Das Blut-Haus
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 117 von Jason Dark, erschienen am 11.12.1990, Titelbild: Steve Crisp
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Das Blut-Haus
Sinclair Crew John Sinclair TB Nr. 117 von Jason Dark, erschienen am 11.12.1990, Titelbild: Steve Crisp
Leichengeruch durchwehte den Garten des Bluthauses, das trutzig auf einem Hügel stand. Ein Ghoul lebte in der Nähe und lauerte auf Opfer. Zwei junge Frauen mußten ihr Leben lassen, bevor ich den Ghoul vernichten konnte. Das war mein Fehler gewesen. Durch den Tod des Ghouls hatte ich eine Zeitenbrücke geschaffen, die bis tief in die Vergangenheit führte und den Schrecken in die Gegenwart entließ. Das Bluthaus auf dem Hügel erwachte plötzlich zu einem grauenhaften Leben...
Vor der Hütte hörte er die schrecklichen Laute. Da schrie, jammerte und ächzte seine Frau. Er wußte, daß die Männer es rauh machten. Spaß nannten sie es, auch dann, wenn die Person unter ihren verdammten Foltermethoden starb. Cabot konnte ihr nicht helfen, denn der Bärtige stand vor seinem Lager, hielt den Säbel fest und hatte die Spitze auf die Brust des Liegenden gestemmt. Er kümmerte sich nicht um die Angst in den Augen des Mannes und erklärte ihm locker seine Meinung. «Weißt du, Cabot, einer muß es ja sein. Du kennst den Brauch.« »Ja, ja, ich kenne ihn.« Er hätte sich gern aufgebäumt, das war unmöglich wegen der Waffe. »Warum mußte ich es denn sein, verflucht? Warum gerade ich?« »Wir alle hielten dich für würdig.« Cabot lachte so unecht, daß er seine Lache dabei selbst nicht mehr erkannte. Dabei schloß er die Augen. Er hätte sich am liebsten auch die Ohren zugehalten, doch eine Bewegung traute er sich nicht zu. Die hätte der andere falsch verstehen können. Das Schreien vor der schiefen Hütte war noch immer zu hören. Leiser allerdings, ein Zeichen, daß Cabots Frau keinen Widerstand mehr leistete. Dafür waren die Stimmen ihrer Peiniger zu hören und das harte Geräusch, als Stoff entzweigerissen wurde. Der Mann mit dem Säbel grinste. Er wußte genau, was nun passierte. Seine Kumpane würden der Frau etwas antun, und er sah keinen Grund, sie zurückzuhalten. Aber es kam anders. Wütend trat ein wilder, rothaariger Typ die Tür auf und betrat fluchend die Hütte. »Was ist denn?« »Sie rührt sich nicht mehr!« meldete der Kerl. »Wie?« »Tot!« Auch Cabot hatte die Antwort vernommen. Weit riß er seinen Mund auf. Diesmal kümmerte er sich nicht um die Waffe. Sein Gesicht verzerrte sich. »Mörder!« brüllte er. »Ihr verdammten Mörder! Ihr habt sie getötet! Ihr habt dafür gesorgt, daß sie stirbt! Ihr Hunde, ihr gemeinen Mörder! Ihr Schweine .. .!« Der Säbel bewegte sich. Blitzschnell schnitt er die Kleidung durch und zog einen blutigen Streifen über die Brust des Mannes, dessen Fluchen verstummte und einen Moment später überging in ein schmerzvolles Wimmern. »Du bist ruhig!« Der Bärtige wandte sich an seinen Kumpan. »Stimmt das?« »Klar.« »Dann nehmen wir ihn mit.« »Direkt zum Friedhof?« »Sicher.«
Cabot hatte nicht hingehört. Er lag weiterhin auf dem Rücken und jammerte. Das Blut verteilte sich auf seiner Brust und versickerte in dem alten Strohsack des Lagers. »Steh auf!« Als er sich nicht rührte, trat ihn der Bärtige. »Los, hoch von deinem Lager, Cabot! Du bist auserwählt! Du wirst den Friedhof einweihen, und du kennst das Ritual.« Cabot rollte sich mühsam zum rechten Rand des Lagers hin. Ja, er kannte es. Er wußte, was sie vorhatten. Die Zeiten waren schlimm und schwierig. Es mußte einen treffen, und die Überlieferungen konnten nicht umgangen werden, so grausam sie auch waren. Er fiel auf den schmutzigen Boden. Die Wunde auf seiner Brust brannte wie ein langer Streifen, den Säure hinterlassen hatte. Auf allen vieren kroch er über den schmutzigen Untergrund, bis er getreten und gefragt wurde, ob er nicht aufstehen wollte. Später kannst du noch lange genug liegen, Bastard«, sagte der Bärtige lachend. Cabot quälte sich hoch. Schwindel überkam ihn. Seine Hütte drehte sich im Kreis. Durch die schmutzigen Fenster fielen die letzten Reste der Helligkeit des sich verabschiedenden Tages. Von der Feuerstelle her wehte ihm der Geruch von kalter Asche entgegen. Seine Augen brannten, der Hals war furchtbar trocken. Das Herz schlug schneller als sonst, und unter seiner Schädeldecke hämmerte es. Einer der Männer griff in seinen Nacken. Die Hand war wie eine Klammer. Dann spürte er den Druck, als er durch die offene Tür ins Freie geschoben wurde, wo sich bereits die ersten Schatten der Dämmerung ausgebreitet hatten, es aber nicht schafften, die grauenhafte Szene zu verdecken, die sich Cabot bot. Seine Frau lag auf dem Rücken. Man hatte sie schon halb entkleidet. Neben ihr stand der dritte Kerl. Er schaute den anderen mit teilnahmslosem Blick entgegen. Sie alle kannten keine Gnade, aber das war bekannt. Die drei Männer gehörten zu den schlimmsten Mördern, die es gab. Erbarmen und Gnade kannten sie nicht, und sie wurden immer dann geholt, wenn es galt, ein bestimmtes Ritual durchzuführen. Der Bärtige sprach Cabot von der Seite her an. »Keine Sorge, sie wird auch begraben.« Er bekam einen Stoß in den Rücken, der ihn nach vorn taumeln ließ. Cabot wunderte sich, daß er sich auf den Beinen halten konnte. »Irgendwann erwischt es euch, das kann ich euch versprechen. Irgendwann, da könnt ihr sagen, was ihr wollt.« »Ja, ja, aber noch ist es nicht soweit. Erst bist du an der Reihe, Ca bot.« Sie gingen weiter und blieben dort stehen, wo die Männer aus den Dörfern einen Teil des Waldes abgeholzt hatten, um eine freie Fläche zu
bekommen. Die endete nicht weit von der Steilküste entfernt, wo tief unten die mächtigen Wogen des Meeres gegen die Felsen schlugen und wie lange, hungrige Zungen an dem Gestein hochleckten, bevor sie wieder zusammenfielen. Sie nahmen ihn in die Mitte. Der Bärtige blieb hinter ihnen, und sie brachten ihn zu einem Karren mit einem Gitterkäfig aus Holz auf der Ladefläche. An der Rückseite besaß er eine Tür, die der Bärtige aufriß. Das Pferd vorn schnaubte und scharrte mit den Hufen. Es wußte, daß es nicht mehr lange stillstehen mußte. »Steig auf!« Cabot tat es zitternd. Die Holzbohlen erzeugten dumpf klingende Echos, als er einige Schritte über sie hinwegging und sich schließlich zusammensinken ließ. Er hockte auf der Ladefläche wie ein Tier, das sich verkrochen hatte und nicht mehr hervorkommen wollte. Der Bärtige rammte die Gittertür zu. Er persönlich stieg auf den Bock, wo er zu der Peitsche griff und die Schnur über den Rücken des Tieres zog. Der alte Gaul schnaubte unwillig, bevor er sich in Bewegung setzte und den zweirädrigen Karren hinter sich herzog. Wenn sich die Räder drehten, erklang ein Quietschen, das bei sensiblen Menschen einen Schauer hinterlassen konnte. Der Boden war uneben. Erst nahe des Dorfes begann der Pfad, und er führte leicht bergab, was dem Pferd das Laufen leichter machte. Cabot wußte nicht, wie er sich legen oder setzen sollte, um die Schmerzen auf seiner Brust zu lindern. Die Haut brannte. Aus der Wunde drang noch immer Blut, und er spürte jede Unebenheit, wenn die Räder darüber hinweghüpften. Durch die Gitter über ihm konnte er zum Himmel schauen, der grau geworden war, tiefgrau. Alles Regenwolken. Cabot hatte sich in sein Schicksal ergeben. Er war ein Mann in den besten Jahren, aber er hatte stets zu den Außenseitern gehört, und das wiederum hatte den übrigen Bewohnern nicht gepaßt. Seine Frau und er waren nie wohl gelitten gewesen, so war sein Schicksal eigentlich nur die Folge vergangener Taten gewesen. Im Dorf wußte man Bescheid. Alles, was Beine hatte, war auf dem kleinen Marktplatz versammelt. Da standen Frauen, Männer und Kinder dichtgedrängt, und sie schrien auf, als sie das Pferd und den Wagen erkannten, der in den Ort rollte. Zwei Häscher hockten auf den Gäulen und ritten einige Schritte voraus. Sie mußten sich bei diesem Empfang vorkommen wie zwei kleine Könige. Auf ihren Gesichtern zeichnete sich auch ein entsprechender Ausdruck ab. Eine Mischung aus Arroganz und hoheitsvollem Lächeln.
Das Pferd scheute, als es den Marktplatz erreichte und in den tanzenden Schein einer Fackel schaute. Der Bärtige mußte hart an den Zügeln zerren. Er blieb auf dem Bock. Fragen stürmten auf ihn ein. Antworten gab er nicht, er wehrte die Worte nur mit wilden Handbewegungen ab. »Wir haben ihn euch gebracht. Alles andere ist eure Sache.« Mit steif wirkenden Bewegungen stieg er vom Bock. Die Kinder waren die ersten, die ihre Scheu überwanden. Sie lösten sich von den Händen ihrer Eltern und liefen auf den Wagen zu. Mit ihren Händen umklammerten sie die Stangen, rüttelten daran und brachten das Gefährt in schaukelnde Bewegungen. Das merkte auch Cabot. Er öffnete mühsam die Augen und schaute in die Gesichter hinter den Stangen, in die Augen, sah die offenen Münder, die Wut und den Haß selbst in den Gesichtern der Jüngsten. Sie waren genau vorbereitet worden, was ihn wiederum erschreckte. »Der blutet ja!« schrie ein Mädchen. »Ja, das ist eine Verletzung.« »Durch einen Säbel?« »Glaube schon.« »Der hätte sterben können.« »Das soll er noch nicht.« Cabot hörte sich die Kommentare an. Er hockte auf dem schmutzigen Boden, den Kopf gesenkt. Sein Mund stand offen, der Atem rasselte. Hinter den Gestalten der Kinder entdeckte er die Gesichter der erwachsenen Personen. Auch sie starrten nur ihn an, der hinter dem Gitter hockte wie ein Tier. So ähnlich fühlte er sich auch. Es gab für ihn kein Entrinnen, denn dem Brauch mußte Genüge getan werden. Die Menschen aus dem Ort hatten sich entschlossen, einen neuen Friedhof anzulegen. Das war an und für sich nichts Ungewöhnliches, wenn nicht etwas hinzugekommen wäre. Bevor die erste Leiche einen Platz in einem der Gräber fand, mußte der Friedhof auf eine besondere Art und Weise eingeweiht werden, denn er brauchte einen Ankou, einen Friedhofswärter, der ihn beschützte und als Geist selbst bei den Leichen einen Schauer hinterließ, wie die Legende behauptet. Cabor sollte der Ankou werden, und niemand dachte daran, die alten Rituale zu verändern. Deshalb wurde Cabot als erster in ein Grab hineingelassen. Nur mit einem Unterschied. Man begrub ihn lebendig! ***
Einige Stunden später war es soweit, und die Uhr zeigte kurz vor Mitternacht. Sein Grab lag an einer bestimmten Stelle des Friedhofs, an der Westseite, ziemlich am Rand, denn er war als der Wärter ausersehen worden, der alles überblik-ken konnte. Natürlich kannte Cabot die alten Legenden, die sich um den Ankou drehten. Es gab sie angeblich auf jedem Friedhof, und sie hatten die Aufgabe, die Gräber zu bewachen. Die Ankous waren die Hüter der Friedhöfe. Wer immer die Ruhe der Toten störte, der wurde von ihnen abgeschreckt und in die Flucht geschlagen. Die Friedhöfe auf den Britischen Inseln waren berühmt für ihre Wächter, und selbst die Geistlichen hatten nichts dagegen, daß dieses alte Ritual durchgeführt wurde. Man war auf Nummer Sicher gegangen und hatte Cabot die Hände auf dem Rücken mit Stricken zusammengebunden. Seine Füße waren nicht gefesselt worden, er sollte allein zum Ort seines schrecklichen Sterbens gehen können, begleitet von beinahe allen Bewohnern der umliegenden Orte, die den Friedhof benutzen wollten. Nur die ganz Alten und Schwachen waren zurückgeblieben. Sie hüteten die Babies und Kleinkinder, die noch nicht laufen konnten. Er ging in der ersten Reihe. Seine Brust schmerzte noch immer, auch wenn die breite Wunde mittlerweile eine dicke Kruste aus geronnenem Blut aufwies. Seinen Kopf hatte er stolz erheben wollen. Es war beim Versuch geblieben. Zu schlimm stand das Schicksal vor seinen Augen. Manchmal dachte er daran, daß seine Frau es möglicherweise besser gehabt hatte. Sie war durch einen schnellen Herzschlag gestorben, er aber würde leiden müssen. Schrecklich lange leiden. In diesem verfluchten Grab als lebendiger Mensch liegen, irgendwann keine Luft mehr bekommen und elendig ersticken. Gab es einen schlimmeren Tod, als so zu enden? Daran glaubte er nicht, aber er sah auch keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Es gab Menschen, die schritten ihrem Henker aufrecht und mit hocherhobenem Kopf entgegen. Die spuckten ihm noch vor der Hinrichtung ins Gesicht. Cabot gehörte nicht zu denen. Wenn er ging, dann schleiften seine zerlöcherten Schuhe über den steinigen, unebenen Boden, dann sah es aus, als würde er jeden Augenblick zusammenbrechen. Es gab niemand, der als Ankou auserwählt worden war und noch entkommen wäre. Das gehörte in den Bereich der Legenden und Märchen. Der Ankou stand allein gegen alle. Es war Cabot auch kein Trost, daß sein Geist überleben und die Fremdlinge vom Gebiet des
Friedhofs verscheuchen würde, sein Leben neigte sich dem Ende entgegen. Über ihn floß der Fackelschein hinweg wie rotschwarzes, dünnes Wasser. Die Menschen leuchteten ihm, damit er nicht fiel und sie ihn nicht zum Grab tragen mußten. Das Gebiet des Friedhofs hatten sie bereits erreicht. Es roch nach frischgeschlagenem Holz; sie hatten ja schließlich für ihre Gräber Platz schaffen müssen. Die drei Häscher hatten den Ort verlassen. Ihren Lohn hatten sie bekommen, und sie würden jetzt weiterreiten und nach neuen Aufträgen lechzen. Davon lebten sie. Ein hochgewachsener Mann mit dunklen Haaren und einem ebenso dunklen Bart überholte den Verurteilten und schwenkte seine Fackel. Es war der Schmied des Ortes. Er hieß Neill, war als gewalttätig verschrien und blieb neben der Grube stehen, die bereits ausgehoben war und als Grab dienen sollte. Als er seine Fackel senkte, drang ein Teil des flackernden Lichts in die Öffnung hinein und leuchtete an den feuchten, lehmigen Wänden entlang. Das Grab bekam ein unruhiges Leben eingehaucht. Sein Inneres zuckte und zitterte. Es wartete darauf, das frische Opfer schlucken zu können. Die Erde roch frisch. Cabot aber widerte der Geruch an. Er kam ihm faulig und leichenhaft vor, und plötzlich ging er nicht mehr weiter. Das Grab war ihm unheimlich geworden. Der Lichtschein schien die Erdgeister aus der Tiefe geholt zu haben, deren Stimmen er in seinem Kopf toben hörte. Sie freuten sich bereits auf ihn, das Opfer, über dem sich die Erde wieder schließen würde. Wuchtig schlug eine Faust gegen seinen Nacken; eine zweite erwischte Cabot im Rücken. Die beiden Schläge schleuderten ihn nach vorn. Er stolperte über die eigenen Füße, fiel hin, und jemand zerrte ihn brutal wieder in die Höhe. Ein wildes Gesicht mit schiefsitzender Nase erschien vor seinem eigenen. »Die Flucht wird dir nicht gelingen. Du bist für das Grab vorgesehen, dabei bleibt es!« Er nickte nur. Dann schoben und stießen sie ihn weiter. Auf die Breitseite des Grabes zu, so daß er schon bald dessen Tiefe erkennen konnte. Ja, sie hatten es sehr tief ausgeschaufelt. Viel Erde sollte den Körper bedecken, sehr viel sogar. Er sollte keine Gelegenheit haben, sie wegzudrücken und dem Grab zu entwischen. Ein weißhaariger Mann in schwarzer Soutane erschien vor ihm. Es war der Priester, den Cabot nie gemocht hatte, weil er ihn für scheinheilig hielt. Auch jetzt hatte sich der Ausdruck im Gesicht des Geistlichen nicht geändert. »Hast du mir noch etwas zu sagen, mein Sohn?«
Cabot überlegte. Er holte dabei zweimal tief Luft. Dann erst nickte er. »Ja, ich habe dir noch etwas zu sagen, Pfaffe!« Beim letzten Wort zuckte der Geistliche zurück, bewegte klimpernd die Augenlider, behielt aber die Fassung und fragte mit kaum veränderter Stimme: »Was denn, mein Sohn?« »Fahr zur Hölle, Pfaffe!« Der Geistliche ballte die Hand zur Faust und hob den Arm. »Du bist des Teufels, Cabot. Du bist von dem Bösen besessen, und er wird deine Seele aus dem Körper reißen, um sie der ewigen Qual und Pein zu übergeben. Sie wird in der Hölle schmoren, sie wird erleben, was es heißt, die Ewigkeit begreifen zu lernen. Sie wird. ..« Der Schmied griff ein und zerrte den Geistlichen zurück. »Ja, schon gut, das weiß er selbst.« Cabor lachte roh. Dann senkte er den Kopf und starrte in das Innere des Grabes. »Kriege ich keinen Sarg?« »Nein!« erwiderte der Schmied. »Du wirst so hineingeworfen, wie du bist. Verstanden?« »Ja, gut. ..« »Noch was?« Cabot richtete sich zu voller Größe auf und wunderte sich, woher er den Mut fand zu sprechen. »Ihr könnt mich in das Grab werfen, dagegen kann ich nichts mehr tun. Aber«, und jetzt erhob er seine Stimme zu voller Lautstärke, »ihr werdet euch wundern. Ja, ihr werdet euch wundern, das spüre ich sehr deutlich.« »Willst du dich gegen den Brauch stemmen, Cabot?« schrie jemand hinter ihm. Bei der Antwort drehte Cabot sich nicht um. »Nein, ich stemme mich nicht gegen den Brauch. Ich werde ihn nur ein wenig verändern, das kann ich euch versprechen!« »Niemand verändert etwas!« schrie der Schmied. »Schmeiß ihn doch endlich in die Grube, Neill!« Der Schmied nickte, als er Cabot anschaute. »Ein Gebet wolltest du nicht sprechen, tröstende Worte wolltest du auch nicht hören. Also bleibt nur die Erfüllung des Schicksals.« Er umfaßte mit seinen starken Händen die Schultern des Verurteilten. Cabot wehrte sich nicht. Er hätte treten können, aber was brachte das? Nichts, denn sein Schicksal war nicht mehr zu ändern. Der Schmied drängte ihn zurück. Weit war es nicht mehr zur Grube. Automatisch ging Cabot mit, bis er plötzlich ins Leere trat. Sein Körper bekam den Stoß zurück. Er selbst schrie nicht, es waren andere, die laut aufbrüllten, als sie sahen, wie der von ihnen Verurteilte in der Grube verschwand. Cabot prallte auf den Rücken. Durch die gefesselten Hände zuckte der Schmerz, der sich ausdehnte bis zu den Ellbogen. Durch den Aufprall war auch die Wunde auf seiner Brust wieder aufgebrochen, und er spürte die Nässe des Blutes.
Plötzlich hatten sie es eilig. Die hinteren drängten sich nach vorn. Ein jeder wollte den Blick in das offene Grab werfen, wo der neue Ankou seinen Platz gefunden hatte. Beinahe wären zwei Kinder über den Rand in die Grube gerutscht. Sie glitten bereits ab, als es zwei Männern gelang, sie zu halten und die beiden schreienden Personen wieder zurückzuzerren. Cabot hatte die Augen weit geöffnet und schaute zu. Plötzlich bereitete es ihm Spaß, die Leute zu sehen. Sie standen an den Rändern und glotzten ihn an, als wollten sie auf eine bestimmte Art und Weise Abschied von ihm nehmen. Er konnte es nicht vermeiden, er mußte einfach lachen, öffnete den Mund und schickte ihnen ein schauerliches und röhrendes Gelächter entgegen, das die meisten von ihnen abschreckte und selbst Neill zurückzucken ließ. »So kann nur einer lachen, der mit dem Teufel im Bunde steht!« schrie jemand. »Ja, er ist des Teufels.« »Vernichtet ihn!« »Nein!« brüllte Neill. »Nehmt die Schaufeln. Werft endlich die Erde auf seinen Körper!« Auf diesen Befehl hatten viele gewartet. Und viele hatten die Schaufeln mit auf den Weg genommen. Sie behinderten sich gegenseitig, als sie im Schein des unruhig zuckenden Fackellichts die Schaufeln in den Boden stießen, den Lehm und die Erde anhoben und sie dann schwungvoll in das Grab schleuderten. Cabot lachte noch immer. Es war ihm egal, ob die schwere Erdmasse seinen Körper erwischte. Solange sein Kopf herausschaute, würde er noch lachen, und er schickte ihnen dieses böse Gelächter wie einen Gruß aus der Hölle entgegen, der sie abschreckte und ihnen Furcht einjagte. Der Schmied war es als erster leid. Voller Zorn rammte er seine Schaufel besonders tief in den Lehmhaufen, kantete sie und war zufrieden, als er sah, daß sie hochvoll war. Im Bogen schleuderte er die Masse auf das Kopfende des Grabes zu und erwischte das Gesicht des Mannes. Das Lachen verstummte abrupt. Cabot hatte den harten Schlag gespürt, so hart, daß seine Nase anfing zu bluten. Die Erde war in seinen Mund gedrungen. Er spuckte sie wieder aus. Es würgte ihn. Er konnte seine Hände nicht bewegen, während weiterhin die Erde von den Schaufeln glitt und in das Grab hineinfiel wie ein gewaltiger Vorhang, der sich über ihn senkte. Die Dörfler schauten zu.
Es waren die Menschen, die auch am Sonntag in die Kirche gingen und immer wieder versprachen, nach den Zehn Geboten zu leben. Sie logen, denn keiner von ihnen richtete sich danach. Cabot bekam Schwierigkeiten mit der Luft, obwohl der meiste Lehm von seinem Gesicht gerutscht war. Dann erwischte ihn die nächste Ladung. Wieder hatte sie der Schmied geschleudert und begleitete sie mit einem Kommentar. »Stirb endlich, du Hundesohn! Fahr zur Hölle, aber vergiß nie, auf unseren neuen Friedhof zu achten.« Cabot hatte trotzdem Glück im Unglück, denn in der nächsten Ladung steckte ein Stein. Und der erwischte seinen Kopf und löschte sein Bewußtsein aus... *** War er tot? Cabot wußte es nicht. Er befand sich in einem Zustand, über den er noch nie nachgedacht hatte, weil er ihn bisher nicht kannte. Er war nicht Mensch, er war nicht Geist, er war einfach ein ES, ein Wesen ohne Körper, aber mit Geist. Und er hörte Stimmen. Sie drangen in seinen Kopf, sie suchten ihn, sie erklärten ihm, daß er in ihr Gebiet eingedrungen wäre, und sie fragten ihn, ob er die Kontrolle übernehmen wollte. Cabot wollte. Da lachten sie, oder war es nur einer? Cabot wußte nichts mehr, er lag in der Tiefe des Grabes und hatte trotzdem den Eindruck, wegfliegen zu können. Seine Augen waren geschlossen, und er konnte trotzdem sehen. Cabot erkannte etwas, nicht stärker als einen Nebelstreif, gestaltlos und trotzdem vorhanden. Ich will! Er hämmerte sich die Worte ein. Immer wieder, und er wurde aufgenommen in einen fürchterlichen Reigen, der sich nur in einer Welt bildete, die so schrecklich war, daß die Phantasie eines Menschen kaum ausreichte, um sie zu erfassen. Ein Pandämonium eröffnete sich ihm mit all seinen fürchterlichen Aussagen. Cabot glitt hinein, wurde empfangen, erlebte all den Schrecken, den er jedoch nicht als so schlimm empfand. Sie waren bei ihm, die neuen Freunde halfen ihm, und sie trugen ihn fort. Hinein in eine Welt, die keine Toten kannte, die aber trotzdem schrecklicher war als das Jenseits...
*** Es gehörte zu den Bräuchen, daß nach Auffüllung des Grabes Wächter zurückblieben und die Stelle erst verließen, wenn der Aufgang der Sonne die Finsternis zurückgedrängt hatte. Freiwillig wollte niemand an einem Grab Wache halten, so oblag es dem scheinheiligen Geistlichen, zwei auszusuchen. Seine >Schäfchen< wichen zurück, als er an ihnen vorbeischritt und jedem ins Gesicht schaute. »Keiner von euch?« Er bekam keine Meldung. »Dann mache ich es. Du und du!« Zweimal zuckte der ausgestreckte Zeigefinger vor und wies auf zwei junge Männer. »Wir wollen aber nicht!« Sie protestierten gemeinsam. »Aber ihr müßt!« flüsterte der Geistliche. »Mach es doch selbst, Pfaffe!« Da griff Neill ein. Erschlug dem Protestierer die Faust gegen den Hals, so daß dem Knaben die Luft wegblieb. »Du wirst tun, was der Pfarrer verlangt — klar?« Der Knabe nickte nur. Damit war die Sache erledigt. Mit einem schleimigen Lächeln auf den Lippen schlich der Pfarrer als erster davon. Die anderen Bewohner folgten ihm. Manch einer warf noch einen neuen Blick auf das Grab, das sich ziemlich deutlich abzeichnete, weil der Lehm einen kleinen Hügel auf dem Rechteck bildete. Zwei blieben zurück, und sie fühlten sich beide nicht wohl, was ihren Gesichtern anzusehen war. Sie sagten nichts. Erst als die letzten verschwunden waren, steckten sie ihre Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. Zu verschwinden, hatte keinen Sinn. Sie mußten einfach bleiben, so verlangte es der Brauch, auch wenn er ihnen persönlich überhaupt nicht gefiel. »Die Nacht geht auch vorbei, Quinn.« »Und dann?« »Kann weiter am Friedhof gearbeitet werden.« Quinn ging einige Schritte zur Seite. Er blieb dicht neben dem Hügel stehen und schaute auf dessen Oberfläche, die ihm, dunkler als die Nacht es war, entgegenwellte. Der Himmel über ihnen sah aus, als hätte ihn jemand gezeichnet und dabei eine dunkelblaue Farbe genommen. Sterne waren zu sehen, ebenso der halbe Mond. Es war nicht still in der Umgebung. Ein Großteil des Waldes stand noch, und er offenbarte sein nächtliches Leben.
Überall raschelte es, manchmal erklang ein schrilles Zirpen, wenn Mäuse über den Boden huschten und nach Nahrung suchten. Ein Igel huschte über die Wiese und jagte einer Maus hinterher, die er noch erwischte. Er fraß sie mit großem Appetit. Die jungen Männer blieben nicht an einer Stelle stehen, das war ihnen zu langweilig. Sie umrundeten das Grab, fühlten sich unwohl, sprachen kaum und merkten beide, wie lang die Zeit doch werden konnte, wenn man auf etwas Bestimmtes wartete. Quinn merkte es als erster. Er hatte sich stets näher am Grab aufgehalten als sein Freund. Er blieb plötzlich stehen, als hätte er den Befehl bekommen, sich nicht von der Stelle zu rühren. Das fiel dem anderen auf, der an einem Baumstamm lehnte und gegen Quinns Rücken starrte. »Hast du was?« »Ja — komm mal her.« Er winkte. Der Freund hörte Quinn schnüffeln, worüber er sich wunderte. »Riechst du es auch, George?« »Nein.« Quinn drehte ihm den Kopf zu. »Aber ich rieche es. Und wenn du es riechen willst, beuge dich vor und halte deine Nase über das Grab. Ist das klar, verdammt?« »Ja, das ist klar.« »Mach schon.« George war zwar verwundert, er wollte nicht als Feigling gelten und beugte sich vor, schnüffelte und richtete sich dann ruckartig auf. Seine Handfläche schnellte dem Mund entgegen und blieb auf den Lippen liegen. Nur durch die Nase holte er Luft. »Jetzt hast du es gerochen.« George nickte. Er nahm seine Hand weg, damit er sprechen konnte. »Ja, da strömt etwas aus der Erde. Direkt aus dem verdammten Grab dringt es. Das stimmt.« Quinn putzte Schweiß von seinen Wangen. »Jetzt brauchst du mir nur noch zu sagen, wonach es riecht.« »Das weißt du doch selbst.« »Ich will aber wissen, ob du auch ...« »Nach . . . nach Moder und Verwesung riecht es. Das ist widerlich. Aus dem Grab strömt der Geruch von Moder. Als wäre die Leiche schon längst verwest.« Quinn grinste verzerrt. »Genau, George. Das ist genau der Geruch, den ich wahrgenommen habe.« »Und jetzt?« »Nichts.« »Wie kommt das denn?« rief George. Quinn trat zurück. »Ich weiß nicht. Es ... es ist ja unmöglich, verstehst du?«
George nickte. »Ja. Cabot liegt unter der Erde und verwest. Aber jetzt schon?« »Das ist nicht möglich!« hauchte Quinn. »So schnell verwest niemand, ich weiß das.« »Woher kommt dann der Geruch?« Quinn trat wieder an das Grab heran. Mit zitternden Bewegungen weiteten sich seine Augen, denn er hatte gesehen, daß aus der hügeligen Erde etwas hervorstieg. Es sah aus wie Qualm oder Rauch, und es besaß einen widerlichen und scheußlichen Geruch. Als würde der Körper dort unten allmählich verkokein und den Rauch absondern. »Ich bleibe nicht mehr hier!« keuchte George. »Ich kann das nicht riechen.« »Ja, klar.« Quinn zog sich ebenfalls zurück. Bis zum Dorf hatten sie es nicht weit. Trotzdem rannten sie, als wäre der Teufel hinter ihnen her. »Wohin denn?« schrie George. »Zum Pfarrer.« »Der Pfaffe wird dich jagen!« »Das soll er mal versuchen!« Der Geistliche wohnte in einem schmalen Haus nicht weit von der Dorfkirche entfernt. Er brauchte nur durch ein Tor zu gehen, um den Kirchhof zu erreichen. Zuerst schauten sie durch die Fenster, konnten nichts erkennen, weil kein Licht brannte. Schließlich war es Quinn, der sich ein Herz faßte und mit beiden Händen gegen die Tür hämmerte. Diese dröhnenden Schläge hätten selbst Tote erweckt. Der Geistliche wurde irgendwann wach. Sie hörten seine schlurfenden Schritte auf die Tür zukommen und auch sein Schimpfen. »Das ist der richtige Pfarrer, der flucht sogar.« George lächelte verzerrt. Mit einer heftigen Bewegung zog der Pfarrer die Tür auf — und ging einen Schritt zurück, als er die beiden jungen Männer erkannte. Er trug ein langes Nachthemd, dessen Saum die Fußknöchel berührte. Mit der rechten Hand umkrallte er den Stoff in Höhe der Brust und schüttelte den Kopf. »Was wollt ihr denn hier? Ich habe euch gesagt, daß ihr die Nachtwache . . .« »Nein, das machen wir nicht!« Quinn trat wütend mit dem Fuß auf. »Das wollen wir nicht.« »Was dann?« »Es stinkt nach Moder und Verwesung. Der Geruch dringt aus dem Grab, Hochwürden.« Die Lippen des Pfarrers zuckten. Was ihm da gesagt wurde, konnte er nicht fassen. Er raufte sein weißes Haar, und sein Gesicht bekam einen bösen Ausdruck. »Glauben Sie uns nicht?« »Nein!«
»Dann kommen Sie mit.« Quinn griff nach der Hand des Mannes, doch der Pfarrer protestierte so energisch, daß Quinn ihn losließ und noch zurückging. Der Geistliche nutzte die Chance und schlug die Tür wieder zu. Noch im Haus hörten sie ihn fluchen. »Was machen wir jetzt?« fragte George. »Zurück gehe ich nicht mehr.« »Ich auch nicht.« »Wir können uns ja den Rest der Nacht verstecken. Am Morgen tun wirdann so, als wäre nichts gewesen.« George wies mit dem Daumen auf die Tür des Pfarrhauses. »Was ist mit ihm? Er wird alles erzählen.« Quinn kniff ein Auge zu. »Wird er das tatsächlich? Ich an seiner Stelle würde es nicht tun.« »Warum nicht?« »Er wäre blamiert.« George räusperte sich. »Ja, du könntest recht haben. Aber trotzdem schaue ich mir das Grab noch einmal an. Gehst du mit?« Quinn wollte nicht als Feigling dastehen. Er bestand allerdings darauf, seinen Hund mitzunehmen. »Meinetwegen.« Sie holten den Terrier aus dem Zwinger, der hechelnd neben ihnen herrannte. Glücklicherweise bellte er nicht, so daß keine anderen Menschen aufmerksam wurden. Er benahm sich nur sehr ungewöhnlich, als sie die Nähe des Grabes erreichten. Da wollte der Hund keinen Schritt mehr weitergehen. Winselnd blieb er stehen. »Was hat er?« fragte George. »Angst!« keuchte Quinn. »Der Hund hat eine verdammte Angst.« »Vor dem Geruch?« »Bestimmt.« Er lag wie ein Dunst über dem Grab, und die zwei jungen Männer zogen sich zurück. Natürlich stellten sie sich die Frage, was unter der lehmigen Erde alles geschehen war. Eine Antwort bekamen sie nicht. Nicht in dieser Nacht, nicht in den folgenden Wochen, Monaten oder Jahren. Es sollte Jahrhunderte dauern, bis das Grab sein fürchterliches Geheimnis preisgab. Dann aber brachte es die Todesangst über die modernen Menschen... ***
An gewissen Tagen, wenn die Bewohner von der Endlosigkeit des Lichtes sprachen, da wurde einem Fremden klar, weshalb der Flecken Erde preislich so immens gestiegen war. In den letzten Jahren waren die Baupreise explodiert, und manche Makler hatten sich da eine goldene Nase verdienen können. Besonders im Sommer, wo die Sonne oft genug wie eine riesige Orange glühte, bevor sie sich dem Meer entgegenneigte und die Luft so klar war, daß sie wie ein perlendes Getränk schmeckte, da wurden selbst die Kritiker aus ihrer Lethargie gerissen, gingen ins Freie, schauten, ohne sich sattsehen zu können. Auch das Haus auf dem Hügel gehörte dazu. Es schmiegte sich in diesen grünen Flecken hinein, eine spitz zulaufende Konstruktion aus Holz, Glas und den heimischen Steinen. Wunderbar geformt und dem Bewohner einen Blick gönnend, der im Prinzip unbezahlbar war. Mason Todd wohnte hier. Er hätte Zimmer zum Schauen vermieten können, aber das kam ihm nicht in den Sinn, obwohl er ansonsten ein äußerst geschäftstüchtiger Mann war, der Beziehungen besaß, über die andere nur staunen konnten. Als Agent im Filmgeschäft kannte er Gott und die Welt. Zumindest die Welt versuchte seine Gunst zu erwecken, denn mit Mason Todd mußte man sich gut halten. Er nutzte das natürlich aus, denn jemand, der etwas hatte anbrennen lassen, war er noch nie gewesen. Wie gesagt, das Haus stand günstig, der Blick war toll, Naturfreunde würden jubeln, aber Mason Todd interessierte sich mehr für eine andere Aussicht. Sie hieß Holly, lag nackt auf einem der Felle, und der Parallelbogen ihres Hinterteils war so perfekt von der Natur geschaffen worden, daß Mason nicht darum herumkonnte, ihn wieder zu bewundern. Das waren bessere Aussichten für ihn als die durch die große Panoramascheibe. ' Er kannte Holly seit ungefähr drei Monaten. Sie war super, knapp zwanzig, hungrig und scharf, denn sie wollte mit aller Macht nach oben. So wie viele Mädchen, die alles taten, um Rollen zu ergattern, denn das große Filmgeschäft lockte noch immer. So ließen sie sich durchreichen von einer Party zur anderen, immer darauf bedacht, neue einflußreiche Männer kennenzulernen, die sie dann wieder eine Stufe auf der großen Leiter des Erfolgs nach oben schoben. Es war ein ewiges Spiel. Es ging um Karriere, um Macht und natürlich um Sex. Diese jungen, hungrigen Hühner setzten alles ein. Ihre Körper waren ihre Waffen. Mason Todd wußte dies. Er hatte schon Fünfundzwanzigjährige erlebt, die Nervenzusammenbrüche bekommen hatten, weil sie sich zu alt fühlten. Sie gierten nach dem Leben und mußten dann zusehen, wie eine kam, die jünger war als sie.
