Gruselspannung pur!
Das Blutbad von Usedom
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann In der Nähe des Bansiner Friedho...
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Gruselspannung pur!
Das Blutbad von Usedom
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann In der Nähe des Bansiner Friedhofs an der Ahlbecker Chaussee wurde ein baufälliges Gebäude gesprengt. Schon lange verschandelte die unansehnliche Ruine die sogenannte Bäderstraße auf der Insel Usedom. Die Sprengung verlief ohne Komplikationen, und bis auf vereinzelte Risse in einer verwitterten Friedhofsmauer und dem Umkippen einiger alter Grabsteine gab es nichts, was den Einheimischen und Feriengästen von Bedeutung erschien. Aber dann begann eine Serie von unglaublichen Ereignissen, die auch dem fischblütigsten Insulaner das Blut in den Adern stocken ließ… Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! »Mami, mir ist langweilig. Darf ich spielen?« Die kleine Aline kniff ein Auge zu. Keck blinzelte sie gegen die Sonne. Die Mutter nickte. »Meinetwegen, Linchen. Ich hab hier noch 'ne Weile zu tun. Aber lauf nicht zu weit weg. Hörst du?« Die Achtjährige schmollte. Sie war denkbar mieser Laune. Statt
auf diesem blöden, totenstillen Friedhof herumzuhängen, könnte sie jetzt auf dem Gehsteig vor ihrem Haus Gummi-Twist spielen oder hinter dem Gebäude, auf der kleinen Wiese, unter dem Ahornbaum liegen und in ihrem dicken Märchenbuch schmökern. Auch ein Abstecher an den nahen Ostseestrand reizte sie. »Linchen?« »Was ist denn noch?« »Hast du gehört, was ich dir gesagt habe?« Die Mutter blickte streng drein. »Jaah!« quäkte Aline. Bin ja nicht taub, fügte sie in Gedanken hinzu und hüpfte auf dem festgetrampelten Hauptweg herum. Es war an einem Spätnachmittag im August. Der erste sonnige Tag nach endlosen Regenwochen. Astrid Glaubach hatte alle Hände voll zu tun, das verflixte Unkraut, das auf dem Grab ihres Mannes wucherte, auszuzupfen. Ihr Schatten tanzte auf dem Grabstein. Manchmal, wenn sie sich davor bückte, verdunkelte er die Aufschrift. Guntram Glaubach, 1965 bis 1997. Es war ein Arbeitsunfall gewesen. Guntram arbeitete bei einer kleinen Privatfirma, die sanierungsbedürftige Häuser einrüstete. Im Herbst des vergangenen Jahres rutschte er auf glitschigen Planke aus. Knallte mit dem Kopf einen Mauervorsprung und stürzte sechs Stockwerke tief auf einen Haufen zusammengetragener Feldsteine. Schädelbasisbruch. Alines Vater war sofort tot. Während Astrid Glaub ach emsig damit beschäftigt war, die Grabstelle auf Vordermann zu bringen, hetzte Aline wie ein geölter Blitz auf dem Friedhofsweg auf und ab. Aber auf die Dauer war ihr das auch zu langweilig. Aline japste nach Luft. Die Arme in die stechenden Seiten gestemmt, blickte sie sich um. Nirgendwo eine Menschenseele. Die Leute brutzelten entweder am Strand in der Sonne, oder sie hatten sich zuhause hinter zugezogenen Rollos verschanzt. Aline hörte, wie das Blattwerk über ihr in den Bäumen raschelte. Eichen, Trauerweiden, Birken, Lebensbäume. Die kannte sie schon. Doch am liebsten mochte sie Ahornbäume. Wegen der klebrigen Blättchen. Man konnte sie auseinanderpflücken und sich auf die Nasenspitze heften.
Aber nicht mal die gab es hier! Die Achtjährige seufzte bekümmert. Das nächste Mal, wenn ich wieder hierher mitkommen muß, werde ich mir ein Märchenbuch mitnehmen. Das nahm sie sich fest vor. Ich setze mich auf eine dieser grün angepinselten Holzbänke und lese, solange ich will. Die Sonnenstrahlen sprenkelten den Weg und die Mauer aus karminroten Backsteinen. Hin und wieder glitzerten die Boten der Sonne wie pures Gold. Das Mädchen setzte sich auf die nächstgelegene Bank und ließ die Beine baumeln. Sie trug ihre blaue Röhren-Jeans und das übergroße T-Shirt mit den Backstreet Boys drauf. Die nackten Füßchen steckten in hellblauen Sandaletten. Alines langes, strohblondes Haar, im Nacken zum Pferdeschwanz geknüpfte, hing weit über ihre schmalen Schultern. Gern hätte sie eine richtig coole Frisur gehabt, so wie die Mädchen aus den höheren Klassen der Maxim-Gorki-Schule in Neuhof, aber die Mutter hatte behauptet, dafür wäre sie noch zu jung - pfff! Aline fragte sich, ob die Prinzessinnen aus ihren Märchen auch solche ätzenden Pferdeschwänze tragen, mußten. Bestimmt nicht, denn sonst hätten sie wohl nie einen gutaussehenden Prinzen mit Muskeln aus Stahl abgekriegt. Und Dornröschen würde noch heute schlafen… Aline kicherte. Irgendwo, nicht allzu weit weg, erklangen die Glockenschläge einer Turmuhr. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs… Beim sechsten Schlag überlief sie ein Schauder. Nanu? Was war denn das? Sie hielt den Atem an. Da funkelte doch etwas aus dieser ollen Mauer gegenüber. Wie ein Sonnenstrahl sah das ja nicht gerade aus. Aline beschattete ihre Augen und sah genauer hin. Das sonderbare Funkeln blieb. Es sah fast aus, als glitzerte ein Goldstück aus dem blitzförmigen Riß, der die Mauer von oben bis unten durchzog. Sie wurde neugierig. Ich werde mal ganz spontan gucken, wieso es aus diesem komischen Spalt so blinkt. Verboten ist das bestimmt nicht. Also los, Linchen! Mit einem Satz sprang sie von der Bank. Die Mauer stand nur ein paar Meter weiter, auf der anderen
Seite des Weges. Nicht besonders hoch und höchstens fünf Meter lang, begrenzte sie die Stirnseite einer ungepflegten Grabstelle. Die anderen drei Seiten wurden von einer hüfthohen Buchsbaumhecke eingefaßt. In einem Nachschlagewerk für Kinder hatte Aline gelesen, daß Buchsbäumchen ein paar hundert Jahre alt werden konnten. Die ovalen Blättchen kitzelten an ihren Füßen, als sie über die Hecke hinwegstieg. Die Sonne verschwand hinter der dichtbelaubten Krone einer riesigen Eiche. Aus dem Mauerriß funkelte es nicht mehr. Doch das war nicht weiter schlimm. Aline wußte trotzdem, wo sie nachzusehen hatte. Die Stelle hatte sie sich haargenau eingeprägt. Schließlich war sie nicht aus Dummsdorf. Auf Zehenspitzen tappte sie über das efeuberankte Grab. Ihr Herz schien vor Aufregung gegen die Rippen zu schlingern; als sie vor der Mauer in die Hocke ging. Ein dumpfer, modriger Geruch stieg ihr in die Nase. Bäh! Sie kämpfte gegen das aufkommende Ekelgefühl. Die Neugierde erwies sich als stärker. Zielsicher griff sie mit ihren dünnen Fingern in den Spalt. Obwohl die Sonne schien und die Luft heiß war und knochentrocken, spürte sie ein kaltes Glibbern an ihren tastenden Fingerkuppen. Noch ein bißchen tiefer, Linchen, spornte sie sich an. Dann hast du es geschafft! Die Luft wurde ihr knapp, weil sie noch immer den Atem anhielt. Unversehens erfühlte Aline etwas Hartes, ziemlich Kaltes. Es mußte Metall sein. Das war klar wie Kloßbrühe. Ohne lange zu zögern, pellte sie das rundliche Ding aus seinem Versteck. Dann sprang sie schnell auf die Beine und füllte ihre Lungen mit Sauerstoff. Stolz betrachtete sie ihren Fund. Es war tatsächlich eine Münze. Obgleich sie an manchen Stellen ziemlich verdreckt war, blitzte sie so grell, daß Aline mit den Augen zwinkern mußte, wenn sie hinsah. Wie schwer die Münze war! Aline flitzte zur Bank zurück. Daneben stand nämlich ein Abfallbehälter, zur Hälfte mit Trauerschleifen, Einwickelpapier und Plastikfolien gefüllt. Sie
angelte sich einen Fetzen Papier heraus und wischte den Schmutz von der Münze. Nun glitzerte - das Goldstück so stark, daß sie aus der Sonne treten mußte, um es eingehend begutachten zu können. Mit einem Mal erschrak Aline. Entsetzen schlang sich wie ein nasser Waschlappen um ihren schmalen Mädchenkörper. Sie hatte bemerkt, was auf der Münze abgebildet war. Ein Totenkopf, der aus leeren Augenhöhlen direkt in ihr Gesicht zu starren schien. Der obere Teil des Schädels war von einem Tuch bedeckt, so als wolle sich der Totenkopf vor Wind und Regen schützen. Obwohl Aline große Angst hatte, beschloß sie, das geheimnisvolle Goldstück mit nach Hause zu nehmen. Bestimmt wäre die Mutter dagegen gewesen, wenn Aline es für sich behalten würde. Immerhin war es aus Gold und viel wert. Allerdings brauchte die Mutter ja kein Sterbenswörtchen davon zu erfahren. Aline langweilte sich nicht mehr, denn jetzt hatte sie ein eigenes Geheimnis… * Es war halb sieben, abends, und das malerische Seebad mit seinen protzigen Villen und Gebäuden, an denen Holzveranden klebten, sah aus, als würde es ein Vollbad in der Sonne nehmen. Alles erstrahlte in goldgelbem Glanz. Keine Spur von nahendem Unheil. Aline saß still neben der Mutter auf dem Kindersitz des Mitsubishi Colt. In ihrer schweißnassen Hand die Münze mit dem Totenkopf. Die wasserblauen Augen der Achtjährigen waren ins Leere gerichtet. Das seltsame Stück Metall übte einen magischen Reiz auf Aline aus. Sie spürte, daß sich nun etwas in ihrem Besitz befand, das einzigartig war. Und ebenso spürte sie, daß sie niemanden auf der Welt, auch nicht die Mutter, in ihr Geheimnis einweihen durfte. Sie seufzte laut, tief in Gedanken versunken. Astrid Glaubach bog von der Ahlbecker Chaussee in die
Seestraße ein. Schattige Bäume säumten die abschüssige Fahrbahn, die bis zum Strand hinunterführte. Der Kleinwagen ratterte über Natursteinpflaster. Alines Mutter betätigte den Blinker. Sie stoppte das Auto am Straßenrand und begann, in ihrer Handtasche zu wühlen. »Warum halten wir, Mami?« fragte Aline. »Fahren wir nicht gleich nach Hause? Es ist doch schon spät.« »Wir brauchen Brot.« Astrid Glaubach zeigte auf das baumkuchenförmige Reklameschild eines Bäckergeschäfts. »Und du weißt, Linchen, das Brot von Bäcker Krösing schmeckt nun mal am besten.« Das Mädchen warf der Mutter von der Seite einen mißmutigen Blick zu. Unwillig krauste sie die Stirn. Sie konnte es kaum erwarten, endlich in ihr Kinderzimmer zu kommen, um mit ihrer geheimnisvollen Münze zu spielen. Und nun vertrödelten sie die wertvolle Zeit. Pah, was war schon Brot gegen eine echte Goldmünze! Instinktiv preßte Aline die Hand, in der sie ihren Fund hielt, fest zusammen. Ihr Blick verschwamm. Ob das kalte Ding einem Königssohn gehört hatte? Oder einem heldenmütigen Ritter, der mit dem Schwert gegen feuerspeiende Drachen kämpfte, um die gefangene Prinzessin den Klauen des Ungeheuers zu entreißen? Aline schwelgte in ihrer Märchenwelt. Oder wenigstens einem steinreichen Kaufmann, der die Weltmeere befahren und haufenweise blutrünstigen Piraten und heimtückischen Seeschlangen den Garaus gemacht hatte? Oder…? Ihr stockte der Atem. Womöglich hatte die Münze gar dem schwarzen Zauberer gehört? »Linchen? Willst du mit in den Laden kommen?« fragte die Mutter. Das Mädchen schrak auf. »Äh, was hast du gesagt, Mami?« »Ob du mitkommen willst?« »Ach so, nein, hab keine Lust.« »Soll ich dir einen Riesen-Pfannkuchen mitbringen?« Astrid Glaubach stieg aus. »vielleicht gibt's heute welche mit Pflaumenmus?« Aline schüttelte den Kopf. »Keinen Appetit.« »Nanu? Bist du krank?« »Krank nicht. Bloß müde.« Aline gähnte gekünstelt.
»Na gut. Ich mach ganz schnell, ja?« Astrid Glaub ach klinkte die Autotür zu. Eilig überquerte sie den Gehsteig und verschwand in der Bäckerei. Aline machte ihre Augen schmal. Langsam, im Zeitlupentempo, öffnete sie die zusammengeballte rechte Hand. Das Goldstück funkelte im Sonnenlicht. Ein Strahl, gezackt wie ein Gewitterblitz, hüpfte auf der Oberfläche herum. Das Mädchen staunte. So einen ulkigen Sonnenstrahl hatte sie noch nie gesehen. Wie das blendete! Entzückt musterte sie ihren Schatz. Dann richtete Aline ihre Aufmerksamkeit auf die Abbildung des gespenstischen Totenkopfes. Je länger sie den Schädel betrachtete, desto faszinierter war sie von ihm. Das anfängliche Angstgefühl wich nun vollends. Eine Stimme erklang. Aline zuckte zusammen. Ihr Herz schlug ein paar Takte schneller. Es war die laute, dunkle Stimme eines Mannes, ganz nahe. Hatte er das Goldstück gesehen? Rasch ballte Aline ihre Hand zur Faust. Ängstlich blinzelte sie durch die Windschutzscheibe. Ein Mann, der seinen kugeligen Bauch vor sich herschob und eine Plastiktüte trug, ging gerade gemächlich an ihrem Mitsubishi vorüber. Er hatte strähnige, braune Haare und einen ausgefransten Pferdeschwanz. Neben ihm ging ein Junge von knapp vierzehn Jahren. Auch er trug Plastiktüte und Pferdeschwanz. Er wirkte wie ein zu klein geratenes Double seines erwachsenen Begleiters, der auch tatsächlich sein Vater war. Der Junge grinste, als er mitbekam, daß Aline ihn ansah. Aline bemerkte seine gelblichen Zähne. Der rechte Schneidezahn des Jungen stach hervor wie der Stachel einer Wespe. Sie rümpfte verächtlich die Nase. Der Junge ließ seine rosige Zunge wischen den Lippen flattern. »Blödian«, fauchte Aline hinter dem schützenden Glas. »Siehst aus wie 'n Steinbeißer. Paß bloß auf, daß du deinen Kuchenzahn nicht verlierst. Pfff - mit dem Ding kannst du ja 'ne Mauer einreißen!« Ein Rauschen! Mächtig und von überall her. Aline glaubte zu träumen. Urplötzlich ging es in ihrem Kopf zu wie in einem Grandhotel für
Fledermäuse. Sirenenartiges Singen, auf- und abschwellend, in allen Tonlagen, dazu las Flattern von Hunderten von Flügeln jeglichen Kalibers ließen ihr fast das Herz stillstehen. Gleichzeitig schien sich das Gewicht des Goldstückes in ihrer Hand zu verzehnfachen. Nicht genug damit, nein, die Münze fing buchstäblich an zu flimmern, als sei sie von einer Sekunde zur anderen zum Leben erwacht. Aline zuckte es in den Fingern. Die Münze fiel zu Boden. Klirrend schlug sie gegen Metall. Das gespenstische Rauschen schwoll ab und verdang schließlich ganz. Es hatte höchstens fünf Sekunden gedauert. Das Mädchen beruhigte sich. Aufatmend löste sie den Sicherheitsgurt, um sich weit genug nach vorn beulen zu können. Jeden Moment konnte die Mutter zurückkehren. Sagenhaft, dachte Aline. Wenn das keine Zaubermünze ist, dann verputze ich zum Abendbrot meine Barbiepuppe mitsamt den Haaren. Draußen, auf dem Gehsteig, wurde es mit einemmal laut. Sehr laut. Die beschauliche Abendstimmung auf der Seestraße wurde von einem schmerzerfüllten Aufschrei regelrecht zerfetzt. Darauf folgte aufgeregtes Geschnatter, Kreischen, Wehklagen, Poltern und verzweifelte Hilferufe. Neugierig geworden, kurbelte Aline die Seitenscheibe herunter. Etwas Unerhörtes mußte passiert sein. * Astrid Glaubach trat gerade aus dem Bäckerladen, als das fremdartige, beängstigende Geräusch an ihr Ohr drang. Unwillkürlich blickte die Frau an der Häuserwand hoch. Es kam vor, daß jemand das Fenster offenstehen ließ, wenn er in der Wohnung die Stereoanlage auf volle Lautstärke eingestellt hatte. Die Musik brachte heutzutage die merkwürdigsten Auswüchse zustande. Auch einige andere Fußgänger sahen sich suchend um. Doch die Fenster, die sich oberhalb des Geschäfts befanden, waren geschlossen. Das Rauschen mußte eine andere Ursache haben. Plötzlich verging Alines Mutter das Interesse an dem sonderbaren Geräusch. Starräugig sah sie zu, was unmittelbar
vor ihr auf dem Bürgersteig geschah. Sie versteinerte. Ein Junge, der einen Pferdeschwanz trug, begann unvermittelt wie ein orientalischer Derwisch zu heulen. Sein Körper erzitterte. Die unsichtbare Faust eines Riesen schien ihn mit eisernem Griff zu packen. Der Kopf des Jungen schlug auf seine Brust, dann flog er zurück in den Nacken, als wäre er ein Stoffpüppchen in den Händen eines spielenden Kleinkindes. Der Junge schrie vor Schmerz. Jäh klappte sein Mund auf, und zwar dermaßen weit, daß seine Lippen schmale Striche wurden. Sein Mund war ein klaffendes, schwarzes Loch. Blutiger Schaum quoll aus seinem Hals. Astrid Glaubach konnte den Blick nicht abwenden. Wie gebannt beobachtete sie das höllische Spektakel. Die Umstehenden schrien auf, als der Junge einen Mann, der neben ihm stand, mit schier übermenschlicher Kraft beiseite schleuderte. Glotzäugig strebte er dem nächstgelegenen Haus zu. Der Mann knallte gegen einen Kleinlaster, der hinter dem Mitsubishi der Glaubachs am Straßenrand parkte. Mit blutigem Kopf blieb er liegen. Die Menschen ringsum waren wie gelähmt. Eine unsichtbare Macht verurteilte sie zu passiven Gaffern. Erneut heulte der Junge auf. Er stand dicht vor der weißgeputzten Fassade des dreistöckigen Gebäudes. Wütend fletschte er die Zähne. Geifer, mit Blut vermischt, spritzte aus seinem aufgesperrten Rachen. Als wäre es die normalste Sache der Welt, preßte er seinen Unterkiefer an die Fassade. Röchelnd schlug er seine Zähne in die Mauer. Das Knirschen drang den Umstehenden durch Mark und Bein. Die Schneidezähne des Jungen schabten über den rauhen Putz. Seine Lippen, das Zahnfleisch und die Haut drumherum platzten auf. Dann brachen ihm die ersten Zähne ab. Mit einem Schwall Blut spuckte er sie kurzerhand aus. Wieder drang er auf die Mauer ein, das Gesicht verzerrt, die Schultern gegen die Wand gepreßt. Es schien der Sinn seines Daseins zu sein, sich mit dem Kiefer an dieser Mauer zu Schubbern.
Eine Frau in knallroter kurzer Hose und hautengem Pulli fiel in Ohnmacht. Sie sackte einfach in sich zusammen, als wäre sie ein Wasserball, aus dem jemand die Luft rausließ. Glücklicherweise reagierte der Mann, der neben ihr stand, instinktiv. Urplötzlich erwachte er aus seiner Lethargie und fing sie auf, bevor sie Bekanntschaft mit dem grauen Granitpflaster machen konnte. Erst jetzt kam Leben in die Menschen. Sie erwachten aus ihrer Erstarrung. Der Junge brach blutüberströmt zusammen. Einige Leute beugten sich über ihn. Rufe nach einem Notarzt wurden laut. Sein Vater kniete sich neben ihn. Er stützte den Kopf des Keuchenden. Leise sprach er auf seinen Sohn ein. Er streichelte ihn und schluchzte dabei. Derweil machten einige Passanten ihrem Unmut Luft. »Unverantwortlich«, sagte eine sächselnde Stimme. »Manche Eltern lernen es nie! Wie kann man ein krankes Kind unbeaufsichtigt herumlaufen lassen. Der Junge gehört zur Beobachtung in die Klinik.« Astrid Glaubach nickte unwillkürlich. So unrecht hatte der Sprecher dieser Worte nicht. »Wieso krankes Kind?« Zornig sah der Vater auf. »Marco ist völlig gesund. Der braucht nicht in die Klinik. Weiß der Leibhaftige, was das da eben war!« Irgendwo ertönte ein Knall. Aber keiner achtete darauf. Man hatte sich daran gewöhnt, daß zuweilen Überschalljäger der Bundeswehr über die Insel hinwegzischten. »Möglicherweise ein Anschlag außerirdischer Intelligenzen«, quäkte ein Herr, der trotz der Hitze des Tages ein hochgeschlossenes Oberhemd mit Krawatte trug. »So 'n Quatsch!« versetzte sein Nachbar. »Wer das glaubt, hat doch keine Krempe am Hut.« Der Herr mit der Krawatte zog einen Flunsch. »Wie Sie vielleicht bemerkt haben dürften, trage ich gar keinen Hut.« Jemand lachte nervös. Die Leute begannen, lebhaft zu debattieren. Vornehmlich ging es um die Frage, ob es nun Außerirdische gab oder nicht. Die unterschiedlichsten Ansichten prallten aufeinander. Das Schicksal des Jungen wurde immer mehr zur Nebensache. Die Show war zu Ende. »Machen Sie Platz!« ertönte da eine entschlossene Stimme.
