bist so geboren, ohne Herz!« sagte Adam. »Du hast Glück, du nimmst, du läßt es bleiben, dir ist es egal!« Die anderen Mädchen badeten noch, weiter weg in den Spiegelungen des Lichts. Langsam tauchte Catherine aus dem Wasser auf, die Brüste, die Seiten, der Bauch, und in der brennenden Sonne, die aus dem Meer im Gegenlicht einen Feuersee machte, wurde die Gruppe der Jungen still, als Catherine auf sie zukam. Wasser glitt über ihren Bauch und weiter hinab, und das Vlies des Geschlechts wurde sichtbar, doch die junge Frau ging immer noch vorwärts. Als sie auf fünf Meter herangekommen war, warf Ian sich plötzlich nach vorne und umfing im Wasser kniend vor allen anderen den feuchten Körper. Sein Mund senkte sich auf das Geschlecht der jungen Frau und berührte mit seinen Lippen ihre Lippen. Der Geschmack des Meeres vermischte sich mit dem dieser geheimnisvollen Grotte, dann stieß Catherine ihn leicht zurück, und er ließ sie vorbeigehen; er rief sie so leise, daß die anderen auf dem Sand ihn nicht hören konnten, doch sie drehte sich nicht um. Er richtete sich auf und rief ihren Namen mit rauher Stimme, als hätte man ihn bei der Kehle gepackt; die anderen sahen ihn vor sich, gewaltig wie 30
die Begierde, das aufgerichtete Glied ragte aus der Badehose, die Arme waren geöffnet in Richtung der Frau, die ihn nicht ansah. Catherine ging über den Sand und lachte mit den anderen. Dann ließ er sich nach hinten fallen, die Arme gestreckt wie am Kreuz. In einer Garbe sprühenden Wassers erhob sich Catherines Körper über ihm: die langen Beine wie Pinienstämme am Strand, der Bauch in der Farbe hellen Sandes und weiter oben Brust, Gesicht und'Haar, die sich in der Weite des Himmels verloren. Das Wasser schloß sich über ihm. Alles um ihn herum war still geworden, als wäre er in dieser Frau ertrunken. Wenn man die äußere Erscheinung der Liebe auslöscht, existiert sie nicht mehr, und man wird wieder frei, glaubte er mit angehaltenem Atem. Ich bin Wasser. Ian verschwindet, die Gefühle werden sich in der Unendlichkeit auflösen... Aber als ihm der Atem ausging, grub er seine Finger in den Sand, damit er sich nicht mehr bewegte, doch war sein Körper stärker als er, und mit einem Hüftschlag fand er sich an der Oberfläche wieder, erstickend, mit brausenden Ohren. Adam und Michel waren ganz nah, er hörte sie rufen: »Ian!« Als sie ihn sahen, bespritzten sie ihn mit Wasser. »Du hältst dich wohl für einen Fisch«, doch in ihrer Frotzelei schwang Unruhe mit. Ian ging auf sie zu, er schwitzte in der Sonne, fühlte, daß es kalter Schweiß war, der über seinen ganzen Körper rann, und begann vor seinen Freunden zu zittern. »Komm«, sagte Adam, »du bist ganz weiß...« Ian öffnete seinen Kragen, die Hitze trieb ihm jetzt Feuer in die Wangen. Catherine, Adam und Michel, dann der Sergeant, die Gesichter schoben sich übereinander, verschwanden, kamen zurück in einer Art fahlen Walzers. Kälte oder Hitze waren dasselbe, der menschliche Körper unterscheidet in diesen Augenblicken der Erregung nichts. Dann trat ein Gesicht aus dem klaren Halbschatten vor ihm: der Student lächelte dem Soldaten zu. In dessen Gedanken schob sich erneut die Furcht. Man hatte ihn gewarnt, er solle sich vor dem Jungen in acht nehmen und ihn anbinden. In seiner Tasche berührte er die Handschellen, die sich automatisch in seiner Hand wiederfanden.
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»Binde mich an, wenn du willst, aber die Füße, nicht die Hände.« »Wenn du abhaust, steckt man mich ins Loch.« »Siehst du mich bei diesem Schnee etwa fortlaufen?» »Du bist ein komischer Kerl. Du kommst dorthin, und es macht dir nichts aus.« »Ich werde jedenfalls nicht heulen«, sagte Ian. Langsam fuhr der Wagen durch die Schläfrigkeit der Morgendämmerung, einzig die Umrisse von Hügeln waren vage zu erkennen, wie die Schultern eines großen, von einem Schneelaken bedeckten schlafenden Körpers. Erneut gab es einen plötzlichen Halt. Die beiden Soldaten vorn öffneten das Schiebefenster und reichten ihnen Kaffee und Zwieback. Der Motor drehte sich langsam, weiter entfernt auf der Straße schlug plötzlich eine Tür. Vorne flüsterten die beiden untereinander und schlossen das Fenster. Ian hörte Schritte nah beim Wagen, dann drangen durch den Motorenlärm und den senkrecht fallenden Schnee Schreie bis zu ihnen. Der Sergeant sah Ian an, und zum ersten Mal war auch sein Blick fragend. »Erkundige dich, was los ist«, sagte Ian. Der andere klopfte ans Schiebefenster; der Fahrer berichtete, daß es einen Unfall gegeben habe und er die hintere Tür aufschließen werde. Sofort stieg der Sergeant aus, Ian blieb allein im Wagen zurück. Das Licht stieg vom Boden auf, und der Tag schien nicht aufgehen zu dürfen. Sie befanden sich auf einer Landstraße, die an einem Wald entlangführte und dann in eine endlose Ebene hineinragte. Vor der halboffenen Tür sprachen die beiden Soldaten, und ihre Worte, die Ian nicht verstand, stiegen als Rauch in die Luft auf. Dann ging der Fahrer zu seiner Kabine zurück, und der Sergeant rief Ian. Im vorderen Teil des Konvois war ein Lastwagen mit seiner gesamten menschlichen Fracht umgestürzt. Einer der beiden Fahrer, der durch Glassplitter verletzt war, hatte herausspringen können, aber der Rest war weggekippt, denn die rechterhand liegende Ebene war ein See. Das Gewicht der Planen hatte sie
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einbrechen lassen, das Eis war noch nicht ganz fest. Der Winter kündigte sich grimmig an. Der Sergeant sprach mit ihm nicht mehr wie mit einem Gefangenen. Und die Schreie, die sie gehört hatten? Das waren doch sicher die Menschen, bevor das Eiswasser sie verschlungen hatte? Nein, es konnte nur eine Minute gedauert haben, denn man hatte nichts tun können, und auf alle Fälle sei dieser Tod ohne Zweifel sanfter für sie. Die Schreie seien aus dem nächstfolgenden Wagen gekommen, der Instinkt für Gefahr habe die Männer hysterisch gemacht. Man habe mit Kolben auf die Planen schlagen müssen, um sie zum Schweigen zu bringen. Sie würden den Konvoi schon mal vorfahren lassen, man befinde sich auf verlassenen Straßen, der Befehl laute, keinen Unfall mit ihm zu riskieren, und da sie sich am Schluß des Konvois befänden, müßten sie zwischen sich und dem letzten Lastwagen gute hundert Meter Abstand halten. »Darf ich eine Sekunde aussteigen?« bat der Student. Der Sergeant zögerte. »Du bist bewaffnet, du kannst all meine Bewegungen überwachen, nicht?« »Steig aus.« Ian sprang in den Schnee. Noch niemals war ihm die Erde so wunderbar und weit erschienen. Einen Moment lang mußte er die Augen schließen, denn die Strahlung ließ ihn taumeln. Dann ging er auf die Bäume zu. Als er zehn Meter gegangen war, urinierte er in den Schnee. Die kalte Luft stach ihm in die Schläfen, und er sah zu seiner Rechten einen Wacholderstrauch, der vom Eis in einen Glasbaum verwandelt worden war. Er sagte sich, daß er unter den Bäumen loslaufen könne, bei den dicht fallenden Flocken wäre es unmöglich, ihn ins Visier zu nehmen; nur noch zehn Schritte und er würde zum Schatten. Er drehte sich um und sah, daß der Sergeant in seine Richtung blickte, die Hände in den Taschen. Ian entfernte sich weiter auf der Straße, zwischen den Tannen bemerkte er einen Weg und stürzte sich darauf, begann zu rennen, aber der Schnee lag zu hoch, und er versank. Es war unmöglich weiterzugehen, die Soldaten liefen jetzt wahrscheinlich schon hinter ihm her oder schlugen Alarm. Ian hielt an und wandte sich um, darauf 33
gefaßt, berührt zu werden, doch die Schritte, die er hörte, kamen vom eigenen Herzen. Niemand war ihm gefolgt, und in der Stille schien der Lärm seines Blutes in ihm auf die gleiche Weise zu fallen wie der monotone Schnee. Nach einigen Sekunden hörte er gar nichts mehr. Die Welt war in dieser ununterbrochenen Bewegung unbeweglich geworden. Er ging zum Wagen zurück, der Sergeant hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Als Ian sich einen Meter vor ihm befand, hatte er den Eindruck, daß der andere ihn gar nicht sah, die Schneeflocken trennten sie, die Jacke des Militärs war weiß, und aus dieser Statue drang eine Stimme, doch Ian hörte nur eine Art erstickten Schluchzens: »Steig jetzt auf...« Vor ihnen war keine Lastwagenspur mehr zu sehen, und der Sergeant legte seine Hand auf Ians Schulter. Im Inneren hatte der durch die Leinwand dringende Brotgeruch sich verändert, bei der Abfahrt war das Brot frisch gewesen, eine Nacht der Kälte verlieh ihm einen beinah ranzigen Geruch. Der Sergeant stieß Ian sanft an, dann schloß er von innen die Tür und klopfte ans Fenster. Die Fahrer gaben durch das Schiebefenster ein Zeichen, und der Wagen nahm seine Fahrt wieder auf. Er fuhr langsam, Schnee bedeckte die Straße, und hinten sah man nichts. »Hast du Angst gehabt?« fragte Ian mit leiser Stimme. Der Sergeant antwortete nicht, nach einer Weile jedoch fragte er tonlos: »Wie ist dein Mädchen?« »Ich weiß nicht mehr genau«, antwortete Ian. »Ich weiß nicht, warum ich hier bin, in diesem Schneesturm, und warum sie nichts getan hat, mich da rauszuholen.« »Wie ist sie?« »Blond, mit dunklen Augen, wie Heidelbeeren.« Der Sergeant beugte sich vor, legte ihm in einer kameradschaftlichen Geste erneut die Hand auf die Schulter, zart und mit einem 34
Lächeln, das sich an jemanden hinter Ian zu richten schien, dann beugte er sich weiter vor, wobei ihre Gesichter sich beinah berührten, und plötzlich merkte Ian, daß seine Fußgelenke gefesselt waren. Der Sergeant sah ihm jetzt direkt in die Augen, und das Lächeln auf seinem Gesicht bewegte sich nicht. »Ich, Andrei, habe dir wegen des Unfalls eine Chance gegeben. Du hast sie nicht genutzt, um so besser. Jetzt bringe ich dich dorthin. Ich muß dich mit dem Brot dort abliefern.« »Hast du Angst gehabt?« Verstohlen zog der Sergeant unter seiner Jacke einen Revolver hervor, dessen schwarzes Auge Ian betrachtete. Eine Sekunde lang war alles still, dann fand der Revolver in seine Tasche zurück. Ian schloß die Lider, das wort DORT verfolgte ihn, und er versuchte, sich das Schlimmste vorzustellen, doch blieb das Schlimmste theoretisch, denn abgesehen von den Wochen, die er eingesperrt in der Kaserne verbracht hatte, hatte er keinerlei Vergleich. Was war das, ein Lager? Zu seinen Füßen strafte seine elegante Reisetasche, die man ihm aus seiner Wohnung gebracht hatte, jeden Gedanken von Not Lügen: Bis jetzt war er allein bewacht worden, und er reiste in gewisser Weise allein in einem Luxusproviantwagen. Das Bild des Zusammengepferchtseins mit anderen Gefangenen traf nicht zu. Er dachte erneut, daß man ihn einer Prüfung unterzog, aber hier brach seine Interpretation all dessen, was ihm seit Anfang Herbst widerfahren war, ab. »Wolltest du mir angst machen?« Er verstand nicht sofort, was Andrei sagte. Die Stimme sprach weiter, während das Rumpeln des Motors stärker wurde, dann rutschte der Wagen plötzlich und fuhr nach einem langen Schlingern schließlich langsamer. »Du hast versucht, mich rumzukriegen, ich hab dir eine Chance gegeben. Du wärst durch den Wald abgehauen. Zum nächsten Dorf waren es durch den Wald zwanzig Meilen. Wir hätten dich gekriegt, er ist voller Sümpfe und Seen.« »Warum mich also fliehen lassen?« 35
»Um zu sehen, was passiert.« »Wenn du mich kriegen wolltest, hättest du auf mich schießen können.« »Du hattest eine Chance, ich wollte, daß du abhaust.« Ian verstand nicht mehr, was sich im Kopf des Jungen abspielte, diesen Wunsch, ihn fliehen zu sehen, und die Gewißheit, daß er ihnen nicht entkommen konnte, die Komplizenschaft ihres Alters und die Angst des Jägers, die Beute außerhalb seiner Reichweite zu sehen. Der andere kämpfte innerhalb seiner Widersprüche, die Grausamkeit, jemanden, der sich nicht verteidigte, zu fesseln, schien ihm natürlich, er setzte ja seine Haut aufs Spiel, die des Studenten war schon verkauft. »Du brauchst deinen Job nicht zu rechtfertigen«, unterbrach ihn Ian. »Du machst deine Arbeit.« »Ich bin Soldat, kein Deserteur.« Andrei antwortete unfreundlich und drehte sich zum Fenster. Sieh an, dachte Ian, man hat ihm gesagt, ich sei Deserteur... Beide zogen sich in ihre Ecken zurück, während die Zeit mit der Langsamkeit von Schneetagen verging, und sie sprachen nicht mehr miteinander. Draußen folgten reglose Wälder aufeinander, unterbrochen von langen Ebenen; dort war alles weiß, der Himmel noch mehr als die Erde, als wären alle Lebenszeichen ausgelöscht und jemand würde kommen, um auf dieser großen makellosen Seite die Welt neu zu zeichnen. Langsam kroch die Kälte mehr und mehr in den Wagen, und die beiden Männer glitten unbewußt in einen Schraubstock von Träumen, erstarrt in der stickigen Luft, die ihr Atem nicht mehr zu erwärmen vermochte. In der Kabine vorne hatten sie zumindest die Wärme des Motors und vermutlich Decken gegen die Feuchtigkeit. Von Zeit zu Zeit hörte man ihre gedämpften Stimmen, aber weder der Student noch der Sergeant reagierten. In der Ebene war die Straße nur noch durch Stangen markiert, die alle zehn Meter aus dem vereisten Boden emporragten; bei noch dichterem Schneefall wären sie kaum noch zu sehen gewesen. Die Offensive des Winters hatte brutal eingesetzt, die Temperatur sank von Stunde zu Stunde, 36
wie es alle zwanzig oder dreißig Jahre vorkam, ganz plötzlich, wobei ein großer Teil der nördlichen Hemisphäre lahmgelegt wurde und keine Verbindung zwischen den Menschen mehr möglich war, außer durch den Rundfunk. In der Kabine erfuhren die Fahrer über den Militärsender, daß die Flüsse seit dem Morgengrauen Eis trieben; auf den Fernstraßen wurden Schneeketten empfohlen, Nebenstraßen seien zu vermeiden. Auf sämtlichen großen Achsen Nordeuropas sei der Verkehr praktisch zum Erliegen gekommen, für kleinere Ortschaften und abseits liegende Städte werde die Lage innerhalb der nächsten Stunden kritisch. In allen Ländern sei die Armee angesichts einer möglichen Katastrophe in den bedrohten Gebieten in Alarmbereitschaft versetzt worden. Andrei schlief, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt, und Ian lehnte sich gegen eines der Brotgestelle, doch hinderten ihn seine unbeweglichen Fußgelenke daran, eine bequeme Position einzunehmen, und in der Empfindungslosigkeit der Kälte wurden sie steif. Er hatte den Eindruck, daß eine eisige Hand seine Knie streichelte, diese heimtückische Zärtlichkeit stieg über die Oberschenkel bis ganz den Rücken hinauf. Jäh schlief er ein und träumte, daß Catherine seine Füße nahm und mit ihren Haaren aufwärmte. Diese ganze geheimnisvolle Existenz des Traumes geriet unter das Zeichen des Feuers. Der Abend des letzten Sommers lebte wieder auf, genau so, wie er gewesen war, und dennoch seltsam, denn der Traum radierte die unnützen Momente aus, um nur die unvergeßlichen Minuten miteinander zu verbinden. Nach der Nachmittagsszene am Meer hatten sie alle in einem Gasthaus am Flußufer gegessen und waren zum Tanzen in eines von Adams Häusern zurückgekehrt. Adam besaß überall Häuser, am Meer, im Wald, in den Bergen, und er wollte immer einen Kreis Freunde um sich herum, um Tumult zu machen. »Keinen Krach«, sagte er, »nein, Spektakel! Man darf die Stille nicht hören.« Ian wußte, daß sein Freund Angst hatte, den stummen Lärm zu hören, den jeder im Innersten in sich trägt. Adam wollte niemals allein sein, er brauchte Hunde, Mädchen oder Freunde im Haus, und selbst wenn er schlief, wollte er, um sich sicher zu fühlen, irgendeinen Körper nah bei sich spüren, egal 37
welchen, und ließ die ganze Nacht das Licht brennen, als würde das Dunkel versuchen, in seine Seele zu dringen. In dieser Nacht, als die Sterne funkelten, zu der Stunde, da das Herz sanfter schlägt, schob Ian, der sich Catherine seit Stunden nicht genähert hatte, ihren Tanzpartner beiseite und nahm sie wortlos mit in den Park. Jäh riß die Musik ab, als hätte man sie angehalten, aber die Fenster des Hauses blieben grell erleuchtet, als wollten sie ihnen bis hin zu den Pinien folgen und sehen, was sie taten. Lieben ist immer dasselbe, selbst wenn jeder Liebende glaubt, er würde die Liebe neu erfinden. Das Wunder ist, daß er es tut. Unter den Bäumen riß Ian sich das Hemd auf und zog Catherine gegen seinen Oberkörper, so sanft wie die Luft um sie herum. Es war seltsam, auf der Haut die Seide des Kleides zu spüren, und als er den feinen Schulterträger hinuntergleiten ließ, fühlte er kaum einen Unterschied in diesem Moment des Glücks, da der Körper an seine winzige Ewigkeit glaubt. Die Bäuche, die sich zum ersten Mal berühren, werden den Gedanken genauso fremd wie die Hände oder der Mund. Sie standen aufrecht voreinander, Ian senkte seine Augen in Catherines Augen und besaß sie durch den Blick, dann umschlang ihn die junge Frau mit derselben Wildheit, mit der er sich vor sie auf die Knie geworfen hatte. Er wurde fortgerissen, ja, das war es, fortgerissen von einer Kraft, die ihm seine vollständig nahm, und genoß mit dem ganzen Körper, ohne die Lust auch nur eine Sekunde in einem Millimeter Haut anhalten zu können. Sie erreichten eines der Zimmer und warfen sich einander umarmend auf die Laken. In dem stillen Haus seufzten und stöhnten sie sanft und schliefen schließlich ein. Ian öffnete plötzlich die Augen, die Dämmerung leckte an der Decke, und im bläulichen Halbschatten der Tür sah Adam sie an. Ian warf ein Laken auf Catherine, bedeckte sich aber nicht. »Was willst du?« fragte er mit unterdrückter Stimme. »Jetzt hasse ich dich wirklich«, murmelte Adam, und sein schöner gelockter Kopf verschwand. Am nächsten Morgen schien die Sonne unheilvoll, das Meer war zu blau und der Himmel wolkenlos. In der Gruppe galten Ian und Catherine von nun an als Paar wie andere auch, doch sah Ian 38
seine Liebe nicht aus diesem Blickwinkel. Von einem Wesen besessen zu sein – und die Ekstase, die er sich davon erwartete, war Teil dieser Besessenheit –, schloß die Freiheit nicht aus. Catherine sagte nichts, gab aber den ganzen Tag ihm gegenüber und vor den anderen überdeutlich zu erkennen, daß sie sein Schicksal zu bestimmen glaubte: Dieser Mann gehörte ihr, sie würde aus ihm ihre Sache machen, solange es ihr gefiel, möglicherweise würde sie ihn sogar heiraten, falls die Pläne seiner Familie den ihren entsprachen und ihr der Junge mit der Unabhängigkeit des Geldes auch die der Sitten verschaffte, denn selbstverständlich würde das Vergnügen, in seinen Armen zu liegen, für sie nur so lange dauern, wie die körperliche Lust intensiv blieb, ohne zwingende Bindung und wenn sich das Herz nicht zu sehr einließ. Ian hingegen warf sich blindlings in eine Leidenschaft, wie er sie bis dahin abgelehnt hatte, seine Sinne waren jäh entflammt, und wie alle Romeos beider Geschlechter gab er all seine gewohnten Verteidigungen auf. Catherine würde ihn leiden lassen, da konnte man nichts machen – denn sie wünschte es offensichtlich –, er zählte seine Trümpfe umsonst, selbst die Zärtlichkeit seiner Hingabe und die Sanftheit seiner Haut. Vom ersten Tag an schlich sich das Mißverständnis ein. Die Ferien gingen vorbei, die körperlichen Zärtlichkeiten waren von Schweigen begleitet, und weder Catherine noch Ian sprachen das Wort Liebe aus. Weder André noch Michel, noch die anderen schienen es zu bemerken und behandelten sie, als sei alles schon seit ewig geregelt. Adam machte keinerlei Anspielung auf die Szene im Morgengrauen, er änderte an der Beziehung zu Ian nicht das Geringste und bezeugte ihm, als sie ein- oder zweimal allein waren, die alte Zuneigung. Man hätte glauben können, daß die instinktive Eifersucht, die in seinem Blutschrei am frühen Morgen hervorgesprudelt war, nur den entblößten Körper betraf, den er damals angesehen hatte, und der ebensogut der sein konnte, den Ian mit seinem Laken bedeckt hatte, wie der, den er im selben Moment Adams Augen überlassen hatte. Am letzten Tag gab es einen Streit zwischen den beiden Jungen, als sie vom Baden kamen und als erste zum Haus hinaufgingen. Die anderen warteten noch auf die Mädchen, die als die besseren 39
Schwimmer weiter hinaus schwammen und länger im Meer blieben. »Ich bin froh, daß ich abfahre«, sagte Adam leichthin. »Die Seminare fehlen dir!« Ian sagte es lachend, wurde sich aber sofort bewußt, daß Adam einen Vorwand suchte, ihn zu provozieren, und versuchte, den unfreiwillig ironischen Ton seines Satzes zurückzunehmen: »Die Seminare, ich meine die Atmosphäre der Stadt...« »Nein, aber meine Atmosphäre hat genug von dir gesehen.« Die Stimme war leise, Adam hielt an und sah ihm unverfroren voll ins Gesicht. »Laß mich sehen, wonach deine kleine Fresse nochmal aussieht.« »Was willst du damit sagen!« »Eines Tages wirst du das schon kapieren.« Ian spürte die Wut durch seine Adern rinnen, er packte den anderen beim Kragen, aber Adam zuckte nicht mit der Wimper, die Bräune seines Gesichts verblaßte kaum für eine Sekunde, und er fügte hinzu: »Du, du würdest wegen nichts töten.« Durch die Bäume war der obere Teil des Hauses von Sonnenstreifen überzogen. An jenem Abend hatten sie sich im Durcheinander der Abreise und der in die Wagen geworfenen Koffer getrennt, ohne einander Adieu zu sagen, aber ihre Augen waren sich mehrfach begegnet, als Catherine Adam beim Abschied umarmt hatte. Einige Tage später fand sich Ian in der Universität erneut Adam gegenüber, und der schlug den früheren freundschaftlichen Ton wieder an. Die Seminare begannen, die Gewohnheiten wurden wieder aufgenommen, und Ian folgte Catherine in die Cafes, in den Club und in die Wohnung in der Altstadt, wo er von nun an die Hälfte der Nacht verbrachte. Er stand morgens um vier Uhr auf, zog seine Strümpfe und sein Hemd vom Vortag an, streifte sich – wenn er eine trug – seine lose Krawatte über den Kopf, schloß mit der Jacke über der Schulter im Halbdunkel die Tür der Wohnung und fand sich auf der Straße wieder, wo ihn die Morgenfrische des 40
Septembers ergriff. Er machte sich auf den Weg nach Hause, ans andere Ende von V., und lauerte in den leeren Straßen auf Taxis. Die meiste Zeit schlief er auf dem Rücksitz halb ein; dann hielt das Auto, das ihn in die reale Welt zurückbrachte, vor seinem Haus, manchmal schüttelte ihn der Chauffeur, und die lila Lichter der Laternen sahen ihn nach Hause kommen wie schlaflose Augen. Der Schmerz an den Fußgelenken entriß ihm einen Schrei. Andrei wurde auf ihn geschleudert. Der Wagen war heftig geschüttelt worden und hatte angehalten. Der Fahrer erkundigte sich, ob alles in Ordnung sei, sie könnten nichts mehr sehen und hätten gerade noch vor einem quer auf der Straße liegenden Telegrafenmast bremsen können, man müsse ihn beiseite schaffen, am besten zu dritt, aber vielleicht könne der Gefangene auch mithelfen. Außerdem sei es sowieso Zeit für eine Essenspause, denn bei dem Wetter könne man nie sagen, wann man ankäme. Die Entfernungen könne man nur noch ahnen; bei normalem Wetter brauchte ein Konvoi mit allen Verzögerungen und Umwegen etwas mehr als zwei Tage, um das Lager zu erreichen. Vom Konvoi vor ihnen gab es keine Spur mehr, der frische Schnee bedeckte innerhalb weniger Minuten alle Reifenabdrücke. Von seinen Fußfesseln befreit, konnte Ian sich nicht sofort aufrecht halten, und Andrei mußte ihn stützen: »Wenn du das Tier in diesem Zustand ablieferst!« bemerkte Ian lächelnd. Der Sergeant sah ihn erstaunt an. »Du weißt wirklich nicht, wohin du kommst!« »Ich warte darauf, daß du es mir erzählst.« »Ich weiß nichts Genaues. Die beiden anderen waren schon da. Wir steigen aus und helfen ihnen, danach wirst du sehen, ob sie was erzählen wollen.« Der Mast war nur schwer zu bewegen, sie mußten ihn über den Schnee ziehen, Wind kam auf, und die pudrigen Wirbel machten sie blind und vereisten ihnen die Hände. Als sie mit einer letzten Anstrengung das Holz zur Seite gerollt hatten und die Straße vor 41
ihnen frei schien, trübte ein Schneenebel die Sicht, und alle vier versammelten sich kurzatmig und mit glänzenden Gesichtern wieder beim Wagen. Ian spürte, daß die anderen nicht mehr genau wußten, wie sie ihn behandeln sollten, und daß sich ein endgültiges Unbehagen zwischen ihnen einzuschleichen drohte, wenn er nicht schnellstens etwas sagte. »Der Weg in die Ferien ist frei«, sagte er mit seiner klaren Stimme. Und erneut ließ Bestürzung die Gesichter erstarren, doch angesichts seines Lächelns vergaßen sie, daß sie ihn wegbrachten, dorthin, ins sogenannte Lager Null, dessen Insassen keine legale Existenz mehr hatten und niemals wieder hinauskamen. Um sich vor der Kälte zu schützen, ließen sie sich im Wagen nieder und schlangen Sandwiches und bitteren Kaffee hinunter, der in einer der Thermoskannen noch warmgeblieben war. Dann stellte Ian die Frage, die ihm das Herz versperrte: »Wie ist es dort?« Zum ersten Mal sahen die drei anderen ihn, wie er wirklich war, ein Junge wie sie, und sein Charme begann zu wirken. Aus seinen wechselfarbigen Augen sprach Zärtlichkeit, der Mund war spöttisch und gut gezeichnet, er besaß kleine leuchtende Zähne, und unter seinem dicken Militärparka ahnten die anderen dunkel Jugend und Kraft. In seiner Nähe wurde einem warm. Einer der Fahrer bemerkte, daß der Motor leerlaufe und sie bis zur vorgesehenen Station zur Benzinversorgung weiterfahren müßten. Die Nacht brach früh herein, sie beschlossen, die Fahrt ohne Halt fortzusetzen. »Man hat mir zwei Monate gegeben, denke ich«, sagte Ian. Der Fahrer sah ihn an und sagte zu Andrei: »Wir machen zwischen der Kabine und hier auf, dann wird's wärmer.« »Hört ihr den Wind!« fügte der andere hinzu. »Zwei Monate werden nicht gegeben«, sagte Andrei. »Genausowenig wie zwei Jahre.« Ian spürte, wie sein Herz einen Sprung machte, endlich würde er etwas erfahren: »Wieviel also?« 42
»Lebenslänglich«, antwortete der Fahrer. »Das heißt, bis zum Tod«, fügte der zweite hinzu. Und nach einer Sekunde Schweigen, als wären diese Worte ein Sesam-öffne-dich: »Wir kommen nur bis in die Aufnahmebaracken, dahinter übernehmen die Wachen...« Ian hörte nicht zu: »Immer«, murmelte eine innere Stimme, »das kann dir nicht passieren, dir doch nicht. Du mußt dich retten. Was hast du getan? Man verurteilt dich nicht für die Wahrheit, wenn das der Preis ist, verdienen alle Jungen, alle Männer den Grund des Sees mit einem Stein um den Hals...« »Im Wald ist Stacheldraht, dann eine Mauer und wieder Stacheldraht.« »Du vergißt die Hunde«, unterbrach ihn der erste Fahrer. »Wir müssen vorne aufmachen«, fügte er hinzu, »ich gehe.« Aber die hintere Tür wurde vom Wind mit soviel Kraft aufgerissen, daß ein Schneeschauer bis ins Wageninnere drang, und sie mußten sich zu zweit anklammern, um sie zu schließen; dann glitten sie mit Mühe in die Kabine und setzten den Weg fort. »Andrei«, fragte Ian, »wenn es für lange wäre, hätte man mich dann abgesondert?« »Bei denen weiß man nie.« »Hat man dir gesagt, daß ich ein Deserteur bin?« »Ja, auch.« »Auch was?« »Das weißt du besser als ich. Wir wissen's nicht genau. Uns wurde gesagt: keine Geschichten. Die zerbrechliche Ware muß wohlbehalten und sicher ankommen. Gute Pflege. Offensichtlich paßt man oben auf. Du hast doch gesehen, wie man die anderen eingepfercht hat und wie der Wagen ins Wasser gekippt ist, Ende der Vorstellung! Ein Unfall eben, vierundzwanzig oder dreiunddreißig Leichen, ich weiß nicht mehr. Nettoverlust: ein Lastwagen; das war's!« 43
»Das war's«, wiederholte der zweite Fahrer, während er die Verbindungstür öffnete. »Wenn man nichts mehr ist, ist man nichts mehr.« Doch er lächelte Ian breit an: »Aber du bist ja anscheinend noch nicht völlig abgeschrieben.« »Anscheinend«, sagte Ian, als klammere er sich mit den Fingerspitzen an einen Felsvorsprung über dem Abgrund. »Und dein Mädchen, weiß sie Bescheid?« fragte Andrei sanft. Ian sah ihn mit solcher Intensität an, daß der Sergeant sich mit der Hand über das Gesicht fuhr, dann kamen die Worte von WOANDERS, vom Grund eines unbekannten Ian. »Ich weiß nicht, ich weiß nichts mehr. Ich war auf einem Berg, in der prallen Sonne, und plötzlich hat mich ein Abgrund verschluckt. Und ich falle noch immer, falle ins Bodenlose, ich träume, dieser Lastwagen ist ein Traum, der Schnee wird ihn verwischen, ihr existiert nicht. Ich bin allein in meinem Bett, ich träume in diesem Laken aus Schnee.« Die anderen schwiegen, beeindruckt von diesem Ausbruch von Sätzen, die sie nicht losließen, und einer von ihnen kurbelte die Scheibe etwas hinunter, als wolle er sie hinauslassen, aber von neuem drang Schnee in den Wagen und gab den Worten des Studenten eine scheinbare Realität. »Wir frieren uns einen ab«, sagte der Fahrer, und das Fenster wurde wieder geschlossen. Der Sturm wurde mit fortschreitender Nacht zunehmend heftiger, ein weißer Wirbel, den die Scheinwerfer kaum noch durchdringen konnten. »Wenn das so weitergeht, müssen wir uns ein Loch da durchgraben. Noch nie gesehen, sowas«, bemerkte einer der Männer. »Ich habe keine Angst«, sagte Ian. Und den anderen wurde bewußt, daß sie ihrerseits Angst hatten, Angst vor dem, was sie taten, diesen Jungen zu einer Bestrafung zu fahren, deren Grausamkeit sie ahnten, Angst vor dem Schnee und der Nacht, Angst, sich als menschliche Werkzeuge zu erweisen,
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und Angst, Menschen zu sein, wehrlos vor einem Jäger, der Zukunft hieß. »Was machen sie dort?« fragte Ian. »Nichts«, sagte der eine. »Irgendwas«, fügte der zweite hinzu, »sie beerdigen, sie fressen.« »Es kann nicht mehr lange dauern.« Die beiden Männer sprachen untereinander, als hätten sie Andreis und Ians Anwesenheit vergessen. »Sie haben Appelle und Gefängnisstunden, sie sind organisiert.« »Man organisiert sie«, präzisierte der Fahrer, der Georges hieß, wobei er die Betonung auf das MAN legte. Der andere lachte einfältig. »Herr!« entschlüpfte es Andrei, und da der Ausdruck ihm die Röte in die Wangen trieb, fügte er hinzu: »Wie meine Mutter zu sagen pflegte.« »Scheiße!« brüllte plötzlich einer der Jungen vorne. »Seht nur.« Der Wagen wurde langsamer und hielt dann an; die Scheinwerfer beleuchteten nur mehr wirbelnde Flocken. »Was ist los?« fragte Andrei. »Wir haben uns verfahren. Wir haben die Querverbindung übersehen. Da ist ein Wegweiser, K. liegt links und S. vor uns. Weil K. auf der anderen Seite ist, müssen wir über S. fahren, anders geht es nicht. Wir tanken in der Kaserne der Stadt. He, Student, tut uns leid, aber wir müssen dich ein wenig festbinden.« »Gut«, sagte Ian. »Ich tue alles, was ihr wollt.« Er hielt seine Handgelenke hin, doch Andrei fragte die anderen: »Wie lange brauchen wir noch?« »Oh, mindestens drei Stunden. Wir werden mitten in der Nacht da sein.« »Dann binde ich dich beim Ankommen fest.« 45
Ian dachte daran, daß er dasselbe zu Adam gesagt hatte, die Hunde betreffend, und da Andrei ihm freundschaftlich auf die Hände schlug, damit er sie zurückzog, richtete er die folgenden Fragen, die er seit Beginn hatte stellen wollen, an die drei Männer gleichzeitig, so daß antworten konnte, wer wollte. »Warum fahren wir so langsam?« fragte Ian. »Du siehst doch die Straße!« »Liegt das Lager im Wald, weit weg von allem? Und wenn niemand mehr da... rauskommt, warum mich abgesondert hinschicken? Seid ihr schon mal im Winter hingefahren?« Andrei antwortete auf die beiden letzten Fragen sofort: »Bei mir ist es so wie bei dir, ich hab schon gesagt, daß ich zum ersten Mal hinfahre. Warum du abgesondert bist, kannst du dort den Lagerchef fragen.« »Ja, das ist klar«, sagte der Fahrer. »Also, ich bin bisher zweimal im Konvoi hingefahren, mein Kumpel einmal. Wir fahren zum zweiten Mal im Winter. Wir waren letzten Januar da, aber es war nicht so ein verfluchter Schnee. Kaum ein bißchen Weiß auf der Erde. »Aber es war kälter, eisig, mein Lieber, erinnerst du dich nicht?« »Doch, vor allem an den vereisten Typen, der ganz allein da stand.« Andrei mischte sich ein: »Ein Soldat?« »Nein, Alter, ein Typ von dort, ein Gefangener des Waldes.« »Gefangener des Waldes?« Da Andrei an seiner Stelle fragte, schwieg Ian mit zusammengeschnürter Kehle, voll Angst vor etwas Unbestimmtem. »Das ist so eine Redensart, weil sie von da nicht wegkommen. Drei Umzäunungen und auf der anderen Seite der See, mit elektrisch geladenen Stacheldrähten und Sensen unter Wasser. Unsichtbar und wirkungsvoll. Da kommst du nicht raus, selbst ein Typ in 46
Hochform nicht, von den Pensionären der Anstalt da ganz zu schweigen! Man brauchte Handschuhe, eine Taucherausrüstung, um nicht aufs Korn genommen zu werden, und Mumm, Alter!« »Und der vereiste Typ?« fragte Andrei. »Na, der interessiert dich ja offenbar. Und unser Student, der ist jetzt ganz still, der hat wohl das große Flattern!« Ian begriff, daß sie sich darüber ärgerten, ihn auf eine gewisse Art zu früh akzeptiert zu haben; mit der Häufung von Stunden und dem Näherrücken des Lagers – zumindest theoretisch, weil sie von nichts anderem redeten –, kehrte eine unterirdische Animosität gegen das, was er war, an die Oberfläche zurück. »Ich hab keinen Schiß gehabt, als du mich brauchtest«, sagte er. »Und ich hätte vorhin abhauen können, heute nachmittag, wenn ich gewollt hätte.« »Wir hätten dich am Arsch gekriegt, mein Lieber«, sagte der zweite Fahrer. »Vor der Jagd hätten wir dir fünf Minuten Vorsprung gelassen und dich dann auf den Arschbacken zurückgeschleift.« »Das Vergnügen wäre ganz auf deiner Seite gewesen«, sagte Ian mit seiner wärmsten Stimme; sie begannen zu lachen, und die kameradschaftliche Atmosphäre, die der düstere Abend vertrieben hatte, stellte sich wieder ein. In den Scheinwerfern tauchte ein Hinweisschild auf, doch war es so zugeschneit, daß man nichts lesen konnte. Sie hielten an, und einer der Fahrer versuchte es mit einem Tuch zu säubern. »Es hat schon einen Eisüberzug«, sagte er, als er zurück in den Wagen stieg, »man erkennt nichts, und die Kälte sticht ganz schön. Es schneit nicht mehr, aber die Luft glitzert richtig.« Er rieb sich Nase und Wangen. »Eine Stunde draußen, und man wäre steif wie der Typ aus dem Lager.« »Erzähl du ihnen das, ich muß auf die Straße aufpassen. Gut, daß wir allein sind, bei so einer Schneedecke gerät man schnell ins Rutschen. Los, erzähl.« 47
»Im Januar kommen wir ins Lager, wir passieren die Stacheldrähte, das Tor der Elektromauer, die Kontrollen, und der ganze Zirkus öffnet sich, wir durchqueren die Hundezone, lassen den zweiten Stacheldraht hinter uns und halten vor der Effektenbaracke. Es war drei Uhr nachmittags und minus zehn Grad. Ich spring raus und hol die Wachen, um die Seile des Lastwagens aufzuknüpfen. Die Typen im Wageninneren sind still. Ein unheimlich eisiger Himmel, die Kiefern spielen Weihnachtsbäume mit grad mal 'n bißchen Weiß drauf, und auf dem Boden knirscht es, aber stellenweise sieht man harte Erde. Wir waren sechs Lastwagen, die Wachen sagen zu uns: In der Messe gibt's was zu futtern, Kaffee, Tee, Glühwein, was ihr wollt, solange wir abladen, vor der Nacht seid ihr wieder in S. – Wo ist die Messe? Einer der Typen bringt uns hin. Eine schöne, schnurgerade Kiefernallee, dahinter sah man nichts, dann stehen wir vor Steinhäusern, dem des Kommandanten, denen der Wachen und der Messe. Wir trinken und essen ein bißchen, und schon ist's Zeit abzuhauen. Vier Uhr. Die Lagerbeleuchtung war an, große Scheinwerfer oben in den Bäumen und Telegrafenmasten. Wir kommen am Duschgebäude für die Wachen vorbei. Zusammen mit kleineren Baracken bildete es einen Platz. Vor den Duschen stand ein Typ. Wir gehen vorbei, er schien mit Pappe angezogen zu sein, die Augen starr, der Kiefer offen, und auf ihm ein Schild: Wasserplanscher, und darunter: Zum Planschen. Der Typ, der uns begleitete, lachte sich krumm: Der bleibt da noch länger, der ist stocksteif. Der Typ war total vereist! Er hatte in der Vorratshütte Brot geklaut; man schnappte ihn, und er gesteht, daß er versuchen wollte, über den See abzuhauen. Gut, gehen wir doch zusammen hin. Das Wasser war natürlich zugefroren, bei minus zehn Grad! Mit einer Spitzhacke haben sie ihn ein Loch reinschlagen lassen, und hopp in die Brühe rein, der gute Mann mit seiner Hose und seiner Jacke. Dann fragten sie ihn, ob er Scheren bräuchte. Der Typ, der uns begleitet hat, hat uns alles erzählt. Danach müssen sie ihn wohl rausgezogen haben, er konnte sich schon nicht mehr rühren. Draußen ist er dann mit einem Schlag vereist, wie Holz, und die Kleider hart wie Pappe. Sie haben ihn vor die Duschbaracke gestellt, drei Tage, bevor wir kamen, und der Typ hat uns gesagt: Da bleibt er den 48
ganzen Winter, so lange, wie er sich hält. Den Zettel hat man zu erzieherischen Zwecken aufgehängt, für die anderen, die gehen zum Appell da vorbei. Es ist ein Wortspiel, sagte er uns. Und plötzlich hat einer unserer Jungs mitten auf die Straße gekotzt. Kleiner Schwächling, hat unser Begleiter, immer noch lachend, gesagt. Die da haben Dusel, bei dieser Kälte wird das Schneekratzen lustig. Sehn wir uns mal an, was ihr uns geliefert habt. Und dann hat er uns zum Lastwagen zurückgebracht. Du warst dabei, so war's doch, nicht?« fragte er den anderen Fahrer. »Korrekt.« Und er warf einen kurzen Blick über die Schulter. Andrei sah Ian an, der die Augen geschlossen hatte. Das Gesicht war blaß geworden, und die dunklen Augenbrauen und der Mund zeichneten heftige Schatten, wie in dem weißgeschminkten Gesicht eines Akrobaten oder verletzten Clowns. Jäh war ihm seine endgültige Bestimmung aufgegangen, kein abstraktes DORT oder LAGER NULL, sondern eine menschliche Abdeckerei. Seit dem vorangegangenen Abend befanden sie sich schon länger als einen Tag in diesem Wagen, sie würden bald in S. ankommen und brauchten bei diesem Wetter noch einen Reisetag mehr. Zu fliehen war praktisch unmöglich geworden. Er hätte die Chance am Nachmittag nutzen sollen, doch war diese Chance sehr bewußt eingeplant gewesen; man hätte ihn freundlich wieder eingefangen, und zu dieser Stunde hätte er nicht einmal mehr mit ihnen sprechen können. Er versuchte zu begreifen, warum er sich in dieser für ihn bisher unbekannten Welt befand, die Soldaten, der Brotwagen, in dem das Brot zermanschte, bevor es hart wurde, diese unbekannte Verurteilung für Taten, die er nur erraten konnte, und vor allem der vollständige Bruch mit seiner Welt, mit seinen Freunden, ihr Schweigen, das sich nur erklärte, wenn sie ihn verstoßen wollten, jede Verbindung durchtrennen, wie man ein faules Glied abschneidet. In seinem tiefsten Inneren verteidigte er hartnäckig alles, was er war, selbst wenn er von nun an der einzige sein sollte, und die Verzweiflung über seine Machtlosigkeit hinsichtlich allem, was ihn betraf, hatte ihm am Ende der Erzählung des Jungen die Augen geschlossen. Er hatte das Gefühl, selbst an der Stelle des wie eine menschliche 49
Bestie behandelten Körpers zu stehen, für den einzig der Name Märtyrer angemessen gewesen wäre. »Ich will nicht...«, sagte er, die Augen öffnend, doch der Rest des Satzes verlor sich vor der Geste Andreis; der Sergeant hielt ihm eine Thermosflasche hin. »Nein danke«, sagte Ian. »Fühlst du dich schlecht?« »Nein.« »Du bist weiß geworden wie...« »Wie Schnee«, sagte Ian lächelnd. »Es ist meine Hautfarbe«, aber er wußte, daß sein Gesicht leichenblaß sein mußte. »Warum wurdet ihr nicht über Funk geleitet?« fragte er den Fahrer. »Bis zum Schneesturm hat's funktioniert, danach waren wir abgeschnitten. Ich bin nur auf der Wellenlänge für den Konvoi, und ich hab keine Verbindung mehr. Aber wir sind bald da, außerdem ist die Straße hier freier. Da, man sieht die Sterne, das deutet auf trockene Kälte hin. Es ist gefährlich, wenn's vereiste Stellen gibt, hier hat's weniger geschneit.« Eine lange Weile verging, dann liefen Häuser die Straße entlang, und bald darauf einige Bogenlampen, die die Ankunft in S. ankündigten. Alles lag verlassen, die Häuser still und dunkel, doch waren die langen Straßen von Laternen erhellt, die den Schnee gelb färbten und ihre Einsamkeit noch größer machten, denn jede Laterne sah aus, als ob sie auf jemanden wartete, und die Unbeweglichkeit dieser Beleuchtung gab einem das Gefühl, daß niemals jemand kommen würde. Der Proviantwagen glitt durch die vereinzelten Lichtflecken, und jede Laterne warf im Vorbeifahren ein bleiches Viereck auf Andreis Hände. Ian sah, daß er die Handschellen hervorgeholt hatte, und erneut zog sich sein Herz zusammen, doch er hielt folgsam seine Hände hin. »Ich glaube nicht, daß es heute abend nötig ist«, sagte der Sergeant. »Wir gehen in die Kaserne.« Schließlich hielt der Wagen vor einem breiten Eisenportal. Andrei stieg aus, und die Sekunde, die er brauchte, die Wagentür 50
zu schließen, ließ sie im Inneren des Lasters vor Kälte schaudern. Der Sergeant mußte mit der Faust gegen eine kleinere Tür schlagen, aber sein Handschuh, der Schnee und der Raum dämpften das Geräusch. Nach einer Weile jedoch öffnete sich ein Schiebefenster, eine knappe Stimme fragte etwas, und nach einigen Augenblicken zeigte sich ein weiteres Gesicht. Andrei wurde eingelassen, dann wurde das Portal geöffnet und hinter dem Proviantwagen wieder geschlossen.
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7. Im Mannschaftssaal der Wachen dösten junge Soldaten; einer von ihnen hatte sich sogar auf einer Bank ausgestreckt und die Mütze über das Gesicht gezogen. Als der Offizier das Generalstabssiegel auf dem Auftragsbefehl sah, ließ er die vier Männer sofort in das Mittelgebäude führen, wo sie schlafen und sich waschen konnten; die Duschzellen befanden sich neben dem leeren Zimmer, das man ihnen zuwies. Ian wurde wie die anderen behandelt, es war nicht besonders erwähnt worden, was man unter Speziallieferung verstand. Der Lastwagen wurde verschlossen und in Sichtweite des Wachenkorps abgestellt. Im Zimmer trafen sich die vier wieder, mit Decken, Handtüchern und Seife. Die anderen hatten noch nicht einmal ihre Stiefel ausgezogen, als Ian seine Kleidung bereits auf einen der Hocker geworfen hatte und mit dem Handtuch über der Schulter geradewegs zu den Duschen ging. Nach dem Tag kalter Erstarrung im Wagen erschien das warme Wasser heiß. Sofort spürte er, wie sich mit dem leichten Wasserdampf, der um die an der Decke hängenden nackten Glühbirnen zu wirbeln begann, seine schwarzen Gedanken in Luft auflösten, die durch die Erzählungen seiner Kameraden hervorgerufen worden waren. Die anderen waren inzwischen nachgekommen, Andrei und einer der Jungen mit einem Handtuch um die Hüften, der dritte dagegen in Hosen, er ließ sich Wasser über Gesicht und Arme laufen, als mache es ihm angst. Er ging wieder ins Zimmer zurück. Ian blieb noch unter der Dusche, während die anderen sich bereits abtrockneten, dann kam auch er, und als er sich allein mit Andrei befand, sagte er mit leiser Stimme: »Wenn ich du wäre, würde ich den, der dich auf diese 52
Mission geschickt hat, anrufen. Es läuft nicht wie vorgesehen. Du müßtest Bericht erstatten. Kann sein, daß sie irgendwas ändern. Und dann, wenn du zurückkehrst, benachrichtige Catherine, vielleicht weiß sie von nichts, sie ist schön wie Elfenbein, ich gebe dir die Adresse... Man muß mich retten...« In den mit Wasserdampf gefüllten Duschen standen sie nackt voreinander, und das Flüstern machte den Sergeanten nervös. Mechanisch schaute er auf die halboffene Tür, als könnte die seltsame Szene überrascht werden. »Ja, das mache ich«, murmelte er. »Telefoniere jetzt mit dem Generalstab, glaube mir.« Ian sprach wieder mit normaler Stimme, und alles ging wieder den geregelten Gang. Die anderen hatten sich bereits hingelegt, und während Andrei zum Wachenkorps ging, streckte Ian sich aus. Gegen seinen Willen fiel er in Schlaf. Alpträume quälten ihn. Er ertrank in einem Schneeloch, dann versuchten Münder über ihm, ihn zu schnappen, dann waren die Münder auf Stiefel gestiegen und verfolgten ihn in einem Wald, wo eine Frau mit offenen Armen wartete, die sich um ihn schlossen. Sie war vereist und mit Pappe bekleidet. Ian wand sich unter seiner Decke, als Andrei wiederkam. Die anderen knurrten in ihren Träumen, es war bald Zeit zum Wecken, die Wachablösung war schon im Gange. Andrei hatte den Generalstab angerufen, den wachhabenden Telefonisten geweckt, hatte seinen Namen, seinen Dienstgrad, die Nummer des Auftragsbefehls angegeben, der Anruf sei dringend. Am anderen Ende der Leitung prüfte man seine Angaben, man sagte ihm, daß der speziell mit dieser Sache beauftragte Offizier geweckt werden müsse und zurückrufen werde. Fast eine Stunde verstrich, die Wachstube war trübselig um diese späte Nachtstunde, da niemand Lust hatte zu sprechen. Andrei versuchte wach zu bleiben und las die angeschlagenen Befehle, aber die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Undeutlich fühlte er sich selbst als Gefangener einer Geschichte, von der er nur die Strafe kannte, dieser Junge, den sie wegbrachten, stahl einem unmerklich das Herz, und dann war da diese geheim53
nisvolle Catherine wie das Bild einer Frau, in der man unterzugehen träumt... Der Generalstab rief zurück. Die Unterredung fiel länger aus, als er erwartet hatte. Man lobte ihn dafür, angerufen zu haben. Da der Konvoi erst am nächsten Morgen im Lager erwartet wurde, hatte man sie noch auf der Straße vermutet. Alles, was er getan hatte, zeugte von einer schnellen Entschlußkraft. In welchem Zustand war der Junge? – Gut – alles in bester Ordnung. Der Befehl lautete folgendermaßen: Die Fahrer und den Passagier bis zum Nachmittag ausruhen lassen. Danach weiterfahren, bei einigermaßen gutem Wetter würden sie im Morgengrauen im Lager eintreffen. Bei zu starkem Schneefall sollten sie warten. Ein anderer Sergeant aus der Kaserne von S. würde die Begleitung übernehmen. Andrei solle unverzüglich zurückkehren. Die Befehle würden telefonisch durchgegeben und bei Büroöffnung übermittelt. Die beiden Fahrer, die sich verirrt hatten, würden an eine der regionalen Wachschanzen überstellt, dort hätten sie alle Muße, sich mit der Straßentopographie im Winter vertraut zu machen. Nach seiner Rückkehr solle sich der Sergeant Andrei V. sofort beim selben Dienst melden wie bei der Abreise. Ein Streifen mehr erwarte ihn... Andrei beugte sich über den schlafenden Ian, er blies ihm in die Haare, und Ian rührte sich nicht. Der Sergeant glaubte ihn tief in seine Träume versunken, doch fühlte der Junge seine Anwesenheit und hielt die Augen geschlossen. »Ich verlasse dich«, murmelte Andrei, dann noch leiser: »Mögen die Engel dich beschützen!« Er wandte sich ab, doch Ian hielt ihn an der Jacke fest. »Rette mich.« Andrei nahm den Zettel, auf dem Catherines Name und ihre Telefonnummer aufgeschrieben waren. Ian mußte einen Moment der Unaufmerksamkeit genutzt haben, im Wagen, als sie die Straße geräumt hatten, denn man hatte in seiner Reichweite nichts zum Schreiben gelassen. Ganz schön ausgekocht, dieser Junge! »Schlaf, du bist bis zum Nachmittag hier, alles wird gut...« Ian hatte sich, auf seine Ellenbogen gestützt, nicht gerührt, aber Andrei sah ihn nicht mehr an. Was konnte er jetzt noch tun? Er verließ das Zimmer, und hinter der Tür stand bereits ein bewaffneter Posten. 54
Die beiden anderen Männer schliefen den ganzen Morgen hindurch tief. Ian lauschte den Geräuschen der Kaserne, der Instinkt gab ihm ein, sich nicht zu rühren, als würde ihn hinter dieser Tür das erwarten, was er nicht wissen wollte. Mittags wurden die anderen wach und machten unter sich die gewöhnlichen Mannschaftssaalwitze über den kleinen Mann, der zuerst aufstand. Ian hatte sich unter seiner Decke eingerollt. Die Abwesenheit Andreis schien den anderen natürlich, sie standen auf, zogen sich an, doch als sie hinausgehen wollten, wurden sie sofort in ein Büro geführt. Dort unterrichtete man sie, mit Angabe des Grundes, von ihrer neuen zeitweiligen Abkommandierung sowie von dem Befehl, nach einem Frühstück in der Kaserne ihren Lastwagen bis zur festgesetzten Zeit um sechzehn Uhr nicht mehr zu verlassen. Der Himmel war von einem zarten Blau und wurde langsam von flockigen leichten Wolken durchquert. Als Ian allein war, stand er ebenfalls auf, zog sich an und warf einen Blick aus dem Fenster: Das Leben in der Kaserne lief mit der Monotonie des Nutzlosen ab, durch die Bäume hindurch sah er die Gebäude, das große zentrale Rechteck, das als Appellplatz diente, war leer, die Schneedecke war nicht sehr fest, glitzerte aber und knirschte bestimmt unter den Schritten. Gegen zwei Uhr kam der Ersatz für Andrei: Der Junge war kaum älter, mit kurzrasierten Haaren, länglichem Mund und blauen Augen, die nicht zwinkerten. Er schätzte Ian ab und sagte: »Man wird dir was zu essen bringen. Wir fahren um vier Uhr. Wenn du pissen willst, fragst du. Zwei Soldaten stehen vor der Tür, die Türen bleiben auf. Kapiert?« Ian antwortete nicht. Danach konnte er sich vor den Augen einer seiner Bewacher waschen und bekam ein normales Offiziersessen. Eine Viertelstunde vor der Abfahrt kam der Mann wieder, ließ ihn sich nackt ausziehen, untersuchte ihn, schamlos, von Kopf bis Fuß, befahl ihm, sich wieder anzuziehen, und legte ihm Handschellen an. Sie gingen hinaus, und da es Feierabendzeit war, begegneten sie Gruppen von Soldaten, die Ian musterten. »Er hat eine hübsche Fresse. Was hat er angestellt?« Doch ihre Überlegungen brachen sich an der schweigsamen Gruppe, den beiden bewaffneten Soldaten, dem martialen Sergeanten und dem Jungen, der vage lächelte. Sie sehen 55
nur die Handschellen, dachte er und hatte den Eindruck, daß die ganze Kaserne vor ihm defilierte, denn bevor sie am Lastwagen anlangten, wurden die Soldaten zahlreicher: Es war, als würde die gesamte Menschheit dem Abfall einer ihrer Söhne zusehen, ohne Feindseligkeit, aber mit dem unbestimmt guten Gewissen, daß sie ihre Pflicht tat, den Paria von ihrem Weg zu entfernen. Die jungen Leute sagten nichts, wandten manchmal den Kopf ab, weil ihre heimliche Sympathie diesem Gesicht zuflog, aber keiner mißbilligte es im Grunde, daß ein Junge ihres Alters so behandelt wurde. Das Unglück ist nicht unschuldig. Zu diesem Preis hatten sie ihre Ruhe. Die spektakuläre Seite, zwei bewaffnete Männer, ein Unteroffizier mit einem gut sichtbaren Revolver am Gürtel und die gefesselten Hände desjenigen, den sie eskortierten, stellte lediglich den sichtbaren Teil der Bestrafung dar, die Reste von Freiheit, das, was eine Welt bedeckte, von der sie nichts wissen wollten. Um so mehr fühlten sie sich innerhalb der Normen dessen, was von ihnen verlangt wurde; und das Kasernenleben, das Gemeinschaftsleben machte sie sicher, trotz der Zusammenstöße und Spannungen, die unvermeidlich waren, weil ein Ereignis wie dieses hier seine ganze Flachheit enthüllte, das Ausmaß der Plattheit des Befehls, platt und eintönig wie Felder unter dem Schnee. Nachdem sie die Tür des Proviantwagens geschlossen hatten, gingen die beiden Soldaten nach vorne; die Trennung war wieder hergestellt. Der Unteroffizier klopfte scharf an das Schiebefenster und gab das Zeichen zur Abfahrt. Ian hatte sich so gedreht, daß er nach draußen sehen konnte, er trug immer noch Handschellen, doch war er nicht an eines der Gestelle geschlossen, der Sergeant hatte vermutlich nicht daran gedacht. Die Fahrer warfen ihm nicht einen einzigen Blick zu, sobald sie das Portal hinter sich gelassen hatten, konzentrierten sie sich auf die in die Stadt führende Straße. Die Route war ihnen mitgeteilt worden, und sie mußten sie dieses Mal wohl auswendig gelernt haben, denn der Wagen fuhr ohne Zögern, und sie sprachen untereinander nur, um »nach links« oder »bei der nächsten Kreuzung abbiegen« zu sagen. In S. war der Schnee seit dem Morgen nicht geschmolzen, trotz des Verkehrs, und hatte in der Kälte sein Aussehen von glasiertem Zucker bewahrt. Geschäfte waren erleuchtet, 56
Kinder spielten, und die zahlreichen Passanten brachten dem grauen Proviantwagen, der ihre Stadt wie ein schwarzer Gedanke durchquerte, keinerlei Aufmerksamkeit entgegen. Ian betrachtete die Häuser hinter den Bäumen. An einer Kreuzung mußten sie einen Moment lang halten, um die aus der Gegenrichtung kommenden Wagen abbiegen zu lassen. In diesem Augenblick merkte am Bordstein des breiten Gehweges ein kleines Mädchen, das tief in den hellen Pelzkragen eines blauen Mantels eingemummt war, den bewegungslosen Wagen. Sie mochte acht, vielleicht neun Jahre alt sein, und braune Locken sahen unter einer Murmeltiermütze hervor; mit einem Arm hielt sie ein Paket fest an sich gedrückt. Sie schaute zu Ian und lächelte ihn mit ihrem ganzen Gesicht an, mit Augen und Mund, und Ian gab das Lächeln zurück, das Fenster existierte nicht mehr. Das kleine Mädchen winkte mit der behandschuhten Hand, aber die Handschellen erinnerten Ian daran, daß er seinerseits die Hand nicht heben konnte. Der Wagen fuhr wieder an, ließ dieses Lächeln und die kleine erhobene Hand hinter sich. Ian wurde plötzlich an der Kehle gepackt: Der Mann drückte sie und blickte mit seinen blauen Augen fest in Ians Augen. Wortlos brachte er ihn dazu, sich umzudrehen, so daß Ian dem Fenster den Rücken zukehrte. In der Hand war ein Zittern, das den leeren Blick Lügen strafte, diese Hand hatte Lust zu schlagen, doch standen die Befehle dazwischen. Der Passagier mußte im besten Zustand übergeben werden, absolutes Verbot, ihn anzurühren, außer... außer um eine Flucht zu verhindern, aber selbst dann keine Beschädigung, keine Gewalttätigkeiten, ihn sanft wieder einfangen. Mehr nicht... Der Druck der Hand ließ nach, aber wie gern hätte sie dieser Geisel ein wenig Schaden zugefügt, war sie ihr doch in gewisser Weise ausgeliefert, aber für diesmal mußte sie den Wunsch, weh zu tun, bremsen. Sie durchquerten eine Gegend voller Sümpfe und Wälder, der Schnee hatte seine Offensive eingestellt, nicht aber die Kälte, die die Fahrt immerhin zuließ. In den unbewaldeten Gegenden hatten sich Schneeverwehungen gebildet. Die Stille war vollkommen, auch der Motor brummte nur schwach, und die Scheinwerfer des Lasters erhellten nur weiße Räume oder Bäume, die plötzlich von dem Licht ergriffen wurden. Ian konnte nichts mehr sehen, der 57
Rohling vor ihm wandte die Augen nicht mehr von ihm. »Und wenn ich ihm plötzlich sagen würde, daß ich ihn liebe, was würde geschehen?« Aber dieser Gedanke brachte ihn auf eine andere Form der Liebe, und er sah sich Monate vorher, vor den Ferien, im hinteren Raum eines der Cafes, die gerade in Mode waren, inmitten eines fröhlichen Durcheinanders von Unterhaltungen... Hatte an diesem Nachmittag alles begonnen? Ein ziemlich weit von seinem Tisch entfernt sitzender Mann beobachtete ihn, mehrere Male hatten sich ihre Blicke gekreuzt, und Ian hatte dieselbe Unruhe verspürt, als wenn ihm jemand grundlos die Hand auf die Brust gelegt hätte. In dem Blick dieses Mannes war nichts Klares, keine Anziehung, nur etwas, das sagte: »Ich bin von nun an da, und du weißt es, und um uns herum wird die Welt verschwinden.« Der Blick eines Dämons, der sich seiner Beute sicher ist, aber Ian lachte über sich selbst und über diesen Absturz seiner Gedanken, die er als romantischen Traum abtat, denn der Dämon existierte nicht. Erneut stürzte er sich blindlings in die Verrücktheiten, die man um ihn herum sagte, und zeigte sich an diesem Tag noch ausgelassener als gewöhnlich. Sämtliche Provokationen, die ihm in den Sinn kamen, riefen Gelächter hervor, so daß Andre, der neben ihm saß, ihm zuflüsterte: »Du übertreibst. Wenn man uns hörte, würde uns alles, was du sagst, Gott weiß wohin bringen...« Aber Ian küsste ihn vor allen Leuten auf den Mund: »Hier, schluck meine Worte hinunter!«, und diese Geste entfesselte erneutes Gelächter. Am folgenden Tag im Kino glaubte er den Mann vom Vortag eine Reihe hinter sich sitzen zu sehen, doch war es schwierig, sich umzudrehen, und als er es unter dem Vorwand tat, seinen Arm um Catherine zu legen, waren nur Unbekannte da, die Augen vom Film erleuchtet. Und dann saß der Mann jeden Tag in seiner Ecke. Ian begann ihn im Vorbeigehen zu grüßen, zuerst herausfordernd, dann immer spöttischer, aber der Mann sah ihn nicht an. Schließlich kamen die Ferien. Nach der Rückkehr im September befand sich der Mann vom ersten Tag an wieder in seiner Ecke, las wie gewöhnlich eine große Zeitung und trank sein Glas Tee. Ian tat so, als ob er ihn nicht sehe, aber nach drei oder vier Nachmittagen, an denen er sich mehr und mehr überwacht fühlte, hatte er keine Ruhe mehr und versuchte, 58
einen Blick des Unbekannten aufzufangen. Dieser schien sich nun seinerseits zu entziehen, und Ian sagte immer lauter immer mehr Dummheiten, sprach von dem absoluten Recht eines jungen Mannes, alles zu tun, was er wolle, und über den Gesetzen zu stehen. Seine Freunde, die an seine Reden gewöhnt waren, lachten wie üblich darüber. Eines Abends, in einem anderen gut besuchten Lokal, entschloß er sich, mit dem Mann, dessen Anwesenheit er am anderen Ende des Saales spürte, zu sprechen, und ließ absichtlich alle anderen vor ihm hinausgehen, doch verschwand der Mann im selben Moment wie sie. Am nächsten Morgen wollten sich alle im Café Schubert wiedertreffen. Ian war weit vor der vereinbarten Zeit dort, als das Café gerade geöffnet wurde, und wartete. Auch der Mann kam vor den anderen und begab sich zu seinem Stammplatz. Sobald er Ian allein in seiner Ecke bemerkte, entfaltete er seine Zeitung. Nach einer Weile ging Ian zu ihm. Die Zeitung bewegte sich nicht. »Was wollen Sie von mir?« fragte er, bemüht, seine Stimme unter Kontrolle zu halten. Er hatte Lust, das Papier beiseite zu schlagen, es zu zerfetzen. »Warum folgen Sie mir? Worauf warten Sie? Was habe ich Ihnen getan! Wer sind Sie?« Die Zeitung senkte sich, und der Blick des Mannes umschloß ihn gänzlich, ja, das war es, obwohl er saß, es war ein Blick, der ihn beherrschte, sein Gesicht auseinandernahm, seinen Hals, seinen Körper unter der leichten Kleidung. Nach einer langen Weile nahm der Mann seine Lektüre wieder auf. Eigenmächtig setzte Ian sich ihm gegenüber. »Ich bin nicht zu verkaufen«, sagte er, wurde sich aber sofort der Idiotie seiner Bemerkung bewußt. »Ich will sagen, daß Sie mich wie eine Schaufensterauslage betrachten. Suchen Sie jemand, an den ich Sie erinnere?« Dann senkte er die Stimme: »Haben Sie Befehle? Werden Sie von meiner Familie bezahlt? Haben Sie noch nie einen Verliebten gesehen? Los, geben Sie mir die Zeitung und sehen Sie mich endlich an!« 59
Der Mann senkte die Zeitung und sagte schließlich: »Sie kennen mich nicht.« »Das ist ja wundervoll!« rief der junge Mann aus. »Sie verfolgen mich, und ich kenne Sie tatsächlich nicht. Wir haben nichts gemeinsam, wir haben uns nichts zu sagen, und Sie haben mich gefälligst in Ruhe zu lassen. Ich habe genug von Ihren Blicken, sie sind wie Hände auf...« Der Mann unterbrach ihn mit scharfer Stimme. »Pflegen Sie Unbekannte immer zu beleidigen?« Der junge Mann stand wortlos auf und ging zu seinem Tisch zurück. Er bestellte eine Flasche Champagner, trank sie, ohne auf den Kellner zu achten, und seine Freunde fanden ihn in aggressiv heiterer Stimmung vor. Als sie schließlich alle versammelt waren, um wie gewöhnlich zu diskutieren und sich zu amüsieren, stand der Mann auf, ging an der Gruppe vorbei und grüßte Ian, wobei er die Zeitung direkt vor ihn auf den Tisch warf. »Wer ist das?« erkundigten sich die anderen. »Niemand.« »Wie in der Odyssee also«, bemerkte jemand. Einer der Studenten entfaltete die Zeitung. »Seht her«, sagte er. »Hier ist eine Botschaft.« Es waren rot unterstrichene Wörter, die einen Satz bildeten: »Wir sehen uns hier nicht wieder.« »Erzähl, was soll das bedeuten? Ist er ein Schieber, ein Zuhälter, ein Gangster, ein was? Wir tappen im Dunkeln!« Lachend begann jeder, das Geheimnis auf seine Weise zu interpretieren, aber Ian entriß ihnen plötzlich die Zeitung, knüllte sie zusammen und warf sie beim Weggehen fort. »Ian, bleib...« skandierten die anderen, er aber ging zur Tür, wobei er sich an einer Tischkannte stieß. »Er ist vollkommen fertig!« Die Bemerkungen Adams waren freundlich grausam für jemanden, den sie mochten und der so viele Dinge verbarg, »selbst vor dir«, sagte er zu Catherine und streichelte ihre Hand.