Die Regeln standen fest. Wer mit Mitte Zwanzig noch nicht einen gewissen Bekanntheitsgrad errungen hatte, der gehörte zu den Personen, die out waren. Holly wollte weiter. Ob sie es schaffen würde, konnte niemand sagen. Jedenfalls war sie eine Kanone im Bett, und als Kanonenfutter hatte sie auch angefangen. In einem Werbestreifen war sie aufgetreten, knapp bekleidet und auf einer Kanone hockend, die jede Menge Popcorn ausspie, wobei die blonde Holly dann mitgerissen wurde, um schreiend und lachend in einem Berg von Popcorn zu verschwinden, durch den sie sich dann aß, um auf der anderen Seite wieder zum Vorschein zu kommen. Durch diesen Schwachsinn war sie bekannt geworden. Jetzt hieß sie nur Holly, das Popcorngirl. Anfangs hatte es ihr gefallen. Als aber die Kinder anfingen, sie mit Popcorn zu bewerfen, wenn sie sich auf der Straße zeigte, wurde sie sauer und wandte sich an Mason Todd, ihren Agenten. Er sollte ihr etwas Neues besorgen. Der war erst mal mit Holly durch die Betten gegangen. Eine Woche lang hatte er sich praktisch von der Bühne abgemeldet und nur die wichtigsten Telefonate entgegengenommen. Holly hatte stets ihren Mund gehalten und alles getan, was der Mann wollte, aber Mädchen wie sie vergaßen nicht ihre Ziele. Sie wollte mehr, als nur durch das Popcornzeug schwimmen, und das hatte sie Mason auch gesagt. »Geduld mußt du haben, Baby, Geduld.« »Wie lange noch, verdammt?« »Kann ich dir auch nicht sagen.« Es war Hollys erster Versuch seit langem gewesen, aber es sollte nicht der letzte gewesen sein. Sie lag noch auf dem Fell, während Todd in einem Nebenraum verschwunden war, wo seine Zigaretten lagen. Mit dem brennenden Stäbchen kehrte er zurück, bewunderte wieder ihr Hinterteil und schenkte die langstieligen Gläser mit Champagner voll. »Hier, nimm einen Schluck, das kühlt dich ab.« »Bin ich denn heiß?« »Mädchen wie du sind immer heiß.« Die blonde Holly stützte sich leicht auf, als sie das Glas nahm. Sie schaute ihren Gönner an. »Ja, ich bin heiß, Mason.« »Habe ich doch gesagt.« »Aber anders, als du meinst.« »Wie denn?« fragte er und nahm auf der Bettkante Platz. Er trug einen Hausmantel aus Seide, der seine Haut kühlte. Mit der freien Hand strich er über Hollys verlängerten Rücken, während die Zigarette zwischen seinen Lippen verglühte.
Sie wollte nicht. Blitzschnell drehte sie sich zur Seite. Champagner schwappte über, was sie nicht störte. »Nein, Mason, nicht, wie du wieder denkst. Ich bin heiß auf einen Job, hörst du?« Er lachte. »Den hast du doch.« »Klar.« Plötzlich funkelten die Augen. Wenn sie wütend war, schimmerten die Pupillen leicht grünlich. »Klar, den habe ich. Dafür muß ich auch durch dieses verdammte Popcorn kriechen, wenn du verstehst, was ich meine. Immer nur Popcorn, Popcorn. Weißt du, was das ist, Mason? Weißt du es?« »Klar doch. Gut für die Karriere.« Es klang schrill, als sie lachte. »Das ist einfach Scheiße und nicht gut für die Karriere.« Er tätschelte ihre blanken Rundungen. »Was willst du wirklich, Holly? Sag es!« »Das weißt du selbst.« Er nickte. »Soll ich andere Agenturen anschreiben?« »Nein!« Sie setzte sich jetzt auf. Ihre Brüste schaukelten kaum, so fest waren sie. »Ich will die Werbung nicht, hast du gehört? Weg damit! Ich will eine richtige Rolle.« Mason Todd blieb gelassen. Er drückte seine Zigarette aus. »Die letzte hast du abgelehnt.« »Na und?« »Das macht man nicht, Süße.« »Weil sie Mist war. Ich hätte auf einer Provinzbühne über die Bretter hüpfen müssen. Dazu fast nackt.. .« Jetzt wurde er sarkastisch. »Hat dir das je etwas ausgemacht, Holly?« »Nein, aber die Leute hätten mich erkannt und mich wieder mit Popcorn tüten beworfen.« »Das mußt du einkalkulieren.« »Will ich aber nicht mehr.« Als er nach ihr fassen wollte, war sie schneller. Sie schwang sich an der entgegengesetzten Seite des Bettes weg von ihm und lief zu ihrer Kleidung, die malerisch verstreut auf dem Boden lag. Der hauchdünne Slip, das rote Kleid mit dem engen, korsagenhaften Schnitt, dazu die bunten Leggings, die in einem Farbenspiel aus gelben und roten Schlangenlinien ihre Beine nachzeichneten. Das Kleid ließ die Schultern frei und auch den Ansatz des hohen Busens. Sie war wütend, und Mason schaute ihr amüsiert zu, wie sie sich ankleidete. Holly sah sein Grinsen. »Das freut dich wohl, was ich hier mache, wie?« »Nein, Süße. Umgekehrt wäre es mir lieber.« Ihr Gesicht verzog sich. Sie stieß mit dem Zeigefinger nach ihm. »Scheiße, Mann, da läuft nichts mehr. Du wirst mich erst wieder anfassen dürfen, wenn ich eine neue Rolle bekommen habe.« Todd schenkte gelassen Champagner ein. Allerdings nur für sich. »Ich hätte da was in Aussicht.«
»Ach ja?« Todd nickte. Holly fing an zu lachen. Von einem Moment zum anderen hatte sie sich verwandelt. »Was denn?« »Ein Bekannter dreht neue Privatfilme.« Sie war schon auf dem Weg zu ihm gewesen, jetzt blieb sie stehen. »Ach die. Pornos — oder?« »Ja — warum nicht?« »Nein.« Holly trat mit dem Fuß auf. Sie hatte da schon zweimal mitgemacht und sich anschließend so mies gefühlt wie selten. In zehn Jahren würde sie möglicherweise anders über ein derartiges Angebot denken, aber nicht jetzt. Da war sie sich zu schade, in einem dieser miesen Streifen mitzumachen. »Ich pfeife dir was, Todd. Ich spiele in keinem Porno mehr mit. Das ist mein letztes Wort.« »Schade.« »Was anderes hast du nicht auf Lager?« Sie sprach schnell weiter. »Ich habe mal gehört, daß du zu den Großen in der Branche zählst. Du sollst sogar der drittbeste da sein. Ich glaube eher, daß du unter fernerliefen laufen wirst.« »Es kommt immer auf den Typ an.« »Ach — dann bin ich schuld?« »Sicher. Hör mir zu, Süße, du bist nun mal keine Michelle Pfeiffer und auch keine Kim Basinger, die sich von Batman retten läßt. Du bist Holly mit einem unaussprechlichen Nachnamen, weil deine Eltern aus dem Osten kommen. Ist nicht tragisch, das kann man ändern. Ich habe getan, was ich konnte, und es besteht noch eine Chance.« Holly war blaß geworden. Schon nach den ersten Worten hatte sie Todd in die Parade fahren wollen. Der letzte Satz allerdings ließ sie aufhorchen. Der hatte sich nach einer Hoffnung angehört. »Was ist das denn für eine Chance?« »Du hast einen schönen Mund, Holly.« Sie dachte noch immer an die Pornos. »Du Schwein, du . . .« »Moment, Süße, ich meine es ernst. Die Firma telefonierte heute morgen mit mir. Sie wollen einen neuen Nußriegel auf den Markt bringen und brauchen jemand, der hineinbeißt, die Augen verdreht, das Zeug zerknackt und sich dann fühlt, als würde er in den Himmel getragen, weil ihm das Zeug angeblich so gut schmeckt.« Holly konnte es nicht glauben. »Da hast du an mich gedacht, Mason?« »Klar. Dein Mund, deine Zähne sind strahlend weiß, fast wie unecht. Die Leute, die mich .. .« »Nein!« schrie sie, und ihre Stimme hallte durch das Haus. »Nein, das mache ich nicht. Erst Popcorn, dann dieser komische Nußriegel. Bist du eigentlich nur blöd, Todd? Willst du mich verarschen, oder was ist?« »Es ist eine neue Chance.«
»Du kannst mir mit deiner verdammten Chance gestohlen bleiben.« Sie beugte sich vor und atmete heftig. Ihr noch etwas kindliches Gesicht war hochrot angelaufen. Sie schlüpfte in die hellen Schuhe. »Ich haue jetzt ab, Mason. Wenn du wirklich etwas hast, kannst du mich anrufen, ansonsten suche dir eine andere dumme Göre, die dir die Stunden im Bett versüßt. Ich mache es nicht.« Todd blieb gelassen. »Da wird es einige geben, die heiß darauf sind, Süße.« »Ist mir egal.« »Mal sehen.« Holly fauchte noch einmal wie ein wilder Tiger, bevor sie sich drehte und mit langen, wütenden Schritten den großen Raum verließ, begleitet vom Lachen des Agenten, der durch die Scheibe in den dunkler gewordenen Himmel schaute. Als Holly die Tür hinter sich zuknallte, hörte es sich an wie ein Schuß. Mason Todd lächelte. Er kannte das Spiel. Heute war Holly sauer, morgen auch, übermorgen ebenfalls. Irgendwann aber würde sie zurückkommen, reumütig, heulend. So war das eben. Für die jungen Mädchen hart, für ihn nicht, denn er profitierte von ihnen. Und das nicht nur beruflich. Gewissensbisse besaß er nicht. Die Mädchen wollten es nicht anders. Und es gab Nachschub genug. Da konnte die Gesellschaft noch so aufgeklärt sein, für eine Rolle beim Film oder beim Fernsehen taten sie alles. Sie spielten sich sogar gegenseitig aus, sie schlugen sich, sie intrigierten und arbeiteten mit allen Tricks, um die Konkurrentin auszustechen. Agenten wie Mason Todd hatten es da gut. Sie waren die Leute, die wie Spinnen in den Netzen hockten und ihre Fühler ausstreckten. Dabei brauchten sie nicht einmal viel zu tun. Hatte ein Mädchen erst von ihnen Wind bekommen, riefen sie an oder ließen sich selbst blicken. Todd konnte dann auswählen. Sie alle waren willig, und sie alle wußten um die Macht der Agenten. Deshalb kehrten sie auch wieder zurück. Ausnahmslos. Todd brauchte nur zu warten. Mit dieser Gewißheit zündete er sich eine neue Zigarette an... *** Holly war auf achtzig, wenn nicht schon auf hundert, als sie das prächtige Hügelhaus verließ. Der breite Eingang lag tiefer. Ein Garagendeck war in den Hügel hineingebaut worden, und der von der Straße herführende Privatweg endete dort.
Umgeben war das prächtige Haus von einem Garten, der nicht typisch englisch war. Die meisten Engländer pflegten ihre Gärten so, daß sie aussahen wie Parks. Für so etwas hatte Mason Todd kein Auge. Es war ihm zudem egal. Er ließ den Garten wachsen und wuchern. Nur zweimal im Jahr kamen die Gärtner und räumten um. Im Sommer blühte alles prächtig. Von Wildrosen bis hin zu hohen Sonnenblumen war alles vorhanden. Insekten hatten ihr Zuhause gefunden. Stets war die Luft erfüllt von ihrem Brummen und Summen, wenn sie von Blüte zu Blüte huschten und oftmals von bunten, filigranen Schmetterlingen begleitet wurden, die ihren Zickzack-Kurs flogen. Holly war nicht mit dem eigenen Wagen gekommen. Sie mußte bis zur Straße laufen, von dort bis in den Ort, wo sie sich ein Taxi schnappen konnte. Die Schuhe besaßen flache Absätze, so brauchte sie keine Angst davor zu haben, umzuknicken. Noch nie zuvor war sie während der Dunkelheit durch den Garten gelaufen. An diesem Abend erlebte sie die Premiere, und sie konnte nicht gerade sagen, daß es ihr gefiel. Was für andere ein herrlicher Abendspaziergang durch die Natur war, glich bei ihr mehr einem Spießrutenlaufen. Hin und wieder fluchte sie wütend vor sich hin, während sie über die Natursteine lief und achtgab, nicht zu stolpern. Mit den zweimal im Jahr erscheinenden Gärtnern hatte sie nie gesprochen und sie auch nicht gesehen, aber denen war der gleiche Geruch aufgefallen wie Holly. Zuerst dachte sie, daß sich der Blütenduft besonders auf sie konzentrieren würde. Das stimmte nicht, denn dieser Geruch oder dieses Aroma war anders. Das stank . . . Auf halber Strecke blieb Holly stehen. Sie bewegte ihre Nasenflügel, als sie die Luft einsaugte. Der süßliche Geschmack blieb in ihrem Hals. Die Sommerblumen konnten es nicht sein, die rochen nicht so faulig oder nach Verwesung. Holly bekam eine Gänsehaut, als ihr dieser Begriff einfiel. Verwesung, das genau war es. Ja, das war der richtige Ausdruck. Es stank nach Moder und Verwesung. Plötzlich schwitzte sie. Es lag nicht allein an der schwülen Luft. Etwas anderes war hinzugekommen, das allerdings an ihr selbst lag und tief aus ihrem Innern an die Oberfläche drängte. Furcht.. . Die Angst vor dem Geruch, der so widerlich unnatürlich war und von überallher auf sie einströmte. Aus jeder Pore schien er zu steigen, um nur sie zu umwehen.
Holly schaute zurück. Sie war bergabgegangen. Das Haus lag über ihr wie eine moderne Burg. Eine tolle Konstruktion, da hatte sich der Architekt etwas einfallen lassen. Holly besaß im Prinzip keinen Draht zu diesen Dingen, aber dieses Haus imponierte ihr schon. Sie ballte die Hände und sprach einen Schwur. »So weit werde ich auch noch kommen, Todd. Verlaß dich drauf. Ich werde mir ebenfalls ein Haus kaufen. Größer, schöner und imposanter als deine Hütte. Fahr zur Hölle, du Arschloch!« Das hatte raus gemußt. Holly merkte, daß der Agent mit ihr nur gespielt hatte, und so etwas konnte sie nicht hinnehmen. Das war zuviel für sie. Der faulige Geruch aber blieb. Holly suchte nach einem Vergleich und hatte dann das Gefühl, in einem Leichenhaus oder auf einem Friedhof zu stehen. Ja, so stank es .. . Leichengeruch? Sie erschrak über sich selbst, als sie daran dachte. Nein, sie hatte noch nie an einer Leiche gerochen. Holly kannte das nur aus Erzählungen. In der Clique damals war einer gewesen, der als Leichenwäscher sein Geld verdient hatte. Und der hatte oft genug erzählt, wie die Toten rochen . .. War das der Geruch? Die Gänsehaut lag nicht nur auf ihren nackten Schultern, sie rann auch tiefer und hörte erst am letzten Wirbel auf. Obwohl der Verstand ihr riet, jetzt flüchten zu müssen, blieb sie stehen, denn irgendwo wollte sie herausfinden, was so roch. Das bezog sich nicht allein auf ihre Neugierde, es war auch eine Portion Raffinesse darunter. Wenn dieser Agent im Garten etwas verborgen hatte, was keiner wissen sollte, dann würde er ihr schon die entsprechenden Rollen besorgen. Es sei denn, er wollte, daß die Bullen kamen und seinen schönen Garten umgruben. Holly suchte den entsprechenden Weg durch das Dickicht aus hohem Gras, Blumen und Büschen. Es mußte ihrer Meinung nach eine Stelle geben, wo sich der Geruch konzentrierte, von überall her konnte er nicht ausströmen, das sagte ihr die Logik. Etwas weich waren ihre Knie schon, als sie den Weg verließ und sich in das Gelände schlug. Der Untergrund kam ihr schwammig vor, beinahe schon sumpfig. Insekten umsurrten sie. Der weite Himmel über ihr zeigte ein dunkles und gleichzeitig helles Licht. Das waren zwei Farben, die sich nicht vermischen wollten, denn die schwindende Helligkeit hielt sich noch an den Rändern der Finsternis auf, wo sie einen leicht grünlichen Schein bekommen hatte und sich dort scharf abhob. Sehr intensiv rochen die Pflanzen, Gräser und Blüten, aber der andere Geruch, der nach Leiche, war intensiver.
Holly schalt sich eine Närrin, daß sie überhaupt durch den Garten schlich und sich damit in Gefahr begab. Aber ihre Neugierde und ihr Ehrgeiz waren stärker. Und so ging sie weiter. Einen Weg entdeckte sie nicht. Mit beiden Armen räumte sie die Hindernisse aus dem Weg, knickte und bog Zweige zur Seite, zertrat kleine Blumen und drückte bunte Stiefmütterchen in den Boden. Sie gelangte an einen kleinen Teich. Über dem grünen Wasser hatten sich die Mücken in wahren Schwärmen versammelt und führten ihre bizarren Tanze auf. An den Rändern hockten dicke Frösche, die mit ihren Mäulern zielsicher nach den Insekten schnappten. Hollys Sinne waren recht abgestumpft. So konnte sie nicht sagen, ob sich der Geruch intensiviert hatte oder nicht. Er war jedenfalls vorhanden, und sie schmeckte ihn auch. Dann sah sie den Stein. Umwuchert von Unkraut schaute er mit seiner Oberfläche über das hohe Gras hinweg. Er mochte früher einmal schwarz gewesen sein, jetzt zeigte seine Oberfläche einen grünen Schimmer, der wie ein Teppich auf ihr lag. Ein unbestimmtes Gefühl trieb Holly an und sagte ihr, daß es wichtig war, den Stein zu umrunden. Nach wenigen Sekunden hatte sie es geschafft — und blieb stehen. Trotz der schlechten Lichtverhältnisse hatte sie erkannt, daß der Boden vor ihren Füßen aufgewühlt worden war. Hatte an dieser Stelle jemand gegraben? Holly ging in die Hocke. Sie wollte alles sehr genau sehen und nickte. Viel Ahnung hatte sie nicht, aber so wie der Boden aussah, schien hier keiner gegraben zu haben. Es war eher umgekehrt. Da konnte jemand aus dem Untergrund an die Oberfläche gekrochen sein. Blödsinn, verrückt, unmöglich. Es sei denn, da unten befand sich ein Versteck, eine Höhle oder der Zugang zu einem Tunnel. Die Erklärung paßte ihr schon besser. Sie schob das rechte Bein vor und stellte ihre Schuhsohle auf die weiche Erde. Sehr weich war sie. Widerstand brachte sie ihr kaum entgegen, der Fuß sank auch schnell ein. Holly erschrak. Hastig zog sie das rechte Bein wieder zurück. Holly verstand die Welt nicht mehr. Sie gehörte zu den Mädchen, die mehr ihrem Instinkt folgten, und der sagte ihr, daß es allmählich gefährlich wurde, wenn sie noch länger blieb. Dieser ungewöhnliche Garten strahlte eine Bedrohung aus, wie sie sie noch nie erlebt hatte. Die Angst blieb wie ein ständiger Begleiter bei ihr.
Zwar hatte sie die Bedrohung nicht erkannt, aber sie verdichtete sich. So schnell wie möglich wollte sie wieder den Weg erreichen und auf das Tor zulaufen. Der Gedanke an eine rasche Flucht hatte einen Teil ihrer Vorsicht vergessen lassen. Hätte sie sich mehr auf ihre Umgebung konzentriert, wäre ihr möglicherweise etwas aufgefallen. So lief sie geradewegs in die Falle! Am Stein lauerte das Verhängnis. Sie hatte ihn noch nicht ganz passiert, da geschah es. Etwas umklammerte ihren rechten Fußknöchel und hielt sie zurück. Holly zuckte zusammen. Sie dachte an eine Schlange, schaute nach unten, ohne viel erkennen zu können. Etwas Helles, Gläsernes, Durchsichtiges hatte sich um ihren Knöchel gewickelt. Es war nicht hart, sondern weich und widerstandsfähig, ohne daß sie es allerdings schaffte, den Fuß aus dieser verfluchten Schlinge zu nehmen. Sekundenlang rührte sie sich nicht. Aber sie sah, wie sich Buschzweige bewegten. Sie teilten sich zu einem Dreieck, als sie vor ihr geöffnet wurden. Plötzlich schien die Furcht sie zu lähmen. Auf dem Rücken lag der Schauer der Angst wie aufgepinselt. Das Herz klopfte schnell. Sie wollte weg, da umklammerte das schleimige Etwas noch härter ihren rechten Knöchel. Und es bewegte sich. Holly hörte sich selbst schreien, als sie den Ruck spürte und nach vorn fiel, direkt auf die V-förmige Öffnung des Gebüschs zu, hinter dem die Gefahr lauerte. Es war eine Gestalt, die auf Holly gewartet hatte. Die junge Frau klatschte dagegen, einen Moment später fühlte sie sich von einer geleeartigen Masse umklammert, und der widerliche Gestank steigerte sich noch mehr. Moder, Leichen, Verwesung, das kam alles zusammen und konzentrierte sich auf eine schreckliche Art und Weise. Holly war dermaßen geschockt, daß sie nicht sah, gegen wen sie gefallen war. Sie hätte auch kaum begriffen, welche Gestalt auf sie gewartet hatte. Ein Wesen aus Schleim, stinkend, nicht einmal so groß wie ein Mensch, halb durchsichtig, so daß die Knochen noch zu erkennen waren, die wie ein weiches Gebilde in der Schleimmasse zitterten. Holly war dem widerlichsten unter den Dämonen in die Hände gefallen, einem Ghoul. Leichenfresser wurden sie im Volksmund genannt. Andere Dämonen und Schwarzblütler wollten mit ihnen nichts zu tun haben und hatten die Ghouls aus ihren Reihen verstoßen.
Sie aber konnten nur existieren, wenn es genügend Leichen gab, an die sie herankamen. Holly würgte. Der Ekel brandete in ihr hoch. Ihr Gesichtsausdruck war schon nicht mehr menschlich zu nennen, und ein Schrei erstickte, als einer dieser Schleimarme von unten her über ihren Körper kroch und sich auf ihrem Gesicht auszuruhen schien. Holly spürte, daß etwas in ihren Mund drang. Vor ihren Augen tanzten plötzlich dunkle Flecken. Die Luft war ihr knapp geworden, weil sich dieses schleimige Etwas in ihren Mund gebohrt hatte. Sie merkte nicht einmal, daß die Beine von ihrem Körper weggerissen wurden. Als sie fiel, schleuderte der Ghoul sie nach vorn. Ihr Hinterkopf erwischte die spitze Ecke der Steinkante. Den Aufprall überlebte Holly nicht. Der Ghoul ließ sie fallen. Er hatte sofort bemerkt, daß sein Opfer nicht mehr lebte. Für die Dauer einiger Sekunden stand er da und starrte sie an. Als der Schrei eines Uhus aufklang, war es für den Ghoul wie ein Kommando. Er begann damit, die Tote zu verschlingen... *** Mason Todd gehörte zu den Menschen, die Siege und Niederlagen gleich gut wegsteckten. Daß Holly ihn allein gelassen hatte, empfand er nicht einmal als Niederlage. Mädchen wie sie kannte er zur Genüge, wenn auch nicht alle ihren perfekten Körper besaßen. Er hatte noch etwas aufgeräumt, danach in die Glotze geschaut und sich ziemlich spät erst ins Bett gelegt. Kein Telefonanruf störte ihn in der Nacht. Er schlief tief und fest. Was in seinem Garten passierte, bekam er erst recht nicht mit. Nur der abnehmende Mond war Zeuge dieser Szene. Am anderen Morgen erwachte der Agent voller Tatendurst. Er hatte ein gutes Feeling für den Tag, der wieder sonnig werden würde. Dieser Sommer hatte es in sich. Aber an der Küste, wo er wohnte, konnte er es schon aushalten. Hier wehte ständig ein frischer Wind, der den so typischen Seegeruch mitbrachte. Balsam für die Lungen. Das dachte auch Todd, als er noch vor dem Duschen auf die Bruchsteinterrasse trat und seinen Körper durch Gymnastik geschmeidig machte. Anschließend ließ er das Wasser fließen, nahm Wechselbäder und bereitete sich dann das Frühstück vor. Er aß Eier und Speck. Anschließend irgendein Körnerfutter, das ihm seine Aufwartefrau, eine Bio-Tante, angedreht hatte. Es schmeckte ihm zwar nicht, aber es beruhigte sein Gewissen.
Die Morgenzigarette rauchte er bei einem Glas frisch gepreßten Orangensaft. Auf seinem Schoß lag bereits sein in der Branche berühmt gewordenes Notizbuch. Ziemlich dick und in Leder gebunden, hielt es ihm schon seit Jahren die Treue. Er hatte vor, einige Leute anzurufen. Nicht nur in England. Ein Anruf ging nach Paris. Da mußte er später anklingeln, denn der Kollege kam erst gegen zehn Uhr morgens in Form. Mason Todd wollte an diesem Morgen nicht in seinem Haus bleiben, weil Milly, seine Aufwartefrau, erschien. Man konnte sie als sehr energische Person ansehen, und wenn sie einmal im Haus herumfuhrwerkte, war Todd abgemeldet. Milly gehörte zu den Frauen, denen das Putzen Spaß machte. Sie freute sich darüber, wenn sie eine Stelle antrat, wo es richtig durcheinander war und nicht so gelackt aussah. Das hatte sie Mason einmal erzählt. Seitdem räumte er nicht mehr auf, und Milly war zufrieden. Die dreiundvierzigjährige Frau war die einzige Person, die sich von Todd nichts sagen ließ. Außerdem besaß sie einen Schlüssel zum Haus. Keinem der zahlreichen Mädchen war dieses Privileg jemals widerfahren. Er hörte ihren Wagen. Sie fuhr einen alten R 4, dessen Auspuff schon vor einem Jahr hätte repariert werden müssen. Seltsamerweise fuhr der Wagen immer noch, was Todd ebensowenig begriff wie die Besitzerin selbst. Wenig später kam sie. Er hörte sie schon in der kleinen Halle. »Morgen, Mr. Todd, ich bin wieder da.« »Das höre ich.« Sie trat auf. Ja, es war jedesmal ein Auftritt, wenn sie in ihrem hellblauen Kittel erschien, der ihre mächtige Gestalt umschloß. Das Gesicht hatte sie jedesmal zu einem Lächeln verzogen. Damit zeigte die Frau deutlich an, wie sehr sie sich auf ihre Arbeit freute. »Hi, Milly.« Die Frau schaute sich um und schnupperte. Das tat sie sonst nicht, und Todd erkundigte sich, was los war. »H/erstinkt es nicht!« erklärte sie. »Höchstens nach frischer Luft und Kaffee.« Milly kam näher und winkte ab. Dann zeigte ihr abgespreizter Daumen über die Schulter hinweg. »Aber draußen, Mr. Todd, da stinkt es. Das kann ich Ihnen sagen. Meine Nase ist nämlich gut.« »Weiß ich, Sie riechen den Staub.« »Hören Sie auf zu grinsen. Ich habe es ernst gemeint.« »Ich auch.« »Sie sollten nachschauen. Da draußen in Ihrem Garten stinkt es wirklich. Das ist nicht einmal komisch.« »Wonach denn?« »Faulig, nach Moder ...«
»Das kann an den Blumen liegen, die allmählich verwelken. Nichts Besonderes. Wenn Sie es wünschen, bestelle ich den . . .« Er hörte auf zu sprechen, denn Milly stand vor ihm, die Hände in die Hüften gestützt. »Keine Ausreden.« »Wieso sind das Ausreden?« Milly beugte sich vor. Sie sah dabei aus, als wollte sie ihren Körper auf Todd herabsenken. »Ich weiß genau, wie Blumen riechen, die verwelken, Mr. Todd.« »Und das roch anders?« »So ist es.« »Wie denn?« Milly richtete sich wieder auf. Sie hatte eine Himmelfahrtsnase. »Nun ja, ich würde sagen, es roch nach Leichen . ..« Todd verengte die Augen. »Oder so — ja ...« »Glauben Sie mir nicht?« »Doch, schon . . .« Sie drohte ihm mit dem Finger. »Das kommtmir aber nicht so vor, Mr. Todd. Hören Sie auf meinen Rat! Ich fange hier schon mal an, und Sie werden in den Garten gehen und schnüffeln.« »Wo soll ich denn besonders schnüffeln?« Milly verzog die Unterlippe. Das konnte sie perfekt, war fast filmreif. »An Ihrem komischen Kunstwerk«, erklärte sie fast voller Widerwillen. Die Frau konnte mit der Plastik nichts anfangen, die in Todds Garten stand. Dabei stammte das Kunstwerk von einem berühmten Bildhauer, und Todd hatte einiges dafür hingelegt. Er wußte, daß es überwuchert war und nahm sich wieder einmal vor, das Unkraut jäten zu lassen. »Wollen Sie nun oder wollen Sie nicht?« Todd stand auf. »Ich gehe ja schon.« »Gut. Danach sagen Sie mir, was Sie gerochen haben.« Milly schüttelte sich. »Das war wirklich widerlich.« »All right, bis gleich.« Kopfschüttelnd ging er davon. Was Milly wieder hatte. Andererseits gehörte sie zu den Frauen, die nicht spinnen, und Todd bekam ein ungutes Gefühl. Die Sonne schien schon warm. Er trug ein weißes Hemd, das an der Brust offenstand. Die blaue Hose fiel locker bis über die weichen Leinenslipper hinweg, in denen seine Füße steckten. Den Weg durch den Garten war er selten gegangen. Zumeist durchquerte er das Gelände in seinem knallgelben Jaguar. Die ersten Schritte genoß er. Später, als der Bewuchs höher wurde, nahm auch die Schwüle zu sowie das Summen der zahlreichen Wespen, Bienen und Fliegen, die ein Paradies vorfanden. Der Stein stand etwas abseits vom Weg. Er bildete oben ein Viereck und lief in der Mitte zu wie eine Taille. Der Künstler hatte die Abstraktion einer Frau darstellen wollen. Die Weichheit der Hüfte, gepaart mit einem
scharfen Verstand. So stellte er sich die heutige Generation der Frauen vor. Davon hatte Todd allerdings nur wenige kennengelernt, denn Mädchen wie Holly präsentierten das glatte Gegenteil. Um den Ort zu erreichen, mußte er sich durch die Büsche wühlen. Schon vorher allerdings fiel ihm der Geruch auf. Ein wirklich ekliger Gestank, der ihm aus den dichten Büschen entgegenwehte. Es roch tatsächlich nach verwesten Leichen. Mason Todd hatte schon vorher den Verdacht gehegt, aber Milly nichts davon erzählt, um sie nicht zu beunruhigen, denn diesen Geruch nahm er nicht zum erstenmal wahr. Und er dachte auch an die Folgen, an den schrecklichen Fund, den er zunächst tief im Keller versteckt hatte, um ihn später irgendwo ins Meer zu schleudern. In Greifweite blieb er vor dem Kunstwerk stehen und entdeckte sofort den dunklen Fleck an dessen Rand. Eine Erklärung wußte er nicht, aber er wollte es herausfinden und fuhr mit dem rechten Zeigefinger darüber hinweg. Als er den Finger zurückzog, blieb etwas an seinem Zeigefinger kleben, das nicht nur dunkel schimmerte, auch klebrig war und eine rötliche Farbe besaß. So wie Blut. Er verrieb es und kam sich plötzlich vor wie in einem Kühlschrank steckend. Dabei dachte er sofort an Holly, die sein Haus allein verlassen hatte. War sie gegen den Stein gefallen? Weshalb dann der Geruch? Er reinigte seine Fingerkuppen im dichten Moos, blieb gebückt und drückte einige Grashalme zur Seite, damit er einen besseren Blick bekam. Todd schaute dorthin, wo sich der Geruch intensiviert hatte, bewegte sich im Entengang vor und entdeckte die Stelle, wo die Erde aufgewühlt war, als wäre jemand aus ihr hervorgestiegen. Dann sah er die Knochen auf dem weichen Boden, zum Teil blank, andere wiederum zeigten noch Fleischreste, die an ihnen klebten und von zahlreichen Fliegen umsummt wurden. Der widerliche Geruch, der seinen Magen der Kehle entgegendrückte, drang aus dem aufgewühlten Boden an seine Nase, die sich daran nicht gewöhnen konnte. Er schwitzte wie selten. Die unmittelbare Umgebung drehte sich vor seinen Augen, und Todd wußte nicht einmal zu sagen, wie er es geschafft hatte, den schmalen Gartenweg zu erreichen, denn dort blieb er stehen und konnte sich nicht mehr zurückhalten. Mason Todd übergab sich. Wie ein Betrunkener taumelte er durch die nähere Umgebung. Er lehnte sich an den Stamm eines Kirschbaums, starrte ins Leere und atmete tief durch, wobei sein Mund weit offen stand.