»Gehen Sie beiseite. Ich bin Arzt.« Astrid Glaubach atmete erleichtert auf. Kopfschüttelnd wandte sie sich ab und ging zu ihrem Auto. Zeit, nach Hause zu fahren. Immerhin marschierte die Uhr schon auf sieben. Als sie die Fahrertür aufzog, sah ihr Aline aus weit aufgerissenen Augen entgegen. »Mami, was war denn da eben mit dem Jungen?« fragte sie. »Ach nichts, Linchen.« Astrid Glaubach setzte sich auf den Fahrersitz. »Der Junge ist nur sehr krank - verstehst du?« Aline gab keine Antwort. Sie dachte sich ihr Teil. Von irgendwo erklang eine Sirene. * Der Anruf, vor dem Alfred Rietböhl eine Heidenangst hatte, kam zehn Minuten nach Mitternacht. Erst glaubte Rietböhl, der Wecker habe geklingelt, und es war an der Zeit, aufzustehen. Doch dann bemerkte er seinen Irrtum. Er knipste die Nachttischlampe an. Vom Schlaf benommen, langte er nach dem Hörer und hielt sich die Muschel ans Ohr. »Hallo?« Seine Stimme klang kratzig, und er räusperte sich rasch. Dr. Fehlhaber von der Intensivstation der Medizinischen Universitätsklinik in Greifswald war am Apparat. »Herr Rietböhl, Ihr Schulfreund. Es geht ihm schlechter«, sagte der Arzt bedrückt. »Ich denke, Sie sollten kommen. Er will mit Ihnen reden. Und, Herr Rietböhl…?« »Ja?« »Beeilen Sie sich!« Alfred Rietböhl stockte der Atem. »Ja, natürlich«, krächzte er. »Selbstverständlich. Ich komme. Ich mache ganz schnell. In einer dreiviertel Stunde bin ich da.« Der Hörer entglitt seiner knorrigen Hand. Er zitterte. Auf einem Stuhl, der neben dem Bett stand, lagen seine Sachen. Rietböhl schlüpfte in Jeans, T-Shirt und Sakko. In der
Duschecke des kleinen Gästezimmers hielt er kurz den Kopf unter den Wasserhahn. Hastig trocknete er sich ab und warf das Handtuch achtlos auf den Fußboden. Frau Wendland, seine Wirtin, war eine nette Frau. Sie würde nicht schimpfen, wenn er mal nicht aufräumte. Rietböhl knallte die Tür ins Schloß. Das Echo hallte dumpf im Treppenhaus das modernisierten Altbaus wider. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, stürmte der Mann die Treppe hinunter. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Eine Faust ballte sich in seinem Innern. Sein Puls hämmerte. Karl, sein Schulkamerad Karl, würde sterben… Alfred Rietböhl war ein mittelgroßer, hagerer Mann von fünfundsechzig Jahren. Er hatte eine Stirnglatze, eine knollige Nase und eine kantige, ausdrucksstarke Kinnpartie. Auffallend am ihm waren seine rehbraunen Murmeltieraugen. Rietböhl hatte sein Leben lang bei der Bundesbahn gearbeitet. Seine Frau Herta, die er sehr geliebt hatte, war vor fünf Jahren verstorben. Als Rietböhl pensioniert wurde, ging er viel auf Reisen. Er brauchte Ablenkung. Diesmal war die Insel Usedom an der Reihe. Und hier war er auf die Spur von Karl Dröse gestoßen. Aber sein ehemaliger Schulkamerad lag im Sterben… Rietböhl hetzte auf das nachtdunkle Grundstück. Er sah sich um, konnte aber kaum etwas erkennen. Die Tränen, die aus seinen Augen sickerten, nahmen ihm die Sicht. Das letzte Mal hatte er geweint, als Herta starb. Der alte Mann zwang sich zur Ruhe. Mit dem Handrücken wischte er die Tränen fort. Er holte tief Luft und hob seinen Blick in den sternenklaren Himmel. Wie eine riesige Glocke aus blauschwarzem Samt hing die Nacht über dem idyllischen Badeort. Für eine Sekunde schloß er die Augen. Der Wind kühlte sein erhitztes Gesicht. Alfred Rietböhl gab sich einen Ruck. Wie in Trance stieg er in seinen metallicgrünen Opel mit dem Koblenzer Kennzeichen, den er auf dem Gästeparkplatz, neben dem Haus, geparkt hatte. Er schob sich auf den Fahrersitz, drehte am Zündschlüssel, legte den ersten Gang ein und gab Gas. Der Eco-Motor heulte auf. Rietböhl fuhr bereits eine Weile, befand sich schon auf der
Bäderstraße in Richtung Wolgast, als ihm auffiel, daß er mit Standlicht fuhr. Er korrigierte seinen Fehler. Karl Dröse, dachte er, du alter Haudegen willst dich also aus dem Staub machen. Wieder rannen einige Tränen über seine Wangen und benetzten seine spröden Lippen. Sie schmeckten salzig… Alfred Rietböhl fuhr auf das Gelände der Medizinischen Klinik. Er stellte seinen Corsa neben einen Rettungswagen, der dicht am Hintereingang parkte. Ansonsten war der gepflasterte Hof des imposanten Klinikgebäudes verwaist. Die Warnblinkanlage des Rettungswagens war eingeschaltet. Das rhythmisch aufflackernde Licht spiegelte sich auf dem Pflaster wider. Ein vollbärtiger Sanitäter kam aus der perlweiß lackierten Doppeltür, auf der Notaufnahme stand. Der Mann war sehr groß und ging nach vorn gebeugt. Er ähnelte einem ausgewachsenen Braunbären, den ein Spaßvogel in eine rote Jacke verfrachtet hatte. Er schien überhaupt nicht erstaunt zu sein, als Rietböhl ihn plötzlich ansprach. »Karl Dröse. Es geht ihm sehr schlecht. Dr. Fehlhaber hat mich angerufen. Ich sollte mich beeilen. Verstehen Sie?« Der Riese in der roten Jacke verstand. Er steckte sich ein Zigarillo in den Mund und hielt Rietböhl wortlos die geöffnete Packung hin. »Danke, ich rauche nicht«, flüsterte Rietböhl. Der Mann in der roten Jacke ließ ein Feuerzeug aufflammen. Gedankenverloren blies er den Qualm in den Augusthimmel. Er hieß Gerhard Barke, war um die Fünfzig und arbeitete seit dreißig Jahren als Rettungssanitäter. Aufmerksam musterte er Rietböhl. »Gehen Sie«, sagte er. »Ihr Kumpel liegt auf der ITS. Die Intensivstation ist drüben, im anderen Gebäude. Dr. Fehlhaber erwartet Sie, und Ihr Freund auch. Sagen Sie, Verwandte, die sich um ihn kümmern, hat er wohl nicht, wie?« Rietböhl zuckte mit den Schultern. Dann tappte er in das bezeichnete Gebäude. Als er das Haus betrat, glaubte er, den Geruch von Blut einzuatmen. Übelkeit stieg in ihm auf. Zur Intensivstation.
Die Tür war nicht verriegelt. Alfred Rietböhl drückte sie auf und betrat den langen Vorraum. Gleißendes Licht überflutete den Flur. Der alte Mann pumpte seine Lungen voll mit Luft, die nach Medikamenten und Desinfektionsmitteln roch. Er blickte sich um. Eine Handvoll leerer Stühle standen auf der einen Seite des Ganges. Auf der anderen Seite war eine große Eisentür, auf der in großen Buchstaben das Wort Intensivstation aufgemalt war. Das Licht einer roten Glühbirne schimmerte oberhalb des Einganges. Kein Zutritt! Hinter dieser Eisentür lag Karl Dröse. Rietböhl blieb stehen. Stumm starrte er die Tür an. Er ahnte, was ihn erwartete. Er wußte es von Dr. Fehlhaber. Karl Dröse hatte Krebs, im Endstadium. Bösartige Tumore hatten sein Gewebe zerfressen. In den Organen und Lymphknoten hatten sich Metastasen und Tochtergeschwülste gebildet. Es ging zuende… Eine Krankenschwester kam aus einer Tür. Sie trug einen grünen Kittel. Einen zweiten hatte sie über dem Arm. Sie mußte ihn kommen gehört haben. Schwester Heike stand auf ihrem Namensschild. Alfred Rietböhl riß sich zusammen. »Schwester, ich möchte zu meinem Kameraden«, sagte er mit brüchiger Stimme. Schwester Heike hob die Augenbrauen. Sie war eine zierliche Brünette, Anfang Zwanzig. Es schien ihr nichts auszumachen, daß an ihrem Arbeitsplatz Menschen für immer von dieser Welt verschwanden. Streng sah sie den alten Mann an. »Sie sind Herr Rietböhl, nicht wahr?« Der Besucher nickte. »Ziehen Sie sich diesen Kittel über, Herr Rietböhl. Sie kommen wirklich recht spät.« »Ich komme aus Heringsdorf«, sagte er. »Bis hierher sind's fast siebzig Kilometer. Schwester, wie geht es Karl? Wird er am Leben bleiben?« Wieder sausten die Augenbrauen der Krankenschwester in die Höhe. »Fragen Sie den Arzt«, sagte sie resolut. »Ich darf Ihnen keine
Auskunft geben. Dr. Fehlhaber ist bei ihm.« Schwester Heike ging zur Tür und drückte einen Knopf. Es summte. Die Verriegelung sprang zurück. Rietböhl folgte der Schwester auf die Station. Hinter ihnen klinkte die Eisentür ins Schloß. Dr. Fehlhaber blickte ihnen stumm entgegen. Der Mediziner sah blaß und erschöpft aus. Unter seinen Augen lagen tiefe, dunkle Ringe. Er war Anfang Dreißig. Sein Haar war kurz geschnitten und lichtete sich bereits. Trotz seiner Jugend galt er als ausgezeichneter Arzt. »Herr Rietböhl, gehen Sie zu ihm«, sagte er leise. »Er ist gerade bei Bewußtsein.« »Ist jemand bei ihm?« »Nein. Sie scheinen der einzige Mensch zu sein, dem Herr Dröse etwas bedeutet.« Rietböhl sah, daß ein bitterer Zug im Gesicht des Arztes lag. Dr. Fehlhaber führte ihn an ein Bett, das man unter das Fenster gerollt hatte. Die Jalousie war nicht zugezogen. Das Fenster wirkte unheilverkündend. Ein schwarzes Viereck, drohend und kompromißlos. Rietböhl setzte sich auf einen Stuhl, den ihm der Arzt an das Bett stellte. Das Gesicht, das auf dem großen Kopfkissen lag, wirkte zerbrechlich und unreal. Obwohl Rietböhl keinerlei medizinische Kenntnisse besaß, wußte er sofort, daß sein Kumpel Karl Dröse diese Augustnacht nicht überleben würde. Der Patient war vom Tod gezeichnet. Seine einst so rosigen Wangen waren eingefallen. Die Augenhöhlen tiefgrau. Die Nase ragte spitz in die Luft. Der Schädel mit den spärlichen grauen Haaren ähnelte einem Totenkopf. Und überall diese gräßlichen Metastasen. Rietböhls Herz schien zerbersten zu wollen, so sehr hämmerte es in seiner Brust. »Karl«, wisperte er und beugte sich über den Sterbenden. »Karl, alter Schwede, ich bin's! Alfred. Karl, erkennst du mich?« In Karl Dröses Gesicht zuckte es. Dr. Fehlhaber räusperte sich im Hintergrund. »Er ist sehr schwach«, sagte er. »Aber mir scheint, er will Ihnen irgendwas sagen. Ich konnte es nicht verstehen. Es war zu undeutlich.«
Dröses Lippen öffneten sich. Rietböhl beugte sich über ihn. Der Sterbende ächzte kaum wahrnehmbar. »Hellmann.« Es war nur ein Hauch. »Hellmann?« forschte Rietböhl. »Ich kenne keinen Hellmann, Karl. Wer ist Hellmann?« Mit einem Schwamm betupfte Dr. Fehlhaber die Lippen seines Patienten. »Hellmann, Weimar…« Karl Dröse verstummte. Zögernd griff Rietböhl nach seiner Hand, die neben der Zudecke lag. Er hatte die Hände des Kameraden immer als warm und gut in Erinnerung gehabt. Er hatte sich geborgen gefühlt, wenn er sie als kleiner Junge umklammert hielt. Karl war fünf Jahre älter als er und hatte ihn so manches Mal vor prügellustigen Rabauken beschützt, die dem jüngeren Alfred an die Wäsche wollten. Doch jetzt fühlte sich die einst so starke Hand an, als würde er einen toten, glibberigen Fisch anfassen. Trotzdem drückte Rietböhl sie an seine Wange. Vor seinem inneren Auge zogen kaleidoskopartig kunterbunte Bilder auf, die alle Karl Dröse zeigten. Auf dem Schulhof, beim Herumstrolchen auf den Wiesen und den Wäldern, beim Baden im Waldsee mit einem kleinen Jungen, der er selbst war. Alfred Rietböhl wußte nicht, wie lange er, die Hand an der Wange, in dieser Haltung verweilt hatte. Dann öffnete Karl Dröse zum letzten Mal in seinem Leben den Mund. Rietböhl spitzte die Ohren. Doch lediglich ein schwacher Luftzug entwich den farblosen Lippen des Sterbenden. Sein Kopf sank tiefer ins Kissen, und ein leerer, erstarrter Blick heftete sich auf seinen letzten Besucher. Dr. Fehlhaber trat vor. Sanft drückte er dem Verblichenen die Augen zu. Der Tod hatte seinem unendlichen Schattenreich einen neuen Bewohner zugeführt. Rietböhl richtete sich auf. Ihm war, als hätte er Wattepfropfen in den Ohren, als der Arzt sagte: »Es tut mir leid wegen Ihres Freundes, Herr Rietböhl. Aber glauben Sie mir, für ihn ist der Tod eine Erlösung.«
Der alte Mann nickte geistesabwesend. Die letzten Worte des verstorbenen Freundes spukten in seinem Kopf herum. Hellmann? dachte er. Nie gehört! * Obwohl es Nacht war, lag Aline wach in ihrem Bett. Das Medaillon hatte sie in einer Schublade des Schreibtisches, zwischen Filzstiften und Zeichenblöcken, versteckt. Da würde Mutter es nicht finden. Das Mädchen war für die Ordnung und Sauberkeit in ihrem kleinen Reich selber verantwortlich. Und sie nahm ihre Pflichten sehr ernst. Durch das gekippte Fenster schien der Mond ins Kinderzimmer. Fahles Licht durchbrach die Finsternis. Aline hatte die Augen offen und starrte an die Decke. Sie war sicher, daß die Münze eine Zaubermünze war. Der Junge mit dem Pferdeschwanz war der Beweis. Hatte er nicht genau das getan was sie sich kurz zuvor, wenn auch unbewußt, gewünscht hatte? Normalerweise ein Grund, richtig happy zu sein. Wer, außer ihr, hatte schon eine Münze, die Wünsche erfüllen konnte? Dennoch gab es da etwas, das Aline nicht gefiel. Sie schniefte ärgerlich. Doof war, daß keiner davon erfahren durfte. Gern hätte sie vor den anderen Kindern mit der Münze geprahlt. Wie man sie bewundert hätte… Doch ein merkwürdiges Empfinden, das sich in ihr regte, seit sie die Münze besaß, hielt sie regelrecht davon ab. Es war beinahe so, als ob sich ein fremdes Lebewesen in ihr breitmachen würde, das ihr seinen Willen aufzwang. Zum Glück war das Gefühl angenehm. Es tat überhaupt nicht weh. Gedankenverloren wälzte sich das Mädchen von einer Seite auf die andere. Da wurde es plötzlich in der Nebenwohnung laut. Solange sie denken konnte, wohnten sie in diesem altmodischen Gebäude in der Strandstraße. Insgesamt gab es vier Wohnungen in dem Haus. Aline zählte die Namen der Mieter auf. Glaubach, Wendland, Lohmer, Hannemann. Der Krach kam aus der
Wohnung der Hannemanns. Aline lauschte angestrengt. Besonders nachts, wenn alles im Haus mucksmäuschenstill war, hörte man genau, wenn die Nachbarn einmal später als gewöhnlich zu Bett gingen. Manchmal, wenn im Fernsehen ein lustiger Film lief, bekam Aline mit, über welche Szenen in der benachbarten Wohnung am meisten gelacht wurde. Doch gelacht wurde da eigentlich schon lange nicht mehr. Im Gegenteil. Aline hob den Kopf, um besser hören zu können. Jedes Mal, wenn Herr Hannemann spätabends nach Hause kam, machte er Radau. Die Achtjährige wußte, daß er dann viel Alkohol getrunken hatte. Rücksichtslos krakeelte der Nachbar dann herum, schurrte mit Möbeln und schimpfte mit seiner Frau. Eigentlich - genau wie jetzt! Ohne ein Geräusch zu verursachen, stand Aline auf. Barfuß tappte sie zum Fenster und blickte eine Zeitlang hinaus zu den Sternen. Der Wind strich leise durch die Nacht. Das Meer rauschte. Nebenan donnerte die kräftige Stimme den betrunkenen Nachbarn Hannemann. Aline kam der Gedanke, ihrem lärmenden Nachbarn einen gehörigen Denkzettel zu verpassen. Wozu hatte sie ihre goldene Zaubermünze? Und verdient hatte es der Kerl allemal. Wie er sie immer anstierte, wenn sie hinterm Haus spielte. Richtig böse. Entschlossen zog Aline die Schublade auf und nestelte nach dem Goldstück. Immerhin war es schon zwei Tage her, seitdem sie von der Zauberkraft Gebrauch gemacht hatte… * Er wankte ein bißchen, als er ins Schlafzimmer kam. Die Frau lag im Bett, die Decke bis zum Kinn gezogen. »Mir ist speiübel«, sagte er. »Was ist das bloß?« Sie preßte die Lippen aufeinander. Ihre Wangenknochen
spannten die Haut. »Ich weiß es nicht«, hauchte sie. Er trat ganz ins Zimmer, ohne die Tür zu schließen, zog sich aus bis auf die Unterhose und starrte sie an. »Die Jungs haben einen ausgegeben«, lallte er. »Der lange Hein hat allein fünf Lagen geschmissen. Bier und Korn. Danach sind wir auf Tequila umgestiegen. Kennst du Tequila?« »Nein.« »Ein Bretterknaller, sag ich dir.« Er kratzte seine beharrte Brust. »Vorher leckt man Zitrone und Salz von der Hand. Dann kippt man den Tequila hinter die Binde. Mann, wie das brennt!« Die Frau zog das Bettuch bis an die Unterlippe. Sie hatte ein schmales, >durchsichtiges< Gesicht und dünne, offene Haare, die am Tag hochgesteckt waren. Er war ihr Mann, seit achtzehn Jahren. »Willst du noch was essen?« fragte sie. »Ich habe noch Hähnchenschenkel im Kühlschrank. Man fühlt sich besser, wenn man was gegessen hat.« »Hähnchenschenkel?« Sie nickte beflissen. »Ich hatte heute abend keinen Appetit. Ich mache sie dir warm, wenn du willst.« Er tappte zum Bett und warf die Zudecke zur Seite. Dabei rülpste er laut und herzhaft. »Hähnchenschenkel«, überlegte er laut. »In der Kneipe hab ich Eisbein gegessen. Gepökelt, mit Erbsenpüree und Sauerkraut. Das war vor sechs Stunden.« Sie warf das Bettzeug zurück. »Ich mache dir die Hähnchenschenkel heiß.« Als seine Frau im Nachthemd an ihm vorbeiging, packte er sie am Handgelenk. »Das gefällt mir nicht!« brüllte er sie an. »Was - meinst du?« »Dein Nachthemd. Es ist altmodisch und abgewetzt. Es sieht aus, als hättest du es von deiner Großmutter, und die von ihrer Großmutter!« Sie roch seinen scharfen Atem und sah seine glasigen Augen aus den Höhlen quellen. Er war mal ein gutaussehender, aufmerksamer Mann gewesen, damals, vor ihrer Hochzeit. Ihre Freundinnen hatten sie beneidet. Die hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Er wollte das nicht,
und sie gehorchte. »Ich friere nachts immer so. Deswegen trage ich es.« Er lachte heiser. »Du frierst im Bett?« »Ja. Und jetzt laß mich los. Du wolltest Hähnchenschenkel.« Er wurde bei dem Wort Schenkel zudringlich und versuchte, sie auszuziehen. Sie zog schnell den Kopf ein, als er sie küssen wollte. Seine gespitzten Lippen trafen ihre Stirn. »Ich muß in die Küche«, flüsterte sie ablenkend. »Das hat Zeit!« »Nicht so laut, die Nachbarn…« »Das ist meine Wohnung. Immerhin bezahle ich pünktlich meine Miete. Da bin ich so laut, wie es mir gefällt. Kapiert?« »Schon gut. Ich mache dir jetzt die Hähnchenschenkel. Ich werde mich an den Tisch setzen, während du ißt. In Gesellschaft schmeckt es besser.« Der Griff lockerte sich. Er glotzte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. Dann nickte er stumm. Sie atmete auf. Er ließ ihren Arm los, und sie ging in die Küche. Mit schweren Schritten folgte er ihr. Im Korridor brannte kein Licht. Er rammte mit dem Kopf gegen den Dielenschrank. Wütend schlug er mit der Faust dagegen. »Wieso machst du kein Licht? Soll ich mir die Knochen brechen?« Er rieb seinen Schädel, sank auf einen Hocker und stieß ungeniert auf. Eine Weile saß er so da, geistesabwesend, zusammengesunken, die verkrampften Hände auf den Tisch gelegt. Seine Frau briet die Hähnchenschenkel. Das Fett zischte. Sein Atem ging schwer und pfeifend. »Ich bin gleich fertig«, sagte sie. »Nur noch einen Augenblick. Ich wende sie noch mal.« Plötzlich stand er auf und fing an, grölend zu lachen. Sie sah sich erschrocken um. »Hätte bald meine Überraschung für dich vergessen.« Er wankte hinaus und kam mit einer kleinen Flasche Korn wieder. Wie eine Trophäe schwenkte er den Schnaps über seinem Kopf.