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Ian war wütend nach Hause zurückgekehrt, hatte sich auf ein Sofa geworfen und blitzartig begriffen, daß er in eine Falle gerannt war.
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8. Die Reise in den Norden endete in vollständiger Einöde. Nach der Durchquerung von Sümpfen über befestigte Wege boten schweigende Wälder ihre düsteren Straßen feil, die stellenweise von Schnee erhellt wurden. Das Geräusch des Wagens rief keinerlei Echo hervor, dann kündigten Schilder ein militärisches Sperrgebiet an, und am Rand eines Weges wartete mit angeschalteten Scheinwerfern ein anderes Auto auf sie. Sie hielten an, zwei Wachen sollten hier die Fahrer ablösen, die ihren neuen Posten erreicht hatten. Die neuen Wachen schlugen an die hintere Tür. »Ist das Päckchen drin?« fragte eine Stimme. »Ja«, antwortete der Sergeant beim Offnen. »Bleibst du hier?« »Ich brauch die Lieferbestätigung vom Kommandanten.« »Und was noch?« »Redet nicht, Befehl von oben.« Er zeigte auf seine Streifen. »Los, fahren wir.« Sie fuhren über Sandwege, und nach einer Weile schien der Wald heller zu werden, doch war es nur der blasser werdende Himmel. Eine halbe Stunde später wurde der Wagen erneut angehalten, draußen gab es einen Wortwechsel, dann fuhren sie noch ein Stück weiter, bevor der Motor endgültig schwieg. Die Tür wurde geöffnet, und der Sergeant ergriff Ian bei den Handschellen. In der scharfen Luft der Dämmerung sprangen sie auf den Boden, 62
Wachen umringten sie. Der Proviantwagen sollte in der Brothütte entladen und der Junge zum Kommandanten geführt werden. »Überlaß ihn uns«, schlug man dem Sergeanten vor, »und trink einen Kaffee.« Doch der lehnte ab, solange der Kommandant sie nicht empfangen hatte. Der Befehl kam von höchster Stelle, die Papiere waren in diesem Punkt eindeutig. Die anderen sollten ihn in das Büro des Lagerchefs bringen. Es war erst fünf Uhr morgens, dennoch erschien der Kommandant sofort, in frostiger Stimmung, und ließ den Sergeanten, Ian und die beiden Wachen, die sie gefahren hatten, in einen großen Raum treten, in dem der Ofen gerade erst angeheizt worden war. Er war ein großer, schmaler Mann, mit braunen Haaren, sehnigen Muskeln und dunkelbraunen Augen, die von immensen Wimpern gesäumt waren, als wollten sie die Unerbittlichkeit seiner Seele verdecken. Der Sergeant war ihm lästig, aber er war Teil der Armee und hielt in den Händen ein Dokument, welches ihm bis zur Übergabe der Verantwortung dieselben Vorrechte einräumte wie ihm selbst. Der Gefangene war ein hübscher Junge. Er mußte allerhand Schweinereien angestellt haben, um hierherzugelangen! Was ihn betraf, den Chef, wie er im Lager genannt wurde, so hatte er bereits ein detailliertes Dossier über das, was man von ihm erwartete, erhalten. Zum ersten Mal überwachte man ihn, gab ihm Befehle, zwang man ihm eine Gebrauchsanweisung seiner Talente auf, machte aber gleichzeitig deutlich, daß man ihn für intelligent genug hielt, Direktiven zu befolgen und nicht nur auf seine Instinkte zu hören. Dieser Fall lag auf der ganzen Linie anders, es gab Instruktionen, die nur nach Maßgabe zu öffnen waren. »Wir müssen der Form halber beide unterschreiben«, sagte er zum Sergeanten, »ich behalte das Original und eine der Durchschriften, glaube ich.« »Nein, Kommandant, Sie behalten die beiden Durchschriften und geben mir das Original zurück.« »Gut.« Seine Verärgerung wuchs, aber er setzte zum Unterschreiben an. Da ließ sich die Stimme des Sergeanten vernehmen: 63
»Bevor Sie unterschreiben, muß ich Ihnen zeigen, daß der...« – er zögerte bei dem Wort – »Junge in gutem Zustand ist.« »Das sieht man«, unterbrach ihn der Chef. »Die Befehle sind in diesem Punkt genau.« Er schloß Ians Handschellen auf und befahl ihm: »Ausziehen.« Ian rührte sich nicht. Zum ersten Mal wandte sich der Chef an ihn: »Tu, was er sagt, zieh deine Sachen aus.« Mechanisch entkleidete Ian sich vor den vier Männern. Die anderen warteten. Als er nackt war, füllte der frische Geruch seiner Haut, ein Duft von Seife auch, das Zimmer. Der Sergeant war unerbittlich: »Streck die Hände vor, heb die Arme, öffne den Mund, senk den Kopf, zeig den Hals, dreh dich um, beug den Oberkörper vor, spreiz die Beine, zeig die Fußsohlen.« »Perfekt.« Es war der Kommentar des Kommandanten. »Jetzt kann ich unterschreiben«, erklärte der Sergeant. »Und wieder abfahren«, fügte der Chef hinzu. »Mission beendet. Geben Sie schnellstens Bericht. Ich halte Sie nicht auf.« Der Sergeant knallte die Hacken, und die Wachen schlossen hinter ihm die Tür. »Zieh dich wieder an«, sagte der Kommandant. »Du bist an deinem Bestimmungsort angekommen.«
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9. Während Ian sich wieder anzog, setzte der Kommandant sich an seinen Schreibtisch. Die beiden Wachen beobachteten Ian hemmungslos, dann heizte einer den Ofen noch einmal an, und der Chef ließ sie abtreten. Nach einer Weile wandte er sich an den reglos dastehenden Jungen: »Von nun an bist du bei mir, dein früheres Leben: ausradiert! Es gibt mich, den Chef, und die Wachen, denen du absoluten Gehorsam schuldest. Du kannst lesen, die am Eingang hängende Lagerordnung wird dir ausgehändigt, du wirst sie auswendig lernen, und danach wird keinerlei Vergeßlichkeit mehr toleriert. Damit das klar ist, verstanden?« Ians Instinkt riet ihm, kein Wort zu sagen. »Gut, man merkt, daß du weißt, was gespielt wird, du hast eine gute Gefängniserziehung erhalten!« Es folgte ein Schweigen, als erwarte er einen Protest auf seine Bemerkungen, der aber nicht kam. »Mehr und mehr scheint mir, daß du ein guter Junge bist. Wie schade, daß du hier bist, während du doch auf dem Land sein könntest, um auf deinen Skiern eine gute Figur zu machen. Es schneit dieses Jahr viel. Verstehst du mich?« Gegen seinen Willen kreuzte Ians Blick den des Chefs, und er senkte die Augen. Seit er aus dem Wagen gesprungen war, dauerte der innere Zusammenbruch an, seine Haut hatte Angst, ohne daß er diese Panik unterdrücken konnte. Es gelang ihm nicht, seine Gedanken zu sammeln; wie lange würde er noch so unbeweglich 65
dastehen, die Angst berührte nach und nach seine Beine, seinen Bauch, dann die Unterarme, wie eine unsichtbare Person, die ihn an sich zu ziehen versuchte. Seit dem Moment, in dem der Sergeant ihn an eines der Eisengestelle im Wagen geschlossen hatte, hatte er nichts mehr sehen können, und beim Aussteigen ähnelte die Landschaft den Beschreibungen der Soldaten vom Vortag, eine lange Kiefernallee, die sich bis zu dem Haus erstreckte, in dem er sich jetzt befand. Das Feuer knisterte kräftig, und in seinem Parka war ihm warm, doch in seinem Inneren hielt die Kälte der Unruhe vor. Der Chef schien es zu ahnen. »Man hat dir ein hübsches Kleidungsstück mitgegeben, schön warm. Du wirst es draußen brauchen, wir haben den Winter über dauerhaft minus elf Grad.« Der Ton wurde väterlich: »Du wirst dein eigenes Zimmer haben, zwar keine seidenen Laken und kein Daunenbett, aber es ist nicht schlecht, du logierst besser als die Wachen. Möglicherweise werden sie dich nicht allzu sehr mögen, also mußt du extrem höflich zu ihnen sein...« Er ließ, immer noch zuvorkommend, eine Pause zwischen seinen Worten, um eine Antwort zu provozieren, die jedoch nicht kam. »Dir geht's wohl nicht gut heute morgen. Du warst es gewohnt, daß dir Mädchen zu Füßen lagen oder Jungen, das ist es, stimmt's? Und jetzt ist niemand mehr da! Bist du zufrieden?« Er verließ seinen Schreibtisch, stocherte selbst im Ofen herum, um das Feuer noch einmal anzufachen, blieb dann vor Ian stehen. Ein leichter Schweiß perlte auf der Stirn des jungen Mannes. Mechanisch trocknete er ihn mit den Fingern. Der Blitz der Ohrfeige streifte seine linke Wange, die zu brennen begann. Er versuchte, nicht zu laut zu atmen. »Danke«, sagte er mit rauher Stimme, die den Kommandanten überraschte. »Sie haben Befehle bezüglich meiner Person.« Der Ton wurde wieder klar, fast unpersönlich, und der Chef setzte sich auf die Schreibtischkante, die Hand immer noch halb geöffnet, und versuchte zu begreifen, was geschah; bot ihm dieser Junge die Stirn, oder war er gezähmt? Und gleichzeitig meldete sich eine Zone der Lust in seinem Fleisch. Der Morgen 66
wurde interessant, anders als gewöhnlich und anders als die endlose Reihe von Schlägen und die ewigen Toten. Ich will leben, sagte Ian sich einerseits. Seine Ohrfeige hat mir meinen Instinkt zurückgegeben, und mein Wille standzuhalten ist wieder da, ich muß taktieren, das ist alles. Mein ›Danke‹ war Anerkennung, und der Gipfel der Ironie ist, daß er nichts davon weiß. Er bemerkte auch die körperliche Erregung des Kommandanten, der sich, auf seinem Schreibtisch sitzend, nur langsam beruhigte. Im Nebenzimmer hörte man die Schritte der Wachen, und auch von draußen wurde Getrampel laut. »Ich habe unumschränkte Macht«, brüllte der Chef. »Ich tue, was ich will. Wenn es mir gefällt, schläfst du in Scheiße.« Ian konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Draußen waren alle Geräusche unterbrochen, die Stille brach sich so gewaltsam Bahn, daß der Atem des Kommandanten bis in die Baumspitzen hinein hörbar sein mußte. Ians Lächeln – alles hatte er vorausberechnet, nur nicht diese absolute Waffe, die alle Reden zunichte machte. Er hatte Lust, auf den Jungen einzuschlagen, ihm das Lächeln vom Gesicht zu reißen und seltsamerweise nur dies zu behalten. »Wachen!« brüllte er. Unverzüglich traten die Wachen ein, willfährig und auf der Hut, aber zu ihrem größten Erstaunen sahen sie, daß der Junge sich nicht bewegt hatte, daß der Kommandant auf der Schreibtischkante saß und ihnen befahl, »dieses... den da in das speziell vorbereitete Zimmer zu bringen«. Mit einer Geste bedeutete er ihnen hinauszugehen. Die Wachen führten Ian fort und hoben im Hinausgehen die vor Ians Füßen auf dem Boden liegengebliebenen Handschellen auf. Da sie nicht recht wußten, wie sie mit ihm sprechen sollten, bedeuteten sie ihm im Nebenzimmer mit einer Kopfbewegung, ihnen zu folgen. Das »speziell vorbereitete Zimmer« befand sich im benachbarten Steinhaus, alle anderen Häuser waren aus Baumstämmen errichtet. Es war weitläufig, weiß und beinahe leer: ein Holzbett, ein Wandbrett mit darunter befestigten Haken, ein Tisch mit Stuhl und an der Decke ein Lampe, die trotz ihres weißen Porzellanschirms nur ein schwaches Licht gab. Zwei Militärdecken bedeckten das Bett; das Fenster ging auf die Mauer der sogenannten Duschen hinaus, eines 67
langen, für die Wachen reservierten Gebäudes, über dem Zweige hingen. Tannenbretter bildeten einen fast neuen Fußboden; das Zimmer war bisher nur gelegentlich benutzt worden, entweder von einem offiziellen Besucher, der für vierundzwanzig Stunden kam, um Statistiken anzulegen, oder von einem anderen Militär, einem Freund des Kommandanten, der nicht länger als eine Nacht blieb. Die Temperatur war angenehm, zwei Öffnungen unten in der Mauer waren mit dem Ofen verbunden, der im mittleren Zimmer plaziert war und das gesamte Haus wärmte. Seine Reisetasche erwartete ihn am Fußende des Bettes und auf dem Tisch die in eine Plastikhülle geschobene Lagerordnung. Die beiden Wachen schlossen ihn ein, ohne ein einziges Wort an ihn zu richten. Dies war also die Kulisse, in der er von nun an leben sollte. Das Wort Zeit verbannte er aus seinem Gedächtnis, genauso wie er das Wort warum verjagt hatte. Die Vergangenheit brachte die Zukunft in Gefahr, und er mußte allen gegenwärtigen Minuten ins Gesicht sehen, allem, was Tag für Tag plötzlich hereinbrechen konnte, um ihn zu erniedrigen oder ihn körperlich zu quälen. Seit dem Morgengrauen hatte er bereits eine kleine Ahnung davon, daß er hier die Qualität von Menschenfleisch besaß, selbst wenn man ihn im Moment noch in die Kategorie Luxusgut einordnete. Es war zu früh, zu erraten, was sich dahinter verbarg, zu früh sogar, es sich vorzustellen, denn er hatte bisher nur den idyllischen Aspekt des Lagers gesehen, eine baumgesäumte Straße in der blauen Stille der Morgendämmerung, Häuser in einer Waldlichtung und das Genrebild »Soldaten auf dem Land« der Wachen. Er setzte sich auf das Bett, um die Lagerordnung zu betrachten. Seine Augen überflogen die Sätze, bei denen es sich um Spielregeln zu handeln schien, denn die einzelnen Artikel ergaben auf den ersten Blick keinerlei Sinn. Artikel 3. Der Häftling antwortet auf keine Frage, es sei denn, die Beantwortung ist für den Bewacher notwendig. Die entsprechende Beurteilung steht dem Bewacher anheim. Jede nicht gerechtfertigte Antwort wird entsprechend dem Strafenkatalog geahndet. Artikel 7. Der Häftling kann auf die Verbesserung seiner Haftbedingungen hoffen, wenn er vierzehn Monate lang zu keiner 68
Bestrafung Anlaß gegeben hat und schriftlich beim ersten Wachhabenden seiner Sektion ein Gesuch stellt. Artikel 9. Jeder Häftling, der sich im Besitze irgendeines Kommunikationsmittels befindet, wird in den Operationsblock überstellt. Artikel 22. Alle Häftlinge sind zur Arbeit verpflichtet. Die Aufgabenverteilung wird von den Wachen jeweils am Wochenanfang vorgenommen. Jeder Verstoß gegen die Ordnung wird entsprechend dem Strafenkatalog geahndet. Artikel 25. Die vor Sonnenaufgang begonnenen Arbeiten müssen vor der Nachtruhe des Häftlings beendet sein. Artikel 30. Den Häftlingen ist es untersagt, unter vier Augen zu sprechen. Jeder Verstoß hat eine dieser Art von Vergehen entsprechende öffentliche Bestrafung zur Folge. Artikel 31. Der Strafenkatalog wird bei jeder Ankunft vom Ersten Wachhabenden der einzelnen Sektionen verlesen, und zwar bei dem auf die Ankunft folgenden allgemeinen Appell. Der Strafenkatalog kann vom Kommandanten, je nach den Erfordernissen des Lagers, neu festgelegt werden. Langsam ging Ian der methodische Wahnsinn dieser abstrakten Welt auf, nur sah er im Moment noch nicht, welchen Platz er darin einnehmen würde. Die Zeit verging. Eine Weile sah er aus dem Fenster und zählte die Kiefernäste über dem Gebäude, das von links nach rechts die Sicht verstellte. Nur der obere Teil des Fensters war beweglich, der durchgehende Rahmen unten war vermutlich so bearbeitet worden, daß man es weder öffnen noch sich hinauslehnen konnte. Mit dem vorrückenden Morgen drang keinerlei Geräusch in das Zimmer, außer zuweilen das Bullern des Ofens im benachbarten Zimmer. Der Farbe des Himmels nach zu urteilen mußte das Wetter eisig sein, und der Student las noch einmal die Lagerordnung; diesmal schien sie ihm von einem Henker während einer Mußestunde verfaßt worden zu sein. Er beschloß, ein wenig Gymnastik zu treiben, damit sein Körper genauso klar wurde wie sein Geist. Er begann mit Liegestützen, machte dann eine Reihe 69
von Bodenübungen für Beine und Bauch und hatte nach zehn Minuten genug. Ich muß durchhalten, sagte er sich, morgens und abends immer um dieselbe Zeit, zehn Minuten sind schnell vorbei. Sehr schnell, wenn man stundenlang abgesondert gehalten wird, ohne daß sich jemand um einen kümmert. Den ganzen Tag wurde er vergessen; als er ein paarmal gegen die Tür klopfte, wurde sie geöffnet, und eine Wache führte ihn zur Toilette und zur Dusche. Sie befanden sich jenseits des Mittelzimmers mit dem Ofen und waren für ihn reserviert. Es gab keine Tür, die Wache blieb bei ihm, führte ihn dann in sein Zimmer zurück und schloß ihn ein. Draußen neigte sich der Tag dem Ende zu, die Nacht kam, und er blieb allein mit der Lagerordnung. Dann begriff er, daß er sie wirklich auswendig lernen mußte und daß bis dahin nichts passieren würde. Und wenn er so tat, als hätte er nicht verstanden... Diese Möglichkeit schied aus, er hatte Hunger, und die Untätigkeit machte ihn ungeduldig. Er warf sich auf sein Bett, aber von außen wurde das Licht angeschaltet und man beobachtete ihn, so daß es ihm seinerseits unmöglich war, etwas anderes zu tun, als die Lampe zu betrachten. Er machte sich erneut daran, die Lagerordnung zu lesen, und wurde sich nach wenigen Minuten bewußt, daß die Artikel sich bereits in sein Gedächtnis eingeprägt hatten. Als Zeichen seines guten Willens schob er sie unter der Tür durch. Eine Weile später brachte man ihm Suppe und ein paar Orangen, dann wurden die Holzläden von außen vor sein Fenster geklappt, und das Licht ging aus. Er wurde der Nacht ausgeliefert und konnte lange nicht einschlafen. Seine seltsame Lage hinderte ihn daran zurückzudenken, und all seine Gedanken richteten sich auf das Morgen. Im Morgengrauen wurde er von dem Geräusch der Fensterläden, die geöffnet wurden, geweckt, und die Glühbirne ging an; die Lagerordnung war unter der Tür zurückgeschoben worden, und er legte sie auf den Tisch, dann öffnete eine Wache die Tür und brachte Kaffee und Eier, gleichzeitig wurden die Bettdecken mitgenommen. Wie am Vortag wurde er zur Dusche und zur Toilette geführt, wie am Vortag die ganze Zeit überwacht und wie am Vortag in sein Zimmer zurückgeführt und eingeschlossen. Er machte seine Übungen, sah aus dem Fenster, wartete.
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Gegen Mittag wurde die Tür von dem Kommandanten geöffnet. Ian stellte sich gerade vor ihn hin, bereit zu protestieren, doch der Lagerchef inspizierte sein Zimmer schweigend, warf einen unpersönlichen Blick auf den jungen Mann und ging fort. Kaum hatte sich die Tür geschlossen, schlug Ian mit der flachen Hand dagegen, verhalten zuerst, dann mit der Faust immer stärker. »Aufmachen, öffnet mir.« Der Lärm breitete sich nach allen Seiten um ihn herum aus, warf sich mit ihm zusammen auf die gleichgültige Tür, fuhr draußen frei fort, dort, wo Ian nicht hingehen konnte. Nichts antwortete ihm, er war darauf gefaßt, daß die Wachen hereinstürzen würden, er hoffte auf irgend etwas, sogar auf die Tracht Prügel, vor der er Angst hatte, aber nichts geschah, und die Zeit verging wie am Vortag. Seine Handfläche war verletzt, er konnte sich nicht aufstützen, doch reihte er alle Übungen aneinander, die er auf dem Rücken machen konnte, ohne die Hand zu benutzen. Und die Stunden setzten ihren langsamen Marsch fort, abends wurde ihm Essen vom Tisch des Kommandanten serviert, und die vor das Fenster geklappten Holzläden raubten ihm erneut die letzten Strahlen der Abenddämmerung, die von den Wänden reflektiert wurden. Abermals verschlang ihn die Nacht. Dann folgten ein dritter und vierter Tag, einander vollkommen gleich, und dennoch verstörte ihn der Wechsel von Licht und Dunkelheit, denn bisweilen ahnte er den Tag, während die Fensterläden seinen Blick noch immer versperrten, und andere Male ging das Deckenlicht an, während das Fensterrechteck von außen verdunkelt war wie in der Nacht. Wollte man ihm einen anderen Lebensrhythmus aufzwingen? Eine tiefe Stille umgab ihn, die selbst von den Schritten der Wachen zweimal am Tag kaum unterbrochen wurde. Er konnte das obere Fenster öffnen, um frische Luft zu bekommen, aber die Stille des Waldes auf dieser Seite ließ sich nur mit der Abwesenheit jeglichen Lufthauches in einem Sterbezimmer vergleichen, während in seinem Zimmer sein eigener Atem den weißen Wänden Leben gab. Er vollführte idiotische Gesten, um sie anzulocken. Wen eigentlich? Die Wachen, den Chef, oder jemand Unbekanntes, damit beauftragt, ihn zu bestra71
fen... Aber er wurde nicht einmal beobachtet, der düstere Rhythmus des Nichts setzte sich fort. Dann, eines dunklen Nachmittags, die Fensterläden waren geöffnet und es fiel ein beinahe ungreifbarer Pulverschnee, zerriß ein ungeheurer Schrei den Tag in zwei Stücke und wurde sofort von der Stille der Erde fortgetragen. Es gab keinen weiteren. Er drang aus dem Duschen genannten Gebäude der Wachen, und er ging Ian nicht aus dem Ohr, selbst am Abend, als die Läden geschlossen waren, hörte er ihn noch im unablässigen Rauschen seines Blutes. Bis dahin hatte er nicht von sich absehen können, alles, was um ihn herum geschah, führte ihn auf sich selbst zurück, die Welt draußen – die andere Seite des Hauses, der Chef, die Stacheldrähte, die Hunde, die Wege, die Wälder, die Sümpfe, die Straßen, die Kasernen, die Stadt, die Studenten, die Universität, Andre, Michel, Adam, Catherine, der Mann mit der Zeitung, die Cafes, seine Wohnung – fügte sich in seine Illusionen und Wünsche ein. Plötzlich hatte der Schrei sein ICH in zwei Stücke gerissen, als hätte er aus dem Tag zwei verschiedene Teile gemacht, die Stille vorher und die Stille danach, und ein gewisses ICH löste sich aus Ians Bewußtsein, um DIE ANDEREN zu werden. Er wollte um jeden Preis das Zimmer verlassen und bearbeitete die Tür mit Fußtritten. Schließlich ließ ihn der Chefin das Büro bringen, in dem er am ersten Tag vorgeführt worden war. Kaum angekommen, spielte sich dieselbe Szene ab wie damals. »Zieh dich aus.« Der scharfe Ton kündigte eine veränderte Haltung ihm gegenüber an. Ian zog seine Kleider aus, als wenn er bei sich zu Hause wäre, und verstreute sie um sich herum auf dem Boden. Er wußte, daß es nutzlos war, irgend etwas anzubehalten, und so zog er Unterhose und Strümpfe mit der ganzen Gleichgültigkeit aus, derer er fähig war. Währenddessen hatte der Chef eine lange Peitsche vom Tisch genommen und wartete, daß der Junge fertig wurde, was schnell geschah. Der Chef kam auf ihn zu und legte ihm die Peitschenspitze auf die Brust, glitt dann damit die Seite hinunter, über die Schenkel und wieder hoch, wobei sie das Geschlecht berührte. Ian rührte sich nicht, spürte aber einen eisigen Schauer über seinen Nacken laufen. Er wußte, daß er nach dem ersten Schlag zurückschlagen würde, man mußte ihn schon halbtot auf dem Boden 72
liegenlassen, und gleichzeitig versuchte er, vernünftig zu sein und gegen die Lust, sich zu wehren, anzukämpfen. Vor allem hatte er Angst vor dem ersten Schlag. Der Chef ließ sich Zeit, er nahm die Peitsche vom Körper und ging zu seinem Schreibtisch zurück, zum Mißfallen der Wachen, die darauf hofften, den Jungen endlich gezüchtigt zu sehen. Der Chef holte aus den Papieren, die einen ganzen Ordner füllten, einen Umschlag hervor und zog ein langes Blatt heraus. »Von Zeit zu Zeit bin ich verpflichtet, einen dieser Briefe zu öffnen; sie betreffen dich. Jedesmal wirst du nackt zuhören, wo auch immer du gerufen wirst, selbst im Schnee. Du hast dich stets mit derselben Schnelligkeit auszuziehen, außerdem siehst du ganz zufrieden dabei aus, deinen Hintern zu zeigen.« Die anderen grinsten, aber der Blick des Chefs unterband jede Bemerkung, und sie standen sofort stramm. »Während der ersten Tage wird er gar nichts tun. Er erhält keinerlei Beschäftigung, jeder Auflehnungsversuch wird ignoriert. Nach der Lektüre des vorliegenden Briefes jedoch wird der nächste Versuch, die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich zu ziehen oder sie anzusprechen, mit einem Wasserguß bis zum ersten Erstickungsanfall geahndet; in seinem Fall ist keine Wanne zu verwenden, und er ist stets abgesondert von den anderen zu halten; sie sollen ihn nie anders als in guter Verfassung sehen. Er soll unter keinen Umständen verunstaltet werden, spurlose körperliche Züchtigungen hingegen sind gestattet. Sie sehen, worauf wir hinauswollen. Zeigen Sie ihm, wozu das Brot dient. Ende der Anweisung.« Das Papier wurde zusammengefaltet und der Ordner zurückgestellt. Ian sah deutlich, daß er seinen Namen trug. »Bringt ihn so zurück, er kann sich bei sich wieder anziehen«, befahl der Kommandant. »Kann ich etwas sagen...«, begann Ian. »Du richtest das Wort an mich!« »Ich...« »Sei still.« 73
Der Kommandant nahm seine Peitsche, und Ian wich instinktiv zurück. »Und dann hast du auch noch Angst!« Die Peitsche nahm ihr unangenehmes Streicheln wieder auf, Ian hielt es für die Fortsetzung des Einschüchterungsversuchs, dann zog der Chef das Leder von seiner Haut zurück. Er ging um den Jungen herum und peitschte ihn auf das Gesäß, Ian lief auf den Tisch zu, doch packten ihn die beiden Wachen und beugten ihn über den Schreibtisch. Der Kommandant schlug ohne Eile. Die Züchtigung hörte auf, als die Haut ganz rot war, den Anweisungen gemäß jedoch unverletzt. Schließlich warfen ihm die Wachen seine Kleider in die Arme und brachten ihn nackt in sein Zimmer zurück. Ian zitterte vor Wut. Die Warnung war erfolgt, er zog sich an und mußte stundenlang auf die Befriedigung seiner körperlichen Bedürfnisse und seine Dusche warten. Diesmal lauerte er auf die Schritte des Wachpostens und sah ihn so eindringlich an, daß der an diesem Tag für ihn eingeteilte Posten ebenfalls gezwungen war, ihn anzusehen. Ian konnte nichts erhoffen, nicht einmal ein geflüstertes Wort, das las er in diesem Blick, in dem die Lust, weh zu tun, genauso unpersönlich war wie die zu rauchen, zu trinken, zu jagen oder grundlos ein Insekt zu zertreten. Er überlegte: Seit seiner Ankunft mußten bereits fünf Tage dem Nichts überantwortet gewesen sein, er konnte also auf eine Phase von weiteren fünf Tagen bis zur Öffnung des nächsten Briefes hoffen, vorausgesetzt, seine Haft barg den kleinsten Schimmer von Logik in sich und folgte nicht einfach einem blinden Mechanismus, der sich bis... bis zum Schluß fortsetzte. Welcher Schluß? Das wollte er nicht wissen, und gleichzeitig malte ihm seine romantische Vorstellungskraft, die in jedem Herzen lebt, nach und nach einen befreiten Ian aus oder einen dramatisch zur letzten Strafe geführten Ian, der aber immer noch der Mittelpunkt der Welt war. »Ich werde bekloppt«, dachte er. In seiner dicken Militärjacke streckte er sich auf dem Bett aus, da ihm während der Zeit, die den Tagstunden entsprach, die Decken entzogen wurden. Draußen fiel immer noch Schnee, in dicken, ungleichen Flocken, und die Stille wurde beklemmend, als würde der 74
Himmel eine behandschuhte Hand auf Ohren und Augen der Erde legen. Zwei weitere Tage wurden auf diese Weise verschluckt, zwei Tage, in denen nichts geschah, in denen er kein menschliches Wort hörte, in denen seine eigene Stimme ihm fremd erschien, als er versuchte, eine Tanzmelodie zu summen, in denen er wie menschliches Material trank, aß, sich wusch, pißte, schiß und schlief. Was das Sprechen mit sich selbst betraf, so schien ihm nichts einer Geistesverwirrung näher als diese aus seinem Mund dringende Stimme, die ihm von den Wänden wie ein Bumerang zurückgeworfen wurde. Nachts hingegen träumte er. Aber war sie wirklich ein Traum, diese zweite Realität, die ihn seine Vergangenheit noch einmal durchlaufen ließ auf der Suche nach einem verlorenen Ian? Er träumte, er sei in der Universität. Der gotische Hof, die Renaissancearkaden, die die alten Gebäude umgaben und mit den Treppen emporstiegen: Er lief hier mit derselben lebhaften Eile entlang wie an den Tagen, an denen er zu spät kam... An jenem Tag hatte er ein Geschichtsseminar. Ein Schild an der Tür wies darauf hin, daß der Saal für einige Wochen geschlossen sein würde, die Seminare aber in der zweiten Etage im Konferenzzimmer stattfänden. Ian ging hin, wie er es im letzten März getan hatte, vor neun Monaten... Und hier versank Ian in der realen Welt, so wie man, ohne jede Kraftanstrengung, ins Wasser eintaucht, und die dünne Haut der Zeit verschwand nach der des Raumes. Professor Hermann warf ihm wie gewöhnlich eine bissige Bemerkung über die Jungen zu, die am Ende ihrer nächtlichen Ausschweifungen zum Schlafen ins Seminar kämen und nicht einmal den Anstand besäßen, zur selben Zeit wie die anderen zu erscheinen. Ian setzte sich, und alles ging schief. Je weiter Hermann in seinem Referat über die englische Transvaal-Expedition vorankam, desto deutlicher wandte er sich ausschließlich an Ian, er streute zwischen die Fakten verschiedenste Überlegungen ein, die den Studenten zeigten, daß sie, da sie allein an Ian gerichtet waren, einen verborgenen Sinn hatten, den niemand sonst entziffern konnte. Seinen Kommilitonen wurde klar, daß Ian sich gegen jemanden oder etwas auflehnte und daß Hermann ihn warnte; für Ian hingegen machte das Verhalten des Professors nur dessen Antipathie deutlich; zwi75
schen ihnen hatten bereits mehrere Scharmützel stattgefunden, jedesmal, wenn Ian ein Referat gehalten hatte. Und dann, zwei Stunden später im Hörsaal, wurde Ian, der normalerweise nie an Ökonomieseminaren teilnahm, da sie ihn zutiefst anödeten, in einen Streit hineingezogen. Traktate, die die Universität en bloc als Repressionsapparat anprangerten, waren auf die Tische gelegt worden. Auf der schwarzen Tafel forderten große Buchstaben den TOD ALLER BILDUNG. Studenten warfen Ian vor, heute nur gekommen zu sein, um die Wirkung seiner subversiven Ideen zu kontrollieren. Ian protestierte, daß es gar nicht seine Ideen seien, daß sie viel zu allgemein seien und daß er, vor allem, statt Bildung Hierarchie geschrieben hätte. Er wurde als Provokateur behandelt, ohne die Intervention seiner Freunde hätte er unter den gleichgültigen Augen eines Dozenten, der mittlerweile davon sprach, die Universitätsleitung zu rufen, einige böse Faustschläge aufs Auge kassiert. Um die Wogen zu glätten, mußte er sich vor aller Augen entschuldigen, doch wurde ihm nicht geglaubt, und für die Studenten, deren Blicken er begegnete, blieb er der PROVO. Am Ende des Seminars entschied er sich, alle anderen hinausgehen zu lassen und unauffällig zurückzubleiben. Als niemand mehr da war, erhob er sich; drei Jungen erwarteten ihn an der Tür, und Ian hatte gerade noch Zeit, sie zuzuschlagen. Nun war er allein im Hörsaal; er begab sich in Richtung des für die Professoren reservierten Ausgangs, als plötzlich mehrere von ihnen eintraten, um sich MIT EIGENEN AUGEN seiner Einschreibung zu versichern, und da er nichts zu erklären hatte, stürzte er durch den verbotenen Ausgang und wirkte diesmal wie ein Schuldiger... Dann ging er in seinem Traum mehrere Male an einer dunklen Mahagonitür vorbei, die er in der Universität niemals gesehen zu haben glaubte, und eine Stimme sagte zu ihm: »Tritt ein, alles beginnt dort.« Mitten in seinem Traum versuchte er zu erraten, wo diese Tür sich befinden konnte, aber es gelang ihm nicht, und sein Traum endete im leeren Hörsaal vor lauter feindseligen Professoren... Am nächsten Morgen weckten ihn die Wachen, kaum daß es hell war, und das tägliche Leben begann erneut: frühstücken, Toi76
lette und so weiter, doch anstatt ihn wieder in sein Zimmer zu sperren, ließen sie ihn seine Jacke nehmen und brachten ihn zum Kommandanten. Vor dem Haus lag der Schnee so hoch wie die Stufen; um die Gebäude herum, die den Bereich der Lagerleitung bildeten, waren die Wege geräumt worden, aber die Flocken fielen ohne Unterlaß weiter. Gemäß dem Befehl, den er erhalten hatte, entledigte sich Ian, kaum im Büro und obwohl es leer war, seiner Kleidung. In der fahlen Stille des frühen Morgens wartete er nackt unter den Blicken der Wachen. Im Gegensatz zu dem, was der Chef gesagt hatte, mochte er es nicht, sich den Blicken so auszuliefern; der ganze Schutz seines Wesens war ihm genommen, im Laufe eines Verhörs verlor der Körper auf diese Weise die Gewalt über seine Worte, und letztere lagen dann ebenfalls bloß. Zwei Monate vorher war er noch frei gewesen, aber der nächtliche Traum erinnerte ihn daran, daß diese Freiheit seit langem prekär gewesen war, ohne daß er es gewußt hatte. Eine heimtückische Hoffnungslosigkeit machte sich um ihn herum breit, in diesem Büro, wo die Stempel und die Schreibmaschine auf einem kleinen Tisch ihm allein durch ihre Gegenwart zuriefen: »Wir sind frei.« Ohne es zu wollen, senkte er den Kopf. Die Schönheit jeder Zehe und die weiße Farbe seiner Haut ließen seine Füße denen einer Statue ähneln. Seine Situation schien ihm auswegslos. »So, bist du nun also gezähmt!« Der Chef betrachtete ihn seit einer Weile. Beim Klang der Stimme hob Ian den Kopf und blickte starr vor sich, aber die Erfahrung, endlich jemanden zu hören, der sich an ihn wandte, ließ aus seinen großen offenen Augen Tränen die Wangen hinablaufen, ohne daß er sie zurückhalten konnte, auch nicht, als er die Kiefer fest zusammenpreßte. Auch dieses Mal geriet der Kommandant in Verlegenheit. Wenn man sein verschlossenes Gesicht sieht, dachte er, will und kann man ihm hineinschlagen, aber sein Lächeln stört, und jetzt auch noch Tränen... und all das mit Befehlen, die einen völlig lahmlegen. »Kannst du nicht wie alle sein?« hörte er sich schließlich sagen. »Ich erlaube dir zu antworten.« »Kennen Sie jemand, der wie alle ist?« murmelte Ian. 77
»Sieh dich um«, sagte der Chef und dachte gleichzeitig, daß eine Unterhaltung zu beginnen seine Unerbittlichkeit schwächen würde. »Alle Wachen sind gleich.« »Das scheint nur so«, sagte Ian und nach einer Weile, weil der Chef schwieg: »Können Sie mir sagen, was Sie mit mir vorhaben?« Im Ofen knisterten Holzscheite, und der Chef nahm seinen Parka von einem Stuhl. »Du wirst mich heute morgen begleiten, und du hältst die Klappe, das ist ein Befehl. Außerdem«, fügte er hinzu, »wird ohnehin niemand da sein, mit dem du sprechen kannst.« Dann bemerkte er, daß der Junge noch immer nackt war. »Los, zieh dich an, du triffst mich draußen.« Zum ersten Mal befand Ian sich allein außerhalb seines Zimmers; die Wachen erwarteten ihn im Nebenraum, aber obwohl er durch die geöffnete Tür hindurch weiter unter Überwachung stand, hatte er das Gefühl, um eine Stufe höher gestiegen zu sein. Wohin? Draußen traf er mit den beiden Wachen den Kommandanten in einem Geländewagen, dessen Türen ausgehängt waren. Über schnurgerade durch den Wald führende Straßen gelangten sie zum nördlichen Ende des Lagers; Ian bemerkte in diesem Teil weder Baracken noch Häftlinge, nur zwei Hangars, deren Verwendungszweck er nicht verstand, denn sie besaßen gleichzeitig die Form einer Kirche ohne Glockenturm wie die einer Feldscheune ohne Öffnung im Dach, um das Korn hinaufzuschaffen. Weiter abseits stand, vom Wald eingefaßt, eine Hütte aus durchbrochenen Brettern; auf ihrer Vorderseite gaben die Bäume der weißen Ebene Raum so weit das Auge reichte, jedenfalls in dem Nebel, aus dem Schnee fiel. Der Chef befahl nur Ian, ihm zu folgen. Die Hütte war größer, als es auf den ersten Blick schien, und die durchbrochenen Bretter bildeten eine zweite Wand um die ohnehin dicken Holzwände. Zwei bewaffnete Wachposten warteten ein wenig weiter entfernt unter einem Schutzdach aus Zweigen zwischen den Lärchen. Der Kommandant gab ihnen ein Zeichen, sich nicht zu rühren. 78
»Ich habe dir die Instruktionen vorgelesen. Ich zeige dir jetzt das PARADIES, das ist der Name der Hütte. Dann wirst du wissen, wozu das Brot dient, das im selben Wagen gebracht wurde wie du. Die Tür ist heute nicht abgeschlossen, denn es ist jemand darin. Ich hoffe, du hast begriffen, daß du hier mit niemandem sprechen darfst und daß niemand mit dir spricht, außer mir, und daß ich dir nur erlaube, mit mir zu sprechen, wenn wir allein sind. Verstanden?« »Verstanden, Chef«, sagte Ian mit seiner gewohnt klaren Stimme. Der Chef konnte nicht umhin zu lächeln: »Du bist ganz schön selbstsicher, aber ich gebe dir fünf Minuten, um wieder rauszukommen. Bevor du reingehst, sollst du wissen, daß das Brot ziemlich lange frisch bleibt, beim Backen werden pflanzliche Fette beigemischt, die nicht so schnell ranzig werden, so hält es sich zwei Monate. Alle zwei Monate kommt eine Lieferung; das Brot ist dem wöchentlichen Ruhetag vorbehalten sowie bestimmten Häftlingen. Derjenige, der dort hineinkommt, darf soviel essen, wie er will.« Seine Hand lag auf der Klinke, und Ian schüttelte den Schnee von seiner Jacke, doch der Chef war noch nicht fertig: »Von innen wird nicht verriegelt, das ist überflüssig. Derjenige, der hierhergebracht wird, hat keine Lust mehr herauszukommen, das Brot ist seine Droge, die letzte Droge. Vorher hat man ihn hungern lassen. Die Gegend ist wunderbar mit dem See da hinten (so ist die weiße Ebene also Wasser, sagte sich Ian); aber wer dort entlanggeht, muß sich auf elektrische Stacheldrähte unter Wasser und auf Fallen gefaßt machen, die einen Menschen noch wirksamer zerfetzen als ein Haifisch. Heute ist die Tür also offen, aber du bleibst in meiner Nähe, und die kleinste falsche Bewegung – verstehst du – bedeutet Eiswasser in der Wachendusche. Ein einziger Guß auf eine sehr präzise Stelle, auf dein Glied. Danach beneidest du die Eunuchen. Noch ein Letztes: Der Mann, der hier im Moment ißt, ist seit gestern abend hier, und man wird ihn gleich rausholen. Er hat von seiner letzten Nacht eine Menge gehabt. Das ist so Sitte. Los, geh rein.« 79
Ian rührte sich nicht, aber der Chef packte ihn am Arm und stieß ihn vorwärts. Es war ein großer, langer Raum, Regale bedeckten die Wände, der Boden bestand aus festgetretener Erde, und Licht drang nur durch dicke Glasbausteine, die in die Bretter eingefügt waren. Der Raum dünstete einen faden Geruch aus. In Stapeln ragten lange Brote auf, und da die Regale in der Mitte zwei Winkel bildeten, hatte Ian anfangs den Eindruck, daß sich dahinter noch weitere Reserven befanden und der Häftling sich dort verborgen hielt. Der Kommandant hatte ihn nicht losgelassen, und dann sah er vor ihnen ausgestreckt im Zwielicht eine Pfütze, es gab kein anderes Wort, eine menschliche Pfütze. Der Mann schien tot, Brote waren um ihn herum gerollt in einem breiten See von Erbrochenem. Der Kommandant stieß ihn mit dem Fuß an, und der Körper zuckte. Der Kommandant rief die Wachen und befahl ihnen, den Mann in den Schnee zu ziehen, um ihn zu säubern und sofort zu exekutieren, solange es noch Zeit war, bevor er an verdorbenem Magen starb. Er hielt Ian, der seine Sinne schwinden fühlte, immer noch fest, aber kaum waren die Wachen draußen, murmelte dieser: »Lassen Sie ihn, ich flehe Sie an.« »Einverstanden, wenn du meine Stiefel leckst.« Der Kommandant ließ ihn los. Es brauchte einige Sekunden, bis Ian in sich selbst das körperliche Grauen des von ihm Verlangten akzeptierte, er begriff, daß er, moralisch gesehen, nicht mehr da war und daß jemand anderer in ihm seit einigen Tagen jeden Stolz mattgesetzt hatte; vermutlich ein höherer Stolz, der sich über den Schein mokierte. Er ließ sich vor dem Chef auf die Knie fallen, beugte sich dann jäh über die Stiefel, und als sein Mund das vom Unrat schmutzige Leder berührte, wurde der an ein Leben voller Vergnügungen gewöhnte Junge von Ekel ergriffen und erbrach sich seinerseits. »Kleiner Schwachkopf, du kriegst jetzt die Fortsetzung zu sehen.« Der Kommandant zog ihn am Nacken hoch, und seine langen Wimpern versuchten umsonst, die Grausamkeit seiner Augen zu mildern.
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Draußen wischte sich Ian mit Schnee den Mund ab und wurde in einen der Hangars geführt. Er sah die Spur des Mannes, den man dorthin geschleift hatte. Zwei hohe Fenster erhellten den Hintergrund. Etliche Querbalken liefen im Abstand von zwei Metern von einer Wand zur anderen. In einer Ecke, in der Nähe eines leeren Tisches, wartete ein Stuhl. Eine Holzgalerie wies dieselbe Anordnung von Balken auf, und Ian bemerkte die in regelmäßigen Abständen eingelassenen Fleischerhaken; an einigen von ihnen hingen Seile herunter. Dem Gefangenen war der Oberkörper entblößt worden, er mußte etwa dreißig Jahre alt sein und schien jetzt weniger bewußtlos als eben; der Schnee und die Kälte hatten ihn wiederbelebt. Man legte ihm eine Schlinge um den Hals, und der Stuhl wurde gebracht. Er schaffte es nicht, allein hinaufzusteigen, und die Wachen stießen ihn mit den Knien. Schließlich stieg einer von ihnen mit hinauf und warf das Seil über den Fleischerhaken. Einen Moment lang betrachtete der Mann sämtliche Blicke um sich herum, doch war es bereits zu spät, der Fußtritt des Wachpostens stieß den Stuhl um, während eine andere Wache mit einem Schlag die Hose des Verurteilten hinunterließ. Der Körper strampelte. Der Bauch war aufgebläht, das Geschlecht richtete sich auf, und Scheiße begann die Schenkel hinunterzulaufen, einen Moment lang auch nach dem letzten Zucken noch. »Eines Tages bist du dran«, sagte der Chef. Ian wurde in sein Zimmer zurückgeführt und eingeschlossen. Er zwang sich zu seinen gewohnten Übungen, er zwang sich, das, was ihm gebracht wurde, zu essen, er zwang sich, in Gegenwart der Wachen zu schweigen, aber als an diesem Abend die Fensterläden geschlossen wurden, legte er sich mit dem Gesicht auf den Boden, und die Verzweiflung legte sich auf ihn.
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10. Am nächsten Morgen war er erkältet; mit fieberndem Gesicht konnte er sich kaum erheben, als die Wachen seine Tür öffneten. Ein wenig später mußte er sich am Waschbecken festhalten, die Wache bekam Angst und führte ihn in sein Zimmer zurück. Man benachrichtigte den Kommandanten; dieser fand ihn auf dem Boden sitzend, den Kopf gegen das Bett gelehnt, und er ließ Decken bringen. Man legte ihn hin, der Lagerarzt diagnostizierte eine einfache Grippe, die eine Folge der auf dem Boden verbrachten Nacht war. Da er, so der Bericht des Arztes, seine Krankheit fahrlässig herbeigeführt hatte, erwartete ihn nach der Genesung eine Strafe. Während der folgenden Woche wurde Ian Tag und Nacht sorgfältig überwacht. Die Tabletten, die man ihm gab, ließen ihn schlafen, und die Fensterläden wurden nicht mehr geschlossen, so daß er sich endlos in einem weißen Nebel treiben fühlte, der bald vom Fieber, bald vom unaufhörlich langsam fallenden Schnee herrührte. Eines Morgens wachte er schließlich auf, er hatte Hunger, und die Wachen, die sich im Zimmer ablösten, sahen ihn aufstehen, als wäre er allein, und seine Übungen am Fenster machen. Bald darauf kam der Chef mit neuen Instruktionen, die er auf seinem Bett sitzend anhörte. Der Ritus des Nackt-Ausziehens war in aller Stille fallengelassen worden. Was man wollte, wurde immer präziser. Indem er ihn an einer Exekution hatte teilnehmen lassen, hatte der Kommandant einen Punkt bereits vorweggenommen. Im folgenden sollte der junge Mann an einem Appell teilnehmen, aber stets abseits, neben dem Chef, so daß er von allen bemerkt würde. Darüber hinaus empfahl man, ihn an frischer Luft rennen zu lassen, damit er in Form blieb. 82
Schließlich sollte ihm die Unmöglichkeit einer Flucht aufgezeigt werden. »Wir werden das nach und nach tun«, sagte der Kommandant, »und dir nicht alles auf einmal bieten. Zuerst aber gehst du in den Sportraum der Wachen, der Schnee liegt zum Laufen im Moment zu hoch, und wenn du ein wenig mehr Farbe bekommen hast, wie vor deinem Krankheitsversuch, wirst du deine Züchtigung erhalten. Du weißt, welche; sie wird nicht in meinem Büro stattfinden, sondern die Wachen werden sie in ihrem Gemeinschaftssaal durchführen, so lernst du nach und nach unsere Einrichtungen kennen. Ich hab dich vorerst einmal genug gesehen...« Die Wachen standen dabei, Ian antwortete nicht, und alles geschah gemäß den in weiter Ferne entwickelten Plänen, am Ende mehrerer Horizonte, in der Stadt, in der der junge Mann nur mehr jene Abstraktion war, die Erinnerung heißt.
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11. Sofort nach seiner Rückkehr nach V. hatte Andrei sich im Generalstab gemeldet und sah sich zu seiner Überraschung in den Rang eines Leutnants befördert, war also eine Sprosse höher gestiegen. Er antwortete auf sämtliche Fragen, den von ihm DORTHIN begleiteten Häftling betreffend, dessen Name nicht ein einziges Mal ausgesprochen wurde, und zeigte sich bei der Wiedergabe von Ians Worten – und nur dieser – von solcher Intelligenz und Präzision, daß seine Ernennung sofort anschließend unterzeichnet wurde. Er blieb vorerst bei einer benachbarten Dienststelle, doch ermunterte man ihn, an Fortbildungskursen teilzunehmen, was seinen geheimen Wünschen entgegenkam. Am Nachmittag begab er sich zur Kleiderkammer und erhielt eine neue Uniform; er ließ sie geringfügig ändern und darüber hinaus die neuen Rangabzeichen auf seine anderen Jacken nähen. Die jungen in der Militärschneiderei beschäftigten Frauen sahen ihn voller Verlangen an, erschien er ihnen doch wie eine Inkarnation der siegreichen Jugend. Erst am zweiten Abend feierte er seine Beförderung zusammen mit einigen Freunden, ging danach aber diszipliniert in seine kleine Wohnung zurück, die ihm in der Stadt, in einem für Armeepersonal reservierten Hochhaus außerhalb der Kasernen, zugewiesen worden war. Nach der Einschreibung für die Weiterbildungskurse entschied er sich für Geschichte, und diese Wahl wurde von seinem unmittelbaren Vorgesetzten gutgeheißen. Nach acht Tagen, an einem Abend, an dem die ganze Stadt in Schneewirbeln verschwand, wählte er von einer Telefonzelle aus 84
Catherines Nummer. Er erriet sofort, daß es die junge Frau war, die sich meldete, und hatte plötzlich eine Eingebung. »Ich habe von Ihnen geträumt, Sie kennen mich nicht, aber...« »André, du bist ein Idiot. Geh nach Hause und leg dich von mir aus mit zwei Tabletten ins Bett!« Sie hängte ein. Vergeblich wählte er die Nummer noch einmal. Beim Nachhausegehen beunruhigte ihn der von ihr genannte Name, und mehrere Male wandte er sich jäh um, um sich zu versichern, daß er nicht verfolgt wurde, aber der Gedanke war absurd, und der Name André erklärte sich aus einer einfachen Namensgleichheit, es war vermutlich der Name eines von Catherines und Ians Freunden. Als ihm der Name Ian in den Sinn kam, stieg vor ihm nicht das Gesicht des Studenten auf, sondern sein Lächeln, und in dieser Nacht fand Andrei keinen Schlaf. Am nächsten Tag, nach Arbeitsschluß, machte er einen Umweg zur Wohnung der jungen Frau, und er gewöhnte sich daran, als würde es sich um einen Gesundheitsspaziergang durch die Schneehügel handeln, die jeden Tag an die Straßenränder geschoben wurden. Die Universitätsseminare mußten zur selben Zeit enden wie seine Kurse, mit ein wenig Glück würde er Catherine vor den Feiertagen am Jahresende treffen, und das Glück drehte das Rad zu seinen Gunsten. Catherine und ihre Freunde begegneten ihm zweimal. Beim dritten Mal kam er just in dem Moment vorbei, in dem sie, vor ihrem Haus aus dem Auto steigend, auf dem vereisten Schnee ausglitt und zu Boden zu stürzen drohte, und konnte sie auffangen. Das Gesicht des jungen Offiziers war bereits bemerkt worden, und er wurde auf der Stelle eingeladen, mit hinaufzugehen, um zusammen mit den Freunden, die auf der spiegelglatten Straße ebenfalls ausrutschten, ein Glas zu trinken. Die Dämmerung ließ alles funkeln, die Eisblumen auf den Ästen, die Lichter der Stadt, die grünen Tiefen des Himmels und die Augen der jungen Leute. Die Wohnung Catherines schüchterte ihn ein mit ihren riesigen quadratischen Räumen, den langen Diwanen und den verborgenen Lampen, die die Nacktheit der Wände abmilderten; die Tische hin85
gegen waren von kostbaren Dingen bedeckt, von Kristallflakons und durchsichtigen Steinen, doch bewegten sich die anderen hier mit solcher Ungeniertheit – sie lümmelten sich auf den Sofas und sogar auf dem Boden –, daß ein Glas Champagner ausreichte, seine Schüchternheit zu besiegen. Catherine setzte sich neben ihn, bisher hatte ihm keine Frau so offen ihr Interesse gezeigt. Er sagte fast nichts, nur daß er Leutnant sei – das sehe man – und vom Land komme. »Das sieht man nicht«, sagte sie, und er konnte nicht ahnen, daß sie hinter dieser Lüge das verbarg, was sie am meisten an ihm anzog. Die anderen stritten über alles, gingen herum, führten erhitzte Gespräche, legten Musikkassetten ein, tranken Glas auf Glas und diskutierten dann darüber, wo man am Abend essen würde. Und als einer der Jungen, Adam, entschied, daß bei ihm gegessen werde, zwangen sie den Leutnant, der sich zum Gehen wandte, mitzukommen. Da Adam in einer Nachbarstraße wohnte, gingen sie zu Fuß; die Straße war vereist, und Catherine hängte sie bei dem Neuankömmling ein. Die grünen und goldenen Holzvertäfelungen und die Familienmöbel ließen die andere Wohnung prunkvoll erscheinen, das Licht war gedämpfter als bei Catherine, Bilder bedeckten die Wände, und man lief auf großen Perserteppichen, von der Farbe getrockneten Blutes, auf denen dunkle Blumengewinde blühten. Das Abendessen wurde improvisiert, Andrei wich nicht mehr von Catherines Seite, und alles verdrehte ihm den Kopf, der Reichtum dieser neuentdeckten Welt, die Champagnerschalen, die Wärme des Körpers neben dem seinen. Er wußte nicht mehr, in welchem Moment er Catherine in seine Arme genommen hatte, und er erinnerte sich, ohne Übergang, in der eisigen Nacht zu ihr zurückgegangen zu sein, bevor er, als er das Laken über sie zog, den Schauer einer Welle spürte, die sich über ihm brach. Der Trunkenheit, die ihn in einen beweglichen Raum zog, folgte die Ekstase mit ihrem unbeweglichen Raum, er rieb sein Gesicht auf der Haut der jungen Frau, streichelte sie mit seinen kurzen Haaren überall und kehrte zurück, legte den Mund auf ihren Mund und glitt mit seiner Zunge langsam hinein, während sein Geschlecht in ihre Lippen eindrang und dort an sein langes, leidenschaftliches Werk ging. Dann, als er sich von ihrem Mund löste, um seinem Glied all seine 86
Kraft zu geben, sah er das Leuchten ihrer Pupillen und dachte daran, daß sie Ian auf dieselbe Weise angesehen hatten. Er schloß die Augen, wurde schneller und kam mit solcher Heftigkeit, daß er Angst um Catherine hatte, als sie ihrerseits zu schreien begann. Er beschloß heimzugehen, doch werde er morgen wiederkommen, selbst wenn er nur zwei Stunden schliefe, er versprach es, es war auch sein Wunsch, und als er sie allein ließ, stürzte sie auf den Balkon, um ihn noch eine Sekunde zu sehen, bevor er in die Nacht der Straße eintauchte und verschwand. Ihr Leben organisierte sich um die Abendstunden herum, wenn Andrei frei hatte. Dann kam Weihnachten, und er kaufte für die junge Frau einen goldenen Ring.
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12. Im Lager Null fand der tägliche Appell vor den einzelnen Baracken statt, nur von Zeit zu Zeit wurde ein allgemeiner Appell auf dem von den Wachmannschaftsquartieren gebildeten Platz abgehalten. In der harten Morgenluft zitterten die Männer, ihre Bekleidung schützte sie kaum vor der aus dem Schnee aufsteigenden Kälte. Schnee fiel seit dem Morgengrauen nicht mehr, schwebte aber weiter im Nebel. Das Lager zählte dreihundert Gefangene, kaum mehr, denn sie starben im Winter schnell, nicht durch Mißhandlungen, sondern wegen all der Krankheiten, die Folge der Feuchtigkeit waren, in der sie herumwaten und schlafen mußten. In den Baracken gab es keinerlei Heizung, und da keine Krankheit behandelt wurde, richtete die kleinste Bronchitis Verheerungen an. Darüber hinaus war es Gewohnheit geworden, die Häftlinge jeden Monat die Namen derer ziehen zu lassen, die exekutiert wurden, um Neuankömmlingen Platz zu machen. Einmal im Jahr gab es einen Feiertag, mit großem Getöse wurde die Gründung des Lagers gefeiert. An diesem Tag war der Exekutionshangar voll, den ganzen Tag über schickte man Häftlinge, um die vierundsechzig in die Balken gehauenen Fleischerhaken zu bestücken. Erzählt wurde, daß das Lager aus diesem Grunde Null hieß: Die dreihundert Häftlinge blieben nur ein Jahr und wurden von einem Fest zum anderen gewissermaßen ausgetauscht. Keiner von ihnen hatte zwei Feste erlebt. Am nächsten Morgen war Ankunftstag, eine neue Truppe füllte die Reste der alten auf. Andere dagegen behaupteten, daß das Lager Null einfach deshalb so hieß, weil es bisher niemandem gelungen war zu entkommen. Die Zahl der Entflohenen war Null. 88
Ian wurde am Vorabend benachrichtigt. Das Leben wurde für ihn organisiert, Wachen wuschen und bügelten seine Wäsche, und Ian graute es schließlich vor sich selbst, weil er alles hinnahm, die beste Nahrung, die Turnübungen, das Schweigen der anderen um ihn herum, die neuerliche Züchtigung, die er im Wachmannschaftssaal vor aller Augen hatte erdulden müssen, all dies und dazu das Fehlen jeglicher Beschäftigung und daß er im Moment nicht einmal den leisesten Wunsch hatte, sein Bewußtsein zu erforschen. Von den Krankentagen war er ein wenig blaß geblieben, und dies ließ ihn noch jünger aussehen. Was den Chef betraf, so war er nicht mehr zu ihm gebracht worden, und beinahe sehnte er sich jetzt nach ihm. Im Morgengrauen mußte er aufstehen und sich warm anziehen. Von seinem Parka bis zu den Stiefeln war er wie ein Militär gekleidet und hob sich dadurch sowohl von den Wachen als auch von den Häftlingen ab. Seine Anwesenheit beim Appell, neben dem Kommandanten, sollte ihn dem gesamten Lager entfremden, den Gefangenen und den Wachen verhaßt machen. Das Szenario war gut vorbereitet worden, damit die für ihn vorgesehene Strafe exemplarisch war und er ihren ganzen Schrecken erst am Ende entdeckte. Für ihn war der Appell die Fortsetzung des Alptraums von neulich, als man vor seinen Augen den Mann erhängt hatte. Er sah entkräftete Wesen, die meisten dem Anschein nach jung, doch waren ihre Augen erloschen, und sie waren sich alle auf seltsame Weise ähnlich. Während die Arbeitskommandos zusammengestellt wurden, erklärte der Kommandant Ian mit leiser Stimme das System, so daß der junge Mann wie der Vertraute des unerbittlichen Mannes schien, der unumschränkt über Leiden und Haß herrschte. Die Häftlinge mußten heute den für die Hunde bestimmten Platz aufräumen, doch gab man ihnen keinerlei Werkzeug, der meterhohe Schnee mußte mit den Händen weggeschafft werden. Zweihundert Gefangene, die, genährt von einer um elf und um vier verabreichten warmen Suppe, ihren Sklavendienst bis zum Abend verrichteten. Die Wachen und die Häftlinge gingen vor Ian her, doch durften keine Blicke gewechselt werden, eine neue Falle war zugeschnappt.