Hätte er jetzt eine Flasche Whisky zur Hand gehabt, er hätte sie bis zu einem Drittel geleert. Wie ein Greis bewegte ersieh wieder auf das Haus zu und fragte sich dabei, was er Milly sagen sollte, wenn sie ihn nach seinen Erlebnissen fragte. Die Wahrheit bestimmt nicht. Nicht daß Milly ihm nicht glauben würde, aber sie würde reden, dafür war sie bekannt. Seine Weibergeschichten hatten sich im Ort herumgesprochen, das machte ihm nichts aus, aber mit anderen Vorgängen wollte er doch nicht in Verbindung gebracht werden, was sich letztendlich schlecht auf das Geschäft auswirkte. Todd wartete noch. Er mußte sich erholen. Milly würde sowieso merken, daß etwas nicht stimmte. Es war wohl besser, wenn er nicht den normalen Eingang nahm, sondern durch einen an der Seite in sein Haus zurückkehrte. Mason Todd ging wie unter einer schweren Last. Natürlich suchte er nach Erklärungen; er fand keine. Es war das zweite Mal, daß er Knochen gefunden hatte. Diesmal hatte es Holly erwischt. Zuvor war es ein Mädchen namens Jill gewesen. Dessen Verschwinden hatte niemand bemerkt, und Todd hatte sich zudem nicht geregt. Würde es bei Holly ebenso laufen? Er wußte es nicht, darauf bauen konnte er allerdings nicht. Ihm mußte etwas einfallen. Unten im Haus war es kühl. Zudem lagen Fliesen auf dem Boden, die ebenfalls eine gewisse Kälte abstrahlten. Er hatte hier sein Büro eingerichtet, drückte die Tür auf — und blieb auf der Schwelle stehen, weil er Milly sah, die dort Staub wischte. Das hatte ihm nicht passieren sollen, und er ärgerte sich. »Wieder zurück, Mr. Todd?« »Ja«, antwortete er schwach. »Und was haben Sie entdeckt?« Milly legte das Staubtuch zur Seite. Sie kam gespannt näher. Todd hob die Schultern. Das wollte Milly nicht akzeptieren. »Auch nichts gerochen?« Diesmal konnte Todd nicht ausweichen. »Wie man's nimmt, Milly. Es roch schon komisch.« Sie winkte ab. »Komisch, sagen Sie? Das stank widerlich. Nach Leichen, nach Verfaultem oder so.« Sie deutete auf sich. »Ich habe ein Gespür dafür, verlassen Sie sich darauf. Ich merke genau, wenn etwas nicht stimmt.« »Kann sein, aber ich nehme das nicht tragisch. Jedenfalls habe ich nichts gefunden«, sagte er unwirsch. »Es kann ein Tier sein, das da verwest. Ich werde den Gärtner bestellen, der den Garten mal wieder richtig ausmistet.«
»Das wird auch Zeit.« Milly wollte weiterputzen, aber Todd hatte etwas dagegen. »Ich wollte eigentlich etwas arbeiten. Sind Sie fertig hier unten, Milly?« »Nein.« »Dann machen Sie den Raum beirrvnächstenmal mit. Okay?« Milly hob die Schultern. »Sie sind der Boß«, erwiderte sie und drehte beleidigt ab. Mason Todd wartete, bis die Frau verschwunden war. Dann stellte er sich an das breite Glasfenster und schaute nach draußen. Durch die Hanglage besaß er auch im Keller freie Sicht nach Westen, hin zur nahen Küste. Das Meer konnte er leider nicht sehen, was er auch nicht wollte, denn ihm schwirrte etwas im Kopf herum, dessen Idee im Garten und auf dem Rückweg geboren worden war. Auf seinem Grundstück tat sich etwas. Dort verbarg sich das Grauen. Da hielt sich etwas versteckt, das seiner Ansicht nach mit der reinen Logik nicht zu erklären war. Es war der zweite Knochenfund, und auch beim ersten hatten die Reste so abgenagt ausgesehen. Ein Tier, das tief im Boden hauste und sich immer nur dann zeigte, wenn eine unschuldige Person seinen unmittelbaren Dunstkreis durchschritt? Schon möglich, aber Todd dachte weiter, und das hatte etwas mit seinem Beruf zu tun. In der Filmbrandie kam er mit den unterschiedlichsten Leuten zusammen. Selbstverständlich auch mit gewissen Produzenten. Er kannte einige, die sich auf Horrorfilme spezialisiert hatten. Vor einigen Jahren war ein Streifen gedreht worden, für den er die Schauspieler besorgt hatte. Noch gut konnte er sich an den Inhalt des Films erinnern. Damals war es um Wesen gegangen, die auf Friedhöfen hausten und Gräber förmlich leergefressen hatten. Ihm fiel sogar der Name der Wesen ein. Ghouls! Natürlich hatte sich das nur auf der Leinwand abgespielt, in der Realität gab es diese Wesen nicht. Oder vielleicht doch? Mason Todd war durcheinander. Der Knochenfund ließ ihn einfach nicht ruhen. Den ersten hatte er vertusehen können, den zweiten wollte er nicht vertuschen. Was aber tun? Todd gehörte zu den Leuten, die scharf nachdenken konnten. Er kreiste ein Problem ein und suchte nach Lösungen. Zumeist fielen ihm mehrere ein, die erfolgversprechendste nahm er an. In diesem Fall erinnerte ersieh an seinen Bruder, der in London wohnte und dort als Makler im Immobiliengeschäft tätig war. Bei einem Treffen hatte Eddy mal von einem Klassenkameraden gesprochen, der beim
Yard beschäftigt war und sich auf besondere Fälle spezialisiert hatte. Auf okkulte Dinge. Der Name fiel Mason nicht ein, aber er hatte irgendwie schottisch geklungen. Egal, sein Bruder würde Bescheid wissen. Eine Minute später hatte Mason Todd in London angerufen und Eddy an die Strippe bekommen. »Hi, Mason, du alter Frauenverführer, was ist los?« »Ich habe da ein Problem, Eddy.« »Hängt es mit deinem Haus zusammen?« »Indirekt schon. Eigentlich brauche ich von dir nur einen Namen. Das ist alles.« »Dann laß mal hören, Mason...« *** In London hatte es an diesem Morgen geregnet. Nicht in der gesamten Stadt, sondern punktuell. Ich mußte natürlich das Pech haben, in den warmen Sommerregen hineinzugeraten, der die Straßen glatt machte. Ich hatte den Rover genommen, um zum Dienst zu fahren. Suko, der neben mir saß, nörgelte mal wieder über die stickige Schwüle und beklagte den Verlust einer Klimaanlage. »Du kannst deinen Schädel ja aus dem Fenster hängen«, schlug ich vor. »Da bekommst du direkt noch eine Haarwäsche.« »Habe ich die nötig?« »Bei dem Läusespielplatz immer.« »Schäm dich.« »Weshalb?« »Weil jemand, der mit Flöhen reich gesegnet ist, nicht so sprechen sollte.« »Wenn du nicht achtgibst, hüpfen sie zu dir rüber.« Das Wetter sorgte für unsere Verspätung. Glenda war schon da. Sie trug hautenge, rotschwarze Leggings zum ebenfalls engen und sehr kurzen, schwarzen Rock. Das T-Shirt darüber zeigte einen runden Ausschnitt und ließ so einiges von ihrer urlaubsbraunen Haut erkennen, die sie sich an der Küste geholt hatte. »Das ist stark«, sagte ich. »Was ist stark?« »Dein Anzug.« »Das ist kein Anzug, John, das ist modern, wenn du verstehst, was ich meine.« »Nicht direkt.« »Macht auch nichts. Außerdem hast du es nicht zu bezahlen brauchen. Und im Ausverkauf ist vieles preiswert.« »Ach so, dann sind sie das Zeug nicht losgeworden. Nun ja, es finden sich ja immer welche, die .. .«
Als Glenda einen Locher anhob, verstummte ich. Manchmal kann sie zur Furie werden. Ich tauchte in meinem Büro unter, wo Suko bereits wartete und auf das Fenster deutete. »Es hat aufgehört zu regnen.« »Na und?« »Nur so.« Die Sonne schob sich hinter den Wolken hervor und breitete ihren Strahlenkranz aus. Schon bald würde von den noch feuchten Straßen Dampf aufsteigen und die City zu einer Sauna machen. Glenda Perkins erschien mit dem frisch aufgebrühten Kaffee und einer Nachricht. »Da hat jemand für dich angerufen, John.« »Und wer?« »Ein gewisser Mason Todd.« Ich überlegte, schaute Suko an, der den Kopf schüttelte und ebenso wenig Bescheid wußte. »Kenne ich nicht. Was wollte er denn?« »Keine Ahnung. Er hat nur gesagt, daß du und sein Bruder mal in einer Schulklasse gewesen seid.« Ich winkte ab. »Ach ja, das ist. . .« »Sagt dir der Name Eddy Todd etwas?« Meine Antwort folgte nach drei Sekunden. »Das allerdings, Glenda. Eddy Todd kenne ich.« »Der soll bei dir in der Klasse gewesen sein.« »Das stimmt sogar.« Glenda legte einen Zettel neben die Tasse und deutete auf die Zahlenreihe. »Unter dieser Nummer kannst du Mason Todd erreichen. Erbat dringend um deinen Anruf, hatte es schon gestern versucht, aber kein Glück gehabt.« »Sagte er, um was es ging?« »Nein!« Glenda hob die Schultern. »Aber er hat es sehr dringend gemacht. Das hörte sich an, als stünde er unter großem Druck. Wie gesagt, mehr weiß ich nicht.« »Danke.« Ich schaute mir die Telefonnummer an. Der Vorwahl entnahm ich, daß der Ort irgendwo im Süden liegen mußte, in der Nähe von Portsmouth oder Southhamp-ton. Da wo die Küste steil wurde und die Sandstrände verschwanden. Suko schlürfte seinen Kaffee, als ich wählte. Mason Todd schien neben dem Apparat gelauert zu haben, so schnell hatte er abgehoben und atmete hörbar auf, als ich meinen Namen sagte. »Endlich, Mr. Sinclair.« Ich lachte leise. »Das hört sich an, als hätten sie den Koffer voller Probleme.« »Man kann es sagen.« »Und welcher Art?« »Kennen Sie Ghouls?«
Suko, der mitgehört hatte, saß plötzlich ebenso steif da wie ich. Es gibt gewisse Dinge oder Dämonen, bei denen wir allergisch reagieren. Ghouls gehören dazu. Sie waren die widerlichsten und schlimmsten unter den Schwarzblütlern. Lange Zeit hatten wir Ruhe vor ihnen gehabt. Das konnte sich nun ändern. »Habe ich etwas Falsches gesagt, Mr. Sinclair?« »Nein, ganz und gar nicht. Ich wiederhole noch einmal. Sie sprechen von einem Ghoul.« »Ja.« »Und wie kommen Sie darauf?« »Der befindet sich in meinem Garten.« Ich zwinkerte mit den Augen und bekam plötzlich eine leicht trockene Kehle. »In Ihrem Garten? Habe ich richtig gehört?« »So ist es.« »Dann erzählen Sie mal.« In den nächsten Minuten hörten Suko und ich eine nahezu unglaubliche Geschichte. Wie sie allerdings erzählt wurde, ließ darauf schließen, daß der Anrufer sich keinen Scherz erlaubte. »Wo können wir Sie denn finden?« »Dann wollen Sie kommen, Mr. Sinclair?« »Ja, ich schaue mir die Sache mal an.« Suko winkte ab. Er wollte nicht mit. »Kennen Sie Selsey?« »Müßte ich das?« »Es ist ein kleiner Ort an der Küste in der Nähe von Portsmo uth. Ich wohne in der Nähe, aber in Selsey könnten wir uns treffen. Bei Fisherman's Inn. Den Imbiß kennt jeder.« »Gut.« »Wann fahren Sie?« »In spätestens einer halben Stunde.« »Gut, ich werde mich darauf einrichten. Vielen Dank, Mr. Sinclair. Sie haben mir schon jetzt Mut gemacht.« »Schon gut.« Suko zeigte ein Grinsen, als ich aufgelegt hatte. »Auch wenn du mich fragst, mit einem Ghoul wirst du wohl allein fertigwerden — oder nicht?« »Ich werde mir zumindest Mühe geben.« »Dann viel Spaß und ein angenehmes Riechen.« »Du könntest mir dein Rasierwasser mitgeben, Alter«, schlug ich beim Aufstehen vor. »Warum das denn?« »Wenn es ein Zeug gibt, das dem Ghoul in punkto Gestank Konkurrenz erweist, dann ist es dein Rasierwasser.« Suko war beleidigt. Er sagte nur: »Wenn das Glenda erfährt. . .« »Was hat sie damit zu tun?« Der Inspektor grinste von Ohr zu Ohr. »Sie hat es mir nur zu Weihnachten geschenkt.« Nach dieser Antwort suchte ich das Weite.
*** Es hatte mir gutgetan, den Backofen London verlassen zu können und in Richtung Küste zu fahren. Dort herrschte zwar auch Hochsommer, aber die Luft war doch eine andere. Längst nicht so stickig, auch nicht so heiß. Durch die offene Seitenscheibe des Rovers kitzelte eine angenehme Brise mein Gesicht. Selsey war ein typischer Touristenort. Zahlreiche kleine Hotels und Pensionen zeichneten den Ort aus, keine Hochhäuser, viele Urlauber und eine sehr steile, felsige Küste, gegen die das Wasser in mächtigen Wellen schäumte. Einen Parkplatz fand ich auch. Nicht einmal weit von dem Treffpunkt entfernt, der wohl das Lokal in Selsey war, denn alles was sich für locker, cool und in hielt, war dort versammelt. Entweder stand man draußen an den runden Tischen, oder man versammelte sich unter dem breiten Kuppeldach des Wintergartens, den auch ich betrat, nachdem ich mich draußen umgesehen und von keinem Mason Todd angesprochen worden war. Als Erkennungszeichen hatte ich mir eine Zeitung aus London unter den Arm geklemmt. Ein uralter Trick, der allerdings noch immer sehr wirkungsvoll war. Ich sah ihn trotzdem. Er stand ziemlich im Hintergrund, eingekreist von zwei Strandschönheiten in verdammt kurzen Shorts, die ihre Beine noch länger machten. Die Mädchen waren jung. Von zwei Seiten sprachen sie auf den leicht angegrauten, etwas playboyhaft und verlebt wirkenden Mason Todd ein, der immer wieder den Kopf schüttelte, mir aber zuwinkte und eigentlich kein Interesse an den zweibeinigen Nixen zeigte, die ihre Haarmähnen weiß gefärbt hatten und auch deshalb auffielen. »He, Mr. Sinclair, kommen Sie!« Ich blieb am Tisch stehen und legte die Zeitung ab. »Ich möchte nicht stören, aber . . .« »Kommt.« Jede bekam einen Klaps auf das Hinterteil. »Ihr könnt mal verschwinden.« »Aber Sie denken an uns«, sagte das Mädchen, dessen Haut besonders gebräunt war. »Nur eine klitzekleine Rolle. Kann ruhig auch freizügig sein. Ich bin nicht so.« Sie schob ihren Busen provozierend vor, doch Todd schaute gar nicht hin. Die beiden zogen ab. Mason schüttelte den Kopf, bevor er durch sein Gesicht strich. »Man hat nie Ruhe.« »Andere würden das nicht so sehen.« »Klar, ich weiß, Mr. Sinclair. Ich bekäme sie auch sofort ins Bett, aber das will ich nicht. Es geht denen um den Job. Sie wollen zum Film . . .«
»Sind Sie in der Branche tätig?« »Ja, ich bin Agent.« »Dann verstehe ich alles.« Er lächelte und bestellte mir einen Blue River. Dieser Drink zeichnete sich durch einen sehr frischen Geschmack aus. Ich trank und sagte dann: »Ihre Mädchen sind aber nicht das Problem?« »Nein, obwohl sie auch zu einem Problem werden können. Habe ich Ihnen von Holly erzählt?« »Andeutungsweise.« »Ihre Knochen habe ich in meinem Garten gefunden, Mr. Sinclair.« »Woher wissen Sie das?« »Es gibt keine andere Möglichkeit.« »Wenn Sie das sagen.« »Glauben Sie mir. Es ist schrecklich. Wir werden gleich zu mir fahren, dann können Sie sich den Tatort anscha uen. Man kann nur eine Gänsehaut bekommen, wenn'man so etwas sieht.« »Sie sprechen von diesem Leichengeruch. Schwebt der permanent über dem Garten?« »Nein. Vorgestern fing es an. Ich habe die letzte Nacht auch nicht in meinem Haus verbracht.« Er bekam ängstliche Augen. »Wissen Sie, was das für ein Gefühl ist, wenn man den Feind nicht kennt, aber damit rechnen muß, daß er jeden Augenblick erscheint?« »Ich kann es mir vorstellen.« »Da erschien es mir eben sicherer, wenn ich nicht im Haus bin. Jetzt, wo Sie vor mir stehen, geht es mir besser. Da ist alles klar.« »Danke für das Kompliment, aber halten Sie mich bitte nicht für einen Supermann.« »Eddy war begeistert.« »Der hat schon als Schüler übertrieben.« »Nein, nein, ich glaube Ihnen nicht. Er muß einiges über Sie gelesen haben, Mr. Sinclair.« Ich winkte ab. »Das meiste ist gelogen, Mr. Todd. Um noch einmal auf den Geruch zurückzukommen, der sich auf Ihrem Grundstück ausgebreitet hat. Sind Sie sicher, daß es sich um Leichengestank handelt und nicht um verfaulte Pflanzen?« »Vollkommen sicher. Wenn Pflanzen verfaulen, Mr. Sinclair, riecht das anders.« Ich gab ihm recht. Er zahlte die Rechnung bei einer netten Person mit hellroter Mütze auf dem Kopf. Draußen sahen wir die langbeinigen Mädchen wieder, die mit einigen jungen Männern zusammenstanden, ölig wirkenden Typen. Jedenfalls was ihre Haare anging, die das Gel so glänzend gemacht hatte. Die beiden entdeckten uns und winkten Todd zu.
»Vergessen Sie uns nicht!« Todd lächelte breit. »Nein, keine Sorge, Mädchen. Vielleicht kommt mal was. Eure Karten habe ich ja.« Wenig später hatte er sie zerrissen und warf die Fetzen in einen Abfalleimer. »Dumme Schnallen!« kommentierte er. Für ihn war das Thema erledigt. »Wo haben Sie Ihren Wagen abgestellt, Mr. Sinclair?« »Hier auf dem großen Parkplatz.« »Gut, dann fahren Sie mir nach.« Er deutete auf einen sonnengelben Jaguar. »Feines Auto«, lobte ich. »In meinem Job ist so etwas oft wichtig. Da schauen die Leute eben auf das Außere.« Ich gab ihm recht. So wie er angezogen war, fiel er schon auf. Die rote Jacke trug er über dem Arm. Das Hemd war weiß, die Hose in einem tiefen Schwarz, und die Schuhe bestanden aus rot eingefärbtem Leder. Er wartete, bis ich meinen alten Dienst-Rover in die Nähe des Jaguars gelenkt hatte. Danach fuhr er zügig in Richtung Küste, die nicht weit entfernt lag. Am Rand der Ortschaft standen ebenfalls kleine Sommerhäuser, vermischt Pensionen, Hotels und kleine Gärten, die allesamt gepflegt aussahen. Die Umgebung zeigte ein sattes Grün, das zum Meer hin anstieg, aber auch Platz für zahlreiche Mulden ließ, in die sich oft wunderbare Häuser hineinschmiegten. Es waren kleine Villen, Kombination aus Glas, Stein und Holz. Hier konnten die Architekten noch spielen, weil sie genügend Fläche besaßen. Und die Preise für Grundstücke würden in die Höhe schnellen, das stand ebenfalls fest. Zum Haus des Agenten führte ein Weg hoch. Er schlängelte sich durch dünenartige Hügel, bis erauf der Kuppe endete. Da hatte er schon längst den Garten durchstoßen, den wir passierten. Ich hing am Heck des gelben Jaguars. Das Tor unten hatte sich per Fernbedienung öffnen lassen, und wir hielten auf dem großen Platz vor einer sehr breiten Garage an. Als Todd ausstieg, warf ich ebenfalls einen Blick zurück. Groß war der Garten, eine blühende und summende Wildnis, in der sich die Insekten wohl fühlten. Der blaue Himmel zeigte nur wenige Wolken; diese wiederum hatten sich gut verteilt. »Was sagen Sie, Sinclair?« Todd stand neben mir, die Hände in den Taschen seiner Hose vergraben. Der Stoff bestand aus einer Mischung aus Seide Lind Leinen. Ich hatte das Haus schon gesehen. Viel Glas war verbaut worden, mehr als Stein, auch mehr als Holz. »Das ist schon eine imposante Hütte. Wie viele Menschen leben darin?«
»Ich bewohne sie allein.« Mein Grinsen klebte schief am Mund. »Soll ich Sie jetzt bewundern oder bedauern?« »Das frage ich mich manchmal auch. Aber in diesem Geschäft sind die Leute komisch. So etwas verlangt man von einem Agenten. Da sind wir nicht anders als die Stars und Regisseure.« Ich nickte dem unter uns liegenden Garten entgegen. »Lieben Sie diese Wildnis?« »Kaum. Meistens halte ich mich im Haus auf. Aber Sie wollen sich den Garten anschauen.« »Zunächst.« »Kommen Sie, wir nehmen die Treppe. Da kürzen wir etwas ab. Der normale Weg ist weiter.« Man mußte sich schon auskennen, um die Treppe zu finden, denn ihr Beginn war von Pflanzen überwuchert. Zum Glück hatte Todd breite Stufen anlegen lassen, sehr trittsicher führten sie durch dichtes Buschwerk und langstielige blühende Blumen, die ihren entsprechenden Duft absonderten und die Insekten lockten. Am Ende der Treppe gingen wir nach links. Todd bahnte uns den Weg frei. Er hatte von einer Plastik gesprochen, einem Kunstwerk, das bei mir zumindest Zweifel auslöste, denn als solches sah ich — der normale Mensch - es nicht an. »Hier war es. Und genau dort klebt das Blut.« Ich war nicht Sherlock Holmes und trug auch keine Lupe bei mir. Aber der dunkle Fleck war nicht zu übersehen. Er breitete sich genau an einer Kante aus. Das Blut war getrocknet und bildete eine Kruste, die an einer Stelle nach unten führte. »Was sagen Sie?« Ich hatte mich gebückt, kam wieder hoch, nickte. »Sie haben recht, das ist Blut.« Mason Todd schien irgendwo beruhigt zu sein. »Aber wo sind die Knochen?« Er winkte mit dem Zeigefinger. Ich ging hinter ihm her. Nach wenigen Schritten erreichten wir den Ort, wo der Boden aufgewühlt war, als hätte hier jemand gegraben. »Von unten her muß er gekommen sein, Mr. Sinclair.« Bevor ich mir die Reste anschaute, fragte ich den Mann, ob er überhaut wußte, was ein Ghoul ist. »Ja, eine Art Zombie.« »So ungefähr. Ein schleimiges Wesen, das sich von Toten ernährt. Wenn es existiert, dann zumeist auf einsam gelegenen Friedhöfen, wo es genug Nahrung gibt.« Todd schaute mich schief an. »Frage, Mr. Sinclair. Sehen Sie hier irgendwo einen Friedhof?«
»Das allerdings nicht.« »Ich auch nicht. Nächste Frage. Wie kann es dann ein Ghoul schaffen, hier auf mein Grundstück zu gelangen?« Ich hob die Schultern. »Mir gehört das Haus nicht, Mr. Todd. Das müßten Sie schon wissen.« »Keine Ahnung.« Ich kümmerte mich um die Knochen. Daß sie von einem Menschen stammten, sah ich sofort. Und sie waren noch nicht alt, sonst hätten sie anders ausgesehen. Einige zeigten sich blank, an anderen hingen noch Haut- oder Fleischreste. Zudem roch ich den Ghoul. Genau dort, wo die Erde aufgewühlt war, hielt sich der widerliche Leichengestank besonders stark. Dort breitete er sich wie eine Glocke aus, die auch ein scharfer Windstoß nicht vertreiben konnte. Sie blieb auf das Gebiet beschränkt. »Haben Sie einen Plan, Mr. Sinclair?« Ich deutete gegen den weichen Untergrund. »Wir müssen davon ausgehen, daß sich der Ghoul, vorausgesetzt, es handelt sich um ein solches Wesen, dort aufhält.« »Und wie wollen Sie an ihn herankommen? Graben?« »Das wäre eine Möglichkeit, Mr. Todd. Aber ich rechne damit, daß er sich von selbst zeigen wird. Wenn er Menschen riecht, ist er nicht zu halten.« »Dann benötigten wir einen Köder.« »Richtig«, erwiderte ich lächelnd. Mason Todd starrte mich an. »Sagen Sie nur, daß Sie den Köder spielen wollen.« »Das hatte ich mir so gedacht.« »Wollen Sie hierbleiben?« »Ja. Sie können mir ja einen Klappstuhl besorgen. Ich habe schon immer gern auf Ghouls gelauert. Das gehört zu meinen liebsten Beschäftigungen.« »Jetzt wollen Sie mich auf den Arm nehmen, Mann.« »Keine Spur, Mr. Todd. Ich will tatsächlich hier auf den Ghoul warten. Er wird sich zeigen.« »Gesetzt den Fall, er kommt. Was werden Sie dann machen?« »Ihn töten.« »Einfach so?« »Sicher.« Er wischte über sein Gesicht. »Ihr Selbstbewußtsein ist einfach irre, Mann. Ich hätte das nicht.« »Dafür haben Sie Chancen bei den Frauen und Mädchen. Ich eben bei Dämonen, das ist der Unterschied.« Er konnte nur noch lachen, schaute zum Himmel und fragte dann, ob ich mich jetzt schon in den Garten setzen wollte. »Nein, erst bei Einbruch der Dämmerung.«
»Sie glauben nicht, daß er sich jetzt schon zeigen wird? Ich meine, Holly hat das Haus morgens verlassen, da war er ...« »Er ist nicht sichtbar hier, Mr. Todd. Sonst wäre der Leichengeruch intensiver.« Der Agent verzog den Mund. »Noch schlimmer?« »So ist es.« Todd gab keine Antwort. Er drehte sich um und ging wieder zurück zum Haus. Ich folgte ihm langsamer und in Gedanken versunken. Wenn der Ghoul erschien, würde es mir ein leichtes sein, ihn mit meinen Waffen zu vernichten. Dann konnte ich wieder fahren und hinterließ eine heile Welt. Das allerdings wollte mir nicht so recht gefallen. Nicht daß ich etwas gegen eine heile Welt gehabt hätte, ganz im Gegenteil, aber ich ging davon aus, daß ein Ghoul nicht grundlos erschien und so mir nichts dir nichts sich in einem normalen Garten aufhielt. Da mußte meiner Ansicht nach schon etwas dahinterstecken. Den Grund kannte ich nicht, falls es einen solchen gab. Ich würde mich da überraschen lassen müssen. Im Haus führte mich Todd in einen Wohnraum, der etwas westernhaft eingerichtet war. Zumindest rustikal, und die Felle, die dort lagen, waren echt. Todd sah, daß es mir nicht gefiel und sagte: »Ich habe die Tiere nicht selbst geschossen, man schenkte mir die Felle.« »Das ist Ihr Bier.« »Was kann ich anbieten? Wir können essen und trinken, falls Sie möchten.« »Nur etwas trinken. Nichts Alkoholisches.« »Geht klar.« Er verschwand in der Küche. Ich griff zum Telefon, rief Suko an und gab ihm einen kurzen Lagebericht durch. »Wie ich höre, fühlst du dich ganz wohl, Alter.« »Noch«, erwiderte ich, und das war nicht übertrieben, denn mich überfiel eine gewisse Unruhe, die sich mit fortlaufender Zeit immer mehr steigerte. Es lag etwas in der Luft und nicht nur ein Gewitter... *** Gegen Abend kamen die Wolken. Dick und schwer trieben sie über den gewaltigen, weiten Himmel. Da braute sich im Westen einiges zusammen, gegen das der schwindende Tag keine Chance hatte. Und auch das Licht veränderte sich zu einem ungewöhnlichen Spiel der Farben.
Die Sonne verbarg sich hinter den Wolken und beschien sie. Ihr Gelbrot und das Grau der Wolken ergaben ein Grün. Kalt und klar sah es aus, erinnerte mich an Polarlicht. Faszinierend. Nicht so für Mason Todd. »Mann, Sinclair, Ihre Nerven möchte ich haben.« »Wie meinen Sie das?« »Sie stehen hier und schauen in die Landschaft. Das könnte ich nicht.« Ich ging darauf nicht ein. »Ein sehr schönes Bild, Mr. Todd. Für so etwas kann man schon Fintritt nehmen.« »Hören Sie auf! Ich bin froh, wenn der ganze Mist hier vorbei ist, das können Sie mir glauben. Killen Sie den Ghoul, damit wir was zu feiern haben.« »Ich werde mich bemühen.« Todd trank. Fr hatte sich einen Drink gemixt, der nach Gin roch. »Was ist denn, Sinclair? Wann wollen Sie gehen und nach unserem Freund schauen? Haben Sie schon . . .?« »Nein, ich warte, bis die Dämmerung vorbei ist.« Er stellte sein Glas weg und schaute gegen die beschlagene Außenwand. »Ein derartiges Wesen muß einfach vernichtet werden. Es ... es kann nichtlänger in meinem Garten bleiben.« Er ballte die Hände zur Faust. »Zwei Tote hat es gegeben, Sinclair . ..« »Sie hätten schon beim ersten Opfer die Polizei einschalten müssen, Mr. Todd.« Er staunte mich an, als hätte ich etwas Schlimmes gesagt. »Die . . . die Polizei? Wissen Sie überhaupt, was Sie da reden, Sinclair? Nein, die Polizei nicht, überhaupt nicht. Ich hätte mich lächerlich gemacht. Die hätten mich als Idioten angesehen oder sogar hinter Gitter gesteckt, weil sie dachten, daß ich . . .« »Ihre Meinung ist nicht gerade die beste . ..« »Stimmt, Sinclair. Ich habe es nicht so mit den Bullen. Das heißt, ich hatte eigentlich keinen Kontakt mit ihnen. Das hat sich nun etwas geändert. Aber Sie bilden die berühmte Ausnahme.« »Wie schön für mich.« Todd trank sein Glas leer, stellte es weg und grinste. Dann schaute er mir nach, wie ich in Richtung Tür schritt. »Wollen Sie jetzt in den Garten, Sinclair?« »Wollte ich, ja .. .« »Na ja, bis zur Tür gehe ich mit.« Ich konnte seine Sorge verstehen. Alles in allem hatte er sich sogar gut gehalten, war nicht in Panik verfallen und nickte in den Garten hinein. »Das ist Ihr Gebiet, Sinclair.« Ich hob die lichtstarke Taschenlampe an, die er mir mitgegeben hatte. Der Garten war einfach zu dunkel, denn vom Himmel her senkten sich die Schatten.