»Die trinken wir nach dem Essen. Und dann gehen wir ins Schlafzimmer«, versprach er, aber es klang wie eine Drohung. Als das Essen fertig war, stellte sie ihm den Teller hin. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und sah zu, wie er mit beiden Händen die Hähnchenschenkel auseinanderriß und sich die Fleischstücken in den Mund stopfte. Heimlich wischte sie eine Träne von ihrer Wange. Er mochte es nicht, wenn sie weinte. Es machte ihn regelrecht wütend. Und dabei rutschte ihm schon mal die Hand aus, was er dann später immer bereute. »Iß nicht so hastig«, hauchte sie. »Das bekommt dir nicht. Laß dir ruhig Zeit.« Sein Gesicht verfärbte sich. »Hör gefälligst auf, mich herumzukommandieren!« brüllte er sie an. »Ich merke, du suchst schon wieder Streit, du blöde Kuh!« Elvira Hannemann schauderte, als säße sie in einem fürchterlichen Schneesturm, vollkommen nackt und ohne Hoffnung, jemals gerettet zu werden. Sie ahnte, was ihr bevorstand. Seufzend nahm sie eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht. Da passierte es! Die Frau begann zu schreien, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte. Es war ein wilder, markerschütternder Schrei, der nichts Menschliches an sich hatte. Der Schrei hallte von den Wänden der Küche zurück. Und die Fensterscheiben vibrierten. Urplötzlich hatte die kleine, verschüchterte Frau in sich eine Energie gespürt, die so gewaltig war, daß sie sich auf der Stelle zutraute, den schweren Küchentisch anzukanten und aus dem Fenster zu schleudern. Die höllische Kraft war wie ein Blitz in sie eingeschlagen. Zugleich senkte sich ein blutroter Schleier über ihre Augen. Dahinter erkannte sie ihren verhaßten Mann. Er war aufgesprungen und bewegte sich auf sie zu. »Rastest du jetzt total aus, Schätzchen?« lallte er dümmlich. Blutgier flackerte in den Augen der Frau auf. Töten… Ansatzlos wirbelte sie um die eigene Achse. Dabei riß sie ein langes, scharfes Tranchiermesser aus dem Messerblock und
schwang es mit ungeheurer Kraft über ihrem Kopf. Dann streckte sie den Arm aus. Die Spitze des Messers war genau auf das Herz ihres Mannes gerichtet. Er grinste schief. »Geile Vorstellung«, kicherte er. »Wußte gar nicht, daß du soviel Temperament hast. Weißt du was? Du packst das Mistding jetzt weg, und wir steigen in die Falle. Okay, Süße?« Töten… Hannemann wischte sich das Fett von den Lippen. Der Schnaps, den er in sich hineingeschüttet hatte, verzerrte die Wirklichkeit auf makabre Weise. Er glaubte immer noch, daß er der Stärkere war. Ein Trugschluß. Er kam einen Schritt auf sie zu. »Schätzchen, gleich werde ich böse. Und dann kannst du was erleben. Das schwöre ich.« »Komm nur, du Mistkerl! Ich erwarte dich!« Ihre Stimme klang dumpf. Er stutzte. Solche Worte aus ihrem Mund waren ihm neu. Aber so leicht war sein alkoholisiertes Selbstbewußtsein nicht zu erschüttern. Er tat einen weiteren Schritt auf sie zu. Das Messer zischte durch die Luft. Der Mann sprang zurück. Zu spät! Mit einem wuchtigen Hieb hatte sie sein Gesicht getroffen. Seine rechte Wange wurde vom Kiefer bis zum Jochbein buchstäblich aufgetrennt. Die Wange klaffte auseinander, bestand nun aus zwei Teilen. Blut strömte aus der Wunde. Hannemann stand da wie belämmert und schrie. Er konnte es einfach nicht begreifen, was da mit ihm passierte. Aufflammende Wut mischte sich in sein Geheul. Wieder kam er näher. Er wollte sie packen, ihr das Messer aus der Hand schlagen. Aber statt dessen wich sie mit einem geschickten Ausfallschritt zur Seite. Erneut hob sie das Messer. Erneut holte sie aus. »Warte nur, wenn ich dich kriege, dann wehe dir, du verdammte Hexe!« Seine Stimme überschlug sich. Die Frau stieß nicht sofort zu. Als hätte sie diebische Freude
daran, den Mann zu quälen, ließ sie das Messer wie ein SamuraiSchwert durch die Luft wirbeln. Dann, wie ein her abstoßender Raubvogel, stieß es herab, traf seine rechte Schulter, bohrte sich hinein wie in Butter und kreiste bereits wieder in der Luft, bevor der Anflug eines Klagelautes über seine Lippen kam. Er brüllte, als würde er bei lebendigem Leibe auf einen Bratspieß gesteckt. Neben dem Kochherd, auf dem noch vor wenigen Minuten die Hähnchenschenkel brutzelten, sackte er blutüberströmt auf die Knie. Winselnd schnappte er nach Luft. Dann kippte er zur Seite und übergab sich. Als er fertig war, flehte er um Gnade, bettelte um sein Leben. Töten… Elvira Hannemanns Gesicht wurde zur Maske. Gefühllos, erbarmungslos. Schweiß glänzte auf ihrer Stirn und ihren Wangen. Jetzt nahm sie das Messer in beide Hände. Im Zeitlupentempo hob sie es empor. Eine Sekunde später ertönte ein surrendes Geräusch, und ein Poltern erklang, das sich anhörte, als wäre ein Kohlkopf vom Tisch auf den Flußboden gefallen. Dann herrschte Stille. * Aline wachte auf, weil sie ein merkwürdiges Kitzeln unter ihren Fußsohlen verspürte. »Laß das, Mami!« murmelte sie, ohne die Augen aufzumachen. »Ich will noch schlafen.« Das Kitzeln wurde stärker. Es war, als ob sie jemand mit einer flaumigen Hühnerfeder ärgern wollte, und das mitten in der Nacht. Aline strampelte mit den Beinen. Schläfrig spähte sie zum Fußende ihres Bettes. Fliegen, sagte sich das Mädchen, es müssen Fliegen sein. Olle Summsis. Die bekrabbelten einen immer so eklig. Besonders im Sommer, wenn es draußen warm war. Eine einzige Fliege reichte, um einen in den Wahnsinn zu treiben. Dauernd flog sie einem ins
Gesicht, auf Arme und Beine. Die Dinger riskierten Kopf und Kragen bei der Landung auf Menschenhaut. Es mußte das absolut Coolste für diese Plagegeister sein! Und das Risiko wert sein, erschlagen zu werden. Aline schwenkte das Fußgelenk, so heftig sie konnte. Das Kitzeln blieb. Es war ein Kitzeln der unangenehmen Art. Ein Kitzeln, worüber man nicht lachen konnte, beim besten Willen nicht. »Hau ab!« fauchte Aline. »Laß mich schlafen, du dämliches Fliegenvieh!« Wieder schüttelte sie den Fuß. Diesmal viel stärker als vorher. Der Fuß fühlte sich auf einmal irgendwie schwer an. Als hätte jemand böswillig einen Wackerstein an einer Schnur daran gehängt. Aber wer kam nachts in fremde Kinderzimmer und hing schlafenden Mädchen heimlich Wackersteine an die Beine? Aline dachte scharf nach. Sie lebten doch allein hier, nur die Mutter und sie. Der Wind säuselte ein melancholisches Lied. Aline sah zum Fenster. Es war gekippt. Sie hatte es selbst am Abend geöffnet, wegen der frischen Nachtluft. Vielleicht war sie auch von einem anderen Insekt gepiekt worden? Es hatte sich durch den Fensterspalt ins Zimmer geschummelt und… Verflixt, wie das kribbelte! Nicht zum Aushalten. Das Mädchen richtete sich auf und strampelte die leichte Zudecke beiseite. Sie spähte an das Fußende. Zwecklos, es war einfach zu finster. Mißmutig tastete sie nach dem Knipser der grünschirmigen Bankerlampe, die auf der kleinen Kommode neben ihrem Bett stand. Das Licht flammte auf. Endlich konnte Aline nachschauen, was da unter ihren Sohlen so kitzelte und wieso sich ihre Füße auf einmal so bleiern anfühlten. »Mamiii!« * Die Wohnungstür der Hannemanns stand sperrangelweit offen. »Gehen wir hinein?« wisperte Astrid Glaubach.
Alfred Rietböhl runzelte die Stirn. »Naja, nachsehen müßte man ja wohl, oder?« Sie standen auf der Plattform im Treppenhaus, direkt vor der Wohnung der Hannemanns. Nach dem unglaublichen Lärm war es darin still geworden, sehr still. Astrid hatte ihre Nachbarin, Frau Wendland, aus dem Bett geklingelt. Aber die ansonsten so resolute Köchin in einem Ferienhotel hatte kurzerhand Alfred Rietböhl, ihren Logiergast, vorgeschoben und war selbst zähneklappernd, die Decke über dem Kopf, im Bett geblieben. Astrid Glaubach befürchtete das Schlimmste, und Rietböhl hatte, ohne zu zögern, die Polizei informiert. Trotz der ungewöhnlichen Stunde sah Rietböhl aus wie aus dem Ei gepellt. Der alte Mann war frisch rasiert, trug einen dunkelblauen Morgenmantel und duftete nach Kölnischwasser. Er hatte einen ausgedehnten Nachtspaziergang am Strand unternommen. Seit dem Tod seines alten Freundes Karl Dröse vor zwei Tagen schlief er nicht mehr richtig. Erst vor ein paar Minuten war er von seinem Ausflug zurückgekehrt. Der Spaziergang an der frischen Luft hatte ihm gutgetan. Ein Klicken. Das Licht im Treppenhaus ging aus. Mit einemmal war es düster wie in einem zugeschnürten Kohlesack. Schnell drückte Astrid Glaubach auf den schwach glimmenden Zeitschalter. Es klinkte, und im Treppenhaus war es wieder taghell. Sie sahen sich einen Augenblick prüfend an, die hübsche Frau mit dem hochgesteckten, blonden Haar und der Mann im Frotteemantel. »Bringen wir's hinter uns«, sagte Alines Mutter. Der Mann nickte. Er knotete die Kordel seines Morgenmantels fester. Dann drückte er langsam die Tür auf. Die ungeölten Türangeln quietschten. Abgesehen von ihren stoßweisen Atemzügen war es das einzige Geräusch im Haus. Die Stille barg etwas Endgültiges. Rietböhl trat in die Wohnung. Astrid Glaubach folgte ihm. Der Korridor lag im Halbdunkel. Ein Spaltbreit Licht fiel aus der Küche. Die Tür war nur angelehnt.
Der Mann preßte den Daumen auf einen Plastikschalter. Dann stupste er die Tür zur Küche auf. Von der Diele aus spähte er mit langem Hals hinein. Astrid Glaubach, die zwei Schritte hinter ihm ging, hörte Rietböhl plötzlich laut stöhnen. Er starrte auf etwas, das auf dem Boden lag. Sie sah, daß er erschrocken zusammenfuhr. »Mein Gott!« stieß er fassungslos hervor. Als sich Alfred Rietböhl umdrehte, hatte sein zerfurchtes Gesicht die Farbe frischgefallenen Schnees. »Es ist Ihr Nachbar, der Hannemann«, sagte er tonlos. »Er liegt unter dem Küchentisch.« »Ist er - tot?« Rietböhl sah die Frau an. »Wäre wirklich besser, wenn Sie ihn sich nicht ansehen würden.« »Sind Sie auch sicher?« Astrid schob sich an ihm vorbei. »Ich meine, daß er tatsächlich tot ist?« »Frau Glaubach!« Er stellte sich ihr in den Weg. »Warten wir auf die Polizei. Jeden Moment kann sie eintreffen. Wir können ihm nicht mehr helfen.« »Woher wollen Sie das wissen? Sie haben doch nur kurz durch die Tür geguckt.« Rietböhl zögerte. »Hm - es ist schon seltsam.« »Was, in drei Teufels Namen, ist seltsam?« Astrid drängte den Mann, der den Eingang versperrte, energisch beiseite. Sie trat in die Küche - und erstarrte. Die Wandschränke, der Tisch und die Stühle waren blutbespritzt. Der Leichnam ihres Nachbarn lag, zusammengekrümmt wie ein Fötus, zwischen Kochherd und Küchentisch. Sein Kopf fehlte… * Das Auffälligste in Astrid Glaubachs Wohnzimmer waren die zahllosen maritimen Nippessachen. In der Anbaureihe, auf dem flachen Couchtisch und in den Wandregalen wimmelte es von Flaschenschiffen, exotischen Muscheln, kleinen Fischernetz-Nachbildungen, Bojen,
Klabautermann-Figuren und detailgetreuen Koggen aus der Hansezeit. Die Sammlung ihres verstorbenen Mannes. Er hatte die See und alles, was dazu gehörte, sehr geliebt. Astrid Glaubach und Alfred Rietbohl saßen sich am Couchtisch eine Zeitlang wortlos gegenüber. Allmählich beruhigte sich die Frau. Noch vor wenigen Momenten war sie nahe daran gewesen, sich in der Küche des Ermordeten zu erbrechen. »Wo die Polizei nur bleibt?« sagte sie nervös. »Ich frage mich die ganze Zeit, wohin Ihre Nachbarin verschwunden ist?« Rietböhl wiegte seinen Graukopf. Astrid Glaubach hatte ihn gebeten, so lange, bis die Polizei im Hause war, bei ihr zu bleiben. Sie fürchtete sich. Sie fühlte sich schwach und unsagbar erschöpft. »Möchten Sie einen Kaffee?« fragte sie. »Nett von Ihnen«, erwiderte der Mann. »Aber wenn ich mir jetzt noch eine Dosis Koffein genehmige, darin fliegt mir meine Pumpe um die Ohren.« »Vielleicht mögen Sie einen Rum?« Rietböhl hob abwehrend die Hände. »Es ist echter Jamaika-Rum. Guntram hat sich ab und an ein Gläschen gegönnt.« Als er merkte, daß ihr viel daran lag, ihm etwas anzubieten, gab er jeglichen Widerstand auf. »Gut, aber nur einen kleinen. Und nur wenn Sie auch einen nehmen.« Sie sprang auf, flitzte zur Hausbar. Kurz darauf plätscherte das scharfe Getränk in zwei goldrandige Gläschen. Sie prosteten sich zu und tranken. Er setzte das Glas ab. Nachdenklich strich er mit dem Zeigefinger um den feuchten Glasrand. »Merkwürdig«, meinte er. »Da bin ich kaum eine Woche auf der Insel, und schon passieren die ungeheuerlichsten Dinge in meiner Umgebung.« »Sie meinen das Blutbad nebenan, nicht wahr?« »Auch, ja, natürlich.« »Was denn noch?« wollte Astrid Glaubach wissen. Er schwieg eine Weile, dachte an Karl Dröse. Seine nach außen gekehrte, unerschütterliche Ruhe irritierte die Frau. Nur um etwas zu tun, hob sie die Flasche, die in der Mitte des Tisches stand. Sie schraubte den Verschluß ab.
»Möchten Sie noch einen?« »Einer reicht wirklich. Danke.« Sie stellte den Rum beiseite. Als der Boden der Schnapsflasche auf die Tischplatte klackte, kam ihr jäh das Erlebnis mit dem pferdeschwänzigen Jungen in der Seestraße in den Sinn. Da der Mann gedankenvoll schwieg, fing sie stockend an, ihm davon zu erzählen. Sie ließ nichts aus. Die furchtbaren Krämpfe. Die gewaltige Kraft, über die der Rasende plötzlich verfügte. Das ekelerregende Knirschen, als sich seine Zähne in den Hausputz einfraßen. Als sie geendet hatte, blickte Rietböhl sie mitleidig an. »Und Ihre Tochter hat alles mit angesehen?« erkundigte er sich. »Wie hat sie es aufgenommen?« Astrid Glaubach sank wie ein Häufchen Unglück in sich zusammen. »Gut, denke ich. Wir haben nicht weiter darüber gesprochen. Dann vergißt ein Kind so etwas eher.« Er schaute sie zweifelnd an. Es war ihr unangenehm, darüber zu reden. Ein Schuldgefühl beschlich sie. Ohne Umschweife wechselte sie das Thema. »Glauben Sie, es war seine Frau, die ihn - umgebracht hat?« sagte sie schnell. Rietböhl zuckte die Achseln. »Möglich.« »Ich kenne Elvira schon ein paar Jahre«, plapperte Astrid Glaubach munter drauflos. »Eine Seele von Mensch. Oft fragte ich mich, wie sie es mit diesem Trunkenbold aushielt. Bald jeden Abend hockte er mit seinen Kumpels im Kulm-Eck und schüttete sich zu. Elvira muß ein Gemüt wie ein Pottwal gehabt haben.« »Manche Frauen sind unglaublich stark - oder auch schwach, wie man will«, warf Rietböhl ein. Dann schien ihm etwas einzufallen. Weit beugte er sich nach vorn. »Sagen Sie, Frau Glaubach. Ich habe da mal eine persönliche Frage. Sie sind doch sozusagen eine alte Insulanerin, eine Eingeborene, wenn ich mich nicht irre?« Astrid Glaubach nickte. »Nein. Sie irren sich nicht. Ich wurde in Sellin, das liegt am Schmollensee, geboren.« »Gut. Kennen, hm, besser gesagt, kannten Sie einen Karl Dröse?« »Den Hellseher?« Alfred Rietböhl fuhr verdattert zurück. Sein Magen krampfte sich zusammen. Ihm war, als flitzte eine
glitschige Eidechse über seinen Rücken. Seine Verwirrung verdoppelte sich, als die übernatürliche Stille, die plötzlich eingetreten war, von der Stimme eines kleinen Mädchens unterbrochen wurde. Aline! Sie schrie. * Noch ein paar Minuten, und ich, Mark Hellmann, würde endlich am Ziel sein. Lässig lümmelte ich hinter dem Steuer meines BMW. Aus den Boxen des Autoradios hämmerte ein Song von den Stranglers, >Always The Sun<. Es dämmerte bereits, und die Bäume zu beiden Seiten der Bäderstraße warfen grauschwarze Schatten auf den Asphalt. Ein Schild tauchte am Straßenrand auf. Bansin 3 km. Ich ging vom Gas, und fuhr in eine Zickzack-Kurve. Neben mir auf dem Beifahrersitz, kauerte ein ungefähr sechzehnjähriges Mädchen. In Zinnowitz hatte sie an der Straße gestanden und verzweifelt gewunken. Sie hieß Monique. In Bansin wurde sie angeblich von ihrer Großmutter erwartet. Ich ahnte, daß sie log. »Sind Sie das erstemal auf der Insel?« fragte sie mich. Ich nickte. »Die Schwester meiner Freundin wohnt in der Gegend.« »Und? Gefällt es Ihnen hier?« »Kann man wohl sagen. Es ist ziemlich romantisch. Was mich stört, sind die vielen Holzkreuze an den Bäumen.« »Unfälle gibt's hier noch und nöcher«, sagte sie, während ihr Blick über meinen Body huschte und für ein paar Sekunden über meinem Schoß ruhte. »Auf der Bäderstraße geht's nachts recht heftig zu. Vor zwei Jahren hat es gleich vier Jungs auf einmal erwischt. Kurz vor Zinnowitz. Autorennen. Ein Duell. Verstehen Sie?« Ich nickte. »Hab die Kreuze gesehen. Sah fast aus wie ein kleiner Friedhof.« »Künstlerpech.« Sie zuckte die Achseln.
Ich warf ihr einen erstaunten Blick zu. Ärger wallte kurz in mir auf. Legte sich aber gleich wieder. Für ihr Alter ganz schön abgebrüht, dachte ich. Aber hübsch ist die Kleine. Wer die mal zur Frau oder Freundin kriegt, hat bestimmt keine Langeweile. »Wo willst du abgesetzt werden?« erkundigte ich mich. »Maxim-Gorki-Straße. Kennen Sie die?« Ich überlegte. In Gedanken erschien mir der Stadtplan der sogenannten drei Kaiserbäder Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck vor meinem inneren Auge. Ich fuhr nie unvorbereitet in Gegenden, in denen ich mich nicht so gut auskannte. Reiner Selbsterhaltungstrieb. »Glaub schon«, sagte ich. »Dann müssen wir gleich links abbiegen, Seestraße! Richtung Strand. Stimmt's?« »Bingo. Aber vorher geht's noch mal rechts ab, nach Heringsdorf rein.« »Okay. Paßt mir gut. Genau da muß ich lang. In die Strandstraße. Dort wartet 'nen alter Kumpel auf mich.« Ich blinkte und bog ab. Das Mädchen lehnte sich zum Armaturenbrett vor. Der Sicherheitsgurt straffte sich. Leise summte sie das Lied mit, das im Radio gespielt wurde. >Gangsta's Paradise< von Coolio. Dabei schielte sie auf den Siegelring, den ich am Finger trug. Der Ring war aus massivem Silber. Um die altertümlichen Buchstaben herum lag ein Wappen mit einem stilisierten Drachen. »Ihren Ring finde ich geil«, meinte sie anerkennend. Ich nickte kurz. Im Rückspiegel sah ich, daß mir ein hellgrauer Trabant auf die Pelle rückte. Der Trabi setzte zum Überholen an, obwohl wir gerade in eine unübersichtliche Kurve fuhren. Knatternd stob die Plastekarosse vorbei. Dann bremste der Trabi meinen BMW aus. Reaktionsschnell stieg ich auf die Bremse. »Was ist denn das für 'n Komiker?!« fluchte ich. Zwei Männer stürzten aus der legendären Rennpappe, der man ansah, daß ihre besten Zeiten lange vorüber waren. Die Männer kamen auf meinen BMW zu. Beide trugen verschossene Jeans und verschwitzte Holzfällerhemden mit hochgekrempelten Ärmeln. Ihre Gesichter waren zorngerötet. Sie verhießen nichts Gutes. »Kennst du die Typen?« fragte ich meine Beifahrerin.