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Der Kommandant zeigte sich an diesem Morgen gesprächig, er nahm ihn mit zur Besichtigung dessen, was er die Verteidigungsanlagen nannte, die erste Stacheldrahtlinie, die Mauer, weiter gingen sie nicht. Der Chef erklärte, daß sich in dem Wald nach Süden und Norden im Umkreis von zehn Kilometern Militärposten befänden sowie eine Manöverzone, wo die Patrouillen beim geringsten Fluchtversuch in Alarmbereitschaft versetzt würden. Was er Ian näher zeigen wollte, war der Zwinger, in den man die Hunde gesperrt hatte, solange die Häftlinge den Schnee wegräumten. Er trat als erster ein, und Ian mußte ihm folgen. Er mochte Hunde nicht besonders, er erinnerte sich an Adams Hunde und an seine Nervosität, als sein Freund sie ihn halten ließ, doch zeigte er keinerlei Angst, obwohl sie unter seiner Haut kribbelte, als die großen, furchteinflößenden Wachhunde auf sie zuliefen, um die Leckereien zu schnappen, mit denen der Kommandant seine Taschen vollgestopft hatte, braune Stöcke wie Kautschuk, auf die sie sich geifernd stürzten. Getrocknetes Straußenfleisch, erklärte der Kommandant, es ist voller Vitamine und hat offensichtlich den ein wenig süßlichen Geschmack des Menschen. Die großen Doggen mit den fast weißen Augen, die Schäferhunde, die bei jedem Atemzug ihre Zähne fletschten, und Wolfshunde, die übereinandersprangen, waren es gewohnt zusammenzuleben, doch mußten sie manchmal mit Peitschenhieben getrennt werden, wie die Häftlinge. Der Lieblingshund hatte einen Zwinger für sich allein, denn aufgrund seines schlechten Charakters war er in der Lage, wegen eines Knochens einen anderen Hund in Stücke zu reißen. Allein bewachte er nachts den Nordsektor bis zum Ufer des Sees. Die Wachen drängten die Hunde zurück, und der Kommandant zog Ian zu einer Gittertür. Noch bevor sie geöffnet wurde, zeichnete sich dahinter ein auf seinen Hinterläufen aufrecht stehender Schatten ab. Ian nahm einen mächtigen Torso wahr, lange, muskulöse Schenkel, und die Stimme des Kommandanten befahl: »Hinlegen, mein Hübscher.« Der Tonfall war scharf und liebevoll zugleich – wie mir gegenüber, dachte der junge Mann und sah gleich darauf die Peitsche, die der Kommandant fest umschlossen hielt. Der Hund legte sich hinter die Tür und begann zu winseln. »Gehen wir rein«, sagte der Chef. »Bleib hinter mir.« Ians Herz 90
begann so heftig zu schlagen, daß seine Wangen sich rot färbten und er das Gefühl hatte, der Hund müsse die Schläge hören. Es war ein neapolitanischer Wachhund von enormer Größe, mit starken Zähnen, und seine Muskeln unter dem grauweißen Fell bebten. Der Kommandant gab ihm ein großes Stück rohen Fleisches, das er sofort verschlang, und sagte zu dem jungen Mann: »Streichele ihn.« Jetzt entscheidet sich mein Schicksal, dachte Ian. Ich weiß nicht warum, aber dies ist der Moment. Der Hund fixierte ihn mit seinen kleinen, rötlichen Augen, und Ian bemerkte seine geraden Wimpern, die sich nicht bewegten. Instinktiv streckte er die Hand vor und beugte sich langsam nieder, bis ein Knie auf dem Boden war, seine Hand berührte die Stirn, dann den Kopf des Hundes, ohne daß dieser sich bewegte. Ian überwand den Abscheu der Berührung und streichelte ihn vorsichtig. Der Hund sah ihn immer noch an, und Speichel sammelte sich in den Winkeln seiner Schnauze. Von oben fiel die Stimme des Chefs auf Ian: »Der hat schon Menschen gefressen, ich glaube, du gefällst ihm, du bist sein Geschmack.« Die Augen offen halten, sagte sich Ian, das Tier bis zum Ende fixieren. Und nachdem er den riesigen Hals ein wenig gestreichelt hatte, richtete er sich wieder auf. Der Kommandant sprach weiter über den Hund: »Wenn er einen Häftling erwischt, wirft er ihn nieder und frißt ihn, und weil er ein Kenner ist, beginnt er mit den Eiern. Danach wird bloß noch ein Kadaver gehängt, aber das ist die Vorschrift, im Lager Null muß auch der Tod aufgehängt werden!«, und er brach in Gelächter aus, wobei er mit der Peitsche freundlich über die Schulter des Jungen strich. Der Kommandant führte Ian im Lager herum, und nah dem Eingangstor zeigte er ihm eine kleine Kanone, deren offener Schlund in den Himmel gerichtet war. »Sie ist für den Fall einer Flucht vorgesehen. Ich sagte vorgesehen, denn sie wurde noch nie benutzt. Sie kommen nicht so weit; sie alarmiert die Posten in der Umgebung und ist weit über den See hinaus zu hören. Im Fluchtfall sollen vier Schüsse abgefeuert werden, doch wird sie nur am Tag des Lagerfestes benutzt, damit sie nicht einrostet. Dann gibt es wirklich ein großes Fest. Es werden so viele Schüsse abgefeuert, wie es Kerle gibt, die eingeäschert werden. Zwischen achtzig und 91
hundert, am besten hundert. Der Mann, der für die Verbrennung zuständig ist, kommt von dem Militärposten, wo bei deiner Ankunft die Wache gewechselt hat. Denn im Sommer werden die Körper verbrannt, das ist gesünder. Für den Winter gibt es den Friedhof im Wald, die Grube zwischen den Tannen, du hast sie noch nicht gesehen, es wird Kalk gestreut, und zwei Zementplatten werden draufgerollt. Alle zwei Jahre wird von einer Häftlingstruppe saubergemacht.« Sie gingen ins Büro zurück, um den tags zuvor eingetroffen neuen Brief zu öffnen, und der Chef bemerkte, daß die Anweisungen regelmäßiger kämen, was zeige, daß eine Ian hoffentlich wohlgesonnene Fee sich über sein Schicksal beuge. Der Umschlag trug eine rot unterstrichene persönliche Anweisung für den Kommandanten: »Den Jungen zum Sprechen bringen, notfalls mit Hilfe von Alkohol.« Der Kommandant las den Rest vor, in dem Ian vom Tod des Großvaters unterrichtet wurde und davon, daß ihm durch einen Familienrat alle Erbrechte entzogen worden waren. »Wird im Standesamt ausgestrichen. Es muß klar sein, daß der Verurteilte keinerlei Rechte hat und daß er zu den anderen in die Baracken gehen kann, wenn er es wünscht.« Hier, wiederum rot unterstrichen: »Machen Sie ihm Angst, indem Sie ihn in eine Baracke stecken, doch sollen die Wachen aufpassen und bei der geringsten Gefahr eingreifen. Wir erinnern Sie daran, daß wir eine exemplarische Bestrafung wünschen und Ihnen die endgültigen Instruktionen nach und nach geliefert werden. Der ganze Winter liegt noch vor uns.« lan begriff, daß der Chef die Hälfte des Briefes ausließ und wartete auf die Fortsetzung, doch der Kommandant schloß die Akte. »Du bist ein Genießer, nicht wahr«, sagte er. »Dazu hast du hier ja wenig Gelegenheit, es sei denn, du gibst dich kleinen, einsamen Spielchen hin.« Ian rührte sich nicht. »Setz dich«, sagte der Kommandant und ging einen Moment lang hinaus, um Anweisungen zu geben, die Ian nicht verstand. Als er wiederkam, hatte der Junge keine Bewegung gemacht, doch waren seine Augen auf die Akte gerichtet, während der Kommandant tat, als hätte er sie vergessen. Eine Wache brachte eine 92
Flasche Champagner. Als Ian sein Glas in der Hand hielt, sah er sich plötzlich selber, wie er ironisch ein Sektglas in Richtung des Mannes mit der Zeitung hielt, dann mischten sich andere Bilder darunter, der Meerschaum, als er sich vor Catherine gekniet hatte, Adam, der ihm seine Schale aus der Hand nahm und aus derselben trank wie er. »Auf deine Lieben, oder nennen wir sie besser deine Fluchten!« sagte der Chef lachend, und sie leerten beide ihr erstes Glas in einem Zug. Ian merkte nicht, daß die Flaschen diskret ausgetauscht wurden und daß ihm in diesem überheizten Zimmer der Champagner sanft zu Kopf stieg, sanft mit den Worten des Kommandanten, der immer väterlicher wurde. Doch waren sie beide wachsam, ohne daß der andere es merkte: Ian kippte die Hälfte seiner Gläser gegen den Ledersessel aus, und der Kommandant tat so, als überließe er sich einer betrunkenen Gutmütigkeit, während der Wunsch, brutal zu sein, immer stärker wurde und jede Milde in dem Maße auslöschte, in dem er der Zutraulichkeit des jungen Gefangenen Glauben schenkte. »Was hast du genau auf dem Gewissen?« »Nichts.« Der Chef lächelte freundlich: »Und was ist das, nichts?« »Ich habe es noch nicht herausgefunden. Ich suche seit dem Morgen meiner Verhaftung danach. Alles, was ich finde...« »Alles, was du findest?« »Zusammenhanglose irgendwelche Ideen...«
Erinnerungen,
Studentengeschichten,
Der Chef ließ ihn sprechen, begnügte sich damit, sein Glas zu heben, um den Champagner perlen zu sehen, doch machte Ian dieselbe Geste. »Entschuldige uns«, sagte der Chef, »es sind nicht die Kristallschalen, die du gewöhnlich hebst... leicht wie die Frauen«, fügte er hinzu. 93
Ian lächelte. Ein idiotischer Vergleich, dachte er, eine Frau und eine Champagnerschale! »Die Frau ist bitter und schwer«, sagte er laut, »sie zieht einen zu Boden, der Champagner dagegen zum Himmel hinauf...« »Auf deinen Scharfsinn«, sagte der Chef. »Wenn du schlechte Erinnerungen an Frauen hast, mußt du ja hier glücklich sein. Aber ich bin nicht deiner Meinung. Wenn ich von Zeit zu Zeit in die Stadt gehe, kenne ich ein spezielles Haus...« »Ein Bordell«, unterbrach Ian. Der Chef warf ihm einen düsteren Blick zu. »Man kann dort essen.« Er tat, als bemerke er Ians Lächeln nicht. »Dort wird getanzt, es werden wunderbare Abende veranstaltet, man kann dort ganz allein mit Frauen aus der Gesellschaft trinken, die so sind – er hob sein Glas –, Dessous wie Schaum und Beine, die...« Er sah den jungen Mann an, der ihm folgsam zuhörte, und fühlte sich plötzlich töricht mit seiner Welt der groben Vergnügungen, instinktiv spürte er es vor dem Körper dieses Jungen, den eine leichte Trunkenheit schwerer zu machen schien, wobei seine Anmut noch fühlbarer wurde. Er riß sich zusammen. »Der Tod deines Großvaters ist dir egal, und keinen Namen mehr zu haben ist dir auch egal.« »Ich heiße immer noch Ian«, sagte der Junge. »Niemand kann mir das nehmen. Der Rest...« – Er schnippte mit den Fingern. »Wenn du dir nichts vorzuwerfen hast, warum schicken sie dich hier ins Lager, ans Ende der Welt. Wir haben nicht mal einen Fernschreiber wie in den vorbildlichen Gefängnissen, und im Prinzip – ich sage bewußt im Prinzip – entkommt hier niemand. Hierherzukommen bedeutet, als Toter zu kommen. Sämtliche Gefangenen, die du heute morgen gesehen hast, werden über kurz oder lang baumeln. Keine Abgänge, keine Profiteure, keine Kriminellen, keine Vergewaltiger, nichts, nichts, nichts...« »Warum quälen Sie sie vorher so?« 94
»Was dich betrifft, so beginne ich zu begreifen, warum du hier bist.« Der Kommandant fiel in seinen freundschaftlichen Ton zurück. »Du hast Ideen, wie schade, daß man dich hier in meine Baracke steckt. Hast du deinen Militärdienst gemacht?« »Nein«, sagte Ian. »Das ist es, eine Entgiftungskur, sie werden dich bestimmt bald als Wache hier abkommandieren. An dir liegt es, dich korrekt zu verhalten. Ich bin noch fünf Jahre hier, und alles hängt davon ab, wieviel Zeit sie dir geben. Du kannst dort« – er zeigte auf einen kleinen Tisch in der Ecke des Zimmers – »arbeiten. Das ist natürlich nicht unbedingt lustig, so ganz ohne Frauen und drei Jahre, ohne aus diesem Wald hier rauszukommen. Aber im Sommer können die Wachen im See baden, und was das Vergnügen angeht, so einigen sie sich schon untereinander. Dann und wann ein kleiner, ansehnlicher Häftling. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Mit einer Wache hat man keine Probleme.« »Warum nicht ein...« Ian lächelte dem Kommandanten zu, bevor er seinen Satz beendete, – »ein spezielles Haus.« Du machst dich über mich lustig, dachte der Chef, aber ich warte auf dich, mein Süßer! Er hielt es für besser, sich nichts anmerken zu lassen: »Wir sind hier in einem Sperrbezirk, und ich glaube nicht, daß Frauen an einen Ort mit solch einem Ruf kommen würden. Darüber hinaus sind die Wachen hier unter ganz bestimmten Voraussetzungen abkommandiert: drei Jahre ohne Kontakt mit der Außenwelt, außer zu den Jungs von der Armee, die wegen der Versorgung, der Post oder mit den Häftlingskonvois kommen. Dafür werden sie aber auch fürstlich bezahlt. Außerdem sind bei der Menge Wachen auch immer zwei oder drei dabei, die genausogut auf der anderen Seite sein könnten, man erweist ihnen einen Gefallen, und... moralisch gesehen können sie hier als Wachen ihre Jungfräulichkeit wiederherstellen.« 95
Ian dachte über all das nach, was er stückchenweise erfuhr; vermutlich kannte der Kommandant bereits das ihm zugedachte Schicksal. Wache zu sein erfüllte ihn mit Abscheu, aber er mußte seine Haut retten, er war zu allem bereit. Und außerdem konnte er sich ja immer noch abseits halten von all den Scheußlichkeiten, die im Lager geschahen. Wie das, sagte sein Herz, bildest du dir ein, daß dich das nichts angehen würde, wenn du Mitglied dieser Truppe wärest? Und dann ihre Promiskuität und die dreckigen Witze, die er gehört hatte, bevor er in vollkommener Stille im Saal der Wachen geschlagen wurde und man ihn danach, entsprechend dem Befehl, in ein abseits gelegenes Zimmer eingesperrt hatte... all dem wäre er ausgesetzt. Der Kommandant fuhr fort: »Heute ist ein Festtag für dich, eine lange Unterhaltung. Ich wette, daß du Stille nicht magst. Dem kann man abhelfen, wenn du willst.« »Wie das«, fragte der junge Mann. »Wir werden dich bei den anderen unterbringen, sie dürfen sogar mit dir sprechen, wenn sie keinen Lärm machen.« Ian spürte, wie sein Herz einen Sprung machte; widersprüchliche Gedanken kamen ihm in den Sinn: die Baracken, das bedeutet verurteilt auf ewig. Warum redete der Kommandant von seinem Militärdienst? W7ie waren die Baracken, wenn die Häftlinge einer Armee von Elendsgestalten glichen? Und dann gab es da auch noch den Strafenkatalog, dessen Regeln eine deutliche Sprache sprachen und der für ihn bisher rein theoretisch geblieben war. Die Brothütte, die Hunde, die Exekutionen, der vereiste Gefangene, der ihm von den Fahrern des Proviantwagens beschrieben worden war, der einzelne Schrei, der aus den Duschen gedrungen war, plötzlich bäumte sich alles in seinem Bewußtsein auf: Was tust du hier, bist du blind, bist du taub? Fast gewalttätig fragte er: »Ich habe einen lauten Schrei gehört, neulich in den Duschen. Was war das?«
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Der Chef richtete sich auf, füllte die Gläser und ließ sich mit einer Art Unbeholfenheit in den Sessel zurückfallen. »Aha, du hast einen Schrei gehört. Einen einzigen! Das kann so viel bedeuten. Man schlägt sich, man hat Angst, man...« »Nein«, sagte Ian, »es war ein Schmerzensschrei, der plötzlich wie abgeschnitten war.« »Du hast es gesagt, abgeschnitten. Jetzt weiß ich es wieder... Am späten Nachmittag? Zwei Häftlinge, die man zusammen überrascht hatte, das Gesetz der Natur... Wenn es Häftlinge sind, ist die Sache einfach. Ab in die Wachendusche, und mit einer Heckenschere wird der Schwanz abgeschnitten. Das erklärt den Schrei.« »Aber es war nur ein einziger.« »Ah! Man schneidet auch nur bei der Tunte, denn sie braucht ihn ja nicht. Der Mann wird sofort aufgehängt, weil er sich mutig zeigen will.« »Ich finde das ekelhaft«, sagte Ian. »Sie können nicht töten, ohne zu erniedrigen.« »Erniedrigen«, platzte der Chef los. »Die menschliche Würde existiert nicht, sie ist eine Erfindung von Vereinen, die überall nach den Menschenrechten schreien. Hier bin ich die Menschenrechte.« Ian hatte sich nach vorn gebeugt, damit der Chef den Abscheu, der ihn ergriff, nicht bemerkte; sich auf diesen Mann zu stürzen, um ihn zu schlagen, ging wegen des ganzen Champagners, den er getrunken hatte, über seine Kräfte, selbst wenn eine große Menge davon mittlerweile eine Pfütze rechts neben seinem Sessel bildete. Eine Sekunde lang schloß er die Augen und hatte den Eindruck, daß die langen Wimpern des Kommandanten seinen Blick mehr und mehr filterten. Er befand sich jetzt näher am Schreibtisch und bemächtigte sich der Flasche, um dem Kommandanten und sich selbst nachzuschenken; er hörte ein undeutliches Danke, und sie tranken beide, wobei der Kommandant den Kopf in den Nacken legte und eine Weile mit leicht geöffnetem Mund an die Sessellehne gelehnt sitzen blieb. Dieses Mal mußte er handeln. Ian rückte vor, ergriff die Akte und öffnete sie vorsichtig, wobei er die Seiten zu sich drehte. Er begann die letzte Anweisung zu lesen: »Den 97
Jungen zum Sprechen bringen, notfalls mit Hilfe von Alkohol...« Er schrie auf. Die Hand des Kommandanten hatte auf seine geschlagen. »Erwischt«, sagte er. »Schluß mit dem Theater. Du gehst in Baracke 3, die mit den Unverbesserlichen. Sofortige Exekution.« »Nein!« sagte Ian. Mit einem Satz war der Kommandant über ihm, zerrte ihn aus dem Sessel und preßte ihm den Unterkiefer zusammen: »Lehnst du dich etwa auf?« Die beiden Blicke hielten einander stand, ein gegenseitiger Haß ging von einem zum anderen, ein sichtbarer Haß in dem vom Schnee reflektierten Licht dieser Morgenstunde, doch konnten die wechselfarbenen und verletzbareren Pupillen Ians vor den beinahe schwarzen des Kommandanten nichts verbergen. Der Kommandant ließ ihn jetzt los und ohrfeigte ihn zweimal. Jede Trunkenheit war zwischen ihnen verschwunden. Die kalte Luft hatte die Wangen Ians noch mehr belebt, als sich die schmale Tür der Baracke 3 vor ihm öffnete. Ein beißender Geruch schlug ihm entgegen, und große Flecken Feuchtigkeit färbten den Zementfußboden. Ian wunderte sich, zu dieser Stunde, wo die Schneeräumarbeiten in vollem Gange waren, eine Gruppe von Häftlingen zu sehen, doch dann erinnerte er sich daran, daß nicht alle abkommandiert worden waren; die Häftlinge der Baracke 3 mußten ausgespart worden sein, um ihn jetzt zu empfangen. »Amüsiert euch gut«, sagte einer der Wachleute und stieß ihn ins Innere. Zuerst sprach niemand ein Wort. Der wie ein Soldat gekleidete Junge hatte keinerlei Waffe und war allein eingetreten. Nach einer Weile kamen einige mit heimtückischer Miene näher. Die Tür war hinter ihm geschlossen worden, durch die Ritzen war keine Wache mehr zu sehen. Plötzlich berührte ein Gefangener seine Jacke, Ian bewegte sich nicht. Dann wurden sie kühner, und Ian sah sich plötzlich umzingelt. »Das ist die Schlampe«, hörte er, »sie hat die Typen ausgesucht, die baumeln sollen...« Und Hände begannen, nach ihm zu grapschen. Er wehrte sich, ohne sie brutal zurückzustoßen, aber in dem ungesunden Zwielicht – die Fenster bestanden aus kleinen Milchglasscheiben – schwitzten die fahlen 98
Gesichter vor Gelüsten aller Art: sich zu rächen, ihrerseits ein ihnen ausgeliefertes Wesen zu quälen, und die bestialischen Ausdünstungen dieser Begierden ließen sie stinken. Einer von ihnen packte ihn entschlossen am Hals, die anderen hielten ihn fest, und man knöpfte ihm Jacke und Hemd auf. »Seht her«, sagte eine Stimme, »der ist gekleidet wie ein Mylord.« Aber das Lachen war stumm und machte kein Geräusch, als müßte der Verschwiegenheit ihrer Gesten die Heimlichkeit ihrer Worte entsprechen, nur ein Wispern begleitete ihre Schläge. Der Pullover war ihm aus seiner Wohnung gebracht worden, als man ihn in der Kaserne eingesperrt hatte; binnen einer Sekunde war er zerfetzt. Sie rissen ihm das Hemd herunter, und einen Moment lang ließ die weiße Haut sie innehalten. »Da bedienen wir uns«, flüsterte einer. Ian wehrte sich, ein Faustschlag erwischte ihn an der Schläfe. »Hört auf«, sagte er. »Sieh an, er spricht.« In stummem Gelächter packten sie ihn und stießen ihn auf eine Bank. Dann flüsterte ein Mann: »Macht langsam, mit Methode, zieht ihm zuerst die Hose aus.« Ian begann um sich zu schlagen, aber er hatte nicht genügend Platz, und die anderen verabreichten ihm Kniestöße. Dann schrie er. Sofort erschollen kurze Befehle, die Wachen brachen durch die Tür, und innerhalb eines Augenblicks sausten Knüppelschläge auf alles nieder, was sich bewegte. Die Häftlinge flohen in den hinteren Teil der Baracke, und der Chef sagte zu Ian, ohne ihn anzusehen: »Du siehst. Die menschliche Würde!« Ian antwortete nicht. »Wir werden dir jetzt zeigen, was sie wert ist« – er wies auf die Gefangenen – »nehmt die ersten zwanzig, Richtung Duschen.« Die Häftlinge begannen zu schreien, doch die Peitschenschläge auf den Mund brachten sie zum Schweigen. Die Duschen bestanden aus mehreren Räumen; es gab wirkliche Duschen, aber auch leere Zimmer, eines lediglich mit einer Stein99
rinne in der Mitte, ein anderes, in dem eine Art Werkbank eine ganze Seite einnahm. Die Gefangenen wurden in das letztere geführt. »Wer hat dich angerührt?« fragte der Chef. »Ich weiß nicht«, antwortete Ian. »Es liegt in deinem Interesse zu antworten«, sagte der Chef sehr leise, »wenn nicht, bleibst du beim nächsten Mal in ihren Klauen. Antwortest du nun?« »Niemand«, sagte Ian und sah ihm direkt ins Gesicht. »Hier heißen sie alle so.« Der Chef zuckte mit den Schultern und wies mit seiner Peitsche auf den ersten. »Die Finger«, sagte er, und mit Hammerschlägen wurden dem Mann nacheinander die Finger zerschlagen. Er schrie ohne Unterlaß, ohne daß man ihn daran hinderte, dann fiel er mit hängender und geschwollener Hand auf die Knie. Blut lief über das Holz, und seine Hand färbte sich blau. Der zweite preßte seine Hände unter die Achseln, und man mußte sie mit Gewalt hervorzerren. »Beide Hände«, befahl der Chef. Die Schreie verbanden die Zeugen miteinander wie der rote Faden, der bis auf den Boden lief. Beim fünften hörte man auf. Ian wandte den Kopf ab, wie trunken von dem Flehen, den Schreien und dem Blut, doch hatte das Gesicht dieser Männer, als sie sich auf ihn gestürzt hatten, jedes Mitleid in ihm erstickt. Man wechselte das Zimmer. Über einer Steinrinne befanden sich vier Seilscheiben, und vier Männer wurden entkleidet. Der Kommandant wählte jene, die, wie er sagte, es verdienten, da hinaufgezogen zu werden, einer vor allem habe kleine Mädchen vergewaltigt. Man schnürte eine kleine Kordel um ihr Geschlecht, die, als sie auf halbe Höhe gezogen wurden, ins Fleisch einschnitt; die Schreie übertrafen alles bisher Gehörte. Da die Häftlinge, denen bisher noch nichts geschehen war, ebenfalls brüllten, drohte man ihnen, ihr Maul mit Klöppelschlägen endgültig zu stopfen. Das Blut der Männer begann in die Rinne zu spritzen, »und wenn die Geschlechtsteile sie nicht mehr tragen«, erklärte der Chef Ian, »fallen sie runter, und die anderen Häftlinge waschen das Material. Die 100
anderen kriegen einen Eiswasserguß und werden ausgepeitscht. Doppelte Ration für euch«, warf er schließlich den Wachen zu. Und zu der Musik der Klagen und Schreie ließ er Ian hinausbringen. Der Junge war aschfahl, in seinen zerrissenen Kleidern zitterte er. »Du siehst nicht gerade glänzend aus, die Wachen werden deine Jacke reparieren, du hast zwei Stunden, um dich in Ordnung zu bringen, bevor du am Finale der Exekution teilnimmst.« »Ich flehe Sie an«, murmelte Ian. »Du hast ja schon meine Stiefel geleckt. Wenn du Nerven zeigst, werden sie dir bei einer Züchtigung schon vergehen. Ohne die Akte ließe ich mich erweichen. Jetzt muß ich den Bericht über das, was du angerichtet hast, schreiben.« Sie kamen vor dem Büro an, die Wachen hielten sich hinter ihnen. »Es waren die Wachen, die sie provoziert haben. Sie haben gesagt: Da habt ihr ihn, amüsiert euch.« Mit dem Finger berührte der Kommandant seine nackte Brust: »Du mußt schön aufpassen, du hast alle gegen dich, Wachen und Häftlinge. Wenn es nach ihnen ginge, würde kein Zentimeter deiner Haut ausgespart, und nicht so, wie du glaubst!« In seinem Büro schrieb er sofort einen Bericht, chiffrierte ihn und ließ ihn von einem Posten in den Wald bringen, wo die Soldaten ihn dem Generalstab übermitteln würden; währenddessen hatten die Schreie aufgehört, in einem Kleinlaster wurden die Gefolterten übereinander geworfen und in den Exekutionshangar gefahren. Mit Einbruch der Dämmerung wurde es kälter, eine blaue Kälte, in der vereiste Schneeflocken wie Pailletten glitzerten. Um fünf Uhr ließ der Kommandant Ian holen; seine Jacke war noch immer zerrissen, darunter hatte er die Kleidung jedoch gewechselt. »Du hast ganz schön viel Gepäck mitgebracht!« sagte der Chef ironisch, dann, im selben Atemzug: »Du verdienst, daß ich dir nicht mehr traue. Ich erinnere dich daran, was du riskierst, wenn du 101
bei den Exekutionen deine Gefühle zeigst. Ich habe Befehle: Wir machen mit dir, was ich erzählt habe, mit einer Heckenschere.« Instinktiv legte Ian eine Hand auf den Plexus, in seinem ganzen Körper bis ins Geschlechtsteil schmerzten ihn seine gespannten Nerven. Er atmete tief ein, und sie betraten den Hangar. Zuerst sah er nicht, was im Hintergrund geschah, denn irgend etwas verhängte die Sicht. Der Kommandant ging vor und stieß mit der Faust zu seiner Rechten Füße beiseite, die sich im Kreis drehten. Auf drei Reihen befanden sich bereits vierzehn Körper, die nackt herabhingen, mehrere entstellt und blutüberströmt; einzig die Beine und Füße schienen seltsam blaß, wie Birkenstämme, die ihre Rinde verloren haben. Unterdessen nahmen die Hinrichtungen ihren Fortgang, drei Männer wurden gleichzeitig aufgehängt, in einer perfekten Handlungsabfolge rissen die Henker ihnen genau in dem Moment die Hosen herunter, in dem die Körper mit einem trockenen Geräusch in die Schlingen fielen, und in diesem Wald von Erhängten richteten sich in grausiger Ironie die Geschlechtsteile auf und schrien in einem letzten Tropfen Sperma ihr Leben hinaus. Der Kommandant sagte »Halt«, während die drei letzten Verurteilten bereits den Strick um den Hals trugen. Die Wachen glaubten, er würde sie begnadigen. »Geh dorthin«, sagte er zu Ian. Er zeigte ihm einen Mann: »Der da ist der Chef. In den Baracken gibt es das auch. Nun gut, dem Chef werden wir die größte Lust verschaffen. Sieh ihn dir an und sieh die anderen an, damit sie dein Gesicht mitnehmen an den Ort, wo sie hingehen.« Die Männer sahen Ian an. »Du siehst«, sagte der Kommandant, »sie wollen dich töten, und du bist es, der sie tötet.« Und da er glaubte, Ian würde sprechen, packte er sein Gesicht und hielt es vor die, die man einen nach dem anderen aufhängen würde: »Sieh sie dir gut an!« Dann ließ Ian sie ihre Blicke in seinen Augen versenken, als wollte er sie in sein Innerstes ziehen, 102
in den unterirdischen Bereich, wo sich die Tränen bilden, um sie von jedem Haß und jeder Angst reinzuwaschen. Das, was nun geschah, war schlimmer, als er geglaubt hatte. Als die Stühle zurückgestoßen wurden, liefen die Gesichter blau an. Man band sie ab, setzte sie hin und goß Wasser über sie. Dann, nach einem Augenblick, wurden sie, wie der Kommandant sagte »wieder in den Sattel gehoben«. »Siehst du«, erklärte er, »die Schlinge um den Hals schnürt ihnen die Luft genauso lange ab wie nötig, und man kann, so oft wie man will, wieder von vorne anfangen. Aber für diesmal reicht es. Los, macht Schluß.« Die Wachen setzten die Exekution fort. Als, dem Ritual entsprechend, der letzte Körper seine letzte Zuckung getan hatte, brach der Junge ohnmächtig zusammen. Die Wachen machten Fotos. In den folgenden Tagen wurde die Morgendämmerung düster. Ein Transport traf ein mit genau der Anzahl Häftlinge, die man brauchte, um die Lücken zu schließen, aber Ian nahm an den Appellen nicht mehr teil, denn der Kommandant hatte die Instruktion erhalten, den Jungen in seinem Zimmer eingesperrt zu lassen. Bis jetzt hatte er in der Hoffnung auf irgendeine Rettung, er wußte nicht welche, gelebt, in der Hoffnung auf das, was die Gläubigen in jener Sprache, die er zu Hause als Kind gehört hatte, Wunder nannten. Jetzt begriff er, daß er ausgespielt hatte, daß die Partie ohne ihn weitergehen, er aber zurückbleiben würde als die Hauptfigur eines Spiels, in dem die anderen ein bizarres Ballett um ihn herum aufführten, dessen Ziel es war, ihn mattzusetzen. Matt war gleichbedeutend mit dem Tod.
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13. Die Morgenröten wurden düsterer für Andrei, die erfüllte Liebe befriedigte ihn nicht mehr, und er trat langsam in die Ära der Unruhe ein. Es war alles zu schnell gegangen. Alles, was er wollte, lernte er mit einer Leichtigkeit, die er zuerst für Zauberei hielt, dann wuchsen in ihm der innere Stolz und die Sicherheit, und er hatte das Gefühl, daß sämtliche Hindernisse eins nach dem anderen von seinem Weg verschwinden würden. Schnee bedeckte alles, doch hatte die Kälte ihn abgehärtet. Wenn er nach seinen Militärkursen zu Catherine ging, leuchtete die Venus in einem tiefen Himmel, und jeder Abend kündigte sich an wie ein Fest. Die Freunde der jungen Frau hatten ihn sofort in ihren Kreis aufgenommen, und da er Soldat war, wollten sie nicht, daß er sein Geld gleich ihnen verschwendete; unter zartfühlenden Vorwänden machten sie ihm sogar Geschenke, damit er sich abends wie sie kleiden konnte, und innerhalb kürzester Zeit gehörte er ganz zu ihnen. Catherine hatte sich verändert, sie führte sich als Verliebte auf mit der weiblichen Neigung zu öffentlichen Zärtlichkeiten und dem ganzen körperlichen Drumherum, das im Tierreich der Markierung des Reviers entspricht. Diese Liebe klebte ihn fest, noch liebte er diese sanfte Invasion seiner selbst, weil er sich einbildete, daß einige Minuten körperlichen Besitzens mit der Wildheit seiner Hüften genügten, um ihn zum Herrscher über ihrer beider Bewußtsein zu machen. Nachdem sein Geschlecht allerdings besänftigt war, wurde die Herrschaft der Frau wieder vollständig, und von dem schönen Männerkörper dauerten nur die mit der Lust verschwindenden Empfindungen fort, die ihn dem eher träumerischen Genuß 104
des anderen Geschlechts auslieferten, und so gingen die verschiedenartigen Freuden ihrer Sinne ineinander über, bis sie nicht mehr zu unterscheiden waren. Weihnachten war vorbei, und der Goldring hing an einem Kettchen um Catherines Hals. Bisweilen erlebte Andrei, so als handelte es sich um einen anderen, die plötzlichen Eifersuchtsanfälle des Verliebten auf die Vergangenheit der jungen Frau; sie begnügte sich damit, ihm zu sagen, daß die Vergangenheit mit ihm beginne. Er fragte, scheinbar, nicht nach, doch über den Umweg eines Kusses, als sie verschlungen im ungestümen Schatten der Laken lagen, wollte er wissen, ob sie vor ihm bereits solche Momente erlebt habe. Sie überlegte ein wenig und antwortete, daß ihr keiner wirklich im Gedächtnis geblieben sei. Die rückwärtsgewandte Eifersucht, die Andrei bewegte, belustigte sie; und der Leutnant nutzte sie, um seine Fallen aufzustellen, aber in seinem Inneren, er wußte es sehr wohl, erschien Ian, auf ihn war er eifersüchtig, und während er sie liebte, behielt er die Augen nur dann auf, wenn es vollkommen dunkel war. Sonst sah Catherine über sich ein Gesicht mit geschlossenen Augen, und sie schrieb es der Weltvergessenheit eines Athleten in voller Anstrengung zu, während er in Wirklichkeit in den Fängen von Dämonen war, von denen sie nichts ahnte. Und dann, eines Tages bei Adam, in einem kleinen Zimmer, das als Bibliothek diente, entdeckte er an der Wand ein Foto von Ian. Glücklicherweise hingen noch andere Fotos von Freunden da, und er konnte problemlos Fragen stellen. Adam antwortete bereitwillig: »Das ist in der Universität, das beim Kanufahren, dies sind meine besten Freunde, hier im Wald, da beim Tennis, das war im Süden, du kennst ja Michel, das da ist Andre, das Jörg, dieses Anton, Catherine, Erna, Vito...« Über Ians Gesicht ging er immer hinweg, und mehrmals setzte Andrei erneut an: »Und der, wer war das nochmal? Ich habe ihn noch nie gesehen.« Schließlich antwortete Adam. »Ein Freund, der gestorben ist.« »Oh, wie das?« 105
»Ich weiß es nicht mehr.« »Aber du sagst doch, daß das Foto vom letzten Sommer stammt.« Adam sah ihm wortlos scharf ins Gesicht. »Naja, es geht mich ja auch gar nichts an«, räumte der junge Leutnant ein, spürte aber, daß er die Neugier des Jungen geweckt hatte, des reichsten und launenhaftesten der ganzen Gruppe, desjenigen, der Catherine wie eine Schwester mitzog und ihr dennoch immer mit einem traurigen Lächeln sagte: »Am Ende wirst du mich heiraten.« Andrei hörte sich, während er sein Glas hob, plötzlich sagen: »Nun gut, auf mich unter deinen Fotos, Adam!« und glaubte, damit alles in Ordnung gebracht zu haben. Später am Abend sagte Catherine ihm, daß sie die Nacht in Adams Wohnung verbringen würden, Adam wolle nicht allein bleiben, da Andrei, ohne es zu wissen, eine schmerzliche Erinnerung geweckt habe. Es gäbe Gästezimmer, wenn Adam litt, könnte er sie rufen. Andrei sah keinerlei Hindernis. In dieser Nacht wollte Catherine das Licht anbehalten, als er auf ihr lag. Das Haus war alt und weitläufig, mit dicken Mauern; unter unsichtbaren Schritten knarrten Bretter, doch legte er wie jede Nacht soviel Leidenschaft in die Bewegungen seines Körpers, daß ihm die Liebe Quelle aller Geräusche zu sein schien. Im Morgengrauen ging er so früh fort wie immer, und Adam kam, um sich in Catherines Arme zu schmiegen. Er hatte nicht geschlafen und zitterte; sie mußte ihn streicheln wie ein Kind. »Er sieht dich nicht an«, sagte er, »er schließt die Augen, er schließt die Augen wie...« »Schlaf.« »Ich kann nicht. Ich habe seinen Körper gesehen und gehört. Ich habe dich gehört, du liebst ihn, er ist genauso schön wie der andere, und er tut, was...« »Adam, sei still. Warum willst du unglücklich sein?« »Versprich mir, daß ich weiter zusehen darf.« »Natürlich.« 106
»Catherine, wir heiraten, und du wirst ihn trotzdem haben. Du liebst mich nicht mehr, du liebst ihn. Und den anderen, man hat ihn...« »Nein«, sagte die junge Frau, »man hat nichts getan.« Catherine beruhigte ihn sanft, indem sie sein Gesicht streichelte, und mit dem Mund auf ihrer Brust schlief Adam schließlich ein. Sie blieb lange liegen, ohne sich zu rühren, und dachte über dieses seltsame Schicksal nach: In ihren Armen das Wesen, das sie glücklich machen sollte und es nicht konnte; sie liebte einen Leutnant, aber wie sollte sie einen Jungen aus dem Volk heiraten, der nur seinen Körper und eine mittelmäßige Zukunft zu bieten hatte? Und dann hatte es da noch den gegeben, der sie liebte und den sie nicht liebte, diesen Jungen, der nicht mehr erwähnt wurde, weder von Adam noch von ihr, noch von den anderen und dessen Foto die Mechanismen der Eifersucht, der Lust und der Trauer im Herzen des Kindes, das an sie gepreßt schlief, in Gang gesetzt hatte. Kind trotz des zugleich schmalen und kraftvollen Körpers, dessen Geheimnis sie vergebens zu verstehen suchte. Er schlief in einem weißseidenen Pyjama, der genauso sanft war wie seine Haut und den er am Hals zuknöpfte, als wolle er seinen Körper verbergen, für den er sich schämte und der sich dennoch – sie wußte es – nicht von denen unterschied, auf die er eifersüchtig war. Sie zog ihren Arm erst weg, als sie sah, daß er sich nicht bewegte, dann deckte sie ihn mit einer großen Veloursdecke zu und wartete im Dunkeln auf das Erwachen der Stadt. In dieser Woche tauchte im Norden die Influenza auf, es schneite unaufhörlich, so daß man glauben konnte, es sei diese bleiche Epidemie, die ihre Schauer auf der Erde ausstreute. Da sämtliche Verbindungen unterbrochen waren, mußte man bald darauf verzichten, mit dem Fallschirm Medikamente abzuwerfen; man erfuhr, daß es in den kleinen Ortschaften jeden Tag Tote gab, während über die Lage in den von der Außenwelt abgeschnittenen Dörfern nichts nach draußen drang. Die Nachrichten sprachen nicht nur von Grippe, sondern von einer heimtückischen Art von Cholera, und sehnlichst wünschte man die eisigsten Temperaturen herbei, um das Fieber, dessen Nebel auf den Seen und Sümpfen der 107
nördlichen Provinzen eine absolut tödliche Ausdünstung zu sein schien, zu brechen. In der Stadt sah man in alldem zunächst nur eine der gewöhnlichen Begleiterscheinungen des Winters, dessen Antlitz allerdings täglich furchterregender wurde. Ganz Europa zitterte, und wie in ähnlichen Fällen erhoben Hunderte von Wahrsagern die Stimme, der Papst sprach von einem Fluch des Himmels, und auch die anderen Kirchen versuchten einander in ihren Interpretationen der göttlichen Verdammnis zu übertreffen. Doch erwähnte niemand die verdurstenden Regionen Afrikas oder Südostasiens, wo bis Ende Oktober ein endloser Monsun Tausende von Toten gefordert hatte. Nach und nach verdrängte der Winter alle anderen Probleme, und unmerklich steigerten sich die Vokabeln der Angst, mit denen er ausstaffiert wurde, dem wunderbaren Winter der leuchtenden Sterne und Weihnachtsbäume folgte der traurige Winter der kleinen Leute, der wilde Winter, der mehr und mehr Menschenleben bedrohte, der kranke, der grausame, der unheilvolle, der unerbittliche und, als Schlußpunkt dieser Litanei, der fürchterliche Winter. Die Symptome waren stets dieselben, Steifheit und Diarrhö brachten die Kranken zunächst in einen Zustand völliger Entkräftung, der sie Tieren im Winterschlaf ähneln ließ. Die Leichtgläubigkeit der menschlichen Spezies tat ihr übriges; die widersprüchlichsten Rezepturen wurden befolgt, man aß, um gegen die Krankheit zu kämpfen, oder machte Diät, um sie zu schwächen. Jeder Schweiß wurde als Schleim angesehen, jeder Krampf als Cholera, man erinnerte an die tödlichen Grippen der Jahrhundertwende. Man riet zum Schwitzen, zu heißen Bädern und Abführmitteln, die noch mehr schwächten. Diejenigen, die überall Zeichen der Cholera sahen, machten sich zusätzlich mit ihren Ängsten verrückt, man glaubte, sich durch Alkohol immunisieren zu können, jede Temperatur wurde verdächtig, die Patienten wurden isoliert. Die sich an ihre Wissenschaft klammernden Ärzte bewiesen einmal mehr deren Zweifelhaftigkeit, Kräutersammler verkauften einfache Staubbeutelchen, und über den Nachttischen tauchten Amulette auf, die den Tod gleichwohl nicht aufhielten. Obschon das Jahr 2000 nahe war, wurden alte Glaubenslehren hervorgekramt, und an die Tür eines jeden Hauses, in dem sich ein hoffnungsloser Fall befand, 108
hängte man ein Stück schwarzen Stoffes. Beerdigungszeremonien fanden nicht mehr statt, die Vertreter der Kirchen, Priester, Popen, Pastoren und Rabbiner, begnügten sich damit, einen Mundschutz überzustreifen und ihre Gebete in die Massengräber zu werfen. Von dieser Art von Beerdigung gab es keinerlei Ausnahme mehr, reich oder arm, jeder wurde wieder unbekannt. Die Städte entvölkerten sich. Die Epidemie griff auf die Nachbarländer über, und zahlreiche politische oder gesellschaftliche Konflikte fanden auf diese Weise ihre Lösung. Das Lager Null wurde von nichts informiert und lebte abseits des Übels. Es sonderte selbst bereits genug davon ab, doch war die Gesundheit sogar besser als gewöhnlich, die Kälte war ein Schutz... Andrei mußte seine Nachmittagskurse eine Zeitlang unterbrechen; im Generalstab, dem er angehörte, erfuhr er, daß das Lager sich an der Grenze zu der Zone befand, die am meisten betroffen war. Mit Macht kehrte das Gesicht Ians in sein Gedächtnis zurück, und auf dem Grund seines Herzens hörte er dessen letzten Satz: »Rette mich.«
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14. Eines Nachmittags im Januar erhielt der Chef zwei Botschaften nacheinander. Die erste, die er allein öffnen sollte, enthielt die Mitteilung, daß sich unter seinen zuletzt gekommenen Häftlingen ein Mann befinde (es folgten die Angaben zur Person), der bei einem Verhör leichte Stimmbandverletzungen davongetragen habe; er solle in alleiniger Gegenwart Ians exekutiert werden. Das Brotritual sei auszulassen, dafür wünsche man allerdings, daß die Zeremonie von Musik begleitet werde, wobei die Auswahl der Musik dem Chef überlassen bleibe. Die zweite Botschaft sollte acht Tage nach der o.g. Exekution in Gegenwart von Ian geöffnet und verlesen werden, falls bis dahin keine anderslautende Botschaft ins Lager gelangte. Der Chef ließ den genannten Mann sofort holen, zusammen mit vier Wachen, die sich in ihrer Freizeit zu einer kleinen Kapelle zusammenfanden und in melancholischen Stunden für ihre Kameraden spielten. Er erklärte ihnen, was er von ihnen erwartete. Drei kamen mit ihren Instrumenten, Geige, Saxophon und Bratsche zurück, der vierte brachte den Kontrabaß direkt in den Hangar, da er nicht im Gehen spielen konnte. Die Musik drang bis in die Baracken. Auch Ian hörte sie, und als sie sich entfernte, holte man ihn ab. Seit zwei Wochen war es die erste Veränderung im Mechanismus seiner Stunden: aufstehen, duschen, Gymnastik, Frühstück, obligatorischer und von zwei Taubstummen überwachter Gang in den Sektor des Lagers, in dem man keine Menschenseele traf; man hatte ihm sogar eine Bahn abgesteckt, auf der er in Sichtweite seiner Wachen laufen mußte und in deren Zentrum sich das berühmte Loch zwischen den Tannen befand, in das man die Körper hineinwarf. In der verschneiten Allee sah er die kleine Gruppe vor sich. 110
Die drei Musiker spielten I SING YOU A LOVE SONG (Ich singe dir ein Liebeslied) mit der ganzen traurigen Sanftheit des Tango, und hinter ihnen marschierte ein von zwei Wachen eingerahmter Mann in Schwarz; der Kommandant bildete das Schlußlicht. Als sie in die Nähe des Hangars kamen, mischte sich der Kontrabaß in das Konzert ein, und die Instrumentalisten spielten alle zusammen am Eingang, während die anderen in das düstere Gebäude hineingingen. Der Kommandant erwartete Ian. »Komm rein«, sagte er. »Da ist jemand, den du sehen mußt.« Sein Herz begann so heftig zu schlagen wie die dumpfen Zupfer des Kontrabaß. Was würde noch geschehen, welcher neuerlichen Grausamkeit sollte er als Komplize beiwohnen? Drinnen saß der Mann in Schwarz am Tisch, während zwei Wachen einen Strick vorbereiteten. Ian dachte: »Sie werden mich hängen, mich, und dieser Mann kommt speziell dafür aus der Stadt.« Die Musik drang stoßweise in den Hangar, die verhurten Tränen des Saxophons und die ein wenig spitze Geige ließen die Schläge des Kontrabaß und noch mehr die verliebte Stimme der Bratsche schauerlicher kleingen. »Vorwärts!« Ian fühlte seine Beine schwach werden, doch der Chef stieß ihn vor: »Ich habe gesagt, vorwärts.« Sie gelangten in die Nähe des Tisches, der Mann in Schwarz hob das Gesicht, und Ian erkannte den Mann mit der Zeitung, aber ohne Kragen, mit unrasiertem Kinn und die Augen hohl von Schlaflosigkeit und Erschöpfung. Bei Ians Anblick erhob sich der Mann und versuchte zu sprechen, doch drangen die Töne aus seiner Kehle als kämen sie von einem Reibeisen. Ian machte einen Schritt auf ihn zu, der Mann wich mit erhobenem Arm zurück, und alle konnten plötzlich die zu einem äußersten Krächzen anschwellende Stimme schreien hören: »Er, er ist es... Ich klage an... Verrat...«, und er wiederholte hysterisch dieselben Worte, während die Musik draußen weitermurmelte »Ich singe dir ein Liebeslied«.
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Die Wachen legten ihm das Strickhalsband um, warfen das andere Ende um einen Haken, dann zogen sie die schwarze Kleidung hinauf, und innerhalb einer Minute war alles vorbei. Vor dem schließlich unbeweglichen Körper setzte sich der Kommandant auf den Stuhl, auf den die Häftlinge zu ihrer Erhängung steigen mußten, und forderte den vor ihm stehenden jungen Mann auf zu gestehen. »Was gestehen?« fragte Ian leise. »Kurz bevor er starb, hat er dich angeklagt. Das ist eine Art von unwiderruflichem Zeugnis.« Ian antwortete nicht, und keine Drohung konnte ihm ein weiteres Wort entlocken. »Gut, man wird dich in dein Zimmer zurückbringen, und du wirst erst wieder herauskommen, wenn du deine Sprache wiedergefunden hast.« In seinem Zimmer widersetzte sich Ian der absoluten Stille, der er ausgeliefert war. Die Fensterläden wurden so gestellt, daß er von draußen nichts mehr hören konnte, in seiner Nähe vermieden die Wachen jedes Geräusch, als wären sie aus Gummi. Ian glitt in eine Welt aus Watte, man ließ ihn zu Stunden tiefster Stille hinausgehen, wenn der Schnee so dicht fiel wie nie. Er dachte erneut an die Verkettung all dessen, was ihm geschehen war, und ging den Weg, der ihn ins Lager gebracht hatte, rückwärts. Der Mann mit der Zeitung war also kein Spion, es war ganz offensichtlich, daß Ian ihm Unglück gebracht hatte. Und dann, nach langem Suchen, erschien die erste Antwort: der Mann mit der Zeitung hatte ein doppeltes Spiel gespielt; für Gott weiß welche Wühlarbeit hatte man ihm Straflosigkeit und Freiheit versprochen, unter der Bedingung, einen Studenten, den man ihm bezeichnen würde, zu belasten. Nachdem Ian geschnappt war, war der andere von keinerlei Interesse mehr, und die Versprechungen der Polizei erwiesen sich als mit selbstlöschender Tinte geschrieben. Indem man ihn in den Tod schickte, entledigte man sich eines lebenden Beweises und wies ihn zugleich erneut auf etwas hin. Er suchte. Und wieder fand er. Man bedeutete ihm, sich auf den Tod vorzubereiten. Dies geschah sehr indirekt, doch zählte man auf seine Angst, so wie die Fallen den im Eisen 112
gefangenen Tieren angst machen, so daß sie sich wehren und an der Angst sterben. Um sich zu retten, entschloß er sich, alles zu versuchen, und ein Vertrauen in seinen Stern sagte ihm innerlich, daß er nicht sterben würde, aber hatte er nicht auch Vertrauen zu seinen Freunden gehabt, so weit sogar, daß er den jungen Sergeanten, der ihn als Wache begleitet hatte, angefleht hatte, ihn zu retten, am Tag, als sie sich in der Kaserne von S. getrennt hatten? Er hatte ihm die Adresse von Catherine gegeben, und seitdem war Schweigen. Wenn Catherine ihm selbst, nachdem sie zusammen geschlafen hatten, sagte, daß sie ihn nicht liebte, sprach sie also die Wahrheit. Ich sang ihr ein Liebeslied und hielt sie in meinen Armen, und währenddessen wartete irgendwo ein Strick auf meinen Hals. Gedanken dieser Art wurden schließlich abstrakt mit den endlosen Stunden, in denen er nichts zu tun hatte außer zu warten und zu schlafen. Nach fünf langen Tagen brachte der sechste Tag eine beträchtliche Veränderung: statt ihm morgens etwas zu essen zu bringen, setzte man ihm lediglich einen »Selbstmordkaffee« vor, äußerst bitter und stark. Im Gebäude der Wachen, wo man ihn allein hinbracte, damit er seine Sportübungen machte, tat er so, als hätte er sich die Hand verstaucht, und wortlos deutete die Wache auf einen Nebenraum mit einer kleinen Hausapotheke. Ian mußte sich allein zurechtfinden, er massierte sich mit einer Salbe und schaffte es, ein Jodfläschchen und ein skalpellartiges Messer in seiner Kleidung zu verstecken. Danach stellte er die Schachteln an ihren Platz zurück, und die Tür wurde geschlossen. Um glaubwürdig zu wirken, hielt er sich die Faust. Am Nachmittag brachte man ihm nur wenig zu essen, er schlang es hinunter; man schlug die Fensterläden zurück, und er bemerkte, daß der Schnee das Fenster bis auf halbe Höhe versperrte. In schweigsamer Hartnäckigkeit fielen die Flocken weiter, und in dem Maße, in dem der Abend die Weiße dieses Gewirbels anklagte, schien sich jede Flocke einen Moment lang vom dunklen Himmel loszureißen. Ian hatte das gestohlene Jod in der Tasche seiner von einer Wache geschickt ausgebesserten Jacke versteckt, etwas sagte ihm: »Du wirst es bald brauchen.« Die Messerklinge steckte er in einen seiner Stiefel, und plötzlich fühlte er sich müde, 113
eine Müdigkeit, die seinen Nacken und seine Gelenke umfaßte, so wie man einen Körper umfaßt, den man transportieren will. Er kleidete sich aus, legte seine Sachen wie immer auf den Tisch und zog den Pyjama an, den man ihm regelmäßig wusch und bügelte. Seine Wäsche wurde genauso gut gehalten wie zu Hause, dachte er, als er seine Reisetasche ansah, die wie eine Beleidigung unter dem Regal stand, an dem sein von den Häftlingen zerfetzter Pullover hing. Man hatte ihn gut sichtbar auf einen Kleiderbügel gehängt, um ihn an den Zwischenfall zu erinnern, und der erste Traum vom Lager, den er hatte, bezog sich darauf. Er befand sich in Baracke 3, doch hielten sich die Häftlinge im Hintergrund, weit entfernt vom Licht, das mit ihm in die Tür einfiel. Er ging auf sie zu, und sie teilten sich in zwei Gruppen, um sich von ihm fernzuhalten. Er gelangte zur hinteren Wand, und die Häftlinge gruppierten sich in einer anderen Ecke erneut. Dies wiederholte sich mehrmals. Dann sah er sie nicht mehr, bemerkte aber, daß sie über ihm waren, er mußte sie zählen. Es waren die bei den Hinrichtungen, an denen er teilgenommen hatte, zweiundzwanzig Erhängten, der Mann aus der Brothütte war der erste, allein, danach kamen die zwanzig gleichzeitig aufgehängten Häftlinge und zum Schluß, auch wieder allein, der Mann mit der Zeitung. Alle lachten, alle zeigten ihm eine riesige Zunge, und ihr Geschlecht baumelte über ihm. Er hatte nicht die Kraft zu schreien, und der Alptraum verlosch für eine Zeit. In seinem Schlaf wurde er sich bewußt, daß man seinem Essen Drogen beigemischt hatte und daß er die Augen nicht öffnen konnte. Ein Moment verging traumlos, dann wurde er erneut von den Fantasmen der Nacht überfallen. Er sah das rote Appartement Adams und sich selbst, Ian, unbeweglich auf einem Bett; mit dem Instrument, das Ian in der Apotheke gestohlen hatte, schnitt Adam ihm sorgfältig das Geschlecht ab und brachte es weinend zu einem wunderbaren Körper, dessen Gesicht man nicht sah. Und Ian schrie: »Rette mich.« Ohne auf den verstümmelten Körper zu achten, trat Catherine ein, dann tauchte Adam seine Hand in Ians Blut. Mit Varianten setzte sich dieser Traum die ganze Nacht lang fort, und er konnte ihn nicht loswerden. Er sprang von Adams Bett auf und flüchtete sich in einen roten und schnurgeraden Korridor, es war sein Blut, welches die 114
Wände färbte, der Korridor wurde enger und dunkler, eine Stimme sprach zu ihm: »Hier wird man dich nicht mehr erreichen können, du bist in deiner Vene versteckt.« Und von neuem lag er unbeweglich, Adam ausgeliefert, auf dem Bett. Mit einem Ruck wurden ihm die Decken weggezogen, die Lampe war an, der Tag neigte sich bereits dem Ende zu, der Chef brüllte »Auf«, und Ian erhob sich, wobei er sich bemühte, die männliche Erregung des Erwachens zu verbergen, doch der Chef rief die ihn begleitende Wachengruppe als Zeugen: »Morgen, Kinder, macht ihr hübsche Fotos, wenn das nicht mehr da ist...« und streifte mit seiner Peitsche über den Pyjama. »Du ziehst dich an. Den Pyjama, Jungs, nehmt ihr dorthin mit, er wird ihn morgen bei der Zeremonie tragen. Ja«, sagte er zu Ian, »es gibt keine weitere Botschaft. Du duschst und seifst dich ein. Mit unserer kleinen Droge hast du lange genug geschlafen, du mußt Hunger haben. Du kannst ihn im Paradies stillen, es gehört die Nacht lang dir... Bei deinem letzten Auftritt morgen wirst du viel Publikum haben, sämtliche Häftlinge werden deine weiße Haut bewundern und das, was du zwischen den Beinen hast.« Er wandte sich an die Wachen: »Die Reisetasche und die Kleider, Jungs, gehören euch. Und morgen, danach, noch das, was er auf der Haut hat... Los, genieß deine letzte Dusche und mach dich ein bißchen zurecht, du könntest diese Nacht noch gefallen...« Unter großem Gelächter ließ er Ian in den Händen der beiden Wachen, die ihn von diesem Augenblick an bis zur Brothütte begleiten sollten. Als Ian sich angekleidet hatte, vergewisserte er sich, daß sich das Jodfläschchen noch immer in seiner Jackentasche befand. Beim Schuheschnüren zog er das Messer aus dem Stiefel und ließ es ebenfalls in die Jackentasche gleiten. Der Nordwind ließ ihn erschauern, er schlug den Kragen seiner Jacke hoch und folgte den Wachen. Der Pulverschnee bedeckte alles mit seinem Flaum, die Bäume, die Häuser, denen er einen letzten Blick zuwarf, und alles nahm ein abgerundetes und cremiges Aussehen an, niedrighängende Tannenzweige gruben Tunnel in die Schneeverwehungen, und hinter den Hangars war kein Weg mehr zu sehen. Unter Mühen 115
gelangten sie zur Hütte, öffneten sie mit Fußtritten, und Ian trat vor ihnen ein, sie begnügten sich damit, die Tür zuzustoßen, dann hörte der Junge sie beim Weggehen lachen, glücklich darüber, diese Sauarbeit bei solch einem Wetter hinter sich gebracht zu haben. Ian rührte das Brot nicht an, obwohl er Lust dazu hatte. Zwölf Stunden lagen vor ihm, er durfte keine Minute verlieren. Zuerst mußte er den Wachen genügend Zeit lassen, um ihre Quartiere zu erreichen, dann ein bißchen warten, bis es vollständig dunkel war, um eine eigentlich undenkbare Kontrolle zu vermeiden, denn für die Wachen war die Hütte selbst eine Falle. Durch den Türspalt konnte er den Platz sehen, auf dem die Wachen sich gewöhnlich aufhielten, unter dem Wetterdach zwischen den Lärchen; der Schnee lag so hoch, daß niemand sich durchschlängeln konnte, und der Platz war leer. Innerhalb kurzer Zeit schlug das Licht in der Hütte vollständig um, und er konnte die Brote nicht mehr erkennen. Zufällig berührte er eines und brach es ohne Schwierigkeit, als wäre es gerade erst gebacken worden; dieses Brot machte erst auf Dauer satt, hatte der Chef ihm erklärt. Er führte ein Stück zum Mund und spuckte es sofort wieder aus: er erinnerte sich an den Mann, der genau an dieser Stelle an seinem Erbrochenen gelegen hatte. Dennoch brach er mehrere Stücke ab und steckte sie in seine Taschen. Schließlich zog er vorsichtig die Tür an; sie stöhnte schwach. Der Wind blies durch den Schnee, der in Böen zerstäubte, die Flocken wirbelten nicht mehr, fielen aber so dicht, daß man auf zwei Meter nichts mehr sah. Das ist meine Chance, sagte er sich, ich werde den Wald in Richtung Norden entlanggehen und mittels eines Baumes über die Stacheldrähte am Strand des Sees klettern. Danach gehe ich immer geradeaus. Kaum hatte er die Schwelle überschritten, hörte er eine Art von Trotten und war geistesgegenwärtig genug, sich nicht zu bewegen. Nach einigen Sekunden glaubte er, es sei der Wind gewesen und ging vor. Das leichte Tappen begann erneut, doch er sah nichts, und plötzlich befanden sie sich im Schneewirbel einander direkt gegenüber, der große Wachhund und er. Die Worte des Chefs kamen ihm in den Sinn. Wir überlassen nichts dem Zufall, und wenn für die anderen Häftlinge der Hunger und die Gier Zerberus genug war, so sah man für ihn das Schlimmste vor. Im Schneewirbel hatte der Hund 116
Mühe, etwas zu sehen, Ian flüchtete sich in das Innere der Hütte zurück, warf dann ein Stück Brot hinaus, das der Hund verschlang; ein zweites erlitt dasselbe Schicksal. Er pfiff leise, um ihn anzulocken, und der Hund näherte sich, Ian war im ganzen Körper heiß, das Monster hatte sich einen Moment lang gegen die Tür aufgerichtet, die Reißzähne schoben sich über die Lefzen, und seine Spucke war mit Schnee vermischt. Sogar im Zwielicht sah Ian, wie sich die Muskeln anspannten, und ohne den Hund aus den Augen zu lassen, holte er mit der Hand das Fläschchen aus seiner Tasche. Der Wachhund fixierte ihn mit einer Art Lüsternheit, sicher, daß die Beute ihm gehörte, sobald sie hervorkäme. Und als Ian sich in das Innere der Hütte zurückzog, rührte er sich zunächst nicht, fiel dann auf seine Pfoten zurück, um zu sehen, wo der Mann sich befand, kam aber – er mußte entsprechend dressiert worden sein – nicht herein. Ian rüttelte ein Regal, bis es auseinanderfiel, ging dann zu der vorgereckten Schnauze zurück und warf ihr erneut Brot zu. Er entkorkte das Jodfläschchen. Der Hund hechelte leise, ein weiteres Stück Brot traf ihn, und als er den Kopf niederbeugte, um es zu beschnuppern, näherte sich Ian. Knurrend hob der Hund seine halbgeöffnete Schnauze, und der Junge schüttete ihm das ganze Jodfläschchen in Rachen und Augen. Überrascht wälzte sich der Hund auf dem Boden, schäumend vor Wut rieb er sich mit der Pfote die Schnauze, doch war Ian bereits hinter ihm, wobei er zu seinem Schutz ein Brotregal umwarf. Das Jod ließ den Speichel auf der Schnauze schäumen, die Augen des Hundes tränten, und er begann zu spucken und zu jaulen. Sie werden kommen, dachte Ian, ich habe keine Zeit, die Tür zu schließen, doch der Wind pfiff, und das Geheul war kaum zu hören. Er mußte es zum Schweigen bringen, bevor der Hund in seiner Wut ihn witterte und rasend wurde. Schnell handeln, sagte sich Ian. Mit der ganzen Hand packte er die Klinge, die so schmal war, daß er sie nur mit Mühe halten konnte; mit einem Stoß trieb er sie zwischen den Augen in den Schädel. Sein ganzer Körper war eine Waffe geworden. Der Sprung des Hundes ließ die Hütte erbeben, und der Junge hatte Mühe, die Finger zu lockern, so sehr hatten sie sich verkrampft. Am Boden röchelte der Hund, seine Pfoten entspannten sich inmitten des ganzen Brotes, dunkler Schaum begann aus seiner Schnauze zu sprudeln. 117
Draußen war Ians Gesicht innerhalb weniger Sekunden schweißgebadet, der Schnee schmolz auf seinen brennenden Wangen und seiner Stirn. Er versuchte zu rennen, doch zwang ihn der hochliegende Schnee, langsam zu gehen. Der Wind kam von vorn, was ihm das Gehen erschwerte, dafür aber seine Spuren sofort verwischte. Er ging in Richtung See, orientierte sich an dem, was er für das Ufer hielt, ging dann gerade vor sich hin, geohrfeigt vom Sturm, trunken vor Angst, Müdigkeit, dem Wunsch zu leben und ein anderes DORT zu finden. Donner grollten, dann durchzuckten Blitze die Nacht, und ein Gewitter mit Schneeböen ging nieder, die ihn noch blinder machten, doch trieb ihn die Hoffnung vorwärts, selbst wenn es Stunden dauern würde, sich vom Lager zu entfernen. Er sah und hörte nichts, der Nebel verbarg ihm seinen eigenen Atem, und er spürte weder Kälte noch Fieber, noch Hunger, noch das Brennen seiner Handfläche, in die er sich bei dem tödlichen Stoß geschnitten hatte. Er sagte sich: Los, denk nicht nach. Du mußt fliehen, immer weiter weg fliehen. Der Hund hätte ihn bis zum Morgengrauen bewacht, in wenigen Stunden wäre er gehängt worden, und bevor man ihn in das Massengrab geworfen hätte, hätte der Wachhund seine Belohnung bekommen und sein Geschlecht verschlungen. Das hatte der Kommandant ihm zu verstehen gegeben. Die Wut ließ ihn in die, wie er glaubte, richtige Richtung gehen, kein Stacheldraht hatte ihn aufgehalten, der hochliegende Schnee bedeckte alle Hindernisse. Er konnte die Bäume in dieser Nacht nicht unterscheiden. Stundenlang ging er, ohne schwächer zu werden, doch vermutlich legte er nur winzige Entfernungen zurück, bei einer plötzlichen Windstille schätzte er, daß es etwa Mitternacht sein mußte. Der Nebel hatte sich etwas gelichtet, und immer noch fiel Schnee, vor sich sah er keinerlei Bäume, doch sagte ihm sein Instinkt, daß es der einzige Weg war, und er ging weiter. Mehrmals wurde er von Schwindel erfaßt und kniete sich in den Schnee. Selbst wenn er hier sterben sollte, wäre er der Hinrichtung entkommen, doch könnte man immer noch seinen Körper zurückbringen, dachte er, und dieser Gedanke ließ ihn aufstehen und weitergehen. Er kaute ein Stück Brot, diesmal ohne Ekel zu empfinden. Unter seinen Schritten wurde der Schnee härter, und er glaubte sich an ihn gewöhnt zu haben. Dann begann der Schnee leichter zu wirbeln, als hätte er einen Sturm überwunden. Das Ge118
lände stieg leicht an, und er stolperte gegen einen vereisten Baumstumpf. Er berührte das Holz eines Bootes. Er hatte den See genau auf dem Teil überquert, der zugefroren war. Unter großen Mühen zog er sich den vereisten Abhang hinauf, Schatten tauchten auf, es waren die Bäume der Uferböschung. Ian warf sich gegen den am nächsten stehenden Baum und umarmte ihn: »Gerettet, ich bin gerettet«, rief er, dann ließ er sich in den Schnee fallen, die Arme ausgebreitet.