Mir kam der Geruch noch betäubender vor. Ein Gewitter hatte es nicht gegeben. Nicht einmal ein Wetterleuchten war in der Ferne aufgeflackert. Aber die schwüle Luft blieb. Bleiern hatte sie sich ausgebreitet, lag wie ein Klotz. Es gibt nicht viele Tage, wo an der Küste kein oder kaum Wind weht. Dieser hier gehörte zu den Ausnahmen. Von einer Erfrischung konnte ich nur träumen. Dafür kitzelten die hohen Gräser mein Gesicht, als ich über die Treppe schritt und mir vorkam, als wäre ich meilenweit von einer Ansiedlung entfernt. Die Luft war zudem sehr hellhörig. Einmal hörte ich von der normalen Straße her Motorengeräusch. Ein Lastwagen rollte über die Küstenstraße. Ich stand am Ende der Treppe. Irgendwo stritten sich Vögel. Der schrille Klang wehte über mich hinweg. Die Lampe trug ich in der rechten Hand. Ihr leeres Auge hatte ich gegen den Boden gerichtet. Noch brauchte ich sie nicht. Außerdem wollte ich sie so spät wie möglich einschalten. Ich achtete auf jeden Laut und bemühte mich, so wenig Geräusch wie möglich zu machen. Einen intensiven Leichengeruch konnte ich noch nicht wahrnehmen. Es ist beileibe kein Vergnügen, mit einem Ghoul zu kämpfen, trotzdem wünschte ich mir, daß er erschien. Diese Bestie mußte weg. Sie sollte nicht noch weitere Opfer bekommen. Besonders interessant war ich für Insekten geworden. Die Mücken konzentrierten sich auf mich. Ich schlug sie auch nicht weg. Das Klatschen wäre zu laut gewesen. In der Dunkelheit hatte sich der Garten verändert. Mir kam es vor, als würde ich durch eine fremde Welt gehen. Sie war nicht still. Geheimnisvoll klingende Geräusche umwehten mich. Überall raschelte es. Jetzt krochen die Mäuse aus ihren Löchern und suchten nach Nahrung. Ja, und dann wehte er mir entgegen! Ein widerlicher Geruch, ein intensiver Gestank, ein Aroma, wie es nur die Leichen abgaben, wenn sie tief in den Zustand der Verwesung hineingeraten waren. Der Gestank raubte mir den Atem. Als unsichtbare Wolke wehte er mir entgegen. Für einen Moment wurde mir schwindlig, weil ich ihn so unvorbereitet eingeatmet hatte. Dieser Gestank war nicht nur aus dem Boden gedrungen, er hatte sich im Freien bilden können, also war der Ghoul bereits da. Ich ging jetzt das volle Risiko ein und schaltete die Lampe ein. Der Strahl war wie ein heller Arm, der in die wattige Finsternis eintauchte und eine Insel aus ihr hervorriß. \ Im bleichen Licht wirkte der Garten wie eine gespenstische Kulisse. Es hätten nur noch die Nebelschleier gefehlt, die ihn durchwehten, aber sie hielten sich zurück.
Dafür fiel mir eine glänzende Spur auf, als ich den Strahl senkte. Er glitt über den Boden hinweg, erwischte die Spur, die aussah wie ein breites Band und sie stank. Schleim eines Ghouls! Mein Mund war von diesem Geruch schon erfüllt. Ich atmete trotzdem nur durch die Nase, stand nicht weit von der aufgewühlten Erde entfernt, und der Ghoul befand sich in einem Gebiet, wo er sich gut verstecken konnte. Für einen Moment erfaßte der Strahl auch die ungewöhnliche Plastik, ich schwenkte ihn weiter und entdeckte die zitternden Zweige, die bestimmt nicht durch Wind in Bewegung geraten waren. Wenn der Ghoul sich versteckt hatte, dann bestimmt hinter diesem Busch. Eine Waffe hatte ich nicht gezogen. Um ihn zu erledigen, stand mir die Beretta ebenso zur Verfügung wie der geweihte Silberdolch. Es wäre nicht der erste Leichenfresser gewesen, den die Dolchklinge vernichtet hätte. Ich bewegte mich direkt auf die hohen Zweige zu. Sie sahen aus wie zu groß geratenes Gras. Es war dichter Bambus, der hier wuchs. An seinen Zweigen hingen schmale Blätter. Die Schleimspur führte direkt auf den dichten Bambus zu. Genau vor ihm endete sie als Lachs. Der Ghoul selbst befand sich nicht dort. Hinter mir hörte ich plötzlich ein Tappen, als hätte jemand einen Fuß aufgesetzt und wäre dabei in eine Pfütze getreten. Ich fuhr herum. Er fiel mich an. Die falsche Spur hatte er gut gelegt. Hinter der Plastik war er hervorgekommen, und während er auf mich zukippte, konnte ich ihn erkennen. Der Vergleich mit einer übergroßen Flasche traf irgendwo zu, denn zum Kopf hin veränderte er sich. Er besaß auch ein Maul. Die Zähne wirkten wie die Zinken zweier Kämme, die sich gegenüberlagen. Die Zähne waren gefährlich. Sie konnten Menschen und Tiere zerreißen, allerdings erst, wenn sie tot waren, denn die Ghouls gingen nicht an Lebende heran, sie töteten ihre Opfer erst, bevor sie sich über sie hermachten. Dieser wollte mich mit einem Stein erschlagen. Wie ein Stück Gummi fiel mir sein Arm entgegen. Der sehr intensive Leichengeruch war einfach furchtbar, er raubte mir die Luft, als ich mich zurückwarf und dem Schlag soeben entwischte. Mit einem dumpfen Schlag hämmerte der Stein auf den Gartenboden. Er wurde nicht wieder in die Höhe gerissen, denn ich hatte meinen Silberdolch gezogen und schleuderte ihn in die quallige Masse. Die Waffe drang in den Körper. Ihren Weg konnte ich verfolgen. Sogar der Griff blieb darin stecken, weil die Schleimmasse kaum Widerstand entgegensetzte.
Sicherheitshalber zog ich noch die Beretta, aber die brauchte ich nicht mehr einzusetzen, denn es geschah genau das, womit ich gerechnet hatte. Der Ghoul verging. Er trocknete von innen her aus, was auch hörbar war, denn aus dem Schleim bildeten sich Kristalle und machten den Körper klein. Ich leuchtete sein Gesicht an. Das große Maul mit den beiden gefährlichen Zahnreihen bewegte sich. Die Hälften zuckten aufeinander zu, aber sie fanden keine Beute, in die sie hineinbeißen konnten. Eine Andeutung eines Gesichts erschien ebenfalls. Ein Gesicht, das ich nie gesehen hatte, das auch nicht so lange blieb, daß ich mich darauf hätte konzentrieren können, denn der Schleim trocknete ein. Die knirschenden Geräusche hörten sich an, als würde ich mit meiner Hand Zuckerkrümel zerdrücken. Was blieb, war eine Kruste, die sich weiß auf dem Boden abzeichnete. Ich trat in sie hinein, als ich den Dolch aufhob, ihn reinigte und wieder einsteckte. Der Leichengestank umgab mich nach wie vor. Er würde keinen Nachschub mehr bekommen. Das also ist es gewesen, dachte ich und schüttelte den Kopf. Sehr einfach, zu simpel. Einen derartig leichten Fall hatte ich in meiner gesamten Laufbahn noch nicht erlebt. Im Prinzip hätte ich froh darüber sein müssen, aber ich war es nicht. Den Grund konnte ich auch nicht so recht nennen, möglicherweise erschien er mir zu simpel. Warum lebte der Ghoul hier? Weshalb hatte er sich gerade diesen Garten ausgesucht? Friedhöfe garantierten den Leichenfressern das Überleben, aber das hier war kein Friedhof. Ich nahm mir vor, noch einmal mit Mason Todd über das Problem zu sprechen. Möglicherweise wußte er mehr, was die Vergangenheit seines Grundstücks betraf. Bevor ich wieder zurück zum Haus ging, schaute ich mich in der näheren Umgebung um. Besonders interessierte mich die Stelle, die der Ghoul aufgewühlt hatte. Ich leuchtete mehrere Male genau hin, ohne irgendwelche Spuren zu entdecken, die auf einen weiteren Artgenossen des Leichenfressers hingewiesen hätten. Der Ghoul schien tatsächlich allein gewesen zu sein. Wieder einer weniger, und trotzdem ärgerte es mich, daß es diese widerlichen Geschöpfe überhaupt gab. Für mich gab es in diesem Garten nichts mehrzu tun. Jetzt erst war es finster geworden, allerdings hing weit im Westen noch ein schmaler Streifen Helligkeit wie eine Leiste am Himmel.
Ich konnte mir gut vorstellen, daß Mason Todd übernervös war und wartete. Das Haus wirkte wie eine geometrische Insel, denn die großen Panoramascheiben waren erhellt. Todd brauchte Licht, er fühlte sich in seinem Schein sicherer. Ich stank, als wäre ich selbst als ein Verwester aus dem Grab gekrochen. Der Ghoulgeruch hing noch in der Sommerkleidung und würde so leicht auch nicht verschwinden. Diesmal leuchtete ich, als ich die Treppe nach oben stieg. Todd kam mir nicht entgegen. Dafür huschten Mäuse aus dem Lichtstrahl weg, und auch ein Igel, der auf der Jagd nach ihnen war, versteckte sich im dichten Gras, aufgeschreckt vom Licht der Lampe. Ich ließ die Treppe hinter mir und merkte erst dann etwas von dem leichten, warmen Wind, der gegen mein Gesicht fächerte. Es tat gut, ihn zu spüren, aber den Gestank fegte er auch nicht weg. Mason Todd kam mit hastigen Schritten aus dem Haus gelaufen. Er winkte dabei, sah mich und blieb stehen. Sein Hemd war so weit geschnitten, daß es ihn wie eine Fahne umflatterte. »Na, gibt es ihn noch?« Ich schüttelte grinsend den Kopf. Auf einmal legte er den Kopf zurück. Sein brüllendes und erleichtertes Gelächter durchbrach die Stille des Gartens. Mit einer Faust schlug er mehrere Male gegen einen nicht vorhandenen Gegner. »Das ist geschafft!« schrie er lachend. »Verdammt, das ist geschafft.« Er sprang auf mich zu, umarmte mich und sprach von seinem Bruder, der die gute Idee gehabt hatte, mich einzusetzen. »Das sollten wir feiern, Sinclair.« Noch immer lachend trat er zurück, bis er plötzlich heftig schnaubte und seine Nase zuckend bewegte. »Mann, Sie stinken wie ein . . .« »Sagen Sie ruhig Ghoul.« »Ja, Sie stinken wie ein Ghoul.« »Das bleibt nicht aus.« »Trotzdem, wie haben Sie es geschafft, Sinclair?« »Nach der Dusche erzähle ich es Ihnen. Okay?« »Okay.« *** Aus der Kleidung bekam ich den Gestank nicht heraus, aber Todd hatte mir versprochen, die Klamotten vor einen Propeller zu legen, der heftig Wind erzeugte. Viel gab ich dieser Lösung nicht. Sie war aber besser als gar nichts und bewies auch Todds guten Willen. Sein Bad war super. So groß wie manche Wohnung, und ich konnte mich darin ausbreiten. Der helle Marmor gefiel mir und hatte bestimmt ein Vermögen gekostet.
Da einige Türen der Einbauschränke offenstanden, hatte ich einen Blick hineinwerfen können und nicht nur männliche Kleidung entdeckt. Auch Dessous lagen dort, was mich zu einem Grinsen veranlaßte und mich wieder daran erinnerte, welchem Job Todd nachging. Da liefen ihm die Mädchen reihenweise die Bude ein. Mochten Feministinnen noch so sehr dagegen wettern, sie bekamen dieses Verhalten einfach nicht weg. Film und TV zogen die Menschen noch immer an wie starke Magnete. Natürlich duschte ich länger als üblich. Es war auch ein Genuß, sich von vier Seiten bestrahlen zu lassen, wobei noch der Druck reguliert werden konnte. Ein sehr intensiv riechendes Gel ließ den Gestank zwar verschwinden, aber in meinem Mund schmeckte ich ihn noch immer. Einmal schaute Todd herein. »Soll ich Ihnen andere Kleidung besorgen, Mr. Sinclair?« Ich drehte die Dusche ab und fragte lachend: »Hat es der Ventilator nicht geschafft?« , »Ich fürchte nein.« »Okay, wenn Sie die Größe haben.« »Sie müßten in meine Klamotten hineinpassen.« »Nur nicht zu flippig.« »Keine Sorge, Sinclair, ich habe alles.« Ich duschte den letzten Schaum ab. Dann kam er wieder und legte die Kleidung auf einen Stuhl. Das Hemd war knallrot, die Hose weiß und weit geschnitten. Sogar ein schwarzes Jackett hatte er herausgesucht. Nicht schlecht und modisch. »Ist das okay?« »Klar.« Ich verließ die Dusche, trocknete mich rasch ab und räumte um. Die alte Kleidung nahm ich mit. Die neuen Sachen saßen weiter und standen mir nicht schlecht. Mason Todd erwartete mich in seinem großen Wohnraum. »Wollen Sie die alte Kleidung nicht wegwerfen?« »Wo denken Sie hin. Die lasse ich reinigen.« Ich hielt den Wagenschlüssel bereits in der Hand. Draußen verstaute ich alles im Kofferraum. Es war angenehm. In der Ferne, Selsey entgegen, blinkten Lichter in der Nacht. Sie grüßten wie ferne Sterne, und wenn Fahrzeuge mit eingeschalteten Scheinwerfern über die Fahrbahn rollten, sah es aus, als würden helle Schleier durch die Nacht wehen. Todd trat zu mir. »Wollen Sie hier draußen bleiben, Mr. Sinclair?« »Eigentlich nicht.« »Ich hätte sonst Stühle geholt. Wir könnten allerdings die Scheibe versenken oder nach Selsey fahren. Ich kenne da einen irren Schuppen,
der Ihnen bestimmt gefallen wird. Wir hätten ja einen triftigen Grund, um zu feiern. Die Entscheidung liegt bei Ihnen.« »Gut, dann will ich Ihnen sagen, daß ich kein Mensch bin, der den Trubel braucht.« »Klasse. Ich im Prinzip auch nicht.« »Lassen Sie uns zurückgehen.« In der Zwischenzeit hatte Todd schon einiges bereitgestellt. Aus zwei Kühlern ragten Flaschenhälse. Einer gehörte zum Champagner, der andere zu einer Weißweinflasche. »Was möchten Sie?« »Wenn es geht, trinke ich Mineralwasser zum Wein.« »Auch gut.« Er holte das Wasser. Währenddessen summte die große Panoramascheibe in die Tiefe. Sie verschwand im Boden, als würde sie von einem Maul verschluckt. Die Beleuchtung war so angelegt, daß die Lampen nicht blendeten, aber genügend Licht abgaben, um alles erkennen zu können. Mein Rücken schmiegte sich gegen das Leder der wuchtigen Couch. Die eindringende Luft roch salzig und nach Frische. Auch Mason Todd trank Wein. Er saß mir schräg gegenüber in einem Sessel, hatte die Beine ausgestreckt und prostete mir zu. Der Chablis schmeckte intensiv und ein wenig nach frischem Heu. »Er ist gut«, lobte ich. »Ich lasse ihn direkt aus Frankreich kommen.« Er drehte das Glas zwischen seinen Fingern, runzelte die Stirn und meinte: »Das ist nicht das Problem.« »Was dann?« »Sie, Mr. Sinclair.« > Damit hatte er mich überrascht. »Ich soll das Problem sein? Das verstehe ich nicht.« »Nicht Sie direkt, sondern Ihr Verhalten, das mir schon ungewöhnlich vorkommt.« »Das müssen Sie erklären.« »Gern. Eigentlich hatten wir einen Grund zu feiern, zu jubeln und was weiß ich nicht alles. Statt dessen sitzen wir uns gegenüber wie Trauerklöße oder wie Menschen, die sehr nachdenklich sind. Besonders Sie. Was ist mit Ihnen?« Ich lächelte. »Wie hätte ich Ihrer Meinung nach reagieren sollen? Jubeln, tanzen?« »Nicht unbedingt. Sie müssen zugeben, wenn Sie ehrlich sind, daß sich kaum jemand so verhält wie Sie.« »Da haben Sie recht.« »Was ist los?« Ich trank einen kleinen Schluck Wein und stellte das Glas bedächtig ab. »Sie haben recht, ich bin nicht zufrieden.«
Todd breitete die Arme aus. »Aber derGhoul ist vernichtet. Sie säuberten meinen Garten, obwohl ich noch immer nicht begreifen kann, wie so etwas passieren konnte.« Ich lächelte. »Sehen Sie, da kommen wir der Sache schon näher. Ich weiß nicht, wo der Ghoul hergekommen ist.« »Interessiert das denn noch?« »Sehr sogar. Auch bei den Schwarzblütlern geschieht nichts ohne Grund. Dämonen haben Motive, wenn sie plötzlich erscheinen, das müssen Sie mir glauben.« »Motive?« wiederholte der Mann. »Das kann ich nicht glauben, Sinclair. Nein, da komme ich nicht mit.« »Es ist aber so.« Er trank, schaute mich an, lachte, trank wieder und hob die Schultern. »Tut mir leid, Sinclair. Ich habe den Dämonen kein Motiv oder keinen Grund gegeben, hier zu erscheinen. Das schwöre ich, darauf können Sie Gift nehmen. Nicht bei mir.« »Unwissentlich?« »Kann sein. Reicht es Ihnen denn, wenn ich schwöre, daß ich nie etwas mit diesen Wesen zu tun hatte? Okay, ich habe Schauspieler für Gruselfilme vermittelt, aber das waren Filme, keine Realität. Jedenfalls bin ich überfragt.« »Das Haus haben Sie gebaut?« »Bauen lassen.« »Klar. Warum gerade hier? Weshalb zieht sich ein Mann mit Ihrem Job in die Einsamkeit zurück?« »Das dürfen Sie so nicht sehen, Sinclair. Ich bin nicht vom Weltlichen ab, wenn Sie das meinen. Ich habe in London auch noch eine Wohnung. Doch mir gefällt es hier. Ich brauche nicht den Trubel der Großstadt. Wer etwas von mir will, weiß genau, wo er mich finden kann. Und wenn nicht, ist mir das egal.« »Es ist ein teures Pflaster geworden, nicht wahr?« Todd nickte. »Klar, was sich unten im Ort an Publikum zusammenzieht, gehört nicht eben zu den ärmsten Menschen. Trotzdem sind viele Blender dabei.« »Wie Holly?« fragte ich. Todd grinste und lächelte in einem. »Holly war ein Ereignis, eine Wucht. Die hat mich echt gefordert.« Er strich über das Leder, als wollte er ihren Körper streicheln. Seine Augen hatten dabei den weichen Glanz der Erinnerung bekommen. »Holly hat Sie persönlich nie geliebt.« Er lachte. »Nein. In dieser Branche liebt man nur sich selbst. Echte Liebe ist äußerst selten. Wenn wir mal ins Tageslicht gerückt werden, dreht es sich zumeist um irgendwelche Skandale. Sie werden nie lesen, daß eine Ehe klappt.« Er winkte ab. »Ich kenne auch keine, die positiv ist. Holly war die zweite, die verschwand. Um Jill, das erste Mädchen, hat
niemand getrauert. Sie stammte aus dem Norden, war gekommen, um ihr Glück zu machen. Irgendwo sind sie alle gleich. Ich fand ihre Knochen ebenso wie die von Holly. Es ist furchtbar, Sinclair, aber das ist jetzt vorbei. Werden Sie mich anzeigen?« »Nein und auch nicht verhaften. Sie haben die beiden Mädchen nicht getötet.« »Ich hätte es melden müssen.« »Da gebe ich Ihnen recht, das hätten Sie.« »Wer hätte mir denn geglaubt?« »Kaum jemand.« »Sehen Sie.« Todd nickte. »Nicht daß Sie denken, der Tod der beiden Mädchen würde mich nicht belasten, aber auch bei mir muß die Schau weitergehen. Eigene Gefühle dürfen sie nicht zeigen. Sie können nur die der anderen verkaufen.« Er hob die Schultern. »Tja, so ist das in unserem Job.« Widersprechen konnte ich nicht, dachte aber darüber nach, ob es sich lohnte, auch weiterhin hier zu sitzen und über Dinge zu reden, die in den Bereich der Spekulation gehörten. Ich nahm das Thema Ghoul und dessen Herkunft noch einmal auf. »Tut mir leid«, sagte mein Gegenüber und schüttelte den Kopf. »Ich kann Ihnen da nicht helfen. Ich könnte mir überhaupt nicht vorstellen, wo er hergekommen sein soll. Es gibt hier in der Nähe nicht einmal einen Friedhof. Das muß ein Zufall gewesen sein.« Ich wollte es nicht so hinnehmen. Für mich sahen Zufälle anders aus. Bei Dämonen gab es sie sowieso nicht. Da steckte ein System dahinter. Nicht umsonst hatte der Ghoul gewartet. Todd stand auf. »Ich bin gleich wieder zurück.« Er ging nicht mehr so federnd wie noch vor einigen Stunden. Der genossene Alkohol hatte auch bei ihm Spuren hinterlassen. Allein blieb ich zurück, umgeben von der Stille und einer Nacht, die durch das große Fenster hinwehte und eine wunderbare Kühle mitbrachte. Der Leichengeruch hing zwar noch immer in meiner Nase, zum Glück abgeschwächt. Ich würde ihn noch lange riechen, das wußte ich genau. Als Mason Todd zurückkam, drehte ich kaum den Kopf. Erst als ich sein scharfes Atmen hörte, schaute ich zu ihm. Er stand in der Mitte des Raumes wie ein Mensch, der sich nicht auskennt. »Haben Sie was, Mr. Todd?« »Ich ... ich weiß nicht«, flüsterte er. »Los, raus mit der Sprache!« Mit kleinen Schritten kam er näher. »Da waren Geräusche, die ich auf einmal hörte.« »Wo denn?« »Im Haus hier.« »Und welche?« »Sie werden es kaum glauben, Sinclair. Mir kam es vor, als würde jemand weinen und stöhnen. Ein richtiges Wehklagen. Ich . . . ich habe mich vielleicht erschreckt.« »Und wo hörten Sie das?«
»Als ich auf der Toilette war. Nicht nur dort, auch aus anderen Räumen. Haben Sie denn nichts gehört?« »Nein.« »Das ist aber komisch.« Mason Todd rieb über sein Gesicht. »Ich glaube, Sie hatten recht. Der Fall scheint noch nicht beendet zu sein. Möglicherweise müssen wir uns um einen zweiten Ghoul kümmern, der hier irgendwo haust. Was meinen Sie?« »Haben Sie ihn denn gerochen?« »Nein, auch nicht gesehen. Ich hörte nur die verdammten Geräusche. Und die gingen mir unter die Haut, wie Sie sich vorstellen können. Als wäre das Haus voller Fremder.« »Die sind es sicherlich nicht«, sagte ich und stand auf. »Kommen Sie, ich möchte mir das mal anhören.« »Gut, gut.« Er lachte leise. »Da bin ich aber froh, daß ich Sie noch nicht nach Hause geschickt habe.« Er sprach schneller. »Ihr Gefühl hat Sie nicht betrogen, Mr. Sinclair. Da braut sich was zusammen. Meinen Sie, daß der Ghoul erst der Anfang gewesen ist?« »Das will ich nicht hoffen.« »O je, was könnte denn . . .?« »Keine Spekulationen, Mr. Todd. Ich möchte zunächst einmal die Geräusche mit eigenen Ohren hören.« »Das können Sie.« Er öffnete die Tür zur Toilette. Es war ein ebenfalls sehr großer Raum, in dem andere Menschen die Möbel eines Wohnzimmers unterbrachten. Hell gekachelt, mit einem runden Fenster versehen, das mehr wie ein Bullauge wirkte. In der Mitte blieb ich stehen, drehte mich und hob die Schultern. »Jetzt höre ich auch nichts mehr.« »Eingebildet haben Sie es sich nicht?« »Nein!« schrie er. »Auf keinen Fall. Es ist alles so geschehen, wie ich es sagte. Ich habe die verfluchten Geräusche gehört, auch wenn sie jetzt verstummt sind.« »Okay, regen Sie sich nicht auf, Mr. Todd. Sie werden sich bestimmt wiederholen.« »Das hoffe ich fast.« Ich wollte vorschlagen, das Haus zu durchsuchen, als es geschah. Kaum zwei Schritte nach dem Verlassen des Raumes hörten wir beide das Geräusch. Ein sattes, tiefklingendes Stöhnen, vermischt mit ächzenden Lauten und auch knarrenden Geräuschen, als würde jemand Holzleisten ganz langsam durchbrechen. Todds Hand umklammerte meinen Arm in Höhe des Ellbogens. »Da, Sinclair! Jetzt haben Sie es auch gehört, nicht? Haben Sie es gehört? Dieses verdammte . . .« »Alles klar.« »Und woher kommt das?«
»Das fragen Sie mich später noch mal, im Moment kann ich da nichts für Sie tun.« Es war keine Ausrede, denn wir wußten beide nicht, wo die Quelle dieser Laute lag. Möglicherweise überall. Vielleicht war das Haus erfüllt. In seinen Grundmauern konnte das Böse stekken, das sich jetzt meldete und uns eine Portion Angst einjagte. Hinter den Wänden und Mauern steckte das Leben. Ja, dort bewegten sie sich, da hatten sie ihren Platz gefunden, die Geister dieses Hauses. Sie waren es, die sich meldeten, und wahrscheinlich weideten sie sich bereits an unserer Furcht. Mason Todd war zu den Schaltern gesprungen und hatte überall Licht gemacht. »Ich ... ich brauche es, verstehen Sie? Ich muß das Licht haben, sonst drehe ich durch.« »Okay, schon gut.« Das Stöhnen blieb, und es hatte sich wohl noch verstärkt. Es hörte sich an, als wollte es uns eine Botschaft überbringen aus einer fürchterlichen liefe und einer schrecklichen Welt, in der sich Dämonen versammelt hatten. Zu sehen war nichts. Wir hörten nur. Ich konnte keine Erklärung finden, möglicherweise hielten sich die Wesen oder Geister bewußt versteckt, um zu einem bestimmten Zeitpunkt in Erscheinung zu treten und uns zu überfallen. Wenn wir genau hinhörten, setzte sich das Stöhnen, Jammern und Ächzen aus mehreren Stimmen zusammen. Hier schienen also mehrere Geister unter den Qualen zu leiden. »Verdammt, Sinclair!« keuchte Mason Todd. »Das halte ich nicht aus. Ich werde das Haus verkaufen. Sollen sich andere mit diesem Stöhnen und Jammern abfinden.« »Nicht so hektisch und übereilt handeln. Noch ist nichts Aufregendes geschehen.« Er fing an zu lachen. »Das ist die Höhe, Sinclair. Nichts Aufregendes? Mir reicht es, mir . . .« »Hören Sie noch was?« Er verstummte, blieb stehen. Seine Ohren schienen zu wachsen. Das Licht einer Wandlampe bestrahlte sein Gesicht, das immer mehr an Farbe verlor. »Nein, verflixt, ich höre nichts mehr.« Er kicherte. »Es ist weg, Sinclair! Es ist weg!« Auch ich war natürlich beunruhigt, nur behielt ich es für mich. Die Nacht war noch lang, die unheimlichen Geräusche waren meiner Ansicht nach erst der Beginn. Todd hatte sich einigermaßen gefangen. Er trocknete sein schweißnasses Gesicht, schluckte einige Male, bevor er mit beiden Händen abwinkte. »Was haben Sie?«
»Sinclair, allein bleibe ich nicht hier.« »Das brauchen Sie auch nicht. Ich bin schon auf die nächsten Stunden gespannt.« »Wie kann man das nur?« »Wenn jemand die Lösung dieser Vorgänge herausfinden will, muß er das sein.« »Wahrscheinlich.« Plötzlich flackerte das Licht. An, aus, wieder an. Wir rechneten damit, daß es dunkel bleiben würde, das erwies sich als Irrtum. Das Licht blieb an. Todd atmete schnaufend aus. »Mein lieber Mann, hier ist einiges faul. Jetzt glaube ich auch, daß der Ghoul erst der Anfang war. Hier tut sich was. Das ist alles verseucht.« Er räusperte sich. »Ich weiß nicht, wieso das gekommen ist, aber ich fühle mich nicht schuldig.« Er war schneller gegangen und drückte die Tür zu seinem großen Wohnraum auf. Er war leer, der helle Marmorboden schimmerte gräulich und war mit dunkleren Einschlüssen durchzogen. »Nein!« ächzte Todd. »Nein, das ist der nackte Wahnsinn. Das glaube ich nicht!« Er versperrte mir den Weg. Ich schob ihn zur Seite, um in den Raum hineinblicken zu können. Das Bild war schlimm. Genau dort, wo sich die Einschlüsse wie gekrümmte Würmer abzeichneten, quoll die dunkle Flüssigkeit hervor. Dunkel wie Blut... *** Und es quoll nicht nur aus dem Boden. An den Wänden hatten sich ebenfalls Risse aufgetan, aus dem die rote Flüssigkeit drang. Selbst an der Decke waren sie vorhanden. Dort hatte sich das Blut gesammelt und fiel, wenn die Schwerkraft zu groß wurde, wie Regen zu Boden. Dort zerplatzten sie wie kleine Sterne. Der Agent konnte es nicht fassen. Ich hörte ihn röcheln und stöhnen. Er faßte sich an den Hals, als wollte er sich selbst umbringen. »Sinclair, das ist kein normales Haus mehr, nein, verdammt, das ist es nicht. Das ist ein Bluthaus ...« Er stierte mich an. »Ja, ein Bluthaus. Und ich weiß nicht, wie es gekommen ist. Warum hat es sich verändert? Warum nur, Sinclair, warum?« Ich wußte keine Antwort, wenigstens keine direkte. Eigentlich konnte ich nur raten und ging davon aus, daß die Dinge erst mit der Vernichtung des Ghouls ins Rollen gekommen waren. War das tatsächlich die Lösung? Hatte das Verschwinden des Leichenfressers für diesen Umschwung gesorgt? Neben mir schrak Mason T'odd zusammen, als ihn ein Blutstropfen erwischte. Er war auf seine Stirn gefallen, verteilte sich dort und rann als
roter Klacks mit einem langen Faden in Richtung Nase. Angewidert wischte Mason das Blut ab und wollte sein Taschentuch wieder einstecken. »Haben Sie was?« Mirwarseine Haltung aufgefallen. »Riechen Sie mal, Sinclair.« Er hielt mir das Taschentuch entgegen. »Ja, riechen Sie mal.« Es war zwar nicht gerade angenehm, ich tat es trotzdem und wußte plötzlich, was er gemeint hatte. Die rote Flüssigkeit roch nicht nur nach Blut, sondern auch nach Moder. »Wie bei dem Ghoul«, flüsterte Todd. »Verdammt noch mal, wie bei dem Leichenfresser!« »Stimmt.« Ich gab ihm das Tuch zurück. »Und wie erklären Sie sich das?« »Ich weiß es nicht.« Todd nickte. »Klar, wir wissen es nicht.« Er schaute sich um. »Dieses Haus ist verflucht, das weiß ich genau. Hier lauert etwas, hier wohnt jemand, Sinclair. Aber nicht ich. Haben Sie verstanden? Ich werde hier ausziehen. Ich will in keinem Bluthaus leben, dessen Wände verflucht sind. Hier ist alles verflucht!« schrie er, wollte wegrennen. Ich war schneller und hielt ihn fest. »Bleiben Sie, Mr. Todd. Bleiben Sie hier!« Er wollte sich losreißen. Ich war stärker. »Weshalb?« schrie er mich an. »Weshalb soll ich bleiben?« »Weil keiner von uns weiß, wie es draußen in Ihrem Garten aussieht. Kapiert?« »Nein, ich . . .« »Der Garten ist wichtig, Todd. Aus ihm ist der Ghoul gekrochen. Es kann sein, daß er nicht der einzige war. Wir werden vorerst hier im Haus bleiben. Wenn Sie unbedingt verschwinden wollen, gehen Sie durch das offene Fenster.« Als ich merkte, daß er sich entspannte, ließ ich ihn los. Danach schaute er mir erstaunt in die Augen. »Kann es sein, daß Sie schon einen Plan haben?« »Möglich.« »Und welchen?« Ich zeigte ihm ein beruhigendes Lächeln. »Sie werden sehen. Jedenfalls möchte ich nicht, daß Sic sich von der Stelle rühren. Bleiben Sie bitte hier stehen.« Er stellte keine Frage mehr. Wahrscheinlich war er froh, nicht tiefer in den Raum hineingehen zu müssen, denn das tat ich. So gut wie möglich umging ich die Blutpfützen. Die Risse blieben in der Decke und den Wänden. Sie trafen keine Anstalten, sich zu schließen. Mir kam es vor, als wäre eine Kraft dabei, immer mehr Blut in die Rillen zu kippen. Aber auch ich hatte meine Methoden. Das Zeug streifte ich über den Kopf, verhielt meinen Schritt neben einem der großen Sessel und blickte gegen die Decke. Ein Muster aus schmalen Rissen lief über die Fläche
hinweg. Rot gefüllt mit Blut, das ebenfalls einen Leichengeruch abgab und mich an altes Vampirblut erinnerte, wobei ich automatisch an Will Mallmann dachte. Ein Tropfen fiel herab. Er hätte mich erwischt, aber ich hielt das Kreuz so genau hin, daß er in die Mitte des 'Talismanns fiel. Es zischte auf, als wäre ein Wassertropfen auf einen heißen Stein gefallen. Dampf bildete sich, der allerdings sehr schnell verschwand. Mein Kreuz sah wieder normal aus. Ich hatte mit diesem Test eines herausgefunden: Das Blut zeigte eine magische Verseuchung. Mason Todd hatte mir staunend zugeschaut. »Was war das denn, Sinclair? Was haben Sie da gemacht?« »Einen Test.« »Mit dem Kreuz?« »Sicher.« Er räusperte sich. »Was ist denn dabei herausgekommen. Ich meine, ich habe gesehen, daß dieses Blut. . .« »Hören Sie zu, Todd. Das hier ist für Sie unerklärbar, ich weiß. Ich will Ihnen nur sagen, daß wir uns in einer magischen Zone befinden. Dieses Haus hat sich verändert, obwohl es noch so normal aussieht. Andere Kräfte haben von ihm Besitz ergriffen oder hielten es schon immer fest. Jedenfalls sind sie jetzt frei.« »Ja, und was machen wir?« »Wenn möglich, vertreiben wir sie.« Er lachte laut und röhrend. »Das ist gut, das ist wirklich gut. Wie wollen Sie die denn vertreiben? Mit dem Kreuz?« »Unter anderem.« Er holte Luft, um seinen nächsten Satz hervorpressen zu können, doch da geschah es. Jemand klopfte gegen die Eingangstür. Es war kein normales Klopfen, da mußten schwere Fäuste gegenhämmern, und die dumpfen Laute hallten dabei wie Donnerschläge durch das Haus. »O Scheiße«, ächzte der Agent. »Wer ist da schon wieder! Wer . . . wer will zu uns?« , »Ich weiß es nicht.« »Wollen Sie denn öffnen?« »Ja.« »Na ja«, Todd verzog das Gesicht. Kein Muskel blieb darin ruhig. »Ehrlich gesagt, Sie haben Nerven. Ich bewundere Ihre Gelassenheit. Mich kriegen Sie nicht bis an die Tür.« »Das habe ich mir gedacht, das macht nichts, möchte ich Ihnen sagen. Sie bleiben hier und halten die Stellung. Ich werde mal sehen, wer da was von uns will.«
»Und wenn es ein Ghoul ist?« »Hat er Pech gehabt.« Als ich an Todd vorbeiging, konnte der nur den Kopf schütteln. Wahrscheinlich hielt er mich für lebensmüde. Das allerdings war ich nicht. Ich wußte genau, welchen Weg ich eingeschlagen hatte. . Die Echos hallten mir entgegen. Wer immer draußen vor dem Haus stand, er war mehr als ungeduldig. Natürlich war unsere Lage bescheiden. Allein wäre ich vielleicht besser zurechtgekommen, nur konnte ich den Eigentümer leider nicht wegzaubern. Wer sich immer vor die Tür gestellt hatte, zu unseren Freunden gehörte er sicherlich nicht. Das Haus lebte. Stellte sich die Frage, ob es schon immer gelebt hatte und von Dämonen kontrolliert wurde. Sie waren erwacht. Vielleicht auch deshalb, weil ich einen von ihnen, eben den Ghoul erledigt hatte. Jetzt wollten sich die anderen rächen. Ich riß die Tür auf. Zugleich schaute auch die Mündung der Beretta nach draußen, nur fand sie kein Ziel. Es stand niemand vor der Tür, der Einlaß begehrte. Daß irgendeine Person geklopft hatte, war uns schon klar. Nur hielt sie sich jetzt versteckt. Der Garten bot Platz genug. Von meinem Platz aus konnte ich ihn ziemlich gut überblicken. Er selbst hatte sich natürlich nicht verändert, obwohl er mir so vorkam. Oder lag es am Licht? Normalerweise hätte es dunkel sein müssen. Nacht hatten wir zwar, aber sie war ungewöhnlich hell, denn von irgendwoher floß Licht auf den Garten und das Haus zu. Eine andere Kraft als die des Mondes und der Sterne steckte dahinter. Es war ein grünliches und gleichzeitig bleiches Licht, sehr klar und scharf zugleich. Dadurch traten die Konturen anderer Gegenstände besonders stark hervor. Zum Beispiel der Bewuchs des Gartens. Die Bäume, die Büsche, das hohe Unkraut, dessen lange Gräser zitterten. Auch die Steine sah ich. Sie wirkten wie abgewischt so blank. Selbst die Treppe schälte sich deutlich hervor. Manche Bäume wirkten wie alte, verwandelte Gestalten, die ihre dünnen Arme ausgestreckt hatten. Andere wiederum fielen mir deshalb auf, weil sie so krumm und schief standen, als wären sie beim Fallen auf halbem Wege steckengeblieben. Wind und Wetter hatte ich nicht erlebt. Die Bäume hatten ihre Haltungen ohne äußerliche Gewaltanwendung verändert. Etwas stimmte da nicht.. . Ich dachte wieder an den Ghoul und daran, daß er aus der Erde gekrochen war. Konnte es sein, daß es mit der Erde zusammenhing? Daß sich dort die Quelle des Grauens befand? So etwas gab es nämlich.