Das Mädchen senkte den Blick. Sie schwieg. Die Männer blieben auf meiner Seite stehen und glotzten durch die Scheibe ins Innere des Wagens. »Meine Tochter!« raunte der Größere von ihnen. »Geben Sie Monique heraus. Ich warne Sie. Mein Kumpel und ich, wir können sehr ungemütlich werden.« Der Sprecher rollte das R. Es klang urwüchsig. »Empfangen Sie all Ihre Gäste auf diese Weise?« Ich ließ mich nicht beeindrucken. »Ungewöhnlich für ein Seebad von internationalem Ruf. Finden Sie nicht?« »Soll ich ihm…?« Der zweite Mann drängte sich vor. Rauflustig hob er die Fäuste. »Nein. Warte.« Der Größere schnappte nach Luft. »Noch… nicht!« Ich sah, daß der vierschrötige Kerl aufgeschlagene Fingerknöchel hatte. Ein Mann, der Probleme auf seine Art löste. Er war etwas blaß um die Nase herum ein verblühtes Veilchen um sein rechtes Auge brachte etwas Farbe in sein breitflächiges Gesicht. »Zum letzten Mal, Sie arroganter Heini!« bellte der Trabifahrer. »Geben Sie…« »Wenn das Mädchen Ihre Tochter ist« unterbrach ich ihn, »und Sie so scharf darauf sind, sie ständig um sich herum zu haben, dann passen Sie gefälligst besser auf sie auf.« Und zur Seite kommentierte ich: »Du hast mir einen Bären aufgebunden, Blondi. Von wegen Großmutter!« Monique fingerte nervös an der Türverriegelung. »Danke fürs Mitnehmen«, wisperte sie. Roland Kaiser sang Manchmal möchte ich schon mit dir, doch ich drehte ihm den Saft ab. Die Musik verklang. »Schluß jetzt mit dem Gewäsch! Ich hab endgültig die Nase voll davon!« Moniques Vater packte meinen linken Arm, der auf dem Lenkrad lag. »Ich kenne Kerle wie Sie. Dicken BMW unterm Hintern und minderjährigen Mädels nachstellen.« Monique stieg aus. Verängstigt drückte sie die Beifahrertür zu. Langsam ging sie zu dem Trabant und stellte sich daneben. Auf dem Gehsteig blieben einige Passanten stehen. Manche waren erst jetzt vom Strand heimgekehrt. Sie trugen Badetaschen aus Egelit und knalligfarbene Bademäntel. Neugierig
verfolgten sie das Geschehen. Der Zwischenfall am Straßenrand bot eine willkommene Abwechslung vom stundenlangen, doch recht eintönigen Sonnenbaden. Die Männer in den Holzfällerhemden hatten Blut geleckt. Gerd Timpe, Moniques Vater, verstärkte seinen Griff, mit dem er mich noch immer gepackt hielt. Er kniff die Augen zusammen und griente boshaft. Sein Kumpel verzog geringschätzig den Mund. Insgeheim bewunderte ich die naive Dreistigkeit meiner beiden Widersacher. Am liebsten hätte ich Gas gegeben und wäre davongerauscht. Doch mein erster offizieller Auftritt in den drei Kaiserbädern sollte nicht mit einer Blamage beginnen. Die beiden Tölpel bettelten förmlich um eine Abreibung. Um Monique ging es ihnen gar nicht mehr, den Kerlen juckten einfach nur die Fäuste. »Lassen Sie meinen Arm los!« sagte ich noch höflich. »Und das ein bißchen plötzlich, wenn ich bitten darf.« »Hört! Hört!« rief Timpe überheblich aus. »Unser gemeinsamer Freund…« Ich hatte den elektrischen Fensterheber betätigt. Die Scheibe sauste in die Höhe. Im letzter Sekunde gelang es Timpe, seinen Griff zu lösen und den Arm aus dem Auto zu ziehen. Die Wut ließ ihm die Adern auf der Stirn schwellen, als hätte er Stricke unter der Haut. Verschlagen zwinkerte er seinem Kumpel zu. Der Kleinere hieß Strantz. Er nickte tückisch und trat einen Schritt vor das Auto, um mich am Losfahren zu hindern. Die Zuschauer hielten den Atem an. Auf der Konsole unterhalb des Handschuhfaches lag ein rotglänzender Apfel. Ich nahm ihn in die Hand und stieg gemächlich aus dem BMW. Timpe und Strantz schienen einen Angriff zu erwarten. Sie duckten sich und wichen lauernd zurück, bereit, die kleinste Unaufmerksamkeit des Gegners auszunutzen, um dann erbarmungslos über diesen herzufallen. Ich hielt die Augen offen und streckte seelenruhig den Apfel empor. »Zu Ihrer Information, meine Herren. Mit Ihnen nehme ich es schon auf. Wenn sich die Herren also ein paar Beulen holen wollen!« Timpe griente höhnisch. »Aha, man kann wohl Judo und solchen
Firlefanz. - Na, dann paß mal schön auf, was wir können!« .»Genau!« echote Strantz. »Paß gut auf!« Ich kam mir vor wie ein Statist in einem inhaltslosen LowBudget-Actionfilm. Wäre ich jetzt ein Kind, dachte ich, dann würde ich einfach die Augen zukneifen und mir wünschen, daß die Typen nicht mehr da sind, wenn ich die Augen wieder aufmache. Aber ich war kein Kind mehr, sondern achtundzwanzig. Alles, was um mich herum passierte, war real. Und ich hatte einen Auftrag! Genau deswegen mußte ich mir sofort etwas einfallen lassen. Pfeilschnell riß ich einen Arm in die Luft. Ein abgehacktes, zischendes Brausen begleitete die katzengleiche Bewegung. Alle Anwesenden starrten gebannt auf die Hand, die den Apfel umfaßt hielt. »Eine Kostprobe gefällig, Männer?« Ich starrte Timpe und Strantz durchdringend an. »Stellt euch vor, ich hätte das in der Hand, was ihr irrtümlich als den Sitz eures Verstandes bezeichnet.« Die Blicke aller anwesenden Augen vereinten sich auf dem Apfel. Ich spannte meine Muskeln. Meine braungebrannten Finger umklammerten das unschuldige Stück Obst. Ohne mit den Wimpern zu zucken, zerquetschte ich den Apfel. Krachend zerplatze der köstliche Apfel. Der Saft lief über meine Finger. Ein knarrender, widerwärtiger Ton ließ die entgeisterten Leute ringsum zusammenfahren. Die Augen weit aufgerissen, sahen sie zu, wie ich den zermatschten Apfel hochhielt. Als ich die Faust wieder öffnete, befand sich nur noch ein unförmiger Klumpen Mus darin. Nur langsam erholten sich Timpe und Strantz von ihrer Überraschung. Sie standen da wie zwei Ölgötzen. Sekundenlang starrten sie den hochgewachsenen, jungen Mann mit den blonden Haaren ungläubig an. »Der Seewolf macht's mit einer Kartoffel«, entfuhr es einem der Zuschauer. »Tut mir leid«, lächelte ich gespielt unterwürfig. »Ich hatte nur 'nen Apfel dabei. Darf ich jetzt weiterfahren?« kam meine Frage an die beiden Schläger. Die Männer in den Holzfällerhemden antworteten nicht. Sie
dachten sich ihren Teil. Dann hatten sie es plötzlich sehr eilig. Timpe schubste seine ungehorsame Tochter in den Trabi. Kurz darauf heulte der Zweitakt-Motor auf, und der Kleinwagen verschwand knatternd hinter seiner bläulichen Auspuffwolke. Der kleine Menschenauflauf verlief sich wieder. Ich hielt nach einem Abfallcontainer Ausschau. Direkt neben dem Schaufenster eines Bäckergeschäfts war einer. Über der Eingangstür des Ladens war ein großes Reklameschild angebracht, das wie ein Baumkuchen aussah. H. G. Krösing stand darauf. Der Abfallcontainer war aus Plastik und giftgrün. Als ich an den Behälter herantrat, um den zermanschten Apfel in den Schlitz zu werfen, stutzte ich mit einemmal. Mein Siegelring begann schwach zu glimmen und kaum wahrnehmbare Wärme auszustrahlen. Immer, wenn er das tat, signalisierte er seinem Träger dämonische Aktivitäten… Irgendwas stimmte hier also nicht! Prüfend sah ich mich um. Mein geschulter Blick schweifte vom Granitpflaster hinauf zur Fassade des imposanten Gebäudes. Eigentlich fiel mir nichts Verdächtiges auf, lediglich eine unscheinbare Delle am Rauhputz. Doch der Ring hatte reagiert! Dann trat ich ganz nahe an die Mauer heran. Behutsam betastete ich die Vertiefung. Sie fühlte sich ein bißchen zähflüssig an, als klebte altes Blut daran. Als ich anschließend meinen Zeigefinger unter die Lupe nahm, bestätigte sich meine Vermutung. Unter meinem eben noch sauberen Fingernagel befanden sich kaum sichtbare Partikel von eingetrocknetem Blut. Eine böse Vorahnung beschlich mich. Hatte Mephisto, der Antichrist, diesmal auf der Bäderinsel Usedom seine Schlingen ausgelegt? Zügig fuhr ich die Bansiner Seestraße hinunter, bog in die Waldstraße ab und befand mich kurz darauf in Heringsdorf. Der Ort, aus dem der Hilferuf gekommen war. Ich war gespannt, ob der Mann, der meinen Adoptivvater nachts in Weimar angerufen hatte, Licht in das Dunkel bringen konnte. Der Mann hieß Alfred Rietböhl. *
Im Haus Strandstraße vierzehn herrschte Grabesstille. Frau Wendland, Rietböhls Wirtin, war seit den Vorkommnissen in der gestrigen Nacht mit den Nerven am Ende. Die Vorstellung, daß in demselben Haus, in dem sie wohnte, ein Mensch, den sie jahrelang gegrüßt hatte, als kopfloser Leichnam herausgeschafft worden war, war einfach zuviel für die Köchin. Nachdem sie einige organisatorische Fragen mit ihrem Untermieter besprochen hatte, floh sie zu ihrer Schwester, die ein kleines Holzhäuschen in der Nähe des Heringsdorfer Bahnhofs besaß. Alfred Rietböhl öffnete also selbst, als ich an der Tür klingelte. Wir machten uns bekannt, und ich fand auf Anhieb Gefallen an dem hageren, alten Mann mit der auffälligen Knollennase. »Ich habe geglaubt, Sie wären älter.« Verdutzt musterte Rietböhl seinen Besucher. »Ihre Stimme klang eher wie die eines Mannes meines Alters.« Ich grinste. »Als Sie anriefen, war mein alter Herr am Apparat. Nicht ich. Es scheint eine sehr ernste Angelegenheit zu sein.« Rietböhl nickte tiefsinnig. Wir gingen ins Gästezimmer. Darin gab es eine häßliche Deckenlampe mit quittengelbem Schirm, die den kleinen Raum spärlich beleuchtete. Vor dem einzigen Fenster hingen altmodische Stores. Die gelbbraun gemusterten Vorhänge waren nicht zugezogen. Kleiderschrank, Kommode und Eisenbettstelle komplettierten die spartanische Einrichtung. Da wirkte das unterarmlange Kruzifix mit der gekreuzigten Jesusfigur bereits wie Luxus. »Einen Drink?« fragte Rietböhl. Ich schüttelte den Kopf. »Vielleicht später.« Und in Gedanken sehnte ich mich nach einem kühlen Brausebad, einem noch kühleren GinTonic und einer Frau. Doch vorläufig gab es wichtigere Dinge für mich. Wir setzten uns auf zwei wurmstichige Holzstühle, Überbleibsel aus einem Ferienheim des ehemaligen Arbeiter-und-Bauern-Staates. »Womit soll ich anfangen?« Rietböhl wirkte nervös. »Egal. Schießen Sie einfach los!« »Ich will's kurz machen«, sagte Rietböhl. »Halten Sie mich bitte nicht für einen senilen Hysteriker. Aber ob Sie's glauben, oder nicht, ich bin der Ansicht, daß es hier nicht mit rechten Dingen
zugeht.« »Worauf stützt sich Ihre Vermutung? Spukt es?« Der Alte beobachtete seinen Besucher. Aber es sah nicht so aus, als wollte er mich auf den Arm nehmen. Er räusperte sich und fuhr mit bewegter Stimme fort: »Erster Fakt: Eine Frau, die ihr Leben lang als willenlose Dienerin ihres Göttergatten fungiert hat, dreht plötzlich durch. Nach einem Streit, wie es wohl viele andere zuvor gab, greift sie nach einem Messer und sticht ihn einfach ab.« »Das könnte psychische Ursachen haben«, warf ich ein. »Es gibt da Fälle…« »Dachte ich auch zuerst.« Rietböhl faltete die Hände auf dem Tisch. »Aber dann hörte ich, wie sich zwei Polizisten im Treppenhaus unterhielten, gestern nacht. Sie waren der Meinung, daß eine Frau von ihrer Statur niemals die Kraft gehabt hätte, das Opfer mit einem einzigen Streich zu enthaupten. Die Schnittränder waren glatt wie die Oberfläche eines Spiegelglases.« »Ich hörte, die Frau sei flüchtig.« Rietböhl nickte. »Bisher ist sie noch nicht wieder aufgetaucht. Sicher irrt sie irgendwo im Wald herum. Davon gibt's hier genug. Oder sie hält sich in irgendeinem gottverlassenen Abrißhaus versteckt. Sonst hätte man sie doch schon aufgegriffen.« »Punkt zwei?« Ich war ganz Ohr. Rietböhl breitete eine Zeitung aus und las mir von einem Vierzehnjährigen vor, der plötzlich den unstillbaren Drang verspürt hatte, im wahrsten Sinne des Wortes mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. Neben dem Artikel war ein kleines Schwarzweißfoto vom Schauplatz abgedruckt. Überrascht riß ich die Augen auf. Das Foto zeigte haargenau dasselbe Gebäude, vor dem ich vor einer Stunde gestanden hatte, um den zermanschten Apfelbrei in den Container zu werfen. Grübelnd betrachtete ich meinen Silberring. Dieser Rietböhl hatte recht, sinnierte ich. Alle Anzeichen deuteten darauf hin, daß ER sich erneut zu Wort gemeldet hatte. Die Frage war nur, in welcher Form? Nachdem seinem Sohn Dracomar in Weimar eine gehörige Abfuhr erteilt worden war, hatte Mephisto diesmal anscheinend in eine andere Trickkiste
gegriffen. Ich preßte die Lippen zusammen. ER mußte Gehilfen haben, ohne Zweifel. Möglicherweise gab es auf der Insel einheimische Spukgestalten, deren ER sich bediente? Kreaturen aus der Hölle, seit Ewigkeiten totgesagt, denen ER wieder Leben eingehaucht hatte? »Gibt es einen dritten Fakt?« fragte ich mein Gegenüber. Rietböhl glich mit einemmal einem unter Überdruck stehenden Kochtopf. Er fing an zu schwitzen, schnappte nach Luft und zitterte. Wie ein ABC-Schütze rutschte er unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Gibt es«, sagte er dann rauhhalsig. »Doch es ist mehr ein Erlebnis, das ich gestern hatte.« »Erzählen Sie!« »Nun ja, im Haus hier lebt ein kleines Mädchen. Sie heißt Aline. Ihr Vater ist im vergangenen Jahr verunglückt. Als ich mich gestern abend im Wohnzimmer mit ihrer Mutter unterhalten habe, da brüllte sie plötzlich wie am Spieß. Wir rannten fix rüber, ihre Mutter und ich. Aline saß im Bett und starrte auf ihre Füße. Sie behauptete, jemand müsse in ihrem Zimmer gewesen sein…« »Und? War jemand da?« »Nicht die Bohne. Jedenfalls habe ich nichts bemerkt. Türen und Fenster waren verschlossen. Ich habe ihrer Mutter eingeredet, die Kleine hätte nur geträumt.« »Aber?« »Seit diesen haarsträubenden Vorfällen in den letzten Tagen denke ich allmählich, alles ist möglich. Außerdem plagen mich scheußliche Alpträume. Dazu dieser grauenerregende Entsetzensschrei, aus vollem Halse. Ich dachte für einen Moment, mir wächst ein Gefieder.« Gerade wollte ich fragen, welcher Art die Alpträume des alten Mannes waren, als es schüchtern an die Tür klopfte. Wir wechselten die Blicke. »Erwarten Sie jemanden?« fragte ich leise. »Eigentlich nicht.« Rietböhl ging zur Tür. Es war Astrid Glaubach, Alines Mutter. Ich staunte nicht schlecht, als ich sah, wie hübsch die Frau war. Sie hatte ein hellblaues, kurzärmeliges Strandkleid an. Was für ein himmlischer Anblick! Wie elektrisiert fuhr ich von meinem Stuhl auf. Mit Blicken
verschlang ich die Frau und spürte plötzlich den Druck meiner Waffe. Oder war es was anderes? Ich riß mich echt am Riemen. Es kostete mich einige Mühe, das, was sie in mir ausgelöst hatte, zu überspielen. Ich gab mir alle erdenkliche Mühe, einen guten Eindruck zu machen. Gut, sie war vielleicht etwas älter als ich, aber das war Tessa Hayden, meine Freundin, auch! »Oh, Sie haben Besuch?« Astrid blickte verblüfft über Rietböhls Schulter. »Ich wollte wirklich nicht stören.« »Darf ich bekannt machen?« Der Mann mit der Knollennase zeigte von einem zum anderen. »Mark Hellmann aus Weimar. Astrid Glaubach aus Seebad Heringsdorf.« Als wir uns die Hände schüttelten, wußte ich: Es war nicht die SIG Sauer, die mich drückte. Eigentlich überraschte mich dieser Umstand nicht sehr. Was mich jedoch überraschte, war, daß mein Ring glomm. Ein kleines Mädchen erschien in der Tür. Neugierig zupfte sie an ihren Löckchen… * Bis auf gelegentliches Rascheln war es ruhig im Wald. Die Finsternis hatte ihre allmächtigen Flügel ausgebreitet. Stumm standen die Bäume, das Buschwerk und der Farn. Ein Nachtvogel stieß einen kurzen, abgehackten Ruf aus. Töten… Ein Knacken ertönte. Jemand zertrat einen vertrockneten Ast. Auf dem weichen Moos des Waldes lagen genug davon herum. Ein Funkeln. Das silbrige Mondlicht widerspiegelte ein metallisches Glitzern, nur einen Augenaufschlag lang. Röcheln. Die Gestalt, die aus dem Schoß der Nacht auf den schmalen, holprigen Weg am Rand des Waldes trat, war klein, bewegte sich geduckt vorwärts und gab merkwürdige, unartikulierte Wortfetzen von sich. Mit der Stimme einer Frau. »Tod… dammnis… Hol… komme.« Plötzlich blieb die Gestalt stehen. Sie neigte den Kopf und
lauschte angespannt. Dann glitt sie geschmeidig wie ein jagendes Raubtier in die entgegengesetzte Richtung. Töten… * Mike Wollnitz war bester Laune. Endlich hatte er, was er wollte. Monique hatte ihrem Vater ein Schnippchen geschlagen. Endlich einmal war sie dem Ollen entwischt. Sie saßen auf den Vordersitzen des zweitürigen VW Golf, Baujahr 1982. Der Wagen stand auf einem Waldweg, unmittelbar am Großen Krebssee. In der Nähe war das Forsthaus Fangel. Aber das idyllisch gelegene Ausflugscafe hatte nur am Nachmittag geöffnet. Nachts sagten sich hier in der Gegend die Füchse gute Nacht. Das war der Grund, weshalb Mike seine Flamme hierher geführt hatte. »Du hattest fest versprochen, mich gestern abzuholen.« Monique sah den Freund grimmig an. »Wieso bist du eigentlich nicht gekommen?« Das Autoradio war leise angeschaltet. Mick Jagger zelebrierte >Anybody Seen my Baby?< Mike mochte die Rolling Stones. Er hatte die ganze Musikkassette voll davon. Die CD, die er sich von einem Kumpel überspielt hatte, hieß >Bridges To Babylon<. Mike rauchte eine Zigarette. Er war achtzehn, hatte einen Borstenschnitt und besaß seit einem Monat den Führerschein. Genüßlich behielt er den Qualm im Mund. Dann spitzte er den Mund, versuchte, einen Rauchkringel zu zaubern. Es mißlang, und er tat einen weiteren Zug. »Du, ich hab dich was gefragt.« »Überstunden«, brummte Mike. »Was sonst?« »Mich einfach zu vergessen. Total ätzend von dir. Ich mußte trampen.« »Du und trampen«, sagte er verächtlich. »Das erzähl mal deinem Alten. Du hast doch schon Schiß, wenn dich einer auf der Straße fragt, wie spät es ist.« Mike blinzelte zur Seite. Das grünliche Licht des Armaturenbretts spiegelte sich von der Haut des Mädchens wider. Hat 'ne geile Figur, meine Lütte, dachte er zufrieden. Wenn ich meinen Glimmstengel auf gepafft habe, werde ich mal
überprüfen, ob auch alles echt ist, was da unter ihrem Pulli wackelt. »Du glaubst mir nicht?« Sie sah ihn wütend an. Er erschrak ein bißchen. Ein zickiges Girl war das Letzte, was er jetzt brauchte. »Doch, natürlich«, beschwichtigte er sie. »Wieso sollst du nicht getrampt sein? Bloß angekommen bist du nicht. Das mußt du zugeben.« »Toller Typ, der mich da mitgenommen hat«, schwärmte Monique. »Hatte 'n astreines stahlblaues BMW-Coupe…« »Ich finde Porsche cooler«, unterbrach er sie. »…und Muskeln aus Stahl«, fuhr sie unbeirrt fort. »Am ulkigsten fand ich seinen Ring. War 'n richtiger Koloß von Fingerring, sag ich dir. Mit 'nem Wappen drauf. Als ich noch klein war, habe ich mir vorgestellt, daß Königinnen solche Ringe tragen.« »Märchenstunde?« »Mit dir kann man über gar nichts reden«, fuhr sie auf. »Tut mir leid.« Sein Blick kroch wieder über ihren Pulli. »Erzähl weiter, Monique.« »Naja, wir haben uns 'ne Runde unterhalten. Er sagte, er fände die Insel voll geil, bloß der Friedhof am Straßenrand störte ihn.« »Du hast ihm doch nicht etwa erzählt, wie hier nachts die Post abgeht?« »Wieso nicht? Weiß doch sowieso jeder.« Mike nahm einen tiefen Lungenzug. »Auch wieder wahr. Hauptsache, du nennst keine Namen.« »Für wen hältst du mich?« fragte sie wie aus der Pistole geschossen. »Ich verpetze doch keinen.« »Schon gut, Süße«, sagte er wohlwollend. »Weißt du, wo dein Mr. Superman herkam?« Sie nickte. »Weimarer Nummernschild.« Dann sah sie den Freund beschwörend an. Den Höhepunkt ihrer Geschichte hatte sich Monique bis zum Schluß aufgehoben. »Wir waren schon in Bassin, in der Seestraße, auf einmal taucht mein Alter auf, mit seinem Saufbruder, dem unterbelichteten Strantz.« »Au weia.« Mike verzog leidenschaftslos das Gesicht. »Hat er diesem BMW-Fuzzi die Hölle heißgemacht?« »Kann man sagen. Aber der blieb ganz locker. Ich dacht schon, gleich prügeln die sich. Aber dann holte der Typ 'n Apfel aus dem
Auto und…« »…hat ihn gegessen?« Mike kicherte albern. »Dämlack!« schnauzte Monique. »Er hat den Apfel in der Faust zu Brei gequetscht. Du, Mike, ich hab noch nie gehört, daß das einer geschafft hat.« »Pah«, Mike winkte geringschätzig ab. »Alles Mache. Der Kerl hat das Ding vorher abgekocht oder so. Der wollte bloß 'n bißchen Tamtam machen. Das ist alles. Sag jetzt nicht, dein Alter und Strantz, diese Hirnies, sind darauf reingefallen?« »Der Apfel war nicht gekocht. Ich hab ihn doch von nahem gesehen.« »Dann war er irgendwie anders präpariert. Du, heute gibt es Tricks, die sehen so echt aus, daß jeder darauf reinfällt. Guck dir bloß den Copperfield an. Glaubst du wirklich, daß der mit 'nem Krummschwert Frauen zerschneidet?« Monique sagte nichts. Sie gab es auf. Mike würde es sowieso nicht kapieren. Er glaubte bloß, was er glauben wollte. Vor ihrem geistigen Auge erschien das Bild des großen blonden BMW-Fahrers. Er stand da, mitten auf der Straße, und hielt einen grüngestreiften Kürbis in den Händen. Ein Mädchen tauchte auf, sie selbst. Der Mann lächelte ihr zu und fragte, ob er es tun solle. Sie nickte freudestrahlend. Daraufhin zerquetschte er den Kürbis, daß ihnen das rote Fruchtfleisch um die Ohren spritzte. Plötzlich empfand Monique Lust. Sie spitzelte mit der Zunge an ihren trockenen Lippen. »Es ist schon spät, Süße.« Mike drückte die Zigarette aus. Monique spürte seine warme Hand auf ihrem Knie. Heißer Atem, der nach Qualm roch, schlug ihr ins Gesicht. Das Mädchen fröstelte, obwohl die Nacht warm und anheimelnd war. Sie schloß die Augen. Seufzend spitzte sie die Lippen. Mike regulierte die Lautstärke des Autoradios und küßte sie. Draußen raschelte es, ziemlich nahe. Monique entwand sich dem Griff des Jungen. »Mike, hast du das eben auch gehö…« Sie beendete den Satz nicht. Es raschelte abermals. Näher als beim ersten Mal. Dazu ertönte das Knacken eines zertretenen Astes.