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15. Mit hämmerndem Herzen und leerem Kopf blieb er eine Weile unbeweglich liegen und erhob sich dann; das Blut jagte durch seinen ganzen Körper, seine Freude war so groß wie die Ebene vor seinen Augen, und alles Weiß der Erde strömte in ihn ein. Er aß das in seinen Taschen verbliebene feuchte Brot, lehnte sich gegen eine Kiefer, um sich zu schützen, und betrachtete den blasser werdenden Himmel. Bei Tagesanbruch hatte sich der Nebel auf der Seeoberfläche aufgelöst; dann sah er: er hatte ihn in direkter Linie überquert, genau dort, wo der eisige Wind die Oberfläche gefroren und die Schneedecke ihn getäuscht hatte. Vermutlich wäre er, hätte er einen anderen Weg genommen, ertrunken: Etwas weiter wurde der See von einer Flußströmung durchschnitten, und unter dem grauen Himmel war der Bruch deutlich sichtbar. Plötzlich, in der Ferne, erschütterte ein dumpfer Schuß den Horizont wie ein Donnerknall. Bei dem Signal begannen erneut Flocken hinabzufallen. Dann gab es einen weiteren Schuß, noch einen und noch einen. Es mußte sechs Uhr sein, und seine Flucht war bemerkt worden. Es waren die Alarmschüsse. Ein weiteres Mal preßte ihm die Angst das Herz so zusammen, daß er glaubte, ohnmächtig zu werden. Dort, hinter dem Nebel, auf der anderen Seite des Sees, erhob sich die Insel der Toten, das von seinen Mauern, Stacheldrähten und Wachen umgebene Lager mit seinen Hunden und Männern. Er entfernte sich zwar, doch blieb diese Insel in seinem Geist vor ihm, isoliert zwischen den Bäumen, mit seiner Kalkgrube als Friedhof und seinem Hangar, durch den der Tod in eine halblebendige Welt eindrang. Er hatte von ihm nur einen Ausschnitt gesehen, doch war es ihm ein leichtes, sich den Rest vorzustellen, das Grauen der 120
Männer, die dieser geheimen Schlachterei ausgeliefert waren. Er mußte marschieren, weiter in Richtung Norden, dort würden sie ihn nicht sofort suchen. Der nächtliche Sturm hatte seine Spuren verwischt; was er nicht wußte, war, daß nach seiner Flucht der Wind die Stacheldrähte bloßgelegt hatte und man sich nicht vorstellen konnte, daß er in dieser Richtung geflohen war. Er hatte kein genaues Bild von der Gegend, außer daß sie sich in Wälder und Sümpfe teilte. Er folgte seiner Idee, so lange wie möglich immer geradeaus zu gehen. Ein Weg führte in den Wald, und nach etwa hundert Metern wurde das Licht dunkler, er drang weiter vor, die Bäume standen dicht und hoch und bedeckten alles mit ihrem Schatten. Unter den Kiefern und Lärchen lag nur wenig Schnee, und Ian konnte auf der vereisten Erde schneller gehen. Große Wege kreuzten einander, er behielt seine Richtung bei und traf auf Eichen, dann wieder auf Kiefern. Die Stille wurde durch nichts als durch das in seinen Ohren rauschende Blut gestört. Zuweilen, wenn er an einem Tannenwald entlangging, fielen plötzlich Schneeschauer von den überschweren Zweigen, und jedesmal drehte sich Ian ob dieser plötzlichen Gegenwart um, doch schwebte noch ein wenig Puder in der Luft um den Baum herum, und Ian begann wieder zu atmen. In einem großen Buchenwald, der seine Blätter vom Herbst behalten hatte, wurde er von Unruhe erfaßt. Hier wurde das Licht klarer, und man hatte von allen Seiten Einblick. Zwar schützten ihn die Bäume, doch ebensosehr schienen sie ihm auf der Lauer liegende Personen zu sein, die irgendeinen Hinterhalt bereithielten. In dem Maße, in dem die Nacht und der Raum ihm unbeweglich erschienen waren, hatte er geglaubt, sich niemals von seiner Hölle zu entfernen, doch schien es ihm jetzt, als er sich auf eissprühende Sumpfwege vorwagte, daß er von Horizont zu Horizont lief, in seinem Lauf kaum behindert vom Schnee, der die Lichtungen und flachen Gelände bedeckte. Zweimal lehnte er sich gegen einen Baum und ließ sich gehen, doch sobald er sich in den Schlaf treiben fühlte, zwang er sich weiterzugehen, und sein Körper begnügte sich mit diesen wenigen Momenten des Ausruhens. Er sagte sich, daß er nicht vor dem Abend anhalten dürfe. Der Hunger stimulierte ihn beinahe, und die Kraft, die mit der kalten Luft durch seinen 121
ganzen Körper lief, ließ ihn bei kurzen Pausen heftig atmen. Noch niemals hatte er in solchem Maße die Freude seines Körpers verspürt, der zu jedweder Anstrengung bereit war, um zu leben. Er versuchte, Stücke von Baumrinden zu lutschen und aß Pinienkerne, die ein Eichhörnchen, das er verschreckt hatte, am Fuß eines Baumes liegengelassen hatte. Auf seinem Weg traf er niemanden, weder Tiere noch Menschen. Er sah keine Vögel auffliegen, hörte keinen Winterhasen Reißaus nehmen, bemerkte weder ein Reh im Unterholz noch in den Sümpfen umherirrende Reiher. Mitten am Nachmittag, als er aus einem Wald heraustrat, stieß er auf den Wegweiser zu einem Dorf, entschied sich aber, noch weiter in Richtung des nächsten zu gehen. Die Gelenke begannen ihn zu schmerzen, und Müdigkeit drückte auf seine Schultern, doch wollten seine Lenden und Beine ihn weiter tragen, als hätten sie Angst, nicht weit genug entfernt von dem Strick zu sein, der sie ins Nichts aufgehängt hätte. Mit Einbruch der Dämmerung begann auch wieder Schnee zu fallen: Ein matter Schimmer stieg vom Boden auf, als dem Wald ein Birkengehölz folgte. Die Birken waren geschnitten worden, zurückgeblieben waren kleine Holzbecher, die man an die Borke gehängt hatte. In einigen war ein wenig Saft, und er leckte die eingedickte und bittere Masse auf. Seit dem vorangegangenen Abend hatte er nicht mehr an die Gegenwart von Menschen gedacht, und von nun an wurde sie spürbar. Bei Einbruch der Nacht geriet er auf ein von einem Waldsaum geschütztes Feld und grub sich auf der Böschung eines Grabens ein Loch in die Schneedecke. Er glitt hinein und bedeckte sich, um gegen die innere Kälte zu kämpfen, die schrecklicher war als die äußere. Aus Angst vor Erfrierungen wagte er es nicht, die Beine auszustrecken, denn die Temperatur fiel im Morgengrauen um mehrere Grad. Genausowenig wagte er es, sich vollständig dem Schlaf zu überlassen; jederzeit konnte er überrascht und ins Lager zurückgebracht werden. Trotz seines Parkas wurde der Rücken, der dem Schnee die meiste Fläche bot, gefühllos, und der Schnee verwandelte sein Gesäß in ein Holzstück. Im Halbschlaf glaubte er Gebell zu hören, doch waren es nur Traumfetzen, die sich mit dem nächtlichen Geräusch des Windes in den nahestehenden Bäumen vermischten. Am Morgen, unter einer kalten, wie rosa Marmor 122
aussehenden Sonne und einem von milchigen Wolken gestreiften Himmel hatte er Mühe, seinen Unterschlupf zu verlassen. Der Tag war schwierig, er marschierte langsamer, kaute ein Stück Stoff und saugte Schnee. Die dichten Wälder schienen ihm um so lebendiger zu werden, je dunkler und schweigsamer sie wurden, und mehrere Male hatte er den Eindruck, verfolgt zu werden. Ohne Nahrung würde er sich nicht mehr lange aufrecht halten können, sagte er sich, während er sich, ohne es gemerkt zu haben, einer Straße näherte. Unter dem Schnee zeichneten sich die Umrisse von Hecken ab, weiter entfernt eine halb verfallene Holzköhlerhütte. Ian versteckte sich einen Moment lang, als er ein Scheunendach wahrnahm. In der gebläuten Luft wurde der Schnee zu Eis, er rieb sich damit Nase und Ohren und wartete, bis die Dämmerung es ihm erlaubte, in das Dorf zu schleichen. Was sollte er tun? Er würde den Zufall über sein Schicksal entscheiden lassen, sich das komfortabelste Haus aussuchen und sich für einen verirrten Jäger ausgeben; seine Kleidung würde seine Angaben glaubhaft erscheinen lassen. Als er sich wieder in Bewegung setzte, polierte Eis die Straße, und das Dorf kam ihm wie eine bedeutende Ortschaft vor, mit zahlreichen Häusern, die alle weit voneinander entfernt standen. Weiter abseits erhob sich inmitten eines Feldes ein großer Kirchturm aus rotem Holz und quer hinter ihm eine für ein Dorf riesige Kirche mit umliegenden weißen Kapellen; ein von Kreuzen überragtes Tor bildete den Eingang zu der Anlage. Auf den Wiesen sah man von Zweigen abgedeckte Tränken, in denen das Wasser sich in Eisgespinste verwandelt hatte, auf denen die Zweige festklebten. Das Licht schien aus der Stille hinauszudringen, der Schnee begrub die Eingänge der Häuser und stieg auf der Ostseite bis zu den Dächern hinauf an. Nicht ein Hund schlug an, als Ian den Weg zwischen den ersten Zäunen entlangging. Er sah keinerlei Rauch, der Ort war wie verwunschen. Der Winter hatte mit seinem Zauberstab alles verwandelt, und Ian erschien der Schnee als Symbol dieses geheimnisvollen Schlafes, der einen an sanfte Halbschatten von Feuersglut im Inneren der Häuser denken ließ. An mehreren Stellen sah er, daß der Sturm Leitungsmasten umgeworfen hatte, was das Fehlen jeglicher Beleuchtung erklärte. Offenbar war es in dem Dorf Sitte, Laubkränze an den Türen anzubringen; jedenfalls sah er mehrere, auf denen dunkler Schnee lag. Ian durch123
querte die gesamte Ortschaft. Auf der anderen Seite, am Ende eines einzelnen Feldweges, bemerkte er eine Art Holzsilo; es wurde von einem langen, niedrigen Haus flankiert, das auf der einen Seite von einem schirmähnlichen Holzdach geschützt war. Als er davorstand, sah er durch die Glasveranda keinerlei Licht, doch schien es ihm, als würde sich über dem Dach ein wenig Rauch kräuseln. Oberhalb, in der Masse dessen, was er für einen Schuppen gehalten hatte, schimmerte ein breites Fenster, und Ian wurde klar, daß auch dies eine Kirche sein mußte, ohne Turm jedoch, verwahrlost, wie eine riesige Abwesenheit. Unter dem Vordach, das eine Remise bildete, drang er ein. Auf der Schwelle standen Milchflaschen, deren Glas durch die Kälte zersprungen war, wobei die Milch ihre Form behalten hatte. Vorsichtig schob er die Scherben beiseite und lutschte die Milch. Weitere in einer Schachtel befindliche Lebensmittel hatten ebenfalls gelitten, und kleine runde Brote waren zu Stein geworden. Unter dem Schnee entdeckte Ian noch weitere Vorräte, die alle verdorben waren. Aus dem Fensterflügel war Holz herausgebrochen, und er beugte sich vor, um durch die Ritzen zu sehen, doch war alles schwarz. Er wollte die Tür vorsichtig aufstoßen, der Riegel war nicht vorgelegt, aber sie war auf dem Boden festgeeist. Mit kleinen Stößen versuchte er sie so lautlos wie möglich zu lösen, wobei er jedesmal innehielt, wenn er glaubte, drinnen Schritte zu hören. Doch war es immer nur sein Blut, das in seinem Kopf brauste. Schließlich löste sich die Tür, und ohne sie weit zu öffnen, schlüpfte er in das Haus.
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16. Für Andrei veränderte sich das Leben mit Catherine. Immer häufiger schlief er bei Adam, und schließlich verfügten sie in seinem Haus über ein eigenes Zimmer, wo sie sich stillschweigend trafen. Catherines Wohnung schien, wenn sie sich dort sahen, unpersönlich, etwas war daraus verschwunden, und bei Adam fanden sie es wieder. Jeden Abend liebten sie sich mit der gleichen Leidenschaft, und was ihn betraf, mit einer Art trauriger Beharrlichkeit. Der Winter kletterte sämtliche Frostgrade hinab, dennoch gab es Tage mit einem makellosen Himmel voller Gebirgsblau, an dem die Sonne glitzerte wie ein Gestirn der Kälte. Andreis Seminare folgten einander mit hartnäckiger Monotonie, und seiner Pflicht gemäß hatte er es nicht versäumt, seinem direkten Vorgesetzten anzuzeigen, daß er mit einer jungen Frau aus einer bekannten Familie lebte; da er in der Armee war, würde er eines Tages um die Erlaubnis bitten, sie zu heiraten. Neben anderem wurde auch dies zu seinen Gunsten verbucht. Eines Nachts flüsterte er unter anderen Wünschen, die er nur in der Dunkelheit enthüllte, Catherine zu: »Werde meine Frau.« Sie antwortete nichts und gab sich immer freizügigeren Zärtlichkeiten hin, mit einer Schamlosigkeit, die er nicht besaß, und fragte ihn dann anstatt einer Antwort, warum er im Moment des Genießens die Augen nicht offen lasse. »Ich sehe nicht, warum«, sagte er, über das Wortspiel lachend. Als er einige Tage Ferien hatte, schlug Adam ihm vor, ihn einen Nachmittag aufs Land zu begleiten. Andrei nahm an, daß sie auf eines der Besitztümer des jungen Mannes fahren würden, doch brachte ihn dieser zu den ALTEN HÜGELN, die den Fluß, die 125
Wälder und Felder überragten. Er lud ihn in ein Gasthaus ein, und die Unterhaltung drehte sich zunächst nur um Nichtigkeiten; dann versenkte Adam seine grauen Augen in seine, als wolle er in ihn eindringen, und sagte plötzlich: »Catherine liebt dich, ich werde sie heiraten.« Andrei reagierte nicht sofort. »Los, gehen wir, ich muß dir etwas sagen«, sagte Adam noch. Sie ließen den Wagen an einer Straßenkreuzung stehen und gingen auf einen Hügel, wo die ganze Landschaft offen vor ihnen lag. Eine endlose Landschaft, die der beginnende Abend und die große Biegung des Flusses, der dreckige Eisstücke und Tausende den Schnee schraffierende Treibhölzer mit sich führte, grau färbte. Der Anblick dieser weiten, friedvollen Landschaft ließ einen nach dem Unendlichen dürsten. Erneut sah Adam Andrei scharf an, bevor er sprach. Sein Blick ist das Gegenteil des anderen Blickes, dachte der Leutnant bei sich. Dieser hier dringt in einen ein, der andere zieht einen in das Innere seiner selbst, dieser ist so grau wie Stahl, der andere war von einem sanften Grün, gesprenkelt mit Nußbraun und Gold wie ein Wäldchen oder der Abendhimmel... Adam begann vorsichtig. »Es ändert sich nichts, du wirst mit ihr leben. Ich werde sie im Juni heiraten, und du wirst Trauzeuge sein. Und...« »Du machst dich über mich lustig«, sagte Andrei. »Und du wirst die Hochzeitsnacht mit ihr verbringen.« Adam sprach in einem solch flehenden Tonfall, daß Andrei schwieg. Der Himmel färbte sich violett, und der Wind war kalt. »In der Hochzeitsnacht liebst du sie wie jeden Abend.« Adams Blick war undurchdringlich und hart, doch streichelte seine Stimme die Luft um Andrei herum, der begriff, daß er ihn nicht unterbrechen durfte. »Du wirst ihr die ganze Kraft des schönen Körpers, der ihr gefällt, geben.« Es war beinahe ein Stöhnen, als er den Schluß des Satzes wiederholte: »Dieses schönen Körpers, der ihr gefällt«, und Andrei fühlte, wie er errötete. 126
»Ich habe dich auf ihr gesehen, vom Flur aus sah ich, wie die Muskeln deiner Hüften ihr Stöße gaben, die sie zum Stöhnen brachten. Ich habe deine Zärtlichkeiten gesehen, ich kann sie sogar sehen, wenn ich die Augen schließe.« Andrei holte die Fäuste aus seinen Taschen; Adam mißverstand die Geste, bewegte sich aber nicht. »Ich habe keine Angst vor dir. Wir können uns schlagen, wenn du willst, aber es nutzt nichts. Du mußt bleiben, und ich muß zusehen. Versuch das zu verstehen, um ihretwillen, das rettet uns.« »Was willst du noch? Daß man deine kleinen lasterhaften Spielchen akzeptiert und du deinen Samen neben dem Bett abschlägst? Du bist eifersüchtig, und du bist impotent.« Adam wurde bleich. Dann, wie ein Schlafwandler, öffnete er in der Kälte seinen Mantel, seine Jacke, knöpfte sein Hemd auf, öffnete seinen Gürtel und ließ seine Hose hinabgleiten. Im sterbenden Licht sah Andrei den glatten Körper, einem jungen Baum gleich; er schimmerte, und unter dem ein wenig schmalen Oberkörper waren das Geschlecht schwer und die Beine stark. Plötzlich begann Adam zu schreien: »Impotent, sieh her!« Mit beiden Händen nahm er sein Glied, das sich aufrichtete, und Andrei glaubte, daß der andere den Verstand verlor. »Ich kann alles tun, was ihr tut«, schrie Adam, »ich habe genausoviel wie ihr, ich...« Und plötzlich wurde seine Stimme von einem Schluchzen zerrissen. »Ich fühle keinerlei Lust«, sagte er sehr leise. »Es sagt mir nichts.« Ein Zittern schüttelte ihn. Andrei ging auf ihn zu und knöpfte ihm sanft das Hemd wieder zu. Ohne sich zu rühren, weinte Adam jetzt. Dann ordnete er seine Kleider. Seine Tränen hörten plötzlich auf. »Du weißt alles«, sagte er. Schweigend gingen sie zum Wagen zurück, und als sie in die Stadt einfuhren, fragte Adam den Leutnant mit aufgehellter Stimme, was er jetzt tun wolle. Andrei zögerte nicht: »Catherine sehen, bei dir« und fügte hinzu: »Ich will dich etwas fragen. War es mit den anderen genauso?« »Was meinst du?« »Die, die Catherine liebten.« 127
»Es kam vor.« »Und warum hat sich das geändert? Mit dem letzten zum Beispiel.« Adam antwortete ausweichend. »Der ist tot.« »Aha, der Junge vom Foto.« Sofort bedauerten beide die letzten Sätze, sie hatten plötzlich etwas Verborgenes enthüllt, jeder hatte es beim anderen aufgescheucht. Warum glaubt er, daß er bereits tot ist? fragte sich Andrei, und Adam witterte in dem Militär etwas Unbekanntes. Mehrere Wahrheiten traten ihnen vor Augen, und jede ging an der einzigen Wahrheit vorbei. Beim Fahren betrachtete Adam die Ärmel des Leutnants, und Andrei bemerkte den Blick. Die Streifen hatte er selbst aufgenäht, darunter sah man noch die Spur der alten. »Ich wurde vor kurzem befördert«, sagte er aggressiv. »Falls es dich interessiert: Ich habe nämlich niemanden im Leben, der mir hilft.« Adam schwieg. Andrei hatte Angst, alles kaputtzumachen, und sagte mit sich überschlagender Stimme: »Ich liebe Catherine, das, was du mir sagst, ändert alles, ich muß mich erst daran gewöhnen.« Der Wagen hielt vorm Haus, und Adam würgte ihn in einem der Schneehügel, die die Bürgersteige säumten, ab. Der Leutnant wurde nervös: »Was willst du noch, ich sage dir doch, daß ich mich daran gewöhnen muß, deine Anwesenheit in mir akzeptieren muß, deine Augen auf meinem Rücken und meinen Beinen...« Adam lächelte. »Adam, heirate sie nicht, noch nicht, alles andere akzeptiere ich...« Adam zog den Schlüssel ab und wandte sich dem Leutnant zu: »Ich weiß alles.«
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17 Auf dem Boden, der aus gestampfter Erde war, lag Stroh, und es roch muffig; dennoch war es kein Stall, sondern ein Raum ohne Fenster, in dem Gartengeräte und andere Werkzeuge untergestellt wurden. Ian stieß gegen einen Stapel von Holzschieferstücken, die sich als brüchig und trocken erwiesen; vermutlich waren sie bereits Vorjahren dort abgestellt worden. Er lauschte; kein Geräusch drang aus dem Haus. Im Dunkeln fand er mit den Händen die andere Tür. Kaum hatte er sie aufgestoßen, wurde er von einem warmen, ein wenig süßlichen Geruch an der Kehle gepackt; in einem Lichtschein machte er den Rahmen eines nahen Fensters aus, aber konnte die hereingebrochene Nacht die fast gänzlich von Schnee bedeckten Fenster so erhellen? Man konnte nicht hinaussehen, so sehr hatte sich Schmutz der Fenster bemächtigt. An beiden Seiten hingen gräuliche Vorhänge herab. Ian drehte sich um. Ein Mensch sah ihn an. Kein Mensch, ein Sterbender. Im hinteren Teil des Zimmers, wenn man diesen Raum so nennen konnte, beleuchteten die Reste eines Feuers eine Art Bett. Daher stammte der Rauch über dem Dach, einige Scheite, die gerade ihr Leben aushauchten, auch sie. Zwei Scheite lagen noch neben der Feuerstelle, einem Loch in der Wand, und man spürte, daß der Kranke nicht mehr die Kraft gehabt hatte, sie ins Feuer zu ziehen. Das Bett war lediglich ein Strohlager auf einem Holzsockel, an der Wand schimmerte schwach das Silber einer Ikone, und auf einem Strohstuhl stand ein Glas Wasser, das war alles. Der Fußboden hatte keine Farbe mehr, kein Licht fiel auf den halb liegenden Mann, nur am Zipfel einer Decke sah man den letzten rosa Reflex des Feuers. Von Erschöpfung übermannt 129
ließ Ian sich am Fenster hinabgleiten. Er flüsterte: »Zeigen Sie mich nicht an, ich tue alles, was Sie wollen« und fiel im selben Moment in tiefen Schlaf. Als er die Augen wieder öffnete, tobte draußen ein heftiger Sturm, der die Fenster aus vereistem Schnee schüttelte. Es war ein weißer Tag, und alles kam ihm wieder in den Sinn, der Tag seiner Flucht, das verlassene Dorf im Abendlicht, und gegenüber auf dem Bett der Mann, der sich nicht bewegt hatte. Ian erhob sich, er hatte zusammengekauert gegen die Wand gelehnt geschlafen, doch sofort war er wieder im Vollbesitz seiner Kraft und Geistesgegenwart. Das Innere des Zimmers enthüllte kein Elend, sondern etwas anderes, das er nicht verstand, etwas Freiwilliges, den Wunsch nach Leere. Ian sah, daß die Augen des Mannes geschlossen waren, und er hörte ein kurzes und flaches Atmen, mit langen Intervallen von Stille. Was mochte er haben? Jede Krankheit flößte ihm Schrecken ein, und der Gedanke, die Nacht neben einem Bettlägerigen verbracht zu haben, widerte ihn an. Den selben Widerwillen spürte er bei verletzten oder toten Tieren. Sein erster Reflex war der zu fliehen, aber wohin sollte er bei diesem Schneesturm gehen und was finden? Hier war er in Sicherheit, dunkel ahnte er, daß dieser Mann ihn schützte. Ein Art von unüberwindbarem Kreis war um dieses Haus gezogen: Die auf der Schwelle abgestellten Lebensmittel sagten ihm etwas, das ihn in gewissem Sinne beruhigte, vor dessen Entdeckung er aber auch Angst hatte. Langsam drang Kälte in den Raum, und die erste Handlung des jungen Mannes war, das Feuer neu zu entfachen. Geräuschlos holte er Holzschiefer und entzündete die Scheite. Währenddessen dachte er nicht nach, und als das Feuer im Raum wieder lebendig geworden war, wurde er sich des Hungers bewußt, der ihm den Magen zusammenzog. Dann hatte er den Mut, sich dem Bett zu nähern. Der Mann hatte die Augen weit aufgerissen und sah ihn mit Entsetzen an. »Haben Sie keine Angst«, sagte Ian, »draußen tobt ein Sturm. Ich werde Ihnen etwas zu trinken holen.« Er nutzte die Gelegenheit, um den hinteren Teil des Zimmers zu verlassen, wo es außer dem Feuer nichts gab, was ihnen leuchtete. Das Haus war lang und weitläufig, und er begann damit, Wäsche 130
und Wasser zu suchen. Die Pumpe mit einem Holzgriff war seit Tagen nicht benutzt worden. Nach zahlreichen Versuchen sprudelte schließlich eisiges Wasser, und Ian tat die Schulter weh. Er fand keinerlei Handtuch, dafür aber weiße Wäschestücke, Tischdecken, die wohl niemals den Boden eines Koffers verlassen hatten. Er wusch sich das Gesicht und rieb sich mit dem Wäschestück über das Kinn, wo der Bart zu sprießen begann. Doch fand er nichts, um sich zu rasieren. Bevor er seine Suche fortsetzte, füllte er eine alte Emailleschüssel mit kaltem Wasser und ging in das Zimmer zurück. Neben dem Kranken wurde er erneut von Ekel ergriffen, doch zwang er sich, das Gesicht mit der Wäsche zu berühren, wusch die verschwitzte Stirn, die verklebten Augenlider, trocknete die Wangen und den dunklen, verwilderten Bart. Der Mann war noch jung, trotz des abgezehrten Gesichts; kein Wort drang aus seinem Mund, er versuchte, Ians Hand zu ergreifen, die dieser zunächst entzog, dann, als der Liegende sich bewegte, erfüllte ein süßlicher Gestank das Zimmer, und Ian hatte plötzlich das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Die mageren Finger des Mannes ergriffen seine Hand, sie waren trocken wie Vogelklauen und von einer Todeskälte, und der Sterbende versuchte, sich nach vorne zu werfen. Er stammelte etwas. Plötzlich drangen klare Worte zu Ian: »Blut, Blut. Geh weg... Der Körper des Blutes, die Menge auf den Knien.« Ian wagte es nicht, seine Hand wegzuziehen, die Augen des Mannes leuchteten, zumindest glaubte er es, doch es war nur der Schein des Feuers, das nach und nach zu verschwinden schien. Die Augen wurden glasig, der Sterbende war gestorben, Ian löste seine Finger und streckte ihn auf dem Bett aus. Ein Brechreiz würgte ihn, er erreichte den anderen Raum und trat unter die Veranda, die das Haus schützte. Hier waren die Fenster genauso undurchsichtig, und auf dem kleinen Haustürfensterchen war etwas befestigt. Er versuchte zu erkennen, was es war, doch hinderte der Wind ihn daran hinauszugehen. Im Zimmer schien mittlerweile sogar das Feuer zu schweigen, und es war ihm unmöglich, neben dem Toten zu bleiben. Sämtliche auf den Grund seines Wesens geflohenen Ängste wirbelten mit der unvernünftigen Angst vor einem Leichnam wieder auf. Jene, die er im Lager 131
gesehen hatte, waren in gewisser Weise noch lebendig gewesen, und die Obszönität der Gehenkten steigerte den Eindruck von Unwirklichkeit; die gewaltsamen Tode sind Schreie, die anderen Schweigen. Ian beschloß, sich um die Beheizung des Hauses zu kümmern und zuerst Holz in die Räume zu holen. Er fürchtete, daß man den Toten durch das Fenster bemerken würde, doch es war unmöglich, auch nur irgend etwas zu sehen. Um in der Remise etwas zu erkennen, öffnete er die Tür zum Vordach; auf der Schwelle befanden sich Milch und in einem von einem Handtuch bedeckten Korb Brot und Eier. So kümmerte man sich im Dorf also um dieses Haus, doch seltsamerweise trat man nicht ein. Keine Fußspur war sichtbar, der Wind hatte sie mit Schnee bedeckt. Verschiedene Gedanken gingen Ian durch den Kopf: War der Mann an einer gefährlichen Krankheit gestorben? War er einer jener Männer, die aus geheimnisvollen Gründen dessen, was sie ihre Seele nannten, abgeschieden lebten? Das Gesicht des Toten ließ solches vermuten, und auch die Tatsache, daß das Haus an einem Gebäude lehnte, das einer Kirche ähnelte, auf die sich im anderen Zimmer eine Tür hin öffnen mußte. Was diese Vermutung ebenfalls nahelegte, war die Sorgfalt, mit der die Lebensmittel auf die Schwelle gelegt worden waren, eher wie eine Opfergabe als eine Hilfe. Wenn man erfuhr, daß der Mann tot war, wäre Ian enttarnt, er mußte handeln. Handeln, das war es, was das Leben ihm seit dem Tag seiner Verhaftung befahl. Und bisher hatte ihn jedesmal eine Kraft durchströmt, wenn es nötig war, sich aus einer Falle zu befreien. Du mußt den Platz des Toten einnehmen, sagte eine innere Stimme, du mußt deinen Ekel überwinden. Dies bedeutete, den Leichnam zu beerdigen, den nicht nachlassenden Sturm zu nutzen und sich mit der Person, zu der das Schicksal ihn geführt hatte, zu identifizieren. Als er ihn zum erstenmal berührte, war der Körper eisig, und die Weichheit des Fleisches verschwand bereits. Ian wagte es nicht, seine Augen zu schließen, die ihn mit ihren blicklosen Augäpfeln immer noch ansahen, und unter der stinkenden Decke entdeckte er, daß der Mann einen langen, dunklen Kittel trug und ein kragenloses Leinenhemd. Der Geruch des Bettes drehte ihm den Magen um, der Kranke 132
mußte all seine Kraft innerhalb kurzer Zeit verloren haben, und als Ian eingetreten war, hatte er vermutlich seit zwei Tagen so gelegen, unfähig, sich zu bewegen, und der Körper ergriffen vom Kältegefühl des Endes. Ian öffnete das Fenster, ein Schneeschauer brach herein, er versuchte die Fensterläden zu greifen, und nach einem Kampf gegen die Kraft des Schneesturms gelang es ihm, sie heranzuziehen. Die Feuchtigkeit verjagte einen großen Teil der Ausdünstungen, und als er das Fenster wieder schloß, begann das Feuer erneut freudig zu tanzen. Auf dem Boden schmolz der Schnee, in der Dunkelheit wurde der Tote furchterregender, doch Ian zwang sich, seine Aufgabe fortzuführen, und zog ihm sein schmutziges Gewand aus. Unter Würgekrämpfen trug er es zum Spülstein und wusch es, so gut es ging. Aus dem Koffer nahm er ein langes, weißes Tuch, das ebensogut eine Tischdecke wie ein Bettlaken sein konnte. Der Instinkt sagte ihm, daß er, bevor er den Leichnam darin einrollte, diesen ein letztes Mal reinigen müsse – es war seine innere Stimme, die dieses Verb gebrauchte. Alles, was ihn anekelte, führte er aus, indem er versuchte, an etwas anderes zu denken, und plötzlich bestürzten ihn Bilder von Cathe-rine, als er den mageren Körper wusch, an dem einzig der Bauch eine gespannte Schwellung bildete. Als er das Wäschestück daraufdrückte, entlud sich die Blähung in einem tiefen Luftzug, dann in einem düsteren Gurgeln. Den Körper in das Tuch einzuwickeln war schwierig, der Tod hatte den hageren Körper schwer gemacht. Er ließ mit sich noch weniger geschehen als in lebendigem Zustand, als würde ihm das Nichts, dem er gehörte, seine neuen Schwerkraftgesetze aufzwingen. Schweiß rann über Ians Gesicht, als er die Leichenwaschung beendet hatte. Er legte noch einen Holzscheit in den Kamin; als er sich plötzlich seines Tuns bewußt wurde – es war der Versuch, einen Toten zu wärmen –, wollte er ihn zurückziehen und verbrannte sich die Finger. Der Schmerz ließ ihn weinen, und der Zusammenbruch, den er fürchtete, folgte auf dem Fuß: In der Angst vor dem, was ihn erwartete, wurde er vor dem Kamin und neben dem unbekannten Leichnam von einem langen Weinkrampf geschüttelt. Dieser ging ganz plötzlich vorbei, und ein heftiger Wunsch nach sexueller Befriedigung durchströmte seinen Körper. Er entschloß sich, das gesamte Haus 133
zu besichtigen, um den Ort, an dem er von nun an leben würde, genau kennenzulernen. Mit seiner Holzveranda mußte es früher eine freundliche Behausung gewesen sein. Von ihr verblieben waren nur vier lange, staubige Räume, in denen es keinerlei Licht gab. In jedem Raum stand ein weißlicher Kachelofen, der einem Eisstück ähnelte; ihre Ofenrohre hingen herunter wie zerbrochene Ellenbogen, seit mehreren Wintern waren sie wohl nicht benutzt worden. Feuchte Ringe zierten die Wände, und im größten Raum, der auf die Veranda führte, löste sich die Tapete. Als einzige Möblierung außer dem Wäschekoffer fand er ein Bücherregal, das zu seiner größten Enttäuschung Gebetbücher, Predigtbücher, Messbücher und Abhandlungen über die göttliche Natur oder die Dreifaltigkeit enthielt. Er ging nicht weiter. In einem Schrank ohne Schloß fand er metallene Kerzenbehälter und Kerzen. Die Küche war kalt wie ein Grab, es gab nur Tonschüsseln und Schalen. Bei dem Wind und dem Eis war nicht daran zu denken, draußen ein Loch auszuheben, und die Vorstellung, den Toten in der Küche zu vergraben, ging über seine Kräfte. Schließlich entdeckte er in einem Gipsrahmen eine winzige Tür, die mit einem Kreuz markiert war; ein enger Flur mündete in die Kirche. Es war tatsächlich eine Kirche, mit vollkommen nackten Wänden und einem dunklen Rundbogen, der von zwei schweren Säulen gestützt wurde. Durch ein großes Fenster fiel das bleiche Licht von draußen; auf dem Boden gab es nur von grünem Schimmel überzogene auseinandergebrochene Steinplatten. Einige trugen Inschriften in unleserlich gewordenen Buchstaben. Es war der Friedhof eines benachbarten Klosters, wo die Vergangenheit vor allen Schismen Mönche, Ritter und Bischöfe bestattet hatte. Seitdem hatte man hier nur solche begraben, die das Volk für heilig hielt, und sie vergessen, sobald sie unter den Steinplatten lagen. Vom Boden stieg eine tückische Kälte auf. Ian hatte den idealen Ort gefunden, um den Einsiedler zu begraben, ohne Gefahr zu laufen, gesehen zu werden. Im Schuppen fand er lediglich eine Schaufel und eine Eisenstange, doch reichten sie aus, um eine Platte zu heben. Darunter sah er nichts. Er holte eine Kerze, doch die Flamme erlosch, ohne den Graben erleuchtet zu haben. Er stellte sie auf einen Stein und beschloß, den Körper sofort herzutragen und zu 134
begraben. Erneut spürte er Schweiß über seine Lippen, Achseln und Brust rinnen. Als er schon dabei war, den Körper zu kippen, sagte ihm etwas »Steig runter«, und er stieg zwei Stufen der Treppe, die in den dunklen Graben führte, hinab. Die Flamme, die er vor sich hielt, beleuchtete auf dem flachen Boden ein Teil von einem Zaumzeug. Durch das Leder drang ein weißlicher Schimmer, und Ian machte in einer schwärzlichen Spalte kleine Zähne und die drei Löcher von Augen und Nase aus, die ihm eine stumme Frage zuwarfen. Zu Füßen der Mumie schmückten farbige Steine ein glanzloses Ziborium; zwischen den gefalteten Händen lag ein großes Kreuz. Ian nahm die Dinge an sich und schaffte dann den Toten hinunter. Den Stein wieder an seinen Platz zu legen war leicht, und damit keinerlei Licht hineindrang, ließ er Wachs in die Ritzen tropfen und verrieb anschließend Staub und Schimmel. Als er sich wieder vor dem Herdfeuer befand, aß er die Vorräte, die am Morgen vor die Tür gestellt worden waren, verbrannte alles, was mit dem Toten in Berührung gekommen war, machte sich ein Bett mit dem, was er aus dem Koffer zog, doch war die Decke zu schmutzig, und er nutzte die Dunkelheit, um sie hinter dem Haus mit Schnee abzureiben; danach breitete er sie unter dem Vordach aus, wohin er auch den Korb stellte, den er am Morgen an dieser Stelle gefunden hatte. Es war keinerlei Licht zu sehen, der Wind ließ etwas nach, doch setzte der Schnee auf großen, mit Eis überzogenen Pfützen seine Volten fort. Sich dicht an der Mauer haltend, ging er um das Haus herum und nahm den Stoffetzen von der Verandatür ab. In der Dunkelheit konnte er nichts erkennen, im Schein des Feuers jedoch sah er, daß er schwarz war. Er erinnerte sich an die Häuser, an deren Türen er ähnliches gesehen hatte; fälschlicherweise hatte er sie für Blumenkränze gehalten. Der Gedanke an Epidemien und an das, was in solchen Fällen geschah, ließ ihn das Bett mit Schrecken ansehen; Verhaltensmaßregeln bei Cholera kamen ihm in den Sinn: Alles mußte gekocht oder verbrannt werden. Wie ein Wahnsinniger wusch er sich die Hände mit kaltem Wasser, dann brachte er in einem gußeisernen Topf Wasser direkt über dem Feuer zum Kochen. Da er nichts von dem, was 135
sich im Haus befand, berühren wollte, benutzte er das Handtuch, das die Lebensmittel bedeckt hatte, für den ganzen Körper, doch blieb der Schweißgeruch seiner Achseln an ihm haften, da er zum Waschen lediglich Wasser hatte. Er legte seine Wäsche zum Trocknen auf den Stuhl vor das Feuer, streifte seinen zerrissenen Pullover direkt über die Haut und untersuchte sorgfältig seinen ganzen Körper nach dem winzigsten Flecken. Gewiß war er aufgrund der Kälte verschont geblieben, und er überlegte, ob er nicht das schwarze Tuch sofort wieder anbringen müsse; es war nicht an ihm, es wegzunehmen. Er zog seine Jacke an und ging mit nackten Beinen hinaus, um das den Tod anziehende Symbol wieder anzunageln. Der Schnee auf seiner Haut kühlte die Hitze, die er in sich fühlte, er ging wieder hinein, rieb sich ab und legte sich mit Jacke und Hose auf das Bett, um jeden Hautkontakt mit dem, was den Toten berührt hatte, so gut es ging zu vermeiden. Trotz all der Stoffe, die er unter sich gelegt hatte, glaubte er, daß die Kälte von dem Mann kam, den er unter dem Stein versteckt und zermalmt hatte. Er deckte das Feuer ab, damit es nicht erlosch, und in seinem Schimmer fiel Ian, wie immer im Schlaf, auf den Grund seines Lebens, seiner Begierden und Schmerzen. Er befand sich nebenan in der Kirche, die Toten hoben ihre Steinplatten hoch, und sämtliche trockenen Mumien klagten ihn an, ihnen ohne Gebete einen Leichnam gebracht zu haben. Letzterer stand aufrecht in seinem weißen Leichentuch, in das Ian ihn gewickelt hatte, und der junge Mann ahnte unter dem Wäschestück die von ihm gewaschenen hohlen Augen und den verwilderten Bart. Der Mund stieß unaufhörlich Wörter hervor: »Ich klage an... Verrat«, dann verschwand alles in einem Schneesturm. Ian wälzte sich in seinem Laken, ab und zu erleuchtete das Feuer das ganze Zimmer, wenn der Wind, der durch den Kamin blies, eine Sekunde lang die Glut anfachte. Ian setzte sich auf, er lauschte, die ganze Nacht schien ihm in Bewegung zu sein, dann warf ihn die Müdigkeit auf sein Lager zurück, und sein Traum setzte sich fort. Die Versammlung der Toten entschied, ihn zusammen mit dem Mann im Leichentuch unter einer Platte einzuschließen. »An meinen Platz«, rief die Mumie, der er das Kreuz und das Ziborium gestohlen hatte. Und 136
das Leichentuch öffnete sich, und anstelle des Toten erschien der Hund aus dem Lager Null. Von seinen Schreien wachte er auf und schlief nicht wieder ein. Er fachte das Feuer neu an, durch die Fensterläden drang schon der Tag, und wusch sich wie am Vorabend; die Wärme hatte alles getrocknet, er knöpfte sein Hemd zu, zog seinen Pullover über und darüber den tunikaähnlichen Kittel des Toten. Er breitete die Arme aus, um zu sehen, wie er aussah, und in ihm murmelte jemand: Du hast Hunger, du hast Durst, du liebst den Luxus... du wirst zermalmt werden. Er wollte das Kleidungsstück, das der andere getragen und das er zurückbehalten hatte, zerreißen, doch paßte sich die Tunika seiner Taille perfekt an, und als er tief einatmete, sah er, daß sie dem Rhythmus seiner Brust folgte. Auf der Schwelle zur Haustür hatte sich nichts verändert, niemand war gekommen, und die vereiste Decke lag steif auf dem Schnee. Er entdeckte steinhartes Gemüse und legte es in den Topf über dem Feuer, doch als er die Kartoffeln erhitzt hatte, waren sie glasig, und er warf sie weg. Der Nordwind tobte noch immer, und nichts schien ihn jemals aufhalten zu können. Die Bäume, die er durch die Fenster sah, verschwanden in den komplizierten Bogenwerken des Eises, darüber verwischte der weiße Wind alles. Er blätterte in ein paar Büchern und schloß sie eins nach dem anderen, tief enttäuscht von der Langeweile, die von ihnen ausging. Gezwungen zu sein, in die Haut eines fanatischen Eremiten zu schlüpfen – denn das war der Mann wohl gewesen –, hätte ihn möglicherweise amüsiert, wenn er nicht Hunger gehabt hätte und es nicht sein Leben gewesen wäre, das bei dieser Hochstapelei auf dem Spiel stand. Der Hunger wühlte mittlerweile in seinen Eingeweiden, und er hatte nur Eiswasser zu trinken. Er zwang sich, ganze Seiten von Zeremonien zu lesen, denen er, um ihnen etwas abzugewinnen, einen sexuellen Sinn unterschob. Und obwohl er ausgehungert war, forderte die Natur ihr Recht, und die Begierde nach anderen Körpern bevölkerte um ihn herum das verlassene Haus mit nackten Fantomen. Mehrmals ging er unter das Vordach, aber nichts war gebracht worden, der Wind hatte die Zeit angehalten. Höchste Ironie wäre es, sagte er sich, hier aus Hunger dem anderen in den Tod zu folgen. Möglicherweise hielt man ihn im 137
Dorf für tot, da über dem Haus jetzt wieder Rauch zu sehen war, würde man vielleicht erneut Lebensmittel bringen. Sein Abscheu war immer noch da, aber die Erschöpfung schwächte ihn ab. Er legte sich hin und schlief in der sanften Wärme des Feuers. Glücklicherweise füllte Holz einen großen Teil des Schuppens, so daß er sich um die Wärme keine Sorgen zu machen brauchte. In der Nacht wachte er auf und konnte sich, von Schwindel ergriffen, nicht sofort erheben. Nach einem langen Taumel ging er erneut zur Haustür. Auf der Schwelle erwartete ihn ein Korb; er mußte seit dem Vorabend da sein, seit dem Moment, da er sich schlafen gelegt hatte. Er bemerkte nicht, daß die Decke verschwunden war, ebenso wie das verfaulte Gemüse und die Splitter der Milchflaschen. Ohne auch nur irgend etwas zu erhitzen, aß er die Lebensmittel gierig auf, und als er fertig war, begriff er, daß er zum Tier wurde. Seit zwei Tagen hatte er keine Stimme mehr gehört, außer die Worte des Sterbenden, und seine eigene Stimme erschien ihm taub, als er versuchte, seinen eigenen Namen auszusprechen. Der Tag verging wie der vorangegangene, doch diesmal wartete er, bis es Nacht wurde, um die Dinge, die man ihm brachte, hereinzuholen. Doch an diesem Abend stand nichts vor der Tür. Er mußte seinen Hunger bezwingen, denn die Leute, die sich um den Mann, dessen Platz er eingenommen hatte, kümmerten, wußten, daß er ein Asket war und respektierten seine Lebensweise. Ian mußte sich diesem Bild anpassen und einfach leben. Am Tag darauf fanden sich zusammen mit den Lebensmitteln eine Decke und ein Leinenhemd, außerdem waren im Schnee noch Spuren sichtbar. Ian hätte überrascht werden können, denn er war wie gewöhnlich hinausgegangen, um sich hinter dem Haus zu erleichtern. Der langsam wachsende Bart, seine Haare, die er nur mit den Händen kämmen konnte, und auch die Tunika ließen ihn möglicherweise so aussehen wie den Eremiten, als dieser sich in dem Haus niedergelassen hatte. Zwei Tage vergingen, dann, eines Mittags, hörte er vor den Fenstern Schritte. Er warf einen Blick durch die Ritze eines Fensterladens und sah, daß es Soldaten waren. Sein Blut stockte, er hörte sie vor der Tür diskutieren, das schwarze Tuch auf der Veranda hielt sie vom Haus fern. Der Mann, der sie begleitete und dem sie den Rauchfaden über dem Dach zeigten, sprach das Wort 138
HEILIGER aus, und ein wenig später hörte er, wie sich ein Wagen entfernte. Auf eine Woche dieses monotonen Lebens folgte eine andere, dann eine weitere, er hatte nichts zum Schreiben, wagte aber auf keine andere Weise zu verstehen zu geben, daß er Seife wünschte. Seine Socken wurden steif, weil sie nur mit Wasser gewaschen wurden, und er hatte genug davon, sich nur von Gemüse und Milchspeisen zu ernähren. Er träumte von Fleisch und Frauen. Mehrmals hatte er sich seinen einsamen Spielen hingegeben, die nichts lösten. In die große und leere Kirche war er nicht mehr zurückgekehrt; er hatte deren Tür blockiert, indem er den Spaten, mit dem er die Platte gehoben hatte, unter den Griff gestellt hatte. Und dann, eines Tages, der Wind hatte sich gelegt, hallte der Nachmittag von weit entfernten Geräuschen wider, von Stimmen, die einander riefen und die kristallen und zart zu ihm drangen, als würden sie über die kalte Luft gleiten, von Automotoren, vom Klang einer Glocke, der in den durchsichtigen Netzen des Eises vibrierte. Mit Ungeduld in den Beinen ging Ian ins Haus zurück, er hatte seine langweiligen Gymnastikübungen wiederaufgenommen, mit denen er an dem Tag, an dem man ihn seiner Freiheit beraubt hatte, begonnen hatte. Er war entflohen und doch immer noch Gefangener, auf eine paradoxe Weise: Er war Gefangener der Freiheit. Als er die Türen offenließ, um die einzelnen Zimmer mit zu wärmen, fiel ihm ein, daß eine Rückkehr der Soldaten jederzeit zu befürchten war. Mehrmals ging er in den Schuppen, um Holz zu holen, und bei einem dieser Ausflüge hörte er, wie sich leichte Schritte näherten. Jemand drang unter das Vordach, er hörte, wie ein Korb abgestellt wurde, und konnte die Scheite, die er trug, nicht mehr halten. Der Lärm hörte nicht auf, doch machten seine Herzschläge ihn taub. Er ging bis zur Tür vor, beugte sich dann nieder und blickte durch eine Ritze. Sein Auge sah ein Auge. Er glaubte, sein Herz schlüge in der Tür, er fühlte sich gelähmt durch die Gefahr, entdeckt zu werden. Tausend Gedanken jagten ihm durch das Hirn. Eine warme Stimme – es war Wärme, die er empfand – sagte sanft: »Sämtliche infizierte Wäsche muß verbrannt werden, sagte man mir. Man sagte mir: Sag es dem Vater. 139
Man ist glücklich, daß er gerettet ist. Verzeihen Sie mir, ich habe Sie gesehen.« Ian zögerte und öffnete dann die Tür. Ein Junge von etwa dreizehn, vierzehn Jahren stand vor ihm, ein starker kleiner Bauer mit klarem Gesicht und ein wenig langen Haaren von der Farbe reifen Korns. Seine Haut atmete Glück, und in seinen Augen leuchtete alle Freude der Welt. Der Schnitt der Nase, des Mundes, die kleinen glänzenden Zähne, alles verbrannte Ian. In der Unordnung seiner Einsamkeit durchlief eine brutale Fleischeslust seine Arme und trocknete ihm die Kehle aus. Den Körper an sich zu ziehen genügte nicht, er sah die junge Schönheit wieder und wieder an, seine grünen, gelb und braun gesprenkelten Augen wurden immer größer, und plötzlich ließ ihn die Begierde die Zähne zusammenbeißen. Er wollte dieses Gesicht aufessen, das Fleisch verschlingen, seinen Mund mit dem Lächeln füllen, dem unschuldigen Leben, das die Wangen des Jungen färbte. Der Junge betrachtete ihn mit offenem Mund und wagte nicht, die dröhnende Stille, die sie vereinte, zu brechen. Schließlich kam Ian wieder zu sich. Er hat mich VATER genannt, dachte er, wenn ich jemals gewußt hätte, daß mich mit zweiundzwanzig Jahren ein Kind so nennen würde! Er vergaß die Tunika, die er trug, und das, was er darstellte. Nach einer Weile murmelte er mit einer zuerst noch brüchigen Stimme »Kleiner«, dann wurde sein Ton klar: »Mögen die Engel dich beschützen.« Mit der Hand machte er eine Abschiedsgeste und schloß die Tür. In der Küche ließ er den Zuber voll Wasser laufen und beugte sich über sein Spiegelbild. Sein Gesicht sah ihn an, die Augen waren größer geworden, die Wangen von Barthaaren überwuchert und seine Haare wirr. Er wußte nicht, was er von sich halten sollte, und dachte daran, daß die anderen früher sich von seinem Charme hatten gefangennehmen lassen. »Mit diesen Wangen habe ich dem Kind eine Verbrechervisage gezeigt!« Der Junge war in einem entrückten Zustand nach Hause zurückgekehrt, seine Augen leuchteten, und bald darauf berichtete er auf dem kleinen Bauernhof seinen Brüdern, Schwestern und Freunden von der BEGEGNUNG. Für ihn war die VERBRECHERVISAGE das Antlitz eines Engels, für einen Jungen ist die Grenze unsicht140
bar, und das Wort Engel hatte ihn getroffen. »Ich habe einen Engel gesehen«, begann er. Die für sein Alter typischen Träume taten ein übriges. Und als er schwieg, sah er aus, als wäre er woanders. Den langen Moment, in dem der Blick des Eremiten ihn umfangen und ins Innerste eines klaren Raumes voller Sterne fortgetragen hatte, behielt er für sich. Von diesem Abend an wuchs der Ruf des Klausners, abwechselnd brachten die Kinder Opfergaben, und zahlreiche nutzlose Dinge wurden vor dem Haus abgestellt. Roman jedoch, der erste, der gekommen war und mit ihm gesprochen hatte, trat niemandem die Aufgabe ab, tagtäglich den kleinen Essenskorb zu bringen. Dennoch sah er ihn nicht wieder, auch nicht, nachdem er sich ein oder zweimal ganz allein in der Dämmerung vor die Tür gekniet hatte, um ihn zu bitten, sich zu zeigen. Und auch sonst sah ihn niemand während all dieser Schneetage, an denen die Erde in ihrem Pelz aus Kälte schlief. Der Winter war lang, hart und todbringend. Zwar wich die Epidemie der großen Kälte, doch tötete letztere genauso viele Menschen, denn die Temperatur sank so tief, wie man es nie für möglich gehalten hatte. Ian hielt stand und organisierte seine Einsamkeit. In dem Haus entdeckte er ganz unmögliche Kleidungsstücke, ähnlich denen einer Vogelscheuche, sowie einen Strohhut mit breiter Krempe, an die ein Schleier genäht war. In den Büchern, in denen er von Zeit zu Zeit blätterte, enthüllte sich ihm nach und nach die wahre Persönlichkeit des Eremiten. Um so abgeschlossen in Armut und in dem, was Ian ›Traum‹ nannte, zu leben, mußte der Mann vermutlich das gewesen sein, was man landläufigen Vorstellungen nach »heilig« nannte. Einige Seiten, auf denen die Ränder von Notizen geschwärzt waren, ließen vermuten, daß der Mann die Welt trotz seines Wissens und seiner Leidenschaften verlassen hatte. All dies liegt unter einem Stein, sagte sich der junge Mann, und ich will leben, ich will entkommen. Er wußte, daß er das Ende des Winters abwarten mußte. Die Begegnung mit dem Bauernjungen hatte ihm den Abgrund seiner Begierden enthüllt, aber auf eine beunruhigende Weise ebensosehr ein Gefühl des Verzichts, gegen den er sich bisher immer aufgelehnt hatte. Er hatte genossen, was das Leben ihm bot, er hatte die Gewohnheit gehabt, seinen Begierden auf der Stelle nachzugeben, 141
keinerlei Hindernisse zu sehen, sobald es darum ging, sich zu amüsieren. Er hatte weder den großen Reden geglaubt noch dem, was er an der Universität lernte, weder der Politik noch der Religion, weder der Stimme des Gesetzes noch der der Liebe. Die Zärtlichkeiten ersetzten alles. Während seiner langen und langweiligen Nachmittage suchte er nicht nach den Gründen für seine Verhaftung, er verjagte sogar alles aus seinen Gedanken, was sich darauf bezog, als wollte er böse Geister vertreiben. Er dachte ausschließlich an die Momente der Lust, vor allem an Catherine und die Einzelheiten ihrer Affäre. Von diesen Einzelheiten ging er zu jenen ihres Körpers über. So lag er die meiste Zeit auf dem Bett und erschöpfte sich in erotischen Träumen. Und in dem einsam liegenden Haus, welches die Umgebung mit mehr und mehr Ehrfurcht betrachtete, begann seine Existenz endloser und freudloser Leidenschaften. Die Nahrungsmittel, die man ihm brachte, nährten seine Wollust. Da er noch immer keine Seife besaß, wusch er sich mehrmals täglich mit Wasser, um den sinnlichen Geruch seines Schweißes zu vertreiben, doch sogar dieser berauschte ihn schließlich. Alles diente ihm als Vorwand, seinen Körper zu berühren, und er frönte seiner Wollust mit derselben Exaltation wie sein Vorgänger seinen spirituellen Praktiken. An manchen Tagen verließ er das Zimmer mit Watte in den Beinen und zerschlagenem Rücken und zwang sich am folgenden Morgen, nach einem bleiernen Schlaf, zu endlosen Gymnastikübungen, um gegen seine Verwahrlosung anzukämpfen. Eine Unterhaltung an der Universität war ihm im Gedächtnis geblieben: »Wenn du in Haft bist«, hatte ein Junge gesagt, »mach in deiner Zelle Gymnastik, egal wie, jeden Tag, das rettet dich.« Da man sich dem Haus immer nur von der Seite des Vordachs aus näherte, konnte er nackt vor dem Feuer sitzen, ohne befürchten zu müssen, bei seinen seltsamen Riten beobachtet zu werden. Er schloß die Augen, murmelte Namen, und sein ganzer Körper begann so sehr zu zittern, daß er sich streichelte, um zur Ruhe zu kommen. Dies war die erste Stufe, die der einfachen Lust, die nur zählte, weil sie die anderen aufschob, und Ian blieb jedesmal ein wenig töricht zurück, weil er auf Anhieb gekommen war. Danach legte er sich nieder und bezog seinen ganzen Körper ein. Tag für 142
Tag erfand er neue Spiele, um zur Ekstase zu gelangen. Bei geschlossenen Augen trat ihm eine ganze Welt entgegen und bevölkerte das Haus; in seiner Phantasie drangen Frauenkörper aus den Wänden, und manchmal, vom Traum vergrößert, nur ein Mund, ein Bauch, Brüste. Die Laszivität, mit der er diese Schatten ausstattete, warf ihn in berauschende Agonien. Und dann fand er Lust daran, sich in den Momenten, in denen er den Kopf verlor, selbst zu betrachten. Schließlich konnte er nach Belieben und mit offenen Augen die lebenden Toten hervortreten lassen, die seine Wollust schuf. Er lebte so sehr in Halluzinationen, daß er sich in den brüchigen Wänden genauso sah wie in den Fenstern, die er zu diesem Zweck gesäubert hatte. Dann begann er, mit seinen Fantomen zu sprechen, und eines Abends ertappte er sich dabei, wie er seiner Schulter leidenschaftliche Küsse gab. An diesem Abend wartete er, daß es vollkommen dunkel wurde, und trat nackt in den Schnee. Er rannte bis zum Ende des in den Wald führenden Weges und kehrte außer Atem und schweißnass zurück. Doch sobald er sich vor dem Feuer trocknete, der Körper von der Kälte gehärtet und die Wangen belebt, verlangte sein Geschlecht gebieterisch nach seiner Hand. Februar ging vorbei. Der junge Roman wollte ins Kloster eintreten, und obwohl die Klosteroberen alles taten, um seine frühreife Begeisterung zu dämpfen, öffnete die Leidenschaft, die von Roman ausging, ihm alle Türen. So drang das erste magische Echo vom Eremiten in der Kapelle der Toten, wie man die Kirche, an die sich Ians Haus lehnte, nannte, zu den Mönchen. Man erzählte sich, daß er sich selbst vom Tod geheilt habe; mehrere Kranke waren wieder gesund geworden, nachdem sie den Satz ausgesprochen hatten, den der Eremit zu dem jungen Bauern gesagt hatte: »Mögen die Engel dich beschützen.« Vor allem aber hatte, als der Frost das ganze Land verwüstet hatte, eine dichte Schneedecke das Dorf und die umliegenden Felder bedeckt und die Menschen und ihre zukünftigen Ernten beschützt, und man hatte bemerkt, daß das Haus des Eremiten sich genau im Herzen jener Gegend befand. Der Hegumenos und sein Rat, die das Kloster leiteten und bisher die Zurückgezogenheit des Mannes respektiert hatten, beschlossen, jemanden zu ihm zu senden. Ein Mönch mittleren Alters stand eines Nach143
mittags auf der Veranda und stieß die Tür auf. Gerade an diesem Tag war der junge Mann von seinen Exzessen besonders zerschlagen, und er saß auf dem Boden vor der elenden Bibliothek und bot alle Kräfte auf, die von dem Toten hinterlassenen Notizen zu entziffern. Auf unzusammenhängende Weise erzählten sie die Geschichte seiner Seele; die Seiten waren übersät mit an den Rand geschriebenen Ausrufen und Anrufen, die Schreien ähnelten. »Jetzt bin ich schon vier Jahre in dieser Wüste. Meine Seele hat hier meinen Körper verlassen...« Auf diesen Seiten war der Mann lebendiger, als er ihn am letzten Tag auf seinem Lager gesehen hatte, und Ian, dessen Augen von den Schatten der nächtlichen Lust verschlungen waren, entdeckte, ohne sie zu verstehen, den Schrecken der Träume, denen auch er sich nun unablässig hingab. Die Anwesenheit des Mönchs erstaunte ihn nicht, er bewahrte Schweigen und beantwortete die Begrüßung nur mit einem Kopfnicken. Er sah aus, als wäre er mit den Gedanken woanders. Der Pater sprach ohne Umschweife. »Glaubst du, daß du Wunder wirkst? Bist du wirklich krank? Du wurdest von Kräutern geheilt. Du machst ein Feuer wie ein Luxusgeschöpf.« Doch als er dies sagte, zitterte er, denn in dem Zimmer, in dem sie sich befanden, herrschte eine rauhe Atmosphäre, und ein solcher Mangel war unmöglich vorzutäuschen. Der junge Mann antwortete nicht. »Was suchst du in den Büchern? Die Gründe für deine Faulheit! Du läßt dich vom Dorf aushalten, um deine Seele zu retten. Wieviele Jahre dauert das schon? Welche Arbeiten tust du in deiner Einsamkeit? Du scheinst stark zu sein, du mußt Holz hacken, dies Haus instandsetzen, das in Stücke fällt.« Mit dem Fuß berührte er ein Stück Gips an der Wand, das sich dadurch löste. Ian saß noch immer auf seinen Fersen, die Beinmuskeln begannen ihm weh zu tun, aber er wollte sich nicht rühren, solange der andere im Hause war. Der Mönch warf einen Blick in den Nebenraum: »Es ist eine Höhle«, sagte er, und plötzlich wurde Ians Körpergeruch lebendig, der Mönch war an den typisch muffigen Geruch ältlicher Pater gewohnt, und was er jetzt roch, war eine Mischung aus Heu und leichtem Moschus. »Hast du Schweigen gelobt?« fragte er zum Schluß. Ian lächelte sein Lächeln, und der Mönch ging behutsam hinaus. Im Kloster beschrieb er, was er 144
gesehen hatte, dann sang die ganze Gemeinschaft eine nächtliche Messe für den Klausner. Und Roman war fortan das Kind, das seine Stimme gehört und seinen Blick gesehen hatte.