Dann hätte das Haus auf einem magisch verseuchten Boden errichtet sein müssen. Ich ging zunächst davon aus, wußte aber noch nicht, wer da gegen die Tür gehämmert hatte. Plötzlich hörte ich das Heulen. Es war kein Tier; ein Windstoß wuchtete aus dem Nichts heran, wühlte sich wie mit gewaltigen Händen durch den Garten und sorgte für riesige Staubwolken, die über das Gelände trieben. Der Wind rüttelte an den Bäumen, er bog das Gras, er schlug heftig gegen mich, er fand Widerstand an den Flächen und Ecken des Hauses und schüttelte das Gebäude durch. In meiner Nähe wirbelte ein Ast vorbei. Ich war unwillkürlich zurückgetreten, aber nicht weit genug, denn als es hinter mir knallte, hatten es der Wind und der Durchzug geschafft, die Tür zuzurammen. Um wieder hineinzukommen, mußte ich um das Haus herum oder mir ein offenes Fenster suchen. Ich wollte gehen, als der Sturm nachließ. Schlagartig war es still. Nicht einmal ein Nachsäuseln hörte ich. Arg mitgenommen lag der Garten vor mir. Die Büsche kamen mir geduckter vor, irgendwie platter. Existierte noch ein Ghoul? Wenn ja, würde ich ihn finden. Ich setzte den rechten Fuß vor. Nach dem dritten Schritt konnte ich besser sehen - und staunte nicht schlecht, als ich die roten Lichter entdeckte, die überall aufglühten, als hätte jemand augengroße Laternen angezündet. Der Vergleich mit Augen kam schon hin, denn die roten Lichter standen so dicht wie Augen zusammen. Und sie hatten sich über das gesamte Gelände verteilt. Dicht über dem Boden schwebten sie. Hockten in den Büschen oder lauerten hinter Gräsern. Mit wem ich es da zu tun hatte, wußte ich nicht. Es konnten Erdgeister sein. Ich suchte mir ein Augenpaar aus. Vor der Treppe schimmerten die beiden Ovale aus einem durch den Sturm aus dem Boden gerissenen Wurzelwerk eines Baumes hervor. Das Paar rührte sich nicht, als ich es anvisierte. Ich sah auch keine Umrisse, holte aber meine Leuchte hervor und strahlte die roten Ovale an. Sie verschwanden. Es kam mir vor, als hätten sie das Licht meiner Leuchte einfach geschluckt. Seltsam . . . Ich war bereit, mir das Wesen genauer anzuschauen, da hörte ich hinter mir ein Kichern. Eine krächzende und sehr alt klingende Stimme sagte: »Es hat keinen Sinn, wir sind die Herren hier. Wir allein .. .« Ich zuckte herum. Die Lampe blieb eingeschaltet, und ihr Strahl traf eine Gestalt, die mich nur den Kopf schütteln ließ und in Erstaunen versetzte. Vor mir stand ein bleicher Zwerg, der auf seinem Kopf einen hohen, spitzen Hut trug.
»Willkommen in unserem Reich, Fremder«, sagte er und kicherte abermals. »Danke. Wer bist du?« »Mondrian. Man nennt mich Mondrian. Ich bin ein mächtiger Zauberer und der Herr der Toten . ..« Mason Todd mußte Höllenqualen aushalten. Er ärgerte sich darüber, daß er Sinclair hatte gehen lassen. Jetzt war er allein, ohne Hilfe und auch ohne Waffen. Nicht einmal eine Pistole hatte er im Haus, wobei er sich eingestand, daß er damit wohl auch nicht viel hätte ausrichten können. Die andere Macht war einfach zu stark. Er glaubte fest daran, daß sie einen Ring um sein Haus und das Grundstück gezogen hatten. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war sie geweckt worden, möglicherweise auch durch die Vernichtung des Ghouls, aber das alles waren Spekulationen. Es brauchte ihn zudem nicht zu interessieren. Wichtig war, daß er sein eigenes Leben rettete. Das Bluten hatte nicht aufgehört. An manchen Stellen drang sogar Dampf aus den Ritzen, der sich wie ein Schleier auf die rote Flüssigkeit gelegt hatte. Todd war stets sehr stolz auf seinen Wohnraum gewesen, eines der Prunkstücke des Hauses. Nun aber kam er ihm vor wie ein Gefängnis. Sinclair hatte ihn verlassen, und er fühlte sich verdammt allein. Obwohl er die große Scheibe hatte verschwinden lassen, fehlte ihm die Luft zum Atmen. Dann heulte urplötzlich der Sturm auf. Mason Todd erschrak, als der Wind in den Raum hineinschlug und alles mit sich riß, was nicht fest genug stand. Er wirbelte die Gläser vom Tisch, schleuderte Zeitungen in die Höhe, faltete sie während des Flugs auseinander und ließ die Blätter flattern wie die Schwingen großer Vögel. Staub verdunkelte die Luft. Todd glaubte auch, Blitze über den Himmel zucken zu sehen. Auch gegen ihn fauchte der Sturm. Als er wankte, duckte er sich zusammen und kroch in Deckung. Die hohe Rückenlehne des Sessels gab ihm Schutz. Wieder erwischten ihn mehrere Tropfen. Der Wind hatte das fallende Blut gepackt. Er fegte es fast waagerecht durch den Raum und ließ es in das Gesicht des Mannes klatschen. Todd konnte nicht einmal fluchen. Er saß zitternd da und wartete darauf, daß der verdammte Spuk vorübergingDas ging sehr schnell. Todd konnte es kaum fassen, so daß es bei ihm einige Sekunden dauerte, bis er begriff. Eine absolute Windstille. Nicht einmal das zarteste Lüftchen wehte in den Raum.
Verunsichert erhob er sich. Er wischte über sein Gesicht und verschmierte dort das Blut mit dem Schweiß. Neben dem Sessel blieb er stehen. Da das Licht noch brannte, konnte er sich innerhalb des Chaos umschauen. Ein kleines Regal war umgefallen. Die dort stehenden Vasen, Unikate bekannter Künstler, lagen als Scherben auf dem Boden. Auch Papier war durch den Raum bewegt worden und in einer Ecke liegengeblieben. Todd fühlte sich unsicher. Es lag nicht allein an den Vorgängen, auch das Zimmer bereitete ihm Unbehagen. Obwohl die eine Scheibe verschwunden war, fühlte er sich eingesperrt und nicht mehr sicher. Er wollte weg! Der Drang war plötzlich da. Er setzte sich in seinem Hirn fest, er wollte verschwinden. Zudem mußte er Sinclair suchen. Die Mauern erschienen ihm nicht mehr fest genug. Die konnten jeden Moment zusammenbrechen und ihn unter sich begraben. Sollte er hier jemals lebend wieder herauskommen, würde er die Bude verkaufen oder sie zerstören lassen. In einem Bluthaus leben, das wollte er nicht. Noch immer schwitzten die Wände Blut. Es drang ständig aus allen Ritzen. Einige Tropfen erwischten ihn noch beim Laufen, dann endlich hatte er den Garten erreicht. i Das heißt, ein Gelände, auf dem keine Räume oder Sträucher wuchsen. Er hatte es als Rasen angelegt, der erst aufhörte, wo die Bruchsteinmauer in die Höhe wuchs. Hinter ihr lag der Pool, im Winter gut abgedeckt, im Sommer frei. Der Flüchtende ließ das Becken links liegen und lief mit dumpfen Schritten in die andere Richtung, um das Haus dort hinter sich lassen zu können. Bisher hatte alles gut geklappt. Auch fühlte sich Todd irgendwo befreit, der Druck war nicht mehr vorhanden, bis er merkte, daß etwas mit seinen Beinen nicht stimmte. Sosehr er sich auch anstrengte, er bekam sie nicht mehr richtig hoch. Er lief über eine zähe Masse hinweg, die ihn nur widerwillig freigab. Auf seinem Gesicht spiegelten sich die Gefühle wieder. Furcht, Nichtverstehen, die blanke Angst vor den folgenden Sekunden, denn der Untergrund wurde mit jedem Yard, den er zurücklegte weicher und wollte schon bis an seine Knöchel heran. Sumpf, dachte Todd. Verdammt noch mal, dein Rasen ist zu einem Sumpf geworden. Auf einmal steckte er fest! Mason Todd konnte sich nicht daran erinnern, wie es geschehen war. Möglicherweise war er zu hart und wuchtig aufgetreten, jedenfalls drang
sein Bein tiefer in den Boden, wo es von der weichen Masse umklammert wurde wie von einem dicken Strumpf. Mason Todd tat nichts. Er hatte sich an gewisse Verhaltensregeln erinnert. Nur nicht bewegen, nur keine Hektik zeigen, die Ruhe bewahren und dabei nach Auswegen suchen. Aber wo waren sie? Er schaute sich im Stehen um, bewegte nur den Kopf und sah, daß der Rasen um ihn herum zu einer schwankenden Fläche geworden war. Wie ein Meer, dessen Dünung erstarrte. Da rutschte sein linkes Bein tiefer. Gleichzeitig erklang ein Schmatzen, als hätte ein Ungeheuer sein Maul aufgerissen, um seine Vorfreude auf das Opfer hörbar zu machen. Nichts gab ihm mehr Halt. Und der Sumpf kannte kein Pardon. Er zerrte ihn tiefer. Mason Todd bewegte sich nicht. Sein Gesicht sah aus wie eine grell weiße Plastik. Nicht einmal die Augen zuckten, auch der Verstand war für einen Moment abgemeldet worden. Bis zu dem Zeitpunkt, wo Todd erkennen mußte, was tatsächlich auf seinem Grundstück geschah. Dicht unter der Oberfläche schienen zahlreiche Maulwürfe zu lauern, die nur darauf gewartet hatten, endlich ins Freie zu gelangen. Todd erinnerte sich daran, wie es vorn im Garten ausgesehen hatte, wo der Ghoul aus der Erde gekrochen war. Ebenso sah es hier aus. Mächtige Kräfte wühlten den Boden auf. Sie drückten die schweren Erdmassen in die Höhe, schufen Löcher und kleine Hügel, denn sie brauchten den Platz einfach. Über ihm stand der ungewöhnliche Lichtschein wie eine hellgrüne Glocke innerhalb der Schwärze. Er gab gerade so viel Helligkeit ab, daß Todd auch Einzelheiten erkennen konnte. Die waren grausam genug. Denn aus dem Boden stiegen Gestalten, wie er sie bisher nur aus Gruselfilmen gekannt hatte. Uralte Leichen mit bleichen und gleichzeitig schmutzigen Gesichtern, mit schrecklich verzerrten Fratzen, deren leere Augen wie Spiegel zu anderen Welten waren. Zombies? Dieser Begriff jagte durch seinen Kopf! Es gab keine andere Möglichkeit, denn schleimige Ghoulwesen waren es nicht, die aus dem Boden stiegen. Dafür lebende Leichen! Furchtbare Alpträume, die ihn in der Pubertät gequält hatten, wurden auf einmal wahr. Als Mittelpunkt in einem Meer von lebenden Leichen sah er sich, der einzige Lebende unter den Zombies.
Das Grauen war faßbar geworden, und er konnte nicht einmal schreien, so wie es früher gewesen war, wenn er durch den erlösenden Schrei aus den Träumen erwach te. Unter ihm begann es wieder zu arbeiten. Der Boden bewegte sich, die Erde lebte. Sie rumorte >lautlos<, wie es ihm vorkam; sie griff zu, sie öffnete sich, und sie bewegte ihn weiter. Tiefer in sich hinein. Wie ein gewaltiger Schlund, ein großes Maul, das keine Gnade kannte. Bis zu den Hüften steckte er fest. Bei ihm war genau das Gegenteil eingetreten wie bei den Zombies. Sie kamen zurück, während er verschwand. Tiefer und tiefer .. . Todd bewegte seine Arme. Er streckte sie aus, um nach irgendeiner Stütze oder nach Halt zu suchen, was ihm nicht gelang, denn er konnte nur ins Leere greifen. Die ersten Zombies hatten es bereits geschafft und die Gartenerde verlassen. Zwei von ihnen blieben breitbeinig stehen und schauten dem grünlichen Licht entgegen, als wollten sie Kraft tanken. An ihrer zerfetzten Kleidung klebte der Dreck aus dem Erdinnern, auch in den Mäulern war er hineingepreßt worden. Gewürm bewegte sich zwischen dem feuchten Schlamm, die Haare auf den Schädeln erinnerten an verdreckte Strähnen. Der erste Zombie drehte sich um. Er tat es sehr langsam, als wollte er diese Bewegung genießen. Bis zum Gürtel steckte Todd im Boden. Seine Hände lagen noch frei, er hatte sie ausgestreckt. Dann sah ihn der Zombie! Das kam Todd jedenfalls so vor. Möglicherweise hatte er ihn auch nur gerochen, das frische Fleisch, das Bündel Mensch . . . Der Untote hob einen Fuß. Er rammte die nackte Hacke in den weichen Boden, als wollte er dessen Standfestigkeit prüfen. Dann ging er auf Todd zu! Der Agent wußte plötzlich, daß er das Opfer dieses widerlichen Wesens sein sollte. Er tat nichts, er schrie nicht einmal, er staunte nicht und sah den lebenden Leichnam aus seiner Perspektive übergroß auf ihn zu tappen. Wenn dieses Gespenst so weiterging, würde Todd irgendwann dessen Fuß in seinem Gesicht spüren. Ohne es zu wollen, würgte er. Ihm wurde übel, aus seinem Mund floß der Speichel. »Hau ab!« keuchte er. »Hau endlich ab, verdammt! Hau ab! Ich will nicht!« Den Zombie kümmerte das nicht. Er folgte seinem Trieb, und das Ziel hieß Mason Todd.
Die anderen taten nichts. Sie gönnten ihrem Artgenossen das erste Opfer. Und der Mann sprang über seinen eigenen Schatten. Was er bisher nicht geschafft hatte, brandete nun aus ihm hervor. Seine ganze Verzweiflung, seine Angst, seine Pein, die Qual, alles drängte sich hinein in ein Wort, das er schrie. »Sinclair...!« *** Mondrian hieß der Zwerg mit dem spitzen Hut, der sich selbst als Zauberer bezeichnete und unter dessen Hutkrempe ich ein Gesicht sah, das nicht nur grünlich schimmerte, auch aufgequollen war, als hätte er die Wangen aufgeblasen. Große Froschaugen, eine wuchtige Nase, ein schwammig wirkendes Kinn: Das war sein Gesicht. Der Mund fiel darin kaum auf. Auf mich machte er den Eindruck eines künstlichen Geschöpfes, aber er redete keinesfalls roboterhaft, nur mit einer für mich etwas fremd wirkenden Stimme. »Wir sind jetzt frei.« »Ach ja?« Er nickte, und sein Hut blieb trotzdem auf seinem Kopf. »Ja, denn der Ankou ist nicht mehr.« Diese Erklärung war wichtig, das ahnte ich instinktiv. Aber wer war der Ankou? Ich zermarterte mir das Gehirn. Irgendwo hatte ich diesen Begrfiff schon gehört. Der Ankou mußte eine Gestalt gewesen sein, die sich durch die mystische Historie zog, aber ich kam nicht darauf, welch eine Funktion er besaß. »Du weißt nicht, was der Ankou ist?« »Sony, aber . ..« Der Zwerg bewegte seinen rechten Arm. Er rutschte aus dem Ärmel der dunklen Jacke und zeigte eine Hand, deren Finger wie Stäbe aussahen, die mit bleicher Haut überzogen waren. Fingernägel schimmerten nicht, hier konnte ich mich nur noch wundern oder es bleiben lassen. Meine Sinne waren natürlich gespannt, doch die Warnung vor einer unmittelbaren Gefahr erreichte mich nicht. »Was ist also ein Ankou?« Drei Finger knickte er ein, nur den Zeigefinger hielt er ausgestreckt. Fr wies direkt auf mich und bewegte sich zittern auf und ab. »Der Ankou ist der Hüter.« »Über dich?« »Nein«, erwiderte Mondrian fast vorwurfsvoll. »Doch nicht über mich. Fr bewacht den Friedhof, er ist ein Friedhofswächter, der gute Geist auf den Gräbern.«
Ich gestattete mir ein leises Lachen. »Wie ein Geist hat er nicht ausgesehen. Als ich nachschaute, kroch ein verfluchter Ghoul aus dem Boden. Und den habe ich vernichtet.« »Es war der Wächter.« »Gut, ich glaube dir. Aber sag mir nur noch, wo sich hierein Friedhof befindet.« Mondrian bewegte sich. Dabei sah er aus, als würde er aus dem Boden hervorkriechen, weil hinter ihm auch das Buschwerk anfing zu wackeln. »Hier war ein Friedhof. Damals, vor langer Zeit. Und wie früher üblich, besaß dieser Friedhof auch einen Ankou. Man hat das erste Grab geschaufelt und einen jungen Mann bei lebendigem Leibe begraben. Nur so kann ein Ankou entstehen. Sein Geist ist es, der sich vom Körper löste und den Friedhof bewacht, damit kein Fremder die Ruhe der Toten stört.« »Es war ein Ghoul!« widersprach ich. »Ein Leichenfresser.« »Das weiß ich.« Wieder kicherte Mondrian. »Es ist eben ein besonderer Friedhof gewesen, wenn du verstehst. Eine magische Macht kontrollierte ihn. Sie hat den lebendig Begrabenen nicht zu einem Geist werden lassen, dafür aber in einen Ghoul verwandelt. Und diese magische Macht beherrschte den Friedhof auch weiterhin. Jeder Tote veränderte sich unter der Erde. Hast du nun begriffen?« In meinem Hals war es trocken geworden. Und ob ich das begriffen hatte. »Dann war es nicht der einzige Ghoul?« Der Zwerg Mondrian breitete die Arme aus. »Doch, er war der Ghoul, er war unser Ghoul, denn wir alle, die nach ihm begraben wurden, sind zu anderen Wesen geworden.« »Etwa zu Zombies?« »Ja, mein Freund, zu lebenden Leichen.« »Du auch?« »So ist es. Man hat mich dort begraben, weil ich ihnen nicht wohlfeil war. Sie fürchteten sich vor Mondrian, dem Zauberer. Ich bin über Land gefahren. Ich gehörte einer Gauklertruppe an, die in die Dörfer und kleinen Städte fuhr, um dort den Leuten etwas von der Zauberei und der Artistik zu bieten. Wir waren gut, aber es gab Menschen, die uns nicht mochten. Sie haben uns dies spüren lassen, bis zum Tode.« »Soll das heißen .. .?« »Ich kenne deine Gedanken, und ich werde dir auch die Antwort geben. Ja, man nahm uns gefangen, und man tötete uns. Dann begrub man uns, warf uns in ein großes Massengrab, aber wir verwesten nicht, denn die andere Kraft war stärker, und es lebte noch der Wächter, der Ankou, der uns in die Arme schloß.« »Wie lange gab es den Friedhof?«
»Ich weiß es nicht. Aber es kam die Zeit, wo keine Toten mehr bestattet wurden, und deshalb geriet der Friedhof in Vergessenheit. Niemand hat sich mehr daran erinnert.« Im Geist verfolgte ich seine Bemerkungen weiter. Klar, ein Stück eingeebnetes Land, um das sich niemand gekümmert hatte. Warum auch? An einen Friedhof hätte man zuletzt gedacht. Aber er war noch vorhanden, und ausgerechnet Mason Todd hatte auf diesem Gelände gebaut. Klar, daß er die Vergangenheit nicht kannte. So einfach war die Lösung. Mondrian, der Zwerg, hatte seinen Kopf zurückgelegt und schaute mich an. »Jetzt weißt du es.« »Klar, ich bin informiert.« »Was wirst du tun?« »Ich kann es nicht zulassen, daß Grauen aus der Vergangenheit in der anderen Welt Besitz ergreift. Ich habe den Ankou vernichtet, und ich werde weitermachen.« »Du willst uns ausrotten?« »So kann man es auch sagen.« »Für einen Menschen hast du dir viel vorgenommen. Zudem darfst du nicht vergessen, wer vor dir steht. Man hat mir die Macht über den Friedhof erteilt.« »War das nicht der Ankou?« »Fr bewachte ihn. Ich aber beherrsche ihn. Wie ich dir sagte, bin ich damals mit Freunden über Land gefahren. Man kannte mich, ich war einer der mächtigen Zauberer, eine Person, die bei noch mächtigeren Freunden gelernt hat. Ich habe das Haus übernommen, ich habe es Blut schwitzen lassen. Es ist das Blut derjenigen, die auf dem Friedhof begraben wurden. Bisher hatte es sich in der Erde versteckt gehalten, ich aber verhalf ihm zum Durchbruch. Die Toten sind noch da, und sie werden wieder das sein, was sie früher einmal gewesen sind. Man kann sie nicht vernichten, so etwas ist unmöglich, mein Freund. Deshalb möchte ich mich bei dir bedanken. Du hast den Ankou vernichtet, aber du hast mir und uns die Freiheit zurückgegeben.« Da hatte er recht. Nur dachte ich nicht im Traum daran, ihm diese Freiheit zu lassen. So wie der Ghoul vernichtet worden war, sollte auch er sterben. Falls es stimmte, dann mußten sich bereits auf dem Gelände die Untoten formiert haben. »Was willst du tun?« fragte er. »Das!« erwiderte ich und wollte ihm mein Kreuz zeigen. Ich war eine Idee zu langsam. Auf einmal hörte ich Mason Todd schreien. Und er brüllte meinen Namen in höchster Todesnot.
*** Ich entschied mich innerhalb einer halben Sekunde. Mondrian mußte warten. Ein Menschenleben zu retten, hatte Vorrang. Deshalb machte ich kehrt und erkannte in der Bewegung, daß der Zwerg ebenfalls verschwunden war. Weg, wie in Luft aufgelöst. Mit einem Fluch auf den Lippen hetzte ich los. Wenn mich meine Sinne nicht getäuscht hatten, war der Schrei hinter dem Haus aufgeklungen. Wegen der zugefallenen Haustür konnte ich den Weg nicht abkürzen, ich mußte um das Gebäude herum. Die Schreie des Mannes begleiteten mich. Diesmal brüllte er nur, ohne einen Namen zu rufen. Ich wischte durch die Finsternis, sprang über schmale Hecken und Unkrautfelder hinweg und erreichte endlich das Gebiet hinter dem offenen Fenster. Nichts war zu sehen, nur er! Kein Ghoul, keine lebende Leiche, kein Vampir oder Gespenst, aber Todd steckte bis zu den Hüften in der Erde, fuchtelte mit den Armen und brüllte sich fast die Seele aus dem Leib. Er hörte auch nicht auf, als ich bei ihm erschien, mich bückte und unter seine Arme faßte. Mit sehr festem Griff hielt ich die Achseln umklammert, sprach in sein Schreien hinein und zerrte ihn aus dem Erdboden. Es war eine mörderische Anstrengung. In seiner Panik schaffte es Todd nicht, mir zu helfen. Ich bekam ihn trotzdem frei und fiel, als er die Erde verlassen hatte, rücklings zu Boden, wo ich erschöpft liegenblieb. Das Brausen in den Ohren, das von den wimmernden Lauten des Mannes untermalt wurde. Meine Augen standen weit offen. Ich starrte in den Himmel und nahm gleichzeitig den Leichengeruch wahr, der über diesem Flecken Erde wie ein mächtiger Druck lastete. Die ganze Nacht konnte ich nicht hier liegenbleiben. Irgendwann richtete ich mich auf. Auch Todd saß. Wir hockten uns gegenüber, und Todd hatte die Beine ausgestreckt. Es ließ sich nicht vermeiden, daß mein Blick auch auf seine Füße fiel. Da traf es mich wie ein Hammerschlag. Todd hatte keine Schuhe mehr an den Füßen, die von zahlreichen, blutenden Wunden bedeckt waren. Als hätten sich dort in die Haut viele Zähne hineingeschlagen, so sahen die Füße aus. »Mein Gott, was ist das?« Jetzt verstand ich auch sein Schreien. Todd wollte eine Antwort geben, war aber nicht fähig dazu. Ich packte ihn und zerrte ihn in die Höhe. Laufen konnte er nicht, deshalb wuchtete ich ihn auf eine Schulter.