Unfähig, sich zu rühren, starrte Monique durch die Windschutzscheibe in die Finsternis. Ein Schatten. Monique preßte eine Hand auf ihre Lippen. Die Augen unnatürlich aufgerissen, versuchte sie, in der Nachtschwärze etwas zu erkennen. Tatsächlich! Ein Schatten witschte über die Motorhaube. Nur einen Augenaufschlag lang. Aber Monique hatte ihn genau gesehen. Sie biß sich auf die Unterlippe. Dann blickte sie zu Mike. »Was, um Himmels willen, war - das?« hauchte sie. Mike Wollnitz war stocksauer. Eben noch einen Katzensprung vom Ziel seiner Wünsche entfernt, saß er nun wieder in den Startlöchern. Unwirsch nahm er seinen lüsternen Blick von dem prall gefüllten Pullover seiner Freundin. »Vielleicht 'n Spanner. Was sonst?« Mike machte Anstalten, auszusteigen. Aber dann überlegte er es sich wieder. »Oder glaubst du, es ist die Weiße Frau, die nachts umgeht, um erlöst zu werden?« »Quatsch mit Soße! Mike, du machst dich über alles lustig!« Das Mädchen flehte ihn an. »Machen wir lieber, daß wir hier fortkommen. Mir ist unheimlich. Irgendwie habe ich eine böse Ahnung.« Mike winkte verächtlich ab und drehte die Musik wieder lauter. Er hob die rechte Hand, um den Wagen anzulassen. Die Stones sangen gerade >Thief in The Night< - da brach das Unheil über die jungen Leute herein. Töten… Die Frontscheibe platzte mit einem hohlen Knall. Glassplitter jeglicher Größe flogen den beiden Autoinsassen um die Ohren. Aufschreiend sanken sie in die Sitze. Ihre Kinnladen klappten eine Etage tiefer, als sie sahen, mit wem sie es zu tun hatten. Es war eine Frau. Sie trug ein zerfetztes Nachthemd. Sie kroch ihnen vom Kühler durch das Loch in der Scheibe entgegen. Ihr Gesicht war blutverschmiert und verdreckt. In der einen Hand hatte sie ein blitzendes Messer. In der anderen hielt sie den
abgetrennten Kopf eines Mannes - am Haarschopf gepackt. Die gebrochenen Augen glotzten blicklos. »Töten«, schnarrte ihre Stimme. Es klang so, als bettelte ein Kleinkind um eine Süßigkeit, die man ihm hinhielt, aber nicht sofort gab… Im Liegen holte die Angreiferin mit dem Messer aus. In Richtung des Mädchens, das vor panischer Angst zitterte, daß ihr die Zähne aufeinanderschlugen. Da verlor die schreckliche Frau das Gleichgewicht und rollte auf die Seite. Doch schnell richtete sie sich auf. Erneut attackierte sie die Teenager. Jetzt erwachte in Mike der Beschützerinstinkt. So leicht gab ein Mike Wollnitz seine Freundin nicht her, auch nicht dieser abgedrehten, messerschwingenden Wahnsinnigen. Kämpfen… Mike ballte die Fäuste. Voller Zorn und mit all seiner Kraft schlug er in die dämonisch grinsende Fratze, die sich ihnen mordlüstern näherte. Aber das Brausen des todbringenden Messers erfüllte bereits die Kabine des VWs. Die Hiebe trafen fast gleichzeitig. Allerdings mit äußerst unterschiedlichem Resultat… * Eine Pension nahe der Strandpromenade. Ich hatte Glück gehabt und das letzte freie Zimmer ergattert. Gerade stand ich unter der Dusche, als mein Handy auf dem Nachtschränkchen klingelte. Tessa Hayden rief an. »Du bist Hals über Kopf, aus Weimar verschwunden, Mark. Bei Nacht und Nebel, ohne mir ein Sterbenswörtchen zu sagen. Weißt du, wie ich das finde?« »Tessa, ich…« »Schämst du dich nicht?« »Tessa!« »Ich denke ernsthaft daran, dir böse zu sein.« Ihre Stimme klang ein wenig schrill. Ich vergrößerte unwillkürlich den Abstand zwischen Handy und Ohr. Bevor ich ein
einziges Wort erwidern konnte, plapperte sie schon munter weiter: »Ich war in Landfried, bei deinen Eltern. Ulrich hat mir reinen Wein eingeschenkt. Erst hat er herumgedruckst, als wolle er nicht so recht raus mit der Sprache. Aber du weißt, auf Dauer widersteht mir kaum jemand. Und bei Ulrich habe ich sowieso einen Stein im Brett. Er hat gesungen wie eine Nachtigall. Wie er mir sagte, geht es bei dir um einen Hellseher, einen geköpften Hauspascha und…« Ich wußte, daß Tessa nicht die Absicht hatte, mich zu kontrollieren. Sie sprach nur aus, was sie glaubte, mir unbedingt sagen zu müssen. Sie machte sich halt Sorgen. Dennoch bremste ich ihren Wortschwall. »Beruhige dich, Tessa! Ich hätte dich heute noch angerufen. Ehrenwort. Aber die Dinge hier stehen schlechter, als ich angenommen habe. Viel schlechter.« »Wie meinst du das?« Jetzt flüsterte sie fast. »Hat ER seine Hand im Spiel?« Ich hatte das Fenster geöffnet. Die See rauschte. Möwen schrien unter wolkenlosem Himmel. Der Morgen versprach, zu einem herrlichen Sommertag zu wachsen. »Die Anzeichen deuten darauf hin. Aber diesmal ist es anders als sonst. Ich vermute, ER hat Handlanger, die es irgendwie schaffen, Personen zu manipulieren. ER selbst hält sich im Hintergrund, spinnt nur die Fäden. Seine Helfer scheinen Macht über ein Kind gewonnen zu haben.« »Ein Kind?« Ich hörte, daß Tessa mit einem Kloß im Hals kämpfte. »Ja, leider«, setzt ich meinen Bericht fort. »Es ist ein kleines Mädchen. Acht Jahre alt. Gestern abend, als ich ankam, traf ich sie. Ich sprach gerade mit ihrer Mutter, die diesem Rietböhl einen Besuch abstattete. Rietböhl ist…« »…der Mann, der Ulrich informierte. Ich weiß.« »Genau. Er ist ein drolliger Kerl. Kommt aus Koblenz. Wollte nach fünfzig Jahren seinen alten Kumpel besuchen. Aber der lag gerade im Sterben. Konnte bloß noch Hellmann sagen. Dann war er tot. Ich schätze, dieser Karl Dröse muß eine Vision gehabt haben. Aber ich kann ihn nicht mehr fragen. Tote sind nun mal schlechte Geschichtenerzähler. - Mein Ring fing an zu glimmen. Es ist ein untrügliches Zeichen, daß eine dämonische Macht am
Werke ist. Du bist ja im Bilde. Allerdings war es ein recht schwaches Glimmen. Ich wollte mit Aline, so heißt das Mädchen, reden, aber es war schon sehr spät. Außerdem hatte die Mutter was dagegen.« Tessa horchte auf. »Was ist sie für eine Frau, diese Mutter?« Sie sprach die Frage mit merkwürdigem Unterton aus. Ich wußte, daß ich mich jetzt auf dünnem Eis befand. Zwar hatte ich Tessa nicht die Ehe versprochen, doch sie wollte mich mit Haut und Haaren, für sich allein und für immer. »Was soll sie für eine Frau sein? Eine Mutter eben, die sich Sorgen um ihr einziges Kind macht. Immerhin ist in dem Haus, in dem sie wohnt, ein Mensch auf bestialische Weise ums Leben gekommen. Er wurde enthauptet, als hätte man ihn unter ein Fallbeil gelegt.« Tessa sah rot. In ihrer unnachahmlichen Art klammerte sie sich wie eine Klette an ihre Vorahnung. »Sie ist sehr hübsch, nicht wahr?« »Ich bitte dich. Wie kannst du jetzt eifersüchtig sein?« »Und blond. Ich wette meinen letzten Lippenstift. Sie ist blond und hat ganz schön Holz vor der Hütte. Stimmt's, oder habe ich recht?« Nicht schlecht auf die Entfernung, dachte ich und bemühte mich um eine neutrale Stimme. »Du siehst Gespenster, Tessa. Hier geht es um einen Mord, und wahrscheinlich wird es nicht bei. dem einen bleiben. Und du? Quetscht mich über die Haarfarbe von Alines Mutter aus. Tessa, ich muß schon sagen…« Ich ließ meine Worte wirken. Da hörte ich, wie am anderen Ende der Leitung ein Seufzer erklang. »Tut mir leid«, sagte Tessa zerknirscht. »Offenbar bin ich momentan eine Idee zu überempfindlich. Schwamm drüber! Also, was hast du vor?« Ich atmete auf. Natürlich mit abgewandtem Gesicht. Bei Tessa konnte man nie wissen. Sie hörte die Flöhe husten, wenn sie es darauf anlegte. »In einem kleinen Dorf am Schmollensee, mit dem Wagen zehn Minuten, gibt es jemanden, der Karl Dröses Gabe, in die Zukunft zu sehen, entdeckt hat. Schon kurz nach dem Krieg. Eine alte
Frau von fast hundert Jahren. Ich werde ihr heute einen Besuch abstatten. - Ach so, noch eines, Tessa!« Ich konnte mir den Seitenhieb nicht verkneifen. »Ja, was denn?« »Sie ist nicht - blond.« Es tutete. Tessa Hayden hatte aufgelegt. * Astrid Glaubach hatte mir von der Hellseherin erzählt. Man sprach nur hinter vorgehaltener Hand über die alte Wilhelmine und ihre geheimnisvollen Fähigkeiten. Die Selliner fürchteten sich vor ihr, gingen ihr aus dem Wege und ignorierten sie, wann immer sie es sonnten. Ich parkte meinen BMW auf einem deinen Platz, inmitten des Dorfes. Das Haus, in dem die Hellseherin wohnte, war das letzte an einem schmalen Trampelpfad, der anschließend in einen Wald mündete. Es war ein Lehmhaus, einstöckig, mit bemoostem Strohdach und grünen Fensterläden. Obwohl es heller Tag war, waren die Vorhänge zugezogen. Eine fette Katze lag auf der Treppe, die zur zerkratzten Haustür führte. Unter dem Haus gackerten Hühner. Es gab keine Klingel, deshalb klopfte ich. Über dem weißen T-Shirt trug ich einen ockerfarbenen Blazer, um meine Pistole zu verbergen. Im Haus blieb es still, also klopfte ich noch einmal, diesmal kräftiger. Irgendwo krähte ein Hahn. Es roch nach Stalldung und Katzendreck, aber auch nach duftendem Heu, Blumen und frisch gemähtem Gras. Hinter der Tür erklangen schlürfende Schritte. »Wer ist da?« krächzte eine Stimme, die sich anhörte, als hätte sie Jahre kein einziges Wort zustandegebracht. Ich nannte höflich meinen Namen. »Was wollen Sie, Herr?« »Mit Ihnen reden.« »Über was?« »Karl Dröse«, ließ ich die Katze aus dem Sack.
»Er ist tot. Wozu über ihn reden?« »Es geht um Leben und Tod.« »Das geht es wohl immer.« Die Stimme gewann allmählich an Substanz. »Sind Sie von der Zeitung, Herr?« »Ja«, gab ich zu. »Wollen Sie nicht öffnen? Durch die Tür spricht es sich nicht gut.« Schweigen. Dann: »Wie geht es Ihrem Vater?« Während ich darüber nachsann, ob die Frau tatsächlich meinen Vater meinte oder ob es nur eine belanglose Redensart war, knirschte der Schlüssel im Schloß. Die Tür ging auf. Wilhelmine Kroll war der mit Abstand älteste Mensch, dem ich, Mark Hellmann, je gegenübergestanden hatte. Die Frau reichte mir knapp bis zur Brust. Ihre verhutzelte, schmalgliedrige Gestalt verbarg sie unter eine Vielzahl von Röcken und Strickjacken. Trotz der Wärme trug sie ein aschgraues Kopftuch, unter dem vereinzelt schlohweiße Haare hervorlugten. Ihr Gesicht glich einem zerknüllten Fetzen Einwickelpapier, aschgrau, faltig, ledrig. »Treten Sie ein, junger Mann!« sagte sie. Ich folgte ihr in einen winzigen Flur, rechts ein Vertiko, links eine Holztreppe, die zum Boden des einstöckigen Hauses führte. Daran schloß sich die schlauchförmige Küche an. Es gab einen Kohleherd, einen Geschirrschrank und einen Holztisch, neben dem zwei grobgezimmerte Schemel standen. Die Wände waren gekalkt und einst weiß gewesen. Der Boden bestand aus groben Steinfliesen und Holzbohlen. Seit hundert Jahren schien die Zeit in diesen Räumen stehengeblieben zu sein. »Sie leben allein?« fragte ich. »Natürlich. Ich halte mich von den Menschen fern. Und Sie sehen, es geht mir gut.« Hinter der Antwort steckte jahrelang aufgestauter Groll. Wir setzten uns auf die Schemel. Ich sah mich um, während sie einen kurzen Blick auf meinen silbernen Siegelring warf. Wie die Behausung einer Hellseherin sah es hier nicht gerade aus, dachte ich. Nirgendwo lagen Tarotkarten, Wünschelruten, astrologische Tabellen oder standen geheimnisvolle Tinkturen. Lediglich zwei weiße Altarkerzen brannten flackernd auf dem hinteren Teil des Herdes.
»Wie kamen Sie vorhin darauf, mich nach meinemVater zu fragen?« forschte ich. »Ist Ulrich Ihnen schon einmal begegnet?« Die Frau hüstelte. Sie starrte mich aus ihren tiefen, unergründlichen Augen an. »Sie sind hier, um sich bei mir Rat zu holen«, sagte sie statt dessen. »Was gibt Ihnen Gewißheit, daß gerade ich es bin, die Ihnen helfen könnte?« »Sie kannten Karl Dröse. Und Dröses letzte Worte, bevor er starb, waren: Hellmann, Weimar.« Dröse schien das Zauberwort zu sein. Die Greisin blinzelte unmerklich. Aber ich hatte es bemerkt. Nachdem sie eine Zeitlang geschwiegen hatte, holte sie tief Luft und sagte: »Karl hatte eine einzigartige Gabe. Und er ging daran zugrunde, daß er anderen half. So ist das, junger Mann. Es kostet einen Seher viel Kraft, seine Gabe zu aktivieren und sie für andere nutzbar zu machen. Manche von uns werden so selber leichter verwundbar, anfälliger gegen Krankheiten. Und manche sterben sogar, bevor sie an der Reihe sind.« Sie machte eine Pause. »Bevor sie an der Reihe sind?« forschte ich. Die Hellseherin nickte. »Ja. Aber Sie gefallen mir, junger Mann«, sagte sie. »Ich spüre, Sie sind keiner von denen, die rücksichtslos Macht und Geld nachjagen. Vielmehr scheinen Sie mir ein uneigennütziger, aufopferungsvoller Mensch zu sein. Das ist selten heutzutage.« Ich lächelte verlegen. Auf dem Tisch stand eine Holzschale, über der ein Spitzendeckchen lag. Die Frau hob das Tuch. Eine bläulich glitzernde Kristallkugel wurde sichtbar. Ihre Hand hielt die Kugel wie eine Vogelkralle. »Woher haben Sie Ihren Ring?« fragte sie. »Ich war ungefähr zehn Jahre, da fand man mich in der Nähe von Weimar auf. Ich hatte mein Gedächtnis verloren. Um den Hals trug ich diesen Ring, an einem Lederband, worauf die Initialen M und N graviert waren. Daraus machten meine Adoptiveltern die Vornamen Markus Nikolaus. Ich habe herausgefunden, daß der Ring auf teuflische Aktivitäten reagiert. Am Ort der höchsten Konzentration sendet er einen Lichtstrahl aus, mit dem ich Symbole auf die Erde zeichnen kann.«
Die Hellseherin hielt den Kopf schief. »Sie wissen demnach nicht, wo und wann Sie geboren sind?« »Nein, woher?« »Was für ein Tag war es, als man Sie fand?« »In der Nacht zum 1. Mai, der Walpurgisnacht.« Sie nickte, als hätte sie die Antwort erwartet. Eine Zeitlang schaute sie in die Kristallkugel. Dabei summte sie leise eine traurige Melodie. Plötzlich reckte sie den faltigen Hals, hob den Kopf und blickte einige Sekunden an die Küchendecke. »Sie haben ein siebenzackiges Mal auf der linken Brust. In Herzhöhe. Etwa so groß wie ein Taubenei.« »Sagen Sie bloß, Sie können mir etwas über meine Herkunft verraten?« Meine Stimme schnappte fast über. Ich war aufgesprungen und starrte die Hellseherin aus geweiteten Augen an. »Das kann ich nicht.« Sie blieb gelassen. »Vielmehr möchte ich wissen, ob sich Ihr Ring in letzter Zeit bemerkbar gemacht hat.« Ich sank wieder auf meinen Schemel. In knappen Worten berichtete ich über die grausigen Vorfälle, die sich auf der Insel ereignet hatten. »Was halten Sie davon?« fragte ich die Hellseherin anschließend. »Legen Sie Ihre linke Hand auf die Kugel«, raunte sie. »Und sprechen Sie kein Wort.« Die Hellseherin schloß die Augen, hob das Kinn, legte eine Hand auf meine und konzentrierte sich. Nach einer Weile begann sie, unverständliche Worte zu murmeln. Es dauerte nicht lange, als ihre Worte klarer wurden und ich verstand, was sie sagte. »Was Sie suchen, ist abgrundtief schlecht… Tausend Jahre war es an einem sicheren Ort… Aber es ist wieder aufgetaucht… Es ist in den Händen der Unschuld… Es hat getötet, tötet wieder und wird weiter töten… Aufhalten. Man muß es aufhalten…« Ermattet sank ihr Kopf auf die Brust. Ihr Atem rasselte. »Sind Sie in Ordnung?« Ich drückte sanft ihre Schulter und erschrak dabei, weil sie so zerbrechlich war. »Was - was sagten Sie?« Wilhelmine Kroll fuhr auf, als erwachte sie aus tiefem Schlaf. Ihr Gesicht war wachsbleich. Die Augenlider
zitterten. »Ich fragte Sie, ob es Ihnen gutgeht«, wiederholte ich aufatmend. Unversehens stutzte die Frau. »Wie kalt es auf einmal ist«, flüsterte sie. »Spüren Sie es auch?« Unwillkürlich betrachtete ich meinen Ring. Doch nichts deutete auf eine Gefahr hin. Der Ring wies auf die offenstehende Hintertür, die auf einen kleinen Hof hinausführte. Innerlich verging ich beinahe vor Neugierde. Wer oder was sollte aufgehalten werden? ER? »Draußen ist es windig geworden«, sagte ich mühsam beherrscht. »Das wird es sein.« Sie legte die Kugel in die Schale zurück. »Gehen wir an die frische Luft!« Ich half ihr beim Aufstehen, und wir gingen durch die Hintertür nach draußen. Unter einem hochstämmigen Birnenbaum stand eine Sitzbank aus Stein. Ächzend ließ sich die Frau darauf sinken. Ich setzte mich neben sie. Der hintere Teil das Grundstückes war von einem verrosteten Maschendrahtzaun und meterhohen Lebensbäumen eingefaßt. Neugierige Blicke gab es hier schon lange nicht mehr. Die Hecke war dicht wie eine Wand aus Gußeisen. In das verschrumpelte Gesicht der Greisin kam wieder etwas Farbe. Während sich die Frau langsam erholte, dachte ich über Kristalle nach. Ich wußte, daß sie meist aus Silikatgestein und Wasser bestanden und ihnen eine besondere Energie nachgesagt wurde. Seit Menschengedenken wurden Kristalle von Wahrsagerinnen benutzt. Endlich fühlte sich Wilhelmine Kroll kräftig genug, um dem zappelnden Mark Hellmann einige Auskünfte zu geben. »Wissen Sie, was ein Lurjahn ist?« fragte sie. »Nein.« »Den Namen Rhetra schon mal gehört?« »Vage.« »Also, gut. Dann muß ich eben ganz weit ausholen.« Während ich unruhig hin und her rutschte, sammelte sich die Hellseherin. Dann legte sie los, und ich sperrte Mund und Nase
auf. »Vor über tausend Jahren hatten die Wenden auf der Insel Usodom-Wollin und an der unteren Oder ihre Städte erbaut. Radegast hieß ihr höchster Gott, dem in der Stadt Rhetra ein Tempel errichtet wurde. Zu Radegasts Gefolge gehörten auch Tara, der pfeilbewaffnete Donnergott, und Odin, der Löwenköpfige. Dann aber fielen die Sachsen über die Elbe ein. Sie ermordeten jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Schon damals waren Mecklenburg und Pommern schöne Länder im Kranze ihrer Urwälder und blanken Seen. In Rhetra stand die Statue des höchsten Gottes, in Gestalt eines schönen Jünglings auf einer Tonnensäule aus purem Gold. Die Wenden beschlossen, ihr Heiligtum vor den beutegierigen Sachsen in Sicherheit zu bringen. Ritter Wernicke führte den Trupp, der den ungeheuer schweren Koloß retten sollte. Sie kamen nur mühselig voran. So wurden sie unterwegs von den rasch näher kommenden Feinden aufgebracht. Trotz heldenhafter Gegenwehr wurden Ritter Wernicke und all seine Männer getötet. Im letzten Moment war es Ihnen aber gelungen, ihren größten Schatz, den sie von ihren Vorvätern übernommen hatten, in einem Soll zu versenken.« Die Hellseherin unterbrach ihren Bericht. Wie gebannt hing ich an ihren Lippen. Eine Gänsehaut kroch über meinen Rücken. »Von Rhetra habe ich gehört«, sagte ich. »Allerdings oberflächlich. Damals, während meines Studiums. Ich habe Ethnologie studiert.« Die Greisin senkte ihre Stimme, als sie fortfuhr: »Sie schweben in großer Gefahr, Mark Hellmann. Durch einen Umstand, den ich nicht kenne, ist ein böses Relikt aus der Vergangenheit aufgetaucht. Und zwar aus Rhetra. Dort wohnten nicht nur gute Menschen, sondern auch Leute, die IHN anbeteten. ER wollte schon damals das Land der Wenden besitzen. Also suchte er sich Verbündete, die ihm helfen sollten, SEINEN Plan zu verwirklichen. Als Gegenleistung gab er Ihnen das Medaillon der Sehnsucht.« »Das Medaillon der Sehnsucht?« Die Hellseherin nickte schwach. Ihre Stimme wurde immer brüchiger. Ich saugte jedes einzelne Wort, das sie sprach, förmlich auf.
»Ja«, flüsterte sie. »Eine Zaubermünze. Sie erfüllt die sehnsüchtigsten Wünsche - aber auf SEINE Art.« »Diese Münze ist aufgetaucht?« rief ich schockiert aus. »Wer besitzt sie?« »Das Mädchen. Sie kennen es. Die gräßliche Münze muß vernichtet werden. Je schneller, desto besser, denn mit jedem geäußerten Wunsch ihres jeweiligen Besitzers wird SEINE Macht zunehmen…« Erschöpft hielt sie inne. »Und was ist ein Lurjahn?« fragte ich ungeduldig. »Was ist mit meiner Vergangenheit?« »Gehen Sie jetzt!« keuchte sie. »Es ist genug. Ich habe keine Kraft mehr. Mark Hellmann, ich bin eine alte Frau und brauche nun Ruhe.« »Der Lurjahn?« »Lassen Sie mich jetzt allein.« »Wer ist der Lurjahn?« Schweigen. Dann, kaum hörbar: »Er ist der Hüter des Verborgenen. Er ist ein Geschöpf der Finsternis. Aber der Lurjahn ist nicht böse. Er wird Ihnen helfen…« * Aline schreckte auf. Sie hörte, wie sich etwas durch das stockdunkle Kinderzimmer bewegte. Es raschelte und knackte leise, und ihr war, als würde ein dünnes Stimmchen unterdrückt fluchen. Die Achtjährige setzte sich im Bett auf. Sie lauschte. Aber die sonderbaren Geräusche waren verschwunden. Im Zimmer war es totenstill. Allmählich gewöhnten sich ihre spähenden Augen an die Dunkelheit. Sie überlegte, ob sie die Bankerlampe einschalten sollte, ließ es dann aber. Normalerweise hätte sie Angst haben müssen. Wer fürchtete sich wohl nicht, wenn es nachts im Zimmer spukte? Aber Aline hatte keine Angst. Schuld daran war ihr neues Empfinden, das sie spürte, seitdem sie das Goldstück besaß. Es schien ihr mitzuteilen, daß sie vor nichts auf der Welt mehr Furcht haben
müßte, weil sie jetzt unglaublich mächtige Verbündete hatte. Noch immer regte sich nichts. In den vergangenen Tagen hatte sich das Mädchen verändert. Immerhin war sie nun bald eine richtige Prinzessin! Das kleine, niedliche Kind, das gern hinterm Haus tobte und Märchenbücher verschlang, gab es nicht mehr. Sie war still geworden, verschlossen, und ihr Zimmer sah auch nicht mehr so sauber und aufgeräumt aus wie früher. Deswegen hatte es mit der Mutter schon viel Zoff gegeben. Was wußten Mütter schon über Prinzessinnen - pah! Aline schaute auf ihren Wecker. Ein Uhr nachts. Heute fing die Schule an. In ein paar Stunden mußte sie aufstehen. Eigentlich war sie gern in die Schule gegangen. Lernen hatte ihr Spaß gemacht. Es gab soviel Neues zu entdecken. Aber das war einmal. Alles blieb still. Ich werde geträumt haben, sagte sich das Mädchen. Manchmal, wenn sie intensiv geträumt hatte und dann plötzlich aufwachte, wirkten die Träume für kurze Zeit irgendwie weiter. Dann zerplatzten sie wie Luftbläschen. Aline gähnte. Sie wollte sich wieder hinlegen und weiterschlafen. Aber tief in ihr schien eine Alarmglocke zu läuten! Vielleicht sollte ich nur so tun, als würde ich schlafen, dachte sie. In Wirklichkeit bleibe ich aber wach und horche, ob es noch einmal raschelt. Sie kuschelte sich wieder unter ihre Bettdecke und machte die Augen zu. In ihrer Phantasie tauchten kleine Kobolde in ihrem Zimmer auf. Sie fragte sich, wie sie hereingekommen waren. Fenster und Türen waren doch verriegelt. Etwa durch die Wand? Oder durch den Fußboden? Sie könnten auch am Tag ins Zimmer geschlüpft sein. Es gab viele Möglichkeiten, sich vor neugierigen Blicken zu verstecken. Aline stellte sich vor, wie Kobolde aussahen. Hutzlige Männchen, die einem Erwachsenen nicht mal bis zum Knie reichen. Wenn man sie überrascht, schneiden sie schaurige Fratzen und schütteln ihre kleinen, schwarzen Fäuste. Sie haben Spinnenfinger mit Haaren dran. Ihre struppigen Barte reichen
ihnen bis zu den Knien. Wenn sie etwas sagen, klingt es, als würden Mäuse piepsen. Alines Kopf sackte tief ins Kissen. Sie seufzte noch einmal. Dann war sie eingeschlafen. Der Lurjahn atmete auf. * »Linchen! Aufstehen!« Doch das Mädchen rührte sich nicht. In die flauschige Zudecke eingekuschelt, schlief sie wie ein Murmeltier. Astrid Glaubach stand an der Tür des Kinderzimmers. Mit gemischten Gefühlen betrachtete sie ihre schlummernde Tochter. Es war halb sieben. Was ist bloß mit Linchen los? fragte sie sich. Seit ein paar Tagen war das Mädel wie ausgewechselt. Das Zimmer sah aus, als hätte sie tagsüber mit Sprengstoff experimentiert. Auf dem Fußboden lagen Puppen und Teile von Puzzles herum. Schubladen waren halb aufgezogen. Die Bücher in den Wandregalen, sonst akkurat nach Themen geordnet, standen kreuz und quer. »Linchen!« Die Mutter ging aufs Bett zu. »Wenn du dich nicht sofort von deinem Bettchen trennst, kommst du gleich an deinem ersten Schultag zu spät.« Aline hatte die Zudecke bis über ihren Kopf gezogen. Sie grunzte unwillig. Astrid Glaubach trat ans Fenster. Sie zog die Vorhänge auf und schaute hinaus. Ein herrlicher Sommermorgen. In den Bäumen vor dem Haus tschilpten Spatzen. Plötzlich wurde die Mutter auf Alines Geheimfach, eine Schublade mit Schloß, aufmerksam. Das Fach befand sich an der rechten Seite des kleinen Schreibtisches. Es war völlig zerkratzt! Auf Astrid Glaubachs, Stirn erschien eine Falte. Hatte Aline ihren Schlüssel verbummelt? Anscheinend hatte das Kind versucht, das Fach mit Gewalt aufzubekommen. Dabei gab es doch einen Zweitschlüssel. Er lag in einem der muschelbeklebten Kästchen in der Wohnstube. Nachdenklich befühlte Astrid die drei häßlichen Schrammen.