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18. Mitten aus einem Seminar wurde Andrei zum Generalstab befohlen, obwohl er nachmittags niemals dorthin ging. Unverzüglich wurde er von einem der Männer der Sondereinheit, die Ian nach seiner Verhaftung verhört hatte, empfangen. Da er der letzte in der Stadt gewesen war, der Beziehungen zu dem Studenten gehabt hatte, sah sich Andrei unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit mit einem Sonderauftrag betraut: Ian war entflohen, sein Körper mußte gefunden werden, tot oder lebendig, lieber lebendig. Der Leutnant würde die Nachforschungen allein aufnehmen, ein spezieller Befehl erlaube es ihm jedoch, sämtliche Hilfen, die er für nötig erachte, anzufordern. Er wurde zum Oberleutnant ernannt; seine Beförderung war von mehreren Seiten gewünscht worden. Konnte er am nächsten Morgen aufbrechen? Ja, gewiß, er solle seiner Verlobten Lebewohl sagen, da er möglicherweise gezwungen wäre, den Winter und sogar den Frühling im Norden zu verbringen. Die Suche ging vom Lager Null aus, seit dem Tag der Flucht war man nicht einen Schritt weitergekommen, obwohl der Entflohene nur wenige Stunden Vorsprung gehabt hatte. Man schrieb sein Glück dem Gewitter und dem darauffolgenden Schneesturm zu, doch wunderte man sich darüber, daß er entkommen war, ohne Spuren zu hinterlassen. Andrei verließ den Generalstab frohen Herzens: Ian war entkommen. Seine Freude, die er nicht vollständig hatte verbergen können, schrieb man seinem Jagdinstinkt sowie seiner erneuten Beförderung zu und sah in ihr eine Chance zum Erfolg. Er ging zur Universität, wo er auf Catherine wartete. »Wir gehen zu dir«, ent146
schied er. Sie wollte wissen, warum, aber bis zur Wohnung der jungen Frau gab er keinerlei Antwort. »Ich gehe fort«, sagte er einfach. Sie glaubte, er wolle sie verlassen. »Ist es wegen Adam?« »Ich habe einen Auftrag, vertraulich, es kann lange dauern und gefährlich werden.« Dieses letzte überflüssige Wort verlieh ihm den Nimbus des Ge-heimnisvollen und Heroischen, der in Catherines Augen seine jungenhafte Eitelkeit befriedigte. Und dann wankte plötzlich alles in ihm, er wollte ihr sagen, daß er sich auf die Suche nach ihrem vorigen Liebhaber machte, den man in ein Lager gesteckt hatte, um ihn legal und still und heimlich verschwinden zu lassen, und der das Spiel verdorben hatte, indem er seinerseits in der Natur verschwunden war. Aber er durfte nicht reden und suchte nach einem Vorwand, die junge Frau auszufragen. Er durfte seine Nachforschungen über den Verschwundenen nicht mit einer ungeschickten Frage beginnen, denn wenn sie Adam davon erzählte... Unwissentlich kam sie ihm zu Hilfe: »Lange, was heißt das?« »Den ganzen Winter, den Frühling, vielleicht länger. Möglicherweise bis zum Beginn des nächsten Semesters.« »Ist es so schlimm?« »Ich darf nichts sagen.« Sie sah aus, als ob sie überlegte, und der kleine Satz, den sie dann aussprach, schlug ihm eine Bresche: »Es ist seltsam, alle, die in mein Leben treten, verschwinden plötzlich.« »Ich verschwinde nicht.« »Es ist alles wie vor sechs Monaten, einem Jahr... Aber mit dir wird es anders.« »Du vergißt schnell!« »Dich werde ich bestimmt nicht vergessen.« 147
»Und den anderen?« »Mit Adam ist es etwas anderes, wir werden verheiratet sein, wenn du zurückkommst.« Er rührte nicht an dieser Entscheidung, es war ihm fast egal, er hatte sich an den Gedanken gewöhnt, und das Leben zu dritt hatte ihn bisher nicht gestört. »Nicht Adam, aber der andere, der vor mir?« »Du bist immer noch eifersüchtig, ich habe dir doch gesagt, daß er nicht zählte.« »Warum liebtest du ihn nicht?« Die Frage schien sie zu erstaunen, was fuhr plötzlich in ihn? »Warum«, er schüttelte sie, »sag warum, antworte, hier und jetzt.« Er hat das bleiche Gesicht von jemandem, der droht in Ohnmacht zu fallen, dachte sie bei sich, und er: Ich muß bleich vor Erregung sein, hoffentlich verrate ich mich nicht. Aber er fuhr fort, er wollte endlich alles wissen und zog den nächsten Bauern vor: »Er hat dich vermutlich genausowenig geliebt wie du ihn, ihr wart das ideale Paar!« Sie ging auf die Ironie nicht ein. »Nein«, sagte sie, »er dachte nur an die Liebe, er warf sich vor meine Füße, setzte sich vor den anderen auf die Erde, legte den Kopf auf meine Knie und hatte am Ende immer seinen besonderen Blick...« »Welchen Blick?« »Man wurde plötzlich hineingezogen, ob man wollte oder nicht. Aber ich habe ihn nicht geliebt.« »Warum hast du dann mit ihm zusammengelebt?« »Er hat alles dafür getan.« »Wenn er dir doch nicht gefiel!« »So einfach ist das nicht.« Catherine schien verträumt. 148
»War er schön?« Andrei stellte die Frage leichthin, doch war das Adjektiv ihm entschlüpft: männliche Neugier auf einen Rivalen, Interesse daran, was dieses Zauberwort bedeutete, die Furcht, sich selbst mit dem anderen zu vergleichen, alles vermischte sich. Die Idee der Schönheit berührte bei dem Jungen die Augen, das Geschlecht und das Herz, dies als letztes, wie der am schwierigsten zu durchschauende Instinkt. »Er war in Ordnung. Er hatte Charme, er war zärtlich und brüsk, ich mochte weder seine Anbetung noch seine Heftigkeit.« »Aber wenn er dich doch anbetete?« »... weder seine Anbetung noch seine Heftigkeit«, wiederholte Catherine. »Man kann nichts erzwingen.« »Wie« – er zögerte einen Moment – »verstand er sich mit Adam?« Sie tat so, als könne sie sich nicht besinnen, nahm Gläser und ging hinaus. Er hörte, wie sie das Eisfach öffnete, dann kam sie mit zwei rosaroten Getränken zurück. »Schlecht«, sagte sie. Sie hielt ihm ein Glas hin. »Campari und Champagner. Auf deine Rückkehr.« »Auf dein Glück«, murmelte er. Sie trank lange, sah ihn dann mit einer Zärtlichkeit an, die der Alkohol sentimental einfärbte. »Adam wollte ihn töten.« Sie nahm seine Hand, und während sie mit seinen Fingern spielte, stellte er keinerlei Frage, mit lauerndem Herzen und auf der Spur eines wilden Gefühls wartete er auf die Fortsetzung. »Während der Ferien, bei Adam, liebten wir uns, und Adam hörte zu...« Andrei stellte sich die Nacht im Haus am Meer vor, die schlecht schließenden Türen und Adam, der mit klopfendem Herzen im Flur wartete. 149
»Ian«, – zum ersten Mal sprach sie seinen Namen aus – »rief ihm zu: Du kannst zusehen, es stört mich nicht.« ... Plötzlich richtet Ian sich auf Catherines Körper auf und zündet die Lampe an: »Du kannst zusehen«, ruft er in Richtung Flur und fährt bei vollem Licht fort... »Bis ich kam«, sagte sie. »Als alles vorbei war, war Ian sich sicher, daß Adam bis zum Schluß geblieben war. Am folgenden Abend sagte er mir, ich solle mich hinlegen... ... Er bleibt im Dunkeln auf dem Bettrand sitzen. Plötzlich erhebt er sich vorsichtig wie eine Katze und... Plötzlich hat er die Tür weit aufgerissen und Adam gepackt. ... Im selben Moment macht er Licht... ›Wenn du schon zusehen willst, sieh mich genau an. Ich stehe zu deiner Verfügung. Du kannst sogar anfassen, wenn es dir Spaß macht.‹ Ich glaubte, sie würden sich schlagen. Ich weiß nicht mehr, was danach geschah, aber später sagte Adam mir, daß er ihn töten wolle. Er hat mir einen Revolver gezeigt. Als wir aus den Ferien zurückkamen, zu Semesterbeginn, wurde alles wieder normal.« »War das erst vor kurzer Zeit?« »Ich kannte dich noch nicht.« »Stell dir vor, vor zwei Monaten erst, das ist fast jetzt.« »Eines Morgens«, sagte Catherine, »warteten Männer auf ihn vor Seminarbeginn. Wir haben ihn nicht wiedergesehen.« »Warum?« Sie zuckte mit den Schultern, sie wisse es nicht. »Und mehr macht dir das nicht aus?« »Ich kann nichts dafür«, sagte sie – und dann plötzlich – »ich mochte ihn gerne, das ist alles, aber, ich weiß nicht warum, er war niemand zum Lieben. Die anderen Mädchen in der Uni dachten alle genauso. Er zählte nicht.« »Wie...« Sie ließ ihn seine Frage nicht beenden. 150
»Es hat nur den einen Sommer gedauert, bis zu seiner Verhaftung.« Andrei fühlte, wie er rot wurde, was aber auf das Konto des Cocktails gehen mochte. »Warte, ich werde noch einen machen«, sagte er. Als er in der Küche war, begriff er, daß er Ian bereits gefunden hatte, gleichzeitig tot und lebendig: tot war der ehemalige Student; zutiefst lebendig war er seit ihrer Begegnung in seinem Wunsch, Catherine kennenzulernen; sie konnte nicht ahnen, über welche Umwege er in ihre Arme gelangt war. Die Sätze der jungen Frau erhellten die Tiefen seines Bewußtseins: In den Augen Ians verbarg sich eine Falle, er wurde von den Frauen nicht geliebt, lediglich begehrt, und das Ende der Geschichte mit Adam war versteckte Liebe, nicht Eifersucht. Wenn ich Adam gewesen wäre, dachte er, hätte ich Ian nicht berührt. Ich hätte nur den Mund auf sein Herz gelegt. Daß dies genau das war, was Adam getan hatte, wußte Andrei nicht. Catherine hatte außer der zwischen Adam und Ian aufbrechenden Gewalt nichts gesehen. Andrei ging mit den MAINÄCHTEN, so hieß der Cocktail, in den Salon zurück. Catherine hob ihr Glas wie beim ersten Mal: »Auf dich, am Ende des Winters.« Als er seinerseits das Glas hob, nickte er nur mit dem Kopf und dachte: Auf Ian, damit er lebt.
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19. Der März kam und ging. Auf seiner Seite des Winters führte Ian sein zweites Leben, dem von nichts mehr Einhalt geboten wurde. Die Ironie wollte es, daß er von einer heiligen Ehrerbietung umgeben wurde, mit größter Sorgfalt bereitete man ihm Speisen, und man schrieb es seiner Tugendhaftigkeit zu, wenn er nicht mit Genuß aß oder ab und zu etwas den Vögeln überließ. Immer zahlreicher und mitten am Tag flogen Dohlen um seine Einsamkeit herum, die Gegenwart dieser Vögel, die man zu anderen Zeiten verjagt hätte, war nun in den Augen der Dorfbewohner ein Zeichen für die Weisheit des Heiligen. Das Wort begann Kreise zu ziehen, sogar die Menschen, die der Kirche ganz und gar fern standen, fühlten sich von der abergläubischen Inbrunst ergriffen, die um abseits lebende Wesen herum aufkeimt. Doch wurde er von niemandem gestört, auf dem zur Grabkirche führenden Weg hatte man eine Sperre errichtet, und auf den Feldern der Umgebung wurde im Winter nicht gearbeitet. Der Reihe nach schickten die Leute aus dem Dorf ihre Kinder, die dem Eremiten alles Notwendige brachten. Unterdessen sah er durch die Türritzen mehrmals Gesichter, die ihm schön erschienen, und in seinen Nächten fügte er sie denen aus seiner Vergangenheit hinzu und entweihte sie mit Wollust. Sein von bloßer Vorstellungskraft geleitetes Begehren kannte keine Grenzen mehr, das Delirium war sein Dauerzustand, und er mußte sich mehrmals nachts im Schnee beruhigen, um den Erhitzungen seines Geschlechts zu entkommen. Seine Gesundheit war tadellos, und seine in vielen Punkten elende Existenz brachte all seine Fähigkeiten der Reflexion und des Traumes zur Entfaltung. Die Diät, der er zwangsweise unterworfen war, war im großen und gan152
zen ideal, um ihn in seiner Inaktivität nicht zunehmen zu lassen, und die täglichen körperlichen und erotischen Übungen verkürzten die Stunden der Langeweile. Anfang April nahm die Kälte zu, und Ian dachte darüber nach, wohin er ein zweites Mal entfliehen könnte. Er hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wo er sich auf der Karte, die er in Gedanken nachzeichnete, befand: Richtung Westen würde er auf den Fluß und den Wald treffen, danach folgten die kleinen Küstenstädte. In Richtung Norden lagen Wälder, Sümpfe und das Meer; im Osten Felder und Wald. Der Wald war überall, und ihm verdankte er seine Rettung; er erinnerte sich an die Sicherheit, die er im Walddickicht empfunden hatte, und an die große beschützende Stille der Tannen und Eichen. Immer öfter kam ihm die Vergangenheit in den Sinn: Catherine, die ihn nicht liebte, Adam, der ihn haßte, die anderen Freunde, die zunehmend schweigsamer wurden, wenn er sprach, die Familie, die nicht für ihn da war, wenn er um etwas anderes bat als um das, was sie ihm zukommen ließ; all dies erweiterte sich um eine unter ihm stöhnende Catherine, um Adam, der ihn auf das Herz küßte, um André oder Jörg, die die Stadt durchquerten, um auf ihn zu warten und ihn zu sehen, um den Großvater, der nur von Ian und seiner Zukunft sprach – und um alles, was damit einherging, seine stumme Revolte, die er in sich wachsen fühlte und die er lange verborgen hatte, indem er, um seine Ruhe zu haben, alles tat, was die Familie von ihm erwartete, wie zum Beispiel Idioten zu beglückwünschen, zu Festen zu gehen, die ihn langweilten, an Galaabenden zugunsten von Notleidenden teilzunehmen, die Universität zu besuchen. Niemals hatte er irgendeinem Verein oder Club angehört, einzig in diesem Punkt hatte er sich allen Verpflichtungen und Zwängen entzogen. Und warum auch hätte er das, was er dachte, vor seinen Freunden verbergen sollen? Alles war in diesem einen Ausdruck enthalten: absolute Freiheit, aber auf dem gesamten Globus, ungeachtet aller Ideologien. Seinen immer spöttischeren Überlegungen hörten die Freunde schweigend zu, niemand, der ihn kannte, hätte es gewagt, sich auf eine Diskussion mit ihm einzulassen, bis zu dem Tag, an dem er am Ausgang des Hörsaals von drei Jungen provoziert worden war.
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Vorangegangen waren die Sätze auf der Tafel, die man ihm zugeschrieben hatte, es war idiotisch. Da war der Geschichtsprofessor gewesen, der seine Nichtanpassung an überkommene Ideen gewittert hatte; dann hatte er einen ruhigen Posten abgelehnt, wo er geeicht worden wäre, er war gegen die Armee, gegen den Krieg, und das Volk, das genauso bürgerlich war wie die Bürgerlichen selbst, war ihm egal. In einem anderen Land war der Staatschef ermordet worden, und Ian erklärte, daß das normal sei: jene Leute wollten ja die Macht, also müßten sie auch die Risiken tragen. Man sollte sogar in die gute alte Zeit der Azteken zurückkehren, wo man ihnen periodisch das Herz herausgerissen hatte. Und er hatte hinzugefügt, daß er an der Existenz dieses Muskels bei den Politikern zweifle... Zwei Jahre lang hatte er Provokationen aller Art angehäuft, und vermutlich hatte eine von ihnen das Ziel erreicht. Hatte Catherines Familie Verdacht bezüglich ihrer Verbindung geschöpft oder die von Adam, oder hatte sein Halbbruder intrigiert, um das Familienvermögen an sich zu reißen, oder das Monstrum, dessen Sprechweise er in aller Öffentlichkeit lächerlich gemacht hatte, etc., etc., die Liste war so lang, daß alles ein Fragezeichen verdiente. Ein gedemütigter Professor, ein durch ein Wort verletzter Freund ist immer ein Mensch, der nach Blut giert, zumindest für den Bruchteil einer Sekunde. Und dennoch, dachte Ian, er liebte die Menschen und das Leben zutiefst, er hätte alles verziehen, und dies war die subtilste Form seines Stolzes. Der einzige Punkt, in dem er nicht nachgegeben hätte, war seine Freiheit, und genau diese hatte man ihm an einem Morgen im Oktober genommen. Worin bestand seine Gefährlichkeit? Die drei Jungen, die ihn an der Tür des Hörsaals erwartet hatten, waren außen herum gegangen und hatten ihn auf der anderen Seite des Gebäudes im Professorentrakt gestellt. Ian glaubte, daß sie ihn verprügeln wollten, und sagte sich, daß nichts zu machen sei und nur die Flucht nach vorn bliebe. Doch die anderen begannen zu lachen, als sie seine Furcht bemerkten. »Wir wollen dir nichts Böses«, und sie stießen ihn durch die Tür des Rektorenvorzimmers. Sie waren allein. »Was wir von dir wollen«, sagte einer der Jungen, »ist dies: 154
Deine Ideen gefallen uns. Wir wollen den Laden hier auseinandernehmen, ›Tod der Bildung‹, das paßt uns.« »Das stammt nicht von mir«, sagte Ian. »Du sagst noch Schlimmeres, nicht wahr? Warum also machst du dich klein?« »Ich stehe nur für meine eigenen Ideen ein.« »Und wer steht für dich ein?« sagte einer der Jungen lachend. Ian begriff nicht, was sie im Sinn hatten. Etwas mahnte ihn, sich auf jeden Fall in acht zu nehmen und abzuwarten. »Ich will dir nicht zu nahe treten«, fuhr der Junge fort, »aber wir brauchen einen Typen wie dich. Wir wollen nicht zur Armee, aber ohne viel Knete nimmt man uns unsere Gewissensnot wohl kaum ab.« »Und was soll ich dabei machen?« »Du kannst uns helfen.« »Wie denn?« fragte er. Auf einem Tischchen entfaltete einer der drei ein Papier: »Du kannst doch Unterschriften nachmachen, also los. Das befreit uns vom Militärdienst.« Es war ein offizielles Generalstabsdokument, und unter dem Namen seines Großvaters war Raum freigelassen. Aus einer Laune heraus unterschrieb Ian. »Du bist ein starker Typ, unterschreib das daneben auch noch, wenn du kannst.« Die zweite Unterschrift war die des Staatschefs, und in der Stimme des Jungen schwang Provokation mit. »Gut«, sagte Ian, »aber hier ist es mir zu unbequem.« »Wir können bei mir etwas trinken, wenn du willst.« Der dritte Junge hatte eine sehr sanfte Stimme, ein glattes Gesicht und große, auseinanderstehende Augen, dafür aber ein starkes Kinn und grobe Hände. Er ließ die Papiere in einem kleinen Hefter verschwinden, den er unter dem Arm trug, und beim Hinausgehen 155
trafen sie auf Professoren, die sich darüber wunderten, sie hier zu sehen. Die Jungen gaben vor, auf den Rektor gewartet zu haben, es folgten undurchsichtige Erklärungen, doch Ian sah genau, daß er in Begleitung der drei auffiel. Mittlerweile begriff er zweierlei: Entweder handelte es sich um eine von Provokateuren abgekartete Sache und er hatte sich wunderbar rumkriegen lassen, oder er hatte Pech, indem er sich mit echten Aufwieglern zeigte. Das Folgende warf ein anderes Licht auf die Haltung des Mannes mit der Zeitung. Das WIR SEHEN UNS HIER NICHT WIEDER war eine Warnung, und wie ein Idiot hatte Ian beleidigt die Zeitung zusammengeknüllt und ins Café geworfen. In einer letzten Regung menschlicher Sympathie versuchte der Mann ihm die Augen zu öffnen, und er kompromittierte ihn sofort durch seine widerspenstige Reaktion. An dem Abend hatte er sich allein im Dunkeln zu Hause eingeschlossen, das Telefon nicht abgenommen und so Adam, Catherine und die anderen in ihrem Verdacht bestärkt, er führe ein geheimes Leben, das er verbergen wolle. Bei dem Jungen wurde Bier getrunken, was ihm schnell zu Kopf stieg; beim dritten Glas fühlte er sich in ausgezeichneter Stimmung, imitierte sämtliche von ihnen gewünschten Schriften und unterschrieb alles, was sie wollten, wobei er es genoß, sein Fälschertalent bewundern zu lassen. »In der Schule habe ich es nur für meine Zeugnishefte gebraucht«, sagte er; »und außerdem, wer ist wer? Niemand, die ganze Menschheit tragen wir in unseren Träumen und Wünschen in uns, ist man also in einem geschriebenen Namen enthalten? Was gehört einem? Der eigene Schwanz, aber wer läßt ihn sich aufrichten, wenn nicht der Höhleninstinkt?« Die anderen hörten ihm wohlgesonnen zu, dessen war er sicher, nicht sie hatten ihn zum FALLEN gebracht. Die Wohnung des Jungen mußte überwacht worden sein, und die Falle war zugeschnappt. Was hatte er an jenem Tag gesagt, oder besser, was hatte er nicht gesagt? Er erinnerte sich daran, fortgegangen zu sein, als die Straßen im leuchtenden Wasser der Morgendämmerung schwammen und das Bier in seinem Kopf köstlich schäumte. Die Geschichte mit der Geldsammlung an der Universität zugunsten eines Denkmals für irgendeine bedeutende Persönlichkeit 156
hatte die Sache nicht besser gemacht. Seine Worte und seine Witze störten, man nahm sie ernst. Er hatte sich über den Marmor lustig gemacht, er sei so schwer, und wen glaubte man darunter zu vergraben, einen großen Mann, der existiere nur in der Einbildung großer Frauen etc. Und seit seiner Verhaftung hatte sich niemand um ihn gekümmert. Sein Wunsch zu wissen, wer das alles provoziert hatte, die Suche nach den Gründen für seine Verlassenheit, die Erschöpfung als Folge der Kälte und dieselben, endlos wiederholten Gesten dämpften seine sexuelle Trunkenheit. Sein Gehirn wandte sich anderen Träumen zu. Mit mehr Sorgfalt las er alles, was sein Vorgänger handschriftlich hinterlassen hatte, und dachte darüber nach. Die grausame Kälte zwang ihn, die Bibliothek in das Zimmer mit dem Kamin zu bringen. Er hatte versucht, sich auf der anderen Seite des Hauses einzurichten, um die Bilder des Toten zu vertreiben, der dort, wo er schlief, gestorben war, doch hätte er dazu sein Bett aufgeben müssen, und es war zu feucht, um auf der Erde zu schlafen. Stück für Stück rekonstruierte er das Leben des anderen. Er kannte seinen Namen nicht, niemand schien ihn gekannt zu haben. Man hatte ihn Vater genannt, und so war auch Ian der VATER, denn für das Dorf war der andere ja noch am Leben. Er war Ingenieur, schrieb er, und eines Tages aus seinem Leben verschwunden. Er hatte aufgehört, an die äußere Welt zu glauben, und war eines Sommerabends in dieses an die Kirche angelehnte Haus gekommen. Er hatte einzig mit einem alten Bauern gesprochen und ihn gebeten, unter dem Vordach schlafen zu dürfen. Da das Haus der Kirche gehörte, mußte man im Kloster um Erlaubnis bitten; das Gebäude wurde nicht mehr benutzt, und so durfte er sich im Inneren einrichten. Er begann, mit den Gräbern in der Kirche zu sprechen, und hatte nach einigen Tagen jede Vorstellung von seiner Umgebung verloren. Er saß stundenlang einfach nur da und betrachtete Flecken auf einer leeren Wand. Der Bauer nahm die Gewohnheit an, ihm ein wenig Nahrung zu bringen, doch der Mann nahm ihn bereits nicht mehr wahr. Er konnte kaum dreißig Jahre alt gewesen sein. Eines Tages sah er, wie auf der Wand eine Hand erschien, und er glaubte sich endlich an seinem Ziel, der Beherrschung des Unsichtbaren, für welches er 157
seinem vorherigen Leben, seinem Haus, seiner Stellung und sogar seinen physikalischen Forschungen, die ihn bis dahin begeistert hatten, entsagt hatte. Die Hand erschien mehrere Tage lang, und er flehte sie innerlich an, ihm etwas zu zeigen. Doch die Hand schrieb auf die Mauer: NICHTS. Niemand hörte mehr seine Stimme, man sah ihn nur von weitem, denn sobald man sich näherte, schloß er sich ein. Die Jahre vergingen, das Dorf ernährte den Eremiten, und er teilte seine Wünsche auf einer Schiefertafel mit. Auf diese Weise gelangten Bücher aus dem Kloster zu ihm, und er bemühte sich, in ihnen das zu finden, was er suchte. Es waren fast alles hochgelehrte Abhandlungen, beigelegt hatte man Gebets- und Zeremonienbücher für den Tag, an dem er bereit sein würde, in das Kloster einzutreten. Er lese, hatte er aufgeschrieben, und die Worte verbärgen die Wahrheit. Eines Abends erschien die Hand erneut, und wieder bat er sie, etwas auf die Mauer zu schreiben, und die Hand schrieb NICHTS. Einen ganzen Sommer verbrachte er in Verzweiflung; warum hatte er sich aus der Gemeinschaft der Menschen ausgeschlossen, warum die Schönheit zurückgewiesen, warum sich lebendig in der Stille begraben? Im Herbst, am vierten Oktober, wollte er schließlich fliehen, zu den Seinen zurückkehren, das einsame Haus hinter sich lassen und in die Wärme des Lebens zurückfinden. Die Hand erschien erneut und begann von selbst zu schreiben. Diesmal war es das Wort LIEBE. »Ich bleibe«, hatte er in das Buch geschrieben und darunter einen letzten Satz: »Der Winter beginnt.« Ian überprüfte die Daten: am vierten Oktober hatte man ihn angerufen, verhaftet und von der Welt abgeschnitten... Und er war am ersten Schneetag, am ersten Tag des Winters ins Lager gebracht worden. Heimtückisch schlich sich der Gedanke in ihn ein, daß der Mann für ihn gestorben war und gewissermaßen an seiner Stelle. Sein Körper wurde ruhig, er schlief ein, ohne sich zu streicheln, dafür aber erwachte sein Herz von Tag zu Tag mehr. Er sehnte sich nach Liebe, und diese Sehnsucht war stärker als der körperliche Trieb, der auf schnelle Befriedigung drängt. Die Qual seiner Einsamkeit änderte sich, und er nährte sie mit eingebildeten Worten, Lächeln und Gesichtern; end158
los spielte sich in seinem Kopf eine geträumte Liebesgeschichte ab, in der er Fragmente seines vergangenen Lebens zueinanderfügte und in die die gesamte Zärtlichkeit des Menschen und sein Wunsch nach Anbetung einging. Nachdem die sexuellen Visionen, die ihn bisher fortgerissen hatten und die sich selbst schufen, an Kraft verloren, lief er unaufhörlich sich entziehenden Bildern nach, einem Blick, einem unmittelbar in das Gedächtnis des Herzens dringenden Wort, dem Schimmer einer Haut oder eines Haarschopfes, dem leichten Bogen einer Augenbraue, einer Art sich zu bewegen, einem Mund, einer Bewegung des Kopfes, allem, was den anderen zum Nächsten und unerreichbar macht. Im Gegensatz zu den körperlichen Träumen ließen diese Träume sich nicht festhalten, sie blieben in der Erinnerung beweglich und verschwanden bei der geringsten Unaufmerksamkeit, den Geist in dem Gefühl zurücklassend, nur getäuscht worden zu sein. In einigen Nächten hätte man ihn stöhnen hören und seine Klage für physischen Schmerz oder lustvolle Erregung halten können, doch war es nur der erstickte Schrei nach Glück. In V. erzählte Catherine alles Adam, sie berichtete von dem Interesse, das Andrei für den früheren Liebhaber gezeigt hatte, von seiner Neugier bezüglich alles dessen, was Ian geschehen war, von seiner Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Hochzeit und von seinem dennoch zärtlichen Abschied, und wie er sich im Moment, als er sie verlassen wollte, auf sie geworfen hatte, um sie im Flur der Wohnung noch einmal zu lieben, doch konnte sie nicht genau sagen, wohin er ging, Richtung Norden, das war alles, was sie verstanden hatte. Und sie war überrascht von Adams Wut, als würde die Lust, die er erhoffte, ihm für immer genommen: Die Männer sind unberechenbar, dachte sie, sie sind gleichzeitig zarter und gröber als Frauen und so stolz auf ihre männlichen Attribute, daß sie glauben, ihnen die Höherwertigkeit ihres Gehirns zu verdanken. Sicher, doch diente ihnen dies kaum zu etwas Besserem, als noch stumpfsinniger zu leiden. Währenddessen sah Andrei in einem Nachtzug die endlosen weißen Ebenen, die genauso leer waren wie seine Gedanken und genauso kalt wie während seiner ersten Reise auf der Straße in 159
Richtung der Kaserne von S., mit Ian, und die ihn Meile um Meile an das äußerste Ende der Einsamkeit zu führen schienen.
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20. Ein milder vom Meer kommender Wind erhob sich, und eines Nachts begann der Schnee zu schmelzen. Die Erde wurde flüssig, die vormals eisglänzenden Bäume schimmerten nun wie in belebendes Wasser getaucht. Die Bäche traten über die Ufer, die Flüsse brachen aus ihrem Eispanzer, die Hohlwege trieben immer leichtere Eisstücke, und die ganze Natur schwamm in einer Wasserwelt, die den Anfang der Zeit heraufbeschwor. Die Städte, Dörfer und Weiler wurden für einige Stunden von unruhiger Freude ergriffen angesichts des sturzbachartig schmelzenden Schnees, dann watete man bald mit Trunkenheit im Todeskampf des Winters. Das Leben hob wieder an, sprudelte von neuem, und mit einer unbekannten Kraft reckte sich das Gras in die freie Luft. Die Wälder bebten vor Ungeduld ihrer jungen, noch verborgenen Triebe, und die Waldtiere zeigten sich plötzlich offen, ohne Furcht vor den Menschen, während dieser Tage voll panischer Freude, die die Körper schüttelte, um die in ihnen schlafenden Herzen zu wecken. Die Kinder rutschten zum letzten Mal auf den Eispfützen, die zusehends kleiner wurden, und keine Schlucht, kein Graben, keine Furche widerstand dem Tauwetter länger als einen Tag. Die Erde wurde zur Frau, sie absorbierte den Eisbruch, schwemmte all ihre verborgenen Wasser fort, überflutete die Landschaft und schmolz in sich selbst den großen, an den Tod erinnernden Wintertraum, und in ihrer großzügigen Gebärmutter machte sie die Samenkörner weich und bereit zum Sprießen. Die Bauern sahen nach dem Ort der künftigen Ernte, die Hirten stiegen auf die schnell trocknenden Hochweiden, die Kaufleute, die Soldaten, die Frauen träumten, und jeder hoffte auf die Zukunft. In 161
den kleinen Städten, in den Arbeitervororten, wo alles sich ähnelt, das Innere der Häuser und das Innere der Menschen, in den Palästen der Hauptstadt, in den einsam liegenden Waldhütten, überall stürzten die Menschen ins Freie, und der schwammige Boden klebte an ihren Schritten. Der Frühling kam wie ein Donnerschlag. Er setzte seinen Fuß auf die Erde und trieb innerhalb weniger Stunden seinen jungen Lebenssaft in all ihre Poren, und sie überließ ihm bereitwillig ihre Schätze. Die ersten Tage erleuchteten in einer gelben Sonne, deren Strahlen sichtbar zu sein schienen, die Bäume breiteten gleich Armen ihre Zweige aus, um die Wärme zu umfangen, und das Licht wurde auf ihnen grün; die Wiesen durchlief ein zärtliches Beben, und das grüne Licht breitete sich auf ihnen aus; am Abend begannen die Sterne zu sprühen, als wäre der Himmel ausgewechselt und würde sich nun der Erde nähern. Nach den Stunden des Fließens und der Weiblichkeit feierte der Frühling seine Eroberung mit männlich trunkenem Gesang, und das Leben lachte vor Freude. Ian betrachtete allein die Katastrophe, denn das waren diese Tage für ihn, in denen ihn alles dazu verurteilte, abseits zu bleiben: eine Katastrophe. Die Tauwettertage hatte er in einer unbestimmten Melancholie verbracht, erregt von den Veränderungen, doch ohne Verlangen, sich bei diesen Wasserfluten nach draußen zu wagen. Auf dem Dach murmelte und knisterte der schmelzende Schnee, und sein feuchter Atem, der das Feuer im Herd niederdrückte und die Fenster beschlug, widerte ihn an. Vom Boden stieg langsam Nässe die Wände hoch, und er legte doppelt so viele Holzscheite ins Feuer. Dann, beim ersten lauen Luftzug, als er die Wiedenkätzchen sah, die ersten kleinen Knospen, die grünen Punkte auf den Hecken und die vor seinem Fenster leuchtende Wiese, berührte die Hand des Verlangens seine Brust. Hinter einem Fensterladen stehend, sah er einen ganzen Tag lang nach draußen und saugte sich voll mit Licht. In den ersten Frühlingswochen nahm seine Schwermut zu, die Träume von einer vollkommenen Liebe ließen ihn nicht mehr los. In dieser Zeit entschlossen sich die Mönche, ihn bei sich aufzuneh162
men, doch wies er das Angebot, einen anderen religiösen Status anzunehmen als den seines gegenwärtigen Lebens, zurück; dies geschah, ohne daß er das geringste Wort äußerte. Zunächst schickte man ihm denselben Mönch wie beim ersten Mal, und wie beim ersten Mal sagte er nichts. Er begnügte sich damit, mit dem Kopf zu nicken, dann zu lächeln, und der Pater brachte die anderen dazu, ihm Roman zu schicken. Der Junge kam, und Ian setzte sich bei seinem Anblick sofort auf den Boden und erhob die Augen nicht mehr. Roman sprach sanft auf ihn ein, flehte ihn an zu antworten, ihm nochmals einen Satz zu sagen, ihn wenigstens unter den Schutz der Engel zu stellen wie beim ersten Mal, doch Ian hielt das Gesicht gesenkt, und Roman zog sich unter Tränen zurück. Als er den Jungen weinen hörte, sprach Ian zum ersten Mal seit seiner Kindheit etwas, das einem Gebet ähnelte: Mögen DEINE Engel dich beschützen. Doch er achtete nicht auf das Possessivpronomen, das plötzlich in die von Andrei gemurmelte Formel geschlüpft war, die im übrigen nicht über die Schranke seiner Lippen drang. Ein drittes Mal sandte man ihm einen Mönch mit einer Schiefertafel, auf der man ihn bat aufzuschreiben, ob er weitere Bücher wünsche oder etwas, um das Haus instandzusetzen, so wie er es in den vorangegangenen Jahren getan hatte. So ging die Hochstapelei weiter, und Ian schrieb folgendes in Großbuchstaben auf: »Ich werde betteln gehen und das Dorf nichts kosten. Die Vorsehung ist in den Wäldern und auf den Wegen.« Er erhielt einen langen Kittel aus dunklem Tuch, einen Strohhut, an dem ein Schleier befestigt war, sowie geschlossene Sandalen. In der ersten Nacht, nachdem er die Sachen anprobiert hatte, ging Ian bis zum Wald. Wie ein schneller Mund glitt der Wind durch seine Haare und über sein Gesicht. Seine Beine luden ihn zur Flucht ein, doch er hörte nicht auf sie. Die Wege waren noch nicht getrocknet und von Schlammlöchern durchzogen. Und dann spürte Ian auf der Schwelle zur Freiheit Angst.
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21. Angewidert ging Andrei durch das Lager. Vor dem Kommandanten, der angesichts seiner Vollmachten ölig wurde, ließ er sich nichts anmerken, und in gewisser Weise interessierte ihn das Schicksal der Häftlinge kaum. Sie hatten für ihre Verbrechen zu bezahlen, und in dem jungen Leutnant regte sich keinerlei Protest gegen gesellschaftliche Rituale, auch wenn sie ungerecht waren. Sein Unwille hatte ein Gesicht: Ian war hier eingesperrt gewesen, und ohne es zu wissen, schlief er am ersten Abend im selben Zimmer und sogar im selben Bett, in dem der Student geschlafen hatte. Man sagte es ihm beiläufig, als man ihm die Geschichte des jungen Mannes erzählte, der im besten und wärmsten Zimmer, im Gästezimmer gewissermaßen, logiert hatte. Nur noch der Kommandant hatte ebenfalls ein schönes Zimmer, mit eigener Dusche und Toilette. Die Brothütte stand verloren am Ende des Lagers, und der Blick über den See war von hier aus wundervoll; am Strand des Sees wähnte man sich in einem Ferientraum, die Stacheldrähte waren nicht sichtbar, doch versicherte man ihm, daß ihr mörderisches Unterwassersystem die Überquerung unmöglich mache. Tauwetter hatte eingesetzt, aber man bekräftigte, daß man auch bei Eis und Schnee auf dieser Seite nicht weit komme, der See werde von einem Flußbett durchschnitten, und seine dünne Eisschicht könne das Gewicht eines Körpers unmöglich tragen. In den zwei Monaten, in denen er nun unterwegs war, hatte er sämtliche im Umkreis von K. und S. liegenden Städte und Dörfer durchforstet, die Spitäler und Gefängnisse, die geheimen Spielerzirkel, die Schwarzmärkte, hatte die Berichte der Patrouillen, die 164
zur Verfolgung des Flüchtigen auf die Nordseite geschickt worden waren – der Kommandant behauptete, nur dort habe der Gefangene eine Chance gehabt –, gelesen; er hatte sich Denunziationen und Beschwerden zeigen lassen und darüber hinaus sämtliche Zeitungen zusammengetragen, die seit dem Tag, an dem Ian ins Lager Null gebracht worden war, erschienen waren. Das Lager selbst hatte er sich bis zum Schluß aufgespart, bevor er sich über die Seen in Richtung Norden und Osten aufmachte. Keine Spur war ihm bislang interessant erschienen, dennoch war er allen sorgfältig nachgegangen, und alle hatten zu demselben Ergebnis geführt: nichts betraf Ian. Dann war es April und noch kälter geworden, bis zu dem Tag, an dem er sich von der Kaserne von S. aus auf den Weg ins Lager gemacht hatte. Etwas weiter entfernt befanden sich die »Hangars für die Bestrafungen«, ein Euphemismus für »Erhängungen«, mit ihren Qualen, denen Ian zugesehen hatte, »beim ersten Mal mit den Nerven eines Fräuleins«, fügte der Kommandant hinzu, doch schnitt Andreis Blick jeden zynischen Kommentar ab. »Die Reaktion eines kleinen Jungen! Ich tu meine Arbeit«, fügte der Mann hinzu, der, ohne es zu wollen, die dunkle Wut verriet, in die ihn Ians Flucht gestürzt hatte. »Wenn ich ihn wiederbekommen hätte, hätte er schön sanft gebaumelt. Er hat mir was vorgemacht, während ich ihm vertraute...« »Und der Hund?« fragte Andrei. »Es war der schönste, den...« »Was geschah für gewöhnlich?« »Die Wachen waren nicht nötig. Die Verurteilten aßen, und das war eine Art Euthanasie, sie wurden betrunken vom Brot, fast komatös aufgehängt... an eine Flucht über den See war gar nicht zu denken, Sie können sich den Plan der Unterwasseranlagen ja mal ansehen.« »Warum dann der Hund?« »Ich traute dem Jungen nicht so ganz, und ich hatte wohl recht damit.« »Genügte der Hund?« 165
»Sie hätten ihn sehen sollen, Leutnant. Niemand näherte sich ihm. Bevor man ihn mit verbrannten Augen und einer Klinge im Schädel fand, war er stundenlang elendiglich krepiert. Der kleine Saukerl hatte keinerlei Mitleid. Wir erledigen sowas schneller.« »Woher stammte die Klinge?« »Er hatte sie geklaut und versteckt, obwohl wir noch zwei Tage vorher das ganze Zimmer gefilzt hatten, wir taten das einmal pro Woche, und bis dahin hatte er nie irgendwas.« Andrei wurde plötzlich von einem heftigen Haß gegen den Mann ergriffen. Zwischen ihnen stand der Student wie ein Gespenst, er war anwesend in den Worten und in dem Raum, den er gesehen, in dem er geatmet, geschlafen, geträumt hatte und dem er zum Schluß entkommen war. Der Leutnant besichtigte alles, ließ sich die Akte des jungen Mannes zeigen, las die Depeschen und stellte sich zwischen den Zeilen die Verzweiflung vor, während der Tage, in denen er in absoluter Stille mit seinen Fantomen gerungen hatte. »War das üblich so?« »Nein, Sonderbefehl. Bis zur letzten Woche hatte ich geglaubt, daß ihm lediglich eine gesunde Angst eingeflößt werden sollte. Es war ihm egal, er war wie Luft, leicht, mit einem spöttischen Lächeln, verletzbar und unzugänglich.« Die Gleichmütigkeit des Kommandanten bröckelte. Nach und nach erkannte Andrei den Menschen wieder, der, als der Lastwagen gehalten hatte, im Schnee weggegangen und, ohne sich weit entfernt zu haben, zurückgekehrt war; anschließend hatte er ihnen witzereißend geholfen, während das Reiseziel doch der Galgen gewesen war. Wenn er damals geflohen wäre, hätte man ihn sehr schnell wieder eingefangen und sofort nach seiner Ankunft im Lager exekutiert, und weder in Andreis Leben noch in seinem Herzen hätte sich irgend etwas verändert. »Was will man dort genau?« »Ihn lebend wiederbekommen.« »Um ihn mir dann zurückzugeben?« 166
Andrei bewahrte ein Schweigen, das alles bedeuten konnte. Immer tiefer begann ein Satz in ihm zu kreisen: Wenn ich ihn wiederfinde, hängt man ihn auf... Wenn ich ihn wiederfinde, was soll ich tun, was werde ich tun? Und trotzdem will ich ihn wiederfinden. Er hörte die Fragen des Kommandanten nicht mehr, der sich ihm gegenüber immer unterwürfiger zeigte und die Träumerei dieses vom Generalstab mit grenzenloser Machtfülle ausgestatteten Grünschnabels respektierte. Er ähnelt dem Studenten, dachte der Kommandant, aus der Stadt schicken sie hübsche kleine Visagen, aber der hier ist ein Eisblock. Morgen würden die Häftlinge dafür bezahlen. Es gibt immer eine Rache, und je mehr er vor dem da kroch, desto mehr würde er morgen die anderen zum Zittern bringen. Andrei erklärte, daß er am folgenden Morgen aufbrechen werde, und verlangte, ohne Genaueres zu sagen, einen Lageplan der Militärposten rund um das Lager sowie eine Generalstabskarte von der Umgebung des Sees. »In einem Umkreis von sechzig Kilometern haben wir die gesamte Nordregion durchkämmt. Die Hunde haben nichts genutzt bei dem Schneesturm (innerlich dachte er: Hoffentlich fragt er mich nicht, was ich mit der Kleidung gemacht habe, glücklicherweise kann er ja nicht wissen, daß der kleine Drecksack eine Reisetasche hatte). Hier ist die Karte: Wälder, Seen und Sümpfe.« »Sind die Sümpfe tief?« »Das kommt drauf an.« »Kann man sich dort verstecken?« »Nicht im Winter. Sogar auf den kleinen Flecken Festland würde eine Ente stehenden Fußes vereisen, der Wind trifft dort auf keinerlei Hindernisse. Und außerdem gibt es so viele Irrwege...« »Kann man vom Hubschrauber aus alles sehen?« »Oh«, begann der Kommandant. Blitzartig überlegte er, daß er den anderen freundlich und bestimmt auf seine Bürokratenpapiere zurückbringen müsse.
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»Was denn sehen bei dem Tauwetter? Und selbst wenn es eine Stunde nach seiner Flucht gewesen wäre, bei dem Schnee, der an dem Tag fiel...« »Es gibt spezielle Infrarotapparate, die Spuren ausmachen, Kommandant.« Und für mich eins in die Fresse, du kleiner Drecksack, dachte der Kommandant. Diesmal sage ich nichts, soll er doch in seiner eigenen Scheiße wühlen. Der Chef schickte sofort einen Bericht über Andreis Besuch an den Generalstab. Er erhielt keinerlei Antwort, es war offensichtlich, daß der Leutnant Eindruck gemacht hatte, und der Kurswert des jungen Militärs stieg weiter. Andrei verließ das Lager, wie er gesagt hatte. Im Wald mußte er mehrmals dem Soldaten, der ihn in einem Militärfahrzeug von S. aus gefahren hatte, helfen, aus Schlammlöchern herauszukommen. Mit verdreckten Stiefeln gelangten sie zu dem gesuchten Posten. Unter der Leitung eines Unteroffiziers wurde dieser Waldsektor von fünf Soldaten kontrolliert. Andrei wurde als Inspektor empfangen, doch war er nur gekommen, um die beiden Fahrer, die nach der Ablieferung Ians im Lager Null hierher strafversetzt worden waren, abzuholen. Die beiden Soldaten erkannten Andrei wieder, wurden aber von den Schulterstreifen des Leutnants auf Distanz gehalten. Sie waren überglücklich, den endlosen Waldwegen zu entkommen, die unter ihrer Schneedecke bisher unbeweglich dagelegen hatten und die sich nun seit zwei Tagen in Matsch verwandelten: Sie hatten das Gefühl, daß die Bäume auf sie herabweinten, daß die Wege mit ihnen gingen, und abends hörten sie die Luft von den Klageschreien der Nachtvögel vibrieren. Andrei erklärte, daß als Ablösung unverzüglich zwei Rekruten aus S. geschickt würden. Die beiden Fahrer waren verblüfft, als Andrei ihnen mitteilte, was er von ihnen erwartete: ihm helfen, den in Richtung Norden geflüchteten Studenten wiederzufinden. Als er sie befragte, wurde ihm klar, daß sie nichts wußten, nicht einmal den Vornamen desjenigen, den sie suchten. Sie erinnerten sich lediglich an seine Sorglosigkeit, die sie gewundert hatte, wenn man bedachte, was diesen Jungen erwartet hatte, und dann an seine Augen, wobei der 168
eine sie gelb und der andere grün in Erinnerung hatte. Darüber hinaus hatte er wohl eine Riesenschweinerei begangen, schließlich war er ja ins Lager geschickt worden, aus dem man gewöhnlich nur als Rauch wieder herauskam. Hatten sie den Leutnant nicht als einfachen Sergeanten verlassen? Ja, und sie, wie war es ihnen danach ergangen? Sie berichteten ihm vom Ende der Reise: Der Sergeant, der Andreis Platz eingenommen hatte, war ein fast obszön rasierter Typ gewesen, ein Blonder mit metallblauem Blick, der ging wie ein Automat. Er hatte den Gefangenen im Wagen sofort angebunden, und es war offensichtlich, daß er darauf brannte, ihn zu verprügeln. Wie hatte der Häftling sich verhalten? Er hatte bis zum Schluß kein Wort gesagt, und sie waren plötzlich abkommandiert worden, als hätten sie die Krätze. Um ein Haar wären sie als Aufpasser im Lager gelandet, das war schon vorgekommen. Und dort wurde man zum absoluten Tier: drei Jahre keinerlei Ausgang und keine Frauen... Sie sehen also, was alles passieren kann, und wir sind schließlich erst zwanzig! Der Leutnant ließ sie reden; der junge Fahrer war still, er war gerade erst in die Armee eingetreten und hatte seine Grundausbildung beendet; heimlich hatte er Angst vor dem, was er da erfuhr, und vor allem davor zu mißfallen. Immerhin hatte sich der Leutnant, der so wenig sprach, menschlich gezeigt und ihm im Wald geholfen, aber die Kameradschaft war ein Trugbild, wenn man die beiden Jungs hinten hörte. Sie verstanden sich gut, nach all dem, was sie gemeinsam erlebt hatten, und bildeten einen Block, aus dem er ausgeschlossen wurde. Er spürte dunkel, daß sie in ihm einen Fahrer sahen, und nicht mehr. Dabei konnte ihr Auftrag bis zum Herbst dauern, und man hatte ihm gesagt, daß er, solange er unter dem Befehl des Leutnants stand, mit niemandem sprechen dürfe. In der Kaserne zogen sie sich um, ließen ihre Stiefel reinigen und bekamen in der Messe einen einzelnen Tisch, an dem sie zu viert aßen. Kurze Zeit später brachen sie auf in Richtung Norden.
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22. Ian wusch die wenige Wäsche, die er besaß, und breitete sie, so gut es ging, unter dem Vordach aus. Am nächsten Morgen fand er im Korb ein kragenloses Hemd und ein Stück Seife. In der feuchten Küche führte er sich wie ein Verrückter auf, breitete ein großes Stück Stoff auf dem Boden aus, bespritzte sich mit Wasser, wusch sich von Kopf bis Fuß, überschüttete sich mit Kübeln voll kalten Wassers, welches spiralförmig durch eine Öffnung zwischen Haus und Kirche abfloß. Ian kümmerte sich nicht darum. Trotz des harten, undurchdringlichen Bartes wurde seine Haut unter seinen Fingern wiedergeboren, seine Haare wurden weich, seine Haut weiß wie früher. An diesem Abend schlief er zum ersten Mal ohne Feuer; als er sich in die Decke einrollte, wurde er plötzlich von Ekel ergriffen und entschloß sich, das Bett, in dem sein Vorgänger gestorben war, zu zerlegen und zu verbrennen. Die drei vergangenen Monate erschienen ihm wie eine Ewigkeit, und er betrachtete sein vorheriges Leben wie das eines anderen. Er würde weder seine Wohnung noch die Stadt, noch seine Freunde, noch Catherine wiedersehen, all das waren Namen – Namen, Worte im Leeren –, die Nächte einsamer Exzesse hatten die Körper und Herzen in einen Wirbel verwandelt, der sich von ihm entfernte, Erinnerungen und Träume mit sich fortreißend. Was er jetzt wollte, war nicht, noch einmal zu leben beginnen, sondern anders leben, er verstand Menschen, die plötzlich alles hinter sich ließen und sogar ihre Identität aufgaben, um zu verschwinden, ohne eine Spur zu hinterlassen, mit dem Ziel, dort wiedergeboren zu werden, wo ihr Leben ohne jegliche Zwänge ist, außer denen, die sie sich selbst auferlegen. Er hatte das Beispiel des Ingenieurs vor Augen, doch hatte dieser sich frei170
willig eingesperrt, und für Ian war er ein Verrückter, der letztendlich im Inneren seiner selbst verschwunden war. Und einmal tot... Aber die Wahrheit ging ihm auf: Der Mann war gar nicht tot, denn er hatte ja seinen Platz eingenommen. Der Tote hieß Ian, er hatte zugrunde gehen müssen, indem er sich in die Sümpfe flüchtete, wo der Winter ihn umgebracht hatte. So war von dieser Seite nichts mehr zu befürchten. Wer würde ihn schon wiedererkennen? Eine Woche lang begnügte er sich damit, in der Abenddämmerung hinauszugehen und die Wälder zu durchstreifen. Er traf niemanden, und von Tag zu Tag wurde der leichte Flaum des Laubwerks dichter, die Eulen jagten in der Nacht, und er hörte das Rauschen der Frühlingssäfte, wenn er sich auf der Erde ausstreckte. Tagsüber drang der Lärm des Dorfes bis zu ihm, er hörte die Rufe der Schulkinder und weit entfernte Unterhaltungen, als würden sie ihm von der warmen Mittagssonne zugetragen. Er schmiedete tollkühne Pläne, wie den, in Richtung Meer zu gehen; dort wollte er sein Mönchsgewand ablegen und sein Gesicht wiederfinden. Doch selbst wenn es ihm gelänge, sich Richtung Ausland einzuschiffen, welche Papiere hätte er dort? Aus dem Schrank holte er den Kelch und das Kreuz und trennte zwei Steine ab. Die auf dem Kreuz waren rot, während der Kelch mit blauen, weißen und grünen besetzt war. Die Steine waren wunderbar, und in der Art des Mittelalters kaum geschliffen; er behielt zwei Rubine, denn er nahm an, daß sie durch Farbe und Gewicht außergewöhnlich waren. Ihr Verkauf würde ihm die Mittel für eine erneute Flucht verschaffen. Doch wo sollte er die anderen aufbewahren? Das beste, sagte sich Ian, wäre, sie in ein Grab zurückzulegen, doch nicht in jenes, aus dem er sie genommen hatte und in dem der Ingenieur jetzt ein Selbstgespräch mit dem Tod führte. Er ging am hellichten Tag in die Kirche, hob eine Grabplatte auf und schob die Steine darunter. Dann ging er zu dem Grab, das er drei Monate vorher entweiht hatte, und las die Inschrift. Die Mumie, die dort lag, war ein Prior teutonischer Ritter gewesen, und Ian war sicher, daß seine Tasche echte Rubine enthielt. Der feine, am Hut befestigte Schleier würde seinen Nacken vor der Sonne schützen, doch kam ihm die Idee, ihn als Gesichtsschutz zu verwenden, um den Leuten das Gefühl zu vermitteln, daß er die 171
Welt nicht sehen wolle. Eines Morgens entschloß er sich aufzubrechen und nahm den Weg, der durch das Dorf führte. Ohne Erstaunen sah man ihn vorbeigehen, sein verborgenes Gesicht ließ die Frauen auf die Knie fallen, und die Kinder hielten in ihrem Spiel inne. Er marschierte den ganzen Tag; auf einem Bauernhof gab man ihm Brot und Milch, er dankte mit einem Handzeichen und setzte seinen Weg fort; wenn er vorbeiging, machten die Leute ihm Platz, die Autos verlangsamten ihre Fahrt, als würden sie einem Toten begegnen, dachte Ian. In der Nacht drang er in einen Wald ein und schlief in einer Holzfällerhütte. Am zweiten Tag durchquerte er Sümpfe und verbrachte die Nacht in einer Zweighütte, die von Jägern genutzt wurde; der Winter hatte dem Dach hart zugesetzt, und er mußte es aufrichten. Unaufhörlich wurde sein Schlaf von Rufen und erstickten Schreien durchschnitten, die Stille der Natur bestand aus Flüstern, Murmeln, Liebes- und Todesstöhnen, auf seinem Schilflager hörte er diese Geständnisse geheimnisvoller Kämpfe, die genauso unerbittlich waren wie die der Menschen. Er war froh, den Pullover behalten zu haben, der ihn im Lager nicht verlassen hatte, auch nicht, nachdem die Häftlinge ihn zerrissen hatten, als sie an ihm zerrten. Er lernte die Ängste und Fantasmen der Nacht kennen, seine Vereinsamung war unheilbar, er besaß nichts mehr, nicht einmal mehr seinen Namen, doch brachte das Gewicht der Rubine auf seinem Oberschenkel seine Gedanken in Ordnung, und im ersten Schein der Morgendämmerung stand er auf. Ein dunkelblauer Nebel bedeckte die Erde, er mußte Umwege machen, um nicht ins Wasser zu fallen, und dann ging die Sonne auf, helle Strahlen durchdrangen den Nebel, und plötzlich traten Schachtelhalme hervor wie weiße Schatten. Er entfernte sich immer weiter; in den kleinen Ortschaften hielt man ihn für einen jener Mönche, die für die Klöster bettelten, und er erhielt Geldstücke. Eine Alte kam sogar herbei und rieb eine Ikone am Zipfel seines Gewandes. Als er eines Abends zum Schlafen in ein Haus eingeladen wurde, ging er noch in der Nacht fort, nahm eine Hose und ein Hemd mit, die er zuvor im Dunkeln anprobiert hatte. Er spielte den Stummen, und niemand wagte zu lächeln angesichts eines nickenden Kopfes mit einem Hut und einem Schleier. 172
Als er genügend Geld hatte, entschloß er sich eines Nachts in einem Wald, die Kleidung, die er trug, fortzuwerfen, doch dann gewann der Instinkt die Oberhand, er mußte sie irgendwo verstecken, so daß er sie im Notfall wiederfände. Er wich von seiner Route ab und ging auf eine am Horizont liegende Hügelkette zu. Es waren den Fluß überragende Gebirgsausläufer, und er hatte erfahren, daß sie mit Höhlen gespickt waren, die weitläufig und schwer zugänglich waren. Während früherer Kriege hatten einige von ihnen als Verstecke und Vorratslager gedient. Er brauchte zwei Tage, um sie zu erreichen. Er kletterte einen Weg zwischen Felsen hinauf und fand in den Klippen geeignete Löcher, doch wie sollte er sie wiedererkennen, und außerdem warnten ihn Tierspuren davor, hier Kleidung zu lassen. Der Fluß erstreckte sich gen Westen, wurde breiter und schob unter der Sonne weißglühendes Wasser vor sich her; Ian stieg einen Abhang hinunter, wagte sich aber nicht weiter, als der Weg ins Leere fiel; mehrere Male kroch er auf Knien, bereit, sich an den kleinsten Strauch zu klammern. Schwindel belauerte ihn, er hatte Furcht vor dieser riesigen Landschaft, die ihn mit ihrer ganzen Schönheit zu sich rief und in der ihn plötzlich die Lust packte, sich hinabzustürzen. Schließlich gelangte er in eine Höhle, Wacholdersträucher verbargen den Eingang, und der Boden war warm. Für Füchse lag sie zu offen da, und für Vögel war sie nicht geschützt genug; man konnte in ihr aufrecht stehen, und im Hintergrund war eine Sandsteinwand, die unter seinen Händen bröckelte. Ian grub ein Nest und legte seine religiösen Kleider hinein. Die gestohlene Hose war ein wenig eng, das Hemd jedoch weit. Um wieder zu Kräften zu kommen, schlief er ein wenig, aß dann von dem Brot, das er aufbewahrt hatte, und ging fort, als es heller Tag war. Er prägte sich sämtliche Einzelheiten der Landschaft ein: Von einem bestimmten Punkt aus sah man die beiden Flußbiegungen, und auf den Anhöhen der anderen Uferseite erhoben sich die Turmruinen einer Ritterburg. Und vor allem sah man am Ende des zu der Klippe führenden Weges die roten Dächer eines ganz unten im Tal gelegenen Dorfes. Ian stieg durch einen Pinienwald wieder hinab. Aus Vorsicht machte er einen Bogen um das Dorf, prägte sich als Anhaltspunkt seinen Namen ein und erreichte in einiger Entfer173
nung eine kleine Straße. Er lief einige Kilometer, bevor er auf eine Autostraße traf, wo ein Paar anhielt. Er wolle zum Meer, sagte er, und die beiden erboten sich, ihn an einer weiter entfernten Kreuzung abzusetzen. Er entschuldigte sich für seinen Aufzug, indem er ihnen sagte: »Es ist eine Wette, und ich darf mich erst bei der Ankunft rasieren.« »Komische Idee«, murmelte die Frau, »aber die jungen Leute von heute amüsieren sich auf die merkwürdigste Art und Weise.« Sie schienen froh zu sein, ihn loszuwerden, denn er sprach nicht. Der Reisende, der ihn anschließend mitnahm, fuhr nur bis P., eine Nachbarstadt, doch Ian sagte, daß ihm das schon weiterhelfe. Wie hieß er? Adam, er sei Musiker und wolle noch vor der Saison ans Meer, wo er hoffe, für den kommenden Sommer ein Engagement zu finden. Und wo? Er zöge es vor, nicht darüber zu sprechen, damit alles gut laufe. Wirklich eine gute Idee, viel Glück also. »Soll ich dich auf dem großen Platz rauslassen?« »Nein, am Stadteingang.« In der Vorstadt ging Ian zu einem Friseur und ließ sich rasieren und die Haare waschen – aber nein, er wolle sie nicht schneiden lassen. Eine Wette, die er bis zum Monatsende durchhalten müsse. Um was ging es? Ein Mädchen natürlich. »Ich ließe mir dafür sogar Zöpfe wachsen«, sagte der Friseur, der einen kleinen Bauch und mit schwarzen Härchen überwucherte Hände hatte. Von der Decke fiel ein gelbes Licht auf den Spiegel, in dem Ian sich lange betrachtete, voller Neugier, seinen Mund und seine Wangen wiederzusehen. »Gefällst du dir?« fragte der Friseur. Ian drehte sich zu ihm um, und der Mann war überrascht von der Tiefe seines Blickes. Er war ein an die Kabbala glaubender Jude, der seiner Familie jeden Abend Erzählungen von Wunderrabbis vorlas. Und plötzlich betrat ein junger Mann sein Geschäft, der denselben Blick hatte wie die, die in den chassidischen Geschichten beschrieben waren. »Bist du gläubig?« fragte er. 174
»Nein«, sagte Ian. »Was hat deine Mutter dich gelehrt?« »Ich war zu klein, als daß sie mich irgend etwas hätte lehren können.« »Waise?« »In gewissem Sinne... Fortgegangen.« »Fortgegangen...« – der Mann zögerte – »mit jemandem?« »Mit meinem Vater, sie interessierten sich nur füreinander. Man überließ mich der Verwandtschaft.« »Gläubig?« »Ein wenig«, antwortete Ian. Und da der Friseur den Kopf beugte, fügte er hinzu: »Ab und zu mal Kirche, ich bin kein Jude.« Aber er lächelte, als er dies sagte, und der Friseur sah nur noch das Lächeln. Und während er seine Scheren und Kämme ordnete, die Flakons und das Rasierzeug und das Licht über der Tür löschte, begann er sehr schnell zu sprechen. »Eines Tages wollte ein König eine uneinnehmbare Stadt bauen und ließ aus allen Ecken der Welt die schwersten Steine und die besten Architekten kommen. Und die Steine wurden auf den härtesten Felsen geschafft. Die Mauern erhoben sich, und als die Stadt gebaut war, brachte man der Macht und der Herrlichkeit ein Opfer, doch der Rauch wurde auf den Boden zurückgeschlagen. Die Priester, Zauberer und Seher sagten dem König: ›Du mußt einen reinen Jugendlichen opfern‹.« Der Friseur blickte Ian fest in die Augen und sah einen Moment lang ein Zittern, doch war Ians Blick immer noch tief. »Der König ließ verkünden, daß alle Jungen von sechzehn bis achtzehn Jahren auf der Stelle gezählt werden müßten; hernach würde man die reinsten unter ihnen kommen lassen. Und im ganzen Königreich fanden sich nur einige wenige. Man fragte sie, ob sie bereit seien, sich für die Stadt zu opfern, doch wollte keiner sein Leben verlieren, ohne die Liebe erfahren zu haben, und schon war die Unreinheit in ihren Herzen. Nur ein einziger Knabe von vollkommener Unschuld wurde gefunden. Seine Mutter sprach zum König: ›Nimm ihn, möge sein Blut deine Stadt befestigen, 175
möge er zu unser aller Ruhm dienen.‹ Sie dachte an ihre Belohnung...« Erneut machte der Friseur eine Pause und sah in den Tiefen von Ians Augen einen zitternden Schatten. »Dann wurde die Opferung vorbereitet, man kleidete den Jungen in weißes Linnen, und als er vor dem König und den Priestern stand, sagte er: ›Ich möchte eine Frage stellen, und wenn man mir antwortet, bin ich bereit zu sterben, aber nur dann.‹ Und die Menge und die Priester und die Zauberer sagten zum König: ›Das ist vernünftig.‹ ›Was willst du wissen?‹ fragte der König. Der Junge stellte sein Rätsel: ›Was ist das Leichteste, das Härteste und das Süßeste auf der Erde?‹ Und alle lachten über seine Unschuld, und sein Blut schien die Steine bereits zu befestigen. Eine Hexe trat vor: ›Das Leichteste ist ein Taubenflügel, der sich senkt.‹ ›Der Honig des Bienenstocks im Mai ist das Süßeste‹, sagte ein Seher. Und ohne sich von seinem Platz zu rühren, sagte ein Priester: ›Der Speer des Königs ist das Härteste.‹ und alle wußten, daß er vom Speer des Henkers sprach. ›Nein‹, sagte der Jugendliche. ›Das Leichteste ist das Kind in den Armen seiner Mutter; das Süßeste die Brust der Mutter für das Kind. Und das Härteste ist das Herz der Mutter, die ihren Sohn in den Tod schickt.‹« Ian rührte sich nicht. »Willst du das Ende wissen?« fragte der Friseur. Diesmal sah er in Ians Augen einen Gewitterhimmel, und ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Man ließ den Jungen am Leben, über die Steine der Stadt floß kein Blut, und sie wurde unaufhörlich erobert, denn sie war ohne Verteidigung auf Erden...« »Wieviel schulde ich Ihnen?« fragte Ian. »Nur auf Erden«, sagte der jüdische Friseur. Ian hatte Geldstücke auf den Beckenrand gelegt. Der Friseur nahm sie, öffnete dann einen Schrank, aus dem er Geldscheine nahm, und legte sie in die Hände des jungen Mannes. »Was ist in Sie gefahren?« fragte Ian. 176
»Du wirst sie brauchen, und noch mehr, bis zu dem Tag, an dem du weinen wirst«, sagte der Friseur, »... wirkliche Tränen.« Ian hielt den Mann für verrückt, konnte ihm das Geld aber nicht zurückgeben, denn zweimal schob der andere es ihm in die Tasche zurück. Und als Ian die Türschwelle überschritten hatte, löschte der Friseur das Licht und setzte sich dann in den Stuhl, in dem Ian gesessen hatte; »Bluttränen«, sprach er weiter. »Er weiß nicht, wer er ist.«
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23. Stadt nach Stadt durchkämmten sie in Richtung der Nordgrenzen, und jeder Polizei- und Sicherheitsposten, jedes Militärkommando mußte dem Leutnant sämtliche Berichte aus dem vergangenen Winter vorlegen. Sie verloren Zeit, dachten die anderen, doch unterstützten sie ihn bereitwillig und erwarteten immer wieder seine Befehle. In den Dörfern befragten sie vorwiegend die Frauen und Kinder, aber es war niemand gesehen worden, der der Beschreibung des Flüchtigen entsprach. In den kleinen, nah beim See gelegenen Ortschaften erinnerte man sich an Kanonenschüsse, doch war danach nichts weiter geschehen. Etwas weiter entfernt hatte man den Gewitterdonner während des Schneesturms gehört, und man hielt Andrei für verrückt, weil er annahm, ein Mensch hätte in einer Nacht die achtzig Kilometer zurücklegen können, die sie vom Lager Null trennten, es sei denn, er sei übers Wasser gegangen... Und wenn es das wäre, sagte sich Andrei. Aber so sehr er die Gegend auch durchkämmte, er fand nichts. Als er das Dorf erreichte, in dem sich das Kloster und die Grabkirche befanden, waren alle auf dem Feld, und er erhielt kaum eine Antwort; die Leute sahen sogar aus, als verstünden sie seine Frage nicht. An einem Schneetag waren bereits Soldaten vorbeigekommen, das war alles, was er erfuhr. Und sie drangen in die Sümpfe und Wälder, wo sie die Hütten durchstöberten in der Hoffnung, einen Hinweis zu finden, dann fuhren sie weiter in Richtung Norden und kreuzten die Straße, die Ian in Richtung Westen genommen hatte.