Im Wohnraum legte ich ihn auf die Couch, eilte ins Bad, wo ich einen Verbandskasten fand, in dem sich neben Verbandszeug auch Desinfektionsmittel befand. »Das war die Hölle, Sinclair!« keuchte Todd mit schmerzverzerrtem Gesicht. »So was kann man sich nicht vorstellen.« »Ich glaube Ihnen.« »Was haben Sie denn vor?« »Ich werde Ihre Füße verbinden.« »Und dann?« »Müssen Sie so rasch wie möglich hier weg. Dieses Haus ist nichts für Sie.« »Ich verstehe das alles nicht.« »Okay, wenn Sie wollen, erzählen Sie.« Fr tat es, während ich ihn verband. Immer unterbrochen von leisen Wehlauten, erfuhr ich eine beinahe unglaubliche Geschichte. Gerettet hatte Todd praktisch das Rufen nach mir und auch die Reaktion des Zwerges Mondrian. Nicht nur er war verschwunden, er hatte auch die Zombies in Luft aufgelöst. »Können Sie sich darauf einen Reim machen, Sinclair?« »Im Moment noch nicht.« »Was haben Sie denn erlebt?« Ich sah keinen Grund, ihm die Wahrheit zu verschweigen, und er konnte sie kaum glauben. »Das ist doch nicht möglich!« keuchte er. »Nein, das glaube ich nicht.« »Doch, mein Lieber. Sie haben Ihr Haus eben auf einen falschen Platz gebaut.« »Wie hätte ich das denn wissen können?« »Überhaupt nicht. Ihnen macht keiner einen Vorwurf. Aber ich weiß jetzt, wer hier herrscht und wer diesem Zauberer Mondrian den Weg eröffnet hat.« »Wir beide doch!« Er richtete sich auf, schaffte es und blieb mit ausgestreckten Beinen auf der Couch sitzen. »Da haben Sie recht, wir beide.« »Ist jetzt alles vorbei?« Ich schaute ihn mit einem derartigen Blick an, daß er den Kopf senkte und sich beinahe entschuldigt hätte. »Es ... es war nur eine Frage, Mr. Sinclair.« »Ich rechne damit, daß es jetzt erst richtig anfängt. Mondrian, der Zwerg, hat nur auf eine derartige Chance gelauert. Sie bekam er; jetzt kann er zuschlagen.« »Was will er denn?« »Kann ich Ihnen noch nicht sagen. Jedenfalls wird es kein Spaß, das glauben Sie mal.« »Und dieZombies?«
Ich hob die Schultern. »Sie sind ebenso verschwunden wie Mondrian. Ich gehe davon aus, daß wir uns auf einem schwarzmagisch verseuchten Gebiet befinden. Eine magische Insel inmitten dieser Welt.« »Das war aber keine Antwort auf meine Frage.« »Die folgt noch. Es ist möglich, Mr. Todd, daß es Mondrian gelingt, die Zeit zu manipulieren. Er schafft es, Vergangenheit und Gegenwart ineinanderfließen zu lassen.« Todd sah aus, als wollte er lachen. Dafür jedoch war die Lage viel zu ernst. Deshalb fragte er: »Und das gibt es?« »Ja.« Für einen Moment schaute er auf seine verbundenen Füße. »Es ist wohl müßig, Sie nach einer logischen Erklärung zu fragen — oder?« »Lassen Sie das lieber bleiben. Wenn Magie herrscht, ist die Logik außen vor. Dann werden Gesetze angewendet, die allein der Magie gehorchen.« »Das ist ja furchtbar«, flüsterte er und schüttelte sich. »Da ... da komme ich nicht mit.« »Kann ich sogar verstehen.« »Wollen Sie denn hier bei mir bleiben?« »Ich schon, Mr. Todd, aber Sie werden das Gelände hier verlassen. Außerdem brauche ich Verstärkung. Ich werde mit meinem Freund telefonieren. Wenn er sich beeilt, kann er in zwei Stunden hier sein.« »Von London?« Ich grinste schief. »Der hat eine Rakete als Wagen und wird froh sein, ihn ausfahren zu können.« »Wenn das so ist, bitte, Mr. Sinclair.« Er hatte noch eine Frage. »Soll ich denn so lange warten?« »Nein, ich schaffe Sie hier raus. Wir müssen davon ausgehen, daß wir unter Kontrolle stehen. Ein derartiger Zeitenwechsel kann so schnell erfolgen, daß die Zeit kaum meßbar ist.« Er winkte ab, während ich den Hörer anhob und ihn gar nicht mehr bis ans Ohr brachte, denn ich hörte kein Freizeichen. Die Leitung war tot, unterbrochen. Müde ließ ich ihn sinken, drehte mich um. Mason Todd schaute mich an. Die Frage stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er stellte sie erst gar nicht, die Antwort war bei mir ein Nicken. »Dann sitzen wir fest, Sinclair!« »Nicht ganz. Wir können nur nicht telefonieren.« Er schüttelte sich beim Lachen. »Und das nehmen Sie einfach so locker hin?« »So locker nun auch wieder nicht. Ich will nur nicht in Panik verfallen. Das ist nicht meine Art.« Todd ergab sich in sein Schicksal. »Wo werden Sie mich hinfahren?« »Nach Selsey.«
»Dann kehren Sie wieder zurück?« »Sofern man mich läßt.« Ich lächelte schief. »Wissen Sie, dieser Zauberer hat mich neugierig gemacht. Man hat ihn und die Mitglieder der Truppe damals getötet und auf dem Friedhof begraben. Wenn man ehrlich sein will, ist ihnen Unrecht widerfahren.« »Halten Sie etwa zu den Wesen?« »Nein, nein«, beruhigte ich ihn. »Ich bin nur gewohnt, nach Motiven zu forschen.« »Kann sein, aber . . .« Ein gewaltiger Donnerschlag riß dem Mann das nächste Wort von den Lippen. Den Blitz hatten wir nicht wahrgenommen, nur diesen mächtigen Donner. Wirbeide waren zusammengezuckt. »Der Himmel zürnt!« keuchte Todd. »Verdammt noch mal, was haben wir nur getan. Ich habe Schuld auf mich geladen. Zwei Mädchen sind durch mich umgekommen, jetzt muß ich zahlen.« »Werden Sie nicht sentimental, Todd. Kommen Sie, reißen Sie sich zusammen.« »Wie denn?« Er breitete hilflos die Arme aus. »Ich kann nicht aufstehen und laufen.« »Keine Sorge, das mache ich.« Bevor er noch etwas sagen konnte, war ich bei ihm. Der Mann gehörte nicht zu den Leichtgewichten, das hatte ich schon feststellen können. Ich mußte mich anstrengen und viel Kraft einsetzen, um ihn auf die Arme hieven zu können. Er lag darauf wie ein kleines Kind. »Meine Füße schmerzen«, flüsterte er, »verdammt, ich komme mir vor, als wären sie mit Säure übergössen worden. Das ist verrückt, das ist. . .« »Halten Sie durch. Wenigstens bis Selsey. Oder gibt es doch ein Krankenhaus — oder?« »Ja.« Ich war mit ihm durch das Haus gelaufen und näherte mich der Eingangstür. Draußen entwickelte sich das Gewitter. Es fiel kein Regen, aber die grellen Blitze zerrissen das dunkle Wolkenband des Himmels, als wollten sie alles zerfetzen. Dazwischen schlug der Donner wie gewaltige Paukenschläge und malträtierte unsere Trommelfelle. Keuchend erreichte ich die Haustür. Daneben stand eine schmale Holzbank. Auf ihr ließ ich mich nieder und nickte Todd mit schweißüberströmtem Gesicht zu. »Sorry, ich muß mich ausruhen.« »Tut mir auch leid. Die nächste Diät wollte ich erst in einigen Lagen anfangen.«
Wir lauschten dem Donner. Ich kam langsam wieder zu Atem. Den Rest der Strecke wollte ich mir den Verletzten wieder über die Schulter legen. Es war nicht einfach, und beim Wurf schrie er wieder auf, weil er mit seinen verletzten Füßen in meine Kniekehlen gestoßen war. Im Haus roch es nach Blut. Auch jetzt quoll es noch aus Wänden und Decke. Für mich auch ein Beweis, daß es mit der magischen Rache erst angefangen hatte. Mit einer Hand zerrte ich die Tür auf. Ich mußte Kraft einsetzen, weil der Wind ungünstig stand. Er peitschte mir ins Gesicht. Ein warmer Strom, vom Donnerschlag geführt. Für einen Moment war ich irritiert. Ich nahm die Gestalt kaum wahr, aber sie war vorhanden. »Hier bin ich!« sagte Mondrian. Und diesmal zeigte er mir seine Hand. In der Rechten hielt er einen Stab. Lang, blitzend und dabei leicht rötlich schimmernd. Nicht mich berührte die Spitze, sondern Mason Todd. Der war plötzlich von meiner Schulter verschwunden! Ich stand da, suchte nach ihm und auch nach Mondrian. Beide zeigten sich nicht mehr. Das magische Loch zwischen den Zeiten hatte sie innerhalb kürzester Zeit aufgesaugt. Vor mir tobte eine Hölle aus Blitz und Donner. Ich schaute in den Garten hinein, über den sich bei jedem Blitz fahlgelbe Schleier legten. Ich spürte den Wind, der an mir rüttelte und ließ mich von den Blitzen blenden und fühlte mich so verdammt hilflos. Mondrian, der Zauberer, hatte mir bewiesen, zu was er fähig war. Trotz der Schwüle wurde mir auf einmal kalt. Vor mir lag eine fremde Welt, die ebenfalls unter einer fremden Kontrolle stand. Das war eine magische Insel innerhalb der normalen Welt. Ein irrlichternder Garten mit zahlreichen Verstecken, Bäumen und Büschen, die von den Blitzen zu den seltsamsten Gespenstern gemacht wurden. Ich ging langsam wieder zurück und schleuderte voller Wut die Haustür ins Schloß. Einmal hatte ich Mason Todd retten können. Ob es mir ein zweitesmal gelingen würde, war fraglich. Mondrian hatte ihn einfach entführt, aus meinen Armen weggerissen. Diese Tatsache machte mich so wütend. Ich hoffte jetzt, daß er sich wieder zeigen würde, um mit mir das gleiche zu versuchen. Wenn das geschah, so schwor ich mir, würde er mir ins Messer laufen. Meine Sinne waren gespannt, als ich in den großen Wohnraum zurückging. Wieder einmal erfuhr ich, wie allein man doch sein kann. Umlauert von Feinden, würde mir nichts anderes übrigbleiben, als den Kampf gegen die Horde aufzunehmen.
Blitz und Donner folgten aufeinander. Das Gewitter tobte über dem Meer, wo der Himmel aussah, als hätte ihn jemand gemalt und sich auf die dunklen Farben besonnen. Da fegte der Wind die Wolken zusammen oder riß gewaltige Lücken in sie hinein, so daß sie an manchen Stellen wie Glotzaugen wurden, in denen die Schwärze des Alls lag. Gelb und auch grünlich angehaucht wischten Lichtexplosionen über das Firmament. Noch war kein Tropfen Regen gefallen, ein trockenes Gewitter gehörte zu den schlimmsten. Hin und wieder sahen die Wolken aus wie Figuren, die sich frisch gebildet hatten. Monster, Mutationen, die aufquollen und vom nächsten Blitz oder Windstoß wieder zerstört wurden. Ein superscharfes Naturschauspiel, das manche Fans angelockt hätte. Leider nicht den Zauberer. Aus der Küche holte ich mir etwas zu trinken. Dann nahm ich wieder Platz und kam mir jetzt vor wie jemand, der allein im Zimmer und im Dunkeln auf seine Geliebte wartet. Die Magie war hier, das wußte ich. Ich hätte sie möglicherweise auch durch die Aktivierung meines Kreuzes verscheuchen können. Das wollte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Das Haus sollte weiterbluten, es sollte unter der Kontrolle des Zauberers stehen, denn es ermöglichte ihm eine Rückkehr in die Gegenwart, die für ihn Zukunft war. Ich hatte mich so hingesetzt, daß ich von den Blutstropfen nicht getroffen wurde. Das Haus schwitzte sein Grauen aus. Aus dem Boden mußte das Blut der Unschuldigen hochgestiegen sein und hatte in den Mauern und den Decken eine neue Heimat gefunden. Ich dachte über den Zwerg Mondrian nach. Gehört hatte ich noch nie zuvor von ihm. Keine Ahnung, wer er genau war und woher er seine Kräfte erhalten hatte. Wieder orgelte der Wind durch das breite, offene Fenster in den Raum, diesmal begleitet von einem mächtigen Rauschen, denn der Himmel hatte seine Pforten geöffnet. Urplötzlich schüttete es wie aus Kannen! Als ich nach draußen schaute, sah ich keine Lücken. Das Wasser fiel aus den Wolken auf die trockene Erde, die anfing zu dampfen, so daß sich in der Schwüle Wolken bildeten, die auch in den Raum quollen. Das Gewitter war weitergezogen, es hatte den Regen zurückgelassen. Auch er nahm an Intensität ab, was mich wiederum aufatmen ließ. Es kam mir vor wie eine Reinigung, aber im Prinzip hatte sich nichts verändert. Das Haus >blutete< nach wie vor. Es schwitzte das Grauen aus, das in ihm steckte, und es hielt noch immer die fürchterlichsten Überraschungen bereit. Ich sah es, als ich
zum Telefon ging und noch einmal versuchen wollte, in London bei meinem Freund Suko anzurufen. An der Wand, die dem offenen großen Fenster gegenüberlag, bewegte sich etwas. Zuerst hatte ich an einen Schatten gedacht, der darüber hinweggehuscht war. Das stimmte nicht, denn von innen her drangen die gewissen Dinge hervor. Ich konnte nicht konkret werden, denn das Mauerwerk fing an zu arbeiten, ohne daß dabei ein Geräusch an meine Ohren drang. Licht brannte, es fiel auch genügend dorthin, wo sich die Form der Wand allmählich zu einem Motiv veränderte. Ein Kopf zeichnete sich ab, auch ein Gesicht, das aber nur für eine sehr kurze Zeit, weil sich der Kopf senkte, so daß ich es nicht mehr genau hatte erkennen können. Trotzdem war ein fürchterlicher Verdacht in mir hochgestiegen. Er bestätigte sich Sekunden später, als der Kopf wieder in die Höhe ruckte und ich direkt in das Gesicht mit den schmerzentstellten Zügen schauen konnte. Kein Zweifel - es gehörte Mason Todd! Ich tat nichts, aber in den folgenden Sekunden erlebte ich ein fürchterliches Schauspiel und wurde wieder darauf hingewiesen, wie grausam dieser Zauberer war. In der Wand steckte Mason Todd. Aus eigener Kraft bewegte er sich nicht, dafür sorgten andere, die seinen Körper umklammert hielten, ihn drehten und schoben, natürlich mit dem Kopf zuerst wieder aus diesem Gefängnis heraus. Ich konnte für ihn nichts tun. Ich bekam nur seine Qual mit, die sich auf dem Gesicht abzeichnete. Das Bluthaus spie ihn regelrecht aus. Ein Ruck, dann war es geschafft. Mit dem Kopf nach wie vor zuerst und gebeugt fiel Mason Todd aus der Wand. Erstreckte nicht einmal seine Arme nach vorn. Ich lief auch nicht hin, um ihn zu halten, weil ich damit rechnete, einen Veränderten zu sehen. Beim Aufschlag hörte ich ein hartes Geräusch, dann drehte sich der Körper zur Seite und blieb auch so liegen. Todd rührte sich nicht. Ich konzentrierte mich auf den Ausgang in der Wand, aber da war nichts mehr zu sehen. Nicht einmal Blut. Das Loch war wieder zugewachsen, als wäre es nie vorhanden gewesen. Todd hatte die Beine angezogen und drückte sie wieder vor. Mit den Hacken schabte er dabei quietschend über den Boden. Mehr geschah vorerst nicht. Todd blieb liegen, als wollte er sich ausruhen.
Ich näherte mich ihm vorsichtig. Mein Mißtrauen existierte nach wie vor. Grundlos hatte der Zauberer ihn wohl nicht in diese Welt zurückgeschickt. Neben Todd blieb ich stehen. Er rührte sich nicht, nahm mich nicht zur Kenntnis und zeigte mir weiterhin seinen Rücken. Als er sich noch in der Wand befand, hatte ich die Qualen auf seinem Gesicht gesehen. Und Qualen bedeuten Leben, demnach war er nicht tot in unserem Sinne. Da ich ihn nicht erschrecken wollte, ließ ich meine Beretta stecken, als ich mich bückte. Meine Hand ergriff seine Schulter. Ich zog ihn zu mir heran, so daß er von der Seite her auf dem Rücken rollte und dort auch liegenblieb. Sein Gesicht hatte sich nicht verändert. Vielleicht war die Haut blasser und grauer geworden, ansonsten fiel mir eine Veränderung nicht auf. Die Augen waren halb geschlossen. Dann bewegten sich die Lippen, aber kein Atem drang über sie hinweg. Das sagte mir genug. Ich sprang zurück - und stolperte, weil plötzlich eine Hand meinen Fußknöchel umklammerte und festhielt. Mason Todd hatte eine günstige Gelegenheit abgewartet und mich tatsächlich kalt erwischt. Mit dem Hinterkopf prallte ich auf eine Sessellehne, die glücklicherweise ein dickes Potster aufwies. Dennoch war ich abgelenkt und gab Todd Gelegenheit, mich anzugreifen. Er hatte sich aufgestützt, sein Maul geöffnet und wirkte so, als wollte er seine kräftigen Zähne in meine Wade schlagen und dort ein Stück herausreißen. Ich trat schneller zu, als er zubeißen konnte. An der Stirn erwischte ihn meine Hacke. Todd kippte wieder zurück, rollte sich herum, zog die Beine an und stand auf. Bis auf die Knie ließ ich ihn kommen. Da stand ich schon vor ihm, die Beretta gezogen. Nein, es war kein Mensch vor mir. Die Gestalt hatte sich durch die Magie des Zauberers in eine lebende Leiche verwandelt. Er war der perfekte Zombie. Als er mich greifen wollte, drückte ich ab. Es tat mir verdammt weh, doch ich sah keine andere Chance. Die Kugel erwischte ihn voll. Der Untote fiel zurück und rührte sich nicht mehr. Das untote Dasein war ihm genommen worden. Vor mir lag ein echter Toter. Ich schaute dorthin, wo er aus der Wand gedrungen war. Nur ein Blutgerinsel zeichnete sich dort ab, mehr nicht. Jetzt stand ich allein gegen einen gefährlichen und leider auch unsichtbaren Gegner. Vielleicht war es auch ein Vorteil, denn Todd wäre mir keine große Hilfe gewesen. Es hatte aufgehört zu regnen. Dampfwolken stiegen vom noch heißen Boden in die Höhe. Ein Wetter wie früher in einer Waschküche.
Leer war das große Haus. Ich durchsuchte es zum erstenmal, fand nirgendwo Spuren und überlegte, ob ich nicht doch in den Garten gehen sollte. Es mußte doch eine Möglichkeit geben, die Mondrian herlockte. Wieder im Wohnraum, beschäftigte ich mich mit dem Gedanken, die Magie umzukehren. Wenn ich das Kreuz aktivierte, schaffte ich ein weiteres Kraftfeld, das dem anderen entgegenwirkte. Das Kreuz war sehr stark. Ich ging davon aus, daß es das andere besiegte. »Gratuliere, Mensch, du hast es geschafft!« Die Stimme wehte als geheimnisvolles Wispern durch den Raum. Obwohl ich niemand sah, wußte ich, daß der Zauberer gesprochen hatte. »Hallo, Mondrian. Du hast gut beobachtet.« »Das habe ich in der Tat.« »Und was willst du jetzt machen?« »Ich? Du bist an der Reihe. Ich kann mir vorstellen, daß du gewisse Wünsche hast.« »Stimmt.« »Was willst du also?« »Ganz einfach. Ich möchte dorthin, wo Mason Todd hergekommen ist. Ich will alles kennenlernen, besonders gut die Vergangenheit dieses Bluthauses. Ist das zuviel verlangt?« »Nein, eigentlich nicht.« »Dann darf ich mich jetzt schon bedanken.« Mondrian lachte humorlos aus dem Unsichtbaren heraus. »Ich weiß nicht, ob du dich noch bedanken willst, wenn du erlebst, welche Geschichte dieser Friedhof hat.« »Mich hat die Geschichte schon immer interessiert.« »Ich habe sie dir gesagt.« »Das reicht mir nicht.« »Aber mir. Sei versichert, ich habe das Haus wieder unter Kontrolle genommen, und so wird es bleiben. Du kannst es abreißen lassen, du kannst es verbrennen, du wirst die Magie nicht zerstören können. Sie bleibt hier, denn sie ist immer hiergeblieben. Wir haben uns den Besitzer des Bluthauses geholt. Den Ankou hast du vernichtet, dafür sollte ich dir meinen Dank aussprechen. Wir sind jetzt frei und werden die Freiheit zu genießen wissen.« Das hörte sich verdammt endgültig an, und es gefiel mir überhaupt nicht, wenn ich ehrlich sein sollte. Da war einiges nicht nach meinem Geschmack gelaufen. Ich rief mehrmals hintereinander den Namen des Zauberers, ohne jedoch eine Antwort zu erhalten. Fr hatte sich wieder zurückgezogen. Wohin? In seine Zeit, in seine Sphäre? Die Beretta vertauschte ich mit dem Kreuz. Gedankenverloren schaute ich es an, als es auf meiner Handfläche lag. Über die Konturen wischte
das helle Flimmern hinweg. Ein Zeichen dafür, daß es die andere Magie meldete. Was würde passieren, wenn ich die Formel rief? Riß ich das Zeitloch entzwei, oder würde es sich auch für mich öffnen, damit ich Mondrian auf der Spur bleiben konnte. Es war wohl wichtig, wenn ich ihm in die Vergangenheit folgte. Nur da konnte ich ihm entgegentreten und ihn mit den eigenen Waffen schlagen. In der Mitte des Zimmers baute ich mich auf. Das Kreuz lag ruhig auf meiner Hand. Ich schaute es sehr genau an, konzentrierte mich darauf, holte tief Atem und sprach die Formel, die alles verändern sollte. »Terra pestem teneto — Salus hic maneto!« Wichtige Worte, ein magischer Satz, der seine Wirkung voll in mich hineinstieß. Etwas riß mich weg. Zunächst hinein in die Dunkelheit, dann ins Licht -und dann? Ich konnte es kaum glauben, aber ich war da. Ich stand auf einem Friedhof! *** Unheimlich war er. Düster und geheimnisvoll. Ein Friedhof, der an einem Ort lag, den ich nicht kannte. Dennoch spürte ich, daß es mich in eine andere Zeit verschlagen hatte. Es war nicht einfach, dies zu erklären, das Gefühl stieß aus dem Bauch hervor. Möglicherweise lag es an der Luft, die anders schmeckte, die sauberer war als die in meiner normalen Zeit. An das Haus hatte noch nie jemand gedacht. Es war auch kein flaches Grundstück mit nur Rasenbewuchs, über mir entfalteten sich die Kronen der Bäume. Sie standen wie Beschützer über den alten Grabsteinen, die sich verteilt hatten, aber keinen Kreuzen Platz schufen. Auf die war verzichtet worden. Ich ging über den Friedhof. Der weiche Boden verschluckte meine Schritte. Wege gab es nicht, hier und da einen Trampelpfad. Die Nacht war sehr dunkel, aber auch warm. Über mir türmten sich die Wolkengebilde. Das Kreuz hielt ich noch immer fest und erfreute mich an seinem matten, seidig schimmernden Glanz. Ich ließ mir den Fall noch einmal durch den Kopf gehen und hakte gedanklich fest, als ich an Ankou, den Friedhofswächter, dachte. In meiner Zeit hatte ich ihn getötet, in dieser Zeit würde er noch leben. Falls ich ihm begegnen sollte, würde ich ihn nicht töten können. Unglaublich .. . Am Rand des Friedhofs sah ich einen alten Bretterzaun. Dahinter wuchs Huflattich.
Meine Gedanken glitten automatisch zurück in meine Zeit. Und natürlich dachte ich an Mondrian, den Zauberer. Er und seine Freunde hatten auf diesem Friedhof ihre letzten Ruhestätten gefunden. Stellte sich die Frage, ob ihre Leichen bereits unter den Grabsteinen lagen oder ihr Tod erst noch eintreten würde. Die Nacht gehörte zu den stillen. Nur die Blätter bewegten sich über mir, wenn der Wind sie berührte. Dann hörte ich jedesmal ein leises Rauschen, als wollten sie mir eine Botschaft vermitteln. Ich hatte mir einen guten Platz ausgesucht und drehte mich um. Der Zaun befand sich jetzt in meinem Rücken. Mein Blick streifte über die Grabsteine. Sie sahen allesamt ärmlich aus. Die Namen waren mit ungelenker Hand eingraviert worden. Bei fast allen sah ich die gleiche Schrift. Es gab wohl nur einen im Ort, der schreiben konnte. Natürlich interessierte mich auch das Dorf. Es mußte Selsey sein, das ich aus meiner Zeit kannte. Sicherlich war es in dieser Periode nur ein Fischerdorf gewesen, das aus einer Ansammlung von kleinen Hütten bestand. Das Rauschen des Meeres war zu hören. Der frische Geruch tat gut. Keine Schwüle, aber auch kein Leichengestank, der auf einen Ghoul hingewiesen hätte. Wenn er tatsächlich der Ankou war und seine Aufgabe ernst nahm, hätte er mir begegnen und mich vertreiben müssen, denn ich gehörte zu denjenigen, die die Ruhe der Toten störten. Ich war als Fremder auf den Friedhof gekommen, hatte hier aber nichts zu suchen. Der Ankou mußte sich provoziert fühlen. Ich entdeckte ihn nicht, als hätte er sich gerade vor mir versteckt, um nur nicht aufzufallen. Bisher war die Nacht still gewesen. Das änderte sich, als Stimmen ertönten. Sie klangen nicht düster oder provozierend, nein, die Menschen schienen mir tatsächlich fröhlich zu sein und ein Fest zu feiern. Wenn mich nicht alles täuschte, kamen sie aus Richtung Selsey. Mir fielen die Worte des Zauberers ein. Er und seine Truppe waren unterwegs, um den Menschen Freude zu bringen. Sie durch Magie und Zauberei zum Staunen zu verleiten, das wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Ausflüge in die Vergangenheit waren mir nicht neu. Schon öfter hatte ich Zeitreisen gemacht und war auch schon mit den Personen konfrontiert worden, die in mir wiedergeboren waren. Das würde hier nicht passieren. Ich glaubte einfach nicht daran, daß mir Hector de Valois über den Weg laufen würde. Mondrian beschäftigte mich viel stärker. Er hatte sich als Zauberer ausgegeben. Personen wie er hatten zu bestimmten Zeiten Hochkonjunkturgehabt. Besonders im frühen Mittelalter und auch in den
späteren Jahrhunderten, wo Herrscher und Potentaten mit allen Mitteln versuchten, den Stein der Weisen zu finden, das künstliche Gold. Es gab zahlreiche Zaubererund Scharlatane, die sich damit beschäftigt hatten, aber Gold war nie hergestellt worden. Dafür hatte ein Mann namens Böttgerdas Porzellan erfunden. Sehr bald schon konnte ich den kleinen Ort sehen und auch über ihn hinweg bis zum Meer schauen, wo ein dunkler Teppich wogte, auf dem sich weiße Streifen gebildet hatten, die Schaumkränze der langen Dünungswellen. Das Dorf lag davor. Die Menschen waren noch auf den Beinen. Feuer leuchteten an verschiedenen Stellen. Stimmen und der Klang alter Musikinstrumente wehten zu mir hoch. Nach meiner Zeiteinschätzung erreichte ich den Ort ungefähr eine Viertelstunde später. Bei den ersten Häusern blieb ich stehen. Keine Bauten, mehr Hütten, mit schmalen, niedrigen Eingängen. Ob sie bewohnt waren oder als Ställe dienten, wußte ich nicht, aber in der Nähe einer Hütte sah ich die huschenden Bewegungen. Gestalten glitten durch die Nacht. Sie versuchten, möglichst lautlos zu sein, und bis auf das Blinken ihrer Hieb- und Stichwaffen war von ihnen nicht viel zu sehen. Ich ging davon aus, daß sich die Truppe aus Soldaten oder Söldnern zusammensetzte, und ich erinnerte mich wieder daran, was mir von Mondrian gesagt worden war. In einer Nacht waren sie gefangengenommen und begraben worden. Sollten diese Soldaten ihre Mörder sein? Eine Angewohnheit ließ sich bei mir nicht austreiben. Es war die Neugierde. Wenn es mir gelang, mich anzuschleichen, konnte ich vielleicht erfahren, wie der Hase laufen sollte. Ich duckte mich und nutzte die natürlichen Deckungen aus. Gräben an den Straßen oder Büsche. Ich preßte mich gegen die Rückseite einer Hütte und wartete zunächst ab. Noch tat sich nichts. Keiner sprach, ich wollte schon aufgeben, als eine Tür quietschte. So dicht neben mir, daß ich unwillkürlich zurückzuckte und hoffte, daß mich niemand sah. Ein Soldat verließ die Hütte. Es war kein kleiner Mann. Er trug einen Eederwams vorder Brust, aber keinen Helm auf dem Kopf. Sein Gesicht sah blaß aus. Er schloß die Tür, schaute dabei in meine Richtung, doch er schien mich nicht gesehen zu haben. Er schloß die Tür, drehte sich ab - und sprang plötzlich herum. Er hatte mich doch entdeckt, zog mit einer sicheren Bewegung seinen Säbel und
wurde zu einem Kastenteufel, als er auf mich zustürmte und mich gegen die Außenwand nageln wollte. Ich war schneller. Dicht an meiner Hüfte glitt die Klinge vorbei und ratschte in das Holz. Es war an dieser Stelle dünn, die Klinge fuhr hindurch, blieb stecken, und der Soldat zerrte vergeblich an ihr. Als er den Dolch an seiner Kehle spürte, vereisten seine Bewegungen. Ich stand hinter ihm. Er konnte mich nicht sehen, nur meine Stimme hören und auch die Drohung, die darin mitschwang. »Wenn du sterben möchtest, bewege dich falsch!« Er deutete so etwas wie ein Nicken an. Also hatte er mich begriffen und war hoffentlich geschockt genug, um meine Fragen beantworten zu können. »Was wollt ihr machen? Wer hat euch geschickt?« »Der Herzog von Windsor.« »Und warum?« »Wir werden die Gaukler töten. Ja, wir werden sie vernichten. Das müssen wir tun.« »Weshalb?« »Sie alle haben den Herzog bestohlen und damit das Königshaus. Sie versprachen ihnen Gold, aber sie stehen mit dem Gehörnten in Verbindung. Es sind Teufel.« »Woher weißt du es denn?« »Der Bischof sagte es.« »Wenn das so ist. Was habt ihr vor? Wie wollt ihr es machen?« Bisher hatte er mir die Antwort gegeben, jetzt wurde er bockig. »Ich werde nichts verraten. Wir sind Soldaten des Königs. Ich habe einen Eid geschworen . . .« »Wenn ich dir die Kehle durchschneide, kannst du deinen Eid vergessen, mein Junge.« Er atmete röchelnd, wahrscheinlich schielte er jetzt auf die Klinge. »Wer ... wer seid Ihr?« »Ein Gast.« »Vom König?« »Kann sein.« »Nein, Ihr redet anders. Ihr gehört nicht zum König. Ihr . . . Ihr gehört zu denen da.« »Zu keinem, mein Freund, wirklich nicht. Ich möchte mir nur gern ansehen, welche Künste der Zauberer beherrscht. Er wird sie bestimmt heute vorführen, schätze ich.« »Ja, das macht er.« »Und was kann er alles?« »Er ... er schluckte Feuer, und er läßt Menschen verschwinden. Ich habe es schon gesehen.« »Sonst noch was?« »Jemand hat mir erzählt, daß er Kinder aus den Wiegen holt und sie frißt.« »Das glaubst du?« »Wenn jemand ein Teufel ist, dann tut er so etwas. Die finsteren Mächte sind stark .. .« »Ja, das weiß ich.«
Der Soldat atmete heftig. Er roch nach Erde und Schweiß. »Was willst du mit mir machen?« Ich hatte schon eine Idee. Nicht weit entfernt ballte sich ein Mist- oder Heuhaufen zusammen. »Das ist ganz einfach, mein Freund. Du darfst dich umdrehen.« »Wie?« »Dreh dich um, aber keinen Laut, sonst steche ich dir die Klinge in den Rücken!« Er drehte sich um. Ob er vorgehabt hatte zu schreien oder nicht, würde ich nie erfahren, denn vor seinem Gesicht wuchs plötzlich übergroß meine gekrümmte Hand auf, die dann abdrehte und seinen Hals an der Seite traf. Das verkraftete der Soldat nicht. Sein Gesicht bekam einen dümmlichen Ausdruck, als er zusammensackte. Ich fing ihn auf und schleifte ihn dorthin, wo sich der Misthaufen befand. Sekunden später stank der Soldat ebenso. Ich aber zog mich schnell zurück, weil ich auch damit rechnete, daß die Männer Wachen aufgestellt hatten. Interessant waren seine Ausführungen schon gewesen. Dieser Mondrian mußte verdammt grausam sein. Ich wußte von den Kindesräubern, von diesen alten Geschichten, wo Babies aus den Wiegen gerissen wurden, um sie dem Teufel zu übergeben. Derartige Auswüchse hatte das Mittelalter leider hervorgebracht. Der Gedanke daran ließ mich wütend werden. Für diese Verbrecher konnte wirklich keine Strafe groß genug sein. Es existierte sogar ein Weg, der direkt in das Dorf hineinführte. Die Oberfläche war durch die Abdrücke zahlreicher Räder und Reifen vernarbt. Der Weg interessierte mich nicht, ich wollte einen Bogen schlagen und mich heimlich in das Dorf hineinschlagen. Die Feuer dienten zu meiner Orientierung. Von dort wehten auch die Stimmen herbei und natürlich die Musik, denn die Spieler legten keine Pause ein. Sämtliche Bewohner waren auf den Beinen. Der Dorfplatz diente dabei als Bühne und Zuschauerplatz zugleich. Es waren primitive Holzbänke aufgestellt worden. Die Flammen erreichten dabei als flackernde und zuckende Schattenspiele die Gesichter der auf den Bänken hockenden Menschen. Es gab keinen, der nicht fasziniert auf die Bühne schaute, wo die Artisten und Künstler ihr Programm abzogen. Hinter ihnen brannten ebenfalls Fackeln. Sie steckten in Fässern fest. Der Wind spielte mit dem Feuer. Er bog die Flammen, richtete sie auf, ließ sie wieder kreisen, so daß sie aus den Künstlern schattenhafte Figuren schufen. Ich hatte mich dem Ort des Geschehens genähert und war dann untergetaucht. Zwar nicht mitten auf dem Platz, aber auch nicht zu versteckt. Mir diente ein mit Wasser gefülltes Faß als Deckung. Es stand
zusammen mit zwei anderen in der Nähe eines Pferdestalls, in dem sich die Tiere unruhig bewegten, weil sie der Lärm möglicherweise störte. Die Musiker hatten sich abseits gesetzt. Sie untermalten die Pausen und ließen, als ich Deckung gefunden hatte, ihre Instrumente zunächst einmal sinken. Die Artisten hatten sich zurückgezogen. Sie standen im Dunkeln beisammen, wo sie beratschlagten. Das Programm mußte längst klar sein. Ich war gespannt, was sie tatsächlich vorhatten. Am meisten hoffte ich auf Mondrian, den Anführer und Zauberer der Gruppe. Durch das unruhige Licht gelang es meinen Augen nicht, sich auf die Verhältnisse einzustellen. Ich wurde zu sehr abgelenkt, denn auch in die Reihen der Zuschauer geriet Unruhe. Dann kam er doch! Mondrian hatte seinen Auftritt. Dabei stand er den Stars aus meiner Zeit in nichts nach. Auch er wußte, was er wert war, auch er ließ sich bestaunen und sein Kommen vom dumpfen Klang der Trommeln begleiten. Aus dem Dunkel trat er hervor, aber niemand klatschte. Die Zuschauer regten sich nicht. Auf mich machten sie den Eindruck, als würden sie sich vor dieser Gestalt fürchten. Manche duckten sich sogar, und es gab nicht wenige Frauen, die ihre Kinder schützend neben sich hielten. Mondrian blieb dort stehen, wo sich der Schein der beiden Feuer traf. Auf der Mitte des Podests, das als Bühne diente. Seine Mitstreiter hielten sich im Hintergrund. Ihnen galt mein Interesse. Ich zog Parallelen zur Gegenwart und dachte dabei an die Gestalten, von denen Mason Todd berichtet hatte. Waren es tatsächlich die gleichen? Hier lebten sie. In meiner Zeit waren es nur mehr verweste Leichen, die eigentlich aus Knochenstaub hätten bestehen müssen, denn niemand blieb die Jahrhunderte über halb verfault im Grab. Ungefähr sechs oder sieben Personen zählte ich ohne Mondrian. Darunter befanden sich auch zwei Frauen. Davon hatte mir Mason Todd nichts berichtet. Wahrscheinlich hatte er sie in ihrem Zustand nicht als solche erkannt. Mondrian schritt bis zum vorderen Rand der Bühne. Er war schon äußerlich als Chef der Truppe zu erkennen, denn sein spitzer Hut überragte alle. Das Gesicht kannte ich. Es sah auch jetzt aus, als wäre es aus mehreren Teilen zusammengesetzt worden, die von den Proportionen her nicht zueinander paßten. Die zu dicken Wangen, die klumpige Nase, Augen, die aussahen, als wollten sie jeden Augenblick aus den Höhlen schnellen, lange, spinnengleiche Finger, ein breiter Mund fast ohne Lippen, der verzogen
war wie ein Gummiband und dem Gesichtsausdruck etwas Kasperhaftes gab. Mondrian war nicht besonders groß, wirkte aber größer, denn er besaß ein Aura, der sich die meisten Zuschauer nicht entziehen konnten. Die in der ersten Reihe spürten es besonders. Sie sahen aus, als wollten sie aufstehen und weglaufen. Das bemerkte auch Mondrian. Er verzog das Gesicht noch stärker, als er lachte und danach fragte: »Wollt ihr etwa verschwinden? Habt ihr Angst vor mir?« Natürlich bekam er keine Antwort. Er lachte wieder. »Ja, ihr habt Angst, das sehe ich euch an. Ihr müßt auch Angst haben, denn ich bin etwas Besonderes. Ich bin der Meister, ich herrsche über die Natur. Ich kann mit ihr spielen, ich kann Gesetze durchbrechen, denn ich schaue hinter die Dinge, wenn ihr versteht.« Sie verstanden nicht, was sie durch Schütteln der Köpfe bewiesen. Mondrian lachte. »Das ist aber schade. Dann wollt ihr wahrscheinlich den Beweis bekommen?« Er wartete die Erwiderung nicht ab, sondern nickte sich selbst zu. »Ja, ihr könnt ihn haben. Ich bin bereit, euch diesen Beweis zu liefern. Kommt her, Feuermänner!« Aus dem Hintergrund lösten sich zwei Männer. Sie trugen bunte Flatterkleidung, grinsten breit und warteten darauf, daß ihr Chef sie an bestimmte Plätze stellte. Dann begab er sich zwischen sie, breitete die Arme aus und konnte jeden der beiden mit den Fingerspitzen berühren. Einen Moment später passierte es. Die ersten Zuschauer schrien auf, als plötzlich die Flammen aus Mondrians Fingerspitzen zuckten, sich rasend schnell ausbreiteten und die Konturen der beiden Helfer nachzeichneten. Das Feuer hüllte sie ein. Die beiden hätten verbrennen müssen, aber sie standen da und grinsten nur. Zwischen ihnen hielt sich breitarmig Mondrian auf. Über sein Gesicht huschten die Schatten und hellen Flecke hinweg. Die Augen sahen aus wie böse Kugeln. Dann sanken die Flammen zusammen. Nein, nicht direkt, sie liefen auf ihn zu, über seinen Körper hinweg und zielten dem offenen Mund entgegen, in dem sie verschwanden. Mondrian hatte das Feuer geschluckt! Kein Zuschauer klatschte, niemand sprang in die Höhe, um ihm anderweitig Beifall zu spenden, was Mondrian verwunderte, denn er fragte provozierend: »Hat es euch nicht gefallen?« Natürlich bekam er keine Antwort. Die Zuschauer standen zu sehr unter dem Eindruck des Erlebten.