Das Furnier war ziemlich tief eingeritzt, als wären Stahlnägel darübergeratscht. Astrid stand mit dem Rücken zum Kinderbett. Sie konnte nicht sehen, daß das Gesicht ihrer Tochter von blankem Entsetzen gezeichnet war. »Geh da weg! Sofort!« kreischte Aline auf. Die Frau erschrak und fuhr herum. Alines Stimme hatte so haßerfüllt geklungen, als wolle sie der Mutter im nächsten Augenblick an die Kehle springen. Das Mädchen saß geduckt im Bett. Sein schmaler Körper zitterte vor unterdrückter Wut. »Linchen? Was hast du?« Astrid wurde blaß. »Hast du wieder schlecht geträumt?« »Du schnüffelst in meinem Zimmer herum, wenn ich schlafe. Ich will das nicht. Hörst du?« Völlig verblüfft hob Astrid die Hände. »Schon gut. Schon gut. Ich habe mich doch nur gewundert, wieso deine Schublade so verschrammt ist. Das ist alles. Hast du deinen Schlüssel verloren?« Das Mädchen starrte seine Mutter an. Langsam beruhigte es sich. »Verschrammt, sagst du?« Aline stieß aus dem Bett. »Das verstehe ich nicht. Gestern abend war die Schublade noch heil. Könnte ich schwören.« Während Aline vor ihrem Schreibtisch in die Hocke ging und sich die Kratzer ansah, holte Astrid tief Luft. »Ich geh jetzt und mache uns Frühstück.« Sie eilte hinaus. »Und beeil dich, Linchen.« Aline antwortete nicht. Während Astrid in der Küche werkelte, mußte sie immerfort an die merkwürdige Wandlung ihrer Tochter denken. Auch wenn sie keine Psychologin war, wußte sie, daß es da etwas gab, womit das Kind nicht fertig wurde. Aber was war es? Als Guntram, Alines Vater, noch lebte, da waren sie eine glückliche Familie gewesen. Jeder war für den anderen da. Sie unternahmen Ausflüge, besprachen die täglichen Dinge des Lebens und genossen es, beieinander zu sein. Aline hatte den Vater sehr geliebt. Mit seinem Tod zerbrach das Familienidyll. Immer, wenn die Rede auf den Vater kam, schaltete das Mädchen
einfach ab. Sie tat so, als hätte es ihn nie gegeben. Ein Schutzschild mit verspäteten Nebenwirkungen? Oder hing es mit diesen seltsamen Vorfällen zusammen, die die drei Kaiserbäder momentan in Atem hielten? Eine sensible kindliche Psyche reagierte nun mal anders als ein Erwachsener. Schnell verwarf Astrid den letzten Gedanken. Von den grausigen Ereignissen hatte Aline ja kaum etwas mitbekommen. Es waren Ferien gewesen, und soweit sie wußte, las Aline keine Zeitung, höchstens Märchenbücher. Die Frau schreckte die gekochten Eier ab und ließ sie in zwei kugelige Becher plumpsen. Dann goß sie Milch in ein hohes Glas und tat fünf Löffel Schokoladenpulver hinzu. So mochte es Aline am liebsten. »Aline!« rief sie. »Frühstück!« Astrid Glaubach schaltete das Radio ein. Ostseewelle, die Muntermacher. Das war ihr Lieblingssender. Sie regulierte die Lautstärke. Udo Lindenberg sang >Ein Herz kann man nicht reparieren<. Es dauerte noch eine Weile, bis Aline mißmutig blinzelnd in die Küche tappte. Sie setzte sich an den Tisch und beäugte unwirsch das Plastiketui, in dem ihr Pausenbrot lag. Schnuppernd hob sie die Nase. »Ih, Leberwurst«, sagte sie und tippte auf den Deckel. »Ich riech sie durch die Büchse. Wie ich dieses graue, zerquetschte Zeug hasse. Ich könnte auf der Stelle…« »Jetzt ist's aber genug, Linchen!« brauste Astrid auf. Fast fegte sie ihre Kaffeetasse vom Tisch. »Seit wann magst du keine Leberwurst mehr? Es ist immer deine Lieblingswurst gewesen. Schon vergessen?« Aline schnipste an das Kochei. »Hoffentlich ist der Hühnerpups nicht wieder so weich, daß man ihn aus der Schale schlürfen muß.« Vor Staunen fiel Astrid der Unterkiefer runter. Ihre Tochter hatte immer für weichgekochte Eier geschwärmt. Wie konnte sich ein Geschmack ins Gegenteil wandeln? Mit einemmal fühlte sich Astrid Glaubach sehr erschöpft. Ihr wurde bewußt, daß Aline Hilfe brauchte. Mark Hellmann fiel ihr ein. Aber schnell verwarf sie diesen Gedanken. Im Gegenteil. Sie mußte Linchen vor diesem Mann
beschützen! * Der Junge saß auf der niedrigen Mauer in der Nähe von dem Haus, in dem Aline wohnte. Bastian wartete auf sie. Schon, als sie in die erste Klasse gingen, hatte er jeden Morgen auf sie gewartet. Gemeinsam waren sie dann zur Schule gegangen. Die Sonne knallte vom Himmel, als hätte sie vor, jegliches Leben zu verdampfen. Glücklicherweise saß Bastian unter einem Baum, dessen Schatten auf die Mauer fiel. Er blickte zur Uhr. Wo blieb sie heute bloß? Sonst war sie doch immer überpünktlich. Endlich trat Aline aus dem Haus. Bastian sprang von der Mauer und winkte ihr. Zunächst schien sie ihn nicht zu bemerken. »Aline!« rief er. »Hier bin ich!« Da blieb sie stehen. Sie wirkte gereizt, zerstreut. Mit gerunzelter Stirn sah sie ihm entgegen. »Was schreist du hier morgens so rum?« fuhr sie ihn an. »Wir sind doch nicht auf dem Fischmarkt.« Bastian war baff. Er fragte sich, was sie so mitgenommen hatte. Trotzdem fand er sie kolossal niedlich, mit ihrem glänzenden blonden Haar und ihren blauen Kulleraugen. Er beobachtete sie sehnsüchtigen Herzens. Dann veränderte sich seine Miene. Ich muß Aline beeindrucken, sagte er sich. Dann wird sie sich wieder für mich interessieren. »Du, hast du den Artikel in der Zeitung gelesen, der gestern drinstand?« Lauernd sah er sie an. »Du kannst lesen?« fragte sie schnippisch. »Du meinst wohl buchstabieren, was?« Bastian zog ein düsteres Gesicht. Doch schnell hellte es sich wieder auf. Er griff in die Hosentasche, holte ein Stück bedrucktes Papier heraus und faltete es umständlich auseinander. »Hier, kannst es lesen, wenn du willst«, sagte er. »Ist total abgefahren. Darfst dich aber nicht erschrecken. Bist ja immerhin 'n Mädchen.«
Aline schenkte ihm einen huldvollen Augenaufschlag, als würde Bastians bloßer Anblick schon eine Zumutung für sie darstellen. »Ich möchte aber jetzt nicht lesen«, sagte sie. »Lies es mir doch vor, wenn du kannst.« »Klar kann ich's!« »Hört, hört!« Sie bogen in die Lindemannstraße ein. Es war nicht mehr weit bis zur Schule. »Wie gesagt, nicht erschrecken«, begann Bastian. »Es ist ziemlich gruselig.« Aline gähnte gekünstelt. »Fang schon an.« Stockend las Bastian vor: »Zwei Jugendliche im Auto ermordet! In den gestrigen Abendstunden wurde auf einem Waldweg in der Nähe des Großen Krebssees ein bestialischer Doppelmord verübt. Die Opfer, Mike W. (18) aus Heringsdorf und Monique T. (16) aus Zinnowitz, saßen ahnungslos in ihrem VW, als der vermutlich geistesgestörte Täter die Frontscheibe zertrümmerte und mit einem Messer wahllos auf sie einstach. Mike W. war auf der Stelle tot. Monique T. verstarb an den Folgen ihrer schweren Verletzungen auf dem Transport ins Krankenhaus. - Lesen Sie auch Seite vier.« Bastian verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Ist das nicht scheußlich? Ich möchte mal wissen, wer so was macht. Die sitzen im Auto und knutschten - und bums! Auf einmal säbelt ein Bekloppter auf sie ein. Das ist doch das Verrückteste, was es gibt. Oder?« Aline nickte. Aber nicht, weil sie Bastians Meinung zustimmte, sondern weil sie den plötzlichen Drang in sich verspürte, einmal allen zu zeigen, was sie drauf hatte. Natürlich, ohne die Zaubermünze zu erwähnen. Wenn sie etwas ganz Tolles zustandebringen würde, alle, auch die älteren, würden Bauklötze staunen und sie bewundern. Dann wäre sie schon fast so bedeutend wie eine richtige Prinzessin. Viel würde bestimmt nicht mehr fehlen. Höchstens ein bißchen wachsen müßte sie noch. Man würde zu ihr aufsehen, sich nur für sie interessieren. Und nicht für dieses Liebespärchen, das so dumm war, sich umbringen zu lassen - pah! Aline ärgerte sich.
Das Dumme war, sie hatte das Goldstück nicht bei sich. Weil es im Geheimfach nicht mehr sicher war, hatte sie es heute morgen woanders versteckt. Aber wo? * Ratsch! Dünne, haarige Finger mit breiten Kuppen und langen Nägeln zerrten an der Blende des Schubfachs. Noch ein paar Anstrengungen, und die Schreibtischlade würde aufgebrochen sein. Sie bewegte sich schon ein bißchen. Das kleine, schwarze Geschöpf war auf den Drehstuhl mit der Mickymaus auf der Lehne geklettert. Von da aus kam es bequem heran an die Schublade, in der die teuflische Münze lag. Der Lurjahn knirschte mit den Zähnen. Das Blendwerk der Hölle mußte verschwinden. Um jeden Preis. Es gehörte nicht in die Hände der Menschen. Die Menschen heutzutage waren genauso machtbesessen und geldgierig wie die aus früheren Zeiten. Der Lurjahn konnte sich ein Urteil bilden. Er war tausend Jahre alt und hatte wahrhaftig genug erlebt. Jeder, der einmal die Münze besessen hatte, dachte nur an seinen Vorteil, vergaß dabei aber, daß der Antichrist mit jedem erfüllten Wunsch seine Macht in ihm vergrößerte. Und diesmal war das Medaillon der Sehnsucht gar in die Hände eines phantasiebegabten Kindes gefallen. Schlimmer hätte es nicht kommen können! Der Kobold stieß ein zorniges Fiepen aus. Abermals ratschten seine Finger über die Blende. Mit aller Gewalt zerrte er an dem Fach. Es tat nicht weh. Seine Fingernägel waren hart wie Granit. Die Schublade wackelte schon. Gleich hatte er es geschafft. Angespornt durch den nahenden Erfolg, verdoppelte der Lurjahn seine Bemühungen. Da klingelte es in der Wohnung. Von nebenan ertönten Stimmen, die schnell lauter wurden. Jemand kam! Die Türklinke bewegte sich - und das gerade jetzt, wo die Schublade bereits in den Scharnieren knarrte.
Der Lurjahn ballte die kleinen Fäuste, fluchte mit dünnem Stimmchen und verschwand unter dem Bett. * Als Astrid Glaubach die Tür aufmachte und sich mir gegenübersah, beschleunigte sich ihr Pulsschlag. »Was gibt es?« Die hübsche Frau blinzelte nervös. Am liebsten hätte sie mich gefragt, ob ich heute abend mit ihr ausgehen würde. Sie war frei und auf der Suche. Und welchen Eindruck sie auf mich machte, erkannte sie an meiner - Reaktion. Astrid zwang sich jedoch, gelassen zu bleiben. »Schlechte Nachrichten«, sagte ich ernst. »Inwiefern?« »Darf ich hereinkommen? Was ich Ihnen sagen möchte, bespricht sich nicht gut zwischen Tür und Angel.« »Ja, natürlich.« Sie machte die Tür frei, und ich folgte ihr in die Wohnung. »Frau Glaubach, es geht um Ihre Tochter.« Ich sah ihr fest in die Augen. »Es besteht Grund zur Annahme, daß Aline - nun ja. Kurz und gut: Ich muß mich in ihrem Zimmer umsehen!« Astrids Gestalt straffte sich. Sie trug einen knappen, ärmellosen Pulli. Ihre Brustwarzen zeichneten sich deutlich darunter ab. Sie wußte das, und es machte sie verlegen. Aber nur einen kurzen Augenblick, dann schlugen ihre Gefühle in Zorn um. »Nein«, sagte sie mit Nachdruck. »Das kommt nicht in Frage. Ich werde es keinesfalls zulassen, daß Sie…« »Tut mir leid.« Ich schob sie beiseite, eilte an ihr vorbei und klinkte kurzerhand die Tür, die ins Kinderzimmer führte, auf. Schimpfend lief sie mir hinterher. »Ich werde die Polizei rufen! Machen Sie, daß Sie aus meiner Wohnung kommen! Das ist Hausfriedensbruch! Sie glauben wohl, weil Sie ein großer, starker Mann sind, da können Sie mit mir umspringen, wie es Ihnen gefällt!« Ich stand in der Mitte den Zimmers und blickte mich suchend um. »Zum Teufel, was suchen Sie eigentlich?« Astrid baute sich neben mir auf. »Vielleicht sagen Sie mir, was hier los ist? Ich habe ein Recht, es zu wissen.«
»Was hier los ist?« Ich warf ihr einen schnellen Blick zu. »Ich werde Ihnen reinen Wein einschenken. Wir haben schon zuviel Zeit sinnlos vergeudet.« Astrid stemmte ihre Arme in die Seiten. Herausfordernd schaute sie mich an. »Da bin ich aber sehr gespannt.« Ich begann, Bücher aus einem Wandregal zu nehmen und sie einzeln durchzusehen. »Sie scheinen es als einzige nicht zu merken, was hier abläuft. Da wäre zum Beispiel Ihr Nachbar. Mir nichts, dir nichts wird er eines schönen Abends geköpft. Von seiner Frau, die jahrelang als Muttchen an seiner Seite dahinvegetierte. Daraufhin verdrückt sie sich mit seinem abgehackten Kopf. Nachts, im Hemd. Und, was hat sie vor? Ich sage es Ihnen, Frau Glaubach. Sie schleicht durch den Wald und überfällt ahnungslose Liebespärchen. Sie zertrümmert Windschutzscheiben, spießt unschuldige Teenies auf und verschwindet mit abgetrennten Körperteilen. Die Kripo hat schon eine Sonderkommission gebildet. Lesen Sie denn keine Zeitung?« Astrid Glaubach schauderte. »Ich verstehe kein Wort«, preßte sie hervor. »Was haben Aline und ich damit zu schaffen?« Ihre Wangen waren zorngerötet, und ihre ausdrucksvollen Augen glitzerten wie geschliffene Diamanten. Zwischen und in den Büchern fand ich nichts Verdächtiges, wandte mich deshalb dem Spielregal zu, kramte zwischen den Puzzles, Puppen, Plüschtieren und Kästchen, in denen ich kleine Figuren aus Überraschungseiern fand. Mit schriller Stimme wiederholte sie ihre Frage. Ich starrte sie an. Mein Blick glitt langsam über ihren fraulichen Körper. Dann schaute ich ihr direkt in die Augen. »Bisher haben Sie stets verhindert, daß ich mit Aline reden konnte…« »Na und?« fuhr sie mich an. »Sie hat genug Schlimmes durchgemacht. Im vorigen Jahr starb ihr Vater. Soll ich zusehen, wie Sie das Kind vollkommen närrisch machen?« Wütend stapfte sie auf. Schweißperlen bildeten sich dabei auf ihrer Stirn. Mit dem Handrücken wischte sie sie fort. »Warum sollte ein Kind närrisch werden, wenn es sich mit mir unterhält?« sagte ich, während ich damit beschäftigt war, die Dinge, die auf dem Schreibtisch standen, systematisch zu
durchsuchen. »Das ist zu hoch für mich. Schließlich bin ich kein Untier. Und Sie, Frau Glaubach, sollten doch mitbekommen haben, daß sich Ihre Tochter in letzter Zeit kolossal verändert hat. Oder etwa nicht?« Die Frau preßte die Zähne aufeinander, daß es knirschte. Da kam ein Fremder und sagte ihr, der Mutter, ob Sie nicht gemerkt hätte, daß Aline sich verändert hatte! Verflixt und zugenäht! Natürlich benahm sich Aline anders als früher. Aber was kümmerte das diesen Mark Hellmann? »Glauben Sie etwa, meine Tochter hätte mit all den gräßlichen Dingen, die momentan passieren, etwas zu tun?« Astrid verzog geringschätzig ihr hübsches Gesicht. »Ja«, versetzte ich. »Und ich glaube es nicht nur, ich weiß es!« Astrids Wangen glühten. »Sie sind verrückt. Plemplem. Wissen Sie was, ich rufe jetzt die Polizei.« Ich blieb cool bis in die Haarspitzen. »Hysterie ist im Moment wirklich das allerletzte, was wir brauchen. Frau Glaub ach, ich weiß, daß Aline etwas gefunden hat, wovon Sie Ihnen nichts gesagt hat.« »Meine Tochter hat Vertrauen zu mir«, behauptete Astrid. »Wir sind ein Herz und eine Seele.« »Ja? Sind Sie das wirklich?« Die Frau wurde unsicher. »Naja. Was hat sie denn gefunden?« »Das Medaillon der Sehnsüchte«, erklärte ich. »Es stammt noch aus der Zeit, als hier in der Gegend noch Slawen und Wikinger lebten. Das Medaillon besitzt magische Kräfte. Es kann sogar töten, wenn sein Besitzer es will.« Astrid Glaubach stand wie gelahmt. »Wach ich oder träum ich? Das meinen Sie doch nicht im Ernst, oder?« Ich wurde in diesem Augenblick auf die zerkratzte Schublade des Kinderschreibtisches aufmerksam, ging in die Hocke und schob den Drehstuhl beiseite. »Gibt es einen Schlüssel hierfür?« fragte ich. Die Frau rang um Fassung. »Sie sind ein erwachsener Mann und glauben an solchen Hokuspokus? Das sind doch Hirngespinste. Pah - Medaillons, die Wünsche erfüllen können. Und ich hatte Sie für einen ernsthaften Menschen gehalten.« Ich rüttelte an der Schublade und sagte: »Ich brauche den Schlüssel. Hier drin könnte etwas sein, das von größter
Wichtigkeit ist. Ich bitte Sie, geben Sie mir den Schlüssel!« Noch immer rang Astrid Glaubach um ihr seelisches Gleichgewicht. Wieso beäugte er immerzu seinen Ring? fragte sie sich. Es sah fast so aus, als würde er darauf warten, daß mit dem Ring irgendwas passierte. »Den Schlüssel!« forderte ich eindringlich. »Oder ich breche die Schublade auf!« »Verrückt!« sagte Astrid, während sie ging, um den Zweitschlüssel aus dem Wohnzimmer zu holen. »Der Mann ist völlig durchgedreht.« Als sie den Schlüssel aus dem Kästchen nahm, beschlich sie ein unbehagliches Gefühl. Ihr war eingefallen, wie hektisch Aline heute morgen reagiert hatte, als sie die Schublade berührt hatte. Womöglich war doch etwas dran an Mark Hellmanns Phantastereien. Verwirrt ging Astrid zurück. Sie gab mir den Schlüssel. Endlich. Ich schloß die Schublade auf und spähte hinein. Da ertönte ein merkwürdiges Geräusch im Zimmer. Ein Zischen. »Haben Sie Mäuse?« fragte ich, während ich in Alines Geheimfach herumwühlte. »Nicht daß ich wüßte«, gab Astrid zurück. »Wir hatten hier noch nie Ungeziefer. Das Haus ist vor kurzem renoviert worden - Und? Haben Sie etwas gefunden?« »Nein«, sagte ich zerknirscht. »Nichts. Ihre Tochter muß noch andere Verstecke haben.« Die Frau legte die Stirn in Falten. Sie überlegte scharf. »Hinter dem Haus, da steht ein Holzschuppen voller Gerumpel«, sagte sie dann. »Manchmal spielt sie Prinzessin und stellt sich vor, es sei ihr Märchenschloß.« Es zischte abermals. Niemand hörte es, denn Astrid und ich waren bereits hinausgegangen. * Gerd Timpe war auf dem besten Wege, sturzbetrunken zu werden.