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Als Ian das Friseurgeschäft verließ, wußte er nicht, wo er übernachten sollte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, denn er besaß keiner-lei Papiere, dafür allerdings, ironischerweise, Geld. Vernünftig wäre es gewesen, zu dem Juden zurückzukehren und ihn um Hilfe zu bitten, doch hatte der Mann sich seiner bereits mit Geld und einer Geschichte entledigt. Warum? Und warum hatte er mit einem Unbekannten vom Glauben gesprochen? Wie auch immer, Ian schlief zwei Stunden in einem Kino und bemerkte am Ausgang, daß sich eine Gruppe junger Leute für ihn interessierte. »Du bist nicht von hier«, sagte einer. »Woher kommst du?« »Von der Universität von K.«, antwortete Ian unbesonnen. »Ich fahre zur Küste.« »Habt ihr Ferien?« »Ja«, sagte Ian, »ich wandere und...« »Du kommst zu Fuß von K.?« »Zu Fuß und per Anhalter.« »Hut ab! Und du willst genauso wieder zurück?« »Mit dem Zug.« »Wohnst du im Hotel?« »Nein«, sagte Ian, »ich bin gerade angekommen und würde lieber bei einem Mädchen schlafen.« »Das läßt sich machen, wie soll sie sein?« Ian stieg das Blut ins Gesicht. Weil die anderen hätten bemerken können, daß er bereits erregt war, kreuzte er die Hände über seinem Gürtel. »Schön«, sagte er atemlos. Die anderen lachten nicht, und einer von ihnen sagte: »Komm.« Sie führten ihn in ein Neubaugebiet, wo die Balkone alle gleich aussahen. Zwischen den Häusern standen vereinzelt Bäume. Der stille Abend hellte die Trostlosigkeit ein wenig auf. »Ist sie eine Nutte?« fragte Ian. Der Junge, der ihm gesagt hatte, er solle ihm folgen, antwortete nur mit einem Schulterzucken. Er war sehr groß und hatte die langen Arme und Beine eines Schnitters. Als sie vor einer Glastür 179
standen, die er mit dem Rücken aufstieß, sah er Ian an: »Wir helfen uns gegenseitig, nicht?« Ian hatte die Hand in die Tasche gesteckt, aber der andere erriet seine Gedanken: »Laß uns zufrieden mit diener Kohle, wir wollen was anderes. Du kannst bei ihr bleiben, solange du willst. Wir lassen euch gleich allein, aber vorher wollen wir noch mit dir sprechen, wir möchten nämlich auch weg...« Ian sagte nichts. »Verstehst du denn nicht, daß wir genug davon haben, immer dieselben Visagen zu sehen!« Er sagte es sanft. Die anderen nickten bekräftigend mit dem Kopf, dann stießen sie Ian in ein Treppenhaus, dessen einzige Verzierung aus einer rosa Keramikblume auf jeder Treppenstufe bestand. Gisèle öffnete die Tür; sie war eine junge, braunhaarige Frau mit so blauen Augen, daß man sie für gemalt hielt. Sie hatte den Körper einer Schwimmerin, gleichzeitig leicht und stark, wie der einer Sirene. Ians Kehle schnürte sich zu: Er erkannte die würgende Begierde wieder, die seine Stimme veränderte. Sie gingen in die Wohnung und verteilten sich auf Korbstühle, zwei schwedische weiße Sessel und einen Diwan aus hellem Holz. Gläser und Bier tauchten auf. Nach einigen Floskeln und dem Durcheinander der Begrüßung wurde es plötzlich still. »Wie heißt du?« fragte einer. »Adam«, antwortete Ian. Nacheinander nannten die anderen ihre Namen, dann stellten sie eine Menge Fragen, wobei sie sich gegenseitig ins Wort fielen. Ian antwortete einsilbig und ins Blaue hinein, ohne sich zu verraten, doch lächelte er ihnen zu, und die Jungen waren instinktiv glücklich über die Abwechslung, die der Abend ihnen bot. Gisèle wandte ihre Augen nicht von Ians Lippen. Für ein gemeinsames Abendessen holten zwei nebenan wohnende Jungen Eier, die zusammen mit Brot und Käse gegessen wurden. Um Mitternacht räumten sie auf und entschlossen sich zu gehen. Ian wollte am folgenden Morgen kurze Stiefel kaufen, er habe seine auf der Straße verschlissen, sagte er, und könne sich nicht an Sandalen gewöhnen. Der große 180
Junge hieß Jonas, und er erbot sich, die Stiefel am nächsten Morgen zu kaufen und sie sofort zu bringen. »Einfache schwarze«, sagte Ian und hielt ihm Geldscheine hin. »Das wird dich eine Menge kosten.« »Es ist mein einziger Luxus«, sagte Ian. »Und deine Sandalen?« »Ich überlasse sie dem, der sie will.« »Sie sehen aus wie Mönchssandalen«, bemerkte ein Junge. »Meine Stiefelsohlen haben sich gelöst, und Mönche haben mir dafür die Sandalen gegeben.« »Bis morgen«, sagte Jonas. »Komm zeitig«, bat Ian, »ich muß früh weg.« Und er lächelte allen zu. »Auf Wiedersehen, Adam«, sagten sie zu ihm. Als er allein mit Gisèle war, lächelte Ian noch immer. Er nahm sie in seine Arme, und sie legte ihre Stirn auf seine Wange. Sie schloß die Augen, Er wird sein Lächeln auf meinen Mund legen, dachte sie und wartete, doch er begnügte sich damit, sie sanft an sich zu ziehen, und sie hörte aus weiter Entfernung die Herzschläge des Jungen. Sie bemerkte, daß er leicht zitterte, sie hob den Kopf, das Lächeln war sehr nah und unendlich fern. »Adam«, murmelte sie, aber er antwortete nicht. Sie öffnete sein Hemd und berührte seine Haut. Er war sanft und brennend und wehrte sich nicht, als sie ihn plötzlich auszuziehen begann. Es war seltsam, diesen Jungen nackt inmitten des Zimmers zu sehen, sie löschte das Licht, und durch das Fenster grub der Widerschein einer Laterne Löcher in den Schatten. Sie bat ihn, ihr zu helfen, den Diwan zu öffnen, und sie klappten ihn im Dunkeln auseinander, dann riß er ihr plötzlich die Kleider auf, trug sie, nein, warf sie auf das Laken. Sein Gesicht fuhr über ihren Körper, sie fühlte seine schönen Wangen über ihre Schultern gleiten, über ihre Brüste, ihren Bauch, und das Lächeln liebkoste sie überall, dann küßte er ihre Füße, und sie wagte es nicht, sich zu bewegen. Sie wartete, aber eine lange Weile tat er nichts anderes. Schließlich setzte er sich auf, sie sah, daß sein 181
Geschlecht herrlich sein mußte, und berührte es, aber es blieb unbeweglich. Der Junge wehrte sich nicht, und sie erhob sich. Was hatte er? Er nahm sie bei den Schultern und zwang sie, sich auszustrecken. Sie spürte sein Gesicht in ihr, fühlte seinen Mund, seine Lippen, dann seine Zunge, und wie ein Rasender versuchte er stöhnend mit ihnen das zu tun, was sein Geschlecht nicht vermocht hatte. Noch niemals hatte ein Mann sie bis zu diesem Punkt geöffnet, nach und nach verlor sie den Kopf, und da er sie halb vom Diwan zog, klammerte sie sich an ihn, streichelte ihn, soweit sie konnte, nahm mit beiden Händen sein Gesäß, und später, als sie wieder zu sich kam, hatte er seinen Nacken gegen den Rand des Diwans gestützt, die Augen geschlossen, aber sein Lächeln war noch da. Er schlief, sie wagte es nicht, ihn zu rütteln, und bis zum Morgengrauen machte er keinerlei Bewegung. Als es kühler wurde, warf sie eine Decke über ihn, er öffnete die Augen, und sie flüsterte ihm zu, er solle weiterschlafen. Schließlich hielt sie seinen Körper in ihren Armen, als wäre er ein Kind, ihr Kind. Um neun Uhr wurden sie von Schlägen an der Tür geweckt. Jonas brachte die Stiefel, kurz und einfach, aber dunkelrot. Es gab keine schwarzen. Während Ian sich wusch, bereitete er ihnen Tee und versuchte zu erfahren, was Gisèles Gesicht verdunkelte. In der Küche fragte er sie leise, ob alles gut gegangen sei, und sie antwortete: »Aber sicher.« Dennoch vermutete er ein Drama, und als Ian sich seine Stiefel anzog, griff er entschlossen an: »Verläßt du uns? Verläßt du tatsächlich ein Mädchen wie sie?« Gisèle brach in Tränen aus. Ians Lächeln war unerwartet, er zog die junge Frau an sich: »Verzeih mir«, sagte er, »weißt du, was ich damit meine?« »Was ist geschehen?« fragte Jonas. »Ich begehrte sie zu sehr«, sagte Ian leise, als wäre Jonas nicht da, »und ich bin nichts.« Warum sagt er das, fragte sich Jonas, und warum küßt er ihre Haare? Aber Ian war bereits draußen, bevor die anderen noch reagieren konnten. Auf der Straße stadtauswärts wurde er fast sofort von einem Wagen mitgenommen, und am Nachmittag war er am Meer.
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Nach der Eiseskälte der ersten Tage endete der April in Hitze; dennoch blieben die Villen geschlossen, und die meisten Hotels boten noch Vorsaisonpreise. Ian ahnte, daß er in diesen ausschließlich auf Sommervergnügen ausgerichteten Städtchen nichts finden würde. Nur dort, wo gespielt wurde, würde er einen Hehler auftreiben können, er dachte an die Rubine. Aus Vorsicht verzichtete er auf Hotels und vertraute auf das Glück, das bisher mit ihm gewesen war. In der ersten Nacht suchte er unter den Hochhäusern des Zentrums eines mit mehreren Hinterhöfen und wählte eine unbeleuchtete Fassade. Er schlief im obersten Stock auf einem Treppenabsatz. Im Morgengrauen stieg er vorsichtig hinunter. Die Morgenschatten waren von einem dunklen Blau, auf den Sträuchern, Bäumen und in den Hofschächten lag Nebel, und Ian hörte seine Schritte in der noch schlafenden Stadt widerhallen. Die am nächsten gelegenen Strände lagen verlassen da; nur in den Kurparks machten ältere Leute in der ersten Sonne ihren Morgenspaziergang. In der zweiten Nacht schlief er unter Pinien, doch weckte ihn die Nachtkühle und zwang ihn weiterzugehen. In den Dünen fand er eine geschützte Stelle. Am nächsten Tag ging er die Küste weiter hinauf, den Städten folgten nun Fischerdörfer. Hier wollte er sich für einen glücklosen Spieler ausgeben, der nicht in der Stadt zu bleiben vorhatte. So wäre der Verkauf eines Rubins möglich. Und einmal mehr war das Glück mit ihm. Gleich in den ersten Maitagen wurde die Küste innerhalb weniger Stunden überfallen, und das Leben veränderte sich. Die Explosion des Frühlings nach einem endlosen Winter warf die Jugend an die Strände, und innerhalb von zwei Tagen war das Meer von Segeln bedeckt, die von der Schönheit des Lichts von einem Ende des Horizonts zum anderen geschoben zu werden schienen. Abends erschütterte der Lärm der Tanzfeten die Nacht, um zu verhindern, daß die Freude innehielt, und zu sehen, wie sehr sie in den Sand geschrieben war. Ian fand ein abseits gelegenes Zimmer, in dem nur ein enges Bett stand, und die Dusche war ohne Vorhang; über einem steinernen Waschbecken hing ein Spiegel in der Form eines Herzens. Er kaufte sich Rasierzeug und verbrachte den Tag in der Sonne, wobei er sich zwang, erst auf der einen, dann auf der anderen Körperseite 183
unbeweglich liegenzubleiben. Die Farbe seiner Haut war Teil seines Plans. Er war bereits gebräunt, als er sich auf die Suche nach einem Händler machte und sich entschloß, den Stein einem Juwelier anzubieten. Er hatte sich nicht rasiert, atmete schwer, während der Mann eine Lupe an sein Auge klebte, und bemerkte die Strahlen, die die kleinste Bewegung im Rubin auslöste und die sich in den Augen des Geschäftsmannes fortsetzten. »Es ist ein Familienstück, sehr selten«, sagte Ian, »ich will es eigentlich nicht verkaufen, aber ich habe verloren und brauche Geld.« »Es ist schwierig...«, begann der Mann. »Dann gehe ich eben woanders hin, ich kann diesen Stein überall versetzen. Darüber hinaus ist mein Name eine Garantie.« Der Mann zögerte und zog dann ein Register hervor. »Entschuldigen Sie, aber der Form halber müssen Sie hier Ihren Namen in Druckbuchstaben aufschreiben. Ich biete Ihnen...« Er senkte die Stimme, als handele es sich um ein unanständiges Angebot. Ian hatte zu schreiben begonnen: »Ich will das Doppelte, letztes Angebot«, sagte er. »Sie wissen genau, daß Sie ein gutes Geschäft machen. Ein Stein aus der Renaissance.« Der Händler begnügte sich damit, die Scheine zu zählen; dann legte er sie auf den Ladentisch und warf gleichzeitig einen professionellen Blick auf das, was Ian geschrieben hatte: Der Name Adam B. ließ ihn den Kopf heben, und er legte die von Ian geforderte Summe vor ihn hin. »Ich hoffe, die anderen behalten zu können«, sagte Ian, »und Sie sollten mir Glück wünschen.« Der Händler dachte bei sich, daß man ein solches Lächeln wohl schwerlich vergessen konnte, und murmelte widerstrebend: »Viel Glück.« Als Ian fort war, schloß er den Rubin in einem Koffer ein. Im Mittelalter hatte man die Steine selten geschliffen, und dieser war makellos. Generationen hatten ihn geizig gehütet, damit ein junger Strauchdieb, anstatt sich hier mit Raum und Licht zu füllen, in eine Spielhölle ging und seine Seele verspielte. 184
Beim Hinausgehen fühlte Ian sich leichter; das Geld besitzt immerhin die flüchtige Tugend, die Freiheit größer und den Raum weiter zu machen, wenn man weiß, was es für all die falschen Werte darstellt, die man Gesellschaft nennt. In diesem Punkt hatten die letzten Monate Ian in nichts verändert, im Gegenteil, seine Revolte hatte sich vertieft. Sein unfreiwilliger Aufenthalt im Schatten einer Kirche hatte seinen Abscheu vor jedem Schein von Religion verstärkt. Seit seiner Kindheit rebellierte er gegen Hierarchien und Zwänge. Er hatte es zuerst in der Universität erlebt, und was er danach von der Armee, in den Kasernen und dem Lager, gesehen hatte, lief auf dasselbe hinaus: Überall mußte man zur Herde gehören, und alle Körper hatten ein Modell, dem man sich, so gut es ging, annähern mußte, bis zu jenem letzten Paradies, von dem die Menschen träumten, und das in Ians Vorstellung ein großes azurenes Maul war, das sich in ewigem Gähnen öffnete. Er brauchte jetzt Papiere, und in dem Trubel einer Vergnügungsstadt mußte es ein Mittel geben, sie zu beschaffen. Wenn er genug bezahlte, bekäme er vielleicht sogar einen echten Paß, es war die einzig mögliche Lösung. Zunächst hatte Ian sich alles anders vorgestellt, aber sich als blinder Passagier einzuschiffen und den Golf zu überqueren, nützte, falls er überhaupt an Bord gelangte, gar nichts. Auf der anderen Seite, im Ausland, würde eine Untersuchung stattfinden, und wenn die Behörden ihn als Deserteur oder Kriminellen zurückforderten, würde er ausgeliefert, und das Gespenst des Lager Null richtete sich vor ihm auf. Zunächst kaufte er in einer Boutique einige Hemden, zwei schwarze Hosen und eine leichte Jacke, danach eine Reisetasche, Unterwäsche, Socken und eine Straßenkarte. Dann ging er in das Zimmer zurück, das er gemietet hatte. Während seiner Abwesenheit war saubergemacht worden, aber vor allem hatte er das Gefühl, daß jemand, mißtrauisch gemacht durch das Fehlen jeglichen Gepäcks, in seinem Zimmer geschnüffelt hatte. Er ging zu seiner Vermieterin und bezahlte für zwei Wochen im voraus. Die Augen in dem ein wenig flachen Gesicht der Frau waren klein und inquisitorisch, und die strohigen Haare fielen auf eine weiße und weiche Haut. Ostentativ warf er seine Tasche über die Schulter. In seinem Zimmer zog er sich um und schnürte seine alten Sachen zu einem 185
Bündel, um sie wegzuwerfen. Dann fuhr er mit einem Bus, der der Straße durch Kiefernwälder folgte, zu den weiter im Süden gelegenen Stränden. Den Nachmittag verbrachte er wie den vorangegangenen in der Sonne; er begann, die Körper um sich herum zu betrachten, wie ein Ertrinkender das feste Land. Auf der anderen Seite der Dünen war ein Strandstück ausschließlich für Frauen reserviert, und von dort, wo er sich ausgestreckt hatte, sah er vor dem Hintergrund des Meeres die nackten Silhouetten einiger Mädchen, die ausgelassen hintereinander herrannten. Später, dachte er, wenn die Sonne in die niedrigen Schatten der Dämmerung fiel, wäre alles möglich. Aber er konnte nicht lange genug bleiben, die Kälte vertrieb ihn. In der Stadt brannten die in der Sonne verbrachten Stunden auf seiner Haut, bestrahlten ihn mit derselben Hitze, die die Begierde in ihm selbst nährte. Er suchte ein Restaurant, in dem sich junge Leute aufhielten, und sah plötzlich Jörg, André und zwei Mädchen, die er nicht kannte, aus einem Wagen steigen. Mit hämmerndem Herzen versteckte er sich hinter einem Auto. Nachdem die Gefahr vorbei war, hatte Ian Angst, noch weitere ihrer Freunde zu treffen, ohne dabei an Catherine oder Adam zu denken. Er nahm den Bus und fuhr in die nächstgrößere Stadt, wo er sich im Gewühl der Menschen verbarg. In den folgenden Tagen ging er zu den einsamer gelegenen Stränden im Norden. Als ein kleiner Trupp von Soldaten über die Dünen stieg, fuhr ihm der Schreck durch Mark und Bein. Ian lag mit dem Herzen auf dem Sand und war darauf gefaßt, gerufen, hochgezogen und verhaftet zu werden, aber die Soldaten zogen sich wenige Schritte von ihm entfernt aus und rannten ins Wasser. Als sie zurückkehrten, hatte Ian sich nicht gerührt, er stellte sich schlafend und sah zwischen den Augenwimpern, wie sich die jungen Körper in Lachausbrüchen bogen. Einer von ihnen zeigte auf Ian und sagte: »Der da endet als Krebs im Kochtopf.« Und beim Weggehen machten sie alle eine Bemerkung über die Formen seines Körpers.
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Wohin sollte er gehen? fragte sich Ian. Er entschied sich, der Küste noch weiter zu folgen, in Richtung der schmaleren, zwischen den Pinienwäldern und dem Meer gelegenen Strände. An einem Spätnachmittag traf er auf Mädchen, die sich damit vergnügten, durch die Brandung zu laufen und sich mit Wasser zu bespritzen. Plötzlich tauchte er vor ihnen auf, doch sie erschraken nicht und machten nicht einmal den Versuch, ihr Geschlecht zu verbergen, nur eine von ihnen legte einen Arm über ihre Brust, die anderen rührten sich nicht. Eine Sekunde lang schloß er die Augen, er war unfähig, ein Wort zu sprechen, der ihm wohlbekannte Schraubstock preßte seine Kehle diesmal so stark zusammen, als wäre er ein Mann, der ihn erwürgen wollte. Auf dem Sand zog er seine Kleider aus, sie betrachteten ihn aufmerksam, doch behielt er die Badehose an und legte plötzlich seine Stirn auf die Arme. Eines der Mädchen näherte sich, legte seine Hand auf ihn und streichelte seinen Nacken. Die beiden anderen hatten sich bei der Taille umfaßt, und als Ian den Kopf hob, entfernten sie sich. Vor dem Gesicht hatte er das Geschlecht des jungen Mädchens, einen dunkelblonden Busch, auf dem sich ein leichter Schatten wölbte. In seinen Schläfen begann das Blut so stark zu hämmern, daß er glaubte, es sei das Geräusch des Mädchens, das sich jetzt öffnete, um ihn zu verschlingen; die seltsame Sanftheit, die seit dem ersten Mal, da er als kaum Jugendlicher die körperliche Liebe entdeckt hatte, immer in ihm gewesen war, erfüllte all seine Gesten, er drückte seinen Mund auf das Fleisch, und ihre Hand hörte auf, seinen Nacken zu streicheln. Dann, als er mit kleinen Stößen die Grotte leckte, in der sich sein Schicksal verbarg, drückte sie mit ihren beiden Händen auf den Hals des Unbekannten. Ian ließ es geschehen, mit der Sinnlichkeit eines jungen Tieres rieb sie sich an seinem Gesicht, dieser Junge war ihre Beute, und bald drückte sie ihn auf den Sand zurück und legte sich auf ihn. Er drang weniger in sie ein, als daß sie sich des Geschlechts des jungen Mannes unter ihr bemächtigte, wobei sie ihm ins Gesicht biß, seine Haare packte und, immer noch über ihm aufgerichtet, seinen Kopf hochzog, bis er an ihren Brüsten saugte. Dann begann sie ihren Lustritt, überschwemmte ihn mit Nässe und knetete seine Schultern. Das einzige, was er ihr entzog, war sein Mund, 187
sie konnte mit ihrer Zunge noch so sehr darüberfahren, er nahm die Lippen nicht voneinander, und aus Rache begann sie, über seine Arme und Brust zu kratzen, wobei sie in der Abenddämmerung immer lauter schrie. Die Natur hörte diese wilde und weibliche Klage, die das immergleiche Geräusch des Meeres übertönte und die genauso düster klang wie Mördergeschrei. Sofort danach erhob sie sich; als Ian sie in seine Arme nahm und mit aller Kraft an sich drückte, machte sie sich los. »Bleib«, murmelte er, »bleib...« Lachend stieß sie mit den Händen sein Kinn zurück: »Morgen«, sagte sie und lief lachend bis zu den Wellen, dann sah er sie in den Dünen verschwinden. Am nächsten Tag, in der Abenddämmerung, war sie da. Er hatte sie eine Weile beobachtet, um sicherzugehen, daß sie allein war, und sie lag nackt ausgestreckt am selben Platz wie tags zuvor. Er hatte kaum Zeit, seine Kleider auszuziehen, als sie sich schon an ihn klebte; stehend unterwarf sie ihn mit derselben Raserei wie am Vortag ihren Launen, und wie am Vortag ließ er sich führen, verwirrt von der verliebten Lüsternheit dieser Mänade. Mehrere Tage vergingen, ohne daß sie ihm eine Minute mehr gewährte, als ihre Lust dauerte, aber sie erwartete ihn, und ihre Schamlosigkeit wuchs mit ihrer kurzen Intimität. Er wußte ihre Sinne entflammt und beugte sich ihren Forderungen, eines Abends wollte sie, daß er sich auf den Bauch legte, sie streichelte sich auf seinem Rücken, rieb ihr Geschlecht auf seinem Gesäß und genoß ihre Lust auf eine langsame und geheimnisvolle Weise; in dieser Nacht ließ sie ihn hungrig zurück. Er nahm alles Echo ihrer Schreie in sein Zimmer mit, das seine Vermieterin noch immer durchstöberte, doch das war ihm mittlerweile egal. Der Mai schritt voran, und die Nächte wurden wärmer; immer mehr Sterne und leuchtende Konstellationen wurden mit vollen Händen in den schwarzen Himmel geworfen; in der Dämmerung sangen die Vögel lange, und das Meer erstrahlte um Mitternacht, für wenige Augenblicke, in einem hellen Glanz. Mittlerweile badeten sie nach der Liebe; ihre Körper waren mit Hitze gefüllt und von einem Schimmer umgeben, wenn sie ins Wasser traten. Sie liebten sich im Meer noch einmal, und sie hatte ihren Spaß daran, ihn so zärtlich zu sehen. Ihre beiden Freundinnen gingen stets fort, wenn 188
er da war, aber sie erzählte ihm, daß sie sich, bevor er gekommen war, manchmal alle drei in den Dünen vergnügten, wenn sie nachmittags alleine waren. Die Jungen behandelte sie wie ihn, doch war er ganz neu für sie, und sie wollte ihn aussaugen. Dennoch liebte sie seinen Körper, überall, und selbst die Stellen, die nicht für Mädchen bestimmt waren, unterwarf sie ihren Forschungen und zwang ihn, alle Zärtlichkeiten, die ihr in den Sinn kamen, zu erdulden. Warum küßte er sie nie auf den Mund? Warum hielt er ihn immer geschlossen? Hatte sie etwa einen häßlichen Mund? Sie öffnete ihn und zeigte kleine Wolfszähne. Ein Versprechen? War er verliebt? Nach und nach wurde ihm klar, daß sie, die ebenso starrköpfig wie glatt war, sich in ihn verliebt hatte, und wie Papier klebte an ihren hohen Wangenknochen das Bild einer vollkommenen Starrsinnigkeit: diese Verliebte würde ihn nicht mehr loslassen. Wo lebte er? Was machte er an der Küste? Ferien. Wo? Warum kam er so spät? Wie hieß er? Wohnten seine Eltern im Süden? Bekam er Geld von der Familie? Hatte er Geschwister? Es reiche nicht aus, daß er sich mit seinem Jungengerät abends an einem Strand nett benahm, er müsse sich nun entschließen, offen zu leben. Er sei ein Mann! Zusammen mit ihren Freundinnen würde sie einen Grund für sein Kommen in ihr Dorf organisieren. Ihre Eltern würden ihn aufnehmen, sie waren vermögend. Als sie begann, von dem Ort zu sprechen, an dem er sich offensichtlich versteckte – lachend benutzte sie dieses Wort –, sah er sich verloren. Es war eine mondlose Nacht, die Sterne schimmerten dunkel, die Zwillinge stiegen den Horizont hinab, und der Siriusbogen schien auf sein Herz zu zielen; er entschloß sich, sich ihrer zu entledigen. Da sie seit langem wissen wolle, wo er lebe und wer er sei, würde er es ihr in dieser Nacht zeigen. Sie könne ein wenig später zurückkehren. Er zog sie mit sich auf die andere Seite der Dünen in einen Birkenwald. Als er sie auf einem kleinen Pfad vor sich hergehen ließ, sahen die Bäume aus wie Komplizen. In dem aschfahlen Licht sah man fast gar nichts mehr, nur die hellen Stämme der Birken schimmerten wie junge, glatte Körper. Er zögerte nicht, oder besser, seine Hände zögerten nicht, als er sie von hinten um den Nacken packte; trotz der Kraft des jungen Mäd189
chens, die an Luft und Meer gewöhnt war, zwang er sie nieder und warf sie auf den Boden. Sie stieß gutturale Laute aus, schlug mit Armen und Beinen, aber er preßte unerbittlich, bis sich ihr Mund auf dem Boden öffnete wie ein Fischmaul auf dem Sand. Schließlich spürte er, wie der Knorpel ihrer Kehle unter seinen Fingern nachgab, und die Stille der Nacht war vollkommen. Es war noch dunkler geworden. Das Verbrechen als Selbstmord zu tarnen kam ihm für eine Sekunde in den Sinn, aber es war nutzlos. Um die Nachforschungen zu verlangsamen, würde er in die Dünen zurückkehren und ihre Kleider dort wegwerfen; vermutlich würde man zunächst annehmen, sie sei ertrunken. In diesem Wald bestand die Gefahr, daß sie sehr schnell gefunden wurde, sofern er nicht ein Loch abseits vom Weg fände. Im Unterholz lag noch Herbstlaub, doch hatte der Winter so gewütet, daß es geschwärzt und zerstückelt dalag. Er zog den Körper bei den Füßen, wobei ihr Gesicht von Wurzeln verschrammt wurde; in einer Bodenwelle bedeckte er sie mit allem, was er an Stöcken, Zweigen und Laub zusammentragen konnte. Er zog ihr die Sandalen aus, zerriß den Rock und brachte die Sachen in die Dünen. Und dort entdeckte er dann den versteinerten Wald, den die Dünen Jahr um Jahr, Zentimeter um Zentimeter freigaben. Aus dem hellen, beinahe rosafarbenen Sand ragten einzig die schwärzlichen Stämme von Pinien auf, die ein jahrtausendealter Sand mit einem Schlag bedeckt hatte; in dem Boden zu graben war schwierig, aber Ian sagte sich, daß niemand dort suchen würde. Ohne zu zögern ging er in den Wald zurück und nahm den Leichnam auf die Schulter. Schweiß rann über seinen Körper wie aus einer Quelle, als er ihn schließlich auf den Boden legte. Mit einem versteinerten Ast, der mehrmals abbrach, schob er Sand beiseite, und bald war genug Platz für den Körper; glücklicherweise verbarg ihm die Nacht seine Arbeit, als er die Kuhle zuschüttete und mit dem Fuß glättete. Ohne eine Menschenseele zu treffen, ging er, so weit er konnte, über die große Straße zurück, erreichte dann über den Strand sein Zimmer und stopfte trotz seiner gespannten Nerven sämtliche Sachen in seine Reisetasche. Er rasierte sich sorgfältig und ging dann zu seiner Vermieterin; zwar fehlten an den zwei Mietwochen 190
noch zwei Tage, doch wolle er, um dem Rückreiseverkehr zu entgehen, schon heute nach V. zurück. Die kleinen Augen sahen ihn scharf, undurchdringlich und unerbittlich an, wobei sie die Abreise gegen die beiden zuviel bezahlten Tage abwogen, Nein, er wolle keine Rückerstattung, es sei schon gut so. Die Vermieterin bat ihn danach, seinen Namen auf ein Papier zu schreiben, wegen der Steuer, erklärte sie, und ohne zu zögern schrieb er Michel und den Familiennamen Adams. Er tat so, als wolle er mit dem Bus abreisen, ging zur Haltestelle, stieg ein und verließ den Bus an der nächsten Station, im Durcheinander einer Gruppe Jugendlicher, die einstiegen. Über Nebenstraßen gelangte er in den Norden, wobei er sich vom Meer entfernte, ging unaufhörlich und hielt mehrere Male Autos an, die ihn ein Stück mitnahmen. Am Abend war er wieder auf dem Land, wo er in einem Flüßchen seine alten Kleider versenkte. Als er die Karte studierte, sah er, daß er sich näher an seinem Versteck befand, als er geglaubt hatte; er mußte nur noch ein Seengebiet, in dem nur wenige Dörfer lagen, durchqueren. Er war es gewohnt, unter freiem Himmel zu schlafen, der kleinste Schutz genügte ihm, vor allem im Wald, und die nahegelegenen Sümpfe hielten aufgrund ihres Gestanks in dieser Jahreszeit die Jäger fern. Am nächsten Tag nahm er Querwege, er wußte mittlerweile, wie er sich in dieser aus Wasser und Land gemischten Weite bewegen mußte. Aufgrund seiner Erschöpfung verzichtete er darauf, große Strecken zurückzulegen. Er beschloß, einige Zeit an einem einsam gelegenen See zu verbringen. Auf einem Bauernhof kaufte er Lebensmittel, und in einem etwas weiter entfernt liegenden Dorf gab er sich als Student aus, der einen Job in der Heuernte suchte. Auf diese Weise trug er zusammen, was er brauchte, einen Kocher, eine Decke, als würde er am See zelten. Dennoch zog er den Wald vor, er fühlte sich dort sicherer und entdeckte in den Baumstämmen eines Waldhügels Bienenstöcke. Mit Geduld und Feingefühl gewöhnte er die Bienen an seine Anwesenheit, bis er ihnen mit einem flachen Stöckchen etwas Honig stehlen konnte. Als die Tage noch länger wurden, faßte er sich ein Herz und ging in größeren Dörfern spazieren. Schon verloren die Bäume ihre 191
Blüten, und in den Obstgärten lief man über trockenen Schnee. Der Atem von Flieder erfüllte den Schatten der Scheunen, entlang der Zäune blühten ganze Büsche und warfen Ian ihren sinnlichen Geruch obszön ins Gesicht. Der riesige, perlmuttfarbene Vollmond stieg über die Bäume und roten Dächer in einen blauschwarzen Himmel, der in seiner Tiefe die Frühlingshimmel von Jahrhunderten in sich gesammelt hatte; er schien wie ein Abgrund und war dennoch warm und persönlich für denjenigen, der ihn betrachtete, bis er sich darin verlor. Als Ian den Kopf in den Nacken legte, um seine Lungen mit dem nächtlichen Duft zu füllen, sah er das Mädchen in ihrem Sandbett wieder, und unter den toten Sternen stellte er sich ihre offenen Augen vor. Er fühlte keine Reue, um zu leben war er bereit, die ganze Welt zu töten, das Wort Feigheit hatte keine Bedeutung für ihn, da es nur einen Sinn ergab für Leute, die an diese Art Werte glaubten, aber die Liebe, die seine Natur selbst war, die in seinem Fleisch wie eine Substanz verankert war, die stille Liebe, die in seiner Kehle, in seinen Armen, in seinen Träumen wachte und in seinem Herzen schlief, machte ihm den Akt des Hasses zum Vorwurf. Er mußte den anderen nachgeben, wenn die anderen es auch wollten. Mochte sein Geist sich auch auflehnen, sein Körper war ihnen ausgeliefert. Er war weder Herr über seine Blicke noch über sein Lächeln, durch sie drang die Welt in ihn ein, und durch sie gehörte er ihr, wehrlos. Dies erklärte seine plötzlichen Demutsanfälle und seine körperlichen Niederlagen zu Füßen von Catherine, vor Adam, vor den anderen Freunden, vor jenen, die ihn verhaftet hatten, während der Reise mit dem jungen Sergeanten, im Lager, als der Chef ihn geschlagen hatte und als die Häftlinge versucht hatten, ihn zu vergewaltigen, als die Wachen ihn geschlagen hatten, später mit dem Mädchen in P. und dann mit jener, die er erwürgt hatte. Und alles, was er noch kennenzulernen hatte, gab ihm schon jetzt seine künftigen Niederlagen ein. Samstagabends wurde in den Dörfern getanzt; man trank leichten Alkohol und Honigliköre. Die jungen Leute tanzten Auge in Auge, lachend Gesicht an Gesicht, und die Älteren, die bereits gelebt hatten, legten die Wangen aneinander und schlossen die Augen, als versuchten sie unter ihren Lidern entflohene Träume von Unschuld oder Glück wiederzufinden. Ian war willkommen, er 192
tanzte fast niemals, sagte fast nichts, aber sein Körper war warm, und seinen Worten zufolge war er allein und war es nicht, stets schien er von einem geheimen Ich begleitet zu werden, einem Zwilling, der aus ihm heraustrat und einem den Wunsch eingab, diesen Unbekannten gleichzeitig zu berühren und zu fliehen. Er hatte Abenteuer, Liebesnächte unter den Sternen, in den Feldern oder unter Kirschbäumen, aber es war fast immer nur für ein einziges Mal, denn seine Liebe war an der Grenze zur Gewalt, und die Mädchen, die aus seinen Armen kamen, hatten Angst vor dieser brutalen Leidenschaft. Dennoch behielten sie etwas Verträumtes, und ihre Freundinnen wollten ebenfalls ihr Glück versuchen. Die Jungen reagierten böse, es gab Ohrfeigen für die Mädchen und Faustschläge untereinander, aber Ian blieb dem, was geschah, fremd. Mehrmals suchte er in den Zeitungen nach Nachrichten von der Küste, doch brachte die Zeit nichts, was ihn hätte beunruhigen können. Mittlerweile erfüllten die süßen Blüten der Linden die Dämmerung mit ihrem Duft, die Hasen schlugen Haken im Korn, und unter den Eichen bemerkte Ian den regelmäßigen Trab einer von ihren Jungen gefolgten Bache. Niemand wußte wirklich, wo er schlief, auf den einzelnen Bauernhöfen glaubte man, er schliefe auf einem anderen. Seine Zuflucht war eine erst wieder im Herbst genutzte Waldhütte, aber nur während der wenigen Stunden, in denen ein vom Westwind herangetragener Regen niederging, schlief oder träumte er in der Hütte. Die meiste Zeit nächtigte er unter den Pinien am See, und wenn er unter dem schönen, dunklen Himmel nach einem Liebesabend heimkam, goß alles, das dumpfe Plätschern des Wassers, das kaum hörbare Murmeln des Waldes, der Schrei einer im Schilf träumenden Wildgans, neue Unruhe in seinen Körper. Zuweilen auch erlebte er aufrecht stehend und nackt unter den Pinien noch einmal vergangene Liebesmomente und begann allein im Morgengrauen sanft zu stöhnen. Fast immer warf ihn die Lust auf die Knie. Er liebte es dann, unter den Pinien zu seien, deren braune, fast gräuliche Rinde unten rauh war, weiter oben glatt und rötlich und noch weiter oben rosa und eben wie eine unerreichbare Haut. Die Einsamkeit zwang ihn zum Nachdenken. »Deine Hände haben getötet« bedeutete dennoch nichts anderes für ihn, als daß er 193
sich um jeden Preis retten mußte, wenn der Leichnam eines Tages gefunden wurde. Kein böser Traum suchte ihn heim, in seinem Schlaf sah er nur einen Abgrund, in den er jede Nacht unaufhörlich fiel. Dies dauerte bis zu dem Moment, da er die Augen aufschlug. Er erinnerte sich nicht, außerhalb seiner körperlichen Kämpfe je Liebesworte gehört oder ausgesprochen zu haben. Die Jahre an der Universität entrückten in die Vergangenheit eines anderen Selbst, der Ian von damals war ein von ihm abgetrennter Ian gleich jenen Hampelmännern, wie Kinder sie ausschneiden und die nur durch die Füße verbunden sind, so daß der Schnitt einer Schere sie durchtrennen kann. Genau dies war die Geburt, ein durchschnittener Nabel, und das Kind begann seine einsame Odyssee auf dem Ozean des Todes. Einzig das Kind war Leben, alles andere wollte es nehmen und es verlieren. Ian, sagte sich Ian, du bist verloren.
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24. Ohne Ergebnis kehrten sie aus dem Norden zurück und fuhren ohne ersichtlichen Grund die Küste hinunter, um nach V. zurückzukehren. Dennoch verlor der Leutnant nicht den Mut. Andrei war sicher, daß Ian lebte; auf was gründete sich diese Gewißheit, auf welche Beweise, welches Indiz? Wahrheitsgemäß hätte er nur antworten können: »Auf mein Herz.« Es war seltsam für ihn, diese geheime Liebe zu entdecken, in die nichts anderes einfloß als ein unkontrollierbares Gefühl, das aber stärker war als alles, was die Liebe der Frauen ihm gebracht hatte, stärker sogar als eine erfüllte Leidenschaft wie die von Catherine. Schließlich wünschte er Ian sogar tot, um diesen unsichtbaren Leichnam nicht weiter in sich tragen zu müssen, der aufdringlicher war als ein auf dem Boden liegender toter Körper. Ian zu sehen würde ihn exorzieren, wenigstens eine Zeitlang. Was war diese Liebe, und warum hatte das menschliche Herz weder Grenzen noch Schranken? Begann das Schicksal in einem Blick, und wo endete es? Andrei antwortete: »Niemals«, welches Schicksal diesem Fleisch auch immer bestimmt war, die Gefühle und Träume veränderten sich nicht; sie überschwemmten sogar den Schein der Zeit, das, was man Alter, Gedächtnis, Vergangenheit nennt, mit ihrer unsterblichen Jugend. Ich bin fürs Leben verletzt, dachte der Leutnant schließlich, und das Wort Leben berauschte ihn, wenn er allein war. Von der Küste aus rief er seinen Vorgesetzten an; dieser hörte ihn in tiefstem Schweigen an und befahl ihm dann, für einige Tage zurückzukehren. Die drei Männer solle er in der nächstgelegenen Garnison am Ort warten lassen. Die Untersuchung werde fortgesetzt, der Leutnant müsse sich jedoch wegen einiger verwirrender 195
Details mit dem Generalstab in Verbindung setzen. Der Ton war freundlich, Andrei fühlte sich schuldig, es war die Unruhe, daß ein anderer Ian gefunden haben könnte. Dann begriff er wirklich, daß er Ian nur finden würde, um ihn zu verlieren, das hieß, um ihn zum Tode zu verurteilen. Was würde er tun, wenn sie sich plötzlich Auge in Auge gegenüberständen? Er weigerte sich, daran zu denken, aber das Unmögliche würde in diesem Moment geschehen... Im Dorf hatte man die Abwesenheit des Eremiten genutzt, um die Holzvorräte im Schuppen zu erneuern, ein neues Bett aufzustellen, die Fenster zu putzen und die Wasserpumpe zu reparieren. Man hatte es nicht gewagt, die Bücher oder die Ikone anzurühren, aber ein großer Holzzuber sowie einige weitere Utensilien verwandelten das Elend der Küche in Armut. Außerdem hatte man auf der Veranda lange Geißblattranken aufgehängt und weiße Wäsche für denjenigen bereitgelegt, dessen Rückkehr sehnsüchtig erwartet wurde. Drei Monate waren vergangen, man hatte erfahren, daß er sich in den Wäldern und Sümpfen aufhielt, das Gesicht noch immer mit seinem hellen Tuch bedeckt, und so ging er im Bewußtsein all jener, die ihn gesehen hatten, dahin und warf seinen hellen Schatten auf ihr Leben. Adam erhielt einen Telefonanruf von Andrei. Drei Tage, er sei nur für drei Tage da! Was erwarte er denn? Sie würden nicht schlafen, drei Tage seien drei Tage ohne Nacht, das Fest warte, alle Freunde würden kommen, Catherine sei in einer Stunde zurück, man müsse ihr eine Überraschung bereiten. »Komm, ich laß dir ein Bad ein, du kannst auch duschen, was immer du willst, zieh einen Bademantel an oder was du willst, du hast uns gefehlt. Ja, gefehlt, gefehlt...« Andrei mußte den Hörer von sich weghalten, denn Adam weinte vor Freude. Der Nachmittag war traumhaft, Catherine war nackt, und Adam hätte bleiben können, es spielte keine Rolle mehr, denn schließlich waren sie seit drei Wochen verheiratet; Adam wollte sie das erste Mal jedoch allein lassen. Sie hätten die ganze Nacht, sagte er, und er erwarte sie mit Vorfreude. Nach einem langen Liebesakt, der 196
Andrei erschöpft hatte, gestand Catherine ihm, daß sie nur noch die Zärtlichkeiten Adams kannte und daß sie die tiefen männlichen Stöße in sich brauche, um sich lebendig zu fühlen. Der Abend ging unter in Champagner, zahlreiche Freunde kamen auf das Fest, begannen zu rauchen und sich Spritzen zu setzen, und Adam stellte sämtliche Zimmer seines Hauses zur Verfügung. »Amüsiert euch so gut, wie ihr könnt, heiratet euch, macht heldenhafte Kinder, wenn ihr könnt, es lebe die Liebe...« Die Nacht beendeten alle drei bei Catherine. »Jetzt, wo du der Liebhaber meiner Frau bist, werden wir in einem Bett schlafen.« Adam schämte sich nicht mehr, da zu sein. Er war schöner geworden, bemerkte Andrei, als sie sich auszogen, und später, als er in Catherine eindrang, störte ihn Adams Gesicht neben ihnen nicht, Adam küßte den Mund seiner Frau, während er ihre Brust küßte, und plötzlich legte sich Adams Mund auf seinen, und er entzog sich seinen heftigen Küssen nicht, dann brachte Adam ihre drei Gesichter zueinander, und abwechselnd fuhr seine Zunge in den einen und anderen Mund. Als er sich in Catherine bewegte, fühlte er Adams Hand auf seiner Schulter, sie schien ihn zu stützen und ihm die Kraft eines zweiten Körpers zu geben. Anstatt sofort danach zu schlafen, nahm er ein Bad: Was er im Generalstab erfahren hatte, verwirrte ihn, und er wollte ungestört darüber nachdenken. Man hatte das Verschwinden eines jungen Mädchens angezeigt, das von ihren Freundinnen nicht mehr gesehen worden war, nachdem sie einige Zeit mit einem jungen Fremden ausgegangen war. In den Dünen, wo die beiden sich getroffen hatten, waren Kleidungsstücke gefunden worden, aber keinerlei Spur des Unbekannten. Die Nachforschungen in den Hotels hatten nichts ergeben, im Moment verhielt man sich noch zurückhaltend und wartete auf weitere Informationen. In einer Luxusboutique hatte der junge Fremde eine Reisetasche und Kleidung gekauft, aufgefallen war, daß er korrekt, aber ärmlich gekleidet war und daß er mit großen Banknoten bezahlt hatte, wie jemand, der beim Spiel gewonnen hatte. Im Kasino am Meer und anderen Spielerkreisen, in die ein Unbekannter nicht hereinkam, war er nicht bemerkt worden. Wäre er dort gewesen, wäre er den auf Gesichter spezialisierten Croupiers und Türstehern bestimmt aufgefallen. In den kleineren Sälen, 197
zu denen jedermann Zutritt hatte, wurde nicht um große Summen gespielt; was die Inhaber illegaler Spielhöllen betraf, so hatte die Drohung mit einem Lager und dann das Versprechen, Nachsicht zu üben, wenn sie ihre sogenannten Register offenlegten, keine Spur ergeben. Niemand ging dort mit mehr Geld weg, als er mitgebracht hatte, darauf achtete man. Sollte er an das Kasino gedacht haben, mußte der Fremde Angehöriger der Gesellschaftsschicht sein, der alles erlaubt war; die Freundinnen der Vermißten hatten ihn nur vage beschrieben, von nahem hatten sie ihn lediglich am ersten Abend gesehen, doch weil es am Strand gewesen war, erinnerten sie sich nur an seinen Körper. Über seine Augen und Gesichtszüge konnten sie keinerlei Angaben machen, und auch das, was Maryan, die Tote, ihnen von ihm erzählt hatte, hatte mit seinem Gesicht nichts zu tun. Während des Festes hatte Jörg ihnen erzählt, daß er gerade von der Küste komme und noch niemals nach einem Winter eine solche Explosion erlebt habe: Am Strand wurden öffentlich Drogen verkauft, und seit Anfang Mai waren sie überall zu riechen. Eine Art Raserei hatte die Körper aller Alter und Geschlechter befallen; eines Nachts hatte er inmitten einer Runde von Leuten, die mit den Händen klatschten, verheiratete Männer gesehen, die sich Transvestiten hingaben. All diese Leute waren voll mit Drogen, übervoll und hysterisch. Jörg hob seinen Champagnerkelch: »Auf das Ende der Welt, denn all das gehört wohl zu den Vorzeichen. Fehlt nur noch das Wiedererscheinen des Einhorns, das Herunterfallen von Sternen und die massenhafte Ausbreitung religiöser Sekten...« Dann, in Adams Bibliothek, hatte Andrei bemerkt, daß das Foto von Ian verschwunden war. »Sieh an, fehlt da nicht ein Bild?« »Ja, der Rahmen ist heruntergefallen, es ist in Reparatur«, antwortete Adam. Und Andrei wagte nicht, ihn zu fragen, warum das Bild in einer Akte des Generalstabs auf Reparatur warte...
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25. Der Juni endete in einer Flut von Rosen; nach den blühenden Linden berauschte ihr einfacher Geruch die Nächte. Die Mauern wankten unter den Kletterrosen, die Hecken unter den wilden Rosen, und über den Gartenzäunen öffneten sich die Augen der Stockrosen. Als besäße jede Farbe ihr eigenes Parfüm, verströmten sämtliche Nuancen von Rosa, Weiß und Gelb die süßesten Wohlgerüche. Die schönsten aber waren die Veilchenrosen; sie waren berockt wie die alten Frauen vor sämtlichen Kriegen, und ihre Blätter fielen bei der leisesten Brise melancholisch herab. Und dann waren da noch die Büsche von roten und starken Rosen, die wie Soldaten auf ihrem Stengel leuchteten. Im Juli war das Land ausgetrocknet, sogar die fetten und schwarzen Böden des Nordens. Die Sonne schüttete ihr Feuer auf die roten Dächer des Dorfes und auf die Holzhäuser, und die Nächte waren so warm, daß die Seen nicht einmal mehr in der Morgendämmerung dampften. Eines Tages hörte Ian auf einem Ball, wie von einer Untersuchung gesprochen wurde; ein Soldat auf Urlaub erzählte, daß es an den Grenzen Durchsuchungen gegeben habe, nachdem ein aus der Hauptstadt gekommener Leutnant dagewesen sei. Der Student war seines augenblicklichen Lebens überdrüssig, und da er im Moment nicht entkommen konnte, betrachtete er das Vermögen, das er besaß, wie einen ironischen Wink des Schicksals: Du konntest weggehen, du hattest nichts. Ich gab dir die Mittel dazu, und jetzt weißt du nicht mehr, wo der Ausgang ist. Und was hast du gemacht? Die Küste ist gefährlich, auf der Karte deiner Hoffnung hast du eine ganze Gegend ausgestrichen. Geh, geh zurück, denke neben dem Grab, welches du geplündert hast, darüber nach. Dort 199
erwartet dich eine neue Idee. Ian hörte diese Stimme des Wahnsinns, faßte aber nach und nach tatsächlich die Rückkehr zu seinem Ausgangspunkt ins Auge. Jetzt, wo er die Mittel hatte, alles zu kaufen, was er wollte, würde er seine Fluchtpläne neu überdenken. Der zweite Rubin würde ihm später, zusammen mit den anderen Steinen, die er holen mußte, im Ausland nutzen. Vermutlich verbargen die anderen Gräber weitere Schätze, und er würde sich die Zeit nehmen, sie systematisch auszubeuten. Die Einfältigkeit der Mönche machte ihm die Sache in gewisser Weise leichter, und in diese Gedanken schob sich das Bild des jungen Roman. Ians Herz zog sich zusammen: Wenn die Engel existierten, so mußten sie diesem Jungen ähneln, und seinetwegen konnte man vergessen, was die Kirchen an Scheinheiligkeit, falschen Ideen und Lügen in sich trugen. Ende Juli verließ er den See und ließ Kocher und Decken bei den Bauern zurück. Nachdem er in der freien Natur über alles nachgedacht habe, sagte er, wolle er zu seiner Familie zurück und die ihm vorgeschlagene Laufbahn akzeptieren. Bevor er wegging, kletterte er noch einmal auf den Hügel zu dem Bienenstock, er hatte einen Arm voll Rosen gepflückt, die Bienen flogen um ihn herum und fügten ihm keinerlei Leid zu, als er die Blumen für sie niederlegte. Er sprach wie gewöhnlich mit ihnen, aber diesmal, um ihnen von seinem Fortgang zu erzählen, und einige begleiteten ihn eine Weile, als er sich entfernte. Zum letzten Mal sah er beim Hinabsteigen zwischen den Buchen den See; seine Oberfläche imitierte den bleichen Himmel zwischen den schwarzen Lärchen und den riesigen Kiefern wie eine lichte Leere, und in den Schneisen, die auf das Blau der von der Hitze verwischten Hügel blickten, sah er den kirschfarbenen Glockenturm neben der vergoldeten Spitze der Dorfkirche, und noch näher, fast zum Berühren, verdoppelt in der Tiefe des ruhigen Wassers, einen Reiher und sein Spiegelbild, die in vollkommener Lautlosigkeit fischten. Dieses Bild sollte ihm lange folgen. Ich verlasse die Freiheit, dachte er, und das freie Leben umspielte ihn mit dem Summen der Bienen, dem in der Sonne schillernden Weg und der geheimnisvollen Vibration seines Blutes in seinen Gliedern und seinem Kopf, während er ging.
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Auf der Landkarte hatte er den kürzesten über Nebenpfade führenden Weg ausgemacht. Die Orientierungspunkte waren verwaschene, von Strahlenaureolen umgebene Holzkreuze, die an Weggabelungen und verlassenen Feldern standen. Er ging an Flüssen entlang und verlor sich mehrere Male in grasüberwucherten Sackgassen. Diesmal vermied er einsam gelegene Bauernhöfe, sondern ging, wenn er Hunger hatte, in kleine Ortschaften und kaufte dort Brot und Früchte. Er vermied einzig die Städte, auch wenn sie noch so klein waren. Schließlich tauchten die Klippen, in denen sich sein Versteck befand, vor ihm auf, doch war er noch auf der anderen Seite des Flusses. Obwohl es Sommer war, schien die Strömung stark, das Wasser glitzerte wie Glimmer. Er folgte der Uferböschung und sah auf der anderen Seite, dort, wo er hinwollte, einen Weg, der in den Fluß hinabführte; in dessen Mitte befanden sich an dieser Stelle Sandbänke. Als er auf seiner Uferseite weiterging, gelangte er zu demselben Weg, einem kleinen Pfad, der geradewegs ins Wasser führte. Es war eine Furt, das Wasser reichte ihm nur bis zu den Knien, und als er sich in der Mitte der Strömung befand, hatte er den Eindruck, daß sich die ganze Erde bewegte und nur er unbeweglich blieb. Der Fluß funkelte, die bewaldeten Hügel leuchteten in der Sonne, und die Kreideklippen schienen in das Licht eingeschnitten zu sein. Wie beim ersten Mal umging er das Dorf und gelangte schließlich an die Stelle, die er sich eingeprägt hatte und die ihm den Weg zur Höhle wies. Um sicherzugehen, daß ihm niemand folgte, glitt er erst in der Abenddämmerung in die unterhalb liegenden Büsche und fand seine Sachen genauso wieder vor, wie er sie verlassen hatte. Er wollte die Kleider, die ihn für einige Wochen erneut gefangennehmen würden, nicht sofort anziehen, sondern erst noch eine Nacht in der Höhle schlafen. Er überlegte, daß es ratsam wäre, seine Reisetasche und die an der Küste gekaufte Jacke zurückzulassen und nur die Sachen mitzunehmen, die er anziehen oder unter seinem Gewand verbergen konnte. In dieser Nacht schlief er schwer: Ein Mann, dessen Gesicht sich hinter einem Schleier verbarg, kam auf ihn zu. Er wollte das Tuch hochheben, denn er wußte, daß es sein eigenes Gesicht war, aber es gelang ihm nicht. Dann, als er das Tuch schließlich doch abriß, grinste ihn ein Toten201
kopf an, der Kopf eines lebenden Toten, es gab keinen anderen Ausdruck, denn die schwarzen Löcher der Augenhöhlen sahen wirklich so aus, als blickten sie ihn an. Er kam mitten in der Nacht in das Haus zurück und bemerkte auf Anhieb die Veränderungen. Diesmal zog er das Bett in das Zimmer mit den Büchern; die Fenster gingen auf die Waldseite hinaus, und das Geißblatt der Veranda klammerte sich an dieser Seite bis ans Dach. Sein wunderbarer Geruch schien das gesamte Haus zu berauschen. Ian ging durch sämtliche Zimmer; da man offenbar während seiner Abwesenheit das Haus betrat, kam als Versteck für den zweiten Rubin und das Geld nur die verstaubte Bibliothek in Frage. Plötzlich sah er sich eingeschlossen, ohne jede Möglichkeit zur Flucht, sein Leben spielte sich in einem Dreimonatsrhythmus ab, drei Monate von der Verhaftung bis zur Flucht, drei Monate in der Grabkirche, drei Monate Freiheit mit den Abenteuern und dem Mord... Würde er während des Herbstes wieder weggehen können? Eine Stimme sagte ihm, nein, du wirst hier leben bis zu deinem Tod, und die Hoffnung in Ian revoltierte. Bevor er sich einschloß, ging er bis zum Wald und lief dann um die Grabkirche herum. Nichts hatte sich verändert, lediglich das Gatter am Ende des Weges, der ins Dorf führte, war geweißt worden und das Wiesengras gemäht. Über dem ausgetrockneten Graben reckten die schwarzen Erlen –je nach den Regungen seines Herzens – flehende oder wütende Hände, und Ian konnte die bewohnte Stille der Nacht nicht länger ertragen. Es soll jemand kommen! murmelte sein Blut. Und sie kamen. Am nächsten Morgen sah er durch die Ritzen der Fensterläden, die stets halb geschlossen waren, das versammelte Dorf, wenige Schritte vor der Tür, mit blumengeschmückten Zweigen. Hastig schlüpfte er in sein Gewand und setzte den unsäglichen Hut, wie er ihn nannte, auf. Was werde ich tun oder sagen? Er nahm das Gebetbuch und legte blind den Finger in eine Seite. Er warf einen Blick nach draußen und zog dann den Schleier vor das Gesicht.