Mondrian amüsierte sich köstlich. Er schickte seine beiden Helfer wieder weg. Noch immer lachend winkte er eine Frau heran. Sie war klein, besaß eine dunklere Haut, wie ich erkennen konnte. Wahrscheinlich stammte sie nur aus einem südlichen Land. Das Haar trug sie offen. An ihrem Hinterkopf bildete es einen Schleier. Sie schleuderte ihren Umhang ab - und war plötzlich nackt! Damit hatte niemand gerechnet, auch mich überraschte es. In der damaligen Zeit mußte so etwas als Provokation angesehen werden, zudem noch vor den Augen der Frauen und Kinder. Die Mütter reagierten auch, sie hielten ihrem Nachwuchs die Augen zu, während die Männer sitzenblieben, aber dabei unruhig wurden, sich entsprechend bewegten und ihre Blicke nicht von dem Körper wenden konnten. Die Person war nicht groß, doch gut proportioniert. Schwellende Hüften, pralle Brüste, und das dunkle Dreieck der Schamhaare verschwand mit dem Schatten der Feuer. Mondrian hatte eine Hand auf ihre Schulter gelegt. »Ist sie nicht schön?« rief er den Gaffern zu. »Ist sie nicht einmalig, Leute? Schaut sie euch an, schaut genau hin. Sie ist wirklich etwas Besonderes. Ich sehe sie als ein Ereignis an. Ich habe ihr sogar einen Namen gegeben. Ich nenne sie Elvira, die Versuchung.« Da hatte er recht. Elvira war bei seinen Erklärungen unbeeindruckt geblieben. Ihr Lächeln wirkte stereotyp. Die Augen hielt sie weit offen. In den Pupillen tanzte der Widerschein der Feuer. Mondrian amüsierte sich über die Sprachlosigkeit des Publikums. Er sprach die Zuschauer dann direkt an. »Ich wende mich an euch Männer. Wer von euch will auf die Bühne kommen und sich von Elvira versuchen lassen? Wer, frage ich euch?« Er bekam keine Antwort. Ich stand günstig und bekam so manch verstohlene Handbewegung einer Ehefrau mit, als sie ihren Gatten festhielt. Einige trauten den Ehemännern wohl nicht. Der Zauberer hatte seinen Spaß. Bis an den Rand der Bühne war er vorgetreten, wo er sich bückte und so schaute, daß jeder das Gefühl haben konnte, er würde nur ihn ansehen. < »Warum wollt ihr nicht? Seid ihr zu feige, weil eure Frauen dabei sind? Hat euch der Mut verlassen?« Mondrian schüttelte den Kopf. »Das begreife ich nicht. Ihr seid doch sonst nicht so, wenn ihr in die Badehäuser zu euren Huren geht und mit ihnen zusammen in die Zuber steigt, um das Wasser und die Frauen zu genießen. Was ihr macht, finde ich nicht gut.« Er richtete sich wieder auf. »Nun ja, ich habe es mir gedacht. Ja, ich habe damit gerechnet, deshalb wird euch Elvira einiges zeigen, auch ohne euch auf die Bühne zu holen.«
Ich blieb zwar an meinem Platz, schaute allerdings zurück, denn ich dachte an die Soldaten oder Söldner. Ich ging einfach davon aus, daß sie eingreifen würden. Bisher hatten sie sich nicht gezeigt. Möglicherweise wollten sie bis zum Höhepunkt der Darbietung warten. So verfolgte ich die Kunststücke des Zauberers Mondrian, der sich dicht vor Elvira hinstellte und sie anschaute. Seine Hände glitten mit langen Fingern über ihre Haut, und sie berührten wirklich alles, was ihn noch zusätzlich amüsierte. Die Kinder bekamen die Augen zugehalten und durften sie erst wieder öffnen, als Mondrian einen Schritt zurückgetreten war, sich verbeugte und sich dann wieder an die Zuschauer wandte. »Elvira ist die Versuchung, meine sehr verehrten Herrschaften. Und, so frage ich euch, wer ist noch die Versuchung gewesen? Bitte, gebt Antwort. ..« Die Menschen überlegten. Einer war schlau und rief aus der hinteren Reihe: »Die Schlange!« »Ja!« jubelte Mondrian fast. »Es war die Schlange. Sie ist die Versuchung gewesen. Sie gehört einfach dazu. Die Schlange, der Apfel, die schöne Frau. Jeder Mann will sie, aber nicht alle können sie bekommen. Ich, der große Mondrian, werde euch beweisen, daß es keinen Unterschied zwischen der Schlange und der Frau gibt. Daß sie beide zusammengehören, daß sie zwei in einem sind.« Er hatte kaum ausgesprochen, als Elvira ihren Mund so weit wie möglich öffnete. Mit einer tänzelnden Bewegung trat Mondrian vor sie und hob den rechten Ann an. Wie gesagt, seine Finger waren lang und dünn, so lang, daß sie in den Mund der Frau hineingreifen konnten. Es sah so aus, als wollte er nach der Zunge fassen. Das tat er auch. Mit sehr langsamen Bewegungen zerrte er die Zunge aus dem Mund hervor und hatte diese noch leicht gedreht. Dabei lachte er, schaute in das Publikum, zog weiter und zog ... War das überhaupt noch eine Zunge, die er aus dem offenen Mund hervorzerrte? Nein, so sah keine Zunge aus. Nicht so zuckend, nicht so schuppig. Was er zwischen seine Finger geklemmt hatte, war nichts anderes als eine Schlange. Wein, Apfel, Schlange! Vor kurzem hatte er die Verbindung hergestellt. Da hatte er als Theoretiker gesprochen, diesmal bewies er, daß dies auch in der Praxis möglich war. Während sich die nackte Elvira zurückgebeugt hatte und einen Gegendruck verursachte, zerrte Mondrian weiter. So lange, bis er die Schlange aus dem Maul hervorgerissen hatte. Mit einem letzten Ruck
rutschte das Ende über Elviras Unterlippe, die ein wenig den Halt verlor und zurückwankte. Lachend schwenkte Mondrian seine Beute. Er ließ die Schlange kreisen wie ein Lasso. Die Zuschauer fürchteten sich. Nicht wenige zogen die Köpfe ein, und tatsächlich schleuderte Mondrian seine zuckende Beute von sich. Aber über die Köpfe und Rücken der Leute hinweg. Sie wirbelte davon, klatschte irgendwo in den Dreck, und genau dort, wo sie lag, fauchte plötzlich ein Feuer hoch. Die Flammen schlugen um sich, zischten und sprühten, dann sanken sie zusammen. Aus, vorbei! Niemand rührte sich. Die Menschen waren so entsetzt, daß sie wie erstarrt wirkten. Sie saßen da, schauten nach vorn auf Mondrian, der sich tänzelnd über das Podest bewegte und Elvira das Kleidungsstück zuwarf. Sie wickelte es um ihren Körper. »Ich habe es euch gesagt. Die Schlange ist ein Weib! Beide gehören zusammen!« Urplötzlich sprang jemand auf. Es war ein älterer Mann mit Kinnbart. Er hob den Arm und ballte die Hand zur Faust. Mit dieser Drohgebärde wandte er sich an Mondrian. Seine Stimme hallte der Bühne entgegen wie ein Trompetenstoß. »Das war Gotteslästerung!« brüllte er. »Dafür wirst du in der Hölle schmoren, Verfluchter. Der Herrgott läßt sich nicht ins Handwerk pfuschen.« Mondrian hatte die Worte gehört und amüsierte sich darüber. Er bewegte sich auf dem Holzboden wie der Hofnarr eines Königs, der seinen gesamten Spott, die Ironie und den Zynismus zum besten geben wollte. Linkische Verbeugungen wechselten sich ab mit Grimassen. Er streckte ihnen sogar die Zunge entgegen. Sie sah aus wie ein schwarzer verkohlter Klumpen. »Ich in der Hölle schmoren, du Narr?« »Ja, du!« »Kannst du dir vorstellen, daß ich mich darauf freue? Ja, ich freue mich auf die Hölle.« »Er ist der Teufel!« Die Frau, die diesen Satz geschrien hatte, sprang auf und bekreuzigte sich. »Das kann kein Mensen sein. Es ist der Gehörnte in der Verkleidung.« »Ha, ha!« lachte Mondrian dumpf dazwischen und hob dabei seinen Mantel an. »Bin ich tatsächlich der Teufel, der Gehörnte? Da, schaut hin! Habe ich einen Bocksfuß? Habe ich Hörner, die aus meiner Stirn wachsen? Nein, ich habe beides nicht.« Die Frau ließ sich nicht beirren. »Der Teufel in Verkleidung. Du bist der Teufel in Verkleidung.« Mondrian hörte auf zu lachen. »Auch das bin ich nicht, obwohl ich zugeben muß, daß mir der Teufel nicht unsympathisch ist. Er ist mächtig, wie ihr wißt. Er hat mir die Kraft gegeben, denn er mag außergewöhnli-
che Menschen wie mich. Ich bin ein Zauberer, ein Magier. Ich ziehe den Menschen die Schlange aus dem Mund. Willst du nicht auch kommen, Frau? Willst du nicht hoch zur Bühne und deinen Mund öffnen, damit ich dir auch die Zunge als Schlange herausziehen kann?« »Nein, ich komme nicht. Aber dir, Verfluchter wird man die Zunge mit einer glühenden Zange aus dem Rachen ziehen. Dich trifft das Strafgericht des Herrgotts!« Mondrian winkte mit beiden Händen ab. »Wer ist das schon? Ich bin der Meister.« »Du wirst bald . . .« »Komm doch schon, Frau! Komm doch. Vielleicht findest du gefallen am Teufel. Er liebt die Hexen, das brauche ich euch nicht zu sagen. Möchtest du gern eine Hexe sein und mit dem Satan buhlen? Er würde sich freuen, wenn du dich ihm nackt zeigst.« Mondrian war über das Ziel hinausgeschossen. Das mußte er einfach merken, denn die Stimmung schlug gegen ihn um. »Gut«, sagte er und bewegte beide Hände kreisförmig, als wollte er sie Zuschauer mit diesen Gesten hypnotisieren. »Vergessen wir es. Kommen wir zu den Dingen, die ich als großen Schluß für euch ausgesucht habe. Es wird wunderbar werden, das kann ich euch versprechen.« »Nein!« Der Bärtige sprach gegen ihn. »Du wirst nichts mehr tun! Diese Frau hat recht gehabt. Du bist nicht besser als der Teufel. Du bist ebenso schlimm.« Mondrian freute sich. Er riß die Arme in die Höhe und lachte breit. »Danke, daß du so etwas gesagt hast. Ich fühle mich nämlich stolz und geehrt.« Der Mann spie aus. »Wie kann man sich als Mensch nur stolz und geehrt fühlen, wenn man mit dem Gehörnten verglichen wird?« »Oh, das will ich dir sagen, mein Freund. Der Teufel liebt mich. Er hat mich unter seinen schützenden Mantel genommen, wenn du verstehst. Er ist nicht nur mein Freund, er ist mein allerbester Freund, das kann ich dir sagen.« Der Bärtige nickte, hörte dann auf und legte den Kopf schief. »Und er wird dir immer helfen?« »Natürlich. Das hat er versprochen.« »Ich möchte es herausfinden.« Mondrian verbeugte sich spöttisch in seine Richtung. »Bitte sehr, mein Freund, du kannst es herausfinden. Wenn du Mut hast, tritt auf die Bühne und komm zu mir.« Danach wurde es still. Die Forderung war gesprochen worden. Jetzt kam es darauf an, wie der andere reagierte. Besaß er tatsächlich den Mut, die Bühne zu betreten? Wenn ja, wie mutig oder weniger mutig würde er sich verhalten?
Noch tat er nichts. Die Forderung stand, er dachte nach, schaute in die Runde, weil er sich von anderen Personen Hilfe erhoffte. Aber es war niemand da, der ihn ermunterte. Auch ich hielt mich zurück, denn ich wollte meine Identität nicht zu früh preisgeben. Der Bärtige geriet ins Schwitzen. Unsicher trat er von einem Fuß auf den anderen. Mondrian amüsierte sich darüber. »Na, hast du dein Maul zu voll genommen? Willst du jetzt kneifen, mein Freund? Der Teufel nimmt jeden, er ist wirklich froh, wenn er sich mit einem Menschen unterhalten kann. Er wird auch jeden bekehren, das kann ich dir versprechen. Ich habe mich immer darüber gefreut, wenn ich ihm eine neue Seele zuschicken kann. Oder sollen wir dich holen?« Die Zwickmühle zog sich immer mehr zusammen. Der Mann wußte wirklich nicht, was er tun sollte. Aber er wollte sein Gesicht nicht verlieren. Seine Nickbewegung wirkte sehr entschlossen. An zwei Zuschauern mußte er sich vorbeischieben, um den Weg erreichen zu können, der direkt zur Bühne führte. Seine ersten Schritte waren noch sehr fest und starr, die nächsten aber setzte er langsam. Hinter Mondrian standen seine Helfer. Im Widerschein des Feuers wirkten ihre Gesichter wie Masken, die mal lebten, um einen Moment später wieder starr zu sein. »Soll ich dir helfen?« Mondrian streckte dem Mutigen die Hand entgegen. Der aber schüttelte nur den Kopf. Mit einem Sprung hatte er die Bühne erreicht und blieb vor dem Zauberer stehen, der gegen ihn wie ein Zwerg wirkte. »Hier bin ich«, sagte Mondrian. »Jetzt kannst du versuchen, ob ich mit dem Teufel im Bunde stehe.« Der Bärtige nickte, bevor er sein Hemd aufriß, so daß ein großer Ausschnitt entstand. In dessen Mitte und auf der Brust zeichneten sich die Umrisse eines Holzkreuzes ab. »Schau es an!« brüllte der Mann. »Schau auf das Kreuz, Teufelshelfer!« Der lachte nur - und stieß seine Hand vor, an der die Finger dicht zusammengelegt waren. Er traf. Das letzte Wort des Mutigen erstickte in einem dumpfen Gurgeln. Er riß den Mund weit auf. Ein Blutstrom schwappte über seine Lippen. Das Zeug rann über das Kinn, dann den Hals entlang und verschmutzte die Kleidung. Der Mann kippte langsam zur Seite. Es war niemand da, der ihn auffing. Als Toter und mit einer gewaltigen Wunde auf der Brust fiel er zu Boden. Dicht vor den Zuschauern der ersten Reihe blieb er liegen.
Auch mich hatte dieser Vorgang überrascht. Mit einer derartigen Tat hatte ich zwar rechnen müssen, aber nicht damit, daß sie so schnell erfolgen würde. Mondrian machte der Mord nichts aus. Seine Haltung verriet Triumph. Er hatte den rechten Arm in die Höhe gestoßen und präsentierte den geschickten Zuschauern die Mordhand. Die sah aus wie Stein oder wie Metall. Und seine Fingerspitzen hatten tatsächlich die Funktion von Messern übernommen. »Nun, ihr Ungläubigen?« rief er. »Habe ich euch nicht gesagt, daß der Teufel seine schützende Hand über mich gelegt hat? Wer will noch zu mir kommen? Wer will erleben, wie ich ihn umbringe? Ja, der Teufel ist überall, und er ist in euer Dorf gekommen, um hier durch mich seine Zeichen zu setzen.« Er breitete die Arme aus und beugte sich vor. »Das hier war der Anfang. Ich will euch eine andere Geschichte erzählen oder euch daran erinnern. Wißt ihr nicht, daß sich der Satan gern die kleinen Kinder und deren Seelen holt? Ist euch das nicht bekannt? Oft genug stand geschrieben, daß der Teufel kleine Kinder schluckt.« Er verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ja, er frißt sie, denn sie geben ihm Kraft. Wer es mir nicht glaubt, wird es bald bestätigt bekommen. Elvira ist gegangen, ihr habt es nicht bemerkt. Aber sie wird jeden Augenblick zurückkommen, und sie wird sich ihrer Beute sicher sein, das könnt ihr mir glauben.« Ich hatte jedes Wort verstanden und richtete mich auf das Schlimmste ein. Zugeben mußte ich, daß er seinen Auftritt gut getimt hatte. Denn kaum hatte er seinen Satz beendet, als Elvira tatsächlich erschien. Jenseits des Feuers und aus dem Dunkel huschte sie wie ein Schatten heran und sprang auf die Bühne. Nicht allein. In ihrer rechten Hand hielt sie ein Kleinkind, das anfing zu schreien. Das nackte Entsetzen verschlug den Menschen die Sprache. Sie hatten miterleben müssen, wie grausam der Zauberer Mondrian gewesen war. Ein starker mutiger Mann hatte den Tod gefunden. Dem Teufel und seinen Helfern war es egal, wer umkam, ob Mann, Frau oder Kind. Ihm ging es allein um die Seelen der Menschen. Sie hielt es hoch und zeigte es jedem, auch der Mutter, die sich unter den Zuschauern befand. Ohne Vorwarnung bekam die Frau einen Schreikrampf. Sie schaffte es aber nicht, aufzustehen und auf die Bühne zu springen. Sie saß da und schrie sich fast die Seele aus dem Leib. Ich hatte erlebt, wie schnell und grausam der Zauberer handelte. Diesmal wollte ich keine Zeit verlieren. Meine Deckung hatte ich verlassen und war bereits in den Widerschein des Feuers gelangt, hätte jetzt gesehen werden können, aber die Zuschauer schauten einzig und allein auf die Bühne, als wären ihre Köpfe festgedreht worden.
Elvira ließ das Kind langsam sinken. Erst sah es so aus, als wollte sie es ablegen, dann aber schleuderte sie es blitzschnell auf Mondrian zu, der es auffing und wieder in die Höhe stemmte, wobei er triumphierend lachte. Er legte seinen Kopf zurück, ohne sich um das verzweifelte Schreien des Kleinkinds zu kümmern. Dann riß er seinen Mund auf! Es war klar, was er vorhatte, ein jeder sah es, und sein Gesicht schien nur mehr aus Maul zu bestehen. Ich hatte den Ankou vernichtet, ich hatte dafür gesorgt, daß sie wieder aus ihren Gräbern steigen konnten, als Untote, als Zombies, als lebende vermoderte Leichen. Ich trug die Schuld! Und ich wollte etwas gutmachen. Mondrian hatte das Kind umgedreht. Mit dem Kopf zuerst hing es über seinem Maul. Die Mutter jammerte zum Steinerweichen, aber niemand griff ein, die Angst war zu groß. Bis auf eine Ausnahme! Ich brauchte keinen Anlauf, war nahe genug an die Bühne herangekommen und sprang mit einem Satz auf das Podest. »Gib es her!« brüllte ich und schnellte vor... *** Selbst ein Zauberer und Teufelsdiener ließ sich überraschen. Mit dieser Attacke hatte Mondrian nicht gerechnet, denn plötzlich erstarrte er und bewegte nicht einmal die Augenlider. Ich nutzte die Gunst der Sekunde. Mit beiden Händen entriß ich ihm das Kind. Das schreiende Bündel tat mir unheimlich leid. Ich konnte es nicht mehr behalten und schleuderte es auf die Menschen in der ersten Reihe zu, wo es glücklicherweise aufgefangen und an seine Mutter weitergereicht wurde. Jetzt hatte ich freie Bahn. Zum erstenmal begriff Mondrian, daß nicht alles so lief, wie er es sich vorgestellt hatte. Er zog sich zurück, fluchte wütend. Sein Gesicht schimmerte plötzlich grünlich wie die Oberfläche eines giftigen Pilzes, und in den Augen tanzten Funken. Er schickte Elvira vor, packte sie und schleuderte sie mir entgegen. Schon auf dem Weg fing sie an zu kreischen. Es waren Geräusche, die das Blut in den Adern gefrieren ließen. Schrill und sirenenhaft, wobei es ein Wunder war, daß sich ihre Stimme nicht noch mehr überschlug. Aus dem Maul schnellte die Schlange. Sie sollte mich töten. Diese Elvira schien ausschließlich aus Schlangen zu bestehen, die sich unter ihrer
Haut eingenistet hatten. Ob Mensch oder Monster, das war bei ihr wirklich die große Frage. Die Schlange schlug nach meinem Gesicht, um sich irgendwo an der Wange festzubeißen. Ich hielt dagegen, zog den Kopf ein und rammte ihn im nächsten Augenblick vor. Noch immer kreischend flog die Frau zurück und polterte dann rücklings auf die Bohlen. Die Schlange schaute aus ihrem Maul hervor wie ein krummer Pfeil. Ich war versucht, zu schießen, da kam sie wieder auf die Füße und sprang mich an. Sie war geschickt. Diesmal fegten ihre Füße zuerst auf mich zu, aber sie trafen nicht nur meine Hände, sondern auch das Kreuz, das ich festhielt. Das Kreuz gegen die Schlange, gegen das Böse. Elvira war der Verdammnis geweiht. Aus ihrem Maul drang ein furchtbarer Schrei, als ihr Körper plötzlich von einem sprühenden Flammenvorhang umweht wurde. Kleine Explosionen erzeugten zuckende Lichter. Vor meinen und den Augen der anderen zerfiel sie auf dem Podest zu Asche, und keine Schlange schaffte es mehr, mich oder einen anderen anzugreifen, denn das Licht des Kreuzes hatte alles vernichtet. Mondrian war mit seinen Helfern zurückgewichen. Am seitlichen Rand des Podestes hatten sie sich aufgebaut. Ich aber konnte nicht mehr eingreifen, denn aus der Zukunft kommend, durfte ich die Reihenfolge der Ereignisse nicht unterbrechen. Mein Kampf mit Elvira hatte höchstens zehn Sekunden gedauert. Eine zu kurze Zeitspanne, um von allen Zuschauern wahrgenommen zu werden. Die meisten hatten bestimmt nicht mitbekommen, was hier eigentlich im einzelnen abgelaufen war. Bevor sich meine Gegner versahen, war ich wieder verschwunden. Ein Sprung brachte mich von der Plattform, dann huschte ich zur Seite und tauchte ein in das Dunkel. Ich blieb ungefähr dort stehen, wo ich hergekommen war und konnte mich an diesem Platz auch besser umschauen als'die Leute auf den Bänken. Es hatte sich etwas verändert. Nicht weit entfernt lauerten die Soldaten. Von allen unbeoachtet war es ihnen gelungen, in die Nähe des Geschehens zu gelangen. Ob sie genau erkannt hatten, was dort abgelaufen war, mußte zunächst einmal abgewartet werden. Um mich kümmerten sie sich nicht. Ich hatte mich auch dort hingestellt, wo ich so schnell nicht gesehen wurde. Natürlich war ich gespannt darauf, wie es weiterging, denn Mondrian, der große Zauberer, hatte verloren. Er mußte etwas unternehmen, wollte er bei seinen Leuten noch so etwas wie eine Chefrolle übernehmen.
Meine Aktion hatte ihn tief geschockt, denn er rührte sich zunächst nicht. Darin unterschied er sich in nichts von seinen anderen Helfern. Erst nach einer Weile und nach den Blicken auf die regungslos sitzenden Zuschauer ging er vor. Selbst das Baby schrie nicht mehr, so waren die Echos seiner Schritte auf den Holzbohlen sehr gut zu hören. Da er den Kopf gesenkt hielt, kam er mir noch zwergenhafter vor. Über sein Gesicht mit den Glotzaugen tanzte der Feuerschein, er starrte die verbrannten Reste an und konnte nicht glauben, daß seine Elvira erledigt war. Neben den Überresten blieb er stehen. Zuerst hörten wir ihn alle, dann verstummte das Geräusch, und aus seinem Maul drang ein irres, wütendes Schreien, das die Stille der Nacht brutal aufriß und plötzlich einen anderen Klang bekam. Viel heller, schmetternder. Ich wunderte mich darüber. Sekunden danach wußte ich Bescheid. Nicht der Zauberer hatte dieses Geräusch ausgestoßen, dafür einer der Herolde, denn er hatte zum Angriff der Söldner geblasen. Auf einmal waren sie da. Der Boden vibrierte unter den Hufen der Pferde. Er zitterte, und das gewaltige Geräusch war wie ein Donner, der sich durch die Stille des Dorfes pflanzte. Der Zauberer schrie. Beide Hände streckte er den Angreifern entgegen, die auch keine Rücksicht auf die Zuschauer nahmen. Wer sich nicht retten konnte, wurde überrannt oder überritten. Die meisten schafften die Flucht. Lanzen flogen, Pfeile schnellten von scharf gespannten Sehnen. Als einer der ersten erwischte es den Zauberer. Die Lanze war zwischen seine ausgestreckten Arme hindurchgefegt und wuchtete derart mächtig in seine Brust, daß sie an der anderen Seite wieder hervortrat. Mondrian sah aus, als wäre er aufgespießt worden. Aber er hielt sich auf den Beinen. Die Lanze in seinem zwergenhaften Körper sorgte für eine Verteilung der Schwerkraft. Er sah so aus, als würde er über dem Boden schweben, und als er kippte, fiel er nicht auf die Bohlen, er blieb in einer schrägen Haltung, denn die Spitze der Lanze stemmte ihn auf den Bohlen ab. Mondrian sah in diesem Moment aus wie sein eigenes Denkmal. Noch immer sirrten Pfeile heran, trafen Körper oder hackten das Holz der Bühne auf, wo die Mitglieder zumeist flach auf den Bäuchen oder Rücken lagen. Wieder übertönte ein Trompetenstoß die Geräuschkulisse dieser Blutnacht.
Der Angriff war beendet, die Söldner hatten gesiegt. Die Bühne war von ihnen umstellt worden. Ich hielt mich weiterhin im Hintergrund als Beobachter verborgen und wartete, was geschehen würde. Von den Dorfbewohnern zeigte sich ebenfalls niemand. Sie hätten den Soldaten eigentlich dankbar sein müssen. Andererseits gehörten Soldaten und Söldner gerade zu den Menschen, die ihre Siege auf eine gewisse Art und Weise feierten, indem sie sich betranken und sich an den Menschen schadlos hielten. Mädchen und Frauen wurden von ihnen vergewaltigt, sie plünderten auch gern, und ich konnte die Menschen verstehen, daß sie nicht vor Dankbarkeit zerflossen. Zwei hochgewachsene Männer stiegen von ihren Pferden und betraten die Bühne. Sie blieben dort stehen, wo die regungslosen Körper lagen. Der Reihe nach kontrollierten sie die Gestalten, ob noch jemand am Leben war. Die hätten ihn dann getötet. Es rührte sich keiner mehr. Mondrian stand noch immer in seiner unnatürlichen Lage. Über sein Gesicht huschte der Schatten der Flammen. Einer der Männer lachte laut auf, als er die Lanze aus dem Körper des Zauberers entfernte. »Packt sie!« brüllte er dann, schaute auf den Zwerg nieder und spie dicht neben ihm aus. »Ladet sie alle auf einen Karren, und schafft sie zum Friedhof.« Es dauerte nicht lange, da hörte ich das Malmen der Räder auf dem trockenen Boden. Zwei Männer aus dem Dorf hockten auf dem Bock des Wagens, der von zwei braunen Pferden gezogen wurde. Die Tiere scheuten, sie spürten den Geruch des Todes und auch den Blutgeruch. Vier Soldaten nahmen die Pferde an die Kandare, damit sie stillhielten und die Leichen aufgeladen werden konnten. Unter Aufsicht der Soldaten mußten das die Bewohner des Dorfes übernehmen, und selbst die Frauen wurden eingespannt. Leiche auf Leiche flog auf die Ladefläche, über die nicht einmal eine Plane gedeckt wurde. »Kommt alle mit!« brüllte der Anführer der Söldner. »Los, kommt mit zum Friedhof! Nehmt Fackeln mit! Wir werden sie in die großen Gräber werfen. Und wenn das Begräbnis beendet ist, werden wir zusammen feiern, das kann ich euch sagen.« Die Söldner johlten, die Bewohner aber schwiegen. Auf sie wirkte die Ankündigung des Festes mehr wie eine Drohung. Wenig später machten sie sich auf den Weg zum Friedhof. Ich aber begleitete sie dabei, ohne allerdings von ihnen entdeckt zu werden . . . Auf jeden Fall wollte ich mir das Begräbnis mit anschauen... ***
Die unteren spitz zulaufenden Enden der brennenden Pechfackeln waren in die weiche Erde des Totenackers gerammt worden, und die Flammen sorgten dafür, daß der Friedhof in einen tanzenden und zuckenden Lichtschein getaucht wurde. Das Feuer sorgte für eine unheimliche Atmosphäre. Dabei blieb er auf ein bestimmtes Feld konzentriert, und zwar dort, wo bereits mehrere Gräber geschaufelt worden waren. Auch in diese Löcher glitt der Fackelschein hinein, ohne sie allerdings immer bis zum Grund ausfüllen zu können. Der größte Teil blieb im Dunkeln. Ich hielt mich am Rand auf, immer geschützt von Bäumen oder Unterholz. Bisher hatte mich noch niemand gesehen. Der Karren war wieder weggefahren worden; die Leichen hatte man abgeladen. Sie lagen in Reih und Glied vor den Gräbern. Ich zählte acht Tote. Unter ihnen befand sich auch Mondrian, der Zauberer. Er hatte seinen Platz ungefähr in der Mitte gefunden, das Gesicht wirkte noch bleicher als sonst. Die Brust war von einer tiefen Wunde aufgerissen worden. Blut allerdings sah ich nicht. Die Söldner ließen sich das Kommando nicht aus der Hand nehmen. »Los, packt sie!« lauteten die Befehle. »Packt sie und werft sie endlich in die Gruben!« Die Leute zögerten noch. Den Umgang mit Leichen waren sie nicht gewohnt. Zwei Söldnern dauerte es zu lange. Mit Lederpeitschen schlugen sie auf die Rücken der Menschen. Ihr Anführer lachte. Ich ballte die Hände zu Fäusten und hatte Mühe, mich zurückzuhalten. Liebend gern hätte ich eingegriffen. Die Leute aus Selsey gehorchten. Es waren die Männer, die sich bückten und die Toten anhoben. Manchmal sah ich den Ausdruck auf ihren Gesichtern, der doch einen ziemlichen Widerwillen zeigte. Mir wäre es nicht anders ergangen. Nicht weit von den offenen Gräbern entfernt türmte sich der ausgehobene Lehm zu kleinen Hügeln hoch. Dahinter standen die Frauen. Mit bangen Blicken schauten sie sich das grausige Geschehen an, beobachtet von manchem Söldner, der darauf wartete, daß das große Fest begann. Da wollte ich nicht in der Haut der Frauen stecken. Aber ich spürte auch etwas anderes. Es war mein Kreuz, das sich »meldeten Über seine Fläche lief ein warmer Hauch, der sich natürlich auf meiner Brust verteilte und mich augenblicklich warnte.