In Boxershort und Unterhemd hockte er auf seiner Miniterrasse hinter dem Haus und kippte ein Bier nach dem anderen in sich hinein. Der überraschende und entsetzliche Tod seiner Tochter Monique hatte ihn aus der Bahn geworfen. Niedergeschlagen starrte er ins Leere. Es war halb zehn, vormittags. Strantz, sein Busenfreund, war bei ihm. Geduldig hörte Strantz zu, wenn Timpe anfing, Episoden aus der Kindheit seiner ermordeten Tochter hervorzukramen. Timpes Frau Helga war aus dem Haus geflüchtet. Sie jobbte in einem Imbißkiosk an der Zinnowitzer Strandpromenade. Zu Hause war ihr die Decke auf den Kopf gefallen. Die unaufhörlichen Beileidsbesuche waren zuviel für die arme Frau gewesen. Die Sonne stach wie mit Nadeln vom Himmel. Die Luft war heiß und stickig. Timpe hatte die Bierflaschen in einen Eimer mit Wasser gestellt. Er haßte warmes Bier wie die Pest. Die ersten Worte, die er nach langem bierseligem Schweigen sagte, waren: »Was gäbe ich dafür, wenn ich dieses Ungeheuer, das meine Monique gekillt hat, zwischen diese Finger bekäme!« Seine wulstigen Wurstfinger krampften sich um das halbgefüllte Glas. »Der Kerl könnte sein Testament machen«, pflichtete Strantz ihm augenblicklich bei. »Du würdest ihm glattweg die Gräten brechen.« »Genau!« grunzte Timpe. »Ich werde den Dreckskerl auswaiden wie einen Fisch!« Sein Kumpel nickte fleißig. »Ja. Das traue ich dir zu, Gerd. Du hast das drauf.« Strantz und Timpe waren beide vierzig. Vor der Wende hatten sie gemeinsam in einem Sägewerk gearbeitet. Dann wurde Personal abgebaut. Strantz und Timpe flogen zuerst. Ihre Alkoholprobleme kannten alle. Seitdem waren sie arbeitslos. Auf Usedom wuchsen Jobs nicht gerade am Straßenrand. »Die Bullen tappen auch noch im dunkeln«, knirschte Timpe. »Dabei sollen sie Verstärkung aus Berlin gekriegt haben. Aber nichts ist bisher passiert.« »Wahrscheinlich wälzen die sich am Strand.« Strantz steckte sich eine Zigarette an. »Ist ja 'n Bombenwetter. Da wird man leicht schwach.«
Timpe fluchte lästerlich. Dann setzte er das Glas an und trank es in einem Zug leer. Unverhofft knirschten Schritte auf dem Kiesweg, der hinter das Haus führte. Träge sahen die Männer auf. Es war Timpes Sohn, Ralf. Er war zwanzig, hatte einen kahlgeschorenen Schädel und war fast einsneunzig groß. Trotz der sengenden Hitze trug er schwarze Jeans, ein langärmliges schwarzes Sweatshirt mit einer Teufelsfratze drauf und eine zerfranste Lederweste. Seine Füße steckten in hochgeschnürten Bomberstiefeln. »Es gibt Neuigkeiten, Alter«, sagte er und angelte sich eine Flasche Bier aus dem Eimer. »Die wären?« Timpe streckte seine Hand aus. »Gibt mir auch noch 'n Pils, Junge! Hab tierischen Durst heute.« Sie tranken. »Schieß schon los, Ralf!« sagte Strantz. »Was hast du ausbaldowert?« »Ihr werdet es nicht glauben, Männer. Der Buschfunk meldet, das Aas, das Monique und ihren Mike gekillt hat, ist 'n Weib. Stellt euch das mal vor!« Timpe zeigte seinem Filius einen Vogel. »Das kannste deiner Einlegesohle erzählen, Junge. Aber nicht deinem Vater. Ich hab Moniques Leiche gesehen. Liegt in der Kuhstraße, Greifswald. Da ist die Rechtsmedizin. Und ich sage dir, nie und nimmer hätte 'ne Frau die Kraft, 'nem anderen solche hm, solche Sachen anzutun.« Ralf blieb gelassen. »Is' aber wahr. Es soll 'ne durchgeknallte Trulla aus Heringsdorf gewesen sein. Aus der Strandstraße, wie ich gehört hab.« »Wer hat dir denn das geflüstert?« fragte Strantz. »Karin, 'ne Reenie aus unserer Clique. Ihre Schwester hat mit 'nem Bullen angebändelt. In 'ner schwachen Stunde hat er's ihr gebeichtet.« Timpe und Strantz wechselten Blicke. Mit einemmal ertönte ein splitterndes Geräusch. Timpe hatte sein Glas so fest umkrallt, daß es geplatzt war. Sein Gesicht lief rot an. Er starrte auf seine schwielige Hand. Wie durch ein Wunder hatte sie kaum Schaden genommen - abgesehen von zwei
kleinen, blutenden Einschnitten. Timpe polkte einen Splitter aus seinem Zeigefinger. »Wir müssen das Weib finden, ehe die Bullen sie hopsnehmen. Ich will ein paar Takte mit ihr - reden. Ich bin Moniques Vater. Also habe ich ein Recht dazu.« Strantz verschluckte Rauch und bekam einen Hustenanfall. Ralf klopfte ihm den Rücken. »Also los, ab durch die Mitte, Männer! Vielleicht haben wir Glück und erwischen sie. Dann Prost Mahlzeit!« »Aber wo wollen wir sie suchen?« fragte Strantz zaghaft. »Wir können doch nicht so auf blauen Dunst…« Strantz hatte Angst. Die Aussicht, durch die Gegend zu spazieren und mit einemmal einer Wahnsinnigen gegenüberzustehen, erschütterte ihn bis ins Mark. Am liebsten wäre er auf der sonnigen Terrasse geblieben, hätte noch ein paar Bier geschlürft und ein bißchen herumgelabert. Aber das würde sein Kumpel Timpe wohl kaum akzeptieren. Verdammt! Strantz rappelte sich auf. In seiner Magengegend rumorte es. Seine Hand zitterte, als er die Zigarette in dem quittegelben Plastikascher ausdrückte. Ralf ging fort und kehrte kurz darauf mit zwei zerkratzten Baseballschlägern zurück. »Hier, Männer«, sagte er hart. »Damit wir uns nicht die Hände an dem Weibsbild schmutzig machen…« * »Mark, ich vermisse dich so«, sagte Tessa Hayden. »Gestern nacht bin ich schweißüberströmt aufgewacht. Du ahnst nicht, was ich geträumt habe.« Ich befand mich gerade auf der Strandpromenade, als mein Handy den Anruf angekündigt hatte. Noch vor zehn Minuten hatte ich mit Astrid Glaubach den Schuppen hinter dem Haus durchwühlt. Vergebens! Nun überlegte ich, ob ich Aline in der Schule aufsuchen sollte. Möglicherweise hatte sie das unheilvolle Medaillon bei sich. »Hallo? Hörst du mir zu?« »Klar doch!« Ich setzte mich auf eine Bank, von der man auf die blaue See hinausschauen konnte. »Was war's denn, was du
geträumt hast?« »Rate mal!« kicherte sie. »Du bist unverbesserlich. Während ich mir den Kopf zerbreche, wie ich meinen Fall schnellstmöglich löse, hast du nichts anderes im Kopf als deine erotischen Phantasien. Tessa, ich muß wirklich sagen…« »Du hast auf einem Hünengrab gesessen«, fiel sie mir ins Wort. »Du hocktest einfach da, völlig nackt, und schautest hinaus auf das brausende Meer. Die Abendsonne ließ deine Haut rötlich schimmern. Nun ja, und rein zufällig war ich auch in der Gegend. Als du mich bemerktest, bist du aufgestanden, und ich sah, wie sehr du dich gefreut hast.« »Tessa, jetzt langt's mir aber«, brauste ich gekünstelt auf. »Ich bin nicht in Stimmung für dein Kasperletheater.« Die Promenade wimmelte von sonnenhungrigen Urlaubern. In der Nähe gab es ein Straßencafe, das bis zum letzten Platz besetzt war. Es duftete nach Sonnenöl und geräuchertem Fisch. Tessa Hayden schaltete auf Ernst. »Ich soll dich schön grüßen, zuallererst von Ulrich und Lydia.« »Danke.« »Wie kommst du voran?« »Mäßig. Gestern war ich bei der Hellseherin. Seitdem weiß ich, wo der Hase im Pfeffer liegt. Ich erzähl es dir später, wenn ich zurück bin.« »Gib auf dich acht«, sagte Tessa leise. Ich kannte Tessa ziemlich genau und spürte, daß sie irgendwas im Schilde führte. Obwohl ich sie nicht sah, konnte ich mir lebhaft vorstellen, wie sie jetzt mit verkniffenem Gesicht an ihrer kecken braunen Kurzhaarfrisur zupfte und mit den Augen rollte. »Mach dir keine Sorgen«, wiegelte ich ab. »Du weißt, ich bin schon mit anderen Dingen fertig geworden. Gibt's in Weimar was Neues?« »Und ob«, erwiderte sie geheimnisvoll. »Aber du verstehst vielleicht, daß ich dich damit nicht belasten möchte. Schließlich bist du sehr beschäftigt.« Ich hatte schon eine heftige Erwiderung auf der Zunge, als ich plötzlich Timpe, Strantz und einen schwarzgekleideten Skinhead in ihrem hellgrauen Trabi sah. Das Auto hielt, ein Mann mit Schiffermütze und rotgestreiftem Pulli sprang auf den Beifahrersitz. Der Zweitaktmotor heulte
gequält auf. Eine Staubwolke hinter sich herziehend, brauste der Trabi davon. »Tessa, ich muß Schluß machen.« Ich sprang auf. »Da braut sich was zusammen.« »Wieso?« fragte sie schlagfertig. »Wo bist du denn gerade? Doch nicht am FKK?« * Der Angler saß am Ende des hölzernen Bootssteges und beobachtete seine Pose, die ein paar Meter vor ihm im Wasser schaukelte. Leichter Wind kräuselte die Oberfläche das Schmollensees. Schilf raschelte. Töten… Die Frau verspürte Hunger. Seit Tagen hatte sie nichts mehr gegessen. Sie saß im dichten Buschwerk und beobachtete den Mann auf dem Steg. Gerade hatte er einen Biß. Gekonnt schnippte er die Angel hoch. Ein silbrig glänzender Fisch zappelte am Haken. Das Geschöpf, das einmal Elvira Hannemann hieß, leckte über seine verkrusteten Lippen. Sie mußte vorsichtig sein. Überall lungerten Polizisten herum. Sie durchkämmten systematisch die Wälder. Man wollte sie fangen und einsperren! Es waren ihre Feinde. Doch immer war es ihr gelungen, den Polizisten ein Schnippchen zu schlagen. Ihre neuen, geschärften Sinne leisteten ihr gute Dienste. Sie witterte geradezu Gefahr. Hunger… Großer Hunger. Der Mann mit der Angel trug einen ölverschmierten, blauen Overall und eine knautschige Schirmmütze. Er löste den Fisch vom Haken, tat ihn in einen Käscher, der im Wasser hing, und spießte einen frischen Wurm auf den Angelhaken. Dann warf er die Rute wieder aus. Die Pose klatschte ins Wasser. Der Mann setzte sich bequem hin und beobachtete das Stück Plastik. Der Frau lief das Wasser im Mund zusammen.
Sie wollte den Fisch, und sie würde ihn bekommen. Ihre Zähne begannen zu mahlen. Mit starrem Gesicht legte sie den Kopf, den sie an den Haaren hielt, auf das weiche Moos. Er kullerte zur Seite, blieb auf dem Gesicht liegen. »Warte hier!« hechelte sie. »Ich bringe dir gleich einen fetten Happen. Du magst doch Fisch. Ich weiß, daß du Fisch magst. Du bist verrückt danach. Aber erst werde ich essen. Ich! Nicht du! Hast du gehört?« Behutsam bog sie die Zweige auseinander, hinter denen sie sich verborgen hatte. Wie ein Monster aus der Gruft, das im flackernden Schein einer Kerze über den Friedhofsweg pirscht, glitt sie in Richtung Bootssteg. Töten… * Im Traum vernahm Alfred Rietböhl die Stimme von Karl Dröse, seinem verstorbenen Schulfreund. Karl rief seinen Namen. Ohne Licht anzumachen, wälzte sich Rietböhl aus dem Bett. Mechanisch ging er ins Badezimmer. Von dort war die Stimme erklungen. Karl Dröse stand neben der Badewanne! Er trug einen feierlichen, schwarzen Anzug mit zwei Knopfleisten, ein blendendweißes Oberhemd und eine schwarze Krawatte. Aus der Brusttasche den Sakkos lugte das spitzenbesetzte Kavalierstuch. Sein faltiges Gesicht war von zahllosen Metastasen übersät, die teilweise seine Haut durchfressen hatten. Er stützte sich auf den Kosmetikschrank. Die Spraydosen klirrten gegeneinander. »Du bist nicht - tot, Karl?« Rietböhl stand steif wie ein Billardstock. Der unheimliche Besucher bewegte den Kopf. »Glaubst du, jemand, der lebt, sieht so aus wie ich?« »Nein, ich…« Dröse hob eine Hand. »Mir bleibt nicht viel Zeit. Ich muß mit dir reden. Nur deshalb bin ich hier.« »Deshalb bist du hier«, echote Rietböhl.
Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. »Ja«, nickte Dröse. »Es gibt etwas, das du unbedingt wissen mußt.« »Und? Was ist es?« »Den Menschen auf der Insel droht unglaubliches Unheil. ER steht kurz vor SEINEM Ziel. Wenn ER es erreicht, breitet sich immerwährende Nacht über das Land aus.« »Du hast es gesehen, nicht wahr?« flüsterte Rietböhl. »Ja. Die schrecklichste Vision, die je ein Seher gehabt hat. Ich sah die Hölle auf Erden.« Rietböhl wurden die Knie weich. Dröses Stimme klang beängstigend. Dumpf, hohl, unreal. Diese Stimme konnte einfach keinem gehören, der lebte! »Die Hölle…?« »…wird kommen, wenn du nicht eingreifst.« »Ich?« »Ja.« »Was - soll ich tun, Karl?« »Du mußt den Mann warnen, den du aus Weimar geholt hast.« »Mark Hellmann«, stöhnte Rietböhl. »Ja. Es ist Mark Hellmann. Er allein hat die Macht, das Böse aufzuhalten.« »Aber wovor soll ich ihn warnen?« Eine Weile herrschte beklommenes Schweigen. »Hör jetzt genau zu, Alfred. Ich beschwöre dich, bei allem, was dir heilig ist. Alles, was ich dir sage, ist enorm wichtig.« »Ja, natürlich höre ich dir zu.« »Also gut. Kennst du die Maxim-Gorki-Schule, an der Neuhofer Straße?« »Kenn ich. Daneben liegt der Rennbahnweg, von wo man in die Neue Welt kommt. Ich habe mir unlängst dort den Steinernen Tisch angesehen.« Aus Dröses Wange sickerte gelblichgrüne Flüssigkeit. Mit dem Handrücken wischte er sie fort. »Sehr gut«, tönte er. »Auf dem Schulhof wird sich morgen alles entscheiden. ER hat diesen Platz auserwählt, und ER wird gewinnen, wenn du Mark Hellmann nicht warnst.« Rietböhl stierte glotzäugig auf die zerfransten Lippen den anderen. Noch nie hing das Schicksal der Menschen so sehr von der
Merkfähigkeit eines einzelnen ab. Rietböhl wußte das. Er war konzentriert bis in die Spitzen seiner kleinen Zehen. »Wovor warnen?« Dröses Gestalt wurde blasser, verschwommener. »Mark Hellmann wird heute zu einem Bootssteg am Schmollensee fahren. In seinem BMW, mit vollem Risiko. Er ist hinter vier Männern her, die auf der Suche nach der besessenen Frau sind. Sie werden das bemitleidenswerte Geschöpf entdecken. Gerade hat es einen weiteren Mord begangen.« Rietböhl stieß einen erstickten Schrei aus. Dröse fuhr unbeirrt fort: »Mark Hellmann darf nicht den Weg über Bansin Dorf, den Buchweizengrund und Neu-Sallenthin nehmen. Er muß auf der Bäderstraße weiterfahren, bis nach dem Bansiner Bahnhof links ein Waldweg auftaucht. Dieser Weg ist zwar nicht befestigt, aber das macht nichts. Nur wenn er diesen Weg nimmt, wird er den Männern helfen können. Sie sind zwar zu viert, aber gegen die dämonische Kraft der Besessenen werden sie nichts ausrichten können.« »Was, wenn…?« Rietböhl fröstelte. »Dann allerdings wird Mark Hellmann morgen früh dem Bösen nicht Paroli bieten können, und die Männer werden sterben.« »Aber wieso?« Die schwarze Gestalt an der Badewanne zerfloß. Nur die körperlose Stimme schwirrte noch durch den Raum. Sie sagte: »Weil Mark Hellmann in der scharfen Linkskurve Bansin Dorf einen tödlichen Autounfall haben wird!« Mit einem jähen Ruck fuhr Alfred Rietböhl auf. Er brüllte vor Entsetzen. Dann sah er sich verdattert um. Er hatte schlafend in einem Strandkorb gelegen und in der Sonne gebrutzelt. Ein pfirsichfarbener Gummiball war ihm auf den Bauch gefallen und hatte ihn geweckt. Als hätte es ein ganzes Bienenvolk auf ihn abgesehen, sprang Rietböhl vom blauweiß gestreiften Leinensitz. Nach Portemonnaie und T-Shirt langend, stürzte er in Richtung Strandpromenade davon. Ein braungebrannter Knirps erschien auf der Bildfläche. Staunend schaute er dem davonjagenden Mann hinterher. Dann betrachtete er sich eine Weile neugierig seinen Ball, von allen Seiten. Als er nichts Besonderes daran fand, rannte er einfach weg.
* Glücklicherweise gab es eine Telefonzelle an der Strandpromenade. Alfred Rietböhl dankte dem lieben Gott, daß er sich Mark Hellmanns Handy-Nummer eingeprägt hatte. Während er über die Gehwegplatten hetzte, rief er die Ziffern aus seinem Gedächtnis ab. Für einen Augenblick war er stolz auf seine gut funktionierenden grauen Zellen. Urplötzlich grollte ein Gewitter in seinem Bauch. Was würde geschehen, wenn der Mann aus Weimar das Handy abgeschaltet hatte? Oder überhaupt nicht bei sich trug? Das gelbe Telefonhäuschen kam in Sicht. Höchstens noch dreißig Schritte, und er war am Ziel. Er bekam Seitenstechen, wurde langsamer. Nur noch ein paar Schritte. Leute blieben stehen und starrten ihm nach. Manche zeigten mit dem Finger auf ihn. Andere schüttelten verständnislos die Köpfe. Rietböhl wurde es schwarz vor Augen. Flirrende Sternchen gaukelten ihm einen Himmel bei Nacht vor. Er japste nach Luft. Für den Bruchteil einer Sekunde schloß er die Augen, verpustete. Als er die Augen wieder aufmachte, nach dem Telefonhörer greifen wollte, sah er die Bescherung. Jemand hatte den Hörer abgerissen und mitgenommen. * Aline war fest entschlossen, zu Beginn des neuen Schuljahres bei den Mitschülern einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen. Sie wußte nur noch nicht genau, wie. Als es zur ersten Hofpause klingelte, schritt sie hochaufgerichtet die Treppe zum Schulhof hinab. Die anderen Kinder stürmten johlend und polternd an ihr vorüber. Auch Bastian, der sie morgens begleitet hatte, war unter ihnen. Er ging zwar in ihre Klasse, aber Aline fand nun mal Jungen ihres Alters schlichtweg babymäßig.
Da gab es in den höheren Stufen schon andere Boys. Aber zu ihrem Mißfallen schenkten die älteren ihr wiederum keine Beachtung. Bastian bemerkte Aline. Im Handumdrehen hatte er sein Tempo verringert und stoppte neben ihr. »Hey, Aline«, sagte er. »Hab einen voll coolen Joke für dich. Willst du ihn hören?« Das Mädchen blinzelte gelangweilt. Er nahm ihr Schweigen als Einverständnis. »Weißt du, wann ein Junge frühreif ist?« fragte er sie und lauerte auf ihre Antwort. Aline lag eine spitze Bemerkung auf der Zunge. Doch sie schluckte sie hinunter. »Na, weißt du's?« bohrte Bastian. »Nein. Aber du anscheinend.« »Stimmt«, nickte er. »Ein Junge ist frühreif, wenn er mit der Puppe seiner Schwester durchbrennt!“ - Cool, wie?« Bastian quietschte vor Vergnügen. Sein Gelächter ging ihr auf die Nerven. »Wie findest du den Joke?« gluckste er. »Zum Totlachen«, sagte Aline und ging auf den Schulhof. »Oder besser, zum Totheulen.« »Finde ich nicht«, sagte Bastian und schlurfte seiner Flamme hinterher. Während er wie ein Pfau um sie herumstolzierte, um ihre Aufmerksamkeit zu erringen, überlegte Aline, was sie morgen anstellen sollte. Es mußte etwas Großartiges sein. So großartig, daß alle, auch die Jungen aus den oberen Klassen, vor Staunen Nase und Mund aufsperren würden. Einige brauchbare Ideen hatte sie schon. Vielleicht sollte sie die Schule einstürzen lassen? Oder die Lehrer in einem Loch versenken, das tief wie die Ostsee war? Sie könnte auch eines der Flugzeuge, die Rundflüge über der Insel machten, wie ein Stein zu Boden plumpsen lassen. Dieser Lärm ging ihr sowieso auf die Nerven. Aufregend wäre ebenso, wenn sie den älteren Mädchen, nach denen die Jungen schielten, Vampirhauer anhexen würde. Ja, das wäre echt genial. Tussis mit fingerlangen Eckzähnen würden nicht
die Spur einer Chance bei den Boys haben. Wie sollte man die denn küssen? Aline kicherte. Bastian, der inzwischen mit finsterer Miene neben ihr am Zaun lehnte, witterte Morgenluft. »Du, Aline, bei uns in der Delbrückstraße, da wohnt im ehemaligen Schwesternheim 'n Millionär. Hast du schon mal 'nen richtigen Millionär gesehen?« Bastian plapperte fröhlich weiter, aber Aline war mit ihren Gedanken woanders. Da fiel ihr Blick rein zufällig zwischen den Ahornbäumen hindurch auf die Neuhofer Straße, die vor der Schule entlangführte. Gerade eben fuhr der Mitsubishi ihrer Mutter vorüber. Das Auto blinkte und hoppelte über die ansteigende Auffahrt zur Schule. Alines Mutter stieg aus. Verwundert runzelte Aline die Stirn. Was wollte denn Mutter in der Schule? Sie hatten sich doch gerade vor knapp drei Stunden zu Hause beim Frühstück gesehen. Ob sie etwas herausgefunden hatte? Möglicherweise hatte Mutter sogar ihr vermißtes Goldstück aufgegabelt. Alines Augen wurden schmal. Sie war etwas blaß um die Nase herum. Die Lippen fest zusammengepreßt, blickte sie der Mutter stumm entgegen. »Linchen«, sagte Astrid Glaubach. »Du scheinst heute außer Rand und Band zu sein. Es ist das erstemal, daß du deine Schulbrote vergessen hast. Bist du gar nicht hungrig?« Aline atmete hörbar auf. Die Brotbüchse. Es war nur die verdammte Brotbüchse! Auf einmal fiel es dem Mädchen wie Schuppen von den Augen. Ihr Goldstück! Sie hatte es heute morgen, als die Mutter das Frühstück zubereitete, in die Hosentasche gesteckt und danach in die Brotbüchse. Wie konnte sie das bloß vergessen? Früher wäre ihr das nicht passiert. Pah - früher. Da war sie noch ein naives, kleines Mädchen. Heute besaß sie einen Talisman, der die flippigsten Wünsche erfüllte.
»Danke, Mami«, lächelte Aline. »Mußt du denn heute gar nicht arbeiten?« »Ich habe mir frei genommen. Morgen auch.« Die Mutter deutete auf das Frühstücksbrot. »Willst du nichts essen?« »Später, Mami. Ich werde später essen.« »Na denn, tschüs.« Astrid Glaubach tätschelte flüchtig Alines Wange und ging fort. »Meine Mutter hätte das nie getan«, sagte Bastian, der noch immer neben Aline am Zaun stand. »Wie? Was meinst du?« »Na, die Frühstücksbemmen hinterhergebracht. Meine Mutter hätte das nie gemacht. Ich hätte sie essen müssen, wenn ich wieder nach Hause gekommen wäre.« Die Gewißheit, die Münze in greifbarer Nähe zu haben, versetzte Aline in Hochstimmung. »Weißt du was, Kleiner?« Sie sprach, während sie sich von Bastian abwandte. »Dein Gelaber geht mir ganz schon auf den Docht. Verschwinde einfach, okay?« Bastian versteinerte zum Denkmal. Ungläubig starrte er Aline an. Hochmütig hatte sie ihr Kinn in die Luft gestreckt. Sie tat, als wäre er gar nicht anwesend. Das war zuviel für Bastian. Er konnte einiges vertragen, aber diese schnöde Behandlung ging ja sogar dem Sanftmütigsten über die Hutschnur. Die Hände in den Hosentaschen, stapfte Bastian wortlos zur gegenüberliegenden Seite den Schulhofs. Aline würdigte ihn keines Blickes. Statt dessen streichelte sie versonnen die Plastikbüchse. Vor ihrem inneren Auge entrollte sich ein wahrhaftig teuflischer Plan. Übernächste Stunde hatten sie Sport, bei Frau Ollrogge, einer drahtigen, ewig nörgelnden Lehrerin. Weil Aline nicht gerade eine Olympiahoffnung war, zählte sie nicht unbedingt zu Frau Ollrogges Lieblingen. Aline fand, daß die Lehrerin sie mehr als einmal zu unrecht wegen angeblich mangelnder Einsatzbereitschaft kritisiert hatte. Bei gutem Wetter, wie heute, fand der Unterricht auf dem Sportplatz, gleich hinter dem Schulhof, statt. Aline blinzelte gegen die Sonne. Der Sportplatz. Für die Generalprobe ein genial günstiger Ort!