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Als er die Tür öffnete, drang aus der kleinen Menge ein erstickter Schrei, dann wurde es eine Weile still. »Kyrie eleison«, sagte Ian. Alle begannen zu singen, Männer und Frauen. Mitunter schienen die Stimmen der Kinder die anderen Stimmen bis in die Wipfel der Bäume zu tragen. Ian trat ins Haus zurück und schloß die Tür. Die Dorfbewohner legten die Zweige auf den Boden vor die Veranda und gingen, immer noch singend, ins Dorf zurück. Das Tier saß in der Falle. In einem Anfall von Raserei warf Ian das Gebetbuch gegen die Wand. Und das Leben ging weiter. Der Sommer zog sich in die Länge, die Hitze ließ nach, die Ernte wurde eingefahren, es gab Gewitter, Nächte voller Sternschnuppen, Füchse in den Wäldern, Wildschweine in der Nähe der Brunnen, und nach dem wunderbaren Frühling und Sommer unvergleichliche Ernten, doch immer noch dachte Ian nur an Flucht. Den grausamen Winter, der aber glücklicherweise der Epidemie Einhalt geboten hatte, nahm man als ein Zeichen des Himmels, das unmittelbar mit dem Auftauchen des Eremiten zusammenhing. Ohne daß Ian es wußte, wurde er überwacht, sobald er das Gebiet des Dorfes verließ; man fürchtete, er würde sich noch einmal längere Zeit entfernen, und hatte beschlossen, ihm beim nächsten Mal eine heimliche Eskorte nachzusenden, um zu verhindern, daß eine andere Gemeinde ihn für sich gewann. Sein Ruf strahlte von Woche zu Woche mehr; im ganzen Norden war bekannt, daß ein Heiliger abgeschieden in der Nähe eines Klosters lebte, und die Mönche freuten sich über seine Rückkehr. In seiner Zelle verbrachte Roman die Nacht auf den Knien, um die übergroße Freude seines Herzens zu dämpfen. Der Herbst schien nicht enden zu wollen; die Bäume rosteten, die Birken und Buchen bewegten goldene Blätter, die großen, haarigen Eichen färbte der Oktober rot, der Wald glich dem Pelz der Füchse, die Kiefern verloren ihre Rinde und zeigten rosa Fleisch, der dunkle Honig des Harzes floß, und auf dem Fluß trieben Flöße, flossen das bleiche Wasser hinab, als hätte man sie auf ein Stück Himmel schlafen gelegt. Die Jäger brachten ihre blutige Beute ins Dorf, doch war das Blut darin erloschen, und die 203
Hasen, Rehe, Rebhühner und Haselhühner lagen stets in denselben Farben da, braun, beige, rot und rötlich, nur manchmal leuchtete zwischen ihnen das dunkle Grün eines Auerhahns, so wie in den rot gefärbten Wäldern die Tannen grün blieben. Mit seinem hinter dem Schleier verborgenen Gesicht sah Ian alles. Er dämpfte mit dem Tuch seine Neugier und ging in der Dämmerung auf den ersten toten Blättern. Mit seinem Durst nach Liebe, den er nicht mehr stillen konnte, warf er sich eines Abends auf sie, um die Erde zu umarmen, und wußte nicht, daß viele andere noch immer davon träumten, ihn in den Armen zu halten. Die Ekstasen, die Begierden, die Träume, alles nahm erneut von Ian Besitz. Als er von einem Spaziergang zurückkehrte, den er einzig unternommen hatte, um sich zu erschöpfen, riß er sich wütend die Kutte vom Leib und trampelte auf ihr herum. Seine Nächte erschienen ihm lang, seine Tage noch länger, und er lebte in Verwahrlosung, rasierte und wusch sich kaum noch. Er begann seinen Körper zu verabscheuen, weil er allein war, dann wiederum empfand er für ihn die Zärtlichkeit eines Bruders. Die Grabkirche war ihm ein Graus, und er wartete auf den Winter, um sein frevelhaftes Tun wieder aufzunehmen, dann, wenn die Kälte ihn vollständig isolieren würde. Nebel stiegen auf und verwandelten die Landschaft in einen Traum von Landschaft, das Dorf verschwamm hinter den verkrüppelten Weiden, die den Weg säumten und Reitern ähnelten, die sich über ihre Pferde beugten. An einem solchen Tag bemerkte Ian, daß er beobachtet wurde, sobald er zu weit in den Wald hineinging. Man folgte ihm. Die Atmosphäre trug das leiseste Geräusch fort, und gleich Blinden konnte man mit den Ohren sehen. Der winzigste, von einem Ast perlende Wassertropfen klang im Nebel, der leiseste Schritt verriet sich auf weite Entfernung, und Ian begnügte sich damit, den großen, die Grenzen des Klosterwaldes markierenden Eichenwegen zu folgen, wo Gras seine Schritte dämpfte. Der Winter war feucht und dunkel, und um Weihnachten herum schüttete der Himmel nur ein wenig Puderschnee aus. Die Bäche traten über die Ufer und ergossen sich auf feuchte Wiesen, doch dies kündete von einem fruchtbaren Frühling, und das Vieh konnte auf den Weiden der Hügel grasen. Jeden Tag fand Ian auf einem 204
Brett, das man unter das Vordach genagelt hatte, das für ihn zubereitete Essen: Graupenschleim, getrockneten Fisch, Zwieback und an Festtagen ein Schüsselchen Heidelbeersaft oder wilde Blaubeeren. Oft fanden sich in dem Korb auch Seife oder Kerzen in blauem Papier. Mittlerweile wusch er seine Wäsche selbst und trocknete sie vor dem Herd, damit niemand sah, daß er mit BatistUnterwäsche und Strümpfen aus weißer Wolle zurückgekehrt war. Eines Abends ging er in die Kirche zurück und hob weitere Grabplatten hoch. Sein Instinkt hatte ihn nicht getäuscht, die Toten ruhten mit goldenen Kelchen oder kostbarem Schmuck; einige waren in juwelenbesetzten Gewändern bestattet, anderen hatte man mit Edelsteinen übersäte Waffen beigegeben. Ian sammelte das, was sich am leichtesten in Geld umsetzen ließ. Er vermied einzig das Grab, dem er einen Toten hinzugefügt hatte. Jetzt besaß er genug Geld, um im Ausland ein sorgenfreies Leben zu führen; er mußte nur noch die wärmere Jahreszeit abwarten und ein Mittel finden, das Land zu verlassen. Er wollte sich in den Nordosten wenden, in Richtung der Sümpfe und Torfmoore, und auf der Karte suchte er begierig nach Punkten und Wegen, die auf der anderen Seite der Grenze nirgendwo hinführten. Die Tasche und Kleidung, die er in dem Versteck zurückgelassen hatte, wollte er nicht holen; dies würde ihn nur Zeit kosten und zwingen, zu weit nach Westen zu gehen. Außerdem gab ihm der Instinkt ein, seine Spuren diesmal zu verwischen; alles, was er brauchte, würde er stehlen. Seine Flucht legte er auf die ersten Mainächte fest; dabei wollte er den Eindruck erwecken, daß er sich zum Meditieren in eine der in den Sümpfen gelegenen Jägerhütten zurückzog, die einzig dazu dienten, den Flug der Wildgänse zu überwachen. Und der Winter verkürzte seine Tage, mischte das Licht rosa und blau, vertiefte die ersten Abendstunden, glänzte mit seiner winzigen Sonne auf den Fenstern der Häuser oder verwandelte sie in Sturmlaternen, wenn ein Licht in der Nacht entzündet blieb. Dann wurden die Tage unmerklich länger, und niemand wunderte sich darüber, daß der Eremit niemals zu den Klostermessen erschien noch jemals ein Sakrament empfing. Ein Eremit hatte seine eigenen Lebensregeln, vor denen die anderen Mönche sich beugten, und für das Volk wuchs die Erhabenheit seines Geistes mit 205
seinem Schweigen und seiner Entrücktheit. Ian aber, der bis zu seiner Verhaftung von Augenblicken gelebt hatte, in der Verzückung seines Fleisches oder seiner plötzlichen Revolten, der als einzigen Schiedsrichter seinen Instinkt und als einzigen Meister seine Lebenslust gehabt hatte, entdeckte um sich herum einen von einer unsichtbaren Zurückweisung gezeichneten Kreis: Es waren Catherine, die ohne Liebe war, Adam, dessen Haß ihm eine unmögliche Liebe zuschrie, und alle anderen, mit denen eine Beziehung einfach erschienen war, weil sie entweder seine Kameradschaft gesucht oder ihn gemieden hatten, aber immer im undurchschaubaren Mysterium ihres Herzens. Ian empfand diesen Ausschluß als eine natürliche Antipathie, die wütenden Blicke hatte er für Feindseligkeit gehalten und entdeckte jetzt, daß es eine Art Angst vor sich selber war. Was hatten sie alle mit ihrem Leben gemacht? Der Mensch empfing ein ganz neues Leben, einen zu allen Abenteuern bereiten Körper, ein Gehirn, in dem das Gedächtnis allem auf der Lauer lag, einen Mund, um Liebesworte auszusprechen, Augen, um zu bewundern, Wärme, um sie mitzuteilen, und geheime Säfte, um dieses Leben weiterzugeben, und er machte es mit kleinen Schlägen zunichte. Was hatte er, Ian, getan? Seine Lust genossen... geträumt... Zuerst hatte man ihn in seine Fröhlichkeiten und Leidenschaften gesperrt, dann in ein Lager, dann in dieses Gemäuer und die Haut eines anderen, dann in die Idee dessen, was er war – die Tunika machte ihn zum Eremiten –, und hier war er nun, ohne Freund und Feind, und tastete in einem leeren Labyrinth nach dem Ausgang. Seit einiger Zeit hatte er seine Gymnastikübungen wieder aufgenommen und berührte seinen Körper nicht mehr; für den Fall einer Flucht wollte er all seine Kräfte aufsparen. Wie der Winter war auch der Beginn des Frühlings mild. Gräser, Laub und Zweige wurden in dem kalten Regen und den von der ersten Sonne getrockneten warmen Nebeln dichter, das Grün war bald tief und die Ungeduld Ians noch tiefer.
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26. Die Möwen hatten die Augen, den Mund, das Fleisch des Halses und die Schultermuskeln gefressen, der Rest des Körpers war im harten Sand eingemauert. Man hatte Schwierigkeiten, ihn herauszuziehen. Man ging allgemein von einem Unfall aus, das Mädchen mußte sich verletzt haben und von den blutrünstigen Möwen angefallen worden sein. Die Überreste des Gesichts waren blau; offiziell hatte die Autopsie nichts weiter enthüllt. Der Fremde wurde nicht mehr erwähnt. Gemäß dem Generalstabsbefehl wurde der Abschlußbericht der Untersuchung Andrei vorgelegt. Dieser hatte seine Nachforschungen ruhen lassen, war aber sofort nach der Entdeckung des Körpers zu der Stelle gefahren, wo man den Leichnam bis zu seiner Ankunft unter einer Plane aufbewahrte. Der Leutnant war zu der Kaserne von S. gerufen worden, wo man ihn mit den Vollmachten eines Untersuchungsbeamten ausstattete, damit er die Spur des Ausbrechers so verfolgen konnte, wie er es für richtig hielt. Gleich ihm war man auch im Generalstab davon überzeugt, daß Ian am Leben war, daß er sich irgendwo versteckt hielt, und wenn man eine Linie zwischen all den Punkten zog, an denen er möglicherweise versuchen würde, das Land zu verlassen, befand S. sich im Zentrum zwischen den großen, von der Hauptstadt ausgehenden Landstraßen, den Landesgrenzen und der Küste. Warum war man so versessen darauf, ihn wiederzubekommen, fragte sich Andrei, denn dies war das einzige, was man im Dunkeln ließ und ihm nicht enthüllte. Als Andrei den Körper des im Sand liegenden jungen Mädchens vor Augen hatte, sagte ihm alles, die Stämme dieses Waldes, 207
die wie ausgebrannt aussahen, die wenigen Männer mit ihren Hacken und Schaufeln, die Uniformen, der Rauch des im Wind wirbelnden Sandes, daß er sich Ian näherte und daß die Augen der Toten das Gesicht des jungen Mannes gesehen hatten. Es war eine irrationale Überzeugung, und obwohl er sich vor dem, was er möglicherweise erfahren würde, fürchtete, verlangte er eine genaue Autopsie. Der obere Teil des Körpers war in einem Zustand, der keine Angaben mehr möglich machte, dafür wies er ab der Taille weder Verletzungen noch Quetschungen auf; die Analyse des Intimbereichs erbrachte den Nachweis, daß sie Geschlechtsverkehr gehabt und sich danach grob im Meer gewaschen hatte. Es wurde nicht erklärt, wie der Sand einen Teil des Körpers hatte bedecken können, doch kam es im versteinerten Wald vor allem im Frühjahr zu unterirdischen Bewegungen; aus einem unbekannten Grund war sie offensichtlich von Meervögeln verfolgt worden und dabei in ein Loch gefallen. Es hatte Fälle gegeben, bei denen einsame Spaziergänger von wildgewordenen Möwen angefallen worden waren. Diese Erklärungen befriedigten Andrei durchaus nicht: Wenn man ihn fragte, so war der Sand umgegraben worden, selbst wenn sich dies nach sechs Monaten nicht mehr beweisen ließ. Und er träumte von einem schuldigen Ian, um den Schatten dieser Statue in seinem Inneren zu zerbrechen. Noch einmal begab er sich zum Generalstab, wurde zu einem Fotodienst abkommandiert und überwachte persönlich die Herstellung eines kleinen Plakates, welches das von Adam zur Verfügung gestellte Foto von Ian zeigte. Er nutzte seine Rückkehr nach V., um den Ehemann Catherines anzurufen. Adam fragte ihn sofort, ob er nun endlich das gemeinsame Leben mit ihnen wieder aufnehmen würde, anstatt immer nur zu Stippvisiten zu kommen. »Ich will dich allein sehen, sofort«, sagte Andrei. »Ich hole dich mit dem Wagen ab, und wir fahren an die Stelle, wo du beim ersten Mal mit mir gesprochen hast.« Adam erwartete ihn auf der Straße, und sie fuhren los, ohne etwas anderes als »Hallo« gesagt zu haben. Am Ziel angekommen, stiegen sie aus und gingen zu dem Aussichtspunkt, von dem aus sich die ganze Flußbiegung dem Blick darbot. Der Hügel war menschenleer. Adam erinnerte sich an sämtliche Details ihrer 208
ersten Unterredung, Andrei ebenfalls, und zwischen ihnen lebte die Scham wieder auf, obwohl sie sich seitdem in Gegenwart Catherines oft nackt gesehen hatten. »Was willst du von mir?« »Nicht das, was du glaubst, Adam. Ich will etwas wissen, was nur du allein weißt.« »Warum diese Theaterinszenierung?« »Du liebst doch Geheimnisse, und es ist besser, allein zu sein, damit du mir antwortest.« »Gut, ich höre.« In Adams Stimme schwang ein ironischer Unterton mit. »Warum hast du das Foto von Ian abgegeben?« Und da Adam vermutlich lügen würde, fuhr Andrei fort: »Ich sage bewußt: abgegeben, bei der Polizei nämlich.« Adam wurde blaß, dann bleich, und der Leutnant trat einen Schritt vor, weil er glaubte, daß ihm übel wurde, doch knallte ihm Adams Stimme ins Gesicht wie eine Ohrfeige: »Dreckiger Spion.« Sie begriffen beide, daß sie sich schlagen würden und daß jeder den anderen töten wollte. Sie rührten sich nicht. »Nein«, sagte der Leutnant plötzlich. »Ich verurteile dich nicht, und ich bin dir nicht böse. Ich flehe dich an... Du hattest doch bestimmt irgendeinen Grund...« »Was kann dir das schon ausmachen?« Adam hatte Andreis Verwirrung gespürt und versuchte nun, das Verhör auf seine Weise zu führen, denn offensichtlich handelte es sich ja um ein Verhör. »Ich bin mit einer Untersuchung beauftragt«, sagte der Leutnant. »Ich weiß ziemlich viel, aber du kannst mir noch weiterhelfen. Der Junge hat nichts Böses getan, da bin ich mir sicher.« »Du kanntest Ian nicht«, sagte Adam kalt. »Doch.« 209
Die Antwort veränderte sie beide. Adam hatte plötzlich Angst und witterte gleichzeitig die seltsamen Gefühle des Leutnants. Andrei fühlte sich befreit, sah sich aber gleichzeitig der Gnade dieses Gefährten ausgeliefert, den das Schicksal erwählt hatte, die Frau mit ihm zu teilen, die er liebte. Und beide täuschten sich, denn sie verließen sich auf das, was sie aus den Wörtern herauszuhören meinten. »Ich wollte ihm nichts böses«, murmelte Adam – und der vertrauliche Ton riß ihn mit sich fort –, »ich wollte ihm angst machen, und ich wurde ausgetrickst, man hat sich meiner bedient, um ihn zu eliminieren. Man sagte, er sei Mitglied einer Gruppe von Anarchisten, es gab irgendwelche Familiengeschichten, Einflüsse und dann seine ganze Haltung, und seine Liebe, die Catherine nicht teilte. Alles kam zusammen. Man riet mir, sämtliche Fotos, die ich von ihm hatte, zu übergeben, dasselbe tat man mit Jörg, Anton und Andre. Catherine wurde da rausgehalten.« Und plötzlich fügte er mit leiserer Stimme hinzu: »Vor unseren Augen wurde er eines Morgens in der Universität verhaftet, er hat...« Andrei hörte nicht mehr zu, und ein Teil von ihm bemerkte, daß seine eigenen Gefühle rein waren, während sich die von Adam als noch unklarer erwiesen, als ihre Promiskuität in Catherines Bett es ihn hatte ahnen lassen. Adam erzählte seine Version der Geschichte mit Ian, und seine Locken zitterten im Wind, als wollten sie sie bestätigen; er hatte wieder Farbe bekommen, aber sein Blick wich Andreis Blick aus. »Wann hat man dich nach dem Foto gefragt? Kürzlich?« »Ja«, sagte Adam. »Dann weiß man also, daß man auf dich zählen kann.« »Sie hatten keine guten Fotos.« »Was hast du vorher gegen ihn unternommen?« Adam wurde klar, daß Andrei ins Blaue sprach. »Wenn du es nicht weißt, warum soll ich es dir sagen?« »Sieh mich an.« 210
Ihre Augen hielten einander stand. »Du warst eifersüchtig«, sagte der Leutnant, »da Catherine ihn aber nicht liebte...« Der Satz blieb in der Schwebe, und Adam wurde erneut blaß. »Weißt du, wo du ihn hingeschickt hast?« Adam rührte sich nicht, Andrei nahm ihn bei den Schultern und schüttelte ihn: »Sag, daß du es weißt.« »Nein.« »Gut, dann werd ich es dir sagen.« »Nein, das darfst du nicht«, schrie Adam. Sein Blick war undurchsichtig. »Warum, weil ich Mitglied der Spezialeinheit der Armee bin? Ich kann dich auch im Generalstab verhören lassen, wenn du das vorziehst. Ich habe alle Vollmachten dazu. Jetzt hör mir gut zu, Adam: Wenn Ian nicht entflohen wäre, hätte man ihn aufgehängt.« »Man hätte ihn begnadigt«, murmelte Adam, »man hat es mir gesagt.« Andrei brach in Gelächter aus. »Wenn man ihn wiederbekommt, wird man ihn dazu begnadigen, an einem Strick zu baumeln.« Er sah, daß er ins Schwarze getroffen hatte, denn Adam wandte sich ab und betrachtete den in der Ferne liegenden Fluß, den die Frühlingsbrise glattstrich, während Schwimmbagger unermüdlich Sand hochholten. »Glaubst du, daß du ihn wiederfindest?« fragte er. »Ich will es, und ich will, daß du mir hilfst.« »Und wenn ich nicht will...« »Du wirst wollen. Catherines wegen, meinetwegen und vor allem, weil du ohnehin schon etwas gegen ihn unternommen hast, nicht wahr?« »Ich habe nur sein Foto weggegeben! Und wenn schon...« »Aber vorher, Adam, vorher...« »Er war zu glücklich«, murmelte der junge Mann, noch immer auf die Flußbiegung schauend. »Zu sorglos, zu fröhlich, während unsere Sorglosigkeit und Fröhlichkeit neben ihm nicht mehr exi211
stierte. Eifersüchtig, ja, ich war eifersüchtig, weil er unverzichtbar wurde, und in der Gruppe dachten alle so wie ich, außer Catherine. Sie machte sich darüber lustig. Er war gar nicht ihr Typ, und er wollte ausgerechnet sie. Er wurde immer unvorsichtiger und hat mit seinen Reden die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Dann ist er in die Hände von Gaunern gefallen.« »Was für Gauner?« »Für einen Polizisten weißt du aber gar nichts!« »Ich will, daß du es sagst.« Seit einer ganzen Weile sah Adam ihn das erste Mal an, und Wut leuchtete in seinen Augen, die aber fast sofort jenem flüssigen Blick Platz machte, von dem Andrei manchmal nachts überrascht worden war, ein hinterhältiger und haßerfüllter Blick. »Genau die, die ihm egal waren. Idealisten! Das paßte zu ihm. Nichts hinterließ Spuren in ihm, weder die Zeit noch die Niederlagen, er war uneinnehmbar. Catherine war seine Niederlage, oder besser, sie wäre es für die anderen gewesen, aber ihm war es im Grunde egal, er fuhr fort, sie zu lieben, mit seinem Lächeln...« Und während er sprach, sah Andrei plötzlich Ians Lächeln über der Landschaft, er sah es wie eine flüchtige Halluzination und fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Was hast du?« fragte Adam. Andrei antwortete nicht. Leichte Wolken, die immer wieder die Sonne verbargen, durchzogen die große Ebene des Himmels. Nach einer Weile murmelte der Leutnant etwas, aus dem Adam das Wort Verzückung heraushörte, er nahm Andrei beim Ellenbogen: »Gehen wir zurück, wenn du willst«, sagte er. Der Leutnant hielt ihn zurück: »Du hast auf meine erste Frage noch nicht geantwortet.« Adam drehte sich um und ließ seinen Arm los. »Adam, diesmal will ich, daß du mir antwortest«, – und leiser – »es ist eine Frage von Leben und Tod. Du warst eifersüchtig, das ist ein Punkt, aber später...« Adam sah ihm in die Augen, blieb aber stumm. 212
»War es, weil er vollkommen war, der Intelligenteste, der Gewandteste, der Komischste, der...« Plötzlich senkte er die Stimme: »Er hatte sicher am meisten Charme, er machte alles zu gut...« »Überhaupt nicht, er machte vieles sehr schlecht, aber das, was er schlecht machte, machte er so gut schlecht.« Beide hätten sie lachen mögen, doch gleichzeitig stach ihnen etwas ins Herz. Außer dem Geräusch des Windes und ihrer eigenen Stimmen drang keinerlei Laut zu ihnen. »War das ein Grund für die Denun...«, Andrei hielt inne. »Um ihn zu denunzieren? Das willst du doch sagen. Na gut, ich habe ihn nicht denunziert, aber es wäre ein Grund gewesen, einer von denen, die man verbirgt. Was ich getan habe: Ich habe den Antrag auf Relegation von der Universität unterschrieben, und ich bin bei dem Großvater gewesen, dem Helden der Familie, der all das war, was Ian nicht war, und der alles vermochte, und ich habe ihm seinen Enkel demontiert. Ian hatte keine andere Stütze, und als die ihm fehlte...« Es entstand eine Pause. »Sein Halbbruder hat die Familie in die Hand bekommen«, fügte Adam hinzu... Andrei sagte leise: »Er hat mit einem Schlag alles verloren. Wenn es auch mit Catherine nicht mehr gegangen wäre...« »Sie behielt ihn aus Gleichgültigkeit, weil die anderen Mädchen ihn auch wollten... was weiß ich!« »Und nachts?« Andrei konnte die Frage nicht zurückhalten, obwohl er sie sofort bedauerte. »Er geriet bei der Liebe in Ekstase«, sagte Adam, »sie war sich dessen gar nicht bewußt. Und du willst wissen, ob ich dabei war? Na gut, ja, ich versteckte mich. Einmal abends hatte ich Lust, ihn zu töten. Es war unmittelbar, nachdem ich seinen Großvater gesehen hatte. Dann ist alles geplatzt, und nun sind wir hier und sprechen miteinander, du und ich, der Ehemann und der Geliebte von Catherine. Wir sprechen über einen verflossenen Geliebten meiner 213
Frau und deiner Geliebten, hier, mitten im Wald, wie Verschwörer oder abgeblitzte Verliebte... Bist du nun zufrieden!« Der Leutnant blickte auf seine Uhr. »Ich habe gerade noch so viel Zeit, dich bei uns abzusetzen«, sagte er. Er ging einige Schritte in Richtung Auto. »Fährst du wieder weg?« Adams Stimme bebte: »Läßt du uns allein?« Andrei ging weiter. »Meinetwegen?« rief Adam. Er holte den Leutnant ein und packte ihn heftig am Arm. »Verzeih mir«, sagte Adam. »Ihn mußt du darum bitten, wenn man ihn wiederfindet.« Sie erreichten das Auto. Während der ganzen Fahrt blieben sie schweigsam, dann, als sie in die Straße einfuhren, in der sich Adams Haus befand, räusperte Adam sich: »Andrei, ich tue alles, was du von mir verlangst.« Und der Leutnant überdachte all das, was er innerhalb eines Tages erfahren hatte, während sich rechts von ihm, auf der Straße nach Norden, die Bäume neigten, als wären es Personen, die von der Geschwindigkeit nach und nach verwischt würden.
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27. In einer Mainacht brach Ian schließlich auf. Im Dorf war seit einigen Tagen die Rede von Manövern, die das Militär bis zum Sommer durchführte und bei denen die Panzer die Straßen einrissen, das Wild verjagten und die Felder zerstörten. An diesem Abend hörte Ian in der Abenddämmerung vor seinem Haus Stimmen, und als er die Tür einen Spalt öffnete, erhob sich eine Stimme: »Vater«, sagte sie, »wir wollen weder deine Ruhe stören noch dein Schweigen brechen, aber wir haben deine Stimme seit dem Winter nicht mehr gehört, und nur sie allein kann uns trösten. Die Armee führt ein Manöver durch und verwüstet die Ernten, die Vögel fliehen. Gib uns wenigstens deinen Segen.« Ian überlegte, was er tun könnte; beim ersten Mal hatte er ins Schwarze getroffen, indem er zufällig das Gebetbuch aufgeschlagen hatte, doch er hatte genug davon, dieses idiotische Spiel mitzuspielen; dennoch würde eine unbestimmte Geste mit der Hand nicht genügen, die Leute dazu zu bewegen, nach Hause zurückzukehren. In der Ferne erleuchteten Laternen die durch das Dorf führende Straße, und der Himmel schimmerte noch schwach. »Das Licht kommt«, flüsterte er deutlich vernehmbar, und alle hörten es und zogen sich schweigend zurück. Diesen neuen Satz trug man von Dorf zu Dorf, und es waren Truppenkonvois vonnöten, um zu verhindern, daß es zu einer Massen-Pilgerfahrt zu Ians Haus und der Grabkirche kam. In der Folge sprach man davon, diese zu hohen Kirchenfesten wieder zu öffnen. Um Mitternacht verließ Ian das Dorf, ohne sich zu verbergen. Niemand sah ihn. Der volle Mond stand in einem so tiefen Himmel, daß er den Eindruck hatte, mit ihm zu gehen. Das Geld und 215
die Steine hatte er in die Tasche gesteckt, und unter seinem Gewand trug er eine an der Küste gekaufte Hose sowie ein Hemd. Im Morgengrauen hatte er bereits eine gute Strecke zurückgelegt, doch war es nicht möglich, seine Mönchskleidung am hellichten Tag abzulegen; dann traf er auf die ersten Armeekommandos. Wie gewöhnlich nahm er Waldwege, dort, wo er sicher war, daß die Soldaten keine Übungen durchführten. Er wollte sich weiter in Richtung Norden durchschlagen, bemerkte aber zahlreiche Militärkonvois; da er eine Kontrolle von Straßenkreuzungen und Brücken befürchtete, bog er in Richtung der weiter im Osten gelegenen Sümpfe und Wälder ab. Er hatte dasselbe Problem wie auf seiner ersten Reise: Er mußte sich um jeden Preis Papiere verschaffen, doch das war gefährlich, und das, was ihm verdächtig erschien, würde ihn verdächtig erscheinen lassen. In dieser Gegend gab es keine bedeutende Stadt, lediglich kleine an Seeufern oder stillgelegten Minen liegende ruhige Städtchen. Der einzige Vorteil war, daß es hier Ferienkolonien gab, in denen man ohne jede Formalität einen ruhigen Holzbungalow mieten konnte; auf diese Weise könnte er sich seines Mönchsgewandes entledigen. Irgend etwas gab ihm ein, es entweder zu verbrennen oder zu behalten, es aber keinesfalls im Wald fortzuwerfen. In einem Tannenwald zog er sich um, rollte seine religiösen Kleider zu einem Paket, das er mehr schlecht als recht in einem der beiden Hemden, die er trug, verschnürte. In der Stadt kaufte er eine Strandtasche und ein paar Toilettenartikel und fand sich wenig später in einem kleinen, unter Kiefern gelegenen Holzhaus wieder, in dem es nur das Notwendigste gab: eine Dusche, eine winzige Küche und einen abschließbaren Schrank. Vom Fenster aus sah man zwischen den Bäumen den See glitzern, die anderen Bungalows waren nicht zu sehen. Das schwache, gelbe Licht, das ein wenig harte Bett und der Geruch nach Holz gaben einem die Illusion von improvisierten Ferien in den Bergen. Ian legte sich hin und schlief ein, während es noch hell war. Schläge ans Fenster weckten ihn auf. Es war der Mann, der den Eingang bewachte. »Alles in Ordnung?« »Ja«, sagte Ian. »Hab Sie gar nicht gesehen. Essen Sie nichts?« 216
»Ich habe geschlafen«, antwortete Ian. »Wohl zuviel Arbeit, was?« »Ja.« »Sie sind bestimmt Student.« »Ja«, antwortete Ian, obwohl der Satz des Mannes keine Frage zu sein schien. »Ich wette, Sie haben nichts zu beißen. Für morgen früh hab ich hier Kaffee, Brot und Obst, in Ordnung?« Er stellte alles auf den Tisch unter das Fensterbrett. »Danke«, sagte Ian. Er lächelte ihm zu, und der Mann dachte, daß die hübschen Mädchen da wohl kaum widerstehen könnten. »Im Moment gibt's keine Mädchen hier«, sagte er. »Gewöhnlich sind hier welche mit...« Er zeichnete mit der Hand eine Kurve in die Luft und seufzte. »So ein Pech!« »Hängt natürlich davon ab, wie lange Sie hier sind.« »Wohl nur kurz«, sagte Ian, »aber ich weiß noch nicht genau.« »Examen, was?« »Ja«, sagte Ian, »Ende Juni.« »Und in was?« »Chemie.« Es war das erste, was ihm in den Sinn kam, und wenn er nicht gespürt hätte, daß der Mann voller Herz und gutem Willen war, hätte er sich kaum auf all die Fragen, die einem Polizeiverhör ähnelten, eingelassen. »Machen Sie bloß meinen See nicht dreckig«, sagte der Mann lachend. »Gute Nacht also.« »Guten Abend«, antwortete Ian. Die Schritte des Mannes waren nicht zu hören, als er sich entfernte. Vorsichtig ging Ian ans Fenster; die Silhouette verlor 217
sich unter den Kiefern, wo der Nadelteppich jedes Geräusch verschluckte. Die Nacht wurde grau, der Schlaf hatte den jungen Mann verlassen, und das Bild von Mädchen am See brachte das Rudel seiner Dämonen in sein Gehirn zurück. Sein an zu viele einsame Freuden gewöhnter Körper machte die Halluzinationen seiner Einsamkeit so lebendig, daß er vermeinte, unter den Bäumen Körper zu sehen, die sich bewegten. Rasend besaß er sie gegen das Fenster gepreßt und warf sich mit toten Beinen auf das Bett, doch trotz seiner Müdigkeit stellte der Schlaf sich nicht ein. Der Pass schlich sich in jeden Gedanken, er entschloß sich zu zwei Dingen: Er wollte sich der Grenze nähern und prüfen, wie man sie überqueren konnte, entweder durch die Sümpfe oder dort, wo es keinerlei Straße gab; darüber hinaus würde er nach S., zu dem jüdischen Friseur gehen, der ihm schon einmal geholfen hatte. Dieser Gedanke hellte seine unmittelbare Zukunft ein wenig auf; wenn der Mann etwas vermochte, wäre Ian außer Gefahr, denn er spürte, daß die augenblickliche Situation nicht andauern konnte, es sei denn, er schlösse sich auf ewig in Haut und Haus des Eremiten ein. Diese Vorstellung machte ihn krank; sich freiwillig für sein Seelenheil, wie die Religionsfanatiker es nannten, einzuschließen, bedeutete so viel wie eine Rückkehr in das Lager Null. War es etwa angenehmer, langsam und ganz allein zu sterben? Am nächsten Morgen mietete Ian ein Boot und gab sich einen ganzen Tag zum Pläneschmieden. Der Wächter hatte ihm Bier, Gurken und kaltes Huhn verkauft, und Ian ruderte in den goldenen Nebel, der etwa in der Mitte des Sees vom Wasser aufstieg. Nichts bewegte sich. Ian hatte sich auf dem Boden des Bootes ausgestreckt, und der Himmel ließ in dem Maße, in dem die Sonne die Oberfläche erwärmte, sein Licht auf ihn regnen. Er schlief ein, und die Strömung trieb das Boot ab. Als er es bemerkte, war er auf Grund gelaufen, die den See durchquerende Strömung hatte ihn ans Ufer getrieben und er befand sich in der Nähe eines Dorfes. Es war bereits später Nachmittag; kleine Jungen vergnügten sich damit, von der Höhe eines flachen Steines aus ins Wasser zu springen, herauszuklettern und sofort wieder zu springen. Ian bat sie, auf das Boot zu achten, doch sie antworteten, daß sie ebenfalls zum Fest gingen. Welches Fest? Das Feuerfest natürlich, aber es würde 218
reichen, das Boot auf die Wiese zu ziehen. Sie halfen ihm, und Ian folgte ihnen in das Dörfchen, dessen rote Dächer unter Weiden leuchteten. Auf dem Dorfanger war ein langer Tisch für ein Bankett unter freiem Himmel aufgestellt. Das an den vier Ecken verknotete Tischtuch war mit Obst- und Blumengirlanden bedeckt, und auf die Gäste wartete bereits Brot. Brot und Salz, erklärten die Kinder, die Ian umringten und begehrlich auf das zwischen den Blumen plazierte Gebäck und die Kuchen blickten. Darüber hinaus lagen auf dem Tisch Wildschweinhäute und tote Vögel. Männer und Frauen hatten sich vor einem Haus gruppiert, in respektvoller Entfernung, als erwarteten sie den Ehrengast. Plötzlich ging ein junger Mann auf den Tisch zu und zündete ihn mit einer Fackel an. Die ersten Minuten waren feierlich, zwischen den Gedecken züngelten kleine Flammen, nur einige gefräßigere Funken warfen sich auf einen trockenen Ast, erloschen aber sofort wieder. Dann, mit einem Zungenschlag, leckte das Feuer über den ganzen Tisch, und bald brauste in dem Festmahl eine düstere Freude. Die Gläser zersprangen, und im Bruchteil einer Sekunde reckten sich Flammen hoch wie die Hände eines unsichtbaren und gefräßigen Wesens, das alles auf einmal verschlang. Die schwarz gewordene Tischdecke warf rötliche Funken gegen den Himmel, und das Holz des Tisches knisterte. Eine Sekunde lang loderte eine Stichflamme, und man hatte den Eindruck, der Tisch sei noch intakt; dann wankte er in einer Glut, die die Zuschauer von unten her beleuchtete, wie ein hellerer Tag, der dem sich neigenden Tageslicht hinzugefügt war. Dann folgte ein Freudenausbruch. Auf Bratspießen drehten sich Rehe und Schweine, und in dem knisternden Geruch begann auf der Wiese der Tanz, wobei Geigen und Lauten die wilde Explosion skandierten. Dem Feuer war Nahrung gegeben worden, so hatte man keine Sommerbrände mehr zu befürchten, und der primitive Glaube gab sich mit diesem Blendwerk zufrieden. Sogar die Kinder berauschten sich. Ian hielt sich abseits, doch bald kam ein Mädchen und zerrte ihn mit Dreistigkeit in die Menge. Sie war bereits betrunken, wie alle, denen das Feuer das Blut verbrannt hatte und die mit Alkohol ihren Durst löschten. Sie packte Ian schamlos, ihr ganzes Fleisch vermählte sich mit dem des Jungen, 219
sie klebte einen Mund aus blutigem Fleisch auf Ians Mund, und ihre rauhe und nasse Zunge begann ihn zu atmen. Sie brachte sich und ihn dazu, daß sie sich wie Verrückte um sich selber drehten, und als sie sein brutales Verlangen spürte, begann sie ihn noch weiter zu erregen, entzog sich ihm dann und stieß ihn mit einer dümmlich bäuerlichen Affektiertheit zurück, so daß er hinfiel. Ian trank nicht, der Rausch um ihn herum widerte ihn so sehr an, daß er eine Rempelei und die Dämmerung nutzte, um den fiebrigen Abend wie ein Schatten zu verlassen. Auf der Uferwiese ließ sich das Boot nur schwer bewegen, die Kinder hatten es zu weit auf das Gras gezogen. Als er sich auf dem See entfernte, schwamm ein dicker und roter Mond in den Bäumen, und wie Funken stieben die Freudenschreie aus dem Dorf in den Himmel. Er spülte sich den Mund mit Seewasser aus, ruderte dann so weit es weit es ging das Ufer entlang, gelangte nach Stunden voller Unruhe, in denen das Rauschen des Blutes in seinem Kopf das Plätschern der Ruder übertönte, an die Anlegestelle, wo ihn der Wächter erwartete. »Ich sah Sie schon auf dem Seegrund mit Ihrer Chemie. Gleich hätte ich die Polizei benachrichtigt.« »Das dürfen Sie nicht«, sagte Ian, ohne zu überlegen. »Die hätten zumindest mein Boot rausgefischt. Sie haben doch garantiert noch nichts gegessen!« »Doch«, sagte Ian – offensichtlich dachte der Mann nur daran, ihn zu ernähren –, »ich war auf einem Fest am anderen Ufer, oder besser gesagt, es war ein Opfer...« »Aha«, unterbrach ihn der Wächter, »Sie brauchen Schlaf.« Er begleitete den Jungen bis zu seinem Bungalow und versicherte sich, daß alles in Ordnung war. Kaum war er allein, löschte Ian das Licht und streckte sich im Dunkeln aus. Eine aschgraue Nacht drang in das Zimmer, streichelte die Wände, den Tisch, das Bett und legte sich auf Ian. Mit zerschlagenen Schultern und von den Rudern brennenden Händen wurde er in seinem ersten Schlaf vom Feuer erleuchtet. In seinem Traum begann der Tag erneut, doch hatte das Mädchen, das mit ihm tanzte, rote Spuren am Hals, es war einmal mehr die Tote. Die Augen waren starr, und aus ihrem Mund trat eine blutige Zunge. Ian erwachte schweißnaß und 220
war sicher, einen Schrei gehört zu haben. Hatte er selbst im Schlaf geschrien? Wenn er sich nun verriete? Er wagte es nicht, Licht zu machen, als würde draußen eine Menschenmenge auf sein Mördergesicht lauern und auf das Geständnis warten. Nach einer Weile wurde er erneut von Müdigkeit überwältigt. Die Tote war da, umschlang ihn, sie murmelte ihm Liebesworte zu, und er konnte sich nicht wehren. Sie zeigte ihm ein Loch im Sand, im Dunkeln hörte er eine deutliche Stimme: »Da liegt auf ewig deine Frau!« Er stand auf, zog sich im Halbschlaf Strümpfe und Schuhe an und schlief mit dem Rücken an die Wand gelehnt erneut ein. Die Morgensonne auf seinem Gesicht weckte ihn auf, und er sah verwirrt an sich herunter, wie er nackt dasaß, lediglich mit etwas an den Füßen, um zu fliehen. Er sagte dem Wächter Bescheid, daß er erst spät, möglicherweise erst am nächsten Tag, zurückkäme, und ging in die Stadt. Eine Stunde später fuhr ein Zug nach P., der auf der Strecke glücklicherweise nur selten hielt. Der Zug sicherte die Verbindung zur Küste. Ian setzte sich in ein leeres Abteil. Er blieb bis zum Schluß allein, und am Bahnhof von P. achtete niemand auf ihn. Er erinnerte sich dunkel daran, daß sich das Geschäft des Friseurs in einer ungepflasterten, weit außerhalb des Zentrums liegenden Straße befand, und auf dem Stadtplan suchte er das Stadttor, wo ihn der Autofahrer das erste Mal abgesetzt hatte. Es befand sich auf der anderen Seite der Stadt, in den alten Straßen, und weil er Angst hatte, jemanden aus der Gruppe zu treffen, die ihn damals eingeladen hatte, nahm er ein Taxi. Er fand den Friseur schnell, hoffte, daß dieser allein war, und trat ein. Der Mann erkannte ihn sofort. »Guten Tag«, sagte Ian, »ich brauche...« »Du brauchst mich«, sagte der Mann, »und du brauchst nicht zu sagen, warum.« »Hier«, sagte Ian, »das Geld...« »Nein«, sagte der Jude, »das Geld, das dir gegeben wurde, brauchst du nicht zurückzugeben.« »Sie können es nicht zurückweisen«, sagte Ian sanft. »Hab keine Furcht«, sagte der Jude, »ich weise nur deinen Stolz zurück.« 221
In diesem Moment trat ein Mann ein, doch der Friseur bat ihn, später wiederzukommen, da er einen Kunden habe und noch einen weiteren erwarte; gleichzeitig schob er Ian in einen Sessel und schloß dann die Tür ab. Vorsichtig begann er, Ian die Haare zu schneiden, als berühre er etwas sehr Kostbares, dann sprach sein Gesicht im Spiegel zu jenem des jungen Mannes. »Was du willst, kann ich erraten, man braucht dich nur anzusehen: du willst fliehen.« Ian erhob sich, aber der kleine Friseur war stark und drückte ihm auf die Schultern: »Bleib ruhig. Wohin willst du gehen?« Und leiser: »Du hast Angst...« »Nein«, sagte Ian, »ich hatte niemals Angst. Was ist schlimmer als der Tod?« »Das Leben«, antwortete der Friseur. »Das Leben...« Und er fuhr fort, Ians Haare zu schneiden, ohne daß dieser protestierte. »Du hast keine Papiere mehr, und du willst welche, nicht wahr? Und du bist gekommen, weil ich dir grundlos Geld gegeben habe, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf. Stimmt's? Nun gut, ich werde dich enttäuschen, ich werde dir bei deiner Flucht nicht helfen, außer wenn...« »Ich habe sehr viel Geld«, sagte Ian. »... außer«, sagte der Friseur, »wenn du in etwas Bestimmtes einwilligst.« Ian drehte den Kopf, und der Mann versenkte seinen Blick in Ians Augen. Er blieb stumm, Ian wandte sich nicht ab, und der jüdische Friseur sah in diesem grünen und gelben Ozean, aus dem dunkle Felsen hervorragten, alle verborgenen und zukünftigen Dinge, Gewissensbisse und Begierden. Die Augen von Ian stießen nicht ab, sondern zogen das Leben in sich hinein, und der Mann reiste lange in ihrem Inneren. Schließlich drehte er Ians Kopf mit dem Kamm um und murmelte: »Wegen deiner Papiere mußt du nach K. oder R. fahren, nicht an die Küste.« »Ich bin im Nordosten«, sagte Ian. 222
»Dann kannst du auch zu einem Freund in S. gehen, er verkauft Uhren, er repariert sie vor allem; wenn du S. kennst, findest du ihn leicht, er wohnt hinter der Kaserne, über seinem Geschäft, und er bleibt abends lange auf.« Ian zögerte. »Was hast du gegen die Kaserne?« fragte der Friseur. Und um ihn zu zwingen sitzenzubleiben, drückte er auf Ians Schultern und fühlte, wie er zitterte. »Eine schlechte Erinnerung?« »Man hat mich ins Lager Null geschickt«, stieß Ian hervor. Der Friseur wartete auf die Fortsetzung. Nach einem Augenblick des Schweigens fügte Ian hinzu: »Ich wußte nicht, warum. Ich bin geflohen.« So war der Junge also ein Opfer, sagte sich der jüdische Friseur, Opfer in jeder Hinsicht, Opfer der anderen wie seines eigenen Lächelns, seiner Träume wie seiner Lust, denn die Lust hatte sich deutlich um seinen Mund herum eingeschrieben, ebenso wie in einer gewissen Melancholie, die den freudigen Schimmer seines Blicks durchkreuzte. »Du hast meinen Handel noch nicht akzeptiert.« »Wie lautet er?« fragte der junge Mann. »Wo immer du auch hingehst, du mußt jemanden retten.« »Das sofort, auf der Stelle.« »Jemanden... Zu jedem Preis, verstehst du?« »Ich habe ja gesagt.« »Selbst wenn du zurück mußt? Und sogar dorthin zurück, wo du nicht hinwillst?« »Warum?« fragte Ian. »Willigst du ein oder nicht?« Ian senkte den Kopf, dann sahen sie sich im Spiegel an. »Ja«, sagte Ian. »Übrigens mußt du nur eine Person retten, eine einzige.« »Wen?«
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»Du wirst es immer früh genug erfahren. Was ich tun kann, ist, dir einen Wagen zu verschaffen; er ist nicht sehr schön, fährt aber gut und fällt nicht auf. So kannst du schnell nach S. gelangen, es gibt keine direktere Verbindung, weder Bus noch Zug, und ich nehme an, daß du es vorziehst, so wenig wie möglich gesehen zu werden.« Aus einem hinter Parfümflaschen stehenden Karton holte er Autoschlüssel und stark fettige Wagenpapiere. Durch das staubige Schaufenster zeigte er auf ein kleines Auto von einem undefinierbaren Grau, das in einiger Entfernung auf der Straße stand. »Du läßt es in...« »In T.«, sagte Ian, ohne nachzudenken, es war der Ort, wo er den Bungalow gemietet hatte. Der jüdische Friseur nickte mit dem Kopf. Auf eine nach billigem Parfüm riechende Karte schrieb er MATHIEU, den Namen des Uhrmachers, und bevor er sie Ian gab, hielt er ihn an, sie zu den Wagenpapieren zu stecken. »Wenn man dich verhaftet...« »Ich weiß nichts«, sagte Ian, »selbst wenn sie mich schlagen.« »Wurdest du schon geschlagen?« »Nicht wirklich«, gestand der junge Mann, und er sah ein Lächeln auf den Lippen des Friseurs. »Vertrauen Sie mir?« Als Antwort hielt der Friseur ihm die Karte hin. Als er sie nahm, begann Ians Herz heftig zu schlagen, er hielt die Freiheit zwischen seinen Fingern. Jetzt hatte er es eilig wegzukommen. »Vergiß nicht«, sagte der Jude, »du mußt jemanden retten.« »Natürlich.« Seine Hand lag bereits auf dem Türknauf: »Wollen Sie, daß ich schwöre?« »Die Wahrheit hat Schwüre dieser Art nicht nötig«, sagte der Friseur. »Und jetzt, wo du hast, was du willst, ist dir ja doch alles andere schnuppe! Du hast wenig Zeit...« »Wenig Zeit für was?« fragte Ian. 224
»Für dich«, sagte der Jude. Ohne die Tür hinter sich zu schließen, trat Ian auf die Straße und lief zum Wagen. Der Friseur ordnete seine Scheren; dann wurde die Tür erneut geöffnet, und Ian war zurückgekehrt. »Danke«, rief er. Und plötzlich hielt ihn etwas oder jemand dort zurück. Vorsichtig schloß er die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken an sie. »Ich habe getötet«, murmelte er, und als der andere nichts sagte: »Wenn Sie die Polizei rufen müssen, tun Sie es schnell.« »Dieser Raum ist taub«, sagte der jüdische Friseur, dann, mit kräftigerer Stimme – »geh jetzt.«
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28. Als Ian in S. eintraf, war die Uhrmacherei bereits geschlossen, aber es brannte Licht, und er klopfte an die Fensterscheibe. Dem Mann, der hinaussah, zeigte er die Karte des Friseurs, und die Tür wurde ihm geöffnet. Es war ein Mann in mittleren Jahren, mit schlecht geschnittenem Bart und dicken Händen, der mit seinem Käppchen auf dem Schädel sehr jüdisch aussah. Als wüßte er bereits alles, stellte Mathieu keinerlei Fragen und sprach auch nicht von Geld. Thaddee, der Friseur, habe ihn angerufen, aber er brauche ein Foto. Ian hatte keines, am Bahnhof finde er einen Passfotoautomaten, der die ganze Nacht geöffnet sei. Er solle hinfahren und danach in die erste Etage hinaufkommen. Ian tat, was von ihm verlangt wurde, doch war der Bahnhof voller Militär, und als er im Auto saß, erkannte er im Rückspiegel im Wagen hinter sich den Sergeanten, der ihn von V. bis zur hiesigen Kaserne gebracht hatte. Er senkte den Kopf und legte eine Hand an die Wange. Glücklicherweise war es dunkel, und die Insassen des anderen Wagens plauderten und lachten. Ohne zu blinken bog Ian in die erste Straße nach rechts ab, und hinter ihm blitzten Scheinwerfer auf. Er war in eine enge Straße gefahren, der Wagen folgte ihm. Ian fuhr weiter geradeaus, bog in eine, dann in eine andere Richtung ab und befand sich, voller Angst, erkannt worden zu sein, bald außerhalb der Stadt. Als er schon ziemlich weit gefahren war, stellte er fest, daß er die zum Lager Null führende Straße genommen hatte, und war gezwungen, einen großen Umweg zu machen. Als er in seinem Bungalow eintraf, hämmerte sein Herz noch immer, er hatte den Wagen in einiger Entfernung unter die Bäume 226
gestellt und konnte nicht schlafen. Die beiden folgenden Tage vergingen in Unruhe, er war sicher, daß der Sergeant ihn gesehen hatte, und vermutete, daß seine Flucht bekannt war. Aus Vorsicht mußte er die Inspektion der Grenze auf später verschieben. Am dritten Tag verließ er den Bungalow; in einem Anfall von Tollkühnheit fuhr er mit dem Auto in Richtung des Eremitenhauses und versteckte den Wagen in einer verlassenen Scheune. Die Grabkirche war nicht mehr weit. Noch einmal zog er die verhaßte Kutte an und kehrte in der Abenddämmerung in das Dorf zurück. Schon nach wenigen Minuten wußte das ganze Dorf von seiner Rückkehr, genauso wie man innerhalb kürzester Zeit bemerkt hatte, daß er fortgegangen war. So brauchten sich die Bewohner wegen seiner plötzlichen Abwesenheit nicht mehr zu beunruhigen, sie schrieben sie seinem Wunsch nach Einsamkeit zu: Weitab von den Augen der Menschen, im tiefsten Inneren der Wälder und auf verlorenen, in den Sümpfen gelegenen Inseln gab sich ihr Heiliger Kasteiungen hin. Wenn sie die Raserei Ians gesehen hätten, hätten sie ihn von Dämonen besessen geglaubt: Im Haus zertrampelte er alles, was ihm vor die Füße kam, das Gebetbuch zerriß er in Fetzen und machte nur vor dem Hut und dem Gewand halt, denn er war gezwungen, die Komödie fortzusetzen. Der Sommer verbrannte ihm das Blut, die kurzen Nächte fanden ihn stöhnend auf seinem Lager, wo er sich in sämtlichen Begierden wand, die ein Mensch haben kann, darunter vor allem das übermächtige Verlangen, einen anderen Körper neben sich zu spüren. Es gab Stunden, in denen er glaubte, verrückt zu werden, er führte Selbstgespräche, und da er fürchtete, in seinen Träumen zu schreien und gehört zu werden, nahm er die Gewohnheit an, sich in der Kapelle einzuschließen, wobei er sich verbot, Angst vor den Toten zu haben: Wenigstens sie konnten ruhig hören, wenn er von seinem Verbrechen sprach. »Warum hat mich dieses Schicksal getroffen? Wer hat bestimmt, mich vom Leben abzuschneiden? Wer hält mich abseits, welche unglücklichen Gaben habe ich empfangen, daß man mich zurückweist, mich, mein Lächeln und meine ausgestreckten Hände? Muß ich alles aufgeben, was ich bin, den Namen, das 227
Land, die Träume ändern, da ich ja mein Gesicht nicht ändern kann? Was habe ich getan?« Du hast getötet, sagte sein Herz. –Ja, aber vorher hatte ich nichts getan. – Du warst du, und das genügte. – Warum? – Frag die, auf denen du gehst... Daraufhin vermied er es, seinen Fuß auf die Grabplatten zu setzen, und bewegte sich nur noch in der Mitte der Kirche. Er verließ das Haus so wenig wie möglich, obwohl man ihn jetzt, da man wußte, daß er das Dorf nicht auf Dauer verließ, nicht mehr überwachte. Da man seinen Lebensrhythmus kannte, respektierte man sein Schweigegelöbnis, und niemand warf sich mehr vor seine Füße oder berührte den Saum seines Gewandes. Ein- oder zweimal konnte er sich nicht mehr zurückhalten und streunte in der Nähe der Häuser herum. Das erste Mal war es am Ende eines Tages; Schulkinder hatten sich um die Lehrerin versammelt und sangen im Schatten einer Eiche ein Lied über die Mainacht, die die Dinge verzaubert, die Töne in Gerüche verwandelt, den Duft der Blumen in schattige Farben und mit ihnen Erinnerungen in die Herzen der Menschen malt. Die reinen und kräftigen Stimmen füllten den Raum, die Kirche, das Kloster, die Straße, die roten Dächer, die Scheunen, die Holzbrunnen mit ihren grauen Meßstangen und die Veranden, die die Augen des Dorfes waren. Und die Abenddämmerung lauschte. Nachmittags versammelten sich die Frauen unter dem dichten Laubwerk, das den von der Kirche abgetrennten Turm aus rotem Holz umgab, und webten den Flachs der vergangenen Ernte. Auch die jungen Mädchen des Dorfes waren da, arbeiteten, plauderten und lachten. Eine ist hübscher als die andere, dachte Ian, der sie vor dem Hintergrund ihrer mit Blumenmustern bedeckten Webstühle miteinander verglich. Von nahem wiesen ihre glatten Wangen und klaren Augen denselben leicht gewöhnlichen Zug auf wie die Arbeit ihrer Hände. Er wartete, bis es dunkler wurde, und ging langsam die Straße hinab; einem Verrückten gleich machte er in diesen wenigen Minuten hinter dem Schleier, der sein Gesicht verbarg, die Rundung einer Wange aus, eine hellere oder dunklere Haarsträhne, ein Paar halbgeöffneter Lippen, ein winziges Ohr, und wild nahm er diese Blitze von Schönheit mit, um mit ihnen die 228
Stille seiner Nächte zu erleuchten. Einmal wagte er es, noch näher heranzugehen, fasziniert, so schien es, von der Verarbeitung des Flachs; alle Frauen wurden stumm und setzten unter seinem Blick die Arbeit fort. In eine der Holzwände des Turmes wurde ein Bügel genagelt; eine Frau befestigte mehrere Fadenenden daran und band die anderen Enden an ihrem Gürtel fest. Dann trat sie mehrere Schritte zurück und zog mit einem Holzstab, der genauso hell war wie ihre Finger, so schnell ein Seidenknäuel zwischen die Schußfaden, daß man nichts weiter sah als ein sich im Leeren bildendes Muster. Von Wetteifer ergriffen begannen mehrere Frauen nun ebenfalls zu arbeiten, und um den roten Turm herum zogen sich einem riesigen Spinnennetz gleich Fäden. Alle arbeiteten schweigend, zu hören war einzig das schwache Geräusch ihrer Schritte, wenn sie zurücktraten. Ian hatte nur Blicke für ein ganz junges Mädchen, das unbestimmt ins Leere lächelte, wie jemand, der die Liebe erwartete. Schließlich riß er sich zusammen und ging fort, und als er sich entfernte, begannen die Frauen wieder normal miteinander zu sprechen. Als sie jedoch ein wenig später ihr Tagwerk beendet hatten, rezitierten alle gemeinsam eines jener abergläubischen Gebete, mit denen die Religionen die Köpfe der Kinder vollstopfen. Juli und August gingen vorüber. Ian wurde von einem Beben ergriffen, wenn er an Körper dachte. Ganze Stunden ließ ihn das Bild des jungen Mädchens nicht los, dennoch vermied er es, im Gegensatz zum vorangegangenen Jahr, seit einiger Zeit, sich zu berühren. Selbst in der Tageshitze unternahm er im Wald lange Wanderungen, um seine Glieder und Knochen durch Müdigkeit und nicht länger durch Lust zu erschöpfen. Während seiner endlosen Ausflüge geschah es zuweilen, daß er nichts anderes sah als Sonnenflecken, die durch die Bäume leuchteten, gleich Markierungen auf seinem Weg der Einsamkeit; sie wurden mit dem vergehenden Tag dunkler, und Ian spürte ihre nachlassende Intensität nur an dem jedesmal heftigeren Schrei, den er in diesem Moment zurückhielt, und der, so glaubte er, die Welt in Stücke zerspringen ließe, wenn er sich aus seiner Kehle befreien würde. Kein Tier unterdrückte seine Liebesklage oder seinen Todesschrei, er aber mußte standhalten; nur – wie lange würde er das noch können? Er 229
gab sich einen Monat, dann würde er alles auf eine Karte setzen, direkt zur Grenze gehen und sie nötigenfalls gewaltsam überwinden. Er würde sich verstecken, sich zu seiner Rettung auf der anderen Seite der Grenze in die Hände eines Menschen begeben, der ihn wollte, und er malte sich eine Frau aus, die ihn bei sich verstecken würde, und neue erotische Schlaflosigkeiten quälten ihn. Die ersten Septembertage waren voller fliegender Ameisen, eine Gewitterhitze lastete auf den ersten gelben Blättern, doch fiel nicht ein Tropfen Wasser, und die Sonne starb in einem Abend aus goldenem Rosa, der sich wie ein gewaltiger Schimmer, in dem sich Bäume und Häuser gleich Scherenschnitten abhoben, bis spät in die Nacht hinein fortsetzte. Durch seine überwältigende Stille flößte der Himmel Angst ein, die Erde darunter schien vernichtet, bis zu dem Moment, da die Dunkelheit alles auslöschte.
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29. Am ersten Septembertag ließ Andrei das Fahndungsplakat von Ian in den Küstenstädten anbringen. Die Hinweise trafen zunächst nur spärlich ein, doch schon bald fügten sich die kleinen Fakten zu einem runderen Bild, und er war sicher, daß Ian in dem Sommer, in dem das junge Mädchen getötet worden war, Unterschlupf und Geld gefunden hatte. Die Freundinnen des Mädchens erkannten den Fremden, den sie am Strand geliebt hatte, wieder; man fand die Vermieterin und die Boutiquen, in denen er sich eingekleidet hatte, und höher im Norden führten neue Fotos zu weiteren Spuren. Bei der Verfolgung desjenigen, der, ohne es zu wissen, sein Leben verändert hatte, wurde Andrei nun mehr und mehr von Jagdfieber gepackt. Als er entdeckte, daß Ian sich wochenlang an einem weit von der Grenze entfernten Seeufer aufgehalten hatte, in der Nähe eines Dorfes, das auf der Strecke in Richtung des Landesinneren lag, und daß junge Leute ihn für einen Studenten gehalten hatten, der seine Ferien in einer Waldhütte in freier Natur verbrachte, erinnerte er sich an seine anfänglichen Nachforschungen in den Wäldern, über die die Männer gespottet hatten, und entschloß sich, künftig nur noch auf seine Intuition zu hören. Auf einer Karte folgte er Ians Route. Als es keinerlei Hinweise mehr gab, schlug er Zirkel und schickte seine drei Untergebenen auf gut Glück los, behielt die richtige Idee aber immer für sich, denn er versetzte sich in Ians Haut, indem er sich vorstellte, er selbst würde verfolgt. Nach und nach wurde die Ergreifung Ians sein einziges Ziel; und an einem einsamen Abend, an dem er über alle Konsequenzen dieser Suche nachdachte, wurde es ihm zur Gewißheit, daß er diesen Jungen wortwörtlich HABEN wollte, um sich selbst zu ent231
zaubern. Doch sein zerrissenes Herz revoltierte, als man in den ersten Oktobertagen in den Klippen das Versteck mit den Kleidern fand. Es war ein Glück, daß jemand gesehen hatte, wie Ian die Furt durchquert hatte, denn in der ganzen Gegend hatte ihn sonst niemand, nicht einmal von weitem, bemerkt. Andrei rief Adam an und befahl ihm, zu ihm zu kommen. Unter welchem Vorwand? Er ließe ihn einfach für eine Militärübung abkommandieren, die Universität hatte sich dem zu beugen. Adam traf ihn in K. Da nichts darauf hinwies, daß Ian sich in dieser Stadt aufgehalten hatte, fuhren sie erneut zur Kaserne von S., wo sie ein Resümee all dessen, was bisher gesammelt worden war, erstellten. Auf einer Karte folgten sie Ians seltsamer Route, und es gelang ihnen, die fehlenden Teile zu rekonstruieren und sich vorzustellen, wie er sich wohin hatte wenden können. Man sah zunächst noch davon ab, eine Suchmeldung an die Autofahrer auszugeben, denn abgesehen von einigen sehr präzisen Fakten gab es in dem Maschennetz noch zu viele Löcher, und seit dem vergangenen Herbst, als man die meisten der von Ian an der Küste gekauften Sachen in dem Versteck gefunden hatte, schien der junge Mann sich in Luft aufgelöst zu haben. Sicher, es bestand die Möglichkeit, daß er ertrunken war, denn er schwamm schlecht, doch war der Fluß an dieser Stelle von Sandbänken durchzogen, und außer an Eistagen hoben und filterten Bagger den ganzen Tag über Kies, so daß sein Körper schnell gefunden worden wäre. In Städten wäre ein Untertauchen leichter, aber dies setzte voraus, daß es Komplizen gab, und Ian schien von Anfang an keine gehabt zu haben. In dem Dreieck, in dem er aufgetaucht war, gab es nur eine wichtige Stadt, doch fand man in ihr kaum Lokalitäten, in denen ein Mann sich unbemerkt hätte aufhalten können, keine Universität, keine Lagerhäuser und auch keine Kaserne. Letzteres kam wohl ohnehin nicht in Frage, wenn man bedachte, daß Ian jeden Grund hatte, alles, was ihn an die Armee erinnerte, zu fliehen. An höchster Stelle versicherte man Andrei erneut des vollsten Vertrauens. Man wußte alles über seine Beziehungen zu Catherine, was seiner Karriere förderlich war; es brachte ihn weiter, und gleichzeitig hatte man etwas in der Hand, um ihn nötigenfalls unter Druck zu setzen. 232
Methodisch wurden Listen verrufener Lokalitäten im Milieu des Glücksspiels und der Prostitution angelegt sowie sämtlicher Orte, durch die Ian mit Sicherheit gekommen war. Man kontrollierte die Stadtgemeinden, aber sie waren dem Staat unterstellt und hatten nichts Ungewöhnliches angezeigt. Auf dem Land gab es in den drei christlichen Kirchen fast ebenso viele Orthodoxe wie Katholiken und Protestanten. Alle drei waren tolerant, und oft befand sich neben einem Kloster oder einer Mission ein religiöses Gebäude, das von mehreren Gemeinden genutzt wurde. Dort war es leicht, ihre Aktivitäten zu kontrollieren, und die einzelnen Gemeinden waren zu begierig danach, ihren Gesetzen gemäß zu leben, als daß sie jene der Nacht überschritten hätten. Es gab auch Minderheiten, Deutsche und Juden, aber die einen wie die anderen zeigten sich fügsam und so sehr auf ihre Ruhe bedacht, daß sie die winzigste Unregelmäßigkeit sofort angezeigt hätten. Dennoch wurden alle überprüft, und einige zusätzliche Hinweise, die allerdings ohne größere Tragweite waren, fügten sich zu den bereits gesammelten. Systematisch trieb man die Landstreicher auf, niemand entsprach Ians Beschreibung, aber einige erzählten, daß sie einem Waldmenschen begegnet seien. Ihren vom Alkohol ausgemalten Geschichten ließ sich nichts entnehmen, und man steckte die Männer ins Asyl. Andrei nutzte die Gelegenheit und ließ die Nachricht verbreiten, der Verdächtige sei gefunden worden; er hoffte, mit dieser Falschinformation Ian aus seinem Versteck zu treiben. In P. brachte die Polizei in den Geschäften, am Bahnhof und in den Kinos das Fahndungsplakat an. Alle, die Ian getroffen hatten, sahen es, die Jugendgruppe, mit der er den Abend verbracht hatte, das Mädchen, in dessen Wohnung er gewesen war, und der jüdische Friseur, doch niemand rührte sich. Der Taxifahrer, der Ian in die Gegend des Friseursalons gefahren hatte, befand sich im Krankenhaus und hatte im übrigen auf den jungen Mann nicht geachtet. So brachten die Nachforschungen Andreis kein Ergebnis, führten ihn einmal mehr in eine Sackgasse. Adam wollte zurückfahren, Andrei ließ ihn kraft seiner Sondervollmachten zum Militärdienst einberufen und zögerte nicht, ihn seine Befehlsgewalt spüren zu lassen, doch wenn sie allein waren, nahm Adam Rache.