In dieser Umgebung mußte eine schwarzmagische Bedrohung vorhanden sein! Äußerlich nicht sichtbar, nur mein sehr sensibles Kreuz spürte sie. Auch in dieser Zeit war Sommer. Es drückte die Luft, kaum ein Lüftchen wehte. Die Männer hatten die Leichen in die entsprechenden Gräber geworfen und wurden von den Söldnern angetrieben, die Gruben wieder zuzuschaufeln. »Und nicht so faul, schließlich haben wir euch von diesem Zauberer befreit!« Schaufeln steckten bereits in den Lehmbergen. Kräftige Hände griffen zu, und schon wenig später flogen die ersten Brocken wieder zurück in die Gräber. Es würde eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, bis die Gruben zugeschaufelt waren, so konnte ich mich um die Dinge kümmern, die für mich wichtig waren. Grundlos hatte mich das Kreuz nicht gewarnt. Wo also hielt sich die Gefahr verborgen? Und noch eine Frage beschäftigte mich. Wer verbarg sich dahinter? Weder die Soldaten noch die Bewohner von Selsey konnten auf ihre Umgebung achten. Es mußte schon mit dem Teufel zugehen, wenn sie mich, den Fremden, erwischten. Auf der Bühne hatten sie mich erlebt. Da war ich hochgesprungen und hatte eingegriffen. In ihrer Erinnerung würde ich vorhanden bleiben, und ich wollte die Menschen auch vor der Gefahr bewahren. Der Friedhof war mit dem Gelände, auf dem Todds Haus stand, nicht zu vergleichen. Nicht allein die Gräber bedeckten ihn, auch wuchsen dort, wo ich mich aufhielt, Bäume hoch. Dazwischen stand dorniges und sperriges Unterholz wie eine Wand. Ich konnte mich nicht zurückhalten und steckte mir einige Blaubeeren in den Mund. Sie schmeckten wunderbar und waren noch nicht von der Umwelt gezeichnet. Sehr genau achtete ich auf mein Kreuz. Es war durchaus möglich, daß sich seine Leuchtkraft verstärkte, je nach dem, wie nahe ich dem Zentrum der Magie kam. Aber es tat sich nichts. Ein ruhiges Flimmern lief darüber hinweg und zeichnete die Konturen nach. Hügel wiesen mir die Plätze, wo Menschen unter der Erde lagen. Die meisten Buckel waren mit Gras bewachsen. Einige von ihnen waren auch eingefallen, als hätte jemand mit seinen gewaltigen Füßen auf sie getreten. Das Gras wuchs sehr dicht. Ich schleifte mit meinen Füßen hindurch wie über die Fransen eines Teppichs hinweg.
Plötzlich fiel mir etwas ein. Vielleicht auch deshalb, weil ein bestimmter Geruch in meine Nase drang. Es stank sehr faulig, als wären Gegenstände dabei, allmählich zu vermodern. Ich dachte sofort an einen Ghoul! Plötzlich rann es mir kalt den Rücken hinab. In der Zukunft, von hier aus gesehen in meiner Zeit, hatte ich den Ghoul zerstört. Er war der Ankou gewesen, der Friedhofswärter. In der Vergangenheit aber mußte er demnach noch existieren. Da ere sich aber bis in die Zukunft gehalten hatte, konnte ich ihn jetzt nicht zerstören. Neben einem krumm gewachsenen Baumstamm blieb ich stehen. Über mir breiteten die Blätter ein dichtes Dach. Wenn es Lücken zeigte und ich den Himmel sehen konnte, dann sah ich auch dort den blassen Schein des Mondlichts, das einen Fächer über den Himmel streute. Einige wenige Sterne blinkten als weit entfernte Lichter. Plötzlich traute ich meinen Augen nicht. Die Szene war so unglaubwürdig, daß sie selbst mich erschütterte. Jenseits der Bäume, aber noch dort, wo sich das Unterholz ausbreitete und nur flacher wurde, schwebte eine Gestalt über dem Boden. Ein Geist, ein Gespenst, weil sich das Wesen überaus lautlos bewegte. Es berührte den Untergrund, und es sah trotzdem aus, als hätte es Flügel und würde darüber hinweggleiten. Der Geist des Ankou? Es gab keine andere Alternative. Das mußte er einfach gewesen sein. So etwas hatte selbst ich noch nicht erlebt, daß sich mir ein Ghoul als geisterhaftes Wesen zeigte. Klar, daß ich die Verfolgung aufnahm. Mein Jagdfieber war erwacht, und ich schlug einen kleinen Bogen, um möglichst ungesehen in seinen Rücken zu gelangen. Leider konnte ich mich nicht so lautlos bewegen wie der Geist. Wenn ich lief, raschelte es schon, aber die durchscheinende Gestalt kümmerte sich nicht um mich. Sie ging einfach weiter, als wäre nichts geschehen — und stoppte grundlos. Auch ich blieb stehen und richtete meinen Blick gegen die Rückseite des Geistes, wenn man bei ihm überhaupt von einer Rückseite sprechen konnte. Ich roch den Gestank. Nicht so stark wie im Garten des Mason Todd, aber der Modergeruch wehte mir schon entgegen und breitete sich auch in meinem Mund aus. Einige Male mußte ich schlucken, wollte dann vor -und stoppte meinen Schritt, weil sich der Geist im gleichen Moment umdrehte, um mich anschauen zu können. Er hatte kein Gesicht; es gab keine besonderen Merkmale an ihm. Er war einfach da. Obwohl ich keine Augen an ihm entdeckte, hatte ich den
Eindruck, angestarrt zu werden. Eine Einbildung. Der Schauer auf meinem Rücken war es nicht. Ich hatte die Haltung meines Kreuzes verändert und hielt es jetzt so, daß der Geist es wahrnehmen mußte. Er würde es nicht wagen, näher an mich heranzukommen. Zudem fragte ich mich, was er überhaupt hier auf dem Totenacker wollte. Ihn bewachen? Eigentlich ja, nur hatte er es zugelassen, daß die Sölder in sein Reich eingedrungen waren. Noch nie hatte ich mit dem Geist eines Ghouls kommuniziert, das trat jetzt ein, und ich erlebte abermals eine neue Erfahrung. Der Geist des Ghouls nahm mental Kontakt zu mir auf. »Woher stammst du, Eindringling?« »Das frage ich dich.« Die Antwort wehte wieder durch mein Hirn. »Ich bin der Ankou, ich herrsche über den Friedhof. Ich will nicht, daß jemand Unwürdiger ihn betritt, wenn du verstehst.« »Sind denn die anderen würdig?« »Sie begraben die Toten.« »Ich wollte zuschauen.« Das Gespenst zitterte mit seinen Umrissen, aber es kam nicht vor. Ich hörte wieder seine Stimme und danach die Frage, weshalb mich etwas umgab, über das er nicht hinwegkonnte. Er redete von einer Barriere, die ihm angst machte. Ich sprach von meinem Kreuz und erkundigte mich dann bei ihm, wer er denn sei. Es war kaum zu glauben, aber der Geist des Ghouls wurde auf einmal gesprächig. Ich erfuhr seine Geschichte. Daß man ihn bei lebendigem Leibe begraben hatte, denn nur so konnten die Ankous entstehen, die Friedhofswächter. Aber die Menschen hatten einen Fehler begangen. Sie hätten sich eine andere Person als Ankou aussuchen sollen und keine, die bereits einen Kontakt zu den schwarzmagischen Kräften geknüpft hatte, zwar aussah wie ein Mensch, aber tatsächlich ein Ghoul war, der im Grab nicht verweste, sich sogar von den anderen Leichen ernähren konnte und so die lange Zeit überdauerte. Sein Geist hatte sich abgespaltet, so schrieben es die Gesetze vor, und dieser Geist nahm eben die Aufgabe als Wächter wahr. »Ich bin Geist und Körper«, erklärte er mir. »Ich werde weiter leben und irgendwann einmal, wenn ich nicht mehr will, meinen Körper aus der Erde nach draußen schicken.« Ja, das hatte ich erlebt. Ich unterdrückte eine Antwort und erkundigte mich nach den neuen Leichen. Da hatte ich das richtige Thema angesprochen, denn der Ghoul war rasch dabei. »Sie machen abermals einen Fehler«, erklärte er mir, »denn wiederum begraben sie die Falschen. Dieser Friedhof wird nicht zur Ruhe kommen, das kann ich dir versprechen. Die Toten sind Günstlinge der Hölle, sie können nicht getötet werden. Sie werden auch
keine Nahrung für mich sein, denn sie bleiben als lebende Leichen in den Tiefen der Gräber liegen und werden erst wieder hervorkommen, wenn die Zeit reif ist. Dann werden sie den Menschen begreiflich machen, wer sie eigentlich sind, und die Menschen selbst werden die Hände vor ihre Gesichter schlagen, weil sie das Grauen nicht fassen können.« »Was ist, wenn ich dich vernichte?« Der Geist gab sich sehr sicher. »Das wirst du nicht schaffen. Keiner kann den Geist töten.« »Vielleicht«, gab ich zu. »Bestimmt nicht jetzt, doch es wird eine Zeit kommen, wo es anders aussieht.« Ob der Geist eines Ghouls verunsichert sein konnte, wußte ich nicht. Mir jedenfalls kam er so vor, weil es eine Weile dauerte, bis seine Antwort in meinen Gedankenapparat drang. »Du solltest dich hüten, mich anzugreifen. Es ist nicht gut, wenn jemand den Ankou vernichtet, denn er hält das Böse, das Schreckliche eines Friedhofs, unter Kontrolle. Denke daran, auch wenn du noch so mächtig bist und es schaffen könntest. Vernichte keinen Ankou, es wäre auch dein Untergang, denn die anderen Kräfte kämen frei.« Daß der Geist nicht gelogen hatte, war mir klar. Ich selbst hatte es am eigenen Leibe erlebt, denn in meiner Zeit hatte ich den Ghoul vernichtet und der Horde um Mondrian freie Bahn verschafft. Sollte ich dafür in der Vergangenheit büßen? Ich schaute den Geist an. Und plötzlich war mir klar, daß ich alles so lassen mußte. Auch wenn ich ihn hätte zerstören können, es wäre nicht gegangen. Die Lösung der Probleme fand ich nicht hier, nur in meiner Zeit. Dorthin mußte ich wieder zurück. Ich hob den linken Arm. Es war eine Geste, die einen Abschiedsgruß dokumentieren sollte. »Ich weiß, daß wir Feinde sind. Ich kann keinen Ghoul und auch nicht dessen Geist akzeptieren. Ich hätte dich vernichten müssen, aber es ist diesmal anders. Deinen Körper werde ich wiedersehen. Wie es mit dem Geist ist, weiß ich nicht.« Nach den letzten Worten zog ich mich zurück. Ich ging rückwärts. Auch der Geist des Ankou bewegte sich. Er huschte wie ein bleiches Leichentuch zur Seite, drang in ein Gebüsch ein und wurde von ihm verschluckt, als hätte es ihn nie gegeben. In guter Deckung blieb ich stehen, schaute schräg gegen den Himmel und dachte über die unheimliche Begegnung nach und auch darüber, daß ich immer wieder etwas Neues erlebte und die schwarzmagische Seite mit Überraschungen nicht sparte. Als ich die Stimmen der Söldner hörte, kam es mir vor, als wäre ich aus einem tiefen Traum gerissen worden. Ich atmete einige Male durch und
dachte daran, daß es für mich Zeit wurde, wieder zurückzukehren. Hier hatte ich nichts mehr verloren. Zuvor jedoch wollte ich nachschauen, wie weit die Menschen aus Selsey mit ihrer makabren Arbeit fortgeschritten waren. Hören konnte ich sie, sie zu beobachten war schon schwieriger, denn ich mußte einen Bogen schlagen, um an sie heranzukommen. Dumpfe Geräusche irritieren mich. Wenig später erkannte ich den Grund. Männer und Frauen waren dabei, den Boden der zahlreichen Gräber mit den flachen Seiten ihrer Schaufeln plattzuschlagen. Die Söldner schauten zu. Manche hatten die Köpfe zusammengesteckt, flüsterten miteinander, wobei sie ihre Geräusche hin und wieder durch ein hartes Lachen unterbrachen. Ich konnte mir vorstellen, über was sie gesprochen hatten. Sicherlich über die Dinge, die sie anschließend durchziehen wollten: die wilde Feier, vor der sich nicht wenige Bewohner des Ortes fürchten mußten. Irgendwie juckte es mich. Ich wollte ihnen allen noch einmal eine Überraschung bereiten und mich zeigen, bevor ich das Kreuz aktivierte und damit meine Rückkehr einleitete. Aus dem Hintergrund trat ich hervor. Diesmal nicht bemüht, leise zu gehen. Ich zeigte mich, und es dauerte nicht lange, bis mich die ersten Söldner sahen. Ich hörte einen leisen Ruf, der dem Anführer galt. Der Mann fuhr herum. Er war eine mächtige wilde Erscheinung. Sein dunkler Bart wucherte in seinem Gesicht wie Gestrüpp. Auf seinem Kopf trug er eine Kappe, die aussah wie Leder. Ich ging direkt auf ihn zu. Er starrte mich an, wußte nicht, was er sagen sollte. Wahrscheinlich irritierte ihn meine Kleidung zu stark. Als er ausatmete, schallte mir ein pfeifendes Geräusch entgegen. Er hob die Hand, griff aber nicht zur Waffe und wartete, bis ich stehengeblieben war und ihm zugenickt hatte. »Wer bist du, Fremder?« »Du kannst mich John nennen.« »Wo kommst du her? Aus Selsey?« »Ja.« »Kennt ihr ihn?« schrie er den Bewohnern zu. Sie schüttelten nur die Köpfe. Mein Lächeln fiel fröhlich aus. »Ich komme aus einer anderen Zeit«, erklärte ich. »Und möchte sagen, daß ihr auf die Feier verzichten sollt. Ich habe mit dem Ankou gesprochen. Er beherrscht den Friedhof, und er wird jeden von euch vernichten, der einem anderen Menschen ein Leid antut. Habt ihr verstanden?«
Das hatten sie wohl, allein, es fehlte die Antwort. Sie schauten sich an und warteten darauf, ob der Anführer etwas unternehmen würde. Der reagierte so, wie ich es mir gedacht hatte. »Packt ihn!« brüllte er. Es war klar, daß ich gegen die geballte Macht der Söldner nichts anrichten konnte. Da war der Rückzug besser. Ich hielt das Kreuz und sprach die Formel. Als die ersten gegen mich stürmten, riß mich die freigewordene Kraft wieder hinein in den Strom der Zeit, um mich dort auszuspeien, wo ich hingehörte. In die Gegenwart, im Jahre 1990! *** Todds Haus nahm mich auf! Ich sah den Besitzer regungslos auf dem Boden liegen, getroffen durch meine Kugel. Er war als Zombie zurückgekehrt, ich nicht. Aber der Kampf mußte weitergeführt werden. Ich kannte nun die Zusammenhänge. Mondrian und seine Zombies hatten den unheiligen Boden verlassen und würden nicht aufgeben. Der Regen hatte nachgelassen. Der Wind wehte stärker. Er trieb die dünnen Schleier vor sich her und hatte einen glänzenden Film über das Gelände gelegt. Daß die magische Zone nicht aufgehoben war, erkannte ich an der Reaktion des Kreuzes. Noch immer lief ein silbriges Zittern darüber hinweg. Ich spürte seine Wärme, aber es zeigte mir nicht den direkten Weg zum Ziel. Ich ging davon aus, daß Mondrian und seine Zombies wußten, mit welch einem Gegner sie es zu tun hatten. Sie würden sich davor hüten, einen direkten Angriff zu starten, und sie hatten sich auch jetzt zurückgezogen. Mondrian besaß die Macht, denn der Stab, an den ich mich wieder erinnerte, hatte sie ihm gegeben. Durch seine Hilfe war es ihm gelungen, in ein Zeitloch zu verschwinden. Wenn ich ihn ein für allemal stoppen wollte, mußte ich an den Stab herankommen und ihn zerstören. Der Raum, in dem ich stand, hatte den Geruch des Todes angenommen. Ich kann ihn selbst nicht beschreiben, aber wer empfindsam ist, der merkt so etwas. Es war möglicherweise die andere Stille, die zwischen den Wänden lag, und auch die Leiche zählte ich hinzu. Mason Todd hatte bezahlen müssen, weil er nicht stark genug gewesen war, die fürchterliche Magie zu stoppen. Auch ich konnte ihm nicht helfen, was mich wiederum deprimierte.
Ich öffnete die Haustür, keilte sie fest, damit der Windzug sie nicht zuschlug, und trat hinaus in den Regen, der wie Fäden aus den Wolken rann. Über mir türmten sich die Wolken. Der Wind schaufelte sie in Richtung Osten. Den Ort Selsey konnte ich nicht sehen, er lag hinter einem Hügel. Dafür sah ich den Wagen, der über die Küstenstraße fuhr. Seine Scheinwerfer rissen die Nacht auf. Sie schwenkten plötzlich herum, als das Fahrzeug genau in den Weg einbog, der hoch zum Haus führte. Mason Todd bekam Besuch! Ich ballte die Hände. Ausgerechnet jetzt, wo die Zombies lauerten. Außerdem war es eine nicht gerade übliche Zeit, jemand zu besuchen. Die Uhr zeigte nach Mitternacht. Das kümmerte den Fahrer nicht, der sein Auto über den Weg scheuchte, als wollte er ein Rennen gewinnen. Es machte ihm nichts aus, daß er mit den Seiten hin und wieder Zweige ausriß. Auf dem Parkplatz, wo auch mein Rover stand, kam das fremde Fahrzeug zum Stehen. Die Scheinwerfer verloschen. Dafür leuchtete das Licht des Innenraums auf, als die Person den Wagen verließ. Ich stand günstig und erkannte, daß es sich um eine Fahrerin handelte. Eine Frau mit langen, blonden Haaren, die sich durch ein locker gebundenes Kopftuch vor dem Regen geschützt hatte. »He, Mason!« rief sie. »Ich habe gesehen, daß bei dir noch Licht brennt. Ich habe mich verspätet, weil in London noch ein Termin anlag. Los, zeig dich, ich will Champagner trinken. Ich habe einen wahnsinnigen Durst.« Wahrscheinlich hatte die Besucherin mich gesehen, aber nicht erkannt, daß ich ein Fremder war. Ich stand zudem nicht eben im vollen Licht der Außenleuchte, ging aber hinein, als die Frau die Tür fast erreicht hatte. Wie vom Donner gerührt, blieb sie stehen. »He, du bist. . . Sie sind ja gar nicht Mason Todd.« »Stimmt.« »Und wo ist Mason?« Sie schaute sich unsicher und nervös um. »Sie werden nicht mit ihm reden können, Madam.« »Was soll das denn heißen?« Sie sprach nicht aggressiv, eher ängstlich. Als sie rückwärts ging, knarrte das Leder ihrer enggeschnittenen, roten Hose. Dazu trug sie ein Sweatshirt, auf dessen Vorderseite ein blinkender Globus abgebildet war. »Bitte fahren Sie wieder, Madam.« »Was heißt hier Madam. Ich bin Cathy Herman.« »Sony, aber . . .« »Hören Sie mal. Mason hat mich gesponsert. Ich habe den Job, will ich ihm sagen.« »Gratuliere, aber Sie können ihn nicht sprechen. Bitte, Cathy, fahren Sie.«
»Nein.« Sie reckte das Kinn vor. »Ich will nicht. Erst möchte ich wissen, was mit Mason ist. Und überhaupt, wer sind Sie denn? Wie kommen Sie dazu, mich zurückhalten zu wollen.« »Ich bin Polizist!« »Ach du Scheiße, ein Bulle.« »Genau, und ich möchte Sie bitten, sich so schnell wie möglich in den Wagen zu setzen und zu verschwinden.« Das tat sie nicht. Statt dessen stellte sie den rechten Fuß vor den linken und schaute mich musternd an. »Gehören Sie zu dem Knaben, den ich auf der Fahrt hierher gesehen habe?« »Was meinen Sie?« »Da stand einer im Garten. Vielmehr am Rand. Ziemlich klein, schwarz angezogen. Sah aus wie ein Zwerg und trug sogar noch einen spitzen Hut. Wie ein kleiner böser Junge.« Ich war wie elektrisiert. »Wo haben Sie ihn gesehen?« »Na ja, in der Mitte.« »War er allein?« »Klar doch.« Sie kam auf mich zu. »Und jetzt sagen Sie mir endlich, was mit Mason los ist?« »Er ist tot!« »Ah!« Sie würgte das Wort heraus, wurde leichenblaß, faßte sich an den Hals, als wollte sie sich selbst erwürgen. Dann schüttelte sie den Kopf. »Hören Sie, Bulle ...« »Ich heiße John Sinclair.« »Okay, Sinclair. Sie wollen mir hier was erzählen. Mason ist nicht tot, das ist ein Witz!« »Es gibt andere Themen, über die ich Witze mache. Es tut mir leid, aber er ist nicht mehr am Leben.« Die Blondine erbleichte so stark, daß ich Furcht um ihren Gesundheitszustand bekam. »Das darf nicht sein«, keuchte sie. »Verflucht, wieso ist er tot?« »Das ist eine etwas längere Geschichte, Cathy. Jedenfalls wird er nicht mehr Ihr Agent sein.« Ich faßte sie an und drückte sie herum. »Fahren Sie bitte.« »Ja.« Sie sprach wie ein Roboter. »Ich fahre.« »Und ich begleite Sie.« »Wieso? Wohin?« »Bis zum Ende des Grundstücks.« Sie legte ihre Hand auf die Brust. »Glauben Sie daran, daß der Mörder sich noch hier aufhält?« »Wir müssen mit allem rechnen, Cathy.« »Kennen Sie ihn denn?« »Ja.« Mehr sagte ich nicht. Wir hatten ihren Wagen erreicht. Es war ein roter Opel Corsa. Bevor ich die Türen öffnete, schaute ich mich um, ob sich Mondrian und seine Zombies irgendwo zeigten.
Wenn sie lauerten, hatte sie die Dunkelheit des Gartens verschluckt. Da waren sie für mich unsichtbar. Ich wollte die Frau aus einem bestimmten Grund begleiten, weil ich mir vorstellen konnte, daß der Zauberer jemand hinein-, aber nicht herausließ. Jeden Menschen mußte er als lebende Leiche eigentlich als potentielles Opfer ansehen. »Fahren darf ich doch — oder?« »Sicher.« Ich saß neben ihr. Cathys Hände zitterten, als der Schlüssel das Schloß suchte. Sie besaß ein etwas hartes Profil. Es konnte auch an der Anspannung liegen. Es regnete immer noch. Das Kopftuch war verrutscht, und Cathys blondes Haar fiel bis auf den Rücken. Als der Motor endlich ansprang, bat ich sie, das Fernlicht einzuschalten. »Warum denn?« »Es ist besser.« »Wie Sie wollen, Sinclair.« Um den Weg zu erreichen, mußte sie wenden. Das Fernlicht fiel als blaulich-weißes Tuch hinaus in die dunkle Nacht. Es strich über Büsche, Bäume und glitt auch in den schmalen Weg hinein, der in Richtung Straße führte. Dieser Weg war wichtig. Sollten die Zom-bies versuchen, uns zu stoppen, würde es auf der Fahrt zum Tor geschehen. »Wie soll ich denn fahren?« fragte sie und meinte die Worte durchaus ernst. »Langsam? Schnell oder . ..« »Normal.« »Okay.« Sie warf mir einen Bick zu. »Mann, Sie haben mir eine Angst eingejagt. Stimmt das wirklich? Ist Mason tot?« »Ja.« Sie schlug sich mit der linken Hand gegen die Stirn. »Was mache ich denn da?« »Suchen Sie sich einen anderen Agenten.« »Mann, Sie haben Nerven. Als wenn das so einfach wäre.« Ich wechselte das Thema. »Wo haben Sie eigentlich diesen Zwerg gesehen?« Cathy überlegte einen Moment. »Hinter der nächsten Kurve, glaube ich.« »Gut.« »Was haben Sie denn immer mit diesem Zwerg? Ist der wirklich so gefährlich?« »Und ob.« Sie lachte und mußte beim Lenken achtgeben, weil der Untergrund rutschig geworden war. Der Regen hatte die mit Gras und Moos bewachsenen Steine zur Rutschbahn gemacht. Die Vorderräder griffen nicht richtig, deshalb geriet der Corsa leicht ins Schleudern. Das Heck
touchierte eine Pflanzenwand, die Kühlerschnauze drehte nach links, und da stand der Baum . .. Sie fluchte, riß den Wagen wieder herum und hätte es fast geschafft. Mit der linken Stoßstangenecke rasierte der Wagen noch über die Rinde, was nicht weiter tragisch war, denn wir konnten die Fahrt fortsetzen. Das Unglück erreicht uns aus der Höhe. Im Baum mußte der Zombie gesessen haben und hatte sich genau im richtigen Moment fallen lassen. Es dröhnte, als er auf das Wagendach prallte und es mit seinem Gewicht eindrückte. Cathy blieb stumm, aber ihr Blick verriet Panik, und sie schrie erst dann, als die Gestalt auf die Kühlerhaube rollte. Es war kein angenehmer Anblick, als der Zombie mit seinem verwesten Gesicht dicht vor der Scheibe hing. Sein lippenloses Maul wurde gegen das Glas gedrückt. Den Anblick verkraftete meine Begleiterin nicht. Vor Schreck würgte sie den Motor ab, dann schrie sie. Der Wagen stand, der Zombie rutschte über die nasse Haube. Er hatte es geschafft und einen Scheibenwischer abgebrochen, der zwischen seinen Fingern klemmte. Ich fuhr Cathy an, im Fahrzeug zu bleiben, schnallte mich los und stieß die Tür auf. Der Zombie suchte nach einer Waffe, aber ich schoß ihm eine Silberkugel in den Schädel. Das hatte auch Cathy gesehen. Sie schrie jetzt wie irre. Denn sie mußte mit ansehen, wie ein zweiter lebender Leichnam an ihrer Seite aus dem dichten Wildwuchs des Gartens erschien und sich kraftvoll gegen den Corsa warf. Er schaffte es, die Tür zu öffnen und die Frau aus dem Fahrzeug zu zerren. Von der anderen Seite sah ich seine Arme, die wie Stümpfe mit bleichen Händen in das Fahrzeug hineinstachen, um sich auf Cathys Körper zu legen. Meine Tür war nicht geschlossen. An Cathys Kopf vorbei wischte die geweihte Silberkugel und hieb in die Brust der lebenden Leichen. Der Zombie röchelte nicht einmal. Er kippte auf das Mädchen und bewegte sich nicht mehr. Schreiend trat die Frau die Gestalt zur Seite. Es bereitete ihr Mühe, weil der Untote noch festklemmte. Dann wollte sie aus dem Wagen kriechen. Ich war dagegen und suchte nach Mondrian. Zwei seiner Helfer hatte er geschickt und nichts erreicht. Er würde so leicht nicht aufgeben und mußte sich einfach zeigen. Daß wir einen kleinen Zaun umgerissen hatten, sah ich erst jetzt. Ein Stück Lattenzaun, der ein kleines Feld eingegrenzt hatte, lag schief hinter mir.
Auf dem Feld wuchsen hohe Sommerblumen. Zwischen ihnen sah ich die Bewegung. Ich ging etwas zur Seite und wollte über den Zaun steigen, als ein paar Schritte entfernt sich jemand vom Boden erhob, über den er gekrochen war. Es war der Zauberer! Er richtete sich auf. Sein spitzer Hut, der mich an eine Schultüte erinnerte, saß schief. Unter dem Rand zeichnete sich das bleich-grüne Gesicht mit den vorstehenden Glotzaugen ab. Aus den beiden Ärmeln ragten die langen Finger wie schmale Stöcke. Über uns stand das Haus. Fahles Licht drang aus dem Fenster. Ich dachte an die Szenen aus der Vergangenheit. Ungefähr dort, wo wir jetzt standen, mußte Mondrian damals begraben worden sein. Und jemand erschien. Hinter der Gestalt des Zauberers wuchs ein bleiches Etwas in die Höhe. Ein Schemen, feinstofflich, ein Geist. Das Ankou-Gespenst! Der Wind trieb mir seinen Leichengeruch gegen die Nase. Den Körper selbst hatte ich vernichten können, aber der Geist wehte noch über diesem Platz, als wollte er ihn bewachen. Mondrian glotzte mich aus Augen an, die wie kalte Monde wirkten. Sie waren auch so kreisrund. Sein Gesicht bestand nur aus reiner Boshaftigkeit. Ich hätte natürlich feuern können, das aber unterließ ich, weil ich sehen wollte, wie der Ankou reagierte, der nur für Mondrian Interesse zeigte. Und der merkte, daß hinter ihm etwas vorging. Von seinen Helfern war nichts zu sehen. Der Geist des Ankou konnte sich den Teufelsdiener vornehmen. Er schwebte über ihm, wollte ihn umwehen, da handelte der Zauberer. Seinen Stab hatte ich schon einmal gesehen und auch die Wirkung erlebt. Jetzt setzte er ihn wieder ein. Mit der Spitze zuerst stieß er ihn in das feinstoffliche Etwas hinein, und der Stab entfaltete seine Kraft. Plötzlich glühte der Geist auf. Es war ein Licht, das in seinem Innern tobte, sich ausbreitete, anfing zu sprühen und den Geist des Ankou einen Moment später vernichtet hatte. Ich hörte keinen Schrei, kein Nichts, aber in der Gestalt zeichnete sich plötzlich ein menschliches Wesen ab. Ein Wesen, wie ich es bereits gesehen hatte. Die Projektion des schleimigen Ghouls, der allerdings einen Sekundenbruchteil später nicht mehr zu sehen war. Jetzt gab es den Friedhofswärter nicht mehr. Woher Mondrian den Stab bekommen hatte, war mir unbekannt. Möglicherweise hatte ihm der Teufel dieses Instrument überlassen, das
ihn so gut wie unbesiegbar machte, denn nun wandte er sich mir zu und streckte den Stab wie eine Lanze vor. Ich sah auch die nicht vom Wind erzeugten Bewegungen in meiner Nähe. Aus dem Unterholz und den Büschen krochen die restlichen Zombies heran und schlossen einen Kreis um uns. »Dein Platz zum Sterben!« erklärte Mondrian. Ich hob die Schultern. »Vielleicht auch nicht.« »Doch.« Seine Augen erschienen mir plötzlich noch größer. »Doch, du wirst hier sterben. Es führt kein Weg daran vorbei. Ich werde dich vernichten.« Noch hatte ich Zeit, um nachzudenken. Ich überlegte, ob ich auf die Zombies schießen sollte, entschied mich dagegen, denn Mondrian war wichtiger. Es konnte durchaus sein, daß er und die Zombies dermaßen dicht miteinander verwoben waren, daß durch seine Vernichtung die Zombies ebenfalls aufhören würden zu existieren. War Mondrian überhaupt mit einer geweihten Kugel zu vernichten? Ich stellte es in Frage. Ich mußte den Stab haben. Er enthielt die Kraft dieses verfluchten Wesens. »Ich weiß, was du willst, Sinclair!« flüsterte der Zauberer. »Ich weiß es genau. Aber ich sage dir, daß du den Stab nicht zerstören kannst. Es ist aus dem magischen Material der Hölle gefertigt. Er enthält Kräfte, über die du nicht einmal zu flüstern wagst. Der Stab ist meine Waffe, der dir deine Existenz nehmen wird. Eine Berührung wird ausreichen, Sinclair, nur eine Berührung.« »Dann bitte!« Er wunderte sich über meine Antwort, tat nichts, ich aber zuckte vor, weil ich ihn zu einer Reaktion provozieren wollte. Meine Rechnung ging auf. Der Stab zuckte auf mich zu. Er hätte mich erwischt, und zwar auf dem Handgelenk. Aber da war mein Kreuz, das ich bisher verborgen gehalten hatte. Stab und Kreuz rammten zusammen! Was in den folgenden Sekunden geschah, war einfach herrlich und irgendwo auch kaum erklärbar. Eine Lichtexplosion hüllte den Zauberer ein. Er selbst drehte sich auf der Stelle, wurde zu einem Wirbel und sah aus, als wollte er sich in den Boden bohren. Das passierte nicht, denn der Wirbel bekam noch mehr Schwung, und der wiederum zerrte Mondrian in den dunklen Nachthimmel, wo er auf dem Weg zu den Wolken plötzlich zerrissen wurde und nichts mehr von ihm übrigblieb. Aus — oder?
Ich drehte mich, suchte nach den Zombies und sah sie auch. Wie Statuen lagen sie auf dem nassen Boden. Meine Vermutung hatte gestimmt. Nach Mondrians Vernichtung konnten auch sie ihr unseliges Dasein nicht mehr fortführen. Welch eine Nacht! Ich bekam weiche Knie, als ich daran dachte, was hinter mir lag. Nur mußte ich stark sein, denn Cathy Herman verließ mit zitternden Knien ihren Wagen. Ich sah, was kommen würde und fing sie auf, bevor sie zu Boden fallen konnte. »Das ist doch alles nicht wahr gewesen — oder?« fragte sie. »So ungefähr, Cathy.« »Und was machen wir jetzt?« »Schieben wir Ihren Wagen zur Seite und fahren mit meinem. Morgen, meine Liebe, sieht alles schon ganz anders aus. Denken Sie daran, das Leben geht weiter, auch bei Ihnen.« Sie nickte, und wenig später schritten wir Arm in Arm den Weg zum Bluthaus hoch, von dem der Fluch endgültig genommen worden war...
ENDE