* Strantz sah die Frau zuerst. Sie hatten ihren fahrbaren Untersatz an den Waldrand gestellt und streiften bereits eine Weile herum, als Strantz die Frau plötzlich auf dem Bootssteg erspähte. Sie kniete vor etwas, das er nicht ausmachen konnte. »Ich werd zum Iltis«, keuchte er. »Da hinten, auf dem Steg, das muß sie sein.« Die Köpfe der anderen flogen herum. Timpe und Ralf rissen die Baseballschläger hoch. Es war noch ein vierter Mann bei ihnen. Mike Wollnitz' Vater, Harry. Er war ein mittelgroßer Mann mit breiten Schultern und ungeschnittenen braunen Haaren. Er hielt einen Knüppel in der Faust. Man sah ihm an, daß er ihn auch einsetzen würde, wenn es darauf ankam. Und jetzt kam es darauf an. Ungefähr fünfzig Meter vor ihnen hockte die erbarmungslose Mörderin! »Das Miststück sitzt in der Falle«, raunte Harry Wollritz. »Endlich haben wir sie.« Timpe nickte. »Aber paßt auf, Männer. Sie soll ein Messer bei sich haben. Also immer vom Leib halten. Klaro?« »Natürlich halten wir uns das Weib vom Leib, Gerd. Wir sind doch nicht bescheuert«, sagte Strantz. »Wir werden sie erst mal beobachten, oder?« Timpes Sohn Ralf grinste höhnisch. Er und sein Vater tauschten vielsagende Blicke aus. Ralf spuckte in den Sand. »Denn man tau«, sagte Wollnitz. Geduckt schlichen die Männer im Schatten der Ligusterhecke, die den Weg zum See einseitig begrenzte, in Richtung Bootssteg. Timpe, Wollnitz und Ralf wirkten zu allem entschlossen. Strantz dagegen fiel immer mehr zurück. Mühsam unterdrückte er einen Anfall von Panik. Er fragte sich, ob die anderen die Frau auf dem Steg tatsächlich angreifen würden. Allein der Gedanke daran entsetzte ihn. Sie war immerhin eine Frau. »Und wenn uns jemand dabei belauscht, wenn wir sie allemachen?« überlegte er laut.
Timpe sah nach hinten. »Dann verpaßt er uns bestimmt 'n Orden, du Schißbüx!« Strantz zog die Schultern hoch. Seine Nackenhaare schienen zu Borsten geworden zu sein. Er schwitzte, als wäre er eben erst aus einem Topf heißem Wasser geklettert. Sie waren angelangt. Der Absatz zum Steg lag nur noch einen Schritt von ihnen entfernt. Jetzt konnte sie ihnen nicht mehr entwischen. Sie gaben das Versteckspiel auf. Timpe, Wollnitz und Ralf bauten sich nebeneinander auf. »He, du da!« knurrte Timpe. Die Frau blickte überrascht auf. Der Heißhunger hatte ihre Wachsamkeit eingeschläfert. Die Männer sahen, daß sie gerade einen rohen Barsch verzehrte - und sie sahen, was hinter ihr lag. Ein Mann in einem blauen Overall. Sein Oberkörper hing leblos im Wasser. Er lag da wie eine ausgequetschte Frucht, die Beine unnatürlich verrenkt. Mit einer blitzschnellen Bewegung sprang die Frau auf ihre Beine. Sie schleuderte den Rest des Fisches weit von sich. Ein unterarmlanges Messer blitzte in ihrer Rechten. Die Männer umklammerten ihre Schlagwerkzeuge. »Holen wir sie uns«, krähte Timpe. »Worauf warten wir?« Sie bestiegen den Bootssteg. Die Holzbohlen knarrten unter ihren Sohlen. Dann trennten sie nur noch wenige Meter von der mörderischen Frau. »Es ist Elvira Hannemann«, sagte Wollnitz mit belegter Stimme. »Sie arbeitet im Supermarkt, füllt Regale auf.« Timpe nickte. »Heute scheint sie ihren freien Tag zu haben. Begrüßen wir sie, Männer!« Eine graue Sturmmöwe flog schreiend über den Bootssteg hinweg. Sie hatte die Fischreste im Wasser entdeckt. * Mein BMW hoppelte den abschüssigen Waldweg zum Schmollensee hinab. Ich folgte einem inneren Impuls, den ich nicht einordnen konnte. Es war, als gäbe jemand anderes die
Fahrtroute an. Mein Handy meldete sich. »Wer spricht?« fragte ich und umkurvte eine knorrige Wurzel, die aus dem Boden sproß. »Rietböhl«, keuchte es in mein Ohr. »Um alles in der Welt, Sie dürfen nicht durch Bansin Dorf fahren…« Ich schwieg verdutzt. »Haben Sie nicht gehört?« schrillte es aus der Hörmuschel. »Fahren Sie die Bäderstraße weiter, bis links ein kleiner Waldweg auftaucht. Dort können sie abbiegen. Noch mal: Nicht durch Bassin Dorf fahren. Verstanden?« »Komisch«, kommentierte ich. »Was ist komisch, zum Kuckuck?« Rietböhl war so erregt, daß seine Stimme überschnappte. »Es geht um Ihr Leben. Und Sie? Finden es komisch!« »Gerade eben hatte ich einen ähnlichen Anruf. Ich meinte, Sie wären an der Strippe.« »Wie bitte?« »Sind Sie sicher, daß Sie nicht vor fünf Minuten schon einmal angerufen haben? Sie sagten fast dasselbe.« »Sie fahren also…« »…auf dem Waldweg, den Sie mir vorhin beschrieben hatten.« Ich hörte den alten Mann aufatmen. Dann knackte es in der Leitung. Ich legte das Handy beiseite. In meinem Geiste erschien die alte Wilhelmine Groll, wie sie auf der Bank hinter ihrem Haus saß und mühsam um Worte rang. Ein Satz ging mir nicht aus dem Kopf. »Der Lurjahn. Er wird Ihnen helfen.« Plötzlich war ich mir sicher, daß diese Kreatur der Finsternis weit mehr konnte, als verborgene Schätze zu bewachen. Schließlich hatte sich auch die Menschheit weiterentwickelt. * Strantz war auf die Knie gesunken und schlotterte am ganzen Körper. Eine undefinierbare Kälte hatte sich seiner bemächtigt. Sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. Grund dafür war die Entwicklung den Kampfes, der vor zehn Sekunden begonnen hatte.
Timpe hatte mit dem Baseballschläger ausgeholt. Die Frau hatte den Hieb im Stile eines Bruce Lee pariert. Ihr Gegenschlag kam postwendend. Das Messer surrte wie ein Pfeil durch die Luft. Timpe konnte dem lieben Gott danken, daß er durch ihr Ausweichmanöver seine Balance verloren hatte und zur Seite gestrauchelt war. Sonst wäre sein Leben keinen Pfifferling mehr Wert gewesen. Wollnitz hatte Timpe geistesgegenwärtig aus der Gefahrenzone gerissen. Der kahlköpfige Ralf drängte sich an ihnen vorbei und versuchte, die Furie mit einem gezielten Schlag auf den Kopf kampfunfähig zu machen. Auch das mißlang. Sie schien die Reflexe einer Raubkatze zu besitzen. Es zischte, und sein Schlagstock flog in hohem Bogen ins Wasser. Der Skinhead stand wie angewurzelt. Er stierte auf das kleine Stück Holz, das in seiner Faust verblieben war. »Unmöglich«, hauchte er. Dann hob er seinen fassungslosen Blick. »Fisch«, keuchte die Frau. »Fisch.« Sie kam näher. »Fisch.« »Ich glaub es einfach nicht!« Ralf Timpe kapierte nicht mal andeutungsweise, was hier lief. Sie waren gekommen, um die Frau fertigzumachen. Sie waren zu dritt, den Feigling Strantz nicht hinzugerechnet. Und nun? Wichen drei erwachsene Männer vor ihr zurück, weil sie allesamt spürten, daß ihre Widersacherin nicht in ihrer Liga spielte. Als wenn Bayern München gegen eine Horde rotznasiger Straßenbengel antreten würde. Schon kreiste das Messer über ihren Köpfen. Die Männer stolperten über ihre eigenen Beine. »Machen wir 'ne Fliege!« brüllte Ralf. »Sie schlitzt uns auf wie 'n Westpaket.« Da peitschte ein Schuß auf, und Elvira Hannemann brach, von einer 9-mm-Kugel in die Schulter getroffen, zusammen. »Okay, meine Herren«, sagte ich und sprang auf den Steg. »Schätze, der Spuk ist vorüber.«
Die vier Racheengel hielten Maulaffen feil. Ich steckte die SIG Sauer ins Holster. »Die Polizei ist hierher unterwegs«, sagte ich. »Sie werden ein paar Fragen stellen.« »Klar doch.« Strantz hatte sich als erster erholt. Er angelte sich eine Zigarette aus der Brusttasche seines Holzfällerhemdes. »Sollen sie doch. Wir haben nichts zu verbergen. Nicht wahr, Männer?« Seine Kumpane sagten nichts. Sie starrten mir hinterher, als ich auf den Bootssteg ging, um mich um die verletzte Frau zu kümmern. * Aline war stocksauer. Der Sportunterricht war ausgefallen. Frau Ollrogge war krank. Es gab keine Vertretung. Die Kinder durften nach Hause gehen. Es würde keine Generalprobe geben. Und sie hatte sich so sehr auf die langen Gesichter gefreut, wenn sie vor versammelter Mannschaft eines ihrer Zauberkunststückchen zum besten gab. Als sie in den Korridor trat, hörte sie Stimmen im Wohnzimmer. Sie blieb stehen und lauschte. Die Mutter hatte Besuch! Aline erkannte die Stimme von dem blonden Typen aus Weimar. Sie mochte den Mann nicht. In der Nacht, als ihre Mutter zu dem alten Mann mit der Knollennase hinüberging, war er auch da gewesen. Aline erinnerte sich noch, wie der Mann sie angesehen hatte. Forschend, durchdringend. Das hatte ihr nicht gefallen. Der Mann schien über sie Bescheid zu wissen. Zum Glück hatte ihre Mutter was dagegen gehabt, daß er sie ausquetschte. Arme Mutter, dachte Aline, sie war so unschuldig wie ein Weihnachtsengel. Dann verfinsterte sich ihr Gesicht. Aber die Mutter plauderte mit diesem Mark Hellmann. Das ist nicht nett, Mami. Plötzlich regte sich in Aline das unwiderstehliche Verlangen, diesen Mann zu vernichten. Er war ihr Feind. Etwas, das in ihr wuchs, als würde ein Luftballon aufgepustet, raunte ihr zu:
»Töte ihn, Aline.« Das Mädchen nickte unwillkürlich. Sie spürte, wie ihr Fuß kitzelte. Genau wie vor ein paar Tagen, als sie nachts aufgewacht war und das Kitzeln zum ersten Mal verspürt hatte. Mit dem Kitzeln kam auch die bleierne Schwere. Noch vor kurzem hatte sie geglaubt, jemand wäre nachts in ihr Zimmer geschlichen, um ihr einen Wackerstein ans Bein zu hängen. Alles Mumpitz! Kinderkram! Aline betrachtete ihren Fuß. Das Bein tat ein bißchen weh. Es schmerzte immer ein wenig, wenn es sich verhärtete, wenn die Zehen zusammenschmolzen, um zu einem Huf zu werden. Leider bildete es sich ziemlich schnell wieder zurück! So ein harter, schwarzgrauer Huf sah gar nicht schlecht aus. Aline hielt den Kopf schräg. Alle würden sofort sehen, mit wem sie es zu tun hatten. Mit der mächtigen und schönen Zauberprinzessin! Die Leute würden tierischen Bammel vor ihr haben. Sie würden sich in die Hosen machen vor Angst, wenn sie nur mit den Augen zwinkerte. Wenn sie es doch für immer behalten dürfte! Dann würde sie endlich so sein wie ER! * »Du glaubst, Aline hat das Medaillon der Sehnsucht bei sich?« fragte Astrid. Wir standen im Wohnzimmer am Fenster. Seit ein paar Minuten waren wir per du. Ich nickte vielsagend. »Wir müssen es ihr wegnehmen. Notfalls mit Gewalt.« »Gewalt?« Astrid war empört. »Mark, sie ist ein Mädchen von acht Jahren!« »Bis heute gab es vier Tote. Und dann ist da noch deine Nachbarin…« »Du hast keine Beweise. Nicht einen einzigen.« Ein Zirpen. Wir wandten die Köpfe. Das Geräusch war irgendwo hinter der
Couch erklungen. Die Frau ging nachsehen. Als sie sich über die Couchlehne beugte, um in die Zimmerrecke zu spähen, spannte sich der dünne Stoff ihres Rockes. Die Umrisse ihres winzigen Slips wurden sichtbar. »Ist da was?« fragte ich und räusperte mich. »Nein, nichts.« Astrid veränderte ihre Haltung. Sie kniete auf der Couch und schlug die bis zum Boden wallenden Fenstervorhänge hoch. Ich konnte kein Auge von ihr lassen. Meine Blicke glitten über ihre Rundungen, und dabei wurde ich ertappt. »Fehlanzeige«, murmelte ich. Perplex musterte sie mich. »Bist du sicher?« Ich strich ihr eine widerspenstige Haarsträhne aus der Stirn und küßte sie. Es war einfach über mich gekommen. Eine Welle aufflammender Leidenschaft ließ meine Körpertemperatur in die Höhe schnellen, doch ich bremste mich rigoros. Vor allem wegen Tessa. »Wir dürfen uns jetzt nicht verzetteln«, sagte ich und hob sanft ihr Kinn. »Zuerst müssen wir den bösen Fluch zerstören. Und das so schnell wie möglich.« Vorübergehend flackerte Bedauern in ihren Zügen auf. Doch dann sagte sie mit fester Stimme: »Ja. Da hast du wohl recht.« Plötzlich wurde die leidenschaftlich-prickelnde Stimmung im Wohnzimmer von einem schaurigen Röcheln zerrissen. Die Tür, die zum Korridor führte, wurde brutal aufgestoßen. Alfred Rietböhl wankte herein. Milchiger Schaum sickerte aus seinem Mund. Noch vor ein paar Minuten, hatte ich mich mit ihm unterhalten. Da wirkte er noch völlig normal. Ich sah sofort, daß der knollennasige Pensionär mit den sanften Rehaugen nicht er selbst war. Die Augen des Eindringlings quollen aus den Höhlen. Sein Gesicht war rot angelaufen. Er stieß unartikulierte Laute aus. Astrid schrie entsetzt auf und wich zurück. »Töten«, schnarrte Rietböhl. Er hob beide Arme und kam direkt auf mich zu. Als er unmittelbar vor mir stand, holte er blitzschnell aus. Ich zog den Kopf ein. Der Fausthieb streifte mein Ohr. »Rietböhl!« schrie ich. »Kommen Sie zu sich!«
Zwecklos. Alfred Rietböhl wußte nicht, was er tat. Das Böse, das in ihm steckte und nicht von ihm abließ, verlieh ihm Bärenkräfte. Er holte erneut aus. »Linchen!« brüllte die Mutter auf. »Linchen! Was ist mit dir?« Zu Tode erschrocken schlug Astrid Glaubach die Hände vors Gesicht. Das Mädchen stand im Korridor. Seine Lippen waren von einem diabolischen Grinsen gespalten. Nichts erinnerte an das kleine, niedliche Mädchen, das acht Jahre alt war und in die zweite Klasse ging. Eher wirkte das Kind wie ein böser Zwerg, gekommen, um Unheil anzurichten. »Gib ihm, was er verdient!« zischte Aline dem rasenden Rietböhl zu. »Er ist unser Feind!« ER beherrschte das Kind. ER zwang sie, diese scheußlichen Dinge zu tun. Es war genauso, wie die alte Wilhelmine aus Sellin es vorausgesehen hatte. Als Zehnkämpfer war ich natürlich recht kräftig, doch ich wußte auch, daß ich im körperlichen Zweikampf mit einem vom Teufel Besessenen keine guten Karten hatte. Mein Ring! Rietböhl schien denselben Gedanken zu haben. Bevor ich handeln konnte, schnellte der Besessene vor und riß mir den sprühenden Ring vom Finger. Der Ring kullerte in eine Zimmerecke. »Das Medaillon!« schrie ich. »Astrid! Du mußt Aline das Medaillon wegnehmen.« Rietböhl schäumte vor Wut. Er sah in mir die Verkörperung des Guten. Und das mußte ausgemerzt werden. Der Besessene legte soviel Schwung in den nächsten Schlag, daß er sein Gleichgewicht verlor. Sofort war ich über ihm und drehte ihm die Arme auf den Rücken. »Astrid! Das Medaillon!« Doch die Frau stand da wie gelähmt. »Ich kann nicht…«, flüsterte sie. »Aline ist doch mein Kind.« Rietböhl wand sich unter mir wie ein Aal. Er lag bäuchlings auf dem Boden. Wutschnaubend bäumte er sich auf, um seinen Gegner abzuschütteln. Aber noch reichte meine Kraft aus.
Noch! Da drehte Rietböhl den, Kopf. Um hundertachtzig Grad! Es war, als ob er ein Gewinde in seinem Hals hätte. Zwischen seinen verzerrten Lippen glitt eine schwarze Zunge hervor. Sie war an ihrem Ende gespalten. Sie wurde längerund länger, züngelte empor wie eine Klapperschlange aus dem Korb. Ich riß den Kopf hoch. Die Zunge war rauh wie die einer Katze. Sie scheuerte über mein T-Shirt. Als sie bei mir in Herzhöhe kam, dort, wo der siebenzackige Stern war, schnellte sie zurück. Zischender Dampf quoll aus dem Schlund von Rietböhls nach hinten verkehrten Kopfes. »Das Medaillon!!!« Meine Stimme überschlug sich. »Du mußt es ihr wegnehmen! Hörst du, Astrid?!« Astrid Glaubach rührte sich noch immer nicht. Die Augen weit aufgerissen, starrte sie auf ihre kleine Tochter. Aline hielt die Münze in die Höhe. Sie flüsterte gerade einen weiteren Fluch. Ihr Geschöpf brauchte Verstärkung. Ich sollte vernichtet werden! Da schrie das Mädchen plötzlich auf. Eine kleine, kniehohe Gestalt im schwarzen, wehenden Gewand stob über den Teppichboden. Katzengleich sauste sie durch das Zimmer in den Korridor, direkt auf das Mädchen zu. Als hätte der Zwerg Beine aus Gummi, federte er in die Höhe. Dabei stieß er durchdringende Laute aus. Im selben Augenblick war es dem besessenen Rietböhl gelungen, seine Handgelenke aus meiner Umklammerung freizubekommen. Er schüttelte mich ab wie ein lästiges Insekt. Er tappte in den Korridor. Zum Glück kam ich schnell auf die Beine und sah, wie der schwarze Zwerg das Mädchen ansprang. Aline schrie noch immer. Es war ein durch Mark und Bein gehendes irres Kreischen, das sich ständig steigerte. Der Lurjahn! schoß es mir durch den Kopf. Der Hüter das Verborgenen. Der Zwerg hatte sich in Alines Pulli gekrallt und langte nach dem glitzernden Goldstück, das Aline fest in der Faust hielt. Da ertönte in meinem Rücken ein dumpfes Plumpsen. Astrid Glaubach. Sie war in Ohnmacht gefallen. Ich achtete nicht darauf,
hechtete hinter Rietböhl her und brachte ihn zum Stolpern. Mein Gegner wirbelte um die eigene Achse. Im Fallen versetzte er mir einen fürchterlichen Faustschlag an die Schläfe. Ich sah nur noch Sterne. Mit all meiner Willenskraft hielt ich Rietböhl am Hemd gepackt. Der Besessene zog sich am Türpfosten hoch. Mit einem häßlichen Ton zerriß das Hemd. »Schaff mir diesen Zwerg vom Hals!« schrie Aline. »Ich befehle es dir!« Rietböhl wandte sich dem Kobold zu. Er hob die Arme, um den schwarzen Zwerg zu zerquetschen. Doch im selben Augenblick riß der Lurjahn dem Mädchen die Münze aus der Hand. Er glitt an ihrem Körper hinunter, als sei er auf einer Rutsche und witschte Rietböhl wie Quecksilber durch die Beine. »Er hat mein Goldstück!« kreischte Aline. »Es gehört mir. Ich will es zurück!« Verzweifelt hielt sie ihre Arme ausgestreckt. Dann ging sie zu Boden. Auch Rietböhl sank in sich zusammen, als hätte jemand den Stöpsel aus einem Luftschlauch herausgezogen. Das Böse war aus ihren Leibern entwichen. Jetzt waren sie wieder sie selbst. Die Mächte der Finsternis waren besiegt. Bevor der Lurjahn auf Nimmerwiedersehen verschwand, blieb er vor mir stehen und sah aus funkelnden Augen zu mir auf. »Ich danke dir, Mark Hellmann«, krächzte er. »Ohne deine Hilfe hätte mich SEIN Geschöpf getötet.« »Was wirst du mit dem Medaillon der Sehnsucht tun?« fragte ich und rieb mir die Schläfe. »Es zerstören?« Der Lurjahn schüttelte den Kopf. »Nein. Das darf man nicht. Aber ich werde es sicher verwahren. An einem Platz, wo es keinen Schaden anrichten kann. In einer Truhe aus Zedernholz, mit Bienenwachs und einem Drudenfuß versiegelt. Im Reich des Schattens.« Sprach's und löste sich in Luft auf. Ich fuhr mir mit der Hand über die Augen. Mich wunderte gar nichts mehr.
* »Wenn du nicht gewesen wärst, dann steckte Aline jetzt…« Astrid suchte nach den passenden Worten, »…im Höllenrachen der Verdammnis.« Ich grinste. »Klingt wie der reißerische Titel eines Schauerromans.« Astrid Glaubach hatte ihre Tochter für eine Woche aus der Schule genommen und zu ihrer Großmutter aufs Land gebracht. Dem Mädchen ging es schon wieder prächtig. In dem kleinen Lokal in der Nähe des Heringsdorfer Bahnhofs herrschte eine gedämpfte, intime Atmosphäre. Astrid und ich hockten in einer matt beleuchteten Nische und feierten unseren Sieg. Alfred Rietböhl, der mit von der Partie gewesen war, hatte sich gerade verabschiedet. Er wollte uns wohl nicht stören. Astrid sah wahrhaftig hinreißend aus. i Sie trug ein schwarzes, tailliertes Kleid mit dünnen Trägern und Dekollete. In ihren Pupillen spiegelten sich die Lichter den Raumes. Sie schien mich regelrecht abwerben zu wollen, und mir lief schon das Wasser im Mund zusammen. »Möchtest du noch ein Gläschen Wein?« hauchte sie. »Willst du mich betrunken machen?« »Klar doch«, sagte sie ehrlich. »Wenn du nicht mehr richtig denken kannst, dann schleife ich dich an den Haaren aus dem Lokal und mache mich über dich her.« Wein plätscherte in zwei Gläser. Wir nippten daran. Es war eine 96er Beerenauslese aus der Rheinpfalz. Das edle Getränk glitzerte in den hochstieligen Gläsern. Im Hintergrund klang Percy Sledges >When a Man Loves The Woman< aus. Tief schauten wir uns in die Augen und ich war kurz davor, Tessa zu vergessen. »Wollen wir aufbrechen?« schlug sie vor. »Es ist eine wunderbare Nacht. Ein Spaziergang an der See wäre jetzt genau das Richtige. Jedenfalls so weit, bis wir ein nettes Plätzchen gefunden haben.« Astrid lächelte und geriet immer tiefer in den Freudentaumel. Sie leckte sich über die Lippen und warf sich in die Brust. Ein Träger fiel dabei von ihrer Schulter. Während sie ihn wieder
hochschob, zückte ich mein Portemonnaie und schaute mich nach dem weißbeschürzten Kellner um. Da erklang eine Stimme, die mir merkwürdig vertraut vorkam. Ich wirbelte sofort herum. Aus dem Halbdunkel des kleinen Lokals löste sich eine knabenhafte Gestalt mit kecker, brauner Kurzhaarfrisur: Tessa Hayden! »He, Mark, alter Schwerenöter! Hier steckst du also.« Tessa steuerte geradewegs auf mich zu. »Wieso guckst du denn auf einmal so wild?« Ein letztes Mal schweiften meine Augen über die fraulichen Rundungen von Astrid Glaubach. Es war, als würde ich Abschied nehmen. Tessa reichte Astrid die Hand. »Ich bin Marks Freundin, Tessa Hayden aus Weimar. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Astrid lächelte schmerzlich berührt, und ich war auf einmal sehr müde. ENDE Burg Dießenstein, Bayerischer Wald. Als die beiden Kids der merkwürdigen Bronzepfeife die ersten Töne entlockten, ahnten sie nicht, daß sie damit in diesem Augenblick einen Dämon beschworen, der bald Angst und Schrecken über sie bringen würde. In den Wolken über der Burg begann es bereits zu lüstern den schweren Säbel schwang!
Die Bestie aus dem Bayerwald In einer Woche schlägt sie zu! - Unterstützt Mark bei seinem Kampf feuert ihn an und Euch den Band 5 dieser noch jungen Serie.