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30. Ians Kleidung war so abgerissen, daß die Dorfbewohner, als sie ihn vorbeigehen sahen, beschlossen, sofort am nächsten Tag neue zu bringen. Doch als sie ihn an den beiden folgenden Tagen nicht wiedersahen, nahmen sie an, ihr Eremit habe sich erneut für einige Wochen zurückgezogen. Seine Spur hatte Ian wie gewöhnlich verwischt, indem er das Dorf über die Straße verließ und danach Umwege machte, die schwer zu verfolgen waren. Er fand den Wagen in demselben Zustand, in dem er ihn zurückgelassen hatte, verstaute seine Lumpen in der Scheune und machte sich diesmal direkt in Richtung Grenze auf. Von Vorsicht geleitet, parkte er den Wagen dort, wo Sumpfarbeiter ihre Fahrzeuge abgestellt hatten. Vor den Wäldern und dem See, die die imaginäre Linie zwischen den beiden Ländern säumten, waren weite Sumpfgebiete trockengelegt worden und dienten der Torfgewinnung. Unter den Oktoberwolken streckte die riesige Landschaft ihre schwarzen Böden aus; in den Wäldchen waren die Brombeer- und Heidelbeersträucher mit Beeren von einem matten Schwarz bedeckt, das zwischen den Fingern zu glänzen begann, und da er an einzeln stehenden Bäumen nur einige verkümmerte Apfel hatte sammeln können und die Maulbeeren ihm mit ihren Stacheln zusetzten, zog er es vor, sich von diesen Bärentrauben zu ernähren, deren säuerliche und violette Früchte ihn an glücklichere Zeiten erinnerten. Er mußte den Patrouillen ausweichen und beobachtete auf dem See die grauen Militärboote; sie lagen unbeweglich da, und wenn die Sonne sich nicht auf ihrer Schiffswandung gespiegelt hätte, hätte man sie leicht mit aus dem Wasser ragenden Klippen verwechseln können. Im Wald waren an verschiedenen Stellen Gräben 234
ausgehoben worden, und durch die Bäume zog sich ein umfassendes Alarmsystem, das unsichtbar war, aber effektiv und so empfindlich, daß Tiere es auslösen konnten. Hinzu kamen die Explosivladungen und die mit allem möglichen gespickten GEFAHRENZONEN. Der Gedanke, für nichts und wieder nichts zu sterben, hinderte Ian daran, das Abenteuer zu wagen, zumal er auch nicht wußte, was für Anlagen ihn auf der anderen Seite noch erwarten würden. Um die vereinzelten Grenzposten weiträumig zu umgehen, schlug er zahlreiche Haken; meist hinter Bäumen verborgen, folgte er den ganzen Tag über Wegen, die ihn der Karte nach Übergangspunkten näherbrachten, doch waren letztere entweder bewacht oder unmöglich zu überwinden, ohne sein Leben zu lassen. Am zweiten Tag suchte er weiter und gelangte in das Innerste des Waldes. Da der Herbst eine Verlängerung des Sommers war und der Wind bislang kein Blatt angerührt hatte, standen die gelben und roten Bäume noch in dichtem Laubwerk. Nach S. zurückzukehren und an die Tür des Uhrmachers zu klopfen schien ihm eine Lösung, doch mußte er dafür das Auto wieder holen oder aber ein anderes Transportmittel als den Zug finden; er mißtraute den Bahnhöfen, auf denen sich stets Menschen aufhielten, deren einzige Beschäftigung darin bestand, andere zu beobachten. Langsam reihten sich in dem ruhigen Wald die Stunden aneinander, und seine Gedanken hatten alle Zeit, zu reifen und wieder zu verfaulen. Unaufhörlich überlagerten sich in seinem Geist die Gesichter des Mädchens, das er erwürgt hatte, und jenes anderen, das neben den Weberinnen geträumt hatte, und seine wochenlange Abstinenz von jeder erotischen Handlung hatte das schmerzhafte Verlangen seines Körpers nicht vertrieben. Am Abend näherte er sich der Straße und sah zwischen den Bäumen Mädchen auf Fahrrädern und Jungen auf Motorrädern vorbeifahren. Ein Paar hielt unter einer Kiefer, und der Junge und das Mädchen verschmolzen ihre Münder so lange, bis Ian nur noch eine einzige Person sah. Sie blieben in solcher Ruhe vereinigt, daß er sie für den Schatten des Baumes nahm, aber er sah die Zärtlichkeiten ihrer verschlungenen Arme und malte sich die Lust aus, die er nur noch allein kannte. Schließlich gingen die Liebenden fort, aber dort, wo sie sich geliebt hatten, blieb ihre 235
Anwesenheit spürbar. Ian näherte sich und legte seinen Mund auf den Baum, an den sie sich gelehnt hatten. Seine Nacht war quälend, wie ein Tier ohne Höhle schlief er unter Farnkraut in einem feuchten Pilzgeruch. Im Morgengrauen setzte er seinen Weg fort und fand zum Waschen eine Tränke, aus der eiskaltes Wasser floß. Auf einer eingezäunten Wiese galoppierten junge Pferde von einem Ende zum anderen, wo der Nebel der Morgendämmerung sie verschluckte; dann erschienen sie plötzlich wieder, und er hörte das gedämpfte Trappeln ihrer Hufe auf dem Gras. Die Pferdehüter bemerkten ihn und winkten ihm freundschaftlich näherzukommen. Es war eine Zucht, sie glaubten, er suche Arbeit, und er korrigierte sie nicht, sagte ihnen aber, daß er vorhabe, in die Torfmoore zu gehen. Er wollte ihnen etwas zu essen abkaufen, doch sie boten ihm an, was sie hatten, Brot, Fleisch und Kaffee, und lehnten jede Bezahlung ab. Zum Essen setzten sie sich gemeinsam um einen aus einem Baum geschnittenen Tisch. Damit er sich rasieren konnte, hängten sie eine Spiegelscherbe an einen Baumstamm und gaben ihm ein gräuliches Handtuch. Es waren fünf junge Männer, alle schlank und stark, die daran gewöhnt waren, mit der Sonne zu leben, und außer ihren Pferden kaum etwas kannten. Nur manchmal gingen sie an den Wochenenden ins Kino und nach der Vorstellung tanzen. Plötzlich sagte einer von ihnen zu Ian: »Ich glaub, ich habe dich schon mal gesehen. Bist du hier aus der Gegend?« »Nein«, antwortete Ian. »Meine Familie wohnt im Süden. Ich heiße Adam.« »Aha. Jedenfalls ähnelst du einem Typen, den ich irgendwo gesehen habe...« »Du siehst zu viele Filme«, sagte ein anderer. Ian nutzte ihre gute Laune und verließ sie, als sie ihm die Pferde zeigen wollten; viele Fohlen waren am Anfang des Sommers geboren worden, es waren welche gestohlen worden, und sie brauchten Hilfe, ein zusätzlicher Kamerad sei ihnen willkommen. Ian gestand, daß er Angst vor Pferden habe, und sein Lächeln ließ sie die Fragen, die sie eigentlich stellen wollten, vergessen. 236
Als er weiterging, sah Ian den plötzlich aufmerksam gewordenen Blick des Jungen wieder vor sich, der ihn zu kennen glaubte, und getreu seiner Taktik umging er die Nachbarortschaft und setzte seinen Weg durch den Wald fort. An mehreren Stellen machte der Wald Wiesen Platz, und auf einer davon, ganz am Rand, stand eine Scheune, die mit bunten Plakaten beklebt war. Unter den Plakaten eines Wanderzirkus und eines italienischen Films sah Ian plötzlich sein Gesicht und seinen Namen. Er sei verschwunden und werde gesucht. Jede Person, die ihn gesehen habe, sei aufgefordert, dies unverzüglich anzuzeigen. Er begann zu rennen. Er wußte nicht mehr, was er tun sollte: So wie ihn das Lager von seiner weit entfernten Vergangenheit abgeschnitten hatte, waren jetzt auch die Brücken zu seiner jüngsten Vergangenheit eingestürzt. Er lebte ein-zig in der Gegenwart, in seiner Suche nach einem idealen Leben, und noch niemals seit dem Beginn seiner Flucht war er so sehr Gefangener gewesen: Hier draußen war sein Gefängnis, außer dem jüdischen Friseur hatte in den beiden vergangenen Jahren niemand mit ihm gesprochen. Nach mehreren Hügeln wurde die Landschaft erneut flach, zwischen Laubwerk tauchten wieder Seen auf. Auch in dieser Richtung gelangte man weiter im Norden ans Meer, und im Hinterland waren die Seegründe aus weißem Sand und bildeten zu dieser Jahreszeit überall kleine, bloßliegende Strände, die von Kiefern umstanden waren. Seit dem Morgengrauen hatte er Kilometer zurückgelegt und niemanden getroffen. Als der Nachmittag zu Ende ging, gelangte er an ein Seeufer. Er verspürte noch keinen großen Hunger und wollte zuerst den einsam gelegenen See nutzen, um sich ausgiebiger als am Morgen zu waschen. Gerade noch hatte er zum Trocknen auf dem Sand gesessen, als nicht weit von ihm zwei junge Reitknechte, die ihn nicht bemerkten, ihre Pferde heranführten. Sie hatten ihre Hosen bis zu den Knien hochgekrempelt und zogen unter Spritzen und Rufen ihre Pferde in den See. Es waren zwei herrliche Tiere, das eine feuerfarben, ohne jeden Fleck, das andere weiß, mit einer Mähne, die bei jeder Bewegung bebte. Einer der Jungen begann sie mit der Bürste zu waschen. Ian machte keine Bewegung und zeigte sich nicht. 237
Das dumpfe Brausen, das er so gut kannte, ließ sein Blut bis in das Herz seiner Handflächen schlagen. Der See war blaß geworden, und große Lichtschimmer streiften ihn auf seiner ganzen Länge. Unter den Bäumen kroch die Dämmerung langsam heran. Die beiden Jungen vergnügten sich, sie hatten ihre Hemden ausgezogen, als die Pferde ihre tropfnassen Mähnen geschüttelt hatten, und einer war sogar ganz nackt und ging weiter ins Wasser. Jung und strahlend, mit schwarzen Stirnlocken, gab er den Tieren mit warmer und kräftiger Stimme Befehle, und der andere Junge lachte und ahmte ihn nach. Jeder hielt ein Pferd, und Ian erinnerte sich an die Geschichte von dem Pferdediebstahl und hielt es für möglich, daß die Tiere aus der Zucht stammten. Die Jungen sahen nicht aus wie Bauern, vielmehr ähnelten sie Nomaden oder Zirkusleuten, die vom Frühling bis zum Herbst herumzogen. Vermutlich kampierte ihre Truppe in der Nähe eines ziemlich weit entfernten Dorfes, nach dem, was sie jetzt sagten. Der nackte Junge wollte noch länger bleiben und baden, der andere wollte zurückreiten, um ins Kino zu gehen. Es war bereits spät, und er begann sein Pferd aus dem Wasser zu ziehen. Der dunkle Junge half ihm, wobei er sein Tier noch immer am Zügel hielt. Dann ging er in den See zurück und rief seinem Freund zu, daß er ihn nach der Vorstellung am Ausgang des Kinos erwarte. Die Antwort verlor sich in der Ferne. Und in der Stille erhob Ian sich plötzlich. Der Junge sah ihn zwischen den Bäumen auftauchen; einen Moment lang blickten sie sich an; der junge Mann kam auf das Ufer zu, und der Junge, der bis zu den Knien im Wasser stand, hatte den Mund halb geöffnet. Die Begierde durchfuhr sie wie ein Blitz. Das große, feuerfarbene Pferd schlief regungslos; das Wasser schien weiß, als wäre es abwesend, und der Schatten der Bäume hatte sich dem See genähert. Wie eine Decke breitete sich ein Lichtschimmer über das Unterholz. Die Brust des Jungen hob sich sanft, sein Blick war ernst, und das Blut war aus seinem Gesicht gewichen; er erwartete den Mann, der in der Überfülle seiner fleischlichen Kraft auf ihn zukam und ihm brutal und wehrlos zugleich den ganzen Körper darbot. Wie um das Wasser nicht zu stören, in dem das Licht zu ertrinken schien, kam Ian langsam näher; er sah die Lippen des Jungen, und alle Mädchen, die er 238
bisher besessen hatte, glitten in einer Sekunde über diesen Mund. Ihre Körper berührten sich vor ihnen, und beide fühlten diese Gegenwart auf ihren Bäuchen. Ian lächelte dem Jungen zu, bevor er ihn in seine Arme schloß; beinahe schüchtern legte sich sein Mund auf den anderen Mund, dessen Lippen sich öffneten, und eine Sekunde lang schloß er die Augen. Dann ließen ihn die Sanftheit dieses Gesichts, die so verschieden war von der, die er bisher gekannt hatte, und die vollkommene Hingabe des Jungen, die Ian, obwohl der Junge aufrecht stehenblieb, nach all den Tagen unfreiwilliger Keuschheit als Hingabe an ihn empfand, diesen Mund küssen, mit seiner Zunge besitzen und mit verrückten Küssen verschlingen. Der Junge legte die Hand auf ihn, und Ian konnte die Klage, die seit Monaten in seiner Brust lebte, nicht länger zurückhalten, die Hand nahm seinen Nacken und brachte ihre Gesichter erneut zueinander. Ian begann, zusammenhanglose Wörter zu stammeln. Der Junge streichelte seinen ganzen Körper, fiel dann plötzlich im Wasser auf die Knie, hielt ihn mit ganzer Kraft in den Armen und rieb die Wangen an seinen Oberschenkeln. Ian sah den unterhalb seines Geschlechts gebeugten Kopf, und sein Herz schlug, und er wagte es noch nicht, den Jungen zu berühren. Das Licht war mittlerweile violett. Das Gesicht des Jungen glitt langsam höher, und Ian lernte eine ganz neue Süße kennen, dann kam der Junge in seine Arme zurück. »Du bist derjenige, den man sucht«, sagte er. Mit einem Schlag warf Ians Herz das Blut in seine Wangen. Die Angst vor einem Hinterhalt packte ihn, und um sich diese Angst nicht anmerken zu lassen, stürzte er sich auf den dargebotenen Mund, die Körper antworteten ihren Zärtlichkeiten, und diesmal mußte der Junge sich an das Pferd lehnen, dann verlor Ian die Gewalt über sich, er stieß den Jungen im Wasser auf die Knie, dann umfing er ihn mit seinem ganzen Körper und bog ihn nach seinem Willen. Der Junge stöhnte jetzt, wie Ian gestöhnt hatte, und nach und nach schob sich der Gedanke, diese Lust auszulöschen, über den, seine Spuren zu verwischen. Er drehte den Jungen auf den Bauch, und als dieser sich mit dem Kopf unter Wasser befand und versuchte, sich aufzurichten, packte Ian seine Kehle, drückte sie zu, und gleichzeitig verströmte sein Körper seine ganze Lust. 239
Die Hände des Jungen schlugen ins Wasser, er erstickte, Ian lockerte seinen Griff nicht, und plötzlich hörte jede Bewegung auf. Als er sich erhob, trieben Lichtschimmer im Wasser über das Gesäß und die Schultern des Jungen, die als einzige nicht bedeckt waren. Ian kniete sich plötzlich nieder, zog den Körper an sich und drehte ihn um. »Liebe«, murmelte er, es war, als hielte er seine eigene Jugend in den Armen. Das Gesicht trug dunkle Spuren, die Lider waren geschlossen, Ian legte den Mund auf sie und ließ den Leichnam ins Wasser zurückgleiten. Die Zügel hatten sich unter dem Körper verfangen. Während der junge Mann schnell in seine Kleider fuhr, stieß das Pferd ein unruhiges Wiehern aus, begann dann in der Stille der Dämmerung auszuschlagen und an den Zügeln zu ziehen, um ans Ufer zu gelangen. Ian flüchtete.
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31. In gerader Linie legte Ian in derselben Nacht Entfernungen zurück wie nie zuvor. Es war unmöglich, zum Wagen und zu seinen zerlumpten Kleidern zurückzugehen. Und wenn ihm die Lust einen Moment lang Hirn und Körper entleert hatte, so dachte er jetzt nur noch daran, diesen See so weit wie er konnte hinter sich zu lassen. In das Haus des Klausners – wie er ihn nannte – zurückzukehren war der einzig vernünftige Weg. Dieser neue Mord verdammte ihn dazu. Auf der Straße zögerte er nicht, im Morgengrauen eine kleine Stadt zu durchqueren und einen Bus zu nehmen, der nach S. fuhr. Während der Fahrer an einer Haltestelle Gepäck verlud, stieg Ian auf halber Strecke aus. Von neuem marschierte er; er wollte im Schutze der Nacht zu seinem Haus zurückgelangen, andernfalls konnte er sofort kapitulieren, und Ian wollte dem Schicksal nicht nachgeben. Die Oktobernebel hatten sich gegen Mittag verstreut, und ein blaugoldener Himmel breitete sich über die verträumtesten Landschaften, die er jemals gesehen hatte. Wie gewöhnlich stahl er Früchte, dann näherte er sich dem Dorf und mußte zwei Stunden im Wald warten, bis die Nacht voller Sternbilder war und er wie ein Dieb in sein Haus schlüpfen konnte. Ohne Licht zu machen zog er seine Kleider aus und versteckte sie in einem Grab. Er fand neue Kleidungsstücke, die in dem Zimmer, in dem er nicht mehr schlief, zusammengefaltet lagen, und er sah darin ein Zeichen, daß der Junge ihm seinen Tod verzieh. Er streckte sich auf dem Bauch aus und fiel in einen unruhigen Schlaf. Er erwachte mit brennendem Körper, das Gesicht naß von Tränen, die er bis zum Morgen nicht mehr aufhalten konnte. Das Dorf 241
erfuhr, daß er da war, denn er machte Feuer, damit das Zittern aufhörte, das er der Erschöpfung zuschrieb, das aber in Wirklichkeit das Zittern eines Mörders war, der durch das Fieber die Gesten seines Verbrechens aus sich heraustreiben wollte. Man nahm an, daß er nicht, wie man ursprünglich geglaubt hatte, fortgegangen war, sondern sich in der Kirche eingeschlossen hatte; des öfteren waren nachts Lichtschimmer gesehen worden, und von weitem konnten die Dorfbewohner die Mondreflexe auf den Kirchenfenstern nicht von Kerzenlicht unterscheiden. Er nahm sein Leben wieder auf. Unablässig durchlebte er all seine letzten Handlungen von neuem. Der Satz des Jungen schien ihm nicht mehr gefährlich: »Du bist derjenige, den man sucht« – er hatte ihn zärtlich gesagt und nicht, wie Ian angenommen hatte, als hätte er in ihm den Mann vom Plakat erkannt. Während er bisher seinen Körper mit Freude angesehen hatte, betrachtete er nun seine Hände mit Entsetzen und entschied sich, sie aus seinem Blick verschwinden zu lassen. Das neue Gewand war weiter, mit den Armen konnte er seine Handflächen bedecken; manchmal verbarg er im Haus auch sein Gesicht, wie er es draußen getan hatte. Schließlich kam der Winter. Nacht für Nacht wurde sein Schlaf kürzer; im Dunkel des Zimmers sprach er zu seinen Toten und bat das, Mädchen wie auch den Jungen um die Vergebung, die die anderen ihm nicht gewährt hatten. Im Dorf wußte man bald, daß der Eremit die Nacht stöhnend verbrachte, und man erzählte sich, daß er all seine Kräfte für die unheilbar Kranken gab. Ian sah sich mittlerweile hier sterben. Seine drei Fluchtversuche waren gescheitert, jeder Versuch war kürzer und räumlich begrenzter als der vorangegangene gewesen. Am Anfang lagen die drei Monate im letzten Jahr, in denen er den Westen des Landes abgelaufen war; darauf gefolgt war der Monat im letzten Frühling mit seinem Hin und Her und dem Versuch, einen Ausweis zu bekommen. Und der letzte Versuch schließlich, bei dem er an der Grenze herumgeirrt war, hatte kaum mehr als eine Woche gedauert. Hinter sich hatte er alles verloren, vergessen, verlassen, was man brauchte, um ihn zu überführen, und man suchte ihn bereits wegen Mordes, beinahe als würden zu viele Spuren die Suchtrupps durcheinanderbringen. Er ahnte, daß es Militärs waren, und auf eine 242
seltsame Weise erfüllte ihn seit seiner Rückkehr ein Gefühl absoluter Sicherheit. In seinen Gesichtszügen spiegelte sich keinerlei Reue, trotz des Wahns, sein Gesicht zu verbergen. Im Gegenteil, bis in die Fingerspitzen hinein fuhr die Jugend fort, seinen Körper zu regieren. Er lauschte diesem Aufruhr in ihm selbst, und nach und nach verwechselte er ihn mit der Gnade, die sein Herz erflehte. Sein sexueller Hunger war nicht gestillt, doch als er sein letztes Abenteuer zum ersten Mal erneut durchlebte, führte ihn seine Phantasie bis zum Bild des Pferdes nach dem Mord, und diesmal verließ ihn die Reue nicht mehr. Währenddessen wurden die Kranken im Dorf langsam wieder gesund, von Zeit zu Zeit sprach man von der Heilkraft des Eremiten, und der Weihnachtstag brachte ein Ereignis, das seine Gabe in ein helles Licht tauchte. Auf dem vereisten Fluß fuhren Kinder Schlittschuh, ohne sich um das leichte Knistern der Eisdecke zu kümmern. Plötzlich brachen sie ein, lärmende Eisschollen richteten sich im Wasser auf und drückten die Schlittschuhläufer in schwarze Löcher. Fast alle wurden sofort wieder herausgezogen, lediglich zwei Kinder bekam man nur mit Mühe zu fassen. Als es schließlich gelang, legte man sie in dem scharfen Wind, der sich erhoben hatte, auf eine Bahre und versuchte vergeblich, sie mit Wärmflaschen ins Leben zurückzuholen. Beim Arzt waren ihre Herzschläge nicht mehr zu spüren. Der Vater der Kinder rief: »Der Eremit kann sie retten!« Der Arzt sah ihn an wie einen Schwachsinnigen. In Decken gewickelt brachte man die beiden jungen Körper zu Ian; Ian ließ sie auf dem Boden des leeren Zimmers absetzen, in dem der Eremit gestorben war, und machte Feuer. Die Menschen warteten auf der Veranda. Ian berührte die schneebleichen Wangen, legte dann jeweils eine Hand auf beider Brust und spürte, wie sämtliche Energie seinen Körper verließ. Sie sollen leben, sagte er sich, sie sollen leben für jene, die ich getötet habe, dies soll ein Zeichen sein. Er beugte sich über die Körper und legte den Mund auf den Mund des einen, dann des anderen Jungen, wobei er seine Hände nicht von ihren kalten Herzen nahm. In einem dumpfen Schwindelgefühl hatte er den Eindruck, in einen Abgrund zu stürzen. Die Stimmen 243
um ihn herum brachten ihn in die Wirklichkeit zurück, die Kinder hatten sich bewegt und waren fortgegangen, während die Menschen ihm Worte zuriefen, die er nicht verstand. Als er allein war, hatte er noch immer nicht die Kraft, sich zu erheben, seine Energie war ihm gestohlen worden, und sein Herz war leer. In den Dörfern machte das Wort Wunder die Runde. Im Kloster war man darüber nicht erstaunt, um so weniger, als der Eremit an seinem rauhen Leben nichts änderte und seine Tür der Welt verschlossen blieb. Ian dachte, daß das Leben der Kinder zwar fragil, aber noch lange Zeit um sie herum gewesen war, bereit, zurückgerufen zu werden, wenn man alle Kraft der Seele und des Glaubens aufbrachte. Seine seit seiner Verhaftung erschütterte und ruhelose Existenz blieb ihm unverständlich; an das Kind, das er gewesen war, erinnerte er sich nicht mehr, denn für ihn hatte sein Wesen sich nicht verändert, seitdem es sich des Lichts, der Schönheit und der Liebe bewußt geworden war.
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32. Nach einigen Tagen, im Oktober, begann Adam Andrei zu stören. Er stieß ihn in zu viele Initiativen, vermied aus Instinkt nutzlose Spuren, entdeckte neue Spuren in Ians Leben, und der Leutnant bekam Angst vor der Zukunft. Ian hatte sich in einem Ferienbungalow aufgehalten, der Wächter berichtete, was er von ihm wußte, und beschrieb ihn so, wie sie ihn nicht sehen wollten, niemandem ähnelnd, »freundlich«, sagte der Wächter, was sie mit verführerisch übersetzten, »gute Laune und... allein«. Das Wort »allein« hob er hervor, als wollte er verständlich machen, daß der junge Mann von Leere umgeben gewesen war, er wußte nicht, wie er es anders ausdrücken sollte: Selbst wenn er im Bungalow war, blieb das Licht niemals lange an; als er mit dem Boot von einem Fest auf der anderen Seeseite zurückgekehrt war, hatte er das Gesicht von jemandem, der niemanden getroffen hatte, ja, das war es, ein Kreis der Leere hatte ihn umgeben. Und dennoch lächelte er so freundlich. Eines Morgens hatte er den Zug genommen, und am nächsten Tag war er wieder in seinem Bungalow, er mußte in der Nacht zurückgekehrt sein, auf jeden Fall nach zwei Uhr morgens, denn um diese Zeit schloß der Wächter das Tor und legte sich schlafen. Es war nicht schwierig, über den Strand zu kommen, wenn man ihn nicht wecken wollte. Die Nachforschungen Andreis ergaben einmal mehr genaue Informationen: Ende Mai, an einem Morgen, war ein einziger Fahrschein nach P. verkauft worden, und zwar an den jungen Mann, dessen Foto sie zeigten. Die Angestellte erinnerte sich, daß er keinerlei Vorstellung vom Preis der Reise gehabt und daß er einen großen Schein aus seiner Tasche gezogen hatte. Sie erinnerte sich auch daran, ihn darauf hingewiesen zu 245
haben, daß er mehr als eine Stunde zu warten habe, denn er hatte sie mit einem ›Danke‹ und einem Lächeln bedacht. In P. mündeten die Nachforschungen wie beim ersten Mal in Schweigen, und Andrei vermutete, daß die Stadt für Ian nur eine Etappe gewesen war. Doch Adam blieb hartnäckig, und eines Abends stritten sie sich: »Was willst du beweisen?« »Und du, was willst du verbergen?« Adam hatte sein hinterhälti-ges Lächeln aufgesetzt, was den Leutnant beunruhigte. »Und wenn«, fügte Adam hinzu, »ich es wäre, der ihn wirklich retten wollte? Wenn er der Mörder des Mädchens wäre, würde er diesmal dem Strick nicht entgehen, mit guten Gründen, die die wirklichen überdecken. Und wenn ich mich geirrt hätte und du dich irrst...« »Und wenn, wenn, wenn...« Andrei geriet in Wut. »Und wenn wir dieselben Gefühle für ihn hätten, wir beide? Die Freundschaft ist eifersüchtiger als die körperliche Liebe, das weißt du.« »Adam, ich möchte, daß du jetzt zu Catherine zurückfährst.« »Entledigst du dich eines Zeugen?« »Nein. Ich werde es dir nur befehlen, wenn du einverstanden bist, und ich werde dich, wenn nötig, zurückrufen.« »Versprochen?« »Versprochen.« Adam fuhr am folgenden Tag zurück, und sämtliche Fragen Catherines stießen auf unbestimmte Ausführungen über militärische Übungen, die man von Zeit zu Zeit zu absolvieren habe. Was Ians Fall betraf, so hatte es keinerlei öffentliche Verlautbarung oder Erklärung gegeben, und selbst die Fahndungsplakate waren nur in den beiden Regionen, in denen er vermutet wurde, angebracht worden. Weniger als eine Woche später wurde der Mord an dem Jungen entdeckt. Als sein Freund ihn am Ausgang des Kinos nicht gesehen hatte, hatte er sich zunächst noch keine Sorgen gemacht. Doch am 246
nächsten Tag kam das Pferd alleine zurück. Man fand den Körper des Jungen im Wasser, dort, wo sie die Pferde gewaschen hatten; der Hals wies blaue Spuren auf, doch das Gesicht sah aus, als schliefe es. Als er als Verdächtiger verhört wurde, konnte der zweite Junge nichts als weinen; sein Aufenthalt im Kino, ihre Kameradschaft und sein entsetzlicher Kummer bewiesen seine Unschuld. Beide waren Bauernsöhne aus der Umgebung, sie hatten dieselbe Schule besucht und teilten dieselbe Leidenschaft für Ausritte in die Wälder. Die Schwester des Toten ging mit dem Überlebenden aus. Als all dies bekannt war, brachte man das Verbrechen schließlich in Verbindung mit dem fast überall in der Region angeschlagenen Plakat. Andrei wurde nach V. gerufen, berichtete, was er wußte, doch gab man ihm deutlich zu verstehen, daß er diesmal zum Ziel kommen müsse, daß er den gefährlich gewordenen Flüchtigen auch auf die Gefahr hin, ihn niederzuschießen, einfangen müsse. Dennoch fügte der die Spezialeinheit kommandierende Offizier hinzu, daß er ihn für all das, was er bereits gefunden habe, beglückwünsche, daß man aber des Körpers dieses Mannes habhaft werden müsse, tot oder lebendig, um Panik und Racheaktionen zu vermeiden; der Vater des Opfers drohe bereits damit, Selbstjustiz zu üben, wenn man dieses »Mördertier« nicht finde, genauso wie er Wölfe und Füchse abknallte, wenn es nötig war. Die Autopsie ergab, daß eine Vergewaltigung stattgefunden hatte. In der Leichenhalle des Krankenhauses wollte Andrei den Körper sehen, bevor er den Eltern zurückgegeben wurde; er bat darum, ihm nur das Gesicht zu enthüllen. Die Schönheit des toten Jungen verwandelte den klinischen Raum um ihn herum; der Mund skizzierte ein Lächeln, und vor allem der Schatten der Wimpern in diesem Gesicht von vollkommener Weiße schien nicht etwas, sondern jemanden zu verbergen. Einzig die wie Bronzespäne steifen Haare schienen nicht mehr lebendig. Der vollständige Autopsiebericht ergab, daß der durch Strangulation herbeigeführte Tod nach dem, was man Vergewaltigung nannte, eingetreten war. Der Untersuchung zufolge war der sexuelle Kontakt nicht erzwungen worden, sondern mit Einwilligung des Opfers geschehen. Andrei weigerte sich weiterzulesen. Er zweifelte nicht mehr an Ians Schuld, die beiden Verbrechen waren auf dieselbe Art verübt worden. Was 247
war im Kopf dieses Mannes vor sich gegangen, war er verrückt geworden? Hatte er sich bedroht gefühlt? Und vor allem entsprach der Mord nicht mehr dem, was er aus der Vergangenheit des ehemaligen Geliebten Catherines wußte. Es sei denn, sagte ihm eine innere Stimme, die dunklen Liebschaften, in denen Catherine sich mit Adam und anderen vergnügt hatte, wären für Ian bis zur Wollust und zum Tod ausgeartet. Die Geschichte wurde geheimgehalten, nachdem die Eltern überzeugt worden waren, das Schweigen sei für die Auffindung des Mörders unabdingbar. Dieses Mal gab es keinerlei Hinweise. Andrei ließ Adam nicht zurückrufen und kehrte zur Kaserne von S. zurück, wo er auf etwas Unbestimmtes wartete; er gestand sich kaum ein, daß er auf ein neues Verbrechen hoffte, das Ian sichtbar machen würde. Man vergaß ihn, er fühlte sich halb in Ungnade gefallen und kam nur noch selten nach V. zu Adam und Catherine, und ihre Vergnügungen hatten sich in eine Art anstrengende, martialische Komplizenschaft verwandelt. Schon tauchte ein anderer Freund in den Unterhaltungen des Paares auf, und als der Winter begann, blieb Andrei in der Kaserne. Der Wind zerfetzte die Fahndungsplakate, Regen und der erste Schnee taten ein übriges, und nur an ein oder zwei geschützten Stellen an der Küste betrachtete Ians Gesicht weiterhin die wenigen Passanten und die Biegung einer menschenleeren Straße.
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33. Der Winter wurde für Ian zur Hölle. Und doch fiel genauso viel Schnee wie nötig, um die Landschaft schön zu machen, jeden Morgen erschien der Tag klar und voll Freude über der Erde, die Abende waren durchsichtig, die Nächte voller Sterne, und die Kälte belebte die Wangen der Kinder und das Blut der Männer. Seit Weihnachten hatte Ian jeglichen noch so schüchternen Annäherungsversuch seitens der Dorfbewohner zurückgewiesen. Vor seine Tür legte man Wintersträuße aus getrockneten Blättern und Tannenzapfen oder auch geflochtene Kränze, auf denen Früchte glänzten; rund um das Haus wurde Schnee gefegt und der Weg geebnet; unter dem Vordach wurde das Holz erneuert, und um die Nahrung, die man ihm hinstellte, vor der Kälte zu schützen, wurde ein Vorratsschrank angebracht. Doch Ian blieb unsichtbar und verbrachte endlose Stunden in der Kirche, wo niemand ihn sehen konnte. Seine Seele war von Angst überflutet, doch sein Körper zeugte noch immer nicht von dieser geheimen Verzweiflung. Dieses Ding, dem er kaum Bedeutung beimaß, die Seele, begann ein so unabhängiges Leben, daß sie ihn zweifeln ließ an dem, was er bisher gewesen war, ein Junge ohne irgendwelche Probleme, weder physischer noch metaphysischer Art, der mit beiden Beinen fest auf der Erde stand und sich in seiner Haut wohlfühlte; doch dann hatten ihn die Ereignisse, das Schicksal, die anderen in eine absurde Existenz eingeschlossen, der er mit einer Eigenschaft zu entkommen versuchte, die er gegen sich selbst erworben hatte: die Geduld. Die in vollständiger Einsamkeit verbrachten letzten Monate hatten ihn weder zerbrochen noch der Freude etwas anhaben können, die er im tiefsten Inneren seines Fleisches und seines 249
Geistes trug; doch der Satz, aufgrund dessen er den Jungen erwürgt hatte, untergrub seinen Mut, seine Zärtlichkeit, seine Unverletzlichkeit; was er auch tat, um es vor sich zu verbergen, er war nichts als ein Mörder, der Angst hatte, und der Körper, den er im Schimmer der Abenddämmerung zurückgelassen hatte, schrie nach Rache, nicht wegen des Tötungsaktes, sondern wegen seiner Verwiegerung der Liebe. Manchmal wachte er nachts mit schweißgebadetem Gesicht auf und ging lange im düsteren Haus herum, um sich von diesem Begleiter aus Schatten zu befreien, der ihm von Traum zu Traum folgte mit seinen geschlossenen Augen und seinem Mund, der für immer verstummt war auf den unsichtbaren Worten: »derjenige, den man sucht...« Mit dem Temperaturanstieg in der Mitte des Winters kamen noch furchtbarere Alpträume. Vom Grund seines Schlafes stieg ein uniformierter Mann zu ihm herauf, und nach und nach glaubte er in ihm all jene zu erkennen, die eine Rolle in seinem Leben gespielt hatten, angefangen von seinem Großvater bis zum Kommandanten des Lagers Null; aber die Person kam immer näher, und von nahem besaß das Gesicht keinerlei vertrauten Zug, und Ian konnte sich nicht rühren, während der andere ihm eine behandschuhte Hand auf den Mund legte. Dann versank er auf dem Grund der Nacht, aus der dumpfe Schläge auf die Matratze ihn wieder auftauchen ließen: Es waren die Schläge seines Herzens, und er mußte sie zur Ruhe bringen. In anderen Nächten ähnelte dieser innere Minotaurus Catherine, Adam oder dem Sergeanten, der ihn ins Lager begleitet hatte; sie trugen immer dieselbe Uniform mit allem, was eine Uniform an Erbarmungslosigkeit und Anonymität besitzt. Das Schlimmste aber war ein Alptraum von ganz anderer Art: Im Nachmittagslicht sah er eine weite und sanfte Wiese, und auf dem Gras um eine Decke herum saßen Personen; er erkannte den Jungen, der ihm durch die Tür »Ich sehe Sie« zugerufen hatte, das träumerisch lächelnde Mädchen, den Jungen, den er getötet hatte, und den alten jüdischen Friseur. Er wollte zu ihnen gehen, aber plötzlich richtete sich zwischen ihm und ihnen eine Mauer gleich einer Glaswand auf, und hinter sich hörte er, wie sich Hunde näherten. Ein Mann hielt sie an der Leine, bereit, sie auf Ian loszulassen. Die Wiese entfernte sich, die anderen hatten ihn nicht gesehen, und jedesmal, 250
wenn er sich auf das Gebell der riesigen Wachhunde hin umdrehte und mit dem Rücken zur Mauer stand, fiel er hintenüber und wachte auf. Eines Nachts schließlich erschien der uniformierte Mann, der seine Träume heimsuchte, in vollem Licht: Er hatte die Fresse des Hundes aus dem Lager. Eine Revolte gegen das, was geschrieben stand, ließ ihn die Bücher ins Feuer werfen, und während sie langsam verbrannten, hatte er den Eindruck, daß die Inhalte der einzelnen Seiten verloschen, die Zeremonien und die Gebete, die Suche nach dem Absoluten und die Ratschläge für die verstorbenen Seelen, und einige Tage lang hatte er das Gefühl, das Haus sei von dieser imaginären Welt befreit. Ostern trug ihm Glockengesänge und die Rufe der Prozessionen zu, und da er bei dem Besuch eines Mönches aus dem Kloster keinerlei Antwort gab, wagte man es nicht, die Grabkirche zu öffnen, um dort Hymnen zu singen und die Toten zu beweihräuchern. Als der Frühling die Bäche sprudeln ließ, den Haarschopf der Weiden zauste, in die Buchen Nester baute und die Kirschbäume blühen ließ, blieb Ians Herz leer; seine Augen betrachteten die Erneuerung, von der er sich ausgeschlossen fühlte, ohne zu ahnen, daß ein Gewaltausbruch in ihm gärte. Die großen Feste entfernten sich, die Mainächte verströmten ihren Zauber, ihre Schönheit versprühte einen Regen von Sternschnuppen auf die Welt, und die Erde antwortete mit allem Duft ihrer wilden Pflanzen. Die Seen ähnelten Stücken eines Nachthimmels, und inmitten all dieser Sanftheit bebten die Herzen der jungen Mädchen, während den Jungen ihrerseits die Herzen schwer wurden in ihren brennenden und leichten Körpern. Die ganze Natur liebte, und als Ian die Vogelgesänge der Morgen- und Abenddämmerung hörte, konnte er seine Abgeschiedenheit nicht länger ertragen und suchte nach einem Weg, ins Leben zurückzukehren. Am Vorabend des Pfingstfestes zelebrierte das Kloster die Vesper in der großen Dorfkirche, und aus den umliegenden Dörfern und sogar aus der Stadt waren zahlreiche Menschen gekommen. Da die Jugend am Abend ein Tanzfest feiern wollte, wurde die Vesper bereits um vier Uhr am hellichten Tag gesungen; es war die einzige Konzession, die die Mönche an das Jahrhundert machten. 251
In einem Nachbardorf feierten die Katholiken ebenfalls, doch zog das prächtige Dekor und die Großartigkeit der Gesänge mehr Gläubige in die orthodoxe Kirche. Ein Strauch von Kerzen ließ das Silber der Ikonen auf den an den Chor gelehnten Notenpulten sprühen. Darum herum war das Volk versammelt, und in der weißen Kirche schien die Menge aus Schatten gemacht, während sich vor dem Sanktuarium, auf den verblichenen Farben der Bilderwand, die goldenen Gewänder des Hegumenos und der Diakone abhoben. Die großen Niederwerfungen waren vollzogen, und auf der Mauer aus dunklen Stimmen erhob sich die klare Stimme des Vorbeters: »Du baust deine Gemächer über den Wassern. Du fährst auf den Wolken wie auf einem Wagen und kommst auf den Fittichen des Windes, der du machst Winde zu deinen Boten und Feuerflammen zu deinen Dienern.« Draußen stand die Sonne noch immer hoch am Himmel und fügte ihr Gold dem durch den Weihrauch schimmernden Gold hinzu. Die beschwörerischen Hymnen, in denen die Lebenden ein Gefühl von Ewigkeit suchen, ließen die Besucher erstarren. Die Zeremonien setzten sich fort, die Sänger wechselten zwischen Rufen und Murmeln, die Diakone kamen und gingen, mit seiner leichten Stimme riß der Vorbeter die Kleriker mit sich, und die Gebete um Frieden rannen von seinen Lippen wie neuer Honig: »Für dies heilige Haus und jene die eintreten in der Furcht...« Eingangsgebete wurden gesungen, und die Psalmen schwebten im Inneren der Kuppeln, wobei die wie Gongs vibrierenden Stimmen und die freudigen Stimmen über der Menge eine weitere volltönende Kirche errichteten. »Wenn der Herr nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst. Es ist umsonst, daß ihr früh aufsteht und hernach lange sitzet und esset euer Brot mit Sorgen; denn seinen Freunden gibt er es im Schlaf.« 252
An der Tür gab es eine Bewegung, dann ging der Eremit zum Chor vor. Sein Gesicht war unbedeckt, sein Gewand offen, und über seinem Hemd zerriß er es in voller Länge. Die Gesänge waren verstummt, der Klerus wartete wie ein vor die Türen des Sanktuariums gelegtes Goldblatt. Ian schrie: »Ich bin der Mann, den man sucht.« Die Menge schwieg und war, als sie die Stimme des HEILIGEN zum ersten Mal öffentlich vernahm, bereit, das Unmögliche zu glauben. »Den man seit zwei Jahren sucht«, fuhr Ian fort, und seine Stimme füllte die Stille, die sich in der Erwartung einer wunderbaren Enthüllung ausgebreitet hatte. »Ich bin der Flüchtling aus dem Todeslager.« Einige Frauen begannen leise zu weinen, und ein Teil der Menge warf sich auf die Knie. Die Mönche überlegten bereits, welche Bilder sich hinter diesen Bildern verbergen mochten. »Ich war zweiundzwanzig Jahre alt, ich bin geflohen. Der Winter war mein Verbündeter. Ich habe den Platz des Mannes eingenommen, der dort« – er zeigte in Richtung der Grabkirche – »eingeschlossen war. Er starb an Fieber, Cholera, was immer ihr wollt, und ich habe ihn dort begraben und in dieser ansteckenden Einsamkeit gelebt, mit all meinen Begierden im Körper, allen Begierden des Fleisches und des Herzens, dem Verlangen nach Liebe, versteht ihr, Liebe...« Er schrie das Wort heraus. Die Priester schlugen Kreuzzeichen, und mehrere begannen Litaneien zu murmeln. »Ich war hungrig nach Liebe«, rief Ian, »und ich habe getötet, ich bin es, der mit diesen Händen getötet hat.« Er hob die Hände vor sein Gesicht. »Ich habe am Meer ein Mädchen erwürgt.« Einen Blitzschlag lang wurde es ganz still, dann fuhr er leiser fort: »Ich habe den Jungen am See getötet. Ich habe ihn so geliebt, wie ihr es verflucht, und danach habe ich ihn erwürgt. Ich hatte Angst, ich bin...« Der Vorsänger machte ein Zeichen, und der Chor begann zu singen, aber Ian sprach auf dem Hintergrund des Psalms weiter: »Setze, o Herr, eine Wache vor meinen Mund und eine Hut der Tür meiner Lippen.« »Ich bin ein Mörder, ich habe den Besitz von Toten gestohlen, um zu entkommen, habe ich die Steine des Kelches verkauft, ich habe niemanden gerettet...« 253
Die tiefen Stimmen übertönten Ians Rede, dann erhob sich seine klare Stimme und es war, als lese er aus einem Buch der Lästerungen vor: »Mörder, Dieb, besessen von den Begierden des Fleisches, ich will leben, alles, was man euch hier gibt, ist Lüge, die Liebe stößt niemanden zurück...« Plötzlich erhob sich die Stimme des Vorsängers, die genauso klar war wie Ians, aber durch kräftige Stimmen, die jetzt in den Gesang einstimmten, verstärkt wurde. Der Diakon segnete die Menge, und die Priester gingen zuerst durch die Ränge der Frauen, dann durch die der Männer und sagten zu ihnen: »Zieht euch zurück, der Eremit ist vom Dämon heimgesucht, wie die Heiligen. Zieht euch zurück und laßt Leere vor ihm, so lange, wie man es euch sagt.« Ian schrie mittlerweile, und die Menge strömte hinaus. Ian schrie nach Liebe, und die Mönche löschten die Kerzen und trugen die Ikonen fort. Ian fühlte sich auf die Knie gleiten, die Erregung nahm ihm jede Kraft, und ein Schleier senkte sich vor seine Augen, einen Moment glaubte er sich blind, dann fiel er in ganzer Länge auf den Boden. Als er sich wieder erhob, war die Kirche verlassen, eine einzige umgestürzte Kerze rauchte noch auf den Steinplatten. An der Tür wurde er eine Sekunde von Licht geblendet, und vor sich sah er das Dorf, aber keine Menschenseele. Er begriff alles. Zweifellos hatten die Mönche den jungen Leuten geraten, ihr Fest zu verschieben, bis er wieder in seinem Schlupfloch war und die Polizei eintraf, um ihn festzunehmen. Der Widerwillen drehte ihm den Magen um. Unter dem Portalvorbau zerriß er die Reste seines religiösen Gewandes und ließ es an Ort und Stelle liegen. »Gott existiert nicht«, schrie er der Welt zu, »Gott existiert nicht.« Die Stille war betäubend, dann begann auf den Wiesen und Bäumen das Licht des Spätnachmittags zu leuchten, ein sanft bebendes Licht, und die ganze glückliche Natur schien sich in dieser Liebkosung zu seinen Füßen zu legen.
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34. Die von Andrei zusammengetragenen Indizien mündeten nach wie vor in einem Geheimnis: ein Kleidungsstück in einem gestohlenen Wagen, doch hatte dieser Wagen einem alten jüdischen Uhrmacher gehört, der ihn niemals benutzte und der darüber hinaus auch noch hinter der Kaserne von S. wohnte, er konnte nichts wissen. Ein Rubin, doch hatte Ian bei seinem Verkauf – eine kleine Ironie des Lebens – den Namen Adams angegeben; die Beschreibung des Flüchtigen war präzise, und auch die Männer, die in der Pferdezucht arbeiteten, hatten ihn genau gesehen und beschrieben ihn so deutlich, wie der Leutnant ihn in seiner Erinnerung sah. Der Monat Mai war zu Ende gegangen, und neue Ferien standen bevor; dennoch kündigte sich mit dem Sommer etwas Schweres an. Adam hatte gehandelt, und Andrei war schließlich zum Generalstab zurückbefohlen worden. Das, was er offen als einen Fehlschlag betrachtete, der ihn heimlich halb befreite, nützte ihm letztendlich, denn man beglückwünschte ihn zu dem Feingefühl, mit dem er seine Nachforschungen führte, und zu seinen guten Leistungen. Man fand die Lage der Dinge widersprüchlich, und wenn es nicht die von den beiden Freundinnen der Toten und den Pferdehütern gelieferten Beschreibungen Ians gegeben hätte, hätte man die Verbrechen irgendwelchen Herumtreibern zugeschrieben und Ian auf die Liste der Verschwundenen gesetzt. Er schien bisweilen aus der Leere aufzutauchen und wieder in sie zurückzukehren. Vermutlich lebte er in den Wäldern, und nur eine großangelegte Treibjagd könnte ihn aufstöbern; doch schreckte man vor dieser Brachialmaßnahme zurück: Zu viele Leute müßten mobilisiert werden, und zu viele unliebsame Echos könnten ausgelöst werden. Nur manch255
mal führten Hubschrauber auf gut Glück Erkundungsflüge durch; die Fotos von Wäldern oder Sümpfen, die sie mitbrachten, wurden vergrößert und mit der Lupe untersucht, hatten bisher aber nichts enthüllt.
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35. Roman hatte sich vor die Füße des Abtes geworfen. Mit zerrissenem Herzen hatte er Ian gehört. Im Anschluß an die Vesper sprachen die Mönche im Kloster davon, die Behörden zu benachrichtigen. Der junge Mann, er war mittlerweile sechzehn Jahre alt, wurde von der Gemeinschaft als ein ihnen gesandter Engel betrachtet, der bei ihnen geblieben war. Anfangs hatte man ihn überwacht und sogar ausspioniert; man hatte ihm Fallen gestellt, und jedesmal hatte er den Fuß neben diese Hinterhalte, die er gar nicht zu bemerken schien, gesetzt. Die auserlesene Reinheit seines Gesichtes schuf Klarheit um alles, was er tat und sprach. Man hatte das Kind adoptiert, und es war offensichtlich, daß seine Unschuld von woanders kam, denn er lernte und deutete die dunkelsten Texte mit einer Intelligenz, die die alten Mönche in ihren Herzen priesen. »Steh auf«, sagte der Abt. Roman blieb knien und hielt seine schönen weißen Hände vor sich ausgestreckt. »Was willst du?« fragte der Hegumenos, berührt von dieser flehenden Haltung. »Vater«, sagte die Stimme des Novizen, »ich komme, um mein Leben für diesen Mann darzubieten.« Der Abt blieb stumm. »Vater«, wiederholte der Jugendliche, »ich biete mein Leben für diesen Mann. Man muß ihn in Frieden ziehen lassen.« »Der Abgrund ist in seinem Herzen«, sagte der Abt. 257
»Vater«, sprach Roman, »ich werde ausgestreckt vor dem Altar liegenbleiben, bis die Engel mich holen, damit dieser Mann gehen kann, wohin er will.« »Roman«, murmelte der Abt, »du bist ein Kind.« »Es gibt keinen Abgrund«, sagte Roman. »Derjenige, der fällt, wird auffliegen gen Himmel.« Der Abt legte seine Hand auf Romans Kopf und segnete ihn. »Geh jetzt in deine Zelle zurück, dieser Mann wird gehen, wohin er will.« Doch Roman erhob sich nicht, und als der Abt ein Schluchzen hörte, zog er sich leise zurück.
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36. Draußen ging Ian auf das Leben zu. Der Lärm seiner Worte füllte noch seinen Kopf, er sah den Himmel an, und der Himmel war schön, er sah die Erde an, und sein ganzer Körper bebte wie sie unter dem Licht des Sommers. Als hätte eine unbekannte Epidemie die Häuser geleert, lag das Dorf verlassen da. Nicht eine offene Tür war zu sehen, nicht ein Gesicht hinter den Fenstern, die Stille beherrschte diese Leere, und selbst die Straßen wurden nur von den Strahlen der untergehenden Sonne überquert. Die Glocken, die gewöhnlich nach der Vesper läuteten, blieben stumm. Kein Echo drang an das Ohr, nicht einmal das Flüstern des Windes, alles war unbeweglich und schien darauf zu warten, daß dieser Mann wegging und erneut zu existieren begann. Ian begab sich auf die Straße. Je weiter er voranging, desto leerer wurde die Welt, doch als er beinahe am Saum des Horizontes angelangt war, drang der Klang der Dorfglocken schwach bis zu ihm. Er hielt am Wegrand an. Eine lange Weile nach den Glocken trugen Musikfetzen ihm Tanzlieder zu, und der Hintergrund der unbeweglichen Landschaft um ihn herum schien sich mit den Geigen und dem Akkordeon zu bewegen. Er hatte kein Obdach mehr, keinen Schlupfwinkel, keinen Zufluchtsort. Er, der seit seiner Flucht daran gewöhnt war, konnte unter den Sternen schlafen, doch sprachen die Sterne in dieser Nacht keinerlei Sprache, und er hatte das Gefühl, daß er auch für sie nicht mehr existierte. Er ging von Dorf zu Dorf, die Bauernhöfe leerten sich, wenn er näherkam, und die Dörfer schlossen ihre Türen, und niemand hinderte ihn daran, Früchte, Brot oder Milch zu nehmen, man stellte sie ihm sogar hin, doch den Klang menschlicher Stimmen hörte er nicht mehr. Nach 259
mehreren Tagen wußte er, daß er sich im Herzen einer in gewisser Weise verbrannten Erde befand; indem man einen Kreis des Schweigens um ihn herum zog, löschte man ihn einfach aus dem Leben aus. In der ersten kleinen Stadt umgab ihn dieselbe Einsamkeit; von seinem Rebelleninstinkt getrieben, setzte er sich an eine Bushaltestelle, doch fuhr während der Zeit, in der er dort saß, kein einziger Wagen auf der Straße vorbei. Als er seinen Weg fortsetzte, sah er von weitem, daß eine Straßensperre errichtet worden war, damit er allein blieb. In kleinen Etappen wollte er T. erreichen, die Stadt, in der er den Bungalow gemietet hatte, und die unsichtbare Grenze, die ihn isolierte, ging ihm voraus und folgte ihm. Eines Abends warf er sich in einem Dorf auf dem Marktplatz auf die Knie: »Habt Erbarmen, vergebt mir«, flehte er, aber niemand schien ihn zu hören, und auf seine Worte antwortete nur das Geschrei einer jagenden Schleiereule. In einem anderen Dorf folgte ihm das Heulen der Hunde, kein Haus war erleuchtet, und der Mond begleitete ihn mit seinem mißbilligenden Gesicht. Er wollte dem Ganzen ein Ende machen und für alle Zeit Zorn und Haß hervorrufen, doch er fand niemanden, und die Leere, die ihn umgab, drang jetzt in ihn ein. Fast eine Woche war vergangen, als er endlich in T. ankam; er ging direkt zur Polizeistation, die er an dem Tag, an dem er die Fahrkarte gekauft hatte, um zu dem jüdischen Friseur zu fahren, auf dem Bahnhofsplatz gesehen hatte. Im Inneren befand sich etwa ein halbes Dutzend uniformierter Männer, und als er eintrat, bemerkten sie ihn nicht. »Ich habe getötet«, sagte Ian in der Mitte des Raumes. »Los, zieh ab.« Ein Polizist stieß ihn nach draußen. »Ich habe den Jungen im Wasser erdrosselt.« »Wir haben dir gesagt, du sollst abhauen.« »Ich habe ihn vergewaltigt«, sagte Ian.
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»Klar, du hast ihn vergewaltigt, du hast ihn getötet, und du haust jetzt ab.« »Sie haben doch die Plakate«, sagte Ian lauter. »Du gehst uns auf den Zeiger«, sagte ein Polizist. »Chef, was machen wir mit dem?« »Schmeißt ihn raus«, sagte der Offizier mit einem Augenzwinkern. Doch Ian klammerte sich an einen Tisch, und sie zerrten vergebens an ihm. »Ich habe auch das Mädchen in den Dünen getötet«, sagte er. Nun begannen sie zu lachen, und bald übertönte ihr Gelächter alle Worte des jungen Mannes. Sie lachten so laut, daß draußen Passanten stehenblieben und sich fragten, ob die Polizisten den Verstand verloren hatten.
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37. Die Ereignisse in der Kirche wurden schließlich bekannt. Ein Bericht gelangte zur Kaserne von S. und wurde sofort ans Hauptquartier weitergeleitet. Andrei erhielt den Befehl, abzureisen und mit der Festnahme Ians sein Werk zu vollenden. Ein Militärflugzeug setzte ihn in S. ab, dann begab er sich mit dem Auto ins Dorf. Dort zeigte man ihm das Haus des Eremiten; ein Mönch kam hinzu und berichtete ihm von dem Skandal: Der falsche Eremit habe – man wisse nicht, wo – getötet und gestohlen, er habe den toten Eremiten, dessen Platz er eingenommen habe, beerdigt, doch habe man noch keine seiner Behauptungen überprüft. Sie gingen gemeinsam in die Grabkirche, und bald hoben die Männer im Tageslicht die Platte hoch, die bewegt worden zu sein schien. Der übelriechende Leichnam des heiligen Mannes lag neben einer Mumie aus einem anderen Jahrhundert. Das verfaulte Fleisch war so schwarz wie das der Choleratoten. Andrei wollte wissen, wie sie sich so hatten täuschen lassen, und der Mönch erzählte ihm die Geschichte mit dem Novizen. Daraufhin wollte Andrei ihn sehen und fuhr zum Kloster. In Anwesenheit des Abtes ließ man Roman kommen. Der Leutnant war beeindruckt von der Gegenwart, die den Jungen umgab, als wäre die Luft um ihn herum von unsichtbaren Personen bevölkert; hinzu kam seine Schönheit, seine weiße Haut, die Sanftheit seiner Augen. Andrei wagte kaum, ihn zu befragen, doch der Junge machte den ersten Schritt. »Vater«, sagte er zum Abt, »ich habe mit meiner ganzen Seele für die Rettung des Mannes gebetet.« 262
In dem Geständnis verbarg sich eine indirekte Frage, als hätte er Angst, etwas Schlimmes zu erfahren. »Er muß, ohne es zu wissen, gelitten haben«, sagte er leiser und sah Andrei an. »Ich möchte... Könnte ich... Ich muß Ihnen Fragen stellen«, sagte der Leutnant schließlich, und seine Kehle war wie zugeschnürt. Roman wartete. »Wann... haben Sie ihn gesehen?« »Zweimal«, antwortete Roman, »zwei ewige Male.« Er sagte dies mit einer freudigen Stimme. »Wann?« »Das erste Mal ist jetzt zweieinhalb Jahre her«, sagte der Novize, dann senkte er den Kopf. »In der Kirche, letzte Woche, habe ich seine Stimme wiedererkannt, aber ich stand hinter einem Pfeiler und habe ihn nicht gesehen.« »Würden Sie ihn mit Sicherheit wiedererkennen?« Roman antwortete mit einem Lächeln und einem Kopfnicken. »Aber Sie waren ein...« Andrei hielt inne. »Ein Kind, ja.« »Verzeihen Sie mir«, murmelte der Leutnant, »ich wollte sagen, daß Sie noch nicht im Kloster waren.« »Nein«, sagte Roman, »er war es, der mich hier eintreten ließ.« »Hat er Ihnen geraten, Mönch zu werden?« »Nein« – Roman lächelte – »er hat mir nur einen Satz gesagt, und der war deutlich: Mögen die Engel dich beschützen.« Andrei wurde blaß, näherte sich jäh dem Novizen, und ohne sich um die Heftigkeit seiner Geste zu kümmern, packte er Roman beim Ärmel: »Du mußt mir folgen«, sagte er, »nur du allein kannst ihn retten.« Der Abt hatte sich aus seinem Sessel erhoben und befahl Roman, in seine Zelle zurückzukehren, doch Andrei ließ ihn nicht los. »Du allein, die Engel haben ihn bereits einmal vor dem Tode bewahrt, aber er folgt ihm, wenn du nicht kommst...« 263
Roman sah den Abt an, und plötzlich erhob sich die Stimme des Jungen. »Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.« »Überlegen Sie genau, was Sie tun«, sagte der Abt zum Leutnant. Aber Roman antwortete. »Wenn ich mich verirren muß, mein Vater, geben Sie mir zuerst Ihren Segen.« Und die Tür schloß sich hinter dem Novizen, der der Welt zurückgegeben war. Sie nahmen denselben Weg wie Ian, verloren aber endlose Zeit damit, seine Spur zu finden, und je weiter sie gingen, desto seltsamere Geschichten kamen ihnen zu Ohren. Ian war alles, was die Einbildungskraft des Volkes verdrängt hatte, der Herumtreiber, der Wolf in Menschengestalt, der Verfluchte; für die jüngeren Leute war er einfach ein gefährlicher Typ auf der Flucht. Aufgrund der Leere, die die Gerüchte um ihn geschaffen hatten, verloren sie in ihrer Unruhe mehrmals seine Spur. Andrei hätte Adam und Catherine gern benachrichtigt, aber die Zeit drängte, und er war sich bewußt, daß sie sich der Grenze näherten, wo er eine Verzweiflungstat Ians befürchtete, denn sie war in diesem Sektor unüberwindbar. Das Gesicht Romans tat ihm weh: Der Schatten seiner Wimpern auf der weißen Haut errichtete eine Barriere zwischen ihm und der äußeren Welt, und er stellte keinerlei Frage, damit sie schneller vorankamen.
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38. Das Gelächter schien nicht mehr aufhören zu wollen, dann wurde Ian mit einer falschen Gutmütigkeit zur Tür gestoßen, wo ein Polizist sein Hemd packte, es zwischen seinen Fingern auswrang und Ian hinaus auf den Bürgersteig warf. Innerhalb einer Sekunde leerte sich der Platz. Die Zuschauer verteilten sich hinter den Glasfenstern des Bahnhofs und warteten ab, was der Junge tun würde. Ian, dessen Hemd zerrissen war, machte keine Bewegung. Die Polizisten kamen zur Tür, und da er weder auf ihre Beleidigungen noch ihre Befehle reagierte, begannen sie, auf ihn zu spucken. Ian fragte sich, in welchem Moment sein Herz sich erheben würde, und ein Gefühl von Leichtigkeit ließ ihn die Hand nach einem Fliederstrauch ausstrecken; er war betäubt von Hunger und Angst, und die Kraft dieser Betäubung ließ ihn die Augen schließen. Das Gelächter der Polizisten tanzte um ihn herum. Was werden sie jetzt tun? fragte Ians Körper, und sein Geist antwortete ihm: Was kann dir das ausmachen? In seinem Inneren hörte er dem grausamen Dialog zu. Der Körper sagte: Ich liebe diesen Körper mit all seinen Grenzen. – Nun gut, diese Grenzen werden schnell erreicht sein. Der Geist hat keine. – Ich will keine Schmerzen. – Was ist der Schmerz? – Rette mich! – Es ist zu spät, du kannst nicht neu beginnen, und sie brauchen... – Sie brauchen? Was brauchen sie? Antworte wenigstens hierauf, ein letztes Mal... – Ein letztes Mal, sag, was sie brauchen...
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Die Stimmen kamen jetzt von woanders: »Los, er ist der Mörder, er hat einen Jungen wie euch getötet, los, wir haben ihn endlich...« Ian lächelte, die Stimmen schienen ihm dem Delirium seiner Einbildung zu entstammen, aus Angst zu fallen wagte er es nicht, die Augen zu öffnen, und wartete darauf, daß der Schwindel ganz verschwand. Mechanisch steckte er die Hand in die Tasche, als würde er dort etwas zu essen finden. Dann traf ihn etwas an der Brust. Er führte die Hand dorthin, und auch diese wurde getroffen, dann das Ohr, die Knie, eines nach dem anderen, dann die Kehle, dann der ganze Körper. Sie werfen mir Brot zu, sagte sich Ian, es sind Kinder! Es waren tatsächlich Kinder. Als Ian auf die Knie fiel, gab es Applaus und Rufe. Die Menschen verließen den Schutz der Glasfenster, während die Polizisten interessiert zusahen. Ians Hemd war zerfetzt, und seine Haut schien rot gestreift. Er öffnete die Augen, und ein Stein traf ihn auf das Herz. Er sah, daß es Kinder waren, mit jenem ernsten Gesichtsausdruck, den sie beim Spielen haben. Er brach zusammen. Das Bild der Brothütte kam mit Macht und so deutlich in sein Gedächtnis zurück, daß er jäh zurückzuckte, als würde der Hund sich auf ihn stürzen. »Ich will nicht!« sagte er. Doch die Steine begannen auf ihn herabzuregnen. Sie kamen zu spät. Als der Wagen vor dem leeren Bahnhof wendete, lag Ian auf dem Rücken. Die Polizisten wollten ihn gerade forttragen, sagten sie. Eine Schulter war zerschlagen, die Hände gebrochen, der Körper hatte gelitten, und ein dunkler Fleck vergrößerte auf der Brust die Stelle des Herzens; das Geschlecht war zerschmettert worden, das Gesicht jedoch kaum berührt, nur auf dem unteren Teil des Kinns zeigte sich ein wenig Blut. Andrei blieb stehen, ohne etwas tun oder sagen zu können. Roman beugte sich hinunter, hob den Körper in seine Arme, streifte mit seiner weißen Hand Ians Stirn und schloß ihm die Augen.
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um nicht entdeckt zu werden. Dennoch: Andrei – nicht nur in der Liebe Ians Widersacher – ist ihm dicht auf den Fersen, und das Netz aus Intrigen und Verrat zieht sich immer enger zusammen... Éric Jourdan schickt den Leser durch eine Welt der Liebe und der Gewalt und entrückt ihn durch die atmosphärische Dichte seiner Erzählweise, die suggestive Poesie seiner Natur Schilderungen in visionäre Wirklichkeiten, während er gleichzeitig mit kalter Präzision Mechanismen totalitärer Machtausübung bloßlegt.
ÉRIC JOURDAN wurde 1940 in Paris geboren, wo er heute als freier Schriftsteller lebt. Sein Werk umfaßt zahlreiche Theaterstücke und Romane, deren erster, "Die bösen Engel". bereits kurz nach seinem Erscheinen 1956 verboten wurde: Es galt, obwohl von einem Jugendlichen für die eigene Generation geschrieben, als jugendgefährdend und zeichnet in der Kompromißlosigkeit, mit der schon in diesem Frühwerk die großen Themen Sexualität, Freiheit und Tod verhandelt werden, den Weg eines literarischen Außenseiters vor, den es in Deutschland noch zu entdecken gilt.
»Das Brot der Liebe ist ein verstörendes Meisterwerk. Es schöpft seine poetische Kraft und Schönheit aus der ergreifenden Menschlichkeit, die immer wieder das Abgründige besiegt. Die Fiktion nähert sich hier auf eine Weise der Wahrheit, daß mir einzig der Begriff der Meisterwerks zutreffend zu sein scheint.« Julien Green in Le Monde